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Full text of "Geschichte der öffentlichen sittlichkeit in Russland; kultur, aberglaube, sitten und gebräuche. Eigene ermittelungen und gesammelte berichte"

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Ar  •'•. 


GESCHICHTE 

DER 


ÖFFENTLICHEN  SITTLICHKEIT 


IN 


RUSSLAND 


KULTUR,  ABERGLAUBE,  SITTEN  UND  GEBRÄUCHE 

EIGENE  ERMITTELUNGEN  UND  GESAMMELTE  BERICHTE 

VON 

BERNHARD  §TERN 

VERFASSER  VON  „MEDIZIN,  ABERGLAUBE 
UND  GESCHLECHTSLEBEN  IN  DER  TÜRKEI" 

ZWEI  BANDE 
MIT  50  TEILS  FARBIGEN  ILLUSTRATIONEN 

II. 

RUSSISCHE  GRAUSAMKEIT,  DAS  WEIB  UND  DIE  EHE,  GESCHLECHT- 
LICHE MORAL,  PROSTITUTION,  GLEICHGESCHLECHTLICHE  LIEBE, 
LUSTSEUCHE,  FOLKLORISTISCHE  DOKUMENTE 

REGISTER  ÜBER  BEIDE  BÄNDE 


BERLIN  W.  30  •  VERLAG  VON  HERMANN  BARSDORF  •  1908 


o;  •  ^  ^^3ih4iUÜrf(lhy^x_^-- 


GESCHICHTE 

DER 


ÖFFENTLICHEN  SITTLICHKEIT 


IN 


RUSSLAND 


RUSSISCHE  GRAUSAMKEIT,  DAS  WEIB  UND  DIE  EHE,  GESCHLECHT- 
LICHE MORAL,  PROSTITUTION,  GLEICHGESCHLECHTLICHE  LIEBE, 
LUSTSEUCHE,  FOLKLORISTISCHE  DOKUMENTE 


Ab] 


EIGENE  ERMITTELUNGEN  UND  GESAMMELTE  BERICHTE 

VON 

BERNHARD  STERN 

VERFASSER  VON  „MEDIZIN,   ABERGLAUBE 
UND  GESCHLECHTSLEBEN  IN  DER  TÜRKEI" 


MIT  21  TEILS  FARBIGEN  ILLUSTRATIONEN 

# 

UND  DEM  PORTRÄT  DES  VERFASSERS 

NEBST  AUSFÜHRLICHEM  REGISTER  ÜBER  BEIDE  BÄNDE 


BERLIN  W.  % .  VERLAG  VON  HERMANN  BARSDORF  •  1908 


PT-BLISIIED   NOVEMBER   jo,    1907 

frivile<;e  of  Copyright  jn  the  tnited  states 
reserved  uxder  the  act  approm^d  march  3-  i</>5 

BY  HERMANN  BARSDORF 


Inhalt. 


Seite 

Sechster  Teil:  Russische  Grausamkeit i — 297 

30.  Grausamkeit  der  Herrschenden 1 

31.  Grausamkeit  in  der  Verwaltung      56 

32.  Todesstrafen  und  Gliederstrafen       85 

33-  Prügelstrafen  und  Züchtigungsinstruraentc    .  113 

34.  Gefängnisse,  Verbannung,  Folter 171 

35.  Sklavensinu  und  Leibeigenschaft JOg 

30.  Grausamkeit  des  Volkes 251 

37.  Grausamkeit  im  Familienleben 278 

Siebenter  Teil:  Das  Weib  und  die  Ehe jpg— 446 

38.  Geschichte  der  russischen  Frau 3^^1 

39.  Stellung  der  Frauen  bei  den  nichtrussi sehen 
Völkern  Rußlands 326 

40.  Fraueuraub  und  Frauenmarkt      ]33 

41.  Schönheitsideal,  Schminke  und  Liebe     .    .    .  348 

42.  Ilochzeiisbräucheu.  Hochzeitslieder  der  Russen  358 

43.  Hochzeitsbräuche  der  nichtrnssischen  Völker 
Rußlands       304 

44-  Ehescheidung       4<^7 

45.  Ehebruch 41^» 

46.  Uneheliche  Kinder,   krimineller  Abortus  und 
Kindt'smord 432 

Achter  Teil:  Geschlechtliche  Moral 447— 518 

47.  Erziehung  der  Jugend 440 

48.  Schamgefühl  und  Keuschheit 458 

49.  Probenächte  und  Jungfemschaft      480 

50.  Koitus  und  Religion      503 

5 1 .  Snochatschestwo      511 

Neunter  Teil:  Prostitution,    Gleichgeschlechtliche   Liebe 

und  Lustseuche      519—575 

52.  Prostitution  der  Herrschenden 521 

53.  Öffentliche  Prostitntion      541 

54.  Bestialität  und  e^leichfi^eschlechtliche  Liebe    .  556 

55.  Lustseuche 571 

Zehnter  Teil:  Folkloristische  Dokumente 577 — 616 

56.  Das  Erotische  und  ( )bszöne  in  der  Literatur 
und  Karikatur 57Q 

57.  Sexuelles  Lexikon 588 

58.  Obszöne  Sprichwörter 507 

50.  Erotische  und  obszöne  Lieder      cnK) 

fH).  Erotische  und  obszöne  Erzählungen    ....  (>o<) 

Register  zu  beiden   Bänden. 


1776^^5 


SECHSTER  TEIL: 


Russische  Grausamkeit 


30.  Grausamkeit  der    Herrschenden.    — 

31.  Grausamkeit  in  der  Verwaltung.   — 

32.  Todesstrafen    und   Gliederstrafen.   — 

33.  Prügelstrafen  und  Züchtigungsinstru- 
mente. —  34.  Gefängnisse,  Verbannung, 
Folter.  —  35.  Sklavensinn  und  Leib- 
eigenschaft. —  36.  Grausamkeit  des  Volkes. 
—    37.    Grausamkeit   im    Familienleben. 


30.  Grausamkeit  der  Herrschenden. 

Meuchelmord  von  Nebenbuhlern  —  Iveichcnschänduugen  —  Die  Leiche  des 
Pseudo-Dmitrij  —  Peters  Rache  —  Paul  und  Patjomkm  —  Schicksal  der 
Minister  beim  Regierungswechsel  —  Das  Los  der  Zarenbraut  —  Grausamkeit 
der  Großen  gegeneinander  —  Elisabeths  Gnadenakt  —  Grausamkeit  von  den 
Russen  bewundert  —  Der  Wüterich  Alexander  Newskij  heilig  gesprochen  — 
Iwan  der  Schreckliche  verherrlicht  —  Iwans  Greueltaten  —  Ein  Elefant  wegen 
Majestätsbeleidigung  bestraft  —  Die  Mordgarde  der  Opritschniki  —  Die  sechs 
Mordepochen  der  Herrschaft  Iwans  —  Ermordung  Repnins  —  Der  Zar  der 
Sodomie  beschuldigt — Blüte  des  Denunziantentums  —  Iwan  als  Abt  —  Grausam- 
keit und  Frömmigkeit  —  Fürst  Kurbskij  als  Warner  —  Der  Bote  Kurbskijs 
von  Iwan  angenagelt  —  Der  Ausspruch  des  Selbstherrschers  —  Neue  Morde  und 
neue  Mordmethoden  —  Pfählen  —  Grausamkeit  und  Wollust  —  Menschen- 
leichen Hunden  vorgeworfen  —  Eintreiben  von  Stacheln  unter  die  Nägel  — 
Mord  in  den  Kirchen" —  Bojar  Mitkow  und  Metropolit  Filip  gegen  Iwan  —  Filips 
Bestrafung  —  Das  Morden  familienweise  und  städteweise  —  Pogrom  —  Ver- 
nichtung von  Nowgorod  —  Ermordung  der  Mönche  —  Ertränken  zusammen- 
gebundener Familien  —  60  ooc  Todesurteile  —  Iwan  in  seiner  Milde  —  Rettung 
der  Stadt  Pskow  durch  einen  Irrsinnigen  —  Morde  in  Moskwa  —  Ermordung 
der  Günstlinge  und  Henker  —  Iwan  ruft  das  Volk  zur  Teilnahme  an  den  Hin- 
richtungen —  Der  Zar  läßt  den  Vater  durch  den  Sohn,  den  Bruder  durch  den 
Bruder  töten  —  Neue  Mordmethoden  —  Blutige  Mahlzeit  und  wollüstiger  Nach- 
tisch —  Sklavcnsinn  der  Großen  und  des  Volkes  —  Iwan  läßt  einen  Mönch  zum 
Engel  werden  —  Schändung  der  Frau  vor  den  Augen  des  gehängten  Gatten  — 
Heldentod  und  Henkertod  —  Röstung  des  Fürsten  Worotünskij  —  Ermordung 
Morosows,  weil  er  zulange  lebt  —  Einnähen  der  Verurteilten  in  Bärenhäute  — 
Mord  als  Mittel  Appetit  zu  machen  —  Zerschneiden  der  Glieder  nach  den  Ge- 
lenken —  Der  Mensch  als  Uhr  —  Das  Gift  des  Bomelius  —  Sklavcnsinn  und 
Rangstreit  —  Ermordung  der  zarischen  Verwandten  —  Iwans  acht  Frauen  — 
Der  Thronfolger  Iwan,  des  Vaters  Ebenbild,  vom  Vater  ermordet  —  Iwan 
notzüchtigt  die  Schwiegertochter  und  stirbt  —  Alexej  Romanows  Milde  — 
Grausamkeiten  Peters  des  Großen  —  Ausrottung  der  Strjeljzen  —  Peters 
Folterkammern  —  Peter  foltert  seine  Schwester  Sofia  —  Der  Zar  als  Henker 
—  Er  züchtigt  und  peitscht  seine  Günstlinge  und  die  Beamten  —  Peter  gegen 
Feinde  —  Trunkenheit  und  Grausamkeit  des  Zaren  —  Die  Greuel  im  Polozker 
Kloster  —  Abschneiden  von  Frauenbrüsten  —  Peters  Sentimentalität  —  Hin- 
richtung der  Geliebten  und  des  Sohnes  —  Peitschung  der  Gattin  —  Grausamkeit 

1* 


—   i   — 

als  Zivilisationsmcthodc  —  Die  Zarin  Anna  läßt  ihren  Koch  hinrichten  —  Bei- 
spiele für  Annas  grausamen  Charakter  —  Der  geprügelte  Dichter  —  Elisabeths 
der  Gütigen  Grausamkeit  —  Aufhebung  der  Todesstrafe  —  Peinigung  von 
Rivalinnen  —  Knutung  der  schönen  Lopuchin  —  Katharina  II.  —  Grausam- 
keit gegen  Nebenbuhlerinnen  —  Pauls  Verrücktheiten  —  Die  Herrscher  des 

letzten  Jalirhunderts. 


Grausamkeit  ist  die  Basis  der  russischen  Herrschaft,  des 
russischen  Staatswesens.  Nur  im  Geiste  dieses  Grundprinzips 
sprach  jener  Tambower  Gouverneur  Muratow,  der  im  offi- 
ziellen Regierungsblatt  die  Dezimierung  des  russischen  Volkes 
als  das  beste  Heilmittel  gegen  die  Revolution  bezeichnete  und 
der  Autokratie  den  Rat  erteilte,  ihren  Bestand  durch  die  Ent- 
nahme von  Geiseln  aus  dem  Volke  zu  sichern. i)  Seit  tausend 
Jahren  ist  Rußland  nicht  anders  regiert  worden.  Mord  und 
Peitsche  bilden  Anfang  und  Ende  aller  Verwaltungskunst.  Die 
Herrscher  selbst  folgten  einander  nur  durch  das  Gesetz  der 
Tütung,  nicht  durch  das  Gesetz  der  Erbschaft.  War  in  alten 
Zeiten  ein  russischer  Fürst  sanft  gesinnt  und  milde  gestimmt 
und  schrak  vor  dem  Morden  zurück,  so  zögerte  er  doch  nicht, 
seine  Nebenbuhler  zu  blenden  nach  der  Sitte,  die  man  von  den 
Griechen  übernommen  hatte.  Als  Wßewolod  III.  Gregorje- 
witsch  im  Jahre  1176  Großfürst  geworden  war,  vollzog  er  als 
erste  Regierungshandlung  die  Blendung  seiner  Neffen.^)  Groß- 
fürst Wassilij  Wassiljcwitsch  ließ  seinen  Rivalen  Wassilij 
Kossoj  blenden;  im  Jahre  1446  wurde  aber  Wassilij  Wassilje- 
witsch  selbst  geblendet.^) 

Charakteristisch  ist  der  Zug  der  Grausamkeit,  der  in  Lei- 
chenschändungen zur  Geltung  kommt.  Haß  russischer  Herr- 
scher macht  auch  an  Gräbern  nicht  Halt.  Boriß  Godunow, 
selbst  ein  Usurpator,  läßt  im  Mai  1606  die  Leiche  des  fal- 
schen Dmitrij  ausgraben  und  die  Asche  in  die  Moskwa 
werfen,    so    daß    keine    Spur    von    dem    Thron-Anmaßer   auf 


')  Vgl.  r.  Band,  S.  501. 

-)  Karanisin,    Geschichte    des   russischen    Kciches.      Nach    der    zweiten 
Originalausgabe  übersetzt.     Higa   iJ^-4.     III  41. 

•')  Karanisin  V  -15 8. 


—    5     — 

Erden  bleibt.^)  Peter  der  Große  läßt  bei  seinem  Regierungs- 
antritt alle  Parteigänger  seiner  Schwester  Sofia  nicht  bloß 
hinrichten,  sondern  befiehlt,  die  Leichen  vor  dem  Fenster 
der  Prinzessin  aufzuhängen.  Als  Peter  1697  im  Begriffe  ist, 
zum  ersten  Male  nach  Europa  zu  reisen,  entdeckt  er  ein  Kom- 
plott, geschmiedet  von  den  ehemaligen  Freunden  seines  ver- 
storbenen Feindes  Iwan  Miloslawskij.  Der  Zar  verschiebt  seine 
Abreise,  um  ein  furchtbares  Rachewerk  auszuführen.  Die  von 
Würmern  ^zerfressene  Leiche  Miloslawskijs,  die  zwölf  Jahre  lang 
in  der  Erde  gelegen,  wird  ausgegraben  und  auf  einem  von 
zwölf  Schweinen  gezogenen  Schlitten  nach  Preobraschensk  ge- 
bracht. Dann  stellt  man  sie  in  einem  offenen  Sarg  auf  das 
Schaffot,  auf  dem  die  Teilnehmer  des  Komplotts  eines  lang- 
samen Todes  sterben  müssen:  sie  werden  kunstgerecht  zer- 
stückelt und  zerschnitten,  und  bei  jedem  Messerstich,  den  der 
Henker  tut,  spritzt  das  Blut  der  Verschwörer  auf  den  ver- 
faulten Leichnam  ihres  einstigen  Führers.^)  —  Kaiser  Paul 
wütet  sogar  gegen  Steine.  Er  befiehlt  am  17.  Januar  1798, 
das  Monument  Patjomkins  ,in  Cherson  zu  zerstören  und  die 
Asche  des  größten  Günstlings  Katharinas  ins  Wasser  zu 
werfen.^) 


')  Mcmoires  du  regne  de  Pierre  Ic  Grand  Empcreur  de  RussiePerc  de  la 
Patrie.  Par  le  B.  Iwan  Ncstesuranoi.  Nouvelle  edition  en  quatre  volumes. 
A  Amsterdam  1728.  I  283.  Bei  diesem  barbarischen  Akte  spielte  auch  der  Aber- 
glaube eine  Rolle:  ,,In  der  Woche  vom  18.  bis  25.  Mai  beschädigten  Fröste  die 
Gärten  und  Felder.  Es  verbreitete  sich  das  Gerücht,  daß  die  Leiche  des  Pseudo- 
Dmitrij  als  Vamp^n:  an  den  Frösten  Schuld  hätte.  Man  wollte  auf  dem  Grabe 
gräßliche  Erscheinungen  gesehen  haben.  Die  Leiche  wurde  also  ausgegraben, 
die  Asche  mit  Pulver  vermischt  und  aus  Kanonen  hinausgeschossen  und  in  alle 
Winde  zerstreut". 

*)  K.  Waliszewski,  Pierre-le-Grand,  l'education,  Thomme,  l'ocuvre; 
d'aprds  des  documents  nouveaux.     5öme  ed.  Paris  1897.     pp.  54,   147. 

')  So  erzählt  in  seinen  Erinnerungen  Comte  Fedor  Golovkine,  La  Cour  et 
le  Rdgne  de  Paul  I*^  Souvenirs  et  anecdotes.  Avcc  introduction  et  notes  par 
S.  Bonnet,  Paris  1905.  168.  Aber  der  russische  Historiker  Schilder  sagt  in  seiner 
Biographie  des  Kaisers  Paul:  daß  Patjomkins  Leiche  bis  1798  nur  in  der  Kirche 
beigesetzt  war  und  daß  Paul,  weil  der  Platz  ein  Wallfahrtsort  für  Neugierige 
geworden,  den  Sarg  in  aller  Stille  in  die  Erde  versenken  ließ,  ohne  daß  Jemand 
erfahren  hätte,  wo  er  sich  seither  befand.  —  Bei  den  Römern  stand  auf  Leichen- 
schändung Todesstrafe.    Karl  der  Große  erklärte  die  Gräberschänder  als  ehrlos 


—   fi   — 

Nach  einem  Regierungswechsel  sind  die  neuen  Macht- 
haber vor  Allem  darauf  bedacht,  Jene,  die  vor  ihnen  den 
Platz  an  der  Sonne  innegehabt  haben,  in  den  Schatten  zu 
drängen.  Nach  dem  Tode  Peters  II.  wird  seine  Braut  Katha- 
rina Dolgoruckij  in  das  Kloster  zu  Tomsk  in  Sibirien  ver- 
bannt. Doch  nicht  genug  damit;  man  will  ihr  auch  den 
Verlobungsring,  die  letzte  Erinnerung  an  ihre  zerstörten  stol- 
zen Hoffnungen  entreißen;  „schneide  mir  den  Finger  ab", 
entgegnet  die  Fürstin  stolz  dem  Offizier,  der  den  Ring  ver- 
langt.^) Die  ganze  Familie  der  Zarenbraut,  sechzig  Personen, 
wandert  in  die  Verbannung  nach  Tobolsk.  Aber  sie  könnte 
doch  noch  gefährlich  sein;  Uschakow  und  Ssuworow,  die 
Henker  der  neuen  Regierung,  erhalten  daher  den  Auftrag,  die 
Häupter  der  Familie  Dolgoruckij  unschädhch  zu  machen.  Die 
Henker  sind  der  Aufgabe  gewachsen.  Sie  martern  die  Opfer 
bis  zur  Bewußtlosigkeit,  entreißen  ihnen  in  der  Folter  be- 
liebige Geständnisse  und  fällen  dann  das  Todesurteil:  Iwan 
Dolgoruckij  wird  gerädert  und  dann  enthauptet;  sein  Bruder 
Alexander  zieht  es  vor,  sich  selbst  den  Bauch  aufzuschneiden. 
Die  stolzesten  Günstlinge  wissen,  was  sie  trifft,  wenn  ein  Herr- 
scherwechsel stattfindet,  und  sie  sind  alle  kaltblütig  auf  das 
Unvermeidliche  gefaßt.  Von  Iwan  Dolgoruckij  wird  erzählt, 
daß  er,  während  man  ihm  Arme  und  Beine  brach,  nach  dem 
Klang  der  Hiebe  sein  Gebet  skandierend  sprach.  Nur  ein 
einziges  Mitglied  der  Familie,  Wassilij  Wladimirowitsch  Dol- 
goruckij, entgeht  wie  durch  ein  Wunder  dem  Massakre.    Aus 


und  ließ  ihnen  zur  Strafe  ihre  Güter  zur  Hälfte  rauben.  Dies  hielt  aber  einen 
anderen  römischen  Kaiser,  Heinrich  VI.,  den  Eroberer  beider  Sizilien,  nicht 
davon  ab,  die  Leiche  Tankreds  ausgraben  und  ihr  durch  den  Henker  den  Kopf 
abschlagen  zu  lassen.  890  ließ  Papst  Stefan  VI.  die  Leiche  seines  Vorgängers 
Formosus  ausgraben,  in  päpstlichem  Ornat  vor  Gericht  schleppen,  verurteilen, 
mit  Kot  beschmieren,  verstümmeln  und  enthaupten  und  schließlich  in  den 
Tiberfluß  werfen.  Unter  der  Herrschaft  der  Inquisition  wurden  die  Knochen 
verstorbener  Ketzer  öffentlich  verbrannt.  Philipp  der  Schöne  ließ  die  Leichen 
der  Templer  ausgraben  und  verbrennen.  1793  wurden  die  Königsgräber  zu 
St.  Denis  zerstört  und  die  Knochen  der  Monarchen  in  ein  Massengrab  geworfen, 

*)  K.  Waliszewski,  L'hcritage  de  Pierre  le  Grand,   Rdgnc  des  femmes, 
gouvernement  des  favoris,   1725 — 1741.     Paris  icjck).     160. 


dem  Exil  von  Elisabeth  zurückgerufen,  hält  er  es  für  seine 
wichtigste  Aufgabe,  jetzt  seinerseits  den  Henkern  zu  tun  zu 
geben.  Kanzler  Ostermann  und  Fcldmarschall  Münnich  wer- 
den vom  Gericht  des  neuen  Regimes  zur  einfachen  Ent- 
hauptung verurteilt;  eine  Stimme  protestiert  dagegen  und 
verlangt  für  Ost  ermann  das  Rad,  für  den  Feldmarschall  Mün- 
nich die  Vierteilung.  Dieser  Unbarmherzige  ist  Wassilij  Dol- 
goruckij.  Und  seine  Meinung  dringt  durch.  Elisabeth  die 
Gütige  unterschreibt  das  Urteil,  behält  sich  aber  vor,  im  letz- 
ten Augenblick  Gnade  zu  üben.  Auf  dem  Schaffot  wird  den 
Verurteilten  kundgetan,  die  Gnade  bestehe  darin,  daß  statt 
der  komplizierten  Todesstrafe  einfache  Enthauptung  stattfin- 
den solle.  Erst  als  die  Verurteilten  schon  das  Haupt  gebeugt 
haben,  um  den  Todesstreich  zu  empfangen,  wird  ihnen  mit- 
geteilt, daß  die  barmherzige  Kaiserin  auf  ihre  Hinrichtung 
gänzlich  verzichte.^)  Eine  furchtbar  grausame  Inszenierung, 
würdig  der  sadistischen  Natur  der  scheinheilig-frommen 
Tochter  Peters  des  Großen. 

Die  Grausamkeit  erscheint  den  Russen  als  eine  wahrhaft 
erhabene  Eigenschaft,  als  ein  Attribut  des  Heldentums  und 
des  Herrschertums ;  und  das  Sprichwort:  „Nahe  dem  Zaren, 
nahe  dem  Tod!**  ist  nicht  eine  Klage,  sondern  der  jubelnde 
Schrei  freudig  sich  opfernder  Sklaven.  Der  Grausamste  ist 
der  Heiligste.  Der  heilige  Alexander  Newskij  Fürst  von  Now- 
gorod war  einer  der  unmenschlichsten  Tyrannen,  die  die  rus- 
sische Erde  hervorgebracht  hat.  Er  verbündete  sich  mit  den 
Mongolen  gegen  das  eigene  Volk,  und  als  Nowgorod  den 
Fremden  den  Gehorsam  verweigerte,  fiel  der  Fürst  selbst  über 
seine  Stadt  her  und  ermordete  die  Einwohner.  Und  also 
wurde  Alexander  ein  Held  und  ein  Heiliger.  Auch  Iwan  der 
Schreckliche  wird  gefeiert,  dieser  Zar,  der  das  Ungeheuer 
Kaligula,  das  Scheusal  Nero  zu  übertreffen  vermochte.  Daß 
dieser  grauenhafte  Fürst  jahrzehntelang  ungestraft  sein  Volk 
morden  konnte,  bis  er  schließlich  eines  natürlichen  Todes 
starb;   und  daß  dann  die  Großen  und  die  Sklaven  einmütig 


*)  K.  Waliszewski,  La  dcrniöre  des  Romanov,  Elisabeth  I,  Imperatrice  de 
Russic   1741 — 1762.     Paris   1902.      14 — 15. 


—     8     — 

den  Tod  eines  solchen  Herrschers  beweinten  als  ein  Unglück 
für  Rußland  und  das  russische  Volk:  das  wird  eines  der 
ewigen  Rätsel  des  russischen  Charakters  bleiben.  Iwan  der 
Schreckliche  ist  seinen  Russen  als  ein  großer  Mann  erschienen, 
weil  er  sich  selbst  mit  Alexander  dem  Großen  verglichen 
hat.i)  Unter  Iwan  ist  Kasan]  erobert  w^orden,  der  Zar  je- 
doch hat  wahrlich  keinen  Anteil  an  den  Siegen,  da  er  sich 
einem  feigen  Hunde  gleich  hinter  den  letzten  Nachzüglern 
verkroch.  Man  rühmt  Iwans  vortrefflichen  Verstand;  er 
nützte. ihn  aus,  um  furchtbaren  Lüsten  zu  fröhnen.  Von  der 
Erhabenheit  der  Majestät  war  er  ganz  erfüllt;  sogar  unver- 
nünftigen Tieren  gegenüber  kannte  er  verletzte  Herrscher- 
ehrc:  ein  aus  Pcrsien  nach  Moskwa  geschickter  Elefant,  der 
vor  dem  Zaren  nicht  niederknieen  will,  wird  auf  Iwans  Befehl 
in  Stücke  zerrissen.  Niemand  darf  klüger  oder  geschickter 
oder  glücklicher  sein  als  der  Souverän :  die  Höflinge,  die 
mit  dem  Zaren  Karten  oder  Dame  spielen  und  zu  gewinnen 
wagen,  werden  grausam  bestraft. 

Russische  Chronisten  nannten  Iwans  IV.  blutgierige  Ty- 
rannei: ein  fremdes  Ungewitter,  das  aus  dem  Abgrund  der 
Hölle  abgeschickt  worden,  um  Rußland  zu  verwirren  und  zu 
zerreißen.  Aber  ein  echt  russisches  Werk  ist  Iwans  Institution 
der  Opritschina^),  diese  Leibgarde  von  sechstausend  Mann, 
die  das  Recht  hatte,  Hoch  und  Niedrig  zu  bedrücken  und 
zu  morden.  Das  Trabantenkorps  war  zusammengestellt  aus 
den  nichtswürdigsten  Subjekten,  die  das  Rußland  Iwans  des 
Schrecklichen  aufzuweisen  vermochte.  Wen  die  Opritschniki 
verdächtigen  wollten,  konnte  sich  nimmer  retten  vor  dem  Un- 
tergang. Wer  einem  Opritschnik  ein  böses  Wort  sagte,  be- 
leidigte den  Zaren.  Als  Symbole  ihres  Amtes  hatten  die  Op- 
ritschniki an   ihren   Sätteln  Hundeköpfc  und  Besen  angebun- 


^)  Karamsin  IX  62. 

-)  Oiipn'iiiiia ,  das  Vorrecht;  der  Name  galt  für  die  Leibwache  des  Zaren. 
Das  Volk  nannte  die  Opritschniki  auch  Kromeschniki,  Auserlesene,  nämlich: 
Auserlesene  der  höllischen  Finsternis.  Vgl.  Karamsin  VIII  69.  Nach  Karamsin 
VlII  64  war  der  Name  Opritschina  bis  dahin  in  der  russischen  Sprache  nicht 
bekannt. 


—    9    — 

den;  dies  bedeutete:  Die  Opritschniki  beißen  die  Feinde 
des  Zaren  und  fegen  Rußland  rein.  Mit  diesen  merkwürdigen 
Symbolen  ritten  die  Opritschniki  Tag  und  Nacht  durch  die 
russischen  Städte  auf  die  Jagd  nach  dem  russischen  Volke. 

Bei  anderen  berühmten  Herrschern  teilt  man  die  Ge- 
schichte ihres  Lebens  nach  ihren  Siegen  oder  Ruhmestaten 
ein.  Die  Epoche  des  Zaren  Iwan  des  Schrecklichen  jedoch 
zerlegt  der  russische  Historiker  Karamsin  in  folgende  Kapitel : 
erste  Epoche  der  Grausamkeiten*  zweite  Mordepoche;  dritte 
Periode  der  Massakres  und  Torturen;  und  so  fort  bis  zur 
sechsten  und  letzten. i)  Iwans  erste  Opfer  sind  seine  alten 
Ratgeber.  .  Sie  wagen  es,  dem  jungen  Herrscher  Vorschläge 
zu  machen,  sie  halten  sich  für  klüger;  fort  mit  ihnen,  in 
die  Verbannung,  aufs  Schaffot!  Er  sollte  seinen  Ministern 
dankbar  sein,  sie  haben  seine  Stellung  befestigt,  seine  Herr- 
schaft gesichert.  Der  Dank  ist  ihm  lästig,  er  befreit  sich 
von  seinen  moralischen  Gläubigern  durch  den  Henker.  Kaum 
hat  er  das  Blut  seiner  besten  und  treuesten  Freunde  fließen 
sehen,  da  erwacht  die  in  ihm  schlummernde  Bestie;  der 
Götzendienst,  den  der  Selbstherrscher  sich  selber  weiht,  for- 
dert blutige  Opfer.  Und  das  Volk  beugt  sich  in  Ehrfurcht 
vor  dem  Wilden.  Es  sieht  in  ihm  nicht  eine  Ausgeburt  der 
Hölle,  vielmehr  den  von  Gott  Erwählten.  Es  sieht  in  ihm 
nicht  den  zügellosen  Mörder,  es  sieht  in  ihm  den  Gerechten, 
der  nicht  bloß  die  Gemeinen  seiner  Untertanen  tötet,  sondern 
mit  seinem  Dolch  und  seinem  spitzigen  Stab  auch  die  Höch- 
sten und  Vornehmsten  trifft. 

Iwan  IV.,  1530  geboren,  war  drei  Jahr  alt,  als  sein 
Vater  starb.  1547  ließ  er  sich  zum  Zaren  krönen.  Er  soll 
in  seiner  Jugend  ebenso  schön  und  tugendhaft  gewesen  sein, 
als  er  später  in  der  Epoche  seiner  Grausamkeit  häßlich  und 
lasterhaft  wurde.  Er  begann  sogar  mit  Reformen,  wollte  Ruß- 
land zivilisieren,  brachte  deutsche  Handwerker,  Künstler  und 
Gelehrte  nach  Moskau,  begründete  die  ersten  Buchdruckereien, 
schloß  einen  Handelsvertrag  mit  Königin  Elisabeth  von  Eng- 
land, errichtete  ein  stehendes  Heer,  die  Strjeljzy,  und  eroberte 


')  Karamsin  VTI   262,  VIII   15,  66,  7g,   113,    151,  213  und  IX  62. 


—     10     — 

Kasanj  und  Astrachan].  Aber  der  Zivilisator  macht  dem 
Aberglauben  die  größten  Konzessionen,  und  als  man  ihm 
berichtet,  daß  eine  Frau,  namens  Maria,  ihn  hasse  und  durch 
Zauberei  zu  verderben  drohe,  läßt  er  sie  und  ihre  fünf  Söhne 
wegen  Hexerei  verbrennen. i) 

Die  erste  große  Mordepoche  beginnt  1560.  Der  Zar  liebt 
den  Wein  und  die  Weiber.  In  seinem  Palaste  wird  Tag  und 
Nacht  gejubelt  und  gezecht.  Aber  „Wehklagen  war  nicht 
fem  der  Freude,  Wein  floß  in  Moskwa  vor  dem  Blute**,  sagt 
ein  russischer  Chronist  aus  der  Zeit  Boriß  Godunows.  Als 
Zar  Iwan  ein  unanständiges  Narrenspiel  aufführen  läßt  und 
dabei  mit  seinen  Lieblingen  in  Masken  erscheint  und  tanzt, 
bricht  der  alte  Bojar  Repnin  ob  dieses  furchtbaren  Ver- 
brechens in  Tränen  aus.  Der  trunkene  Zar  lacht  und  will 
dem  alten  Bojaren  ebenfalls  eine  Maske  vorbinden ;  der  wirft 
die  Larve  zu  Boden,  tritt  sie  mit  Füßen  und  klagt :  „Ziemt 
CS  sich  für  den  Zaren  einen  Possenreißer  abzugeben?'*  Der 
Zar  schweigt,  aber  als  Repnin  in  den  Tempel  geht,  um  von 
Gott  Verzeihung  für  die  Frevel  des  Zaren  zu  erflehen,  wird 
er  von  einem  Söldling  des  Herrschers  am  Altar  ermordet. 
Der  geliebteste  Günstling  Iwans  ist  Theodor  Basmanow.  Fürst 
Dmitrij  Obolenskij-Owtschinin  sagt  dem  Basmanow  ins  Ge- 
sicht :  „Du  bist  beim  Zaren  in  Gunst,  weil  du  ihm  durch 
die  schmutzigen  Werke  der  Sodomie  dienst.**  Iwan  läßt  den 
Fürsten  zum  Mahle  einladen  und  neben  sich  setzen;  und 
während  der  Mahlzeit  stößt  er  dem  ahnungslosen  Gaste  plötz- 
lich das  Messer  ins  Herz,  richtet  er  ihn  mit  höchsteigner 
Hand. 

Es  blüht  das  Geschäft  der  Denunzianten.  Niemand  ist 
sicher  vor  der  Angeberei.  Jeder  sucht  der  Grausamkeit  des 
Zaren  zu  schmeicheln  und  sich  zu  retten,  indem  er  Andere 
verleumdet.  Man  behorcht  die  Gespräche  in  den  Familien, 
man  schließt  Freundschaften,  um  seine  Freunde  zu  verraten ; 
aber  nicht  bloß  Worte  geben  Anlaß  zu  Anzeigen,  auch  Blicke 
und  Mienen  finden  ihre  Kenner  und  Enträtselung.  Der  Zar 
nimmt  jede  Denunziation  als  gerechtfertigt  an  und  die  Rich- 


')  Vgl.  I.  Band.  S.  82. 


—   11   — 

tcr  wagen  niemals  nach  Beweisen  zu  suchen.  Zwei  Fürsten 
Kaschin  werden  ohne  Schuld  und  ohne  Verhör  dem  Tode 
durch  Henkershand  überliefert;  der  Fürst  Kurljätew  samt 
seiner  ganzen  Familie  ermordet;  Scheremetjew,  der  Schrecken 
der  Krymer,  wird  gefoltert,  und  während  er  unter  dem  Knut 
verblutet,  kommt  der  Zar  selbst  zu  ihm  und  fragt  höhnisch: 
„Wo  ist  deine  Kasse  ?**  Das  ist  der  verheißungsvolle  Anfang. 
Bald  fheßt  das  Blut  des  Adels  und  des  Volkes  in  Strömen. 
„Moskwa  erstarrte  in  Furcht**,  sagt  der  Chronist;  in  Kerkern 
und  Klöstern  stöhnten  die  Opfer,  und  der  Tyrann  von  dreißig 
Jahren  wurde  immer  mißtrauischer  und  grausamer.  „Der 
Blutbecher  stillte  nicht  seinen  Durst**,  schreibt  Karamsin, 
„sondern  vermehrte  ihn,  ,und  der  Zar  wurde  eine  wahre 
Geißel**.  Aber  noch  ist  in  ihm  nicht  alles  Gefühl  erstorben, 
er  bemüht  sich  wenigstens,  seine  Grausamkeit  zu  rechtfertigen, 
das  Morden  als  Gerechtigkeit  hinzustellen,  er  behauptet:  seine 
Opfer  seien  Verräter,  Zauberer,  Feinde  Christi  und  Ruß- 
lands. Dann  kommen  Augenblicke,  da  er  sich  den  Schein 
der  Zerknirschung  und  der  Reue  gibt,  da  er  sich  nennt: 
schuldig  vor  Gott;  einen  abscheulichen  Mörder  der  Unschul- 
digen. In  seiner  Beichte  sagt  er  von  sich:  „Ich  bin  ein 
stinkender  Hund,  ich  war  jederzeit  in  Trunkenheit  und 
Hurerei,  in  Ehebruch,  Unflätherei,  Totschlag  und  Blutver- 
gießen, Plündern,  Rauben  und  jeglicher  Schandtat**.  In  Wahr- 
heit verhöhnte  der  Zar  den  Himmel  wie  die  Menschen.  Den 
Teil  der  Zeit,  den  das  Mordhandwerk  ihm  übrig  ließ,  ver- 
brachte er  in  der  Kirche,  doch  nur  um  in  der  tiefsten  Stille 
über  neue  Blutpläne  nachdenken  zu  können.  Er  wollte  sein 
Schloß  in  ein  Kloster  verwandeln  und  seine  Lieblinge  zu 
Mönchen  machen.  Aus  seinen  Opritschniki  wählte  er  die 
dreihundert  allergottlosesten  aus;  er  bildete  aus  ihnen  eine 
Bruderschaft,  gab  ihnen  ein  Taffja  oder  Käppchen  und  ein 
schwarzes  Mönchsgewand.  Er  selbst  war  der  Abt  dieser 
Bruderschaft  und  ihr  nachahmenswertes  Vorbild.  Nach  der 
von  ihm  verfaßten  Klosterordnung  läutete  der  Zar  als  Abt 
um  vier  Uhr  Morgens  zur  Frühmesse;  wer  nicht  pünktlich 
erschien,  wurde  für  eine  Woche  eingekerkert.  Der  Morgen- 
gottesdienst  dauerte    bis    sechs   oder   sieben   Uhr.     Der    Zar 


10       

„sang  und  betete  eifrig  und  neigte  sein  Haupt  zur  Erde", 
aber  oft  unterbrach  er  sich  in  der  frommen  Andacht,  um 
grausame  Befehle  zu  erteilen.  Um  zehn  Uhr  fand  ein 
Brudermahl  statt.  Alle  saßen,  nur  der  Zar  stand  und  gab 
den  Genossen  seine  Unterweisungen,  wie  man  zum  Seelen- 
heil gelangen  könne.  Bei  diesem  Mahle  floß  Wein  oder  Meth 
in  Strömen,  jeder  Tag  im  Kloster  war  ein  Festtag.  Sobald 
das  Brudermahl  zu  Ende,  speiste  der  Zar-Abt  allein.  Hierauf 
folgten  religiöse  Unterhaltungen.  Nachdem  man  sich  ge- 
nügend erbaut  hatte,  trat  man  eine  Rundfahrt  durch  die 
Gefängnisse  an,  um  Unglückliche  foltern  zu  lassen.  War  das 
Schauspiel  befriedigend  ausgefallen,  kehrte  man  heiter  heim. 
Um  lo  Uhr  Abends  zog  sich  der  Zar  ins  Schlaf  gemach  zu- 
rück, wo  ihm  drei  Blinde  nacheinander  Märchen  erzählen 
mußten,  bis  er  sanft  einschlummerte. 

Fürst  Kurbskij  ist  der  Erste,  der  sich  gegen  den  Grau- 
samen zu  empören  wagt.  Aber  nur  aus  sicherer  Entfernung 
erhebt  er  seine  furchtbare  Anklage,  beginnend  mit  den  Wor- 
ten: „An  den  einst  herrlichen  Zaren,  jetzt  aber  im  Gewissen 
aussätzigen  Tyrannen,  dessengleichen  selbst  unter  den  Herr- 
schern der  Ungläubigen  nicht  gefunden  wirdi  Gibt  es  keinen 
Gott  und  keinen  höchsten  Richter  für  den  Zaren?  Die  Trä- 
nen der  unschuldigen  Opfer  bereiten  dem  Tyrannen  seine 
Strafe.  Fürchte  auch  die  Todten!  Die  von  dir  Erschlagenen 
stehen  lebend  vor  dem  Allerhöchsten;  an  seinem  Throne 
fordern  sie  Rache.  Deine  Kriegshaufen  retten  dich  nicht. 
Deine  Schmeichler,  die  unwürdigen  Bojaren,  die  Gesellen 
deiner  Schmausereien  und  deiner  Wollust,  die  Verderber  dei- 
ner Seele,  die  dir  ihre  Kinder  zum  Opfer  bringen,  machen 
dich  nicht  unsterblich!'*  Iwan  stieß  dem  Diener,  der  diese 
Botschaft  überbrachte,  einen  spitzigen  Eisenstab  durch  den 
Fuß,  stützte  sich  mit  aller  Wucht  auf  den  Stab  und  befahl 
dann  dem  Boten,  den  Brief  vorzulesen.  Ruhig  hörte  er  jetzt 
Kurbskijs  Klagen  an  und  gab  folgende  Antwort :  „Wir  dürfen 
nach  Belieben  unsere  Knechte  belohnen,  wir  dürfen  sie  auch 
nach  Belieben  hinrichten.  Bisher  haben  russische  Herrscher 
noch  keinem  Menschen  Rechenschaft  über  ihr  Tun  und  Lassen 
gegeben.**     Und  mit  diesen  Worten  eröffnete  er  seine  zweite 


—     13    — 

Mordejx)che.  Alle  wahren  oder  vorgeblichen  Freunde  des 
Fürsten  Kurbskij  wurden  samt  ihren  Familien  hingerichtet.  Als 
erstes  Opfer  fielen  der  Fürst  Gorbatij-Schujskij,  ein  direkter 
Abkömmling  des  heiligen  Wladimir,  und  sein  siebzehnjähriger 
Sohn  Peter.  Ohne  Furcht  und  Arm  in  Arm  schritten  beide  zur 
Richtstätte.  Der  Sohn  trat  zuerst  zum  Henker  und  beugte  sein 
Haupt  unter  das  Schwert;  er  wollte  den  Vater  nicht  sterben 
sehen.  Der  Vater  aber  schob  den  Sohn  schnell  beiseite  und 
bat:  „Laß  mich  dich  nicht  tot  sehen!**  Und  der  Jüngling  über- 
ließ heldenmütig  dem  Vater  den  Vortritt,  nahm  des  Teuern 
abgeschlagenes  Haupt  in  die  Hände,  und  indem  er  es  küßte, 
empfing  er  den  Todesstreich. i)  Am  selben  Tage  wurden  noch 
ein  Schwager  Gorbatijs  und  mehrere  andere  Fürsten  hinge- 
richtet; damit  das  einerlei  Köpfen  die  Zuschauer  nicht  ermü- 
dete, wurde  der  Abwechselung  halber  der  Fürst  Dmitrij  Sche- 
würew  auf  den  Pfahl  gespießt;  „er  lebte  am  Pfahle**,  berichtet 
der  Historiker,  „noch  einen  Tag  und  sang  ein  Loblied  zu  Ehren 
Christi.** 

Gleich  Ludwig  XI.  verbindet  Iwan  der  Schreckliche  die 
Grausamkeit  mit  der  Wollust.  Im  Juli  1568  befiehlt  er  seinen 
Henkern,  in  die  Häuser  jener  Kaufleute  und  Ratssekretäre  ein- 
zubrechen, deren  Weiber  im  Rufe  außerordentlicher  Schönheit 
stehen.  Man  schleppt  die  Frauen  aus  der  Stadt  hinaus  auf  einen 
Platz,  wo  der  Zar  für  eine  Nacht  sein  Quartier  aufgeschlagen 
hat.  Iwan  wählt  die  Schönsten  für  sein  eigenes  Lager  aus  und 
überläßt  die  übrigen  den  Günstlingen.  Zur  Feier  der  Orgie 
werden  alle  Herrenhäuser  in  der  Umgegend  niedergebrannt 
und  auch  das  Vieh  und  Getreide  vernichtet.  Am  anderen  Mor- 
gen bringt  man  die  geschändeten  Weiber  in  die  Häuser  ihrer 
Männer  zurück.  Dieses  Ereignis  bildet  die  Einleitung  zur 
dritten  Mordepoche,  die  sich  durch  Erfindung  neuer  Strafen 
auszeichnet.  Ein  unglücklicher  schwacher  Greis  namens  Feo- 
dorow  wird  verleumdet,  daß  er  dem  Zaren  nach  dem  Leben 


1)  Das  war  die  neue  Auflage  einer  weltgeschichtlichen  Tragödie:  Im  Jahre 
1 268  wurden  in  Rom  Konradin  der  Hohenstaufe  und  sein  Vetter  Friedrich  von 
Österreich  hingerichtet.  Friedrich  starb  zuerst,  Konradin  hob  des  Vetters  Haupt 
auf  und  während  er  es  küßte,  traf  ihn  selbst  der  Streich. 


—     14    — 

trachte  und  selbst  den  Thron  anstrebe.  Iwan  glaubt  gern  das 
unsinnige  Märchen  und  rächt  sich  also :  Er  bekleidet  den  Feo- 
dorow  mit  dem  zarischen  Gewände,  setzt  ihm  die  Krone  aufs 
Haupt,  drückt  ihm  das  Zepter  in  die  Hand  und  zwingt  ihn,  auf 
dem  Throne  Platz  zu  nehmen.  Dann  spricht  er  feierlich-höh- 
nisch zu  ihm :  „Sei  gesund,  großer  Zar  des  russischen  Landes. 
Siehe,  die  ersehnte  Ehre  hast  du  von  mir  empfangen.  Da  ich 
aber  die  Macht  habe  dich  zum  Zaren  zu  machen,  so  habe  ich 
auch  die  Macht,  dich  wieder  vom  Throne  zu  schleudern.**  Und 
mit  diesen  Worten  stößt  der  Zar  dem  Greise  ein  Messer  ins 
Herz.  Auf  das  Signal  hin  fallen  die  Opritschniki  über  den  Ster- 
benden her,  reißen  ihn  in  Stücke  und  schleppen  den  Fleisch- 
klumpen aus  dem  Palast  auf  die  Gasse,  um  den  Leichnam  den 
Hunden  vorzuwerfen.  Dasselbe  Schicksal  trifft  die  altersgraue 
Gattin  des  Märtyrers  und  eine  Unzahl  angeblicher  Mitver- 
schworener. Einige  zog  man  nackt  aus ;  dann  hieb  man  ihnen 
den  Kopf  ab  und  warf  den  Rumpf  ins  Wasser.  Den  Fürsten 
Schtschenjätew  überfiel  man  im  Kloster,  wo  er  weltfern  seinen 
Lebensabend  verbrachte,  und  quälte  ihn  zu  Tode ;  der  Fromme 
sollte  als  ein  Heiliger  den  Martertod  erleiden,  und  der  Zar  be- 
fahl, ihn  in  seiner  Zelle  auf  einer  Pfanne  zu  rösten  und  ihm 
währenddem  Stacheln  unter  die  Nägel  zu  treiben.  Dem  stein- 
alten Fürsten  Pronskij  wurde  die  Gnade  zu  teil,  einfach  ertränkt 
zu  werden.  Den  Schatzmeister  Tjutin  nebst  Frau,  zwei  kleinen 
Söhnen  und  zwei  blühenden  Töchtern  hieb  der  Fürst  Tscher- 
kaßkij,  der  Schwager  des  Zaren,  eigenhändig  in  Stücke.  Zer- 
fleischen ist  die  Licblingsmethode  der  dritten  Mordepoche. 
,Die  Opritschniki'*,  erzählt  der  Historiker,  „liefen  mit  langen 
Messern  und  Äxten  bewaffnet  in  der  Stadt  umher,  suchten 
nach  Opfern  und  erschlugen  täglich  zehn  bis  zwanzig  Men- 
schen.** Mit  Vorliebe  mordeten  sie  die  Betenden  in  den  Kir- 
chen. In  allen  Straßen  floß  das  Blut,  lagen  die  Leichen  unbe- 
erdigt,  da  sich  niemand  aus  den  Häusern  wagte,  um  die  Er- 
mordeten zu  bestatten.  „Durch  die  Totenstille  in  Moskwa  scholl 
nur  das  fürchterliche  Geheul  der  Henkersknechte.** 

Demütigend  gering  ist  die  Zahl  jener,  die  dem  Massen- 
mörder im  Hermelinsgewande  entgegenzutreten  den  Mut  haben. 
Der  Zar  kredenzte  dem  Bojaren  Mitkow  eine  Schale  Meth,  erhielt 


—     15    — 

jedoch  zur  Antwort :  „O  Zar,  du  befiehlst  uns,  zugleich  mit  dir 
Meth  zu  trinken,  der  mit  dem  Blute  unserer  Brüder,  recht- 
gläubiger Christen,  vermischt  ist.**  Der  Zar  gab  dem  kühnen 
Sprecher  statt  Meth  den  Tod,  er  durchbohrte  ihn  auf  der  Stelle 
mit  seinem  gewöhnlichsten  Mordwerkzeug,  dem  scharfen  Eisen- 
stabe. Ein  anderer  Held  ist  der  Metropolit  Filip.  An  einem 
Sonntag  dieses  unheimlichen  Jahres  1568  tritt  Iwan  der  Schreck- 
liche in  die  Kathedrale  zur  Himmelfahrt  Maria.  Der  Metropolit 
blickt  starr  auf  das  Bild  des  Erlösers  und  scheint  den  Herrscher 
nicht  zu  bemerken.  Bestürzt  eilen  die  Bojaren  zum  Metro- 
politen hin  und  rufen  ihm  zu :  „Heüiger  Vater,  hier  ist  der  Zar ! 
Heiliger  Vater,  segne  ihn!**  Der  Metropolit  aber  spricht  mit 
dröhnender  Stimme:  „Ich  erkenne  den  Zaren  nicht I  O  Herr, 
wir  bringen  hier  Gott  unser  Opfer,  und  jenseits  des  Altars  fließt 
unschuldiges  Christenblut.  Seitdem  die  Sonne  am  Himmel 
glänzt,  ist  es  nicht  gesehen  noch  gehört  worden,  daß  gottcs- 
fürchtige  Zaren  ihre  eigenen  Staaten  so  furchtbar  zerrütteten. 
Selbst  in  ungläubigen  heidnischen  Reichen  giebt  es  Gesetze 
und  Recht,  Barmherzigkeit  gegen  die  Menschen  —  aber  in 
Rußland  nicht.  Vermögen  und  Leben  der  Bürger  sind  ohne 
Schutz.  Überall  Raub,  überall  Mord ;  und  im  Namen  des  Zaren 
werden  sie  verübt.  Noch  stehst  du  auf  dem  Throne.  Aber  es 
ist  ein  Höchster  dein  und  unser  Richter.  Wie  wirst  du  vor 
seinen  Richterstuhl  treten,  befleckt  mit  dem  Blute  der  Unschuld, 
betäubt  von  dem  Geheul  ihrer  Qual?  Denn  selbst  die  Steine 
unter  deinen  Füßen  schreien  um  Rache.  Herr,  ich  spreche  als 
Hirt  der  Seelen;  ich  fürchte  nur  den  einzigen  Gott!**  Iwan 
stand  sprachlos  da,  zitternd  vor  Wut.  Dann  stieß  er  mit  seinem 
Stabe  von  Eisen  gegen  die  steinerne  Diele  und  schrie  mit 
grauenerregender  Stimme :  „Pfaff,  bis  jetzt  hatte  ich  euch  Auf- 
rührer zu  sehr  geschont ;  künftig  werde  ich  so  sein  wie  ihr  mich 
schildert!**  Und  nun  beginnt  eine  neue  Serie  von  Hinrich- 
tungen; die  hervorragendsten  kirchlichen  Würdenträger  wer- 
den als  Verräter  angezeigt,  verhaftet,  gefoltert  und  dem  Henker 
überliefert.  Nur  an  den  Metropoliten  selbst  wagt  sich  der  Zar 
doch  nicht.  Er  hält  die  Formen  ein,  läßt  Filip  regelrecht  als 
Zauberer  anklagen  und  vor  Gericht  stellen.  Der  Metropolit  sagt 
unerschrocken :   „Es   ist   besser  als   unschuldiger   Märtyrer  zu 


—     16    — 

sterben,  denn  als  Metropolit  die  Schrecken  und  Frevel  dieser 
unglücklichen  Zeit  stumm  mitanzusehen**;  und  erklärt,  seine 
Würde  niederzulegen.  Der  Zar  schreit  ihn  zornig  an:  ,,Du 
bist  nicht  dein  eigener  Richter!**  reißt  ihm  die  bischöfliche 
Kleidung  ab  und  läßt  ihn  mit  dem  Besen  aus  der  Kirche  fegen. 
Filip  wird  zunächst  in  ein  Kloster  gesperrt  und  durch  Hunger 
gefoltert.  Eines  Tages  öffnet  sich  die  Tür  seiner  Kerkerzelle 
und  man  bringt  ihm  auf  einer  Schüssel  seines  Neffen  Haupt 
nebst  der  zarischen  Botschaft :  „Da  ist  dein  lieber  Verwandter, 
deine  Zaubereien  haben  ihm  nichts  geholfen.**  Und  zum  zweiten 
Male  erscheint  ein  Abgesandter  Iwans  bei  Filip,  um  für  den 
Mörder-Zaren  spöttisch  den  Segen  des  Ex-Metropoliten  zu  ver- 
langen. Fest  entgegnet  Filip:  „Man  segnet  nur  die  Guten!** 
Auf  dieses  Trotzwort  antwortet  der  Zarenbote  mit  Erdrosselung. 
Die  Mönche-Zellengenossen  begraben  vor  Entsetzen  zitternd  in 
aller  Heimlichkeit  in  einer  schnell  aufgeworfenen  Grube  hinter 
dem  Altar  die  Leiche  des  Heldenpriesters.  Nun  ist  der  Zar 
auch  dieses  unbequemen  Warners  und  Richters  ledig,  und  er 
wütet  ärger  als  zuvor.  Er  ermüdet  sogar  seine  Henker,  deren 
mordgewohnte  Arme  nicht  mehr  fähig  sind  das  grauenvolle 
Handwerk  unausgesetzt  bei  Tag  und  Nacht  zu  üben.  Ein  Ein- 
ziger erschlafft  nicht  in  der  blutigen  Tätigkeit  und  das  ist  Iwan 
selbst.  Für  ihn  gibt  es  keine  Lust  mehr  als  diese :  die  Menschen 
leiden  und  sterben  zu  sehen.  Die  Verzweiflung  seiner  Höf- 
linge, Bojaren  und  Untertanen  ist  die  Würze  seiner  Mahlzeiten ; 
die  Erde,  über  die  er  schreitet,  muß  bedeckt  sein  mit  einem 
Teppich  von  Menschenfleisch.  Sein  Mißtrauen  kann  nur  ge- 
bannt werden  durch  Mord  ohne  Grenze;  die  Furcht,  die  er 
selbst  vor  seinem  Nächsten  empfindet,  erstickt  er  durch  das 
Entsetzen,  das  er  verbreitet,  wo  er  erscheint  mit  seinem  von 
Häßlichkeit  entstellten  Antlitz  und  seinem  blutbefleckten 
spitzigen  Eisenstab,  seinem  unzertrennlichen  Begleiter. 

Dem  Schrecklichen  genügt  nicht  die  Ermordung  einzelner. 
Er  will  ganze  Familien  auf  einmal  sterben  sehen.  Fällt  einer 
in  Ungnade,  so  wird  alles  hingerichtet,  was  mit  dem  Unheil- 
vollen in  Verbindung  gebracht  werden  kann.  Mit  peinlichster 
Sorgfalt  werden  seine  entferntesten  Verwandten  aus  den  ver- 
borgensten Winkeln  hcrbeigezerrt  und  aufs  Schaffot  geschleppt. 


—     17     — 

Greise  und  Säuglinge  werden  nicht  geschont,  schwangere 
Frauen  und  unschuldige  Mädchen  dem  Henker  dargebracht. 
Dann  folgen  den  Menschenopferungen  die  Opferungen  von 
Städten,  endlich  von  Provinzen.  Nicht  bloß  alles  lebende, 
auch  das  unbewegliche  Gut  des  Volkes  fällt  der  Vernichtung 
anheim.  Die  Tiere  auf  dem  Felde  und  im  Walde  werden  abge- 
schlachtet ;  die  Flüsse  und  die  Seen  vergiftet,  um  die  Fische  im 
Wasser  zu  verderben;  die  Herrenhäuser  und  die  Hütten  der 
Bauern  in  Asche  und  Trümmer  gelegt  und  das  Getreide  in  den 
Scheunen  verbrannt.  Das  ist  der  Pogrom  i),  diese  echt  russische 
Zerstörungswut,  die  alle  Dämme  überflutet,  vor  dem  Heiligsten 
nicht  Halt  macht  und  nicht  gebändigt  ist,  solange  noch  ein 
Nagel  in  der  Mauer,  ein  Stein  auf  dem  anderen.  Um  im  Großen 
sein  eigenes  Volk  umbringen  zu  können  und  wenigstens  einen 
Schein  der  Rechtfertigung  für  sich  zu  haben,  erfindet  Iwan  eine 
Verschwörung  der  Provinz  gegen  das  Schreckensregiment  in 
Moskau.  Er  tritt  mit  seinen  Opritschniki  den  Rachezug  an  und 
überfällt  die  Stadt  Klin  im  Gebiete  von  Twer.  In  wenigen 
Stunden  ist  aus  dem  blühenden  Orte  ein  Trümmerhaufen  ge- 
worden, und  da  die  Würger  die  Stätte  des  Unglücks  verlassen, 
bleibt  darin  nur  der  Tod  zurück:  weder  Weiber  noch  Kinder 
sind  verschont  worden,  kein  einziger  Einwohner  von  Klin  ist 
mit  dem  Leben  davongekommen.  Von  Klin  geht  der  Zug  der 
Mörder  nach  Twer.  Hier  wird  fünf  Tage  lang  gemordet  und 
geplündert;  kein  Haus  bleibt  unversehrt,  und  was  nicht  mit- 
genommen werden  kann,  wird  an  Ort  und  Stelle  vernichtet. 
Das  blutige  Schauspiel  wiederholt  sich  in  Medny  und  in  Tor- 
schok,  wo  sich  der  Zar  den  Spaß  vergönnt,  die  krymschcn  und 
livländischen  Gefangenen  an  ihren  Ketten  ermorden  zu  lassen. 
Und  so  fort  Ort  um  Ort,  Tag  um  Tag.  Wehe  dem,  der  diesen 
blutgierigen  Scharen  in  den  Weg  tritt!  Kein  Mensch,  kein 
Tier  wird  am  Leben  gelassen;  kein  Warner  soll  übrig  bleiben, 
um  die  bedrohten  Städte  vor  dem  drohenden  Unheil  zu  retten. 


')  Dieses  heute  vielgebrauchte  Wort  iiorpoMh  bedeutet  wörtlich  Vcrhcc- 
rung;  es  stammt  vom  Verbum  iiorpuMiiXb,  zu  Trümmern  zerschlagen,  verwüsten. 
Bei  den  Judenverfolgungen  der  neuesten  Zeit  feiert  diese  russische  Zerstörungs- 
sucht ihre  höchsten  Triumphe;  man  hat  sich  deshalb  gewöhnt,  ein  Judcn- 
massakrc  einfach  einen  Pogrom  zu  nennen,  eine  Verwüstung  ohne  Rest. 
Stern,  Geschichte  der  öfleiitl.  Sittlichkeit  in  Ruülaud.  **  2. 


—    18    — 

So  kommen  Iwans  Vortruppen  am  5.  Januar  1570  unbemerkt 
vor  Nowgorod  an.  Die  Stadt  wird  durch  Schlagbäume  von 
der  Außenwelt  abgeschlossen,  damit  sich  niemand  flüchten 
könne.  Dann  dringt  eine  Schar  der  Opritschniki  in  die  Stadt 
und  versiegelt  die  Kirchen  und  Klöster,  fesselt  die  Mönche 
und  die  Geistlichen.  Die  Opritschniki  legen  jedem  Popen  und 
jedem  Mönch  eine  Abgabe  von  zwanzig  Rubel  auf.  Wer  das 
Geld  nicht  sofort  erlegt,  wird  öffentlich  vom  Morgen  bis  zum 
Abend  gepeitscht.  Alle  Kaufleute  und  Gerichtspersonen  werden 
an  Ketten  gelegt,  alle  Frauen  in  den  Häusern  eingesperrt.  Toten- 
still werden  die  Gassen,  wie  ausgestorben  erscheint  die  große 
Stadt.  In  dieser  bangen  Ruhe  erwartet  man  des  Zaren  Ankunft. 
Am  Tage,  wo  er  vor  den  Toren  von  Nowgorod  eintrifft,  schleppt 
man  die  Mönche  und  Popen  auf  den  Marktplatz ;  mit  ihrer  Hin- 
richtung feiert  man  das  Erscheinen  des  Herrschers;  mit  Keulen 
schlägt  man  sie  tot,  und  ihre  Leichen  läßt  man  unbeerdigt  auf 
den  Gassen  liegen.  Am  8.  Januar  rückt  endlich  der  Zar  mit 
seinem  Sohne  in  Nowgorod,  das  vor  Entsetzen  erstarrte,  ein. 
Auf  der  großen  Brücke,  die  über  den  Wolchowfluß  führt,  geht 
der  Erzbischof  dem  Schrecklichen  entgegen,  mit  den  wunder- 
tätigen Heiligenbildern  in  den  Händen,  mit  zitternder  Stimme 
fromme  Segenswünsche  auf  das  Haupt  des  verruchtesten  Men- 
schen herabflehend.  Aber  Iwan  schiebt  den  Erzbischof  schroff 
beiseite  und  schreit  ihn  an :  „Nicht  das  lebenschaffende  Kreuz 
ist  in  deiner  Hand,  sondern  die  mörderische  Waffe,  die  du  uns 
ins  Herz  stoßen  willst.  Ich  kenne  deinen  Anschlag.**  Dennoch 
befiehlt  er  dem  Priester,  in  die  Kirche  zu  gehen  und  den  Gottes- 
dienst abzuhalten ;  Iwan  hört  die  Lithurgie  und  betet  inbrünstig. 
Zum  Mittagsmahle  erscheint  er  im  erzbischöflichen  Palaste  und 
läßt  den  Erzbischof  an  seiner  Seite  sitzen;  mitten  im  Mahle 
aber  schreit  er  mit  fürchterlicher  Stimme  auf,  und  auf  sein 
wütendes  Signal  hin  ergreifen  die  Opritschniki  den  Erzbischof 
und  beginnen  eine  allgemeine  Plünderung.  Iwan  und  sein 
Sohn  begeben  sich  auf  den  Stadtplatz,  um  hier  Gericht  zu  halten 
über  Nowgorod  und  die  Nowgoroder.  Täglich  schleppt  man 
fünfhundert  bis  tausend  Männer  vor  den  Zaren  und  den  Zaren- 
sohn. Keiner  kann  eines  Verbrechens  überwiesen  werden, 
keiner  ist  sich  einer  Schuld  bewußt ;  aber  alle  werden  verurteilt, 


—    19    — 

niemand  besteht  vor  dem  Gericht,  das  keine  Gnade  kennt,  das 
nicht  Gerechtigkeit  sucht,  sondern  Mord  und  Schrecken  ver- 
breiten will.  In  langen  schier  endlosen  Reihen  schleift  man 
die  Opfer  vom  Gericht  zur  Richtstätte.  Da  wird  einer  mit  einer 
glühenden  Masse  überschüttet,  ein  anderer  mit  dem  Kopf  oder 
den  Füßen  an  einen  Schlitten  gebunden  und  in  rasendem  Lauf 
in  den  Fluß  geschleppt.  Ganze  Familien  werden  mit  Stricken 
zusammengebunden,  Männer  mit  ihren  Frauen,  die  Mütter  mit 
ihren  Säuglingen,  und  wie  Ballen  ins  Wasser  gerollt.  Eifervoll 
rudern  die  Opritschniki  in  Kähnen  den  Wolchowfluß  auf  und 
ab;  mit  Pfählen,  Äxten  und  Fischerhaken  sind  sie  bewaffnet, 
um  jene,  die  sich  vielleicht  noch  über  Wasser  halten,  aufzu- 
gabeln, abzustechen  und  in  Stücke  zu  hauen.  Das  ist  eine 
anstrengende  Arbeit,  bei  Tag  und  bei  Nacht  ununterbrochene 
Aufmerksamkeit  erfordernd.  Das  Morden  währt  Woche  um 
Woche,  fünf  Wochen  lang.  Erst  als  Iwan  das  sechzigtausendste 
Todesurteil  gesprochen,  steckt  er  sein  Schwert  wieder  in  die 
Scheide  und  befiehlt  plötzlich  Frieden.  Von  den  armseligen 
Resten  der  Bewohnerschaft  läßt  er  aus  jeder  Gasse  je  einen 
Mann  herbeischleppen.  Aus  den  tiefsten  Gruben,  den  heim- 
lichsten Kellern  kriechen  sie  hervor,  zaghaft  und  ungläubig, 
da  man  ihnen  Freiheit  und  Leben  zusichert.  „Schattengleich, 
bleich  und  abgezehrt  erschienen  sie,*'  schreibt  der  Chronist, 
„aber  der  Zar  sah  sie  an  mit  gnädigem  und  sanftem  Auge,  in 
dem  aller  Zorn  erloschen  schien,**  und  sprach :  „Betet  zum  Herrn 
für  die  wahre  gottesfürchtigc  Zarenherrschaft.  Gott  richte  den 
Verräter,  eueren  Erzbischof  Pimen.  Von  ihm  werde  das  Blut 
gefordert,  das  hier  geflossen  ist.  Nun  mögen  Weinen  und 
Wehklagen  verstummen,  lebt  und  gedeiht  in  dieser  Stadt  I** 
Dann  befahl  er,  den  Erzbischof  ,,in  schlechter  Kleidung,  mit 
einem  Dudelsack  und  einer  Schellentrommel  in  den  Händen, 
einem  Possenreißer  gleich,  auf  eine  weiße  Stute  zu  setzen**  imd 
nach  Moskau  zu  führen.  Er  selbst  aber  begab  sich  nach  Pskow, 
um  dieser  Stadt  das  Schicksal  Nowgorods  zu  bereiten.  Pskows 
Bürger,  gewarnt,  eilten  beim  Nahen  des  Zaren  alle  auf  die 
Gassen,  kniend  boten  sie  dem  Herrscher  Salz  und  Brot  an  und 
flehten:  „Nimm  Brot  und  Salz  von  deinen  liebenden  treuen 
l^ntertanen;  aber  mit  unserem  Leben  thue  nach  deinem  Gc- 


—     20     — 

fallen,  denn  Alles,  was  wir  haben,  und  wir  selbst  sind  dein, 
großer  Selbstherrscher!**  Diese  Unterwürfigkeit  allein  hätte 
Pskow  wohl  nicht  gerettet;  es  trat  indessen  ein  Ereignis  ein, 
das  den  Schrecklichen  verjagte.  Ein  Blödsinniger  reichte  dem 
Zaren  statt  Salz  und  Brot  ein  Stück  rohen  Fleisches.  „Ich  bin 
ein  Christ,**  entgegnete  Iwan,  „und  esse  in  den  Großen  Fasten 
kein  Fleisch.'*  Da  schrie  der  Blödsinnige  dem  Zaren  ins  Ge- 
sicht :  „Du  thust  Schlimmeres,  du  nährst  dich  von  Fleisch  und 
Blut  der  Menschen.**  Bei  diesen  Worten  des  Irren  überfiel  den 
Fürchterlichen  eine  unbegreifliche  Angst.  Er  wagte  nicht,  den 
frechen  Sprecher  anzurühren,  kehrte  auf  der  Stelle  um  und 
befahl  seinen  Truppen:  „Stumpft  euere  Schwerter  an  den 
Steinen  ab  !** 

Für  das  unterlassene  Pskower  Blutbad  entschädigt  sich 
Iwan  in  Moskau.  Diesmal  sind  es  des  Zaren  vornehmste  Günst- 
linge und  Lieblinge,  die  ihr  Haupt  unter  das  Henkerbeil  beugen 
müssen.  Sie  alle,  die  bisher  an  der  wilden  Menschenjagd  teil- 
genommen haben,  die  unbarmherzig  ungerührte  Jäger  waren, 
sie  alle  smd  nun  selber  das  gehetzte  Wild.  Dem  nach  immer 
neuen  grausamen  Aufregungen  lüsternen  Herzen  Iwans  ist  dies 
ein  seltsam  prickelnder  Genuß :  die  Henker  auf  der  Schlacht- 
bank als  Opfer  zu  sehen.  Des  Zaren  innigste,  allerintimste 
Freunde  schreiten  in  der  neuen  langen  Reihe  der  Märtyrer 
obenan.  Da  ist  der  Knjäs  Wjäsemskij.  .  Iwan  hatte  zu  ihm 
ein  blindes  Vertrauen.  Ewig  von  der  Furcht  vor  Meuchelmord 
erfüllt,  traute  er  nur  diesem  Genossen  seiner  Schandtaten;  war 
er  in  Krankheitsfällen  genötigt,  ein  Medikament  seines  Leib- 
arztes Arnulph  Lensäus  zu  nehmen,  so  empfing  er  das  Heil- 
mittel aus  Wjäsemskijs  Händen;  zog  er  sich  nachts  in  sein 
Schlafgemach  zurück,  dann  wachte  Wjäsemskij  an  des  Wüte- 
richs Lager,  ihn  in  sanften  Schlummer  lullend  durch  Entwurf 
neuer  Mordpläne,  durch  die  erquickende  Ausmalung  künftiger 
Greuelszenen.  Und  währenddem  schon  schwelgt  der  Zar  in 
dem  himmlisch  freudigen  Gedanken,  dieses  Werkzeug  seiner 
Schandlüste  hinrichten  zu  lassen.  Ein  Wojewode,  den  Wjä- 
semskij mit  Wohltaten  überhäuft  hat,  denunziert  den  Wohltäter 
beim  Zaren  als  Verräter.  Iwan  untersucht  nichts,  fragt  nichts, 
sagt   nichts.     Aber   des  Günstlings   Schicksal   ist  entschieden. 


—    21     — 

Eines  Abends  kehrt  Fürst  Wjäsemskij  aus  dem  Kremlj  in  sein 
Wohnhaus  zurück;  da  findet  er  im  Vorzimmer  den  Leichnam 
seines  Dieners.  Er  kennt  solches  Vorspiel;  er  weiß,  was  ihm 
bevorsteht,  er  weiß  auch  besser  als  jeder  andere,  daß  sein 
Los  unabänderHch  ist,  und  klaglos  ergibt  er  sich  darein.  Nach 
Wjäsemskij  werden  Basmanow  Vater  und  Sohn  ins  Gefängnis 
geworfen;  der  junge  Theodor  Basmanow  war  des  Zaren  Bett- 
genosse und  Lustknabe,  das  rettet  ihn  nicht.  Sie,  die  unzählige 
dem  Zaren  zu  Gefallen  zu  Tode  gemartert  haben,  werden  nun 
selbst  zur  Freude  des  Zaren  unmenschlich  gefoltert,  bis  sie 
sinnlos  vor  Qualen  Verbrechen  gestehen,  die  sie  nie  zu  erdenken 
gewagt  hätten,  und  hunderte  Namen  von  Mitschuldigen  nennen, 
die  niemals  mit  ihnen  in  Verbindung  gestanden.  Das  ist  dem 
Zaren  ein  wahres  Fest,  die  Häupter  seiner  Höchsten  zu  fällen. 
Am  25.  Juli  1570  läßt  er  auf  dem  Marktplatz  von  Kitajgorod 
alles  zu  dem  Schauspiel  herrichten.  Achtzehn  gewaltige  Galgen 
werden  aufgestellt  und  symmetrisch  umgeben  von  den  selt- 
samsten Marterwerkzeugen.  In  der  Mitte  des  Platzes  erhebt 
sich  ein  riesiger  Scheiterhaufen  und  über  diesem  ist  an  einem 
Seil  eine  Kufe  mit  Wasser  aufgehängt.  Die  unheimlichen  Vor- 
bereitungen jagen  den  Moskowitern  einen  unbeschreiblichen 
Schrecken  ein.  Ängstlich  flüstert  man  einander  zu,  daß  der 
Zar  nach  Nowgorods  U-ntergang  nun  auch  den  Moskaus  selbst 
beschlossen  habe.  Rette  sich  wer  kann !  Es  beginnt  eine  allge- 
meine Flucht  der  Einwohner  in  die  Keller  und  auf  die  Dächer. 
Die  Kaufleute  lassen  ihre  Geschäfte  im  Stich,  in  offenen  Maga- 
zinen liegen  die  kostbarsten  Waren  herum ;  man  brauchte  nur 
zuzugreifen  und  könnte  Vermögen  erhaschen  an  Ck)ld  und  Ju- 
welen. Aber  wer  denkt  an  Raub  und  Reichtum,  da  der  tausend- 
fache Tod  einem  auf  allen  Gassen  droht!  Unberührt  bleiben 
die  fortgeworfenen  Kostbarkeiten,  jedweder  ist  nur  darauf  be- 
dacht, das  nackte  Leben  zu  retten  vor  den  Qualen  der  Torturen, 
die  Iwans  Geist  tagtäglich  neu  erfindet.  Durch  die  stillen 
starren  Gassen  ertönt  plötzlich  der  Schall  der  Becken,  der 
Schritt  von  schwergepanzerten  Rossen,  Stöhnen  von  Verurteilten 
und  Klirren  von  Ketten.  Voran  zieht  in  festlichem  Gewände 
der  große  Zar,  und  ihm  zur  Seite  sein  geliebter  ältester  Sohn 
Iwan,  der  Erbe  seines  Namenfe  und  seines  Reiches,  seines  Sinnes 


09      

— —      ^^ 

und  seiner  Grausamkeit.  Den  beiden  folgt  die  Schar  der  Bo- 
jaren und  Fürsten,  die  Legion  der  Opritschniki,  und  endlich 
die  lange  Reihe  der  Verurteilten,  hunderte  und  hunderte  der 
Vornehmsten  des  Landes;  gestern  noch  an  der  Spitze  der 
Verwaltung,  auf  dem  Gipfel  der  Macht,  auf  beneidetem  Platze 
an  der  Sonne,  sind  sie  heute  unglücklicher  und  ärmer  als 
die  Elendsten  der  Gasse,  schleppen  sie  ihre  zerfleischten 
Leiber  unter  der  Eisenlast  der  Marterwerkzeuge  zu  der  Bühne 
ihrer  Leiden.  Jäh  macht  der  Zug  Halt,  und  der  Zar  fragt, 
weshalb  kein  Volk  zu  sehen.  Man  sagt  ihm  den  Grund.  Da 
befiehlt  der  Herrscher,  Leute  herbeizuschaffen,  Publikum  für 
das  Schauspiel.  Er  selbst  spornt  sein  Roß,  zieht  durch  alle 
Straßen,  ruft  überall  seine  treuen  Moskowiter  auf,  Zeugen 
seines  Gerichts  zu  sein,  das  nicht  dem  Volke,  sondern  den 
Großen  droht.  Rache  und  Strafe  denen,  die  dem  Rufe 
nicht  gehorchen;  Gnade  und  Sicherheit  jenen,  die  den  Mut 
haben,  ihre  Verstecke  zu  verlassen  und  sich  rund  um  die 
Galgen  als  Zuschauer  zu  scharen.  Nachdem  die  Opritschniki 
dem  Zaren  das  verlangte  Volk  herbeigeschleppt,  ruft  Iwan: 
„Volk,  du  wirst  Qualen  sehen  und  Tod.  Doch  ich  züchtige 
Verräter.  Antworte,  Volk:  ist  mein  Gericht  gerecht?**  Und 
alle  antworten:  „Langes  Leben  dem  großen  Zaren,  Unter- 
gang den  Verrätern!**  Und  dann  beginnt  das  Schauspiel.  Zu- 
erst fällt  das  Haupt  Wjäsemskijs.  Hierauf  befiehlt  Iwan  dem 
jungen  Basmanow,  den  alten  Basmanow  zu  erschlagen;  be- 
fiehlt dem  Fürsten  Nikita  Prosorowskij,  seinen  Bruder  zu  er- 
morden. Nachdem  das  Grauenvolle  geschehen,  werden  der 
junge  Basmanow  und  der  Fürst  Nikita  Prosorowskij  als  Vater- 
mörder und  als  Brudermörder  gerichtet  und  hingerichtet. 
Auf  daß  das. Volk  des  Zaren  Gericht  gerecht  und  groß  finde, 
werden  nicht  alle  Verurteilten  nach  gleichem  Maße  behandelt. 
Die  Einen  werden  zerstückelt,  andere  auf  der  rechten  Seite 
mit  siedendem,  auf  der  linken  Seite  mit  eiskaltem  Wasser 
überschüttet.  In  einer  Ecke  des  Platzes  wird  gehenkt,  in  einer 
anderen  gespießt.  Iwan  selbst  nimmt  Teil  am  Vergnügen. 
Einen  alten  Mann  duchstößt  er  kunstgerecht  mit  der  Lanze, 
einen  anderen  nagelt  er  mit  dem  spitzen  Stab  an  die  Erde, 
einen  dritten    erschlägt  er    mit    der  Keule.     In  vier  Stunden 


—     23     — 

werden  zweihundert  Menschen  geschlachtet.  Iwan  ist  befriedigt 
von  der  Blutmahlzeit  und  gesättigt,  doch  es  gelüstet  ihn  noch 
nach  einem  süßen  Nachtisch.  So  reitet  er  denn  hinweg  von 
dem  Mordplatz,  um  einzukehren  in  die  Häuser  der  Ermor- 
deten, und  der  Klagen  der  Witwen,  der  Tränen  der  Waisen 
zu  spotten,  den  Beraubten  ihre  letzten  Habseligkeiten  zu  ent- 
reißen. Im  Hause  des  hingerichteten  Tunikow  gefällt  dem 
Zaren  des  Ermordeten  fünfzehnjährige  Tochter;  unter  dem 
Tränenschleier  leuchtet  ihre  Schönheit  in  überirdischem 
Glänze,  der  Herrscher  will  sie  zur  Märtyrerin  machen,  und 
während  der  Zar  die  Mutter  foltert,  wird  die  Tochter  vom 
Zarensohn  vergewaltigt.  Nach  solchem  Tagewerk  gönnt  sich 
Iwan  eine  Pause;  eine  Pause  von  drei  Tagen,  und  dann  hält 
er  Gericht  über  eine  neue  Serie  von  Edelleuten.  Diesmal 
ist  die  Strafe  gleich  für  alle:  die  Verurteilten  werden  er- 
schlagen, hierauf  in  eine  Reihe  gelegt,  und  der  Anführer  der 
Henkersknechte,  Maljuta  Skuratow,  zerhackt  die  Leichname 
mit  Beilen  in  Stücke,  die  den  Hunden  als  Fraß  vorgeworfen 
werden.  Die  Weiber  der  erschlagenen  Edelleute  endlich,  acht- 
zig an  Zahl,  schleppt  man  gebunden  herbei  und  ersäuft  sie 
im  Flusse.^) 

Und   Niemand    erhebt   sich   gegen   den    Mörder.    Stumm 


*)  Die  Wahrhaftigkeit  der  "  Schilderungen  T  russischer  Historiker  wird 
durch  die  zeitgenössischen  nichtrussischen  Chronisten  erhärtet.  So  erzählt 
Th.  Hiärns  Lyf-,  Ehst-  und  Lettländische  Geschichte,  Seite  277,  aus  dem 
Jahre  1 567 :  ,,Welchergestalt  Iwan  zu  Moskau,  Nauwogorod,  Pleskau  und  anderen 
örter  gantze  Familien  ohnangesehen  einigen  Geschlechts,  Alters  oder  Standes 
ausgerottet,  selbige  an  Weib,  Kinder,  Gesinde,  Viehe,  Hunde,  Katzen,  ja  die 
Fische  im  Wasser  und  alles,  was  sie  hatten,  durch  seine  Aprißniken,  welche  zwar 
sonst  die  außerwehltesten  Kriegsleute  der  Reußen  seyn,  anjetzo  aber  von  dem 
Großfürsten  für  nichts  anders  alß  Henckersbuben  gebrauchet  werden  mit  un- 
menschlicher Tyranney  tödten,  würgen  und  gäntzlich  vertilgen,  ehrliche  Frauen 
und  Jungffern  schänden  und  nackend  herumb  schleppen  lassen,  den  Einwohnern 
alles  das  Ihrige  beraubet  und  dergestalt  einen  unglaublichen  Schatz,  so  mit  vieler 
Hunderttausenden  unschuldigem  Blut  besudelt,  zusammengebracht,  in  seinem 
eigenen  Lande  so  viel  hundert  Edcl-Höfe,  Flecken  und  Dörffer  ausgebrant  .... 
Sogar  erstreckte  sich  dieses  Unmenschen  Tyranney  nicht  allein  über  seine  eigene 
unschuldige  Unterthanen  und  kleine  Kinder,  sondern  auch  leblose  Dinge  und 
seiner  eigenen  Länder  Früchte  und  Waren". 


—     24     ~ 

und  geduldig  ertragen  die  Vornehmen  und  Geringen  die 
Qualen,  die  der  Tyrann  ihnen  bereitet,  vor  dem  kein  Ein- 
ziger Wert  und  Ansehen  genießt.  Er  allein  mit  seinem 
scharfen  Eisenstabe  und  seinem  furchtbaren  Blick  hält  Alle 
in  Zittern  und  Demut,  in  Willenlosigkeit  und  Gehorsam.  Er 
erhebt  seine  Stimme,  und  wortlos  sinken  Hunderte  und  Tau- 
sende in  den  Staub  vor  ihm;  er  erhebt  seine  Hand,  und 
klaglos  wälzen  sich  die  Scharen  aufs  Schaffot.  Wer  be- 
steht neben  dem  Zaren,  dem  großen  Selbstherrscher?  Wer 
ist  reich,  wer  vornehm?  Wer  darf  sich  rühmen  seiner  Ver- 
dienste, seiner  Siege?  Verdienst  ist  Gefahr  und  Reichtum 
Verbrechen.  Die  Reichsten  und  Vornehmsten,  die  dem 
Throne  am  nächsten  stehen,  die  großen  und  glücklichen 
Heerführer  und  Minister,  die  dem  Zaren  am  eifrigsten 
dienen,  sie  sind  seinem  Zorn  am  leichtesten  erreichbar,  sie 
locken  am  ehesten  seine  Mordlust  und  seine  Habgier,  nach 
ihren  Schätzen  und  schönen  Weibern  strecken  Zar  und 
Zarensohn  am   häufigsten  ihre  ruchlosen  Hände  aus. 

Der  von  Iwan  geliebteste  Heerführer  Fürst  Peter  Obo- 
Icnskij-Sserebrjänow  wird  eines  Tages  nach  Moskau  berufen : 
im  Augenblick,  da  er  vor  dem  Herrscher  niederknien  will, 
wird  er  auf  einen  Wink  Iwans  ergriffen  und  von  den  Oprit- 
schniki  auf  der  Stelle  enthauptet.  Dem  Wojewoden  Kosa- 
rinow-Golochwastow  droht  dasselbe  Schicksal;  gewarnt,  flüch- 
tet er  sich  in  ein  Kloster,  um  als  Mönch  seine  Tage  zu  be- 
schließen. Aber  diese  Flucht  rettet  ihn  nicht  vor  dem 
gewaltsamen  Ende.  Iwan  erspäht  seine  Zuflucht,  läßt  ihn 
auf  eine  Pulvertonne  binden  und  in  die  Luft  sprengen;  „die 
Mönche  sind  PLngel",  höhnt  Iwan,  ,,und  müssen  gen  Himmel 
fahren".  Die  Verbrechen  dieser  Unglücklichen  sind  nicht  be- 
kannt, existierten  wohl  gar  nicht.  Das  Verbrechen  eines 
dritten  Opfers,  des  Beamten  Mjäsojcd  Wisloj,  bestand  in  der 
blendenden  Schönheit  seiner  Gattin.  Iwan  läßt  die  Frau  vor 
den  Augen  des  Mannes  schänden  und  aufknüpfen,  und 
während  sie  noch  lebend  am  Galgen  baumelt,  wird  der  Gatte 
enthauptet.  Einige  von  Jenen,  die  der  Zar  zu  seinen  Opfern 
erwählt  hat,  weilen  im  Felde.  Iwan  schickt  seine  Henker 
ab,    um    die    Geächteten    hinzurichten.     Aber    da    die  Henker 


or, 

nur  die  Leichen  der  vor  dem  Feinde  gefallenen  Helden 
finden,  befiehlt  Iwan  zur  Strafe  dafür,  daß  sie  es  gewagt, 
den  Heldentod  zu  sterben,  ihre  Kinder  zu  töten  oder  in  den 
Kerker  zu  werfen. 

Nach  dieser  Mordepoche  tritt  eine  kurze  Pause  ein.  Die 
Opritschniki  verschwinden,  die  Massenhinrichtungen  hören 
auf.  Ist  der  Bluthund  ermüdet,  erschöpft,  gesättigt?  Die 
bange  Frage  wird  bald  beantwortet  werden,  der  schlum- 
mernde Tiger  erwachen  und  mit  neuer  unstillbarer  Gier  nach 
Opfern  suchen.  Je  mehr  sich  dieses  Ungetüm  seinem  Ende 
nähert,  je  wilder  wird  seine  Raub-  und  Mordleidenschäft. 
Ruht  sie  eine  Weile,  so  ist  es  nur,  als  wollte  sie  frische 
Kräfte  sammeln,  um  mit  verhundertfachter  Wut  auszu- 
brechen. Immer  hastiger  sucht  der  Tyrann  unter  seinen 
Großen  und  unter  seinem  Volke  aufzuräumen,  als  fürchtete 
er,  in  der  kurzen  Spanne  seiner  Lebenszeit  auf  Erden  nicht 
genug  des  Grausamen  leisten  zu  können;  als  hätte  er  die 
Angst,  daß  er  vor  dem  Richterstuhl  der  Hölle  nicht  voll- 
kommen blutbedeckt  erscheinen  würde.  Und  der  Himmel  läßt 
diesem  Abgesandten  des  Teufels  reichlich  Muße,  seinen  Kreis- 
lauf zu  vollenden,  alle  Taten  zu  vollführen,  die  seine  Mord- 
lust  ersinnt. 

Fürst  Michael  Worotünskij,  der  Eroberer  von  Kasanj, 
steht  dem  Zaren  im  Wege,  weil  er  vom  Volke  geliebt  wird; 
er  wird  in  Acht  und  Bann  getan.  Aber  als  Moskau  vom 
Chan  bedroht  wird,  ruft  Iwan  den  Fürsten  zur  Hülfe  herbei, 
und  der  Geächtete  folgt  dem  Rufe  des  Herrn  und  rettet 
Moskwa.  Und  was  wird  der  Lohn  des  Helden?  Ein  Sklave 
des  Fürsten  beschuldigt  seinen  Herrn  der  Zauberei  und  ge- 
heimer Zusammenkünfte  mit  Hexen,  mit  denen  er  einen  An- 
schlag auf  das  Leben  des  Zaren  plane.  Das  genügt.  Der 
Triumphator,  der  Eroberer  Kasanjs,  der  Retter  Moskwas,  der 
erste  Diener  des  Zaren,  der  Mann,  dessen  Treue  und  Ge- 
horsam sich  in  hundert  bitteren  Prüfungen  bewährt  haben, 
der  Greis,  der  nach  einem  Leben  harter  Arbeit,  nach  Jahr- 
zehnten voller  Siege  nicht  nach  Ruhm  und  Ehren  geizt,  son- 
dern bloß  nach  einem  einsamen  stillen  Plätzchen  strebt,  um 
friedlich    den    kargen    Rest    seiner   Tage    zu   verbringen,    er 


—    2(;   — 

wird  am  Rande  des  Grabes  von  den  Schergen  seines  Zaren 
ergriffen,  die  ihm  statt  des  friedhchen  Endes  gewahsam  den 
Tod  des  Märtyrers  bereiten.  Man  schleppt  ihn  auf  einen 
Scheiterhaufen,  martert  ihn,  legt  ihn  zwischen  zwei  Feuer, 
um  ihn  bei  lebendigem  Leibe  zu  rösten;  und  Iwan  selbst 
schiebt  mit  seinem  blutigen  Stabe  die  glühenden  Kohlen  mit 
raffinierter  Berechnung  immer  näher  an  den  Leib  des  Opfers, 
ihn  vorsichtig  versengend,  aber  nicht  barmherzig  verbren- 
nend. Denn  im  Augenblick,  da  der  Dulder  seinen  Leiden 
zu  erliegen  droht,  reißt  man  ihn  vom  Scheiterhaufen 
herunter  und  belebt  den  Sterbenden  durch  Stärkungsmittel 
für  noch  einige  Stunden,  auf  daß  er  nicht  bewußtlos  den 
Tod  des  Ertrinkens  im  Bjelo  Osero  erleide,  den  der  Zar  ihm 
zum   Schlüsse   zugedacht   hat. 

Zu  derselben  Zeit  wie  Worotünskij  wird  der  Bojar  Moro- 
sow  nebst  seinen  Söhnen  und  seiner  Gerhahlin  hingerichtet. 
Morosow  ist  weder  berühmt,  noch  ein  hervorragender  Günst- 
ling, weder  als  Zauberer,  noch  als  Majestätsverbrecher  be- 
schuldigt worden.  Er  lebt  still  und  zurückgezogen,  ein  hoch- 
betagter Mann,  fern  vom  Hofe.  Und  doch  ist  er  in  den 
Augen  Iwans  mit  einer  unverzeihlichen  Schuld  beladen:  er 
ist  durch  einen  unbegreiflichen  Zufall  den  früheren  Massen- 
hinrichtungen entgangen,  als  einziger  von  allen  Bojaren  der 
früheren  Zeit  übriggeblieben;  er  hat  es  gewagt,  fünf  Mord- 
epochen Iwans  zu  überleben!  Um  ihm  das  Sterben  schöner 
zu  machen,  werden  mit  ihm  und  seiner  Familie  gleichzeitig 
umgebracht:  Fürst  Kurakin,  Buturlin,  zahlreiche  Günstlinge, 
Adlige  und  drei  Geistliche:  der  Abt  von  Pskow,  der  Erz- 
bischof Leonidas  von  Nowgorod  und  der  Archimandrit  Theo- 
dorites.  Den  Geistlichen  gebührt  besondere  Ehrung  durch 
besondere  Todesart.  Der  Abt  wird  mit  einem  Marterwerk- 
zeug zerfleischt,  der  Archimandrit  ersäuft,  der  Erzbischof 
aber  als  der  Höchste  in  eine  Bärenhaut  eingenäht  und  den 
Hunden  vorgeworfen. i)  Die  letzterwähnte  Hinrichtungsart  ge- 
fällt  dem   Zaren  ganz   besonders,   sie  wird   für  eine   Zeitlang 


1)  Das  Verbrechen  des  Erzbischofs  Leonidas  bestand  darin,  daß  er  sich 
geweigert  hatte.  Iwans  vierte  Ehe.  als  eine  ungesetzliche,  einzusegnen. 


—     27     — 

seine  Lieblingsmördmethode.^)    Er  wendet  sie  namentlich  für 
Richter  und  Geistliche  an. 2) 

Aber  auch  seine  alten  Methoden  läßt  Iwan  nicht  in  Ver- 
fall geraten.  Wie  in  früheren  Zeiten  springt  er  auch  jetzt 
plötzlich  von  der  Tafel  auf,  trommelt  seine  Henker  zusam- 
men und  reitet  mit  dem  schauerlichen  Mordruf:  „Heida, 
Heida"  auf  die  Jagd  nach  Menschen.  So  begibt  er  sich  ein- 
mal vom  Tische  hinweg  in  die  Kerker  der  litthauischen  Ge- 


^)  Auch  die  römischen  Tyrannen  ließen  Verbrecher  in  Tierhäute  einnähen 
und  den  Hunden  vorwerfen.  Afrikanische  Despoten  strafen  ungehorsame 
Sklaven  auf  gleiche  Weise.  In  Havanna  wurden  früher  alle  zum  Tode  verur- 
teilten Verbrecher  den  Hunden  zum  Fraß  überliefert.  Dictionnaire  de  la  p6na- 
lite  III  239  berichtet  von  einem  exotischen  Volke,  das  besonders  die  Ehe- 
brecher zu  solcher  Todesart  verurteilt. 

^)  Der  Grausame  kann  auch  humoristisch  sein:  Ein  Wojewode  von  Stariza 
kommt  zum  Zaren,  als  dieser  lustig  tafelt.  ,,Sei  gesund,  mein  geliebter  Woje- 
wode," begrüßt  der  Herrscher  gutgelaunt  den  Ankömmling,  ,,du  bist  Unserer 
Gnade  würdig,"  und  zum  Zeichen  dieser  Gnade  schneidet  er  dem  Überraschten 
ein  Ohr  ab !  Als  Magnus  Herzog  von  Holstein  König  von  Livland  geworden  war, 
gab  Iwan  seine  Nichte  dem  neugebackenen  König  zur  Frau.  Der  Hochzeit,  so 
wird  in  dem  Buche  Description  de  la  Livonie,  (Utrecht  1705,  p.  126)  berichtet, 
wohnte  Iwan  persönlich  bei,  ,,und  er  bezeigte  viel  Freude  in  barbarischer  Art 
nach  seiner  Gewohnheit":  er  stellte  sich  in  die  Reihe  der  jungen  Mönche  und 
sang  mit  ihnen,  indem  er  mit  seinem  dicken  Stock  den  Takt  auf  ihren  Köpfen 
schlug,  bis  das  Blut  in  Strömen  floß.  Dem  Abgesandten  des  Fürsten  Kurbskij 
stieß  Iwan  seinen  spitzen  Stab  durch  den  Fuß  in  die  Erde,  und  dann  erst  ließ  er 
sich  vom  Angenagelten  die  Botschaft  vorlesen.  Dem  Gesandten  eines  auslän- 
dischen Fürsten,  der  vor  dem  Zaren  nicht  das  Haupt  entblößte,  ließ  Iwan  gar 
den  Hut  auf  den  Kopf  nageln.  Ein  anderer  fremder  Diplomat  kam  in  gleichem 
Falle  besser  davon.  Es  wird  erzählt,  in  der  ,, Reise  nach  Norden  /  worinnen  die 
Sitten  /  Lebens- Art  und  Aberglauben  derer  Norwegen  /  Lappländer  /  Kiloppen, 
Borandier,  Syberier,  Moßcowiter  usw.  beschrieben  werden"  (Zum  andcrnmahl  ge- 
druckt, Leipzig,  bey  Gottfried  Leschen,  1 706,  S.  1 69) : ,  .Der  Ritter  Hieronymus  Bosc 
/  der  als  Abgesandter  zu  Iwan  geschickt  ward  /  hat  den  Hut  vor  ihm  abgenommen 
und  trotziglich  wieder  aufgesetzet.  Der  Kayser  fragte  ihn  /ob  er  nicht  das  Tracta- 
ment  wüste  /  das  ein  anderer  Abgesandte  wegen  dergleichen  Kühnheit  empfangen 
hätte  ?  Ich  weiß  es  /  antwortete  er  /  allein  ich  bin  der  Königin  Elisabeth  Abgesandter 
/  welche  ihre  Mütze  nicht  abnimmt  /noch  ihr  Haupt  vor  einigen  Fürsten  in  der  Welt 
entblöset :  und  wenn  man  einen  von  ihren  Ministern  beschimpftet  /  so  wird  sie 
solches  /  wie  es  ihr  zukömmt  /  zu  rächen  wissen.  Sehet  einen  tapfferen  Mann  / 
sagte  der  Kayser  /  indem  er  sich  gegen  seine  Boyards  wendete  /  der  sich  unter- 
stehen darff  /  vor  die  Ehre  und  das  Interesse  seiner  Königin  also  zu  reden". 


—     28     — 

fangenen,  um  die  Unglücklichen  an  ihren  Ketten  umbringen 
zu  lassen.  Nachdem  er  sich  im  Blute  von  mehr  als  hundert 
Menschen  gebadet  hat,  kehrt  er  wieder  zu  seinem  unter- 
brochenen Mittagsmahle  zurück  und  setzt  mit  frischem  Appe- 
tit  das   Essen   fort. 

Die  Marterwerkzeuge  und  Todesarten  werden  in  der  letz- 
ten Mordepoche  immer  mehr  verfeinert,  und  Erfinder  dieser 
Art  sind  großen  Lohnes  und  seltener  Zarengunst  sicher.  Da 
gibt  es  Pfannen  zum  Braten  lebender  Menschen,  kunstvoll 
konstruierte  Oefen,  vollendet  ausgearbeitete  Kneipzangen, 
spitze  Nägel  und  Stacheln  als  Werkzeuge  der  Folter.  Handwerk, 
Kunst,  Industrie  und  Wissenschaft,  Alles  im  Reiche  ist  tätig 
für  des  Zaren  Grausamkeit.  Die  Menschen  werden  nicht 
blindwütig  gemordet;  im  Wahnsinn  herrscht  Methode.  Wird 
ein  Opfer  zur  Zerstückelung  verurteilt,  so  muß  der  Henker 
nach  vorgeschriebener  Norm  verfahren,  das  Zerschneiden  und 
Zerhacken  nach  den  Gelenken  vornehmen  und  stets  darauf 
bedacht  sein,  das  Opfer  unter  den  Todesqualen  möglichst 
lange  bei  Bewußtsein  zu  erhalten.  Die  abgeschnittenen  Stücke 
werden  an  Schnüren  aufgezogen.  Andere  Opfer  werden  mit 
feinen  dünnen  Schnüren  in  der  Leibesmitte  durchgesägt. 
Wieder  Anderen  zieht  man  bei  lebendigem  Leibe  die  Haut 
vom  Rücken,  um  Riemen  daraus  zu  schneiden.  Oder  man 
reißt  einem  Verurteilten  Stücke  Fleisch  aus  dem  Leibe  und 
wirft  diese  Fetzen,  während  das  Opfer  noch  lebt,  hungrigen 
Tieren  vor;  man  zwingt  den  L^nglücklichen  durch  die  kost- 
barsten Mittel  der  ärztlichen  Wissenschaft,  bei  Bewußtsein  zu 
bleiben  und  die  Augen  offenzuhalten,  damit  er  diese  Mahl- 
zeit der  Tiere,  deren  Kosten  sein  sterbender  Leib  bezahlt, 
niitansehe.  Das  strömende  Blut  ist  Nektar  für  den  Tyrannen; 
das  Heulen  der  Tiere,  das  Schreien  der  Märtyrer  Musik  für 
seine  Ohren.  Zuweilen  stößt  Iwan  selbst  mit  seinem  Dolche 
oder  Stabe  zu,  aber  er  bereut  dies  sofort  als  einen  Akt  der 
Schwäche  und  wahnsinnigen  Mitleids,  weil  er  die  Qualen  der 
Opfer  abzukürzen  fürchtet,  da  doch  die  Strafe  lange,  endlos 
lange  dauern  soll.  Er  bemüht  sich  daher,  wo  es  nur  angeht, 
seine  Mordgier  zu  zügeln,  den  (^enuß  nicht  zu  überhasten,  und 
begnügt    sich    damit,    die  Sterbenden    zu    beschimpfen    oder 


—    29    — 

zu  verhöhnen  und  ihre  Qualen  zu  verlängern.  Und  es  gibt 
verruchte  Männer  der  Wissenschaft,  die  ihre  Kräfte  in  den 
Dienst  dieser  Barbarei  stellen.  Der  Arzt  Bomelius,  ein  teuf- 
lisches Genie,  erfindet  in  mühsamem  Studium,  als  Resultat 
zahlloser  Nächte  der  Arbeit  und  des  Denkens  ein  Gift,  das 
die  Menschen  nach  bestimmten  Stunden  oder  Tagen  unfehl- 
bar tötet.  Der  Zar  braucht  einem  Opfer  mehr  oder  weniger 
von  diesem  Gift  zu  verabreichen,  um  es  früher  oder  später 
sterben  zu  lassen.  Die  Günstlinge  und  Untertanen  werden 
zu  Uhrwerken,  die  nach  einer  von  dem  Herrn  festgesetzten 
Frist  stillestehen  müssen.  Die  infernalische  Erfindung  des  Bo- 
melius funktioniert  so  tadellos,  daß  Iwan  nach  dem  Ende  dieses 
oder  jenes  Mannes  seine  Tageseinteilung  bestimmt.  Er  setzt 
eine  Truppenparade  fest  für  die  Stunde  des  Todes  des  Für- 
sten Gwosdew-Kostowskij,  er  ordnet  das  Mittagsmahl  an  für 
den  Augenblick  des  Hinscheidens  eines  anderen  Günstlings. 
Er  gibt  einem  heimlich  Verurteilten  soviel  Tropfen  Gift,  daß 
der  Mann  just  im  Augenblick  sterben  muß,  da  er  sich  von 
der  Hochzeitstafel  erheben  will,  um  sich  in  das  Brautgemach 
zu  begeben.  Dieses  Gift  des  Bomelius  präzisiert  im  Vorhinein 
Tage,  Stunden  und  Minuten.  Der  Erfinder  dieser  Übernatür- 
lichkeit aber  muß  schließlich  selbst  das  Los  Aller  teilen,  die 
das  Schicksal  in  der  Nähe  Iwans  leben  ließ.  Der  mißtrau- 
ische Zar  ängstigt  sich  am  Ende  vor  der  unheimlichen  Ge- 
nialität des  Leibarztes.  Bomelius  wird  plötzlich  ergriffen,  an 
einen  Pfahl  gebunden  und  geröstet.^) 

Iwans  Mißtrauen  gegenüber  Bomelius  war  ungerechtfertigt. 
Der  Bluthund  ist  gefeit  gegen  alle  Angriffe.  Niemand  wagt 
auch  nur  daran  zu  denken,  den  Massenmörder  durch  Mord 
zu  beseitigen.  Stumm  sieht  die  ganze  Welt  dem  Schauspiel 
zu,  stumm  beugen  die  Russen  ihr  Haupt  vor  dem  Henker, 
wenn  der  Zar  es  befiehlt.     Die  Großen  am  Hofe  klagen  nicht 


*)  Wälirend  Karamsüi  i^j^t,  daß  Bomelius  öffentlich  verbraunt  wurde 
(„BCenapo.ui'»  <••  •'«kvki'H'L  irb  M«  mkbI.'*)  berichten  andere  (Tradescant  der  Jüngere  1618 
in  Rußland,  S.  145),  daß  „Bomelius  gefoltert,  nach  der  Folterung  an  einen  Pfahl 
gebunden,  ans  Feuer  gelegt,  schließlich  auf  einem  Schlitten  aus  dem  Kreml 
hinausgeschleppt  und,  noch  lebend,  in  eiu  Grab  geworfen  wurde'*. 


—    30    — 

einmal,  begreifen  gar  nicht  das  Elend  ihres  Daseins.  Trotzige 
Kläger  vor  dem  Herrscher  werden  sie  nur  bei  Rangstreitig- 
keiten, wenn  ein  vornehmes  Geschlecht  zu  Gunsten  eines 
anderen  bei  der  Tafel,  im  Heere  oder  in  der  Verwaltung 
zurückgesetzt  erscheint.  Solchen  Klagen  schenkt  Iwan  auch 
Gehör.  Er  schont  die  Empfindlichkeiten  seiner  Großen, 
ihren  Adelsstolz;  nur  nicht  ihre  Köpfe.  Er  verleiht  ihnen 
Rang,  Amt  und  Würde;  dafür  gestatten  sie  ihm,  jederzeit  ihr 
Leben  zu  vernichten.  Auch  die  Familie  des  Zaren  macht 
keine  Ausnahme;  doch  erfindet  er  für  seine  eigenen  Ver- 
wandten eigene  Strafen:  um  seinen  Schwiegervater  Nagoj  zu 
martern,  befiehlt  Iwan,  dem  in  der  Heilung  von  Krankheiten 
geschickten  Kaufmann  Stroganow,  daß  er  dem  zarischen 
Schwiegervater  die  schmerzlichsten  Haarseile  in  den  Seiten 
und  auf  der  Brust  einziehe.  Der  Schwager  Iwans,  Fürst  Nikita 
Odojewskij,  wird  zum  Tode  verurteilt,  seine  Hinrichtung  aber 
Jahre  hindurch  immer  wieder  aufgeschoben,  weil  sich  der 
Zar  am  Zittern  des  Verurteilten  weiden  will.  Als  Iwans  dritte 
Braut  plötzlich  abzumagern  beginnt,  beschuldigt  man  die  Ver- 
wandten der  zwei  ersten  Frauen  des  Herrschers  der  Zaube- 
rei; darauf  werden  des  Zaren  Schwäger  teils  zu  Tode  ge- 
peitscht, teils  auf  Pfähle  gespießt.  Der  einzige  Verwandte 
Iwans,  der  geschont  wird,  ist  sein  Vetter  Prinz  Wladimir  Andre- 
jewitsch.  Aber  auch  für  Wladimir  Andrejewitsch  kommt  die 
Stunde  des  Unheils.  1569  sendet  Iwan  seinen  Vetter  mit  einem 
Heere  nach  Astrachan].  In  Kostroma  empfangen  die  Bürger 
den  Prinzen  als  Vertreter  des  Zaren  mit  hohen  Ehren.  Ob 
dieser  Ehrenbezeigungen  gerät  Iwan  in  Zorn,  er  läßt  die 
Vorsteher  der  Stadt  Kostroma  nach  Moskau  bringen  und 
hinrichten  und  beruft  den  Vetter  zurück.  Als  Prinz  Wla- 
dimir mit  seiner  Familie  vor  Moskau  eintrifft,  wird  er  über- 
fallen und  eines  Giftattentats  gegen  den  Zaren  beschuldigt. 
Iwan  erscheint,  reicht  dem  Prinzen,  seiner  Frau  und  seinen 
Söhnen  Gift  und  sagt:  „Trinkt  das  nun  selbst  aus!'*  Die 
Prinzessin  antwortet :  „Besser  ist  es  von  der  Hand  des  Ty- 
rannen als  von  der  des  Henkers  zu  sterben.**  Und  die  Ver- 
urteilten trinken  das  Gift,  und  der  Zar  bleibt  bei  ihnen, 
um  Zeuge  ihrer  Leiden  und  ihres    Todes  zu  sein;    dann    führt 


—    31     — 

er  die  Dienerinnen  zu  den  Leichen  ihrer  Herrschaft  und  ver- 
spricht ihnen  Gnade.  Sie  aber  entgegnen:  „Wir  verlangen 
Deine  Barmherzigkeit  nicht,  blutdürstiges  Ungeheuer!  Zer- 
reiße uns !  Dich  verabscheuend  verachten  wir  das  Leben 
und  die  Qualen.**  Iwan  läßt  die  Weiber  auf  der  Stelle  nackt 
ausziehen  und  umbringen.  Auf  daß  das  Werk  vollkommen  sei, 
begibt  er  sich  in  das  Kloster,  wo  die  Mutter  des  Prinzen  Wladi- 
mir als  Nonne  lebt,  und  ersäuft  die  Greisin  an  Ort  und  Stelle. 
Auf  den  Charakter  Iwans  vermochten  auch  Frauen  kei- 
nen Einfluß  zu  üben,  der  irgendwie  eine  Milderung  seiner 
Sitten,  seines  Wahnsinns  hätte  herbeiführen  können.  Der 
Grausame  war  zwar  ein  leidenschaftlicher  Frauenfreund  und 
heiratete,  den  russischen  Kirchengesetzen  zum  Trotze,  nach- 
einander acht  Frauen;  aber  er  liebte  keine  von  ihnen,  sie 
waren  ihm  nicht  Gattinnen,  sondern  Sklavinnen.  Die  erste 
Ehe  schloß  er  gleich,  nachdem  er  sich  in  seinem  siebzehn- 
ten Lebensjahre  hatte  krönen  lassen,  nach  der  damaligen  mosko- 
witischen,  von  den  Byzantinern  übernommenen  Sitte:  Alle 
heiratsfähigen  Töchter  der  im  Dienste  des  Zaren  stehenden 
Bojaren  mußten  nach  Moskau  pilgern;  die  fünfzehnhundert 
schönsten  von  ihnen  wurden  in  einem  Riesengebäude  einquar- 
tiert, das  mehr  als  hundert  Schlafsäle  und  in  jedem  Saale 
zwölf  Betten  enthielt.  Dann  erschien  eines  Tages  der  junge 
Zar,  begleitet  von  einem  einzigen  alten  Höfling,  um  die  Schönen 
zu  mustern.  Seine  Wahl  fiel  auf  Anastasia  Sacharin-Koschkin. 
Als  Anastasia  nach  kurzer  Ehe  an  den  Folgen  einer  Vergiftung 
gestorben  war,  brach  Iwan  mit  dem  alten  System  der  Braut- 
schau. Er  hatte  von  der  Schönheit  einer  tscherkessischen  Prin- 
zessin, der  Tochter  des  Fürsten  Temgruk,  vernommen  und 
befahl,  daß  man  sie  nach  Moskau  schaffe.  Die  wilde  Tscher- 
kessin  gefiel  ihm,  er  ließ  sie  taufen  und  heiratete  sie  im  Jahre 
1561.  Von  dieser  zweiten  Gemahlin  Iwans,  die  als  Christin 
den  Namen  Maria  führte,  wird  erzählt,  daß  sie  dem  Zaren  an 
Grausamkeit  nicht  nachstand.  Nach  zwei  Jahren  wurde  auch  sie 
vergiftet,  und  Iwan  schritt  zu  einer  dritten  Ehe  mit  der  Kauf- 
mannstochter Marfa  Ssobakin.  Diese  überlebte  die  Hochzeit 
nur  um  zwei  Wochen  und  starb  plötzlich  an  den  Folgen  einer 
Vergiftung.    Nun  hätte  die  russische  Kirche  dem  Zaren  keine 


—    32    — 

neue  Ehe  mehr  erlaubt.  Aber  Iwan  erklärte  der  Geistlichkeit 
folgendermaßen  die  Gründe,  die  ihm  eine  vierte  Ehe  gestatten 
mußten:  „Die  Zarin  Marfa/*  sagte  er,  „ist  als  Jungfrau  ge- 
storben, diese  Ehe  war  nicht  vollzogen,  existierte  in  Wahr- 
heit nicht.  Ich  wollte  mich  ins  Kloster  zurückziehen,  doch  ich 
muß  für  die  Erziehung  meiner  Kinder  sorgen  und  das  Reich 
und  den  christlichen  Glauben  verteidigen;  deshalb  kann  ich 
der  Weltlichkeit  nicht  entsagen.  Um  aber  Sünden  zu  vermeiden 
im  weltlichen  Leben,  bin  ich  genötigt  wieder  zu  heiraten.**  Die 
Geistlichkeit  mußte  des  Zaren  Gründe  gutheißen,  und  Iwan 
vermählte  sich  in  vierter  Ehe  mit  Anna  Koltowskoj.  Diese  fand 
kein  gewaltsames  Ende;  doch  nach  kurzer  Zeit  wurde  sie  vom 
Zaren  ins  Kloster  geschickt.  Nun  emanzipierte  sich  Iwan  ein 
für  allemal  von  priesterlicher  Zustimmung  zu  seinen  Ehen  und 
verheiratete  sich  zum  fünften  Male  mit  Anna  Wassiltschikoff, 
und  nach  ihrem  Tode,  der  als  Folge  einer  Vergiftung  eintrat, 
zum  sechsten  Male  mit  der  Witwe  Wassilissa  Melentjeff;  die 
schöne  Wassilissa  fiel  bald  in  Ungnade,  weil  sie  stark  ab- 
magerte und  der  Zar  die  mageren  Frauen  haßte.  Ihre  Nach- 
folgerin als  siebente  Gemahlin  Iwans  war  Maria  Dolgorukow; 
der  Zar  entdeckte  in  der  Hochzeitsnacht,  daß  sie  einen  anderen 
geliebt  hatte,  ließ  sie  am  frühen  Morgen  in  einen  geschlossenen 
Wagen  bringen  und  diesen  samt  der  jungen  Zarin  ins 
Wasser  werfen.  Jetzt  erwählte  Iwan  im  Jahre  1580  die  Tochter 
Maria  des  Höflings  Nagoj  zu  seiner  achten  Gemahlin.  Auch 
diese  Ehe  befriedigte  ihn  nicht,  und  er  beschloß,  sein  Glück 
außerhalb  seines  Reiches  zu  versuchen  und  um  die  Hand  einer 
fremden  Prinzessin  anzuhalten. 

Am  Hofe  des  Zaren  befand  sich  ein  englischer  Arzt,  Jakob 
Roberts,  der  die  Aufmerksamkeit  Iwans  auf  den  englischen 
Hof  lenkte  und  sich  anheischig  machte,  eine  Verwandte  der 
Königin  Elisabeth  als  Braut  des  moskowitischen  Herrschers 
herbeizuschaffen.  Diese  Verwandte  war  Marie  Hastings,  Toch- 
ter des  Lord  Huntingdon,  der  tatsächlich  ein  entfernter  Ver- 
wandter der  Königin  war.  Die  Unterhandlungen  zwischen 
dem  Doktor  Roberts  und  dem  Zaren  führte  im  Auftrage  des 
letzteren  Nagoj,  der  Vater  der  Zarin  Maria,  die  im  Falle  des 
Gelingens  des  Planes  natürlich  den  Platz  hätte  räumen  müssen ! 


—    33    — 

Nachdem  alles  besprochen  und  festgestellt  war,  reiste  der  Diplo- 
mat Fedor  Iwanowitsch  Pissemski  als  Gesandter  des  Zaren 
nach  London.  Pissemski  hatte  auch  politische  und  kommerzielle 
Angelegenheiten  zu  erledigen,  aber  sie  waren  Nebensache. 
Die  Instruktion,  die  der  Zar  seinem  Boten  gab,  besagte :  „Vor 
allen  Dingen  trachte  die  Prinzessin  Titunski  (so  hatten  die 
Russen  den  Namen  der  zukünftigen  Zarenbraut  verstümmelt) 
zu  sehen.  Prüfe  sie  mit  Sorgfalt,  notiere  genau,  wie  sie  aus- 
sieht. Ich  will  wissen,  was  sie  für  ein  Gesicht  hat,  von  welcher 
Farbe  ihr  Teint  ist;  und  vergiß  auch  nicht,  annähernd  ihren 
Leibesumfang  zu  beschreiben.  Erforsche  alles,  was  ihre  Fa- 
milie betrifft,  und  erkundige  Dich  bei  verläßlichen  Personen 
über  ihr  Alter.  Schließlich  hast  Du  Sorge  zu  tragen  für  ein 
getreues  Porträt  der  Prinzessin.  Wenn  irgend  möglich,  be- 
mühe Dich,  genaue  Maße  von  ihrer  Größe  und  ihrem  Umfang 
zu  erhalten.*'  Pissemski  erbat  eine  Instruktion  für  den  Fall, 
daß  man  in  London  Kenntnis  von  der  früheren  Verheiratung 
des  Zaren  und  von  der  jetzt  noch  bestehenden  achten  Ehe 
haben  sollte.  Der  Zar  erwiderte :  „Dann  wirst  Du  antworten, 
daß  meine  früheren  Frauen  alle  tot  sind.  Was  jedoch  die 
Zarin  Maria,  meine  jetzige  Gemahlin,  anbelangt,  so  sage  dieses : 
Die  Zarin  besitzt  keine  Rechte.  Da  sie  die  Tochter  eines  simplen 
Bojaren  ist,  hat  ihre  Ehe  mit  mir  keine  Konsequenzen^  und 
die  neue  Zarin  wird  allein  die  Rechte  und  den  Rang  der  Herr- 
schersgattin haben.*'  —  „Und  wenn  man,  o  Zar,  nach  deinen 
Kindern  fragt?"  —  „Dann  sage:  Der  Thron  bleibt  meinem 
Sohne  Fedor,  der  einer  früheren  Ehe  entstammt  und  schon 
zum  Erben  erklärt  ist,  vorbehalten.  Wenn  mir  aber  die  eng- 
lische Prinzessin  Kinder  schenken  sollte,  so  werde  ich  ihnen 
entsprechende  Apanagen  festsetzen.  Bei  dieser  Gelegen- 
heit erwähne  auch  folgende  Bedingungen :  Die  zukünftige  Zarin 
muß,  ebenso  wie  alle  Personen,  die  sie  aus  England  mitbringt 
und  bei  sich  behalten  will,  zum  russischen  Glauben  übertreten. 
Vor  der  Verlobung  ist  zwischen  England  und  Moskau  eine 
Allian;-,  in  aller  Form  abzuschließen." 

Im  September  1582  kam  Pissemski,  den  der  Arzt  Roberts 
als  Dolmetsch  begleitete,  in  Windsor  an.  Das  erste,  was  der 
russische  Gesandte  in  England  erfuhr,  war  die  Nachricht  von 

Stern,  Cicschichtc  der  öfft-nll.  Sililichkeit  in  Rußland.   '*  't 


—    34    — 

dem  Siege  Bäthorys  über  Iwan,  und  es  war  natürlich,  daß  man 
den  Russen  infolgedessen  kühl  empfing.  Erst  nach  langem 
Zögern  ließ  ihn  die  Königin  zur  Audienz  berufen,  Pissemski 
brachte  also  seine  Werbung  vor  und  bat  die  Königin:  man 
möge  ihm  gestatten,  die  Prinzessin  zu  sehen  und  zu  malen. 
Elisabeth  entgegnete :  „Ich  wäre  sehr  glücklich,  mit  dem  Zaren 
m  Verwandtschaft  zu  kommen.  Aber  ich  habe  mir  erzählen 
lassen,  daß  der  Zar  nur  schöne  Frauen  liebt,  und  Marie  Hastings 
ist  nicht  schön.  Zudem  hat  sie  kürzlich  die  Blattern  über- 
standen, und  es  wäre  nicht  gut,  jetzt  ihr  Porträt  anzufertigen.** 
Dennoch  fragte  sie:  „Und  was  würde  mit  den  Töchtern  ge- 
schehen, wenn  Marie  Hastings  solche  haben  sollte?**  Worauf 
Pissemski  erwiderte :  „Unsere  Herrscher  verheiraten  ihre  Töch- 
ter mit  fremden  Potentaten!**  was  ein  wenig  stark  übertrieben 
war,  da  dies  bisher  nur  einmal  stattgehabt  hatte. 

Pissemski  verließ  die  Königin  voller  Hoffnung  und  begann 
nun  den  Instruktionen  gemäß  über  die  Allianz  zu  verhandeln, 
deren  Abschluß  ja  der  Verlobung  vorausgehen  mußte.  Die 
Königin  Elisabeth  erklärte  sich  einem  Bündnisse  geneigt  und 
verlangte  dafür  bloß  das  Monopol  des  gesamten  moskowitischen 
Außenhandels.  In  den  bezüglichen  Verhandlungen  war  vom 
Zaren  Iwan  immer  nur  als  von  dem  „Neffen  der  Königin'*  die 
Rede.  Die  Russen  merkten  nicht,  daß  man  sich  über  sie  lustig 
machte;  dem  guten  Pissemski  dämmerte  erst  die  Erkenntnis, 
uls  die  Geschichte  sich  furchtbar  in  die  Länge  zog  und  Monat 
um  Monat  zwecklos  verstrich.  Da  raffte  er  sich  auf  und  be- 
schwerte sich  bei  der  Königin.  Sie  wollte  ihr  Amüsement  nicht 
vorschnell  abbrechen  und  befahl,  dem  Russen  die  Erwählte 
Iwans  zu  zeigen.  Der  17.  Mai  1583  war  der  große  Tag.  Man 
führte  Pissemski  in  den  Garten  des  Lord  Bromley  und  hier 
zeigte  man  ihm  von  ferne  eine  Gruppe  von  Frauen,  an  deren 
Spitze  sich  Marie  Hastings  befand,  ,,die  Braut  des  Zaren**.  Der 
Kanzler  Lord  Bromley  sagte :  „Die  Königin  hat  befohlen,  daß 
man  Ihnen  ihre  Nichte  nicht  in  einem  Zimmer,  sondern  im 
Freien  zeigen  soll,  damit  Sic  sie  besser  betrachten  können.** 
Der  Russe  grüßte  die  Dame  respektvoll  von  fern  und  war  aus 
dem  Parke  kaum  fortzubringen.  „Haben  Sic  sie  genug  be- 
trachtet ?"  fragte  der  Kanzler,  und  Pissemski  erwiderte:  „Ich 


—    35    — 

habe  den  zarischen  Instruktionen  gehorcht.**  Und  in  seinem 
Bericht  an  den  Zaren  sagte  er  über  dieses  denkwürdige  Rendez- 
vous :  „Die  Prinzessin  von  Huntinsk,  Marie  Hantis,  ist  von  hoher 
Figur,  von  weißem  Teint ;  sie  hat  blaue  Augen,  blonde  Haare, 
eine  gerade  Nase  und  lange  Finger.**  Elisabeth  wollte  den 
Spaß  bis  zum  Schlüsse  genießen  und  berief  Pissemski:  „Ich 
bedaure  bloß**,  sagte  sie,  „daß  meine  Nichte  nicht  schön  genug 
für  den  Zaren  ist.**  Die  Hastings  war  übrigens  auch  nicht  mehr 
jung,  sondern  schon  dreißigjährig.  Als  Pissemski  schwieg, 
setzte  die  Königin  hinzu :  „Ich  glaube,  sie  hat  Ihnen  selbst  auch 
nicht  gefallen.**  Worauf  der  Russe  hastig  entgegnete:  „Ich 
habe  auf  den  Engel  nur  einen  Blick  zu  werfen  gewagt,  und  ich 
glaube,  daß  sie  schön  ist.    Der  Rest  ist  Sache  Gottes.** 

•  Pissemski  ließ  die  Zarenbraut  malen  und  reiste  dann,  mit 
dem  Erfolg  seiner  Reise  vollkommen  zufrieden,  wieder  nach 
Rußland.  Die  Königin  Elisabeth  schickte  mit  ihm  den  Diplo- 
maten Bowes  nach  Moskau,  der  den  Auftrag  erhielt,  die  Situ- 
ation jedenfalls  auszunützen  und  in  Rußland  kommerzielle  Kon- 
zessionen zu  erlangen.  Am  13.  Dezember  1583  erschien  Bowes 
in  Audienz  beim  Zaren.  Die  Unterredung  war  ganz  intim, 
denn  der  Zar  wollte  nichts  von  Politik  hören,  sondern  nur  über 
„die  geheime  Affäre'*  unterhandeln.  Der  Zar  fragte  kurzweg: 
„Was  denkt  die  Königin  in  Bezug  auf  meine  Heirat  mit  Marie 
Hastings  zu  thun?**  Bowes  erwiderte:  „Die  Königin  hat  mich 
geschickt,  um  die  Intentionen  des  Zaren  zu  erfahren.**  Aber 
der  Zar  drückte  den  Gesandten  an  die  Wand  und  verlangte 
ehrliche  Antwort ;  und  da  sagte  Bowes :  „Die  Nichte  der  Königin 
war  krank,  sehr  krank.  Auch  weiß  man  nicht,  ob  sie  sich  zu 
einem  Religionswechsel  entschließen  könnte.  Übrigens  ist  sie 
unter  den  Verwandten  der  Königin  die  entfernteste;  es  gibt 
zehn  andere,  die  vielleicht  besser  für  den  Zaren  passen  würden.** 
—  ,,Was  sind  das  für  Personen?**  fragte  der  Zar.  „Sind  es 
Töchter  von  Fürsten  oder  von  Unterthanen  der  Königin?'*  — 
^Ich  habe  keine  Instruktionen,  und  weiß  nicht,  was  ich  sagen 
soll.**  Iwan  geriet  in  Zorn  und  rief:  „Sie  sprechen  in  einer 
Art,  die  nicht  geduldet  werden  kann,  denn  unter  den  Souve- 
ränen,  die   meinesgleichen   sind,   kenne   ich  einige,   die   ihrer 

Herrin  überlegen  sind.*'    Und  er  überschüttete  den  englischen 

->* 


—    36     — 

Gesandten  mit  zahllosen  Insulten  und  schickte  ihn  aus  dem 
Palaste  fort.  Aber  seine  fixe  Idee  ließ  ihn  nicht  ruhen.  Er 
befahl  Bowes,  wieder  zur  Audienz  zu  erscheinen,  und  erklärte 
ihm :  den  enghschen  Untertanen  solle  alles  Gewünschte  bewilligt 
werden,  wenn  der  Zar  sich  mit  einer  Verwandten  der  Königin 
verheiraten  würde;  falls  nichts  aus  dem  Projekte  mit  Marie 
Hastings  werden  sollte,  wollte  der  Zar  eine  andere  Verwandte 
Elisabeths  heiraten  und  sich  zu  diesem  Zwecke  persönHch  nach 
London  begeben.  Der  englische  Prediger  Humphry  Cole  mußte 
dem  Zaren  ein  Memoire  über  die  Hauptpunkte  des  Protestantis- 
mus ausarbeiten,  und  Gerüchte  wollten  schon  wissen,  daß  Iwan 
entschlossen  war,  seinen  Glauben  zu  verlassen,  um  nur  eine 
englische  Prinzessin  zur  Gemahlin  zu  erhalten.  Des  Zaren  Tod 
machte  diesen  Plänen  ein  Ende.^) 

Iwan  liebte  keine  von  seinen  Frauen,  und  von  seinen  Kin- 
dern nur  eins,  den  ältesten  Sohn,  den  Prinzen  Iwan.  Die  folge- 
richtige Entwicklung  aber  fordert,  daß  der  Mörder  seines  Vol- 
kes schließlich  auch  zum  Sohnesmörder  wird.  Bei  allen  seinen 
Blulzügen  wird  Iwan  von  seinem  gleichnamigen  Sohne  begleitet, 
dem  präsumtiven  Erben  seiner  Krone.  Der  Sohn  hält  mit  dem 
Vater  gleichen  Schritt,  wie  er  mit  ihm  gleichen  Sinnes  ist.  Zar 
und  Zarensohn  sind  unzertrennlich.  In  allen  wichtigen  Ge- 
schäften, auf  Reisen,  bei  Mordtaten,  in  Schwelgercien  und  Aus- 
schweifungen, immer  sieht  man  sie  Seite  an  Seite,  Hand  in 
Hand.  Oft  tauschen  sie  ihre  Maitressen  untereinander  aus, 
oft  haben  sie  zu  gleicher  Zeit  dieselbe  Beischläferin. 2)  In  Ehe- 
sachen treibt  es  der  Sohn  wie  der  Vater.  Er  wird  niemals 
Witwer,  heiratet  aber  doch  zum  zweiten  und  zum  dritten  Male, 
indem  er  sich  der  ersten  und  der  zweiten  Frau  durch  ihre  Ver- 
bannung ins  Kloster  entledigt.  Seine  ungesetzlichen  Beischläfe- 
rinnen sind  zahllos  und  werden  gewechselt  wie  ein  Nachthemd. 

')  Vgl.  K.  Waliszcwski,  Ivan  le  Terriblo,   Paris   1904. 

'•^)  Einmal  schenkt  der  Zar  eine  Geliebte  dem  Zarewitsch.  Das  Mädchen 
wird  ob  dieser  Verschenkung  von  einigen  Frauen  des  Hofes  verhöhnt  und  beklagt 
sich  bitter  beim  Zaren.  Daraufliin  werden  die  Spötterinnen  zu  strengster  Win- 
terszeit  in  Gegenwart  aller  Leute  nackt  ausgezogen  und  lange  im  Schnee  fest- 
gehalten. ,,Nun  lache  du  über  sie!"  sagt  der  Zar  zur  beschimpften  Maitresse. 
Karamsin  VIII   2S2. 


—    37    — 

Der  Sohn  mordet  Und  hurt  gleich  dem  Vater  und  ist  so  dessen 
Liebling  geworden.  Es  ist  bezeichnend,  wodurch  schließlich 
der  Prinz  in  Ungnade  fällt.  Rußland  ist  1582  vom  Feinde  be- 
droht, und  der  Thronfolger  tritt  in  einer  Anwandlung  von  Pa- 
triotismus vor  den  Herrscher  mit  der  Bitte:  „Vater,  gieb  mir 
ein  Heer  zur  Verjagung  des  Feindes!**  Dieses  Verlangen  ist 
dem  Zaren  verdächtig.  „Rebell!**  schreit  er  zomglühend  und 
von  wahnsinniger  Wut  erfaßt,  und  mit  seinem  furchtbaren 
Stabe  schlägt  er  den  Sohn  wuchtig  aufs  Haupt.  Blutend  stürzt 
der  Prinz  zu  Boden.  Des  Zaren  Zorn  ist  verraucht,  er  kommt 
zum  Bewußtsein  seines  ungeheuerlichen  Verbrechens  und  er- 
blassend klagt  er  sich  vor  allen  laut  an :  „Ich  habe  meinen  Sohn 
ermordet!**  Er  wirft  sich  nieder,  küßt  und  herzt  den  Ster- 
benden und  beschwört  die  Ärzte,  den  Sohn  zu  retten.  Die 
Ärzte  wissen  weder  Hilfe  noch  Trost,  der  sterbende  Prinz  allein 
verzweifelt  nicht  und  bittet  den  Vater,  nicht  zu  klagen:  „Ich 
allein  trage  die  Schuld,  mein  Herr,  verzeihe  mir,  ich  sterbe  als 
dein  treuer  Sohn  und  treuester  Unterthan!**  Zerschmettert 
wankt  der  Tyrann  von  der  Leiche  des  Sohnes  hinweg;  tagelang 
weigert  er  sich,  Speise  und  Trank  zu  genießen;  Nacht  um 
Nacht  verbringt  er  schlaflos,  stöhnend  und  jammernd,  sich 
selbst  anklagend  und  laut  seine  Absicht  verkündend,  der  Welt 
zu  entsagen  und  im  Kloster  seine  Tage  zu  beschließen.  Aber 
die  Großen,  hinter  diesem  Plane  nur  eine  List  des  Grausamen 
witternd,  die  seine  Minister  und  Günstlinge  auf  die  Probe  stellen 
soll,  sie  kommen  demütig  herbeigeschlichen  und  betteln  den 
großen  Zaren  an,  das  heilige  Rußland  nicht  ohne  seinen  mäch- 
tigen Schutz  zu  lassen.  Kein  einziger  wagte  gegen  die  Greuel 
zu  protestieren;  alle  ohne  Ausnahme  aber  protestieren  dagegen, 
daß  das  Scheusal  vom  Schauplatz  verschwinde.  Die  Feigheit 
wird  belohnt:  Iwan  gibt  den  Bettelnden  nach,  bleibt  Zar  und 
wütet  weiter. 

Und  da  auch  dieses  wilden  Tigers  Ende  kommt,  stirbt  er 
im  Augenblick  der  Verübiing  einer  Tat,  die  die  würdige  Krö- 
nung seines  grauenhaften  Lebens  ist.  Vom  Fieber  des  Todes- 
kampfes aufgerieben  und  verschmachtend  wälzt  sich  Iwan  auf 
seinem  Lager.  Die  keusche  Gattin  Feodors,  der  nach  der  Er- 
mordung des  Bruders  durch  den  Vater  Thronfolger  geworden, 


—    38    — 

tritt  zum  Sterbenden  hin,  um  ihn  in  seinen  letzten  Momenten 
zu  trösten;  und  sie  neigt  sich  zu  ihm  hinab,  seine  Schmerzen 
zu  lindern.  Da  plötzlich  stößt  sie  einen  fürchterlichen  Schrei 
aus  und  stürzt  von  wahnsinnigem  Entsetzen  erfaßt  von  dannen : 
der  verreckende  Unmensch  hat  seine  letzten  Kräfte  zusammen- 
gerafft, um  seine  barmherzige  Schwiegertochter  zu  sich  hinab- 
zureißen und  zu  vergewaltigen !  —  Und  doch,  als  die  Erlösung 
des  Reiches  und  des  Volkes  erfolgt  ist,  tönt  nicht  ein  Schrei 
des  Jubels  durch  das  Land,  sondern  von  einem  Ende  bis  zum 
anderen  erhebt  sich  laut  und  einmütig  die  Klage  einer  ganzen 
Nation  um  den  Verlust  eines  großen  Zaren.  Ist  dies  Verblen- 
dung oder  Sklavenfurcht,  die  selbst  im  Verstorbenen  noch  eine 
Macht  sieht  ? 

Mit  Iwan  dem  Schrecklichen  und  seinem  Sohne  Feodor 
endete  das  Herrscherhaus  Rurik.  Mit  den  Romanows  kam  kein 
milderes  Regime  zur  Herrschaft.  Zar  Alexej  Michajlowitsch 
wird  zwar  als  sanfter  Fürst  gerühmt;  aber  seine  Gesetze  atmen 
doch  alle  den  Geist  der  Barbarei.  1653  erklärte  er  die  früheren 
Ukase,  die  für  Räuber  und  Diebe  die  Todesstrafe  anbefohlen 
hatten,  als  „Gesetze,  die  dem  göttlichen  Willen  widersprechen.** 
Er  verwandelte  daher  die  Todesstrafe  für  Verbrechen  des 
Raubes  und  Diebstahls  in  Gliederstrafen,  Verstümmelungen 
einzelner  Körperteile  und  Verbannung  nach  Sibirien.  Für  den 
Wiederholungsfall,  und  handelte  es  sich  auch  um  den  gelin- 
desten Diebstahl,  setzte  er  jedoch  selbst  wieder  die  Todesstrafe 
fest.i)  Und  Alexejs  Sohn,  Peter  der  Große,  war  in  Bezug  auf 
Grausamkeit  der  direkte  Fortsetzer  Iwans  des  Schrecklichen. 
Ja,  es  gibt  Historiker,  die  Peter  noch  härter  beurteilen  als  den 
Zaren  Iwan. 2)  Der  Schreckliche  lebte  in  einer  Zeit,  wo  auch 
in    anderen  Ländern    das    barbarische  Mittelalter    noch    fort- 


^)  H,a|)nBoBiuii('  uapH  A.icKcrhji  Miixaft.ioBiria,  n3,;a.Tr.  11.  CjiöHmn»,  C-TIoTei»- 
r»vpn,  1831,  Ma(Ti,  RTopan,  (tj).  9. 

2)  So  sagt  S.  Sugenhcim:  ,, Peter  fehlt  jedes  Gepräge  des  Menschlichen, 
weil  ihm  jede  göttliche,  jede  höhere  Grundlage  fehlt.  Seine  Erscheinung  ist  die 
eines  reißenden  Tieres,  einer  Bestie  in  Menschengestalt,  die  über  und  mit 
Menschen  in  einer  Art  schaltet,  wie  ein  Mensch  kaum  mit  Tieren  umgehen 
würde".  (Rußlands  Einfluß  auf  und  Beziehungen  zu  Deutschland.  Frank- 
furt am  Main   1856.     I   182.) 


—     39    — 

dauerte.  Aber  Peter  hat  europäische  Sitten  kennen  gelernt  und 
begeht  seine  ungeheuerHchen  sadistischen  Exzesse  just  in  seiner 
Eigenschaft  eines  Zivilisators.  Nur  in  der  Theorie  ist  er  liberal 
und  Kulturmensch,  in  der  Praxis  bleibt  er  Despot,  Tyrann,  ein 
blutgieriger  Wilder,  viehisch  roh  bis  ans  Ende  seines  Lebens, 
ein  Trunkenbold,  Wüstling  und  Sadist.  Mit  der  Ausrottung 
der  Strjeljzen  beginnt  er  sein  Blutwerk.  Zivilisierung  des  Rei- 
ches und  Volkes  ist  ihm  Vor  wand  und  Anlaß  zum  Massakre. 
Die  Strjeljzy  unterstützen  die  Reaktion,  sind  die  Säulen,  die  die 
Herrschaft  der  Usurpatorin,  der  zarischen  Schwester,  der  Re- 
gentin Sophie  aufrechthalten;  sie  verhindern  das  Eindringen 
der  europäischen  Kultur,  sie  bedrohen  die  Fremden  in  Peters 
Umgebung.  Diese  reaktionäre  Macht  muß  eingeschüchtert,  zer- 
stört, unschädlich  gemacht  werden.  Der  junge  Zar  begnügt 
sich  nicht  mit  einigen  Knutenhieben  und  einigen  Hängungen; 
er  will  gleich  Iwan  dem  Schrecklichen  im  Großen  arbeiten. 
Köpfe  in  Massen  fallen,  Blut  in  Strömen  fließen  sehen.  Die 
Sasten^ki^)  werden  zu  einer  ständigen  Einrichtung;  kein  ande- 
rer russischer  Herrscher,  auch  Iwan  der  Schreckliche  nicht,  hat 
so  viele  Folterkammern  gekannt.  Peter  beschäftigt  ihrer  vier- 
zehn auf  einmal. 2)  Im  Dorfe  Preobraschenskoje  funktionieren 
die  Folterknechte  ununterbrochen  Tag  und  Nacht,  Wochen, 
ja  Monate  hindurch.  Da  wird  nach  den  modernsten  Methoden 
gequält  und  geschunden,  zerstückelt  und  geröstet.  Ein  Ver- 
urteilter wird  siebenmal  auf  die  Folter  gelegt  und  erhält  99 
Knutenhiebe;  obwohl  gewöhnlich  schon  einige  wenige  Knuten- 
hiebe einen  Menschen  töten  können,  übersteht  der  Delinquent 
doch  diese  Folterpein,  da  die  Henker  im  Sastenok  außer- 
ordentlich geschickt  arbeiten,  ihr  Opfer  wohl  an  den  Rand 
des  Graben  bringen,  aber  nicht  schnell  verenden  lassen.  Der 
Oberstleutnant  der  Strjeljzy,  Korpakow,  sticht  sich  selbst  ein 
Messer  in  den  Hals,  um  weiteren  Folterqualen  zu  entgehen.  Er 
trifft  sich  aber  nicht  tötlich,  und  man  verbindet  ihn  ein  wenig 
und  setzt  dann  die  Folterung  fort.  Wie  Iwan  der  Schreckliche 
liebt  auch  Peter  das  Foltern  und  Morden  nicht  einzelner,  son- 


^)  J^arrhneia.,  Folterkammer. 

-)  K.  Waliszewski,  Pierre  Ic  Grand,   133,  222,  436. 


—    40    — 

dern  ganzer  Familien.  Nicht  allein  die  verhaßten,  zum  Unter- 
gang bestimmten  Strjeljzy  werden  auf  die  Folterbänke  ge- 
schnallt ;  auch  ihre  Frauen,  Mütter,  Töchter,  Schwestern,  selbst 
ihre  entferntesten  Verwandten  männlichen  sowohl  als  weib- 
lichen Geschlechts  schleppt  man  in  die  Folterkammern.  Die 
Damen  der  Regentin  Sofia  werden  alle  ohne  Ausnahme  der 
Folter  unterworfen;  eine  von  ihnen  entbindet  im  Sastenok; 
unter  dem  kunstvoll  schlagenden  Knut  windet  sie  sich  in  Ge- 
burtsschmerzen, und  der  Henker  ist  gleichzeitig  Accoucheur. 
Trotz  aller  Torturen  werden  keine  Beweise  für  ein  wirkliches 
Komplott  zutage  gefördert.  Manchmal  entreißt  man  dem 
oder  jenem  durch  den  Knut  oder  das  Feuer  die  verzweifelte  Zu- 
sage eines  Geständnisses ;  aber  kaum  ist  der  Gefolterte  zu  Atem 
gekommen,  so  muß  er  gestehen,  daß  er  nichts  zu  gestehen  habe, 
und  die  Folter  beginnt  von  neuem.  Die  Regentin  Sofia  selbst 
wird  gefoltert,  von  ihrem  eigenen  Bruder,  dem  Zaren. 

Das  ist  das  Abschreckendste.  Nicht  allein  die  Grausamkeit 
der  Justiz  ruft  unser  Entsetzen  hervor,  sondern  die  Grausamkeit 
dieses  Herrschers,  des  Zivilisators.  Wie  Iwan  der  Schreck- 
liche nimmt  Peter  der  Große  aktiv  teil  an  den  Folterungen.  Er 
wandert  von  einer  Folterkammer  in  die  andere,  weidet  sich  an 
den  Qualen,  ergötzt  sich  an  dem  zerfetzten  Fleisch  der  nackten 
Weiber,  wühlt  gierig  in  den  blutenden  Wunden,  zieht  selbst 
die  Stricke  der  Hängenden  fester  an,  ergreift  mit  Wollust  den 
Knut,  um  auszuholen  zu  den  vernichtenden  Schlägen,  assistiert 
schließlich  bei  den  Hinrichtungen  in  den  geheimen  Verließen 
wie  auf  den  öffentlichen  Plätzen.  Er  spielt  gern  den  Matrosen, 
macht  den  Zimmermann ;  also  zur  Abwechslung  auch  den  Hen- 
ker. Dieses  Handwerk  erscheint  ihm  der  Ausübung  durch  den 
Herrscher  würdig  wie  jedes  andere.  In  einem  Lande,  wo  ein 
Hofnarr  wie  Turgenjew  ein  Bataillon  gegen  den  Feind  führt; 
wo  ein  anderer  Hofnarr,  Fürst  Romadanowski,  während  der 
Abwesenheit  des  Zaren  im  Ernst  die  zarische  Gewalt  ausübt, 
die    ihm    im  Karneval    übertragen    worden    war^);    in   einem 


1)  Während  der  Europareise  Peters  vertritt  Romadanowski,  der  durch 
einen  zarischen  Fasching  =?scherz  den  Titel  eines  Vizekaisers  erhielt,  faktisch  den 
Zaren  in  der  obersten  Leitung  der  Regierungsgeschäfte.    Er  spielt  seine  Rolle 


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—     4L     — 

solchen  Lande,  wo  die  seltsamsten  Persönlichkeiten  die  selt- 
samsten Ämter  und  Würden  innehaben,  da  darf  schließlich 
auch  der  höchste  Richter  zugleich  der  erste  Kopfabschneider 
sein.  Hängen  und  Köpfen  ist  für  Peter  ein  Vergnügen  wie 
Bäume  fällen  und  Masten  stürzen.  Er  genießt  dieses  Ver- 
gnügen wie  jedes  andere  maßlos.  In  dem  Strjeljzen-Pogrom 
tötet  er  mit  eigener  Hand  nicht  weniger  als  84  Menschen.^) 
Aber  mit  dem  Morden  allein  ist  seine  grausame  Wollust  nicht 
zu  befriedigen.  Er  will  die  Opfer  in  ihrer  scheußlichen  Ver- 
stümmelung noch  so  lange  als  möglich  vor  Augen  haben. 
Der  Kopf  des  Bruders  der  Zarin  Lopuchin  und  vier  Köpfe 
anderer  Feinde  Peter?  bleiben  jahrelang  auf  dem  Richtplatz 
ausgestellt;  der  Hinrichtung  Gagarins,  des  sibirischen  Gou- 
verneurs, müssen  alle  Mitglieder  des  Senats,  alle  Freunde  und 
Verwandten  des  Verurteilten  beiwohnen,  und  während  der 
Hingerichtete  vor  dem  Senatspalaste  am  Galgen  baumelt, 
müssen  alle  diese  Gäste  mit  dem  Zaren  lustig  trinken.^) 

Der  Reformator  und  Zivilisator  Rußlands  eilt  von 
Wissensdurst  getrieben  nach  Europa.  Und  eine  der  ersten 
Fragen,  die  er  in  Königsberg  an  den  Kurfürsten  Friedrich 
stellt,  ist  diese :  wie  man  in  Preußen  die  Verbrecher  bestrafe. 
Die  Antwort  lautet:  „Man  hängt  die  Diebe  und  rädert  die 
Mörder.**  Das  Rädern  kennt  der  Zar  noch  nicht,  und  er 
bittet,  man  möchte  ihm  diese  Methode  zeigen,  ihm  zuliebe 
jemanden   gleich   rädern.     Es   ist   aber   niemand  in   den   Ge- 


furchtbar gut.  In  seinem  Hause  hat  er,  wie  der  Zar  im  Palaste:  Gefängnisse, 
Kerkerzellen,  Folterkammern  und  Marterwerkzeuge.  Als  in  Moskau  ein  Straßen- 
auflauf entsteht,'  läßt  Romadanowski  einfach  zweihundert  Menschen  aus  der 
Menge  herausgreifen,  auf  den  Roten  Platz  schleppen  und  ohne  weiteren  Prozeß 
an  den  Rippen  auf  Eisenhaken  aufhängen.  Peter  erfährt  von  diesem  Vorfall  und 
macht  seinem  Stellvertreter  heftige  Vorwürfe  darüber,  daß  er  sich  in  der 
Trunkenheit  zu  einem  solchen  Mißbrauch  seiner  furchtbaren  Gewalt  hin- 
reißen ließ.  Und  Romadanowski  wagt  darauf  dem  Zaren  zu  schreiben:  ,,Der 
Vorwurf  der  Trunkenheit  trifft  nicht  mich,  sondern  Jene,  die  Muße  zum  Saufen 
haben  und  ins  Ausland  wandern,  um  Iwaschka  (Bacchus)  zu  frequentieren.  Wir 
aber  haben  Besseres  zu  tun,  als  im  Wein  zu  waten.  Wir  waschen  uns  alle  Tage 
in  Blut". 

1)  Ed.  Pelz,  Geschichte  Peters  des  Großen,  Leipzig  1848.     S.  144. 

*)  Bergholz  bei  Büsching  XIX   106. 


—     42     — 

fängnisscn,  der  diese  Strafe  verdienen  würde;  da  sagt  Peter: 
„Nehmet  nur  einen  aus  meinem  Gefolge.**  Es  kostet  Mühe, 
ihm  diese  Grille  aus  dem  Kopf  zu  jagen.^)  Es  ist  ihm  da- 
mit blutiger  Ernst.  In  solchen  Dingen  spaßt  er  nicht.  Er 
gibt  dem  General  Repnin  den  Befehl,  die  Einfuhr  von  Holz 
aus  Polen  nach  Riga  zu  verhindern;  ein  schlichtes  Postskrip- 
tum besagt :  „wenn  ein  einziges  Brett  passirt,  schneide  ich 
dir  den  Kopf  ab.*'  Und  das  ist  keine  leere  Drohung,  keine 
bloße  rhetorische  Floskel,  ebensowenig  wie  die  Warnung,  die 
an  einen  nachlässigen  Korrespondenten  ergeht:  „was  er 
nicht  aufs  Papier  bringt,  werde  ich  ihm  auf  dem  Rücken 
anbringen. **2)  Ein  Juwelier,  der  beschuldigt  ist,  Steine  ver- 
tauscht zu  haben,  wird  zum  Zaren  gebracht,  und  der  macht 
persönlich  den  Folterknecht,  wippt  den  Betrüger  stundenlang, 
gibt  ihm  den  Knut. 3)  Abends  erzählt  der  kaiserliche  Henker 
in  heiterster  Laune  den  Vorfall  dem  Herzog  von  Holstein, 
„um  darzutun,  daß  Arbeit  nicht  schände.**  Die  Beamten,  die 
Fehler  begangen  haben,  ruft  Peter  in  sein  Arbeitszimmer  und 
erteilt  ihnen  mit  seiner  Dubina*),  seinem  Stocke,  den  er 
stets  bei  sich  hat  wie  Iwan  der  Schreckliche  seinen  berüch- 
tigten spitzigen  Eisenstab,  eine  Lehre.  Diese  Bestrafung  im 
Arbeitszimmer  des  Zaren  gilt,  weil  eine  geheime,  als  beson- 
dere Gnade.  Da  kommt  mancher  Minister  aus  dem  Kabinett 
des  Herrschers  heraus,  tüchtig  durchgebläut,  aber  Niemand 
ahnt  es,  und  gleich  darauf  sitzt  der  Geprügelte  an  der  aller- 
höchsten Tafel  und  trinkt  Bruderschaft  mit  dem  großen 
Kaiser.  Schwerer  und  schändend  ist  die  Strafe  erst,  wenn 
Peter  den  Stock  öffentlich,  im  Rate  oder  gar  auf  der 
Straße  handhabt.  Will  der  Zar  einem  Günstling  Auszeich- 
nung erweisen,  so  gestattet  er  ihm  statt  Seiner  die  Herren 
des  Hofes  zu  prügeln,  mit  dem  Knut  zu  schlagen  und  sogar 
mit   dem   Beil   Köpfe  abzuhauen. 


1)  Baron  Charles  Louis  Pöllnitz,  Mcmoircs.     Berlin  1791.     I   179. 

'-)  K.  Waliszewski,  Pierre  le  Grand,   195. 

'•')  M.  II.  ( V-MOHcKin:  O'H'jMiii  11  i»a:icKn;iu  ii:n.  pvccKort  iKTopiii  XVII  n.  III: 
Hapiiua  I\inr|iiiHa  ^VieKclvcBna,  Anna  11  Hiu.iiiMr.  M«)n(a,  1692 — 1724.  II3,^.  im*^ 
Top(»('.     ('.-IIeT<'pnvi>n.  1884,  <Tp.  154. 

•*)  Jl\C)i\U'd,  wörtlich:   Prügel. 


—  4eS         — 

Gefährlich  sind  des  Herrschers  Launen  für  seine  gelieb- 
testen Freunde.  Er  gestattet  seinen  Tischgenossen  die  voll- 
kommenste Redefreiheit,  aber  ein  Gardekapitän,  der  in  der 
Trunkenheit  von  der  kaiserlichen  Erlaubnis  Gebrauch  macht, 
wird  von  Peter  auf  der  Stelle  halbtot  geknutet.i)  Fürst 
Mentschikow  wird  von  dem  Herrn  auf  offener  Straße  so 
furchtbar  mit  dem  Stab  bearbeitet,  daß  man  ihn  zu  Bette 
bringen  muß.^)  Der  Zar  scheut  sich  nicht,  eigenhändig  auch 
Plauen  zu  prügeln.  Er  inquiriert  die  Generalin  Balk,  die 
Schwester  des  William  Mons,  über  das  Liebesverhältnis 
ihres  Bruders  mit  der  Zarin.  Die  Balk  leugnet,  etwas  zu 
wissen.  Peter  knutet  pie,  bis  sie  gesteht;  und  als  sie  die 
Wahrheit  gestanden  hat,  erhält  sie  als  Strafe  für  ihr  anfäng- 
liches Leugnen  weitere  dreizehn  Knutenhiebe. 3) 

Der  große  Zar  ist  frei  von  aller  Großmut  gegen  be- 
siegte Feinde.  Nach  der  Eroberung  von  Narva  ohrfeigt  er 
den  Kommandanten  Hom,  weil  dieser  ihm  solange  tapfer 
widerstanden  hat,  und  da  die  Frau  des  Kommandanten 
während  des  Sturmes  auf  die  Festung  getötet  wurde,  befiehlt 
der  Zar,  ihre  Leiche  ins  Wasser  zu  werfen.^)  1705  besucht 
Peter  das  Kloster  der  Basilianer  im  eroberten  Polozk  und 
betrachtet  die  dort  aufgestellte  Statue  des  heiligen  Josaphat. 
Wer  hat  den  Heiligen  getötet?  fragt  er.  Die  Schismatiker, 
erhält  er  zur  Antwort.  Darauf  zieht  er  ohne  weiteres  den 
Degen  und  sticht  den  Pater  Kosikowski,  der  die  Antwort 
erteilt  hat,  nieder.  Die  Offiziere  der  zarischen  Suite  fallen 
über  die  übrigen  Mönche  her,  ermorden  drei,  verwunden  zwei 
tötlich.   Das  Kloster  wird  geplündert,  die  Kirche  geschändet.'*) 

^)  Bergholz  bei  Büsching  XIX  79. 

2)  Russische  Anecdoten  oder  Briefe  eines  teutschen  Officiers  an  einen 
Liefldndischen  Edelmann.     Wansbeck   1765.     S.  iii. 

3)  Büsching  XI  491.  —  Halcm,  Leben  Peters  des  Großen,  1803.  III, 
S.  201. 

^)  Derselbe  Zar  umarmt  17 14  nach  der  Schlacht  von  Twaermynde  den 
Kapitän  Ehrensköld  und  sagt  ihm:  ,,Ich  bin  stolz,  mich  mit  einem  solchen 
Gegner  geschlagen  zu  haben".    Aber  solche  edle  Haltung  ist  die  exzeptionelle. 

^)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand  129.  —  Theincr,  Monuments  412.  —  Dom 
Guepin,  Vic  de  Josaphat,  Paris  1874.    II  430. 


—     44    — 

Ein  über  diesen  Vorfall  von  den  Mönchen  nach  Rom 
geschickter  Bericht  erzählt  unglaubliche  Details:  Der  Zar 
hetzt  einen  englischen  Hund  auf  einen  der  Mönche,  um  ihn 
erwürgen  zu  lassen.  Einige  Frauen,  die  das  Unglück  haben, 
Zeuginnen  der  Szene  zu  sein,  beginnen  zu  weinen;  ihr  Mitleid 
mit  dem  Ermordeten  ist  Verbrechen,  und  zur  Strafe  schneidet 
man  ihnen  die  Brüste  ab.  Makarow,  der  Sekretär  des 
Zaren,  vermerkt  in  seinem  Tagebuch  unter  dem  Datum  des 
30.  Juni  entschuldigend:  „Die  Kirche  der  Unirten  zu  Po- 
lozk  besucht  und  fünf  Unirte  getötet,  weil  sie  unsere  Gene- 
rale Häretiker  genannt.  Der  Zar  von  einer  nächtlichen  Orgie 
kommend  war  betrunken."  — 

Der  Zar  ist  krank.  Der  Kriminalrichter  kommt  und 
fragt,  ob  man  nicht  einigen  zum  Tode  Verurteilten  das 
Leben  schenken  solle,  damit  sie  zu  Gott  für  das  Leben  des 
Kaisers  beten.  „Meinst  du,**  fragt  Peter,  „daß  Gott  das  Ge- 
bet der  Missetäter  erhören  werde?  Ich  lasse  die  Gerechtigkeit 
walten,  Gott  waltet  über  mich.**i)  Aber  wenn  er  auch  die 
Gerechtigkeit  walten  läßt,  ist  er  doch  sentimental  genug,  um 
seine  Freunde  oder  Freundinnen,  die  er  dem  Henker  über- 
liefert, in  der  letzten  schwersten  Stunde  persönlich  zu  trösten. 
Er  tritt  eines  Abends  in  die  Zelle  von  William  Mons,  den 
er  im  Bette  der  Zarin  Katharina  erwischt  und  deshalb  zum 
Tode  verurteilt  hat,  und  drückt  ihm  sein  Bedauern  aus,  daß 
er  genötigt  sei,  ihm  am  nächsten  Morgen  den  Kopf  abschlagen 
zu  lassen.  Er  verurteilt  seine  Geliebte  Hamilton,  die  ihr  neu- 
geborenes Kind  umgebracht  hat,  zur  Enthauptung,  aber  zu 
ihrem  Tröste  erscheint  er  persönlich  bei  der  Exekution;  er 
küßt  die  Verurteilte  auf  dem  Schaffot  vor  aller  Welt  auf 
die  Stirn,  klagt  ihr  mit  Tränen  in  den  Augen:  ,,Ich  kann 
dich  nicht  retten!**  und  wendet  sich  dann  ab,  um  nicht  den 
Todesstreich   sehen-  zu   müssen.^)     Trotz   aller  Sentimentalität 


^)  Stählins  Anekdoten  von  Peter  dem  Großen,  S.  10.  —  Halem,  Leben 
Peters  des  Großen.     III   125. 

2)  Histoire  de  Russie  et  de  Pierre-le-Grand  par  M.  le  G6n6ral  Comte  de 
S6gur,  Paris  1829,  p.  410.  —  Halem  und  Stählin.  —  „Einige  sagen  sogar,  daß 
Peter  das  abgeschlagene  Haupt  in  die  Hände  genommen  und  geküßt  habe". 


—    45    — 

peitscht  er  seine  Gemahlin  Eudoxia  Lopuchin  halbtot;  er- 
mordet er  seinen  Sohn,  den  Thronfolger  Alexej,  nicht  im 
Zorn  und  unbedacht  wie  Iwan  der  Schreckliche,  sondern  mit 
Überlegung,  im  Dienste  seiner  Zivilisationsidee,  für  deren 
Verwirklichung  der  Sohn  ein  Hindernis  scheint.  Peters  Zi- 
vilisierungsmethoden  sind  auch  sonst  seltsamer  Art.  Er  ver- 
bietet eines  Tages  die  altmoskowitische  Sitte,  daß  sich  das 
Volk  auf  der  Straße  vor  dem  Zaren  niederwerfe;  ein  Mütter- 
chen, das  den  strengen  Befehl  nicht  kennt,  sinkt  bei  Peters 
Erscheinen  ehrfurchtsvoll  in  den  Staub  —  der  Zar  läßt  sie 
aufheben  und  knutenl  Bei  einem  Aufenthalt  in  Moskau  be- 
merkt der  Zar  zu  seiner  Überraschung,  daß  der  Hof  mann 
J.  D.  Naumow  einen  Bart  trägt;  dieser  Fortschrittsfeind  er- 
hält sofort  die  Batogy,  ungezählte  Stockstreiche  auf  die 
Fußsohlen.!) 

Die  Zarinnen  sind  nicht  milderen  Sinnes  als  die  Zaren; 
nur  sind  die  Frauen  hinterlistiger,  verüben  die  Grausam- 
keiten heimlicher,  zeigen  sich  dagegen  in  der  Öffentlichkeit 
als  sanftmütig,  lassen  sich  gern  als  gütig  rühmen.  Von  der 
Zarin  Anna  Iwanowna  sagt  Lady  Rondeau:  ,,Sie  war  ein 
Modell  der  Humanität  und  manifestirte  Widerwillen  gegen 
jede  Art  Grausamkeit.'*  Und  diese  Kaiserin  läßt  vor  den 
Fenstern  ihres  Speisezimmers  ihren  Koch  aufhängen,  weil  er 
die  Bliny,  ihre  Lieblingsspeise,  mit  ranziger  Butter  gebacken 
hat!  Während  eines  Festmahls  an  ihrer  Tafel  reicht  Anna 
dem  Oberstallmeister  Kurakin,  ehemaligem  Gesandten  in 
Paris,  ihr  Glas  hin,  damit  er  ihren  französischen  Wein  koste; 
er  wischt  den  Rand  des  Glases,  ehe  er  es  zum  Munde  führt, 
mechanisch  mit  der  Serviette  ab.  „Elender,  du  scheinst  dich 
vor  mir  zu  ekeln!'*  schreit  die  Zarin  wütend,  und  über- 
liefert Kurakin  dem  Polizeichef  Uschakow.  Der  Metropolit 
Wanatowitsch  von  Kijew  schmachtet  während  der  ganzen  Re- 
gierung Annas  im  Gefängnis,  weil  er  bei  einem  Tedeum  im 
Herleiern   des   Titels    der   Zarin    einen   Sprachfehler   beging. 


Herrn   Jonas   Hanvvay  zuverlässige  Beschreibung  seiner  Reise,   von  London 
durch  Rußland  und  Persicn.     Hamburg  und  Leipzig  1754.     I  396. 
')  Pelz,   Peter  der  Große.      180. 


—     46     ~ 

Anna  läßt  sich  gern  vorsingen;  die  Sängerinnen  dürfen 
mit  dem  Gesang  nicht  aufhören,  bevor  die  Zarin  dies  befiehlt; 
hält  eine  vor  Erschöpfung  inne,  so  riskirt  sie  Ohrfeigen  von 
der  kaiserlichen  Hand  und  außerdem  Zwangsarbeit  im  Wasch- 
haus. 1736  diktirt  Anna  einem  Kabinettskurier  die  Knute,  weil 
er  auf  einer  sibirischen  Poststation  von  der  bevorstehenden 
Hochzeit  der  Prinzessin  Anna  Leopoldowna,  der  präsumtiven 
Thronfolgerin,  gesprochen  hat;  der  Kurier  hielt  es  gewiß  für 
kein  Verbrechen,  da  man  in  Petersburg  von  dieser  Hochzeit 
ganz  offen  sprechen  durfte. 

Die  Diener  standen  ihrer  Herrin  nicht  nach.  Annas 
Polizeichef  Uschakow  läßt  im  Gefängnis  in  der  Pause 
zwischen  zwei  Folterungen  den  Richtern  und  Inquisitoren  Er- 
frischungen servieren  und  sagt:  „Ihr  habt  gearbeitet,  restau- 
riert euch  1**1)  Die  Sittenverwilderung  der  höchsten  und  aller- 
höchsten Gesellschaftskreise  zeigt  die  Mißhandlung,  die  der 
Dichter  Tredjakowskij  erdulden  mußte:  Es  wird  ihm  befoh- 
len, zur  Feier  des  berühmten  Narrenfestes  im  Eispalaste  im 
Jahre  1740  ein  Festgedicht  auf  die  Illumination  zu  fabri- 
zieren. Der  Überbringer  des  Befehls  schnauzt  den  Dichter 
an  und  der  Beleidigte  begibt  sich  zum  Kabinettsminister  Wo- 
lünskij,  um  Beschwerde  zu  erheben;  statt  der  Genugtuung 
erhält  er  Ohrfeigen!  Er  schweigt,  macht  seine  Verse,  bringt 
diese  aber  nicht  dem  Wolünskij,  sondern  Biron,  dem  Günst- 
ling der  Zarin,  einem  Todfeinde  des  Kabinettsministers.  Un- 
glücklicherweise trifft  Tredjakowskij  im  Vorzimmer  Birons  den 
Minister;  der  errät  des  Dichters  Absicht,  läßt  dem  Poeten 
auf  der  Stelle  die  Kleider  vom  Leibe  reißen  und  zählt  ihm 
siebzig  Stockschläge  auf  den  Rücken  hin.  Dann  schleppt  er 
ihn  zur  Maskerade  mit,  zwingt  ihn,  sein  Gedicht  auswendig 
zu  deklamieren,  und  belohnt  ihn  schließlich  mit  einer  neuen 
Tracht  Prügel.-)  Dem  wilden  Wolünskij  selbst  ergeht  es  aller- 
dings  noch   viel    schlimmer.    Biron   fleht   seine   Geliebte,    die 


1)  K.  Waliszewski,  L'heritage  de  Pierre  Ic  Grand,   Rdgne  des  femmes, 
gouvernement  des  favoris  1725 — 1741.    Paris  1900.    159,  170,  196.  —  Die  Me 
inoiren   Karabanows  in  PvccKan  «-rapima    1871.     II   147  und  III  691. 

'-*)  A.  von  Keinholdt,  C'»cschichto  der  russischen  Literatur.     S.  j(>7. 


—     47     — 

Zarin,  auf  den  Knieen  an,  seinen  Todfeind  Wolünskij  hin- 
richten lassen  zu  dürfen.  Anna  kann  dem  Liebhaber  eine 
solche  Gnade  nicht  versagen.  Man  schleppt  Wolünskij  aus 
seinem  Palast  ins  Gefängnis,  reißt  ihm  in  der  Folter  die 
Zunge  und  den  rechten  Arm  heraus  und  zerrt  den  Halbtoten 
am  27.  Juni  1740  aufs  Schaffot,  um  ihn  zu  pfählen.  In 
diesem  Augenblick  erst  entdeckt  Anna  ihr  mitleidiges  Herz: 
sie  befiehlt,  dem  Verurteilten  bloß  zuerst  den  linken  Arm 
wegzuschneiden  und  dann  den  Kopf  abzutrennen.  —  Die 
Diplomaten  La  Chetardie  und  Mardefeld  haben  ausgerech- 
net, daß  Anna  während  ihrer  zehnjährigen  Regierung  7002 
Todesurteile  unterfertigt  und  30000  Personen  nach  Sibirien 
verbannt   hat.    Das   ist   das  Modell   der  Humanität! 

Elisabeth,  Peters  L  Tochter,  führt  in  der  russischen 
Geschichte  den  Beinamen:  die  Gütige.  Sie  hat  zwar  sechzig- 
tausend Menschen  in  zwanzig  Jahren  nach  Sibirien  ver- 
schickt ;  aber  sie  war  doch  weichherzig,  denn  als  sie  eines 
Tages  durch  Zufall  Zeugin  einer  Hinrichtung  wurde,  fiel  sie 
in  Ohnmacht.  Die  furchtbaren  Sitten  der  Epoche  Annas  be- 
trachteten die  guten  Russen  als  eine  Folge  der  deutschen 
Wirtschaft,  die  die  Zarin,  ehemalige  Herzogin  von  Kurland, 
nach  der  Newa  verpflanzt  hatte.  Das  streng  nationale  Regime 
Elisabeths,  der  Tochter  Peters  des  Großen,  begann  daher  mit 
der  Ausrottung  der  deutschen  Machthaber,  der  ßiron,  Mün- 
nich,  Ostermann.  In  der  bangen  Nacht  der  Thronumwälzung, 
da  Elisabeth  ängstlich  auf  das  Resultat  ihrer  Verschwörung 
harrte,  schwor  sie  sich  zu,  während  ihrer  Herrschaft  kein 
Blut  zu  vergießen.  Aber  gleich  nach  ihrer  Thronbesteigung 
verurteilte  sie  doch  die  Machthaber  des  gestürzten  deutschen 
Regimes :  Münnich,  Ostermann,  Golowkin,  Löwenwolde  und 
Mengdcn,  zum  Tode  durch  Vierteilung,  Räderung  oder  ein- 
fache Enthauptung.  Sie  ersetzte  allerdings  die  Todesstrafe 
durch  Verbannung,  aber  sie  tat  dies  erst  im  letzten  Augen- 
blick, als  der  Henker  schon  seine  Opfer  an  ihren  Haaren 
zu  Boden  zerrte,  um  ihnen  den  Todesstreich  zu  geben. i)    Die 


')  Ausgang;  des   loansclicn   Zwt'i^os  der    Konianow   inul  scMiicr   Kicuiulc 
Dargestellt  durch  V.  W.  Barthold.     Historisches  Taschenbuch  VIII,  S.   iii. 


—    48     — 

junge  Zarin,  die  den  Verurteilten  die  Todesstrafe  erließ,  wollte 
ihnen  nicht  auch  die   Schrecken  vor  dem  Tode  ersparen. 

Den  Charakter  Elisabeths  schildert  ein  Zeitgenosse  eben- 
so possierlich  als  treffend  i):  „Elisabeth  war  sanft  und  hart. 
Holde  Sanftmut  und  schrecklicher  Tygersinn  wohnten  neben 
einander  in  ihrem  Busen.**  Die  Manifestationen  ihrer  kaiser- 
lichen Barmherzigkeit,  ihre  zur  Schau  getragene  religiöse 
Frömmigkeit  kontrastieren  allzustark  mit  ihren  Handlungen, 
mit  ihrer  Rachsucht,  ihrer  persönlichen  Grausamkeit,  ihrer 
grausamen  Verwaltung,  ihrer  Sittenlosigkeit.  Sie  schont  weder 
Menschen  noch  Tiere.  In  48  Stunden  rast  sie  von  Peters- 
burg nach  Moskau  und  besät  die  Straße  mit  krepierten  Pfer- 
den. Die  sanfte  Kaiserin  flucht  gemein  wie  ein  Kosak.  Katha- 
rina II.  erzählt  in  ihren  Memoiren,  wie  Elisabeth  1750  auf 
einer  Jagd  ihren  Intendanten  mit  den  ordinärsten  Schimpf- 
worten regalierte,  weil  nicht  genug  Hasen  da  waren.  Aber 
im  Verkehr  mit  ihren  Kammerfrauen  genügen  der  Kaiserin 
bloße  Schimpfworte  nicht  mehr;  sie  ohrfeigt  nach  rechts  und 
links;  greift  auch  zur  Peitsche  und  zum  Stock  und  ist 
erst  beruhigt,  wenn  sie  Blut  fließen  sieht.  Diese  Frau  ist 
entsetzt  bei  der  Kunde  vom  Erdbeben  in  Lissabon  und  be- 
schließt, auf  Kosten  ihrer  Privatkasse  ein  Quartier  der  zer- 
störten Stadt  aufbauen  zu  lassen.  Sie  verträgt  es  nicht,  wenn 
man  einen  verwundeten  Soldaten  vor  ihr  erscheinen  läßt.  Im 
siebenjährigen  Krieg  muß  man,  um  ihr  gutes  Herz  nicht  zu 
betrüben,  die  Zahl  der  Gefallenen  vor  ihr  verheimlichen. 2) 
Als  über  den  Dichter  Lomonossow,  wegen  Beleidigung  der 
Orthodoxie  durch  das  Gedicht  „Der  bepißte  Popenbart'*,  die 
Knutenstrafe  verhängt  wird,  verwendet  sich  Elisabeth  persön- 
lich dafür,  daß  ihm  die  Strafe  erlassen  werde  „in  Anbetracht 
seiner  gelehrten  Verdienste  und  seiner  vorzüglichen  Geistes- 
gaben*.', und  Lomonossow  kommt  mit  einer  Gehaltsstrafe  da- 
von. Dieser  Großtat  rühmt  sich  Elisabeth  Zeit  ihres  Lebens, 
immerfort  will  sie  dafür  Bewunderung  und  Dank  einheimsen. 


')  Biographic  Peters  des  Dritten,  Kaisers  aller  Russen,  von  Herrn  von 
Saldern.     Petersburg  1800. 

'-)   K.  Waliszewski,  T,a  dernidrc  des  Romanov,  Elisabeth  I *■•*..     p.  43. 


—    49    — 

Sie  selbst  kennt  keine  Dankbarkeit.  Dem  Chirurgen  L'Estocq 
verdankt  sie  den  Thron;  aber  auf  eine  bloße  Anschuldigung 
hin  läßt  sie  den  Mann  auf  die  Folter  spannen  und  ihm  die 
Glieder  zerbrechen;  er  erträgt  die  Qualen  mit  ebensoviel  Ge- 
duld als  Stolz;  erst  als  man  ihm  sagt,  die  Kaiserin  begnadige 
ihn,  knirscht  er  mit  den  Zähnen  und  schreit :  „Ich  habe  nichts 
mit  dieser  Kaiserin  zu  thun,  die  mich  dem  Henker  ausgeliefert 
hat.    Ich  brauche  ihre  Gnade  nicht.** 

Einmal  legt  man  der  Zarin  einen  Gesetzentwurf  vor.  Die 
darin  angeordneten  Strafen  erscheinen  ihr  zu  streng,  barba- 
risch.  Sie  verweigert  ihre  Unterschrift  und  sagt:  „Das  ist 
mit  Blut  geschrieben.**  Und  gleich  darauf  erteilt  sie  den  Be- 
fehl, Mademoiselle  Tardier  ins  Gefängnis  zu  werfen  und  un- 
barmherzig zu  behandeln.  Welches  Verbrechen  mag  die  Un- 
glückliche begangen  haben?  Sie  hat,  die  Wahnsinnige,  vor 
der  Zarin  einige  Nouveaut^s  verheimlicht,  die  für  andere  Klien- 
tinnen angekommen  sind.  Elisabeth  wacht  streng  darüber, 
daß  sie  alle  Neuheiten  zuerst  zu  sehen  bekomme;  nur  was 
ihr  nicht  gefällt,  darf  anderen  Frauen  angeboten  werden,  da- 
gegen müssen  Modelle  von  Kleidern  und  Coiffüren,  die  sie 
adoptiert  hat,  für  sie  allein  reserviert  bleiben.  Anna  Wassil- 
jewna  Ssaltykow,  deren  Vater  der  Zarin  mit  zum  Throne 
verholfen  hat,  wird  brutal  vom  Hofe  verjagt,  weil  sie  einmal 
in  einer  Coiffure   ä   la   coque,   wie   die   Kaiserin,   erscheint. i) 

Am  schlimmsten  ergeht  es  aus  ähnlichem  Anlaß  der  Hof- 
dame Natalia  Balk,  Gemahlin  des  Generals  Lopuchin.  Sie  ist 
die  schönste  Frau  am  Hofe  und  verletzt  schon  dadurch  die 
Eitelkeit  der  Herrin.  Bei  einem  Hofball  erscheint  die  Kaiserin 
mit  einer  Rose  in  den  Haaren;  die  Lopuchin  hat  den  un- 
glückseligen Einfall,  dies  nachzumachen.  Wütend  eilt  die 
Kaiserin  auf  die  Verbrecherin  zu,  läßt  sie  im  vollen  Saale 
niederknien,  nimmt  eine  Schere  und  schneidet  die  Rose  samt 
dem  Haarbüschel  herunter;  dann  verabreicht  sie  der  Knieen- 
den ein  paar  schallende  Ohrfeigen  und  kehrt  zum  Tanze  zu- 
rück. Als  man  ihr  berichtet,  daß  die  Lopuchin  infolge  der 
erlittenen  Beschimpfung  in  Ohnmacht  gefallen  sei,  zuckt  sie 


^)  Dolgoroukow,  M6moires.     I  477, 
Stern,  Geschichte  der  öfientl.  Sittlichkeit  in  Rußland.** 


—    50    — 

die  Achseln  und  sagt:  „Sie  hat,  die  Thörin,  was  sie  ver- 
dient 1**^)  Von  diesem  Augenblick  an  ist  Natalia  Lopuchin 
für  den  Henker  gezeichnet;  eine  Denunziation  genügt,  um 
ue  ihm  auszuliefern:  Die  schöne  Frau  unterhielt  einst 
ein  Liebesverhältnis  mit  dem  nach  Solikamsk  verbannten 
Löwenwolde,  Hofmarschall  der  verjagten  Regentin  Anna  Leo- 
poldowna.  Löwenwolde  vertraut  dem  kurländischen  Offizier 
Berger,  der  den  Verbannten  eskortiert,  folgende  Botschaft  an 
seine  geliebte  Natalia  an :  „Die  Zeit  der  Prüfung  wird  vorüber- 
gehen, das  Unheil  kann  sich  ändern."  Berger  denunziert  diese 
Botschaft,  und  mehr  braucht  es  nicht,  um  die  Lopuchin  zu 
verderben.  Ein  Komplott  ist  entdeckt,  die  Lopuchin  als  das 
Haupt  der  Verschwörung  gegen  Elisabeth  dem  Verderben  ge- 
weiht. Alle  ihre  Freunde  und  Freundinnen  werden  mit 
hineingezogen.  Der  Sohn  der  Lopuchin,  ein  junger  Offizier, 
ehemaliger  Page  der  Regentin  Anna  Leopoldowna,  von  Eli- 
sabeth seiner  Stellung  enthoben,  gibt  in  einem  Restaurant 
in  der  Trunkenheit  seiner  Unzufriedenheit  über  seine  Ent- 
lassung lauten  Ausdruck;  man  läßt  ihn  noch  mehr  trinken 
und  suggeriert  ihm  Anklagen  gegen  seine  Mutter.  Man  ver- 
haftet ihn  auf  der  Stelle,  knutet  und  foltert  ihn,  und  er  sagt, 
t/as  man  von  ihm  hören  will. 2)  Die  Affaire  ist  fertig.  Wippe, 
Knut,  Tortur  tun  das  Übrige.  Eine  der  Mitangeklagten,  Frau 
Lilienfeld,  wird  bloß  deshalb  verurteilt,  weil  sie  in  einer  Ge- 
sellschaft wiedererzählt  hat,  was  die  Lopuchin  über  die  Zarin  ge- 
sagt haben  soll.  „Foltert  sie!**  befiehlt  Elisabeth.  Der  Polizeichef 
Uschakow  und  seine  Henkerkollegen  wagen  der  Zarin  vorzu- 
stellen, daß  die  Lilienfeld  hochschwanger  und  nicht  imstande 
sei,  die  Tortur  zu  überstehen.  Worauf  die  sanfte  Elisabeth 
entgegnet :  „Sie  hat  meine  Gesundheit  nicht  geschont,  ich  habe 
auch  ihre  nicht  zu  schonen.*'^)  Der  Diplomat  Mardefeld  be- 
richtet, daß  die  Offiziere,  die  bei  den  Gefangenen  die  Wache 
hielten,   nicht  die  Kraft  hatten,    die  Greuel  der  Torturen  mit- 


0  Vgl.  Bd.  I.  S.  384  nebst  Bild. 

-)  Ausgang  des  loanschcn  Zweiges,  von  Barthold.    Histor.  Taschenbuch 
VIII  120. 

•")   CaioHiiOBi,,   Ilcropifl.     XXI  281. 


—    51    — 

anzusehen.  Elisabeth  aber,  die  echte  Tochter  Peters  des  Gro- 
ßen, ist  bei  den  Folterungen  oft  anwesend  und  weidet  sich  an 
den  Qualen  ihrer  Rivalinnen  auf  dem  Gebiete  der  Mode  und 
im  Reiche  der  Schönheit.  Dies  tut  die  Heuchlerin  indessen 
nur  heimlich,  inkognito.  Sobald  zur  Ausführung  kommen  soll, 
was  sie  gewünscht  hat,  unternimmt  sie  schleunigst  einen  Aus- 
flug nach  Zarskaja  Müsa;  bei  der  öffentlichen  Exekution  will 
sie  nicht  dabei  sein.  Die  Zartfühlende  hat  den  Henkern  ge- 
nügende Instruktionen  hinterlassen.  Ihr  würdiges  Spezial-Tri- 
bunal  verurteilt  zu  Räderung,  Vierteilung,  Enthauptung;  findet 
eine  ganze  Gesellschaft  des  schwersten  Hochverrats  schuldig. 
Die  Zarin  ist  just  von  einem  Balle  heimgekehrt,  als  man  ihr 
die  unzählbaren  Todesurteile  zur  Unterschrift  vorlegt.  Sie  ist 
noch  wollüstig  erregt  vom  Tanzen,  in  einer  seligen  Stimmung, 
jetzt  will  sie  vom  Töten  nichts  wissen.  Also  denkt  sie  barm- 
herziger, übt  Gnade.  Einige  geknutete  Rücken,  einige  zer- 
fleischte Brüste,  einige  abgerissene  Zungen  werden  ihrem  Ge- 
rechtigkeitssinn und  ihrer  Rachelust  genügen. 

Und  so  geschieht  es.  Am  31.  August  1743  wird  das  Schau- 
spiel feierlich  inszeniert.  Charakteristischerweise  bezeichnen 
die  offiziellen  Dokumente  der  Zeit  das  Schaffet  als  Theater. 
Auf  diesem  Theater  erscheinen  nacheinander  die  Anwärter 
auf  Knut  und  Brandmarkung:  der  Gardeoffizier  Moskow, 
Fürst  Putjätin,  Staatsrat  Sibin,  Gräfin  Anna  Bestuschew,  end- 
lich Natalia  Lopuchin,  ihr  Gemahl  und  ihr  Sohn.  Den  letzten 
vier  Personen  soll  auf  Elisabeths  ausdrücklichen  Befehl  auch 
die  Zunge  ausgerissen  werden.  Gräfin  Bestuschew,  geborene 
Golowkin,  die  in  erster  Ehe  Gemahlin  Jaguschinskijs,  des  Günst- 
lings  Peters  des  Großen  gewesen  ist,  kennt  die  Sitten  des  Lan- 
des, weiß  auch  das  Herz  des  Henkers  auf  richtige  Weise  zu 
rühren.  Im  Augenblick,  da  der  Henker  sie  ergreift,  läßt  sie 
in  seine  Hand  einen  kostbaren  Diamanten  gleiten,  und  der 
Brutale  verwandelt  sich  in  einen  geschmeidigen  geschickten 
Menschen,  der  die  Knutenhiebe  bloß  markiert  und  mit  dem 
Messer  die  Zunge  nur  leicht  streift,  verletzt,  aber  nicht  zerstört. 
Ehe  der  Betrug  entdeckt  wird,  schleppt  man  die  Gräfin  Bestu- 
schew auch  schon  fort,  transportiert  sie  in  die  Verbannung 
nach  Jakutsk,  wo  sie  zwanzig  Jahre  später  vor  Hunger  und 

4* 


—    52    — 

Kälte  umkommt.  Ihr  Gatte,  Bruder  des  Vizekanzlers,  tat  nicht 
das  Geringste  zu  ihrer  Rettung  oder  Befreiung,  sondern  trö- 
stete sich  in  den  Armen  der  schönen  Frau  Haugwitz;  auch 
ihre  Tochter,  die  am  Hofe  eine  glänzende  Rolle  fortspielte, 
kümmerte  sich  nicht  um  sie.  Nicht  so  klug  wie  die  Bestuschew 
ging  die  Lopuchin  mit  dem  Henker  um,  und  so  wird  auch  ihr 
Los  ein  schlimmeres.  Unter  dem  Jubel  der  zuschauenden 
Menge  reißt  ihr  der  Henker  die  Kleider  vom  Leibe,  bis  die 
schönste  Frau  der  Hauptstadt  vor  dem  Pöbel  in  voller  Nackt- 
heit dasteht.  Sie  wehrt  sich,  sie  verteidigt  jedes  Kleidungs- 
stück mit  wilder  Wut,  sie  beißt  und  kratzt  den  Henker;  um- 
sonst, er  ist  bald  Herr  der  schwachen  Frau,  er  packt  sie  am 
Halse,  würgt  sie,  und  da  sie  verzweifelt  nach  Luft  schnappt, 
reißt  er  ihr  mit  einem  einzigen  Ruck  die  Zunge  heraus,  imd 
lachend  hebt  er  das  blutende  Stück  hoch  empor  und  bietet 
CS  der  Menge  zum  Kaufe  an:  „Ein  Rubel  für  die  Zunge  der 
Lopuchin!  Wer  gibt  einen  Rubel  für  die  Zunge  der  schönen 
Lopuchin?**  Er  erlaubt  sich  damit  nichts  ungebührliches;  er 
übt  nur  sein  jgesetzmäßiges  Recht  aus,  er  ist  der  Selbstherrscher 
auf  dem  Schaffot;  die  abgerissenen  Zungen,  die  abgehackten 
Glieder  seiner  Opfer  sind  sein  Eigentum,  über  das  er  verfügen 
darf  nach  Gutdünken,  und  wenn  er  bei  seinem  blutigen  Ge- 
schäft auch  Humor  entwickelt,  so  ist  ihm  das  liebe  Publikum 
nur  dankbar  dafür.  Nachdem  der  gute  Mann  die  Zunge  ange- 
bracht hat,  wendet  er  sich  wieder  der  Arbeit  zu.  Die  ohn- 
mächtige Patientin  erweckt  er  mit  einem  feinen  Knutenschlag 
wieder  zum  Leben,  dann  vollführt  er  kunstgerecht  die  ihm  ge- 
wordene Aufgabe;  nicht  ein  einziger  Schlag  geht  fehl  und 
keiner  ist  so  stark,  daß  er  der  Geprügelten  gleich  das  Leben 
kosten  müßte.  General  Lopuchin  wird  vom  Platze  als  halbtot 
hinweggetragen,  die  Generalin  aber  übersteht  die  Marterung 
und  wird  nach  Selcginsk  in  Sibirien  transportiert. i)  Von  hier 
bettelt  sie  ununterbrochen  um  Gnade;  nach  zehn  Jahren  des 
furchtbarsten  Exils  tritt  sie,  die  Protestantin,  zur  Orthodoxie 


*)  Waliszcwski,  La  derniöre  des  Romanov.  42  und  317.  —  Russische 
Günstlinge  (von  Heibig),  Tübingen  1809,  S.  230.  —  Sugenheim,  Rußlands 
Beziehungen   zu   Deutschland,    I    250. 


—    53    — 

über,  um  auf  diese  Weise  das  Herz  der  frommen  Elisabeth  zu 
erweichen;  umsonst  —  einer  Kreatur,  die  einmal  schöner  ge- 
wesen ist  als  die  Souveränin,  kann  dieses  Verbrechen  nie  ver- 
geben werden.  Erst  Peter  III.,  der  in  seiner  kurzen  Regierungs- 
zeit einige  Befehle  gab,  welche  die  Aufhebung  der  Tortur  be- 
zweckten und  die  geheimen  Verhaftungen  perhorrcszicrteni), 
befreite  die  Lopuchin  gleich  allen  anderen  Opfern  des  bar- 
barischen Elisabethischen  Zeitalters  aus  ihrem  Kerker  im  ewi- 
gen Eise. 

Unter  Katharina  II.  herrschte  in  der  Justiz  sicherlich  eine 
sanftere  Auffassung,  obwohl  es  nicht  an  Widersprüchen  fehlte. 
Die  Kaiserin  sorgte  für  ein  beschleunigtes  Verfahren,  um  die 
Qualen  der  Gefangenen  abzukürzen.  Im  Jahre  1769  erschien 
ein  Moskauer  Kaufmann,  namens  Popow,  der  durch  die  Lang- 
samkeit des  Gerichtsverfahrens  ruiniert  worden  war,  vor  Ge- 
richt und  schrie  wild:  „Es  gibt  im  Rußland  Katharinas  II. 
keine  Justiz!'*  Die  Kaiserin  befahl,  aus  dem  Protokoll  diese 
Worte  zu  entfernen,  aber  gleichzeitig  ordnete  sie  an,  den  Pro- 
zeß Popows  schnellstens  zu  beendigen,  „damit  man  sehe,  daß 
es  in  Rußland  eine  Justiz  gibt.**  Katharina  II.  rühmte  sich, 
daß  sie  niemals  ein  Todesurteil  unterschrieben;  indessen  ließ 
sie  Mirowitsch  hinrichten,  der  beschuldigt  war,  zu  gunsten  des 
entthronten  und  gefangenen  loan  Antonowitsch,  des  letzten 
Romanow,  eine  Verschwörung  angezettelt  zu  haben.-)  Und 
für  Pugatschew,  den  falschen  Peter  III.,  verlangte  sie  eine 
komplizierte  Todesstrafe  nach  altrussischem  Muster;  es  sollten 
dem  Thronanmaßer  bei  lebendigem  Leibe  zunächst  die  rechte 
Hand  und  der  linke  Fuß,  dann  die  linke  Hand  und  der  rechte 
Fuß  und  hierauf  das  Haupt  abgeschlagen  werden;  durch  ein 
unliebsames  Versehen  des  Henkers  wurde  zuerst  der  Kopf  ab- 
geschlagen, und  der  ganze  Spaß  war  verdorben.  Aber  im 
allgemeinen  war  die  Todesstrafe  nicht  mehr  in  Gebrauch,  son- 
dern ersetzt   durch   Verbannung   und   sogar  bloß   durch   die 


')  Essai  sur  Thistoire  de  la  civilisation  cn  Russic,  par  Nicolas  de  Gercbtzoff. 
Paris  1858.     II  39. 

2)  K.  Waliszewski,  I.e  roman  d'iinc  imp^ratrice,  Catherine  II.  de  Russic. 
5*  6d.     Paris   1893  P-  350- 


—    54    — 

Peitsche;  Knut  und  Tortur,  um  Geständnisse  zu  erzwingen, 
wurden  seltener  angewendet.  Große  Toleranz  bewies  Katha- 
rina II.  in  sogenannten  sentimentalen  Affären.  Unter  der  Zarin 
Anna  Iwanowna  wurde  die  Bäuerin  Euphrosyne  wegen  Ermor- 
dung ihres  Gatten  am  21.  August  1730  lebendig  eingegraben 
und  nicht  begnadigt,  trotzdem  sie  wie  durch  ein  Wunder  bis 
zum  22.  September  leben  blieb. i)  Katharina  II.  war  in  ähn- 
lichen Fällen  milder  gesinnt :  Eine  Bauernmagd,  Tochter  reicher 
Eltern,  liebt  einen  armen  Burschen,  liegt  mit  ihm  im  Bett.  Da 
kommt  plötzlich  der  Vater  des  Mädchens  nach  Hause.  Die 
Erschrockene  verbirgt  den  Geliebten  unter  der  Bettmatratze. 
Das  Bett  ist  der  Sitte  entsprechend  gemeinsames  Lager  der 
Familie.  Das  Gewicht  von  Vater,  Mutter  und  Tochter  erstickt 
den  Versteckten.  Am  Morgen  gehen  die  Eltern  aufs  Feld, 
und  die  Tochter  findet  unter  der  Matratze  eine  Leiche.  Im 
Moment  dieser  schrecklichen  Entdeckung  tritt  ein  Nachbar  ein. 
Das  Mädchen  beichtet  ihm  die  Entstehung  des  Unheils.  Er 
trägt  die  Leiche  fort  und  wirft  sie  in  den  Fluß.  Als  Lohn  seiner 
Verschwiegenheit  verlangt  er  das  Mädchen  zur  heimlichen 
Maitresse.  Sie  gewährt  ihm.  Sie  bekommt  ein  Kind.  Der  Mit- 
wisser ertränkt  das  Kind,  um  ihr  Verhältnis  nicht  offenkundig 
werden  zu  lassen.  Sie  muß  es  dulden  und  schweigen.  Dann 
kommt  der  Schreckliche  und  verlangt  Geld  und  immer  wieder 
Geld.  Sie  bestiehlt  ihren  Vater.  Einmal  in  der  Trunkenheit 
wandelt  ihren  Tyrannen  die  Lust  an,  in  der  Schenke  vor  seinen 
Freunden  seinen  bisher  verheimlichten  Besitz  zu  zeigen.  Er 
zerrt  sie  mit  sich  fort  und  prunkt  mit  seiner  Eroberung.  Da 
reißt  sie  sich  los,  stürmt  hinaus,  zündet  die  Schenke  an  und 
sieht  jauchzend  zu,  wie  in  den  Flammen  ihr  Verfolger  und 
seine  Freunde,  vor  denen  ihre  Schande  enthüllt  ward,  hilflos 
zugrunde  gehen.  Die  Brandstifterin  wird  ausgeforscht  und 
verhaftet.  Sie  gesteht  alles  ohne  Zögern  und  wird  wegen  Mord, 
Diebstahl,  Kindermord  und  Brandstiftung  zum  Tode  verurteilt. 
Aber  Katharina  begnadigt  sie,  absolviert  sie  und  legt  ihr  bloß 
eine    Kirchenbuße    auf.^)  —  Von    dieser    kaiserlichen    Barm- 

^)  PvccKan  craiMiiin  1877.   VI  398.  —  Waliszcwski,  L'hcritagc  de  Pierre  le 
Grand.     195. 

-)  Waliszewski,  Le  roman  d'unc  imix«ratrice.     351. 


—    55    — 

herzigkeit  und  weiblichen  Sentimentalität  ist  keine  Spur  mehr 
zu  entdecken,  wenn  die  Person  Ihrer  Majestät  selbst  irgendwie 
mit  im  Spiele  ist.  Während  eines  S^jours  in  Peterhof  erwacht 
die  Kaiserin  nachts  infolge  eines  Skandals.  Ein  Lakai,  der  bei 
einem  Kammermädchen  schlief,  hat  es  verursacht.  Die  Zarin 
verurteilt  den  Verbrecher  zu  hundert  Knutenhieben,  was  der 
Todesstrafe  gleichkommt;  überlebt  er  dieses  Hundert,  so  soll 
man  ihm  die  Nase  abschneiden,  die  Stirn  mit  glühendem  Eisen 
brandmarken  und  ihn  schließlich  nach  Sibirien  verschicken.^) 
Die  Hofdame  Gräfin  Bruce  wird  mit  dem  Liebhaber  der  Kai- 
serin, Korsakow,  im  Bette  ertappt.  Katharina  zwingt  das  Paar 
im  Bette  zu  bleiben,  ruft  die  Dienerschaft  und  läßt  dem  unge- 
treuen Liebhaber  und  der  respektlosen  Hofdame  auf  der  Stelle 
eine  tüchtige  Tracht  Prügel  auf  den  Hintern  applizieren.  Die 
Frau,  die  soviel  liebt,  duldet  an  ihrem  Hofe  keine  Abenteuer 
außer  ihren  eigenen.  Am  liebsten  teilt  sie  die  Schläge  selbst 
aus.  Täglich  findet  sie  Veranlassung  zu  solchen  Züchtigungen. 
Aber  es  wird  behauptet,  daß  auch  die  Kaiserin  manchmal 
einen  Peitschenhieb  von  ihrem  Günstling  Patjomkin  auszu- 
halten hat. 

Der  wahnsinnige  Paul  verurteilte  für  die  harmlosesten 
Versehen  und  seltsamsten  Vergehen  zu  den  schwersten  Strafen. 
Der  Mißtrauische  sah  in  allen  Verschwörer.  „Die  Gilets  haben 
die  französische  Revolution  verursacht,**  sagte  er  und  proskri- 
bierte  dieses  Kleidungsstück.^)  Knapp  nach  seiner  Thronbe- 
steigung befahl  er,  den  Bau  der  Isaakskathedrale,  den  man 
unter  Katharina  IL  in  Marmor  begonnen  hatte,  in  Ziegelsteinen 
zu  beenden.  Darauf  machte  ein  Humorist  das  Distichon:  „In 
Marmor  ward  er  begonnen  und  wird  jetzt  in  Ziegeln  beendet, 
also  spiegelt  der  Bau  beide  Regierungen  wieder.**  Der  Freche 
wurde,  nachdem  man  ihm  die  Ohren  und  die  Zunge  abge- 
schnitten, nach  Sibirien  verschickt.  Peter  der  Große  verbot 
das  Niederknien  vor  dem  Zaren,  Paul  verlangte  es  wieder 
streng.     Die  Frau  des   Gastwirts  Remuth  fuhr  spazieren,  als 


')  Waliszewski,  a.  a.  O.     S.  232. 

*)  Une  vie  d'ambassadrice  au  sidclc  dcrnier.   La  princesse  de  Lieven.  Par 
Erncst  Daudet.     Paris  1903.     p.  27. 


—     56     — 

der  Kaiser  daherkam.  Die  Ärmste  bemerkte  den  Monarchen 
nicht  und  hielt  nicht  an,  um  auszusteigen  und  dem  kaiserlichen 
Ukase  gemäß  auf  der  Stelle  niederzuknien.  Paul  ließ  sie  er- 
greifen und  im  Gefängnis  drei  Tage  hintereinander  mit  Ruten 
streichen. 1) 

Alexander  I.  und  Nikolaj  I.  waren  Freunde  speziell  des 
Peitschens.  Nikolaj  prügelte,  wie  Iwan  und  Peter,  seine  Höf- 
linge eigenhändig  mit  seinem  Stock.  Den  Dichter  Puschkin 
ließ  er  wegen  einer  harmlosen  Spötterei  blutig  schlagen. 
Namentlich  Frauen  ließ  der  Zar  der  Peitschenstrafe  unter- 
ziehen. In  seiner  Armee  herrschte  eine  Strenge  ohnegleichen. 
Die  Soldaten  wurden  beim  geringsten  Vergehen  zur  Strafe  des 
Spießrutenlaufens  verurteilt.  Ein  Fähnrich  wurde  verurteilt, 
„zweimal  durch  eine  Schwadron  Spießruten  zu  laufen.**  Nikolaj 
änderte  eigenhändig  das  Urteil  ab :  „Dreimal  Spießrutenlaufen 
durch  zwei  Schwadronen.** 


31.  Grausamkeit  in  der  Verwaltung. 

Humane  Gesetze  Iwans  des  Schrecklichen  —  Duell  als  Gottesgericht  —  Iwans 
Opritschina  —  Die  geheime  Kanzlei  des  Zaren  Alexej  —  Der  Prikas  von  Preobra- 
schensk,  Staatsinquisition  Peters  des  Großen  —  Der  portugiesische  Jude 
Devier,  erster  Polizeimeister  von  Petersburg  —  Deviers  Karriere  —  Der  Polizei- 
meister vom  Zaren  geprügelt  —  Peters  Denunziantenukas  —  Das  Rufen: 
Slowo  i  djelo!  —  Folgen  des  Spionagesystems  —  Sittliche  Verwirrung  —  Die 
Zunge  der  Geheimpolizei  —  Überwachung  der  Würdenträger  —  Belohnung  der 
Denunzianten  —  Ein  übel  belohnter  Denunziant  —  Die  Karriere  des  Detektivs 
Wanka  Kain  —  Zarin  Anna  und  die  Spionage  —  Todesstrafe  auf  unbegründete 
Anklage  —  Torturen  —  Verschickung  aufs  Geratewohl  —  Der  Verbannten- 


^)  Karl  VI.,  König  von  Frankreich,  ist  in  einem  gleichen  Falle  noch  viel 
barbarischer  vorgegangen:  Louis  von  Bourbon,  berühmt  durch  die  Schlacht 
von  Azincourt,  traf  auf  einem  Ritt  den  vorbeifahrenden  König.  Er  grüßte 
ehrerbietig,  hielt  aber  nicht  an  und  stieg  nicht  vom  Pferde.  Karl  befahl  dem 
Profosscn  von  Paris,  dem  Frechen  nachzueilen  imd  ihn  ins  Gefängnis  zu  werfen. 
In  der  Nacht  wurde  I-ouis  von  Bourbon  gefoltert  imd  in  einen  Sack,  der  die  Auf- 
schrift ,,T.aisscz  passer  la  justice  du  Roy!"  trug,  gebunden  imd  so  in  die  Seine 
geschleudert. 


„The  most  modern  Paeranini." 


SeJtcj,c   cnEllscho    K.n\.«tv>T    »u(   4v^  N«, 

gewiiltigunir    Polens  rln.r-V.   Mil,„l..-.-< 


—    57    — 

transport  als  Forschungsexpedition  —  Thronumwälzungen  und  Geheimpolizei 
—  Die  Spionage  unter  Kaiserin  Elisabeth  —  Polizisten  als  Verbrecher  -r—  Blüte 
der  Brigandage  —  Peter  III.  unterdrückt  die  Geheimkanzlei  —  Katharina  II. 
errichtet  die  geheime  Expedition  —  Die  dritte  Abteilung  Nikolajs  I.  und 
Alexanders  II.  —  Ihre  Bedeutung  und  die  Folgen  ihrer  Wirksamkeit  —  Ihr 
Wiederaufleben  unter  Alexander  III.  und  Nikolaj  II:  —  Eine  russische  Zeit- 
schrift gegen  die  Polizei  —  Die  Polizei  auf  dem  Lande  —  Ein  Idyll  —  Strafen 
für  Schuldner  in  alten  Zeiten  —  Moderne  Methoden  der  Steuereintreibung  — 
Willkür  der  Polizei  —  Vergewaltigung  eines  Mädchens  durch  einen  Richter  — 
Russische  Justiz  —  Seltsame  Methode  der  Bekämpfung  der  Korruption  —  Ver- 
wirrung in  den  Gesetzen  —  Russische  Gesetzbücher  —  Kuriose  Gesetze  Pauls 
und  Nikolajs  I.  —  Die  Privilegierten  vor  den  Gesetzen  und  den  Strafen  —  Die 

Frauen  und  die  Körperstrafe  —  Wolostgericht. 

Der  Grausamkeit  der  Herrschenden  entspricht  die  furcht- 
bare Grausamkeit  in  der  Verwaltung,  die  sinnlose  Vergewal- 
tigung und  barbarische  Züchtigung  des  Volkes  seit  tausend 
Jahren.  Wo  der  von  unvertilgbaren  Vorurteilen  befangene 
Souverän  der  alleinige  Richter  und  so  oft  auch  der  Henker 
ist,  da  gibt  es  keine  Gerechtigkeit,  da  herrscht  nicht  die  Justiz, 
sondern  die  Polizei.  Dies  erklärt  die  traditionell  gewordene 
Allmacht  der  Staatspolizei  in  Rußland.  Die  modernen  Russen, 
die  sich  der  polizeilichen  Aufsicht,  unter  der  ihr  Land  seit  jeher 
gestanden,  zu  schämen  begaimen,  haben  uns  den  Glauben  bei- 
bringen wollen,  daß  im  alten  Rußland  eine  solche  Institution 
wie  die  der  sogenannten  dritten  Abteilung  der  Kaiser  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  nicht  existierte;  daß  damals,  als  die 
Zaren  in  patriarchalischer  Weise  dem  Volke  zugänglich  blieben, 
kein  Raum  für  geheime  Kanzleien  war.^)  Wir  aber  haben  die 
Haltlosigkeit  solcher  Behauptungen  durch  das  traurige  Kapitel 
von  der  Grausamkeit  der  Herrscher  und  Herrscherinnen  in 
Rußland  von  vornherein  und  wiederholt  erwiesen. 

Iwans  des  Schrecklichen  Gesetze  frappieren  im  ersten 
Augenblick  durch  einen  Zug  der  Humanität;  die  Torturen  und 
Körperstrafen  werden  auffallend  stark  eingeschränkt.  Wenn 
jemand  jemanden  eines  Kapitalverbrechens  anklagen  will,  so 
muß  er  nach  Moskau  kommen  und  seine  Anklage  vor  dem 
Richter   erheben.     Dann   wird   der   Angeklagte   herbeigeholt. 


^)  Lcroy-Bcaulieii,  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen.     II   115. 


—    58    — 

Gesteht  dieser  nicht,  so  muß  der  Kläger  Zeugen  herbeischaffen. 
Der  Angeklagte  kann  jedoch  ein  Duell  verlangen;  das  Gottes- 
gericht wird  angerufen,  und  man  ist  von  der  Gerechtigkeit 
dieser  Methode  so  überzeugt,  daß  Kläger  und  Angeklagter 
auch  durch  Stellvertreter  die  Entscheidung  herbeiführen  lassen 
können ;  nicht  die  Personen  siegen,  sondern  die  Wahrheit  trium- 
phiert. Bogen  und  Pfeile  sind  den  Kämpfenden  verboten. 
Ihre  Angrilffswaffen  sind:  Wurfspieß,  Lanze,  Axt  und  Dolch; 
sie  dürfen  sich  schützen  durch  Waffenrock,  Schild  und  Küraß. 
Bleibt  das  Gottesgericht  erfolglos,  oder  erweist  sich  der  Ver- 
dacht als  unbegründet,  so  braucht  der  Angeklagte  zu  seiner 
vollkommenen  Freisprechung  bloß  ein  Moralitätszeugnis  seiner 
Mitbürger.  1)  Aber  dieses  schöne  Gesetz  Iwans  ist  nur  auf  dem 
Papier  vorhanden.  Der  Schreckliche  errichtet  1565  die  Oprit- 
schina,  und  diese  Leibgarde  der  Auserwählten,  die  ursprünglich 
nur  für  die  Sicherheit  des  Zaren  sorgen  soll,  wird  bald  zu  einer 
Institution  von  willkürlichen  Polizisten,  Spionen  und  Denun- 
zianten, die  das  Volk  namenlos  bedrücken. 

Das  Beispiel,  das  Iwan  der  Schreckliche,  der  vorletzte 
Herrscher  aus  dem  Hause  Rurik  gegeben,  befolgen  die  Roma- 
nows schon  von  Alexej  Michajlowitsch  angefangen.  Dieser 
zweite  Zar  aus  dem  Hause  Romanow  hat  für  die  den  Hof  be- 
treffenden Angelegenheiten  und  für  politische  Prozesse  „die 
geheime  Kanzlei**,  die  schnell  zum  Schrecken  aller  wird.  Peter 
der  Große  erweitert  seines  Vaters  geheime  Kanzlei  zu  einer 
wirklichen  Staatsinquisition,  zum  berüchtigten  Prikas  von  Preo- 
braschensk.  Auch  nachdem  die  Residenz  von  Moskau  nach 
Petersburg  verlegt  worden  ist,  dauert  die  Tätigkeit  des  Preo- 
braschensker  Prikas  fort.  17 18  ernennt  Peter  zum  ersten  Male 
einen  Polizeimeister  von  Petersburg.  Der  erste  Titular  dieses 
Amtes  ist  ein  zur  Orthodoxie  übergetretener  portugiesischer 
Jude,  namens  Devier.^)  Auf  seiner  Reise  durch  Holland  im 
Jahre  1697  hat  Peter  diesen  Devier  an  Bord  eines  Handels- 
schiffes aufgegabelt ;  er  nimmt  ihn  nach  Rußland  mit  und  steckt 


1)  Gcrcbtzoff,   Essai.    I  301.  —  St.  Ednic,  Dictionnaire  de  la  p6nalit6. 
I   301. 

2)  Waliszcwski,  Pierre  le  Grand,     p.  46. 


—    59    — 

ihn  unter  die  Soldaten.  1705  ist  der  Fremdling  schon  Garde- 
offizier, 1709  gar  General.  171 1  ist  er  bereits  ganz  zum  Russen 
geworden  und  möchte  sich  mit  einer  Stockrussin  verheiraten, 
sich  dabei  auch  gründlich  für  die  Zukunft  versorgen.  Er  hat 
seine  Wahl  getroffen.  Die  Erwählte  ist  alt  und  häßlich,  aber 
die  Schwester  des  Fürsten  Mentschikow.  Der  allmächtige 
Günstling  Peters  faßt  diese  Werbung  als  schmachvolle  Beleidi- 
gung auf  und  läßt  den  Unverschämten  auf  der  Stelle  von  den 
I^akaien  durchpeitschen.  Und  drei  Tage  später  führt  der  kleine 
Jude  Devier  doch  Mentschikows  Schwester  zum  Altar.  Von 
Mentschikows  Palast  weg  war  Devier  zum  Zaren  geeilt,  und 
Peter  hatte  ihm  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  ihm  als  Er- 
satz für  die  erlittenen  Peitschenhiebe  die  alte  und  häßliche 
Schwester  des  Beleidigers  zugesprochen.  Kurze  Zeit  darauf  gerät 
Devier  in  Ungnade,  a!ber  17 18  ist  er  plötzlich  wieder  obenauf, 
ist  er  der  erste  Polizeimeister  von  Petersburg  und  in  dieser 
Eigenschaft  der  ewige  Begleiter  des  Zaren  in  den  Straßen  der 
Hauptstadt.  Eines  Tages  muß  Peters  Wagen  wegen  einer  be- 
schädigten Brücke  Halt  machen.  Man  steigt  ab,  um  den  Scha- 
den auszubessern.  Der  Zar  legt  ruhig  selbst  mit  Hand  an. 
Endlich  ist  die  Arbeit  vollbracht.  Peter  vertauscht  die  Werk- 
zeuge wieder  mit  seiner  Dubina,  seinem  Prügclstock,  packt 
seinen  Polizeimeister  am  Kragen  und  gibt  ihm  eine  tüchtige 
Lektion  für  seine  Nachlässigkeit. i)  Hierauf  steigt  er  ruhig 
wieder  in  den  Wagen  und  lädt  Devier  ein,  ebenfalls  Platz  zu 
nehmen:  „Ca^HCL,  öpaT^B,  setz  dich,  Bruder T*  und  die  durch 
die  Fahrtstörung  und  die  Prügelei  unterbrochene  Unterhaltung 
zwischen  Zar  und  Polizeimeister  wird  fortgesetzt.  Der  Vorfall 
hat  für  t)evier  keine  weiteren  bösen  Folgen.  Erst  nach  Peters 
Tod  ergeht  es  ihm  schlimm.  Mentschikow  rächt  sich  für  seine 
Niederlage  und  verbannt  seinen  Schwager  ins  Exil,  wobei  er 
nicht  vergißt,  dem  Verbannungsdekret  das  zärtliche  Postskrip- 


^)  Der  gcpnigelte  Polizeimeister  blieb  seither  eine  russische  Spezialität. 
Der  Polizeichef  Nikolajs  I.,  Gideonow,  wurde  vom  Baron  Löwenstern  geohr- 
feigt (Löwenstern,  M^moircs,  II);  der  berühmte  Polizeimeister  Alexanders  III., 
Wlassowskij,  verdankte  seine  ganze  Karriere  den  Olirfeigen,  die  er  sich  mit 
stoischer  Geduld  applizieren  ließ.  (Vgl.  Bernhard  Stern,  Aus  dem  mo<lcrncn 
Rußland:  ,,Eine  Ohrfeigenkarriere".) 


—     ßO     — 

tum   hinzuzufügen:   öhtb  KHyTOM'^t»,  man   schlage   ihn    tüchtig 
mit  dem  Knut  I  — 

Gegen  Spione  im  Kriege  waren  die  Russen  unbarmherzig ; 
einen  jungen  Polen,  der  15 14  als  Spion  von  den  Russen  erwischt 
wurde,  band  man  an  einen  Spieß  und  röstete  ihn  langsam  über 
einem  Feuer  wie  ein  Lamm.^)  Die  Spionage  im  eigenen  Lande 
aber  wurde  gewaltsam  großgezogen.  Zuerst  und  in  großem 
Maßstabe  von  Iwan  «dem  Schrecklichen,  der  jedem  Denun- 
zianten willig  Gehör  schenkte  und  den  Sklaven,  die  ihre  Herren 
verklagten,  die  Freiheit  gab.  In  dem  Strafgesetzbuch  des  Zaren 
Alexej  Michajlowitsch^)  wird  allerdings  unbegründeten  Denun- 
ziationen schwere  Strafe  angedroht:  „Wenn  Jemand  vorgiebt, 
er  wisse  etwas,  was  S.  M.  Leben  oder  Staat  angehe,  und  wenn 
er  nachgehend  leugnet,  sagend,  daß  er  solches  nur  that,  um 
den  Schlägen  zu  entgehen,  oder  in  trunkenem  Zustand,  so  soll 
er  mit  der  Knute  gestraft  und  seinem  Herrn  wiedergegeben 
werden."  Von  ganz  ^anderem  Geiste  beseelt  ist  Alexejs  Sohn. 
Der  große  Peter  Alexejewitsch  erläßt  am  25.  Januar  17 15  fol- 
genden Ukas :  „Jeder,  der  ein  wahrer  Christ  und  treuer  Diener 
seines  Souveräns  ist,  darf  ohne  Zweifel  alle  notwendigen  und 
wichtigen  Angelegenheiten  mündlich  oder  schriftlich  denun- 
zieren, sobald  es  sich  um  ein  Komplott  gegen  den  Kaiser,  um 
Verrat,  Revolte  oder  Insurrektion  handelt.**  Dieser  Ukas  wird 
ergänzt  durch  die  Drohung:  „Wer  ein  politisches  Komplott 
kennt  imd  nicht  denunziert,  verfällt  der  gleichen  Strafe  wie 
der  Verbrecher:  dem  Tode.**  Verwandtschaft  entbindet  nicht 
von  der  Pflicht  der  Denunziation;  Kinder  müssen  die  Väter 
denunzieren,  die  Priester  ihre  Beichtkinder.  Sklaven,  die  ihre 
Herren  wegen  einer  Konspiration  denunzieren,  erhalten  sofort 
ihre  Freiheit. 3) 

Der  Zar-Reformator  reformiert  auch  das  Spionagewesen, 
vereinfacht  kolossal  das  System,  drängt  die  furchtbarsten 
Schrecken  der  Inquisitionsgreuel  in  zwei  Worte  zusammen. 
Er  dekretiert :  Jeder  kann  gegen  Jeden  die  Anklage  des  Hoch- 


^)  Dictionnairc  de  la  penalitc.     IV  12. 

2)  Struwcns  Russisches  Landrecbt.     S.  5,  §  14. 

•^)  Ivan  Golovine.  I.a  Riissie  soiis  Nicolas  I**".   Paris,  Leipzig  1845.  p.  374. 


—    61    — 

Verrats  erheben,  indem  er  ausruft :  Cjiobo  n  a'^JIo  !  Wort  und 
Tat.i)  Der  Ankläger,  der  diese  Worte  ausgerufen  hat,  stellt 
sich  damit  sofort  unter  den  unmittelbaren  Schutz  des  Mo- 
narchen. Der  Angeklagte  aber  ist  auf  der  Stelle  aller  seiner 
Rechte  beraubt.  Die  Gewalt  des  Vaters  über  den  Sohn,  des 
Herrn  über  den  Leibeigenen  hört  auf.  Alle,  die  zugegen  sind, 
wenn  Jemand  gegen  Jemanden  diese  Worte  spricht,  haben  die 
Pflicht,  den  Beschuldigten  zu  verhaften  und  ohne  Verzug  nach 
dem  Prikas  von  Preobraschensk  zu  transportieren.  Und  lebt 
auch  der  Unglückliche  am  Ende  des  Reiches,  so  muß  er  doch 
mit  seiner  ganzen  Familie,  ja  mit  der  ganzen  Gesellschaft,  die 
sich  im  Augenblick  der  Beschuldigung  bei  ihm  befand,  nach 
Moskau  wandern.  Im  Prikas  ist  die  Prozedur  eine  seltsame. 
Hat  der  Ankläger  keine  Zeugen,  so  wird  er  dreimal  der  Knu- 
tung  unterzogen;  hält  er  es  aus,  ohne  seine  Anzeige  zu  wider- 
rufen, so  gilt  die  Anklage  als  begründet,  ja  als  halb  bewiesen. 
Der  Angeklagte  kann  den  Gegenbeweis  ebenfalls  durch  den 
Knut  verlangen.  Übersteht  er  die  dreimalige  Knutung  und 
erklärt  sich  noch  immer  als  nichtschuldig,  so  beginnt  die  neuer- 
liche Erprobung  des  Anklägers  durch  den  Knut.  Und  so  fort, 
bis  der  Angeklagte  gesteht  oder  der  Ankläger  widerruft. ^j 
Wen  das  Unglück  getroffen  hat,  der  kann  allem  Valet  sagen, 
was  ihm  lieb  und  teuer  ist.  Der,  gegen  den  einmal  „Wort  und 
Tat**  gerufen  wurde,  kann  auf  Rettung  kaum  mehr  hoffen.  Alle 
Verteidigung  ist  umsonst,  jahrelang  schmachtet  er  im  Kerker, 
bis  die  Untersuchung  beginnt;  und  dann  hat  er  längst  keine 
Freunde  mehr,  die  für  ihn  zu  zeugen  den  Mut  haben.  Ver- 
bannung in  Sibirien  ist  das  Ende. 3) 

Der  Ruf :  Wort  und  Tat !  wurde  das  Signal  zu  einer  allge- 
meinen Demoralisation.  Der  niedrigste  Leibeigene  hatte  das 
Schicksal  seines  Herrn  in  Händen.  Die  Rechtspflege  wurde 
unmöglich.    Der  Verbrecher  brauchte  gegen  den  Richter  bloß 


^)  M.  PI.  CoMebCKirt,  O'irpKii  ii  paacKiiabi  iiar»  pyccKott  uciopiii  XVII  yliKa. 
n.  doBo  II  A'fc^iü!  1700 — 1725.  „Tattnan  Kaim<\iapiji  iipu  ncrrpii  BeJiuKOin.". 
Ha,!.  BTopoe.     C.-IIeTei>6yprB,  1884.     Cip.  1 — 124. 

2)  Russische  Anccdoten  oder  Briefe  eines  teutschen  Offiziers  an  einen  Lief- 
ländischen  Edelmann.     Wansbeck  1765.     S.  52. 

•^)  Sugenheim,  Rußlands  Einfluß  auf  Deutschland.     I  54 — 57. 


—    62    — 

das  Wort  zu  rufen,  um  seine  Verurteilung  zu  hintertreiben; 
sofort  mußte  die  Verhandlung  über  den  Fall  abgebrochen,  der 
Richter  unter  der  Beschuldigung  des  Hochverrats  verhaftet 
werden.  Der  Soldat,  der  vom  Offizier  gezüchtigt  wurde,  rächte 
sich,  indem  er :  Wort  und  Tat  I  rief.  Der  Offizier  verlor  sofort 
seine  Gewalt  über  den  Untergebenen,  mußte  auf  der  Stelle 
zur  Wache  und  sich  ins  Gefängnis  werfen  lassen.  Es  ereignete 
sich  sogar  der  Fall,  daß  ein  Patient,  der  sich  im  Spital  nicht 
operieren  lassen  wollte,  gegen  den  Arzt  das  verhängnisvolle 
Wort  rief.i)  Ein  unkluges  Wort,  eine  harmlose  Geste  kann 
Veranlassung  zu  der  verhängnisvollsten  kriminellen  Unter- 
suchung werden.  Ein  Bauer  wird  von  einem  anderen  be- 
schuldigt, daß  er  in  der  Trunkenheit  den  Zaren  „in  ungewöhn- 
licher Weise**  gegrüßt  habe;  der  Beschuldigte  wird  auf  die 
Folter  gespannt.  Ein  anderer  Bauer  bekommt  die  Tortur,  weil 
er  laut  einer  Denunziation  nicht  weiß,  daß  der  Zar  jetzt  Kaiser 
genannt  werden  müsse.  Ein  Priester  wird  beschuldigt,  daß  er 
von  der  Krankheit  des  Zaren  gesprochen  und  die  Möglichkeit 
seines  Todes  in  Betracht  gezogen  habe;  auf  die  Galeere  mit 
ihm !  Eine  Frau  findet  in  ihrem  Keller  Briefe  von  unbekannter 
Hand  in  unbekannter  Sprache;  man  denunziert  ihren  Fund; 
man  foltert  sie,  damit  sie  den  Inhalt  der  Briefe  bekannt- 
gebe; sie  vermag  es  nicht;  Urteil:  sie  sterbe  unter  dem 
Knut!  Eine  blinde  und  epileptische  Frau  schreit  in  der 
Kirche  auf;  man  denunziert  sie  deswegen,  foltert  sie.  Ein 
Student  wird  denunziert,  daß  er  in  der  Trunkenheit  „böse 
Worte**  gesprochen;  Strafe:  30  Knutenhiebe,  Ausschneiden 
der  Nasenlöcher,  ewige  Zwangsarbeit.  Der  Praporschtschik 
Timofej  Skobejew  kommt  in  gleichem  Falle  besser  davon;  er 
wird  von  seinem  Leibeigenen  Akim  Iwanow  durch  den  Ruf: 
Wort  und  Tat!  nach  dem  Prikas  expediert.  Der  Kaiser  selbst 
verhört  Kläger  und  Angeklagten.  Es  handelt  sich  um  einen 
ehelichen    Streit.     Skobejew    war    betrunken,    verlangte   noch 


^)  Geschichte  Peters  des  Dritten,  Kaisers  von  Rußland.  Aus  der  Hand- 
sclirift  eines  geheimen  Agenten  Ludwigs  XV.  am  Hofe  zu  Petersburg.  Begleitet 
von  der  geheimen  Geschichte  der  vornehmsten  Liebschaften  Katharinen  IL 
durch  den  Verfasser  der  Lebensgeschich tc  Friedrichs  IL  (Montmorin).  Nach 
der  Pariser  Originalausgabe,   1799.     Bd.  I,  S.  171. 


—    63    — 

mehr  zu  trinken,  seine  Frau  verweigerte  ihm  den  Wein;  da 
schlug  er  sie  und  sagte:  „Unser  Gossudarj  Pjotr  Alexeje- 
witsch  macht  es  ebenso!**  Der  Zar  übt  Gnade  und  befiehlt 
am  21.  April  1721  :  „Den  Praporschtschik  Timofej  Skobe- 
jew  soll  man  für  seine  thörichten  Worte  unbarmherzig  mit 
Batogen  schlagen,  dann  freilassen.  Der  Denunziant  Akim 
Iwanow  bekommt  einen  Freibrief;  er  und  seine  Frau  und 
seine  Kinder  sollen  frei  sein  und  leben  dürfen,  wo  sie 
wollen.**!) 

Welch  lockender  Lohn  für  solchen  Dienst!  Eine  ganze 
Serie  von  Ukasen  droht  die  schwerste  Strafe  allen  denen  an, 
die  etwas,  was  dem  Zaren  verdächtig  erscheinen  könnte,  wissen 
und  es  nicht  anzeigen.  Aber  wirksamer  noch  als  die  Straf- 
drohungen sind  die  in  Aussicht  gestellten  Belohnungen.  Die 
gewöhnliche  Prämie  für  eine  Denunziation  beträgt  zehn  Rubel. 
Spezielle  Umstände  veranlassen  weit  höhere  Verlockungen.  Im 
Jahre  1722  werden  in  Moskau  unter  einer  Laterne  10  Säcke 
aufgehängt;  jeder  enthält  100  Rubel.  Eine  daneben  ange- 
schlagene Ankündigung  verspricht  dieses  ganze  berauschende 
Vermögen  Jenem,  der  den  Autor  eines  im  Kremlj  aufgefunde- 
nen Pamphlets  gegen  den  Kaiser  angibt;  der  Denunziant  soll 
außer  dem  Gelde  eine  Anzahl  Güter  und  ein  Amt  erhalten! 
Unbeschreibliche  Verkommenheit,  namenlose  Entsittlichung 
sind  die  Resultate  dieses  Systems.  Redlichkeit  und  Vertrauen 
existieren  nicht  mehr,  in  jedem  Mitmenschen  sieht  man  nur 
einen  Verräter,  Angeber,  Verderber.  Arretierung  und  Folte- 
rung eines  Beschuldigten  haben  hundert  und  hundert  neue 
Verhaftungen  im  Gefolge.  Auf  der  Folterbank  nennt  man  alle 
Namen,  die  einem  durch  Zufall,  in  der  Angst  und  Verzweif- 
lung in  den  Sinn  kommen.  Weiß  man  keinen  Namen  mehr, 
kann  der  Henker  aus  dem  Gepeinigten  nichts  mehr  heraus- 
pressen, dann  wird  der  Delinquent  losgebunden;  man  stülpt 
ihm  eine  Arrestantenmütze  auf  das  Haupt  und  schleppt  ihn 
durch  alle  Gassen,  damit  er  unter  den  zufälligen  Passanten 
seine  Komplizen  bezeichne.  Würde  die  Pest  leibhaftig  in  der 
Stadt  herumwandern,  so  könnte  sie  kein  größeres  Entsetzen 


*)  C'i'MOBCKirt,  C.ioBO  II  ,i,1v.iü.  (Tp.  52.  —  Waliszewski,  Pierre  le  Grantl.  193. 


—    64     — 

hervorrufen.  Erblickt  man  einen  von  diesen  Unglücklichen, 
so  veröden  die  Gassen,  Alles  flüchtet,  rettet  sich.  „Die  Zunge ! 
die  Zunge!**  So  bezeichnet  das  Volk  diese  durch  Martern  zu 
Verderbern  ihrer  Mitmenschen  gepreßten  willenlosen  Agenten 
des  Prikas  von  Preobraschensk. 

Eine  Armee  von  Spionen  und  Spürhunden,  Entdeckern 
und  Erfindern  ist  über  das  ganze  Reich  verbreitet.  Die  ge- 
heimen Agenten,  freiwillige  und  gedungene,  horchen  an  allen 
Türen,  lauschen  an  allen  Wänden,  mischen  sich  bei  den  Ban- 
ketten unter  die  Gäste,  kredenzen  den  Lcichtzüngigen  die  ge- 
heimnislösenden Weine.  Entsendet  der  Zar  einen  Heerführer 
in  die  Provinz  oder  ins  Feld,  oder  einen  Botschafter  ins  Aus- 
land, so  mischt  er  unter  die  Begleiter  sorgfältig  ausgewählte 
Kontrollagenten,  die  mit  dem  Kaiser  in  direktem  Briefwechsel 
stehen  und  über  das  Leben  und  Treiben  ihres  Vorgesetzten 
minutiösen  Bericht  zu  erstatten  haben.  Als  Peter  den  Feld- 
marschall Scheremetjew  zur  Unterdrückung  einer  Revolte 
nach  Astrachan j  beordert,  muß  sich  der  Fürst  einen  Garde- 
sergeanten als  Wächter  gefallen  lassen;  Baron  Schleinitz, 
Peters  Gesandter  in  Paris,  wird  peinlich  beobachtet  von 
einem   Expedienten   seines    Amtes,    einem   gewissen    Schurin. 

Nach  dem  Tode  Peters  wird  der  Prikas  von  Preobra- 
schensk gesperrt.  Aber  nur  der  Name  verschwindet,  das 
System  bleibt;  die  Rufe:  „Slowo  i  djelo!  Wort  und  That!** 
hallen  noch  Jahrzehnte  hindurch  schauerlich  durch  ganz  Ruß- 
land, und  die  Gefängnisse  leeren  sich  nicht.^)  1726  beschul- 
digt ein  kleiner  Bureauschreiber,  Wassilij  Feodorow,  den 
Kapitän  der  Reserve  Kobylin  „aufrührerischer  Rede**,  und 
der  Denunziation  wird  ohne  Untersuchung  Folge  gegeben,  der 
Denunzierte  ins  Gefängnis  geworfen,  zum  Tode  verurteilt;  des 
Hingerichteten  Güter  konfisziert  der  Staat,  aber  der  Denun- 
ziant findet  diesmal  nicht  den  erwarteten  Lohn;  „ich  habe,** 
klagt  er  in  einem  in  den  Archiven  enthaltenen  Aktenstück, 
„von  der  Beute  nichts  erhalten  als  eine  Kuh  und  ein  Kalb, 
ein  paar  Gänse  und  ein  wenig  Heu.  Andere  Donoßtschiki 
(Denunzianten)  sind  für  ihren  Eifer  besser  belohnt  worden.** 


1)  Waliszcwüki,  L'hcritage  de  Pierre  Ic  Grand.     103. 


—    66    — 

Manche  von  diesen  Donoßtschiki  haben  wirklich  Karriere  ge- 
macht. Ein  klassischer  Fall:  Der  Leibeigene  Wanka  Kain 
bestiehlt  seinen  Herrn  Filatjew  und  entflieht.  Filatjew  ver- 
folgt den  Flüchtling,  erwischt  ihn  in  einer  Straße  von  Mos- 
kau, nimmt  ihn  gefangen  und  verurteilt  ihn:  zwei  Tage  lang 
mit  einem  Bären  an  einer  Kette  angebunden  zu  bleiben;  am 
dritten  Tag  kommt  Filatjew  mit  der  Peitsche,  um  dem  Gefes- 
selten mit  einer  Tracht  Hiebe  die  Freiheit  zu  schenken.  Aber 
kaum  beginnt  die  Bastonnade,  da  schreit  der  Leibeigene  in 
seiner  Angst:  „Slowo  i  djelo,  Wort  und  ThatI**  Und  im 
Moment  ist  die  Exekution  eingestellt,  der  Herr  wird  verhaftet, 
eine  Untersuchung  beginnt.  Zufälligerweise  hat  Filatjew  tat- 
sächlich ein  Verbrechen  auf  dem  Gewissen;  er  hat  einen 
Polizisten  umgebracht,  und  man  findet  die  Leiche  des  Er- 
mordeten in  einem  Versteck  des  Hauses.  Wanka  Kain,  der 
Dieb  steht  nun  als  ein  großer  Mann  da,  er  wird  Detektiv. 
Das  neue  Geschäft  macht  ihm  Spaß,  es  bereitet  ihm  woll- 
lüstigen  Genuß,  sich  für  die  Leiden  seiner  Vergangenheit  an 
den  Leiden  seiner  Nebenmenschen  entschädigen  zu  können, 
er  erfindet  Komplotte  und  Verbrechen,  um  die  Unschuldig- 
sten zu  verderben.  So  liefert  er  dem  Henker  eine  junge 
Witwe  aus,  die  sich  ihm  nicht  ergeben  wollte;  aber  da  er 
sie  nackt  in  den  Händen  des  Furchtbaren  sieht,  erzittert  er; 
er  besticht  den  Henker,  daß  er  sie  sanft  schlage,  und  nun 
heiratet  die  Gezüchtigte  dankbar  ihren  Peiniger.  Wanka 
Kains  Name  findet  man  zuletzt  im  Jahre  1749  erwähnt,  wo 
er  selbst  in  eine  Grube  fällt,  die  er  anderen  gegraben  hat, 
und  infolge  einer  Brandstiftung  zum  Tode  verurteilt  wird.i) 
Die  Zarin  Anna  Iwanowna,  in  deren  Zeit  Wanka  Kain 
seine  Laufbahn  begann,  machte  übrigens  den  Versuch,  die 
Furchtbarkeit  des  Ausrufs:  „Slowo  i  djelo I**  zu  lindern.  Auf 
falsche  Denunziation  wiu-de  Todesstrafe  gesetzt.  Es  wurde 
verboten,  eine  im  Gange  befindliche  Exekution  zu  suspen- 
dieren, wenn  der  Verurteilte  „Wort  und  Tat"  rief.  Also  lautete 
eine  Verordnung  vom  4.  April  1730.  Aber  sechs  Tage  später 
setzte  ein  Ukas   Todesstrafe  fest:    für  denjenigen,  „der  eine 


1)  Waliszewski,  L'h6ritage.     194. 
Stern,  Geschichte  der  öffentl.  SittHchkeit  in  Ru&land.    **  3 


—    66    — 

wichtige  Angelegenheit  nicht  denunziert!"  Anna  beruft  eine 
Kommission  zur  Reformierung  der  Justiz;  das  Resultat  langer 
Arbeit  ist:  der  Wiederabdruck  des  Gesetzbuches  des  Zaren 
Alexe  j.  Die  Trennung  der  Zivil  Justiz  von  der  Kriminaljustiz 
wird  anbefohlen;  aber  die  Wolikita,  die  traditionelle  Ver- 
schleppungsmethode, paralysiert  die  schönsten  Absichten.  Die 
Justiz  bleibt  nach  wie  vor  wild  und  grausam. i)  Die  Willkür 
herrscht  und  die  Korruption  unterstützt  sie,  ist  ihre  einzige 
Dienerin.  Eine  Regierung  von  Abenteuerem  muß  mißtrauisch 
sein.  Der  Priester  Jossip  Rjeschilow  wird  der  Tortur  unter- 
zogen, obwohl  er  noch  nicht  einmal  verdächtig  ist;  man 
foltert  ihn,  um  erst  zu  erfahren,  wessen  man  ihn  verdächtigen 
könnte.  Der  zwanzigjährige  Martin  Karlowitsch  Skawronskij, 
ein  Verwandter  der  verstorbenen  Zarin  Katharina  I.,  sagt 
scherzend  seinen  Freunden,  was  er  täte,  wenn  er  König  wäre. 
Man  peitscht  ihn,  um  ihm  Lust  zu  solchen  Spaßen  zu  ver- 
treiben. Man  foltert  auf  bloße  Denunziation  hin,  man  ver- 
urteilt ohne  Beweise  und  verschickt  aufs  Geratewohl.  Der 
Vizekanzler  Golowkin  und  seine  Frau  werden  zur  „Intemier- 
rung  in  Hemang"  verurteilt  und  nach  Sibirien  expediert.  Berg, 
der  Leiter  des  Verbannten-Transportes,  kann  den  Ort  auf  kei- 
ner Karte  finden,  imd  zieht  wochenlang,  monatelang  in  der 
Gegend  von  Irkutsk  und  Jakutsk  umher,  wie  auf  einer  For- 
schungsreise. Hat  er  den  Ort  jemals  entdeckt?  Man  weiß  es 
nicht.  Man  weiß  noch  heute  nicht,  wo  Golowkin  und  seine 
Frau   ihre   Strafe   verbüßten.^) 

Im  achtzehnten  Jahrhundert,  wo  jeder  Thronwechsel 
durch  eine  Revolution  bewerkstelligt  wurde,  jeder  Herrscher 
gewaltsam  entthront  oder  ermordet  wurde,  jeder  neue  Macht- 
haber die  Günstlinge  früherer  Monarchen  schleunigst  zu  be- 
seitigen und  die  möglichen  Rivalen  von  vornherein  unschäd- 
lich zu  machen  suchte,  war  das  System  der  Denunziationen 
und  der  Geheimpolizei  das  unentbehrliche  Rüstzeug  aller  Re- 
gierungen. Elisabeth  schwor  bei  ihrer  Thronbesteigung,  keine 
Todesstrafe  zu  verhängen;    sie  schwor  auch,  die  Tortur  nicht 


1)  A.  a.  O.     195. 

*)  Waliszewski,  La  demidre  des  Romanov.     21. 


—    67    — 

mehr  anwenden  zu  lassen.  Aber  schnell  mußte  sie  ihren 
Schwiu:  brechen,  das  Feld  vollkommen  der  Polizeiwillkür 
überlassen,  und  weniger  noch  als  zuvor  gab  es  jetzt  irgend 
eine  Grenze,  an  der  die  Wirksamkeit  der  Polizei  aufgehört  hätte. 
Die  Polizei  mischte  sich  in  alles,  behauptete  allwissend,  all- 
durchdringend zu  sein,  riß  die  verborgensten  Türen  auf, 
drang  in  die  Schlafgemächer  ein,  schonte  nicht  die  Großen 
noch  die  Kleinen,  nicht  die  Geheimnisse  der  Familie  noch 
der  Ehe.  Mit  dem  Schlagwort :  Ordnung  und  Sicherheit !  fuhr 
sie  durch  das  ganze  Land,  überall  Unordnung,  Unsicherheit, 
Verwirrung  und  Verzweiflung  hervorrufend.  Der  Thron  der 
Zaren  imd  Zarinnen  ist  immer  schwankend  und  stets  um- 
schleicht ihn  die  Furcht  vor  Komplotten.  Die  Spione  und 
Denunzianten  machen  sich  dies  zunutze.  1742  verbreitet  je- 
mand das  Gerücht,  daß  im  Schlafzimmer  der  Kaiserin  Elisa- 
beth eine  Pulvertonne  versteckt  und  entdeckt  worden  sei. 
Das  Gerücht  erweist  sich  als  lügenhaft,  aber  die  Furcht  der 
Zarin  ist  erweckt  und  nicht  zu  bannen.  Es  erfolgt  eine  Reihe 
von  Verhaftungen,  eine  massenhafte  Austeilung  von  Knuten- 
hieben. Elisabeth  wagt  kaum  zu  Bett  zu  gehen,  und  zu  ihrer 
Sicherheit  organisiert  sie  eine  Geheimpolizei,  die  hinter  der 
Opritschina  Iwans  des  Schrecklichen  nicht  zurücksteht.  Im 
ganzen  Reiche  beginnt  eine  Jagd  nach  Verdächtigen,  das 
Verhaften  von  Zehntausenden,  das  Verschicken  von  Zahllosen, 
ohne  Grund,  ohne  Prozeß,  ohne  Urteil.  Und  was  ist  das  für  eine 
Polizei !  Ein  und  dasselbe  Subjekt  ist  zumeist  gleichzeitig  Brigant 
und  Polizist.  Im  Hause  des  Grafen  Tschemyschow  wird  ein 
kleinrussischer  Edelmann  von  dem  Wächter  erschlagen,  der 
das  Haus  bewachen  soll.  Polizeisoldaten  überfallen  das  Haus 
eines  Kaufmannes,  ermorden  den  Besitzer,  vergewaltigen  und 
töten  seine  Frau  und  seine  Nichte  und  plündern,  was  nicht 
niet-  und  nagelfest  ist.  Die  Edelleute  auf  dem  Lande  spotten 
der  Polizei.  Der  Wojewode  von  Kolomna,  Iwan  Orlow,  läßt 
das  Polizeibureau  von  seinen  Truppen  umzingeln  und  zer- 
stören. In  den  Ideen  der  Zeit  ist  Brigantentum  kein  schänd- 
liches Gewerbe.  Die  als  Räuber  durch  die  entlegenen  Gou- 
vernements ziehen,  genießen  Ansehen  und  Popularität.  Edel- 
leute   vornehmsten    Ranges    stellen    sich   an    die   Spitze    von 


!i 


ii 
i 


-1    C8    — 

Räuberbanden,  belagern  die  Straßen,  machen  Gefangene,  for- 
dern Lösegelder.  Der  Räuberhauptmann  Sinowjew,  ein  Vor- 
fahre des  Diplomaten  unserer  Tage,  herrscht  wie  ein  abend- 
ländischer Raubritter  in  seinem  Gebiet  und  plündert  nament- 
lich Kaufleute.  Mit  den  Behörden  steht  er  auf  vortrefflichem 
Fuße,  imd  da  er  einmal  doch  vor  Gericht  kommt,  wird  er 
freigesprochen!  1740  beherrscht  eine  Räuberbande  von  3000 
I  Mann  mit  Kanonen  unter  Leitung  eines  Edelmannes  die  ganze 

Gegend  an  der  Oka.^)  Um  1750  erscheint  an  der  Spitze 
einer  Bande  eine  vornehme  Dame,  Katharina  Dirin;  ihre 
Gefolgschaft  bilden  ihre  Verwandten  und  ihre  Leibeigenen. 
Sie  greift  die  Herrenhäuser  an,  raubt  und  mordet.  Zu 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  treibt  Baron  von  Ungem- 
Sternberg  in  den  livländischen  Gewässern  sein  Unwesen  als 
Seeräuber,  durch  falsche  Leuchtfeuer  lockt  er  Schiffe  auf 
Sandbänke  und  Klippen;  er  raubt  und  mordet;  und  1802 
errichtet  er  dankbar  dem  lieben  Gott  eine  Kirche  auf  einer 
Insel.^)  Alle  diese  Herren  imd  Damen  erwecken  nicht  das 
Interesse  der  Polizei,  die  in  der  politischen  Spionage  ihren 
einzigen   Daseinszweck   sieht. 

Von  einzelnen  Herrschern  verurteilt  und  aufgehoben  „für 
ewige  Zeiten**,  lebt  die  Institution  der  geheimen  Kanzlei  doch 
immer  neu  auf,  wenn  auch  unter  anderen  Namen.  Peter  III. 
erklärte  am  7./18.  Februar  1762,  daß  er  ohne  eine  ge- 
heime Kanzlei  regieren  wolle;  der  jähe  gewaltsame  Tod,  den 
seine  Gemahlin  ihm  schon  nach  kurzer  Zeit  bereitete,  ermög- 
lichte es  ihm,  sein  Versprechen  zu  halten.  Katharina  IL, 
die  Peters  des  Großen  Prikas  von  Preobraschensk  „durch  die 
Zeitverhältnisse  und  die  ungebildeten  Sitten  der  Nation**  zu 
entschuldigen  suchte,  bestätigte  die  von  Peter  III.  verfügte 
Aufhebung  der  geheimen  Kanzlei,  doch  nur,  um  eine  eigene 
Institution,  „die  geheime  Expedition**,  zu  schaffen.^)    Paul  I. 


^)  0».i()Bi>eBrL,  ITcTopiji  XXIIl  18,  XXIV  99.  —  Walisrewski,  La  demiÄre 
des  Romanov.     173. 

2)  Petri,  Gemälde  von  Livland  und  Estland.  Leipzig  1809.  79—1. 
Sugenheim,  Rußlands  Einfluß  auf  Deutschland.    I  12.  — 

^)  Biographie  Peters  III.  (von  Heibig).  Tübingen  1808.  I  137  und  II  I3. 
—  Reimers,  St.  Petersburg  am  Ende  seines  ersten  Jahrhunderts.    1805.  I  264« 


—    69    — 

hat  seine  „geheime  Untersuchungskanzlei";  sie  wird  von 
Alexander  I.  wiederum  feierlich  „für  alle  Zeit**  aufgehoben, 
aber  unter  Nikolaj  I.  und  Alexander  II.  ersteht  sie  von  1826 
bis  1880  in  der  „III.  Abteilung  der  kaiserlichen  Kanzlei**  als 
eine  furchtbare  politische  Inquisition  neu  und  unter  Alexan- 
der III.  und  Nikolaj  II.  dauert  sie  unter  verschiedenen  Formen 
und  Namen  fort.  „Als  ein  Instrument  der  Kontrolle,  das  selber 
ohne  Kontrolle  war,  erzeugte  diese  politische  Inquisition,**  so 
schreibt  Leroy  Beaulieu,  „in  den  Händen  der  Machthaber  und 
Tagesgünstlinge  Haß,  Ehrgeiz,  Furcht.  Als  Werkzeug  der  Herr- 
schaft diente  sie  der  Verfolgung  und  der  Vertilgung.  Von 
Peter  I.  bis  Alexander  II.  hat  keine  Maschine  des  Despotismus 
soviel  Menschen  zermalmt,  so  geräuschlos  und  heimlich  ge- 
gearbeitet, wie  diese.  Die  Zahl  ihrer  Opfer  jeden  Standes, 
jeden  Alters  und  Geschlechtes  ist  umso  schwerer  zu  bestim- 
men, als  nicht  öffentliche  Autodafes  sie  verzehrten,  sondern 
die  schweigenden  Schneefelder  Sibiriens  das  Geheimnis  be- 
gruben.**^)  Die  Chefs  der  dritten  Abteilung  unter  Nikolaj  I. 
und  Alexander  II.  waren  nacheinander:  Graf  Benckendorff, 
Graf  Orlow,  Fürst  Wassilij  Dolgoruckow,  Graf  Peter  Schuwa- 
low,  General  Potapow,  General  Mesenzew,  General  Drentelen. 
Man  ersieht  aus  der  Liste,  daß  der  Posten  nur  angesehenen, 
vornehmen  Männern  gegeben  wurde:  Benckendorff  war  Bru- 
der der  Fürstin  Lieven;  Orlow,  später  zum  Fürsten  erhoben, 
Vertreter  Rußlands  beim  Pariser  Kongreß;  Graf  Peter  Schu- 
walow  wurde  Bevollmächtigter  Rußlands  beim  Berliner  Kon- 
greß. Es  ist  charakteristisch  für  die  russischen  Sittlichkeits- 
begriffe, daß  diese  vornehmen,  gebildeten  Männer  sich  dazu 
hergaben,  Chefs  der  Spionage  zu  sein.  Reizte  die  beispiel- 
lose Macht  den  Ehrgeiz  so  sehr,  daß  alles  Schamgefühl, 
alles  Mitleid  erstickt  wurde?  Der  Chef  der  dritten  Abteilung 
war  immer  der  wahre  Vize-Kaiser,  ein  unumschränkter  Herr 
über  Freiheit  und  Leben  aller  Untertanen  des  Selbstherr- 
schers. Er  hatte  Rechte,  die  keine  Grenzen  kannten.  Die 
Paläste   der   Großfürsten,   selbst   des  Thronfolgers   waren  vor 

—  Bredow,  Chronik  des  19.  Jahrhunderts.  I  213.  —  Sugenheim,  Rußlands  Ein- 
fluß auf  Deutschland.     I  54. 

^)  Leroy-Beaulieu,  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen.    II  ii6. 


—    70    — 

ihm  ebenso  wenig  sicher  wie  die  Dachkammer,  die  die  ärmste 
Studentin,  oder  das  Nachtasyl^  das  den  heimatlosen  Studen- 
ten beherbergte.  Vor  ihm  erzitterten  die  Minister  und  die 
Generalgouverneure ;  vor  ihm  sprangen  die  Tore  der  Festungen 
und  der  Gefängnisse  auf.  Bei  Tag  und  bei  Nacht  durfte  er  ein- 
treten, wo  er  wollte;  durfte  er  verhaften,  wen  er  verdächtig 
fand.  Er  führte  den  simplen  Titel:  Chef  der  Gendarmerie, 
war  aber  Mitglied  des  Ministerkomit^s,  und  just  das  wich- 
tigste aller  Mitglieder;  er  erstattete  direkt  dem  Kaiser  Be- 
richt, imd  nur  dem  Kaiser,  zu  dem  er  jederzeit  unangemeldet 
Zutritt  hatte.  Er  bestimmte  Verhaftungen,  aber  auch  Er- 
nennungen; sein  Wort  bezeichnete  die  unverläßlichen,  bürgte 
für  die  verläßlichen  Beamten.  Er  brauchte  keine  Rechenschaft 
abzulegen  über  seine  Handlungen,  er  brauchte  keine  Beweise 
für  seine  Anklagen,  keine  Gründe  für  seine  Verurteilungen. 
An  den  Folgen  der  Wirksamkeit  der  dritten  Abteilung  krankt 
Rußland  heute.  Mißtrauen  und  Angst  beherrschten  die  Ge- 
sellschaft, den  engsten  Familienkreis.  Man  wagte  selbst  vor 
den  Eltern  oder  den  Kindern  nicht  Worte  zu  sagen,  die  irgend- 
wie politisch  gedeutet  werden  konnten.  Ssaltykow-Schtsche- 
drin  hat  in  den  „Briefen  an  meine  Tante**  mit  bitterer  Satire 
die  Atmosphäre  geschildert,  in  der  man  dahinlebte,  und  ge- 
zeigt, wie  man  frivol  werden  mußte  in  seinen  Unterhaltungen, 
um  Gefahren  zu  vermeiden.  So  lähmend  war  die  Angst,  daß 
selbst  Russen  im  Auslande  nur  beklommen  atmeten.^) 

Diese  dritte  Abteilung  war  eine  Institution,  die  niemals 
zuvor  imd  nirgends  in  der  Welt  ihresgleichen  hatte.  Alexan- 
der II.  hatte  sich  anfangs  von  ihr  losgesagt,  aber  nach  dem 
Attentat  von  1866  doch  wieder  nach  ihr  gegriffen  als  nach 
dem  einzig  sicheren  Rettungsanker  für  das  bedrohte  Selbst- 
herrschertum.  Da  erfolgte  die  Ermordung  der  Polizeichefs 
durch  die  Nihilisten:  General  Mesenzew  wurde  in  den  Straßen 
Petersburgs  erdolcht,  General  Drentelen  vom  18jährigen  Mirs- 
kij  am  hellen  Tage  vom  Pferde  geschossen.  Jetzt  erschrak 
Alexander  vor  dem  Volksunwillen  und  opferte  1880  die  In- 
stitution auf;    er  unterstellte  die  Staatspolizei  dem  Chef  der 


^)  Leroy-Beaulien.     II  135. 


—    71    — 

Exekutivgewalt  Loris-Melikow.  Alexander  III.  und  Nikolaj  IL 
haben  aber  die  dritte  Abteilung,  wenn  auch  nicht  dem  Namen 
nach,  doch  tatsächlich  wiederhergestellt  und  ein  Gendarmerie- 
korps aus  den  Söhnen  der  vornehmsten  Familien  organisiert; 
diese  Gendarmen  leisten  das  Gleiche,  das  die  Opritschniki 
Iwans  des  Schrecküchen,  die  Denunzianten  Peters  des  Großen 
und  die  Agenten  der  dritten  Abteilung  Nikolajs  I.  und 
Alexanders  II.  geleistet  haben.^) 

Die  Bedrückung  des  Volkes  durch  die  Polizei  nahm  mit- 
unter auch  in  neuester  Zeit  solche  Dimensionen  an,  daß  die 
russische  Presse,  sogar  noch  vor  Beg^n  der  Hevolutions- 
epoche,  den  Mut  der  Verzweiflung  fand^  laut  um  Abhilfe  zu 
rufen.   So  wagte  die  Zeitschrift   „PyccKoe    6oraTCTBO**   einmal 


1)  Ich  will  nicht  übersehen,  daß  es  auch  einen  Verteidiger  der  III.  Abtei- 
lung gegeben  hat,  und  zwar  einen  deutschen  Schriftsteller.  Man  lese:  Adolph 
Zando,  Russische  Zustände  im  Jahre  1850,  Hamburg  185 1,  S.  216:  „Die  rus- 
sische Polizei  ist  klug,  umsichtig  und  tätig.  Ihr  allein  verdankt  Rußland  die 
Ruhe  und  Sicherheit,  deren  sein  ungeheueres  Gebiet  sich  erfreut ;  sie  wacht  über 
alle  Laster,  steuert  dem  Bösen,  und  kein  schändliches  Treiben,  kein  unlauteres 
Vorhaben  entgeht  dem  wachsamen  Auge  dieses  mächtigen  Instituts".  Femer 
S.  223:  ,, Teils  böswillige,  teils  mutwillige  Erdichtungen  haben  alle  Welt  zu 
überzeugen  gesucht,  man  sei  in  Rußland  stets  von  Häschern  umgeben;  Blicke, 
Worte  und  Taten  würden  stets  von  Spähern  überwacht.  Wer  sich  keines  Bösen 
bewußt  ist,  hat  auch  nichts  zu  befürchten.  Eine  gerechte,  wachsame  und  strenge 
Polizei  sichert  die  Ruhe  und  das  Leben  der  friedlichen  Untertanen.  Ehre  darum 
der  russischen  Regierung,  die  sich  dieser  Aufgabe  vollkommen  bewußt  ist  und 
sie,  unbekümmert  um  böswillige  oder  hirnlose  Verleumdungen  standhaften 
Sinnes  durchzuführen  versteht!"  Und  schließlich  ein  Erguß  auf  S.  183  zu  Ehren 
der  russischen  Justiz  und  des  Knut!  ,, Europa  übertreibt  schamlos.  In  Rußland 
scheut  sich  das  niedrigste  Volk  die  Strafwerkzeuge  des  Henkerknechts  zu  er- 
wähnen. Eine  jede  russische  Dame  von  Bildung  würde  erröten,  wenn  jemand 
es  wagte,  einer  körperlichen  Strafe  oder  peinlichen  Sentenz  in  ihrer  Gegenwart 
Erwähnung  zu  tun.  Die  Zartheit  des  weiblichen  Gefühls  würde  sich  dem  wider- 
setzen. In  einer  gebildeten  Gesellschaft  würde  man  es  als  den  größten  Verstoß 
ansehen,  wenn  irgend  Jemand  von  Exekutionen  oder  Kriminalstrafen  zu  reden 
sich  einfallen  ließe.  Jeder  weiß,  dies  gehört  vor  die  Schranken  der  unerbitt- 
lichen Gerechtigkeit  und  zu  den  Attributionen  des  Kriminalrichters,  nicht  aber 
in  die  Salons  der  guten  Gesellschaft;  sogar  der  Bauer  bekreuziget  sich,  wenn  er 
von  entehrenden  Strafen  reden  hört,  aus  Scheu,  seine  Gedanken  damit  zu  be- 
sudeln. Im  Auslande  aber,  wie  ich  leider  bemerkt  habe,  ist  dieses  nicht  allent- 
halben der  Fall". 


—    72    — 

einen  Artikel  über  die  Vergewaltigungen  der  Polizeiorgane 
zu  bringen,  worin  es  hieß:  „Die  Tätigkeit  unserer  Polizei 
steht  in  striktem  Gegensatz  zu  den  Forderungen  des  CJesetzes; 
dies  trägt  nicht  wenig  dazu  bei,  daß  das  Ansehen  der  Polizei 
in  den  Augen  der  Bevölkerung  sinkt.  Dieser  Tätigkeit  gegen- 
über kann  der  Bürger  in  den  allerelementarsten  seine  Exi- 
stenz betreffenden  Fragen  nicht  auf  sein  Recht,  sondern  nur 
auf  einen  mehr  oder  weniger  glücklichen  Zufall  rechnen.  Hier 
haben  wir  es  offenbar  mit  einem  jener  kleinen  Mängel  im 
Mechanismus  zu  tun,  deren  Korrektur  nicht  mit  kleinen  Maß- 
regeln zu  erreichen  ist,  angesichts  der  ganz  außerordentlichen 
Machtvollkommenheiten,  die  der  Polizei,  wie  überhaupt 
der  Administration  dem  Bürger  gegenüber  zustehen."  In  der 
Praxis  wird  dem  Bürger  die  Möglichkeit  nicht  gewährt,  sich 
auf  gesetzlicher  Grimdlage  den  Forderungen  der  Polizei  zu 
widersetzen  oder  doch  wenigstens  auf  einer  Erläuterung  dieser 
Forderungen  zu  bestehen.  Somit  hat  denn  die  persönliche 
Unantastbarkeit  des  Bürgers,  selbst  in  dem  vom  Gesetz  ge- 
schaffenen Rahmen,  einen  äußerst  problematischen  Wert.  Oft 
hat  ein  in  noch  so  bescheidener  Form  zum  Ausdruck  gebrach- 
ter Zweifel  an  der  Korrektheit  dieser  oder  jener  polizeilichen 
Verordnung  einen  Prozeß  wegen  Beleidigung  der  Polizei- 
organe bei  Ausübung  ihrer  dienstlichen  Funktionen  zur  Folge. 
Die  Möglichkeit,  zu  gerichtlicher  Verantwortung  gezogen  zu 
werden,  ist  in  den  Augen  der  Meisten  ein  Moment,  das  sie 
veranlaßt,  alle  Forderungen  der  Polizei,  ohne  Unterschied, 
unweigerlich  zu  erfüllen.  Privatpersonen  dürfen  Klagen  gegen 
Polizeibeamte  nur  bei  den  diesen  übergeordneten  Instanzen 
anbringen,  die  dann  zu  bestimmen  haben,  ob  die  Angelegen- 
heit auf  gerichtlichem  oder  administrativem  Wege  behandelt 
werden  soll.  Eine  so  komplizierte  Prozedur  erschwert  dem 
Bürger  die  Inanspruchnahme  gerichtlicher  Hülfe.  In  seinen  Be- 
ziehungen zur  Polizei  ist  der  Bürger  ausschließlich  auf  eine  pas- 
sive Rolle  beschränkt  und  der  Möglichkeit  beraubt,  das  Gesetz 
gegenüber  dem  ungeschriebenen  Recht  der  Polizei  zu  behaupten. 
Die  Polizei  lebt  in  den  Städten  von  den  Bedrückungen 
der  Gesellschaft.  Geld  ist  der  Talisman,  der  sie  selbst  gegen 
offenkundige  Verbrecher  nachsichtig  macht.    Der  Polizeichef 


—    73    — 

eines  Quartiers  in  einer  der  Hauptstädte  des  Reiches  hat 
wenigstens  zwanzigtausend  Rubel  Nebeneinkommen.  Ein  Poli- 
zeibeamter in  Odessa,  der  die  Verg^ügimgslokale  zu  über- 
wachen hatte,  gewann  jährlich  über  zwanzigtausend  Rubel  allein 
aus  den  Trinkgeldern,  die  ihm  zuflössen,  weil  er  die  Sperr- 
stunde nicht  allzu  streng  einhielt.^) 

Auf  dem  Lande  kümmern  sich  die  Polizisten  am  wenigsten 
um  Sicherheit  und  Ordnung.  Die  russische  Regierung  ge- 
braucht die  Polizei  nur  zu  politischen  Zwecken;  alles  andere 
ist  ihr  gleichgiltig.  Für  Spionage  ist  aber  das  flache  Land  kein 
ergiebiges  Gebiet.  Deshalb  sind  Polizeibeamte  hier  Selten- 
heiten. Ein  einziger  Stanowoj  Pristaw,  der  Repräsentant  der 
Polizeigewalt  auf  dem  Lande,  muß  oft  einen  Bezirk  von  50000 
Einwohnern,  die  auf  einigen  hundert  von  Quadrat wersten  leben, 
überwachen.  Dieser  Pristaw  hat  soviel  mit  dem  Vertrieb  der 
offiziellen  Kundmachungen,  der  Eintreibung  der  Steuerrück- 
stände und  der  Frequentierung  der  Branntweinschenken  zu 
tun,  daß  ihm  keine  Zeit  übrig  bleibt,  für  den  Schutz  der  Be- 
wohner vor  Räubern  und  Mördern  zu  sorgen.  Die  Gemütlich- 
keit der  polizeilichen  Zustände  auf  dem  Lande  charakterisiert 
folgender  Vorfall,  der  sich  im  Gouvernement  Orel  ereignete.^) 
Der  Landwächter  Nikoritschew  führte  auf  der  großen  Karat- 
schewschen  Landstraße  zwei  Bauern  ins  Gefängnis  nach  Bol- 
chow.  Der  Wächter  war  so  betrunken,  daß  die  beiden  Ver- 
brecher ihn  in  einen  Schlitten  legen  und  dann  selbst  das  Pferd 
lenken  mußten.  Die  Arrestanten  fürchteten,  daß  der  betnm- 
kene  Landwächter  unterwegs  erfrieren  könnte,  und  daß  man  sie 
dafür  verantwortlich  machen  würde;  sie  beschlossen  daher,  in 
einer  Herberge  Halt  zu  machen.  Gedacht,  getan.  In  der 
nächsten  Herberge  legen  die  Arrestanten  ihren  Wächter  auf 
eine  warme  Ofenbank  und  warten  geduldig  von  4  Uhr  nach- 
mittags bis  zum  nächsten  Morgen  um  10  Uhr,  bis  der  Polizist 
endlich  seinen  Rausch  ausgeschlafen  hat.  Lammfromm  lassen 
sich  die  Verbrecher  nun  ins  Gefängnis  abführen.  Die  Obrig- 
keit aber  wußte  den  zwei  Menschenfreunden  keinen  Dank  zu 


1)  Geheimnisse  von  Rußland.     II  35. 

*)  Konrespondenz  der  „Lodzer  Zeitung"  vom  1./14.  März  1906. 


—    74    — 

sagen,  sondern  bestrafte  sie,  weil  sie  es  gewagt  hatten,  ohne 
obrigkeitliche  Genehmigung  unterwegs  zu  übernachten  I 

Zu  den  Obliegenheiten  der  Landpolizei  gehört  das  Ein- 
treiben von  Steuerrückständen.  In  solchen  Dingen  war  man 
in  Rußland  niemals  sanft.  Schon  der  milde  Zar  Alexe j  befahl 
in  seinen  Gesetzen  vom  Jahre  1649,  von  den  Untertanen  die 
Schulden  ohne  Erbarmen  einzutreiben.  Auch  der  Privat- 
gläubiger hatte  furchtbare  Rechte  über  seinen  Schuldner;  der 
Gläubiger  konnte  dem  Schuldner  die  Freiheit,  sogar  das  Leben 
nehmen.  In  der  Epoche  Iwans  des  Schrecklichen  wurden  Äbte 
und  Mönche,  die  mit  den  Steuern  an  den  zarischen  Schatz  im 
Rückstande  blieben,  2u  Tode  gegeißelt.  Ähnliche  Beispiele 
gibt  es  auch  aus  der  Zeit  des  Zaren  Boriß  Godunow  und  noch 
aus  späteren  Epochen.  Die  übliche  Strafe  für  säumige  Schuld- 
ner, die  Abschreckung,  iipasejirb,  war  folgendermaßen:  Man 
band  den  Schuldner  beim  Gerichtshof  oder  Prikas,  dem  Ge- 
fängnis des  Ortes,  am  Tore  fest,  und  da  mußte  er  bleiben,  bis 
die  entsprechende  Zeit  seiner  Strafe  um  war;  erlegte  er  aber 
die  schuldige  Summe,  wurde  er  sofort  frei.  Nach  einem  Ukas 
aus  dem  Jahre  1558  mußte  man  für  je  100  Rubel  Schulden  oder 
Steuerrückstände  einen  Monat  lang  die  Abschreckungsstrafe 
erdulden.  Bei  jedem  Schuldner,  so  berichtet  Tatischtschew 
in  seinen  Erinnerungen,  stand  der  Pristaw  mit  dem  Knut  „und 
schlug  auf  den  nackten  Fuß  des  Schuldners  je  nach  dem,  wie 
er  vom  Gläubiger  für  seine  Mühe  bezahlt  worden  war,  kräftiger 
oder  schwächer.**  Ein  Augenzeuge  dieser  Strafmethode,  Moske- 
witsch,  sagt:  die  Schuldner  wurden  in  Reih  und  Glied  aufge- 
stellt; darauf  teilten  die  Prügel-Beamten  die  Verurteilten  in 
Gruppen  ein,  jeder  Pristaw  nahm  eine  Gruppe  für  sich  in  An- 
spruch, und  auf  ein  Zeichen  begannen  alle  ihre  Opfer  der  Reihe 
nach  zu  bearbeiten.  Jeder  Schuldige  bekam  drei  Hiebe.  So 
ging  es  Tag  um  Tag.  Die  Prügelstunden  dauerten  gewöhnlich 
von  8  Uhr  morgens  bis  1 1  ühr  vormittags.  1689  verlängerte  der 
Strjeljzcn-Oberst  die  Prügelzeit  bis  2  Uhr  nachmittags.  Selbst- 
verständlich waren  die  Pristawe  nicht  unbestechlich,  und  wer 
sich  mit  ihnen  auf  guten  Fuß  zu  stellen  verstand,  konnte  die 
Schläge  leicht  ertragen.  Auch  durfte  man  sich  bei  der  Strafe 
vertreten  lassen,  statt  seiner  seinen  Diener  oder  Leibeigenen  für 


—    75    — 

die  Schläge  zur  Verfügung  stellen  I  Peter  der  Große,  der  für 
seine  Reformen  \ind  seine  kostspieligen  Kriege  Geld  brauchte, 
erkannte,  daß  diese  alte  Methode  wenig  praktischen  Nutzen 
brachte.  Er  gab  daher  171 1  einen  Befehl  heraus,  den  Schuld- 
nern und  *Steuerrückständigen  unbarmherzig  ihre  Häuser  und 
Magazine  verkaufen  zu  lassen,  in  keinem  Falle  aber  eine  Stell- 
vertretung der  Herren  diu"ch  Arbeiter  oder  Leibeigene  zu  dul- 
den. 1722  wurde  den  Schuldnern  Verbannung  und  Zwangs- 
arbeit auf  den  Galeeren  angedroht ;  von  diesen  Strafen  wurden 
auch  Geistliche  nicht  ausgenommen.  Zarin  Anna  Iwanowna 
kehrte  zu  der  alten  moskowitischen  Ordnung  zurück.  1732 
befahl  ein  Ukas,  die  Schuldner  auf  der  Wache  festzuhalten  und 
unbarmherzig  zu  schlagen.  Der  Gerichtshof  für  Rückstände 
arbeitete  mit  äußerster  Strenge,  so  daß  hunderttausende  Bauern 
namentlich  in  den  Grenzorten  aus  Rußland  flüchteten.  Boltin 
erzählt :  „Auf  Befehl  Birons  hielt  man  die  besten  Leute  bei  der 
Wache  imd  täglich  stellte  man  sie  in  langen  Reihen  mit  nackten 
Füßen  im  Schnee  auf  und  schlug  sie  mit  Stöcken  und  Bein- 
knöpfen auf  die  Füße  so  fest,  daß  die  Schläge  hörbar  waren." 
1754  stellte  Elisabeth  die  Petersche  Ordnung  her,  und  Stock 
und  Peitsche  als  Eintreiber  von  Schulden  und  Steuerrück- 
ständen «wanderten  in  die  Rumpelkammer  der  russischen  Sitten- 
geschichte.i)  Die  jüngsten  Herrscher  haben  die  Prügel  wieder 
herausholen  lassen  und  die  Tschinowniki  Alexanders  II,  Alexan- 
ders III.  und  Nikolajs  II.  übertreffen  an  barbarischer  Prügel- 
wut ihre  Vorgänger  aus  den  finstersten  Zeiten  Rußlands.  Der 
russische  Schriftsteller  Nemirowitsch  -  Danschenko  klagte : 
„Selbst  die  Bären  sind  nicht  ganz  unempfänglich  für  Eindrücke 
und  wohl  fähig,  Regungen  des  Mitleids  zu  empfinden,  nur  der 
Tschinownik  kennt  kein  Erbarmen.  Er  wird  dir,  geradeso  wie 
er  es  tnit  einem  Hasen  macht,  fünfmal  nacheinander  das  Fell 
abziehen. "2)  Im  Gouvernement  Rjäsan  pflegte  der  Polizei- 
beamte Popow  die  Bauern,  die  ihre  Steuerrückstände  nicht  be- 
zahlen konnten,  tnit  brennenden  oder  in  Salzwasser  getauchten 


^)  A.  r.  THMo<|)eeBT>,  Hcropia  rfejiecinjx'fc  HaKaaanift  btl  pyecKOjfb  npaßt. 
C.-neTep6ypn>,  1897,  crp.  185—187. 
s)  HoBoe  BpeMfl,  7.  m.  1891. 


—    76    — 

Ruten  zu  peitschen. i)  Das  Herausprügeln  von  Steuern  und 
Steuerrückständen  ist  so  alltägliche  moderne  Methode^  daß  die 
russische  Presse  sich  nur  ganz  krasser  Fälle  zu  bemächtigen 
wagt.  1891  hatte  der  Dorfälteste  Obydcnkow  im  Orte  Nildtin 
seine  besondere  Methode  erfunden :  Er  pflegte  di«r  zahlungs- 
unfähigen Bauern  solange  mit  den  Füßen  an  der  Decke  aufzu- 
hängen, bis  der  Gequälte  Rat  schaffte.  Hatte  ein  Bauer  den 
Mut,  gegen  seinen  Peiniger  eine  Klage  bei  Gericht  einzureichen, 
so  wurde  er  wegen  Beleidigung  des  Dorfältesten  mit  dem  Knut 
zur  Ruhe  verwiesen.  Selbst  in  der  Zeit  der  Hungersnot  und 
des  Elends  bestehen  die  Steuereintreiber  auf  sofortige  Zahlung. 
In  einem  armseligen  Dorfe  des  Gouvernements  Wjatka  war 
1891  das  Elend  so  groß,  daß  die  Bauern  verhungerten;  die 
Steuereintreiber  aber  gingen  rücksichtslos  zu  Werke.  In  einem 
anderen  Distrikt  herrschten  Hunger  und  Feuersbrünste.  Die 
Bauern  richteten  an  den  Zaren  die  Bitte  nicht  um  Hülfe  oder 
Unterstützung,  sondern  bloß  um  Nachsicht  und  Erbarmen  bei 
der  Eintreibung  der  Steuern.  Aber  die  Polizei  forderte  erbar- 
mungslos die  Rückstände  bis  auf  den  letzten  Kopeken.  Die 
armen  Bauern  verkauften  ihr  letztes;  das  genügte  dem  Tschi- 
nownik  nicht,  er  packte  also  fünfzig  Bauern,  ließ  sie  peitschen 
und  schleppte  sie  ins  Gefängnis.  Und  von  der  Distrikts- 
regierung wurde  der  Beamte  zur  Rechenschaft  gezogen:  wegen 
unangebrachter  Nachgiebigkeit,   wegen  Mangels  an  Eifer.*) 

Die  Willkür  der  modernen  russischen  Polizei  hat  mehr  als 
alles  andere  zu  der  trostlosen  und  endlosen  Revolution  beige- 
tragen, die  das  heutige  Rußland  zerstört.  General  Trepow 
Vater  ließ  einen  politischen  Sträfling,  der  ihn  nicht  ordentlich 
gegrüßt  hatte,  halbtot  peitschen;  dies  war  die  Ursache  zum 
Attentat  der  Wjera  Sassulitsch  und  zum  Beginn  der  nihi- 
listischen Aktionen.  General  Trepow  Sohn  ließ  in  Moskau 
harmlos  demonstrierende  Studenten  in  die  Gefängnisse  schlep- 
pen und  peitschen ;  dies  war  das  Signal  zur  Ermordung  des 
Großfürsten  Ssergej  und  zum  Ausbruch  der  allgemeinen  Revo- 
lution.    Wollte  man   alle   Willkürakte   der   russischen  Polizei 


1)  Leroy-Beaulicu,  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen.     II  343. 
*)  E.  B.  Lanin.  Russische  Zustände.     I  6 — 9. 


—    77    — 

sammeln,  so  würde  man  mehr  Bände  füllen  müssen,  als  jemals 
die  Druckerpressen  der  gesamten  Erde  verlassen  haben.  Aber 
schließlich  würde  man  immer  dasselbe  zu  sagen  haben,  denn 
ein  russischer  Gouverneur,  ein  russischer  Polizeimeister  gleicht 
stets  dem  anderen.  Jeder  Gouverneur  handelt  so  wie  jener, 
den  Nemirowitsch-Danschenko  einmal  als  Typus  hingestellt 
hat  1) :  Ein  Mann  stahl  einen  mit  Heu  beladenen  Wagen  und 
verschwand.  Sein  Bruder,  ein  Knabe,  kam  in  die  Gouverne- 
mentsstadt, um  den  Vermißten  zu  suchen.  Der  Gouverneur 
ließ  den  Knaben  festnehmen  und  fragen:  „Wo  ist  Dein  Bru- 
der?** —  „Ich  weiß  es  nicht,  ich  komme  selbst  herein,  ihn  zu 
suchen.**  —  „Man  peitsche  und  foltere  ihnl**  befiehlt  der  Gou- 
verneur. Man  peitscht  ui^d  foltert  den  Knaben  drei  Tage  lang ; 
am  vierten  Tage  findet  man  den  Jungen  erhängt. 

Wer,  der  sie  einmal  gelesen  hat,  wird  die  Tragödie  von 
Tichoretzkaja  vergessen,  die  im  März  1903  die  russische  wie 
die  europäische  Presse  beschäftigt  hat?  Ein  junges  Mädchen, 
namens  Solotowa,  fuhr  mit  einem  Zug  der  Wladikawkasbahn 
zu  Verwandten.  In  demselben  Kupee  saßen  der  Untersuchungs- 
richter Pussepp  und  der  Richter  Alexandrow.  Die  schöne  Tat- 
jana Solotowa  gefiel  dem  Untersuchungsrichter  Pussepp  außer- 
ordentlich und  er  machte  ihr  einen  unsittlichen  Antrag,  der 
von  dem  Mädchen  zurückgewiesen  wurde.  Nun  verfiel  Pussepp 
auf  eine  bestialische  Idee.  Er  entnahm  dem  Reisegepäck  des 
Richters  Alexandrow  den  Säbel  und  verbarg  ihn  unter  den 
Habseligkeiten  der  Solotowa.  Als  der  Zug  in  der  Station  Ticho- 
retzkaja Halt  machte,  befahl  Pussepp  dem  diensthabenden  Gen- 
darm, das  Mädchen  wegen  Diebstahls  zu  verhaften.  Vergebens 
waren  die  Unschulds-Beteuerungen  des  Mädchens;  sie  wurde 
nach  dem  Ortsgefängnis  gebracht.  Als  Untersuchungsrichter 
ließ  Pussepp  das  beschuldigte  Mädchen  sich  vorführen  und 
vergewaltigte  es.  Um  jedoch  die  Schuld  von  sich  abzuwälzen, 
wurde  die  Solotowa  den  niederen  Polizei-Organen,  wilden  Ko- 
saken, einige  Tage  hindurch  preisgegeben.  Bald  darauf  fand 
man  die  Solotowa  im  Gefangenenhause  als  Leiche.  Die  Polizei- 
Organe  verbreiteten  das  Gerücht,  daß  die  Solotowa  aus  Krän- 


^)  In  „KaMa  h  ypsurb",  crp.  282.  —  Lanin,  Russische  Zustände.    I  11. 


—    78    — 

kung  über  die  Verhaftung  sich  mit  Karbolsäure  vergiftet  hätte. 
Doch  die  Arbeiter  der  Wladikawkasbahn  erfuhren  die  schreck- 
liche Wahrheit  über  die  Tragödie  von  Tichoretzkaja.  Gleich, 
nach  der  Beerdigung  der  Unglücklichen  überfielen  sie  das 
Gerichtsgebäude,  demolierten  es  und  wollten  des  Unter- 
suchimgsrichters  Pussepp  habhaft  werden,  um  ihn  zu  erschla- 
gen. Das  herbeigeeilte  Militär  stellte  die  Ruhe  wieder  her  und 
nahm  viele  Verhaftungen  vor.  Pussepp  flüchtete  sich.  Ein 
Vertreter  der  „Petersburgskija  Wjedomosti",  Fürst  Michael 
Andronikow,  begab  sich  nach  Tichoretzkaja,  um  die  Sache  an 
Ort  und  Stelle  zu  untersuchen.  Er  erfuhr  schreckliche  Einzel- 
heiten. Er  erfuhr  nicht  nur  die  Tatsache  der  Vergewaltigung 
des  unglücklichen  Mädchens,  sondern  auch,  daß  die  Karbol- 
säure von  den  Polizei-Organen  der  Leiche  der  Solotowa  in  den 
Mund  gegossen  worden  war,  um  den  Tod  des  Mädchens  als 
die  Folge  eines  Selbstmordes  hinzustellen, i) 

Hat  es  in  Rußland  jemals  eine  Gerechtigkeit,  eine  ehr- 
liche Handhabung  von  Gesetzen  gegeben  ?  „Es  giebt  bey  denen 
Russen,**  heißt  es  bei  einem  Reisenden  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts 2),  „in  denen  richterlichen  Verfahren  soviel  Ver- 
wirnmg  /  daß  es  überaus  schwer  ist  /  davon  gründlich  zu 
reden.  Eine  jede  Provintz  hat  ihre  Precause  oder  Hof -Gerichte  / 
worinnen  ein  Boyar  oder  Herr  ist  /  der  des  Czaars  Person  re- 
praesentiret  /  und  ein  Diack  oder  Cantzler  /  welcher  viel  Schrei- 
ber oder  Secretarien  unter  sich  hat  .  .  .  Die  schlechte  Parole 
eines  Menschen  /  der  einen  Bart  hat  /  gilt  bey  ihnen  mehr  als 
eines  andern  Eyd  /  oder  Schwur  /  der  keinen  hat  .  .  .  Man 
erkaufft  einen  Todschlag  durchs  Geld:  Wann  einer  ermordet 
worden  /  und  niemand  um  seinen  Tod  bekümmert  ist  /  so 
ziehet  die  Justitz  deßhalber  keine  Erkundigung  ein.**  Nach 
Aussage  der  Ausländer,  die  Rußland  zu  Ende  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  besuchten,  wie  des  Engländers  Fletcher,  gab  es 
in  Rußland  damals  „außer  der  blinden  Willkür  des  Zaren  gar 
keine  bürgerlichen  Gesetze. *'3)    Auf  dem  Papier  existierten  wohl 


*)  Neue  Freie  Presse,  24.  Februar  1903. 
-)  Reise  nach  Norden.     189. 
^^)  Karamsin  IX  287. 


—    79    — 

bürgerliche  Gesetze,  aber  die  Richter  urteilten  nicht  nach  ihnen, 
sondern  nach  Vorteil  und  Bezahlung  der  Parteien.  „Der 
Reiche,**  sagt  der  russische  Historiker  Karamsin^),  „wurde  sel- 
tener als  der  Arme  für  schuldig  erkannt.  Die  Richter  schämten 
und  fürchteten  sich  nicht,  das  Recht  für  Geld  zu  verdrehen." 
Einst  berichtete  man  dem  Großfürsten  Wassilij,  daß  ein  Richter 
zu  Moskau  sowohl  von  dem  Kläger  als  dem  Beklagten  Geld 
genommen  hatte  und  denjenigen  verurteilen  ließ,  der  ihm 
weniger  gegeben.  Der  bestochene  Richter,  vom  Großfürsten 
zur  Rede  gestellt,  leugnete  gar  nicht,  erklärte  sein  Vorgehen 
vielmehr  als  berechtigt:  „Herr,  ich  traue  dem  Reichen  immer 
eher  als  dem  Armen,  da  der  Reiche  des  Betruges  und  fremden 
Gutes  weniger  bedarf.**  Wassilij  lächelte,  und  der  Richter  kam 
ohne  harte  Strafe  davon.  Aus  der  Zeit  Iwans  des  Schreck- 
lichen schreibt  Barberini :  „Was  dem  Zaren  beliebt,  das  findet 
das  Gericht  für  recht.  So  geschiehts,  daß  Einer  einer  Kleinig- 
keit wegen  den  Bären  vorgeworfen,  ein  Anderer  aber,  der  eine 
schwere  Schuld  auf  sich  geladen  hat,   entschuldigt  wird.^) 

Peter  der  Große  publizierte  einen  Ukas:  „Jeder,  der  Un- 
recht zu  erleiden  glaubt,  kann  sich  direkt  an  den  Zaren  wenden, 
um  sein  Recht  zu  erlangen.**  Aber  gleichzeitig  bedrohte  der 
Ukas  denjenigen  mit  Todesstrafe,  dessen  Klage  sich  als  unbe- 
gründet erweisen  würde.  Man  schwieg  lieber,  und  auch  imter 
Peter  dem  Reformator  hatten  die  Ausländer,  die  das  russische 
Reich  besuchten,  nur  die  trostlose  Überzeugung:  „Es  giebt 
hier  keine  Richter,  die  nach  dem  Gesetz,  sondern  nur  Richter, 
die  nach  ihrem  Willen  urteilen. **3)  Einer  der  volltönenden 
historisch  gewordenen  Aussprüche  Peters  des  Großen  lautet : 
„Der  Richter  thut  besser,  zehn  Schuldige  zu  befreien,  statt 
einen  Unschuldigen  zum  Tode  zu  verurteilen.'*  Und  doch  ließ 
Peter  den  Fürsten  Gagarin,  Gouverneur  von  Sibirien,  in  grau- 
samster Weise  hinrichten,  trotzdem  kein  Beweis  für  die  dem 
Angeklagten  zur  Last  gelegten  Diebstähle  und  Dienstverbrechen 


1)  A.  a.  O.  VII  163. 

2)  TnMo<I)eeBT>,  IIcTopin  TknecHtix-b  HaKa3aHiit  btj  pyccKOMT»  iipairfe,  crp.  60. 
®)  Etat   präsent   de   la  Grande  -  Russie,    par    le  Capitaine  Jean  Perry, 

traduit  de  TAnglois.     A  la  Haye  171 7.     p.  136. 


