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Ar •'•.
GESCHICHTE
DER
ÖFFENTLICHEN SITTLICHKEIT
IN
RUSSLAND
KULTUR, ABERGLAUBE, SITTEN UND GEBRÄUCHE
EIGENE ERMITTELUNGEN UND GESAMMELTE BERICHTE
VON
BERNHARD §TERN
VERFASSER VON „MEDIZIN, ABERGLAUBE
UND GESCHLECHTSLEBEN IN DER TÜRKEI"
ZWEI BANDE
MIT 50 TEILS FARBIGEN ILLUSTRATIONEN
II.
RUSSISCHE GRAUSAMKEIT, DAS WEIB UND DIE EHE, GESCHLECHT-
LICHE MORAL, PROSTITUTION, GLEICHGESCHLECHTLICHE LIEBE,
LUSTSEUCHE, FOLKLORISTISCHE DOKUMENTE
REGISTER ÜBER BEIDE BÄNDE
BERLIN W. 30 • VERLAG VON HERMANN BARSDORF • 1908
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GESCHICHTE
DER
ÖFFENTLICHEN SITTLICHKEIT
IN
RUSSLAND
RUSSISCHE GRAUSAMKEIT, DAS WEIB UND DIE EHE, GESCHLECHT-
LICHE MORAL, PROSTITUTION, GLEICHGESCHLECHTLICHE LIEBE,
LUSTSEUCHE, FOLKLORISTISCHE DOKUMENTE
Ab]
EIGENE ERMITTELUNGEN UND GESAMMELTE BERICHTE
VON
BERNHARD STERN
VERFASSER VON „MEDIZIN, ABERGLAUBE
UND GESCHLECHTSLEBEN IN DER TÜRKEI"
MIT 21 TEILS FARBIGEN ILLUSTRATIONEN
#
UND DEM PORTRÄT DES VERFASSERS
NEBST AUSFÜHRLICHEM REGISTER ÜBER BEIDE BÄNDE
BERLIN W. % . VERLAG VON HERMANN BARSDORF • 1908
PT-BLISIIED NOVEMBER jo, 1907
frivile<;e of Copyright jn the tnited states
reserved uxder the act approm^d march 3- i</>5
BY HERMANN BARSDORF
Inhalt.
Seite
Sechster Teil: Russische Grausamkeit i — 297
30. Grausamkeit der Herrschenden 1
31. Grausamkeit in der Verwaltung 56
32. Todesstrafen und Gliederstrafen 85
33- Prügelstrafen und Züchtigungsinstruraentc . 113
34. Gefängnisse, Verbannung, Folter 171
35. Sklavensinu und Leibeigenschaft JOg
30. Grausamkeit des Volkes 251
37. Grausamkeit im Familienleben 278
Siebenter Teil: Das Weib und die Ehe jpg— 446
38. Geschichte der russischen Frau 3^^1
39. Stellung der Frauen bei den nichtrussi sehen
Völkern Rußlands 326
40. Fraueuraub und Frauenmarkt ]33
41. Schönheitsideal, Schminke und Liebe . . . 348
42. Ilochzeiisbräucheu. Hochzeitslieder der Russen 358
43. Hochzeitsbräuche der nichtrnssischen Völker
Rußlands 304
44- Ehescheidung 4<^7
45. Ehebruch 41^»
46. Uneheliche Kinder, krimineller Abortus und
Kindt'smord 432
Achter Teil: Geschlechtliche Moral 447— 518
47. Erziehung der Jugend 440
48. Schamgefühl und Keuschheit 458
49. Probenächte und Jungfemschaft 480
50. Koitus und Religion 503
5 1 . Snochatschestwo 511
Neunter Teil: Prostitution, Gleichgeschlechtliche Liebe
und Lustseuche 519—575
52. Prostitution der Herrschenden 521
53. Öffentliche Prostitntion 541
54. Bestialität und e^leichfi^eschlechtliche Liebe . 556
55. Lustseuche 571
Zehnter Teil: Folkloristische Dokumente 577 — 616
56. Das Erotische und ( )bszöne in der Literatur
und Karikatur 57Q
57. Sexuelles Lexikon 588
58. Obszöne Sprichwörter 507
50. Erotische und obszöne Lieder cnK)
fH). Erotische und obszöne Erzählungen .... (>o<)
Register zu beiden Bänden.
1776^^5
SECHSTER TEIL:
Russische Grausamkeit
30. Grausamkeit der Herrschenden. —
31. Grausamkeit in der Verwaltung. —
32. Todesstrafen und Gliederstrafen. —
33. Prügelstrafen und Züchtigungsinstru-
mente. — 34. Gefängnisse, Verbannung,
Folter. — 35. Sklavensinn und Leib-
eigenschaft. — 36. Grausamkeit des Volkes.
— 37. Grausamkeit im Familienleben.
30. Grausamkeit der Herrschenden.
Meuchelmord von Nebenbuhlern — Iveichcnschänduugen — Die Leiche des
Pseudo-Dmitrij — Peters Rache — Paul und Patjomkm — Schicksal der
Minister beim Regierungswechsel — Das Los der Zarenbraut — Grausamkeit
der Großen gegeneinander — Elisabeths Gnadenakt — Grausamkeit von den
Russen bewundert — Der Wüterich Alexander Newskij heilig gesprochen —
Iwan der Schreckliche verherrlicht — Iwans Greueltaten — Ein Elefant wegen
Majestätsbeleidigung bestraft — Die Mordgarde der Opritschniki — Die sechs
Mordepochen der Herrschaft Iwans — Ermordung Repnins — Der Zar der
Sodomie beschuldigt — Blüte des Denunziantentums — Iwan als Abt — Grausam-
keit und Frömmigkeit — Fürst Kurbskij als Warner — Der Bote Kurbskijs
von Iwan angenagelt — Der Ausspruch des Selbstherrschers — Neue Morde und
neue Mordmethoden — Pfählen — Grausamkeit und Wollust — Menschen-
leichen Hunden vorgeworfen — Eintreiben von Stacheln unter die Nägel —
Mord in den Kirchen" — Bojar Mitkow und Metropolit Filip gegen Iwan — Filips
Bestrafung — Das Morden familienweise und städteweise — Pogrom — Ver-
nichtung von Nowgorod — Ermordung der Mönche — Ertränken zusammen-
gebundener Familien — 60 ooc Todesurteile — Iwan in seiner Milde — Rettung
der Stadt Pskow durch einen Irrsinnigen — Morde in Moskwa — Ermordung
der Günstlinge und Henker — Iwan ruft das Volk zur Teilnahme an den Hin-
richtungen — Der Zar läßt den Vater durch den Sohn, den Bruder durch den
Bruder töten — Neue Mordmethoden — Blutige Mahlzeit und wollüstiger