—    80    — 

beigebracht  werden  konnte.  Der  Fürst  leugnete  jede  Schuld, 
gestand  selbst  unter  dem  Knut  und  in  der  Tortur  nichts.  Den- 
noch wurde  er  zum  Tode  verurteilt.  Am  Tage  vor  der  Exe- 
kution kam  der  Zar  zu  ihm  und  sagte :  „Gestehe  Alles,  und  ich 
schenke  dir  das  Leben.**  Aber  Gagarin  entgegnete :  „Ich  habe 
nichts  yerbrochen.**  Am  anderen  Tage  ließ  Peter  ihn  auf- 
hängen. Nicht  aus  Fanatismus  im  Kampfe  für  Wahrheit  und 
Gerechtigkeit,  sondern  weil  er  ein  Opfer  brauchte,  um  andere 
abzuschrecken,  und  um  zu  zeigen,  daß  auch  die  höchsten 
Würdenträger  vom  Arm  des  Zaren  zerschmettert  werden.  Des- 
halb wurde  diese  Hinrichtung  auch  zu  einem  pompösen  Fest- 
schauspiel, zu  einer  Huldigung  für  Peters  Genie  in  dem  bar- 
barischen Geschmack  dieses  Herrschers:  Fürst  Gagarin  wird 
aufgehängt  in  Gegenwart  aller  seiner  Verwandten  und  vor  den 
Fenstern  des  Senats.  Nach  der  Exekution  findet  ein  Festdiner 
angesichts  des  Galgens  imd  des  Gehenkten  statt.  Ein  paar 
Tage  darauf  bringt  man  die  Leiche  auf  einen  großen  Platz, 
wo  auf  Pfählen  noch  aus  früheren  Zeiten  Köpfe  hingerichteter 
Würdenträger  prangen.  Dann  erhält  Gagarins  Leiche  einen 
dritten  Ausstellungsplatz  am  Ufer  der  Newa.  Endhch  transpor- 
tiert man  sie  nach  Sibirien,  um  sie  auch  dort  auszustellen,  wo 
der  Hingerichtete  gewirkt  hat. 

Diese  barbarische  Methode  sollte  die  Verwaltung  kurieren, 
die  Justiz  verbessern,  die  Korruption  vernichten?  Sie  nützte 
wahrlich  nicht  im  geringsten.  Peters  Tochter,  Kaiserin  Elisa- 
beth, mußte  einige  Jahrzehnte  später  in  einem  Befehl  an  den 
Senat  klagen  ^j:  „Die  unersättliche  Gewinnsucht  hat  bereits 
eine  solche  Höhe  erreicht,  daß  aus  einigen  zur  Handhabung 
der  Gerechtigkeit  verordneten  Gerichtsstellen  ordentliche  Jahr- 
märkte geworden,  woselbst  Wucher  und  Partheylichkeit  das 
Hauptaugenmerk  der  Richter  sind,  und  wo  die  Bosheit  durch 
eine  äußerst  strafwürdige  Nachsicht  kräftigst  unterstützt  wird.** 
Und  Katharina  II.  spricht  in  einem  gegen  die  Richter  gerich- 
teten Ukas^j  von  ,, gewaltsamer  und  listiger  Gewinnsucht  oder 
deutlicher   zu   sagen:   offenbarem  Raub."   —   „La   justice   en 


1)  Büschings  Magazin  IX  277. 
*)  Büsching  I  155. 


—    81     — 

Russie  n'existe  que  de  nom/*  schreibt  Fürst  Dolgoroukow  in 
seinem  berühmten  Buche^)  über  Rußland  unter  Nikolaj  I.  Um 
sich  Gerechtigkeit  zu  verschaffen,  fährt  Dolgoroukow  fort,  muß 
man,  wenn  man  ein  anständiger  Mensch  ist,  zahlen;  um  zu 
seinen  Gunsten  einen  ungerechten  Akt  zu  provozieren,  muß 
man  zahlen ;  immer  und  überall  zahlen ;  oder  man  muß  mächtige 
und  tätige  Protektoren  haben,  unter  den  Ministem,  unter  den 
Mitgliedern  der  Kamarilla ;  oder  Personen  kennen,  die  mit  den 
Ministern  od^r  der  Kamarilla  eng  liiert  sind.  Die  Richter  und 
Tribunalsekretäre  nennen  unter  sich  nur  jenen  unanständig, 
der  Geld  erhält  und  den  Bestecher  betrügt;  aber  wer  sich  be- 
stechen läßt  und  sein  Wort  hält,  also  nicht  den  Bestecher,  son- 
dern die  Gerechtigkeit  betrügt,  der  verdient  keinen  Tadel. 

Und  wenn  die  Richter  gerecht  und  ehrlich  sein  wollten, 
wie  könnten  sie  es  angesichts  dieser  barbarischen  Verwirrung 
in  den  Gesetzen?  Seit  Jaroslaw  im  elften  Jahrhundert  dem 
russischen  Volke  das  erste  geschriebene  Gesetzbuch  gab,  blie- 
ben bis  auf  unsere  Tage  die  russischen  Gesetzessammlungen 
ein  wahres  Chaos  von  Verordnungen  voller  Widersprüche. 
Iwan  III.,  Iwan  IV.  und  Alexej  Michajlowitsch  nahmen  in  ihre 
Gesetzessammlungen  wahllos  und  willkürlich  römische  und 
byzantinische  Gesetze,  tatarisches  Gewohnheitsrecht  und  russi- 
sche Überlieferungen  auf.  Die  Kommissionen,  die  seit  Peter 
dem  Großen  zur  Ausarbeitung  eines  geordneten  Gesetzbuches 
berufen  wurden,  haben  die  Konfusion  stets  nur  vermehrt.  Ni- 
kolaj I.  ließ  alle  Gesetze  und  Verordnungen  von  1649  bis  1825 
in  45  Quartbänden  drucken  und  herausgeben.  Nicht  weniger 
als  30920  Gesetze  enthalten  diese  5284  Druckbogen. 2)  Ein 
bloß  chronologisches  Verzeichnis,  das  dem  Werke  beigegeben 
wurde,  konnte  seinen  praktischen  Wert  natürlich  nicht  be- 
deutend erhöhen. 

Die  meisten  russischen  Gesetze  sind  nichts  anderes  als  Um- 
schreibungen kaiserlicher  Launen,  die  dem  Augenblick  dienten. 
Man   braucht    beispielsweise   nur   die   kuriosen   Gesetze   Pauls 


1)  La  v6rit6  sur  la  Russie  par  le  prince  Pierre  Dolgoroukow.   Deuxidme 
Edition.    Leipzig  1861.    (Biblioth.  russe,  nouv.  s6rie,  vol.  IV  et  V)  I  53. 
*)  Geheimnisse  von  Rußland.     Regensburg  1844.     II  57. 
Stern,  Geschichte  der  0£fentl.  Sittlichkeit  in  Rufiland.     **  6 


—    82    — 

durchzugehen.  Was  wird  da  alles  für  ewige  Zeiten  verboten 
oder  anbefohlen  I  Verboten  wird :  hellgrüne  Kleider  und  Halb- 
stiefel zu  tragen.  Verboten  werden:  Gilets  und  runde  Hüte. 
Ein  feierlicher  Ukas  verordnet  die  Art  des  Haarputzes.  Niko- 
laj  I.  publiziert  einen  feierlichen  Ukas  über  die  Länge  des 
Schnurrbartes  und  ein  anderes  Gesetz  über  das  Rauchen  auf 
den  Straßen. 

Merkwürdig  sind  die  Verordnungen  in  bezug  auf  Privi- 
legien einzelner   Stände  und  Gesellschaftsklassen.     Großfürst 
Wassilij  Iwanowitsch  erklärt  um  1500,  daß  auch  Priester  zu  Knut 
und  Galgen  verurteilt  werden  dürfen ;  auf  eine  Beschwerde  des 
Metropoliten  antwortet  das  Gericht:   „Wir    strafen  nicht   den 
Priester,  sondern  den  Verbrecher. "i)    Erst  am  9.  Dezember 
1796  verordnet  Paul  auf  Vorschlag  des  Synods:  Die  Priester 
sollen  picht  mehr  geknutet  noch  sonst  körperlich  gestraft  wer- 
den ;  denn  eine  an  ihnen  vor  den  Augen  eben  der  Pfarrkinder, 
die  aus  ihren  Händen  das  Bundesmahl  unseres  Erlösers  emp- 
fangen, zu  vollziehende  Strafe  möchte  die  Denkart  des  Volkes 
leicht  zur   Verachtung  des  priesterlichen  Standes   verleiten.** 
Für  Freie  gab  es  weder  in  den  Gesetzen  Jaroslaws  noch  in  denen 
Monomachs   Leibesstrafen.     Letztere  wurden  anfangs  nur  an 
Sklaven  vollzogen ;  imd  zwar  unter  einem  Glockenturme,  dessen 
Glocke  das  Volk  zum  Schauspiel  herbeirief.^)   Die  Prügelstrafen 
wurden  zuerst  von  den  Gutsbesitzern  gegen  ihre  Leibeigenen 
angewendet;  später  erst  führte  die  Regierung  sie  ein  und  be- 
drohte alle  Stände  mit  ihnen.    Für  adelige  Kriegsleute  milderte 
man  jegliche  Strafe.    Wo  man  einen  Bauer  oder  Bürger  henkte, 
da  setzte  man  einen  Bojarensohn  bloß  ins  Gefängnis  oder  gab 
ihm  die  Batogi.    Der  Mörder  seines  eigenen  Knechts  kam  mit 
einer    bloßen    Geldbuße   davon.      Die    Kriegsleute    von    Adel 
hatten  noch  sonderbarere  Vorrechte  in  bürgerlichen  Rechts- 
händeln.   Sie  konnten  an  ihrer  Statt  ihre  Diener  zum  Schwüre 
und,  falls  sie  zahlungsunfähig  waren,  zur  Strafe  der  körper- 
lichen Züchtigung  stellen. 3)    Aber  je  näher  der  Zeit  Peters  des 


1)  Karamsin  VII  163. 

2)  Konstantinopel  und  St.  Petersburg,  der  Orient  und  der  Norden,  eine 
Zeitschrift.     1806.     II  S.  324. 

^)  Karamsin  IX  289. 


—    88    -- 

Großen,  je  geringer  werden  die  Privilegierten  geachtet.  In 
den  Folterkammern  erscheinen  unter  den  Händen  der  prügeln- 
den Henker  alle  Klassen  der  Gesellschaft,  die  Nachkommen  der 
apanagierten  Fürsten,  die  höchsten  Würdenträger  und  Geist- 
lichen, Frauen  vornehmsten  Geschlechts.  Peter  der  Große  läßt 
im  Jahre  17 14  Senatoren  und  1724  mehrere  Priester  knuten, 
die  trotzdem  ihrer  Würden  nicht  verlustig  gehen.  Unter  Elisa- 
beth werden  Frauen  öffentlich  geknutet.  Peter  III.  befreit 
den  Adel  gänzlich  von  den  Körperstrafen,  Katharina  II.  dehnt 
das  Privilegium  aus  auf  alle  Verbrecher  unter  12  und  über 
66  Jahren.  Paul  I.  aber  vernichtet  sämtliche  Privilegien,  und  zu 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts  peitscht  man  neuerdings  öffent- 
lich alle  Welt,  ohne  Unterschied  des  Ranges,  Alters  oder  Ge- 
schlechts. 1801  hebt  Alexander  I.  die  Körperstrafen  auf:  für 
Adlige.  Bürgerliche  und  Geistliche,  1808:  für  Frauen  von 
Priestern,  181 1:  für  die  einfachen  Mönche.  Nikolaj  I.  be- 
fiehlt: „Adlige  sind  auch  dann  Körperstrafen  nicht  unter- 
worfen, wenn  sie  verurteilt  werden,  als  gemeine  Soldaten  zu 
dienen;  Adlige  dürfen  nicht  ans  Eisen  gekettet  werden,  wozu 
immer  sie  verurteilt  sein  mögen.**  1835  befreit  Nikolaj  die 
Kinder  der  Priester  von  Körperstrafen.  Erst  1841  erscheint  ein 
Ukas,  der  gleichzeitig  mit  den  Hoflakaien  und  anderen  nied- 
rigen Beamten  die  Männer  der  Wissenschaft  und  ihre  Frauen 
von  Körperstrafen  ausnimmt  I  1855  sollen  kränkliche  Ver- 
brecher befreit  werden,  der  Erlaß  gelangt  nicht  zur  Veröffent- 
lichung. 1863  werden  alle  Körperstrafen  abgeschafft,  ausge- 
nommen für  Deportierte. 

Bizarr  sind  auch  die  Gesetze,  welche  die  FamUien Verhält- 
nisse eines  Verurteilten  betreffen.  Die  Frau  des  Verurteilten 
bleibt  in  Freiheit,  und  ihr  Mann  verliert  alle  Rechte  auf  sie,  die 
Frau  ist  geschieden  und  kann  sich  wiederverheiraten.  Wenn 
der  Verurteilte  aber  beg^adig^  wird  und  seine  Frau  mittlerweile 
noch  nicht  wieder  geheiratet  hat,  so  gewinnt  er  ohne  weiteres 
alle  seine  Rechte  auf  sie  zurück.  Die  vor  der  Verurteilung 
des  Vaters  geborenen  Kinder  behalten  Titel  und  Rang,  die 
der  Vater  vor  der  Verurteilung  hatte;  die  Kinder  aber,  die 
nach  der  Verurteilung  geboren  werden,  müssen  die  Konse- 
quenzen  der  neuen  Situation  tragen.    So  kann  es  geschehen, 

6» 


—    84    — 

daß  ein  Teil  der  Geschwister  fürstlichen  Standes  ist,  ein  an- 
derer Teil  aber  in  Sibirien  als  Kolonisten  lebt.  Frau  und 
Kinder  dürfen  dem  Gatten  und  Vat^r  in  die  Verbannung 
folgen;  sie  behalten  ihre  Eigentumsrechte,  verlieren  jedoch 
ihre  Freiheit,  denn  sie  dürfen  nach  Rußland  erst  zurück- 
kehren, wenn  die  Verbannungszeit  des  Familienhauptes  ab- 
gelaufen oder  der  Verbannte  gestorben  ist.  Ergebenheit  und 
Treue  werden  also  dem  Verbrechen  selbst  gleichgestellt.^) 

Katharina  II.  befahl  die  Aufhebung  jedweder  Körper- 
strafe für  schwangere  Frauen.  Alexander  I.  ging  noch  weiter 
und  verbot  auch  das  Schlagen  der  Mutter,  solange  sie  ein 
Kind  säugt.  Alexander  II.  befreite  durch  seinen  Ukas  vom 
April  1863  die  Frauen  vollständig  von  der  Körperstrafe.  Aber 
unglückseligerweise  gestattet  das  '  Emanzipationsgesetz  von 
1861,  das  im  besonderen  die  Rechte  der  Bauern  regelt,  den 
Wolostgerichten,  Frauen  unter  fünfzig  Jahren  peitschen  zu 
lassen;  und  just  dieses  Emanzipationsstatut  ist  der  einzige 
Gesetzestext,  der  den  Bauern-Richtern  geläufig  ist. 2)  Auch 
der  gelehrte  Jurist  wüßte  sich  da  schwerlich  zurechtzu- 
finden. Denn  beide  einander  so  widersprechenden  Ver- 
ordnungen sind  in  der  Ausgabe  der  Reichsgesetze  als  rechts- 
giltig  verzeichnet.^)  Die  Richter  in  Rußland  wählen  bei  sol- 
cher Ungewißheit  das  kleinere  von  zwei  Übeln :  es  wird 
fortgepeitscht.  Namentlich  sind  die  Dorfrichter  bereit,  Frauen 
zu  peitschen,  wenn  deren  Ehemänner  sich  an  das  Wolost- 
gericht  wenden,  um  ihre  Lebensgefährtinnen  für  eheliche  Ver- 
gehen züchtigen  zu  lassen.  Es  gibt  viele  krasse  Fälle.  Im 
Dukowtschinsker  Bezirk  wurde  ein  Weib,  das  eben  Mutter 
werden  sollte,  hart  gepeitscht,  weil  es  geäußert  hatte,  der 
Vater  des  erwarteten  Kindes  sollte  zur  Erhaltung  des  letz- 
teren veranlaßt  werden.  Der  gesamte  Mir  mit  dem  Starosta 
und  die  Polizei  wohnten  der  Exekution  bei.*) 

Gesetzgebimg    und    gemeines    Recht   haben    die    Körper- 


^)  Golovine,  La  Russie  sous  Nicolas  I^*".     379. 
'^)  Leroy-Beaulieu,  Das  Reich  der  Zaren.     II  249. 
3)  Ausgabe    der  Reichsgesetze  für   1876,   II.  Band,   Artikel  2178;  und 
IX.  Band,  Anhang,  Artikel  102  der  Bauemverordnung. 
^)  Lanin,  Russische  Zustände.     I  11. 


—    8fi    — 

strafen  abgeschafft,  aber  das  Wolostgericht  darf  Stxafen  bis  zu 
zwanzig  Rutenhieben  verhängen.  Und  diese  Walostrichter  sind 
größtenteils  Analphabeten,  die  ihre  Urteile  im  Kabak  bei  einem 
gemeinsamen  Trunk  mit  den  Schreibern  imd  Parteien  erwägen. 


32.  Todesstrafen  und  Gliederstrafen. 

Aufhebung  der  Todesstrafe  und  Wiederemführung  —  Russische  Widersprüche 

—  Knut  statt  Todesstrafe  —  Das  moderne  Feldgericht  —  Die  erste  öffentliche 
Hinrichtung  in  Moskau  —  Die  Todesstrafen  Iwans  des  Schrecklichen  —  Boriß 
Godunows  Strafen  —  Alexejs  Gesetzbuch  —  Peters  Lieblingsstrafmethode 

—  Todeswürdige  Verbrecher  —  Mlitärische  Justiz  —  Bürgerliche  Justiz  — 
Todesstrafen  unter  Anna  —  Exekutionszeremoniell  —  Die  Arten  der  Todesstrafe 

—  Köpfen  —  Verbrennen  bei  lebendigem  Leibe  —  Ertränken  —  Lebendig 
begraben  für  Gattenmord  und  Untreue  —  Zerfleischen  —  Hängen  —  Rädern  — 
Vierteilung  —  Fortbestehen  der  Todesstrafe  —  Hinrichtung  von  Küidern  im 
Jahre  1906  —  Gliederstrafen  —  Polizeiliche  Sicherheitsmaßregeln  —  Brand- 
markung —  Formen  und  Zeichen  der  Stempelung  —  Gliederverstümmelungen 

—  Blendung  —  Herausreißen  der  Zunge  —  Abhacken  der  Hände  —  Abhacken 
der  Finger  —  Abhacken  der  Füße  —  Eintreiben  von  Stift^i  unter  die  Nägd  — 
Kombinierte  Strafen  —  Abhacken  von  Ohr  und  Nase  —  Aufschlitzen  der  Nasen. 

Der  Kijewer  Fürst  Wladimir  der  Große,  der  dem  rus- 
sischen Volke  das  Christentum  gegeben^  hat  zum  ersten  Male 
in  Rußland  die  Todesstrafe  aufgehoben.^)  Einer  seiner  Nach- 
folger, Wladimir  Monomach,  sprach  zu  seinen  Söhnen :  „Tötet 
den  Schuldigen  nicht,  das  Leben  des  Christen  ist  heilig.**^) 
Der  Großfürst  Isäslaw,  in  der  Taufe  Dmitrij  benannt,  berief 
nach  seiner  Thronbesteigung  im  Jahre  1054  seine  Brüder  und 
die  weisesten  Männer  seiner  Zeit  zu  einer  Beratschlagung  und 
hob  dann  die  Todesstrafe  auf,  indem  er  alle  Verbrechen  durch 
Geldbußen  zu  sühnen  befahl.-^)  Genau  sieben  Jahrhunderte 
später  strich  Kaiserin  Elisabeth  abermals  und  endgiltig  die 
Todesstrafe  aus  dem  russischen  Gesetzbuch.  Allen  diesen 
Ukasen  eines  Jahrtausends  zum  Trotze  besteht  die  Todesstrafe 


^)  La  chronique  de  Nestor,  Append.     II  25. 

^)  Karamsin,  Geschichte  des  russischen  Reichs.     V  297, 

^)  Karamsin  II  70. 


—  se- 
in Rußland  fort.  Von  Wladimir  dem  Großen  berichten  die 
alten  Chroniken,  daß  er  seinem  eigenen  Befehle  entgegen  zahl- 
reiche Todesurteile  vollziehen  ließ.^)  Vom  Großfürsten  Isäs- 
law  meint  der  russische  Historiker  Karamsin,  man  wisse  nicht, 
ob  sein  Befehl,  die  Todesstrafe  durch  Geldbußen  zu  ersetzen, 
aus  Menschenliebe  oder  aus  Liebe  für  den  großfürstlichen 
Schatz  erteilt  wurde.^)  Großfürst  Isäslaw  strafte  sogar  Mord 
bloß  durch  Geldbußen.^)  Aber  derselbe  Fürst  erklärte:  einen 
auf  frischer  Tat  ertappten  nächtlichen  Dieb  zu  töten  steht 
jedem  frei ;  wogegen  es  als  Verbrechen  galt,  einen  gefangenen 
und  gebundenen  Dieb  zu  töten.  Besonders  hart  wurden  damals 
Pferdediebe  gestraft.  Das  Roß  war  geachtet  als  des  Menschen 
treuer  Diener  auf  dem  Acker,  der  Reise  und  im  Kriege.  Ein 
Pferdedieb  verlor  alle  bürgerlichen  Rechte,  sein  Eigentum  und 
seine  Freiheit.*) 

Karamsin  glaubt,  die  Todesstrafe  sei  eine  den  Russen 
fremde  Straf art;  erst  infolge  des  tartarischen  Jochs,  sagt  er, 
hat  diese  Strafe  in  die  russische  Justiz  Eingang  gefunden; 
den  alten  Russen  war  Strenge  unbekannt.  Ein  Beweis  für 
diese  Behauptung  läßt  sich  ebenso  schwer  führen  als  ein 
Gegenbeweis.  Tatsache  ist,  daß  die  Todesstrafe  kaum  in 
einem  anderen  Reiche  so  häufig  dekretiert  worden  ist.  Unter 
Elisabeth  wurden  im  Jahre  1753,  knapp  vor  dem  Ukas  über 
die  endgiltigc  Aufhebung  der  Todesstrafe,  noch  schnell  3579 
Todesurteile  gefällt.  Und  dann  trat  an  die  Stelle  der  Todes- 
strafe als  Kapitalstrafe :  Zwangsarbeit  in  den  Bergwerken 
Sibiriens  und  außerdem  für  Jene,  die  keine  Edelleute  sind, 
der  Knut.ö)  Beim  Gebrauch  des  letzteren  lag  es  stets  in  der 
Hand  des  Henkers,  das  Opfer  durch  einige  wenige  Hiebe  zu 
töten;  und  es  wurden  zuweilen  dreihundert  Schläge  zuge- 
urteilt.  Dem  Gesetze  zufolge  war  die  Todesstrafe  in  früheren 
Zeiten  oftmals  nicht  anwendbar,  existiert  sie  namentlich  seit 


^)  Coup  d'oeil  sur  la  16gislation  nisse  suivi  d'un  16ger  aper9u  sur  Tadmini- 
stration  de  ce  pays.     Paris  1839.     p.  17. 
^)  Karamsin  II  70. 
^)  Karamsin  II  35. 
^)  Karamsin  II  40. 
5)  Tolstoy  a.  a.  O.  jj. 


—    87    — 

1756  nicht  mehr.  Tatsächlich  aber  hat  sie  niemals  zu  bestehen 
aufgehört,  und  wie  sie  den  Ukasen  zum  Trotz  das  Volk  der 
Russen  dezimiert,  haben  wir  alle  miterlebt  als  Zeitgenossen  der 
modernen  Feldgerichte,  die  jeden  Verhafteten  binnen  achtzehn 
Stunden  verurteilen,  binnen  vierundzwanzig  Stunden  jeden 
Verurteilten  zum  Tode  befördern.  Vom  Juli  1906  bis  Mai 
1907  sind  von  russischen  Feldgerichten  tausend  Personen  dem 
Tode  überliefert  worden.  Am  2.  Mai  1907  wurde  durch  einen 
Ukas  die  Institution  der  Feldgerichte  abgeschafft,  aber  Todes- 
urteile werden  auch  seither  ununterbrochen  gefällt  imd  voll- 
zogen. Der  Widerspruch  wird  dadurch  erklärt,  daß  die  Todes- 
strafe nur  für  gemeine  Verbrechen,  nicht  aber  für  politische 
aufgehoben  wurde.  Das  aber  ist  der  echt  russische  Gegensatz 
zur  übrigen  Welt  der  Kultur:  Dort,  wo  die  Todesstrafe  noch 
gesetzlich  besteht,  bedroht  sie  nur  die  gemeinen  Mörder,  aber 
nicht  die  politischen  Verbrecher;  in  Rußland  jedoch  sind  nicht 
Raub  und  Mord,  sondern  Vaterlandsliebe  und  Freiheitssehn- 
sucht der  Todesstrafe  würdige  Verbrechen  geblieben. 

Die  erste  öffentliche  Hinrichtung  in  Moskau  veranlaßte 
Großfürst  Dmitrij  Joanowitsch  im  Jahre  1376.  Als  Verbrecher 
hingerichtet  wurden  Söhne  angesehener  Familien,  Iwan  Welja- 
minow  imd  Nekomat.  Die  Hinrichtung  wurde  auf  dem  Kutsch- 
kowschen  Felde  vollzogen,  auf  dem  man  später  das  Sretens- 
kische  Kloster  erbaute.^)  Bald  darauf,  von  Iwan  III.  ange- 
fangen, begannen  die  Herrscher  die  Verhängimg  der  Todes- 
strafe als  ihr  besonderes  souveränes  Vorrecht  zu  betrachten. 
Iwan  IV.  beschränkte  sich  nicht  auf  simple  Tötung,  sondern 
führte  ganz  neue  Hinrichtungsarten  in  Rußland  ein  und 
machte  selbst  den  Henker.  Wir  kennen  die  folgenden  von 
ihm  verhängten  und  vollzogenen  Todesstrafen :  Er  stößt  seinen 
Opfern  den  Dolch  ins  Herz;  mit  seinem  spitzigen  Stab  nagelt 
er  die  Menschen  an  den  Erdboden  an;  bei  einer  Hochzeit, 
schlägt  er  Mönche  tot,  indem  er  auf  ihren  Köpfen  mit  einer 
Keule  den  Takt  des  Gebetes  einhält.  Zu  seinen  Lieblings- 
strafen gehören :  die  Ermordung  von  Betenden  in  der  Kirche ; 
das   Zerfleischen   der   Opfer  durch   den   Henker  oder   durch 


^)  Karamsin  V  34. 


—    88    — 

Hunde:  das  Einnähen  der  Verurteilten  in  Bärenhäute,  um  sie 
daim  Hunden  vorzuwerfen.  Iwan  verachtet  zwar  nicht  das  Er- 
drosseln. Hängen,  Enthaupten  und  Ertränken,  aber  ist  stets 
bemüht,  in  die  einfachen  Todesarten  etwas  Originelles  hinein- 
zubringen; so  läßt  er  diejenigen,  die  zum  Tode  durch  Er- 
trunken verurteilt  sind,  an  Fischerhaken  ins  Wasser  senken. 
Am  liebsten  verhängt  er  kombinierte  Strafen,  bei  denen  das 
Opfer  gleichsam  mehrere  Tode  durchzumachen  hat.  Einer 
winl  auf  einer  Pfanne  bei  lebendigem  Leibe  geröstet,  dann 
mit  einem  Beile  zerhackt;  die  zerhackten  Glieder  wirft  man 
ins  Wasser.  Einem  anderen  werden  Stacheln  unter  die  Nägel 
getrieben»  dann  überliefert  man  ihn  dem  Hungertode.  Ge- 
fangene an  den  Ketten  ermorden  zu  lassen  bereitet  dem  Ty- 
rannen Freude,  wenn  er  zusieht,  wie  sie  verzweifelt  an  den 
Kessehi  rütteln.  Scheiterhaufen  und  Wasserfolter  erscheinen 
in  (.heser  Todesstrafenschau  fast  als  harmlose  Scherze.  Der 
Ziix  sucht  diese  unschuldigen  Strafen  durch  einige  Details 
interessanter  zu  gestalten.  Man  überschüttet  den  zum  Scheiter- 
h^iufeu  X'erurteilten  mit  einer  glühenden  Masse,  oder  bald  mit 
M«.H.leml  heiliem,  bald  mit  eisig  kaltem  Wasser:  eine  Variante 
«u  letzterer  Art :  man  legt  den  Verurteilten  auf  Eis  und  brennt 
iluu  den  freibleibenden  Körper  mit  glühenden  Zangen.  In 
\eiueu  letzten  Lebensjahren  erfrischt  sich  der  müdgewordene 
tU^UM her  durch  neue  Erfindungen:  er  unterbricht  sein  Mit- 
la^UMhl  durch  Mord,  um  sich  Appetit  zu  machen;  er  mordet 
\vu\e  l  ieblinge.  Günstlinge,  seine  Verwandten,  seinen  Sohn. 
K\U^  Strafe  muß  langsam  vollzogen  werden;  bricht  der  Ge- 
IvUv^Me  ^\is^unmen,  so  ritzt  der  Zar  selbst  mit  dem  Dolche 
vUe   UmM   des   Sterbenden,   um   ihn   zu  neuen   Leiden  zu   er- 

uw^utei  n 

{  \\k\  tloeh  hat  Iwan  das  Repertoir  der  Todesstrafen  für 
KMiMsUul  uirht  erschöpft.  Boriß  Godunow  schwört  bei  seiner 
tU^\^^l>e^leigung,  er  werde  keine  Todesstrafe  vollziehen  lassen; 
sOvi  MMUotn  Feinde  Bjelskij  läßt  er  durch  den  schottischen 
V'Kuuruen  rrabricl  den  langen  dichten  Bart  Haar  um  Haar  aus- 
UH^fen.  und  die  Anhängender  Romanows,  seiner  Thron-Rivalen, 
weulen  t\x  Tode  gefoltert.  Alexe j  Michajlowitsch,  der  zweite 
Kouvanowsche   Zar,   beschenkt   das  russische  Gesetzbuch  mit 


Sibirische   Strafe:   Vergraben   bei   lebendigem  Leibe. 


—    89    — 

den  furchtbarsten  Gliederstrafen  und  Körperverstümmelungen ; 
und  sein  Sohn  Peter  der  Große  findet  noch  immer  Raum 
genug  zur  Einführung  ganz  neuer  Strafen:  des  Rädems  und 
des  Aufhängens  an  den  Rippen  vermittelst  spitziger  Eisen- 
haken. Peters  Lieblingsmethode  ist  folgende:  Folterung,  Ver- 
stümmelung des  einen  Gliedes  nach  dem  anderen,  und  erst, 
wenn  das  Leben  nicht  mehr  aufzuhaken  ist,  soll  man  dem  Opfer 
den  Todesstreich  geben;  der  Leiche  muß  dann  der  Kopf 
abgeschlagen  und  dieser  auf  der  Spitze  einer  Säule  aufge- 
steckt werden,  während  die  übrigen  Körperteile  zu  zerhacken 
und  symmetrisch  wie  ein  Schmuck  zu  arrangieren  sind.i) 
Peters  Gesetzen  zufolge  verdient  man  die  Todesstrafe  für: 
Absichtliche  Mißachtung  wiederholter  Befehle ;  Nichterscheinen 
zum  Dienste;  Desertion;  Verbergen  von  Deserteuren;  Bestech- 
ung; falsches  Zeugnis;  falsches  Urteil;  Diebstahl  mit  Mord; 
Totschlag;  Brandstiftung;  Hochverrat.  Aber  was  wird  von 
Peter  sonst  noch  mit  dem  Tode  bestraft  I  Am  3.  Juli  1703 
werden  die  Stoljniki  (Trüchseße)  nach  Moskau  berufen,  damit 
sie  Dienste  bekommen;  „wer  den  Befehl  nicht  befolgt,  ist 
mit  dem  Tode  zu  bestrafen;  dies  gilt  sowohl  für  die  nicht 
erscheinenden  Stoljniki  als  für  die  Wojewoden,  die  in  solchem 
Falle  mitschuldig  sind.**  Am  25.  Juni  1697  belegt  ein  Ukas 
mit  Todesstrafe  den  Privatverkauf  des  in  Pacht  genommenen 
Tabaks,  am  7.  Februar  1704  ein  anderer  Ukas  ebenfalls  mit 
Todesstrafe  den  Privatverkauf  des  in  Pacht  gegebenen  Rha- 
barbers. Wer  Holz  fällt  in  verbotenen  Waldungen,  der  ist  ein 
Kind  des  Todes;  wer  ohne  Paß  nach  China  reist,  ist  dem 
Tode  geweiht.  Der  Tod  droht  dem  Amtsschreiber,  der  eine 
Angelegenheit  nicht  in  der  vom  Gesetze  vorgeschriebenen  Frist 
erledigt.!) 

Zahllos  sind  die  Ukase,  die  die  Todesstrafe  für  militärische 
Vergehen  anordnen.  Der  Tod  droht  dem  Soldaten  im  Kriege, 
„wenn  er  beim  Sturm  wilde  Schreie  ausstößt,"  oder  „wenn 
er   sich   aufhält,   um  einem  Verwundeten   zu   helfen,   und   sei 

1)  Comte  de  S6gur,  Pierre  le  Grand.     325. 

2)  E.  Sadler,  Die  geistige  Hinterlassenschaft  Peters  des  Großen  als  Grund- 
lage für  dessen  Beurtheilung  als  Herrscher  und  Mensch.  Leipzig  und  Heidelberg 
1862.     S.  13s — 142. 


—    90    — 

dies  auch  sein  Vater.**  Am  27.  September  1700  bestimmt  ein 
Ukas  für  Deserteure  Todesstrafe;  am  19.  Januar  1705  lautet 
ein  Befehl:  von  Deserteuren  soll  man  nach  dem  Lose  jeden 
dritten  Mann  aufknüpfen,  die  übrigen  zwei  knuten  und  auf 
die  Galeeren  schicken;  am  24.  August  1705  aber  begnügt  sich 
Peter  damit,  von  Deserteuren  jeden  zehnten  aufhängen  und 
die  übrigen  unbarmherzig  knuten  zu  lassen.  Die  Zahl  der 
Deserteure  betrug  beispielsweise  im  Jahre  171 5  zwanzig- 
tausend; man  mußte  das  Leben  der  Eingefangenen  schonen, 
wollte  man  nicht  die  ganze  Armee  dezinüeren.  Auch  die  bür- 
gerliche Justiz  fordert  in  grausam  vielen  Fällen  den  Tod.  Am 
21.  Mai  1720  wird  für  Bestechung  und  Wucher  vorgeschrieben: 
schwere  Körperstrafe,  Verlust  des  Vermögens,  Entehrung  und 
selbst  Todesstrafe.  Noch  17 14  wurde  ein  russischer  Priester 
namens  Foma,  der  die  orthodoxe  Religion  beschimpft  hatte, 
in  barbarischer  Weise  lebendig  verbrannt.^)  Aber  in  den  zwei 
letzten  Jahren  seines  Lebens  will  Peter  als  ein  etwas  milder 
denkender  Monarch  erscheinen  und  er  befiehlt  einige  Ab- 
schwächungen  der  Todesstrafen.  Am  7.  März  1721  ordnet  ein 
Ukas  an :  Reuige  Mörder,  die  sich  selbst  dem  Gerichte  stellen, 
sollen  nicht  getötet,  sondern  mit  Spießrutenlaufen  und  zehn 
Jahren  Galeerenarbeit  bestraft  werden.  Den  Falschmünzern 
wurde  früher  glühendes  Erz  in  den  Magen  gegossen;  am 
5.  Februar  1723  sagt  ein  Ukas,  daß  man,  „falls  die  Verbrecher 
bei  dieser  Strafe  nicht  alsbald  sterben,  ihre  Leiden  durch 
Enthauptung  abkürzen  soll.**  Wer  falsches  Stempelpapier  her- 
stellt, ist  gleich  einem  Falschmünzer  mit  dem  Tode  zu  be- 
strafen, lautet  ein  Gesetz;  Peter  mildert  es  am  16.  Juli  1723 
ab:  bloße  Enthauptung,  ohne  Eingießen  glühenden  Erzes  in 
den  Magen.  Es  gibt  aber  auch  Verschärfungen  statt  Milde- 
rungen. Ein  altes  Gesetz  befahl,  die  Gattenmörderin  bis  an 
den  Hals  lebendig  eingraben  und  hinsterben  zu  lassen;  1689 
wurde  diese  Strafe  in  einfache  Enthauptung  umgewandelt; 
aber  1702  ließ  Peter  doch  eine  Gattenmörderin  lebendig 
begraben. 


1)  Memoires  pour  servir  ä  THistoire  de  rEmpire  Russien  sous  le  Regne 
de  Pierre  le  Grand  par  un  Ministre  etranger.    A  la  Haye  1725.    p.  iii. 


—    91    — 

Die  Zarin  Anna  Iwanowna  unterschrieb  während  ihrer 
zehnjährigen  Herrschaft  7002  Todesurteile;  dies  macht  fast 
genau  zwei  Hinrichtungen  per  Tag.  EHsabeth  hatte  bei  ihrer 
Thronbesteigung  geschworen  die  Todesstrafe  abzuschaffen  und 
einen  darauf  bezüglichen  Ukas  bereits  am  30.  September  1745 
erlassen.!)  Trotzdem  wurden  im  Jahre  1753  noch  3579  Todes- 
urteile gefällt.  Erst  als  die  Zarin  durch  Zufall  Zeugen  einer 
Hinrichtung  geworden  und  vor  Schreck  in  Ohnmacht  gefallen 
war  2),  erinnerte  sie  sich  ihres  Schwures.  Um  vor  ähnlichen 
Unannehmlichkeiten  in  Zukunft  ganz  sicher  zu  sein,  befahl 
sie  die  Aufhebung  der  Todesstrafe.  Anfangs  wurde  diese  zwar 
noch  ausgesprochen,  aber  jedes  Urteil  mußte  der  Zarin  zur 
Bestätigung  vorgelegt  werden;  und  sie  verweigerte  ihre  Zu- 
stimmung. Später  wurden  Todesurteile  überhaupt  nicht  mehr 
gefällt,  ausgenommen  in  Fällen  der  Störung  der  öffentlichen 
Ordnung  und  von  Verbrechen  gegen  die  Kirche. 

Ein  feierliches  Zeremoniell  bei  dem  Vollzug  der  Todes- 
strafe hat  es  nicht  gegeben.  Aus  dem  Ende  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  wird  berichtet,  daß  damals  die  zum  Tode  Ver- 
urteilten, wenn  sie  zum  Richtplatz  geführt  wurden,  in  den 
gebundenen  Händen  brennende  Wachslichter  tragen  mußten.^) 
Erst  in  späterer  Zeit  wurde  bei  Exekutionen,  namentlich  bei 
öffentlicher  Züchtigung  mit  Knut,  Pletj  oder  Batogen,  ein 
großer  Apparat  von  Feierlichkeiten  gebraucht.  Bei  der  Ver- 
lu-teilung  zur  Todesstrafe  überließen  Gesetz  und  Herrscher, 
die  Art  der  Todesstrafe  zu  bestimmen,  den  Richtern  und  Exe- 
kutor en.  Diese  konnten  also  nach  ihrem  Gutdünken  für  das- 
selbe Verbrechen  Hängen,  Rädern,  Ersäufen,  Spießen  oder 
Vierteilung  anordnen.  Die  Tradition  führte  jedoch  zu  einigen 
bestimmten  Gebräuchen: 

Das  Köpfen  war  die  gewöhnliche  Strafe  für  Hochverrat. 
Der  Zarewitsch  Alexej .  wurde  von  seinem  Vater  Peter  dem 
Großen   als    Hochverräter   zur    Enthauptung    verurteilt.     Die 


^)  Tolstoy,  Legislation.     58. 

^)  Moeurs  russes.  L'hermite  en  Russie.  Par  £.  Dupr6  de  St.  Maure.  Paris 
1829.     I  304. 

^)  Karamain  IX  388. 


—    92    — 

Strjeljzen  als  Hochverräter  erlitten  teils  die  Strafe  der  Enthaup- 
tung, zumeist  von  des  2^ren  eigener  Hand^),  teils  die  Strafe 
des  Galgens.  Das  Ausstellen  der  Köpfe  Hingerichteter  auf  den 
Spitzen  von  Säulen  war  namentlich  in  der  Regierungszeit 
Peters  des  Großen  beliebt.^) 

Das  Verbrennen  bei  lebendigem  Leibe  war  die  Strafe 
für  Ketzer:  Man  baute  einen  kleinen  Käfig  aus  Holz,  setzte 
den  Verbrecher  hinein,  häufte  um  das  Gitter  herum  Reisig 
und  Brennmaterial,  zündete  es  an  und  ließ  den  Verurteilten 
schmoren. 3)  Die  ersten  Scheiterhaufen  gab  es  in  Rußland 
unter  Iwan  III.,  dem  Großvater  Iwans  IV.    Die  letzte  gesetzliche 


1)  In  Marokko  vollzog  der  berüchtigte  Sultan  Muley  Ismael  ebenfalls  mit 
Vorliebe  selbst  die  Köpf ung  seiner  zum  Tode  verurteilten  Untertanen ;  er  soll 
während  seiner  Herrschaft  zehntausend  Menschen  geköpft  haben.   Dem  Marok- 
kaner dünkt  es  eine  Auszeichnung,  von  der  Hand  des  Herrschers,  der  ein  direkter 
Abkömmling  Mohammeds  ist,  zu  fallen.     Sie  erscheinen  sich  geheiligt  gleich 
jenen,  die  als  erste  im  Reiche  des  Islams  von  Mohammeds  Händen  umgebracht 
wurden.  —  In  der  Türkei  war  das  Köpfen  eine  Schandstrafe,  die  man  nur  Skla- 
ven erdulden  ließ.    In  China  ist  das  Köpfen  eine  der  drei  Hauptstrafen;  Ent- 
hauptung ist  entehrend,  während  die  Strangulierung  als  Ehrenstrafe  gilt.    In 
Japan  werden  nur  Verbrecher  aus  dem  Volke  geköpft.    In  Frankreich  dagegen 
wurden  von   1678 — 1790  bloß  Edelleute  geköpft,  so  daß  dort  das  Vorurteil 
entstand,  das  Köpfen  sei  eine  durchaus  der  Noblesse  reservierte  Strafe.  Auch  in 
England  war  das  Köpfen  eine  Strafe  namentlich  für  hohe  Persönlichkeiten;  ge- 
köpft wurden  Johanna  Gray  und  Anna  von  Bourbon,   Gemahlinnen  Hein- 
richs VIII.,  Maria  Stuart,  Karl  I.,  viele  Edelleute,  viele  Prälaten,  unter  ihnen 
William  Land,  Erzbischof  von  Canterbury.   Im  modernen  Italien  sahen  Neapel, 
Rom  und  Venedig  ihre  Staatsoberhäupter  unter  dem  Henkerbeil  fallen.     In 
Holland  köpfte  man  gewöhnlich  politische  Verbrecher.     In  Juida  in  Afrika 
wurden  beim  Tode  des  Königs  dessen  Lieblingsoffiziere  dem  Herrscher  zu  Ehren 
am  Rande  seines  Grabes  geköpft.    In  Spanien  enthauptete  man  die  Leichen  der 
Hingerichteten,  um  ihre  Köpfe  auszustellen.    In  Persien  und  auf  den  Sandwich- 
inseln kannte  man  neben  der  Strafe  der  Enthauptung  das  Zerschmettern  des 
Kopfes ;  auch  in  Japan  zerschmetterte  man  früher  den  Kopf  dem  Fremden,  der 
mit  einer  japanischen  Frau  überrascht  wurde.  In  Siam,  das  sich  durch  besonders 
grausame  Strafen  auszeichnete,  verbrannte  man  dem  Verurteilten  den  Kopf 
langsam  über  glühenden  Kohlen.     (Dictionnaire  de  la  p^nalit6,  V  473.) 

2)  Der  barbarische  Gebrauch  ist  auch  bei  vielen  Völkern  in  Amerika 
bekannt  gewesen.  Die  Türken  liebten  es,  die  Mauern  ihrer  Hauptstädte 
mit  den   Köpfen   der  erschlagenen  Feinde  zu  schmücken. 

^)  La  chronique  de  Nestor,  Append.  II  182.  —  Voyages  de  Cor- 
neille  Le   Bruyn  par  la   Moscovie,    1732,   III    133. 


—    93    — 

Verbrennung  eines  lebenden  Menschen  fand  unter  Peter  dem 
Großen  statt,  der  im  Jahre  17 14  den  Gotteslästerer  Foma 
den  Flammen  überliefern  ließ.^) 

Die  Strafe  des  Ertränkens  wurde  gewöhnlich  nicht  von 
den  Richtern,  sondern  nur  von  den  Herrschern  gegen  Staats- 
verbrecher und  Thronanmaßer  angeordnet.  Michael  Feodoro- 
witsch,  der  erste  Romanowsche  TLar,  ließ  einen  falschen  Dmitrij 
und  dessen  Mutter  ertränken.^) 

Fälle  von  Steinigung  infolge  gerichtlichen  Beschlusses 
sind  in  der  russischen  Geschichte  nicht  verzeichnet.  Die  Stei- 
nigung ist  die  orientalisch^  Strafe  für  treulose  Gattinnen  und 
Ehebrecher.  In  Rußland  bestrafte  man  Gattenmord  und  ehe- 
liche Untreue  durch  Vergraben  bei  lebendigem  Leibe.^)    Der 


*)  In  Berlin  sah  man  die  letzte  Verbrennung  eines  lebenden  Menschen 
infolge  gerichtlichen  Spruches  im  Jahre  1817I  (Vgl.  Heßlein,  Berlins  berühmte 
und  berüchtigte  Häuser.     3.  Auflage,  II.  Bd.,  S.  3.) 

-)  Auch  in  anderen  Ländern  wurde  die  gleiche  Todesstrafe  über  Staatsver« 
brecher  und  Hochverräter  verhängt.  In  Frankreich  ließ  Karl  VII.  den  Alexander 
von  Bourbon  als  Empörer  ertränken;  Louis  von  Bourbon  fand  dasselbe  Ende, 
weil  er  sein  Pferd  nicht  anhielt,  als  König  Karl  VII.  vorüberfuhr.  Louis  XI.  ver- 
urteilte zur  Strafe  des  Ertränkens  mit  besonderer  Vorliebe  allerlei  Verbrecher. 
In  Holland  ertränkte  man  die  Anabaptisten.  Auch  als  Strafe  für  Hexen  und 
namentlich  für  ungetreue  Frauen  wurde  das  Ertränken  vielfach  angeordnet; 
in  Deutschland  war  nach  der  Carolina  das  Ertränken  die  Strafe  für  Kindes- 
mörderinnen, für  kriminellen  Abortus,  und  schweren  Diebstahl.  Dict.  de 
la  p6nalit^  IV  470. 

•'*)  Das  Lebendigbegraben  war  eine  bei  den  alten  Völkern  sehr  gebräuch- 
liche Strafe.  Die  Römer  begruben  bei  lebendigem  Leibe  die  unkeuschen  Vesta- 
hnnen.  Die  Peruaner  bestraften,  ähnlich  wie  die  Römer,  die  Wächterinnen 
des  heiligen  Feuers,  die  ihr  Keuschheitsgelübde  brachen.  Wie  bei  den  Russen 
wurde  bei  den  Koreanern  diese  Strafe  namentUch  für  Gattenmörderinnen  ver- 
hängt ;  die  Verurteilte  wurde  auf  einer  belebten  Straße  bis  zu  den  Schultern  ein- 
gegraben; neben  die  Grube  legte  man  ein  Beil,  damit  jeder  Vorübergehende  der 
Verbrecherin  einen  Schlag  versetze.  In  Nikaragua  verurteilte  man  den  Sklaven, 
der  ein  Liebesverhältnis  mit  der  Tochter  seines  Herrn  angeknüpft  hatte,  zur 
Strafe  des  Lebendigbegraben  werden.  Im  ganzen  Morgenlande  ist  diese  Strafe 
stark  angewendet  worden.  In  Persien  zuerst  vom  achten  Schach,  Sefi  IL,  der  die 
Verurteilten  in  Gruben  legen  ließ,  die  mit  Gips  gefüllt  waren.  Einmal  glaubte 
Sefi,  daß  man  ihn  in  seinem  Harem  vergiften  wollte;  er  ließ  vierzig  Frauen,  da- 
runter seine  Mutter,  lebendig  begraben.  Chardin  erzählt  in  seinen  Reiseschilde- 
rungen: Ein  Arbeiter  aus  dem  Gefolge  Sefis  schlief  beim  Aufschlagen  der  Zelte 


—    94    — 

Reisende  Le  Bruyn  erzählt,  daß  er  am  19.  Januar  1702  Zeuge 
einer  solchen  Exekution  in  Moskau  war^):  Eine  Frau,  die 
ihren  Mann  umgebracht  hatte,  wurde  bei  lebendigem  Leibe 
bis  zu  den  Schultern  eingegraben.  Um  Haupt  und  Hals  des 
Opfers  hatte  man  ein  weißes  Tuch  gebunden.  Einige  Sol- 
daten blieben  bei  der  Grube  als  Wache,  um  zu  verhindern, 
daß  die  Verurteilte  Nahrung  erhielt.  Doch  durfte  man  ihr 
Geld  zuwerfen,  das  für  Heiligenkerzen  und  für  den  Sarg  ver- 
wendet werden  sollte.  Für  diese  Geldspenden  dankte  die  Ein- 
gegrabene durch  ein  leichtes  Kopfnicken.  Es  kam  allerdings 
auch  vor,  daß  die  Soldaten  das  Geld  einsteckten  und  dafür 
dem  Opfer  etwas  Nahrung  zukommen  ließen.  Manche  leben- 
dig Begrabene  lebten  lange  fort  in  ihrer  Grube.  In  der 
Zeit  der  Strjeljzenrevolte  hatte  Peter  der  Große  zwei  Frauen 
auf  diese  Weise  bestraft.  Nach  Gmelins  Reiseberichten  wur- 
den in  Sibirien  die  Verbrecher  zuweilen  lebendig  begraben; 
Gmelin  sah  eine  Frau,  die  bis  zum  Halse  in  einer  Grube 
stak  und  in  diesem  Zustande  dreizehn  Tage  lang  lebte. 

Eine  besonders  von  Iwan  dem  Schrecklichen  mit  Vor- 
liebe verhängte  Strafe  war  das  Zerfleischen  und  das  Zerreißen 
des  Opfers  in  unzählige  Stücke.     Schon  Voltaire  hat  festge- 


ein  und  wachte  nicht  einmal  auf,  als  schon  das  Harem  des  Herrschers  nahte. 
Die  Eunuchen  rollten  den  Schlafenden,  dessen  Gegenwart  das  Harem  ent- 
weihte, in  einen  Teppich  und  begruben  ihn  mit  diesem  lebendig.  Vom  Schach 
Abbas  wurde  eine  Frau  des  Sserai,  die  dem  Kamelführer  gestattet  hatte,  an 
ihrer  Seite  Platz  zu  nehmen,  dazu  verurteilt  samt  dem  Kamelführer  lebendig  be- 
graben zu  werden.  Eine  persische  SpeziaUtat  war  es,  daß  man  dabei  den  Opfern 
Einschnitte  in  den  Körper  machte,  in  die  Einschnitte  brennende  Dochte  steckte 
und  das  Fett  der  Verurteilten  schmorte.  In  Frankreich  und  Spanien  gab  es  eben- 
falls mehrere  Fälle  von  Lebendigbegraben  als  Strafe.  In  Deutschland  setzte  die 
Carolina  diese  Strafe  für  Kindesmörderinnen  fest.  Das  Lebendigbegraben  war 
aber  nicht  bloß  Strafe,  sondern  auch  Sitte  und  Gebrauch.  In  einigen  Gegenden 
der  Küste  von  Coromandel  zwingen  die  Priester  die  Witwen  ihren  Männern  ins 
Grab  zu  folgen.  Man  begrub  ferner  in  Neu  Granada  mit  den  Müttern  die  Säug- 
linge. Dict.  de  la  p6nalit6  III  485.  Auch  in  Grönland  herrschten  ähnliche  Ge- 
bräuche. Erst  jüngst  hat  der  Konservator  Schjetelig  in  Christiania  nachgewiesen, 
daß  die  Wikinger  Frau  dem  Manne  in  den  Tod  folgte.  Vgl.  einen  ausführlichen 
Bericht  in  der  Frankfurter  Zeitung  Nr.   io8,  Abendblatt  vom  19.  April  1907. 

^)  Le  Bruyn,  Voyagcs  III  80  und  133. 


—    95    — 

stellt  1),  daß  diese  Strafe  den  Chinesen  entlehnt  ist,  die  ver- 
schiedene Kategorien  von  Verbrechern  zur  Zerhackung  in 
zehntausend  Stücke  zu  verurteilen  pflegten.^) 

Die  Strafe  des  Hängens  soll  im  alten  Rußland  unbekannt 
gewesen  sein.  Ein  Reisender  des  XVII.  Jahrhunderts,  der 
dies  behauptet,  gibt  zugleich  in  possierlicher  Weise  die  Gründe 
an,  weshalb  die  russischen  Richter  früher  Niemanden  auf- 
hängen lassen  wollten.^)  „Es  ist  nun  vor  etlichen  Jahren  in 
Russen  der  Gebrauch  eingeführet  worden  /  die  Übelthäter  auf- 
zuhencken;  Und  die  Russen  haben  sich  lange  Zeit  Bedencken 
gemacht  /  solchen  anzunehmen  /  in  der  Meynung  /  daß  die 
Seele  eines  Menschen  /  der  erwürget  würde  /  genöthiget  sey 
unten  auszufahren  /  welches  ihn  pogano^)  machte.  Derjenige  / 
den  man  henckt  /  legt  ihm  Selbsten  den  Strick  um  den  Halß  / 
und  wirfft  sich  herab  /  wenn  mans  ihm  sagt  /  daß  ers  thun 
solle.**  Ein  historisches  Ereignis  war  die  Aufhängung  des 
vierten  der  sechs  Pseudo-Dmitrij,  der  i6io  auftauchte 
und  in  Pleskow  einen  Zarenhof  hielt;  nach  der  Thron- 
besteigung des  Zaren  Michael  wurde  er  gefangen  genommen 
und  gehenkt.^) 

Eine  barbarische  russische  Strafe  wird  von  allen  älteren 
Reisenden  erwähnt :  „Die  Strafe  /  welche  man  denen  falschen 


*)  Voltaires  vorzüglichste  Schriften  (französisch  und  deutsch).  Histoire  de 
l'Empire  de  Russie  sous  Pierre  le  Grand.    Wien  1810.    I  181. 

2)  Nach  Dict.  de  la  p6nalit^  IV  459  und  V  37  wurde  diese  grausame  Strafe 
m  China  namentlich  für  Diebe  und  für  Gattenmörderinnen  angeordnet.  Man 
streckte  die  Verurteilten  auf  ein  Brett  und  der  Henker  riß  mit  einer  glühenden 
Zange  eine  bestimmte  Anzahl  von  Fleischstücken  heraus,  die  er  dann  mit 
seinem  Messer  zerhackte.  Der  Henker  mußte  geschickt  vorgehen,  um  das  Opfer 
solange  als  möglich  am  Leben  zu  erhalten,  damit  es  die  Strenge  der  Strafe  ent- 
sprechend fühlte.  Auch  die  alten  Perser  kannten  eine  ähnliche  Strafe  für  Kindes- 
mörderinnen. In  Frankreich  hat  man  ehemals  Majestätsverbrechern  ebenfalls 
Stücke  Fleisch  aus  dem  Leibe  gerissen. 

^)  Reise  nach  Norden.     S.  194. 

^)  noraHLift,  heidnisch,  unrein. 

^)  Eine  seltsame  Todesstrafe  kannten  die  Kalmücken:  Der  Verbrecher 
wurde  zwischen  zwei  Kamelen  gehängt.  Ländlich  sittlich.  (Vgl.  Breton,  Ruß- 
land oder  Sitten,  Gebräuche  und  Trachten  der  sämtlichen  Provinzen  des  Kaiser- 
tums.   Miniaturgemälde  der  Länder-  und  Völkerkunde.    Pesth  18 16.    IV  53.) 


—    96    — 

Müntzern  anthut  /bestehet  darinnen  /daß  man  dergleichen  Ma- 
terie /  die  sie  zu  ihrer  Müntze  gebrauchet  haben  /  schmeltzen  / 
und  ihnen  solche  verschlucken  lasset. **i)  Schon  nach  den  altjen 
russischen  Gesetzen  wurde  Falschmünzern  glühendes  Erz  in 
den  Magen  gegossen  und  später  galt  dieselbe  Strafe  für  die 
Herstellung  falscher  Stempelpapiere. 2) 

Die  Strafe  des  Rädems  war  in  Rußland  vor  Peter  dem 
Großen  unbekannt,  aber  dann  im  achtzehnten  Jahrhimdert 
stark  in  Gebrauch,  bis  sie  gleich  allen  anderen  Todesstrafen 
von  Elisabeth  abgeschafft  wurde.^)  Katharina  II.  befahl  trotz- 
dem für  den  falschen  Peter  III.,  den  Kosaken  Jemeljan  Pu- 
gatschew,  als  komplizierte  Todesstrafe  das  Gliederzerbrechen 
bei  lebendgiem  Leibe.  Dem  Offizier  Mirowitsch,  der  als  Auf- 
rührer, Reichsverräter  imd  Kirchenschänder  ebenfalls  Vier- 
teilung oder  Rad  erdulden  sollte,  gewährte  die  Zarin  gnaden- 
weise  simple  Enthauptung.*) 

Trotz  ihrer  vor  mehr  als  hundertfünfzig  Jahren  erfolgten 
Abschaffung  besteht  die  Todesstrafe  in  Rußland  noch  fort 
bis  auf  den  heutigen  Tag.  Wie  Katharina  II.  ließ  auch  Paul 
sogenannte    Staatsverbrecher    öffentlich    hinrichten.    Alexan- 


^)  Reise  nach  Norden.     S.  193. 

'^)  Diese  Strafe,  die  auch  in  Frankreich  für  den  Mörder  Heinrichs  IV.,  Ra- 
vaillac,  nnd  für  Damiens,  den  Attentäter  gegen  Louis  XV.,  angeordnet  wurde, 
ist  zweifellos  orientalischen  Ursprungs  und  hauptsächlich  im  Orient  zur  Geltung 
gelangt.  Bei  den  Hebräern  schüttete  man  den  Verbrechern  verschiedener 
Kategorien  geschmolzenes  Blei  in  den  Mund.  Sefi  von  Persien,  der  das  Tabak- 
rauchen verboten  hatte,  ließ  zwei  Indiern,  die  das  Gesetz  mißachteten,  ge- 
schmolzenes Blei  in  den  Mund  schütten.  In  der  Türkei  traf  die  gleiche  Strafe 
jene  Moslems,  die  das  Weinverbot  verletzten. 

^)  Die  häufige  Anwendung  dieser  Strafe  in  europäischen  Staaten  darf  ich 
als  bekannt  voraussetzen.  Hier  will  ich  nur  bemerken,  daß  Peters  des  Großen 
Gegner  Karl  XII.  dem  Russen  an  Grausamkeit  nicht  nachstand ;  Patkul  wurde 
auf  Befehl  des  Schwedenkönigs  ,,bei  lebendigem  Leibe  von  unten  auf  gerädert" 
(Sugenheim,  Rußlands  Beziehungen  zu  Deutschland,  I  102.)  Ein  Bauernab- 
gesandter, der  zu  Karl  XII.  kam,  wurde  auf  des  Letzteren  Befehl  und  vor  seinen 
Augen  getötet.  (Vgl.  Voltaire  a.  a.  O.  III  69  und  79).  —  In  Berlin  fand  die  letzte 
Hinrichtung  durch  das  Rad  erst  1837  statt.  (Vgl.  Heßlein,  Berlins  berühmte 
und  berüchtigte  Häuser.     3.  Auflage,  II  3.) 

*)  Barthold,  Der  Ausgang  des  loanschen  Zweiges  der  Romanow.  Hist. 
Taschenbuch  VIII  155. 


—    97    — 

der  I.  perhorreszierte  die  Todesstrafe,  aber  i8i2  ließ  er  sie 
doch  in  den  Kriegskodex  als  Kapitalstrafe  für  Vaterlands- 
verräter aufnehmen.  Seither  hat  sich  die  Todesstrafe  als  Au3- 
nahmsstrafe  in  die  Gesetze  noch  oft  eingeschlichen:  für  An-, 
griffe  auf  das  Leben  des  Herrschers  und  die  Sicherheit  des 
Staates  und  für  sogenannte  politische  Verbrechen;  letztere 
hatte  allerdings  auch  Elisabeth  als  des  Todes  würdige  betrachtet 
und  von  ihrem  gnädigen  Ukas  nicht  profitieren  lassen  wollen.^) 
Wie  dehnbar  der  Begriff  der  politischen  Verbrechen,  die  mit 
dem  Tode  gestraft  werden  müssen,  in  Rußland  ist,  haben- wir 
in  unserer  Zeit  häufig  erfahren.  Hat  man  doch  selbst  zwölf- 
und  dreizehnjährige  Knaben  und  Mädchen  als  politische  Ver- 
brecher im  glorreichen  Jahre  des  russischen  Völkerfrühlings, 
im  Jahre  1906,  hinrichten  dürfen  2)! 

Wenn  es  sich  vielleicht  auch  bestreiten  läßt,  daß  das  rus- 
sische Strafsystem  früherer  Zeiten  in  bezug  auf  die  Todes^ 
strafen  grausamer  war  als  die  Systeme,  die  in  denselben 
Epochen  in  europäischen,  geschweige  denn  in  halbzivilisierten 
Staaten  Geltung  hatten,  so  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß. 
für  die  barbarischen  Gliederstrafen  und  Prügelstrafen  Ruß- 
lands in  der  Geschichte  aller  Rechtssysteme  und  Völker  kein 
Vergleich  gefunden  werden  könnte. 

Das  Strafgesetzbuch  Nikolajs  I.^)  sagt:  „Unter  der  Be- 
nennung Leibesstrafen  sind  zu  verstehen:  Die  Brandmarkung,^ 
die  Peitschenstrafe,  das  Spießrutenlaufen,  Stockschläge,  die 
Rutenstrafe,  das  Anlegen  von  Fesseln.**  Aber  früher  und  seit- 
her haben  die  Körperstrafen  noch  bedeutendere  Ausdehnung 
gehabt.  Die  Gliederstrafen,  HneHOBpeAHTenBHHfl  HaK^taama, 
dienten  gleicherweise  als  Mittel  der  Abschreckung  wie  als 
polizeiliche  Sicherheitsmaßregeln,  als  Brandmarkung  des  Ver- 


^)  Ivan  Golovine,  La  Russie  sous  Nicolas  I  ''.  Paris  et  Leipzig  1845.  p»  37a, 
^)  Man  erinnert  sich  des  Schreibens,  das  der  Franzose  Alexandre  Estrup^ 
1906  in  der  russischen  Zeitung  ,,Slowo"  (,,Cjiobo")  publizierte,   und  das  dann 
durch  die  europäische  Presse  seinen  sensationellen  Weg  machte.  Estrupe  war  in 
Riga  an  den  Fenstern  seiner  Wohnung  Augenzeuge,  wie  ein  13  jähriger  Knabe 
und  ein  13  jähriges  Mädchen  von  Dragonern  zur  Exekution  geschleppt  wurden. 
Die  beiden  Kinder  waren  eines  politischen  Mordes  angeklagt  gewesen. 
^)  Russisches  Strafgesetzbuch,  promulgieahrert  im  J   1845.     S.  42I, 
Stern,  Geschichte  der  Ofifentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  7 


—    98    ^ 

brechers.  Handelte  es  sich  in  erster  Linie  um  die  Ab- 
schreckung, so  verstümmelte  man  die  wichtigsten  menschlichen 
Organe  und  fügte  dem  Verurteilten  soviel  Schmerz  als  möglich 
zu;  nur  gab  man  acht,  ihm  nicht  das  Leben  zu  nehmen;  der 
Tod,  den  main  angeblich  g^adenhalber  vermeiden  wollte,  würde 
als  Erlösung  von  namenlosen  Leiden  den  Abschreckungszweck 
vereitelt  haben.  Bei  der  Brandmarkimg  zu  polizeilichen  Zwecken 
wollte  man  den  Verbrecher  nur  äußerlich  als  ein  gefährliches 
Individuum  kennzeichnen ;  oder  man  sollte  auf  diese  Weise  die 
Rückfälligen  unter  eingefangenen  Flüchtlingen  sofort  heraus- 
zufinden vermögen.  Ja,  nach  der  Art  der  Verstümmelung 
wußte  die  Polizei  schon  auf  den  ersten  Blick,  für  welches  Ver- 
brechen die  Gebrandmarkten  früher  bestraft  worden  waren. 
Diese  Brandmarkung,  diese  simple  polizeiliche  Maßregel  war 
in  ihren  moralischen  Wirkungen  allerdings  nicht  minder  ver- 
derblich als  die  schwerste  Strafe.  Sie  bedeutete  den  bürger- 
lichen Tod,  den  Verlust  aller  Rechte,  die  Aufhebung  aller 
Familienbande,  die  Unmöglichkeit,  im  Leben  jemals  wieder  in 
menschenwürdige  Verhältnisse  zu  gelangen ;  vor  dem  Gebrand- 
markten blieben  alle  Türen  verschlossen,  niemand  gab  ihm 
Stellung  und  Brot;  für  seine  eigene  Frau,  für  seine  eigenen 
Kinder  war  er  tot.  Und  dabei  galt  die  Brandmarkung,  lüieö- 
Menie,  gesetzmäßig  nicht  als  eine  Strafe  im  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes ;  sie  war  ja  bloß  verunstaltend,  aber  nicht  beschädi- 
gend; keine  physisch  schmerzhaft  fühlbare  Abschreckungs- 
maßnahme,   sondern   eine   polizeiliche   Vorsichtsmaßregel.^) 

Die  erste  Erwähnung  einer  Brandmarkung  in  Rußland 
findet  man  in  den,  Mitteilimgen  über  die  Dwinskische  Empörung 
des  Jahres  1397;  hier  wird  anbefohlen,  jeden  Dieb  zu  „stem- 
peln**. Bis  zum  17.  Jahrhundert  kannte  man,  soweit  bis  jetzt 
von  russischen  Forschern  festgestellt  werden  konnte,  die  Brand- 
markung als  gesetzliche  Maßregel  nicht.  In  der  Praxis  wurde 
sie  aber  als  eine  Beigabe  zur  öffentlichen  Züchtigung,  nament- 
lich bei  Dieben  und  Räubern,  angewendet;  bald  brandmarkte 
man  auch  andere  Kategorien  von  Verbrechern.     1637  brand- 


1)   A.   r.   TiiMo«|MM'iri..   lI(T<»j)iii   rMecMUX'i.  iiaKa^aiiift   in.  pyccKosn.  npaiif.. 
C'.-llCrep^ypn.,  1897.  (Vp.  143—149.  (Übet  Gliederstrafen  und  Brandmarkung.) 


—  ge- 
markte man  Falschmünzer.  Nach  dem  Zeugnisse  Kotoschi- 
chins  brandmarkte  man  die  Teilnehmer  des  Aufruhrs  von  1662, 
„damit  sie  für  alle  Ewigkeit  gekennzeichnet  seien.**  Seit  1691 
wurden  alle  Verbrecher  gebrandmarkt,  wenn  sie  eine  Strafe 
zu  erdulden  hatten,  die  ihnen  gnadenhalber  statt  der  Todes- 
strafe zudiktiert  worden  war.  An  dem  Stempel  konnte  man 
erkennen,  wie  oft  ein  Dieb  wegen  Diebstahls  bereits  früher 
verurteilt  worden  war;  ertappte  man  einen  Dieb  zum  dritten 
Male,  so  verurteilte  man  ihn  zum  Tode.  Ein  Ukas  aus  dem 
Jahre  1691  ordnet  die  Brandmarkung  an,  „damit  man  den  aus 
der  Verbannung  geflüchteten  und  in  Moskau  wieder  erscheinen- 
den Verbrecher  erkenne.**  Die  Brandmarkungszeichen  mußten 
vor  dem  Verschwinden  behütet  werden;  daher  befiehlt  ein 
Ukas  von  1705,  die  Wunden,  die  der  Stempel  verursacht,  mit 
Pulver  einzureiben,  „damit  der  Verbrecher  die  Zeichen  nicht 
ausmerzen  körme  und  die  Brandmarkung  bis  zum  Tode  des 
Gezeichneten  sichtbar  bleibe.**  Und  ein  Ukas  von  1746  besagt: 
„An  der  Brandmarkung  soll  man  den  Verbrecher  allezeit  von 
den  guten  Leuten  unterscheiden  können ;  einem  entlaufenen 
Verbrecher  wird  man  dann  sofort  die  Gefahr  ansehen,  die  von 
ihm  droht.**  Seit  dem  achtzehnten  Jahrhundert  fügte  man  die 
Brandmarkung  in  Verbindung  mit  dem  Aufschlitzen  der  Nasen- 
löcher allen  Verbrechern  zu,  die  nach  Sibirien  verbannt  wurden. 
Peters  Ukase  von  1703  und  1704  befehlen  Brandmarkung  und 
Aufschlitzung  der  Nase  für  alle  Diebe  und  Räuber,  die  keine 
Todesstrafe  erleiden  müssen;  1720  wird  für  Waldfrevler  die 
Todesstrafe  abgeändert  in  ewige  Verbannung  und  Brandmar- 
kung. Elisabeth  verfügt  bei  der  Aufhebung  der  Todesstrafe, 
daß  alle  Strafen,  die  fortan  statt  der  Todesstrafe  als  Kapital- 
strafen gelten,  imfehlbar  die  Brandmarkimg  im  Gefolge  haben. 
Diese  Ordnung  bleibt  lange  bestehen  und  wird  noch  im  Justiz- 
reformprojekt des  Jahres  18 13  festgehalten.  Erst  die  Gesetz- 
bücher von  1833,  1842  und  1845  schränken  die  Brandmarkung 
ein  auf  „Verbrecher  männlichen  Geschlechts,  die  zur  Zwangs- 
arbeit verurteilt  werden  und  von  Körperstrafen  nicht  be- 
freit sind.** 

Die  Zeichen  der  Brandmarkung  wechselten  oft  im  Laufe  von 
zwei  Jahrhunderten.    Die  erste  bekannte  Form  ist  der  in  einem 

7* 


—     100    — 

Ukas  von  1637  erwähnte  Aufdruck :  Bop'b  (Wor)  Dieb ;  hier  ist 
das  Wort  ganz  ausgeschrieben.  Die  Teilnehmer  des  Aufruhrs 
von  1662  werden  mit  dem  Buchstaben  B  gezeichnet;  das  ist 
der  erste  Buchstabe  des  Wortes  oviiTOBmnKb  (Buntowschtschik), 
Empörer.  1691  befiehlt  man,  einen  eisernen  Buchstaben  zu 
gießen :  B  (das  russische  W)  den  ersten  Buchstaben  von  Bop'b. 
1698  ergeht  der  Befehl,  die  nach  Sibirien  Verbannten  mit  sibi- 
rischen städtischen  Stempeln  zu  brandmarken.  Peter  der 
Große  reformiert  auch  auf  diesem  Gebiete.  Er  stiftet  für  die 
Zwecke  der  Brandmarkung  eine  Abbildung  des  Adlers  imd 
läßt  damit  die  nicht  zum  Tode  verurteilten  Strjeljzen  stempeln. 
Auch  der  Name  der  Stempelung  wird  gewechselt.  Bis  zum 
achtzehnten  Jahrhundert  kennt  man  für  den  Stempel  den  Aus- 
druck iiflTHO  (pjätno) ;  Peter  der  Große  schafft  das  Wort  saopne- 
iiie  (saorlcnije),  Aufadlerung.  1702  befiehlt  der  Zar,  den  Po- 
pen Nikita  wegen  Verleitung  eines  Beichtkindes  zu  falschem 
Zeugnis:  „unbarmherzig  mit  dem  Knut  zu  schlagen  und  mit 
geadlerter  Backe  nach  Asow  zu  verschicken.**  Aber  der  Adler 
erhält  sich  nicht  lange,  und  schon  1704  ist  die  Rede  von  neuen 
Brandmarkungsstempeln.  1705  werden  zweierlei  Kategorien 
von  Gebrandmarkten  unterschieden:  Schwere  Verbrecher,  die 
zu  ewiger  Katorga  (Kaxopra,  Zwangsarbeit)  verurteilt  sind;  und 
Verbrecher,  die  wegen  geringerer  Übeltaten  nur  auf  begrenzte 
Zeit  verbannt  sind.  Die  Art  der  Brandmarkung  der  ersten 
Kategorie  wird  nicht  präzisiert :  für  die  letztere  wird  wieder  der 
Buchstabe  B  (Bop'i.,  Dieb)  vorgeschrieben.  1746  erscheinen 
neue  Stempel  mit  dem  ganzen  Worte  Bo])t>,  das  aber  in  einzel- 
nen Buchstaben  aufgestempelt  wird,  also  B.  O.P.'L.  Von  1753 
bis  1845  druckt  man  nur  die  ersten  drei  Buchstaben  auf.  1762 
wird  der  Assignaten-Fälscher  Sscrgej  Puschkin  mit  dem  Buch- 
staben B  auf  der  Stirn  gebrandmarkt.  1780  wird  der  Mörder 
Grigorjew  auf  der  Stirn  mit  Y,  dem  ersten  Buchstaben  des 
Wortes  ynifirvi  (rbyza,  Mörder)  gestempelt.  1782  befiehlt  ein 
Urteil,  dem  Registrator  Schazkij  nach  vollzogener  Glieder- 
strafe unter  dem  Galgen  die  rechte  Hand  mit  dem  Buchstaben 
JI,  als  dem  ersten  Buchstaben  des  Wortes  .TvKt^u'i.,  Lügner,  zu 
stempeln.  1794  brandmarkt  man  in  Petersburg  die  Offiziere 
Feinberg   und   Baron   Gumprecht  wegen  Assignatenfälschung 


—    101    — 

unter  dem  Galgen  öffentlich!;  man  druckt  ihnen  auf  beide  Hände 
die  Buchstaben  B.  n  c.  ^.  a.  auf,  die  Anfangsbuchstaben  der 
Worte:  BopTb  h  co^HHHTejiB  ^ajiBmzBBixTb  accnrnai^iÄ,  Dieb 
und  Verfertiger  falscher  Assig^naten,  Nikolaj  I.  verordnet  aber- 
mals neue  Zeichen:  K.  A.  T.,  die  ersten  drei  Buchstaben  von 
KaTopacHHÖ,  für  die  zu  Zwangsarbeit  Verurteilten;  B,  den 
ersten  Buchstaben  von  öpo^Hra  (brodjäga,  Landstreicher), 
für  eingefangene  Flüchtlinge ;  femer  C.  K.,  die  beiden  ersten 
Buchstaben  der  Worte  cchjibho- KaTopacHHÖ,  zur  Zwangs- 
arbeit Verbannter,  und  C.  11.,  die  beiden  ersten  Buchstaben  der 
Worte  ccBuiBHO-nocejieHei^'b,  zur  Ansiedlung  Verbannter. 

Wir  haben  schon  gesehen,  daß  die  Brandmarkung  gewöhn- 
lich öffentlich  unter  dem  Galgen  vollzogen  wurde.  Sie  war 
also  nicht  bloß  eine  polizeiliche  Maßregel,  sondern  gleichzeitig 
eine  schimpfliche  Zugabe  zur  Gliederstrafe,  Prügelstrafe  und 
Verbannung.  Der  najia^t  (Palatsch),  der  Henker  drückte 
schweren  Verbrechern  den  Stempel  auf  das  Antlitz  auf,  zu- 
meist auf  die  Stirn.  Die  in  Sibirien  von  den  Behörden  vorge- 
nommenen Brandmarkungszeichen  wurden  auf  dem  Rücken 
des  Verbrechers  angebracht.  Ein  Ukas  von  1637  befiehlt  die 
eisernen  Buchstaben  für  den  Gebrauch  durch  Feuer  zu  erhitzen. 
Ein  Ukas  von  1691  schrieb  vor:  Wenn  ein  Verbrecher  zum 
ersten  Male  gebrandmarkt  wird,  so  drücke  der  Henker  den 
Stempel  auf  die  linke  Backe ;  beim  zweiten  Male  auf  die  rechte 
Backe.  Von  1753  ab,  da  drei  Buchstaben  aufgedrückt  werden 
mußten,  stempelte  der  Henker  das  B  (W)  auf  die  Stirn,  das  0 
auf  die  rechte,  das  P  (R)  auf  die  linke  Wange.  Genau  so  ging 
der  Henker  später  mit  den  drei  neuen  Zeichen  K.  A.  T.  um,  die 
Nikolaj  I.  anbefohlen  hatte :  K  kam  auf  die  Stirn,  A  auf  die 
rechte  und  T  auf  die  linke  Wange.  Nikolaj  I.  befahl  1846 
die  Brandmarkung  nur  noch  bei  schweren  Verbrechern  öffent- 
lich vorzunehmen.  Landstreicher  und  Flüchtlinge  wurden 
fortan  auf  dem  Polizeibureau  in  aller  Stille  ohne  besondere 
Zeremonie  auf  der  Schulter  oder  auf  dem  Rücken  gestempelt. 
Die  Zeichen  wurden  sofort  nach  dem  Aufdruck  mit  einem 
Pulver  eingerieben,  zubereitet  nach  Vorschrift  des  medizinischen 
Departements;  letzteres  verfaßte  auch  für  die  Henker  prak- 
tische   Ratschläge     bezüglich     der   Anwendung     der    Brand- 


—    102    — 

markurg;  in  dieser  ärztlichen  Verordnung  wurde  empfohlen,  die 
für  Landstreicher  von  dem  Polizeiamt  als  Erkennungszeichen 
angeordneten  Stempel  auf  der  Hand,  wennmöglich  auf  dem 
fleischigen  Teile,  anzubringen.  Die  Brandmarkung  wurde  erst 
im  Jahre  1863  von  Alexander  II.  abgeschafft,  geschieht  aber 
trotzdem  noch  gegenwärtig  auf  Anordnung  der  Gouverneure 
und  Polizeimeister. 

Gleich  der  Brahdmarkung  waren  auch  die  Gliederstrafen^) 
teilweise  zu  polizeilichen  Zwecken  bestimmt;  man  sollte  den 
Verbrecher  an  der  Verstümmelung  und  die  Art  seines  Ver- 
brechens an  der  Art  seiner  Verstümmelung  erkennen.  Die 
Gliederverstümmelung  wurde  deshalb  gewöhnlich  nicht  als 
selbständige  Strafe  angeordnet,  sie  war  eine  Zugabe  zu  anderen 
Strafen.  Gleichzeitig  mit  dem  polizeilichen  Zwecke  wurde  auch 
erreicht,  daß  die  Verstümmelung  zur  Abschreckung  diente. 

Die  Blendung,  ocji-fenjiBiiie ,  die  härteste  aller  Ver- 
stümmelungsstrafen, ist  in  Rußland  von  Richtern  zweifellos 
äußerst  selten  angeordnet  worden.  In  dem  Gesetzbuche  des 
Zaren  Alexej  (yjlOHceHie  1649  r.)  wird  das  Ausstechen  der 
Augen  neben  dem  Abhacken  der  Hände,  der  Füße,  der  Nase, 
der  Ohren  und  der  Lippen  wohl  erwähnt,  aber  man  hat  vor- 
läufig noch  kein  Dokument  aufgefunden,  welches  bezeugen 
könnte,  daß  die  Blendung  als  Strafe  für  bürgerliche  Verbrechen 
von  bürgerlichen  Richtern  jemals  vorgeschrieben  worden  ist. 
Dagegen  ist  aus  dem  siebzehnten  Jahrhundert  bekannt,  daß 
Schujskij  den  Staatsverbrechern  Bolotnikow  und  Genossen  vor 
dem  Vollzug  der  Todesstrafe  die  Augen  ausreißen  ließ.  Auch 
der  englische  Arzt  Collins,  Leibarzt  des  Zaren  Alexej,  erzählt: 
es  sei  allgemeiner  Gebrauch  gewesen,  den  Aufruhrern  die 
Augen  auszureißen,  bevor  man  sie  verbannte.  In  noch  früheren 
Jahrhunderten  sind  in  Rußland  Fälle  von  Blendung  zwar  oft 
vorgekommen.  Doch  erfolgten  sie  fast  immer  aus  politischen 
Gründen.  Sie  waren  Sicherheitsmaßregeln  oder  Racheakte  des 
Herrschers  gegen  seinen  Rivalen,  des  Siegers  gegen  den  Be- 
siegten, wie  dies  schon  im  Kapitel,  das  die  Grausamkeit  der 
Herrschenden   in   Rußland   behandelt,   erwähnt   wurde.     Hier 


1)  TiDio<J>t'eBT,  a.  a.  O.     S.  131  ff. 


-^    103    — 

noch  einige  Beispiele:  Als  Fürst  Mstislaw  Isjäslawitsch  1068 
aus  der  Verbannung  nach  Kijew  zurückkehrte,  ließ  er  viele 
seiner  Gegner  blenden;  1098  wurde  Fürst  Wassilko  geblendet; 
1177  rissen  die  Wladimirzen  dem  in  ihre  Gefangenschaft  ge- 
ratenen Fürsten  von  Rjäsan  die  Augen  aus.  Die  Bojaren  des 
Großfürsten  Wßewolod  verlangten  im  zwölften  Jahrhundert 
die  Blendung  der  gefangenen  Ssusdalzen  und  Rostowzen.  1446 
ließ  Wassilij  der  Finstere,  den  seine  Feinde  des  Augenlichts 
beraubt  hatten,  zwei  ihm  feindliche  Fürsten,  die  in  seine  Hände 
gefallen  waren,  blenden.^) 


^)  In  bezug  auf  diese  Barbarei  steht  Rußland  hinter  anderen  Landern 
zurück.  Man  sehe  nachfolgende  Vergleiche  (Diction.  de  la  p6nalit6,  Yeux):  Die 
Hebräer  blendeten  selten,  wurden  aber  häufig  von  ihren  Feinden  geblendet,  wie 
Simson  von  den  Philistern.  Das  Blenden  war  in  Byzanz  zu  einer  förmlichen  Sitte 
geworden.  Als  Instrument  bediente  man  sich  eines  glühenden  Spießes;  später 
gebrauchte  man  siedenden  Essig.  Im  Königreich  Aschem  wurde  das  Blenden  als 
eine  milde  Strafe  betrachtet.  Auf  den  Sandwichinseln  hatte  der  beleidigte  Ehe- 
mann das  Recht,  dem  Ehebrecher  die  Augen  auszureißen.  Stark  verbreitet  war 
das  Blenden  in  den  orientalischen  Ländern,  in  Kaukasien.  Indien  und  nament- 
lich im  modernen  Persien.  Beim  Regierungswechsel  wurden  früher  in  Persien 
alle  möglichen  Thronrivalen  des  neuen  Herrschers :  Brüder,  Onkel,  Neffen,  kurz 
alle  männlichen  Verwandten,  geblendet.  Man  schleppte  die  Verurteilten  vor  das 
Tor  des  Sserai,  ließ  sie  hier  von  Eunuchen  festhalten  und  durch  speziell  zu  diesem 
Zwecke  angestellte  Offiziere  blenden.  Der  grausame  Schach  Sefi  ließ  derartige 
Blendungen  in  barbarischer  Art  in  seiner  Gegenwart  vollziehen ;  als  er  bemerkte, 
daß  einer  seiner  Pagenlieblinge  entsetzt  zusammenfuhr,  sagte  er:  „Da  dein  Auge 
so  zart  ist,  brauchst  du  es  nicht".  Und  ließ  dem  Pagen  auf  der  Stelle  die  Augen 
ausstechen.  Dieser  Schach  Sefi  befahl  eines  Tages  in  seinem  Zorn,  auch  seinen 
Sohn  und  Erben  Abbas  des  Augenlichts  zu  berauben.  Auf  tlem  Sterbebette 
bedauerte  er  aber,  diesen  Befehl  gegeben  zu  haben.  Da  erklärte  ein  Eunuch, 
er  könne  den  Prinzen  sehend  machen,  und  vollführte  auf  der  Stelle  das  Wunder : 
Dieser  Eunuch,  der  früher  den  schrecklichen  Auftrag  erhalten  gehabt,  den  Prin,- 
zen  zu  blenden,  hatte  Mitleid  empfunden  und  das  Furchtbare  nicht  vollführt.; 
aber  um  den  Schach  zu  täuschen,  spielte  Abbas  bis  zur  Sterbestunde  des  Vaters 
den  Blinden.  Nadir  Schach  ließ  1729  den  Usurpator  Airaf  blenden;  aber  nach- 
dem er  selbst  als  Usurpator  sich  des  Thrones  bemächtigt  hatte,  befahl  er,  um 
sich  vor  gleichem  Schicksal  sicher  zu  stellen,  die  Blendung  aller,  die  ihm  den 
Thron  streitig  machen  konnten.  In  Venedig  waren  die  Blendungen  der  Dogen 
durch  ihre  Rivalen  an  der  Tagesordnung.  In  Deutschland  ließ  Heinrich  VI. 
dem  Tankred  die  Augen  ausstechen;  Friedrich  II.  bereitete  dasselbe  Los  seinem 
Kanzler  Peter  Desvignes,  der  ihm  30  Jahre  gedient  hatte.  In  England  ließ  man 
für  Jagdvergehen  als  Strafe  die  Blendung  verhängen.    In  Frankreich  befahl  im 


~    104    — 

Wie   die   Blendung   wurde   auch    das   Herausreißen   der 
Zunge,   Btip-fesaHie   ft3biKa,  weniger  für  bürgerliche,  als  für  poli- 
tische und  kirchliche  Verbrechen  angeordnet.    Hierfür  findet 
man  in    den   Dokumenten    der  Vergangenheit   zahlreiche  Be- 
lege.     Schon     in    früheren    Jahrhunderten    wurde    „für    un- 
anständige Worte"   (HeB-feÄnHBHÄ  cjiOBa)  gegen  den  Herrscher 
diese  Strafe  angedroht.     Iwan  III.  wollte  dem  Tatischtschew, 
der  eine  freie  R6de  selbst  dem  Großfürsten  gegenüber  zu  führen 
liebte,  die  Zunge  herausreißen  lassen.     1545  wurde  dem  Afa- 
nassij  Buturlin  „wegen  ungeschliffener  Rede'*  (HenpHCTOÄHBiÄ 
cjiOBa)  die  Zimge   herausgerissen.    Ähnliche   Fälle   kamen  im 
17.   Jahrhundert   vor.     Das   achtzehnte   Jahrhundert   beginnt, 
im  jähre  1 700,  mit  dem  ersten  Falle,  daß  einer  Frau  öffentlich 
vom  Henker  die  Zunge  herausgerissen  wird;  diese  Frau  hatte 
die  Nachricht  verbreitet,  daß  in  einer  Kirche  eine  Generalsfrau 
vom  Zaren  erschlagen  worden  wäre  —  Peter  der  Große  bestraft 
■die  Verleumdung  durch  die  Ordre,  die  Verleumderin  für  immer 
der  Sprache  zu  berauben.    In  den  nächsten  Jahrzehnten,  wäh- 
rend des  Fraueilregiments,  wiederholt  sich  das  Schauspiel  oft 
genug;  die  Zarinnen  strafen  ihr  Geschlecht  für  Schwatzhaftig- 
keit  mit  Vorliebe  auf  solche  Weise,  und  1743  läßt  Elisabeth 
der  schönsten  Frau  am  Hofe,  Natalia  Lopuchin,  die  Zunge 
herausreißen,  die  über  die  Kaiserin  zu  spotten  gewagt  hatte. 
Als  Strafe  für  Ketzer  wird  das  Herausreißen  der  Zunge  1505 
erwähnt :  Einem  Anhänger  der  sogenannten  jüdischen  Häresie, 
dem  Nekraß  Rukanow,  wird  vor  seiner  Verbrennung  noch  die 
Zunge  herausgerissen.     Im  siebzehnten  Jahrhundert  wird  den 


sechsten  Jahrhundert  Chilperic:  „Wenn  sich  Jemand  meinen  Verordnungeft 
widersetzt,  so  soll  man  ihm  die  Augen  ausstechen;"  im  achten  Jahrhundert 
ließen  die  französischen  Abb6s  ihren  Mönchen  zur  Strafe  für  kleine  Vergehen  di5 
Hände,  Füße  und  Ohren  abhacken  und  die  Augen  ausstechen;  im  elften  Jahr- 
hundert blendeten  die  Grafen  Coucy  und  Namur,  die  miteinander  Krieg  führten, 
weil  des  letzteren  Frau  zum  ersteren  sich  geflüchtet  hatte,  ihre  beiderseitigen 
Gefangenen.  Das  Merkwürdigste  wäre  aus  Spanien  zu  berichten.  Hier 
'mächten  die  Räte  Kastiliens  in  der  Afrancesados  -  Affäre  dem  König  Ferdi- 
nand VII.  den  Vorschlag,  statt  einer  Amnestie  den  Befehl  zu  geben,  daß  einem 
uralten  Gesetze  gemäß  die  Verräter  geblendet  werden  sollten.  Dies  rieten 
spanische  Minister  am  22.  November  1824] 


^    105    -^ 

Ra^koljniki  wegen  Verspottung  der  heiligen  Kirche  die  Zunge 
herausgerissen.  Im  Gesetzbuch  des  Zaren  Alexej  (yjioxemB 
1649  p,)  wird  bemerkt,  daß  nach  einer  alten  Veirordnung  für 
falsches  Zeugnis  die  Zunge  herausgerissen  werden  sollte;  der 
milde  Zar  Alexej  aber  befahl  bloß  „strenge  Strafe**,  Knut.  Die 
Prozedur  des  Herausreißens  der  Zunge  beschreibt  Timofejew^) 
also:  Der  Verurteilte  sitzt  auf  einem  Schemel  und  der  Henker 
reißt  mit  einer  Zange  die  Zunge  ganz  heraus  oder  zwickt,  was 
gewöhnlich  der  Fall  war,  bloß  die  Hälfte  ab,  so  daß  der  Be- 
strafte doch  noch  immer  reden  kann.  Wir  wissen,  daß  der 
BestuBchew  im  Jahre  1743  dank  ihrem  Geschenk  an  den 
Henker  nur  die  Spitze  ihrer  Zunge  abgezwickt  wurde,  während 
die  unglückliche  Lopuchin  ihre  halbe  Zunge  verlor.  In  der 
Zeit  Peters  des  Großen  wurde  statt  des  Herausreißens  der 
Ztmge  häufig  das  Verbrennen  der  Zunge  durch  ein  glühendes 
Eisen  anbefohlen;  diese  Art  Strafe  erfolgte  bei  Verbrechen 
der  Gotteslästerung  und  der  Korruption  (Lichoimstwo).^) 

Die  erste  Erwähnung  der  Strafe  des  Abhackens  der 
Hände,  oTciHenie  pyKH,  findet  man  in  Annalen  des  Jahres 
1462,  aus  der  Zeit   des   Fürsten  Wassilij   Jaroslawitsch ;    der 


')  THMo<|>eeBT>  a.  a.  O.     133. 

')  Im  afrikanischen  Königreich  Benin  durchbohrte  man  die  Zunge  nicht 
cor  Strafe,  sondern  zur  Prüfung:  Der  Angeklagte  wurde  vor  den  Priester  ge- 
führt, der  ihm  eine  spitze  Hahnenfeder  durch  die  Zunge  stieß ;  drang  die  Feder 
leicht  durch,  so  war  dies  ein  Beweis  für  die  Unschuld  des  Verdächtigten;  blieb 
die  Feder  stecken,  so  galt  dies  als  böses  Zeichen.  Im  alten  Ägypten  durchbohrte 
man  jenen,  die  dem  Feinde  Staatsgeheimnisse  verrieten,  die  Zunge.  Im  christ- 
liclven  Konstantinopel  ließ  Konstantin,  Sohn  des  Heraklius  und  der  Eudona, 
als  er  den  Thron  zurückerobert  hatte,  seinen  Stiefbruder,  den  Usurpator, 
ins  Exil  senden,  seiner  Stiefmutter  Martina  aber  die  Zunge  ausschneiden, 
„damit  sie  nicht  das  Volk  aufwiegele".  In  Europa  war  die  Zungenstrafe  nament- 
lich in  den  katholischen  Landern  üblich.  Louis  IX.  ließ  Gotteslästerern  die 
Zunge  durchbohren;  Louis  XII.  befahl,  denjemgen,  die  achtmal  Gott  gelästert, 
die  Zunge  ganz  herauszureißen.  Franfois  I.  erfand  für  die  Protestanten  eine 
ntene  Strafe:  er  ließ  ihnen,  bevor  er  sie  auf  den  Scheiterhaufen  schickte,  die 
Zunge  dnrchbohren  und  mit  einem  Nagel  an  der  Wange. befestigen.  Doch  wurde 
in  Frankreich  auch  die  Zunge  einfach  abgeschnitten  oder,  wie  im  Rußland  Peters 
des  Großen,  mit  dem  heißen  Eisen  gestrichen.  In  England  bestand  bis  zur  Zeit 
der  Königin  Elisabeth  das  Abschneiden  der  Zunge  für  Meineidige.  (Vgl.  Dict« 
de  la  p6naL  IV  302.) 


—    106    — 

Annalist  bemerkt  dabei:  „Der  Großfürst  befahl  eine  flicht 
bekannte  Straf art**,  nämlich  eine  bis  dahin  nicht  bekannte, 
wenigstens  nicht  angewendete.  Diese  Strafart  soUte  aber  bald 
in  Rußland  große  Bedeutung  erlangen.  1533  wurde  sie  in 
Moskau  für  Geldverderber,  Fälscher  und  Münzenbeschneider, 
angeordnet.  Im  sechzehnten  Jahrhundert  straft  man  Räuber 
und  Diebe  durch  Abhacken  einer  Hand.  Einen  breiten  Raum 
nimmt  diese  Strafe  im  Gesetzbuch  des  Zaren  Alexej  ein;  sie 
wird  angedroht:  für  Krawalle  am  Herrscherhofe;  für  das 
Herausziehen  des  Schwertes  in  Gegenwart  des  Herrschers; 
für  Versuche,  das  Leben  des  Herrschers  zu  bedrohen;  für 
Betrug;  dritten  Diebstahl;  für  lügenhafte  Denunziation;  für 
Pferdediebstahl  im  Dienste ;  und  noch  zahlreiche  andere  Fälle, 
Spätere  Ukase  dehnen  die  Strafe  aus :  auf  Leute,  die  unbefugte 
Schankwirtschaft  treiben ;  auf  Teilnehmer  an  Gelddiebstählen ; 
endlich  auf  Teilnehmer  an  Empörungen.  Peters  des  Großen 
Kriegsreglement  befiehlt,  jenen  die  Hände  abzuhacken,  welche 
„dem  Herrn  oder  seinem  auf  der  Wache  befindlichen  Haus- 
soldaten Wunden  beibringen,  sei  es  mit  einem  Stock  oder 
einer  Waffe,**  Peters  Kriegsreglement  entlehnte  den  west- 
lichen Gebräuchen  eine  in  Rußland  bisher  unbekannte  Strafe : 
„Demjenigen,  der  mit  den  Waffen  in  der  Hand  bei  einer 
Schlägerei  ergriffen  wird,  soll  man  die  Hand  für  eine  Stunde 
am  Galgen  annageln.**  Die  Zarin  Elisabeth  befahl  statt  der 
Todesstrafe  oft  die  Strafe  des  Abhackens  der  Hand.  Diese 
Strafe  kommt  noch  in  den  Urteilen  aus  dem  ersten  Drittel 
des  neunzehnten  Jahrhimderts  vor;  sie  wurde  zuletzt  aller- 
dings nur  dem  Buchstaben  der  alten  Gesetze  entsprechend 
angeordnet,  aber  nicht  mehr  ausgeführt. i) 


1)  Die  Strafe  des  Abhackens  der  Hände  war  in  allen  Ländern  der  Welt  be- 
kannt. Die  chinesische  Kaiserin  Wu-Hen  ließ  683  den  von  ihr  verstoßenen 
Frauen  die  Hände  abhacken,  bevor  man  sie  des  Lebens  beraubte.  In  Indien 
hieb  man  den  Verbrechern,  die  man  zum  Hungertode  verurteilt  hatte,  vor  ihrer 
Aussetzung  die  Hände  ab.  In  Persien  riskierte  man  beim  geringsten  Vergehen 
den  Verlust  der  Hände.  Schach  Sefi  ließ  im  17.  Jahrhundert  Offizieren,  die  bei 
Gesang  und  Mahl  den  Dienst  vernachlässigt  hatten,  sowie  dem  Dichter,  def  den 
•Pflichtvergessenen  seine  Lieder  vorgesungen,  Nase,  Ohren,  Zunge,  Füße  und  Hände 
abschneiden.    Noch  im  19.  Jahrhundert  hieb  man  in  Persien  allen  zum  Tode 


—    107    — 

Als  eine  Milderung  der  Strafe  des  Abhackens  der -Hand 
war  die  Strafe  des  Abhackens  der  Finger,  oTci^eHie  najü- 
i^eFB,  angesehen.  Sie  wird  zum  ersten  Male  in  Ukasen  d^s 
Jahres  1653  für  ersten  Diebstahl  und  ersten  Raub,  statt 
der  Todesstrafe,  vorgeschrieben :  „Den  Verbrechern  dieser  Art 
soll  man  vor  ihrer  Verbannung  nach  Sibirien  die  Finger 
der  linken  Hand  abhauen.**  i66i  befiehlt  der  Zar:  „Den 
Teilnehmern  an  Münzfälschungen  zwei  Finger  abhauen.** 
Dasselbe  1682  wieder  für  ersten  Diebstahl  und  ersten  Raub. 
Peters  Kriegsreglement  setzt  diese  Strafe  für  Meineid  fest. 
Die  Praxis  wendet  sie  aber  auch  auf  andere  Fälle  an. 
So  wurden,  nach  dem  Berichte  Kotoschichins,  die  Teilnehmer 
an  der  Empörung  von  1662  und  1687  auf  solche  Weise  be- 
straft.   Betrügerischen  Kanzleischreibern  wurden  ebenfalls  zwei 


Verurteilten  vor  dem  Vollzug  der  Todesstrafe  die  Hände  ab.  In  der  Türkei  hieb 
man  den  Majestätsbeleidigem  die  rechte  Hand  herunter.  In  Ägypten  beraubte 
man  Fal^hmünzer  der  Hände.  Im  alten  Arabien  verlor  der  Dieb,  der  in  flagranti 
ertappt  worden  war,  die  rechte  Hand.  In  Marokko  wurde  der  Sohn  Muley 
Ismaels  als  Revolutionär  von  seinem  eigenen  Vater  zum  Verlust  der  rechten 
Hand  und  des  rechten  Fußes  verurteilt;  die  abgehackten  Glieder  warf  man 
in  einen  mit  kochendem  Teer  gefüllten  Kessel.  In  Marokko  strafte  man  noch  in 
der  neuesten  Zeit  StraÖenräuber  durch  Abhauen  von  Hand  und  FuÖ.  In  Algier 
hieb  man  dem  in  flagranti  ertappten  Dieb  die  rechte  Hand  herunter;  das  ab- 
gehackte Stück  hing  man  dem  Verbrecher  um  den  Hals,  und  den  so  Geschmück- 
ten setzte  man  rücklings  auf  einen  Esel  und  führte  ihn  durch  den  Ort.  Auch  in 
europäischen  Staaten  machte  man  von  der  barbarischen  Strafe  häuügen  Ge- 
brauch. In  Frankreich  ließen  die  ersten  Könige  den  Leibeigenen  für  die  lieich- 
testen  Vergehen  Ohren,  Nase.  Füße  oder  Hände  abhacken.  Fredegonde  sandte 
einen  Boten  zu  Brunhilde,  um  sie  zu  ermorden.  Der  Attentäter  wurde  erwischt, 
durchgepeitscht  und  heimgesandt;  die  erzürnte  Fredegonde  ließ  dem  Unge- 
schickten einen  Fuß  und  eine  Hand  abschneiden.  Ein  anderes  Mal  sandte 
Fredegonde  zwei  Männer  ab,  um  Childebert  zu  töten.  Auch  diese  zwei  wurden 
ergriffen,  man  begnügte  sich  aber  nicht  damit,  sie  zu  peitschen,  sondern  schnitt 
ihnen  die  Ohren,  Nasen  und  Hände  ab.  Charlemagne  befahl,  den  Meineidigen 
die  rechte  Hand  abzuhacken.  Bis  1824  wurden  in  Frankreich  den  zum  Tode 
verurteilten  Eltemmördern  vor  dem  Vollzug  der  Todesstrafe  die  rechte  Hand 
oder  einzelne  Finger  der  rechten  Hand  abgeschnitten.  In  Korsika  (vor  der  Ver- 
einigung der  Insel  mit  Frankreich)  wurde  den  Münzenbeschneidern  beim  ersten 
Male  die  eine  Hand,  beim  zweiten  Male  die  andere  Hand  abgehackt ;  ein  drittes 
Verbrechen  derselben  Art  hatte  die  Todesstrafe  im  Gefolge.  In  Aragonien  wurde 


Finger  der  rechten  Hand  abgehackt;  Nach  Bolotows,  Er- 
zählungen aus  der  Zeit  des  siebenjährigen  Krieges  kann  rnsax 
annehmen,  daß  die  Russen  diese  Strafe  auch  an  hinterlistigen 
Feinden  vollzogen;  elf  preußischen  Bauern,  die  aus  einem 
Hinterhalt  auf  russische  Soldaten  geschossen  hatten,  wurden 
die  Finger  abgehackt.  Im  allgemeinen  schnitt  man  die  Finger 
der  linken  Hand  ab,  um  dem  Bestraften  nicht  die  Arbeits« 
möglichkeit  zu  rauben.  Olearius  erzählt,  daß  einmal  ein  Ver- 
brecher aus  dem  Bauernstände  verurtdlt  worden  war,  drei 
Finger  der  rechten  Hand  zu  verlieren;  aber  auf  Intervention 
des  Patriarchen,  der  vorstellte,  daß  ein  Bauer  bei. seiner  Be- 
schäftigung die  rechte  Hand  nicht  entbehren  könnte,  bewilligte 
das  Gericht  dem  Verurteilten  die  Umwandlung  der  Strafe: 
es.  wurden  ihm  nicht  die  Finger  der  rechten,  sondern  die  der 


einem  betrügerisdien  Bankier  die  Hand  abgehackt,  imd  das  abgehackte  Stfick 
nagelte  maa  an  die  Tür  aei^es  Kontors.  Papst  Siztus  V.  lieB  dem  Pasquino 
die  Hände  abschneiden  und  die  Zunge  durchbc^en,  um  ihn  am  Schreiben  wie 
am  Reden  zu  verhindern.  Die  Carolina  setzte  für  Falscheid  die  Amputatioa 
der  Han4  oder  der  Finger  fest.  Die  sächsischen  Gesetze  befahlen  für  Kirchea- 
schänduqg  uad  Gotteslästerung  das  Abhacken  der  Hände.  In  England  war  maa 
bei  dea  verschiedensten  Vergehen  in  Gefahr  die  Hand  zu  verlieren;  dies  drphi^ 
einem  bei  dem  kleinsten  Diebstahl,  im  1 2.  Jahrhundert  bei  den  geringsten  Jagd* 
vergehen;  Heinrich  VIII.  lieB  denjenigen,  die  im  Palast- oder  im  Gerichtshof 
den  Degen  zu  ziehen  wagten,  die  rechte  Hand  abhacken;  Königin  Elisabeth  ver- 
ordnete für  den  Export  von  Leinen  oder  Schafen  außer  Güterkcmfiskation  imd 
einjährigem. Gefängnis  Abhacken  der  linken  Hand  und  deren  Ausstellung  auf 
dem  Marktplatz.  Noch  im  18.  Jahrhundert  war  solche  Strafe  in  England  üblichw 
Außer  dem  Abhacken  der  Hände  kannte  man  in  verschiedenen  Ländern  auch; 
das  Annageln  der  Hände  (in  England  nagelte  man  dem  Verurteilten  die  rechte 
Hand  an  einen  Tisch  und  legte  auf  diesen  ein  Messer;  der  Mann  mußte  sich  mit 
Hülfe  der  linken  Hand  selbst  die  rechte  abhacken  oder  Hungers  sterben;  bei  dem 
Autodafe  in  Valladplid  im  Jahre  1636  wurden  den  Verurteilten  die. Hände  aa 
ein  Kreuz  genagelt,  und  in  dieser  Situation  mußten  sie  die  Verlesung  des  Urteils 
anhören ;  Muley  Ismael  von  Marokko  nagelte  zwei  Hehler  mit  den  Händen  an 
das  Stadttor  an  und  ließ  die  Angenagelten  Hungers  sterben);  das  Verbrennen 
der  Hände  (besonders  in  Frankreich  und  Holland  für  Königsmörder),  das  aller- 
dings vielfach,  so  bei  exotischen  Völkern,  nicht  als  Strafe,  sondern  als  Schuld- 
oder Unschuldsprobe  vollzogen  wurde.  Überall,  wo  man  die  Strafe  des  Ab- 
hackens  der  Hände  kannte,  existierte  auch  die  Strafe  des  Abhackens  der  Füße. 
(Dict  de  la  p^aUt6  IV  59  und  V  69.) 


—    109    — 

linken  Haiid  abgehackt.  Stets  wurden  aber  die  Finger  der 
rechten  Hand  abgehauen,  wenn  wegen  Meineid  die  Verur- 
teilung zu  dieser  Strafe  erfolgte;  die  Idee  der  Ahndung 
dieises  Verbrechens  erforderte  die  Bestrafung  des  Verbrechers 
an  jenen  Fingern,  die  er  zum  falschen  Schwur  erhoben  hatte. 
Peter  der  Große  befahl  jedoch  am  23.  Februar  1720:  für 
Meineid  soll  man  fortan  nicht  mehr  die  Finger,  sondern  die 
Nase  abschneiden. 

An  diese  Stelle  gehört  wohl  die  Bemerkung,  daß  man 
in  Rußland,  was  schon  von  Paulus  Jovius  und  Herberstein  ea:- 
zählt  wurde,  auch  das  Eintreiben  von  hölzernen  Stiften  unter 
die  Nägel  ins  Fleisch  kannte.  „Eine  fürchterliche  Gewöhn: 
heit,**  nannte  Karamsin  dies  (VII  163),  und  er  meint:  „sie 
war  den  Russen  von  dem  Joche  der  Tartaren  zugleich  mit 
der  Knute,  und  allen  übrigen  qualvollen  Strafen  zurück- 
geblieben.** Karamsin  war  von  einem  Vorurteil  befangen.  Die 
meisten  grausamen  Strafen  hatten  die  Russen  schon  vor  dem 
TartarenJQche  gekannt  und  geübt.  Das  Eintreiben  von  Stiften 
luiter  die  Nägel  wurde  übrigens  niemals  als  Strafe  für  sich 
verhängt^  sondern  war  gewöhnlich  ein  Mittel  der  Tortur. 

Schon  früher  ist  bei  der  Aufzählung  der  Fälle  von  Ab- 
hackung der  Hände  mehrmals  auch  das  Abhacken  der  Füße, 
OTciHeme  hofb,  erwähnt  worden.  Statt  der  Todesstrafe 
wurde  dem  Verbrecher  oft  der  Verlust  einer  Hand  und 
eines  Fußes  zudiktiert;  imd  diese  Gnade  hieß  in  den 
Ukasen  „Strafe  mit  Erbarmen**  (leasHB  c^b  nomaAOK)).  Daß 
sich  diese  erbarmungsvolle  Strafe  gewöhnlich  zu  einer  sol- 
chen gestaltete,  welcher  der  Tod  vorzuziehen  gewesen  wäre, 
geht  aus  einem  Berichte  des  Wojewoden  von  Solikamsk  aus 
dem  siebzehnten  Jahrhundert  hervor:  „Am  Räuber  Rodjka 
wurde  die  ihm  zudiktierte  „Strafe  mit  Erbarmen**  vollzogen: 
man  hieb  ihm  die  linke  Hand  bis  zum  Arm,  den  rechten  Fuß 
bis  zum  Knöchel  ab;  und  nach  dem  Vollzug  der  Strafe  starb 
dieser  Rodjka  schnell.**  Seit  dem  17.  Jahrhundert  verurteilte 
man  oft  zu  einer  kombinierten  Strafe,  nämlich  zum  Verlust 
einer  Hand  und  eines  Fußes,  oder  einer  Hand  und  beider 
Füße;   diese  kombinierte  Strafe   drohte   Falschmünzern,   Räu- 


—    110    — 

bern,  Bieben,  Kirchendieben  und  auch  Mördern,  die  man  nicht 
zum  Tode  verurteilen  wollte.  In  der  Epoche  vor  Peter  dem 
Großen  wurden  einem  deutschen  Ingenieur  in  russischen 
Diensten,  der  die  Absicht  geäußert  hatte,  nach  seiner  Heimat 
^zurückzukehren,  zur  Strafe  für  solchen  Wunsch  Arme  und 
Beine  zerbrochen  und  die  linke  Hand  abgehauen. 

Eine  seltener  kombinierte  Strafe  war  das  Abhacken  von 
Ohren  und  Nase  auf  einmal.  Peters  Kriegsreglement  droht 
solche  Strafe,  und  dies  als  bloße  Zugabe  der  Verbannung 
2ur  Zwangsarbeit,  für  einen  Diebstahl  im  Felde  oder  auf  dem 
Marsche  an,  wenn  der  Wert  des  Gestohlenen  zwanzig  Rubel 
übersteigt  I  Im  allgemeinen  war  das  Abhacken  von  Nase 
=und  Ohren  keine  Strafe,  sondern  eine  polizeiliche  Maßregel, 
eine  Brandmarkung  wie  die  Stempelung,  aber  sicherer  und 
unverwischbarer  als  diese.  Die  polizeiliche  Bedeutung  des 
Abreißens  der  Ohren,  OTpiaame  ymefi,  ist  zu  erkennen 
aus  dem  Gesetzbuch  Alexejs  (yjioaceme  1649  r.,  XXI.  19; 
Struwens  Landrecht  S.  209),  wo  es  heißt:  „so  sich  etwa 
mit  abgeschnittenen  Ohren  sehen  lassen  würden,  und  keine 
Schrift  diesfalls  vorzuzeigen  hätten,  soll  man  sie  festnehmen 
und  zu  dem  Wojewoden  bringen  und  im  Gefängnis  festhaken 
bis  zur  Aufklärung."  1683  befiehlt  ein  Ukas  die  Umwandlung 
der  Strafe  des  Abhackens  der  Finger  in  die  Strafe  des  Ab- 
reißens der  Ohren ;  dies  geschah  offenbar,  um  dem  Bestraf- 
ten die  Arbeitsmöglichkeit  zu  erhalten.  Ein  Ohr  oder  beide 
Ohren  werden  den  Dieben  und  Räubern  abgerissen.  1657 
befiehlt  ein  Urteil,  die  Ohren  einem  Manne  abzureißen,  der 
einen  Todschlag  in  der  Trunkenheit  und  im  Handgemenge 
begangen  hat.  Peters  Kriegsreglement  behält  das  Abreißen 
der  Ohren  als  Erkennungsmaßnahme  bei.  Außer  Dieben 
wurden  fortan  auch  Falschmünzern  und  Räubern  die  Ohren 
abgerissen,  und  dies  kommt,  wenn  auch  immer  seltener,  noch 
bis  zu  Ende  des  18.  Jahrhunderts  vor.  So  schreibt  Graf  Panin 
am  I.  Oktober  1774,  als  er  während  des  Pugatschewschen 
Aufruhrs  ein  im  Aufstand  befindliches  Dorf  des  Grafen  Schu- 
walow  besetzen  muß,  an  den  Letztgenannten:  „Graf  Schu- 
walow  möge  nicht  zürnen,  daß  ich  dem  Popen  den  Kopf 
abgeschnitten     und     einigen     anderen     die    Ohren     gestutzt 


—  111  — 

habe."     Das    ist    eins    der    letzten  Dokumente    dieser   Maß- 
regel.i) 

Das  Verstümmeln  der  Nase,  OTciHeme  Hoca,  dauerte 
länger  an.  Man  begegnet  dieser  Grausamkeit  in  Rußland 
schon  in  frühen  Jahrhunderten.  Alexander  Newskij  ließ  im 
dreizehnten  Jahrhundert  den  Genossen  seines  aufrührerischen 
Sohnes  die  Nasen  abschneiden.   Die  Praxis,  Staatsverbrecher 


^-  r  1)  Das  Abschneiden  von  Ohren  und  Nase  war  bei  den  meisten  Völkern 
als  Strafe  für  verschiedene  Vergehen  in  Gebrauch,  so  bei  den  alten  Chinesen. 
Von  Aktisanes,  dem  Eroberer  von  Ägypten  und  König  von  Äthiopien«  wird  be- 
richtet, daß  er  allen  Dieben  die  Nase  abschneiden  und  die  Verstümmelten  in 
eine  eigens  für  sie  erbaute  Stadt  verbannen  ließ.  Im  Königreich  Aschem  schnitt 
man  für  die  leichtesten  Vergehen  Ohren,  Nase  und  Oberlippe  ab;  man  mußte 
dem  Henker  Trinkgeld  geben,  damit  er  die  Prozedur  schnell  vollführte.  In  der 
Türkei  wurden  die  Händler  für  falsches  Gewicht  mit  den  Ohren  an  die  Tür  ihrer 
Bude  genagelt.  In  Persien  strafte  man  besonders  die  kleinen  Diebe  durch  Ab- 
schneiden der  Ohren  und  der  Nase.  Schach  Sefi,  der  seinen  Großwesir  mit  eigener 
Hand  getötet  hatte,  ließ  einen  Dichter,  der  fälschlich  angeklagt  war,  diese 
Grausamkeit  des  Herrschers  öffentlich  in  Versen  geschildert  zu  haben,  auf  den 
Marktplatz  führen  und  vor  allen  Volke  der  Zunge,  der  Hände,  der  Füße,  schließ- 
lich der  Nase  und  der  Ohren  berauben.  Im  Frankreich  alter  Zeit  wurde  den  Leib- 
eigenen für  das  leichteste  Vergehen  die  Nase  abgeschnitten;  der  Gebrauch  er- 
hielt sich  dann  in  den  französischen  Kolonien  noch  bis  1820!  Louis  IX.  ließ 
einem  Bürger  von  Paris,  der  falsch  geschworen  hatte,  die  Nase  abschneiden  und 
sie  kochen.  1525  wurde  einem  Manne,  der  heilige  Statuen  in  Paris  umgestürzt 
hatte,  die  Nase  abgerissen  und  das  abgeschnittene  Stück  verbrannt.  Die  fran- 
zösischen Äbte  straften  auf  ähnliche  Weise  ihre  Mönche.  Den  merkwürdigsten 
Anlaß  für  diese  Art  Strafe  nahm  Chilperic  I. :  er  ließ  zwei  Schulmeistern,  die  sich 
der  vom  König  vorgeschlagenen  Orthographie  nicht  anbequemen  wollten,  die 
Ohren  abschneiden.  Auch  Päpste  bedienten  sich  solcher  Straf  mittel:  Johann  XII. 
ließ  allen,  die  zu  seiner  Absetzung  beitragen  wollten,  die  Nase  abschneiden.  Für 
politische  Verbrechen  >yar  dies  auch  schon  in  Mazedonien,  in  Rom  und  Byzanz 
in  Gebrauch  gewesen,  wogegen  einige  wilde  Völker  auf  diese  Weise  weibliche 
Untreue  ahndeten.  In  England  wurde  für  Insubordination  dem  Widerspenstigen 
die  Nase  abgeschnitten.  Friedrich  Wilhelm,  Vater  Friedrichs  des  Großen,  be- 
strafte Deserteure  durch  Abschneiden  von  Nase  und  Ohren.  Die  Carolina  be- 
fahl, den  Kupplerinnen,  welche  verheiratete  Frauen  zu  schlechtem  Lebens- 
wandel verleiteten,  die  Ohren  abzureißen.  Saint-Edme  erzählt  in  seinem  Dic- 
tionnaire  de  la  p6nalit6  (IV  467)  von  einem  unzivilisierten  Volke,  das  zum  Feste 
des  Götzen  abgeschnittene  Nasen  bringt,  um  sie  im  Tempel  an  einer  Schnur 
aufzuhängen.  In  Spanien  verbrannte  man  1781  eine  Frau  wegen  ihrer  Ver- 
bindung mit  dem  Teufel.  Damit  die  Schöne  auf  dem  Gang  zum  Scheiterhaufen 
nicht  ^ie  Leute  bezauberte,  schnitt  man  ihr  die  Nase  ab. 


—    112    — 

auf  diese  Weise  zu  kennzeichnen,  erhielt  sich  bis  zum   17. 
Jahrhundert.   Nach  den  Mitteilungen  Herbersteins  schnitt  man 
im    16.   Jahrhundert  auch  den  Dieben   ein   Stück   der   Nase 
ab;   das  Gesetzbuch  Alexejs  droht  das  Abschneiden  der  Nase 
denjenigen  an,  die  zum  dritten  Male  beim  Tabakyerkauf  er- 
tappt werden.    Die  größte  Bedeutung  erlangte  das  Verstüm- 
meln der  Nase  in  der  Zeit  Peters  des  Großen.    Dieser  Herr- 
scher befahl    1705:    „Gefangene  aller  Grade,   Leute,  die  für 
Staatsverbrechen,  Diebstähle,  Ränke,  Todschlag  und  Unruhe- 
stiftung verhaftet,  aber  nicht  zur  Todesstrafe  verurteilt  worden 
sind,  sind  vor  ihrer  Verbannung  zu  ewiger  Zwangsarbeit  mit 
dem  Stempel  zu  brandmarken  und  durch  das  Ausschneiden 
der    Nasenlöcher  (Bup'bdaHie  H03;^peö)  kenntlich  zu  machen, 
damit    ihnen    die    Flucht     aus     der    Verbannung    erschwert 
werde.    Letzteres  war  der  Hauptzweck;    also  eine  polizeiliche 
Maßregel  wie  die  Stempelung,  nur  schmerzhaft  und  arg  ver- 
unstaltend.  Peters  Ukas  von  1724  befiehlt:  „Die  Nasenlöcher 
bis  auf  die  Knochen  ausschneiden."  Von  1757  ab  wird  diese  Ver- 
unstaltung nur  noch  Männern  zugefügt,  Frauen  sollen  ihr  nicht 
mehr  unterzogen  werden,  weil  „nicht  zu  befürchten,  daß  Frauen 
aus  so  entfernten  Gegenden  entfliehen."    Noch  das  Reform- 
projekt vom  Jahre  1813  behielt  diese  Maßregel  bei,,  als  das 
beste  Mittel,  den  Verbannten  an  den  Ort  seiner  Verbannung 
zu  fesseln.   Die  Verwaltung  unterschied  zwischen  gefährlichen 
und  weniger  gefährlichen  Verbrechern  unter  den  Verbannten; 
nur  die  gefährlichen  sollten  so  furchtbar  gezeichnet  werden. 
Die   russische   Auffassung   von  besonderer   Gefährlichkeit   ist 
allerdings  überaus  dehnbar:    1727  werden  dem  Soldaten  Zi- 
gassow,  der  eines  Totschlags  beschuldigt  wird,  die  Nasenlöcher 
aufgeschlitzt.    1737  verurteilt  man  den  Offizier  Wosnizyn  für 
Mordtat  zum  Knut  und  zur  Brandmarkung  durch  Aufschlitzen 
der  Nase.    1753  wird  der  Raßkoljnik  Jakowlew  wegen  Kirchen- 
lästerung mit  aufgeschlitzter  Nase  nach  dem  Ssolowezkischen 
Kloster  verbannt.    1759  wird  dem  Bauer  Stepanow,   der  ein 
minderjähriges  Mädchen  geschändet  hat,  die  Nase  aufgeschlitzt. 
1762    erläßt   die  philanthropische   Kaiserin   Katharina   II.   fol- 
genden  Befehl:    „Dem   Kasaken  Terechow   soll   man   wegen 
lügenhafter  Anklage   und  unnütze  Bemühung  Ihrer   Majestät 


—    113    — 

die  Nasenlöcher  aufschlitzen."  Der  berühmte  Detektiv  Wanjka 
Kain,  von  dem  im  vorigen  Kapitel  erzählt  wurde,  erhielt  beim 
Beginn  seiner  Karriere,  die  er  bekanntlich  als  Dieb  anfing, 
statt  der  Todesstrafe  den  Knut  und  als  Zugabe:  die  Nasen- 
löcher aufgeschlitzt.  1771  wurden  den  Hauptanstiftern  der 
Bauemunruhen  die  Nasenlöcher  geschlitzt.  Das  gleiche  ge- 
schah 1773  den  Teilnehmern  des  Pugatschewschen  Aufstandes. 
1794  verurteilte  man  zwei  Assignatenfälscher  zur  Nasenzer- 
reißung. 1796  ließ  Paul  zwei  Betrügern  die  Nase  auf- 
schlitzen. Seit  Aufhebung  der  Todesstrafe  wurde  allen,  die 
statt  der  Todesstrafe  Verbannung  und  Zwangsarbeit  zugeur- 
teilt  erhielten,  die  Nase  aufgeschnitten.  Der  Henker  vollzog 
die  Aufschlitzung  mit  einer  besonderen  Schere,  mit  der  er 
das  Fleisch  bis  zu  den  Knochen  ausriß.  Nach  Beschreibung 
von  Augenzeugen  solcher  Exekutionen  ähnelte  die  Schere  einer 
Haarschneideschere;  der  Henker  stieß  die  eine  Hälfte  der 
Schere  in  das  Nasenloch,  drückte  die  andere  von  außen  an 
und  arbeitete  gemächlich,  bis  er  sein  Werk  vollführt  hatte. 
Doch  konnte  man  ihn  bestechen,  um  eine  Abkürzung  der 
qualvollen  Prozedur  zu  erlangen. 


33.  Prügelstrafen  undZüchtigungsinstrumente 

statt  Todesstrafe  Knut  —  Geschichte  der  körperlichen  Züchtigungen  in  Ruß- 
land —  Angeblich  tartarischer,  tatsächlich  originalrussischer  Ursprung  —  Die 
Untersuchungen  des  Professors  Timofejew  —  Dokumente  aus  russischen 
Annalen  —  Die  Geistlichkeit  verordnet  Gliederstrafen  —  Einfluß  der  tar- 
tarisch-mongolischen  Sitten  —  Die  Körperstrafen  Stützen  der  Fürstenmacht  — 
Geistlichkeit  und  Körperstrafen  —  Sittlichkeitsverbrechen  von  der  Geistlich- 
keit gerichtet  —  Glaubensheldentaten  des  Erzbischofs  Nektarij  —  Ra  uhe 
Sitten  der  Gesellschaft  —  Die  Roheit  im  Familienleben  —  Der  Domostroj  — 
Peter  reformiert  durch  Prügel  —  Der  Schrecken  als  Verwaltungsmittel  —  Neue 
Strafmittel  —  Neue  Verbrechen  —  Trotz  der  Gezüchtigten  —  Bestrafung 
Minderjähriger  —  Die  Geistlichkeit  gegen  Barmherzigkeit  —  Bestrafung  der 
Leibeigenen  —  Alle  Klassen  der  körperlichen  Züchtigung  unterworfen  —  Ge- 
schlagen werden  ist  keine  Schande  —  Mildere  Schläge  für  Vornehmere  — 
Situation  des  Soldatentums  —  Die  Polizei  ruft  nach  dem  Prügel  —  Der  Adel 
sekundiert  der  Polizei  —  Abschaffung  der  Körperstrafen  —  Wiedererscheinen 
Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.     **  8 


—    114    — 

der  Züchtigungen  —  Trepow  Vater  und  Sohn  als  Geißeln  des  Volkes  —  Züch- 
tigung der  Revolutionäre  —  Die  Züchtigungsinstrumente  —  Der  Knut  —  Be- 
schreibung des  Knut  —  Wofür  man  geknutet  wurde  —  Der  Knut  in  den  Ostsee- 
provinzen und  in  Kaukasien  unbekannt  —  Die  öffentliche  Züchtigung  —  Der 
Knut  als  höchste  Strafe  —  Die  drei  Arten  der  Exekution  —  Das  einfache 
Knuten  —  Das  Knuten  im  Herumführen  —  Auf  dem  Bock  oder  der  Stute  — 
Zeremonie  bei  der  Exekution  —  Anzahl  der  Schläge  —  Der  Knut  als  Todschläger 

—  Der  Knutenmeister  —  Verteidiger  des  Knut  —  Die  Strafe  der  Batogi  —  Ver- 
anlassungen zu  dieser  Bestrafung  —  Seltsamkeiten  —  Batogi  Strafe  für  Sitt- 
lichkeitsverbrechen —  Batogi  für  Steuerschulden  —  Die  Stöcke  —  Stock  und 
Rute  —  Der  Stock  in  der  Armee  —  Die  Peitsche  (Pletj)  —  Pletj  statt  Knut  — 
Pletj  und  Batogi  —  Beschreibung  des  Pletj  —  Die  Rolle  des  Pletj  bei  der  Geist- 
lichkeit —  Peitschenstrafe  für  Ehebruch  —  Zahl  der  Peitschenhiebe  —  Schelepy 

—  Bedeutung  der  Peitsche  im  häuslichen  Leben  —  Das  Peitschen  der  Leib- 
eigenen —  Das  Peitschen  in  der  Schule  und  in  der  weltlichen  Gerichtspraxis  — 
Veranlassungen  zur  Peitschenstrafe  —  Die  zwei  Arten  des  Pletj  —  Pletj  fast  so 
schwer  wie  Knut  —  Pletj  für  Staatsverbrechen,  Blutschande,  Sodomie  —  Pletj 
als  höchste  Körperstrafe  nach  dem  Knut  —  Pletj  als  Polizeistrafe  —  Der  Pletj 
von  1906  —  Koschki  oder  Kätzchen  —  Block  —  Fesseln  und  Ketten  —  Linjki 
oder  Taue  —  Militärische  Strafen  —  Aus  Peters  Kriegersreglement  —  Niko- 
lajs  I.  Militärsträfen  —  Spießrutenlaufen  —  Zeremonie  dieser  Strafe  —  12000 
Schläge  —  Geschichte  der  Spitzruten  in  Rußland  —  Die  Rute  in  Rußland  —  Die 
Rute  in  den  baltischen  Provinzen  —  Rutenstrafe  für  Sodomie  —  In  Kleinrußland 
Rutenstrafe  für  Kuppelei  —  Herrschaft  der  Rute  in  Rußland  —  2^hl  der 
Rutenhiebe  —  Die  Rute  in  der  Schule  —  Rutenstrafen  in  der  Gegenwart. 

Schon  vor  der  Aufhebung  der  Todesstrafe  ersetzte  man 
diese  gnadenweise  manchmal  durch  den  Knut,  als  die  der  Todes- 
strafe nächstschwere  Strafe.  Schon  vor  anderthalb  Jahrhunder- 
ten wurde  in  Rußland  die  Todesstrafe  abgeschafft.  Lange 
vor  Leopold  von  Toskana,  ein  Jahrzehnt,  bevor  der  Mailänder 
Kriminalist  Beccaria  für  die  Abschaffung  der  Todesstrafe  plä- 
dierte, früher  als  in  jedem  anderen  Lande  Europas  kam  in 
Rußland  die  Ansicht  zur  Geltung,  daß  der  irdische  Richter 
nicht  das  Recht  habe,  einem  Menschen  das  Leben  zu  nehmen. 
Und  doch  blieb  Rußland  in  seiner  Strafrechtspflege  der  grau- 
samste aller  Staaten.  Was  half  es,  daß  die  Todesstrafe  aus 
dem  Gesetze  verbannt  war,  solange  der  Knut  Tausende  zu 
Tode  schmetterte  imd  die  administrative  Verbannung  Hun- 
derttausende mit  barbarischer  Quälerei  zu  langsamem  Ver- 
derben verdammte!  Das  Reich,  wo  es  seit  anderthalb  Jahr- 
hunderten  keine   Todesstrafe  mehr  gibt,   war  hundert  Jahre 


—    115    — 

nach  Aufhebung  der  Todesstrafe  noch  das  Land  des  Knut,  ist 
heute  noch  das  Land  der  Rute,  der  Kosaken-Nagaika.  In 
anderen  Staaten  gab  es  noch  im  neunzehnten  Jahrhundert 
Räderungen  und  Verbrennungen  bei  lebendigem  Leibe,  gibt 
es  noch  heute  Galgen,  Guillotine  und  Schaffot;  in  Rußland 
bedroht  den  gemeinen  Verbrecher  keine  Todesstrafe.  Aber 
was  war  der  Knut  anderes  als  der  Todbringer?  „Man  ver- 
dammet selten,**  heißt  es  bei  einem  Reisenden  des  siebzehn- 
ten Jahrhunderts  1),  „die  Übelthäter  zum  Tode  und  lässt  sich 
an  den  Geissein  vergnügen :  allein  in  Russen  ist  es  eine  ärgere 
Straff  als  der  Tod  Selbsten."  Man  versöhnte  die  Milde  des 
geschriebenen  Gesetzes  mit  der  traditionellen  Wildheit  der 
Regierungssitten.  Man  verurteilte  einen  Verbrecher  oder  einen 
unbequemen  Menschen  zu  hundert  Knutenhieben  und  mehr: 
der  Henker  verstand  den  Wink  und  tötete,  wenn  er  menschlich 
fühlte,  den  Delinquenten  schon  mit  dem  dritten  Hieb.^) 

Kein  Gebiet  des  sozialen,  wirtschaftlichen  oder  politischen 
Lebens,  in  dem  nicht  Knut  und  Peitsche  ihre  Herrschaft  aus- 
geübt hätten.  Auf  dem  Throne,  in  den  Ministerien,  bei 
Gericht,  bei  der  Polizei  imd  dem  Militär  regierten  die 
Peitsche  und  der  Stock.  Jahrhunderte  lang  kannte  das  rus- 
sische Gesetz  als  einzige  Formel  aller  Urteile  nur  zwei  Worte 
oder  drei  Worte:  6hti>  KHyTOKTB,  mit  dem  Knut  schlagen; 
ÖHTb  KHyTOM'b  HemaAHO,  unbarmherzig  mit  dem  Knut 
schlagen.  „Woher  dieses  Vorherrschen  der  Körperstrafen  in 
Rußland?**  fragt  Leroy-Beaulieu^)  und  er  antwortet  selbst 
darauf:  „Man  hat  die  Ursache  in  der  weit  zurückliegenden 
Vergangenheit  gesucht,  die  Verantwortlichkeit  der  Mongolen- 
herrschaft aufgebürdet.**  Diese  Ansicht  ist  falsch,  überholt. 
Der  Russe  Karamsin  hat  sie  ausgesprochen,  um  Rußland  von 
der  Schmach  solchen  Ursprungs  zu  befreien.  „Der  Russe 
aus  Jaroslaws  Zeit,**  sagte  dieser  Historiker,  „kannte  Schläge 
nur  bei  einer  Prügelei.  Erst  das  tartarische  Joch  führte  körper- 
liche Strafen  ein.   Erst  seither  wurde  man  für  ersten  Diebstahl 


1)   Reise  nach  Norden,   S.    191. 

*)   La  Russic   en    1839,   par  le   Marquis  de   Custine   II    127. 

^)  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen.    II  339. 

8* 


—    116    — 

gebrandmarkt,  für  Staatsverbrechen  geknutet."  Maximowitsch 
meinte,  daß  die  Slawo-Russen  eine  entschiedene  Abneigung 
gegen  Körperstrafen  jeder  Art  hatten;  „erst  nach  dem  drei- 
zehnten Jahrhundert,  seit  dem  tartarischen  Joch  sind  infolge 
der  Verhärtung  der  Herzen  und  der  Erniedrigung  des  Volkes 
Körperstrafen  möglich  geworden.**  Leontowitsch  behauptet  ge- 
radezu: ,,Die  russischen  Fürsten  sanktionierten  einfach  die 
mongolischen  Strafen.**  Aber  Stock  und  Peitsche  sind  seit 
uraltersher  Attribute  der  Strafrechtspflege  fast  aller  slawischen 
Nationen.  Selbst  bei  denjenigen  Slawen,  die  niemals  unter 
mongolischer  Herrschaft  gewesen,  waren  körperliche  Züchti- 
gungen mehr  im  Gebrauch  als  bei  irgend  einer  anderen  euro- 
päischen Nation.  Diese  körperlichen  Züchtigungen  sind  so- 
gar noch  heutigen  Tages  als  eine  alte  Gewohnheit  bei  den 
schlesischen  und  posenschen  Deutchen  zu  finden;  auch  bei 
den  Wenden  in  der  Lausitz  waren  sie  länger  heimisch,  als 
bei  den  Deutschen,  die  mit  ihnen  unter  einem  Gesetz  standen. i) 
Was  nun  speziell  die  Russen  anbelangt,  so  hat  einer  der  neuesten 
Forscher,  der  vorurteilslose  russische  Professor  Timofejew,  den 
überzeugenden  Beweis  geliefert,  daß  die  Glieder-  und  Prügel- 
strafen in  Rußland  so  alt  sind  als  Rußland  selbst.^)  Nament- 
lich Sklaven  züchtigte  man  schon  lange  Zeit  vor  dem  tartarischen 
Joch.  Im  elften  und  zwölften  Jahrhundert,  von  der  Epoche 
des  heiligen  Wladimir  angefangen,  ließen  die  Fürsten  Räuber 
prügeln.  Die  interessantesten  Tatsachen  liefert  die  Geschichte 
der  russischen  Geistlichkeit.  Aus  allcrfrühcster  Zeit  ist  ein 
geistliches  Gesetz  bekannt,  das  für  zahlreiche  Verbrechen  der 
Geistlichen  Körperstrafen  festsetzte.  Schon  im  elften  Jahrhun- 
dert findet  in  der  Gerichtsbarkeit  des  Klerus  die  Gliederstrafe 
Anwendung:  ein  Dokument  aus  jener  Zeit  erzählt,  daß  der 
Nowgoroder  Bischof  Luka  Schidjäta  einem  Leibeigenen  zur 
Strafe  für  ein  Vergehen  beide  Hände  und  Füße  abzuhacken 
befahl.  Der  Bischof  Theodorcs,  ein  Grieche,  geht  auf  solche 
byzantinisch-grausame  Weise    im    zwölften  Jahrhundert    nicht 


1)  J.  G.  Kohl,  Südrußlaiul.     III  332. 

■*)  Tn>io(|K^('iri>,    iKTopin   Tt>.i«*cin>ixi.   naKaaaiiiii    irr.   pvcniuMh   iJi)airIi.     Cxp. 
49 — 129:  IIcpioAii  paaBiiTiii  11  ruciin,icTiui  rkuriiux'b  iiaKuaaiiiil. 


—     117    — 

bloß  mit  den  Leibeigenen,  sondern  auch  mit  den  Geistlichen 
um.  Aus  dem  elften  Jahrhundert  kennt  man  einen  Erlaß, 
der  die  Körperstrafe  für  einen  Cholop  (Leibeigenen),  der  einen 
Freien  geschlagen  hat,  festsetzt.  Endlich  ist  schon  in  ältesten 
russischen  Urkunden,  wie  wir  später  sehen  werden,  speziell 
vom  Knut  die  Rede.  Namentlich  im  littauischen  Rußland  ist 
die  Körperstrafe  schon  in  der  Zeit  vor  dem  tartarischen  Joch 
festgestellt.  Indem  er  alles  dies  zusammenfaßt,  konstatiert  Timo- 
fejew,  daß  die  Körperstrafen  in  Rußland  schon  vor  der  tar- 
tarischen Epoche  bekannt  waren ;  doch  wurden  sie  wahrschein- 
lich verhältnismäßig  selten  angewandt,  weil  sich  die  vor- 
nehmeren und  wohlhabenderen  Leute  ihnen  durch  Loskauf, 
die  niederen  aber  durch  Annahme  temporärer  Leibeigenschaft 
entziehen   konnten. 

Selbstverständlich  ist  es,  daß  die  mongolisch-tartarischen 
Sitten  auf  die  ohnehin  zur  Grausamkeit  neigende  russische 
Strafjustiz  nicht  mildernd  wirkten.  In  der  Horde  strafte  man 
mit  Foltern  und  mit  Stöcken.  Marco  Polo  erzählt,  wie  die 
mongolische  Stockstrafe  häufig  den  Tod  herbeiführte,  und 
Plano-Carpini  sagt  von  den  Tartaren :  „Sie  sind  so  hartherzig, 
daß  sie  weder  mit  Greisen  noch  mit  Knaben  Mitleid  haben. 
Die  einen  stürzt  man  vom  Berge  herunter,  anderen  schlägt 
man  mit  einem  Stein  den  Kopf  in  Trümmer  oder  man  bricht 
ihnen  das  Genick.**  Man  verurteilte  in  der  Horde  bis  zu 
hundert  Stockschlägen  auf  den  Rücken.  Jede  Beleidigung  der 
Obrigkeit  und  jeder  Ungehorsam  gegen  sie  wurde  mit  Kör- 
perstrafen geahndet.  y\scellinus  erwähnt  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert, die  allgemein  gebräuchliche  Strafe  in  der  Horde  sei 
das  Abreißen  der  Haut.  Aber  die  mongolisch-tartarischen 
Einflüsse  dürfen  nicht  überschätzt  werden.  Die  Chane  ließen 
dem  russischen  Reiche,  nachdem  sie  es  erobert  hatten,  die 
Selbstverwaltung  und  forderten  bloß  Tribut.  Besonders  schwer 
war  eigentlich  nur  das  Joch  der  ersten  zwanzig  Jahre ;  schon 
mit  der  Thronbesteigung  des  Berke  Chan  im  Jahre  1262  begann 
für  Rußland  eine  fühlbare  Erleichterung.  Nach  dem  Zeug- 
nisse des  Historikers  Ssolowjew  gab  es  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert im  Norden,  ausgenommen  in  Kursk,  nicht  einmal 
mehr  chanische  Beamte.    Das  Joch  blieb  also  wohl  nicht  ganz 


—    118    — 

ohne  Einwirkung  auf  die  sittlichen  Verhältnisse  in  Rußland, 
aber  gewiß  ist  es,  daß  es  nicht  die  einzige  Quelle  für  die 
furchtbare  Grausamkeit  der  russischen  Regierungen  war,  nicht 
der  Ursprung  des  Blutstromes,  der  sich  unaufhaltsam  durch 
alle  Gebiete  der  russischen  Verwaltung  ergoß.  Die  russischen 
Fürsten  waren  trotz  der  chanischen  Oberherrschaft  örtliche 
Herrscher  geblieben,  sie  übten  daheim  alle  Rechte  und  Ge- 
walt aus  und  sahen  aus  eigenem  Antrieb  nur  in  den  grau- 
samsten Strafen  die  sichersten  Mittel  ihrer  Macht. 

Mit  den  Fürsten  wetteiferte  die  Geistlichkeit.  Dies  ist 
ein  besonders  bemerkenswerter  und  charakteristischer  Beweis 
für  die  natürliche  Grausamkeit  der  Russen  und  den  russisch- 
originellen Ursprung  der  Prügelstrafen.  Die  Geistlichkeit  wurde 
von  den  Tartaren  nicht  bedrückt,  vielmehr  mit  bedeutenden 
Privilegien  ausgestattet.  Der  Metropolit  Peter  erhielt  vom 
Chan  Usbek  das  Recht,  nicht  bloß  die  kirchlichen  Güter  zu 
verwalten,  sondern  auch  seine  Leute  in  allen  Dingen  zu  rich- 
ten. Und  wie  gut  nützt  der  Klerus  seine  Privilegien!  Für 
alle  möglichen  kirchlichen  Verbrechen  wird  die  Todesstrafe 
dekretiert.  Das  tartarische  Joch  existierte  längst  nicht  mehr, 
aber  die  wild-asiatische  Grausamkeit  der  Geistlichkeit  dauerte 
fort.  Seit  dem  siebzehnten  Jahrhundert  war  der  Patriarch  der 
Ratgeber  des  Zaren,  der  wahre  Vize-Zar.  Kotochischin,  dieser 
von  europäischem  Geiste  erfüllte  russische  Sittenschilderer  des 
siebzehnten  Jahrhxmderts,  erzählt,  daß  der  Patriarch,  die  Metro- 
politen, die  Erzbischöfe,  Bischöfe  und  Klöstervorsteher  wie 
der  Zar  selbst  über  die  Bauern  ihrer  Gebiete  herrschten  und 
in  allen  Dingen,  Räubereien  ausgenommen,  Urteile  fällten 
und  Strafen  verhängten.  Aber  auch  außerhalb  des  Kreises 
ihrer  Bauern  übten  sie  Jurisdiktion;  in  allen  Kirchenange- 
legenheiten unterstanden  ihren  Urteilen  nicht  bloß  die  Geist- 
lichen, auch  weltliche  Personen  mußten  dem  geistlichen  Ge- 
richt gehorchen.  Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit  nament- 
lich, ob  von  Geistlichen  oder  von  Laien  verübt,  gehörten  vor 
das  geistliche  Gericht.  So  verhängt  letzteres  1689  über  einen 
Mädchenschänder  eine  schwere  körperliche  Züchtigung.  Den 
stärksten  Gebrauch  von  Körperstrafen  macht  der  Klerus  gegen 
seine  eigenen  Mitglieder.   Der  Erzbischof  Jossif  von  Kolomna 


—    119    — 

verordnet  für  die  geringsten  Vergehen  seiner  höheren  Kleriker : 
Pletj  (njieTB,  Peitsche),  Schelep  (inejieni>,  eine  andere  Art 
aus  Bast  geflochtene  Peitsche),  Fesselung  mit  Ketten.  Die 
simplen  Popen  läßt  er  nackt  ausziehen  und  dann  mit  dem 
Pletj  bearbeiten.  Jedes  seiner  Urteile  schließt  mit  dem  Aus- 
ruf: Grausam  schlagen  I  Ein  feines  Bild  dieser  Sitten  ent- 
rollt das  liebenswürdige  Schreiben  des  ehrwürdigen  Nektarij, 
Erzbischofs  von  Sibirien  und  Tobolsk,  an  einen  seiner  Gönner 
am  Hofe  des  Zaren  Michael  Feodorowitsch ;  es  berichtet  fol- 
gendermaßen über  die  Glaubensheldentaten  dieses  Kirchen- 
fürsten auf  asiatischem  Boden:  „Im  Ganzen  verteilte  ich 
während  dieser  zwei  Jahre  1430  mal  Schläge.  Ich  lehrte  mit 
Krücken;  aber  ich  schlug  nicht  bloß  mit  hölzernen,  sondern 
auch  mit  eisernen.  Und  so  rettete  ich  die  Seelen.**  Erst  im 
achtzehnten  Jahrhundert  fängt  man  an,  sich  solcher  Barbarei 
zu  schämen.  Der  Moskauer  Erzbischof  Piaton  erklärt,  man 
gehe  mit  den  Klosterleuten  zu  schlimm  um;  er  verbietet, 
ohne  Zustimmung  aller  Brüder  oder  wenigstens  der  Häupter 
des  Klosters,  körperliche  Züchtigungen  zu  verhängen.  Man 
würde  versucht  sein,  anzunehmen,  daß  diese  Grausamkeiten 
des  Klerus  dem  Herkommen  der  byzantinischen  Kirche  ent- 
sprachen. Aber  sie  fielen  jedenfalls  wunderbar  zusammen  mit 
der  russischen  weltlichen  Praxis  und  stimmten  mit  den  ge- 
samten sittlichen  Verhältnissen  aller  Klassen  der  russischen 
Gesellschaft  überein.  Wir  kennen  bereits  zur  Genüge  den  Cha- 
rakter der  Herrscher  und  Herrscherinnen,  der  Minister  und 
Gouverneure.  Nicht  anders  geartet  sind  alle  Schichten  des 
Volkes.  Schlägereien  und  Zank  sind  selbst  in  der  vornehmsten 
Gesellschaft,  in  den  höchsten  Sphären  der  Verwaltung  durch- 
aus nichts  Seltenes.  Das  Familienleben  und  die  Beziehungen 
der  Familienmitglieder  zu  einander  sind  ebenfalls  durch  grau- 
same Gebräuche  geregelt.  Der  „Domostroj**,  das  klassische 
Hausbuch    des    sechzehnten    Jahrhunderts  \),     empfiehlt    dem 


^)  Der  /l,uM(»(Ti)uft,  das  Buch  von  der  Haushaltung,  ist  das  merkwürdigste 
Denkmal  der  russischen  didaktischen  Literatur  des  16.  Jahrhunderts.  Das 
Wort  Domostroj  kann  durch  Ökonomie  wiedergegeben  werden.  Das  Buch  ist 
der  Kodex  praktischer  Lebensweisheit  und  bürgerlicher  Moral,  wie  sie  nicht  nur 


—    120    — 

Familienoberhaupt:  „zur  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  im 
Hause  Schläge  auszuteilen  und  Wunden  zuzufügen.**  Für  jede 
Schuld  gebühren  Schläge,  sagt  der  Domostroj;  „aber  man 
hüte  sich  das  Ohr  zu  treffen,  noch  schlage  man  ins  Gesicht 
oder  unter  dem  Herzen ;  man  soll  weder  mit  dem  Fuße  stoßen 
noch  mit  dem  Possoch  (0000x1»  ein  spitzer  Stab)  stechen, 
denn  hiervon  entstehen  Blindheit  und  Taubheit.**  Der  Stock 
ist  der  wahre  Hausregent;  die  Bücher  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts sagen:  „»esjTB  (der  Stab  oder  Stock)  ist  der  Er- 
zeuger guter  Kinder.**  Der  Vater  soll  seine  Kinder  nicht 
schwach  schlagen;  wer  die  Knaben  in  der  Jugend  tüchtig  zu 
gerben  versteht,  der  wird  von  seinen  Kindern,  wenn  sie  er- 
wachsen sind,  nicht  schlechter  Erziehung  beschuldigt  werden ; 
„Gott  selbst,  der  alles  vermögende,  hat  solchen  Gebrauch  des 
Züchtigens  gezeigt.**  Ein  Gedicht  zu  Ehren  der  Rute  verfaßte 
Simeon  Polozkoj,  der  Lehrer  der  Kinder  des  Zaren  Alexej 
Michajlowitsch.  Und  einer  der  frühesten  Dramendichter  des 
achtzehnten  Jahrhunderts,  Danilo  Tuptalo,  als  Erzbischof  von 
Rostow  Dmitrij  der  Heilige  benannt,  schrieb  an  seine  Schüler : 
„Kinder,  Kinder,  ich  höre  Schlechtes  über  euch;  wer  sich  auf- 
lehnt, wird  gezüchtigt  werden  mit  der  Peitsche  !** 

An  erster  Stelle  steht  die  Gewalt.    Schlagen  ist  das  normale 
Heilmittel  für  alle  Übel.   Der  Stock  und  die  Peitsche  sind  Stütze 


das  16.  Jahrhundert  im  besonderen,  sondern  das  ganze  russische  Leben  und  die 
russische  Kultur  seit  den  ältesten  Zeiten  herausgearbeitet  haben.  Das  Buch 
wurzelt  tief  in  der  altrussischen  Weltanschauung  und  kann  als  deren  Spiegel 
betrachtet  werden.  Die  darin  enthaltenen  Regeln  und  Vorschriften  sind  von 
Jahrhunderten  angesammelt,  von  der  Tradition  sanktioniert,  längst  in  der  Praxis 
angenommen  und  erprobt  worden.  Wahrscheinlich  ist  der  Domostroj  eine 
Kompilation  aus  früheren  Didaktiken ;  als  Kömpilator  gilt  der  Mönch  Sylvester ; 
seit  1547  Günstling  Iwans  IV.  des  Schrecklichen,  fiel  er  1553  in  Ungnade  und 
lebte  schließlich  als  Gefangener  im  Ssolowezkischen  Kloster.  Einige  Abschnitte 
hat  Sylvester  wohl  auch  selbst  verfaßt,  sicherlich  das  64.  Kapitel:  Schreiben 
und  Ermahnung  des  Vaters  an  seinen  Sohn;  dies  Kapitel,  auch  ,,der  kleine 
Domostroj'*  genannt,  ist  gleichsam  Resum6  des  großen.  Der  Inhalt  zeigt  kein 
strenges  System.  Kapitel  i — 15  enthalten  vornehmlich  Regeln  der  Frömmigkeit 
und  Tugendhaftigkeit;  16 — 25  Vorschriften  über  das  Familienleben  und  die 
gegenseitigen  Pflichten  der  Ehegatten;  26 — 33  Ökonomie,  Haushaltung  und 
Wirtschaftsführung.  —  Vgl.  Brückner,  Russische  Revue  IV.  und  Reinholdt, 
Geschichte  der  russischen  Literatur.     S.  177. 


—    121    — 

und  Werkzeug  der  Regierung.  Das  Räuberunwesen  wird  durch 
Prügel  bekämpft.  Härte  ist  das  Prinzip  der  herrschenden 
Systeme.  1670  schreibt  der  Wojewode  von  Wuchotur  seinen 
Beamten  vor,  die  Diebe  imd  Flüchtlinge  „hart  zu  strafen**.  Zur 
selben  Zeit  wird  dem  Wojewoden  von  Tjumen  befohlen :  „Strafe 
hart,  mit  den  härtesten  Strafen,  mit  dem  Tode  auch,  zum 
Schrecken  der  Anderen.**  In  allen  Regierungserlässen  kehren 
die  Worte  wieder:  hart,  unbarmherzig,  mitleidslos,  ohne  jede 
Gnade.  „In  der  ganzen  Welt,**  seufzt  Krischanitsch,  „giebt 
es  nicht  eine  solche  strenge,  rauhe  Verwaltung  wie  m  Rußland. 
Jeder  Ort  ist  angefüllt  mit  Kabaken  und  Schlagbäumen,  mit 
Otkupschtschiki  (oTKynmmrB,  Pächter),  Zjelowaljniki  (i^ijiOBajib- 
HHiTb,  Zolleinnehmer),  Wüjemschtschiki  (BHeMin;HK'B,  Grenz- 
reiter) und  geheimen  Berichterstattern.  Die  Leute  werden  hier- 
hin und  dorthin  geschleppt  und  was  sie  tun,  das  tun  sie  mit 
Furcht  xmd  Zittern,  und  immer  müssen  sie  sich  hüten  vor  der 
Menge  der  Verwalter  imd  der  Henker.** 

Peter  der  Große  braucht  Geld  für  seine  Reformen  und 
Kriege,  imd  deshalb  wohl  führt  er  vielfach  Geldstrafen  ein,  wo 
früher  Körperstrafen  bestanden.^)  Aber  man  glaube  nicht, 
daß  letztere  deshalb  geringer  oder  sanfter  werden.  Die  Zeit 
der  Reformen  erzeugt  eine  ganze  Reihe  neuer  Verbrechen; 
die  Verwaltung  reformiert  durch  Schläge,  der  Stock  ist  der 
Zuchtmeister,  das  alte  Moskauer  Erziehungsmittel  beherrscht 
auch  die  Petersche  Periode.  Abschreckung,  Härte,  Grausam- 
keit werden  ärger  noch  als  zuvor.  Dem  Major  Dolgorukow 
wird  befohlen,  „die  Kosakenstädte  niederzubrennen  und  die 
Leute  tüchtig  zu  hauen,  damit  ihnen  die  Lust  zum  Widerstand 
vergehe.**  Nicht  überall  sind  diese  Mittel  wirksam;  oft  versagt 
sogar  das  furchtbarste  Schreckmittel,  und  zum  Entsetzen  des 
Zaren  am  meisten  in  der  Armee.  1705  befiehlt  ein  Ukas :  Deser- 
teure mit  Tod  zu  bestrafen;  das  Los  entscheide,  jeder  dritte 
werde  gehängt.  Tod  auch  den  Verbergern  von  Flüchtlingen. 
Aber  der  Tod  schreckt  nicht  die  Militärverdrossenen,  das  harte 


^)  Die  geistige  Hinterlassenschaft  Peters  I.  als  Grundlage  für  dessen  Be- 
urteilung als  Herrscher  und  Mensch  von  E.  Sadler,  Leipzig  und  Heidelberg  1862. 
135.  —  TiiMO({»eein>,  crp.  71. 


—    122    — 

iwi^^ctx  droht  die  Armee  zu  entvölkern.  Der  Zar  befiehlt  also : 
um  jede»  zehnten  Mann  zu  hängen;  aber  auch  dies  ist  zu  viel^ 
tuhii  zu  einer  Dezimierung  der  Truppen.  Nun  heben  Ukase 
wa  17 1>  und  1717  die  Todesstrafe  ganz  auf.  Man  versucht  es 
uul  dci  Ciüte;  man  gibt  den  Flüchtlingen  eine  Frist  zu  frei- 
v^  dliiicr  Rückkehr.  In  der  Epoche  der  Regierung  Annas  kehrt 
die  BiroiH>wschtschina,  das  Regiment  Birons,  zur  Härte  zurück. 
l>ie  Folge:  es  desertieren  nicht  bloß  die  gemeinen  Soldaten, 
auch  dit^  Kadetten  flüchten.  Anna  macht  es  wie  Peter:  ein 
VkvU  begnadigt  alle,  die  freiwillig  zur  Pflicht  zurückkehren: 
^.Kürchtet  aber  sonst,**  heißt  es  in  einem  ihrer  Ukase,  „nicht 
bKvU  die  Strafe  auf  Erden,  sondern  auch  das  Gericht  Gottes  I** 
l>ie  über  die  Grenze  Flüchtenden  ermahnt  man:  „Jenseits  der 
^Ireuxe  giebt  es  nicht  orthodoxe  Kirchen.  Denkt  an  euer 
ewiges  Heill**  Alles  umsonst.  Die  Leute  wußten,  daß  diese 
sentimentalen  Ukase,  die  so  wenig  dem  Geiste  der  Justiz  jener 
Zeit  entsprachen,  auch  der  Aufrichtigkeit  entbehrten.  Die 
Härte  allein  bestand,  die  Milde  war  eine  Vorspiegelung.  1727 
gibt  Peter  II.  ein  Manifest  heraus:  „Falschmünzer,  die  ihre 
Schuld  bereuen,  ihre  Falsifikate  ausliefern  imd  versprechen, 
(li4S  Verbrechen  nicht  mehr  zu  verüben,  sollen  nicht  bestraft 
worden.**  Aber  neben  diesem  offenen  gnädigen  Manifest  exi- 
stiert ein  geheimer  Artikel:  Die  freiwillig  sich  Meldenden  sind 
ohne  weitere  Prozedur  sofort  nach  Sibirien  zu  verschicken  I 

Die  grenzenlose  Roheit  der  Sitten,  die  Allgemeinheit  des 
Schiagens,  der  Schrecken  als  Mittel  der  selbstherrscherlichen 
Verwaltung,  dies  alles  erklärt  zur  Genüge  die  überaus  große 
Verbreitung  und  Vielseitigkeit  der  Körperstrafen.  Zar  Alexej 
hatte  in  seinem  Gesetzbuch  nur  die  Praxis  sanktioniert,  als  er 
für  140  Fälle  den  Knut  als  gesetzliche  Strafe  festsetzte.  Die 
tyrannische  Regienmg  Peters  des  Großen  vermehrte  die  Vari- 
anten der  Körperzüchtigungen.  Es  kamen  bis  dahin  unbe- 
kannte Strafmittel  auf:  Spitzruten,  Kätzchen  (KomKn),  Linjki 
(jihhbkh),  Losa  (ji03a,  Rute)  und  Pletj  (njieTB,  Peitsche). 
Für  alles  mögliche  riskierte  der  Russe  Schläge.  Neue  Strafen 
für  neue  Verbrechen,  die  ein  Resultat  der  Reformen,  ein  Ergeb- 
nis der  Zeit,  des  Tages,  ja  der  Laune  einer  Minute  sind !  Todes- 
strafe bedroht  die  Fabrikanten,  die  für  Posamentierzwecke  Sil- 


—    123    — 

bermünzen  einschmelzen;  „harte  Strafe"  wird  verordnet  für 
eine  ganz  neue  Art  von  Rechtsverletzung :  „für  das  Fangen 
von  Nachtigallen  in  der  Nähe  von  Petersburg  und  in  ganz 
Ingemianland.**  Tod  und  Schlagen  überall,  für  alles  und  jedes. 
17 13  schildert  der  Wojewode  von  Jakutsk  seine  Art  der  Züch- 
tigung von  Aufruhrern :  „Dem  Haupte  der  Unruhestifter  habe 
ich  den  Tod  gegeben;  die  Anderen  habe  ich  niedergelegt  und 
mit  dem  Knut  gehauen  und  dann  habe  ich  sie  durch  die  Straßen 
geschleppt ;  Andere  habe  ich  nackt  ausziehen  und  mit  Batogen 
schlagen  lassen.**  Kaiserin  Anna  befolgt  Peters  Methode.  1732 
werden  in  Nischny  Nowgorod  20  Räuber  zum  Tode  verurteilt, 
15  erhalten  den  Knut  und  Verbannung  zu  ewiger  Katorga,  85 
den  Knut  und  Batogi;  Urteil  von  1735 '  für  95  Menschen  Tod, 
197  Knut  imd  Verbannung;  1736:  102  Menschen  zur  Todes- 
strafe, 157  zu  körperlicher  Züchtigung  verurteilt.  Elisabeth, 
dieselbe  Elisabeth,  die  1754  die  Todesstrafe  aufhob,  erwog  die 
Einführung  einer  neuen,  nie  zuvor  dagewesenen  Todesstrafe: 
das  Zerreißen  durch  Pferde. 

Die  Grausamkeit  der  Justiz  verhärtet  nicht  bloß  die  Stra- 
fenden, sondern  auch  die  Gestraften.  Man  gewöhnt  sich  an 
die  Prügel.  Struys  erzählt  aus  dem  Jahre  1699,  daß  ein  Mann, 
der  von  der  Knutenstrafe  noch  nicht  geheilt  war,  sich  gleich- 
mütig auf  eine  neue  Knutenstrafe  gefaßt  machte,  statt  die  ge- 
forderten Steuern  zu  bezahlen;  und  Korb  berichtet,  daß  Peter 
ihm  befahl,  einen  Muschik  „mit  einer  schrecklichen  Rute  vom 
Kopf  bis  zu  den  Füßen  zu  schlagen**,  damit  er  einen  Flüchtling 
verrate ;  der  Bauer  aber  ertrug  die  Züchtigung  ohne  zu  klagen 
und  schwieg  trotzig. 

Seit  der  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhimderts  begegnet  man 
einigen  Anwandlungen  der  Milde  namentlich  gegenüber  jugend- 
lichen Verbrechern.  Ein  Ukas  von  1740  erläßt  die  Strafe,  die 
wegen  Nichterscheinens  beim  kirchlichen  Treueschwur  ver- 
hängt worden  war,  allen  jenen  Personen,  die  unter  15  Jahren 
alt  sind.  1740  wird  die  Brandstifterin  Anna  Iwanowna  von  der 
Todesstrafe  befreit,  „weil  sie  jugendlich  ist,  und  nicht  verstehen 
konnte,  was  sie  that**;  dieses  Motiv  hinderte  aber  das  Gericht 
nicht,  das  Mädchen  zu  peitschen.  Im  Jahre  1742  wurde  ein 
vierzehnjähriges  Mädchen  als  Mörderin  zum  Tode  verurteilt. 


—    124    — 

Infolge  dieses  Falles  beschäftigte  man  sich  mit  der  Frage  der 
Bestrafung  Minderjähriger.  Der  Senat  entschied  liberal  und 
erstreckte  die  Grenze  der  Minderjährigkeit  bis  rum  siebzehnten 
Lebensjahre:  „Verbrecher  im  Alter  unter  17  Jahren  sollen  für 
Kirchenschändung,  Todschlag  und  Brandstiftung  auf  öffent- 
lichem Platze  mit  der  Peitsche  gestraft  und  mit  eisernen  Fesseln 
an  den  Füßen  zu  1 5 jähriger  Zwangsarbeit  nach  fernen  Klöstern 
verbannt  werden.  Für  Raub  und  schweren  Diebstahl  erhalten 
sie  Pletj  oder  Batogi  und  7  Jahre  Zwangsarbeit.  (Für  alle  diese 
Verbrechen  war  früher  ausnahmslos  Todesstrafe  vorgeschrie- 
ben.) Für  Verbrechen,  die  früher  Folter  und  Knut  erforderten, 
erfolgt  für  Minderjährige  nunmehr  nur  Peitschenstrafe  oder 
Züchtigung  mit  den  Batogi.**  Dieses  milde  Reformprojekt  rief 
einen  Protest  hervor.  Von  welcher  Seite?  Die  Geistlichkeit 
war  es,  die  ihrer  Entrüstung  Ausdruck  verlieh.  Der  Heilige 
Synod  erklärte:  „Der  Mensch  kann  nach  dem  Willen  des 
Himmels  schon  vor  seinem  siebzehnten  Lebensjahre  Vater 
werden,  hat  also  schon  vor  diesem  Alter  Verstand  genug.** 
Und  die  Zarin  gab  nach,  das  Senatsprojekt  wurde  folgender- 
maßen abgeändert :  „Synod  und  Senat  stimmten  nach  genügen- 
der Überlegung  darin  überein,  daß  der  Mensch  mit  12  Jahren 
als  erwachsen  zu  gelten  habe.  Wer  also  unter  12  Jahren  alt 
ist,  muß  von  Todesstrafe,  sowie  Folter  und  Knut  befreit  wer- 
den.** 1744  wurde  dann  allerdings  entschieden:  „Nur  theo- 
retische Erwägungen  können  feststellen,  daß  ein  Mensch  mit 
12  Jahren  als  volljährig  angesehen  werden  könne;  den  that- 
sächlichen  Verhältnissen  entspricht  dies  nicht** ;  und  so  wurde 
schließlich  die  Minderjährigkeit  doch  bis  zum  16.  Jahre 
erstreckt. 

Am  schlimmsten  waren  von  Anbeginn  bis  zum  Schlüsse 
die  Angehörigen  der  unfreien  Klasse  von  der  Prügeljustiz  be- 
handelt worden.  Die  Gesetze  waren  ja  eigentlich  nur  für  die 
Herren  gemacht.  Ein  Dwinsker  Aktenstück  aus  dem  Jahre 
1 397  dokumentiert,  daß  der  Herr,  der  einen  xonou^h  oder  pa6a 
(Cholop  bedeutet  den  temporären  Leibeigenen  und  Raba  den 
ewigen  Sklaven)  zu  Tode  prügelte,  deswegen  nicht  strafbar 
war.  Im  sechzehnten  Jahrhundert  sind  Körperstrafen,  von  den 
Herren  über  die  Leibeigenen  verhängt,  nicht  bloß  gewöhnlich. 


—    125    — 

sie  galten  als  unbedingt  notwendig.  „Wenn  der  Sklave  nicht 
gehorcht/*  so  lehrt  man  in  jener  Zeit,  „so  strafe  man  ihn  mit 
dem  Pletj."  Der  Gutsherr  Rumjäntzow  verfaßt  in  der  zweiten 
Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  besondere  Bauernregeln; 
Pletj  und  Batogi  sind  in  seiner  Hauswirtschaft  die  ständigen 
Regenten.  1764  spricht  der  Gouverneur  von  Nischnij  Now- 
gorod, Sievers,  in  einem  Bericht  an  die  Kaiserin  von  den  Leib- 
eigenen als  den  „unglücklichsten  Wesen.**  1802  konstatiert 
man,  daß  auf  den  Gütern  Orlows  die  Leibeigenen  für  die  gering- 
sten Vergehen  an  Ketten  gefesselt  und  mit  eisernen  Stöcken 
geschlagen  werden.  Aber  die  Herren  selbst  blieben  auch  nicht 
von  den  Glieder-  und  Körperstrafen  ausgenommen.  Schon  im 
15.  Jahrhundert  befahl  Wassili j  Kossoj,  dem  Fürsten  Roman 
von  Perejaslaw  die  Hand  und  den  Fuß  abzuhacken.  1488  wur- 
den in  Moskau  auf  dem  Marktplatz  der  Fürst  Uchtomskij  und 
der  Archimandrit  des  Tschudowklosters  mit  Knuten  gezüchtigt. 
1495  erhielten  zwei  Geistliche  die  Knutenstrafe.  Um  1600  wird 
den  Wojewoden,  die  Diebe  aus  den  Gefängnissen  entschlüpfen 
lassen,  der  Knut  angedroht.  Nach  westeuropäischem  Recht 
wurden  Freie,  die  sich  nicht  loskaufen  konnten,  mit  Körper- 
strafen belegt.  So  durften  auch  nach  dem  Gesetzbuch  des  Zaren 
Alexej  (yjioHcenie  1649  ^0  Edelleute  —  Bojaren,  Stoljniki, 
Stojaptschi  —  die  wegen  Beleidigung  zu  einer  Körperstrafe 
verurteilt  waren,  sich  loskaufen;  zahlten  sie  aber  nicht,  so  be- 
kamen sie  den  Knut.  Für  das  Verbergen  eines  Flüchtlings 
war  eine  Geldstrafe  von  100  Rbl.  vorgeschrieben;  wer  sie  nicht 
erlegen  konnte,  bekam  den  Knut  oder  die  Batogi.  17 14  wurden 
zwei  Senatoren,  Wolkow  und  Opuchtin,  öffentlich  geknutet. 
1755  befahl  das  Zollreglement,  daß  „Kaufleute,  welche  die  Zölle 
nicht  bezahlen  können,  gepeitscht  werden  sollen.**  Auch  Frauen 
der  vornehmsten  Gesellschaft  wurden  geknutet. 

Weder  Adel  noch  Bürgertum,  weder  der  Bauer  noch  der 
Sklave  kennen  den  Begriff  des  Rechtes  der  Persönlichkeit  oder 
das  Gefühl  der  Menschenwürde.  Infolgedessen  sieht  auch 
niemand  in  der  Körperstrafe  eine  Schändung.  „Der  Groß- 
fürst,** schreibt  Barberini  im  Jahre  1565,  „läßt  die  vornehmsten 
Bojaren  niederstrecken  und  züchtigen.  Es  giebt  fast  keinen 
ungeprügelten  Tschinownik.    Aber  sie  geben  nichts  auf  Ehre, 


—    126    — 

wissen  nicht,  was  Schande  ist.**  Struys  macht,  als  er  im  sieb- 
zehnten Jahrhundert  in  Rußland  weilt,  dieselbe  Bemerkung. 
Nur  Olearius  meint,  daß  man  beginne,  auf  den  mit  dem  Knut 
Bestraften  verächtlich  herabzusehen.  Die  Regierung  selbst  sah 
in  der  Knutung  früher  ebenfalls  keine  Entehrung.  Ukase  von 
1650  und  1655  befehlen,  Deserteure  zu  knuten,  dann  aber  wie- 
der in  ihre  Regimenter  einzureihen.  Peters  Ukas  von  1705 
ordnet  für  eine  Kategorie  von  Flüchtlingen  aus  der  Armee  den 
Knut  und  fünfjährige  Zwangsarbeit  an;  nach  verbüßter  Strafe 
müssen  die  Bestraften  zu  ihren  früheren  Regimentern  zurück- 
kehren. Ein  gewisser  Kikin  wird  wegen  der  Schändung  eines 
Mädchens  öffentlich  geknutet ;  kurz  darauf  wird  der  Geprügelte 
von  Peter  dem  Großen  zum  Generalverwalter  der  Fischereien 
ernannt.  Trotz  Olearius  empfinden  die  Russen  noch  in  der 
ersten  Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  nicht  das  Schän- 
dende einer  körperlichen  Züchtigimg.  Bergholz  berichtet  (in 
seinem  Tagebuch  aus  dem  Ende  der  Regierungszeit  Peters  des 
Großen)  voller  Erstaunen,  daß  ein  Schauspieler,  der  wegen 
unbefugten  Herumtragens  von  Affichen  zweihundert  Batogen- 
streiche  erhalten  hatte,  nach  empfangener  Strafe  mit  hervor- 
ragenden Damen  zum  Spiel  sich  niedersetzte.  „Das  gilt  hier 
für  nichts,**  bemerkte  Bergholz,  „das  ist  eine  ganz  gewöhnliche 
Sache.  Und  thatsächlich  wäre  es  seltsam  von  Seiten  der  Damen 
anders  zu  denken,  da  ihre  eigenen  Väter  und  Männer  von  der 
Administration  Sr.  Zarischen  Majestät  leicht  der  gleichen  Strafe 
ausgesetzt  werden  können.**  Der  französische  Resident  erzählt 
in  einem  seiner  Schreiben  an  seine  Regierung,  „daß  der  Zar  vor 
seiner  Abreise  aus  Petersburg  am  3.  Januar  17 18  um  4  Uhr 
morgens  einige  der  bekanntesten  und  höchsten  Beamten  in 
sein  Zimmer  rufen  und  der  Reihe  nach  mit  Batogen 
prügeln  ließ.**  Die  Beamten  verfielen  so  bald  einer  Körper- 
züchtigung I  Iwan  III.  befahl,  die  Kanzleischreiber,  die  Schrift- 
stücke nicht  ordnungsmäßig  siegelten,  zu  knuten.  Wenn  ein 
Staatsrat  ein  ungerechtes  Urteil  fällte,  erhielt  er  nach  dem  Ge- 
setzbuche  Alexejs  den  Knut. 

Ein  Unterschied  zwischen  hoch  und  niedrig,  sehr  zu  Un- 
gunsten des  Niedrigen,  wird  zuweilen  gemacht:  Verzögert  ein 
Djak  (äbhkb,    Ratssekretär)  eine  Angelegenheit,  so  bekommt 


—    127    — 

er  bloß  Batogi,  Stockstreiche  auf  die  Fußsohlen;  der  simple 
Podjatschij  (noA'BaniÄ,  Unterdjak  oder  Kanzleischreiber)  aber 
erhält  den  gewichtigen  Knut.  Für  die  Fälschung  eines  Proto- 
kolls kommt  der  Djak  mit  dem  Knut  davon;  der  Podjatschij 
aber  verliert  seine  Hand.^)  Für  die  Beleidigung  des  Patriarchen 
erhalten  ein  Stoljnik  (cTOJibnmrB,  Truchseß),  ein  Strjäptschij 
(cTpan^ifi)  oder  ein  Moskauer  Dworjänin  (ABopamiH^,  Edel- 
mann) bloß  die  Batogen;  aber  Personen  niedrigeren  Ranges 
den  Knut.  1627  wird  ein  Richter  wegen  eines  Verbrechens 
ins  Gefängnis  gesperrt ;  der  Wojewode  wagt  nicht,  ihm  auch 
vorschriftsmäßig  den  Knut  zu  geben,  sondern  appliziert  ihm 
mit  Rücksicht  auf  seinen  Rang  bloß  die  Batogen.  1649  erhält 
der  Edelmann  Michael  Pleschtschejew  statt  des  Knut  die  Batogi. 
Nachsichtiger  geschlagen  werden  ist  also  ein  Privilegium  der 
höheren  Klassen  der  Gesellschaft. 

Eine  spezielle  Bemerkung  verdient  die  grausame  Situation 
des  Soldatentums.  Unter  Alexander  I.  und  Nikolaj  I.  war  just 
der  Soldat  der  meistgeprügelte  unter  allen  Untertanen  des 
Zaren.  „Die  Behandlung  der  Soldaten,"  schreibt  S.  P.  Schipow 
in  seinen  Memoiren  aus  dem  Anfang  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts, „war  nicht  bloß  streng,  sondern  unvergleichlich  hart. 
Jetzt  kann  man  sich  solche  Zustände  kaum  mehr  vorstellen. 
Oft  wurden  die  Soldaten  für  die  geringfügigsten  Vergehen, 
öfter  noch  ganz  schuldlos  unbarmherzig  gezüchtigt.  Es  gab 
Regimentskommandeure,  wie  Oberst  Fricken,  die  den  Soldaten 
die  Haare  ausrissen,  die  mit  den  Säbeln  auf  die  Köpfe  hieben 
und  mit  dem  Stock  auf  den  Rücken  schlugen,  bis  die  Knochen 
entblößt  waren.**  In  den  Militärhospitälem  in  Petersburg  waren 
im  Jahre  1841  unter  den  Kranken  1224  Soldaten,  die  an  den 
Folgen  von  Leibesstrafen  schwer  darniederlagen  1^) 

Als  man,  um  die  Kräfte  des  Volkes  zu  schonen  und  um 
dem  Staate  nicht  die  Arbeitsfähigkeit  der  Verurteilten  zu  ent- 
ziehen, die  Todesstrafe  abschaffte  und  die  Gliederstrafen  immer 
seltener  verhängte,  blieb  doch  die  körperliche  Züchtigung  fort- 


1)  Struvens  Russisches  Landrecht.     X  §  12. 

2)  Zur   Kenntnis  von   St.   Petersburg  im  kranken  Leben,  von  Aurelio 
Buddens.     Stuttgart  und  Tübingen.  1846    I  181. 


—    128    — 

bestehen.  Die  immer  mächtiger  werdende  Polizei  verlangte 
nach  diesem  Abschreckungsmittel.  So  heißt  es  in  einem  Rap- 
port der  Polizeileitung  an  die  Reformkonmiission  des  Jahres 
1767:  „Der  Leiter  der  Polizei  muß  nicht  bloß  seine  Beamten, 
sondern  alle  Bürger  zu  Verstand  bringen.  Die  Polizei  muß  das 
Recht  haben,  Körperstrafen  und  Einsperrungen  anzuordnen. 
Die  Polizei  bittet  ferner,  daß  man  ihr  den  Eintritt  in  die  Tempel 
Gk)ttes  gestatten  möge,  um  die  zum  Gebete  versammelten  Leute 
beobachten  zu  können.  Die  Polizei  muß  die  Kinder,  die  gegen 
die  Eltern  ungehorsam  sind,  nicht  bloß  auf  Verlangen  der 
Eltern,  sondern  auch  ohne  solches  Verlangen  strafen."  Und 
die  Regierung  anerkennt  die  Billigkeit  der  polizeilichen  Wün- 
sche. Noch  polizeilicher  als  die  Polizei  denken  die  Herren  des 
Adels.  An  dieselbe  Kommission  von  1767  richtet  der  Adel 
von  Alatyr  ein  Memorandum,  worin  ausgeführt  wird,  man  müsse 
nicht  bloß  zu  den  alten  strengen  Gesetzen  zurückkehren,  son- 
dern manches  alte  Gesetz  noch  verschärfen,  beispielsweise  nicht 
bloß  für  Raub  und  Todschlag,  sondern  auch  für  gewöhnlichen 
Diebstahl  die  Todesstrafe  anordnen.  Der  Adel  von  Temnikow 
sekundiert  dem  Adel  von  Alatyr.  Und  die  Adligen  von  Jelezk, 
Orlow  und  Bjelew  fordern  „qualvollste  Torturen**  für  allerlei 
Arten  von  Verbrechern  I  Kein  Wunder,  daß  da  die  Prügelstrafe 
aufrechterhalten  werden  muß.  Nikolaj  L  schenkt  in  seinem 
Manifest  1826  dem  Volk  einige  Erleichterungen,  warnt  aber 
vor  dei  törichten  Meinung,  „daß  mit  der  Milderung  der  Strafen 
auch  eine  Schwächung  der  heilsamen  Gesetzesfurcht  erfolge.** 
1841  fordert  Professor  Barschew:  man  solle  die  Gliederstrafen 
beibehalten;  „Gefängnis  allein  ist  kein  Schreckmittel,  Glieder- 
strafen und  Schlagen  sind  notwendig.**  Wohl  unter  dem  Ein- 
fluß dieser  Forderung  des  gelehrten  Barbaren  schreibt  Niki- 
tenko  im  selben  Jahre  1841  in  sein  Tagebuch:  „Ein  trauriges 
Bild,  diese  Gesellschaft  von  heute;  kein  Rechtsgefühl,  kein 
Ehrbegriff.**  Und  N.  N.  Lebedew,  ein  Senator  Nikolajs  L, 
notiert  in  seinem  heimlichen  Journal :  „Welch  ein  hartes  System 
der  Strafen !  Im  Gesetzbuch  liest  man  nichts  anderes  als :  Ver- 
bannung, Katorga,  Pletj,  selbst  Knut.** 

Nicht    aus    eigener    Initiative,     sondern    aus    Scham    vor 
Europa  wird  von  den  Züchtigungsinstrumenten  zunächst  der 


Die  große   Knutenstrafe. 
(Nach  eiuem  lussischen  Bilde.} 


:• 


•  •  • 


•  • 


—    129    — 

Knut  abgeschafft.  1832  kauft  der  Fürst  von  Eckmühl,  Sohn  des 
Marschalls  Davoust,  in  Moskau  heimlich  einen  Knut  und  bringt 
ihn  nach  dem  Westen  als  ein  Zeugnis  des  Zivilisationsstandes 
Rußlands  unter  Nikolaj  I.  Der  Zar  wütet  und  befiehlt,  „die 
Knuten  streng  verwahrt  zu  halten  und  Niemandem  zu  zeigen.** 
Mit  der  traditionellen  Strafe  bricht  Nikolaj  aber  noch  nicht, 
doch  er  beginnt  Ausnahmen  zu  machen.  Es  gibt  Privilegierte, 
die  von  den  Körperstrafen  mehr  oder  minder  oder  ganz  befreit 
sind.  1845  endlich  wird  der  Knut  abgeschafft;  nur  Pletj  (Peit- 
sche), Spießruten  tmd  Ruten  werden  beibehalten.  Alexander  II. 
verbietet  die  Anordnung  des  Spießrutenlaufens,  schafft  1861 
die  Peitsche  ab;  in  der  Armee  dagegen  bleiben  die  Linjki 
(leichte  Stöcke)  und  Koschki  (KomKH,  Kätzchen)  in  Gebrauch, 
bis  auch  sie  durch  Ruten  ersetzt  werden.  1863  streicht  ein 
Ukas  die  Ruten  aus  dem  Strafgesetzbuch,  läßt  aber  den  Wolost- 
gerichten,  den  bäuerKchen  Gerichten,  das  Recht,  Rutenstrafen 
zu  verhängen.  Langsam  schleichen  sich  jedoch  noch  Ände- 
rungen ein,  entstehen  Rückfälle,  und  diese  Reaktionen  werden 
schließlich  zu  einer  neuen  Regel.  1870  g^bt  es  in  der  Armee 
nicht  weniger  als  6149  Fälle  von  körperlichen  Züchtigimgen, 
1893  noch  348  Fälle.  1871  führt  die  Polizei  m  Odessa  bei  einem 
Straßenkrawall  Ladungen  von  Ruten  auf  und  peitscht  öffentlich 
Männer,  Frauen  und  Kinder.  Zehn  Jahre  später,  1881,  wieder- 
holt sich  in  derselben  Stadt  dasselbe  Schauspiel:  bei  einem 
Angriff  auf  die  Juden  sucht  die  Polizei  die  Krawallmacher  zu 
beruhigen,  indem  sie  aus  der  Mitte  des  Pöbels  die  Erstbesten 
herausreißt  und  auf  der  Stelle  mit  Ruten,  Stöcken  und  Nagaiken 
prügelt. 1)  1889  gestattet  ein  Gesetz  neuerdings  den  bäuerlichen 
Richtern,  Rutenhiebe  auszuteilen ;  ausgenommen  sind  nur  Min- 
derjährige und  solche  Erwachsene,  die  über  60  Jahre  alt, 
krank  oder  im  Kriegsdienst  sind,  femer  Gemeindebeamte  und 
Kirchenbedienstete.  Und  so  wird  in  Rußland  noch  heute  weiter 
geprügelt.  Auch  außerhalb  der  Wirksamkeitsgrenzen  der  Wo- 
lostgerichte.  Die  unmenschlichen  Züchtigimgen,  die  General 
Trepow  der  Ältere  über  die  politischen  Gefangenen  verhängte, 
führten  zu  dem  berühmten  Attentat  der  Wera  Sassulitsch  gegen 


^)  Leroy-Beaulieu,  Das  Reich  der  Zaren.     II  344. 
Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  RuBland. 


•• 


—    130    — 

Trepow.  In  seiner  Verteidigung  der  Sassulitsch  sagte  der  Ad- 
vokat Alexandrow :  „Die  Rute  regierte  in  Rußland.  Die  Rute 
leitete  die  Schule  wie  den  Stall  des  Gutsbesitzers,  sie  wurde  in 
den  Kasernen  und  Polizeibureaus  angewandt  wie  in  den  Ge- 
meindeverwaltungen. Es  heißt  sogar,  daß  die  Rute  an  man- 
chen Orten  durch  einen  Mechanismus  von  englischer  Erfindimg 
in  Bewegung  gesetzt  und  so  in  besonderen  Fällen  gebraucht 
wurde.  Auf  jeder  Seite  der  Zivil-  und  Kriminalgesetzbücher 
figurierte  wie  ein.  unaufhörlicher  Refrain  die  Rute  in  Gemein- 
schaft mit  Peitsche,  Knut  und  Gassenlaufen.  Da  fragen  sich 
dann  die  Konservativen  mit  Recht :  Wie  könnte  ein  Reich,  das 
seine  Größe  der  Rute  verdankt,  ohne  Rute  bestehen  ?** 

Bei  der  Unterdrückung  der  polnischen  Revolution  kon- 
kurrierte der  Knut  mit  dem  Blei.  Die  gleichen  Mittel  gegen 
Empörer  wendet  die  Regierung  des  zweiten  Nikolaj  an.  In 
Kronstadt  wurden  die  meuternden  Matrosen  mit  dem  Stock 
gezüchtigt.  Die  Studenten  imd  Studentinnen,  die  man  bei  Kra- 
wallen arretierte,  schleppte  man  auf  die  Polizeiwachstuben  und 
ließ  sie  hier  nach  der  Sitte  der  guten  alten  Zeit  mit  der  Peitsche 
zum  Gehorsam  gegen  die  Behörden  bekehren.  Die  Polizei  tut, 
was  sie  für  gut  findet,  imd  sie  sieht  allen  Gesetzen  zum  Trotz  in 
Knut  tmd  Rute  noch,  immer  die  besten  Mittel,  die  Unzufriedenen 
ziu-  Raison  zu  bringen  und  die  Unruhigen  zur  Ruhe  zu  zwingen. 
Jeder  Polizeimeister  ist  gleichzeitig  Henkermeister  und  hat  stets 
seinen  Kantschu  zur  Hand.  Aber  nicht  bloß  der  Polizeimeister, 
auch  der  erstbeste  Pristaw,  ja  der  letzte  Gorodowoj  hält  sich 
für  berechtigt,  einem  Verdächtigen  mit  der  Faust  ins  Gesicht 
zu  schlagen,  einen  Verhafteten  mit  der  Peitsche  zu  bearbeiten, 
um  ihm  Geständnisse  zu  erpressen.  Bei  den  üblichen  Massen- 
verhaftungen hat  die  Polizei  keine  Zeit  zu  untersuchen,  wer 
schuldig  und  wer  unschuldig  ist.  So  läßt  man,  ohne  lange  zu 
überlegen,  die  ganze  verhaftete  Gesellschaft  ausnahmslos  auf 
die  Bänke  schnallen  imd  der  Reihe  nach  peitschen:  Greise, 
Männer,  Weiber,  Kinder,  alle  erhalten  ihren  Teil.  Und  diese 
diskretionäre  Gewalt  der  Polizei  wächst  in  demselben  Maße, 
in  dem  der  Ort  der  Ereignisse  vom  Zentnmi  der  Verwaltung 
entfernt  ist.  Je  weiter  von  Europa,  je  mehr  den  Augen  der 
fremden  Diplomaten  entrückt,  je  schlimmer  für  das  bedrückte 


—    131    — 

russische  Volk.  Alle  die  Gouverneure  iind  Kommissäre,  die 
Zar  Nikolaj  II.  zur  Unterdrückung  der  Revolution  erwählt  hat, 
haben  in  Knut,  Pletj  und  Rute  die  Rettungsmittel  für  die  Auto- 
kratie erblickt.  Als  General  Kleigels  vor  einigen  Jahren  beim 
Beginn  der  Unruhen  Polizeipräfekt  von  Petersburg  wurde,  stellte 
er  allem  zuvor  die  Peitsche  und  die  Folter  in  den  Dienst  der 
Polizei.  General  Trepow  der  Jüngere  ließ  in  Moskau  auf  Befehl 
des  Großfürsten  Ssergej  die  demonstrierenden  Studenten  mit 
Knutenhieben  niederschlagen;  in  Petersburg  versuchte  er  die- 
selbe Methode,  imd  dabei  passierte  es  ihm,  daß  er  einen  mit 
dem  englischen  Hofe  verwandten  Herzog  für  einen  politisch 
Verdächtigen  hielt  und  auf  offener  Straße  mit  Püffen  regalierte; 
die  Verdrießlichkeiten,  die  ihm  hieraus  erwuchsen,  veranlaßten 
ihn,  sich  nicht  mehr  persönlich  an  den  Prügelungen  zu  be- 
teiligen. Trepows  Nachfolger,  General  von  der  Launitz,  setzte 
das  Knutenregiment  fort,  bis  ihn  die  Rache  der  Revolutionäre 
traf. 

Wenn  die  Zivilbehörden  glauben,  das  Volk  nur  mit  Peitsche 
und  Rute  zügeln  zu  köimen,  so  ist  es  fast  natürlich,  daß  die 
militärische  Verwaltung  dieser  Werkzeuge  nicht  entraten  mag. 
Wie  im  Volke  sind  jetzt  auch  im  Heere  an  allen  Ecken  imd 
Enden  Revolution  und  Widerspruch  erwacht.  Man  kann  das 
empörte  Volk  durch  die  Kosaken  dezimieren,  nicht  aber  auch 
die  Armee  regimenter-  und  bataillonsweise  hinrichten  lassen. 
Da  ist  die  Peitsche  das  beste  Mittel  einer  ausgiebigen  Strafe, 
gefürchteter  und  abschreckender  als  der  Tod  durch  die  Kugel 
oder  am  Galgen.  Man  erschießt  Deserteure  oder  Empörer  in 
der  Armee  nicht,  weil  ihrer  zu  viele  sind ;  aber  man  läßt  sie  auf 
die  Bänke  schnallen  und  mit  einer  Anzahl  Prügel  bedenken, 
die  alle  Freiheitsgelüste  und  jeden  Widerspruchsgeist  ertöten. 

Das  Repertoire  der  russischen  Henkerbühne  weist  die  fol- 
genden Züchtigungsinstrumente  auf:  Knut  (KHyTt);  Batogi 
(6aTorH,  Stockschläge  meistens  auf  die  Fußsohlen) ;  Palki  (nanKn, 
Stöcke);  Pletj  (njieTB,  Peitsche);  Spießruten  (ninHi];pyTeHH) ; 
Ruten  (posra).  Das  Verhältnis  der  einzelnen  Züchtigungs- 
instrumente zu  einander  definierte  der  Ukas  von  1846:  10 
Schläge  Knut  gelten  30  Pletj,  40  bis  50  Knut  gelten  100  Pletj. 
Ein  Knutenschlag  ist  gleich  2 — 3  Pletj,  der  Pletj  also  zwei  oder 


—    132    — 

dreimal  leichter  als  Knut.  lo  Schläge  Pletj  gelten  wiederum 
40  Rutenschläge,  20  bis  30  Pletj  sind  für  80,  und  40  Pletj  für 
100  Rutenschläge  anzurechnen.  Ein  Pletj  ist  also  gleich  3 — 4 
Rutenschläge,  die  Rute  dreimal  leichter  als  Pletj.  Im  Jahre 
1855  galten  100  Pletjschläge  so  viel  wie  2000  bis  3000  Spitz- 
ruten. Es  gab  aber  normale  Verurteilungen  zu  6000  Spitzruten, 
also  300  Pletjschlägen  oder  150  Knutenhieben!  Das  nannte 
man  Abschaffung  des  Knut  und  des  Pletj. 

Die  erste  Stelle  als  schwerstes  Züchtigungsinstnmient,  als 
dem  Herrscher  im  Reiche  der  charakteristisch-nationalen,  tradi- 
tionell-barbarischen Strafmethoden,  blieb  durch  alle  Jahrhun- 
derte dem  Knut  vorbehalten,  so  daß  der  Ausländer  das  Zaren- 
reich [kurzweg  als  das  Knutenreich  zu  bezeichnen  liebt.  Karamsin 
hat  den  Knut  als  Überbleibsel  des  Tartarenjochs  erklärt,  aber 
Timofejew  wies  auch  hier  überzeugend  nach,  daß  dieses  Züch- 
tigungsmittel ein  uraltes  russisches  Inventarstück  ist.^) 

Die  Knutenstrafe  wurde  verhängt  als  selbständige  Strafe 
oder  als  peinliche  Zugabe  zu  anderen  Strafen,  beispielsweise 
Verbannimg  oder  Gefängnis ;  aber  selbst  die  Todesstrafe  wurde 
oftmals  verschärft  durch  die  vorhergegangene  Züchtigung  mit 
dem  Knut.  Mit  dem  Knut,  der  die  Todesstrafe  ersetzte,  ihr  an 
Würde  und  im  Rang  zunächst  stand,  schlug  man  Verbrecher 
verschiedenster  Art:  die  schwersten  wie  die  harmlosesten;  denn 
das  russische  Justizwesen  kennt  keine  Logik,  sondern  nur  Grau- 
samkeit ;  keine  Gerechtigkeit,  nur  Willkür.  Ein  Ukas  von  1 684 
befiehlt,  „diejenigen  mit  dem  Knut  zu  schlagen,  die  die  Ord- 
nung im  Kremlj  stören**.  Peter  der  Große  läßt  1722  Raßkolj- 
niki  knuten,  die  sich  aus  Sibirien  geflüchtet  haben;  derselben 
Strafe  unterliegen  jedoch  auch  Soldaten,  die  zwanzig  Rubel 
stehlen.  Für  solchen  winzigen  Diebstahl  droht  also  dem  armen 
Soldaten  eine  Strafe  gleich  der  Todesstrafe  in  einem  Lande, 
wo  alles  stiehlt,  wo  die  Minister  offenkundig  die  Kassen  ihrer 
Ämter  plündern  und  die  Großfürsten  selbst  Millionen  defrau- 
dieren! 1756  wird  ein  armer  Teufel,  der  sich  für  ein  Pfund 
Salz  statt  des  vorgeschriebenen  Preises  von  4^/3  Kopeken :  5  Ko- 
peken  zahlen   läßt,   unbarmherzig  geknuteti     Mit   dem  Knut 


^)  TiiMO({>eeBT>,  IIcTopifl  rkiecuux'L  iiaKaaaiiiÄ,  tTp.  150 — 179:  Kuyn,. 


—    133    — 

straft  man  Hebräer,  Mohammedaner  imd  Heiden,  die  einen 
Christen  durch  List  oder  Gewalt  konvertieren,  ferner:  vorbe- 
dachten Mord,  Kinderdiebstahl,  Fälschung  von  Dokumenten, 
Münzfälschung,  Banknotenfälschung,  Einführung  falschen  Gel- 
des. Der  Knut  ist  die  Lieblingsstrafe  für  Sittlichkeitsver- 
brechen :  für  Notzucht  an  einem  jungen  Mädchen,  an  einer  ver- 
heirateten Frau  oder  einer  Witwe,  für  gleichgeschlechtliche 
Unzucht ;  auch  die  Leibeigenen,  die  ihrer  geschändeten  Herrin 
keine  Hilfe  angedeihen  ließen,  werden  geknutet.^) 

Am  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  beginnt  man  mit 
der  selbständigen  Knutenstrafe  einige  für  den  Bestraften  unan- 
genehme Konsequenzen  zu  verknüpfen:  er  darf  weder  in  den 
beiden  Hauptstädten  noch  in  den  Gouvemementsstädten  blei- 
ben; 1787  wird  befohlen,  die  mit  dem  Knut  Geschlagenen  als 
Zwangsarbeiter  in  die  Kreisstädte  zu  verschicken. 

Die  ausländischen  Reisenden  vom  sechzehnten  bis  acht- 
zehnten Jahrhundert,  wie  Struys,  Perry,  Olearius,  haben  Be- 
schreibungen des  Knut  geliefert.  Bergholz  sagt  2):  „Die  Knute 
ist  eine  Peitsche  mit  sehr  kurzem  Stiel  und  mit  einem  sehr  langen 
Riemen.**  Bei  Breton 3)  heißt  es:  „Die  Knute  ist  eine  Peitsche, 
deren  Stiel  ungefähr  einen  Schuh  lang,  sehr  stark  und  mit  Fell 
überzogen  ist.  An  diesem  Stiel  befindet  sich  ein  schmaler 
lederner  Riemen,  der  viel  länger  als  der  Griff  ist,  an  der  Spitze 
ist  ein  Stück  Büffelleder  angemacht,  das  einem  biegsamen  Hörn 
gleicht  und  nach  allen  zwanzig  Streichen  gewechselt  wird. 
Der  Riemen  läuft  spitzig  zu  und  ist  etwa  drei  Linien  dick.** 
Einige  behaupten,  daß  „in  den  Riemenenden  Draht  einge- 
flochten war**^);  andere,  ,daß  „das  Ende  einige  Zeit  vor  der 
Exekution  in  Milch  erweicht  imd  dann  wieder  getrocknet 
wurde.*^^)  Daß  diese  alten  Beschreibungen  der  Westeuropäer 
im  allgemeinen  richtig  waren,  ergibt  sich  aus  einem  von  Timo- 
fejew  zitierten  Artikel  des  Professors  Ssergejewskij,  der  ein  von 
diesem  aufgefundenes  Exemplar  eines  alten  Knut  folgender- 


^)  Golovine,  La  Russie  sous  Nicolas  I^*".     I  379. 

^)  In  Büschings  Magazin  XIX  79. 

3)  a.  a.  O.    IV  53. 

*)  Corvin.  Geißler.    S.  60. 

S)  Wemirot,  Rußland  im  Licht  and  Rußland  im  Schatten.     S.  154. 


—    134    — 

maßen  schildert:  „Der  hölzerne  Griff  ist  i^s  Werschok  (ein 
Werschok:  etwa  4V2  Zentimeter)  lang  imd  hat  einen  Durch- 
messer von  Ys  Werschok.  An  den  Griff  schließt  sich  ein 
elastischer  Strang  aus  Leder,  14^/0  Werschok  lang  imd  anfangs 
1^8  Werschok  dick,  dann  zum  Ende  immer  dünner  werdend. 
Am  Schlüsse  befindet  sich  ein  Ring  mit  einem  13  Werschok 
langen  und  ^/g  Werschok  breiten  Schwanz  aus  weißen  Riemen. 
Dieser  Schwanz  ist  hart  wie  Knochen  und  mit  einer  Rinne  ver- 
sehen; die  Ränder  schneiden  dem  Gezüchtigten  ins  Fleisch, 
die  Rinne  läßt  das  Blut  abfließen."  Jene,  die  daran  festhalten, 
daß  der  Knut  eine  tartarische  Erfindung  sei,  glauben  im  Worte 
Knut  die  Ableitung  aus  dem  Türkischen  herauszufinden.  Doch 
schon  Leroy-Beaulieu  1)  meinte,  das  Wort  sei  wahrscheinlich 
arischen,  vielleicht  germanischen  Ursprungs,  etwa  verwandt  mit 
dem  deutschen  Wort  Knoten,  lateinisch  nodus.  Welcher  Ab- 
stammung der  Knut  auch  sein  mag,  so  ist  er  doch  nirgends  so 
heimisch  geworden  wie  in  Rußland,  wo  das  Volk  auf  ihn  das 
tiefsinnige  Sprichwort  prägte :  „Der  Knut  ist  zwar  kein  Engel, 
aber  er  lehrt  die  Wahrheit  sagen.** 

Bei  der  Armseligkeit  der  alten  russischen  Literatur  ist  es 
begreiflich,  daß  die  Zeugnisse  für  die  Anwendung  des  Knut 
in  frühester  Zeit  äußerst  dürftig  sind.  Schon  in  den  tausend 
Jahre  alten  Gesetzen  Wladimir  Monomachs  aber  findet  man 
in  einem  Paragraphen  den  Knut  als  Werkzeug  der  öffentlichen 
Leibesstrafe  erwähnt.2)  Allerdings  scheint  dieses  Werkzeug 
viel  zarter  beschaffen  gewesen  als  jenes  der  späteren  Jahr- 
haviderte;  es  wird  beschrieben  als  „ein  Strick  von  Hanf  oder 
mehreren  dünnen  Riemen  zusammengeflochten  und  an  einem 
kurzen  Griff  befestigt.**  Mit  dieser  simplen  Peitsche,  deren 
man  sich  im  gewöhnlichen  Leben  bediente,  um  ein  Pferd  anzu- 
spornen, strafte  man  nur  kleine  Verbrecher,  während  der  Knut 
des  siebzehnten  bis  neunzehnten  Jahrhunderts  der  Todesstrafe 
gleich  geachtet  wurde. 

Ganz  genaue  Angaben  über  den  Knut  finden  sich  vom 


^)  Das  Reich  der  Zaren.     II  339,  Anmerkting. 

^)  Wladimir  Monomachs  Gesetze  in  ,,  Konstantinopel  und  St.  Petersburg, 
der  Orient  und  der  Norden",  eine  Zeitschrift.    II  323. 


—    135    — 

fünfzehnten  Jahrhundert  angefangen.  Im  Ssudebnik,  dem  Ge- 
setzbuch Joans  III.,  wird  der  Knut  angeordnet  als  Strafe  für 
die  Zerstörung  von  Grenzsteinen  und  für  Kirchendiebstahl; 
das  Gesetzbuch  des  Enkels  Joans,  Iwans  des  Schrecklichen, 
kennt  die  Knutenstrafe  schon  für  eine  ganze  Reihe  von  Ver- 
brechen :  Diebstahl,  Raub,  Meineid,  falsches  Zeugnis,  Verleum- 
dung ;  und  die  Praxis  geht  über  das  geschriebene  Gesetz  hinaus, 
und  man  knutet  im  fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhundert 
jeden,  der  dem  Gericht  in  die  Hände  fällt:  1462  die  Anhänger 
des  Fürsten  Wassilij  Jaroslawitsch,  1537  die  Parteigänger  des 
Fürsten  Andrej,  1490  die  sogenannten  judaisierenden  Ketzer. 
Zar  Alexej,  der  zweite  Romanow,  gibt  dem  Reiche  ein  neues 
Gesetzbuch,  in  dem  es  von  Körperstrafen  wimmelt :  nicht  weni- 
ger als  140  Artikel  kennen  die  Züchtigung  mit  dem  Knut. 
Seine  schönste  Blütezeit  hat  der  Knut  im  achtzehnten  Jahr- 
hundert und  in  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Säkulums 
erreicht!  Peter  der  Große  knutet  eigenhändig  die  Strjeljzen, 
dann  seine  Gemahlin  Eudoxia,  seine  Schwestern,  schließlich 
den  Thronfolger  Alexej.  Katharina  II.  läßt  1774  nicht  bloß 
den  Thronanmaßer  Meteljka,  der  als  Peter  III.  auftritt,  sondern 
auch  alle  jene  knuten,  die  bloß  Meteljkas  Namen  erwähnen. 
Die  mildherzige  Elisabeth  befiehlt,  die  Sektierer  zu  knuten; 
und  das  gleiche  Los  trifft  1826  „zwei  Hebräer,  die  zwei  mit 
ihnen  bekannte  Katholiken  zum  Judaismus  verführten**.  Staats- 
verbrecher und  Häretiker  züchtigte  man  fast  immer  mit  dem 
Knut.  Aber  seit  Iwan  dem  Schrecklichen  bedrohte  der  Knut 
auch  die  Beamten  für  dienstliche  Vergehen,  die  Deserteure  und 
Soldaten.  1646  wird  die  Knutenstrafe  einem  Manne  zudiktiert, 
der  den  Patriarchen  beleidigte.  1726  züchtigt  Mentschikow, 
selbst  der  größte  Dieb  und  Defraudant  aller  Zeiten,  den 
Schljachtschitschen  Ljarskij  wegen  Veruntreuung.  Im  sieb- 
zehnten Jahrhundert  bedroht  der  Knut  den  Ungehorsam  des 
Bürgers  gegen  den  Vater,  des  Soldaten  gegen  den  Befehls- 
haber; den  Ordnungsstörer,  den  Sittlichkeitsverbrecher,  die 
Huren. 

Anfangs  knutet  man  nur  die  Verbrecher  aus  der  niederen 
Klasse  und  bloß  die  Männer.  Aber  im  glorreichen  achtzehnten 
Jahrhundert,  in  dem  Säkulum  der  Frauenregierungen,  macht 


—    136    — 

man  keinerlei  Unterschiede  mehr.  Männer  und  Frauen,  Greise 
und  Kinder,  Bauern,  Leibeigene,  Bürger,  Adelige,  Geistliche, 
Hofdamen  imd  Reichskanzler  —  Alle  müssen  sie  vor  dem  Hen- 
ker niederknien,  um  die  schändende  Tracht  Prügel  zu  empfan- 
gen. Auch  zwischen  dem  schwersten  Verbrechen  oder  dem 
gelindesten  Vergehen  wird  ^cht  mehr  unterschieden.  Die 
häufig  totbringende  Knutenstrafe  wird  angedroht:  1627  den 
Leuten,  die  in  Moskau  auf  der  Waganjkowa  das  beliebte  Faust- 
kampfspiel treiben;  den  Zotenreißern  und  den  Leuten,  die  un- 
züchtige Reden  führen.  Peter  der  Große  läßt  mit  dem  Knut 
schlagen:  die  Händler,  die  altmodische  Kleider  verkaufen; 
die  Gastwirte,  die  unzüchtige  Frauen  beherbergen;  die  Haus- 
bewohner, die  Mist  auf  die  Gasse  werfen  (diese  Unvorsichtigen 
werden  nebenbei  auch  zur  Verbannung  imd  Zwangsarbeit  ver- 
urteilt I) ;  die  Fleischer,  die  tote  Tiere  an  dazu  nicht  bestimmten 
Orten  verkaufen;  die  gesunden  Bettler  (auch  diese  trifft  die 
Katorga,  die  Zwangsarbeit  in  Sibirien!).  Seit  Katharina  IL 
schränkt  man  die  Knutenstrafe  ein,  indem  man  den  Knut  durch 
Pletj,  Spießruten  oder  Ruten  ersetzt.  Aber  verdrängt  wird  der 
Knut  noch  lange  nicht ;  im  Gegenteil,  seine  Bedeutung  wächst, 
er  ist  die  höchste  Strafe,  die  Kapitalstrafe.  Die  Reformatoren 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  weisen  ihm  einen  erhabenen 
Platz  an,  die  Gesetzbücher  von  1833  und  1842  widmen  seiner 
Anwendung  fünfzig  Artikel;  und  erst  1845  streicht  man  den 
Knut  formell  aus  dem  Gesetze,  läßt  man  ihn  aus  der  Theorie 
verschwinden,  um  ihn  in  der  Praxis  imter  anderem  Namen,  als 
Peitsche  und  Rute,  beizubehalten  bis  auf  unsere  Tage. 

Der  Knut  war  indessen  nicht  überall  in  Rußland  in  Ge- 
brauch. In  den  Ostseeprovinzen  kannte  man  ihn  nicht.  Dies 
geht  aus  einem  Aktenstücke  aus  dem  Jahre  1784  hervor.  Ein 
Mädchen,  namens  Leno,  war  zur  Enthauptung  verurteilt  wor- 
den; nach  dem  Gesetz  vom  30.  September  1754  mußte  die 
Todesstrafe  in  Knutenstrafe  umgewandelt  werden.  „Was  soll 
ich  nun  tun?'*  fragt  der  Generalgouverneur,  „da  die  Knuten- 
strafe hier  nicht  üblich  ist  und  es  nicht  einmal  Leute  gibt,  die 
in  solcher  Exekution  bewandert  wären?  Soll  ich  die  Knuten- 
strafe einführen  oder  Ruten  anwenden,  wie  es  hier  gebräuch- 
lich?**    Der  Senat  entschied,  daß  in  den  Ostseeprovinzen  die 


Die  groBe   Knutenstrafe. 

(Nach  einem  niasischen  Bilde.) 


—    137    — 

landesübliche  Rute  statt  des  russischen  Knut  zu  gebrauchen  sei. 
Auch  in  Kaukasien  war  der  Knut  unbekannt,  und  der  Statt- 
halter von  Grusien,  Fürst  Zizianow,  ließ  daher  im  Jahre  1803, 
als  einmal  ein  Verbrechen  nach  dem  russischen  Gesetze  die 
Knutenstrafe  erforderte,  statt  des  Knut  Spitzruten  anwenden. 
Im  übrigen  Rußland  aber  war  die  Knutenstrafe  schließlich 
so  allgemein  geworden,  daß  man  in  den  Ukasen  und  Urteilen 
das  Wort  Knut  gar  nicht  mehr  anzuwenden  brauchte.  Man 
sagte  noch  bis  1845 :  öffentliche  Züchtigung.  In  der  Mitte  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  hieß  es  einfach:  HaKaaame,  Be- 
strafung, im  Gegensatze  zu  Kaant,  Strafe,  Todesstrafe;  oder 
auch  »ecTOKoe  HaKasanie,  harte  Bestrafung.  In  der  Peter- 
schen  Epoche  befahl  man:  HvecTOKoe  zcTasanie  na  Ttedb, 
harte  körperliche  Folter.  Letztere  Bezeichnung  blieb  offiziel 
bis  1808,  traditionell  bis  1830,  wo  man  sie  auf  die  Bauern,  die 
sich  gegen  die  Quarantänemaßnahmen  empört  hatten,  an- 
wandte. Nach  Aufhebung  der  Todesstrafe,  KasHb,  gebrauchte 
man  die  Bezeichnung  Kaanb  für  die  Knutenstrafe.  HaKaaaHie 
oder  KaaiLb,  Strafe,  das  war  dann  ganz  einfach  und  vollkonunen 
selbstverständlich :  der  Knut.  Wollte  man  noch  deutlicher  sein, 
den  Henker  nicht  etwa  zur  Milde  verführen,  so  befahl  man: 
sKecTOKoe  HaKaaanie,  harte  Bestrafung.  Dann  war  kein  Zwei- 
fel möglich.  Und  der  Henker  hatte  den  Richter  nur  noch 
zu  fragen:  „Birrf^e  KHyTOM'b  npocToe,  crh  noiu,a;^OK);  hjiii 
Hema^Hoe,  öeai^  uou;aAii,  Ges'h  BcaKaro  MHJiocepAi^i?"  Das 
heißt:  ,,Mit  Erbarmen  oder  ohne  Erbarmen?  Soll  der  Ver- 
urteilte den  Knut  überleben  ?  oder  soll  er  im  Versehen  getötet 
werden?"  1614  befiehlt  ein  Urteil,  einen  Verleumder  unbarm- 
herzig zu  schlagen.  1616  wird  der  Quarantänechef  Bestuschew 
unbarmherzig  geschlagen,  weil  infolge  der  Nachlässigkeit  seiner 
Wachen  mehrere  Bauern  unter  den  Schlagbäumen  durch- 
schlüpften. 17 19  wird  vorgeschrieben,  einige  pflichtvergessene 
Gerichtsleute  unbarmherzig  zu  schlagen.  1730  werden  Re- 
kruten, die  sich  verstümmelten,  um  nicht  dienen  zu  müssen, 
unbarmherzig  geknutet.  Katharina  II.,  die  Freundin  der  auf- 
geklärten Philosophen,  befiehlt  mit  Vorliebe  nicht  bloß  unbarm- 
herziges, sondern  „allerhärtestes  martervollstes  Schlagen**, 
HaHHCPCTO^aümee  iicTasaHie. 


—    138    — 

Das  Knutschlagen  vollzog  man  gewöhnlich  auf  dem  öffent- 
lichen Platze,  auf  dem  Marktplatze,  wo  viel  Volk  zusammenzu- 
kommen pflegte.  So  verordnete  es  das  Gesetzbuch  Alexejs  im 
Jahre  1649.  In  Moskau  war  der  Rote  Platz  (KpacHaa  njioiii,aÄi>) 
oder  der  Platz  vor  den  Spaßkij-Toren  für  die  Exekutionen  be- 
stimmt; in  St.  Petersburg  wurde  1724  der  Troitzka-Platz  zu 
diesem  Zwecke  ausgewählt.  Zuweilen,  namentlich  in  früheren 
Zeiten,  knutete  man  den  Verbrecher  auch  auf  dem  Orte  seines 
Verbrechens.  Dies  war  laut  dem  Gesetzbuche  Alexejs  immer 
der  Fall,  wenn  jemand  wegen  Beschädigung  oder  Zerstörung 
von  Grenzsteinen  zur  Knutung  verurteilt  worden  war.  1763 
wurde  der  Pseudo-Zar  Kremlew  „in  allen  Dörfern,  in  denen  er 
lügenhafterweise  als  Peter  III.  aufgetreten**,  geknutet.  Räuber 
wurden  durch  alle  Orte,  wo  sie  geraubt  hatten,  herumgeführt 
und  überall  auf  dem  Marktplatz  geknutet.  Erst  1822  befahl 
man :  „nicht  mehr  zu  strafen  wie  ehemals,  nicht  mehr  den  Ver- 
brecher, ohne  Rücksicht  auf  seine  Wunden,  von  Ort  zu  Ort 
zu  führen  und  zu  knuten.**  Aus  einigen  Begleitumständen 
konnte  das  Volk  die  Ursache  der  Strafe  gleich  erkennen.  So 
wurden  nach  Kotoschichins  Bericht  Männer  und  Frauen,  die 
wegen  Unzucht  und  Hurerei  geknutet  wurden,  nackt  herum- 
geführt. Olearius  erzählt:  Männer,  die  für  den  Verkauf  von 
Tabak  den  Knut  erhielten,  mußten  während  der  Züchtigung 
am  Halse  ein  Päckchen  des  unglückseligen  Krautes  tragen. 
Und  Margeret  berichtet,  daß  korrumpierte  Beamte  die  erhal- 
tenen Geschenke  am  Halse  tragen  mußten,  während  sie  ihre 
Knutenstrafe  erduldeten. 

Es  gab  dreierlei  Arten  des  Knutenschlagens :  npocToe 
ÖHTBe  KHyTOM'B,  das  einfache  Knutenschlagen ;  bI)  npoBO^Ky, 
der  Knut  im  Herumführen;  und  na  K03Jii,  der  Knut  auf  dem 
Bock.  Die  einfache  Art  wurde  folgendermaßen  vollzogen: 
Dem  Verbrecher  wurde  das  Hemd  aufgehoben.  Dann  legte 
man  ihn  auf  den  Rücken  eines  Mannes  und  während  dieser 
den  Verurteilten  festhielt,  zählte  der  Henker  die  Schläge  hin. 
Bei  der  zweiten  Art  nahmen  zwei  Henkersknechte  den  Ver- 
urteilten unter  die  Arme  und  führten  ihn  Straße  auf,  Straße 
ab,  und  der  Knutenmeister  ging  hinterdrein  und  hieb  auf  den 
Rücken  des  Verbrechers  los.    1713  wurde  ein  Lieferant,  namens 


—    139    — 

Feodor  Gredow,  „der  an  Rekruten  Brot  und  Kalatschen  zu 
wucherischen  Preisen  verkauft  hatte",  zum  KnyTB  BTb  npoBO^Ky 
verurteilt.  Zum  Knut  im  Herumführen  verurteilte  man  1750 
Leute,  die  während  des  Brandes  von  Nischnij  Nowgorod  gestoh- 
len hatten.  Bis  zur  Zeit  Alexanders  I.  bestanden  alle  drei  Arten, 
von  da  ab  nur  die  letzte :  Der  Knut  auf  dem  Bock.  Wie  diese 
Maschine  (K03Jia,  Bock,  oder  auch  Koömia,  Stute  geheißen) 
früher  beschaffen  war,  kann  man  alten  Quellen  nicht  entneh- 
men. Im  neunzehnten  Jahrhundert  war  sie  ein,  kreuzartiges 
Gestell,  das  der  Verbrecher,  halb  nach  vom  übergebogen,  mit 
den  Händen  umfaßte,  die  man  an  das  Kreuz  anband.  Dann 
knüpfte  man  die  Füße  mit  Riemen  fest.  So  blieb  der  Ver- 
brecher unbeweglich.  L.  A.  Ssärjakow  beschreibt  die  „Stute*', 
die  er  1831  in  Anwendung  sah,  als  ein  Brett  in  der  Größe  eines 
Menschen,  mit  Ausschnitten  für  Hals  und  Hände;  letztere  wur- 
den durchgesteckt  und  mit  Riemen  an  den  Hals  befestigt.  Eine 
offizielle  Beschreibimg  des  Gestells  nennt  dieses  delikat  nicht 
Kobyla,  Stute,  sondern  „Kobylka**,  Stütchen. 

Die  Exekution  mit  dem  Knut  fand  auf  einer  schaffotartigen 
Erhöhung  statt,  so  daß  man  sie  von  allen  Seiten  gut  sehen 
konnte.  Im  Laufe  der  Zeit  bildete  sich  eine  besondere  Zere- 
monie heraus,  die  nach  der  Abschaffung  des  Knut  für  den 
Plet j  beibehalten  blieb :  Nach  Publikation  des  Urteils  wurde 
der  Verbrecher  für  einige  Tage  isoliert  und  an  Ketten  ge- 
schmiedet. Dann  erhielt  er  den  Besuch  des  Geistlichen,  der 
ihm  das  heilige  Abendmahl  reichte  und  Geständnisse  zu  er- 
langen suchte.  In  der  Nacht  vor  der  Exekution  brachte  man 
in  den  Hof  des  Gefängnisses  den  sogenannten  Schand-Wagen. 
Am  großen  Tage  selbst  wurde  frühmorgens  der  Verurteilte 
mit  reiner  Wäsche,  einem  schwarzen  Kaftan  und  einer  schwar- 
zen Schapka  bekleidet.  Auf  die  Brust  hing  man  ihm  ein 
schwarzes  Brett,  worauf  in  weißer  Schrift  das  Verbrechen  ver- 
kündet war.  Nim  setzte  man  den  Delinquenten  rücklings  auf 
den  Schandwagen  und  band  ihn  mit  Riemen  an  einen  Schemel 
an.  Unter  einer  Eskorte  fuhr  man  zum  Schaf fot.  Stelzer  be- 
richtet als  Augenzuge  noch:  „Hinter  dem  Wagen  folgte  der 
Henker  mit  seinen  Gehilfen  imd  der  Verurteilte  mußte  in  den 
gebimdenen   Händen  eine  schreckliche  Wachskerze   halten.** 


—    140    — 

Beim  Schaffet  angelangt,  wurde  der  Wagen  mit  Trommel- 
schlag begrüßt.  Man  stellte  den  Verurteilten  auf  die  Treppe 
des  Schaf fots  und  las  ihm  das  Urteil  vor;  war  „Schandsäule" 
vorgeschrieben,  so  band  man  den  Delinquenten  an  einem  auf 
dem  Schaffot  aufgerichteten  Pfahle  mit  Ketten  fest.  Nach  der 
Verlesung  des  Urteils  kam  endlich  der  spannungsvoll  er- 
wartete Augenblick:  Der  Palatsch  (najia^'b,  Henker)  ergreift 
den  Verurteilten,  reißt  ihm  Oberkleid  und  Hemd  herunter  imd 
holt  aus  einem  Winkel  des  Schaffots  die  Instrumente.  Der 
Henker  muß  ein  Meister,  ja  ein  Künstler  in  seinem  Fache  sein. 
Schon  ein  einziger  Schlag  kann  töten,  imd  doch  darf  kein 
Schlag  fehlgehen.  Auf  ein  Zeichen  des  Exekutionsleiters  holt 
der  Henker  aus  und  schlägt  kreuzweise  auf  den  Rücken  des 
Opfers;  springend  schlägt  er  nach  rechts  und  links,  niemals 
zu  viel  und  niemals  zu  wenig,  niemals  zu  hart  oder  zu  sanft, 
und  inmier  nur  mit  der  einen  Hand,  denn  die  andere  muß 
das  Blut  vom  Riemen  streichen.  Nach  jedem  zehnten  Schlage 
wechselt  der  Henker  den  Knut.  Er  sieht  auch  auf  ein  schönes 
Muster.  Zuerst  schlägt  er  das  Kreuz  auf  dem  Rücken  des 
Delinquenten,  dann  zieht  er  lauter  Querstreifen.  Sind  zahl- 
reiche Schläge  zu  geben,  dann  macht  er  hie  und  da  eine 
Pause  und  stärkt  sich  aus  einer  Wodkaflasche,  die  ihm  zu 
Füßen  steht.  Sinkt  der  Verurteilte  bewußtlos  zusammen,  so 
bindet  man  ihn  los,  der  Arzt  ruft  ihn  ins  Leben  zurück,  und 
dann  erhält  er  den  Rest  der  Pein;  erlassen  wird  kein  einziger 
Hieb.  Nach  beendigter  Knutung  setzte  man  früher  den  Be- 
straften auf  die  Trommel  und  bedeckte  ihn  mit  dem  Tulup, 
einem  Schafpelz.  Sonst  aber  tat  man  nichts  für  den  tötlich 
Verwundeten. 

A.  K.  Grabbe  erzählt  in  seinen  Erinnerungen  i),  daß  die 
wegen  der  Cholerakrawalle  von  1831  Geknuteten  „mit  bluten- 
den Wunden  verschickt  wurden,  so  daß  fast  alle  unterwegs 
starben."  In  der  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  erst 
begann  man  die  Gepeitschten  menschlicher  zu  behandeln. 
Man  bedeckte  den  Delinquenten  nach  der  Peitschung  mit  einem 
Hemd  oder  Kaftan  und  schob  ihn  in  einen  mit  herausziehbaren 


^)  PyccKaa  crapHHa,  1876,  crp.  533. 


—     141     — 

Matratzen  versehenen  Fourgon ;  man  legte  ihn  auf  den  Bauch, 
imd  ein  Feldscher  nahm  neben  ihm  Platz,  um  ihm  ärztliche 
Hilfe  angedeihen  zu  lassen. 

Nicht  das  Gesetz,  sondern  die  Praxis  bestimmte  die  Anzahl 
der  Schläge.  Das  Urteil  des  Gerichts  befahl  einfach;  Schlagen; 
schlagen  auf  dem  Bock;  schlagen  im  Herumführen;  schlagen 
auf  dem  Markte  während  dreier  Tage;  einfach  schlagen  oder 
unbarmherzig  schlagen.  Aber  die  Zahl  der  Schläge  war  bis 
ziun  Jahre  1807  nicht  angegeben;  erst  von  dieser  Zeit  an  mußte 
der  Gerichtshof  auch  die  Zahl  bestimmen.  Die  Praxis  hatte 
indessen  von  selbst  gewisse  Grenzen  festgestellt.  Das  Minimum 
der  Schläge  war  natürlich  i  Schlag.  18 16  erhielt  der  Soldat 
Laschkow  für  Unterschlagung  von  26  Kopeken  einen  einzigen 
Knutenhieb  zugeurteilt,  weil  er  über  64  Jahre  alt  war.  Solche 
Milde  ist  beispiellos  in  der  ganzen  Geschichte  der  russischen 
Straf  Justiz,  und  Alexander  I.  mit  dem  Beinamen:  der  Gütige, 
beeilte  sich  als  Minimum  fünf  Schläge  anzuordnen.  Für  das 
Maximum  gab  es  keine  Ziffer.  Die  Strafe  konnte  zur  Todes- 
strafe werden.  1731  erhielt  ein  gewisser  Stolätow  „wegen  böser 
Worte  gegen  die  Kaiserin"  300  Hiebe.  1828  bekamen  in  Si- 
birien zwei  Verbannte,  die  eines  Mordes  verdächtig,  aber  nicht 
überführt  waren,  300  Schläge.  Im  siebzehnten  Jahrhundert 
verordnete  ein  Urteil  ,,zu  Folterzwecken"  350  Hiebe.  Damals 
verteilte  man  die  mehrere  Hundert  Schläge  auf  mehrere  Tage, 
ja  Wochen ;  man  gab  nach  dem  Zeugnis  Kotoschichins  auf  ein- 
mal nicht  mehr  als  1 50  Schläge.  Zur  Zeit,  da  Haxthausen  Ruß- 
land bereiste,  also  um  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts, 
verhängte  man  als  Maximum  90  Hiebe.  War  einer  unschul- 
digerweise zum  Knut  verurteilt  worden,  so  mußte  ihm  laut 
Ukas  von  1835  ^^s  Gericht  für  jeden  Hieb  200  Rubel  Silber 
Entschädigung  zahlen.  Im  allgemeinen  bedeutete  die  Formel 
„mit  Erbarmen" :  nicht  mehr  als  fünfzig  Schläge ;  „ohne  Er- 
barmen" :  über  fünfzig,  ohne  Begrenzung. 

1840  publiziert  Nikolaj  I.  einen  Ukas:  „Von  der  Knuten- 
strafe befreit  weder  das  hohe  Alter,  noch  Krankheit,  noch. 
Krüppelhaftigkeit,  noch  das  Geschlecht."  Unter  Kaiserin  Katha- 
rina II.  verurteilt  man  einen  Mann  zu  fünfzig  Knutenhieben : 
Graf  Bruce,  der  Kommandant  von  Moskau,  findet  dies  zu  milde. 


y> 


—    142    — 

Aber  mehr  ist  der  TodI**  sagt  man  ihm;  und  er  entgegnet: 
Das  soll  ja  so  sein,  der  Knut  ersetzt  doch  die  Todesstrafe!" 
Furchtbare  Wahrheit.  Der  Knut  war  schon  in  der  gelindesten 
Anwendung  lebensgefährlich.  Kotoschichin  erzählt :  „Nach 
jedem  Schlage  auf  den  Rücken  wird  ein  großer  Streifen  bis 
auf  die  Knochen  abgerissen.**  Le  Bruyn^)  bemerkt:  „Die  den 
Tod  nicht  verdienen,  erhalten  den  Knut.  Aber  man  schlägt 
oft  so  stark,  daß  sie  doch  davon  sterben."  Bei  Breton  heißt 
es  2):  „Jeder  Streich  reißt  ein  Stück  Fleisch  fort.  Der  Be- 
strafte ist  kaum  mehr  lebend.  Es  gibt  keine  Todesstrafe, 
aber  Knut  ohne  Gnade,  und  da  bleibt  der  Gezüchtigte  gewöhn- 
lich tot  oder  er  stirbt  am  Brande  der  Wimden."  Olearius  sah, 
wie  man  eine  Frau  imd  einen  Mann  knutete;  die  Frau  wurde 
nach  dem  sechzehnten,  der  Mann  nach  dem  fünfundzwanzigsten 
Hiebe  bewußtlos;  „ihre  Rücken  glichen  denen  von  Tieren, 
denen  man  die  Haut  abgezogen.**  Schon  aus  dem  Jahre  1493 
erzählt  ein  Annalist,  daß  ein  littauischer  Gefangener  zu  Tode 
geknutet  wurde.  Horsey  war  Zeuge  dessen,  wie  Iwan  der 
Schreckliche  den  Fürsten  Kurakin  „mit  6  Knutenhieben  des 
Rückens,  des  Lebens  imd  der  Eingeweide  berauben  ließ." 
1604  berichtet  Bär:  „Auf  dem  Rücken  blieb  kein  Winkel  un- 
verwundet.** 16 IG  wurde  befohlen,  den  zweiten  Pseudo-Dmitrij 
mit  dem  Knut  zu  Tode  zu  prügeln.  1762  wurden  auf  Befehl 
Katharinas  IL  ungehorsame  Kosaken  zu  Tode  geprügelt.  1782 
knutete  man  einen  Mörder  auf  dem  Newskij-Prospekt  zu  Peters- 
biu-g;  er  blieb  tot  auf  dem  Platze. 3)  Am  5.  September  1800 
wurde  der  Oberst  Grusianow  „wegen  unehrerbietiger  Worte 
gegen  den  Kaiser**  zu  Tode  geknutet.  Man  begann  bei  Sonnen- 
aufgang mit  dem  Prügeln  und  hörte  erst  auf  um  2  Uhr  nach- 
mittags, als  der  dritte  Henker  erschöpft  zusammenbrach  und 
ein  vierter  nicht  aufgetrieben  werden  konnte.  Dem  sterbenden 
Opfer  drückte  man  noch  ein  Brandmarkuhgszcichen  auf.  1824 
schreibt  Dr.  Trifonow,  der  den  Zaren  Alexander  I.  begleitet. 


')  Voyages  III   135. 

-)  a.  a.  O.  IV  59. 

•*)  Skizzen  über  Rußland,  von  J.  J.  Bellermann.  Straßburg  179a.   S.  11. 


—    143    — 

aus  Ssimbirsk:   „Ich  ging  zum  Bestraften,   sein  Rücken  war 
voll  Blut,  ein  Fleischklumpen.** 

Dem  Grafen  Bruce  hatte  auf  seinen  grausamen  Ausspruch 
schon  1748  Senator  Lopuchin  geantwortet:  „Die  Aufhebung 
der  Todesstrafe  gereicht  Rußland  zu  höchstem  Ruhm.  Aber 
wenn  man,  statt  den  Kopf  abzuschneiden,  nunmehr  die  Leute 
mit  dem  Knut  zu  Tode  quälen  soll,  so  ist  das  milde  Gesetz,  das 
die  Aufhebung  der  Todesstrafe  vorschrieb,  zu  einem  barba- 
rischen umgewandelt.**  Lopuchins  Worte  verhallten  ungehört. 
Fürst  M.  Schtscherbatow  klagte  bald  darauf:  „Die  Knuten- 
strafe bedeutet  Todesstrafe.  Man  schlägt  ohne  Berechnung, 
bis  auf  den  Tod;  zuweilen  nüt  Berechnung,  dreihundertmal. 
Einige  Geschlagene  sterben  auf  der  Stelle.  Andere  werden 
bloß  bewußtlos  und  sterben  erst  in  den  Gefängnissen.  Einige 
—  es  gibt  auch  solche  —  sterben  nicht.  Das  Gesetz  hat  die 
Todesstrafe  verboten  —  aber  existiert  noch  irgendwo  eine  so 
martervolle  Strafe  wie  die  Knutenstrafe  ?**  Alexander  I.  nannte 
18 17  den  Knut:  „unmenschlich  hart**,  und  fügte  hinzu:  „es  ist 
beispiellos  in  einem  eiiropäischen  Staate,  daß  die  Härte  der 
Strafe  sozusagen  dem  Gutdünken  des  Henkers  überlassen,  bleibt. 
Dies  entspricht  nicht  den  Zwecken  der  Gerechtigkeit  und  führt 
zu  einer  schrecklichen  Bestrafung,  die  im  Kontrast  zu  dem 
Gesetze  von  der  Aufhebung  der  Todesstrafe  den  Verurteilten 
nicht  selten  unter  furchtbaren  Qualen  tötet.**  Dennoch  blieb 
der  Knut  bis  1845.  Seine  Beseitigung  erfolgte  mit  dieser  Moti- 
vierung: „Bei  der  Knutenstrafe  hängt  es  von  der  Willkür  des 
Henkers  ab,  dem  Verurteilten  den  Tod  zu  geben  oder  ihn, 
dank  einer  Bestechimg,  ganz  leicht  zu  schlagen. **i)    Der  Knut 


1)  Einige  Worte  über  die  Henker  in  Rußland.  Der  Stand  der  Scharf- 
richter wurde  in  alten  2^iten  nicht  für  schimpflich  gehalten;  Kaufleute  gaben 
Geld  her,  um  in  die  Zahl  der  Henker  aufgenommen  zu  werden  (Breton  IV  61). 
„Das  Amt  des  Henckers  (heißt  es  in  der  Reise  nach  Norden,  S.  194)  ist  erblich  / 
derselbe  erzeiget  sich  sorgfältig  /  seine  Kinder  in  seinen  Handwerck  zu  unter- 
richten /  und  lässt  ihnen  ihre  Kunst  an  einem  ledernen  Sacke  lernen".  Nach 
Timofejew  (TitMo<l)eeB7,,  ITcropiff  rlyiecHbixi»  HaKasaniil,  crp.  177)  wurden  im 
17.  Jahrhundert  die  Henker  aus  der  Mitte  der  dienenden  Klasse  genommen; 
sie  bekamen  bestimmten  Gehalt.  Während  des  Strjeljzenaufstandes  mußten 
auf  Befehl  Peters  die  vornehmsten  Herren  aus  der  Umgebung  des  Zaren  als 
Henker  figurieren.     Die  Lage  der  Henker  wurde  erst  eine  peinliche,  als  die 


—    144    — 

wurde  also  verboten;  alle  vorhandenen  Exemplare  ließ  man 
einsammeln  und  in  die  Erde  vergraben.  Nur  einige  wenige 
Stücke  haben  sich  als  Raritäten  in  Museen  und  in  Privatbesitz 
erhalten. 

Merkwürdigerweise  gab  es  auch  Verteidiger  des  Knut; 
nicht  in  Rußland  selbst,  sondern  unter  Westeuropäern  des 
neunzehnten  Jahrhunderts.  So  sagt  Stelzer  im  Jahre  1807: 
„Die  Knutenstrafe  ist  leichter  als  ehemals  die  leichteste  säch- 
sische Strafe  gewesen.  Die  Zaren  Alexej  Michajlowitsch  und 
Peter  der  Große  machten  den  Knut  allerdings  zu  einem  gräß- 
lichen Werkzeug;  aber  welches  Volk  mußten  diese  großen 
Ijeutt  zähmen  1"   Ein  anderer  deutscher  Schriftsteller  i)  schrieb 


russische  Gesellschaft  anfing,  in  der  körperlichen  Bestrafung  etwas  Schimpf- 
liches zu  sehen.  Da  findet  man  oft  schwer  Personen  für  den  Henkerdienst. 
Als  1768  in  Jaroslaw  der  Henker  erkrankt,  kann  der  Polizeimeister  keinen  Ersatz 
für  ihn  auftreiben.  18 18  starben  in  Petersburg  beide  Knutenmeister;  Niemand 
will  ihr  Nachfolger  werden,  man  muß  die  Exekutionen  verschieben.  Ein  Ukas 
von  1836  befahl,  die  Henker  aus  dem  Arrestantenkorps  zu  nehmen.  Die  Henker 
wohnten  in  den  Gefängnissen.  Wenn  sie  in  einen  Kabak  kamen,  durften  sie 
trinken,  soviel  sie  wollten,  und  brauchten  nichts  zu  zahlen ;  das  Glas,  aus  dem 
©in  Henker  getrunken,  wurde  sofort  zerbrochen  (Wemirot,  Rußland  im  Licht 
und  Rußland  im  Schatten,  S.  153).  Die  Henker  verloren  aber  das  Recht  des 
freien  Umhergehens,  als  der  Sohn  des  Marschalls  Davoust  von  einem  Henker 
durch  Bestechung  einen  Knut  erhalten  hatte.  Seither  blieb  der  Henker  einem 
Gefangenen  gleich  in  seiner  Kerkerwohnung,  abgeschieden  von  jedem  Verkehr 
mit  der  Außenwelt,  in  die  er  nur  bei  Exekutionen  trat.  Vom  Jahre  1833  ab  er- 
hielt der  Henker  außer  seiner  Wohnung  200  bis  300  Rubel  jährlich.  Collins 
rühmt  im  17.  Jahrhundert  ,,die  geschmackvolle  und  geschickte  Arbeit  der 
Knutenmeister",  aber  er  erzählt  auch  schon  von  ihrer  sprüchwörtlichen  Be- 
stechlichkeit: Sie  waren  imstande,  mit  einigen  wenigen  Schlägen  zu  töten,  da- 
gegen hundert  Hiebe  auszuteilen,  ohne  daß  der  Bestrafte  darunter  schwer  zu 
leiden  hatte.  Die  Henker  mußten  eine  Schule  durchmachen.  Sie  lernten  ihr 
Handwerk  an  einer  Kobyla,  der  Knutenstute,  auf  der  das  Modell  eines  mensch- 
lichen Rumpfes  (Schultern  und  Rücken)  aus  Birkenrinde  lag.  Die  Instrumente 
(Knut  und  Brandmarkungsutensilien)  lieferte  das  Ministerium  des  Innern. 
1840  wurden  sorgfältig  hergestellte  neue  Musterknuten,  Pleti,  Riemen  für  die 
Kobyla  und  Brandmarkungsutensilien  von  der  Zentrale  an  die  Gouvernements- 
gorichte  ausgefolgt.  Der  Preis  eines  Knut  stellte  sich  für  die  Regierung  nach 
einem  Bericht  aus  dem  Jahre  1768  auf  20  Kopeken. 

1)  Kaiser  Nikolaus  der  Erste  gegenüber  der  öffentlichen  Meinung  von 
Europa.     Weimar  1848.     S.  90. 


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Strafe  der   Batoggen. 

(Nach  eiaem  nissbcben  Bilde.) 


—    145    — 

1848:  „Die  neunschwänzige  Katze  der  Engländer  ist  schlimmer 
als  der  russische  Knut/*  Die  Russen  selbst  waren  indessen 
froh,  den  Knut  endlich  abgeschafft  zu  wissen.  1849  wies  der 
Vertreter  Rußlands  auf  dem  Brüsseler  Kriminalistenkongreß 
mit  Stolz  darauf  hin,  „daß  Rußland  nicht  mehr  hinter  den  auf- 
geklärten Völkern  zurückbleibe,  denn  der  Knut,  dieses  schreck- 
liche Strafwerkzeug,  ist  nicht  mehr  im  Gebrauche.**  Aber  der 
Stolz  war  nur  wenig  berechtigt.  Auf  demselben  Brüsseler 
Kongreß  schon  sagte  jemand  spöttisch:  „Ihr  habt  den  Knut 
bloß  ausgetauscht!**  Und  dies  ist  die  Tatsache:  Die  Bruce 
sind  in  Rußland  nicht  ausgestorben ;  sie  verstehen  es,  den  Knut 
durch  Peitsche  und  Rute  zu  ersetzen,  wie  vor  anderthalb  Jahr- 
hunderten die  Todesstrafe  durch  den  Knut;  die  Namen  sind 
geändert,  die  Barbarei  ist  geblieben. 

In  früheren  Jahrhimderte»,  namentlich  im  siebzehnten  und 
achtzehnten  Jahrhundert,  nahmen  den  zweiten  Rang  unter 
den  Züchtigungsinstrumenten  die  Batogi  (öaTorn,  Stockschläge) 
ein.  „Diese  Stockschläge,**  heißt  es  bei  Breton  i),  „entsprechen 
beynahe  den  Prügeleyen  der  Chinesen.  Der  Schuldige  wird 
auf  den  Bauch  hingestreckt  und  mit  2  Stöcken  auf  das  dicke 
Fleisch  der  Schenkel  geschlagen.  Die  Strafe  ist  hauptsächlich 
beim  Militär  und  bei  den  Leibeigenen  in  Gebrauch.**  Der  Arzt 
Wichelhausen 2)  schilderte  den  Vorgang  als  Augenzeuge:  „Der 
Verbrecher  wird  auf  ein  Bund  Stroh  gelegt.  Ein  Mann  setzt 
sich  auf  den  Kopf  und  ein  anderer  Mann  auf  die  Füße  des 
Verurteilten.  Dann  werden  ihm  mit  Bündeln  von  kleinen  Wei- 
denruten 3)  der  Rücken,  die  Seiten  und  zuletzt  der  vordere  Teil 
des  Körpers  jämmerlich  zerhauen.**  Ein  sprichwörtlicher  rus- 
sischer Drohruf  ist :  ;,Ich  lasse  dir  die  Batogi  auf  alle  vier 
Seiten  geben.**  Diese  Art  wurde  einst  so  vollzogen:  „Sobald 
der  Rücken  zerfleischt  war,  entblößte  man  Hüften  und  Schenkel 
und  hieb  sie  wund.  Darauf  legte  man  den  Patienten  auf  den 
Rücken   und   auf  die  Seite   und  prügelte  auf  diese  und   den 


t 


1 


1)  a.  a.  O.    IV  53. 

')  Gemähide  von  Moskwa.     1803.     S.  257,  Anmerkung. 

^)  Also  nicht  mit  Stöcken? 
Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  lo 


—    146    — 

Bauch/*^)  Die  Batogenstrafe  hatte  auch  eine  müdere  Fonn: 
Schlageil  auf  die  Fußsohlen  und  die  Waden.  Diese  Art  worde 
gegen  säumige  Schuldner  angewendet.  Die  Zahl  der  Schlage 
war  nicht  von  vornherein  festgesetzt;  man  schlug  so  lange, 
bis  der  Herr  oder  Richter,  der  die  Strafe  anbefohlen  hatte,  rief: 
polno,  stoj!  (normo  oder  ctoü:  genug!  halt!) 

Die  Batogi^)  standen  in  der  Reihenfolge  gleich  hinter  dem 
Knut.    Die  höchste  Batogistrafe  hieß:   Bvrbcro  KHrra.  anstatt 
(l('s  Knut.    Strujs  berichtet,  daß  man  im  allgemeinen  jene  mit 
B<itogcn  strafte^  die  nicht  imstande  schienen,  den  Knut  aus- 
/uluiltcn.    Doch  schon  Korb  en^-ähnt  die  Möglichkeit,  daß  man 
ebenso  wie  mit  dem  Knut  auch  mit  den  Batogi  einen  Menschen 
luich  wenigen  Hieben  töten  konnte.    Das  sogenannte  unbarm- 
hrrzig<»  Schlagen  wurde  stets  verhängnisvoll,  ob  das  Instrument, 
<l;is  vMT  Anwendung  gelangte,  nun  Knut  oder  Batog  war.    Für 
die  Verwirrung  in  der  russischen  Justizpflege,  für  den  Mangel 
jeder  l'ahigkcit  einer  Unterscheidung  zwischen  schweren  und 
leic  hten  Verbrechen,  liefert  die  Geschichte  der  Batogenstrafe 
neue  drastis(^he  Beweise.    Unbarmherzig  mit  Batogen,  also  so- 
/iisa^jen  /u  Tode  geschlagen  werden  1623  Leute,  die  die  Zölle 
ni(  In  bezahlten.    1718  befiehlt  Peter,  einem  gewissen  Krassows- 
Icij  unbarmherzig  die  Batogi  zu  geben,  „weil  er  in  dem  Briefe 
an  Se.  Majestät  nichts  Wichtiges  mitgeteilt  hat.**     1732  wird 
ein  gewisser  Bobnew  wegen  Betrugs  zu  einer  Knutenstrafe  ver- 
urteilt ;  „aber  seines  hohen  Alters  wegen  und  zur  Gesundheit 
Ihrer  Majestät**  begnadigt  ihn  Kaiserin  Anna  zu  unbarmherziger 
liatogcnstrafe.     1736  ordnet  ein  Ukas  derselben  Kaiserin  an, 
die  freiwillig  zurückkehrenden  Flüchtlinge  unbarmherzig  mit 
Batogen,  statt  mit  dem  Knut  zu  schlagen,  ,,da  sie  nach  natür- 
lichem  Recht   geringer   bestraft   werden   können.**     Unbarm- 
herzig mit  Batogen  geschlagen  werden  1770  die  Starosti  und 
Ssotskije^),  die  einige  der  Zauberei  beschuldigte  Bauern  eigen- 
mächtig prügeln  ließen.     Das  Schlagen   mit   Batogen  wurde 


^)  Nach  Geißlcr  und  Richter  bei  Fmsta;  Flagellantismus  und  Jesuiten- 
beichte.    S.  250. 

'   J^)  TiiMo(j>o(>m,,  TTcT(i]>in  naKananirt,  180—187. 

•*)  (Ta|iMT:i,    Dorfältester,   und    rnjcKif,   Hundertmänner,   Bauern,    die 
eine  Aufsicht    über  hundert  Bauern  oder  hundert  Häuser  hatten. 


—    147    — 

auch  „mit  Verstärkung"  oder  „mit  Abschwächung"  anbe- 
fohlen, nämlich  „ohne  Hemdchen"  oder  „mit  Hemdchen" 
(cHHBTb  pyöaniKy  oder  fb  pyöamici).  17 13  befiehlt  bei- 
spielsweise Peter,  einen  Flüchtling  statt  mit  dem  Knut  mit 
„Batogen  ohne  Hemdchen"  zu  schlagen.  Die  Differenz  mag 
eine  gar  geringe,  eine  Art  kaum  weniger  schmerzhaft  als  die 
zweite  gewesen  sein.  Mit  anderen  Strafen  zusammen  wurden 
die  Batogen  selten  angeordnet.  So  bekamen  1661  nachlässige 
Dienstleute  der  Krone  außer  Batogen  auch  einige  Tage  Ge- 
fängnis zudiktiert;  1662  erhielten  einige  Offiziere  außer  Ba- 
togen die  Strafe  der  Verbannung;  auch  Peter  der  Große  be- 
strafte 1707  Beamte,  die  nicht  pünktlich  zum  Dienst  erschienen, 
außer  mit  Batogen  mit  Verbannung  nach  Asow  und  mit  Güter- 
konfiskation. 

Das  Wort  Batog  (öaTorB)  findet  man  schon  in  alten  Chro- 
niken. Zeugnisse  für  die  Anwendung  der  Batogi  in  der  Justiz 
gibt  es  seit  dem  sechzehnten  Jahrhundert,  aber  erst  im  sieb- 
zehnten Jahrhimdert  beginnt  die  Blütezeit  dieses  Strafinstru- 
ments. Das  Gesetzbuch  Alexejs  (yjioaceme  1649  r.)  verordnet 
die  Batogenstrafe  für :  Prügeleien  in  der  Kirche ;  Waffentragen 
am  Zarenhofe ;  Ungehorsam  gegen  den  Vorgesetzten ;  und  unbe- 
rechtigte Schankwirtschaft.  In  einem  Tobolsker  Aktenstück 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  wird  Batogenstrafe  festgesetzt 
für:  Schlägerei  und  Beleidigung  in  der  Trunkenheit;  Beleidi- 
gung oder  Bestechung  von  Beamten ;  und  widerrechtliche  Frei- 
lassimg von  Gefangenen.  Auch  Staatsverbrecher  wurden  schon 
im  siebzehnten  Jahrhimdert  mit  Batogen  gezüchtigt,  so  1649 
drei  Pskower  Aufrührer.  In  den  Geheimkanzleien  der  Zaren 
Alexej  und  Peter  wurden  politisch  Verdächtige  mit  Batogen- 
streichen  zu  Geständnissen  gezwungen.  1764  ließ  Katharina  II. 
einem  Genossen  des  Hochverräters  Mirowitsch  die  Batogen 
geben.  18 19  verurteilte  der  Gouverneur  von  Twer  einen  Mu- 
schik  wegen  Majestätsbeleidigung  zur  Batogenstrafe,  und  der 
Gouverneur  von  Wjatka  izüchtigte  auf  gleiche  Weise  die  Teil- 
nehmer des  Bauernaufstandes  von  18 18.  Für  Fälle,  die  im 
Gesetze  nicht  vorgesehen  waren,  verordneten  die  Richter  will- 
kürlich mit  Vorliebe  Batogen:  1667  wird  ein  Gonez  (roHei^Tb, 
Kurier),  der  ein  Aktenstück  verloren  hat,  zur  Batogenstrafe 


—    148    — 

veruneüt.  Am  27.  Dezember  1684  dekretieren  Iwan  und  Peter 
gemeinsam  ..unbarmherziges  Batogenschlagen  für  unanständige 
Reden  bei  Hofe."  1702  erhält  der  Hofbeamte  Naumow,  der 
seinen  Bart  nicht  rasieren  ließ,  zur  Strafe  dafür  die  Batogi. 
Leute,  die  an  Sonn-  und  Feiertagen  den  Kirchenbesuch  unter- 
lassen, riskieren  die  Batogi.  Die  Polizei  sieht  in  dieser  Züch- 
ligungsar.  ein  vonreffliches  Korrektionsmittel.  In  der  Instruk- 
tion des  Moskauer  Oberpolizeimeisters  von  1722  wird  Batogen- 
strafe  angedroht  für :  ..Heizen  der  Öfen  in  nicht  dazu  bestimmter 
Zeit"  und  \>runreinigimg  der  Gassen. 

Seit  der  rweiten  Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  wer- 
den die  Batogi  allmählich  von  anderen  Strafen  \'erdrängt.  Das 
Reformprojekt  von  1754  sieht  Batogri  hauptsächlich  für  drei 
Fälle  vor :  Blutschande  in  entfernteren  \'erwandtschaf tsgraden ; 
..Hurerei  gemeiner  Leute";  und  Ehebruch.  Die  Reformkom- 
mission  von  i~co  nahm  das  Projekt  von  1754  auf;  im  Projekt 
von  iSi  ;  aber  'wird  nur  konstatien :  „ein  Ukas  von  1  —  ^  befahl 
die  Batogi  als  existierende  Strafe  zu  zählen,  in  den  Gesetzen 
geschieht  ihrer  jedoch  keine  En^ähnung  mehr."  Die  Batogen- 
sirafe  Miirde  seither  noch  in  ungesetzlicher  Weise,  vereinzeh,  wie 
w:r  gesehen  haben,  von  Gouverneuren  angeordnet.  Aber  die 
Lebensfähigkeit  der  russischen  Körperstrafen  zeig:  sich  auch 
:n  der  Geschichie  der  Baroin.  Als  diese  im  neunzehnten  Tahr- 
hur.ier:  verschwanden,  cef-chah  dies  e:gen:l:ch  wie  beim  Knut 
r.JT  ier.--  N\in"ier.  nach,  in  Wahrheit  M:ebon  sie  in  der  Form 
ifT  Tj^lk*  T.:-,7.y^..  5:ojke  bestehen,  die  noch  lange  Zeit  die 
Hr.r^.rrjT.i:  ^n  die  Vergan^ienhe::  wachhielten;  aber  diese 
^::•:i:t  i-rrtir.  ..n:ch:  cicxcr  a-5  der  Kleine  r:n*:er  sein  :  wohl 
■ivjLrer.  urh  i:-e  Ba:.  i:i  nur  ..fingerdick*",  evi-.xh  :-ch'.:e  bei 
Ir-^-    i  -   r^-s'.n-.n.ur.i:.    wilchfr  Fmcer    d-is    M.i3   anruceben 

*  t. t  *-.-Ä .    .1..   v-t .-  \  «-.*. .i...j.*e- 1  n- 

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Mijui:     s     -.'.ri   ifn  K:*ivikfr.  rur  ien  X'erk.iu!  \on  XT.>nsN.iIz 
rizrr  5rrjj-    ' m  IC  "rif  ^c  5:o:ks:hlai:er.  ,-*ni::x::\^h:     l^?e  Teil- 

—    .  1._  -  —       -  —         -  -  —        Tl       •  •   ■  •—  -  .-•i»  ■-  —   ■•  rf«—  V.  -"••  •  -*~       •»»••        ^-    ^  .*•-  .-.«        — •-. 

W ütrrj.:!:.  :i*-  •crur:-.:!:  icr  Ka:>x*r  n:eh:  a".<  :auscnd 


—    149    — 

Bauern  zu  je  250  Stockschlägen.  Auch  auf  die  Rücken  seiner 
Soldaten  läßt  Nikolaj  I.  gern  die  Stöcke  herniedersausen; 
aus  einer  geheimen  Mitteilung  über  Unordnungen  im  Sseme- 
nowschen  Regiment  geht  hervor,  daß  dort  im  Jahre  1820  im 
Laufe  von  sechs  Monaten  44  Mann  zusammen  14250  Stock- 
prügel auszuhalten  hatten.  Die  Stöcke  waren  endlich  eine 
beliebte  Disziplinarstrafe  in  den  Ostseeprovinzen.  Der  Guts- 
herr hatte  das  Recht,  seinen  Leibeigenen  oder  Bauern  als  Haus- 
zucht 15  Schläge  zu  verabreichen;  die  Polizei  in  den  Balten- 
ländern konnte  aber  bis  zu  80  Stockhieben  (gleich  zehn  iPaar 
Ruten  ä  10  Schläge)  nach  estländischer  und  bis  zu  30  Stöcken 
nach  livländischer  Ordnung  (aus  dem  Jahre  18 19)  gehen. 
Frauen,  sowie  Kinder  unter  15  Jahren  waren  von  der  Stock- 
strafe ausgenommen,  erhielten  bloß  Ruten. 

Schon  im  achtzehnten  Jahrhundert  traten  an  die  Stelle 
der  Batogi  als  die  dem  Knut  nächstschwere  Strafe  die  Pleti 
(njieTH,  Peitschen).^)  Die  Pleti  bestanden  aus  einem  kurzen 
hölzernen  Griff  und  einer  ledernen  Peitsche  in  Fingerdicke. 
Bis  1839  war  die  Peitsche  zweischwänzig,  später  drei- 
schwänzig.2) 

Die  Pleti  hatten  namentlich  in  den  Kreisen  der  Geistlich- 
keit eine  schreckliche  Bedeutung.  Die  geistlichen  Gerichte 
verurteilten  die  ihnen  unterstehenden  Kleriker  und  Laien  für 
das  geringste  Vergehen  zur  Peitschenstrafe,  die  kirchliche 
Obrigkeit  sah  in,  den  Pleti  das  allwirkende  Disziplinarmittel. 
Die  große  Ausbreitung,  ja  die  allgemeine  Herrschaft  der  geist- 
lichen Methode  der  Bestrafimg  durch  Peitschenhiebe  erkennt 
man  daraus,  daß  beispielsweise  im  siebzehnten  Jahrhundert 
unter  dem  Terminus  „klösterliche  Demütigung**  glattweg  Pleti 


^)  THMü<J)eein>,  a.  a.  O.     187  ff. 

^)  Ein  modemer  Reisender,  de  Windt,  beschreibt  in  seinem  Buche  ,,Von 
Peking  nach  Calais  über  Land",  S.  415,  die  Pleti  also:  ,, Die  Riemen  aus  gefloch- 
tener Rindshaut,  zwei  Fuß  lang,  laufen  unten  in  dünne  Streifen  aus,  an  deren 
Enden  kleine  Bleikugeln  eingeflochten  sind.  Es  ist  ein  furchtbares  Instrument. 
Ein  geschickter  Peitscher,  der  dem  Bestraften  rechte  Schmerzen  verursachen 
will,  lockt  kein  Blut  hervor,  das  die  Schmerzen  lindert,  sondern  fängt  leise  an  und 
vergrößert  nach  und  nach  die  Kraft  des  Schlages,  bis  der  ganze  Rücken  mit 
langen  geschwollenen  Striemen  bedeckt  ist". 


—    150    — 

verstanden  wurden.  Jemanden  „durch  klösterliche  Demüti- 
gung zähmen**  hieß :  ihn  unbarmherzig  mit  Pleti  schlagen. 
Der  Archimandrit  des  Tichwinschen  Klosters  verordnet  am 
15.  November  1663  für  Trunkenheit  und  Faulenzerei:  harte 
Zähmung  und  Demütigung,  ohne  Mitleid  (acecTOKoe  CMHpeme 
6e3i>  noiu,aÄM).  Ein  Urteil  des  genannten  Klosterobern  aus 
dem  Jahre  1678  befiehlt,  den  Greis  Ignatij,  der  den  Greis 
Manassij  in  der  Trunkenheit  verwundet  hat,  mit  Pleti  zu  de- 
mütigen. Die  von  den  weltlichen  Behörden  mit  Knut  bestraften 
Verbrechen  werden  von  den  kirchlichen  Autoritäten  mit  der 
Pletistrafe  belegt;  dieses  Mildere  ist  aber  in,  der  Tat  nicht 
immer  das  Leichtere.  Entsprechend  dem  Charakter  der  Zeit 
sind  auch  die  Pleti,  selbst  als  simple  Disziplinarmaßregel,  genug 
hart.  1666  klagen  die  Mönche  von  Ssolowezk,  daß  ihr  Archi- 
mandrit sie  mit  der  Peitsche  in  unbarmherziger  Weise  demütige. 
1651  läßt  der  Protopop  von  Oljschanskij  in  der  Eparchie  von 
Bjelogorod  einen  Geistlichen  so  grausam  peitschen,  daß  der 
Gezüchtigte  nicht  mehr  fähig  ist,  sich  zu  erheben.  Ein  bei  der 
Geistlichkeit  beliebter  Befehl  lautet:  Die  Verurteilten  „nackt** 
peitschen,  ohne  Hemdchen.  Die  geistlichen  Behörden  strafen 
mit  der  Peitsche  auch  die  Laien,  sobald  diese  der  kirchlichen 
Gerichtsbarkeit  unterstehen.  1752  peitscht  man  in  der  Eparchie 
von  Bjelogorod  eine  Frau,  die  einen  Geistlichen  verleumdet 
hat.  1755  erhält  in  derselben  Eparchie  eine  Witwe,  die  mit 
einem  verheirateten  Manne  ein  Verhältnis  angefangen  hat,  auf 
Verlangen  der  betrogenen  Gattin  die  Peitsche.  Die  Peitschung 
des  weiblichen  Geschlechts  macht  auch  bei  den  Nonnen  keine 
Ausnahme.  Ein  Ukas  von  1754,  das  der  hochwürdige  Jossaf 
publiziert,  verordnet  die  Peitschung  von  18  Nonnen  wegen 
eines  Disziplinarvergehens.  1750  befiehlt  der  Metropolit  Pia- 
ton von  St.  Petersburg,  den  Beamten  des  Konsistoriums,  Chari- 
tonow,  „für  seine  Frechheit  und  Unverschämtheit  angesichts 
der  anderen  Kanzlisten  mit  der  Peitsche  zu  bestrafen**;  aber 
daß  diese  Züchtigung  keine  Schandstrafe  ist,  die  Ehre  nicht 
tangiert,  geht  daraus  hervor,  „daß  Charitonow  nach  empfan- 
gener Strafe  in  seine  Stellung  zurückkehren  soll.**  Die  Zahl 
der  Schläge  ist  nicht  bestimmt.  Es  heißt  einfach:  hart  peit- 
schen, ohne  Mitleid,  unbarmherzig.    Der  Willkür  ist  alles  an- 


—    151    — 

heimgestellt.  1759  erhält  ein  Geistlicher  „für  freches  Benehmen 
gegen  den  Bischof*'   103  Peitschenhiebe. 

Neben  den  Pleti  kannten  die  Geistlichkeit  und  die  Wolost- 
gerichte  (Dorfgerichte)  als  Strafmittel  die  Schelepy  (lueJienH, 
Peitschen  aus  Bindfaden  oder  Bast  geflochten),  eine  Art  Knut 
mit  kurzem  Stiel.  In  bezug  auf  Härte  und  Schwere  der  Strafe 
standen  die  Schelepy  den  Pleti  nach  und  den  Batogi  am  näch- 
sten. Auch  bei  der  Strafe  der  Schelepy  verordnete  man  keine 
bestimmte  Anzahl  der  Schläge,  sondern  bloß  allgemein:  ein- 
faches Schlagen  (npocToe  6iiTbe)  oder  unbarmherziges  (nemaA- 
Hoe).  1695  wird  eine  Frau  namens  Tatjana  unbarmherzig 
mit  Schelepy  geschlagen,  weil  sie  einen  Popen  der 
Hurerei  verdächtigte.  1756  erhalten  auf  Befehl  des  Synod 
216  Mönche  und  Laien,  die  als  Mitglieder  der  Quäkersekte 
angezeigt  wurden,  die  Schelepy.  Wie  die  Pleti  werden  die 
Schelepy  häufig  für  Sittlichkeitsvergehen  angeordnet.  1700 
befiehlt  der  Patriarch  Hadrian,  die  Paare,  die  in  wilder  Ehe 
miteinander  leben,  imbarmherzig  mit  den  Schelepy  zu  peitschen. 
Endlich  sind  die  Schelepy  allgemeines  Disziplinarmittel  in  den 
geistlichen  Schulen,  wie  aus  einer  Instruktion  der  slawisch- 
griechischen  Schule  aus  dem  Jahre  1730  ersichtlich  ist;  die 
Strafe  soll  an  dem  Schuldigen  angesichts  aller  Mitschüler  voll- 
zogen werden. 

Die  Schelepy  blieben  eine  absolut  geistliche  Züchtigungs- 
methode, die  Pleti  aber  fanden  auch  in  das  Familienleben  und 
in  die  weltliche  Gerichtsbarkeit  Eingang.^)    Von  der  Bedeutung 


1)  Wie  in  Rußland  war  in  den  meisten  Ländern  der  alten  und  neuen  Welt 
das  Peitschen  eine  der  gebräuchlichsten  Strafen.  Als  die  Israeliten  ihren  König 
Rehobeam  anflehten,  das  Joch  zu  mildem,  unter  dem  sie  zur  Zeit  Salomonis  ge- 
seufzt, gab  ihnen  der  junge  Herrscher  zur  Antwort:  „Mein  Vater  hat  euch  mit 
simplen  Ruten  geschlagen;  ich  werde  euch  schlagen  mit  eisernen".  Im  alten 
Persien  peitschte  man  selbst  die  Herren;  Artaxerxes  Langhand  befahl  jedoch, 
daß  man  nur  die  Kleider,  nicht  die  Menschen  schlagen  solle.  Bei  den  alten  Römern 
war  die  Peitsche  die  Strafe  der  Sklaven.  Im  römis:hen  Kaiserreich  peitschte 
man  Verbrecher  zu  Tode.  Vatermörder  peitschte  man  vor  dem  Vollzug  der 
Todesstrafe.  In  Sparta  gab  man  den  Heloten  täglich  eine  Portion  Peitschenhiebe, 
damit  sie  nicht  an  ihre  Sklaverei  vergessen  sollten.  In  China  peitschte  man 
die  Kläger,  um  sie  zu  lehren,  daß  sie  nicht  die  Behörden  und  den  Hof  unnützer- 
weise belästigten.   Dasselbe  war  in  Ceylon  der  Fall,  wo  der  Herrscher  Bittsteller 


—    152    — 

der  Peitsche  in  der  Häuslichkeit,  als  Instrument  der  väterUchen 
Züchtigung  und  der  Züchtigung  der  Gattin  durch  den  Gatten, 
war  teils  schon  die  Rede,  wird  teils  noch  die  Rede  sein.  Am 
2.  November  1733  befahl  ein  Ukas  der  Zarin  Anna:  „Danüt 
die  Bestraften  fähig  bleiben  zum  Dienste  in  der  Armee  soll  man 
die  Peitschenstrafe  der  Knutenstrafe  vorziehen.**  Im  achtzehn- 
ten Jahrhundert  begannen  die  Pleti  in  der  weltlichen  Gerichts- 
barkeit eine  dominierende  Stellung  unter  den  Körperstrafen 
zu  gewinnen  und  gleichzeitig  die  wichtigste  Waffe  des  Guts- 
herrn gegen  seine  Leibeigenen  zu  werden.  Die  Gerichte 
der  Edelleute  bedienten  sich  der  Pleti  für  die  Hauszucht  in 
furchtbarem  Maße.  Die  Disziplinarordnung  eines  Edelmannes 
aus    dem   Jahre    1765    kennt    für   Vergehen   der   Leibeigenen 


und  Kläger  peitschen  ließ.  In  Marokko  spielt  die  Peitsche  bei  allen  Gerichts- 
verhandlungen eine  Rolle.  In  San  Domingo  koppelten  die  Spanier  die  Einge- 
borenen wie  Vieh  zusammen  und  zwangen  sie  dann  mit  Peitschenhieben  zu 
marschieren.  Wie  in  Rußland  die  Peitsche  Lieblingsinstrumcnt  der  Geistlich- 
keit, so  auch  im  katholischen  Europa.  Einige  Konzile  befahlen  die  Peitschung 
der  Häretiker.  Im  Frankreich  des  heiligen  Louis  regierte  die  Peitsche  auch  bei 
Hofe.  Der  heilige  König  selbst  ließ  sich  von  seinem  Beichtvater  peitschen. 
Clotaire  I.  befahl  seinen  rebellischen  Sohn  Charamne  nackt  auf  eine  Bank  zu 
legen  und  halbtot  zu  peitschen.  Ein  Freund  grausamen  Peitschens  war  Fr6d6- 
gond.  Später  wurden  in  Frankreich  Sklaven  und  Leibeigene  für  die  geringsten 
Vergehen  mit  150  Peitschenhieben  bestraft.  Im  14.  Jahrhundert  peitschte  man 
die  Narren,  im  15.  nächtliche  Ruhestörer.  Die  Kirche  befahl  Häretiker  öffent- 
lich zu  peitschen.  Diese  Strafe  erlitt  Raymond  VI.  Graf  von  Toulouse.  Ludwig 
VIII  von  Frankreich  und  Heinrich  II.  von  England  unterzogen  sich  freiwillig 
der  kirchlichen  Peitschenstrafe.  Heinrich  IV.  von  Frankreich  erhielt  öffent- 
lich in  Rom  von  Papst  Clemens  VIII.  einige  Hiebe.  Wie  bei  den  Russen  gab  es 
auch  bui  den  Franzosen  zweierlei  Arten  IVitschcnstrafc :  die  öffentliche  durch 
Henkershand,  als  diffamierende;  die  andere  im  Gefängnisse  als  nicht  dif- 
famierende. Am  französischen  Hofe  hatten  die  Edelleute  das  Recht  die  Pagen 
zu  peitschen.  Im  17.  und  18.  Jahrhundert  peitschte  man  in  den  Gefängnissen 
die  sittenlosen  Mädchen  und  Weiber.  1789  wurde  in  Frankreich  die  Peitschen- 
strafe aufgehoben.  In  England  kannte  das  Gesetz  ebenfalls  zwei  Arten  der 
Peitschenstrafe,  die  öffentliche  und  im  Gefängnis.  In  Konstantinopel  und  in 
Madrid  war  die  Peitsche  bis  in  die  jüngste  Zeit  bekannt.  Die  Missionäre  des 
Christentums  lehrten  den  Glauben  an  Jcsum  mit  der  Peitsche.  Die  Jesuiten  in 
Paraguay  peitschten  Alt  und  Jung,  Männer  und  Weiber  nackt.  Von  den  Mis- 
sionären, die  die  Kongoneger  bekehrten,  wird  erzählt,  daß  sie  die  Mütter  der 
Kinder,  die  man  ihnen  zur  Taufe  brachte,  peitschten,  bis  auch  die  Mütter  den 
Irrtum  abschworen.    Vgl.  Dictionnaire  de  la  p6nalit6  IV  loi — 112. 


—    153    — 

Strafen  bis  zu  hundert  unbarmherzigen  Peitschenhieben.  Na- 
türlich bemächtigten  sich  auch  die  Gefäng^isverwalter  und 
die  Polizei  der  Pleti ;  A.  M.  Turgenjew  erzählt,  daß  der  Peters- 
burger Polizeimeister  Tschitscherin  und  der  Moskauer  Polizei- 
meister Tatischtschew  in  ihren  Droschken  stets  eine  Peitsche 
mitführten,  „die  man  zärtlich  Podlipika  (noAJinnnKa,  Schmeich- 
lerin) nannte,  weil  sie  bloß  den  Rücken  streichelte,  aber  keine 
Erinnerung  hinterließ.** 

In  der  Praxis  der  weltlichen  Gerichte  avanzieren  die  Pleti 
um  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  nach  der  Auf- 
hebimg  der  Knutenstrafe  durch  das  Gesetzbuch  Nikolajs  I. 
(yjiOHcenie  1846  r.)  zur  gesetzlichen  schwersten  Körperstrafe. 
Über  die  Frage  der  Schwere  der  Pleti  im  Vergleiche  zu  den 
anderen  russischen  Züchtiglingsinstrumenten  sind  die  Ansichten 
verschieden.  Professor  Filippow  beruft  sich  auf  einen  Senats- 
ukas,  der  „für  unehrerbietige  Worte  gegen  die  zarische  Maje- 
stät** statt  der  Knutenstrafe  die  Pletjstrafe  anordnet,  und  schließt 
daraus,  daß  die  Pleti  für  härter  erachtet  wurden  als  der  Knut. 
Timofejew  tritt  jedoch  dafür  ein,  daß  die  Ersetzung  des  Knut 
durch  die  Pleti  eine  Milderung,  nicht  eine  Verschärfung  be- 
deutete.^) Diese  Ersetzung  geschieht  schon  im  achtzehnten 
Jahrhundert  oft  genug.  1700  erhalten  Diwow,  der  sich  be- 
stechen ließ,  und  Kolytschew  als  Bestecher  statt  des  Knut : 
die  Pleti  „ohne  Hemdchen**.  Dieser  Ausdruck  weist  auf  die 
Verwandtschaft  der  Pletjstrafe  mit  der  Batogenstrafe  hin,  die 
zweifellos  milder  war  als  Knut.  1701  bekamen  Ssokolow  und 
Sseliwanow,  in  einer  und  derselben  Affäre,  der  erstere  für 
schwere  Schuld  den  Knut,  der  letztere  für  geringere  Schuld 
die  Pleti;  1723  ereignete  sich  das  Gleiche  bei  der  Bestrafung 
zweier  Personen  wegen  unehrerbietiger  Worte  gegen  den  Zaren. 
Man  kann  demnach  mit  Timofejew  annehmen,  daß  Pleti 
leichter  waren  als  Knut  und  schwerer  als  Batogi. 

Die  von  den  weltlichen  Gerichten  verhängte  Pletjstrafe 
war  ähnlich  wie  der  Knut  von  zweierlei  Art :  die  schwerere,  als 
Gerichtsstrafe,  wurde  öffentlich  vom  Henker  vollzogen;  die 
geringere  bekam  man  bei  der  Polizei.    So  gingen  in  allem  und 


^)  TiiMCHtteeBi»,  a.  a.  O.     192. 


—    154    — 

jedem  der  Schrecken  lund  die  Schande  der  Knutenstrafe  auf 
die  Pletjstrafe  über,  die  schließHch  auch  vom  Knut  die  Be- 
zeichnung ,, harte  Strafe**  übernahm.  1752  wird  einem  Lebens- 
mittelwucherer „harte  Strafe**  zudiktiert :  man  peitscht  ihn  mit 
Pleti;  im  selben  Jahre  erhält  der  Kaufmann  Tschetschilin  für 
Wechselfälschung  als  „harte  Strafe**  (iKecTOKoe  HaKasanie): 
Pletjhiebe.  Auf  die  Pletjstrafe  verpflanzt  man  ferner  die  Zere- 
monien der  Knutenstrafe.  Die  Exekution  mit  den  Pleti  wird 
wie  die  des  Knut  auf  der  Kobyla,  der  Stute,  vorgenommen, 
öffentlich,  durch  Henkershand.  „Die  Lebensmittelwucherer/* 
befiehlt  Kaiserin  Elisabeth,  „peitsche  man  im  Angesichte  aller 
Handelsleute  unbarmherzig  mit  den  Pleti.**  Auch  wird  die 
Pletjstrafe  gleich  der  Knutenstrafe  zuweilen  auf  dem  Orte  des 
Verbrechens  vollzogen.  Kaiserin  Elisabeth  ließ  den  Leutnant 
Lanskoj,  der  einen  Raub  begangen  und  die  Beraubten  noch 
gepeitscht  hatte,  an  dem  Orte  seines  Verbrechens  peitschen; 
,,er  werde  an  dem  Orte,  wo  er  andere  gepeitscht  hat,  ebenso 
behandelt.**  Wie  das  Gesetzbuch  Alexejs  die  Verbrecher, 
welche  Grenzsteine  zerstörten,  auf  dem  Platze,  wo  3as  Ver- 
brechen geschehen,  knuten  ließ,  so  befahl  Katharina  IL  1774 
die  Bauern,  welche  die  Grenzsteine  vernichtet  hatten,  an  dem 
Orte  des  Verbrechens  zu  peitschen.  Nikolaj  L  befahl:  „die 
Verbrecher  zu  peitschen,  in  der  Stadt  auf  dem  Marktplatz,  im 
Dorfe  auf  einem  möglichst  freien  Platze.**  Eine  weitere  Ana- 
logie zwischen  Knut  und  Plet j  ^) :  Beiden  folgt  in  wichtigen 
Fällen  die  Verbannung.  Zuweilen  wird  der  mit  Pletj  Bestrafte 
statt  in  die  Verbannung  zum  Militär  geschickt.  So  werden 
1773  einige  Teilnehmer  an  der  Pugatschewtschina  nach  der 
Pletjstrafe,  „damit  sie  ihr  Verbrechen  mit  Blut  abwaschen,  zum 
Dienste  gegen  die  Feinde**  bestimmt. 

Schlagen  mit  Pleti  wird,  wie  mit  Knut  und  Batogi,  ein- 
fach oder  unbarmherzig  anbefohlen.  Die  Urteile  entbehren 
hier   abermals,    man    möchte    sagen:    selbstverständlich,    aller 


1)  Daß  die  Pleti  die  offiziellen  Stellvertreter  des  Knut  waren,  ist  auch 
daraus  zu  erkennen,  daß  sie  ebensowenig  wie  der  Knut  nach  den  Ostseeprovinzen 
importiert  wurden.  Da  man  für  diese  Provinzen  den  Knut  als  nicht  landes- 
üblich i)erhorreszierte ,  verweigerte  man  auch  den  Pleti  den  Eingang.  Vgl. 
TiUiCHj)tH.'b'h,  194,  Anmerkung    i. 


—    165    — 

Lx)gik.  Schwere  Verbrechen  bestraft  man  mit  einfachen,  leichte 
harmlose  Dinge  oft  mit  unbarmherzigen  Schlägen.  Peter  der 
Große  befiehlt  1708,  für  Zauberei  die  Schuldigen  mit  Pleten 
unbarmherzig  zu  peitschen.  1766  befiehlt  ein  Ukas  diese  Strafe 
für  Herstellung  falscher  Pässe  und  für  Gliederverstümmelung 
zum  Zwecke  des  Untauglichmachens  von  Rekruten.  Für  Staats- 
verbrechen wird  dort,  wo  Knut  erlassen  wird,  mit  den  Pleten 
geschlagen,  natürlich  unbarmherzig.  Einige  minder  schuldige 
Teilnehmer  der  Lopuchinschen  Affäre,  sowie  eine  Anzahl  von 
Teilnehmern  am  Pugatschewchen  Bunt  erhalten  unbarmherzig 
Pleti.  Das  Justizreformprojekt  von  1754  kennt  aber  noch  wich- 
tigere Staatsverbrechen,  die  schwere  Pletjstraf e  verdienen :  „un- 
geschicktes Malen  zarischer  Porträts  soll  mit  Pletj  unbarmherzig 
bestraft  werden.** 

Im  achtzehnten  Jahrhundert  werden  die  Pleti  statt  des 
Knut  als  allgemeine  Strafe  für  weniger  bedeutende  Eigen- 
tumsdelikte verhängt.  1781  straft  man  Diebstähle  bis  20  Rubel, 
die  früher  den  Knut  nach  sich  zogen,  mit  einigen  Peitschen- 
hieben und  Einsperrung  ins  Zuchthaus.  1799  werden  auch 
höhere  Diebstähle,  die  früher  Knut  und  Verbannung  erforder- 
ten, bloß  mit  Pletjstrafe  belegt.  Der  Ukas  Pauls  begründet 
diese  Milderung  also :  „Man  stiehlt  mehr  als  20  Rubel,  um  sich 
verbannen  zu  lassen  und  dem  Militärdienst  zu  entgehen.  Die 
Knutenstrafe  dient  daher  nicht  bloß  zur  Abschreckung,  sondern 
bringt  auch  Schwachsinnige  zimi  Straucheln.**  1825  aber  ver- 
bietet ein  Ukas,  Landstreicher  und  Deserteure,  die  mit  Pleti 
bestraft  wurden,  in  die  Armee  zurückzunehmen,  „da  sie  das 
gute  Gewissen  verloren  haben  und  allen  Versuchungen  er- 
liegen.** 

Die  Zahl  der  Schläge  mit  den  Pleten  war  bis  18 12  nicht 
durch  das  Gesetz  bestimmt.  Erst  in  diesem  Jahre  befahl 
Alexander  I.,  „daß  die  Zahl  der  Pletjhiebe  sowohl  von  den 
Kriegsgerichten  als  den  bürgerlichen  Gerichten  genau  bestimmt 
werden  soll.**  Das  Reformprojekt  von  18 13  sah  zehn  bis  hun- 
dert Schläge  vor.  Aber  hundert  Schläge  waren  schon  ziemlich 
selten.  18 18  bestimmt  der  Quarantäne-Ustaw  für  die  erste 
Überschreitung  der  Vorschriften  25  Hiebe.  Nikolaj  I.  ver- 
ordnet 1826  für  abtrünnige  Orthodoxe  50  Hiebe.    1830  erhalten 


—    156    — 

aufrüherische  Bauern  je  35  Schläge,  1831  die  Cholerakrawall- 
teilnehmer je  15  bis  25.  Die  öffentliche  Pletjstrafe  wurde  für 
29  Fälle  vorgeschrieben,  darunter  für  Nachahmung  aller- 
höchster Schriftstücke,  Kontrebande,  Blutschande,  Sodomie. 
10 — 30  Schläge  ohne  Brandmarkung  erhielten  Verbrecher,  die 
zur  Ansiedlung  verbannt  wurden,  30 — 100  Schläge  die  zu 
Zwangsarbeit  Verschickten.  Die  genaue  Abgrenzung,  von  10 
zu  IG  Schlägen,  hing  von  der  Art  der  Zwangsarbeit  und  der 
Entfernimg  des  Verbannungsortes  ab.  Je  leichter  die  Zwangs- 
arbeit war,  desto  mehr  verminderte  sich,  gradweise  um  10 
Schläge,  die  Köri>erstrafe.  Die  Ansiedlung  in  weniger  ent- 
fernten Orten  veranlaßte  nur  10 — 20,  die  in  mehr  entfernten 
Orten  aber  20 — 30  Schläge. 

Die  leichteste  Art  des  Pletjschlagens,  als  polizeiliche  Kor- 
rektionsstrafe, ist  „Pletka  auf  der  Kleidung**.  1863  wurden 
zwar  die  Pleti  im  allgemeinen  abgeschafft,  jedoch  in  den  Ver- 
bannungsorten beibehalten  für  Bestrafung  neuer  Verbrechen 
der  zur  Zwangsarbeit  oder  zur  Ansiedlung  Verbannten,  sowie 
der  Landstreicher  männlichen  Geschlechts  i),  und  nach  wie 
vor  schwingt  man  auch  außerhalb  des  Verbannungsrayons  idie 
Peitsche  und  verteilt  hundert  Hiebe  und  mehr.  Im  März  1906 
wurde  in  den  Ostseeprovinzen  ein  Redakteur  wegen  eines  Ar- 
tikels gegen  den  Polizeichef  auf  der  Polizeistube  mit  400  Hieben 
bedacht;  der  Gepeitschte  blieb  tot  auf  dem  Platze. 

Rußland  kann  die  Körperstrafen  trotz  aller  Abschaffungs- 
gesetze nicht  los  werden.  Verschwindet  ein  Instrument,  so 
kommt  ein  anderes  zur  Herrschaft.  Man  hat  im  Zarenreiche 
der  Züchtigungsinstrumente  so  viele  gehabt,  daß  es  fast  nicht 
möglich  erscheint,  eine  vollständige  Liste  zu  geben.  Nament- 
lich Peter  der  Große  hat  eine  Reihe  neuer  Körperstrafen  ein- 
geführt. So  brachte  er  von  seinen  Auslandsreisen  für  die 
von  ihm  geschaffene  Flotte  die  Linjki  (jiuhlkh,  Stücke  Tau 
mit  Knoten)  mit,  um  seine  Matrosen  für  Disziplinarvergehen 
zu  züchtigen.  Diese  Linjki  waren  bis  1863  noch  offiziell  in 
Gebrauch  und  sind  in  der  Praxis  auch  jetzt  bekannt.  Außer 
den  gewöhnlichen  Pleti  hatte  Peter  ferner  für  seine  Marine 


^)  ytTUHTL  o  <TLi.ii.nNxi,,  ii3,^ank»  1890  F.,  CT.  435,  436.  —  3aK0in,  1893  r. 


—    157    — 

spezielle  Pleti-Koschki  herstellen  lassen  (kohikh,  Kätzchen,  Kar- 
batschen  aus  mehreren  geteerten  Stricken).  Einige  behaupten, 
daß  die  Koschki  nur  in  Peters  Marine-Reglement  auf  dem 
Papier  vorhanden  waren,  laber  niemals  zur  Anwendung  ge- 
langten. Timofejewi)  hat  jedoch  einige  dokumentarische  Be- 
weise für  die  durchaus  nicht  geringe  Praxis  der  Koschki  in 
der  Flotte  beigebracht.  Selbst  nach  Peter  dem  Großen  findet 
man  die  Koschki  in  Gebrauch,  und  zwar  auch  außerhalb  der 
Flotte.  1725  werden  unehrliche  Brotverkäufer  und  Lebens- 
mittelfälscher mit  Koschki  gezüchtigt.  1739  trifft  dieses  Los 
einige  Männer,  die  Eier  imd  Früchte  auf  den  Gassen  verkauften, 
was  auf  Befehl  der  Kaiserin  Anna  nur  Frauen  imd  Minder- 
jährigen erlaubt  war.  1754  läßt  Kaiserin  Elisabeth  die  Leib- 
eigenen des  Edelmaims  Jewreinow,  die  für  ihren  Herrn  ein 
Mädchen  von  der  Schaukel  weg  entführten,  mit  Koschki  öffent- 
lich züchtigen.  Die  Koschki  waren  den  Pleti  im  Range  gleich- 
geachtet: 1744  befiehlt  ein  Ukas  den  Verbergern  von  Flücht- 
lingen Koschki  oder  Pleti  zu  geben.  Die  letzte  Erwähnung 
der  Koschki  findet  Inan  in  der  Epoche  Katharinas  IL,  wo  man 
mit  diesem  Instrument  die  Leute  züchtigte,  welche  „die  Rein- 
lichkeit in  der  Admiralität  vernachlässigten**.  In  der  Flotte 
wurde  die  Bestrafung  gewöhnlich  öffentlich  vollzogen.  Man 
band  den  Delinquenten  an  den  Mast  und  prügelte  ihn  mit  den 
Koschki  angesichts  aller  Kameraden. 

Die  Koschki  waren  die  spezielle  Matrosenstrafe,  während 
die  Spießruten  von  Peter  dem  Großen  sowohl  für  die  Flotte 
als  für  die  Armee  bestimmt  wurden.  Die  Soldaten  und  Ma- 
trosen in  Rußland  erfreuten  sich  niemals  milder  Behandlung. 
Ihre  Erzieher  waren  seit  jeher  Stock  und  Peitsche,  Peters 
Reglements  für  Armee  und  Marine  sind  mit  Blut  geschrieben. 
Da  heißt  es  beispielsweise  im  Artikel  21  des  Kriegsreglements 
für  die  Flotte  i) :  Wer  ohne  Vorwissen  des  Kapitäns  Briefe 
empfängt,  abgibt  oder  wegschickt,  soll  gehängt  werden.  Ferner : 
Wer  sich  mit  jemandem  prügelt,  dann  versöhnt  und  den  Frie- 
den  bricht,   dessen   Hand  soll   abgehauen  werden.     Wer  aus 


^)  HcTopifl  HaKaaamft,  201. 

2)  Sadler,  Peters  des  Großen  geistige  Hinterlassenschaft. 


—    158    — 

Zorn  sein  Messer  nur  entblößt,  aber  niemanden  verwundet, 
dessen  Hand  soll  mit  dem  Messer  am  Mäste  befestigt  bleiben, 
bis  der  Übeltäter  sich  selbst  durch  Abhacken  der  Hand  befreit. 
Wer  jemanden  tötet,  soll  mit  dem  Getöteten  Rücken  an  Rücken 
gebunden  und  ins  Meer  geworfen  werden.  Der  Kapitän  oder 
dessen  Stellvertreter  können  den,  der  sich  nicht  tapfer  hält, 
erstechen  1^)  Bei  solchem  Grundcharakter  der  Gesetze  erschei- 
nen körperliche  Züchtigimgen  als  Harmlosigkeiten.  „Es  stirbt 
eine  große  Anzahl  Rekruten  in  der  Lehre,  man  prügelt  sie 
zu  Tode ;  auf  dem  Transport  bis  zur  Armee  bleibt  ein  Teil  ver- 
hungert unterwegs,**  schrieb  ein  Offizier  in  der  Zeit  Katha- 
rinas II.2)  Wohl  denen,  die  unterwegs  starben.  Im  Dienst 
haben  die  Überlebenden  nur  furchtbare  Leiden  zu  erwarten. 
Für  das  geringste  Vergehen  drohen  ihnen  die  Spießruten,  die 
Peter  der  Große  17 16  ins  Kriegsreglement  aufnahm;  in  der 
Praxis  erschienen  sie  vereinzelt  schon  zu  Anfang  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts:  Scheremet jew  züchtigt  1701  und  Ment- 
schikow  1706  die  Soldaten  mit  Spießruten  (russisch: 
Spitzruten,  inimn,pyTeHH ;  auch  xjihcti>,  xjihcthicb,  Geißel, 
und  npyTi>;  Spießrutenlaufen:  6foKaTb  CKB03b  CTpoÄ.)  17 12 
verordnet  der  Senat  für  flüchtige  Rekruten  Spitzruten. 
Von  17 16  ab  aber  wird  diese  Strafe  regelmäßig  und  allgemein. 
Die  Spitzruten  sind,  wie  Timofejew^)  hervorhebt,  in  Rußland 
nicht  bloße  Nachahmung  westlicher  Ordnung  und  Gebräuche 
gewesen,  sondern  ein  wahres  heimisches  Erfordernis ;  als  Peter 
der  Große  die  Knutenstrafe  zu  einer  Schandstrafe  erhob,  die 
im  allgemeinen  die  Wiederverwendung  der  Bestraften  in  der 


^ )  Diese  Grausamkeiten,  von  Peter  in  seine  Flotte  und  Armee  eingeführt, 
wurden  vorbildlich  für  andere  Flotten  und  Armeen.  Im  Dictionnaire  de  la  p6- 
nalit6  IV  53  wird  erzählt:  „In  einer  der  Garnisonsstädte  im  Zentrum  von  Frank- 
reich ließ  eines  Tages  ein  Korpschef  einen  barhäuptigen  Soldaten  an  eine 
Mauer  anbinden  und  der  Sonnenglut  aussetzen.  Diese  neue  Art  Strafe  hatte  der 
Korpschef,  wie  es  heißt,  dem  russischen  Kodex  entnommen".  Das  russische 
Gesetzbuch  kennt  allerdings  diese  Strafe  nicht.  Aber  die  russische  Militärdis- 
ziplin erfreute  sich  mit  Recht  solchen  Rufes  der  Grausamkeit,  daß  man  alles 
außergewöhnlich  Grausame  leicht  ihr  in  Rechnung  stellen  konnte. 

')  Russische  Anecdoten.     Wansbeck  1765,  S.  129. 

'^)  a.  a.  O.    208. 


—    159    — 

Armee  ausschloß,  war  er  genötigt,  eine  Strafe  einzuführen,  die 
genügend  züchtigte,  aber  dem  Bestraften  die  Möglichkeit  ließ, 
in  der  Armee  zu  bleiben.  Die  Spitzruten  erfüllten  diesen  Zweck, 
weil  sie  nicht  vom  Henker,  sondern  von  den  Kollegen  des  Be- 
straften gehandhabt  wurden.  An  diese  Methode  hielten  sich 
auch  Peters  Nachfolger  und  Nachfolgerinnen.  175 1  ließ  Elisa- 
beth Armeeangehörige,  die  zu  Knut  und  Verbannung  verurteilt 
waren,  zu  Spitzruten  begnadigen,  „damit  sie  im  Dienst  ihre 
Schuld  abdienen.**  1757  befahl  die  Kaiserin  für  Starosti  und 
Prikaschtschiki  (cTapocTa,  Dorfältester,  npHKammcB,  Amtmann), 
die  bei  der  Rekrutenaushebung  Schwindeleien  begangen 
hatten,  harte  Bestraf img,  acecTOKoe.  HaKaaame;  das  Urteil, 
worunter  im  allgemeinen  Knut  oder  Pletj  verstanden  werden 
konnte,  wurde  diesmal  also  erläutert:  „nur  die  Untauglichen 
sind  mit  Knut,  Aufschlitzen  der  Nasenlöcher  und  Verbannung 
nach  Ochotzk  zu  bestrafen;  die  Tauglichen  sollen  Spießruten 
laufen  und  als  ewige  Soldaten  der  Petersburger  Garnison  zu- 
geteilt werden.**  , 

Das  Spießrutenlaufen  beschrieben  die  Reisenden  des  acht- 
zehnten Jahrhimderts  1)  folgendermaßen:  „Es  geschieht  hier 
anders  als  in  anderen  Ländern.  Der  Sträfling  wird  von  einem 
seiner  Kameraden  auf  den  Rücken  genommen  und  durch  zwei 
Reihen  Soldaten  getragen,  die  mit  langen  Ruten  aus  Leibes- 
kräften auf  den  Verurteilten  hauen  imd  von  den  Offizieren 
dazu  aufgemuntert  werden.**  Die  Spitzruten  waren  lang  imd 
geschmeidig.  Nach  dem  Zeugnis  L.  A.  Ssärjakows  sandte 
Graf  Kleinmichel  1831  zur  Bestrafung  der  Bauembündler  aus 
Petersburg  Ruten,  die  im  Diameter  ungefähr  i  Werschok 
(=  4,445  cm)  und  in  der  Länge  i  Saschenj  (Faden)  hatten. 
Die  Exekution  wurde  gev/öhnlich  bei  Tagesanbruch  ausgeführt. 
Auf  dem  Platze  mußten  sich,  wenn  das  Spießrutenlaufen  durch 
500  Mann  befohlen  war,  der  Bataillons-  oder  Divisionskomman- 
dant, beim  Spießrutenlaufen  durch  1000  Mann:  der  Regiments- 
oder Brigadekommandant  einfinden.  Das  Militär  erschien  ohne 
Abzeichen  und  ohne  Musik,  nur  Trommler  gingen  mit.  4  Mann 
führten  den  Verurteilten.    Während  des  Verlesens  des  Urteils 


1)  Vgl.  Breton,  a.  a.  O.     IV  53. 


—    160    — 

bildeten  die  Truppen  eine  Straße  und  nahmen  die  Ruten  ent- 
gegen. Dann  ertönte  die  Trommel  und  der  Verurteilte  mußte 
seinen  schweren  Lauf  beginnen.  Hinter  ihm  schritt,  um  ihn 
am  Stehenbleiben  zu  hindern,  ein  Unteroffizier  mit  vorgehalte- 
nem Bajonett.  Ab  1801  mußte  der  Exekution  ein  Arzt  bei- 
wohnen, der  das  Recht  hatte,  Halt  zu  gebieten,  wenn  der  Be- 
strafte die  Hiebe  nicht  mehr  auszuhalten  imstande  war;  der 
Zusammengebrochene  wurde  ins  Spital  gebracht,  erhielt  aber 
nach  seiner  Gesundung  den  Rest  der  Hiebe  bei  gleicher  Zere- 
monie. In  der  Theorie  erschien  die  Strafe  nicht  allzuhart.  Aber 
in  der  Praxis!  Hören  wir  Augenzeugen.  D.  A.  Rowinskij 
erzählt  in  seinen  Memoiren  aus  der  ersten  Hälfte  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts :  „Jeder  Soldat  gibt  einen  ehrlichen  Hieb 
und  nach  wenigen  Minuten  ist  der  Körper  des  Geschlagenen 
bedeckt  mit  breiten  Flecken,  mit  blutigen  Striemen.  Stürzt 
der  Patient,  so  legt  man  ihn  auf  einen  Schlitten  und  führt  ihn 
durch  das  Spalier  zurück,  und  die  Hiebe  sausen  weiter  auf 
ihn  nieder.**  Nach  dem  Zeugnis  Rowinskijs  führte  man  zu 
den  Exekutionen  des  Spießrutenlaufens  zuweilen  einen  Sarg 
mit!  Ein  anderer  Augenzeuge  erzählt  aus  dem  Jahre  1832: 
., Jeder  Soldat  machte  einen  Schritt  aus  Reih  und  Glied,  führte 
seinen  Schlag  und  trat  zurück.  Auf  den  Delinquenten  fielen 
die  Hiebe  gleichzeitig  von  beiden  Seiten,  und  sein  Kopf  zitterte 
konvulsivisch  und  richtete  sich  stets  unwillkürlich  dorthin,  wo- 
her der  nächste  Hieb  drohte.  Während  er  durch  die  grüne 
Straße  schritt,  hörte  man  immerfort  seine  Schreie:  „Brüder! 
erbarmt  euch,  Brüder!'*  Aber  die  Offiziere  wachten  streng 
darüber,  daß  niemand  leicht  schlug.  Fiel  der  Gezüchtigte  nieder, 
so  legte  man  ihn  auf  einen  Schlitten,  der  Arzt  gab  dem  Be- 
wußtlosen Wodka  zu  trinken,  rief  ihn  ins  Leben  zurück,  und 
dann  setzte  man  die  Exekution  fort.  Starb  der  Patient,  so 
schleppte  man  die  Leiche  vor  die  Front.**  Besonders  in  den 
vierziger  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts  war  das  Spieß- 
rutenlaufen eine  überaus  grausame  Strafe.  Nikolaj  I.  ging  nicht 
bloß  mit  seinen  Soldaten,  sondern  auch  mit  seinen  Offizieren 
barbarisch  um.  Ein  Gardeoffizier,  der  eine  Prinzessin  von  Ge- 
blüt zum  Tanz  aufforderte,  wurde  auf  der  Stelle  seines  Ranges 
enthoben.    Ein  anderer  Offizier  wurde  zum  gemeinen  Soldaten 


Spießrutenlaufen. 


—    161    — 

degradiert,  weil  er  bei  einer  Quadrille  auf  dem  Hofball  aus  dem 
Takte  gekommen  war.  Großfürst  Konstantin  schlug  die  Sol- 
daten eigenhändig,  ließ  sie  ganz  nackt  ausziehen  und  so  exer- 
zieren. Für  das  geringste  Disziplinarvergehen  riskierten  die 
Soldaten  Spießrutenlaufen. 

Als  Peters  Kriegsreglement  die  Spießruten  als  offizielle 
Strafe  einführte,  kümmerte  man  sich  nicht  um  die  Frage  der 
Begrenzung  der  Schläge.  Man  bestinunte  bloß:  Durch  das 
Regiment  jagen,  zweimal,  dreimal,  sechsmal,  zwölfmal.  Ein 
Ukas  yom  2.  Juli  1823  befahl  eine  Präzisierung  der  Hiebe: 
Spießrutenlaufen  durch  500  Mann  (Bataillon)  oder  durch  1000 
Mann  (Regiment).  Dementsprechend  war  das  Reglement  Peters 
bis  zu  12000  Mann  (zwölf mal  durch  ein  Regiment)  gegangen  I 
Aber  auch  nach  Peter  wurde  diese  furchtbare  Zahl  häufig  an- 
befohlen. Katharina  II.  verordnete  durch  einen  Ukas,  die 
weniger  schuldigen  Soldaten  in  der  Affäre  Mirowitsch  statt 
zur  Todesstrafe  „infolge  unvergleichlicher  Barmherzigkeit  Ihrer 
Majestät**  bloß  zu  12000  Spitzruten  zu  verurteilen.  Der  gütige 
Alexander  I.  verurteilte  18 18  zu  12000  Schlägen  40  weniger 
schuldige  Bauembündler ;  aus  dem  Berichte  Araktschajews,  der 
diese  Exekution  vollführt,  ist  ersichtlich,  daß  eine  solche  Zahl 
Schläge  die  grauenvollste  Todesstrafe  war :  von  den  40  blieben 
bloß  3  am  Leben!  Nikolaj  I.  befahl,  in  Friedenszeiten  nicht 
mehr  als  6000  Hiebe  anzuordnen,  aber  gestattete  als  Strafe  für 
Widersetzlichkeit  gegen  die  Oberen  vor  der  Front  auch  bis  zu 
12000  zu  geben.  Die  Spitzrutenstrafe  kam  auch  in  bürgerlichen 
Affären  zur  Anwendung,  sobald  es  sich  um  Unterdrückung 
von  Unruhen  oder  Räubereien  durch  das  Militär  handelte.  1831 
wurden  im  Cholera- Auf  rühr  1559  Bauern  zu  Spitzruten  ver- 
urteilt, davon  nur  720  zu  imter  1000  Hieben,  etwa  200  zu  4000 
Hieben.  Von  diesen  200  blieben  40  tot  auf  dem  Platze.  Diese 
Ziffern  sprechen  für  sich.  Zeitgenossen  konstatieren,  daß  nie- 
mand 3000  Spitzruten  überleben  konnte.  Das  hieß  Mitleid, 
Barmherzigkeit,  Aufhebung  der  Todesstrafe.  Nikolaj  I.  schrieb 
auf  den  Rand  eines  Rapports :  „Gott  sei  Dank,  es  gibt  bei  uns 
keine  Todesstrafe  mehr,  und  ich  werde  sie  nicht  einführen.** 
Und  er  begnadigte  zwei  Hebräer,  die  jenem  Rapport  zufolge 
wegen  Überschreitung  der  Quarantäne-Gesetze  zum  Tode  ver- 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  RuBland.    **  II 


—    162    — 

urteilt  worden  waren,  zu  dieser  milden  Strafe:  „Man  jage  sie 
zwölf  mal  durch  looo  Mann!**  Also  12000  Hiebe,  viermaliger 
Tod  statt  einfacher  Todesstrafe!  1849  wurden  in  Kasanj  die 
Räuber  Bykow  und  Tschaikin,  der  erstere  zu  12000,  der  letztere 
zu  1 1 000  Spießruten  verurteilt.  Der  Arzt  Dr.  Iljinskij,  der  der 
Exekution  beiwohnte,  erzählt  in  seinen  Erinnerungen:  „Schon 
nach  dem  ersten  Tausend  waren  die  Rücken  der  Verbrecher 
zerschunden;  das  Fleisch  war  abgerissen,  das  Blut  floß  in 
Strömen.  Die  Schreie  wurden  immer  schwächer.  Die  Exe- 
kutoren  waren  sehr  hart.  Der  Oberst,  der  die  Exekution  leitete, 
schrie  voll  Wut  den  Soldaten  zu,  stärker  zu  schlagen,  ohne  Er- 
barmen. Einige  Soldaten,  die  schwach  schlugen,  wurden  auf 
Befehl  des  Obersten  ergriffen  und  auf  der  Stelle  bestraft.  Nach 
5000  Schlägen  brach  Bykow  zusammen.  Man  legte  ihn  auf 
eine  Telega,  führte  ihn  weiter  durch  die  Reihe  und  gab  ihm 
noch  tausend  Hiebe.  Tschaikin  mußte  schon  nach  3000  Hieben 
auf  die  Telega  gelegt  werden  und  hielt  bloß  noch  500  aus. 
Die  Strafe  war  umso  härter,  da  ein  furchtbarer  Wind  herrschte 
und  die  Wunden  der  Patienten  unter  dem  Staub  entsetzlich 
litten.  Beide  brachte  man  mit  schwachen  Lebenszeichen  ins 
Spital,  wo  sie  noch  am  selben  Tage  starben.  Obwohl  die  Räuber 
viele  Verbrechen  auf  dem  Gewissen  hatten,  befand  sich  das 
zuschauende  Volk  nicht  auf  Seiten  der  Gerechtigkeit.  In  der 
Menge  ertönten  fortwährend  Zornrufe  gegen  die  Henker,  Frauen 
fielen  in  Ohnmacht,  andere  beteten.** 

Einst  stand  die  Todesstrafe  an  erster  Stelle,  dann  folgten 
Knut,  Batogi  und  Pleti,  dann  erst  Spitzruten.  Nun  waren  die 
Spitzruten  aus  der  dritten  Reihe  in  die  erste  gekommen  und 
nahmen  würdevoll  die  Stelle  der  Todesstrafe  ein.  Nicht  bloß 
die  Mitglieder  der  Armee  und  Marine,  nicht  bloß  Leute,  die 
nur  in  entfernter,  sondern  selbst  solche,  die  in  gar  keiner  Be- 
ziehung zur  Armee  standen,  waren  jetzt  von  dieser  militärischen 
Strafe  bedroht.  So  machte  unter  Nikolaj  1.  General  Pissen  den 
Vorschlag:  „Pleti  und  Ruten  sind  nicht  imstande,  die  Ver- 
bannten zu  den  Festungsarbeiten  zu  zwingen,  man  kann  sie 
bloß  mit  Spitzruten  bändigen.**  1825  wurde  befohlen,  für  flüch- 
tige Arbeiter  der  Tulaer  Gewehrfabrik  „gemäß  der  Armee- 
ordnung**, die  Spitzrutenstrafe  einzuführen.     Götzenanbetung, 


—    163    — 

Schwarzkunst,  leichtsinnige  Gottes-  und  Heiligenlästerung,  Kra- 
walle, Schlägereien,  Vernichtung  von  angeschlagenen  Ukasen 
wurden  schon  seit  Peter  dem  Großen  mit  Spitzruten  bestraft. 
Nikolaj  I.  belegte  mit  dieser  Strafe  die  Teilnehmer  an  Bauern- 
revolten und  Staatsverbrecher.  Nach  der  Streichung  des  Knut, 
der  Batogi  und  der  Pleti  aus  dem  Gesetzbuche  blieben  die  Spitz- 
ruten bestehen.  1855  wurden  sie  von  Alexander  II.  neuerdings 
legalisiert :  Die  Bauem-Aufrührer  von  Wjatka  wurden  zu  6000 
Schlägen  verurteilt.  1861  aber  ging  man  anläßlich  der  Er- 
hebung der  Bauern  im  Dorfe  Kandewka  schon  milder  vor :  man 
gab  nur  400 — 700  Schläge,  wo  man  wenige  Jahre  zuvor  zu 
3000 — 4000  verurteilt  hatte.  Nikolaj  I.  hatte  1843  anbefohlen, 
daß  die  mit  Spitzruten  Bestraften  für  jedes  Mal  des  Spießruten- 
laufens eine  dünne  schwarze  Schnur  auf  den  Ärmel  erhalten 
sollten,  „damit  jeder  sie  von  den  anständig  dienenden  Soldaten 
unterscheiden  könne**.  Alexander  II.  schaffte  auch  diesen 
Schandfleck  ab.  Die  Spitzruten  sind  so  allmählich  aus  dem 
Gebrauch  gekommen,  aber  entsprechend  dem  russischen  System 
haben  sie  in  den  einfachen  Ruten  einen  genügenden  Ersatz 
gefunden. 

Die  leichteste  Art  der  körperlichen  Züchtigung,  die  Ruten, 
Rosgi  oder  Losy  (poarn,  jio3h),  begann  besondere  Bedeutung 
zu  erlangen,  als  Knut  und  Batogi,  Pleti  und  Spitzruten  ihre 
Wichtigkeit  eingebüßt  hatten.  Bis  zum  achtzehnten  Jahrhun- 
dert findet  man  in  russischen  Gesetzen  keine  Erwähnung  der 
Rutenstrafe. 1)  Erst  die  Reglements  Peters  des  Großen  von  17 16 
und  1720  verordnen  für  Diebe  unter  15  Jahren,  „um  sie  vom 
Laster  zu  entwöhnen**,  die  Rutenstrafe.  In  den  baltischen  Pro- 
vinzen waren  dagegen  die  Ruten  das  fast  alleinherrschende 
Züchtigungsmittel.  Und  dort  waren  die  Strafen  dieser  Art 
gewiß  furchtbar,  wenn  schon  ein  russischer  Generalgouvemeur 
unter  Katharina  IL  „das  dreimalige  Schlagen  mit  40  Paar 
Ruten  als  so  unmenschlich**  fand,  daß  er  diese  vom  Gericht 
vorgeschriebene  Strafe  nicht  auf  einmal,  sondern  in  drei  Por- 
tionen, an  drei  aufeinanderfolgenden  Sonntagen,  verabreichen 
ließ.    In  den  baltischen  Provinzen  waren  infolge  der  Leibeigen- 


1)  TiiM(K|)eeBT>  212  ff. 


II» 


—    164    — 

Schaft  die  sittlichen  Verhältnisse  entsetzlich;  gegen  Sittlich- 
keitsverbrechen gelangt  in  erster  Linie  die  Rutenstrafe  zur  An- 
wendung. Auf  Sodomie  steht  Todesstrafe,  aber  bei  Minder- 
jährigen wird  Milderung  geltend  gemacht:  1765  erhält  ein 
15 jähriger  Bauemjunge,  der  wegen  Unzucht  mit  Tieren  zur 
l'odesstrafe  verurteilt  wurde,  statt  ihrer  an  drei  auf einander- 
f olgenden  Sonntagen  mit  10  Paar  Ruten  je  drei  Schläge,  außer- 
dem Kirchenbuße  und  ein  Jahr  Zwangsarbeit;  merkwürdiger- 
weise findet  der  russische  Senat,  der  für  Rußland  die  furcht- 
barsten Knuten-  und  Pletjstrafen  verhängt,  dieses  baltische  Ur- 
teil zu  hart  und  veranlaßt  die  Kaiserin,  die  Angelegenheit  einer 
Prüfung  zu  unterziehen.  Wie  in  den  Ostseeprovinzen  wurden 
auch  in  Kleinrußland  Sittlichkeitsverbrechern  Ruten  appliziert, 
besonders  Kupplern  und  Kupplerinnen,  femer  minderjährigen 
Dieben ;  die  Schuldigen  band  man  an  Pfähle  und  prügelte  sie 
dann  vor  dem  versammelten  Volke.  In  Großrußland  verhängen 
die  weltlichen  Gerichte  von  1742  ab  für  minder  schwere  Ver- 
brechen Minderjähriger  fast  regelmäßig  Rutenstrafen.  1763 
erhält  der  Schüler  Grünew  „für  lügnerische  Briefe**  angesichts 
aller  Kollegen  die  Ruten.  Mit  Ruten  züchtigt  man  1771  in 
Moskau  die  minderjährigen  Teilnehmer  der  Pest-Revolte.  Spä- 
ter verurteilt  man  auch  Erwachsene,  Männer  und  Frauen,  zur 
Rutenstrafe.  Ein  Gesetz  von  1831  droht  mit  Rutenzüchtigimg 
den  Rekruten,  die  ihre  geheimen  Krankheiten  nicht  angeben. 
1831  werden  im  Cholcra-Aufstand  Minderjährige  und  Greise 
mit  Ruten  geschlagen;  die  geringste  Zahl  der  Schläge  ist  25, 
die  höchste  500.  Ein  Gesetz  Nikolajs  I.  stellt  dfc  Ruten  in 
eine  Reihe  mit  der  niedrigsten  Knutenstrafe  (fünf  Hiebe),  mit 
dem  Stock,  dem  Gcfangcnhaltcn  bei  Brot  und  Wasser,  und 
zählt  die  Rutenstrafc  zu  den  Polizeistrafen  und  zu  den  Strafen, 
die  die  Wolostgerichte  verordnen  können  (gegen  Dorfbewohner 
für  Diebstahl  unter  5  Rubel).  1845  niußte  der  Knut  verschwin- 
den ;  die  Redakteure  des  neuen  Gesetzbuchs  suchten  dies  furcht- 
bare Instrument  durch  die  Rute  zu  ersetzen,  indem  sie  die  bis 
dahin  übliche  Zahl  der  Rutenhiebe  vervielfachten.  So  wurde 
die  Rutenstrafe  aus  einer  leichten  zu  einer  schweren  Züchtigung, 
die  zusammenhing  mit  der  Einsperrung  ins  Arbeits-  und  Straf- 
haus.   V^er  zu  Gefängnis,  ja  bloß  zu  Arrest  verurteilt  wurde, 


—    165    — 

bekam  als  Zugabe  Ruten.  Dreijähriges  Zuchthaus  erforderte 
loo,  zweijähriges  Gefängnis  60  Rutenhiebe  und  drei  Monate 
Arrest  hatten  30  Schläge  als  Zugabe.  Die  Polizei  verhängte 
Rutenstrafen  als  Korrektionsmittel  ohne  weitere  Folgen:  bei- 
spielsweise für  Zerstörung  von  Vogelnestern,  Fluß-Überfahrt 
in  gefährlicher  Zeit,  Karten-  und  Würfelspiel  um  Geld.  Als 
von  Alexander  IL  die  Körperstrafen  ganz  aufgehoben  wurden 
(auf  dem  Papier),  beließ  man  1861  und  1863  im  Bauern-Regle- 
ment  den  Dorfrichtem  und  Friedensrichtern  das  Recht,  für 
Vergehen  5  bis  20  Schläge  zuzuurteilen ;  1885  verordnete  man 
für  Landstreicher  30 — 40  Rutenhiebe;  und  später  noch  ge- 
stattet^ man  der  Polizei,  minderjährigen  Lehrlingen  auf  Klage 
des  Meisters  5 — 10  Rutenhiebe  zu  verabreichen.  Im  letzten 
Jahrzehnt  ist  die  Rutenstrafe  neuerdings  in  viele  Gesetze 
eingedrungen :  Wenn  man  für  ein  Vergehen  eine  Arreststrafe 
abgebüßt  hat  und  sich  im  selben  Jahre  ein  zweites  Vergehen 
zu    schulden   kommen   läßt,   erhält    man   Rutenstreiche. M 


1)  Im  alten  Kreta  war  die  Rutenstrafe  stark  in  Gebrauch.  Die  Lace- 
dämonier  straften  Diebe  mit  Ruten.  Im  republikanischen  Rom  züchtigte  man 
Brandstifter,  bevor  man  sie  ins  Feuer  warf,  mit  Ruten.  Das  Porciagesetz  verbot 
im  Jahre  454  die  Anwendung  der  Rutenstrafe.  Aber  der  Kodex  des  Theodorich 
befahl  Rutenstrafe  für  das  Begraben  von  Leichen  in  der  Stadt  Rom.  Auch 
setzte  man,  dem  Porciagesetz  zum  Trotze,  die  Peitschung  der  Sklaven  fort. 
Domitian  befahl,  diejenigen,  die  mit  Vestalinnen  Unzucht  trieben,  zu  Tode  zu 
schlagen.  Hadrian  züchtigte  Soldaten,  die  in  der  Trunkenheit  oder  aus  Nach- 
lässigkeit ihre  Gefangenen  entschlüpfen  ließen,  mit  Ruten.  Julian  strafte  auf 
diese  Weise  jene,  die  das  Christentum  nicht  abschwören  wollten.  Heinrich  VIII. 
von  England  ließ  aus  Glaubensfanatismus  den  Advokaten  Bainham  vor  der  Ver- 
bannung mit  Ruten  peitschen,  um  ihn  in  den  Augen  des  Volkes  zu  schänden. 
In  Deutschland  kannte  man  für  gesetzliche  Strafen  mehr  Spießruten  als  Ruten,^ 
in  Spanien  mehr  die  Peitsche.  In  Frankreich  schlug  man  anfangs  nur  Sklaven 
mit  Ruten.  Childeric  II.  aber  ließ  im  Zorn  einmal  auch  seinen  Hof  mann  Bodillon 
an  einen  Pfahl  binden  und  mit  Ruten  peitschen ;  Bodillon  konspirierte  aus  Rache 
gegen  Childeric  und  tötete  ihn.  Später  wurden  viele  Verbrechen  neben  der 
gesetzlichen  Strafe  auch  mit  Rutenstrafe  geahndet.  1789  wurde  dem  Soldaten, 
der  einen  Diebstahl  begeht,  Rutenstrafe  angedroht.  Für  die  Kolonien  Frank- 
reichs führte  das  Edikt  von  1724  die  Rutenstrafe  ein ;  für  den  kleinsten  Diebstahl 
züchtigte  man  die  Sklaven  mit  der  Rute  und  gleichzeitig  brandmarkte  man  ihre 
Schulter  mit  dem  Zeichen  der  Lilie;  die  Herren  durften,  wenn  sie  glaubten, 
daß  die  Sklaven  es  verdienten,  diese  jederzeit  in  Ketten  legen  und  mit  Stricken 
oder  Ruten  schlagen.     Vgl.  Dictionnaire  de  la  p6nalit6  V.  (Verges.) 


—    166    — 

Die  Rute  spielte  und  spielt  noch  heute  in  Rußland  ihre 
mchtigste  Rolle  als  Züchtigungsmittel  gegen  Empörer.  1834 
wurden  die  revoltierenden  Tartaren  von  Ssimbirsk,  „damit  sie 
sich  beruhigen**,  zu  100  Rutenhieben  verurteilt.  Noch  schwe- 
rere Rutenstrafe  traf  die  russischen  Bauern,  die  an  der  Revolte 
teilgenommen  hatten.  Ein  russischer  Oberst,  der  der  Exekution 
beiwohnte,  erzählt  in  seinen  Memoiren :  „Man  fragte  die  Leute, 
ob  sie  sich  entschuldigen  wollten,  um  der  Strafe  zu  entgehen; 
aber  keiner  bat  um  Verzeihung  und  Gnade.  Man  streckte  sie 
der  Reihe  nach  auf  die  Erde.  Ein  Greis  von  70  Jahren  bekam 
als  erster  die  Ruten  zu  fühlen,  man  schlug  ihn  bis  auf  den 
Tod,  und  dem  Sterbenden  legte  man  Fesseln  an.  Darauf 
schlug  man  einen  zweiten,  dritten,  und  so  fort  bis  zum  drei- 
zehnten. Der  vierzehnte  aber  schrie,  als  er  dreihundert  Hiebe 
erhalten  hatte,  um  Gnade.  Seinem  Beispiel  folgten  die  übrigen 
noch  nicht  Gezüchtigten.  „Der  russische  Mensch**  —  so  schließt 
der  Oberst  seine  Erzählung  —  „ist  nur  dann  aufrichtig  unter- 
würfig und  beruhigt,  wenn  er  für  seine  Schuld  bestraft  ist, 
aber  ohne  Strafen  sind  seine  Gelöbnisse  nichts  wert.  Der  Be- 
strafte nur  fürchtet  sich,  neu  schuldig  zu  werden  und  beruhigt 
sich.**  Ein  anderer  russischer  Memoirenschreiber  berichtet  über 
die  sogenannte  1842er  Kartoffel-Revolte  im  Permschen  Gou- 
vernement :  „Man  befahl  den  Bauern,  niederzuknien.  Darauf 
brachte  man  4  Wagen,  2  mit  Ruten,  2  mit  Stöcken  vollgeladen. 
Zu  jedem  Bauer  traten  2  Soldaten,  der  eine  mit  Ruten,  der 
andere  mit  Stöcken  in  den  Händen.  Dann  begann  ein  wü- 
tendes Schlagen.  Da  die  Soldaten  müde  wurden,  schlug  man 
zum  Schlüsse  nur  jeden  zehnten  Bauer."  Im  Jahre  1843  wurden 
nbermals  im  Permschen  Gouvernement  1677  Bauern,  in  den 
Jahren  1861  und  1879  die  Teilnehmer  der  Cholera-Unruhen 
auf  solche  Weise  gebändigt. 

Schwer  zu  leiden  unter  der  Rute  hatten  die  Leibeigenen. 
Unter  dem  Terminus  der  Hauszucht  bestimmte  das  Gutsbesitzer- 
Reglement  vom  Jahre  1763  nicht  weniger  als  1000  bis  5000 
Rutenhiebe  für  russische  Leibeigene!  In  Grusien  hatte  Graf 
Araktschajew  auf  seinem  Gute  stets  mit  Salzwasser  gefüllte 
Kufen  stehen,  in  denen  Ruten  geweicht  wurden;  für  die  ge- 
ringsten Vergehen  riskierten  die  Leibeigenen  hunderte  Hiebe! 


—    167    — 

Ebenso  waren  in  Esthland  und  Livland  Ruten  die  gewöhnliche 
Art  der  Züchtigung  der  Leibeigenen. i)  Hier  wurde  aber  sel- 
tener auf  den  Rücken,  sondern  mehr  auf  den  nackten  Hintern 
geschlagen.  Das  Instrument  bestand  aus  einem  Bündel  frischer 
Birkenzweige,  Kinderruten  geheißen,  oder  aus  2  langen  starken 
Spitzruten  von  Birken,  die  man  nach  je  drei  Schlägen  gegen 
frische  austauschte;  lo  Paar  Ruten  bedeuteten:  30  Hiebe  auf 
den  entblößten  Rücken  oder  Hinteren  mit  je  2,  nach  jedem 
dritten  Hiebe  gewechselten  Ruten.  Solche  10  Paar  Ruten 
genügten  zum  Zerfleischen  des  Opfers  bis  auf  die  Knochen. 

Auch  als  militärisches  Disziplinarmittel  war  die  Rute  in 
Verwendung.  Nach  dem  Zeugnis  des  Fürsten  Imeretinskij, 
der  in  den  40er  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhundert  im  Preo- 
braschenskij-Regimente  diente,  durfte  der  Regiments-Komman- 
dant 800  Rutenhiebe  verabfolgen  lassen.  Andere  Offiziere 
aus  der  Nikolajschen  Epoche  erzählen  in  ihren  Erinnerungen 
Gleiches   oder  Ähnliches. 

Die  Herrschaft  der  Rute  in  der  russischen  Schule  muß 
schließlich  ebenfalls  hier  erwähnt  werden.  Im  achtzehnten 
Jahrhundert  war  die  Rute  souverän  namentlich  in  den  niedrigen 
Lehranstalten. 2)    Erst    Katharina    II.,    obwohl    sie    selbst    eine 


1)  Petri,  Ehstland  und  die  Ehsten.     II  33. 

2)  Schon  bei  den  Hebräern  wird  die  Jugend  mit  Ruten  gezüchtigt: 
„Züchtige  deinen  Sohn",  heißt  es,  ..weil  Hoffnung  da  ist.  Schlägt  man  den 
Spötter,  so  wird  der  Alberne  witzig.  Man  muß  dem  Bösen  wehren  mit  harter 
Strafe  und  mit  ernstlichen  Schlägen,  die  man  fühlet.  Torheit  steckt  dem  Knaben 
im  Herzen,  aber  die  Zuchtrute  wird  sie  ferne  von  ihm  treiben,  öffentliche 
Schläge  sind  besser  denn  heimliche  Liebe.  Wer  sein  Kind  lieb  hat,  der  hält  es 
stets  unter  der  Rute,  daß  er  hernach  Freude  an  ihm  erlebt.  Beuge  dem  Knaben 
den  Hals,  wenn  er  noch  jung  ist,  bläue  ihm  den  Rücken,  wenn  er  noch  klein  ist, 
auf  daß  er  nicht  halsstarrig  und  dir  ungehorsam  werde".  Der  Römer  Quintillian 
aber  war  gegen  die  Rute  in  der  Schule:  ,,Ich  wünsche  nicht,  daß  man  die  Schüler 
peitsche,  obgleich  dies  im  Gebrauche  ist  und  selbst  Chrysipp  es  nicht  mißbil- 
ligt". Im  Mittelalter  fehlten  beim  Unterricht  der  Prinzen  und  Prinzessinen, 
Junker  und  Fräulein,  Laien  und  Geistlichen  nie  Geißel  und  Ruten.  Man  züch- 
tigte sie  bis  ins  Alter  des  Erwachsenseins.  Boileau  teilt  in  seiner  Hist.  Flagell. 
eine  merkwürdige  romanische  Verordnung  mit,  wonach  die  Jugend  beiderlei 
Geschlechts  bis  nach  zurückgelegtem  15.  Jahre  unter  der  Rute  stehen  sollte. 
Nun  sind  in  Italien  und  Spanien  Mädchen  im  12.  Jahre  schon  heiratsfähig. 
Im  Mittelalter  und  bis  in  die  neue  Zeit  hinein  pflegte  man  auch  die  Pagen  mit 


—    168    — 

Freundin   körperlicher   Bestrafung   war,   wendete   sich   gegen 
die  Züchtigung  der  Schüler.    „Schläge  sind  nicht  nützlich  für 
die  Jugend,**  meinte  sie.    1766  forderte  sie  im  neuen  Kadetten- 
statut: „man  soll  die  Seele  durch  das  Ehrgefühl,  nicht  durch 
die  Furcht  vor  körperlichen  Strafen  läutern.**     1767  verbot  sie 
energisch  das  Prügeln  der  Schulkinder;  „die  Physik  beweist, 
daß  das  Schlagen  der  Kinder  nur  Böses  wirkt.**    Aber  Katha- 
rinas Enkel  Alexander  I.  befahl  1802  im  Reglement  für  Pagen: 
„abschreckende  Rutenstrafe**,  und  18 17  im  Reglement  für  das 
Richelieu-Lyceum :  „äußerste  Rutenstrafe.**     1820  heißt  es  im 
Üstaw  für  die  Gymnasien,  die  der  Dorpater  Universität  unter- 
stehen: „Man  soll  in  den  Gymnasien  fortan  die  Körperstrafen 
anwenden,  hoffentlich  werden  sie  in  den  oberen  Klassen  nicht 
nötig  sein.**     1828  wird  die  Rutenstrafe  in  die  Gymnasien  von 
St.  Petersburg,  Moskau,  Kassanj  und  Charjkow  eingeführt.    In 
der  Theorie  waren  die  oberen  Klassen  ausgenommen,  in  der 
Praxis  nicht.    Die  Strafen  verursachten  zahlreiche  Selbstmorde 
aus  verletztem  Ehrgefühl.    Besonders  blühte  die  Rute  in  den 
Seminarien  und  in  den  Kadettenschulen.    Rostislaw^)  berichtet 
aus  seiner  Schulzeit  im  Seminar:  „Manche  Lehrer  rissen  die 
Haare  aus;   andere   arbeiteten  mit   den   Fäusten,   andere   mit 
Stöcken.     Die  Hospitanten  hatten  das  Recht,  im  Auftrag  des 
Lehrers,  ihren  Kollegen  bis  zu  zehn  Schlägen  mit  der  Rute  zu 
geben.     In  meiner  Zeit  gab  es  8  Selbstmorde.**     Und  Dr.  II- 
jinskij,  der  in  den  40er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  das 
Gymnasiun;  von  Kasanj  besuchte,  überliefert  uns  dieses  hübsche 
Idyll:  „Die  Lehrer  überschritten  alles  gesetzliche  Maß.     1840 
benutzte  der  Direktor  des  Gymnasiums  von  Kasanj  starke  Ru- 
ten, die  er  beim  Gebrauch  fortwährend  in  siedendes  Wasser 
tauchte ;  er  verabreichte  50  Rutenhiebe,  bis  das  Blut  in  Strömen 


Ruten  zu  schlagen.  Mehr  als  eine  hohe  Gebieterin  liebte  diesen  Punkt  des 
riausreglemcnts,  und  dasselbe  Spiel  trieben  die  gnädigen  Herren,  indem  sie  das 
Prinzip  der  Hauszucht  geltend  machten,  mit  dem  Kammerfräulein.  Auch  bei 
nichtchristlichen  Völkern  und  in  anderen  Weltteilen  hatte  die  Rute  im  Straf- 
gesetz wie  im  Herrenrecht,  in  der  Erziehung  der  Jugend  wie  als  Flagellations- 
instrument  ihren  bedeutenden  Platz.  Man  sehe  die  Beispiele  hierfür  bei  Frusta, 
Der  Flagellantismus  und  die  Jesuitenbeichte.  S.  203. 
1)  Vgl.  die  Memoiren  Rostislaws. 


—    169    — 

floß.**  In  der  polytechnischen  Schule  zu  Petersburg  sangen 
5  Schüler  angeblich  die  Marseillaise.  Graf  Kleinmichel  befahl, 
die  Frechen  mit  je  5  Rutenhieben  zu  bestrafen.  Diese  Ruten- 
hiebe waren  furchtbarer  als  Knutenhiebe.  Ein  Schüler  starb 
auf  der  Stelle.  Ein  anderer  erhielt  einen  tötlichen  Hieb  auf 
den  Bauch  und  rief  dem  Henker  zu:  „Der  ungeschickte  Kerl 
versteht  nicht  sein  Metier.**  Die  grausame  Züchtigung  erweckte 
solchen  Abscheu,  daß  tnan  den  allmächtigen  Grafen  Klein- 
michel im  Theater  laut  als  Henker  titulierte. i)  Eine  Statistik 
der  Kijewer  Schulen  aus  den  Jahren  1857  bis  1859  bemerkt, 
daß  27  Perzent  aller  Gymnasiasten  Ruten  bekamen!  Der  be- 
rühmte Professor  Pirogow  befahl,  als  er  Kurator  des  Kijewer 
Lehrbezirkes  geworden  war,  trotz  der  Opposition  fast  aller  Pro- 
fessoren und  Lehrer,  die  Einschränkung  der  körperlichen  Züch- 
tigungen; während  seiner  allerdings  kurzen  Amtierung  wiurde 
nur  26  Mal  geprügelt  I  Als  Prügler  in  den  Gymnasien  waren 
verabschiedete  Unteroffiziere  angestellt.  Der  Inspektor  stand 
dabei  und  kommandierte  die  Exekution.  Verdiente  ein  Schüler 
besondere  Strafe,  so  droschen  zwei  Unteroffiziere  abwechselnd 
den  Bestraften  durch.  Die  Prügler  waren  aber  bestechlich 
und  für  ein  Geschenk  markierten  sie  bloß  die  Schläge.^)  Das 
Gymnasialreglement  von  1862  verbot  endlich  die  Rutenstrafe 
in  den  höheren  Schulen ;  aber  in  den  niedrigen  ist  sie  geblieben 
und  in  der  Theorie  nur  von  der  Einholung  der  elterlichen 
Zustimmung  abhängig. 

In  den  Mädchenschulen  hat  sich  die  Prügelstrafe  ebenfalls 
bis  heute  erhalten ;  namentlich  in  den  Klosterschulen,  wo  adelige 
Kinder  erzogen  werden.  In  den  von  Nonnen  geleiteten  Waisen- 
erziehungshäusern führen  die  Kinder  das  traurigste  Leben.  Um 
4  Uhr  früh  müssen  sie  aufstehen  und  bis  abends  8  Uhr  wird 
gearbeitet  oder  gebetet  ohne  Unterbrechung;  von  8  bis  9  Uhr 
aber,  vor  dem  Schlafengehen,  werden  die  Kinder  mit  der  Rute 
jjezüchtigt;  jene,  die  im  Laufe  des  Tages  Übles  getan  haben, 
trhalten  die  Rute  als  Strafe,  die  anderen  als  Warnung.     Die 


1)  Histoire  de  l'Empereur  Nicolas.  Trente  Ann6es  de  Rdgne.  Par  Alphonse 
Balleydier.     Paris  1857.     II   141. 

2)  Wernirot,  Rußland  im  Licht.     Hamburg  1852.     S.  151. 


—     170    — 

Rute  trifft  nicht  bloß  die  armen  Kinder  in  den  Waisenhäusern, 
sondern  auch  die  Töchter  der  reichsten  Famihen  in  den  vor- 
nehmsten Instituten  und  Pension^iten.  Großes  Aufsehen  erregte 
vor  einiger  Zeit  die  Ursache  der  Züchtigung  der  polnischen 
Komtesse  Stephanie  Kwilinska,  die  im  Petersburger  Adels- 
lyceum  erzogen  wurde.  Der  Zar  machte  eines  Tages  diesem 
Institut  einen  Besuch  und  führte  die  erwähnte  siebzehnjährige 
Komtesse,  die  ihm  als  die  tüchtigste  Schülerin  vorgestellt  wurde, 
zu  Tische.  Es  ist  Sitte,  daß  der  Kaiser  als  besondere  Aus- 
zeichnung dem  Mädchen,  das  er  vor  allen  anderen  wegen  seines 
Fleißes  belohnt  hat,  von  seinem  Teller  den  Rest  der  Speisen 
gibt,  den  er  stehen  läßt.  Kein  größeres  Glück  für  ein  adeliges 
Pensionatsfräulein,  als  vom  Zaren  in  dieser  Weise  begnadet 
zu  werden.  Die  polnische  Komtesse  aber  wußte  nichts  von 
diesem  Brauch  oder  wollte  von  ihm  nichts  wissen,  und  als  der 
Kaiser  ihr  seinen  Teller  mit  den  Speiseresten  überreichte,  da 
rief  sie  einfach  einen  Diener  und  befahl  ihm,  den  Teller  hinaus- 
zutragen. Ob  dieses  Vorfalles  große  Konsternation.  Die  Vor- 
steherin rief  die  Schülerin,  die  noch  eben  von  allen  Kolleginnen 
beneidet  war,  in  ein  anderes  Zimmer  und  erteilte  ihr  mit  der 
Rute  eine  so  derbe  Lektion,  daß  die  Bestrafte  mehrere  Tage 
lang  das  Bett  hüten  mußte. i)  Weit  tragischer  war  der  Vorfall, 
der  sich  im  Mai  1907  im  Petersburger  Alexander-Institut,  einer 
Tochteranstalt  des  Smolna-Instituts,  ereignete.  Im  Alexander- 
Institut  werden  die  Töchter  der  im  Staatsdienste  stehenden 
Adeligen  erzogen.  Eines  Tages  stürzten  sich  zwei  Schülerinnen, 
Nadcschda  Kandaurowa  und  Olga  Ssawinkowa,  aus  den  Fen- 
stern und  verletzten  sich  tötlich.  Es  wurde  eine  Untersuchung 
eingeleitet,  die  ein  furchtbares  Licht  auf  das  Leben  in  einem 
solchen  Institut  wirft.  Das  Regime  ist  streng  bis  zur  Unmög- 
lickeit.  Für  das  Nichtgenießen  einer  Speise,  für  die  geringste 
Unordnung  in  der  vorschriftsmäßigen  Kleidung,  zum  Beispiel 
für  das  nicht  korrekte  Anlegen  der  Schürze,  für  unkorrekte 
Verbeugungen  in  der  Kirche,  mit  einem  Wort,  für  die  aller- 
nichtigsten  Kleinigkeiten  werden  die  Schülerinnen  mit  Ent- 
ziehung des  Ferienurlaubs,  mit  schlechten  Noten  für  Betragen, 


1)  Vgl.  M.  Sadow,  Das  prügelnde  Rußland.     Leipzig  (1906). 


—    171     — 

mit  der  Entziehung  des  Rechts  auf  den  Empfang  von  Besuchen, 
und  sei  es  auch  der  Besuch  der  Mutter,  und  mit  Ruten  bestraft. 
Einmal  wurde  der  größte  Teil  der  Schülerinnen  einer  der  mitt- 
leren Klassen  des  Alexander-Instituts  für  ein  ganz  geringfügiges 
Vergehen  durch  Einschränkung  des  Ferienurlaubs  bestraft,  so 
daß  viele  der  Schülerinnen  der  Möglichkeit  beraubt  waren, 
ihre  in  der  Residenz  lebenden  Eltern  zu  besuchen.  Das  große 
Verbrechen  der  Kandaurowa  und  Ssawinkowa  war,  daß  sie 
Tagebücher  führten.  Das  ist  verboten.  Aber  die  meisten  Schüler- 
innen führen  doch  ein  Tagebuch,  und  die  Inspektrice  und  die 
Klassendamen  dulden  es,  um  durch  systematische  Durch- 
suchungen der  Sachen  der  Schülerinnen  und  durch  die  Lektüre 
des  Tagebuches  Auskünfte  über  das  Leben  der  Schülerinnen  zu 
erlangen.  Die  beiden  Freundinnen  wurden  wegen  ihrer  Tage- 
bücher furchtbar  gezüchtigt.  Sie  beschlossen  nun,  sich  „zum 
Opfer  zu  bringen**,  um  dadurch  die  Aufmerksamkeit  der  Außen- 
welt auf  die  unerträglichen  Zustände  im  Institut  zu  lenken. i) 
Diese  Selbstopferung  ist  echt  russisch. 


34.  Gefängnisse^  Verbannung,  Folter. 

Die  Rute  im  Gefängnis  —  Moderne  Prügelstrafen  in  Sibirien  —  Bericht  eines 
russischen  Arztes  —  Block  —  Ketten  —  Fesseln  —  Die  Tat  eines  russischen 
Philanthropen  —  Zustände  in  den  Gefängnissen  des  europäischen  Rußland  — 
Leroy  -  Beaulieus  freundliche  Ansicht  —  Moskau  —  Das  Höllengefängnis  von 
Riga  —  Methode  Gefangene  in  Ordnung  zu  halten  —  Die  Nacktheit  als  Strike- 
mittel  —  Systematische  Infizierung  politischer  Gefangener  —  Das  Gefängnis 
von  Nikolajew  als  Bordell  —  Geschichte  der  Folter  in  Rußland  —  Blutsaugen 
als  Unschuldsprobe  —  Die  Probe  des  glühenden  Eisens  —  Kalmückische  Eisen- 
probe —  Der  Knut  als  Folterwerkzeug  —  Alte  russische  Folterungsmethoden  — 
Des  Zaren  Alexej  Torturvorschriften  —  Die  Tortur  zur  Zeit  Peters  des  Großen  — 
Die  Kaiserinnen  und  die  Folter  —  Torturen  im  19.  Jahrhundert  —  Moderne 
Torturen  —  Verbannung  nach  Sibirien  —  Unsittlichkeit  in  den  Etappenge- 
fängnissen —  Geschichte  der  Verbannung  nach  Sibirien  —  Ursachen  zur 
Deportation  —  Herrenrecht  und  Verbannung  —  Statistisches  —  Leiden  der  Ver- 
bannten auf  der  Reise  —  In  den  Minen  von  Kara  —  Auf  Sachalin  —  Sittlich- 
keitsverhältnisse —  Europäisches  Lob  der  Verbannung  nach  Sibirien  —  Die 

Aufhebung  der  Deportation  durch  Nikolaj  II. 

1)  St.  Petersburger  Zeitung  (deutsch),  Mai  1907. 


—    172    — 

Von  der  Prügelstrafe  in  den  russischen  Gefängnissen  ist 
bisher  noch  nicht  die  Rede  gewesen.  Sie  verdient,  hier  einen 
besonderen  Platz  angewiesen  zu  erhalten.  Die  Rute  war  im 
ganzen  neunzehnten  Jahrhundert  ein  beliebtes  Disziplinarmittel 
der  Gefängnisdirektoren.  Die  2^hl  der  Rutenhiebe  wurde  mehr- 
fach durch  Gesetze  genau  bestimmt.  1803  gestattete  Zar 
Alexander  I.  den  Verwaltern  der  Zuchthäuser,  bloß  drei  Schläge 
für  ein  Vergehen  anzuordnen.  1845  aber  erlaubte  Nikolaj  I. 
schon  10  Hiebe  in  den  Arbeitshäusern,  30  in  den  Arrestanten- 
kompagnien, und  30 — IOC  Hiebe  in  den  Verbrecherkolonien 
und  Verbannungsorten.  Alexander  II.  verlieh  dem  Chef  eines 
Arrestantentransports  das  Recht,  als  Disziplinarstrafe  eigen- 
mächtig 30,  nach  Einholung  der  Erlaubnis  des  Gouverneurs 
jedoch  auch  100  Hiebe  zu  verordnen.  Je  weiter  vom  Zentrum 
des  Reiches,  desto  weniger  genau  nimmt  man  es  mit  diesen 
gesetzlichen  Vorschriften.  Für  die  sibirischen  Gefängnisdirek- 
toren gar  dauert  noch  die  gute  alte  Zeit  fort.  Knut  und  Pleti 
sind  bei  ihnen  nicht  abgeschafft,  führen  noch  neben  der  Rute 
ihr  rührend  idyllisches  Leben:  „In  einem  düsteren  Korridor" 
—  so  heißt  es  in  einer  allermodernsten  Schilderung  des  rus- 
sischen Arztes  Dr.  Lobas  —  „sind  Tische  und  Stühle  für  die 
der  Exekution  beiwohnenden  Behörden  aufgestellt,  in  einer 
]^2ntfemung  davon  ist  der  Holzbock,  hinter  dem  der  Henkers- 
knecht, eine  weiße  Mütze  auf  dem  Kopf,  die  Füße  in  Filz- 
rchuhen,  in  einem  blutroten  Hemde  mit  aufgestülpten  Ärmeln 
und  mit  dem  Knut  in  der  Hand  auf  sein  Opfer  wartet.  An  der 
Wand  stehen  in  einer  Reihe  die  Arrestanten,  ihnen  gegenüber 
die  Aufseher,  die  geladenen  Revolver  in  den  Händen.  Es 
herrscht  eine  unheimliche  Stille.  Da  wird  der  Name  des  ersten 
Verurteilten  aufgerufen.  Zitternd  tritt  er  zu  dem  Holzbock 
und  auf  den  Befehl  des  Henkers  legt  er  sich  nieder,  worauf  man 
ihn  mit  Riemen  festschnallt;  die  Hände  werden  unter  dem 
]k)ck  festgebunden.  Der  Gefängnisdirektor  erteilt  nun  den 
Befehl  zur  Ausführung  der  Strafe,  und  wuchtig  saust  die  Peit- 
sche auf  den  nackten  Körper  nieder,  ein  schauerliches,  plät- 
scherndes Geräusch  erzeugend,   dem  ein  stöhnender,  herzzer- 


1)  In  der  Petersburger  Medizinischen  Wochenschrift  vom  Jahre  1898.   I. 


—    173    — 

reißender  Aufschrei  folgt.  „Eins,  zwei,  drei!**  zählt  der  Auf- 
seher und  das  Sausen  und  Aufschlagen  der  Peitsche  markiert 
jede  Zahl.  Das  Aufschreien  des  Gezüchteten  verwandelt  sich 
nach  und  nach  in  ein  ununterbrochenes  Geheul  und  Gebrüll. 
Es  liegt  in  der  Hand  des  Henkers,  den  Verurteilten  nur  leicht 
zu  züchtigen,  oder  ihn  für  Lebenszeit  zum  Krüppel  zu  machen. 
Furchtbar  ist  die  Roheit  der  Gefängnisdirektoren;  so  nahm 
einer,  mit  der  ihm  zu  milde  erscheinenden  Handhabe  des 
fürchterlichen  Knut  unzufrieden,  dem  Henker  das  Instrument 
aus  der  Hand  und  zeigte  am  Arrestanten,  wie  man  zuschlagen 
müsse;  ein  anderer  wieder  ließ  den  Henker  selbst  durch  Peit- 
schenhiebe furchtbar  verstümmeln,  als  er  sah,  daß  der  Kerl 
nicht  fest  genug  dreinhieb.  So  hat  ein  solcher  Henker  auf 
diese  Weise  das  ganze  Gesäß  durch  Gewebsbrand  verloren. 
Doch  nicht  bloß  Knutenhiebe,**  so  schließt  Dr.  Lobas  seinen 
nüchtern  schauerlichen  Bericht,  „sind  eine  gsfürchtete  Züch- 
tigung in  den  sibirischen  Gefängnissen,  auch  die  gewöhnliche 
Züchtigung  mittelst  Ruten,  wie  sie  alltäglich  vorkommt  und  ge- 
wissermaßen als  eine  Bagatelle  angesehen  wird,  ist  in  ihren 
Wirkungen  nicht  weniger  schlimm.  Daß  auch  Schwerkranke 
dieser  Maßregelung  nicht  entgehen,  ist  leider  nur  nackte  Wahr- 
heit. Sehr  häufig  wurden  schwere,  auf  Rutenstrafe  folgende 
Psychosen  beobachtet.  Im  Kreise  Korsakow  wurde  eine 
Schwangere  so  lange  geprügelt,  bis  sie  ihre  Seele  aushauchte.** 
Für  den  leisesten  Widerspruch,  das  harmloseste  Vergehen 
erhalten  die  Gefangenen  außer  Ruten  auch  Block,  Fesseln, 
Ketten.  Das  sind  nicht  bloß  Sicherheitsmittel,  sondern  Straf- 
instrumente. Der  Block  (KOJiOAKa)  war  schon  im  alten  Pskow- 
schen  Gesetze  als  weltliche  Strafe  bekannt.  In  anderen  Gou- 
vernements war  der  Block  eine  besonders  bei  der  hohen  Geist- 
lichkeit beliebte  bloße  Disziplinarmethode.  So  klagt  ein  Akten- 
stück aus  dem  Jahre  1729,  „daß  der  Vorsteher  der  Kathedrale 
zu  Kursk  seine  Untergebenen  in  seinem  Hause  lange  Zeit  an 
Blöcke  fesselte.**  Auch  die  Fabriksherren  und  Gutsbesitzer 
bedienten  sich  dieses  Mittels  gegen  ihre  Arbeiter  und  Leib- 
eigenen. Im  Jahre  1740  kam  es  während  eines  berühmten 
Petersburger  Prozesses  zutage,  daß  der  Fabrikant  Satrapesnow 
seine  Arbeiter  für  die  geringste  Schuld  an  Blöcke  zu  ketten 


—    174    — 

pflegte.  Die  russische  Justiz  scheint  sich  schon  frühzeitig  der 
Blöcke  bedient  zu  haben,  um  die  Flucht  von  Arrestanten  zu 
verhüten.  Im  siebzehnten  Jahrhundert  erklärten  zwar  mehrere 
Ukase  solchen  Gebrauch  als  Mißbrauch,  und  dem  Wojewoden 
von  Werchotyr  wurde  beispielsweise  ausdrücklich  anbefohlen: 
„man  soll  die  Gefangenen  nur  in  Eisen,  aber  nicht  an  Blöcke 
legen**;  aber  trotzdem  wurden  die  Blöcke  angewendet,  im  acht- 
zehnten wie  im  neunzehnten  Jahrhundert.  Aus  dem  Jahre  1819 
erzählt  ein  Augenzeuge,  wie  man  einen  Ataman  in  Ssamara 
so  gewaltsam  an  einen  Block  schlug,  daß  man  ihm  Hände  xmd 
Füße  verbrach  und  schließlich  das  Leben  nahm.  Selbst  Nikolaj  I. 
sah  sich  veranlaßt,  1827  gegen  die  ,, Verwendung  ungesetz- 
licher Mittel**  zu  protestieren;  „ein  schrecklicher  Vorfall**  ver- 
anlaßte  diesen  ükas  des  Zaren :  „in  Kleinrußland  hat  man  einen 
Arrestanten  so  unbarmherzig  an  einen  Block  geschlagen,  daß 
man  ihn  zu  Tode  geschlagen.*'  1847  wurde  ein  Edelmann, 
des  Diebstahls  verdächtig,  an  den  Block  geschlagen;  Nikolaj 
erließ  ein  neues  Verbot. i) 

Ketten  (r^iinii)  waren  im  siebzehnten  und  achtzehnten 
Jahrhundert  hauptsächlich  den  kirchlichen  und  Dorfrichtem 
bekannt.  Die  Bischöfe  ließen  Mönche  und  Geistliche  für  unan- 
ständige Reden  oder  Ungehorsam  an  Ketten  legen. 2)  Daß 
auch  die  weltlichen  Gerichte  und  die  zarischen  Wojewoden  sich 
der  Ketten  bedienten,  um  Gefangene  an  der  Flucht  zu  hindern, 
ist  bekannt.  Iwan  der  Schreckliche  liebte  es  Gefangene  an  den 
Ketten  ermorden  zu  lassen.  Aber  doch  war  die  alte  Zeit  nicht 
so  grauenhaft  grausam  wie  die  neuere.  Früher  legte  man  nur 
von  Fall  zu  Fall  für  ein  Disziplinarvergehen  die  Gefangenen 
an  Ketten  und  nur  für  kurze  Zeit,  zwei  Wochen  oder  einen 
Monat.  Aber  ein  Ukas  Nikolajs  1.  vom  Jahre  1840  befahl,  daß 
man  zu  Zwangsarbeit  Verurteilte  für  5  bis  10  Jahre  an  Ketten 
k'gen  soll! 

Fesseln  (oKOBJii),  Hand-  und  Fußfesseln  als  Strafe  werden 


0   Tn.Mn((.(>.'in.  224. 

-')  Vgl.  A,  S.  Prugawin,  Die  russischen  Klostcrgcfangnisse.  Verlag  des 
Poßrcdnik,  St.  Petersburg  (russisch)  und  die  deutsche  Übersetzung  dieses  Buches 
von  Prof.  Dr.  Reißncr.     (Berlin   1906.) 


—    175    — 

zuerst  vom  Kriegsreglement  Peters  im  Jahre  17 16  angeordnet. i) 
Soldaten  und  Matrosen  werden  höchstens  14  Tage  lang  dieser 
Strafe  unterworfen.  Aber  einige  städtische  Beamte  von  Kijew, 
die  sich  eines  Amtsverbrechens  schuldig  gemacht  haben,  sollen 
17 19  nach  einem  Befehle  Peters  „an  Fuß  und  Hals  gefesselt 
bleiben,  bis  ihre  Strafe  verbüßt  ist.**  Die  Fesselung  ist  noch 
heute  allgemein.  Die  Gefangenen,  die  in  die  Verbannung 
transportiert  werden,  erhalten  Fesseln  an  Händen,  Füßen  und 
am  Halse.  Dann  werden  sie  gruppenweise  aneinandergekettet 
und  so  transportiert.  Sie  können  sich  von  einander  nicht 
•  trennen,  weder  bei  Tage  noch  bei  Nacht,  weder  auf  dem 
Marsche,  noch  im  Quartier.  Schläft  einer  unruhig  auf  seinem 
Lager,  so  reißt  er,  indem  er  an  seinem  Gürtel  zerrt,  auch  die 
anderen  aus  der  Reihe.  Will  einer  hinausgehen,  um  ein  natür- 
liches Bedürfnis  zu  befriedigen,  so  müssen  alle,  die  mit  ihm 
zusammengekettet  sind,  ihn  begleiten.  Früher  war  es  noch 
schlimmer,  da  die  Verbindung  zwischen  den  einzelnen  Arrestan- 
ten durch  schwere  eiserne  Stangen  hergestellt  war,  die  eine 
Annäherung  des  einen  an  den  anderen  verhinderte.  Ein  be- 
rühmter russischer  Philanthrop,  Dr.  Haas,  setzte  es  durch,  daß 
an  Stelle  der  eisernen  Stangen  jetzt  bewegliche  Kettenglieder 
verwendet  werden. 

Die  Schilderungen  aller  früheren  Reisenden  malen  das 
russische  Gefängniswesen  in  den  düstersten  Farben.  So  heißt 
es  vor  hundert  Jahren  in  einer  Beschreibung  des  Moskauer 
Gefängnisses  2) :  ,,Es  ist  ein  großes  Gebäude  aus  Backsteinen 
Die  Verbrecher  schmachten  in  Unreinigkeit.  Ihr  Aufenthalt 
ist  übelriechend,  und  sie  selbst  sind  in  ekelhafte  Lumpen  ge- 
kleidet. Überdies  sind  soviele  auf  einmal  in  ein  einziges  Zimmer 
eingesperrt,  daß  man  sich  wundern  muß,  wenn  nicht  alle  an 
ansteckenden  Krankheiten  zugrunde  gehen.  Die  Elenden  ver- 
derben sich  physiscb  ebenso  wie  moralisch.**  Aber  Lcroy- 
Beaulieu  findet  heute  wenig  Grund  zu  Klagen.  „Wenn  man,** 
sagt  er 3),   „die   russischen  Gefängnisse  als  Furcht   erregende. 


*)  TiiM-4of»Bi>  225. 

2)  Breton  IV  54. 

^)  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen.     II  372. 


—    176    — 

verpestete  Kerker  schildert,  in  denen  die  Gefangenen  den  här- 
testen und  grausamsten  Entbehrungen  unterhegen,  so  sind 
derartige  Bilder  nicht  überall  ganz  wahr.  Die  Gefängnisse, 
die  der  Reisende  in  den  Hauptstädten  kennen  lernt,  unter- 
scheiden sich,  wenigstens  die  nach  europäischen  Mustern  ge- 
bauten, wenig  von  den  unseren.  Ja,  in  mehr  als  einer  Stadt 
ist  das  Hauptbauwerk  das  Gefängnis,  das  über  die  Privathäuser 
hervorragt.  In  diesen  finsteren  Palästen  findet  man  die  Art 
von  architektonischem  Luxus,  mitunter  sogar  den  verhältnis- 
mäßigen Komfort,  den  man  heutzutage  den  Sträflingen  zu 
bieten  sich  gefällt.**  Es  ist  bei  dieser  rosigen  Schilderung 
noch  ein  Glück,  daß  bemerkt  wird :  „Im  Inneren  der  Gouverne- 
ments ist  das  nicht  immer  der  Fall,  da  man  in  den  alten  Ge- 
bäuden aus  Raummangel  Angeklagte  und  Verurteilte  zusammen 
in  buntem  Gemisch  einpferchen  muß.**  War  dieser  wunder- 
bare Optimist,  der  eins  der  schönsten  und  ehrlichsten  Bücher 
über  Rußland  geschrieben  hat,  jemals  im  Innern  eines  rus- 
sischen Gefängnisses  ?  Man  braucht  sich  nicht  auf  die  furcht- 
baren Schilderungen  eines  George  Kennan^),  die  Angaben 
eines  Custine^)  zu  berufen;  man  lese  die  trockenen  Berichte 
Haxthausens  3),  die  ärztlichen  Mitteilungen  von  Aurelio  Bud- 
dens^):  vor  allem  aber  frage  man  die  Russen  selbst  I  Eine  der 
zivilisiertesten  Städte  des  heutigen  Rußland  ist  Riga.  „In 
Riga,**  sagte  der  Engländer  Lanin«^),  „ist  ein  Gefängnis,  bei 
dessen  Erwähnung  den  härtesten  Verbrecher  die  blasse  Furcht 
überkommt  und  dessen  Zellen  furchtbarsten  Schauder  erregen.** 
Ein  russischer  Schriftsteller  erklärte :  „Ich  will  lieber  zum  Tode 
durch  den  Knut  verurteilt  werden,  als  eine  Woche  in  einem 
jener  Löcher  des  Rigaer  Gefängnisses  eingesperrt  sein.**  Ich 
kenne  dieses  Haus  des  Entsetzens;  ich  kenne  noch  andere 
russische  Gefängnisse;  und  ich  füge  hinzu:  das  Rigaer  Gefäng- 
nis ist  ein  Mustergefängnis  im  Vergleiche  zu  den  anderen;  und 
ich  verstehe  die  zitternden  Worte  Lanins,  der  ausruft:  „Diese 


^)  Sibirien  I  —  Berlin  1892. 

^)  La  Riissie  en  1839.     II   128. 

•^)  Studien  über  die  inneren  Zustände  Rußlands.  I  331,  II  235. 

*)  St.*" Petersburg  im  kranken'^und  gesunden  Leben.     II   155 — 186. 

^)  Rassische  Zustände.     I  201. 


Blutsaugen   als   Unschuldsprobe. 


—    177    — 

Gefängnisse  sind  kaum  als  Schweineställe  zu  gebrauchen,  und 
das  System  der  Gefangenenbehandlung  ist  ein  solches,  daß 
man  meinen  sollte,  es  sei  von  jenen  scheußlichen  Dämonen 
erdacht,  die  uns  Tertullian  als  Peiniger  der  verlorenen  Seelen 
schildert.**  1890  machten  grauenerregende  Vorfälle  im  Mohi- 
lewer  Gefängnis  Aufsehen.  Die  Wächter  gestanden,  daß  sie 
auf  Befehl  des  Gefängnisgouverneurs  Morosow  die  Gefangenen 
mit  Knütteln  und  in  Lumpen  eingewickelten  Steinen  schlagen 
mußten,  „als  sicherste  Art  die  Schurken  in  Ordnung  zu  hal- 
ten.**^) Als  sich  aus  Ochotzk  und  Nertschinsk  im  Jahre  1879 
Gefangene  flüchteten,  erließ  der  Minister  des  Inneren  einen 
Ukas,  „daß  alle  Gefangenen  an  diesen  beiden  Orten  an  Ketten 
gelegt  und  nur  mit  Brot  und  Wasser  genährt  werden  sollen, 
bis  sie  sterben. **2)  1907  inszenierten  400  Insassen  des  Gefäng- 
nisses von  Smolensk  einen  eigenartigen  Strike.  Sie  verweiger- 
ten das  Anziehen  von  Wäsche  und  Kleidern  und  gingen  nackt. 
Es  waren  durchwegs  politische  Gefangene,  die  man  besonders 
züchtigen  wollte;  man  gab  ihnen  also  schmutzige  Lumpen,  die 
von  syphilitischen  Arrestanten  und  Leprakranken  abgelegt 
waren.  Als  eine  Anzahl  der  Häftlinge  durch  diese  Kleidung 
angesteckt  worden  war,  verweigerten  allp  das  Weitertragen 
der  Krankheitsbringer.  Die  Gefängnisverwaltung  fragte  in 
Petersburg  um  Rat.  Lakonische  Antwort:  „Laßt  sie  nackt 
herumlaufen,  bis  sie  erfrieren  I**^)  Es  fehlt  aber  auch  nicht  an 
fidelen  Gefängnissen,  wo  die  Grausamkeit  der  Wollust  Platz 
macht.  Eine  große  Berühmtheit  genoß  in  dieser  Beziehung 
das  Gefängnis  von  Nikolajew  zur  Zeit  des  Regimes  der  beiden 
Gouverneure  Malinskij  und  Wladimirow  im  Jahre  1891.  Die 
verwegensten  Verbrecher  lebten  dort,  wenn  sie  reiche  Ver- 
wandte oder  Freunde  hatten,  gleich  Fürsten.  Die  russische 
Zeitschrift  .,Die  Woche***)  enthüllte  ein  liebliches  Idyll:  „Drei 
Betrüger,  Eichenholz,  Moses  und  Litschizkij,  wurden  zu  Einzel- 
haft verurteilt.     Aber  die  bestochenen  Gouverneure  gestatten 


^)  Lanin  I  235. 

2)  PycLKaa  crapHHa,  1879i  358.  —  Lanin  I  209. 

^)  Russische  Zeitungsberichte. 

*)  HeAtjifl,  19.  anp.  1891  r. 

Stern,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  RufiUmd.    **  12 


—    178    — 

ihnen,  sich  innerhalb  des  Gefängnisses  ganz  frei  zu  bewegen. 
Gouverneur  Malinskij  lädt  sie  in  seine  Wohnung  zu  Tische,  und 
nach  dem  Essen  wird  Karten  gespielt;  und  abends  gibt  es 
Branntwein  und  Orgien.  Gouverneur  Wladimirow  unterzieht 
sich  persönlich  der  Aufgabe,  unter  den  weiblichen  Häftlingen 
die  hübschesten  auszusuchen  und  sie  den  Gefangenen  in  die 
Zellen  zu  bringen." 

In  allen  russischen  Gefängnissen  wird  noch  heute,  im 
zwanzigsten  Jahrhundert,  gefoltert.  Die  Grausamkeit  der  rus- 
sischen Tortur  charakterisiert  das  Volkswort :  „Sagen  was  unter 
dem  Nagel  verborgen  ist.**  In  alten  Zeiten  kannte  man  wie 
anderwärts  auch  in  Rußland  verschiedene  Unschuldsproben: 
das  Saugen  von  Hundeblut;  Eisenprobe;  Wasserprobe.  Die 
erste  Art  verlief  folgendermaßen:  Wer  seine  Unschuld  be- 
hauptete, mußte  einem  Hunde  unter  dem  linken  Schenkel 
eine  Ader  öffnen  und  das  Blut  saugen,  bis  das  Tier  vor  Er- 
schöpfung verendete.  Erbrach  der  Beschuldigte  das  Blut  oder 
war  er  nicht  imstande  ans  Ziel  zu  gelangen,  so  galt  er  als  schul- 
dig. In  den  Gesetzen  des  Großfürsten  Jaroslow  Wladimiro- 
witsch  und  Wladimir  Wßewolodowitsch  Monomach  wird  die 
Eisenprobe  schon  erwähnt,  aber  die  Art  ihrer  Anwendung 
nicht  beschrieben :  „Bei  Anklage  auf  Mord  und  Diebstahl,  wo 
keine  Zeugen,  mache  man  die  Probe  des  glühenden  Eisens.  Es 
ist  die  Eisenprobe  zur  Bekräftigung  jeder  Anklage  erlaubt, 
wenn  des  Klägers  Forderung  sich  auf  i/o  Griwne  an  Gold  be- 
läuft.** Ifctrug  des  Klägers  Forderung  nicht  mehr  als  2  Griwnen 
an  Silber,  so  bestimmte  man  die  Wasserprobe.  Diese  wird 
genau  bcsc  hrieben :  Der  Verurteilte  muß  seine  Hand  in  ein  mit 
kochendem  Wasser  angefülltes  Gefäß  eintauchen  und  einen  auf 
dem  lk)den  des  Gefäßes  liegenden  Ring  herausnehmen.  Darauf 
wird  die  Hand  in  einem  Sack  eingebunden  und  versiegelt. 
Nach  drei  Tagen  erfolgt  Öffnung  des  Sackes  und  Besichtigung 
der  Hand ;  findet  man  diese  unversehrt,  so  ist  der  Prozeß  zum 
Vorteile  des  Beklagten  geschlichtet. i) 


1)  Konstantinopel  und  St.  Petersburg,  der  Orient  und  der  Norden,  eine 
Zeitschrift.  S.  292 :  Gesetze  der  Großfürsten  Jaroslaw  und  Wladimir.  —  Auch 
bei  den  Kalmücken  kannte  man  eine  Eisenprobe:   Der  Beschuldigte  mußte  ein 


—    179    — 

Aber  nur  im  ältesten  Rußland  begnügte  man  sich  mit 
solchen  Methoden.    Bald  begann  man,  wie  es  auch  in  Europa 


glühendes  Steigbügeleisen  mit  bloßer  Hand  anfassen  und  dann  wegwerfen;  man 
umwickelte  die  Hand,  besichtigte  sie  nach  drei  Tagen  und  entschied  dann  nach 
der  Beschaffenheit  des  Brandzeichens  Schuld  oder  Unschuld  des  Beklagten.  Vgl. 
Benjamin  Bergmanns  Nomadische  Streifereien  unter  den  Kalmücken  in  den 
Jahren  1802  und  1803.  Riga  1804  II 41.  —-Über  Eisenprobe  bei  nicht  russischen 
Völkern  findet  man  die  Mitteilungen  zusammengestellt  in  St.  Edme,  Dictionnaire 
de  la  p6nalit6  IV  68.  In  Antigone  von  Sophokles  erbietet  sich  ein  von  Kreon  Ver- 
dächtigter, ein  glühendes  Eisen  in  die  Hand  zu  nehmen  oder  durch  Feuer  zu 
gehen,  um  seine  Unschuld  zu  beweisen.  Theodor  Lascaris,  der  seine  Krankheit 
der  Zauberei  zuschrieb,  zwang  die  der  Zauberei  Verdächtigen,  glühendes  Eisen 
in  der  Hand  zu  halten;  geistreich  sagt  Montesquieu:  „Das  hieß  bei  dem  unwahr- 
scheinlichsten Verbrechen  nach  dem  sichersten  Beweis  der  Unschuld  suchen". 
Michael  Paläologos  der  Usurpator  war  unter  der  Herrschaft  seines  Vorgängers 
angeklagt,  die  höchste  Gewalt  anzustreben.  Die  Richter  schlugen  Eisenprobe 
vor.  Diese  erfolgte  nach  byzantinischer  Methode  gewöhnlich  so:  Der  Beschul- 
digte mußte  fasten  und  beten;  dann  band  man  seine  Hand  in  einen  Sack  und 
versiegelte  ihn  mit  dem  Siegel  des  Herrschers ;  nach  drei  Tagen  befreite  man  die 
Hand,  und  nun  mußte  der  Beschuldigte  eine  glühende  Eisenkugel,  genannt  die 
heilige,  ergreifen  und  dreimal  vom  Altar  bis  zur  Balustrade  des  Sanktuariums 
tragen.  Pachimeres  erzählt^  daß  er  mit  eigenen  Augen  mehrere  solcher  Fälle 
gesehen,  wo  die  Angeklagten  keinen  Schaden  erlitten.  Michael  Paläologos  aber 
weigerte  sich,  die  Unschuldsprobe  vorzunehmen.  „Wenn  jemand  mich  anzu- 
schuldigen wagt'',  sagte  er,  „so  bin  ich  bereit,  mich  mit  ihm  zu  schlagen,  ich 
weiß  anzugreifen  und  mich  zu  verteidigen,  aber  ich  verstehe  nicht  Wunder  zu 
tun.  Ich  kenne  kein  Mittel,  welches  ermöglicht,  glühendes  Eisen  in  der  Hand  zu 
halten,  ohne  die  Hand  zu  verbrennen.  Ich  besitze  nicht  das  Geheimnis,  mich  in 
eine  Marmor-  oder  Bronzestatue  zu  verwandeln".  Phokas,  Metropolit  von 
Philadelphia,  Höfling  und  Prälat  in  einer  Person,  entgegnete :  „Deine  Geburt 
verlangt  mehr  Courage ;  es  gilt,  jeden  Verdacht  zu  zerstreuen  und  deine  Un- 
schuld der  ganzen  Welt  zu  beweisen.  Rechtfertige  dich  durch  das  geheiligte 
Mittel,  das  man  vorschlägt,  da  du  es  durch  Zeugen  nicht  tun  kannst".  — 
„Mein  Meister",  spottete  Michael,  ,, meine  Augen  sind  nicht  gut  genug,  um  in 
dieser  Operation  etwas  Heiliges  zu  sehen.  Ich  bin  ein  armer  Sünder,  ein  Knecht 
im  Erdenstaube.  An  dir,  himmlischer  Herr,  der  du  mit  Gott  selbst  sprichst,  an 
dir  ist  es,  Wunder  zu  tun.  Nimm  das  glühende  Eisen  in  deine  heiligen  Hände  und 
lege  du  es  in  die  meinigen;  ich  werde  es  mit  Demut  empfangen*'.  Daraufhin 
entschied  Phokas :  ,,Man  soll  Gott  nicht  versuchen !"  und  alle  Richter  waren  von 
Michaels  Unschuld  überzeugt.  —  In  Europa  kannte  man  die  Eisenprobe  im 
feudalen  Zeitalter;  man  zog  auch  Handschuhe  aus  glühenden  Eisen  an  und 
schritt  barfuß  über  neun  bis  zwölf  glühende  Eisenstangen.  Bei  den  alten  Bre- 
tonen  mußte  der  Angeklagte  mit  verbundenen  Augen  bloß  zwischen  zwei 
glühenden   Eisenstangen   unversehrt  hindurchgehen,    um  seine  Unschuld  zu 

12* 


—    180    — 

geschehen,  sich  der  Folter  zu  bedienen,  um  Geständnisse  zu 
erzwingen.  Der  Knut  war  nicht  nur  Strafwerkzeug,  sondern 
auch  Folterinstrument,  und  wir  kennen  bereits  das  russische 
Sprichwort :  „Der  Knut  lehrt  die  Wahrheit  sagen/*  Zu  Zwecken 
der  Tortur  schuf  man  eine  Kombination  der  Verbindung  des 
Knutens  mit  dem  Wippen:  man  band  dem  Beschuldigten  die 
Hände  hinter  dem  Rücken  zusammen  und  zog  ihn  dann  mit 
einem  Seil  an  den  zusammengebundenen  Händen  hinauf  und 
herunter.  Der  Henker  hob  seine  mit  dem  Knut  bewaffnete 
Hand  hinter  die  Schulter^),  um  mehr  Kraft  zum  Schlägen  zu 
haben,  und  hieb  mit  voller  Wucht  auf  den  nackten  Rücken 
des  Gewippten,  den  man  erst  losband,  wenn  seine  Arme  ganz 
ausgerenkt  waren.  Die  Erfindung  des  Wippens  schreibt  man 
übrigens  nicht  den  Russen,  sondern  Frangois  I.  zu;  sie  war 
unter  dem  Namen  Estrapade  jedenfalls  in  Europa  lange  in 
Gebrauch,  namentlich  in  Frankreich,  Spanien,  Sardinien  und 
Venedig.  Eine  spezifisch  asiatische  Art  des  Gliederausrenkens 
war  abe-  jene,  die  die  Russen  von  den  Kalmücken  übernahmen : 
man  steckte  die  Beine  des  Angeklagten  durch  die  Speichen 
eines  Karrens  und  dehnte  sie  solange  aus,  bis  ein  Geständnis 
erfolgte. 

Die  Notwendigkeit  der  Tortur  entschuldigte  man  in  Ruß- 
land damit,  daß  man  gesetzlich  niemanden  verurteilen  durfte, 
der  seine  Schuld  nicht  selbst  eingestanden  hatte.  ., Kein  Mensch/ 
der  wegen  einiger  Übelthat  angeklaget  wird  /  kan  verurtheilet 
werden  /  wofern  er  es  nicht  gestehet  /  ungeachtet  tausend 
Zeugen  wider  ihn  Zeugniß  ablegen.**  Man  tut  ihm  daher 
„gewißlich  zu  Erlangung  seines  Bckänntnisses  die  greulichsten 


beweisen.  Königin  Emma  von  England  wurde  von  ihrem  eigenen  Sohn  zur 
Eisenprobe  verurteilt;  sie  schritt,  erzählt  die  Legende,  barfüßig  über  neun 
glühende  Stangen,  ohne  Schaden  zu  nehmen.  In  Frankreich  wurde  nach  der 
Erzählung  Gilberts  ein  Mönch  durch  die  Eisenprobe  der  Hurerei  überführt. 
Ein  Konzil  unter  Innocenz  III.  schaffte  die  Eisenprobe  ab.  Schließlich  ist  auch 
bei  verschiedenen  wilden  Völkern  die  Eisenprobe  im  Gebrauch  gewesen.  Bei 
afrikanischen  Völkern  mußten  die  Beschuldigten  glühendes  Eisen  lecken,  drei- 
mal oder  siebenmal.     Ähnliches  geschah  in  Malabar  und  Siam. 

1)  Von  dieser  Art  des  Schiagens  leitete  man  die  Bezeichnung  Sapljetschnik 
für  den  Henker  her:  aaiMciuiufb,  von  :{aii.i(^Mi,e,  „Stelle  hinter  den  Schultern". 


—    181    — 

Martern  an  /  die  zu  erdencken  sind.  Anfänglich  wird  er  ge- 
wippet ;  wenn  er  nichts  bekennt  /  gegeisselt  /  und  der  Hencker 
gebraucht  sich  seiner  Streiche  so  wohl  /  daß  er  denjenigen  / 
den  er  gegeisselt  /  mit  6.  oder  7.  Schlägen  tödten  kann.  Man 
sticht  zuweilen  den  Beklagten  mit  einem  glühenden  Eisen  in 
die  Seiten  /  oder  spält  ihm  sogar  den  Rücken  auf  /  den  man 
mit  Saltz  bestreuet  /  und  auf  dem  Rost  übers  Feuer  leget  / 
nachdem  man  ihn  unterweilen  ein  wenig  mit  einem  Stocke  von 
einander  gethan  hat.  Dafern  er  noch  nichts  gestehet  /  so 
macht  man  ihn  die  Schultern  und  den  Rücken  wieder  zurechte  / 
und  fanget  /  wenn  ihme  zwantzig  Tage  Ruhe  gelassen  worden 
ist  /  wieder  an  /  ihn  wie  zuvor  zu  martern.  Oeffters  werden 
ihm  die  Seiten  gantz  aufgerissen  /  und  wenn  er  alle  die  Martern 
standhafft  ausstehen  kan  /  wie  es  öffters  geschiehet  /  so  ist 
dieses  der  letzte  Versuch  /  daß  ihme  auff  dem  Kopffe  ein 
Krantz  überaus  glatt  geschoren  /  und  Wasser  tropffenweise 
darauf  gegossen  wird  /  und  dasselbe  soll  /wie  man  sagt  /  der 
empfindlichste  Schmerz  unter  allen  Martern  seyn.'i)  Der  rus- 
sische Historiker  Karamsin  erwähnt  aus  der  Zeit  des  Endes  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  noch  folgende  Foltermethoden :  „Um 
einen  erst  noch  zu  überführenden  Verbrecher  zum  Geständ- 
nisse zu  bringen,  brannte  man  ihn  manchmal;  man  brach  ihm 
die  Rippen  entzwei  und  schlug  ihm  Nägel  in  das  Fleisch.** 
Karamsin 2)  findet  aber  auch  eine  vortreffliche  Entschuldigung: 
,,Die  Ursache,  daß  die  dem  Herzen  schauderhafte  Grausam- 
keit des  Folterns  bei  uns  eingeführt  oder  doch  beibehalten 
wurde,  war  das  Bestreben,  die  Verbrechen  zu  vermindern.** 
Das  Gesetzbuch  Iwans  III.  ordnet  „die  Tortur  als  Mittel  zur 
Entdeckung  der  Wahrheit**  an,  gestattet  sie  aber  nur  „bei  Ange- 
klagten, deren  Vorleben  ein  anerkannt  schlechtes  und  auf  denen 
große  Wahrscheinlichkeit  der  Schuld  ruht.  Handelt  es  sich 
aber  um  ehrenhaft  bekannte  Leute,  so  soll  man  die  Tortur  nicht 


1)  Reise  nach  Norden.  1706.  S.  191.  —  Auch  bei  Le  Bruyn,  Voyages, 
III  135,  heißt  es  wörtlich  gleichlautend:  „Die  furchtbarste  Art  der  Folter  ist, 
den  Kopf  glatt  rasieren  und  Wasser  darauf  tropfenweise  fallen  lassen.  Wer 
diesem  unterzogen  wird,  gesteht,  was  man  will". 

*)  Geschichte  des  russischen  Reichs  (deutsche  Ausgabe).     IX  288. 


—    182    ~ 

anwenden. **i)  Von  den  furchtbaren  Torturen,  die  der  schreck- 
liche Iwan  IV.  anwenden  ließ,  braucht  hier  nicht  nochmals 
gesprochen  zu  werden.  Aber  Iwan  IV.  verhängte  die  Folter 
nur  in  seinen  Wahnsinnsanfällen,  in  den  Gesetzen  hielt  er 
Maß.  Zar  Alexej  Michajlowitsch  Romanow  dagegen  hat  in 
seinem  Gesetzbuch  (yjioaceme  1649  r.)  für  zahllose  Fälle  Fol- 
terung ausdrücklich  vorgeschrieben,  und  schon  beim  geringsten 
Verdacht  mußte  gemartert  werden.  So  heißt  einer  seiner 
Gesetzartikel  2) :  „Wenn  Räuber  auf  der  Folterbank  einige  Leute 
beschuldigen,  daß  sie  ihnen  Quartier  gegeben,  sollen  selbige 
festgenommen,  konfisziert,  konfrontiert,  gefoltert  und  bestraft 
werden,  als  ob  sie  selbst  mitgewirkt  hätten.  Ebenso  soll  ver- 
fahren werden  mit  jenen,  welche  von  den  Räubern  auf  der 
Folterbank   als   Hehler   beschuldigt   werden.** 

Der  Zivilisator  Peter  der  Große  gab  mehrere  Ukase,  die 
ihn  als  milden  Herrscher  erscheinen  lassen  sollten.  Er  hat 
zwar  selbst  bei  der  Strjeljzen-Unterdrückung  die  furchtbarsten 
Torturgreuel  begangen,  hat  eigenhändig  seine  Schwester  Sofia, 
seine  Gattin  Eudoxia,  seinen  Sohn  Alexej  gefoltert;  aber  das 
hindert  ihn  nicht,  folgende  Gesetze  zu  erlassen  3):  „Was  die- 
jenigen anbetrifft,  die  auf  der  Tortur  gewesen,  so  geschieht 
es  oft,  daß  gottlose  Menschen  andere  aus  Bosheit  mit  in  ihre 
Sachen  verwickeln.  Wir  wollen,  daß  diejenigen,  die  also  un- 
schuldig gemartert  werden,  nicht  für  unehrlich  angesehen  wer- 
den, sondern  daß  ihnen  von  Uns  ein  offener  Brief  mit  einem 
hinlänglichen  Beweise  von  ihrer  Unschuld  gegeben  werden  soll. 
In  bürgerlichen  Sachen  soll  die  Tortur  nicht  vorgenommen 
werden,  wenn  nicht  die  Bosheit  und  Übeltat  klar  zu  Tage 
liegen.  Man  mache  bei  der  Tortur  genaue  Unterscheidungen : 
Die  starken,  frischen  und  gemeinen  Leute  greife  man  schärfer 
an,  diejenigen  aber,  so  zarten  Leibes  und  guter  Herkunft  sind, 
foltere  man  leichter.    Der  Richter  soll  nicht  ohne  starken  Ver- 


^)  Etudes  historiques  sur  la  16gislation  nisse  ancienne  et  moderne  par 
Spyridion  G.  Z6zas.    Paris  1862.    88. 

2)  Allgemeines  nissisches  Landrecht,  aus  dem  Russischen  übersetzt  von 
B.  G.  Struve.     Dantzig  1723.     S.  221. 

^)  Halem,  Leben  Peters  des  Großen.  III  170,  Anmerkung  8.  —  Sadler, 
Peters  I.  geistige  Hinterlassenschaft. 


—    183    — 

dacht  jeden  zur  Tortur  bringen.  Wegen  unbedeutender  Ange- 
legenheiten soll  nicht  gefoltert  werden.**  Und  zur  gleichen 
Zeit,  da  er  diese  schönen  Ukase  aus  seinem  zarischen  Arbeits- 
kabinett vom  Stapel  läßt,  spielt  er  selbst  wieder  einmal  den 
Folterknecht:  Fürst  Gagarin,  Gouverneur  von  Ssibirj,  der  Mal- 
versation  angeklagt,  erscheint  im  Sommer  1721  vor  dem  Tri- 
bunal zu  Petersburg.  Er  beteuert  seine  Unschuld.  Man  foltere 
ihn !  befiehlt  Peter.  Und  man  unterzieht  den  Fürsten  siebenmal 
der  Tortur,  ohne  ein  Geständnis  zu  erzwingen.  Peter  ver- 
spricht dem  Fürsten  Gnade  und  Nachsicht  der  Strafe  für  ein 
Geständnis.  Umsonst.  Neue  Torturen  erreichen  auch  nicht 
mehr.  Da  wird  dem  alten  Gesetze  zum  Trotze,  daß  niemand 
verurteilt  werden  darf,  der  sein  Verbrechen  nicht  eingestanden, 
über  Gagarin  doch  die  Kapitalstrafe  verhängt.^) 

Von  den  Zarinnen  beginnt  Anna  Iwanowna  ihre  Herrschaft 
mit  furchtbaren  Torturen  aller  möglichen  Verdächtigen.  Vom 
I .  August  1 730  bis  zum  3 1 .  Dezember  1 73 1  läßt  sie  425  Menschen 
foltern. 2)  Elisabeth  befiehlt  1751  dem  Senat,  „dafür  zu  sorgen, 
daß  nicht  falsche  Anklagen  und  Erklärungen  durch  die  Tortur 
entrissen  werden*'3)j  aber  als  sie  die  Todesstrafe  abschafft, 
verschärft  sie,  um  diese  humane  Anwandlung  gutzumachen, 
die  Tortur^)  und  läßt  unzählige  Menschen  qualvoll  foltern. 
Ein  neues  Gesetz  bestimmt,  daß  die  Angeklagten  neben  der 
physischen  auch  einer  moralischen  Pein  unterworfen  werden 
sollen :  man  schickt  ihnen  Geistliche,  damit  diese  das  Geständ- 
nis erzwingen,  wenn  es  dem  Henker  nicht  gelingt  I  Der  achtzig- 
jährige Feldmarschall  Münnich  selbst,  der  an  seinem  Ver- 
bannungsorte mit  einem  Offizier  einen  Streit  hatte,  soll  der 
Folterung  unterzogen  werden;  zum  Glück  stirbt  Elisabeth,  und 
ein  Bote  Peters  III.  rettet  den  Greis. 

Katharina  II.  ist  eine  entschiedene  Gegenerin  der  Tortur. 
Ein  Stoß  von  Aktenstücken  dokumentiert  ihre  Ansichten  gegen 
dieses  Furchtbare  gelegentlich  der  Folterung,  welcher  der  eines 


^)  Galitzine,  La  Rassie  au  XVIII.  sidcle,  p.  375.  —  Comte  F6dor  Golov- 
kine,  La  Cour  et  le  Rdgne  de  Paul  I*^     Paris  1905.    p.  12. 
-)  Waliszewski,  L'h6ritage  de  Pierre.     196. 
^)  Waliszewski,  La  dernidre  des  Romanov.     169. 
^)  Dupr6  de  St.  Maure,  L'Hermite  en  Rnssie.    I  307. 


—    184    — 

Komplotts  beschuldigte  Offizier  Mirowitsch  unterworfen  werden 
soll.i)  In  tausend  Variationen  spiegelt  sie  selbstgefällig  ihre 
unvergleichliche  Humanität  wieder;  kurze  Zeit  darauf  befiehlt 
sie,  drei  der  Brandstiftung  beschuldigte  Personen  zu  foltern, 
um  Einschüchterung  zu  erzeugen!  Alexander  I.  sagte:  „Das 
Wort  Folter  muß  aus  der  russischen  Sprache  ausgemerzt  wer- 
den,** und  sein  Ukas  von  1806  hob  die  Tortur  auf;  endgiltig, 
unwiderruflich,  für  alle  Zeiten.  Vier  Jahrzehnte  später  enthält 
das  Strafgesetzbuch  Nikolajs  folgenden  Artikel  2):  „Mißbrauch 
der  Amtsgewalt.  Wer  bei  Ausübung  seines  Amtes  irgend  eine 
Art  Tortur  oder  Marter  anwendet,  wird  nach  Umständen  zu 
6  Monaten  bis  zu  i  Jahr  Gefängnis  oder  auf  2  bis  3  Jahre 
Besserungshaus  oder  zu  einer  korrektionellen  Strafe  verurteilt. 
Ist  aber  infolge  einer  durch  Tortur  oder  Marter  erpreßten 
falschen  Aussage  ein  Unschuldiger  zum  Verlust  aller  Standes- 
rechte verurteilt  worden,  so  trifft  den  Beamten  die  peinliche 
Strafe  zweiter  Klasse  sechsten  Grades  (Verlust  aller  Standes- 
rechte, Verbannung  zu  Zwangsarbeit,  40 — 50  Peitschenhiebe). 
Bei  Strafe  der  Absetzung  vom  Amt  ist  es  dem  Untersuchungs- 
richter verboten  durch  Drohungen  oder  andere  gesetzwidrige 
Mittel  ein  Geständnis  zu  erzwingen  oder  einen  Zeugen  zu  einer 
Aussage  zu  nötigen.**  Wie  Peter  der  Große  verhöhnte  indessen 
auch  Nikolaj  I.  vor  allen  anderen  die  von  ihm  gegebenen  dra- 
konischen Antitorturgesetze. 

Die  peinliche  Frage  konnte  wohl  mit  einem  Federzug  aus 
dem  Gesetzbuch  gestrichen  werden,  aber  nicht  aus  der  Praxis 
eines  Landes,  wo  die  Willkür  und  der  Despotismus  ihre  Macht 
auf  die  Spitzen  von  Ruten  gestellt  haben.  Dauern  Folter  und 
Körperstrafen  im  zwanzigsten  Jahrhundert  noch  in  dem  Zen- 
trum des  Reiches  fort,  so  ist  es  nur  natürlich,  daß  in  den  ent- 
legenen Gouvernements  der  „Mißbrauch  der  Amtsgewalt**  seine 
rohen  Formen  nicht  einmal  verhüllt.  In  den  beiden  Haupt- 
städten,   durch    deren  Fenster  Europa    schreckensbleich    die 


^)  Geschichte  Katharinas  II.  von  Professor  B.  von  BUbassoif.    Des  rus- 
sischen Originals  II.  Band,  II.  Abteilung.     Berlin  1893.     S.  90 — 108. 

^)  Strafgesetzbuch  des  Russischen  Reichs,  promulgiert  im  Jahre  1845. 
Carlsruhe  und  Baden  1847.     (§§  374  vuid  463.) 


—    185    — 

Greuel  mitansehen  kann,  sucht  man  zuweilen  das  blutige  Schau- 
spiel durch  einen  Vorhang  zu  verdecken,  aber  im  Inneren,  wo 
man  die  Neugier  der  westlichen  Welt  nicht  fürchtet  und  achtet, 
wütet  man  schrankenlos.  In  einer  kleinen  Stadt  der  Ostsee- 
provinzen wurde  1875  ^^^  Richter  Kümmel  überführt,  daß  er 
Angeklagten  gegenüber  alle  Mittel  der  Tortur  gebrauchte,  um 
Geständnisse  zu  erlangen :  Ruten  und  Daumschrauben,  Hunger 
und  Durst.  1)  Die  Regierung  steckte  den  Mann  erst  dann  ins 
Irrenhaus,  als  ein  Angeklagter  infolge  der  Torturen  gestorben 
war.  1879  enthüllte  ein  Prozeß  in  Kasanj,  daß  die  Polizei  in 
ganz  Rußland  in  ihrem  Wirkungskreis  die  Tortur  ohne  Be- 
denken anwendet.  Torturen  werden  aber  nicht  bloß  in  bürger- 
lichen oder  politischsen  Affären  als  ein  vortreffliches  Hülfs- 
mittel  der  Justiz  betrachtet,  sondern  sind  auch  in  Gebrauch, 
um  Sektierer  und  Abtrünnige  in  milder  Weise  in  den  Schoß 
der  orthodoxen  Kirche  zurückzuführen.^)  Alexander  III.  hat 
der  Folter  sogar  wieder  einen  offiziellen  Platz  angewiesen. 
Um  die  Triebfedern,  Ziele  und  Geheimnisse  der  Nihilisten  zu 
enthüllen,  befahl  er  gegen  die  Mörder  des  Zaren  Alexander  II. 
die  Folter  anzuwenden;  und  Rüssakow  zeigte  vom  Schaffot 
herab  seine  ausgerenkten  Arme  dem  Volke.^)  In  Jekaterinen- 
burg  wurde  1903  der  Gouverneur  des  Nikolajewschen  Straf- 
hauses, Oberst  Foß,  wegen  Unterschlagung  und  Fälschung 
öffentlicher  Urkunden  vor  Gericht  gestellt.  Dabei  kam  auch 
die  ungeheuerliche  Grausamkeit,  mit  der  gegen  die  Verbannten 
vorgegangen  wird,  zur  Sprache.  In  der  Gerichtsverhandlung 
stellte  es  sich  heraus,  daß  Foß  eine  regelrechte  Folterkammer 
eingerichtet  hatte,  in  welcher  die  Verbannten  qualvollen  Mar- 


^)  Auch  in  anderen  Ländern  geschieht  solches.  In  Ungarn  wurden  im 
Juli  1907,  zufolge  den  Angaben  ungarischer  Zeitungen,  einige  des  Mordes  ver- 
dächtigte Zigeuner  von  den  Gendarmen  mit  gesalzenen  Fischen  gefüttert  und 
dann  ohne  Wasser  gelassen,  damit  ihnen  die  Qual  des  Durstes  ein  Geständnis  ent- 
locke. Diese  Fälle  sind  vereinzelte  Verimingen  untergeordneter  Organe;  in 
Rußland  aber  stehen  wir  nicht  Ausnahmen,  sondern  einer  Regel  gegenüber. 

*)  Faiocri,  1880,  Nr.  283;  B'fe<THHin>  Ebi)oiiu,  Mapn.  1881.  —  Leroy- 
Beaulieu,  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen.  II  303  und  ebenda  Anmerkung 
des  Übersetzers. 

^)  Leroy-Beaulieu,  a.  a.  O. 


—    186    — 

tern  unterzogen  wurden.  Der  Gefängnisinspektor  Schilkarskij, 
welcher  die  Folterkammer  besichtigt  hatte,  sagte  vor  Gericht 
aus,  daß  das  von  Foß  als  Folterkammer  eingerichtete  Zimmer 
einen  grauenhaften  Anblick  bot.  Alles  im  Zimmer,  Wände, 
Boden  und  Plafond,  war  von  oben  bis  unten  mit  Blut  bespritzt. 
Die  Verbannten,  welche  sich  eines  kleinen  Vergehens  schuldig 
machten,  wurden  von  Foß  oftmals  zu  Tode  geprügelt.  Ein 
wegen  Fluchtverdachtes  gefolterter  Sträfling  wurde  in  einem 
Zustande  ins  Spital  gebracht,  welchen  die  Zeugen  als  „höllisch** 
bezeichneten.  Der  Körper  des  Unglücklichen  bildete  eine 
blutige  Fleischmasse  mit  gebrochenen  Knochen.  Es  sind  Fälle 
vorgekommen,  wo  Sträflinge  infolge  der  erlittenen  Folter  irr- 
sinnig wurden.  Die  Gerichtsverhandlung  ergab,  daß  Oberst 
Foß  eigenhändig  die  Unglücklichen  zu  foltern  liebte,  wobei  er 
eine  ausgesuchte  Grausamkeit  bekundete. i)  Der  Gerichtshof 
verurteilte  Foß  zum  Verluste  aller  Rechte  und  zu  drei  Jahren 
Zuchthaus  wegen  Unterschlagung  und  Dokumentenfälschung; 
der  „Mißbrauch  der  Amtsgewalt**  aber  war  nicht  der  Rede 
wert.  Im  selben  Jahre  1903  hatten  sich  vor  dem  Warschauer 
Gericht  der  PoHzeimeister  der  Stadt  Sjedletz  und  vier  untere 
Polizeibeamte  wegen  Mißhandlungen  zu  verantworten,  die  sie 
an  einem  Häftling  begangen  hatten,  um  ihm  ein  Geständnis 
abzupressen.  Der  Sachverhalt  war  folgender 2):  In  der  Stadt- 
apotheke von  Siedletz  wurden  aus  der  kleinen  Kasse  72  Rubel 
gestohlen.  Unter  dem  Verdacht  des  Diebstahls  wurde  der 
junge  Apothekergehilfe  Sadowski  der  Polizei  übergeben.  Sa- 
dowski  wurde  verhaftet,  was  eigentlich  nur  eine  Formalität 
sein  sollte,  da  man  ein  Geständnis  für  selbstverständlich  hielt. 
Der  unschuldige  Sadowski  wollte  und  konnte  nichts  einge- 
stehen. Das  wird  hier  als  Aufruhr  angesehen  und  dement- 
sprechend behandelt.  Die  Mittel?  Einfach  Torturen!  Tor- 
turen an  den  Geschlechtsteilen,  Zusammendrücken  der  Hoden, 
Zwicken  des  Gliedes  mit  glühenden  Zangen  I  Dann  wurde  der 
Delinquent  geschlagen,  bis  820  Quadratzentimeter  seines  Kör- 


1)  Nach  dem  Berichte  des  „Ssibirskij  Wjestnik"  in  der  „Neuen  Freien 
Presse".     1903,  Nr.  141 27,  Abendblatt. 

*)  Nach  russischen  Zeitungsberichten  im  Berliner  „Vorwärts"  und  in  der 
Wiener  „Arbeiter-Zeitung"  vom  22.  Dezember  1903. 


—    187    — 

pers  nur  eine  große  Wunde  bildeten.  Wie  schrecklich  die 
Qualen  sein  mußten,  erhellt  schon  daraus,  daß  der  Unglückliche 
zweimal  Selbstmordversuch  verübte  in  einer  Weise,  die  uner- 
hört dasteht.  Er  warf  sich  zweimal  in  die  Abortgrube  und 
wollte  dort  ersticken.  Sein  Henker,  der  Polizeimeister  v.  Arnold, 
kam  dazu,  ließ  ihn  herausholen,  abwaschen  und  abbaden  —  und 
dann  aufs  neue  peitschen  als  Strafe  für  den  Aufruhr,  der  in  dem 
Selbstmordversuch  lag.  Als  Sadowski  die  Qualen  nicht  mehr 
aushalten  konnte,  gestand  er  den  Diebstahl.  Auf  die  Frage, 
wo  das  Geld  verborgen  sei,  sagte  er :  Im  Keller  der  Apotheke. 
Er  wird  hingeführt,  macht  sich  an  das  Graben,  greift  im  ge- 
gebenen Augenblick  nach  einer  Giftflasche  und  trinkt  daraus. 
Vor  dem  Tode  ruft  er  verzweifelt  aus:  „Ich  habe  nicht  ge- 
stohlen !  In  einem  AugenbUck  werde  ich  vor  Gott  stehen ;  ich 
sage  nur  die  Wahrheit :  ich  habe  nicht  gestohlen.**  Man  konnte 
die  Sache  nicht  vertuschen,  stellte  den  Polizeimeister  und  seine 
Gehilfen  vor  Gericht.  Die  vier  imteren  Beamten,  die  nur  die 
Befehle  ihres  Chefs  ausgeführt  hatten,  erhielten  je  4  Monate 
Gefängnis  zugeurteilt.  Der  Polizeimeister  bekam  bloß  zwei 
Monate  Festungshaft;  er  brauchte  aber  auch  diese  nicht  abzu- 
büßen, sondern  vertauschte  bloß  seinen  Siedletzer  Posten  mit 
der  Stellung  eines  Chefs   der  Landpolizei  von  Sokolom. 

Im  Chaos  der  letzten  Jahre  konnten  die  russischen  Folter- 
knechte ihre  Tätigkeit  üben  wie  kaum  je  zuvor.  Die  Inquisition 
ist  in  Rußland  neu  auferstanden  und  ihre  Wirksamkeit  weist 
in  der  allerjüngsten  Zeit  mehr  Fälle  auf,  als  alle  russischen 
Gesetzbücher  zusammen  Paragraphen  enthalten.  Berühmt  ge- 
worden sind  namentlich  die  Heldentaten  des  baltischen  General- 
gouverneurs Baron  Möller-Sakomelski  und  des  sibirischen  Ge- 
fängnischefs Borodulin.  Die  Protokolle  der  zweiten  Duma  haben 
ihre  Grausamkeiten  verewigt.  Der  Dumaabgeordnete  Per- 
gament legte  im  April  1907  in  der  Duma  einen  Bericht  über 
die  Tätigkeit  Möllers  in  Riga  vor :  „Mit  dem  Beginn  der  Straf- 
expedition in  den  baltischen  Provinzen**  —  heißt  es  in  diesem 
Bericht  —  „begannen  auch  die  Folterungen  von  Gefangenen, 
um  ihnen  Geständnisse  zu  erpressen,  die  genügten,  um  sie 
erschießen  zu  lassen.  In  Riga  wurde  zum  Zweck  der  Folte- 
rungen eine  Kommission  gebildet,  bestehend  aus  dem  Gehilfen 


—    188    — 

des  Chefs  der  politischen  Pohzei,  mehreren  Polizeikommissären 
und  Agenten.  'Diese  Kommission  war  vom  Staatsanwalt  und 
der  Gendarmerieverwaltung  mit  besonderen  Instruktionen  für 
ihre  Tätigkeit  versehen  und  vom  Gouverneur  mit  dem  Recht 
ausgestattet  worden,  politische  Angeklagte  ohne  gerichtliches 
Verfahren  zu  töten.  Den  Verwaltungsbehörden,  dem  Staats- 
anwalt und  dem  Gendarmerieobersten  waren  die  Martern  xmd 
Folterungen,  denen  Gefangene  unterzogen  wurden,  bekannt. 
Ein  Gefangener  wurde  von  einem  Polizeikommissär  nieder- 
geworfen, worauf  der  Letztere  auf  der  Brust  des  Gefangenen 
so  lange  herumsprang,  bis  dem  Opfer  sämtliche  Rippen 
gebrochen  waren;  der  Unglückliche  konnte  mehrere  Tage 
lang  keine  Nahrung  zu  sich  nehmen,  bis  er  dann  erschossen 
wurde.  Ein  anderer  wurde  so  lange  auf  die  Waden  geschlagen, 
bis  alles  Fleisch  sich  von  den  Knochen  gelöst  hatte.  Einem 
dritten  wurde  das  Geständnis,  das  man  von  ihm  verlangte, 
buchstabenweise  mit  Kautschukknüppeln  auf  den  Rücken  ge- 
prügelt. Diejenigen  Gefangenen,  die  während  der  Folte- 
rungen nicht  gestorben  waren,  deren  Wunden  aber  nicht  geheilt 
werden  konnten  oder  dauernde  Spuren  hinterließen,  wurden 
nachts  in  der  Nähe  des  Gefängnisses  erschossen.  Ein  anderer 
Gefangener  wurde  von  zwei  Kosaken  an  Händen  und  Füßen 
gehalten  und  mit  Gummiknütteln  so  lange  geschlagen,  bis  der 
Erdboden  von  Blut  triefte.  Um  Geständnisse  zu  erzwingen, 
wurden  gefangenen  Weibern  die  Nägel  von  Fingern  und  Zehen 
gerissen,  die  Haare  bündelweise  ausgerissen,  die  Knochen  an 
Armen  und  Beinen  gebrochen.  Die  Martern  und  Foltern  waren 
von  der  Polizeibehörde  organisiert  und  unter  ihrer  Beteiligung 
ausgeführt.  Ein  Lehrer  wurde  gemartert,  um  von  ihm  das  Ge- 
ständnis zu  erzwingen,  er  habe  im  Gouvernement  Mohilew  einen 
Polizeibeamten  ermordet.  Als  sich  herausstellte,  daß  er  unmög- 
lich der  Mörder  sein  konnte,  wurde  er  in  das  Gefängnis  geschafft 
und  nach  etwa  Monatsfrist  wieder  vorgeführt,  um  zu  gestehen, 
daß  er  der  Mithelfer  Belenzows  bei  dem  Moskauer  Bankraub 
gewesen  sei.  Er  wurde  so  lange  mit  Kautschukknüppeln  ge- 
schlagen und  mit  Strangulation  bedroht,  bis  er  alles  gestand. 
Ein  anderer  wurde  erst  mit  Kautschukknüppeln,  sodann  mit 
Eisenstäben  geschlagen,  worauf  er  auf  den  Boden  gelegt  und 


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ihm  in  die  Wunden  Zucker  gestreut  wurde.  Andere  wurden 
„massiert**,  indem  man  sie  blutig  schlug  imd  die  Wunden  ein- 
rieb. Ein  anderer  wurde  auf  eine  Bank  geworfen  und  auf  seine 
Brust  legte  man  ein  Brett,  auf  dem  zwei  Polizisten  balanzierten, 
bis  das  Rückgrat  gebrochen  war;  worauf  er  erschossen  wurde.** 

Ähnlich  klingt  der  Bericht,  der  die  Dirnia  am  19.  April 
1907  beschäftigte:  „Schon  beim  Eintreffen  in  Akatui  wurden 
die  Gefangenen  mit  Kolben  geschlagen.  Auf  Befehl  des  Ge- 
fängnischefs Borodulin  wurden  60  Soldaten  ins  Gefängnis  ge- 
lassen. 15  Gefangene  prügelte  man  bis  zur  Bewußtlosigkeit 
und  stürzte  sie  dann  von  einer  hohen  Treppe  auf  den  Stein- 
boden herab.  Kolbenstöße  regnete  es  dabei  täglich,  und  stünd- 
lich erwartete  man  den  Henker,  der  den  gepeinigten  Gefangenen 
den  Garaus  machen  sollte.  Als  man  den  Gefängnischef  nicht 
ehrerbietig  grüßte,  brüllte  er  Soldaten  zum  Vollzug  der  Ruten- 
strafe herbei.  Es  war  ein  schrecklicher  Moment,  die  Ge- 
fangenen drängten  sich  in  einen  Knäuel  zusammen  in  eine  Ecke, 
und  nun  wurde  auf  sie  eingeschlagen.  Drei  Gefangene  blieben 
halbtot  liegen,  die  ganze  Diele  schwamm  in  Blut ;  die  Betten  wur- 
den darauf  konfisziert,  ebenso  die  warme  Speise  entzogen.  Auf 
einer  Pritsche  wurde  zufällig  ein  Brotmesser  gefunden.  Der 
Gefängnischef  witterte  sofort  Attentatsgedanken.  Neue  Qua- 
len für  die  Gefangenen  waren  die  Folge. **i) 

Wir  befinden  uns  wieder  im  grausamsten  Rußland  der 
ältesten  Zeit.  Im  Jahre  1754  wurde  von  Elisabeth  die  Todes- 
strafe, 1806  von  Alexander  I.  die  Folter,  1845  von  Nikolaj  I. 
die  Pletjstrafe,  1863  von  Alexander  II.  die  Spitzrute,  1900 
von  Nikolaj  II.  die  Verbannung  nach  Sibirien  aufgehoben. 
Wenn  irgendwo,  so  gilt  aber  hier:  aufgehoben  ist  nicht  abge- 
schafft. Nur  unter  Iwan  dem  Schrecklichen  wurden  in  Ruß- 
land soviel  Todesurteile  gefällt,  wie  unter  Nikolaj  IL,  dem 
Weltfriedens-Kaiser.  Folter  und  Körperstrafen  dauern  fort  und 
Sibirien  ist  und  bleibt  die  unermeßliche  Eiskammer,  in  welche 
die  zarische  Autokratie  Jahr  um  Jahr  ungezählte,  unzählbare 
glühende  Freiheitsfreunde  sperrt.  Seit  der  Kosakenführer  Jer- 
mak  mit  seinen  tausend  Begleitern  über  den  steinernen  Gürtel 


^)  Borodulin  wurde  von  den  Revolutionären  am  18.  Sept.  1907  ermordet. 


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des  Ural  nach  Ssibirj  eingedrungen  ist  und  den  Chan  Kutschum 
besiegt  hat,  ist  das  mächtige  Gebiet  zwischen  dem  Ural  und 
dem  Stillen  Ozean  nicht  für  Zwecke  der  Zivilisation,  sondern 
als  ein  unendliches  Gefängnis  benützt  worden.  Nicht  seines 
Klimas  und  nicht  seiner  halbwilden  Ureinwohner  wegen  hat 
Sibirien  in  den  verflossenen  drei  Jahrhunderten,  seit  es  den 
Zaren  unterworfen  worden  ist,  den  unheimlichsten  Ruf  gehabt, 
den  je  ein  Reich  der  Erde  besaß.  Wohl  ist  auch  die  Natur 
des  Landes  geeignet,  Schrecken  einzuflößen.  Mit  seinen  weißen 
stummen  Wüsten  liegt  es  da  wie  eine  Hölle  des  Eises.  *  Selbst 
seine  wärmeren  Landstriche  kennen  nichts  Gemäßigtes,  leiden 
im  Winter  unter  dem  eisigen  Polarwind,  im  Sommer  unter  dem 
Gluthauch  des  mittelasiatischen  Steppensturmes.  Einsamkeit 
und  Todestraurigkeit  wanderten  mit  den  Unglücklichen,  welche 
dorthin  verbannt  wurden,  von  Tobolsk  bis  Tomsk,  von  Irkutsk 
bis  Ssachalin,  durch  die  unermeßlichen  Flußbecken  des  Ob, 
Jcnissei  und  Amur.  Hieher  verschickte  man  seit  dreihundert 
Jahren  die  Verbrecher  und  Sektierer  und  politisch  Verdäch- 
tigen. Sie  sollten  das  Land  bevölkern  und  urbar  machen,  in 
den  Schneewüsten  Ansiedlungen  bauen  und  Städte  gründen, 
die  Sümpfe  trocknen  und  die  Schätze  der  Berge  heben.  In  der 
weiten  Wildnis  von  Transbaikalien,  fünftausend  Werst  von  der 
Newa  entfernt  und  tausend  Werst  vom  Stillen  Ozean,  in  einem 
traurigen  Tale,  entstanden  im  Laufe  der  Zeit  jene  Nieder- 
lassungen, welche  als  die  Minen  von  Kara  das  Schrecklichste 
jener  Schrecken  bedeuten.  Millionen  und  Millionen  sind  in 
diesen  drei  Jahrhunderten  aus  ihren  Heimatsorten  nach  Sibirien 
geschleppt  worden.  Wie  viele  Unschuldige,  vielleicht  mehr 
als  die  Hälfte,  mehr  als  drei  Viertel  dieser  Millionen,  sind  un- 
gerecht verbannt  worden,  denn  die  administrative  Verschickung 
war  immer  eine  willkürliche,  unkontrollierte.  Die  Zahl  dieser 
Vcrbaimten  wurde  nicht  geringer,  sondern  wuchs  von  Jahr  zu 
Jahr.  Ward  Sibirien  dadurch  kultivierter?  Ward  Rußland 
dadurch  frei  von  Verbrechern?  Nein;  wo  Willkür  herrscht, 
schlüpft  auch  die  Bestechlichkeit  in  alle  Ämter,  und  Tausende 
der  Verbannten  befreiten  sich,  wenn  sie  Geld  schaffen  konnten ; 
dann  zogen  sie  als  Räuber  und  Landstreicher  durch  Sibirien, 
das  sie  kultivieren  sollten.     Und  in  Rußland  wuchs  die  Zahl 


—    191    — 

der  sogenannten  politischen  Verbrecher  mit  jedem  neuen  Jahre, 
das  Märtyrer  schuf. 

Exilierung  war  in  Rußland  eine  alte  Strafe.  Iwan  der 
Schreckliche  schickte  Hofleute  und  Priester  strafweise  aus  der 
Hauptstadt  nach  den  Gouvernements  im  Inneren ;  zumeist  nach 
Wologda,  Perm,  Wjatka  und  der  Ukraine.  Boriß  Godunow 
verbannte  schon  nach  dem  erst  wenige  Jahre  vor  Beginn  seiner 
Regierung  eroberten  Sibirien.  Der  erste  strafweise  nach  Si- 
birien Verschickte  soll  der  ukrainische  Knjäs  Samoilow  gewesen 
sein;  man  verbannte  ihn  1588  und  wies  ihm  30  Kopeken  täg- 
lich zum  Unterhalte  an.^)  Bis  zur  Mitte  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts erfolgte  die  Deportation  nur  auf  zarischen  Befehl,  von 
da  an  auch  infolge  richterlichen  Urteils. 

Wie  bei  den  Todesstrafen,  Gliederstrafen  und  Körper- 
strafen herrschte  auch  bei  der  Strafe  der  Verbannung  niemals 
ein  der  Schwere  des  Verbrechens  entsprechendes  System.  171 1 
verbannt  man  Wirte,  die  ungesetzliche  Schankwirtschaft  trei- 
ben; 17 14  werden  die  Händler,  die  nationalrussische  Kleider 
und  Stiefel  in  einer  Zeit,  da  Peter  europäische  Trachten  dekre- 
tiert, zu  verkaufen  wagen,  zu  harter  Strafe  (körperliche  Züch- 
tigimg  mit  dem  Knut)  und  zu  Verbannung  nach  Sibirien  ver- 
urteilt; 17 18  trifft  das  Los  der  Deportation  Posthalter,  die  in 
den  Gasthöfen  und  Poststationen  nicht  pünktlich  erscheinen; 
1720  befiehlt  Peter  als  Strafe  für  Holzfällen  in  verbotenen 
Waldungen  10  Jahre  Sibirien;  und  im  selben  Jahre  erhalten 
„Bettler,  die  sich  krank  und  krüppelhaft  stellen,**  die  gleiche 
furchtbare  Strafe,  „weil  aus  ihnen  Diebe  werden.**  Mit  Knut 
und  Verbannung  zu  ewiger  Zwangsarbeit  bestraft  man  Leute, 
die  mutwillig  oder  unabsichtlich  „Flüsse  und  Kanäle  ver- 
stopfen*', und  Gutsbesitzer,  die  bei  einem  Brande  in  ihrer  Um- 
gebung ihre  Leute  nicht  zum  Löschen  dirigieren.  Doch  macht 
man  für  Privilegierte  seltsame  Ausnahmen,  indem  man  gestattet, 
daß  sie  wie  bei  den  Körperstrafen  auch  bei  der  Verbannung 
durch  Leibeigene  oder  Stellvertreter  Ersatz  stellen  dürfen! 2) 
Unter  Nikolaj   I.   werden  Mörder  mit  Knut  und  Verbannung 


^)  Haxthausen.     II  234  Anmerkung. 

*)  TiiM(j<|H'OB'h,  HcTüpin  rfejiecubRT»  HaKaaaiiiÄ,  rrp.  140*. 


—    192    — 

bestraft ;  für  Bankerott  ist  als  Körperstrafe  bloß  Pletj  angeordnet, 
aber  die  damit  verbundenen  Folgen  sind  die  gleichen  wie  bei 
Knut :  Deportation  nach  Sibirien.  Nach  Abschaffung  des  Knut 
kommen  die  Pleti  an  seine  Stelle;  es  hat  indessen  tatsächlich 
nur  der  Name  gewechselt,  denn  die  mit  den  milderen  Pleti  Ge- 
züchtigten müssen  gleichfalls,  wie  früher  die  mit  dem  schärferen 
Knut  Geschlagenen,  die  trostlose  Reise  nach  Sibirien  antreten. 
Pleti  und  Sibirien  riskiert  man  schon  für  einen  Diebstahl  von 
25  Rubeln;  und  der  dies  schwere  Verbrechen  begangen  hat, 
muß  auf  Nikolajs  Befehl  auf  dem  monatelangen  Marsche  eine 
fünf  Pfund  schwere  Kette  an  den  Füßen  mitschleppen.  Nicht 
bloß  die  Gerichte,  die  Regienmg,  die  administrativen  Organe, 
die  Polizei  —  auch  die  Gutsherren  konnten  ohne  weiteres  nach 
Sibirien  verbannen  lassen:  Ein  junger  Gutsherr  zur  Zeit  des 
ersten  Nikolaj  ist  einer  Leibeigenen,  die  er  zwei  Jahre  lang  als 
Maitresse  gehalten  hat,  überdrüssig.  Er  schickt  sie  in  die 
Stadt  mit  folgenden  Worten:  „Du  bist  hübsch,  gesund,  stark 
und  gewandt,  also  1600  Rubel  wert.  Davon  hast  du  mir  jährlich 
80  Rubel  Zinsen  zu  bezahlen.  Verdiene,  wie  und  was  du  willst, 
aber  zahle  mir  pünktlich  die  Zinsen  deines  Leibes ;  sonst  wehe 
dir!'*  Das  Mädchen  geht  nach  Petersburg,  holt  sich  eine  Ge* 
schlechtskrankheit  und  kommt  ins  Spital.  Die  Spitalkosten 
hat  der  Erbherr  zu  bezahlen.  Weigert  sich  der  Edelmann,  dies 
zu  tun,  so  ist  nach  einem  Gesetze  Nikolajs  (Cboai>  XIV  328) : 
das  Frauenzimmer  einfach  nach  Sibirien  zu  verbannen!^) 

Vor  Antritt  ihrer  Reise  wurden  den  Verbannten  die  Brand- 
markungszeichen  aufgedrückt  und  die  Köpfe  zur  Hälfte  rasiert ; 
ein  Gesetz  vom  Jahre  1825  befahl,  das  Rasieren  allmonatlich 
vorzunehmen,  um  so  die  Verbannten,  die  an  dem  halbrasierten 
Kopf  sofort  zu  erkennen  waren,  an  der  Flucht  zu  verhindern. 

Die  Ziffern  der  im  Laufe  von  drei  Jahrhunderten  nach 
Sibirien  Verbannten  werden  sich  niemals  feststellen  lassen. 
Biron  verschickte  während  der  Regierung  der  Kaiserin  Anna 
20000  Menschen.  Zarin  Elisabeth  ließ  80000  Personen  ver- 
bannen.2j    Durch  Kasanj  allein  marschierten  zur  Zeit  Alexan- 


1)  Wernirot,  Rußland  im  Licht  und  Rußland  im  Schatten.  S.  347,  357,  369. 

2)  Biographie  Peter  des  Dritten  (von  G.  A.  von  Heibig).  Tübingen  1808. 1 7. 


—    193    — 

ders  I.  und  Nikolajs  I.  jährlich  durchschnittlich  60000  Ver- 
bannte. Nur  ein  Drittel  aller  Verbannten  pflegte  den  Ort  der 
Bestimmung  zu  erreichen,  der  Rest  ging  unterwegs  zugrunde, 
verhungerte.  Denn  die  nach  Sibirien  Verbannten  erhalten 
von  den  Behörden  keine  Nahrung  irgendwelcher  Art  und  auch 
kein  Geld:  wenn  die  Gefangenen  Station  machen,  so  wandert 
der  Gefängniswärter  mit  ihnen  auf  den  Straßen  umher  und 
gestattet  ihnen,  Almosen  zu  sammeln.  Von  den  Almosen 
müssen  sie  leben,  so  gut  es  eben  geht.  Ist  es  den  Gefangenen 
gelungen,  auch  Geld  zu  erbetteln,  so  kommt  in  den  Etappen- 
Gefängnissen  ein  Kompromiß  zwischen  den  Verbannten  und 
ihren  Wächtern  zustande;  dann  gibt  es  Schnaps,  Weiber  xmd 
Orpen.  Durch  Bestechung  der  Wächter  wird  zwischen  den 
Männer-  und  den  Frauenabteilungen  in  den  Sammelgefäng- 
nissen eine  Verbindung  hergestellt,  und  es  entwickelt  sich  ein 
Leben  wie  in  einem  Bordell.  Unter  den  Gefangenen  wird 
auch  gleichgeschlechtliche  Liebe  geübt,  dabei  geht  man  ohne 
Rücksicht  auf  die  Nachbarn  vor.  Die  Wächter  dulden  nicht 
bloß  alles,  sondern  machen  alles  mit,  solange  die  Gefangenen 
nur  noch  einen  Kopeken  von  dem  Erbettelten  besitzen.  Aber 
wehe  den  Gefangenen,  wenn  es  ihnen  nicht  gelingt,  Almosen 
zu  erhalten;  dann  verkaufen  sie  ihr  letztes  Kleidungsstück, 
selbst  das  Hemd,  und  bleiben  buchstäblich  nackt,  um  nur 
einen  Bissen  Brot,  einen  Tropfen  Wodka  kaufen  zu  können, 
oder  um  die  Möglichkeit  zur  Befriedigung  anderer  wichtiger 
Lebensbedürfnisse  von  selten  der  Gefängilisverwaltung  gewährt 
zu  erhalten.  Die  Gefängnis-Oligarchie  bereichert  sich,  so  un- 
glaublich dies  auch  klingen  mag,  auf  Kosten  der  Verbannten. 
Ein  Beispiel  für  viele:  Die  Gefangenen,  die  auf  ihrem  Ver- 
bannungsmarsche in  einem  Sammelgefängnis  übernachten, 
müssen  für  die  Benutzung  des  Nachtgeschirrs  3  Rubel  bezahlen. 
Sind  sie  es  nicht  imstande,  so  läßt  man  sie  die  furchtbarsten 
Martern  erbarmungslos  ertragen. i) 

Unter  solchen  Leiden  gelangen  jene  Deportierten,  die  die 
Qualen  überdauern,  endlich  nach  Sibirien,  in  die  Steppen  des 


1)  Nach  Mitteilungen  russischer  Zeitungen  und  Zeitschriften,  beiLanin, 
Russische  Zustände.     I.  227,  232,  215. 

Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  RufiUnd.    **  I3 


—     194    — 

Irtysch,  nach  Tomsk,  den  Minen  von  Kara  und  Ssachalin.  Der, 
Amerikaner  George  Kennan  ^)  hat  vor  fünfzehn  Jahren  das  Ust- 
Kara-Gefängnis  in  TransbaikaHen  beschrieben:  Beim  Eintritt 
steigt  man  einige  mit  zolldickem  Schmutz  bedeckte  Stufen 
hinan  und  tritt  durch  eine  schwere  Bohlentür  in  einen  langen, 
niedrigen,  sehr  dunklen  Korridor,  dessen  unebener  Fußboden 
naß  und  schlüpfrig  und  dessen  Atmosphäre  feucht  und  mit 
einem  scharfen,  allen  sibirischen  Gefängnissen  eigentümlichen 
Geruch  erfüllt  ist ;  „man  denke  sich,"  sagt  Kennan,  „Kellerluf t,^ 
von  der  jedes  Atom  ein  halbes  Dutzend  mal  durch  menschliche 
Lungen  gegangen,  so  daß  sie  mit  Kohlensäure  vollständig  ge- 
sättigt ist;  diese  nämliche  Luft  noch  durch  die  scharfen  am- 
moniakalischen  Ausdünstungen  lange  nicht  gewaschener 
menschhcher  Körper  und  durch  den  Geruch  von  nassem  mod- 
rigen Holz  und  menschlichen  Exkrementen  verschlechtert  — 
und  dann  wird  man  doch  erst  einen  nur  annähernden  Begriff 
von  dem  Geruch  in  den  sibirischen  Gefängnissen  erhalten/*' 
Als  Kennan  zuerst  den  Korridor  betrat,  war  er  einer  Ohnmacht 
nahe.  Zunächst  kam  er  in  ein  Zimmer,  das  ungefähr  24  Fuß  lang, 
22  Fuß  breit,  8  Fuß  hoch  war  und  29  Sträflinge,  zumeist  in 
schweren  Ketten,  beherbergte.  Die  Luft  war  noch  viel  schlech- 
ter als  die  im  Hausflur.  Der  Raum  erhielt  sein  Licht  durch 
zwei  beinahe  quadratische,  stark  vergitterte  Fenster,  die  nicht 
geöffnet  werden  konnten,  und  nirgends  war  eine  Vorrichtung 
für  Ventilation.  Selbst  der  Backsteinofen,  der  die  Zelle  er- 
wärmte, bekam  seine  Luft  vom  Korridor.  Die  Wände  der  Zelle 
bestanden  aus  einstmals  getüncht  gewesenen  Holzstämmen,  die 
aber  im  Laufe  der  Zeit  schwarz  und  schmutzig  geworden  imd 
an  vielen  Stellen  mit  dem  Blut  getöteter  Insekten  bedeckt 
waren.  Den  Boden  bildeten  Dielen,  die  zwar  kürzlich  gekehrt 
worden,  aber  von  einer  förmlichen  Kruste  festgetretenen 
Schmutzes  bedeckt  waren.  Von  dreien  der  Wände  gingen  un- 
gefähr sechs  Fuß  breite  Holzpritschen  oder  Schlafbänke  aus, 
auf  welchen  die  Sträflinge,  dicht  aneinandergedrängt,  mit  dem 
Kopf  an  der  Wand  und  den  Füßen  nach  der  Mitte  der  Zelle 
ausgestreckt   lagen.     Sie   hatten   weder   Kissen   noch   Decken 


1)  Sibirien!  —  Berlin  1892. 


—    196    — 

und  mußten  sich  des  nachts  auf  diesen  Schlafbänken  unent- 
kleidet  niederlegen,  indem  sie  ihre  grauen  Überröcke  als  Bett- 
decken benutzten.  Die  Zelle  enthielt  außer  den  Pritschen,  dem 
Backsteinofen  und  einem  unbedeckten  Holzkübel  keine  Möbel. 
Wenn  die  Türe  für  die  Nacht  verschlossen  war,  hatte  jeder  der 
29  Gefangenen  für  acht  oder  zehn  Stunden  fünf  Kubikfuß  Luft 
zum  Atmen.  Nirgends  war  eine  Öffnung  zu  entdecken,  durch 
welche  frische  Luft  hätte  eindringen  können. 

Nur  zwei  oder  drei  Minuten  vermochte  Kennan  in  dieser 
Zelle  zu  verweilen.  Dann  trat  er  wieder  auf  den  Korridor  und 
mit  einem  Gefühle  der  Erleichterung  holte  er  hier  tief  Atem. 
Wie  übel  ihm  auch  früher  die  Luft  im  Korridor  erschienen  war 
—  im  Vergleiche  zu  der  eben  eingeatmeten  Zimmerluft  kam 
sie  ihm  nun  förmlich  erquickend  vor.  Nach  kurzer  Erholung 
durchschritt  er  in  Eile  noch  sieben  andere  Zellen  des  Gefäng- 
nisses; alle  glichen  der  ersten,  nur  in  Form  und  Größe  des 
Zimmers  und  in  der  Anzahl  der  Gefangenen  waren  sie  ver- 
schieden. Die  schlechte  Luft  war  überall  die  nämliche  und 
ihre  Folgen  sah  Kennan  im  Gefängnishospital,  wo  Skorbut, 
Typhus,  Anämie  und  Lungenschwindsucht  vorherrschende 
Krankheiten  waren.  Die  Durchschnittszahl  der  Kranken  belief 
sich  bei  einer  Gefängnisbevölkerung  von  weniger  als  1000 
Menschen  auf  117  täglich.  Viele  Verbannte  werden  wahn- 
sinnig. Nun  gibt  es  aber  im  ganzen  Lande  kein  Irrenhaus  und 
die  Behörden  lassen  deshalb  die  Verrückten  in  denselben  Zellen 
mit  den  Gesunden  leben.  Es  ist  ja  bequemer  und  billiger,  die 
Mitgefangenen  für  die  Geisteskranken  sorgen  zu  lassen,  als 
eigene  Anstalten  mit  Ärzten  und  Wächtern  für  sie  zu  errichten 
und  zu  erhalten. 

Das  Frauengefängnis  von  Ust-Kara  ist  ein  kleinerer  Holz- 
bau als  das  Mänjiergefängnis  und  enthält  zwei  große  ineinander- 
gehende  Zellen.  Die  Räume  waren  bei  Kennans  Besuch  gut 
erwärmt  und  hell,  höher  als  die  Zellen  im  Männergefängnis 
und  gewährten  mehr  als  zweimal  so  viel  Luftraum  pro  Kopf; 
aber  in  gesundheitlicher  Hinsicht  waren  sie  kaum  besser.  Die 
Luft  war  nicht  zu  atmen.  Der  Fußboden  befand  sich  in 
erbärmlichem  Zustande ;  in  den  verfaulten  Brettern  waren  große, 
dunkle  Löcher,  in  welche  die  Frauen  offenbar  Schmutzwasser 

i3» 


—    196    — 

und  Unrat  gössen.  Die  beiden  Zellen  beherbergten  48  Mädchen 
und  Frauen,  von  denen  mehrere  blasse,  kränkliche  Säugling^e 
an  den  Brüsten  hielten  .  .  .  Und  in  diesen  Zellen  sah  Kennan 
an  den  Wänden  große  Karten,  auf  denen  mit  riesigen  Buch- 
staben Verse  aus  dem  neuen  Testamente  standen,  unter  anderen 
dieser :  „Kommet  her  zu  mir  alle,  die  ihr  mühselig  xmd  beladen 
seid,  ich  will  euch  erquicken"  .  .  . 

In  der  Küche  des  Gefängnisses  von  Ust-Kara  erkundigte 
sich  Kennan,  welche  Speisen  den  Gefangenen  zugeteilt  wurden. 
Zwangsarbeiter  in  Kara  erhalten  täglich  eine  Ration  von  drei 
Pfund  Roggenbrot,  ungefähr  vier  Unzen  Fleisch  einschließlich 
der  Knochen,  eine  kleine  Menge  Gerste,  die  gewöhnlich  mit 
dem  Fleisch  gekocht  wird,  um  Suppe  zu  erhalten,  und  ein  wenig 
Ziegeltee.  Gelegentlich  verschaffen  sie  sich  auch  Kartoffeln 
oder  einige  Krautblätter,  aber  solche  Luxusartikel  können  nur 
für  Geld  aus  Überarbeit  oder  für  Sparpfennige  erstanden  wer- 
den. Die  Ration  erschien  Kennan  ausreichend,  aber  es  fehlte 
die  Abwechslung  in  den  Nahrungsmitteln  und  besonders  an 
Gemüsen.  Das  Brot  war  klebrig,  feucht,  nicht  ausgebacken. 
Das  Fleisch  machte  den  Eindruck  von  ,, Fettbrocken,  die  man 
zur  Seifenfabrikation   verwendet". 

Die  Kleidung  eines  zur  Zwangsarbeit  verurteilten  Sträf- 
lings, auch  des  politischen,  besteht  aus  einem  groben  Leinen- 
hemd und  einem  Paar  Leinenhosen  für  sechs  Monate;  aus 
einer  Mütze,  einem  Paar  dicker  Hosen  und  einem  grauen  Über- 
rock im  Jahr;  einem  „Poluschuba"  oder  Rock  aus  Schaffellen 
für  zwei  Jahre;  einem  Paar  „Brodnias"  oder  Lederstiefel  für 
drei  und  einhalb  Monate  im  Winter  und  einem  Paar  „Kottli" 
oder  niedriger  Schuhe  für  zweiundzwanzig  Tage  im  Sommer. 
Kleidung,  Nahrung  und  alles  übrige,  was  ein  Sträfling  braucht, 
kostet  der  Regierung  etwa  20  Kopeken  täglich  per  Person.  Daß 
die  Sträflinge  sich  nicht  behaglich  fühlen  und  jede  Gelegenheit 
zur  Flucht  ergreifen,  leuchtet  ein.  Jeden  Sommer,  sobald  das 
Wetter  warm  genug  ist,  um  Aufenthalt  im  Freien  zu  ermög- 
lichen, ergießt  sich  ein  ununterbrochener  Strom  von  Flücht- 
lingen in  die  Wälder.  Der  Kuckuck  gibt  das  Zeichen  zu  dieser 
Wanderung;  und  davonlaufen  heißt  deshalb:  „Die  Befehle 
des  Generals  Kuckuck  entgegennehmen."     Selbstverständlich 


—    197    — 

werden  die  Gefangenen  wieder  eingefangen  und  zurückge: 
schleppt  und  unterliegen  dann  den  schlimmsten  Martern.  Das 
wissen  die  Flüchtlinge  auch,  allein  trotzdem  ergreifen  sie  jede 
Gelegenheit,  um  —  sei  es  noch  so  kurze  Zeit  —  Freiheit  zu 
genießen  .  .  .  Daß  das  Davonlaufen  bei  der  strengen  Be- 
wachung, die  den  Verbannten  zuteil  wird,  überhaupt  möglich 
ist,  kommt  daher,  daß  die  Gefängnisbeamten  selbst  ein  Auge 
zudrücken,  weil  sie  die  Flucht  von  Sträflingen  zu  ihrem  eigenen 
Vorteile  ausbeuten  können.  Sie  verschweigen  einfach,  daß 
die  Sträflinge  entlaufen  sind,  nehmen  durch  Wochen  und  Mo- 
nate die  für  jene  bestimmten  Kleider  und  Rationen  in  Empfang 
und  verkaufen  sie  an  Spekulanten.  Dies  sind  häufig  solche 
Leute,  welche  die  Verproviantierung  der  Verbannten  von  der 
Regierung  gepachtet  haben,  und  die  Krone  muß  so  doppelt 
und  dreifach  zahlen  für  das  elende  Brot,  das  sie  ihren  Sträf- 
lingen zukommen  läßt. 

Über  das  Leben  der  Verbannten  auf  Ssachalin  hat  knapp 
vor  dem  Ausbruche  des  Krieges  Rußlands  mit  Japan,  dessen 
Mißerfolg  den  Russen  die  Hälfte  der  Straf-lnsel  gekostet  hat, 
der  Franzose  Paul  Labb6  interessante  Schilderungen  veröffent- 
licht.i)  Auf  der  Überfahrt  vom  Kontinent  nach  der  Insel  er- 
halten die  Gefangenen  Prämien  von  lo  Kopeken  für  jede  auf 
dem  Schiff  während  der  Fahrt  getötete  Ratte.  Diese  Prämien 
bilden  das  Stammkapital  für  ihre  zukünftige  Existenz.  Nach 
Absolvierung  der  Quarantäne  im  Ankunftshafen  erfolgt  die 
Verteilung  der  Verbannten.  Wenn  eine  Frau  dem  verbannten 
Manne  ins  Exil  gefolgt  ist,  so  wandert  dieser.  Dank  der  Treue 
der  Gattin,  auf  der  Insel  nicht  ins  Gefängnis,  sondern  erhält 
einen  Platz  in  irgend  einem  Ort  angewiesen,  wo  er  sich  ein 
Haus  bauen  und  als  Kolonist  leben  darf.  Außerdem  werden 
bei  der  Ankunft  jene  bloß  zur  Kolonisation  verschickten  Ge- 
fangenen von  den  anderen  getrennt  und  ohne  viel  Umstände 
mit  weiblichen  Häftlingen  gepaart:  Männer  und  Frauen  stellt 
man  in  langen  Reihen  in  einem  Garten  einander  gegenüber  auf ; 
jeder  Mann  wählt  sich  eine  Gefährtin,  imd  sobald  sie:  Jal  ge- 


^)   Paul   Labb6,   Un  bagne  russe.      L'ile  de  Sakhaline.    Paris  1903. 


—    198    — 

sagt  hat,  notiert  ein  Beamter  das  Paar  in  einem  Buche,  und 
die  beiden  erhalten  ihren  Wohnplatz  angewiesen. 

Für  die  übrigen  Gefangenen  sind  lo  Gefängnisse  in  Alexan- 
drowsk,  Korsakowsk,  Rykowski  und  Derbinski  zur  Aufnahme 
bestimmt.  1902  lebten  in  diesen  10  Gefängnissen  8333  Ver- 
bannte. Die  Gebäude  sind  Holzbaracken  mit  schlecht  beleuch- 
teten und  schlecht  ventilierten  Zimmern,  in  denen  je  50 — 60 
Verbannte  beisammen  wohnen  und  schlafen.  Alle  haben  Ketten 
an  den  Füßen.  In  jedem  Gefängnis  gibt  es  zwei  Abteilungen : 
Das  Zuchthaus  und  das  Besserungshaus.  Die  zu  lebensläng- 
licher Verbannung  Verurteilten  müssen  auf  Ssachalin  8  Jahre 
im  Zuchthaus  und  3  Jahre  im  Bessenmgshaus  zubringen;  die 
auf  20  Jahre  Verbannten:  5  Jahre  im  Zuchthaus  und  3  im 
Besserungshaus;  die  auf  15 — 20  Jahre  Verurteilten:  4  Jahre 
im  Zuchthaus,  3  im  Besserungshaus;  die  auf  12 — 15  Jahre 
Deportierten :  2  Jahte  im  Zuchthaus  und  3  im  Besserungshaus ; 
die  auf  8 — 12  Jahre  Verschickten  bringen  nur  1Y2  Jahre  im 
Zuchthaus  und  2  Jahre  im  Besserungshaus  zu ;  diejenigen  end- 
lich, die  weniger  als  8  Jahre  erhalten  haben,  brauchen  nur 
ein  Jahr  im  Zuchthaus  und  ein  Jahr  im  Besserungshaus  zu  ver- 
weilen. Nach  Ablauf  dieser  Gefängnis-Perioden  wird  der  Ssü- 
lotschnüj  (ccHJio^iHuä,  der  Verbannte)  ein  Posselenez  (nocejie- 
Heu,!),  Kolonist),  sozusagen  ein  Befreiter  mit  Aufenthaltszwang. 
Ob  der  Tausch  beneidenswert  sein  mag?  Es  ist  eine  harte 
Aufgabe,  diese  Kolonisierung  von  Ssachalin.  Mit  Hacke,  Säge 
und  Stricken  beladen  muß  der  Befreite  auf  dem  ihm  ange- 
wiesenen Platze  sein  Haus  errichten,  mit  den  primitivsten  Mit- 
teln sein  Feld  urbar  machen.  Die  ersten  zwei  Jahre  erhält  er 
von  den  Behörden  einige  wenige  Nahrungsmittel,  die  ihn  vor 
dem  Hunger  schützen  sollen.  Wie  manchem  mag  der  Tausch 
nicht  behagen ;  und  viele  begehen  ein  Verbrechen  bloß  zu  dem 
Zweck,  wieder  in  das  Gefängnis  zurückkehren  zu  können.  Wer 
aber  14  Jahre  als  Kolonist  zuzubringen  imstande  war,  der 
avanciert  zum  Bauer,  darf  von  der  Insel  nach  dem  Kontinent 
übersiedeln,  zuweilen  sogar  nach  dem  europäischen  Rußland 
heimwandern;  nur  Petersburg  und  Moskau  und  der  Ort,  aus 
dem  er  einst  ausgewiesen  worden,  bleiben  ihm  ewig  ver- 
schlossen. 


—    199    — 

Es  gibt  übrigens  auch  Deportierte,  die  das  Zuchthaus  über- 
haupt nicht  passieren,  sondern  gleich  ins  Besserungshaus  kom- 
men; und  endlich  selbst  solche,  die  sofort  nach  ihrer  Ankunft 
auf  Ssachalin  Kolonisten  werden;  beispielsweise  Vagabunden, 
die  man  bloß  deshalb  nach  Ssachalin  verschickt  hat,  weil  sie 
ihre  Identität  nicht  nachweisen  können. 

Beim  Eintritt  ins  Zuchthaus  zu  Ssachalin  rasiert  man  den 
Gefangenen  den  Kopf  und  fesselt  ihre  Füße  mit  Eisen.  Im 
Sommer  muß  man  um  4,  im  Winter  um  5  Uhr  aufstehen.  Nach 
dem  Waschen  erhält  man  Tee.  Dann  verteilt  der  Aufseher 
die  Gefangenen  auf  verschiedene  Plätze  zur  Arbeit :  zu  Hafen-, 
Brücken-  und  Straßenbau.  Um  1 1  Uhr  ist  Frühstückspause. 
Von  i  bis  6  wird  wieder  gearbeitet.  Nach  dem  Nachtmahl 
gemeinsames  Gebet.  Tabakrauchen  ist  in  den  Gefängnissei) 
erlaubt;  Branntwein  und  Kartenspiel  dagegen  sind  verboten, 
die  Gefangenen  trinken  aber  doch  furchtbar  viel  und  spielen 
auch:  sie  fabrizieren  Karten  aus  Papier,  aus  Wäschestücken, 
Baumblättem  und  altem  Brot.  Sie  spielen  so  leiden- 
schaftlich, daß  sie  ihre  Kleider  und  ihr  Essen  als  Einsatz  her- 
geben. 

Das  Besserungshaus  ist  weniger  hart  als  das  Zuchthaus. 
Dem  I>eportierten  wird  nicht  das  Kopfhaar  rasiert  und  er  geht 
ohne  Fesseln  umher.  Zur  Arbeit  begiebt  er  sich  ohne  Soldaten- 
begleitimg.  Hält  er  sich  gut,  so  bekommt  er  die  Erlaubnis,  im 
Dorfe  zu  wohnen,  und  er  braucht  sich  nur  alle  Morgen  zur 
Arbeit  zu  melden.  Der  Gefängnischef  gibt  solche  Erlaubnis 
leicht,  denn  wenn  er  dem  Gefangenen  auch  so  noch  Fleisch, 
Mehl  und  Tee  liefern  muß,  die  Suppe  erspart  er. 

Unter  den  Gefangenen  in  Ssachalin  ist  der  Wahnsinn  so 
häufig,  daß  man  in  Alexandrowsk  ein  Asyl  für  Irrsinnige  er- 
bauen mußte.  Die  meisten  Fälle  sind  Folgen  der  Trunksucht, 
während  die  Leiden  der  Verbannung  auf  die  Verhärteten  nur 
selten  noch  Wirkung  ausüben;  wer  sich  bis  hierher  durch- 
gerungen hat,  ist  allen   Qualen  gewachsen. 

Der  russische  Justizminister  N.  W.  Murawjew  veranlaßte 
im  Jahre  1900  die  Drucklegung  eines  offiziellen  Memorandums 


—    200    — 

über  die  Verbannung  nach  Sibirien.^)  Nach  den  darin  bei- 
gebrachten offiziellen  Daten  diente  die  Deportation  im  sieb- 
zehnten Jahrhundert  kolonisatorischen  Zielen.  Unter  Peter  dem 
Großen  traten  die  kolonisatorischen  Interessen  in  die  zweite 
Reihe.  Es  kam  die  Zwangsarbeit  auf,  deren  der  Reformator 
bei  seinen  großartigen  Bauten  bedurfte.  Die  Nachfolger  Peters 
kehrten  zur  Deportation  als  dem  zuverlässigsten  Mittel,  die 
Ruhe  und  Ordnung  im  Lande  zu  sichern,  zurück.  Um  die 
Mitte  des  i8.  Jahrhunderts  erhielt  die  Verbannung  wieder  einen 
kolonisatorischen  Charakter,  als  es  darauf  ankam,  die  chine- 
sische Grenze  zu  besiedeln.  Die  Klagen  aber,  die  jetzt  aus 
Sibirien  einliefen,  wo  sich  damals  schon  die  ersten  Anfänge 
eines  Kulturlebens  zeigten,  riefen  bei  der  Regierung  bald  Zwei- 
fel an  der  Zweckmäßigkeit  der  Zwangskolonisation  wach  und 
im  Jahre  1773  kehrte  man  neuerdings  zur  Zwangsarbeit  zurück. 
Diese  Maßregel  hatte,  da  sie  zu  unvorbereitet  kam,  keinen 
Erfolg:  es  fehlte  an  den  nötigen  Haftanstalten,  es  fehlte  an 
Arbeit,  und  nach  1^/2  Jahren  mußte  man  die  Deportation  in 
ihrem  ganzen  bisherigen  Umfange  restituieren.  Die  Mißstände, 
die  sich  in  Sibirien  immer  mehr  geltend  machten,  riefen 
wohl  die  Bedenken  der  Regierung  wach,  doch  die  Maß- 
regeln, die  zur  Abhilfe  ins  Leben  gerufen  wurden,  erwiesen 
sich  als  wirkungslos.  Vielmehr  kam  die  Organisation  der  De- 
portation immer  mehr  in  Verfall;  mit  der  starken  Zunahme 
der  Zahl  der  Verschickten  schwand  für  die  Administrativorgane 
die  Möglichkeit  einer  wirksamen  Beaufsichtigung.  Die  Ver- 
bannten streiften  im  Lande  umher,  bettelten,  stahlen  und  be- 
gingen Mord  und  Totschlag.  In  den  dreißiger  Jahren  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  erreichten  die  Mißstände  ihren  Kulmi- 
nationspunkt und  lenkten  die  Aufmerksamkeit  Nikolajs  I.  auf 
sich.  Der  Kaiser  befahl  „zu  untersuchen,  ob  es  nicht  möglich 
wäre,  die  Deportation  nach  Sibirien  aufzuheben  und  sie  nur 
noch  für  die  Zwangsarbeiten  bestehen  zu  lassen."  Der  Reichs- 
rat hat  sich  lange  mit  dieser  Frage  beschäftigt,  konnte  sich  aber 


^)  CcbinKa  BL  CiiÖnph.  OnopKn  en  iicropin  11  coBpevieHHaro  no-iesKenifl 
C.-neTep6ypn>.  1900.  Ein  stattlicher  Band  von  400  Seiten.  —  Vgl.  auch  die 
Beiblätter  der  St.   Petersburger  Zeitung  vom   Juli   1900. 


—    201    — 

nicht  dazu  entschließen,  sich  für  die  Aufhebung  der  Depor- 
tation auszusprechen,  sondern  plädierte  für  eine  Reorganisation 
derselben;  der  Reichsrat  fand  eben  keinen  Ersatz  für  die  De- 
portation, auch  war  der  Glaube  an  die  kolonisatorische  Be- 
deutung dieser  Strafe  damals  noch  zu  wenig  erschüttert.  Durch 
die  Bauememanzipation  und  die  Justizreform  wurde  diese  Frage 
wieder  in  den  Vordergrund  gerückt.  Über  Maßregeln  von 
sekundärer  Bedeutung  ist  man  aber  damals  nicht  hinausge- 
kommen, obwohl  der  Reichsrat  sich  noch  im  Jahre  1879  ™ 
Prinzip  gegen  die  Beibehaltung  der  Verbannungsstrafe  aus- 
gesprochen hat.  Ein  ganz  besonders  lebhaftes  Interesse  brachte 
Kaiser  Alexander  III.  dieser  Frage  entgegen.  Auf  seinen  Be- 
fehl arbeitete  der  Minister  des  Innern  Graf  Tolstoi  ein  Projekt 
aus,  das  eine  fast  völlige  Aufhebung  der  gerichtlichen  Ver- 
bannung und  eine  radikale  Beschränkung  der  administrativen 
Deportation  in  Aussicht  nahm.  Das  Projekt  gelangte  in  den 
Reichsrat,  wurde  aber  von  diesem  zurückgewiesen:  hinsicht- 
lich der  gerichtlichen  Verbannung  waren  Erwägungen  finan- 
zieller Natur  maßgebend,  die  Frage  der  Beschränkung  der 
administrativen  Verbannung  aber  wurde  bis  zu  dem  Zeitpunkte 
verschoben,  wo  die  notwendig  gewordene  Reform  der  Bauern- 
gemeindeordnung  und  der  Beaufsichtigung  der  Gemeinde- 
organe durchgeführt  sein  würde. 

Seitdem  haben  sich  in  Sibirien  große  Ereignisse  vollzogen. 
Der  Bau  der  großen  Eisenbahn,  die  ganz  Sibirien  durchzieht 
und  den  fernen  Osten  mit  dem  Zentrum  des  Reiches  ver- 
bindet, ist  zum  Abschluß  gelangt.  Die  Justizreform  ist  in 
Sibirien  durchgeführt,  die  bäuerliche  Verfassung  nach  den 
im  Reiche  geltenden  Prinzipien  reorganisiert  worden.  Überall 
im  Lande  pulsiert  neues,  frisches  Leben,  eine  Periode  kulturellen 
Aufschwunges  ist  für  Sibirien  angebrochen.  Unter  diesen  neuen 
Gestaltungen  ist  die  Deportation  ein  Anachronismus,  ja  noch 
mehr  —  sie  birgt  eine  große  Gefahr  in  sich  und  kann  die  Ent- 
wickelung  der  jungen  Pflanzen  im  Keime  ersticken.  Gegen- 
wärtig befinden  sich  in  Sibirien  300000  Deportierte;  von  diesen 
gehören  zum  mindesten  100  000,  also  nicht  weniger  als  der 
dritte  Teil,  zur  Kategorie  der  Landstreicher;  sie  sind  eine  wahre 
Plage  für  die  ansässige  Bevölkerung  Sibiriens.    Weitere  100 000 


—    202    — 

bilden  ein  Proletariat,  das  kein  eigenes  Heim  besitzt  und  nur 
durch  zufälligen  Erwerb  seine  Existenz  fristet;  70000  Per- 
sonen sind  landlose  Knechte  oder  beschäftigen  sich  mit  irgend 
einem  Handwerk,  und  nur  30000  sind  ansässige  Ackerbauer 
geworden;  aber  auch  diese  sind  in  den  allermeisten  Fällen  als 
unbemittelt,  wenn  nicht  geradezu  als  bettelarm  zu  bezeichnen. 
Die  Verbannten  leben  unter  so  außerordentlichen  Bedingungen, 
daß  keine  einzige  Reform  ihre  Lage  nachhaltig  zu  bessern 
imstande  war. 

Man  kennt  zwei  Formen  der  Deportation,  die  durch  Ge- 
richtsspruch verhängte  und  die  administrative,  die  man  auch 
die  polizeiliche  nennen  könnte.  Die  letztere,  die  im  Gesetz  die 
Bezeichnung  „npHHy;i,HTejn>Hoe  nepeceneme  bi»  Ch6hpb  b'b  no- 
pa^Kt  aAMHHHCTpaTHBHOM'b"  trägt,  ist  als  solche  mit  keinerlei 
Rechtsbeschränkungen  verknüpft,  mit  alleiniger  Ausnahme  der 
Entziehung  des  Rechts  der  Wahl  des  Aufenthalsorts ;  sie  wird  in 
zweifacher  Form  angewandt ;  einmal :  als  Folge  der  Abbüßung 
einer  gerichtlich  verhängten  Haft  in  der  Korrektions-Arrestan- 
ten-Abteilung oder  im  Gefängnis  unter  Entziehung  aller  beson- 
deren Rechte,  falls  die  Kleinbürger-  und  Bauerngemeinden  die 
Wiederaufnahme  verweigern ;  und  dann :  als  Folge  einer  durch 
die  Bauern-  und  Kleinbürgergemeinden  verhängten  Ausschlie- 
ßung aus  denselben  wegen  lasterhaften  I-ebenswandels.  Die  auf 
administrativem  Wege  Verbannten,  die  meist  in  die  Gouver- 
nements Tobolsk  und  Tomsk  dirigiert  werden,  müssen  bei 
dortigen  Bauern-  und  Kleinbürgergemeinden  angeschrieben 
werden  und  können  sich  dann  ihren  Aufenthaltsort  innerhalb 
Sibiriens  selbst  wählen;  nur  diejenigen  Verbannten,  die  aller 
besonderen  Rechte  und  Vorzüge  verlustig  erklärt  worden  sind, 
unterliegen  im  Laufe  der  ersten  4  Jahre  der  polizeilichen  Auf- 
sicht und  dürfen  ohne  obrigkeitliche  Genehmigung  ihren  Auf- 
enthaltsort nicht  wechseln.  Hat  keine  Entziehung  der  persön- 
lichen Rechte  stattgefunden  oder  sind  diese  nach  Ablauf  der 
gerichtlich  bestimmten  Frist  dem  Verurteilten  restituiert  wor- 
den, so  kann  der  auf  administrativem  Wege  Verbannte  nach 
Verlauf  von  5  Jahren  (nach  dem  Manifest  von  1903  sogar  nach 
3  Jahren)  unter  der  Voraussetzung,  daß  er  sich  gut  aufgeführt 
hat,  die  Erlaubnis  erhalten,  in  andere  Gemeinden  und  Gou- 


—    203    — 

vernements,  das  europäische  Rußland  nicht  ausgeschlossen  (mit 
alleiniger  Ausnahme  der  Gemeinde,  aus  der  er  ausgewiesen 
worden),  übergehen.  „In  diesem  Vorrecht,**  bemerkt  das 
zitierte  offizielle  Memorandum,  „spricht  sich  doch  recht  deut- 
lich die  Erkenntnis  aus,  daß  die  administrative  Verbannung 
im  Grunde  eine  verfehlte  Maßregel  ist.** 

Bei  den  durch  gerichtlichen  Urteilsspruch  nach  Sibirien 
Deportierten  ist  die  Verbannungsstrafe  unbefristet.  Bei  der 
Verbannung  durch  gerichtliches  Urteil  gibt  es  drei  Kategorien : 
Die  Verbannung  zur  Ansiedlung  (ccujiKa  Ha  nocejieHie),  die 
Verbannung  zur  Arbeit  (ccujiKa  na  BOABopeiiie)  und  die  Ver- 
bannung zum  Aufenthalt  (ccHJiKa  Ha  HCHTBe). 

Die  Verbannung  zur  Ansiedlung,  die  mit  dem  Verlust 
aller  Standesrechte  verbunden  ist,  ist  eine  der  schwersten  Stra- 
fen, außerdem  bildet  sie  den  Abschluß  der  Strafe  der  Zwangs- 
arbeit. Die  Lage  dieser  Verbannten  ist  eine  äußerst  schwere; 
diese  Sträflinge  werden  zu  keiner  Gemeinde  angeschrieben 
und  dürfen  ihren  Aufenthaltsort  nicht  verlassen.  Sie  befinden 
sich,  solange  sie  sich  noch  nicht  angesiedelt  haben,  unter  sehr 
strenger  polizeilicher  Aufsicht.  In  Städten  dürfen  sie  nicht 
wohnen;  eine  Ausnahme  ist  nur  hinsichtlich  der  privilegierten 
Klassen  statuiert.  Handel  und  Gewerbe  dürfen  sie  nur  mit  be- 
sonderer Genehmigung  des  Gouverneurs  treiben,  wenn  die 
Polizei  sie  gut  attestiert.  Immobilien  können  sie  nicht  erwerben. 
In  dem  Kriminalkodex  der  zur  Ansiedelung  Verbannten  drückt 
sich  die  ganze  Rechtlosigkeit  dieser  Leute  aus :  in  den  aller- 
meisten Fällen  sind  sie  der  Willkür  der  Polizeiorgane  über- 
lassen, nur  bei  schweren  Verbrechen  treten  die  ordentlichen 
Gerichte  ein;  unter  den  Strafen  steht  die  Körperstrafe,  die 
seit  1863  gänzlich  abgeschaffte!  noch  heute  im  Vordergrunde. 
Übrigens  darf  der  zur  Ansiedlung  Verbannte  nach  Ablauf  von 
10  Jahren,  bei  guter  Aufführung  nach  6  Jahren,  sich  bei  einer 
Bauemgemeinde,  jedoch  nur  mit  Einwilligung  dieser,  anschrei- 
ben lassen,  wodurch  er  das  Recht  erlangt,  sich  überall  in 
Sibirien  niederzulassen  und  sich  auch  mit  Handel  und  Gewerbe 
zu  befassen.  Die  Verbannung  zur  Arbeit,  die  nur  über  Land- 
streicher verhängt  wird,  unterscheidet  sich  gegenwärtig  wenig 
von  der  Verbannung  zur  Ansiedlung,    da  es  an  den  nötigen 


—    204    — 

öffentlichen  Arbeiten  fehlt.  Die  Verbannimg  zum  Aufenthalt 
besteht  nur  für  Personen  der  privilegierten  Klassen  und 
entspricht  in  der  Skala  der  Strafen  der  Einsperrimg  in  die 
Korrektions- Arrestanten- Abt  eilungen  und  der  Gefängnishaft. 
Diese  Verbannten  müssen  sich  einen  bestinmiten  Erwerbszweig 
erwählen,  wobei  sie  sich,  mit  Genehmigung  der  Obrigkeit,  bei 
einer  Bauern-  oder  Kleinbürgergemeinde  anschreiben  lassen. 
Sie  dürfen  ländliche  Immobilien  erwerben  und  können  nach 
Ablauf  von  drei  Jahren,  mit  Genehmigung  des  Gouverneurs, 
Handel  imd  Gewerbe  treiben. 

Außerhalb  dieser  Kategorien  stehen  die  auf  Allerhöchsten 
Befehl  wegen  politischer  Verbrechen,  sowie  die  auf  administra- 
tivem Wege  auf  Grund  der  Verordnungen  zur  Erhaltung  der 
staatlichen  Wohlfahrt  und  der  öffentlichen  Ruhe  nach  Sibirien 
verbannten  Personen. 

1897/8,  wo  die  letzte  offizielle  Verbannungsstatistik  auf- 
gestellt wurde,  gehörten  von  den  298577  in  Sibirien  befind- 
lichen Deportierten  146658  zur  Kategorie  der  auf  Gemeinde- 
beschluß Verbannten,  1760  waren  von  staatlichen  Administrativ- 
organen verschickt;  100595  Personen  waren  zur  Ansiedlung, 
39683  zur  Arbeit  imd  9881  zum  Aufenthalt  nach  Sibirien  ver- 
bannt. In  den  12  Jahren  von  1887 — 1898  kamen  100582  Ver- 
bannte (davon  95876  Männer  und  4706  Frauen)  nach  Sibirien, 
was  etwa  28  0/0  der  Gesamtbevölkerung  des  Landes  ausmacht. 

Die  Verbannung  hat  nach  der  offiziellen  russischen  Dar- 
stellung ursprünglich  einen  kolonisatorischen  Charakter  ge- 
habt „und  jetzt  liegt  noch  der  Verbannung  zur  Ansiedlung  und 
der  Zuzählung  der  Verbannten  zu  Bauerngemeinden  der  Ge- 
danke zugrunde,  daß  auf  diesem  Wege  die  Zahl  der  Ackerbauer 
im  Lande  vermehrt  werde.*'  Jedoch  setzt  sich  nur  ein  verhält- 
nismäßig geringer  Teil  der  Verschickten  auch  wirklich  auf  der 
Scholle  fest ;  die  meisten  suchen  nach  vollzogener  Anschreibung 
zur  Bauemgemeinde  andere  Erwerbsquellen,  wobei  sie  dann 
größtenteils  dem  Bettel  verfallen. 

In  Westsibirien  schmilzt  das  kulturfähige,  noch  nicht  unter 
den  Pflug  gebrachte  Land  merklich  zusammen.  Das  hat  die 
Regierung  veranlaßt,  die  mit  jedem  Jahre  wachsende  Über- 
siedlungsbewegung  zu    regulieren    und    vorübergehend    auch 


—    205    — 

einzudämmen.  Da  können  denn  die  Landanteile,  die  den  Ver- 
schickten angewiesen  werden,  natürlich  nicht  groß  sein,  „und 
es  ist  auch  ganz  verständlich,  daß  die  Gemeinde  diesen  Ein- 
dringlingen mit  Vorliebe  gerade  die  schlechtesten  Landstücke 
überweist.**  Auf  einer  solchen  Parzelle  muß  der  Verschickte, 
der  meist  nur  über  sehr  geringe,  oft  über  gar  keine  Mittel 
verfügt,  seine  Wirtschaft  einrichten.  In  den  Jahren  1894  bis 
1898  trafen  in  einem  Bezirk  von  4732  Verbannten  1677  oder 
35,4  0/0  mit  Geld  (durchschnittlich  etwa  23  Rbl.)  und  3055 
oder  64,6  0/0  ohne  Geld  in  ihrer  neuen  Gemeinde  ein !  Diese 
Zahlen  reden  eine  beredte  Sprache.  Der  Mittellose  ist  ge- 
zwungen, wenn  er  es  nicht  vorzieht,  die  Gemeinde  wieder  zu 
verlassen,  sich  als  Knecht  bei  einem  alteingesessenen  Bauern 
zu  verdingen,  der  es  dann  natürlich  nicht  unterläßt,  ihn  gründ- 
lich zu  exploitieren.  Hilfe  und  Unterstützung  wird  den  Ver- 
bannten bei  der  Einrichtung  ihrer  Wirtschaft  von  keiner  Seite 
zu  teil.  Im  Gegenteil,  die  alteingesessenen  Elemente  geben 
sich  oft  die  größte  Mühe,  dem  unerwünschten  Eindringling 
den  Boden  unter  den  Füßen  zu  nehmen.  So  beschäftigen  sich 
denn  keineswegs  alle  Verbannten,  die  einen  Landanteil  ange- 
nommen haben,  wirklich  mit  der  Landwirtschaft:  ihr  Grund- 
besitz ist  ein  rein  fiktiver. 

Viel  ungünstiger  noch  liegen  die  Verhältnisse  für  die  Ver- 
bannten in  Ostsibirien.  Der  bäuerliche  Grundbesitz  beruht  hier 
auf  Annexion  und  wenn  auch  der  individuelle  Besitz  immer 
mehr  durch  das  Prinzip  des  Gemeindebesitzes  verdrängt  wird, 
so  ist  es  doch  fast  überall  noch  Regel,  daß  der  Acker  als  Eigen- 
tum desjenigen,  der  das  Land  annektiert  hat,  oder  dessen  Nach- 
kommenschaft angesehen  wird.  So  kommt  es  denn,  daß  dem 
Verbannten  in  Ostsibirien  fast  nie  Ackerland  zugewiesen  wird, 
auch  wenn  die  Bauemgemeinde  das  redlichste  Bestreben  hat, 
seine  Existenz  sicher  zu  stellen :  ist  es  doch  ganz  natürlich,  daß 
der  Eigentümer  des  Ackerlandes  nur  ungern  auf  den  ererbten 
oder  durch  schwere  Arbeit  erworbenen  Besitz  zu  gunsten  eines 
unerwünschten  Eindringlings  verzichten  wird.  Wo  der  Ge- 
meinde der  Acker  zu  eigen  gehört,  da  ist  sie  schon  jetzt  ge- 
zwungen, ein  Zusammenschmelzen  der  Landanteile  der  be- 
stehenden Höfe  möglichst  zu  vermeiden.    Um  auf  eigene  Hand 


—    206    — 

Rodungen  vorzunehmen,  dazu  fehlt  es  dem  Verbannten  ge- 
wöhnlich an  den  nötigen  Mitteln. 

In  den  Städten  dürfen  sich  nur  die  zum  Aufenthalt  nach 
Sibirien  Verbannten  und  die  auf  administrativem  Wege  ver- 
schickten Kleinbürger  niederlassen.  Die  Mehrzahl  der  sibi- 
rischen Städte  ist  bereits  von  Deportierten  überfüllt;  ganz 
besonders  leidet  in  dieser  Beziehung  West-Sibirien:  in  Tobolsk 
bilden  die  Verschickten  19  0/0,  in  Kurgan  22,4  0/0,  in  Mariinsk 
42,2  0/0,  in  Turinsk  51  0/0,  in  Kainsk  53,1  0/0,  in  Tjukalinsk 
71  0/0  und  Jalutorowsk  gar  75  0/0  der  Gesamtbevölkerung;  die 
letztere  Stadt  zählt  2396  Einwohner,  von  denen  1797  Depor- 
tierte sind.  Der  demoralisierende  Einfluß,  den  die  Deportierten 
auf  die  örtliche  Bevölkerung  ausüben,  ist  natürlich  in  den 
Städten  noch  größer  als  auf  dem  flachen  Lande.  Kein  Wunder, 
wenn  da  die  Klagen  der  sibirischen  Stadtverwaltungen  über 
diese  Plage  immer  lauter  werden. 

Unter  den  zum  Aufenthalt  nach  Sibirien  Verbannten  finden 
sich  vielfach  Gebildete,  die' ihre  Kenntnisse  verwerten  könnten. 
Aber  die  Nachfrage  nach  gebildeten  Arbeitskräften  ist  nur 
in  den  Gouvernementsstädten  eine  stärkere,  und  dorthin  ge- 
langt nur  der  geringere  Teil  der  Verbannten.  Dazu  kommt 
dann,  daß  die  Zahl  der  mittleren  und  höheren  Lehranstalten 
in  Sibirien  stark  im  Zunehmen  begriffen  ist,  wodurch  den 
gebildeten  Verbannten  ein  gefährlicher  Konkurrent  erwächst. 
Die  Zahl  der  gebildeten  Verbannten  ist  niedriger  als  man 
eigentlich  annehmen  sollte  und  deckt  sich  keineswegs  mit  der 
Anzahl  derjenigen  Verbannten,  die,  weil  den  privilegierten 
Klassen  angehörend,  gewisse  Vorrechte  genießen.  Das  Bil- 
dungsniveau des  russischen  Bürgertums  ist  eben  noch  ein  sehr 
niedriges.  Der  Ungebildete  aber,  der  zudem  kein  Handwerk 
kennt,  findet  in  den  sibirischen  Städten  nur  äußerst  schwer 
Arbeit;  fehlt  doch  Sibirien  noch  die  Industrie. 

Alles  das  führt  dazu,  daß  die  Verschickten  nur  ungern  am 
Orte  ihrer  Zugehörigkeit  bleiben;  die  Zahl  derjenigen,  die 
ansässig  werden,  schwankt  zwischen  13,7  «/o  und  45  0/0  und 
beträgt  im  Durchschnitt  nur  26,8  0/0.  Im  Gouvernement  Jenis- 
seisk  beträgt  beispielsweise  die  Zahl  jener  zur  Arbeit  Verbannten, 
die  als  „spurlos  verschollen**  zu  bezeichnen  sind,  nicht  weniger. 


—    207    — 

als  72,9  0/0.  Von  den  am  Orte  ihrer  Zugehörigkeit  verbleiben- 
den Deportierten  existieren  viele  nur  durch  Mildtätigkeit.  So 
nähren  sich  beispielsweise  im  Gouvernement  Tobolsk  22,1  0/0 
der  ansässigen  Deportierten  durch  professionellen  Bettel. 

Die  im  Lande  vagabundierenden  Deportierten  bilden  eine 
gewaltige  Masse.  Ihre  Zahl  wird  auf  etwa  1 00000  geschätzt, 
was  den  dritten  Teil  sämtlicher  Verbannten  ausmacht.  Der 
,,HBaHi>  HenoMHHmiä",  Iwan  der  Vagabund,  ist  eine  typische 
Gestalt  Sibiriens.  Diese  Landstreicher  leben  hauptsächlich  Vom 
Bettel.  Der  sibirische  Bauer  weist  den  bettelnden  Deportierten 
nie  zurück,  sei  es  nun,  daß  er  durch  Mitleid  oder  durch  Furcht 
vor  Rache  bestimmt  wird.  Trunksucht  und  alle  Laster  wuchern 
natürlich  in  dieser  Bevölkerungsschichte  üppig  auf.  Zur  Arbeit 
sind  diese  Leute  nur  schwer  zu  bewegen.  Im  Winter  ist  ihre 
Lage,  bei  der  sibirischen  Kälte,  eine  entsetzliche :  dann  bemüht 
sich  der  „Kotelnik**,  ins  Gefängnis  zu  gelangen.  Die  Sterb- 
lichkeit ist  im  Winter  sehr  groß :  fortwährend  sieht  man  auf 
den  großen  Posttrakten  die  erstarrten  Leichen  solcher  Un- 
glücklichen. 

Nicht  nur  der  vagabundierende,  sondern  auch  der  in  besse- 
ren Verhältnissen,  etwa  als  Knecht  oder  Arbeiter  lebende  De- 
portierte wird  auf  eine  bezügliche  Frage  stets  zur  Antwort 
geben,  daß  er  lieber  eine  längere  Kerkerhaft  in  der  Heimat 
ertragen  hätte,  als  ein  solch  trostloses  Leben. 

Die  Beaufsichtigung  der  Deportierten  durch  die  Polizei- 
organe ist  eine  fiktive.  „Das  darf  man  aber,"  meint  das  offi- 
zielle Memorandum  Murawjews,  „der  sibirischen  Polizei  nicht 
zum  Vorwurf  machen.  Ihr  numerischer  Bestand  ist  ein  so 
geringer,  die  Polizeidistrikte  sind  so  gewaltig  groß,  daß  an  eine 
wirkliche  Beaufsichtigung  der  Deportierten  hier  gar  nicht  zu 
denken  ist.** 

Von  ganz  hervorragender  Bedeutung  für  die  Kennzeich- 
nung der  Deportation  in  ihrem  Verhältnis  zur  Sittlichkeit  ist 
die  Frage  über  die  Neigung  der  Verschickten  ziun  Verbrechen. 
Im  Gouvernement  Tobolsk  hatten  sich  im  Zeitraum  vom 
1.  Januar  1895  bis  zum  i.  Juli  1897  im  Jahre  durchschnittlich 
4326  Alteingesessene  und  2620  Verbannte  vor  Gericht  zu  ver- 
antworten, was  in  dem  einen  Falle  0,59  0/0,  in  dem  anderen 


—    208    — 

aber  2,5  0/0  ausmacht:  unter  der  alteingesessenen  Bevölkerung 
entfällt  auf  170  Personen  ein  Verbrechen,  unter  den  Depor- 
tierten aber  schon  auf  40  Personen.  Dazu  kommt  dann,  daß 
die  Verbrechen  der  Eingesessenen  hauptsächlich  gegen  das 
Forstgesetz,  das  Akzisereglement  und  einzelne  Vorschriften 
der  Regierungsorgane  gerichtet  sind,  während  die  von  De- 
portierten begangenen  Verbrechen  viel  schwererer  Natur  sind, 
indem  sie  sich  hauptsächlich  gegen  Leben,  Gesundheit,  Ehre 
imd  Eigentum  anderer  Personen  richten.  Dabei  darf  man 
nicht  unberücksichtigt  lassen,  daß  bei  der  UnvoUkommenheit 
des  früheren  Untersuchungswesens  eine  sehr  große  Anzahl 
Verbrechen  unaufgeklärt  und  ungeahndet  blieb.  Charakte- 
ristisch ist,  daß  ein  großer  Prozentsatz  der  von  Deportierten 
verübten  Verbrechen  gegen  die  Frauenehre  gerichtet  ist,  ein 
Mißstand,  der  in  verhängnisvoller  Weise  auf  die  Moralität 
der  örtlichen  Bevölkenmg  einwirkt.  Nach  dem  Urteil  von 
hervorragenden  Administratoren  und  Richtern  in  Sibirien  kann 
es  als  feststehend  gelten,  daß  der  Deportierte  meist  erst  imter 
dem  Einfluß  der  ungünstigsten  Verhältnisse,  unter  denen  er 
sein  Leben  fristen  muß,  zum  gefährlichen  Verbrecher  ausartet. 
Es  war  im  Jahre  1893,  als  Kaiser  Alexander  III.  auf  dem 
Bericht  des  Gouverneurs  von  Tomsk  über  den  Schaden,  den 
die  Deportation  und  die  Deportierten  dem  ihm  anvertrauten 
Gouvernement  brächten,  den  Vermerk  machte:  „Ich  teile  voll- 
kommen diese  Anschauung.  Ich  lenke  die  Aufmerksamkeit 
der  Minister  des  Innern  und  der  Justiz  darauf,  daß  es  schon 
längst  Zeit  ist,  Sibirien  von  diesem  Zuströmen  der  schlechtesten 
Elemente  aus  dem  Europäischen  Rußland  zu  befreien,  zumal 
jetzt,  wo  der  westliche  Teil  des  Landes  bereits  durch  einen 
Schienenweg  mit  Europa  verbunden  ist.**  Im  Jahre  1895  trug 
Kaiser  Nikolaj  II.  auf  dem  Bericht  des  Ministers  des  Innern 
Dumowo  über  die  Revision,  die  der  damalige  Chef  der  Haupt- 
gefängnis-Verwaltung, Galkin-Wrasskoi,  in  Sibirien  und  auf 
Ssachalin  ausgeführt,  den  Vermerk  ein:  „Ich  bin  erfreut  zu 
sehen,  daß  die  Frage  über  die  Zwangsarbeit  imd  die  Ver- 
bannung jetzt  an  die  erste  Stelle  gerückt  ist.**  1895  wurde 
die  Hauptgefängnisverwaltung  aus  dem  Ressort  des  Mini- 
steriums des  Innern  in  das  Justizministerium  überführt.     1898 


—    209    — 

delegierte  der  Justizminister  Murawjew  den  Chef  der  Haupt- 
gefängnisverwaltung, Stallmeister  A.  P.  Salomon,  nach  Sibirien 
und  Ssachalin,  damit  er  an  Ort  und  Stelle  das  Verbannungs- 
wesen und  die  Strafarbeit  eingehend  studiere.  Auf  Salomons 
Bericht  verfügte  Nikolaj  IL  im  März  1899  die  Bildung  einer 
besonderen  Kommission  und  im  Juli  1900  erschien  der  Ukas, 
der  die  Aufhebung  der  Deportation  nach  Sibirien  befahl.  Aus  • 
der  Aufhebung  ist  dann  eine  Einschränkung  geworden;  und 
schließlich  ist  man,  ohne  laute  Ankündigung  und  ohne  selbst- 
gefälliges Manifest,  wieder  zum  alten  grausamsten  System  der 
schrankenlosen   administrativen   Verschickung   zurückgekehrt. 


35.  Sklavensinn  und  Leibeigenschaft. 

Die  Peitsche  im  Sprichwort  —  Knechtischer  Sinn  der  Russen — Selbst  dem  ütigung 
vor  dem  Fürsten  —  Bewunderung  der  Tyrannen  —  Byzantinisch-tartarische 
Einflüsse  —  Iwan  der  Schreckliche  von  den  Zeitgenossen  gerühmt  —  Iwan  der 
Schreckliche  im  Volksliede  —  Das  Stirnschlagen  der  Bojaren  —  Knechtisch- 
Patriarchalisches  —  Leibeigene  und  Edelleute  —  Das  Küssen  der  Rute  — 
Sklaverei  ein  russisches  Grundprinzip  —  Geschichte  der  Leibeigenschaft  in 
Rußland  —  Schuldner  werden  Sklaven  der  Gläubiger  —  Wie  die  russische  Leib- 
eigenschaft entstand  —  Peter  der  Große  befestigt  sie  —  Verschiedene  Formen 
der  Leibeigenschaft  —  Haussklaven  —  Bauern  —  Krons-Leibeigene  und  Leib- 
eigene der  Edelleute  —  Grausame  Herrschaften  —  Aus  der  Leidenschronik  der 
russischen  Leibeigenen  —  Unerträgliches  Los  im  18.  und  19.  Jahrhundert  — 
Furchtbare  Strafmethoden  —  Verkauf  von  Menschen  —  Annoncenrubrik  für 
Menschenhandel  im  19.  Jahrhundert  —  Zerreißung  von  Familien  —  Allmacht 
der  Herren  —  Unsittlichkeit  —  Spekulation  der  Edelleute  mit  den  Reizen  leib- 
eigener Mädchen  und  Frauen  —  Wollüstlinge  und  Messalinen  —  Herrenrecht 
—  Hauszucht  —  Racheakte  der  Leibeigenen  —  Aus  der  Leidensgeschichte  der 

Leibeigenen  in  Estland  und  Livland. 

Schwer  wäre  es  zu  entscheiden,  ob  die  russischen  Re- 
gierungen durch  das  System  der  Grausamkeit  das  Volk  de- 
moralisierten, oder  ob  diese  beispiellose  Schreckenswirtschaft 
erst  möglich  wurde  durch  die  beispiellose  Demoralisation  des 
Volkes;  ob  die  Russen  seit  tausend  Jahren  vielleicht  nur  des- 
halb so  vergewaltigt  werden  konnten,  weil  sie  die  Herren 
hatten,  die  sie  verdienten.     Jedenfalls  mangelte  den  Russen 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  RuBland.    **  14 


—    210    — 

vollständig  jeder  Begriff  der  Sitte  und  Ehre,  infolgedessen 
auch  die  Auffassung  der  körperlichen  Züchtigung  als  Schän- 
dung ihrer  Menschenwürde.  Keine  Strafe  entehrte;  aus  den 
Händen  des  Henkers  kehrte  man  mit  zerschundenem  Rücken 
und  geprügeltem  Hintern  ruhig  wieder  auf  seinen  Platz  in 
Reih  und  Glied  der  Gesellschaft  zurück  und  nahm  seine  alte 
•  Stellung  ohne  Einbuße  an  Ansehen  und  Achtung  ein.  Ja,  man 
fand  das  Geschlagenwerden  notwendig  für  das  physische  \md 
moralische  Gleichgewicht  und  faßte  die  ganze  Lebensphilo- 
sophie zusammen  in  dem  charakteristischen  Sprichwort :  „Nach 
der  Peitsche  arbeitet  und  schläft  sichs  besser.** 

Der  russische  Sklavensinn  setzte  alle  Ausländer  in  Er- 
staunen, die  diesen  östlichen  Geschmack  nicht  begreifen 
konnten  und  vergeblich  eine  Lösung  des  Rätsels  suchten.  Fra 
da  Collo  1)  erzählt  um  1 500  voller  Verwunderung :  in  Rußland 
gelte  der  Wille  des  Landesherrn  statt  geschriebener  Gesetze; 
der,  dem  der  Großfürst  befehle,  sich  aufzuknüpfen,  erfülle 
diesen  Befehl  unverzüglich;  nach  dem  Willen  des  Großfürsten 
werde  der  Mensch  in  einem  Augenblick  erhöht  oder  erniedrigt ; 
man  danke  dem  Großfürsten  immerfort,  sowohl  für  Gnade  als 
für  Strafe;  „die  400000  Reiter  des  Großfürsten**,  sagt  Fra  da 
Collo  schließlich,  „dienen  nicht  für  Löhnung,  sondern  aus 
Liebe,  Furcht  und  Gehorsam  (per  amore,  timore  et  obedientia).** 

Im  ÄOMocTpoii,  dem  russischen  Hausbuch  des  Mönches 
Sylvester,  das  dem  Volke  Lebensregeln  vorschreibt,  werden 
der  zarische  Zorn  und  die  zarische  Ungnade  gleichgestellt  mit 
dem  Zorn  Gottes,  gegen  den  man  sich  unnützerweise  wenden 
würde;  man  könne  nur  beten. 

Der  knechtische  Sinn  des  russischen  Volkes  zeigt  sich 
von  allem  Anfang  an,  schon  auf  den  ersten  Seiten  der  russischen 
Geschichte.  Wladimirs  Sohn  Swjätopolk  mordet  einen  seiner 
Brüder  nach  dem  anderen,-  um  Alleinherrscher  zu  werden; 
nur   sein   Bruder  Jaroslaw   entgeht   dem   Schicksal   und  zieht 

•  

aus,  die  ermordeten  Brüder  Boriß  und  Gljeb  an  dem  Bruder- 
mörder Swjätopolk  zu   rächen.     Jaroslaw   konmit  mit   seinen 


1)  Vgl.  Karamsin,  Geschichte  des  Russischen  Reichs.    VII  465,  Anmer- 
kungen 157  und  158. 


—    211     — 

Warägern  nach  dem  mit  ihm  verbündeten  Nowgorod,  wütet 
aber  in  der  Stadt  wie  ein  Feind  und  gestattet  seinen  Truppen 
Plünderung  der  Häuser,  Ermordung  der  Männer,  Schändung 
der  Frauen.  Da  fallen  die  Nowgoroder  über  einige  der  männer- 
mordenden und  weiberschändenden  Waräger  her,  und  üben 
Lynchjustiz.  Als  Jaroslaw  von  den  Vorfällen  erfährt,  heuchelt 
er  Bedauern  über  die  Zuchtlosigkeit  seiner  Waräger,  und  lädt 
die  vornehmsten  Nowgoroder,  um  ihnen  Genugtuung  zu  geben, 
zu  einem  Feste  ein.  Und  wie  er  sie  alle  hübsch  beisanunen 
hat,  läßt  er  sie  in  dem  festlich  geschmückten  Saale  nieder- 
metzeln. Aber  am  anderen  Tage  erfährt  Jaroslaw,  daß  der 
Brudermörder  Swjätopolk  mit  einem  großen  Heere  heranrücke, 
und  es  erfaßt  ihn  Angst  vor  dem  überlegenen  Gegner.  Da 
bereut  er  sein  Vorgehen  gegen  die  Nowgoroder,  appelliert  an 
die  Herzen  der  Bürger  der  freien  Stadt  und  sagt:  „Gestern 
tötete  ich  Unsinniger  meine  getreuen  Diener ;  mit  allem  Golde 
meines  Schatzes  möchte  ich  jetzt  ihr  Leben  wiederkaufen.** 
Und  die  tapferen  Nowgoroder,  diese  alten  unerschütterlichen 
Republikaner  unter  den  Russen,  antworten  einstimmig:  „Herr, 
du  hast  unsere  Brüder  getötet;  wir  aber  sind  bereit,  gegen 
deine  Feinde  zu  ziehen  !**i)  Um  1350  herrscht  in  Rjäsan  Oleg, 
nach  den  Worten  des  Chronisten  ein  Fürst,  „frühzeitig  zu  allen 
Lastern  eines  grausamen  Gemüts  herangereift.**  In  seiner 
eigenen  Stadt  plündert  und  mordet  er;  aber  seine  Rjäsaner 
lieben  und  loben  ihn,  sehen  in  seiner  Mordlust  Kühnheit  und 
Entschlossenheit  und  erwarten  von  einem  so  rücksichtslosen 
Wüter  gegen  sein  eigenes  Volk  ungewöhnliche  Heldentaten 
gegen  die  Feinde  1^) 

Die  byzantinischen  und  tartarischen  Einflüsse  sind  nicht 
dazu  geeignet,  das  Tyrannentum  zu  schwächen,  das  Selbst- 
bewußtsein des  Volkes  zu  heben.  Die  Chane  ließen  die  rus- 
sischen Fürsten  im  Besitze  der  Herrschaft,  verlangten  nur  den 
Tribut;  und  die  russischen  Fürsten  zahlten  den  Tribut  und 
entschädigten  sich  für  diese  ihnen  auferlegte  Abhängigkeit 
vom  Chan  durch  verdoppelte  Grausamkeit  in  ihren  eigenen 


1)  Karamsin.     II  6. 

2)  Karamsin.     IV  237. 

14* 


—    212    — 

Reichen,  durch  schrankenlose  Selbstherrschaft  im  Inneren. 
Andrej  Bogoljubskij  sagte  schon:  daß  er  ^^allein  herrschen" 
wolle  auf  der  russischen  Erde ;  und  er  ernannte  sich  von  Gottes 
Gnaden  zum  Allein-Herrschenden,  seine  Dienstleute  aber  zu 
Cholopy,  Sklaven.  Was  so  unter  dem  Tartarenjoch  schon  vor- 
bereitet wurde,  wird  traurige  Tatsache  und  vollendetes  Werk 
unter  den  Großfürsten  von  Moskau,  die  das  Joch  abzuschüttehi 
das  Glück  und  den  Ruhm  hatten.  Und  nun  weiß  das  Volk 
sich  gar  nicht  mehr  genug  zu  tun  in  Kriecherei  und  Selbst- 
demütigung, in  Zerknirschung  und  Erniedrigung.  Die  beiden 
freien  Städte  Pskow  und  Nowgorod  verzichten  freiwillig  auf 
ihre  republikanische  Verfassung  und  ihre  alten  Vorrechte  und 
senden  dem  Großfürsten  Wassilij,  dem  Sohne  Joans  III.  und 
Vater  Joans  IV.,  diese  Botschaft :  „Die  Städte  Pskow  und  Now- 
gorod werfen  sich  Dir  zu  Füßen ;  erweise  Deinem  alten  Erb- 
gut Gnade!  Wir,  Deine  verwaisten  Kinder,  hängen  an  Dir 
und  den  Deinigen  bis  ans  Ende  der  Welt;  Gott  und  Dir  ist  in 
deinem  Erbgebiet  Alles  gestattet.  Wir  freuen  uns  der  Hand 
unseres  Herrn  und  flehen  ihn  an,  uns  nicht  ganz  zu  vernichten!" 
Ist  dieses  Volk  nicht  einzig  in  der  Vergötterung  seiner 
Henker  ?  Es  betet  sogar  seinen  schrecklichen  Iwan  an !  „Über- 
trifft Iwan  alle  Tyrannen  an  Wildheit  und  raffinierter  Grau- 
samkeit, so  übertreffen  die  Russen  alle  anderen  Völker  an 
Geduld**;  das  wagt  selbst  Karamsin  zornig  niederzuschreiben i), 
und  er  fügt  hinzu:  „Der  Landesherr  erscheint  ihnen  göttlich, 
jeder  Widerstand  gesetzwidrig.  Sie  schreiben  Joans  Tyrannei 
dem  himmlischen  Zorn  zu,  und  bereuen  ihre  Sünden.**  Der 
wahnsinnige  Bluthund  zerreißt  sein  Volk;  „und  dessen  unge- 
achtet kan  noch  heutiges  Tags  kein  Reuß  leiden  oder  ohne 
Ungedult  hören,  wenn  man  ihn  für  einen  Tyrannen  schildt, 
sondern  es  fehlet  gar  wenig,  daß  sie  ihn  nicht  für  ein  Gott 
ausruffen.  Wissen  auch  keinen,  den  sie  dem  Alexandro  Magno 
eigentlicher  als  mit  ihm  vergleichen  können. **2)  Zu  Tausenden 
schlachtet  Iwan  seine  Dienstleute  und  Untertanen;  und  unter 
allen  Opfern  ist  keines,  das  nicht  sterbend  für  das  Wohlergehen 


1)  VIII   135. 

2)  Hiärn.     278. 


—    213    — 

des  Zaren  ein  Gebet  zum  Himmel  richtete  I  Vom  Morden  müde, 
will  Iwan  sich  ins  Kloster  zurückziehen;  aber  seine  Russen 
bitten  imd  betteln  so  lange,  daß  er  bleiben  imd  wieder  regieren 
solle  nach  seiner  Laime,  bis  er  sich  erweichen  läßt  und  weiter 
regiert,  das  heißt:  das  Werk  der  Greuel  fortsetzt  und  ohne 
Unterlaß  und  ohne  Anlaß  tötet.  Und  da  er  endlich  stirbt,  da 
das  Volk,  wenn  es  jemals  bloß  aus  Furcht  Liebe  und  Ver- 
ehrung geheuchelt  haben  sollte,  frei  von  Furcht  aufatmen  und 
aufjubeln  dürfte,  da  kniet  es  vor  Schmerz  aufgelöst  am  Lager 
des  großen  Toten  nieder!  und  weint!  und  klagt  in  seinen 
schönsten  Liedern  um  den  Verlust  des  Unersetzlichen,  des 
Helden,  des  Gerechten,  des  pater  patriae!  Welch  ein  furcht- 
barer Gedanke  für  alle  freiheitlich  Denkenden,  alle  menschlich 
Fühlenden,  daß  einem  solchen  Lande,  einem  solchen  Volke 
noch  einmal  ein  Iwan  der  Schreckliche  geboren  werden  imd 
willkommen  sein  könnte! 

In  den  historischen  Liedern  von  Iwan  dem  Schrecklichen  i), 
die  in  Großrußland  entstanden  sind,  zeigt  sich  der  knechtische 
Sinn  des  russischen  Volkes  in  einem  getreuen  Spiegel.  Da 
wird  der  Landesdienst  zum  Hof  dienst,  zum  Zarendienst.  Diese 
Volkslieder  schildern  Iwans  Grausamkeit  als  Notwendigkeit, 
förmlich  als  eine  unentbehrliche  Ergänzung  seines  edlen,  allen 
menschenfreundlichen  Gefühlen  zugänglichen,  gerechten,  sogar 
großmütigen  Charakters.  Der  rechtgläubigen  Zarenmajestät  Per- 
son ist  geheiligt,  ihr  Wille  weises  Gesetz.  Das  Volk  steht  unbe- 
dingt auf  Iwans  Seite,  seine  Grausamkeit  ist  Gerechtigkeit,  Kund- 
gebung seines  gerechten  Zorns,  ganz  gleich,  ob  der  Schreck- 
liche seine  blutigen  Orgien  über  den  Leichen  der  geschlachteten 
Tartaren  feiert  oder  auf  bloßen  unbegründeten  Verdacht  hin 
die  Bojaren  dem  Henker  überliefert.  Der  Haß  des  Volkes  gegen 
die  Tartaren  ist  nicht  größer  als  sein  Haß  gegen  die  inneren 
Bedrücker,  und  gern  vergißt  es  seine  eigenen  Leiden,  wenn 
es  auch  die  Großen  unter  der  Zuchtrute  des  Größten  verenden 
sieht.  In  einem  Liede  wird  der  Zar  geradezu  als  ein  mit  dem 
Volke  gutmütig  verkehrender  Herrscher  gezeigt.  Die  grau- 
same Natur  des   Fürsten   kommt  zwar  auch  zur  Geltung,   so 


^)  Vgl.  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur.     S.  82. 


—    214    — 

beispielsweise  in  dem  Liede,  wo  Iwan  Auftrag  gibt,  seinen 
Sohn  hinzurichten  1);  aber  stets  erscheint  des  Zaren  Grausam- 
keit als  ein  Ausfluß  seiner  Gerechtigkeit,  die  bestrebt  ist,  „den 
in  den  russischen  Landen  nistenden  Hochverrat  auszurotten** : 
die  Hochverräter,  das  sind  die  Aristokraten,  die  nach  der 
Meinung  der  Volkslieder  den  Charakter  des  Zaren  zu  ihren 
eigenen  oligarchischen  Zwecken  auszunützen  trachten  und 
der  Macht  des  Zaren,  des  Selbstherrschers  entgegenarbeiten, 
bloß  um  selbst  willkürlich  über  das  Volk  herrschen  zu 
können. 

Dieses  hochverräterische  Trachten,  das  den  Aristokraten 
von  den  Liedern  zugeschrieben  wird,  ist  in  Wahrheit  der  Ge- 
schichte unbekannt.  Diese  kann  nur  konstatieren,  daß  nicht 
bloß  das  Volk,  sondern  auch  der  Adel  von  Moskau  das  Un- 
glaublichste an  Servilität  leistete.  In  den  Staatsschriften  nennen 
sich  die  höchsten  Würdenträger  in  tiefster  Demut  ersterbende 
Leibeigene  des  Zaren,  Cholopy,  Sklaven.  Solche  Etiquette 
ist  so  eingebürgert,  daß  Peter  der  Große  gegenüber  dem  Für- 
sten Romadanowskij,  den  er  die  Rolle  eines  Vize-Zaren  spielen 
läßt,  sich  ebenfalls  als  Leibeigenen,  Cholop,  bezeichnet.  „Die 
Großen  nannten  sich  Knechte  des  Großfürsten,**  sagt  Karam- 
sin2),  „allein  der  Name  ist  nicht  die  Sache,  er  drückte  nur 
die  unbegrenzte  Ergebenheit  der  Russen  gegen  ihren  Monar- 


1)  Dieses  Lied  befindet  sich  in  einigem  Widerspruch  zur  Geschichte.  Es 
wird  erzählt:  Iwan  sitzt  bei  der  Tafel  und  rühmt  sich,  den  Hochverrat  ausge- 
rottet zu  haben.  Da  zeigt  sein  Sohn  Iwan  auf  den  Bruder  Fjedor,  der  durch 
Leutseligkeit  die  Untertanen  zu  gewinnen  suche.  Iwan  befiehlt  sofort  dem 
Henker  Maljuta  Skuratow,  den  Fjedor  hinzurichten.  Aber  des  Zaren  Schwager 
Bojar  Nikita  Romanow  (Ahnherr  der  jetzt  regierenden  Familie)  eilt  auf  den 
Richtplatz,  erschlägt  den  Henker  und  bringt  Fjedor  in  Sicherheit.  Iwans  Zorn 
ist  bald  besänftigt,  er  bereut  seinen  Befehl  und  ordnet  eine  Trauermesse  an; 
zu  dieser  erscheint  Nikita  Romanow  im  Festgewand,  der  Zar  fährt  ihn  deshalb 
wütend  an  (nach  einer  Variante  des  Liedes  erscheint  der  Zar  im  Hause  Nikitas, 
als  dieser  zu  Ehren  des  Fjedor  ein  Fest  gibt,  und  nagelt  des  Bojaren  Fuß  mit 
einem  Spieß  an  den  Boden  an,  wie  er  es  in  Wahrheit  mit  dem  Boten  Kurbski js 
getan).  Aber  Nikita  schlägt  seinen  Talar  zurück  und  zeigt  dem  Zaren  den 
geretteten  Sohn.  Historisch  ist,  daß  Fjedor  Iwanowitsch  sanft  und  leutselig  war. 
Er  wurde  aber  niemals  zum  Tode  verurteilt.  Iwan,  der  älteste  Prinz,  war  es,  der 
durch  die  Hand  des  Vaters  starb. 

2)  Geschichte  VII   169. 


—    215    — 

chen  aus.**  Diese  Meinung  entspricht  nicht  den  Tatsachen. 
Der  Würdenträger  war  faktisch  der  Sklave  des  Großherrn ; 
xojioiTB  (Cholop)  war  auch  für  ihn  kein  leeres  Wort.  Die 
russische  Sprache  beweist  es:  bitten,  supplizieren  heißt  noch 
heute  im  Russischen:  öhtb  He^iOMi),  mit  der  Stirn  schlagen; 
ein  Supplikant:  HeJicÖHTHmcb,  Stirnschläger;  eine  Bittschrift: 
HejiGÖHTBe,  das  Stirnschlagen.  Das  Wort  stammt  daher,  daß 
die  moskowitischen  Edelleute,  um  sich  vor  ihren  Fürsten  nur 
ja  möglichst  tief  zu  erniedrigen,  nicht  bloß  vor  ihnen  in  den 
Staub  sanken,  sondern  bei  Überreichung  von  Bittschriften  mit 
der  Stirn  auf  den  Boden  aufschlugen.  Sie  unterzeichneten  ihren 
Namen  nicht,  wie  er  wirklich  lautete,  sondern  mit  knechtischen 
Verkleinerungsformen,  etwa  statt  Romanow:  Dein  Sklave  Ro- 
manowchen,  statt  Schuwalow:  Schuwalowchen,  statt  Morosow: 
Morosowchen.  Erst  Katharina  II.  schaffte  die  knechtische 
Etikette  ab  und  verbot  den  Adeligen,  sich  in  den  Staats- 
schriften als  Sklaven  zu  bezeichnen;  das  Wort  tschelobitje 
für  Bittschrift  aber  konnte  aus  der  Sprache  nicht  ausgemerzt 
werden. 

In  merkwürdigem  Gegensatze  zu  dieser  adeligen  Selbst- 
erniedrigung steht  das  knechtisch-patriarchalische  Verhältnis 
des  gemeinen  Volkes  zu  dem  Selbstherrscher.  Der  letzte  Bauer 
sieht  in  dem  Tyrannen  sein  Väterchen  und  darf  ihn  duzen. 
Dieses  ist  allerdings  ein  leeres  Wort,  denn  der  Bauer  ist  nicht 
bloß  Sklave  des  Zaren,  sondern  auch  Sklave  des  Adels,  und 
dieser  entschädigt  sich  für  die  Demut,  die  er  dem  Zaren  be- 
weisen muß,  durch  die  Bedrückung  des  Muschik.  Nur  die 
Peitsche  nivellierte  alles.  Der  Großfürst  und  Zar  prügelte  seine 
Hofleute,  der  noMdiii^Hicb  (Pomeschtschik,  der  Gutsbesitzer) 
seine  xojionu  (Cholopy,  die  Leibeigenen),  der  Offizier  seine 
Rekruten,  der  Meister  seine  Lehrlinge.  „Die  Russen  lernen 
leicht,  wenn  man  sie  prügelt,"  sagt  man;  und  „die  russischen 
Bauern  verlangen  nicht  selten  selbst  Schläge,  sagend,  die  Nach- 
sicht und  Milde  stärke  den  Teufel  in  ihnen,  und  der  müsse 
herausgeprügelt  werden.  Bei  vielen  Gelegenheiten  kommen 
sie  und  erklären,  sie  müßten  Prügel  haben;  sie  bitten  darum 
und  bestärken  so  unglücklicherweise  den  Herren  in  der  An- 
sicht, daß  häufige  Körperstrafe  durchaus  für  den  Bauern  von- 


—    216    — 

nöten."!)  Der  Ahh6  Chappe  d'Auteroche  erzählt,  daß  er  auf 
seiner  Fahrt  durch  Rußland  die  Bauern,  die  ihn  führten,  mit 
Peitschenhieben  bedienen  mußte;  das  war  das  einzige  Mittel, 
sie  in  Gehorsam  zu  halten. 2)  Die  Herren  betrachten  konse- 
quente Strenge  als  Notwendigkeit.  Schwache,  nachgiebige, 
milde  Herren,  die  die  Peitsche  nicht  zu  gebrauchen  wissen, 
werden  von  den  Bauern  betrogen  und  bestohlen.  Ein  Herr 
befahl  bei  Übernahme  eines  neuen  großen  Gutes,  daß  jeder, 
der  ihn  nicht  untertänig  und  höflich  grüßte,  auf  der  Stelle  25 
Stockschläge  bekommen  sol  te.  Alle  faulen  Arbeiter  ließ  er 
unbarmherzig  geißeln.  Aber  da  er  in  seinen  Bestrafungen 
immer  gerecht  war,  beweinten  die  Bauern  diesen  strengen 
Herrn,  als  er  gestorben  war,  als  einen  unersetzlichen  Wohl- 
täter.Sy  Der  gezüchtigte  Russe  küßt  nach  erhaltener  Strafe 
die  Füße  desjenigen,  der  die  Strafe  anbefohlen  hat,  und  bedankt 
sich  dafür,  daß  man  mit  ihm  nicht  strenger  verfuhr.*)  Der 
deutsche  Arzt  Wichelhausen  bezeichnet  „die  demütigen  Ver- 
beugungen der  Russen  vor  ihren  Herren,  wobei  sie  mit  dem 
Kopf  die  Erde  berühren,  als  empörend  für  das  Gefühl  eines 
jeden,  der  solche  die  Würde  des  Menschen  verspottende  Szenen 
nie  gesehen  hat,**  aber  er  ist  der  Meinung,  daß  man  „aus  dieser 
alten  Volkssitte  nicht  auf  eingewurzelten  Sklavensinn  schließen 
darf.**  Indessen  fügt  er  selbst  folgendes  hinzu  ^):  „Mehrere 
Male  habe  ich  gesehen,  daß  Freigelassene  zu  ihrem  gewesenen 
Herrn  kamen  und  ihn  demütig  baten,  sie  wieder  als  Leibeigene 
anzunehmen.  Einige  davon  waren  freilich  alt  und  kränklich, 
und  hatten  kein  Mittel,  sich  zu  ernähren  und  zu  verpflegen. 
Solche  Leute  ertragen  gewöhnlich  die  härtesten  Bedrückungen 
ohne  Murren,  wozu  vielleicht  ihr  Glaube  an  ein  unvermeid- 
liches Schicksal  und  ihr  natürlicher  Leichtsinn  das  meiste  bei- 
trägt. Doch  ist  dies  nicht  bei  allen  der  Fall.  Viele  entlaufen 
ihren  Herren,  wenn  ihre  Geduld  auf  zu  harte  Prüfungen  gesetzt 


1)  Kohl.  Südnißland.     III  357. 

2)  Abb6  Chappe  d'Auterrcche.     Voyage.     1788. 
8)  Kohl  a.  a.  O.    III  353. 

^)  Voyage  pittoresque,  politique  et  litt^raire,  fait  en  Russie  pendant  les 
ann6es  1788  et  1789  par  le  citoyen  Chantreau.     Paris  1794.     I  153. 
^)  Wichelhausen,  Gemähide  von  Moskwa.    1803.   263. 


—    217    — 

wird.  Andere  sinnen  auf  Rache.**  Diese  Verteidigung  der 
Leibeigenschaft  ist  ebenso  verfehh,  wie  jene  des  famosen,  mehr- 
fach zitierten  Adolph  Zando^),  der  alles  lobt,  was  Rußlands 
Regierung  tut  und  der  auch  in  der  Leibeigenschaft  natürlich 
nur  Glückseligkeit  sieht:  „Das  Los  des  Leibeigenen  in  seiner 
individuellen  Existenz  ist  durchaus  kein  unglückliches,  wenn 
es  auch  von  Unkundigen  mit  den  grellsten  Farben  geschildert 
wird,  während  der  Leibeigene  selbst  sich  in  der  Regel  keines 
traurigen  Daseins  bewußt  ist  .  .  .  Diejenigen,  die,  wie  ich 
Gelegenheit  gehabt  haben,  Leibeigene  sprechen  imd  urteilen 
zu  hören,  würden  ganz  andere  Ansichten  von  diesem  Gegen- 
stande gewinnen,  als  sie  bis  jetzt  gehegt  haben.  Ich  habe 
selbst  Beispiele  erlebt,  wo  Leibeigene  die  angebotene  Freiheit 
ablehnten  und  Freibriefe  zurückwiesen . . .  Hofsleute  werden  zur 
Strafe  befreit  I  .  .  .  Das  Schicksal  des  Leibeigenen  ist  durchaus 
nicht  beklagenswert.  Es  ist  und  bleibt  ein  unverzeihlicher 
Irrtum,  über  die  Leibeigenschaft  so  schonungslos  abzuurteilen.** 
Mir  erscheinen  alle  die  zitierten  Beispiele  nur  als  Beweise  für 
den  angeborenen  knechtischen  Sinn  des  Russen.  Auch  die 
estnischen  und  lettischen  Leibeigenen  ertrugen  nach  dem  Zeug- 
nisse von  Petri  und  Merkel  „mit  kriechender  Geduld  und 
Gleichgültigkeit  die  Mißhandlungen  und  küßten  die  Rute**, 
aber  sie  blieben  sich  immer  dessen  bewußt,  daß  die  Sklaverei 
eine  Schande  sei,  und  zu  ihrer  Demut  gesellten  sich  Scheu 
und  Hinterlist,  hinter  denen  stets  die  Rachgier  lauerte.  Nicht 
freiwillig  wie  der  Russe,  sondern  nur  der  Not  und  der  Angst 
gehorchend,  bewies  der  Lette  oder  Esthe  seinem  Herrn  die 
vorgeschriebene  Achtung.  „In  einer  Entfernung  von  30 
Schritten  von  dem  Herrn,  ja  wenn  er  auch  nur  beim  Hause 
des  Herrn  vorübergeht,  zieht  der  Lette,**  wie  Merkel  schrieb  2), 
„den  Hut  und  knickt,  beugen  kann  man  es  nicht  nennen,  sich 
zusammen  bei  jedem  Blick  auf  ihn.  Dann  schleicht  er  mit  ge- 
senktem Haupte  herbei,  den  Rock-  oder  Fußkuß  zu  machen.** 
Aber  er  ergibt  sich  nicht  willenlos  der  Knechtschaft,  ist  immer 
auf  der  Wacht  vor  dem  Herrn:  „Redet  man  ihn  an,  so  ver- 


1)  Russische  Zustände.     Hamburg  1855.     129,   132,   143. 
«)  Die  Letten.     S.  35. 


—    218    — 

mutet  er  bei  jeder  Frage  eigennützige  Hinterlist  und  stellt  jede 
Antwort  auf  Schrauben.  Er  verheimlicht  daher,  was  er  kann, 
selbst  die  Arzneimittel,  die  er  gebraucht.  Die  gleichgültigste 
Sache  behandelt  er  geheimnisvoll.** 

„Die  Leibeigenschaft  verpestet  die  ganze  Atmosphäre  der 
geistigen  Bildung,**  klagte  KohU),  als  er  auf  seiner  großen 
Reise  durch  Rußland  das  Traurige  dieser  Zustände  kennen 
lernte ;  „sie  macht  nicht  nur  die  ihr  unmittelbar  Unterworfenen 
zu  Sklaven,  sondern  steckt  auch  die  ganze  Bevölkerung  mit 
despotischen  und  sklavischen  Sitten  und  Gesinnungen  an.** 
Das  furchtbarste  an  der  russischen  Leibeigenschaft  war  der 
Umstand,  daß  sie  sich  so  lange  erhalten  konnte,  und  daß  sie 
ihre  festesten  Formen  erst  im  achtzehnten  Jahrhundert  erlangte, 
also  zu  einer  Zeit,  als  man  in  den  meisten  anderen  Ländern 
schon  mit  dem  System  der  Leibeigenschaft  gebrochen  hatte. 
Peter  der  Große  hat  die  Leibeigenschaft  in  Rußland  erst,  ge- 
setzlich organisiert  und  von  Elisabeth  ist  dann  die  größere 
Hälfte  der  Bevölkerung  zu  Sklaven  degradiert  worden.  Unter 
6624021  Einwohnern  der  großrussischen  Gouvernements  (nach 
der  Revision  von  1747)  gab  es  3444332  leibeigene  Männer 
und  Frauen.  Und  je  näher  dem  erleuchteten  neunzehnten 
Jahrhundert,  je  mehr  wuchs  die  Zahl  der  Sklaven  in  Rußland. 
Unter  Nikolaj  I.,  in  der  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts, 
schwoll  sie  entsetzlich  an.  Einem  besonderen  Ministerium 
unterstanden  21463994  Leibeigene  der  Krone,  und  außerdem 
gab  es  23362595  Seelen,  die  den  Edelleuten  gehörten.  Von 
den  60  Millionen  Einwohnern,  die  Rußland  um  1850  zählte, 
waren  also  44826589  Sklaven.  Rechnet  man  von  dem  Rest 
noch  die  Soldaten,  Matrosen  und  Bürger,  dann  die  Kalmücken, 
Kirghisen,  Tartaren,  Polen,  Finnländer  ab,  so  sieht  man,  eine 
wie  geringe  Anzahl  freier  Männer  das  Zarenreich  vor  fünf 
Jahrzehnten  beherbergte.  Wie  kann  in  Rußland  eine  freiheit- 
liche Bewegung  dauernd  triumphieren,  da  dort  erst  1861  die 
Leibeigenschaft  aufgehoben  wurde  und  noch  die  Generation 
nicht  ausgestorben  ist,  die  teils  absolut  geherrscht  hat,  teils 
absolut  beherrscht    worden  ist! 


^)  J.  G.  Kohl,  Reisen  durch  Südrußland.     II.  Aufl.  III  5. 


—    219    — 

Es  existierten  in  Rußland  schon  in  ältesten  Zeiten  Sklaven, 
aber  die  Sklaverei  war  von  anderer  Form  als  später.  Kriegs- 
gefangene waren  es,  die  in  erster  Reihe  als  Sklaven  verschenkt 
wurden.  Dann  gab  es  arme  Leute,  die  sich  nicht  ernähren 
konnten :  sie  verschenkten  sich  selbst  freiwillig  an  reiche  Leute 
und  vertauschten  das  Los  ihrer  unerträglich  sorgenvollen  Frei- 
heit mit  einer  Sklaverei,  die  ihnen  wenigstens  Brot  und  Haus 
verhieß.  Die  Sklaven,  sowohl  die  Kriegsgefangenen  (Raby, 
paÖH)  als  die  freiwillig  zu  Leibeigenen  (Cholopy,  xononu)  ge- 
wordenen, unterstanden  gänzlich  der  Willkür  ihrer  Herren,  die 
über  die  ihnen  unterworfenen  Raby  und  Cholopy  nach  Herzens- 
lust verfügen  konnten  und  sie  bis  auf  den  Tod  prügeln  durften; 
Ermordete  ein  Herr  seinen  eigenen  Sklaven,  so  zahlte  er 
dafür  nicht  einmal  eine  Geldstrafe;  Bt  xojion'b  h  paßli  BHpu 
H-tTyTb,  heißt  es  bei  einem  alten  Schriftsteller.  Das  Gesetz 
mischte  sich  nicht  darein,  denn  der  Sklave  war  das  alleinige 
Eigentum  seines  Herrn.  Ermordete  ein  freier  Mann  aber  den 
Sklaven  eines  anderen,  so  zahlte  er  eine  Entschädigung,  die 
geringer  war  als  die  für  das  Ausraufen  des  Bartes  ausgesetzte. 
Eins  der  alten  Gesetze  gestattete  geradezu  die  Tötung  des 
Sklaven:  „Wenn  ein  Cholop  einen  Freien  schlägt  und  sein 
Herr  ihn  dem  Beleidigten  nicht  herausgibt,  so  muß  sein  Herr 
12  Griwnen  Strafe  zahlen,  und  der  Beleidigte  kann  außerdem 
den  Cholop,  wo  er  ihn  erwischt,  töten,  ohne  deswegen  zur 
Rechenschaft  gezogen  zu  werden.**  Erst  die  Söhne  Jaroslaws 
änderten  dies  Gesetz  dahin  ab,  daß  der  Beleidigte  bloß  das 
Recht  hatte,  den  Cholop  körperlich  zu  züchtigen. i)  Nach  den 
Gesetzen  des  Großfürsten  Wladimir  Wßewolodowitsch  Mono- 
mach ließ  man  dann  den  Sklaven  gegen  ihre  Herrschaft  sogar 
Gerechtigkeit  widerfahren.  Zwar  hatte  auch  nach  diesen  Ge- 
setzen der  Edelmann  das  Recht,  die  Sklaven  zu  züchtigen, 
aber  die  Strafe  war  nur  bei  evidenten  Verbrechen  erlaubt  und 
mußte  dem  Verbrechen  angemessen  sein;  andernfalls  konnte 
der  Sklave  gegen  seinen  Herrn  klagbar  auftreten  und  auch 
gerichtliche  Genugtuung  erhoffen. 

Ich  habe  schon  bemerkt,  daß  freie  Leute  aus  Armut  frei- 


^)  TiiM(-K|)eeB'L,  Ilcropin  rkieiiiuxi.  HaKaaawift,  53. 


—    220    — 

Krillig  Sklaven  wurden.  Doch  auf  gerichtlichem  Wege  ver- 
wandelte man  Freie  auch  zwangsweise  in  Sklaven :  wenn  näm- 
lich Schuldner  nicht  bezahlen  konnten,  fielen  sie  den  Gläubigem 
als  Sklaven  anheim ;  genügte  der  Wert  eines  Mannes  nicht  zur 
Tilgung  der  Schuld,  so  durfte  sich  der  Gläubiger  auch  der 
Familie  des  Schuldners  bemächtigen.  Die  Arbeit  des  Mannes 
zählte  für  5  Rubel  im  Jahre,  die  der  Frau  die  Hälfte.^)  Die  so 
zu  Sklaven  Gewordenen  waren  selten  imstande,  ihre  Schuld 
abzudienen  und  wieder  frei  zu  werden. 

Die  Leibeigenen  bildeten  indessen  nur  einen  kleinen  Teil 
der  Bevölkerung;  denn  der  Bauer  war  frei.  Erst  die  willkür- 
liche Eigenmächtigkeit  der  russischen  Edelleute  degradierte 
auch  die  freien  Bauern  zu  Leibeigenen;  „die  Leibeigenschaft 
beruhte  nicht  auf  Gesetzen,  sondern  auf  einer  Usurpation, 
der  nur  die  Verjährung  eine  Art  Sanktion  gegeben  hatte,** 
sagt  Wichelhausen.2)  Die  Edelleute  machten  die  zu  einem 
Dorfe  oder  Gehöfte  gehörigen  Knechte,  die  Nachkommen 
von  Kriegsgefangenen,  von  gekauften  Leuten,  von  frei- 
willig in  Sklaverei  Übergegangenen  und  von  gerichtlich 
wegen  Schulden  zum  Abdienen  Verurteilten,  zu  Leibeigenen. 
Es  gab  erbliche  Leibeigene,  polnyje  (nojiHHe,  wörtlich:  voll- 
ständige) oder  solche  durch  Vertrag  für  bestimmte  Zeitdauer, 
kabaljnyje  (KaöajiBHHe:  zufolge  einer  Verschreibung  genom- 
mene). Die  Kabaljnyje  wurden  nach  dem  Tode  des  Herrn 
wieder  frei,  hießen  daher  auch  Krepkije  (Kpinicie,  die  Starken). 
Die  übrigen  Bauern  waren  frei,  allerdings  ohne  Besitz ;  infolge- 
dessen verpflichteten  sie  sich  den  Edelleuten  als  Pächter.  Sie 
mußten  sich  über  menschliche  Kraft  plagen  und  hatten  nicht 
zwei  Tage  in  der  Woche  für  sich  selbst.  Die  Armut  der  Land- 
leute drückt  das  Wort  aus,  mit  dem  man  sie  in  alten  Zeiten 
bezeichnete:  Swerden  (soviel  als  Lumpe).  Im  sechzehnten  Jahr- 
hundert begann  man  den  Bauer  Krestjanin  (KpecTi>flHHHT>)  zu 
heißen,  nämlich:  Christ.  Die  Mongolen  bezeichneten  nämlich 
alle  Russen  schlechtweg  als  Christen,  um  sie  zu  beschimpfen 
und  dem  Haß  des  Islams  gegen  die  Orthodoxie  Ausdruck  zu 


1)  Le  Bruyn,  Voyages.     III  135. 
s)  Gemähide  von  Moskwa.     273. 


—    221    — 

geben;     und    später   nannten    die    russischen    Edelleute    ihre 
Bauern  so. 

Die  Bauern  waren  also  schlechter  daran  als  die  Leib- 
eigenen ;  da  wurde  mancher  Krestjanin  ein  Cholop,  um  wenig- 
stens keine  Nahrungssorgen  zu  haben.  Denn  im  fünfzehnten 
und  sechzehnten  Jahrhundert  war  das  Los  der  Leibeigenen 
weder  so  hart  wie  im  elften  und  zwölften,  noch  so  elend,  wie 
es  in  den  späteren  Jahrhunderten  werden  sollte.  Karamsin^) 
stellt  fest,  daß  in  dem  fünfzehnten  und  sechzehnten  Säkulum 
viele  Cholopy,  die  durch  das  Testament  eines  wohltätigen  Herrn 
die  Freiheit  wiedererlangten,  sich  unverzüglich  neue  Herren 
suchten.  Herberstein,  der  damals  Rußland  bereiste,  schreibt: 
„Der  Sklave  bekümmerte  sicji  nicht  um  seine  zahlreiche  Familie, 
fürchtete  weder  Alter  noch  Krankheit.  Das  Gesetz  schwieg 
zwar  von  den  Pflichten  der  Herren,  aber  die  herrschende 
Meinung  gebot  für  sie  Menschlichkeit  und  Gerechtigkeit.  Ty- 
rannen wurden  als  ehrlose  Bürger  verabscheut.  Jeder  Freie 
weigerte  sich,  in  ihre  Dienste  zu  treten,  und  ihren  Namen  ge- 
brauchte man  auf  den  Plätzen  zum  Schimpfen.**  Im  „Do- 
mostroj**  Sylvesters  gibt  es  humane  Ermahnungen,  „die  Sklaven 
und  das  leibeigene  Hausgesinde  freundlich  zu  behandeln.** 
Erst  zu  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  begann  das 
Schicksal  des  Bauernvolkes  und  der  Leibeigenen  sich  in  ein 
trostlos  tragisches  umzuwandeln.  Zar  Fedor  Wassiljewitsch 
und  der  Usurpator  Boriß  Godunow  verordneten  im  Jahre  1595, 
daß  kein  Bauer  das  Land,  wo  er  ansässig,  verlassen  dürfe.  Zar 
Wassilij  Iwanowitsch  Schujskij  befahl :  „Der  Mann  einer  flüch- 
tigen Leibeigenen  wird  Leibeigener  der  geschädigten  Herr- 
schaft,** aber  am  9.  März  1607  gab  er  auch  ein  Gesetz  zugunsten 
der  Leibeigenen:  „Der  Herr  ist  verpflichtet,  ein  Mädchen  bis 
zu  ihrem  i8ten,  einen  Burschen  bis  zu  seinem  20sten,  und  eine 
Witwe  spätestens  zwei  Jahre  nach  dem  Tode  ihres  Mannes  zu 
verheiraten;  das  geschehe,  damit  sie  nicht  durch  gezwungene 
Enthaltsamkeit  Ausschweifungen  anheimfallen.  Befolgt  der 
Herr  nicht  dieses  Gesetz,  so  muß  er  ihnen  die  Freiheit  geben 
und  kann  sich  bei  Gericht  nicht  beschweren,   wenn  sie  ent- 


1)  Geschichte  des  Russischen  Reichs.     VII  170. 


—    222    — 

fliehen."  Zar  Alexej  verbot  den  Herren,  die  Leibeigenen  an 
Festtagen  zur  Arbeit  anzuhalten.  Aber  schon  fühlten  sich  die 
Edelleute  der  Bauern  sicher,  schon  hatten  sie  längst  auf  Ver- 
träge keine  Rücksicht  mehr  zu  nehmen,  und  nun  kümmerten 
sie  sich  auch  nicht  um  die  zarischen  Ukase  zugunsten  der 
Bauern.  In  Zeiten  der  Ernte  gab  es  fortwährend  Verletzungen 
der  Gesetze;  die  Ukase  existierten,  aber  niemand  kontrollierte 
ihre  Beachtung.  Und  Peter  der  Große  sanktionierte  alle  Miß- 
bräuche. Nach  der  Schlacht  bei  Narwa,  im  Jahre  1700,  ordnete 
der  Reformator  eine  Volkszählung  an.  Die  Edelleute  ließen 
in  die  Listen  als  Sklaven  ohne  Unterschied  die  Nachkommen 
von  wirklichen  Leibeigenen,  die  bei  ihnen  auf  Verschreibung 
dienenden  Knechte  (Kabaljnyje)  und  die  freien  Bauern  ein- 
schreiben. Peter  der  Große  ignorierte  den  Kunstgriff  des 
Adels  und  sah  in  der  Leibeigenschaft  ein  vortreffliches  Mittel, 
für  seine  Kriege  billiges  Menschenmaterial  zu  erlangen.^) 

Stephan  Bathory  verbot  den  deutschen  Herren  in  Livland 
und  Estland,  ihre  Untertanen  mit  Leibesstrafen  zu  züchtigen^ 
und  gestattete  ihnen  bloß,  Geldstrafen  zu  verhängen.  Gustav 
Adolf  befahl,  daß  in  den  Gymnasien  zu  Riga  und  Reval  ohne 
Unterschied  Adelige,  Bürger  und  Bauemsöhne  Aufnahme  fin- 
den sollten ;  dieser  König  nahm  den  Erbherren  das  Recht  über 
Leben  und  Tod  der  Leibeigenen  und  verlieh  den  Bauern  das 
Recht  der  Klage  gegen  ihre  Herren.  Und  nach  Gustav  Adolf 
versammelte  Karl  XL  im  Jahre  1681  den  Adel  und  stellte  den 
Antrag,  den  Bauern  die  Freiheit  zu  geben.  Sicher  hätte  er 
seine  Forderung  auch  durchgesetzt,  aber  sein  früher  Tod  rettete 
den  Adel  vor  der  Maßnahme.  In  Rußland  dagegen  waren  es 
gerade  die  Herrscher,  welche  die  Macht  des  Adels  über  die 
Leibeigenen  verstärkten.  Nicht  bloß  Peter  der  Große,  auch 
Katharina  II.  handelte  in  diesem  Sinne.  Katharina  unterdrückte 
das  Recht  der  Leibeigenen,  bei  der  Souveränin  direkt  Klage 
gegen  ihre  Unterdrücker  zu  führen ;  dieses  Recht  bestand  aller- 
dings bloß  auf  dem  Papier,  aber  es  war  doch  als  ein  gewisser 
Schutz  gegen  die  furchtbarsten  Übergriffe,  gegen  monströsen 


')  Vgl.  Siigenhcims  Geschichte   der  Leibeigenschaft   in  Rußland,  sowie 
Haxthansens  Studien  über  die  inneren  Zustände  Rußlands. 


—    223    — 

Mißbrauch  der  Herrengewalt  vorhanden  gewesen.  Nun  be- 
gann man  jene  Kläger,  denen  es  glückte,  bis  zur  Herrscherin 
vorzudringen,  einfach  ihren  Herren,  also  ihren  Henkern  zurück- 
zuschicken. Später  befahl  ein  Ukas  sogar,  die  Leibeigenen, 
die  gegen  ihre  Herren  klagend  auftreten,  zu  peitschen.^) 

Im  Jahre  1767  beschäftigt  sich  allerdings  eine  Kommission 
mit  der  Frage  der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft ;  Katharina  IL 
hatte  nämlich  eine  Volksversammlung  einberufen,  eine  .Art 
Parlament,  die  erste  russische  Duma.  Den  Volksvertretern 
gegenüber  wollte  die  Zarin  als  eine  Frau  von  edlen  Absichten 
erscheinen.  Sie  durfte  ruhig  den  Versuch  wagen,  konnte  ganz 
sicher  auf  sein  Mißlingen  rechnen.  Das  Projekt  der  Bauern- 
befreiung stieß  nicht  bloß  bei  den  Vertretern  des  Adels  und 
des  Grundbesitzes  auf  Widerstand.  Auch  die  sogenannten 
liberalen  und  humanen  Vertreter  der  Intelligenz  jener  Zeit 
wollten  die  Leibeigenschaft  nicht  aufgehoben  sehen.  Der 
Dichter  Ssumarokow  beispielsweise,  der  immerfort  Liberalis- 
mus und  Humanität  predigte,  sprach  entschieden  gegen  die 
Aufhebung  der  Leibeigenschaft. 2)  Wie  Katharina  II.  selbst  im 
Herzen  über  die  Frage  dachte,  zeigen  viele  Beispiele.  Als 
Diderot  über  die  Unreinlichkeit  der  Bauern  in  der  Umgebung 
von  Petersburg  klagte,  entgegenete  Katharina:  „Wozu  sollten 
sie  sich  um  einen  Körper  kümmern,  der  nicht  ihnen  gehört?** 
Die  Greuel  der  Leibeigenschaft,  die  allerdings  von  der  Tra- 
dition längst  geheiligt  sind,  nehmen  daher  unter  dem  Regime 
der  aufgeklärten  Katharina  erschreckliche  Dimensionen  an. 
Der  Luxus  und  die  Lockerheit  der  Sitten  in  jener  Epoche  ge- 
deihen auf  Kosten  der  Leibeigenen.  Der  Publizist  Nikolaj 
Nowikow  übernimmt  es,  das  unerträgliche  Schicksal  der  Bauern, 
die  Schrecken  der  barbarischen  Leibeigenschaft  zu  schildern, 
und  es  ergeht  ihm  deswegen  ziemlich  übel.  Im  Jahre  1779 
wagt  der  französische  Maler  Velly,  der  Kaiserin  gegenüber  die 
traurige  Lage  der  russischen  Leibeigenen  zu  beklagen;  Katha- 
rina gerät  in  wilde  Wut,  und  nur  diplomatische  Intervention 
hält   sie   davon   ab,    dem   unvorsichtig   menschenfreundlichen 


1)  Waliszewski,  Le  roman  d'une  imp^ratrice,  Catherine  II.    p.  346. 

2)  Reinhold t,  Geschichte  der  russischen  Literatur.     347,  421. 


—    224    — 

Künstler  einen  Denkzettel  für  seine  Freimütigkeit  zu  geben.^) 
Als  Radischtschew,  durch  Nowikows  Mißerfolge  nicht  abge- 
schreckt, ein  Memorandum  über  die  Lage  der  Leibfeigenen 
ausgearbeitet  hat,  bemerkt  die  Kaiserin  dazu:  es  gebe  in  der 
ganzen  Welt  nirgends  einen  besser  behandelten  Bauer  als  den 
russischen,  nirgends  einen  sanfteren  Menschen  als  den  russi- 
schen Herrn.  Sie  glaubt  dies  vielleicht  von  ganzem  Herzen, 
und  es  fehlt  nicht  an  Schmeichlern  und  oberflächlichen  Be- 
obachtern unter  den  Ausländem  2),  die  sie  in  dem  falschen 
Glauben  nur  bestärken  können.  Da  ist  Comte  de  S^gur.  Er 
hat  die  russischen  Bauern  nur  durch  die  Spiegelfenster  der 
kaiserlichen  Karosse  gesehen,  aber  sofort  erklärt  er:  das  Los 
der  Leibeigenen  in  Rußland  lasse  nichts  zu  wünschen  übrig. 
Und  als  Beispiel  für  dieses  gute  Los  zitiert  dieses  Muster  von 
Genauigkeit  und  Gerechtigkeit  eine  Gräfin  Ssaltykow  —  die- 
selbe Ssaltykowa,  die  mehr  als  hundert  Leibeigene  beiderlei 
Geschlechts  unter  den  raffiniertesten  Martern  zu  Tode  ge- 
quält hati 

Zu  bemerken  ist,  daß  die  Stellung  der  Leibeigenen  in  den 
verschiedenen  Gegenden  Rußlands  verschieden  war  3):  Der 
Unterschied  zwischen  der  Stellung  beispielsweise  der  Leib- 
eigenen in  Großrußland  und  der  jener  in  Kleinrußland  und  den 
westlichen  polnischen  Provinzen  war  höchst  folgenreich;  er 
bestand  darin,  daß  die  Leibeigenen  in  Kleinrußland  und  Polen 
ganz  und  gar  an  die  Scholle  gebunden  waren,  während  sie  in 
Großrußland  nach  ziemlich  allgemeiner  Gewohnheit  gegen  ge- 
wisse Geldabgaben  auch  die  Erlaubnis  erhielten,  in  die  Fremde 
zu  wandern.  Ohne  Erlaubnis  durften  sie  sich  natürlich  auch 
hier  niemals  von  der  Scholle  entfernen;  konnte  einer  den  von 


^)  Waliszewski,  Roman.     346. 

2)  Wir  lesen  in  Wichelhausens  Gemählde  von  Moskwa.  S.  253 :  „Der  größte 
Thcil  der  Einwohner  von  Moskwa  seufzet  unter  dem  Joche  der  Leibeigenschaft. 
Indes  ist  diese  im  ganzen  genommen  nicht  so  drückend,  wie  im  alten  Rom  und 
Sparta  und  noch  weniger  kann  man  die  russischen  Leibeigenen  mit  den  Neger- 
sklaven in  beiden  Indien  vergleichen.  Ihr  Loos  ist  selbst  erträglicher  als  das 
Loos  der  Letten". 

3)  Kohl,  Reisen  in  Südrußland.     III  332. 


—    225    — 

seinem  Herrn  herrührenden  Paß  nicht  vorweisen,  so  wurde 
er  angehalten  und  seinem  Besitzer  wieder  ausgehefert. 

Im  allgemeinen  hatten  die  Bauern  der  Krone  ein  besseres 
Schicksal  als  jene,  die  Privatleuten  gehörten.  „Die  Leibeigenen 
der  Krone,"  sagt  Wichelhausen  ^),  „haben  der  Krone  einen 
jährlichen  Obrok  (oßpoicb,  wörtlich:  Erbzins)  und  die  übrigen 
Abgaben  richtig  zu  bezahlen  und  genießen  dann  vieler  Frei- 
heiten. Der  Leibeigene  der  Krone  kann  entweder  in  Ruhe 
das  ihm  zugeteilte  Land  bebauen,  ohne  Frohne  zu  leisten  oder 
sehr  gedrückt  zu  sein;  oder  er  treibt  jedes  andere  Geschäft, 
wozu  er  Talent  und  Neigung  hat.**  Jeder  Kronbauer  bekam 
ein  Stückchen  Land  zum  Bebauen  und  mußte  als  Entgelt 
1 5  Rubel  jährliche  Kopfsteuer  zahlen,  außerdem  beim  Straßen- 
bau und  bei  gemeinnützigen  Arbeiten  tätig  sein;  die  Kron- 
bauem  hatten  auch  für  den  Transport  und  die  Verpflegung  der 
Truppen  Sorge  zu  tragen;  auf  dem  Papier  war  ihnen  hierfür 
besondere  Entschädigimg  zugesichert,  die  sie  aber  niemals  er- 
hielten. Die  Kronbauem  durften  die  Scholle  nicht  verlassen; 
ihre  eigenmächtige  Entfernung  galt  als  Desertion.^)  Zuweilen 
erhielten  sie  aber  von  amtswegen  den  Auftrag,  in  einer  benach- 
barten Stadt  ein  Handwerk  zu  erlernen.  Zerstörten  Frost  und 
Hagel  ihre  Felder,  so  waren  sie  dem  Hungertode  preisgegeben ; 
der  Zar  spendete  wohl  in  solchem  Falle  Almosen,  die  Spenden 
blieben  jedoch  stets  an  den  Händen  der  Tschinowniki  kleben. 

Das  Schicksal  der  Leibeigenen  der  Krone  konnte  im  Ver- 
gleich zu  dem  Lose  der  Leibeigenen  der  Gutsbesitzer  als  ein 
beinahe  glückliches  bezeichnet  werden.  Es  gab  zwar  auch 
unter  den  Edelleuten  einige  menschlich  fühlende  Herren,  aber 
wie  wenige,  geht  daraus  hervor,  daß  man  sie  aufzuzählen  ver- 
mag: Kohl  3)  erzählt  von  einer  Dame,  „die  8oo  Leibeigene  hatte 
und  von  jedem  nur  zehn  Rubel  jährlich  nahm;  ihre  Bauern 
stolzierten  in  samtnen  und  seidenen  Kaftanen  umher.**  Die 
Grafen  Scheremetjew,  Woronzow-Daschkow,  Uwarow  hatten 
zur  Zeit  des  Kaisers  Niklaj  I.  Leibeigene,  die  in  Petersburg  und 


')  Gemähide  von  Moskwa.     S.    253. 

2)  Geheimnisse  von  Rußland.    II  154. 

3)  Südrußland,  III  332. 

Stern,  Geschichte  der  öffeatl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  15 


—    226    — 

Moskau  großartige  Gold-  und  Silbermagazine,  Fruchtbuden, 
bedeutende  Kattun-  und  Seidenfabriken  ihr  Eigen  nannten;  sie 
waren  Besitzer  großer  Vermögen,  nicht  selten  Millionäre^  und 
brauchten  trotzdem  nicht  mehr  als  den  gewöhnlichen  Obrok 
von  IG  Rbl.  Silber  jährlich  an  ihre  Herren  zu  bezahlen.^)  Der 
Arzt  Wichelhausen  2)  kannte  um  1800  in  Moskau  Edelleute,  „die 
mit  ihren  Erbleuten  wie  Väter  mit  Kindern  verfuhren  und  nur 
in  den  dringendsten  Fällen  zur  Strenge  griffen;  andere,  die 
selbst  für  die  Bedürfnisse  und  Vergnügungen  der  Leibeigenen 
sorgten  und  sie  in  Krankheiten  verpflegen  ließen."  Mit  diesen 
paar  Beispielen  ist  jedoch  alles  erschöpft,  was  sich  von  der  Güte 
der  russischen  Edelleute  sagen  ließ  —  der  Rest  ist :  Grausam- 
keit ohnegleichen.  Die  Alten  und  Gebrechlichen  sollten  dem 
Gesetze  gemäß  von  den  Erbherren  Kost,  Wohnimg  und  Klei- 
dung erhalten ;  man  trieb  sie  indessen  gewöhnlich  vom  Edelhof e 
fort,  und  sie  mußten  sich  durch  Betteln  erhalten.  „Manche 
sind  so  harte  Herren,**  heißt  es  bei  Wichelhausen  3),  „daß  sie 
bei  jedem  kleinen  Versehen  mit  einer  Strenge  gezüchtigt  wer- 
den, welche  alle  Menschlichkeit  beleidigt.  So  kannte  ich  einen 
Herrn,  der  seinen  Bedienten  die  Batogen  geben  Heß,  wenn  im 
Winter  die  Temperatur  der  Luft  in  seinen  Zimmern  nicht  so 
war,  wie  er  verlangte.  Ein  anderer  ließ  die  Bedienten  für  jeden 
Fleck,  der  sich  in  ihrer  Staatslivree  fand,  oder  für  jedes  Ge- 
schirr, das  sie  zerbrochen,  aufs  grausamste  geißeln.** 

Die  Edelleute  konnten  mit  ihren  Leibeigenen  nach  Willkür 
und  Laune  verfahren.  Kaiserin  Elisabeth  gewährte  ihnen  noch 
außerdem  das  Recht,  in  gewissen  Fällen  ihre  Sklaven  statt  mit 
der  Peitsche  mit  Verbannung  nach  Sibirien  zu  bestrafen.*)  Die 
aufgeklärte  Katharina  vervollständigte  den  Ukas  Elisabeths, 
indem  sie  der  Verbannung  noch  die  Zwangsarbeit  hinzufügte. 
Ein  solcher  Verschickter  durfte  aber  nicht  über  45  Jahre  alt 
sein.  Die  Regierung  nahm  die  verbannten  Leibeigenen  willig 
als  Kolonisten  an.  Die  Frau  eines  deportierten  Leibeigenen 
durfte  dem  Gatten  folgen;  die  minderjährigen  Kinder  konnte 

')  Zando.  Russische  Zustände,  128. 

2)  Züge  zu  einem  Gemähide  von  Moskwa,  257. 

'^)  a.  a.  O. 

*)  Waliszewski,  La  dernidre  des  Romanov,  224. 


—    227    — 

der  Edelmann  zurückbehalten,  gab  er  sie  aber  den  Eltern  mit, 
so  zahlte  ihm  die  Regierung  für  jeden  Knaben  unter  5  Jahren 
5  Rubel,  für  jeden  Knaben  von  5  bis  15  Jahren  10  Rubel,  für 
Mädchen  die  Hälfte.  Dieser  Modus  der  Bestrafung  der  Leib- 
eigenen war  der  einzige  gesetzlich  durch  einen  Ukas  geregelte, 
und  erst  nach  dem  Jahre  1845  brachte  das  Gesetzbuch  Niko- 
lajs  I.  etwas  mehr  Aufsicht  über  die  Sklavenhalter.  Bis  dahin 
waren  die  Edelleute  Herren  über  Leben  und  Tod  ihrer  Leib- 
eigenen gewesen.  Es  machte  schon  nicht  geringes  Aufsehen, 
als  Kaiserin  Elisabeth  im  Jahre  1762  durch  den  Senat  einen 
Edelmann,  der  einen  Leibeigenen  zu  Tode  gepeitscht  hatte,  vor 
Gericht  stellen  und  zur  Deportation  nach  Sibirien  verurteilen 
ließ.  Noch  1761  war  in  einem  solchen  Falle  dem  grausamen 
Herrn  bloß  eine  Kirchenbuße  auferlegt  worden.  In  der  Zeit 
Elisabeths  der  Frommen  und  Gütigen  ereigneten  sich  die  furcht- 
barsten Greueltaten  gegen  die  Leibeigenen,  und  keine  Strafe 
wurde  kontrolliert.  Graf  Rumjäntzow  verfaßte  1756,  um  dem 
Mangel  eines  Strafsystems  abzuhelfen,  einen  speziellen  Kodex 
für  die  Leibeigenen  auf  seinen  Gütern.^)  Dieses  gräfliche  Ge- 
setzbuch liest  sich  wie  eine  Liste  von  beängstigenden  Höllen- 
qualen, und  es  wurde  begierig  von  vielen  anderen  Edelleuten 
als  nachahmenswert  und  mustergiltig  übernommen.  Nach 
diesem  Rumjäntzowschen  Gesetzbuch  ward  einem  Leibeigenen 
für  den  kleinsten  Diebstahl  strafweise  seine  geringe  Habe  kon- 
fisziert, außerdem  bekam  der  Schuldige  als  Denkzettel  Schläge 
mit  der  Peitsche :  die  Anzahl  ist  nicht  bestimmt,  der  edle  Graf 
befiehlt  einfach:  „solange  schlagen,  bis  der  Bestohlene  zu- 
friedengestellt ist".  Ein  anderer  Paragraph  besagt:  eine  Die- 
nerin, die  ins  Schlafzimmer  der  Herrschaft  eintritt  und  ihren 
Herrn  oder  ihre  Herrin  in  der  Ruhe  stört,  erhält  Rutenhiebe 
(ohne  Zahlbegrenzung)  und  verliert  zur  Strafe  ihren  Namen; 
sie  soll  fortan  mit  einem  Schimpfwort  bezeichnet  und  gerufen 
werden;  und  diejenigen  Leibeigenen,  die  dies  vergessen  und 
die  Bestrafte  bei  ihrem  Namen  nennen,  bekommen  fünftausend 
Stockschläge  ohne  Erbarmen  I     5000  Stockschläge  1 1    Manche 


1)  3a61iJinin>,  EpBon.  Btaraiio»,  1871  ^  2,  $09-  —  Waliszewski,  La  der- 
nidre  des  Romanov,  226. 

IS* 


—    228    — 

Edelleute  wollten  als  Gesetzgeber  den  Grafen  Rumjäntzow  noch 
übertrumpfen;  es  gab  einen,  der  in  seinem  Kodex  alle  mög- 
lichen Vergehen  aufzählte,  und  auch  die  Zahl  der  Schläge  fix 
bestimmte :  für  irgend  ein  Vergehen  war  die  Zahl  von  siebzehn- 
tausend Stockschlägen  festgesetzt  1  —  dagegen  war  martervollste 
Todesstrafe  wonnevoller  Genuß.  Auch  Graf  Rumjäntzow  ließ 
übrigens  zuweilen  siebentausend  Stockschläge  verabfolgen.  Eins 
seiner  Gesetze  verordnet  nämlich :  Ein  Mann,  der  siebentausend 
Stockschläge  oder  hundert  Knutenhiebe  (ein  Knutenhieb  zählte 
für  siebzig  Stockschläge)  erhalten  hat,  darf  nur  eine  Woche 
lang  das  Bett  hüten;  wenn  er  sich  in  dieser  Zeit  nicht  erholt 
hat,  dann  soll  ihm  die  Nahrung  entzogen  werden.  Der  Kodex 
des  Grafen  Rumjäntzow  bestand  noch  zur  Zeit  Katharinas  II. 
zu  Recht.  Die  Grausamkeit  der  Herren  gegen  ihre  Leibeigenen 
entsprach  so  sehr  der  allgemeinen  Praxis  der  Epoche,  daß  die 
g^oße  Kaiserin  nicht  nur  nichts  gegen  die  Unmenschlichkeit 
unternahm,  sondern  freiwillig  das  Los  der  Unglücklichen  noch 
elender  zu  gestalten  sich  bemühte:  sie  unterdrückte,  wie  wir 
schon  wissen,  das  Recht  der  Klage  der  Leibeigenen  gegen  ihre 
Herren  und  schickte  um  Gerechtigkeit  und  Menschlichkeit 
bettelnde  Märtyrer,  die  durch  wahre  Wunder  bis  zur  Souveränin 
gelangt  waren,  ihren  Herren  und  Henkern  zurück. 

Leibeigene,  die  irgend  ein  Talent  verrieten,  wurden  von  den 
Herren  zu  einer  nützlichen  oder  angenehmen  Kunst  erzogen; 
die  Peitsche  und  der  Stock  waren  die  Lehrmeister.  Verstanden 
dann  die  Sklaven  ein  Handwerk  oder  hatten  sie  sich  zu  Künst- 
lern ausgebildet,  dann  mußten  sie  ihre  Einnahmen  den  Herren 
ablieefern ;  sie  wurden  auch  manchmal  plötzlich  aus  der  höheren 
Sphäre  wieder  in  das  tiefste  Elend  zurückgeschleudert  und 
empfanden  ihre  Situation  nur  noch  schwerer  als  zuvor,  wo  ihnen 
die  Kenntnis  des  Besseren  gefehlt  hatte.  Aus  den  Leibeigenen 
nahmen  die  Herrschaften  ihre  Diener,  Reitknechte,  Köche, 
Kammermädchen,  ja  selbst  die  Lehrer  und  Erzieher  für  ihre 
Kinder;  aus  den  Reihen  der  Leibeigenen  stellten  die  Herren 
auch  ihre  Theater-  und  Musikerkorps  zusammen.  Manche  große 
Künstler  sind  aus  dieser  gemarterten  Klasse  hervorgegangen, 
aber  die  Kulturgeschichte  kennt  ihre  Namen  nicht  oder  be- 
zeichnet sie  bloß  mit  dem  Namen  ihrer  Herren :  so  ist  die  Musik 


-^    229    — 

eiher  Oper  zu  einem  Text  von  Chersakow  von  einem  anonymen 
Leibeigenen  des  Fürsten  P.  M.  Wolkonskij  komponiert  worden. 
Die  sogenannten  Hofbedienten  (ÄBopoBHe  njopji,  Hofleute, 
nannte  man  alle  leibeigenen  Bedienten,  die  bloß  im  adeligen 
Hause  beschäftigt  waren)  bekamen  nach  der  Vorschrift  des 
Grafen  Rimijäntzow  per  Jahr  je  50  Kopeken  bis  6  Rubel  Gehalt, 
3  Tschetwert  Mehl,  1 1/2  Tschetwert  Grütze  und  1 2  Pfimd  Salz, 
femer  alle  2  oder  3  Jahre  einen  Pelz  (iny6a)  und  einen  Kaftan. 
Ihr  Los  war  aber  nur  wenig  beneidenswerter  als  das  der  anderen 
Leibeigenen;  wohl  waren  sie  besser  gekleidet  und  genährt  als 
die  gewöhnlichen  Leibeigenen,  aber  sie  wurden  dafür  auch 
am  unbarmherzigsten  behandelt;  der  Mann  mußte  alle  seine 
Talente,  die  Frau  alle  ihre  Reize  dem  Herrn  opfern.  Wie  das 
russische  Sprichwort  von  dem  Schicksal  der  Großen  sagt :  nahe 
dem  Zaren,  nahe  dem  Tod,  so  konnte  man  von  dieser  Kategorie 
der  Leibeigenen  behaupten :  nahe  dem  Herrn,  nahe  der  Peitsche. 
Gräfin  N.  N.  Ssaltykow,  Gattin  des  berühmten  Feldmarschalls, 
trägt  eine  Perrücke;  um  das  Schreckliche  vor  aller  Welt  zu 
verheimlichen,  muß  der  Leibeigene,  der  das  „Glück**  hat,  ihr 
Coiffeur  zu  sein,  drei  Jahre  in  einem  Käfig  neben  ihrem  Bette 
zubringen.!)  Als  der  deutsche  Reisende  Kohl  zu  einem  rus- 
sischen Magnaten  kommt,  findet  er  den  Herrn  beschäftigt,  einen 
Leibeigenen  halb  tot  zu  prügeln;  dem  Unglücklichen  wird 
Schuld  gegeben,  daß  sein  Herr  beinahe  über  einen  Hund  ge- 
fallen |2)  Um  die  Gäste  ihrer  Herren  zu  amüsieren,  haben  die 
Leibeigenen  Wettrennen  zu  veranstalten;  die  intelligenten  und 
gebildeten  Sklaven  müssen  Gedichte  rezitieren,  Theater  spielen 
und  Konzerte  geben.  Einer  dieser  vornehmen  Kunstenthu- 
siasten ist  Graf  Skawronskij,  ein  Verwandter  der  Kaiserin 
Elisabeth :  sein  Hauspersonal  darf  mit  ihm  nicht  in  gewöhnlicher 
Prosa,  sondern  nur  rezitativ  sprechen ;  Zuwiderhandlungen  wer- 
den grausam  bestraft.  Bei  einem  anderen  hohen  Herrn  findet 
eine  Vorstellung  von  „Didon**  statt;  der  Edelmann  ist  mit  einer 
Schauspielerin  nicht  zufrieden,  stürzt  also  während  der  Vor- 
stellung auf  die  Bühne,  ohrfeigt  die  Schuldige,  die  die  Prin- 


1)  M6moires  secrets  (par  Masson)  IV  20. 

2)  Kohl  Südrußland,  III  344. 


—    230    — 

I 

zessin  von  Tyrus  darstellt,  und  läßt  ihr  auf  offener  Szene  noch 
die  Bastonnade  geben.  Der  Reisende  Clarke  erzählt  von  einem 
Edelmann,  der  in  seinem  Zorn  einen  Leibeigenen  ans  Kreuz 
nageln  ließ ;  der  Mörder  erhielt  als  Strafe :  Verbannung  in  ein 
Kloster.  Bolotow  bekennt  in  seinen  Memoiren  aus  der  Zeit  Eli- 
sabeths, daß  er  selbst,  dem  Zeitalter  und  Zeitgeist  entsprechend, 
gegen  seine  Bauern  von  wilder  Grausamkeit  war;  um  einem 
Leibeigenen  ein  Geständnis  zu  erpressen,  ließ  er  ihn  mit  ge- 
salzenen Heringen  nähren  und  gab  ihm  nichts  zu  trinken.  Die 
Edelleute  waren  in  ihren  autokratischen  Rechten  nicht  be- 
schränkt, und  in  ihrer  Wut  gegen  ihre  Sklaven  kannten  sie  kein 
Maß.  Weiber,  Kinder  und  Greise  unterlagen  ebenso  wie  die 
Männer  den  fürchterlichsten  und  schändlichsten  körperlichen 
Züchtigungen.  Der  Leibeigene  mußte  auf  Befehl  des  Herrn 
seine  Leidensgenossen  peitschen.^)  Den  Züchtigungen,  die  dem 
Gatten  und  Vater  zuteil  wurden,  mußten  die  Gattin  und  die 
Kinder  beiwohnen ;  wehe  aber  der  Frau,  die  erzitterte  und  Mit- 
leid empfand,  wenn  man  vor  ihren  Augen  ihren  Mann  blutig 
schlug ;  wehe  der  Mutter,  die  nur  mit  der  Wimper  zuckte,  werm 
die  Peitsche  bluttriefend  auf  dem  Rücken  ihres  Kindes  tanzte  I 
Die  Mitleidigen  traf  dieselbe  Strafe  wie  die  Schuldigen.  Ver- 
hielt sich  ein  Opfer  während  des  Empfanges  der  Züchtigung 
nicht  ruhig,  so  mußten  seine  Familienmitglieder  die  Stellen 
der  Henker  einnehmen,  und  der  Bruder  den  Bruder,  der  Mann 
die  Frau,  die  Gattin  den  Gatten,  ja  selbst  die  Kinder  ihre  Eltern 
oder  die  Eltern  ihre  Kinder  peitschen.  Derartige  Exekutionen 
wurden  bei  großen  Gastmählern  gleichsam  zur  Belustigung  der 
Gäste 2)  und  zur  Erregung  ihres  Appetits  veranstaltet.  Das 
waren  dann  wahre  Orgien.  Die  bestraften  Weiber  wiurden  völlig 
nackt  ausgezogen  und  gezüchtigt,  und  die  Herren  und  Damen 
der  Gesellschaft  ergötzen  sich  an  den  sadistischen  Vergnü- 
gungen, die  ihnen  zu  teil  wurden.  Der  russische  Historiker 
Ssemewskij  berichtet,  daß  in  der  Zeit  Katharinas  II.  die  Edelleute 


1)  Geheimnisse  von   Rußland,    II    164.   —  Geheime   Nachrichten   über 
Rußland  (deutsche  Ausgabe  der  Memoiren  Massons),  II   107,  Anmkg.  16. 

*)  Die   Geißler,    Historische   Denkmale  des   Fanatismus.      Von   Corvin. 
3.  Auflage.     Zürich.    S.  61. 


—    231    — 

für  ihre  leibeigenen  Bauern  eine  neue  Strafe  erdacht  hatten: 
Ein  eiserner  Ring  wurde  um  den  Hals  des  Opfers  geschlossen ; 
am  Ring  befand  sich  eine  kurze  Kette  und  an  dieser  hing  ein 
großer  schwerer  hölzerner  Klotz.  Der  Ring  war  mit  eisernen 
Spitzen  reich  garniert,  so  daß  der  eingeschlossene  Hals  bei 
jeder  Bewegung  des  Kopfes  verletzt  werden  mußte.  Der  Be- 
strafte mußte  auch  nachts  mit  diesem  Ring  schlafen  und  litt 
natürlich  bei  jeder  Bewegung  unbeschreibliche  Qualen. i)  In 
den  Städten  pflegten  die  Herren  die  Bestrafungen  ihrer  Leib- 
eigenen nicht  in  ihren  Häusern  vorzunehmen:  Man  schickte 
diejenigen,  die  man  züchtigen  lassen  wollte,  einfach  zur  Polizei 
und  gab  ihnen  einen  Zettel  mit,  auf  dem  die  Anzahl  der  ihnen 
zugedachten  Schläge  bestimmt  war.^)  Auf  der  Polizei  legte  man 
die  Überbringer  solcher  Zettel  ohne  weitere  Zeremonie  nieder, 
zählte  ihnen  die  Portion  auf,  gab  ihnen  eine  Quittung  und  ließ 
sie  dann  zu  ihren  Herren  zurückkehren.  Im  Jahre  1845  wurden 
endlich  durch  einige  Gesetze  Begrenzungen  der  Disziplinar- 
gewalt der  Herren  festgestellt.  Allein  diese  Gesetze  waren  von 
problematischem  Wert,  so  lange  der  Edelmann  selbst  Richter 
und  Exekutor  blieb.  Kein  staatlicher  Prokureur  kontrollierte, 
ob  der  Edelmann  seine  Rechte  überschritt  oder  nicht,  und  das 
Zeugnis  der  Leibeigenen  gegen  die  Herren  war  ungiltig.  Ein 
Gesetz  besagte,  der  Herr  dürfe  einem  Leibeigenen  nicht  mehr 
als  15  Schläge  hintereinander  geben  lassen;  es  war  aber  nicht 
bestimmt,  welcher  Zwischenraum  zwischen  einer  Strafe  und  der 
nächsten  eingehalten  werden  mußte;  es  konnte  also  der  Herr 
alle  10  Minuten  die  15  Schläge  wiederholen  lassen;  er  hatte 
nur  eine  Respektspause  einzuhalten,  wenn  es  ihm  überhaupt 
darum  zu  tun  war,  das  Gesetz  zu  beachten.  Starb  ein  Opfer 
unter  der  Peitsche,  so  gab  man  nicht  der  Züchtigung  die  Schuld, 
sondern  sagte:  der  Bestrafte  war  zu  schwach  oder  zu  jung. 
Und  im  schlimmsten  Falle  hatte  der  Herr  gesetzlich  4  Wochen 
leichtes  Gefängnis  zu  riskieren. 

Eines  der  traurigsten  Rechte  der  Edelleute  war  die  ihnen 
gegebene  Autorisation,  die  Bauern  von  Grund  und  Boden  zu 


1)  Vgl.  TiiM<^>et'BT»  HcTopiH,  rfejiecHbirL  HUKaauHitt,  crp.  226. 
«)  Kohl.  Südrußland.  III  337. 


—    232    — 

versetzen.  '  Der  Edelmann  durfte  nach  seiner  Laune  einzelne 
Familienmitglieder  aus  dem  Hause  eines  seiner  Leibeigenen 
nehmen  imd  dorthin  kommandieren,  wohin  es  ihm  beliebte; 
er  konnte  ebensogut  ganzen  Familien,  ja  ganzen  Dorfgemeinden 
befehlen,  ihre  alten  Wohnsitze  zu  verlassen  und  sich  dort  anzu- 
siedeln, wo  er  ihnen  Platz  anwies.  Hofbedienter  oder  Acker- 
bauer, der  Leibeigene  blieb  eine  Sache  des  Herrn,  die  ver- 
kauft werden  konnte  mit  oder  ohne  Familie,  mit  oder  ohne 
Boden.  Peter  der  Große  machte  in  einem  Ukas  den  Senat 
darauf  aufmerksam,  solchen  Gebrauch  zu  verhüten;  aber  die 
Gewohnheit  war  stärker.  Ein  Dokument  aus  dem  Jahre  1760 
behandelt  den  Verkauf  von  zwei  minderjährigen  Mädchen  um 
den  Preis  von  300  Rubeln.  In  einer  Petersburger  Zeitung  von 
1798^)  finden  wir  folgende  Annonce :  „Wenn  Jemand  eine  ganze 
Familie  oder  daraus  bloß  einen  jungen  Mann  und  ein  junges 
Mädchen  allein  kaufen  will,  wende  er  sich  an  die  Wäsche- 
putzerin  gegenüber  der  Kasanschen  Kirche.  Der  junge  Mann, 
Iwan,  ist  21  Jahre  alt,  gesund,  kräftig  und  versteht  das  Damen- 
frisieren.  Das  Mädchen,  Marfa,  gut  gebaut  und  gesund,  15 
Jahre  alt,  kann  nähen  und  sticken.  Man  kann  sie  prüfen  und 
um  mäßige  Preise  erhalten.**  Solche  Inserate  bildeten  eine 
ständige,  wenigstens  einmal  wöchentlich  erscheinende  Rubrik. 
Zur  Zeit  des  Arztes  Wichelhausen-),  also  im  Beginne  der  Epoche 
Alexanders  I.,  war  in  Moskau  unweit  vom  Roten  Platz  (KpacnaH 
njicma^b)  neben  dem  Trödelmarkt  ein  öffentlicher  Menschen- 
markt. Unter  der  Regierung  Elisabeths  zahlte  man  für  eine 
Seele  durchschnittlich  30  Rubel.  Der  höchste  Wert  eines  Leib- 
eigenen betrug  selten  mehr  als  400  Rubel.  Dies  bezieht  sich 
niu  auf  die  Männer.  Weiber  wurden  nicht  gerechnet,  wenn  sie 
nicht  hübsch  waren.  Nur  schöne  Frauenzimmer  brachte  man 
daher  auf  den  Markt.  Schenkte  der  Kaiser  oder  die  Kaiserin 
einem  Günstling  Leibeigene,  so  waren  mit  der  Seelenzahl  nur 
männliche  Sklaven  bezeichnet,  Weiber  zählten  nicht,  waren 
keine  Seelen,   sondern  totes   wertloses  Gut.     Im   neunzehnten 


1)  St.  Petersburger  Zeitung  1798  Nr.  36.  —  Vgl.  Waliszewski,  Le  Roman 
d'une  imp^ratrice,  347. 

')  Züge  zu  einem  Gemälde  von  Moskwa.     1803.    S.  262. 


—    233    — 

Jahrhundert  stiegen  die  Leibeigenen  im  Preise.  Unter  Alexan- 
der I.  zahlte  man  für  einen  Knaben  von  i6  Jahren  oft  200  oder 
300  Rubel,  für  einen  zum  Militärdienst  taughchen  Mann  sogar 
500  oder  600.  Weiber  und  Mädchen  waren  aber  noch  immer 
verhältnismäßig  billig  zu  haben.  Auf  dem  Moskauer  Menschen- 
markt  sah  man  zu  Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  Mäd- 
chen und  Weiber  für  30  oder  40  Rubel  per  Stück  ausgeboten. 
Die  meisten  der  jungen  und  hübschen  Mädchen  wurden  von 
den  Herrinnen  aus  Eifersucht  verkauft.  Für  die  hübschen  oder 
durch  Talente  ausgezeichneten  Mädchen  fanden  sich  stets 
schnell  Käufer. 

Manche  Edelleute  zogen  es  vor,  ihre  Leibeigenen  nicht  zu 
verkaufen,  sondern  mit  diesem  menschlichen  Kapital  zu 
wuchern:  Ein  Edelmann,  der  seine  Güter  verpraßt  hat,  zwingt 
die  letzten  ihm  übrig  gebliebenen  Familien,  in  Moskau  in  den 
Straßen  zu  betteln  und  ihm  den  Ertrag  abzuliefern;  wer  des 
Abends  nicht  genug  bringt,  der  büßt  mit  seiner  Haut  für  seine 
geringe  Gewandtheit.  Andere  Herren  spekulieren  mit  den  Rei- 
zen ihrer  Sklavinnen.  Ein  Dokument  aus  dem  Jahre  1787  be- 
richtet von  einem  Edelmann,  der  seine  jugendlichen  Leib- 
eigenen weiblichen  Geschlechts  an  Petersburger  und  Moskauer 
Bordelle  verleiht  und  vertragsmäßig  per  Frauenzimmer  und 
Jahr  100  bis  200  Rubel  erhält.  Der  Herzog  von  Bassano  kannte, 
wie  aus  einer  Note  in  Clarkes  Reisebeschreibung  hervorgeht, 
einen  russischen  Leutnant,  der  Mädchen  im  Alter  von  19  und 
20  Jahren  eigens  aufkaufte,  um  sie  dann  unter  seinen  Kame- 
raden kursieren  zu  lassen;  er  prügelte  die  Mädchen,  wenn  sie 
ihm  nicht  genug  verdienten.  Zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
lebte  in  Petersburg  die  Witwe  eines  Edelmanns  namens  Pos- 
nikow,  die  alljährlich  von  ihren  Gütern  die  hübschesten  und 
talentiertesten  Mädchen  in  ihr  Haus  bringen  ließ;  sie  gab 
ihnen  eine  vortreffliche  Erziehung,  und  wenn  sie  das  fünfzehnte 
oder  sechzehnte  Lebensjahr  erreicht  hatten,  verkaufte  sie  sie 
um  den  fixen  Preis  von  500  Rubeln  per  Stück  an  die  Wollüst- 
linge der  Hauptstadt. 1)     Kaiser  Alexander  I.  verbot  im  Jahre 


1)  Geheimnisse   von    Rußland,    II    160,    166.    —   Geheime   Nachrichten 
(von  Masson,  deutsche  Ausgabe).     II.  Band.  III.  Abteilung,  S.  165. 


—    234    — 

i8o8,  Leibeigene  ohne  den  Boden,  auf  dem  sie  lebten,  zu  ver- 
kaufen; ebenso  wurde  verboten,  Leibeigene  ohne  ihre  Ein- 
willigung zu  verheiraten.  Die  Ukase  blieben  tote  Buchstaben. 
Nur  in  Petersburg  wurden  sie  vielleicht  beachtet,  in  der  Pro- 
vinz nahm  man  sie  nicht  einmal  zur  Kenntnis,  und  die  den 
kaiserlichen  Befehlen  Zuwiderhandelnden  zog  niemand  zur 
Rechenschaft.  Alle  fünfzehn  Jahre  fanden  in  Rußland  Revi- 
sionen der  Bevölkerung  statt.  Die  im  Laufe  dieser  Perioden 
verstorbenen  Leibeigenen  galten  aber  als  existierend,  wenn 
die  Edelleute  Kredite  aufnehmen  wollten.  Es  gab  Leute,  die 
tote  Seelen  billig  kauften  und  dann  auf  solches  Gut  bei  den, 
Banken  Darlehen  behoben.  Man  kennt  Gogoljs  berühmten 
Roman  über  die  toten  Seelen,  der  diese  Zustände  sarkastisch 
schildert. 

Es  war  das  natürlichste  Interesse  der  Gutsbesitzer,  daß  die 
Bevölkerung  auf  ihrem  Eigentum  zunahm.  Die  Herren  trugen 
hierzu  persönlich  nach  Möglichkeit  bei.  Ein  junger  Garde- 
offizier Katharinas  war  durch  das  Spiel  ruiniert  worden.  Nur 
noch  ein  kleines  Dorf  war  ihm  geblieben.  Kurz  entschlossen, 
verkaufte  er  alles  Männliche,  und  dann  ließ  er  sichs  angelegen 
sein,  die  Weiber  und  Mädchen  fleißig  zu  befruchten,  um  sich 
auf  diese  originelle  Weise  ohne  pekuniäre  Opfer  eine  neue 
Sklavengeneration  heranzuziehen.  Ob  in  Rußland  auch  das 
jus  primae  noctis,  wie  verschiedene  Schriftsteller  behaupten, 
Gebrauch  gewesen,  konnte  bis  heute  nicht  klargestellt  werden  i) ; 


*)  Vgl.  Slavische  Geschichtsquellen  zur  Streitfrage  über  das  Jus  primae 
noctis,  von  Dr.  Karl  Schmidt.  Sonderabdruck  aus  der  Zeitschrift  der  Histori- 
schen Gesellschaft  für  die  Provinz  Posen,  I.  Jahrgang,  Heft  3  und  4,  Posen  1886. 
(S.  5 — 18.)  —  Im  Jahre  1809  veröffentlichte  Professor  A.  L.  von  Schlözer 
aus  der  russischen  Chronik  vom  Jahre  964  folgende  Stelle:  ,, Damals  schaffte 
Olga  das  Fürstliche  ab  und  verordnete,  daß  der  Bräutigam  einen  schwarzen 
Marder  an  den  Fürsten  entrichte,  und  so  auch  der  Bojar  von  seinem  Untertan 
nehmen  solle."  (Nestor,  Russische  Annalen,  in  ihrer  slavischen  Grundsprache, 
verglichen,  von  Schreibfehlern  und  Interpolationen  möglichst  gereinigt,  er- 
klärt und  übersetzt  von  Ludwig  August  von  Schlözer.  5.  Teil.  Göttingen  1809. 
S.  126).  —  Eine  berichtigte  Übersetzung  derselben  Stelle  gab  Professor  Joseph 
Müller  im  Jahre  18 12  in  folgender  Form:  ,, Damals  schaffte  Olga  das  Fürst- 
liche ab  und  verordnete,  von  dem  Bräutigam  zu  einem  schwarzen  Marder  zu 
nehmen,  dem  Knäsen  sowohl  als  dem  Bojaren  von  seinem  Untertan."    Und 


—    236    — 

aber  Tatsache  ist,  daß  die  Allmacht  der  russischen  Herren  über 
ihre  weiblichen  Leibeigenen  traditionell  unantastbar  war.  Der 
Edelmann   durfte   jedes   leibeigene   Mädchen  auf  sein   Lager 


in  einer  Note  fügte  Müller  hinzu:  ,,£s  ist  hier  die  Rede  von  dem  jus  primae 
noctis,  welches  früher  auch  in  Rußland  stattfand;  daher  jetzt  noch  eine  Geld- 
abgabe, die  der  Bräutigam  für  seine  Braut  entrichtet,  Kunicznoje,  bei  Heym 
Kunitsa,  genannt  wird."  (Joseph  Müller.  Altrussische  Geschichte  von  Nestor, 
mit  Rücksicht  auf  von  Schlözers  Russische  Annalen,  die  hier  berichtigt,  er- 
gänzt und  vermehrt  werden.  Berlin  1812.  S.  131,  220).  —  Eine  ausführliche 
Abhandlung  veröffentlicht  Joh.  Phil.  Gust.  Ewers  (Das  älteste  Recht  der 
Russen,  Dorpat  1826,  S.  70),  der  voraussetzt,  daß  der  Ausdruck  ,,das  Fürst- 
liche" auf  das  jus  primae  noctis  zu  beziehen  sei,  und  ausführt,  dies  Recht  sei 
,,kein  Herrscherrecht,  sondern  ein  Recht  des  Häuptlings"  gewesen.  ,, Darum 
darf  auch  die  Handlung  der  Olga,  indem  sie  das  Fürstliche  abschaffte,  für 
keine  Regierungshandlung,  für  keine  Handlung  der  Großfürstin,  als  Herrscherin 
in  Swjatoslav's  Namen,  angesehen  werden;  denn  so  weit  waren  die  Sachen 
schwerlich  gediehen,  so  groß  war  wohl  die  Gewalt  des  gemeinschaftlichen  Ober- 
hauptes noch  nicht,  daß  es  dergleichen  Neuerungen  eigenwillig  hätte  anbefehlen 
können,  sondern  höchst  wahrscheinlich  beschränkte  sich  Olga  auf  eine  teil- 
weise Einrichtung  in  ihren  eigenen  Besitztümern  und  vielleicht  auch  in  den 
Besitztümern  ihrer  Familie,  in  welchen  beiden  sie  die  Häuptlinge  willig  machen 
konnte,  statt  jenes  persönlichen  Rechts  sich  die  Abkaufung  um  einen  be- 
stimmten Preis  gefallen  zu  lassen.  Es  mochte  auch  schon  früher  abgekauft 
sein,  nur  ohne  feste  Bestimmung.  Es  liegt  übrigens  ganz  im  Charakter  der 
Olga  als  Christin,  auf  Abschaffung  dieser  den  Grundsätzen  der  christlichen 
Religion  und  ihrem  Gefühl  als  Weib  ganz  widerstrebenden  Sitte,  so  weit  ihr 
möglich  war,  hinzuwirken."  Auf  Grund  dieser  Abhandlung  von  Ewers  be- 
merkte Jacob  Grimm:  ,, Nestor  erzählt,  im  Jahre  964  habe  Olga  das  Fürst- 
liche abgeschafft  und  dafür  jene  Abgabe  verordnet;  das  fürstliche  (Recht) 
bezieht  man  auf  die  Sitte  alter  Völker,  bei  welchen  die  erste  Nacht  leibeigener 
Bräute  dem  Herrn  gehörte."  (Deutsche  Rechtsaltertümer,  3.  Ausgabe,  1881, 
S-  379).  Unter  Bezugnahme  auf  Grimm  stellte  Weinhold  die  Behauptung  auf, 
bei  den  Russen  habe  der  ,, Gebieter  der  Braut"  das  jus  primae  noctis  gehabt 
(Karl  Weinhold,  Die  deutschen  Frauen  in  dem  Mittelalter.  Wien  185 1.  I  194.  — 
Schmidt  hebt  hervor:  in  der  zweiten  Auflage,  Wien  1882,  I  300  fehlen  die 
betreffenden  Sätze,  so  daß  Weinhold  jene  Behauptung  stillschweigend  zurück- 
genommen hat).  Dieselbe  Meinung  verteidigten  später  Liebrecht,  Johannes 
Scherr  und  Albert  Hermann  Post.  Einige  meinen,  Olga  habe  die  Unter- 
drückung jenes  Rechts  nicht  durchführen  können,  es  sei  daher  noch  in  späterer 
Zeit  ausgeübt  worden.  Kulischer  in  Kijew  behauptete,  in  neuerer  Zeit,  noch 
im  18.  und  19.  Jahrhundert,  bis  zur  Aufhebung  der  Leibeigenschaft,  sei  das 
jus  primae  noctis  in  ganz  Rußland  gebräuchlich  gewesen.  Karl  Schmidt  be- 
streitet alle  diese  Behauptungen  und  sucht  nachzuweisen,  daß  es  sich  um  nichts 
anderes  als  um  einen  gelehrten  Aberglauben  handle. 


—    286    -^ 

schleppen.  War  er  der  Geschändeten  überdrüssig,  dann  jagte 
er  sie  fort  oder  verheiratete  sie,  um  aus  ihrer  Ehe  neue  Sklaven 
zu  erhalten.  Ohne  Erlaubnis  ihres  Herrn  durfte  die  Leibeigene 
mit  keinem  Manne  geschlechtlichen  Verkehr  unterhalten.  Wurde 
sie  trotzdem  erwischt,  so  gab  es  zur  Strafe  Hunger,  Einsperrung, 
Peitsche  und  ekelhafte  Arbeit;  schließlich  wurde  dann  die 
Sünderin  mit  dem  Dorflünunel,  ihr  Liebhaber  mit  einer  ab- 
stoßenden Alten  vermählt.  Puschkin  erzählt,  daß  er  eines  Tages 
auf  der  Straße  nach  Tobolsk  unter  den  wegen  Raub  und  Mord 
Verbannten  ein  junges  Mädchen  von  engelgleicher  Schönheit 
angetroffen;  diese  Unglückliche  hatte  erst  den  Lüsten  ihres 
Herrn  dienen  müssen,  als  sie  aber  ihr  Herz  an  einen  Burschen 
zu  vergeben  gewagt,  wurde  sie  zur  Strafe  nach  Sibirien  ver- 
bannt.i) 

Die  Grausamkeit  der  Herren  war  am  schlimmsten  im  neun- 
zehnten Jahrhundert ;  aber  jetzt  gab  es  auch  schon  Aufruhr  über 
Aufruhr.    In  der  Zeit  der  Regierung  Nikolajs  I.  zählte  man  556 


1)  Die  Menschen  und  Sitten  der  Leibeigenenzeit  sind  auch  von  P.  Jv 
Meljnikow  (Pseudonym:  Petscherskij)  im  „Bärenwinkel"  und  in  seinen  ,, Er- 
zählungen aus  alten  Tagen",  von  M.  £.  Ssaltykow-Schtschedrin  in  seinen 
„Gouvemementsskizzen"  geschildert  worden.  In  einem  kleinen  russischen 
Städtchen  starb  im  August  1907  eine  bescheidene  alte  Frau,  die  von  ihren 
Nachbarinnen  nur  unter  dem  Namen  M.  A.  Markowitsch  gekannt  war.  Kaum 
jemand  ahnte,  daß  diese  stille  Matrone  einst  eine  der  gefeiertesten  Schrift- 
stellerinnen Rußlands  gewesen.  Zur  selben  Zeit,  im  selben  Jahre  1852,  da  im 
westlichen  Weltteil  Harriet  Beecher-Stowe  mit  ihrem  ,, Onkel  Tom"  gegen  die 
Negersklaverei  zu  Felde  zog,  erhob  auf  der  östlichen  Halbkugel  die  Markowitsch 
zum  ersten  Male  ihre  Stimme  gegen  die  Leibeigenschaft  der  Weißen,  die  im 
Zarenreiche  noch  fortdauerte,  als  schon  mit  den  Eisenbahnen  und  Dampf- 
schiffen die  Kultur  längst  den  Eingang  in  die  sarmatische  Ebene  sich  erzwungen 
hatte.  Daß  Alexander  II.  der  Befreier  der  Bauern  geworden  ist,  ist  nicht 
zum  Wenigsten  das  Verdienst  der  Markowitsch,  die  durch  ihre  glühenden 
Schilderungen  das  empfängliche  Herz  des  Monarchen  gerührt  hat.  Unter  dem 
Pseudonym  Marko  Wowtschok  veröffentlichte  die  Markowitsch  in  den  fünfziger 
und  sechziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  ihre  Romane  und  Novellen,  in 
denen  sie  die  Leiden  der  Leibeigenen  malte.  Aber  ihre  dichterische  Kraft 
erstarb  in  dem  Augenblick,  da  sie  das  Ziel  erreichte;  als  die  Leibeigenschaft 
aufgehoben  war,  vermochte  die  Markowitsch  mit  keinem  Werke  mehr  Auf- 
sehen zu  machen.  80  Jahre  alt  ist  sie  einsam,  verlassen  und  fast  vergessen 
gestorben.  Die  Nachricht  von  ihrem  Tode  erst  erinnerte  daran,  daß  die  russische 
Beecher-Stowe  ihren  Ruhm  um  ein  halbes  Jahrhundert  überlebt  hat. 


—    237    — 

Bauernaufstände.  Neben  diesen  großen  allgemeinen  Em- 
pörungen auf"  ganzen  Strichen  entstanden  zahllose  partielle  Auf- 
stände, Racheakte  gegen  einzelne  Herren  und  Verwalter.  Nach 
den  offiziellen  Angaben  der  Regierung  i)  fielen  jährlich  durch- 
schnittlich 60  Edelleute  dem  Zorn  der  Leibeigenen  zum  Opfer. 
In  einem  kleinrussischen  Gouvernement  allein  zählte  man  ein- 
mal in  einem  Jahre  43  Fälle  von  Ermordungen,  Durchprüge- 
^ungen,  Plünderungen  und  Brandstiftungen. 2)  Ein  harter  Edel- 
mann ließ  auf  einer  Jagd  im  Walde  einen  von  seinen  Bauern, 
der  sein  Mißfallen  erregt  hatte,  hinstrecken  und  durchpeitschet. 
Da  riß  den  Genossen  des  Gezüchtigten  die  Geduld,  sie  brachen 
von  allen  Seiten  über  den  Edelmann  und  seine  Gäste  herein. 
Auf  derselben  Stelle,  wo  er  den  Bauer  hatte  prügeln  lassen, 
wurde  nun  der  Herr  mit  den  für  die  Wölfe  bestimmt  gewesenen 
Knüppeln  und  Piken  zu  einem  formlosen  Brei  zerstampft;  die 
Gäste  mußten  unter  Todesängsten  der  Exekution  als  Zuschauer 
beiwohnen  und  das  Musikkorps  die  Schreie  des  Sterbenden  mit 
einem  munteren  Jagdstück  begleiten.  Nach  getaner  Arbeit 
zogen  sich  die  Bauern  ruhig  in  ihre  Hütten  zurück;  kein  ein- 
ziger dachte  an  Flucht,  jeder  erwartete  gleichgiltig  die  sichere 
Strafe  des  Knut  und  Verbannung.  Der  russische  Bauer  ent- 
schloß sich  zu  solcher  Lynchjustiz  erst  in  ärgster  Bedrängnis; 
aber  dann  ging  er  nicht  hinterlistig,  sondern  offen  und  an  hellem 
Tage  zu  Werke  und  trug  die  Folgen  der  gesättigten  Rache  mit 
frohem  Mute.  Ein  Edelmann  fuhr  auf  holperigem  Wege  im 
Walde  und  zürnte  dem  Kutscher  jedesmal,  wenn  der  Wagen 
an  einen  Stein  anstieß.  Einmal  gab  es  gar  einen  gewaltigen 
Ruck.  Der  Herr  ließ  halten  und  befahl  seinem  Kammerdiener, 
dem  Kutscher  auf  der  Stelle  eine  Lektion  der  Hauszucht  zu 
geben.  Der  Lakai  schlug  nicht  wütend  genug  drein,  und  der 
Herr  riß  ihm  die  Peitsche  aus  der  Hand,  um  selbst  den  Henker 
zu  spielen.  Doch  den  Gepeinigten  schwand  die  Lammsgeduld, 
wie  auf  Kommando  warfen  sie  sich  auf  den  Herrn,  zogen  ihm 
die  Hosen  herunter  und  peitschten  ihn  nach  Herzenslust.  Der 
gebändigte  Edelmann  wagte  nicht,  mit  Strafe  zu  drohen,  er 


*)  Geheimnisse   von    Rußland  II  166.  —  Kohl,    Südrußland,    III  366. 
2)  Kohl.  a.  a.  O.  III  367. 


—    238    — 

kaufte  vielmehr  von  seinen  Knechten  das  Schweigen  über  den 
schändhchen  Vorfall.  In  solchen  Fällen  der  Selbsthilfe  griffen 
die  Leibeigenen  selten  zu  Waffen,  sie  züchtigten  die  Herren 
nur  mit  denselben  Instrumenten,  mit  denen  sie  von  ihnen  ge- 
schlagen wurden :  mit  Stock  und  Peitsche.  Ein  Verwalter,  der 
eine  Anzahl  Bauern  in  grausamster  Weise  plagte,  um  sie  zu 
Musikanten  zu  erziehen,  wurde  von  den  Gequälten  endlich  über- 
wältigt; sie  schnitten  ihm  den  Bauch  auf,  rissen  die  Gedärme 
heraus  und  machten  daraus  Saiten  für  ein  Instrument.  Bar- 
barisch grausam  wie  die  Herren  werden  auch  die  Sklaven,  wenn 
sie  einmal  die  Ketten  gebrochen  haben.  Eine  grausame  Herrin 
wird  von  den  empörten  Leibeigenen  in  einem  Kessel  über  einem 
Feuer  bei  lebendigem  Leibe  gekocht.  Einen  Branntweinbrenner 
werfen  die  wütenden  Sklaven  in  einen  Kessel  mit  siedendem 
Spiritus.  Ein  Herr,  dessen  Lieblingsmethode  es  ist,  die  Bauern 
nackt  im  Schnee  zu  halten  und  so  zu  peitschen,  wird  mitten  im 
Winter  aus  dem  Bette  geholt,  in  den  Schloßhof  geschleppt, 
nackt  in  den  Schnee  gelegt  und  zu  Tode  gepeitscht.  Ein  junger 
Edelmann  erbte  zweitausend  Seelen;  er  kommt  mit  seinen 
Kameraden  auf  sein  neues  Gut  und  weiht  seine  Ankunft  mit 
einer  Orgie  ein,  zu  deren  Krönung  er  zwölf  junge  Mädchen 
herbeischleppen  läßt.  Eine  entflieht;  der  junge  Edelmann  be- 
traut nun  ihren  Bruder  und  ihren  Bräutigam  mit  der  Mission, 
die  Scheue  zurückzubringen;  und  die  Sklaven  gehorchen. 
Mittlerweile  trifft  aber  die  Geliebte  des  Gutsherrn  auf  dem 
Schlosse  ein,  und  sie  ist  es,  die  aus  Eifersucht  die  Bauern  zur 
Rache  anspornt;  man  stürzt  ins  Schloß,  schleppt  den  wein-  und 
wollusttrunkenen  Herrn  auf  den  Hof  und  verbrennt  ihn  auf 
einem  Scheiterhaufen.^)  Graf  de  la  Garde  erzählt  2) :  „Im  Dorfe 
Iwankof f ,  einige  Meilen  von  Berditschew,  wurde  ein  furchtbares 
Verbrechen  verübt.  Graf  Kaminskij,  Vater  des  Obergenerals 
von  Wolhynien,  hatte  zwei  seiner  Untertanen  nach  Leipzig  ge- 
schickt, um  dort  die  Tonkunst  zu  erlernen.    Sie  erwarben  auch 


1)  Geheimnisse  von  Rußland,  II  173. 

2)  Reise  von  Moskau  nach  Wien.  In  Briefen  an  Julius  Griffiths.  Au8 
dem  Französischen  mit  Anmerkungen  von  Therese  Huber.  Heidelberg  1825. 
Seite  51. 


—    239    — 

Ansichten  von  Freiheit  und  Unabhängigkeit,  die  mit  dem  Ver- 
hältnis, in  dem  das  Schicksal  sie  geboren  werden  ließ,  sich 
nicht  vertrugen.  Nach  ihrer  Rückkehr  wurden  sie  anfangs  vom 
Herrn  ihren  Talenten  entsprechend  mit  Achtung  behandelt, 
aber  eines  Tages  für  ein  geringes  Vergehen  im  Angesicht  der 
übrigen  Bedienten  mit  Batogen  bestraft.  Die  Unglücklichen 
schlichen  sich  rachedurstig  nachts  mit  Beilen  ins  Schlafzimmer 
des  Herrn,  warfen  dem  Grafen  die  Grausamkeit  vor,  sie  ihrem 
beschränkten  Zustande  entrissen,  in  ihnen  Fähigkeiten  und 
Denkart  freier  Menschen  erweckt  zu  haben,  um  sie  nun  wieder 
durch  sklavische  Behandlung  zu  erniedrigen,  und  erschlugen 
den  hülflosen  Greis.  Sie  klagten  sich  dann  selbst  bei  Gericht 
an."  Manchmal  suchten  sich  die  Leibeigenen  auf  ganz  sonder- 
bare Art  an  ihren  harten  Herren  zu  rächen:  Der  Arzt  Wichel- 
hausen berichtet^),  daß  er  zu  kranken  Leibeigenen  gerufen 
wurde,  „die  keine  Arznei  nehmen  wollten,  um  ihrem  Herrn 
Verdruß  zu  bereiten  und  ihn  durch  ihren  Tod  in  Schaden  zu 
bringen." 

Mit  den  Gutsherren  wetteiferten  die  Gutsverwalter  in  Qrau- 
samkeiten  gegen  die  Leibeigenen,  und  bemerkenswert  ist  es, 
daß  gerade  deutsche  Gutsverwalter  die  härtesten  Sklaven- 
peiniger waren.  „Nie  hat  das  Feudalsystem,"  schrieb  Masson^), 
„nie  hat  der  Kodex  der  Schwarzen  solche  Greueltaten  verur- 
sacht. Und  Liefländer,  Deutsche,  wagen  es  in  diesem  Jahr- 
hundert, im  Angesicht  von  ganz  Europa,  Menschen  auf  diese 
Art  zu  behandeln."  Und  bei  Adolph  Zando^),  der  alles  zu  be- 
schönigen sucht,  die  russische  Justiz,  PoHzei,  selbst  Sibirien 
verherrlicht  und  die  Leibeigenschaft  als  notwendig  bezeichnet, 
heißt  es:  „Leid  tut  es  mir,  und  die  Schamröte  steigt  mir  ins 
Angesicht,  wenn  ich  nicht  umhin  kann,  aus  eigner  Erfahrung 
zu  erklären,  daß  gerade  deutsche  Gutsverwalter  sich  öfters 
gegen  die  ihnen  anvertrauten  Leibeignen  die  größten  Unbilden 
herausgenommen  haben;  viele  Leibeigene  führten  bittere  Be- 


1)  Züge  2u  einem  Gemähide  von  Moskwa,  264. 

2)  Geheime  Nachrichten  über  Rußland  (deutsche  Ausgabe).    Paris  1800. 
II   102,  Anmkg.  10. 

'^)  Russische  Zustände  im  Jahre  1850.     Hamburg  1851.     S.  127. 


—    240    — 

schwerdc  über  deren  Strenge  und  Schonungslosigkeit,  und 
hatten  hiezu  gegründetsten  Anlaß.  Dies  wird  manchem  deut- 
schen Philanthropen  gar  sehr  befremdlich  klingen,  und  doch 
ist  dem  so!"  Die  russischen  Edelleute  nahmen  mit  Vorliebe 
Livländer  als  Gutsverwalter  in  Dienst,  denn  in  den  Ostseepro- 
vinzen verstand  man  die  Behandlung  der  Sklaven,  kannte  man 
die  raffinierteste  Hauszucht.  Ludwig  der  Junge  gab  im  Jahre 
II 38  den  Leibeigenen  die  Freiheit;  131 5  erklärte  Ludwig  der 
Heilige:  alle  Menschen  sind  von  Natur  Freigeborene;  und  er 
bewog  seinen  Adel,  fast  im  ganzen  Königreiche  den  Leibeigenen 
die  Freiheit  zu  geben.  Zur  selben  Zeit  traf  man  in  England 
ähnliche  Maßregeln,  und  Deutschland  ahmte  sie  nach.  Die 
deutschen  Ordensritter  aber,  die  nach  Livland  und  Estland 
kamen,  brachten  mit  dem  Kreuze  auch  die  Leibeigenschaft" 
dorthin  und  gaben  ihr  eine  schreckliche  Gestalt.^)  Unter  der 
russischen  Herrschaft  wurde  es  natürlich  nicht  besser,  und  der 
öffentliche  Handel  mit  Leibeigenen  blühte  in  den  baltischen 
Provinzen  zu  Ende  des  achtzehnten  und  zu  Anfang  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  noch  mehr  als  in  Rußland.  Skrupellos 
verkaufte  man  einzelne  Familienmitglieder  oder  ganze  Familien 
in  die  Fremde.  Alle  Jahre  kamen  russische  Offiziere,  Berg- 
werksbeamte und  Fabriksuntemehmer  aus  Asien  nach  Estland 
und  Livland,  um  hier  Bauern  als  Rekruten  und  Arbeiter  zu 
kaufen.  In  den  Zeitungen  der  Ostseeprovinzen  fand  man  unter 
dem  Titel  „Verkaufsstücke*'  in  jeder  Nummer  Leibeigene  ein- 
zeln oder  familienweise  ausgeboten,  und  mancher  Edelmann 
offerierte  einen  Bedienten  oder  Bauer  als  Tauschobjekt  für  ein 
Pferd  oder  einen  Hund.  Allerdings  möchte  man  fragen,  ob  dem 
Leibeigenen  in  der  Fremde,  in  Rußland  oder  in  Asien,  ein 
übleres  Los  drohen  konnte  als  daheim  auf  den  Gütern  des  bal- 


^)  Vgl. Die  Letten  vorzüglich  in  Liefland  am  Ende  des  philosophischen 
Jahrhunderts.  Ein  Beytrag  zur  Völker-  und  Menschenkunde  von  G.  Merkel. 
Zweite  verbesserte  Auflage.  Leipzig  1800.  —  Supplement  zu  den  Letten  nebst 
einer  Urkunde  von  G.  Merkel.  Weimar  1798.  —  Ehstland  und  die  Ehsten, 
oder  historisch-gcographisch-statistisches  Gemälde  von  Ehstland.  Ein  Seiten- 
stück zu  Merkel  über  die  Letten,  von  Johann  Christoph  Petri,  3  Teile  mit 
Kupfern,  Gotha  1802.  —  Sowohl  die  Schriften  von  Merkel  als  die  von  Petri 
sind  selten  geworden. 


—    241    — 

tischen  Herrn.  Der  Edelmann  durfte  seine  Bauern  ganz  will- 
kürlich mit  Abgaben  und  Frohndiensten  belegen:  Ein  liv- 
ländischer  Edelmann  kommt  von  Zeit  zu  Zeit  nach  Riga,  um 
dort  Wechselgeschäfte  zu  machen;  die  Wohnungsmiete  in  der 
Stadt  ist  ihm  aber  zu  teuer,  da  läßt  er  von  seinem  i8  Meilen 
entfernten  Gute  durch  seine  Bauern  das  Material  herbei- 
schleppen und  sich  von  ihnen,  ohne  für  die  dadurch  verursachte 
Vernachlässigung  ihrer  Felder  einen  Ersatz  zu  leisten,  ein  Wohn- 
haus bauen.  Einem  anderen  Edelmanne  auf  dem  Lande  konmit 
die  Kirchspielpost  zu  langsam,  er  erhält  seine  Zeitungen  zu  spät ; 
da  ruft  er  seine  Bauernwirte  zusammen  und  befiehlt  ihnen,  ab- 
wechselnd zweimal  wöchentlich  einen  Wagen  nach  der  fünf 
Meilen  entfernten  Kreisstadt  zu  schicken;  damit  er  seine  Zei- 
tungen um  24  Stunden  früher  erhielt,  mußten  also  seine  Bauern 
jährlich  1040  Meilen  frohnen,  ohne  Ersatz  beanspruchen  zu 
dürfen.!)  Die  Frohndienste  waren  ganz  ungeregelt.  Die  leib- 
eigenen Bauern  mußten  im  Sommer  ihr  eigenes  Feld  vernach- 
lässigen, um  den  Acker  der  Herren  zu  bestellen ;  im  Herbst  von 
ihrem  mageren  Erwerb  fette  Abgaben  entrichten;  im  Winter 
ohne  jede  Entschädigung  10,  20,  ja  50  Meilen  weit  reisen,  um 
die  Gefälle  der  Herrschaft  zu  verführen ;  und  im  Frühjahr  Brot 
von  den  durch  sie  Ernährten  erbetteln,  wenn  sie  nicht  ver- 
hungern wollten.  Sie  lebten  in  Wohnungen,  die  ärger  waren 
als  Ställe :  in  einer  einzigen  von  Rauch  zum  Ersticken  erfüllten 
Stube  schliefen  nachts  oft  der  Bauer  und  seine  Familie,  die 
Knechte  nebst  ihren  Frauen  und  Kindern,  die  Hühner,  Schweine 
und  Hunde ;  tags  wanderten  sie  umher  in  zerlumpten  Wämsern, 
die  Kinder  Sommer  und  Winter  bloß  in  zerfetzten  Hemden; 
und  alle  barfuß ;  nur  am  Sonntag  gönnten  sich  die  Bauern,  die 
schon  als  wohlhabend  galten,  den  Luxus  von  Stiefeln.  Hatte 
ein  Bauer  eine  Stube  mit  Glasfenstern,  so  hielt  man  ihn  für 
einen  Krösus. 2) 

Im  Jahre  1795  verbot  Katharina  II.  in  den  Ostseeprovinzen 
den  Verkauf  von  Leibeigenen  auf  dem  Markte  und  die  Trennung 
von  Eheleuten.    Aber  man  setzte  die  Offerierungen  von  Leib- 


1)  Merkel,  Die  Letten.    S.  104. 

2)  a.  a.  O.  29,  30. 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  i5 


—    242    — 

eigenen  in  den  Zeitungsannoncen  fort,  und  da  es  verboten  war, 
Eheleute  zu  trennen,  entriß  man  bloß  Kinder  den  Eltern,  Eltern 
den  Kindern.  Und  im  selben  Jahre  1795,  ^^  ^^  kaiserliche 
Verbot  publiziert  worden  war,  konnte  man  in  Livland  auf  allen 
Straßen  .Scharen  von  aufgekauften  Leibeigenen  antreffen,  die 
von  ihren  Händlern  wie  Vieh  fortgetrieben  wurden.  Ein  Land- 
tagsbeschluß von  1797  konunentierte  dann  das  Gesetz  von 
1795  folgendermaßen  1):  Man  darf  die  Bauern  nur  nicht  über 
die  Grenze  verkaufen,  wohl  aber  an  einen  im  selben  Gouverne- 
ment befindlichen  Edelmann;  Eheleute  soll  man  nicht  trennen 
durch  Verkauf,  aber  man  darf  sie  verschenken,  wenn  die  Be- 
schenkten die  Eltern,  Kinder,  Geschwister  oder  leibliche  Ge- 
schwisterkiiider  der  Schenkenden  sind.  Ähnlich  wurden  alle 
Erlässe  zu  gunsten  der  Leibeigenen  von  den  Edelleuten  aus- 
gespielt. Im  Jahre  1765  hatte  Elisabeth  den  alten  Befehl  Gustav 
Adolfs  erneuert,  der  den  Bauern  gestattet  hatte,  gegen  offen- 
sichtliche Ungerechtigkeiten  bei  Gericht  zu  klagen.  Welchen 
Wert  diese  Erlaubnis  für  die  Gepeinigten  hatte,  sagte  das 
Sprichwort  der  Letten,  welches  das  Klagen  des  Leibeigenen 
bei  Gericht  folgendermaßen  umschrieb:  „Er  ist  nach  Ruten 
gegangen. **2)  Ruten  waren  nämlich  die  Strafe  des  Bauers  für 
eine  ungerechtfertigte  Klage.  Ein  Paragraph  des  livländischen 
Landtagsbeschlusses  von  1797  lautet  3):  „Der  Bauer,  der  ohne 
Grund  und  unnütz  geklagt  hat,  soll  zu  seiner  Besserung  und 
zur  Warnung  für  andere  das  erste  Mal  10  Paar  Ruten  zu  je 
3  Hieben,  das  zweite  Mal  doppelt  soviel  an  der  Tür  der  Kirche 
erhalten,  beim  dritten  Male  aber  mit  Festungsarbeit  bestraft 
werden."  Und  ungerechtfertigt  müssen  alle  Klagen  erscheinen, 
solange  die  Gutsbesitzer  gleichzeitig  die  Richter  sind.  Wer  sind 
die  Zeugen  des  Klägers?  Seine  Verwandten,  die  dem  Herrn 
untertänig  sind.  Wer  sind  seine  Richter?  Verwandte  des 
Herrn,  oft  der  Herr,  der  Unterdrücker,  der  Geklagte  selbst. 
Und  wenn  der  Bauer  trotzdem  stammelnd  seine  Klage  vorzu- 
bringen wagt,  so  darf  er  sich  dabei  dem  Gesetze  gemäß  keinen 


^)  Ebenda  163,  51. 

2)  Ebenda  199,  202.  —  Auch  bei  Petri,  I  432. 

2)  Merkel,  Supplement  und  Urkunde,  §  2$. 


—    243    — 

Advokaten  zu  Hilfe  nehmen,  keines  anderen  Rat  erbiiten  oder 
annehmen;  denn  ein  Ukas  verordnet:  wer  die  Bauern  zu  Un- 
gehorsam aufhetzt,  ist  ein  Auf ruhrstif ter ;  und  dies  gilt  be- 
sonders dann,  wenn  man  einem  Leibeigenen  rät,  zu  klagen. 
Das  Suchen  des  Rechtes  bei  Gericht  —  welch  eine  furchtbar 
verdrehte  Auffasung  aller  Moralitätsgesetze  —  ist  Empörung. 
Aber  wenn  der  Leibeigene  keinen  Rechtsanwalt  haben  darf, 
der  Herr  hat  seinen  Advokaten.  Und  der  stellt  dem  armen 
Opfer  einer  verkommenen  Justiz  verfängliche  Fragen,  treibt 
ihn  in  ein  Kreuzfeuer,  in  dem  der  Unbeholfene  schnell  zu- 
sammenbricht; und  das  Ende:  zu  der  früheren  ungerechten 
Strafe,  über  die  er  zu  klagen  gekommen  ist,  erhält  der  Bauer 
nun  auf  Grund  einer  wahnsinnigen  Rechtsordnung  neue  Ruten- 
hiebe als  Strafe  für  unnützes  Klagen.  Es  ist  vorgekommen, 
daß  einmal  unter  tausend  Fällen  eine  Klage  begründet  befunden 
wurde ;  aber  dann  konnte  der  Richter  nicht  feststellen,  daß  die 
beklagte  Gewalttat  auch  vom  Gesetze  verboten  gewesen  -- 
und  also  gab  es  doch  eine  unstatthafte  Klage,  und  als  Folge 
dessen  lo  oder  20  Paar  Ruten.  Ein  seltener  Fall  ereignete  sich 
1793:  Da  fanden  die  Gerichte  eine  Klage  begründet  und  das 
Verbrechen  strafbar ;  und  was  war  die  Strafe  des  Edelmannes  ? 
ein  geheimer  Verweis  I  Schlimmer  noch  für  die  Leibeigenen, 
wenn  sie  dem  Prediger  zu  klagen  wagen;  denn  der  Prediger 
ist  nicht  der  Tröster  der  Armen,  sondern  der  treue  Diener  des 
Gutsherrn.  Eine  Bäuerin  bittet  den  Prediger,  ihr  Kind  zu  be- 
graben: „es  ist  Hungers  gestorben,"  klagt  sie,  „weil  der  Guts- 
herr kein  Brot  gibt.**  Der  Prediger  berichtet  die  Äußerung 
dem  Herrn,  der  sofort  50  Paar  Ruten  in  Salzwasser  eintauchen 
läßt,  um  die  Klägerin  zu  züchtigen;  die  aber  wartet  die  Strafe 
nicht  ab,  sondern  erhängt  sich  aus  Furcht  vor  den 
Hieben.i) 

In  Sittlichkeitsdingen  wird  in  Livland  und  in  Estland  mit 
den  Leibeigenen  genau  so  kurzer  Prozeß  gemacht  wie  in  Ruß- 
land. Eine  Herrschaft  will  ein  Mädchen  nicht  den  Burschen 
heiraten  lassen,  den  es  gern  möchte;  man  ruft  die  Dirne  und 
redet  ihr  ab,  da  sie  aber  auf  ihrem  Verlangen  beharrt  und  sich 


1)  Petri,  I  364. 

16* 


—    244    — 

auf  das  Gesetz  beruft,  das  jeden  Zwang  in  dieser  Beziehung 
verbietet,  läßt  der  Herr  die  Widerspenstige  solange  peitschen, 
bis  sie  völlig  verunstaltet  und  dem  Werber  selbst  zum  Ekel  wiri 
Auf  einem  Gute  verweigert  ein  Verwalter  einem  Mädchen  die 
Erlaubnis  zur  Heirat.    Die  Sklavin  appelliert  an  die  Herrschaft 
und  erhält  deren  Einwilligung.    Da  rächt  sich  der  Verwalter, 
indem  er  den  Hochzeitszug  überfällt  und  der  Braut  die  Haare 
scheren  läßt,  was  als  furchtbare  Schändung  gpilt.    Der  wahre 
Liebesgott  der  Letten  ist  die  Peitsche  I^)  sagt  bei  Erzählung 
dieser  Episode  Merkel,  der  die  Leiden  der  livländischen  Leib- 
eigenen vor  hundert  Jahren  zuerst  geschildert  imd  durch  seine 
Beschreibimg  die  ganze  zivilisierte  Welt  zu  Mitleid  imd  Zorn 
hingerissen  hat.    Ähnliches  wie  Merkel  aus  Livland  berichtete 
zur  selben  Zeit  Petri  aus  Estland:  Auf  einem  Gute  hatte  ein 
Hofmeister  ein  Mädchen  geschwängert.    Der  Edelmann,  dem 
der  Hofmeister  sein  Pech  berichtete,   erklärte:   „Dem  Ding 
wollen  wir  abhelfen.**    Er  ließ  einen  Burschen  kommen  und 
fragte  ihn,  ob  er  zehn  paar  Ruten  erhalten  oder  lieber  das  ge- 
schwängerte Mädchen  mit  einer  Mitgift  von  2  Kühen  heiraten 
wolle.     Der  Bursche   wählte   ohne  Besinnen  die  gestempelte 
Braut.2)    Der  Bediente  einer  Edeldame  wollte  nach  15 jähriger 
treuer  Dienstzeit  heiraten  und  wagte  seine  Herrin  um  Erlaubnis 
dazu  zu  bitten.    Die  Gnädige  läßt  die  Erkorene  kommen,  findet 
sie  plump  und  linkisch:  „Sie  kann  nicht  waschen  und  nicht 
putzen,  ich  kann  den  Klotz  nicht  brauchen,**  sagt  die  Dame, 
und  die  Sache  ist  abgetan.    Der  Bediente  hängt  treu  an  seinem 
Mädchen,  un  i  nach  Jahren  erneuert  er  seine  Bitte ;  wieder  weist 
ihn  die  Herrin  ab.  „Sie  ist  schwanger,**  klagt  er.  —  „So  möge 
sie  eine  Hure  werden  I**  schreit  die  Edeldame.     Der  betrübte 
Diener  hat  keine  Hoffnung  mehr;  er  rafft  die  80  Taler  zu- 
sammen, die  er  im  Laufe  eines  mühseligen  Lebens  erspart  hat, 
und  bietet  die  Summe  jenem,  der  die  Geliebte  heiraten  will. 
Dieser  Zug  rührt  endlich  die  Herrin,  und  sie  gestattet  die  Ehe. 
„Ich  hatte  es  nicht  zu  bereuen,**  schloß  die  Edeldame,  die  diese 
Geschichte  selbst  gern  erzählte,  jedesmal  ihren  Bericht,  „denn 


1)  Merkel,  Die  Letten,   186. 

«)  Petri,  I  435;  II  33  ein  ähnlicher  Fall. 


—    245    — 

jenes  Mädchen  wurde  die  zuverlässigste  arbeitsamste  Bediente/*^) 
Im  Jahre  1756  hatte  ein  Ukas  den  baltischen  Gutsbesitzern 
anbefohlen,  die  Heiraten  der  Leibeigenen  weder  zu  hindern 
noch  durch  Zwang  zu  veranlassen.  Dem  Ukase  zum  Trotz 
griffen  die  Edelleute  skrupellos  in  diese  heiligsten  Angelegen- 
heiten willkürlich  ein.  Der  Bauer  blieb  nur  soweit  Herr  seiner 
Familie,  als  es  dem  Erbherrn  paßte.  Aber  wenn  die  Herren 
Heiraten  stiften  oder  verhindern  wollten,  so  konnten  die  Leib- 
eigenen nichts  dagegen  machen.  Um  die  Menschenzahl  auf 
seinen  Gütern  zu  vermehren,  verlangt  der  Edelmann,  daß  seine 
Burschen  Mädchen  von  anderen  Gütern  nehmen,  denn  die  Dirne, 
ob  leibeigen  oder  frei,  die  einen  Leibeigenen  heiratet,  wird  die 
Leibeigene  des  Herrn  ihres  Mannes.  Konmit  aber  ein  fremder 
Freier,  um  ein  Mädchen  zu  verlangen,  so  geben  die  Edelleute 
dieses  nur  gegen  ansehnliche  Geschenke  her.  Findet  ein  Bauer 
ein  Kind  auf  der  Straße  und  ninwnt  es  auf,  so  wird  der  Findling 
leibeigen  dem  Herrn  des  Finders. 

Dieser  Macht  des  Herrn  über  die  Leiber  der  Leibeigenen 
entsprechend  ist  die  Gewalt  seiner  Rechte  im  Strafen.  Was 
anderwärts  die  staatlichen  Gerichte  nur  mit  Zustimmung  des 
Fürsten  verhängen  dürfen,  verordnet  in  Livland  und  Estland 
als  simple  Hauszucht  selbstherrlich  der  Gutsbesitzer :  Festungs- 
haft. Ein  Leibeigener,  eine  Leibeigene  mißfallen  der  Herr- 
schaft, man  schickt  sie  also  einfach  an  die  Behörde  mit  der 
Ordre,  sie  auf  der  Festung  für  eine  beliebige  Zeit  zur  Katorga 
anzuhalten.  Das  bürgerliche  Gesetz  verurteilt  zu  Katorga  nach 
langem  Prozeß  die  gemeinen  Mörder  —  der  Gutsherr  kann 
diese  Strafe  auf  kurzem  Wege  anordnen,  ohne  Gründe!  Der 
Edelmann  hat  nur  eine  einzige  Formalität  zu  erfüllen :  er  muß 
erklären,  daß  er,  wenn  er  einmal  seinen  Sklaven  zurückfordern 
sollte,  keinen  Anspruch  auf  die  Gefängniskleider  und  die  Bast- 
schuhe macht,  die  der  Leibeigene  auf  der  Festung  erhält.^) 
Die  Exzesse  in  der  Bestrafung  spotteten  aller  Beschreibung. 
Gesetzlich  waren  als  Maximalstrafe  10  Paar  Ruten  zu  je  3  Hie- 


1)  Merkel,  183. 

^)  Ukas  vom  17.  Januar  1765. 


—    246    — 

ben  gestattet,  aber  die  Edelleute  und  ihre  Verwalter  ließen 
gewöhnlich  so  lange  schlagen,  bis  von  den  Züchtigungsinstru- 
menten nichts  übrig  blieb  als  der  Stumpf  und  dem  Gepeinigten 
Haut  und  Fleisch  herunterfielen.^)  Als  Verschärfung  der  Strafe 
galt  es,  wenn  die  famose  Hauszucht  unter  Assistenz  des  Predi- 
gers und  einer  Gerichtskommission  am  Sonntag  vor  der  Kirche 
ausgeübt  wurde,  in  dem  Augenblicke,  da  die  Gemeinde  das 
Gotteshaus  verließ.  Vor  der  Exekution  machte  der  Geist- 
liche von  der  Kanzel  herab  die  Ursache  der  Bestrafung  bekannt 
und  ermahnte  die  Gläubigen,  ihrer  Obrigkeit  —  nämlich  den 
Adeligen  —  besser  zu  gehorchen  als  der  Übeltäter,  der  jetzt 
seines  Ungehorsams  wegen  die  gerechte  Züchtigung  bekam. 
Der  Verbrecher  wurde  vor  der  Kirchentür  an  einen  Pfahl  ge- 
bunden, der  zu  solchem  Zwecke  überall  bei  den  Kirchentüren 
angebracht  zu  sein  pflegte;  dann  zog  man  den  Verurteilten 
an  einem  Strick  in  die  Höhe,  entblößte  seinen  Rücken  und  der 
Glockenläuter  der  Kirche  strich  ihm  mit  Ruten  die  bestimmte 
Anzahl  der  Hiebe  auf.^)  Die  Veranlassung  zu  solchen  Schand- 
strafen ist  oft  die  harmloseste.  Unter  dem  Titel  der  Hauszucht 
bringen  die  baltischen  Herren  ihrer  Grausamkeit  jedes  Opfer: 
Ein  Herr  von  Uexküll  gibt  einem  Riegenaufseher  (das  ist  ein 
Mann,  der  in  der  Scheune  und  Dreschtenne  die  Aufsicht  hat) 
die  Schuld  an  einem  geringfügigen  Brand;  der  Unglückliche 
wird  gepeitscht,  bis  ihm  die  Eingeweide  aus  dem  Leibe  dringen 
und  der  Tod  seinen  unsäglichen  Qualen  ein  Ende  bereitet; 
ein  falsches  Wundarztzeugnis  und  eine  Summe  für  die  Richter 
sühnen  das  Verbrechen.  Ein  Herr  von  P.  läßt  sechs  Leibeigene 
so  eindringlich  mit  Ruten  bearbeiten,  daß  fünf  von  den  Ge- 
schlagenen tot  auf  dem  Platze  bleiben;  der  sechste  kommt 
mit  dem  Leben  davon,  aber  der  Herr  behauptet,  der  Gerettete 
hätte  sich  beklagt,  und  zur  Strafe  läßt  er  ihn  eine  Stunde  lang 
stäupen ;  auf  den  Ohnmächtigen  wirft  er  sich  dann  selbst,  ohr- 
feigt ihn  wütend  und  spaltet  ihm  den  Schädel;  diese  Sache  be- 
schäftigt das  Gericht,  und  das  Urteil  besagt:  dieser  Edelmann 
geht  mit  seinem  Gute  (den  Leibeigenen)  zu  leichtsinnig  um. 


1)  Merkel,   i66. 

-f)  t>etri,  III  169.   178. 


—    247    — 

er  ruiniert  sich  durch  die  Morde,  also  soll  fortan  nur  seine 
Frau  die  Gutsverwaltung  leiten  dürfen  1^) 

Die  Tribunale  perhorreszierten  die  Folter,  die  Edelleute 
aber  wenden  sie  unter  dem  Titel  der  Hauszucht  an :  Herr  von 
Tiesenhausen  erklärt,  sein  Riegenkerl  bestehle  ihn;  der  Be- 
schuldigte leugnet,  man  foltert  ihn,  um  ein  Geständnis  zu  er- 
langen. Ein  Herr  von  J.  argwöhnt,  ein  Stununer,  der  ihn 
anbettelt,  erheuchele  das  Gebrechen;  er  läßt  den  Bettler  stäu- 
pen, um  ihn  zum  Reden  zu  bringen;  lunsonst;  aber  es  wird 
weiter  gestäupt,  bis  der  Gequälte  unter  der  Folter  stirbt. 2) 

Die  Mädchen  und  Frauen,  die  der  Wollust  des  Herrn  sich 
widersetzen,  erleiden  schwere  Strafe.  Ein  Bauer  des  Edel- 
manns F.  will  sein  Weib  nicht  dem  Herrn  als  Maitresse  über- 
lassen; Strafe:  lo  Paar  Ruten.  Rittmeister  Herr  von  X.  findet 
ein  Bauernmädchen  nach  seinem  Geschmack  und  befiehlt  ihr, 
sein  Lager  zu  teilen.  Sie  ist  nicht  willig.  Er  ist  gnädig  und 
läßt  sich  zu  Geschenken  und  Bitten  herbei.  Sie  widersteht 
noch  immer.  Da  ordnet  er  an,  daß  die  Dirne  in  einem  Raum 
neben  seinem  Schlafzimmer  ihr  Lager  erhalte.  In  der  Nacht 
überfällt  er  sie  mit  seinem  Bedienten,  und  der  Lakai  soll  das 
Mädchen  festhalten,  während  der  Herr  es  zu  vergewaltigen 
sucht.  Beider  Kräfte  reichen  nicht  aus,  die  Widerspenstige 
zu  zähmen.  Nun  macht  der  Herr  ein  Ende:  er  diktiert  der 
Dirne  zehn  Paar  Ruten  und  macht  sie  zur  Schweinehirtin.^) 
Besonders  raffiniert  geht  ein  anderer  Edelmann,  ein  Herr  von 
P.,  zu  Werke :  Mit  der  Pistole  in  der  Hand  zwingt  er  seine  Ge- 
mahlin, ihm  das  Licht  zu  halten,  während  er  ein  Bauernmädchen 
entjungfert!^)  Eine  Zigeunerbande  bittet  den  Herrn  von  T., 
ihr  zu  gestatten,  im  Krug  (Wirtsstube)  des  Gutes  zu  über- 
nachten ;  der  Edelmann  gestattet  es  unter  der  Bedingung,  daß 
die  Männer  an  ihren  Weibern  in  seiner  Gegenwart  die  eheliche 
Pflicht  vollziehen,  und  weidet  sich  an  den  Manövern.^)  Manch- 
mal lassen  sich  die  Herrschaften  zu  jovialer  Teilnahme  an  den 


*)  Petri,  I  359,  Merkel,   174. 
*^)  Merkel,   171. 

3)  Ebenda  169. 

4)  Petri,  II  33. 

^)  Ebenda  II  425. 


—    248    — 

Täiizen  tind  Festen  des  Bauernvolkes  herbei;  aber  diese  Ehre 
ist  nicht  immer  eine  wünschenswerte.  Kapitän  von  Vietinghof 
wohnt  auf  einem  Gute  im  Pernauischen  einer  Hochzeit  bei. 
Die  Braut  gefällt  ihm,  und  er  befiehlt  zwei  Bauern,  ihm  das 
Mädchen  zu  bringen.  Die  Hochzeitsgäste  prügeln  die  Über- 
bringer der  Botschaft  durch.  Darauf  schickt  der  Kapitän 
ein  Detachement  Soldaten  ab,  um  den  Vater  der  Braut  ge- 
fangen zu  nehmen.  Von  diesem  fordert  der  Edelmann  die 
Tochter  für  eine  Nacht,  und  als  sich  der  Alte  weigert,  werden 
ihm  hundert  Stockprügel  appliziert,  bis  er  bewußtlos  liegen 
bleibt.  Die  Geschichte  spricht  sich  herum,  aber  man  hält  sie 
nicht  einmal  einer  Untersuchung  würdig.^) 

Wahrlich,  nicht  verwunderlich  ist  es,  daß  das  Volk  unter 
solchen  Verhältnissen  sittlich  verkommt.  Bei  den  Festlich 
keiten  und  Unterhaltungen  ist  das  Prügeln  an  der  Tagesord 
nung;  bei  den  Erntefesten  herrschen  Unzucht  und  Völlerei 
auf  den  Jahrmärkten  kommt  es  zu  schauerlichen  Exzessen 
Die  christliche  Religion  hat  den  Letten  und  Esten  die  Sklaverei 
mitgebracht.  So  sehnen  sie  sich  zurück  nach  den  alten  Göttern, 
in  ihrer  Bedrängnis  rufen  sie  nicht  die  Muttergottes,  sondern 
die  Laiming  Mahming,  die  heidnische  Glücksgöttin,  an.  Sie 
glauben  im  Innersten  ihrer  Seele  noch  immer  an  böse  Geister, 
und  Beschwörer  und  Zauberer  stehen  in  hohem  Ansehen;  in 
heiligen  Hainen,  Höhlen  imd  Bergen,  auf  dem  Blauberge,  bei 
der  Gutmannshöhle,  bei  der  heiligen  Quelle  im  Revalschen 
bringen  sie  den  Waldgeistern  Geschenke  dar.  Ihrem  Aber- 
glauben gesellt  sich  ihre  Gefühllosigkeit.  Sie  haben  selbst 
soviel  gelitten,  daß  ihnen  anderer  Leiden  kein  Mitgefühl  ab- 
ringen können.  Die  Eltern  kümmern  sich  nicht  um  die  hungern- 
den Kinder,  und  die  Kinder  sehen  gelassen  ihre  Väter  imd 
Mütter  eines  elenden  Todes  sterben.  Wenn  der  Herr  es  befiehlt, 
peitscht  der  Sklave  unempfindlich  seinen  Bruder.  Die  einzige 
Freude  ist  dem  Volke  das  Saufen.  Der  Säugling  schon  be- 
kommt Schnaps,  die  Knaben  und  Mädchen  trinken  mit  den 
Alten  irni  die  Wette.  Lügen  und  Stehlen  sind  keine  Laster. 
Die  Edelleute  leben  von  dem  Schweiße  der  Bauern ;  es  ist  keine 


1)  Petri.  I  425. 


—    249    — 

Sünde,  ihnen  etwas  zu  entreißen,  wenn  die  Gelegenheit  dazu 
vorhanden  ist.  Am  Leben  hängen  die  Leibeigenen  nicht.  Sie 
bleiben  ja  immer  Sklaven ;  und  von  dem,  was  sie  erwerben  auf 
Erden,  gehört  alles  dem  Herrn,  nichts  ihren  Kindern,  die  das 
eiserne  Joch  weitertragen  müssen,  wenn  die  Eltern  darunter 
zusammengebrochen.  Je  früher  das  Ende  erfolgt,  desto  besser. 
Jede  Strafe  bringt  einen  Schritt  näher  zum  Grabe.  Willig  beu- 
gen die  Gepeinigten  dem  Henker  den  Rücken.  Aber  wenn  sie 
sich  doch  vor  der  Strafe  fürchten,  nicht  aus  Angst  vor  dem 
körperlichen  Schmerz,  sondern  seltsamerweise  aus  Ehrgefühl, 
aus  Angst  vor  der  Schmach,  dann  schneiden  sie  sich  die  Gurgel 
durch,  erhängen  oder  ertränken  sie  sich :  Ein  Herr  von  Fontin 
auf  dem  Gute  Loper  droht  einem  alten  Bauer  mit  lo  Paar 
Ruten,  wenn  er  in  der  Früh  nicht  pünktlich  mit  dem  Wagen 
am  Hofe  erscheinen  würde ;  der  Mann  hat  von  seinem  vorigen 
Herrn  nie  Schläge  bekommen,  er  ist  stolz  darauf;  es  soll  auch 
nicht  anders  werden :  er  geht  hin  und  erhängt  sich.  Ein  Mäd- 
chen der  Frau  von  Fontin  wird  wegen  eines  Versehens  bei  der 
Wäsche  von  der  Dame  gepeitscht;  aus  Scham  rennt  die  Be- 
strafte zum  Teich  und  ertränkt  sich.^) 

Es  fehlt  aber  auch  nicht  an  solchen,  die  trotzig  Vergeltung 
üben:  Zwei  Bauern,  erbittert  über  die  Grausamkeit  des  Herrn 
von  Tiesenhausen,  reißen  den  Edelmann  vom  Pferde  herunter 
und  schlagen  ihn  tot.  Die  Mörder  laufen  nicht  davon,  sondern 
lassen  sich  fangen  und  sagen  dem  Richter:  „Es  tut  uns  nicht 
leid,  wir  sterben  gern,  denn  wir  haben  doch  unsere  Mitbrüder 
von  dem  Tyrannen  befreit.**  Ein  anderer  Tiesenhausen  wird 
nachts  in  seinem  Bette  verbrannt;  da  das  Feuer  nicht  kräftig 
genug  ist,  stößt  man  der  Leiche  eine  Eisenstange  durchs  Herz. 
Eine  Edeldame  wird  durch  drei  Erbmädchen  im  Bette  mit  dem 
Bettzeug  erstickt.  Mehr  noch  als  die  Erbherren  werden  die  Ver- 
walter von  den  Bauern  gehaßt :  Sechs  estnische  Bauern  hauen 
einmal  einem  Verwalter  den  Kopf  ab,  gehen  damit  auf  den 
Gutshof,  werfen  das  abgeschlagene  Haupt  der  Edelfrau  vor 
die  Füße  \md  sagen:  „Da  hast  du  deines  Amtmanns  Kopf. 
Strafe  uns  nun   wie  du  willst.    Wir  haben  unsere  Brüder  von 


1)  Petri,  I  307. 


—    250    — 

deni  Ungeheuer  befreit."  Auf  dem  Gute  Kunda  fallen  20 
Bauern  über  den  Verwalter  her  und  schneiden  ihn  in  Stücke. 
Auf  dem  Gute  Torgel,  3  Meilen  von  Pemau,  erschlägt  man 
einen  Amtmann  mit  Prügeln,  mit  denen  er  selbst  zu  schlagen 
liebte,  und  hackt  ihm  dann  die  Beine  ab.^) 

Vor  hundert  Jahren  ist  die  Leibeigenschaft  in  den  Ostsee- 
provinzen von  Alexander  I.  aufgehoben  worden.^)  Aber  der 
Haß  gegen  die  deutschen  Herren  ist  geblieben  im  Herzen  des 
lettischen  und  des  estnischen  Volkes.  Wie  in  alten  Zeiten 
schreckt  man  noch  heute  Kinder  mit  dem  Ruf:  „Ollewaid, 
Saxa  tullewad,  sei  still,  der  Deutsche  kommt  I**  Als  deutsch 
bezeichnen  Este  und  Lette  in  ihren  Gesprächen  alles  Hoch- 
mütige, Geizige,  Boshafte,  Hassenswerte.  Schon  Merkel  sagte  3) : 
„Bei  einem  allgemeinen  Aufruhr  würde  keines  Deutschen 
Gebein  davonkonunen.**  Das  Wort  hat  sich  in  unserer  Zeit 
furchtbar  bewahrheitet.  Auf  den  Leibern  ihrer  ehemaligen 
deutschen  Herren  haben  die  Letten  die  lettische  Republik  auf- 
richten wollen ;  jene,  die  vor  nicht  langer  Zeit  in  ihrer  Sprache 
noch  kein  Wort  für  Freiheit  hatten,  sondern  das  deutsche 
Wort  in  Priti  verstümmeln  mußten,  sie  möchten  jetzt  schon 
die  letzten  Deutschen  aus  den  baltischen  Provinzen  vertrieben 
sehen.  In  dem  Jahrhundert,  seit  sie  vom  Joche  der  Sklaverei 
befreit  sind,  haben  sie  an  nichts  anderes  gedacht,  denn  Rache 
zu  nehmen  an  ihren  einstigen  Bedrückern.  Sie  sind  aus  Bauern 
zu  intelligenten  Leuten  geworden;  sie  haben  gelernt,  eine 
Literatur  geschaffen,  Macht  errungen,  Industrien  gegründet 
imd  Kapital  angesammelt  —  und  alles  nur  zu  dem  einzigen 


1)  Ebenda  I  307.  II  52.  53.  54. 

*)  In  Rußland  wurde  sie  bekanntlich  erst  von  Alexander  II.  abgeschafft, 
der  deshalb  den  Beinamen  der  Zar-Befreier  erhielt.  Bei  den  Jakuten  besteht 
Sklaverei  gegenwärtig  trotzdem  noch  fort  in  der  Form,  daß  arme  Jakuten 
ihre  minderjährigen  Geschwister  oder  Kinder  an  Reiche  für  15,  10  und  noch 
weniger  Rubel  verkaufen  oder  an  Zahlungsstatt  für  Schulden  abtreten,  nomi- 
nell als  Ola,  Sohn,  oder  als  Chamnatschit..  Knecht,  oder  als  Magd  ohne  Lohn 
für  Lebenszeit  oder  eine  Reihe  von  Jahren.  Die  Behandlung  ist  meist  eine 
sehr  harte,  so  daß  die  Sklaven  nicht  selten  entlaufen  und  bei  den  russischen 
Behörden  Schutz  suchen. 

3)  Merkel.  S.  38. 


—    251    — 

Zwecke :  Vergeltung  zu  üben.  Noch  ist  ihnen  diesmal  die  völlige 
Vernichtung  des  Deutschtums  in  Livland  imd  Estland  nicht 
gelungen,  aber  sie  haben  den  Balten  unheilbare  Wimden  ge- 
schlagen und  ihrem  Rachedurst  Hekatomben  von  Edelleuten 
geopfert. 


36.  Grausamkeit  des  Volkes. 

Alter  der  russischen  Grausamkeit  —  Greuel  bei  Ermordung  des  Pseudo-Dmitrij 

—  Unzufriedenheit  des  Volkes  mit  Begnadigungen  —  Verbot  der  Faustkämpfe 

—  Die  Grausamkeit  in  den  Liedern  —  Grausamkeitsrubrik  der  Presse  —  Grau- 
samkeit im  Kriege  —  Gegen  die  Griechen  —  Russen  gegen  Russen  —  Greuel 
der  Russen  in  Livland  und  Estland  —  Peters  des  Großen  Kriegsreglement  — 
Die  Russen  in  Kamtschatka  und  in  Preußen  —  Grausamkeit  und  Perversität  — 
Totleben  und  Repnin  —  Gleichheit  nach  russischer  Methode  —  Eroberung 
der  Krym  und  Kaukasiens  —  Der  Krieg  gegen  die  Türken  —  Russische  Sadisteh 

—  Kosaken  und  Kalmücken  —  Grausamkeit  aus  nationalen  und  religiösen 
Motiven  —  Die  Juden  in  Rußland  —  Eine  Bemerkung  von  Olearius  —  Peter 
verweigert  den  holländischen  Juden  die  Niederlassung  in  Rußland  —  Juden 
in  hohen  Stellungen  am  Zarenhofe  —  Meyer  und  Lups  —  Devier  und  Dacosta  — 
Schafirow,  Peters  Vizekanzler  —  Wesselowski  —  Birons  Günstlinge  Liepmann 
und  Bielenbach  —  Elisabeths  Chauvinismus  und  Fanatismus  —  Verjagung 
der  Juden  —  Katharina  II  ruft  sie  zurück  —  Dokumente  zur  Judenfrage  — 
Maßregeln  Nikolajs  I.  —  Die  Juden  als  Soldaten  —  Judenverfolgungen  von 
der  Regierung  angestiftet  —  Das  Fliegen  der  Bettfedem  —  Die  Pogrome  von 

Kischenew  und  Siedletz. 

Die  Racheakte  der  Leibeigenen  gegen  ihre  Herren  haben 
uns  gezeigt,  wie  furchtbarer  Brutalitäten  das  Volk  fähig  sein 
kann.  Es  wäre  indessen  falsch,  wenn  man  annehmen  wollte, 
die  russische  Grausamkeit  sei  bloß  eine  Folge  der  jahrhunderte- 
langen Sklaverei.  Zweifellos  hat  die  grausame  Behandlung, 
die  die  Russen  tausend  Jahre  hindurch  erdulden  mußten,  zur 
äußersten  Verrohung  ihres  Charakters  beigetragen.  Aber  die- 
ser Charakter  war  schon  von  Ursprung  an  grausam  und  wild. 
Die  russische  Gutmütigkeit  als  angeborene  Tugend  ist  jeden- 
falls eine  Fabel.  Das  russische  Volk  kann  allerdings  auch  gut- 
mütig sein,  der  Grundzug  seines  Charakters  ist  es  nicht.  Schon 
um  das  Jahr  866  spricht  der  Patriarch  Photius  in  einem  Briefe 
an  die  orientalischen  Bischöfe  von  den  „durch  ihre  Grausam- 


-^    262    — 

keiten  berühmten  Russen.**^)  Bei  jeder  Gelegenheit,  wo  die 
Volkswut  hervorbrechen  durfte,  gab  es  abscheuliche  Exzesse. 
Als  der  falsche  Dmitrij  (Rastriga)  ermordet  wiurde,  schonten 
die  Russen  keinen  aus  der  Umgebung  des  Usurpators.  Selbst 
die  Musikanten  wurden  niedergemacht.  Der  Beichtvater  der 
Polin  Marina  (Gemahlin  Rastrigas)  wurde  während  des  Messe- 
lesens überfallen  und  zerrissen.  Zu  Hunderten  warfen  sich  die 
Russen  auf  einen  einzelnen;  die  rührendsten  Bitten  ließen  sie 
kalt,  und  zerstümmelte  und  zerhauene  Menschenreste  wurden 
noch  zerstampft.  Mönche  imd  Priester  liefen  umher  und  feuer- 
ten an  zum  Pogrom,  zur  Ausrottung  der  Polen  mit  dem  Rufe : 
„Schlachtet  sie,  die  Feinde  unseres  Glaubens!**  Aus  den  be- 
nachbarten Dörfern  kam  das  Volk  mit  Knüppeln  bewaffnet 
nach  Moskau,  um  teilzunehmen  am  blutigen  Feste.  „Sieben 
Stunden  lang,**  schreiben  Augenzeugen,  „hörten  wir  nichts 
Jis  Schießen  und  Schreien :  Haue  zu  I  haue  zu  1**  Der  Leichnam 
des  Usurpators  wurde  zerstochen  und  zerfleischt  imd  aus  dem 
Kreml  geschleppt.  Man  legte  ihn  auf  einen  Tisch,  band  ihm 
ums  Antlitz  eine  Maske,  gab  ihm  in  die  Hand  Pfeife  und  Dudel- 
sack, zui  Verhöhnung  seiner  Liebe  für  Musik  und  Possen- 
reißerei.  Und  als  dies  geschehen,  jubelte  das  Volk :  „Du  Tauge- 
nichts hast  uns  oft  blasen  lassen,  jetzt  blase  selbst  zu  unserem 
Vergnügen."^) 

Im  achtzehnten  Jahrhundert  haben  die  Fremden  mehr  als 
einmal  Veranlassung  ob  der  Lust  der  Russen  an  blutigen  Schau- 
spielen zu  staunen.  Am  i8.  Januar  1742  soll  in  Petersburg  der 
Blutdurst  des  Volkes  in  gar  splendider  Weise  gestillt  werden: 
durch  Hinrichtung  des  Exkanzlers  Ostermann  und  des  Feld- 
marschalls Münnich.  Auf  Wassilij  Ostrow  ist  ein  einfaches 
Schaf fot  errichtet.  Der  Exkanzler,  ein  halb  gelähmter  Greis, 
muß  förmlich  hinaufgeschleppt  werden.  Die  beiden  gestern 
noch  so  Mächtigen  sollen  die  Strafe  der  Räderung  erleiden. 
Aber  im  letzten  Augenblick  wird  ihnen  angekündigt,  daß  die 


^)  La  Chronique  de  Nestor,  traduite  par  Louis  Paris.    Paris  1834.    I  25, 
note  9. 

2)  Karamsin,    Geschichte  des   Russischen   Reichs   (deutsche   Ausgabe). 
X  248,  250. 


—    253    — 

barmherzige  Zarin  Elisabeth  sie  begnadigt  habe:  zu  einfacher 
Köpfung.  -Und  als  das  Volk  dies  vernimmt,  murrt  es  zornig 
wegen  der  Repertoire-Änderung.  Nun  ergreift  der  Henker  seine 
Opfer,  er  reißt  ihnen  die  Perrücken  herunter,  rückt  ihnen  den 
Hemdkragen  zurecht  und  holt  aus  dem  Sack  von*  Bärenfell  das 
Beil  hervor.  Da  erfolgt  im  allerletzten  Augenblick  ein  neuer 
Theatercoup  der  barmherzigen  Kaiserin:  die  Verurteilten  wer- 
den von  der  Todesstrafe  befreit  und  zu  ewiger  Verbannimg 
beg^nadigt.  Das  Volk  vernimmt,  daß  kein  Blut  fließen  soll; 
und  wird  deswegen  von  so  wilder  Wut  erfaßt,  daß  die  Garden 
mit  Waffengewalt  intervenieren  müssen,  um  die  durch  das 
Fehlschlagen  einer  schönen  Hoffnung  auf  ein  gruseliges 
Schauspiel  gekränkten  Massen  zu  beruhigen. i)  Die  Kaiserin 
Elisabeth  nahm  auch  sonst  so  wenig  Rücksicht  auf  die  rohen 
Bedürfnisse  ihrer  Untertanen :  sie  untersagte  den  beliebten  Faust- 
kampf (KyjiaHHHÄ  6ofi)  auf  den  Jahrmärkten  und  Volksfesten ; 
es  kostete  aber  Mühe,  das  Verbot  durchzuführen,  man  mußte 
militärische  Gewalt  in  Anspruch  nehmen,  und  statt  des  Faust- 
kampfes gab  es  nun  veritable  Kämpfe  zwischen  den  Soldaten 
und  dem  Pöbel,  der  sich  nur  schwer  sein  Recht  auf  Roheit 
rauben  ließ. 

In  den  historischen  Liedern  feiert  die  Grausamkeit  des 
russischen  Volkes  ewige  Orgien.  Wo  es  Zerfleischungen  gibt, 
verweilen  die  Volksdichter  mit  Vorliebe.  Die  Tartarenlieder, 
die  Lieder  von  Iwan  dem  Schrecklichen,  die  Lieder  vom  Räuber 
Stenjka  Rasin  und  die  Strjeljzen-Lieder,  in  denen  nur  von  Hin- 
richtungen, Morden,  Rauben  die  Rede  ist  und  das  Blut  in  behag- 
licher Breite  fließt,  sind  des  Volkes  Lieblingsgesänge. 2)  Auch 
die  Scherze,  die  man  sich  in  der  Gesellschaft  erlaubt ;  der  Unfug, 
den  man  in  der  Trunkenheit  treibt ;  die  Rache,  die  man  wegen 
der  geringsten  Unbill  ausübt  —  alles  ist  erfüllt  von  unbeschreib- 
licher Wildheit.  Man  lese  die  modernen  russischen  Zeitungen, 
man  verfolge  aufmerksam  die  Berichte  über  Lokalereignisse. 
Da  liegen  vor  mir  einige  Blätter  aus  Kaukasien:  die  Schlag- 
worte „wilde  Sitten**,  „grauenhafter  Mord**,  „bestialisches  Ver- 


^)  Waliszewski,  La  derniöre  des  Romanov,  pp.  14,  15. 
-)  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur.    81,  92. 


—    254    — 

brechen"  fehlen  in  keiner  Nummer.  Da  prüfe  ich  einen  Jahr- 
gang der  deutschen  „Lodzer  Zeitung^*:  „Lynchjustiz"  bildet 
eine  ständige  Rubrik;  „Geschichten  von  Leuten  gleich  wilden 
Tieren**  kehren  alle  Tage  wieder,  erscheinen  gleichsam  in  end- 
losen Fortsetzungen,  mit  immer  neuen  Variationen.  Der  Zufall 
lasse  uns  eine  solche  Geschichte  herausgreifen:  „Aus  dem 
Dorfe  Kulpa  verschwand  der  Beamte  der  Polizei,  Ssossonskij. 
Niemand  zweifelte  daran,  daß  er  getötet  worden  sei,  man  wußte 
nur  nicht  wo  und  wie.  Bei  der  eingeleiteten  Untersuchimg 
erfuhr  man,  daß  vier  Mann  ihn  getötet  hatten.  Einer  der  Mör- 
der, der  mit  dem  S.  gut  bekannt  gewesen,  war,  wie  Augenzeugen 
angaben,  an  das  Opfer  herangetreten  und  hatte  um  Feuer  ge- 
beten. Während  S.  aus  der  Tasche  das  Feuerzeug  hervorholen 
wollte,  hatten  die  Räuber  ihn  ergriffen,  vom  Pferde  gezogen, 
gefesselt  und  entwaffnet.  Hierauf  hatten  sie  ihm  mit  einem 
Steine  den  Schädel  einzuschlagen  versucht.  Damit  nicht  genug, 
begannen  sie,  als  sie  merkten,  daß  ihr  Opfer  noch  nicht  ganz 
tot  sei,  dasselbe  zu  verspotten  und  dem  Unglücklichen  mehrere 
Körperteile  und  Glieder  abzuschneiden.** 

Die  ganze  wilde  Grausamkeit  des  Russen  kommt  im  Kriege 
zur  Geltung.  Nestor  erzählt^),  wie  im  Jahre  945  die  Russen 
imter  Igor  gegen  die  Griechen  wüten :  die  gefangenen  Griechen 
werden  von  den  Russen  verstümmelt,  gekreuzigt  und  in  Stücke 
zerschnitten ;  man  stellt  sie  als  Zielscheiben  auf  und  durchbohrt 
sie  mit  Pfeilen;  man  bindet  ihnen  die  Hände  auf  den  Rücken 
und  stößt  ihnen  spitze  lange  Eisenstäbe  in  den  Kopf.  Aber 
auch  in  ihren  Kämpfen  gegeneinander,  in  der  Zeit  der  Teil- 
fürstentümer und  der  Rivalitäten,  kennen  die  Russen  keine 
Schonung:  Als  Fürst  Swjätoslaw  Joanowitsch  von  Smolensk 
die  Stadt  Mohilew  erobert,  begnügt  er  sich  nicht  mit  einfacher 
Ermordung  der  Besiegten,  sondern  erdenkt  für  sie  Höllen- 
qualen :  er  erwürgt  Männer,  spießt  Kinder  und  Frauen  und  er- 
götzt sich  an  der  Verzweiflung  seiner  Opfer.  Gewiß  waren  die 
Kriegsgesetze  damaliger  Zeit  von  barabarischer  Brutalität ;  doch 
die  Greuel  Swjätoslaws  werden  von  den  Annalisten  als  unerhört 


^)  La  chronique  de  Nestor,  I  54. 


—    255    — 

verurteilt.^)  Vor  der  Lipezker  Schlacht  beschließen  die  Führer 
der  beiden  einander  bekämpfenden  russischen  Heere,  nieman- 
den zu  schonen  und  alle  Gefangenen  zu  töten.  Bei  der  Er- 
oberung Kijews  im  Jahre  1169  werden  Russen  von  Russen 
unbarmherzig  niedergemacht ;  selbst  die  Kirchen  werden  nicht 
respektiert,  und  von  den  orthodoxen  Eroberem  demoliert  und 
verbrannt.2)  Natürlich  geht  es  nicht  milder  zu,  wenn  die  Russen 
es  mit  den  Polen  oder  Livländem  zu  tun  haben.  1 502  verwüsten 
die  Russen  das  ganze  Stift  Dorpat,  das  halbe  Stift  Riga  „und 
hantieren  mit  vielen  Frauen  und  Jungfrauen,  auch  kleinen 
Kindern  also,  daß  man  von  den  Türken  dergleichen  nie  ge- 
höret.**3)  In  einem  Brief  des  livländischen  Heermeisters  Berndt 
von  der  Borch  vom  25.  März  1480  beschreibt  dieser  das  Wüten 
des  moskowitischen  Großfürsten  Iwan  III.  und  seiner  Truppen 
in  Livland:  „wie  sie  ym  veligen  bekußten  vnnd  vorssegelten 
vrede  diese  Lande  obirczogen,  Jünckfrowen  vnnd  frouwen  be- 
schemten,  ere  Borste  abesneten  vnnd  den  Mennen  yn  de  Münde 
stißen,  den  Mennen  ere  Gemechte  berobten  vnnd  den  Weibes- 
perßonen  yn  den  Münde  hynghen,  den  Christenn  nesen  und 
Oren  abesneten,  fynghen,  hyngehn,  rederten,  hende  vnnd  fuße 
abehywen,  besten  schatcztene  eve  ee  loffte,  swanger  Frouwen 
vffsneten,  de  frucht  awßen  Leibe  nomen  vnnd  spißeten,  dy 
Dermen  hefften  an  dy  Boeme,  dy  Lewthe  drünghen  ere  eygene 
Yngewethe  awßen  Leibe  czu  reißen,  vnnd  viele  mehr  unmensch- 
liche vbelthat.***)    Ähnlich  trieben  es  fünfzig  Jahre  später  die 


^)  Karamsin,  Geschichte,  V  79. 

2)  THMOilM^eiTb,  ncTopin  pvccKHXh  HaK<i3aHiü,  crp.  54. 

3)  Th.  Hiäm's  esth-,  lyf-  und  lettländische  Geschichte,  190.  —  Aller- 
dings waren  auch  die  Livländer  nicht  sanfter.  Hiäm  erzählt  S.  228:  ,,Gott- 
hard  Kettler,  der  livländische  Ordensmeister  arbeitete  ebenfalls  fleißig  mit 
Rädern  und  Hencken."  Und  erst  die  Schweden!  König  Erich  von  Schweden 
ließ  seinen  Verbündeten  Jürgen  Persson  treulos  dem  Herzog  Johann  ausfolgen. 
Der  Herzog  „schnitt  dem  Persson  die  Ohren  ab,  die  man  an  den  Galgen  nagelte, 
darnach  mußte  die  Nase  auch  herunter,  darauf  wurde  der  Verstümmelte  an 
den  Galgen  gehenckt,  doch  nicht  erwürget.  Alß  er  bey  einer  Stunde  gehangen, 
nahm  ihn  der  Scharff-Richter  wieder  ab,  räderte  ihn  und  hieb  ihm  den  Leib 
in  vier  Stücken."    (Hiärn  266.) 

^)  Sugenheim,  Rußlands  Einfluß  auf  und  Beziehungen  zu  Deutschland, 
I  12  und  Anmerkung  28. 


—    256    — 

1 1  uppen  Iwaiis  IV.  in  den  Ostseeprovinzen,  indem  sie  ,jscb} 
gcrc  Frauen  voneinander  hauen,  die  Frucht  ihrer  Leiber, 
auc  h  andere  gebohrne  junge  Kinder  mehr  an  die  Zaun-Stecken 
hpiüLWn,  alte  und  junge  Leute  niederwerffen,  ihnen  in  die 
Siäten  l*ulver  streuen,  dasselbe  anstecken  und  die  armen  Leute 
(»hni*  lOrluirnien  voneinander  sprengen  ließen;  viel  sind  mit 
Iriii  II  Kijn-  oder  Pergel-Holtz  gespicket,  und  also  verbrannt 
wi»uU*n.  Frau-  und  Jungfrauen  wurden  als  Hunde  nacheinander 
ys^i  haudrt,  und  die  davon  nicht  stürben,  ärger  als  das  Vlehe 
l  liril*4  zur  Srhiinde,  Theils  den  Tartaren  zu  verkauffen^  ^'^' 
y^iMwUm  . .  A)  Waß  die  Reußen  für  unmenschliche  Tyranney 
iiiU  i.uibrn.  morden,  Brennen,  wegführen  (einigen  Alters,  Ge- 
44  hlri  lit  «iilrr  Standes  ohngeschonet)  getrieben,  steht  nicht  zu 
l»rti(  hinbrn.  Ja«  es  sind  auch  die  ungebohmen  Kinder  in  ihrer 
MtlMn  Iribr  nicht  geschonet  worden.  Nach  des  Feindes  Zurück- 
n\ys  h<i(  man  genug  zu  thim  gehabt,  die  unschuldigen  kleinen 
Kiiulri  Itin  und  wieder  auf  der  gemeinen  Straßen  von  den 
/liuiM'ii.  avh  li  liin  und  wieder  die  «m  Arm  und  Beinen  zer- 
MhhiHurlt  und  am  gantzen  Leib  jämmerlich  zerhacket  und  zer- 
iiirl«ii  lirl  >.:rwrsen,  aufzulesen  und  etliche  Schlitten  und  Wagen 
villi  h(i(  h  dru  Städten  oder  sonst  zum  I3egräbnis  zu  führen/*') 
I  Mr  *»»  hwrdisclien  Gefangenen  wurden  von  den  Russen  „mit 
Wrll»  und  Knul  zu  Tode  geschmäurhet  und  am  Feuer  zu  Tode 
^jrhhilrn."*)  Bartholomäus  Taube  zu  Saga  wurde  1573  nach 
MM><kiUi  ^;rlvihit,  ,,da  er  an  ein  Spieß  gebunden  und  am  Feür 
Ml  li»dr  ^;rl»i«iten  worden.*)  I)i(!  adlirhc  Frau-  und  Jungfrauen 
:tiil  \ni  hriad,  derer  eine  große  M<'ng(!  gewesen,  hat  der  Gros- 
I  \\\a\  i\\\r  lui  seine  Augen  von  dcu  Tartaren  sehenden  und 
li»'Mi«M  h  f:elän>;lich  mit  herumb  srhirpprn  lassen."^)  In  Wen- 
ili  II  '»pirufitm  sich  die  von  Iwan  IV.  Hf^lagerten  selbst  in  die 
I  iiM.  um  dem  schmählichen  1  odt*  dun  h  di«!  Hand  eines  Russen 
•II  rhl^:i'lirn.  I'liner  von  den  Livländrrn  aber,  „Heinrich  Bouß- 
hiiinn.  Irl»tr  muh  ein  wenig.    Zum  (irosfürsten  getragen,  wiurde 

M  ItlAnt.   ^IJ. 
')  Mirniti«  JJO. 

>)  MuMida  jH6. 


—    257    — 

er  auf  einen  Pfahl  gesteckt.  Etliche  Männer  hat  der  Grosfürst 
mit  drättrnen  Geissein,  welche  die  Reüßen  Knut  heißen,  so- 
lange streichen  lassen,  bis  das  rohe  Fleisch  zu  sehen  war,  und, 
also  verwundet  und  blutig,  beym  Feür  lebendig  braten  lassen. 
Des  wendischen  Castellanen  Fürstenbergs  Secretarium  Jasper 
Ummingshausen,  hat  man  in  des  Großfürsten  Gegenwart  so- 
lange gestrichen  und  gepeitschet,  daß  man  ihm  das  Eingeweide 
im  Leibe  sehen  können,  und  er  in  solcher  Qval  seinen  Geist 
auffgegeben.  Einem  Priester  ist  die  Zunge  durch  den  Nacken 
außgezogen,  und  einem  Bürgermeister  das  Hertz  aus  dem  Leibe 
lebendig  gerissen  worden.  Die  übrigen  alle  sind  gleicher  Ge- 
stalt mit  unerhörter  Marter  und  Pein  ums  Leben  gebracht,  deren 
keine  jemand,  bey  Verlust  Leibes  und  Lebens,  begraben 
dürffen,  sondern  man  hat  den  Hunden,  Vögeln  und  wilden 
Thieren  zur  Speise  gelief fert,  und  unbegraben  liegen  lassen. 
Etliche  wenige  sind  entkommen,  ohn  Zweifel  durch  sonderbahre 
göttliche  Verhengnis,  damit  sie  alles  dasjenige,  so  sie  auff 
Wenden   angesehen,   der  Welt   berichten  möchten. **i) 

In  seinem  Reglement  für  Heer  und  Flotte  befahl  Peter  der 
Große:  „bei  Eroberung  einer  Stadt  dürfen  Kirchen,  Schulen, 
geistliche  Stiftungen  und  Hospitäler  nicht  geplündert  werden; 
der  Zuwiderhandelnde  wird  gleich  einem  Rauber  gestraft  wer- 
den. Weibspersonen,  Kinder,  Greise  und  Priester  soll  man 
schonen.**  Aber  als  1721  die  Russen  die  Kamtschädalen  mit 
Krieg  überziehen,  verüben  sie  doch  die  ärgsten  Greuel  und 
martern  die  Gefangenen  zu  Tode.  Und  wem  sind  wohl  die 
Barbareien  fremd,  die  die  Russen  im  achtzehnten  Jahrhundert 
in  Preußen  während  des  siebenjährigen  Krieges  verübt  haben  ? 
Greise,  Weiber,  Kinder,  Kranke  wurden  von  ihnen  gräßlich 
gepeitscht,  gemordet,  lebendig  verbrannt.  Eine  Relation  des 
Vizebürgermeisters  Werner  von  Rageit  berichtet  über  die 
Aufführung  der  Russen  in  diesem  Ort :  „Der  alte  Zeugmacher 
Walther  wurde  in  seinem  Hause  mit  der  Pique  todtgestochen 
und  verbrannte.  Der  alte  Dohm-Inspektor  Böhmke  wurde 
durch  einen  Säbelhieb  getödtet  und  verbrannte.  Der  alte 
Krancke  Bahrin  wurde   mit   einer  Pique   todt   gestochen  und 


^)  Ebenda  317. 
Stern,  Geschichte  der  öflfentl.  Sittlichkeit  in  Rußland     **  ly 


—    268    — 

verbrannte.  Die  alte  Krancke  Pisewitzin  wurde  in  die  Kirche 
getragen  und  mußte  verbrennen.  Der  arme  Krancke  Bürger- 
meister Boltz  wurde  in  seinem  Bette  nackend  ausgezogen,  be- 
kam einen  Säbelhieb  und  mußte  nachhero  verbrennen.  Der 
Hospitalist,  Zülich,  ein  Krippel,  wurde  in  die  Träncke  gejagt 
und  ersäufet.  Die  alte  Krancke  Frau  Züllichin  wurde,  nach- 
dem sie  nebst  vielen  anderen  verheyratheten  und  unverheyrathe- 
ten  Frauens-Personen  öffentlich  und  zum  Theil  in  Gegenwart 
ihrer  Männer  und  Eltern,  aufs  schändlichste  gemißhandelt 
worden,  so  erbärmlich  und  grausam  gepeitscht,  daß  Sie  auch 
2  Tage  hernach  ihren  Geist  aufgeben  mußte.  Die  Frauens 
wurden  alle  Nackend  ausgezogen,  und  biß  aufs  Blut  ge- 
peitschet.**^)  Die  russische  Grausamkeit  steht  immer  in  Be- 
ziehung zum  Sexuellen,  ist  stets  Sadismus;  der  russische 
Kommandant  General  Totleben  selbst  verübte  die  empörendsten 
Geschlechtsgreuel:  „II  y  commit  des  exc^s  en  tous  genres, 
et  devint  le  fl^u  de  cette  province.  Une  jeune  fille  ä  peine 
nubile,  pour  avoir  r6sist6  ä  sa  passion  brutale,  fut  viol^e  par 
ses  ordres  par  quelques  Cosaques ;  et  ses  deux  f reres,  qui  6toient 
accourus  ä  son  secours,  furent  massacr^s  par  ces  monstres.**^) 
Wie  Totleben  in  Preußen  wütete  1768  Repnin  in  Polen  und 
Podolien,  „als  vollendeter  Kannibale,  als  eine  der  größten 
Schandsäulen  der  Menschheit. **3)  Er  ließ  zweimalhundert- 
tausend  Menschen  unter  gräßlichen  Martern  abschlachten. 
Über  den  von  ihm  errichteten  Galgen  prangte  die  Inschrift: 
„Alles  ist  gleich**,  und  darunter  hingen  zur  Illustration  dieser 
Weisheit :  je  ein  Edelmann,  ein  Mönch,  ein  Jude  und  ein  Hund. 
Bei  der  Eroberung  der  Krym  verwüsteten  die  Russen  unbarm- 
herzig das  Land;  alle  öffentlichen  Gebäude  wurden  nieder- 
gebrannt, die  Wasserleitungen  unbrauchbar  gemacht,  die  Be- 
wohner  ausgeplündert.    Man   überfiel    die   betenden  Tartaren 


^)  Sugenheim  a.  a.  O.  275,  Anmkung.  9. 

2)  La  Vie  du  Comtc  de  Totleben,  ci-devant  colonel  au  Service  des  Etats- 
Generaux  des  Provinces-Unies,  et  dcrnierement  Lieutenant-G6n6ral  des  Arm6es 
de  Sa  Majeste  rimp6ratrice  de  toutes  les  Russies;  contenant  ses  avantures 
et  ses  Campagnes.  Traduite  du  Hollandois.  A  Cologne,  ches  Pierre  Marteau 
(fingierter  Verlag!)   1772.     pag.  85. 

^)  Sugenheim,  I  363. 


—    259    — 

in  den  Moscheen,  man  riß  ihre  Ahnen  aus  den  Gräbern  und 
warf  die  Leichen  den  Schweinen  vor  oder  verbrannte  sie  auf 
Scheiterhaufen.  Wenn  die  Muesin  mittags  die  Minare  be- 
stiegen, um  die  Gläubigen  zum  Gebet  zu  rufen,  belustigten  sich 
die  russischen  Soldaten  damit,  auf  sie  zu  schießen.^)  Auch  bei 
der  Eroberung  Kaukasiens  behandelten  die  Russen  die  ge- 
fangenen Feinde  wie  Verbrecher:  sie  hieben  ihnen  Ohre  und 
Nase,  die  rechte  Hand  und  das  linke  Bein  ab.  Kameraden  der 
also  Bestraften  mußten  einen  Topf  mit  Milch  oder  Talg  bereit 
halten,  um  das  Blut  zu  stillen.  Denn  die  Verstümmelten  schickte 
man  in  ihre  Dörfer  zurück,  damit  das  Volk  vor  Schrecken  den 
Widerstand  gegen  die  Russen  aufgeben  sollte.2)  Die  Greuel 
der  russischen  Soldaten  im  letzten  Türkenkriege  veranlaßten 
sogar  diplomatische  Vorstellungen  und  Interventionen.  So 
lenkte  am  6.  August  1877  die  Hohe  Pforte  die  Aufmerksamkeit 
der  Großmächte  auf  folgende  Vorfälle:  „In  Herste  haben  die 
Russen  und  Bulgaren  muselmanische  Bewohner  aus  dem  Dorfe 
gejagt  und  lebendig  verbrannt.  70  Muselmanen  wurden  von 
Bulgaren  in  eine  Scheune  geschleppt  und  diese  in  Gegenwart 
von  Kosaken  angezündet.  Acht  Mädchen,  die  sich  einer  Schän- 
dung widersetzten,  wurden  getötet.  Die  übrigen  Weiber  und 
Kinder  führte  man  vor  das  Dorf,  dort  stellte  man  sie  in  einer 
Reihe  auf  und  ermordete  sie."  Ein  Protokoll  der  europäischen 
Kriegskorrespondenten  konstatierte  am  20.  Juli  1877  zu 
Schumla :  „Wir  haben  mit  eigenen  Augen  sowohl  in  Rasgrad 
als  in  Schumla  Kinder,  Frauen  und  Greise  gesehen  und  befragt, 
die  durch  Lanzenstiche  und  Säbelhiebe  verwundet  wurden.**  In 
einem  Telegramm  der  Pforte  vom  21.  Juli  1877  an  den  Präsi- 
denten der  Schweizer  Bundesregierung  wurden  zahllose  Ver- 
letzungen der  Genfer  Konvention  durch  die  Russen  konstatiert : 
„Die  russischen  Soldaten  schändeten  die  Frauen  und  Mädchen 
von  Binpunar  und  verstümmelten  nachher  die  Geschändeten 
in  Gegenwart    ihrer   gefangen    gehaltenen  Angehörigen.    Die 


^)  Berichte  der  Reisenden  Clarke  und  Rcuilly.     Vgl.  auch  Geheimnisse 
von  Rußland,  II  356. 

2)  Lcrchs  Reisebeschreibung  in  Büschings  Magazin  für  die  neue  Historie 
und  Geographie,   III  }}. 


17* 


—    260    — 

Bewohner  von  Terns  bei  Tirnovo  wurden  in  der  Moschee 
lebendig  verbrannt.**  Der  enghsche  Botschafter  Layard  be- 
stätigt die  Wahrheit  der  türkischen  Anklagen  in  einer  Depesche 
an  Lord  Derby :  „Die  Angaben  über  die  von  den  Russen  gegen 
die  mohamedanische  Bevölkerung  der  von  ihnen  mit  Krieg 
überzogenen  türkischen  Territorien  in  Asien  und  Europa  ver- 
übten Grausamkeiten  und  Ausschreitungen  entsprechen  der 
Wahrheit.  Sir  Arnold  Kemball  erwähnt  in  einer  seiner  De- 
peschen, daß  die  Weiber  in  einem  der  muselmanischen  Dörfer 
unweit  Kars  unter  dem  Vorwande,  daß  sie  den  Belagerten  In- 
formationen gegeben  hätten,  gänzlich  entkleidet,  gepeitscht  und 
nach  den  türkischen  Linien  zurückgetrieben  wurden.**^)  Ver- 
brennungen Lebender  und  Schändungen  der  Frauen,  das  sind 
durchaus  alltägliche  Begleiterscheinungen  russischer  Kriegs- 
führung, die  im  zwanzigsten  Jahrhundert,  wie  die  zahllosen 
japanischen  Beschwerden  bewiesen,  noch  nicht  menschlicher 
geworden  ist. 

Auch  die  von  den  Russen  unterjochten  Völker,  die  in  der 
Armee  namentlich  in  der  Kavallerie  vertreten  sind,  sind  be- 
rüchtigt ob  ihrer  Grausamkeit;  so  seit  altersher  die  Kosaken 
und  die  Kalmücken.  Die  donischen  Kosaken  pflegen  die  Ge- 
fangenen ausnahmslos  zu  töten,  aber  nicht  schnell,  sondern 
langsam  unter  qualvollen  Martern.  Ein  berühmter  Held  der 
Kalmücken,  Marucka,  beanspruchte  stets,  daß  die  Ermordung 
von  Gefangenen  ihm  überlassen  werden  sollte.  Einst  nahmen 
seine  Genossen  sieben  Männer  und  ein  schwangeres  Weib  ge- 
fangen. Marucka  tötete  die  sieben  Männer,  aber  auf  Bitten 
seiner  Gefährten  verschonte  er  das  Weib.  Als  man  jedoch  zu 
Pferde  stieg,  da  reute  es  diesen  Unmenschen,  daß  er  ein  mensch- 
liches Wesen  lebend  zurücklassen  sollte;  schnell  sprang  er  ab, 
drückte  das  Weib  mit  dem  Gesicht  auf  die  Kohlen  des  Lager- 
feuers und  erstickte  die  Unglückliche. 2)  Von  einem  anderen 
sibirischen  Helden    wird    berichtet,    daß    er    alle    Gefangenen 


^)  \'gl.  Die  Grausamkeiten  der  Russen  in  Bulgarien  und  Armenien  im 
Jahre  1877.  Nach  authentischen  Dokumenten  von  Dr.  L.  Bernhard.  Berlin  1878. 

S.  44.  51.  75.  84. 

')  Benjamin  Bergmanns  Nomadische  Streifercicn  unter  den  Kalmücken 
II   350. 


—     261     — 

nackt  an  Bäume  band  und  ihnen  dann  mit  dem  Messer  die  Brust 
beim  Herzen  aufriß.  Er  hatte  seine  Lust  an  den  Zuckungen 
der  Opfer,  und  liebte  dies  Vergnügen  so  sehr,  daß  er  seinen 
Gefährten  alle  Beute  überließ  und  für  sich  nur  die  Menschen 
in  Anspruch  nahm.^) 

Gesellt  sich  der  angeborenen  natürlichen  Roheit  noch 
der  künstlich  angefachte  religiöse  und  nationale  Haß,  dann 
erreicht  die  Grausamkeit  des  russischen  Volkes  den  Höhe- 
punkt. Die  Regierung  gibt  das  Beispiel  der  Unduldsamkeit 
und  Verfolgungssucht.  Im  Jahre  1728  werden  18  Smolensker, 
die  von  dem  orthodoxen  zum  katholischen  Glauben  über- 
getreten sind,  durch  Prozeduren  schändlichster  Art  in  den 
Schoß  der  griechischen  Kirche  zurückgeführt:  Knut  und  Beil 
sind  die  überzeugenden  Beweise  der  alleinseligmachenden 
rechtgläubigen  Kirche.^)  Kaiser  Paul  behauptet,  daß  die  Polen 
als  Katholiken  die  Ehrfurcht  vor  dem  orthodoxen  Zaren  ver- 
letzen, und  verurteilt  die  nach  Sibirien  verbannten  Polen  zum 
Verlust  von  Nase  und  Ohren.  Nikolaj  I.  will  die  ruthenischen 
Dörfer  der  Orthodoxie  gewinnen ;  er  läßt  die  Missionäre  durch 
Soldaten  begleiten,  und  Konfiskationen  und  Verbannungen  sind 
die  Argumente  der  Popen.  Eine  geistliche  Kommission  besetzt, 
unterstützt  von  zwei  Bataillonen,  eine  Kirche  und  dekretiert 
den  versammelten  Katholiken  die  Vereinigung  mit  der  ortho- 
doxen Kirche;  wer  sich  widersetzt,  wird  niedergeschossen.  Die 
Grausamkeiten  gegen  die  Protestanten,  die  Finnländer  und  die 
Balten  würden  Bücher  füllen  können ;  von  der  traurigsten  Aktu- 
alität  endlich  sind  und  bleiben  die  Barbareien  gegen  die  Juden. 
Olearius  schrieb  schon  im  siebzehnten  Jahrhundert :  „Die  Mus- 
cowiter  mögen  die  Juden  nicht  gerne  sehen  noch  hören,  und 
kann  man  einem  Russen  nicht  weher  thun  als  wenn  man  ihn 
einen  Juden  schilt/*  Als  Peter  der  Große  in  Amsterdam  weilte, 
wandten  sich  die  holländischen  Juden  an  ihn  mit  der  Bitte  um 
Erlaubnis  zur  Niederlassung  in  Rußland  und  Anlegung  eines 
Handlungskontors.  Sie  erboten  sich  sofort  eine  Erkenntlichkeit 
von  100000  Gulden  zu  zahlen;  „doch  Peter  hielt  es  zur  Zeit 


^)  St.  Edmc,  Dictionnaire  de  la  penalit6,  I  465. 

-)  Waliszewski,  I/h6ritagc  de  Pierre  Ic  Grand,  p.  103. 


—    262    — 

noch  nicht  für  ratsam,  die  Juden,  die  unter  Iwan  Wassiljewitsch 
aus  Rußland  vertrieben  worden  waren,  wieder  aufzunehmen."^) 
Er  half  sich  durch  ein  Witzwort  aus  der  Verlegenheit :  „Mein 
lieber  Vitsen,**  entgegnete  er  diesem,  der  die  Sache  hatte  ver- 
mitteln wollen,  „aus  Mitleid  mit  den  Juden  muß  ich  das  Gesuch 
abschlagen.  Die  Juden  haben  zwar  den  Namen,  daß  sie  die 
ganze  Welt  in  Handel  und  Wandel  überlisten  können;  aber 
ich  kenne  meine  Russen,  bei  ihnen  würden  sie  doch  zu  kurz 
kommen/*^)  Wenn  Peter  auch  die  Juden  nicht  wieder  nach 
Rußland  hineinlassen  wollte,  so  machte  er  doch  für  einzelne 
ganz  auffallende  Ausnahmen.  In  seiner  Umgebung  sehen  wir 
als  seinen  Finanzberater  und  Armeelieferanten  einen  gewissen 
Meyer  und  dessen  Schwager  Lups;  Meyer  befindet  sich  sogar 
in  den  Senatssitzungen  oft  an  der  rechten  Seite  des  Kaisers  und 
wird  zuvorkommend  und  achtungsvoll  behandelt.^)  Neben  den 
paar  Ungetauften,  die  treu  zu  ihrer  Religion  halten,  bemerken 
wir  eine  ganze  Legion  Getaufter.  Devier,  der  erste  Polizei- 
meister von  Petersburg  ist  ein  getaufter  Jude ;  ebenso  Dacosta, 
der  tnächtige  Hofnarr.  Und  nicht  zu  vergessen  des  Vizekanzlers 
Schaf irow:  Peter  Pawlowitsch  stammt  aus  Polnisch-Litthauen ; 
sein  Großvater,  Chaja  oder  Chajuschka  Schafir,  war  der  Faktor 
der  Landedelleute  von  Orcha.  Den  Enkel  des  Faktors  ent- 
deckt der  Zar  in  der  Bude  eines  Moskauer  Kaufmanns  imd 
engagiert  ihn  sofort  als  Korrespondenten  für  den  Minister 
Golowkin.  Als  Golowkin  nach  Poltawa  zum  Kanzler  erhoben 
wird,  steigt  sein  Sekretär  Schafirow  plötzlich  zum  Range  eines 
Vizekanzlers  empor  und  ist  in  Wahrheit  der  eigentliche  Minister 
des  Auswärtigen.  In  der  Pruth-Affäre  verwendet  er  seine  wun- 
derbaren Talente  so  vortrefflich,  daß  ihm  die  Rettung  des 
Zaren,  der  Armee,  vielleicht  des  Reiches  zu  verdanken  ist. 
Er  ist  auf  dem  Gipfel  seiner  Erfolge,  triumphiert  in  jeder  Be- 
ziehung; er  ist  immens  reich  und  Baron  geworden;  und  hat 
fünf  der  ersten  Aristokraten  zu  Schwiegersöhnen :  einen  Gaga- 
rin,  einen  Chowanskij,  einen  Ssaltykow,  einen  Golowin,  sogar 


^)  Ilalcm,  Leben  Peters  des  Großen,  III  iii   und  308,  Anmerkung  34. 
-)  Stählin,  Anekdoten  von  Peter  dem  Großen.     S.  29. 
^)  Waliszewski,  Pierre  Ic  Grand,     p.  185. 


—    263    — 

einen  Dolgorukij.  Aber  alle  Herrlichkeit  versinkt  in  einem 
einzigen  Augenblick :  ein  Moment  der  Abwesenheit  des  Kaisers 
wird  von  den  Rivalen  Schafirows  zu  dessen  Sturz  ausgenützt. 
Der  Gegner  hat  der  Mächtige,  der  trotz  des  orthodoxen  Salböls 
für  die  Russen  immer  der  Hebräer  geblieben  ist,  genug.  Da 
steht  in  seiner  Feinde  Reihe  obenan  der  große  Mentschikow, 
dem  er  manchen  Raub  vor  der  Nase  weggeschnappt  hat;  da 
ist  sein  ehemaliger  Protektor,  der  Kanzler  Golowkin,  der  den 
Vizekanzler  haßt,  weil  er  seine  Konkurrenz  füchtet;  da  ist 
endlich  Ostermann,  ein  Parvenü  wie  Schafirow,  der  offen- 
sichtlich die  gleiche  Karriere  erstrebt  und  schon  den  Posten 
des  Vizekanzlers  begehrt:  ihrer  gemeinsamen  Wühlarbeit  er- 
liegt Schafirow.  Und  am  15.  Februar  1723  steht  der  Enkel 
des  Chaja  Schafir  auf  dem  Schaffot;  und  die  Henkerknechte 
werfen  ihn  zu  Boden,  und  der  Henker  hebt  das  Beil.  Doch 
in  letzter  Sekunde  erscheint  atemlos  keuchend  ein  kaiserlicher 
Sekretär  und  vermeldet  die  Begnadigung  zu  lebenslänglichem 
Exil.  Schafirow  arrangiert  sich  einigermaßen  mit  der  Re- 
gierung, und  statt  nach  Sibirien  geht  er  bloß  nach  Nowgorod. 
Hier  erwartet  er  resigniert  Peters  Tod,  um  dann  nach  Peters- 
burg zurückzukehren.  Die  alte  Macht  erlangt  er  auch  jetzt 
nicht  wieder,  aber  er  bekommt  seine  konfiszierten  Güter  und 
wird  Präsident  des  Handelskollegiums.  Außer  Schafirow  haben 
noch  einige  seiner  Verwandten  große  Rollen  gespielt.  Eine 
Tante  des  Vizekanzlers  heiratete  einen  getauften  Juden,  der 
den  Namen  Wesselowski  annahm  und  der  Stammvater  einer 
berühmten  Familie  von  Faiseurs  und  Diplomaten  wurde.  Auch 
am  Hofe  der  Zarin  Anna  Iwanowna  finden  wir  einige  Männer 
jüdischer  Abstammung;  die  Liepmann  und  Bielenbach,  die 
von  Bühren-Biron,  dem  Regenten  und  Günstling  Annas,  pro- 
tegiert werden,  sind  jedoch  nicht  ehrgeizige  Staatsmänner,  son- 
dern bloß  Finanzmänner;  der  eine,  Liepmann,  ein  Rechner  im 
großen  Stil,  hat  ein  gewichtiges  Wort  in  den  großen  ökono- 
mischen Staatsfragen  und  nimmt  vorkommenden  Falles  teU 
an  den  Beratungen  der  Minister  als  deren  gleichwerter  und 


^)  Ebenda   238,    239,    240.   —   Russische   Günstlinge   (von   Heibig).    — 
Büschings  Magazin,  XXI  195.  —  CoiobiiCBT,,  HcTopifl  XVHI  141. 


—     264     — 

gleichberechtigter  Faktor ;  der  andere,  Bielenbach,  begnügt  sich 
mit  der  bescheidenen  Rolle  eines  Faktotums  des  allmächtigen 
Regenten  und  verkauft  in  dessen  Vorzimmer  ungeniert  die 
Stellen  und  Würden  des  Reiches  nach  einem  fixen  Tarif.i) 
Die  bevorzugte  Stellung  einer  kleinen  Anzahl  von  ge- 
tauften und  ungetauften  Juden  blieb  ohne  jeden  Einfluß  auf 
die  Lage  des  jüdischen  Volkes  im  allgemeinen.  Je  näher  der 
Epoche,  in  der  durch  die  ganze  Welt  der  Zug  der  Freiheit  und 
Gleichheit  weht,  je  trauriger  wird  das  Los  der  russischen  Juden. 
Unter  der  Herrschaft  der  Zarin  Elisabeth,  der  fanatisch-chauvi- 
nistischen Tochter  Peters  des  Großen,  ist  dies  verständlich.  Die 
Kaiserin,  die  so  viel  Nachsicht  für  sich  beansprucht,  ist  intole- 
rant gegen  alle  Welt.  Die  Moslems  sollen  zwar  nicht  verbrannt 
werden,  aber  zarische  Ukase  befehlen  die  erbärmlichsten  Be-* 
kehrungsmittel,  verbieten  den  Bau  von  Moscheen  und  nehmen 
den  Bekennern  Mohammeds  alle  Rechte  von  Bürgern.  Bei 
einer  Fahrt  über  den  Newskij -Prospekt  bemerkt  Elisabeth  an 
dieser  Hauptverkehrsstraße  der  Residenz  eine  protestantische 
Kirche ;  das  ist  eine  Beleidigung  in  den  Augen  dieser  Majestät, 
und  nur  ganz  gewaltige  Einflüsse  vermögen  das  protestantische 
Gotteshaus  vor  der  Zerstörung  zu  retten.  1749  befiehlt  Elisa- 
beth, die  selbst  keinen  Anstand  nimmt,  in  Kirchen  und  Klöstern 
heimlich  mit  ihren  Liebhabern  zusammenzutreffen  und  wol- 
lüstige Orgien  zu  feiern,  einige  hohe  Hofbeamte,  die  durch 
lautes  Gespräch  den  Gottesdienst  störten,  als  Religionsver- 
brecher an  die  Kette  zu  legen;  und  als  ein  Mann  es  gar  wagt, 
sich  von  der  Orthodoxie  loszusagen,  läßt  ihn  die  Zarin  lebendig 
verbrennen. 2)  Zur  Unterdrückung  des  Raßkol  sind  alle  Mittel 
recht :  Geld,  Schwert,  Feuer.  Sollen  da  die  Juden  als  das 
auserwählte  V^olk  gelten,  das  nicht  angetastet  werden  darf? 
1742  befiehlt  Elisabeth  die  Verbannung  aller  Juden  aus  Ruß- 
land, und  Gnade  wird  nur  jenen,  die  sich  taufen  lassen.  1743 
erklärt  der  Senat  der  Kaiserin,  die  Maßregel  ruiniere  den  Han-. 
del;  worauf  die  Zarin  antwortet:  „Ich  will  nicht  gewinnen 
durch  die  Feinde  Christi."     Und  sie  erneuert  ihren  Ukas  und 


^)  Waliszewski,  L'h^ritage  de  Pierre  Ic  Grand,   177. 
2)  Co-ioBLCB-i»,  IIcTopitt  XXI  245. 


—    265    — 

schont  niemanden.  Der  berühmte  portugiesische  Arzt  Sanchez, 
der  von  der  Akademie  zum  Mitglied  ernannt  worden  war,  muß 
ebenfalls  ;aus  Petersburg  fort:  „Die  Kaiserin/*  sagt  man  ihm, 
„ist  nicht  böse  gegen  Sie,  aber  sie  glaubt,  daß  ihr  ihre  Über- 
zeugung nicht  gestattet,  in  der  Akademie  einen  Menschen  zu 
belassen,  der  nicht  der  Standarte  Christi  folgt,  sondern  unter 
der  Fahne  Moses*  und  der  Propheten  des  Alten  Testaments 
kämpft.**  Der  kaiserliche  Blitzstrahl  trifft  auch  jene  Juden, 
die  außerhalb  Rußlands  in  russischen  Diensten  stehen :  so  den 
berühmten  Simon,  der  als  Privatsekretär  des  russischen  Ge- 
sandten in  Wien  fungiert  und  nun  entlassen  werden  muß.^) 

Elisabeths  Maßregeln  wirkten  so  gründlich,  daß  zur  Zeit 
Peters  III.  die  Juden  gänzlich  aus  dem  Lande  vertrieben  waren.2) 
Erst  Katharina  II.  erteilte  ihnen  die  Erlaubnis  zur  Rückkehr, 
und  1772  konnte  der  Generalgouverneur  von  Weißrußland, 
Graf  Sachar  Grigorjewitsch  Tschernyschew,  folgendes  Manifest 
erlassen:  „Aus  der  feierlichen  Gewährleistung  der  freien  Aus- 
übung des  Glaubens  und  der  Sicherung  der  Unantastbarkeit 
des  Vermögens  folgt  von  selbst,  daß  auch  die  jüdischen  Ge- 
meinden, die  in  den  mit  dem  russischen  Kaiserreiche  vereinigten 
Städten  und  Gutsbezirken  wohnen,  im  Genuß  aller  jener  Frei- 
heiten belassen  und  geschützt  werden,  welche  sie  gegenwärtig 
in  Gemäßheit  der  Gesetze  und  ihrem  Vermögensstande  ent- 
sprechend genießen: denn  die  Menschenliebe  Ihrer  Kaiserlichen 
Majestät  läßt  es  nicht  zu,  daß  die  Juden  allein  von  der  für  alle 
gemeinsamen  Gnade  und  dem  zukünftigen  Wohlergehen  aus- 
geschlossen werden.**  Zar  Alexander  I.  folgte  dem  Beispiel 
seiner  Großmutter.  Das  „Gutachten  des  Komitees  für  die  Neu- 
regelung der  jüdischen  Angelegenheiten**,  welches  aus  dem 
Oktober  1804  stammt,  gibt  dafür  ein  Beispiel.  Dieses  Komitee, 
dem  der  General  Subow,  Fürst  Kotschubey,  der  Justizminister 
und  berühmte  Dichter  Derschawin,  Senator  Potocki,  der  Ad- 


^)  Waliszewski,  La  dcrni^re  des  Romanov,   170. 

2)  Russische  Anecdoten  oder  Briefe  eines  teutschen  Officiers  an  einen 
Liefländischen  Edelmann,  worinnen  die  vornehmsten  Lebens-Umstände  des 
Russischen  Kaysers  Peter  III.     Wansbeck  1765.     S.  71. 


—    266     — 

junkt  des  Ministers  des  Auswärtigen  Fürst  Tschartoryski  und 
Graf  Speranski  angehörten,  sammelte  alle  Nachrichten,  die 
über  den  Gegenstand  schon  vorhanden  waren,  prüfte  alle  ein- 
schlägigen Meinungen,  verglich  sie  mit  den  tatsächlichen  Ver- 
hältnissen der  Juden  in  Rußland  und  in  anderen  Staaten,  berief 
auch  die  Deputierten  der  jüdischen  Gemeinden  und  entwarf 
dann  eine  „neue  Verordnung  betreffend  die  Juden**.  Es  ward 
festgestellt :  man  müsse  die  Juden  so  viel  als  möglich  aus  dem 
bisherigen  erniedrigenden  Zustande  emporziehen,  sie  in  die 
moralische  und  materielle  Lage  versetzen,  sich  einem  arbeit- 
samen Leben  zuzuwenden  und  den  Unterhalt  auf  ehrliche  und 
nützliche  Art  verdienen  zu  können ;  „die  besondere  administra- 
tive Behandlung  ihrer  inneren  Angelegenheiten  muß  einge- 
schränkt und  ihr  Interesse  vom  Standpunkte  der  allgemeinen, 
für  alle  Untertanen  geltenden  Verwaltung  wahrgenommen  wer- 
den ;  alle  Mittel  zur  Bildung  und  Aufklärung  sind  ihnen  zugäng- 
lich zu  machen,  indem  man  ihnen  in  dieser  Hinsicht  jede  erfor- 
derliche Ermutigung  zu  teil  werden  läßt**.  Auch  wurde  vom 
Komitee  vorgeschlagen,  die  Juden  zu  gemeinnütziger  Tätigkeit 
zu  ermuntern,  sie  zur  Beschäftigung  im  Ackerbau,  Fabrikwesen, 
in  den  Handwerken  heranzuziehen  und  ihnen  ein  Zusammen- 
leben mit  der  übrigen  Bevölkerung  zu  ermöglichen.  Bezüglich 
der  Mittel  zur  Erfüllung  dieser  Prinzipien  entschloß  sich  das 
Komitee  zur  Anwendung  einer  „geräuschlosen,  gemäßigten, 
stufenweise  vorgehenden  Methode,  die  auf  dem  persönlichen 
Interesse  der  Juden  und  der  Förderung  ihrer  politischen  Exi- 
stenz ruht'*.  Überall  bemühte  sich  das  Komitee,  den  Juden  zu 
zeigen,  daß  die  Regierung  nicht  bloß  sie,  sondern  auch  ihre 
Vorurteile  schone,  sie  in  friedlicher  Weise,  nicht  mit  Gewalt 
einem  vorteilhaften  Zustande  entgegenführen  wolle,  daß  die 
Regierung  nur  das  eine  Ziel  verfolge :  die  materielle  Lage  der 
Juden  auf  gesetzlicher  Grundlage  sicherzustellen  und  die  jü- 
dischen Untertanen  an  den  Vorteilen  und  der  Achtung  teil- 
nehmen zu  lassen,  deren  sich  die  übrigen  im  Reiche  erfreuten. 
Bekannt  ist,  daß  auch  unter  Alexander  II.  zahlreiche  Be- 
mühungen um  die  Verbesserung  der  jüdischen  Verhältnisse 
stattfanden.  Vor  allen  war  es  der  Minister  des  Innern  Graf 
Peter  Alexandowitsch  Walujew,  welcher  nicht  müde  wurde,  in 


—    267     — 

Verordnungen  und  Vorschlägen  in  diesem  Sinne  zu  wirken. 
Die  Ausuahmsmaßregeln,  denen  die  Juden  unterworfen  wurden, 
fanden  also  nicht  immer  allgemeine  Billigung.  1785  erklärte 
der  dirigierende  Senat  es  als  Unmöglichkeit :  die  Juden  in  Kur- 
land, die  schon  seit  zwei  Jahrhunderten  dort  ansässig  waren, 
plötzlich  als  Eindringlinge  zu  betrachten  und  aus  einem  so 
lange  innegehabten  Wohnort  zu  verdrängen.  Der  dirigierende 
Senat  entschied  vielmehr,  daß  sie  ruhig  in  ihren  Wohnorten 
verbleiben  könnten,  und  verlangte  einen  kaiserlichen  Erlaß, 
daß  selbst  bei  der  Wahl  für  die  städtischen  Ämter  den  Gesetzen 
gemäß  verfahren,  kein  Unterschied  der  Abstammung  und  des 
Glaubens  gemacht  werde.  Noch  energischer  sprach  sich  später 
einmal,  im  Jahre  1869,  in  kurzen  Worten  der  Generalgouverneur 
der  Ostseeprovinzen  Baron  Wilhelm  Lieven  aus:  „Bei  der 
Schwere  der  auf  den  Juden  lastenden  Steuern  und  Abgaben 
und  der  äußersten  Armut  der  jüdischen  Gemeinden,  insbe- 
sondere in  den  kleinen  Städten,  muß  auf  jede  Weise  Sorge 
dafür  getragen  werden,  daß  die  für  sie  drückenden  und  ihren 
Zweck  überdies  verfehlenden  Ausnahmsmaßregeln  aufgehoben 
werden.**  Der  schon  früher  erwähnte  Minister  des  Innern  Graf 
Walujew  sagte  manches  Treffende  über  diesen  Punkt ;  er  suchte 
die  Ursache  des  Niederganges  des  Handwerks  unter  den  Juden 
in  den  Beschränkungen  der  bürgerlichen  Rechte  der  letzteren 
und  vor  allem  in  dem  Verbot  der  Freizügigkeit :  „Aus  dem  im 
Ministerium  des  Innern  erliegenden  Material  ergibt  sich  offen- 
kundig, daß  unter  dieser  Einschränkung  des  Rechtes  der  Juden, 
außerhalb  des  ihnen  zum  ständigen  Wohnsitz  angewiesenen 
Rayons  sich  aufzuhalten,  am  meisten  die  Klasse  der  Handwerker 
leidet,  und  zwar  nicht  nur  der  jüdischen,  sondern  auch  der 
christlichen  Handwerker.**  Und  er  plädiert  warm,  wenigstens 
den  Handwerkern  die  Freizügigkeit  zu  gewähren.  Auch  Graf 
Peter  Schuwalow  erklärt  es  für  erforderlich,  daß  jenes  Gesetz, 
welches  die  Juden  an  bestimmte  Rayons  bindet,  sobald  als 
möglich  aufgehoben  und  den  Juden  das  unbeschränkte  Recht 
der  Niederlassung  im  ganzen  Reich  erteilt  werde.  Die  Be- 
schränkung dieses  Rechtes  steht  in  krassem  Widerspruch  zu 
dem  ewigen  Ruf  nach  der  Assimilation.  Nikolaj  I.  stellte  die 
„Verschmelzung  der  Juden  mit  der  übrigen  Bevölkerung**  als 


—    2C8    — 

ein  wünschenswertes  Ziel  hin^),  aber  ein  Vierteljahrhundert 
später  klagte  Graf  Pawel  Dimitri  je  witsch  Kisselew,  Vorsitzender 
des  Komitees  für  die  jüdischen  Angelegenheiten,  in  einem  Me- 
morandum an  den  Zaren  Alexander  II. :  „Die  von  allerhöchster 
Seite  gewünschte  Verschmelzung  der  Juden  mit  der  übrigen  Be- 
völkerung** werde  durch  die  mannigfachen,  im  Laufe  der  Zeit 
angeordneten  Beschränkungen  gehindert,  welche  „im  Vergleich 
zur  allgemeinen  Gesetzgebung  zahlreiche  Widersprüche  ent- 
halten und  Mißverständnisse  erzeugen**.  Einige  auf  die  Assi- 
milierung und  Bildimgsreformen  bezügliche  interessante  Be- 
merkungen enthält  ein  Bericht  des  Grafen  Ssergei  Lanskoi, 
des  ersten  Ministers  des  Innern  Alexanders  II. :  „Die  Gerechtig- 
keit erfordert  es  zu  sagen,  daß  eine  der  Hauptursachen  der 
Armut  des  größten  Teiles  der  jüdischen  Gemeinden  in  jenen 
Rechtsbeschränkungen  zu  suchen  ist,  die  bisher  die  Annäherung 
der  Juden  an  die  übrige  Bevölkerung  verhinderten  und  ihnen 
den  Weg  zur  Bildung  und  zur  Verbesserung  ihrer  materiellen 
Lage  verlegten.  Nach  dem  Willen  des  Kaisers  wurde  in  letzter 
Zeit  die  Milderung  der  erwähnten  Maßnahmen  ins  Auge  gefaßt. 
Seit  der  radikalen  Reform,  die  hinsichtlich  der  öffentlichen 
Stellung  des  jüdischen  Elements  stattgefunden  hat,  machte  sich 
bei  den  aufgeklärten  Juden  des  westlichen  Europa  allgemein 
die  Tendenz  bemerkbar,  in  Sitten  und  Gewohnheiten  sich  der 
übrigen  Bevölkerung  der  europäischen  Staaten  zu  assimilieren. 
In  Frankreich  ist  dieser  Verschmelzungsprozeß  bereits  soweit 
gediehen,  daß  selbst  die  Bezeichnung  Jude  in  diesem  Staate 
verschwunden  ist  und  man  dort  nur  noch  von  Franzosen  jü- 
dischen Glaubens  spricht.  Dieser  mächtige  Einfluß  der  Auf- 
klärung ist  auch  unter  den  russischen  Juden,  die  eine  höhere 
Bildung  genossen  haben,  zu  tage  getreten,  wiewohl  die  Zahl 
der  gebildeten  Juden  noch  unbedeutend  ist.  In  neuester  Zeit 
hat  unsere  Regierung  den  Juden  besondere  Aufmerksamkeit 
zugewandt,  und  sich  ihre  sittliche  Umbildung  und  Verschmel- 
zung mit  der  Stammbevölkerung  des  Reiches  zum  Ziele  gesetzt.** 


1)  Wie  schwer  dies  just  damals  gewesen  wäre,  geht  daraus  hervor,  daß 
1845  >^  einer  Stadt  Russisch-Polens  zwei  junge  Juden,  die  ohne  Peahs  (Haar- 
löckchen)  in  der  Synagoge  erschienen,  auf  der  Stelle  erdrosselt  wurden.  Vgl. 
Nicolaus  der  Erste  gegenüber  der  öffentlichen  Meinung  von  Europa,  S.  40. 


—    269    — 

Daß  Assimilierung,  Bildung  und  Freiheit  zusammen- 
hängen, zeigen  die  Berichte  des  Volksaufklärungs-Rates  Alexan- 
der Posteis  und  das  Gutachten  der  Kommission,  welche  im 
Jahre  1865  zur  Prüfung  der  letzterwähnten  Berichte  eingesetzt 
worden  war.  Posteis  äußerte  am  Schlüsse  einer  Abhandlung 
über  die  staatlichen  jüdischen  Schulen  die  Ansicht,  daß  allen 
Opfern  und  Anstrengungen  zum  Trotz  der  Endzweck  ihrer  Be- 
gründung nicht  erreicht  werden  könnte,  so  lange  die  Juden 
in  den  gegenwärtigen  beschränkten  Lebensbedingungen  ein- 
gepreßt blieben.  Diese  Abgeschlossenheit,  bemerkte  er,  nimmt 
ihnen  die  Möglichkeit,  das  Gebiet  ihrer  Betätigung  im  Handel 
und  Gewerbe  zu  erweitern  und  läßt  sie  in  einen  mit  jedem  Tage 
sich  verschlimmernden  Zustand  der  Armut  versinken;  diese 
Beschränkung  verhindert  aber  auch  ihre  Assimilierung  mit  der 
russischen  Bevölkerung,  der  naturgemäß  erst  eine  gegenseitige 
Annäherung  vorausgehen  muß.  Der  Bericht  des  Geheimrates 
Posteis  erhält  eine  reiche  Ergänzung  durch  das  erwähnte  Gut- 
achten der  Kommission  vom  Jahre  1865;  die  Mitglieder  der 
Kommission  Andriaschew,  Siepuschkin  undFeodorow  bekannten 
sich  offen  zu  der  Ansicht :  daß  man  allem  zuvor  den  Juden 
das  freie  Niederlassungsrecht  im  ganzen  Reiche  gewähren 
müsse;  wenn  die  Regierung  aufrichtig  die  Beseitigung  aller 
Übel  erstrebe,  so  müsse  die  Gesetzgebung  mit  einem  Hiebe  den 
Knoten  zerschneiden.  Erwähnen  wir  zum  Schluß  noch  Doku- 
mente, die  von  Geistlichen  herrühren,  die  sich  in  Zeiten  der 
vielen  Judenmassacres  erhoben,  um  gegen  die  gewissenlosen 
christlichen  Mordbrenner  zu  predigen.  Hier  finden  wir  wahre 
Perlen  der  Nächstenliebe,  die  der  Metropolit  Makarius  von 
Moskau  und  Kolomea  also  definierte:  „Wenn  wir  unsere  Ver- 
wandten und  Blutsfreunde,  unsere  Stammes-  und  Glaubens- 
genossen lieben,  so  liegt  darin  noch  wenig  christliches;  solche 
Nächstenliebe  besitzen  auch  die  Nicht-Christen.  Liebet  viel- 
mehr alle  Menschen  ohne  Unterschied,  ob  sie  euch  nahe  stehen 
oder  nicht,  welcher  Abstammung,  welchen  Glaubens  sie  auch 
seien.  Urteilet  nun  selbst,  o  Rechtgläubige,  wie  schwer  sich  jene 
Unglücklichen  unter  unseren  Brüdern  gegen  unseren  heiligen 
Glauben  versündigen,  die  von  der  Leidenschaft  hingerissen 
oder  aus  Unverstand  sich  wider  die  Juden  erheben  und  scho 


—     270    — 

nungslos  ihr  Eigentum  vernichten.  Wie  dürfen  wir  uns  er- 
dreisten, unsere  Arme  gegen  jene  zu  erheben,  die  von  Staats- 
und Gesetzeswegen  unsere  Brüder  sind?**  Ein  anderer  hoher 
Kirchenfürst,  Nikanor,  Erzbischof  von  Cherson  und  Odessa, 
war  es,  der  unseres  Wissens  zum  ersten  Male  nicht  von  Juden, 
sondern  von  „Russen  jüdischen  Glaubens**  sprach,  gelegent- 
lich seiner  Rede  zur  Einweihung  der  Kirche  der  Odessaer 
Handelsschule  im  Jahre   1884.^) 

Alle  diese  Urteile  zerschellten  aber  am  Widerstand,  den 
gerade  die  letzten  Herrscher  Rußlands  der  Verbesserung  der 
Lage  der  Juden  entgegensetzten:  Nikolaj  I.  befahl  1843  den 
an  der  Grenze  wohnenden  Juden,  ihre  Heimat  zu  verlassen 
und  sich  in  sieben  bestimmten  Gouvernements  anzusiedeln, 
wo  die  jüdische  Bevölkerung  ohnehin  schon  groß  war  und  nun 
eine  neue  Million  Armer  das  Elend  vermehrte.  Auf  die  soge- 
nannte Nationaltracht  der  Juden  wurde  eine  Steuer  ausge- 
schrieben,  ebenso   auf   das    koschere   Fleisch.     Der   jüdische 


1)  Vgl.  das  merkwürdige  Buch:  ,,Die  Juden  in  Rußland",  herausgegeben 
von  August  Scholz,  Berlin  1900;  enthaltend  Urkunden  und  Zeugnisse  russischer 
Behörden,  Staatsmänner,  Offiziere,  Verwaltungsbeamten,  hoher  Geistlichen, 
Schriftsteller,  Journalisten  und  drei  öffentliche  Kundgebungen.  Das  Original 
dieses  Buches,  an  welchem  unbewußt  die  hervorragendsten  Autoritäten  des 
Zarenreiches  seit  hundert  Jahren  mitgearbeitet  haben,  wurde  in  Petersburg 
vor  zehn  Jahren  in  russischer  Sprache  gedruckt.  Kein  einziger  Beitrag  war 
eigens  für  das  Buch  verfaßt,  es  enthielt  bloß  eine  Zusammenstellung  von  Äuße- 
rungen, die  ursprünglich  zu  dienstlichen  Zwecken  oder  gelegentlich  brennender 
Tagesfragen  in  den  Kirchenpredigten  und  in  den  Zeitungen  provoziert  worden 
waren.  Neben  dem  dirigierenden  Senat,  der  höchsten  russischen  Staatsbehörde, 
und  verschiedenen  Ministerkomitees  für  die  jüdischen  Angelegenheiten  kamen 
Militär-  und  Zivilgouverneure,  sowie  Beamte  jeden  Grades  aus  allen  Ver- 
waltungskrciseu  zum  Worte.  Die  Geistlichkeit  war  durch  Metropoliten,  Erz- 
bischüfe,  bis  herab  zu  einfachen  Priestern  vertreten.  Ihnen  gesellten  sich  Stim- 
men von  Literaten  und  Gelehrten,  Kaufleuten  und  Industriellen.  Bei  jedem 
Urteil  und  Zeugnis  stand  Name  und  Stand  der  verantwortlichen  Urheber, 
und  Ort  und  Zeit  war  quellenmäßig  angegeben.  Das  Buqh,  das  dank  diesem 
Reichtum  unzweifelhaft  echter  Urkunden  bestimmt  schien,  einen  bedeutenden 
Einfluß  auf  die  Behandlung  der  Judenfrage  in  Rußland  auszuüben,  verschwand 
aber  fast  spurlos  vor  der  Veröffentlichung.  Nur  ein  einziges  Exemplar  wurde 
gerettet  und  ins  Ausland  gebracht.  Es  lag  dem  Übersetzer  vor  und  wurde 
dem  Londoner  British  Museum  übergeben,  um  dort  als  kulturelles  Denkmal 
zu  verbleiben. 


—    271    — 

Fleischhauer  durfte  das  für  trefe  befundene  Fleisch  nicht  an 
die  Christen  verkaufen,  sondern  mußte  es  vergraben.  Die 
rituellen  Gesetze  ignorierend  sagten  die  Behörden:  „Ihr  eßt 
es  nicht,  also  ist  es  ungesund.  Für  das  koschere  Fleisch  aber, 
das  ihr  essen  wollt,  zahlt  ihr  dem  Staate  21  Rubel  per  Stück." i) 
Nach  einem  Gesetze  von  18 17  sollten  Juden,  sobald  sie  in  den 
Militärdienst  eintreten,  das  Bürgerrecht  erhalten.  Nikolaj  I. 
erkannte  dieses  Gesetz  nicht  an,  und  die  Juden,  die  Soldaten 
waren,  mußten  die  Rekrutenabgabe  weiterzahlen;  als  Grund 
für  diese  Maßnahme  wurde  angegeben :  daß  die  Juden  bei  ihrer 
Lebensweise  vom  hochbesteuerten  Branntwein  weit  weniger 
verbrauchen  und  daher  zu  den  indirekten  Steuern  nicht  so 
viel  beitragen  als  die  übrigen  Staatsangehörigen. 2)  Und  Niko- 
laj I.  hatte  in  seiner  Flotte  4000  Matrosen,  in  seiner  Armee 
10 000  Soldaten  jüdischen  Glaubens  I  Die  jüdischen  Soldaten 
waren  trotzdem  stets  Patrioten.  Dies  beweisen  mehrere  Doku- 
mente russischer  Generale  von  18 12  bis  1880.  Als  der  Korps- 
kommandant Dawydow  18 12  in  Grodno  einrückte,  hatte  er 
nur  zu  den  Juden  Vertrauen  und  setzte  sogar  einen  Juden,  ein 
Mitglied  des  Kahals  oder  Gemeindevorstandes,  zum  Polizeichef 
ein.  Wie  Dawydow,  später  noch  Chomutow  und  Rajkowski 
von  dem  jüdischen  Patriotismus  Beispiele  anführen,  so  betont 
Alexej  Nikolajewitsch  Kuropatkin,  der  frühere  Kriegsminister, 
die  Tapferkeit  jener  jüdischen  Soldaten,  welche  ihn  auf  einem 
seiner  Feldzüge  in  Transkaspien  begleiteten :  „Die  Juden  haben 
ebenso  heldenmütig  zu  kämpfen  und  zu  sterben  gewußt,  wie 


^)  Allerdings  ließ  sich  auch  Österreich  eine  Sabbathlichtsteuer  zahlen; 
sie  war  1797  auf  Antrag  eines  Lemberger  Juden  statt  der  früheren  Schutz- 
steuer eingeführt  worden.  Friedrich  der  Große,  der  jeden  nach  seiner  Fa9on 
selig  werden  lassen  wollte,  hatte  —  um  seine  Porzellanfabrik  zu  heben  — 
verordnet,  daß  Juden  nur  dann  heiraten  durften,  wenn  sie  eine  gewisse  Menge 
Porzellanwaren  gekauft  hatten.  Bis  18 13  bestand  in  Leipzig  der  jüdische 
Leibzoll;  er  wurde  dort  erst  charakteristischerweise  von  dem  russischen  Stadt- 
gouverneur abgeschafft.  Vgl.  Nicolaus  der  Erste  gegenüber  der  öffentlichen 
Meinung  von  Europa,  Seite  34,  Anmerkung. 

2)  Nicolaus  der  Erste  usw.,  S.  41.  —  Aber  jenen  Juden,  die  durch  Ver- 
kauf von  Branntwein  zu  dieser  famosen  indirekten  Steuer  beitragen  wollten, 
wurde  das  Halten  von  Schänkcn  verboten. 


—     272       - 

die  übrigen  russischen  Soldaten.**    Kuropatkin  hat  die  gleiche 
Erfahrung  auch  im  Kriege  mit  Japan  gemacht. 

Daß  die  Juden,  denen  fast  bis  zum  neunzehnten  Jahr- 
hundert Rußland  noch  verschlossen  war,  dort  im  Laufe  eines 
Säkulums  auf  mehrere  Millionen  angewachsen  sind,  ist  in  erster 
Linie  eine  Folge  der  Eroberung  Polens,  Südrußlands,  der  Krym, 
Kaukasiens  und  Transkaspiens,  wo  die  Juden  seit  alten  Zeiten 
lebten. 1)  Die  russischen  Regierungen  und  das  russische  Volk 
haben  diese  miteroberten  Millionen  Untertanen  und  Mitbürger 
zu  dezimieren  versucht.  Früher  begnügte  man  sich  mit  gesetz- 
lichen Maßnahmen  moralischer  und  wirtschaftlicher  Natur. 
Solche  Gesetze  gegen  die  Juden  gibt  es  über  tausend.  Natür- 
lich wie  alles  Russische  ohne  System,  ein  Chaos  ohnegleichen, 
unentwirrbare  Widersprüche.  Außer  den  tausend  Gesetzen 
hat  man  noch  unzählbare  Ministerialerlässe,  geheime  Rund- 
schreiben, tausende  Befehle  der  Gouverneure,  der  Polizei ;  jedes 
bheb  in  Kraft,  obwohl  späteres  oft  das  Gegenteil  des  früheren 
besagt.  In  diesen  Judengesetzen  ist  das  Recht  wie  Kautschuk 
dehnbar  nach  Lust  und  Kraft  jedes  einzelnen:  handelt  es  sich 
um  Rechte,  so  ist  der  Jude  ein  Fremdling,  handelt  es  sich  um 
Pflichten,  so  ist  er  ein  Inländer;  will  der  Jude  ins  Ausland,  so 
gibt  man  ihm  keinen  Paß,  will  er  friedlich  im  Inland  bleiben, 
so  weist  man  ihn  aus.  Er  muß  seinen  Militärdienst  absolvieren, 
sein  Blut  fürs  Vaterland  opfern,  aber  wenn  er  in  den  Krieg 
zieht,  verliert  seine  Familie  das  Wohnrecht,  weil  sie  des  Er- 
nährers beraubt  ist  und  nur  er  Wohnrecht  hat.  Der  Jude  muß 
pünktlicher  als  jeder  andere  seine  Steuer  bezahlen,  aber  er  hat 
davon  nur  dann  Vorteil,  wenn  er  reich  genug  ist,  auch  die 
Behörden  separat  zu  bestechen.     Er  darf  nur  in  bestimmten 


^)  Vgl.  über  die  Juden  in  Kaukasicn:  Bernhard  Stern,  Zwischen  Kaspi 
un<l  Pontiis,  Breslau  1897,  S.  246 — 258;  über  die  Juden  in  Mittelasien:  Bern- 
hard Stern,  Vom  Kaukasus  zum  Hindukusch,  Berlin  1893.  S.  206 — 220; 
über  die  Juden  in  Südrußland:  Haxthausen,  Studien  über  die  inneren  Zu- 
stände Rußlands,  II  17,  19,  398 — 409.  Ferner:  Lanin,  Kussische  Zustände, 
II  212 — 296;  Sara  Rabinowitsch ,  Die  Organisation  des  jüdischen  Proletariats, 
Karlsruhe  1903  (besonders  interessant  für  die  Geschichte  des  vielgenannten 
,,Bund");  endlich:  Ehikjii  ki.  INnrirt,  O'iepKii  aKoHoMii'K'cicarn  11  urmuTTMemiam 
nijTa  nvccKux'i.  oHpeein,.  II.  V.  OpiiiaiieKJirM,  (\-II«'H'i>ovpri,,  1877. 


—    273    — 

Rayons  wohnen.  Nur  eine  bestimmte  kleine  Zahl  Juden  darf 
studieren.  Zuweilen  erscheinen  einem  Gouverneur  oder  Herr- 
scher die  modernen  Gesetze  und  Erlässe  nicht  ausgiebig  genug ; 
dann  greift  man  zurück  in  die  fernsten  Zeiten  und  frischt  uralte 
Ukase  auf:  Zar  Alexej  Michajlowitsch  hatte  den  Juden  ver- 
boten, Christen  in  ihren  Dienst  zu  nehmen;  Nikolaj  I.,  der  die 
Verschmelzung  der  Juden  mit  der  übrigen  Bevölkerung  als  ein 
wünschenswertes  Ziel  bezeichnet,  sucht  dieses  Gesetz  des  Zaren 
Alexej  hervor  und  bestätigt  es  im  Jahre  1835,  nachdem  es 
zweihundert  Jahre  vergessen  gewesen;  und  Alexander  IIL  er- 
weitert es :  nicht  bloß  Dienstboten  christlichen  Glaubens  dürfen 
nicht  bei  Juden  dienen,  auch  in  den  Kontoren  und  Fabriken 
von  Juden  dürfen  keine  christlichen  Beamten,  Buchhalter,  Direk- 
toren angestellt  werden;  die  Christen  selbst  protestieren  da- 
gegen, und  dieser  Protest  erst  annulliert  1887  das  seltsame 
Gesetz. 1)  Unter  Alexander  IIL,  der  sich  mit  der  französischen 
Republik  verbündet  und  entblößten  Hauptes  die  Marseillaise 
anhört,  erreicht  die  Intoleranz  ihre  äußerste  Grenze,  kommt 
in  die  Verfolgung  endlich  sogar  System,  wird  der  Haß  der  Ver- 
ordnungen in  blutige  Pogrome  umgesetzt.  Man  lenkt  mit  Be- 
wußtsein die  Wut  und  Blutgier  des  Volkes  auf  die  Juden,  man 
macht  die  Juden  zum  Puffer  in  den  Zusammenstößen  zwischen 
der  Autokratie  und  der  revolutionären  Masse.  Wenn  der  Stano- 
woj  das  letzte  Stück  Vieh  eines  rückständigen  Steuerzahlers 
gepfändet  hat,  läßt  er  es  durch  den  Juden  verkaufen  und  lädt 
dadurch  die  Wut  des  Beraubten  auf  den  Juden  und  das  jüdische 
Volk.  Wenn  der  Zar  einen  Krieg  verliert,  sind  die  Juden 
schuld ;  und  selbstverständlich  sind  auch  die  Juden  verant- 
wortlich, wenn  der  Finanzminister  kein  Geld  von  Europa  be- 
kommt. Ist  der  Muschik  vom  Hunger  geplagt  und  ziehen  die 
Arbeiter  in  Massen  auf,  nach  Brot  verlangend,  dann  veranstaltet 
man  ihnen  Spiele,  blutige  Schauspiele,  immer  nach  dem  gleichen 
Programm :  Man  proklamiert  die  Juden  als  Anarchisten,  man 
verliest  auf  öffentlichen  Plätzen  als  Ukase  des  Zaren  mörderische 
Pamphlete,  worin  der  Kaiser  seinen  treuen  orthodoxen  Russen 
gestattet,  drei  Tage  lang  die  Juden  zu  schlagen  und  zu  plündern. 


^)  Lcroy-Bcaulicu,  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen,  III  573,  580. 
Stern,  Geschichte  der  öflentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  jg 


—    274    — 

Nach  diesem  Prolog  geht  der  Vorhang  auf,  und  der  Pogrom, 
die  Vernichtung  beginnt,  während  Gouverneure  und  Behörden, 
Polizei  und  Truppen  aufpassen,  daß  sich  ja  keiner  der  Ver- 
fehmten  verteidige.  1881  wurde  so  die  Stadt  Baha,  die  fast 
nur  von  Juden  bewohnt  war,  der  Plünderung  preisgegeben: 
von  über  tausend  jüdischen  Häusern  blieben  nur  40  verschont ; 
alle  anderen  wurden  gestürmt,  bis  auf  den  Grund  zerstört.^) 
Aus  halb  kindischer,  halb  barbarischer  Zerstörungswut  hat  sich 
der  Spaß  herausgebildet,  bei  Judenhetzen  die  Federbetten  aus- 
zuleeren, und  wenn  man  heutzutage  ein  Judenmassacre  an- 
kündigen will,  sagt  man  bloß :  Federn  fliegen  I  Aber  auch 
Synagogen  und  Friedhöfe  werden  nicht  verachtet;  ja,  Ent- 
weihung  der  Gräber,  Besudeln  der  ThoraroUen  ist  nicht  weniger 
beliebt  als  Bettfedern  fliegen  lassen.  Unter  Alexander  III. 
beschränkte  man  sich  auf  Zerstörung  des  Eigentums ;  die  apo- 
kryphen Ukase  des  Zaren  befahlen  nur  Plünderung,  sprachen 
damals  noch  nicht  von  Tötung.  Unter  Nikolaj  II.  ist  man  fort- 
geschrittener;  da  wird  schon  gemordet.  Man  lese  den  Bericht 
der  Zeitung  „Hobocth"  über  das  Massacre  in  Kischenew  im 
Jahre  1903:  „Die  Straßen  gleichen  Kirchhof alleen ;  man  sieht 
die  unglücklichen  Juden  wie  Schatten  auf  den  Straßen  herum- 
schleichen, die  meisten  mit  Wunden  am  Kopf  und  im  Gesicht. 
Am  zweiten  Tage  der  Unruhen  ließ  die  wütende  Menge  keinen 
einzigen  Juden  auf  der  Straße  vorbei,  ohne  ihn  zu  mißhandeln. 
Besonders  schwer  haben  diejenigen  Juden  gelitten,  die  an  die- 
sem Unglückstage  die  Trambahn  benützten.  Wenn  die  wütende 
Menge  bemerkte,  daß  in  einem  Trambahnwagen  ein  Jude  saß, 
so  schrie  sie  den  christlichen  Passagieren  zu:  „Werft  uns  den 
Juden  heraus!"  Der  Jude  wurde  auch  hinausgeworfen  und 
buchstäblich  dem  Mob  ausgeliefert,  der  ihn  dann  in  schreck- 
licher Weise  mißhandelte.  Es  sind  uns  viele  authentische  Fälle 
bekannt,  wo  auf  diese  Weise  aus  den  Waggons  hinausgeworfene 
Juden  von  der  Menge  auf  der  Stelle  getötet  wurden.  Es  sind 
Fälle  von  geradezu  bestialischer  Verstümmelung  von  Leichen 
festgestellt  worden.  Wir  wollen  hier  einige  Fälle,  die  uns  von 
einer  sehr  kompetenten  Person,  Dr.  N.  A.  Doroschewski,  dem 


1)  Ebenda  568.  569. 


—    275    — 

Arzt  am  Landschafts-Hospital,  mitgeteilt  wurden,  anführen: 
Der  Jüdin  Sura  Fonarschi  sind  zwei  Nägel  in  die  Nasenlöcher 
geschlagen  worden,  die  durch  den  Schädel  hindurchdrangen; 
sie  starb  infolge  dieser  Wunden;  dem  Juden  Lys  sind  die  Ge- 
lenke an  Händen  und  Füßen  auseinandergerissen  worden ;  dem 
Juden  Charifon  wurden  die  Lippen  abgeschnitten  und  dann 
mit  einer  Zange  die  Zunge  samt  der  Kehle  herausgerissen ;  dem 
Juden  Selzer  wurde  ein  Ohr  abgeschnitten,  auch  erhielt  er 
zwölf  Wunden  am  Kopf;  er  wurde  wahnsinnig  und  befindet 
sich  im  Hospital;  an  der  Ecke  der  Spieschnoj-  und  Gostinoj- 
straße  ergriff  die  Menge  eine  schwangere  jüdische  Frau,  setzte 
sie  auf  einen  Stuhl,  und  dann  schlug  man  sie  mit  Stöcken  auf 
den  Leib;  in  der  Zirovskistraße  warf  man  aus  dem  zweiten 
Stock  kleine  Kinder  auf  die  Straße  hinunter.  Außerdem  sind 
viele  Fälle  von  Vergewaltigung  kleiner  Mädchen  bekannt,  die 
in  den  Händen  ihrer  Peiniger  starben ;  es  wurde  auch  die  Leiche 
eines  in  zwei  Teile  zerrissenen  Kindes  gefunden.  Die  Zahl  der 
Getöteten  und  infolge  der  Wunden  Verstorbenen  beläuft  sich 
auf  47.  Im  jüdischen  Hospital  befinden  sich  mehr  als  hundert 
Verwundete,  darunter  etwa  30,  die  fürs  ganze  Leben  unbrauch- 
bare Krüppel  bleiben  werden.**  Die  „Peterburgskija  Wjedo- 
mosti**  teilen  mit,  „daß  am  zweiten  Tage  der  Unruhen  einem 
jüdischen  Tischler  beide  Hände  mit  seiner  eigenen  Säge  abge- 
sägt worden  sind.  Einer  Frau  ist  der  Bauch  aufgeschlitzt  und 
sind  die  Eingeweide  herausgerissen  worden,  und  es  sind  dann 
in  den  offenen  Leib  Bettfedern  und  Daunen  gestopft  worden." 
Man  schreibt  aus  Odessa,  daß  alles,  was  die  Zeitungen  bis 
jetzt  gebracht  haben,  bloß  einen  kleinen  Teil  der  begangenen 
Greuel  betrifft:  „Frauen  wurden,  nachdem  man  sie  verge- 
waltigt hatte,  die  Augen  ausgestochen.  Es  sind  in  Wirklich- 
keit 46  Menschen  erschlagen  worden ;  80  sind  den  Wunden 
erlegen,  300  sind  schwer  verwundet,  neun  Kinder  sind  bestia- 
lisch zu  Tode  gemartert  worden.  Die  Krawalle  waren  gxit 
vorbereitet  und  organisiert;  Mitglieder  der  russischen,  christ- 
lichen, sogenannten  guten  Gesellschaft  nahmen  tätigen  An- 
teU." 

Dasselbe  Schauspiel  erlebte  man  1905,  1906,  1907  in  Kijew, 
in  Bjalystok,  in  Odessa  und  in  Siedletz.    Über  den  Pogrom  in 

x8» 


—    276    — 

Siedletz  im  August  1906  hat  der  Rittmeister  Pj^tuchew  einen 
geheimen  Bericht  an  den  Generalgouverneur  von  Warschau 
verfaßt,  der  durch  eine  Indiskretion  in  die  Öffentlichkeit  ge- 
langt ist^):  „Am  11.  August**  heißt  es  darin,  „wurde  ich  in 
das  Gendarmerieamt  gerufen,  wo  über  die  Vornahme  einer 
allgemeinen  Haussuchung  beraten  wurde.  Der  Chef  der  Schutz- 
gamison,  Oberst  Tichanowsky,  forderte  sogleich,  man  solle 
ihm  einige  angesehene  Bürger  der  Stadt  Siedletz  nennen,  die, 
obgleich  sie  persönlich  an  der  revolutionären  Bewegung  nicht 
teilnehmen,  sie  doch  auf  irgend  eine  Weise  begünstigen.  Der 
Oberst  Tichanowsky  äußerte  die  Absicht,  diese  Leute  ins  Ge- 
fängnis zu  werfen  und  sie  als  Geißeln  zu  behalten.  Er  wolle 
ihnen  erklären,  daß  sie  im  Falle  eines  Attentates  auf  irgend 
einen  Regierungsbeamten  alle  ermordet  werden  sollten.  Oberst 
Tichanowsky  sagte,  daß  er  die  Verantwortung  für  alles  auf 
sich  nehme.  Als  Oberst  Tichanowsky  gefragt  wurde,  auf  welche 
Weise  die  Geißeln  getötet  werden  sollten,  wandte  er  sich  an 
den  Polizeichef  mit  der  Frage,  ob  er  ihm  nicht  einen  Polizei- 
diener zur  Verfügung  stellen  könne,  der  bereit  wäre,  Wahnsinn 
simulierend,  die  Geißeln  im  Gefängnis  niederzuschießen  oder 
ihnen  Arsenik  in  die  Speise  zu  mischen.  „Dem  Terrorismus 
der  Revolution  müssen  wir  einen  noch  schrecklicheren  Terro- 
rismus entgegenstellen**,  fügte  Oberst  Tichanowsky  hinzu.** 
Der  Bericht  schildert  dann,  daß  auch  das  Militär  mit  der  Ab- 
sicht, einen  Pogrom  zu  veranstalten,  bekannt  wurde;  die  Sol- 
daten sagten:  „Wir  werden  ihnen  schon  einen  guten  Pogrom 
machen,  wir  werden  schonungslos  handeln**.  In  der  ersten 
Nacht  der  Beschießung  von  Siedlctz,  gegen  3  Uhr,  am  27. 
August,  wollte  Oberst  Tichanowsky  aus  den  Kasernen  des 
Dragonerregiments  das  Militärorchester  zu  sich  kommen  lassen, 
was  ihm  jedoch  verweigert  wurde.  Da  versammelte  er  einen 
Soldatenchorus,  und  der  Gesang  erscholl  mitten  unter  dem 
Knattern  der  Gewehre,  dem  Blutvergießen,  den  Plünderungen 
und  der  Feuersbrunst.  Oberst  Tichanowsky  erklärte  später, 
daß  er  damit  den  Geist  der  Soldaten  habe  heben  wollen.  End- 


^)  Mitgeteilt  von  der  Russischen  Korrespondenz  in  Berlin.     Vgl.  Erste 
Beilage  zur  Vossischen  Zeitung  vom  29.  November  1906. 


—    277    — 

lieh,  einige  Tage  nach  den  Unruhen,  als  ein  Gerücht  im  Umlauf 
war,  daß  Oberst  Tichanowsky  ermordet  worden  sei,  kam  er 
zu  der  Schwadron,  deren  Kommandierender  er  früher  war, 
teilte  den  Soldaten  dieses  Gerücht  mit  und  bat  sie,  daß  sie, 
wenn  er  wirklich  getötet  werden  sollte,  seinem  Andenken  zu 
Ehren  bis  zu  den  Ohren  tüchtig  im  Blute  baden  sollten.  Das 
erzählten  später  bei  einem  Frühstücke  die  Dragoneroffiziere, 
indem  sie  das  mutige  Benehmen  des  Obersten  Tichanowsky 
als  Vorbild  hinstellten.  Die  Einzelheiten  des  Pogroms  schildert 
der  Bericht  also:  „Am  26.  August,  um  8V2  ^^s  Abends,  er- 
schollen in  der  Stadt  einige  Revolverschüsse  und  sofort  ant- 
worteten die  Truppen  mit  einer  Beschießung  der  Stadt,  wobei 
sie  durchaus  keine  Rücksicht  darauf  nahmen,  ob  aus  dem 
betreffenden  Hause  geschossen  worden  war  oder  nicht.  Die 
Truppen  verfuhren  schonungslos  gegen  die  friedliche  Bevöl- 
kerung. Ich  selbst  war  zugegen,  als  in  das  Polizeiamt  einige 
Leute,  hauptsächlich  alte  Juden,  hineingeschleppt  wurden,  und 
sah,  wie  eifrig  die  Soldaten  in  Gegenwart  des  Obersten  Ticha- 
nowsky die  Leute  mit  Kolben  mißhandelten.  Ich  sah  auch, 
wie  ein  Dragoner  in  der  Nähe  des  Polizeiamts  in  die  Wohnung 
des  Kreisrichters  Herrn  Mudrow  Schüsse  abfeuerte.  Ich  war 
auch  Zeuge,  wie  ein  Dragoner  zum  Obersten  Tichanowsky 
kam,  um  ihn  um  Patronen  zu  bitten,  und  wie  dieser  bemerkte : 
„Es  sind  zu  wenig  Tote**.  Als  ich  dies  alles  sah,  bat  ich  den 
Obersten  Tichanowsky,  das  unsinnige  Schießen  und  Schlagen 
einzustellen  und  sich  lieber  mit  planmäßiger  Aufsuchung  der 
Revolutionäre  zu  befassen.  Dabei  lenkte  ich  seine  Aufmerk- 
samkeit darauf,  daß  die  Truppen,  besonders  ohne  Nahrung, 
bald  ermüdet  sein  werden  und  daß  gegen  Abend  die  Revo- 
lutionäre vielleicht  etwas  ernsteres  vornehmen  könnten.  Ich 
bekam  zur  Antwort,  daß  die  Schlacht  bei  Ljaojang  12  Tage 
gedauert  habe,  und  daß,  wenn  es  nötig  sein  werde,  er  zwei 
Wochen  auf  dem  Stuhle  vor  dem  Polizeiamt  zu  sitzen  bereit 
sei,  und  weiter,  daß  es  in  der  Stadt  genug  Läden  mit  Nahrungs- 
mitteln gäbe,  so  daß  es  für  alle  ausreichen  würde.  Das  alles 
wurde  in  Gegenwart  der  Soldaten  gesprochen.  Schon  in  der 
ersten  Nacht  wandten  sich  die  Dragoner  an  die  Gendarmerie- 
Unteroffiziere  Andrejuk  und  Sajaz  und  baten  um  Petroleum, 


—    278    — 

um  die  Häuser  in  Brand  zu  setzen.  Befragt,  wie  sie  das  tun 
dürften,  antworteten  die  Soldaten:  „So  ist  es  befohlen."  Die 
Plünderungen  fanden  auch  in  der  ersten  Nacht  statt.  Zur 
Zeit  der  Abenddämmerung  am  27.  August  wurden  die  Truppen 
ganz  zügellos.  Alle  Bierhallen  und  einige  Weinlager  wurden 
von  ihnen  überfallen;  alles  wurde  ausgeplündert,  zum  Teil 
auch  ausgetrunken.  In  der  zweiten  Nacht  waren  die  Truppen 
fast  durchweg  besoffen.**  —  Dieser  Bericht  ist  ein  so  krasses 
Dokument  russischer  Wildheit  und  Moral,  daß  er  hier  ehrlich 
seinen  Platz  verdiente. 


37.  Grausamkeit  im  Familienleben. 

Russischer  Frauencharakter  —  Zarin  Maria  die  Tscherkessin  —  Zarin  Präs- 
kowja  —  Greueltaten  der  Edelfrauen  —  Gräfin  Ssaltykow  —  Fürstin  Koslo- 
wskij  —  Sadistische  Verbrechen  —  Los  der  Kammerzofen  —  Das  Familien- 
leben —  Eltemmord  bei  den  alten  Slawen  —  Elternmord  bei  den  Tschuktschen 
—  Vatermord  bei  den  Osseten  —  Russische  Gesetze  —  Zar  Alexej  gegen  seinen 
Schwiegervater  —  Peter  der  Große  gegen  Mutter  und  Sohn  —  Verwandten- 
mord und  Aberglaube  —  Schwiegertochter  und  Schwiegermutter  —  Kinder- 
mord aus  religiösem  Fanatismus  —  Gefühllosigkeit  der  russischen  Mutter  — 
Die  Grausamkeit  in  der  Ehe  —  Das  Schlagen  der  Frau  —  Sprichwörter  und 
Volkslieder  —  Seltsamer  Hochzeitsbrauch  —  Das  Weib  als  Eigentum  des 

Mannes. 

Den  Männern  stehen  die  Frauen  an  Grausamkeit  nicht 
nach.  Manche  behaupten  sogar,  daß  die  Weiber  in  Rußland 
im  allgemeinen  barbarischer  und  grausamer  als  die  Männer 
seien;  es  komme  daher,  daß  sie  unwissender  und  abergläu- 
bischer, daß  sie  seltener  reisen,  weniger  lernen  und  gar  nicht 
arbeiten.!)  Das  kann  sich  natürlich  nur  auf  die  Frauen  der 
Vornehmen  beziehen,  die  immer  von  Dienern  umgeben  sind, 


1)  Geheime  Nachrichten  über  Rußland  (von  Masson),  deutsche  Ausgabe, 
II  159.  —  Das  gleiche  sagt  Petri,  Esthland  und  die  Esthen,  I  364  von  den 
baltischen  Edelfrauen:  ,,Im  allgemeinen  sind  die  Damen  härter  als  die  Herren. 
Sie  ohrfeigen  ihre  Mägde  mit  der  Hand,  schlagen  sie  mit  dem  Pantoffel,  lassen 
sie  niederstrecken  und  geben  ihnen  die  Peitsche.  Die  Ausländerinnen,  die 
hergeheiratet  haben,  tun  ebenso." 


—    279    — 

tags  faul  auf  dem  Sofa  liegen,  ihre  Nächte  am  Spieltisch  ver- 
bringen, nichts  lesen.  Die  Abwechslung  in  ihr  Nichtstun  bringt 
die  Grausamkeit,  die  Züchtigung  der  Dienerschaft.  Die  höchst- 
gestellten Frauen  gingen  mit  dem  Beispiel  voran.  Von  den 
Frauen  auf  dem  Throne,  deren  Willkür  und  Laune  das  Volk 
anheimgestellt  war,  ist  schon  die  Rede  gewesen.  Aber  auch 
die  Frauen,  die  nicht  als  Herrscherinnen,  sondern  bloß  als  Zaren- 
Gemahlinnen  figurierten,  sind  meist  durch  nichts  anderes  be- 
rühmt als  durch  ihre  Grausamkeit.  Die  zweite  Frau  Iwans  des 
Schrecklichen,  die  Tscherkessin  Maria,  wetteifert  mit  dem  Ge- 
mahl in  wilden  Sitten  und  stachelt  den  Tyrannen  zu  immer 
gräßlicheren  Taten  auf.^)  Praskowja,  die  Witwe  des  Zaren 
Iwan  Alexejewitsch,  erscheint  nachts  im  Preobraschensker  Pri- 
kas  (Gerichtshof)  und  befiehlt,  daß  man  ihren  Hofbeamten 
Derewnin  wegen  eines  geringen  Vergehens  vor  ihren  Augen 
foltere ;  man  ist  ihr  offenbar  zu  mild,  denn  sie  greift  selbst  zum 
Knut  und  haut  eigenhändig  auf  den  Delinquenten  los;  dann 
läßt  sie  ihr  Opfer  mit  Talg  und  Scheidewasser  überschütten 
und  anzünden.2) 

Die  elegantesten  Damen  betrachten  das  Schlagen  der 
Dienerschaft  als  ihr  selbstverständliches  Privilegium.  Man  be- 
findet sich  mit  der  vornehmen  Hausfrau  vielleicht  in  einem 
Gespräch  über  Humanität,  und  da  unterbricht  sie  die  Konver- 
sation durch  den  Befehl,  diesen  oder  jenen  Diener  zu  peitschen.^) 
Der  Barbarei  gesellt  sich  die  raffinierteste  Wollust.  Die  Herrin 
verfehlt  nicht,  den  Exekutionen  persönlich  beizuwohnen  und 
erfreut  sich  am  Blut,  das  sie  fließen  sieht,  empfindet  sadistische 
Wonne  beim  Anblick  der  heruntergerissenen  Fleischfetzen.  Eine 
Frau  von  Drewnik  läßt  einem  dreizehnjährigen  Mädchen,  weil 
es  schlecht  gesponnen,  die  Finger  mit  dem  Flachs  umwickeln 
und  zündet  letzteres  eigenhändig  an.  Mit  den  wunden  Fingern 
kann  die  Ärmste  natürlich  nicht  besser  spirmen.  Sie  wird  daher 
mit  in  Salzwasser  geweichten  Ruten  gepeitscht,  in  einen  kalten 


^)  Karamsins  Geschichte  des  Russischen  Reiches,  VIII  37. 
2)  M.  II.  CeMCBCKift,  OnepKn  I:  Uapima  ITpacKOBhii  1664 — 1723.    Ha^ianie 
BT«HHM»,  C.-TIeTepöyprL  1883.  —  TmiOf^evh,  Kcropiji  HaKai^arnft,  crp.  65. 
^)  Geheimnisse  von  Rußland,  I  231. 


—    280    — 

Keller  gesperrt,  muß  mehrere  Tage  himgemd  auf  Hecheln 
stehen  und  in  den  an  der  Wand  angebundenen  Händen  Butter 
und  Brot  halten,  während  rundum  die  übrigen  Bedienten  ihre 
Mahlzeit  genießen.  Die  Tochter  des  Hauses,  ein  zwölfjähriges 
Mädchen,  macht  Zangen  und  Nadeln  glühend  und  zwickt  und 
sticht  mit  ihnen  das  blutende  verschmachtende  Opfer,  das  unter 
diesen  Qualen  schließlich  zusammenbricht.  Die  Affäre  kommt 
vors  Gericht,  imd  es  erfolgt  wunderbarerweise  eine  Bestrafung 
der  Herrschaft ;  aber  nur  deshalb,  weil  das  Opfer  während  der 
Foltenmg  gestorben  ist;  hätte  das  Mädchen  seiner  Herrschaft 
den  Gefallen  getan,  erst  später  zu  sterben,  so  wären  die  Mörder 
straflos  ausgegangen.  1)  Im  Sommer  1794  läßt  die  baltische 
Edelfrau  von  H.  eine  Magd  wegen  eines  schlecht  gefalteten 
Oberhemdes  so  entsetzlich  peitschen,  daß  die  Bestrafte  be- 
sinnungslos liegen  bleibt. 2)  Eines  Morgens  vergißt  das  Kammer- 
mädchen der  Frau  von  K.  für  den  Schoßhund  Sahne  zu 
machen;  die  Dame  ruft  zornig  die  Leute  zusammen,  um  dem 
schuldigen  Mädchen  in  aller  Gegenwart  eine  Lektion  zu  geben ; 
aber  das  Schauspiel  kann  nicht  stattfinden,  denn  die  Haupt- 
person hat  sich  aus  Angst  vor  Schande  und  Schmerz  ertränkt. 3) 
Zur  Zeit  Alexanders  I.  läßt  eine  Edeldame  ein  Mädchen  zur 
Strafe  für  ein  Vergehen  bloßfüßig  auf  glühende  Kohlen  stellen 
und  ihre  Hände  in  siedendes  Wasser  tauchen ;  und  dann  werden 
dem  Opfer  noch  Nadeln  in  das  Fleisch  eingetrieben. 

Solcher  Megären  sind  zahllose.  Der  Gräfin  Daria  Niko- 
lajewna  Ssaltykow  Greueltaten  sind  uns  zum  Teile  nicht  mehr 
unbekannt;  diese  Dame  wütete  von  1756  bis  1762,  und  Katha- 
rina IL  bereitete  ihr  erst  ein  Ende,  als  es  dem  Bauern  Jermolaj 
gelungen  war,  zur  Kaiserin  zu  dringen  und  ihr  zu  klagen,  daß 
seine  Herrin  ihm  nacheinander  drei  Frauen  getötet.  In  dem 
Prozeß,  den  Katharina  gegen  die  Gräfin  anstrengen  läßt,  wird 
konstatiert,  daß  dem  Ungeheuer  in  den  6  Jahren  wenigstens 
138  Menschen  zum  Opfer  fielen.  Die  Verbrechen  wurden  nicht 
einmal   auf   einem   weltabgelegenen   Gute   begangen,    sondern 


1)  Merkel,  Die  Letten,   172. 

2)  Ebenda  168. 
2)  Ebenda. 


—    281    — 

im  Zentrum  von  Moskau,  in  dem  gräflichen  Palast  auf  der  be- 
lebtesten Straße  der  Residenz,  der  Kusnezkaja.  Folgendes  wird 
bei  Gericht  konstatiert :  Die  Ssaltykow  knutet  einen  Mann  eigen- 
händig halbtot,  dann  stellt  sie  ihn  im  strengsten  Winter  nachts 
in  den  Schnee  und  begießt  ihm  das  Haupt  mit  siedendem 
Wasser.  Eine  schwangere  Frau  läßt  sie  schlagen,  bis  die 
Gequälte  unter  der  Peitsche  niederkommt;  die  unbarmherzige 
Herrin  aber  schreit:  „Schlagt  weiter,  schlagt  sie  tot!**  und  als 
der  Befehl  pünktlich  vollzogen  ist,  legt  sie  auf  die  Leiche  der 
Mutter  das  neugeborene  Kind,  um  es  Hungers  sterben  zu  lassen. 
Die  Gräfin  hat  den  Edelmann  Tjutschew  zum  Geliebten;  er 
reißt  sich  von  ihr  los  und  heiratet  ein  Mädchen;  wütend  be- 
fiehlt die  Verlassene  ihren  Leuten,  das  Haus  des  Ungetreuen 
niederzubrennen  und  das  junge  Paar  zu  töten.  Die  Phantasie 
des  Volkes  begnügt  sich  nicht  mit  den  aktenmäßig  festgestelhen 
Greueln  und  dichtet  der  Ssaltykow  noch  an,  daß  sie  sich  zum 
Mahle  geröstete  Frauenbrüste  vorsetzen  läßt.  Im  Prozeß  wird 
aber  kein  Fall  von  Anthropophagie  bewiesen  —  es  gibt  nur 
barbarisch-sadistische  Morde.  Und  das  Resultat  des  Prozesses  ? 
Die  Angeklagte  leugnet.  Um  sie  zum  Geständnis  zu  bringen, 
erdenkt  man  eine  eigene  Art  Tortur :  man  fohert  einen  Mann 
vor  ihren  Augen  und  droht  ihr  mit  demselben  Schicksal.  End- 
lich wird  über  sie  das  Urteil  gesprochen :  der  Tod  durch 
Henkershand!  Aber  der  Senat  begnadigt  sie  zu  Knut  und 
Zwangsarbeit.  Katharina  II.  findet  auch  dies  zu  viel  für  ein 
paar  Dutzend  Ermordungen  von  Leibeigenen.  Die  Ssaltykow 
wird  also  bloß  eine  Stunde  lang  auf  dem  Schaffot  ausgestellt 
und  dann  in  ein  Kloster  gesperrt,  und  lebt  hier  friedlich  bis 
1801,  darf  sich  sogar  einen  Soldaten  als  Liebhaber  halten.^) 
Die  Justiz  ist  wahrlich  noch  skandalöser  als  die  Verbrechen 
es  sind.  Aber  niemand  regt  sich  deswegen  auf.  Denn  die 
Gräfin  Ssaltykow  ist  keine  Ausnahme,  sondern  auch  wieder 
nur  Eine  von  Vielen.  Zu  Beginn  der  Regierung  Katharinas 
gibt  es  noch  ein  Dutzend  ähnlicher  Prozesse.  Und  von  wie 
manchen  solcher  Frauen  erfahren  wir  gar  nicht  oder  nur  durch 
versteckte  Aufzeichnungen    in    verschollenen   Memoiren    und 


1)  Waliszewski,  La  dernidre  des  Romanov,  228,  229. 


—    282    — 

Büchern  der  Zeitgenossen!  So  erwähnt  Major  Masson  als 
Beispiel  aller  Verbrechen  und  Ausschweifungen  eine  Fürstin 
Koslowskij.  Diese  läßt  Männer  nackt  ausziehen  und  in  ihrer 
Gegenwart  mit  Ruten  hauen;  dabei  zählt  sie  kaltblütig  die 
Streiche  und  treibt  den  Büttel  an,  immer  stärker  zu  schlagen. 
Lascive  Phantasie  bereichert  die  Barbarei,  die  Grausamkeit 
wird  zum  Sadismus.  In  Anfällen  von  viehischem  Zorn  und 
wenn  sie  betrunken  ist,  bindet  die  Fürstin  männliche  Leibeigene 
an  Pfähle  und  läßt  sie  durch  Sklavinnen  peitschen  oder  durch 
Himde  zerfleischen.  Oft  ergreift  sie  selbst  die  Ruten  und 
haut  auf  die  Geschlechtsteile  los,  oder  sie  nimmt  brennende 
Lichter  und  verbrennt  den  Bestraften  die  Schamhaare.  Weiber 
dagegen  läßt  sie  auf  dieselbe  Weise  durch  Männer  behandeln, 
oder  sie  legt  die  Brüste  der  Gepeinigten  auf  eine  kalte  Marmor- 
platte und  schlägt  dann  auf  die  zarten  Teile.  ,,Ich  habe  selbst," 
schreibt  Major  Masson  i),  „eine  von  den  LTnglücklichen  ge- 
sehen, an  der  sie  diese  unmenschliche  Strafe  vollzogen  hatte. 
Das  unglückliche  Mädchen  war  gänzlich  zum  Krüppel  gehauen ; 
sie  hatte  ihr  die  Finger  in  den  Mund  gesteckt  und  ihr  die 
Lippen  bis  zu  den  Ohren  aufgerissen.  Ich  habe,  sage  ich,  dieses 
bedauernswerte  Geschöpf  selbst  gesehen,  wie  sie,  so  zerrissen 
und  zerfleischt,  ihr  elendes  Leben  in  einem  Stalle  zubrachte, 
wo  die  übrigen  Bedienten  sie  aus  Barmherzigkeit  verborgen 
hielten  und  ernährten.  Ihr  Verbrechen  hatte  darinnen  be- 
standen, daß  ihre  Messaline  sie  in  Verdacht  hatte,  als  teile  sie 
mit  ihr  die  Liebkosimgen  eines  ihrer  verächtlichen  Günstlinge. 
Durch  ähnliche  Abscheulichkeiten,  die  sie  schon  in  Moskau 
begangen  hatte,  sah  sich  der  Bruder  dieser  Tisiphone  endlich 
genötigt,  sie  nach  Petersburg  zu  schicken,  um  sie  der  Rache 
des  Volkes  zu  entziehen.  Aber  auch  dort  führte  sie  unter  dem 
Schutze  eines  mächtigen  Verwandten  ihr  satanisches  Leben 
fort.  Sie  lebt  noch,  ist  ohngefähr  40  Jahre  alt,  ihr  Körper  ist 
von  einer  außerordentlichen  Größe  und  Dicke;  sie  gleicht 
einer  von  den  Sphynxen,  die  man  unter  den  gigantischen  Monu- 
menten der  Ägypter  findet.** 

Für  die  Kammerzofen  dieser  furchtbaren  Weiber  waren 


1)  Geheime  Nachrichten  über  Rußland.  II   163  (deutsche  Ausgabe). 


—    283    — 

die  Toilettestunden  die  gefährlichsten  Augenblicke  des  Tages. 
Der  Arzt  Wichelhausen  i)  überraschte,  wenn  er  in  diesen  Stun- 
den bei  den  vornehmen  Familien  seine  Besuche  machte,  zu- 
weilen „eine  solche  kleine  Tyrannin  bei  den  unbarmherzigsten 
Mißhandlungen  derer,  die  sich  die  äußerste  Mühe  gaben,  ihre 
Reize  durch  geschickte  Anordnungen  des  Haarputzes  zu  er- 
höhen: eine  einzige  kleine  Locke,  die  nicht  nach  dem  Sinne 
der  gebietenden  Dame  ging,  gab  oft  die  Veranlassung  zu  den 
ärgsten  Auftritten.  Eine  Dame  bestrafte  ihre  Zofen  beim  Kopf- 
putzen für  das  mindeste  Versehen  gewöhnlich  mit  25  und  mehr 
Ohrfeigen,  die  eine  Zofe  der  anderen  geben  mußte,  bis  den 
armen  Geschöpfen  das  Gesicht  entsetzlich  aufschwoll.**  Das 
Prügeln  war  den  Damen  die  angenehmste  Zerstreuung.  Schasch- 
kow  erzählt  2)  von  einer  Prinzessin  Daria  Galitzyn,  die  beim 
Besuche  eines  Gastes  auf  ihrer  Datscha  (Sommervilla)  folgende 
Begrüßung  vom  Stapel  ließ:  „Welch  ein  Glück!  Ich  lang- 
weilte mich  schon  so  sehr,  daß  ich  meine  Leute  peitschen  ließ, 
um  mir  die  Zeit  zu  vertreiben!**  Ein  anderer  Russe,  Danilow, 
berichtet  in  seinen  Memoiren  aus  der  Zeit  Annas  3),  daß  eine 
seiner  Verwandten  jedesmal,  wenn  sie  sich  zur  Tafel  setzte, 
um  Schtschi  mit  Hammelfleisch,  ihre  Lieblingsspeise  zu  ge- 
nießen, ihre  Köchin  kommen  und  sie  bis  zur  Beendigung  der 
Mahlzeit  peitschen  ließ.  Dieser  Spektakel  und  das  Schreien 
der  Geschlagenen  machten  der  Herrin  Appetit.  Fast  mild 
und  sanft  erscheint  dagegen  die  Oberstenfrau,  die  ihren  Kut- 
scher halbtot  ohrfeigen  läßt,  weil  er  zu  rauchen  wagt,  obwohl 
sie  den  Tabakgeruch  verabscheut. 

Bei  solcher  Grausamkeit  der  Frau  muß  das  Familienleben 
jeder  Anmut  und  Freundlichkeit  entbehren.  Wenn  die  Frau, 
die  Seele  der  Familie,  in  Roheiten  schwelgt,  so  kann  im 
Schöße  der  Familie  nicht  Platz  sein  für  Sanftmut  und  Frohsinn. 
Die  Kinder  sehen  Tag  für  Tag  das  Schauspiel  brutaler  Züch- 
tigungen, hören  das  Geheul  der  Geschlagenen,  das  Wimmern 


^)  Züge  zu  einem  Gemähide  von  Moskwa,  S.  258. 

*)  In  seiner  Geschichte  der  nissischen  Frau,   1879,  p.  321.     Vgl.  Wali- 
szewski,  L'h^ritage  de  Pierre  le  Grand,   170,   171. 
3)  Ebenda. 


—    284    — 

der  Verwundeten  mitleidslos  an.  Ja  manche  Eltern  rufen  ihre 
Kinder  nicht  bloß  zum  Zusehen,  sondern  drücken  ihnen  auch 
die  Peitsche  in  die  Hand,  um  ihnen  einen  Begriff  ihres  Standes 
zu  geben.  In  vielen  adeligen  Häusern  bekam  früher  das  Herren- 
kind zur  Gesellschaft  ein  Leibeigenenkind,  über  das  es  herr- 
schen konnte  nach  Herzenslust,  das  es  schlagen  durfte  nach 
dem  Beispiel  der  Großen. i)  Nein,  unter  diesen  Verhältnissen 
können  Liebe  und  Achtung  nicht  gedeihen.  Die  Familiensitten 
der  Russen  waren  ohnehin  von  altersher  rauh  und  imfreund- 
lich.  In  den  heidnischen  Zeiten  hatte  sogar  die  Mutter  das 
Recht,  wenn  die  Familie  zu  zahlreich  war,  die  neugeborene 
Tochter  zu  töten ;  doch  war  sie  verpflichtet,  des  Sohnes  Leben 
zum  Dienste  des  Vaterlandes  zu  erhalten.  Die  Kinder  wiederum 
durften  die  Eltern  töten,  die  wegen  Krankeit  oder  Alters- 
schwäche den  Angehörigen  zur  Last  fielen. 2)  Bei  den  Tschukt- 
schen  werden,  wie  bekanntlich  bei  vielen  Naturvölkern  die  alten 
Leute,  die  Eltern  noch  heute  von  den  Kindern  oft  als  unnütze 
Esser  beseitigt.  Gewöhnlich  verlangen  die  Eltern  selbst  drin- 
gend ihre  Tötung,  fordern  sie  von  ihren  Söhnen  als  Kindes- 
pflicht, so  daß  der  Vater,  dessen  Sohn  sich  weigern  würde  ihn 
zu  erstechen,  dem  Sohn  fluchen  und  dieser  vom  ganzen  Stamm 
als  pietätlos  gebrandmarkt  werden  würde.  Bei  der  Tötung 
wird  wie  folgt  verfahren :  Mit  seinem  Festkleide  angetan,  kauert 
der  Greis  auf  Seehundsfellen  hinter  einem  Vorhang  nieder, 
so  daß  ihn  die  Anwesenden,  auch  der  Sohn,  nicht  sehen.  Der 
letztere  durchbohrt  mit  einer  Lanze  den  Vorhang,  der  Greis 
richtet  dann  selbst  die  Speerspitze  gegen  seine  nackte  Brust 
und  ruft :  Stoß  zu !  Wenn  dabei,  was  aber  selten  vorkommt, 
die  Hand  des  Sohnes  zittert,  so  (der  Gewährsmann,  der  dies 
erzählt,  hat  die  Worte  selbst  gehört)  ruft  der  Vater  (oder  die 
Mutter) :  ,, Warum  zittert  deine  Hand  ?  Soll  ich  nicht  in  ein 
besseres  Land  hinübergehen,  wo  ich  nicht  mehr  hungern  werde  ? 


*)  Petri,  Esthland  und  die  Esthen,  I  366.  Man  lese  auch  die  ,, Memoiren 
einer  russischen  Tänzerin",  die  so  furchtbare  Episoden  aus  dem  Leben  der 
russischen  Großen  enthüllen,  daß  ihre  Originalausgabe  in  französischer  Sprache 
gleichwie  die  deutsche  Übersetzung  nur  als  Privatdrucke  erscheinen  konnten. 

-)  Karamsins  Geschichte,  I  51. 


—    285    — 

Stoße  noch  einmal  zu  und  zittere  nicht. *'i)  Bei  den  Osseten  in 
Kaukasien  wird  dagegen  mit  einem  Vatermörder  schrecklich 
verfahren.  Man  legt  ihn,  und  zuweilen  mit  ihm  seine  ganze 
Familie,  gebunden  in  sein  Haus  und  verbrennt  dieses  mit  allem, 
was  darin  steht  und  weilt,  alle  Gerätschaften,  alles  Vieh,  man 
rottet  die  ganze  Wirtschaft  mit  Stumpf  und  Stiel  aus.  Bei 
anderen  Gelegenheiten  teilen  die  Osseten  das  Eigentum  des 
Verurteilten  untereinander  auf;  aber  von  den  Sachen  eines 
Vatermörders  will  niemand  etwas  nehmen.^) 

Den  neuen  Russen  hat  schon  Zar  Alexej  Michajlowitsch 
strenge  Gesetze  nicht  nur  gegen  Eltemmord,  sondern  selbst 
gegen  bloße  Beleidigung  der  Eltern  gegeben.  In  seiner  yjio- 
»enie  aus  dem  Jahre  1649  bezeichnet  Alexej  als  Verbrechen,  die 
am  Leben  oder  Leibe  gestraft  werden  müssen  3):  „Wann  ein 
Sohn  oder  Tochter  ihren  Vater  oder  Mutter  todtschlüge,  so 
sollen  sie  davor  am  Leben  gestrafft  werden.  Wann  ein  Sohn 
oder  Tochter  mit  anderer  Bey-Hilffe  den  Vater-  oder  Mutter- 
Mord  verrichtete,  so  sollen  auch  diejenige,  so  ihnen  geholffen, 
ohne  alle  Gnade  am  Leben  gestrafft  werden.  Wann  ein  Sohn 
oder  Tochter  das  Christenthum  vergässen,  und  ihren  Vater 
oder  Mutter  grob  anführen,  oder  gar  mit  der  Hand  schlügen, 
und  ihre  Eltern  darüber  klagen  würden,  so  sollen  sie  mit  der 
Knute  geschlagen  werden.  Wann  ein  Sohn  oder  Tochter  ihrem 
Vater  oder  Mutter  ihr  Gut  mit  Gewalt  abnähmen,  und  mit 
Hindansetzung  des  ihnen  schuldigen  Respekts  sie  von  sich 
jagen,  und  einiger  Verbrechen  beschuldigen  wolten,  oder  wenn 
ein  Kind  seine  Eltern  in  ihrem  Alter  nicht  emehrete,  noch  ihnen 
das  nöthige  darreichete,  und  die  Eltern  desfals  klageten,  so  soll 
iasselbige  ohne  Barmhertzigkeit  mit  der  Knute  geschlagen,  der 
Beschuldigung  nicht  geglaubet,  und  ihm  aufs  kräfftigste  anbe- 
fohlen werden,  seinen  Eltern  ohne  Widerrede  zu  gehorchen. 
Wann  ein  Kind  seine  Eltern  gerichtlich  belangete,  so  soll  es 
nicht  gehöret,   sondern   mit   der  Knute  gestrafft,   und  seinen 


^)  Vgl.  die  Mitteilung  des  Amerikaners  Bogoroz:    Elternmord  bei  den 
Tschuktschen,  Globus  Bd.  84,  Nr.  15,  S.  243. 
2)  Kohl,  Südrußland.  I  308. 
'^)  Russisches  Landrecht  (übersetzt  von  Struve)  XXII.  Gap.  Dantzig  1723. 


—    286    — 

Eltern  abgeliefert  werden.**  Aber  der  Gesetzgeber  selbst,  Zar 
Alexej,  kümmert  sich  nicht  um  seine  Gesetze.  Zu  großer  Ver- 
wunderung der  europäischen  Diplomaten  behandelt  der  Herr- 
scher seinen  Schwiegervater  Ilja  Danilowitsch  Miloslawskij,  den 
Zar  und  Zarin  nicht  Schwiegervater  oder  Vater,  sondern  wie 
einen  Diener  einfach  Ilja  nennen,  in  schändlichster  Weise  vor 
dem  ganzen  Hofe.  Gerät  der  Zar  in  Zorn,  so  reißt  er  den 
Schwiegervater  am  Bart  und  an  den  Haaren.  Als  Ilja  dem 
Schwiegersohn  einmal  einen  Rat  anzubieten  wagt,  erhält  er  diese 
Antwort :  „Wie,  Infamer  von  Geburt  I  ?  Rühmst  du  dich,  mili- 
tärische Kenntnisse  zu  besitzen?  Alter  Narr,  laß  dich  auf- 
hängen.** Und  der  Zar  erhebt  sich  von  seinem  Thron,  stürzt 
auf  seinen  Schwiegervater  los,  gibt  ihm  kräftige  Ohrfeigen 
und  befördert  ihn  mit  Fußtritten  aus  dem  Saal.^)  Alexejs  Sohn, 
Peter  der  Große,  weiß  auch  nichts  von  Zärtlichkeiten  gegen 
seine  Familie.  1694  konunt  Peters  Mutter  zum  Sterben.  Der 
Sohn  will  nicht  bei  ihr  bleiben  in  ihrer  letzten  Stunde,  er  hat 
wichtigeres  zu  tun.  Und  als  die  Mutter  gestorben,  befiehlt 
Peter,  sie  möglichst  schnell  zu  beerdigen,  damit  er  durch  diese 
Affäre  nicht  zu  lange  aufgehalten  werde. 

Der  Kindesmord  wird  von  den  Gesetzen  nicht  mit  so 
schwerer  Strafe  bedroht  wie  der  Eltemmord.  Im  Gesetzbuche 
Alexejs,  das  für  Eltemmord  Todesstrafe  festsetzt,  heißt  es: 
„Wann  ein  Vater  oder  Mutter  ihren  Sohn  oder  Tochter  todt- 
schlügen,  so  sollen  sie  davor  ein  Jahr  im  Gefängniß  sitzen,  imd 
nach  Verlauff  desselbigen  in  die  Kirche  kommen,  und  ihre 
Sünde  öffentlich,  daß  es  jedermann  höret,  bekennen,  aber 
nicht  am  Leben  gestraffet  werden.**^)  Krasse  historische  Bei- 
spiele von  Sohnesmord  sind  die  Ermordung  des  Thronfolgers 
Iwan  durch  Iwan  den  Schrecklichen^)  und  die  Hinrichtimg  des 
Thronfolgers  Alexej  durch  Peter  den  Großen.  Man  weiß,  daß 
zahlreiche  Zeitgenossen  behaupten,  Peter  sei  sogar  der  Henker 
seines  Sohnes  gewesen.    Eines  österreichischen  Diplomaten  Be- 


^)  Relation  d'un  voyage  en  Moscovie  en  1688,  6crite  par  Augustin  Baron 
de  Mayerberg,  Paris  1858.     II  iio. 

*)  Russisches  Landrecht,  Dantzig  1723.     XXII.  Cap.,  Artikel  3. 

^)  Karamsin,  VIII  284.  —  Ich  habe  von  dieser  Tragödie  schon  in  einem 
früheren  Kapitel  gesprochen. 


—    287    — 

rieht  1)  erzählt:  „Weil  sich  niemand  wollte  finden  lassen,  der 
die  Hand  an  seinen  Kronprinzen,  um  solchen  zu  torquieren, 
hätte  legen  wollen,  so  nahm  der  Czaar  solches  Amt  Selbsten 
über  sich;  da  Er  aber  dieses  Amt  noch  nicht  so  meisterlich, 
als  der  ordinaire  Büttelknecht  verstehen  mogte,  versetzte  er 
seinem  Sohn  mit  der  Knutpeitsche  einen  solch  unglücklichen 
Streich,  daß  Er  gleich  sprachlos  zur  Erde  sank,  und  die  an- 
wesende Ministri  nicht  anders  meinten,  als  daß  der  Prinz  so- 
gleich verscheiden  würde;  der  Vater  hörete  zwar  auf  zu  schla- 
gen, ließ  sich  aber  im  Weggehen  diese  heßliche  Worte  ver- 
lauten: der  Teufel  wird  ihn  doch  nicht  holen.**  Lamberti^) 
sagt  geradezu :  „Sehr  sonderbar  ist  es,  daß  der  Czar,  nachdem 
er  ihm  selbsten  die  Knutpeitsche  gegeben,  so  eine  Art  Folter 
ist,  ihn  auch  selbst  enthauptet.**  Andere  stellen  den  Verlauf 
der  Tragödie  folgendermaßen  dar :  „Peter  versuchte  dem  Sohne 
einen  Giftbecher  zu  reichen.  Alexe j  weigerte  sich  das  Gift  zu 
schlürfen.  Da  ließ  ihm  der  Czar  durch  den  Marschall  Adam 
Weyde  mit  einem  Beile  den  Kopf  vor  die  Füße  legen,  nachdem 
man  zuvor  die  Vorsicht  gebraucht  hatte,  eine  Diele  im  Fuß- 
boden auszuheben,  um  das  Blut  in  den  Schutt  rinnen  zu  lassen. 
Eine  Maitresse  Peters,  Mamsell  Kramer,  mußte  des  Prinzen 
Haupt  wieder  an  den  Leichnam  annähen,  der  dann  mit  einem 
dicken  Tuche  um  den  Hals  öffentlich  ausgestellt  wurde  zur 
Unterstützung  der  Mär,  Alexej  sei  aus  Angst  an  einem  Herz- 
schlag gestorben. **3) 

Wie  die  Herren  so  die  Knechte :  Zur  Zeit  Elisabeths  macht 
großes  Aufsehen  die  Affäre  des  Edelmanns  Neledinskij,  der 
seine  leibliche  Mutter  aus  einem  geringfügigen  Anlaß  mit  den 
Pleti    unbarmherzig    schlagen    ließ.*)    Die   Leibeigenen  aber 


1)  Bei  Büsching,  XI  487. 

2)  Bei  Büsching,  III  224. 

3)  Russische  Günstlinge  (von  Heibig),  S.  100.  —  Schmidt  Phiseldek, 
Hermäa  1786,  S.  245  und  Einleitung  in  die  russische  Geschichte,  II  300.  — 
Spittler,  Europäische  Staatengeschichte,  II  593  (3.  Auflage).  —  Coxe,  Reise, 
I  422.  —  Herrmann,  Geschichte  des  russischen  Staates,  IV  321,  330.  —  Sugen- 
heim,  Rußlands  Einfluß,  I  169.  —  Brückner,  Peter  der  Große  (in  Onckens 
Weltgeschichte)  und  Waliszewski,  Pierre  le  Grand. 

*)  Tmiü(|ieeirt.  llciopia  iiaKiiaiiEiü,  crp.  191. 


—    288    — 

htrmen  noch  weniger  Ehrfurcht  vor  den  Ehern  oder  Liebe  zn 
ihnen.  Aid^  einem  baltischen  Gute  ereigDcn  sieb  in  onean  «n- 
zigen  Jahre  folgende  Famijientragödien :  Zweimal  »yidcD  Fhcra 
von  ihren  Söhnen  blutig  get-chlagen.  Ein  Bruder  eisrhlagi 
anderen  im  Zank.  Ein  Haurvater  der  die  Schenke  mcSxt 
lassen  vrUL  wird  von  einerr.  Familierinijtglied  gewaltsam 
geschleppt,  erschlagen  und  obendrein  kastriert.^., 
zählt-  aus  dem  Ji^hre  1794  ein  charakteristisches 
.,Ein  Lette  ertrank.  Indeß  wir  uns  bemühten,  den  \ 
glückten  ins  Leben  zu  rufen,  legie  sich  seine  ganze  Famüie 
uns  her  zum  Schlafen  nieder.  Nach  einer  Stunde 
ein  Bruder  des  Ertrunkenen  und  fragt :  ob  unsere  V 
Erfolg  gehabt.  Nein,  ist  unsere  Antwon.  Da  nimmt  er 
Pelz  des  Ertnmkenen  und  legt  sich  wieder  damit  zugedeckt 
nieder." 

Im  Jahre  1906  geschah  im  Dorfe  Zionschen  im  Slnpezfcer 
Kreise,  i*Te  die  russischen  Tagesblätter  berichteten,  ein  scJireck- 
liches  Verbrechen:  Die  Einwohnerin  des' genannten  Dorfes, 
namens  Jadwiga  Ssoßnowskaja,  die  ihre  84jährige  Mutter, 
eine  kränkliche  und  pflegebedürftige  Frau,  loswerden  woDte, 
schleppte  die  Greisin  in  einen  Schweinestall  imd  ließ  sie  hier 
verhungern.  Diese  unnatürlichen  Verbrechen  hängen  aller- 
dings oft  mit  dem  Aberglauben  zusammen.  Weiber,  die  im 
\*erdachte  stehen,  mi:  dem  Teufel  Verbindung  zu  haben,  tct- 
liertn  das  Rech:  auf  die  Achtung  ihrer  nächsten  Verwandten; 
Söhne  foltern  ihre  Mü:-er.  Männer  ermorden  ihre  Weiber. 
ih'i^  foltert  in;  Dorf"  Vod-äna^'a  im  Gouvernement  Taurien 
f  in  Bauvr  gemeinsam  m:t  ^inen  Kltem  seine  Frau,  weil  sie 
Zauberei  L'et rieben  hal-^.-r.  soll;  Gatte  und  Schwiegereltern  hän- 
gen die  h'exe  ar.  den  Haaren  auf  und  zwicken  ihren  nackten 
Körji'er  mit  g/jhenden  Bratpfannen.  Im  Bauemieben  kämpfen 
Sch'A-iegerrr.utter  und  Sch"w-iegertochter  auf  solche  Weise  oft 
den  Ents'^.heidungirkan^.pf  um  die  Herrschaft  im  Hause  aus. 
Eine  junge  Frau  leidet  an  Zuckungen.  Der  Mann  begießt  am 
l:^irten<'>^:erf eiertage  die  Kirchenglocke  mit  geweihtem  Wasser. 


)  Merke!,  Ln*:  L'.tt'.i.    S.  5 
;  Ebenda. 


—    289    — 

fängt  die  Tropfen  in  einem  Glase  auf,  gibt  seiner  Frau  dies 
Wasser  zu  trinken  und  fragt  sie,  wer  sie  behext  habe.  Sie 
nennt  die  Schwiegermutter.  Der  Gatte  beruft  darauf  seine 
Nachbarn  imd  legt  seiner  Frau  die  Frage  nochmals  vor;  sie 
nennt  abermals  kategorisch  die  Schwiegermutter  und  bezeichnet 
den  21.  November  als  den  Tag  des  Unglücks.  Nun  bringt  man 
die  Schwiegermutter  herbei.  Als  diese  ins  Zimmer  tritt,  erleidet 
die  junge  Frau  einen  Anfall;  sie  wirft  sich  auf  die  Schwieger- 
mutter und  schlägt  sie.  Also  kein  Zweifel,  die  Alte  ist  eine. 
Zauberin.  Da  wirft  sich  auch  der  Sohn  auf  die  zu  Boden  ge- 
sunkene Greisin  und  haut  auf  sie  los.  Die  übrigen  Anwesenden 
legen  der  Hexe  einen  Strick  um  den  Hals  und  schleppen  sie 
in  den  Keller,  um  sie  zu  bewachen,  bis  der  Scheiterhaufen  für 
sie  errichtet  worden.  Ehe  aber  die  Familie  an  der  Hexe  Ge- 
rechtigkeit üben  kann,  holt  der  Teufel  ihre  Seele  und  rettet 
seine  Kreatur  vor  dem  Feuertode.  Im  Kreise  Myschkin  des 
Gouvernements  Twer  wird  1893  eine  Mutter,  die  der  Sohn  als 
Hexe  betrachtet,  von  ihm  ermordet.  In  einem  zivilisierten  Ge- 
biete Mittelrußlands  glaubt  ein  Ehepaar,  es  sei  vom  Teufel 
besessen,  und  die  unreine  Macht  wohne  in  der  Mutter  des 
Mannes.  Die  Schwiegertochter  fordert  die  Schwiegermutter 
auf,  gewisse  Gebete  zu  lesen,  ein  Kummet  umzulegen  und 
andere  Mittel  zu  erproben,  um  den  Beweis  zu  liefern,  daß  sie 
keine  Hexe.  Aber  die  Mutter  fühlt  sich  nicht  belastet  und 
weigert  sich  zu  tun  wie  die  Kinder  verlangen.  Diese  meinen: 
das  sei  der  Trotz  Satans,  und  rufen  die  Verwandten  zu  Hülfe. 
In  deren  Gegenwart  setzt  sich  die  Schwiegertochter  zur 
Schwiegermutter  und  ruft:  „Geh  hinaus,  unreine  Macht,  aus 
der  Dienerin  Gottes!**  Die  Alte  wehrt  sich,  das  ist  abermals 
Satans  Trotz.  Man  packt  sie  also,  schleppt  sie  auf  die  Straße 
und  würgt  sie,  und  als  man  endlich  ihr  Todesröcheln  vernimmt, 
jubelt  alles:  „Satan  geht  heraus!**  Wie  sich  die  Schwieger- 
tochter derartig  von  der  Schwiegermutter  befreit,  so  kann  auch 
der  Mann  auf  ähnliche  Weise  seine  Frau  los  werden.  1890 
behauptet  der  Bauer  Slynew  im  Kreise  Karatschew  des  Orlow- 
schen  Gouvernements,  seine  Frau  sei  eine  Hexe  und  habe  ihm 
Impotenz  angezaubert ;  er  treibt  ihr  die  unreine  Macht  so  kräftig 
aus,  daß  sie  tot  liegen  bliebt.    Erblustige  Söhne  zögern  nicht, 

Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  ia  Rußland.    **  X9 


f 


—     290    — 

mit  Hülfe  der  Praktiken  des  Aberglaubens  ihre  Eltern  vor- 
zeitig ins  Jenseits  zu  befördern.  In  dem  Twerschen  Gebiete 
gibt  es  1874  Massenfolterungen  und  Verbrennungen  von 
Vätern  und  Müttern.  1889  stirbt  im  Dorfe  Tamuschi  im  Ssu- 
chumschen  Kreise  einer  Witwe  ein  Sohn  und  ein  anderer 
erkrankt  bald  darauf.  Man  ruft  Wahrsager  zu  Hülfe,  und 
diese  bezeichnen  die  Mutter  als  Hexe ;  sie  verordnen :  die  Hexe 
soll  vor  dem  Volk  ihre  Sünden  bereuen  oder  sich  der  pein- 
lichen Befragung  durch  glühendes  Eisen  imterziehen.  Der 
kranke  Sohn  gibt  zu  allem  seine  Zustimmung.    Man  errichtet 

« 

einen  Scheiterhaufen  und  fordert  die  Frau  auf,  ihre  Sünden 
zu  bekennen  oder  sich  dem  Feuer  anzuvertrauen.  Sie  ver- 
hert  vor  Schrecken  die  Sprache;  dies  gilt  als  Beweis  ihrer 
Schuld,  man  bindet  sie  an  eine  Stange  und  röstet  sie  über 
dem  Feuer. 

Ereignet  sich  solches  in  den  zivilisierten  Gebieten  des 
europäischen  Rußlands,  so  ist  es  in  den  asiatischen  Gouverne- 
ments selbstverständlich  etwas  alltägliches.  Im  Turchanschen 
Kreise  des  Gouvernements  Jenissei  stirbt  im  Zelte  des  Ostjaken- 
geschlechts  Kussamin  der  Großschaman  Iwan.  Seine  Ver- 
wandten vollziehen  die  Begräbnisfeier,  da  geschieht  es,  daß 
der  Sohn  Nikolaj  aus  Gram  über  den  Tod  des  Vaters  sich 
plötzlich  entkleidet,  mit  aufgerissenen  Augen  und  aufgesperr- 
tem Munde  auf  die  Verwandten  losstürzt  und  schreit:  „Ich 
werde  euch  alle  aufessen.**  Er  springt  auf  seine  eigene  Mutter 
zu,  beißt  ihr  ein  Stück  von  der  Jacke  herunter  und  verschluckt 
es.  Man  hält  ihn  für  einen  bösen  Zauberer,  und  die  Mutter 
ist  es,  die  die  Männer  beauftragt,  ihren  Sohn  auf  einen  Eichen- 
pfahl aufzuspießen  und  zu  verbrennen. i)  Neben  derartigen 
Morden  aus  Aberglaube  gibt  es  Sohnesmord  aus  religiösem 
Fanatismus.  Im  Jahre  1847  wollte  ein  Muschik  aus  dem  Gou- 
vernement Perm  mit  einem  Schlage  seiner  ganzen  Familie 
den  Himmel  erschließen,  indem  er  sie  dem  lieben  Gott  opferte. 
Ein  anderer  Bauer  im  Gouvernement  Wladimir  erschlug  seine 


1)  Vgl.  Aberglaube  und  Strafrecht  von  August  Löwenstimm,  Gehilfe 
des  Juriskonsul ts  im  Justizministerium  zu  St.  Petersburg.  Aus  dem  Russischen. 
Berlin  1897.    S.  51,  52,  54,  62,  63. 


—    291    — 

zwei  Söhne  und  erklärte  dann  vor  Gericht:  er  habe  seine 
Kinder  vor  der  Sünde  bewahrt.  Im  Jahre  1870  ahmte  der 
Muschik  Kurtin  im  Gouvernement  Wladimir  die  Opferung 
Isaaks  durch  Abraham  nach;  er  band  sein  siebenjähriges  Söhn- 
chen auf  eine  Bank,  schlitzte  ihm  den  Bauch  auf  und  begann 
zu  den  Heiligenbildern  zu  beten.  „Verzeihst  du  mir?**  fragte 
der  Vater  das  sterbende  Kind.  „Ich  verzeihe  dir,  und  Gott 
verzeiht  dir  auch,**  stöhnte  das  Opfer.  Vor  Gericht  gestellt 
gab  der  Muschik  an,  er  hätte  das  getan,  um  Gott  wohlgefällig 
zu  sein.  Zwanzig  Jahre  später,  um  1890,  ereignete  sich  fast 
genau  das  gleiche.  Ein  Bauer,  namens  Aslamasow,  erstach 
auf  dem  Altar,  das  Beispiel  Abrahams  nachahmend,  sein  sieben 
Monate  altes  Kind.  Eine  symbolische  Legende  „von  der  Frau 
Hallelujah*'  billigt  diese  Form  der  Elternliebe:  „Frau  Halle- 
lujah  saß  an  einem  Wintertage  vor  dem  geheizten  Ofen  und 
hielt  ihr  Knäblein  in  den  Armen.  Da  trat  plötzlich  das  Jesus- 
kind in  die  Isba  und  bat  um  Schutz  vor  seinen  Verfolgern. 
Vergeblich  sah  sich  das  Weib  nach  einem  Versteck  um.  Da 
sagte  das  Jesuskind:  „Wirf  deinen  Knaben  in  den  Ofen  und 
nimm  mich  in  die  Arme  statt  seiner.**  Die  Frau  gehorchte, 
und  als  die  Verfolger  des  Christuskindes  kamen,  wies  sie  auf 
den  Ofen,  darin  ihr  Kind  verbrannte.  Kaum  waren  die  Wider- 
sacher von  dannen  gegangen,  so  fing  sie  an,  ihr  Kind  zu  be- 
weinen. Das  Christkind  aber  gebot  der  Frau:  „Blicke  in  deinen 
Ofen!**  Sie  schaute  hin  und  sah  im  Ofen  einen  lieblichen  küh- 
len Garten,  worin  ihr  Kind  mit  den  Engeln  singend  herum- 
spazierte. Darauf  verließ  Christus  die  Frau,  nachdem  er  ihr  noch 
ans  Herz  gelegt  hatte,  sie  tnöge  die  Frommen  anweisen,  die  un- 
schuldigen Leiber  ihrer  kleinen  Kinder  den  Flammen  zu  weihen.** 
Diese  Weisung  ist  oft  genug  befolgt  worden.  Eine  Bäuerin, 
die  ihr  kleines  Mädchen  auf  solche  Weise  Gott  zum  Opfer  ge- 
bracht hatte,  erklärte  den  Richtern:  „Ich  bin  der  Frau  Halle- 
lujah nachgefolgt,  freuet  euch,  das  Kind  ist  im  Himmelreich  1**^) 
Gänzlich  schwindet  alles  verwandtschaftliche  Gefühl  in 
Perioden  der  Epidemien  und  Hungersnot.    Wir  haben  früher  2) 


1)  Leroy-Beaulieu,  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen,  III  353,  354« 
«)  Band  I,  S.  456,  457. 

19* 


—    292    — 

Beispiele  von  Grausamkeit  der  Eltern  gegen  ihre  Kinder  in 
Zeiten  der  Teuerung  kennen  gelernt.  Aber  auch  sonst  ist  die 
russische  Mutter  bei  der  geringsten  Gefahr,  die  ihr  droht,  schnell 
entschlossen,  eher  ihre  Kinder  als  sich  zu  opfern.  Berühmt 
ist  die  Anekdote,  die  die  Gefühllosigkeit  der  russischen  Mutter 
charakterisiert:  Eine  Frau,  die  mit  ihren  Kindern  mitten  im 
Winter  über  Land  fährt,  wird  von  Wölfen  angefallen;  um 
die  wütenden  Tiere  aufzuhalten,  wirft  sie  ihnen  ein  Kind  nach 
dem  anderen  vor,  und  auf  diese  grausame  Weise  rettet  sie 
ihr  Leben. 

Schließlich  ist  die  Grausamkeit  auch  die  Beherrscherin 
des  ehelichen  Lebens,  der  Stock  regiert  das  Haus  und  lehrt 
Liebe.  Herberstein  soll  zuerst  die  seither  häufig  wiedererzählte 
Geschichte  von  der  Russin  erzählt  haben,  die,  an  einen  Aus- 
länder verheiratet,  sich  darüber  beklagt,  ihr  Mann  liebe  sie 
nicht,  denn  er  schlage  sie  nicht.  Spätere  Schriftsteller  i)  sagten 
zwar:  „Dasjenige  /  so  Johannes  Barclaius,  Petrus  Petraeus  und 
einige  andere  erzehlen  /  nemlich  /  daß  die  moscowitische  Wei- 
ber gerne  sehen  /  daß  sie  ihre  Männer  schlagen  /  und  daß 
je  mehr  Schläge  sie  bekämen  /  je  mehr  sie  glaubeten  /  daß 
sie  von  ihnen  geliebet  werden  /  ist  eine  Fabel.**  Aber  der 
russische  Historiker  Karamsin-)  meint,  wenn  die  Erzählung 
Herbersteins,  ,,die  zum  Sprichwort  geworden,  auch  nur  zum 
Teil  wahr  sei,  so  erinnere  sie  doch  an  die  alten  slawischen 
Gebräuche  und  die  rohen  Sitten  der  Zeiten  Batüs.**  Die  kör- 
perlichen Züchtigungen  kannte  man  in  allen  Teilen  der  Ver- 
waltung, sie  regierten  in  der  Justiz,  in  hunderten  Gesetzartikeln, 
sie  beherrschten  das  gesellschaftliche  Leben,  regelten  den  Ver- 
kehr zwischen  den  Hohen  und  Niedrigen,  den  Herren  und 
den  Leibeigenen;  der  Domostroj,  das  russische  Lehrbuch  des 
guten  Tones,  hatte  die  Peitsche  in  das  Familienleben  eingeführt, 
sie  dem  Vater  bei  der  Erziehung  der  Kinder  und  dem  Gatten 
zur  Behandlung  der  Gattin  empfohlen.  Als  ganz  selbstver- 
ständlich erscheint  da  das  Züchtigungsrecht  des  Mannes,  die 


1)  Religion     der     Moscowiter  /  oder     ausführliche     Beschreibung     derer 
Religion  usw.,  S.  95,  96. 

?)  Geschichte  VIT   173. 


—    293    — 

Ansicht:  die  Frau  muß  Prügel  haben;  oder  selbst  diese:  die 
Frau  will  geprügelt  sein.  Eines  Gatten  Schläge  schmerzen 
nicht,  tröstet  das  Sprichwort  die  Frauen ;  aber  gleichzeitig  eifert 
es  die  Männer  an:  Liebet  euere  Frauen  wie  euere  Seele  imd 
klopft  sie  wie  eueren  Pelz.  Lieb  wie  die  Seele  dein  Weib  und 
schüttle  wie  die  Birne  ihren  Leib.  Nachsicht  gegen  die  Frau 
bringt  nur  Unheil.  Gibst  du  deiner  Frau  keinen  Hieb,  so  hat 
sie  dich  nicht  lieb.  Das  alte  Heldenlied  von  der  gemein- 
samen Fahrt  der  Degen  II ja  und  Dobrynja^)  erzählt,  wie  die 
beiden  das  berüchtigte  Weib  Gorinka  treffen,  das  kräftig  wie 
ein  Recke  und  ewig  nach  Kämpfen  lüstern  ist.  Als  es  zum 
Kampfe  kommt,  sagt  Ilja  zu  Dobrynja :  „Haue  das  Weib  nicht 
mit  der  Keule,  haue  das  Weib  nicht  mit  dem  breiten  Schwerte. 
Solche  Waffen  sind  für  Männer.  Schlage  dem  verfluchten 
Weibe  mit  der  Hand  ins  Antlitz,  stoße  und  tritt  es  mit  dem 
Fuße:  solche  Dinge  bezwingen  die  Weiber.** 

In  einem  Hochzeitslied  bittet  die  junge  Frau  den  Gatten: 
„O  mein  Teurer,  mein  Inniggeliebter,  schlage  dein  Weib  nicht 
ohne  Grimd,  schlage  dein  Weib  nur  mit  gutem  Grund  und 
wemi  es  dich  sehr  gekränkt  hat.**^)  In  einem  anderen  Volks- 
liede  singt  die  junge  Frau:  „Was  bist  du  mir  für  ein  Gatte, 
für  ein  Mann?  Du  raufst  nicht  mein  Haar  und  du  schlägst 
mich  nicht!*' 3)     Einem  altrussischen  Hochzeitsbrauch  zufolge 


*)  Bernhard  Stern,  Fürst  Wladimirs  Tafelrunde,  S.  55. 

2)  Schein,  Russische  Volkslieder,  I  403.  —  Vgl.  Leroy-Beaulieu,  Das 
Reich  der  Zaren,  I  414. 

3)  Die  Welt  der  Slawen  von  Fr.  von  Hellwald.  S.  213.  Hier  wird  auch 
das  spanische  Sprichwort  zitiert :  Mucho  me  quiere  porque  mucho  me  aporrea ; 
er  liebt  mich  sehr,  weil  er  mich  viel  prügelt.  —  Bei  den  Bewohnern  von  Guiana 
wird  die  Ehebrecherin  zur  Strafe  geprügelt.  Als  ein  Franzose  solch  einem  Schau- 
spiele beiwohnte  und  die  Frau  retten  wollte,  wehrte  sie  sich  schäumend  vor 
Wut  gegen  die  Hülfe  und  schrie:  ,,Wenn  mein  Mann  mich  schlägt,  so  tut  er 
es,  weil  er  mich  liebt."  Vgl.  Zimmermann,  Taschenbuch  der  Reisen,  V.  — 
Bei  den  Orientalen  ist  das  Schlagen  der  Frauen  in  Blüte,  Sultanin  und  letzte 
Sklavin  stehen  unter  der  Zuchtrute  des  Herrn  und  des  Kislaraga.  Die  strengen 
Züchtigungen  der  Frauen  bei  den  Griechen  und  Römern  sind  bekannt.  Moses 
räumte  den  Hebräern  das  Züchtigungsrecht  in  der  Ehe  ein.  Die  Perser  schwingen 
unerbittlich  die  Peitsche  im  Hause.  In  den  romanischen  Staaten  prügelte  man 
die  Frauen  häufig,  und  die  altfranzösischen  Gedichte  und  Romane  erzählen 


—    294    — 

zeigte  der  Vater  der  Braut  dieser  eine  Rute,  gab  ihr  einige 
Streiche  damit  und  sagte:  „Siehe,  meine  liebe  Tochter,  das 
sind  die  letzten  Schläge,  die  du  von  meiner  Hand  bekommst. 
Ich  entlasse  dich  aus  der  väterlichen  Gewalt  und  übergebe 
dich  der  deines  Gatten.  Erweisest  du  ihm  jemals  nicht  den 
gebührenden  Gehorsam,  so  möge  er  dich  an  meiner  Statt  durch 
diese  Rute  an  deine  Schuldigkeit  erinnern.**  Mit  diesen  Wor- 
ten übergab  der  Vater  der  Tochter  das  Zweiglein,  das  bei  den 
Frauen  Altrußlands,  wie  der  Chronist  sagt,  gleiches  Ansehen 


genug  Beispiele.  Man  lese  die  38.  Novelle  der  Cent  nouvelles  nouvelles: 
„Une  verge  pour  l'autre."  Um  1820  wurde  allerdings  in  Frankreich  der  Mann, 
der  seine  Frau  geschlagen  hatte,  strafweise  auf  einem  Esel  herumgeführt 
(Dictionnaire  de  la  p6nalit6,  V  151).  Auch  in  Deutschland  kam  es  vor,  daß 
Männer  ihre  Frauen  schlugen.  Im  Juristischen  Vademecum  für  lustige  Leute 
(Frankfurt  und  Leipzig  1789,  I  34)  finde  ich  folgende  Geschichte:  Eine  Frau 
klagte  ihren  Mann  auf  die  Ehescheidung  wegen  Mißhandlung.  Unter  den 
Zeugenartikeln,  welche  sie  gegen  ihn  übergab,  war  folgender:  „Wahr,  daß 
Produkat  die  Producentinn  geschlagen,  daß  sie  eine  Schwüle  auf  dem  salva 
venia  Hintern  gehabt I"  —  Der  Mann  formierte  dabey  das  Fragstück:  „Wie 
hoch,  wie  breit  und  wie  lang  die  Schwüle  auf  dem  s.v.  Hintern  gewesen?" 
worauf  Zeuge  antwortete:  ,, Zeuge  habe  sie  nicht  gemessen."  —  Viel  häufiger 
scheint  es  in  Deutschland  vorgekommen  zu  sein,  daß  die  Weiber  ihre  Männer 
geschlagen.  Wenk  gibt  in  seiner  Hessischen  Landesgeschichte  eine  Nachricht 
darüber,  daß  die  Stadt  Darmstadt  jährlich  12  Malter  Korn  für  einen  besonderen 
Gebrauch  bestimmte,  nach  welchem  die  ihre  Männer  schlagenden  Weiber  gestraft 
wurden.  Eine  Familie  der  Stadt  bekam  dieses  Korn  und  hatte  dafür  die  Ver- 
pflichtung auf  Ersuchen  der  Stadt  einen  Esel  zu  schicken,  auf  dem  eine  Frau, 
die  ihren  Mann  zu  schlagen  gewagt  hatte,  durch  die  Stadt  geführt  wurde. 
Dieser  Gebrauch  bestand  im  sechzehnten  Jahrhundert.  Ein  amüsantes  Doku- 
ment hierüber  enthält  das  zitierte  Juristische  Vademecum,  I  16.  —  Zum 
Schlüsse  will  ich  erwähnen,  daß  es  eine  interessante  „Abhandlung  über  den 
Gebrauch  der  Alten  ihre  Geliebte  zu  schlagen"  gibt;  das  Büchlein  erschien  1766 
in  Berlin  und  wurde  1856  in  Stuttgart  nachgedruckt.  Die  Einleitung  weist 
auf  ein  französisches  Original  hin,  doch  hielt  man  diesen  Hinweis  für  fingiert. 
Es  ist  mir  jedoch  geglückt,  das  seltene  französische  Original  zu  erlangen:  Me- 
moires  de  l'Academie  des  sciences,  inscriptions,  belles  lettres,  faux  arts  etc. 
nouvellement  stabile  ä  Troyes  en  Champagne.  Tome  I  et  II.  A  Troyes,  chez 
le  Libraire  de  l'Academie  (natürlich  fingiert  I).  Et  se  trouve  ä  Paris  chez  Du- 
chesne,  Libraire,  rue  Saint  Jacques,  auTemple  de  goüt,  1756.  Außer  einigen 
skatologischen  Stücken  findet  man  hier  im  zweiten  Bande,  S.  43 — 145 :  Disser- 
tation sur  l'usage  de  battre  sa  maitresse. 


—    295    — 

genoß  wie  der  Trauring.^)  Die  Tochter  nahm  es  und  sagte: 
„Ich  nehme  es  als  Geschenk  an  imd  hoffe,  daß  es  nicht  nötig 
sein  wird  für  mich.**^)  Der  englische  Arzt  Collins  erzählte, 
daß  man  dem  Bräutigam  bei  der  Hochzeit  eine  Peitsche  in  den 
Stiefel  legte  als  Zeichen  seiner  Gattenmacht.^)  Das  gleiche 
wird  auch  von  anderen  berichtet :  „Der  Bräutigam  hat  in  dem 
einen  seiner  halben  Stiefeln  eine  Peitsche  /  imd  in  dem  andern 
einen  Edelgestein  oder  etwas  Geld  /  befiehlet  darauff  der 
Braut  ihn  auszuziehen  /  und  wenn  es  sich  zuträgt  /  daß  sie 
den  Ersten  Stiefel  ergreifft  /  wo  der  Edelgestein  drinne  ist  / 
so  giebt  er  ihr  denselben  /  imd  das  ist  ein  glücklich  Zeichen 
vor  sie;  wann  sie  aber  zuerst  die  Peitsche  ertappet  /  hält  man 
sie  vor  unglücklich  /  und  ihr  Mann  giebt  ihr  damit  einen 
Streich  zu  ihrer  Straffe  /  und  das  ist  nun  der  Anfang  dessen  / 
was  sie  folgends  wird  auszustehen  haben.*)  Die  Manier  /  wie 
die  Russen  ihre  Weiber  tractiren  /  ist  noch  sehr  grausam  und 
unmenschlich  /  ob  sie  schon  viel  geringer  ist  /  als  sie  vor- 
malen  war.  Es  sind  3  oder  4  Jahr  /  daß  ein  Kauffmann 
nachdem  er  seine  Frau  auffs  greulichste  geschlagen  hatte  / 
selbige  zwang  ein  Hembde  in  Brandewein  eingedaucht  anzu- 
ziehen /  welches  er  mit  Feuer  anzündete  /  und  solche  jänmier- 
lieh  in  der  Flamme  umkommen  ließ.  Das  wunderlichste  hier- 
bey  ist  /  daß  Niemand  diesen  Tod  rächet  /  weiln  kein  Gesetz 
wider  sie  vorhanden  ist  /  welche  ihre  Weiber  umbringen  / 
imter  dem  Vorwand  einer  Züchtigung.  Andere  von  diesen 
Barbam  hängen  die  Ihrigen  mit  denen  Haaren  auff  /  ziehen 
sie  gantz  nacket  aus  /  und  peitzschen  sie.**^)  Es  gab  aber  auch 
Väter,  die  ihren  Töchtern  ein  solches  Los  ersparen  wollten 
und  daher  bei  der  Hochzeit  kontraktliche  Versicherung  des 
Ehemannes  verlangten:  daß  er  gegen  seine  Gattin  „freundlich 
sein,  sie  stets  mit  gutem  Essen  versorgen,  sie  nicht  peitschen. 


^)  Bernhard  Stern,  Die  Romanows,  Intime  Episoden  aus  dem  russischen 
Hofleben.     Berlin  1906.     (3.  Auflage),  I  37. 

2)  M.  3a6bi.inin.,  PyccKitt  napojq»,  ero  oöbPia«,  oÖpaAM,  npej^anifl,  cyeirfepifl 
11  iioaaifl.     MocKBJi  1880,  cri).  551. 

^)  THMo«|H?eirb,  Ilcrropifl  HUKasaHÜi,  191. 

*)  Reise  nach  Norden,  S.  126. 

•')  Ebenda  128. 


—    296    — 

nicht  mit  den  Füßen  stoßen  noch  mit  Faustprügeln  übel  trak- 
tieren werde.**  Solche  Versicherungen  waren  wohl  von  prob- 
lematischem Werte,  denn  allgemein  klagt  man  noch  lange 
fort,  daß  die  Moskowiter  ihre  Frauen  grausam  behandeln. 
„Man  siehet  sie  nicht  selten  ihre  Weiber  auf  öffentlichen  Gassen 
dergestalt  prügeln,  daß  sie  heulen  und  bluten,**  schreibt  ein 
Reisender!)  lun  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  Peter 
der  Große  emanzipiert  die  Frau  gesellschaftlich,  reformiert 
ihre  Tracht,  aber  von  der  Peitsche  befreit  er  sie  nicht ;  er  selbst 
peitscht  nicht  bloß  seine  Gemahlin  Eudoxia,  sondern  auch 
seine  Maitressen;  einmal  erwischt  der  Zar  das  junge  Fräulein 
Matwejew,  die  er  der  Ehre,  sein  Lager  teilen  zu  dürfen,  ge- 
würdigt hatte,  in  den  Armen  eines  Rivalen;  er  ist  gnädig  imd 
will  der  Majestätsverbrecherin  nicht  ans  Leben,  er  prügelt  sie 
bloß  tüchtig  durch  imd  verheiratet  sie  dann  mit  dem  Bojaren 
Rumjäntzow.2)  Ein  berüch:igter  Haustyrann  ist  W.  F.  Ssolty- 
kow,  der  Oheim  der  Zarin  Anna  Iwanowna;  er  prügelt  seine 
Frau  so  kräftig,  daß  sie  tot  auf  dem  Platze  bleibt.  Des  Mordes 
angeklagt  verteidigt  er  sich  mit  den  Worten:  „Ich  wollte  sie 
wahrhaftig  nicht  zu  Tode  schlagen. **3)  Daß  er  überhaupt  vor 
Gericht  gestellt  wird,  ist  ein  Wunder,  geschieht  vermutlich 
nur  deshalb,  weil  die  Erschlagene,  eine  geborene  Dolgoruckij, 
der  vornehmsten  Familie  des  Landes  angehört  hat. 

Im  allgemeinen  ist  die  Frau  vogelfrei,  der  Gatte  hat  alle 
Rechte  über  sie;  das  Weib  ist  das  Eigentum  des  Mannes,  mit 
dem  er  schalten  kann  wie  er  will ;  und  wenn  einer  im  Zorn  seine 
Frau  erschlägt,  so  wird  dies  nicht  als  schlimmer  angesehen 
denn  Tötung  eines  leibeigenen  Knechtes^),  von  Strafe  ist  keine 
Rede.^)  Erst  das  Strafgesetzbuch  Nikolajs  I.  hat  es  für  nötig 
befunden,  den  Männern  für  schlechte  Behandlung  ihrer 
Gattinnen   Vergeltung   anzudrohen;    außer   der   mißhandelten 


^)  Abschnitte  aus  Peter  von  Haven,  Nachrichten  aus  Rußland.  Bei 
Büsching,  X  347. 

2)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand,  217. 

")  Waliszewski,  L'h^ritage  de  Pierre  le  Grand,  170. 

*)  Russische  Anerdoten,  Wansbeck  1765.     S.  57. 

^)  Etat  present  de  la  Grande-Russie  par  le  capitaine  Jean  Perry.  Traduit 
de  TAnglois.     A  la  Haye  1717.    p.  192. 


—    297    — 

Frau  sind  auch  ihre  Eltern  klageberechtigt. i)  Seither  bemühen 
sich  die  Gerichte  die  Frau  zu  schützen,  aber  beim  Muschik 
dürfen  sie  sich  nur  weniger  Erfolge  rühmen.  Der  Muschik 
will  nicht  verstehen,  daß  man  ihm  das  Recht  seine  Lebens- 
gefährtin zu  züchtigen  nehmen  könne.  Ein  wegen  Mißhandlung 
seiner  Frau  vor  den  Richter  gebrachter  Bauer  antwortete  auf 
die  Anklage:  „Aber  das  ist  mein  Weib,  das  ist  mein  Eigen- 
tum !**2)  Wird  der  Mann  einmal  gestraft,  so  ist  dies  für  die 
Frau,  wenn  sie  bei  dem  Gatten  bleibt,  durchaus  nicht  günstig, 
er  prügelt  sie  nur  noch  mehr;  deshalb  finden  sich  die  Frauen 
zumeist  mit  ihrem  Schicksal  in  Geduld  ab.  In  einigen  Gou- 
vernements haben  die  Frauen  auch  in  neuer  Zeit  seit  Jahr- 
zehnten nicht  ein  einziges  Mal  die  Hülfe  des  Gerichtes  ange- 
rufen. Doch  gibt  es  Ausnahmen.  1892  ereignete  sich  der 
früher  ganz  undenkbare  Fall,  daß  eine  Frau  nicht  bloß  gegen 
ihren  Gatten,  sondern  auch  gegen  ihren  Schwiegervater  klag- 
bar auftrat,  und  dann  stellte  sich  heraus,  daß  sie  Hiebe  prompt 
immer  mit  Hieben  beantwortet  hatte. 3)  Welche  Qualen  muß 
ein  russisches  Weib  erst  erduldet  haben,  um  zur  Befreiung 
aus  ihrem  Elend  gar  kein  anderes  Mittel  zu  sehen  als  die 
Tötung  des  Mannes.  Während  die  Ermordung  der  Gattin 
früher  kein  Aufsehen  machte,  wurde  die  Ermordung  des  Gatten 
durch  seine  Frau  stets  furchtbar  gestraft,  durch  Verbannung 
der  Mörderin  oder  durch  Vergraben  bei  lebendigem  Leibe. 
In  jüngster  Zeit  haben  aber  die  Geschworenengerichte  fast 
stets  milde  geurteilt,  zumeist  sogar  einen  Freispruch  gefällt, 
was  als  Beweis  dafür  gelten  kann,  daß  die  Stellung  der  Frau 
auch  in  den  unteren   Klassen  eine  geachtetere  geworden  ist. 


^)  Strafgesetzbuch  des  Russischen  Reichs,  promulgirt  im  Jahre  1845, 
§  2075, 

2)  Leroy-Beauheu,  das  Reich  der  Zaren,  II  246. 

^)  IIoKpoiiCKirt,  iKiiBan  crapEua,  VI  457:  0  ceMeÜHOMT»  nojiOHceHÜt  Kpe- 
CTflHCKOft  axeuiuiiHU. 


SIEBENTER  TEIL: 


Das  Weib  und  die  Ehe 


38.  Geschichte  der   russischen  Frau.   — 

39.  Stellung  der  Frauen  bei  den  nicht- 
russischen      Völkern       Rußlands.       — 

40.  Frauenraub    und    Frauenmarkt.   — 

41.  Schönheitsideal,  Schminke  imd  Liebe. 
—  42.  Hochzeitsbräuche  und  Hochzeits- 
lieder der  Russen.  —  43.  Hochzeitsbräuche 
der  nichtrussischen  Völker  Rußlands.  — 
44.  Ehescheidimg.  —  45.  Ehebruch.  — 
46.  Uneheliche  Kinder,  krimineller  Abortus 

und  Kindesmord. 


38.  Geschichte  der  russischen  Frau. 

Grausamkeit  gegen  die  Frau  —  Stellung  der  Frau  bei  den  alten  Slawen  — 
Großfürstin  Olga  von  Kijew  —  Altrussische  Amazonen  —  Die  Poleniza  der 
Heldenlieder  —  Frau  und  Aberglaube  —  Frauenkauf  Ursache  der  Erniedri- 
gung —  Witwenverbrennung  —  Verachtung  der  Frau  —  Bedeutende  Frauen 
des  alten  Rußland  —  Elena  Glinski}  —  Ein  Privilegium  der  Edeldamen  — 
Abgeschlossenheit  der  Frauen  —  Terem  —  Unreinigkeit  der  Frau  in  den 
Augen  des  Volkes  —  Eine  Schilderung  Daniel  des  Verbannten  —  Ein  Urteil 
der  Raßkoljniki  —  Die  Kosaken  gegen  die  Frauen  —  Anempfehlungen  des 
Domostroj  —  Berichte  der  Europäer  aus  dem  siebzehnten  Jahrhundert  — 
Zarin  und  Zarentöchter  —  Kotoschichins  Klage  —  Zarin  Natalia  —  Zarewna 
Sofia  —  Emanzipation  durch  Peter  den  Großen  —  Die  neuen  Moden  —  Frauen 
auf  dem  Throne  —  Roheit  der  Aristokratinnen  —  Die  Weiber  auf  dem  Lande 

—  Epoche  Katharinas  II.  —  Liste  der  Schriftstellerinnen  und  Künstlerinnen 

—  Frauen-Romane  des  neunzehnten  Jahrhunderts  —  Die  ersten  barmherzigen 
Schwestern  —  Ein  Ausspruch  Mentschikows  —  Die  Frauen  in  der  Revolution 

—  Forderungen  der  Gräfin  Ina  Kapnist  —  Weibliche  Dorfverwaltung  —  Stel- 

lung der  Frau  des  Muschik. 

„Eine  Henne  ist  kein  Vogel,  ebensowenig  ist  ein  Weib 
ein  menschliches  Wesen/*  sagen  die  Russen  und  meinen,  daß 
die  brutale  Mißachtung  der  Frau  weder  den  Himmel  beleidige, 
noch  die  irdischen  Gesetze  verletze.  Wir  haben  schon  erfahren, 
wie  das  russische  Volk  in  seinen  Sprichwörtern  und  in  der 
rauhen  Wirklichkeit  die  Frau  zu  behandeln  liebt.  Der  Gatte 
scheint  sich  tatsächlich  erst  wohlzubefinden,  wenn  er  die  Gattin 
tüchtig  durchgeprügelt  hat  ^) :  „Wer  nicht  Wein  trinkt,  ist  nicht 
betrunken,  und  wer  sein  Weib  nicht  schlägt,  kann  nicht  glück- 
lich sein.**  Man  fürchtet  sich  nicht,  des  Guten  dabei  zuviel 
zu  tun;  denn  „ein  Weib  ist  keine  Erbse,  man  kann  es  nicht 
zertreten.**     Man   schlage   die   Frau  also   „mit   dem   stumpfen 


^)  Lanin,  Russische  Zustände,  II  57. 


—    302    — 

Ende  der  Axt  und  bücke  sich  und  sehe,  ob  sie  noch  atmet; 
und  wenn  sie  noch  lebt,  dann  ist  es  ein  Zeichen,  daß  sie  noch 
mehr  braucht.** 

Was  ist  die  Ursache  solcher  Grausamkeit  und  Verachtung, 
dieser  niedrigen  und  entwürdigenden  Stellung,  die  der  Frau 
in  Rußland  in  solchen  Volksworten  zugewiesen  wird?.  Bei 
den  alten  Slawen  haben  manche  Frauen  große  Rollen  gespielt, 
hohe  Macht  innegehabt;  ja  bei  einigen  slawischen  Völkern 
waren  die  ersten  Regenten,  Gesetzgeber,  Richter,  Organisa- 
toren, Städtegründer  nicht  Männer,  sondern  Frauen.  Man  er- 
innere sich  der  von  Sagen  und  Legenden  verherrlichten  Libussa, 
der  Begründerin  der  böhmischen  Pfemyslidendynastie,  die  so 
weise  geherrscht  und  angeblich  sogar  die  Hauptstadt  Prag  ge- 
gründet hat.  Man  gedenke  auch  der  Freundin  der  Libussa, 
jener  Wlasta,  der  Urheberin  des  böhmischen  Mädchenkrieges, 
und  Gründerin  von  Djewin  (Mädchenburg),  die  auf  radikale 
Weise  ein  neues  Amazonenreich  schaffen  wollte,  indem  sie 
befahl:  allen  männlichen  Kindern  das  rechte  Auge  auszu- 
reißen und  von  jeder  Hand  Zeigefinger  und  Daumen  abzu- 
hacken. 

Als  in  Kijew  das  erste  russische  Fürstentum  entstanden 
war,  gab  diesem  Reiche  eine  Frau,  die  Großfürstin  Olga,  Halt 
und  Organisation,  das  Christentum  und  die  Macht.  Die  Tra- 
dition nannte  Olga  die  Listige,  die  Kirche  hieß  sie  die  Heilige, 
und  die  Geschichte  bezeichnete  sie  als  die  Weise.  Nachdem 
sie  an  den  Feinden  den  Mord  ihres  Gatten  gerächt  hatte,  ver- 
stand Olga  dem  Lande  Frieden  und  Ruhe  zu  schaffen  bis  zu 
ihres  Sohnes  Swjätoslaw  mannbarem  Alter.  „Mit  der  Tätig- 
keit eines  großen  Mannes,"  sagt  Karamsin^),  „begründete  sie 
Ordnung  in  dem  weiten  und  neuen  Reiche ;  sie  schrieb  vielleicht 
keine  Gesetze,  doch  gab  sie  die  einfachsten  und  allemotwendig- 
sten  Verordnungen  jenen  in  der  Kindheit  der  bürgerlichen 
Gesellschaft  lebenden  Menschen.  Die  Großfürsten  bis  auf  Olga 
kriegten,  sie  aber  regierte  das  Reich.  Von  ihrer  Weisheit  über- 
zeugt, überließ  ihr  Swjätoslaw  auch  im  männlichen  Alter,  wie 
es  scheint,  die  Verwaltung  im  Innern.    Unter  Olga  wurde  Ruß- 


^)  Geschichte  des  russischen  Reichs,  I  144. 


—    303    — 

land  in  den  entferntesten  Europäischen  Ländern  bekannt.  Die 
deutschen  Annalisten  sprechen  von  Olgas  Gesandtschaf  t  an  den 
Deutschen  Kaiser  Otto  I.  Vielleicht  hatte  die  Russische  Groß- 
fürstin von  dem  Ruhme  und  dem  Siege  Ottos  gehört,  wünschte 
nun,  daß  auch  ihm  von  Rußlands  Größe  Kunde  würde,  und  bot 
durch  ihre  Gesandten  ihm  ein  Friedensbündnis  an.  Endlich 
diente  Olga,  da  sie  eine  feifrige  Christin  geworden,  nach  Nestors 
Ausdruck,  als  Morgenrot  des  Heiles,  Wladimir  zum  erwecken- 
den Vorbilde  und  bahnte  dem  wahren  Glauben  in  unserem 
Vaterlande  den  Weg." 

Die  Slawinnen  gingen  zuweilen  mit  ihren  Vätern  und  Gatten 
in  den  Krieg  und  fürchteten  den  Tod  nicht;  so  fanden  die  Grie- 
chen unter  den  bei  der  Belagerung  von  Konstantinopel  im  Jahr 
626  getöteten  Slawen  viele  weibliche  Leichname,  i)  Im  heu- 
tigen Rußland  war  ja  die  Heimat  der  Amazonen  gewesen,  und 
die  Erinnerung  an  diese  klingt  nach  in  den  ältesten  russischen 
Heldensagen,  den  Bylinen  von  Fürst  Wladimirs  Tafelrunde, 
worin  die  Poleniza,  die  Heldin,  gar  manchem  tapferen  Helden, 
selbst  dem  gewaltigen  Degen  Dobrynja  und  dem  unbesieglichen 
Muromer  Ilja  gefährlich  wird.  Ilja  findet  eine  würdige  Gegnerin 
in  Palka,  der  Tochter  des  Briganten  Ssolowe j  (Nachtigall). 
Eine  furchtbare  Poleniza  ist  Nastasia,  „die  immer  zu  Pferde 
ist."  Der  Held  Dunay  Iwanowitsch  will  sie  gewinnen;  man 
warnt  ihn:  ,, Beginne  keine  Feindseligkeiten  gegen  sie,  denn 
sie  wird  dich  erschlagen,  sie  ist  viel  stärker  als  du."  Und  schon 
kommt  auch  Nastasia  „wie  ein  Berg"  herbeigestürzt.  Aber 
die  Liebe  bezwingt  sie,  und  Dunay  führt  sie  als  seine  Gattin 
an  Wladimirs  Hof  nach  Kijew.  Hier  verspottet  Nastasia  die 
Kijewer  Helden :  „Wohl  niemand  übertrifft  den  Wladimir  an 
Glück,  niemand  den  Ilja  an  Riesenkraft,  den  Aljoscha  an  Toll- 
kühnheit, den  Potyk  an  Schönheit,  den  Dobrynja  an  Höflich- 
keit, den  Dunay  an  Redekunst,  den  Djuk  an  Reichtum,  den 
Tschurilo  an  Zierlichkeit ;  geht  er  durch  die  Straßen,  so  laufen 
ihm  die  Frauen  und  Jungfrauen  nach;  niemand  aber  schießt 
so  gut  wie  ich.  Halte,  o  mein  Gemahl  Dunay  Iwanowitsch, 
einen  Ring  auf  deinem  Haupte,  in  diesen  Ring  will  ich  dreimal 


')  Ebenda  I  51. 


-<    304    -- 

treffen,  ohne  ein  Haar  zu  berühren,  ohne  daß  der  Ring  herab- 
fälh."  Dunay  Iwanowitsch  geht  mit  Nastasia  ins  offene  Feld, 
häh  einen  Ring  auf  dem  Haupte,  und  Nastasia  schießt  dreimal 
in  diesen  Ring,  ohne  ein  Haar  zu  berühren,  ohne  daß  der  Ring 
herabfällt.  Besonderes  Mißgeschick  verfolgt  den  Degen  Do- 
brynja  Nikititsch  in  seinem  Kampfe  mit  einer  anderen  Nastasia. 
Ein  Lied  erzählt :  Hervor  aus  den  Bergen,  hervor  aus  den 
hohen,  hervor  aus  den  Wäldern,  hervor  aus  den  dunklen,  trat 
nicht  das  lichte  Morgenrot,  stieg  nicht  die  goldene  Sonne  auf: 
ein  guter  Held  ritt  heraus.  Ein  berühmter  Held,  der  junge 
Dobrynja  Nikititsch,  zog  da  zu  Wanderfahrten  in  die  weite 
Welt.  Da  sah  er  vor  sich  eine  gewaltige  Heldin,  Nastasia  Mi- 
kulischna.  Er  schlug  nach  ihr  zweimal  mit  seinem  Schwerte, 
aber  sie  blickte  nicht  zurück.  Beim  dritten  Male  wandte  sie 
sich  um,  packte  den  Helden  mit  einer  Hand,  riß  ihn  an  seinen 
roten  Haaren  von  der  Erde  empor  und  steckte  ihn  samt  seinem 
Rosse  in  ihre  tiefe  Tasche.  Da  klagte  ihr  gutes  Roß  über  die 
große  Last:  „Früher  mußte  ich  nur  eine  Heldin  tragen,  jetzt 
aber  muß  ich  eine  Heldin,  einen  Helden  und  sein  Roß  tragen 
—  was  Wunder,  wenn  ich  bald  zusammenbrechen  werde?** 
Die  Liebe  ist  es  abermals,  die  die  beiden  endlich  versöhnt. 
Denn  als  die  Heldin  Nastasia  Mikulischna  ihr  Roß  klagen  hörte, 
sagte  sie :  „Ich  will  dich,  mein  gutes  Roß,  von  der  großen  Last 
befreien,  ich  will  den  fremden  Helden  und  sein  Roß  wieder 
aus  meiner  tiefen  Tasche  ziehen.  Ist  der  Held  alt  und  gefällt 
er  mir,  so  soll  er  mein  Vater  heißen;  ist  der  Held  jung  und 
gefällt  er  mir,  so  soll  er  mein  lieber  Freund  sein ;  gefällt  er  mir 
aber  nicht,  so  setze  ich  ihn  samt  seinem  Rosse  auf  eine  Hand 
und  drücke  mit  der  anderen  so  lange  zu,  bis  er  samt  seinem 
Rosse  platt  wird  wie  ein  Pfannkuchen.*'  Sie  zog  den  jungen 
Helden  aus  der  tiefen  Tasche  und  er  gefiel  ihr.  Da  sprach 
sie  also:  „Junger  Held  Dobrynja  Nikititsch,  du  gefällst  mir, 
ich  will  dich  heiraten.  Wenn  du  aber  nicht  willst,  dann  töte 
ich  dich.**  Dachte  sich  Held  Dobrynja:  Wenn  sie  mich  töten 
will,  kann  ich  mich  nicht  wehren,  denn  sie  ist  viel  stärker  als 
ich.  Doch  sie  ist  ein  stattliches,  schönes  Weib,  ich  will  sie 
also  heiraten.  „Ich  will  dich  heiraten,  starke  Heldin  Nastasia 
Mikulischna,*'    sagte  Dobrynja.     Sie    küßten    sich,    ritten    zu- 


—    305    — 

sammen  nach  Kijew  und  hielten  dort  Hochzeit.^)  Wehe  dem 
Manne,  der  seiner  Heldengattin  die  Treue  zu  brechen  wagt. 
Eine  Poleniza  droht  einem  solchen  Ungetreuen:  „Ich  habe 
zwei  Degen,  ich  habe  zwei  Dolche.  Ich  werde  mir  ein  Kissen 
machen  aus  deinen  Armen  und  deinen  Beinen;  ich  werde  mir 
Bier  brauen  aus  deinem  Blute;  ich  werde  mir  Licht  gießen 
aus  deinem  Fett.**  Und  sie  hält  ,Wort,  tötet  den  Verräter,  ruft 
seine  Verwandten  zu  einem  Feste  und  sagt  ihnen:  „Ich  sitze 
auf  den  Armen  und  Beinen  des  'Geliebten,  ich  trinke  Bier  von 
seinem  Blute  und  sein  Fett  leuchtet  mir.**  2)  Auch  als  Magierin 
genießt  die  altrussische  Frau  Ansehen.  Man  glaubt,  das  Weib 
stehe  in  Verbindung  mit  der  übernatürlichen  Welt,  sei  im 
Besitze  geheimer  Kräfte.  Wenn  in  Zeiten  des  Hungers  die 
Gerüchte  sich  verbreiten,  daß  die  Weiber  in  ihren  Adern  Ge- 
treide und  Lebensmittel  verborgen  haben,  so  finden  sie  Gehör, 
und  das  Volk  stürzt  sich  auf  die  Frauen,  um  ihr  Blut  zu 
trinken.  3) 

Und  das  sagenhafte  Heldentum  der  Frauen,  ihre  histo- 
rischen Heldentaten  und  die  abergläubische  Furcht  des  Mannes 
vor  den  geheimen  Kräften  des  Weibes  verhinderten  doch  nicht 
die  Sklaverei  des  weiblichen  Geschlechts.  Die  Ursache  hierfür 
ist  darin  zu  suchen,  daß  die  Frauen  gekauft  wurden,  eine  Ware 
bildeten,  die  des  Herrn  Eigentum  blieb  bis  über  seinen  Tod 
hinaus.  Die  Annalisten  des  Mittelalters  erzählen,  daß  die  Sla- 
winnen ihre  Männer  niemals  überleben  wollten,  und  freiwillig 
sich  mit  deren  Leichnamen  auf  Scheiterhaufen  verbrennen 
ließen.  Eine  lebende  Witwe  entehrte  ihre  Angehörigen.  Man 
glaubt,,  daß  diese  barbarische  Sitte,  wie  bei  den  Indiern,  zur 
Verhütung  des  heimlichen  Gattenmordes  eingeführt  wurde.  Die 
Männer  betrachteten  die  Weiber  als  vollkommene,  bei  jeder  Ge- 
legenheit duldsame  Sklavinnen;  sie  erlaubten  ihnen  weder  zu 
widersprechen  noch  sich  zu  beklagen,  belasteten  sie  mit  Ar- 
beiten und  häuslichen  Sorgen,  und  bildeten  sich  ein,  daß  die 
mit  dem  Gatten  zugleich  sterbende  Gattin  ihm  auch  in  jener 


1)  Bernhard  Stern,  Fürst  Wladimirs  Tafelrunde,  Altrussische  Heldensagen. 
'^)  Vgl.  Band  I,  S.  283,   über  das  Diebslicht  aus  Menschenfett   und  die 
Geschichte  dieses  Aberglaubens. 
''^)  Vgl.  Band  I.  S.  451. 
Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  20 


—    306    — 

Welt  dienen  naüsse.^)  Das  Christentum  vertilgte  die  Sitte  der 
Witwenverbrennung  in  dem  Reiche  der  Russen;  die  Sklaverei 
der  Frauen  indessen  dauerte  fort;  und  wenn  ein  Mann  einen 
Wagen  benützen  wollte,  so  spannte  er  nicht  Pferde  oder  Ochsen, 
sondern  Weiber  vor.  Die  alten  Gesetze  kannten  keine  Be- 
strafung der  grausamen  Gatten,  der  Männer,  die  ihre  Frauen 
mordeten;  aber  wenn  eine  Frau  ihren  Mann  tötete,  würde  sie 
lebendig  begraben.  Byzantinische  und  tartarische  Einflüsse 
haben  dazu  beigetragen,  die  Lage  der  Frauen  noch  zu  ver- 
schlimmern, bis  schließlich  sich  jener  Zustand  herausbildete, 
den  das  Volk  in  klassischer  Weise  in  einem  seiner  Sprüche 
so  präzisiert :  „Wer  muß  das  Wasser  tragen  ?  die  Frau.  Und 
wer  muß  geschlagen  werden?  die  Frau.  Und  weshalb  muß 
die  Frau  das  Wasser  tragen,  weshalb  muß  sie  geschlagen 
werden?  Weil  sie  eine  Frau  ist.**  Die  Verachtung  der  Frau 
wird  so  sehr  die  Basis  der  russischen  gesellschaftlichen  Ver- 
hältnisse, daß  das  Reich  der  Großfürsten  noch  am  Beginn  der 
neuen  Zeit  in  dieser  Beziehung  nicht  mehr  zu  unterscheiden  ist 
von  seinen  asiatischen  Nachbarn,  von  den  Ländern  der  Bar- 
baren, in  denen  das  Weib  das  Lasttier,  die  Sklavin  des  Mannes 
ist.  Allerdings,  auch  diesmal  hat  die  Regel  Ausnahmen,  und 
wir  dürfen  sie  nicht  übersehen.  In  Nowgorod  beispielsweise 
erscheinen  die  Frauen  bei  den  Volksversammlungen  und  neh- 
men teil  an  den  Entscheidungen  der  Männer  über  die  wichtig- 
sten politischen  und  sozialen  Angelegenheiten.  Doch  ist  Now- 
gorod selbst  schon  eine  Ausnahme:  in  dem  autokratischen 
Rußland  hat  sich  diese  Stadt  eine  republikanische  Verfassung 
zu  erhalten  gewußt;  umgeben  von  Fürstentümern,  in  denen 
fast  alle  Menschen  willenlose  Sklaven  der  Tyrannen  sind,  be- 
wahren die  Nowgoroder  allein  ihre  Unabhängigkeit  und  Männer- 
würde. Den  freien  Männern  stehen  freie  Frauen  zur  Seite, 
und  eine  Marfa  Borezkaja,  die  berühmteste  Heldin  aus  Now- 
gorods Geschichte,  gehört  naturgemäß  zu  dem  Bilde  dieser 
freien  stolzen  Stadt.  Auffallender  ist  schon  die  Erscheinung 
einer  Anastasia  Romanowna  in  Twer,  einer  Elena  in  Susdal, 
einer  Irina  Feodorowna;  endlich  einer  Sofia  und  einer  Elena 


1)  Karamsin.  I  50. 


—    307    — 

Glinskij  in  Moskwa.^^)  Sofia  hat  als  Gemahlin  Iwans  III.  in 
Regierungsfragen  kluge  und  nützliche  Ratschläge  erteilt  2); 
Elena  Glinskij,  Mutter  Iwans  des  Schrecklichen,  führte  für  ihren 
minderjährigen  Sohn  gar  die  Regierung,  bewies  dabei  Weis- 
heit in  der  äußeren  Politik  und  traf  viele  lobenswerte  Ver- 
fügungen im  Inneren.  Die  Reichsverweserin,  welche  das  Haupt- 
bedürfnis eines  so  weit  umfassenden  und  so  wenig  bevölkerten 
Reichs  kannte,  berief  Einwohner  aus  Litthauen,  gab  ihnen  Land, 
Vorrechte,  Steuerfreiheit  und  sparte  die  Kasse  nicht  zur  Los- 
kaufung vieler,  von  den  Tartaren  in  die  Gefangenschaft  ge- 
schleppter Russen,  wozu  sie  von  der  Geistlichkeit  imd  reichen 
Klöstern  eine  milde  Beisteuer  verlangte.  So  schickte  ihr  der 
Erzbischof  Makarius  (im  Jahre  1534)  aus  seiner  Eparchie  700 
Rubel,  indem  er  sagte:  „die  Seele  des  Menschen  ist  teuerer, 
denn  Geld.**  Zur  Ehre  der  Regierung  Elenas  rechnen  die 
Chronikenschreiber  auch  noch  eine,  durch  die  Umstände  er- 
zwimgene  Veränderung  im  Münz-Fuße.  Früher  hatte  man  aus 
einem  Pfund  Silber  gewöhnlich  fünf  Rubel  und  zwei  Griwen 
geschlagen;  allein  die  Habsucht  ersann  einen  Betrug;  man  fing 
an  das  Geld  zu  beschneiden  und  wegen  des  Zusatzes  lunzu- 
gießen,  so  daß  aus  einem  Pfunde  Silber  schon  zehn  Rubel 
herauskamen.  Viele  Menschen  hatten  sich  durch  dieses  Hand- 
werk bereichert  und  Unordnungen  in  den  Handel  gebracht ;  die 
Preise  wechselten,  stiegen;  der  Verkäufer  fürchtete  Betrug, 
wog  und  untersuchte  die  Münze,  oder  verlangte  von  dem  Käufer 
einen  Schwur,  daß  sie  echt  sei.  Elena  verbot  den  Umlauf  des 
beschnittenen  unechten  und  überhaupt  alles  alten  Geldes,  be- 
fahl es  umzugießen  und  aus  einem  Pfunde  sechs  Rubel,  ohne 
irgend  einen  Zusatz,  zu  prägen;  Falschmünzer  und  Geld- 
beschneider  aber  ließ  sie  hinrichten.  (Man  goß  ihnen,  wie  wir 
aus  einem  früheren  Kapitel  wissen,  geschmolzenes  Blei  in  den 
Hals  und  hieb  ihnen  die  Hände  ab.)  Das  Gepräge  auf  den 
Münzen  blieb  dasselbe.  Der  Großfürst  zu  Pferde,  aber  nicht, 
wie  bisher,  mit  dem  Schwerte,  sondern  mit  einer  Lanze  (Kopje) 


^)  PyccKJin  H<eniiuiHa  XVIII  cTixTfeiifl,  ucTopwqecKio  3tk»aij  B.i.  MHXiieBHia, 
KicBi.  1891,  cTp.  20. 

2)  Karamsin,  VI  258. 

20* 


—     308    — 

in  der  Hand,  weshalb  man  anfing,  sie  Kopjeken  zu  nennen. 
Allein  Elena  konnte  weder  durch  die  Klugheit  ihrer  äußern 
Politik,  noch  durch  die  vielen  lobenswürdigen  Verfügungen 
im  Innern  des  Reichs  das  Volk  gewinnen.  Ihre  Tyrannei  und 
ihre  gesetzwidrige,  schon  landkundige  Liebe  zu  dem  Fürsten 
Iwan  Telepnew-Obolensky  erregten  Haß  imd  sogar  Verachtung 
gegen  sie,  wovon  —  wie  Karamsin  zu  schreiben  wagte  —  weder 
Gewalt  noch  Strenge  den  Herrscher  retten,  wenn  die  heilige 
Tugend  ihr  Antlitz  von  ihm  wendet.  Auf  den  Straßen  zwar 
schwieg  das  Volk,  desto  mehr  aber  sprach  man  im  engen,  für 
Tyrannen  unzugänglichen  Familien-  und  Freundes-Kreise  von 
dem  Unglücke,  Ausschweifungen  auf  dem  Throne  zu  sehen. 
Die  Reichsverweserin,  welche  die  Welt  und  ihr  Gewissen  zu 
betrügen  suchte,  stellte  häufige  Wallfahrten  in  die  Klöster  an, 
allein  die  Heuchelei  wurde  vor  dem  unerbittlichen  Richter- 
stuhl der  Sittlichkeit  zu  einer  neuen  Anklage.  Man  wünschte 
eine  Veränderung  und  Elena  starb  plötzlich;  Herberstein  sagt: 
sie  sei  vergiftet  worden.  Elena  war  ein  trauriges  Beispiel 
dafür,  wie  die  russische  Frau  auf  dem  Throne  ihre  Macht  in 
erster  Reihe  zur  Begünstigung  ihrer  Ausschweifungen  miß- 
braucht. 

Zu  den  Ausnahmen  von  der  Regel  der  Verachtung  und 
Unterdrückung  des  Weibes  in  Rußland  gehören  nicht  bloß 
Herrscherinnen,  sondern  auch  Edelfrauen.  Die  Gesetze  und 
die  Traditionen,  die  die  Frau  in  so  barbarischer  Weise  behan- 
deln, belassen  im  Widerspruch  mit  alledem  wenigstens  der 
Dworjanka(;i;BopflHKa,Edeldame)  ein  ganz  hervorragendes  Privi- 
legium: die  Frau  hat  wie  der  Mann  ein  gleiches  Recht  des 
Eigentums,  sie  darf  ebenso  wie  er  Leibeigene  besitzen;  Sklavin 
ihres  Gatten,  von  ihrem  Gemahl  tyrannisiert,  darf  sie  ihrerseits 
als  Barünja-Chosjajka  (6api>iH«-xo3HÜKa,  Dame -Herrin  des 
Hauses)  Sklaven  und  Sklavinnen  nach  Herzenslust  tyranni- 
sieren. 

Von  allen  diesen  Ausnahmen  zu  reden  ist  jedoch  kaum 
der  Mühe  wert,  wenn  man  das  allgemeine  Bild  betrachtet  und 
das  Elend  erkennt,  in  dem  das  russische  Weib  sein  Dasein  ver- 


1)  Kaxamsin,  VII,  218,  219. 


—    309    — 

bringt.  „Die  Weiber  haben  keine  Freyheit:  die  vornehmen 
bleiben  immer  zu  Hause  •  verschlossen  /  wie  auch  die  Jung- 
fern /  und  wenn  sie  sich  von  den  Manns-Personen  sehen 
Hessen  /  so  würden  sie  vor  unehrlich  und  unzüchtig  gehalt^a; 
werden.  Sie  haben  im  Hause  auch  nichts  zu  sagen  oder  zu 
befehlen:  Sie  thun  auch  nichts  darinnen;  (ich  meine  aber  die- 
jenigen /  welche  über  die  gemeinen  sind  /)  sondern  die  Ga- 
loppen i)  oder  Knechte  verrichten  alles  in  der  Haushaltung. 
Sie  bringen  ihre  Zeit  /  samt  ihren  Kanmier-Mägden  /  deren 
die  reichen  und  vornehmen  eine  ziemlich  grosse  Anzahl  haben  / 
mit  Sticken  /  oder  anderer  Arbeit  in  Gold  /  Silber  /  Seiden  / 
zu.  Alles  /  was  von  der  Hand  einer  Frau  geschlachtet  ist  / 
wird  bey  den  Moscowitern  vor  unrein  gehalten.  Sie  haben 
einen  solchen  Abscheu  davor  /  daß  /  wenn  der  Mann  und 
die  Knechte  sich  nicht  zu  Hause  befinden  /  und  die  Frau  ein 
Hun  /  oder  sonst  ein  ander  Feder- Vieh  /  zurichten  muß  / 
sie  solches  nicht  selbst  abthun  darff:  dieselbe  stellet  sich  in 
solchem  Falle  /  mit  ihrem  Feder- Vieh  und  einem  Messer  in  der 
Hand  /  an  die  Thür  /  und  wenn  sie  etwa  eine  Manns-Person 
vorbey  gehen  siehet  /  so  ruffet  sie  denselben  /  und  bittet  ihn  / 

er  wolle  das  Hun  /  oder  ander  Thier  /  so  sie  zurichten  will  / 
schlachten."  2) 

Wenig  schmeichelhaft  zeichnet  die  russische  Frau  Daniel 
der  Verbannte,  der  im  dreizehnten  Jahrhundert  in  Olonez  ge- 
lebt und  einen  Traktat  über  Administration,  Gesellschaft  und 
Familienleben  jener  Zeit  hinterlassen  hat.  „Lieber  einen  Stier 
ins  Haus  nehmen,**  schreibt  Daniel,  „als  eine  böse  Frau:  ein 
Stier  spricht  und  denkt  nichts  Böses,  eine  böse  Frau  aber  wütet 
gar  sehr.  Was  ist  eine  böse  Frau?  Eitel  weltlich  Getümmel. 
Blendwerk  des  Geistes,  der  Anfang  aller  Bosheit,  die  Förderung 
der  Sünde,  die  Hemmnis  allen  Heils.  Es  ist  besser  Steine 
zu  behauen  und  Eisen  zu  kochen  als  eine  böse  Frau  lehren : 
Eisen  läßt  sich  am  Ende  doch  vielleicht  kochen,  eine  böse 
Frau  aber  kann  man  nicht  klug  machen.  Einem  Manne  starb 
seine  böse  Frau,  und  er  machte  sich  nach  ihrem  Tode  daran. 


*)  Soll  heißen:    Cholopy,  Leibeigene. 
-)  Religion  der  Moscowiter,  S.   89,  90. 


—    310    — 

seine  Kinder  zu  verkaufen;  da  sprachen  ru  ihm  die  Leute: 
warum  verkaufst  du  deine  Kinder  ?  Er  aber  antwortete :  wenn 
sie  der  Mutter  gleichen,  so  werden  sie,  wenn  sie  groß  werden, 
mich  selber  verkaufen.**  Es  ist  möglich,  daß  dem  mysogynen 
Verfasser  dabei  nicht  ausschließlich  das  russische  Weib  vor- 
geschwebt,  sondern  daß  er  das  Bild  orientalischen  und  bib- 
lischen Vorbildern  nachgezeichnet  hat,  wie  er  sie  namentlich 
in  den  Sagen  von  Salomo  und  den  byzantinischen  Geschichten 
von  schlimmen  Weibern  vorgefunden  haben  mochte,  i)  aber 
wir  kennen  aus  späteren  Zeiten  noch  soviele  ähnliche  Schil- 
derungen, daß  solchen  Auffassungen  ein  Zusammenhang  mit 
der  Stellung  speziell  der  russischen  Frau  wohl  nicht  abge- 
sprochen werden  kann.  So  heißt  es  in  einer  alten  religiösen 
Schrift  der  Raßkoljniki,  in  der  die  Gewohnheiten,  Sitten  und 
Anschauungen  des  sechzehnten  Jahrhunderts  überliefert  sind, 
völlig  in  Übereinstimmung  mit  dem  „Slowo**  (cjiobo,  das  Wort 
oder  die  Rede)  Daniels  des  Verbannten:  „Das  Weib  ist  das 
schwächste  Geschöpf,  ein  Gefäß  für  alles  Wehe,  die  rotglühende 
Kohle  des  Widerspruchs,  ein  bedenkliches  Spielzeug,  die  Fein- 
din der  Engel,  ein  unersättliches  Tier,  ein  Abgrund  von  Leicht- 
gläubigkeit, ein  Bündel  Widerspenstigkeiten,  die  Eitelkeit  der 
Eitelkeiten,  sehr  anziehend  aus  der  Ferne,  ein  Engel  auf  der 
Gasse,  aber  ein  Teufel  im  Hause,  eine  Elster  auf  der  Pforte 
und  eine  Gais  im  Garten.**  Bei  den  Kosaken  gilt  auch  gegen- 
wärtig noch  das  Weib,  das  nach  ihrer  Meinung  in  der  ganzen 
geistigen  Veranlagung  unermeßlich  niedriger  als  der  Mann 
dasteht,  als  „ein  unreines  Gefäß  und  Behälter  jeder  Unsauber- 
keit ;  der  unreine  Geist  siedelt  sich  gern  in  ihr  an,  verdirbt  sie 
leichter,  wogegen  er  den  Mann  fürchtet.*'-)  Die  Saporeger 
Kosaken  sind  allerdings  alte  Feinde  des  weiblichen  Geschlechts. 
Im  Lande,  wo  einstmals  die  Amazonen  gelebt,  wollten  die  Ko- 
saken, als  sie  dort  herrschend  geworden  waren,  überhaupt  kein 
Weib  mehr  dulden,  und  sie  rekrutierten  sich  nur  durch  Knaben, 
die  sie  aus  den  benachbarten  Ländern  entführen;  Patjomkin 


^)  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur,   151. 
2)  Rhamm,  Der  geschlechtliche  Verkehr  bei  den  Slawen  in  seinen  gegen- 
sätzlichen Erscheinungen.     Globus  Band  82,  S.  274. 


—    311    -.- 

hat   diese   Republik   der   Weiber-Gegner   biekannflich   erobert 
und  die  Saporeger  Kosaken  in  verschiedene  Provinzen  verteilt. 

Es  hat  in  Rußland  schon  in  früheren  Zeiten  nicht  an  Ver- 
suchen gefehlt,  die  Stellung  der  Frau  ru  ändern,  aber  diese 
Reform- Versuche  bezweckten  nur  eine  Vermehrung  der  Pflich- 
teil,  nicht  der  Rechte  der  Frau.  Im  „Domostroj**,  dem  russi- 
schen Hausbuch  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  wird  von  der 
Frau  verlangt:  Geschäftstüchtigkeit,  administrative  Fähigkeit, 
Rührigkeit,  Kenntnis  der  Technik  bei  den  Verrichtungen  einer 
Köchin,  Näherin  und  Wäscherin.  Im  übrigen  jedoch  zeigt  sich 
gerade  im  ^,Domostroj**  die  rohe  russische  Hausdespotie  in  ihrer 
ganzen  abstoßenden  Nacktheit,  und  dabei  wird  sie  noch  hier 
für  absolut  gut  und  lobenswert  anerkannt  und  als  Ideal  emp- 
fohlen: Der  Mann  ist  nach  dem  Domostroj  der  Zuchtmeister 
der  Frau.  Mann  und  Frau  sollen  nicht  im  Zorn  miteinander 
leben,  aber  der  Mann  hat  die  Pflicht,  die  Frau  zu  strafen,  wenn 
sie  ihren  Pflichten  nicht  nachkommt.  Es  gibt  Fälle,  wo  nicht 
bloß  die  Kinder,  sondern  auch  die  Frauen  mit  der  Peitsche  ge- 
züchtigt werden  müssen.  „Dies  muß  ohne  Zeugen  geschehen 
und  nicht  im  Zorn.  Die  Züchtigung  mit  der  Peitsche  ist  ver- 
nünftig und  schmerzhaft,  schrecklich  und  gesund.  Ist  die 
Schuld  der  Frau  groß,  muß  man  die  Züchtigung  ver- 
schärfen und  die  Frau,  indem  man  sie  bei  den  Händen  faßt, 
fein  säuberlich  mit  der  Peitsche  durchhauen.  Es  darf  aber 
kein  Zorn  dabei  sein.  Zeigt  die  Frau  dann  keine  Reue,  so 
muß  eine  noch  stärkere  Strafe  folgen.**^) 

Die  Europäer,  die  im  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahr- 
hundert Rußland  bereisten,  berichten  alle  mit  Worten  großer 
Verwunderung  über  die  Härte,  mit  der  man  die  Frauen  be- 
handelt, und  über  die  Abgeschlossenheit,  in  der  man  sie  hält. 
Namentlich,  wenn  Gesandte  aus  dem  Westen  in  der  Zaren- 
hauptstadt weilen,  beaufsichtigt  man  die  Frauen  mit  der  größten 
Strenge.  Mayerberg  erzählt  2):  „Quant  aux  Femmes,  il  füt 
d^fendu  soüs  de  tres-s^v^res  peines  d'en  laisser  entrer  aucune, 
de  quelque  condition  qu'elle  füt."    Und  er  fügt  hinzu :  „Et  pour 


*)  Brückner  in  der  Russischen  Revue  a.  a.  O.  und  Reinholdt,  S.  179,  180. 
2)  Relation  (Neudruck),  I  135. 


—    312    — 

dire  la  v^rit6,  le  s^xe  feminin  n'est  point  en  v^n^ration  parmi 
les  Moscovites,  comme  il  Test  parmi  la  plüpart  des  Nations 
de  l'Europe.  Personne  en  ce  pays-lä  ne  ravalle  la  condition  de 
rhomme  jusqu'ä  parier  aux  Femmes  le  genou  en  terre.  Per- 
sonne ne  leur  apprend  ä  devenir  fi^res  jusques  ä  Tinsolence 
par  une  adoration  de  leurs  charmes,  continu6e  pendant  plu- 
sieurs  ann^es;  et  ä  n'  ^couter  les  veux  de  ceux  qui  les  recher- 
chent,  qu'apr^s  avoir  6t6  r6y6r6es  comme  des  Divinitös,  par 
une  longue  hmi6e  de  soüpirs,  comme  d'encens  pr^cieux.  EUes 
sont  en  ce  pays  lä  esclaves  des  Hommes  qui  en  fönt  peu 
d'estime."  Am  schlechtesten  hatten  es  die  Schwestern  und 
Töchter  des  Zaren.  Es  war  nur  selten  vorgekonmien,  daß  man 
Zarentöchter  Ausländem  vermählt  hatte.  So  heiratete  eine 
Tochter  des  Zaren  Iwan  Wassiljewitsch  III.  den  König  Alexan- 
der von  Polen  und  eine  Nichte  von  Iwan  Wassiljewitsch  IV. 
den  Herzog  von  Holstein,  Bruder  Friedrichs  II.  von  Dänemark. 
Die  allgemeine  Regel  war,  daß  man  Zarentöchter  nicht  den 
Fremdgläubigen  anvertraute.  Es  gab  dazumal  aber  keine 
Fürsten  orthodoxen  Glaubens  außer  den  russischen.  Da  des 
Zaren  Untertanen  selbstverständlich  ausgeschlossen  blieben  — 
denn  sie  galten,  ob  Hoch  ob  Niedrig  immer  nur  als  Sklaven 
des  Alleinherrschers  —  so  mußten  die  zarischen  Prinzessinnen 
unvermählt  im  Terem  des  Kreml j  oder  in  Klöstern  in  unfrei- 
williger Jungfernschaft  ihr  Leben  vertrauern,  i)  Die  Zarin  da- 
gegen entstammte  fast  stets  dem  \'olke,  zuweilen  sogar  den 
niedrigsten  Klassen.  Der  Schwiegervater  des  Zaren  Alexej, 
11  ja  Miloslawskij,  „war  ein  blosser  Wein-Schencke  /  und  seine 
Tochter  '  die  des  Czaars  Gemahlin  /  veikauffte  Erdschwämme 
auf  den  Marckt.**  Die  Verwandten  einer  Zarin  erlangten  be- 
deutenden Einfluß.  Aber  sobald  die  Zarin  gestorben  war, 
war  es  auch  um  ihrer  Familie  Ansehen  geschehen. 

Die  weiblichen  Mitglieder  der  Zarenfamilie  erschienen  nur 
selten  in  der  Öffentlichkeit:  wenn  dies  einmal  aus  einem  be- 
sonderen religiösen  oder  höfischen  Anlasse  geschah,  so  sah 
man  ihr  Angesicht  nicht.     So  heißt  es  in  der  Beschreibung 


^)  über  das  häusliche  Leben  der  Zanimen:  Iliuiirb  3aOt.inirK  j-'naorabitt 
6hirh  pvci'Kiirb  uapmn». 


—    313    — 

dnes  Aufzuges  der  Zarin  und  ihrer  Töchter  in  der  Zeit  Boriß 
Godunows^):  „Zuerst  fuhr  ihre  Mayestetin,  in  einem  stattlichen 
Wagen,  der  so  breit,  daß  drey  Personen  neben  einander  sitzen 
kondten,  für  diesem  Wagen  waren  lö  schöne  weisse  Pferde. 
Das  Frewlein  fuhr  in  einem  schönen  Wagen,  dafür  acht  schöne 
Pferde,  der  Wage  war  gantz  zugemacht,  daß  man  nichts  darin 
sehen  können.  Das  Frawenzimmer  ritt  alles  zu  Pferde,  wie 
das  Mann  Volck,  hatten  auff  dem  Haupte  schneeweise  Hüte, 
mit  leibfarben  tafft  gefuttert  vnd  gelbe  seidene  Hutbende, 
daran  Knöpffe  von  Goldt,  vnd  Quaste  dadurch  gezogen^  so  auff 
die  Schultern  hiengen,  Ihre  Angesichte  waren  verhüllet  mit 
weissen  tüchern,  biß  an  den  Mund,  sie  hatten  lange  Röcke 
vnd  gelbe  Stieffei  an.  Es  reitt  auch  ein  jde  auff  einem  weissen 
Pferde.  Dieser  reitenden  Frawen  oder  Jungfrawen  waren  vier 
vnd  zwantzig  beyeinander.  Bey  der  Keyserinnen  vnd  deß 
Frewlein  Wagen  giengen  auch  deß  reitenden  Frawenzimmers 
vmbher,  bey  300.  Prestauen  (wie  in  Deutschland  die  Lackeyen 
oder  Trabanten)  wolgezieret  mit  weissen  Stäblein  in  den  Hen- 
den.  Es  ritten  auch  noch  für  der  Keyserinnen,  etzliche  Glied 
drey  bey  einander,  alte  Menner,  derer  mehrer  theil  mit  langen 
grawen  Härten,  sonst  wol  staffieret.** 

Noch  im  Beginne  der  Regierung  des  Zaren  Alexej,  der 
später  den  Beinamen  des  Aufgeklärten  erhalten  sollte,  hatte 
sich  nichts  geändert;  im  Jahre  1674  begegnen  zwei  junge 
Edelleute,  Buturlin  und  Daschkow,  dem  Wagen  der  auf  einer 
Wallfahrt  befindlichen  Zariza  und  riskieren  einen  Blick  hinein- 
zuwerfen: man  verhaftet  sie,  foltert  sie,  und  nur  mit  knapper 
Not  entgehen  sie  der  Todesstrafe.  Es  ist  Majestätsverbrechen, 
die  Zarin  anzuschauen.  „La  grande  Duchesse  ^tant  un  jour 
malade;  ne  voulut  point  permettre  qu'on  fit  entrer  le  M^decin 
dans  sa  chambre,  que  les  fenetres  n'en  eussent  6x6  bouch^es 
de  teile  sorte  qu*on  ne  pouvoit  rien  discerner,  de  peur  qu'il 
ne  la  vid;  et  ensuite  eile  lui  presenta  son  Bras  couvert  d'un 
volle  tres-d^li^,  afin  de  lui  toucher  le  poux,  craignant  que  sa 
main  ne  füt  souill^e  s'il  la  touchoit  ä  nud.    Si  eile  veut  sortir 


^)  Johannis  des  jungem,  Herzogs  von  Dänemark,  Reussische  Reise  und 
Einzug  zu  Moskau.     Bei  Büsching,  VII  271. 


—    314    — 

pöur  prendre  Tair,  eile  est  cach^  suivant  la  saison  ou  dans 
son  Carosse,  ou  dans  son  Tratneau.  Quand  eile  va  ä  TEglise, 
eile  passe  par  une  Galerie  couverte  et  ferm^e  qui  Ty  conduit 
du  Palais,  pour  n'fitre  point  profan^  par  les  regards  des  passans, 
ayant  un  Dais  rond  qui  Tenvironne  port^  par  une  de  ses  Filles 
d'honneur,  et  suspendu  sur  sa  T^te  aux  jours  ouvriers,  ou  de 
moindres  F6tes.  Mais  aux  jours  plus  solemnels,  qu'elle  porte 
sa  Couronne  sur  sa  T6te,  son  Dais  est  en  long,  port6  par  quatr6 
de  ses  Filles,  soüs  lequel  entre  Elle  et  les  Soeurs  du  Czar  qui 
vont  devant,  puis  marchent  ses  enfans."^) 

Auch  die  Frauen  der  gewöhnlichen  Sterblichen  waren, 
namentlich  die  jungen  und  schönen,  vollkommene  Einsied- 
lerinnen und  mußten  in  eigenen  Gemächern  im  Terem  (Tepeiin», 
eigentlich  Dachkammer)  leben,  abgeschlossen  von  allen. Frem- 
den. Bloß  vor  nahen  Verwandten  zeigten  sie  sich  unverhüllt. 
Wenn  der  Hausherr  ein  Fest  gab,  so  nahmen  bloß  Männer 
daran  teil.  Die  Hausfrau  erschien  für  einen  Augenblick,  wenn 
es  galt,  hohe  Gäste  durch  Darreichung  eines  Schälchens  Brannt- 
wein zu  ehren :  „La  femme  de  celui  qui  traite,  ^tant  richement 
vfitue,  et  chargöe  de  ses  plus  riches  ornemens,  suivis  de  deux 
ou  de  plusieurs  suivantes,  entre  dans  la  Salle,  et  met  entre  les 
mains  du  plus  consid^rable  des  assistans  un  Verre  d'eau  de 
vie,  apr^s  qu'elle  en  a  moüill6  le  bout  de  ses  l^vres.  Pendant 
qu*il  le  boit,  eile  se  retire  en  diligence  dans  sa  chambre,  oir 
s*6tant  revetue  d*une  autre  robe  eile  rentre  dans  la  Salle,  pour 
rendre  la  m^me  civilit^  au  second;  et  ayant  observ^  la  meme 
c^r^monie  envers  chacun  ä  son  tour,  eile  se  retire  vers  la 
muraille  du  c6t^  du  haut  bout  de  la  table;  et  lä  ^tant  debout, 
les  yeux  baiss^s,  et  les  bras  pendans  sur  ses  deux  c6t^s,  eile 
regoit  patiemment  le  baiser  de  chacun  des  convi^s,  selon  Tordre 
de  leur  dignit^.**^)  Dies  war  eine  besondere  Auszeichnung, 
denn  die  Frauen  fürchteten  sich  geradezu,  sich  vor  fremden 
Menschen  sehen  zu  lassen.  Wenn  die  vornehmen  Damen  das 
Haus  verließen,  so  gingen  sie  nie  zu  Fuß.  3)    Selbst  die  Kirche 


^)  Mayerberg,  Relation,  II   117. 
2)  Mayerberg,  Relation,  I  59,  60. 
^)  Karamsin,  VII  172  und  IX  353. 


—    315    — 

besuchten  sie  selten;  sie  saßen  zu  Hause,  nähten  und  spannen 
oder  faullenzten.  Das  einzige  Vergnügen,  das  ihnen  gestattet 
war,  waren  die  Schaukeln.  Nur  wenn  in  dem  Kreise  ihrer 
Freundinnen  oder  Verwandten  eine  Hochzeit  war,  kamen  die 
Frauen  und  Mädchen  aus  dem  Terem  für  längere  Zeit  heraus, 
da  die  russischen  Festlichkeiten  bei  solchen  Gelegenheiten  eine 
gute  Weile  zu  dauern  pflegten.  Nach  der  Hochzeit  aber 
„müssen  die  Frauen  und  Jungfern  eine  jede  wieder  in  ihre 
Kammer  gehen  /  worinnen  sie  /  nach  Gewohnheit  des  Landes  / 
wie  vorher  /  eingesperrt  /  und  ohne  einige  Gemeinschafft  mit 
Manns-Personen  bleiben.**^) 

Die  innere  Fäulnis,  die  aus  solchen  Verhältnissen  ent- 
stehen mußte,  schildert  im  Jahre  1664  der  Russe  Kotoschichin, 
ein  Djak  oder  Beamter  der  Gesandtschaftsbehörde  (nocojiBCiciä 
npHKaat,  dem  heutigen  Ministerium  des  Auswärtigen  ent- 
sprechend), der  aus  Ärger  über  die  Zustände  in  der  Heimat 
freiwillig  in  Stockholm  ein  Exil  gesucht  hatte.  2)  Kotoschichin 
entrollt  vor  uns  das  furchtbare  Gewebe  der  Lüge,  die  alles 
russische  Leben  umsponnen  hielt,  und  deckt  die  Abgefeimtheit 
auf,  mit  der  in  den  moralischen  Angelegenheiten,  und  nament- 
lich in  den  Fällen  der  Eheschließung  vorgegangen  wurde. 
Da  sagt  er  von  den  russischen  Frauen:  „Das  weibliche  Ge- 
schlecht im  moskowitischen  Reiche  ist  ungebildet,  und  das 
ist  so  Sitte;  ihrem  angeborenen  Verstand  nach  sind  sie  ein- 
fältig, im  Reden  nicht  gewitzt  und  sehr  schamhaft:  sie  leben 
nämlich  von  Kindheit  auf  bis  zu  ihrer  Verheiratung  bei  ihren 
Eltern  in  geheimen  Gemächern,  und  mit  Ausnahme  der  näch- 
sten Verwandten  darf  sie  kein  Fremder  und  dürfen  auch  sie 
niemand  sehen,  was  auch  erklärt,  warum  sie  nicht  allzu  klug 
und  mutig  sind.  Ebenso  werden  sie  auch  nach  ihrer  Ver- 
heiratung nur  wenig  von  Leuten  gesehen.** 


^)  Religion  der  Moscowiter,  S.  105. 

2)  Diese  Schilderung  wurde  1837  vom  Helsingforser  Professor  Ssolow- 
jew  im  Stockholmer  Staatsarchiv  in  einer  lateinischen  Übersetzung  und 
1838  in  Upsala  im  Original  aufgefunden  und  1841  herausgegeben.  Rein- 
holdt,  S.  226. 


—    316    — 

Aber  nun  nahte  auch  schon  die  Zeit  der  Frauen-Befreiung 
aus  der  traditionellen  asiatisch-despotischen  Abgeschlossenheit. 
Ein  wesentlicher  Anteil  an  diesem  Umschwung  gebührt  der 
Zarin  Natalia  Kirilowna  Naryschkin,  der  zweiten  Gemahlin  des 
Zaren  Alexej.  Sie  war  die  Tochter  eines  einfachen  Reiter- 
offiziers und  einer  Ausländerin,  einer  geborenen  Hamilton. 
Aus  Schottland  war  unter  einem  der  früheren  Zaren  ein  Hamil- 
ton nach  Rußland  gekommen  und  seine  Nachkommen  lebten 
als  Dienstleute  der  Krone  in  der  deutschen  Sloboda  bei  Moskau. 
Der  Oberst  des  Reiterregiments,  in  welchem  Kyril  Naryschkin 
diente,  namens  Matwe jew,  heiratete  eine  Hamilton ;  deren  Nichte 
wieder  vermählte  sich  mit  Naryschkin.  Dieser  wie  auch  Mat- 
wejew  waren  beide  niederer  Herkunft.  Selbstverständlich  er- 
schien es  den  Russen,  daß  der  Zar  eine  niedriggeborene  Landes- 
tochter heiraten  konnte;  denn  „ein  Zar  braucht  weder  Reich- 
tum noch  eine  große  Verwandtschaft,  sondern  nur  ein  schönes 
und  tugendhaftes  Gemahl"  —  aber  greulich  war  ihnen  die 
Heirat  selbst  des  niedrigsten  Russen  nüt  der  vornehmsten 
Fremden,  einer  Genossin  des  heidnischen  römischen  oder  gar 
lutherischen  Glaubens,  und  an  der  Sache  änderte  der  Übertritt 
der  Braut  zur  orthodoxen  Kirche  nur  wenig.  Matwejew  und 
Naryschkin  wurden  ob  ihrer  Heirat  scheel  angesehen,  aber  sie 
ließen  sich  ihre  Wahl  nicht  verdrießen  und  lebten  glücklich. 
Matwejew  erreichte  sogar  einen  gewissen  Wohlstand,  der  es 
ihm  gestattete,  die  Tochter  des  Kyril  in  sein  Haus  zu  nehmen, 
um  sie  hier  besser  zu  erziehen,  als  es  sonst  in  der  Sitte  der  Zeit 
lag.  Matwejews  Haus  war  anders  als  die  Häuser  der  übrigen 
Russen.  Hier  herrschte  europäische  Art  und  Weise,  hier  war 
ein  Mittelpunkt  für  alle  Fremden,  es  fanden  sich  die  Gesandten 
der  Staaten  Europas  als  willkommene  Gäste  ein  und  die  „auf- 
geklärten Geister*'  der  Zeit  hielten  hier  ihre  Versammlungen; 
die  Frauen  nahmen  teil  an  den  Unterhaltungen  der  Männer 
in  einem  beinahe  ungezwungenen  Verkehr.  Natalia  Kyrilowna 
sah  andere  Sitten  als  Muster  vor  ihren  Augen  als  die  übrigen 
russischen  Mädchen  jener  Epoche,  und  eignete  sich  schönere 
Umgangsformen  an,  die  den  Zaren  wohl  bestricken  konnten. 
So  geschah  es,  daß  die  Tochter  des  abtrünnigen  Kyril 
Naryschkin    und    der   heidnischen    Fremden    zur    Zarin    von 


—    317    — 

Moskau  emporstieg  und  die  Mutter  Peters  des  Großen 
waxd.i) 

Nach  Alexejs  Tod  trat  eine  Reaktion  ein;  dann  kam  ein 
neuer  Umschwung  und  Fortschritt;  wiederum  riß  eine  Frau 
die  Alleinherrschaft  als  Regentin  an  sich:  Alexejs  Tochter 
Sofia.  Aber  diese  Reichsverweserin  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts trieb  es  so  wie  jene  des  sechzehnten;  gleich  Elena 
Glinskij  stellte  Sofia  ihre  Herzensangelegenheiten  über  die  des 
Staates  und  ihren  Ehrgeiz  über  Recht  und  Gesetz,  worauf  sie 
von  dem  eigenen  Bruder  brutal  depossediert  wurde.  Für  die 
russischen  Frauen  war  dies  indessen  nur  von  Heil,  denn  Peter 
der  Große  machte  die  Emanzipation  des  weiblichen  Geschlechts 
zu  seiner  ersten  Aufgabe.  Er  ging  dabei  wie  in  allen  seinen 
Reformen  wild  und  bloß  auf  das  Äußerliche  los.  Nicht  in 
der  Bildung,  sondern  in  der  Kleidung  sollten  die  Russinnen 
den  Ausländerinnen  gleichgestellt  erscheinen  und  also  befahl 
Peter  den  Frauen  seines  Reiches:  fortan  statt  der  nationalen 
Trachten  nur  französische,  englische  und  holländische  Kleider 
zu  tragen.  Die  neumodisch  Gekleideten  wurden  mit  Ehren 
und  Vorrechten  ausgezeichnet,  diejenigen  aber,  die  sich  den 
neuen  Moden  nicht  anpassen  wollten,  mußten  niedrige  Skla- 
vinnen bleiben  wie  bisher.  Es  gab  nämlich  auch  solche,  die 
sich  gegen  die  Kleiderreform  und  die  Emanzipation  wehrten, 
sei  es  aus  Furcht  vor  den  eifersüchtigen  tyrannischen  Gatten, 
sei  es  aus  abergläubischer  Angst  vor  einer  Verletzung  der 
alten  Sitten.  Aber  in  solchen  Fällen  machte  Peter,  wie  mit 
den  Männern,  auch  mit  den  Frauen  kurzen.  Prozeß :  die  Wider- 
spenstigen wurden  durch  die  Polizei  aus  ihren  Häusern  abge- 
holt, europäisch  gekleidet  und  in  Gesellschaft  und  auf  Bälle 
geschleppt. 

Im  Zarenhause  selbst  war  mittlerweile  auch  eine  gründ- 
liche Veränderung  vorgegangen.  Da  gab  es  sogar  theatralische 
Vorstellungen,  bei  denen  Prinzessinnen  als  Autoren  und  Dar- 
stellerinnen mitwirkten.  Da  gab  es  Trinkgelage,  bei  denen 
die  Frauen  in  den  Leistungen  zu  Ehren  des  Bacchus  nicht  hinter 
den  Männern  zurückblieben. 


1)  Bernhard  Stern,  Die  Romanows,  I. 


—    318    — 

Und  nach  Peters  Tode  wiederholte  sich  ein  Jahrhundert 
hindurch  etwas,  was  nie  und  nirgends  dagewesen:  fast  nur 
Frauen  nahmen  den  Thron  ein.  In  dem  Lande,  wo  kurz  zuvor 
die  Frauen  noch  die  Sklavinnen  ihrer  Männer  gewesen  waren, 
regierten  nun  als  Alleinherrscherinnen  fünf  Frauen  nachein- 
ander: Katharina  I.,  Anna  Iwanowna,  Anna  Leopoldowna,  Eli- 
sabeth, Katharina  II.  Man  sieht:  die  russische  Frau  ist  völlig 
emanzipiert.  Allerdings  darf  man  nicht  näher  hinschauea,  die- 
ses Geschöpf  des  östlichen  Geistes  nicht  allzuscharf  prüfen. 
Die  Zarin-Herrscherin  macht  auf  dem  Throne  in  Wahrheit 
keine  andere  Figur  als  die  erstbeste  Barynja  -  Chösjajka ; 
alle  Unarten  des  Terem  sind  ihr  noch  anzumerken,  und  von 
der  Freiheit  und  Ungebundenheit  profitiert  sie  eigenthch  nur 
dann,  wenn  sie  ihrer  wilden  Sittenlosigkeit  neue  Tummelplätze 
erschließen  will.  Und  wie  die  Zarin,  so  sind  die  Prinzessinnen 
und  die  freigewordenen  Adelsdamen :  grausam,  ungebildet,  roh, 
gefühllos,  geschmacklos.  Die  Großfürstin  Katharina  Iwanowna, 
Schwester  der  Kaiserin  Anna  und  Gemahlin  eines  deutschen 
Fürsten,  des  Herzogs  von  Mecklenburg,  weiß  einem  fremden 
Diplomaten  bei  einer  Theatervorstellung  in  ihrem  Liebhaber- 
theater nichts  Interessanteres  zu  erzählen,  als  daß  der  Schau- 
spieler, der  so  stolz  die  Rolle  des  Königs  auf  der  Szene  dar- 
stellt, ihr  Leibeigener  und  vor  Beginn  des  Spieles  mit  200 
Stockhieben  präpariert  worden  sei. 

Nur  in  der  Tracht  waren  die  vornehmen  Frauen  wirklich 
anders  geworden.  Ein  Reisender  erzählt  uns  aber,  daß  es  dabei 
nicht  immer  ganz  regelrecht  zuging  und  daß  man  oft  einer 
vornehmen  russischen  Dame  begegnete,  die  nach  deutscher 
oder  französischer  Sitte  aufs  prächtigste  in  Seide  und  Atlas 
gekleidet  und  mit  Tressen,  Spitzen  und  Bändern  geschmückt 
war,  dabei  jedoch  bloßfüßig  ging  und  ihre  Pantoffeln  verlegen 
in  der  Hand  trug,  weil  sie  mit  ihnen  nichts  anzufangen  wußte. 

Auf  dem  Lande  war  an  den  Weibern  die  Petersche  Re- 
formepoche fast  spurlos  vorübergegangen.  Die  Dorfbewohne- 
rinnen kamen  nach  wie  vor  selten  aus  der  Stube,  blieben  zumeist 
bei  ihren  alten  Sitten  und  Unsitten,  gingen  nach  wie  vor  bar- 
füßig oder  zogen  plumpe  Schuhe  wie  die  der  Männer  an.  Auf 
dem  Leibe  litten  sie  im  Sonmier  nur  einen  langen,  dünnen 


—    319    — 

Kittel  von  blauem  Linnen  ohne  Ärmel,  welchen  sie  mit  einem 
Gürtel  befestigten  und  nur  selten  auszogen;  des  Winters  aber 
trugen  sie  über  dem  Kittel  einen  Schafpelz.  Den  Hals  zierten 
sie  mit  einer  Schnur  Glasperlen,  die  Ohren  mit  großen  dreifach 
untereinander  herabhängenden  Ohrgehängen.  Auf  der  Brust 
hatten  sie  schließlich  ein  kleines  bleiernes  Kreuz,  welches  sie 
nur  ablegten,  wenn  sie  eine  Ausschweifung  begehen  wollten. 
Erst  mit  der  Epoche  Katharinas  II.  beginnt  die  russische 
Frau  als  Schriftstellerin  und  Künstlerin  auf  dem  Plane  zu 
erscheinen.  Aber  die  Zahl  dieser  Auserwählten  ist  so  gering, 
daß  man  sie  schnell  überblicken  kann.  Die  erste  russische 
Schriftstellerin  gehört  übrigens  schon  einem  früheren  Jahr- 
hundert an :  Xenia  Borissowna  Godunowa,  die  Tochter  des 
Usurpxators,  soll  zu  Anfang  des  siebzehnten  Jahrhunderts  Poe- 
sien voll  Innigkeit  und  Tiefe  aus  dem  Kerker  des  Terem  in  die 
Welt  geschickt  haben.  Die  Zarewna-Regentin  Sofia  und  die 
Zarewna  Natalia  Alexe jewna  schrieben  Theaterstücke.  1682 
sah  man  in  Moskau  das  überraschende  öffentliche  Erscheinen 
der  Zarentöchter  bei  einem  Schauspiel  im  Zarenpalast,  und  dann 
erfuhr  man,  daß  die  eine  der  Prinzessinnen  der  Autor  des 
Stückes  war.  Und  nach  hundert  Jahren  glänzte  gar  die  Zarin 
selbst,  Katharina  IL,  als  dramatische  Dichterin.  Katharina  aller- 
dings war  ja  schon  von  Hause  aus  eine  gebildete  deutsche 
Prinzessin  gewesen.  Um  die  Kaiserin  herum  bildete  sich  in- 
dessen auch  ein  Kreis  von  gelehrten  Vollblutrussinnen,  die  den 
Ehrgeiz  hatten,  ihre  literarischen  Salons  zum  Mittelpunkte  der 
Gesellschaft  zu  machen :  da  hören  wir  von  den  Gräfinnen  Rasu- 
mowskaja,  Woronzowa,  Naryschkina,  von  den  Fürstinnen 
Mentschikowa,  Golizyna,  Wolkonskaja,  Dolgorukowa,  Urussowa 
und  nicht  zuletzt  von  der  Fürstin  Daschkowa,  der  „russischen 
Minerva**,  welche  von  Katharina  II.  zum  „Präsidenten**  der 
Akademie  der  Wissenschaften  gemacht  wird.  Diese  Damen 
philosophieren  nach  dem  Beispiel  der  Kaiserin,  dichten,  schrei- 
ben Memoiren.  Berühmt  ist  der  literarische  Salon  der  Gräfin 
Ssaltykowa  und  ihrer  Tochter,  der  Frau  Mjatlew;  beide  treten 
auch  als  Schauspielerinnen  auf.  Neben  den  Aristokratinnen 
gibt  es  ein  paar  Bürgerliche :  einige  wenige  kleine  Talente  und 
viele  armselige  Dilettantinnen  —  die  Frauen  Jelagin  und  Chrapo- 


—    320    — 

wizkaja ;  die  Tochter  des  Dichters  Ssumarokow,  die  den  Dichter 
Knjaschnin  geheiratet  hat,  brilliert  in  der  von  ihrem  Vater 
herausgegebenen  Zeitschrift  mit  einer  Menge  miserabler  Ele- 
gien; Weljaschewa-Woljgnizewa  begnügt  sich,  mit  zahllosen 
Übersetzungen  nach  Ruhm  zu  jagen;  die  Dichterinnen  Pospe- 
lowa,  Wolkowa,  Suschkowa,  Rschewskaja  und  Bunina.  Nicht 
zahlreicher  sind  die  Künstlerinnen.  Die  erste  russische  Ballerine 
ist  Awdotja  Timofejewa,  eine  Schülerin  des  italienischen  Tanz- 
meisters Giulio  Fusano ;  ihr  folgen  die  Berilowa,  Nowizkaja  und 
Kolossowa.  Als  Schauspielerinnen  glänzen  Thekla  Anikjewa, 
Lisa  Ssandunowa,  zwei  Ssemenowa.^)  Und  mit  diesen  paar 
Dutzend  Namen  ist  aller  bemerkenswerten  Frauen  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  gründlich  Erwähnung  getan. 

Erst  im  neunzehnten  Jahrhundert  fangen  die  Frauen  an, 
wirklich  Stellungen  im  Leben  zu  verlangen,  ringen  sie  nach 
Einfluß,  Freiheit  und  Anerkennung  gleicher  Rechte  mit  den 
Männern.  Da  schreibt  Eugenie  Tuhr  ihre  Novellen,  Julie  Scha- 
dowskaja  ihren  Roman  „Fern  von  der  großen  Welt**,  M.  Zebri- 
kowa  ihre  ,, Memoiren  einer  Gouvernante**,  um  die  Selbständig- 
keit der  Frauen  zu  betonen.  Besonders  beachtet  werden  die 
Romane  der  Frau  Wowtschok  und  die  zahllosen  Romane  und 
Novellen  von  Nadeschda  Dmitrijewna  Choschtschinskaja  (Kre- 
stowskij-Pseudonym),  die  starke  Frauen  meisterhaft  zeichnet 
und  gleichzeitig  ein  scharfes  Auge  für  die  Schwächen  der 
Männer  hat.2)  Der  Kampf  für  die  völlige  Frauen-Emanzipation 
war  kein  leichter.  Hatte  doch  erst  im  Jahre  1845  durchgesetzt 
werden  können,  daß  Frauen  nicht  mehr  gebrandmarkt  werden 
sollten.  3)  Und  zur  Zeit  des  Krymkrieges  rief  es  geradezu  Skan- 
dal hervor,  als  die  Frauen  barmherzige  Schwestern  sein  wollten. 
Vielen  schien  dies  undenkbar  und  unanständig,  daß  bei  der 
Armee  Pflegerinnen  zugelassen  werden,  und  zynisch  erklärte 
Fürst  Mentschikow,  man  werde  neue  Hospitäler  für  venerische 


^)  IVLixHeBiim.,  pycrKaH  iKeniunna  XVIII  rTo.TfeTifl,  233 — 293:  üiKiaTaib- 
HHUa  n  yMeiian;  apriiCTKa. 

2)  Einige  ihrer  Novellen  sind  im  Russischen  Novellenschatz  erschienen. 
Vgl.  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  715,  716. 

^)  Strafgesetzbuch  des  Russischen  Reiches,  promulgiert  im  Jahre  1845 
§  28. 


—    321    — 

Krankheiten  bauen  müssen,  wenn  man  den  Frauen  solche  Ob- 
liegenheiten zugestehen  wollte.  Die  Frauen  setzten  es  aber 
doch  durch,  und  Katharina  Bakunin  ging  als  erste  barmherzige 
Schwester  auf  den  Kriegsschauplatz,  gefolgt  von  zahlreichen 
Genossinnen  aus  den  verschiedensten  Ständen;  neben  jungen 
Mädchen  aus  der  vornehmsten  Gesellschaft  arbeiteten  einfache 
Bäuerinnen.  Der  berühmte  russische  Chirurg  Pirogow  stellte 
den  Frauen  ein  glänzendes  Zeugnis  aus  und  behauptete,  daß 
dank  ihrer  Pflege  die  Sterblichkeit  unter  den  Verwundeten  sich 
um  die  Hälfte  verminderte.^) 

Von  der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  datiert  dann  die 
größte  Umwälzung  in  der  gesellschaftlichen  Stellung  der  rus- 
sischen Frau,  die  wir  seither  als  Studentin,  als  Ärztin,  als  Re- 
volutionärin und  Anarchistin  auftreten  sehen.  Der  schnelle 
Umschwung  hat  manches  Üble  im  Gefolge  gehabt,  und  es  liegt 
Wahres  in  den  Worten  jenes  Russen,  der  über  die  Entartung 
der  modernen  russischen  Frau  klagt  2):  „In  Europa,**  sagt  er, 
„gilt  der  Mann  gewöhnlich  für  liberal  und  die  Frau  für  konser- 
vativ. Bei  uns  ist  das  Gegenteil  der  Fall.  Die  Frauen  und  be- 
sonders die  jungen  Mädchen  verschmähen  die  Anmut  ihres 
Alters  und  Geschlechts,  sind  einzig  darauf  bedacht,  den  neuen 
Kultus  zu  verbreiten.  Man  trifft  sie  überall  in  der  Gesellschaft, 
wo  sie  für  die  neuen  Ideen  eintreten,  in  den  Theatern,  wo  sie 
die  Anspielungen  auf  Umsturztheorien  beklatschen,  sogar  auf 
den  Barrikaden,  wo  sie  mit  tragischem  Wahnsinn  die  Kämpfer 
anfeuern :  Töchter  von  hohen  Beamten,  Edelleuten.  Sie  haben 
eben  die  Werke  von  Karl  Marx,  von  Nietzsche  gelesen,  ver- 
schlungen, sie  schwärmen  für  den  Übermenschen,  sie  wollen 
alle  Überweiber  werden  und  nehmen  sich  vor,  eines  Tages 
aus  ihren  Söhnen  Überkinder  zu  machen.  Die  Frühreife  ist 
einer  der  Charakterzüge  der  slawischen  Rasse,  wie  überhaupt 
aller  jungen  Rassen.  In  Amerika  träumen  die  Kinder  davon, 
Millionäre  zu  werden,  bei  uns  wollen  sie  die  Menschheit  um- 
gestalten.   Früher  hielt  man  unsere  Studenten,  achtzehn-  bis 


^)  Aus  einem  Briefe   der  Gräfin  Ina  Kapnist  im  Märzheft  1906  von 
PvccKan  Mbicüb. 

2)  Vgl.  Lodzer  Zeitung,  24.  März  1906. 

Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rußland    **  21 


—    322    — 

zwanzigjährige  Jünglinge,  für  angehende  Staatsmänner,  heute 
sind  es  die  Gymnasiasten.  Zwölfjährige  Jungen  sprechen  in 
ihrer  Blasiertheit  über  Soziologie,  Politik  und  Frauen,  und  dabei 
spielen  sie  mit  Revolvern,  die  manchmal  geladen  sind.  Ein 
ähnliches  Benehmen  bemerkt  man  bei  jungen  Mädchen,  die 
sich  ein  Verdienst  daraus  machen,  ihr  Äußeres  zu  vernach- 
lässigen, um  nur  an  die  Menschheit  zu  denken.**  Gräfin  Ina 
Kapnist,  eine  eifrige  Vorkämpferin  für  die  politische  Gleich- 
berechtigung der  russischen  Frau,  verteidigt  ihr  Geschlecht 
gegen  solche  Vorwürfe  und  fordert  vom  neuen  Rußland  eine 
ganz  neue  Stellung  für  die  Frau :  „Was  hat  nicht  die  Frau  auf 
ihrem  Wege  nach  Berufsbildung  erduldet!**  schreibt  sie. 2) 
„Studentinnen  und  Kursistinnen,  diese  bescheidenen,  unbe- 
kannten Märtyrerinnen  der  weiblichen  Aufklärung  haben  Hun- 
ger und  Kälte  ertragen,  Mißgunst,  Feindschaft  und  Verachtung 
seitens  der  Gesellschaft,  ehe  ihre  Arbeit  als  nützlich,  ihr  Stre- 
ben nach  Selbstbildung  als  gesetzlich  anerkannt  wurde.  Im 
letzten  Kriege  sind  die  Barmherzigen  Schwestern  die  einzige 
lichte  Erscheinung  in  der  allgemeinen  Wirrnis  und  Prinzipien- 
losigkeit gewesen.  '  Überall  dort,  wo  neue  Grundlagen  ge- 
schaffen wurden,  wo  es  galt,  Leiden  zu  erleichtern,  sehen  wir 
die  russische  Frau  den  Mann  auf  seinem  Wege  unterstützen. 
Und  nach  all  diesen  Mühen  und  Opfern  ist  jetzt,  wo  der 
russische  Mann  endlich  als  Staatsbürger  anerkannt  ist,  der 
das  Recht  hat,  frei  zum  Wohle  des  Landes  zu  arbeiten,  seine 
Meinung  auszusprechen,  seine  Regierung  zu  wählen,  die 
russische  Frau  offiziell  in  eine  Reihe  mit  den  Minderjährigen 
gestellt.  Die  Gegner  der  Gleichberechtigung  können  antworten, 
daß  außer  Australien  und  einigen  Staaten  der  nordamerika- 
nischen Republik  noch  kein  Staat  den  Frauen  gleiche  Rechte 
mit  den  Männern  gegeben  hat.  Hierauf  werden  wir  antworten, 
daß  wir  nicht  auf  Europa  zu  blicken  haben,  wo  die  Gesellschaft 
sich  in  Jahrhunderten  auf  ganz  anderen  Grundlagen  aufgebaut 
hat  als  bei  uns.  Auf  dem  Gebiete  des  Fortschrittes,  der  An- 
schauungen über  Recht  und  Bildung  muß  Rußland  den  europä- 
ischen Völkern  vorangehen,  aber  nicht  die  alten  Irrtümer  der 

1)  a.  a.  O. 


—    323    — 

westeuropäischen  Staaten  wiederholen,  wo  jeder  Schritt  vor- 
wärts immer  den  starken  Protest  einer  in  ihren  Traditionen 
erstarrten  Partei  hervorgerufen  hat.  Mit  Rußland  muß  es  sein, 
wie  mit  manchen  neuen  Städten,  die  nachts  von  dem  Licht 
elektrischer  Laternen  überflutet  sind,  während  alte  Residenzen, 
wie  zum  Beispiel  Paris,  sich  mit  der  minder  vollkommenen 
Gasbeleuchtung  begnügen.  In  allem  ist  es  so :  Junge  Länder 
genießen  früher  als  alte  die  Segnungen  des  Fortschrittes.  Alle 
Erörterungen,  daß  der  Beruf  der  Frau  der  häusliche  Herd  ist, 
ihre  einzige  Pflicht  die  Mutterschaft,  sind  Worte,  leere  Worte. 
Damit  der  Herd  in  Wirklichkeit  existieren  kann,  braucht  die 
Frau  wirtschaftliche  und  bürgerliche  Rechte,  damit  sie  ihre 
Mutterschaftspflicht  erfüllen  kann,  braucht  sie  sociale  und  po- 
litische Rechte.  Der  Sklave  kann  nicht  einen  freien  Menschen 
erziehen,  ein  rechtloses  Geschöpf  wie  die  russische  Frau  kann 
ihren  Söhnen  nicht  den  Begriff  des  Rechts  und  (Jer  Würde  des 
Bürgers  einflößen.  Bei  uns  in  Rußland  sind  weniger  Vor- 
urteile als  in  Westeuropa,  wo  die  Männer  in  den  Traditionen 
des  römischen  Rechts  erzogen  sind,  das  offenbar  keine  andere 
Kraft  kennt  als  die  der  Muskeln.  Die  russische  Frau  darf 
nicht  aufhören,  ihre  Gleichstellung  mit  dem  Manne  zu  fordern. 
Die  Frau  muß  jetzt  vor  allem  das  Stimm-  und  Wahlrecht  in 
den  Landschaften  und  den  städtischen  Kommunen  erringen, 
und  von  hier  aus  muß  sie  zur  vollen  Gleichberechtigung 
vorwärts  schreiten  ...**. 

Manches  ist  hierfür  in  letzterer  Zeit  schon  geschehen:  In 
Warschau  starb  im  Jahre  1902  ein  reicher  Mann,  namens 
Eduard  Lenko.  Er  vermachte  testamentarisch  seine  umfang- 
reichen Grundstücke  der  Regierung  mit  der  Bedingung,  daß 
auf  ihnen  eine  Akademie  für  Frauen  errichtet  werden  soll; 
und  das  Ministerium  für  Volksaufklärung  nahm  diese  Bedin- 
gung an.i)  Auch  Fälle  von  politischer  Gleichberechtigung 
gibt  es:  1902  berichteten  die  russischen  Zeitungen  aus  Irkutsk, 
daß  im  Dorfe  Klementjewa  im  Poschechonsker  Kreise  die 
Bauern  in   der   allgemeinen   Gemeindeversammlung  zum  auf- 


1)  Zeitungsnotiz.  Vgl.  Münchener  Allgemeine  Zeitung,  24.  Dezember  1902, 
II.  Abendblatt. 


21* 


—    324    — 

sichtsführenden  Polizeibeamten  für  das  Jahr  1903  eine  Frau 
wählten.^)  Im  Dorfe  Nikolskoje  bei  Rybinsk  haben  sich  die 
Frauen  einen  solchen  Einfluß  in  der  Dorf-  imd  Gemeinde- 
verwaltung zu  erringen  gewußt,  daß  am  26.  September  1902 
dort  die  erste  allgemeine  Gemeindesitzung  unter  Zulassung 
der  Frauen  stattfinden  konnte.  Allerdings  hat  die  Macht  der 
Verhältnisse  viel  zur  Herbeiführung  eines  solchen  interessanten 
Ereignisses  beigetragen.  Die  meisten  Männer  des  Dorfes  be- 
finden sich  während  des  größten  Teiles  des  Jahres  in  Arbeit 
in  Petersburg  und  Moskau.  Der  Bürgermeister,  seine  Bei- 
sitzer und  die  Gemeinderäte  werden  daher  von  den  Frauen 
in  ihren  Ämtern  vertreten.  Auf  einer  Inspektionsreise  haben 
die  Vertreter  der  Gouvernementsbehörde  von  diesen  über- 
raschenden Verhältnissen  Kenntnis  erlangt.  Die  Untersuchung 
ergab  die  größte  Regelmäßigkeit  in  allen  Affären.  Der  offizielle 
Bericht  der  Untersuchungskonomission  bemerkte:  „Allmählich 
gewöhnen  sich  die  Frauen  an  die  Versammlungen  so,  daß  ihre 
anfängliche  Scheu  und  Zurückhaltung  völlig  schwindet.  Sie 
kommen  immer  häufiger  zu  den  Sitzungen  und  stimmen  ge- 
wissenhaft.** Der  Bericht  hebt  weiter  mit  Befriedigung  einen 
der  charakteristischen  Beschlüsse  der  Frauen  von  Nikolskoje 
heraus :  „Die  Weiber  im  Dorfe,  die  sich  mit  der  ganzen  Wirt- 
schaft zu  befassen  haben,  werden  die  sehr  verfahrenen  Dorf- 
angelegenheiten,  die  von  völlig  untauglichen  Leuten  (meistens 
Trinkern,  die  im  Dorfe  zurückgeblieben  waren)  nur  noch  mehr 
verwirrt  wurden,  nun  wohl  mit  Eifer  und  allmählich  auch 
mit  Verständnis  wieder  ins  richtige  Geleise  bringen,  da  sie 
schon  vor  allem  nicht  trinken  und  daher  solider  und  or- 
dentlicher sind.  So  wurde  von  den  Weibern  auf  einer  der 
letzten  Versammlungen  mit  aller  Energie  durchgesetzt,  daß 
ein  nach  dem  Beispiel  vergangener  Jahre  veranstaltetes  Trink- 
gelage (an.  5.  Oktober,  zum  Andenken  an  die  Gräfin  Orlowa- 
Tschesmenskaja,  die  den  Bauern,  als  diese  noch  ihre  Leib- 
eigenen waren,  die  Freiheit  geschenkt  hatte)  in  diesem  Jahre 
nicht  mehr  stattfinden  sollte;  und  ihrem  einmütigen  Proteste 
gelang  es  auch,  diesen  ihren  dem  Allgemeinwohle  des  Dorfes 


1)  CliBopHbitt  Kpaii  und  Lodzer  Zeitung. 


—    325    — 

entschieden    nützenden   Widerstand    zur    vollen   Geltung    zu 
bringen.** 

Aus  solchen  vereinzelten  Fällen  darf  man  aber  trotzdem 
nicht  schließen,  daß  in  Rußland  die  Frau  schon  am  Ziele 
aller  ihrer  Wünsche  angelangt  sei.  Die  Frau  aus  dem  Volke 
gar  lebt  im  allgemeinen  noch  auf  der  niedrigen  Stufe,  auf  der 
sie  tausend  Jahre  geseufzt  hat.  Zwar  duldet  sie  diesen  Zustand 
nicht  mehr  willenlos  und  resigniert;  sie  emanzipiert  sich  in 
mancher  Beziehung  von  den  alten  Sitten,  sie  strebt  nach  Rein- 
lichkeit und  trägt  saubere  Kleider;  aber  die  Oberhoheit  des 
Mannes,  die  Sklaverei  und  die  Herrschaft  der  Peitsche  in  der 
Ehe  dauern  in  vielen,  ja  in  den  meisten  Gegenden  fort.  Die 
russische  ethno'graphische  Schriftstellerin  Jefimenko  in  Archan- 
gel sagt:  „Die  Frau  muß  arbeiten,  arbeiten  und  nochmals 
arbeiten,  soweit  ihre  physischen  Kräfte  reichen.  Es  ist  nicht 
möglich,  auch  nur  annähernd  alles  aufzuzählen,  was  der  Frau 
obliegt.  Der  Mann  beendet  seine  Arbeit  und  ruht  aus.  Für 
die  Frau,  zumal  die  verheiratete,  gibt  es  keine  Erholung.  Wie 
viele  Erzählungen  hörte  ich  in  Archangel,  daß  die  Frauen  auf 
dem  Felde  oder  beim  bcnnitt  gebären  mußten,  wo  sie  in 
glühender  Hitze  lagen,  oder  im  Walde  beim  Sammeln  von 
Pilzen  oder  Beeren  für  den  Winter.**  Neben  der  physischen 
Überbürdung  besteht  auch  noch  die  moralische  Erniedrigung. 
Bei  den  Kosaken  darf  die  Frau  ihren  Mann  aus  Respekts- 
gründen nur  mit  seinem  Namen  nennen,  also  nicht  etwa: 
Väterchen,  Mann,  Bauer;  er  aber  darf  sie  nennen  wie  er  will. 
Im  südlichen  Rußland  muß  ein  Weib  bei  der  Begegnung  mit 
einem  Manne  in  einiger  Entfernung  stehen  bleiben,  bis  er 
vorbei  ist,  und  beim  Gruß  muß  sie  zuerst  den  Kopf  neigen 
als  Zeichen  voller  Unterwürfigkeit,  i)  Auf  das  Alter  wird  dabei 
keine  Rücksicht  genommen;  denn  „jedes  Mannsbild,**  sagt 
Jefimenko,  „ist  älter  als  das  Weib,**  und  hat  dementsprechend 
stets  Respekt  zu  fordern. 


1)  yTH()rpa([)HqecKoe  oCosptnie  bei  Rhamm  a.  a.  O.  275,  276.    Hier  Paral- 
lelen aus  den  Gebräuchen  der  anderen  slawischen  Völker. 


326 


39-  Stellung  der  Frauen 
bei  den  nichtrussischen  Völkern  Rußlands. 

Weiberherrschaft  in  Kamtschatka  —  Ursachen  dieses  Phänomens  —  Die 
Geilheit  der  Kamtschadalen  —  Sklaverei  der  Jakutenfrau  —  Stellung  der 
Esthin  —  Die  Tatarin  von  Astrachan  —  Die  Lesghierin  das  Lasttier  des  Mannes 
—  Die  Tscherkessin  —  Widerspruchsvolle  Ansichten  über  ihre  Stellung  — 
Die  Rechtlosigkeit  der  Tschetschenzin  —  Die  Armenierin  —  Merkwürdigkeiten 
aus  dem  Leben  der  ossetischen  Frauen  —  Das  Wohlleben  der  Georgierin  — 
Die  Frauen  der  Kosaken  und  der  Duchoborzen  —  Das  Elend  der  Frauen  der 
kaukasischen  Bergjuden  —  Polygamie  bei  den  Bergjuden. 

Den  Frauen  bei  den  nichtrussischen  Völkern  Rußlands 
ergeht  es  im  allgemeinen  nicht  besser  als  ihren  vollblut- 
russischen Schwestern.  Nur  im  äußersten  asiatischen  Osten, 
in  Kamtschatka,  haben  sich  die  Frauen  eine  Stellung  zu  erhalten 
gewußt,  die  ihnen  nicht  bloß  Selbständigkeit,  sondern  sogar 
die  Herrschaft  über  die  Männer  gewährleistet.  Die  Arbeiten  im 
Hause  und  außer  dem  Hause  sind  unter  beide  Geschlechter  ver- 
teilt, und  dabei  kommt  der  Mann  nicht  immer  am  besten  weg. 
Der  Kamtschadale  muß  kochen  und  auch  sonst  jede  Arbeit  ver- 
richten, die  ihm  von  der  Frau  zugewiesen  wird.  Ein  Reisender^) 
erzählt  über  dieses  merkwürdige  Verhältnis :  „Die  Anhänglich- 
keit oder  vielmehr  Untertänigkeit  der  Kamtschadalen  ist  so 
groß,  daß  sie  ohne  Murren  zugeben,  daß  ihre  Weiber  alles,  was 
sie  von  Wert  besitzen,  verwahren,  und  ihnen,  so  wie  sie  etwas 
brauchen,  nach  dem  Ermessen  der  Gebieterinnen  austeilen. 
Wenn  die  Männer  sich  gegen  ihre  Weiber  versündigen,  so 
versagen  die  letzteren  den  erstem  nicht  nur  die  eheliche  Um- 
armung, sondern  auch  den  Tabak,  der  den  Kamtschadalen, 
und  den  meisten  übrigen  Völkern  von  mongolischer  Abkunft 
noch  unentbehrlicher  als  Branntwein  ist.  Dieses  Bedürfnis 
und  die  Gunstbezeugungen  ihrer  Weiber  erzwingen  die  Männer 
nicht  mit  Gewalt,  sondern  durch  die  demütigsten  und  anhaltend- 
sten Bitten  und  Liebkosungen.  Wenn  Mangel  und  Hunger  die 
Kamtschadalen    aus  ihren  Hütten    heraustreiben,    um  Fische 


1)  Steller  bei  Meiners,  Geschichte  des  weiblichen  Geschlechts,  I  22. 


—    327    — 

öder  Wildpret  zu  fangen,  so  gehen  sie  nicht  weiter,  als  daß  sie 
am  Abend  wieder  zu  Hause  kommen,  und  sich  an  der  Seite  ihrer 
Weiber  von  ihren  Arbeiten  und  Beschwerden  erholen  können. 
Werden  Sie  aber  gezwungen,  länger  als  einen  Tag  auszubleiben, 
so  bewegen  sie  ihre  Frauen  mitzureisen,  weil  sie  ohne  diese 
nicht  leben  können."  Die  Ursache  einer  solchen  Herrschaft 
der  Weiber  sucht  man  einerseits  in  der  eigenartigen,  unseren 
Begriffen  allerdings  kaum  entsprechenden  Schönheit  der  Kamt- 
schadalinnen,  die  sich  lange  Zeit  jung  erhalten;  andererseits 
in  der  großen  Geilheit  der  Männer,  die,  um  ihre  Wollust  zu 
befriedigen,  jedes  Opfer  bringen ;  „die  Kamtschadalinnen  haben 
zwar  alle  unterscheidende  Merkmale  der  mongolischen  Bil- 
dung :  große  Köpfe,  platte  Gesichter,  eingedrückte  Nasen,  blin- 
zelnde kleine  Augen,  dicke  Lippen, .  hervorragende  Backen- 
knochen, allein  sie  bleiben  allem  Anschein  nach  viel  länger 
frisch,  als  die  übrigen  sibirischen  Weiber,  indem  ihre  kleinen 
runden  Brüste  noch  im  vierzigsten  Jahre  ziemlich  hart  sind. 
Gewiß  aber  sind  sie  viel  schöner  und  blühender  von  Farbe 
als  die  Weiber  aller,  oder  der  meisten  übrigen  mongolischen 
Völker.  Die  Haut  der  Kamtschadalinnen  ist  durch  die  wohl- 
tätige Wirkung  ihres  Klima  so  weiß,  als  die  von  Europäerinnen, 
und  ihre  Wangen  sind  nicht  weniger,  als  die  der  letzteren, 
durch  einen  lebhaften  Purpur  gefärbt.  Die  Kamtschadalinnen 
sind  aber  nicht  bloß  schöner  als  die  übrigen  sibirischen  Weiber, 
sondern  sie  sind  auch  viel  geistreicher,  als  diese,  und  selbst 
als  ihre  Männer,  und  in  diesen  höheren  Fähigkeiten  ist  die 
Ursache  der  außerordentlichen  Gewalt,  welche  sie  über  ihre 
Männer  erlangt  haben,  zu  suchen.  Zu  diesen  Vorzügen  der 
Weiber  kommt  endlich  die  negerartige  Üppigkeit  der  Männer 
hinzu,  die  so  groß  ist,  daß  die  Umarmungen  der  Weiber  ihnen 
ebenso  notwendig  als  die  tägliche  Nahrung  sind.  Da  nun  die 
Männer  durch  ihren  heftigen  Hang  zur  sinnlichen  Liebe  mehr 
als  andere  sibirische  Wilden  zu  den  Weibern  hingezogen,  und 
durch  die  vorzüglicheren  Reize  der  letztern  mehr  als  anderswo 
gefesselt  werden,  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  daß  sie  zu- 
gleich von  den  ausgezeichneteren  Fähigkeiten  der  Weiber  auf 
eine  solche  Art  unterjocht  worden  sind.** 

Der  Stellung  der  Kamtschadalin  ist  im  russischen  Asien 


—    328    — 

ganz  entgegengesetzt  die  Situation,  in  der  sich  die  Frauen  bei 
den  sibirischen  Nachbarvölkern,  beispielsweise  bei  den  Tun- 
gusen,  Ostjaken  und  Jakuten  befinden.  Speziell  die  Jakuten- 
frau wird  erbarmungslos  bedrückt.  Der  Jakute  hat  seine  Frau 
von  ihrem  Vater  für  einen  Kalym  gekauft,  und  sie  ist  dadurch 
ihres  Gatten  und  Herrn  rechtlose  Magd  geworden.  Wenn 
sich  einmal  die  russische  Behörde  einer  allzuschlimm  nüß- 
handelten  Choten  (jakutische  Bezeichnung  für  Frau)  annimmt, 
so  weist  der  Jakute  dies  als  einen  unerhörten  und  ungesetz- 
lichen Eingriff  in  seine  Fanulien-Autonomie  zurück.^)  Sein 
Weib  ist  sein  Eigentum,  mit  dem  er  schaltet  wie  er  will: 

Ich  will  nur  Herr  sein  meines  Eigentums; 
Sie  ist  mein  Hab  und  Gut,  sie  ist  mein  Haus, 
Mein  Hausgerät,  mein  Speicher  und  mein  Feld. 
Mein  Pferd,  mein  Ochs,  mein  Esel,  ist  mein  Alles.2) 

Begeben  wir  uns  nunmehr  vom  äußersten  Osten  zurück  nach 
dem  westlichen  europäischen  Rußland,  so  sehen  wir,  wie  auch 
dort  die  Weiber  der  Esthen  neben  den  schwersten  häuslichen 
Arbeiten  pflügen,  ackern,  säen,  eggen  und  das  Getreide  ein- 
fahren müssen.  3) 

Bei  den  Wotjäken  regiert  die  Peitsche  in  der  Ehe  schon 
am  ersten  Tage  des  gemeinschaftlichen  Zusammenlebens ;  wenn 
die  junge  Frau  nach  der  Trauung  bei  dem  Hause  ihres  Gatten 
angelangt  nicht  schnell  genug  vom  Wagen  steigt,  greift  der 
junge  Ehemann  zur  Peitsche^)  und  demonstriert  der  Gattin 
an  der  Schwelle  ihres  neuen  Lebens,  daß  er  allein  die  Macht 
im  Hause  besitzt. 

Bei  den  astrachanschen  Tartaren  kann  sich  die  Frau  auf 
zweierlei  Art  ihr  Leben  als  Gattin  einrichten:  „Bey  der  einen 
Art  werden  die  Weiber  eingeschränkt,  und  so  der  Gewalt  der 
Männer  übergeben,  daß  sie  Lebenslang  in  dem  ihnen  ange- 
wiesenen Weiber-Behältniß  verbleiben  müßen,  nicht  Erlaub- 
niß  haben  aus  dem  Fenster  zu  sehen,  und  ohne  den  Befehl 


^)  Globus,  84.  Band,  S.  383,  Anmerkung. 

^)  Shakespeare,  Zähmung  der  Widerspenstigen,  III.  Akt,  2.  Szene. 

3)  Petri,  Esthland  und  die  Esthen,  II  231., 

*)  Max  Buch,  Die  Wotjäken,  S.  64. 


J.  H.  Ramberg  (1798):   T 


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Sklavinnentnarkt. 


—    329    — 

der  Männer  keinen  Schritt  thun  dürfen.  In  diesem  Fall  aber 
sind  die  Weiber  von  allen  weiblichen  Hauß-Geschäften  ver- 
schont, und  ihre  Verrichtung  ist  nur  diese,  daß  sie  gleich  einer 
Statue  mit  gefaltenen  Händen  zu  Hause  sitzen.  Bey  der  andern 
Art  haben  die  tatarische  Weiber  die  Freyheit  überall  hinzu- 
gehen, wo  sie  wollen,  und  ohngescheut  in  dem  Publiko  zu 
erscheinen.  Hingegen  sind  sie  verpflichtet  die  häußliche  An- 
gelegenheiten nach  allen  Umständen  zu  besorgen."  i) 

Unter  den  Kaukasierinnen^)  sind  die  Lesghierinnen  am 
meisten  bedauernswert.  Der  Lesghier  betrachtet  sein  Weib  als 
ein  Lasttier,  das  er  oft  härter  behandelt  als  sein  Pferd,  und 
das  ihm,  da  er  es  gekauft  hat,  die  schwersten  Arbeiten  in  wie 
außer  dem  Hause  verrichten  muß,  „um  ihn,**  wie  Petzholcjt 
bemerkt  hat,  „gewissermaßen  für  die  Auslagen  zu  entschä- 
digen.** Das  lesghische  Weib  teilt  mit  dem  Esel  die  Mühe, 
das  geerntete  Getreide  nach  Hause  zu  tragen.  Sie  muß  das 
Heu  mähen,  das  gemähte  Heu  dreschen  und  bergen;  muß  die 
Pferde  und  Ochsen  warten ;  das  Brot  bereiten ;  die  zur  Kleidung 
nötigen  Stoffe  weben.  Von  Jugend  auf  zu  solchem  Sklaven- 
dienst angehalten,  altert  sie  vor  der  Zeit  und  hat  alsdann  noch 
weniger  gute  Behandlung  zu  erwarten.  Bei  alledem  ist  merk- 
würdigerweise soviel  Achtung  vor  dem  weiblichen  Geschlecht 
vorhanden,  daß  niemand  es  wagen  dürfte,  sich  gegen  eine  Frau 
oder  ein  Mädchen  unziemlich  zu  benehmen. 

Besser  als  die  Lesghierin  hat  es  die  Tscherkessin  schon 
in  der  Kindheit  und  später  als  Gattin  und  Mutter.  Schweiger- 
Lerchenfeld  zwar  sagt :  „So  schön  die  Tscherkessin  ist,  so  elend 
ist  ihre  Existenz  im  Familienleben.  Für  den  Tscherkessen  ist 
die  Frau  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  eine  Magd,  die  ihm 
bei  jeder  Gelegenheit  zu  Willen  sein,  alle  Arbeiten  verrichten 
und  seine  Ausrüstung  in  Stand  halten  muß.  Diese  Existenz 
fristet  bei  allem  äußern  Glänze,  der  den  Tscherkessen  beiderlei 
Geschlechts  unleugbar  anhaftet,  die  Frau  in  einer  elenden 
Lehmhütte  oder  in  einem  sogenannten  Hause  von  Flechtwerk, 


^)  Gmelins  Reise  durch  Rußland,  St.  Petersburg  1774,  Zweyter  Theil,  137. 
2)  Vgl.   Bernhard  Stern,   Zwischen  Kaspi  und  Pontus,  69ff.  85 ff.,  95, 
105,   121,   134. 


—    330    -^ 

das  mit  Lehm  bekleidet  ist.  Auch  sonst  ist  das  Betragen  der 
Männer  gegenüber  ihren  Frauen  nichts  weniger  als  ritterlich. 
Die  Romantik  dauert  nur  so  lange,  als  die  Schöne  in  den 
weißen  Beinkleidern  des  Mädchens  steckt,  und  endet,  wenn 
sie  in  die  roten  der  Frau  schlüpft.**  Aber  dieser  Ansicht  wider- 
sprechen die  Mitteilungen  anderer  Kaukasuskenner,  wie  Karl 
Koch,  Bodenstedt,  Karl  Friedrich  Neumann.  Koch  sag^ :  „Das 
weibliche  Geschlecht  ist  von  dem  männlichen  nicht  so  abge- 
schieden, wie  es  sonst  im  Orient  üblich  ist,  und  es  nimmt  an 
allen  Festen  und  Belustigungen  teil,  nur  an  den  Volksversamm- 
lungen nicht.**  Bodenstedt  schreibt:  „Eine  Tugend,  welche 
unwillkürlich  an  die  alten  Germanen  erinnert,  und  wodurch 
sich  die  Tscherkessen  auffallend  von  allen  übrigen  Völkern 
des  Kaukasus,  sowie  auch  von  allen  Mohammedanern  unter- 
scheiden, ist  Achtung  vor  dem  Weibe.**  Und  was  die  von 
Schweiger-Lerchenfeld  bezweifelte  Ritterlichkeit  der  Tscher- 
kessen gegenüber  den  Frauen  betrifft,  so  ist  auf  die  Worte 
Neumanns  zu  verweisen:  „Bei  dem  Ende  eines  jeden  Festes 
werden  Turniere  gehalten.  Hier  wendet  man  alle  Kraft,  List 
und  Gewandtheit  auf,  nicht  sowohl  um  den  Siegespreis  zu 
erringen,  sondern  um  das  Vergnügen  zu  haben,  ihn  den  Frauen, 
welche  dem  Kampfspiele  zuschauen,  überreichen  zu  können. 
So  zeigen  die  Tscherkessen  auch  bei  jeder  anderen  Gelegenheit 
eine  besondere  Achtung  für  das  weibliche  Geschlecht.  Wenn 
ein  Reitersmann  einem  Weibe  begegnet,  welches  dieselbe  Straße 
zieht,  so  steigt  er  vom  Pferde  herab  und  bittet  sie,  aufzusitzen; 
will  sie  dies  nicht,  so  begleitet  sie  der  Reiter  zu  Fuß,  so  weit 
sie  einen  gemeinschaftlichen  Weg  haben.  Das  weibliche  Ge- 
schlecht erfreut  sich  in  Tscherkessien  einer  größeren  Freiheit 
und  Ehre  als  sonstwo  im  Orient.** 

Die  Frau  des  den  Tscherkessen  verwandten  Tschetschenzen 
hat  im  Familienleben  kaum  einen  Einfluß.  Die  Kinder  gehor- 
chen ihr  nicht,  der  Gatte  behandelt  sie  schlecht.  Scheidet  sie 
sich  vom  Manne,  um  ihr  Leiden  zu  beenden,  so  verliert  sie 
all  ihr  Eigentum;  nur  wenn  der  Mann  sie  fortschickt,  darf  sie 
das  Wenige,  das  ihr  gehört,  mitnehmen. 

Den  Armenierinnen  in  Kaukasien  geht  es  am  besten, 
solange  sie  ledig  sind.    Die  Mädchen  können  mit  den  Männern- 


—    331    — 

frei  verkehren  und  dürfen  ihren  Gatten  ohne  Zwang  selbst 
wählen.  Aber  mit  dem  Eintritt  in  die  Ehe  ändert  sich  alles. 
Das  Ja,  das  die  Armenierin  vor  dem  Traualtar  Spricht,  ist  für 
lange  das  letzte  Wort,  das  man  in  der  Öffentlichkeit  von  ihr 
hört,  denn  die  junge  Frau  zieht  sich  in  tiefste  Abgeschlossenheit 
zurück.  Im  Hause  selbst  geht  sie  immer  verhüllt  und  ein 
Schleier  deckt  den  unteren  Teil  ihres  Gesichts  samt  dem 
Munde.  Die  Straße  betritt  sie,  dicht  verschleiert  und  ver- 
mummt, nur  zweimal  im  Jahre,  wenn  sie  sich  zu  Ostern  und 
Weihnachten  in  die  Kirche  begibt.  Kommt  ein  fremder  Mann 
ins  Haus,  so  muß  sie  sich  verstecken.  Außer  mit  ihrem  Gatten 
spricht  sie  bis  zur  Geburt  ihres  ersten  Kindes  selbst  mit  ihrem 
Vater,  mit  ihrem  Bruder  nicht,  nicht  einmal  mit  ihrer  Mutter. 
Nach  der  Geburt  ihres  ersten  Kindes  darf  sie,  aber  immer 
nur  flüsternd,  erst  mit  den  weiblichen,  später  auch  mit  den 
männlichen  Verwandten  reden;  nach  sechs  Jahren  oder  noch 
später  ist  sie  in  bezug  auf  das  Sprechen  ganz  emanzipiert, 
dagegen  bleibt  sie  nach  wie  vor  in  Gegenwart  von  Männern 
verschleiert.  Ich  habe  aber  in  Kaukasien  von  vielen  vertrauens- 
würdigen Kennern  des  Landes  erfahren,  daß  die  Armenierin 
sich  in  dieser  Lage  glücklich  fühlt.  Der  Armenier  behandelt 
seine  Frau  selten  hart,  er  heiratet  oft  aus  Liebe  und  bleibt 
seiner  Gattin  zugetan,  auch  wenn  ihre  Reize,  die  früh  ver- 
blühen, ihn  längst  nicht  mehr  anziehen  können.  Er  schont 
sie  wo  und  wie  er  nur  vermag,  läßt  sie  keine  schweren  Arbeiten, 
nur  die  kleinen  Hausgeschäfte  verrichten  und  den  Garten  pfle- 
gen. Selbst  der  armenische  Bauer  verwendet  nicht  seine  Frau 
bei  der  Feldarbeit. 

Gleich  der  Armenierin  befindet  sich  die  Ossetin  in  ihrer 
Mädchenzeit  ziemlich  frei,  aber  nach  der  Hochzeit  in  strengster 
Abgeschlossenheit  von  der  Außenwelt;  auch  die  Ossetin  darf 
jahrelang  mit  niemandem  sprechen.  Die  Osseten  gehören  zu 
den  interessantesten  Bewohnern  Kaukasiens ;  genauere  Kennt- 
nis von  ihnen  besitzt  man  erst  seit  wenigen  Jahren  durch  die 
Arbeiten  einiger   unermüdlicher   russischer   Forscher,  i)     Man 


1)  Vgl.  namentlich  das  große  dreibändige  Werk  von  BceBO-iojL  MirLieirt, 
OcernHchie  aiioAu  (TeKcrti,  ii3cvit;ioBauifl)  MocKBa  1881—1887. 


—    332    — 

spricht  den  Osseten  germanische  Abstammung  zu;  ihre  Reli- 
gion ist  offiziell  die  christliche,  doch  huldigen  sie  dabei  vielen 
mohammedanischen  und  heidnischen  Gebräuchen.  Die  hieraus 
entstehenden  verschiedenartigsten  Anschauungen  sind  nament- 
lich auf  die  Stellung  der  Frau  von  Einfluß  gewesen.  Die 
Osseten  sollen  beispielsweise  als  Christen  nur  ein  einziges  Weib 
haben.  Dennoch  kommt  es  vor,  daß  reiche  Leute  mehrere 
Frauen  heiraten,  und  ganz  nach  moslemischen  Gesetzen  bleibt 
dann  die  erste  die  Hauptgattin ;  aber  während  bei  den  Moslems 
die  übrigen  Frauen  in  mancher  Hinsicht  doch  gleiche  Rechte 
mit  der  ersten  Gattin  erhalten,  sind  bei  den  Osseten  die  später 
geheirateten  Frauen  nicht  viel  mehr  als  Mägde  der  ersten, 
und  den  Kinilern  der  späteren  Gemahlinnen  steht  —  ganz  im 
Gegensatz  zu  dem  islamitischen  Recht  —  keine  Erbberechtigung 
zu.  Ein  anderes  ossetisches  Gesetz,  das  der  Frauen  drückende 
Lage  bei  diesem  Volke  erhellt,  stammt  aus  heidnischer  Zeit, 
ist  als  heidnische  Überlieferung  in  dem  christlich  gewordenen 
Volke  lebendig  geblieben:  es  stellt  als  Sühne  für  den  Mord 
eines  Mannes  die  Entschädigung  mit  i8  mal  i8  Ochsen,  für 
den  Mord  einer  Frau  aber  mit  nur  9  mal  9  Ochsen  fest.  Die 
ossetischen  Frauen  führen  ein  sorgenvolles  Leben.  Wie  die 
Lesghierinnen  mähen  sie  das  Heu,  tragen  sie  das  Korn  zur 
Mühle,  das  Holz  aus  dem  Walde;  sie  müssen  pflügen  und  den 
ganzen  Feldbau  treiben.  All  das  tun  sie  aber  ohne  zu  murren. 
Die  chewsurischen  Weiber,  ebenso  wie  die  der  Tuschinen  und 
Pschawen,  sind  gleichfalls  arbeitsam  und  von  Arbeiten  außer 
und  in  dem  Hause  stark  in  Anspruch  genonmien;  man  sieht 
chewsurische  Weiber  nie  ohne  Strickstrumpf;  selbst  dann  nicht, 
wenn  sie  reiten. 

Ganz  anders  lebt  die  Georgierin.  Dieser  fehlt  jeder  häus- 
liche Sinn,  in  Müßiggang  und  Sorglosigkeit  fließt  ihr  Leben 
dahin.  Die  vornehme  Georgierin  liegt  im  Hause  auf  dem  Sofa 
herum,  raucht  Zigaretten,  lacht  und  musiziert,  oder  sie  verbringt 
ihre  meiste  Zeit  in  den  üppigen  Bädern,  wo  sie  gleich  einer 
Türkin  die  Besuche  ihrer  Freundinnen  empfängt  und  ihre  Mahl- 
zeiten hält. 

Die  Frauen  der  kriegerischen  Linienkosaken  und  der  Du- 
choborzen  gehören   dagegen   wieder   zu   den   fleißigsten   und 


—    333    — 

arbeitsamsten  des  ganzen  russischen  Reiches.  Ehe  die  Sonne 
das  Dorf  bescheint,  haben  sie  im  Hause  alles  in  Ordnung  ge- 
macht, um  sich  hierauf  an  der  Feldarbeit  zu  beteiligen. 
Ihre  Stellung  im  Hause  ist  dabei  eine  angenehme  und  ge- 
achtete. 

Die  kaukasischen  Bergjuden  nehmen,  wenn  ihre  Frauen 
häßlich  und  alt  zu  werden  beginnen,  eine  zweite  Frau.  Aber 
während  bei  den  übrigen  Völkern,  bei  denen  die  Polygamie 
besteht,  die  erste  Frau  gesetzlich  immer  die  Hauptperson  bleibt, 
bei  den  Osseten  sogar  die  späteren  Frauen,  wie  wir  gesehen 
haben,  die  Mägde  der  ersten  Gattin  sind,  ist  bei  den  Bergjuden 
die  ältere  Frau  geradezu  die  Magd  der  jüngeren ;  sie  ist  es,  die 
arbeiten  muß;  sie  hat  das  Haus  in  Stand  zu  halten,  die  Küche 
zu  führen,  das  Vieh  zu  füttern,  den  Stall  zu  reinigen,  das  Feld 
zu  bearbeiten,  das  Holz  zu  hacken,  den  Kisjak  zum  Brennen 
herzustellen,  sogar  das  Haus  zu  weißen  und  zu  reparieren, 
wenn  es  schadhaft  geworden  ist. 


40.  Frauen -Raub  und  Frauen -Markt 

Raub  und  Kauf  bei  den  Kaukasiern  —  Tscherkessische  Entführungen  —  Osse- 
tischer Frauenkauf  —  Preis  einer  Bergjüdin  —  Billigkeit  einer  Tuschinenfrau 
—  Frauenraub  bei  den  alten  Letten  und  Esthen  —  Frauenraub  bei  den  heu- 
tigen Wotjäken  und  Tscheremissen  —  Raubehe  der  alten  Slawen  —  Entfüh- 
rungsgeschichten in  den  Bylinen  —  Ein  alter  ukrainischer  Gebrauch  —  Rus- 
sische Volkslieder  —  Frauenkauf  bei  den  heutigen  Burjaten  —  Verbreitung 
der  Sitte  im  europäischen  Rußland  —  Versteigerung  der  Mädchen  —  Heirats- 
märkte in  Petersburg  und  Moskau  —  Die  gegenwärtigen  Mädchenmärkte 
von  Klin,  Gschatsk  und  Ssytschewka  —  Versaufen  der  Tochter  —  Der  Mensch 

als  Ware  —  Regierungspraxis  —  Frauentausch. 

Die  gedrückte  Lage  des  weiblichen  Geschlechts  bei  den 
meisten  Völkern  Rußlands  ist  hauptsächlich  darauf  zurück- 
zuführen, daß  die  Frauen  geraubt  oder  gekauft  wurden,  zum 
Teil  auch  heute  noch  geraubt  oder  gekauft  werden.  Das  Weib 
wurde  somit  die  Beute  oder  das  ehrlich  erworbene  Eigentum 
des  Gatten. 


—    334    — 

Bei  einigen  Völkern  Kaukasiens  waren  seit  jeher  Kauf 
und  Entführung  die  alleinigen  Formen  der  Eheschließung.  Der 
Vorgang  bei  den  Tscherkessen  ist  im  allgenieinen  folgender: 
Wenn  zwei  junge  Leute  sich  verständigt  haben,  daß  sie  einander 
angehören  wollen,  so  sendet  der  Jüngling  einen  guten  Freund 
an  die  Eltern  der  Geliebten,  um  von  ihnen  den  Kaufpreis 
(Kalym)  für  das  Mädchen  zu  erfragen.  Der  Kalym  besteht  nur 
selten  in  Geld,  in  der  Regel  in  Waffen  oder  in  Vieh;  ehemal^ 
wurden  auch  Sklaven  verlangt.  Kann  ein  Bräutigam  den  Preis 
nicht  erschwingen,  so  borgt  er  Vieh  und  Waffen  von  Freunden 
oder  zahlt  in  Raten.  In  früheren  Zeiten  sah  sich  der  Werber, 
wenn  der  Vater  der  Geliebten  den  Preis  zu  hoch  stellte,  einfach 
gezwungen,  die  Geliebte  zu  entführen;  heute  konmit  dies  sel- 
tener vor.  Im  Falle  des  Raubes,  der  zur  Nachtzeit  geschieht, 
ist  der  Entführer  durch  die  Sitte  verpflichtet,  nach  Zurück- 
legung einer  bestinunten  Strecke  Alarmschüsse  abzugeben,  um 
selbst  die  beraubte  Familie  von  dem  Geschehenen  zu  ver- 
ständigen. Von  der  Schnelligkeit  des  Rosses,  das  die  Lieben- 
den trägt,  hängt  dann  alles  ab :  Wird  das  Paar  von  den  Verfol- 
gern eingeholt,  so  verliert  der  Räuber  die  Beute,  dazu  sein 
Pferd  und  seine  Waffen;  gelingt  aber  die  Flucht,  so  darf  ihm 
die  Braut  nicht  mehr  entrissen  werden.  Wenn  anderen  Tages 
die  Eltern  des  Mädchens  zu  denen  des  jungen  Mannes  kommen 
und  klagend  fragen:  „O,  saget  uns  doch,  weshalb  hat  Euer 
Sohn  unsere  Tochter  geraubt?**  so  erhalten  sie  zur  Antwort: 
„Unser  Sohn  tat  nach  der  Sitte  unseres  Volkes**  und  sie  müssen 
ihre  Zustimmung  zum  Bunde  geben.  Bei  einem  anderen  kau- 
kasischen Volke,  den  Osseten,  sind  solche  Entführungen  fast 
unbekannt;  sie  gelten  einem  Morde  gleich.  Die  Bräute  können 
bloß  gekauft  werden.  Gewöhnlicher  Preis :  mindestens  zwölf 
Kühe  oder  ein  Pferd,  höchstens  hundertvierzig  Kühe  oder 
sieben  Pferde ;  eine  Witwe  kostet  regelmäßig  die  Hälfte  des 
von  ihrem  ersten  Manne  für  sie  gezahlten  Kaufpreises.  Bei 
den  kaukasischen  Bergjuden  beträgt  der  Preis  für  ein  Mädchen 
durchschnittlich  hundertfünfzig  Rubel ;  dazu  kommt  die  gleiche 
Sunmie  für  die  Hochzeitsfestlichkeiten  und  die  Brautkleider, 
die  ebenfalls  der  Bräutigam  bezahlen  muß;  da  aber  die  Berg'- 
juden  meist  arm  sind,  gibt  es  viele  Junggesellen.    Am  billigsten 


—    335    — 

ist  ein  tuschinisches  Weib:  da  schenkt  der  Bräutigam  der 
Braut  drei  Rubel  bar,  und  das  Ehegeschäft  ist  abge- 
schlossen. 

Frauenraub  gab  es  ehemals  nicht  bloß  bei  den  asiatischen, 
sondern  auch  bei  den  meisten  westlichen  und  nördlichen  Völ- 
kern Rußlands.  So  wird  von  den  Letten  berichtet  i):  „Sie 
haben  diesen  bösen  Gebrauch  gehabt,  daß  der  Freyer  bey  den 
Eltern  umb  die  Tochter  nicht  anhalten  dörffen,  sondern  sie 
entweder  mit  List  oder  mit  Gewalt  entführen  müssen.  Es  hat 
sich  derselbe,  der  das  Weib  haben  wollen,  mit  etlichen  seiner 
guten  Freunde,  die  er  zu  sich  genommen,  zu  derselben  Magd, 
die  er  zur  Ehe  begehret,  Eltern  begeben,  und  etwan  eine  Ursach 
erdichtet,  warumb  sie  dahin  kommen,  wann  sie  nu  dieselben 
wol  empfangen  und  aufgenommen,  da  ist  einer  draußen  bey 
dem  Wagen  und  den  Pferden  geblieben,  und  wenn  der  Vater 
oder  Wirth  sie  zum  Essen  genötiget,  haben  die  berichtet,  es 
were  einer  ihrer  Gesellen  draußen  bey  den  Pferden,  derhalbn 
die  Magd,  so  entführt  werden  sollen,  gebeten,  denselben  mit 
zum  Essen  zu  ruffen.  Wenn  sie  nun  hingangen,  hat  sie  der, 
so  draußen  gewesen,  ergriffen  und  mit  sich  geführet,  welchem 
die  andern,  so  in  der  Stuben  gewesen,  bald  gefolget.  Wann 
aber  die  Eltern  und  Verwandten  ihnen  nachgejaget,  haben  sie 
sich  gewehret,  und  die  Entführte  mit  Gewalt  nach  Hauß  ge- 
bracht, da  denn  die  Eltern  ihren  Consens  und  WUlen  drein 
geben  müssen,  wenn  sie  gesehen,  daß  es  nicht  anders  seyn 
können.  Haben  sie  auf  diese  Weise  nichts  erlangen  können, 
so  haben  sie  sich  auf  der  Nähe  wo  verstecket,  und  auf  die 
Magd  gelauert;  wann  die  nu  aus  dem  Hause  gangen  etwan 
Wasser  zu  hohlen,  oder  sonsten  sich  wohin  begeben,  sind  sie 
unvermuthlich  hervorkommen,  und  sie  mit  sich  hinweggeführet^ 
daß  offt  die  Eltern  nicht  gewust,  wo  die  hinkommen,  bis  sie  es 
hernach  erfahren.  Diesen  bösen  heydnischen  Gebrauch  haben 
sie  noch  in  acht  genommen  und  darnach  gelebet,  da  sie  schon 
zum  Christlichen  Glauben  gekonmien,  und  von  den  Teutscheil 
bezwungen :  es  ist  aber  von  der  teutschen  Herrschafft  bey  Lebens 
Straffe  verboten,   und  sind   sie   dazu  gehalten,   daß   sie,  wie 


1)  Hiärn.  ehst-,  lyf-  und  lettlaendische  Geschichte,  S.  38. 


—    336    — 

Christen  gebühret,  umb  die  Braut  werben,  und  sich  hernach, 
Christhchem  Gebrauch  nach,  öffentlich  eheligen  und  zusammen 
solten  geben  lassen.**  —  In  Estland  kannte  man  ebenfalls  den 
Gebrauch  des  Mädchenraubes,  aber  hier  geschah  dies  zumeist 
mit  Wissen  der  Eltern.  Dies  kann  man  „aus  den  alten  Recessen 
abnehmen,  da  geboten  wird,  daß,  wenn  einer  eine  Magd  wider 
der  Eltern  Willen  raubet,  er  das  Leben  sol  verlohren  haben, 
geschiehet  es  aber  mit  Vorwissen  der  Eltern,  müsse  er  sie 
eheligen."  1) 

Bei  den  Wötjäken^)  existiert  noch  bis  auf  den  heutigen 
Tag  der  Mädchenraub,  kukem.  Wenn  der  Vater  der  Braut 
einen  zu  hohen  kalym  fordert  oder  überhaupt  nicht  in  die 
Ehe  willigt,  die  beiden  jungen  L^ute  aber  einig  sind,  dann 
wird  die  Braut  entführt.  Man  verabredet  eine  Stelle  im  Walde 
oder  Felde,  hier  arbeitet  das  Mädchen  scheinbar  fleißig  und 
ahnungslos,  und  wird  plötzlich  vom  Geliebten  und  seinen  Freim- 
den  auf  ein  Pferd  oder  einen  Wagen  gehoben  und  fort  geht 
es  im  Galopp.  Unterwegs  ist  sie,  wie  Bechterew  erzählt,  fröh- 
lich, vor  dem  Hause  des  Bräutigams  aber  fängt  sie  an  zu  heulen 
und  zu  janmiern  und  wiJrd  dann  irgendwo  in  einem  kenos  ein- 
gesperrt. Der  Vater  der  Entführten  erfährt  gewöhnlich  bald, 
wo  sie  hingebracht  worden,  kommt  und  fragt,  wo  seine  Tochter 
ist.  Der  Bräutigam  bietet  ihm  einen  kalym,  worauf  der  unzu- 
friedene Vater  mit  der  Peitsche  zuschlägt,  wenn  die  Summe 
zu  gering  ist.  Endlich  einigen  sie  sich,  und  der  Alte  frag^ 
seine  eingeschlossene  Tochter,  ob  ihr  das  Leben  hier  gefalle. 
Sie  antwortet  gewöhnlich:  nicht  ganz  gut,  aber  um  des  Ge- 
liebten willen  wolle  sie  gerne  alles  ertragen.  Nie  kommt  es 
zur  Klage  bei  den  Gerichten.  Man  sieht,  auch  hier  gibt  es 
Romantik,  auch  hier  werden  bisweilen  Ehen  aus  Liebe  ge- 
schlossen. Es  soll  übrigens,  wie  schon  der  alte  Georgi  erzählt, 
bisweilen  vorkommen,  daß  ein  Mädchen  wider  ihren  Willen 
vom  Felde  geraubt  oder  des  Nachts  in  ihrem  Bette  überfallen 
und  fortgeschleppt  wird.    Ebenso  ist  es  bei  den  finnougrischen 


1)  Ebenda  39. 

')  Max  Buch,  Die  Wotjäken,  S.  62. 


—    337    — 

Tscheremissen  an  der  Wolga  der  Raub  noch  jetzt  die  üblichste 
Form  der  Eheschließung.  Es  gibt  Dörfer,  wo  seit  hundert 
Jahren  keine  regelmäßigen  Heiraten  stattgefunden  haben. 
Smirnow  führt  ein  Dorf  an,  in  dem  im  Laufe  von  siebzig  Jahren 
nur  zwei  regelmäßige  Hochzeiten  stattgefunden  haben.  Im 
Kreise  Malmysch  raubt  man  die  Frau  aus  dem  Chorowod  (xopo- 
BOAi>,  Reigen)  zur  Zeit  der  Feste,  im  Walde  beim  Sammeln  der 
Schwämme  und  Beeren,  am  Fluß,  wenn  sie  wäscht.  Smirnow 
liebt  hervor,  daß  er  keine  Spur  von  Exogamie  habe  entdecken 
können,  der  Raub  vollziehe  sich  in  demselben  Stamme.^) 

Bei  den  alten  Slawen  war  die  Raubehe  von  zweifacher 
Gestalt:  bei  den  Drevljanen,  wo  die  Jungfrauen  beim  Wasser 
geraubt  wurden,  konnte  es  sich  um  eine  wirkliche  Gewalttat 
handeln.  Anders  bei  den  Stämmen  der  Radimitschen,  Wjä- 
titschen  und  Severier,  bei  denen  man  die  Weiber  auf  den 
„Spielplätzen"  zwischen  den  Dörfern  überfiel.  „Auf  den  Spiel- 
plätzen**, heißt  es,  „kamen  sie  zusammen  zum  Tanz  und  zu 
allerlei  wilden  Spielen,  und  hier  raubten  sie  die  Weiber,  mit 
denen  ein  jeder  sich  verständigt  hatte.**  Hier  ist  die  Raubehe 
nur  eine  äußere  Form,  nach  der  Darstellung  des  Chronisten 
gar  kein  krimineller  Akt,  sondern  lediglich  ein  summarisches 
Zivilverfahren,  und  ein  Schluß  auf  Exoganüe  ist  in  keiner 
Weise  geboten  oder  nur  naheliegend.  2)  Wenn  man  davon 
ausgeht,  daß  die  altslawischen  Dörfer  im  allgemeinen  nicht 
groß  waren  und  in  dem  schwach  bevölkerten  Lande  zerstreut, 
so  kann  man  die  „Spielplätze**  nur  in  nächster  Nähe  von  Dorf- 
schaften suchen.  Ausdrücklich  wird  bemerkt,  daß  der  Raub 
nach  Rücksprache  und  also  mit  Einwilligung  des  Mädchens, 
daher  auch  wohl  der  Eltern  geschah,  wodurcli  das  Ganze  als 
eine  Art  Zeremonie  gekennzeichnet  wird,  die  wohl  nur  den 
Zweck  hatte,  die  Umständlichkeiten  und  Unkosten,  die  bei 
dem  Brautkauf  dem  Bewerber  zur  Last  fielen,  zu  umgehen. 
Denn  die  Töchter  waren  in  alter  Zeit  ein  Wertgegenstand  ersten 


1)  Vgl.  Rhamm,  a.  a.  O.  272. 

2)  Ebenda. 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  22 


—    338    — 

Ranges,  aus  dem  man  so  viel  herauszuschlagen  suchte  wie 
möglich.^) 

In  den  russischen  Bylinen  ist  mehrfach  von  gewaltsamen 
Entführungen  die  Rede.  Ein  Lied  erzählt:  „Lust,  große  Lust 
bekam  Fürst  Wladimir  nach  einem  Weibe,  er  wollte  heiraten. 
Saß  mit  seinen  Helden  an  dem  runden  Eichentisch,  im  hohen 
goldgezierten  Festsaal.  Schnurrige  Reden  gingen  von  Mund 
zu  Mund,  lustig  kreiste  das  mächtige  Trinkhom.  Da  fragte 
der  Fürst,  ob  keiner  eine  Gemahlin  für  ihn  wüßte.  Schön  und 
weise  soll  sie  sein,  ihr  Angesicht  weiß  wie  Schnee,  mohnrot 
die  Wangen,  wie  Zobel  die  Augenbrauen,  wie  Falkenaugen 
die  Augen.  Alle  schwiegen,  beschämt  versteckte  sich  der 
jüngere  vor  dem  älteren.  Da  trat  der  stille  Dunay  Iwanowitsch 
hervor  und  sprach:  „Helle  Sonne,  Knjäs  Wladimir!  Mein 
früherer  Herr,  der  König  von  Litauen,  hat  zwei  schöne  Töchter. 
Eine  kühne  Heldin  ist  die  eine  und  reitet  immer  umher.  Da- 
gegen die  andere  ist  wie  geschaffen,  deine  Gemahlin  zu  sein, 
zart  ist  ihres  Leibes  Gestaltung,  süß  ihr  Angesicht  und  weiß  wie 
Schnee,  mohnrot  sind  ihre  Wangen,  gleich  Zobel  die  Augen- 
brauen, wie  'Falkenaugen  die  Augen.  Sie  sitzt  hoch  im  Fürsten- 
gemache hinter  30  Stahlschlössern,  die  heftigen  Winde  be- 
rühren sie  nicht,  die  heiße  Sonne  versengt  nicht  ihr  Antlitz. 
Sie  ist  die  jüngere  Schwester,  Apraxija  ist  ihr  Name.  Werben 
will  ich  sie  für  dich,  mein  Fürst,  doch  soll  Held  Dobrynja  mein 
Begleiter  sein."  Die  beiden  Helden  kommen  zum  Könige  der 
Litauer  (in  einer  Variante  heißt  es :  König  Emanuel  von  der 
goldenen  Horde)  werden  aber  übel  empfangen  und  abgewiesen. 
Da  machen  sie  kurzen  Prozeß  und  entführen  mit  Gewalt  die 
Prinzessin,  die  man  ihnen  nicht  gutwillig  geben  wollte.  Held 
Dobrynja  ist  noch  in  einem  anderen  Liede  der  Brautwerber  des 
Fürsten  Wladimir,  in  dem  „Lied  von  der  stolzen  Rogneda** : 
auch  hier  wird  er  von  Rochwold  dem  Warjäger  zu  Polozk 
schnöde  abgewiesen  und  kann  den  Auftrag  des  Fürsten  nur 
nach  Anwendung  von  Gewalt  erfüllen.  Rogneda  ist  übrigens 
eine  historische  Persönlichkeit,  und  auch  in  der  Geschichte 
wird  berichtet,  daß  Fürst  Wladimir  die  Verbindung  mit  ihr 
gewaltsam  erzwang. 

^)  Ebenda. 


—    339    — 

Ein  merkwürdiger  Raub-Gebrauch  wird  in  einer  aus  der 
Mitte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  stammenden  Beschreibung 
der  Ukraine  i)  erwähnt :  Wenn  sich  die  Bauern  an  einem  Sonn- 
tag oder  Feiertag  in  der  Dorfschenke  versammehen,  um  zu 
tanzen,  erschien  die  Gutsherrschaft,  um  der  Unterhahung  der 
Bevölkerung  zuzuschauen.  Bei  jedem  Dorfe  befand  sich  ein 
dichtes  Gehölz,  in  welchem  sich  die  Bauern  zu  verstecken 
pflegten,  wenn  die  Tartaren  nahten.  Es  wird  nun  erzählt :  .  .  . 
„bien  que  les  paysans  soient  suiets  presque  comme  esclaues, 
ce  neantmoins  ils  ont  d'anciennet^  ce  droit  et  privilege  d'enleuer 
en  ceste  occasion,  s'ils  peuuent  dans  TassembMe  de  la  dance 
vne  Damoiselle  quand  mesme  eile  seroit  fille  de  leur  seigneur, 
pourueu  qu'il  le  fist  avec  teile  dexterit^  et  adresse  que  cela  lui 
reussist  bien  (car  autrement  il  seroit  perdu)  et  qu'il  se  puisse 
enfuir  dans  ces  bois  taillis  voisins  de  lä,  oü  s'il  se  peut  tenir 
vingt-quatre  heures  cach^  sans  pouuoir  estre  descouuert,  alors 
il  est  absous  du  rapt  qu'il  a  fait,  et  si  la  fille  qui  a  est^  enleu^e 
le  veut  espoTJser,  il  ne  la  peut  refuser  sans  perdre  la  teste,  sinon 
il  est  quitte  du  crime,  et  on  ne  luy  en  peut  plus  faire  aucune 
peine,  mais  s'il  arriue  qu'il  soit  pris  dans  les  vingt-quatre  heures, 
on  luy  couperoit  la  teste  ä  Theure  mesme  sans  aucune  forme 
de  procez;  pour  moy  en  dix-sept  ans  que  i'ay  est^  en  ce  pays, 
ie  n'ay  point  ouy  parier  que  cela  y  soit  arriuö,  bien  ay-ie  veu 
les  filles  faire  Tamour  aux  gargons,  et  reüssir  plusieurs  fois, 
comme  ie  Tay  dit  cydessus,  mais  en  celuy  cy  il  y  a  trop  de 
hazard:  car  d'enleuer  vne  fille  par  force,  puis  s'enfuir  ä  la 
face  dVne  compagnie  auec  eile  sans  estre  atteint,  il  faudroit 
auoir  de  bonnes  jambes,  ce  qui  seroit  bien  difficile  sans  auoir 
le  mot  et  intelligence  auec  la  fille,  et  d'ailleurs  les  paysans  sont 
plus  mastinez  ä  präsent  qu*ils  n  estoient  autrefois,  et  la  noblesse 
aussi  y  est  deuenue  plus  hautaine  et  imp^rieuse,  il  y  a  apparence 
que  lors  qu'on  a  donn^  ce  priuilege  aux  paysans,  que  c'estoit 
du  temps  que  les  Polonnois  en  election  de  leurs  roys  prenoient 


1)  Description  de  rVkranie,  par  le  Chevalier  de  Bevplan.  Nouvelle 
Edition  publice  par  le  Prince  Augustin  Galitzine.  Paris  1861,  p.  119.  (Die 
deutsche  Übersetzung  von  J.  C.  Modler,  Breslau  1780.  konnte  ich  nicht  auf- 
treiben). 

22* 


—    340    — 

celuy  qui  couroit  le  plus  viste  les  pieds  nuds,  comme  le  plus 
vaillant  et  adroit,  comme  si  la  vaillance  et  dext^rit^  d*esprit 
consistoit  en  la  vitesse  et  dexterit^  du  corps :  et  de  lä  est  encor 
venu  comme  ie  croy  que  les  nobles  fönt  faire  serment  au  roy 
le  iour  suiuant  de  son  eslection  deuant  Tautel,  de  n'emprisonner 
aucun  noble  pour  quel  crime  que  ce  soit,  horsmis  celuy  contre 
TEstat  ou  sa  personne,  apr^s  les  vingt-quatre  heures  passöes, 
pour  dire  qu'ils  estimoient  fort  les  personnes  qui  auoient  la 
disposition  de  bien  courir  et  d'aller  viste.** 

In  den  großrussischen  Hochzeitsliedern  gibt  es  zahlreiche 
Reminiszenzen  an  die  wilden  Sitten  der  Vorzeit^);  so  singt  ein 
Mädchen; 

Ich  bitte  dich,  leibliches  Brüderlein, 
Den  Säbel  ergreife  mit  deiner  Hand, 
Versperre  die  Wege,  die  Stege  mir 
Mit  frischen  Tannen,  mit  Birken, 
Ja,  und  mit  bitteren  Espen  I 
Sonst  greifen  mich  Arme  die  Feinde  2)  an, 
Sie  entführen  mich  junges  Mägdelein 
Von  den  leiblichen  Stammgenossen, 
Vom  geliebten  Freunde,  dem  Bruder. 

Erscheint  hier  der  Bruder  als  Beschützer  des  Mädchens, 
so  ist  er  in  einem  anderen  Liede  als  Vertreter  des  verstorbenen 
natürlichen  Oberhauptes,  des  Vaters,  der  Verkäufer  des 
Mädchens  : 

Mein  lieber  Bruder, 

Du  blauer  Tauber, 

Verkauf  nicht,  o  Bruder, 

Die  teure  Schwester: 

Verlange  hundert 

Und  tausend  Rubel, 

Ja   hunderttausend 

Und  ganze  Städte. 


^)  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  S.  26. 
*)  Feinde:  der  Bräutigam  und  seine  Helfer. 


—    341    — 

Laß  nicht,  o  Bruder, 
Mit  Nüssen  dich  locken. 
Nimm  die  Äpfel, 
Die  der  Wurm  benagt  hat. 

Daß  Vater  oder  Bruder  sich  aber  nicht  durch  des  Mädchens 
Bitten  rühren  ließen,  ist  nach  allem,  was  wir  von  dem  russischen 
Familienleben  kennen,  selbstverständlich. 

Der  Frauenraub  konnte  unter  den  modernen  Verhältnissen 
nur  in  wenigen  Gegenden  fortdauern;  und  auch  dort,  wo 
er  noch  stattfindet,  ist  er  nicht  viel  mehr  als  eine  Förm- 
lichkeit oder  wie  andere  traditionelle  Zeremonien  ein  bloßer 
Volksscherz.  Dagegen  ist  das  Kaufen  der  Frauen  in  ganz 
Rußland  stark  verbreitet :  in  Kaukasien,  bei  den  Kirgisen,  den 
Kalmücken,  den  Tartaren,  in  Sibirien.  Wenn  beispielsweise 
der  Burjate  heiraten,  richtiger  eine  Frau  „erwerben"  will,  ist 
er  genötigt,  sich  in  aller  Form  eine  Braut  von  dem  glück- 
lichen Besitzer  von  Töchtern  zu  kaufen.  Der  Kaufpreis  be- 
trägt in  der  Regel  500  bis  700  Rubel,  in  besonders  gün- 
stigen Fällen  200  bis  300  Rubel,  wozu  noch  häufig  Vieh  und 
Schafe  kommen.  Bei  der  großen  Armut  der  Burjaten  er- 
scheint es  begreiflich,  daß  sich  der  hohe  Kaufpreis  wie  eine 
Last  auf  ihn  legt,  an  der  er  sein  ganzes  Leben  zu  tragen 
hat.  Um  das  Cleld  zu  beschaffen,  ist  der  heiratslustige  Bur- 
jate gezwungen,  Schulden  zu  machen,  die  er  erst  dann  in 
der  Regel  abzuschütteln  vermag,  wenn  seine  Ehe  mit  Töch- 
tern gesegnet  ist,  bei  deren  Verheiratung  er  dereinst  den  für 
seine  Frau  gezahlten  Preis  zurückerhalten  kann.  Auf  die  Ehe 
blickt  der  Burjate  daher  vom  rein  praktischen  Standpunkt, 
die  Liebe  kennt  er  nicht,  er  bedarf  der  Arbeitskräfte,  die 
er  in  seiner  Frau  und  in  seinen  zukünftigen  Kindern  zu 
finden  hofft.  Als  ein  großes  Unglück  wird  es  allgemein  be- 
trachtet, wenn  die  Ehe  kinderlos  bleibt;  in  diesem  Falle 
sieht  sich  der  Burjate  nach  einer  anderen  Frau  um,  für  die 
er  ein  oft  noch  höheres  Kaufgeld  als  für  die  erste  entrichten 
muß.  Nicht  selten  soll  es  vorkommen,  daß  ein  Burjate  seine 
Tochter  an  verschiedene  Personen  verkauft.  Um  dieses  tun 
zu   können,   überredet   er   seine   Tochter,    den   Mann   zu   ver- 


—    342    — 

lassen  und  in  das  Elternhaus  zurückzukehren,  um  sie  dann 
an  den  ersten  Besten  zum  zweiten  Male  zu  verkaufen.  Klagen 
bei  den  indigenen  Bauerngerichten  ziehen  sich  oft  Jahre  lang 
hin,  so  daß  in  den  meisten  Fällen  von  Klagen  gänzlich  ab- 
gesehen wird.^)  Es  erscheint  begreiflich,  daß  dieser  Modus 
des  Abschließens  von  Heiraten  auch  unliebsame  wirtschaft- 
liche Folgen  nach  sich  zieht.  Doch  sind  diese  Bräuche  so 
festgewurzelt,  daß  sich  nur  schwer  gegen  sie  ankämpfen  läßt. 
Ob  ein  Verschwinden  der  barbarischen  Sitten  von  einer  fort- 
schreitenden kulturellen  Entwicklung  der  Burjaten  zu  erwar- 
ten wäre,  bleibt  fraglich,  da  der  Brauch  des  Frauenkaufs  auch 
im  eigentlichen  zivilisierten  Rußland  nicht  nur  vorhanden 
ist,  sondern  statt  abzunehmen  immer  mehr  zunimmt  und 
sich  selbst  in  Gegenden  einbürgert,  wo  er  früher  nicht  be- 
standen hat.2)  Bei  solchem  Kauf  geht  es  ganz  so  zu,  wie  bei 
jedem  anderen  Handel:  man  schlägt  einander  in  die  Hände, 
trinkt  dazu  und  wendet  das  Mädchen  hin  und  her,  von  einer 
Seite  nach  der  anderen,  gleich  einer  Ware.  Genügt  dem  Käufer 
das  bloße  Schauen  nicht,  so  wird  das  Mädchen  von  den  weib- 
lichen Verwandten  des  Käufers  in  die  Badstube  geführt  und 
dort  auf  die  eingehendste  Art  auskultiert.  In  einigen  südöst- 
lichen Steppengegenden  wird  das  Mädchen  förmlich  an  den 
Meistbietenden  versteigert;  ihre  Tränen  und  Drohungen,  sich 
das  Leben  zu  nehmen,  lassen  kalt.  Über  die  Hochzeitsbräuche 
in  Wologdi  wird  von  einem  Beobachter^)  erzählt,  wie  die 
Freiwerber  zum  Vater  des  Mädchens  kommen,  die  zufällig 
aus  einem  Winkel  hört,  daß  ihr  Geliebter  um  sie  werben 
läßt,  und  einen  unwillkürhchen  Schrei  ausstößt,  den  der 
Vater  für  einen  Ausruf  des  Schreckens  hält.  „Wäre  es  dem 
V^ater  —  einem  ebenso  eigenwilligen  Selbstherscher,  wie  die 
Mehrzahl  der  Bauern  —  in  den  Sinn  gekommen,  daß  die 
Tochter  sich  freute,  so  würde  er  die  Freier  grob  aus  dem 
Hause  gejagt  und  der  Mutter  einen  ins  Genick  gegeben  haben. 


^)  Bericht  eines  russischen  Regierungsbeamten  in  HpicvTCK.  ryö  Btao- 
MOOTH.    Vgl.  Lodzer  Zeitung  vom  12.  XII.  1902. 

2)  AneKcaiiipa  EcIulmchko,  II;?ci1aoHaHifl  napciHort  h<ii3HII  m  oöuhiioo  npauo. 
KpecThflHCKaH  aa'nimina.    1884.    Cip.  6S,  70.    Vgl.  Rhamm  a.  a.  O. 

^)  iKneaii  crapima  VI  65  Vgl.  Rhamm. 


—    343    — 

weil  sie  nicht  auf  die  Tochter  achtgegeben,   und  der  Letz- 
teren,  weil   sie  gewagt,   ohne   sein   Vorwissen   zu   heben." 

Früher  gab  es  selbst  in  Petersburg  und  Moskau  öffent- 
liche Heiratsmärkte;  am  Ostersonntag i)  oder  am  Pfingstmon- 
tag 2)  trafen  sich  die  jungen  Männer  und  Mädchen  in  den  öffent- 
lichen Gärten  und  maxrhten  Bekanntschaft,  die  auch  schnell 
zur  Verlobung  führte.     Solche  Heiratsmärkte  hat  man  noch 
jetzt   zahlreiche:   In  Klin   bei   Ssaratow   versammelt   sich  am 
6.  Januar  nebst  den  Einheimischen  eine  große  Menge  von  Leu- 
ten aus  der  ganzen  Umgegend.    Die  Pferde  und  Schlitten  wer- 
den auf  den  Plätzen  zusammengestellt,  die  alten  Leute  gehen 
in  die  Kirche,  die  Jugend  aber  bleibt  auf  dem  Marktplatz.  Die 
heiratsfähigen  und  heiratslustigen  Mädchen  trennen  sich  darauf 
von  der  Schar  der  Burschen,  stellen  sich  in  der  Straße,  die 
zur  Kathedrale  des  Ortes  führt,  in  zwei  oder  drei  Reihen  auf 
und  bleiben  so  spalierbildend  von  neun  Uhr  vormittags  bis 
mittags  und  später.    Jede  Jungfrau  hat  ihr  schönstes  Gewand 
an,  außerdem  aber  muß  sie  als  charakteristische  Zugehörigkeit 
zu  dieser  Parade  in  ihren  über  den  Bauch  gekreuzten  Händen 
ein  helles  Halstuch  oder  Schnupftuch  halten.    Das  ist  ein  ganz 
wunderbares  Bild:  diese  langen  Reihen  frischer  Mädchen  in 
den  schwarzen  Pelzen,  von  denen  sich  die  weißen  Tücher  glän- 
zend abheben.    Für  viele  Eltern  der  Umgegend  ist  es  die  einzige 
Gelegenheit,  ihre  Töchter  in  die  Öffentlichkeit  zu  bringen  und 
sie  mit  jungen  Männern  bekannt  zu  machen.     Die  Burschen 
schreiten  nun  die  Reihen  entlang,  mustern  die  Schönen,  prüfen 
sie  vom  Kopf  bis  zu  den  Füßen,  und  die  einem  gefällt,  wird  vom 
Bewerber  sofort  um  Namen  und  Wohnort  gefragt.    Langsam 
bilden  sich  Paare,  die  sich  zusammengefunden  haben,  und  wenn 
die  Alten  aus  der  Kirche  kommen,  so  stellen  sich  ihnen  die 
jungen  Leute  schon  als  Halbverlobte  vor;  die  beiderseitigen 
Verwandten  kommen  beglückwünschend  herbei,  und  in  dem 
Trakt ir  wird  der  neue  Bund  begossen  und  besiegelt.    Ähnlich 
geht  es  in  den  Städten  Gschatsk  und  Ssytschewka  zu.    Auch 
hier  findet  der  Mädchenmarkt    (A'hBHHbH   TonKynKa)  stets  am 


1)  Hellwald,  Die  Welt  der  Slawen,  325. 
-)  Geheimnisse  von  Rußland,  I  269. 


—    344    — 

6.  Januar  statt.  Doch  ist  in  den  beiden  letztgenannten  Orten 
insofern  eine  Abweichung  zu  konstatieren,  als  die  Mädchen 
nicht  in  Reihen  stundenlang  stehen,  sondern  gruppenweise 
einander  an  den  Händen  haltend  in  den  Straßen  auf  und  ab- 
marschieren, während  die  Burschen  Spalier  bilden.  Auch  halten 
die  Mädchen  die  Paradetücher  nicht  in  den  Händen,  sondern 
haben  den  Kopf  damit  bedeckt.  Diese  Tücher  endlich  sind 
hier  nicht  einfarbig  hell,  sondern  mit  grellen  Blumen  bestickt. 
Es  gibt  bei  Moskau  eine  Fabrik,  die  sich  das  ganze  Jahr  nur 
damit  beschäftigt,  solche  Paradetücher  für  die  Heiratsmärkte 
der  Wolgagegenden  herzustellen.^) 

Von  diesem  Verkauf  der  Töchter,  von  diesen  Mädchen- 
märkten wesentlich  zu  unterscheiden  ist  der  Handel  mit  Mäd- 
chen und  Frauen,  der  nicht  zum  Zwecke  der  ehelichen  Ver- 
sorgung, sondern  tatsächlich  nur  deshalb  geschieht,  um  dem 
Vater  einen  guten  Trunk  zu  verschaffen,  wie  es  etwa  in  diesem 
alten  Liede  heißt: 

O  Trinker,  Vertrinker, 
Amdotjas  Väterchen: 
Vertrankst  Deine  Tochter 
Beim  Fäßchen  Wein, 
Vertrankst  Dein  Kind 
Beim  Schälchen  Wein, 
Vertrankst   Dein   Töchterchen 
Beim  leckeren  Mahle! 

Die  Regierung  gibt  kein  besseres  Beispiel.  Sie  lehrt  alle 
Tage  das  Volk,  daß  der  Mensch  nichts  ist  als  eine  Ware:  In 
einzelnen  Ländern  des  Reiches,  beispielsweise  in  Finnland, 
kennt  man  weder  Armenhäuser  noch  Pfründen  in  den  Städten ; 
die  Armen  werden  einfach  am  i.  Januar  eines  jeden  Jahres 
gruppyenweise  unter  Trommelschlag  verlizitiert.  In  Kaukasien 
war  um  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  der  Sklaven- 
handel schon  vollständig  unterdrückt.  Da  gestattete  der  Gene- 
ralstatthalter Fürst  Woronzow,  um  den  Widerstand  Schamyls 


^)  Mitteilung  des  Dr.  med.  Nikolai  Stern  in  Ssaratow.    Vgl.  Ca]>aTOHcr;irt 
.lucTOKT*  1904,  Nr.  10. 


—    345    — 

2U  brechen,  jenen,  die  sich  von  dem  Propheten  lossagtien,  wieder 
den  Mädchenhandel  und  den  Verkauf  tscherkessischer  Mädchen 
nach  Konstantinopel.  1) 

Wen  kann  es  da  Wunder  nehmen,  daß  das  Volk  im 
Menschenhandel,  im  Verkauf  von  Frauen'  und  Mädchen  und 
im  Tauschen  von  Weibern  nichts  Unehrenhaftes  oder  Unsitt- 
liches sieht  1 2)  Findet  ein  Tunguse,  daß  seine  Frau  einem 
Nachbarn  gefällt,  so  tauscht  er  sie  gern  gegen  die  Gattin  des 
anderen,  bei  Aufzahlung  einer  Blase  voll  Tran  ein;  und  die 
Weiber  finden  gegen  solchen  Handel  nichts  einzuwenden.  Im 
Oktober  1902  hatten  zwei  Ehemänner  des  Dorfes  Kljutschi  im 
Gouvernement  Ssaratow  eines  Tages  verschiedene  Geschäfte 
miteinander  zu  erledigen.  Da  es  an  barem  Gelde  mangelte, 
wurden  die  gegenseitigen  Verbindlichkeiten  durch  einen  Tausch- 
handel abgewickelt.  Man  hatte  bereits  Pferde,  Kiihe,  Wagen 
und  mancherlei  andere  Wirtschaftsgeräte  getauscht,  aber  die 
Rechnung  wollte  sich  noch  immer  nicht  ausgleichen.     Man 


1)  Schamyl  als  Feldherr,  Sultan  und  Prophet,  von  Dr.  Friedrich  Wagner, 
Leipzig  1854.     S.  85. 

^)  Übrigens  kannten  auch  andere  Länder  solche  Unsitten.  In  isländischen 
Erzählungen  wird  geschildert,  daß  der  Mann  unter  besonderen  Umständen 
seine  Frau  einem  anderen  verkaufte.  In  der  Flammanasage  will  der  Isländer 
Thorgils  aus  Norwegen  in  seine  Heimat  zurückkehren  und  läßt  seine  Frau 
seinem  Freunde  als  Andenken.  König  Frodi  schenkt  seine  ungetreue  Gattin 
strafweise  einem  unbedeutenden  Manne.  Im  Jahre  14 14  verkaufte  ein  Bürger 
von  Costnitz  zur  Zeit  des  großen  Konziliums  seine  Frau  an  die  Kanzellarien 
um  300  Dukaten  (vgl.  Die  Frauen,  kulturgeschichtliche  Schilderungen  des 
Zustandes  und  Einflusses  der  Frauen  in  den  verschiedenen  Zonen  und  Zeit- 
altem, von  Dr.  Gustav  Klemm.  Dresden  1859.  II  144,  145).  Der  Kongo- 
Neger  kann  jene  seiner  Frauen,  die  er  aus  einer  niedrigeren  Klasse  der  Bevölke- 
rung genommen  hat,  jederzeit  verkaufen.  In  Slam  hat  der  Mann  das  Recht 
jederzeit  seine  Frauen  zu  verkaufen.  In  China  kann  der  Mann  die  Frau  zur 
Strafe  für  eine  Untreue  verkaufen  (vgl.  Dictionnaire  de  la  p6nalit6,  IV  68). 
In  England  verkauften  noch  181 5  und  18 19,  zufolge  einer  altsächsischen  Sitte« 
Männer  ihre  Frauen  öffentlich  auf  den  Märkten :  Wenn  die  Frau  die  Unzufrieden- 
heit ihres  Gatten  erregt  hatte,  durfte  dieser  sie  binden,  mit  einem  Stricke  auf 
den  Viehmarkt  schleppen  und  um  einige  Schillinge  an  einen  Witwer  oder 
Junggesellen  verkaufen.  Die  so  gekaufte  Frau  wurde  ohne  weitere  Zeremonie 
die  legitime  Gattin  ihres  Besitzers,  und  die  aus  dieser  Ehe  entsprossenen  Kinder 
waren  in  jeder  Beziehung  legitim  (Klemm  und  Dictionnaire). 


n: 


TT 


—    346    — 

begann  abermals  zu  tauschen,  erhielt  aber  schließlich  stets  noch 
einen  Rest,  Die  Situation  gestaltete  sich  immer  schwieriger, 
zumal  aus  verschiedenen  Gründen  die  Beziehungen  zwischen 
den  beiden  Bauern  geregelt  werden  mußten.  Da  durchzuckte 
plötzlich  ein  Geistesblitz  das  Hirn  eines  der  biederen  Landleute. 
Gott,  rief  er,  wollen  wir  unsere  Frauen  auf  die  Wagschale 
werfen  I  Das  leuchtete  auch  dem  Partner  ein  und  nun  begann 
ein  Handeln  und  Feilschen,  von  dem  selbst  Pferdehändler 
lernen  könnten.  Die  zu  vertauschenden  Objekte,  in  diesem 
Fall  die  Frauen,  wurden  nun  von  ihren  glücklichen  Besitzern 
als  Inbegriff  aller  Tugenden  bis  in  den  Himmel  gehoben.  Jeder 
suchte  seine  Frau  so  hoch  als  möglich  zu  bewerten,  um  das 
Geschäft  zu  seinem  Vorteil  abzuschneiden.  Schließlich  wurde 
auch  eine  Einigung  erzielt  und  in  üblicher  Weise  durch  Hand- 
schlag und  die  unvermeidliche  „Margaritsch**  besiegelt.  Als- 
dann ging  es  an  die  Erfüllung  der  eingegangenen  Verpflich- 
tungen, wobei  es  sich  erwies,  daß  die  Rechnung  ohne  den  Wirt 
gemacht  worden  war.  Als  nämlich  ein  Bäuerlein  seine  Hütte 
erreicht,  seiner  besseren  Hälfte  Mitteilung  von  dem  abge- 
»schlossenen  Geschäft  gemacht  hatte  und  diese  zu  ihrem  neuen 
Herrn  führen  wollte,  wurde  ihm  in  Worten  und  Taten  ein  Emp- 
fang zu  teil,  der  ihn  veranlaßte,  schleunigst  das  Weite  zu 
suchen.  Kleinlaut  teilte  er  seinem  Gläubiger  mit,  daß  seine 
Frau  nicht  parieren  wolle  und  manches  gegen  den  Handel  ein- 
zuwenden habe.  Dieser  wollte  von  einem  Vertragsbruch  nichts 
wissen,  bestand  hartnäckig  auf  der  Erfüllung  aller  eingegan- 
genen Verpflichtungen,  und  als  dieses  nichts  half,  suchte  er 
durch  das  Gemeindegericht  zu  seinem  „Rechte**  zu  gelangen. 
Als  letzteres  sich  außer  Stande  sah,  dem  Vertrag  Gesetzeskraft 
zu  verschaffen,  nahmen  die  Bauern  die  Entscheidung  kopf- 
schüttelnd entgegen.^) 

Im  Dezember  1903  berichteten  russische  Blätter  aus  Irkutsk, 

daß  ein  Bauer  aus  dem  Dorfe  Petrowka  an  den  Polizeichef  des 

« 

Kreises  folgendes  Schreiben  gerichtet  hatte:  „Ich  habe  die 
Ehre,  Ew.  Hochwohlgeboren  ergebenst  zu  bitten,  in  den  Zei- 
tungen die  Bekanntmachung  zu  erlassen,  daß  in  Petrowka  eine 


1)  Mitteilung  des  Dr.  Nikolai  Stern  in  Ssaratow. 


—    347    — 

20jährige  Frau  —  meine  Fraul  —  und  zwei  Ferkel  verkauft 
werden  sollen  —  alles  zusammen  für  25  Rubel.  Die  Frau  ist 
sehr  hübsch,  eine  tüchtige  Wirtin,  aber  streitsüchtig  und  bos- 
haft; die  Ferkel  sind  gut  genährt  und  fett.  Auf  Wunsch  bin 
ich  bereit,  die  Frau  und  die  Ferkel  gegen  Nachnahme  zu  ver- 
senden.** Als  der  Kreischef  dieses  Schreiben  empfing,  fuhr 
er  sofort  nach  Petrowka,  da  er  der  Meinung  war,  daß  der  Brief- 
schreiber nicht  ganz  zurechnungsfähig  sei.  Seine  Zweifel  waren 
jedoch  unbegründet.  Der  Bauer  war  ein  sehr  vernünftiger 
Mensch  und  durchaus  normal.  Er  erklärte,  daß  er  die  Frau 
verkaufen  müsse,  weil  sie  ihm  das  Leben  verbittere.  Der  Kreis- 
chef ließ  dann  die  Frau  rufen  und  fragte  sie,  was  sie  von  dem 
Plane  ihres  Mannes  halte.  Sie  war  natürlich  nicht  sehr  erbaut 
davon,  aber  etwas  Absonderliches  fand  sie  nicht  darin,  i) 

Folgende  originelle  Abmachung  wurde  allen  Ernstes 
•zwischen  zwei  russischen  Bauern  getroffen  und  auf  einem  Wech- 
selblankett  von  100  Rubeln  verschrieben:  „Im  Jahre  1898  am 
3.  Oktober  habe  ich  Endesunterzeichneter  Reservesoldat  I.  K. 
mit  dem  Bauern  I.  S.  folgende  Vereinbarung  getroffen :  Nach- 
dem ich  zur  Genüge  mit  meiner  gesetzlichen  Ehefrau  Eudokia 
zusammengelebt  habe,  übergebe  ich  sie  dem  I.  S.  zum  vollen 
Eigentum  behufs  Zusammenlebens,  vom  obigen  Datum  ge- 
rechnet bis  zu  ihrem  friedlichen  Lebensende,  und  mit  dem 
heutigen  Tage  entsage  ich  für  die  Zukunft  sowohl  gänzlich 
jeglicher  Einmischung  in  das  Leben  der  beiden,  als  auch  über- 
haupt meiner  gesetzlich  bereits  dem  L  S.  abgetretenen  Frau 
Eudokia,  auch  verpflichte  ich  mich,  im  Falle  der  Übertretung 
dieser  Abmachung  dem  Iwan  verantwortlich  zu  sein  durch  die 
Verbindlichkeit,  ihm  als  Arbeiter  ohne  Lohn  zu  dienen.**  2) 

Häufig  sind  elementare  Ereignisse  Ursachen  zum  Ver- 
stoßen der  Frauen  und  Kinder,  und  an  die  finstersten  Jahr- 
hunderte des  russischen  Elends,  an  die  furchtbaren  Schilde- 
rungen eines  Petrejus,  Bussow  und  Margeret  erinnert  das  Tele- 
gramm, das  am  27.  November   1906  aus  Kasanj  in  die  Welt 


^)  Zeitungsnotiz  (Neues  Pester  Journal,  31.  Dezember  1903). 
2)  Erzählt   im    Cuifb  OTeqecTBa,   1898,  Nr.  310.     Zitiert   auch  von  Dr. 
C.  Stroh mberg-Dorpat,  „De  Prostitution",  Stuttgart  1899,  S.  22. 


—    348    — 


geschickt  wurde :  „Wegen  der  Hungersnot  verkaufen  die  Väter 
ihre  Töchter  im  Alter  von  12  bis  17  Jahren  um  10  bis  150 
Rubel  per  Stück.** 


41.  Schönheitsideal^  Schminke  und  Liebe. 

Schönheit  wichtigstes  Attribut  der  Zarengattin  —  Ausländische  Urteile  über 
russische  Frauenschönheit  —  Berühmte  Schönheiten  des  Zarenhofes  —  Rus- 
sische Schönheitsideale  —  Korpulenz  —  Rotes  Gesicht  —  Geschichte  des 
Schminkens  in  Rußland  —  Kaiserin  Anna  über  Schminken  und  Färben  der 
Augenbrauen  —  Schönheit  der  Frauen  bei  den  verschiedenen  Völkern  Ruß- 
lands —  Das  dicke  Weib  —  Das  flachbrüstige  Mädchen  —  tVotjäkfache  Schön- 
heitsideale —  Begriff  der  Liebe  in  Rußland  —  Europäische  Ansichten  über 
russisches  Lieben  —  Turgenjews  Ausspruch  —  Die  Liebe  im  Verkehr  Peters 
des  Großen  und  Katharinas  I.   —  Die  Liebesinstruktion  für  Katharina  IL 

Mag  man  nun  seine  Braut  durch  Raub  zu  gewinnen  suchen, 
mag  man  sie  kaufen  oder  nach  zivilisierter  Art  um  sie  werben ; 
mag  es  sich  um  eine  Jakutin  oder  eine  Lettin,  um  eine  Polin, 
Jüdin  oder  Russin  handeln :  immer  will  man,  daß  sie  schön  sei. 
Paulus  Jovius  erzählte  zu  Ende  des  fünfzehnten  oder  Anfang 
des  sechzehnten  Jahrhunderts,  „daß  die  russischen  Großfürsten 
gleich  den  Sultanen  bei  ihren  Weibern  nicht  auf  hohen  Stand, 
sondern  nur  auf  Schönheit  und  Tugend  sahen.** 

Was  hielten  und  halten  aber  die  Russen  für  schön?  Und 
sind  die  Russinnen  selbst  schön?  Die  Ausländer  konnten  in 
diesen  Fragen  miteinander  niemals  einig  werden.  „Das  rus- 
siche  Frauenzimmer  im  ganzen  genommen,**  schreibt  ein  ano- 
nymer Verfasser  interessanter  Bemerkungen  über  Rußland i), 
„scheint  mir  nicht  so  schön  als  das  deutsche.  Die  russischen 
Mädchen  sind  im  Durchschnitt  gerechnet,  eher  groß  als  klein, 
haben  eine  lebhafte  hohe  Gesichtsfarbe,  mehr  starke  als  zarte 
Gesichtszüge;  sie  sind  mehr  brünett  als  blond,  mehr  heftig  als 
sanft.  Ihr  Auge  ist  mehr  klein  und  feurig,  als  groß  und 
schmachtend.      Die    Nase    ist    weniger    charakteristisch    und 


^)  J.  J.  Bellermann;   sein   zweibändiges  Werk  erschien   in   Erfurt  1788. 
Vgl.  I,  S.  353. 


—    349    — 

national  als  bei  den  Männern;  der  Hals  meist  fleischig,  rund, 
eher  kurz  als  lang.  Ob  sie  gleich  bis  jetzt  das  Schnüren  und 
Busen-Heraufpressen  nicht  so  wie  die  Obersachsinnen  zu  ver- 
stehen scheinen,  so  zeigen  sie  doch  meist  eine  volle  Brust. 
Schlanke  Taille  und  kleiner  Fuß  muß  bei  ihnen  kein  wesent- 
licher Teil  der  körperlichen  Schönheit  sein,  weil  sie  beides  sehr 
vernachlässigen.  Der  Körper  ist  stark  und  gesund.**  Und 
weiter :  „Die  Schönheit  des  andern  Geschlechts  scheint  mir  hier 
noch  vergänglicher  als  in  Deutschland  zu  sein.  Vorzüglich 
kommt  sie  mir  im  niedrigen  und  mittlem  Stande,  als  von  sehr 
kurzer  Dauer  vor.  Mit  der  Haltbarkeit  der  Engländerinnen 
kann  man  sie  gar  nicht  vergleichen.  Das  schnelle  Abwelken 
der  Blumen  im  hiesigen  Klima  schreibe  ich  besonders  den 
heißen  Dampfbädern  zu.  Zu  dem  frühen  Verlust  der  Jugend- 
reize mögen  aber  auch  die  frühen  Heiraten,  der  unmäßige  Ge- 
nuß der  Liebe,  das  Branntweintrinken,  beitragen.**  Noch  ent- 
schiedener im  verneinenden  Sinne  als  dieser  deutsche  Schrift- 
steller spricht  sich  in  bezug  auf  die  Schönheit  der  Russinnen 
der  Franzose  Marquis  de  Custine^)  aus:  „Le  peuple  est  beau; 
les  hommes  de  pure  race  slave  sont  remarquables  par  leurs 
cheveux  blonds  et  leur  teint  tos6,  mais  surtout  par  la  perfection 
de  leur  profil  qui  rappelle  les  statues  grecques.  —  Les  femmes 
du  peuple  sont  moins  belies;  on  en  rencontre  peu  dans  les 
rues,  et  celles  qu'on  y  voit  n'ont  rien  d'attrayant;  elles  parais- 
sent  abruties.  —  De  toutes  les  femmes  du  peuple  que  j*ai 
rencontr^es  jusqu'ici  dans  les  rues,  pas  une  seule  ne  m'a  sem- 
hl6  belle ;  et  le  plus  grand  nombre  d'entre  elles  m'a  paru  d'une 
laideur  remarquable.  et  d*une  malpropret^  repoussante.  On 
s*^tonne  en  pensant  que  ce  sont  lä  les  ^pouses  et  les  m^res  de 
ces  hommes  aux  traits  si  fins,  si  r^guliers,  aux  profils  grecs, 
ä  la  taille  ^l^gante  et  souple,  qu*on  apergoit  m^me  parmi  les 
derni^res  classes  de  la  nation.  Rien  de  si  beau  que  les  vie- 
illards,  de  si  affreux  que  les  vieilles  femmes  russes.  —  En  g^n^- 
ral,  dans  les  diverses  classes  de  la  nation,  la  beaute  est  moins 
commune  chez  les  femmes  qu'elle  ne  Test  ehez  les  hommes, 
ce  qui  n'emp^che  pas  qu*on  ne  trouve  parmi  ceux-ci  un  grand 


^)  La  Russie  cn  1839,  I  293,  II  103,  35. 


—    350    — 

nombre  de  physionomies  plates  et  d^nu^es  d'expression.**  Auch 
Fanny  Tarnow-Lewald^)  nennt  die  russischen  Frauen  geradezu: 
„in  der  Regel  häßlich.**  Zum  Glück  haben  die  russischen 
Frauen  aber  auch  andere,  ihnen  günstigere  Beurteiler  gefunden. 
In  den  „Rußischen  Anecdoten  oder  Briefen  eines  teutschen 
Officiers**2)  wird  versichert,  „daß  die  Rußinnen  mehr  schön  als 
häßlich  sind  .  .  .  Die  Moscowiterianinnen  haben  eine  gar  zu 
angenehme  Gestalt,  als  daß  man  in  ihrer  Gegenwart  unempfind- 
lich seyn  könne.**  Die  Historiker  und  Memoirenschreiber  er- 
wähnen manchmal  wenigstens  die  auffallendsten  Schönheiten, 
die  am  Hofe  glänzten.  So  lese  ich  im  Tagebuch  des  Friederich 
Wilhelm  von  Bergholz  s)  von  der  „Fürstin  Tschirkaßin,  daß 
sie  am  Hofe  Peters  des  Großen  für  die  größte  Schönheit  ge- 
halten wurde.**  Der  Zarin  Elisabeth  machte  Frau  Lopuchina 
starke  Konkurrenz;  die  Vorwitzige  büßte  ihre  Schönheit  unter 
dem  Knut  des  Henkers.  Am  Hofe  der  zweiten  Katharina  glänz- 
ten durch  Schönheit  neben  der  Gräfin  Bruce,  die  von  der 
Kaiserin  geohrfeigt  wurde,  als  sie  mit  Ihrer  Majestät  zu  rivali- 
sieren versuchte,  noch  besonders  das  Fräulein  Ssenjäwin  imd 
zwei  Fräulein  Engelhard*),  letztere  beiden  die  Nichten  und  Ge- 
liebten Patjomkins.  Aus  der  Zeit  Alexanders  des  Ersten  ver- 
dient besondere  Erwähnung  Frau  Naryschkin,  die  Geliebte 
des  Zaren,  ö) 

Die  Schönheitsbegriffe  der  Russen,  wenigstens  in  den 
Zeiten  des  Terem,  sind  ganz  eigener  Art :  die  Schönheit  beurteilt 
man  nicht  nach  dem  Gesicht,  sondern  nach  dem  Gewicht,  und 
fünf  Pud  gilt  als  das  annehmbare  Minimum.  Der  russische 
Historiker  Kostomarow  erklärt  beispielsweise  den  Widerspruch 
zwischen  den  ungünstigen  Urteilen  der  Ausländer  und  den 
günstigen  der  Inländer  über  die  Regentin  3ofia  Alexejewna 
damit,  daß  die  Europäer  in  der  Korpulenz  der  Zarewna  etwas 
Häßliches,  die  Russen  aber  gerade  darin  die  vollkommenste 
Schönheit  sahen.    Iwan  der  Schreckliche  verstieß  seine  vierte 


^)  Briefe  aus  St.  Petersburg,  S.  138. 

2)  Wansbeck  1765,  S.  150,  135. 

8)  Bei  Büsching,  XIX  42. 

*)  Bemerkungen  über  Rußland  (von  Bellermann)  I  327. 

^)  Man  sehe  ihr  Porträt  im  I.  Bande,  S.  392. 


—    351    — 

Gemahlin,  Anna  Koltowskoj,  weil  sie  abmagerte;  und  als  er: 
einen  Boten  nach  London  schickte,  um  wegen  seiner  Verhei- 
ratung mit  einer  Engländerin  zu  unterhandeln,  mußte  der  Ge- 
sandte  sich  vor  allem  um  den  Leibesumfang  der  Erwählten 
kümmern.^)  Peter  III.  vernachlässigt  seine  Gemahlin  Katha- 
rina; nur  Elisabeth  Woronzow,  seine  Maitresse,  erscheint  ihm 
als  das  Ideal  weiblicher  Schönheit.  Man  betrachte  nun  das 
Bild  dieser  Schöneren,  die  die  schöne  Gemahlin  des  Kaisers 
in  Schatten  stellt:  „Sie  ist  nicht  sonderlich  lang;  aber  desto 
dicker.  Ja  sie  ist  von  außerordentlicher  Dicke,  und  so  häßlich, 
als  die  Nacht  im  Neumonde.  Sie  ist  von  schwarzbraunem  Ge- 
sichte, welches  mit  dickem  Fleische  überzogen  und  voller 
Pockennarben  ist,  worinn  die  Schminke  vesten  Fuß  fasset, 
welcher  sie  sich  in  übermäßiger  Menge  bedienet.  Ihre  Augen 
würden  schön  genannt  werden,  wenn  sie  mehr  Reiz  von  sich 
geben,  und  in  einem  andern  Kopfe  erschienen.  Ihr  Busen  ist 
ein  ungeheures  Feld  der  Begierden,  und  könnte  mehr,  als  einer 
Brust,  reichen  Vorrath  ohne  Schaden  liefern. **2)  Paul  erbte 
den  Geschmack  seines  Vaters.  Er  mied  seine  schöne  Frau 
Maria  Feodorowna,  um  mit  einer  dicken  Köchin  zu  leben.^) 
Von  den  russischen  Bauernweibern  bemerkt  der  Arzt  Wichel- 
hausen*), „daß  ihr  Bau  zarter  ist,  und  ihre  Gesichtszüge  einen 
feineren  Ausdruck  haben.  Ihre  Brüste  sind  meistens  ziemlich 
groß  und  schlaff,  ihre  Hüften  breit,  und  die  Beckenhöhle  g^t 
gebauet,  so  daß  selten  schwere  Geburten  bei  ihnen  vorfallen. 
Sie  haben  mehr  Anlage  zur  Korpulenz  als  die  Männer,  und 
häufig  findet  man  —  besonders  unter  solchen,  die  eine  sitzende 
Lebensart  führen  —  runde,  aufgedunsene,  dicke  Gestalten, 
die,  nach  den  Landesbegriffen,  für  schön  gelten.** 

Die  liebenswerte  Frau  muß  also  dick  sein.  Doch  Korpu- 
lenz allein  genügt  nicht.  Auch  das  Gesicht  muß  anziehen; 
um  anziehend  zu  sein,  braucht  es  bloß  rot  zu  sein,  und  rot 
und  schön  wird  im  Russischen  mit  demselben  Worte:  krasno 


*)  Vgl.  S.  32,  33  in  diesem  Bande. 
.    2)  Rußische  Anecdoten,  II  41. 
3)  Geheime    Nachrichten    (von    Masson),    III.  Band,    erste    Abteilung, 
S.  XIV. 

^)  Züge  zu  einem  Gemähide  von  Moskwa,  1803.     S>  287,  288. 


—    352    — 

(KpacHo)  bezeichnet.  Um  dieses  Schönheitsattribut  zu  verdienen, 
schminken  sich  die  Russinnen,  sowohl  die  vornehmen  Frauen, 
wie  die  des  Volkes  in  ärgster  Weise.  „  .  .  .  ce  qui  est  de 
plus  blamable,  c'est  qu'encore  qu*elles  n'ayent  aucun  d^faut 
naturcl  qu'^Ues  soient  oblig^es  de  r^parer  par  le  secours  de 
Tart,  elles  se  chargent  n&mmoins  le  visage  et  la  gorge  de  c^ruse 
et  les  joues  et  les  l^vres  de  Vermeillon.**^)  Der  Gebrauch  ist 
also  schon  seit  alten  Zeiten  verbreitet;  der  Bräutigam  durfte 
früher  unter  den  Brautgeschenken  „eine  kleine  Schachtel  voll 
Schmincke  nicht  vergessen;  weil  der  Moscowiter  Gewohnheit 
ist  /  daß  sich,  die  Frauen  und  Jungfern  schmincken  /  sie 
mögen  auch  so  schön  seyn  /  als  sie  wollen ;  so  daß;  /  wann  eine 
unter  ihnen  ungeschmincket  auff  einer  Hochzeit  erschiene  / 
selbige  von  jedermann  verachtet  und  ausgelacht  würde."  2) 
Auch  bei  Hofe  dürfen  die  Frauen  nicht  ungeschminkt  er- 
scheinen. 3)  Da  suchte  es  dann  die  eine  der  anderen  zuvor- 
zutun, die  jüngsten  Damen  —  am  Hofe  Peters  des  Großen 
zum  Beispiel  die  ganz  jugendliche  Tochter  des  Grafen  Golow- 
kin*)  —  schminkten  sich,  daß  man  ihre  Gesichter  schon  von 
weitem  glänzen  sah.  Kaiserin  Anna  war  weniger  für  das 
Schminken  als  für  das  Färben  der  Augenbrauen:  1738  — 
so  wird  in  einem  zeitgenössischen  russischen  Memoirenwerk 
erzählt s)  —  macht  sie  einer  alten  Base  Vorwürfe:  „du  hast 
ja  einen  ganz  gelben  Teint.**  —  „Ich  habe  mich  ein  wenig 
vernachlässigt,**  lautet  die  Entschuldigung,  „ich  lege  kein  Rot 
auf  und  male  mir  nicht  mehr  die  Augenbrauen.**  —  „Da  tust 
du  unrecht,**  meinte  die  Zariza,  „zwar  brauchst  du.  Alte,  kein 
Rot  aufzulegen;  aber  die  Augenbrauen  soll  man  färben.**  In 
der  Zeit  Annas  war  die  Schminksucht  bei  den  Russinnen  so 
stark,  daß  die  armen  Frauen  auf  den  Straßen  nicht  um  Brot, 
sondern  um  einen  Kopeken  für  Schminke  bettelten.  Die  Sitte 
ist  so  allgemein  und  charakteristisch,  daß  ein  Reisender  es 
für    interessant    genug    findet,     die    damals    gebräuchlichen 


^)  Mayerberg,  Relation,  I  139. 

2)  Religion  der  Moscowiter,  97. 

■^)  Rußische  Anecdoten  152. 

*)  Bergholz,  Tagebuch  bei  Büsching,  XIX  88. 

^)  Waliszewski,  L'h^ritage  de  Pierre  le  Grand,  167. 


—    363    — 

Schminken  und  Schminkmethoden  ganz  genau  zu  beschreiben : 
„Wenn  das  rußische  Frauenzimmer  sich  putzt,  so  pudert  es 
sich  nie,  die  Vornehmen  ausgenommen,  statt  dessen  aber 
schminken  sie  sich  alle  im  Gesicht.  Die  geitieinen  Weibs- 
bilder mahlen  sich  weiß  mit  Bleyweiß,  und  oben  darauf  roth 
mit  einem  Spahn,  den  sie  in  Brantewein  einweichen,  und  den 
man  hier  im  Lande  für  einen  gemeinen  Preiß  kaufen  kann,  die 
Vornehmen  hingegen  lassen  ihre  Schminke  ausserhalb  Landes 
herkommen.  Einige  von  ihnen  bereiten  auch  selbst  eine  Gat- 
tung von  weisser  Schminke,  von  Ratzenpulver  und  Weingeist, 
auf  folgende  Weise.  Sie  reiben  erstlich  diese  beyden  Sachen 
mit  einander,  und  giessen  so  lange  Weingeist  darauf,  bis  das 
Arsenikum  nicht  mehr  austrocknet.  Hierauf  machen  sie  kleine 
runde  Kugeln  daraus,  welche  sie  in  einer  Schachtel  aufheben. 
Wenn  sie  nun  eine  solche  Kugel  in  ein  Glas  ungarischen 
Wassers  werfen,  und  von  selbigem  einige  wenige  Tropfen  in 
dasjenige  Wasser  tröpfeln,  in  welchen  sie  da3  Handtuch  ein- 
tauchen, um  das  Gesicht  damit  zu  waschen,  so  werden  sie 
gleich  Schnee  weiß.**^) 

Bei  der  Beurteilung  der  russischen  Frauenschönheit  muß 
man  jedenfalls  zwischen  Großrussin  und  Kleinrussin  unter- 
scheiden. Die  Großrussin,  ein  Kind  des  Nordens,  ist  selten 
von  großer  Gestalt  und  zeigt  fast  immer  Neigung  zu  starker 
Korpulenz;  das  angenehmste  an  ihr  sind  ihre  hellen  Augen, 
während  selbst  das  hübscheste  Gesicht  durch  das  Breitknochige 
in  ihm  stört.  Dagegen  ist  die  Kleinrussin  im  Süden  des  Lan- 
des mit  ihrer  graziösen  Figur,  ihren  dunklen  Augen  und  kokett 
aufgebundenen  dunklen  Haaren  der  Polin  ähnlich,  deren  blen- 
dende Schönheit  sprichwörtlich  ist.  Berechtigten  Schönheits- 
ruhm genießen  die  Estinnen;  schon  Petri  sagte  von  ihnen 2): 
^,Sie  sind  so  wohlgebildet,  daß  sie  oft  als  Beischläferinnen 
nach  den  Städten  verkuppelt  werden.**  Bei  den  Kamtscha- 
dalen  findet  man  manchmal  hübsche  Frauen,  ebenso  bei  den 
Jakuten,  dagegen  selten  bei  den  Tschuktschen  und  Wotjäken. 


^)  Abschnitt   aus   Peter   von    Haven    Nachrichten   von    Rußland,    bei 
Büsching,  X  353,  354. 

^)  Esthland  und  die  Esthen,  II  274. 
Stern,  Geschichte  oer  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  23 


—    354    — 

Wie  die  Polin  die  schönste  Frau  im  europäischen  Rußland, 
so  ist  es  die  Mingrelierin  im  asiatischen;  die  Georgierin  und 
Tscherfcessin,  zum  Teil  auch  die  Armenierin  gelten  ebenfalls 
als  schön,  sie  stehen  aber  hinter  der  Mingrelierin  zurück. 
Wie  bei  den  Russen  wünscht  man  sich  auch  bei  den  nicht- 
russischen Völkern  Rußlands  das  dicke  Weib  als  Idealweib. 
Allerdings  gibt  es  auch  andere  Wünsche  und  andere  An- 
schauungen. So  sucht  der  Baschkire,  wie  es  in  einem  basch- 
kirischen Liede  heißt,  bei  seinem  Liebchen  nach  „Augen- 
brauen, die  dem  noch  dünnen  Neumonde**,  und  nach  „Brü- 
sten, die  den  noch  warmen  Butterknollen  gleichen.**  Da- 
gegen sind  flache  Brüste  beliebt  bei  den  Kalmücken  und  einigen 
kaukasischen  Völkern,  besonders  bei  den  Kabardinern,  Osseten 
Und  Tscherkessen.  Bei  ihnen  zwängt  man  dem  Mädchen  schon 
in  früher  Kindheit  die  Brüste  in  ein  Korsett  ein,  das  möglichst 
eng  um  den  Leib  herumgenäht  und  erst  in  der  Brautnacht  vom 
jungen  Gatten  aufgetrennt  wird;  bei  den  Osseten  gilt  eine 
üppige  Mädchenbrust  als  ein  Zeichen  von  Unkeuschheit.  Bes- 
seren  Geschmack  bekundet  der  Wotjäke;  er  will  eine  Frau 
von   schlankem   Wuchs,    mit    schönem  Gesicht    und  schönen 

Augen  ^)  *   . 

k'el'et  no  vallen  d'al'ez  küd^, 

gu2em  nynalen  nynalez  küdi; 

tynad  mugored  mynam  siiimy 

uökysa  um  tyriäke  küd^  nynalen. 

„Unser  Fuchs  hat  eine  lange  Mähne.  Im  Sommer  sind 
die  Tage  lang;  meine  Augen  können  auch  am  langen  Tage 
sich  nicht  satt  sehen  an  deinem  schlanken  Wuchs.** 

vylad  no  disam  kamzolde 
zök  vyle  ponysa  vandid-a? 
mugoryd  ve:§kyd,  bangyd  ispai, 
bagalma  bakf;aiyn  budid-a? 

„Das  Kamsol,  das  dich  kleidet,  ist  es  nicht  auf  dem  Tische 
zugeschnitten  ?Dein  Wuchs  ist  schlank,  dein  Gesicht  ist  schön; 
bist,  du  nicht  im  Apfelgarten  aufgewachsen?** 


1)  Max  Buch,  Die  Wotjäken.  S.  92  ff. 


—    355    — 

gufed^.  no  bordad  s^öd  pusnered, 
söd  pusÄer  pölyn  j^öd  suter; 
6  öd  suter  kaik  öinjosyd 
gord  namer  kaik  banjosyd. 

„Am  Bergesabhang  stehen  schwarze  Nesseln.  Zwischen 
den  schwarzen  Nesseln  steht  ein  schwarzer  Johannisbeerstrauch. 
Deine  Augen  sind  wie  schwarze  Johannisbeeren,  doch  dein 
Gesicht  wie  rote  Steinbeeren.** 

vod^.josydlen  no  d'amjosyz 
öalmo  öaö'ä  vafi  dyrja. 
nyrjosydlen  no  motorez 
d'yrazy  takja  vafi  dyrja. 

„Die  Wiesen  sind  schön,  so  lange  der  Sturmhut  blüht; 
die   Mädchen   sind  schön,   so   lange   sie   das   takja   tragen.**^) 

In  anderen  wotjäkischen  Liebesliedern  spricht  sich  starke 
Sinnlichkeit  aus;  das  Mädchen  zwar  ist  in  seinen  Gedanken 
noch  zart  und  einfach:  „Auf  euerem  Fenster  stehen  Rosen; 
die  Rose  aber  hat  nur  eine  Blüte.  In  diesem  Dorfe  gibt  es 
viele  Leute;  doch  nur  Einen  liebe  ich.**  Der  Jüngling  aber 
geht  gleich  auf  des  Äußerste  los : 

takja  id^.  jamdy  k'el'ysem 
kijady  azves  zundes  lüjesalke; 
nalpai^ko,  nalpasko  uk  vera^ky 
tunne  mynam  kunylam  lüsalytke. 

„Das  takja  auf  eurem  Kopfe  steht  euch  gut  zum  Gesicht; 
doch  besser  stände  euch  ein  silberner  Fingerreif.  Ich  denke 
und  denke,  doch  sage  ich's  nicht,  aber  heute  wirst  du  in  meiner 
Umarmung  sein.** 

kotyres  tyijyn  kyk  lud  Cö^, 
cal'  ybimy  no  kyk  Cosen; 
mamyk  no  tysak  gül'  mend'er 
fal'  id^.  omy  no  kyk  öo.^en. 


^)    Das    takja,     den    Kopfputz,     tragen     die   Mädchen     bis    zur    Ver- 
heiratung. 

23* 


—    356    — 

„Auf  dem  runden  See  zwei  Waldenten;  wollen  wir  zwei 
alsbald  sie  erschießen.  Ein  Daunenpfühl  und  ein  Kissen  aus 
Rosen;   wollen  wir  zwei   alsbald   darauf  schlafen.** 

§yn  vuedlen  kndi  ajaz 
gad'yz  öybor  vudor  vaÄ; 
p'eÄmyt  §üisa  mynytek  en  kil'y, 
toYedi  ke  evöl  kidiili  vaÄ. 

„Am  Flüßchen  Syny  steht  ein  Reiher  mit  bunter  Brust. 
Komm  und  achte  nicht  darauf^  daß  es  dunkel  ist,  wenn  es 
keinen  Mond  gibt,  so  gibt  es  doch  Sterne.** 

Man  besticht  das  Mädchen;  der  eine,  Brutalere,  mit  Geld; 
der  andere,  zartfühlend,  mit  Blumen : 

töd'y  keöpyly  pusjos  poni, 
keCpyjezly  evöl  tüjezly, 
ukno  vyJyjaz  t'enke  poni 
anajezly  evol  nylyzly. 

„Auf  die  weiße  Birke  schnitt  ich  Zeichen;  nicht  in  die 
Birke,  sondern  in  die  Rinde.  Aufs  Fenster  legte  ich  ein  Silber- 
geld; nicht  der  Mutter,  sondern  der  Tochter.** 

Kuzone  myni  b' ertöntem' 
kal'ämp'er  ba^ti  vuzantem, 
so  kal'ämp'efez  nyl'josly  soti 
odik  2yd  oknaz  id^.  ontem. 

„Ich  fuhr  nach  Kasanj,  nicht  um  wiederzukehren,  und 
kaufte  Nelken,  nicht  um  sie  zu  verkaufen.  Diese  Nelke  schenkte 
ich  den  Mädchen,  um  nicht  eine  Nacht  allein  zu  schlafen.** 

Das  sind  indessen  noch  schüchtern  keusche  Herzensergüsse 
im  Vergleich  zu  den  Liebesliedern  der  Russen,  die  wir  bei 
den  Hochzeitsgebräuchen  kennen  lernen  werden.  Die  russische 
Liebe  ist :  roheste  Wollust,  nur  physisch  und  brutal.  „En 
affaires  de  coeur,  les  Russes  sont  les  plus  douces  bötes  f^roces 
qu'il  y  ait  sur  la  terre,  et  leurs  g^ffes  bien  cach6es  n'ötent 
malheureusement    rien    ä    leurs    agT^ments,**^)   heißt   es   bei 


1)  Custine,  La  Russic  en  1839,    III  342. 


/ 


—    357    — 

Custine,  und  der  Engländer  Lanin  sagt^):  „Im  äußersten  Nor- 
den von  Europa  ist  die  Liebe  häufiger  ein  Gefühl  als  eine 
Leidenschaft  und  noch  häufiger  mehr  Appetit  als  Gefühl." 
Turgenjew  hat  in  „Rauch**  erklärt,  daß  die  epische  Literatur 
der  Russen  als  einzige  unter  allen  europäischen  und  asiatischen 
Literaturen  nicht  einmal  imstande  war,  ein  typisches  Paar 
von  zwei  Wesen,  die  sich  heben,  zu  schaffen.  Ein  klassisches 
Beispiel  der  russischen  Auffassung  von  der  Liebe  liefert  der 
Briefwechsel  Peters  des  Großen  mit  Katharina.  In  allen  diesen 
Briefen  ist  von  nichts  anderem  die  Rede  als  vom  Geschlechtsakt, 
und  wenn  die  Gatten  miteinander  zärtlich  sein  wollen,  so 
sprechen  sie  unverhüllt  von  ihren  intimsten  ehelichen  Geheim- 
nissen. Der  Zar  gratuliert  der  Zarin  zum  Geburtstag  des  Prin- 
zen Peter,  der  den  Kosenamen  Schischenka  führt.  Und  dar- 
auf antwortet  Katharina:  „Ich  bin  überzeugt,  daß  wenn  mein 
Alter  bei  mir  wäre,  dann  hätten  wir  im  nächsten  Jahre  einen 
neuen  Schischenka.**  Diese  ehemalige  livländische  Bauern- 
magd hatte  den  Charakter  der  Liebe  eines  Russen  richtig  er- 
faßt, und  ihrem  feinen  Verständnis  verdankte  sie  es  ohne 
Zweifel,  daß  sie  den  unbändigen  Gemahl  bis  an  sein  Lebens- 
ende an  sich  zu  fesseln  vermochte.  Die  andere  Katharina, 
die  Prinzessin  von  Zerbst,  konnte  oder  wollte  mit  Peter  III. 
nicht  nach  dieser  Methode  verfahren;  es  verflossen  die  ersten 
neun  Monate  der  Ehe,  und  die  junge  Frau  zeigte  keine  Spur 
einer  Schwangerschaft.  So  ward  es  nötig,  daß  Kaiserin  Eli- 
sabeth für  die  Gemahlin  ihres  Neffen  und  Thronfolgers  eine 
„Instruktion  für  die  Ehe**  ausarbeiten  lassen  mußte,  deren 
zweiter  Paragraph  besagte:  „Alle  Gelegenheiten  zu  Kälte  sind 
zu  vermeiden.  Ein  Erbe  kann  nur  durch  Liebe  und  eheliche 
Aufrichtigkeit  erzielt  werden.**  Nun  lernte  Katharina,  dem 
Befehle  der  Kaiserin  gehorchend,  zwar  schnell  die  russische 
Art  zu  lieben;  doch  nicht  der  Gemahl  war  der  Glückliche, 
der  von  ihrem  Eifer  profitierte. 


^)  Russische  Zustände,  II  53. 


—    358    — 


•42.  Hochzeitsbräuche  und  Hochzeitslieder 

der  Russen. 

Die  Neuvermählte  muß  dem  Gatten  die  Stiefel  ausziehen  —  Fürstliche  Hoch- 
zeitsbräuche —  Verheiratungen  der  Großfürsten  mit  Ausländerinnen  —  Ver- 
heiratungen der  Zaren  mit  Mädchen  aus  dem  Volke  —  Die  Heiraten  des  Zaren 
Wassili j  Jwanowitsch  —  Die  zwei  Heiraten  des  Zaren  Alexe j  —  Untersuchung 
der  Kandidatinnen  durch  Hebamme  und  Arzt  —  Schwindel  bei  Zaren- Ver- 
mählungen —  Strafe  für  solchen  Betrug  —  Die  List  eines  Günstlings,  um 
seiner  Protegierten  zur  Krone  zu  verhelfen  —  Hochzeitsbräuche  des  Volkes  — 
Ehezwang  —  Die  Brautleute  kennen  einander  nicht  —  Prüfung  und  Unter- 
suchung durch  Mittelspersonen  —  Das  Bad  am  Tage  vor  der  Hochzeit  — 
Verhüllung  der  Braut  —  Katoschichins  Klage  —  Das  Las  der  jungen  Frau 
im  Volkslied  —  Folgen  der  Emanzipation  der  Frau  —  Fortdauernde  Sitten 
der  Vergangenheit  —  Geheime  Ehe  —  Hochzeitsbräuche  der  Weißrussen  — 
Fruchtbarkeit  —  Potenz  des  Mannes  —  Obszöne  Hochzeitslieder  der  Klein- 
russen. 

Über  die  alten  Hochzeitsbräuche  der  Russen  ist  wenig 
bekannt.  Aus  der  Antwort  Rognedas,  der  Gemahlin  Wladimirs, 
an  ihren  Vater  Rochwold  Fürsten  von  Polozk  weiß  man  nur, 
daß  die  junge  Frau  verpflichtet  war,  am  ersten  Tage  nach 
der  Hochzeit  dem  Gatten  die  Schuhe  auszuziehen  i);  ein  Ge- 
brauch, der  noch  heute  nicht  bloß  bei  den  Tschuwaschen  an 
der  Wolga  und  anderen  finnischen  Völkern,  sondern  auch 
in  vielen  rein  russischen  Gegenden  vorhanden  ist. 

Die  älteste  Beschreibung  einer  fürstlichen  Hochzeit  betrifft 
die  Vermählung  der  jüngsten  Tochter  des  Großfürsten  Joan  III. 
von  Moskau.  Eine  ältere  Tochter  war  mit  einem  ausländischen 
Prinzen  unglücklich  verheiratet;  deshalb  wollte  der  Herrscher 
die  jüngste  und  geliebteste  in  seiner  Nähe  behalten,  und  ein 
Untertan  —  ein  seltener  Fall  —  wurde  zum  großfürstlichen 
Schwiegersohn  erwählt.  Die  Vermählung  der  Prinzessin  Feo- 
dosia  mit  dem  Fürsten  Chomlskij  fand  1506  statt.  Am  Hoch- 
zeitszuge nahmen  über  hundert  Fürsten  der  Hauptstadt  als 
Begleiter  des  Bräutigams  teü,  während  neben  den  Schlitten  der 


1)  Chronique  de  Nestor,  11    Anhang  133. 

2)  M.  3a6Li;min>,  pyccKift  Hapoj^»,  cxp.  117. 


-    359    — 

Großfürstinnen  griechische  und  russische  Bojaren  gingea.i) 
Spätere  Schilderungen  erwähnen  ausführlich  die  Gebräuche 
und  Festlichkeiten  bei  den  Hochzeiten  der  Großfürsten  und 
der  Thronfolger.  Die  russischen  Herrscher  zur  Zeit  der  Teil- 
fürstentümer vermählten  sich  mit  Töchtern  aus  regierenden 
russischen,  aber  auch  aus  ausländischen  Häusern,  besonders 
aus  Griechenland  oder  Polen;  die  Großfürsten  von  Moskau 
hielten  dieselbe  Regel  ein,  bis  Wassilij  Iwanowitsch  zuerst 
von  ihr  abwich,  indem  er  sich  eine  Braut  aus  den  Töchtern 
seiner  Untertanen  wählte.  Seinem  Beispiele  folgten  seine  Nach- 
kommen und  die  ersten  Zaren  aus  dem  Hause  Romanow. 
Der  Gebrauch  war  wohl  den  Byzantinern  entlehnt,  jedoch  auch 
von  der  Notwendigkeit  diktiert  worden:  Joan  III.  hatte  für 
seinen  Sohn  Wassilij  keine  Ausländerin  zu  werben  vermocht. 
Der  König  von  Dänemark  und  der  Markgraf  von  Brandenburg 
erteilten  demütigende  Absagen.  Mit  den  russischen  Fürsten, 
seinen  Nachbarn  und  Rivalen,  wollte  der  moskowitische  Groß- 
fürst keine  verwandtschaftlichen  Bande  knüpfen.  So  machte 
er  aus  der  Not  eine  Tugend.  Die  Romanows  hatten  gleiche 
Gründe :  Zar  Michael  sandte  Brautwerber  nach  Dänemark,  der 
König  aber  wollte  die  zarischen  Gesandten  nicht  einmal  emp- 
fangen. Später  allerdings  war  ernstlich  die  Rede  von  der  Heirat 
des  Grafen  Woldemar  Christian  Güldenlöwe,  Sohnes  des  Königs 
Christian  IV.,  mit  einer  Tochter  des  Zaren  Michael;  letzterer 
bot  eine  Mitgift  von  600000  Dukaten  bar,  die  zwei  Städta 
Susdal   und   Jaroslaw,    Kleider   und   Kleinodien.  2) 

Wenn  sich  ein  Zar  entschlossen  hatte,  eine  Zarin  oder 
Schwiegertochter  aus  dem  russischen  Volke  zu  erwählen,  so 
brachte  man  ihm  iiur  Auswahl  die  schönsten  Mädchen  aus  ganz 
Rußland  herbei.  Hebammen  untersuchten  die  Kanditatinnen 
aufs  genaueste  und  intimste,  3)  und  nur  jene,  die  die  Prüfung  be- 
standen hatten,  wurden  zur  engeren  Konkurrenz  zugelassen. 
Sobald  der  Zar  seine  Entscheidung  getroffen,  wurden  die  übri- 


1)  Karamsin,  VI  288. 

2)  Büsching  X  217. 

^)  IlBaiTL  3a6tjiHHB,   ÄOManiHHft   6uti»  pyccKHrB  uapHi^b,  MocKBa  1872. 
222,  245. 


—    360    — 

gen  Mädchen  mit  Offizieren  und  Würdenträgern  des  Hofes 
vermählt.  Während  der  Brautnacht  des  Zaren  mußte  sein 
Oberstallmeister  mit  entblößtem  Degen  unter  den  Fenstern 
des  Schlafzimmers  Wache  halten.  Am  Morgen  nach  der  Braut- 
nacht begab  sich  das  junge  zarische  Paar  ins  Bad.^)  Als 
Wassilij,  Sohn  des  Zaren  Joan  III.,  heiraten  sollte,  wurden 
fünfhundert  —  nach  anderen  fünfzehnhundert  —  Mädchen 
nach  Moskau  gebracht.  Aus  ihnen  wählte  man  zuerst  drei- 
hundert, dann  zweihundert,  dann  hundert  aus.  Von  den  hun- 
dert wurden  nur  zehn  zur  engeren  Konkurrenz  zugelassen,  und 
aus  diesen  zehn  erwählte  der  Großfürst  endlich  ein  Mädchen 
namens  Solomonia  zu  seiner  Lebensgefährtin.  2)  Ähnlich  ge- 
schah es  1526,  als  Wassilij  —  damals  schon  Selbstherrscher 
—  Elena  Glinskij  zur  Zarin  erhob.  Die  Festlichkeiten  bei  dieser 
Hochzeit  werden  von  den  Historikern  ausführlich  beschrieben.^) 
Als  die  Braut  in  den  Palast  des  zarischen  Bräutigams  geführt 
wurde,  trug  man  zwei  mit  Zobel  umwundene  Hochzeitskerzen  in 
Laternen  und  zwei  große  runde  Brote  vor  ihr  her.  Im  Ge- 
mache, wo  sie  den  Bräutigam  erwarten  mußte,  waren  zwei 
Sitze  aus  schwarzen  Zobeln  bereitet,  und  auf  einem  weiß- 
gedeckten Tische  stand  eine  Schüssel  mit  Semmeln  und  Salz. 
Nachdem  die  Braut  Platz  genommen,  rief  man  den  Bräutigam 
herbei  mit  den  Worten:  „Herr,  gehe  mit  Gott  ans  Werk!** 
Man  kämmte  dem  Bräutigam  und  der  Braut  die  Haare,  ent- 
zündete die  Hochzeitskerzen  an  Kerzen,  die  schon  am  Feste 
der  Erscheinung  Christi  gebrannt  hatten,  und  reichte  der  Braut 
eine  Kika  (KHKa,  Art  Kopfputz)  und  eine  Fata  ($aTa,  Art 
seidener  Schleier).  In  drei  Winkeln  des  Zimmers  lagen  auf 
einer  goldenen  Schüssel:  Hopfen,  Zobel,  einfarbige  sammetne, 
atlasne  und  damastne  Tücher  und  je  9  Geldstücke.  Mit  dem 
Hopfen  wurde  das  Brautpaar  bestreut  und  mit  dem  Zobel  an- 
gefächelt. Die  Tücher  verschenkte  man  an  die  Gäste.  Dann 
begab  man  sich  zur  Kirche.  Vor  der  Braut,  die  in  einem 
Schlitten   fuhr,   trug  man   Brot   und   Kerzen.     In   der   Kirche 


^)  Karamsin  VII  175. 

*)  Ebenda  VII  468,  Anmerkung.  173. 

8)  Ebenda  VII  176. 


—    361    — 

war  der  Weg  für  das  Brautpaar  mit  Damast  und  Zobel  belegt.' 
Die  vornehmste  Bojarin  reichte  dem  Metropoliten  eine  Flasche 
mit  feinstem  italienischen  Wein;  der  Metropolit  gab  zuerst  der 
Braut,  dann  dem  Bräutigam  zu  trinken,  hierauf  warf  er  die 
Flasche  zu  Boden  und  zertrat  sie.  Nach  der  Rückkehr  von 
der  Kirche  trug  man  die  Hochzeitskerzen  und  die  großen 
Brote  in  das  Schlafgemach  und  gab  sie  in  einen  mit  Weizen 
gefüllten  Scheffel.  In  den  vier  Ecken  des  Schlafgemachs 
lagen  Semmeln  und  Brote,  auf  Bänken  standen  zinnerne  Krüge 
mit  Honigwein.  Auf  dem  über  27  Korngarben  errichteten 
Brautbette  waren  zwei  Kissen,  zwei  Mützen,  eine  Marderdecke 
und  ein  Pelz.  Heiligenbilder  und  Kreuze  bedeckten  alle  Wände. 
Das  junge  Ehepaar  begab  sich  zu  Tische.  Man  brachte  einen 
gebratenen  Hahn  herbei,  den  wickelte  der  Bräutigamsführer  in 
ein  Tischtuch  und  trug  ihn  ins  Schlafgemach.  Hierauf  geleitete 
man  das  Paar  ebenfalls  dorthin.  An  der  Tür  lieferte  der 
vornehmste  Bojar  dem  Großfürsten  die  Großfürstin  aus,  die 
Frau  des  Schaf  fers  zog  zwei  Pelze,  einen  verkehrt^)  und 
einen  andern  richtig  an  und  streute  Hopfen  über  die  Neu- 
vermählten aus,  und  der  Bräutigamsführer  gab  beiden  Gatten 
vom  Hahne  zu  essen.  Dann  ließ  man  das  Paar  allein,  und 
der  Stallmeister  stieg  zu  Pferd,  um  unter  den  Fenstern  des 
Schlafgemachs  Wache  zu  halten. 

Die  Art,  wie  die  Zaren  die  Zarinnen  erwählten,  führte 
natürlich  zu  vielen  Versuchungen,  durch  fraudulose  Manöver 
diesem  oder  jenem  Mädchen  die  Krone  zu  verschaffen.  Als 
Alexej  zum  ersten  Male  heiraten  sollte,  wurde  der  Oheim 
einer  Aspirantin,  dem  man  auf  seine  Schliche  kam,  zur  Tortur 
mit  Knut,  Wippen  und  Feuer  verurteilt.  2)  Nach  langer  Prü- 
fung entschied  sich  Alexej  für  ein  Mädchen,  in  das  er  sich 
verliebt  hatte.  Aber  der  Günstling  Morosow,  der  ein  anderes 
Mädchen  zur  Zarin  erhoben  sehen  wollte,  bestach  die  Weiber, 
die  der  Erwählten  die  Hochzeitskrone  aufs  Haupt  zu  setzen 


^)  Auch  bei  dem  Volke  herrschte  der  Gebrauch,  daß  die  Schaf ferin,  die 
das  Brautpaar  zu  Bett  geleitete,  einen  Pelz  richtig  und  einen  anderen  verkehrt 
anzog.     Das  geschah  aus  abergläubischer  Vorsicht  vor  dem  bösen  Blick. 

2)  3a6fejmin>,  268. 


—  362    — 

• 

hatten,  und  diese  Frauen  rissen  das  Mädchen  so  heftig  an 
den  Haaren,  daß  es  ohnmächtig  wurde.  Man  hielt  die  Un- 
glückliche darauf  für  epileptisch,  und  ihr  Vater  wurde,  weil 
er  von  der  Krankheit  seiner  Tochter  nichts  gesagt  hatte,  ge- 
knutet  und  nach  Sibirien  verbannt;  der  Zar  aber  vermählte 
sich  nun  mit  der  Kandidatin  Morosows,  mit  Maria,  Tochter 
des  Elia  Miloslawky.  i)  Nach  dem  Tode  der  Zarin  Maria 
wiederholte  sich  das  aUe  Schauspiel  bei  der  zweiten  Heirat 
des  Zaren  Alexe j.  Diesmal  wurden  aus  allen  Enden  und 
Winkeln  des  Reiches  70  schönheitstrahlende  Jungfrauen  nach 
der  Kremljstadt  gebracht.  Die  zarische  Oberhofmeisterin  nahm 
die  Mädchen  in  Empfang  und  unter  ihre  Aufsicht  und  wies 
einer  jeglichen  ein  besonderes  Zimmer  im  zarischen  Schlosse 
an.  Sie  lebten  hier  lange  Zeit  das  Leben  des  Terem:  in 
völliger  Abgeschlossenheit  und  Monotonie,  die  weder  durch 
Handarbeiten  zerstreut  noch  durch  Lieder  erheitert  wurde. 
Tags  lauschten  die  Mädchen  zumeist  den  Erzählerinnen 
frommer  Legenden,  und  abends  träumten  sie  von  dem  großen 
Glücke,  das  eine  jede  für  sich  ersehnte.  Mittags  speisten 
alle  Kandidatinnen  zusammen  an  einer  großen  Tafel.  Reich- 
lich hatte  der  Zar  Gelegenheit,  die  Jungfrauen  zu  sehen.  Manch- 
mal verkleidete  er  sich  und  wartete  den  Fräulein  als  schlichter 
Speisenträger  auf,  um  unerkannt  die  Manieren  einer  jeden 
studieren  zu  können.  Allerdings  blieb  dies  den  jungen  Damen 
nicht  verborgen,  und  sie  nahmen  sich  in  acht.  Anders  war 
es  jedoch,  wenn  der  Zar  die  Mädchen  durch  Ritzen  und  Löcher 
in  den  einzelnen  Zimmerwänden  beobachtete.  Da  konnte  er 
eher  das  wahre  Wesen  derer  erkennen,  von  denen  sich  jede 
in  der  Hoffnung  wiegte,  Zarin  des  moskowitischen  Riesen- 
reiches zu  werden.  In  der  Nacht  erschien  Alexej,  begleitet  von 
seinem  Arzte,  in  den  Schlafstuben  und  ging  prüfend  entlang 
den  Betten  der  Schläferinnen.  Das  Ganze  war  diesmal  mehr 
eine  Förmlichkeit;  der  Zar  hatte  schon  gewählt,  und  nur  aus 
taktischen  Gründen  am  alten  Gebrauch  festgehalten.  Aber 
er  hütete  das  zarte  Geheimnis,  bis  die  Stunde  der  Verkündi- 
gung schlug.    Eines  Tages  rief  er  endlich  die  Oberhofmeisterin 


1)  Reise  nach  Norden,  1706.    S.  131. 


—    363    — 

und  befahl  ihr:  ,^Laß  für  69  der  Jungfrauen  prächtige  Kleider 
verfertigen,  das  prächtigste  aber,  das  Brautkleid,  für  die 
siebzigste,  deren  Namen  du  am  Wahltage  erfahren  wirst.  Denn 
gewählt  habe  ich  aus  dem  wundersamen  Kranze  die  köstlichste 
Blume.  Neunzehnmal  habe  ich  die  Frauengemächer  durch- 
wandert. Tage  und  Wochen  hindurch  habe  ich  das  Wesen 
einer  jeglichen  beobachtet,  aber  keine  übertraf  die  eine,  die 
nun  der  Wunsch  meines  Herzens  ist.**  Und  als  der  Morgen 
des  17.  Februar  1669  die  Kuppeln  des  Kremls  vergoldete,  und 
die  Oberhofmeisterin  mit  dem  Brautkleide  vor  dem  Zaren 
erschien  und  fragte,  wem  sie  es  bringen  solle,  da  erwiderte 
Alexej :  „Geh  zu  Natalia,  der  Tochter  des  Kyrill  Naryschkin, 
und  huldige  ihr,  deiner  Zarin.**  Und  wenige  Stunden  später 
ward  die  Auserwählte  feierlich  mit  Alexej  getraut;  die  andern 
69  Jungfrauen  aber  zogen,  reich  beschenkt,  heim  in  ihre  Häuser 
und  Hütten. 

Die  einfachen  Russen  konnten  nicht,  wie  der  Zar,  ihre 
Zukünftige  vor  der  Ehe  kennen  lernen.  Bemühte  sich  ein 
Heiratskandidat,  die  zukünftige  Lebensgefährtin  zu  Gesicht  zu 
bekommen,  so  gaben  ihm  ihre  Eltern  zur  Antwort:  „Er- 
kundige dich  bei  rechtschaffenen  Leuten  nach  ihrl**i)  Er 
mußte  sich  also  einer  Vermittlung  bedienen,  und  die  Ver- 
mittlerin hatte  die  Pflicht,  sich  im  Interesse  ihres  Auftrag- 
gebers die  Braut  ordentlich  anzusehen.  „Die  meiste  Heyrathen 
der  Russen  werden  durch  dritte  Personen  geschlossen  /  und 
ohne  grosse  Ceremonien  verrichtet:  Fünff  oder  sechs  Freun- 
dinnen desjenigen  /  der  sich  um  eine  Jungfrau  bewirbt  /  be- 
sehen sie  gantz  nackt  /  ehe  er  sich  mit  ihr  verspricht  /  und 
wenn  sie  einen  Leibes-Gebrechen  hat  /  so  ermangelt  sie  nicht  / 
solchen  auffs  beste  /  als  ihr  möglichen  ist  /  zu  corrigiren; 
Allein  er  bekömt  sie  fast  niemaln  zu  sehen  /  ohne  wann  er 
mit  ihr  in  der  Cammer  ist  /  da  die  Heyrath  vollzogen  werden 
soll.*' 2)  Ein  anderer  Beobachter  der  russischen  Zustände  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  erzählt,  daß  auch  der  Bräutigam  von 
Seiten  der  Verwandtschaft  der  Braut  einer  Prüfung  unterzogen 


1)  Karamsin,  VII  172. 

*)  Reise  nach  Norden,  S.  124. 


—    364    — 

wurde :  „Gefället  der  Vorschlag  denen  Eltern  /  so  lassen  sie 
die  Partheyen  /  welche  sie  mit  der  Ehe  vereinigen  wollen  / 
von  beyder  Seite  visitiren  /  um  zu  erfahren  /  ob  sie  nicht 
etwa  wichtige  Mängel  an  sich  haben  ?**^)  Fand  man  weder  an 
der  Braut  noch  an  dem  Bräutigam  etwas  auszusetzen,  so 
schlössen  die  Eltern  ohne  weitere  Befragung  der  Kinder  den 
Heirats  vertrag  ab.  Die  Mitgift  bestand  bei  reicheren  Leuten 
in  Kleidern,  kostbarem  Schmuck,  Pferden,  Leibeigenen.  Was 
aber  Freunde  und  Verwandte  der  Braut  dieser  schenkten,  mußte 
der  junge  Ehemann  ihnen  nach  der  Hochzeit  mit  Geld  bezahlen 
oder,  falls  er  dies  nicht  wollte,  wieder  zurückgeben.  2)  „Sobald 
der  Hochzeitstag  bestimmt  ist,  wozu  man  gemeiniglich  den 
Sonntag  erwählet,  so  wird  die  Braut  den  Sonnabend  vorher 
von  ihren  Gespielinnen  ins  Bad  geführt.  Sie  ist  mit  Bändern 
und  Blumen  geziert,  und  wird  von  einem  Haufen  junger  Mädgen 
begleitet,  die  sie  unter  beständigem  Tanzen  und  singen  bis 
an  die  Badstube  führen.  Der  Bräutigam  folgt  seiner  Braut 
von  ferne,  und  geht  endlich  auch  in  eine  andere  Badstube.**  5) 
Am  Hochzeitstage  begibt  sich  die  Brautwerberin  „nach  des 
Bräutigams  Hause:  Sie  machet  darinnen  das  Hochzeit-Bett 
auf  40.  sauber  in  Ordnung  gelegte  Korn-Garben*)  /  auf  wel- 
chen der  Bräutigam  vorher  geruhet  hat.  Um  dieses  Bett  herum 
setzet  man  einige  mit  Weitzen  /  Gersten  und  Haber  angefüUete 
Tonnen  /  um  den  Überfluß  /  so  man  denen  jungen  Eheleuten 
wünschet  /  anzudeuten.  Wenn  nun  alles  zubereitet  ist  /  so 
begiebt  sich  der  Bräutigam  /  samt  seiner  gantzen  Familie  / 
und  dem  Popen,  der  sie  trauen  soll  /  nach  dem  Hause  seiner 
Braut.  Die  nächsten  Anverwandten  des  Bräutigams  setzen 
sich  erstlich  zu  Tische  /  und  hernach  der  Bräutigam  /  nach- 
dem er  einen  jungen  Knaben  /  welchen  man  /  nach  der  Ge- 
wohnheit des  Landes  /  an  seine  Stelle  gesetzet  hatte  /  durch 
einige   Geschencke   /  weggewiesen.      Wenn   er   sich    nun   ge- 


^)  Religion  der  Moscowiter,  S.  92. 

^)  Karamsin.  ja.  a.  O. 

^)  Russische  Anecdoten,  158. 

*)  Nach  3a6bLTHHT>,  pyccicift  napo;a:L  erp.  160:  auf  21  Garben.  Die  Korn- 
Garben  des  zarischen  Brautbettes  betrugen  bloß  27  Stück,  wie  früher  gesagt 
vmrde  (S.  361). 


—    365    — 

setzet  hat  /  so  bringet  man  die  Braut  /  welche  herrlich  und 
prächtig  geschmücket  /  aber  mit  einem  Schleyer  bedecket  ist  / 
und  welche  sich  /  ohne  sich  aufzudecken  /  bey  ihm  setzet. 
Zwischen  dem  Bräutigam  und  der  Braut  hänget  eine  Gardin  von 
rothem  Taffet  /  so  von  zween  jungen  Knaben  gehalten  wird  / 
damit  sie  einander  nicht  sehen  können.  Unterdessen  känunet 
sie  die  Schwacha  des  Bräutigams  /  drehet  oder  flechtet  ihr 
die  Haare  /  wovon  sie  zwo  Flechten  machet  /  und  setzet  ihr 
eine  von  sehr  dünnem  Golde  gemachte  /  und  mit  Perlen  und 
Edelgesteinen  besetzte  Krone  /  auff  den  Kopff  /  und  lasset 
sie  also  sitzen  /  ohne  ihr  den  Schleyer  wieder  auffzulegen. 
Eben  diese  Schwacha  kämmet  auch  den  Bräutigam  /  und 
nimmt  hernach  den  rothen  taffeten  Vorhang  weg.  Alsdann  ist 
die  Braut  schuldig  ihre  Backen  neben  dem  Gesichte  ihres 
Bräutigams  zu  halten  /  und  müssen  beyde  in  solcher  Positur 
sich  in  einem  Spiegel  besehen  /  und  einander  Kennzeichen 
ihrer  Liebe  /  durch  ein  verliebtes  und  freundliches  Lächeln  / 
geben."  1) 

Kotoschichin,  den  ich  schon  mehrfach  als  autoritativen 
Zeugen  für  die  russischen  Sitten  des  siebzehnten  Jahrhunderts 
zu  zitiren  Veranlassung  hatte,  klagt  über  die  abgefeimten  Be- 
trügereien, mit  denen  man  den  Bräutigam  anschmierte:  „Ver- 
ständiger Leser,**  ruft  dieser  für  seine  Epoche  radikal  fort- 
schrittlich gesinnte  Russe  aus,  „unzweifelhafte  Wahrheit  ist  es, 
daß  nirgends  in  der  ganzen  Welt  dergleichen  Betrug  mit 
Mädchen  vorkommt  wie  in  unserem  moskowitischen  Lande. 
Denn  die  Gewohnheit,  bei  Zeiten  und  in  eigener  Person  seine 
Braut  zu  sehen  und  zu  sprechen,  wie  in  anderen  Ländern  üblich, 
ist  bei  uns  nicht  eingeführt.** 

Von  alter  Zeit  her  heißt  bezeichnenderweise  die  Braut 
im  Russischen,  wie  auch  in  den  übrigen  slavischen  Sprachen: 
newesta   (neBicTa),    die  Unbekannte.  2)    Im  Kreise  Gadiatsch, 


^)  Religion  der  Moscowiter,  S.  97. 

2)  Vgl.  über  dieses  Wort  Rhamm  a.  a.  O.  271.  Ebendort:  ,,Nevesta 
heißt  die  Braut  und  auch  die  junge  Frau  vielfach  mit  Hinblick  auf  ihr  Verhält- 
nis den  Verwandten  des  Gatten  gegenüber :  gar  vielfach  nennen  nur  die  Schwie- 
gereltern die  Schwiegertochter,  die  Geschwister  des  Mannes  ihre  neue  Schwägerin 
uev^sta.     Dies  wird  der  ursprüngliche  Sprachgebrauch  sein,  und  in  unent- 


—    366    — 

Gouvernement  Poltawa,  begrüßen  die  Verwandten  des  Bräuti- 
gams, wenn  die  Braut  das  Elternhaus  verläßt,  um  in  die 
Wohnung  des  Bräutigams  zu  übersiedeln,  mit  diesem  Lied 
,,das  fremde  Kind**: 

Bhkothjih,  bhkothjih  cMOJiaHyK)  6o^Ky, 
BHCsaTajiH,  BncBaTajiH  b  nana  cBaxa  AO^Ky: 
Ta  nocTejieM  Kyjib,  KyjiB 
Ta  aacTpoMHM  xyS,  xyö  .  .  . 

UJfi    CXO^eMO,    TG    Ä   3po6HMO 

"^yacoMy  ähtatü  .  .  .^) 

Wir  schleppen  heraus,  wir  schleppen  heraus  ein 

geteertes  Faß, 

Wir  heiraten,  wir  heiraten  das  Töchterchen  des 

Herrn  Vaters  der  Braut, 

Wir  breiten  aus  einen  Sack,  einen  Sack, 

Wir  stoßen  hinein  den  Schwanz,  den  Schwanz  .  .  . 

Was  wir  wollen,   das  tun  wir  auch 

Dem  fremden  Kinde  I 

Der  Mann,  der  die  Katze  im  Sack  kaufen  muß,  hat  Grund 
genug  zu  einer  Klage  wie  der  nachfolgenden,  in  der  er  die 
ganze  Tragik  des  Heiratszwanges  zum  Ausdruck  bringt  2): 

„Sitz  nicht.  Liebste,  spät  am  Abend  auf, 
Laß  nicht  brennen   Licht   von  heißem  Wachs, 
Harre   du   nicht  mein   um  Mitternacht. 


wickelten  gesellschaftlichen  Verhältnissen  ist  es  ja  wohl  ganz  denkbar,  ohne 
daß  man  gleich  eine  Entführung  annehmen  muß,  daß  die  Braut  ihren  neuen 
Verwandten  bis  zur  Hochzeit,  oder  gar  bis  zur  Ankunft  in  ihrem  neuen  Heim 
unbekannt  blieb.  Darauf  scheinen  auch  verschiedene  Hochzeitsgebräuche  zu 
deuten,  wonach  bei  der  Hochzeit  die  Verwandten  des  Bräutigams  die  ver- 
mummte Braut  zu  erkennen  haben".  (Zubaty,  Archiv  für  slawische  Philologie 
XVI:  Slawische  Etymologiecn,  Nr.  41).  —  Siehe  später  den  weißnissischen 
Hochzeitsbrauch. 

^)  KgvjTrddia  V  37. 

*)  Großpietsch ,  Hochzeitsgebräuche  des  russischen  Landvolks.  Rus- 
sische Revue,  X,  XT,  XH.  —  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur, 
S.  28.  29. 


—    367    — 

Also  hat  mein  eigner  Vater  es  gewollt. 
Also  hats  befohlen  mein  lieb  Mütterlein: 
Daß  ich  freien  soll  eine  andre  Frau, 
Muß  mich  trauen  wohl  mit  der  andern  Frau ; 
Ach,  die  andre  Frau  ist  mein  früher  Tod, 
Ja,  ein  früher  Tod,  ein  gewaltsamer  .  .   .  .** 

Und  sie  sitzet  nicht  spät  am  Abend  auf. 
Doch  es  brennet  Licht  und  das  Wachs  ist  heiß : 
Auf  dem  Tische  steht  der  frische  Sarg  von  Holz  — 
In  dem  Sarge  liegt  das  arme  junge  Blut. 

Ist  die  Braut  dem  Manne  die  Unbekannte,  so  ist  er  ihr 
nicht  weniger  der  Fremdling,  Tschuschenin  (lyaceHHffb),  oder 
auch  der  fremde  Fremdling^)   (Hy»iÄ  nyaceliHH'B). 

Ach,  den  ich  treu  geliebet. 
Der   steht   hinterm   Tor, 
Den   ich  aber   nie  gekannt, 
Dem  reicht'  ich  meine  Handl 

In  der  Familie  des  Fremdlings  ist  das  Los  der  jungen 
Frau  gewöhnlich  hart.  Die  Schwiegertochter  ist  oft  nichts 
anderes  als  die  Magd  der  Schwiegereltern: 

Der  fremde  Vater,  die  Mutter, 
Sind  ohne  Mitleid  geboren, 
Wecken  früh  mich  des  Morgens, 
Lassen  spät  mich  zur  Ruhe 

heißt  es  in  einem  der  innigsten  Lieder.  „Grimmig"  ist  das 
stehende  Epitheton  ornans  des  Schwiegervaters,  „böse**  das 
der  Schwiegermutter.  Die  Schwiegereltern  heißen  „die  von 
Gott  gegebenen";  der  Glaube  des  russischen  Volkes  ist  ein 
durchaus  fatalistischer.  Bitter  klagt  die  junge  Frau  über  ihr 
Schicksal  in  folgendem  Vergleich: 

Vom  Flüßchen  flog  ein  Entchen, 
Es   flog  herbei   ein  graues, 
Aufs   stürmische   blaue   Meer. 


')  Im  Lettischen  heißt  heiraten,  auf  das  Mädchen  bezogen:  tautas  et, 
in  die  Fremde  gehen;  der  Bräutigam:  tautetis,  der  Fremdensohn  (Rhamm  271). 


—    368    — 

Es  wußte  nicht  das  Entchen, 
Es  wußte  nicht  das  graue, 
Wohin  sich's  setzen  sollte. 
Vorm  Wirbelwind  sich  bergen. 
Die  Gänse  begannen  zu  beißen, 
Das   Entchen  laut   zu   schreien: 
Ach  du  mein  Fluß,  mein  Flüßchen, 
Mein  Flüßchen  du,  mein  stilles  I 
Hätt'  ich  gewußt,  hätt'  ich  bedacht 
Solch  Wetter  über  mir, 
Nicht  hätt*  ich  dich  verlassen! 

Es  gibt  jedoch  einen  Trost  für  die  junge  Frau  in  der 
„Fremde**.  Ein  kleinrussisches  Lied  aus  dem  Kreise  Gluchow 
des   Tschernygowschen   Gouvernements^)   erzählt   davon: 

y  cafl,!  ÄöpeBO  OTTaKe  BejmKe! 
Ha  eMy  rijiBJie  OTTaKe  Kynepase! 
Ha  eMy  «HCTBTe  OTTaKe  innpoKe! 
Ha  @My  niHinKa  OTxaRa  AOBra!  .  . 
„A  TH,  mnmKa  moh! 
Th  noTimKO  Moa! 
Ha  ^»iÄ  CTopoHi  — 
HoKijiB  acHBa  6yAy, 
Te6e  ne  aaGy^yl" 

Im  Garten  der  Baunx  ist  so  groß  wie  das  Ding! 

Seine   Zweige   sind   gekräuselt   wie   das   Dingl 

Seine   Blätter  sind   so   breit   wie   das   Dingl 

Sein  Apfel  ist  so  lang  wie  das  Dingl  .  .   . 

„Ach    du,  Apfel  mein, 

Du  Vergnügen  mein! 

Im  fremden  Lande, 

Solang  ich  lebe, 

Vergeß  ich  nicht  deini**  , 

Als  Peter  der  Große  die  Frau  emanzipierte,  griff  er  mit 
seinen  Reformen  tief  ins  Familienleben  ein  und  verbot  den 


^)  KQVJixddia   V  124. 


—    369    — 

Ehezwang.  Im  achtzehnten  Jahrhundert  sehen  wir  daher  schon, 
daß  ein  Bräutigam  verlangen  kann,  man  solle  ihn  mit  der 
Braut  persönlich  bekannt  machen.  Man  nannte  diese  Zu- 
sammenkunft des  Paares,  die  zwar  erst  nach  den  Abmachungen 
zwischen  den  Eltern,  aber  noch  ohne  Verbindlichkeit  für  den 
eventuellen  Bräutigam  oder  die  Braut  erfolgte,  die  kleine 
Smotrenije  (cMOTpinie,  Beschauung):  Der  Bräutigam  kam  in 
Begleitung  seiner  besten  Freunde  in  das  Haus  der  Braut,  die 
sich  in  Gesellschaft  ihrer  Freundinnen  befand  und  ihrem  Zu- 
künftigen ein  Schälchen  Branntwein  präsentierte,  i)  Seither 
ist  es  zu  völliger  Freiheit  im  Verkehr  der  Geschlechter  und 
sogar  zu  der  Einrichtung  von  Heiratsmärkten  gekommen,  wie 
wir  bereits  aus  einem  früheren  Abschnitt  wissen.  Doch  sind 
von  den  alten  Zeremonien  viele  mehr  oder  weniger  unver- 
ändert bis  heute  geblieben: 

In  vielen  Gegenden  dürfen  die  Brautleute  bei  dem  Hoch- 
zeitsmahl nichts  essen;  und  „die  Braut  verhüllt  während  der 
ganzen  Dauer  der  Hochzeit  ihr  Antlitz  mit  einer  langen  breiten 
weißen  Decke,  weil  sie  sich  schämt.**  2)  Ebenso  hat  sich, 
namentlich  bei  den  Bauern,  die  Sitte  erhalten,  die  Töchter  mög- 
lichst bald  zii  verheiraten;  denn,  wie  es  im  Gouvernement 
Kostroma  heißt :  „Für  die  erwachsene  Tochter  ist  in  dem 
elterlichen   Hause  kein  Raum.*'^) 

Im  Gouvernement  Perm  werden  die  Jünglinge  schon,  so- 
bald sie  das  achtzehnte  Lebensjahr  erreicht  haben,  für  voll- 
kommen heiratsfähig  gehalten;  man  findet  dort  selten  ledige 
Männer  im  Alter  von  mehr  als  fünfundzwanzig  Jahren;  un- 
beweibt bleibt  nur  der  Ärmste.     Die  Väter  suchen  je  früher 


^)  Nachrichten  von  der  Stadt  Archangel  und  umhegenden  Gegend. 
Aufgesetzt  1764.     Büschings  Magazin  IV,  S.  503. 

-)  3TH0i'pa(J)ii'iecKilt  cöojmiiirb  I  189  (aus  Nischny  -  Nowgorod)  und  V  71 
(aus  Kursk).  —  Rhamm  a.  a.  O.  276. 

3)  Aus  dem  Gouvernement  Kostroma.  IloKpoBCKiÄ,  0  ccMettHOMi.  noJio- 
HxOHiö  KppcTbHHCKott  HceHHuiHU  BTL  Kocip.  Fyö.  iKoBaH  CiapHHa  VI.  Vgl. 
Rhamm  186.  —  Vgl.  femer:  CyMUOBi,  0  CBaaeÖHtin»  oC)pfljUiirb;  CyMUOBi», 
KvjiBTvpH.  oepesKiiBaHifl.  —  M.  3a6buiiDn>,  PyccKifl  uapoA'B  114 — 181  CBaÄt^Htio 
uopfl^iij  II  oöu'ian;  538 — 561:  CTapHHHHa  >KeuHTi/)hi  n  cBaAböw, 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  RußUnd.    **  24 


—    370    — 

je  besser  Schwiegertöchter  zu  bekommen^  um  eine  Arbeiterin 
mehr  im  Hause  zu  haben. 

Die  Braut  muß  weinen,  heißt  es  allgemein.  Das  Wei- 
nen ist  ein  Beweis  ihrer  Keuschheit.  Ein  altes  russisches 
Sprichwort  sagt:  He  njiaHeni&  3a  ctojiom^,  6yAeiiiB  imaKaTB 
8a  CTOJiGoM'B^) ;  weinst  du  nicht  beim  Hochzeitstische,  so  wirst 
du  weinen  am  Schandpfahl.  —  Trauer  oder  Angst  soll  mit  dem 
Weinen  jedenfalls  nicht  dokumentiert  werden.  Im  Kreise  So- 
lotonoscha  des  Gouvernements  Poltawa  singt  man  bei  den 
Hochzeitsfesten  der  Kleinrussen: 

„E  e,  ^H  He  imaHem — th? 

I  MaTepi  HH  He  cKaHcem — th?**  — 

„KojiH — 6  a  CKaaajia, 

To  a— 6  To6i  fi  ho  ÄaBajia!"^) 

Pie  Braut,  die  weinende,  wird  gefragt: 

„Eh,  eh,  warum  weinest  du? 
Wohl   der  Mutter  klagst   es  du?**   — 
„Wollt  ich  mich  bei  ihr  beschweren, 
Würd*  ich  es  dir  nicht  gewähren,** 

lautet  die  Antwort. 

Den  Bräutigam  und  die  Braut  nennt  man  allgemein  Fürst 
und  Fürstin.  Im  Dorfe  Burschtschewa  an  der  Wolga,  im 
Nerechotsker  Kreise  des  Gouvernements  Kostroma,  begrüßt 
man  das  Brautpaar  und  die  Eltern  mit  diesen  Worten: 

Bbk)  'lejiOM'b  6aHK0, 
6bK)  nejiOM'B  MaHKa, 

KT>    HOBOÖpaHHOMy    KHa3K), 
KB   MOJIOÄOii   KUHrnHi  .   .  .^) 

„Ich  neige  mich  vor  dem  Vater,  der  Mutter,  dem  neu- 
vermählten Fürsten  und  der  jungen  Fürstin!'*   — 

Im  Tschernigowschen  Gouvernement  singen  die  Klein- 
russen  ein   Hochzeitslied,    in    dem    es    heißt: 


1)  SaÖMJIHHT,  120. 

2)  KQVjnddta   V  52.  No.  XVIII. 
^)  daöbuniH'L,  121. 


—    371    — 

y  nonoBiM  rpe^iu 
6apaHT>  Ha  OBe'I^i, 
a  KiHb  Ha  Ko6HJii, 

a   KHaSB   Ha   KHflPHHi.^) 

In  des  Popen  Buchweizen 
Ist  ein  Bock  auf  der  Ziege, 
Ein  Hengst  auf  der  Stute, 
Und  der  Fürst  auf  der  Fürstin. 

Bei  der  Beschreibung  der  Heirat  Wassilys  war  erwähnt, 
daß  man  dem  jungen  Gatten  beim  Eintritt  in  das  Brautgemach 
einen  gebratenen  Hahn  überreichte.  Dieser  Gebrauch  war 
schon  bei  den  heidnischen  Litthauem  bekannt :  man  legte  dem 
jungen  Gatten  am  ersten  Morgen  nach  der  Brautnacht  ein 
gebratenes  Rebhuhn  aufs  Bett;  er  zerteihe  es  und  gab  ein 
Stück  davon  seiner  jungen  Gemahlin  zu  essen.  2)  Beim  Volke 
in  Moskau  schenkte  man  dem  jungen  Ehepaare  früher  einen 
Schwan,  jetzt  begnügt  man  sich  mit  der  Darbringung  einer 
Gans.  In  einigen  Gegenden  der  Ukraine  wird,  aber  erst  am 
Ende  der  Hochzeitsfeste,  ein  lebender  Hahn  oder  ein  lebendes 
Huhn  geopfert,  so  beispielsweise  imGluchower  Kreise  des  Tscher- 
nygowschen  Gouvernements.  3)  Die  Hochzeit  findet  gewöhnlich 
am  Sonntag  statt ;  am  Montag  nimmt  nun  der  Bräutigamsführer 
das  von  der  jungen  Frau  aus  ihrem  Eltemhause  mitgebrachte 
Huhn  und  bittet  die  Heiratsstifter  um  den  Segen  zum  „Opfer 
der  Stärke";  dann  bindet  er  dem  Huhn  die  Füße  und  die 
Flügel  los,  reißt  aus  dem  Schwanz  oder  den  Flügeln  eine  starke 
Feder  heraus  und  tötet  das  Tier,  indem  er  ihm  die  Feder  ins 
Genick  bohrt.  Hierauf  legt  man  das  tote  Huhn  auf  eine  Sänfte 
und  trägt  es  auf  den  Hof.  Hier  rupft  man  es,  wobei  man 
Flaiun  und  Federn  in  die  Luft  wirft  oder  verbrennt.  Dann 
bringt  man  es  ins  Haus  zurück,  wäscht  es  und  läßt  es  im 
Ganzen  kochen,  ohne  es  mit  dem  Messer  auch  nur  zu  berühren. 
Sobald  es  fertig  gekocht  ist,  schmückt  man  es  mit  Bändern, 


1)  KQvmddia  V  44.  No.  IX. 

^)  Bei  den  Deutschen  im  Mittelalter  bestand  eine  ähnliche  Sitte. 

^)  KQVJtrddia  V  129. 

24* 


—    372    — 

HoUunder  und  Immergrün,  und  trägt  es  zu  den  Eltern  der 
jungen  Frau.  Man  legt  es  auf  den  festlichen  Tisch  und  „ver- 
teilt das  Fleisch  der  Stärke";  den  Kopf  gibt  man  der  Mutter 
der  Neuvermählten  mit  den  Worten:  „Du,  du  bist  das  Haupt 
alles  dessen,  was  geschieht;  dir  gebührt  der  Kopfl"  Darauf 
wird  das  Hintere  abgeschnitten,  das  bekommt  der  Vater,  und 
man  sagt  ihm :  „Und  du,  Väterchen,  der  du  dich  meistens  um 
die  Pisda^)  herumdrehst,  dir  gehört  dies!**  Sobald  das  letzte 
Stück  verteilt  ist,  schleudert  man  den  Topf  an  die  Türpfosten 
und  zerschmettert  ihn  mit  dem  Rufe:    „Für  die  Raben!** 

Originelle  Hochzeitsbräuche  kann  man  im  Permschen  Gou- 
vernement kennen  lernen.  Wenn  man  die  jungen  Eheleute 
ins  Schlafzimmer  bringt,  überreicht  man  ihnen  außer  dem 
Hochzeitsvogel  auch  eine  Fischpirogge  (nnpcFB,  Pastete),  die 
sie  zusammen  essen  „zum  Zeichen  dessen,  daß  sie  Mann  amd 
Weib  sind,  und  fortan  in  Einigkeit  leben  und  ein  und  dasselbe 
Brot  essen  werden.**  Hierauf  zieht  die  Gattin  in  Gegenwart 
der  Eltern  beider  und  der  Gäste  dem  jungen  Ehemanne  die 
Stiefel  aus  und  nimmt  dabei  einige  Münzen,  die  sich  im  rechten 
Stiefel  befinden,  an  sich.  Mit  dem  Schuh-Ausziehen  anerkennt 
sie  den  Beginn  ihrer  Untertänigkeit  und  ihres  Gehorsams  gegeii 
den  Mann.  Nach  dieser  Zeremonie  ziehen  sich  die  Anwesen- 
den zurück  mit  Ausnahme  des  Weschliwez  (B'feacjiHBeu.'B,  wörtlich : 
der  Artige,  hier  der  Zerenionienmeister  und  Bräutigamsführer) 
und  der  Swacha  (csaxa,  Frei  werberin).  Die  beiden  letzteren 
richten  an  die  Braut,  nachdem  sie  sich  bis  aufs  Hemd  entkleidet 
hat,  die  Aufforderung,  den  Bräutigam  zu  umarmen,  zu  küssen 
und  zu  Bett  zu  bringen;  nach  einer  weiteren  Aufforderung 
legt  sie  sich  auch  hinein.  Die  Swacha  beginnt  vor  Freude 
zu  weinen,  während  der  Weschliwez  das  Paar  zurechtrückt,  mit 
der  Bettdecke  bedeckt  und  um  das  Brautlager  herumgehend 
Glückwünsche  und  Segenswünsche  flüstert.  Dann  läßt  man 
die  Glücklichen  endlich  allein.  2) 

Bei  den  Kleinrussen  in  der  Ukraine  begibt  sich  die 
junge  Frau  zunächst  bloß  mit  ihren  Frauen  in  die  Komora, 
das  Brautgemach.    Sie  wird  von  ihnen  gänzlich  entkleidet,  darf 


^)  TTH3,ia,  Ordinäre  Bezeichnung  des  weiblichen  Geschlechtsteils. 
^)  3a6huniirb  154. 


—    373    — 

weder  Hemd  noch  Ringe  oder  Ohrgehänge  anbehalten;  die 
Weiber  untersuchen  sie  aufs  Peinlichste,  ob  ihr  nicht  ein  böser 
Feind  oder  eine  hinterlistige  Rivalin  geheimnisvolle  Knoten 
angezaubert  hat,  um  sie  unfruchtbar  zu  machen;  man  wendet 
besondere  Aufmerksamkeit  den  Haaren  in  den  Achselhöhlen 
und  den  Schamhaaren  zu.  Sobald  diese  Prozedur  zur  Zu- 
friedenheit beendet  ist,  bekleidet  man  die  Neuvermählte  mit 
einem  ganz  neuen  Hemde  und  ruft  nunmehr  den  jungen  Gatten 
herein,  der  in  Begleitung  des  Druschko,  wie  hier  sein  Ehren- 
kavalier heißt,  kommt.  Zunächst  zieht  die  junge  Frau  ihrem 
Manne  die  Stiefel  aus.  Dann  entkleiden  ihn  der  Druschko 
und  die  Weiber  vollständig  und  man  untersucht  ihn  ebenfalls 
aufs  Genaueste  daraufhin,  ob  ihm  nicht  seine  Gegner  Knoten 
angewünscht  haben,  um  ihn  impotent  zu  machen.  Schließlich 
fordert  man  das  Paar  auf,  zu  Bette  zu  gehen,  und  entfernt  sich 
mit  den  Worten:  „Tummelt  euch,  macht's  nicht  zu  lange I**^) 
Charakteristisch  ist  die  in  ganz  Rußland  —  namentlich 
aber  bei  den  Großrussen  —  bekannte  heimliche  Ehe  (TaSna« 
CBaABÖa),  auch  Flüchtlingsehe  (6irJiaa  CBaABÖa)  oder  Selbstver- 
bindung (caMOKpyTKa)  genannt,  weil  sie  ohne  Befragung  der 
Eltern  geschlossen  wurde.  Aber  das  junge  Paar  verlangt  schon 
gleich  nach  d^r  Trauung  den  Segen  der  Eltern. 

Ward  abends  das  Mägdelein  heimlich  verlobt, 
Gen   Mitternacht   heimlich  entführet. 
So  ist's  bei  der  Morgendämmerung 
Im  Herzen  schon  sichtlich  gerühret. 
Es  eilet  zu  Vater  und  Mutter  nach  Haus 
Und  bittet  sich  ihre  Vergebung  aus. 
Will  gerne  als  reuige  Tochter  nun 
Sich  unterwerfen  und  Buße  tun. 

Man  begibt  sich  also  zu  den  Eltern,  fällt  auf  die  Knie, 
bittet  um  Verzeihung  und  steht  erst  auf,  wenn  das  Flehen  die 
Herzen  der  Erzürnten  gerührt  hat.  Man  nennt  diese  Zere- 
monie :  poklonitjsa  (noKJlOHHTBCH,  sich  unterwerfen).  In  einigen 
Gouvernements  an  der  Wolga  gibt  der  Vater  der  Braut  den 


*)  KQv:ijd8ia  V  47, 


—    374    — 

jungen  Eheleuten  erst  einige  Peitschenhiebe  auf  den  Rücken; 
dann  verzeiht  er  ihnen,  segnet  sie  und  reicht  ihnen  Brot  und 
Salz.  Zu  den  Eltern  des  Bräutigams  geht  man  nicht,  die  sind 
leicht  zufriedengestellt,  da  sie  eine  Arbeiterin  ins  Haus  be- 
kommen. Gewöhnlich  handelt  es  sich  übrigens  um  eine  abge- 
machte Sache,  nicht  bloß  zwischen  den  jungen  Leuten,  sondern 
auch  zwischen  Braut-  und  Bräutigams-Eltern:  die  Romantik 
ist  nur  eine  Verschleierung  des  praktischen  Wunsches,  die 
großen  Kosten  der  Hochzeitsfeste  zu  ersparen.  Womit  ich  nicht 
kategorisch  behaupten  will,  daß  es  manchmal  nicht  doch  eine 
innige  Zuneigung  ist,  die  listig  alle  Hindernisse  besiegt;  auch 
in  den  Herzen  eines  jungen  Muschik  und  einer  temperament- 
vollen Krestjanka  kann  sich  jenes  Feuer  entzünden,  von  dem 
ein  altes  russisches  Liedchen  singt: 

Liebe  läßt  sich  nicht  gebieten, 
Liebe  läßt  sich  nicht  verbieten. 
Leichter  ist's    in  wollenen  Säcken 
Heiße  Kohlen  zu  verstecken. 
Als  zwei  Liebenden  verwehren. 
Daß   sie  treu  sich  angehören.^) 

Die  Volkslyrik,  allerdings  wohl  die  erst  in  den  letzten 
Jahrhunderten  entstandene,  schreibt  dem  Burschen  jedenfalls 
nicht  bloß  Liebesgefühle  zu,  sondern  hält  ihn  auch  für  fähig, 
sich  für  Verrat  zu  rächen: 

Schande  tat  der  Bursch  dem  Mädchen, 
Schande  auf  der  offnen  Straße. 
Da   die   Schönen   Lieder   sangen, 
Trat  er  vor  in  seinem  Hasse. 
Riß  dem  Mädchen  weg  das  Kopftuch, 
Von  dem  Hals  das  Band,  das  rote. 
Und  den  Ring  von  ihrem  Finger 
Und  sie  grämt  sich  nun  zu  Tode. 

Aber  auch  das  Mädchen  weiß  den  Ungetreuen  zu  züch- 


*)  Bernhard  Stern,  Fürst  Wladimirs  Tafelrunde,  127. 


—    375    — 

tigen.  Sie  ruft  alle  ihre  Freundinnen  zu  ihrer  Hülfe  herbei,  und 
sie  wirken  gern  mit  an  der  Bestrafung: 

Eine   kriegt   er   ins   Gesicht, 

Eine  von  der  Seite: 

Kräftig  faßt  beim  Haar  ihn  an 

Und   zerzaust   ihn   dann 

Schleift   ihn  gründlich  übern   Tisch, 

Daß  die  Knochefi  krachen  I 

Fällt  er  runter  auf  die  Bank, 

Gibt  es  was  zu  lachen. 

Fällt  er  auf  die  Erden, 

Soll  er  uns  zum  Besen  werden! 

Ei,*  dann   wird   mit   ihm   gekehrt. 

Wie  er's  wert. 

Bleibt  er  auf  denl  Bänkchen  liegen, 

Soll  als  Wischtuch  er  sich  fügen. 

Doch,   wie   Mandeln   wir   behandeln. 

Die  wir  stoßen  her  und  hin,  — 

Gehn   wir   um   mit    ihm. 

Kommt   er   in   den   Wald   hinaus. 

Walkt   man  eine   Kugel  draus. 

Unsre  Wut  selbst  nicht  erlischt, 

Wenn  man  ihn  wie  Weizen  drischt. 

Von  den  großrussischen  und  kleinrussischen  Sitten  unter- 
scheiden sich  in  mancher  Beziehung  die  Hochzeitsbräuche  der 
in  den  westrussischen  Gouvernements i)  Witebsk,  Mobile w, 
Plozk,  Smolensk,  Wilna  und  teilweise  noch  in  Pensa,  Wol- 
hynien,  Podolien  und  Cherson  lebenden  Weißrussen: 

Vor  der  Hochzeit  werden  die  Häuser  des  Bräutigams  und 
der  Braut  von  den  bösen  Geistern  gereinigt,  indem  man  in  der 
Mitte  des  Wohnzimmers  einen  Haufen  Stroh  verbrennen  läßt. 
Alsdann  wird  ein  Hochzeitkuchen,  Korowaj  genannt,  ge- 
backen, auf  die  Gasse  hinausgetragen  und  inmitten  derselben 
auf  die  Erde  gelegt.  Nun  hüpfen  die  anwesenden  Gäste  um 
den   Kuchen   herum  und   singen   dabei   allerlei    Lieder.     Bei 


*)  Gregor  Kupczanko,  Am  Urquell,  II  137 — 139,   161 — 163. 


—    376    — 

Beginn  der  Hochzeit  wird  der  Bräutigam  zum  Fürsten  und  die 
Braut  zur  Fürstin  erhoben.  Die  Zeremonie  dieser  Erhebung 
in  den  Fürstenstand  wird  auf  folgende  Weise  vollzogen:  In- 
mitten des  Zimmers  wird  ein  großes  Faß  mit  dem  Boden 
nach  oben  aufgestellt  und  mit  einem  mit  den  Haaren  nach  aus- 
wärts gewendeten  Pelze  bedeckt.  Nun  wird  auf  das  Faß  der 
Bräutigam  oder  die  Braut  gehoben.  Das  Faß  stellt  also  den 
l'hron  des  Fürsten  oder  der  Fürstin,  auf  den  sie  gehoben 
werden,  dar.  Während  der  Bräutigam  oder  die  Braut  auf 
dem  Fasse  sitzt,  gehen  die  anwesenden  Gäste  mit  dem  Korowaj 
und  zwei  brennenden  Kerzen  in  den  Händen  um  das  Faß  drei- 
mal herum  und  brennen  dem  Bräutigam  oder  der  Braut  an  der 
Stirne,  dem  Nacken  und  den  Schläfen  mit  den  zwei  kreuzweise 
übereinander  gehaltenen  Kerzen  ein  wenig  die  Haarlocken  an. 
Hierauf  setzt  man  dem  Bräutigam  seine  Schaffellmütze  und 
der  Braut  ihren  Kranz  auf  und  begrüßt  sie  als  Fürsten  und 
Fürstin.  Dabei  wird  der  Bräutigam  aufmerksam  gemacht,  daß 
er  als  Fürst  von  jetzt  an  vor  niemandem  die  Mütze  zu  ziehen 
brauche.  Und  endlich  wird  der  Thron  samt  dem  auf  demselben 
sitzenden  Fürsten  an  eine  Wand  geschoben,  an  die  oberhalb 
des  Hauptes  des  Fürsten  eine  Hacke  gehängt  wird ;  diese  Hacke 
bedeutet,  daß  der  Fürst  sich  auf  seinem  Throne  ganz  ruhig  ver- 
halten muß  und  mit  niemandem  sprechen  oder  essen  und 
trinken  darf.  Während  also  der  Bräutigam  oder  die  Braut 
ruhig  dasitzt,  setzen  sich  die  Gäste  zu  den  Tischen  hin  und 
verzehren   das  frugale  Hochzeitsmahl. 

Nach  dem  Hochzeitsmahle  begeben  sich  der  Bräutigam  und 
die  Braut  samt  ihren  Gästen  in  die  Kirche.  Bevor  aber  der 
Bräutigam  und  die  Braut  vor  der  Kirche  von  ihren  Wagen 
oder  Schlitten  herabsteigen,  geht  ein  Brautführer  dreimal  um 
sie  herum  und  schlägt  mit  dem  Stocke  Kreuze  in  die  Luft, 
um  die  bösen  Geister,  die  sich  unterwegs  auf  die  Wagen  oder 
Schlitten  hinaufgesetzt  haben,  zu  vertreiben.  Vor  der  Kirchen- 
türe breitet  man  einen  Pelz  auseinander  und  läßt  die  Braut- 
leute, nachdem  sie  einander  die  Hände  gereicht  haben, 
über  den  Pelz  in  das  Innere  der  Kirche  eintreten.  Hier  lösen 
die  Brautjungfern  alle  Knoten  an  den  Kleidern  des  Braut- 
paares bis  auf  einen  einzigen,   damit   das   Leben  des   Paares 


—    377    — 

voller  Freiheit  sei.  Während  des  Trauungsaktes  stehen  die 
Hochzeitsgäste  dicht  um  das  junge  Paar  herum;  es  soll  sich 
kein  Fremder  durchdrängen  können,  sonst  würde  das  Leben 
des  Paares  unglücklich  sein.  Auch  legt  man  den  Flammen 
der  Kirchenkerzen  große  Bedeutung  bei.  Brennen  sie  hell, 
so  wird  das  Leben  der  Getrauten  ein  fröhliches,  brennen  sie 
schwach,  so  wird  es  ein  stilles  sein;  knistern  sie  aber,  so  muß 
es  zwischen  dem  Gatten  und  der  Gattin  Streit  und  Unfrieden 
geben.  Die  Braut  trachtet,  während  des  Trauungsaktes  dem 
Bräutigam  auf  den  Fuß  zu  treten,  um  sich  die  Herrschaft  im 
Hause  zu  sichern,  i)  Nach  der  Trauung  kehren  die  Neuver- 
mählten zunächst  zu  ihren  Eltern  zurück.  Sie  werden  mit 
Roggenkörnern  beworfen  und  mit  einem  Löffel  Honig  traktiert, 
und  mit  allerlei  Gaben  beschenkt;  bringt  man  lebende  Tiere 
dar,  so  ahmt  man  bei  Überreichung  dieses  Geschenkes  die 
Laute  eines  jeden  Tieres  nach.  Sobald  im  Bräutigams-Eltern- 
hause  das  Festmahl  zu  Ende  gegangen  ist,  begibt  sich  der 
junge  Ehemann  ins  Elternhaus  der  Braut.  Hier  sind  aber 
alle  Tore  geschlossen  und  auf  dem  Hofe  brennen  Scheiter- 
haufen, um  die  die  Gäste  der  Braut,  die  sich  Krieger  nennen, 
herumstehen:  sie  schützen  den  Hof  gegen  den  Überfall  der 
Räuber,  wie  der  Bräutigam  und  seine  Freunde  heißen.  2)  Die 
Vorposten  des  Bräutigamszuges  klopfen  an  das  Tor  und  be- 
gehren Einlaß.  Man  antwortet  den  Räubern  verneinend.  Nach 
kurzen  Unterhandlungen  öffnen  die  Verteidiger  das  Tor  gegen 
einen  Zoll  von  einigen  Flaschen  Wodka.  Der  Bräutigam  reitet 
oder  fährt  als  erster  in  den  Hof  und  über  den  Scheiterhaufen 
hinweg.  Hinterdrein  wälzt  sich  die  Schar  seiner  Begleiter, 
die  sofort  alles,  was  nicht  niet-  und  nagelfest  ist,  zerschlagen; 
darauf  dringen  sie  in  das  Haus  und  zerbrechen  die  Töpfe, 
Schüssel,  Teller,  Spiegel  und  überhaupt  alles  Zerbrechliche, 
was  ihnen  unter  die  Hände  kommt.  Die  Scherben  werfen 
sie  unter  die  Füße  und  stolzieren  dann  auf  den  Trümmern  der 
diversen   Töpfe  und   Schüsseln   so   lange   als   Sieger   herum. 


^)  Ähnliches  bei  den  Letten.     Merkel,   Die  Letten,   vorzüglich  in  Lief- 
land, S.  55. 

-)  Eine  Erinnerung  an  die  Zeiten,  da  die  Frau  geraubt  wurde. 


—    378    — 

bis  die  Gäste  der  Braut,  erscheinen  und  sie  um  Frieden  bitten. 
Die  Sieger  gewähren  ihn,  setzen  sich  auf  Ersuchen  der  Eltern 
der  Braut  zu  den  Tischen  hin  und  essen,  trinken,  singen 
und  tanzen  so  lange,  bis  die  Hochzeitsgeschenke  der  Braut 
auf  einen  Wagen  geladen  worden  sind.  Nun  werden  dem 
Bräutigam  als  „Fürsten**  und  der  Braut  als  „Fürstin**  Glück- 
wunschlieder gesungen,  worauf  der  Bräutigam  auf  die  Braut 
zuschreitet,  ihr  eigenhändig  die  Zöpfe  aufbindet,  das  schöne 
rote  Bändchen  —  die  Hauptzierde  des  weißrussischen  Mäd- 
chens und  das  Zeichen  der  Jungfernschaft  —  abnimmt  und 
zu  Boden  schleudert.  Dann  setzt  er  seiner  bitterlich  weinen- 
den Braut  seine  eigene  Mütze  auf,  wodurch  er  sie  ihres  „fürst- 
lichen Ranges**  entkleidet  und  unter  seine  Gewalt  stellt.  Nach- 
dem sich  die  Braut  ausgeweint  hat,  nimmt  sie  rührenden  Ab- 
schied von  ihren  Eltern,  Geschwistern,  Verwandten,  Freunden 
und  Bekannten  und  küßt  dabei  alle  älteren  Personen,  vor  denen 
sie  sich  bis  zur  Erde  verbeugt,  die  Hand,  und  allen  jüngeren 
Personen  und  selbst  kleinen  Kindern  die  Wange.  Während 
die  Braut  aus  dem  elterlichen  Haus  hinaustritt,  bittet  sie  ihr 
Glück,  mit  ihr  zu  ziehen  und  sie  nie  im  Leben  zu  verlassen; 
dabei  wirft  sie  über  ihren  Kopf  nach  rückwärts  einen  Kuchen 
in  das  elterliche  Haus  hinein.  Dann  setzt  sie  sich  auf  den 
Wagen  des  Bräutigams  und  verteilt  an  die  Dorfkinder  allerlei 
Geschenke  eigenen  Fabrikats,  wollene  Tücher  und  Gürtel,  zur 
Erinnerung  an  ihre  Hochzeit.  Nun  fahren  die  Wagen  über  die 
Scheiterhaufen  zu  den  Toren  hinaus.  Fährt  die  Braut  an  der 
Flur  ihres  Mannes  vorbei,  so  wirft  sie  auf  dieselbe  einige 
l^ogg^nkörner,  damit  der  Boden  gute  Früchte  trage.  Vor 
dem  Hause  der  Schwiegereltern  angekommen,  wirft  die  Braut 
zuallererst  einen  Kuchen  in  das  Haus  hinein.  In  die  brennen- 
den Scheiterhaufen,  welche  sie  auch  hier  passieren  muß,  wirft 
sie  Münzen  hinein.  Der  Schwiegervater  kommt  in  einem 
umgewendeten  Pelze,  mit  einer  Pelzmütze  auf  dem  Kopfe  und 
mit  Honig  und  Branntwein  in  der  Hand,  seiner  Schwiegertoch- 
ter, welche  unterdessen  von  ihrem  Manne  vom  Wagen  ge- 
hoben und  vor  die  Haustüre  geführt  wurde,  entgegen.  Er 
besieht  sie  aufmerksam  von  allen  Seiten,  indem  er  sie  hin 
und  her  dreht,  macht  einige  Bemerkungen  und  beginnt  dann 


—    379    — 

mit  ihr  zu  ringen,  um  ihre  Kraft  zu  erproben.  Hierauf  ergreift 
er  eine  Peitsche  und  einen  Gefäßdeckel,  schlägt  mit  beiden 
sanft  die  Braut  und  sagt  dabei:  „Gehorsam  sein  und  keine 
Klatschereien  im  Dorfe  verbreiten  !**  Der  Bräutigam  stellt  sich  an 
die  Seite  seiner  Braut  hin  und  betritt  mit  ihr,  von  den  Gästen  mit 
Roggenkörnern  und  Hopfen  beworfen,  das  Innere  des  Hauses. 
Hier  werden  die  jungen  Leute  von  den  Gästen  beglückwünscht 
und  zu  den  Tischen  geführt,  worauf  tüchtig  gegessen,  gezecht, 
gesungen,  gespielt  und  bis  in  die  Nacht  hinein  getanzt  wird. 
Spät  nachts  werden  die  Getrauten  von  den  Brautjungfern  in 
eine  Kammer  gesperrt.  Vor  der  Tür  bleibt  ein  Brautführer 
als  Wachposten  zurück.  Er  hat  die  Pflicht,  die  ganze  Zeit 
hindurch,  während  das  junge  Paar  in  der  Kammer  verweilt, 
um  letztere  herumzugehen  und  von  Zeit  zu  Zeit  zum  Beweise, 
daß  er  seinen  Dienst  tue,  an  die  Wand  der  Kammer  mit 
einem  Stocke  zu  klopfen.  Am  nächsten  Morgen  beschmieren 
sich  die  jungen  Gatten  ihre  Gesichter  mit  frischem  Mehlbrei  i), 
erfassen  einander  bei  den  Händen  und  treten  so  in  das  Zim- 
mer zu  ihren  Gästen  hin.  Da  erheben  die  Anwesenden  beim 
Anblick  der  also  verunstalteten  jungen  Leute  ein  fürchter- 
liches Geschrei,  fangen  an  zu  hüpfen  und  herumzulaufen  und 
zerschlagen  schließlich  die  Töpfe;  dann  singen  sie  der  jungen 
Gattin  und  ihrer  Schwiegermutter  Loblieder,  führen  die  jungen 
Leute  unter  Gesängen  zum  Brunnen  und  gießen  dem  Bräutigam 
wie  der  Braut  ganze  Kannen  voll  kalten  Brunnenwassers  auf 
die  Köpfe.  Nachdem  die  jungen  Eheleute  also  gewaschen 
worden  sind,  begibt  sich  die  junge  Frau  in  das  Haus  und  über- 
nimmt die  Rolle  der  Hausfrau,  indem  sie  die  Gäste  bewirtet. 
Die  meisten  der  abergläubischen  Gebräuche,  die  wir  kennen 
gelernt  haben,  dienen  dazu,  die  Fruchtbarkeit  der  jungen  Frau 
und  die  Potenz  des  jungen  Gatten  vor  den  Geistern  und  den 
zauberischen  Machinationen  der  Nebenbuhler  und  Neider  zu 
schützen.  Reicher  Kindersegen  ist  ja  erwünscht:  „Wenn  die 
Verehlichte  aus  der  Kirche  gehet  /  so  wirfft  der  Panama 
oder  Küster  Hopffen  auff  sie  /  und  wünscht  ihr  so  viele  Kin- 
der /  als  dieser  Hopffe  ist  /  und  ein  anderer  /  der  in  einem 


^)  Vgl.  die  Anmerkung  Seite  366. 


—    380    — 

Hammel-Felle  /  woran  die  Haare  heraus  gekehret  sind  /  ge- 
kleidet /  begleitet  sie  und  wünscht  ebenfalls  /  daß  sie  soviel 
Kinder  bekommen  möge  /  als  Haare  sein  Kleid  hat.**^) 

Aber  deshalb  muß  auch  alles  getan  werden,  um  die  Zeu- 
gungsfähigkeit des  Ehemannes  vor  den  Gefahren  zu  behüten, 
die  ihr  am  Hochzeitstage  drohen.  Der  Glaube  an  die  böse  Wir- 
kung des  Knotenknüpfens  auf  die  Potenz  des  Mannes  ist  all- 
gemein: „Ich  habe,"  erzählt  ein  älterer  Erforscher  russischer 
Sitten  anläßlich  der  Beschreibung  der  russischen  Heirats- 
bräuche 2),  „einen  jungen  Menschen  wie  rasend  aus  seiner 
Frauen-Cammer  kommen  sehen  /  der  sich  die  Haare  aus- 
rauffte  /  und  schrye  /  daß  er  verderbt  und  behext  wäre.  Das 
Mittel  /  dessen  man  sich  bey  solchen  Zaubereyen  bedienet  / 
ist  /  sich  zu  etlichen  weisen  Hexenmeistern  zu  wenden  /  die 
das  Zauberwerck  ums  Geld  auffheben  /  und  den  Nestel  lösen  / 
den  andere  geknüpf f et  haben;  und  daß  war  die  Ursache  des 
Zustandes  /  worinnen  ich  diesen  jungen  Menschen  gesehen 
habe." 

Um  spaßhalber  den  jungen  Ehemann  zur  Erfüllung  der 
Gattenpflichten  in  der  Brautnacht  unfähig  zu  machen,  ist  es 
alte  russische  Sitte,  ihn  volltrunken  zu  machen.  3)  Wird  der 
Zweck  erreicht,  so  hat  dies  für  den  unvorsichtigen  Ehemann 
manchmal  peinliche  Folgen;  zum  Spott  hat  er  noch  den  Scha- 
den, denn  in  einigen  Gegenden,  namentlich  der  Ukraine,  ist 
es  Vorschrift,  daß  die  junge  Gattin  in  der  Brautnacht  un- 
bedingt entjungfert  werden  müsse,  und  ist  der  Ehemann  nicht 
dazu  imstande,  so  muß  er  sich  vertreten  lassen!  Der  Hei- 
ratsstifter selbst  oder  der  Ehrenkavalier  des  Neuvermählten 
übernimmt  die  Erfüllung  des  Liebesdienstes. 

Unzählige  Lieder,  die  man  bei  den  Hochzeiten  singt,  rüh- 
men die  Potenz  des  Mannes  und  feuern  ihn  an,  seine  Pflicht 
ausgiebig  zu  tun.  Diese  Lieder  nennen  die  Sachen  so  un- 
geschminkt bei  ihren  Namen,  daß  sich  die  europäischen  Zu- 
hörer darob  seit  jeher  nicht  genug  verwundern  konnten.   „Ein 


*)  Reise  nach  Norden,  S.  125. 

-)  Ebenda  130. 

3)  Vgl.  Bandl,  S.  321. 


—    381    — 

Hauffen  junger  Knaben  und  Mägdlein  singen  etliche  der- 
massen  geile  und  unzüchtige  Braut-Lieder  und  Gedichte  /  daß 
sie  nicht  ärger  sein  können.**  i)  Dabei  tun  sich  hauptsächlich 
die  Frauen  hervor:  „Die  Hochzeit-Jungfern  und  die  Schwacha 
werffen  Hopffen  auff  die  Anwesenden  /  die  Frauen  steigen  auff 
die  Bänke  und  Stühle  /  klatschen  in  die  Hände  /  und  singen 
so  unzüchtige  Lieder  /  daß  ich  die  Worte  derselben  hier 
nicht  anführen  darff  /  aus  Furcht  /  ich  möchte  die  keusche 
Ohren  ärgern.**  2)  Die  Russen  selbst  finden  die  Gesänge  durch- 
aus nicht  anstößig.  In  der  Ukraine  werden  vom  Augenblick 
an,  da  die  Braut  das  elterliche  Haus  verläßt,  um  sich  in  ihr 
neues  Heim  zu  begeben,  bis  zu  dem  Moment,  wo  die  Gäste 
die  Neuvermählten  gänzlich  verlassen,  durchwegs  erotische  und 
phallische  Lieder  gesungen.  3)  Wenn  die  Braut  das  Elternhaus 
verläßt,  empfängt  sie  ein  Chor  von  Männern  und  Frauen  mit 
diesem  Liede,  in  dem  eine  Erinnerung  an  die  alte  Sitte  der 
Entführung  nachklingt: 

BnnHJiH^nHBO,  bhkothjih  6oHKy, 
.BnKHBaÄHj^BHMoprajiH  b  nana  CBaTa  ÄOHKy: 
nojio}KHMO  cnaTH,  Ha  öijiiä^KpoBaTÜ 
Mh-hc  n  He  MaHHjiH,"  caMa  BOHa  xTijia 
HepBOHoro  6ypaKa  p,o  öuioro  Tijia.*) 

Wir  tranken  aus  das  Bier  und  schleppten  her  das  Faß, 
Entlockten  dem  Herrn  Vater  der  Braut  die  Tochter, 
Wir  legen  sie  schlafen  aufs  weiße  Bett ! 
Wir  entführten  sie  nicht,  selbst  wünschte  das  Weib 
Die  purpurne  Rübe  dem  weißen  Leib. 

In  einem  Liede  läßt  man  die  Braut  fragen: 

^e  BH  MBHe,  Jiro^e,  noBeAexe, 
^e  BHMeHecnaTH  noKJiaAexß? 


^)  Reise  nach  Norden  125. 

*'^)  Religion  der  Moscowiter  99. 

3)  Th.  Volkov,  Rites  et  usages  nuptiaux  en  Ukraine,  L' Anthropologie 
II  et  III.  1891  et  1892. —  My6HHCKitt,  TpvAU  aKcno^HiUH,  C.  Ilerepß^-prL  1877.  IV. 
—  Kovjrxdfiiae,  Recueil  de  documents  pour  servir  ä  T^tude  des  traditions 
populaires,(tire  k  175  exemplaires,  Paris  chez  H.  Welter)  V.  36 — 129. 

*)  Aus  dem  Kreise  Nowograd-Wolynsky  in  Wolhynien. 


—    382    — 

„Wohin  führt  ihr  mich,  ihr  guten  Leute, 
Wo  bringt  ihr  zu  Bett  mich  heute?" 

Und  darauf  gibt  man  zur  Antwort: 

IIoBeAeMO  äo  TOKy, 
üocTejieMO  ocoKy, 

IIoCTeJieMO    OKOJIOTH, 

mo6   SHBeHBKO   npOKOJIOTH^). 

Wir  führen  dich  in  eine  Tenne 
Und  legen  dich  ins  Gras, 
Und  haben  eine  Kugel, 
Um  schnell  dich  zu  durchbohren. 

Mit  Spott  begrüßt  man  den  alten  Heiratsstifter,  der  wohl 
Ehen  zusammenbringen,  aber  selbst  nichts  mehr  leisten  kann: 

CTapnä  AiÄy,  cTapaä  ^lÄy, 

CTapufi  oceJiGAn;«), 

He  CTöIni  TH  Hi  aa  ^o^BKy,  ni  aa  xya, 

Hi  3a  peABKy! 

Hi  3a  CTapy,  m  3a  Majiy! 

Hi  3a  MOJiOAeHBKy! 

OaceHHBCB  —  He  acypHCb, 

ByAem  nanyBaTH: 

JKiiiKa  öy^e  iüioh^a  npacTH, 

A  TH  6yÄeni  CBHHi  nacTH 

3    BeJIHKOK)    JIOMaKOK), 

Ta  3  cipoK)  co6aKOK)2)! 

Ach  du  Alter,  ach  du  Alter, 
Alter  Esel,  hui! 
Bist  nicht  wert  die  Pozjka^), 
Bist  nicht  wert  den  Chuj!^) 
Bist  nicht  einen  Rettig  wert, 
Bist  für  alt  und  jung  nichts  wcrti 


1)  Ans  dem  Kreise  Berditschew  im  Gouvernement  Kijew« 

2)  Aus  dem  Kreise  Gadiatsch  im  Kijewschen  Gouvernement« 

^)  Bezeichnungen  für  den  weiblichen  und  den  männlichen  Geschlechtsteil. 


—    383    — 

Doch  beweibt^  kannst  leicht  du  lachen 
Und  getrost  den  Meister  machen: 
Weben  kann  dein  Weib  das  Leinen, 
Du  bist  Hüter  bei  den  Schweinen, 
Hut*  sie  mit  dem  Prügelbund 
Und  mit  einem  grauen  Hund! 

Die  Braut  gelangt  unter  solchen  Gesängen  ins  Haus  des 
Bräutigams.  Man  führt  sie  ins  Schlafzimmer;  der  große  Mo- 
ment naht,  da  fängt  sie  an  bange  zu  werden: 

TopoxT,  MaTH,  no  Aopoai,  äk  Hepe^a, 
BeAyrfc  xya  na  npmiOHi,  an  ßyraa; 
A  xyS  pese,  äo  iihbäh  iji,e. 
—  „ÜK  ÄofiÄy  B  HO^,  — 

IIOBILKOJIIOH)   IIH3Ai   OhI."  ^) 

Ach  hör*  das  Strampeln  auf  der  Erde, 
Ach,  Mutter,  wie  von  einer  Herde! 
Man  schleppt  den  Chuj  an  einem  Strick, 
Der  Pisda  gilt  sein  Zornesblick. 
Und  höre,  Mutter,  was  er  sagt: 
„Erwisch  ich,  Pisda,  dich  bei  Nacht, 
Erwisch  ich  dich  bei  Nacht,  o  Graus, 
Dann  reiß  ich  dir  die  Augen  aus!** 

In  einem  anderen  Liede  jedoch  ist  die  Gefahr,  die  der 
Pisda  droht,  nicht  so  gruselig  ausgemalt: 

Tyny-Tyny,  KOHHHGKbKy, 

SLk  Hepe^a! 
BeÄyTb  xya  na  peMGHK), 

SK^Gyraa; 
I^e  nna^a  y  Kapexi, 

Hk  nonaAfl! 
Xyä  ÄMeTfcca, 

A  nH3Äa  CMicTbca: 


^)  Aus  dem  Perejaslawschen  Kreise  des  Gouvernements  Poltawa. 


^    384    — 

Ohh  npoAHpac, 

Xya  ÄOHCHÄac! 
Kojih6-6  hk  äo  hohe 

BnjiiayTb  nHa^i  ohh!^) 

Strample,  strample,  du  mein  Rößlein, 

Wie  *ne  Herde! 
Sieh,  man  zerrt  den  Chuj  am  Riemen 

Wie  die  Stiere; 
Doch  die  Pisda  fährt  im  Wagen 

Wie  die  Popin! 
Bläht  der  Chuj  sich  noch  so  sehr. 

Lacht  die  Pisda  desto  mehr: 
Sich  die  Augen  reibend 

Harrt  sie  auf  den  Chuj! 
Wenn  er  sie  bei  Nacht  befeuchtet, 

Wie  erst  da  ihr  Auge  leuchtet! 

Die  Mutter  ist  es,  die  in  vielen  Liedern  die  ängstliche 
Tochter  beruhigt: 

JSfi  KOMOpH  BeAyTb!" 

To6i  MeAy  Aa^yTt!" 
^Oä,  MaMii;K),  K03aK 
Ha  MeHe  Jiiae!" 

—    „IJ,HTb,    ÄOHK), 

Bin  Te6e  ne  8api»ce!^ 

„Oä,  MaMii;H),  BHce  ii  hohcük  BnäMae!  .  ."^ 

—  „lI,HTb,  ÄOHK),  bIh  GoHce  ÄyMac."2) 

,,Oi,  Mutter,  ach. 

Man  führt  mich  in  das  Schlafgemach!" 

„Still,  Tochter,  still, 

Nur  Honig  man  dir  geben  will.** 

,,Oi,  Mutter,  wehe  mir, 

Der  Kosak  liegt  schon  auf  mir!'* 


*)  Aus  Sydoriwka  im  Kijewschen  Gouvernement. 

-)  Aus  Nowograd-Wolynskij  im  Gouvernement  Wolhynien. 


—    385    — 

,, Still,  Tochter,  still. 

Er  dich  nicht  erwürgen  will.** 

,,Oi,  Mutter,  schau  nur  besser, 

Er  zieht  schon  heraus  sein  Messer.**  — 

„Still,  Tochter,  laß  ihn  machen. 

Er  besorgt  nur  Gottes-Sachen.** 

In  einem  kürzeren  Liedchen  beruft  sich  die  Mutter  nicht 
auf  Gott,  sondern  bloß  auf  den  Popen : 

Oä  MaTH,  ÄO  KOMopn  Be^yi^B!" 

—    „lI,HTb,    AOHK),    TaM    Me^y    P.B'flJThl^ 

„Ofi  MaTH,  B>Ke  niTaHH  po3Bi>a3aB!" 

—  „1I,HTI»,  ÄOHK),  TaK  non  npuKaaaB!"^) 

„Oi,  Mutter  mein,  in  die  Kammer  führt  man  mich!** 
„Still,  Tochter,  dort  mit  Honig  labt  man  dich!** 
,,Oi,  Mutter,  schon  steht  er  ohne  Hosen  da!** 
„Still,  Tochter,  so  befahls  der  Pope  ja!*' 

Sobald  die  Braut  und  der  Bräutigam  im  Schlafzimmer 
allein  gelassen  worden  sind,  singen  die  Gäste,  in  Erwartung 
der  Rückkehr  des  jungen  Paares  in  den  festlichen  Kreis,  vor 
der  Tür  des  Brautgemaches  aneifernde  phallische  Lieder: 

Oü  y  nojii  rpyniKa  He  TpymeHa 
IHe-3K  Haina  ;i,iBOHKa  He  Bopyrnena! 
Xto  5k  TyK)  rpyrne^Ky  noxpycHTb 
ToM  namy  AißO^Ky  noBopyuiHTb!^) 

Wie  der  Birnbaum  in  dem  Felde, 
Ist  die  Braut  noch  nicht  berührt! 
Wems  gelingt  den  Baum  zu  brechen, 
Der  wird  unsre  Braut  durchstechen! 

lUaM-maM  cajiOMOHBKa  ua  KaMopi, 
PaacyHyjiHCL  Ha;i;ynieHKi  na  caJiOMÜ 
Oii  npaci.ia  ;i,BeB0^Ka  Mana^i^a: 


^)  Aus  dem   Kreise  Berditschew  im  Kijewschcn  Gouvernement. 
2)  Aus  dem  Gouvernement  Tschemigow. 
Stern,  Geschichte  der  Ofientl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  25 


—    386    — 

„He  JiaacHCb,  ManoA^HK,  na  npaMHJiHÜ  6yoK, 
He  saKH^aä,  MajiOAHHK,  He  saKH^afi  nyor!" 
—  „3k  mhhI,  ;i;ieBOHKa,  nyor  ne  saKHAaTb  — 
Tpeßa  TBaÄMy*pyOÄOHbKy  necTb  aT;i,aTi>."^) 

Wie  raschelt,  raschelt  schon  das  Stroh, 
Wie  hüpfen  schon  die  Kissen  so! 
Das  Mädchen  fleht  den  Burschen  an: 
„Ach,  leg  dich  nicht  zu  mir,  mein  Mann, 
Bewege  nicht  auf  mir  die  Füße!**  — 
„Weshalb  willst  du  dich  denn  beschweren? 
Ich  muß  ja  die  Familie  ehren!** 

Tyny,  Kypo^KH,  Tyny: 
HoTHpi  HOHceHKii  Bi>  Kyny; 
A  ni>aTa  KopoTKa 
Oä  Me^y  cojiOÄTa!^) 

Strampelt,    Hühnchen,   strampelt : 
Füßchen  viere  sind  verbandelt; 
Und  dazu  das  fünfte  kleine, 
Honigsüß  ist  dieses  eine! 

Mit  Vorliebe  zieht  man  Vergleiche  aus  dem  Tierreich 
heran;  dies  ist  namentlich  bei  Liedern  aus  dem  Kreise  Solo- 
tonoscha  im  Gouvernement  Poltawa  der  Fall : 

TycaK  rycKy  KJin^e, 

KpiSb    THH    KOaOCOK    THHC: 

„Oö  TH,  rycKO  MOfl, 

Th,  rojiyÖKO  Moa, 

Ha  To6i  KOJiocoK  naticTH, 

HyoTH  MBHe  Ha  nepoBO  ajiisTHl^ 

Es  sagt  zur  Gans  der  Gänserich: 
,,Die  Ähre  hier  hab  ich  für  dich; 
Oi,  du,  mein  Gänschen, 
Oi,  du,  mein  Täubchen, 
Da  hast  du  was  zu  essen, 
Laß  mich  auf  dich  indessen.** 


^)  Aus  demselben  Gouvernement. 

2)  Aus  Jelisavetgrad,  Gouvernement  Cherson. 


—    387    — 

PaK  no  Gepeace^Ky  jiasHTB 

Ta  Ha  TyK)  njiHTOHKy  BaacHTb: 

„0&  njiHTOHKO  —  KpacHonipoHKO, 

Po3CTaB  CBoi  nipbGHKa 

3po6HMo  BecijiJiGHKo!" 

—  .»Sapas,  paneHbKy,  3apa3, 

3po6HMO  BecijiJieHKO  rapaaA!"^) 

Der  Krebs  am  Uferrande  liegt 
Ans  Rotaug*  enge  angeschmiegt : 
„Oi  Fischlein  mit  den  roten  flössen, 
Tu  auseinander  doch  die  Flossen, 
Und  laß  uns  Hochzeit  machen  !**  — 
„Sogleich,  mein  lieber  Krebs,  sogleich 
Laß  ich  dich  Hochzeit  machen  I** 

IIpOÄpaB   KOTHK   CTeJIH), 

Ta  BnaB  na  nocTeJiro: 
IIoTH  KanaBca, 

IIOTH   BaJIflBCff, 

IIoKH  tIö  MapyceHbii;i 
Mine  HiHceHBKH  BßpaBCfl! 

Der  Kater  macht  ein  Loch  im  Dach 
Und  fällt  aufs  Bett  herab  mit  Krach: 
Er  rollt  und  wälzt  sich  her  und  hin 
Und  ist  dann  schließlich  mitten  drin 
In  Marussjas  Beinchen. 

Das  Mädchen  läßt  man  sagen: 

„OS  xTO-ac  Mene  aa  py^eHBKy  — 

ToMy  pyKasH^KH, 

A  XTO  Mene  aa  HiacenbKy  — 

ToMy  HepeBHHKH! 

Bijia  Mene  nojieacHTb,  — 

3a  nyn  Mene  noÄep»HTB 

ToMy  rapHeii;B  Me^y, 

KOHOBOHKa   UHBa, 

mo6  CToaJia  acHJia! 


^)  Aus  dem  Kreise  Slawjanoserbsk,  Gouvernement  Jekaterinoslaw. 


—    388    — 
A  a  AyMajia  iu,o  ne  6yAy  HczBa!  .  .  . 

AhC   H    HCHBa,    Ta   HCHBiceHBKa, 

3k  Taa  poHca  Ta  noBHicmsKa."^) 

Wer  mich  an  den  Händen  faßt, 
Der  kriegt  von  mir  Handschuh; 
Wer  mich  an  den  Füßen  packt, 
Der  kriegt  von  mir  Stiefel! 
Aber  wer  sich  legt  zu  mir 
Und  mich  greift  am  Nabel, 
Dem  schenk  ich  ein  Krügel  Bier 
Und  den  Topf  mit  Honig, 
Daß  es  fest  ihm  stehe ! 
Ach,   ich  glaubt,  ich  müßte  sterben, 
Doch  ich  lebe,  lebe  jetzt  erst 
Gleichwie  eine  Rose.** 

Die  Gäste  harren  mit  Spannung  des  Wiedererscheinens  des 
jungen  Paares  und  der  Vorweisung  des  Tuches  oder  des  Hem- 
des der  Braut  mit  den  Zeichen  ihrer  Jungfernschaft.  Aber 
die  Leutchen  lassen  auf  sich  warten;  man  lauscht  an  der 
Tür,  doch  drin  rührt  sich  noch  nichts.    Da  wird  man  ungeduldig 

und  singt:       ^v«  .       .  -. 

^  Ofi  Ha  xaTi  ii;iTKa-rpeDiHKa, 

A  B  KOMopi  iiapyöoK  xa  AiBKa: 

Horo  BOHH  TpyTLca,  Ta  MiiyTbCjr, 

Horo  BOHU  He  iöyTbca?!^) 

Auf  dem  Dache  Bürste,  Kamm, 
In  dem  Zimmer  Weib  und  Mann: 
Weshalb  sie  sich  wohl  nicht  rühren 
Und  nicht  endlich  coitieren? 

Der  Bräutigam  selbst  gibt  den  Gästen  Antwort  und  ent- 
schuldigende Erklärung  zugleich: 

Mifi  njiyr  He  ope, 
II,ijiHHH  ne  6epe?! 
Sajiiaa  Tynui, 
Bo  Jiixa  mojioahI'! 

^)  Aus  dem  Kreise  Solotonoscha  im  Gouvernement  Poltawa. 

^)  Dieses  Lied  und  das  nächstfolgende  aus  dem  Gouvernement  Cherson. 


—    389    ^ 

Weshalb  mein  Pflug  nicht  pflügt,  .        . 
Das  jungfräuUche  Feld? 
Das  Eisen  ist  nicht  scharf  genung, 
Es  ist  noch  gar  so  jungl 

Die  Schwiegermutter  singt  nun  auch  den  Schwiegersohn 
an,   um  ihn  zur  Erledigung  der  Angelegenheit  anzuspornen: 

PycKa  paKa  hochdib; 
Teii^a  3ama  npocHu;B; 
„^aM  To6e  Aa  coponeHKy, 
Bni6n  mok)  ÄoneHKy, 
Jlfl.y.i  To6e  Bcö  y6paHi>He 
3a  TBoe  e6aHi>He."^) 

Die  Gans  selbst  trägt  den  Krebs; 
Brautmutter  sagt  dem  Schwiegersohn: 
„Will  dir  das  Hemdchen  geben, 
Wenn   du   die   Tochter   trennst; 
Will  dir  die  Kleider  alle  geben, 
Wenn  du  ihr  eine  Nummer  machst. 
Oder: 

CopoKa  paKa  nocHJia, 

Teii;a  3>iTa  npocHJia: 

„Ha  To6i  MipKy  MaKy  — 

3po6u  AOHi;i  npHSHaKy! 

Ha  To6i  MipKy  nepu,K)  — 

HpiiropHH  AOHKy  ;^o  cepi^a!'*^'^) 

Die  Elster  hat  den   Krebs  getragen. 

Zum  Schwiegersohn  hört  man  die  Schwiegermutter  sagen : 

„Zum  Trinken  geb    ich  etwas  dir, 

Entjungfre   nur   die   Tochter   mirl 

Ich   geb    dir  einen   Pfeffertrank, 

Zieh  nur  mein  Töchterchen  ans  Herz!** 

Sobald  das  junge  Ehepaar  endlich  zum  Vorschein  gekom- 
men ist,  gibt  es  der  Festlichkeiten,  des  Jubels  und  der  Aus: 


^)  Aus  dem  Kreise  Mosir  im  Minsker  Gouvernement. 
2)  Aus  dem  Kreise  Nowograd-Wolynskij,  Wolhynien. 


—    390    — 

gelassenheit  kein  Ende  mehr.    Man  tanzt  phallische  Tänze  und 
singt   die  obszönsten  Lieder: 

ron;Hi^i,  ron;Hii;i, 
Kojio  KypKH  KocHi^i: 
SLr  öyAöMO  l6aTHCH 
By^e  3a  mo  ;i;ep3KaTHca!0 

Hopsa,  hopsa,  hop. 
Dein  L .  ch  hat  langes  Haar,  gottlob  : 
Ich  hab,  will  ich  dich  spalten, 
Woran  mich  anzuhalten! 

Oä  TyT  cyxo,  oö  TyT  rpaat; 
Oä  TyT  JiflHce,  oü  TyT  ^acTB. 

Sei*s  hier  trocken,  sei*s  hier  naß, 
Leg  dich  hin  und  gib  mir  das. 

A  Bt  Hamoi  TeTAHH 
IIoBHa  nz3Aa  CMCTaHH! 
A  XTO  xone  cnpo6yBaTH, 
Tpe6a  nepme  nojiHaaTn!-) 

Bei  unserer  Tatjana 
Ist   bitterlich   der   PisdasaftI 
Und  wer  ihn  möchte  schmecken. 
Braucht   unten  nur  zu  lecken. 

Th  PpHi^b,  a  MapHHKa, 
B  Te6e  fliiii,H,  b  Mcne  pHHKa: 
nifleM  co6i  na  ;i;oJiHHKy, 
By^eM  fläi^a  6hti>  o6  puHKy.^) 

Du  bist  Grizko,   ich  Marinka, 
Du  hast  Eier  große,  volle, 
Ich  jedoch  hab  die  Kassrolle; 
Laß  uns  deine  Eier  rühren 
Jetzt  in  meiner  Kasserolle. 


^)  Aus  dem  Kreise  Solotonoscha,  Gouvernement  Poltawa. 
*)  Aus  dem  Kreise  Uschyzia  im  Gouvernement  Poltawa. 
8)  Aus  derselben  Gegend. 


—    391    — 

Man  verspottet  die  Brautjungfern,  den  Hochzeitsmarschall, 
die  Bräutigams-Ehrenkavaliere : 

IlepBa  Apy»CKa  i^m^ÄTa, 
Jl^pyra  nepeeaTa, 
TpeTH  Ha  pjiHx  xojsßl 
Bojicßi  porz 
^ißHaTaM  Mi»  hofh!^) 

Die   erste  Druschka  hat  große  Titten, 

Die  zweite  ist  geschwollen  in  der  Mitten, 

Die  dritte  wird  bald  gebären  I 

Hörner  von  Ochsen 

Zwischen  den  Füßen  junger  Mädchen! 

A  B  Hamoi  csaxH 
Be^Mi^^fc  KOJio  cpaKH: 
He  no  xaxi  ne  noeepHeTbCH, 
Hi  Ao  Hac  He  npHBepHeii,ii,H. 

Bei   unserer   Swacha,   hör, 

Ist  am  anus  ein  Bär: 

Drum  kann  sie  sich  nicht  regen, 

Und  nicht  zu  uns  bewegen. 

HaHOBe  CBaTOBe, 

Ta  HoiAeM  Ha  bjtobh! 

Ta  aK  6yjiH  mh  na  BJiOBax, 

To  niÜMajiH  3aMii;H: 

I  öaTBKOBi  i  MaTepi, 

1  MOJio;i;oMy  i  MOJiOAifi, 

1  BaM,  AoßpHl*  Jiro^e, 

Ychi  HO  3aMD,K)  6yAe! 

HaHOBe  CBaTOBe, 

Ta  HoiAeM  Ha  bjiobh! 

Ta  HK  6yjiH  mh  na  BJioBax, 

To  niÖMajin  BOBKa: 


^)  Aus  dem  Charjkowschen  Gouvernement. 


—    392    — 

I  öaTbKOfii  i  Maxepi, 
I  MOJiOAOMy  i  MO.iOAiä, 

I    BaM,    AOßpHl*   JIIOA©   — 

yciM  uo  BOBKOßi  6yAe! 

IlaHOBe  CBaxoBe, 

Ta  noiAOM  na  BnoBn! 

Ta  HK  ßyjiH  Mu  iia  BJioBax, 

To  niÖMajiH  Jincun,io: 

I  6aTi>K0Bi  i  MaTepi, 

I  MOJiOAOMy  i  MOJiOAiH, 

I  BaM,  Ao6pHi  .^K)AO,  — 

YcIm  no  jiHcimi  6yAe! 

IlaHOBe  CBaTOBO, 

Ta  iiolAeM  Ha  bjiobh! 

Ta  iiK  6yjiH  mii  na  BJioBax, 

To  iiiÖMajin  noi;i>Ky: 

I  öaTbKOBi  i  MaTepi, 

I  MOJiOAOMy  i  MOJiOAiH, 

1  BaM,  Ao6pHT  jiiOAe  — 

YciM  HO  non,T>i;i  ßvAei^ 

„Ihr  Herren  Heiratsstifter,  kommt  auf  die  Jagd!  Und  da 
wir  waren  auf  der  Jagd,  erwischten  wir  einen  Hasen :  für  den 
Vater  und  die  Mutter,  für  den  jungen  Ehemann  und  die  junge 
Frau,  und  für  euch  alle,  ihr  guten  Leute  —  ein  Hase  ist  für 
euch  alle  da !  —  Ihr  Herren  Heiratsstifter,  kommt  auf  die  Jagd ! 
Und  da  wir  waren  auf  der  Jagd,  erwischten  wir  einen  Wolf: 
für  den  Vater  und  die  Mutter,  für  den  jungen  Ehemann,  und 
die  junge  Frau,  und  für  euch  alle,  ihr  guten  Leute  —  ein 
Wolf  ist  für  jeden  da! — Ihr  Herren  Heiratsstifter,  kommt  auf 
die  Jagd!  Und  da  wir  waren  auf  der  Jagd,  fingen  wir  einen 
Fuchs:  für  den  Vater  und  die  Mutter,  für  den  jungen  Ehe- 
mann und  die  junge  Frau,  und  für  euch  alle,  ihr  guten  Leute 
--  für  jeden  ist  ein  Fuchs  da!  —  Ihr  Herren  Heiratsstifter, 
kommt  auf  die  Jagd!  Und  da  wir  waren  auf  der  Jagd,  er- 
wischten wir  eine  Pisda:    für  den  Vater  und  für  die  Mutter, 


1)  Aus  dem  Kreise  Gadiatsch  im  Gouvernement  Poltawa. 


\ 


—    393    — 

für  den  jungen  Ehemann  und  die  junge  Frau,  und  für  euch 
alle,  ihr  g^ten  Leute  —  es  ist  für  jeden  eine  Pisda  da.** 

„^yacKy,  non;ijiyä  iiH3Äy  b  Ay^Ky!*^ 
—  „Oä  AK  Meni  ne  i^jiyBaTH: 
Bona  »  Moa  pi^na  MaTH.*^^) 

„Druschka,  küß  die  Pisda  auf  das  L .  ch  I*' 
—  „Oi,  ich  kann  es  gerne  tun, 
Meine  wahre  Mutter  ist  sie  dochl*' 

Zum  Schlüsse  fühlt  man  sich  veranlaßt,  auch  des  Braut- 
vaters besonders  zu  gedenken  und  ihn  wegen  des  Verlustes 
der   Tochter  —  einer   Arbeiterin   im   Hause   —   zu   trösten : 

BaTfcKO  no  AOHeni^i  TyacHTt, 
Ta  i^iJiy  Hin  Maxip  TioacHTB: 
—  „OAAaJia,  CTapa,  ujo^bo  — 
By^eM  CTapaTHCb  Ha  ^py^yio." 

Der  Vater  trauert  um  die  Tochter, 

Und  darum  bei  Nacht  die  Mutter  durchlocht  er: 

„Gabst  du  die  Eine  her,  mein  Schatz, 

Laß  gleich  uns   sorgen   für  Ersatz!** 


^)  Aus  derselben  Gegend. 


—    394    — 


k: 


43.  Hochzeitsbräuche 
der  nichtrussischen  Völker  Rußlands. 

Unzüchtige  und  abergläubische  Bräuche  der  Esten  und  litten  —  Vorherrschaft 
in  der  Ehe  —  Rohe  Zeremonien  der  Letten  und  Esten  —  Bräuche  der  Wotjäken 

—  Wotjäkische  Hochzeitslieder  —  Heidnische  Bräuche  christlicher  Völker  — 
Bräuche  der  Mordwinen  und  Tschuwaschen  —  Kalmückische  Sitten  —  Von  den 
Giljaken-Ehen  —  Frühe  Ehen  bei  den  Tartaren  —  Das  Meiden  der  Verwandten 
der  Braut  —  Die  72stündige  tartarische  Brautnacht  —  Armenische  Zeremonien 

—  Tscherkessische  —  Ossetisch-georgische  —  Bräuche  der  Chewsuren,  der 
kaukasischen  Bergjuden  —  Das  Bad  der  Braut  und  des  Bräutigams  —  Die 

Angst  vor  Knoten  —  Die  Brautnacht. 

Nicht  bloß  bei  den  Russen  sind  die  Hochzeiten  will- 
kommene Gelegenheiten  zu  Ausgelassenheit,  unzüchtigen 
Tänzen  und  Zoten  i);  bei  den  nichtrussischen  Völkern  Ruß- 
lands geht  es  ebenfalls  nicht  gerade  harmlos  und  keusch  zu, 
wenn  ein  Mädchen  in  den  Stand  der  Ehe  tritt.  Von  den  Hoch- 
zeitsbräuchen der  alten  Letten  schon  wird  berichtet  2):  „Wenn 
sie  nun  ihre  Hochzeiten  gehalten,  haben  sie  sich  gar  seltsamen 
und  wunderlichen  Ceremonien  gebrauchet,  welche  alle  hier 
nicht  können  beschrieben  werden,  und  gebrauchen  sie  die- 
selbe an  vielen  Orten  noch  heutigen  Tag,  wie  ich  selbst  in 
meiner  Jugend  gesehen.  Wenn  die  Braut  in  des  Bräutigams 
Hauß  oder  Hoff  geführet  wird,  und  auf  dem  Wagen  sitzet, 
muß  in  dem  Einfahren  der  Wagen  nirgends  anstossen :  stoßet 
er  ein  wenig  an,  so  bedeutet  ein  solcher  Anstos,  daß  sie  in 
ihrer  Ehe  und  Haußhaltung  gantz  kein  Glück  haben  werde. 
Wenn  sie  nun  eingeführet,  wird  sie  neben  dem  Bräutigam  in  das 
Gemach  geleitet,  da  die  Hochzeit  gehalten  wird,  alsdann  werden 
zween  blose  Schwerter  ihnen  vorgetragen,  davon  das  eine 
über  dem  Bräutigam,  das  andere  über  die  Braut  über  den  Tisch 


1)  Solches  ist  Eigentümlichkeit  aller  slawischen  Völker.  Bei  den  serbischen 
Bauern  namentlich  ist  es  allgemein  üblich,  während  der  Hochzeitsfeicr  und  beim 
ersten  Besuch  im  Hause  der  Eltern  der  j  ungen  Frau  das  Sauglöcklein  zu  schwingen. 
,.Je  derber,  je  lustiger,"  sagt  Dr.  Friedrich  S.  Krauß  in  der  Anthroi)ophyteia. 
I  30  und  erzählt  gleichzeitig  eine   zotige  serbische  Geschichte  (8 — 30). 

2)  Th.  Hiäms  Lyf-,  Ehst-  und  Lettlaendische  Geschichte,  S.  39. 


—    395    — 

gestecket  wird,  welches  Schwert  nu,  indem  es  mit  Gewalt  hinein 
gestecket  wird,  länger  zittert  oder  bebet,  derselbe  wird  unter 
ihnen  im  Ehestand  am  längsten  leben.  Wann  das  geschehen, 
so  muß  die  Braut  durch  alle  Gemächer  gehen  und  in  die 
Stube,  in  die  Cammern,  Badstuben,  in  die  Viehe-  und  Pferd- 
ställe, in  den  Brunnen,  ins  Feur,  in  den  Garten  etwas  Geld 
werffen;  thut  sie  das  nicht,  so  hat  sie  nirgends  Glück  und 
Gedeyen  zu  gewarten.  Darauf  gehet  die  Hochzeit  an,  und  wird 
da  so  ein  abscheulich,  viehisch  und  schandlos  Leben  ge-. 
führet,  daß  es  auch  unter  den  allergröbesten  barbarischen 
Völckern  nicht  ärger  zugehen  möchte.  Denn  erstlich  muß 
das  Essen  und  Trincken  Tag  und  Nacht  aufm  Tische  stehen, 
da  mag  ein  jeder  fressen,  wenn  er  wil,  und  wie  lange  er  wil, 
er  muß  auch  nicht  ehe  vom  Tische  kommen,  ehe  die  Hoch- 
zeit vorbey  und  geendiget.  Darnach  werden  solche  unflätige, 
unzüchtige  und  leichtfertige  Lieder  auf  ihre  Sprache  gesungen, 
Tag  und  Nacht  ohn  Aufhören,  daß  sie  der  Teuffei  selbst  nicht 
unflätiger  und  schandloser  erdencken  oder  fürbringen  möchte.** 
In  den  heutigen  lettischen  und  estnischen  Hochzeitsbräuchen 
spielt  das  Vortragen  von  Zoten  und  obszönen  Liedern  keine 
geringere  Rolle.  Solange  Essen  und  Trinken  reichen,  wird 
geschmaust,  gesungen  und  getanzt.  Auch  die  übrigen  alten 
Gebräuche  und  abergläubischen  Zeremonien  haben  sich  zumeist 
fast  unveiändert  erhalten.  Wenn  bei  den  Letten^)  und  Esten 2) 
ein  Mädchen  in  das  heiratsfähige  Alter  kommt,  so  beginnt  es 
vor  allen  Dingen  die  Geschenke  vorzubereiten,  die  es  bei 
der  Hochzeit  den  Gästen  wird  machen  müssen,  um  von  diesen 
selbst  welche  zu  bekommen.  Ist  zwischen  einem  Paare  ein 
Einverständnis  erzielt,  so  genügt  es  zu  einer  rechtsgültigen  Ver- 
^  lobung,  wenn  der  Bursche  dem  Mädchen  vor  Zeugen  ein  Glas 
Branntwein  als  Verlobungstrunk  gibt;  und  es  kommt  selten 
vor,  daß  ein  solches  Verlöbnis  gebrochen  wird.  Gleichzeitig 
mit  dem  Verlobungstrunk  erfolgt  ein  seltsamer  Wetteifer 
zwischen  dem  Burschen  und  dem  Mädchen  in  bezug  auf  die 
Sicherung   der   Oberherrschaft   in   der   künftigen   Ehe.     Man 


1)  Merkel,   55.  58.  61. 

2)  Petri.  II  278,   282;  III   156. 


—    396    — 

legt  ein  Brot  auf  den  Tisch;  über  dem  Brot  reichen  Braut  und 
Bräutigam  einander  die  Hände;  dann  brechen  sie  ein  Stück 
ab  und  beeilen  sich,  es  herunterzuwürgen:  wer  mit  seinem 
Stück  zuerst  fertig  wird,  dem  fällt  die  eheliche  Oberherr- 
schaft zu.  Wenn  die  lettische  Braut  zur  Trauung  fährt,  sowie  bei 
ihrem  Eintritt  in  ihr  neues  Heim  hat  sie  peinlich  ver- 
schiedene abergläubische  Vorschriften  zu  beachten.  Auf  dem 
Wege  zur  Kirche  muß  sie  in  jeden  Graben  und  in  jeden  Teich, 
den  sie  sieht,  sowie  an  jede  Hausecke,  an  der  sie  vorbei- 
kommt, Bündel  farbiger  Fäden  und  eine  Münze  werfen  als 
Opfer  für  die  Wasser-  und  Hausgeister,  i)  Wenn  die  junge 
Frau  später  zum  ersten  Male  in  ihre  neue  Wohnung  eintreten 
will,  so  gehen  die  Brautführer  ihr  voran  und  schlagen  über 
jeder  Tür  mit  Degen  oder  Peitsche  ein  Kreuz,  um  die  bösen 
Geister,  die  sich  gern  zum  Hochzeitsschmause  einfinden, 
energisch  zu  vertreiben.  Ob  es  auch  aus  Aberglauben  ge- 
schieht, daß  der  Bräutigamsführer  dem  von  der  Kirche  fort- 
fahrenden Brautpaar  eine  Bierkanne  an  den  Kopf  wirft,  weiß 
ich  nicht.  Ebensowenig,  welchen  Sinn  es  hat,  daß  die  Herr- 
schaft der  Braut  dieser  beim  Abschied  eine  schallende  Ohr- 
feige verabreicht.  Bedeutet  dieser  Schlag  etwa  den  Abschluß 
der  Gewalt  der  Gutsherrin  vor  dem  Beginn  einer  Gewaltherr- 
schaft des  Gatten  ?  Wie  sie  es  schon  bei  der  Zeremonie  der 
Verlobung  getan,  versucht  es  zwar  die  lettische  oder  estnische 
Braut  auch  bei  der  Trauung,  sich  dadurch,  daß  sie  dem  Bräu- 
tigam heimlich  auf  den  P'uß  tritt  2),  die  zukünftige  Herrschaft 
im  Hause  zu  sichern;  daß  ihr  dies  nur  selten  gelingt,  erzählen 
manche  Hochzeitslieder  der  Letten,  in  denen  der  Übergang 
des  Mädchens  aus  dem  Jungfernstand  in  den  der  Ehe  keines- 
wegs als  ein  erfreuliches  Ereignis  geschildert  wird.  So  singt 
man  der  Estin  im  Augenblick,  da  sie  zur  Hochzeitsfeier  gehaubt 

wird : 

,, Schmücke,   Jungfrau,   schmücke   dich! 

Schmücke  dich  mit  solchem  Putze, 

Der  einst  deine  Mutter  schmückte; 


1)  Das  Gleiche  ist  bei  den  Esten  der  Fall.    Vgl.  Petri,  Ehstland  und  die 
Ehsten,  II  282. 

2)  Ähnlicher  Gebrauch  ist  bei  den  Weißrussen  vorhanden.     \'gl.  S.  m. 


—    397     — 

Binde   solche  Bänder   um, 

Wie  einst  deine  Mutter  band: 

Bind  um  den  Kopf  das  Kummerband, 

Und  um  die  Stirn  das  Sorgenband, 

Gib  auf  den  Scheitel  das  Trauertuch ! 

Von  den  nichtrussischen  Hochzeitsbräuchen  in  Rußland 
sind  noch  diejenigen  einiger  finnisch-tartarischer  und  kauka- 
sischer Völker  besonders  bemerkenswert.  Bei  den  Festlich- 
keiten der  Wotjäken^)  wird  hauptsächlich  getrunken,  und  da 
die  Hochzeit  sich  über  mehrere  Tage  erstreckt,  so  ist  zum 
Schlüsse  die  ganze  Versammlung  total  berauscht.  Die  Aufgabe 
der  Braut  ist  es,  möglichst  viel  zu  weinen,  und  jedem  der 
Gäste  ein  Glas  Kumyska  (Branntwein)  zu  reichen.  Die  Verab- 
schiedung der  Braut  von  ihren  Eltern  wird  mit  Liedern  und 
Sprüchen  begleitet,  die  auf  ein  freundliches  Familienleben 
deuten  könnten: 

d^eöa  vo^mat  matuske? 
inmared  dieC-  §udze  med  öotoz; 
Togiskon  muzjemed  mamyk  kad'  med  lo 
juo-no  vued  §erbet  med  lo, 
sio-no  näfied  6äbei  med  lo; 
tusmonly  en  ^ot  inmare! 

,,Hast  du  gut  gewartet,  Altechen?  Möge  dein  inmar  dir 
gutes  Glück  geben!  Worauf  du  trittst,  die  Erde,  möge  wie 
Flaum  sein;  was  du  trinkst,  das  Wasser,  möge  Scherbet  sein; 
was  du  ißt,  das  Brot,  möge  Weizen  sein!  inmar  gebe  dich 
nicht  den  Feinden  preis!*' 

Wenn  endlich  die  Braut  sich  anschickt,  das  Elternhaus 
zu  verlassen,  so  heult  sie  endlos,  und  die  ganze  V^erwandtschaft 
mit  ihr.  Ihr  Vater  aber  tröstet  sie  mit  den  Worten:  ,,die6 
med  ulod;  d^eö  murtly  med  jaralod;  monenym  ky^yke  jarad 
otynno  odj^.yk  med  jaralod." 

„Mögest  du  gut  leben,  möge  der  gute  Mensch  (der  Bräu- 
tigam) an  dir  Gefallen  finden;  so  wie  du  mir  lieb  gewesen 
bist,  so  mögest  du  auch  dort  angenehm  sein.** 


1)  Max  Buch,   Die  Wotjäkeu,   51  ff. 


—    398    — 

Der  Bräutigam,  der  hier  also  nicht,  wie  bei  den  Russen,  der 
Fremdling,  sondern  der  gute  Mensch  heißt  (auch  viele  andere 
Lieder  nennen  ihn  so),  darf  seine  Braut  nicht  aus  ihrem  Eltem- 
hause  abholen,  sondern  erwartet  sie  in  seiner  eigenen  Wohnung. 
Bei  diesem  Empfange  spielt,  obwohl  die  Wotjäken  nominell 
Christen  sind,  die  Hauptrolle  der  heidnische  Priester,  der  dem 
Brautpaar  Bier  zu  trinken  gibt  und  den  Bund  besiegelt.  Die 
Braut  muß  während  der  Trauungszeremonie  mit  verhülltem. 
Gesicht  auf  dem  Boden  knien.  —  Die  Hochzeitsbräuche  der 
Mordwinen  oder  Morduanen  ähneln  stark  den  wotjäkischen. 
Wenn  man  die  Braut  nach  der  Trauung  in  der  orthodoxen 
Kirche  dem  Bräutigam  m't  den  Worten:  „Wolf,  da  hast  du 
das  Schaf!**  übergibt,  so  muß  sie,  um  wohlanständig  zu  er- 
scheinen, furchtbar  weinen.  Am  Tage  nach  der  Hochzeit 
bringt  der  Älteste  der  \  erwandtschaft  der  jungen  Frau  als 
Geschenk  ein  Laib  Brot,  worauf  eine  Münze  und  eine  Brust- 
spange befestigt  sind.  Dies  Stück  Brot  setzt  er  ihr  dreimal 
auf  den  Kopf  und  spricht  dabei  in  willkürlicher  Ordnung 
die  Worte:  Tätei,  Mesei,  Pawei;  das  zuletzt  ausgesprochene 
bleibt  der  neue  Rufname  der  jungen  Frau. 

Auch  bei  den  Tschuwaschen  und  Tscheremissen,  sowie 
den  Kalmücken  haben  sich  trotz  der  nominellen  Herrschaft 
des  Christentums  in  den  Hochzeitsgebräuchen  die  alten  heid- 
nischen Sitten  unerschüttert  erhalten.  Bei  den  Tschuwaschen 
darf  die  Braut  am  Hochzeitstage  unter  gar  keinen  Umständen 
zu  Fuße  gehen;  sie  fährt  im  Wagen  oder  wird  auf  Matten  ge- 
tragen. Bei  den  Kalmücken  i)  muß  der  Wahrsager  befragt 
werden,  welchen  Tag  man  für  die  Hochzeit  bestimmen  soll. 
Jeder  achte,  sechzehnte  und  vierundzwanzigste  eines  Monats 
ist  ungünstig.  Der  Astrolog  entscheidet  nach  den  Geburts- 
jahren der  Braut  und  des  Bräutigams,  ob  die  Elemente  der- 
selben miteinander  übereinstimmen  oder  nicht.  Findet  er, 
daß  der  Bräutigam  im  Feuerjahr  und  die  Braut  im  Wasserjahr 
geboren  ist,  so  muß  die  Ehe  nur  unglücklich  sein;  zum  Glück 
können  öffentliche  Gebete  der  Geistlichkeit  das  Unglück  ab- 
wenden.    Zuweilen  behaupten  die  Astrologen,   daß  ein  Auf- 


1)  Bergmanns  Nomadische  Streifereien,  III  148. 


—    399    — 

Schub  von  mehreren  Monaten  oder  Jahren  nötig  sei;  aber  zum 
Glück  können  abermals  die  Geistlichen  helfen.  Der  Klerus 
versteht  überall  sein  Geschäft,  Bei  der  Trauung  gibt  es  wie  bei 
den  Weißrussen,  Esten  und  Letten  und  anderen  Völkern,  einen 
lebhaften  Kampf  zwischen  Braut  imd  Bräutigam  um  die  Siche- 
rung der  häuslichen  Oberherrschaft:  bei  den  Kalmücken  ist 
der  Kampfplatz  eine  Schafskeule,  die  dem  Brautpaare  nach  der 
Trauung  vom  Priester  gereicht  wird;  der  Bräutigam  faßt  sie 
oberhalb  an,  um  seine  Vorherrschaft  zu  dokumentieren,  und 
die  Braut  hat  sie  unterhalb  zu  ergreifen,  aber  sie  macht  — 
natürlich  vergebens  —  den  Versuch,  dem  Manne  zuvorzu- 
kommen. Nach  dieser  Zeremonie  erhält  das  neue  Paar  das 
erste  gemeinsame  Mahl :  eine  Handvoll  zerschnittenes  Fleisch ; 
doch  gewöhnlich  ißt  nur  der  Gatte  davon,  die  Gattin  schaut 
bescheiden  zu.  Sobald  dieses  Mahl  beendet  ist,  drückt  man 
die  Köpfe  des  Paares  dreimal  zur  Erde  und  ruft  dabei :  „Ver- 
beuge dich  vor  der  Sonne,  vor  der  Schafskeule,  vor  der 
Butter  I"  Ein  Festessen  und  gewaltiges  Branntweintrinken  be- 
schließen die  Hochzeitsfeier. 

Die  kalmückische  Ehe  wird  nicht  aus  materiellem  Interesse 
geschlossen ;  ihr  Hauptzweck  ist :  Kinder  zu  zeugen.  Dagegen 
ist  bei  den  Giljaken  auf  Sachalin  die  Verheiratung  von  Töch- 
tern oder  Schwestern  ein  schwunghaftes  Geschäft  der  Väter 
und  Brüder.  Der  daraus  resultierende  Verdienst  ist  landes- 
üblich bedeutend :  denn  für  ein  Mädchen  bekommt  man  Hunde, 
Wagen,  Barken,  je  nach  der  Schönheit  der  Ware  und  dem  An- 
sehen des  Verkäufers.  Um  baldmöglichst  in  den  Besitz  solcher 
Kostbarkeiten  zu  gelangen,  verlobt  man  die  Mädchen  schon  in 
der  Wiege  und  verheiratet  sie  bereits  mit  dreizehn  oder  vier- 
zehn Jahren  ohne  Zeremonien  und  ohne  Formalitäten:  es 
gibt  bloß  ein  Festmahl  beim  Verlassen  des  väterlichen  Hauses 
und  noch  eins  beim  Eintritt  ins  Haus  des  Mannes.  Kann  der 
Gatte  den  Kaufpreis  nicht  auf  einmal  erlegen,  so  zahlt  er  in 
Raten,  etwa  jährlich  einen  Hund.  Und  ein  alter  Giljake  erhob 
einmal  die  rührende  wehmütige  Klage :  „Ich  gab  dem  Schwie- 
gervater eine  Barke,  eine  Lanze  und  einen  Fleischtopf;  aber 
nach  dem  Tode  des  Schwiegervaters  mußte  ich  den  Schwägern 
noch  jährlich  einen  Hund  liefern.     Das  geht  nun  schon  so 


—    400    — 

zehn  Jahre  fort,  und  ich  muß  es  noch  immerfort  leisten,  ob- 
wohl ich  jetzt  in  einem  Alter  bin,  in  dem  man  einen  Hund 
höher  schätzt  als  ein  Weib.**^)  Wie  bei  den  Giljaken  werden 
auch  bei  den  Tartaren  die  Kinder  schon  in  frühem  Alter 
verlobt;  mancher  Bräutigam  ist  acht,  manche  Braut  erst  vier 
Jahre  alt.  2)  Die  Hochzeitszeremonien  sind  fast  die  gleichen 
wie  bei  den  Türken,  da  die  Tartaren  in  Rußland  den  mosle- 
mischen Gebräuchen  folgen;  doch  räumen  sie  den  Frauen 
mehr  Freiheit  ein  als  die  Mohammedaner  in  der  Türkei.  In 
der  Pause  zwischen  Verlobung  und  Hochzeit,  die  manchmal 
viele  Jahre  dauert,  wenn  das  Paar  sehr  jung  ist,  muß  der 
Bräutigam  die  Gesellschaft  seines  zukünftigen  Schwiegervaters 
und  selbst  der  entfernteren  Verwandten  seiner  Braut  meiden; 
trifft  er  sie  zufällig  auf  der  Straße,  so  weicht  er  ihnen  aus. 
Seine  Braut  aber  kann  er  sehen  so  oft  er  will.  An  den  hohen 
Religionsfesten  überbringt  er  ihr  Geschenke.  Der  Hochzeits- 
tag wird  festgesetzt,  sobald  der  Kalym  vollständig  bezahlt  ist. 
Die  Feier  findet  im  Hause  der  Braut  satt,  und  der  Bräutigam 
kommt  mit  seinen  Freunden  dorthin,  wie  zufällig  angelockt 
von  dem  Lärm  und  Trubel.  Er  schickt  zuerst  einen  Boten 
hinein,  um  sich  zu  erkundigen,  was  da  vorgehe.  Der  Priester, 
der  die  Trauung  zu  vollziehen  hat,  läßt  dem  Bräutigam  Glück 
wünschen,  und  daraufhin  kommt  dieser  in  das  Haus,  und  die 
Trauung  wird  vollzogen.  Nach  der  Trauung  geht  der  junge 
Gatte  allein  fort.  Die  junge  Frau  bleibt  noch  drei  Tage  im 
Hause  der  Eltern  und  feiert  mit  ihren  Freundinnen  den  Ab- 
schied unter  ununterbrochenen  Festlichkeiten.  Dann  geleitet 
man  sie  in  ihr  neues  Heim.  Die  Heiratsvermittlerin  oder  eine 
alte  Frau  „bereitet  das  Hochzeitsbett,  und  wird  dafür  von 
dem  Bräutigam  belohnt.  Sie  zieht  die  Braut  aus,  und  legt 
sie  in  das  Bett,  in  welchem  der  Bräutigam  drey  Tage  lang  mit 
seiner  jungen  Frau  aushalten  muß,  und  dieses  Gemach  darf 
keiner  von  beyden  Theilen  verlaßen,  er  werde  denn  dazu 
durch  einen  Umstand  genöthiget,  den  die  Natur  haben  will. 
Eben  diese  Frau,  welche  das  Hochzeit  Bett  zurecht  gemacht 


1)  Paul  Labb6,  Un  bagnc  russc,  l'üc  de  Sakhaline.     Paris  1903.  p.   168. 

2)  Gmelin,  II   132. 


—    401    — 

hat,  reicht  binnen  diesen  drey  Tagen  dem  Braut-Paar  Essen, 
Trinken,  und  Waßer  zum  Waschen.  Inzwischen  machen  sich 
die  Freunde  des  Bräutigams  in  seinem  Hause  lustig,  ein 
gleiches  geschieht  bey  den  Aeltern  der  Braut,  und  am  Morgen 
des  vierten  Tages  versammlen  sich  die  Hochzeits-Gästfe  zum 
letzten  mal,  spülen  mit  einigen  Schaalen  Brandtwein  die  Un»- 
reinigkeiten  weg,  welche  ein  dreytägiger  Schmauß  verursachet 
hat,   und  machen  also  der  ganzen  Historie  ein  Ende.**^- 

Die  Armenier  passen  sich  leicht  den  Gebräuchen  der 
Völker  an,  in  deren  Mitte  sie  leben.  Deshalb  sind  die  arme- 
nischen Hochzeitszeremonien  verschieden  in  den  verschiedenen 
Gegenden  Rußlands.  Ihre  nationalen  Sitten  haben  sie  am 
reinsten  in  den  kaukasischen  Provinzen  erhalten.  2)  Es  wird 
bei  den  armenischen  Hochzeiten  unendlich  viel  gebetet,  imd 
der  Priester  spricht  unzählige  Segenssprüche.  3)  Der  Trau- 
ring, die  Hochzeitskleider  der  Braut  und  des  Bräutigams  wer* 
den  feierlich  eingesegnet.  Wenn  der  Priester  die  Rechte  der 
Braut  in  die  des  Bräutigams  legt,  sagt  er  zu  letzterem:  ,,Nach 
dem  göttlichen  Gebote,  welches  Gott  den  Vorfahren  gegeben, 
gebe  ich  dir  diese  Braut  zum  Gehorsam.  Bist  du  ihr  Herr?** 
Der  Bräutigam  antwortet :  ,,Ich  bin  ihr  Herr  durch  den  Willen 
Gottes.'*  Darauf  fragt  der  Priester  die  Braut:  „Bist  du  ge- 
horsam?*' Und  sie  antwortet:  „Ich  bin  gehorsam  nach  dem 
Befehle  Gottes.'*  Der  Gatte  ist  aber  nicht  bloß  der  Herr, 
sopdern  auch  der  Schützer  der  Gattin.  Wenn  die  junge  Frau 
in  ihr  neues  Haus  eintritt,  so  stellt  sich  der  junge  Gatte 
unter  die  Tür,  hält  ein  Schwert  empor  und  läßt  die  Neu- 
vermählte unten  durchschlüpfen:  so  wird  sie  in  Zukunft  unter 
seinem  männlichen  Schutze  allen  Gefahren  entgehen.  Als 
ersten  Trunk  nach  der  Trauung  erhält  das  junge  Paar  süßes 
Wasser;  nach  einigen  symbolisiert  dies  die  reinen  und  süßen 
Genüsse  des  ehelichen  Lebens,  nach  anderen  soll  es.  eine  Er- 
innerung an  die  Hochzeit  in  Kana  sein,  wo  das  Wasser  in 
Wein  verwandelt  wurde. 

1)  Gmclin,  IIJ13B. 

■*')  Bodenstedt  hat  sie  ausführlich  beschrieben  in  ,,1001  Tage'*. 
^)  Diese  Segenssprüche  allein  füllen  bei  Bodenstedt  a.  a.  O.  zehn  Druck- 
seiten! 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rufiland.    **  26 


—    402    — 

Bei  den  Tscherkessen  sieht  eine  Hochzeitsfeier  ganz  kriege- 
risch aus.  In  Erinnerung  an  die  alten  Entführungsgebräuche 
erscheinen  die  Männer  alle  bewaffnet,  und  zwischen  den  Ver- 
wandten der  Braut  und  den  Freunden  des  Bräutigams  gibt  es 
ein  scheinbares  Gefecht,  bis  die  Braut  aus  dem  Hause  kommt 
und  in  die  Arme  des  Bräutigams  sinkt,  während  alles  jauchzt : 
Sieg,  Sieg !  Nach  der  Festmahlzeit  führen  die  Jünglinge  wieder 
kriegerische  Spiele  auf.  Dann  erscheint  auf  hinkendem  Rosse 
ein  Spaßmacher.  Bricht  der  Abend  an,  so  löst  den  Scherzer 
ein  Sänger  ab,  tmd  die  jungen  Leute  tanzen  bis  zur  Erschöpfung. 

Äußerst  einfach  wird  die  Ehe  bei  den  Osseten  geschlossen : 
ein  Mann  bittet  den  Vater  der  begehrten  Maid  um  ihre  Hand, 
bezahlt  den  Kaufpreis,  nimmt  die  Gekaufte  zu  sich,  und  schon 
sind  die  Beiden  verheiratet.  Nur  einige  wenige,  halb  heid- 
nische, halb  christliche  Zeremonien i)  gibt  es  dabei:  Wenn 
eine  Ossetin  heiratet,  so  verläßt  sie  mit  dem  Fortgang  aus 
dem  elterlichen  Hause  den  Schutzgeist  des  häuslichen  Herdes 
und  begibt  sich  unter  den  Schutz  des  Hausgeistes  ihres  Mannes. 
Sie  muß  sich  deshalb  von  dem  elterlichen  Schutzgeist  ver- 
abschieden und  den  Segen  für  ihren  Auszug  erbitten.  In 
Gegenwart  aller  Verwandten  und  Freunde  tritt  die  Neuver- 
mählte zum  Herd  und  geht  dreimal  um  denselben,  während 
der  Älteste  und  Würdigste  aus  der  Versammlung  den  Schutz- 
geist anfleht,  der  Scheidenden  wohlwollendes  Andenken  zu 
bewahren.  Eine  ähnliche  Feierlichkeit  wiederholt  sich  b^im 
Eintritt  der  jungen  Frau  in  ihr  neues  Heim,  wo  sie  den  neuen 
Schutzgeist  um  seine  Gnade  anfleht.  Dann  muß  sie  auch  zu 
einer  im  westlichen  Winkel  der  Sakla  oder  Hütte  stehenden 
Säule  treten;  diese  Säule,  geziert  mit  den  Hörnern  häuslicher 
und  wilder  Tiere,  ist  das  Symbol  des  Schutzgeistes.  Vor  dieser 
Säule  spricht  der  Schaffer,  der  Bräutigamsführer :  „O  schenke 
uns  deine  Gnade!  Diese  junge  Frau,  die  vor  dir  steht,  wird 
dich  ehren  als  heUig  ihr  ganzes  Leben  lang."  Nahe  bei  dieser 
Säule  muß  die  Frau  die  ersten  drei  Tage  ihrer  jungen  Ehe  un- 


*)  Sie  sind  von  Dschantcmir  Schanajew  und  Wßcwolod  Miller  (in  russi- 
scher Sprache)  beschrieben  worden.  Vgl.  Bernhard  Stern,  Zwischen  Kaspi  und 
Pontus. 


—    403    — 

unterbrochen  verweilen.  Dann  spricht  der  Schaff  er  wiederum 
ein  Gebet  zum  Schutzgeist,  wobei  er  diesmal  um  männliche 
Nachkommenschaft  fleht.  Dem  letzteren  Zwecke  dient  auch 
das  Hinführen  der  jungen  Frau  zum  geweihten  Stein  der 
Mutter  Maria,  welcher  in  der  Nähe  eines,  jeden  ossetischen 
Auls  oder  Dorfes  sich  befindet.  Während  die  Neuvermählte 
sich  dem  heiligen  Stein  naht,  eilen  Knaben  voraus,  werfen 
Steine  und  Flintenkugeln  nach  dem  heiligen  Stein  und  rufen: 
„So  viel  Steine  und  Kugeln  wir  werfen,  so  viel  Knaben 
schenke,  o  Mutter  Maria,  unserer  g^ten  jungen  Frau,  und 
ein  blauäugiges  Mädchen  dazul**  Nachdem  der  junge  Ehe- 
mann an  dieser  Stätte  eine  ähnliche  Bitte  gesprochen,  kehrt 
man  nach  Haus  zurück  und  tritt  ins  Schlafzimmer.  Hier  end- 
lich sagt  der  Schaff  er,  ehe  das  Paar  sich  niederlegt:  „O  Geist 
des  Schlafes,  beschenke  diese  Ehe  mit  langlebender  männlicher 
Nachkommenschaft  I** 

Merkwürdig  frühzeitig  wird  bei  den  Georgiern  (Grusiern) 
geheiratet.  Mancher  ist  schon  mit  15  oder  gar  14  Jahren 
Vater,  manche  im  Alter  von  13  oder  12  Jahren  Mutter.  Die 
Hochzeit  folgt  zuweilen  unmittelbar  auf  die  Verlobung;  die 
Festgebräuche  ähneln  teils  den  tscherkessischen,  teils  den  ar- 
menischen. Interessanter  sind  die  chewsurischen  Sitten.  1)  Die 
Verlobung  findet  gewöhnlich  schon  in  früher  Jugend  statt, 
die  Heirat  aber  erfolgt  nicht  vor  dem  zwanzigsten  Jahre  des 
Mädchens.  Offiziell  muß  um  das  Mädchen  knapp  vor  der 
Hochzeit  noch  einmal  geworben  werden.  Der  Freier  entsendet 
eine  Frau  und  einige  Freunde  in  das  Haus  der  Braut.  Sie 
bringen  ein  paar  Schafe  mit.  Die  Eltern  der  Braut  verhalten 
sich  ablehnend,  weil  sie  des  Freiers  nicht  würdig  seien.  Endlich 
lassen  sie  sich  überreden,  man  schlachtet  ein  Schaf,  schmaust 
und  führt  dann  die  Braut  ins  Haus  der  Eltern  des  Bräutigams, 
wo  sie  einige  Zeit  bleibt,  aber  ihren  Gatten  weder  sehen,  noch 
von  ihm  gesehen  werden  darf.  Dann  kehrt  sie  zu  ihren  Eltern 
zurück,  und  nun  wird  die  Hochzeit  gefeiert.  Am  Hochzeits- 
tage werden  die  Kleider  des  jungen  Paares  mit  einer  Nadel 
oder  mit  einem  Faden  aneinandergeheftet.    Ähnlich  wie  bei 


1)  Vgl.  Gustav  Radde,  Die  Chewsuren. 

26* 


—    404    — 

den  Osseten  erfolgt  die  Trauung  auch  hier  am  Herdfeuer  im 
Hause  des  Bräutigams.  Der  Priester  reicht  dem  Bräutigam  und 
der  Braut  Wachslichtchen,  stellt  ihnen  Speisen  hin,  wünscht 
ihnen  Segen  und  reichliche  Nachkommenschaft,  und  die  Ehe 
hat  begonnen. 

Bei  den  den  Chewsuren  verwandten  Tuschinen  und  Pscha- 
wen  ist  der  Bräutigam  fast  immer  jünger  als  die  Braut ;  letztere 
heiratet  nie  unter  20  oder  25  Jahren,  der  Gatte  aber  ist  oft 
nur  14  oder  15  Jahre  alt.  Bei  den  kaukasischen  Bergjuden, 
deren  wir  zum  Schlüsse  noch  gedenken  müssen,  ist  das  um- 
gekehrte Verhältnis  üblich.  Da  hat  manche  Mutter  noch  nicht 
das  fünfzehnte  Lebensjahr  zurückgelegt,  i)  Wenn  ein  junger 
Bursche  heiraten  will,  so  läßt. er  es  seinen  Vater  durch  einen 
Freund  wissen.  Der  Vater  schickt  einen  Freier  in  das  Haus 
des  Mädchens,  zwischen  den  beiden  Vätern  beginnt  dann 
das  Feilschen  um  4en  Preis  der  Braut.  Diese  wird  nicht  gefragt, 
auch  die  Mütter  haben  nichts  dreinzureden.  Die  jungen  Leute 
sehen  sich  selten  vor  der  Hochzeit,  da  die  Mädchen  wenig 
aus  dem  Frauengemach,  und  dann  nur  mit  verhülltem  Ange- 
sicht, herauskommen.  Die  Hochzeiten  sind  fast  ausschließ- 
lich im  Winter,  weil  da  die  Weinvorräte  größer,  und  dauern 
mehrere  Tage.  Am  Sonntag  beginnt  man  die  Gäste  einzu- 
laden. Aus  jedem  jüdischen  Hause  des  Auls  müssen  wenigstens 
ein  junger  Bursche  und  ein  junges  Mädchen  kommen.  Alle 
jungen  Männer  bilden  das  Gefolge  des  Bräutigams,  alle  jungen 
Mädchen  das  Gefolge  der  Braut.  Am  Sonntag  abend  ist  im 
Hause  des  Bräutigams  die  erste  Festlichkeit.  Unter  Musik  und 
Gesang  verläuft  die  Mahlzeit,  bei  welcher  Männer  und  Frauen 
getrennt  in  besonderen  Zimmern  speisen.  Nach  Tisch  aber 
vereinigen  sich  die  jungen  Männer  und  die  jungen  Mädchen 
zu  fröhlichem  Tanz,  der  erst  in  später  Nachtstunde  ein  Ende 
hat.     Am   andern    Morgen   erscheinen    die   jungen   Burschen 


1)  Vgl.  Bernhard  Stern,  Zwischen  Kaspi  und  Pontus;  und  die  Sclüldc- 
rungen  des  kaukasischen  Berg  Juden  Anissimow  in  der  russisch- jüdischen 
Wochenschrift  .,l^)Cxo;n.".  1888,  die  auch  als  selbständige  Schrift  in  dem 
genannten  Jahre  in  Moskau  erschienen.  Einen  deutschen  Auszug  daraus  brachte 
Professor  C.  Hahn  in  Tiflis  in  seinen  Skizzen  aus  dem  Kaukasus. 


^    405    — 

im  Haxise  des  Bräutigams  und  verlangen  jeder  drei  Becher 
Wein.  Dann  stellen  sie  sich  im  Kreise  auf  und  wählen  aus 
ihrer  Mitte  einen  „Schach**,  der  die  Hochzeitszeremonien  zu 
beaufsichtigen  hat,  während  die  anderen  sekundieren.  Sobald 
alle  G^te  beisammen  sind,  beginnt  das  Mittagmahl  und  darauf 
von  neuem  Tanz  unter  Begleitung  von  Musik  und  Hände- 
klatschen. Rings  um  den  mit  Sand  oder  Häcksel  bestreuten 
Tanzplatz  stehen  Bänke  und  Sessel  für  den  „Schach**  und 
seine  „Polizisten**.  Rechts  vom  Schach  sitzt  der  „Wesir**, 
links  der  Bräutigam.  Einige  der  Polizisten  sind  mit  Knuten 
bewaffnet  und  haben  die  Aufgabe,  die  vom  Schach  zum  Nutzen 
des  Bräutigams  diktierten  Strafen  von  50  Kopeken  bis  zu 
mehreren  Rubeln  einzusammeln;  wer  nicht  bezahlen  will,  wird 
von  den  Polizisten  an  einen  Pfosten  gebunden  und  nicht  eher 
losgelassen,  als  bis  er  bezahlt  hat;  wer  sich  gegen  den  Schach 
auflehnt  oder  ihn  schilt,  wird  auf  mehrere  Stunden  in  den 
Stall  gesperrt.  An  diesem  oder  am  nächsten  Tage  zieht  die 
ganze  Festgesellschäft  unter  Anführung  des  Schachs  zu  dem 
Hause  der  Braut,  welche  den  bisherigen  Festlichkeiten  fern- 
geblieben war.  Auf  halbem  Wege  kommt  dem  Zuge  des 
Bräutigams  der  Zug  der  Braut  entgegen.  Mehrere  Freunde 
des  Bräutigams  spornen  ihre  Rosse  an,  um  die  Braut  zuerst 
zu  begrüßen.  Wem  dies  gelingt,  der  erhält  vom  Schach  ein 
seidenes  Tuch  oder  einige  Ellen  Stoff  zu  einer  Tscherkeßka; 
die  Trophäe  bindet  der  Belohnte  um  den  Hals  seines  Pferdes. 
Die  vereinigte  Gesellschaft  begibt  sich  darauf  zu  dem  Eltern- 
hause der  Braut,  falls  diese  im  selben  Dorfe  wohnt;  ist  sie 
aus  einem  andern  Aül,  so  zieht  die  Gesellschaft  in  das  Aül 
des  Bräutigams  zurück,  und  die  Braut  steigt  bei  einer  befreun- 
deten Familie  ab.  Am  nächsten  Tage  versammeln  sich  alle 
im  Hause,  wo  die  Braut  sich  befindet,  und  bringen  ihr  Geld 
und  Geschenke  dar.  Die  jungen  Männer  unterhalten  die  weib- 
lichen Gäste  mit  Spaßen  und  Tänzen,  Akrobatenstücken  und 
Heldenspielen.  In  der  Nacht  vom  Dienstag  auf  Mittwoch  wird 
die  Braut  von  ihrer  Mutter  und  ihren  Freundinnen  ins  Bad 
geführt.  Von  hier  heimgekehrt,  findet  sie  den  vom  Bräutigam  ge- 
schickten Brautanzug  und  Brautschmuck.  Am  Mittwoch  mittag 
begibt  sich  auch  der  Bräutigam  in  Begleitung  des  Schachs,  des 


—    406    — 

Wesirs  und  seiner  Freunde  ins  Bad ;  während  er  im  Bad  ist,  ver- 
treibt sich  das  Gefolge  die  Zeit  mit  Tänzen.   Im  Vorhaus  des 
Bades  stehen  Frauen  und  singen  unaufhörlich :  „Ach  wie  langf, 
wie  lang  läßt  der  Bräutigam  auf  sich  warten."  Kommt  der  Bräu- 
tigam endlich  heraus,   so  ertönen  von  allen  Seiten  Schüsse, 
die  Freunde  eilen  auf  ihn  zu  und  küssen  ihn,  während  die 
Frauen  ihn  mit  Grütze  und  Mehl,  den  Symbolen  des  Wohl- 
standes, bestreuen.     Unter  hebräischen  und  tartarischen  Ge- 
sängen geht  es  zur  Braut,  wo  die  ganze  Hochzeitsgesellschaft 
beisammen  ist.    Der  Bräutigam  begrüßt  die  Eltern  der  Braut, 
indem  er  vor  ihnen  sich  verneigt  und  ihre  Hände  und  Füße 
zum  Zeichen  der  Ergebenheit  küßt.    Jetzt  wird  die  Braut  zum 
erstenmal  dem  Bräutigam  zugeführt.   Ihr  Gesicht  ist  aber  ver- 
hüllt. Das  Brautpaar  und  die  Gäste  begeben  sich  nunmehr  in  die 
Synagoge.    Hier  ist  es  die  wichtigste  Pflicht  der  guten  Freunde 
des  Brautpaares,  die  Knoten  des  Teufels  oder  böser  Menschen 
zu  entkräften;    die  gefährlichen  Folgen  dieser  Knoten  sind: 
Unfruchtbarkeit   der   Frau   und   Impotenz   des   Mannes.     Die 
größte  Kraft  haben  diejenigen  feindlichen  Knoten,  die  in  der 
Zeit  geschlungen  werden,  da  der  Bräutigam  der  Braut  den  Ring 
an  den  Finger  steckt  und  die  neun  Worte  aus  der  heiligen 
Schrift   spricht,   welche   die   Ehe   gültig  machen.     Die  guten 
Freunde   suchen    in    dieser    Zeit    möglichst    viel    Knoten    der 
Freundschaft   zu   schlingen,    damit    ihre    Zahl    die    der   bösen 
übersteige  und  die  guten  Wünsche  die  bösen  wettmachen.  Die 
Trauung  wird  von  dem  Rabbiner  in  ähnlicher  Weise  wie  bei 
den  übrigen  Juden  vollzogen.    Sobald  dies  geschehen  ist,  bricht 
die   Gesellschaft   in   lautes   Jubelgeschrei   und   Segenswünsche 
aus,  und  alles  begibt  sich  zum  Hause  des  Bräutigams.    Unter- 
wegs wird  das  junge  Paar  mit  Flintenschüssen  begrüßt  und 
von  allen  Seiten  mit  Mehl,  Gerste  und  Weizen  überschüttet. 
Zu  Hause  angelangt  wird  das  junge  Paar  von  des  Bräutigams 
Eltern  empfangen,  geküßt  und  in  zwei  besondere  Zimmer  ge- 
bracht.   Im  Zimmer  des  jungen  Ehemanns  halten  die  Männer, 
im  Zinmier  der  jungen  Frau  die  Weiber  den  Schmaus.    Neben 
dem  jungen  Gatten  sitzt  der  Rabbiner,  und  vor  diesem  ist  ein 
Tischtuch  ausgebreitet,  auf  das  die  Gäste  Geldgeschenke  für 
die  Neuvermählten  niederlegen.    Betrag  und  Name  des  Spen- 


—    407    — 

ders  werden  ausgerufen  und  aufgeschrieben.  Um  Mittemacht 
verschwindet  die  Braut  aus  dem  Kreise  der  Freundinnen  und 
wird  ins  Schlafgemach  gebracht.  Ihre  Freundinnen  eilen  ihr 
nach,  singen  im  Brautgemach  das  Hochzeitslied  und  ziehen 
sich  diskret  zurück,  nachdem  der  Bräutigam  eingetreten.  Nur 
der  nächste  Freund  des  jungen  Ehemannes  bleibt  draußen  vor 
der  Tür  stehen  und  hält  Wache.  Nach  etwa  drei  Stunden 
tritt  der  junge  Ehemann  wieder  aus  dem  Zimmer  und  begibt 
sich  zu  seinen  Freunden;  währenddem  kommen  die  Fretm- 
dinnen  der  jungen  Frau  ins  Brautgemach,  bringen  ihre  Glück- 
wünsche dar  und  räumen  unter  Scherzen  und  Gesängen  das 
Brautbett  weg.  Zum  Schluß  erscheinen  unter  Flintenschüssen 
bei  der  jungen  Frau :  der  Schach,  der  Wesir  und  die  anderen 
jungen  Leute,  um  ebenfalls  ihre  Glückwünsche  darzubringen. 
Sie  setzen  sich  der  jungen  Frau  zu  Füßen  und  erhalten  jeder 
ein  Glas  Wein,  wofür  sie  die  junge  Frau  mit  einer  Münze  be- 
schenken. 


44.  Ehescheidung. 


Polygamie  —  'Wladimirs  8cx)  Frauen  —  Russisch-orthodoxe  Ehegesetze  — 
Ausnahmen  für  die  Herrscher  —  Polygamische  Großfürsten  —  Großfürst 
Semen  —  Großfürst  Wassilij  —  Iwan  der  Schreckliche  —  Peter  der  Große  — 
Das  Los  der  verstoßenen  Zarin  Jewdokia  —  Die  Ehescheidung  des  Günstlings 
Jaguschinskij  —  Die  Scheidung  gewöhnlicher  Sterblicher  —  Scheidung  und 
Strafgesetz  —  Die  Kirche  gegen  Wiederverheiratung  —  Ehescheidung  bei  den 
nichtrussischen  Völkern  Rußlands  —  Bei  den  Tschuwaschen,  Kalmücken  und 
Giljaken  —  Die  Witwe  und  die  Geschiedene  bei  den  Osseten  —  Übertritt 
zur   Ortho<loxic  und  Ehescheidung  der  Nichtrussen   —   Ein  neues  russisches 

Scheidungsgesetz. 

Bei  den  heidnischen  Russen  herrschte  Polygamie.  Noch 
Wladimir  der  Heilige,  dem  Rußland  das  Christentum  ver- 
dankt, hatte  ungezählte  Frauen.  Der  Historiker  i)  berichtet 
von  Wladimir :  „Nach  des  Bruders  Ermordung  nahm  er  dessen 
schwangere  Gemahlin  zur  Beischläferin,  die  den  Swätopolk 
gebar;   eine   andere   rechtmäßige  Frau,   eine  Tschechin   oder 


^)  Karamsin,  I   164. 


—    408    — 

Böhmin,  gebar  ihm  den  Wychesslav ;  eine  dritte  Swätosslav  und 
Mstlißlav ;  eine  vierte,  aus  Bulgarien  gebürtige,  Boris  und  Gljeb. 
Überdieß  hatte  er,  wenn  wir  dem  Annalisten  Glauben  beimessen^ 
300  Beischläferinnen  in  Wyschegorod,  300  in  Bjelgorod  (un- 
weit Kijew),  und  200  im  Dorfe  Berestov.  Jedes  schöne  Weib 
oder  Mädchen  fürchtete  seine  lüsternen  Blicke,  denn  er  ach- 
tete weder  der  Ehe  Heiligkeit  noch  die  der  Unschuld.  Mit 
einem  Worte,  der  Annalist  nennt  ihn,  hinsichtlich  der  Weiber- 
sucht, den  andern  Salomo.** 

Im  christlichen  Rußland  ward  auf  Polygamie  Todesstrafe 
gesetzt.  1)    Trotzdem  dauerte  die  Vielweiberei  lange  fort;  und 
die  Herrscher  waren  es  wiederum,  die  mit  dem  bösen  Bei- 
spiel vorangingen,   denn  für  ihren  Gebrauch  hatten  sie  der 
Kirche  ein  Ausnahmegesetz  abzutrotzen  gewußt.    Die  Todes- 
strafe, heißt  es 2),  ist  „denenjenigen  geordnet  /  welche  mehr  als 
eine   Frau   nehmen;   der  Czar   oder   Groß-Fürst   selbst   darff 
nicht  mehr  als  eine  haben  /  es  sey  denn  /  daß  sie  /  wie 
man  Exempel  gesehen  hat  /  unfruchtbar  wäre  /  oder  keinen 
Printzen  bekommen  könte  /  denn  in  solchem  Fall  kan  er  sie 
in  ein  Kloster  einschliessen  lassen  /  und  eine  andere  heyrathen. 
Was  anbelanget  eine  andere  Frau  /  nach  Absterben  der  ersten  / 
zu  nehmen  /  so  leiden  sie  zwar  solches  /  und  glauben  /  es 
könne  geschehen  /  aber  sie  halten  eine  solche  Heyrath  kaum 
vor  gut  und  rechtmäßig  /  darum  darff  sich  keiner  unter  ihren 
Priestern   zum   andern    mahl    verheyrathen.      Was    die   dritte 
Heyrath  betrifft  solche  lassen  sie  gar  nicht  zu  /  es  müste  denn 
derjenige  /  der  sie  verlanget  /  sehr  wichtige  Ursachen  anzu- 
führen haben.    Die  vierdte  aber  ist  so  scharff  verboten  /  daß 
man  diejenigen  /  welche  dergleichen  unternehmen  /  mit  dem 
Tode  straffet.**     Zur  Zeit  des  Zaren  Alexej  war  indessen  eine 
Heirat  zum  vierten  Male  möglich;  Alexejs  Gesetzbuch  spricht 
von  einer  solchen 3):    „Wann  jemand  sich  zum  vicrdten  mahl 
verheyrathete,  und  mit  derselben  Frauen  Kinder  zeugete,  so 
soll  man  denenselben  von  seinen  Erb-  oder  Lehn  Gütern  nichts 


*)  Säint-Edme.   Dict.  de  la  p6nalit6,  V  95. 
-*)  In  der  ,, Religion  der  Moscowiter",  S.   36. 
•')  Struwens  Russisches  Landrecht,  XVI  15. 


—    409    — 

lassen."  Die  Kinder  mußten  also  die  Sünden  der  Eltern 
büßen. 

Das  besondere,  das  sich  die  Herrscher  gestatteten,  war 
dieses,   daß  sie  gleichzeitig  mehrere  Frauen  hatten. 

Großfürst  Semen  Iwano witsch,  der  im  Jahre  1353  von  der 
Pest  hingerafft  wurde,  war  mit  drei  Frauen  verheiratet  gewesen, 
Großfürst  Wassilij  IV.  verstieß  seine  Gemahlin  Salomonia  nach 
zwanzigjähriger  Ehe  in  ein  Kloster  in  dem  rauhen  Klima  von 
Kargopol  und  heiratete  Elena  Glinskij;  die  Frucht  dieser  Ehe 
war  Iwan  der  Schreckliche,  der  es  ärger  trieb  als  alle  anderen 
christlichen  Herrscher  Rußlands,  welche  sich  der  Vielweiberei 
schuldig  gemacht  haben.  Iwan  heiratete  achtmal.  Seine  Metro- 
politen hatten  nicht  den  Mut,  ihn  zu  exkommimizieren,  wie  es 
in  Byzanz  einst  der  Patriarch  Nikolaus  gegen  Kaiser  Leo  V. 
gewagt  hatte,  als  dieser  sich  zum  vierten  Male  verheiraten 
wollte.  Der  Moskauer  Erzbischof  Leonidas,  der  sich  bloß 
weigerte,  des  Schrecklichen  vierte  Ehe  einzusegnen,  wurde 
zur  Strafe  in  eine  Bärenhaut  eingenäht  und  den  Hunden  vorge- 
worfen.^) 

Peter  der  Große  konnte  nicht  behaupten,  daß  seine  Ge- 
mahlin Jewdokia  Lopuchin  unfruchtbar  war;  aber  sie  stand 
als  starre  Reaktionärin  allen  seinen  Wünschen  und  Reform- 
plänen im  Wege  und  wurde  deshalb  auch  ohne  den  gesetzlich 
notwendigen  Grund  ins  Kloster  gesperrt,  um  der  Nebenbuhlerin 
Katharina  Platz  zu  machen.  Der  Zar  schied  sich  so  gründlich 
von  ihr,  daß  er  ihr  weder  Geld  noch  Rang  ließ  und  sogar 
ihren  Namen  änderte;  sie  wurde  die  Nonne  Elena  und  mußte 
von  der  Mildtätigkeit  Fremder  leben.  „Ich  brauche  ja  nicht 
viel,**  schrieb  sie  in  einem  ihrer  Briefe  an  ihren  Bruder  Abra- 
ham; „aber  ich  muß  doch  essen;  ich  trinke  zwar  weder  Wein 
noch  Branntwein,  aber  ich  möchte  doch  einem  Besuch  et- 
was anbieten  können.  Hier  gibt  es  nichts.  Solange  ich  lebe, 
ich  bitte  euch  darum,  gebt  mir  wenigstens  zu  essen,  gebt  mir 
zu  trinken,  gebet  Kleider  der  Bettlerini**  Als  sie  dies  schrieb, 
zählte  sie  26  Jahre;  und  21  Jahre  mußte  sie  in  solchem  Elend 
schmachten,  während  ihre  Rivalin  als  Kaiserin  an  der  Seite 

1)  Vgl.  II  26. 


—    410    — 

des  Kaisers,  dann  als  Selbstherrscherin  figurierte!  -r-  Die. 
Toleranz,  die  Peter  für  sich  beansprucht  hat,  beweist  .er  in- 
dessen in  diesem  Punkte  auch  den  anderen.  Sein  Günstling 
Jaguschinskij  will  1723  die  Gattin  los  werden.  Er  hat  ihr 
nichts  vorzuwerfen;  sie  ist  keine  Ehebrecherin,  sie  ist  auch 
nicht  unfruchtbar,  sie  hat  ihm  mehrere.  Kinder  geschenkt; 
aber  der  Ehrgeizige  begehrt  nach  der  Tochter  des  Kanzlers 
Golowkin.  Frau  Jaguschinskij  ruft  die  Kirchengesetze  zu 
Hilfe,  und  der  Kanzler  Golowkin  macht  ebenfalls  Hindernisse^ 
>vill  dem  Emporkönunling  nicht  zu  Willen  sein.  Da  appel- 
liert Jaguschinskij  an  den  Zaren.  Und  Peter,  der  jede  Gelegen- 
heit ergreift,  dem  Klerus  einen  Streich  zu  spielen  und  die 
alte  Aristokratie,  welcher  Golowkin  angehört,  zu  erniedrigen, 
sagt  dem  Günstling  einfach:  „Jage  das  Weib  fort  und  wirf 
sie  ins  Kloster  1**  und  er  löst  selbst  als  Imperator-Papst  der 
Orthodoxie  die  erste  Ehe  und  segnet  selbst  die  zweite  ein, 
ohne  den  Kanzler  um  Einwilligung  zu  fragen. 

Alexander  I.  lebte  zwar  skrupellos  in  einem  ehebreche- 
rischen Verhältnis  nüt  der  schönen  Maria  Naryschkin,  zeigte 
sich  aber  in  der  Frage  der  Ehescheidung  überaus  streng  kirch- 
lich gesinnt,  als  sein  Bruder  Konstantin  sich  von  seiner  Ge- 
mahlin, der  sachsen-koburgischen  Prinzessin  Julie  Henriette 
trennen  und  die  polnische  Gräfin  Johanna  Grudzynska  heiraten 
wollte.  Erst  nach  vielen  Schwierigkeiten  erreichte  Großfürst 
Konstantin  sein. Ziel. 

Nikolaj  II.  hat  seinen  Oheim  Paul  Alexandrowitsch  aus 
Rußland  verbannt,  weil  dieser  sich  mit  einer  geschiedenen 
Frau  vermählte;  und  das  gleiche  Schicksal  traf  den  Groß- 
fürsten Kyril  Wladimirowitsch,  der  die  geschiedene  Großher- 
zogin von  Hessen  heiratete.  In  allerjüngster  Zeit  hat  jedoch 
eine  offenbare  Umwandlung  der  Anschauungen  des  regierenden 
Kaisers  stattgefunden:  Großfürst  Paul  wurde  begnadigt,  und 
Großfürst  Kyril  erhielt  nicht  bloß  alle  seine  Würden  zurück, 
sondern  seine  Gemahlin  wurde  auch  zum  Range  einer  russi- 
schen Großfürstin  erhoben;  und  als  schließlich  sich  die  Frau 
des  Herzogs  Peter  Nikolajewitsch  von  Leuchtenberg,  eine  mon- 
tenegrinische Prinzessin,  eigens  von  ihrem  Manne  schied,  um 
den  Großfürsten  Nikolaj  Nikolajewitsch  den  Jüngeren  zu  hei- 


—    411    — 

raten,  gab  Kaiser  Nikolaj  dazu  ausdrücklich  seine  Zustimmung 
und  seinen  Segen. 

Schwerer  als  der  Herrscher  hatte  es  der  gemeine  Sterb- 
liche in  Rußland,  wenn  er  sich  von  seiner  Frau  scheiden  lassen 
wollte.  Gesetzlich  war  nur  in  wenigen  Fällen  die  Wieder- 
verheiratung nach  der  Scheidung  gestattet;  so  gab  es  im  sech- 
zehnten Jahrhundert  folgende  legalisierte  Sitte :  Wenn  jemand 
auf  den  Tod  krank  gelegen  war  und  die  letzte  Ölung  erhalten 
hatte  und  dann  gesund  wurde,  so  trug  er  bis  an  sein  Ende 
ein  schwarzes  Gewand  nach  Art  der  Mönchskleider;  er  galt 
als  ausgeschieden  aus  dem  weltlichen  Leben,  und  seine  Frau 
durfte  sich  mit  einem  anderen  Manne  verheiraten,  i)  Das 
Strafgesetzbuch  Nikolajs  I.  setzte  in  neuerer  Zeit  fest  2):  „Der 
zu  Zwangsarbeit  verurteilte  Verbrecher  und  der  auf  Ansiedelung 
in  Sibirien  Verbannte  verlieren  ihre  Familien-  und  Eigentums- 
rechte. Der  Verurteilte  verliert  seine  Rechte  als  Ehegatte, 
ausgenommen,  wenn  der  andere  Ehegatte  ihm  freiwillig  in 
die  Verbannung  folgt.  Der  Gatte,  der  dem  Verbannten  nicht 
in  die  Verbannung  folgt,  darf  um  gänzliche  Trennung  der  Ehe 
bei  seiner  geistlichen  Behörde  ansuchen.  Die  Trennung  der 
Ehe  ist  auch  im  Falle  des  Folgens  in  die  Verbannung  dann 
gestattet,  wenn  der  Verbannte  durch  ein  neues  Vergehen  eine 
neue  Verurteilung,  die  ebenfalls  Auflösung  der  Familienrechte 
nach  sich  zieht,  veranlaßt.  Falls  der  Verurteilte  vom  Monar- 
chen begnadigt  wird  oder  ein  neues  Urteil  das  alte  umstößt, 
dann  besteht  die  alte  Ehe  fort,  vorausgesetzt,  daß  vom  an- 
deren Teil  nicht  unterdessen  die  Trennung  der  Ehe  beantragt 
worden  ist.**  Wer  auf  solche  *Ehescheidungsmittel  nicht  war- 
ten will,  ist  ganz  auf  die  Entscheidungen  der  Kirchenjustiz 
angewiesen.  Die  Orthodoxie  nimmt  in  dieser  Frage,  wie  Leroy- 
Beaulieu^)  richtig  gesagt  hat,  den  Platz  zwischen  Katholiken 
und  Protestanten  ein.  Mit  der  Abneigung  der  ersten  Christen 
gegen  die  Erneuerung  des  Ehebundes  ließ  die  orientalische 


*)  Karamsin,  IX  311. 

-)  Strafgesetzbuch   des   Russischen   Reichs   promulgiert   im  Jahre  1845, 
§§  29.  30.  31. 

^)  Das  Reich  der  Zaren,  III   145,   146. 


—    412    — 

Kirche  bei  den  Laien  i)  eine  zweite  und  dritte  Vd-heiratung  zu, 
wobei  sie  bloß  anordnete,  daß  die  zum  zweiten  Male  Ver- 
heirateten zwei  Jahre,  die  ^um  dritten  Male  Verheirateten  zwan- 
zig Jahre  lang  nicht  in  die  Kirche  Eintritt  erhalten  sollten.*) 
Einer  vierten  Ehe  verweigerte  die  Kirche  ihren  Segen.  Diese 
Kirchengesetze  begünstigten  in  erster  Linie  Witwer  und  Wit- 
wen, deren  Ehe  der  Tod  gelöst  hat.  Schwieriger  ist  die  Wieder- 
verheiratung eines  geschiedenen  Gatten,  schwierig  die  Schei- 
dung selbst.  Die  griechisch-russische  Kirche  faßt  gleich  dem 
Katholizismus  die  Ehe  als  ein  Sakrament  auf  und  erklärt  sie 
im  Prinzip  für  unlöslich;  aber  gleich  dem  Protestantismus  ist 
sie  der  Ansicht,  daß  die  Untreue  eines  der  Gatten  dem  andern 
Teile  das  Recht  zur  Scheidung  gebe;  denn  ihren  Überliefe- 
rungen zufolge  ist  der  Ehebruch  der  Tod  des  Ehebundes,  und 
die  Verletzung  des  Gelöbnisses  hebt  das  Sakrament  auf.  Die 
russische  Kirche  gestattet  dem  ehrverletzten  Gatten,  eine  neue 
Verbindung  zu  schließen,  aber  sie  verbietet  sie  demjenigen, 
welcher  in  der  ersten  die  Treue  brach.  In  Rußland,  wo  es 
für  die  Orthodoxen  keine  andere  als  die  kirchliche  Trauung 
gibt,  ersetzt  die  kirchliche  Gerichtsbarkeit  auf  diesem  Gebiete 
die  bürgerliche.  Ein  großer  Übelstand  haftet  ihr  an:  sie 
leistet  nicht  selten  betrügerischen  Kompromissen  und  schimpf- 
lichen Kaufgeschäften  Vorschub.  Das  weltliche  Gesetzbuch 
hat  in  eigentümlicher  Weise  das  kanonische  verändert  und 
verdreht.  So  kommt  es  nicht  selten  vor,  daß  Männer  sich  des 
von  ihrer  Frau  begangenen  Verbrechens  schuldig  bekennen 
und  der  letzteren  noch  behilflich  sind,  ihren  Buhlen  zu  heiraten. 
In  der  vornehmen  Welt  verfährt  ein  Ehrenmann  auf  diese 
Weise,  ohne  daß  man  Anstoß  daran  nimmt,  ja,  man  hat  aus 
einem  derartigen  Vorgehen  fast  eine  Regel  des  guten  Tones 
gemacht.  Können  die  Gatten  nicht  miteinander  auskommen, 
so  ist  es  Sache  des  Mannes,  wenn  der  Fall  eintritt,  alle  Schuld 
auf  sich  zu  nehmen;  er  muß  sich  nach  Bedürfnis  in  flagranti 
erwischen  lassen  und  selbst,  sollte  es  nicht  anders  gehen,  vor 


1)  Den  Popen  ist  in  keinem  Falle  eine  zweite  Khe  gestiittet. 

2)  Mayerberg,  I  137.    Dies  wurde  im  siebzehnten  Jahrhundert  streng  be- 
obachtet; die  Betreffenden  mußten  im   Vorhaus  der   Kirche  bleiben. 


—    413    — 

Zeugen  eine  Ehebruchskomödie  aufführen.  Viel  seltener  ist 
es  die  Frau,  welche  sich  opfert  und  die  Schande  des  Ver- 
brechens, welches  sie  gar  nicht  begangen  hat,  auf  sich  ladet. 
Einige  tun  es  aus  Ergebenheit,  andere  aus  Habsucht.  Man 
erzählt  beispielsweise,  daß  in  der  Handelswelt  reiche  Witwen 
auf  solche  Weise  vermögenslosen  Frauen  einen  Mann  nach 
ihrem  Geschmack  abgekauft  haben.  Eine  Komödie  von 
Ostrowsky,  „der  Schöntuer**,  behandelt  diesen  Gegenstand.^) 
Die  Andersgläubigen  haben  es  in  Rußland  besser.  Den 
kaukasischen  Bergjuden,  den  Juden  in  Zentralasien,  den  Mos- 
lems ist  die  Polygamie  gestattet.  Die  Protestanten  und  Katho- 
liken können  nach  ihren  Kirchengesetzen  verfahren.  Noch 
weniger  kümmert  man  sich  um  die  heidnischen  Völker  oder 
um  jene,  die  zwar  nominell  Christen  sind,  aber  noch  nach 
ihren  alten  heidnischen  Sitten  leben.  Wenn  der  Tschuwasche 
an  der  Wolga  sich  von  seiner  Frau  scheiden  will,  so  schneidet 
er  ihren  Surban  (den  Schleier)  mitten  durch,  und  sie  muß  ohne 
Widerspruch  von  dannen  gehen.  2)  Auch  den  Kalmücken 
macht  die  Ehescheidung  keine  Sorgen:  „Ist  der  Mann  mit 
seiner  Frau  nicht  zufrieden,  so  verläßt  er  sie,  und  sucht  sich 
eine  andere,  ohne  daß  er  für  dies  Verfahren  verantwortlich 
gemacht  werden  kann.  Die  verstoßene  Frau  hat  indessen 
ebenfalls  das  Recht,  eine  andere  Verbindung  einzugehen. 
Solche  Ehescheidungen  ereignen  sich  bey  der  leichtsinnigen 
Denkungsart  der  Kalmüken  nicht  selten.  Mancher  Kalmük 
wechselt  auf  diese  Weise  in  kurzer  Zeit  2,  3  und  mehrere 
Weiber.  Das  kalmükische  Gesetz  setzt  dergleichen  Eheschei- 
dungen keine  Gränzen.**^)  Und  von  den  Giljaken  auf  der 
Insel  Sachalin  erzählt  man:^)  „Le  mariage  se  d^fait  aussi 
facilement  qu'il  a  6te  conclu;  un  mari  peut  renvoyer  sa  femme 
et  r^clamer  la  reddition  de  la  dot,  un  p^re  qui  trouve  sa  fille 
mal  nourrie  peut  la  reprendre  en  rendant  Targent  regu.  Les 
enfants  appartiennent  alors  au  pere.**    Schlecht  hat  es  eigent- 


1)  Leroy-Bcaulieu,  III    147. 

2)  Pallas,  Merkwürdigkeiten,  S.   26. 

^)  Bergmanns  Nomadische  Streifereien,   III    152. 
')  Paul  Labbc,  Un  bagne  russe,  p.   169. 


—    414    — 

lieh  nur  die  Witwe  bei  den  Osseten.  Diese  darf  nicht  wie- 
der heiraten,  gleichwie  das  Pferd  eines  verstorbenen  Osseten 
von  keinem  anderen  bestiegen  werden  soll.  Pferd  und  Witwe 
eines  Osseten  werden  bei  dessen  Begräbnis  dreimal  um  das 
Grab  herumgeführt  zum  Zeichen,  daß  sie  des  Verstorbenen 
Eigentum  bleiben  und  an  niemanden  übergehen  können.  So 
berichtete  Baron  Haxthausen.  Nach  den  Feststellungen  von 
Dschantemir  Schanajew  und  Wßewolod  Miller  kann  die  osse- 
tische Witwe  jedoch  heiraten,  und  zwar:  wenn  sie  Kinder 
hat,  nur  den  Bruder  ihres  verstorbenen  Gatten,  niemals  einen 
Fremden,  und  die  Kinder  der  zweiten  Ehe  gelten  in  solchem 
Falle  als  Kinder  der  ersten  Ehe;  ist  die  Witwe  kinderlos,  so 
kann  sie  heiraten  wen  sie  will,  doch  muß  ihr  zweiter  Mann 
die  Hälfte  des  Kaufpreises,  den  für  sie  ihr  erster  Mann  gegeben, 
an  die  Familie  des  letzteren  zurückzahlen.  Scheidungen  kom- 
men bei  den  Osseten  seltener  vor  als  bei  den  übrigen  Kaukasiern. 
Bei  den  Tscherkessen  scheidet  man  sich  beispielsweise  auf- 
fallend viel.  Der  Mann  schickt  die  Frau  dann  einfach  ihren 
Eltern  heim.  Hat  die  Frau  an  der  Trennung  keine  Schuld, 
dann  braucht  ihr  Vater  den  Kaufpreis  nicht  zurückzuerstatten. 
Innerhalb  eines  Jahres  kann  der  Mann  seine  verstoßene  Frau 
jederzeit  wiederverlangen;  nach  Ablauf  des  Jahres  aber  muß 
er  einen  neuen  Kalym  bezahlen,  wenn  er  sich  mit  seiner  Gat- 
tin neu  vereinigen  will. 

Wenn  sichs  nun  aber  die  Katholiken,  Protestanten,  Mos- 
lems, Juden  und  Heiden  in  Angelegenheiten  der  Ehescheidung 
gar  bequem  machen  wollen,  so  brauchen  sie  bloß  zur  Ortho- 
doxie überzutreten.  Im  Augenblick,  da  dies  geschieht,  gilt 
ihrer  aller  Ehe  sofort  als  Konkubinat  und  zählt  nicht.  Tritt 
ein  Mann  oder  eine  Frau  zur  Orthodoxie  über,  so  ist  die 
alte  Ehe  von  selbst  gelöst,  die  Gattin  verliert  ihre  legitimen 
Rechte,  die  Kinder  sind  Bastarde.  Treten  beide  Gatten  gleich- 
zeitig zur  Orthodoxie  über,  so  müssen  sie  einander  nochmals 
heiraten. 

Die  Russen  kämpfen  seit  langen  Jahren  für  Scheidungs- 
freiheit und  das  Recht  der  Wiederverheiratung  auch  des  schul- 
digen Gatten.  Die  Kirche  scheidet  gewöhnlich  nur  wegen 
Bigamie,  Impotenz  und  Ehebruch,  das  bürgerliche  Gesetz,  wie 


—    41B    — 

gesagt,  bloß  wegen  Verurteilung  zu  Zwangsarbeit  und  Verban- 
nung. Nur  in  den  beiden  letzten  Fällen  ist  das  Verfahren  ein- 
fach, sonst  aber  kostspielig  und  langwierig,  so  daß  es  in 
Rußland  unter  den  Russen  durchschnittlich  bloß  tausend  Ehe- 
scheidungen im  Jahre  gibt.  Den  Scheidungslustigen  ortho- 
doxen Glaubens  winkt  jedoch  eine  bessere  Zukunft.  Im 
April  1907  ist  vom  Oberprokureur  des  Heiligen  Synod, 
Iswolskij,  eine  neues  liberales  Ehegesetz  dem  Senat  unter- 
breitet worden,  das  auch  bestätigt  werden  wird.  Die  Schei- 
dung soll  diesem  Projekt  zufolge  verbilligt  und  erleichtert 
werden.  Außer  den  alten  Gründen:  Bigamie,  Ehebruch,  Im- 
potenz, Unfruchtbarkeit  der  Frau,  körperlichen  Gebrechen,  Kri- 
minalverbrechen (welche  Zwangsarbeit  und  Deportation  nach 
sich  ziehen),  sind  neue  Scheidungsgründe  möglich:  „Wenn 
einer  der  Ehegatten  den  orthodoxen  Glauben  wechselt  und 
aus  der  Landeskirche  austritt,  können  sich  die  Gatten  scheiden 
lassen  und  neue  Ehen  eingehen.  Wenn  die  Gatten  sich  in 
gegenseitigem  Einvernehmen  trennen,  können  sie  sich  beide 
nach  Ablauf  eines  Jahres  scheiden  lassen  und  dürfen  sich  beide 
von  neuem  verheiraten.  Geschieht  die  Trennung  ohne  gegen- 
seitige Einwilligung,  verläßt  der  eine  der  Gatten  den  anderen 
böswillig,  so  wird  die  Scheidungsfrist  auf  drei  Jahre  verlängert, 
es  sei  denn,  daß  inzwischen  die  Zustimmung  des  anderen  Gatten 
erfolgt  ist.  Tritt  nach  wenigstens  dreijähriger  Ehe  bei  Mann 
oder  Frau  ein  körperliches  Gebrechen  ein,  welches  das  eheliche 
Zusammenleben  oder  die  Kinderzeugung  unmöglich  macht, 
wird  ferner  der  eine  oder  der  andere  der  Gatten  von  Irrsinn 
oder  von  Schwachsinn  befallen,  so  kann  auf  ein  ärztliches 
Zeugnis  hin  die  Ehe  ohne  weiteres  geschieden  werden.** 


—    416 


45-  Ehebruch. 


Ehescheidung  und  Ehebruch  —  Der  Ehebruch  beim  Baoemvolk  —  Die  wilde 
Ehe  in  den  höheren  Klassen  —  Gesellschaftliche  Toleranz  —  Historische  Ehe- 
bruchs-Affären  —  Der  gehörnte  Morosow  —  Eheiming  der  Zarinnen  Maria 
und  Natalia  —  Peter  der  Große  auf  der  Suche  nach  seinem  Vater  —  Der  Spaljnik 
der  Zarin  Praskowja  —  Wie  Peter  der  Große  über  Ehebruch  denkt  —  Wie  er 
in  eigener  Sache  mteilt  —  Ehebruch  et^-as  Alltägliches  —  Gesetze  über  Ehe- 
bruch der  Leibeigenen  —  Peters  populäre  Erklärung  des  Ehebruchs  —  Strafen 
für  Ehebrecher  im  Gesetzbuch  Nikolajs  —  Zaubermittel  zur  Sicherung  der 
Treue  und  Entdeckung  der  Untreue  —  Bestrafung  der  Ehebrecherin  durch  das 
Bauemgericht  —  Lynchjustiz  in  Zdj\zyn  —  Strafe  bei  den  Kosaken  und  in 
Polen  —  Keuschheitsgürtel  der  Polinnen  und  Samojedinnen  —  Ehebruch  bei 
den  Esten  und  Letten  —  Bei  den  Wotjäken  —  Bei  den  Kamtschadalen  ist  nur 
der' Mann  strafbar  —  Duell  der  Kurilen  —  Sitte  der  Kalmücken,  Kirghisen 

und  Kaukasier. 

Die  Folgen  der  russischen  Ehegesetze,  die  eine  Scheidung 
so  schwer  und  eine  Wiederverheiratung  kaum  möglich  ma- 
chen, waren  für  die  öffentliche  Sittlichkeit  wahrhaft  verhäng- 
nisvoll. Die  vielen  Sekten,  die  die  Ehe  verabscheuen,  ver- 
danken der  Härte  der  Kirchengesetze  und  dem  Mangel  einer 
Zivilehe  ihren  Ursprung.  Die  wilde  Ehe  hat  nirgends  soviel 
Anhänger  als  in  Rußland.  In  den  unteren  Volksschichten  sieht 
man  im  Ehebruch  und  im  Zusammenleben  in  wilder  Ehe  nichts 
Schändliches.  Der  Muschik  ist  dazu  förmlich  gezwungen.  Der 
Mann  muß  aus  dem  Dorfe  hinaus,  um  in  der  Stadtfabrik  als 
Arbeiter  das  Brot  zu  verdienen,  die  Frau  bleibt  zu  Hause ;  jeder 
Teil  verliert  den  anderen  auf  Monate,  auf  Jahre  aus  den  Augen, 
macht  Bekanntschaften,  führt  mit  einem  anderen  Manne  oder 
Weibe  gemeinsame  Wirtschaft;  Scheidung  und  Wiederverhei- 
ratung sind  fast  ausgeschlossen,  also  bleibt  nichts  anderes 
übrig  als  die  wilde  Ehe. 

In  den  intelligenten  Gesellschaftskreisen  sind  nicht  die 
gleichen  Ursachen  vorhanden,  aber  das  Resultat  ist  dasselbe. 
Man  heiratet  leichtfertig,  auf  das  Wort  und  das  Gelöbnis  legt 
man  keinen  Wert,  und  was  man  gestern  beschworen  hat, 
das  bricht  man  heute  leicht  in  aller  Gemütsruhe.  Gestern 
glaubte  man,  daß  man  zueinander  passen  könnte;  heute  ist 
man   vom   Gegenteil   überzeugt :   kurz   entschlossen  geht   man 


—     417    — 

auseinander.  Scheidung  ist  schwierig,  Wiederverheiratung  un- 
möglich; also  sind  die  Folgen:  freie  Liebe  und  wilde  Ehe. 
Jeder  Teil  geht  seinen  Weg  und  keiner  stört  den  anderen. 
Die  wilden  Eheleute  genießen  in  der  besten  Gesellschaft  das 
gleiche  Ansehen  wie  die  legitimen  Paare,  und  es  wird  nieman- 
dem einfallen,  etwa  eine  Dame,  die  gestern  mit  ihrem  legi- 
timen Gatten  vorgesprochen  hat,  heute  nicht  zu  empfangen, 
weil  sie  mit  ihrem  Liebhaber  kommt.  Sie  kann  ruhig  in  den 
alten  Häusern  verkehren,  in  denen  sie  bisher  erschienen  ist; 
keine  Tür  wird  sich  ihr  bloß  deshalb  verschließen,  weil  sie 
eine  Ehebrecherin  ist. 

Der  Wiener  Prälat  Faber,  der  sich  im  Jahre  1525  von  zwei 
in  Europa  weilenden  Russen  manchen  Bären  aufbinden  ließ, 
hat  sich  von  ihnen  damals  auch  erzählen  lassen,  daß  die 
Russen  vor  dem  Ehebruch  einen  größeren  Abscheu  haben  als 
die  Westeuropäer,  und  daß  sie  ihn  als  den  ärgsten  Greuel 
verfolgen  und  verwünschen.  Der  leichtgläubige  Prälat  ist  in 
dieser  Beziehung  unglaublich  frech  angelogen  worden.  Der 
Ehebruch  war  damals  wie  jetzt  den  Russen  ein  gewohnheits- 
mäßiger Greuel.  Der  Unterschied  zwischen  damals  und  jetzt 
besteht  nur  darin,  daß  in  den  Zeiten  des  Terem  den  Frauen 
die  Gelegenheit  nicht  immer  günstig  war.  Dennoch  sagt 
selbst  der  russische  Historiker i)  von  den  Sitten  jener  Epoche: 
„Ungeachtet  des  Verschließens  der  Frauen  gab  es  doch  Bei- 
spiele von  Untreue,  und  dies  desto  natürlicher,  da  gegen- 
seitige Liebe  an  den  Ehebündnissen  keinen  Teil  hatte,  und 
die  Männer  adligen  Geschlechts  im  Dienste  des  Großfürsten 
standen  und  selten  zu  Hause  lebten.** 

Auch  die  zarischen  Damen  werden  ausnahmslos  ehe- 
brecherischer Handlungen  beschuldigt.  Boris  Morosow,  der 
Günstling  und  Schwager  des  Zaren  Alexej  kann  ein  Lied  davon 
singen.  Ein  zeitgenössischer  Reisender 2)  erzählt:  „Boriß 
war  alt  und  sehr  Jaloux  /  seine  Frau  jung  und  sehr  schön  /  es 
kam  ein  Mißverständnis  unter  sie  /  er  tractirte  sie  übel  /  und 


')  Karamsin  VII   172. 
'^)  Reise  nach  Norden,  S.   134. 
Stern,  Geschichte  der  Oflfeatl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    '*  27 


-    418    — 

ließ  den  William  Barnsley  einen  Engelländer  aus  der  Provinz 
Worchester  /  in  Syberien  verweisen  /  weil  er  ihn  wegen  allzu 
grosser  Gemeinschafft  mit  ihr  in  Verdacht  hatte.  Barnsley 
ist  in  diesem  Elend  20.  Jahr  verblieben  /  und  endlich  zu  einer 
reichen  Heyrath  gekonjmen  /  nachdem  er  den  Rußischen 
Glauben  angenommen,"  Morosow  tröstet  sich  damit,  daß  es 
seinem  Schwager,  dem  erhabenen  Zaren,  nicht  bloß  mit  seiner 
ersten  Gemahlin,  Maria  Miloslawskij,  der  Schwester  der  Frau 
Morosow,  sondern  auch  mit  der  zweiten  Gattin,  dem  Muster 
aller  Tugenden,  der  Mutter  Peters  des  Großen,  Natalia  Kyri- 
lowna  Lopuchin,  nicht  besser  ergangen  ist. 

Es  ist  bezeichnend  für  das  Leben,  die  Sitten  und  die  Moral 
jener  Zeit,  daß  man  niemals  erfahren  hat,  wo  eigentlich  der 
größte  Russe  aller  Zeiten,  Peter  der  Erste,  geboren  worden 
ist.  Ist  sein  Geburtsort  der  Kremlj  von  Moskau?  Ist  es  das 
Nachbarschloß  Kolomenskoje  ?  Oder  Ismailow?  Man  weiß 
es  nicht.  Aber  man  weiß  noch  manches  andere  nicht.  Peter 
ähnelte  weder  seinen  Stiefbrüdern  Feodor  und  Iwan,  noch 
seiner  Schwester  Sofia,  noch  seinem  Vater  Alexej.  Als  Peter 
zur  Welt  kam,  war  Zar  Alexej  ein  todkranker  Mann,  und  kurz 
darauf  starb  er;  konnte  dieser  Schwächhng  einen  so  kräftigen 
Sohn  zeugen  ?  Die  Zeitgenossen  haben  deshalb  Peter  gar  nicht 
als  Sohn  Alexejs  anerkannt,  sondern  fast  übereinstimmend  er- 
zählt, daß  Zarin  Natalia  ein  schwächliches  Mädchen  geboren 
hatte;  an  dessen  Stelle  wurde  Peter,  Sohn  eines  deutschen 
Chirurgen  untergeschoben.  Peter  der  Große  sdbst  hat  diese 
Mutmaßung  verspottet;  er  glaubte  nicht  an  diese  Unter- 
schiebung. Dies  geht  aus  einer  ganz  merkwürdigen  Episode 
hervor:  Eines  Tages,  da  man  heiter  zecht,  fährt  der  Kaiser 
jäh  von  seinem  Platze  empor,  zeigt  auf  Iwan  Mussin-Puschkin 
und  sagt:  ,,Der  da  weiß  wenigstens,  daß  er  der  (uneheliche) 
Sohn  meines  Vaters  (des  Zaren  Alexej)  ist.  Aber  wessen  Sohn 
bin  ich?"  Und  plötzlich  packt  er  den  Höfling  Tichon  Niki- 
tisch Streschnjew  an  der  Brust  und  schreit:  „Bin  ich  viel- 
leicht dein  Sohn,  Tichon  Streschnjew  ?  Hast  du  mich  gezeugt  ? 
Gehorche,  sprich  ohne  Furcht!  Sprich,  oder  ich  erwürge  dich !" 
—  Tichon  sinkt  in  die  Knie  und  stammelt:    „Gnade,  Väter- 


r 


—    419    — 

chen,  Gnade,  ich  weiß  nicht,  was  ich  antworten  soll  —  ich 
war  nicht  der  Einzige  1**^) 

Der  Zar  Iwan  Alexejewitsch,  Peters  Mitregent  und  Stief- 
bruder, war  vollkommen  impotent.  Die  Staatsraison  verlangte 
nichtsdestoweniger,  daß  er  verheiratet  sei  und  Kinder  habe. 
Man  gab  ihm  zur  Gemahlin  ein  Mädchen  aus  einer  vornehmen 
Familie,  Praskowja  Ssoltykow;  um  den  Zweck  dieser  Ehe  zu 
erreichen,  ernannte  man  zum  Kammerherrn  der  Zarin  den 
Edelmann  Wassilij  Juschkow,  einen  robusten  Burschen,  und 
machte  so  wenig  Hehl  aus  den  erhabenen  Absichten,  daß  man 
dem  Kämmerer  den  Spezialtitel  eines  Spaljnik  (cnajibHHin», 
dem  Schlafzimmer  zugeteilt)  verlieh.  2)  Juschkow  entsprach 
aber  nicht  vollständig  dem  in  ihn  gesetzten  Vertrauen.  Pras- 
kowja gebar  keinen  Sohn,  sondern  bloß  Töchter:  die  Prin- 
zessin Katharina,  spätere  Herzogin  von  Mecklenburg;  und  die 
Prinzessin  Anna,  spätere  Herzogin  von  Kurland,  und  nach 
dem  Tode  Peters  II.  Kaiserin  von  Rußland. 

Ehebiuch  auf  dem  Throne  ist  also  förmlich  Hausregel, 
unter  Umständen  Staatsnotwendigkeit.  Daß  Peter  der  Große 
sich  keineswegs  kränkte  bei  dem  Gedanken,  nicht  dem  er- 
lauchten Romanowschen  Stamme  entsprossen  zu  sein,  wissen 
wir.  Sein  Gewissen  beunruhigt  ihn  durchaus  nicht,  es  macht 
ihm  keine  Skrupel,  daß  er  eigentlich  ein  Usurpator.  Er 
betrachtet  auch  vom  Standpunkt  des  Gesetzgebers  Ehebruch 
nicht  als  strafbar.  Den  Kindesmord  bedroht  er  durch  ein 
besonderes  Gesetz  mit  Todesstrafe,  aber  bei  dieser  Gelegenheit 
äußert  er  seine  lebhafte  Verwunderung  darüber,  daß  Karl 
der  Fünfte  eine  gleich  schwere  Strafe  für  Ehebruch  festzu- 
setzen wagte;  „hatte  Karl  zu  viel  Untertanen?**  fragt  er. 3) 
Er  seinerseits  ordnet  im  Artikel  3  des  dritten  Kapitels  seines 
Kriegsreglements  bezüglich  des  Ehebruchs  nur  folgendes  an: 
„Der  Ehebruch  soll  je  nach  den  Rechten  der  Nation,  welcher 
der  Beschuldigte  angehört,  gestraft  werden.**    Einmal  aber,  im 


1)  Vgl.  Band  I,  S.  191  und  471.  —  Ferner:  Waliszewski,  Pierre  le  Grand, 
p.  5.  —  Vockerodt  bei  Hermann,  Zeitgenössische  Berichte. 

2)  Dolgoroukow,  Memoires  I  34.  —  Waliszewski,  L'h^ritage  de  Pierre  le 
Grand,    163. 

•')  Stählins  Anekdoten,  S.  333. 


; ' 


—     420    — 

Jahre  1724,  uird  doch  seine  präzise  Entscheidung  in  cin^z 
Ehebnichsaffäre  verlangt,  die  in  Moskau  großes  Aufsehen 
macht:  und  da  fallt  er  ein  salomonisches  Urteil^  :  Fines 
betagten  vornehmen  Russen  junge  und  schöne  Ehegattin  lebte 
mit  einem  anderen  in  ungeziemender  X'ertrauhchkeit.  Diese 
aber  wurde  einst  durch  des  Gatten  unerwartete  Dazwiscfaen- 
kunft  so  plötzlich  gestört,  daß  der  Buhle  in  der  Besrürzung^ 
stan  seiner  eigenen  Beinkleider,  in  denen  sich  eine  goldeoe 
Repetieruhr,  eine  schwere  Goldbörse  imd  andere  Kostbarkeiten, 
befanden,  die  Hosen  des  Geprellten  ergriff.  I>ieser  fand  di« 
Beute,  faßte  aber  die  vernünftige  Entschließung,  der  kost- 
baren Hose  zuliebe  seinen  \'erdruß  und  Schimpf  5tiIIschweigeii<i 
zu  verbeißen.  Nicht  so  zufrieden  mit  dem  Tausch  war  der 
verliebte  Flüchtling;  ihm  war  dsr  \'erlust  seiner  Hcse  so  emp- 
findlich, daß  er  kurz  darauf  den  Alten,  als  dieser  aus  der 
Kirche  trat,  in  eine  Ecke  führte,  ihm  Hände  imd  Füße  küßte 
und  ihn  sowohl  um  \'ergebmig  des  Vergehens  als  um  ^c 
Auslieferung  der  im  Stiche  gelassenen  Hose  ersuchte.  E>er 
weise  Alte  aber  schalt  d«i  Bitt«iden  einen  Unsinnigen,  der 
nicht  wüßte,  was  er  redete,  rühmte  die  junge  Frau,  seine  Gattin, 
als  ein  Muster  der  Tugend  und  ehelichen  Treue,  und  lieö 
den  Jüngling  stehen.  Dieser  warf  sich  darauf  zu  des  Kaisers 
Fü£en.  beichtete  alles  offenherziz  und  bat  um  sxädrge  Hilfe. 
.\llein  der  Zar  spricht  dieses  Urteil:  ..Einem  Ehemanne  gehört 
alles,  was  er  auf  seinem  Eiiebette  findet." 

Nicht  humoristisch  nimmt  Peter  es  allerdings  auf.  wenn  ihn 
selbst  das  Unglück  trifft.  Seine  Moral  imd  sein  Ehxgefiihl  rwar 
fülilen  sich  auch  dann  nicht  getroffen,  aber  seine  Eirelkrrr 
wird  verletzt,  und  dies  fordert  Genugtuung.  Feter  hat  seine 
erfte  Gemahlin  Fewdokia  ins  Kif>ster  verbannt,  und  al.5  vii-e 
:ui:<e  Frau  dort  rrfr  dem  Ma*or  Girrfww  ein  Liebesverhältnis 
anknüpft.  i»-ird  der  verwegene  Offizier  zum  Tode  venirteiLt. 
die  verstoßene  Zarin  gepeitscht  und  gemartert.  Peter  hat 
sich  :r.  ra-eiter  Ehe  niit  Katharina  verheiratet,  di-^  5.:hoc  durjb. 
so  vi*rl^  Hände  zetranzen  und  leirwetliz  ^in.^  ottent^-rbe  Hure 
ge'^fsen;    und  dann  ist  er  erstaunt,  daß  sie  mn  >e.rst  auch 


—    421     — 

betrügt.  Von  manchem  weiß  er  nicht,  aber  mit  William  Mons 
findet  er  sie  im  Bette,  und  ohne  sich  um  seine  sonstigen  An- 
sichten über  Ehebruch  im  allgemeinen  zu  kümmern,  läßt  er 
den,  der  sich  gegen  ihn,  den  Zaren  vergangen  hat,  köpfen; 
auch  Katharina  zu  züchtigen,  bleibt  ihm  keine  Zeit,  da  er  zu 
schnell  stirbt.  Peter  duldet  nicht  einmal  bei  seinen  Maitressen 
eine  Extratour,  während  er  sich  selbst  jede  Untreue  vergönnt ; 
dem  Zaren  ist  alles  gestattet;  hat  ja  doch  schon  ein  byzanti- 
nischer Patriarch  den  Ehebruch  Kaiser  Konstantins  mit  den 
Worten  gerechtfertigt:  „Den  Herrschern  ist  es  erlaubt,  sich 
auch  über  die  göttlichen  Gebote  hinwegzusetzen."  An  diesen 
gefälligen  Byzantiner  halten  sich  die  späteren  russischen 
Herrscher  und  namentlich  die  Herrscherinnen,  wie  wir  es  auch 
im  Kapitel  über  die  Unsittlichkeit  am  russischen  Hofe  erfahren 
werden. 

Das  gemeine  Volk  macht  natürlich  noch  weniger  Um- 
stände. Baron  Mayerberg  i)  erzählt  aus  der  Zeit  des  Zaren 
Alexej :  „Die  Frauen  des  niedrigen  Volkes  sind  nicht  so  ein- 
geschlossen in  ihre  Häuser,  sie  haben  stets  tausend  Ausreden 
um  hinzugehen,  wo  es  ihnen  gefällt.  Sie  gehen  besonders  in 
die  Schenken  und  treffen  dort  ihre  guten  Freunde,  mit  denen 
sie  um  die  Wette  trinken.  Beim  Saufen  verlieren  sie  alles 
Schamgefühl,  sie  ergeben  sich  ihren  Geliebten  aus  Liebe  oder 
opfern  sich  für  eine  kleine  Entlohnung.  Die  Russen  sehen 
es  für  einen  groben  Irrtum  an,  wenn  man  den  Verkehr  eines 
Ehemannes  mit  einem  Mädchen  als  Ehebruch  bezeichnet;  ihrer 
Ansicht  nach  tritt  erst  dann  ein  Ehebruch  ein,  wenn  beide 
Personen  verheiratet  sind.**  Ähnlich  lautet  hundert  Jahre 
später  die  Schilderung  eines  deutschen  Offiziers  2):  „In  dem 
rußischen  Reiche  scheint  das  sechste  Gebot  sehr  überflüßig  zu 
seyn.  Man  hört  hier  in  den  Gerichten  gar  selten  Klagen  über 
Hurerey  und  Ehebruch,  und  es  scheint,  als  ob  nur  blos  die 
Ausländer  diesen  Ausschweifungen  ergeben  sind,  und  dieser- 


1)  Voyage  en  Moscovie,  Neudruck  I  140. 

2)  Rußische  Anecdoten,  oder  Briefe  eines  teutschen  Offiziers,  S.  88. 
Man  lese  über  diesen  von  mir  mehrfach  zitierten  Autor  die  Mitteilungen  von 
Bilbassow  (Katharina  II.  im  Urteile  der  Weltliteratur,  I  37),  der  die  Anek- 
dDtcn  eine  der  interessantesten  Quellen  für  die  Geschichte  jener  Zeit  nennt. 


—    422    — 

wegen  hin  und  wieder  vor  das  teutsche  Justitz-Collegium,  als 
ihr  Forum  competens,  Klagen  führen.  Der  gemeine  Mann 
folgt  hier  blos  den  Trieben  der  Natur,  und  ob  sie  sich  gleich 
noch  mit  mehr  Ceremonien  verheyrathen,  als  bey  uns,  so 
binden  sie  sich  doch  an  diesen  heiligen  Contract  so  wenig, 
daß  sie  nach  Gefallen  selbst  da  rinn  Öftere  Veränderungen 
treffen,  ohne  die  Richterstuben  damit  zu  belästigen.  Ein 
Mann  prügelt  seine  Frau  aus  dem  Hause;  sie  begiebt  sich  in 
ein  ander  Quartier  der  Stadt,  und  läßt  sich  einem  andern 
antrauen;  dieser  jagt  sie  wieder  fort;  sie  nimmt  den  dritten; 
der  läuft  endlich  davon,  und  läßt  sie  sitzen;  sie  verträgt  sich 
darauf  wieder  mit  ihrem  ersten  Mann,  und  sie  leben  ver- 
gnügt mit  einander.  Die  Weiber  der  Soldaten,  die  mit  zu 
Felde  ziehen,  haben  unterdeß  mehre ntheils  andere  Männer 
genommen,  mit  denen  sie  jährlich  Kinder  gezeugt :  Wenn 
nun  der  erste  und  rechte  Mann  gesund  aus  Teutschland  wieder 
kommt,  so  hat  er  nur  zwey  Wege  für  sich;  entweder  er  jagt 
seinen  Vicarium  zum  Hause  hinaus,  und  behält  seine  Frau 
nach  wie  vor,  oder  er  nimmt  sich  auch  selbst  eine  andere." 
Ich  habe  schon  früher  erwähnt,  daß  der  Ehebruch  keiner 
gesetzlichen  Strafe  unterlag;  nach  dem  Gewohnheitsrecht  und 
nach  den  kirchlichen  Gesetzen  strafte  man  zuweilen  die  Frau 
am  Leben,  den  ehebrecherischen  Mann  aber  im  allgemeinen 
gar  nicht.  Das  Gesetzbuch  des  Zaren  Alexej  kennt  in  allen 
fünfundzwanzig  Kapiteln  keinen  Artikel,  der  sich  auf  Ehe- 
bruch bezieht.  Nur  zwei  Paragraphen,  die  von  Leibeigenen 
handeln,  haben  im  Interesse  der  Herren  annäherungsweise  die 
Frage  behandehi):  ,,Wenn  jemand  mit  einer  Magd,  sie  sey 
ein  Weib,  oder  Mägdgen,  in  seinem  Hause  hurete,  und  Kinder 
mit  ihr  zeugete,  die  Magd  aber  desfals  über  ihn  klagen  würde, 
so  sollen  beyde  Partheyen  in  Moscau  in  des  Patriarchen,  und  in 
denen  Land-Städten  in  derer  Metropoliten  und  Ertz-Bischöffc 
Cantzeleyen  geschickt,  und  die  Sache  durch  das  geistliche 
Gericht,  nach  denen  Reguln  der  Apostel  und  Heiligen  Väter, 
und  nach  ihrer  beyden  Beicht-Väter  Befragung,  entschieden 
werden.    Wann  ein  verheyratheter  alter  leibeigener,  oder  sonst 

M  Striiwcns  Riiwischcs  l^ndreclit,   XX  So  und  «4  (S.   195.    igfi). 


w 


—    423    — 

fester  Knecht  entlieffe,  seine  Frau  verliesse,  und  eine  andere 
nähme,  mit  Verschweigung  seiner  erstem,  hernach  aber  wieder 
zu  seinem  alten  Herrn  käme,  oder  von  ihm  ertappet  und  wegge- 
nommen würde,  so  soll  er  nach,  wie  vor,  mit  seinem  ersten 
Weibe  bey  ihm  bleiben.  Die  andere  Frau  aber  behält  der- 
jenige bey  sich,  in  dessen  Diensten  er  sich  mit  ihr  verheyrathet. 
Wäre  aber  die  erste  Frau  inzwischen  gestorben,  so  soll  ihm  die 
andere  zu  seinem  vorigen  Herrn  folgen.  Eben  also  soll  es  auch 
mit  denen  Mägden  gehalten  werden,  wenn  sie  ihre  Männer 
verliessen,  und  sich  an  andere  verheyratheten.**  Man  sieht 
also  deutlich,  wie  der  Gesetzgeber  bestrebt  ist,  das  Menschen- 
Eigentum  des  Sklavenhalters  zu  sichern.  Die  Schändlichkeit 
des  Ehebruches  kommt  gar  nicht  in  Betracht.  Von  Peter 
dem  Großen  haben  wir  /schon  vernommen,  wie  er  über  die 
Sache  dachte.  Er  fühlte  aber  doch,  daß  er  dem  Volke,  das 
er  zivilisieren  wollte,  einfe  gewisse  Anleitung  zur  Moral  geben 
mußte.  Auf  seinen  Befel^l  wurde  denn  in  Druck  gegeben  ,,Eine 
kurtze  Erklärung  der  zehen  Gebote**.  In  einer  solchen  Erklä- 
rung konnten  das  siebente  und  zehnte  Gebot  nicht  totge- 
schwiegen werden.  Man  lese  Peters  Kommentare;  zunächst 
die  „Erklärung  des  siebenden  Gebots.  Frage:  Was  befiehlet 
GOtt  im  siebenden  Gebote?  Antwort:  Er  verbietet  den  Ehe- 
bruch. —  Frage :  Was  Ist  der  Ehebruch  ?  Antwort :  Der  eigent- 
liche Ehebruch  ist,  wann  ein  Mann  mit  eines  andern  Weibe, 
oder  ein  Weib  mit  einem  andern  Manne  sich  fleischlich  ver- 
mischen: und  dieses  wird  vor  andern  in  diesem  Gebote  unter- 
saget, dabey  aber  auch  alle  andere  Unreinigkeit  des  Fleisches 
und  Hurerey.  —  Frage:  Ist  es  dann  Sünde,  seinem  eigenen 
Weibe  fleischlich  beyzuwohnen?  Antwort:  Dieses  ist  ein  ohn- 
sündliches  und  ehrbares  Werck,  als  welches  GOtt  selbst  ein- 
gesetzet  hat,  zu  Vermehrung  des  menschlichen  Geschlechts, 
und  gemeinschafftlicher  Hülffe  in  diesem  Leben.  Es  bestehet 
aber  die  Pflicht  angetrauter  Männer  und  Weiber  darinne,  daß 
sie  sich  einander  lieben  und  ehren,  vor  die  Haußhaltung,  wie 
auch  Unterweisung  und  Erziehung  ihrer  Kinder  gemeinschafft- 
lich  Sorge  tragen,  ingleichen  die  Treue  ihres  Ehe-Bettes  der- 
gestalt bewahren,  daß  weder  der  Mann  mit  einem  fremden 
Weibe,   noch   das   Weib   mit   einem  andern   Manne  sich   ver- 


f 


1 


i; 


—     424    — 

mische;  ferner,  daß  sie,  ausser  ihrer  rechtmäßigen  ehehchen 
Beywohnung,  keine  andere  fleischhche  Wollüste  treiben.   Denn 
alle  dieselbigen,  ausser  besagter  ehelichen  Beywohnung  alleine, 
sind  Sünden  wider  dieses  Gebot.    Über  dieses  sündigen  auch 
diejenigen  gegen  dieses  Gebot,  welche  sich  davor  nicht  hüten, 
was  zu  verbotener  Lust  und  Hurerey  reitzet :  als  da  sind  buhle- 
rische Blicke,  Berührung,  schandbare  Worte,  und  desgleichen." 
—  In  der  „Erklärung  des  zehenden  Gebots**  heißt  es:    „Was 
befiehlet  GOtt  in  diesem  Gebot?   Antwort:    Er  verbietet  die 
unrechtmäßige   Begierde,   und   befiehlet   uns,*   dasjenige,   was 
er  uns  in  denen  vorhergehenden  fünff  Geboten  mit  Worten 
und  Wercken  zu  erfüllen  aufgegeben,  auch  in  unserm  Hertzen 
zu  wünschen  und  zu  verlangen:    hingegen  dasjenige,  was  er 
uns  in  gedachten  Geboten  mit  Worten  und  Wercken  zu  thun 
verboten,  auch  nicht  zu  wünschen  oder  zu  verlangen:  damit 
ein  jeder  Mensch  alles,  was  ihm  nicht  gehöret,  allein  nicht 
rauben,   oder  auch  auf  eine  oder  andere  Art,  wie  sie  auch 
Nahmen  habe,  zu  sich  reissen,  sondern  sich  solches  auch  nicht 
einmahl  wünschen  möge.  —  Frage :  Wie  kan  man  dann  dieses 
Gebot   mit   denen  fünff  vorhergehenden   zusanunen   setzen?** 
Hierauf  erfolgt  in  bezug  auf  das  siebente  Gebot  die  Antwort : 
„Im   siebenden   Gebot    verbietet   er   die   Gemeinschafft    eines 
fremden  Ehe-Bettes :   hier  aber  verbietet  er,  daß  man  auch  im 
Hertzen  keine  fremde  Frau  begehren  solle.    Dieses  gehet  auch 
die  andern  Unreinigkeiten  an.'*  — 

Im  achtzehnten  Jahrhundert  wurde  die  ehebrecherische 
Frau,  wenn  der  Mann  sie  zur  Rechenschaft  zog,  bloß  in  ein 
Kloster  gesperrt.  Erst  das  Strafgesetzbuch  Nikolajs  I.  hat 
der  Entführung  verheirateter  Frauen  und  der  Verletzung  ehe- 
licher Pflichten  einige  Aufmerksamkeit  geschenkt.  Es  droht 
jenem  Strafen  an,  der  eine  verheiratete  Frau  gewaltsam  ent- 
führt, besonders  strenge  Strafe  aber^):  Wenn  die  gewaltsam 
entführte,  verheiratete  Frau  infolge  dieses  Verbrechens  ent- 
ehrt oder  auf  irgend  eine  Weise  gezwungen  wird,  mit  dem 
Entführer  oder  mit  einem  andern  eine  gesetzwidrige  Ehe  cin- 


1)  Strafgesetzbuch   des   Russischen    Reichs,    promulgirt   im    Jahr    iJ<45, 
Elfter  Abschnitt,  §§  2073  und  2074. 


—     425    — 

zugehen.  Wurde  die  Frau  nicht  gewahsam,  sondern  mit  ihrer 
EinwilHgung  entführt,  so  ist  über  den  Entführer  sowohl  als 
über  die  Entführte,  auf  die  Klage  des  Ehemannes,  ein-  bis 
zweijährige  Gefängnisstrafe,  und,  falls  sie  den  christlichen 
Glauben  bekennen,  auch  eine  Kirchenbuße  zu  verhängen.  — 
Der  spezielle  Ehebruchs-Paragraph  aber  ist  dieser  i):  Der  Ehe- 
gatte, welcher  einen  Ehebruch  begeht,  wird,  auf  die  Klage 
des  beleidigten  Gatten,  für  sechs  Monate  bis  zu  einem  Jahr  in 
ein  Kloster,  wenn  ein  Kloster  seiner  Konfession  an  dem  Ort 
besteht,  oder  in  ein  Gefängnis  eingesperrt,  und  muß  sich,  falls 
er  den  christlichen  Glauben  bekennt,  einer  Kirchenbuße  unter- 
ziehen. —  Wenn  der  beleidigte  Gatte  keine  Klage  erhebt, 
und  der  verübte  Ehebruch  bei  Gelegenheit  einer  andern  ge- 
richtlichen Verhandlung  an  den  Tag  kommt,  so  muß  das 
Zivilgericht  den  schuldigen  Ehegatten  dem  geistlichen  Gericht 
zuweisen.  —  Ist  der  Ehebruch  mit  einer  ledigen  Person  be- 
gangen, so  wird  diese,  nach  Umständen,  entweder  mit  drei 
bis  sechs  Monaten  Gefängnis  oder  mit  drei  Wochen  bis  zu 
drei\  Monaten  Arrest  bestraft,  und  muß  sich,  falls  sie  den 
christlichen  Glauben  bekennt,  einer  Kirchenbuße  unter- 
ziehen. — 

Das  gemeine  Volk  verläßt  sich  indessen,  wenn  es  sich 
überhaupt  für  Treulosigkeit  und  Ehebruch  interessiert,,  nicht 
auf  diese  Gesetze  von  problematischem  Wert,  sondern  auf 
seine  abergläubischen  Gebräuche;  es  hat  seine  Zaubermittel, 
um  die  Treue  des  Gatten  zu  erhalten  und  die  Untreue  zu  er- 
fahren 2):  Fühlt  die  Frau,  daß  der  Mann  ihr  untreu  wird, 
so  schmiere  sie  den  Unbeständigen  mit  Bärenfett  ein,  und  er 
kann  nicht  mehr  an  eine  andere  Frau  denken ;  wenn  sich  aber 
der  Mann  die  Liebe  und  Treue  seiner  Frau  sichern  will,  so 
gebe  er  ihr  ein  Sperlingsherz  zu  essen.  Wenn  der  Mann 
vermutet,  daß  seine  Frau  ihm  trotz  aller  Zaubereien  untreu 
sei,  und  nun  gern  erfahren  möchte,  mit  vTem  sie  es  hält, 
so  braucht  er  bloß  das  Herz  einer  Eule  in  ein  Handtuch  zu 


1)  Ebenda-  §  2077. 

2)  M  3116^1.111111»,   jjyfXJKirt    Hapo,ii»,   crp.  406,  407  AsAi  33  n  34:  Bopo/Koji 
iipoTiiHh  lU'Ht.piiocTii  (.iH>rM)Baji  3<Mifl);  yanaTi.  wo  cid;  o  Bt.pH«HTn  ;i:t'in.i. 


—     42(!     — 

wickeln  und  dieses  der  schlafenden  Gattin  an  die  linke  Seite 
zu  drücken,  und  sofort  beginnt  sie  im  Schlafe  zu  sprechen  und 
verrät,  wo  sie  überall  ohne  ihren  Mann  war  und  was  sie  ver- 
biochen  hat.^}  Ist  der  Mann  erst  soweit,  und  will  er  sich 
nun  einmal  an  der  Ehebrecherin  rächen,  dann  geht  er  nicht 
zum  staatlichen  Gericht,  um  zu  klagen,  sondern  sucht  Genug- 
tuung beim  Wolostgericht,  dem  Bauemgericht,  wo  er  ohne 
langen  Prozeß  seine  Frau  beschuldigen  und  auch  gleich  mit 
zehn  bis  zwanzig  Rutenhieben  belohnen  kann.  Will  er  ihr 
zum  Schmerz  noch  Spott  und  Schande  zufügen,  so  übt  er  selbst 
an  ihr  die  traditionelle  Lynchjustiz.  Auch  in  großen  Städten 
kommt  es  vor,  daß  ein  Ehemann  seine  ehebrecherische  Frau 
nackt  durch  die  Straßen  schleppt,  um  dem  Volke  unverhüllt 
jenen  Teil  ihres  Leibes  zu  zeigen,  den  die  Ungetreue  selbst 
schamlos  entweiht  hat.  2)  In  Zarizyn  an  der  Wolga  wird  die 
Ehebrecherin  nackt  statt  der  Stute  vor  den  Wagen  gespannt 
und  muß  diesen  durch  die  Straßen  ziehen;  der  rachefreudige 
Gatte  aber  sitzt  auf  dem  Bocke  und  peitscht  mit  den  Rufen : 
„Hü,  hü,  hü,  Verdammte!  hüI  hü!  führe  meinen  Jammer 
hinaus!"  auf  das  Weib  los.  Und  dann  ziu*  Abwechslung  schreit 
er :  „Kaufet  die  verfluchte  Stute !  Wer  will  sie  ?  Ich  gebe 
sie  umsonst!"   So  bestrafte  ein  bekannter  Zarizyner  Fuhrmann 

<)  Ein  älmliches  südslawisches  Mittt-i  erwähnt  Krauss,  Antliropophyteia, 
I  S :  Der  Mann  kauic  einen  kleinen  Spiegel,  ohne  beim  Kauf  zu  ft^ilschen,  und 
abends  legt  er  ihn  dem  Weib  unters  Haupt,  und  sie  wird  dem  Manne  im  Traume 
alles  aussagen,  was  und  mit  wem  sie  getrieben. 

2)  Ein  überraschendes  Scitcnstüek  zu  diesem  russischen  Sittenbild  fand 
ich  im  „Jurist.  Vadc  Mecum  für  lustige  Leute,  enthaltend  eine  Sammlung 
juristischer  Scherie,  witiiger  Einfälle  und  sonderbarer  Gesetze,  Gewohnheiten 
und  Rechtshändel",  Erster  Teil,  Frankfurt  und  Leipzig  1789,  S.  j,  Nr.  4; 
, .Seltsam  und  die  guten  Sitten  beleidigend  ist  die  Strafe,  welche  in  dem  alten 
lübischen  Recht  auf  den  Ehebruch  gesetzt  ist.  Der  Ehebrecher  soll  nemlich  an 
dem  Theile,  womit  er  gesündigt  hat,  durch  alle  Winkel  und  Straßen  der  Stadt 
gezogen  werden,"  ,,Issct,''  sagt  das  Gesetz,  ..dat  en  Man  wert  bcgrepen  bcy 
coes  echtes  Mannes  Wiwe,  dat  is  recht,  dat  man  ehme  the  by  Syncme  Dinge, 
de  Strate  up  und  dall.-  Eben  diese  Strafe  diktiert  das  alte  Ripischc  Stadt- 
recht mit  folgenden  Worten:  „Wer  mit  eines  andern  Ehefrau  im  Ehebruch 
ertappt  wird,  der  soll  nach  dem  Hechte  dieser  Stadt,  von  der  Ehebrecherinn  bey 
seinem  männlichen  Cliede  durch  die  StraOen  auf  und  nieder  gezogen  werden, 
und  sodann  von  aller  weiteren  Untersuchung  beircyet  scyn." 


—     427    — 

Iwan  Paramono witsch  im  September  1904  seine  Frau  für  eine 
begangene  Untreue.  Hinter  dem  sonderbaren  Gespann  wälzte 
sich  eine  Schar  von  Männern,  Frauen  und  Kindern.  Die 
Männer  suchten  den  Antreiber  noch  anzufeuern:  „Nur  zu, 
Iwan  Paramonowitsch,  ordentlich!  Damit  unsere  Frauen  sich 
das  auch  zu  Herzen  nehmen!**  Die  Frauen  dagegen  weinten 
und  baten:  „Laß  sie  in  Frieden,  Iwan  Paramonowitsch!  Tust 
dir  ja  nur  selber  Schande  an!**  Der  grimmige  Iwan  Para- 
monowitsch hörte  aber  nicht  rechtshin,  nicht  linkshin  und 
hieb  auf  das  Opfer  ein,  bis  das  Blut  in  Strömen  floß.  Ein- 
zugreifen wagte  niemand,  denn  die  Sitte  ist  alt  und  geheiligt.*) 
Die  Kosaken  in  der  Ukraine  führten  früher  an  der  ehe- 
brecherischen Frau  eine  noch  furchtbarere  Strafe  aus;  sie 
banden  sie  nackt  vor  die  Mündung  einer  Kanone  und  feuerten 
sie  in  die  Luft.  Diese  Sitte  soll  sich  noch  in  der  Form  einer 
bloßen  Schandstrafe  erhalten  haben :  man  läßt  die  Ehebrecherin 
in  dieser  Situation  eine  Zeitlang  ausgestellt.  Ein  Kosakenlied 2) 

erzählt   davon : 

niÜMajiH  coTHHKa  y  HacTi, 
ÜOBeJiH  Oro  KysaTH 
^o  aajiianoi  rapMaTH. 
„ÜToMTe,  naHOBe,  ne  KyMxe: 
He  MÜH  BHna  —  BAOBHHa,  — 
Hopny  cTCHCKy  Tonxajia, 
B  OKOHeHKO  TopKajia. 

Weil  sie  nachts  gefunden  hatten 

Bei   Nastasia   den   Soldaten, 

Banden  sie  das  Weib  gleich  ohne 

Faxen  schnell  vor  die  Kanone. 

„Liebe  Herren,  laßt  mich  los: 

Meine   Schuld   ist    nicht    so   groß, 

Jene  Witwe  gab  den  Rat, 

Bracht'  mich  auf  den  schwarzen  Pfad.** 

Bei  den  Polen  züchtigte  man  in  alten  Zeiten  nicht  bloß 
die  ehebrecherische  Frau,  sondern  auch  den  ehebrecherischen 


^)  Nach  dem  Bericht  eines  Augenzeugen  im  ..Hapin;.  BIuthuki.". 
-)  Kov.TTdAta,  V   116. 


--    428    — 

Mann.  Die  Methode  erinnert  an  die  früher  erwähnte  russische, 
das  schuldig  befundene  Individuum  an  jenem  Teil  zu  strafen, 
mit  dem  es  das  Verbrechen  begangen :  Man  schleppte  nämlich 
den  Ehebrecher  nackt  auf  den  Marktplatz,  stach  ihm  einen 
eisernen  Haken  durch  seinen  Hodensack  und  band  das 
Opfer  so  an  die  Schandsäule  an.  Zu  seinen  Händen  ließ 
man  ein  scharfes  Messer  liegen,  und  der  Mann  hatte  nun  die 
Wahl.  Schmach  und  Schmerz  noch  lange  zu  ertragen  und 
endlich  Hungers  zu  sterben,  oder  durch  einen  schnellen  Schnitt, 
der  ihn  allerdings  seiner  Männlichkeit  beraubte,  wenigstens 
das  Leben  zu  retten.  Für  ehebrecherische  Frauen  setzte  König 
Boleslav  von  Polen  im  Jahre  1076  eine  nicht  minder  grausame 
Strafe  fest :  Der  ehebrecherischen  Frau  wurde  das  Kind,  das  sie 
noch  nährte,  entrissen  und  im  Walde  wilden  Tieren  vorge- 
worfen; dafür  mußte  sie  an  ihrer  Brust  Hunde  säugen,  und  sie 
durfte  öffentlich  bei  Todesstrafe  nicht  anders  erscheinen  als  mit 
diesem  entsetzlichen  Adoptivsäugiing.^)  In  Polen  haben  die 
Ehemänner  auch,  wenn  sie  verreisten,  die  Treue  ihrer  Gattinnen 
durch  Keuschheitsgürtel  geschützt.^)  Merkwürdigerweise  wird 
von  den  Samojeden  ebenfalls  erzählt,  daß  sie  Keuschheitsgürtel 
kannten  ä):  ,,Sie  sind  so  eyfersüchtig  /  daß  sie  ihre  Frauen 
viel  genauer  eingeschlossen  halten  /  als  man  in  Italien  nicht 
thut;  Gestalt  sie  dann  /wann  sie  auf  die  Jagd  ziehen  / 
Machinen  haben  /  dadurch  zu  verhindern  /  daß  sie  ihnen  nicht 
untreu  werden  .  .  .  Wenn  einer  unter  ihnen  in  Ehebruch 
ergrieffen  worden   ist   /  wird  er  gesteiniget." 

Von  den  alten  Esten  und  Letten  behauptete  ihr  Geschichts- 
schreiber Thomas  Hiärn*):  ,,Die  Ehsten  halten  ihr  Ehe-Bette 
rein  und  unbefleckt,  auch  habe  ich  in  Ehstland  von  ihnen  noch 
nie  gehöret,  daß  ein  Ehe-Weib  jemahls  des  Ehebruches  solte 
beschuldiget,  weniger  überwiesen  seyn.  la  da  sie  noch  Heyden 
gewesen,  und  von  Gottes- Wort  nichts  gewust,  haben  sie  doch 

')  Dictionnaire  de  la  p6nalitC-,  I   119. 

')  Zciclion  und  Wert  der  verletzten   und  unverletzten   Jungfrauscliaft. 
Berlin  1795.    Hier  ist  aueh  die  Abbildung  eines  polnischen  Keuschbcitsgiirtcls. 
*)  Keise  nach  Norden,  S.  i(u, 
')  Lyf-,  Killt-  und  Lettländischc  Geschichte,  S,  43. 


f 


—     429    — 

den  Ehestand  geehret,  und  denselben  wol  in  Acht  genommen. 
Von  der  Polygamia,  daß  ein  Mann  viel  Weiber  habe,  wie  bey 
den  Juden  und  Türeken  gebräuchlich,  haben  sie  nichts  ge- 
wust;  gestaltsam  Einhorn^)  solches  auch  an  den  Letten 
rühmet.**  Die  guten  alten  Sitten  haben  längst  schlechten  Platz 
gemacht.  Bei  den  modernen  Esten  und  Letten  unterliegt  der 
Ehebruch  gewöhnlich  kaum  einer  Strafe.  Im  achtzehnten  Jahr- 
hundert legte  man  Ehebrechern  wenigstens  noch  Kirchenbußen, 
manchmal  sogar  Rutenstrafen  auf,  und  die  also  Bestraften 
mußten  in  der  Kirche  auf  einem  besonderen  Schemel,  allen 
Betenden  zum  Spott,  während  des  ganzen  Gottesdienstes  sitzen. 
Aber  Kaiserin  Katharina  fand  solche  Bestrafungen  zu  hart 
und  befahl  durch  Ukas  vom  Jahre  1764  bloße  Geldstrafen; 
verheiratete  Standespersonen,  Kaufleute  und  ändere  bemittelte 
Bürger  zahlten  fünf  Rubel,  geringere  Bürger,  gemeine  und 
unbemittelte  Leute,  sowie  Bauern  einen  Rubel  per  Ehebruch; 
war  eine  Partei  unverheiratet,  so  hatte  sie  in  der  ersten  Ka- 
tegorie bloß  zwei  Rubel,  in  der  zweiten  Kategorie  bloß  einen 
halben  Rubel  zu  erlegen;  der  Tarif  war  für  beide  Geschlechter 
der  gleiche. 

Bei  den  Wotjäken  darf  das  Mädchen  frei  über  sich  ver- 
fügen, die  Frau  aber  ist  ihrem  Manne  treu.  Das  Mädchen, 
sagen  die  Wotjäken,  gehört  eben  noch  niemandem  an,  und  nie- 
mand hat  daher  das  Recht,  ihr  ein  geschlechtliches  V^ergnügcn 
zu  verbieten,  während  die  Frau  durch  die  Heirat  Eigentum  ihres 
Mannes  wird,  der  ja  auch  einen  Preis  für  sie  zahlt.  2)  Die  Kam- 
tschadalin,  die  allein  unter  allen  ihren  östlichen  Schwestern  sich 
die  Herrschaft  im  Hause  zu  sichern  gewußt  hat,  hält  es  mit 
der  Ehe,  wie  es  ihr  paßt,  während  der  Mann  seine  außerehe- 
lichen Neigungen  sorgsam  verbergen  muß.    Der  Kamtschadale 


1)  Historia  Lettica,  cap.  XI,  pag.   39. 

2)  Bechterew  bei  Max  Buch  (Die  Wotjäken),  der  hinzufügt:  ,, Einen  Haupt- 
grund dürfte  aber  wohl  die  Legalität  der  Erbfolge  abgeben,  worauf  auch  der 
WotjÄke  hält,  denn  auch  er  will  sein  Gut,  meine  ich,  nicht  dem  Kinde  eines 
fremden  Mannes  überlassen  und  achtet  deshalb  auf  die  Treue  seines  Weibes; 
da  aber  das  sogenannte  höhere  Gefühl  der  Liebe  der  Wotjäkenfrau  in  der  Regel 
fremd  ist,  so  verspürt  sie  auch  weiter  keine  Lust,  die  Treue  zu  brechen.  Deshalb 
ist  denn  auch  die  weibliche  Treue  üblich,  ist  Sitte  geworden." 


—     430    — 

darf  zwar  mehrere  Frauen  nehmen,  aber  solange  er  mit  diesen 
Weibern  in  ehehcher  Gemeinschaft  lebt,  muß  er  etwa  beliebte 
Seitensprünge  in  aller  Heimlichkeit  ausführen ;  die  Weiber  treiben 
ganz  offen  unverschämtesten  Ehebruch,  ohne  daß  der  Gatte 
ihnen  Vorwürfe  zu  machen  wagt.i)  Auf  den  kurilischen  Inseln 
in  der  Nähe  von  Kamtschatka  dagegen  muß  der  Mann,  der  seine 
Frau  auf  einer  Untreue  ertappt,  der  Landessitte  gemäß  wählen 
zwischen  dem  Verlust  seiner  Ehre  oder  seines  Lebens.  Er  ist 
gezwungen,  den  Verführer  seiner  Frau  zum  Duell  zu  fordern, 
zu  einem  Stöckeduell.  2)  Tut  er  es  nicht,  so  gilt  er  als  ehr- 
los; tut  er  es,  dann  riskiert  er  leicht  sein  Leben.  Denn  die 
Duellvorschriften  setzen  fest:  Die  ersten  drei  Schläge  darf 
der  beleidigte  Ehegatte  geben,  hierauf  dreschen  beide  aufein- 
ander so  lange  los,  bis  einer  von  ihnen  tot  zu  Boden  fällt. 
Der  barmherzige  Gesetzgeber  hat  jedoch  dem  Gatten  das  Recht 
eingeräumt,  die  ihm  zugefügte  Schmach  durch  eine  anständige 
Quantität  von  Tieren,  Kleidern  und  Mundvorrat  sühnen  zu 
lassen;  und  da  eine  solche  Abfindung  nicht  unehrenhaft 
und  das  Duell  bis  aufs  Äußerste  immerhin  eine  bedenkliche 
Sache  ist,  so  wird  mit  einem  leichten  Stockstreichwechsel  den 
Regeln  der  Ritterlichkeit  Genüge  geleistet  und  die  Affäre  fried- 
lich beigelegt.  Ähnliches,  sagen  die  Bewohner  der  kurilischen 
Inseln,   komme  auch  im  zivilisierten  Europa  vor. 

Bei  den  Kalmücken  wird  von  vornherein  ein  anderer  Fall 
als  materielle  Entschädigung  für  Ehebruch  gar  nicht  in  Betracht 
gezogen:  Der  Ehebrecher  hat  fünf,  die  Ehebrecherin  vier 
Stück  Vieh  zu  zahlen.  3)  —  Die  kirgisischen  Weiber  der  Vor- 
nehmen sind  berühmt  wegen  ihrer  Neigung  zu  ihren  Sklaven. 
Die  Ursache  soll  ihre  „Gutherzigkeit**  sein;  „bei  vielen  Ge- 
legenheiten retten  sie  die  Sklaven  von  den  Drangsalen,  die 
ihnen  ihre  Männer  antun  wollen;  und  diese  Zeichen  der  Men- 
schenliebe vermehren  die  Ergebenheit,  womit  ihnen  die  Sklaven 
zugetan  sind.  Nicht  selten  nehmen  die  Sklaven  teil  an  der 
Zärtlichkeit,  zu  welcher  sie  ziemlich  geneigt  sind.    In  solchem 


^)  Mcincrs,  Geschichte  des  weiblichen  Geschlechts,  I  23. 

-)  Dict.  de  la  penahte,  I   121. 

•^)  Benjamin  Bergmanns  Nomadische  Streifercicn,  II  40. 


—     431     — 

Fall  aber  wird  beyder  Leben  das  Opfer,  wenn  ihre  eifersüchtigen 
Männer  dahinter  kommen.**  i) 

Am  gemütlichsten  ist  die  alte  mingrelische  Sitte,  von  wel- 
cher schon  der  berühmte  Reisende  Chardin  erzählt  hat :  Über- 
raschte ein  Mann  sein  Eheweib  mit  ihrem  Buhlen,  so  durfte 
er  von  diesem  zur  Strafe  bloß  ein  Schwein  verlangen;  andere 
Rache  durfte  er  nach  den  Gesetzen  und  den  Gebräuchen  der 
Zeit  nicht  nehmen.  Das  Schwein  aber  wurde  von  allen  dreien 
—  von  dem  betrogenen  Ehemann,  seinem  ungetreuen  Weibe 
und  ihrem  Buhlen  —  feierlich  geschlachtet  und  bei  gemein- 
samem Mahl  verzehrt,  womit  die  Schande  ausgelöscht  war. 
Die  Mingrelier  nehmen  auch  heute  den  Ehebruch  nicht  viel 
tragischer. 

Bei  den  Osseten  im  Kaukasus  muß,  wenn  eine  Frau  ihren 
Mann  böswillig  verläßt,  um  mit  einem  anderen  zu  leben,  der 
neue  Mann  dem  ersten  den  ganzen  Kalym  ersetzen.  Jagt  ein 
Mann  seine  Frau  infolge  eines  Verschuldens  ihrerseits  davon, 
so  erhält  er  den  halben  Kaufpreis  von  ihren  Eltern  zurück. 
Entflieht  aber  eine  Ossetin  vor  der  ungerechten  Behandlung 
des  Mannes,  so  erhält  dieser  gar  keine  Entschädigung. 

Nach  den  alten  tscherkessischen  Gesetzen  gilt  nächst 
Feigheit  und  Mord  der  Ehebruch  als  das  größte  Verbrechen. 
Die  ehebrecherische  Frau  ist  ganz  in  die  Macht  ihres  betrogenen 
Gatten  gegeben ;  er  kann  ihr  die  Nase  und  die  Ohren  abschnei- 
den, das  Haar  abrasieren  und  sie  so  geschändet  ihren  Eltern 
zurückschicken,  welche  die  schlechte  Tochter  verstoßen  oder  als 
Sklavin  in  die  Fremde  verkaufen.  Die  Frau  oder  ihren  Galan 
zu  töten,  wagt  der  verratene  Mann  selten,  da  er  dann  der 
Blutrache  verfallen  ist ;  diese  kann  er  allerdings  durch  ein 
Blutgeld  von  40  bis  60  Ochsen  von  sich  fern  halten.  Ein 
ehebrecherischer  Mann  wird  verbannt  oder  hat  eine  Strafe 
von  25  Ochsen  zu  zahlen. 

Bei  den  Georgiern  endlich,  die  sich  niemals  durch  Keusch- 
heit ausgezeichnet  haben,  ist  der  Ehebruch  namentlich  in  den 
großen  kaukasischen  Städten  keine  Seltenheit;  beide  Teile 
sprengen  gern  die  Fesseln,  die  ohnehin  nicht  fest  sind.     Viel 


*)  Kytschküw  Ini  Biisching,   VII   434. 


—     432     — 

trugen  zu  der  Unsittlichkeit  die  russischen  Offiziere  und  Be- 
amten bei,  die  schamlos  ihre  Macht  mißbrauchen  und  Mäd- 
chen und  Frauen  verführen,  während  den  gedemütigten  Geor- 
giern jeder  rechtliche  Schutz  versagt  blieb.  Die  furchtbaren 
Wirren  der  jüngsten  Zeit,  die  ununterbrochenen  Attentate 
gegen  die  russischen  Offiziere  und  Beamten  sind  nichts  an- 
deres als  Rache  für  solche  Ehebruchsaffären. 


46.  Uneheliche  Kinder^ 
krimineller  Abortus  und  Kindesmord 

Peters  des  Großen  Toleranz  —  Katharina  II  gründet  Findelhäuser  —  General- 
plan des  Moskauer  Findelhauses  —  Erziehung  der  Findelkinder  —  Privilegien, 
Belohnungen  und  Bestrafungen  —  Findelhaus  und  Ehrenbeleidigung  — 
Nikolaj  I.  gegen  die  unehelichen  Kinder  —  Moderne  Reformen  —  Gesetze  be- 
treffend kriminellen  Abortus  —  Engelmacherinnen  —  Prozeß  Wagen  in  Lodz 
—  Milde  gegen  Kindesmörderinnen  —  Kindermord  bei  den  Kosaken  und  den 

Swanethen. 

Wenn  der  Ehebruch  nicht  eine  außergewöhnliche  Erschei- 
nung, sondern  der  ständige  Gast  im  Familienleben  eines  Volkes 
ist,  und  die  wilde  Ehe  zu  den  gesellschaftlich  anerkannten, 
Einrichtungen  gehört,  dann  ist  es  keine  Schande,  uneheliche 
Kinder  zu  haben.  Peter  der  Große  begriff  dies  am  ehesten. 
Eines  Tages  geht  er  in  Wischnij  Wolotschok  (Gouvernement 
Nowgorod)  über  die  Straße  und  trifft  ein  hübsches  Mädchen 
weinend  an.  ,,Was  fehlt  dir,  mein  Kind?'*  fragt  er.  Sie 
verbirgt  ihr  Angesicht  in  den  Händen  und  antw^ortet  nicht. 
„Beruhige  dich,  mein  Kind,'*  sagt  der  Kaiser,  „ich  kann  dir 
vielleicht  helfen;  ich  werde  dich  verheiraten."  Ein  Kreis  von 
Neugierigen  hat  sich  gebildet,  und  als  der  Zar  diese  Worte 
spricht,  beginnen  einige  Mädchen  zu  kichern.  Weshalb  lachen 
sie?  Dem  Zaren  wird  es  sofort  erklärt:  Das  Mädchen  hat 
sich  mit  einem  deutschen  Offizier  vergangen  und  ein  Kind 
bekommen,  und  wird  nun  Hure  geschimpft.     „Ei,  ei,'*  meint 


-^    433    ^ 

Peter,  „ist  das  denn  ein  Verbrechen?**  Nein,  ein  uneheliches 
Kind,  das  ist  kein  Verbrechen  und  keine  Schande.  Ist  es 
ein  Knabe  oder  ein  Mädchen?  Ein  Knabe I  Desto  besser: 
ein  Soldat  I  Der  Kaiser  tröstet  die  Mutter,  verlangt  sogleich, 
ihr  Kind  zu  sehen,  und  schenkt  ihr  eine  hübsche  Summe  ^) 

Katharina  IL  handelt  in  bezug  auf  die  unehelichen  Kinder 
als  Kaiserin  und  als  Frau:  den  Gesundheitszuständen  der 
großen  Masse  ihre  Aufmerksamkeit  zuwendend,  beginnt  sie 
ihre  polizeilich-medizinischen  Einrichtungen  in  beiden  Haupt- 
städten des  Reiches  mit  der  Erbauung  von  Findelhäusern. 
Für  die  Beurteilung  der  Sittenzustände  der  Zeit  ist  dies  gewiß 
ein  merkwürdiges  Charakteristikum. 

Im  zweiten  Jahre  ihrer  Regierung,  1763,  stiftet  Katharina 
zunächst  in  Moskau  das  „Kinderhaus  und  Accouchier-Hospital." 
In  ihrem  Manifest^)  erklärt  sie:  „Sich  der  Armen  und  Noth- 
leidenden  anzunehmen,  imd  für  die  Vermehrung  nützlicher 
Einwoner  in  einem  State  zu  sorgen,  sind  zwei  Hauptpflichten 
und  Tugenden  eines  jeden  gottseligen  Regenten.  Da  Uns 
nun  diese  Pflichten  jederzeit  am  Herzen  liegen:  so  haben  Wir 
den  Uns  von  dem  General-Lieutenant  Iwan  Iwanowicz  Betzkoj 
vorgelegten  Entwurf  und  Plan  zu  einem  in  Moskau,  als  der 
alten  Hauptstadt  Unsers  Reichs,  durch  allgemeine  CoUecten 
und  milde  Beisteuer  zu  errichtenden  Kinderhause,  mit  einem 
besondern  Hospital  für  arme  und  unvermögende  Wöchne- 
rinnen, welche  auf  Unsern  speciellen  Befehl  von  dreien  Unserer 
wirklichen  Geheimen  Räthe  beprüfet  worden,  allergnädigst 
confirmiret.  Befehlen  demnach,  so  wohl  erwähnten  Entwurf 
und  Plan,  nach  allen  Teilen,  als  auch  den  an  Uns  darüber  er- 
statteten Bericht,  mittelst  dieser  Unsrer  allerhöchsten  Confir- 
mation,   als  eine  Reichsverordnung  anzusehen.** 


1)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand,  p.  185. 

')  Neuverändertes  Rußland  oder  Leben  Catharina  der  Zweyten,  Kaiserinn 
von  Rußland.  Aus  authentischen  Nachrichten  beschrieben  (von  Haigold), 
Riga  und  Leipzig,  1772,  Zweyter  Theil,  S.  3  ff.  —  Zur  Geschichte  der  Findel- 
häuser sind  besonders  interessant  die  Denkwürdigkeiten  des  Grafen  Jakob 
Johann  Sievers,  des  Hauptmitarbeiters  Katharinas  bei  der  Einrichtung  der 
Wohlfahrtsanstalten.  (Ein  russischer  Staatsmann,  von  Karl  Ludwig  Blum, 
4  Bde.  1857.) 

Stern,  Geschichte  der  öffentL  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  28 


—    434    — 

Der  „Generalplan**  sagt  im  zweiten  Kapitel,  „von  den 
Kindern,  die  in  das  Findelhaus  aufgenommen  werden/*  f ol- 
gendes:  „So  wol  die  Mütter  selbst,  als  diejenigen,  denen  sie 
ihr  Kind  anvertrauen  oder  auch  fremde  Leute  männlichen 
und  weiblichen  Geschlechts,  können  die  Kinder,  welche  sie 
gefunden  haben,  nach  dem  Kinderhause  bringen,  woselbst  jedes 
Kind  ohne  den  geringsten  Anstand  angenommen,  auch  kein 
Mensch  befragt  werden  soll,  wer  er  sei,  und  wessen  Kind  er 
bringe.  Nur  wird  man  ihn  fragen,  ob  das  Kind  getauft  sei 
oder  nicht,  und  was  es  für  einen  Namen  hat.  Falls  die  iTeber- 
bringer  sonst  noch  einige  Umstände  aus  freien  Stücken  an- 
geben wollten,  sollen  solche  in  ein  besonderes  Buch  einge- 
schrieben werden.  Ein  jeder  kan  dergleichen  Kinder,  nach- 
dem es  ihm  am  bequemsten  ist,  zu  den  Priestern  der  Stadt- 
kircheh,  nach  den  Armenhäusern,  oder  hiesigen  Mönchs-  und 
Nonnenklöstern,  bei  Tag  oder  bei  Nacht  bringen,  woselbst 
die  Pförtner  und  Thürhüter  dasselbe  sogleich  nach  dem  Kin- 
derhause hintragen  müssen,  allwo  man  den  Ueberbringem  für 
jedes  Kind  2  Rubel  für  ihre  Bemühungen  zalen  wird,  \yenn 
auch  jemand,  es  sei  bei  Tage  oder  bei  Nacht,  dergleichen 
Kinder  trüg:e:  so  soll  ihn  keine  Wache  von  der  Polizei  oder 
andern  Commanden,  noch  die  Nachtwächter,  irgendwo  an- 
halten, oder  befragen,  wer  er  sei,  und  wohin  er  das  Kind 
trage;  vielmer  soll  man  ihm  in  allen  Stücken  hülf liehe  Hand 
leisten,  und  ihn  wider  allen  etwanigen  Unfug  schützen.  Wenn 
die  Kinder  herangewachsen,  so  müssen  die  Knaben  von  1 1 
bis  14  Jaren,  so  viel  es  ihre  Kräfte  und  übrige  Umstände  zu- 
lassen, Hanf,  Flachs,  Wolle  und  dergleichen  reinigen,  käm- 
men und  zubereiten;  die  erwachsenen  Mädchen  aber  machen 
hieraus  allerhand  Garn,  und  verarbeiten  es  wieder,  weben  auch 
seidene  oder  andre  Bänder,  oder  Leinwand.  Die  Knaben  wer- 
den dabei  immer  mer  und  mer  zur  Garten-  und  auch  zur 
Hausarbeit  angehalten;  die  Mädchen  aber  gehen  wechselweise 
in  die  Küche,  backen  Brod,  waschen,  stärkein,  plätten,  nähen, 
und  thun  alle  andre  Hausarbeiten.  In  diesen  Jaren  lernen 
sowol  die  Mädchen  als  Knaben  täglich  eine  Stimde  schreiben 
und  rechnen  und  den  Catechismus.  Ueberhaupt  soll  mit  Sorg- 
falt darauf  gesehen  werden,  daß  die  in  diesem  Hause  erzogene 


—    436    — 

Kinder  von  Jugend  auf  sich  zur  Arbeit  und  Reinlichkeit  ge- 
wöhnen. So  wol  die  Mädchen  als  Knaben  müssen  sich,  so 
bald  sie  14  oder  15  Jar  alt  sind,  anschicken,  allerhand  Arbeiten 
und  Handwerke  völlig  auszulernen;  daher  die  Knaben  zu  Er- 
lernung desjenigen  Handwerks,  zu  welchem  sie  Lust  haben, 
in  die  Lehre  gegeben  werden  sollen.  Bei  gemeinen  Handwerken 
werden  4  oder  5  Jare  bestimmt.  Es  sollen  auch  nur  solche 
Meister,  die  ein  ehrbares  Leben  führen,  beim  Kinderhause 
gehalten,  und  ihnen  darinn  besondere  Wohnungen  eingeräumt 
werden,  damit  die  zu  ihnen  in  die  Lere  gegebene  Jugend,  \mter 
der  Aufsicht  ihrer  Vorgesetzten,  desto  weniger  Gelegenheit 
haben  möge,  ihre  gute  Sitten  zu  verderben.  —  Ein  Aufzögling 
männlichen  Geschlechts  erhält,  wenn  er  sich  durch  seine  Auf- 
führung dessen  selbst  nicht  unwürdig  macht,  nachdem  er  sein 
Handwerk  oder  sonst  eine  Arbeit  gehörig  erlernet,  bei  seiner 
Auslassung  aus  dem  Kinderhause,  ein  neues  Kleid  von  Tuch, 
einige  Hemden,  Halstücher,  und  Schnupftücher,  eine  Mütze, 
einen  Hut,  Strümpfe,  Schuhe,  und  Stiefeln ;  femer  einen  Man- 
telsack zu  seinen  alten  Kleidern,  und  einen  Rubel  an  Gelde; 
nebst  einem  Paß,  mit  welchem  er  im  ganzen  Reiche,  wo  er 
nur  will,  hinreisen,  und  überall  als  ein  freier  Mensch  seine 
Profeßion  treiben  kann.  Doch  ist  ein  solcher  verbunden,  so 
lang  er  lebt,  alljärlich,  oder  für  einige  Jare  auf  einmal,  aus  dem 
Kinderhause  einen  neuen  Pass  zu  nemen,  und  für  jedes  Jar, 
auf  wie  lange  der  Paß  gerichtet  ist,  einen  Rubel,  und  falls 
er  eine  Kunst  erlernet  hat,  auch  etwas  mer  zu  erlegen.  Eben 
dieses  verstehet  sich  auch  von  denen  im  Kinderhause  erzognen 
Mädchen,  welche,  nachdem  sie  das  nötige  gelernt  haben,  eben 
dergleichen  Belonung  an  Kleidern  und  einen  Paß  erhalten 
sollen,  um  ihr  Brod  selbst  zu  erwerben.  —  Leibesstrafen  tollen 
im  Findelhause  auch  bei  den  allerniedrigsten  Bedienten  durch- 
aus nicht  statt  finden,  damit  die  Jugend  keine  Gelegenheit 
bekomme,  sich  zur  Härte  zu  gewöhnen.  Wenn  aber  jemand 
durch  Abzug  seines  Lohnes  nicht  z\X  bessern  seyn  sollte:  so 
soll  ein  solcher  auf  Wasser  und  Brod  ins  Gefängms  geworfen, 
oder  bei  schweren  Verbrechen  dem  Gerichte,  wohin  die  Sache 
gehört,  zur  Bestrafung  überliefert,  und  sodann  aus  dem  Kinder- 
hause ausgeschlossen  werden.** 

28* 


—    436    — 

„Die  Aufzöglinge,  welche  teils  wegen  ihrer  Jugend,  teils 
aus  Veranlassung,  daß  ihrer  so  viele  beisammen  sind,  sich 
sehr  oft  vergehen  können,  soll  man  sich  angelegen  seyn  lassen, 
durch  Vermanungen  von  dergleichen  Unart  abzuhalten;  und 
wo  dieses  nicht  hilft,  bei  der  Züchtigung  dennoch  darauf  sehen, 
daß  man  sie  durch  eine  gar  zu  große  Strenge  nicht  zur  Hart- 
näckigkeit  und  Unempfindlichkeit  bringe.     Daher  soll   man 
die  Strafen  mehr  so  einrichten,   daß  sie  dadurch  beschämt 
werden.  —  Alle  in  diesem  Hause  Auferzogene  so  wol  männ- 
lichen als  weiblichen  Geschlechts,  und  deren  Kinder  und  Nach- 
kommen, sind  zu  ewigen  Zeiten  freie  Leute,  und   sollen  nie- 
malen  und  unter  keinerlei  Vorwande  einer  Privatperson  als 
Leibeigene  verschrieben  werden  können.  Die  in  diesem  Hause 
auferzogene  Leute  sollen  sich  durchaus  mit  keinen  Leibeigenen 
verheiraten;   dahero   den  Priestern  bei  Verlust  ihres  Amtes 
verboten  wird,  dergleichen  Leute  nicht  zu  trauen.     Falls  es 
aber  dennoch  durch  irgend  einen  Betrug  geschähe:  so  sollen 
sie  nicht  nur  für  ihre  Person  niemandes  Leibeigene  werden, 
sondern  auch  der  andre  Teil,   welcher  sie  geheiratet,  wird 
dadurch  frei,  und  ist  kein  Leibeigner  mer." 

Um  die  Mittel  zur  Erhaltung  des  Findelhauses  zu  mehren, 
erfindet  die  Kaiserin  ein  famoses  Mittel:  „Wenn  ein  Kauf- 
mann oder  ein  andrer  von  geringem  Stande,  Leibeigene  aus- 
genommen, nach  eigenem  Wolgef allen  entweder  auf  einmal, 
oder  durch  verschiedene  von  Zeit  zu  Zeit  vermehrte  Gaben, 
von  25  Rubel  bis  1000  und  darüber,  dem  Kinderhause  schenket : 
so  bekömmt  er  für  seine  etwanige  Beschimpfung  eben  so  viel, 
als  er  dem  Kinderhause  geschenkt  hat;  doppelt  so  viel  aber, 
wenn  jemand  gar  Hand  an  ihn  gelegt  hat.**^) 

Dem  Moskauer  Findelhaus  folgte  1770  die  Gründung  eines 
Petersburger  Findelhauses.  Dieses  wurde  ursprünglich  im 
Smolnakloster  untergebracht;  bald  genügten  die  vorhan- 
denen Räume  und  Mittel  nicht  mehr  für  die  Zahl  der  Findlinge. 
Daher  mußte  bereits  1797  eine  Anzahl  Häuser  an  der  Mojka 
eigens  für  die  Anstalt  eingerichtet  werden.  Aber  noch  immer 
wuchs  der  Zudrang,  und  abermals  mußte  man  neue  Gebäude 


1)  Vgl.  Band  I.  S.  262. 


—    437    — 

ankaufen.  In  der  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  schreibt 
der  Petersburger  deutsche  Arzt  Buddeus^):  „Das  Findel- 
institut lunfaßt  mit  seinen  Nebenanstalten  jenes  ganze  un- 
geheure Viereck,  welches  nordwestlich  durch  die  Moika^  süd- 
westlich durch  die  Erbsenstraße,  südöstlich  durch  die  Met- 
schanskoi  und  nordöstlich  durch  den  Nefskyprospekt  begrenzt 
ist.  Mehr  denn  1800  Ellen  beträgt  der  Umfang  dieses  Rau- 
mes; an  IG  000  Menschen  sollen  dessen  verschiedene  Gebäude 
bewohnen,  über  5000  Kinder  werden  alljährlich  aufgenommen, 
nahe  an  20000  beträgt  fortwährend  die  Generalsumme  aller 
Pfleglinge  des  Instituts  inner-  imd  außerhalb  seiner  Peters- 
burger Räume.** 

Die  Kosten  des  Petersburger  Findelhauses  stellten  sich 
damals  schon  auf  zwanzig  Millionen  Rubel.  Diese  Summe 
floß  dem  Institut  teils  direkt  durch  die  Krone  zu,  teils  kam 
sie  vom  Ertrage  des  Spielkartenmonopols,  aus  dem  Gewinn 
des  Petersburger  Leihhauses  und  aus  dem  Mietzins  der  dem 
Findelhaus  gehörenden  Gebäude. 

Katharina  II.  hatte  angeordnet,  daß  die  Findlinge  im  ent- 
sprechenden Alter,  je  nach  ihrem  Geschlecht  und  nach  den 
Fähigkeiten  teils  zu  Handwerkern,  teils  zu  Künstlern,  teils  zu 
Wäscherinnen,  Näherinnen,  Lehrerinnen  vorbereitet,  teils  so- 
gar für  die  Universität  herangebildet  werden  sollten.  Allein 
im  Jahre  1837  verordnet  ein  Ukas,  daß  sowohl  die  Findlinge, 
welche  sich  noch  auf  den  Dörfern  befänden,  als  auch  diejenigen, 
welche  in  Zukunft  in  die  Anstalt  gebracht  werden  würden, 
„nur  den  arbeitenden  Klassen,  also  dem  Bauern-  und  Hand- 
werkerstand, doch  auch  nur  auf  eignen  Wunsch,  und  nach 
Erreichung  des  gehörigen  Alters,  dem  Militär**  einverleibt  wer- 
den sollen.  Der  Unterricht  wird  dadurch  zwar  nicht  aufge- 
hoben, aber  die  Zahl  der  Schüler  und  Schülerinnen  (500  in 
St.  Petersburg  und  500  in  Gatschina)  durch  Waisen  „ver- 
dienter Beamten  von  der  vierzehnten  bis  zur  neunten  Rang- 
klasse inklusive**  ersetzt.  Die  Zahl  der  eingelieferten  Pfleg- 
linge vermindert  sich  sogleich  bedeutend,   denn  das  Findel- 


^)  Zur  Kenntniß  von  St.  Petersburg  im  kranken  Leben.    Zweiter  Band, 
1846,  S.  7Z, 


-^    438    ~ 

haus  *bäßt  seinen  ^eigentlichen  Zweck  ein'  und  ist  den  armen 
Klassen  nicht  mehr  das,  was  es  sein  soll.  Der  Oberarzt  des 
Findelhauses,  Staatsrat  von  Döpp,  versucht  den  Ukas  Nikolajs 
folgendermaßen  begpreiflich  zu  machen :  „Die  rein  philanthro- 
pische Tendenz  der  Anstalt  und  daher  die  fast  unbegrenzte 
Aufnahme  der  Kinder  in  selbige  und  ihre  musterhafte  Ver- 
pflegung, ferner  die  ausgezeichnete  Erziehung,  deren  die  nur 
einigermaßen  fähigen  unter  ihnen  genossen,  imd  die  glänzende 
Zukunft,  die  sich  dadurch  ihnen  für  die  Zukunft  eröffnete, 
alles  dies  verursachte  einen  beunruhigenden  Zuwachs  der  Zög- 
linge. Es  >yurden  dem  Hause  nicht  allein  alle  unehelichen 
Kinder  der  Residenz  sowohl,  als  der  übrigen  Gouvernements 
rings  um  sie  herum  —  selbst  Kinder  sehr  bemittelter  Eltern 
—  zugeführt,  sondern  es  brachten  sogar  sehr  viele  Eheleute, 
besonders  von  der  steuerpflichtigen  Klasse,  ihre  Kinder,  unter 
der  Firma:  , uneheliche*  in  das  Haus,  um  sie  den  ihrem  Stand 
obliegende^  Pflichten  zu  entziehen.**  -^  Welch  fiu-chtbares 
Licht  wird  in  dieser  Erklärung  auf  die  sittlichen  Zustände  ge- 
worfen! Die  unbeschreibliche  Lieblosigkeit  der  Eltern  gegen 
die  Kinder,  die  wir  im  Kapitel  über  die  Grausamkeit  im  Fami- 
lienleben kennen  gelernt  haben,  könnte  nicht  drastischer  illu- 
striert werden,  als  durch  die  Konstatierung,  daß  Vater  und 
Mutter  —  wegen  möglicher,  aber  nicht  immer  wahrscheinlicher 
Erfolge  in  der  Zukunft  —  ihr  Kind  gleich  nach  der  Geburt 
von  sich  tun. 

Kaiser  Nikolaj  I.  geht  in  seinen  feindseligen  Akten  gegen 
das  Findelhaus  und  gegen  die  unglücklichen  unehelichen  Kin- 
der noch  weiter.  Am  15.  Mai  1839  erläßt  er  einen  neuen 
Ukas:  „daß  vom  i.  Januar  1840  an  zwar  jedes  in  das  Haus 
gebrachte  Kind,  wie  früher,  sogleich  aufgenommen,  dem  ßrin- 
ger  desselben  aber  kein  Empfangschein  mehr  erteilt  werden 
soll.**  Dieser  Schein,  welcher  mit  dem  Namen  und  der  Nummer 
des  Kindes  versehen  war,  diente  nämlich  in  den  vorhergehen- 
den Jahren  nicht  allein  zum  Auffinden  desselben,  sondern 
auch  als  Beweis  des  Elternrechts  auf  dasselbe.  Wer  dagegen 
von  jetzt  an  sein  Kind  dem  Findelhaus  überliefert,  dem  bleibt 
es  auf  immer  verloren.  Allerdings  bringt  dieser  neue  Be- 
fehl  auch  wieder  eine   Verminderung  der   dem   Hause  zuge- 


—    439    — 

m 

führten  Findlinge  hervor,  trotzdem  bleibt  die  Zahl  der  jährlich 
hier  Eingelieferten  die  größte  aller  ähnlichen  Anstalten  Euro- 
pas, während  Petersburg  damals  nur  den  dritten  Platz  hinsicht- 
lich seiner  Bevölkerungsmenge  einnahm.  Im  Jahre  1840  findert 
wir  innerhalb  des  Hauses  2424  Kinder,  außerhalb  desselben 
16536;  also  wiirde  eine  Gesamtsumme  von  18960  Findlingen 
verpflegt.  Im  Jahre  1844  beträgt  allein  die  Zahl  der  ein- 
gelieferten Findelkinder  genau  4000,  und  am  i.  März  des- 
selben Jahres  die  Generalsumme  der  Verpflegten  19  271.  — 
„Man  nennt  gewöhnlich,**  schreibt  Buddeus,  „Paris  und  Lon- 
don die  demoralisiertesten  Städte;  dennoch  gibt  St.  Peters- 
burg in  allen  einzelnen  Offenbarungen  seines  Lebens  ver- 
hältnismäßig weit  zahlreichere  Beweise  dieser  moralischen  Zer- 
rüttung der  Gesellschaft.  Paris  hat  bei  einer  Volksmenge  von 
mehr  denn  einer  Million  Menschen  in  seinem  Findelhause 
keinen  numerisch  großem  Zuwachs  als  St.  Petersburg;  Lon- 
don zählt  bei  einer  Bevölkerung  von  nahe  an  zwei  Millionen 
jährlich  nur   10 000  Findlinge.**^) 

Gegenwärtig  werden  in  Rußland  in  den  fünfzig  euro- 
päischen Gouvernements  alljährlich  durchschnittlich  1 1 2  000 
uneheliche  Kinder  geboren.  Dabei  ist  hervorzuheben,  daß  die 
Zahl  dfer  illegitimen  Geburten  im  nördlichen  Rußland  weit 
größer  ist  als  im  südlichen,  obwohl  im  Norden  weniger*  Städte* 
sind  als  im  südlichen;  eine  der  Ursachen  dieser  auffallenden 
Erscheinung  ist,  daß  die  Bauern  in  den  nördlichen  Dörfern 
zu  Hause  keine  Beschäftigung  haben,  ins  Zentrum  des  Reiches 
ziehen,  um  Arbeit  zu  finden,  und  monatelang,  ja  jahrelang 
fortbleiben. 

Die  Gesetzgebung  hat  sich  seit  Katharina  II.  um  das  Los 
der  unehelichen  Kinder  wenig  bekümmert,  imd  wenn  sie  es  tat, 
wie  zur  Zeit  Nikolajs,  so  geschah  es  nur  zu  Ungunsten  der  Ver- 
lassenen. Der  vom  Kaiser  Nikolaj  I.  stammende  §  994  der 
Strafgesetzgebung  stellt  sogar  die  wilde  Ehe  in  die  Reihe 
der  strafgerichtlich  zu  verfolgenden  Handlungen.  Nikolaj  spielt 
gern  den  Tugendwächter  seines  Volkes,  imd  so  degradiert  er 


1 )  Buddeus,  a.  a.  O.  79.   Daselbst  ausführliche  Beschreibung  dier  Gebäude 
und  der  Krankheiten  der  Findlinge. 


—    440    ~ 

Millionen  Menschen  seines  Reiches,  die  zufällig  unehelich  ge- 
boren sind,  zu  ^^ungesetzlich  Geborenen"  (HedaBOHHoposA^HHKe); 
Dostojewski]'  prägt  auf  sie  den  bitteren  Namen:  schuldlose 
Schuldige. 

Aber  wie  in  bezug  auf  die  Ehescheidung  hat  sich  auch  in 
betreff  der  unehelichen  Kinder  in  jüngster  Zeit  eine  glückliche 
Wandlung  vollzogen.    Schon  1880  war  der  Reichsrat  zur  Er- 
kenntnis gekommen,  daß  eine  Gesetzesänderung  zugunsten  der 
unehelichen  Kinder  stattfinden  müsse.     1891  wurde  dann  ein 
Gesetz  veröffentlicht,  das  die  gesetzliche  Anerkennung  der  un- 
ehelichen Kinder  und  ihre  Adoption  gestattete.    Gleichzeitige 
wurde  eine  Kommission  mit  der  Ausarbeitung  einer  vollstän- 
digen Gesetzesreform  zur  Verbesserung  der  Lage  der  unehe- 
lichen Kinder  betraut;  sie  beendete  1902  ihre  Arbeit  mit  dem 
Bekenntnis:   >>Die  Ansicht,  daß  nur  durch  Härte  und  Strengte 
die  Zahl  der  unehelichen  Kinder  herabgemindert  werden  könne, 
entspricht   dem  humanen  Geiste   der  neuen  Gesetzgebimg^en 
nicht  und  ist  an  sich  ungerechtfertigt.    Weder  die  Strafen  für 
das  uneheliche  Zusammenleben,  noch  die  Verschlechterung*  der 
Lage  der  unehelichen  Kinder  sind  imstande,  das  moralische 
Niveau  der  betreffenden  Gesellschaft  zu  heben.     Die  gesetz- 
lichen Bestimmungen,   welche  den   Vater  hindern,   die  Lag^e 
seines  außerehelichen  Kindes  zu  verbessern,  sind  eher  schäd- 
lich,    denn    sie    vermindern     das    Verantwortlichkeitsgefühl, 
welches  dem  Vater  des  Kindes  als  demjenigen,  durch  welchen 
das  außereheliche  Zusanunenleben  gewöhnlich  entsteht,  zufällt.** 

Das  neue  Gesetz  bezweckt  nach  dem  Ausspruch  seines 
Schöpfers :  „den  unehelichen  Kindern  wenigstens  eine  Art  Fa- 
milie zu  geben,  und  sie  ihre  Eltern,  die  sie  berechtigt  sind,  als 
ihre  nächsten  Blutsverwandten  anzusehen,  kennen  lernen  zu 
lassen/*  In  erster  Linie  wird  die  Bezeichnung  der  „ungesetzlich 
Geborenen**  abgeschafft  und  die  natürliche:  „außereheliche" 
(BH-bßpaHHHe)  eingeführt.  Das  außereheliche  Kind  darf  nun- 
mehr i)  mit  Zustimmung  des  Vaters  dessen  Vor-  und  Familien- 
namen tragen ;  wenn  dieses  nicht  der  Fall  ist,  bekommt  das  Kind 


1)  Vgl.  das  Resum6  von  Julie  Goldbaum  in  „Die  Frauen-Zeit",  Beilage 
zum  Tagblatt  „Die  Zeit",  vom  20.  Januar  1903. 


—    441    ^ 

mit  Zustimmung  des  Vaters  seiner  Mutter  deren  Familiennamen* 
Auch  enthält  das  Gesetz  die  Bestimmung,  daß  die  einer  für 
ungiltig  erkannten  Ehe  entsprossenen  Kinder  nicht  als  außer- 
ehelich betrachtet  werden  und  alle  Rechte  der  ehelichen  Kinder 
besitzen.  Die  außerehelichen  Kinder  haben  ferner  das  Recht, 
einander  und  auch  ihre  Mutter  zu  beerben;  das  Recht,  den 
Vater  oder  dessen  Angehörige  zu  beerben,  steht  ihnen  aller- 
ding  auch  jetzt  nicht  zu.  Die  Mutter  genießt  in  bezug  auf 
das  außereheliche  Kind  die  Rechte  der  elterlichen  Gewalt  und 
hat  auch  diesem  gegenüber  entsprechende  Pflichten.  Der  Vater 
ist  verpflichtet,  nach  Kräften  materiell  für  die  Mutter  und 
das  Kind  zu  sorgen,  und  auch  die  Mutter  muß,  wenn  sie 
die  Mittel  besitzt,  an  den  Ausgaben  für  die  Erhaltung  und  Er- 
ziehung des  Kindes  teilnehmen.  Dem  Vater,  welcher  materiell 
für  sein  Kind  sorgt,  steht  endlich  das  Recht  zu,  seine  Er- 
ziehung und  Pflege  zu  überwachen. 

Die  Wirkung  des  neuen  liberalen  Gesetzes  über  die  im- 
ehelichen  Kinder  wird  sich  vornehmlich  in  einer  Abnahme  der 
Fälle  von  kriminellem  Abortus  bemerkbar  machen.  IJ)ie  Zahl 
der  verbrecherischen  Abtreibungen,  soweit  diese  überhaupt  be- 
kannt werden,  ist  eine  furchtbare,  so  daß  das  Strafgesetzbuch 
Nikolajs  I.^)  die  schwersten  Strafen  androhen  mußte:  Die 
Mutter,  welche  ihr  neugeborenes,  uneheliches  Kind,  aus  Scham 
oder  Furcht,  hilflos  liegen  läßt,  und  dadurch  den  Tod  des 
Kindes  bewirkt,  wird  zur  korrektioneilen  Strafe  erster  Klasse 
vierten  Grades  verurteilt  (für  die  von  der  Leibesstrafe  eximier- 
ten  Klassen:  Verlust  aller  besonderen  Standesrechte  und  Ver- 
bannung zu  lebenslänglichem  Aufenthalt  im  Gouvernement 
Tomsk  oder  Tobolsk,  mit  i — 2 jähriger  Einsperrung.  Für  Nicht- 
eximierte:  Verlust  aller  Standesrechte,  von  der  Hand  der 
Polizeidiener  60—70  Rutenstreiche,  3 — 6  Jahre  Arbeitshaus); 
dabei  wird  die  Schuldige  statt  in  die  Arrestanten-Kompagnie 
auf  drei  bis  sechs  Jahre  in  ein  Arbeitshaus  abgegeben.  —  Ist 
aber  das  Kind  tot  zur  Welt  gekommen,  und  hat  die  Mutter  es 
aus  Scham  oder  Furcht  verborgen,  anstatt  ihre  Niederkunft 


^)  Strafgesetzbuch  d«8  Russischen  Reichs,  promulgiert  im  Jahre  1845, 
H  1931— 1935. 


pflichtmäßig  anzuzeigen :  so  wird  sie  mit  sechs  Monaten  bis^zO 
einem  Jahr  Gefängnis  bestraft.  Wer  die  Leibesfrucht  eine^ 
schwangeren  Person,  ohne  deren  Wissen  und  Willen,  vor- 
sätzlich, auf  welche  Weise  es  auch  sei,  abti'eibt,  unterliegt  der 
peinlichen  Strafe  zweiter  Klasse,  siebenten  Grades  (für  Exi- 
mierte :  Verluste  aller  Standesrechte,  4 — 6  Jahre  Zwangsarbeit 
in  den  Kronsfabriken,  Deportati<m  nach  Sibirien  zu  lebensläng- 
licher Ansiedelung.  Für  Nichteximierte :  Dieselbe  Strafe,  aber 
vorher  noch  öffentlich  von  Henkershand  30 — 40  Peitschenhiebe 
lind  Brandmarkung).  Erleidet  die  Mutter  selbst,  infolge  dieses 
ohne  ihre  Einwilligimg  verübten  Verbrechens>  einen  bedeuteii- 
den  Schaden  an  ihrer  Gesundheit,  so  trifft  den  Schuldigen 
die  peinliche  Strafe  zweiter  Klasse,  sechsten  Grades^  (für 
Eximierte :  Verlust  aller  Standesrechte,  6^—8  Jahre  Zwangs- 
arbeit  in  den  Kronsfabriken,  Verbannung  nach  Sibirien  zu 
lebenslänglicher  Ansiedelung.  Für  Nichteximierte:  Dieselbe 
Strafe,  vorher  aber  40 — 50  Peitschenhiebe  öffentlich  voii  Hen- 
kershand und  Brandmarkung).  Erleidet  die  Mutter  den  Ifod; 
so  erfolgt  die  peinliche  Strafe  zweiter  Klasse,  fünften  Gradfes- 
(für  Eximierte:  Verlust  aller  Stahdesrechte,  8— lojährige 
Festungsarbeit,  Deportation  nach  Sibirien  zu  lebenslänglicher 
Ansiedelung.  Für  Nichteximierte:  dieselbe  Strafe  neSst 
50—60  Peitschenhieben  und  Brandmarkimg).  Wer  mit  Wissen 
und  Willen  einer  schwangeren  Person  irgend  ein  Mittel  in  der 
Absicht  anwendet,  ihre  Leibesfrucht  abzutreiben,  erleidet  die 
peinliche  Strafe  dritter  Klasse,  ersten  Grades  (für  Eximierte :  Ver- 
lust aller  Standesrechte,  Verbannung  in  entfernte  Gegenden  Si- 
biriens zu  lebenslänglicher  Ansiedelimg.  Für  Nichteximierte 
dieselbe  Strafe,  außerdem  20 — 30  Peitschenhiebe  von  Henkers- 
hand). Die  Schwangere,  welche  auf  eigenen  Antrieb  oder  im' 
Einverständnis  mit  einem  andern,  irgend  ein  Mittel  anwendet, 
um  ihre  Leibesfrucht  abzutreiben,  verfällt  in  die  peinliche  Strafe 
dritter  Klasse,  zweiten  Grades  (für  Eximierte:  Verlust  aller 
Standesrechte  und  Verbannung  zu  lebenslänglicher  Ansiedelung 
in  minder  entfernten  Gegenden  Sibiriens.  Für  Nichteximierte : 
Dieselbe  Strafe,  außerdem  10 — 20  Peitschenhiebe  öffentliclv 
von  Henkershand).  Die  Strafen  werden  um  einen  Grad  ver- 
schärft, wenn  die  daselbst  genannten  Verbrechen  durch  einen 


—    443    — 

Arzt,  Geburtshelfer,  Apotheker,  durch  eine  Hebamme  oder 
durch  eine  Person  verübt  werden,  die  schon  früher  einmal 
ein  solches  Verbrechen  begangen  hat. 

Trotz  dieser  beispiellos  strengen,  ja  fast  barbarischen  Ge- 
setze ist  der  kriminelle  Abortus  in  Rußland  eines  der  am 
häufigsten  vorkommenden  Verbrechen.  Das  Volk  bedient  sich 
dabei  des  Quecksilbers  oder  eines  mit  Scjiießpulver  vermisch- 
ten Getiänkes  als  innerlichen  Medikaments  und  hilft  dann 
mit  spitzigen  Instrumenten  nach.  Natürlich  fehlt  es  auch  nicht 
an  abergläubischen  Mitteln,  wie  es  das  folgende  ist  i):^  „Man 
sammle  den  Monatsfluß  in  einerii  Gefäße,  die  kluge  Frau 
schütte  es  in  der  Badstube  auf  den  glühenden  Ofen.  Man  hott 
dabei  das  Kinderweinen.**  Kann  man  sich  aber  nicht  selber 
helfen,  so  nimmt  man  die  Dienste  von  Weibern  in  Anspruch, 
die  das  Geschäft  betreiben  und  in  einigen  Städten  ihr  Handwerk 
ganz  öffentlich  ausüben.  So  ist  Lodz  in  Polen  ein  berüchtigtes 
Zentrum  derartiger  Verbrecherinnen,  die  nebenbei  auch  Engel- 
macherei  nicht  verachten.  Im  Dezember  1902  wurde  die  Polizei 
infolge  einer  gar  zu  entsetzlichen  Anhäufung  von  Schauder- 
taten gezwungen,  einmal  vom  Verdienst,  den  ihr  das  Schweigen 
einbringt,  abzusehen  und  die  gefährlichste  Kindesmassen- 
mörderin Chajaruchla  Wagen  dem  Gericht  auszufolgen.  Die 
Anklage  besagte,  daß  die  Angeklagte:  erstens  im  November 
1901  das  uneheliche  Kind  Moschek  Sarakowski,  für  welches 
sie  das  Kostgeld  für  drei  Monate  voraus  erhielt,  mit  Vorbedacht 
und  in  eigennütziger  Absicht,  um  die  Kosten  für  den  Unterhak 
zu  sparen,  hat  sterben  lassen ;  zweitens :  daß  sie  im  Februar  1902 
unter  denselben  Umständen  und  aus  denselben  Beweggründen 
den  in  Pflege  und  Kost  genommenen  Abraham  Schadek  hat 
umkommen  lassen;  drittens:  daß  sie  im  März  1902  unter 
gleichen  Bedingungen  und  in  gleicher  Absicht  den  Icek  Sand- 
berg hat  sterben  lassen ;  und  viertens :  daß  sie  Ende  Februar 
oder  Anfang  März  1902  die  Gitla  Zinnamon,  für  welche  sie 
das  Pflegegeld  für  zwei  Monate  voraus  erhalten  hatte,  mit 
Vorbedacht  und  in  eigennütziger  Absicht,  um  das  Kostgeld 
zu  behalten,   durch  Ersticken   ums   Leben   gebracht   hat.    Es 


^)  Löwenstimm,  Aberglaube  und  Strafrecht,  S.   143. 


—    444    — 

wiirden  Zeugen  vorgerufen,  welche  durch  ihre  Aussagen  die 
Tatsache,  daß  die  Wagen  die  ihr  anvertrauten  Pfleglinge 
Hungers  sterben  ließ,  einstimmig  bestätigten.  Die  Aussagen 
der  Zeugen  vor  Gericht  stimmten  vollkonunen  mit  denjenigen 
überein,  die  bei  der  Voruntersuchung  gemacht  worden  waren. 
Der  Protektion  der  Polizei  verdankte  es  das  Ungeheuer,  daß 
von  weiteren  unzähligen  Verbrechen  nicht  gesprochen  wurde; 
und  so  fiel  das  Urteil  ziemlich  milde  aus :  Verlust  aller  Rechte 
und  zehn  Jahre  Zwangsarbeit. 

Hätte  nicht  das  Bezirksgericht  von  Lodz,  sondern  irgend  ein 
Bauerngericht  oder  selbst  ein  städtisches  Geschworenengericht 
über  die  Engelmacherei  zu  entscheiden  gehabt,  so  wäre  das 
Urteil  allerdings  noch  viel  glimpflicher  ausgefallen.  Ganz  milde 
urteilt  man  aber  in  jedem  Falle,  wenn  die  Mutter  selbst  als 
Mörderin  ihres  Kindes  vor  Gericht  kommt.  Berühmt  gewor- 
den in  dieser  Hinsicht  ist  in  der  Geschichte  der  russischen  Justiz 
des  neunzehnten  Jahrhimderts  ein  Urteil  des  Tribunals  von 
Kasanj,  das  einer  Kindesmörderin  nur  eine  leichte  Knuten- 
strafe zudiktierte  mit  folgender  Begründung  i):  „Der  Mord 
am  eigenen  Kinde  ist  nicht  ein  so  schweres  Verbrechen  wie 
der  Mord  an  einem  fremden  Kinde.  Wenn  eine  Mutter  ihr 
eigenes  Kind  ermordete,  so  mußten  die  Motive  überwiegend 
und  übermächtig  sein,  daß  sie  die  natürliche  Mutterliebe  über- 
wältigen und  die  Tat  herbeiführen  konnten.  Ein  imzurech- 
nungsfähiger  augenblicklicher  Wahnsinn  nur  vermochte  sie 
möglich  zu  machen.  Der  Mord  an  einem  fremden  Kinde  aber 
ist  in  der  Regel  die  Folge  einer  vorbedachten  Absicht.** 

So  stark  Engelmacherei  und  Tötung  des  neugeborenen 
Kindes  durch  die  Mutter  in  Rußland  und  besonders  in  Polen 
verbreitet  sind,  so  selten  hört  man  von  diesen  Verbrechen 
in  den  baltischen  Provinzen.  Schon  Petri^)  bemerkte  vor 
hundert  Jahren  in  bezug  auf  die  estnischen  Frauen:  „Es  gibt 
ganze  Gegenden,  wo  der  Name  einer  Kindermörderin  völlig 
unbekannt  ist.**  Dagegen  weiß  man  von  einigen  anderen  Völ- 
kern in  Rußland,  daß  bei  ihnen  der  Kindermord,  besonders  der 


^)  Haxthausen,  Studien,  I  482. 
^)  Ehstland  und  die  Ehsten,  II  43. 


—    445    — 

Töchtermord,  früher  obligat  war,  teilweise  noch  heute  obligat 
ist.i)  Von  den  Kosaken,  die  sich  am  Jaik  ansiedelten,  wird 
erzählt  2):  „Nach  ihren  mörderischen  Räuber-Sitten,  oder  viel- 
mehr aus  einem  gewissen  abergläubischen  Wahn,  oder  wie 
andere  wollen,  weil  sie  bey  dem  Kinder-Geschrey  ihren  Auf- 
enthalt nicht  hätten  vor  ihren  Feinden  verbergen  imd  ver- 
hüten können  von  ihnen  aufgehoben  zu  werden;  machten  Sie 
in  einem  gemeinschaftlichen  Vertrag  unter  einander  aus,  daß 
alle  ihre  Kinder  gleich  bey  der  Geburt  umgebracht  werden 
sollten.  Diese  Tyranney  übten  sie  einige  Jahre  lang  wirk- 
lich aus,  wie  alle  jaikische  Koßaken  noch  jetzt  bekräftigen,  nur 
mit  dem  Unterschied,  daß  einige  meynen,  sie  hätten  blos  die 
Mädgen  umgebracht,  die  Knäblein  aber  beym  Leben  gelassen. 
Nachdem  dieses  unmenschliche  Verfahren  eine  2^itlang  unter 
diesen  Koßaken  im  Schwange  gegangen  war:  wurde  einem 
aus  ihrem  Mittel,  Namens  Tit  Fedorow,  eine  Tochter  geboren; 
das  Flehen  seiner  Frau  erweichte  ihn,  daß  er  sie  zwey  Jahr 
heimlich  bey  sich  erhielt.  Endlich  aber  erfuhren  es  etliche 
seiner  Mitbrüder,  und  er  sähe,  daß  er  es  nicht  weiter  ver- 
bergen konte.  Als  nun  eben  eine  Koßaken- Versammlung  ge- 
halten wurde:  nahm  er  seine  Tochter  auf  die  Arme,  trat  nut 
ihr  in  den  Kreis  und  brachte  an:  Er  wisse  zwar  den  \mter 
ihnen  bestehenden  Vertrag  wegen  Umbringung  der  Kinder  sehr 
wohl,  es  sey  ihm  aber  nicht  möglich,  seine  Hände  in  seinem 
eigenen  Blute  zu  baden;  er  überliefere  also  hiermit  dem  Kriege- 
recht  nicht  allein  das  unschuldige  Kind,  sondern  auch  sich 
selbst,  weü  er  den  gemeinen  Vertrag  aus  den  Augen  gesetzt. 
Anfangs  fällten  viele  das  Urtheil,  es  müßten  beyde,  sowohl 
Vater  als  Kind,  vom  I^ben  zum  Tode  gebracht  werden,  danüt 
ihr  Recht  und  Vertrag  nicht  gebrochen  und  entkräftet  würde. 
Endlich  aber  wurde  der  größte  Theil  gerührt  und  zum  Mit- 
leiden bewegt.  Voller  Erbarmung  schryen  sie,  man  sollte 
beyde    verschonen.     Und    so    wurde    denn    nicht    nur    dieser 


^)  Von  dem  Kinder mord  aus  religiösem  Fanatismus  habe  ich  schon  im 
ersten  Bande,  S.  248,  und  in  diesem  Bande  (im  Kapitel  über  die  Grausamkeit 
im  Familienleben)  gesprochen. 

')  Die  jaiker  Miliz  und  ihre  Verfassung.    Büschings  Magazin. 


—    446    — 

Koßak,  Tit  Fedorow,  mit  seiner  kleinen  Tochter  vom  Tode 
errettet,  sondern  auch  ihr  unmenschlicher  Vertrag  gänzlich 
aufgehoben,  und  seitdem  haben  sie  alle  ihre  Kinder  aufge- 
zogen.** 

Von  den  Swanethen,  einem  wenig  bekannten  Volke  des 
Kaukasus,  behaupten  russische  Forscher:  es  sei  bei  ihnen  alte 
Sitte,  daß  die  Väter  zur  Verhütung  eines  Überschusses  des 
weiblichen  Geschlechtes  bei  der  Geburt  einer  vierten  Tochter 
diese  aus  der  Welt  schaffen.  Der  Gebrauch  soll  dort  noch 
heute  bestehen.  1) 


^)  Bodenstedt  fand  diese  russische  Mitteilung  eines  Zweifels  wert;  doch 
wurde  sie  in  neuester  Zeit  als  glaubwürdig  bestätigt  von  dem  vor  kurzem  ver- 
storbenen berühmten  Kenner  Kaukasiens,  Gustav  Radde,  der  lange  Jahre  in 
Tiflis  gelebt  und  speziell  die  Sitten  der  Chewsuren,  Pscbawen,  Tuschinen  und 
Swanethen  studiert  hat. 


ACHTER  TEIL: 


Geschlechtliche  Moral 


47.  Erziehung  der  Jugend.  —  48.  Scham- 
gefühl und  Keuschheit.  —  49.  Probenächte 
und   Jungfemschaft.   —  50.   Coitus    und 
Religion.   —  51.  Snochatschestwo. 


47-  Erziehung  der  Jugend. 

Unsittlichkeit  und  Komiption  der  Jugend  —  Urteile  über  Erziehung  in  Ruß- 
land —  Die  Töchter  im  Terem  —  Bildung  der  Zarin  und  der  Prinzessinnen  — 
Allgemeine  Unbildung  —  Reformen  Peters  des  Großen  —  Kronsinstitute  und 
öffentliche  Mädchengymnasien  —  Privatunterricht  —  Gouvernanten  —  Pen- 
sionate  *—  Wandlung  zum  Extremen  —  Klage  eines  Familienvaters  —  Neigung 
der  Mädchen  zu  geschlechtlichen  Exzessen  —  Frühe  Menstruation  und  frühes 
Erwachen  der  Naturtriebe  —  Masturbation  —  Knaben-Pensionate  und  Knaben- 
Gymnasien  —  Die  Päderastenschule  Bitschkow  —  Gleichgültigkeit  und  Fatalis- 
mus der  Eltern. 

„Es  würde  für  die  Russen  schwer  sein,  noch  unsittlicher 
zu  werden  als  sie  gegenwärtig  sind.  Kinder  von  dreizehn 
Jahren  bleiben  die  Nacht  über  vom  Hause  weg  und  bringen 
ihre  Zeit  an  Orten  zu,  wo  sie  ungezügelter  Ausschweifung 
fröhnen.**  Also  schrieb  ein  Russe  im  Jahre  1889.^)  ^^^  zwei 
Jahrzehnte,  die  seither  verflossen  sind,  diese  zwanzig  Jahre 
der  Gärungen,  Unruhen,  Revolutionen,  Morde  und  Gegen- 
morde, haben  nicht  dazu  beigetragen,  das  Niveau  der  Sittlich- 
keit  der  Jugend  zu  heben.  Nicht  bloß  im  Inneren,  in  den  von 
der  sogenannten  kultivierten  russischen  Welt  entfernten  Pro- 
vinzen, sondern  auch  in  den  zivilisiertesten  Städten,  ja  selbst 
im  Dorado  der  Bildung  und  des  feinen  Tones:  in  den  bal- 
tischen Ländern,  ist  die  Jugend  vollständig  verroht.  „Wohl 
das  Traurigste  an  den  heutigen  Eindrücken  bei  einem  Besuche 
Rigas,**  sagte  in  jüngster  Zeit  ein  deutscher  Beobachter 2),  „ist 
die  allenthalben  zutage  tretende  totale  Verlotterung,  geistige, 
sittliche  und  körperliche  Korruption  der  Jugend  männlichen 


^)    Im    „Fpaa^AaEHHi",    der    Zeitung   des   Fürsten  Meschtscherskij,   12. 
VIII.  1889.  —  Lanin,  Russische  Zustände,  II  55. 

s)  Baltische  Eindrücke  von  Freiherm  A.  v.  £.  in  der  Sonntagsnummer  des 
Berliner  Lokal- Anzeiger  (11.  Beiblatt)  vom  21.  April  1907. 

Stern,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  29 


—    450    — 

und  weiblichen  Geschlechts."  Namentlich  die  russische,  lettische 
und  jüdische  Schuljugend  befindet  sich  in  einem  hoffnungs- 
losen Zustande:  Keinerlei  Autorität  wird  von  den  verwahr- 
losten jungen  Leuten  anerkannt.  Alles  konkurriert  um  die 
Palme  im  gemeinen  Betragen,  im  Verstoßen  gegen  Sitte  und 
Herkommen.  „Im  Äußeren  gilt  als  schick  für  die  männliche 
Jugend:  ein  zur  Schau  getragenes  Strolchgepräge  ä  la  Gorkis 
„Nachtasyl".  Die  Typen  dieses  Dichters  sind  ja  das  Ideal 
der  demokratischen  Jugend  Rußlands.  Der  demokratische 
Gymnasiast  läuft  daher  mit  langem,  schmutzigem  Haar  herum, 
das  in  Strähnen  ums  Antlitz  hängt.  Die  Mütze  sitzt  auf  einem 
Ohr  und  ist  weit  in  den  Nacken  geschoben.  Der  breite  Deckel 
muß  unordentlich  eingedrückt  und  möglichst  schmutzig  sein. 
Der  äußerst  schmierige  graue  Uniformpaletot  wird  salopp  offen 
getragen  und  schlenkert  um  die  haltungslose  Gestalt,  die  in 
einer  ostentativ  schäbigen  Bluse  steckt.  Die  Hände  werden 
entweder  tief  in  die  Taschen  des  Mantels  gesteckt  oder  auf 
dem  Rücken  in  die  Ärmel  geschoben,  wobei  die  Ellbogen 
möglichst  weit  vom  Körper  abstehen  müssen.  Natürlich  wird  nie- 
mandem ausgebogen,  im  Gespräch  roh  gegrinst,  geraucht,  ge- 
spuckt, und  man  befleißigt  sich  der  ordinärsten  Ausdrucks- 
weise. Die  holde  Weiblichkeit  der  entsprechenden  Kategorie 
zeichnet  sich  durch  ein  Äußeres  und  Benehmen  aus,  das 
den  schlechter  erzogenen  Repräsentantinnen  der  Halbwelt  liebe- 
voll und  mit  entschiedenem  Talent  abgelauscht  ist.  Der  Flirt 
dieser  jungen  Leute,  den  jeder,  den  es  interessiert,  auf  dem 
Alexander-Boulevard  oder  noch  besser  in  zahlreichen  Kon- 
ditoreien beobachten  kann,  trägt  einen  solchen  Charakter,  daß 
man  an  der  Zukunft,  dem  sittlichen  Wert  und  der  erzieherischen 
Qualifikation  dieser  gesamten  Generation  schier  verzweifeln 
muß.  Der  Stempel  der  Verkommenheit  ist  diesen  jugend- 
lichen Gestalten,  die  leider  auch  einmal  Familie  gründen  wer- 
den, aufgeprägt." 

Diese  Jugend  entspricht  aber  nur  den  allgemeinen  Ver- 
hältnissen, ist  eine  Pflanze  des  Sumpfes,  den  wir  russische 
Sittlichkeit  nennen  müssen.  „Die  Bezirksgerichte  betrachten 
den  Ehebruch  gar  nicht  als  eine  ernsthafte  Verletzung  der 
ehelichen  Pflichten,**  sagt  der  Verfasser  eines  russischen  Buches 


—    451    — 

über  die  russischen  Frauen.^)  Wo  man  keine  eheliche  Treue 
zu  wahren  für  nötig  hält,  kümmert  man  sich  auch  wenig  oder 
gar  nicht  um  die  Erziehung  und  die  Moralität  der  Jugend. 
Nur  ein  Bruchteil  der  russischen  Jugend  erhält  überhaupt  eine 
Erziehung.  Und  wie  ist  diese  Erziehung  beschaffen?  Vor- 
stellungen von  Pflicht  zu  erwecken,  die  Notwendigkeit  der 
Pflichterfüllung  zu  lehren,  dies  betrachtet  sie  nicht  einmal  als 
ihre  Aufgabe.  „Die  Erziehung  der  russischen  Jugend,**  schrieb 
der  Engländer  Lanin^),  „geschieht  in  jenem  engen  Geiste, 
der  sie  niemals  ihre  Beziehung  zu  Familie,  Gesellschaft  und 
Vaterland  erfassen  läßt;  denn  was  ihnen  an  Unterricht  zuteil 
wird,  besteht  hauptsächlich  in  einem  Zusammenhang-  imd  ziel- 
losen Stück-  und  Flickwerke  von  zum  Teil  höchst  zweifelhaftem 
Lehrwerte.  Davon,  daß  die  zarten,  jungen  Seelen  mit  fester 
und  zugleich  milder  Hand  in  der  Selbstbeherrschung,  wie  in 
der  Liebe  zur  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  geschult,  daß  die 
jungen  Triebe  und  Begierden  da,  wo  sie  gar  zu  üppig  empor 
sprießen  wollen,  auch  wenn  es  wehe  tut,  geputzt  und  be- 
schnitten werden  müssen,  auf  daß  ihre  moralische  Kraft  er- 
starke, ihr  sittliches  Urteil  sich  festige  und  erhöhe,  daß  ihre 
Neigungen  sich  veredeln  und  der  Kreis  der  Dinge,  für  welche 
ihre  jugendlichen  Herzen  Zuneigung  fassen,  sich  immer  mehr 
erweitere,  kurz,  von  jener  auf  liebevolle  Sorge  und  weise 
Lehre,  vor  allem  aber  auf  die  wirksame  Predigt  des  eigenen 
Beispiels  gegründeten  Erziehungs weise,  die  das  Ziel  der  moder- 
nen Pädagogen  ist,  hat  man  in  Rußland  bis  heute  noch  nicht 
die  geringste  Vorstellung.** 

In  früheren  Kapiteln  habe  ich  schon  mehrfach  Gelegenheit 
gehabt,  die  Bildung,  die  dem  männlichen  Geschlecht  in  Ruß- 
land in  den  verschiedenen  lEpochen  zuteil  wurde,  zu  schildern,  s) 
Noch  schlimmer  als  um  die  Erziehung  der  Knaben  war  es 
um  die  der  Mädchen  bestellt.  Das  weibliche  Geschlecht  ver- 
brachte fast  sein  ganzes  Leben  in  dem  Terem  und  benötigte 
keine  Bildung.  Im  Gesetzbuch  des  Großfürsten  Jaroslaw  gilt 
die   russische    Frau   des   elften   Jahrhunderts   als     „auf   einer 

1)  Pachmann,  Das  Buch  von  den  Frauen,  S.  59.  —  Lanin  a.  a.  O, 

2)  a.  a.  O.  31. 

3)  Band  I.  S.  31—53. 

29* 


—    452    — 

Stufe  stehend  mit  einem  Lahmen,  einem  Blinden,  einem 
Krüppel,  einem  Bettler,"  mit  einem  Worte  als  ein  un- 
vollkommenes oder  verunstaltetes  menschliches  Geschöpf, 
stark  genug  aber,  um  dem  gemeinen  Manne  ak  Lasttier 
zu  dienen;  und  schön  und  reizvoll  genug,  dem  Vornehmen 
ein  Werkzeug  der  Wollust  zu  sein.  So  bleibt  es  bis  zum  Ende 
des  siebzehnten  Jahrhunderts,  und  es  fällt  weder  den  Be- 
drückern noch  den  Bedrückten  ein,  die  Situation  ändern  zu 
wollen.  Die  Töchter  der  Vornehmen  schmachten  ganz  zu- 
frieden in  dem  Terem  und  lernen  nichts,  weil  sie  nichts  zu 
wissen  brauchen.  Ist  einmal  ein  Bojar  gar  erleuchtet,  so  läßt 
er  seinen  Töchtern  durch  einen  Popen  oder  Kirchendiener 
etwas  von  der  Kunst  des  Lesens,  seltener  auch  des  Schreibens 
beibringen.  Die  Zarin  Praskowja,  Gemahlin  des  Zaren  Iwan  V., 
des  Stiefbruders  und  Mitregenten  Peters  des  Großen,  ist  die 
Erste,  die  für  ihre  Töchter  einen  Gouverneur  und  Sprachen- 
lehrer engagiert:  den  Deutschen  Johann  Christophor  Dietrich 
Ostermann;  später  beruft  sie  in  ihr  Haus  noch  einen  zweiten 
Lehrer,  ebenfalls  einen  Deutschen,  Stefan  Ramburg,  „damit  er 
den  Prinzessinnen  das  Tanzen  und  die  Anfangsgründe  der 
französischen  Sprache  beibringe.**  Die  beiden  Lehrer  scheinen 
aber  nicht  viel  zustande  gebracht  zu  haben.  Die  Prinzessinnen 
sprechen  die  Sprachen  schlecht,  im  Tanz  reüssiert  nur  die  aus- 
gelassene Katharina,  spätere  Herzogin  von  Mecklenburg;  na- 
mentlich Anna,  die  spätere  Kaiserin,  bleibt  hinter  allen  Er- 
wartungen zurück  und  schreibt  noch  als  Zarin  ein  entsetzlich 
fehlerhaftes  Russisch.  Und  dies  sind  schon  die  leuchtenden 
Ausnahmen  der  ZeitI  Die  Töchter  adeliger  oder  gar  bürger- 
licher Familien  verstehen  weder  zu  lesen  noch  zu  schreiben. 
Allerdings  darf  man  nicht  vergessen,  daß  auch  die  Männer 
in  diesen  Künsten  nicht  gar  so  fortgeschritten  sind;  selbst  in 
der  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  Jahrzehnte  nach  dem 
Tode  Peters  des  Großen,  findet  man  noch  unter  den  ersten 
russischen  Staatsmännern  Leute  von  verblüffender  Ignoranz. 
Man  hat  schon  Akademien,  aber  keine  Elementarschulen,  und 
diesen  Widersinn  charakterisiert  ein  Aktenstück  aus  1740,  das 
von  einem  Schüler  der  Akademie,  einem  gewissen  Nartow, 
erzählt:    „Er  kann  selbst  seinen  Namen  im  Russischen  nur 


—    463    ^ 

mit  Mühe  unterfertigen."  Nach  dem  Zeugnisse  Gribowskijs^) 
konnten  von  allen  Hofleuten  Katharinas  II.  nur  zwei :  Patjomkin 
und  Besborodko  orthographisch  russisch  schreiben! 

Sollten  da  die  immer  als  Geschöpfe  niedriger  Ordnung 
behandelten  Frauen  ehrgeiziger  sein  als  die  Herren  der  Gesell- 
schaft? Peter  der  Große  hatte  die  Frau  aus  dem  Terem 
hinausgeführt  in  die  große  Öffentlichkeit,  aber  als  er  ihr  befahl, 
an  der  Unterhaltung  und  den  Reformen,  die  er  meinte,  teil- 
zunehmen: da  verlangte  er  von  ihr  nicht  auch  Bildung;  ihm 
genügte  es,  wenn  sie  tanzte  und  Branntwein  trank.  Erst 
Katharina  II.  stiftete  Bildungsanstalten  für  die  weibliche 
Jugend;  doch  nur  für  die  Töchter  der  Adeligen.  Die  Er- 
ziehungsanstalt des  Smolnaklosters  und  das  Katharinenstift  zu 
Petersburg,  das  Katharinenstift  zu  Moskau  und  das  Fräulein- 
stift zu  Charjkow  nahmen  ausschließlich  junge  Mädchen 
adeliger  Herkunft  auf.  Bürgerliche  konnten  bloß  im  Alex- 
anderinstitut zu  Moskau  und  im  Findelhaus  zu  Petersburg, 
wenn  die  Väter  besondere  Protektion  hatten,  auf  Kronskosten 
eine  Erziehung  erhalten.  Der  Rest  war  der  totalen  Unbildung 
ausgeliefert,  wenn  keine  Mittel  da  waren,  den  kostspieligen 
Aufenthalt  in  einem  Pensionat  oder  den  noch  kostspieligeren 
Privatunterricht  zu  bestreiten. 

Und  es  ist  wahrlich  noch  die  Frage:  ob  man  besser  tut, 
die  Töchter  gar  nicht  erziehen  zu  lassen  oder  ihnen  die  Er- 
ziehung zu  geben,  die  geboten  wird.  Gelingt  es,  die  Mädchen  in 
eines  der  privilegierten  adeligen  Institute  zu  bringen,  so  müssen 
sich  die  Eltern  verpflichten,  sie  jahrelang  dort  zu  lassen.  Das  Re- 
glement macht  zum  Gesetz,  daß  die  Schülerinnen,  die  als  kleine 
Kinder  aufgenommen  werden,  die  Institute  bis  zur  Beendi- 
gung niemals  —  auch  während  der  Ferien  nicht  —  verlassen 
dürfen.  Sie  werden  also  der  Familie  vollständig  entfremdet. 
Und  was  gewinnen  sie  dafür?  Das  Programm  des  Unterrichts 
schreibt  Wissenschaften  und  Künste  vor,  die  nichts  mit  der 
Bildung  noch  mit  dem  Leben  zu  tun  haben;  und  wenn  die 
Schülerinnen  endlich  die  Anstalt  verlassen,  sind  sie  zu  gar 
nichts  tauglich:    „Künstlich  von  dem  wirklichen  Leben  und 


1)  MEXHeBiTTL,  PyocKaa  yKßBnjfma.  XVUI  crai.,  81. 


-    454    — 

namentlich  von  jeder  Berührung  mit  Männern  abgesperrt,  pfleg- 
ten die  entlassenen  Töchter  der  kaiserlichen  Institute  sich 
mit  dem  Heißhunger  junger  Fliegen  auf  die  Freuden  der  Ge- 
selligkeit zu  stürzen  tmd  das  Versäumte  so  gründlich  nach- 
zuholen, daß  sie  gewöhnlich  schon  nach  wenigen  Wochen 
von  routinierten  Veteranerinnen  des  Salons  nicht  mehr  zu 
unterscheiden  waren.**  i)  Die  nichtadeligen  Töchter,  die  auf  die 
Privatpensionate  und  auf  Hausunterricht  angewiesen  waren, 
erreichten  nicht  viel  mehr.  Ihre  Erzieherinnen  sind  in  erster 
Linie  Gouvernanten,  die  jene  Staatsinstitute  absolvierten,  also 
Lehrerinnen,  die  selber  nichts  gelernt  haben.  Neben  diesen 
russischen  Erzieherinnen  gibt  es  deutsche  Gouvernanten, 
Schweizerinnen  und  Französinnen;  das  Wichtigste,  was  von 
ihnen  gefordert  wird,  ist  die  korrekte  Aussprache  ihres  hei- 
mischen Idioms;  alles  andere  ist  Nebensache.  Besonders  beliebt 
sind  ausrangierte  Tänzerinnen  2)  und  Schauspielerinnen,  „weil 
Personen  dieser  Kategorien  sich  in  bezug  auf  Tournure,  Unter- 
haltungsgabe und  esprit  de  conduite  gewöhnlich  brauchbarer 
zeigten  als  die  pedantischen  Deutschen  und  die  schwerfälligen 
Schweizerinnen  von  Waadtland  und  Neufchätel.**  In  vor- 
nehmen Häusern  brachte  man  es  häufig  zu  Repräsentantinnen 
aller  Nationen;  und  dies  galt  als  nobelste  Erziehung. 

Die  Regierung  fand  erst  im  Jahre  1856  die  Zustände  re- 
formbedürftig, und  seit  1860  befaßte  man  sich  mit  der  Grün- 
dung von  Mädchengymnasien.  Ende  1872  zählte  man  in  Ruß- 
land und  Polen  55  Gymnasien  und  131  Untergymnasien  für 
Mädchen  mit  etwa  25  000  Schülerinnen.  Wie  die  weibliche 
Jugend  früher  jede  ernstere  Beschäftigung  als  mit  den  An- 
sprüchen des  guten  Tones  unvereinbar  belächelt  hatte,  so  warf 
sie  sich  jetzt  mit  Übereifer  auf  die  Studien,  die  bisher  den 
Männern  allein  reserviert  gewesen  waren.  Den  merkwürdigen 
Umschwung,  der  sich  rapid  vollzog,  schildert  ein  feiner  Be- 
obachter   also^):     Zahllose    Frauenzimmer,    die    gewohnt    ge- 


1)  Aus  der  Petersburger  Gesellschaft,  III  255,  256. 

2)  Turgenjew  schildert  in  ,,Rudin"  eine  zur  Erzieherin  erhobene  Ex- 
tänzerin,  die  bei  dem  Klang  des  Wortes  amour  emporfährt  ,,und  die  Ohren 
spitzt  wie  ein  ausrangiertes  Dragonerpferd  beim  Ton  der  Trompete". 

^)  Aus  der  Petersburger  Gesellschaft,  III  266. 


—    455    — 

Wesen  waren,  ihre  Tage  mit  dem  geschäftigen  Müßiggang 
des  Gesellschaftstreibens  auszufüllen  und  das  althergebrachte 
Herumlungern  in  den  Häusern  wohlhabender  Verwandter  pro- 
fessionell zu  betreiben,  begeisterten  sich  plötzlich  für  den  Ge- 
danken, „nützliche  Glieder**  der  Nation  zu  werden  und  es  den 
Männern  an  Arbeit,  Tätigkeit  und  Bildung  gleichzutun.  Da 
von  allem,  was  bisher  Regel  und  Herkommen  gewesen,  plötz- 
lich das  Gegenteil  galt  und  da  sich  in  der  Tat  nicht  leugnen 
ließ,  daß  der  Müßiggang,  die  Putzsucht  und  geistige  Leere 
des  weiblichen  Teils  der  gebildeten  Klasse  in  den  Tagen  des 
ancien  regime  Krebsschäden  des  russischen  Lebens  gebildet 
hatten,  glaubte  das  junge  Geschlecht  aller  Rücksichten  auf 
die  Gewohnheiten,  und  Sitten  seiner  Mütter  entbunden  zu  sein 
und  es  in  jeder  Rücksicht  anders  als  diese  machen  zu  müssen. 
Das  an  und  für  sich  löbliche  Bestreben,  das  Leben  inhaltreicher 
und  würdiger  als  bisher  m  gestalten,  verzerrte  sich  unter  dem 
Einfluß,  der  die  mittleren  und  höheren  Lehranstalten  für 
Männer  beherrschenden,  kraßrealistischen  und  demokratischen 
Tendenzen  zu  einer  Karikatur,  die  anfangs  nur  lächerlich  und 
geschmacklos,  in  der  Folge  aber  höchst  gefährlich  wurde. 
Unter  den  bildungsdurstigen  jungen  Russinnen  kam  ein  Ra- 
dikalismus in  die  Mode,  der  denjenigen  der  Männer  alsbald 
an  Entschiedenheit  und  Zynismus  übertraf.  Weil  in  den  Pen- 
sionaten  alten  Zuschnitts  französische  Sprache,  Musik,  Tanz 
und  „Börsensticken**  die  ernsteren  Beschäftigungen  zurück- 
gedrängt hatten,  sollte  es  eine  Schande  sein,  sich  mit  Künsten 
und  weiblichen  Arbeiten  überhaupt  noch  abzugeben;  weil 
Kleiderluxus  und  Modekultus  früher  bis  zum  Unsinn  getrieben 
worden,  gefiel  die  auf  der  Höhe  der  Zeit  stehende  weibliche 
Jugend  sich  darin,  alle  Schönheitsrücksichten  außer  Augen 
zu  setzen,  nach  Männerart  zugeschnittene  knappe  Jacken  an- 
zulegen, das  Haar  kurz  zu  verschneiden  und  Brillen  aufzu- 
setzen; an  die  Stelle  der  aristokratisch-koketten  „Tournure**, 
mit  deren  Erlernung  die  Dorfschönen  und  Beamtentöchter 
früherer  Zeit  sich  abgequält  hatten,  trat  ein  zynisches  Ge- 
bahren,  das  Geschlechtsunterschiede  und  Geschlechtsrück- 
sichten systematisch  außer  Augen  setzte  und  eingehende  Be- 
kanntschaft  mit   den   Geheimnissen   der   Anatomie   und   Em- 


—    466    — 

bryologie  für  ebenso  selbstverständlich  ansah,  wie  Zigarren- 
rauchen und  Kneipenbesuchen.  „Alles  das/*  klagt  ein  nissi- 
scher Familienvater,  „was  man  früher  in  Gegenwart  eines 
Mädchens  nicht  erörtern  durfte,  setzt  die  moderne  Jung- 
frau detailliert  auseinander,  und  sie  analysiert  es  mit 
einem  Geschick,  wie  es  selbst  einem  Fachmann  zuweilen 
nicht  eigen  ist.** 

Diese  Klage  ist  bezeichnend.  Sie  wird  verstärkt  durch 
die  Bekenntnisse  einer  Russin,  die  als  Direktrice^)  eines  Mäd- 
chengympasiums  Erfahrungen  gesammelt  und  in  einem  Buche 
über  die  weibliche  Erziehung  in  Rußland  bestätigt  hat,  „daß 
die  faule  Atmosphäre  der  Straße  und  des  Marktplatzes  Zu- 
gang in  die  Schulzimmer  des  Mädchengymnasiums  geftmden." 
Sie  zeigt  uns  die  studierende  weibliche  Jugend  Rußlands  in 
einem  unbeschreiblichen  Zustande  der  Unsittlichkeit  und  Ver- 
worfenheit; man  fühlt  sich  versucht,  ihre  Wahrheitsliebe  zu 
bezweifeln,  wenn  sie  erzählt,  wie  die  Gymnasiastinnen  —  Mäd- 
chen von  12  bis  i6  Jahren  —  ihre  Abende  in  Caf6s  chantants 
niedrigster  Sorte  zubringen  und  sich  dort  unverschämt  un- 
anständig aufführen.  2) 

Nicht  weniger  traurig  steht  es  um  die  Mädchen,  die  Privat- 
unterricht erhalten,  oder  gar  um  jene,  die  in  Pensionaten  er- 
zogen werden.  Das  russische  Mädchen  wird  auffallend  früh 
reif.  Schon  im  zwölften  Jahre  zeigt  sich  mit  der  Menstruation 
ihre  Mannbarkeit.  Während  einige  3)  die  frühe  Reife  dem 
Gebrauche  der  Dampfbäder  zuschreiben,  bezeichnen  andere*) 
als  die  Ursachen  dieser  Erscheinung  das  Klima  und  das  frühe 
Erwachen  der  Naturtriebe.  Die  Gouvernanten  geben  ihren 
Zöglingen  gern  versteckte  und  offene  Aufschlüsse  über  die  Ge- 


^)  Der  Unterricht  an  den  Mädchengymnasien  wird  von  Lehrern  erteilt, 
auch  der  Turnunterricht.  Aber  neben  dem  Direktor  gibt  es  eine  Direktrice, 
und  außerdem  für  jede  Klasse  eine  Klassendame,  die  —  von  den  Schülerinnen 
Cerberus  genannt  —  in  jeder  Stunde  neben  dem  Lehrer  sitzt  und  auf  ,, Ordnung 
und  Anstand"  zu  sehen  hat. 

^)  Lanin,  a.  a.  O.  32. 

^)  Storch,  Historisch-statistisches  Gemähide  des  Russischen  Reiches,  I  482. 

^)  Der  Arzt  Wichelhausen,  Züge  zu  einem  Gemähide  von  Moskwa,  289. 


^    457    — 

fühle,  die  sie  schon  im  dreizehnten  Lebensjahre  beunruhigen, 
und  den  Rest  besorgt  die  Ungeniertheit  der  Mütter,  die  die 
kleinen  Mädchen  an  den  intimsten  Unterhaltungen  der  Großen 
teilnehmen  lassen.^)  Da  die  Töchter  im  Hause  keine  ernste 
Arbeit  zu  besorgen  haben,  können  sie  fast  ihr  ganzes  Denken 
und  Sinnen  auf  ihre  physischen  Triebe  richten,  und  es  ist 
Tatsache,  daß  in  keinem  Lande  die  Masturbation  des  weib- 
lichen Geschlechts  so  stark  verbreitet  ist  wie  in  Rußland.  Die 
Wahrheit  dieser  Behauptung  wird  jeder  Arzt  bestätigen,  der 
die  höheren  und  mittleren  Kreise  der  russischen  Gesellschaft 
besucht.  Das  Laster  findet  man  in  den  Pensionaten  noch 
häufiger;  ja  hier  gehört  es  förmlich  zu  den  Attributen  der 
Anstalt.  Die  schädlichen  Folgen  kann  man  ermessen,  wenn 
konstatiert  wird,  daß  in  jeder  Stadt  Rußlands  durchschnittlich 
die  Hälfte  der  Mädchen  schulpflichtigen  Alters  in  Pensionaten 
und  öffentlichen  Instituten  erzogen  wird. 

Die  Knaben-Pensionate  und  Knaben-Gymnasien  zeigen  die- 
selben trostlosen  Bilder.  Der  Junge  von  vierzehn  Jahren  be- 
sucht schon  das  Bordell;  die  Sinnlichkeit  beherrscht  alle  Hand- 
lungen der  Jugend,  und  die  Lehrer  fördern  die  Unsittlichkeit. 
Vor  wenigen  Jahren  machte  in  Petersburg  der  Fall  des  Direktors 
Bitschkow  großes  Aufsehen;  dieser  Jugendbildner  hatte  sein 
Gymnasium  in  eine  komplette  Päderastenanstalt  umgewandelt; 
infolge  einiger  schwerer  Unfälle  wurde  seinem  Treiben  ein 
Ziel  gesetzt  und  seine  Verbannung  nach  Sibirien  ausgesprochen. 
Wieviele  Direktoren  Bitschkow  laufen  frei  herum!  Alle  Ka- 
dettenschulen stehen  auf  derselben  Stufe  wie  das  Gymnasium 
Bitschkows,  alle  kaiserlichen  Pensionate  und  alle  Privatinstitute 
sind  solche  Lasterhöhlen,  und  kein  Geringerer  als  der  frühere 
Ministerpräsident  Witte  hatte  auf  die  entsetzliche  Situation  in 
einer  warnenden  Schrift  hingewiesen.  Aber  die  Eltern  selbst 
bleiben  gleichgültig  und  halten  alles  für  unabänderlich.  Man 
fragte  einen  höheren  Beamten  des  Unterrichtsministeriums,  der 
diese  Zustände  bestätigt  und  beklag^  hatte:  „Wo  lassen  Sie 
denn  Ihre  Kinder  erziehen?**  und  erhielt  folgende  philoso- 
phische Antwort :  „In  denselben  Instituten.     Ich  bin  Fatalist 


^)  Buddeus,  Zur  Kenntnis  von  St.  Petersburg  im  kranken  Leben,  I  89« 


—    458    — 

und  denke,  daß  Kinder  von  der  Natur  stark  ausgerüstet  sind. 
Einige  werden  überhaupt  von  dem  Laster  nicht  angesteckt, 
andere  nehmen  die  Krankheit  in  geheimnisvoller  Weise  auf, 
anderen  wieder  scheint  das  Laster  angeboren  zu  sein." 


48.  Schamgefühl  und  Keuschheit. 

Schamlosigkeit  der  Vorfahren  der  Russen  —  Sprichwort  —  Ausländische  Urteile 
über  das  russische  Schamgefühl  —  Peter  der  Grofift —  Elisabeths  Bettgenossä 

—  Die  Edelfrauen  und  ihre  Sklaven  —  Geilheit  der  russischen  Frauen  und  Männer 

—  Dienstmägde  —  Seltsame  Prüderie  der  Geistlichkeit  —  Russen  und  Polen  *■:—. 
Die  Polen  in  Rußland  —  Warschauer  Sitten  —  Die  Sittenlosigkeit  in  Kauka-^ 
sien  —  Schamhaare  und  Schamgefühl  —  Schamgefühl  und  Keuschheit  bei  den 
Kalmücken  —  Kamtschadalische  Zustände  —  Der  Penis  der  Kamtschadalen 
und  die  Vulva  der  Kamtschadalinnen  —  Hurerei  ehrenhaft  —  Wotjäkische 
Anschauungen  —  Geschlechtliche  Moral  der  Esten  und  Letten  —  Sittenlosig- 
keit der  deutschen  Ordensbrüder. 

Die  Erziehung,  die  wir  der  russischen  Jugend  zuteil  werden 
sehen,  ist  also  nicht  darauf  berechnet,  das  Schamgefühl  zu 
erwecken  und  die  Keuschheit  zu  erhalten.  Schamgefühl  und 
Keuschheit  sind  namentlich  den  Großrussen  stets  unbekannte 
Begriffe  gewesen.  Der  älteste  russische  Chronist  Nestor  erzählt 
von  den  slawischen  Vorfahren  der  Großrussen:  „Die  Drewljä- 
nen  lebten  auf  tierische  Weise  wie  Vieh;  feste  Ehen  hatten 
sie  nicht,  sondern  raubten  die  Jungfrauen  beim  Wasser.  Und 
die  Radimitschen  und  Wjätitschen  und  Sewerjänen  hatten  eine 
und  dieselbe  Gewohnheit  und  lebten  wie  allerlei  Getier,  aßen 
alles  Unieine,  und  trieben  vor  den  Vätern  und  vor  den  Weibern 
schandbares  Zotenreißen.**  i)  Die  Russen  waren  schon  seit  lan- 
gen Jahrhunderten  Christen,  doch  in  ihren  geschlechtlichen  Sitten 
hatte  sich  nichts  geändert.  Ein  mittelalterliches  russisches 
Sprichwort  sagt:  „Eines  Mädchens  Gedächtnis  und  Scham- 
gefühl reichen  nur  bis  an  die  Türschwelle,**  und  es  drückt 
damit  aus,  daß  die  Russin  in  den  Zeiten  des  Terem  nur  solange 


^)  La  Chronique  de  Nestor,  par  Louis  Paris  —  Rhamm,  a.  a.  O.  321. 


—    469    — 

schamhaft  und  keusch  blieb,  als  sie  sich  hinter  verschlossenen 
Türen  befand.  Die  Fremden,  die  Rußland  in  den  früheren  Jahr- 
hunderten bereisten,  bestätigen  genügend  die  Wahrheit  des 
russischen  Wortes.  „Von  der  Keuschheit  kan  ich  nichts  ver- 
sichern,** schreibt  einer  von  ihnen,  „dann  /  obschon  das  Mosco- 
witische  Frauenzimmer  allezeit  eingesperret  bleibet  /  so  öffnen 
sich  dennoch  bißweilen  die  Thüren  ihres  Gefängnisses  /  und 
die  natürliche  Liebe  /  welche  künstlich  ist  giebt  ihnen  /  so 
wohl  als  andern  Völckern  /  die  Mittel  darzu  an  die  Hand.** 
Und  als  die  Frauen  von  Peter  dem  Großen  aus  der  Abge- 
schlossenheit befreit  worden  waren,  mißbrauchten  sie  sogleich 
die  ihnen  gewährte  Freiheit  in  ausschweifendstem  Maße.  „Es 
ist  nicht  zu  vermuthen,**  heißt  es  in  den  Berichten  des  zeit- 
genössischen preußischen  Legationssekretärs  Johann  Gottlieb 
Vockerodti),  „daß  die  Frauenzimmer  die  Freiheit,  so  sie  unter 
Petri  l.  Regierung  erlanget,  gerne  verlieren  würden,  ohner- 
achtet  selbige  auch  noch  heutigen  Tages  sehr  borniret  ist,  und 
sich  lange  so  weit  nicht  erstrecket,  als  in  Frankreich  und 
Polen  oder  auch  nur  in  Teutschland:  welches  auch  generale- 
ment  davon  zu  sprechen,  vor  die  Ehe  ihrer  Männer  vielleicht 
nicht  gar  zu  wohl  gerathen  wäre,  massen  ihre  Passiones  vif 
und  durch  die  Education  selten  gebrochen  sind,  daher  dann, 
wann  sie  sich  verlieben,  der  Roman  insgemein  sehr  kurz  wird.** 
Peter  der  Große  selbst  verursacht  keine  besonders  gute 
Meinung  von  dem  russischen  Schamgefühl,  da  er  auf  seiner 
Reise  durch  Europa  in  Obszönitäten  schwelgt.  17 18  besucht 
er  mit  Katharina  in  Berlin  das  Königliche  Medaillenkabinett 
und  ergötzt  sich  an  einer  jener  obszönen  Statuen,  mit  denen 
die  Römer  ihre  Hochzeitskammern  zu  schmücken  liebten.  Er 
ruft  die  Kaiserin  herbei,  zeigt  ihr  die  Statue  und  befiehlt  ihr, 
das  Ding  zu  küssen.  Und  als  sie,  die  ja  sonst  nicht  so  keusch 
ist,  sich  dennoch  weigert,  angesichts  vieler  Fremder  des  Zaren 
schweinischem  Befehl  zu  folgen,  da  droht  er  ihr,  nicht  spaß- 
haft, sondern  in  brutalem  Ernst :   Kop  ab  I   Kop  ab  I  ^)    Peters 


^)  Bei  Herrmann,  Zeitgenössische  Berichte  zur  Geschichte  Rußlands 
unter  Peter  dem  Großen.     Leipzig   1872,  S.  106,    107. 

2)  Memoiren  der  Markgräfin  von  Bayreuth.  lo.  Aufl.  S.  32.  Berlin, 
Verlag  von  Herrn.  Barsdorf. 


—    460    ~ 

und  Katharinas  Tochter  Elisabeth  hat  von  den  Eltern  nicht 
viel  Gutes  lernen  können.  Ihre  Keuschheit  verliert  sie  schon 
in  einem  Alter,  da  andere  Mädchen  in  kurzem  Kleide  noch 
nicht  einmal  den  Unterschied  der  Geschlechter,  kennen;  und 
Schamgefühl  hat  sie  nicht  im  geringsten.  Die  Türkin  duldet 
es  nicht,  daß  der  entmannte  Wächter,  der  vollständig  gefühl- 
lose Eunuche  in  ihrem  Schlafzimmer  verweilt,  wenn  sie  sich 
entkleidet,  um  zu  Bette  zu  gehen;  aber  Elisabeth,  Kaiserin 
aller  Reußen,  läßt  ihren  Gardisten  Tschulkow  nicht  bloß  in 
ihrem  Zimmer,  sondern  auch  zu  ihren  Füßen  im  Bette  schlafen, 
während  sie  sich  mit  einem  Rasumowskij  oder  Schuwalow 
den  intimsten  Beschäftigungen  widmet. 

Die  Sittlichkeit  der  Gesellschaft  entspricht  der  des  Hofes. 
Die  Edelfrauen  lassen  sich  von  ihren  Sklaven  die  heikelsten 
Dienste  leisten ;  denn  der  Sklave,  der  Niedrige,  ist  in  den 
Augen  des  Höheren  kein  Mensch,  man  braucht  sich  also  vor 
ihm  ebensowenig  zu  schämen  wie  vor  einem  Tiere,  i)  Man 
muß,  nach  Ansicht  der  Russin,  ihres  Ranges  sein,  lun  sie 
erröten  zu  machen.  Eine  russische  Dame  ging  mit  einer  Fran- 
zösin spazieren,  und  zwei  Bediente  folgten  ihnen  nach.  Auf 
einmal  rief  die  Dame  ihre  Diener,  ließ  sich  von  ihnen  unter 
die  Arme  greifen  und  entfernte  sich  ein  wenig  vom  Wege.  Hier 
ließ  sie  sich  hinter  einem  Gesträuch  durch  ihre  zwei  Pagen 
die  Röcke  aufheben  und  verrichtete,  von  ihnen  gehalten,  ein 
dringendes  Bedürfnis.  Die  Französin  konnte  es  nicht  unter- 
lassen, ihr  ihre  Verwunderung  und  Mißbillig^ung  zu  erkennen 
zu  geben,  daß  sie  sich  nicht  schämte,  ein  solches  Geschäft 
zwischen  zwei  Männern  zu  besorgen.  „Wie?**  antwortete  die 
Russin,  „es  sind  ja  meine  Sklaven;  sie  sollten  sich  nur  einmal 
den  Gedanken  einfallen  lassen,  daß  ich  noch  etwas  anderes 
habe  als  einen  Rock,  oder  sich  gar  einbilden,  daß  ich  für  sie 
Frau  bin  und  sie  für  mich  Männer  sindl**  Eine  andere  Russin 
bekam  Lust,  sich  die  Zeit  mit  Fischfang  zu  vertreiben.  Sie 
ließ  Netze  holen  und  befahl  einigen  Bedienten,  daß  sie  sich 
auskleiden  und  ins  Wasser  gehen  sollten.  Sie  taten  dies 
sofort  und  standen  vor  der  Gebieterin  in  völliger  Nacktheit 


1)  Eine  ähnliche  Auffassung  werden  wir  bei  den  Armeniern  kennen  lernen. 


—    4ßl    — 

da.  Die  Dame  erteilte  ihnen  kaltblütig  die  nötigen  Befehle 
„und  sah  mit  einem,  in  der  Tat  komischen  Blick  der  Verachtung 
auf  ihre  durch  Wasser  und  Kälte  eingeschrumpften  Glieder 
herab."!) 

Die  Russinnen  könnten  also  ziemlich  abgestumpft  sein.  Von 
früh  auf  sehei^  sie  ohne  Schrecken  den  Mann  in  seiner  ganzen 
physischen  Nacktheit  vor  sich.  Die  Badesitten  2)  sind  auch 
nicht  geeignet,  das  Schamgefühl  zu  beleben.  Nun  sind  ja 
die  Auffassungen  des  Schamgefühls  und  die  Ansichten  darüber, 
ob  diese  oder  jene  Art  berechtigter  sei,  verschieden.  Aber  bei 
den  Russinnen  ist  die  ländlich-sittliche  Ungeniertheit  gleich- 
zeitig verbunden  mit  einer  unbezähmbaren  Geilheit;  und  eine 
Folge  ihrer  Abgestumpftheit  ist  nicht  Gleichgültigkeit  gegen 
das  andere  Geschlecht,  sondern  die  krankhafte  Sucht,  sich 
durch  raffinierte  Mittel  Reizungen  zu  verschaffen.  Nach  dem 
Sturm  von  Otschakow  wurden  auf  dem  Dnjepr,  der  damals  zu- 
gefroren war,  große  Haufen  von  nackten  Leichnamen  der  ge- 
fallenen Moslems  aufgetürmt;  um  diese  Pyramiden  herum 
fuhren  die  russischen  Damen  in  Schlitten  spazieren  und 
ergötzten  sich  an  den  steifen  Körpern  und  Körperteilen.  Ein 
Europäer  war  einmal  Zeuge,  wie  eine  russische  Dame  um 
einen  jungen  Hengst  handelte;  „sie  untersuchte  ihn  mit  einem 
besonderen  Wohlgefallen,  und  streichelte  ihm  seine  Testikeln, 
die  sehr  stark  vorlagen.*'  Eine  Fürstin  Galizyn  wieder  erzählte 
einmal  in  einer  großen  Gesellschaft,  daß  sie  „drei  Affen  ge- 
kauft  habe,  ein  Weibchen  und  zwei  Männchen.  Wenn  zwei 
davon  sich  paaren,  sagte  sie,  so  ist  der  dritte  sich  selbst  genug ; 
ich  sitze  dabei  auf  dem  Kanapee,  und  sehe  mit  großem  Ver- 
gnügen  dem   sonderbaren   Schauspiel  zu.**  3) 

Diese  Pikanterien  erzählt  der  französische  Major  Masson. 
Die  Russen  lassen  ihn  ebensowenig  als  unverdächtigen  Zeugen 
gelten  wie  seinen  Landsmann,  den  Marquis  de  Custine,  der 
vierzig  Jahre  später  als  Masson  sagte :  „Les  Berits  de  nos 
peintres   des   moeurs   les    plus   hardis   ne   sont   que   de   bien 


1)  Geheime  Nachrichten,   II    158,    159. 

2)  Vgl.  Band  I  428. 

3)  Geheime  Nachrichten  II  197. 


—    462    — 

faibles  copies  des  originaux  que  j'ai  journellement  sous  les 
yeux  depuis  que  je  vis  en  Russie.**  Aber  des  deutschen  Pastors 
Bellermann  Wahrheitsliebe  und  Unparteilichkeit  hat  man  nie- 
mals in  Zweifel  gezogen,  und  dieser  Zeuge  sagt  auf  Grund 
mehrjähriger  Beobachtungen  und  Erfahrungen  (von  1778  bis 
1782):  „Im  ganzen  genommen  lebt  das  russische  Mädchen 
keusch;  keuscher  als  die  Frau.  Bei  der  letzteren  ist  die 
Moralität  sehr  gesunken;  ja  Angehörige  dieses  Standes 
scheinen  gar  keine  Moralität  zu  haben.  Sklaverei,  Gewalt 
des  Erbherrn  und  dessen  rohesten  Junkers  über  seine  Unter- 
tanen, öffentliches  Bad,  Beispiel  der  höchsten  Damen,  Un- 
sittlichkeit  der  Mannespersonen  und  andere  dergleichen  Dinge 
geben  diesem  Krebsschaden  immer  mehr  Nahrung."^)  Und 
einer  der  wärmsten  Freunde  Rußlands,  Leroy-Beaulieu^), 
schreibt  endlich  hundert  Jahre  nach  Bellermann:  „Bei  beiden 
Geschlechtern  scheint  das  Schicklichkeitsgefühl  geringer,  die 
Schamhaftigkeit  weniger  scheu  als  im  Westen;  Männer  wie 
Frauen  setzt  die  Nacktheit  weniger  in  Verlegenheit." 

Wie  die  Herrinnen,  so  die  Mägde.  Fanny  Tarnow,  spätere 
Lewald,  die  zu  Anfang  der  Regierung  Nikolajs  I.  ihre  Peters- 
burger Briefe  verfaßte,  klagte ''^)  „Wenn  einem  das  häusliche 
Leben  hier  ernstlich  verleiden  kann,  ist  die  Sittenlosigkeit  der 
Dienstboten.  Von  der  unter  dieser  Klasse  herrschenden  Sitten- 
losigkeit kann  man  sich  nach  allem,  was  ich  davon  höre, 
wohl  keine  zu  grelle  Idee  machen.**  Katharina  II.  hatte  durch 
die  Stiftung  von  Findelhäusem  imd  Entbindungsanstalten  dafür 
gesorgt,  daß  die  Armen  vor  jeder  unangenehmen  Folge  ihrer 
Unkeuschheit  behütet  blieben.  „Die  Köchin  hier  im  Hause,** 
heißt  es  in  Fanny  Lewaids  Briefen 4),  ,,hat  nun  schon  9  Kinder 
gehabt,  was  ihr  weiter  nicht  die  geringsten  Umstände,  oder 
die  kleinste  Sorge  macht.  In  einer  Abendgesellschaft  bei  Frau 
V.  Kr.  kam  der  Bediente  herein,  ihr  zu  melden,  die  Katinka  sei 
krank  geworden  und  bitte  daher  um  die  Erlaubnis,  die  Nacht 
bei  ihrer  Schwester  zubringen  zu  dürfen;  morgen  bei  guter 


^)  Bemerkungen  über  Rußland,  I  355. 
2)  Das  Reich  der  Zaren,  I   118. 
^)  a.  a.  O.  132. 
*)  S.  133. 


—    463    — 

• 

Zeit  hoffe  sie  wieder  kommen  zu  können.  Als  Frau  v.  Kr. 
mich  am  andern  Tag  besuchte,  fragte  ich  nach  dem  Befinden 
der  Kranken.  Ach,  antwortete  sie  mir,  die  ist  wieder  ganz 
wohl,  sie  ist  gestern  abend  nur  nach  dem  Entbindjungshause 
gefahren;  nun  ist  das  abgemacht  und  die  kleine  Episode  ver- 
gessen. —  Solche  Vorfälle  sind  hier  sehr  häufig." 

Auf  dem  Lande,  im  Hause  des  Muschik^  hat  die  Scham- 
haftigkeit  nicht  einmal  Raum  zur  Entwicklung.  Die  schweren 
Winter  mit  ihren  langen  Nächten  zwingen  die  Familien  nicht 
bloß  ununterbrochen  in  einem  einzigen  Räume  zu  wohnen, 
sondern  auch  zu  gemeinschaftlichem  Schlafen  auf  dem  breiten 
Ofen,  der  in  der  Isba  gewöhnlich  die  Lagerstätte  der  ganzen 
Familie  abgibt;  die  Eltern  schämen  sich  nicht,  neben  und  vor 
ihren  Kindern  ihre  ehelichen  Genüsse  zu  verkosten,  und  es 
wäre  ein  Wunder,  wenn  als  Folgen  dieser  Ungeniertheit  nicht 
noch  viel  mehr  Fälle  von  Blutschande  und  Unzucht  sich  er- 
eignen sollten,  als  in  den  letzten  Jahren  durch  die  Presse  an 
das  Tageslicht  gebracht  worden  sind.  Es  wäre  wohl  Auf- 
gabe der  Geistlichkeit,  auf  das  Volk  günstig  einzuwirken.  Aber 
wir  kennen  ja  schon  zur  Genüge  diese  russische  Geistlichkeit 
und  ihre  merkwürdigen  Anschauungen  in  bezug  auf  Sittlich- 
keit, Keuschheit  und  Schamgefühl,  i)  Ein  klassisches  Beispiel 
dessen,  was  dem  Popentum  Schamgefühl  und  Keuschheit  be- 
deuten, lieferte  in  unseren  Tagen  der  Metropolit  Hermogen  von 
Saratow.  Zugunsten  der  unbemittelten  Schülerinnen  der  Sa- 
ratower  Eparchialschule  veranstaltete  im  April  1907  eine  Opern- 
sängerin, die  berühmte  Bobrowa,  ein  Konzert.  Sie  trug  viele 
Lieder  geistlichen  Inhalts,  daneben  aber  auch  einige  Arien 
aus  den  Opern  Martha,  Traviata  und  Mignon  vor.  Als  der 
Metropolit  nachträglich  vom  Programm  Kenntnis  erhielt,  wies 
er  das  eingeflossene  Geld  zurück  und  setzte  die  Direktrice  und 
den  Inspektor  der  Eparchialschule  ab.  Als  Grund  für  seine 
Handlungsweise  gab  er  an:  Das  DecoUet^  der  Sängerin  und 
den  Vortrag  komödienhafter  Lieder!  „Das  Decollet^  der  Sän- 
gerin,"  erklärte  der   Metropolit,   „mußte   die   jungen   Seelen 


^)  Vgl.  Band  I   105,   115,   121,   123,   i3off.     Ferner  in  diesem  II.  Bande 
das  54.  und  das  60.  Kapitel. 


—    464    — 

• 

der  Schülerinnen  demoralisieren,  und  der  Vortrag  von  Arien 
aus  Opern  kann  nur  nachteilig  einwirken  auf  die  religiös- 
sittliche Erziehung   der  Mädchen  I**^) 

Fragt  man  die  russischen  Historiker  nach  dem  Urspnmg 
der  allgemeinen  Sittenlosigkeit  des  Volkes,  so  schieben  sie 
die  Verantwortung  auf  fremde  Einflüsse.  So  wie  an  der  Grau- 
samkeit der  Russen  die  Tartaren  schuld  sein  sollen,  so  werden 
die  Polen  bezichtigt,  den  keuschen  russischen  Charakter  ver- 
dorben zu  haben,  als  sie  unter  Pseudodmitry-Rastriga  nach 
Moskau  kamen.  „Pseudodmitry,**  sagt  Karamsin^),  „der  unseren 
Gebräuchen  und  der  Vernünftigkeit  zuwider  handelte,  ver- 
achtete auch  die,  heiligeren  Gesetze  der  Sitthchkeit;  et  wollte 
seine  groben  Begierden  nicht  im  Zaume  halten  und  verletzte, 
von  Wollust  glühend,  offenbar  die  Vorschriften  der  Keusch-« 
heit  und  des  Anstandes ;  Weiber  und .  Jimgf rauen,  den  Hof, 
Familien  und  heilige  Klöster  entehrte  er  durch. die  Frech- 
heit der  Ausschweifung."  Die  Wahrheit  ist  nur  die,  daß  nüt 
der  pohlischen  Invasion  eine  Epoche  beispielloser  VerwUde- 
rung  begann.  Aber  die  Sittenlosigkeit  brauchten  die  Polen 
nicht  erst  nach  Rußland  zu  verpflanzen;  Schamgefühl  und 
Keuschheit  konnten  sie  dort  nicht*  vernichten,  weil  sie  gar 
nicht  existiert  hatten.  Abraham  Palizyn,  den  Karamsin  selbst 
einen  „tugendhaften  Augenzeugen,  erfüllt  von  Liebe  zu  seinem 
unglücklichen  Vaterlande  und  zur  Wahrheit**  nennt,  klagt  im 
Jahre  1608,  als  die  Polen  Moskwa  verheerten  3):  „Rußland 
wurde  von  seinen  eigenen  Söhnen  mehr  zerfleischt  als  von 
Fremden;  die  Führer,  Lehrer  und  Beschützer  der  Polen  waren 
die  Verräter  unter  den  Unsrigen;  die  Polen  sahen  nur  zu 
und  spotteten.  Alle  Beute  gehörte  den  Polen:  diese  suchten 
sich  die  besten  Gefangenen,  die  schönsten  Jünglinge  imd 
Mädchen  aus,  oder  ließen  selbige  von  ihren  Verwandten  aus- 
lösen —  und  nahmen  sie  diesen,  zur  Ergötzlichkeit  der  Russen, 
aufs  Neue  wieder  abl Das  Herz  erbebt  bei  der  Er- 
innerung an  ihre  Freveltaten;  dort,  wo  so  eben  das  warme 


1)  Bericht  der  Saratower  Zeitung  „CapaTOBCKift  ähctoki.*'. 

2)  Geschichte  X  189. 

^)  Karamsins  Geschichte  XI  105.  xo6,  X07. 


—    465    — 

Blut  gerann,  wo  die  Leichen  der  Erschlagenen  lagen,  dort 
suchte  schändliche  Wollust  ein  Lager  für  ihre  verruchten  Ge- 
nüsse  Junge  geweihte  Nonnen  wurden  entblößt,  ge- 
schändet; der  Ehre  beraubt,  verloren  sie  auch  das  Leben  in 

den  Qualen  der  Schmach  I Es  gab  Frauenzinuner, 

welche  sich  von  den  Fremdlingen  und  der  allgemeinen  Sitten- 
losigkeit  verführen  ließen;  andere  dagegen  retteten  sich  durch 
den  Tod  vor  viehischer  Gewaltthat.  Aus  Kelchen  zechte  man 
und  setzte  die  Speisen  in  Hostienschüsseln  auf;  auf  den  Hei- 
ligenbildern würfelte  man;  die  Kirchenpaniere  dienten  statt 
der  Fahnen,  und  im  Priesterschmucke  tanzten  die  Huren.  Ein- 
siedler und  Klausner  mußten  freche  Lieder  singen:  wer  da 
schwieg,  wurde  niedergemacht.** 

Es  ist  nach  alledem  töricht,  die  Polen  als  die  Urheber  der 
russischen  Sittenlosigkeit  zu  bezeichnen,  ebensowenig  wie  die 
Polen  das  Recht  hätten,  für  ihre  eigene  Verwahrlosung  die 
Russen  verantwortlich  zu  machen,  wenn  auch  zugestanden 
werden  kann,  daß  die  alte  polnische  Unsittlichkeit  durch  die 
Berührung  mit  dem  Rußland  der  zweiten  Katharina  bis  ziu: 
Abgrundlosigkeit  vertieft  wurde.  Aus  dieser  Zeit  besitze  ich 
ein  rares  Büchlein,  das  in  possierlicher  Weise  die  Warschauer 
Zustände  beschreibt;  der  Verfasser  ist  offenbar  ein  entschiede- 
ner Gegner  der  Polen,  aber  seine  Beobachtungen  besitzen  viel 
des  Wahren  und  seine  Erzählungen  sind  amüsant  und  für 
die  Sittengeschichte  des  Landes  charakteristisch  genug,  um 
seinem  Pamphlet  Beachtung  zu  verschaffen,  i)  Warschau  nennt 
er:   „Das  heutige  Sodom,  Aufenthalt  der  Abentheurer,  Mittel- 


1 )  Die  Schrift  gehört  zu  den  seltensten  Stücken  der  deutschen  erotischen 
Literatur.  Sie  ist  bloß  94  Seiten  stark  (zu  22  Zeilen,  die  letzten  vier  Seiten 
sind  enger  gedruckt).  Die  einzelnen  Kapitel  behandeln :  Regierungsart,  Reichs- 
tag, Gesetze,  Warschau,  Kriegswesen,  Gesellschaft,  Frauenzimmer,  Unsauber- 
keit,  Reisen,  Zweikämpfe.  Dem  Büchlein  sind  zwei  Titelblätter  vorgedruckt: 
,,Die  gröbsten  Lügen  des  18.  Jahrhunderts.  1780"  als  erstes;  und  ein  zweites: 
,,Der  Orang-Outang  in  Europa  oder  der  Pohle,  nach  seiner  wahren  Beschaffen- 
heit; eine  methodische  Schrift,  welche  im  Jahr  1779  einen  Preis  in  der  Natur- 
geschichte davon  getragen  hat.  Orang-Outang  heißt  so  viel,  als  ein  Einwohner 
der  Wälder:  dies  ist  eine  Benennung  der  Affen,  die  in  Amerika,  in  dem  König- 
reich Congo  und  in  Ostindien  befindlich  sind.  Californien  1780".  (Mein  Exem- 
plar kostete  bei  einem  Nürnberger  Antiquar  48  Mark.) 

Stero,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  RuBland    **  30 


—    466    — 

punkt  der  Laster."  Von  dem  Polen  sagt  er:  „Ist  er  von  der 
niedrigen  Ctasse,  so  nmcht  er  des  Morgens  seinem  Herrn  oder 
Beschützer  die  Aufwartung,  wo  er  kaum  einen  Blick  erhält, 
und  raucht  Taback  oder  trinckt  Bier,  um  sich  zu  vergnügen. 
Ist  er  ein  Vornehmer,  so  fähret  er  spatzieren  durch  die  Straßen 
von  Warschau,  er  erhebt  sich  durch  eine  tägliche  Bewegung 
in  einem  Schausptelsaal,  um  daselbst  seine  Maitresse  zu  zeigen, 
spielet  den  größten  Theil  der  Nacht  hindurch,  und  legt  sich 
zu  Bette,  wenn  er  einen  Theil  seines  Vermögens  verlohren,  wenn 
er  übertölpelt  worden,  oder  andere  übertölpelt  hat.  Die  jungen 
Herren  sind  etwas  lustiger;  sie  legen  sich  fast  nie  zu  Bette, 
ohne  sich  bei  den  Mädgen  im  ungarischen  Weine  wie  die 
Schweine  besoffen  zu  haben."  Von  dem  polnischen  Frauen- 
zimmer hat  unser  Anonymus  die  schlechteste  Meinung:  „Ich 
muß  versichern,  daß  das  weibliche  Geschlecht  in  Pohlen  die 
äußerste  Unempfindlichkeit  in  der  Liebeslust  besitze,  und  daß, 
wenn  sie  ja  ein  Vergnügen  empfinden,  sie  solches  so  schlecht  zu 
erkennen  geben,  daß  man  sie  für  unempfindhch,  und  in  diesem 
Betracht  gar  nicht  geschickt  zur  Liebe  halten  mögte.  Diese 
Wahrheit  scheinet  mir  um  so  ungezweifelter  zu  seyn,  da  ich 
Warschau  mit  fremden  Frauenzimmern  angefüllt  gesehen  habe, 
zu  welchen  die  Pohlen  gehen,  um  sich  (wie  sie  selbst  sagen) 
von  den  vergeblichen  Bemühungen,  ihre  Frauen  zu  erhitzen, 
zu  erholen."  Der  Mangel  des  Schamgefühls  bei  den  Polinnen 
und  Polen  geht  aus  der  Bemerkung  hervor,  daß  dort  die  Frauen 
volle  Freiheit  genießen,  ihre  Männer  zu  Hahnreien  zu  machen ; 
die  Gatten  sind  so  wenig  eifersüchtig,  daß  die  Gattinnen  offen 
bekennen  dürfen,  wer  ihre  Liebhaber  sind :  „Diese  Bloßstel- 
lung ist  dem  Gatten  mit  andern  gemein,  und  der  gleiche  Ruf 
erhält  die  Schande  der  Männer  im  Gleichgewicht,  folglich 
kommt  der  Tadel  zum  Stillschweigen."  Ebensowenig  wie  der 
Gatte  ist  der  Liebhaber  von  Eifersucht  geplagt.  Irgendein' 
Fürst  bringt  den  Sommer  mit  seiner  Maitresse  auf  einem  Gute 
zu;  die  Maitresse  gibt  einem  Generalmajor  Gehör,  und  um 
ihn  nachts  bei  sich  empfangen  zu  können,  meldet  sie  sich 
krank.  Kaum  ist  der  General  bei  ihr  erschienen,  da  klopft 
der  besorgte  Fürst,  um  sich  nach  dem  Befinden  seiner  Ge- 
liebten   zu    erkundigen.     Während  der  General  unters    Bett 


V 


—    467    — 

kriecht,  legt  sich  der  Fürst,  „der  sich  in  einem  Alter  von 
57  Jahren  rühmet,  ein  Frauenzimmer  noch  sieben  mahl  des 
Nachts  bedienen  zu  können,"  zu  der  Maitresse,  die  nun  aus 
Furcht  dem  Fürsten  ihren  Fehler  gesteht  und  dabei  schwört, 
„daß  der  General  noch  nichts  mit  ihr  habe  vornehmen  können.** 
Der  betrogene  Liebhaber  aber  kränkt  sich  nicht;  er  zieht 
den  General  unter  dem  Bette  hervor  und  sagt  ihm  lachend: 
„Haben  Sie  nur  keinen  Groll  auf  mich.**  Das  ist  die  Moral 
der  Geschichte:  „Die  Gleichgültigkeit,  mit  welcher  der  Fürst 
die  Untreue  seiner  Maitresse  angesehen  hat,  gleichet  durchaus 
dem  kalten  Geblüt,  womit  alle  Pohlen  ihre  Frauen  oder  Mai- 
tressen in  den  Armen  eines  andern  sehen  können.  Ich  kenne 
einen  von  Kopf  und  Wuchs  kleinen  Fürsten,  welcher  überall 
ausbreitet,  daß  seine  Kinder  nicht  von  ihm  sind;  dieser  arme 
kleine  Fürst  begreift  nicht,  daß  dergleichen  Geständniß  von 
seiner  Unempfindlichkeit  und  dem  guten  Geschmack  seiner 
liebenswürdigen  Hälfte  zeuget.**  Die  Liebe  einer  Polin  ist 
leicht  zu  gewinnen :  bei  den  gewöhnlichen  Frauen  ist  es  nur 
eine  Geldfrage,  einige  der  vornehmsten  Damen  aber  bezahlen 
umgekehrt  ihre  Liebhaber.  Doch  ist  Vorsicht  immer  am  Platze, 
da  die  venerischen  Krankheiten  alle  Kreise  angesteckt  haben. 
Eine  andere  „noch  gemeinere  Unannehmlichkeit  bey  dem  pohl- 
nischen  Frauenzimmer  ist  diese,  daß  sie  fast  alle  den  weissen 
Fluß  haben;  eine  sehr  würdige  Frau  und  Gemahlinn  eines 
Wojwoden  sagte  mir  einstmahls,  da  sich  die  Unterredung  dar- 
auf lenkte,  ich  habe  ihn  selbst  gehabt ;  alle  meine  Töchter  und 
meine  ganze  Familie  haben  ihn ;  man  kann  sich  in  ganz  Pohlen 
umsehen,  und  man  wird  finden,  daß  kaum  der  achte  Theil 
vom  weissen  Fluß  befreyet  ist.**  Aber  nicht  bloß  die  Frauen- 
welt ist  schamlos  und  unkeusch,  auch  die  Mädchen  ^,thun 
insgemein  wenig  Widerstand,  wenn  man  sie  plötzlich  und  ohne 
Überlegung  auf  gerathe  wohl  angreift.  Ich  erinnere  mich,- 
daß  ich  an  einem  Abend  eine  Dame  begleitete,  welche  einer 
Freundinn,  auf  die  sie  wartete,  entgegen  gegangen  war;  die 
Landdame  kam  bey  Mondschein  mit  zwo  jungen  und  schönen 
Töchtern  an.  Ohne  sie  jemahls  gesehen  zu  haben,  setzte  ich 
mich  mit  der  einen  nebst  ihrem  kleinen  Bruder  in  den  zweyten 
Wagen,  ich  stammelte  sogleich  einige  pohlnische  Worte  her, 

30* 


—    468    ^ 

welche  das  Mädchen  zum  Lachen  brachten,  und  darauf  wurde 
ich  unverschämt;  ich  erhielt  alle  vorläufige  Vergünstigungen 
ohne  Schwierigkeit  .  .  .  Ein  ander  mahl  befand  ich  mich 
bey  einer  kleinen  Landlustbarkeit;  man  tanzte  fast  die  ganze 
Nacht,  und  da  man  solche  des  Morgens  beschloß,  so  suchte 
sich  ein  jeder  eine  Ruhestätte,  wo  er  zu  kam.  Der  ohngefähre 
Zufall  verschaffte  mir  einen  Platz  bey  einer  Demoiselle,  die 
ich  in  meinem  Leben  das  erste  mahl  sähe;  sie  beklagte  sich, 
daß  sie  nicht  gut  läge,  ich  machte  ihr  den  Antrag  meinen 
Platz  mit  ihr  zu  theilen;  sie  nahm  ihn  an,  und  ich  theilte 
bald  darauf  mit  ihr  ein  leichtes  Vergnügen  ,  .  .  Ein  Freund 
marterte  sich  mit  Seufzern  fast  zu  Tode,  und  verzweifelte  schon, 
die  Keuschheit  oder  Tugend  seiner  Schönen  zu  besiegen.  Ich 
rieth  ihm,  sie  mit  Sturm  anzugreifen;  dies  war  ihm  anstößig, 
und  ich  wurde  meinerseits  um  so  mehr  dadurch  angereizet, 
und  wettete,  nächster  Tagen  mit  der  Eroberung  zu  Stande 
zu  kommen.  Mein  Freund  nahm  die  Wette  an,  und  ich  ließ 
ihn  in  das  nächste  Zimmer  an  dem  ihrigen  gehen,  wo  er  bald 
mit  seinen  eigenen  Augen  sähe,  daß  er  verlohren  hatte."  i) 
Nächst  Polen  zeichnete  sich  unter  den  von  den  Groß- 
russen unterjochten  Ländern  der  Kaukasus  seit  jeher  durch 
die  Sittenlosigkeit  seiner  Bewohner  aus.  Von  den  Tscherkessen 
erzählte  der  Reisende  Interiano,  daß  sie,  sobald  sie  in  die 
Schlacht  zogen,  das  Brusthaar  wegrasierten,  weil  sie  es  für 
eine  Sünde  und  Schande  hielten,  wenn  man  nach  ihrem  Tode  an 
diesem  Teile  Haare  gefunden  hätte.  Diese  schamhaften  Tscher- 
kessen halten  es  aber  für  anständig,  „daß  der  Gast,  in  Gegen- 
wart der  Eltern,  ihre  erwachsenen  Töchter  allenthalben  vom 
Kopf  bb  zu  den  Füßen  berührt;  sie  erlauben  ihm  alles,  den 
Beischlaf  ausgenommen.  Es  kommen  die  Jungfrauen  zu  dem 
Gast,  mag  er  schlafen  oder  wachen,  und  säubern  ihn  unter 
vielen  Schmeicheleien  von  dem  Ungeziefer,  was  hiesigen  Lan- 


1)  Wem  die  Schilderungen  dieses  Pamphletisten  übertrieben  oder  bös- 
willig erscheinen,  der  lese  die  durchaus  ernsten,  fast  gleichzeitigen  „Briefe  über 
den  jetzigen  Zustand  von  Galizicn".  Ein  Beitrag  zur  Statistik.  (Zwei  Bände, 
Leipzig  1786),  wo  die  Verhältnisse  im  österreichischen  Polen  in  nicht  minder 
krasser  Beleuchtung  hervortreten. 


—    469    — 

des  als  etwas  Gewöhnliches  und  Natürliches  betrachtet  wird.** 
Es  gehen  die  Mädchen  auch,  wie  in  Rußland,  vor  aller  Leute 
Augen  ganz  nackt  in  die  Flüsse,  i)  Das  weibliche  Geschlecht 
in  Tscherkessien  erfreute  sich,  nach  den  übereinstimmenden 
Berichten  der  besten  Kenner  des  Landes,  stets  einer  größeren 
Freiheit  und  Ehre  als  sonst  irgendwo  im  Orient,  und  fast 
allgemein  wurde  auch  hervorgehoben,  daß  es  die  Freiheit 
nicht  mißbrauchte  und  „nach  ihrer  Weise  keusch  und  züchtig** 
sich  betrug.  2)  Es  ist  wahrlich  nichts  so  verschiedenartig,  als 
die  Auffassung  von  Schamgefühl  und  Keuschheit  bei  den  ver- 
schiedenen Völkern.  So  erzählt  Moriz  Wagner  von  einem 
Besuch  in  einem  armenischen  Hause:  „Vor  mir  suchte  die 
Frau  ihr  Gesicht  so  viel  als  mögUch  versteckt  zu  halten.  Zu 
meiner  größten  Verwunderung  bemerkte  ich  aber,  daß  sie 
gegen  meinen  Kosaken  gar  nicht  dieselbe  Sprödigkeit  zeigte 
und  selbst  in  Gegenwart  ihres  Mannes  den  Schleier  ganz 
fallen  ließ,  wenn  sie  glaubte,  daß  nur  Iwan,  der  Kosak,  in  der 
Nähe  sei.  Bald  ward  mir  dieser  seltsame  Umstand  erklärt: 
Wenn  Sahakow,  mein  Wirt,  nicht  duldete,  daß  seine  Frau 
unverhüllt  in  meine  Nähe  kam,  so  geschah  dies  weit  mehr 
aus  Rücksicht  des  AnStandes,  als  aus  Eifersucht.  Je  vornehmer 
in  den  Augen  eines  Armeniers  der  Gast,  um  so  ängstlicher 
wacht  er,  daß  eine  Verletzung  des  Anstandes,  wie  seiner  Mei- 
nung nach  die  Erscheinimg  eines  imverhüUten  Weibes  ist, 
nicht  stattfinde.  Gegen  gemeinere  Leute  glauben  sie  diese 
Beobachtung  des  Anstandes  weniger  strenge  befolgen  zu  müs- 
sen; bei  Dienern,  Knechten,  fallen  diese  Rücksichten  end- 
lich ganz  weg.  Als  ich  Tags  darauf  in  einem  anderen  arme- 
nischen Dorf  nur  einen  Augenblick  einkehrte,  um  Buttennilch 
zu  trinken,  flüchteten  die  Weiber  und  Töchter  des  Hausbe- 
wohners sogleich  voll  Schrecken  hinter  das  Bett;  zuweilen 
aber  steckten  sie  doch  ihre  CJesichter,  zwischen  Schüchtern- 
heit und  Neugierde  ringend,  ein  bißchen  hervor:  Mein  Haus- 
wirt, der  dies  bemerkte,  rief  zornig:  ,Glaubt  Ihr,  daß  Ihr  dort 
von  dem  Fremden  nicht  gesehen  werdet?*    Dann  wandte  er 


1)  Neumann,  Die  Tscherkessen,  S.  35,   37. 
*)  Ebenda  114. 


—    470    — 

sich  mit  höflichen  Wonen  zu  mir,  um  dieses  .unanständige" 
Benehmen  seiner  Weibsleute  zu  entschuldigen." 

Von  einem  anderen  kaukasischen  Volke,  den  Mingreliem 
und  ihren  Frauen,  hat  schon  der  berühmte  Reisende  Chardin*) 
Ergötzliches  zu  sagen  gewußt :  „Es  giebt  an  diesem  Ort  ge- 
sunde und  wohlgestalte  Leute,  und  sind  die  Weiber  absonder- 
lich schön.  Die  Fürnehmen  haben  für  anderen  etwas  An- 
mut higes  in  ihrem  Gesichte,  und  erinnere  ich  mich  einige 
gesehen  zu  haben,  welche  wegen  ihrer  schonen  Statur  und 
Majestätischen  Ansehen  Printzessinnen  bedeuten  können.  Man 
muß  in  dieselben  nothwendig  verliebet  werden,  weil  sie  bey 
ihrer  natürlichen  Schönheit  alle,  so  sie  anschauen,  mit  hol- 
den und  liebelnden  Augen,  nicht  anders,  als  wollten  sie  sie  zur 
Liebe  reitzen,  anblicken.  Ihr  Verstand  ist  von  Natur  spitzig 
und  erleuchtet,  sie  sind  höflich  und  von  vielen  Gebärden, 
übrigens  aber  boßhafft  und  leichtfertig,  trotzig,  auffgeblasen, 
untreu,  gefährlich,  grausam  und  unzüchtig:  da  ist  keine 
Leichtfertigkeit  so  groß,  deren  sie  sich  nicht  bedienen  sotten, 
damit  die  Männer  in  sie  verliebet  werden,  hemachmahls  von 
ihnen  bedienet  und  bey  unausgesetzter  Bedienung  erhalten, 
auch  wenn  sie  ihrer  satt  und  müde  geworden,  dieselben  schänd- 
hch  hinrichten  mögen.  Das  Geschwätz  so  man  mit  den  Weibern 
hat,  ist  ziemhch  unerbar,  weil  sie  einen  grosen  Gefallen  an 
Liebes-Gesprächen,  fleischlichen  Vermischungen  und  unzüch- 
tigen Reden  tragen.  Ihre  Kinder  lallen  ihnen  solche  Schand- 
Reden  nach,  ehe  und  bevor  sie  noch  recht  reden  können;  sie 
haben  kaum  das  zehende  Jahr  erreichet,  so  pflegen  sie  als 
Kinder  schon  von  dergleichen  schändlichen  Dingen  zu  schwa- 
tzen, und  bleibet  wohl  dabey,  daß  die  Kinder-Zucht  in  Mingre- 
lien  die  allerschändlichste  und  leichtfertigste  der  Welt  ist, 
indem  der  Vater  die  Kinder  zur  Dieberey,  die  Mutter  aber 
zur  Geilheit  und  Unflätherey  aufferziehen."  Natürlich  waren 
die  Männer  auch  nicht  besser.  „Die  Männer,"  sagt  Chardin, 
„sind  noch  viel  schlimmer  als  die  Weiber  und  viel  verbübter 
und  ist  ebenfalß  keine  Boßheit  so  groß,  zu  welcher  sie  ihr 
böses  Gemülh  nicht  verleiten  solte.     Sie  sind  in  Dieberey  er- 

1)  Ich  zitiere  nach  einer  .Ausgabe  seiner  Reisen  von  1667. 


U 


—    471    — 

zogen,  der  Meuchelmord  und  die  Lügen,  Trug  und  Gefähr* 
lichkeit  werden  für  die  schönsten  Thaten  gehalten,  Unfläthe- 
rey  und  Ehebruch,  zwiefache  Ehe  und  Blut -Schande  aber 
vor  Tugenden  gepriesen.  Die  Männer  berauben  einander  ihrer 
Weiber.  Da  macht  man  kein  Bedenken,  Blut-Freundinnen  und 
Schwestern  zu  Ehe- Weibern  sich  zu  erkiesen.  Manche  ob- 
gleich Christen  nehmen  zwey  biß  drey  Weiber,  halten  darbey 
soviel  Concubinen  als  ihnen  beliebet,  und  lest  sich  Mann  und 
Weib  dasselbe  wenig  irren,  allermaßen  man  d^in  nicht  die 
geringste  Eyffersucht  an  ihnen  spüret.**  Als  Chardin  sich  in 
dem  Orte  Anarghie  in  Mingrelien  aufhielt,  hatte  er  zum  Esseii 
alles,  was  sein  Herz  begehrte,  nur  an  dem  lieben  Brot  fehlte 
es.  Dieses  bekam  er  also :  In  Anarghie  befand  sich  eine  Dame 
von  hoher  Abkunft.  Chardin  bezeigte  ihr  seine  Ehrerbietung 
und  machte  ihr  einige  Geschenke :  ein  paar  Messer,  eine  Schere, 
ein  Band  und  Papier.  Um  sich  dankbar  zu  erweisen,  sendete 
die  Dame  ihm  täglich  ein  halbes  Pfund  Brot.  Eines  Tages 
besuchte  sie  den  Reisenden,  er  erwies  ihr  alle  Höflichkeiten, 
allein  sie  fing  ihn  „fast  allzusehr  zu  lieben  an.**  Er  hätte 
sich  ihrer  gern  entledigt,  jedoch  um  des  lieben  Brotes  willen 
mußte  er  sie  befriedigen,  weil  er  sich  das  Brot  eben  anderswo 
nicht  verschaffen  konnte.  Chardin  gab  sich  als  Priester  aus, 
um  ruhiger  die  damals  durch  Kriege  unsicheren  Gegenden 
Mingreliens  bereisen  zu  können.  Diese  scheinbare  geistliche 
Eigenschaft  schützte  ihn  indes  nicht  vor  den  wollüstigen  Be- 
gierden der  mingrelischen  Frauen.  Während  Chardins  Aufent- 
halt in  Sapias,  der  kleinen  Residenz  einiger  Theatinerpriester, 
erschien  daselbst  die  Fürstin  von  Mingrelien.  Der  Vorsteher 
der  Theatiner  ging  ihr  entgegen,  um  sie  zu  empfangen.  Sie 
war  zu  Pferde  und  hatte  acht  berittene  Frauen  und  ebenso 
viele  Männer  zu  Fuß  als  Begleitung.  D>ie  Fürstin  sagte  zu  dem 
Vorsteher,  sie  hätte  vernommen,  daß  er  einige  Europäer  „mit 
viel  Bagage**  beherberge ;  sie  wäre  über  die  Ankunft  der  Frem- 
den erfreut  und  möchte  sie  sehen.  Chardin  wurde  sogleich 
gerufen.  Man  gab  ihm  zu  verstehen,  er  sollte  der  Fürstin  ein 
Geschenk  machen,  und  er  erklärte,  ihr  ein  solches  in  ihre 
Wohnung  schicken  zu  wollen.  Da  die  Fürstin  hörte,  daß 
Chardin   Türkisch  und  Persisch  zu   reden   verstand,   üeß  sie 


—    472    — 

einen  der  ersteren  Sprache  kundigen  Sklaven  rufen  und  den 
Reisenden  tausenderlei  Dinge  fragen.  Er  erzählte,  daß  er 
ein  Kapuziner  sei  und  nur  frommer  Andacht  und  heiligen 
Verrichtungen  lebe.  Allein  sie  schien  dadurch  nicht  aiige- 
fochten  zu  sein,  ihre  Fragen  drehten  sich  nur  um  „lieben 
und  verliebte  Dinge."  Sie  ließ  den  angeblichen  Kapuziner 
fragen,  ob  er  bei  ihrem  Anblick  „keine  Liebes-Empfindlig- 
keit  verspührete,  auch  sonsten  nicht  davon  gereitzet  würde. 
Ferner  wie  das  zugienge,  und  ob  es  wohl  möglich  were,  daß 
man  sich  so  gäntzlich  der  Liebe  und  Weibes-Bilder  entschlagen 
könte.  Dieses  Gespräch  wolle  kein  Ende  nehmen  und  ge- 
schähe ihr  gar  sonderlich  wohl  dabey,  massen  denn  ihr  gantzer 
Anhang  sich  sonderlich  darüber  frölig  machte."  Am  andern 
Tag  wurde  der  Reisende  von  der  Fürstin,  welche  von  ihrem 
Gatten  getrennt  lebte,  zu  Tische  geladen.  „Sie  hatte  sich 
viel  schöner  als  vormahls  angeputzet,  geschmücket  und  nach 
Mögligkeit  angelegen  seyn  lassen,  andern  durch  solchen  Putz 
zu  gefallen.  Sie  war  in  gantz  güldene  Stuck  gekleidet,  ihr 
Hauptschmuck  bestand  in  Jubelen,  der  Schleier  des  Hauptes 
war  sehr  gallant,  gar  sonderlich  zugerichtet;  sie  saß  auff  einer 
Tapecerey,  an  ihren  beyden  Seiten  aber  neun  biß  zehn  Cammer- 
frauens.  Der  Saal  war  mit  halb  nackenden  Zigeunern  ange- 
füllet,  darinnen  eigentlich  ihr  Hof  bestand."  Nachdem  Chardin 
seine  Geschenke  —  gebackene  Torten,  Nadeln,  Scheren,  Mes- 
ser, Bänder,  Papier  —  abgeliefert,  wurde  zwei  Stunden  lang 
gegessen  und  getrunken.  Die  Gastgeberin  wunderte  sich,  als 
er  Wasser  in  den  Wein  tat,  „während  sie  und  ihre  Frauen- 
zimmer denselben  gantz  rein  und  in  grosen  Überfluß  trancken." 
Es  fehlte  auch  hier  nicht  an  obszönen  Reden,  und  die  Fürstin 
wollte  ernstlich  den  angeblichen  Kapuziner  zu  Liebesdiensten 
gegen  ihre  Kammerfrauen  zwingen.  Und  wie  bei  Hofe, 
herrschte  Sittenverderbnis  im  ganzen  Land.  Einer  vom  Adel 
hatte  sich  in  eine  Dame  verliebt  und  wollte  dieselbe  heiraten, 
wiewohl  er  schon  mit  einer  anderen  verheiratet  war.  Nun 
werden  in  Kaukasien  die  Weiber  gekauft.  Dieser  Edelmann 
aber  hatte  sein  Gut  schon  längst  verpraßt  und  wußte  nicht, 
woher  er  das  Geld  zimi  Kauf  der  Geliebten  und  zur  Bestreitung 
der  teuren  Hochzeitsfeier  hernehmen  sollte.    Endlich  kam  er 


—    473    — 

auf  die  gute  Idee,  sein  eigenes  Eheweib  an  die  Türken  zu  ver- 
kaufen, und  vom  Erlös  bestritt  der  schlaue  Ehemann  die  Kosten 
seiner  zweiten  Heirat. 

Wie  die  Fürstin  von  Mingrelien  trieb  es  die  Herrscherin 
des  benachbarten  Königreiches  Imeretien:  „Die  Königin  ist 
zwar  eine  sehr  schöne  Printzessin,  allein  ihre  Geberd  und  An- 
stellungen sind  allzufrech  und  liederlich.  Ihr  Thun  und  Reden 
sind  unzüchtig  und  unverschämt  und  ist  nichts,  so  einer  Fürst- 
lichen Person  anständig,  bey  ihr  zu  finden.  Sie  kan  ihre 
Geilheit  und  zur  Unzucht  geneigte  Gedancken  nicht  verbergen, 
sie  steigen  selbst  in  dem  Munde  empor  und  pflegen  in  offen- 
bahre Unfläthereyen  aus  zu  brechen,  welches  alles  aber  in 
dieser  Lapdschafft  gar  nicht  ärgerlich  oder  lasterhafft  geachtet 
wird,  dieweil  alles,  groß  und  klein,  in  Ueppigkeit,  Fraß  und 
Trank  gäntzlich  daselbst  ersoffen  ist."  Die  Königin  hatte  eine 
Liebschaft  mit  dem  Bischof  Janatelle.  „Dieser  ihr  Bischoff  Jana- 
telle  siehet  sie  öffters  nüt  so  unkeuschen  Augen  an,  alß  wenn 
er  sie  für  Liebe  auff  einmahl  verschlingen  wolte.  Man  wird 
wohl  niemahls  so  hohe  Personen  in  so  offenbahrer  und  unge- 
scheuter  Geilheit  und  Unreinigkeit  haben  leben  sehen,  und 
leuchtet  ihnen  die  Unzucht  aus  ihren  Gesichtern  heraus.** 

Gleiche  Dinge  berichtet  Chardin  von  den  Georgiern  oder 
Grusinern.  Auch  hier  rühmt  er  die  unvergleichliche  Schön- 
heit der  Frauen  und  Männer,  auch  hier  aber  schildert  er  mit 
grellen  Farben  die  herrschende  Unsittlichkeit.  „Die  Unflä- 
thereyen in  Georgien  sind  gantz  ungeschehen,  weil  jedwedes 
daselbst  sonder  eintzigen  Zwang  oder  Mäßigung  seinen  vieh- 
ischen Lüsten  nach  hänget.  Die  Geistlichen  sauffen  sich  ebenso 
voll  als  das  liederliche  Gesindlein  und  halten  sich  schöne 
Sclavinnen,  derer  sie  sich  zu  Concubinen  bedienen;  Kein 
Mensch  ärgert  sich  daran,  weil  es  eine  durchgehende  Ge- 
wohnheit und  durch  die  Fürnehmsten  allda  eingeführet  ist** 
.  .  .  „Ihr  Weibs- Volck  ist  so  böß  u|id  lasterhafft  alls  immer 
das  Mannes- Volck  sein  mag.  Sie  sind,  auff  die  Männer  gantz 
rasend  erhitzt,  und  solcher  Viehischen  Wollust  weit  mehr  alls 
die  Männer  ergeben.** 

Schließlich  erzählt  Chardin  auch  von  der  UnreinHchkeit 
der  kaukasischen  Frauen,  insbesondere  der  Mingrelierinnen, 


—    474    — 

geradezu  Haarsträubendes :  .,Mann  und  Weib,  reich  und  arm 
hat  niemahls  mehr  alls  ein  Hembd  und  ein  paar  Schlaff- 
Hosen  auf  einmahl  an,  welche  ihnen  ein  Jahr  lang  aushalten 
müssen;  binnen  der  Zeit  waschen  sie  sie  zwey-  bis  dreymahl 
zum  Höchsten,  weil  sie  aber  viel  Ungezieffer  haben,  so  schüt- 
teln sie  selbe  unter  weilen  über  den  Feuer  aus,  daß  sie  sich 
solcher  getreuer  Leibes-Zucht  auff  solche  maße  entschütten 
mögen,  und  dieser  Ursach  wegen  pflegt  es  um  das  Weibs- 
Volck  von  Mingrelie  nicht  gar  wohl  zu  riechen.  Ich  nahete 
mich  ihnen  vielmahls,  durch  ihre  Schönheit  gefangen,  wenn 
ich  aber  nur  einige  Augenblicke  bey  ihnen  verharrte,  so  stieg 
mir  ein  Geruch  so  in  die  Nase,  daß  meine  Liebes-Hitze  auf  ein- 
mal verlöschen  mußte."  —  — 

In  den  Straßen  zu  Tiflis,  in  denen  die  öffentlichen  Dirnen 
ihr  Heim  haben,  sitzen  die  Mädchen  halbnackt,  oft  nur  im 
Hemd,  vor  den  Türen  und  locken  die  Fremden.  Man  tritt 
in  ein  Haus;  da  laufen  die  Dirnen  splitternackt  herum.  Aber 
wie  überrascht  ist  man  zu  sehen,  daß  alle  diese  Mädchen  ihre 
Schamhaare  vollständig  abrasiert  haben.  Ihr  Schamgefühl  wäre 
im  höchsten  Maße  verletzt,  wenn  sich  an  diesem  Körperteile 
Haare  finden  heßen;  nicht  die  Nacktheit,  nicht  Hurerei  ist 
Schande,  sondern  das  Stehenlassen  eines  Härchens  auf  dem 
Venushügel ! 

Eine  besondere  Beachtung  verdienen  die  Sitten  der  Kal- 
mücken in  bezug  auf  Schamgefühl  und  Keuschheit.^)  Die 
Kalmücken  heiraten  frühzeitig,  und  gehen  in  ihrem  Benehmen 
gegen  das  andere  Geschlecht  selten  über  die  Grenze  der  Zucht 
und  des  Anstandes  hinaus.  Das  Mädchen  kann  sich  sorglos 
in  der  Nachbarschaft  von  Männern  niederlegen  ohne  Angriffe 
auf  seine  Tugend  befürchten  zu  müssen.  Die  Kalmücken  haben 
sich  im  Kriege  Mißhandlungen  des  weiblichen  Geschlechts 
zuschulden  kommen  lassen,  aber  im  Frieden  beweisen  sie  airf- 
fallende  Sittsamkeit.  Es  ist  bei  diesem  Volke  weder  ein  Zeichen 
von  Frechheit,  noch  ein  Beweis  für  Mangel  an  Prüderie,  son- 
dern bloß  die  natürhche  Sitte,  wenn  sich  Töchter  angesehener 
Familien  in  Hütten  schlafen  legen,   mitten  unter  einer  Schar 

')  BergmaauG  Nomadische  Streifereien.   II   149.   18;. 


—    475    — 

junger  Männer,  unbewacht  von  Tugend  wächterinnen.  Sie  kön- 
nen es  voller  Vertrauen  tun,  denn  kein  Mann  denkt  an  An- 
schläge auf  ihre  Unschuld.  Beim  Aufstehen  werden  weder 
die  Männer  von  der  Toilette  der  Weiber,  noch  diese  von  der 
Toilette  jener  ausgeschlossen.  Die  Männer  sind  noch  viel- 
leicht enthaltsamer  als  die  Frauen ;  die  letzteren  sündigen  zu- 
weilen, aber  zumeist  nur  mit  Geistlichen,  da  sie  solche  Sünde 
für  eine  Tugend  halten.  Erst  wenn  ein  Paar  verlobt  ist, 
ninunt  es  sich  weitgehende  Freiheiten  heraus;  ehe  sie  noch 
verheiratet  sind,  gönnen  sich  die  kalmückischen  Brautleute 
eheliche  Freuden,  doch  kann  dies  nicht  als  unsittlich  betrachtet 
werden,  weil  die  Verlobung  fast  die  Ehe  bedeutet  und  ein 
Auseinandergehen  eines  Brautpaares  zu  den  größten  Selten- 
heiten gehört. 

Wollen  wir  unter  den  exotischen  Völkern  Rußlands  einen 
krassen  Gegensatz  zu  den  kalmückischen  Sitten  haben,  so 
brauchen  wir  nur  die  geschlechtliche  Moral  der  Kamtschadalen 
zu  prüfen.  Wie  die  Großrussin  im  Norden  Rußlands,  die  Polin 
im  Westen,  die  Mingrelierin  im  Süden,  so  genießt  die  Kam- 
tschadalin  im  äußersten  Osten  den  Ruf  der  unsittlichsten  und 
schamlosesten  Frau.  Das  kamtschadalische  Liebespaar  oder 
Ehepaar  übt  öffentlich  und  selbst  vor  den  Augen  von  Kindern 
geschlechtliche  Handlungen  aus.  Die  Sinnlichkeit  der  Kamtscha- 
dalinnen  ist  so  tierisch  und  unwiderstehlich,  ihre  Sittsamkeit  und 
Treue  so  gering,  daß  sie  sich  einem  jeden  Manne  preis  geben. 
Die  Kamtschadalen  sind  nach  den  Berichten  der  Kenner  des 
Landes  auffallend  schwach  gebaut;  die  Kleinheit  ihres  Penis 
soll  geradezu  zwergenhaft,  der  Geschlechtsteil  der  Frau  da- 
gegen von  bedeutender  Geräumigkeit  sein.  Das  Gleiche  wird 
von  den  Tungusen  und  Tung^sinnen  behauptet.  Steller,  der 
von  dieser  merkwürdigen  Organisation  der  Geschlechtsteile 
der  Männer  und  der  Frauen  bei  diesen  Völkern  zuerst  be- 
richtet hat,  bezeichnete  dies  als  Grund  dafür,  daß  die  Kam- 
tschadalinnen  viel  mehr  zu  europäischen  Männern  als  zu  ihren 
Landsleuten  hinneigen.  Tatsache  ist,  daß  sie  bei  der  Eroberung 
des  Landes  durch  die  Russen  ihr  Vaterland  an  die  Kosaken 
verrieten  und  sich  massenhaft  ins  russische  Lager  begaben, 
um  als  Spioninnen  gegen  ihre  eigenen  Leute  zu  dienen.     Sie 


—    476    — 

verschenkten  sich  den  Kosaken  und  hatten  nichts  dagegen^ 
daß  diese  sie  wie  eine  Ware  umsetzten  oder  verspielten.  Den 
einzigen  Lohn,  den  sie  verlangten,  war:  von  einem  Kosaken 
eines  Beischlafs  gewürdigt  zu  werden;  die  das  erreicht  hatte, 
rühmte  sich  im  ganzen  Ostrog  oder  Dorfe  der  ihr  zuteil  ge- 
wordenen Ehre;  die  aber,  welche  verschmäht  worden  war, 
lief  voll  Verzweiflung  ob  der  Schande,  die  sie  erleben  mußte, 
in  den  Fluß.i) 

Eine  ähnliche  Auffassung  in  betreff  der  Frauenehre  oder 
Mädchenehre,  des  Schamgefühls  und  der  Keuschheit  finden  wir 
auch  bei  anderen,  der  Kultur  des  Westens  viel  näher  stehen- 
den Völkern  Rußlands.  Beispielsweise  bei  den  Wotjäken  und 
den  Esten.  Bei  den  Wotjäken  2)  verkehren  Mädchen  und  Bur- 
schen ungeniert  miteinander ;  die  Keuschheit  nach  unserem  Be- 
griffe setzt  dort  der  Liebe  keine  Schranken.  Ja,  es  ist  sogar 
schimpflich  für  ein  Mädchen,  wenn  sie  wenig  von  den  Bur- 
schen aufgesucht  wird.  Eine  Russin,  die  bei  einer  Wotjäkin 
wohnte,  ertappte  die  Haustochter  mit  einem  Burschen  in  fla- 
granti. Sie  fragte  die  Mutter,  wie  sie  das  zulassen  könne. 
Die  aber  erwiderte:  „Warum  nicht,  das  ist  nur  ein  Zeichen, 
daß  meine  Tochter  beliebt  ist.  Sie  wird  genug  von  den  Bur- 
schen aufgesucht,  Gott  sei  Dankl**  Gott  sei  Dank:  „Pinal 
pios  uz  dz*ä  ratu  inmar  uz  dz*ä  ratu :  liebt  der  Bauer  ein  Mäd- 
chen nicht,  liebt  auch  Gott  es  nicht,**  lautet  ein  wotjäkisches 
Sprichwort,  das  in  einem  einzigen  Satze  die  ganze  geschlecht- 
liche Moral  dieses  Volkes  wiedergibt.  Mädchen  und  Burschen 
spielen  ein  Spiel,  genannt:  das  Heiratsspiel.  Einige  Burschen 
und  Mädchen  verteilen  sich  dabei  paarweise;  die  Paare  ver- 
stecken sich  an  einem  dunklen  Orte  und  machen  in  durchaus 
realistischer  Weise  Hochzeit;  nach  der  Hochzeit  erscheinen  sie 
dann  alle  wieder  und  setzen  als  Familienpaare  das  Spiel  fort. 
Die  Folge  dessen,  daß  es  für  ein  Mädchen  eine  Schande  ist, 
nur  wenige  Liebhaber  zu  haben,  ist  nach  wotjäkischer  Logik: 
der  ehrenvolle  Besitz  vieler  Kinder.  Je  mehr  Kinder  ein  Mädr 
chen  hat,  eine  desto  bessere  Partie  ist  es,  und  die  meist  ge- 


^)  Meiners  Geschichte  des  weiblichen  Geschlechts,  I  26,  27. 
2)  Max  Buch  a.  a.  O.  45. 


—    477    — 

segnete  Jungfrau  erzielt  ihrem  Vater  den  höchsten  Kalym. 
Unsere  Unkeuschheit  ist  bei  den  Wotjäken  eine  Tugend.  Die 
Gründe  dafür  sind  den  tatsächlichen  Bedürfnissen  des  Volkes 
entsprechend:  Ein  Mädchen,  das  dem  Gatten  gleich  Kinder 
ins  Haus  mitbringt,  führt  der  neuen  Familie  dadurch  früher 
Arbeiter  zu,  als  es  sonst  möglich  wäre;  das  ist  von  großer 
Bedeutung  dort,  wo  es  viel  Land  und  wenig  Leute  gibt.  Zwei- 
tens liefert  das  Weib  von  vornherein  den  Beweis  seiner  Frucht- 
barkeit. 1) 

Fast  genau  dasselbe  erfahren  wir  über  die  Esten  und 
Letten.  Die  wenigsten  Eltern  kränken  sich,  wenn  ihre  Tochter 
geschwängert  worden  ist.  Weit  entfernt,  sich  das  zu  Herzen 
zu  nehmen,  melden  sie  es  ruhig,  als  wäre  es  eine  Freudenbot- 
schaft, dem  Prediger  und  dem  Gutsherrn.  Die  Mädchen 
halten  es  sogar  geradezu  für  eine  Schande,  wenn  sie  sich 
so  verachtet  sehen,  daß  sich  noch  nie  ein  junger  Kerl  zu 
ihnen  gelegt  hat.  Wenn  ein  Mädchen  in  den  Armen  eines 
Burschen  gefunden  wird,  so  ist  das  nichts  Böses.  Sagt  man. 
ihnen  etwas  Vorwurfsvolles,  so  entgegnen  sie:  „Das  ist  so 
der  Brauch.**  „Der  Beischlaf  scheint  ihnen  etwas  so  Unbedeu- 
tendes und  Gleichgiltiges  zu  sein,  daß  sie  sich  nicht  ent- 
blöden, ihn  in  Gegenwart  anderer  zu  verrichten.  *)  Auch  vor 
Fremden  schämen  sie  sich  nicht.  Ich  erinnere  mich,  wie  wir 
zur  Sommerszeit  im  Badeort  Dubbeln  bei  Riga  als  Kin- 
der oft  in  Heuschobern  unsere  lettischen  Kutscher  und 
Mägde  in  den  intimsten  Beschäftigungen  überraschten.  Sie 
ließen  sich  durch  unser  Erscheinen  nicht  im  geringsten  stören. 
Manches  Mädchen,  um  nicht  ausgelacht  oder  gar  verachtet 
zu  werden,  wendet  alle  Kunstgriffe  an,  um  einen  Burschen 
ihren  Wünschen  willig  zu  machen,  damit  es  im  Orte  von 
ihr  heiße:  „Ei,  sieh  doch,  diese  hat  auch  einen  Liebhaber!** 
Es  konmit  manchmal  vor,  daß  die  Mädchen  von  den  Burschen 
die  Zurückhaltung  des  Samens  fordern,  um  einer  Schwanger- 
schaft auszuweichen;  aber  solcher  Vorsichtigen  sind  wenig. 
Denn  Schwangerschaft  ist  keine  Schande,   vielmehr  wie  bei 


^)  Ebenda  46. 

2)  Petri,  Ehstland  und  die  Ehsten,  II  32  ff.  —  Merkel,  Die  Letten. 


—    478    — 

den  Wotjäken  ein  Beweis  der  Fruchtbarkeit  des  Weibes.  Wird 
bei  einem  Mädchen  die  Schwangerschaft  sichtbar,  so  hat  sie 
nichts  anderes  zu  tun,  als  den  Perk  (eine  schmale  Kopfbinde, 
mit  der  das  Haar  auf  dem  Scheitel  umbunden  wird)  abzu- 
legen, weil  diese  Binde  der  ausschließliche  Kopfputz  der  Jung- 
frau ist;  statt  des  Perk  muß  die  Schwangere  die  Weiber- 
haube tragen,  imd  man  nennt  sie  fortan  Emmand,  Weib  (nicht 
Praua,  Frau,  eine  Bezeichnung,  die  bloß  den  deutschen  Damen, 
den  Adeligen  besonders  gebührt).  Altgewordene  Jungfern  be- 
kennen sich  oft  ganz  mit  Unrecht  zu  Unkeuschheits-Sünden 
und  Schwangerschaft,  nur  um  die  Haube  des  Weibes  tragen 
zu  dürfen.  In  früheren  Zeiten,  als  noch  die  Leibeigenschaft 
bestand,  hatte  die  Unkeuschheit  einen  ganz  besonderen  Vor- 
teil, eine  förmliche  Prämie:  das  schwangere  Mädchen  ward 

frei  von  der  beschwerlichen  Hofsarbeit  und  hatte  nur  leichteren 

• 

Hausdienst  zu  tun.  Gelegenheit,  in  andere  —  und  nach  est- 
nischen Begriffen:  in  bessere  —  Umstände  zu  kommen,  hat 
das  Mädchen  genug,  und  auch  an  Anreizungen  fehlt  es  nicht. 
Männer  und  Weiber  baden  nicht  bloß  in  den  Badstuben,  son- 
dern auch  in  offenem  Wasser,  in  den  Teichen  und  Flüssen 
miteinander,  und  dabei  vergißt  niemand  das  Stoßgebet  zu 
sprechen:  „Wie  ich  jetzt  meinen  sündlichen  Leib  reinige,  so 
mache  mich  Gott  auch  rein  von  meinen  Sünden."  Sie  kom- 
men aus  den  Badstuben  oder  aus  dem  Flusse  nackt  heraus 
und  plaudern  miteinander.  Sie  tragen  kein  Bedenken,  ihre 
Blöße  zu  zeigen.  Im  Sommer  tragen  Weiber  und  Mädchen 
auf  dem  Lande  gewöhnlich  nichts  als  ein  nicht  immer  durch 
einen  Gürtel  ein  wenig  zusammengehaltenes  Hemd,  das  kaum 
übers  Knie  reicht;  werfen  sie  über  das  Hemd  manchmal  einen 
dünnen  Rock,  so  schürzen  sie  ihn  jedenfalls  so  hoch  auf,  daß 
er  kürzer  ist  als  das  Hemd,  und  gehen  sie  in  die  Kirche 
hinein,  so  legen  sie  drin  der  Hitze  wegen  den  Rock  ganz  ab 
und  sitzen  halbnackt.  Im  Felde  bei  der  Arbeit  bücken  sie 
sich,  daß  oben  die  Brüste  herausfallen  und  unten  und  hinten 
alles  zu  sehen  ist,  was  ein  Weib  vom  Manne  imterscheidet.  Die 
Nächte  schlafen  Burschen  und  Mädchen  in  derselben  Stube 
oder  Scheune  oder  in  demselben  Stalle,  oft  auf  einer  Streu. 
Ein  Volk  wie  die  alten  Hellenen  konnte  auf  solche   Weise 


-^    479    — 

7ur  Abhärtung  und  geschlechtlicher  Keuschheit  erzogen  wer- 
den; bei  den  Esten  aber  trägt  diese  Lebensweise  nur  dazu 
bei,  alles  Schamgefühl  zu  ertöten  und  die  in  ihnen  wohnen- 
den starken  Naturtriebe  zu  höchster  Geilheit  auffallend  früh 
zu  entwickeln.  Geschwängerte  Mädchen  im  Alter  von  drei- 
zehn Jahren  sind  nicht  selten.  Nicht  bloß  die  bäuerischen 
Mädchen  ergeben  sich  leicht  und  willenlos  dem  geschlecht- 
lichen Verkehr,  sondern  auch  die  besseren  Jungfern,  die  im 
Hause  der  Gutsherrin  dienen;  ja  es  wird  behauptet,  daß  diese 
durch  das  bequemere  Leben  noch  mehr  zu  Ausschweifungen 
verführt  werden.  Der  Name  Hure  ist  keine  Schande.  Die 
geschwängerten  Mädchen  verheiraten  sich  ohne  Anstand,  und 
nicht  immer  mit  denen,  die  ihnen  das  Kind  gemacht  haben. 
Ein  Mädchen,  das  ein  Kind  bekommt,  darf  vom  Prediger  nicht 
einmal  nach  dem  Namen  des  Vaters  gefragt  werden.  Früher 
gab  es  für  Unsittlichkeit  Rutenstrafe;  aber  sie  wurde  schon 
von  Katharina  II.  abgeschafft.  Heiratet  ein  Mädchen,  so 
bewahrt  sie  als  Frau  dem  Manne  die  Treue.  Nur  das  junge 
Volk  hat  volle  geschlechtliche  Freiheit,  aber  Ehebruch  ist 
wenig  bekannt,  selbst  der  Mann  weicht  selten  ab  vom  Pfade 
der  ehelichen  Treue.  Die  Esten  unterscheiden  sich  dadurch  ge- 
radezu vorteilhaft  von  ihren  baltischen  Herrschaften,  denen 
man  Gesetze  geben  mußte  wie  diese:  „Wer  eine  Jungfrau 
entführet,  es  geschehe  mit  oder  wieder  ihren  Willen,  daß  der 
zu  langen  Tagen  des  Landes  solte  verwiesen  werden;  wo  die 
Jungfer  drein  verwilligt  hätte,  solte  sie  ihrer  erblichen  Güter 
verlustig  seyn.  Wer  eine  Jungfrau  nothzüchtiget,  der  sol  sie 
zur  Ehe  nehmen,  oder  seines  Hauptes  verlustig  seyn.**^)  Aber 
die  Ordensherren  selbst  waren  die  ärgsten  Wollüstlinge.  Der 
letzte  Ordensvogt  in  Wesenberg  ist  ein  berüchtigter  „öffent- 
licher Hurer  gewesen,  der  nicht  allein  mit  gemeinen  Weibern, 
sondern  auch  "mit  anderer  Männer  Ehefrauen  öffentlich  Hurerey 
und  Schand  getrieben  hat.  Der  Ordens-Herren  Diener  tägliche 
Arbeit  ist  nichts  anders  gewesen,  als  Löfeley  und  Buhlerey, 
welches  bei  ihnen  für  keine  Schande,  sondern  für  eitel  Ehr 


1)  Hiärns  Geschichte,  S.  169. 


—    480    — 

und  Ruhm  ist  gehalten  worden."')  Selbst  die  Moskowiter 
stauntea  ob  der  Unzucht  in  den  baltischen  Landen.  Während 
die  Moskowiter  im  Jahre  1576  Hapsal  stürmten,  sind  die  bal- 
tischen Hfciren  in  der  Stadt  „so  gutes  Muhtes  gewesen,  daß 
sie  sich  noch  mit  den  Jungfrauen  lustig  machen  und  schertzen 
können,  worüber  sich  die  Reüßen  hÖchUch  gewundert  und 
gesaget  haben:  Was  sind  die  Teütschen  für  seltsame  Leute; 
wenn  wir  Reüßen  ein  solches  Hauß  so  ohne  Noht  übergeben 
sollten,  dütfften  wir  unsere  Augen  vor  keine  redUche  Leute 
aufschlagen,  und  unser  Grosfürst  würde  nicht  wissen,  mit  was 
für  einem  Tode  er  uns  hinrichten  sollte:  Und  die  Teütschea 
auf  Hapsal  dürffen  nicht  allein  ihre  Augen  aufschlagen,  son- 
dern auch  noch  woll  mit  Jungfrauen  spielen,  als  hätten  sie  es 
noch  so  woll  ausgerichtet."^) 


49.  Probenächte  und  Jungfemschaft. 

Probenächte  bei  den  Esten  und  Letteo  —  Seltsame  Gebräuche  der  Tartaren 
von  Astrachanj  —  Probenächte  bei  den  Jaiker  Kosaken  —  Eine  alte  klein- 
russische  Sitte:  das  Mädchen  wirbt  um  den  Burschen  —  Die  kleinruuiscben 
Jugendgesellschaften  —  Reifeprüfung  der  Burschen  und  Mädchen  —  Loblied 
auf  den  Penis  —  Veispottung  der  weiten  Vulva  ~  Spottlieder  —  Beisammen- 
schlafen  der  Burschen  mit  den  Mädchen  —  Onanie,  aber  nicht  Coitus  — 
Elterliche  Anschauungen  in  betreff  dieser  Volkssitte  —  Erotische  Liadec  der 
Jugend  —  Wert  der  unverletzten  Jungfernschaft  bei  den  Kleinrussen  —  Bnuit- 
nachtsbräuche  —  Loblied  auf  die  Jungfernschaft  —  Spottlieder  auf  die  Un- 
keuschheit  —  Obstöae  und  skatologische  Spottlieder  —  Wert  der  Jungfern- 
schaft bei  den  GroOrussen  ^  Großrussische  Brautnachtsgebräoche  —  Vor- 
Weisung  des  blutbefleckten  Brauthemdes  —  Sicherung  der  Jungfernschaft  bei 
den  Samojeden  —  KeuschhcitsgOrtel  —  Kirghisische  Sitten. 

Die  Sitten  der  Völker  sind  zuweilen  voll  rätselhafter  Wider- 
sprüche, Wir  haben  zuletzt  den  mehr  als  zwanglosen  Verkehr 
der  beiden  Geschlechter  bei  den  unverheirateten  Esten  kennen 
gelernt.     Ist  bei  ihnen  mm  ein  Bursche  mit  einem  Mädchen 


~    481    — 

versprochen,  haben  sie  „zum  ersten  Male  Branntwein  mitein- 
ander getrunken",  so  hört  die  Intimität  für  den  Augenblick 
gänzlich  auf.  Nach  dem  Versprechen  darf  zwar  der  Bräutigam 
schon  zum  ersten  Male  bei  seiner  Braut  schlafen.  Aber  nur  in 
allen  Ehren.  Es  ist  nicht  üblich,  daß  er  in  diesem  Falle  die 
Rechte  eines  Gatten  in  Anspruch  nehme.  Der  Zweck  dieses 
platonischen  Beischlafs  ist  bloß  der,  dem  Bräutigam  die  Ge- 
legenheit zu  bieten,  die  verborgenen  Reize  seiner  Braut  und 
ihr  Benehmen  bei  Nacht  kennen  zu  lernen,  i)  Erst  wenn  ihn 
die  Beschau  befriedigt  hat,  entschließt  er  sich  zur  Ehe;  hat 
er  diesen  Entschluß  einmal  gefaßt,  dann  gibt  es  den  zweiten 
Branntweintrunk,  und  dann  gönnt  sich  das  Paar  allerdings 
auch  ein  vollkommenes  eheliches  Vergnügen  noch  vor  der 
Trauung.  Dies  wird  merkwürdigerweise  vom  Prediger  übel 
aufgefaßt,  von  demselben  Prediger,  der  sich  um  die  Unkeusch- 
heit  der  ledigen,  nicht  verlobten  Leute  nicht  kümmert  und 
keinem  Mädchen  einen  Vorwurf  macht,  das  die  Geburt  eines 
unehelichen  Kindes  zur  Anzeige  bringt.  Einem  verlobten 
Brautpaare  aber,  das  eine  Unkeuschheit  begangen  hat,  wird 
eine  Kirchenstrafe  auferlegt;  sie  beträgt  gewöhnlich  einen 
Rubel,  wenn  die  Braut  ihre  Sünde  selbst  gesteht;  erscheint 
sie  jedoch  zur  Trauung  wie  eine  Jungfer  mit  der  jungfräulichen 
Binde  auf  dem  unbedeckten  Haupte,  so  muß  sie,  wenn  die 
Wahrheit  an  den  Tag  kommt,  für  den  Mißbrauch  des  jung- 
fräulichen Brautschmuckes  eine  Strafe  von  zwei  Rubel  erlegen. 
Die  Letten,  deren  Sitten  und  Gebräuche  sich  mit  denen  der 
Esten  fast  vollständig  decken,  halten  die  Probenächte  in  der- 
selben Weise:  platonisch  bis  zur  festen  Verlobung,  faktische 
Ausübung  des  Beischlafes  nach  dem  zweiten  Branntweintrunk 
und  vor  der  Trauung. 

Eine  merkwürdige  Art  Probenächte  ist  bei  den  astrachanj- 
schen  Tartaren  bekannt.  In  der  Zeit  zwischen  Verlobung 
und  Hochzeit  muß  der  Bräutigam  die  Verwandten  seiner  Braut 
vollständig  meiden.  Seine  Braut  darf  er  jedoch  besuchen,  so 
oft  er  will  2):  ,Ja,  es  bleibt  nicht  einmal  bei  leeren  Besuchen, 


1)  Petri  I  281. 
'^)  Gmelin  II   135. 
Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  io  Rußland.    **  ^i 


—    482    — 

nicht  als  ob  es  sich  auf  Gesetzen  gründet,  den  Beyschlaf  so 
frühzeitig  halten  zu  können,  sondern  weil  es  durch  die  Gewohn- 
heit gäng  und  gebe  geworden  ist.  Man  sieht  ihn  wenigstens 
für  keine  schändliche  Sache  an,  denn  jedermann  weiß  davon, 
auch  die  Aeltern  einer  solchen  geschwächten  Braut.  Und 
diese  gleich  als  wann  sie  es  haben  wollten,  daß  sie  ihre  Jung- 
ferschaft vor  der  Zeit  verlieren  möchte,  setzen  zu  mehrerer 
Sicherheit  der  Braut  Schlaf-Lager  an  einem  ganz  besonderen 
Ort.  Doch  muß  der  Bräutigam  als  ein  würklicher  Ehebrecher 
den  ersten  Beyschlaf  mit  Geld  bezahlen,  dann  ob  es  ihm 
gleich  erlaubt  ist,  mit  seiner  Braut  in  einem  Bette  zu  schlafen, 
so  sitzen  gleichwohl  neben  demselben  ein  paar  alte  Frauen 
mit  brennenden  Kerzen  in  der  Hand,  und  beobachten  ganz 
genau  ob  sich  nicht  der  Bräutigam  eines  unerlaubten  Vorwitzes 
gelüsten  laße.  Sobald  sie  etwas  von  dieser  Art  wahrnehmen, 
sobald  nehmen  sie  sich  der  Braut  an,  doch,  damit  sie  in  ihrem 
Amt  nicht  allzu  gewißenhaft  verfahren,  so  beschenkt  sie  der 
Bräutigam  mit  einigen  schon  vorher  darzu  fertigen  Rubeln, 
und  weil  sie  diese  gerne  haben  wollen,  so  löschen  sie  die 
Lichter  aus,  suchen  die  Thür,  und  laßen  den  Bräutigam  mit 
der  Braut  alleine.** 

Ähnlich  wie  bei  den  astrachanjschen  Tartaren  ist  es  bei 
den  Jaikcr  Kosaken.  Sobald  ein  Kosakenmädchen  sich  ver- 
lobt hat.  beginnen  in  ihrem  Elternhause  die  Festlichkeiten, 
Tänze  und  Gesänge;  sie  dauern  ununterbrochen  bis  zur  Hoch- 
zeit an;  der  Bräutigam  hat  für  seinen  Teil  das  besondere  Ver- 
gnügen, daß  er  sich  in  dieser  Zeit  in  der  Stille  schon  die  Frei- 
heiten eines  Ehemannes  bei  seiner  Frau  gestatten  darf.\) 

Bei  den  Kleinrussen  schlafen  nicht  nur  Brautleute,  sondern 
junge  Burschen  und  Mädchen,  die  miteinander  kaum  ein  Liebes- 
verhältnis angeknüpft  haben,  häufig  beisammen.  Die  Freunde 
des  kleinrussischen  Volkes  bestreiten  aber,  daß  es  dabei  zu 
Ausschweifungen  komme.  Bei  den  Kleinrussen  gab  es  seit 
jeher  seltsame  Sitten.  Der  alte  Beauplan^)  hat  uns  die  Be- 
schreibung eines  Gebrauches  überliefert,  der  bei  diesem  Volke 
zu  seiner  Zeit  l)estanden  hat.     .,Comme  les  filles  fönt  Tamour 

•)   Pallas  Merkwürdigkeiten    112. 

')  Dcscriptioii  de  l'l^kranie   115--11S. 


—     483    — 

aux  gargons**  heißt  dieser  Brauch:  „La  fille  amoureusc  s'en 
va  en  la  maison  du  p^re  du  jeune  homme  qu'elle  aime; 
oü  ayant  pris  place  eile  fait  son  compliment  ä  cclui  qui  a 
blesse  son  cocur  et  lui  parle  en  ces  termes :  reconnoissant  en 
ton  visage  vne  certaine  debonnairetö,  que  tu  sgauras  bien 
gouuerner  et  aimer  ta  femme,  et  que  ta  vertu  me  fait  esperer 
que  tu  scras  bon  Dospodorge;  ces  bonnes  qualitez  me  fönt 
tc  prier  tres  humblement  de  m'accepter  pour  ta  femme,  cela 
fait  eile  en  dit  autant  au  pcrc  et  h  la  mcre  cn  les  priant 
humblement  de  consentir  au  mariage,  et  si  eile  en  regoit 
vn  refus  ou  quelqu*excuse,  qu'il  est  trop  icune,  et  non  encor 
prest  ä  marier,  eile  leur  repond  qu'elle  ne  partira  iamais  de 
lä  qu'elle  nc  Tayc  espous^,  tant  que  luy  et  eile  viuront.  Voila  de 
quelle  fagon  les  filles  amoureuses  ne  peuuent  manquer  d*estrc 
bien  tost  pouruues,  car  elles  contraignent  le  pere,  la  mere  et 
leurs  seruitcurs  ä  ce  qu'elles  dcsirent,  crainte  d'encourir  le  cour- 
roux  de  Dieu,  et  qu*il  leur  en  arriuast  quelque  sinistrc  malheur : 
car  de  mettre  hors  la  fille  ce  seroit  offencer  toute  sa  race.** 
Neuere  russische  Ethnographen^)  schildern  das  idyllische 
Leben  der  kleinrussischen  Jugend  folgendermaßen:  Wenn  der 
Bursche  sein  achtzehntes  Lebensjahr  erreicht  hat,  denkt  er 
schon  ans  Heiraten.  Seine  Lebensgefährtin  sucht  er  sich  häufig 
bereits  im  Kindheitsalter  aus,  wenn  die  Knaben  und  Mädchen 
zusammen  das  Vieh  weiden  oder  sich  mit  ihren  einförmigen 
Spielen  unterhalten.  Die  Anhänglichkeit  vertieft  sich  im  Laufe 
der  Jugendjahre  bei  den  abendlichen  Zusammenkünften,  die 
spezielle  Namen  je  nach  der  Jahreszeit  führen:  im  Frühjahr 
nennt  man  sie  einfach:  Gasse-),  im  Winter  Abendstunden 3). 
Bei  diesen  Rendezvous  irgendwo  auf  einem  freien  Platze  singt 
und   tanzt  man  bis   Mitternacht.     Wenn   sich   die  Alten,   die 

^)  Khamm  a.  a.  (). 

'^)  Uliza:   nmiiuh   bei  den  Klcinrussoii,  yjiiina  bei   den   Großrussen. 

•')  Doswitki  und  Wetschomizi:  ;ioeBiTKi  und  Bc'iopmuü  bei  den  Klein- 
lusscn,  ,iocBliTKii  und  BC'iepuHua  bei  den  Großrussen.  Vgl.  außer  den  bei 
Kliamm  angeführten  Quellen :  Th.  Volkov,  Rites  et  usages  nuptiaux  en  Ukraine, 
L'Antropologie  II  173.  —  5IcriK<>0B'b,  Hubuh  ,iaiim>ifl  0  (•uH»3ax'L  ne  ^KOHaxoit 
Mo.ii>;ie;Kii  iia  Huii  Poccin,  KieBcKan  cTai)iina  1890,  Aa  10,  (Tp.  110 — 128.  — 
Kor.-TTd()in  V  2 — 6;  VIII  303 — 359.  Aus  dem  Nachlaß  dos  ukrainischen  Folk- 
loristen Dikarew. 

3,, 


—    484    — 

Kinder  und  die  Verheirateten  schlafen  gelegt  haben,  bleibt  die 
Jugend  noch  im  Freien;  und  im  Frühjahr,  Sommer  und  Herbst 
verstummen  die  Lieder  nicht.  Ein  jeder  Bursche  macht  ohne 
Hehl  dem  Gegenstande  seiner  Zärtlichkeit  den  Hof.  Nachdem 
man  sich  müde  gesungen 'hat,  verschwinden  die  einzelnen  Liebes- 
paare unbemerkt,  verhüllt  durch  die  geheimnisvolle  Decke  der 
Nacht;    sie   bleiben   fast   stets   bis   zum   Morgen   beieinander. 

Die  jungen  Leute  eines  jeden  Dorfes  oder  eines  KyTOK 
(Kutok:  wörtlich  Winkel,  hier  Quartier  eines  Dorfes)  bilden 
eine  Art  geschlossene  Gesellschaft,  in  die  man  nicht  aufge- 
nommen werden  kann,  wenn  man  noch  nicht  die  geschlecht- 
liche Reife  erlangt  hat.  Es  wird  bei  den  Kleinrussen  auch 
niemand  zum  Hirten  der  Dorfherde  genommen,  ehe  man  ihn 
nicht  untersucht  hat,  ob  seine  sexuellen  Organe  in  Ordnung 
sind.  Ist  die  Prüfung  zur  Zufriedenheit  der  Gemeinde  aus- 
gefallen, so  wird  folgende  Zeremonie  beobachtet:  Alle  An- 
wesenden ergreifen  brennende  Fackeln  und  schreiten  rund 
um  ein  großes  Feuer;  an  der  Spitze  der  Prozession  marschiert 
ein  alter  Mann,  der  den  neuen  Hirten  an  seinem  Gliede  nach 
sich  zieht.  Dieser  Gebrauch,  der  namentlich  im  Gouvernement 
Chcrson  stattfindet,  ist  das  Überbleibsel  eines  alten  Kultus,  in 
dem  das  Zeugungsprinzip  eine  wichtige  Rolle  im  Hirtenleben 
spielte.  Auch  die  Prüfung  der  Jünglinge  und  Mädchen  auf 
ihre  geschlechtliche  Reife  hin  vor  der  Aufnahme  in  die  Gesell- 
schaft der  mannbaren  Jugend  ist  eine  uralte  Sitte. 

Die  Schönheit  und  Größe  des  männlichen  Gliedes  und  die 
Enge  des  weiblichen  Geschlechtsteils  bilden  dabei  wichtige 
Fragen.  Das  Mädchen  erkundigt  sich  bei  dem  Burschen,  ehe 
sie  zu  ihm  in  nähere  Beziehungen  tritt :  „Ha^io  Jiyyae  BejiiiKa? 
Ist  dein  Ding  groß?'*    Mit  Vorliebe  singen  die  Mädchen  dieses 

^^^^  •  Iliiipxa.'io  iiaiue  niaiio, 

A  npiiBC3:io  HaM  piano: 
I  ;i,OBree,  i  miipoKce, 
I  rpyoeo,  i  r.iuüOKoe,  — 
I  Tane  aarpyGiuKii, 
I  TaKC  aarayöuiKii, 
A  OTxaKe  3a;i,0BmKn, 
A  OTxaKe  aaBinnpiuKu! 


—    485    — 

Mein  Schatz  kam  spät  bei  Nacht, 
Doch   hat   er   mitgebracht 
Ein  wunderbares  Ding, 
Ich  schätz'  es  nicht  gering: 
Es  ist  ein  prächtig  Stück, 
So   lang,   so   breit,    so   dick, 
Von  einer  —  solchen  Breite, 
Von  einer  —  solchen  Weite! 

und   dazu   macht   man   die   entsprechenden   Gesten,    um   das 
Maß  des  Instruments  zu  bezeichnen. 

Die  Burschen  wiederum  erkundigen  sich  nach  der  Reife 
der  Mädchen  mit  den  Worten :  „/I,iBHaTa,  y  akoIl  no^aTa,  ;i,aäTe 
Meni;  Mädchen,  bei  wem  sie  (die  Pisda)  begonnen  hat  (zu 
reifen),  die  soll  mir  geben.**  Wie  sich  das  Mädchen  für  die 
schöne  Form  des  männlichen  Gliedes  interessiert,  so  forscht 
der  Bursche  vor  allen  Dingen  nach  der  Bildung  des  Geschlechts- 
teils der  Auserwählten.  Nichts  erscheint  den  kleinrussischen 
Burschen  so  entsetzlich  als  ein  weiter  weibhcher  Geschlechts- 
teil. Von  einem  derartig  unglückselig  gebauten  Frauenzimmer 
heißt  es:  „cIm  BopcT  ;i,OBra  a  Tpn  ;i;Hi  jiHca;  ihre  Öffnung 
ist  sieben  Werst  lang  und  drei  Ackerfelder  breit.**  Oder: 
^iiii3,T,a  nyjiKOM  BiiBepTaexBCji ;  in  ihre  Pisda  kann  man  wie 
in  einen  Strumpf  hinein.**  Die  Burschen  singen  mit  Vorliebe 
folgendes  Spottlied: 

111,0  B  MaTepi,  111,0  b  ;i;0HKn  — 
OAnaKOBi  nns^OHKn. 
O^Ha  o^HÜi  HC  BipnjiH, 
Bsfl.^n  po/Ken,  noMipa.iii: 
He  BGJinKa,  ni  Mana, 
Tii.iT>Ki  Bjiu3e  Tpn  BO.ia, 

A    ^eTBOpTHÜ  6lIK,    — 

Tii.iLKi  HoraMH  6puK, 
I  xaMyT  i  Ayra  — 
Iii;e  nua^a  iie  Tyra; 
I  nonoBa  nianKa  — 
Iin.e  nna^a  ciaÖKa 


—     480    — 

I  noniß  MaJiaxaii  — 
I  TOH  y  nH3;iy  aanxaö; 
CiM  Bosiß  xBopocTy  — 
HIhk  nnsAii  He  aaMOCTio: 
CiM  Bi3  Ap^My  — 
ITpflMO  B  nH3;i;y  npnMo! 

Die  Mutter  und  das  Töchterchen 

Die  haben  gleiche  Löcherchen. 

Bezweifelt's  wer  indessen, 

So  braucht  er  bloß  zu  messen 

Und  sehn    wie  gleich  sie  sind 

Bei  Mutter  und  bei   Kind: 

Das  Loch  ist  weder  groß  noch  klein, 

Drei  Ochsen  gehen  bloß  hinein, 

Ein  vierter  Stier,  der  zornig  brummet. 

Muß  auch  hinein  mit  Krummholz  und  mit  Kummet, 

Drin  stößt  er  mit  den  Hinterfüßen  wild  -- 

Die  Pisda  aber  ist  nicht  ausgefüllt; 

Man  wirft  hinein  des  Popen  Mütze 

Und  noch  zu  breit  bleibt  diese  Ritze; 

Hinein  des  Popen  Malachaj^), 

Den  Popen  selbst  trotz  Wchgeschrei 

Und  sieben  Wagen  Zweige  noch  -  - 

Und  immer  weit  bleibt   dieses   Loch : 

Bequem  kann  man  hinein  noch  sieben 

Mit  Dünger  volle  Wagen  schieben. 

Hat  ein  Bursche  also  die  Prüfung  seiner  männlichen  Reife 
bestanden  und  Eingang  gefunden  in  die  PpoMa^a  (gromada, 
wörtlich  großer  Haufen,  bedeutet  hier  den  geschlossenen 
Kreis  der  Gesellschaft),  so  trifft  er  auch  bald  auf  das  Mädchen, 
das  allen  seinen  Wünschen  entspricht.  Er  wirbt  um  ihre  Gunst 
persönlich  oder  durch  Vermittlung  eines  Freundes.  Willigt  sie 
ein,  so  sagt  man,  daß  ihre  Antwort  feucht  war;  lehnt  sie 
ab,   so  nennt  man  ihre  Entgegnung  trocken.    Das  Paar,   das 


')  Ma.iaxart  ist  auch  eine  Mütze,  aber  nicht  die  hohe  Scha])ka,  von  der 
in  der  früheren  Verszeile  die  Hede  war,  sondern  eine  niedrigere  große  Pelz- 
mütze mit  vier  Zipfeln. 


—    487    — 

sich  zusammengefunden  hat,  darf  ungenierten  Verkehr  pflegen, 
und  die  Gromada  achtet  stets  darauf,  daß  die  Liebenden  von 
niemandem  gestört  werden.  Finden  der  Bursche  und  das  Mäd- 
chen, daß  sie  zueinander  passen,  dann  folgt  auf  die  Probezeit 
die  Ehe;  kommen  sie  zur  Erkenntnis,  daß  sie  miteinander 
nicht  glücklich  werden  können,  dann  gehen  sie  friedlich  aus- 
einander, und  jeder  Teil  darf  neue  Verhältnisse  anknüpfen. 
Während  der  Probezeit  empfängt  das  Mädchen  heimlich  oder 
offen  den  Burschen  in  der  Scheuer  oder  auf  dem  Boden,  in 
dem  Garten  oder  in  einem  Wagen,  in  einem  Heuschober  oder 
auch  im  elterlichen  Hause,  wenn  sie  da  ein  separiertes  Zimmer 
hat,  in  das  der  Liebhaber  durch  das  Fenster  einsteigen  kann. 

Kenner  des  Landes  und  des  Volkes  behaupten  nun,  daß 
es  bei  diesem  Zusammenschlafen  fast  niemals  zu  unzüchtigen 
Handlungen  komme.  Der  Zweck  sei  einfach  der,  daß  die  Paare 
einander  genau  kennen  lernen  wollen,  bevor  sie  sich  für  das 
ganze  Leben  verbinden.  Man  gewinnt  eine  vollständige  Kennt- 
nis der  beiderseitigen  körperlichen  Beschaffenheit,  denn  man 
darf  miteinander  zärtlich  sein  so  viel  man  will.  Das  Mädchen 
läßt,  den  Coitus  ausgenommen,  alles  mit  sich  machen:  der 
Liebhaber  darf  seine  Füße  um  sie  legen,  sein  Antlitz  an  das 
ihrige  pressen,  und  sie  windet  und  bewegt  sich  unter  ihm,  als 
wenn  faktisch  der  Geschlechtsakt  ausgeführt  würde.  Beide 
tun  alles,  um  einander  zu  gefallen  und  zu  entzücken,  nur  das 
gewisse  Eine  vermeiden  sie.  Er  darf  ihre  Brüste  streicheln, 
ihre  Genitalien  berühren  und  kitzeln,  mit  einem  Worte :  Onanie. 

Es  geschieht  auch  oft,  daß  mehrere  Paare,  besonders  zwei 
Brüder  mit  ihren  Auserwählten  oder  zwei  Schwestern  mit 
ihren  Geliebten  in  einem  Raum  auf  solche  Weise  die  Nacht 
verbringen,  obwohl  die  Mädchen  sich  gegen  solche  allzugroße 
Öffentlichkeit  des  Liebeslebens  wehren :  „  JI  tjt  To6i  ni  3a  um 
TiicmH  HO  Ai^>i-  a  TG  HKa  TyT  loim,  ilK  AG  —  HKi  He  CnJIflTb? 
Hier  gebe  ich's  dir  nicht  um  viele  tausende  Rubel  I  Wie  ist's 
möglich  zu  coitieren,  wo  so  viele  wach  sind?'*  fragt  die  Ge- 
liebte. Das  Wort  coitieren  ist  aber  eine  Hyperbel,  wenn  unsere 
Gewährsmänner  wirklich  recht  haben.  Denn  ihren  Versiche- 
rungen zufolge  sind  ja  gar  keine  Fälle  bekannt,  daß  in  diesen 
Probenächten    die   Jungfräulichkeit    eines    Mädchens    Schaden 


488     --- 

gelitten  hätte.  Ja,  es  soll  Burschen  geben,  die  imstande  sind, 
die  Nächte  kalt  wie  Steine  neben  ihren  Bräuten  zu  verbringen : 
„Der  Bursche  sieht  auf  das  Mädchen  als  auf  seine  zukünftige 
Gattin  und  achtet  ihre  Ehre  so  weit,  daß  er  nicht  einmal  wagt, 
vor  seiner  Genossin  die  Triebe  seines  feurigen  Alters  zu  ver- 
raten.** Auch  sollen  Beispiele  nicht  selten  sein,  „daß  ein  Mäd- 
chen sich  weigert,  ferner  die  Gesellschaft  ihres  Liebhabers 
zu  teilen,  weil  er  sich  herausgenommen  hat,  mehr  zu  ver- 
langen, als  die  Wohlanständigkeit  der  Volkssitte  erlaubt.**  Ein 
Mädchen,  das  sich  von  dem  Temperament  hinreißen  läßt, 
ihre  Jungfernschaft  aufs  Spiel  zu  setzen,  wird  aus  der  Gesell- 
schaft ausgestoßen,  und  das  Haus,  in  dem  sie  wohnt,  versehen 
die  Burschen  mit  Schandzeichen.** 

Die  Eltern  haben  gewöhnlich  nichts  gegen  die  Liebeleien 
der  Töchter  einzuwenden ;  •  sie  betrachten  sie  als  einen  tra- 
ditionellen Gebrauch,  der  die  Ehre  des  Mädchens  nicht  kom- 
promittieren kann,  solange  das  Jungfernhäutchen  intakt  bleibt. 
Daß  letzteres  der  Fall  sei,  darüber  wacht  die  Mutter  sorgfältig. 
Ein  Mädchen,  das  sich  hat  verführet!  lassen,  zeigt  dem  Ge- 
liebten vorwurfsvoll  den  blutigen  Fleck  auf  dem  Hemde  und 
klagt:  „0!  Ca  jie  nponajia  KpacKa!  Ach,  auf  diesem  Plätzchen 
ist  die  Blume  verloren  gegangen  T*  Zitternd  reibt  sie  und 
wäscht  sie  sofort  an  dem  verdächtigen  Zeichen  herum  und 
weint  dabei :  „Xnoa  bh  moo'i  MaTepi  hg  anaeTe,  HKaBOHaara?  Mh 
nK  no^iieM  copo^iKH  npaTt,  to  Boiia  moio  Kon^ny  copoHKy  ncpe- 
;i,HBHTT>c}r.  A  H  KaHcy:  MaMO,  ^loro  bh  ;i,HBHTecB?  A  BonaKanxe:  a 
Toro  AnB.Tiocr>,  111,0  th,  6icoBa  ;i,OHKa,  KOHvuy  iiin  TiKaem!  Kennst 
du  denn  nicht  meine  Mutter,  was  das  für  eine  Hexe  ist?  Wenn 
wir  zu  Hause  unsere  Wäsche  waschen,  so  untersucht  sie  genau 
jedes  Stück.  Frage  ich:  Mamo,  was  schauen  Sie  so?  Und 
sie  sagt :  Ich  schaue,  Teufelsmädchen,  weil  du  alle  Nächte 
verschwindest!**  Am  liebsten  haben  es  die  Eltern,  daß  das 
Mädchen  den  Liebhaber  im  elterlichen  Hause  empfängt. 
„Sieh,  du  Teufelssohn,**  fährt  eine  Mutter  einen  Burschen  an, 
den  sie  bei  ihrer  Tochter  in  einem  fremden  Hause  überrascht 
hat,  „wenn  du  mein  Kind  liebst,  so  führe  sie  nicht  in  fremde 
Häuser,  komm  zu  uns  ins  Haus  und  schlafe  zu  Hause  mit  ihr; 
da  werdet  ihr  wenigstens  keine  Schläge  bekommen." 


489     — 

Ist  das  Mädchen  trotz  aller  Vorsicht  ins  Unglück  ge- 
kommen, dann  wird  es  sofort  leichtsinniger.  A  xn6a  Iothch 
rpix?  Ist  denn  coitieren  eine  Sünde?  fragt  sie  sich.  Wohl 
denkt  sie  mit  Schrecken  an  den  Zorn  der  Mutter,  aber  sie 
tröstet  sich  damit,  daß  das  Geschehene  unabänderlich  ist :  „HJ^o, 
a  n  MaTH  ycTane,  xa  npHfi;i;e  cioah?  Hy,  Ta  ^opT  ero  BiatMH,  mo 
öyAe,  To  GyAC !  Ach,  wenn  die  Mutter  herkäme  ?  Nu,  hole  sie  der 
Teufel,  es  geschehe,  was  da  wolle !"  Das  arme  Mädchen  nament- 
lich, das  keine  Aussicht  hat,  einen  Gatten  zu  finden,  gibt  sich 
leicht  hin,  um  nicht  die  Jugend  ohne  Liebesgenuß  verstreichen 
zu  lassen;  auf  Ehe  wird  dann  nicht  spekuliert,  das  Glück  der 
Sinne  allein  wird  in  diesem  Falle  gesucht.  Man  fragt  ein 
Mädchen :  „Ta  bh MaöyTB,  He bo  riiiBB  BaM  ßy^e, HBaniBHO,  ii;e  fi  ao 
CBaöÖH  AaBann?  Mit  Respekt  zu  fragen,  ist  es  wahr,  Iwanowna, 
daß  Sie  es  schon  vor  der  Ehe  hergegeben  haben?"  Und  die 
ruhige  Antwort  lautet:  „0,  a  3  im  iÖJiacb,  anv  nns^a  Tpiii;ajia! 
3  ö  He  ;;yMajia  ji\o  Bin  Mene  BißbMe.  A  mh  ;i;0Ma  sKHßeMO 
6iAHo!  O,  ich  arbeitete  mit  ihm,  daß  die  Pisda  in  Fetzen  zer- 
riß I  Ich  dachte  nicht  ans  Heiraten.  Aber  wir  leben  zu  Hause 
so  armselig!** 

Die  Lieder,  welche  die  Burschen  und  Mädchen  bei  ihren 
Zusammenkünften  singen,  lassen  ebensowenig  an  Frivolität  et- 
was zu  wünschen  übrig  wie  ihre  Tänze.  Beim  Zigeunertanz 
singt  man  die  Neulinge  an: 

JJ^nrane,  loy  6aTBKa  TBoro! 
.Tynn  nu3,T;a,  .^ynn  xyii! 
Hopna  nn3;;a,  Jincnii  xyii! 

Xa,  xa,  xyii 
ro-ro,  reü-reö,  rcioaii 
roJioiiH3Aa,  rynaii !  .  .  . 

Hei,  Zigeuner,  deinen  Vater  coitier  ich! 
Mut  Pisda,  Mut  Penis! 
Schwarze  Pisda,   kahler  Penis! 

Ha,  ha,  Penis. 
Hoho,  hei-hei,  unbehaarter  Knabe, 
Unbehaarte  Pisda,  amüsier  dich! 


—     490    — 

ThIIH-THHH,    TIIHH-Tnilll,    TIIHHHenbKn, 

A  M  y  nojii  KpHiin4eiii>Ka. 

TaM    nH3ÄH    CBJlilTh 

Ho  COKHpi^i  ;iiep3KHTb 
XonyTL  xya  3apy6aTi>. 
A  xyü  HG  ;;ypaK: 
ÜK  icKO'ie  Ha  jiaBOHKy, 
ÜK  yxBaTO  GyjiaBOHKy  — 
II,an  cTapy  nii3;i;y  no  ayoax! 

Tini-tini,  tinitschenjki. 
In  dem  Felde  fließt    ein  Bächlein, 
An  dem  Ufer  sitzen  Löchlein, 
Halten  in  den  Händen  Hacken, 
Wollen  ach  ein  Schwänzlein  packen, 
Schnell  ihm  den  Garaus  zu  machen. 
Schwänzlein  wird  sie  bald  verlachen. 
Schwänzlein  ist  ja  nicht   so   dumm   — 
Beißt  ins  Löchlein,  bringt  es  uml 

Ein  Lied  warnt  deshalb  die  Mädchen: 

OM  IlIyTHn,>i,  namyTiiu;«  moh, 
He  BiixaH^yBaii  na  yjiuuio  caMa! 
He  BHMaiiiOBaii  piiGaT  3  Bi.^ou, 
Ho  noKaayBaö  iia3a;i,  nii3;i,ii! 
A  puÖHTa  iie;i,opocTOMKif, 

lIo.iaMaJIU   BT>   I1H3A0   kocto'ikh! 

Oj  Schutizja,  liebes  Mädchen  mein. 
Gehe  auf  die  Gasse  nicht  allein  I 
Rufe  nicht  die  Burschen  aus  dem  Hause, 
Zeige  deine  Pisda  nicht  von  hinten! 
Haben  erst  die  Burschen  sie  gerochen 
Brechen  sie  der  Pisda  alle  Knochen! 

Und  die  jungen  Mädchen  tanzen  dazu  den  Reigen  und 
rufen :  Hop,  hop,  hop !  Und  wenn  die  Burschen  fragen :  „Ist 
es  schön,  was  wir  gesungen  haben,  dann  antworten  die  Mäd- 


—    491     — 

chen  stereotyp:  „Es  war  schön;  es  liegt  Melodie  darin  und 
es  ist  auch  frivol." 

Schon  im  ersten  Bande  meines  Werkes^)  haben  wir  die 
obszönen  kleinrussischen  Tänze  und  Tanzlieder  und  in  diesem 
Bande  auch  schon  kleinrussische  obszöne  Hochzeitslieder  ken- 
nen gelernt.  Trotz  alledem  und  trotz  der  Proben,  die  eben 
gegeben  wurden,  soll  man  den  Versicherungen  Glauben  schen- 
ken, daß  das  Volk  nicht  so  ausgelassen  lebt  wie  es  singt? 
Es  gestehen  selbst  diejenigen,  die  die  Sittenlosigkeit  der  Klein- 
russen im  Vergleich  zu  der  Sittenlosigkeit  der  Großrussen 
rühmend  hervorheben,  daß  sich  die  Verhältnisse  unter  dem 
Einflüsse  der  Großrussen  rapid  verschlechtern.  Zugegeben 
werden  kann  allerdings  ohne  Vorbehalt,  daß  früher  bei  den 
Kleinrussen  auf  die  Unverletztheit  der  Jungfemschaft  der 
größte  Wert  gelegt  wurde.  Beauplan^)  erzählt  von  den  klein- 
russischen Brautnachtsgebräuchen  seiner  Zeit: 

„L'heure  donc  estant  venüe  de  couchcr  la  marine,  les 
femmes  parentes  du  marie  la  prennent  et  la  menent  en  vne 
chambre,  oü  ils  la  despouillcnt  toute  nüe,  et  la  visitent  de 
tous  costez,  iusqucs  dans  les  oreilles,  dans  les  cheueux,  entre 
les  doigts  des  pieds  et  autre  partie  de  son  corps,  pour  voir 
s'il  n'y  a  point  de  sang,  d'espingle  ou  coton  imbu  de  quelque 
sirop  rouge  cach6  sur  eile,  et  s*ils  y  trouuoient  vne  de  ces 
choses  les  nopces  seroicnt  troubldes  et  y  auroit  grand  des- 
ordre,  mais  s'ils  ny  trouuent  rien,  ils  lui  vestent  vne  belle 
chemise  de  cotton  toute  blanche  et  ncuue,  puis  la  couchent 
entre  deux  draps,  et  fönt  venir  le  nouueau  marie  ä  la  des- 
robee  pour  venir  coucher  auec  eile,  et  quand  ils  sont  en- 
semblc  ils  tirent  le  rideau;  cependant  la  pluspart  de  ceux 
qui  assistent  aux  nopces  viennent  ä  la  chambre  auec  la  cor- 
nemuse,  dangant  chacun  vn  verre  ä  la  main,  les  femmes  sau- 
tant  et  dangant  en  claquant  des  mains,  tant  qu*ils  ayent  de 
tous  poincts  consomme  le  mariage;  et  dans  cette  heureuse 
conioncture,  si  eile  fait  quelque  signe  de  ioye,  aussitost  toute 
l'assemblee   saute,  et   battant   des   mains,   hausse   les   cris   de 


^)  Seite  393. 

*-)  Description  de  VUkranic   124. 


—    492    -- 

resiouyssance,  les  parens  du  marie  sont  tousiours  en  sentinelle 
autour  du  lict  pour  ^couster  ce  qui  se  passe  attendant  ä  tirer 
le  rideau  que  la  farce  soit  iou^e,  et  ils  viennent  lors  luy  donner 
la  chemise  blanche,  et  s'ils  trouuent  en  celle  qu'ils  luy  ostent 
des  marques  de  sa  virginit6,  ils  en  fönt  retentir  toute  la 
maison  par  les  cris  excessifs  de  ioye  et  de  satisfaction  que 
toute  la  parent^  en  tesmoigne.  —  Le  lendemain  il  se  ioue  vne 
autre  farce,  non  moins  plaisante,  qui  est  qu'ils  passent  vn 
baston  dans  les  deux  manches  de  la  chemise,  la  tournent  ä 
Tenuers  et  la  pourmenent  en  frome  de  banniere  dans  les  rues 
de  la  ville  auec  grande  solemnit^,  comme  vn  drapeau  portant 
les  marques  honorables  du  combat,  afin  que  tout  le  peuple 
soit  tesmoin,  et  de  sa  virginitd  et  de  la  virilite  de  son  mari, 
tous  ceux  de  la  nopce  suiuent  auec  les  instrumens  de  musique 
chantans  et  dansans  mieux  que  iamais,  et  en  cette  procession 
les  ieunes  gens  menans  chacun  vne  des  filles  de  la  nopce 
par  la  main,  fönt  tout  le  tour  de  la  ville,  toute  la  populace 
accourt  ä  ce  bruit  lä  les  suiuant  iusques  a  ce  qu'ils  soient  de 
retour  au  logis  du  nouueau  mari6. 

Que  si  au  contraire  les  marques  d'honneur  ne  si  ren- 
controient  point,  chacun  iette  son  verre  ä  terrc,  les  femmes 
cessent  de  chanter,  car  la  feste  est  troublöe,  et  les  parens 
de  la  fille  confus  et  diffamez,  et  des  lors  les  nopces  finissent, 
puis  fönt  mille  rauages  dans  le  logis,  fönt  des  trous  aux  pots 
qui  ont  serui  ä  cuire  la  viandc,  escornent  los  gobelets  de  terre 
dans  Icsquels  ils  ont  beu,  mettent  au  col  de  la  mere  de  la 
fille  vn  Collier  de  cheual,  puis  la  fönt  mettre  au  haut  bout, 
et  luy  chantent  mille  chansons  sales  et  vilaines,  luy  donnant 
ä  boire  dans  vn  de  ces  gobelets  escornes,  et  luy  fönt  mille 
reproches  de  n*auoir  pas  assez  veilld  ä  la  conseruation  de 
l'honneur  de  sa  fille:  en  fin  apres  luy  auoir  dit  toutes  les 
injurcs  infames  dont  ils  sc  sont  pu  aduiscr  chacun  se  retire 
chcz  soy  honteux  d'vne  si  fascheusc  rencontre,  particuliere- 
ment  les  parens  de  la  mariee  sc  ticnnent  comme  cachez  en 
leurs  maisons  d*oü  ils  sont  quclque  temps  sans  sortir.  Quand 
au  marie  il  est  ä  son  choix  de  la  retenir  ou  non,  mais  aussi 
s*il  si  resoult  il  faut  qu'il  s'appreste  ä  souffrir  toutes  les  iniures 
qu'on  luy  voudra  faire  pour  ce  suiet/* 


—    493    — 

In  den  Gebräuchen  und  Liedern  wird  auch  heute  noch 
auf  Jungfernschaft  gesehen;  wenn  man  aber  einerseits  sagt, 
daß  die  Obszönität  der  Lieder  nichts  mit  dem  wirklichen  Leben 
zu  tun  habe,  so  weiß  ich  nicht,  wie  man  behaupten  dürfte, 
daß  die  alten  Lieder,  die  die  Jungfernschaft  loben,  ein  voll- 
giltiger  Beweis  für  fortdauernde  Sittenreinheit  seien. 

In  der  Brautnacht  soll  der  Bräutigam  die  Braut  bloß  ent- 
jungfern; die  Sitte  verlangt  es,  daß  er  den  Akt  nicht  zu 
Ende  bringe,  sondern  unterbreche,  sobald  er  das  Häutchen 
durchstoßen  hat;  es  handelt  sich  hier  vermutlich,  wie  bei 
den  Großrussen,  um  eine  religiöse  Vorschrift,  von  der  auch 
im  nächsten  Kapitel  die  Rede  sein  wird.  Ein  Vergnügen  ist 
also  die  erste  Nacht  nicht,  sondern  reine  Pflichterfüllung  wird 
erfordert.  Es  kann  nun  der  Fall  eintreten,  daß  der  Bräutigam 
der  Arbeit  nicht  gewachsen  ist.  Seine  Impotenz  wird  magischen 
Einflüssen,  einem  zauberischen  Ncstelknüpfen  zugeschrieben. 
Eine  alte  Frau  führt  den  unglücklichen  jungen  Gatten  also 
auf  den  Hof  und  läßt  ihn  alle  Nägel  berühren,  die  er  findet, 
denn  Eisen  entkräftet  und  vertreibt  den  Zauber.^)  Wenn  der 
Neuvermählte  aber  dann  noch  immer  impotent  bleibt,  so  muß 
er  die  Entjungferung  der  Neuvermählten  durch  den  Heirats- 
stifter oder  einen  Ehrenkavalier  vornehmen  lassen.  Denn 
gleich  wie  der  Koitus  mit  Samenerguß  absolut  verboten  ist, 
ist  andererseits  die  Entjungferung  in  der  Brautnacht  obliga- 
torisch. In  einigen  Gegenden  läßt  man  es  gar  nicht  auf  den 
Versuch  der  Entjungferung  durch  den  Gatten  ankommen;  die 
Braut  selbst  zerreißt  sich  das  Häutchen  mit  den  Fingern,  oder 
eine  der  älteren  Frauen  besorgt  dies.  Das  junge  Paar  verweilt 
jedenfalls  im  Schlafzimmer  nur  die  ganz  kurze  Zeit,  die  zur 
Entjungferung  nötig  ist,  und  kehrt  dann  zu  den  Gästen  zu- 
rück, um  ihnen  die  Mitteilung  von  dem  vollzogenen  Ereignis 
zu  machen.  Bestätigt  der  Bräutigam,  daß  seine  Braut  eine 
Jungfer  war,  dann  ist  der  Jubel  groß,  und  man  singt: 

TeMHoro  Jiyry  KanHHa, 
^oöporo  poAy  ÄHTHHa, 


1)  Auch  bei  den  Orientalen  herrscht  diese  Meinung.   Vgl.  Bernhard  Stern, 
Medizin,   Aberglaube  und  Geschlechtsleben  in  der  Türkei,   I   303,   366. 


—    494    — 

CiM  JiiT  no  Honax  xoAHJia 
Ilpn  co6i  Kpacy  HOCHJia: 
Kynn,i  KynoBajiH  —  ne  npo^ana, 
Xjionu,!  npocnjiii  —  ho  A^Jia; 
Hörn  moBKOM  SB-Laaajia, 
^jiH  CBoro  ÜBacH  ;i;ep}KaJia !  0 

Hollunder^)  in  dem  dunklen  Forste  gleich 

Ist  dieses  Kind  aus  einem  Hause,  das  an  Ehren  reich, 

Denn  sieben  Jahre  ging  sie  stets  bei  Nacht 

Und  immer  hielt  sie  bei  sich  ihre  Mädchenpracht; 

Die  Händler  wollten  ihren  Schmuck,  und  sie  verkaufte 

ihn  um  keinen  Preis, 
Sie  gab  ihn  nicht  den  Burschen,  die  drum  baten  heiß; 
Die  Beine  band  sie  fest  mit  einem  Seidenband, 
Bis  ihr  Iwan  das  schöne  Schmuckstück  fand. 

Man  zeigt  den  Gästen  und  den  Verwandten  die  Trophäe, 
das  blutbefleckte  Hemd.  Darauf  neuer  Jubel.  Man  schreit, 
springt  auf  die  Bänke  und  Tische,  tanzt  und  singt: 

A  B  iiOKOiKy  ;^a  ^HipoMKaMu 
Cto'itb  iiocTejibKa  3  ncAymeHKaMH, 
Ha  Tis  uocTejim,i  Mapyca  jighciitl, 
Me>Kii  iioraMU  nna^y  AepaciiTb: 
Ofi  Tpeöa  ;i,o5pe  Mapyci  npocHTH, 
JTJ^ooji  ;i;a:ia  iin3An  3a>KnTJi.'^) 

In  einem  kleinen   Kämmerlein, 

Da  ist  ein  kleines  Bettelein, 

Marussja  liegt  dort  auf  den  Kissen 

Und  hält  die  Pisda  zwischen  ihren  Füßen: 

Marussja  läßt  gar  lange  warten, 

Bis  frei  sie  Eintritt  gibt  in  ihren  Garten. 


^)  Aus  Bcrclytschcw  im  Gouvernement  Kijew.    Ein  ähnliches  Lied  singt 
man  in  Gadiatsch  im  Gouvernement  Poltawa. 

^)  Der  Hollun(UT  symbolisiert   in   den   Liedern  die   Juni;fernsch  ift. 
•*)  Aus  Uschytzja  im  Gouvernement  Podolien. 


—    495    — 

KajiHua,  KajiHHa, 
^oöporo  GaTtKa  AHTHHa: 
IliA  Kajinnoio  cnajia, 

niOBKOM    IIOHvCHKH    3B'Lfl3ajia, 

^jiii  cBoro  MOJiOAoro  noii,bKH  AepHcajia!^) 

Hollunder,  Hollunder, 

Des  Vaters  gutes  Töchterlein 

Schlief  unter  dem  Hollunder  ein, 

Die  Füße  fest  mit  Seidenschnur  umschlungen 

Bewahrt*  die  Pozjka^)  sie  für  den  Gemahl  den  jungen. 

Wird  aber  konstatiert,  daß  die  Braut  nicht  mehr  Jungfer 
war,  so  machen  die  Gäste  Skandal  und  verspotten  den  Bräu- 
tigam, beschimpfen  die  Braut,  deren  E^ltern  und  ganze  Ver- 
wandtschaft : 

TcMHoro  Jiyry  KaJiiiHa, 

He  Aooporo  poAy  AöTuiia: 

Bo  BOHa  TtiKa  Ao6pa 

>3k  Aipj^BJ^  Topöa.'^) 

Hollunder  in  des  Waldes  Schatten, 

Das  Kind  von  Eltern,  die  nie  Ehre  hatten : 

Du  passest  zum  gemeinen  Pack, 

Bist  grad  wie  ein  durchlochter  Sack. 

Tu,  BaciiJiLKy,  Kajinna-Majiuiia, 
A  na  Teße  ahbiithcji  mhjio; 
Tu,  HapacKO,  Hopna  xanaßa: 
yBecb  pi^  noKajifljia!^) 

Der   Hollunder-Himbeer'   gleichest   du,   Wassili; 
Vergnügen  ist's,   wenn  man  dich  anschaun  will; 
Doch  du,  Paraska,  schmutziges  Gefäß,  du  mußt  es  wissen. 
Du  hast  ja  die  Familie  angesch .  ssen. 


^)  Aus  Gadiatsch  im  Gouvernement  Poltawa. 

-)  Bedeutet  ebenso  wie  Pisda  den  weiblichen  Geschlechtsteil. 

■^)  Aus  Nowograd  Wolhynsky  in  Wolhynien. 

*)  Aus  Solotonoscha   im  Ciouvernement   Poltawa. 


496 


_•:>.: r.iHaÜTe  kboiitv  b  oC'HKV. 
A  Kypiaxa  b  B^pmy; 
npuiuaBaiicji.  iLipyeio, 
KoMv  :iaBa.ia  cnepmy?- 
—  -J,aBajia  Xoiii. 
IUe  Oyae  ii  T'-.oi: 
JaBa.ia  nonoBi. 
JaBaaa  aaKOBi 
^aBaaa  ni;iaaHOMy  — 
Ulf*  ii  no  cooaiOMvI  .  ."*) 

„Sperrt  die  Henne  in  die  Tonne  ein 

Und  die  Küchlein  werfet  in  den  Kot  hinein: 

L'nd  Manissja,  jetzt  gesteh  es  mal, 

Wem  gabst  du  es  wohl  zum  ersten  Mal?**  — 

,,Erst  genoß  der  Thomas  dieses  Glück, 

Doch  genug  blieb  noch  für  dich  zurück; 

Auch  dem  Popen  gab  ich  das. 

Und  dem  Diakon  etwas. 

Selbst   dem  Kirchendiener,  bitte   — 

Gab   zum   Schluß   nach  Hundesitte.** 

ni,T;  cociioio  cna.ia  — 
B  ui\:i;iy  miiuiKa  Bnaaa: 
CoMcpo  KOiieii  aaiipHraaii, 
.'3  iinn;i.ii  iiiiiuncy  BiiTHraaii.-) 

Wie  sie  unter  einer  Tanne  liegt  -  - 
Ihr  (in  Zapfen  in  die  Pisda  fliegt. 
Sieben^;  Pferde  spannt  man  an, 
nis  man  ihn  hcrausziehn  kann. 


')  Aus   Sfjl()tr)n()S(  lia   stammen   die   ersten   vier   Zeilen.      Die  restlichen 
sechs  fü^t  man  in  Cliarjkow  und  in  Gadiatsch  im  Gouvernement  Poltawa  hinzu. 

*-')  Aus  '1  s(  licrny^'ow.  Ähnliche  Lieder  singt  man  in  Nowograd-Wolhynsky, 
(iouvcrurmrnl   Wolhynicn. 

•*)  l)ie  häufige  Wiederkehr  der  Zahl  Sieben  in  diesen  Liedern  ist  be- 
achtenswert. 


—     497     — 

II  Iä  üiKOK)  cnaaa 
He  AiBKOK)  BCTajia; 

3    ropH    IlOKOTHJiaCH 

^a  Ha  mHüiKy  npoöiiJiaoi!') 

Bei  einer  Fichte  schlief  sie  schwer 

Und  als  sie  aufstand  war  sie  keine  Jungfer  mehr: 

Sie  rollt'  sich  her  und  rollt'  sich  hin 

Und  hatte  schon  den  Apfel  drin. 

Xo'i  'ifl,h  MaTiHKO,  xoH  hc  'iji^hj 
Bo  B5Ke  ÄOHeHii.i  pos^ep  BeÄMiAi»^ 
^a  xoAiMO  ÄO  njioTa, 
^a  po3ÄepeMO  Koxa, 
3aHeceM0  ni^  nepHHy, 
Ta  3po6nMO  Kajinny!') 

Komme,  Mutter,  komm,  du  sollst  es  wissen, 

Deiner  Tochter  hat  der  Bär  das  Ding  zerrissen ! 

Laß  uns  eine  Katze  schnell  erschlagen 

Und  sie  auf  das  Ehebette  tragen, 

Und  mit  ihrem  Blute  den  Hollunder  färben, 

Ach,  sonst  muß  dein  Kind  vor  Schande  sterben. 

3a  KJiyöo^ioK  BajiKy 
IßajiacÄ  3  MajiKy; 
BmÖJia  jrhfLTh  copoHOK: 
111,0  Aßi  yB  ip3KHu,i, 
A  abI.b  KOHonjiHui, 
A  n-BHTaa  Taa, 
111,0  MaTBOHKa  ;^ajia!'^) 

Für  ein  wenig  Zwirn,  für  ein  Röllchen  Fädchen 
Ließ  seit  früher  Kindheit  fädeln  sich  das  Mädchen; 
Sie  gewann  als  Preis  Hemden  fünf  für  ihren  Fleiß. 


*)  Aus  dem  Kreise  Mosyr  im  Gouvernement  Minsk. 
-)  Aus  dem   Kreise   Dubno  in  Wolhynien. 
'^)  Aus  dem  Kreise  Perejaslaw  im  Gouvernement  Poltawa. 
Stern,  Geschichte  der  öflfentl.  Sittlichkeit  ia  Rußland     **  ^j 


—    498    — 

Zwei  davon  im  Roggenfeld 
Andere  zwei  im  Feld  von  Hanf, 
Und  das  fünfte  ganz  aliein 
Dürfte  von  der  Mutter  sein. 

ÜKaKae  ropo6en,b  no  nptOHKy, 
HacpaTb  SaTbKosi  li  Marepi 

3a  ÄO'iKy! 
CKaKae  ropo6eub  no  Tiiny! 
HacpaTt  SaxiiKOBi  ii  MaTopi 

Ua  jiHTUuy!') 

Der  Mönch  springt  in  das  Eck, 

Seh  .  .  ßt  auf  den  Vater  und  die  Mutter: 

Die  Tochter  bracht'  sie  in  den  Dreck. 
Der  Mönch  springt  hin  zum  Zaun 
Seh  .  .  ßt  Vater,  Mutter  an : 

Das  Kind  ist  schuld  daran. 

ÜKaKaB  ropoÖcÜKO  no  To^wy, 
Hacepy  cßaTO'iKy  3a  ;io^Ky, 
3a  Pro  iieiepnoiiy  Ka;iiiHy, 
3a  iTo  HciecTiiy  AiiTBiiy!-) 

Der  Mönch  stürmt  an  die  Luft,  schreit  laut ; 
Ich  seh  ,  .  ße  auf  den  Schwiegervater  wegen  diesi 
Und  wegen  des  Hollunders,  der  kein  Blut  hat, 
Und  wegen  dieses  Kindes,  das  nicht  gut  tat. 

IIi;t  cociioio  poc.ia, 

A  iie,^o6paii  ,io  nae'r.  npHui.Ta; 

Hi'ioro  A'iRyuJiTii, 

]>o  Taiia  fiyjia  Ti  Marii, 

IlanuuiiTL  y  .ToocTpu: 

IIJ,o  Tann  fjy.iii  ii  i"i  cncTpii!-') 

')  Aus  Uüguslaw  im  Gouvenifiiiciit  Kijtw. 

2)  .\iis  Solotonosclia  im  Gouvernement  l'oltawa. 

*|  Aus  (l^rftotbc  II  Gegend.  Das  g1i'ichel.i(i]  singt  münaiicIiiiiTst 


—    499    — 

Bei  einer  Tanne  wuchs  sie  auf 

Und  ehrlos  kam  sie  her  zu  uns; 

Doch  staunen  braucht  man  wahrlich  kaum, 

Der  Apfel  fällt  nicht  weit  vom  Baum: 

Die  Mutter  die  war  alle  Tage 

Vom  gleichen  Schlage, 

Und  schreibt  es  ins  Register: 

So  sind  auch  die  Geschwister. 

^Th    TG,    ÄlBUe,    TH    TO    BHHHa, 
Tu    -    6    TG    Ä^TH    He    nOBHHHa!" 

—  „Hk  He  A^TH,  HK  sin  npocHTb, 
Ahc  ao  Bora  pyKH  SHGCHTb!"*) 

„Du  Tochter,  du,  weil  du  gefallen, 

Du  ganz  allein  bist  schuld  an  allem!** 

„Ach  Gott,  wie  könnt  ich*s  ihm  nicht  geben. 

Als  ich  ihn  bittend  sah  die  Hand  zum  Himmel  heben!** 

Ta  ne  auajia  (löy  tbgk)  MaxLl) 
KajiiiHH  jiaMaTL 
Ta  3Hajia  (T6y  tbgk)  MaTb!) 
XjiGiiiviM  nGu,bKU  AaBaTb!-) 

Du  hast  es  nicht  verstanden  (ich  koitiere  deine  Mutter!) 
Nach  HoUunder  zu  fahnden, 

Doch  wußtest  du,  mein  Leben,  (ich  koitiere  deine  Mutter !) 
Dem  Burschen  Pozjka  zu  geben! 

Oii    TaM    EG    AOJIUHI 

Ilacjia  nna^a  cbhhi; 
MiniKGM  GÖropHyjiacb, 
A  xycM  aacTiÖHyjiacb!-^) 


^)  Aus  Nowograd-Wolynsky  in  Wolhynicn. 
-)  Aus  Gadiatsch  im  Gouvernement  Poltawa. 
•^)  Aus  Gadiatsch. 


2  ->* 


-    500    — 

Oj  da  unten,  seht  nur,  seht  einmal, 
Pisda  hütet  Schweine  in  dem  Tal; 
Und  sie  hüllt  sich  in  ein  Säckchen, 
Steckt  den  Schwanz  sich  an  das  Jäckchen. 

Die  Serie  der  Lieder  beschließt  man  endlich  damit,  daß 
man   der  Braut  folgende  unschöne  Handlung  andichtet : 

3a  CTOJIOM  cnAiJia, 
KpinKo  HAÖajüna: 

Oite  To6i,  MOK  MaTiiiKo! 
3  3a  CTOJia  tinyin, 
IlepAHyJia  Asiin: 

Oofi  To6i,  Miä  6aT(;HLKy! 
A  Bitämna  iia  ABip, 
Hacpana  an  Bin: 

Oije  To6i,  uiii  pOAOHbKy! 

Sie  saß  bei  Tische,  kurz, 
Sie  ließ  dort  einen  Furz : 

Für  dich,  mein  Mütterchen  1 
Und  als  vom  Tisch  sie  ging. 
Zwei  Fürze  ließ  das  Ding: 

Für  dich,  mein  Väterchen! 
Dann  schritt  sie  in  den  Hof 
Und  seh  .  ß  dort  wie  ein  Ochs: 

Für   dich,   meine   Verwandtschaft! 

Auch  bei  den  Großrussen  hielt  man  ehemals  die  un- 
verletzte Jungfernschaft  in  Ehren.  Für  den  Popen  war  es 
sogar  strenges  Gesetz,  nur  eine  reine  Jungfrau  zu  heiraten. 
„Wenn  sich  die  Geistlichen  verhcyrathen  /  so  müssen  sie  eine 
reine  Jungfer  erwehlen  /  indem  ihnen  nicht  erlaubet  ist  /  eine 
Witwe  /  viel  weniger  eine  Person  /  auff  d^ren  Sitten  und 
Lcbens-Wandcl  sich  etwas  zu   sagen   findet  /  zu   nehmen." 

Aus  älterer  Zeil  wird  von  den  großrussischen  Brautnaclits- 
gebräuchen  erzählt:  ..Man  führte  das  Brautpaar  mitten  unter 
dem  Essen  von  der  Tafel  zu  Bette,  und  brachte  hernach  die 
Marquen  ihrer  Unschuld  im  Hemde  an  die  Brauttafel,  und 
was  dergleichen  abenteucrUclic  Z2remonien  mehr  waren,  weicht; 


—     501     — 

anjetzo  (zur  Zeit  Peters  des  Großen)  alle  Leute  von  Kondition, 
ja  selbst  wohlhabende  Kaufleute  und  Bürger  höchst  albern 
und  abgeschmackt  finden,  ob  sie  gleich  vom  gemeinen  Mann, 
insonderheit  in  denen  Provinzen,  noch  bis  auf  den  heutigen 
Tag  beobachtet  werden.**  i)  Die  Heiratsvermittlerin  bekam  erst 
ihren  Lohn,  wenn  der  Bräutigam  den  Beweis  für  die  Keuschheit 
seiner  Braut  selbst  erlangt  hatte:  „Nach  den  Trauungszere- 
monien schliessen  sich  beyde  in  die  zwei  Stunden  lang  in 
die  Cammer;  die  Alte  wartet  auff  der  Braut  Jungf erschaff t- 
Zeichen  /  und  so  bald  als  sie  solches  hat  /  bind  sie  ihre 
über  die  Schulter  zerstreuete  Haare  wieder  hinauff  /  und  gehet  / 
von  ihren  Eltern  das  Abricias  zu  fordern,*' 2)  Aus  der  Epoche 
Katharinas  IL  berichtet  ein  deutscher  Offizier  3)  als  Augen- 
zeuge einer  russischen  Hochzeit :  „Es  war  bereits  eine  gute 
Stunde  verflossen,  seitdem  sich  das  neue  Ehepaar  von  uns 
wegbegeben,  als  ich  in  der  Kammer  klopfen  hörte.  Sogleich 
stunden  zwey  der  ältesten  Männer  und  ebensoviel  betagte 
Weiber  auf,  und  begaben  sich  zu  ihnen  in  die  Brautkammer. 
Die  alte  Kupplerin  aber  blieb  draussen  an  der  Thür  stehen, 
und  machte  eine  jämmerliche  Figur.  Der  Bräutigam  kam 
hierauf  zuerst  aus  der  Kammer,  und  hielt  ein  Glas  in  der 
Hand,  welches  mit  Meth  angefüllet  war.  Er  gab  es  der  Alten, 
die  es  mit  zitternden  Händen  von  ihm  annahm.  Doch  die 
Scene  veränderte  sich  gar  bald,  denn  kaum  hatte  sie  das 
Glas  in  ihren  Händen,  als  sie  es  voller  Vergnügen  auf  unser 
aller  Gesundheit  austrank,  und  sich  vor  Freude  halb  närrisch 
anstellte.  Furcht  und  Ungewißheit  ist  die  Ursache,  warum 
sie  das  problematische  Glas  mit  zitternden  Händen  von  dem 
Bräutigam  empfängt :  Denn  wenn  der  Bräutigam  bey  seiner 
rechtsgegründeten  scharfen  Untersuchung  nicht  alles  nach 
Wunsch  gefunden,  so  hat  das  Glas,  welches  er  der  Alten 
darbietet,  unten  im  Boden  ein  Loch,  welches  er  mit  dem 
Finger  zuhält,  und  wodurch,  sobald  er  es  aus  der  Hand  läßt, 
der  Meth  hinaus  und  auf  die  Erde  läuft.    Dis  ist  alsdann  das 


^)  Vockcrodt  bei  Hermann,  S.  106. 
-)  Heise  nach  Norden   127. 
••)   Russische  Anecdoten   1 59. 


—     502     — 

Signal  zu  einer  guten  Prügelsuppe.  Die  ganze  Gesellschaft 
sieht  sich  dabey  genöthiget,  nach  Hause  zu  gehen,  und  ist 
natürlicher  Weise  nicht  sonderlich  damit  zufrieden,  daß  sie 
in  ihrer  verhoften  Freude  gestöret  worden,  und  die  Gelegen- 
heit, sich  etwas  zu  Gute  zu  thun,  auf  diese  Art  verlohren 
siehet.**  Da  dies  bei  der  geschilderten  Hochzeit  glücklicher- 
weise nicht  geschah,  bekam  der  Gast  etwas  anderes  zu  sehen : 
„Die  Kammertür  öfnete  sich  aufs  neue,  und  die  vier  ehr- 
würdige Abgeordnete  führten  die  Braut  in  das  Zimmer,  darinn 
wir  uns  befanden,  so  wie  sie  aus  dem  Bette  aufgestanden  war. 
Ich  kann  ohnmöglich  die  Verwunderung  und  das  Erstaunen 
beschreiben,  worinn  mich  dieser  Anblick  setzte.  Ich  machte 
ein  Paar  noch  grössere  Augen,  als  ein  Krämer  von  Zwoll, 
wenn  er  das  erstemal  auf  die  Börse  in  Amsterdam  kommt. 
Eine  junge  Frau  im  bloßen  Hemde,  welche  die  Siegeszeichen 
ihres  neuen  Gemahls  gleichsam  im  Triumph  unseren  Augen 
darstellte;  niemals  habe  ich  dergleichen  Dinge  gesehen.  Die 
ganze  Gesellschaft  erhob  sich  bey  diesem  Schauspiel  von  der 
Tafel,  und  fieng  an  um  die  Braut  herumzutanzen.  Wir  waren 
genöthiget  mitzutanzen,  und  man  trank  zur  Ehre  der  Keusch- 
heit." 

Die  Vorweisung  des  Brauthemdes  geschieht  in  verschie- 
denen Gegenden  Rußlands  auch  heute.    Ich  habe  dieser  Zere- 
monie als  kleiner  Knabe  in  Riga  selbst  mehrmals  beigewohnt, 
natürlich  ohne  damals  eine  Ahnung  zu  haben,  was  sie  bedeuten 
.sollte. 

Besonderen  Wert  auf  die  Jungfernschaft  legen  einige  der 
exotischen  Völker  des  Zarenreiches,  wie  die  Samojeden  und 
Kirghisen. 

Der  samojedische  Vater  läßt  seine  Töchter,  die  ihm  ein 
gutes  Einkommen  garantieren,  nicht  sehen,  bevor  sie  ver- 
sprochen sind;  andererseits  will  auch  der  Mann  der  Jungfern- 
schaft seiner  zukünftigen  Gattin  vollkommen  sicher  sein,  er 
kauft  also  für  eine  Anzahl  Hirsche  eine  Braut  von  6  oder 
7  Jahren  und  verschließt  ihren  Geschlechtsteil  mit  einer  Art 
Keuschheitsgürtel  bis  zu  ihrer  Mannbarkeit.^) 


^)  Heise  nach  Norden  201. 


—    503    — 

Bei  den  Kirghisen  geht  es  auf  der  Hochzeit  fröhlich  zu, 
wenn  die  Braut  als  Jungfer  befunden  wurde;  wenn  aber  das 
Gegenteil  der  Fall  ist,  so  erstechen  die  Freiersleute  das  geputzte 
Pferd  des  Bräutigams  und  zerschneiden  und  zerhacken  sein 
Kleid  in  kleine  Stückchen,  um  dadurch  den  Unfall,  der  ihn 
betroffen  hat,  kundzutun.  Der  Brautvater  hat  zum  Spott  noch 
den  Schaden,  da  er  den  Kalym  sofort  zurückzahlen  muß.  Um 
sich  vor  solchem  Malheur  zu  schützen,  verheiraten  die  Kirghisen 
ihre   Töchter   möglichst   jung.^) 


50.  Coltus  und  Religion. 

Kirchliche  Verbote  —  Der  Coitus  des  Popen  —  Der  Coitus  unrein  —  In  der 
Brautnacht  beten  statt  coitieren  —  Armenische  Enthaltsamkeitsgebräuche  — 
Die  Enthaltsamkeitsschnur  —  Verbot  des  Coitus  in  der  Fastenzeit  —  Coitus 
verboten  an  drei  Wochentagen  —  Ebenso  an  Sonntagen  und  Feiertagen  — 
Das  Beisammenschlafen  des  Zarenpaares  —  Coitus  und  Kreuz  —  Rcinigungs- 
bad  —  Zeremonie  der  Heiligung  des  Wassers  für  die  Frauen  —  Schamhaftigkcit 
der  Eheleute  —  Junge  Eheleute  meiden  die  Öffentlichkeit  —  Kaukasische 
Gebräuche  —  Unreinigkcit  der  Menstruirenden,  Schwangeren  und  Gebären- 
den —  Coitus  vom  Kult  gefordert  —  Prostitution  vom  religiösen  und  nationalen 

,  Standpunkt. 

Die  Sitte  gestattet  die  größte  geschlechtliche  Freiheit, 
den  ungebundenen  Verkehr  der  Jugend,  die  Probenächte 
der  Brautleute.  Die  Religion  aber  und  religionsähnliche 
Satzungen  verbieten  nicht  bloß  die  illegale  Liebe,  sondern  ver- 
kümmern auch  den  Genuß  der  von  der  Kirche  selbst  feier- 
lich eingesegneten.  Den  Popen  gestattet  die  Orthodoxie  die 
Ehe  mit  einer  Jungfrau;  aber  sie  dürfen  am  Vorabend  der 
Zelebrierung  der  heiligen  Messe  niemals  bei  ihren  Gattinnen 
schlafen,  und  nicht  gerade  befohlen,  aber  anempfohlen  ist 
es  ihnen,  auch  den  Tag  darauf  in  Keuschheit  zu  verharren. 
Die  Ehe  ist  ein  Sakrament,  der  Coitus  aber  unrein.  Der  Sitten- 
lehrer Possoschkow  rät  im  Geiste  dieser  Auffassung  den  jungen 
Eheleuten,  die  ersten  zwei  Nächte  ihres  Beisammenlebens  un- 


')  H>i:schko\v  bei   Hüsching  VIT  433. 


—     504    — 

genützt  verstreichen  zu  lassen  und  statt  sich  dem  langerwarteten 
Genüsse  hinzugeben,  zu  beten;  durch  derartige  Enthaltsam- 
keit, meinte  dieser  Weise,  vertreibt  man  in  der  ersten  Nacht 
die  Dämone,  die  der  Neuvermählten  Ehebett  umlauern,  und 
in  der  zweiten  Nacht  ehrt  man  so  die  Patriarchen,  i)  Aus 
ähnlichen  Motiven  ist  es  bei  den  Kleinrussen  Brauch  geworden, 
in  der  ersten  Nacht  bloß  die  Entjungferung,  die  Zerreißung 
des  Häutchens,  vorzunehmen,  aber  einen  vollendeten  Coitus  zu 
vermeiden. 

Einen  sonderbaren  Gebrauch,  der  ehemals  bei  den  armeni- 
schen Hochzeiten  bestanden  haben  soll,  berichtet  in  einer 
„wahrhaften  und  eigentlichen  Beschreibung  deß  gegenwär- 
tigen Zustandes  derer  unter  der  Türkischen  Tyranney  seufzen- 
den griechischen  und  Armenischen  Kirchen**  ein  Reisender 
des  siebzehnten  Jahrhunderts:  „Montags  früh  Morgends  ist 
gemeiniglich  die  Zeit,  da  sie  mit  oder  noch  vor  aufgehender 
Sonne  die  Hochzeiten  zu  halten  pflegen.  Das  Fest  beginnet 
Sonntag  Abends,  und  wird  drey  oder  vier  Tage  lang  mit  grossen 
Freuden  fortgesetzt:  welche  Zeit  die  Braut  fast  immerdar  in 
einem  Sessel  sitzet,  und  nicht  schlaffen  darff:  so  muß  auch 
der  Bräutigam  sich  indessen  ihrer  enthalten  und  ist  ihm  nicht 
eher,  alls  erst  Mittwochs  Abends  oder  Donnerstags  früh  ihr 
ehelich  beyzuligen  erlaubt;  worauff  allsdann  der  Braut  Jung- 
frauschafftzeichen  öffentlich  vorgezeiget  werden.**  Das  gleiche 
Enthaltsamkeitsgebot  besteht  bei  den  in  Rußland  lebenden 
Armeniern:  Bei  den  Armeniern  der  Wolga-Gegend,  den  so- 
genannten astrachanjschen  Armeniern,  wird  dem  Bräutigam 
bei  der  Trauung  vom  Priester  „an  seinen  Halß  ein  dünner 
Faden  gebunden,  deßen  Endungen  mit  einem  Knopf  feste 
sind,  zu  einem  Zeichen,  daß  der  Bräutigam  nicht  befugt  sey, 
den  Beyschlaf  zu  halten,  bis  er,  der  Priester,  mit  eigener  Hand 
nach  dreycn  Tagen  die  Schnur  wiederum  unter  Gcbeth  los- 
gemachet  habe.'*-) 


^)  Vgl.  Band  I  114.  —  Bei  den  Südslawen  herrschen  gleiche  Sitten.  Man 
lese  die  Werke  von  Dr.  Friedrich  S.  Krauß  über  Brauch  und  Sitte  bei  den 
Südslawen,  und  Rhamm  a.  a.  O. 

-)  Gmelin  II   152. 


—     505     — 

Der  Ehe  ungestörte  Freuden  werden  den  Othodoxen  aber 
auch  dann  nicht  zuteil,  wenn  sie  die  Flitterwochen  hinter  sich 
haben.  In  der  Fastenzeit  ist  der  Coitus  streng  verboten.  „Das 
armenianische  Frauenzimmer,**  schreibt  Gmelin,  „ist  imgemein 
fruchtbar,  vermuthlich  sind  an  diesem  Umstand  die  strenge 
Fasten  dieses  Volkes,  in  welchen  der  Beyschlaf  verbothen  ist, 
mehr  schuldig  als  der  bey  ihm  eingeführte  häufige  Gebrauch 
des  Knoblauchs.**  1)  Den  Russen  ging  es  noch  viel  schlimmer. 
Ihnen  „veibiethen  die  geistlichen  Gesetze  mit  denen  Weibern 
3.  Tage  in  der  Wochea  /  Montags  /  Mittwochs  und  Frey  tags 
Gemeinschafft  zu  halten.**  2)  Am  schlimmsten  aber  war  es 
offenbar  um  das  Liebesleben  des  Zarenpaares  bestellt.  Ko- 
toschichin  erzählt  über  das  häusliche  Leben  des  Zaren  Iwan 
Alexejewitsch  und  der  Zarin  Praskowja^):  „Außer  an  den 
Fasten  schliefen  Zar  und  Zarin  auch  an  allen  Sonntagen  und 
Feiertagen  getrennt.**  Rechnet  man  noch  die  verbotenen  drei 
Wochentage  hinzu,  so  bleibt  für  ihre  ehelichen  Freuden  nicht 
viel  Muße.  Und  auch  diese  geringen  Wonnen  sind  von  ver- 
schiedenen religiösen  Vorschriften  eingeengt:  „Wenn  der  Zar 
und  die  Zarin  beisammenschlafen  sollen,  so  begibt  sich  der 
Zar  zur  Zarin  oder  er  befiehlt  ihr,  in  sein  Schlafzimmer  zu 
kommen  und  bei  ihm  zu  schlafen.  Und  wenn  sie  des  Nachts 
beisammen  geschlafen  haben,  so  gehen  sie  immer  am  Morgen 
darauf  getrennt  ins  Bad  und  gehen  nicht  am  Kreuze  vorüber, 
weil  sie  unrein  und  sündig  sind.***)  Paulus  Jovius  erzählte 
schon,  nach  den  Angaben  des  russischen  Gesandten  Dmitrij, 
„daß  russische  Eheleute  nach  dem  Genüsse  der  gesetzlichen 
Liebe  nicht  in  die  Kirche  treten  durften,  sondern  die  Messe 
in  der  Vorhalle  stehend  hören  mußten.**^)  Vor  und  nach  jedem 
Geschlechtsakt  mußte  man  beten,  und  zur  Reinigung  von  der 
Sünde  nahm  man  ein  Bad,  ehe  man  das  Kreuz  berührte  oder 
in  die  Kirche  ging.    Die  Gebräuche  blieben  bis  in  die  neuere 


^)  Ebenda   156. 

2)  Reise  nach  Norden,  S.  130. 

^)  M.  H.  CoMCBCKift,  O'icpKii  H  paacKaai.!  iiai*  pvecKoit  jicTopin  XVIII  BliKii. 
1.  llapima   IIpacKOBhJi  1664—1723.     II:w»Hie  winpoc,  C-TldepT).  1883,  crp.  15. 
**)  Ebenda. 
•')  Karamsin  Geschichte  VII    174. 


—    506    — 

Zeit  erhalten.  „Man  muß  aber  nicht  glauben,"  schrieb  ein 
Beobachter  in  der  Zeit  der  zweiten  Katharina  i),  „daß  alle 
Rußinnen  ohne  Unterschied  so  gewissenhaft  sind  (und  in  der 
Vorhalle  der  Kirche  stehen  bleiben).  Seitdem  die  russischen 
Damen  die  französischen  Manieren  angenommen,  seitdem  sind 
sie  auch  nicht  mehr  so  einfältig,  daß  sie  ihre  Männer  oder 
andere  Personen  von  ihren  nächtlichen  Abentheuem  auf  eine 
so  überzeugende  Art  unterrichten  sollten,"  Die  Frauen  aus  dem 
Volke  hielten  sich  strenger  an  das  Gesetz.  Sie  hatten  übrigens 
außer  dem  vorschriftsmäßigen  Bade  einmal  im  Jahre  Gelegen- 
heit zu  einer  Universalreinigung  anläßlich  der  Zeremonie  der 
„Heiligung  des  Wassers  für  die  Frawen:  Den  18.  May  gieng 
der  Vater  Babst  mit  den  Patriarchen  und  allen  Priestern  in 
gantzem  Proceß,  mit  allen  heiligen  Creutz  vnd  Fahnen,  auff  der 
lebendigen  Brücken  so  auff  dem  Wasser  Mußko  liegt,  weihete 
vnd  heiligte  er  das  Wasser  für  alle  Frawenspersonen.  Es 
folgeten  ihm  etliche  tausent  Frawen,  die  sich  auß  dem  Wasser 
wuschen,  in  meinung,  daß  sie  von  jhrer  Vnzucht  oder  Vnreinig- 
keit  damit  gereiniget  würden. "*) 

Die  Sitte  gestattet  die  Vorweisung  des  Brauthemdes  mit 
den.  blutigen  Zeichen  der  Jungfernschaft.  Die  religiöse  An- 
schauung von  der  Unreinigkeit  des  Geschlechtsaktes  aber  ver- 
bietet, daß  sich  junge  Eheleute  in  der  Öffentlichkeit  zeigen. 
Der  Sitte  erscheint  nichts,  was  mit  dem  Geschlechtsakt  zu- 
sammenhängt, als  schamverletzend;  der  Religion  ist  selbst  die 
von  der  Kirche  geweihte  Liebe  eine  Unreinigkeit,  die  sorgfältig 
verborgen  werden  soll.  Bei  den  Wotjäken  ebenso  wie  bei  den 
astrachanjschen  Tartaren  muß  sich  der  Bräutigam  von  dem 
Moment  an,  wo  er  mit  seiner  Braut  geschlafen  hat,  vor  ihren 
Verwandten  verstecken.  Bei  den  Tscherkessen  ist  es  unschick- 
lich, daß  junge  Eheleute  beisammen  gesehen  werden.  Der  neu- 
vermählte Ehemann  verschwindet  beim  Beginne  der  Hochzeils- 
festlichkeiten von  der  Seite  seiner  Gattin.  Beim  Einbruch  der 
Nacht  schleicht  er  heimlich  zu  ihr,  aber  beim  ersten  Morgen- 


')  Russische  Anccdoten   139. 

2)  Russische  Reise  und  EiniUR  zn  Moskau  Jolianiiis  ilcs  Jüngern,  Hcric^s 
Diinemark.    Biischings  MaRaiin  VII  28f>. 


r 


—     507     -^ 

grauen  muß  er  wieder  flüchten.  Zwei  volle  Monate  dauert 
dieses  heimliche  Zusammenkommen.  Dann  erst  beginnt  das 
eigentliche  gemeinsame  Leben,  wobei  aber  noch  immer  darauf 
geachtet  wird,  daß  kein  Fremder  die  Eheleute  miteinander  sehe. 
Treffen  sie  sich  im  Beisein  dritter  Personen,  sei  es  im  fremden, 
sei  es  im  eigenen  Hause,  so  müssen  sie  hastig  einander  fliehen. 
Das  Erkundigen  nach  dem  Befinden  des  Mannes,  der  Frau, 
der  Familie  gilt  als  unhöfliche  Neugierde,  ja  geradezu  als 
Beleidigung.  Auch  bei  den  Tschetschenzen  tritt  mit  der  Ehe 
nicht  sogleich  das  öffentliche  Zusammenleben  ein;  doch  ist 
hier  die  Zeit,  während  welcher  sich  die  jungen  Eheleute  öffent- 
lich meiden  müssen,  nicht  so  lange,  sondern  sie  hat  schon 
nach  sechs  Tagen  ein  Ende.  Beim  Erscheinen  dieses  sechsten 
Tages  nimmt  die  junge  Frau  eine  Anzahl  Eierkuchen  und 
einen  Krug  und  wandert,  von  den  Frauen  ihrer  Verwandtschaft 
begleitet,  zum  Ufer  des  Dorfbaches.  Die  vorher  mit  einer 
Nadel  durchbohrten  Kuchen  wirft  sie  in  das  Wasser;  sie  füllt 
dann  ihren  Krug  mit  dem  Naß  des  Baches  und  schreitet  wieder 
heim.  Damit  ist  der  Bund  definitiv,  und  das  Zusammenleben 
kann  fortan  öffentlich  sein. 

Bei  allen  slawischen  Völkern  ruht  ein  ähnliches  Gebot 
der  Scham  auf  der  jungen  Frau  so  lange,  bis  durch  die  Geburt 
eines  Kindes  Raum  zu  einer  anderen  und  höheren  Auffassung 
des  ehelichen  Verhältnisses  gegeben  ist.^)  Auch  eine  neu- 
vermählte tartarische  Frau  darf  ihr  Schlafzimmer  nicht  ver- 
lassen, ehe  sie  geboren  hat.  2)  Bei  den  kaukasischen  Bergjuden 
soll  die  junge  Frau,  bis  drei,  vier  Monate  nach  der  Hochzeit 
verflossen  sind,  ihr  Gesicht  nicht  aufdecken.  3) 

Alles,  was  mit  der  physischen  Beschaffenheit  des  Weibes  und 
mit  demCoitus  zusammenhängt,  ist  unrein.  Die  orthodoxe  Kirche 
verbietet  der  Russin  in  der  Zeit  ihrer  Menstruation  ein  Kreuz 
oder  ein  Heiligenbild  zu  berühren.^)  Bei  den  Chewsuren  und 
Tuschinen  in  Kaukasien  gilt  nicht  bloß  die  Menstruierende,  son- 


^)  Rhamm  a.  a.  O. 

2)  Gmelin  II   138. 

^)  Bernhard  Stern,   Zwischen  Kaspi  und  Pontiis. 

»)  Band  I    108. 


—     508     — 

dern  auch  die  Gebärende  als  unrein;  bei  den  Chewsuren  wird 
sie  sogar  in  eine  Hütte  außerhalb  des  Dorfes  verbannt,  um  dort 
ihre  Niederkunft  abzuwarten  i) ;  bei  den  Tuschinen  darf  sie  eben- 
falls nicht  im  eigenen  Hause  bleiben,  aber  sie  ist  nicht  ge- 
zwungen, außerhalb  des  Dorfes  zu  gebären,  sondern  kann  bei 
ihren  Verwandten  Zuflucht  suchen.  Die  Ostjaken,  Burjäten 
und  Tungusen  in  Sibirien  verabscheuen  ihre  unpäßlichen, 
schwangeren,  entbindenden  und  säugenden  Frauen  als  unreine 
Geschöpfe;  die  Männer  hüten  sich  mit  ihnen  in  Berührung 
zu  kommen;  auch  dürfen  solche  Frauen  sich  nicht  dem  hei- 
ligen Feuer,  den  Götzen,  den  Opferplätzen  nähern  und  nichts 
mit  den  Speisen  zu  tun  haben;  man  verbannt  deshalb  die 
menstruierenden,  schwangeren,  gebärenden  und  säugenden 
Weiber  gewöhnHch  in  besondere  Hütten.  2)  Daß  zu  solchen 
Anschauungen  religiöse  Motive  Veranlassung  geben,  hat  schon 
Meiners  hervorgehoben  3) :  „Eine  der  Hauptursachen  der  Ver- 
achtung und  Verworfenheit,  worin  die  Sibirischen  Weiber 
leben,  ist  das  unter  den  Männern  allgemein  verbreitete  Vor- 
urtheil,  daß  die  Weiber  unreine,  den  Göttern  verhaßte 
Geschöpfe,  daß  ihre  periodischen  Reinigungen,  ihre  Schwan- 
gerschaften, Entbindungen,  und  selbst  das  Säugen,  Wirkungen 
des  göttlichen  Zorns,  oder  ansteckende  Zufälle  seyen,  wodurch 
Menschen,  Thiere,  und  andere  Gegenstände,  welche  die  Weiber 
berührten,  zu  gottesdienstlichen  Handlungen  untüchtig,  und 
der  göttlichen  Strafen  theilhaftig  würden.  Dies  Vorurtheil  war 
unter  allen  Völkern  um  desto  tiefer  eingewurzelt,  je  unver- 
mögender ihr  Geist,  und  je  weniger  sie  fähig  waren,  die  Ur- 
sachen und  Absichten  aller  der  weiblichen  Natur  eigentüm- 
lichen Veränderungen  einzusehen;  und  eben  dieses  Vorurtheil 
brachte  wiederum  einen  desto  größern  Abscheu,  und  eine 
desto  härtere  Behandlung  des  weiblichen  Geschlechts  hervor, 
je  gefühlloser  die  Männer  gegen  die  Reize,  die  Verdienste,  und 
die  Leiden  der  Weiber  waren.     Die  geistreichsten  Völker  der 


^)  C.  Hahn,  Aus  dem   Kaukasus. 

2)  Das  Band  der  Ehe  (von  Chr.  G.  F.  Flittncr).     Berlin   1820,   I  68. 
'^)  Die  rehgiösc  Unreinigkeit  der  Weiber.  Berlin.    Monatsschrift  1787.  — 
(ieschichte  des  weiblichen  Geschlechts  T    1  2. 


—    509    — 

Erde,  die  Nationen  reinen  Celtischen  Ursprungs  hielten  selbst 
als  Barbaren  ihre  Weiber  in  den  vorher  genannten  Zuständen 
nicht  allein  nicht  für  unrein  und  verabscheuungswürdig,  son- 
dern bewiesen,  und  beweisen  ihnen  alsdann  gerade  am  meisten 
ihre  Zärtlichkeit,  ihre  Teilnehmung  und  ihren  thätigen  Bey- 
stand.  Die  Griechen  und  Römer  waren  zwar  in  dem  uncel- 
tischen  Vorurtheile,  daß  Weiber  in  den  Zeiten  der  Reinigung, 
und  bey  und  nach  der  Niederkunft  ansteckend  oder  befleckend 
seyen;  allein  dieser  Wahn  verlor  sich  in  den  Zeiten  der  Auf- 
klärung, und  er  war  also  unter  diesen  Völkern  weniger  un- 
ausrottlich,  als  unter  den  Morgenländern,  unter  welchen  er 
noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  herrscht,  und  zwar  um  desto 
mehr  herrscht,  je  roher  sie  sind.  Selbst  unter  den  Morgen- 
ländern aber  brachte  dieselbige  Meynung  von  der  religiösen 
Unreinigkeit  der  Weiber  nicht  ein  solches  Betragen  gegen 
die  letztem  hervor,  dergleichen  sie  unter  allen  oder  den  meisten 
Mongolischen    Völkern   erzeugt    hat.'* 

Wenn  die  Religion  im  allgemeinen  den  Geschlechtsakt  als 
unrein  betrachtet  und  verabscheut,  so  gibt  es  doch  wiederum 
Fälle,  wo  der  Kultus  gerade  diese  Handlung  im  Interesse  einer 
heiligen  oder  nützlichen  Sache  fordert  i),  ich  erinnere  bloß  an 
die  Ausschweifungen  bei  den  russischen  Sektierern.  2)  Bei  den 
„Wanderern"  beispielsweise  ist  die  religiöse  Prostitution  oberstes 
Gesetz.  Dieses  Gesetz  wird  auch  von  anderen  Bespopowzy 
(priesterlosen  Sektierern)  so  willig  eingehalten,  daß  im  Gou- 
vernement Jaroslaw  unter  vier  unverheirateten  Mädchen  je  eines 
bereits  Mutter  ist.^) 

Von  den  alten  Tscherkessen  erzählte  Interiano^):  „Bei 
dem  Begräbnisse  der  großen  Herren  findet  noch  ein  anderes 
barbarisches  Opfer  statt,  das  wohl  des  Sehens  werth  ist.  Es 
wird  ein  Mädchen  von  zwölf  bis  vierzehn  Jahren  auf  der  Haut 
eines  eben  geschlachteten  Ochsen  ausgestreckt  und  vor  den 
Augen  aller  herumstehenden  Männer  und  Frauen  auf  die  Erde 


M  Vgl.  Band  I   352 ff. 

-)  Band  I   Kap.   10 — u. 

•*)  Besobrasow,   Etudcs  sur  rcconomic  nationale  de  Kussic,   1886,   II. 

*)  Neumann,   Die  Tscherkessen,  S.  39. 


—    510    — 

hingelegt.  Hier  versucht  es  der  muthigstc  und  kühnste  Jüng- 
Hng,  sie  unter  seinem  Filzmantcl  zu  entjungfern.  Sehr  selten 
geschieht  es,  daß  das  Mädchen  nicht  drei,  vier  oder  auch 
mehrere  Jünglinge  ermüdet,  bis  sie  überwunden  wird.  Ist  sie 
endlich  matt  und  erschöpft,  so  erbricht  der  Tapfere,  unter 
tausend  Versicherungen,  daß  er  sie  heirathen  werde  und  der- 
gleichen, die  Pforten  und  geht  in  das  Haus.  Der  Sieger  zeigt 
hierauf  den  Umstehenden  die  mit  Blut  befleckten  Siegeszeichen. 
Die  Frauen  bedecken  sich,  vielleicht  bloß  aus  verstellter  Scham, 
das  Gesicht  und  thun  als  wenn  sie  nichts  sehen  wollten;  sie 
können  aber  doch  das  Lachen  nicht  halten." 

Bei  den  Tscheremissen  läßt  man  die  jungen  Eheleute  in 
den  Kornmagazinen  wohnen,  i)  Dies  bringt  ihrer  Ehe  und  ihren 
Feldern  Glück  und  Fruchtbarkeit.  2) 

Daß  es  bei  einigen  nichtrussischen  Völkern  Rußlands  auch 
die  sogenannte  gastliche  Prostitution  gibt,  hat  Georgia)  erzählt: 
„So  wenig  die  Väter  sich  bey  der  Verheirathung  von  Töchtern 
um  die  Einwilligung  der  letztern  bekümmern,  so  wenig  fragen 
die  Männer  ihre  Weiber,  wenn  sie  mit  den  Reizen  derselben 
guten  Freunden  dienen,  oder  sonst  einen  ehrlichen  Gewinn 
machen  können.  Man  sieht  es  in  Sibirien  als  eine  Pflicht  der 
Gastfreundschaft  an,  Fremdlingen,  oder  einkehrenden  Bekann- 
ten Weiber  und  Töchter  anzubieten;  und  eben  so  gehört  es 
zu  den  Sibirischen  Rechten  des  Ehemannes,  daß  er  seine  Frau, 
wie  seine  Rennthiere,  oder  Hunde  und  Schlitten  gegen  die 
Gebühr  auf  eine  Zeitlang  abtreten  kann." 

Die  Russen  kannten  Prostitution  als  wahre  Kulthandlung 
in  früheren  Zeiten  ebenfalls.    Sie  hielten  es  zwar  für  „ein  sehr 


')  Haxthauscn,  StiuHcn,  I  446. 

2)  Von  den  Südslawen  erzählt  Dr.  Friedrich  S.  Krauß:  Beschläft  der 
Hausvorstand  sein  Weib  unter  einem  Fruchtbaum,  so  fördert  dies  das  Ge- 
deihen der  Früchte.  I'Vrner:  Wenn  eine  Aussaat  gedeihen  soll,  so  ist  es  gut, 
daß  sich  ein  Bursche  mit  einem  Mädchen  auf  dem  Felde  splitternackt  begatte. 
Das  Weibsbild  darf  nicht  vergewaltigt  werden,  muß  vielmehr  einverstanden 
sein  und  sich  unter  den  Jüngling  legen.  Die  Stelle,  wo  man  den  Beischlaf 
vollzieht,  heißt  man  jcbali§tc  (Coiticrplatz). 

^)  Beschreibung  der  Russischen  Völker,  S.  349,  356,  372.  —  Meiners, 
(ieschichte  des  weiblichen  (ieschlcchts  I   16. 


\ 


—    611    — 

großes  Laster  /  Svenn  ein  Russe  bey  einer  Engel-  oder  Hollän- 
derin schläft;  einer  russischen  Frau  aber  nicht  vor  sehr  übel  / 
wann  sie  mit  einem  Fremden  Unzucht  treibt  /  weil  die  Kinder  / 
die  daher  kommen  können  /  in  der  Rußischen  Religion  erzogen 
werden.**  1)  Nicht  so  loyal  denken  die  Esten  in  bezug  auf 
den  Verkehr  ihrer  Mädchen  mit  den  Russen.  Den  Estinnen 
ist  nichts  so  verächtlich,  als  „mit  Russen  oder  Deutschen  der 
Wollust  zu  pflegen.**  Eine  Geschwängerte  braucht  bei  den 
Esten  keine  Schande  zu  befürchten  und  findet  noch  immer 
einen  Mann;  aber  sie  darf  nicht  im  Rufe  stehen,  daß  sie  mit 
einem  Deutschen  oder  Russen  zu  tun  gehabt  hat;  dann  ist 
sie  verloren,  niemand  will  sie  heiraten.  Infolgedessen  ent- 
schließt sich  eine  Estin  zum  Verkehr  mit  einem  Deutschen 
oder  Russen  nur  dann,  wenn  die  Not  sie  treibt,  sich  um  Geld 
hinzugeben.  2) 


51.  Snochatschestwo. 


Der  Gebrauch  der  Schwiegertochtcrschaft  —  Blutschande  bei  den  Vorfahren 
der  Russen  —  Blutschande  bei  den  ersten  christlichen  Russen  —  Blutschande 
bei  den  Wotjäken,  Ostjaken  und  Giljaken  —  Kalmückische  Sitten  —  Die 
Schwiegertochterschaft  —  Zeugnisse  für  diese  Sitte  in  Rußland  —  Das  Snocha- 
tschestwo in  Sibirien  und  in  Kleinrußland  —  ökonomische  Ursachen  dieses 
Brauches  —  Altersunterschied  der  Eheleute  bei  den  Wotjäken  —  Snocha- 
tschestwo bei  den  Osseten. 

Zu  den  Merkwürdigkeiten  der  geschlechtlichen  Moral  in 
Rußland  gehört  dieses  Kapitel  von  dem  Zusanunenschlafen 
des  Schwiegervaters  mit  der  Schwiegertochter.  Die  russische 
Sprache  hat  (gleich  den  übrigen  slawischen  Sprachen)  für 
diese  Abnormität  die  besondere  Bezeichnung :  Snochatschestwo 
(Ciioxa^ecTBO,    von   CHOxa,    Schnur,    Schwiegertochter). 

Die  alten  Chronisten  berichten,  wie  uns  bekannt  ist,  von 
den  Vorfahren  der  Großrussen,  daß  sie  wie  die  Tiere  lebten 


1)  Reise  nach  Norden,   S.  188. 

-)  Petri,  Ehstland  un<l  die  Ehsten,  II  35.  17, 


—    512    — 

und  Blutschande  nicht  verabscheuten,  i)  Der  russische  Pa- 
triarch Philaret  schilderte  noch  die  ersten  Russen  ähnlich: 
„Viele  nehmen  ihre  eigenen  Schwestern  und  ihre  Basen  zu 
Weibern,  während  andere  mit  eigenen  Müttern  und  Töchtern 
Blutschande  treiben  oder  ihre  Mütter  und  Schwestern  hei- 
raten.** Die  griechische  Kirche  hat  natürlich  gegen  solche 
Sitten  alle  ihre  Verfluchungsblitze  geschleudert,  ja  den  Begriff 
der  Blutschande  stark  ausgedehnt  und  die  Ehe  selbst  denen  ver- 
boten, die  zueinander  im  vierten  Grade  der  Verwandtschaft 
stehen;  außerdem  verdammt  sie  die  Ehe  mit  der  Schwester 
des  Schwagers,  die  Ehe  zweier  Brüder  mit  zwei  Schwestern, 
die  Ehe  eines  Gevatters  mit  seiner  Gevatterin.  „Quant  au 
mariage,**  heißt  es  1525  in  der  kurzen  Abhandlung  des  Wiener 
Prälaten  Johann  Faber  über  die  Religion  der  Moskowiter  2), 
„il  est  certain  qu*ils  admettent  Tempöchement  d*affinitd  et 
de  consaguinit^  jusqu'au  quatri^me  degr6  inclusivement  et  qu'ils 
sont  si  s^vferes  sur  cet  article  que,  si  quelqu*un  se  trouve 
avoir  contractu  mariage  avec  empSchement  au  quatri^me  degr^, 
le   mariage    est   reput^   nul    et   illicite;    car   ils    ne    cherchent 


^)  Dr.  Friedrich  S.  Krauß  hat  über  Blutschande  bei  den  Südslawen  ein- 
gehend geschrieben.  Vgl.  Krauß,  Sitte  und  Brauch  der  Südslawen,  Wien  1885, 
XII;  ferner:  Krauß,  Die  Zeugung  in  Sitte  und  Brauch  der  Südslawen,  Kgimtdöia 
V — VII.  ,,Die  serbischen  und  bulgarischen  Bauern  verdammen  blutschände- 
rischen Verkehr  als  die  schauerlichste  Versündigung.  Sie  straften  ihn  ehedem 
mit  Steinigung."  Aber  in  den  Liedern  und  Erzählungen  ist  oft  genug  von 
solchem  Verkehr  die  Rede.  Man  lese  Krauß'  südslawische  Geschichten  in 
Anthropophyteia  I  233,  314 — 325.  Ebenda  I  257  nach  Sima  Trojanovic  im 
Karadiie,  von  Tih.  R.  Gjorgjevic:  ,,Bei  den  alten  Iraniern  hat  man  nicht  im 
geringsten  auf  die  Verwandtschaft  in  der  Ehe  geschaut,  denn  Eltern  konnten 
sich  sogar  mit  ihren  eigenen  Kindern  und  die  Brüder  mit  den  Schwestern  ver- 
heiraten. Die  alten  Hellenen,  Germanen,  Littauer  und  Preußen  durften  jedes 
Weibsbild,  die  eigene  Mutter  ausgenommen,  ehelichen.  Bei  den  Persern  und 
Ägyptern,  das  ist  gewiß,  durften  in  alten  Zeiten  die  Fürsten  auch  ihre  Schwestern 
heiraten;  einige  Schriftsteller  beweisen,  daß  dieser  Brauch  auch  bei  den  alten 
Slawen  einst  bestanden  haben  mag.  Obwohl  dies  für  die  Serben  auch  nicht 
bezeugt  ist  und  die  Volksüberlieferung  in  dieser  Hinsicht  lügenhaft  sein  kann, 
will  ich  dennoch  anführen,  daß  dieser  Schmach  in  unseren  Volksliedern  gedacht 
wird.  Im  zweiten  Bande  der  von  Vuk  herausgegebenen  Volkslieder  ist  eins 
überschrieben:  Duäan  will  seine  Schwester  ehelichen." 

'•2)  Seite   19.  •  • 


—    513    — 

Jamals  ä  contredire  ce  que  les  St.-Peres  ont  d^cid^  une  fois. 
II  faut  observer  aussi  que  rempfechement  que  les  personnes 
contractent  en  se  pr^sentant  pour  parrain  et  marraine  au 
bapteme  ou  ä  la  confirmation  est  rigoureusement  maintenu, 
en  quoi  ils  se  conforment  aux  d^crets  de  la  cour  de  Rome/* 

Bei  einigen  von  den  Russen  unterworfenen  und  zur 
griechisch-orthodoxen  Religion  bekehrten  Völkern  dauert  aber 
blutschänderischer  Verkehr  noch  fort.  Bei  den  Wotjäken  bei- 
spielsweise gilt  die  Blutschande  als  kein  besonders  großes 
Verbrechen.  Ein  junger  Wotjäke  erzählte  selbst  i):  „Ich  weiß 
nicht,  wie  es  kam;  wir  hatten  den  ganzen  Tag  Kumyska  ge- 
trunken, und  als  ich  am  andern  Morgen  aufwachte,  lag  der 
Vater  bei  meiner  Frau,  und  ich  bei  des  Vaters  Frau.**  Bei  den 
Ostjaken  in  Sibirien  ist  nahe  Blutsverwandtschaft  kein  Ehe- 
hindernis. 2)  Bei  den  Giljaken  auf  der  Insel  Sachalin  erhält, 
wenn  der  Gatte  verreist,  dessen  jüngerer  Bruder  das  Recht  des 
Beischlafs  bei  der  Strohwitwe ;  aber  der  ältere  Bruder  hat  nicht 
das  gleiche  Recht  bei  der  Frau  des  jüngeren.'^)  Bei  den  Kal- 
mücken ist  das  gemeine  Volk  in  bezug  auf  die  Heiraten  unter 
Verwandten  strenger  als  die  Vornehmen.  Die  letzteren  heiraten 
zuweilen  ihre  Schwägerinnen,  aber  die  gemeineren  Leute  gehen 
keine  Verbindung  ein,  die  nicht  wenigstens  um  3  oder  4  Glieder 
voneinander  entfernt  ist.  Seinen  Abscheu  gegen  die  Heiraten 
der  Vornehmen  gibt  das  Volk  durch  das  Sprichwort :  „Fürsten 
und  Hunde  wissen  von  keiner  Verwandtschaft**  zu  erkennen.*) 
Verabscheut  wird  die  Ehe  zwischen  Blutsverwandten  auch  von 
den  Esten  und  von  den  Tscherkessen ;  bei  letzteren  dürfen  sich 
selbst  Mitglieder  einer  Verbrüderung,  weil  sie  als  verwandt 
gelten,  nicht  miteinander  verheiraten. 

Das  Gesetzbuch  Nikolajs  I.  traf  folgende  Bestimmungen^) 
in  betreff  des  „Gesetzwidrigen  Geschlechtsumganges  zwischen 
Anverwandten** :    Die  zwischen  Verwandten  in  auf-  oder  ab- 


^)  Max  Buch,  Die  Wotjäken,  S.  47. 

-)  Das  Band  der  Ehe  (von  FHttner)  I   13. 

^)  Labbe,   Un  bagne  russe,   l'ile  de  SakhaUuc,    171. 

**)  Bergmanns  Nomadische  Streifereien  III   146. 

•^)  Strafgesetzbuch  des  Russischen  Reichs,  §§  2087 — 2090. 

Slcrn,  Geschichte  der  öifentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    **  33 


—    514    — 

steigender  Linie  verübte  Blutschande  wird  bestraft  mit  zehn- 
jährigem einsamen  Gefängnis  in  der  Verbannung  in  entfernteren 
Gegenden  Sibiriens;  nach  Ablauf  dieser  Frist  werden  die  Ver- 
bannten zu  schwerer  Arbeit  verwendet.  Überdem  müssen  sie 
sich,  falls  sie  den  christlichen  Glauben  bekennen,  einer  Kir- 
chenbuße unterziehen.  Die  Blutschande  zwischen  Seitenver- 
wandten und  Verschwägerten  wird  an  Mitgliedern  der  recht- 
gläubigen Kirche  folgendermaßen  bestraft:  Stehen  die  Schul- 
digen miteinander  im  zweiten  Grade  der  Blutsverwandtschaft : 
so  erleiden  sie  die  Strafe  der  Verbannung  in  minder  entfernte 
Gegenden  Sibiriens,  jedoch  mit  der  Abänderung,  daß  sie  in 
Sibirien  fünf  Jahre  im  Gefängnis  gehalten  und  dann  für  die 
übrige  Lebenszeit  in  ein  Kloster  abgegeben  und  daselbst  zu 
schweren  Arbeiten  verwendet  werden.  Stehen  sie  miteinander 
im  dritten  Grade  der  Blutsverwandschaft  oder  im  ersten  Grade 
der  Schwägerschaft,  wie  der  Schwiegervater  mit  der  Schwieger- 
tochter, der  Schwiegersohn  mit  der  Schwiegermutter,  so  trifft 
sie  zwei-  bis  dreijährige  Verbannung  nach  Tomsk  oder  Tobolsk. 
Ähnliche  schwere  Strafen  gibt  es,  wenn  die  Schuldigen 
miteinander  im  vierten  Grade  der  Blutsverwandtschaft  stehen, 
wie  Geschwisterkinder,  oder  im  zweiten  Grade  der  Schwäger- 
schaft, wie  der  Ehemann  mit  der  Schwester  seiner  Frau,  oder 
die  Frau  mit  den  Brüdern  ihres  Mannes.  Die  Mitglieder  der 
anderen  christlichen  Konfessionen  werden  für  die  im  zweiten 
Grade  der  Blutsverwandtschaft  oder  im  ersten  Grade  der 
Schwägerschaft  begangene  Blutschande  ebenso  bestraft,  wie  die 
Glieder  der  rechtgläubigen  Kirche.  —  Machen  sie  sich  eines  ver- 
botenen Geschlechtsumganges  in  solchen  Graden  der  Verwandt- 
schaft oder  Schwägerschaft  schuldig,  in  denen  die  Ehe  nach 
den  Grundsätzen  ihrer  Konfession  gestattet  wird :  so  unterHegen 
sie  den  Strafen  der  Blutschande  nur  insofern,  als  Vergehen  mit 
Ehebruch  verbunden  oder  die  Ehe  zwischen  den  Schuldigen, 
aus  irgend  einem  besonderen  Grunde  unzulässig  ist.  —  Der 
außereheliche  Beischlaf  zwischen  Personen,  die  miteinander 
in  solchen  Graden  der  Verwandtschaft  oder  ^  Schwägerschaft 
stehen,  wo  die  Ehe  nach  den  Gesetzen  der  Kirche  erlaubt  ist, 
wird  gleich  wie  der  außereheliche  Geschlechtsumgang  zwischen 
ledigen  Personen  mit  einer  Kirchenbuße  bestraft.    Wer  aber  in 


—    515    — 

solchen  Graden  der  Verwandtschaft  oder  Schwägerschaft  einen 
Ehebruch  begeht,  unterHegt  dem  höchsten  Maß  der  Strafen 
des  Ehebruchs.  In  allen  diesen  Fällen  müssen  sich  die  Schul- 
digen auch  einer  Kirchenbuße  unterziehen.   — 

Diese  Gesetze  beweisen,  daß  die  Blutschande  bei  den  Rus- 
sen noch  immer  vorkommt.  Doch  Volkssitte  wie  in  alten  Zeiten 
ist  sie  jedenfalls  nicht  mehr,  und  die  Fälle  sind  im  allgemeinen 
selten.  An  Stelle  der  Blutschande  aber  trat  ein  anderer  furcht- 
barer Brauch,  das  Snochatschestwo,  der  Beischlaf  des  Schwie- 
gervaters bei  der  Schwiegertochter.  Wie  alt  die  Sitte  der  wSchwie- 
gertochterschaft  sein  mag,  ist  noch  nicht  festgestellt  worden. 
,,Die  Einrichtung,"  bemerkt  ein  Ethnograph,  i)  „die  in  Ruß- 
land trotz  Kirche  und  Gesetz  im  Schwang,  ist  schon  aus  dem 
achtzehnten  Jahrhundert  bezeugt.**  Ein  viel  älteres  historisches 
Beispiel  eines  blutschänderischen  Attentats  des  Schwiegervaters 
auf  die  Schwiegertochter  bietet  die  Geschichte  vom  sterben- 
den Iwan  dem  Schrecklichen,  die  in  diesem  Buche  erzählt 
wurde  2);  hier  handelte  es  sich  allerdings  bloß  um  ein  Ver- 
brechen, nicht  um  einen  Gebrauch.  Der  Gebrauch  selbst  wird 
auch  schon  viel  früher  erwähnt  als  in  Zeugnissen  aus  dem 
achtzehnten  Jahrhundert.  Im  Rußland  des  Großfürsten  Jaros- 
law  war  das  Zusammenleben  des  Schwiegervaters  mit  der 
Schwiegertochter  ein  ganz  bekanntes  Verhältnis,  das  in  den 
Dokumenten  der  Zeit  regelmäßig  erwähnt  wird.  3)  Im  acht- 
zehnten Jahrhundert,  so  berichtet  Smirnow^),  verheiratete  man 
in  Sibirien  Knaben,  und  die  Schwiegerväter  lebten  mit  den 
Schwiegertöchtern,  zeugten  Jahre  hindurch  mit  ihnen  Kinder, 
und  man  ertrug  leidlich  diesen  Zustand,  obgleich  er  durch 
die  Glaubenssatzung  verpönt  war.  Die  Gerichte  verhielten  sich 
solchen  Konflikten  gegenüber  ziemlich  kalt,  denn  sie  erkannten 
den  Brauch  an;  nur  wenn  zufällig  ein  Sohn  wegen  solchen 
Eingriffs  in  sein  eheliches  Recht  Klage  erhob,  riet  man  ihm, 
aus  der  ehelichen  Gemeinschaft  auszutreten.    Doch  nicht  bloß 

1)  Bei  Rhamm  a.  a.  O.   321. 

-)  Vgl.  dis  Kapitel  über  die  Grausamkeit  der  Herrschenden,  S.  38. 
^)  Anthropophyteia  I  257. 

^)  Skizzen  von  den  Familienverhältnissen  nach  dem  Gewohnheitsrechte 
des  großrussischen  Volkes.     Anthropophyteia  a.  a.  O. 

o5 


—    516    — 

im  fernen  Sibirien,  auch  im  europäischen  Rußland  gab  es 
im  achtzehnten  Jahrhundert  zweifellos  das  Snochatschestwo. 
Der  Serbe  Sava  Tekelija  Popovic  aus  Süd-Ungarn  erzählt  in 
seiner  Autobiographie  über  seinen  Aufenthalt  in  der  russischen 
Stadt  Kursk  im  Jahre  1787:  „Hier  lenkte  ein  Knabe  einen 
Leiterwagen,  auf  dem  ein  junges  schmuckes,  dralles  und  rosiges 
Frauenzimmer  von  18  oder  19  Jahren  saß.  Aus  Scherz  sagte 
ich  zum  Wachtmeister:  ,Geh,  laß  uns  dieses  junge  Weibsbild 
diesem  jungen  Kinde  rauben!*  Das  Kind  mochte  etwa  zehn 
Jahre  zählen.  Der  Wachtmeister  darauf:  ,Ei,  das  ist  doch 
sein  Weib!*  Ich:  ,Was?  Wie  sollte  dieses  Kind  ein  Weib 
haben,  dazu  so  einen  kernigen  Trampel!*  Der  Wachtmeister: 
,Es  ist  doch  so.  Fragen  Sie  nur  den  Knaben  !*  Ich  fragte,  und 
der  Knabe  bestätigte  die  Worte  des  Wachtmeisters,  und  sagte : 
,Ich  habe  auch  zwei  Kinder.*  Ich :  ,Du  lügst  gewiß,  bist 
doch  selber  noch  ein  Kind.*  Der  Knabe»:  ,Freilich,  aber  mein 
Vater  beschläft  meine  Frau,  und  die  Kinder  schreibt  man  auf 
meinen  Namen,  und  sie  halten  mich  für  ihren  Vater.'  Ich: 
,Und  tut*s  dir  nicht  leid?*  Der  Knabe:  ,Aber  nein,  denn 
bin  ich  einmal  groß,  so  verheirate  ich  wieder  meine  Kinder 
und  werde  mit  meiner  Söhnerin  zusammenschlafen.*  Ich  fragte 
weiter :  , Warum  treibt  ihr's  so  ?*  Das  Kind  antwortete :  ,Weil  wir 
die  Söhnerin  als  Hausarbeitcrin  brauchen  und  darum  beküm- 
mert sich  jeder,  ihrer  soviel  als  möglich  zu  bekommen,"*^) 

1)  Anthropophytcia  I  260.  Der  Serbe  bemerkt,  daß  ihm  nach  seiner 
Rückkehr  nach  Ungarn  gesagt  wurde,  ,,daß  derlei  auch  bei  uns  unter  den 
Kusnjaken  vorkomme,  doch  im  Gegensatz  verheirate  man  hier  Mädchen  von 
7  bis  8  Jahren  an  kräftige  Burschen,  und  bis  das  Mädchen  heranwächst,  schläft 
die  Schwiegermutter  mit  dem  Eidam."  Krauß  fügt  dieser  Bemerkung  hinzu: 
,,Er  hätte  sagen  müssen,  daß  dies  nur  dort  geschieht,  wo  ein  Bursche  in  das 
Haus  seiner  Frau  hineinheiratet."  Tihomir  R.  Gjorgjevic  schreibt  im  Karadzic 
1901,  S.  2ü2 :  ,,Die  Schwiegertochterschaft  ist  auch  bei  uns  keine  unbekannte 
Sache,  doch  betrachtet  man  sie  als  keinen  Brauch,  sondern  als  eine  Sünde 
und  man  weist  auf  jenen,  der  sie  ausübt,  als  auf  einen  Sünder  und  schlechten 
Kerl  hin  und  schaut  mit  \'erachtung  auf  ihn.  Ich  meine,  man  könnte  in  unseren 
Gerichtsarchiven  genug  \'erhandlungen  wegen  der  Schwiegertochterschaft  vor- 
finden, die  eben  dadurch  hervorgerufen  wurden,  weil  man  dieses  Verhältnis 
nicht  dulden  mag"  (und  er  führt  verschiedene  Fälle  an).  —  ,,Aus  rein  ökono- 
mischen Gründen  bestand  auch  noch  bis  in  die  jüngste  Zeit  in  Serbien  da  und 
dort  die  Schwiegertochterschaft   und  noch  jetzt  erkennt  man  davon  Spuren 


-    517    — 

Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Sitte  in  mancher 
russischen  Gegend  selbst  heute  besteht,  und  gar  nicht  als 
eine  sündhafte  betrachtet  wird,  da  es  in  erster  Linie  dem 
Oberhaupt  der  Familie  darum  zu  tun  ist,  eine  tüchtige  Arbeits- 
kraft ins  Haus  zu  bekommen.  Daß  der  Schwiegervater  seine 
Schwiegertochter  nebenbei  begattet,  fällt  angesichts  der  ganzen 
geschlechtlichen  Moral  der  Russen  wenig  ins  Gewicht.  Die 
junge  Frau  rechnet  von  vornherein  nicht  auf  den  nominellen 
Gatten,  der  oft  noch  in  der  Wiege  liegt  i),  wenn  sie  ihm  an- 
getraut wird.  Verwickelter  ist  das  Verhältnis  zwischen  Schwie- 
germutter und  Schwiegertochter,  und  kritisch  könnte  es  zwi- 
schen Vater  und  Sohn  werden,  wenn  der  Sohn  herangewachsen 
ist  und  nun  selbst  seine  Rechte  geltend  machen  will.  Indessen 
ist  in  dem  Lande,  in  dem  solche  Zustände  möglich  sind,  ja 
dem  Volke  ganz  natürlich  erscheinen,  von  den  Verhältnissen 


in  den  Bezirken  von  Studenica  und  Svrjlika.  Der  Vorstand  der  Familie  oder 
der  Hausgemeinschaft  pflegte  die  Jungen  von  14  Jahren  schon  zu  verheiraten 
und  ins  Haus  kam  ein  Mädchen  in  der  Blüte  ihrer  Entwicklung,  in  den  üppigsten 
Jahren.  Auf  diese  Weise  erwarb  das  Haus  eine  kräftige  unentgeltliche  Arbei- 
terin, und  das  war  das  Hauptziel.  —  Bei  den  Gurbeten  (Zigeunern)  in  Serbien 
besteht  dieser  Brauch  noch  in  voller  Geltung.  —  Unter  den  Chrowoten  in  dem 
ehemaligen  Militärgrenzgebiet  gilt  es  als  selbstverständlich,  daß  der  Schwieger- 
vater und  alle  seine  Söhne  der  neuen  Schnur  beischlafen.  Nur  die  Brautnacht 
gehört  ausschließlich  dem  Ehegatten.  Bis  1860  war  es  auch  unter  den  Chrowoten 
üblich,  Knaben  an  ausgewachsene  reife  Mädchen  zu  verheiraten,  um  Arbeits- 
kräfte ins  Haus  zu  bekommen.  Besondere  Gesetze  sind  dagegen  erlassen  worden, 
und  vollends  seit  Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht  sind  frühzeitige  Ehe- 
schließungen dieser  Art  äußerst  erschwert."  Krauß  bringt  in  Anthropophyteia 
I  255 — 281  mehrere  obszöne  Geschichten  aus  dem  Gebiete  der  Schwiegertochter- 
schaft (die  Nummern  212 — 230).  Vgl.  auch  Anthropophyteia  II  435,  An- 
merkung. (Die  lediglich  für  Forscher  unter  strengstem  Ausschluß  der  Öffent- 
lichkeit erscheinenden  Bände  der  Anthropophyteia  (bis  jetzt  4  Bände)  können 
auch  durch  Vermittlung  des  Verlages  Herm.  Barsdorf  in  Berlin  W.  30  bezogen 
werden.)  —  Richard  Schmidt,  Liebe  und  Ehe  in  Indien  (Verlag  Hermann  Bars- 
dorf, Berlin  1904)  S.  335  erzählt  von  einer  außergewöhnlichen  Sitte  bei  den 
Vellalars  von  Caroor :  ,,Die  Väter  nehmen  für  ihre  unmündigen  Söhne  erwachsene 
Weiber,  schlafen  selbst  mit  ihnen  und  zeugen  mit  ihnen  Kinder,  die  dann  den 
unmündigen  und  unmannbaren  Gatten  zugeteilt  werden.  Sind  letztere  er- 
wachsen, so  finden  sie  Frauen  für  die  ihnen  zugeteilten  Söhne  und  kohabitieren 
mit  ihnen;  und  so  pflanzt  sich  diese  Sitte  fort." 
1)  Rhamm  a.  a.  O.  321. 


—    518    — 

selbst  dafür  Sorge  getragen  worden,  daß  die  Seltsamkeiten  sich 
regelrecht  abwickeln  und  keine  Konflikte  hervorrufen:  bis  der 
Wiegengatte  erwachsen,  ist  seine  Gattin,  bei  der  frühen  Reife 
und  dem  schnellen  Verblühen  der  Russinnen,  längst  welk  und 
reizlos,  und  er  sucht  sich  leichten  Herzens  eheliche  Freuden 
wieder  bloß   bei   seinen  Schwiegertöchtern. 

Möglicherweise  besteht  das  Snochatschestwo  auch  bei  den 
Wotjäken,  denn  bei  ihnen  sind  die  Ehemänner  fast  immer 
bedeutend  jünger  als  die  Ehefrauen :  der  Bursche  zählt  bei 
der  Hochzeit  fünfzehn,  höchstens  achtzehn  Jahre,  das  Mäd- 
chen ist  gewöhnlich  wenigstens  zehn  Jahre  älter.  Und  ganz 
sicher  existiert  die  Schwiegertochterschaft  bei  den  Osseten 
in  Kaukasieni):  es  kauft  hier  der  Vater  seinem  achtjährigen 
Sohne  eine  sechzehnjährige  Frau;  der  Schwiegervater  lebt  mit 
der  Schwiegertochter;  der  Sohn,  der  in  diesem  Verhältnis 
gezeugt  wird,  erhält  dann  von  dem  nominellen,  mittlerweile 
erwachsenen  Vater  eine  Frau,  die  aber  nicht  mit  ihrem  nomi- 
nellen Gatten,  sondern  mit  dem  nominellen  Vater  desselben 
lebt;  und  dies  geht  so  fort  von  Geschlecht  zu  Geschlecht. 


^)  Schon  Haxthausen,  Transkaukasia,  hat  sie  erwähnt;  neuere  Reisende, 
welche  das  Osseten volk  besucht  haben,  bestätigen  das  Vorhandensein  des  Ge- 
brauches, und  mir  selbst  haben  während  meines  Aufenthaltes  in  Kaukasien 
alte  Bewohner  des  Landes  davon  als  von  einer  gar  nicht  anfechtbaren  Tatsache 
gesprochen. 


NEUNTER  TEIL: 


Prostitution, 
Perversität  und  Lustseuche 


52.  Prostitution     der     Herrschenden.    — 

53.  öffentliche    Prostitution.  —  54.   Bes- 
tialität und  gleichgeschlechtliche  Liebe.  — 

55.    Lustseuche. 


Fürstin  Tarrakanow   im  Gefängnis. 

Nach  dem  Gemältie  Flavitzkis. 


52.  Prostitution  der  Herrschenden. 

Ein  Ausspruch  von  Alexander  Herzen  —  Die  Legitimität  der  Romanows  —  Die 
Herkunft  Katharinas  I.  —  Maitressen  Peters  des  Großen  —  Unsittlichkeit 
Katharinas  I.  —  Ihre  Umgebung  —  Boudoirgeheimnisse  —  Der  Zarewitsch 
Alexej  und  Peter  II.  —  Gynäkokratie  und  Bordellwirtschaft  —  Ein  Besuch  im 
Landhause  der  Zarin  Praskowja  —  Zarin  Anna  Iwanowna  —  Prinz  Moriz 
von  Sachsen  am  Petersburger  Hofe  —  Zarin  Anna  und  die  Familie  Biron  — 
Das  Tagewerk  einer  Kaiserin  —  Zotenerzählerinnen  —  Anna  Leopoldowna 
und  Graf  Lynar  —  Elisabeths  Skandalaffären  —  Lakaien  und  Kutscher  im 
Bette  der  Kaiserin  —  Die  geheime  Ehe  Elisabeths  mit  Rasumowsky  —  Prin- 
zessin Tarakanow  —  Peter  III.  und  Katharina  IL  —  Die  offiziellen  Günstlinge 

—  Patjomkin  als  Kuppler  —  Katharinas  Ende  —  Die  Kinder  der  Zarinnen  — 
Hof  und  Gesellschaft  —  Allgemeine  Sittenlosigkeit  —  Weiber  in  Männerrollen 

—  Der  geheime  kleine  Zirkel  in  der  Ermitage  —  Pauls  Geschlechtsreifeprüfung 

—  Pauls  Maitressen  —  Die  Erotomanie  der  Nachkommen  Pauls. 

„La  Russie  d'avant  Pierre  le  Grand  est  alldc  ä  la  Russie 
nouvellc  par  une  maison  publique,'*  sagte  Alexander  Herzen. 
Tatsächlich  ist  nur  Zar  Alexej,  der  Sohn  und  Nachfolger  des 
Begründers  der  Dynastie  Michael  Feodorowitsch,  als  ein  Ro- 
manow zu  betrachten.  Die  Legitimität  aller  übrigen  Herrscher 
aus  diesem  Hause  unterliegt  berechtigten  Zweifeln.  Die  beiden 
Gattinnen  des  Zaren  Alexej  haben  sich  nicht  durch  eheliche 
Treue  ausgezeichnet.  Peters  des  Großen  Geburt  ist  in  myste- 
riöses Dunkel  gehüllt.  Und  von  da  an  sind  die  Familien- 
register der  regierenden  Dynastie  ein  unentwirrbares  Chaos.  Der 
russische  Hof  wimmelt  von  Maitressen  der  Herrscher,  Günst- 
lingen der  Herrscherinnen,  unehelichen  Kindern,  i)  Peters 
zweite  Gemahlin  Katharina  ist  buchstäblich  aus  einem  öffent- 
lichen Hause  gekommen  und  durch  unzählige  Hände  gegan- 


^)  Bernhard  Stern,  Die  Romanows.   Intime  Episoden  aus  dem  russischen 
Hofleben.     2  Bände. 


—    522    — 

gen.  Sie  nimmt  es  weiter  mit  der  Treue  nicht  genau ;  verlangt 
aber  auch  keine,  führt  dem  kaiserlichen  Gatten  selbst  Lieb- 
haberinnen zu  oder  freut  sich,  wenn  er  von  Zeit  zu  Zeit  einen 
Seitensprung  macht,  da  er  nach  der  Abwechslung  immer  wieder 
gern  zu  ihr,  der  unverwüstlich  Robusten,  zurückkehrt.  Der 
Zar  holt  sich  seine  Maitressen  aus  den  verschiedensten  Ge- 
sellschaftskreisen. Sein  Adjutant  Generalmajor  Tschernitschew 
hat  eine  schöne  Frau;  der  Kaiser  belegt  sie  mit  Beschlag, 
und  ihr  Gatte  macht  Karriere.  Ein  Fräulein  Hamilton  ist 
lange  Zeit  Peters  Geliebte;  aber  ihr  Kammermädchen  Anna 
Kramer,  die  den  Besitzer  ihres  Leibes  Schon  oft  genug  ge- 
wechselt hat,  macht  ihr  erfolgreich  Konkurrenz.  Die  betro- 
gene Hamilton  rächt  sich  an  dem  Ungetreuen  durch  Ermor- 
dung des  Kindes,  das  sie  vom  Zaren  hat,  sie  büßt  die  Tat  mit 
ihrem  Kopf,  und  ihre  Nebenbuhlerin  nimmt  ihren  Platz  ein. 
Ja  die  Kramer  erhält  sogar  einen  Platz  in  der  Geschichte  Ruß- 
lands; sie  wird  in  das  Geheimnis  der  Ermordung  des  Thron- 
folgers Alexej  eingeweiht  und  hilft  es  behüten,  indem  sie 
kaltblütig  den  Kopf  des  Enthaupteten  wieder  an  den  Rumpf 
näht.  In  seinem  letzten  Lebensjahre  hat  Peter  den  Schmerz, 
zu  erfahren,  daß  ihn  Katharina,  die  er  aus  der  Hefe  des 
Bordells  auf  den  Kaiserthron  gehoben  hat,  schmählich  mit 
ihrem  Kammerherrn  William  Mons  betrügt.  Er  will  die  Un- 
dankbare verstoßen;  aber  sie  ist  schneller  als  er,  und  er  stirbt, 
ehe  er  seinen  Vorsatz  ausführen  kann. 

Nun  wirtschaftet  Katharina  I.  als  Selbstherrscherin  nach 
Herzenslust.  Sie  stellt  sich  eine  wunderliche  Umgebung  zu- 
sammen. Als  Hauptperson  erscheint  an  ihrem  Hofe  ihres 
Gatten  einstige  Maitresse:  Anna  Kramer,  daneben  sind  die  In- 
timsten der  Kaiserin  drei  andere  Plauen  mit  deutschen  Namen : 
eine  Johanna,  deren  Familienname  nicht  einmal  bekannt  ist 
(man  nennt  sie  einfach:  Johanna  Petrowna;  vielleicht  irgend 
eine  uneheliche  Tochter  Peters);  eine  Justine  Grünwald;  end- 
lich im  Jahre  1727  ein  Frauenzimmer  namens  Caro,  die 
einem  öffentlichen  Hause  in  Hamburg  entkommen  ist,  in  Pe- 
tersburg alle  Hurenhäuser  unsicher  gemacht  hat  und  von  der 
Kramer  aus  einem  Gefängnis  in  den  Palast  protegiert  wird. 
Aber  die  Familie  der  Kaiserin  ist  ja  nicht  viel  feiner.     Der 


—    523    — 

Schwiegersohn,  Herzog  Karl  Friedrich  von  Holstein,  Gemahl 
der  Prinzessin  Anna  Petrowna,  wird  in  den  ersten  Tagen  nach 
der  Hochzeit  im  Bordell  gefunden;  die  junge  Herzogin  nimmt 
sich  daran  ein  Muster  und  bringt  die  Nächte  in  Gesellschaft 
ihrer  Base  Anna  Iwanowna,  der  späteren  Zarin,  überall  zu 
nur  nicht  zu  Hause.  Bei  der  Kaiserin  selbst  schadet  sich 
der  Herzog  auch  nicht  durch  sein  Schandleben :  Schwieger- 
mutter und  Schwiegersohn  leben  in  der  allergrößten  Intimität 
miteinander.  Katharina  ist  längst  nicht  mehr  jung,  ihre  Reize 
sind  schon  ziemlich  verwelkt.  Desto  leidenschaftlicher  ver- 
langt sie  geliebt  zu  werden.  Einer  ihrer  Kammerherren  speku- 
liert darauf,  möchte  sich  der  Alternden  opfern  und  durch 
solches  Opfer  sein  Glück  machen:  er  besticht  das  Zimmer- 
mädchen Katharinas,  läßt  sich  von  der  Zofe  unter  dem  Bett 
der  Kaiserin  verstecken,  um  nachts  auf  kürzestem  Wege  ans 
Ziel  zu  gelangen.  Aber  der  Schrecken,  den  seine  sinnige 
Überraschung  verursacht,  verdirbt  das  Spiel;  und  Prügel  von 
der  Zarin  höchsteigener  Hand  sind  der  Lohn,  den  die  Undank- 
bare gewährt.  Offiziell  Begünstigte  der  Kaiserin  sind  in  erster 
Linie  der  junge  hübsche,  kräftige  und  immer  gut  gelaunte 
Graf  Peter  Sapicha,  auf  dessen  väterlichen  Gütern  Katharina 
einst  Leibeigene  gewesen  ist;  und  dann  Reinhold  Loewen- 
wolde,  der  mit  den  Geldern  der  Frauen,  die  ihn  aushalten, 
so  lange  großen  Aufwand  macht,  bis  er  Katharina  auffällt 
und  zu  ihrem  Günstling  avanciert.  Neben  den  offiziellen  Lieb- 
habern gibt  es  eine  Legion  in  der  großen  Öffentlichkeit  Un- 
bekannter; bloß  die  genannte  Kammerfrau  Johanna  Petrowna 
weiß  von  ihnen:  sie  führt  sie  ein,  entlohnt  sie,  und  Diskre- 
tion ist  Ehrensache.  „Ich  fürchte  als  Lügner  zu  erscheinen," 
schreibt  der  sächsische  Resident  Lefort  an  seinen  Fürsten, 
,,wenn  ich  erzähle,  wie  der  Hof  hier  lebt.  In  schauderhafter 
Trunkenheit  macht  man  die  Nacht  zum  Tage.  Von  den  Staats- 
affären ist  gar  keine  Rede.  Enfin,  Majestät,  ich  kann  nicht 
genug  Farben  auftragen,  um  dieses  Chaos  zu  malen.**  i)  Fürst 
Mentschikow,  der  als  einer  der  ältesten  Liebhaber  Katharinas 
sich  besondere  Rechte  herausnimmt,  wagt  seine  Stimme  gegen 


^)  Waliszewski,  L'heritagc  de  Pierre  le  Grand,   15,   16. 


—    524    — 

diese  selbst  ihm  entsetzlich  erscheinende  Wirtschaft  zu  er- 
heben. Die  Kaiserin  droht  ihm  mit  Verbannung.  Da  ist  er 
vorsichtiger  als  sie,  und  sie  stirbt  ebenso  überraschend  schnell, 
wie  zwei  Jahre  zuvor  Peter  der  Große  endete,  als  er  Katharina 
verbannen  wollte. 

Die  Kinder  haben  den  Geschmack  der  Eltern.  Wie  Peter 
der  Große  seine  rechtmäßige  Gemahlin  Jewdokia  hinausprü- 
gelte, um  mit  der  Dirne  Katharina  leben  zu  können,  so  miß- 
handelt sein  Sohn  Alexej  die  Prinzessin  Charlotte  der  fin- 
nischen Sklavin  Euphrosyne  zuliebe.  Alexejs  Sohn  Peter,  der 
nach  Katharinas  schnellem  Tode  zur  Regierung  gelangt,  be- 
ginnt seine  Tätigkeit  mit  Orgien  im  Bordell;  und  als  er  sich 
endlich  mit  der  Prinzessin  Dolgoruckij  verlobt,  behandelt  er  die 
Braut  als  Hure,  die  bei  des  Bräutigams  jähem  Tode  mit  einem 
Kinde  unter  dem  Herzen  in  die  Verbannung  wandern  muß. 

Die  Gynäkokratie,  die  dann  durch  das  ganze  achtzehnte 
Jahrhundert  andauert,  kann  ebensogut  eine  Herrschaft  der  Pro- 
stitution auf  dem  Zarenthrone  genannt  werden.  Anna  Iwa- 
nowna,  die  zehn  Jahre  lang,  von  1730  bis  1740,  diesen  Thron 
ziert,  hat  schon  in  ihrem  Elternhause,  bei  der  Zarin  Praskowja, 
das  Beispiel  grenzenloser  Ungeniertheit  gesehen,  das  sie  selbst 
geben  wird.  Der  deutsche  Diplomat  Bergholz  erzählt  i),  wie 
man  ihn  im  Landhause  der  Zarin  Praskowja  zu  Ismailowo 
empfing,  als  er  dort  einmal  abends  eine  Meldung  zu  erstatten 
hatte:  Man  führte  ihn  ohne  weiteres  durch  das  Schlafzimmer 
der  Prinzessinnen,  die  schon  im  Bette  lagen  und  dem  Besucher 
die  Hände  entgegenstreckten;  dann  gelangte  er  durch  ein 
Zimmer,  wo  die  Kammerfräulein  und  Dienstmägde  in  tiefstem 
Neglige  sich  befanden;  sie  ließen  sich  durch  den  fremden 
Mann  nicht  stören,  begrüßten  ihn  vielmehr  mit  einem  Schwall 
zweideutiger  Worte.  Da  kam  manche  Nacktheit  zum  \^or- 
schein,  aber  es  war  nicht  verführerisch,  denn  der  Schmutz 
paralysierte  jede  V^ersuchung.  Endlich  stand  der  Diplomat 
vor  Praskowja;  sie  empfing  ihn  ,,bloß  mit  dem  Hemd  auf  dem 
Leibe.*'  Das  geschieht  wenige  Jahre  nach  der  Befreiung  der 
russischen  Frau  aus  dem  Terem;  so  schnell  hat  sich  hier  die 


1)  Bergholz'  Tagebuch  bei  Büsching  XXI   180. 


—    525    — 

strengste  Abgeschlossenheit  zu  einer  derartigen  Ungeniertheit 
verwandelt,  daß  Peter  der  Große  das  Haus  seiner  Schwägerin 
mit  Vorliebe  „das  Narrenspital**  nennt.    Die  Töchter  aus  diesem 
Hause:    Katharina,    welche   Herzogin   von   Mecklenburg,    und 
Anna,  welche  Herzogin  von  Kurland  wird,  leben  so,  wie  sie 
erzogen  worden.    Anna  hat  das  Unglück,  ihren  Gatten  in  der 
Brautnacht  zu  verlieren;  er  hat  sich  zu  Tode  gesoffen,   ehe, 
er  ins  Hochzeitsbett  gelangen  konnte.    Im  Jahre  1725  erscheint 
die   junge,    damals   29  jährige   Witwe,    am   Hofe   ihrer   Tante 
Katharina;  zur  selben  Zeit  weilt  dort  Prinz  Moriz  von  Sachsen, 
der  Sohn  des  Königs  August  aus  seiner  unebenbürtigen  Ver- 
bindung mit  Aurora  von  Königsmark.    Die  galanten  Abenteuer 
des  Prinzen  Moriz  sind  auch  Anna  nicht  unbekannt,  und  sie  setzt 
ihren  Ehrgeiz  darin,  den  Liebling  der  Frauenwelt  ganz  für  sich 
zu  erobern.    Der  Prinz  ist  nicht  abgeneigt,  Herzog  von  Kurland 
zu  werden,  aber  als  Anna  dem  Fürsten  Mentschikow  schreibt, 
sie  wolle  den  Prinzen  heiraten,  da  läßt  der  russische  Kanzler 
den  Sachsen  kommen  und  donnert  ihn  an :  „Eine  Zarewna  darf 
nicht  einen  Bastard  heiraten!     Wer  sind  Ihr  Vater  und  Ihre 
Mutter?'*      Der    Prinz    entgegnet   kaltblütig:     „Wer   sind    die 
Ihrigen  ?"   und  läßt  den  verdutzten  Fürsten,  der  darauf  wirk- 
lich nicht  zu  antworten  wußte,  einfach  stehen.    Vielleicht  wäre 
bei  alledem  dennoch  aus  Anna  und  Moriz  ein  Paar  geworden. 
Allein  eines  Tages  erfährt  die  Herzogin,  daß  ihr  lieber  Prinz 
trotz  der  Aussicht  auf  ihre  Hand  immerfort  neue  Verhältnisse 
anknüpft;  ihre  Eitelkeit  ist  verletzt,  sie  sagt  sich  von  dem  Un- 
beständigen los  und  nimmt  sich  ihren  Kammerdiener  Bühren- 
Biron  zum  Geliebten  und  Gebieter.    Als  sie  als  Kaiserin  nach 
Moskau  übersiedelt,  folgt  ihr  Biron  mit  Frau  und  Kindern ;  Frau 
Biron  ist  eine  gefällige  Dame,  sie  geht  aus  dem  Schlafzimmer 
hinaus,  wenn  die  Kaiserin  kommt,  und  die  Kinder  der  Zarin 
erkennt  sie  als  ihre  eigenen  an.     Dafür  erhält  sie  Equipagen, 
Juwelen,  Geld  soviel  sie  will;  dafür  ist  ihr  Gemahl  der  eigent- 
liche Herr  von  Rußland.    Und  während  Biron  regiert,  liegt  die 
Zarin  Anna  in  Birons  Zimmer  nackt  auf  dem  Diwan,  schlafend, 
träumend   oder  den  Erzählungen  einer  Schar  von   Schwätze- 
rinnen zuhörend,  den  obszönen  Spaßen  ihrer  Zwerge  und  Hof- 
narren zusehend.     Also  verfließt  ihr  kaiserliches  Leben  Tag 


—    52Ü    — 

um  Tag:  Von  sieben  bis  acht  nimmt  sie  das  Frühstück.  Von 
acht  bis  zehn  prüft  sie  Edelsteine  und  Stoffe  für  ihre  Toiletten. 
Dann  empfängt  sie  ihre  Minister  und  Sekretäre,  unterfertigt 
ohne  zu  lesen  was  man  ihr  vorlegt,  und  eUt  dann  in  die  Manege 
Birons,  wo  sie  besondere  Gemächer  hat  und  sogar  Audienzen 
erteilt.  Mittags  diniert  sie  im  Neglige,  bloß  mit  einem  roten 
Tuch,  wie  die  simpelste  Bürgersfrau,  auf  dem  Kopf,  zusam- 
men mit  der  Familie  Biron,  und  nach  der  Tafel  legt  sie 
sich  mit  dem  Günstling  auf  ein  Ruhebett,  während  Frau  Biron 
und  die  Kinder  sich  diskret  zurückziehen.  Nach  der  Siesta 
öffnet  sie  einen  Vorhang  und  ruft  den  schon  wartenden  Ehren- 
damen zu :  „Singt,  Kinder,  singt  !**  und  das  Konzert  darf  nicht 
enden,  ehe  nicht  die  Kaiserin:  Genug!  sagt.  Ermüdet  eine 
der  Sängerinnen,  so  bewegt  sich  die  Kaiserin  hurtig  von  ihrem 
Fauteuil  auf  die  Unglückliche  zu  und  ohrfeigt  sie  gehörig 
ab.  Nach  dem  Konzert  kommen  die  Schwätzerinnen  mit  ihren 
erotischen  Geschichten  und  obszönen  Witzen  an  die  Reihe. 
Manchmal  allerdings  erinnert  sich  Anna  doch,  daß  sie  eine 
Herrscherin  ist  und  Minister  und  Gouverneure  zur  Entgegen- 
nahme ihrer  Befehle  bereitstehen  hat.  Dann  setzt  sie  sich 
nieder  und  schreibt  an  Ssoltykow,  einen  ihrer  ersten  Staats- 
männer: „Besorgen  Sie  mir  einen  Staar!**  Oder:  „Kopieren 
Sie  sofort  das  pikante  Lied,  das  gestern  in  dem  Tingeltangel 
gesungen  wurde!"  Ein  Gouverneur  erhält  eine  dringende  Bot- 
schaft der  Kaiserin,  der  Überbringer  wartet  auf  die  Beantwor- 
tung der  Frage:  „Man  sagt  hier,  daß  sich  der  Kammerherr 
Jussupow  von  seiner  Frau  trennen  will  und  daß  er  viel  Frauen 
besucht.  Teilen  Sie  mir  sofort  mit,  ob  das  Gerücht  der  Wahr- 
heit entspricht!**  Oder:  „Schreiben  Sie  mir  sofort,  natürlich 
unter  strengster  Diskretion,  wann  sich  Bjeloßelskij  verheiraten 
wird!**  Oder:  „Senden  Sie  mir  sogleich  die  Tochter  des 
Fürsten  Wjäsemskij,  die  man  mir  als  große  Schwätzerin  emp- 
fohlen hat.'*  Da  wäre  fast  von  Naivität  zu  sprechen,  wenn 
man  nicht  wüßte,  daß  diese  Einfältige  Koch  und  Köchin  hän- 
gen läßt,  wenn  sie  eine  zarische  Lieblingsspeise  verpfuschen; 
und  daß  ihr  gleichsam  nicht  wohl  ist,  wenn  ihr  ihr  Liebhaber 
nicht  berichtet,  daß  durchschnittlich  wenigstens  zwei  Menschen 
täglich  in  ihrem  Namen  hingerichtet  worden  sind. 


—    527    — 

Wie  Anna  Iwanowna  bringt  sich  auch  Anna  Leopoldowna, 
die  für  den  minderjährigen  Iwan  VI.  die  Regentschaft  führt, 
ihren  Liebhaber  aus  der  Fremde  nach  Rußland  mit :  es  ist  der 
Sachse  Lynar,  mit  dem  sie  schon  als  siebzehnjähriges  Mädchen 
ein  intimes  Verhältnis  unterhalten  hat ;  die  Zarin  Anna  Iwanowna 
hatte  es  nicht  geduldet  und  Lynar  fortgeschickt.  Aber  kaum' 
ist  Anna  Leopoldowna  selbst  zur  Macht  gelangt,  so  beruft  sie 
den  Geliebten  an  .ihre  Seite.  Sie  ist  zwar  verheiratet;  das  ge- 
niert sie  nicht:  wie  die  Gattin  Birons  drückt  dieser  gefällige 
Gatte  die  Augen  zu  und  zieht  sich  diskret  zurück,  sobald 
der  Liebhaber  erscheint.  Anna  Leopoldowna  unterhält  sich 
gleich  Anna  Iwanowna  mit  Schwätzerinnen  und  läßt  sich  von 
ihnen  zur  Reizung  der  Wollust  die  Fußsohlen  kitzeln.  In  einer 
schönen  Nacht  wird  sie  aus  ihren  Vergnügungen  gewaltsam 
herausgerissen  und  nach  Cholmogorij  bei  Archangel  ver- 
bannt, Peters  des  Großen  Tochter  Elisabeth  hat  sich  des 
Thrones  bemächtigt.  Ein  neuer  Name,  der  alte  Typus.  Eli- 
sabeths Hof  wimmelt  wie  jener  Katharinas  und  der  beiden 
Anna  von  weiblichen  Parasiten,  von  Fußsohlenkitzlerinnen, 
Schwätzerinnen  und  Günstlingen.  Elisabeth  kümmert  sich  eben- 
falls wenig  um  die  Regierung;  einmal  vergeht  ein  Zeitraum  von 
drei  Jahren,  ehe  man  von  Elisabeth  bloß  die  Unterschrift  unter 
ein  wichtiges  Aktenstück  erlangen  kann.  Sie  verbringt  ihre 
Tage  und  Nächte  in  den  Armen  ihrer  Liebhaber.  Schon  früh 
hat  sie  zu  lieben  begonnen.  Ihr  erster  Gehebter  ist  ein  robuster 
Soldat,  Schubin;  noch  schämt  sie  sich,  sie  läßt  ihn  also  nicht 
in  ihr  Zimmer  kommen,  sondern  zieht  sich  Männerkleider  an 
und  geht  zu  ihm.  Als  Zarin  Anna  Iwanowna  hinter  das  Ge- 
heimnis ihrer  Base  kommt,  erzürnt  die  Tugendhafte  und 
verbannt  den  Soldaten  nach  Sibirien.  Elisabeth  aber  tröstet 
sich  in  den  Armen  von  Alexej  Rasumowskij :  dieser  ukrainische 
Bauernsohn  ward  seiner  schönen  Stimme  wegen  als  Sänger 
in  der  Hofkapelle  angestellt,  und  sang  sich  in  Elisabeths  Herz 
und  Bett  hinein;  und  als  die  Prinzessin  Kaiserin  geworden, 
avanciert  der  Bauernsohn  zum  Grafen  und  heimlichen  Gemahl 
der  Herrscherin.  Rasumowskij  bleibt  jedoch  nicht  der  letzte 
Liebhaber  Elisabeths.  Er  wohnt  zwar  Zimmer  an  Zimmer 
mit  der  Kaiserin,  aber  er  hat  weiter  kein  Recht  als  zuzusehen, 


~    528    — 

wer  im  Schlafzimmer  seiner  Gemahlin  ein-  und  ausgeht.  Eine 
seltsame  Gesellschaft;  aus  den  tiefsten  Tiefen  des  Volkes  wer- 
den die  zarischen  Liebhaber  heraufbefördert:  Da  erscheint 
zuerst  der  Gardesoldat  Buturlin.  Dann  kommt  ein  Kalmücke 
von  abstoßender  Häßlichkeit,  aber  gewaltiger  Stärke;  sein 
Name  tut  nichts  zur  Sache,  die  Hofgeschichte  hat  ihn  nicht 
einmal  aufbewahrt.  Ein  gewisser  Karl  Sievers  hat  lange  Jahre 
an  der  Tür  des  Schlafgemaches  Wache  zu  halten  und  der 
Kaiserin  nach  dem  Abschied  ihrer  nächtlichen  Besucher  den 
Kaffee  zu  bringen;  einmal  ist  Mangel  an  geeigneten  Männern, 
er  tritt  in  die  Bresche  und  macht  sein  Glück;  bald  wird  er 
Graf  und  Ahnherr  einer  vornehmen  P'amilie  werden.  An  Stelle 
von  Sievers  wird  ein  gewisser  Woschinskij  Türsteher ;  er  macht 
die  gleiche  Karriere  wie  sein  Vorgänger.  Der  Posten  wird  be- 
liebt: Eines  Tages  steht  auf  ihm  ein  gewisser  Michael  Wo- 
ronzow;  am  Abend  schon  hat  er  Dienst  bei  der  Herrin,  und  er 
verläßt  ihr  Bett  als  Graf  und  Großkanzler.  Bei  einer  Wagen- 
fahrt lernt  die  Kaiserin  an  ihrem  Kutscher  schätzenswerte 
Eigenschaften  kennen.  Der  Mann  erscheint  im  Schlafzimmer 
seiner  Herrin,  liefert  den  Beweis  seiner  Tüchtigkeit,  den  sie  ver- 
langt, und  erhält  zur  Belohnung  den  Grafentitel  und  Güter. 
Ein  Straßenkehrer,  namens  Ljalin,  verrichtet  vor  dem  Fenster 
der  Zarin  ein  kleines  Geschäft :  Elisabeth  sieht  ihm  zu,  be- 
scheidet ihn  zu  sich,  behält  ihn  einige  Wochen  und  verab- 
schiedet ihn  als  Großgrundbesitzer.  Eines  Morgens  will  Rasu- 
mowskij  die  Kaiserin,  seine  Gemahlin,  besuchen;  da  findet  er 
in  ihrem  Bett  einen  ehemaligen  Kollegen,  den  Sänger  Polta- 
ratzkij,  dem  die  Herrscherin  zum  Lohn  für  seine  Dienste  soeben 
das  Amt  eines  Direktors  der  kaiserlichen  Kapelle  verleiht. 
Kaiserin  Elisabeth  ist,  man  sieht  es,  durchaus  demokratisch 
gesinnt:  sie  schenkt  nur  Kindern  des  Volkes  ihre  Gunst.  In 
der  langen  Liste  stört  zum  Schlüsse  nur  der  Name  Iwan  Schu- 
walows,  der  einem  altadligen  Geschlecht  angehört.  Die  Kinder 
dieser  Verhältnisse  sind  die  Ahnherren  der  vornehmsten  mo- 
dernen russischen  Aristokratie  geworden.  Einer  Tochter  Elisa- 
beths und  Rasumowskijs,  just  dem  einzigen  legitimen  Kinde 
dieser  Messalina,  wird  jedoch  ein  trauriges  Los  zuteil :  Elisabeth 
läßt  die  Tochter,  die  unter  dem  Namen  ,,Prinzessin  Tarakanow** 


Katharina  II.  und  Fatjomkin. 

Kontrast  der  V'erscbwendung  nnd  der  Aimu 


—    529    — 

bekannt  wurde,  in  Italien  erziehen;  Katharina  II.  wittert  später 
in  ihr  eine  Thronrivalin,  lockt  sie  nach  Rußland  und  sperrt 
sie  in  Schlüsselburg  ein;  bei  einer  Überschwemmung  der 
Newa  ertrinkt  die  Prinzessin  Tarakanow  in  ihrer  Zelle. 

An  diesen  Hof  kommt  die  Prinzessin  von  Zerbst  als  Braut 
des  Großfürsten-Thronfolgers  Peter.  Die  deutsche  Prinzessin 
gewöhnt  sich  aber  schnell  an  die  Verhältnisse;  bald  muß  ihr 
ihre  eigene  Mutter  den  Vorwurf  machen,  daß  sie  nachts  zu 
ihrem  Bräutigam  gehe.  „Das  kränkte  mich  am  meisten  von 
meiner  Mutter,**  schreibt  Katharina  II.  in  ihren  Memoiren,  „ich 
sagte  ihr,  daß  das  eine  himmelschreiende  Verleumdung.**  Ka- 
tharina hat  zweifellos  recht;  Peter  ist  ja  impotent.  Das  zeigte 
sich  bald.  Das  Paar  ist  schon  lange  verheiratet,  und  es  ist 
noch  keine  Spur  von  den  Folgen  der  Ehe  an  Katharina  zu 
bemerken.  Kaiserin  Elisabeth  sieht  sich  veranlaßt,  durch  Bestu- 
schew-Rjumen  für  die  Gesellschafterin  der  Großfürstin  eine 
besondere  „Instruktion  zur  Förderung  der  ehelichen  Vertrau- 
lichkeit der  beiden  kaiserlichen  Hoheiten**  verfassen  zu  lassen. 
Die  Gesellschafterin  hat  in  erster  Linie  Katharina  aufmerksam 
zu  machen,  daß  sie  zur  Würde  einer  russischen  Großfürstin  nur 
erhöht  wurde,  „damit  das  Reich  den  gewünschten  Erben  des 
allerhöchsten  Hauses  erhalten  könne**;  die  Großfürstin  wird 
also  ersucht,  zur  Erreichung  dieses  Zieles  ,,die  größte  Ge- 
fälligkeit und  alle  möglichen  Mittel  anzuwenden.**  i)  Katharina 
erklärt:  es  treffe  sie  keine  Schuld;  „s'il  avait  voulu  etre  aim^, 
la  chose  n'aurait  pas  6t6  difficile  pour  moi,**  gesteht  sie  in 
ihren  Memoiren.  Der  impotente  Gemahl  aber  will  nicht  einmal 
einen  Versuch  machen,  sondern  amüsiert  sich  in  seiner  Weise 
mit  der  dicken  Woronzow.  Kaiserin  Elisabeth  kennt  das  Leben 
und  seine  Gefahren.  Sie  beauftragt  die  Gesellschafterin  be- 
sonders darüber  zu  wachen,  ,,daß  die  Gemahlin  des  Thron- 
folgers nicht  mit  den  Kavalieren,  Pagen  und  Dienern  des 
Hofes  in  irgend  einen  Verdacht  erregende  Familiarität  gerate.** 
Die  Besorgnis  ist  gerechtfertigt,  die  Warnung  aber  kommt  zu 
spät :  Der  Kammerlakai  Tschernyschew  ist  mit  der  Großfürstin 
schon   „familiär**.     Frau   Tschoglokow,   der   die   Aufgabe   zu- 


^)  B.  von  Bilbassoff,  Geschichte  Katharinas  II.     Band  I  265. 
Stern,  Geschichte  der  öflFentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    '*  ^4 


—    530    — 

gefallen  ist,  „die  eheliche  Vertraulichkeit  des  Großfürsten- 
paares zu  fördern,**  ist  ihrem  Amte  nicht  gewachsen;  dem 
Kammerdiener  folgen  die  Pagen  und  Kavaliere ;  die  gefürchtete 
Serie  ist  komplett.  Kammerherr  Ssergej  Ssoltykow,  der  Freund 
des  Großfürsten,  wird  auch  Freund  der  Großfürstin;  er  ist  der 
Vater  Pauls.  Bald  überläßt  er  seinen  Platz  dem  schönen  Polen 
Poniatowski,  der  später  zur  Belohnung  seiner  Liebesdienste 
König  von  Polen  wird;  wie  einst  Elisabeth  zum  Soldaten 
Schubin,  so  geht  Katharina  zu  Poniatowski  in  Männerkleidern ; 
sie  bekommt  wieder  ein  Kind,  ein  Mädchen.  Ihrem  Gemahl 
dämmert  nun  doch  etwas:  ,,Dieu  sait,**  sagt  er  einmal,  wie 
Katharina  selbst  zynisch  berichtet,  in  der  Trunkenheit  vor 
allen  Hofleuten,  „Dieu  sait  oü  ma  femme  prend  ses  grossesses ; 
je  ne  sais  pas  trop  si  cet  enfant  est  ä  moi  et  s*il  faut  que  je 
le  prenne  sur  mon  compte.**  Die  Gemahlin  läßt  sich  aber 
nicht  einschüchtern,  und  als  Poniatowski  fort  ist,  nimmt  sie 
Gregor  Orlow  zum  Liebhaber.  Orlow  und  sein  Bruder  Alexej 
erweisen  Katharina  den  Gefallen,  ihr  den  Gemahl  vom  Halse 
zu  schaffen,  und  setzen  ihr  die  Zarenkrone  aufs  Haupt.  Zur 
Belohnung  erhält  Gregor  Orlow  die  Stellung  eines  offiziellen 
Günstlings  der  Zarin;  er  bezieht  im  Palast  eine  Reihe  von 
Zimmern  neben  denen  der  Herrscherin,  wird  mit  den  höchsten 
Orden  dekoriert,  mit  Titeln,  Würden  und  Reichtümern  über- 
schüttet; alle  seine  Brüder  und  Vettern  kommen  an  den  Hof, 
einer  auch  ins  Bett  der  Kaiserin.  Neben  den  Orlows  glänzen 
einige  kleine  Sterne:  ein  Rekrut  Andreas,  ein  junger  Offizier 
Wissenskij,  ein  junger  Edelmann  Alexander  Wassiltschikow. 
Plötzlich  aber  müssen  alle  Platz  machen  für  den  großen  Pat- 
jomkin,  den  Sohn  eines  einfachen  Offiziers.  Patjomkin  geleitet 
eines  Tages  zu  Pferde  den  Wagen  der  Kaiserin.  Als  er  weg- 
reiten soll,  geht  das  Pferd  nicht  von  der  Stelle.  Die  Kaiserin 
schaut  auf,  der  Bursche  gefällt  ihr,  und  sie  sagt  lachend :  „Ihr 
Pferd  ist  klüger  als  Sie.*'  Das  ist  der  Anfang,  und  kurz  darauf 
ist  Patjomkin  der  mächtigste  Mann  im  Reiche  und  bleibt  es 
bis  an  sein  Lebensende,  obwohl  auch  er  wie  alle  anderen  die 
Liebe  der  Zarin  nicht  dauernd  genießen  darf.  Er  ist  die  wunder- 
bare Ausnahme :  jeder  ausgediente  Günstling  muß  sofort  vom 
Hofe    verschwinden,    nur    er    bleibt.     Dies    dankt    er    seinem 


—    531    — 

genialen  Einfall:  Im  Augenblick,  da  er  Katharinas  Liebe  ver- 
loren hat,  wird  er  ihr  Kuppler;  er  führt  ihr  fortan  alle  ihre 
Bettgenossen  zu,  und  bleibt  so  der  Herr  ihres  Lotterbettes 
und  ihrer  Lotterbuben.  Zuerst  protegiert  er  auf  den  wichtigen 
Posten  den  Sohn  eines  ukrainischen  Popen,  Peter  Sawadowskij. 
Der  Undankbare  will  den  Meister  stürzen;  er  wird  sogleich 
entfernt  und  durch  einen  anderen  Schützling  Patjomkins,  durch 
den  Serben  Soritsch  ersetzt.  Auch  dieser  lehnt  sich  gegen 
den  Wohltäter  auf;  er  wird  also  ebenfalls  auf  der  Stelle  be- 
seitigt. Nun  versucht  es  Patjomkin  wieder  mit  einem  Stock- 
russen, dem  Kürassierhauptmann  Korsakow.  Entschiedenes 
Pech!  Diesmal  verrät  der  Liebhaber  gar  die  Kaiserin  selbst: 
Katharina  findet  Korsakow  im  Bette  ihrer  Hofdame  Gräfin 
Bruce;  wütend  ruft  sie  die  ganze  Dienerschaft  zusammen  und 
läßt  das  Paar  noch  im  Bette  durchprügeln.  Endlich  scheint 
Patjomkin  den  Richtigen  gefunden  zu  haben:  Alexander 
Lanskoj,  Edelmann  und  Offizier.  Der  Siebenundzwanzigjährigc 
lebt  -nur  für  die  alternde  Herrscherin  und  ist  dem  mächtigen 
Patjomkin  treu.  Aber  die  Mühen  seines  Dienstes  bekommen 
ihm  schlecht,  er  ist  der  Arbeit  nicht  gewachsen  und  ruiniert 
sich  schnell.  Katharina  ist  trostlos,  schließt  sich  in  ihre  Zimmer 
ein,  um  sich  auszuweinen,  klagt  sich  der  Schuld  an  dem  Tode 
des  schönen  jungen  Mannes  an,  will  die  Regierung  nieder- 
legen, sterben;  sie  errichtet  auf  dem  Grabe  des  Unvergeß- 
lichen eine  kostbare  Marmorurne  und  schwört :  ,,Lanskoj  war 
der  letzte.*'  Und  sie  hält  ein  Jahr  lang  ihr  Wort.  Dann  stellt 
ihr  Patjomkin  mit  Erfolg  den  Unteroffizier  Alexander  Jermolow 
vor.  Wieder  ein  Undankbarer;  er  intriguiert  gegen  Patjomkin, 
und  er  wird  entlassen.  Denn  Patjomkin  sagt  der  Kaiserin: 
,,Er  oder  ich!**  und  Katharinas  Wahl  ist  leicht  getroffen;  ein 
Patjomkin  ist  unersetzlich,  für  einen  Jermolow  aber  gibt  es 
einen  Mamonow,  Kapitänleutnant  der  Garde.  Doch  die  Kaiserin 
und  Patjomkin,  beide  sind  wieder  betrogen:  Mamonow  intri- 
guiert bei  Katharina  gegen  Patjomkin  und  betrügt  die  Kaiserin 
mit  der  Hofdame  Prinzessin  Schtscherbatow.  Um  sich  am 
Intriganten  zu  rächen,  erzählt  Patjomkin  der  Kaiserin  von  diesem 
Seitensprung  ihres  Liebhabers.  Sie  will  es  nicht  glauben,  ruft 
Mamonow,    stellt    ihn   auf   die   Probe:   „Ich   werde   alt,    mein 

34* 


—    532    — 

Lieber,  möchte  dich  versorgen  und  mit  einer  reichen,  vor- 
nehmen Dame  verheiraten.**  Da  platzt  Mamonow  heraus :  „Ich 
habe  schon  gewähh,  die  Prinzessin  Schtscherbatow.**  Katha- 
rina schluchzt:  „Also  doch  wahrl'*  und  entfernt  ihn.  „Es  ist 
nicht  zu  sagen,  was  ich  darunter  leide,**  klagt  sie.  „Wenn 
er  mich  nur  nicht  so  hinters  Licht  geführt  hätte.  Ich  habe  eine 
bittere  Lektion  erhalten,  aber  der  Farce  so  schnell  wie  möglich 
ein  Ende  gemacht.**  Die  bittere  Lektion  hindert  die  alte  Frau 
nicht,  sich  noch  einen  Liebhaber  zu  nehmen,  ehe  der  Tod  ihrer 
Sinnentollheit  ein  Ende  macht:  Subow  ist  der  Glückliche, 
Piaton  Subow,  und  die  Witzlinge  spotten:  ihre  letzte  Liebe  ist 
eine  platonische.  ^)  Subow  sitzt  an  ihrem  Sterbebett  und  huldigt 
als  erster  dem  neuen  Kaiser.  „Freund  meiner  Mutter,**  sagt 
Paul  huldreich  zu  ihm,  „sei  auch  der  meinige**. 

Das  ist  die  Liste  der  offiziellen  Günstlinge.  Ein  offizieller 
Günstling  ist  anerkannter  Würdenträger  wie  jeder  andere:  er 
erhält  den  Rang  eines  Generaladjutanten,  bewohnt  im  Palast 
ein  Appartement  neben  dem  der  Kaiserin  und  genießt  die 
Ehren  eines  temporären  Kaiserin-Gemahls.  Am  Tage  des  An- 
tritts seiner  Stellung  erhält  er  looooo  Rubel,  und  an  jedem 
ersten  eines  Monats  zahlt  ihm  die  Hofkasse  12000  Rubel  aus. 
Der  Glückliche  ist  aber  in  einem  goldenen  Käfig,  den  er 
ohne  Erlaubnis  der  Herrin  niemals  verlassen  darf.  Auch  sind 
die  an  seine  physische  Leistungsfähigkeit  gestellten  Ansprüche 
nicht  gering;  und  wehe  ihm,  wenn  er  im  entscheidenden  Mo- 
mente versagt.  Um  keine  Enttäuschungen  zu  erleben,  hat  die 
Kaiserin  allerdings  das  Menschenmögliche  an  Voraussicht 
getan :  jeder  Kandidat  muß  sich  erst  eine  genaue  Untersuchung 
durch  den  Leibarzt  Dr.  Rogerson  gefallen  lassen;  ist  diese 
günstig  ausgefallen,  dann  hat  er  noch  eine  vierundzwanzig- 
stündige  Probe  im  Bette  der  einen  der  beiden  Probiererinnen 
Protasow-)   und  Branizka  zu  bestehen,   und  erst,   wenn  diese 


1)  Vgl.  das  54.  Kapitel. 

2)  Lord  Byron  hat  ihrer,  da  er  Don  Juan  vor  Katharina  II.  erscheinen 
läßt,  nicht  vergessen: 

,,...  Miss  Protasoff 

Named  from  her  mystic  office  TEprouveuse 

A  term  inexplicable  to  thc  musc." 


—    533    — 

rapportiert  haben :  „in  jeder  Hinsicht  vortrefflich**,  erfolgt  das 
fixe  Engagement. 

Wie  aus  den  Liebschaften  Elisabeths  entstammen  auch 
den  offiziellen  Verhältnissen  Katharinas  viele  Ahnherren  vor- 
nehmer russischer  Familien.  Ein  Sohn  Katharinas  und  Gregor 
Orlows,  Bobrinskij,  wurde  nicht  bloß  von  seiner  Mutter,  son- 
dern später  auch  vom  Kaiser  Paul  anerkannt  und  von  letzterem 
sogar  in  den  Grafenstand  erhoben,  i) 

Die  Gesellschaft  ist  des  Hofes  würdig.  Alles  Sinnen  und 
Tun  der  Männer  und  Weiber  dreht  sich  nur  um  den  gewissen 
Punkt.  Alle,  die  schön  gewachsen  sind  und  sich  auf  ihre 
Potenz  etwas  einbilden,  glauben  ihr  Glück  machen  zu  können 
und  suchen  der  Kaiserin  aufzufallen.  Ehrgeizige  Staatsmänner, 
die  Einfluß  gewinnen,  hohe  Hofbeamte,  die  ihre  Stellung  be- 
festigen wollen,  umgeben  sich  mit  Sekretären,  die  sie  dem 
Geschmack  der  Kaiserin  entsprechend  halten  und  bei  jeder 
passenden  Gelegenheit  vor  sich  her  schieben,  um  sie  der  Herr- 
scherin unter  die  Augen  zu  bringen.  Manchem  Streber,  der 
auf  nichts  pochen  kann  als  auf  seine  Ausdauer  im  Liebes- 
kampf, verdreht  die  Sehnsucht  nach  dem  lockenden  Ruhm  und 
Reichtum  den  Kopf.  Ein  kleiner  häßlicher  Kerl,  Iwan  Stra- 
chow,  Sekretär  eines  Ministers,  wird  einmal  von  Katharina 
huldvoll  angesprochen.  Er  weiß  sich  vor  SeHgkeit  nicht  zu 
fassen,  sieht  sich  schon  im  Bette  der  Kaiserin,  als  Großkanzler, 
als  Feldmarschall  und  Fürsten.  Wo  die  Herrscherin  erscheint, 
drängt  er  sich  herzu,  und  macht  die  possierlichsten  Bemühun- 
gen, von  ihr  wieder  angeredet  zu  werden.  Er  erreicht  es,  und 
die  Kaiserin,  durch  seine  belustigende  Aufdringlichkeit  in 
heitere  Laune  versetzt,  sagt  ihm:  ,;Iwan  Strachow,  bitten  Sie 
sich  eine  Gnade  aus.*'  Worauf  er  laut  aufjauchzend  nieder- 
sinkt und  schreit:  „Deine  Liebe,  Majestät!**  Die  Kaiserin  lacht 
nicht  mehr,  sie  verweist  ihn  streng  für  immer  vom  Hofe,  aus 
der  Residenz,  und  verbannt  diesen  seltsamen  Liebhaber  nach 
Kostroma ;  aber  die  eitle  Frau  will  den,  der  sie  liebt,  nicht  zu 
hart  strafen:  sie  gibt  ihm  also  auch  einen  hohen  Orden  und 
macht   ihn   zum   Vizegouverneur  in   seinem   Verbannungsort; 


1)  Er  war  ein  berüchtigter  Kartenspielen     Vgl.  Band  I  345. 


^    634    — 

so  hat  der  dumme  Kerl  doch  sein  Glück  gemacht,  wenigstens 
wie  ein  kleiner  Günstling,  ohne  die  Plage  dieses  schwierigen 
Amtes  gehabt  zu  haben. 

Die  Atmosphäre  der  Liebe  betört  die  ältesten,  wie  die 
jüngsten  Leute.  Der  81jährige  Feldmarschall  Münnich,  der 
nach  einer  langjährigen  leidensvollen  Verbannung  wieder  an 
den  Hof  zurückgekehrt  ist,  hat  hier  keinen  anderen  Gedanken, 
als:  allen  Weiberröcken  nachzulaufen.  Der  gefeierten  Schön- 
heit Gräfin  Stroganow  schickt  er  ein  Billetdoux:  „Ich  werfe 
mich  Ihnen  zu  Füßen,  und  es  gibt  keine  Stelle  Ihres  entzücken- 
den Leibes,  auf  die  ich  nicht  voller  Bewunderung  die  heißesten 
Küsse  drücke,**  und  er  unterzeichnet:  „Der  zärtliche  Greis**. 
Jeder  Würdenträger,  der  etwas  auf  seine  Würde  hält,  hat  sein 
halbes  Dutzend  Maitressen  unter  den  vornehmsten  Damen  des 
Hofes;  doch  werden  unter  Umständen  auch  Schauspielerinnen, 
Sängerinnen  und  Tänzerinnen  von  Ruf  nicht  verschmäht. 
Markow,  ein  hoher  Diplomat,  lebt  mit  der  Tragödienspielerin 
Hus;  Besborodko,  der  große  Staatsmann,  vergeudet  mit  der 
Metschanskij  die  ihm  anvertrauten  Gelder;  er  überhäuft  mit 
Gold  die  Actrice  Sandunowa ;  er  gibt  der  italienischen  Sängerin 
Davia  achttausend  Rubel  monatlich,  und  die  Undankbare  be- 
trügt ihn  mit  jedem  Kutscher  und  Lastträger;  endlich  erwirbt 
er  die  Gunst  der  Tänzerin  Karatygina,  und  während  seine  Frau 
zu  Hause  darbt,  präsidiert  die  Tänzerin  in  einem  Landhaus  des 
Ministers  einer  Orgie,  bei  der  die  vornehmen  Herren  alle  mit 
ihren  Maitressen  erscheinen. 

Und  erst  die  Damen  der  Gesellschaft  I  Die  einen  eifern  der 
Kaiserin  darin  nach,  daß  sie  wie  sie  männliche  Rollen  spielen 
wollen,  die  anderen  suchen  sie  in  der  Hurerei  zu  erreichen  und 
zu  übertrumpfen,  die  dritten  wollen  beides  zugleich.  Die  Fürstin 
Daschkow  geht  mit  Katharina  durch  dick  und  dünn.  Sie  ist 
„Direktor**  der  Akademie  der  Wissenschaften,  reitet  wie  die 
Kaiserin  zu  Pferde  in  Männerkleidern,  hat  ihre  Liebhaber  en 
masse.  Die  Gräfin  Puschkin  gibt  ihrem  Gatten  die  Ratschläge, 
wie  er  in  Finnland  seine  Truppen  kommandieren  soll,  und  er 
wagt  keine  Bewegung  gegen  den  Feind,  ehe  er  nicht  die 
Meinung  seiner  Frau  eingeholt  hat.  Der  Kriegsminister  Ssolty- 
kow  zittert  vor  seiner  Gemahlin  mehr  als  die  ganze  Armee  vor 


—    535    — 

ihm.  Das  Weiberregiment  herrscht  auch  fern  vom  Hofe.  Frau 
MeUin  ist  der  eigenthche  Oberst  des  Regiments  Tobolsk; 
während  der  Gatte  sich  kaum  zu  zeigen  getraut  oder  besoffen 
zu  Bette  liegt,  empfängt  die  Frau  Oberst  in  Narwa  bei  ihrer 
Toilette  die  Rapporte,  geht  auf  die  Parade,  inspiziert  die 
Wachen;  bei  einem  Überfall,  den  die  Schweden  versuchen, 
tritt  sie  in  Uniform  aus  dem  Zelt,  stellt  sich  an  die  Spitze  eines 
Bataillons  und  marschiert  gegen  den  Feind.  Die  stärkste 
Gruppe  bilden  indessen  jene  Frauen,  die  der  Kaiserin  nur  in 
der  Unersättlichkeit  des  Liebesgenusses  gleichen  wollen :  „Viele 
unter  ihnen,**  erzählt  Major  Masson^),  „übertrafen  ihr  Muster. 
Wem  waren  die  verliebten  Ausschweifungen  einer  Maria 
Pawlowna  unbekannt?  Welch  junger  Offizier,  der  nur  halb 
liebenswürdig  war,  ist  nicht  von  Madame  S — w  zur  Befriedi- 
gung ihrer  Wollust  gebraucht  worden?  Ärgerte  sich  nicht 
ganz  Rußland  an  den  Liebeshändeln  der  Madame  P.  ?  Vorher 
hatte  man  die  Damen  B.,  K.,  G.,  und  viele  andere,  im  Wetteifer 
mit  ihrer  Monarchin,  aus  dem  Palast  der  Zare  ein  wahres 
Bordell  machen  sehen.** 

Ein  Bordell,  nichts  anderes,  ist  der  sogenannte  „kleine 
Zirkel"  in  der  berühmten  Ermitage  Katharinas,  und  wenn  man 
die  Mysterien,  die  sich  hier  abspielen,  kennen  lernt,  muß  man 
meinen,  daß  die  Teilnehmer  die  erotischen  Phantasien  eines 
Nerciat,  die  Figuren  seiner  Felicia  und  seiner  Aphrodites  ins 
wirkliche  Leben  umsetzen  wollen :  Da  werden  die  furchtbarsten 
Orgien  gefeiert,  zu  denen  nur  die  ganz  auserwählten  Günstlinge 
und  intimsten  Lastergenossinnen  Zutritt  erhalten.  Alle  müssen 
maskiert  erscheinen,  und  unter  dem  Schutze  der  Maske  darf 
man  sich  die  größten  Freiheiten  erlauben.  Es  werden  obszöne 
Tänze  und  Spiele  aufgeführt,  bis  alle  wie  die  wilden  Tiere  über- 
einander herfallen.  Die  Ausschweifungen  ruinieren  zum  Schluß 
doch  die  unersättliche  Herrscherin.  Sie  kommt  in  ihren  letzten 
Lebensjahren  körperlich  vollständig  herunter,  wird  ein  unförm- 
licher Fleisch-  und  Fettklumpen  und  ist  bedeckt  mit  übel- 
riechenden Wunden.  Alle  Parfüms  und  selbst  das  Geheim- 
mittel des  ehemaligen  Korsaren  Lambro-Cazzioni,  der  sich  seine 


^)  Geheime  Nachrichten,  II   153,   169. 


—    536    — 

Kurpfuscherei  mit  Reichtümern  bezahlen  läßt,   helfen  nichts  : 
Katharina  verfault  bei  lebendigem  Leibe. 

Das  ist  das  Ende  des  Weiberregiments  des  achtzehnten 
Jahrhunderts,  aber  nicht  das  Ende  der  Prostitution  der  Herr- 
schenden. Der  Zarenpalast  bleibt  noch  immer  das  Riesen- 
bordell, in  dem  Hurer  und  Huren  ein-  und  ausgehen.  An  der 
Spitze  der  neuen  Männerherrschaft  steht  ein  Narr,  Kaiser  Paul. 
Seine  Mutter  Katharina,  durch  ihre  eigenen  ehelichen  Erfah- 
rungen gewitzigt,  hat  den  Sohn,  um  sich  Gewißheit  in  betreff 
seiner  Potenz  zu  verschaffen,  beizeiten  durch  die  Gräfin  Sofia 
Ossipowna  Czartoryska  ausprobieren  lassen ;  der  Versuch  ist  vor- 
trefflich ausgefallen,  nach  neun  Monaten  bringt  die  Gräfin  ein 
Knäblein  zur  Welt,  das  den  Namen  Simeon  Welikoj  erhält. 
Nach  diesem  Beweise  seiner  Potenz  vermählt  sich  der  junge 
Großfürst  mit  einer  deutschen  Prinzessin,  aber  er  kümmert 
sich  nicht  um  seine  Gemahlin,  treibt  sie  selbst  in  ein  ehebreche- 
risches Verhältnis  zu  seinem  Jugendfreunde  Andreas  Rasu- 
mowskij  und  in  den  Tod.  Mit  seiner  zweiten  Gemahlin  Maria 
Feodorowna  zeugt  Paul  neun  Kinder,  dann  vernachlässigt  er 
sie  plötzlich,  um  sich  an  die  häßliche  Katharina  Nelidow  zu 
hängen,  die  er  zynisch  zur  Ehrendame  der  Kaiserin  erhebt; 
aber  als  sich  die  zwei,  die  Gattin  und  die  Geliebte,  miteinander 
verständigen,  spielt  der  Kaiser  einen  Trumpf  aus  und  setzt 
die  ebenso  jugendliche  als  durch  ihre  Leichtfertigkeit  i)  be- 
rüchtigte Anna  Lopuchin  über  alle  beide;  und  schließlich  lebt 
er  gar  mit  seiner  dicken  Köchin.  Pauls  Söhne,  Enkel  und 
Urenkel  zeigen  alle  Züge  des  von  diesem  Ahnen  der  letzten 
Generationen  ererbten  Typus  einer  Degenerierung  von  Epi- 
lepsie zu  Wahnsinn  und  Erotomanie.  Konstantin  Pawlowitsch, 
der  zweitgeborene  Sohn  Pauls,  treibt  seine  Frau  durch  seine 
Brutahtäten  ins  Ausland  und  ergibt  sich  dem  liederlichsten 
Leben;  eine  ganze  Schar  unehelicher  Kinder  bereichert  Ruß- 
land mit  einer  Anzahl  neuer  Aristokratischer  Ahnherren :  die 
Familien  Knjasew,  Alexandrow,  die  fürstliche  Familie  Lwow 


^)  Das  Märchen  von  der  jugendlichen  Reinheit  dieser  zarischen  Maitresse 
ist  zerstört  worden  durch  die  Memoiren  des  Grafen  Fedor  Golowkin  (Golovkinc. 
La  Cour  et  le  Rögnc  de  Paul  I,  Paris  1905). 


—    537    — 

und  viele  andere  entstammen  den  Liebestollheiten  Konstantins, 
der  schließlich  seinem  Bruder,  dem  Zaren  Alexander  I.,  die 
Erlaubnis  zu  einer  neuen  Ehe  erpreßt  und  die  Polin  Johanna 
Grüdzynska  heiratet.  Alexander  I.,  der  älteste  Sohn  Pauls, 
hat  die  gütigste  und  tugendhafteste  Gemahlin,  unterhält  aber 
trotzdem  zahllose  Maitressen,  bis  ihn  die  geliebteste  von  ihnen, 
die  schöne  Maria  Antonowna  Narischkin^),  mit  seinem  eigenen 
Adjutanten,  dem  Grafen  Adam  Ojarowskij,  betrügt,  und  diese 
herbe  Entäuschung  dem  Kaiser  den  Todesstoß  versetzt. 
Nikolaj  I.,  der  dritte  Sohn  Pauls,  spielt  vor  der  Welt  den 
Sittenstrengen,  verbietet  die  Anwesenheit  junger  Mädchen  bei 
schlüpfrigen  Theaterstücken,  beauftragt  aber  den  Theaterinten- 
danten Gideonow,  alle  hübschen  Theaterelevinnen  ins  kaiser- 
liche Lustgemach  abzuliefern;  neben  Gideonow,  dem  wahren 
maitre  des  plaisirs  des  Kaisers,  fungieren  noch  Fürst  Dol- 
goruckij  und  Kleinmichel  als  „pecheurs** :  Fürst  Dolgoruckij 
führt  dem  Zaren  die  Frau  von  Stolypin,  Nichte  des  Fürsten 
Ssergej  Trubetzkoj  und  die  schöne  deutsche  Baronin  Krüdener 
zu;  Kleinmichel  verkuppelt  seine  eigene  Nichte  Olympiada 
Arkadjewna  Nelidow  und  avanciert  mit  Hilfe  der  Maitresse 
zum  Grafen  und  allmächtigen  Günstling;  die  Nelidow  wohnt 
im  Palast  Kleinmichels  an  der  Fontanka,  und  die  Gräfin  Klein- 
michel muß  sich  schwanger  stellen,  wenn  die  Nelidow  vom 
Zaren  es  wirklich  ist;  schHeßlich  werden  aber  die  zarischen 
Kinder  doch  legitimiert  und  zu  Baronen  Paschkin  erhoben.  2) 
Die  streng  erzogenen  ehelichen  Kinder  des  Zaren  haben  Lust 
dem  Vater  nachzugeraten.  Die  Großfürstin  Olga  Nikolajewna 
macht  dem  sittenstrengen  Vater  schon  früh  Schande,  sie  hat 
heimliche  Zusammenkünfte  mit  dem  jungen  Gardeoffizier  Bar- 
jatinskij ;  der  Kaiser  erwischt  den  Kühnen  und  verbannt  ihn 
nach  dem  Kaukasus  mit  den  Worten:  „Hier  bist  du  über- 
flüssig, dort  wirst  du  dich  nützlich  machen  können.**  Die 
Hoffnung  geht  in  Erfüllung,  der  Verbannte  wird  später  der 
Besieger  des  Propheten  Schamyl.  Die  Großfürstin  Olga  weint 
um   den   Jugendgeliebten   und   wird   schließlich   Königin   von 


^)  Vgl.  Band  I  387,  dazu  das  Bild  bei  Seite  392. 

-)  Über  Michael  Pawlowitsch,  den  jüngsten  Sohn  Pauls,  im  54.  Kapitel. 


—     538    — 

Württemberg.  Glücklicher  ist  die  andere  Tochter  Nikolajs, 
Maria:  nach  hartem  Kampfe  mit  dem  Vater  erhält  sie  die  Er- 
laubnis zu  einer  Liebesheirat  mit  dem  Herzog  Maximilian  von 
Leuchtenberg,  dem  Sohne  des  Eugen  von  Beauharnais.  Niko 
laj  würde  seine  Nachgiebigkeit  bereut  haben,  wenn  er  in  die 
Zukunft  hätte  sehen  können.  Die  Leuchtenberge  verursachten 
dem  Zarenhause  bald  bitteren  Verdruß :  Nikolaj  Leuchtenberg 
mußte  wegen  seiner  Liebesskandale  aus  Rußland  verwiesen  wer- 
den. Eugen  schloß  eine  Mesalliance  mit  der  schönen  Schwe- 
ster des  Generals  Skobelew.  Der  jüngste  Leuchtenberg,  Georg 
Maximilianowitsch,  heiratete  die  Montenegrinerin  Stania,  schied 
sich  aber  1907  von  ihr,,  um  sie  dem  Großfürsten  Nikolaj  Niko- 
lajewitsch  dem  Jüngeren  zu  überlassen.  Die  Mutter  dieser 
drei  Leuchtenberge,  die  Tochter  Nikolajs  L,  verleugnete  gar 
alle  Grundsätze  ihres  Vaters:  nach  dem  Tode  ihres  Gatten 
heiratete  sie  ihren  Hofvorstand,  den  Grafen  Stroganow,  und 
als  sie  auch  diesen  begraben  hatte,  abermals  ihren  Hofvorstand 
Herrn  von  Abasa. 

Und  nun  erst  die  jüngeren  und  jüngsten  Mitglieder  des 
Zarenhauses!  Kaum  ein  einziger  Großfürst  und  kaum  eine 
einzige  Großfürstin,  die  sich  nicht  durch  skandalöse  Liebes- 
affären in  unerquicklicher  Weise  hervorgetan  hätten.  Groß- 
fürst Konstantin  Nikolajewitsch  und  sein  Sohn  Nikolaj  Kon- 
stantinowitsch  wetteifern  miteinander  um  den  Ruhm  des  größ- 
ten Wüstlings  der  Familie;  Großfürst  Nikolaj  beraubt  schließ- 
lich die  Schmuckkassette  der  Mutter,  um  seine  Maitresse  zu 
bereichern,  und  kann  nicht  anders  gebändigt  werden  als  durch 
die  Zwangsjacke  des  Irrenarztes;  man  verschickt  ihn  nach 
Transkaspien,  und  er  lebt  noch  heute  fern  vom  Hofe  in  der 
Krym.  Von  den  Kindern  des  Großfürsten  Michael  Nikola- 
jewitsch verursachte  die  Großfürstin  Anastasia  schon  als  Mäd- 
chen zu  Hause  so  viel  Skandal,  daß  man  glücklich  war,  als 
sich  der  Erbgroßherzog  von  Mecklenburg-Schwerin  bereit  fin- 
den ließ,  sie  trotz  alledem  zu  heiraten.  Das  Temperament 
der  alten  Dame  ist  aber  noch  so  lebhaft,  daß  die  Skandal- 
chronik eines  jeden  Ortes,  wo  sie  weilt,  durch  ihre  Abenteuer 
bereichert  wird.  Von  ihren  Brüdern  hat  Michael  Michajlo- 
witsch  nach  einem  Flirt  mit  Fräulein  Ignatjew  Rußland  den 


—    539    — 

Rücken  kehren  müssen  und  sich  dann  im  Ausland  mit  der 
Gräfin  Sophy  Merenberg  vermählt.  Ein  anderer  Bruder,  Sscr- 
gej,  konkurrierte  lange  mit  dem  Zaren  Nikolaj  IL  um  die 
Gunst  der  Tänzerin  Mathilde  Krzesinska,  trug  endlich  den 
Sieg  davon,  mußte  aber  samt  der  Tänzerin  die  Heimat  ver- 
lassen. 

In  ähnlichen  Geleisen  bewegt  sich  schließlich  die  Familie 
Alexanders  II.  Der  Kaiser  selbst  geht  mit  dem  Beispiel  voran. 
Er  hat  neben  seiner  legitimen  Familie  eine  vollständige  zweite 
illegitime  Famiüe,  und  kaum  ist  seine  Gemahlin  gestorben, 
läßt  er  sich  seine  Maitresse,  die  Fürstin  Katharina  Dolgoruckij 
antrauen.  Sein  Sohn  und  Nachfolger  Alexander  III.  ist  der 
Mustergatte  im  ganzen  Zarenhause;  dieser  Ruf  hindert  ihn 
nicht,  mit  der  Sängerin  Maria  FüUö  ein  intimes  Verhältnis  an- 
zuknüpfen, das  erst  mit  dem  Tode  der  Maitressc  erlischt.  Seine 
Brüder  sind  alle  nicht  normal,  durchwegs  gefährliche  Eroto- 
manen: Alexej  Alexandrowitsch  steckt  die  Millionen  ein,  mit 
denen  er  die  Marine  ausgestalten  soll,  und  verschwendet  sie 
dann  mit  Frauen.  Er  lebt  als  Junggeselle  mit  einem  Fräulein 
Schukowskaja  und  läßt  einen  Sohn  aus  diesem  Verhältnis  zum 
Grafen  Belowskoj  erheben.  Die  Nachfolgerin  dieser  Maitresse 
ist  eine  Pariser  Halbweltdame,  Madame  Benin.  Mit  ihr  am 
Arm  erschien  Alexej  an  jenem  Abend  im  Theater,  da  just 
die  Niederlage  der  russischen  Flotte  bei  Tschuschima  bekannt 
geworden  ist;  die  mit  Brillanten  überladene  Maitresse  erregt 
den  Zorn  des  Publikums  und  man  treibt  den  Großfürsten  aus 
dem  Theater  unter  den  Rufen :  „Her  mit  unserem  Gelde  T*  Groß- 
fürst Alexej  verheß  noch  zur  selbigen  Stunde  dieses  freche  Volk 
auf  Nimmerwiederkehr  und  lebt  seither  in  Paris  von  den  Mil- 
lionen, die  er  an  der  russischen  Flotte  erspart  hat.  Großfürst 
Wladimir,  der  älteste  der  Brüder  nach  dem  Tode  Alexanders  III., 
raubt  wie  Alexej  und  verpraßt  wie  dieser  die  Millionen  mit 
Huren  in  Paris  und  Petersburg;  er  hat  die  Freude  zu  sehen, 
daß  seine  "Kinder  ihm  nachgeraten :  die  Tochter  Helene  heiratet 
den  Prinzen  Nikolaus  von  Griechenland,  brennt  dem  jungen 
Gatten  in  der  ersten  Flitterwoche  durch,  und  man  muß  sie  mit 
sanfter  Gewalt  zurückholen;  die  Söhne  Kyril  und  Boriß  sind  in 
Petersburg  die  Gründer  eines  „Klubs  der  Sybariten  von  Charj- 


—    540    — 

kow";  der  Klub  zählt  nur  zwei  Dutzend  Mitglieder,  durchwegs 
Großfürsten  und  hohe  Aristokraten.  Als  Gäste  darf  man  nur 
Damen  mitbringen.  Die  Bedienung  besorgen  Frauen  imd  junge 
Mädchen.  In  dem  Unterhaltungspalast  bestehen  alle  Wände 
aus  Spiegeln.  Die  vorzüglichsten  Amüsements  sind  Flagellation 
und  Notzüchtigung  kleiner  Mädchen.  Ein  Skandal,  den  ein 
Neffe  des  Fürsten  Swjätopolk-Mirskij  verursacht,  führt  zur  Auf- 
lösung des  Sybaritenklubs,  und  dessen  beide  Protektoren,  die 
Großfürsten  Kyril  und  Boriß,  müssen  für  einige  Zeit  Rußland 
verlassen.  Großfürst  Kyril  heiratet,  um  den  Zaren  Nikolaj  II. 
zu  ärgern,  die  geschiedene  Großherzogin  von  Hessen,  des  Zaren 
ehemalige  Schwägerin.  Eine  Trotz-Ehe  geht  auch  der  jüngste 
Oheim  Nikolajs  IL,  Großfürst  Paul  Alexandrowitsch,  ein.  Er 
verführt  die  Frau  Pistolkors,  und  als  sich  deren  Gatte  von  der 
Ehebrecherin  scheiden  läßt,  entflieht  Großfürst  Paul  mit  der 
Maitresse  nach  Italien  und  heiratet  dort  die  Geschiedene  trotz 
des  Bannstrahls,  den  Nikolaj  IL  als  Zar  wie  als  Kirchenober- 
haupt schleudert.  1)  Nikolaj  IL  haßt  jede  Mesalliance,  obwohl 
er  selbst  als  Thronfolger  auf  die  Krone  verzichten  wollte, 
um  eine  jüdische  Witwe  zu  heiraten.  Als  Kaiser  denkt  er  an- 
ders wie  als  Thronfolger,  und  er  konnte  es  denn  auch  seinem 
Bruder  Georg  nicht  verzeihen,  daß  dieser  sich  in  Abbas-Tuman 
mit  der  schönen,  aber  unebenbürtigen  mingrelischen  Fürstin 
Nakaschidse  vermählt  hat.  Er  zürnt  selbst  dem  Toten  und 
kümmert  sich  um  dessen  Familie  nicht,  so  daß  Herzog  Kon- 
stantin von  Oldenburg,  der  wegen  einer  ebenfalls  uneben- 
bürtigen Ehe  mit  der  Kaukasierin  Agrippina  Dschaparidse 
vom  Hofe  verbannt  ist,  sich  der  Landsmännin  seiner  Frau  an- 
nehmen muß,  um  sie  und  ihre  Kinder  vor  Not  zu  bewahren. 
Für  Bastarde  haben  die  Zaren  des  Hauses  Romanow-Holstein- 
Gottorp  weder  Mitleid  noch  Geld. 


1)  Von    dem    Großfürsten  Ssergej    Alexandrowitsch    ist    in    den    beiden 
nächsten   Kapiteln  die  Rede. 


541     — 


53-  Öffentliche  Prostitution. 

Gesetze  des  Zaren  Alexej  gegen  Kuppelei  —  Peters  des  Großen  Kriegsreglcment 
gegen  Dirnen  —  Prostitution  und  politische  Spionage  —  Kaiserin  Elisabeth 
gegen  die  Liederlichkeit  —  Die  Gelegenheitsmacherin  Dresdenska  —  Beginn 
des  Bordell  Wesens  unter  Katharina  II.  —  Der  physische  Klub  —  öffentliche 
Bordelle  —  Das  Etablissement  der  Frau  Riedl  —  Schwimmschule  —  Das 
Bordellwesen  in  Petersburg  —  Eine  Statistik  der  Prostitution  in  verschiedenen 
Städten  —  Das  Los  der  Prostituierten  —  Besonderheiten  einzelner  Orte  — 
Estinnen  —  Zigeunerinnen  —  Männliche  Prostituierte  —  Die  Harfnerinnen 
von  Nischnij  Nowgorod  —  Mädchenhandel  —  Das  Bordell  als  Tanzschule  — 
—  Nikolajs  I.  Sittlichkeitsgesetze  —  Die  Polizei  und  die  Prostitution  —  Groß- 
fürst Ssergej  als  Förderer  der  P^rostitution. 

Die  Herrscher  und  Herrscherinnen,  die  ihre  Paläste  in 
Bordelle  verwandeln,  erlassen  die  strengsten  Ukase  gegen  die 
öffentliche  Prostitution.  Zar  Alexej  befiehlt  in  seinem  Ge- 
setzbuch^):  „Wenn  ein  Mann  oder  Weib  mit  Hindansetzung 
der  Furcht  GOttes  und  des  Christlichen  Glaubens  Weiber  oder 
Mägdgen  kuppelte,  und  solches  erwiesen  würde,  so  soll  der- 
gleichen Persohn  mit  der  Knute  aufs  schärffste  gestrafft  wer- 
den.** Und  Peter  der  Große  sagt  im  ersten  Artikel  des  dritten 
Kapitels  seines  Kriegsreglements:  „Eine  öffentliche  Dirne  soll 
weder  bei  der  Miliz  noch  in  der  Garnison,  weder  auf  dem 
Marsche,  noch  in  den  Feldlagern  geduldet,  sondern  angegeben 
und  sofort  durch  die  Profosse  hinweggej^gt  werden.**  Peter 
weiß  trotzdem  den  Wert  der  Verführungskünste  einer  gerie- 
benen Kurtisane  genügend  hoch  einzuschätzen.  Als  es  sich 
darum  handelt,  in  Wien  und  Rom  Geheimnisse  der  Diplo- 
matie zu  erforschen,  beauftragt  er  mit  dieser  Mission  eine 
notorische  italienische  Hure,  die  er  gerade  wegen  ihrer  selbst 
in  Petersburg  unerträglich  gewordenen  Ausschweifungen  aus- 
weisen lassen  will;  und  Tolstoi,  der  Präsident  des  Handels- 
kollegiums, zahlt  der  liederlichen  Schönen  für  Reisespesen 
blanke  loooo  Dukaten  aus.  Die  gleiche  Ansicht  von  der 
Nützlichkeit    der   Gemeinheit   wird   später   Katharina   II.    ver- 


1)  Russisches  Landrecht,  S.  235,  XXII   25. 


—    542    — 

raten.  Um  einige  schwedische  Senatoren  für  die  russische 
Partei  zu  gewinnen,  schickt  die  Kaiserin  die  wegen  ihrer  Aus- 
schweifungen berüchtigte  Frau  von  Diwow  nach  Stockholm. 
Noch  rigoroser  als  Peter  der  Große  ist  seine  Tochter 
Kaiserin  Elisabeth.  Ihre  Gewissensskrupel  ob  ihres  laster- 
haften Lebens  hat  sie  behoben,  indem  sie  sich  mit  ihrem 
Liebhaber  Rasumowskij  vom  Priester  zu  einer  kirchlich  ge- 
segneten Ehe  verbinden  ließ;  sie  ist  zwar  dadurch  nicht  sitt- 
samer, aber  frömmer  geworden;  nicht  die  geschlechtliche,  son- 
dern die  religiöse  Moral  kommt  zur  Gehung,  und  diese  dul- 
det nur  die  geheime,  nicht  die  öffentliche  Prostitution.  Also 
setzt  EHsabeth  sofort  nach  ihrer  heimHchen  Trauung  eine 
,, strenge  Kommission  zur  Unterdrückung  aller  außerehelichen 
Verhältnisse**  einl^)  1745  beginnt  sie  schwere  Strafen  gegen 
alle  jene  zu  verhängen,  die  sich  solcher  Verhältnisse  schuldig 
machen.  Sie  befiehlt  die  Konfiskation  des  Eigentums  der 
Witwe  Nossow,  „weil  diese  Frau  ein  liederliches  Leben  führt.** 
Und  1750  verfolgt  sie  wütend  eine  gewisse  Dresdenska,  die 
Gelegenheitsmacherei  betreibt.  In  dem  auf  der  Wosnesenskaja 
belegenen  schönen  Hause  dieser  Frau  (deren  Name  im  offi- 
ziellen Aktenstück  offenbar  ersetzt  ist  durch  den  Ort  ihrer 
Herkunft),  finden  allabendlich  amüsante  zwanglose  Zusammen- 
künfte der  ganzen  eleganten  Welt  der  Residenz  statt.  Es 
erscheinen  nicht  bloß  Junggesellen  und  professionelle  Prosti- 
tuierte, sondern  auch  verheiratete  Leute  beiderlei  Geschlechts 
aus  den  vornehmsten  Kreisen.  Man  zahlt  der  Wirtin  ein  hohes 
Entree  und  kann  sich  dann  ungeniert  mit  der  Gewählten  in  ein 
separates  Zimmer  zurückziehen  oder  teilnehmen  an  der  pi- 
kanten Unterhaltung  im  gemeinsamen  Salon.  Als  Elisabeth 
von  den  Amüsements  des  Palastes  an  der  Wosnesenskaja 
Kenntnis  erhielt,  befiehlt  sie  sofort,  die  Besitzerin  unbarm- 
herzig auszuweisen.  Aber  damit  begnügt  sich  ihre  beleidigte 
Moral  nicht :  die  Kaiserin  läßt  sich  die  Liste  aller  Gäste  der 
Dresdenerin  vorlegen  und  zwingt  die  hohen  Funktionäre,  die 
eines  Attentats  gegen  die  Sittlichkeit  überführt  sind,  die  von 
ihnen   Verführten  oder  Mißbrauchten  zu   heiraten,     pine  all- 


^)  Waliszcwski,  La  demiOrc  des  Komanov,  234. 


—    543    — 

gemeine  Razzia  gegen  das  Nepotrebstwo  (iienoxpeGcTBO  be- 
deutet gleichzeitig  das  Liederliche  und  Unnütze)  ist  die  un- 
mittelbare Folge  des  Zusammenbruches  des  Freudenhauses 
der  Dresdenerin.  Aus  allen  Ecken  und  Enden  treibt  man 
die  „unnützen,  liederlichen  Frauenzimmer"  zu  Hunderten  auf 
die  Polizei,  in  die  Festung  und  in  die  Kanzlei  des  Heiligen 
Synod,  imd  es  muß  eine  besondere  Kommission  unter  Vor- 
sitz des  Kabinettsministers  Dawidow  eingesetzt  werden,  um  ihr 
Schicksal  zu  regeln.  Friedrich  der  Große  spottet  in  einer 
Satire  gegen  diesen  Übereifer  der  russischen  Zarin,  und  an- 
dere europäische  Witzlinge  meinen,  es  gebe  auch  im  Winter- 
palast und  im  Anitschkowpalaste  genug  solcher  „unnützer** 
Frauen. 

Unter  Katharina  II.  ist  das  Bild  ein  anderes;  man  bringt 
die  öffentliche  Prostitution  ungeniert  in  Übereinstimmung  mit 
der  Prostitution  des  Hofes.  Entsprechend  dem  „kleinen  Zir- 
kel** der  Ermitage  der  Kaiserin  gründet  die  vornehme  haupt- 
städtische Gesellschaft  für  ihren  eigenen  Gebrauch  einen  famo- 
sen „physischen  Klub**,  einen  Orden,  zu  dessen  Mysterien  und 
Ausschweifungen  nur  Eingeweihte  Zutritt  haben.  An  gewissen 
Tagen  kommen  die  Männer  und  Frauen  zusammen,  um  sich 
gemeinsam  den  Orgien  zu  weihen.  Männer  lassen  ihre  Weiber, 
Brüder  ihre  Schwestern  als  Mitglieder  aufnehmen.  Nach  dem 
Beispiel  des  Hofes  gibt  es  auch  hier  strenge  Prüfer  und  Prüfe- 
rinnen. Die  Frauen  werden  nur  aufgenommen,  wenn  sie  jung 
und  schön  sind;  von  den  Männern  wird  vor  allem  Stärke 
und  Ausdauer  im  Liebeskampf  -verlangt,  und  sie  müssen  ihre 
Befähigung  praktisch  erweisen,  ehe  sie  das  Diplom  eines  Mit- 
gliedes erhalten.  An  den  Gesellschaftsabenden  findet  eine 
schwelgerische  Mahlzeit  statt;  deren  Beschluß  bildet  eine  Lot- 
terie, in  der  keine  Nieten,  sondern  nur  Treffer  herauskommen  : 
das  Paar,  welches  das  Los  zusammenkoppelt,  gehört  sich  für 
den  Rest  der  Nacht  an.i) 

Für  die  Leute  niedrigeren  Ranges  gibt  es  zwar  noch  immer 
keine  privilegierten  Tempel,  worin  die  Priesterinnen  der  Bona 
Dca  ihre  Mysterien  feiern,  aber  man  duldet  desto  mehr  Win- 


^)  Geheime  Nachrichten  über  Kuülaiul,   II    171. 


—    544    — 

kelkapellen  der  Venus.  Die  Polizei  sieht  angesichts  der  all- 
gemeinen Unmoral  die  unvermeidhche  Notwendigkeit  der 
öffentHchen  Prostitution  ein,  drückt  die  Augen  zu  und  schweigt, 
solange  Kupplerinnen  und  Lustmädchen  zu  keinen  Klagen  Ver- 
anlassung geben  und  die  Zuvorkommenheit  der  behördlichen 
Organe  durch  loyale  Spenden  anerkennen.  Man  nennt 
die  wohltätigen  Institute:  Pensionsanstalten.  Eine  der  be- 
rühmtesten Pensionsanstalten  zur  Zeit  Katharinas  befindet  sich 
am  Kai.  Das  Haus  hat  drei  Etagen,  darin  in  dreierlei  Zungen 
zyprische  Loblieder  angestimmt  werden.  Das  unterste  Stock- 
werk bewohnen  lauter  Russinnen,  das  mittlere  Französinnen, 
das  oberste  deutsche  Freudenmädchen.  Am  Tor  sitzt  Tag 
und  Nacht  ein  Pförtner,  der  die  Gabe  aller  drei  Sprachen  hat 
und  den  Ankömmling  nach  Erlag  des  Eintrittsgeldes  in  das 
Departement  geleitet,   das  er  verlangt,  i) 

Die  vornehme  russische  Gesellschaft  weiß  leider  nichts  von 
der  französischen  Einrichtung  der  petites  maisons.  Die  hohen 
Herrschaften  dürfen  einander  ungeniert  in  ihren  Palästen  besu- 
chen, denn  wenn  ein  Fürst  Orlow  eine  Fürstin  Daschkow  liebt, 
so  gehört  dies  nur  zum  guten  Ton,  entspricht  es  der  feinsten 
Mode  der  Zeit  und  kann  keines  Menschen  Mißfallen  erregen, 
nicht  einmal  von  der  Fürstin  Orlow  oder  dem  Fürsten  Daschkow 
verurteilt  werden.  Anders  ist  es,  wenn  der  Fürst  Orlow  ein 
Verhältnis  mit  einer  simplen  Näherin  hat,  oder  die  Fürstin 
Daschkow  sich  von  ihrem  Kutscher  bedienen  läßt.  Weder  der 
Fürst  noch  die  Fürstin  werden  mit  diesen  Eroberungen  vor 
aller  Welt  prunken  wollen.  Da  ist  guter  Rat  teuer;  nicht 
jede  Frau  namentlich  kann  sich  über  diese  Schwierigkeiten 
so  leicht  hinwegsetzen  wie  eine  Kaiserin.  Aber  jede  große 
Zeit  findet  ihre  großen  Geister.  Am  Hofe  zu  Petersburg  lebt 
als  Gesellschafterin  der  Baronin  Goletti,  Gattin  des  österreich- 
ischen Botschafters,  eine  Frau  Riedl,  eine  gebürtige  Ungarin.  2) 
Diese  Dame  erfaßt  mit  raschem  Blick  die  Situation  und  hat 
auch  schon  ihre  Idee.    In  der  stillen  Wolkonskaja  kauft  sie  ein 


^)  Bemerkungen  über  Rußland  (von  Bellcrmann)  I   355. 
2)  Julius    Kemeny,    Hungara,    l^ngarischc    Mädchen    auf    dem    Markte. 
Budapest   1903.     S.   187  ff. 


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Armenische  Prostituierte  mit  tartarischer  Wirtin  in  Baku. 

(Nach  einet  Photographie.) 


—    546    — 

Haus;  sie  läßt  es  prächtig  einrichten,  besucht  dann  die  Aristo- 
kratinnen und  Hofdamen  der  Reihe  nach  und  stellt  ihnen, 
natürlich  unter  strengster  Diskretion,  ihre  luxuriösen  Räum- 
lichkeiten zu  geheimen  Rendezvous  zur  Verfügung.  Der  Er- 
folg zeigt,  wie  vortrefflich  die  Idee  war.  Ununterbrochen 
schlüpfen  durch  die  drei  Tore  des  Hauses  in  der  Wolkonskaja 
tiefverschleierte  Damen  hin  und  her,  und  von  den  32  Zimmern 
der  drei  Stockwerke  ist  selten  eins  vakant.  Die  Riedl  ist  eine 
erfinderische  kluge  Frau.  Sie  bleibt  nicht  bei  dem  erreichten 
Erfolg  stehen,  sie  sucht  das  Geschäft  auszugestalten.  Sie  arran- 
giert die  sogenannten  improvisierten  Rendezvous.  Sie  macht 
den  Herren  kurz  begreiflich,  daß  sie  auch  kommen  können, 
wenn  sie  just  keine  Partnerin  haben,  da  Damen  der  besten 
Kreise  stets  zur  Verfügung  stehen.  Diese  Damen  kommen 
zu  improvisierten  Rendezvous  tief  verschleiert  und  maskiert 
und  lüften  ihr  Geheimnis  niemals;  der  Mann  erfährt  nicht,  wer 
seine  liebenswürdige  Gesellschafterin  ist,  und  die  schlaue  Riedl 
streicht  ein  doppeltes  Honorar  ein.  Die  Sache  macht  Furore, 
die  Herren  drängen  sich  zu  dem  pikanten  Abenteuer  und 
erlegen  beim  Eintritt  gern  die  Taxe  von  zweihundert  Rubeln. 
Jedweder  hat  alles  nach  seinen  Wünschen,  der  bizarrste  Ge- 
schmack kann  befriedigt  werden ;  nur  das  Gesicht  der  Priesterin, 
die  sich  der  Liebe  opfert,  wird  nicht  sichtbar.  Die  Riedl 
macht  ein  brillantes  Geschäft,  sie  findet  zahlreiche  Damen 
der  höchsten  Gesellschaft  bereit,  sich  in  ihre  Dienste  zu  stellen, 
nur  aus  Liebe  zur  Sache,  nur  um  die  ausgepreßte  Zitrone  — 
das  ist :  den  Gatten  —  gegen  eine  kräftige  Nahrung  ver- 
tauschen zu  können.  Da  passiert  es  allerdings  mancher  Ehe- 
frau, daß  sie  es  mit  dem  eigenen  Gemahl  zu  tun  bekommt, 
und  daß  der  Gute,  der  daheim  die  ausgepreßte  Zitrone  ist, 
hier  im  Hause  der  Frau  Riedl  eine  nicht  zu  verachtende  Lei- 
stungsfähigkeit entwickelt,  im  heiligen  Glauben,  daß  seine  Part- 
nerin irgendein  exotisches  Wunderprodukt  der  Sinnlichkeit  sei. 
Die  Riedl  ruht  nicht  auf  ihren  Lorbeeren  aus.  Das  schnell 
erworbene  Vermögen  vergeudet  sie  nicht;  sie  legt  es  auch 
nicht  in  unfruchtbarer  Weise  an,  sondern  wuchert  mit  dem 
Gewinn :  sie  kauft  auf  Wassilij  Ostrow  ein  riesiges  Grundstück 
und   baut   hier  ein  neues   mächtiges   Etablissement   mit   einer 

btern,  Geschichte  der  üffentl.  Sittlichkeit  in  Ruüland.     **  ^c 


—    646    — 

Schwimmschule.  Rund  um  das  Bassin  ist  eine  Wand  mit 
40  kleinen  Guckfensterchen,  hinter  jedem  Fensterchen  ein 
luxuriös  eingerichtetes  Kabinett  mit  schwellenden  Sofas.  Eine 
Anzahl  robuster  Kerle  ist  engagiert,  zu  einer  bestimmten  Stunde 
im  Bassin  zu  baden,  während  männerhungrige  Weiber  in  den 
Kammern  lauern  und  jenen  Schwimmer  wählen,  der  ihnen 
am  besten  gefällt.  Zu  den  geheimen  Besucherinnen  zählt 
die  Kaiserin  selbst,  die  manchen  ihrer  Günstlinge  hier  zuerst 
erprobt.  Allerdings  leidet  das  Haus  in  der  Wolkonskaja  unter 
der  Konkurrenz  des  Hauses  auf  Wassilij  Ostrow.  Jetzt  ist  bloß 
für  die  vornehmen  Damen  gesorgt,  die  alle  nach  der  Newa- 
Insel  pilgern;  die  hohen  Herren  aber  gehen  leer  aus.  Allein 
die  Riedl  weiß  auch  da  Rat  zu  schaffen.  Sie  läßt  durch 
Vermittlung  ihrer  in  Preßburg  lebenden  Schwester  eine  Anzahl 
bildschöner  Ungarinnen  als  Kammerzofen  und  Bonnen  enga- 
gieren; es  kostet  dann  wohl  Mühe,  die  getäuschten  Mädchen 
nach  ihrer  Ankunft  in  Petersburg  zur  Raison  zu  bringen,  aber 
Geld  und  Geschenke  tun  das  ihrige  : —  und  eines  Tages  hat  die 
russische  Residenz  in  dem  Riedischen  Hause  in  der  Wolkons- 
kaja das  erste  regelrechte  Bordell.  Die  Hurenwirtin  sorgt 
fleißig  für  Nachwuchs;  die  Mädchen  dagegen,  die  nichts  mehr 
taugen,  verheiratet  sie  mit  einer  kleinen  Mitgift,  und  diese 
weise  Methode  führt  ihr  jetzt  ganz  von  selbst  immer  neue 
Opfer  zu.  Doch  eine  Unklugheit  hat  die  vorsichtige  Frau 
Riedl  begangen:  sie  kümmert  sich  nicht  um  die  Polizei.  Auf 
die  Protektion  ihrer  vornehmen  Gäste  bauend,  verweigert  sie 
den  üblichen  Tribut.  Die  Polizei  rächt  sich,  lockt  sie  in  eine 
Falle,  verwickelt  sie  in  einen  Hochverratsprozeß,  und  das  ist 
der  Riedl  Ende.  Ihr  Vermögen  zerstiebt  in  alle  Winde,  sie 
selbst  stirbt  in  einem  Gefängnis  an  irgend  einem  fernen 
Orte. 

Die  Riedl  ist  elend  untergegangen,  ihr  Werk  aber  ge- 
deiht, das  Bordellwesen  ist  in  Rußland  felsenfest  begründet. 
Die  Zahl  der  öffentlichen  Bordelle  wächst  so  rapid,  daß  bei- 
spielsweise in  Petersburg  im  Jahre  1840  mehr  als  80  größere 
und  kleinere  Bordelle  existieren  und  außerdem  mehr  als  14000 
,, Unterhaltsdamen**  (das  ist  die  landläufige  Übersetzung  des 
französischen    femme    entretcnue   ins   Petersburger    Deutsch) 


—    547    — 

unter  polizeilicher  Aufsicht  stehen,  i)  1879  zählt  man  in  der 
russischen  Hauptstadt  schon  mehr  als  zweihundert  Bordelle.  2) 
Vom  letztgenannten  Jahre  ab  aber  werden  strenge  Maßregeln 

—  nicht  gegen  die  Prostitution,  sondern  bloß  gegen  die  Bor- 
delle —  ergriffen,  so  daß  die  Zahl  der  Freudenhäuser  im 
Laufe  eines  Jahrzehnts  von  268  auf  65  sinkt. 

Die  polizeiliche  Kontrolle  ist  mangelhaft  organisiert.  Nur 
dem  Zufall  verdankt  man  folgende  Daten:  Die  Zahl  der  kon- 
trollierten Prostituierten  betrug  in  Petersburg  im  Jahre  1892: 
3242  bei  einer  Einwohnerzahl  von  i  035  939.  Am  ärgsten  ist 
es  der  offiziellen  Statistik  zufolge  in  Warschau;  da  gibt  es 
bei  einer  Einwohnerzahl  von  einer  halben  Million  2800  kon- 
trollierte Prostituierte  (im  Jahre  1892);  in  Nikolajew  bei  76098 
Bewohnern  393  (im  Jahre  1892);  Moskau  hatte  1892  bei  826000 
Einwohnern  nur  1834,  Tula  bei  etwa  60000  Einwohnern  im 
Jahre  1893  nur  64,  Charjkow  bei  197  210  Einwohnern  im  Jahre 
1892  nur  231  und  Odessa  bei  328014  Bewohnern  im  Jahre 
1892  nur  404  kontrollierte  Prostituierte.  Diese  Zusammen- 
stellung mag  nur  als  ein  Beweis  dafür  beigebracht  werden, 
wie  unzuverlässig  und  unvollkommen  die  russische  Statistik 
in  dieser  Beziehung  noch  ist,  da  der  Prozentsatz  der  Prosti- 
tuierten in  Warschau  oder  Nikolajew  fast  fünfmal  so  stark  ist 
als  jener  in  Odessa,  obwohl  letzteres  notorisch  mindestens  soviel 
Prostituierte  hat  wie  das  weit  dichter  bevölkerte  Warschau. 

Die  Bäder  in  ganz  Rußland  und  die  Hotels  vieler  Städte 

—  namentlich  Polens  —  sind  mehr  oder  weniger  öffentliche 
Freudenhäuser.  Das  Gros  der  Prostituierten  liefern  die  Ar- 
beiter- und  die  Bauernklasse,  die  in  Rußland  übrigens  von- 
einander nicht  zu  unterscheiden  sind,  da  die  Arbeiter  auch  dem 
Stande  des  Muschik  angehören.  Daß  nicht  Not  in  der  Form 
des  Arbeitsmangels,  „sondern  angeborene  Arbeitsscheu  die  de- 
generierten Weiber  zur  Prostitution  führt,**  ist  namentlich  für 
die  baltischen  Provinzen  nachgewiesen  worden,  wo  von  Arbeits- 


^)  Buddcus,  Zur  Kenntnis  von  St.  Petersburg  im  kranken  und  gesunden 
Leben,  I  93. 

2)  A.  PI.  <to;iopoin>,  O'K'picb   BpiiMe6HO-no.TuuoftcKiiro   Ha^sopa  bl  C.-IIpt«^p- 
fiyprh  1897. 

35* 


—    548    — 

mangel  keine  Rede  sein  kann  und  jede  halbwegs  fleißige 
Arbeiterin  ihr  genügendes  anständiges  Auskommen  findet,  ^j 
Es  geht  den  Prostituierten  hier  genau  so,  wie  anderAvärts. 
Sie  streben  nach  einem  flotten  sorgenlosen  Leben  ohne  Ar- 
beit und  geraten  erst  recht  in  Not.  Ohne  Schulden  beginnen 
sie  ihr  Gewerbe,  und  weil  sie  ihre  Einkünfte  nicht  zu  ver- 
werten verstehen,  stehen  sie  bald  mit  einer  schweren  Schulden- 
last da  und  werden  Sklavinnen  ihrer  Wirtinnen.^)  Dies  prä- 
zisieren die  Petersburger  Dirnen  ganz  charakteristisch  mit  eini- 
gen wenigen  Worten,  indem  sei  beim  Ausgang  auf  den  Kunden- 
fang sagen :  ryjiaK)  na  ce6«  oder :  yjiaio  na  xoaaHKy,  ich  bum- 
mele für  mich,  auf  eigene  Rechnung,  oder:  ich  bummele  für 
meine  Wirtin,   um  für  sie  Geld  zu  verdienen.^) 

Auffallend  groß  ist  unter  den  russischen  Prostituierten 
die  Zahl  der  Diebinnen.  In  Dorpat  gab  es  1899  unter  462 
polizeiHch  kontrollierten  Prostituierten  175,  die  als  Diebinnen 
bekannt  waren;  32  von  diesen  stammten  aus  notorischen  Diebs- 
familien.'*) Um  ihrer  Opfer  leichter  habhaft  zu  werden,  sucht 
die  Prostituierte,  die  auf  Diebstahl  ausgeht,  ihre  Kunden  in  den 
Traktiren  und  Kabaken  und  schleppt  dann  die  Betrunkenen 
und  Willenlosen  in  ihre  Wohnung,  wo  sie  freies  Spiel  hat ; 
gibt  das  Opfer  nicht  freiwillig,  was  gefordert  wird,  so  erscheint 
der  Zuhälter  als  deus  ex  machina,  und  der  Geprellte  und  Be- 
stohlene  ist  ffoh,  wenn  er  ungeprügelt  die  Höhle  wieder  ver- 
lassen kann.  Wie  in  Petersburg  und  Moskau  kann  man  solche 
Erfahrungen  in  ganz  Rußland  machen.  Die  Prostituierten  blei- 
ben sich  überall  gleich,  sind  dieselben  in  der  Lärmgasse  zu 
Riga  oder  in  dem  Hurenviertel  Awlabar  zu  Tiflis.  Nur  einige 
Städte  zeichnen  sich  durch  Besonderheiten  auf  diesem  Gebiete 
aus.     So  sind  es  in  der  Universitätsstadt  Dorpat  (Jurjew)  die 


^)  Dr.  C.  Ströhmbcrg,  Stadtarzt  in  Jurjew  (Dorpat):  Die  Prostitution, 
ein  Beitrag  zur  öffentlichen  Sexualhygiene  und  zur  staatlichen  Prophylaxe  der 
Geschlechtskrankheiten,  eine  sozial-medizinische  Studie,  Stuttgart  1899,  S.  68. 

2)  Ebenda  81. 

''^)  Ebenda  35.  —  Vgl.  auch  Band  I  S.  105,  wo  die  Bezeichnung  des 
Bummelns  oder  Spazierens  für  Hurerei  schon  erklärt  ist. 

•*)  Ströhmberg  a.  a.  O.  55.  Daselbst  eine  interessante  Statistik  und  merk- 
würdige Nachweise. 


—    549    — 

Estinnen,  die  durch  ihre  Verworfenheit  und  Perversität  auf- 
fallen. In  Petersburg  und  namentlich  in  Moskau  stellen  Zi- 
geunerinnen das  größte  Kontingent  der  Prostituierten,  i)  Sie 
sind  die  teuersten  Huren  des  ganzen  Reiches,  und  es  ist  das 
Ideal  der  jeunesse  dor^e,  das  Vermögen  der  Eltern  mit  einer 
Zigeunerin  zu  verprassen.  Eine  Spezialität  Moskaus  sind  ferner 
die  Bordelle  mit  männlichen  Prostituierten,  wohlgemerkt :  Pro- 
stituierten, nicht  Werkzeugen  der  Päderastie.  Der  Salon  des 
Zigeuners  Dawidow  war  in  den  letzten  Jahrzehnten  berühmt 
wegen  der  Zahl  und  Qualität  der  stets  kampfbereiten  Riesen, 
die  hier  zahlungsfähigen  und  liebeshungrigen  Damen  der  Ari- 
stokratie und  Plutokratie  zur  Verfügung  standen.  Der  Oper- 
ettensänger Sassikow  hat  sich  liier  ein  Vermögen  erworben.  2) 
Man  sieht,  die  Ideen  der  Frau  Riedl  sind  nicht  spurlos  verloren 
gegangen,  und  ihre  Nachahmer  und  Nachahmerinnen  rnachen 
nicht  weniger  glänzende  Geschäfte,  denn  die  russische  Gesell- 
schaft ist  in  diesen  hundert  Jahren  nicht  keuscher  geworden. 
Wie  zu  Zeiten  Katharinas  II.  watet  sie  durch  ein  Meer  von 
Schmutz  und  Gemeinheiten,  und  es  ekelt  sie  dieser  Weg  nicht 
bloß  nicht  im  geringsten,  sondern  sie  fühlt  sich  erst  wohl,  wenn 
sie  ihn  betreten  hat.  In  der  Unsittlichkeit  sehen  Russen  und 
Russinen  so  wenig  eine  Sünde  und  ein  Verbrechen,  daß  sie 
diesen  Zustand  für  den  natürlichsten  halten.  Es  erregte  des- 
halb  nicht  geringes  Aufsehen,  als  vor  einigen  Jahren  die  Kauf- 
leute die  Hilfe  der  Regierung  gegen  die  „Harfnerinnen**  von 
Nishnij-Nowgorod  anriefen;  die  Messestadt  ist  seit  altershcr 
ein  beliebter  Rendezvousplatz  aller  russischen  Prostituierten, 
und  im  Vorort  Kunawino^),  wo  sie  zumeist  ihr  Lager  aufschla- 
gen, wird  ein  großer  Teil  des  Geldes,  das  die  Kaufleute  wäh- 
rend der  Messe  verdienen,  umgesetzt  in  Wein  und  Liebe.  Die 
Prostituierten  erscheinen  hier  nur  zur  Zeit  der  Messe,  und 
um  sich  leichter  mit  der  Polizei  auseinanderzusetzen,  kom- 
men  sie  als  Harfenistinnen. 


^)  Princesse  Olga.  La  vie  galante  en  Russie,  Efeuillons  de  Marguerite. 
Paris.  —  Geheimnisse  der  Prostitiitionsverhältnisse  Rußlands.  Schaaffhausen 
1862. 

-)  Mitteilung  eines  Moskauer  Kaufmanns. 

^)  Bernhard  Stern,  An  der  Wolga,  Reisemomente,  S.  5. 


—    550    — 

Neben  den  öffentlichen  Prostituierten  gibt  es  wie  überall 
auch  in  Rußland  solche,  die  nur  der  Pohzei  bekannt  sind: 
Frauen  der  besseren  Stände,  Beamten-  und  Offiziersgattinnen, 
die,  um  Kleinigkeiten  zur  Bestreitung  von  Parfüms  und  Putz- 
artikeln zu  erwerben,  ihre  weibliche  Ehre  um  einen  Spottpreis 
verkaufen;  sie  suchen  meistens  Frisierstuben  und  Modesalons 
auf,  wo  sie  in  den  vorderen  Räumlichkeiten  gleich  ausgeben 
können,  was  sie  in  den  hinteren  verdient  haben.  Berühmt  war 
in   jüngster   Zeit   der   Salon   der  Schneiderin  Minanga. 

Seltener  als  in  anderen  Ländern  tritt  in  Rußland  der 
Fall  ein,  daß  Mädchen  der  Prostitution  direkt  verkauft  werden.^) 
Dies  ereignet  sich  gewöhnlich  bloß  in  den  polnischen  Gouver- 
nements, in  Odessa  und  Kaukasien.  Namentlich  in  der  letzt- 
erwähnten Statthalterschaft  hört  man  häufig  von  Entführungen 
von  Mädchen  jugendlichen  Alters  2),  die  dann  an  Agenten  ver- 
kauft und  von  diesen  zumeist  an  die  Bordelle  in  Baku  oder 
Tiflis  weitergegeben  werden. 

Auf  dem   1897  in  Petersburg  stattgehabten  Kongreß   zur 
Bekämpfung   der   Syphilis  machte  ein  Arzt  3)   Mitteilung   von 
einer  merkwürdigen  russischen  Spezialität :  er  erzählte,  daß  in 
der  durch  ihre  Gewehrfabrik  und  ihre  SUberwaren  berühmten 
Stadt   Tula,   wo  es  keine   Tanzschulen  und   keine  Tanzlehrer 
gibt,  die  jungen  Leute  —  beiderlei  Geschlechts !  —  die  Bordelle 
besuchen,  um  tanzen  zu  lernen.     Aber  nicht  bloß  in  solchen 
einigermaßen  entfernten   Städten  wie  Tula,   sondern  auch   in 
Petersburg   und   Moskau  ist  ähnliches   der  Fall.     Da  gibt    es 
Kupplerinnen,    die    der   Polizei   gar   wohl   bekannt   sind    und 
dennoch   anstandslos   Bälle   und   Abendgesellschaften   für   so- 
genannte wohltätige  Zwecke  veranstalten  dürfen.    Durch  Kund- 
schafte! innen  und  Agenten  lassen  sie  alle  möglichen  hübschen 
Mädchen    aus   besseren   Familien   heranlocken.     Die    Damen 
brauchen  kein  Entree  zu  bezahlen,  die  Herren  aber,  die  an  den 
Bällen  teilnehmen  wollen,  müssen  einen  bedeutenden  Betrag 


^)  B.  Okoix)K<>ki»,  Mt'Hx;(j^iiap<viHan  ToproBJifl  ,it»BymK-aÄiii,  Mockbji  1892. 

2)  Lodzer  Zeitung,  Oktober  1902. 

^)  JXyl  A|)XiiüRMi>cidrt  (Ti)v;u»i  Biaco4aftiiJe  paaplinn'Hnaix)  ci.t.aja  iio  06- 
evHU^HiK)  Mf.pi>  niMtrinri,  rH([nf.TiK'a  in.  Poociii  C.-irr)r.  1897).  —  Ströhmberg 
a.  a.  O.   13. 


—    651    — 

als  Eintrittsgeld  erlegen.  Dem  Tanz  folgt  ein  Gelage,  und 
das  Übrige  ergibt  sich  von  selbst. 

Das  gegenwärtig  noch  geltende  Strafgesetzbuch  Niko- 
lajs  I.i)  kennt  eine  ganze  Reihe  von  Strafen  für  Verletzung 
weiblicher  Ehre  und  Vergehen  wider  die  öffentliche  Sittlich- 
keit.   Hier  die  interessantesten: 

Wer  ein  Mädchen,  das  das  vierzehnte  Lebensjahr  noch 
nicht  zurückgelegt  hat,  gewaltsam  der  jungfräulichen  Ehre 
beraubt,  erhält  lo — 12  Jahre  Arbeit  in  den  Festungen.  Wer 
einem  noch  nicht  vierzehnjährigen  Mädchen  ohne  Gewalt, 
jedoch  durch  Berückung  ihrer  Unerfahrenheit  die  jungfräu- 
liche Ehre  raubt,  wird  zu  4 — 8  Jahren  Arbeit  in  den  Fabriken 
oder  zu  8 — 10  Jahren  Festungsarbeit  verurteilt.  Bei  Bestim- 
mungen des  Grades  und  des  Maßes  dieser  Strafen  werden  die 
Umstände,  unter  denen  das  Verbrechen  geschah,  das  Alter  und 
die  geistige  Bildung  des  Verbrechers  und  die  Folgen,  welche 
die  Tat  für  die  gemißbrauchte  Person  haben  kann,  berück- 
sichtigt. Hat  aber  der  Verbrecher  bei  dieser  Tat  sich  nicht 
bloß  die  Unerfahrenheit  des  Mädchens  zunutze  gemacht, 
sondern  auch  die  ihm  durch  seinen  Beruf  zustehende  oder 
durch  die  Eltern,  Vormünder  oder  Anverwandten  der  weib- 
lichen Person  übertragene  Autorität  mißbraucht:  so  erhält  er 
IG — 12  Jahre  Festungsarbeit.  Die  unfreiwillige  Schwächung 
einer  mehr  als  vierzehnjährigen  Frauensperson  wird  an  dem 
Täter  mit  4 — 8  Jahren  Festungsarbeit  bestraft.  Bei  Bestim- 
mung des  Grades  und  Maßes  dieser  Strafen  werden  ebenfalls 
die  Umstände,  unter  denen  das  Verbrechen  geschah,  das  Alter 
und  die  geistige  .Bildung  des  Verbrechers  und  die  Folgen, 
welche  das  Verbrechen  für  die  gemißbrauchte  Person  haben 
kann,  in  Betracht  gegeben.  Diese  Strafen  werden  alle  in  fol- 
genden Fällen  um  einen  Grad  erhöht:  wenn  die  unfreiwillige 
Schwächung  an  einer  verheirateten  Frauensperson  verübt 
worden  ist;  wenn  jemand  ein  solches  Verbrechen  an  einer 
Frauensperson  begeht,  welche  er  zu  diesem  Zwecke  wider  ihren 
Willen  oder  durch  Betrug  entführt  hat;  wenn  die  unfreiwillige 


*)  Strafgesetzbuch  des   Kussischen   Reichs  promulgiert  im   Jahre   1845, 
§§   1998 — 2007  und   1281  —  13^x3. 


—    552    — 

Schwächung  unter  körperlichen  Mißhandlungen  und  Peinigun- 
gen stattgefunden  hat ;  wenn  sie  an  einer  Frauensperson  verübt 
wurde,  die  vorher  auf  Veranstaltung  des  Täters  in  einen  Zu- 
stand vorübergehender  Bewußtlosigkeit  oder  Betäubung    ver- 
setzt worden  war;  wenn  das  Verbrechen  durch  den  Vormund, 
Kurator  oder  Lehrer  der  Geschwächten,  durch  den  Aufseher 
des  Gefängnisses  oder  der  Anstalt,  wo  sie  sich  befand,  durch 
den  Arzt,  der  sie  behandelte,  oder  sonst  durch  jemand  begangen 
worden  ist,  dem  sein  Beruf  oder  andere  Umstände  über   sie 
eine  gewisse  Autorität  verliehen  hatten;   wenn  der  Täter   als 
leibeigener  oder  gedungener  Diener  im  Hause  der  Geschwäch- 
ten oder  ihres  Ehemannes,  ihrer  Eltern,  Vormünder  oder  Er- 
zieher angestellt  war ;  wenn  dabei  das  Leben  der  Geschwächten 
bedroht  oder  gefährdet  wurde.     Wird  eins  von  den  bezeich- 
neten Verbrechen  an  einer  Jungfrau  verübt,  so  trifft  den  Täter 
das  höchste  Maß  der  daselbst  angeordneten  Strafen.     Wenn 
die    unverheiratete    Frauensperson,    welche    unfreiwillig     ge- 
schwächt worden  ist,  keine  Unterhaltsmittel  besitzt :  so  muß, 
falls  sie  selbst  oder  ihre  Eltern  oder  Vormünder  darauf  an- 
tragen, aus.  dem  Vermögen  des  Täters  so  viel,  als  zu  ihrem 
standesmäßigen  Unterhalt  bis  zu  ihrer  Verheiratung  nötig  ist, 
beigesteuert  werden.   —  Wer  eine  Frauensperson  in  der  Ab- 
sicht  entführt,   den  Beischlaf  mit   ihr  gegen   ihren  Willen   zu 
vollziehen,   und  hieran  nur  durch  äußere,  nicht   von  ihm   ab- 
hängende  Umstände   gehindert   wird,   erleidet   die   Strafe    der 
versuchten,  unfreiwilligen  Schwächung.    Entsagt  aber  der  Ent- 
führer seinem  Vorhaben  freiwillig  oder  auf  Zureden  der  Ent- 
führten,   so    beschränkt    sich    seine    Strafe,    nach    Umständen, 
auf  drei  bis  sechs  Monate  Gefängnis,  oder  auf  drei  Wochen 
bis  zu  drei  Monaten  Arrest.     Wer  eine  Frauensperson  wider 
ihren  Willen  entführt,  jedoch  nicht    um  an  ihr  Gewalt  zu  üben,, 
sondern  um  sie  zum  Beischlaf  zu  bereden,  oder  auch  nur  um 
deren   guten   Ruf  zu  beeinträchtigen,   kommt,   wenn  die  Ent- 
führte ledig  oder  Witwe  ist,   auf  sechs  Monate  bis  zu  einem 
Jahr   ins   Besserungshaus.     Ist  aber   die  Entführte   mit   einem 
anderen  verehelicht  oder  versprochen,  so  wird  der  Entführer 
zu    zwei    bis    drei    Jahren    Besserungshaus    verurteilt.      Wer 
eine  ledige  Frauensperson  durch  ein  feierlich  gegebenes  Ehe- 


versprechen  zum  Beischlaf  verleitet,  und  sein  Versprechen  nicht 
erfüllt,  wird  auf  zwei  bis  drei  Jahre  ins  Besserungshaus  ein- 
gesperrt. Über  unfreiwillige  Schwächung,  Defloration,  Ent- 
führung und  Verführung  von  Frauenspersonen  wird,  falls  das 
Verbrechen  nicht  etwa  den  Tod  der  Geschwächten  veranlaßt 
hat,  ein  gerichtliches  Verfahren  nur  dann  eingeleitet,  wenn 
diese  selbst  oder- deren  Eltern,  Vormünder,  Anverwandte  oder 
andere  zu  ihrer  Obhut  verpflichtete  Personen  darüber  klagend 
einkommen.  Ist  die  geschwächte  Person  verheiratet,  so  findet 
das  gerichtliche  Verfahren  nur  statt,  wenn  entweder  sie  selbst 
oder  ihr  Ehemann  klagt.  — 

Männer  sowohl  als  Weiber,  die  eine  liederliche  Lebens- 
weise führen  und  solches  an  öffentlicher  Stelle,  durch  scham- 
lose Ärgernis  erregende  Handlungen  an  den  Tag  legen,  werden 
auf  sechs  Monate  bis  zu  zwei  Jahren  Gefängnis  verurteilt. 
— -  Wer  ein  Unzuchthaus  hält,  oder  die  Wollustbefriedigung 
anderer  als  Gewerbe  betreibt,  wird  beim  ersten  Mal,  in  den 
Hauptstädten  um  zehn  bis  fünfzig,  in  anderen  Städten  um  drei 
bis  zehn,  in  den  Dörfern  um  einen  bis  drei  Rubel  gestraft,  beim 
zweiten  Mal  aber  auf  sechs  Monate  bis  zu  einem  Jahr  zum  Besse- 
rungshaus verurteilt,  und  nachher  auf  zwei  Jahre  unter  Polizei- 
aufsicht gestellt,  oder,  falls  er  ein  Ausländer  ist,  aus  dem  Reich 
gewiesen.  Wenn  der  Inhaber  eines  Gast-,  Speise-,  Kaffee-, 
Trink-,  Bade-  oder  anderen  öffentlichen  Hauses  seinen  Gästen 
wissentlich  im  Lokal  seiner  Wirtschaft  Mittel  zur  Unzucht  dar- 
bietet :  so  wird  er  beim  ersten  Mal  um  zehn  bis  zwanzig  Rubel, 
beim  zweiten  und  dritten  Mal  um  das  Doppelte  gestraft.  Über- 
dem  wird  seine  Anstalt  beim  dritten  Mal  geschlossen.  Ist  an 
einem  solchen  Vergehen  nicht  der  Wirt,  sondern  der  Dienst- 
bote schuld:  so  kommt  dieser  auf  drei  Wochen  bis  zu  drei 
Monaten  unter  Arrest,  und  der  Wirt  muß,  als  Strafe  für  mangel- 
hafte Beaufsichtigung,  fünf  bis  zehn  Rubel  erlegen.  Wer  ohne 
ein  beständiges  Unzuchthaus  zu  halten,  wissentHch,  für  Geld 
oder  sonstigen  Lohn,  in  einem  zu  seiner  Verfügung  stehenden 
Lokal  anderen  wollüstige  Ausschweifungen  gestattet,  wird  mit 
sieben  Tagen  bis  zu  drei  Wochen  Arrest  belegt.  —  Wer  als 
Aufseher  oder  Dienstbote  eines  Unmündigen  oder  Minder- 
jährigen der  Neigung  desselben  zu  irgend  einem  Laster  Vor- 


—     554     — 

Schub  tut  oder  ihn  gar  dazu  anleitet,  wird  mit  drei  bis  sechs 
Monaten  Gefängnis  bestraft  und  darf  nie  wieder  als  Jugendauf- 
seher angestellt  werden. 

Wer  öffentlich,  mit  frecher  Sittenverhöhnung,  liederliche 
Weiber  besucht,  wird  um  einen  bis  zehn  Rubel  bestraft.  Weiber, 
die  aus  der  Unzucht  ein  Gewerbe  machen,  werden  mit  Arrest 
auf  sieben  Tage  bis  zu  drei  Monaten  belegt.  Liederliche  Weiber, 
die  mit  der  Lustseuche  behaftet  sind  und  solches  nicht  gleich 
beim  Ausbruch  der  Krankheit  einem  Arzt  anzeigen,  werden, 
nachdem  sie  geheilt  worden,  beim  ersten  Mal  mit  einer  Geld- 
buße von  zehn  Rubeln  und  Arrest  auf  sieben  Tage   bis    zu 
drei  Wochen,  beim  zweiten  Male  zu  einer  Geldbuße  von  dreißig 
Rubeln  und  Arrest  auf  drei  Wochen  bis  zu  drei  Monaten,  beim 
dritten  Mal  mit  drei-  bis  sechsmonatiger  Einsperrung  im  Besse- 
rungshaus bestraft.  —  Wer  an  einem  öffentlichen  Ort  oder  in 
einer  zahlreichen  Versammlung  betrunken,  in  liederHchem,  un- 
anständigen Aufzug  erscheint,  oder  sich  an  öffentlicher  Stätte 
bis  zur  Bewußtlosigkeit  trunken  betreffen  läßt,  wird  beim  ersten 
Mal  auf  einen  bis  drei  Tage,  beim  zweiten  Mal  auf  drei  bis 
sieben  Tage  und  beim  dritten  Mal  auf  drei  Wochen  bis  zu 
drei  Monaten  unter  Arrest  gesetzt.  — 

Wer  in  eine  öffentliche,  für  Personen  eines  anderen  Ge- 
schlechts bestimmte  Badeanstalt,  absichtlich,  mit  oder  ohne 
Gewalt,  zu  einer  Zeit  eindringt,  wo  daselbst  gebadet  wird,  muß 
einen  bis  zehn  Rubel  Strafe  zahlen,  und  wird  im  Wieder- 
holungsfall zu  derselben  Geldbuße  und  zu  drei  bis  sieben  Tagen 
Arrest  verurteilt.  — 

Den  Vater  und  die  Mutter,  die  ihre  Kinder  verkuppeln; 
den  Ehemann,  der  seine  Frau  verkuppelt ;  den  Lehrer,  Vor- 
mund und  Kinderaufseher,  der  die  ihm  anvertrauten  jungen 
Leute  verkuppelt :  treffen  schwere  korrektionelle  Strafen.  Wenn 
andere,  als  die  früher  bezeichneten  Personen  sich  der  Kuppelei 
schuldig  machen,  so  werden  sie  beim  ersten  Mal  um  fünf  bis 
zehn  Rubel,  beim  zweiten  Mal  mit  drei  bis  sechs  Monaten  Ge- 
fängnis bestraft.  Wer  das  Kuppeln  als  ein  Gewerbe  treibt, 
wird    wie   jener,    der   ein   Unzuchtshaus   hält,   bestraft.    —   — 

Was  helfen  aber  alle  diese  Gesetze,  solange  die  Polizei 
selbst  si(*h  um  sie  nicht  kümmert!    Und  doch  muß  man  noch 


—     555    — 

die  Polizei  mild  beurteilen,  wenn  man  erfährt,  wie  ganz  andere 
höhere  Persönlichkeiten  sich  zur  Prostitution  verhalten.  Der  als 
Sadist  und  Päderast  berüchtigte  Großfürst  Ssergej  verweigerte 
als  Generalgouverneur  von  Moskau  vor  einigen  Jahren  einer 
ehrenwerten  Dame,  welche  vornehme  Tanzkurse  leitete,  die 
Erneuerung  ihres  Privilegiums.  Der  Großfürst  erklärte  sich 
nur  dann  zu  dieser  Erneuerung  bereit,  wenn  die  Dame. ihm  in 
ihrem  Tanzsalon  eine  Orgie  mit  einigen  ihrer  Schülerinnen 
aus  den  besten  Familien  gestatten  würde ;  als  sie  aber  ablehnte, 
ließ  der  Großfürst  sie  als  Kupplerin  verfolgen  I  Eines  Tages 
erließ  Großfürst  Ssergej  den  Befehl  zur  Ausweisung  aller  Juden ; 
bleiben  sollten  nur  dürfen:  die  jüdischen  Mädchen,  die  Prosti- 
tuierte waren  oder  werden  wollten,  und  jüdische  Knaben,  die 
sich  ziu:  Päderastie  hergeben  würden,  i)  Wurde  festgestellt, 
daß  solche  Knaben  und  Mädchen  ihr  „Handwerk**  nicht  aus- 
übten, sondern  nur,  um  in  Moskau  ihr  Brot  behalten  zu  dürfen, 
sich  die  Scheine  der  Schande  und  Zeugnisse  als  „Lehrlinge** 
und  „Lehrmädchen**  erschlichen  hatten,  so  wurden  sie  zur 
Polizei  befohlen,  vergewaltigt  und  dann  unerbittlich  ab- 
geschoben. Ein  junges  Mädchen  aus  Podolien  war  in  einem 
Kaufgeschäfte  angestellt  und  hatte  sich  das  „Diplom**  einer 
Prostituierten  verschafft.  Eines  Tages  wurde  sie  zur  Polizei 
befohlen  und  befragt,  warum  sie  das  vorgeschriebene  Gewerbe 
—  die  Prostitution  —  nicht  ausübe.  Sie  gesteht  ihr  Verbrechen : 
sie  sei  gar  keine  Prostituierte.  Man  ruft  den  Arzt;  er  unter- 
sucht sie,  und  das  Resultat :  das  Mädchen  ist  Jungfer.  Darauf 
macht  der  Polizeichef  kurzen  Prozeß,  er  behält  die  Jungfrau 
bei  sich,  vergewaltigt  sie,  läßt  sie  durchpeitschen  und  schließ- 
lich ausweisen.  Der  Brotgeber  der  Unglücklichen,  ein  einfluß- 
reicher russischer  Kaufmann,  bringt  den  Fall  nach  langer  Mühe 
vor  den  Zaren.  Es  wird  auch  eine  Untersuchung  angestellt, 
aber  man  muß  die  Anklage  fallen  lassen;  denn  der  Polizei- 
chef beruft  sich  auf  einen  Befehl  des  Generalgouverneurs 
Großfürsten  Ssergej  Alexandrowitsch :  „Wenn  ein  Frauen- 
zimmer dem  Reglement  entgegen  noch  Jungfrau  sein  sollte, 
muß  man  das  Reglement  anzuwenden  verstehen!** 


*)  AlexandiT  Ular,   Die  russische  Revolution.     Berlin   I9<\«;.     S.  104. 


556     — 


54-  Bestialität  und  gleichgeschlechtliche  Liebe. 

Der  Domostroj  und  die  Sodomie  —  Sodomie  keine  Sünde  —  Zar  Joan  III. 
als  Sodomit  —  Die  Sodomie  des  Zaren  Ursache  zum  Kriege  gegen  Livland  — 
Die  bestialische  Sodomie  in  Estland  —  Sodomie  und  Aberglaube  —  Die  Popen 
als  Sodomiten  —  Peter  bedroht  bestialische  Sodomie  und  Päderastie  mit  dem 
Tode  —  Peter  der  Große  als  Sodomit  und  Päderast  —  Lesbische  Liebe  —  Die 
Regentin  Anna  Leopoldowna  und  Juliane  Mengden  —  Katharina  II.  und  ihre 
Tribaden  —  Die  Perversitäten  der  Brüder  Subow  —  Katharina  verlangt  Barm- 
herzigkeit für  die  Perversen  —  Nikolajs  I.  Gesetze  gegen  Perversitäten  —  Die 
neuesten  Gesetze  Nikolajs  II.  —  Großfürst  Michael  Pawlowitsch  als  Päderast 
—  Die  Internate  Pflanzstätten  der  Päderastie  —  Berühmte  Persönlichkeiten 
als  Päderasten  — r  Potapow  —  Naryschkin  —  Päderastenlieder  —  Rußlands 
große  Dichter  besingen  die  Päderastie  —  Großfürst  Ssergej  als  Päderast  — 
Öffentliche  Päderastie  —  Die  Päderastie  in  den  Bordellen  und  Bädern   Kau- 

kasiens. 

Der  „Domostroj'*,  der  russische  Knigge  des  sechzehnten 
Jahrhunderts,  führt  in  seinem  Verzeichnis  verdammenswerter 
Sünden  die  folgenden  furchtbaren  Dinge  auf:  Spiel,  Musik, 
Jagd  mit  abgerichteten  Hunden  und  Vögeln,  Pferderennen. 
Das  alles  verdient  wahrhaftig  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  Höllenstrafen  in  jener  und  Kapitalstrafe  in  dieser  Welt. 
Milder  warnt  der  Domostroj  vor  einigen  anderen  kleineren 
Lastern  des  russischen  Volkes,  beispielsweise :  Trunksucht  und 
Sodomie.  Der  Meinung  des  Domostroj  schließt  sich  das 
russische  Volk  an:  Sodomie  mag  ein  Laster  sein,  ist  aber 
kein  Verbrechen.  ,,Die  Verehelichungen  in  Russen  werden 
sehr  hoch  gehalten  und  rccommandiret  /  als  ein  Mittel  zu 
verhindern  /  daß  die  Russen  mit  denen  Knaben  oder  Thieren 
nicht  Unzucht  treiben  /  wozu  sie  sehr  geneigt  sind  /  und 
welches  Laster  mit  dem  Tode  nicht  bestrafft  wird.  Als  vor 
7.  oder  8.  Jahren  ein  junger  Pursche  ertappet  wurde  /  welcher 
mit  einer  Kühe  in  dieser  schändlichen  Verrichtung  begriffen 
war  /  so  schrie  er  denselben  /  der  ihn  antraff  /  also  zu : 
NemisheayM,  das  ist  /  störe  mich  nicht:  man  beschreibet 
dieses  Laster  in  gantz  Moskau  nicht  weiter  /  als  mit  diesen 


1)  Richtig:   nr  meschaj.   Hi'.\rl,iiiai1 


~    557    — 

Worten;  Ne  misheay.*'^)  Zar  Iwan  III.  trieb  so  ungeniert 
Sodomie  (Bestialität),  daß  man  in  ganz  Europa  davon  wußte. 
Als  er  den  Wunsch  hegte,  mit  den  europäischen  Fürstenhäusern 
in  verwandtschaftliche  Beziehungen  zu  treten,  und  einen  Boten 
nach  Polen  schickte,  um  die  Hand  der  Schwester  des  Königs 
August  Sigismund  zu  verlangen,  wagte  der  polnische  Herr- 
scher dem  Zaren  als  höhnische  Antwort  eine  mit  Weiber- 
kleidern angezogene  Stute  zu  senden.  Ein  ähnlicher  Schimpf, 
der  dem  Zaren  in  Reval  angetan  wurde,  war  die  Ursache  zu 
seinem  Kriege  und  zu  seinen  Grausamkeiten  gegen  die  Balten. 
Es  wird  hierüber  erzählt  2):  „Anno  1494,  ließ  Ivan  Wasilie- 
witz  Grodzdin  alle  Teutsche  Kaufleute,  welche  sich  zu  No- 
wogorod  (alwo  die  Hansee-Städte  ihr  vierdtes  Contor  hatten) 
aufhielten,  gefangen  nehmen  und  in  schwere  Gefengnis  werffen, 
so  daß  etliche  gantzer  9  Jahre  in  den  faulen  Thürmen  elendig- 
lich zubringen  musten.  Welches  daher  anfangs  verursachet, 
daß  die  von  Reval  zwey  Reußcn,  ihrer  Mißhandelung  halber, 
gerechtfertiget,  und  den  einen,  der  falsche  Schillinge  in  ihrer 
Stadt  gemüntzet  hatte,  nach  Teutschem  Rechte,  zu  Tode  sieden, 
den  andern,  der  bey  einer  Stute  auf  unnatürlicher  That  be- 
schlagen, verbrennen  laßen.  Solches  verdroß  den  Reußen 
hefftig,  als  die  sich  bedüncken  ließen,  daß  man  sothane  Miß- 
handelung  am  Leben  nicht  straffen  könne.  Crantius  meldet: 
einige  sollen,  da  sie  bey  den  Revelischen  sich  darüber  be- 
klaget, aus  Unbedacht  ausgefahren  und  gesagt  haben :  sie 
wolten  den  Großfürsten  selbsten,  wenn  sie  ihn  in  solchem  Laster 
betreten,  wie  einen  Hund,  verbrennen.  Als  es  aber  dem  Groß- 
fürsten hinterbracht,  sol  er  dermaßen  ergrimmet  worden  seyn, 
daß  er  auch  seinen  Stock,  dabey  er  ging,  zerbrochen,  auf  die 
Erde  geworffen  und  zugleich,  mit  zusammen  gebißenen  Zähnen, 
gen  Himmel  sehend,  gesagt  haben:  Räche  Gott  und  richte 
meine  Sache.  Drauf  er  sich  obgedachtermaßen  an  die  Teutsche 
Kaufleute,  welche  in  den  Contors-Hoff  ihre  gewönliche  Re- 
sidentz  hatten,  vergriffen,  ließ  es  auch  dabey  nicht  bewenden, 
sondern  begehrte  noch  dazu  von  den  Ständen  in  Lyfland  mit 


^)  Reise  nach   Norden. 

2)  Hiärns  Geschichte  S.  188. 


—    558    — 

vielem  Drohen  und  großem  Ernst,  daß  man  ihm  die  Revel- 
schen,  die  seine  Reußen  unschuldig  zum  Tode  vcrurtheilet 
hatten,  überantworten  solte." 

Die  Herausforderung  des  Zaren  Iwan  III.  durch  die  Revaler 
erscheint  übrigens  gänzlich  deplaziert,  wenn  man  weiß,    daß 
die  Sodomie  —  die  Unzucht  mit  Tieren  —  in  Estland   selbst 
ein  altes  Laster  ist,  das  noch  bis  heute  nicht  ausgerottet  Averden 
konnte.  1)    Stute,  Kuh  und  Ziege  sind  vor  dem  estnischen  und 
lettischen  Bauer  nicht  sicher.  Nicht  bloß  ledige,  sondern  auch 
verheiratete  Personen  sind  dieses  widernatürlichen  geschlecht- 
lichen  Verkehrs   überführt  worden.     Vor   den  baltischen    Ge- 
richten erscheinen  als  Sodomiten  sogar  nicht  selten  Männer, 
die   in   der   glücklichsten   Ehe   leben.     Einrrial   ertappte    man 
,,einen  Ehemann,  der  eben  erst  seiner  Frau  ehelich  beigewohnt 
hatte,  gleich  darauf  mit  einer  Ziege.'*    In  den  Ostseeprovinzen 
war    die    Strafe    für    Sodomie    immer    eine    verhältnismäßig 
geringe:    „1792   wurde  ein  Pastoratsbauer  aus  dem  Andern- 
schen  Kirchspiel,  der  dem  Herrn  Pastor  Kornrumpf  gehörte, 
öffentlich   am   Kirchenpranger  gepeitscht,   weil   er  eine   Stute 
bestiegen  hatte.*'    Schlimmer  erging  es  1790  einem  Manne  im 
Testamaschen   Kirchspiel;   ,,er  trieb  es  lange  Zeit  mit   seiner 
Stute  und  erhielt  in  Pernau  40  Paar  Ruten  und  Verweisung 
nach  Sibirien.'*    Ein  siebzehnjähriger  Bursche   auf  dem  Gute 
Nürms  sündigte  mit  einer  Kuh.    Laut  dem  Urteile  des  Nieder- 
landesgerichtes in  Baltischport  bekam  er  ,, vierzig  Paar  Ruten, 
Kirchensühne  und  2  Jahre  öffentliche  Arbeit.**  Die  Kuh  mußte, 
,,um  ärgerliche  Gedanken  zu  verhüten,  aus  der  Gegend  fort- 
geschafft werden."     Der  Propst  Glanström  im  Kirchspiel   Mi- 
chaelis fragte  einen  Sodomiten,  wieso  er  aufs  Laster  verfallen, 
und  erhielt   folgende  interessante  Antwort :    ,,Ich  habe  einen 
Sodomiten  öffentlich  abstrafen  sehen;  da  habe  ich  gedacht, 
ein  Laster,  um  dessentwillen  ein  Mensch  so  großen  Schmerz 
erduldet,  einen  Schmerz,  von  dem  er  wußte,  daß  er  ihm  als 
Strafe    für    sein    Laster    drohte,    ein    solches    Laster,    hab    ich 
gedacht,   muß   doch  wohl  durch   seinen  Reiz   und  seine  Ver- 
gnügungen   für    die    Schmerzen    entschädigen.**     Eine    Veran- 


1)  Pctri,  Elistlaiul  uiul  die  Kli^tcii,   11  44. 


—    559    — 

lassung  zur  Sodomie  gibt  der  häufige  Umgang  der  Bauern 
mit  ihrem  Vieh.  Mancher  Bauer  verbringt  mit  seinen  Kühen, 
Stuten  und  Ziegen  den  ganzen  Sommer  auf  einer  einsamen 
Weide.  Im  Winter  schläft  er  oft  mit  den  Tieren  im  Stall 
oder  er  hält  sie  in  seiner  eigenen  schmutzigen  Stube.  Die 
Pastoren  predigen  allsonntäglich  gegen  das  Laster,  aber  indem 
sie  es  ausmalen,  lehren  sie  es  erst  recht  kennen.  Und  mancher, 
den  man  erwischt,  sagt  dann,  wie  er  es  vom  Prediger  gehört 
hat:  „Der  Teufel  hat  mich  verführt,**  und  hält  sich  für  völlig 
schuldlos,  da  gegen  des  Teufels  Macht  ein  Sterblicher  nicht 
aufkommen  kann. 

Bei  dem  gemeinen  Russen  ist  der  Aberglaube  häufige 
Ursache  der  Sodomie.  In  einigen  Gegenden  glaubt  das  Volk, 
daß  der  geschlechtliche  Verkehr  mit  einem  Pferde  das  beste 
Mittel  zur  Heilung  des  Fiebers  sei/);  so  entschuldigten  Bauern 
im  Gouvernement  Tomsk  ihr  Vergehen.  2)  Auch  Fälle  von 
Unzucht  der  Frauen  mit  Tieren  sind  in  Rußland  nicht  selten. 
Ich  füge  diesem  Kapitel  das  Bild  einer  Sodomitin  bei.  Ks 
ist  das  Porträt  der  Athanasia,  Tochter  des  Akzisebeamten 
Nikolaj  Njemtzen,  Bürgerin  aus  Nischnydewitzk  im  Gouverne- 
ment Woronesch,  38  Jahre  alt.  Sie  wurde  im  April  1901  durch 
das  Woronescher  Kreisgericht  für  Geschlechtsakte  mit  Tieren 
zu  lebenslänglicher  Verbannung  nach  Sibirien  verurteilt  und 
in  Jakutsk  angesiedelt.  Sie  ließ  aber  auch  an  ihrem  Verban- 
nungsorte von  ihrer  Perversität  nicht  ab,  wurde  1902  schwanger 
und  abortierte  eine  Mißgeburt.  Nach  ihrer  Genesung  wurde 
sie  deshalb  mit  hundert  Peitschenhieben  bestraft,  und  seither 
treibt  sie  bloß  Onanie.  Gegenwärtig  ist  sie  als  Krankenwärterin 
im  Gefängniskrankenhause  zu  Jakutsk  angestellt.  ^) 

Berüchtigte  Sodomiten  sind  in  ganz  Rußland  die  Popen. 
,,Les  pr^tes  sont  fort  enclins  ä  Thorrible  Pech6  de  Sodomie, 


^)  Die  gleiche  Kur  kennen  die  Orientalen  bei  Geschlechtskrankheiten, 
namentlich  Tripper.  Vgl.  mein  Buch  „Medizin,  Aberglaube  und  Geschlechts- 
leben in  der  Türkei",  II  220,   221. 

-)  Kocrrpoiri.,  r.iacnbitt  Cy;n«  1886,  ^  50;  und  Löwenstimm,  Aberglaube 
und  Strafrecht,  S.  147. 

■')  Mitteilung  des  Dr.  M.  \V.  Wassiljew  in  Jakutsk;  von  ihm  stammt 
auch   tlic   photographische   Aufnahme,   nach   der  tlas   Bild   angefertigt   wurde. 


—    560    — 

lorsqu'ils  sont  ivres,**  sagte  schon  der  Kapitän  Jean  Perry^) 
und  fügte  hinzu,  daß  diese  Sünde  kaum  als  ein  Verbrechen  an- 
gesehen wurde.  Die  milde  Anschauung  gilt  sowohl  der  bestiali- 
schen Sodomie  (rpixi^  coÄOMCKiü,  grech  sodomskij:  sodomi- 
tischc  Sünde)  als  der  Päderastie  (MyjKejioHCCTBO,  musche- 
loschstwo:  Mannesbeischlaf),  also  der  Unzucht  mit  Tieren  wie 
der  gleichgeschlechtlichen  Liebe.  Iwan  IV.  der  Schreckliche- 
war  ein  bekannter  Päderast.  Als  sein  Lieblingsknabe  galt 
Theodor  Basmanow;  Fürst  Obolenskij-Owtschinin  wagte  in 
einem  Streite  mit  Basmanow  diesem  gegenüber  die  homosexuelle 
Neigung  des  Zaren  als  ein  schmutziges  Werk  der  Sodomie  zu 
bezeichnen,  und  wurde  dafür  von  Iwan  erdolcht.  2)  Sodomie 
und  Päderastie  waren  auch  noch  zur  Zeit  des  Zaren  Alexej 
nicht  schwer  bestraft.  Der  Diplomat  Mayerberg  erzählt  in 
seiner  Reiserelation:  „Dans.le  temps  que  j'6tois  ä  Moscou,  on 
mit  en  prison  un  jeune  homme  qui  avoit  d^robe  dans  une 
Eglise  des  Images  sacr^es.  Comme  il  nioit  son  crime,  il  füt 
appliqu^  ä  la  question,  dans  les  tourmens  de  laquelle  il  avoüa 
la  vQnt6 ;  et  ajoüta  qu*il  y  avoit  long-temps  qu'un  certain  Prßtre, 
Moine  du  Monast^re  oü  il  avoit  fait  le  vol,  abusoit  de  lui.  Etant 
cite  en  justice,  et  en  prescncc  de  son  complice,  il  ne  nia  point 
Ic  fait,  mais  H  tächa  de  s'excuser  sur  Tinfirmite  humaine. 
Je  nc  doute  point  que  quiconque  se  souvient  de  la  vangeance 
divinc  sur  les  cinq  villcs  criminelles,  ne  se  persuade  de  voir 
deja  Ic  bücher  dress^  pour  la  punition  de  cc  miserable.  Cela 
se  seroit  fait  avec  justice;  mais  il  ne  se  fit  pas  pourtant.  Car 
ayant  ete  cnferme  peu  de  jours  dans  un  cachot,  et  de  lä 
envoye  en  un  autre  Monasterc,  pour  y  bluter  la  farine  Tespace 
de  quarante  deux  jours,  Le  temps  de  cette  l^g^re  penitence 
etant  cxpirc,  allant  aux  Cellules  des  Profus  du  Monastere, 
et  frapant  ä  Icurs  portes,  il  repetoit,  Gospodi  pomilui,  c'est-a- 
dire,  Seigneur,  ayez  pitie  de  moi ;  et  recevant  alors  de  chacun 
deux  ou  trois  coups  descourgecs,  il  füt  absous  de  son  crime.** 
In  den  kirchlichen  Gesetzen  wird  Päderastie  allerdings 
als    strafbar    bezeichnet,    aber   aus    Mayerbergs   Erzählung   ist 

^)  Etat  prcscnt  ile  la  Grande- Kussic,  trad.  de  l'Anglois,  A  la  Haye  1717, 
p.  219. 

'^)  Vgl.  in  diesem  Baiule  S.  10. 


Athanasia  Njemtzan, 
n.-ich   Sibirien  verbannt.     (Nsch  einer  Photogrjphie,) 


—    561    — 

zu  erkennen,  daß  die  Praxis  nicht  allzustreng  war.  In  der  welt- 
lichen Gesetzgebung  hat  noch  das  Gesetzbuch  des  Zaren  Alexej 
(yjiojKeme  1649  r.)  nicht  einmal  eine  Erwähnung  der  Sodomie 
und  Päderastie;  die  ersten  gesetzlichen  Bestimmungen  enthält 
das  Kriegsreglement  Peters  des  Großen,  das  im  fünften  Artikel 
des  Unzuchtskapitels  befiehlt:  „Unnatürliche  Unzucht  mit 
einem  Viehe,  Unzucht  zwischen  Männern  und  Männern  und 
Knabenschändung  soll  man  unbarmherzig  mit  dem  Knut  stra- 
fen; wird  dabei  Gewalt  angewendet,  so  laute  das  Urteil  auf 
lebenslängliche   Galeerenstrafe   oder   Todesstrafe.**^) 

Die  Strenge  Peters  des  Großen  ist  befremdend,  da  er  sich 
selbst  sowohl  der  bestialischen  Sodomie  schuldig  macht  als 
unter  Umständen  auch  dem  Verkehr  mit  Männern  nicht  ab- 
geneigt ist.  Im  Jahre  1708  wird  der  Pope  Koslowskij  im  Preo- 
braschensker  Ukas  torturiert,  weil  er  behauptet  hat,  daß  er 
mit  eigenen  Augen  den  Zaren  in  überraschender  Intimität  mit 
seiner  Lieblingshündin  Finette  gesehen.  Die  Tatsache  dieser 
Intimität  wird  auch  von  anderen  bestätigt  und  ist  nicht  einmal 
ein  Geheimnis,  das  erst  enthüllt  zu  werden  braucht.  Man  kennt 
so  allgemein  die  überschwängliche  Neigung  des  Zaren  zu  seiner 
Hündin  Finette,  daß  einmal  ein  ingeniöser  Beamter  die  Pro- 
tektion der  Hündin  in  einer  wichtigen  Sache  anruft :  der  Kaiser 
hat  bei  Todesstrafe  verboten,  ihn  mit  unnützen  Bittschriften 
zu  behelligen;  nun  gilt  es,  seine  Gnade  für  einen  Funktionär 
zu  erflehen,  der  zu  unbarmherzigem  Knut  verurteilt  ist;  der 
kluge  Vermittler  achtet  die  kaiserliche  Order,  indem  er  sich 
nicht  an  den  Zaren  direkt  wendet,  sondern  die  Bittschrift  der 
gefälligen  Finette  tim^  den  Hals  hängt.  Der  Zar  nimmt  es 
gnädig  auf,  und  der  Verurteilte  ist  gerettet.  2) 

Nicht  so  empfindlich  wie  gegen  den  Vorwurf  der  Unzucht 
mit  Tieren  ist  Peter  der  Große,  wenn  man  ihm  homosexuellen 
Verkehr   nachsagt.     Im  Jahre    1702    erzählt   ein   Kapitän   des 


^)  Bernhard  Stern,  Die  Romanows  I,  S.  46.  —  Vladimir  Nabokoff,  Pro- 
fessor des  Strafrechts  au  der  KaiserHch  russischen  Rechtsschule  zu  St.  Peters- 
burg: Die  Homosexualität  im  Russischen  Strafgesetzbuch.  In  Dr.  Magnus 
Hirschfelds  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen,  V.  Jahrgang,  II.  Band, 
S.    IICK). 

-)  Waliszcwski,    IMenc  Ic  Grand,   J14. 
btern,  Geschichte  der  üflfentl.  Siulichkeit  in  Ru6IaDd.    **  76 


—    662    — 

Preobraschensker  Regiments  öffentlich,  daß  Peter  ein  Päderast 
sei;  er  wird  dafür  bloß  nach  einer  entfernten  Garnison  ver- 
bannt; und  nicht  schlimmer  ergeht  es  einigen  anderen,  die 
immer  wieder  auf  dieses  heikle  Thema  zurückkommen.  Kaum 
einem  Zweifel  unterliegt  es,  daß  der  Bäckerjunge  Mentschikow 
nicht  bloß  seinem  genialen  Kopfe,  sondern  auch  seinem  ge- 
fälligen Hintern  seine  glänzende  Karriere  verdankt.  Peters 
Briefwechsel  mit  Mentschikow  ist  in  dieser  Beziehung  wohl 
beachtenswert.  Der  Zar  nennt  seinen  Günstling  in  seiner 
deutschelnden  Schreibweise :  tnin  Herzenskind,  min  bester  Frint, 
min  Bruder;  die  Antworten  des  Favoriten  sind  ebenso  fami- 
liär und  die  Unterzeichnung  erfolgt  ohne  jede  Respektsformel, 
während  andere  große  Günstlinge,  wie  selbst  Scheremetjevv, 
nicht  vergessen  dürfen  ihren  Namen  hinzuzufügen:  Hanno- 
cjiiAHiiöiiiiä  pa6TE>  tboS,  der  allerletzte  deiner  Sklaven.^)  Peter 
ist  kein  Freund  des  Alleinschlafens.  Seine  Maitressen  läßt 
er  nicht  in  sein  zarisches  Bett  hinein;  dieses  teilt  nur  Katha- 
rina mit  ihm,  ist  aber  Katharina  nicht  da,  so  liegt  an  der  Seite 
des  Zaren  sicher  der  erstbeste  ÄßHimiirB  (Derischtschik,  ein 
Soldat  als  Bedienter  eines  Offiziers).  2)  Der  berühmte  Jagu- 
schinskij,  der  es  gleich  Mentschikow  zu  den  höchsten  Würden 
und  Ehren  bringt,  hat  als  Bettgenosse-Denschtschik  des  Zaren 
begonnen.  Zwei  der  beliebtesten  Denschtschiki  Peters  sind 
„Tatischoff,  er  soll  von  rußischer  Familie  seyn;  und  Wassili, 
welcher  nur  von  gar  schlechtem  Herkommen  und  Ansehen  ist. 
Der  Zar  hat  ihn  als  einen  armen  Jungen  in  seine  Kapelle  der 
Sänger  genommen,  weil  er  eine  ziemliche  artige  Stimme  ge- 
habt haben  soll,  und  da  der  Herr  selbst  ein  Sänger  ist,  auch 
alle  Sonn-  und  Festtage  bey  den  andern  gemeinen  Sängern 
in  einer  Reihe  stehet,  und  mit  ihnen  in  der  Kirche  singet, 
so  hat  er  diesen  Burschen  zu  sich  genommen,  und  dermassen 
nachgerade  seine  Affection  auf  ihn  geworfen,  daß  er  keinen 
Augenblick  fast  ohne  ihn  leben  kann.  Die  beyden  zuletzt 
erwehnten  sind  die  größten  Favoriten,  und  ob  man  gleich 
den  Tatischoff  für  den  allergrößten  hält,  indem  selbiger  auch 


1)  Briefe  Peters  des  Groüen  III  780.  -^  Waliszewski,  Pierre  le  Grand  226. 

2)  Waliszewski  a.  a.  O.   215,    114. 


—    563    — 

fast  ordinair,  wenn  der  Zar  allein  oder  in  kleinen  Gesell- 
schaften ist,  mit  ihm  an  der  Tafel  speiset,  so  bin  ich  doch 
gewiß  der  Meynung,  daß  der  allerletzte  noch  diesen  weit  über- 
trifft, indem  der  Zar  ihn  zuweilen  wohl  hundertmal  an  einem 
Tage  beym  Kopf  kriegt,  und  ihn  küsset,  auch  die  vornehmsten 
Ministers  stehen  läßt,  und  zu  ihm  gehet,  um  sich  mit  ihm 
zu  entreteniren.  Man  kann  sich  nicht  genug  wundern,  wie  die 
grossen  Herren  ihre  Gnade  auf  allerhand  Arten  von  Leuten 
werfen  können.  Dieser  Mensch  ist  von  schlechten  gemeinen 
Leuten  her,  hat  niemalen  andere  Education  gehabt,  als  die 
gemeinen  Sängerjungen  zu  haben  pflegen,  er  ist  auch  sonst 
nur  von  gar  schlechtem  und  gemeinem  Ansehen,  mit  einem 
Wort,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  nur  ein  simpler,  einfäl- 
tiger Mensch;  und  dennoch  machen  ihm  die  vornehmsten 
Herren  aus  dem  ganzen  Reich  die  Cour.**i)  Viele  der  hervor- 
ragendsten Personen  am  Hofe  Peters  stehen  ebenfalls  im  Rufe, 
Päderasten  zu  sein:  so  der  junge  Fürst  Gagarin;  „der  deutsche 
Kammerjunker  Hecklau  soll  Kavalier  bey  ihm  gewesen  sein.'*^) 
Die  Neigung  Peters  des  Großen  für  gleichgeschlechtliche  Liebe 
geht  auf  Peter  II.  über  und  wird  schließlich  auch  bei  Peter  III. 
konstatiert. 

Mit  der  Frauenherrschaft  hält  die  lesbische  Liebe  ihren 
Einzug  in  den  Zarenpalast.  Nach  dem  Tode  der  Zarin  Anna 
Iwanowna  besteigt  den  russischen  Thron,  als  Regentin  für  das 
Wickelkind  Joan  Antonowitsch,  die  Braunschweigerin  Anna 
Lcopoldowna.  Die  Regentin  bleibt  wochenlang  für  die  Öffent- 
lichkeit unsichtbar,  ja  sie  verläßt  nicht  einmal  ihre  Apparte- 
ments und  nimmt  selbst  die  Mahlzeiten  in  ihren  innersten  Ge- 
mächern. Sie  duldet  in  ihrer  Umgebung  nur  die  Fußsohlen- 
kitzlerinnen  und  die  Schwätzerinnen,  die  ihr  pikante  Ge- 
schichten erzählen  müssen.  Ihr  Geliebter,  der  sächsische  Di- 
plomat Lynar,  ist  in  Petersburg  noch  nicht  angelangt,  aber 
sie  hat  für  ihn  einen  Ersatz:  Juliane  Mengden.  Diese  teilt 
mit  ihr  die  absolute  Abgeschlossenheit  von  der  Außenwelt. 
Der  Gatte,  Herzog  Anton  Ulrich,  zählt  nicht,  ist  nur  Statist. 


^)  Bergholz  bei  Büschiug,   XIX  43. 
2)  Ebenda  80. 


r>' 


—    564    — 

Wenn  sich  Juliane  Mengden  bei  der  Regentin  befindet,  wird 
dem  Zaren  der  Eintritt  ins  Schlafgemach  und  ins  Ehebett  ver- 
weigert.^) Juliane  Mengden  gilt  schon  seit  lange  als  Tribade; 
Kaiserin  Anna  Iwanowna  sah  sich  sogar  veranlaßt,  das  Mäd- 
chen ärztlich  untersuchen  zu  lassen,  aber  der  Bericht  der  Unter- 
suchungskommission konstatierte,  daß  „Juliane  Mengden  in 
jeder  Beziehung  ein  Mädchen  und  kein  Mannweib  sei.**  Trotz 
des  Berichtes  der  Untersuchungskommission  behält  die 
Mengden  ihren  Ruf.  Sogar  in  den  diplomatischen  Akten- 
stücken der  Zeit  wird  die  Frage  immer  wieder  behandelt.  Der 
französische  Gesandte  La  Ch^tardie  hält  an  der  Wahrheit  des 
Gerüchtes  fest;  der  preußische  Gesandte  Mardefeld  spricht 
von  schwarzer  Verleumdung,  muß  aber  hinzufügen:  „Ich  ver- 
stehe nicht  den  Grund  der  übernatürlichen  Neigung  der  Groß- 
fürstin für  Juliane  und  bin  nicht  überrascht,  daß  das  Publikum 
dieses  Mädchen  beschuldigt,  es  habe  den  Geschmack  der  be- 
rühmten Sapho.** 

Daß  eine  Frau  kein  Mannweib  sein  müsse,  um  an  lesbischer 
Liebe  Gefallen  finden  zu  können,  dafür  ist  Katharina  IL  ein 
Musterbeispiel.  Sie  hat  eine  Legion  von  Liebhabern  zur  Ver- 
fügung, dennoch  gerät  sie  nicht  bloß  in  den  Verdacht,  daß 
ihre  große  Liebe  für  Tiere  eine  zweideutige  sei,  sondern  man 
hat  gar  keinen  Zweifel  daran,  daß  ihre  Freundin  Fürstin  Dasch- 
kow  und  ihre  Probiererinnen  Branizka  und  Protasow  zeitweilige 
an  die  Stelle  der  Günstlinge  treten:  „gegen  das  Ende  ihres 
Lebens  hatte  sich  Katharina  so  sehr  vermännlicht,  daß  sie 
Weiber  nötig  hatte ;  ihre  Verhältnisse  mit  den  Tribaden  Dasch- 
kow,  Protasow  und  Branizka  waren  jedermann  bekannt,  und 
der  letzte  Günstling  Piaton  Subow  diente  weiter  zu  nichts,  als 
daß  er  das  Licht  hielt.**  Daher  stammt  auch  das  Witzwort 
von  der  platonischen  letzten  Liebe  Katharinas.  Piaton  Subow 
war  übrigens  für  die  Aufgabe,  die  ihm  zufiel,  ganz  geeignet, 
denn  er  selbst  hatte  den  Ruf  eines  Päderasten  und  Perversen. 
Nach  dem  Tode  Katharinas  zog  er  durch  ganz  Europa  mit 
einem  Mädchen  herum,  das  als  Kammerdiener  verkleidet  war. 


*)  Bericht  des  französisichrn  (iosaiuUcn   La  Chctardio  bei  Waliszewski , 
L'hcritagc  de  Pierre  le  Grand,  31J. 


—    565    — 

Auch  Piatons  Bruder  Valerian  war  pervers  veranlagt.  Seine 
Leidenschaft  bestand  darin,  junge  Knaben  für  teueres  Geld  zu 
engagieren  und  vor  seinen  Augen  Onanie  treiben  zu  lassen. 

Im  Zusammenhang  mit  Katharinas  Neigung  nicht  bloß 
für  simple  Ausschweifungen,  sondern  auch  für  gleichge- 
schlechtlichen Verkehr  ist  es  von  Interesse,  Kenntnis  davon  zu 
nehmen,  daß  unter  ihrer  Regierung  im  Jahre  1785  der  Senat 
einen  berühmten  Ukas  erließ,  der  die  Bestialitätsfälle  dem 
sogenannten  Gewissenstribunal  zuwies,  damit  letzteres  solche 
Fragen  „mit  aller  Nachsicht  und  barmherziger  Milde**  be- 
handle, weil  „die  bei  solchen  Fällen  vorkommende  Selbstver- 
gessenheit fast  jede  Art  Wahnsinn  übertrifft;  und  deshalb 
müssen  auch  solche  Albernheiten,  welche  sich  zu  Zeiten  bei 
der  ungebildeten  Menschheit  einschleichen  und  mit  grenzen- 
loser Unkenntnis  des  einzelnen  Wesens  verbunden  sind,**  dem 
Gewissenstribunal  zuständig  sein. 

Nikolaj  I.  kannte  für  solche  Fälle  keine  barmherzige 
Milde  ^):  Wer  sich  „des  naturwidrigen  Vergehens  der  Päde- 
rastie** schuldig  macht,  wird  zur  peinlichen  Strafe  dritter 
Klasse,  zweiten  Grades  (Deportation  nach  Sibirien)  verurteilt, 
und  muß  sich  überdem,  falls  er  den  christlichen  Glauben  be- 
kennt, einer  Kirchenbuße  unterziehen.  Wer  das  Verbrechen 
mit  Anwendung  von  Gewalt  oder  an  einer  unmündigen  oder 
schwachsinnigen  Person  verübt,  erleidet  die  peinliche  Strafe 
zweiter  Klasse,  vierten  Grades  (Katorga,  Deportation  mit  schwe- 
rer Zwangsarbeit,  10 — 12  Jahre).  Wer  „das  nicht  minder  na- 
turwidrige** Verbrechen  der  bestialischen  Sodomie  begeht,  wird 
zur  peinlichen  Strafe  dritter  Klasse  ersten  Grades  verurteilt 
(Deportation  nach  den  entferntesten  Gegenden  Sibiriens)  und 
muß  sich,  falls  er  den  christlichen  Glauben  bekennt,  einer 
Kirchenbuße  unterziehen.  —  Seit  1900  ist  an  Stelle  der  De- 
portation in  den  zwei  ersten  Fällen  (Päderastie  ohne  und  mit 
Gewalt)  Zuchthaus  von  4 — 5  Jahren,  und  im  Falle  der  bestia- 
lischen Sodomie  Zuchthaus  von  5 — 6  Jahren  getreten.  Das 
Gesetz   versteht   unter  Päderastie   „den   Coitus   zwischen   Per- 


1)  Strafgesetzbuch  des  Russischen  Reichs  promulgiert  im  Jahre  1845, 
1293,  1294,  1295  (in  der  russischen  Ausgabe  von  1885:  Artikel  995,  99^),  997). 


—    566    — 

sonen  männlichen  Geschlechts  und  zwar  per  anum" ;  dies  geht 
aus  der  Bezeichnng  MyacejiOHCCTBO,  Mannesbeischlaf,  hervor; 
im  Jahre  1869  hat  aber  der  Senat  als  oberster  Kassationshof 
den  Gesetzesparagraphen,  der  die  Päderastie  mit  Gewaltan- 
wendung betrifft,  auch  in  Fällen  anzuwenden  befohlen,  wo 
ein  Weib  von  einem  Manne  per  anum  genotzüchtigt  wird. 
Diese  Entscheidung  erfolgte,  weil  das  Gesetzbuch  unzüchtige 
Handlungen  gegen  das  Weib  als  solche  nicht  bestraft  (sie  kön- 
nen eventuell  nur  als  Injuria  mit  unbedeutender  Arreststrafe 
geahndet  werden)  und  ferner,  weil  diese  Handlung  nicht  unter 
den  Begriff  der  Notzucht  fällt.  In  Fällen  aber,  wo  solcher  Coitus 
ohne  Gewalt  stattfindet,  läßt  der  Senat  die  Bestimmungen  über 
einfache  Päderastie  nicht  anwenden. 

Das  neue  Strafgesetzbuch  von  1903,  das  aber  vor- 
läufig noch  nicht  in  Wirksamkeit  getreten  ist,  hat  an  allen 
diesen  Gesetzen  bedeutende  Veränderungen  vorgenommen,  i) 
Das  Verbrechen  der  bestialischen  Sodomie  existiert  nicht  mehr. 
Die  freiwillige  einfache  Päderastie  zwischen  Erwachsenen  ist 
mit  einem  Minimum  von  drei  Monaten  Gefängnisstrafe  belegt. 
Päderastie  mit  einem  Knaben  unter  14  Jahren  zieht  immer  Ka- 
torga  nach  sich,  auch  wenn  gar  keine  Gewalt  vorliegt.  Da 
das  neue  Strafgesetzbuch  besondere  strenge  Bestimmungen  über 
unzüchtige  Handlungen  mit  Personen  weiblichen  Geschlechts 
enthält,  so  wird  die  Senatsentscheidung  von  1869,  die  die  Not- 
züchtigung eines  Weibes  per  anum  wie  die  gewaltsame  Päd- 
erastie zu  bestrafen  befahl,  aufgehoben. 

An  den  neuen  Gesetzen  ist  es  charakteristisch,  daß  die 
bestialische  Sodomie  gänzlich  straffrei,  während  die  gleich- 
geschlechtliche Liebe  noch  immer  schwer  bestraft  wird.  Die- 
sen von  Nikolaj  II.  festgesetzten  Strafen  wird  es  wohl  ebenso- 
wenig als  jenen  Nikolajs  I.  gelingen,  die  in  Rußland  sichtlich 
immer  mehr  zunehmende  Päderastie  an  der  Ausbreitung  zu 
hindern.  Nikolaj  I.  mußte  die  bittere  Erfahrung  machen,  daß 
sein  eigener  jüngster  Bruder  Michael  Pawlowitsch  ein  Päderasl 
war  und  daß  just  unter  seiner  den  Päderasten  so  feindlichen 
Herrschaft  alle  seine  hervorragendsten  Würdenträger  und  seine 


*)  Nabokoff  a.  a.  O.   1162,   1163. 


—    567    — 

vornehmsten  Pagen  dem  MyHcojioBCTBO,  dem  Mannesbeischlaf, 
huldigten.  Die  Junkerschule,  die  Kadettenschule,  die  Rechts- 
schule wimmelten  von  Päderasten;.  und  die  Zöglinge  dieser 
Internate  blieben  zum  Teil  auch  später  leidenschaftliche  An- 
hänger der  Päderastie:  so  Fürst  Alexander  Iwanowitsch  Bar- 
jatinskij,  später  Generaladjutant  des  Kaisers  Alexander  IL; 
Loris-Melikow,  Schuwalow,  Ignatjew,  Nabokow,  Pobjedonoß- 
zew.  Der  Zögling  der  Junkerschule  Potapow  wurde  strafweise 
nach  Pskow  verschickt,  weil  er  in  Frauenkleidern  auf  der  Hof- 
maskerade erschien  und  den  Kaiser  so  geschickt  intriguierte, 
daß  dieser  dem  Junker  die  Hand  küßte.  Potapow  richtete 
sich  in  seinem  Verbannungsorte  eine  ganz  weibische  Woh- 
nung ein  und  hatte  zierliche  Frauennachttöpfe  mit  seinem 
Wappen.  Er  kleidete  sich  häufig  in  Frauentrachten,  trug  im- 
mer, auch  wenn  er  männliche  Kleider  anziehen  mußte,  kost- 
bare türkische  Tücher  und  sang  mit  Vorliebe  den  roten  Sarafan. 
Sein  Liebesgenosse  war  Graf  Kreuz,  später  Flügeladjutant; 
und  als  der  Zar  sie  einmal  in  einem  Schlitten  zusammen  fahren 
sah,  sagte  er  lachend:  „Seht  da,  Kreuz  und  seine  Frau!** 
Ähnlich  trieb  es  Naryschkin,  Bruder  der  Gräfin  Woronzow- 
Daschkow,  ein  hübscher  blonder  Junge  mit  ganz  weibischen 
Manieren.  Er  lebte  wie  eine  große  Kokotte,  hatte  immer 
mehrere  Liebhaber  und  schrieb  ihnen  die  zärtlichsten  Briefe. 
Als  er  Ulan  im  Korps  des  Generals  Baron  Osten-Sacken  war, 
erschien  er  einmal  auf  einem  Maskenball  in  dem  kostbaren, 
mit  Brillanten  übersäten  Kostüm  einer  Marquise  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts;  er  ahmte  so  täuschend  eine  Frau  nach, 
daß  alle  Herren  um  seine  Gunst  buhlten. 

In  den  Kadettenschulen  sangen  die  Schüler  gewöhnlich 
statt  des  Abendgebets,  wenn  die  Stunde  zum  Schlafengehen 
gekommen  war,  im  Chore  ein  Liedchen,  das  folgendermaßen 
begann : 

Et  nnsAy  öTH  He  topjitcHj 
Jly^ime  bt>  Hcony  aa  Bcer;i;a, 
On>  nii3;i;bi  6o6ohi>  po^nTor, 
A  OTi>  jKonLi  liHKorAa, 
ByMi>,  öyM'b. 


—    568    — 

In  die  Pisda  stechen  lohnts  nicht, 
Besser  in  das  H.nternl.ch, 
Aus  der  Pisda  kommt  der  Schanker, 
Aus   dem  H.ntern  niemals  noch, 
Bum,  bum. 

In  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  sang  man  an  der  Petersburger  Rechtsschule  mit 
Vorliebe   dieses   Päderastenlied : 

Benepa,  Benepa 

CKaacH  TM  CKop'hii 

KajcaH  MaHepa 

Htoötj  exB  Becejiiii?  — 

npomjia  BCK)  Eßpony 

CKaaajiH  nespfk: 

J],aBaTi,  ^epeai)  acony 

IIpiaTHifi  JiiLsp.'hl  — 

TaKB  Hy3KH0-JiB  CT>  nua^aMii 

3HaK0MHTbCa    TJ^Tl)? 

ToBapniii,n  caMii 
flaiOTB  ir  eöyT'B, 
IIpiHTHoe  Ä'fe^o 
^pyFi>  Äpyry  AaBaTB 

H    3K0nK0K)    CM'iiJIO 

IIpeAt  xyeMt  biijihtl. 

O  Venus,  o  Venus, 

So  sag  es  nur  frei. 

Ob  diese,  ob  jene 

Art   richtiger  sei? 

Ja  selbst  in  Europa 

Das  männliche  Glied 

Die  Liebe  von  hinten 

Der  Pisda  vorzieht. 

Man  braucht  keine  Pisdas 

Solange  verkehrt 


—  nßo  — 

Ein  jeder   Kollege 
Dem  andern  gewährt. 
O  liebliche  Sache 
Wenn  fröhlich  und  kühn 
Der  eine  dem  andern 
Den   H.ntern   streckt   hin. 


Die  berühmtesten  russischen  Dichter  jener  Zeit  —  Pusch- 
kin, Lermontow,  Gribojedow  —  waren  Päderasten  und  haben 
die  Päderastie  in  schwungvollen  Gedichten  gefeiert.  In  einem 
dieser  Gedichte,  betitelt  „Erlebnisse  eines  Pagen**,  schildert 
ein  Dichter,  von  dem  nur  die  Anfangsbuchstaben  A.  Schtsch. 
bekannt  sind,  in  einem  klassischen  Russisch  die  Gefühle  des 
Homosexuellen,  und  schließt  mit  der  Bitte,  „die  gleichge- 
schlechtliche Liebe  nicht  als  schändliche  Sünde,  sondern  als 
natürlich  anzusehen  und  nachsichtig  zu  beurteilen*' : 


.  .  .  TenopL  CBoCoAHO  iipeAaBaTbc« 
Mory  ii  cjiaöocTii  CBoeä 
H  cejiaAOHaMi»  OTJiaBaTboi 
Mirb  iixi»  jiK)6oBi>  Bcero  Mim'fefi; 
fl  He  noKiiny  iixi»  kohg^ho, 
He  BHacy  b'b  tomT)  ceß't  CTLi;;a, 
fl  HceHu^nHoir  ocTauycb  B-fe^iHO, 
Mofl  B-hp,h  Hcona  TajKh  nnsAa. 
MojiOÄeHbKHMi»  KpacaBU,aMT>  iia^o 

Cef)«  JIK)60BHHK0B'I>   A^pHcaTb, 

KpacoK)  HceHCTBeHnaro  3a;;a 

JKap'i>  noxoTU  Bt  HHXb  BoaöyHCAaTh. 

B'^At  HvCHii^HHaMii  Hac'b  npHpo^a 

Ct  My3KCKiiMi>  jiiimb  ^JienoM'L  co3Aa-ia 

H  CBoiicTB'L  MyjKHiin'L  HaM'L  He  ;i,ajia, 

Mm  cymecTBa  iinoro  po^a: 

Ocyii;ecTBJifleT'i>  n;i;eaji'i> 

Mh  ;xpeBnHro  repMa<J)poAnTa. 

H  Haei»  Be3A'h  ne  Majio  OKpwTo; 


~    570    — 
Jlpcen.'b  CBtTb  nact  ocyHCÄajn>, 

H^iM'Jb   MLI    BHHOBHM?    HG    CyAHTG 
A    CHHXOÄHTGJIBHO    CMOTpHTG.^) 

Wie  zu  Zeiten  Nikolajs  I.  stand  auch  zu  Zeiten  Nikolajs  II. 
bis  vor  kurzem  ein  Großfürst  an  der  Spitze  der  Päderasten: 
Ssergej  Alexandrowitsch,  des  Zaren  Oheim,  der  von  den  Re- 
volutionären ermordet  wurde.  Er  pflegte  mit  seiner  Gemahlin 
keinen  geschlechtlichen  Verkehr  und  befriedigte  seine  ero- 
tischen Bedürfnisse  fast  ausschließlich  per  anum.  Denn  auch 
die  Frauen  und  Mädchen,  die  er  seinen  Leidenschaften  willig 
machte,  gebrauchte  er  auf  unnatürliche  Weise.  Großfürst 
Ssergej  besaß  eine  komplette  Sammlung  von  Schriften  über 
Päderastie  und  Sodomie.  Er  war  regelmäßiger  Besucher  eines 
Moskauer  fashionablen  Restaurants,  das  die  Päderastie  zu  einem 
fruchttragenden  Geschäftszweig  auszugestalten  gewußt  hat. 
Auch  in  der  anderen  Residenz  und  in  vielen  großen  Städten 
des  Reiches  gibt  es  derartige  Restaurants,  die  nichts  anderes 
sind  als  Rendezvousplätze  für  Leute,  die  gegen  Bezahlung  per- 
verse Gelüste  befriedigen  wollen.  Im  südlichen  Rußland,  na- 
mentlich in  Kaukasien  sind,  bedingt  durch  die  Sitten  des 
Orients,  in  allen  Hotels  und  Bädern  Lustknaben  zur  Verfügung 
der  Gäste.  Die  Tscherkessen  sind  merkwürdigerweise  unter 
allen  Bewohnern  Kaukasiens  das  einzige  Volk,  bei  dem 
die  Päderastie  als  eine  Entweihung  der  Manneswürde  und 
eine  der  Verachtung  aller  Stammesgenossen  würdige  Hand- 
lung betrachtet  wird.  In  den  Bordellen  Kaukasiens  sind  selbst 
die  Prostituierten  auf  den  Coitus  per  anum  einstudiert:  die 
Russen  haben  die  dortigen  Freudenmädchen  so  sehr  an  eine 
derartige  Perversität  gewöhnt,  daß  sich  in  den  Bordellen  zu 
Batum  oder  Tiflis  das  Mädchen  auch  ohne  Aufforderung  in 
erster  Linie  nicht  zu  einem  natürlichen  Coitus,  sondern  zum 
sodomitischen   Genuß   erbietet. 


1)  Eine  Anzahl  dieser  geheimen  Gedichte,  von  denen  ich  auch  noch  im 
letzten  Teile  zu  reden  Gelegenheit  haben  werde,  ist  in  einem  Büchlein  ver- 
einigt, das  den  Titel  führt:  PyccKirt  i^poTL  ne  ;i;ih  ;\aa'h  (der  russische  Eros,  nicht 
für  Damen).  Es  enthält  21  Nummern  auf  66  Seiten.  Ich  verdanke  das  über- 
aus seltene  Exemplar  dem  Berliner  Gelehrten  Dr.  F.  Karsch,  dem  Verfasser  des 
im  Werden  begriffenen  großen   Werkes  über  die  gleichgeschlechtliche  Liebe. 


571 


55-  Lustseuche. 


Erstes  Auftreten  der  Syphilis  in  Rußland  —  Die  Angst  des  Zaren  Joan  III. 
—  Die  Syphilis  in  dem  Briefwechsel  Peters  des  Großen  und  Katharinas  I.  — 
Verbreitung  der  Syphilis  —  Die  Syphilis  im  Spital  —  Ungenügende  medi- 
zinische Polizei  —  Volksmittel  und  Aberglaube. 

Schon  im  Jahre  1499  erwähnt  ein  russisches  Aktenstück 
zum  ersten  Male  die  Lustseuche.  Sechs  Jahre  früher  hatte 
eine  Frau  aus  Rom  nach  Krakau  die  französische  Krankheit 
gebracht.  Das  Gerücht  von  der  neuen  Seuche  dringt  bis  nach 
Moskwa,  und  bald  erscheint  in  Rußland  die  Pest  selbst.  Als 
der  Großfürst  Joan  III.  1499  den  Bojarensohn  Iwan  Mamonow 
nach  Litauen  schickt,  befiehlt  er  ihm:  „Bei  deinem  Aufenthalt 
in  Wjasma  erforsche,  ob  nicht  jemand  aus  Ssmolensk  mit 
einer  Krankheit  angelangt  ist,  wo  der  Körper  mit  Schwären 
bedeckt  ist,  und  welche  man  die  Französische  nennt.**  i) 
Joan  III.,  der  Herrscher  des  fünfzehnten  Jahrhunderts,  zittert 
also  offenbar  für  die  Gesundheit  seiner  Untertanen  und  will 
sich  beizeiten  über  die  drohende  Gefahr  unterrichten,  um  ihr 
wirksam  begegnen  zu  können.  Nicht  so  ängstlich  denken  der 
große  Reformator  und  Zivilisator  Peter  L  und  seine  Gemahlin 
Katharina,  wenn  es  sich  um  die  Syphilis  handelt.  Am  18.  Juni 
1717  schreibt  Peter  aus  Spa,  wo  er  zur  Kur  weilt,  an  die  Zarin 
und  sendet  ihr  mit  dem  Briefchen  eine  seiner  Maitressen  zu- 
rück: er  könne  sie  nicht  brauchen,  denn  er  müsse  allen  in- 
timen Zerstreuungen  auf  ärztlichen  Befehl  entsagen.  Und  Ka- 
tharina antwortet  ihm  darauf:  „Sie  sagen,  daß  Sie  Ihre  Mai- 
tresse zurückschickten,  weil  Sie  wegen  des  Wassertrinkens  sich 
ihrer  nicht  erfreuen  können.  Aber  ich  glaube  eher,  daß  Sie 
sie  zurückgeschickt  haben  wegen  ihrer  Krankheit,  und  ich 
möchte  nicht,  daß  ihr  Galan  hier  mit  derselben  Krankheit  an- 
käme, die  sie  hat.**  Nun,  der  Zar  selbst  erwischt  sie  wunder- 
barerweise nicht,  aber  die  ganze  Hofgesellschaft,  ja  die  ganze 
Hauptstadt  ist  bald  gründlich  verseucht.  Die  junge  Residenz 
ist  schon  im  zweiten  Jahrhundert  ihres  Bestandes  ein  furchtbarer 


1)   Karamsin  VI  2S3. 


I 


-    572    — 

Herd  der  Lustseurhe.  Ein  Chaos  von  Abenteurern,  Wol!- 
lüstlingen.  Sittenlosen  wogt  auf  dem  sumpfigen  Boden,  und 
in  diesem  Chaos  und  in  diesem  ungesunden  Klima,  in  dieser 
regellosen  und  undisziplinierten  Gesellschaft,  die  nur  nach  Lust 
und  Geld  jagt,  kann  die  Krankheit  leicht  Wurzel  fassen  und 
sich  rapid  entwickeln.  Die  Abenteurer  und  Abenteurerinnen 
verpflanzen  die  Seuche  auf  ein  gar  zu  günstiges  Terrain,  und 
die  furchtbaren  Auswüchse  nehmen  in  wenigen  Jahrzehnten 
solche  Formen  an,  daß  Katharina  II,  bei  ihrer  Thronbesteigung 
zur  Einsicht  kommt :  das  Wichtigste  sei  die  Stiftung  eines 
Findelhauses  und  die  Gründung  eines  Spitals  für  Syphilitische, 
und  zwar  in  erster  Reihe  für  syphilitische  Frauen.  Die  eintreten- 
den Kranken,  verordnet  die  Kaiserin,  dürfen  weder  nach  Namen 
noch  nach  Stand  befragt  werden;  man  behandle  sie  mit  vieler 
Sorgfalt,  Achtung  und  Diskretion;  namentlich  auf  die  letztere 
ist  besonderer  Nachdruck  gelegt;  ja  sogar  in  die  Wäsche,  die 
man  den  Kranken  im  Spital  gibt,  ist  das  Wort  „Diskretion" 
gestickt.  Es  ist  die  höchste  Zeit  zu  energischen  Maßnahmen. 
„Die  garstige  Krankheit,"  heißt  es  in  dem  Briefe  eines  deut- 
schen Offiziers,  ,, deren  bloßer  Name  schon  Abscheu  und  Ekel 
erregt,  ist  hierzulande  so  gewöhnlich,  daß  man  auch  in  den 
vornehmsten  Häusern  die  größte  Vorsicht  gebrauchen  muß, 
um  nicht  durch  das  Gesinde,  oder  durch  eine  Amme  die  ganze 
Familie  anzustecken,"  J)  Von  der  Hauptstadt  hat  sich  die 
Seuche  schon  längst  nach  allen  und  den  entferntesten  Gouver- 
nements verbreitet,  ,,und  in  einem  gewissen  Teile  Sibiriens 
ist  sie  so  sehr  eingewurzelt,  daß  sie  von  Geschlecht  zu  Ge- 
schlecht  fortgepflanzt   wird."-) 

Die  Ursachen  der  großen  Verbreitung  des  Syphilis  in 
Rußland  liegen  nicht  bloß  in  der  allgemeinen  Sitteniosigkeit, 
sondern  in  der  Unzulänglichkeit  der  medizinischen  Polizei.  Aus 
der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  berichtet  Buddeus")  aus 
Petersburg : 

„Die   öffentlichen   Mädchen   jedes   Stadtquartiers   werden 

')  Russische  Anecdolcn,  S.  9K. 

^)  ILbfnda. 

^)  St.  Pfttrsbiirg  im   kranken  und  gesunilfii   Leben,   I    139. 


—    573    — 

zwar  wöchentlich  von  dazu  bestimmten  Ärzten  untersucht,  für 
Inspizierung  irgend  verdächtiger  Lokahtäten  bestehen  außer- 
dem noch  sechs  Ärzte  und  ein  medizinisch-pohzeiliches  Ko- 
mitee sucht  den  Folgen  der  Prostitution  im  allgemeinen  ent- 
gegenzuarbeiten. Allein  diese  Vorkehrungen  betreffen  schon 
immer  unvollständig  die  niedern  Klassen  und  keine  Art  der 
Kontrolle  kann  sich  auf  die  höhern  Stände  verbreiten,  wo  doch 
die  Krankheit  ebenso  vorwaltend  ist  als  in  den  Volksmassen.** 
Auffallend  ist  die  große  Anzahl  der  Kinder  in  den  männlichen 
sowohl  als  weibHchen  Abteilungen  der  Spitäler;  und  dabei 
kann  nicht  ein  einziges  Mal  von  Lues  congenita  oder  heredi- 
taria  die  Rede  sein,  sondern  immer  erscheint  die  Lustseuche 
als  erworbene  Krankheit.^)  Wie  weit  die  Sittenverderbnis  be- 
reits im  kindlichen  Alter  gedeiht,  dafür  findet  man  hier  un- 
zählige Beispiele:  Mädchen  von  14  oder  15  Jahren  sind 
Stammgäste  der  Spitäler,  Kinder  von  10  und  1 1  Jahren  werden 
jeden  Augenblick  aufgenommen,  und  diese  Geschöpfe  haben 
die  Krankheit  nicht  durch  einen  außerordentlichen  Zufall,  son- 
dern bei  gewerbsmäßiger  Ausübung  der  Prostitution  erworben. 
Die  Spitäler  waren  namentlich  zur  Zeit  Nikolajs  L  statt 
Heilanstalten  Brutstätten  neuer  Laster.  Als  Assistenten  des 
Arztes  und  als  Aufseher  der  Kranken  fungierten  auch  in  den 
Abteilungen  für  weibliche  Patienten  nur  Feldscherer.  Die  Ärzte 
klagten  nun  allgemein,  daß  durch  diese  ihre*  Assistenten  der 
letzte  Rest  der  Verschämtheit  und  des  sittlichen  Gefühls  in  den 
Prostituierten  erstickt  wurde.  Als  Wärter  und  Wärterinnen 
wiederum  hatte  man  durchgehends  leibeigene  Menschen  an- 
gestellt, die  von  ihren  Erbherren  zur  Strafe  hierher  geschickt 
waren.  Sie  blieben  nur  solange  da,  als  es  ihren  Eigentümern 
gefiel;  sie  traten  ein,  ohne  Ahnung  von  Krankenpflege  zu  be- 
sitzen und  hatten  auch  keine  Gelegenheit  sich  solche  Kennt- 
nisse zu  erwerben;  aber  Zeit  genug  fanden  sie,  alle  Sitten 
und  Gewohnheiten  der  Prostituierten  zu  erlernen  und  aus  dem 
Hospital  in  die  Kreise,  in  die  sie  zurückkehrten,  mitzunehmen. 
Eine  Ausnahme  von  dieser  Art  der  Bekämpfung  der  Syphüis 
machte    nur    das   Hospital   in   Riga.     Hier   mußte   jedes   von 


^)  Ebcmla  S.  31X). 


—    574     — 

der  Polizei  eingelieferte  Frauenzimmer  nach  Beendigung  der 
Kur  gegen  eine  geringe  Vergütung  ebensolange  Krankenwärter- 
dienste  tun,   als   die  Behandlung   gedauert   hatte. 

Die  Zustände  sind  heute  nicht  viel  besser.  In  Dorpat 
wurden  die  Prostituierten  bis  vor  wenigen  Jahren  in  einer  mit 
Gittern  versehenen  Abteilung  des  Krankenhauses  hinter  Schloß 
und  Riedel  gehalten.  Sie  führen  in  solchen  Spitälern,  die 
für  sie  eher  Gefängnisse  sind,  nichtsdestoweniger  ein  flottes 
Leben  :  „Die  in  ihnen  wohnende  Unruhe,**  erzählt  Dr.  Ströhm- 
berg  aus  Dorpat  i),  „treibt  sie  zu  beständigen  Neckereien  und 
Zänkereien  mit  den  unflätigsten  Ausdrücken  untereinander, 
zu  schamlosem  Entblössen  des  Körpers,  Aufführen  von  ob- 
szönen Tänzen,  oft  nur,  um  die  Hospitalbedienung  zu  ärgern 
und  zu  kränken.  Kurz,  dieselbe  Schamlosigkeit,  mit  der  sie  sich 
bei  sich  zu  Hause  und  überall  bewegen,  wo  nicht  die  Furcht  vor 
der  Polizei  sie  dämpft,  tritt  bei  ihnen  auch  im  Krankenhause 
zu  Tage.  Dadurch  unterscheiden  sie  sich  sehr  wesentlich  von 
allen  anderen  Kranken  und  charakterisieren  sie  sich  in  typischer 
Weise.**  Wie  wenig  solche  Anstalten  zur  Bekämpfung  der 
Syphilis  geeignet  sind,  beweist  der  Umstand,  daß  gerade  Dor- 
pat bis  vor  kurzer  Zeit  den  traurigen  Ruhm  genoß,  ein  Ort 
mit  besonders  schweren  Schankerinfektionen  zu  sein.-)  1892 
wurde  ermittelt,  daß  von  den  Studierenden  der  Dorpatcr  Uni- 
versität  24  Prozent  die  Stadt   als  Luetiker  verlassen! 

Zu  der  Unzulänglichkeit  der  medizinisch-polizeilichen  Or- 
ganisation kommt  noch  der  Unwille  oder  der  Aberglaube  des 
Volkes.  Der  gemeine  Mann  hat  einen  großen  Abscheu  vor 
dem  Arzt.  Er  kümmert  sich  anfangs  gar  nicht  um  die  Krank- 
heit, wird  sie  aber  schlimmer,  so  geht  er  zu  einem  alten  Weibe 
oder  einem  Kurpfuscher;  deren  Universalmittel  ist:  Schwitzen 
und  ein  Kräutertrank.  Auch  die  Chinawurzel  gebraucht  man 
häufig.  Bei  den  Esten,  welche  behaupten,  daß  ihnen  die 
Syphilis  von  den  Deutschen  und  Russen  gebracht  worden  sei 
(tatsächlich  haben  sie  in  ihrer  Sprache  kein  Wort  für  die 
Lustseuchc ;   sie  nennen  sie,   wie  den  Skorbut,   einfach :  böse 


^)  Die  IVostitiition,  S.  54. 
')  Ebenda   151. 


—    575    — 

Krankheit)  gebraucht  man  Umschläge  von  saurer  Milch,  Kraut- 
laken und  Dekokten.  Bei  den  Wotjäken  ist  die  Syphilis  eine 
wahre  Volkskrankheit.  Der  ungehinderte  Geschlechtsverkehr 
der  Jugend  verursacht  es,  daß  —  sobald  ein  Bursche  oder 
Mädchen  angesteckt  ist  —  bald  das  ganze  Dorf  die  Krankheit 
hat.  Wotjäkische  Universalmittel  sind :  Zinnober  und  Sublimat. 
Bei  solchen  Verhältnissen  kann  es  nicht  mehr  Wunder 
nehmen,  daß  kaum  ein  Land  in  Europa  so  verseucht  ist  wie 
Rußland.  Manches  Dorf  besteht  aus  lauter  verkrüppelten 
Menschen  mit  eingefallenen  Nasen  und  ausgefressenen  Augen, 
und  keine  Stadt,  in  der  nicht  die  Spitäler  überfüllt  wären  von 
den  Opfern  der  Sittenlosigkeit  dieses  Volkes  und  der  Sorg- 
losigkeit  dieser  Regierung. 


ZEHNTER  TEIL: 


Folkloristische  Dokumente 


56.  Das  Erotische  und  Obszöne  in  der 
Literatur  und  Karikatur.  —  57.  Sexuelles 
Lexikon.  —  58.  Obszöne  Sprichwörter.  — 

59.  Erotische    und    obszöne    Lieder.    — 

60.  Erotische   und   obszöne   Erzählungen. 


§ 


56.  Das  Erotische  und  Obszöne  In  der 
Literatur  und  Karikatur. 

Der  „üomostroj**  des  Mönches  Sylvester  warnt  schon  im 
sechzehnten  Jahrhundert  das  russische  Volk  eindringlich  vor 
Zoten  und  Possen.  Peter  der  Große  sagt  im  zweiten  Artikel 
des  dritten  Kapitels  seines  Kriegsreglements :  ,,Weil  unzüchtige 
Reden  eine  große  Veranlassung  zur  Unzucht  geben,  sollen 
sie,  wie  auch  schandbare  Lieder,  bei  harter  Strafe  verboten 
sein.**  Und  Nikolaj  I.  schließlich  erläßt  eine  ganze  Reihe 
von  Gesetzen  gegen  unmoralische  Literatur  i):  ,,Wer  unan- 
ständige, unsittliche,  zum  Laster  verführende  ^Schriften  oder 
Zeichnungen,  mit  Umgehung  der  Zensur,  durch  den  Druck  oder 
auf  irgend  eine  andere  Weise  verbreitet,  wird,  nach  Umstän- 
den, mit  hundert  bis  fünfhundert  Rubeln  oder  mit  Arrest  auf 
sieben  Tage  bis  zu  drei  Monaten  gestraft.  Alle  Schriften  und 
Zeichnungen  dieser  Art  werden  weggenommen  und  vernichtet. 
Dieselben  Strafen  treffen  denjenigen,  der  Fabrikarbeiten  mit 
unanständigen  Abbildungen  verfertigt,  verkauft  oder  auf  an- 
dere Weise  verbreitet,  oder  in  einem  Kaufladen  oder  an  öffent- 
licher Stätte  ausstellt.  Die  Lehrer,  Erzieher  und  Vormünder, 
welche  unsittliche,  unanständige  Schriften  oder  Abbildungen 
in  einer  Unterrichtsanstalt  verbreiten  oder  den  ihnen  anver- 
trauten jungen  Leuten  mitteilen,  werden  von  ihrem  Amt  und 
Beruf  entfernt  und  mit  Gefängnis  von  drei  bis  sechs  Monaten 
bestraft.  Wer  bei  einem  öffentlichen  Schauspiel,  auf  der  Bühne, 
seinem  Gesang  oder  seiner  Rede  Worte  beimischt,  oder  sich 
Geberden  und   Handlungen   erlaubt,   die   der  Sittlichkeit   und 


^)  Strafgcsetzbiicli  des   Russischen   Kcichs,  S.  2Chj,   §§    1 301— 1305. 


—  '580    — 

dem  Anstände  zuwider  sind,  wird  mit  drei  Tagen  bis  zu  drei 
Wochen  Arrest  bestraft.  Wer  bei  einer  öffentlichen  Verhand- 
lung oder  vor  einer  feierlichen  und^  zahlreichen  Versammlung 
eine  Rede  hält  und  sich  darin  unanständige  und  unsittliche 
Ausdrücke  erlaubt,  wird  nach  Maßgabe  seines  Berufs,  Alters, 
Standes  und  je  nach  den  übrigen  Umständen,  entweder  mit 
einer  Geldbuße  von  einem  bis  hundert  Rubeln  oder  mit  einem 
Tag  bis  zu  drei  Tagen  Arrest  bestraft;  wer  solche  Reden  in 
einer  Lehr-  und  Erziehungsanstalt  vor  den  Zöglingen  hält, 
wird  von  seinem  Amt  und  Beruf  entfernt  und  erhält  drei  bis 
sechs  Monate  Gefängnis.** 

Diese  Warnungen  und  Gesetze  aus  verschiedenen  Jahr- 
hunderten sind  Beweise  dafür,  daß  die  erotische  Literatur  zu 
allen  Zeiten  in  Rußland  stark  verbreitet  war.  Allerdings  nur 
ganz  im  geheimen.  In  'der  öffentlichen  belletristischen,  lyrischen 
und  kulturgeschichtlichen  Literatur  sind  Spuren  der  Erotik 
kaum  zu  bemerken. 

Zu  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts  erschienen  einige 
Geschichten  ä  la  Boccaccio :  „die  Historie  von  Sawwa  Grudeyn** 
und  die  „Historie  vom  russischen  Edelmann  Frol  Skobejew 
und  Ännchen,  der  Tochter  des  Truchsesses  Nardin-Naschtscho- 
kin.**  Beide  sind  wenig  pikant  und  noch  weniger  originell.  In 
der  ersten  Geschichte  vermischt  der  unbekannte  Autor  Boc- 
caccio mit  Faust  und  braut  daraus  seinen  tragikomischen  Ro- 
man :  Ein  flotter  Kaufmannssohn  setzt  einem  alten  Freunde 
seines  Hauses,  der  eine  junge  Frau  hat,  Hörner  auf.  Später 
erkaltet  seine  Liebe  zu  der  Dame,  die  sich  an  dem  Treulosen 
dadurch  rächt,  daß  sie  ihm  einen  Liebestrank  gibt  und  ihn  dann 
selbst  bei  ihrem  Gatten  verklagt.  Der  betrogene  Ehemann 
wirft  den  Liebhaber  seiner  Frau  hinaus,  aber  jetzt  brennt  in  dem 
Bezauberten  die  Liebe  wieder  lichterloh,  und  er  verschreibt 
sich  ä  la  Faust  dem  Teufel,  um  seine  Lüste  befriedigen  zu 
können.  Nach  vielen  langweiligen  Kapiteln  endet  die  Ge- 
schichte damit,  daß  der  Held,  um  sich  vor  dem  Teufel  zu  retten, 
Mönch  wird.  Pikanter  und  realistischer  ist  die  andere  Historie, 
in  der  ein  armer  Nowgoroder  Edelmann  das  reiche  Ännchen 
einfach  dadurch  erobert,  daß  er  des  Mädchens  Amme  besticht 
und  selbst  als  Mädchen  verkleidet  in  die  Gemächer  der  Bc- 


—    581     — 

gehrten  gelangt.  Aber  alle  diese  Pikanterien  sind  keineswegs 
so  geartet,  daß  sie  allzu  strengen  Tadel  verdienen  würden. 

Den  ersten  wirklich  frivolen  Roman  bekam  Rußland  unter 
Katharina  II.,  als  Ippolit  Fjodorowitsch  Bogdanowitsch  im 
Jahre  1774  sein  Hauptwerk  „Seelchen*' (,HyinenbKa)  veröffent- 
lichte. Dieses  ist  indessen  kein  Orginal  sondern  eiiTe  ge- 
reimte freie  Übersetzung  von  Lafontaines  Roman  „Les  amours 
de  Psycho  et  de  Cupidon**,  nur  mit  noch  mehr  Frivolitäten 
durchsetzt,  die  bei  dem  Russen  plump  und  geschmacklos  er- 
scheinen. 

Bald  darauf  übersetzten  Jelagin  und  Lukin  den  Roman 
des  Abb^  Prevost:  „M^moires  de  Marquis  ***,  ou  aventures 
d*un  homme  de  qualit^,  qui  s*est  retir^  du  monde**;  und  auch 
Louvet  de  Couvrays  „Amours  du  Chevalier  de  Faublas*'  wur- 
den ins  Russische  übertragen.  Einige  Schriftsteller  versuchen 
Nachahmungen,  aber  der  pornographische  Roman  gelingt  ihnen 
nicht,  die  Imitationen  werden  ungeschickt,  und  selbst  das  fri- 
volste Werk  dieser  Gattung:  „Jewgenij  oder  verderbliche  Fol- 
gen schlechter  Erziehung  und  Gesellschaft**  des  achtzehnjäh- 
rigen Ismajlow  artet  in  eine  hausbackene  Moral  aus:  die 
Hauptperson  gerät  durch  Schulden  ins  Gefängnis,  und  die  Gou- 
vernante Sanspudeur,  deren  Name  ihre  Rolle  im  Roman  be- 
zeichnet, endet  in  einer  Tuchfabrik.  Bedeutender  ist  das  Werk 
„der  russische  Gil  Blas  oder  Abenteuer  des  Fürsten  Gawrila 
Ssemjono witsch  Tschistjakow**  vom  Kleinrussen  Wassili j  Nar- 
jeschnij.  Von  diesem  sechs  Bände  umfassenden  Werke  er- 
schienen 18 14  drei  Bände,  die  übrigen  drei  wurden  von  der 
Zensur  als  unsittlich  unterdrückt.  Zu  originellen  erotischen 
oder  pornographischen  Produktionen  bringt  es  auch  der  be- 
rühmte Sittenschilderer  Krestowskij  nicht,  der  sich  in  seinem 
Sensationsroman  „Petersburger  Spelunken**  einfach  an  die  Pa- 
riser Mysterien  des  Franzosen  Sue  anlehnt.  Gogolj,  Tolstoj 
und  Dostojewski]  sind  zwar  naturalistische  Dichter;  doch  nur 
Dostojewski]  schildert  in  „Verbrechen  und  Sühne**  die  Pro- 
stitution und  zeigt  uns,  wie  seine  Heldin  Ssonja,  um  den 
trunksüchtigen  Vater,  die  schwindsüchtige  Stiefmutter  und  fewei 
kleine  Stiefgeschwister  zu  ernähren,  kein  besseres  Mittel  weiß, 
als  Prostituierte  zu  werden. 


—    582    — 

Reichhaltiger  als  die  öffentliche  Literatur  ist  die  geheime 
an  erotischen  Liedern,  Gedichten,  Sprichwörtern,  Anekdoten 
und  Erzählungen.  Zu  diesem  Reichtum  hat  in  erster  Linie  das 
Volk  selbst,  eine  Legion  unbekannter  Dichter  beigetragen. 
Aber  auch  von  den  großen  Poeten  haben  einige,  wie  Gribo- 
jedow,  Puschkin  und  Lermontow,  zu  dem  Schatze  des  Ero- 
tischen und  Obszönen  wertvolles  beigesteuert.  Während  die 
Volkslieder  zumeist  den  natürlichen  Geschlechtsakt  oder  ska- 
tologische  Stoffe  behandeln,  feiern  die  großen  russischen  Dich- 
ter hauptsächlich  die  gleichgeschlechtliche  Liebe.  In  einem 
schmächtigen  Büchlein,  betitelt :  „Eros  russe,  PyccKiä  3poTi>  ne 
ÄJiHAaM'B",  das  im  geheimen  gedruckt  worden  ist,  sind  21  klei- 
nere und  größere  Gedichte  des  Dichters  Lermontow,  des  Schau- 
spielers Karatygin  und  einiger  anderer  vereinigt.  Von  diesen 
21  Geclichten  sind  die  meisten  der  Päderastie  gewidmet.  Da 
es  sich  um  ein  sittengeschichtliches  Dokument  ersten  Ranges 
handelt,  gebe  ich  hier  den  Inhalt  des  Bändchens: 

Titelblatt,  zwei  Seiten  Inhaltsangabe,  eine  Seite  Vorwort 
(Kt  ^HTaTejiK));  diesem  Vorwort  zufolge  sind  die  Gedichte 
in  den  Kreisen  der  Junkerschule,  der  Rechtsschule  und  des  Ka- 
dettenkorps in  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  entstanden;  die  Publikation  erfolgte  1879 
in  hundert  Exemplaren,  i) 

Lermontow  eröffnet  unter  dem  Pseudonym  „Gr.  Diarberkir** 
den  Reigen  mit  drei  Stücken :  dem  großen  Gedicht  „Poninn- 
Tajib"  (Das  Hospital.  Seite  3 — 9),  der  Epistel  „THaenrayaeHy" 
(An  Tiesenhausen)  und  einer  „O^a  kb  nyjKHnKy"  (Ode  an 
den  Abtritt),  die  mit  der  berühmten  Blumauerschen  Ode  nichts 
gemein  hat  als  den  ähnlich  klingenden  Titel.  Das  letzte  der 
drei  Gedichte  ist  unterzeichnet:  3Kpeii,'b  MyacHKa,  HHBajiiiA'i> 
HifKOJiaii  HBanoBiiH'B  (Der  Opferpriester  des  Muschik,  der  Invalid 
Nikolaj  Iwanowitsch).  Das  zweite  Gedicht  warnt  den  Apostro- 
phierten (den  Schulkollegen  Tiesenhausen)  vor  den  sozialen 
Folgen  seines   homosexuellen  Lebens: 


^)  Dr.  Karsch,  dem  ich  dieses  Büchlein  verdanke,  hat  noch  eine  andere 
Ausgabe  von  II  +  92  Seiten  gesehen.  Der  Inhalt  ist  in  beiden  Ausgaben 
genau  derselbe. 


—    583    — 

He  BOAn  TaKT>  tomiio  okomr, 
KpyrJiOM  Mconofi  ne  sepTH, 

CjiaAOCTpaCTBGM'B  H  nopoKOMT> 

CßoeHpaBHO  He  myTu. 

He  xoAH  B'B  HyHcofi  nocTejiii 

H  KT>  CBoefi  He  AonycKafi, 

Hh  myTÄ  HH  B'B  caMO\n>  A'hJi'h 

H'Jb»cHO  pyiTB  He  noHCHMaii. 

Snaä,  npejiecTHHfi  Hannb  nyxonei^'B, 

IOhoctb  AOJiro  ne  ÖJiecTHrB, 

XOTB   JiroÖOBHHITB    TBOS   HepBOHei^Tb 

Ka}KAHÖ  pa3'B  Teßi  AapnT'B; 
Snaä  KorAa  pyKa  rocuoÄHH 
PaapasHTCH  Ha^^b  toGoS, 
Beb  KOTopBryB  tbi  ceroAHH 

SpHHIB   y   HOFB    CBOHXTb    CT>   MOHBÖOlf, 

CnaAKoä  BJiarofi  noi^ajiya, 
He  ySMyTB  TocKy  tbok), 
XoTB  Tor^a  3a  kohhhitb  xy« 
Tbi  6h  OTAaJi'B  jkhbhb  cbok). 

Sollst  nicht  mit  den  Augen  schmachten, 

Nicht  den  runden  Hintern  drehn, 

Spaß   nicht  vor  der  Welt   mit  Wollust, 

Laß  sie  nicht  dein  Laster  sehn. 

Steige  nicht  in  fremde  Betten, 

Niemand   laß   in   deins   hinein. 

Nicht   im  Scherz  und  nicht   im  Ernste 

Sollst  du  allzuzärtlich  sein. 

Wiß,  verführerisches  Wesen, 

Jugend  dauert  nicht  gar  lang. 

Laß   dich   nicht  vom  Golde   locken. 

Das  dir  wird  zum  Lohn  und  Dank. 

Wenn  die  Hand  des  Herrn  zu  strafen 

Einmal   auf   dich   niederfällt. 

Werden  alle  diese  Braven, 

Die  dein  Reiz  gefangen  hält. 

Die   jetzt   dir  zu  Füßen   schmachten, 


^^im 


—    584    — 

Nicht  dein  Laster  mehr  verstehn; 
Alle  werden  dich  verachten, 
Keiner  deinen  Kummer  sehn. 
Wisse,  für  ein  Stückchen  Schwanz 
Opferst  du  dein  Leben  ganz. 

Die  nächsten  zwei  Gedichte:  „OmnÖKa"  (Das  Versehen) 
und  „CMHpeme  OTii,a  IlaxoMa"  (Vater  Pachoms  Demut)  wer- 
den von  einigen  Barkow,  von  anderen  Ismajlow  (dem  von  mir 
bereits  erwähnten  Verfasser  des  Romans  „Jewgenij'*)  zuge- 
schrieben. Letzteres  ist  wahrscheinHcher ;  beide  Gedichte  sind 
bloße    Übersetzungen   aus   dem   Französischen   des   Gr^court. 

Den  größten  Raum  nimmt  das  sechste  Stück  ein:  „Doxo- 
5KAeHi}i  naaca"  (Erlebnisse  eines  Pagen).  Es  besteht  aus 
23  Abschnitten  in  zwei  Hauptteilen  (Seite  15 — 44)  und  behandelt 
ausschließlich  Päderastie.  Einige  Zeilen  daraus  sind  von  mir 
bereits  in  einem  früheren  Kapitel  (Perversität)  zitiert  worden. 
Der  Autor  bezeichnet  die  Kadettenschule  als  das  wahre  Sodom ; 
Rom,  Griechenland  und  der  Orient  vereinigen  sich  hier  mit 
ihren  Lastern,  und  alle  Pagen  der  Anstalt  sind  „Bougre's  oder 
Bardache's**.  Das  Leben  und  Treiben  wird  ebenso  poetisch 
als    realistisch    geschildert.     Von    demselben   Verfasser,    AI. 

Feodorowitsch  Schtsch.,  sind  noch  mehrere  Stücke:  „JI oii" 

(An    L.),    eine    Hymne    auf    die    Sodomie    mit    dem    Weibe; 

„CBu;i;aHie"  (Das  Rendezvous);  „P y"  (An  R.,  nämlich 

Rostowzew),   eine  Verteidigung  der  Päderastie. 

Es  folgen  weiter: 

MocKOBCKiii  CTHxoTBopeniK  (Moskauer  Gedichte).  Das 
erste  ist  der  Fürstin  Warwara  Pawlowna  Gagarin,  späterer  Frau 
Ssolyzew,  gewidmet;  das  zweite  wendet  sich  an  die  Gräfin 
Lydia  Arssenjewna  Nesselrod,  geborene  Sakrewskaja;  das  dritte 
ist  ein  Glückwunsch  für  den  Moskauer  Oberpolizeimeister  Ber- 
nitsch  aus  Anlaß  seiner  Dekorierung  mit  dem  Stanislausorden 
erster  Klasse.  Verfasser  dieser  satirisch-erotischen  Episteln  ist 
D.  Lenskij. 

Von  den  restlichen  Nummern  sind  besonders  die  Gedichte 
des  Schauspielers  P.  Karatygin  hervorzuheben,  die  zum  Teile 
ebenfalls  homosexuelle  Töne  anschlagen:  „ITo'hRAKaBiiCoprioB- 


\ 


I 


—    585    — 

CKyK)  nycTfciHy  noÄi>  üeTepSyproMi»;  CKopoMHOH  nicim  Ha 
nocTHOM'B  Macjin"  (Fahrt  nach  dem  Ssergejewkloster  bei  Peters- 
burg, eine  verbotene  Speise  in  Fastenöl) ;  die  Schilderung  einer 
Vergewahigung  von  vier  englischen  Seekadetten  durch  ägyp- 
tische Matrosen  in  einem  Konstantinopeler  Kaffeehause  im 
Jahre  1854,  dazu  eine  türkische  Beantwortung  der  Beschwerde; 
„Cnopt"  (der  Streit) ;  „ A^aMii  11  EBBa  b'b  üeTepro^j'fe"  (Adam 
und  Eva  in  Peterhof). 

Den  Beschluß  des  Büchleins  bilden  einige  Gedichte,  deren 
Verfasser  unbekannt  sind. 

In  den  letzten  Jahren  sind  von  einigen  russischen  For- 
schern, wie  Tschubinskij,  Wolkow  und  Dikarew,  eine  Menge 
Lieder,  Sprichwörter  und  Anekdoten  gesammelt  und  in  Welters 
KpuTTTaSta  (Paris)  V,  VII  und  VIII  einem  ganz  kleinen  Kreise 
von  Folkloristen  zugänglich  gemacht  worden.  Schon  im  ersten 
Bande  der  KpuTTTotSwc  (1883)  waren  77  geheime  russische  Er- 
zählungen in  französischer  Übersetzung  erschienen;  Isidore 
Liseux  publizierte  sie  dann  als  ,,Edition  unique  ä  deux  cent 
vingt  exemplaires  num^rot^s**  1891  unter  dem  Titel:  „Contes 
secrets  russes  (rousskiia  zavetnia  skazki)  traduction  complöte.** 
Diese  Übersetzung  erfolgte  nach  einem  russischen  Exemplar 
(200  Seiten  kl.  8  ^)  der  Pariser  Nationalbibliothek ;  das  russische 
Original  nennt  als  Druckort  und  Druckerei:  „Balaam,  aus 
der  Kunstbuchdruckerei  der  Mönchsbruderschaft,  im  Jahre  der 
Teufelei  der  Hölle.**  Im  letzten  Kapitel  bringe  ich  einige  dieser 
Geschichten;  wie  die  Romane  von  Bogdanowitsch,  Ismajlow 
und  Narjeschnij  stehen  auch  diese  geheimen  Erzählungen  ganz 
unter  dem  Einfluß  der  französischen  Erotiker  des  siebzehnten 
und  achtzehnten  Jahrhunderts;  manche  sind  geradezu  Kopien 
der  gallischen  Erotik.  Die  Cent  nouvelles  nouvelles,  Rabelais, 
Lafontaine,  Gr^court,  dann  aber  auch  Boccaccio,  Bonaventure 
des  Periers  und  viele  andere  sind  von  den  russischen  Imitatoren 
geplündert  worden;  wirklich  russisch  erscheinen  die  letzteren 
nur  dort,  wo  sie  skatologisch  werden. 

Origineller  als  die  Erzählungen  sind  die  Volksbilderbogen 
(jiyGoHJiun  KapTHHKH)  mit  erläuterndem  Text,  zumeist  plumpe 
Holzschnittdrucke;  die  ältesten  stammen  aus  dem  siebzehnten 
Jahrhundert.    Sie  zeichnen  sich  alle  durch  beißende  Satire  aus 


^j 


—    586    — 

und  geißeln  nicht  bloß  die  Sitten  der  Gesellschaft,  sondern 
wagen  sich  selbst  an  die  Regierung  und  schließlich  an  die 
geheiligten  Personen  der  Zaren  und  Zarinnen  heran.  Nach 
Peters  des  Großen  Tode  kursiert  unter  den  Altgläubigen  ein 
Bilderbogen,  auf  dem  die  Mäuse  feierlich  den  Kater  (Peter 
den  Großen)  begraben ;  die  Mäuse  (die  Altgläubigen)  frohlocken 
über  den  Tod  des  Feindes.  Man  plakatiert  selbst  in  den  Wirts- 
häusern Bilder  wie  dieses :  Peter  der  Große  sitzt  an  einem  reich 
gedeckten  Tische ;  Mentschikow  bringt  ihm  auf  einer  Platte  als 
Dessert  eine  üppige  Schönheit:  Katharina;  unter  dem  Bilde 
als  Text  die  Worte :  „Der  gute  Untertan  bringt  das  Kostbarste, 
was  er  besitzt,  dem  Zaren  dar.**  Dieses  Bild  spiegelt  alles 
wider,  was  man  von  der  Vergangenheit  der  ersten  Katharina 
Sicheres  weiß:  daß  sie  Mentschikows  Maitresse  war  und  daß 
der  Günstling  sie  dem  Herrn  abtreten  mußte. 

Die  Zeit  Katharinas  IL  fordert  noch  mehr  zu  solchen 
Satiren  heraus.  Die  Sittenlosigkeit  der  Gesellschaft  spottet 
aller  Beschreibung,  nur  mit  Hilfe  der  Satire  und  Karikatur  kann 
man  sie  noch  einigermaßen  treffend  charakterisieren.  Etwa 
1780  ist  ein  aus  acht  einseitig  gedruckten  und  mit  8  Bildern 
geschmücktes  Volksbuch  erschienen,  das  ich  einmal  zu  Gesicht 
bekam.  Es  führt  den  Titel:  „Die  Kaufmannsfrau  und  der 
Kommis.**  Die  Überschriften  der  Bilder  schildern  den  derben 
Inhalt  kurz :  „Von  Weiberwinkelzügen  und  Bankerottpapieren ; 
die  Hausfrau  verliebt  sich  in  den  Kommis ;  der  Mann  wird  durch 
Vorspiegelungen  getäuscht,  in  eine  Falle  gelockt  und  vom 
Kommis  erschossen;  über  Unterhaltungen  und  allerlei  List;  die 
Frau  führt  jetzt  auch  den  Kommis  an  und  jagt  ihn  in  Schrecken ; 
die  listige  Frau  steckt  den  Kommis  in  einen  Schrank  und  ist 
einem  anderen  Mann  zu  willen;  dann  befreit  die  Frau  den 
Kommis,  macht  ihm  Schrecken,  indem  sie  ihm  den  Tod 
wünscht,  und  beschwichtigt  ihn  durch  Liebesbezeigung ; 
Schlußbild:  die  listige  Frau  heiratet  den  Kommis.** 

Katharina  II.  selbst  gab  Stoff  genug  zu  erotischen  und 
obszönen  Karikaturen.  Auch  die  Ausländer  bemächtigten  sich 
natürlich  der  Figur  der  Zarin  für  satirische  Werke  und  Zeich- 
nungen. Der  deutsche  Vielschreiber  Albrecht  veröffentlichte 
eine  ganze  Reihe  von  Schlüsselromanen  gegen  Katharina,  ihren 


—    587    — 

Hof  und  ihren  Sohn:  „Pansalvin,  Fürst  der  Finsternis  (Pat- 
jomkin)  und  seine  GeHebte**;  „Miranda**;  „Staub  der  Erste, 
Kayser  der  Unterweh/*  ^)  Die  berühmteste  europäische  Karika- 
tur auf  Katharina  II.  ist  diesem  Kapitel  beigegeben :  Die  Kaiserin 
steht  mit  einem  Fuße  auf  Warschau,  mit  dem  anderen  auf 
Konstantinopel,  und  unter  ihren  weiten  Röcken  liegen  wie 
unter  einem  Zelt  mit  starren  Augen  und  offenem  Mund  die 
Regenten  Europas,  den  Mittelpunkt  anstaunend,  den  ihnen 
Katharina  zeigt.  Jeder  stößt  einen  passenden  Ruf  aus,  ent- 
sprechend seiner  Lage  und  seinen  Gesinnungen.  Der  Papst 
beispielsweise  sagt:  „Ach  Jesus,  welch  ein  Abgrund  des  Ver- 
derbens!" aber  Poniatowski,  König  von  Polen,  ruft  stolz  aus: 
„Auch  ich  habe  zu  seiner  Vergrößerung  beigetragen!"  Ein 
anderer  in  Polen  hergestellter  Kupferstich  führt  den  Titel  „Ka- 
tharinas Mahlzeit" :  Die  Kaiserin  sitzt  an  der  Tafel.  Von 
der  einen  Seite  reichen  ihr  Kosaken  blutige  Glieder  von 
Schweden,  Polen  und  Türken  dar;  auf  der  anderen  Seite  liegt 
in  einer  Reihe  eine  Anzahl  junger  Männer  wie  Tonnen  in  einem 
Weinkeller,  und  ein  altes  Weib  zieht  aus  ihren  Zeugungsgliedern 
durch  eine  handgreifliche  Operation  einen  Saft,  den  sie  in  einen 
Pokal  auffängt  und  der  Kaiserin  zum  Trinken  hingibt.  Unter 
diesem  Bilde  stehen  einige  Verse:  „Weil  dir  die  Männer  stets 
wohl  bekamen,  so  iß  ihren  Penis  und  trink  ihren  Samen!" 
Der  große  englische  Karikaturist  Thomas  Rowlandson  hat 
später  Katharina  II.  zum  Gegenstand  eines  nicht  minder  obszönen 
Bildes  gemacht:  „The  Empress  of  Russia  receiving  her  brave 
guards";  die  Kaiserin  lehnt  sich  gänzlich  aufgedeckt  an  ein 
Sofa,  ein  Kosak  bearbeitet  sie;  ein  zweiter  steht,  aufgeknöpft 
wartend,  schon  hinter  dem  beschäftigten  Kollegen ;  drei  andere 
trinken  und  onanieren.  2)  Schließlich  fehlt  es  in  Petersburg 
selbst  nicht  an  Satiren  und  Karikaturen  dieser  Art.  Im  Kreise 
der  Hofgesellschaft  zeigt  man  lachend  die  Zeichnung  einer 
jungen  achtzehnjährigen  Hofdame,  des  Fräuleins  Buturlin;  sie 


1)  Vgl.  auch  die  von  uns  reproduzierten  Titelbilder  zu  diesen  Werken 
im  ersten  Bande,  S.  i6. 

2)  Dieses  rohe  Bild  des  Meisters  ist  reproduziert  in  dem  Rowlandson 
Werke   (Fünfzig  erotische  Grotesken  von   Thomas   Rowlandson,   Wien    1907, 
Privatdruck). 


—    588    — 

stellt  vor,  wie  Katharina  sich  von  ihrer  Hofdame,  der  schönen 
Gräfin  Bruce,  verschiedene  Maße  anprobieren  läßt.   Ein  anderes 
Werk  dieser  jungen  Dame  zeigt  Patjomkin  auf  einem   Sofa 
liegend  und  seine  drei  jungen  nackten  Nichten  prüfend;    jede 
der  drei  Grazien  weist  ausdrucksvoll   auf  ihr  Schmuckstück 
hin  und  ist  bestrebt,  durch  Miene  und  Gebärde  diesem  Paris 
die    Meinung    zu    suggerieren,    daß    sie    den    Preis    vor    den 
Schwestern  verdiene.    Katharina  erhielt  Kenntnis  von  diesen 
Zeichnungen   und   ließ   die  vielversprechende   Künstlerin   Vor 
der  ganzen  Hofgesellschaft  mit  Ruten  streichen;  aber  als  Fräu- 
lein Buturlin  später  Frau  von  Diwow  geworden  war  und  die 
zarische  Regierung  eine  Spionin  in  Stockholm  brauchte,  schickte 
die  Kaiserin  diese  ebenso  freche  wie  lasterhafte  junge  Dame 
als  die  für  solche  Zwecke  am  besten  geeignete  Person  nach 
der  schwedischen  Hauptstadt. 


57.  Sexuelles  Lexikon. 


Für  das  männliche  Glied  haben  die  Russen  als  populärste 
Bezeichnung  das  ordinäre  Originalwort  xyii  (chuj);  daneben 
den  Ausdruck  xbocti»  (chwost),  der  eigentlich  aber  nur  für  den 
Schweif  des  Tieres  gebraucht  werden  soll. 

Will  man  das  Schamgefühl  soweit  als  möglich  schonen,  so 
sagt  man  wie  im  Deutschen:  das  männliche  Zeugungsorgan: 
/i.'bTopoÄHuii  My/KCKÜi  ^newh  (djetorodnüy  muschskij  tschlen). 

Die  Umschreibungen  sind  nicht  allzu  häufig.  Geläufig 
ist  das  Wort  Jioara  (Losga,  Rute)  für  Penis.  In  den  Liedern 
bedient  man  sich  allerdings  mancher  sozusagen  poetischen  Frei- 
heit. So  spricht  man  von  der  roten  Rübe,  HepBOH  öypaK  (tscher- 
won  burak)  in  einem  kleinrussischen  Liede. 

Im  Kreise  Uschitzja,  Gouvernement  PodoHen,  singt  man 
ein  Lied,  in  dem  der  Penis  als  ein  ,, Unglück**  bezeichnet  wird; 
dies  geschieht  hier  zweifellos  dem  Reim  zuliebe: 


—    589    — 

ÜToiTb  ÜHJiHn  HaA  boaoio 

3  npeBejiHKOH)  6iAOio; 

flißKH  KpHHrfTL:  „IlHJiHn,  IIiinHn!" 

A  bIh  xyeM  Tejiin,  Tejiin! 

Pilip  steht  am  Bachesrand, 
Hält  sein  Riesenunglück  in  der  Hand; 
„Pilip,  Pilip!**  rufen  ihm  die  Mädchen  zu, 
Doch  er  dreht  sein  Glied  nur  in  aller  Ruh. 

Charakteristischer  und  richtiger  ist  der  Ausdruck^  Wurst, 
K0Ji6aca  (kolbassa);  kleinrussisch  KOBÖaea  (kowbassa): 

IniJia  ÄiBKa  ia  apMapKy, 
Ha;i;  pi^KOH)  cijia, 
Pyi;i,  H03i  poacTaBiiJia 
Taii  aarojiocHJia: 
^Hexaii  noi^a  BO^y  iii>e, 
Bo  KOBÖacy  iJia!"^) 

Ein  Mädchen  geht  vom  Markt  nach  Haus 
Und  setzt  sich  an  ein  Flüßchen, 
Sie  rastet  da  ein  wenig  aus 
Und  öffnet  ihre  Füßchen: 
'         „Trink  jetzt  Wasser,  lösch  den  Durst, 
Hast  gegessen  eine  Wurst!** 

Der  Vollständigkeit  halber  muß  ich  auch  ein  burschikoses 
baltisches  Studentenlied  erwähnen,  das  den  Penis  als  Degen 
bezeichnet : 

Wie  ich  auf  einer  Reise 

Die  Jungfernschaft  verlor: 

Es   kroch   aus   dem  Gehäuse 

Ein   Riesenkerl   hervor. 

Der  Degen  des  Barbaren 

War  härter  noch  als  Stein, 

Bewachsen  ganz  mit  Haaren, 

Ein  Beutel  obendrein. 

Er  wollt   ins  Gras  mich  drücken, 

Begann  ich  ein  Gewein. 


*)  Aus  dcui  Orte  Karabatschiii  im  Kreise Kadomysl,  Gouvernement  Kijcw. 


—    590    — 

Doch  fing  er  an  zu  f ^ 

Da  faßte  mich  Entzücken, 
Da  hört  ich  auf  zu  schrein. 

Im  allgemeinen  aber  umschreibt  die  baltische  Jugend  die 
Dinge  nicht,  sondern  nennt  sie  einfach  bei  ihren  populären, 
Namen :  beispielsweise  Eiersack. 

Der  Russe  sagt  für.Hode:  My^o  (mudo)  oder  auch:  Zeu- 
gungseier,   AiTopo;^HHa  aHn;H    (djetorodnüja  jajzy). 

Di^  rein  lexikalischen  Ausdrücke  für  den  weiblichen  Ge- 
schlechtsteil sind:  A'^TopcAHHa  nacTii  (djetorodnüja  tschasti, 
Zeugungsteile) ;  npoxo^t  metrh  (prochod matki,  Mutterscheide) ; 
JiOHcecHa  (Loschesna,  ebenfalls  Mutterscheide);  hhm^h  (nimfy) 
oder  ryÖH  Ä'^Topo^naro  y^a  SKeHCKaro  (guby  djetorodnawo 
uda  schenskawo,  wörtlich:  Lippen  des  weiblichen  Zeugungs- 
gliedes). 

Die  ordinären  Ausdrücke  für  vulva:  nnsAa  (pisda)  und 
noij,bKa  (pozjka)  erfreuen  sich  größerer  Popularität  und  werden 
von  Alt  und  Jung,  Vornehm  und  Gering  ohne  Scheu  ange- 
wendet. Kleinrussisch  sagt  man  Man^a  (manda) ;  berüchtigt  ist 
der  Geschlechtsteil  der  Frauen  von  Brussylow  im  Gouvernement 
Tschernigow;  denn  man  beschimpft  eine  Frau  furchtbar,  wenn 
man  ihr  zuruft:  Man^a  öpycimoBCbKa,  Brussylowsche  Vulva  du! 
Die  Balten  in  Estland  kennen  den  merkwürdigen  Ausdruck : 
Kutte.  1) 

Die  Kleinrussen  haben  für  das  Jungfernhäutchen  das 
hübsche  Wort:  öapnniHH  (großrussisch  ßapHinim;  baryschnja, 
Fräulein)    und    ein   Lied    erzählt: 

Oii  xoAiiJia  CoiiH  no  paKii 
BiiKyoiLTii  „öaj^niuHio"  co5aKJi: 
„lU^o-HC  H  öy^y,  6i;i,Ha,  poöiiTir, 
HIm  h  6yAy  xjroiiu,iB  ManiiTii?" 
Ho  JKypiK'H,  cepu,o,  BaciiJiio: 
IIIivypaTJiiiy  „napiiuiHro"  iipiiiniiio. 
EcTb  y  MOHo  rojiKa  6e3  Byinua, 
To  nouinio  „öapiimiiio"  :^  KOKyiuKa. 


*)  Pctri,  EhstlamI  uml  die  Khstcn,  II  90. 


—    591     — 

Sonja  ging  auf  Krebsenjagd, 

Hat  an  Böses  nicht  gedacht, 

Als  die  Hunde  sie  gebissen, 

Und   das    „Fräulein**    ihr   zerrissen: 

,,Wie,**  schrie  sie  da  auf  erschrocken, 

„Soll  ich  jetzt  die  Burschen  locken?** 

Weine   nicht,   mein  Herz,  Wassili, 

Da  ich  mir  schon  helfen  will: 

Eine  Nadel  ohne  Öhr 

Repariert  mir  das  Malheur, 

Und  das  „Fräulein**  kriegt  dann  schnell 

Neues  Mäntelchen  von  Fell. 

Eine  merkwürdige  Bezeichnung  für  die  Vulva  ist  das  Wort 
Kyna,  auch  KyHKa  oder  KyHHii,a  (kuna,  kunka  oder  kuniza). 
Dieses  Wort  bedeutet  einen  Marder.  In  alten  Zeiten  wurden 
in  Rußland  Pelze  als  Geld  im  Verkehr  genommen,  Steuern 
und  Strafen  zahlte  man  in  Pelzen  ab,  und  man  bezeichnete  die 
Abgaben  nach  dem  Namen  der  Gegenstände,  worin  sie  ent- 
richtet wurden,  als :  Ochsen,  Kühe,  Schafe,  Füchse,  Hermeline, 
Wiesel,  Eichhörnchen  und  Marder.  Die  Bezeichnungen 
blieben,  als  die  Abgaben  nicht  mehr  in  Pelzen,  sondern  in 
Geld  bezahlt  wurden.  Die  Heiratsabgabe  bestand  in  einem 
schwarzen  Marder i),  und  der  Marder  ist  bis  heute  das  hoch- 
zeitliche Symbol  der  russischen  Braut,  wie  anderwärts  die 
Myrte.  In  Volksliedern  gebraucht  man  das  Wort  Marder 
für  den  weiblichen  Geschlechtsteil.  In  einem  Liede,  das  im 
Kreise  Nowograd-Wolynskij  in  Wolhynien  gesungen  wird,  schil- 
dert ein  Mädchen  den  Verlust  ihres  „Marders**  folgender- 
maßen : 

Hk  h  öyjia  rocnoja;iiim, 

To  AO  MicTa  xoAiiJia, 

Ka'iana  KyniiJia, 

Ha   ropoAi  iioca;;njia, 

CIm  iieAiJii>  iia  ropo^  ho  xoamjiu, 

BicbMOi'  iieAiJii  lui  ropo;^oij,L  npiiiiinjia: 

^)  Vgl.  Schmidt,  das  jus  primae  noctis  nach  slawischen  (icschichtsquoilen 
Posch   1886. 


1 


—    592    — 

B»ce  MÜi  KaiaH  padBUBaerbCH, 

y  HepBOHi  HOÖiTKH  ysysaeTbca! 

111,0  a.  öro  3a  cxeöno: 

To  bIh  Mene  aa  cxerHo! 

JlXo  a  öro  3a  Bepmon! 

To  bIh  Mene  3a  lyöoK! 

111,0  a.  6ro  3a  jiiiTKy: 

To  bIh  Mene  3a  i^Hn,i>Ky! 

OH  Kaiane,  Ka^aiie, 

3a  moiK  Mene  Ka^aera, 

B  Mene  KyiiKii  niyKaem? 

fl  ÄO  MicTa  xoÄHJia, 

Cbok)  KyHKy  sryönjia, 

A  nonoBUH  imoB, 

MoH)  KyHKy  3naMinoB! 

Als  ich  einmal  Muße  hatt, 
Ging  hinein  ich  in  die  Stadt, 
Kaufte  einen  schönen  Kohl, 
Setzte  ihn  in  meinen  Garten. 
Sieben   Wochen  harrt  ich  wohl. 
Länger  wollt  ich  nicht  mehr  warten; 
In   der  achten  endlich  ging 
Ich  hinaus  zu  diesem  Ding, 
Und  zu  meiner  Freud'  ich  sah : 
Ganz   entwickelt   stand   er  da. 
Griff  ihn  also  an  am  Stengel : 
Hielt  am  Fuße  mich  der  Bengel! 
Packte  ihn  an  seiner  Spitze: 
Griff  er  frech  nach  meiner  Ritze! 
Kohl,  o  Kohl,  sei  nicht  so  dumm, 
Sag,  was  rollst  du  mich  herum? 
Suchst  du  denn,  mein  lieber  Kohl, 
Meinen   Marder   bei   mir  wohl? 
Ach,  den  Marder  hat  dein  MädchcMi 
Doch  verloren  in  dem  Städtchen. 
Hinter  mir  des  Popen  Sohn 
Ging  und  fand  den  Marder  schon. 


7 


—    593    — 

Für  Hurerei  haben  die  Prostituierten  den  simplen  Aus- 
druck ryjiHTb  (guljat,  Spazierengehen,  bummeln).  In  den  Ge- 
setzen kommt  in  älterer  Zeit  das  Wort  HenoTpeßctBO  (nepo- 
trebstwo)  vor;  HenoTpeÖHbiii  (nepotrebnüy)  bedeutet  ebenso- 
wohl unnütz  als  liederlich.  Die  geläufigsten  Bezeichnungen 
einer  Hure  sind:  6naji,h  (bljadj)  und  Kypsa  (kurwa).  Als 
Schimpfworte  gebraucht  man  hauptsächlich  das  letztere  und 
die  Ableitungen:  cKyjiBHu  chh  (skurwij  ssyn,  kleinrussisch: 
Hurensohn)  und  Rypsajib  (kurwalj ,  kleinrussisch  Hurenkerl). 
Im  kleinrussischen  hat  man  für  Hure  noch  die  Worte:  niJiöii- 
Apa  (schljondra)  und  niJiioxa  (schljucha);  ein  Bastard  heißt: 
öaöcTpiOK  (bajstruk).  Weitere  großrussische  Ausdrücke  sind: 
ÖJiyAOA'bii  (bludodej ,  Hurer);  6jiyA0ÄMHHn;a  (bludodejniza, 
Hure);  ßjiyAHTb  (bluditj,  huren,  herumschweifen):  ßjiyAJiii- 
BOCTb  (bludliwostj ,  Hurerei,  Unzucht);  öjijjiiimiiufi  (bludi- 
lischtsche,  Hurenhaus). 

MyH{ejiK)6Hu,a  (muscheljubiza)  ist  eine  Frau,  die  ihren 
Mann  liebt ;  aber  MyaceiiencTOBCKaii  (muscheneistowskaja) 
eine  mannstolle  Frau.  HCeHOJHoÖJiBuü  (schenoljubiwüy)  ist  ein 
Mann,  der  den  Frauen  allzu  ergeben  ist. 

MtenmiiHa  (schenschtschina)  heißt  die  Frau,  und  von 
diesem  Worte  stammt  HcenonencTOBCTBO  (schenoneistowstwo, 
Unkeuschheit). 

Für  Päderastie  gibt  es  keine  Übersetzung  des  Wortes 
Knabenschändung,  sondern  bloß  den  Ausdruck:  Mannesbei- 
schlaf, MyjKejioKCTBo  (muscheloschstwo) ;  ein  Knabenschänder 
heißt  My)Kejio}Keii,i»  (muscheloschez). 

Schon  die  älteren  Reisenden  staunten  ob  der  Ungeniert- 
heit, mit  der  in  Rußland  die  vornehmsten  und  gebildetsten 
Leute  in  ihren  Konversationen  die  ordinärsten  Worte  aus  dem 
sexuellen  Lexikon  gebrauchen.  Namentlich  das  Wort,  mit 
dem  man  den  Coitus  (jebitj)  bezeichnet,  erregt  nicht  den  ge- 
ringsten Anstoß,  und  Kaiser  wie  Bauer,  Großfürstin  wie  Dirne 
wenden  es  bei  jeder  Angelegenheit  an.  „Selten  oder  fast 
niemahls  hört  man  sie  scherzen,**  schrieb  Peter  von  Haven  von 
den  Russen  1),   „schelten  aber  desto  öfter,   und  sie  bedienen 


*)  Nachrichten  von  Rußland.     Bei  Büsching  X  346. 
Stern,  Geschichte  der  OfTentl.  Sittlichkeit  iu  Rußland.    **  38 


—    594    — 

sich  des  Scheltworts  Jebjonomat  fast  bei  jedem  anderen  Worte, 
das  sie  sagen." 

Die  Großrussen  sind  in  dieser  Beziehung  tonangebend. 
Der  geläufigste  Ausdruck  ist  dieser:  E6h  tboio  Maxb!  Jebi 
twoju  matj,  ich  koitiere  deine  Mutter! 

Daneben  gibt  es  folgende  Variationen:  Deine  Mutter  ist 
zu  koitierenl  ich  habe  deine  Mutter  koitiert!  ich  habe  deine 
Mutter  durch  und  durch  koitiert  (pacnpo66'b  tboio  MaTb) ! 

Man  hat  für  diese  Art  Flüche  eine  besondere  Redewen- 
dung: pyraTbca  no  METepHOMy  oder  pyraHB  orh  ynoMHiiOBC- 
HieMi»  poAHTeJiefi,  beleidigen  durch  die  Erwähnung  der  Mutter 
oder  der  Eltern. 

Ähnlich  fluchen  die  Kleinrussen;  diese  nennen  aber  solche 
Art   MocKOBCKaa  jiaÜKa,  Moskauer  Flüche: 

I6aB  a  TBOH)  Maxip,  ich  habe  deine  Mutter  koitiert!  oder: 
ich  koitiere  deine  Hundemutter!  gehe  zu  deiner  koitierten 
Mutter ! 

Originelle  kleinrussische  Flüche  sind: 

Maxepi  TBoiä  6ic,  den  Teufel  —  deiner  Mutter  1  Oder : 
Ein  Brunnen  voll  Teufel  deiner  Mutter! 

Marepi  tboIü  cto  xyiB,  hundert  Chujs  deiner  Mutter!  Oder 
gar:  Hundert  gabelförmig  zerteilte  und  zerbrochene  Chujs  dei- 
ner Mutter!  ein  Stück  Schweinsbauchfell  in  die  Gurgel  deiner 
Mutter!  ein  Hundeschwanz  deiner  Mutter!  drei  Pisdas  deiner 
Mutter ! 

Auch  anders  kann  man  die  Mutter  des  Gegners  beschimpfen. 
Man  flucht:  Hacepy  a  tboiü  MaTopi,  ich  werde  auf  deine 
Mutter  seh  . .  ßen !  Ich  werde  deiner  Mutter  einen  Topf  Dreck 
seh . .  ßen !  ich  werde  deiner  Mutter  die  Osterhaube  voll- 
sch  . .  ßen ! 

Und  wenn  man  schon  gar  gewaltig  losdonnert,  dann  schreit 
man :  iiacepy  tboiü  MaToj)i  noBHy  nii3;;y,  ich  seh . .  ße  deiner 
Mutter  eine  volle  Pisdal 

Auch  wenn  sie  die  Mutter  aus  dem  Spiele  lassen,  können 
Großrussen  wie  Kleinrussen  ihrem  Zorn  und  ihrer  Wut  durch 
mancherlei  kräftige  Flüche  Ablenkung  verschaffen : 

Xyü  Teßi  wh  poT^h,  nna^y  na  saKycKy,  sagen  die  Groß- 
russen :  der  Chuj  in  deinen  Mund,  und  die  Pisda  als  Vorspeise  I 


—    595    — 

Die  Klcinrussen  haben  noch  folgende  Ausrufe  und 
Flüche  1): 

OAtißiiCb  HaTpiieaJKiii!  Koitiere  dich  selbst  drei  Ssaschenj 
(Klafter)  von  mir  entfernt! 

Hä"?  Hoxaii  To6i  caji;i,aTKu  ja;aAyT'i>,  laß  es  dir  von  den 
Soldatenweibern  geben ! 

Baoa^iii  xyä,  Weiberschvvanz  I  Xyii  rajiaiiCLKiiii ,  hol- 
liindischer  Chuj ! 

XyoBa  roJiOBa,   Schwanzkopf! 

Jaii  k  xyHM,   gehe  zu  den  Schwänzen! 

IIu3A0B0iiK)HKa,  Stinkpisda! 

B.SAyH  oder  KiicjioßsAiü,  Stinker! 

Bo^aö  To6i  oni  3  Jio6a  bh'iöjio,  gebe  Gott,  daß  man  dir 
die  Augen  aus  ihren  Höhlen  hcrauskoitiere ! 

BuiiepAOK,  Furz-Geborener! 

roBHOCGÖane,  roBHOCBHHfl^ie;  Hundedreck,  Schweinsdreck! 

Iloi^ijiyä  Mene  b  xyii,  Ta  6ijiLnie  iic  TOJiKyii,  küß  mir 
den  Chuj  und  schweig! 

Coöa^iiiii  Clin,  auch  ey^iii  cim:  Hundesohn! 

111,06  Teoe  npann,!  Hanajiii,  daß  dich  die  französische  Krank-  . 
heit  überfalle! 

Selbstverständlich  fehlen  auch  die  Schimpfwörter  nicht, 
die  den  Gegner  mit  dem  Hintern  in  nähere  Berührung  brin- 
gen.    Auch  hier  gibt  es  reizende  Variationen: 

Tau  y  epaKy  oder  i^ii  co6i  b  rya^Ho:  geh  in  den  A.! 
ist  ja  eine  ziemUch  harmlose} Aufforderung  ebenso  wie:  iio- 
cBiiCTii  Mciii  oder  noii,ijiyH  :Meno  b  cj)aKy,  pfeife  mir  in  den 
A.,  oder:  küsse  mich  im  A.  I  Man  sucht  also  nach  Kompli- 
kationen: rysAHO  cBimme,  Schweinsa.;  KoßHJiana  cpaKa, 
Stutena. !  Das  Schrecklichste  glaubt  man  gesagt  zu  haben 
mit  dem  Ausruf:  öo^aä  To6e  skh^h  b  cpaKy  n;ijiyBajiii,  gebe 
Gott,  daß  dich  die  Juden  im  A.  küssen!  Oder  gar:  non.i- 
jiyii  mup,Si  b  cpaKy,  küsse  du  den  Juden  im  A.l 

Und  schließlich  wendet  man  sich  von  dem  Beschimpften 
fort  mit  dem  verächtlichen  Ausruf:  a  3  T06010  M  cpaxL  niKOJiH 
HO  nüi^y,  ich  gehe  mit  dir  nicht  einmal  seh . .  ßen ! 


^)  KQVJtzndia,  V   151. 

18* 


—    596    — 

Die  nichtrussischen  Völker  in  Rußland  haben  von  den 
Russen  nichts  anderes  zu  lernen  gewußt,  als  diese  gemeinen 
Flüche.  „Man  muß  sich  wundern/*  heißt  es  in  einer  Schil- 
derung der  Kalmücken  1),  „wenn  selbst  fürstliche  Frauen  Aus- 
drücke im  Munde  führen,  welche  in  keinen  gesitteten  Cirkeln 
erlaubt  seyn  können.  Die  gemeinsten  Schimpfwörter  des  rus- 
sischen Volks  hört  man  von  Fürstentöchtern,  obgleich  die  Be- 
deutung solcher  Wörter  unter  den  Kalmüken  kein  Geheim- 
niß  ist,  nicht  bloß  im  Zorn,  sondern  im  gewöhnlichen  Um- 
gange vorbringen." 

Die  Polen  haben  nicht  erst  wie  die  Kalmücken  bei  den 
Russen  eine  Anleihe  zu  machen  gebraucht;  sie  haben  selbst 
ganz  gute  derbe  Flüche: 

Jebal  ciq  pies,  daß  der  Hund  dich  koitiere! 
Psie  nasienie,  Hundesamen  du! 

Im  Jargon  der  Juden  in  der  Ukraine  endlich  findet  man 
Anklänge  an  die  Flüche  der  Großrussen,  der  Kleinrussen  und 
der  Polen: 

Ein  Bastard  heißt  Baistrjuk  (genau  wie  bei  den  Klcinrussen) 
oder  Mamser;  Hure:  Hultai,  Hultaike  oder  Kurwe  (wie  bei 
den  Großrussen).  Die  Mutter  wird  von  den  Juden  nicht  be- 
schimpft, dagegen  hört  man  oft :    Ich  kak  af  dajn  Taten ! 

Die  Essenz  aller  saftigen  Flüche  hat  ein  großrussischer 
Volksdichter  in  einem  hübsch  gereimten  Gedichte  gegeben, 
das   den   würdigen  Abschluß   dieses   Kapitels   ermöglicht. 

Ax'h    Tl.I,     MUTh    TBOIO    CTH, 

Ha  noiioBoü  ivJi-hTii  — 

Taici>  HTOÖi.  KJi'feTb  iipoBajiuJiacb 

H  MaTi»  TJJOH  xyeMii  iioAaBUJiacij! 

OTi;a  —  c'h  KOnu,a, 

CocTpy   —  B'b  nu^Ay» 

(ryBcpiiaHTKy  —  na  HanauKy), 

TeÖH,  cyivinia  CHiia,  bi»  cpaKy. 


*)  Bergmanns  Nomadische  Streifereien,  II   289. 


—    597    — 

Mepsjiyio  co6aKy  Teßii  wh  cpaKy, 

Hto6i»  OHa  TaMT)  Taajia,  Jiaajia 
BbiJia,  pHJia,  CKpeßjiacb,  eÖJiacL 

II  Bueßjia  Teöji  cyKima  CHHa 

HepesTj  nyirij,  bT)  KO-Thno,  cb  BLiBepTi;oMT>! 

Daß  man  deine  Mutter,  Hundebube, 

Koitiere  in  des  Popen  Stube  I 

Daß  die  Stube  ganz  in  Trümmer  ginge! 

Und  daß  deine  Mutter  quer  den  Chuj  verschlinge! 

Auch  dein  Vater  kriege  dies  da 

Was  der  Pisda 

Deiner  Schwester  wird  beschert 

(Auch  der  Gouvernante  werd  es  —  doch  verkehrt), 
Dir  du  Hündin-Sohn  werd',  wies  gebührt, 
Ein  erfrorner  Hund  hinten  eingeführt, 
Daß  er  im  Gedärme 
Drinnen  sich  erwärme, 
Dir   im    Leibe   taue, 
Um  sich  beiße,  schlage,  haue; 
Drinnen  koitier'  das  Vieh 
Dich  vom  Nabel  bis  zum  Knie! 


58.  Obszöne  Sprichwörter. 

Die  Derbheit  der  russischen  Redeweise  kommt  besonders 
in  einigen  Sprichwörtern  zur  Geltung,  die  ihre  Bilder  teils 
dem   sexuellen   Leben,   teils  der   Skatologie   entnehmen. 

Das  einfache :  entweder  —  oder,  übersetzt  man  mit :  iiJin 
xyii  iio  nojiaM'B,  hjih  uusj^a  b'i>  Apeöeani;  entweder  der 
Chuj  wird  in  die  Hälfte  oder  die  Pisda  ganz  in  Stücke  ge- 
rissen. 

Wenn  jemand  eine  hohe  Ordensauszeichnung  erhält  und 
keine  andere  Verdienste  hat,  als  seine  hübsche  und  gefällige 
Frau,  so  heißt  es:  nojiy^iiJi7>  .iBto^y  ^lepea-B  JKeHiniy  nii:vT,y; 
er  bekam  einen  Stern  durch  die  Pisda  seiner  Frau. 


—    598    — 

Einen  steifen  Menschen,  der  sich  immer  geziert  gerade 
hält,  nennt  man:  ctoiitb  Kairb  xyii  na  CBaÄtö'h;  er  steht  wie 
der  Chuj  bei  der  Hochzeit.  (Ein  polnisches  Sprichwort  lautet 
ebenfalls   wörtlich   so:   stoi   jak   chuj   na  weselu.) 

Eine  merkwürdige  Übersetzung  ist  jene  für  das  franzö- 
sische chacun  ä  son  gout:  y  BOiKaro  cüoii  BKyeT>,  CKa3aji'i> 
<J)paHDi;y 3'h ,  Bi>ief)mii  KopoBy  jyl  uoa^pK);  jeder  nach  seinem 
Geschmack,  sagte  der  Franzose,  als  er  einer  Kuh  in  die  Nasen- 
löcher hineinarbeitete. 

Ob  man  mit  Nachfolgendem  eine  schlechte  Gewohnheit 
geißeln  oder  eine  gute  als  mustergiltig  loben  will,  bleibe  dahin- 
gestellt: 6aTHHa  npHBhiHKa  waMy  3a  nii3Ay  A^pJKaTb;  es  ist  des 
Vaters  Art,  die  Mama  an  der  Vulva  zu  halten. 

Wenn  jemand  sich  an  eine  schwere  Arbeit  macht,  dann 
sagt  er: 

BjiarocjiOBU  OTeivb  n  MaTb, 
;i,Ba;i;u,aTyR)  u.'hjiKy  jroMaTh! 

Vater,  Mutter  segnet  mich, 

Die  zwanzigste  Jungfer  entjungfre  ich! 

Um  dem  sich  selbst  Rühmenden  einen  Dämpfer  auf- 
zusetzen und  ihm  zu  zeigen,  daß  man  seine  Arbeit  nicht  für 
gar  zu  schwierig  hält,  entgegnet  man : 

.yu,  cyii, 
CTo;i,BaAU,iiTbiii  xyli! 

Stoß  hinein,  stoß  hinein,  hui, 
Der  hundertundzwanzigste  Chuj ! 

Ein  Sprichwort  lobt  den  Junggesellenstand : 

HaThMi>  }KennTbCH, 
Koivi,a  'lyjKan  jioHcnTCii?! 


Heiraten  —  weswegen, 

Solange  fremde  Frauen  sich  niederlegen  ? ! 


—    599    — 

Ein  anderes  Sprichwort  verteidigt  die  eheliche  Treue: 

BoraxoMy  BopoBaTi>, 
aceiiaTOMy  Cjin^oBaTi,. 

Der  Reiche  soll  um  Geld  nicht  raufen, 
Der  Eh'mann  nicht  zu  Huren   laufen. 

Wenn  man  aber  jemandem,  der  über  Familiensorgen  klagt, 
nicht  helfen  will,  sagt  man  ihm: 

OT^aii  }KeHy  A^A'h, 

a  caM'b  CTynaii  Kh  ^Jin^n. 

Zum  Onkel  *das  Weib  gib, 
Selbst  nimm  mit  Huren  vorlieb. 

Bietet  sich  jemand  zur  Arbeit  an  und  wird  nicht  angenom- 
men, so  weist  man  ihn  ab  mit  den  Worten:  roA'i>  njioxi», 
HHHLHO  iie  narayTi>  xy>iMH,  iia  to  coxh  eexL;  ein  schlechtes 
Jahr,  heuer  pflügt  man  nicht  mit  Chujs,  sondern  mit  pflügen. 

Wenn  die  Geschäfte  schlecht  gehen,  klagt  man:  kt* 
HanieMy  Cepery  ne  KopaöjiH  ^a  ßapKii,  a  Bce  xyii  a^  najiKu; 
nicht  Schiffe  und  Barken  landen  an  unserem  Ufer,  sondern 
bloß    Chujs    und   Stöcke. 

Wenn  jemand  eine  Sache  auf  sich  lädt,  der  er  nicht 
gewachsen  ist,  warnt  man  ihn:  Cpajicfl-6'i>  tu  3a  MarKoe  ji^e- 
peBO,  aa  0Tu,0BCKiii  xyii;  nimm  doch  weicheres  Holz,  den 
väterlichen  Chiij. 

Zeigt  man  jemandem  etwas,  was  er  nicht  zu  enträtseln 
weiß,  so  sagt  der  zu  Rat  gezogene:  BiiHcy  nii3Ay  p^Hcy,  Aa 
lio  3Haio  Kairr>  iiaaBaTt;  ich  sehe  eine  rote  Pisda,  aber  ich 
weiß  nicht,  wie  man  das  nennt. 

V^on  einem  Dummkopf  heißt  es: 

rjiym> 

Kam.  6a6iii  nym> 

Dumm 

Wie  Weibernabel. 

Man  sagt  dem  Volke:  Trunksucht  und  Hurerei  seien 
Laster.     Das   Volk  aber  meint :  HopT'B  iio  BLeTi»,  ho  eöeT'b,  a 


—    600    — 

Bce    Bi>    a^y    HCHBeTi»;   der  Teufel  trinkt  nicht,   koitiert   nicht, 
doch  muß  er  in  der  Hölle  leben. 

Die  Geschlechtsliebe  ist  das  Höchste :  hto  aa  KyMa,  kojih 
noAi>  KyMOMT)  ne  GiiJia!  was  ist  die  Base  wert,  die  nicht  unter 
dem  Vetter  warl 

Ein  Schwiegermutter  -  Sprichwort  ä  la  russe:  xopouian 
Teii;a  iia  ceÖH  shth  BCTaiij,HTi> ;  eine  gute  Schwiegermutter 
zieht  den   Schwiegersohn  auf  sich  hinauf. 

Ein  kleinrussisches  Sprichwort  sagt,  daß  man  zu  nichts 
gezwungen  werden  könne :  CyiKa  ne  exo^e,  KoßejiB  ne  ccKone; 
wenn  die   Hündin  nicht   will,   kann  der  Hund  nicht    auf   sie. 

Dem  Hundeleben  ist  auch  ein  anderes  kleinrussisches  Bild 
entnommen :  a  ero  ne  i6yTi>,  TaK  Bin  iiexafi  i  xBOCxa  iie  ni^- 
iiiMa;  und  wenn  man  ihn  nicht  koitiert,  braucht  er  den  Schweif 
nicht  aufzuheben. 

Man  denkt  eben  realistisch;  die  Hauptsache  ist  der  Er- 
folg, der  Gewinn,  das  Vergnügen;  auf  die  Ehre  verzichtet  man 
und  sagt  daher  (kleinrussisch) :  II,e  hg  tbog  ai^o,  xo^  i  noiöae, 
aöii  3  C06010  ne  y3HB!  Wenn  er  mich  nur  koitiert,  so  ist  es 
egal,  ob  er  mich  nach  Hause  nimmt  oder  nicht! 


59.  Erotische  und  obszöne  Lieder. 

Die  Freiheit,  die  die  russischen  Eltern  den  Kindern  ein- 
räumen, wird  in  charakteristischer  Weise  in  einem  ganz  kurzen 
kleinrussischen  Licdchcn,  das  man  im  Gouvernement  Tscher- 
nigow  singt,  präzisiert  : 


,,()ii  MaTii,  MaTH,  MaTH,  MaTii! 
3  icJM  vKe  n  Gyji^y  cnaTn?" 

—    „3    X.TIOT!U,}IMU,   MOJI   ;;oni(), 

)fl''A<  To6i  ii  iie  Goponio!^ 

,,Oj  Mutter,  Mutter,  Mutter  mein! 
Bei  wem  werd  heute  Nacht  ich  sein  ?" 
,J)u  wirst,  mein  Kind,  bei  Burschen  liegen. 
Ich  wehre  dir  nicht  das  Vergnügen!" 


-    601    — 

Aus  einem  anderen  kurzen  Gedichtchen  können  wir  er- 
fahren, in  welch  einfacher  Weise  die  Kosaken  im  Gebiete  des 
Schwarzen  Meeres  ihren  Flirt  betreiben: 

IIpHHinoB  Kjiohko 
ni;^  BiKoneHKO 

Tau  KJiH^e!  .  .  . 
IliÄHHB  aanacKy 
Bhhhhb  KOBÖacKy 

TaM  TH^e!  .  . . 

Klotschko  kommt  zum  Fenster  hier, 
Klotschko  schaut  herein  zur  Tür, 

Schreit:  Du,  du!  .  .  . 
Hat  die  Hosen  aufgemacht. 
Hat  die  Wurst  hervorgebracht, 

Und  stößt  zu!  .  .  . 

Eine  überraschend  große  Anzahl  der  Volkslieder  spottet 
über  die  Unsittlichkeit  des  Klerus.  Nicht  bloß  die  niedere 
Geistlichkeit,  die  Popen,  sondern  auch  die  Schwarzen,  die 
Mönche  und  Nonnen,  kommen  da  schlecht  weg.  Eine  köst- 
liche Satire  ist  beispielsweise  dieses  Zwiegespräch  zwischen 
dem  Metropoliten  und  einer  Nonne: 

„111,0  TH  Maem  ni^  HaMiicTOM, 
HepHiii;e-cecTpHn;e, 
HepnenbKaK,  M0Ji0Aeiir>Kaii, 
HepHyine^KO,  moh  Ajuienmo?^ 
—  „niiiio  Maio,  OT^e  ^MHTpie, 

Apxiepeio,  Bna^r^HKO, 

MHTponojiHTe !  .  ." 
„A  usfi  Maem  iiHHcie  inHi, 
HepHHu,e-cecTpiin;e?  ..." 

—  „1J|hII,IO   MaK),   OTHO   J],MHTpie" 

„A  ii;o  Maem  imjKHe  i;Hu;i, 
^Iepniiu,e-cocTpHn;e?  .  .  ." 

—  „riyna  Maio,  otho  Jl^MiiTpio  .  .  .'' 


-    604    - 

Man  läßt  Mönche  und  Nonnen  die  heiligsten  Dinge  des 
Glaubens  verhöhnen: 

y   KhIbI    Ha   Ä3B0HHI^i 

HepHGi^B  jiesKHTL  Ha  HopHHi;i: 
Ta  TaK  HepHeii;b  cnacaeTboi, 
A»  Ä3BiHHivi  xHTaerc«. 

—  IU,o  TH  poönm,  ^BH^e? 

—  „CnacaiocH  cepDüe: 
CnoBi^aK),  npH^au^aK), 

B  cepeAHHy  rpixH  3anym,aK)!" 

Zu  Kijew  auf  dem  Glockenturm 
Da  läutet  eine  Glocke  Sturm : 
Der  Mönch  liegt  auf  der  Nonne 
Und  zieht  den  Strang  mit  Wonne. 

O  Mönch,  o  Mönch,  was  machst  du  da? 
„Ich  beichte  meine  Sünden  ja. 
Kommuniziere  munter, 
Stoß   alles  tief  hinunter  I" 

Die  Bauernweiber  haben  es  nicht  gern  mit  den  Popen  und 
Mönchen  zu  tun;  wenigstens  behaupten  die  Mädchen  im  Gou- 
vernement Tschernigow  in  einem  Liede,  daß  sie  der  ganzen 
Klerisei  einen  einzigen  weltlichen  Studenten  vorziehen : 

Ißjio  Mene  cto  noi^iß, 

JI,nHK0HiB   TpiiCTa  — 

Oahh  THJihKi  ;i;oroÄHB: 
13o  TG  6yB  lopiiCTa! 

Wohl  hundert  Popen  trennte«  mich 
Und  auch  dreihundert  Küster  — 
Doch   keiner  ach    befriedigt   mich 
So  gut  wie  ein  Juristcl 

Neben  dem  Klerus  sind  es  die  alten  Leute,  die  man  ver- 
spottet, indem  man  sie  als  Sodomiten  bezeichnet.    Dem  Klein- 


-    605    — 

russen  namentlich,  der  von  gesunder  Sinnlichkeit  erfüllt  ist, 
erscheint  die  Sodomie,  der  Coitus  in  anum  als  etwas  Verächt- 
liches : 

Ha  ropoAi  Gyanna, 

lÜA  ropoK)  HMKa, 

A  ÄiÄ  6a6y 

l6e  33afl;y, 

A»  ryßaMH  njiHMKa! 

Im  Garten  ein  Holunderbaum, 
Am  Hügel  ist  ein  hohler  Raum, 
Der  Greisin  tut's  der  Greis 
Von  hinten  in  den  Steiß, 
Und  mit  den  Lippen  klatscht  er! 

Bei  den  Tänzen  und  Unterhaltungen  singt  man  Lieder  im 
Chore.  Der  Vorsänger  intoniert  eine  Melodie  und  improvisiert 
Zweizeiler,  und  der  Chor  wiederholt  immer  nur  den  Refrain. 
In  diesen  improvisierten  Liedern  verspottet  man  häufig  auch 
die  Sittenlosigkeit  der  gnädigen  Herrin  oder  man  erteilt  den 
Töchtern  und  Söhnen  des  Volkes  goldene  Ratschläge.  Hier 
ein  Beispiel,  wie  der  Vorsänger  in  seinen  Einfällen  die  Herrin 
schildert : 

noiujia  öapuHH  3a  KBacoMi», 

O'iyTHjiacb  noAt  PepfiacoMh! 

BapLiHH,  öapMHH, 

Cy^apHiiH,  GapLiHa! 
A  öapuHfl  noÄ'i>  3a6opo\ri> 
HoeßjiacH  cb  nepeüopoMt! 

BapuHfl  . .  . 
A  Ha  GapHH-b  nenei^'b, 
E6eT7>  6apMHio  Kyneut! 

BapHHH  .  . . 

A    Ha    ßapUHi    KOKOHIHHITh, 

ye6'B  6apHirio  canoacHHirb! 

BapuH}!  .  .  . 
A  öapbiua  niHTa-GpuTa, 
Ha  6a3ap'b  xyeM'b  ÖHTa! 

BapHHH!  .  .  . 


—    606    -- 

Ging  die  Gnädige  um  Kwaß, 
Legte  sich  auf  sie  Gerwass! 

Gnädige,  o  Gnädige, 

O  du  Herrin,  Gnädige! 
Sitzt  die  Gnädige  am  Zaun, 
Kann  sie  jeder  haben,  traun! 

Gnädige,   o   Gnädige  .  .  . 
Trägt  die  Gnädige  ein  Häubchen, 
Trennt  der  Kaufmann  gleich  das  Täubchcn! 

Gnädige,  o  Gnädige  .  .  . 
Hat  Madamchen  den  Kokoschnik^), 
Dann  bekommt  sie  der  Saposchnik  ^) ! 

Gnädige,  o  Gnädige  .  .  . 
Gnädige  ist  wie  zerbrochen. 
Ward  am  Markte  ganz  zerstochen. 

Gnädige,  o  Gnädige  .  .  . 

Eine  besondere  Art  Couplets  kennen  die  großrussischen 
Fabrikarbeiter  und  Eisenbahnarbeiter  in  Woronesch.  Es  sind 
Zweizeiler,  und  nach  jedem  Couplet  singt  der  Chor:  Icha-- 
cha  cha — choschki,  deshalb  nennt  man  diese  Liedchen  Icha- 
choschki  (nxaxomKu).  Merkwürdigerweise  führen  sie  auch  den 
Titel  CTpa^aniH  (Stradanija,  Leiden;  wohl  richtiger:  Marterln, 
Denkzeichen) : 

I^-bjiOBaiibo,  MUJioBaiibo, 
llpoMesKL  uori,  u^^orb  iiHxaHbe! 

Zärtlichkeiten,  Küssen,  Kosen, 
Und  dazu  ein  Beinestoßen! 

Ha  iieii  nyjiim  iiojiocaTbi, 
ITo  KOJiinii  oooccaTbi! 

Schön  gestreifte  Strümpfe,  sieh. 
Doch  dabei  bepißt  das  Knie. 


^)  Der  Kopfputz  der  russischen  Frau. 
2)  Der  Schuster. 


-    607    — 

Hü    OÖlITCCb    Ä'feßKH    CTj    3KapOM'I>    — 

IIponaAOT'i>  jik)6obi>  aa^apoM'B! 

Mädchen,  koiticret  kalt  — 

Denn  die  Lieb  wird  nicht  bezahlt! 

KsiWh  Bhl  HC  ßjiHÄyÜTe, 
A  6ojii>hhi;h  ho  MUHyÜTü! 

Ob  huren  oder  nicht:  egal, 

Man  kommt  zum  Schluß  ins  Hospital! 

HacTOTy  ;i,'feBKa  ÖJiioJia, 
nn3;ty  BtHiiKOMt  Mejia! 

Das  Mädchen  ist  stets  rein  gewesen, 
Sie  kehrt  ihr  Ding  mit  einem  Besen! 

CiiAHTi)  Ä'I^BKa  hoäIj  JioanHoii 
Ofe^ierb  UH3Ay  xBopocTHHoii! 

Bei  einer  Weide  sitzt  die  Gute 

Und  peitscht  die  Pisda  mit  der  Rute! 

Ali,  MaMama,  BcnaKoii  AOHKy   — 
OTHycTH  ryjiHTB  Ha  iio^iKy! 

Mütterchen,  ich  bitt  mir  aus  — 
Laß  mich  jede  Nacht  vom  Haus! 

Ha  Bopouo/KCKo\ri>  BOK^ajili 
HpoAaiOTi»  A'i^BOK'h  BoaaMu. 

In  Woronesch  am  Perron 

Kauft  man  Mädchen  per  Waggon. 

Bpoiuy  Mip'b,  noii;ty  bti  MonauiKu, 
By;;y  eTbCÄ  bo  Bci  JianiKn! 

Ich  laß  die  Welt  und  geh  ins  Kloster 
Und  koitier  beim  Pater  noster. 

Zum    Schlüsse    einige   originelle   kleine    polnische   Lieder 
aus  Russisch-Polen: 


1 


-    608    — 

Siuchaj,  Ka^ko,  cy  ty  spis? 
daj  mi  tego,  cym  ty  scys. 
—  Nie  dla  ciebie  ja  to  mam; 
dam  ci  tego,  cym  ja  sram. 

Schläfst  du,  Kathi  ?  du  vergissest : 
Gib  mir  das,  womit  du  p .  ssest.  — 
„Nicht  umsonst  dein  Maul  zerreiße; 
Geb's  nur  dem,  mit  dem  ich  seh . .  ße.** 

Moja  Maryö,  daj  mi  psiochy, 
Dam  ci  welny  na  poficochy; 
Twoi  psiochy  nie  ubefidzie, 
A  w  poncochach  ciepto  beAdzie. 

Mariechen,  gib  die  Pizka  mir, 
Ich  gebe  Strümpfe  dir  dafür; 
Die  Pizka  wird  dadurch  nicht  arm. 
Die  Strümpfe  aber    halten  warm. 

Odradajca,  odradajca  — 
Urwaly  mi  dziwki  jajca. 
Jagem  zacun  na  nich  ksycyc-, 
Musialy  mi  nazod  psysyc. 

Odradajza,    odradajza   — 
Mir  zerriß  das  Mädchenpack 
Meinen   armen  Eiersack. 
Nun  müßt  ihr,  ihr  Ungeheuer, 
Mir  zusammennähn  die  Eier! 

Chociazem  ja  katolicka, 
Moja  picka  heretycka: 
Cy  to  piontek,  cy  wilija, 
Zre  kielbase  kanalija. 

Ich  bin  zwar  eine  Katholikin, 
Mein  Ding  ist  ketzerisch  indessen, 
Denn  selbst  am  Freitag,  die  Kanaille, 
Verlangt  sie  eine  Wurst  zu  fressen. 


-    609    — 

ProsiJ  Jasio  Kasie,  azeby  mu  data, 
A  ona  mu  na  to,  ze  miesioncke  miaia. 
„Ctery  lata  mija,  jak  dziewcenta  hipie, 
A  jescem  nie  slysat  o  miesioncu  w  dupie.** 

Jasjo  bittet  Kathi,  doch  sie  hat  die  Regel, 
Kann  es  nicht  gewähren;  sagt  darauf  der  Flegel: 
„Koitier  vier  Jahre  schon;  hörte  nie  von  einer  Mode, 
Daß  ein  Weib  im  H gleichfalls  kriege  die  Periode  ?** 

Siadta  Ka^ka  nad  strumykiem 
I  nazwala  Jaöka  bykiem. 
Jasiek  sobie  r6g  przyprawil 
Jak  j^  ub6d,  tak  rozkrwawil 
Ka^ka  place  i  narzeka;  — 
„Nie  nazywaj  bykiem  cleka?** 

Die  Kathi  sitzt  am  Bache  hier 

Und  schimpft  den  Jaschka  lachend:  Stier! 

Doch  Jaschka  nimmt  heraus  sein  Hörn 

Und  sticht  die  Kathi  fest  von  vorn. 

Als  Kathi  weint,  da  sagt  er  ihr: 

„Was  nennst  du  einen  Menschen:  Stier?" 


60.  Erotische  und  obszöne  Erzählungen. 

Die  russischen  erotischen  und  obszönen  Erzählungen 
wählen  gern  die  Form  einer  Fabel.  Beispielsweise  „Die  Ge- 
schichte vom  Muschik,  dem  Bären,  dem  Fuchs  und  der  Bremse,** 
deren  Thema  allerdings  nicht  russischen  Ursprungs  ist : 

Der  Muschik  wußte  nicht,  wie  er  seinen  Feinden  entrinnen 
sollte.  Da  kam  ihm  plötzlich  eine  Idee.  Er  packte  sein  Weib 
und  warf  es  auf  die  Erde.  Die  Frau  wollte  sich  wehren,  er 
aber  sagte:  „Schweig I**  und  ohne  zu  zögern,  riß  er  ihr  den 
Rock  und  das  Hemd  herunter  und  hob  ihre  Füße  so  hoch 
hinauf  als  nur  möglich.  Der  Bär  sah,  daß  der  Muschik  ein 
Weib  mißhandelte.   „Nein,  Fuchs,**  sagte  er,  „ich  würde  mich 

Stern,  Geschichte  der  Oflfentl.  Sittlichkeit  ia  Rufiland.    **  39 


—    610    — 

niemals  dem  Menschen  nähern.**  —  „Weshalb  denn   nicht?** 

—  „Aber  schaut  doch,  wie  er  ein  Weib  mißhandelt.**  Der  Fuchs 
sah  hin  und  sagte:  „Du  hast  recht.  Der  Mensch  bricht  je- 
mandem die  Beine.'*  Nun  sah  auch  die  Bremse  hin  und  rief 
aus:    „Das   ist   noch  nicht   alles.    Er  steckt   auch   einen    Stab 

jemandem  in  den  H hinein.**    Die  Tiere  erkannten  nun, 

daß  ihnen  von  dem  Menschen  Gefahr  drohte,  und  entflohen 
in  den  Wald. 

In  einem  gewissen  Reiche  —  erzählt  eine  andere  Geschichte 

—  lebte    ein    Edelmann,    der    eine    außergewöhnlich    schöne 
Tochter  hatte.    Eines  Tages  ging  das  Fräulein  spazieren,  und 
der   Lakai,   der  sie  begleitete,   dachte   bei   sich:    „Welch    ein 
Bissen!    O   könnte  ich  sie  nur  einmal  trennen,  dann   möchte 
ich  gern  sterben!**    Und  dieser  Gedanke  beschäftigte  ihn   so, 
daß   er  unwillkürlich  laut  sagte:    „O  Fräulein,  wenn   ich   Sie 
nur  einmal  grüßen  dürfte  nach  Art  der  Hunde  !**  Das  Mädchen 
hörte  die  Worte,  und  als  sie  wieder  zu  Hause  waren,  fragte 
sie    den   Diener:    „Was   hast    du   damit   gemeint?     Tue    nun 
sofort,   was   du  gewünscht  hast;   oder   ich   erzähle   alles   dem 
Papa!**    Und  mit  diesen  Worten  hob  das  Mädchen  ihre  Röcke 
auf,  kniete  nieder  und  sagte  dem  Bedienten :  „So,  nun  schnüffle 
wie   die   Hunde   schnüffeln!    So!    Nun   lecke   wie   die   Hunde 
lecken!'*    Er  gehorchte.    „Gut,**  sagte  sie  darauf,  „nun  laufe 
um  mich  herum  wie  die  Hunde  laufen.*'   Er  lief.   „Gut,"  sagte 
sie  endlich,  „jetzt  gehe  schlafen,  aber  morgen  abend  komme 
wieder!**    Am  andern  Abend  wiederholte  sich  dasselbe  Spiel. 
Endlich  aber  hatte  das  Fräulein  Mitleid  mit  dem  Burschen  und 
legte  sich  mit  dem  Rücken  aufs  Bett  und  gewährte  ihm.  Nach- 
dem der  Lakai  sein  Vergnügen  genossen  hatte,  sagte  er  zu  sich : 

„Das  macht  nichts !    Ich  habe  sie  im  H lecken   müssen 

--    es    sei!    Aber   ich   habe   doch   erreicht,    was   ich   wollte!** 

Ein  beliebtes  Thema  ist  der  Wettstreit  zwischen  dem  After 
und  der  Pisda.  Die  Pisda  sagte  zum  After:  „Du  tätest  klug 
zu  schweigen!  Ich  erhalte  allnächtlich  hohen  Besuch,  du  aber 
tust  während  dieser  Zeit  nichts  anderes  als  stinken!"  —  „Ach 
du  miserable  Pisda,"  brauste  der  After  auf,  ,,wenn  man  dich 
koitiert,  fließt  aller  Speichel  über  mich;  und  da  soll  ich  noch 
schweigen !" 


-    611    — 

Ein  Floh  und  eine  Laus  begegneten  einander.  „Wohin 
gehst  du?**  —  „Ich  will  die  Nacht  in  der  Pisda  zubringen.** 
—  „Und  ich  in  dem  After.**  —  Am  andern  Morgen  kamen 
sie  wieder  zusammen.  „Guten  Morgen,**  sagte  der  Floh,  „wie 
hast  du  geschlafen?**  —  „Sprich  mir  nicht  von  dieser  Nacht. 
Ich  habe  furchtbare  Angst  ausgestanden!  Eine  Art  Kahlkopf 
drang  ein  und  trieb  mich  immer  tiefer  hinein,  ich  sprang  ver- 
zweifelt hin  und  her,  endlich  erbrach  er  sich  aber  und  zog 
sich  zurück.**  —  „Nun  wohl,  meine  liebe  Gevatterin,  auch 
an  meinem  Nachtlogis  waren  zwei  Gäste,  die  immerfort  an- 
schlugen, aber  schließlich  gingen  auch  sie  fort.** 

Diese  geheimen  Erzählungen  haben  alle  einen  Zug  ins 
Skatologische.  Weiter  ist  an  ihnen  charakteristisch,  daß  den 
Mönchen  und  Popen  alles  mögliche  —  das  Schlechteste  und 
das  Dümmste  —  zugemutet  wird.  „Der  Mönch  und  die  Stute** 
zeigt  uns  den  Geistlichen  als  Sodomiten :  Im  Hofe  eines  Muschik 
befand  sich  eine  ganze  Mönchsbande.  Einer  der  Mönche  sagte 
zu  den  anderen:  „Seht  nur,  seht,  diese  graue  Stute  ist  ganz 
verliebt  in  mich!  Wollt  ihr,  daß  ich  sie  vor  unserer  ganzen 
ehrenwerten  Versammlung  besteige?**  —  „Laß  sehen!**  — 
Also  ging  der  Mönch  zur  Stute  und  sagte  zu  ihr:  „Guten 
Morgen,  geliebtes  Stütchen!**  —  „Guten  Morgen,  mein  Sänger, 
was  wünschest  du?**  —  „Ich  wollte  dich  fragen  — **  „Schon 
gut,  mein  Freund!  Bei  uns  auf  dem  Lande  ist  es  Sitte,  daß 
ein  Bursche,  der  um  die  Liebe  eines  Mädchens  wirbt,  sie  durch 
kleine  Geschenke  zu  gewinnen  trachtet,  Nüsse  oder  Lecker- 
bissen. Aber  was  gibst  du  mir?**  —  ,,Sage,  was  du  willst.**  — 
., Wohlan,  bringe  mir  einen  Tschetwerik  Hafer;  dann  wollen 
wir  der  Wollust  fröhnen.**  Der  Mönch  brachte  bald  den 
Hafer  und  brannte  vor  Ungeduld.  „Wohlan,**  sagte  die  Stute, 
„ich  will  dich  nicht  länger  hinhalten.  Ich  kann  doch  nicht 
mein  Leben  lang  eine  keusche  Jungfer  bleiben,  und  überdies 
ist  die  Liebe  eines  Patrons  von  deinem  Schlage  nicht  ent- 
ehrend. Steige  also  auf  meinen  Hintern  hinauf  und  warte, 
bis  ich  den  Schweif  aufhebe.**  Die  Stute  begann  den  Hafer 
zu  fressen,  und  der  Mönch  plazierte  sein  Instrument  vor .  ihre 
Öffnung.  Die  anderen  Mönche  aber  harrten  gespannt  der 
Dinge,  die  da  kommen  würden.    Die  Stute  fraß  und  fraß  und 

39* 


—    612    — 

fraß.  Plötzlich  hob  sie  den  Schweif  auf  und  flugs  stieß  der 
Pope  auch  schon  ins  Loch  hinein.  Die  Stute  preßte  ihn  aber 
mit  dem  Schweif  so  fest,  daß  sich  der  Arme  sehr  übel  befand. 
Nun  begann  die  Stute  auch  zu  furzen.  Das  war  dem  Mönch 
denn  doch  zu  viel.  Er  zog  sich  schleunig  zurück  und  sagte 
zu  den  Kameraden:  „Na,  seht  ihr,  wie  tüchtig  ich  beschlagen 
bin !  Die  Stute  hat  mich  nicht  auszuhalten  vermocht,  sie  mußte 
furzen  I** 

Sodomie  und  Dummheit  des  Popen  schildert  die  „Ge- 
schichte von  dem  Popen,  der  ein  Kalb  zur  Welt  bringt** :  Ein 
Popenpaar  hatte  als  Arbeiter  einen  Kosaken  namens  Wanka. 
Die  Popin  war  so  geizig,  daß  der  arme  Kosak  kein  gutes  Leben 
hatte.  Eines  Tages  ging  der  Pope  mit  seinem  Arbeiter  auf 
ein  Feld,  das  zehn  Werst  vom  Hause  entfernt  war.  Sie  ar- 
beiteten lange  tüchtig,  da  kam  eine  Herde  Kühe  daher.  Der 
Pope  jagte  sie  mit  Mühe  fort  und  kehrte  dann  schweißtriefend 
zum  Kosaken  zurück.  Nach  getaner  Arbeit  machten  sie  sich 
auf  den  Heimweg,  aber  die  Dunkelheit  brach  schnell  herein,, 
und  der  Pope  sagte:  „Wanka,  ist  es  nicht  gescheiter,  im 
nächsten  Dorfe  bei  Gwosd  zu  übernachten.  Das  ist  ein  guter 
Muschik,  und  sein  Hof  ist  gedeckt.**  —  „Gut,  Väterchen!**  Man 
trat  also  in  die  Isba  des  Gwosd  ein.  Der  Kosak  sprach  sein 
Gebet  und  sagte  dem  Herrn  des  Hauses :  „Höre,  Patron,  wenn 
wir  zu  Nacht  essen,  so  sprich:  Setzet  euch,  die  ihr  getauft 
seid  I  Denn  wenn  du  zum  Popen  sagst :  Setze  dich,  geistlicher 
Herr!  so  würdest  du  ihn  verletzen  und  er  würde  nicht  zu 
Tische  gehn  wollen;  er  liebt  es  nicht,  daß  man  ihn  so  tituliere!'* 
Während  dieser  Zeit  spannte  der  Pope  draußen  die  Pferde  aus. 
Dann  ging  man  zum  Nachtessen.  Der  Muschik  sprach,  wie 
ihm  der  Kosak  geraten  hatte.  Alles  setzte  sich  sofort  zu  Tische, 
nur  der  Pope  reicht;  denn  er  erwartete  eine  spezielle  Ein- 
ladung als  geistlicher  Herr.  Er  wartete  und  wartete  vergebens, 
unterdessen  wurde  die  Mahlzeit  beendet.  Da  fragte  der  Muschik 
den  Popen:  „Weshalb,  Vater  Michail,  hast  du  dich  nicht  zu 
uns  gesetzt?'*  —  „Ich  habe  keinen  Hunger,**  sagte  der  Pope. 
Man  ging  schlafen.  Der  Muschik  führte  seine  Gäste  in  den 
Stall,  wo  es  wärmer  war  als  in  der  Isba.  In  der  Nacht  stöhnte 
der  Pope  vor  Hunger  und  weckte  den  Kosaken.     Der  fand 


—    613    — 

etwas  Nahrung  und  gab  sie  dem  Popen,  aber  im  Versehen 
verschüttete  er  so  viel,  daß  dem  Hungrigen  nicht  viel  übrig 
blieb.  Als  der  Pope  eingeschlafen  war,  kalbte  eine  Kuh.  Die 
Bäuerin  kam  herein  und  legte  das  neugeborene  Kalb  an  die 
Seite  des  schlafenden  Popen.  In  der  Nacht  erwachte  der  Pope, 
als  das  Kalb  ihn  leckte.  Er  weckte  schnell  den  Kosaken.  „Was 
wünschest  du  noch,  Väterchen?**  —  „Wanka,  neben  mir  liegt 
ein  Kalb;  ich  weiß  nicht,  wie  es  da  hingekommen  ist.'*  — 
„Nun  wohl,  Väterchen,  du  erinnerst  dich,  daß  du  gestern  den 
Kühen  nachliefst.  Da  hast  du  jetzt  gekalbt  I**  —  „Um  Gottes- 
willen, Wanka,  wie  soll  ich  das  vor  der  Popin  verbergen?** 
—  „Gib  mir  dreihundert  Rubel,  dann  will  ich  dafür  sorgen,  daß 
niemand  von  der  Sache  erfährt.**  Der  Pope  gab  ihm  das  Geld. 
„So,  Väterchen,  nun  geh  sofort  heimlich  nach  Hause,  aber  laß 
deine  Schuhe  hier,  und  nimm  dafür  meine.**  So  geschah  es. 
Kaum  war  der  Pope  fort,  ging  der  Kosak  zum  Muschik  und 
sagte:  „Ah,  ihr  seid  Esell  Ihr  wißt  nicht,  daß  euer  Kalb 
den  Popen  gefressen  hat;  es  ist  vom  Popen  nichts  zurück- 
geblieben als  seine  Schuhe.**  Der  Muschik  bot  dem  Kosaken 
dreihundert  Rubel  Schweigegeld.  Der  Kosak  nahm  das  Geld, 
stieg  zu  Pferde  und  holte  den  Popen  ein.  „Batuschka,**  sagte 
er,  „der  Muschik  will  mit  dem  Kalb  zur  Popin  gehen  und  ihr 
erzählen,  daß  du  der  Vater  des  Kalbes  bist.**  —  „Da  hast  du 
noch  hundert  Rubel,**  jammerte  der  Pope  erschrocken,  „und 
bringe  die  Sache  in  Ordnung.**  Wanka  kam  nun  wieder  zum 
Muschik  und  sagte:  „Die  Popin  wird  wahnsinnig  werden,  wenn 
sie  den  Tod  des  Popen  erfährt.**  Der  Bauer  gab  ihm  noch 
hundert  Rubel.  Nun  kehrte  Wanka  in  des  Popen  Haus  zurück ; 
er  zog  da  noch  manchen  Rubel  heraus,  dann  verabschiedete 
er  sich  vom  Popen  und  der  Popin,  verheiratete  sich,  und 
seine  Geschäfte  gingen  gut. 

Derber  ist  eine  andere  humoristische  „Erzählung  von 
einem  geistlichen  Vater** :  Die  großen  Fasten  waren  gekommen, 
ein  Bauer  begab  sich  zum  Popen  um  zu  beichten.  Er  legte 
in  einen  Sack  einen  Birkenklotz,  verknüpfte  den  Sack  und 
brachte  ihn  dem  Popen.  „Wohlan,  mein  Lieber :  welche  Sünden 
hast  du  begangen?  und  was  hast  du  da  im  Sack?'*  —  „Eine 
Weißwurst,  die  ich  dir  bringe,  Väterchen.**  —  „Desto  besser. 


—    614    — 

Sie  ist  wohl  gefroren?"  —  „Jawohl,  sie  war  die  ganze  Zeit 
in  meinem  Keller.**  —  „Nun  gut,  sie  wird  schon  auftauen.'* 
—  „Ich  bin  gekommen,  um  zu  beichten,  Väterchen:  Als  ich 
einmal  bei  der  Messe  war,  habe  ich  gestunken.**  —  „Närrchen/* 
sagte  der  so  reich  beschenkte  Pope  gut  gelaunt,  „ist  das  denn 
eine  Sünde?  Mir  selbst  ist  einmal  am  Altar  ein  Furz  entschlüpft. 
Das  ist  nichts,  mein  Lieber.  Gehe,  und  Gott  stehe  dir  bei!** 
Und  mit  diesen  Worten  öffnete  der  Pope  den  Sack  und  sali 
Holz  statt  Wurst.  „Ah,  du  verfluchter  Stinker,**  schrie  er  dem 
Bauer  nach,  „wo  ist  denn  die  Weißwurst?**  Der  Bauer  aber 
sagte:  „Möchtest  du  nicht  gar  einen  Chuj  haben,  Furzer,  der 
du  bist  I" 

Endlich  zeigt  eine  Geschichte  auch,  wie  der  Pope  es  ver- 
steht, die  Naivität  seiner  Pfarrkinder  zur  Befriedigung  seiner 
Wollust  auszunützen:  Ein  Muschik  hatte  eine  junge  Frau  ge- 
heiratet und  die  Frau  schwanger  zu  Hause  gelassen,  während  er 
in  einem  anderen  Dorfe  arbeitete.  Den  Popen  gelüstete  nach 
dem  jungen  Weibchen,  und  der  Zufall  war  ihm  günstig.  Eines 
Tages  kam  die  Frau  zur  Beichte.  „Guten  Tag,**  sagte  der 
Pope,  „wo  ist  jetzt  dein  Mann?'*  — „Er  ist  weit  fortgegangen, 
um  Arbeit  zu  suchen,  Väterchen.**  —  „Ah,  der  Schuft!  Wie 
konnte  er  dich  in  diesem  Zustande  verlassen!  Er  hat  dich 
geschwängert,  aber  sein  Werk  nicht  vollendet.  Nun  wirst  du 
ein  Monstrum  gebären,  ein  Kind  ohne  Arme  und  ohne  Beine, 
und  alle  werden  mit  Fingern  auf  dich  weisen  !'*  —  „Was  ist  da 
zu  tun,  Väterchen?**  — „Ich  werde  dir  zu  helfen  suchen,  aber 
das  tue  ich  nur  für  dich,  für  deinen  Mann  täte  ich  es  um 
keinen  Preis!**  —  „Suche  mir  zu  helfen,  Väterchen,**  bat  die 
Naive  mit  Tränen  in  den  Augen.  —  „Nun  denn,  es  sei,  Ma- 
ruschka,  ich  werde  dein  Kind  vollenden.  Komm  abends  in 
meinen  Stall,  ich  werde  den  Tieren  zu  essen  bringen  und  mich 
dort  mit  dir  beschäftigen.**  —  ,,Ich  danke,  Väterchen!*'  —  Die 
Bäuerin  kam  des  Abends.  „Lege  dich  auf  das  Stroh,**  sagte  der 
Pope.  Sie  breitete  die  Füße  aus  und  der  Pope  machte  es  ihr 
sechsmal.   „Jetzt  gehe  nach  Hause,**  sagte  er  dann  zu  ihr,  „und 

Gott  möge  dir  beistehen,  alles  wird  gutgehen." Als  der 

Bauer  endlich  nach  Hause  kam,  empfing  ihn  die  Frau  schlecht- 
gelaunt. ,, Warum  bist  du  so  mißgestimmt  ?**  fragte  der  Muschik. 


-    615    — 

„Ach,  laß  mich  doch,**  antwortete  sie,  „du  weißt  nicht,  was 
sich  gehört!  Du  bist  abgereist,  ohne  das  Kind  zu  vollenden! 
Zum  Glück  hat  sich  der  Pope  meiner  erbarmt  und  die  Arbeit 
zu  Ende  gebracht.  Sonst  würde  ich  ein  Monstrum  zur  Welt 
bringen.**  Der  Muschik  erkannte,  daß  ihn  der  Pope  zum  Hahnrei 
gemacht.  „Warte,**  dachte  er  bei  sich,  „das  soll  dir  heimgezahlt 
werden!**  —  Bald  darauf  gebar  die  Bäuerin  einen  Knaben. 
Der  Muschik  ging  zum  Popen  und  bat  ihn,  den  Jungen  zu 
taufen.  Nach  der  Zeremonie  setzte  man  sich  zu  Tische.  Der 
Pope  aß  und  trank  und  lobte  die  Speisen  und  den  Branntwein. 
„Es  ist  alles  großartig,**  sagte  er  zum  Muschik,  „du  solltest 
um  die  Popin  schicken;  sie  würde  gewiß  auch  gern  mittrinken.** 
„Ich  werde  selbst  gehen,  Väterchen.**  —  „So  gehe,  mein 
Lieber.**  —  Ging  also  der  Bauer  die  Popadia  einladen.  — 
„Danke,**  sagte  die  Popin,  „daß  ihr  an  mich  gedacht  habt,  ich 
werde  mich  schnell  ankleiden.**  Sie  legte  ihre  Ohrgehänge  auf 
eine  Bank  und  wusch  sich.  Als  sie  ihr  Gesicht  abtrocknete, 
steckte  der  Muschik  die  Ohrgehänge  ein.  Die  Popin  suchte 
nun  ihre  Ohrgehänge,  aber  sie  fand  sie  nicht.  „Hast  du  sie 
nicht  genommen,  Muschik?**  —  „Wie  wäre  das  möglich, 
Mütterchen!  Aber  ich  habe  gesehen,  wo  sie  hineingeschlüpft 
sind ;  ich  kann  es  nur  nicht  sagen.*'  —  „Macht  nichts,  sage  es 
nur!**  —  „Als  du  auf  der  Bank  saßest,  Mütterchen,  sind  die 
Ohrgehänge  in  deine  Pisda  hineingeschlüpft.**  —  „Könntest  du 
sie  nicht  herausziehen?**  — ^  „Es  sei;  um  dir  gefällig  zu  sein, 
will  ich  es  versuchen.*'  Er  legte  sie  um,  bearbeitete  sie  zweimal 
und  präsentierte  ihr  dann  ein  Stück'  Ohrgehänge  an  der  Spitze 
seines  Penis.  „Siehst  du,  Mütterchen,  eins  habe  ich  schon 
gefunden."  Nach  zwei  neuen  Operationen  fand  sich  auch  das 
zweite.  —  „Du  hast  dich  arg  geplagt,  mein  Lieber,"  sagte 
die  Popin,  „aber  ich  habe  noch  eine  Bitte  an  dich.  Vor 
zwei  Jahren  ist  mir  ein  kupferner  Topf  verloren  gegangen, 
vielleicht  ist  der  auch  da  drin.'*  Der  Muschik  tat  es  ihr  noch 
zweimal.  „Nein,  Mütterchen,**  sagte  der  Muschik,  „es  ist  un- 
möglich. Der  Topf  ist  zwar  drin,  aber  ganz  verbohrt."  Man 
gab  also  das  weitere  Suchen  auf  und  ging  in  das  Haus  des 
Muschik.  Als  sie  sich  zu  Tische  setzte,  sagte  die  Popadia  dem 
Popen :    „Nicht  wahr,  Väterchen,  die  Zeit,  bis  wir  gekommen 


—    616    — 

sind,  ist  dir  wohl  etwas  lang  erschienen?**  —  „Das  glaub  ich 
wohl,  Mütterchen!**  —  „Aber  was  willst  du?  Meine  Ohr- 
gehänge waren  verloren.  Ich  hatte  sie  auf  eine  Bank  gelegt 
und  mich  dann  darauf  gesetzt.  Und  meine  Pisda  hatte  sie 
verschlungen.  Zum  Glück  fand  der  Muschik  sie  wieder.**  Der 
Pope  erkannte  die  Rache  des  Muschik  und  schwieg  kleinlaut. 


Sachregister. 


Abbrändler,  sog.  329. 
Abenteurer  in  RuRland43. 
Aberglaube  Sjff. ;  II  10. 

—  alte  Leute  betr.  476. 

—  u.  Baden  436. 

—  u.  Bettelei  328. 

—  u.  Bibeltext  188. 

—  u.  Coitus  437. 

—  der  Diebe  280. 

—  bei  Epidemien  46off. 

—  bei        Feuersbrünsten 

450. 

—  geistlicher  142. 

—  bei  Hängen  II  95. 

—  höchster  Kreise  58. 

—  bei  Hochzeiten  II  377, 
396. 

—  in  Hungerszeiten  451. 

—  medizinischer  36. 

—  bei  Meineid  268. 

—  in  d.  Orthodoxie  154. 

—  Parallelen  64. 

—  von  d.  Regierung  ge- 
fördert 460. 

—  u.  Selbstmord  443  ff. 

—  U.Trunksucht  294, 295. 

—  Ursache    d.    Sodomie 

II  559. 

—  u.  Verbrechen  II  288. 

—  d.  Weißrussen  II  375. 
Abergläubische  Gebrauch. 

um  d.  Treue  d.  Gatten 
zu  erhalten  II  425. 

Abmagerung  e.  Folge  d. 
Zauberei  II  30. 

Abraham,  Bischof  v.  Sus- 
dal,  schildert  e.  Schau- 
spielvorstellung zu  Flo- 
renz 404. 

Abtreibungen,  kriminelle 
II  441. 


Abtritt,  alle  zusammen- 
geketteten Gefangenen 
müssen  auf  einmal  hin- 
aus II  175. 
Abschaffung  d.  Knute 
II  144. 

j  —  d.  Spitzruten  II   163. 

'  Abzehrung,  abergl.   Heil- 
mittel 483. 

:  Ackermannsche   Theater- 
gesellsch.    in    Rußland 

I      413- 

I  Adamiten  223. 

!  Adel  geg.  Milde  d.  Justiz 

I       II  128. 

j  —  Grausamkeit  geg.  den 

498. 

—  von  d.  Räubern  be- 
drängt 489. 

1  Adelige,  körp.  gezüchtigt 

II  125. 
I  Adelsbälle  385. 
'  Adelsprivilegien  bei  Stra- 
fen II  86. 
Adler     als     Zeichen     der 

Brandmkg.  II  100. 
Affe,     Spaßmacher     des 
I       Grßf.  Konstantin  Pawl. 

379. 
Arnos,  abergl.  98,   154. 

Akademie  II  452. 

—  f.  Frauen  II  323. 

—  d.  Wissen.«*chaften  36. 
Aksakow ,     letzter    of  f  iz. 

russ.  Hofnarr  379. 

Akulina  Iwanowna,  Got- 
tesmutter 238,  240. 

Alexander  I.,  Ausspruch 
über  Folter  II  184. 

—  Humor  als  Ehebrecher 

387. 


Alexander  I.  geg.  Men- 
schenfreunde 418. 

—  mild  geg.  Sektierer! 83. 

—  Mystizismus  166,   167. 

—  prügelt  gern  II  56. 

—  ruft  d.  weg.  s.  Liberal- 
verbannten Radisch- 
tschew  zurück  499. 

—  u.  d.  Schulen  46. 

—  u.  d.  Skopzengott  240. 

—  u.  d.  heil.  Synode  138. 

—  u.  Todesstrafe  II  97. 

—  verbietet,  Geistliche  zu 
prügeln  119. 

—  verb.  Verkauf  einzelner 
Familienmitglieder     II 

234. 

—  verurteilt    den     Knut 

II  143. 
Alexander  II.  II  129. 

—  u.    d.    Dolgoruckij    II 

539. 

—  Mystizismus  167. 

—  u.  d.  Schulen  49. 

—  gilt  d.  Sektierern  nicht 
als  Zar,  weil  er  nur 
Schnurrbart  trug  31. 

—  f.  Witze  empfängbch 
388.  389. 

—  Toleranz  185,  419. 
Alexander  III.  II  273. 

—  geg.  Bettelei  332. 

—  relig.  Fanat.  117. 

—  für  Mäßigkeit  320. 

—  Mvstizismus  166. 

—  u.  d.  Sängerin  Maria 
Fullö  II  539. 

—  u.  d.  Schulen  49. 

—  weg.  s.  langen  Bartes 
bei  d.  Sektierern  beliebt 

31. 


—    618    — 


Alexander  d.  Gr.,  Iwan  d. 

Sehr,  vergleicht  s.  mit 

ihm  II  8. 
Alexanderinstitut  II  453. 
Alexander  Newsky  160. 
— 3  Grausamkeit  II  7. 
Alexandra,  Zarin  158. 
Alexandrow.  Advokat  11 

130. 
Alexej,    der   heilige    107. 

—  d.  Wundertäter  als 
Arzt  473. 

—  Pope,  Ketzer  175. 

—  Zar  21,  276;  II  38,  318. 
— s  Ehen  II  362. 

—  Freund  d.  Falkenjagd 

337. 

—  führt  furchtb.  Folter 
ein  II  182. 

— s  Frauen  treulos  II 418. 
— s  Gesetzbuch  II  285  ff. 

—  Gesetze  geg.  Kuppelei 
II  541. 

—  geg.  Kartenspiel  usw. 

342. 

—  geg.  Räuber  494. 

—  geg.     Tabakrauchen 
422. 

—  erstes  russ.  Theater 
unter  406. 

—  verlangt  Verbrennung 
e.  polo.  Werkes  üb. 
Rußland  34,  35. 

—  verordnet  Gliederstra- 
fen II  88  ff. 

—  verord.  140  Knuten- 
strafen II    135. 

—  Alexandrowitsch    II 

539. 
Alleinherrschaft  113,  114. 

—  Iwans  IV.  Ansicht  II 
12. 

Alleinherrscherinnen       II 

318. 
Almosengeben     verboten 

325- 
Alte     sind     Priester     der 

Malakanen   198. 

Alte  Leute  opfert  man  in 
Epidemiezeiten  475. 

Alter  befreit  von  Körper- 
strafe II   129. 

—  hohes  475.  476. 
Altgläubige   193  ff. 

—  u.  Reaktion  194. 
Amazonen   II  310. 


Ambrosij,    Archimandrit. 

ermordet  474. 
Ameisen  im  Abergl.   loi. 
Anarchistin  II  321. 
Anastasia,  Großfürstin  II 

538. 

Andreas,  d.  heil.  160,  428. 

Andrej  Bogoljubskij,  Al- 
leinherrschaft   II    212. 

—  Iwanow,  Sektierer  u. 
Pseudo-Peter  III  238. 

Anerkennung    d.    unehel. 

Kinder  II  440. 
Anna  Zarin  geg.  Flagell.- 

Sekten  221. 

—  liebt  Narrenwes.  374  ff. 

—  befiehlt,  d.  Peitche 
dem  Knut  vorzuziehen 
II  152. 

—  Torturen  II  183. 

—  V.  Braunschweig,  russ. 
Regentin,    Abergl.    60. 

—  Iwanowna,    Zarin    36. 

—  Bälle    am    Hofe    382. 

—  Grausamk.  H  45. 

—  Justiz  II  66. 

—  geg.    Sektiererei    183. 

—  Sitten  ihres  Hofes  II 

525. 

—  Theaterfreundin     412. 

—  Trinkersitten  an  ihr. 
Hofe  322. 

—  verhängt  7002  Todes- 
urteile II  91. 

—  ihr  Gemahl  säuft  s.  in 
d.  Hochzeitsnacht  tot 
321. 

—  Leopoldowna,  Regen- 
tin 378;  II  46. 

—  d.  lesb.  Liebe  ver- 
dächtig II   563. 

—  Sitten  ihres   Hofes  II 

527. 
Annageln  usw.  II  22,  87. 

—  beliebte  Strafmethode 
Iwans  II   12. 

Antichrist  216,  241,  250, 
251. 

—  moderner  460. 

—  ist  d.  Patriarch  Nikon 
190. 

Anton,  d.  deutsche  Arzt, 
ermordet  465. 

—  V.  Tschernigow,  Ket- 
zer  173. 

Anzahl   d.    Hiebe   II    156. 


Anzahl  d.  Rutenhiebe  II 
167. 

—  d.  Schläge  II  132.  149, 

153.   ISS- 
m.  Knut  II   141. 

(Kodex    Rumjänt- 

zow)  II  227. 
mit         Spitzruten 

(12  000)  II  161,    162. 
m.  Spießruten    II 

163. 

Apotheken  466  ff.,  469, 
485.       • 

Appetit  durch  Morden  er- 
regt II  88. 

—  erregen  durch  Züch- 
tigung d.  Leibeigenen 
II  230. 

Apraxin,    Günstling    288. 

—  Hofnarr  374ff. 
Aprilscherz,  von  Peter  I. 

übelgenommen  411. 
Araja,    Theaterdirektor 
412. 

Araktschajew  geg.  die 
Bartträger  30. 

Avenskij,  Komponist  404. 

Aristokratinnen  als  Schau- 
spielerinnen 410. 

Armee,  Grauskt.ind.il  56. 

Armenierin,  d.  II  320. 

Armenische  Brautnachts- 
gebräuche II  504. 

Arten  d.  Knutenschlagens 
11  138. 

Arzt   b.    Exekutionen    II 
140,    i6o. 
,  —  unvorsichtig     in      der 
Rede  454. 

Ärzte  bedroht  als  Ketzer 
465  ff. 

—  ermordet  474. 

—  dürfen  in  Frauenbäder 
eintreten  431. 

Arztin  II  321. 

Assignatenfälscher  II  loi. 

Astrologie  58. 

Aufhebung  d.  Deporta- 
tion plant  Nikolaj  I. 
II  200. 

—  —  Alexander  III.  11 
207,  208. 

—  verfügt  Nikolaj  II. 
II  209. 

—  d.  Leibeigenschaft  II 
321. 


-    619    — 


Aufruhr  d.  Barttxäger  23. 
Aufrührer  II  148. 

—  geknutet  II  135. 

—  geprügelt  II  130,  131. 

—  m.  Ruten  bestraft  II 
166. 

Aufstecken  d.  Köpfe  Hin- 
gerichteter II  41. 

Auskultierung  d.  Braut- 
leute II  363,  373. 

—  gekaufter    Bräute    II 

342. 
Ausländische  Krieger  hab. 
Trinkfreiheit  303. 

—  Urteile  üb.  Ehebrüche 
in  Rußl.   II  422. 

über  die  russ.  Geist- 

lichk.   120  ff.,   140 ff. 
üb.    d.    Justiz    II 

78,  79' 

üb.  russ.  Keusch- 
heit II  459. 

kränken  d.  Russen 

34.  35- 

üb.  d.  russ.  Lügen- 
sucht 270,  271. 

üb.    Schönheit    d. 

Russin  II  348. 

Ausschweifung  verzeihlich 
230. 

—  d.  Jugend  351,  354. 

—  d.  Sektierer  171  ff., 2 22. 

—  s.  a.  Unsittlichkeit. 

—  auf  d.  Throne  II  308. 
Ausstellung     v.     Köpfen 

II  89,  92. 
Autokratie  501,  502. 

—  sieht  in  Trunksucht 
d.    Volkes    etw.    Gutes 

304- 

—  u.  Orthodoxie  206. 
Awlabar  zu  Tiflis,  Huren- 
viertel II  548. 


Bacchus,  s.  russ.  Namen 
16,  306. 

Backen  krank.  Kinder  im 
Ofen,  s.  Hundealter484. 

Bad  d.  Brautleute  II  364. 

Baden,   gemeins.   II   478. 

f.  Mönche  u.  Non- 
nen 143. 

Badeanstalt  u.  Sittlich- 
keitsgesetze II  554. 

Bäder  426  ff. 


Badesitten    u.    Schamge- 
fühl II  461. 
Badstube  II  342. 

—  u.  Aberglaube  102. 
Bakunin     Katharina     II 

321. 
Balakirew,    Hofoarr   375. 
j  —  Komponist  404. 
Balalajka  401. 
Balk,  Generalin,  v.  Peter 

geprügelt  II  43. 
Bälle  381  ff. 

—  b.  Hofe  gefährl.  II  160, 
161. 

—  u.  Todesurteile  II  51. 
Ballet  402,  409,  413. 
Balletteusen  halten  Spiel- 
höllen 349. 

Ballettkorps  liefert  d.Mai- 
tressen  f.  d.  Kaiser  420. 

Bändchen,  rotes,  d.  Jung- 
frau II  378. 

Bandura  401. 

Barbier  s.  Bart. 

Bär  als  Kellner  312. 

Bärenhäute  zu  Hinricht.- 
Zwecken  usw.  II  26,  88. 

Bärenjagden  340.  341. 

Barjatinski,  Fürst,  Päder- 
ast  II  567. 

Bärenkämpfe  336.  337. 

Barsche w,    Prof.    II    128. 

Bart  37,  192,  262,  388, 
493;  n  45,  78,  148. 

—  ausrupfen  II  88. 

—  d.  Russen  u.  Nicht- 
russ.  20. 

—  Parallelen  aus  and. 
Ländern  21. 

Bartreform  17,   18  ff. 

Baruch,  Jude,  leb.  ver- 
brannt 178. 

Baschkin,  Matwej,  Ketzer 
178. 

Baschkirenliebchen,  d.  II 

354. 
Baska  Us,  Räuber  493. 

Basmanow,  Iwans  Lieb- 
ling II   IG. 

—  Vater  u.  Sohn  hin- 
gerichtet II  21. 

Batogen  II  123. 

—  Beschreib,  d.  Strafe 
261,  276.  286;  II  145, 
146. 

—  ihre  Geschichte  II  147. 


Batogen  u.  Knut  II  146. 
Bauer  u.  Mystizismus  164. 

—  verachtet  d.  Popen 
125,   126. 

Bauern  II  2  20  ii. 

aufstände  unt.  Niko- 

laj  I.  II  237. 

—  Indolenz  459. 
regeln  64. 

zar   (Alexander    III.) 

166. 
Baumkult   105. 

—  bei  Sektierern  254. 
Beaufsichtigung  d.  Frauen 

II  311. 

Befreiung  d.  Frauen  aus 
d.  Abgeschlossenh.  II 
316. 

Begräbnis,  unehrl.,  für 
Selbstmörder  445,  447, 

Behandlung  d.  Schau- 
spieler II  318. 

Beichte  u.  Polizei  124; 
II  60. 

Beisammenschlafen  vgl. 
Probenächte  II  479. 

—  beider  Geschlechter  in 
Bettlerasylen  328. 

—  d.  Jugend  bei  d. Klein- 
russen II  487. 

—  d.  Zaren paares  II  505. 
Beisammenwohnen      von 

Mensch,  u.  Tier.  II  241. 

Beketow,  Kadett,  als  Bal- 
letteuse 414. 

Belohnungen  285. 

—  für  Saufleistungen  325. 
Bergjüdin,  d.  II  333. 
Besborodko,    Kartenspie- 
ler 345. 

Beschauung  d.   Braut   II 

369- 

Bescheidenheit  russ.  Bett- 
ler 326. 

Beschneidung  russ.  Sek- 
tierer 175,   176. 

—  verabscheut  v.  d.  Rus- 
sen 175. 

Beschwörungen  112. 
Besen  d.  Opritschniki  II  8. 
Besessenheit  89. 
Besoffenheit  angehext  88. 
Bestechlichkeit  II  90. 

—  d.  Henkers  II  51,  113, 
169. 

Bestialität  II  556ff. 


Bestrafung  von  Ketiem 
177. 

—  d,  kosak.  Ehebreche- 
rin  II  427. 

Bestuschew,  als  Trunken- 
bold 316. 

—  Frau,  besticht  d.  Hen- 
ker II  51. 

—  Kartenspieler,  versetzt 
d.  Kleider  s.  Frau  345. 

—  Minister  «.  Wechsel- 
fälscher 274. 

Besuch,  öfienü..  d.  liederl. 

Weiber  bestraft  II  S49- 
Beten    statt  koitieren   II 

S04. 
Betende  ermordet  II   14, 

87. 
Betteln  d.  Verbannten  II 

193. 
Bette! Wesen  324ff. 

—  bettelnde  Nonnen  141. 
Bettler,  gesunde,  geknutet 

u.  verbannt  II  136,  191. 
Bettlerinnen  3J0,  331- 
Bettlerspruch  326. 
Bezeichnungen  verschied. 

Arten  körp.  Züchtigung 

n  [37- 

Bibel  93. 

—  u.  Malakanen   :97. 
Bibeltextkorrekturen  iSg. 
Bibelworte  u.  Wollust  227. 

—  V.  d.  Skopien  verdreht 
236.  237. 

Biron   II  525. 

Bitte  um  Schläge  der 
jungen  Frau  II   293. 

Blattern  485,  486. 

Bleistifte,   Import  40. 

Blenden  II  4,   I03. 

Blinde  im  Abergl.  67. 

Blitz  u.  Donner  im  Aber- 
glaub.  101. 

—  vom.  Erschlagene  hei- 
lig 97- 

Block   als   Strafmittel   11 

173- 
Blödsinniger  rettet  Pskov' 

vor  Iwans  Zorn  II  20. 
BlöOe    keine  Schande   II 

478. 
Blumentrost,  Arit  407. 
Blut  im  Abergl.  89.  97. 

—  V.  Kindern  z.  Abend- 
mahl 247. 


Blutschande  II  148,  512. 

—  keine  Sünde  228. 

—  —  s.  a.   Snochatsche- 

Bobrinskij,  Sohn  Kath.II. 

Kartenspieler  345. 
Bobrowa,  Sängerin,  u.  ihr 

D^colletg  II  463. 
Boccaccio,  Vorbild  I.  russ. 

Erotiker  II  580. 
Bock  im  Abergl.  285. 

—  Strafmethode  422;   II 
138«-.   172- 

Bockpfeife  402, 
Bogdanowitsch.      frivoler 

Schriftsteller  II  5B1. 
Bogrow.    Schriftsteller, 

tauft  sich  269. 
Bogumilen  173,  173'. 
■Bojaren,  Sklaven  d.  SUa- 

ven  11  212,  214. 

—  V.  Volke  gehaQt  II  214. 
Bomelius,  Arzt  466. 

—  s.  furchtb.  Gift  II  29. 
Bordell     u.     Gefängnisse 

II  193- 

—  hat  Heiligenbilder  159. 

—  u.  Religion  225. 

—  V.  jungen  Peter  II.  be- 
sucht 338. 

Bordelle  II  545. 

—  in  Bädern  433. 

—  erste  öffcntl.  II  544. 
^  in  Tabakbuden  425. 

—  Klöster  als  B.    147. 

—  u.     leibeig.     Mädchen 
II  233. 

Boriß,  Heiliger  280. 

—  Godunows  Grausamk. 
II  88. 

Boris  Wadimir.  II  5^9. 
Borodin,  Komponist  404. 
Borodulin.   Gefängnischef 

II  189. 
Bortnjanskij,  Musiker403. 
Böser  Blick  63. 
Bottich    m.    Wasser    bei 

Zerem.   d.   Sekten   325, 

227. 
Brände  II   19t, 
Brandmarkung  279;  II  ji, 

SS,  98».,  142. 
Branizka  II  564. 
Branntwein  269. 

—  als  Verlobungstrunk  II 
395. 


—  b.  d.^Wotjäken  396. 

—  mit  SchieQpuIver,  Alt- 
heilmittel 485. 

—  trinken  d.  Stundisten 
nicht  204. 

Branntweintrinkea  ver- 
boten auf  d.  tscheremiss. 
Opferplätzen  99. 

Bräutigam  jünger  als  d. 
Braut  II  404. 

Brautnacht  II   372. 

—  d.  Tartaien   II  401. 

—  d.  Zaren  II  360. 
Brautnachtsgebräuche    b. 

d.  Kleinntssen   II  491. 

Brillanten  als  Karten- 
spielmarken 344. 

Brinkens  Schiffs  bau  kunst 
34- 

Brjussow,  myst.  Einzeilen- 
dichter  16S. 

Brotkügelchen  (Abergl.) 
284. 

Bruce,  Graf,  geg.  Milde 
II  141,   142,   143- 

—  Gräfm4i7:  II  55,  350. 
Bruch,  russ.  Heilmethode 

483. 

Bruder,  als  Beschützer  d. 
Mädchen  II  340. 

Brudermord,  v.  Iwan  ge- 
fordert II  22. 

Brunnen,  heiliger,  d.  Geiß' 

Icr    220. 

Brüste  d.  Frauen  abge- 
schnitten II  44. 

dürfen  bei  d.   Kal- 
mücken n.  böswillig 
gegriffen  werd.  362. 

—  flache,  b.  d.  Kalm. 
beliebt  II  354. 

verstümmelt  b.   d, 

Skopzen  243. 

—  —  zerschnitten  u. 
teilt  248. 

Buch  der  Taube.  Bibel  d. 

Skopzen  237. 
Buchdruckereien    31. 

33. 


Bucklig   sind   Hexen    82. 
Buntes  Allerlei,  russ.  Zett- 
schrift 262. 
Burjaten-Ehe  II  341. 


—    621    — 


Bursaki,  geistl.  Studenten 

136. 
Butterwoche  360 ff.,  405. 

—  Abergl.  65. 

—  Theatervorstell.  414. 
Buturlin      macht     Peter 

d.  Gr.  f.  allg.  Korrup- 
tion verantwortlich  289. 

—  u.  Daschkow  bestraft 
weg.  Anschauens  der 
Zarin  II  313. 

—  Hofnarr  372. 

—  Frl.,  spätere  Frau  v. 
Diwow  II  587. 

Bylinen,  Entführungen  II 

338. 
Byzant.  Einflüsse  II  211. 


Caermarthen,  Marquis,  er- 
hält d.  Tabakmonopol 
422. 

Caro,  berücht.  Hure  am 
Hofe   Kath.  I.   II    522. 

Champagner  in  Rußland 
322. 

Chamusch,  Jude  175. 

Chardin  über  Trunksucht 
russ.  Diplomaten  am 
pers.  Hofe  301. 

Chewsurin,  d.  II  332. 

—  ihre  Unreinigkeit  II 
508. 

Chewsurische  Hochzeits- 
bräuche II  403. 

Chiliasten,  deutsche  Sekte 
in  Kaukasien  203. 

Chlopko  Kossolap,  Räu- 
ber hauptm.  488. 

Chlysty  s.  Geißler. 

—  Erklär,  d.  Wortes  217. 
Chmeljnizkij,     russischer 

Bacchus  305,   306. 
Cholera  463. 

—  Abergl.  68,  478. 

krawall  II    156,    168. 

Cholopy,  Name  f.  Sklaven 

II  212. 

Chorowod  II  337. 

Choschtschinskaja  Na- 
deschda  II  320. 

Chowanskaja,  Fürstin, 
wohnte  e.  Flagell.-  Ver- 
sammlung bei  221. 

Christen,  geistige,  Sek- 
tierer 233. 


I  Christen  dürf.  n.  in  jüd. 
I       Dienste  gehen  II  273. 

Christi  Photographie  233. 
1  Christi.  Religion  bringt 
!      Sklaverei  II  248. 

Christuskind  im  Märchen 
II  291. 

Christussucher  217. 

Coitus  u.  Abergl.  76. 

—  u.  Baden  437. 

—  mit  d.  eie.  Frau  ver- 
boten (b.  d.  Feodo- 
sianem)  248. 

—  kleinruss.  Auffassg.  II 
489. 

—  als  Kulthandl.  352, 
355 ;  II  509. 

—  in  d.  beid.  erst.  Ehe- 
nächten verbot.  114. 

—  öffentlich  II  475,  477. 

—  u.  Religion  114;  II503. 

—  im  Sprichwort  436. 

—  unrein  II  503. 

—  vor  Zeugen  328,  330, 
372;  II  487. 

Cosimo  aus  Dresden  412. 
Couplets  obszöne  II  606. 


Dacosta.    portug.    Jude, 

Hofnarr  369,  374. 
Damespiel  II  8. 
Daniel    d.    Verbannte    II 

309. 

—  Filipowitsch,  Skopzen- 

gott  225. 

Danilow  II  283. 

Dant6s-Heeckerens  Duell 
m.  Puschkin  265. 

Daschkow,  Fürst,  in  d. 
Skopzenlegenden   239. 

Dawidows,  Zigeuner,  Sa- 
lon II  549. 

Demütigung,  klösterliche, 
d.  h.  körp.  Züchtigung 
II  149. 

Denis,  Pope,  Ketzer  175. 

Denunziantentum  II   60. 

Derschawin,  Dichter  416. 

— s  Gedichte  f.  Sektierer- 
zwecke nachgebild.  223. 

Deserteure  II  121,  122, 
126.   155. 

—  Zuflucht  b.  Sektierern 
249,  254. 

Desertion  II  89  ff. 


Deutsche    v.    Letten    ge- 
haßt II  250. 
Deutscher     Einfluß     43 ; 

II  47. 

Deutsches  Theater  413. 

Devier,  getaufter  Jude, 
Polizeimeister  II  587. 

Dichter  Rußlands,  my- 
stische 167,   168. 

Dicke  d.  Frau  erwünscht 

n  32.  33- 
Die    unter    dem    Boden 

Lebenden,    Sekte    249. 
Diebe  II  38,  98,  121. 

—  die  Schuwaliki  be- 
rüchtigte 328. 

—  darf  m.   töten  II  86. 

—  kleine  u.  gr.  288. 
Diebslicht  281. 
Diebstahl  198,  216,  271  ff. 

—  geringer,  hart  bestraft 
II  132,   155. 

—  u.    Desertion    II    155. 

—  u.  Prostitution  II  548. 
Dikarew,  Folklorist  II585. 
Diplomatie     rechnet     m. 

Peters  d.  Gr.  Träumen 
61. 

Dirin,  Kath.,  Banden- 
führerin  II  68. 

Disziplin  in  d.  Armee 
untergr.  II  62. 

Diwow,   Frau  v.   II   542. 

Dmitrij,  Erzb.  v.  Rostow 
II   120,  410. 

—  —  entjungferte,  aber- 
gläub.  Prinzessin   59. 

—  Großf.,  schwindelt  im 
Rennklub  349. 

—  Iwan.,  verfügt  d.  erste 
öff.  Hinrichtg.  II  87. 

—  Metropolit  136. 
Dobroljubow,  mod.  myst. 

Dichter  168. 

i  Dobrynja,  Bylinenheld  80. 

I  Dogmatische  Spitzfindig- 
keiten 196. 

I  Dolgoruckij,  Alex,  schnei- 
det s.  d.  Bauch  auf  II  6. 

—  Iwan  II  6. 

—  Kath.  Peters  II.Braut 
II  6. 

—  Kath.,  Gemahlin  Alex- 
anders II.   388. 

—  Wassili j   u.  s.   Gegner 

n  7. 


—    622 


Domitian,  Sektenober- 
haupt 2$o. 

Domostroj,  d.  II  1 19.  1 19, 
120.  210,  292.  311,  556, 
$80. 

—  gegen  Musik  401. 

—  ford.  humane  Behand). 
d.  Leibeigenen  II  221. 

Domowoj,    Hausgeist  76. 
Donnerstag.  Abergl.  65. 
Donoßtschik,    Name    für 

Denunz. 
Dorgomijskij,  Komponist 

403. 

Dornen  vertreiben  Zau- 
ber 84. 

Dorpater  Universität  47. 

Dostojewskij  501. 

— 's  Schilderg.  d.  Prosti- 
tution II  581. 

Dreifuß  96. 

Drewnik,  Frau  v.  II  279. 

Dritte  Abteilung  der  kais. 
Kanzlei  II  69,  70. 

Dubbeln,  Seebad  433. 

Dubina,  Peters  d.  Gr. 
Prügelstock  II  42,   59. 

Duchoborzen,  Sektierer 
196 ff.,  200. 

—  u.  Malachanen,  Alter 
dieser  Sekten   197. 

Duchoborzin,  d.  II  332. 
Dudelsack  401,  496;  II  19. 
Duell  263  ff. 

—  als  Gottesgericht  II  58. 
Durchbohren  d.  Hexen  89. 
Durchcinanderliegen   226, 

354. 

Eckmühl,  Fürst,  kauft  e. 
Knut  II  129. 

Edelfrauen  als  Privile- 
gierte II  308. 

Ehe,  Abergl.  63. 

—  abgeschafft  229. 

—  b.  d.  Duchoborzen  202. 

—  der  Geistl.  126,  141  ff. 

—  d.  Herrscher  m.  Aus- 
länder.  II  359. 

—  bei  d.  kaukas.  Berg- 
juden II  404. 

— ^  d.  Leibeig.  II   221. 

—  bei  d.  Malakanen  198. 

—  d.  Nonnen   144. 

—  v.  d.  Perchowzy  ver- 
abscheut 210. 


Ehe  freie,  b.  d.  Stundisten 
204. 

—  ohne  Zerem.  vollzogen 
212. 

—  mss.  PrinzeFS.  m.  Aus- 
länd. II  34. 

—  verachtet  492. 

—  Verbannter  II  197. 

—  verworfen23off.,322ff.. 
254. 

—  vierte  II  26. 

—  wilde  232. 
Ehebruch  202 ff.,  265.  387 ; 

II  93,  148,412.416,450. 

—  (Lied)  391.  392. 

—  b.  Esten  u.  Letten  II 
428. 

—  b.  d.  Georgiern  II  431. 

—  u.  Kartenspiel  346. 

—  b.  d.  Kirgisen  II  430. 

—  b.    d.    Mingreliem    II 

431- 

—  b.  d.  Osseten  II  431. 

—  in  Polen  II  467. 

—  straflos  II  422. 

—  auf  d.  Throne  II  419. 

—  b.  d.  Tscherkessen  II 

431- 

Ehebruchsfrucht  in  Spiri- 
tus gelegt  472. 

Ehefeindliche  Sekten  II 
416. 

Eheliche  Züchtig.   II   84. 

Ehelose  Sektierer  232 ff. 

Ehescheidung  137,  233, 
II  407. 

—  b.  d.  Giljaken  II  413. 
•  —  b.    d.    Kalmücken    II 

'      413- 

!  —  Peter  I. 

I  —  b.  d.  Tschuwaschen  II 

413- 

Ehetrennung  b.  d.  Ducho- 
borzen 202. 

Ehezwang  v.  Peter  I.  auf- 
gehoben II  369. 

Ehrbegriff  2  59  ff. ;  II  210. 

Ehrenbeleidigung  260. 

Ehrentrunk  301,   366. 

Ehrgefühl  II  168. 

—  unbekannt  II   126. 

—  u.  körp.  Züchtigungen 

II  150- 
Eichenpfahl    u.    Varapir- 
zaubcr  295. 


Eichhörnchen  im   Abergl. 

100. 
Eid  II  78. 

—  v.  Sektierern  n.  ge- 
leistet 199. 

Eier  dürfen  nur  Frauen 
verkaufen  II  157. 

Ein  tagsehen  234. 

Eisen  vertreibt  Zauber 
(Hufechmied)  62. 

Eisenbahnen.  Korruption 
290. 

Eisenprobe   II    178.    290. 

Eispalast  377. 

Elefant  weg.  Majest. -Be- 
leid, zerfleischt  II  8. 

Elena,  Schwiegertochter 
Iwans  III.,  wendet  s.  d. 
jüd.  Häresie  zu  176. 

—  in  Susdal  II  306. 

Elend  am  Hofe  d.  Zaren 
u.  Zarinnen  39. 

—  im  Trinken  vergessen 

318.  319- 
Elias  (Ilja)  der  Heilige  97, 
158.     • 

—  u.  d.  Baden  436. 

—  Prophet  106. 

—  Iljin,  Gründer  d.  Sekte 
d.  Ssubotniki   180. 

Elisabeth,  Zarin  II  96. 

—  Aufhebg.  d.  Todes- 
strafe II  85,  86. 

— 's  Grauskt.  II  47  ff. 

—  ehrtHeiligenbilder  163. 
—'s  Hof  378. 

— 's  Liebschaften  528. 

—  geg. Prostitution  II  542. 

—  u.  körp.  Straf,  der 
Geistl.  27. 

— 's  Orgien  in  Klöstern 
147,   148. 

—  soll  viel  getrunken  hab. 

314. 

—  engag.  e.  Tanzmeister 
f.  Rasuraowskij   382. 

—  schamlos  II  460. 

—  theaterfreundlich  414. 

—  u.  d.  Todesstrafe  II  91 , 
123. 

—  verschärft     d.     Folter 

II   183. 
Akulina  Zarin-Gottes- 
mutter 238. 

—  V.  England  u.  Iwan 
d.  Sehr.  II  32. 


623    — 


Elternmord  II  285. 

—  b.  d.  Kalmücken  262. 
Eltemverfluchung   117. 
Emanuel    Kaiser   v.    By- 

zanz  173. 
Emanzipierte  Mädchen  II 

455. 
Embryosammlung  472. 

Engelhard  Frl.  II  350. 

Engelmacherei  II  443. 

Entbindung  auf  d.  Felde 

n  325. 

Entführung  II  381. 

—  bestraft  II   157. 

—  d.  Frauen  II  337. 
Enthaltsamkeit    d.    Sek- 
tierer 220. 

Enthauptungen  bei  Peters 
Trinkgelagen  307. 

Entjungferung  in  der 
Brautnacht  obligat.   II 

493. 

—  als   Kulthandlung  bei 

Begräbnis  s.  II  509. 

—  Stell vertret.  d.  Bräuti- 
gams II  380. 

Entleerung,     Schamlosig- 
keit e.   Russin  II  460. 
Entmannung  236. 

—  gewaltsame,  durch  d. 
Skopzen  246. 

— s  -Arten  d.  Skopzen  24 1 , 

245. 

Entschädigung  f.  Ehe- 
bruch b.  d.  Kalmücken 
II  430. 

D'Eon.  UrteU  üb.  Ruß- 
lands Hof  38. 

Epidemien    460  ff. ,     469, 

479- 

—  (abergl.)  70,  104,  106, 

295. 

—  d.  Heiligenbilder  be- 
kämpft 473. 

—  u.  Hungersnot  II  291. 

—  vgl.  auch  Pest,  Chol. 
Epigrammverfasser     von 

Paul  bestraft  II   55. 
Epilepsie  482. 

—  d.  Zauberei  verursacht 
85. 

Erbarmen  b.  Schlagen 
II   115,   121. 

—  b.  Strafen  II   109. 
Erbarmungsvoller  (Knut) 

II  I3-- 


Erbsünde  nach  d.  Skop- 
zenlehre  241. 

Erdbeben  449,  451. 

Erfrischungen  b.  Folter 
Hingen  II  46. 

Erlebnisse  e.  Pagen  (päd- 
erast.  Gedicht)  II  569. 

Eremitage  Kath.  II.  417. 

Ermordung  d.  Gatten  d. 
d.  Frau  II  297. 

Eros  russe!  Sammig.  ge- 
heimer Gedichte  II  582. 

Erotik  bei  Festen  351  ff. 

—  im  Sekten wesen  193  ff. 
Erotische  Sekten  183. 
Erpressungen  290,  291. 
Ertränken  II  14,  23,  26, 

31.  93. 

—  Strafe  f.   Ketzer   174. 

f.  Unkeuschheit  II 

32. 

—  V.   Zauberern  295. 
Erzählungen,  erot.  u.  ob- 
szöne II  609  ff. 

—  obszöne  II  425. 
Erziehung  40;   II   458. 

—  d.  Jugend  II  449 ff. 
durch    Abenteurer 

39. 

—  durch  Schläge  II  120. 

Eschenpfahl  478,  479. 

Esel  im  Abergl.  97. 

Espenholz  vertreibt  Zau- 
berei 103. 

Essen,  General,  verlangt 
Spitzrutenstrafe  II  162. 

Essen  u.  Abergl.    10 1. 

Esten,  Abergl.  69. 

Esten  u.  Letten,  Abergl. 
99. 

—  —  Geschlechtsfreiheit 
d.  Jugend  II  477. 

Esther,  Korsettenverkäu- 
ferin, verwickelt  in  mo- 
dern. Lieferungsskandal 
458. 

Esthin,  d.  II   328. 

Estland,  Erot.  Feste  355. 

—  Hungersnot  453. 

—  U.Lettland,  Abergl.  75. 
Estnische  u.  lettische  Leib- 
eigene II  217. 

Aberglaube  62. 

Etikette,   strenge,    388. 

am     Hofe     Nik.  I. 

II  160,   161. 


Eule  imAbergl.d.  Kalm.95 . 
Eunuchen    (Sektierer)    s. 

Skopzy. 
,, Europäische  Fama*"   d. 

35- 
Exekution  d.   Spießruten 

II  159,   160. 
Eximierte  v.  Körp. -Straf. 

II  129. 
Exkommunikation,  Strafe 

f.  Rasieren  21. 
Exzesse  in  d.  Bestrafung 

d.  Leibeig.  II  245. 

Falsche  Zeugnisse,  öff. 
Anstalt  dafür  268,  269. 

Fälschen  von  Banknoten 
274. 

Falschmünzer  II  90,  96, 
99,   122. 

Falschmünzerei  b.  d.  Sek- 
tierern kein  Verbrechen 
199. 

Falschspieler  347. 

Familie,  regiert  v.  d. 
Peitsche  II  152. 

—  u.  Schule  50,   51. 

—  u.   Strafen   II    83    84. 
Familienleben  II  283. 

—  Grausamkt.    im    451; 

II  30. 

—  Gefühllosigk.  Peters  II. 

339- 

—  Roheit  im  II   119. 

Familienliebe  d.  Russen 
fremd  II  52. 

—  verpönt  II  89,  90. 

—  wird  unterdrückt  II 
230. 

Familien  weises  Morden  II 
16,  40. 

Fanatismus  v.  Sektierern 
(Zertreten  e.  Heiligen- 
bildes 199.) 

Farnkraut  354. 

Fasten    114,    116,    360 ff., 

363. 
V—  d.  Brautleute  II  376. 

—  u.  Abergl.  65. 
Fata  (Schleier)  II  360. 
Fatalismus  441  ff. 
Faullenzen  d.   Frauen  II 

315. 
Faustkampf  389,  II  253. 

Federn  fliegen,  bei  Juden- 
Pogromen  II  274. 


FedjkoSchold)ak.  Räuber  [ 

494- 
Fedor  Alexejewitsch,  Zar 

468. 
Fehltritt   im   Abergl.   61. 
Feigheit  bestraft  II   158. 
Feldgerichte  unter  Niko- 

laj  II.   II  87. 
Feldscher   als   Uaiversit.- 

Prof.  48.  I 

Feodorowna  Irina  II  306. 
Feodosianer,  Sekte  248. 
Feofan    Bokopowitsch, 

Dramatiker  410. 
Fesseln   II   174,   175. 
Fest  bei  Hinrichtung  des 

Fürsten  Gagarin  II  80.  I 
Festtage  116, 
Feuer  96,   102. 

—  im  Abergl.  63,  98. 
Feuerprobe  83;  II  40. 
Feuersbrünste  449  ff. 
Feuerwehr  450. 
Feuerwerk.  Angst  d.  Rus- 
sen davor  370. 

—  b.  Opernvotstellungen 
414- 


Filip,  Metropolit,  gegen 
Iwan  d.  Sehr.  II   15  f. 

Filipon.  Sektengründer 
350. 

Filiponen  Sekte  250. 

Findelhaus  II  434)!.,  453. 

—  u.  Ehrcnbeleidigung 
262. 

Findling  wird  leibeigen 
II  245.  I 

Finger   abhauen   279:   II   | 
107.  I 

—  im  Religionskultus  196.   ■ 
Finnische   Bäder  426. 
Finnland.    Urheimat    der 

Springer-Sekte  228.  \ 

Fischerhaken  i.  Auffang.   \ 

Ertränkter  II  87.  j 

Flagellantismus  221.  I 

—  b.    d.    Neu-Stundisten   ' 
205. 

Flagellation  bei  d.  Geist- 
lichkeit  1 18,   149. 

Fleck  in  d.  Kleidung  An- 
laß   2U    Züchtigung   II 


Fluchen  bei  d.  Stundisten 
verboten  204. 

—  d.  Zarin  Elisabeth  II 
48. 

Flucht  d.  Verbannten  II 

197. 
Flüchtlinge,  Strafen  II  99. 
Folter  488,  493 ;  11  11,  46, 

54,  63.  66,   83,   88,  89, 

117,    128,    141.    178«.. 

230. 

—  in  Gefängnissen  11 
172  ff. 

—  in  d.  Haiiszucht  II  247 
Folterinstrumente  11  28. 
Folterkammern  Peters  d. 

Gr.   II  39. 
Folterung  aus  Angst  vor 

d.  Teufel  II  288. 
■ —  d.  Raucher  422. 

—  wohnt  Elisabeth  bei 
II  51. 

Foma,  Heiligenverspotter 

n  90. 
Fomina.  Musiker  403. 
FoO,  Gefängnisgouvern.  II 

T85. 
Fra   da   CoUo  üb.    russ. 

Sklavensinn  11  210. 
Französ.  Musik  402. 

—  Einfluß  38,  42. 

auf  d.  russ.  Kultur 

:       26J. 

I  ^  Theater  413. 

I  —  Weinein  Rußland  321, 

!  Frau, Abgeschtossenheitd. 

1       366. 

I  —  im  Geiste  (Konkubine) 

!    334- 

1  —  bei  d.  Kosaken  II  310. 

I  —  in  religiöser  Anschau- 
ung d.  Raskolniki  II 
310- 

—  Stellung  im  russ.  Ge- 
setzbuch II  451. 

Frauen  als  Apostelinnen 
u.   Prophet.   220. 

—  Beleidigung  262. 

—  -brüste,  geröstete,  als 
Speise  II  281. 

—  waren  Einsiedlerinnen 
11  3U- 

emanzipation  381;  II 

320. 


Frauen    geknutet    II     83. 
125. 

—  in  Herrenkleidern  383, 
385. 

—  Iwans  d.  Sehr.  II  3 1  ff. 

—  als  Kartenspielerinneii 
346.   347.   349- 

—  b.  d.  Kalmücken   262. 

—  u.   Körperstrafe    58. 

—  V.  d.  körp.   Strafe   be- 
freit II  84. 

—  -markt  II   333. 

—  von   Peter   geschlagen 
1143- 

raub  If   333. 

—  religiös  eKaltierte  205. 
206. 

—  im   Sektenwesen    219. 

—  läßt  Nikolaj  I.  prügeln 
II   56. 

—  Stellung  409,  410. 

—  V.   Stockstrafe    ausge- 
nommen 11   149. 

—  Trunksucht     d.      301, 
307,  J12,  3a2ff. 

—  v.d.  tscheremiss.Opfer- 
pläti.  ausgeschlossen  99. 

—  d.     Volkes     als      Ehe- 
brecherinnen II  421. 

Fredericks,  Baron   290. 

Frehn,  Orientalist  48. 

Freiheitshymnen  498. 

Freimaurerei  499. 
I  Frei'Schnaps     erhält      d. 

russ.  Gladiator  337. 
1  Freispruch   f.   e.   Gatten- 
I      mörderin  II  297. 
]  Freitag  der  Karwoche358, 

—  im  Abergl.  65.66.  loi. 
j  Freitisch  f.  Bettler  zu 
j      Ostern  364. 

I  Freudenmädchen  sind  für 
I       Perversitäten  II   570. 
I  Frondienste    d.     Leibeig. 
:      II  ^41- 

Frotteurinnen  in  Männer* 
bädern  434. 

Fruchtbarkeit  11  379. 

—  d.  Ackers  durch  Koitus 
gesichert  II  ;  10. 

Früchte  dürfen  nurFrauen 

verkaufen  II   157. 
Frühe  Ehen  II  369,  403. 

—  Reife  d.  Russin  II 456. 
Frühlingsfeste  357. 


—    625 


Fürst,Theaterdirektor4i  2. 

—  u.   Fürstin,   Bezeichn. 
f.  Bräutigam  u.  Braut 

n  370.  376. 

Füße  abhacken  II   109  f. 

—  d.  Strafenden  küßt  d. 
Bestrafte  II   216,    217. 

Fußsohlenkitzeln  als  Tor- 
tur 213. 

—  als  Wollust  365. 
Fußsohlenkitzlerinnen 

365.  378. 


Gabriel,  Chirurg,  als  Hen- 
ker II  88. 

—  Mönch,  korrig.  Puffen- 
dorfs Staatengesch.  34. 

Gagarin,  Fürst,  gehängt 
288;  II  80. 

—  als    Päderast    II    562. 
Gähnende  Sekte  213. 
Galitzyn,  Fürst,   Hofnarr 

Annas  375. 

—  Fürstin,  als  Trinkerin 

325- 

—  Prinzessin     Daria     II 

283. 

—  Kultusminister  Alex. I. 
als  Geißler  223,  240. 

Gapon   1 29. 

Gattenmord  II  90,  93. 
raörderin    läßt    Peter 

leb.  eingraben  II  54,  90. 
treue  bei  Verbannung 

II   197. 
Gebärende  gefahrbringend 

behandelt  483. 
Geber,  pers.  Flagellanten 

in  Baku  237. 
Gebet     nicht     notwendig 

211  ff. 

—  bei  Verbrechen  281. 
Gebote,     12,     d.     Daniel 

Filipowitsch  218. 

Gebräuche,  heidn.  und 
abergl.  55. 

Gefangene  w.  nicht  ver- 
pflegt 326. 

Gefängnisse   II    172  ff. 

—  als  Bordelle  II  193. 

—  fidele  II  177. 

—  Prügelstrafe  II   153. 
Gehorsam  d.  Obrigkeit  v. 

Sektierern     verweigert 
250,  253. 


Geilheit     d.      Kamtscha- 
dalen  II  327. 

—  d.  russ.  Frauen  II  461. 

Geiseln   aus   d.    Volke   z. 

Schutz    d.    Autokratie 

501. 
Geist,  Heiliger  233. 
Geister  76  ff. 
Geisterglaube  154. 
Geisteskämpfer  s.  Ducho- 

borzen. 
Geistliche  im  Abergl.  102. 

—  berühmte  135  ff. 

—  ihr  Bart  28. 

—  als  Erpresser  u.  Mord- 
brenner 172. 

—  als  Saufbolde  302,  315. 

—  als  Sektierer  222. 

—  Sittenlosigkeit  123. 

—  Unsittlichk.  d.  schwar- 
zen Geistl.   142,   143. 

—  d.   Kalmücken  sitten- 
los 152. 

—  körp.     gezüchtigt     II 
125. 

—  d.   Prügel  gedemütigt 
ii8ff. 

—  raffin.   Strafen  für  II 
27. 

—  ihre     Privilegien     bei 
Bestraf.  II  82  ff. 

—  erpressen  Geständnisse 

II  183. 

—  V.  Iwan  IV.  ermordet 
II  87. 

—  z.  Militär  gepreßt  129. 

—  Mönche     u.     Nonnen 
müssen  Arme  bedienen 

145- 

—  V.     d.     Räubern     be- 
drängt 491,  49  2. 

—  russische,    als    Hexen- 
meister 105,   154. 

—  nach  Ansicht  d.  Skop- 
zen  Satansdiener  241. 

—  in  Versuchung  geführt 
(Maskenfest)  361. 

—  Zahl    d.     Mönche     u. 
Nonnen   122. 

Geistlichkeit     io9ff. ;     II 

463. 

—  assistiert     b.     abergl. 

Zeremonien  481. 

—  Grausamkeit     d.     II 
106  ff. 

—  geg.  Bildung  32. 


Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rufiland. 


Geistlichkeit  u.  Keusch- 
heit II  481. 

—  geg.  Milde  d.  Reg.  II 
124. 

—  geg.  d.  Tabakrauchen 
421. 

—  kath.  u.  protest.,  in 
d.  baltischen  Provinzen 
brachte  Sittenlosigkeit 
207. 

—  Peitschenstrafe  II  149. 

—  Popen  u.  Nonnen  als 
Zauberer  u.  Hexen  107. 

—  schwarze  126,    130  ff. 

—  u.  Schule  49. 

—  u.   Unsittlichkeit   105, 

137. 

—  Unzucht  429. 

Geißelung  aus  relig.  Mo- 
tiven 205. 

Geißler  (Chlysty)  217. 

Gekreuzigt  wird  e.  Leib- 
eigener II  230. 

Geldbußen  statt  Todes- 
strafe II  85,  86. 

Geldstrafen  261;   II   121. 

Gemeindesitzung  unt.  Zu- 
lassung   V.    Frauen    II 

324. 
Gendarmerie    Alexanders 

II.  u.  III.  II  70,  71. 
Gennadij.  Erzbischof  135. 

—  geg.    d.    jüd.    Häresie 

Georg    Alexandr.     u.     d. 

mingrel.  Fürstin  II  540. 
Georg  d.  Heil.  160. 
Georgier,  Ehe  II  403. 
Georgierin,  d.  II  332. 
Georgsfest  352. 
Gerechtigkeit   II    "jZ. 
Gericht    Iwans    d.    Sehr. 

II  19.  21. 
Geruch  435,  436. 
Gesang  398. 
Geschlechtsfreiheit      220, 

225,     229,     234,     354, 

357". 

—  d.  kalmück.  Verlobten 

II  475. 

—  bei  d.  Kamtschadalen 

II  430. 

—  b.    d.    Kleinrussen    II 

483- 

—  bei  d.  Wotjäken,  Esten 

u.  Letten  II  429,  476. 
40 


Gescblecbtsmoral  Mutter 
u.  Tochter  393. 

Geschlechtsrei  f cprüf ung 
II  484. 

—  PauU  I.  II  536. 
Geschlechtsteile    II    484. 

—  im  Abergl.   71. 

—  d.    Frau    im    Sprich- 
wort 437. 


—  geschlagen  II  282, 

—  zwicken  zu  Fotter- 
zwecken  II   186,   187. 

—  -präparate  in  Peters  I. 
Kunstkabinett  472,473. 

Gesellschaft  Unsittlichkt. 
unt.   Kath.  II.   II   533. 

Gesellscbaftsregeln  Peters 
d.  Gr.   371- 

Gesetzbuch  Nik.  I.  gegen 
Blutschande  II  513. 

Gesetze  Alexejs  geg.  kor- 
rupte Richter  286. 

—  betr.  Aberglauben  54. 
SS- 

—  betr.  kiimin.  Abortus 
II  44'- 

—  d.  Bart  betr.  18. 

—  geg.  Brandstifter  450. 

—  geg.  unsittliche  Bücher 
u.  Bilder  II   580. 

—  d.  Zaren  Alexej  geg. 
Denunzianten  II  60. 

—  geg.   Diebstahl   275. 

—  d.  Jagd  betr.   340. 

—  Kriegstcglement 
Peters  I.  11   157, 

—  betr.  Leibeigene  11219. 
-—  *—  Mißgeburten  67. 

—  Nikolajs  I.  II  97. 
Mißbrauch  der 

Amtsgewalt  II  1S4. 

—  Peters  geg.  Sodomie 
11  s6i. 

—  geg.  d.  Rauchen  auf 
d.  Straße  423. 

—  geg.  Schenkwirte  u. 
Trunkenbolde  305. 

—  Schuldner  betr.   37. 
-—  geg.  Sektierer  184. 

—  geg.  Selbstmordver- 
suche usw.  446, 

—  betr.  Sittlichkeit  II 
SSI- 


Gesetze  betr.  Sodomie  n. 
Päder,  II  565. 

—  geg.  d.  Tabak42i,  422. 

—  betr.     Züchtigung     d, 
Leibeigenen  II  231. 

Gesetibuch      des      Zaren 
I      Alexej  II  422. 
Gesetzessammlungen      II 

81,  82. 
Gestohlenes  bringt  Glück 

280. 
Gideonow,  kais.  Theater- 
direktor u.  Kuppler420, 
Gift  des  Dr.  Bomelius  II 

29. 
1  Giletgesetz  II  82. 
'  Giljaken-Ehe  II  399. 
.  Glas  abwischen  strafwür- 
1      dig  II  45. 
Glasunow,Komponi.'?t404. 
Gleichberechtigung       der 

Frau  II   323. 
Gleichgeschlechtl.      Liebe 

II  SS6«. 
Gleichgläubige  195. 
Glied.  männUches,  Namen 

dafür  II  588. 
Gliederstrafen   II   38,   89, 

97  ff-,   I02. 
Glinka,    Komponist    403. 
Glinsky.    Elena,     Mutter 

Iwans  II  307. 

—  Familie. Opferd.  Aber- 
glauben'« 450. 

—  Sofia  u.  Elena  11  307. 
Gljeb,  Fürst  v.  Nowgorod 

u.    d.    heidn.    Zauberer 
103,   104. 

—  Heiliger  280. 
Glühende  Zangen  als  Fol- 
termittel II  280, 

Glühendes   Erz    I!    96. 

—  —  zu  Strafiwecken  II 
88,   90. 

Gnostische    Einflüsse    bei 
d.russ.Sektenji4,2i6. 
Godunow,  Zar  32,  452. 

—  Gesetze     betr.     Leib- 
eigenenehe II  221. 

—  verbannt   schon   nach 
Sibirien  II   191. 

—  will   Menschen    sehen, 
nicht  Kleider  33. 

Godunowa  Xenia  II  319. 
Gogol).  Dichter  269.  291, 
293.  419.  5°'- 


läQt  s 

—  Maria,  Klapsweib  379. 
Golowkin,        Vizekanzler, 

verbannt  II  66. 
Golubet  Taubentanz  391. 
Gorinka  II   293. 
Gorkij.   Maxim  419.    501. 

—  Nachtasyl   II   450. 
Gott  bei  den  Russen   154. 

—  Vater   u.    Sohn    in    d. 
russ.    Iconographie    be- 
Gottesmutter auf  d.  Bühne 

spricht  obszön  415. 

—  neue  218. 


Gottessöhne    d,    Skopzen 

246. 
Gouvernanten  II  454. 
Grausamkeit  II  4  ff. 

—  d.   niss.   Dichter   419. 

—  bei    Eintreibung     von 
Steuern  II  75,   76. 

—  im   Familienleben   93  ; 
II  248,  27S. 

—  der     Frauen     (Ssalty- 
kow)  149,   150;  II  27S. 

Iwans  d.  Sehr.  II  27g. 

—  d.   Herren   geg.    Leib- 
eigene II  326. 

—  im  Kriege  II  121,  359. 

—  d.Leibeigenenll  237fl. 

—  Peters  d.  Gr.  496. 

—  d.  Räuber  491. 

—  der  Revolutionäre  495. 
.  —  geg.  Sektierer  213. 
I  —  d.  Volkes  II  249,  25  I  if. 

Gricourt  russisch  II  584. 

Gregorj',     Pastor,     erster 

russ.       Theaterdirektor 

I  —  verbannt  409. 
I  Grenzsteinezerstörung    II 
154- 
Gribojedow,  Dichter  41g. 

—  Päderast  II  569. 
GroBmut  kennt  Peter  d. 

Gr.  nicht  II  43- 
GroQrussen    schamlos    II 


—    627    — 


Gudok  401. 

Güldenlöwe    W.    Chr.    II 

359. 
Gummiknüttel,     neuestes 

Straf  Werkzeug    II    188, 
189. 
Günstlinge   Iwans   hinge- 
richtet II  20. 

—  Katharinas  I.  II  523. 
Gurbatij  -  Schujsky,    von 

Iwan  enthauptet  II  13. 

Gurjew,  auf  s.  Gute  gibt 
es  e.  Blutfest  252. 

Gurko,  Minister-Stellver- 
treter Nikolajs  II.  290, 
458. 

Guter  Mensch  heißt  d. 
Bräutigam  b.  d.  Wot- 
jäken  II  398. 

Gütergemeinschaft      199, 

233. 
Güterverteilung  216. 

Gutmütigkeit,  russ.  II251. 

Gutsherren,  gute  II  225, 

226. 

—  lassen  Leibeigene  ver- 
bannen II  226,   227. 

Gutsverwalter,    deutsche, 

Grausamkeit  II  239. 
Guyon,  Mad.,  ihre  Lehren 

in  Rußl.  223. 
Gwosdew,  Fürst,  Hofnarr, 

von  Iwan  d.  Schreckl. 

spaßhalber  umgebracht 

367. 
Gynäkokratie  II   524. 


Haar  262. 

Haare  im  Abergl.  97. 

—  zwischen  den  Fingern 
machen  d.  Eid  ungültig 
268. 

—  d.  Popen  als  Zauber- 
mittel  105. 

Haarschneiden  19. 
Haarseile    läßt    Iwan    s. 

Schwiegervater  durch  d. 

Haut  ziehen  II  30. 
Haas,  Philanthrop  II  175. 
Hahn  im  Abergl.  63,  jy, 

481. 

—  im  Hochzeitsbrauche 
II  361,  371. 

—  u.    Henne  im   Abergl. 

IUI. 


Hahnenschrei  treibt  d. 
Vampire  ins  Grab  zu- 
rück 444. 

Haine,  heilige  97. 

Hallelujah,  Frau  II  291. 

Halsring  zu  Folterzweck. 
II  230. 

Halbbekehrte    Sektierer 

195- 
Hamilton  II  316. 

—  Fräulein  II  522. 
Hand    abhauen    279;    II 

105  ff.,   157. 

—  u.  Fuß  abhacken  286; 
II  102  ff. 

Handschuhe  17,  40. 

Hängen  493;  H  95.   m- 

—  Strafe  288. 

Harems  der  Wanderer- 
Sektierer  254. 

Harfen,  v.  Blitz  getroff. 
Holz  gutes  Material  da- 
für   lOI. 

Harfnerinnen  v.  Nishnij- 
Nowgorod  II  549. 

Haarscherer-Sekte  (Stri- 
golniki)  174. 

Harte  Strafe,  was  dies  be- 
deutete II  137. 

Hastings,  Marie  II  32. 

Haugwitz,  Frau  II  52. 

Hausbau  u.  Abergl.  j6, 

Hausfrau  beim  Fest  II 
314. 

Hausunterricht  II  459. 

Hauszucht  II   166,  246. 

—  in  d.  Ostseeprovinzen 
II  149. 

Heida!    Mordruf  d.  Hen- 
ker Iwans  II  27. 
Heidentum  91. 

—  d.  Esthen  u.  Letten 
II  248. 

—  u.     Orthodoxie     154, 
35off. 

Heidnische  Feste  351. 
Heilande,  neue  215,  217. 
Heilige,  russ.  158 ff. 

—  V.  Zar  ernannt  u. 
abges.   155  ff. 

Heiligenbilder  jj,  108, 
496. 

—  berühmte  159,  162, 
162*.   163. 


Heiligenbilder  im  Bordell 

114.  115. 

—  V.  d.  Malakanen  ver- 
worfen 199. 

—  Mittel  geg.  Epidemien 

473.  474- 

—  retten  Moskau  vor  Pest 

159. 

—  bei  Saufgelagen   149. 

—  verhöhnt  178. 

—  verpönt  203. 

—  zertrümmert  182. 
Heiligenkastrierer      heißt 

d.  Sekte  d.  Duchobor- 
zen  200. 

Heiligenkult  153  ff. 
Heilmittel,  abergl.  482  ff. 

—  zauberische  89. 
Heimliche  Ehe  II  373. 
Heimlichkeit  d.  ehel.  Ge- 
nüsse II  507. 

Heimweh,  Strafe  e.  dtch. 

Ingenieurs  II  iio. 
Heinsius  59. 

Heirat  z.  4.  Male  II  408. 
Heiraten    d.    Leibeig.    II 

244. 

—  V.   Päpsten- Hofnarren 

372. 
Heiratsmärkte  II  343. 
Hemdchen  II  153. 

—  b.  Schlagen  m.  Bato- 
gen  II  147. 

Henker  II  113,  410. 

—  ist  Iwan  IV.  II  87. 

—  ist  d.  Chirurg  Gabriel 
II  88. 

—  Grausamkeit  II   162. 

—  ist  Eigentümer  der 
Glieder  d.  Hingerichte- 
ten II  52. 

—  kann  s.  Opfer  mild 
oder  hart  strafen  II  86, 

115.  143- 

—  d.     Russen     verehren 

ihre  II  212. 
Henne    muß    Fürst    Ga- 

lizyn  sein  375. 
Herberstein  107. 

—  über  russ.  Hofjagd336. 
Herd  96,  98. 

—  häuslicher  yy, 
Heringe  essen  zu  Folter- 
zwecken II  230. 

Hermogen,  Metropolit  II 
463. 

40* 


628 


Herrenrecht    üb.    leibeig. 

Frauen  u.  Mädchen  II 

229,  248. 
Herrscher,  Grausamk.  II 

4ff. 

Vielweiberei    II    409. 

Herzen,  AI.,  über  d.  Un- 

sittlichkeit  d.  Hofes  II 

521. 

Hexe,  wie  s.  d.  Russen  e. 

vorstellen  81. 
Hexen  y6U. 

—  u.  Zauberer  56 ff. 
Hexenglaube,     Parallelen 

86. 

Hexenmord  461. 

Hexenproben  56 ff. 

Hilferding,  Theaterdirek- 
tor 413. 

Hinrichtung,  erste  öffentl., 
in  Moskau  II  87. 

Hiob,  Mönch,  Apostel  d. 
Donkosaken  210. 

—  Patriarch  33. 
Hochmut  d.  Kaiserin  Alex- 
andra 388. 

Hochverrat  II  91. 
Hochzeit  II  315. 
Hochzeitsbett  II  396. 
Hochzeitsbräuche  II  293. 

—  d.  Armenier  II  401. 

—  d.  Großfürsten  II  360. 

—  b.    d.    Kalmücken    II 

398. 

—  d.  Kleinrussen  II  373. 

—  d.  Letten  II  394. 

—  d.  Nichtrussen  II  394. 

—  d.  Russen  II  358,  363. 

—  b.  d.  Tartaren  II  400. 

—  bei  d.  Tscherkessen  II 
402. 

—  bei  d.  Tschuwaschen 
II  398. 

—  d.  Weißrussen  II  375. 

—  in   Wologada   II    342. 

—  d.    Wotjäken    II    397. 
Hochzeitslieder     II     293, 

340. 

—  d.  Letten  II  395. 

—  obszöne  II  381. 

—  d.  Russen  II  366,  373. 
Hochzeitstänze  382. 
Hochzeitsvogel  II  372. 
Hode,  Namen  dafür  II 590. 
Hof,  Prostitution  am  zar. 

n  521. 


Hofbediente,  zarische  16. 

Hofleute  d.  Adeligen  II 
229. 

Hohes  Alter  84. 

der  Skopzen  244. 

Hopfen  u.  Zobel  als  Talis- 
mane II  360. 

Hörnermusik  401. 

Hund  im  Abergl.  97, 
looff.,   106,  481. 

Hunde  als  Hexen  u.  Zau- 
berer 102. 

Hundealter,  Name  e.  Kin- 
derkrankheit 484. 

Hunden  werden  Menschen 
vorgeworfen  II  26,  88. 

Hungersnot  451  ff.,  488. 

—  u.  Abergl.   104. 
Hungertod  als  Strafe  118  8. 

—  freiwill.,  a.  rel.  Fanat. 
252. 

Hüpf  er,  Sekte  226. 
Hure,  kein'  Schimpfname 

II  479. 
Hurerei  II  148. 

—  Bezeichnung  dafür  II 

593. 

—  Knutenstrafe  dafür  II 

138. 

—  u.  Trunksucht  321. 

Hutgesetz  II  82. 

Hutreform   18. 

Huyssen,  Baron,  n.  d.  Aus- 
land geschickt,  um  d. 
europ.  Presse  zu  be- 
stechen 35. 

Hysterische  Weiber  als 
Apostelinnen  u.  Gottes- 
mütter 219. 

Jaga  Baba,  Hexe  81. 
Jagd  335  ff. 
Jagdmusik  402,  403. 
Jaguschinskij,  Bettgenosse 
Peters  I.  II  526. 

—  üb.    Korruption   289. 

—  Ehescheidung  II  410. 
Jakowkin ,  Uni  versi  t.  -  Rek- 
tor 47. 

Jakuten,  Abergl.  67. 
Selbstmord  betreff. 

445- 
Jakutin,  d.   II   328. 

Janow,   Bettlerort  327. 

Jarilofest  354. 

Jaromonaeh,  Astrolog  58. 


Jaroslaw,   Groß  f.    II    211, 

451- 

Jefim,  Soldat.  Sekten- 
prophet 253. 

Jefimjew  geißelt  in  e. 
Drama  d.  Kartenspiel 
346. 

Jelagin,   Freimaurer    499. 

Jesuslegende  d.  Skopzen 
241. 

Jewdokia,  Gemahl.  Peters 
d.  Gr.,  Abergl.    59,   60. 

Ignatjew,  Päderast  II  567. 

Ignoranz  d.  ersten  russ. 
Staatsmänner  II    452. 

Ikone  auf  der  Bühne  415. 

II ja  u.  Dobrynje    II   293. 

Ilja  V.  Murom,  altruss. 
Held  299. 

Iljin,  Gründer  der  Sekte 
der  Ssubotniki   179. 

Imp/ung  V.  Kath.  II.  an- 
geordnet 485,  486. 

Impfungstag  Kath.  II.  e. 
Staatsfest  116. 

Import  V.  Waren,  selts. 
Statistik  39  ff. 

Impotenz  in  d.  Braut- 
nacht; 321   II  493. 

—  Peters  III.  II  529. 
Inglis,  Dekor. -Maler  407. 
Inquisition  s.    Kanzlei. 

—  geistlich-polit.  203. 
Intoleranz  184,   185. 
Joachim,  exkommuniz.  d. 

Bartlosen  21. 

—  läßt  Ketzer  lebend  ver  - 
brennen   181. 

Joan  III.  üb.  Syphilis  II 

571- 
Joan  Antonowitsch  II  53. 

—  V.    Kronstadt    167. 

Johannisfest  354. 
Johannisfeuer   354.    355. 
Johannistag  355. 
Joseph     Schmojla,     Jude 

175. 

Irene,  Zarentochter,  keine 
Säuferin  312. 

Irrende.   Sektierer  213. 

Irrlicht    im    Abergl.    10 1. 

Isäslaw.  Großf.  II  85,  86. 

Ismajlow  frivoler  Schrift- 
steller II   580. 

Italien.  Musik  402. 

Juden  gehaßt   175. 


—    629    — 


Juden,  Leon  d.  Arzt  465. 

—  weg.  Proselytenmache- 
rei  geknutet  II  135. 

Jüdische  Ketzerei  174  ff. 
Juferow,  Komponist  404. 
Jugend,  d.,  in  Riga  II  449. 

—  u.  Strafen  II  164  ff. 

—  u.  Verbrechen  II  123. 

—  z.  Trinken  angehalten 

319. 

Jungfernkonvikt,    eroti- 
sche Sekte  221  ff. 

Jungfernkopfband,        rot 

433. 
Jungfernschaft,    Wert   d. 

verletzten     u.     unverl. 

II  492. 

Jungfrauen  verteilen  Ro- 
sinen z.  Abendmahl  213. 

Jung-Stillings  Lehre  in 
Rußland  223. 

Jüngstes  Gericht  erwartet 
217. 

Juschkin  lehrt  d.  Selbst- 
mord  durchs  Beil  377. 

Juschkow,  Nägelschneide- 
rin m. 

—  Wassilj  II  419. 

Jus  primae  noctis  II  234. 
Justiz  II,  53.  57,   58,  61. 
66.  243,  281. 

—  Grausamkeit  II   128. 

—  Aussprüche  Peters  d. 
Gr.  II  79. 

Justizreform  499. 
Iwan  (oder  Joan)  III.  u. 
Todesstrafe  II  87. 

—  über  Folter  II  181. 

—  als  Sodomit  II  557. 

—  ruft  Arzte  465. 
— s  Strafen  II  126. 

—  geg.  d.  Unsittl.  d. 
Geistl.   142. 

—  im  Verdacht,  e.  jüd. 
Ketzer  zu  sein  177. 

—  will  d.  Geistl.  d.  toten 
Güter  entreißen  131, 
132. 

Iwan  IV.. d.  Schreckl. 430, 

488;   II   9ff.,    58,    515. 

— s  Beichte  496;    II   11. 

—  nach  d.  Tode  beweint 

II    2I2ff. 

—  u.  d.  Buchdruckereien 

31. 
— s   Feigheit    165;   II   8. 


Iwan  gefeiert  II  7. 
— s  Grauskt.  367. 

—  haßt  magere  Frauen 
II  350. 

—  als  Henker  II  87. 

—  als  Jäger  ijß. 

—  als  Päderast  II  560. 

—  bürgert  d.  Saufwut  in 
Rußld.  ein  302. 

— s  Todesstrafmethoden 
II  87. 

—  geg.  d.  Rasieren  26. 

—  geg.  d.  Unsittl.  d. 
Geistl.   142,   143. 

—  macht  Weiber  trunken 

303. 

—  Sohn   Iwans   d.    Sehr. 

II  21.  23.  36. 

—  von  s.  Vater  ermordet 

n  n. 

—  d.  Krieger,  Heiliger 
284. 

—  Kupalo  81,  354,  358, 
404,  405,  436. 

—  Micha  jlowitsch, 
Iwaschka.  russ.  Bacchus 
16,   306. 

—  Nepomnjaschtschij, 
Name  f.  d.  sibir.  Land- 
streicher II  207. 

Iwanowitsch  Semen, Groß- 
fürst II  409. 

Iwanowskijkloster,  Stätte 
d.  Ausschweifungen  d. 
Geißler  222. 

Kabak ,  Erklärung  des 
Namens  299. 

—  Sitzungssaal  d.  Wo- 
lostgerichte  II  85. 

Kabaki  als  Lasterhöhlen 

318. 
Kabbala,  russ.    190,    190. 
'  Kadetten  als  Balletteusen 

412. 
•  Käfig  f.  e.  Friseur  II  229. 
I  —  Pugatschews  498. 
;  Kalinnikow,      Komponist 

,      404. 
Kalmücken,  Abergl.  94 ff. 

—  berühmte  Renner  350. 

—  Ehe  II  399. 

—  Ehrgefühl  262. 

—  Foltermethode  II  180. 

—  Medizin  u.  Ärzte  486, 
487. 


Kalmücken  schonen  aus 
Abergl.  d.  Läuse  62. 

—  Tänze  396. 
Kalmückische  Gebräuche 

279. 

Kalym  II  336. 

Kamarinskaja,  obszöner 
Text  393. 

Kammerherr  d.  2Sarin, 
Praskowja  II  419. 

Kammerzofen  gepeinigt  II 
282. 

Kampf  um  Scheidungs- 
freiheit II  414. 

Kamtschadalen,  Abergl. 
98. 

—  Ansichten  betr.Selbst- 
mord  445. 

—  Gebräuche  279. 

—  Gebr.  geg.  Diebe  285. 
Kannibalismus  283. 

—  in  Hungerszeiten  454  ff. 
Kanzlei,  geheime II 57,  68. 
d.  Zaren  Alexej  II 

58. 

—  III.  Abtlg.  II  69. 
Karaiten,  zumeist  Tabak- 
händler 424. 

Karasin,  Menschenfreund, 
von  Alexdr.  I.  gefangen- 
gesetzt 418. 

Karatygin,  F.,  Verf.  ob- 
szöner Gedichte  II  584. 

Karikaturen,  obszöne  II 
586. 

Karp,  Gründer  d.  Sekte 
der  Strigolniki   174. 

Karsch,  Prof.  Ör.,  Verf. 
e.  Werkes  üb.  d.  gleich- 
geschl.  Liebe  II  570, 
582. 

Kartenaufschlägerinnen 

63- 

Kartenpartien  am  Hofe 
Kath.  II.  343. 

Kartenspiel   342;   II  165. 

—  in  Gefängn.  II  199. 
Kartenspielen  m.  Iwan  d. 

Sehr,  gefährlich  II  8. 

Kasan j,  Universität  47. 

Kaschin,  Fürsten,  hin- 
gerichtet II  II. 

Kasteiung  224. 

Kater  als  Opfer  475. 

Katharina  I.  als  Almosen- 
spenderin 325. 


—    630    — 


Katharina  I.  als  Ehe- 
brecherin II  421. 

—  liebt  nicht  Theater4 12. 

—  trinkt  stark  313,  314. 
—8  Unsittlichkeit  II  521. 
Katharina  II.  II  113,  281, 

319. 

—  denkt  an  Aufheb.   d. 

Leibeigensch.  II  223. 

—  üb.  Bälle  am  Hofe 
Elisabeths  384,  385. 

—  u.  d.  Bildung  40 ff. 

—  stiftet  Bildungsanstal- 
ten f.  d.  weibl.  Jugend 

n  453- 

—  geg.  Chappe  d'Aute- 
roche  430. 

—  baut   Findelhäuser  II 

433. 

—  üb.  Folter  II  183,  184. 

—  ehrt  Heiligenbilder  163. 
— 8  Hofnarren  379. 

—  Inquisition  II  68. 

—  Instruktion  für  die 
Ehe  II  357. 

—  Justiz  II  53. 

—  alsKartenspielerin343. 

—  konfisziert  d.  Kloster- 
güter 133,  134,  141. 

—  verordnet  Knuten- 
strafen f.  bloße  Er- 
wähnung V.  Präten- 
denten II  135. 

—  geg.  Korruption  289  ff. 

—  geg.  Liberalismus  499. 
— s  Liebschaften    II  529. 

—  f.  d.  Medizin  485. 

—  Milde  geg.  Sodomiten 
u.  Homosexuelle  II  565. 

—  in.  d.  obszönen  Kari- 
katur II  586. 

—  befiehlt  allerhärtestes 
Schlagen    m.    Knut    II 

—  üb.  Schlagen  d.  Schü- 
ler II   168. 

—  üb.  Schule  u.  Bildung 
41. 

—  macht  d.  Soldaten 
trunken  315. 

—  über  Sjrphilis   II   571. 

—  gibt  d.  Tabakhandel 
frei  423. 

— s  Tarif  f.  Ehrenbeleidi- 
gungen 262. 

—  u.   d.   Theater  4i6ff. 


Katharina  IL  u.  ihre  Tri- 
baden  II  564; 

—  will  keine  Todesstrafe 
verhängen  II  96. 

—  Iwanowna.  Großf.  II 
318. 

Katharinenstift  II  453. 
Katkows  Fanatismus  geg. 

d.  Sektiererei  204. 
Kätzchen     (Koschki)     II 

157. 

—  Strafinstrument  II 122. 

Katzen  im  Abergl.  97,  98, 

100,   106,  481. 
d.  Osseten  284. 

—  als  Zauberer  u.  Hexen 
102. 

Kaufen  d.  Frauen  II  305, 

341- 

—  Kaufpreis  II  341,  399. 

!  Kaukasien  II  253. 

—  Abergl.  d.  Völker  97  ff. 

—  Knut    unbekannt     II 

!  Kaulbars  Bortig,  Märchen 
'       292. 
Kennan,  sibir.  Gefängnisse 
II  194. 
;  Ketten  II  119. 
I  —  Adelige  werden  n.  an- 
I      gekettet  II  83. 

—  Gefangene  an  d.  Ket- 
ten ermordet  II  17,  28. 

—  als  Lemzwang  41. 

—  Priester  angekettet  149. 

—  als  Straf  mittel  II  173, 
174. 

—  schwere,  müssen  d. 
Verbannten  mitschlep- 
pen II   192. 

Ketzer  geknutet  II    135. 

—  müssen  d.  Zunge  ver- 
lieren II   104. 

—  leb.  verbrannt  II  92,93. 
Keulen   z.  Erschlagen   v. 

Geistlichen  II   18. 
Keuschheit  II  458. 

—  Elisabeth    verbannt 
Engelsbilder,  die  Amo- 
retten ähneln   148. 

—  polizeiliche  Bewachg. 
d.  Bäder  433. 

Keuschheitsgürtel  H  428, 

502. 
Keuschheitsschutz       und 

Selbstmord  447. 


Kika  (Kopfputz)   II   360. 
Kinder  mitleidslos  II  283. 

—  i.  J.  1906  hingerichtet 

II  97. 

—  uneheliche,  d.  Zarinnen 

n  533. 

—  verkauft  in  Zeiten  d. 
Teuerung  45 1  f f. 

—  d.  Wölfen  vorgeworfen 
II  292. 

Kindererzeugung  verab- 
scheut 235. 

Kinderfressende  Geister 
78,   102. 

Kindermord  150;  II  419. 
444. 

—  aus  rel.  Fanatismus 
229. 

—  b.  d.  Duchoborzen  203. 

—  b.  d.  Skopzen  246,  247. 
Kindermordende  Sektierer 

228. 
Kindermörder-Sekte    236. 

248. 
Kinder-Verstümmelungen 

243.  245. 
Kindesmord    II    54,    286. 
Kirche  u.  Malakanen  199. 

—  demoliert  II  255. 

—  haben  d.  Stundisten 
nicht  203. 

Kirchenbesuch  u.    Koitus 

II  506. 
Kirchenfeste   3 50 ff.,    406. 
Kirchenmusik  403. 
Kirchenschändung   497. 

—  d.  Peter  d.  Gr.  II  43. 
Kirghisen,  Abergl.  96. 

—  Medizin  486. 

—  unkeusche    Braut      II 

503. 
Kitzler-Sekte  249. 
Kjutschitschi.   Fabriksort 

für  Krüppel  67. 
Klagen  d.  Leibeig.  geg.  d. 
I       Herren,  Gesetze  II  219, 
!       221,  222,  223.  228. 
Klagerecht  d.  Leibeigenen 
II  242. 

Klapsweib,    Hofamt    379. 
Kleider,  polnische  18. 

—  Händler,  die  alt- 
modische verkaufen,  ge- 
knutet II  136. 

i  Kleiderluxus    Elisabeths 

383. 


-    631 


Kleiderreform   17  ff. 
Kleidung  (Tracht)  37. 

—  europ.  4CX). 

—  verursacht  Unreinlich- 
keit  436. 

Kleininichel,  Graf  II  169. 

Kleinrussen,  Einfluß  auf 
d.  Kultur  d.  Klerus  140. 

Kleinruss.  Sittlichkeit 39  5. 

Kiepen,  Bettlerort  328. 

Klerus  in  erot.  Erzäh- 
lungen verspott.  II  61 1. 

—  d.  Unsittlichk.  in  ob- 
szönen Liedern  ver- 
spottet II  601. 

—  u.  Wollust  59. 
Klistiere,     Angst     davor 

485. 
Kloster  u.  Ehe  146. 

—  bruderschaft  Iwans  d. 
Sehr.  II  II,   12. 

Klosterregeln  144  ff., 
Klöster,  Sittenlosigk.  dar- 
in I46ff. 
Klösterstaat    Rußlands 

132.   133. 
Klöster,   Ziele  d.   Bettler 

330. 
Klubs  347,  386,  387. 

—  physischer     Klub     II 

543. 
Knabenraub  II  310. 
Kniebeugung  vor  d.  Zaren 

365. 
Knotenknüpfen    II     373, 
380. 

Knut  205,  276, ff.  286 ff., 
303,  422 ff.;  II  39,  42, 
51.  55»  62,  90.  ii3ff., 
117,  I22ff.,  125,  126, 
129,    I32ff.,    154,    180. 

—  Abschaffung  II   129. 

—  bekehrt  z.  Orthodoxie 
117,   118. 

—  Beschreib,  d.  Instru- 
ments II  133,  134. 

—  f.  Denunzianten  II  60. 

—  als  Folterwerkzeug  II 
40. 

—  noch  heute  in  Ge- 
brauch II   172,   173. 

—  f.  Kartenspieler  343. 

—  gegen  Ketzer   182. 

—  f.  unvorsichtige  Reden 
451. 


Knut  und  Peitsche,  was 
schwerere  Strafe  sei  II 

153. 

—  u.  Pletj  II   154. 

—  u.  Spießruten  II  158. 

—  Wippen  u.  Feuer  als 
Strafe  f.  Korruption 
II  361. 

—  von  Europ.  verteidigt 
II  144,   145. 

—  V.  Nik.  I.  abgeschafft 
II  144. 

Knutenstrafe  f.  Lomo- 
nossow 418. 

Knüttel  z.  Schlagen  d. 
Gefangenen  II  177. 

Koch,  gehängt,  der  eine 
Speise  verdirbt  II   45. 

Kodex  f.  Leibeigene  II 
227. 

Kokowzew,  Finanzminist. 

458. 
Koljada,  Fest  351. 

Koltowskoj,  Anna,  weg. 
Abmagern  verstoßen  II 

351- 
Kombinierte    Strafen    II 

109  ff. 

Konstantin.  Herz.  v.  Ol- 
denburg, u.  d.  Kauka- 
sierin  II  540. 

Konstantin  Nikolajew.  II 
538. 

Konstantin  Pawlow.  ,Grßf . 

379. 

—  s.  Ehescheidg.  II  410. 

Konvulsionen  kommen  v. 

Teufel  190. 
Kopf  ab!     Peters  d.  Gr. 

Lieblingsdrohung  II  42. 
Köpfen  495;  II  91. 
Kopje  II  307. 
Kopjewitsch,  Elias  33. 
Koptjajew,     Komponist 

404. 

Korilin,  Prophet  d.  Un- 
zucht 235. 

Korngarben  als  Braut- 
lager II  361,  364. 

Komwucherer,  V.  Kath.II. 
witzig  bestraft  453. 

Körperl.    Züchtigung    II 

97.   ii3ff- 
Körperstrafen    260,    261; 
II  82,   122. 
,  —  abgeschafft  II  83. 


Körperstrafen  fördern 
Uniformierunj?  u.  Bart- 
reform u^ter  Alex.  I.30. 

—  f.  Geistliche  27,  11 8  ff., 
124. 

—  f.  Sektierer   184,    185. 

—  f.   Steuerschuldner   II 

74- 
Korpulenz    d.    Frau    be- 
liebt II  350,  354. 

—  d.  Zarin  Sofia  Alexej. 
II  350. 

Korruption  28 5  ff.,  458, 
464;  II  80.  81,  89. 

—  d.   Gefängnisverwaltg. 

n  193.  197.  199. 

—  d.     Geistlichen     124, 
127  ff.,   149. 

—  d.  Oberprok.  d.  heil. 
Synod.   138. 

—  d.  Polizei  II  y^,  74. 

—  d.  Professoren  48. 

—  d.  Richter  287;  II  79. 

—  d.  Verwaltung  II  225. 

—  bei  Zarenhochzeiten  II 
361. 

—  erleichtert  d.  Situa- 
tion der  Sektierer  186. 

—  fördert  d.  Proselytis- 
mus  117,   118. 

—  gegeißelt  419. 

—  Kämpfer  dagegen,  geh. 
zugrunde  189. 

—  selts.  Auffass.  Tatisch- 
tschews  288. 

Korsakow,  Günstling  417; 

II 55. 

Kosaken,  Abergl.  64. 

—  als  Jäger  342. 

—  Empörung  weg.Bärte- 
abschn.  29. 

lieder,  obszöne  393. 

niederlassung,  Zen- 
trum d.  Räuberbanden 

489. 
Kossoj,  Ketzer  178. 

Kotoschichin,  russ.  Sitten- 
schilderer  269;  II  99, 
142.  315,  365. 

Krähe  im  Abergl.   loi. 
Kramer,  Anna  II  522. 

—  Johann  32. 
Krämpfe,    v.  Hexen  ver- 
ursacht 82  ff. 

Kranichtanz  394. 
Krankheiten  483  ff. 


632 


Krankheiten,     AnlaQ     z. 

Ehescheidg.  11  411. 
Krank  he  itsdämone  460. 
Kränze  in  d.  Fluß  werfen 

353- 
Krestjanin     (Christ),    als 

Schimpiwort,    wird    z. 

Bezeichn.    d.    Muschik 

II    JJO.    221. 

Krestowskij,    Sittenschit- 

derer  II  581. 
Kreuz,    Tabalcspfeife    als 


423' 

—  u.  Abergl.   102. 

—  verworfen  an. 
Kreuichen,    Tantart    der 

Skopzy  242. 
Kreuzschlagen  115,  116. 
Krenischwur,  Trunksucht 

zu  fördern  304. 
Krieg    u.    Beteiligung   d. 

Slawinnen  II  303. 
Krieger    nennen    s.    die 

Gäste  <1.  Braut  II  377. 
Kriegsreglcment  Peters  d. 

Gr.    II    157,   419,    541. 
Krim  krieg  II  320. 

—  d.  Abergl.  entstanden 
61. 

Krischanow-skij,     General 

Kronsbauern  II   225II. 

Krüdener,    Frau   v.    t66; 
H   537- 

Krüppel  32g. 

Kubraki,   Bettlergesell- 
schaft 327, 

Kuckuck  im  Abergl.  101. 

—  gibt  d.  Verbannten  d. 
Signal  z.  Flucht  II  196. 

Kuhlmann,  Sektierer,  leb. 

verbrannt  iSl,  21S. 
Ku],  Komponist  404. 
Kultur  u.  Geistl.  134. 
Kümmel,     Richter,     läßt 

foltern  II   185. 
Kummet    f.    Hexen  probe 

i6. 
Kunawino.  Huren  quartier 

vonN. -Nowgorod II  549. 
Kunstkabinett    Peters   d. 

Gr,    voll   Obszönitäten 


Ktinatmuaik  403. 
Kupalo  ».   Iwan  Kupalo. 
Kuppelei  II  542. 

—  Strafen  II  164,   554. 

Auspeitschung    57. 

Kuppler  geknutet  II  136. 

—  als  Pedelle   50. 
Kurbskijs  Brief  an  Iwan 

d.  Sehr.  11  12. 

Kurizyn  Fedor.  Sektierer 
176. 

Kurijäten,  Fürst,  hinge- 
richtet II  II. 

Kusmitsch,  Zauberer  u. 
Kurpfuscher  483. 

Kutschkowsches    Feld, 
Hinrichtungsplatz  II 87. 

KwaQ  311. 

Kyril  Wladimirow.  II  539. 

Labory  od.  Lodyry,  Bett- 
lergesc  Ilse  halt  327. 

Lakai,  d.  Kath.  II.  Nacht- 
ruhe stört,  erhält  100 
Knutenhiebe  II   55. 

Lakaien  als  Lehrer  44. 

Langbärte.     Reaktionäre, 

—  nur      können      Patri- 

Langlcbigkeit  todes  wür- 
dig 476;  II  26. 

Lärmgasse  in  Riga.  Hu- 
renviertel 11   548. 

Laster  25  7  H. 

Lateinisch  sprechen  Sünde 

Läuse,  nicht  getötet  62. 
Läusespiel  350. 
Lebedew,  N.  N.  II   128. 
Lebendig  begraben,  Strafe 
j       f.  Gattenmord  II  54. 
begrabene       Sektierer 


I  Lebensmittel  Wucherer  be- 
straft 11   154. 
j  Lefort.  Peters  d.  Gr.  Leh- 
I      reru.Saufmeister  3o6(f., 
1       381. 

I  Legitimität  d.  Romanows 
1       11   5". 

Lehrerbörse  44. 

Leibeigene   291  ;    11   433. 

—  geknutet  II    133. 
I  —  geschlagen  II    116. 
I  —  körp.     geiüchtigt      II 
1       124. 

i  —  grausambehandeltrso. 
I  —  ihre  Ermordung  we- 
!  niger  strafbar  als  Bart- 
I  ausraufen  i8. 
1  —  können  v.  d.  Guts- 
I       herren   verbannt     wer- 


253- 

—  eingraben    II    90,    93, 
94- 

—  verbrennen  II  26,  92. 

—  ^  Brandstifter  450. 
— ■  verbrennt    man    noch 

heute  Zauberei  481. 

Lebendverstorbene,    Sek- 
tierer 249. 

Lebensmittel    in    Adern 
verborgen   II   305. 

—  -falscher,      Strafe     II 


192. 


-  der  Klöster  13z. 

—  wählen  d.  Lehrer  f.  d. 
Herrschaftskinder  aus 
44. 

-~  als  Musiker  abgerich- 
tet 403.  407. 

—  als    Opernkomp.      TI 
228  ff. 

—  werden  gepeitscht  II 
[52. 

—  strafweise  als   Wärter 
u.  Wärterinnen   in   Sy- 
philis-Hospitälern    II 
573- 

Lei  beigen  scbalt  11   2isff. 

—  Geschichte  II  319. 

—  freiwillige,  statt  Kör- 
perstrafe II   t 17. 

—  in  d.  Ostseeprovinien 
aufgehoben  II  250. 

—  u.   Sektenwesen    3i6. 
Leichenschändung        183, 

—  aus  Abergl.  280,  28  t, 
448,  478- 

—  aus  polit.  Rachemoti- 
vcn  II  4.   5. 

Leichen  Verstümmelung 

aus  Abergl.  71. 
Lensäus,   Leibarzt   Iwans 

IV.   II   10. 
Leon  d.   Jude,  Arzt  465. 

—  von    Bostow,     Ketzer 


—    633    — 


Lermontow,  Päderast  II 
569. 

— s  geheime  Päder.  -  Ge- 
dichte II  582. 

Lesen  u.  Schreiben  unbe- 
kannt 37. 

Lesghierin,  d.  II   329. 

L'Estocq,   Chirurg,  II  49. 

Lettin,  d.  II  335. 

Lettische  Republik  II  250. 

Leuchtenberge  II    538. 

Lexikalisches,  obszöne 
Sprache  d.  Volksbühne 
415. 

Lexikon ,     sexuelles     II 
588«. 

Ljadow,   Komponist  404. 

Libussa  II   302. 

Lichoimstwo  s.  Korrup- 
tion 

Licht  aus  Menschenfett  II 

305. 
Lichtauslöscher,    erot. 

Sekte  227. 

Lidwall,  Schwindelliefe- 
rant 458. 

Liebe  braucht  k.  priesterl. 
Segen  232. 

—  ist  roheste  Wollust  II 

356. 

—  gleichgeschlechtliche 
II  561  ff. 

—  lesbische  II  563. 
Lieben  dürfen  Leibeigene 

n.    ohne    Erlaubnis    d. 

Herrschaft  II  236. 
Liebesaffäre  v.   Kath.  IL 

mild  beurteilt  II  54. 
Liebeslieder  d.  Russen  II 

356.  374. 

—  wotjäkische  II  354. 
Liebesverhältnis  d.  Zarin 

Jewdokia  II  420. 
Liebeszauber  58. 
Liebschaften  Alexanders  I. 

n  537. 

Lied,  obszönes,  üb.  d .  Penis 

II  484. 
über   d.    Vulva   II 

485. 

—  d.  Springer-Sekte  227. 

—  Volkslied,  d.  Kanni- 
bal.  bezeugend,  283. 

Lieder,  alte   191. 

—  erotische  u.  abszöne 
II  6ooff. 


Lieder  feiern  d.  Grausam- 
keit  II  253. 

—  V.  Iwan  d.  Sehr.  253; 
II  213. 

—  obszöne  105,  392,  395; 
II   366,   368,   370,   384, 

389,   5 89  ff. 
d.  balt.  Studenten 

II  589. 
d.    Kleinrussen    II 

489. 

—  päderast.  II   567  ff. 

—  aus  d.  Räuberleben  490. 

—  V.  Räuber  Stenjka  Ra- 
sin  II  253. 

—  religiös-obszöne  227. 

—  skatologische  II  498. 

—  der  Skopzy  242,   248. 

—  über  d.  unkeusche 
Braut  II  495. 

—  z.  Lobe  d.  Jungfern- 
schaft II  494. 

Linar,  Liebhaber  d.  Re- 
gentin Anna  413. 

Linjki,  Tau,  als  Straf - 
mittel  II   122,    156. 

Lipezker  Schlacht  II  255. 

Lippen    abschneiden, 
Strafe  II   102. 

—  d.  weibl.  Zeugungs- 
gliedes II  590. 

Literarische  Salons  II  319. 

Littrow,  Astronom  48. 

Livland  v.  d.  Russen  ver- 
heert II  255. 

Lobas,  Dr.,  Bericht  über 
Folter  u.  Prügelstrafe 
in  Gefängnissen  II  172. 

Lobnoje  mjesto  zu  Mos- 
kau 495,  496. 

Locatelli,  Theaterdirektor 

414. 
Lodz,    Anstalt   f.    falsche 

Zeugnisse  268. 
Lohn  f.  Denunzianten  II 

6off. 
Lomonossow,  Dichter  316, 

415,  II  48. 

—  von  der  Knutenstrafe 
befreit  418. 

— s  Gedicht  ,,Der  bepißte 
Popenbart"  27,  28. 

Lopuchin,  Anna,  Geliebte 
Pauls  I.  II  536. 

—  Natalia,  geknutet  384; 
II  49,  50,   104. 


Loris-Melikow,     Päderast 

II  567. 

Loskauf  V.  Strafen  II  125. 

Loths  Geschichte,  nachge- 
ahmt V.  Sektierern  227. 

Löwenstern,  Baron,  über 
Unsittl.  auf  russ.  Hof- 
bällen  387. 

—  üb.  Kartenspieler  345. 
Löwenwolde,    R.    II    50, 

523. 
Lubjänowskis   Besuch   b. 

Skopzengott  240. 
Lüge  215,  266ff. 
Lügen    u.    Stehlen    keine 

Laster  II  248. 
Lügenhaftigkeit     d.     Re- 

gierg.  II   122. 
Lügenpropheten   231. 
Lügensucht  35,   271. 
Lügner  II  100. 
Luntzius,     Lobrede     auf 

Boriß  God.  $2. 
Lupkin,  Heiliger  d.  Skop- 

zen   183,  238. 
Lustseuche  II  571  ff. 

—  in  Polen  II  467. 
Lutherische  Pastoren  ver- 
dächtigt 2o6ff. 

L^mchjustiz  II  254. 

—  an  Ehebrecherinnen  II 
426. 

—  d.  Leibeigenen  II  2 37  f. 


Mädchen  der  Prostitution 
verkauft  II  550. 

brüste,  üppige,  Zeichen 

V.  Unkeuschheit  II  354. 

gymnasien  II  454. 

—  -raub  II  336. 

Schändung,  Strafe  da- 
für II   126. 

schulen,    Prügelstrafe 

II  169  ff. 

Magere  Frauen  gehaßt  II 

Matrona  t)anilowna,  Plau- 
dertasche 379. 

Majestätsbeleidigung, 
Strafe  II   153. 

Makarjew,      Krüppelland 

330. 
Makarij,  Metropolit  32. 
Mäkinin,     Generalfiskal 

289. 


634 


Malakanen,  Sektierer 

196  ü. 

—  Ausspr.  üb.  Kirche 
199. 

Maler   dürfen  in  Frauen- 
bäder eintreten  431. 
Malewan,    Sektengründer 

253. 
Mann  für  Mann,  Taniart 

d.   Skopzy  242. 
Mann  als  Zuchtmeister  d. 

Frau  II  }ii. 
Mannesbeischlaf  s.   Sodo- 

miten  II  566. 
Männerkleider  Ehsabeths 

3«3- 
Männhebe      Prostituierte 

ir  549- 
Märchen     u.      Sagen     v. 

Trunksüchtigen  295  ff. 
Marder,     Bezeichnung    f. 

Vulva  II  591. 
Maria  Possatniza,  Prophe» 

tin  der  Donkosaken  zzo. 
Maria,  e.   Hexe,  v.   Iwan 

d.    Sehr,    verbrannt   II 

—  Iwans  d.  Sehr.  Ge- 
mahlin II  31. 

—  Priniessin.  opfert  e. 
Bischof  ihre  Jungfern- 
schaft 59. 

Marina.  Gemahlin  d.  Pseu- 
do-Dmitrij   147.   380. 

Marinin,  Ort  v.  Krüppeln 
329- 

Marinka,  Zauberin  So. 

Marseillaise,  Gesang,  be- 
straft 11   169. 

Martinowzi,  Sekte  174. 

Marzell,  Mctrop,,  kann  s. 
Bartes  weg.  n.  Patri- 
arch wcrd.  j6, 

Maskenbälle  386. 

Maskenfeste  361. 

Maskenspiele  351. 

Maskerade,  unanständige, 
v.   Iwan   d.   Sehr,   auf-  ' 
geführt  II   10. 

—  Peters  d,  Gr.  37o(f.  , 
Masolskoj  gehängt  288.  1 
Massenf oiterungen  II  290.  | 
Massieren,  Folter  II  1S9.  | 
Mäßigkcitsparlament  320.  1 
Masturbation  II  457, 
Matwejew  II  316.  | 


Matwejew  Bojar,  Bedeut. 
f.  d.  russ.  Theater  406. 
Mäuse  im  Abergl.   100. 
Maximd.  Grieche  13s,  188. 
Mayerberg  II  311, 
Medizin  465  ff. 

—  u.  Abergl.  62. 

d.  Volkes  473. 

(Gelbsucht)  loi. 

Medizinbuch,  erstes  russ. 

466. 
Medizinische     Ratschläge 

(.d.Henkerllioi,  roz. 
Meiden  d.  Verwandten  d. 

Braut  II  506. 
Meineid  26S,  2S7. 

—  kein   Verbrechen   259. 
Meinung  d.  Russen  über  d. 

Frau  II  302. 
Meljnikow-Petscherskij, 

Sektenschi  1  derer  236. 
Mengden.  Juliane,  Tribade 

II   S63 
Menschenblut,   Heilmittel 

481. 


handel  11  242. 

markte  II   232. 

Opfer  68  ff,   106,  478. 

—  b.  Epidemien  474.  47S. 
Menstruation    u.    Abergl. 

90. 
Menstruierende     unrein 

108;  II  507. 
Mentschikow,    Fürst   22; 

II   310. 

—  alsHonkersknecht49S. 

—  diktiert    s,    Schwager 
Knutung  II  60. 

— s.  Diebstähle   272ff. 
— s  Narrenlest  373. 

—  Peters  Bettgenosse  II 


:   II 


—  V.    Peter  gckni 
43. 

Meteljka,  ThronanmaOer, 

geknutet  II  135. 
Michael,  Zar  II  95. 
— s  Buchdruckerei  33. 

—  geg.  d.  Tabakrauchen 
421. 

—  Michajlow,   II   538. 

—  Pawlow.,  GroDf..  Päd- 
erast  II   566. 


Militärdienst  u.   Sektierei 
185,   199.   216- 

MUlionäre    unter    Leibei- 
genen II   226. 

Miloslawskij    Ilja   II   312, 

. —  Maria,  Zarin   II   362. 

Minister  geprügelt   II  42, 

MinLsterposten    für    e. 
Schauspieler  416- 

Mirowitsch  II   53. 

Mißbrauch     d.      Amtsge- 
walt II   184,   1S6. 

Mißgeburten  66,  67. 

—  bei  den  Kalmückea95, 

—  u,   Peter  d.  Gr.  472  ff, 

—  als  Narren  374. 
Mitgift  II  364- 

—  d.    Tochter    d.     Zaren 
Michael  II   359. 

Mitkow  gegen  Iwan  II  14. 
Mittwoch  L^n  Abergl.  loi. 

—  d.   Karvroche   358. 

—  ist  bei  e.  Sekte  Ostern 
p.  Sonntag   210. 

Mjatsch.    Lederballspiel 
389- 

Modebilder  in  den  Straßen 
afiichiert  18. 

Mogila,   Peter  136. 

Mohn  im  Abergl.    70'. 

Molifre  übersetzt  410. 

Möller-Sakocnelski.  foltert 
Gelang,   H   187. 

Mond  im  Abergl.    looff. 

Mons,   Liebhaber    Katha- 
rinas I.   376T  II   43. 

Montag  im  Abergl.   65. 

Mord  2t6,   266,   267. 

—  aus  Abergl.  480.   483, 

—  aus  rel.   Fanat,    229. 

—  in  Frauenklöstern  151. 

—  Hexenmorde  83  ff. 

—  an  Lcibeig,   II   246. 

—  b,  d.  Malakanen    19S. 
Morden  d,  Juden  nnt.  Ni- 

kolaj  IL  11  274- 

—  d,  Sklaven  nicht  straf- 

—  nach  d.  Takt  d.  Gebets 
II  87. 

Mördersektierer  249. 
Morelschtschiki,      Selbst - 
verbrennet    251, 


—    635 


Moriz  V.  Sachsen  u.  Anna 
Iwanowna  II  525. 

Morosow,  B.  J.,  betrinkt 
s.  an  Alexejs  Tafel  305. 

— s  Korruption  bei  Zarin- 
wahl II  361. 

— V.S.Frau  betrogenIl4i  7. 

—  berücht.Gefängnisgou- 
verneur  II  177. 

Motol,  Bettlerort  327. 
Mozart  soll  f.  Patjomkin 

engagiert  werden  402. 
Mstislaw,  Bettlerort  327. 
Münnichs,  Feldmarschall, 

Folterung  II  183. 

—  als  Greis  u.  Wollüst- 
ling II  534. 

Münze  II  307. 

Murasow,  Gouv.  v.  Tam- 
bow  501 ;  II  4. 

Murawjews     Memoran- 
dum üb.    Verbann,    n. 
Sibirien  II  20off. 

Muschik.  d.  als  Ehemann 
II  297. 

—  Trunksucht  317. 
Musik  399  ff,  407  ,4  IG  ff., 

417;  II  252. 

—  bei  Jagden  341. 

—  im  Kloster  147. 

instrumente  399,  401. 

—  Ketzerei  380. 
Musikanten-Niedermetzel. 

II  252. 
Mussorgskij,  Kompon.404 
Mutter  u.  Tochter  II  488. 
Mütze  der  Geistl.  geehrt 

124,  125. 
Mysterien-Aufführungen 

405. 
Mystizismus  164  ff. 

—  in  Altrußland  173. 


Nabokow  II  567. 

Nachtgeschirr- Benützung 
müssen  d.  Gefangenen 
bezahlen  II  193. 

Nachtigallen  fangen,  Stra- 
fe II   123. 

Nackt  durch  d.  Straßen 
schleifen,  Strafe  für 
Ehebruch  203. 

—  müssen  wegen  Hurerei 
Bestrafte  d.  Strafe  er- 
leiden II   138. 


Nackt  werden  d.  Geistl. 

geschlagen  II  150. 
Nacktheit  3 54 ff,  372;  II 

52- 

—  u.  Abergl.  106,  480  ff. 

—  u.  Religion   115. 

—  keine  Schande  II  478. 
Nägel  als  Folterwerkzeuge 

II  28. 
.  Nagaika,  Züchtig.-Instru- 
ment  II   129. 

Nagoj,    Schwiegervater 
Iwans,  II  30. 

Nalejka,  Vorstadt  v.  Mos- 
kau 303. 

Namen     verlieren     Leib- 
eigene II  227. 

Napoleon  als  russ.  Sekten- 
gott 215«. 

Narjeschnij,  W.,  Verfasser 
frivoler  Romane  II  581. 

Narren  367  ff. 

Narrenorden  374. 

Narrenspiele  am  Hofe  An- 
nas 374. 

Närrische  Käuze,Sektierer 

233. 
Naryschkin,    Leo,    Spaß- 
macher 379. 

—  Maria,  Geliebte  Alex- 
anders I.  387,  392. 

—  Oberst  Jägermeister,  v. 
Zar  gehörnt  387. 

—  Zarin  Natalia  II  316. 
Nase  abschneiden  II  102, 

III. 
Nasenlöcher    aufschlitzen 

422;  II  99,   112. 
Natalia.  Prinz.,  ihre  grus. 

Dramen  410,  412. 

—  Zarin  408. 
Nationalismus    u.  Koitus 

II  511. 
Nebogatow,  Admiral,  be- 
trunken 319. 
Nekrophilie  479. 
Neledinskij,  Edelmann  II 

.287. 
Nelidow.   Katharina  166; 

n  536. 

—  Olympia,  Geliebte  Ni- 
kolajs  I.  II  537. 

Nepotrebstwo  (Liederlich- 
keit) II  543. 

Nesterow,   russ.    Cato, 
selbst  korrupt  287,  288. 


Nestor  II  254,  458. 

Neuber,  Caroline  413. 

Neugeborne  im  Schwitz- 
bad 436,  437. 

Newesta  (Unbekannte), 
Bezeichnung    f.    Braut 

II  365. 

Nichtbetende  Sektierer 
211. 

Nicoles,  Schule  in  Ruß- 
land 43. 

Niederknien  vor  d.  Zaren 
bei  Knutenstrafe  ver- 
boten II  45. 

V.    Paul    gefordert 

II  56. 

Nihilismus  500. 

Nihilisten  der  Religion 
231,  232. 

Nikitenko,   Prof.   II   128. 

Nikolajsl.,  Aberglaubeöi, 

63. 

—  u.   d.   Bildung  48. 

—  u.  d.  Dichter  419. 

—  geg.  Ehebruch  387. 

—  u.  d.  Premiere  v.  Go- 
gol js  Revisor  293. 

—  geg.  Sodbmie  u.  Päd- 
erastie II  565. 

—  u.  d.  heil.  Synod  139. 

—  geg.  d.  Tabakrauchen 

423. 

—  u.  d.  Theater  420. 

—  geg.  d.  unehel.  Kinder 

II  438- 

—  geg.  unmoralische  Lite- 
ratur II  580. 

— s  relig.  Fanatismus  1 1 7. 
— s  Grausamkeit  183:  II 

56,   141,   i6off. 
— s  Mystizismus  166. 

—  prügelt  s.  Leute  II  56. 

—  verbietet.  Fremden  e. 
Knut  zu  zeigen  II  129. 

—  verordnet  50  versch. 
Knutenstrafen  II  136. 

—  zerstört  d.  Einsiede- 
leien d.  Sektierer  196. 

Nikolaj  II.  II  540. 

—  jßmennt     e.     Heiligen 

157.   158- 
— 3  Mystizismus  167. 

—  und  Sektenwesen  187. 

—  u.  d.  Tänzerin  Ma- 
thilde    Krzesinska     II 

539- 


Nikolaj  u.  ä.  Theater  430. 
~  d.  heil.  93,   tsSii. 

—  Konstantin.,     Groß- 
liirst.  Kleptomane  274; 
II  538. 

—  Nikolaj e witsch  d.  Al- 
tere bestiehlt  d.  Armee- 
kasse 259,   274. 

d.  Jüngere  274. 

Nikolajewna Maria  II  53S. 

—  Olga,  GroOf.  II   537. 
Nikon.      Patriarch,     1 37, 

187  ff,  403- 

Nikonow,  Deserteur,  Sek- 
ten-Oberhaupt 355. 

Nischnij- Nowgorod.  Sage 
V.  Schwengeltunn  68. 

Nogaier.   starke   Raucher 


als  Räuberhaupt- 


424. 


mann  493- 

Nossom  Wittwe,  ihre  Gü- 
ter weg.  liederl.  Lebens 
konfisziert  II  592. 

Notzucht  201. 

—  e.  Archimandrit  ver- 
gewaltigt e.  Mädchen 
auf  off.  StraQe  148,  149. 

Nouveaut6s  der  Moden  u. 
d.  Zarin  383;  II  49. 

Nowgorod  von  Iwan  ler- 
stört  II   [8  ff. 

Nowgoroder  Bischof  u. 
tschudischer  Zauberer 
103. 


Nowikow,  Freimaurer  499. 
—  Nik.    über   d.    Leibei- 
genschaft II  223. 
Nüchternheit    verdächtig 


Oberherrschaft  in  d.  Ehe 

II  396.  399- 
Oberhoheit  d.  Mannes  II 

325- 
Obolenskij.  Dmit.,  v.Iwan 

erdolcht  II   10. 
—  Peter,    enthauptet    II 

Obrasow,  Schankwirt  304. 
Odeure  als  Schnaps  323. 
Odojewskij,     Schwager 
Iwans  II   30. 


Ofen,  worin  Menschen  ge- 
br. werden  II  28. 

Ofenheizen  zu  um-echtcr 
Zeit  II  148. 

Ohr  abhauen  276. 

—  abreißen  II   102.  1 

—  abschneiden  II  iio.       1 
Ohrfeigen  u.  SängerinoeD  ' 

II  46. 

—  u.  Poliieimeister  II  59. 

—  V.  Zarin  Elisabeth  II 
48.  49- 

Oleaiius.     niss.     Scham- 
losigkeit 429. 
Oleg,  Großfürst,  u.  ä.  Zau- 

—  Fürst  v.Rjäsan  II  2:1. 
Oltusjew,    Frau,    u.    zari- 
sches Trinkgelage   313. 

Olga,  Großf.  II  302. 
Onanie  gottgefällig   235. 
Operationsmethoden    der 

Skopzy  24!.  243. 
Opfer   in   Epidemiezeiten 

474- 
Opritschina,    Leibgarde 

Iwans  II  8ff,   58. 
Ordensritter,  deutsche  Sit- 

tenlosigkeit  207. 

—  deutsche,  u.  Leibeigen- 
schaft II  240. 

Orgien  d,   Skopzen  247. 
Orlow,    Fürst,    Trunken- 
bold 316. 

—  Gregor,  als  Schauspie- 
ler  417. 

I  Ort  d.  Verbrechens  ist  Ort 
d.  Strafe  II   [38,   154. 

Orthodoxie  9"ff- 

-~  u.  Ehescheidung  II 
412.  414- 

—  u.  Lüge  269. 

—  verspottet  492. 
I  Osseten,    d.    Christentum 

u.  Islam  97. 
— •  Snochatschestwo    II 

Ossetin,  d.  II  331. 
Ossetische  Gebr.  279,  284. 
Osterei  bei  Bestechungen 


I  Ostermann.  Lehrer II  452. 

Ostern  363. 
'  —  abergl.  Gebr.   55. 
'  —  fällt  auf  e.   Mittwoch 

'  —  bei  d.  Sektierern   227. 

'  Ostjakengeschlecht,   Kus- 

I      samin  II  290. 

l  Ostjakin,  d.  II  328. 

>  Ostrowski] ,  Dichter  419. 

'  Ostseeproviozen      kennen 

,      d.  Knut  nicht  II   136. 

—  Stöcke  als  Strafmittel 

II    149- 

Päderasteaanstalt   d. 
;       Schuldirektor      Bitsch- 
,       kow  If  457. 
.  PäderastengedichtellsSj. 

Päderastie  434. 

—  Bezeichnung  dafür   II 
593. 

—  in   Bädern    u.    Hoteis 
II  s,o. 

—  in  Gefängnissen  II  193. 

—  gottgefällig  S3S. 
Palast  d.  Ergötzlichkeiten 

408  ff. 
Palmsonntag  362. 
Panin,  Kartenspieler  345. 
Paoow.  moderner  Christus 

217. 
Paolo.  .\rzt  466. 
Paschkow,    u.    d. 

stund isten  2 
Pässe,  falsche  II   155. 

—  —  bei  Sektierern   199, 

—  für    d.    andere     Welt 
156  ff. 

—  verabwheut  253. 
Patalajew.    Richter,     be- 
stechlich 291. 

Patjomkin        (Potemkin) 
273.  418;  n   311- 

—  als  Kartenspieler  344. 

—  als  Trunkenbold   316. 

—  Musikliebhaber  402. 

—  prügelt  Kath.  II.  1X55, 
— 's  Asche  ins  Wasser  ge- 
worfen II  5. 

Patriarch   v.    Peter    ver- 
höhnt 371. 
Patriarchat  211. 
Paul  I,     Buchdruckereien 


43- 


t  Heilige  155, 


-    637    — 


Pauls  I.  Gcschlechtsreife- 

prüfung  II  536. 
— s  selts.   Gesetze   II  82. 

—  als    Freimaurerfreund 

499.  500- 
— s    geh.    Kanzlei  II  69. 

—  lebt     m.     e.      dicken 
Köchin  II  351. 

— s  Mystizismus    166. 

—  u.  Tcxiesstrafe  II  96. 

—  verbannt     Leichname 
156. 

— s  Wahnsinn  II  55. 

—  Alexandrow.,  Großf.  II 

540. 
Pedrillo,  Hofnarr  376. 
Peitsche   58;   II   75,    119, 

122,    149 ff.,    192,    210. 

—  u.  Batogen  II  153, 
223. 

—  u.  Gattin  II  311. 

—  erzieht    Schauspieler 
411. 

—  i.  J.   1906  II   156. 

—  d.  Liebesgott  d.  Letten 
II  249. 

—  vgl.  Pletj. 
Peitschen  d.   Leibeigenen 

II  227,  230. 

—  während    d.    Mahlzeit 

II  283. 
Pcitschenduell  264. 
Peitschenstrafe  287. 

—  f.  Bartträger  23. 

—  f.  Kuppelei  59. 
Penis,    Beschaffenheit    II 

484. 

—  Größe  394. 

—  künstlicher,  d.  Skopzen 
244. 

—  zwergenhaft  bei  d. 
Kamtschadalen  II  475. 

—  u.  Bajonett,  Lied  393. 

—  ungeheurer,  v.  Peter  d. 
Gr.  ausgestopft  472. 

Pensionat  II  453,  457. 

Perchowzy-Sekte  210. 

Pereswa,  Hochz. -Zeremo- 
nie 394. 

Pcrewertyschy,    Skopzen- 
sekte  245. 

Pergament,  Dumaabge- 
ordn.  über  Folterungen 
II   187,    188. 

PermschesGouvernement, 
Heiratsbr.  II  369,   372. 


Perücke  d.  Gräfin  Ssalty- 

kow  II  229. 
Perversität  Elisabeths4i4. 
Pest  u.  Abergl.  55. 
Pestel  foltertSektierer  213. 
Peter  L,  d.Gr.  11200,286. 

—  gilt  als  Antichrist  190, 
191,   192. 

—  u.  Aprilscherz  411. 

—  als  Arzt  471. 

—  führt  Bälle  ein  380. 
— s  Bartreform  2 1  ff. 

—  prügelt  s.  höchsten  Be- 
amten II   126. 

—  gegen  Bettelei  325. 

—  Behandlung  s.  Familie 
II  286. 

V.  Frauen  u.  Mai- 
tressen II  296. 

—  u.  d.  Bildung  31  ff. 
— s  Briefwechsel  m.   Ka- 
tharina II  357. 

—  u.  d.  Buchdruck  33. 

—  fordert    Denunzierun- 
gen  II  60. 

—  geg.  hohe  Diebe  272. 

—  geg.   Diebstahl  277. 

—  geg.  Dirnen  II  541. 

—  als  Folterknecht  II  182, 
183. 

—  emanzipiert    d.    Frau 
II  296.   317. 

—  läßt    e.    Frauenzunge 
herausreiß.  II  104. 

—  u.  d.  Gebeine  des  Alex- 
ander Newsky  108. 

—  Geldstrafen  statt  Kör- 
perstr.  II  121. 

—  Grausamkeit  II   38  ff. 

—  graus.  Gesetze  II  157. 

—  geg.  Hazardspiele  343. 

—  geg.  Heiligenbilder  163. 

—  als  Henker  495 ;  II  40. 
— s  Hofnarren  368. 

—  u.  die  Hure  II  432. 

—  Feind  d.  Jagd  337. 

—  verbannt  Jewdokiai44. 
— s  Justiz  II  79. 

— s  Ketzerverbrenng.  182. 

—  geg.  die  Klöster  143  ff. 

—  knutet  selbst  II   135. 
— s  Kommentar  d.  10  Ge- 
bote II  423. 

—  geg.    Korruption   287. 

—  Begründer  d.Leibeigen- 
schaft  II  222. 


Peters   seltsame  Medika- 
mente 473. 

—  Musikliebhaber  401. 
— s  Mystizismus  166. 

—  schändet  Leichen  II  5. 

—  geg.  obszöne  Literatur 
II  580. 

—  u.  d.  Patriarchat  138. 

—  als  Sodomit  u.  Päder- 
ast  II  561. 

—  schamlas  II  459. 

—  durch  d.  heil.  Ssergij 
gerettet  161. 

—  u.  d.  Steuerschuldner 

II 75. 

—  graus.   Strafen  II   89, 
HO,   122  ff. 

—  f.  d.  Tabakrauchen 42 2, 

423- 

—  als  Tanzmeister  381. 

—  bei  Tische  17. 

— s  Traumabergl.  61. 

—  prüft  d.  Treue  s.  Leib- 
arztes 470. 

—  Trinkgelage  jo6. 

—  unehelich  471 ;  II  418, 
471. 

—  u.  ausländ.  Urteile  35. 
Peter  II.  als  Jagdliebhaber 

3  38  ff. 
Peter  III.    u.   d.  Bart   d. 

Kleriker  28. 
— s  geh.  Expedition  II  68. 

—  geg.  Heiligenbilder  163. 
— s  Hutreform  18'. 

— s  Liebschaften   II    522, 

529. 

—  als  Skopzengott  237. 

—  in  d.  Skopzenlegenden 

239- 
Petersburger  Bordelle  II 
546. 

—  Universität  48. 
Petrowki  356,  357. 
Petrowna  Joh.,  Kammer- 
frau Kath.  I.  II  523. 

Pfählen  495;  II   13. 
Pfänderspiel    am     Hofe 

Kath.  II.  385. 
Pfannen     z.     Braten     v. 

Menschen  II  28. 
Pfeifen  im  Abergl.  96. 
Pferde    hochgeschätzt    II 

86. 
Photius,  Patriarch  H  251. 
Physischer   Klub   II   543. 


Pimen,   ErzbUchaf,II    19, 
Pirogow,  Chirurg,  Erinne- 
rungen an  s.  Schulzeit 
45- 

—  üb.    Hochschulen    50. 

—  Prügeln  in  d.   Schule 
II   169. 

Pisda   siehe   Geschlechts- 
teile d.  Frau. 
Pissemsky,    Dichter  419. 

—  ru5s.  Gesandter  II  33, 
Pletj  205. 

—  s.  auch  Peitsche. 
Pletka,   Peitsche,   II   156- 
Pobjedonosszew  49.  169. 

—  Päderast  II  567. 

—  geg.  d.  Stundisten  204. 

—  Verlogenheit  in  3.  Wer- 
ken 267,  2C6. 

Pocken,    Tod   Peters    II 

340- 
Podlipika.  Peitschell  153. 
Pogrom  II  173,  275, 

—  in   Odessa   II   275,   in 
Siedlet«  276, 

—  lur  Ausrottung  d.Polen 
II  252. 

—  Erklärung   d.   Wortes 
II   17. 

Polen  in  Rußland,  Sitten- 

loslgkeit  II  464. 
Polenira,  Heldin  II  303. 
Polizei  267,   269,  274;  II 

57,    67,    71H..     tigd., 

148,  317- 

—  ihr  Aberglaube  478, 

—  darf  brandmarken   II 

—  dirigiert    die    Volks- 
theater 4'8. 

—  foltert  troti  aller  Ver- 
bote noch  heute  II  185. 

—  f.  körp.  Züchtigungen 
eintretend  II   128. 

—  u.  Klerus  186. 

—  Trunksucht  315. 

—  vollzieht  Prügelaulträ- 
ge  an  Leibeignen  II  231. 

Polizeimeister  II  77. 

—  erster,   v.    Petersburg 
II  58. 

—  als    Prügeimcister    II 
1S3. 

Polizisten,  betrunken  00. 

—  als   Diebe   u.   Mörder 
11  67. 


I  Polkau,  Reise  78, 

.'  Pöünitz,  Baron,  üb.  Peters 

j        I.  Trunksucht   307. 

■  Polnischer  Abergl.  444. 
Polnische  Geister  79.  , 

■  —  obszöne  Lieder  II  G08,  , 

—  Tänze  395. 

1  —  UnSittlichkeit  II  465.  ' 
I  Polygamie,  Todesstrafe       , 

darauf  II  408. 
I  Pomorzy,    Sektierer    196, 
I      HO. 

PopenimmtteilamHexen- 
l      mord  84. 
I  Popen  tragen  langes  Haar 

j  —  als  Sodomiten  II  559. 
I  —  unreine  Wesen  u.  Zau- 

!  Popenfrauen  müssen  sitt- 
sam sein   127. 
Popow,  ber.  Sektierer  199.  , 

—  über  mangelnde  Justiz  1 
,       II  53  1 

Poreskaja  Marfa  II  306.  1 
'  Porträts  d.  Zarin,  Strafe  f.  I 
I      schlecht  gemalte  II  155.   j 

Posnikow.  Frau,  verkauft  , 

I       ihre    leibeig.    Mädchen  1 

an  Wüstlinge  II  233. 

Possoch  (Stab)  II   120.       , 

Posthalter,  unpünktliche, 
verbannt  11   191.  ' 

Potapow,  weiblicher  Mann  ' 
,       II  567- 
'  Potemkin  s.  Patjomkin. 

Potenz  II  379. 

—  hohe  321. 

—  Peters  d.  Gr.  343.  I 
I  Prämie    f.    Rattentötung 

II   197. 
]  —  f.  Trinken  304,    320. 
,  Praskowja,  Zarin,  Sitten  , 

ihres  Hofes  II  524. 

I Pjatnitza  358.  1 

Preise  f.  Frauen  II  334. 

—  f.   Leibeigene   II   227,  j 
233. 

Preobraschensker    Prikas 

n   39-   S8,  61.  i 

Priester  u.  Malakanen  193.   1 

—  verpönt  203. 
Priesterliche  u.  -lose  Sek-  ' 

■  ten  171  ff.  I 
'  Printien.preuQ.  Diplomat  , 

'        495-  ' 


Privatunterricht    II    456, 

Privilegien  b.  körp.Strafen 
.II  Baff,  126,  137,  ISO. 
Probenächte  II  4Soff. 

—  b.  d.  Kosaken  II  482. 

—  d.  Tartaren  II  481. 
Professoren,      Korruption 

48,  so. 
Prophezeiung,  Peter  d.  Gr. 

betr.  58,   59. 
Proschi  jakow    verkauft 

Lehrerstellen  29 1 . 
Proselytismus  ii6ff.,  369. 
Prostitution  II  S24. 

—  durch  d.  Gutsherren  ge- 
fördert II   192. 

—am   Hofe   Kath.  II.    II 
543- 

—  als  Kulthandlung  t$2. 

—  d.  Leibeigenen  II  233. 

—  öffentliche   II   541. 

—  U.Religion  114,1 15.235. 

—  in  Tiflis  II  474. 

—  zwecks    Rekrutierung 
V.  Skopzen Jüngern  246. 

Prostituierte,    Skopzen - 
weiber  244. 

Protasow  11  564. 

Protestantische    Kirchen- 
zerstörg.  181. 

Protestantismus  bei   Sek- 
ten 203. 

Prüderie  II  463. 

Prüfung  d.  aus).  Arzte  d. 
Würdenträger  466. 

Prügeln  allgemeine    Sitte 
U  215. 

Prügelstock  Nikolajs  I.  II 
56. 

Prügelstrafen   s.    Körper- 
strafen. 

—  in  Gefängnissen  II  T72, 
Pseudo-Dmitrij    18.     380, 

494,  496;  II  4,  93- 
— s  Bartlosigkeit  21. 

—  entheiligt    Klöster    d. 
Ausschweifungen   147. 

—  ermordet  II  252. 

—  Sittenlosigkeit  II  464. 

—  (d.  Vierte)  wird  gehängt 
II  95- 

Pseudo-Peterlll.  496. 
Pseudo- Zaren  als  Sektie- 
rergründer 215. 
Pskower  Bettler  328. 

—  Sklavensinn  II  2I3. 


639    — 


Puder,   Import  40. 
Puffendorfs    Staatenge- 

schichte  34. 
Pug^tschew  490,  496;  II 

53.  96,   154. 

—  u.  d.  Bartfreunde  29. 
Pulvergeruch,    wie    Peter 

d.  Russen  daran  ge- 
wöhnt 370. 

Pulvertonne  als  Hinricht.- 
Instrument  II  24. 

Puschkin,  Adrian,  Sek- 
tierer, verlangt  Güter- 
verteilung 195. 

—  Dichter,  Duell  265. 

—  Erzählung  von  e.  ver- 
bannten Leibeigenen  II 
236. 

—  geprügelt  II  56. 

—  Päderast  II  569. 
Pussepp,     Richter,     not- 
züchtigt e.  Mädchen  II 

77,  78. 
Putzsucht  II  455. 

Quarantäne  466:   II   137, 

148.   155- 
Quellen  werke  z.  Gesch.  d. 
russ.  Theaters  405. 

Raby,  Kriegsgefangenen 

219. 
Rache  d.  Leibeigenen  497 ; 

II  237  ff.,  249. 
Radenije.  Tanz  d.  Skopzy. 

242. 
Rädern  288;  II  6.  7,  96, 

252. 

—  u.  Peter  d.  Gr.  II  41. 
Radischtschew  499. 

—  liberal  u.  verbannt  418. 

—  tritt  f.  d.  Lcibeig.  ein 
II  224. 

Radstock,  Lord,  als  Apo- 
stel auftretend  208. 
Rangstreit  II  30. 
Rasieren  d.  Gefang.  II 199. 

—  d.  Verbannten  II  192. 

—  s.  Bartreform. 
Rasin,    Stenjka,    Räuber- 
hauptmann 490  ff. 

Raßkol,  Glaube  d.  Sklaven 
194. 

—  s.  auch  Sektenwesen. 
Raßkoljniki,  Sektierer,  u. 

d.  Barte  31. 


I  Raßkoljniki,  geg.  d.  Tabak 
424. 

Rasumowskij,  heiml.  Ge- 
mahl Elisabeths  382. 

Ratte  im   Abergl.  100. 
i  Ratuschny,  Begründer  d. 
Stundistensekte   203. 

Raub  216. 

Raubehe  II  117. 

Räuber    II    38,    98,    109, 
121,   182. 

Räuberlieder  490  ff. 

Räuberwesen  488  ff.,  II 68. 

Raubsucht  u.  Sektenwesen 
215. 

Recht  u.   Unrecht,   Mär- 
chen 277. 

Rechtlosigkeit     d.     russ. 
Frauen  II  295,  296. 

Redefreiheit  auf  d.  Bühne 
418. 

—  d.  Hofnarren  374,  376. 
Reden,  unanstdg.bei  Hofe, 

schwer  bestraft  II  148. 
Regen  im  Abergl.  loi. 
Regenlosigkeit,  Abergl.  5  5 , 

56. 

—  durch     Selbstmörder 
verursacht  448. 

—  u.  Vampirismus  295. 
Regierung  fördert  d.  Ent- 

'       sittlichung  205. 

Regierungserlässe  betr. 
Gefangene  II   177. 

Reglement  in  d.  adel.  Er- 
ziehungsinstituten   II 

453. 

—  zur  Förderung  d.  Pro- 
stitution II  555. 

Reichtum  der  Geistl.  134. 

—  Mentschikows  273. 
Reisen  im  Abergl.  65,  128. 

—  ins  Ausland  33,  43. 
Rekruten  d.  Sekten  221. 

—  d.  Skopzen  244,   246. 

—  hartes  Los  II  158. 

.  Rekrutierung  d.  Sektierer 

aus  höchst.  Kreisen  2. 

'  Religion  92  ff.,  107, 1 1 1  ff., 

152. 

—  u.   Absolutismus    113. 

—  u.  Bart  24,  26. 

—  u.  Lüge  269. 
Rendezvous,  improvisierte 

n  545. 

Rennklub  349. 


Reparaturen  im  Abergl. 78. 

Repnin,  Bojar,  u.  Iwan  d. 
Sehr.  II   IG. 

Revisionen  der  Bevölke- 
rungszahl 133.    133». 

Revolten  II  166. 

Revolutionäre  274,  290: 
II  99. 

Revolutionen  494  ff. 

Rezitativsprechen  Leib- 
eigener II  229. 

Rhabarber,  Privat  verkauf 
m.  Tod  bestraft  II  89. 

Richter,  ihr  Aberglaube  56. 

—  korrumpiert  286,  292  ff. 

—  nicht  Gesetze,  bestim- 
men Art  d.  Todesstrafe 
II  91. 

Richtplatz,  russ.  Name  da- 
für 495. 
Riedl,  Frau,  Kupplerin  II 

544. 

Riemen  aus  Menschen- 
häuten II  28. 

Riesen  im  Aberglauben  78. 

Riesengeschlecht  v.Peterl. 
gezüchtet  472. 

Riga,  furchtbare  Gefäng- 
nisse II   176. 

Rimskij-Korsakow,  Kom- 
p>onist  404. 

Ringer  389. 

Ringerspiele  d.  Kalmücken 

350. 

Rippen,  an  den  R.  auf- 
hängen 492;  II  89. 

Rivalisieren  m.  d.  Zarin 
gefährlich  384. 

Roberts,  engl.  Arzt  am 
Hofe  Iwans  II  32. 

Rogneda  II  338,  358. 

Romadanowski  j ,  Fürst3 1 2 

— *s  Grausamkeit  II  40*). 

—  Hofnarr  u.  Spionage- 
chef 373. 

—  leidenschaftl.  Jäger  338. 
Romanow,     Nikita     Iw., 

Musikfreund  400. 
Romanowna  Anastasia  II 

306. 
Römer  v.  d.  Russen  Wo- 

loten  (Riesen)  genannt 

78. 

Roschdestwenskij,  Admi- 

ral,  betrunken  319. 
Rosinen  z.  Abendmahl  213. 


Rösten  V.  Menschen  II 14, 

60.   88. 
Rostislaws    Erinner,    aus 

s.  Seminarzeit  llSf.;  II 

läS. 
Rostow ,    Fabrikstadt     i. 

Krüppel  67,  339. 
Roß  im  Abergl.  100. 
Roter   Platz   in   Moskau, 

alte  Hinrichtungsstätte 

181:  II   138. 
Roter  Sarafan  391. 
Roter  Tod  254. 
Rotes  Tuch  u.  Hemd  bei 

d.  Sektierern  154. 
RothschilJ     als     Satans- 

Rotbügellef^t  352. 

Rubin^tein.  Komponist 
404. 

Riilpsen  300. 

RuRijäntzow,  Kodex  f. 
Leibeigene  II  227. 

Runitsch  u.  Philosophie 
48. 

Rüssakow,  Mörder  Alex- 
anders II.   II   18;. 

Russalki,  Geister  78,  353. 

Russische  Frau  als  Ma- 
gierin  II  305. 

im  Sprichwort  II J06. 

—  Mütter  II  291. 
Rute  205. 

Ruten  287;  II  56.  76,  120, 
122,  129,  149,  163,  ;;3. 

—  in  Geißelzwecken  225. 

—  d.  Mechanismus  bewegt 
II   130. 

—  für  Hexen  57. 

—  in  den  Ostseeprovinzen 
II   ij6. 

Rute  alsSymbol  bei  Hoch- 
zeiten II  294. 

Rutenstrafen    f.    Ehe- 
brecher in  d.  balt.  Pro- 
vinzen II  428. 

Sachalin,   Verbannung  II 

197"- 
Sachodnizi,   Bcttlergesell 

schalt  329. 
Sadismus  267,  479;  II  230 

247.  279.  282. 

—  in  Klöstern  148. 

—  Peters  d.  Gr.  II  39 

—  u.   Religion   ;7i. 


1  Sadismus   b.   d.   Skopzen 
I       243.  247- 
I  —  bei  d.  Sekten  229. 
'  Sakramente  u.  Stundisten 
i       20J. 
Salkow,     Räuberhaupt- 
.       mann  489. 
1  Salomon,  Chef  d.  Gcfäng- 

nisvcrwaltung  II  209. 
'  Salomos    Harem   u.   Sek- 

'  Salz  im  Abergl.  77. 
'  Samo jeden     —     Keusch- 
I      heitsgürtel  II  502. 
I  Samoicdenkönig,  Hofnarr 
I       Peters  d.  Gr.   370. 
'  Samoilow,   Fürst   II    191. 
I  Sanin,  Prediger   135. 
,  Sapicha.GrafPeter  11523. 
Sapoj,  Saufwut  302. 
Sassikow.     Operettensän  - 

ger  II   549. 
Sassnlitsch-Wera    II    76, 

129. 
Saufbrüderorden  Peters  d. 

Gr.   308. 
Saufbrüderschaft  Peters  d. 

Gr.   372. 
Säuferturm  303. 
Saufzwang  am   Hofe   Pe- 
ters I.  joSff. 
Schachspiel  343. 
!  Schadon'skaja ,     Julie     II 
I       320. 

I  Schafott     heißt     Theater 
II   51. 
Schafirow.  Günstling  188. 
I  — s    Sohn    s.     Hochzeits- 
nacht J2I. 
— s  Tochter  v.  Zaren  ge- 
ohrfeigt 3:3. 
Schafs,schulterblatt  in  d. 
Propheieiung  97. 
;  Schafzäcke  im  Abergl.  101. 
Scham anentum    93,    103, 

'54- 
Schamgefühl   394;    II 
■      457  ff- 
'  —  d.  Armenierin  II  469. 

—  d    jungen  Eheleute  II 

—  u     Keuschheit   bei   d. 
Kalmvicken  II  474, 

Schamhaare  II  373. 
I  Schamlosigkeit  431. 
'  —  in  Badern  427ff. 


I  Schamlosigkeit  in  B 
I  lerasylen  328,  330. 
i  —  d.  GefaDgenen  II 
'  —  d.  Muschik  II  46 
'  —  d.  Zarin  Elisabeth  . 
!  Schandpfahl  II  140. 
'  Schandstrafe  II  154. 
I  Schändung  v.  NoDnei 

465. 
I  Scbaposchaikow,    Sekt 
Oberhaupt  35 1 . 
Scharlow.  Major,  graus 

mordet  497. 
— s    Witwe    vergewal' 

497f- 
Schaschkow  II  283. 
Schaufel   zum    Scbauh 
der  Gebärendeo  483 
Schaukeln  357,   390. 
Schäumer(  Tanil  iederjj 

■  Schauspieler- Elend  im . 
'       Rußland  408. 

Schauspielerin  erhält 

off.    Szene   d.    Bast 

nade  II  230, 

Scheiterhaufen  2Q1 ;  II 

93.  290.  305- 

i  —  f.  Ketzer  178,    181. 

:  —  V.  d.  Geistl.   herbei 

Schelepy,  Peitsche  II  i 
'      15'- 
Schepelejew,  Mawra.  Fi 
sohlenkitzlerin  379. 
'  Schere   z.   Nasettschlit 

II  ..3- 
'■  Scheremetjew  21. 

—  gefoltert  II  11. 
I  Schesl  (SUb  oder  Sto 
II  120. 
Schicksalsglaube     441 1 
I      449. 
I  Schiff  bei  d.  Skopzy  3 

■  —  d.  GeiDler  226. 
Schiffchen,      Tanzart 

Skopzy  242. 
Schimpfworte,  obszöne 

S94(f. 
Schlafen   u.   Abergl.    |i 
Schlafmittel  Abergl.  2. 
Schläge    als    Beweis 

Liebe  II  292. 
verlangen   d.    Rus! 


II  : 


15,   216, 


7, 


—    641    — 


Schlagen  d.  Familienmit- 
glieder II   I20. 

—  d.  Frauen  220;  II  45, 

55»  152. 

—  Genugtuung  daf.  260  ff. 

—  d.  Hofnarren  368. 

—  im  Sprichwort  II  292, 

293. 
Schlange  102. 

—  im  Abergl.  62. 

—  als   Krankheitsdämon 
460. 

—  beid.Esten  U.Letten  62. 

—  bei  d.  Kalm.  96. 
Schloß,  verkittet,  Zauber 

57. 
Schlucken  im  Abergl.  16. 
Schminken  II  352. 
Schmuggler  291. 
Schnapshandel     verboten 

f.  Private  304. 
Schnapsmonopol  303. 
Schnupftücher,  Import  40. 
Schnurrbartlänge  d.  Ukas 

bestimmt  II  82. 
Schodkin.  Apostel  d. 

Selbstmordes  252. 

Schönheit  II  348. 

—  d.    Kamtschadalinnen 
II  327. 

—  d.  nicht  russ.  Frauen 

n  353. 

Schönheiten  am  Hofe  II 
350. 

Schönheitsmittel  u. 
Branntwein  323. 

Schönheitsruhm  d.  Estin- 
nen II  353. 

Schöntuer.     Komödie    v. 
Ostrowiky  II  413. 

Schornsteinfeger  450. 

Schreiben   können   selbst 
d.    Vornehmsten   nicht 

n  453. 

Schreien  in  d.  Schlacht  m. 
Tod  bestraft  II  89. 

Schroeder ,    Heinr. ,    Arzt 
467. 

Schriftstellerinnen   und 
Künstlerinnen    II    319. 

Schuhe    d.    Gatten    aus- 
ziehen II  358. 

Schuja,    Stadt    voll   Be- 
sessener 89. 

Schuldner  werden  Sklaven 
Z7.  326. 


Schule,  Rute  in  d.  II  164, 

i67ff.,  291. 
Schulen  32. 

—  in  d.  geistl.,  regiert  d. 
Peitsche  II   151. 

—  Stätten  d.  Päderastie 

II  567. 

Schuwaliki,  Bettlergesell- 
schaft 328. 

Schuwalow  44,  423. 

—  Päderast  II  567. 

—  Elisab.,  Fußsohlen- 
kitzlerin  378. 

—  Iwan  gründet  Univer- 
sitäten 38. 

Schwaben  heilige  Tiere  62. 
Schwalbe  im  Abergl.  loi. 
Schwangere  v.   Elisabeth 
gefoltert  II  50. 

—  zu  Tode  geprügelt  II 

173. 
Schwangerschaft  u.  Aber- 
glaube 76. 

—  d.  Mädchens  ehrenhaft 

II  477. 
Schwanz   d.    Zauberer   u. 

Hexen  55,  81,  82. 
Schwätzerin,  Hofamt  ^77, 

378. 

Schwcigende.Sektierer  213 

Schwein  im  Abergl.  100, 
102. 

Schwiegereltern  u.  -toch- 
ter  II  367. 

Schwiegermutter  d.  Hexe- 
rei beschuldigt  II  289. 

—  obsz.  Sprichw.  II  600. 

—  u.  Schwiegersohn  (obsz. 
Lied)  II  389. 

Schwiegertochter    v. 
Schwiegervater  (Iwan  d 
Sehr.)   vergewaltigt   II 

38. 

—  -Schaft  II  511. 

Schwimmschule  als  Bor- 
deU  II  546. 

Seelenspeisung  72  ff. 

S^gur,  de,  üb.  Leibeigen- 
schaft II  224. 

Sektenwesen  168  ff.  (siehe 
auch  Raßkol). 

—  Parallelen  aus  and. 
Ländern  (Fußnote)  199, 
2ioff.,  216.  220,  222 ff., 

'       229ff.,  232,  234ff.,  247, 

I       249- 


Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Ruftland. 


Sektierer  II  151. 

—  gefoltert  II  185. 
Selbstgötter  217. 
Selbstmord  443  ff.,  477. 

—  aus  Angst  II  280. 

—  aus  rel.    Fanat.    229. 

—  aus  Ehrgefühl  II  249. 

—  Radischtschews  499. 
Selbstmordsekten  249  ff. 
Selbstopferung  482. 
Selbsttäuschung  458. 
Selbstverbrenner,   Sektie- 
rer 250. 

Selbstverstümmler  228  fl 

Seiiwanow  derGottmensch 
215. 

Seminaristen  als  Schau- 
spieler 410. 

Senatoren  geknute 1 1 1 1 2  5 . 

SentimentalitätElisabeths 
bei  Hinrichtungen  II 5 1 . 

—  Kath.  II.  II  54. 

—  Peters  I.  bei  Hinrich- 
tungen II  44. 

Seraphim,  Sektengründer 

231. 
Serigny,    Theaterdirektor 

413-' 
Serow,  Komp>onist  403. 

Seufzende,  Sektierer  212. 

Sibirien  siehe  Verban- 
nung. 

Sibirier,  Unreinigkeit  d. 
Weibes  II  508. 

Sieden  Verurteilter  II  22, 
88. 

Siedletz,  Foltermeister  II 
186. 

Siegel  der  Reinheit  bei 
d.  Skopzy  243. 

Siegellack,  brennender,  zu 
Torturzwecken  213. 

Silbermünzen  einschmel- 
zen.Todesstrafe  dafür  II 
122.  123. 

Simeon  Polozkoj,  Drama- 
tiker II  120. 

Sinnlichkeit  bei  den  Sek- 
tierern 215. 

—  u.  Religion  114. 
Sinnlichkeitskultus    230. 
Sinowjew,Raubritter  II68. 
Sittenlehren     d.     Ducho- 

borzen  202. 
Sittenlosigkeit    im    Kau- 
kasus II  468. 

41 


I 


Sitten losigkeit  Niktdaj  I. 

—  b.  Sekten  303. 
Sittlichkeit  u.  Abergl.  91, 

92. 

—  d.  KleinniESen  II  491. 

—  in  Liv-  u.  Esthland 
II  243  0- 

—  u.   Religion   i7off. 

—  ist  in  RuOl.  verdächtig 

—  u.  Theater  419. 
Sittlichkei tsverbrechen  II 

133.   143,   164. 
r-  d.  Verbannten  I[  J08. 
Sitttichkeitsvergehen  v.  d. 

Geistlichkeit  bestraft  II 

ISO,   151, 
Skarey  Moses.  Haupt  der 

jud.  Häresie   175. 
Skanin^kij .    berühmter 

Steppcnjägtr  341. 
Skatologischc,  das,  in  Lie- 
dern u.  Erzähl.  II  6n. 
Skawronskij  Graf,  Freund 

rezitativen    Redens    II 

Skity,    Einsiedeleien    der 

Sektierer   196. 
Sklave  ein  Tier  11  460. 
Sklaven,  freiwillige  II  aio. 
Sklaveiisinn  d.  Russen  II 

a,  9,  19.  22,  24,  30,  37, 

2ioff. 
Sklavenhandel     in     Kau- 

kasien  II  344, 
Sklaverei    d.     weiblichen  < 

Geschlechts  II  305,  306.   ■ 

—  droht  <1.  Schulden-  j 
macher  37. 

Skopzen  236. 
^-  -ehen  246. 

—  -irauei»,  Verstümme- 
lung d.  Brüste  244. 

—  -gott  Peter  Feodoro- 
witscli  u.  Alexander  I. 
166. 

—  -lehre  240. 
Skorpion.  Verlag  d.  mod. 

myst.  Dichtungen  168. 
Skrjabin,  Komponist  404. 
Skuratow,  >Ienker  Iwans 

n  23. 

„Slowo^desDaniclUjin. 
Slowo  i  delo  II61,  64,65. 
Smolnakloster  II  453. 


I  Snochatscbestwo  (Sdiwie- 
'  gertochterschaft)  II  j ' '. 
Sodomie  II   10,   164,  5;6. 

—  vgl.  Bestialität,  Päder- 

'  —  der  Geistl.  14311 

—  gottgefällig  235. 

—  d.  Mönche  in  erot.  Er- 
zählungen II  61 1. 

—  u.  Sektenwesen  316. 
'  —  m.  Tieren  II  ss6- 

,  Sodomitenlied  393. 

Sofia.  Alexejs  Tochter  II 
I      317.  319- 

.  —  Gemahlin  Iwans I  I.II 
307. 

—  Priniessin,  als  Dramen- 
dichterin u.  Schauspie- 

Söhne,  Geburt  e.  Sohnes 
beendet  c,  Sektiererehe 
«35- 

Sohnesmord  II  45,  286, 

—  aus  relig.  Fanatismus 
II  290. 

Soldaten  als  Lehrer  40. 

—  graua.  behandelt  II 127, 
131.   149.   157- 

—  alte,  in  Klöstern  ver- 
pflegt 145. 

—  betrinken  s.  am  Tage 
d.    Thronbesteigung 
Kath.  II,   315. 

—  fallen  auf  d.  Marsche 
besoffen  nieder  319. 

Soldatendienst.    Strafe   f. 

Aufruhr  II  1 54, 
Soldatenpenis  394. 
Solotowa,  Heldin  V.  II  77. 
Sonnabend  im  Abergl.  73, 

74. 
Sonntag  wird  am  Mittwoch 

gehalten  210. 
Sonn  tags  feicr  kennen  die 

Skopzy  nicht  241. 
Sophie  V.  Hannover  über 

Peters  I.  Saufereien  30S. 
Soritsch,  Günstling  Kath. 

11.,   f.'ilscht   Banknoten 

273,   274. 
Sossima,    Archimandrit. 

jüti.  Ketzer   177, 
Sotow,  Papst  u.  Hotnarr 

37'". 
Sozialpolitik    u.    Religion 


Spaitnik  (dem  Schlafi 

mer  zngeteUt)  II  . 
I  SpaB-Djomiaski,  Beti 
]  dort  328. 
1  SpazietExi,  gleicfabcdei 
tend  m.  Hur«ii  105 
I  Specht  tin  Abergl.  7» 

Spießen  ,   Strafe  II  22, 
I      60. 

SpieBmten    (oder    5p 
I      ruteu)  II  i57ff. 
I  —  abgeschafft  II   i3{ 
I  SpieOrutenlanien  II 56, 

—  Beschreib,    d.    Exe 
tionen  II   isgH. 

I  Spion,    polnischer,    ge 
I      spießt  II  äo. 
Spionage  II  öo. 

—  II  64. 
I-II  wi. 

I  —  468;  II  10,   s«,  60, 

—  u.  Beichte   124. 

i  —  in  d.  Gymnasien  49 
!  —  u.  Narrenwesen  373 
I  —  u.  Trunksucht  31a 
1  Spitzruten  od.  SpieOru 
I  II  las.  il?. 
I  Splawskij,  Ungar  411. 
I  Sportein     siehe     Korn 

I  Sprachen,    ihre    Kennt 
I       Ketzerei  27,   3z. 
}  Sprichwort,  abergl.  65. 
1  —  betr.  Koitus  436, 
I  —  betr.  Ehrlichkeit  31 

—  betr.  Folter  11  178, 

—  betr.  d.  Heiligen   i; 

—  betr.     e,     Mädchc 
Schamgelübl  II  458. 

—  betr.  Peitsche  II  21 

—  „Nahe  d.  Zaren"  tis 
II  7- 

—  (Totenhand)  280. 

—  weibl.   Geschlechtst 
betreffend  437- 

—  V.    Weinen   d.    Bra 
11   370. 

—  (Wer  schlecht  liegt  lls^ 
284. 

Sprichwörter,  d.  Bad  be 
436. 

—  Diebstahl  betr.  Z73, 

—  d.  Fatura  betr.  443. 

—  korrupte  Richter  bei 


—    643    — 


Sprichwörter ,      Lüge    u. 
Wahrheit  betr.  270. 

—  obszöne  II  597. 
üb.  Bad  u.  Baden 

427. 

—  über  die  niss.  Frauen 
II  302. 

Springer,  Sekte  171,  226. 
Spmch  der  Sektierer  195. 
Spucken  vertreibt  Zauber 

102,   128. 
Spuckersekte  211. 
Ssacharow.  Senator,  a.  s. 

Schulzeit  44. 
Ssaltykow,  Anna,  verjagt 

II  49. 

—  Gräfin  Daria,  Sadistin 
149.   150;  II  280. 

Schtschedrin,  Schrift- 
steller, 270;  II  70. 

verbannt  419. 

Ssaningeg.  d.  jüd.  Ketzerei 

175. 
Ssaransk ,       Krüppclland 

330. 
Sselesnowzy,  Sekte  208. 
Sseliwanow  2  38  ff. 
Ssemik,  Festtag  105,  353. 
Ssenjäwin,  Fräulein  II350. 
Sseraphim,     der    jüngste 

Heilige  157  ff. 
Ssergej  d.  heilige  160.  161. 

—  Großfürst,  II  76. 
u.  d.  Prostitution  II 

555. 

—  Alexandr.,  Großf.,  Pä- 

derast  II  570. 

Ssolowezk,  Kloster  f.  Ver- 
bannte 145,  179;  II  150. 

Ssolowjew,  Komponist404. 

Ssoltykow.  W.  F.  II  296. 

Ssosnowskaja    Jadwiga 
tötet  ihre  Mutter  II  288. 

Ssubotniki,  Sekte  179  ff. 

Ssumarokow  u.  Richter- 
korrupt.  293. 

—  geg.  Aufheb.  d.  Leib- 
eigenschaft II  223. 

Ssustow,  neuer  Christus 
183,    2i8ff.,    225,    277. 

Ssutajewzy-Sektc  208  ff. 

Staatsgesetze  v.  d.  Stnn- 
disten  geachtet  204. 

Staatsverbrecher  II  93, 
102. 


'  Stab  Iwans  d.  Sehr.  II  12, 
I      87. 

I  Stacheln  unter  die  Nägel 
treiben  II  88,   109. 
Statistik     betr.     Bettelei 

331.  332. 

—  betr.  Brände  450. 

—  betr.    Leibeigenschaft 
I       II  218. 

j  —  d.  Prostitution  II  547. 
'  —  d.  Schulen  51. 

—  der  Sektierer  172. 

j  —  d.  Skopzen  243,   244, 

245. 
I  —  betr.  Trunksucht  316, 

317. 

—  betr.    Verbannung   II 

192,  I93ff.,  201,  204ff. 

—  der  Verbrechen  265, 
266. 

Steinigung  unbekannt  II 

93. 
Stellung   d.    Frau   bei   d. 

alten  Slaven  II  302. 

—  —  b.  d.  Kamtscha- 
dalen  II  326. 

—  u.  Gehalt  d.  Günstlinge 

II  532. 
Stellvertretung  bei  Stra- 
fen II  83,  117. 

—  bei  Verbannung  II  191. 
Steuerrückstände  II  74. 
Stinken  301. 
Stirnschlagen  II  215. 
Stock  im  ehel.  Leben  II 

292. 
Stöcke    (Strafe)    II    129, 

148«. 
Stöckeduell  II  430. 
Stockschläge  277;  II  46, 

120. 

—  f.  Tabakraucher  423. 
Stockschlagen  (Spiel)  389. 
Stockstrafe,  tartarische  II 

117. 

Stoglaw  142,  429  ff. 

Stolypin,  Frau  v.,  Ge- 
liebte Nik.  I.  II  537. 

Störung  d.  Schlafs  der 
Herrschaft  bestraft  II 
227. 

Strafe  d.  Aufhängens  an 

d.  Rippen  492. 
Strafen  f.  Brandstifter  450. 

451. 

—  für  Diebe  275,  276. 


Strafen  f.  Diebstahl  bei  d. 
Tscherkessen  278. 

—  bei  d.  Osseten  279. 

—  bei  d.  Kalmücken  279. 

—  für  Ehebruch  203. 

—  f.  Ehebrecher  bei  den 
Polen  II  427. 

Strafe  d.  Hängens  493. 

—  f.  Heldentod  H  25. 

Strafen  hoher  korrupter 
Beamten  Peters  d.  Gr. 
287. 

—  Iwans  IV.  für  korrupte 
Beamte  286. 

—  kombinierte  II  88. 

—  f.  Sodomie  u.  Päder- 
astie II  560. 

—  f.  Töten  Leibeigener 
gering  II  227,  230. 

—  f.   Trunkenbolde   303. 

—  entehren  nicht  260;  II 
42,  210. 

Straf  gesetzbuchNikolajsI . 

II  296. 
üb.  Entführ,  verheir. 

Frauen  II  424. 

Strjeljzen- Hinrichtung ; 

495  II  39. 
dramatisiert  von  d. 

Prinzessin  Natalia  412. 

lieder  II  253. 

Strjeljzy,  von  Iwan  orga- 
nisiert II  9. 

Strigolniki,  Sekte  174. 

Stroganow,  Heilkünstler 
II  30. 

Strümpfe,  Import  40. 

Studenten   in  d.    Kabaki 

318. 

—  als  Schauspieler  405. 

Studentin  II  321. 
Stumme  im  Abergl.  67,  68. 

—  Sektierer  213. 
Stundisten,    Sektierer 

196  ff.  203  ff. 

Stute  (Strafart)  II  139. 
154. 

Subow  Piatons  Perver- 
sitäten II  564. 

Sudogda,  Fabriken  für 
Krüppel  329. 

Sünde  ist  Gesetz  226  ff. 

—  heilig  210. 

—  russische  Auffass.  108. 

—  tötet  Sünde  222. 


41' 


I 


II 


Sündigen  im  Gedränge  (s,  | 
auch  Durcheinander- 

liegen)  227,  128. 

Swajka  (Bolien)  3S9. 

Swjätopotk,  Brudermör- 
der II  21a. 

Swjätoslaws  Greuel  II 254. 

Swiatunow,  Kadett,  als 
Balletteuse  444. 

Synod,  heiliger   137. 

Syphilis  s.  Lustseuche. 

Systemlosigkeit  d.  Straten 
u.  Gesetze  II  136,  147, 
'55- 

—  bei  d.  Verbannung  II 
191. 

Tabak  371.  4aiff. 

—  bei  d.  Stundisten  ver- 
pönt 304. 

—  Privatvetkauf  m.  Tod 
bestraft  11  89. 

Tabakbuden  41 4  Ü. 

Tabakgeruch  als  Verbrech. 
II  283. 

Tabakrauchen  aui  d.  Stra- 
ßen verboten  II  Si. 

—  in  Gefängn.  erlaubt  II 
199. 

Tabakschnupfeni.  Fasten- 
zeit verboten   1 14. 
Tage  im  Abergl.  63,  95- 

vgl.    die    eioielnen 

Wochentage. 

—  an  w.  d.  Koitus  ver- 
boten II  505. 

Tagebuch    führen    in    d. 

Pensionateo   verboten 

II   171. 
Talentierte  Leibeigene  II 

Talisman  durch  Mord  ge- 

Talismane  der  Diebe  zSj. 

Talitzkois,  Pamphlet  geg. 
Peter  26. 

Tamboiv,  Ursprungsort  d. 
Sekte  d.  Milchesser  {Ma- 
lachany)  197.  217. 

Tanz  38. 

Tänze  38off. 

—  der  Flagellanten  221. 

—  obszöne  105,   352. 

—  religiös- obszöne   225. 

—  phänische  II  390. 

—  bei  d.  Sektiecetn  205. 


Tanzschule  u.  Bordelle  II 

550. 
Tarakanow,  Priaieasin  II 


49- 

Tarif  für  Ehrenbeleidi- 
gungen 261. 

Tartarin  II  31S. 

Tartar.  Einflösse  11  109, 
uSff..  13^;  II  2M. 

auf  Strafen  II  Sa. 

—  Tänze  397. 
Tatarinow,  Hauptmaans- 

witwe.  hält  e.  Salon  für 

erotische  Sektierer  und 

Geißler  223. 
Tatiscbtschew,W.N.,rnsj. 

Cato  288. 
Tauben  im  Abergl.  62,  96, 

—  bei  d.  Skopzen  237,  ff. 
Taufe  198,  200. 

—  durch  Frauen  220. 

—  Feuer-  u.  Beschnei- 
dungstauf e  bei  d .  Skopzy 
343- 

Tausendjähriges  Reich 

2l6, 

Taxe  fürs  Barttragen  33. 

—  für  Sektierer  183,250. 
Telepnew-Obolensky    II 

308. 
Temperatur,   schlechte, 

Strafanlaß  II  226, 
Terem  381.  410;  II  312, 

417.  45'»- 
Testje-Roen,   holl.   SpaÜ- 

macher  368. 
Teufel  79,  80,  101  ff.,  288, 

395. 


■  rettet   Peter   bei   Pol- 


Teufelsaustreibung  90. 
Theater   38,    137,   404ff.; 


Theatralische  Vonb 

gen  U  317,  J18. 
Thtatre  de  l'Hermiti 

417. 
Thronamu&Qer  II  93 
Thronumwälzong  u.  1 

glanbe  66. 
Thronwechsel  u.  Spie 

II  66. 
Türschwelle  im  Aber] 
Ilcbanow,     Schuster, 

Apostel  ziz. 
Hchanowsky,    Obers 

276. 
Tieren  werden  Verurl 

voii^worfen  II  28 
Tieropfer  97,  99, 

—  bei  d.  heutigen  Ri 
106. 

Tierorakel  62,  95,  100 

Titow,   Komponist. 

Töchter     s.      Wertge 

stände  II   337. 

—  willkommen,      Si 
nicht  235, 

Töchtermord   bei   d. 
saken  II  445. 

—  b.  d.  Swaneten  II 
Töchterverkanf  bei  1 

gersnot  II  348. 
Tod  im  Abergl.   73, 
480,  482. 

—  u.  Totenklagen  442, 
Todesstrafe  489,  499 

5ff..  38.47. 53.  66,  8 
IZ2H..  134,  157,  16 

—  Aufhebung  II  91. 

—  Ausspruch  Nikolaj 
11    lÖT. 

—  falls  man  nicht  dei 
ziert  II  66. 

—  (.  falsche  Denunt.  1'. 

—  f.  Ketzer  verlangt. 

—  f.   Korruption  289 

—  f.   Tabakraucher   , 

—  f.   unnütze  Klag« 
I       79. 

I  —    nennt    Iwan  III. 
1       christlich  178. 
I  —  u.  Knut  II  142. 
,  Todesurteile,  Anzahl,  1 
Elisabeth  II  86. 


—    645 


Todesurteile  unter   Anna 

II  47. 
Todschlag  II  78. 
Toleranz,  relig.  183,  185, 

187. 

—  und  Theater  408. 
Tolstoj,  Dichter  U.Mystik. 

167,  269,  419,  SOI. 

—  soll  verbannt  werden 
209. 

—  alsSektengründer2o8ff. 

—  Minister  49. 
Toma(oder  Foma),  Ketzer, 

lebendig  verbrannt  182. 
Tombow,  Gründer  e.  neuen 

Skopzen-Sekte  245. 
Tortur  (auch  Folter)  178. 

213.  379;  II  80. 

Tote  im  Abergl.  64. 

Totenhand  280,  281. 

Totschläger,  Sekte  249. 

Tötung  V.  Altersschwa- 
chen II  284. 

—  d.  Eltern  II  287. 

—  d.  Tochter  II  284. 
Traktir,   Erklärg.  d.   Na- 
mens 299'. 

Traubenberg,  General,  er- 
mordet 29. 

Trauernde  gemieden  72. 

Traum  Pauls  62. 

Traumbuch  93. 

Träume  im   Abergl.  61, 
lOI  ff. 

—  Peters  d.  Gr.   166. 
Tredjakowsky,    Dichter, 

geohrfeigt  II  46. 

— s  Gedichte  als  Strafe  385. 

Trennung  von  Leibeigenen 
II  241. 

Trepow,  Vater  u.  Sohn  II 
76. 

Treue  geg.  d.  Helden- 
gattin II  305. 

Tribaden  II  564. 

Trinker  II  324. 

Trinkgelage  II  317. 

—  bei  Jagden  339. 

—  Hauptvergnügen  der 
alten  Russen  366,  $67. 

Troitzkakloster,  Absteige- 
quartier d.  Zarin  Elisa- 
beth u.  ihres  Liebhabers 
148. 

Troitzkaplatz  in  St.  P., 
Strafplatz  II  138. 


Trompeten  401. 

Tropfenweises  Wasserauf- 
schütten als  Folter  II 
181. 

Trotz  d.  Russen  bei  Be- 
strafungen II  123. 

Trunkenbold,  Abergl.  64. 

Trunkenheit  497;  II  150. 

Trunksucht  198,  294  ff. , 
411,  488;  II  344. 

—  im  Drama  409. 

—  gefördert  50. 

—  d.  Geistl.  125,  127,  178. 

—  Mäßigkeit  Verbrechen 
204. 

—  Nüchternheit  v.  e.  russ. 
Gouverneur  als  Ver- 
brechen betrachtet  201. 

—  Peters  d.  Gr.  Exzesse 

II  44. 

—  d.  Popen  123. 

—  d.  Tabakrauchen  vor- 
zuziehen 421. 

—  der  Tscherkess. -Weiber 

397. 
Trutenj,  russ.   Zeitschrift 

263. 
Tschaikowski  j ,  Komponist 

404. 
Tscheremissen  93,  99. 

—  Raubehe  II  337. 
Tscherkessen,   Diebstahl 

nichtsSchimpfliches278. 
Tscherkess.-Tänze  397. 
Tscherkessin  d.  II  329. 
Tschetschenzin  II  330. 
Tschinowniki  42,  43. 

—  Grausamkeit  II  77. 

—  Haß  der  Räuber  gegen 
sie  490.  492. 

Tschirkassin ,  Fürstin    II 

350. 
Tschubinskij,  Folklorist 

II  585. 
Tschuden,  Vorahnen   der 

russisch.  Hexenmeister 

103. 

Tschuktschen,  Selbstmord 

bei  ihnen  445. 

j  Tschulkow,      schläft     im 

'       Bette    Elisabeths    378; 

!       II  460. 

Tschuschenin  (Fremdling) 

Bezeichn.  f.  Bräutigam 

II  367. 
Tschuwaschen  II  359. 


Tugend    der    Zarengattin 

II  316. 
Tuhr,  Eugenie  II  320. 
Tungusin,  d.  II  328. 
Turf  349. 
Turgenjew  II  357. 

—  Hofnarr  II  40,  370. 
Twersche  Bettler  328. 

Überleben    d.   Witwe    II 

305. 
Übertritt    z.    Orthodoxie 

löst  Ehen  II  414. 

Ukase  auf  d.  Richtplatz 
verlesen  496. 

Ukraine,  Frauenraubge- 
brauch  II  339. 

Uljana  Wassiljew,  Gottes- 
mutter 219. 

Umpflügen  106,  479  ff. 

Umzug  im  Abergl.  77. 

Unarten  d.  Terem  II  318. 

Unbarmherziges  Schlagen 
II  115,  121.  132,  137, 
146,   150,   154. 

Unbildung  d.  Geistlichen 
120  ff. 

Uneheliche  Kinder  II  432. 

Peter  d.  Gr.  unehe- 
lich 191,  471. 

Ungebrauchtes  im  Abergl. 

77- 

Ungehorsam  m.  Tod  be- 
straft II  89. 

Ungeniertheit  in  d.  Rede- 
weise II  593. 

Ungem-Stemberg,  Seeräu- 
ber II,  68. 

Universität  von  Charjkow 
418. 

Universitäten  32,  38,  46ff. 

Unkeuschheits-Prämie  f. 
Leibeigene  II  478. 

Unnütze  Klagen  hart  be- 
straft II  113. 

Unreinigkeit  d.  Frauen  II 
229,  309,  507. 

Unreinlichkeit  411. 

—  bestraft  II   157. 

—  d.  kaukas.  Frauen  II 

473. 

—  d.  Russen  434ff. 

Unsittlichkeit  vgl.  Scham- 
gefühl u.   Keuschheit. 

—  d.  Dienstboten  II  462. 

—  d.  Georgier  II  473. 


-    646    — 


UnsittUchkeit,  vgl.  Schani  - 
gefühl  u.   Keusscheit. 

—  d.  Gesellschaft  II  460, 
549. 

—  d.  Jugettd  II  449. 

—  d,   Mingrelier  II  470- 

—  bei  Prozessionen  u. 
Wallfahrten  163. 

—  d.  Sektiefer  zij, 

—  d.  studierenden  weibt. 
Jugend  II  456. 

—  soll  gefördert  werden 
SO. 

—  von  d.  Geistlichkeit  be- 
straft II   u8. 

Unsterblichkeit  geleugnet 

„Unterhalt3dameQ"IIs46. 

Unterof filiere  t.  Prügeln 
d.  Schuler  angestellt  II 
169. 

UnterrichtS'Ptogramme 
II  4S3. 

Unterschiedslos  wird  alles 
geprügelt  II   125.   136. 

Untreue  II  374. 

Unverschlossenes  darf  ge- 
stohlen werden  380. 

Unzucht  in  d.  baltischen 
Landen  II  480. 

—  in  Gefängnissen  II  177, 
178,   193- 

— ■  d.  Gutsherren  II  »38, 

—  u.  Räuberwesen  492. 
Urinuntersuchung    b,    d. 

Kalmücken  4S7. 
Ursachen   d.    Syphilis   II 

572. 
Urteil,  salomon.,  Peters  I. 

in    e.    Ehebruchsaffäre 

—  d,  Sehern  jaka-Märchen 
292,   293. 

Urteile  siehe  ausländische. 
Uschakow.  Hofnarr  369. 

—  Poliicichef  II  6.  46. 


Velly.    Mala,   tritt   t   d. 

Leibeigenen  ein  II  133. 

Verachtung  d.  Frau  Iljoä. 

Verbannung  287;  II  47, 
55,  61,  62,99,  io>.  154. 
.56. 


Vagabunden  326. 

—  in  Sibirien  II  203(1,, 

Vampir   55,    103,    107. 
Vampirismus  444,  478. 

—  u.  Trunksucht  295. 
Vatermord,   v.   Iwan   ge- 
fordert II  ii. 


Ehescheidung     II 
411. 

—  aufs  Geratewohl  II  66, 

—  V.  Geistlichen  130. 

—  Leibeigener  durch  ihre 
Herren  II  236,  337. 

—  V.  Leichnamen   is6. 

—  nach    Sibirien  II  38, 
57,   i9off. 

—  Strafe  f.   Verletig.   d. 
Etikette  388. 

Verbotsmenschen    (Arrte) 
\      470- 

Verbrechen    53ff.,    26iff. 
1  —  aus  Abergl.  68ff. 
I  —  gemeine   u.   politische 

i     n  87.  97. 

I  —  u.  Religion  115. 
I  —  gem.,  der  Sektiereri99. 
I  —  3.  Verbannten  II  307. 
I  Verbrennungen  v.  Eltern 

II  S90. 
I  —  von   Ketiem   i?8. 
I  —  Strafe  f.  Pamphletist 
I       i6. 
I  Verfolgungen  der  Ducho- 

borzcn  201. 
j  —  d.  Musikliebhaber  400. 
;  —  d.  Sektierer   195. 
■  —  d.  Skopzen  245. 
1  Vergiftungen    d.    Frauen 
I       Iwans  d.  Sehr.  II  31,  31. 
1  Vergnügungen  333  ff. 
!  Vergraben  bei  lebendigem 
I      Leibe  II  297. 
I  Verkauf     d.     Glieder     d, 

Opfer  durch  d.  Henker 
I       n  52- 
'  —  von     Leibeigenen     II 

'  Verkehrt  anziehen  II  36r, 

!    378. 

]  Verkommenheit   des    Po- 

pentums  ii8ff. 
.  Verlizitierung    d.    Armen 

II  344- 
Verlobungstrunk   II    369, 
'       481- 


Vcmeiner,  Sekte  31 'i 
Versiegeltes,  .\bergL 
Verunreiniguiig  d.  G» 

m.  Kant  bestraft  II 
Verwaltung,    Granskt 

57. 
Vicenzia,      Herzog,     I 

kenball   387. 
Vieh  u.  A.bei^.  64.  6 
Vierteilung  498 ;   II  7 
Vogelflog  im  Abergl. 

95,   100. 
Vogetjagd   336. 
Volksbilderbogen  II   < 
Volksspiele  389, 
Volkstänze  389  ff. 
Volkstheater  414,  42c 
Vongad,  Arzt,  in  Stü 

zerrisMn  46S, 
Von-Wisin,    Dichter    t 
Vorweisung   d.   Jungft 

schaftszeicbens  II  < 

504. 
Vulva  II  484. 

—  Namen  dafür   II    ; 

—  d.  Kamtscbadalin 
rüchtigt  II  475- 

—  u.     Alter,     Wettsb 
(Erzählung)  II  610. 

Wachslicht  bei  Exekut 

II  9'.   139- 
Wachtel  im  Abergl.    i 
Wahnsinn   unter   d.    V 

bannten  II   199. 
Wahrheit  s.  Läge. 
Wahrheit  Verbrechen  4 
Wahrsager    bei    d.     W 

jäken   102. 
Waisenhäuser   d.    Feen 

sianer  248. 
Waldfrevel  II  99. 
Waldgeister  78. 
Walujew  274. 
Wändchen,   Tanzart     c 

Skopzy  242. 
Wanderer,  Sekte  213,  21 
Wanka     Kain,     Dieb 

Detektiv  II  65.   113. 
Warlam.  Bischof,   Flag 

Wäschewechseln  u,  Abi 

glaube  65. 
Wasser  im  Abergl.  ;s.  c 

—  -folter  n  88. 
^  -geister  69,  78. 


647 


Wasserprobe  8i;  II    178. 
Wassilij,  Großfürst  II  79, 

335«. 

—  Ehen  II  409. 

—  Kossoj  geblendet  II  4. 

—  Wassiljewitsch  II  4. 
Weib,  Eigentum  d.  Mann. 

II  296,  297. 

—  V.  Teufel  geschaffen 
229. 

Weiber  als  Zugtiere  II 306. 

Weibergemeinschaft  199, 
231. 

Weiberregiment  in  Rußl. 
unter  Kath.  II.  II  335. 

Weibertausch  b.  d.  Tun- 
gusen  II  345. 

Weibliche  Rollen  d.  Män- 
ner dargest.   413,   414. 

Weihnachten,  abergl.  Ge- 
br. 55. 

Weihnachtsabend  i.  Aber- 
glaub. 63  ff. 

Weinen  c.  Keuschheits- 
zeichen  II  370. 

Weinrebe  eine  Teufels- 
pflanze (Märchen)  295. 

Weiße  Hemden  d.  Skopzy 
242. 

WeiJÖgeklcidet  gehen  d. 
Frauen  d.  Spuckersek- 
tierer 211. 

Weißrussen  II  375. 

Weitende  210,  252. 

Welt  Jahreszeiten  211. 

Werbung  um  d.  Mann  bei 
d.   Kleinrussen  II  482. 

Wertcp,  tragbare  Volks- 
bühne 405. 

Werwolf  (siehe  auch  Vam- 
pir) 482. 

Wettrennen  d.  Leibeige- 
nen II  229. 

Wjäsemskij,  Fürst,  Er- 
innergn.  an  s.  Schulzeit 

44. 

—  von  Iwan  hingerichtet 
II  21. 

Widersprechende  Gesetze 

II  84. 
Wilde  Ehen  II  417,  432. 

—  Sitten  II  253. 
Wilen  79. 

Willkür  d.  Zaren  ist  Ge- 
setz II  78. 
Windhunde,  russ.   341. 


Wippen  (Estrapade)  II 42, 

180,  246. 

Witebsker  Bettler  328. 

Witte,  Minister,  Flugschr. 

geg.  Päderastie  II  457. 

I  —  geg.   Trunksucht   320. 

Witwe  bei  d.  Osseten  II 

I      414. 

.  Witwenverbrennung    II 

I       306. 

,  Wladek,    Frau,  Maitresse 

I       386  ff. 

Wladimir,  Großf.  II  539. 
'  —  Andrejewitsch,  V.Iwan 

vergiftet  II  30,  31. 
I  —  d.  Heilige  II  85,  407. 

—  Monomach  II  85,  134. 

I       335. 

—  Bartgesetz  18. 

!  Wlasta  II  302. 

I  Wlaß,  d.  heilige  64,   158, 

481. 
I  Wolfsjagd  342. 
Wolkonskij,  Hofnarr  374. 
Wolkow,     Fedor,     erster 
russ.  Schauspieler  41 5  ff. 

—  (oder    Volkov),    Folk- 
lorist II  585. 

j  Wollust  u.  Abergl.  59. 

—  in  d.  Einsiedeleien  d. 
I       Sektierer  196. 

Wollust    u.    Grskt.    496; 
;       II  23  ff. 

I d.  Räuber  491. 

I  —  u.  Jagd  335. 

—  Iwans  d.  Schreckl.  II 
I       10,   13. 

'■  —  u.   Religion   225.   231. 

—  b.  Schlagen  II  279. 
Wollüstige  Tänze  390. 

'  Wolostgerichte    dürfen 
j       noch    peitschen    lassen 
'       II  84. 

—  Rutenstrafe  II  164. 

—  u.    körp.    Züchtigung 
II  150. 

Woronzow,  Elisabeth,  Ge- 
liebte Peters  III.  II  35 1. 

—  Frau,    Fußsohlenkitz- 
lerin  378. 

Worotänskij,  Eroberer  v. 
Kasan j,  hingerichtet  II 

25. 
Wort  U.Tat  s.  Slowo  idelo. 
•Wosnitzin  als  Ketzer  leb. 

verbrannt  178. 


Wotjäken,  Abergl.  100. 

—  geschlechtl.  Freiheit  d. 
Ledigen  II  476. 

—  Schaukeln  390. 

—  Snochatschestwo     II 
518. 

—  Stockspiel  389. 
Wotjäkin,  d.  II  328. 
Wotjäkische    Tänze    395. 
Wowtschok  II  320. 
Wßewolod  III.  II  .4. 
Wucher  II  90. 

—  m.    Menschen  wäre    II 

233- 

Würfelspiel  s.  Karten- 
spiel. 

Würger,  Sekte,  die  Mord 
lehrt  249. 

Zahlen,  geheimnisvolle 

190. 
Zähler,  Sekte  210. 
2^hn  im  Abergl.  71. 
Zahnarzt,    Peter    d.    Gr. 

als  Z.  471. 
Zangen  zu  Folterzwecken 

II  88. 
Zar    ist    Gott    112 ff.;    II 

212,  213. 

—  den  Räubern  heilig 
489. 

—  behütet  vor  Berüh- 
rung m.  Leidtragenden 

73- 

—  gilt  d.  Stundisten  als 

simpler  Mensch  204. 

Zaren  züchten  Korrup- 
tion 285. 

Zarenpalast  II  536. 

Zarentochter     nicht     an 
Fremd  gläubig,  verheir. 
II  312. 

Zarin  anschauen  Maje- 
stätsverbrechen II  313. 

—  u.  Arzt  467. 

—  aus  d.  Volke  gewählt 
n  312,  359. 

Zarinnen,  Grausamkeit  II 

45- 

Zarische  Ehebettgebräu- 
che II  505. 

Zartitel  u.  Imperatortitel 
190. 

Zauberei  II  146,  154,  288. 

Zauberer  54,  76ff. ;  II  290. 

—  als  Arzt  482. 


648    — 


Zauberer  (Bettler)  328. 

—  erforschen  Diebe  283. 

—  d.  Osseten  384. 

—  als  Urheber  v.  Feuera- 
brflnsten  450. 

—  am  heutigen  Zaienhof 
167. 

Zauberlicht  aSi. 

Zehe  als  Talisinan  70. 

Zehn  Gebote  der  Moral 
262. 

Peters  d.  Gr.  277. 

Zehntaus.  Stöcke,  Todes- 
strafe II  95. 

Zeitungen  34. 

Zeremonien,  asiatische.am 
russ.  Hofe  365. 

—  bei  d.  Exekution  m. 
Knut  II  139. 

—  beiHinrichtungenllgt. 

—  -meister  als  Bart- 
scherer  jSS. 

Zerfleischen  II  2],  26,  94. 

—  Lieblingsstrafmethode 
Iwans  II   14. 

Zerhacken  d.  Hingerich- 
teten II  23,  24. 

—  d.  Opfer  Iwans  II  88. 
Zerreißen  d.  Beichtvaters 

d.  Polin  Marina  II  252, 

—  durch  Pferde  II    123, 
Zerschneiden   der   Verur- 
teilten II  28. 

Zerstückelung  Strafe  für 
Hochverräter   II   5. 

Zeugung  als  relig.  Hand- 
lung 231. 

—  ist  Teufelswerk  248. 
Ziege  als  Wöchnerin  376. 
Zigeunerinnen      Prostitu- 
ierte in  Moskau  II  549. 

Zigeunertanz  3Q4. 

Zimin,  Apostel  d.  Don- 
kosaken 211. 

Zirkel,  der  kleine  in  der 
Eremitage  Katharinall. 
335- 


11  i 

—  Acta  des  Inquisitions- 
prozesses 23. 

—  AUgem.    Zeitung    179. 

—  Am  Urquell  100',  445. 

—  Andree,  Ethnogr.  Pa- 
rallelen 69. 


Zitate  Anthropophyteia  1 1 
SIS.  5'6- 

—  Aus  d.  Petersb.  Gesell- 
schaft II  4S4. 

—  BatteydicT  A.,  Histoire 
d«  Nicolas  II  169. 

—  Bär,  Muscowlt-,  Chro- 

.  —  Barthold,  Ausgang  d. 
Ivanschen  Zweiges  415; 
II  96.  ' 

—  Barthold,  F.  W.,  Hist,   , 
,      Taschenbuch  II  47,  50, 

<  —  Bastian,  A.,  Allerlei 
Menschenkunde  435. 

—  Battifol  L.,  La  vie  in- 
\      time  43  S  ■ 

j  —  Bäumer,  Dr.  E.,  Bade- 
wesen 426.  I 
'  —  B*giel,V,,Lad6nionolo-  , 
j      gie  79.  80.  445-  i 
I  —  Bellermann,    Bemerk.   1 
über  Rußland  29,  140, 
390,  400,  402,  471;  II  I 
!       142.   348,   3SO.  47a-         j 
\  —  Bergholz  in  Büschings 
Magazin  1 5 ,  15,  16,  39,  I 

1    381,471:1141.43.3s*.  ! 

I       SM.  I 

]  —  Bergmann,  Nomad. 
I      Streif ereien  94,  95,  152, 
379.  396,  487.  II  398, 
413.  430,  474,  513. 

—  Bernhard,  Dr.  L., 
Grausamkeiten  II  260. 

—  Beschreibung  d.  Russ, 
Volkes  II   sio. 

—  Besobrasow  Etudes  II   1 


509. 
—  Beyplan  L'Ukraine  II 


—  Bilbassow,  Geschichte 
Katharinas  II.  39,  39, 
315,  416;   II   184,   529. 

—  Bodcnstedt  II  401. 

—  Bogoroz,  Eltcrnmord, 
II  28;. 

—  Bredow,  Chronik  II  69 

—  Breton,  Rußland  271, 
369.  400;  II   1S9- 

—  Brückner,  Kulturhist. 
Studien  404.  407,  4Ö1 ; 
II  2B7,   3:1. 


Zitate,  —  Brückner 
vae  II   \30. 

—  Bruneaa,     Die    t 
404. 

—  Buch.  Max,  Die 


476. 

—  Buddens,  A.,St.  P. 
bürg  im  kranken  t. 
275.320,485:11137 

—  Busch,  Mor„  Woi 
liehe  Heilige  303. 
343. 

—  Bäscbing,  Magazin 
144.  301.  308.  309. 
3"*.  3>3.  321.  3". 
368,  433;  II  43, 
133.  *63,  350..  359. 

—  Byron,    Lord    II 

—  Catherine  II.,  HAm 
379.   383- 

—  Chardin,  Reise  in 
siea  301. 

—  Chantrean,  Voyagi 
Russie  183;   II   2i( 

—  Chroniqne  de  Nesto 
loS.  390.  438.  46s 
8S,92,»S».2S4.358, 

—  Clarke  Travels  in  1 
sia  433 

—  Collins,  S.,  Stati 
Russia  463. 

—  Constantinopel  u. 
Petersburg  19,  133, 
385:  II  8a,   134,    17 

—  Corvin  Geißler  II 
230. 

—  Cox  Reise  II  287, 

—  Custlne   la   Russie 

1839  41,  Ml,  375.  ; 

369;  II   115,   349,   ; 

—  Daschkoff,  M6mo 
368,   375- 

—  Daudet,  E.,  Lap 
cesse  de  Liev^n   II 

—  Descript.  de  l'UkrE 
II  482,  491. 

—  De  Windt,  Von  Pek 
n.  Calais  II  [49. 

—  Dictionnaire  de  la 
nalite  II  37,  da,  93, 
103,  105,  108,  m,  a 

,   408.  428,  430. 

—  Die  religiöse  Unreti 
keit  d.  Weiber  II   5 


\  I  ht 


—    649    - 


Zitate  —  Dikurew  II  483. 

—  Dinaux,  Les  soci^tts 
badines  373. 

—  Dolgoroukow    II    49, 

81,  419. 

—  Dupr^  de  St.  Maure, 
L'Hermite    en     Russie 

63.  ^7,  127.  145.  402; 
n  91.  183. 

—  Estrupe  im  ..Slowo"  II 

97- 

—  Faber,    De    Russorum 

religione   141. 

—  Fletcher.  G.,  Of  the 
Russe  Common-Wealth 
7,  324,  326. 

—  Flittner,  Chr.  G.,  Das 
Band    d.    Ehe    II    508, 

513- 

—  Floegel,  Geschichte  d. 

Grotesk.  Komischen  369, 

373.  379. 

—  Gahtzine,  La  Russie 
II   183. 

—  Geheime  Nachrichten 
über  Rußland  431:  II 
233.  239,  278,  282,  351, 
461,   535»   543- 

—  Geheimnisse  von  Ruß- 
land 62,  77,  15s,  261, 
433;  n  71^  81,  225,  230, 
233,  in,  238.  243.  279. 

—  Gerebtzoff,  Nie.,  Essai 
sur  l'histoire  en  Russie 
189,  336,465:11  53,  58. 

-»-  Globus  77  \  II  328. 

—  Gmelin,  S.  G.,  Reise  d. 
Rußland  397;  II  329, 
400,  401,  481,  504,  507. 

—  Golant,  N.,„NeueFreie 
Presse"  210.  415. 

—  Golovine,     Ivan,     La 
•  Rttssie   II   60,    84,   97, 

133. 

—  Golovkine,  La  Cour 
de  Pauli  308;  115,536. 

—  Goltzew,  Die  Gesetz- 
gebung 158. 

—  Gu^pin,  Vie  de  Josa- 
phat  II  43. 

—  Guerrier,  I^bnitz  in 
seinen  Beziehungen  zu 
Rußland  306. 

—  Güldenlöwe  in  Bü- 
schings  Magazin  73,305. 


Zitate  —  Gunner,  Knud 
Leems  Nachrichten  160. 

—  Hahn,  C,  Aus  d.  Kau- 
kasus II  508. 

—  Halem,  Leben  Peters 
des  Gr.  22,  31.  31.  33, 
90.  143.  289.  337.  343. 
369.402,472;  II  43.  44, 
182,  262. 

—  Hanway.  J..ReiscIl45. 

—  Hase,  H..  in  Bi'isch. 
Magazin  491. 

—  Havelock,  Ellis,  Ge- 
schlechtstrieb 359. 

—  Haven,  Nachrichten  v. 
d.  Russ.  Reich  27,  35, 
116,   323;  II  296,   353. 

—  Haxthausen,  A.  v., 
Studien  über  die  inner. 
Zustände  Rußlands  4, 
133.  146.  174.  284,  318. 

—  Transkaukasia  98,  99, 
202,  213,  424;  II  191, 
272,  510,  518. 

—  Heinse  303. 

—  Heibig,  Russ.  Günst- 
linge II  287. 

—  Hellwald,  Welt  der 
Slawen  125,  174.  188, 
235:  n  343. 

—  Herberstein,  Die  Mos- 
couitische  Chronica  303. 

—  Herrmann,  Zeitgenöss. 
Berichte  421;  II  459. 

—  Hiärn  (sprich:  Gäm), 
Geschichte  62,  69,  75, 
356.  454,  457;  II  23, 
212,  255,  256,  325,  394, 
428,  479. 

—  Histoire    de    Kam- 
tschatka 279,  285,  445. 

—  Jenaer  Literaturzettg. 

119»   137. 

—  Johann  Wasiljev,  Prie- 
ster, Aberglauben  und 
Religion  d.  Wotjäken 
102. 

—  Johannis  d.  J.,  Herzog 
V.  Dänemark,  Russ. 
Reise  II  506. 

—  Kaiser     Nikolaus     I. 
gegenüber   der  öffentl. 
Meinung    von    Europa 
49,61,  112.  139;  II  144, 
268. 


Zitate  —  Kapnist,  Gräfin 
II  321. 

—  Karamsin,  Geschichte 
des  russischen  Reichs 
7,  66,  82,  115,  124,  131, 
142,  147,  155,  173,  174, 
300,  302,  304.  322,  336. 
362,  380,  390,  399,  429, 
466,476,485,489:114,8. 
9.  29,  36,  78,  82.  85. 
86.  87,  91,  181,  210, 
211,  221.  252,  255,  279, 
284,  286,  302,  303,  306. 
307,  308,  314,  359,  362. 
364,  407.  411.  417.  467, 
505. 

—  Katharina  IL,  Dar- 
stellungen aus  d.  Ge- 
schichte ihrer  Reg.  29. 

—  Kem6ny,  J.,  Hungara 
n  544- 

—  Kirchner,  E.,  Zeltleb. 
in  Sibirien  476. 

—  Klemm.  G.,  Das  Feuer 
421. 

— '  Kohl,  J.  G.,  Reisen  in 
Südrußland  279.  326, 
341,  425:  II  116,  216, 
218,  224,  229,  231.  237, 
285. 

—  Kolenati,    Die    Berei- 
sung    Hocharmeniens 
203. 

—  Kölnische  Zeitung  82, 
86,   281. 

—  Korsakow.Thronbestei- 
gung  d.  Zarin  Anna  314. 

—  Kostomarow,  Gemälde 
d.  häuslichen  T^bens 
158.   188. 

—  Krafft.  G.  W.,  Be- 
schreibung St.  Peten»- 
burg  377. 

—  Krauss,  Friedrich  S., 
480;  II  394,  426.  504, 
510,  512. 

Sreöa  62. 

Am    Ur-Quell    71, 

352.  352.  359,  359.  394. 

437.  441.  479. 

—  Kupczanko,  G.,  ,,.\m 
Urquell"  II  375. 

—  Labbe,  Un  bagnc  russc 
154;  II   197.  400,  413. 

513. 


Zitate  —  l.anin.  E.  B., 
Rds->.  Zmtäode 
Sa,t05.  I2j,i7i,44i;ri 
76.  77.  84.  i:. 
l'^2.    357     4SoH,    456, 

—  Laveanx  M^oirea)4S. 

—  L«  Bmpi.  Vc/yaf^  por 
1a  Moocovic  13,  II, 
315,  340;  II  91.  94. 

—  LcizmanD,  F.,  Sien- 
tchCD  a.  Dinge  in  Ra&- 

~~  Lerch  h«  Bösching 
II  .5». 

—  I.eroy- Bcanlieu,  Das 
Reich  der  Zaren  11,  31. 
91,  93.  to5,  106.  III, 
158.  17'.  172.  441.  174. 
tJtg.  198,  it3,  319.  123, 
127.  m.  2.15:  11  57. 
69.  7«.  r'J.  84.  i'S.  1^9. 
'34.  iHs.  273.  ^9".  293. 
197,  41  [,  413.  461.         I 

—  Liebrecht.  Zur  Volks-  1 
IcDiide  69. 

—  Lippert,  Christen  tum,  , 
Volksglanbe  und  Volks-  1 
brauch  69,  154,  t6o,  [ 
477. 

—  Liwanow   li>4. 

^  Lodzer    Zeitung    ]i9,  ' 
313;    II   73.    32'.    3^4. 
342- 

—  Löwcnstem,  Memoires 
345- 

—  LfiwonRtimm,  A.. Aber- 
glauben u .  Strafrecht 
56.  57.  '15.  "'.  84.  35, 
90,  ('16,  252,  280,  295, 
448,  474.  479.  4«0.  4«3; 
11   I90. 

—  Manifest  betr.  Zure- 
witsch  Alexej  33. 

~  Mannhart,  \V..  Zau- 
berff!.  u.  Geheim  wissen 
341,   356. 

—  Manstein,M£nioirc3369. 

—  Marcuse,  Dr,  Julian, 
Bade  Wesen  416. 

—  Margeret,  Kstat  de 
l'F.mpire  31.  260.  187, 
300.   363,  47  ö. 

—  Markgräfin  v,  Bay- 
reuth, Memoiren  ifi;  II 
459- 


Schule  50L 

—  Masson.CcheinM  Nach- 
richten 401,  II  329- 

—  Matignoa.  Dr.  J.  J„ 
Sapentitioa  143. 

—  Montaigne  M.  174. 

—  Mayerberg.  \'oyages 
430.  467;  II  i36.  314, 
352.  411. 

—  Meiners.  Geschichte  d, 
weibl.  Geschlechts  II 
326,  430,  476,   ;io. 

—  Mimoires    de    Cathe- 


-  Merkel,      Ehe     Letten 


il   : 


.    242, 


244,  145,  246,  147,  250. 
180,  388,  377.  395.  477- 

—  Meschtscheisld),  Fürst 
II  4SO-  j 

—  Miljukow,  Skizzen  158.  | 

—  Ministre  ^tianger,  Mi-  i 
moires  72,  374,  433.  . 
428  ;  II  90.  I 

—  MonaMyrskij,  Illostr.  ', 
Wolgaführer  68. 

—  Munkaci.  Dr.  B.,  100. 
105. 


<  II    5 


5.1w 


~  Neue   Freie   Presse   II 

78.  186. 

—  Neumann.  Rußland  u. 
die  Tscherkmsen  278, 
469.   509- 

—  Oldeko]>.  Sit.  Peters- 
burg.  Ztschr.   31. 

—  Olearius   131,   142. 

—  Pachmaun,  Das  Buch 
V,  d.  Fraueu  II  4;). 

—  Pallas  Reisen  96.  263, 
279,  486;  II  413.  482. 

—  Pelikatis  Statistik  344. 

—  Pell,  Peter  d.  Gr,  308, 
!      II  41.  45- 

—  Perry,  Etat  present  de 
la  Grande- Russie  33, 
:2i,   163.   269.   270;   II 

79.  296, 

—  St.  Petersburger  He- 
rold 204;   II   171, 


n-Wocb 
scfanft  II   172- 
Zeitmig  n  232. 

—  PetTi_  Esthland  n. 
EstbcQ  455;  II  68.  I 
»43.  244-  *«6.  247.  i 
149.  278.  a«4.  32«.  3 
395.  396.  47«.  481.  S 

—  PßUnitz,  Memoires 
42. 

—  Passevinus   135. 

—  Potemkin,  Beitragj 

—  Progawin,  A.  S.,  1 
rnsa.  KlostergefäDifiii 
109:  II   174. 

—  Pj-pin,  Geistige  I 
wegang  46. 

—  Rabinowitsch,   S..   J 
disches    Proletariat 
172. 

—  Radde,  Gustav,  r 
Chewsuren  II  403. 

—  Ran,  H..  Die  V. 
imingen  in  d.  Religii 

—  Le  Raskol  172,  t; 
18S. 

—  Reden-Esbeck.  Car 
line  Nenber  413. 

—  Reichsgesetze  II  84 

—  Reimers,  St.  Petci 
bürg  II  68. 

—  Reinholdt,  A..  von  G 
schiebte  d.  russ.  Lit 
raturi74,  263,  269,  27 
288.  195,  316,  3SI.  35 
338,  431,  443,  443.  46 
490;  II  46,  120,  II 
223.  253.  310.  320,  34 
366. 

—  Reise  von  Moskau 
Wien  433;  n  238. 

—  Reise  nach  Nordi 
(1706)  6,  107,  117,  38 
302,  336,  381.  397.  40 

n  78,  95.  90,  115.  i8 

195.  362,  363,  380,  41 
428,   SOI,   SOS.   Sit. 

—  Religion  d.  Moscoviti 

113,    IIS,   122,    125.    18 
260,    264,    168,    270;    ] 

292.  309.  3'5.  352.  36. 
36;,  381,  408. 

—  Reusner,  v.,  Profess< 

209- 


-    651    - 


Zitate  —  Rhamm , '.  K., 
Verkehr  d.  Geschlechter 
394;  II  310,  325.  337, 
342,  365,  369.  483.  507. 

S15.  517. 

—  Roskoschny,  Das  arme 

Rußland  326,   331. 

—  Rosenbaum,  J.,  Ge- 
schichte d.  Lustseuche 

437. 

—  Rostislaw  118;  II  169. 

—  Rovinskijs     Lexikon 

—  Russische  Anekdoten 
29,  122:  II  43,  61.  158, 
265,  296,  351,  352.  364. 
421,  501  ff.,  506. 

Zeitungsberichte  II 

177. 

—  Russischer  Volksgl.  63, 
67. 

—  Russisches  Landrecht 
II  541. 

—  Rytschkow,  Tagebuch 
in  Büschings.  Magazin 
97;  n  431. 

—  Rytskow  II   503. 

—  Sabclin,  I.,  Häusliches 
Leben  d.  Zaren  und 
Zarinnen  9,  62;  II  359. 

—  Sabylin,  Das  russische 
Volk  63;   II   358.   370. 

372. 

—  SadJer  369.  470;  II  89, 
121.   157. 

—  Sadow,  M.,  Dcis  prü- 
gelnde Rußland  II  170. 

—  Saldem,  Herr  v.,  Bio- 
graphie Peters  III.  II 
48. 

—  Sammlung  merkwür- 
diger Anekdoten  16,  23, 
63=  437.  476. 

—  Sanglen,     Sammlung 
russischer  Denkwürdig- 
keiten 62,  424. 

—  Saratower  Ztg.  II  464. 

—  Sauvage,    Jehan    286. 

—  Schachowskoj  149. 

—  Schaffarik,  P.  J.,  Ge- 
schichte d.  slawischen 
Sprache  398. 

—  Schein,  Russ.  Volks- 
lieder II  293. 

—  Scherr,  Joh.,  Gesch. 
d.    Religion    154,    435. 


Zitate  —  Schilder,  Bio- 
graphie. Paul  II  5. 

■  —  Schilkin  193. 

I  —  Schiemann,  Alexand.I. 
39.  42,  118,  119.  120, 
123,  134,  138.  142.  163, 

I       238.  240. 

'  —  Schmitt,  Dr.  K.,  Sla- 
vische  Geschichtsquell. 
II  234. 

—  Schnitzler,  J.  H.,  Ge- 
schichte Rußlands  10. 
272. 

—  Schumigorskij,  Kais. 
Maria  Feodorowna  166. 

—  Schurtz,  Dr.  H.,  Ur- 
geschichte d.  Kultur  91. 

—  S6gur,      Histoire     de 
Russie   9,    120;    II   44, 
89. 

—  Shakespeare,  Zäh  rag. 
d.  Widersp.  II   328. 

—  Snamierski  149. 

—  Soldan,  Geschichte  d. 
Hexenprozesse  84. 

—  Spittler,     Europäische 
Staatengeschichte     II 
287. 

—  Ssablukow,  Memoiren 
166. 

—  Ssaratowskij  dncwnik 
64,  86. 

—  Ssemewsky,  SIowo  i 
djelo  61. 

—  Ssolowjews  Geschichte 
Rußlands  183. 

—  Ssumzow  56. 

:  —  Ssu worin,   Skizze   189. 

—  Stählin,  Originalanek- 
doten 402.  471,  473;  II 
44,  262.  419. 

—  Stern,  Bernhard,  Zw. 
der  Ostsee  und  dem 
Stillen  Ozean  8,  9,  47, 
48,  62,  68,  72,  80,  81, 

j  —  Die  Romanows 1 58, 167, 

!       169,  172,  174,  i88,  189, 

297.  355.  369,  372.  388, 

437.  454.  47^>.  480;  II 
59.  272,  293,  295,  305. 
317.  329.  374.  402,  404, 
420,  493.   507.   520. 

—  Storch,  Historisch-stat. 
Gemälde  d.  Russischen 
Reichs  II  456. 


Zitate  —  Strafgesetzbuch 
d.    russ.    Reiches    188, 
446;    II 
184.  297,  320,  411,  424, 

513. 

—  Strahl,  Das  gelehrte 
Rußland  31. 

—  Ströhmberg,  Dr.  C, 
Prostitution    II    347. 

—  Struvens,  B.  G.,  Allg. 
Russ.  Landrecht  276, 
277.  287,  305,  422;  II 
60,  127,  182,  285,  408, 
422. 

—  Stuhr,  Die  Religions- 
systemc  154. 

—  Sugenheim,  S.,  ..Ruß- 
lands Einfluß  und  Be- 
ziehungen zu  Deutsch- 
land" 17.  31,  35,  40, 
314;  II  38,  52,  61,  69, 
222,   255,   258,   287. 

—  Tamow,  Fanny,  Briefe 
II  350. 

—  Theiner,    Aug.,   De 
TEglise  142;  II  43. 

—  Tolstoy  II  86,  91. 

—  Tradescant  d.  Jüngere 
II  29. 

—  Turgenjew  II  454. 

—  Ular,  A..  Erlebnisse 
in  Rußland  458.  460. 

—  Vandal,     Albert     311, 

369. 

—  Veuillot,  Louis,  M6- 
lauges   r^ligieux  435. 

—  Vockerodt,  bei  Herr- 
mann, Zeitgenössische 
Berichte  zur  Geschichte 
Rußlands  6,  26,  121, 
140,  288.  369,  471,496; 
II  419,  501. 

—  Volkow,  Seelenspeisg. 
bei  den  Weißrussen  73, 
74;  II  381,  483. 

—  Voltaire,  Histoire  de 
Pierre  I  469;  II  95. 

—  Vorwärts  II   186. 

—  Voyage  en  Moscovie 
34,  146,  268,  300,  301; 
II   142,  421. 

—  Wagner,  Dr.  Fr.  II 345, 

—  Waldbrühl.  W.  v.,  Sla- 
wische Balalaika  391. 


IJi 


öl. 


Walisznvski, 
s  Grand   S. 

27,    36,    l8.   38. 
124.  140. 


147.      496;      II 

.a..    183.    23.. 

.114.   316.   322-   311;, 

337.  339.  343-  345.  368, 

376,  382.  402,  414,  . 

417,  422.  47.1- 
■ K.  n  7,  36.  .ly.  42. 

43,  46,  48.   51.   53.   54. 

55.   58.  Ö3.  64.  6S.   66. 

68,   183,  »23, 

117.  232,  253,  a6i,  262, 

264.  265.  -281.  283.  287, 

296.  35' 
^  Weber   142,   367.   368. 

—  Webers    Verändertes 
Rußland  470. 

—  Wernirot.  F..  Rußland 
Licht    u .    Schatten 


Zitate  —  Wichelhausea, 
GemäUde  von  Moskwa 
76,77.390.  398;  II  145. 

JI7,  220,  224,   223,   226, 

23*.  139.  s83,  351.  456. 

—  Wiener  Arbeiter- Zeitg. 
11   186. 

—  Wolynski,  Geschichte 
ä.  russischen  Poesiei68. 

—  Zando,  A-,  Rassische 
Zustände  II  71,  226. 

—  Zezas  Spyridion.  Etu- 
dcs  276;  II   182. 

Zivilisten    dürfen    n.    ins 

Hoftbeater  420. 
Zobelfelle  als  Honorar  f. 

Theatervorstellu  ngen 


ruptio 


423;   II   133. 
192 


408. 
Zollbeainti.', 


Zotenreißer  425. 

Zu  wenig  Tote  II  277. 

Züchtigung  entehrt  nicht 


Züchtigu  ngs-Iostmi 

Abstiiig.II  131,  1 
Zuckungen  als  Bewi 

Zauberei  II  38t. 
Zunge,    Beieicbii. 

zwung.  P<dizeiS|)il 

64. 


—  verbrennen  als  ! 
287. 

Zusammeaschlafen 
Jugend  bei  Esti 
Letten  II  479. 

Zwangsarbeit  II  86. 

Zwölf  Gebote  des  Chi 
gottes  Daniel  377 

Zwerge  im  Aberg). 

Zwergei^eschletJit 
Peter  d.  Gr.  gesd 
472. 


A/ 


GESCHICHTE    nnnnnunnnnnn 

DER  nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn 


ÖFFENTLICHEN  — 

SITTLICHKEIT 

IN  nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn 

RUSSLAND 


nnnnnnnn 


Von   BERNH.  STERN  nnunnnnn 


4^   ^ 
W   ^ 


MIT  22  ILLUSTRATIONEN. 


I 

ff 

k 


lin  W-rlage  von  flermiinn  Barsdorf  in  Berlin  W.  30  erschien: 

Lliilili  UND.  KHK  IM  ALTEN  UND 
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l:>'r^IF.N.   11!.  l'i!V-I''I.''-'":fK  Di-  -KVI.aLI.KBKNS  IN  INDIKN.   l\\  KklK 

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'..•'..•;..  s-  i!;v.\N';!.!::v.ii;M''v:M-:i:i]i;!ri-.  vj.  niEPRosrn'UTiOx. 


KAMASUTRAM  i  )KS  VAVSVÄYAKA 

DIH  IXDlSCiii.:  IJI^HESRUNS'J^ 

NhiJ:';-  :;k:'.'  \-OLi.si;\.\'ih";K-    '<(\mmkn*iaki-:  uks  vasodhaka. 

.\u.s  (liMii  *^anskrit  ribirr.5i'izt  und  einpjelcitei  von 

RTCl-JARl)  SCHMIDT. 

I>r."e  vcrbf-sscr!"  A-ill.     ■"■•«»«•  Seil«  ji.     Hrosch.Mk.  12. — ,  geb.  Mk.  14. — . 

! 'i.-.-.rirf :  l.ifbh-'^-i'.raiiSi^'ibc  w  Quart,  nur  in  25  ntonerierfen 
:■'.■   mtüar'.'K  i:,-':f}Uikt,  lt(f::k  .»/.:''.'.—.  in  Perf^t,  geb.M. -W.  — . 

JN}j.\i.T: 

;     .^•.' '.5/N-i-iM  K  '['»CiL      fl.  li:T£:<    DEN  i.IEBESGKNUSS.   LiL:::i 
=    .     r    jr,     ';:V'.  '.  :::<^i^Hi^  Mlj    M-XFi-lHRN.     IV.  ObrK  DIE  VJLR 
)\r\\-   ^  :■.'■::    .:':\\.\':-.      \.    1   K.:U    JME    l'Ia^^lD£K    FKAIJEN 
V...  •    -'W.'-    ■•ii     :.'■  i'.\"<'-N       •    .1.    Im"    r''\Ni>Aj:)  (<a^HElMLHHRi:- ;. 

'.'•.'..-  .  .•  -«i.-..'-.  i  1  ••.  -'-.i  Inicr.»^- •.rli'-if.  \V'!i%  'i.s  'icr  .qdnzcn  .uroücn 
;.  i:  ."  ■■/.■;••.■..■.'.  i-  r.i..  i;ir';.  ii/u  '• . /•  .i;>-.k,;  .:or_\VLl[luerati:r  j;eix-.ri.  d.is 
;.  .  .  •  ;•..■■!  ':.  ■.  ■.'.  •..  •■  •  .;■  i  "'■  ^t  ww.  _^>.r  In'.lolof^e  spn-ngt  ui:(i  /.\\ 
.  •.  .  .  ■'.-.  ■.  •i-.i  i'  !:.:><.' r.i'."l' iroinclcsloji.  Seine  allen  vcrstanülii.ht- 
:-j'i  .  '  .  .!•■'.  '.'y  l'j.r  '.  in.»  lii-.'i  in  ivi  n  (■U"t  1  utityiiiüi  Jfr  lläuslickheit  vov  ; 
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INHALT:  1.  ASKJCS1-;  r.  ASKl-TlüNTUM.  IT.  BI-RrilMTi; 
ASKKTi:X.  111.  DHC  \M  NDKKIATICX  Dl.R  \i)Gl\<. 
\\\  in-RTCUTF.  AUS  KFISKWKICKKN      \\  DIL  PHILO- 

-(UMiii;  Die.-  \'(U]A.     \\.  v(h;a-im>:axis. 

Sclin>i(ils  Fakirlnicli  will  .liiikicln-iul  v.irki.T;I  L-  i;''.*]it  den  .n- 
i;i:l>'iic!.  U/crn.ttiirlii'.'ncn  Kiällrn  der  l\('..ir5.'.  die  l)'/ai/j!la;:iL-,;i[c.iiii,L* 
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r.oi  ;!•  111  l'Oli«^!;  li^l  Mi-.^.si',  da^  ^.rai'.f  jetzt  wieder  fu:"  alhs.  was 
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D:i.^>c'/u    Li'.Uiii'u>-Aii:i'^abc  in  Qittiri  (I901j  M.  20.-  . 

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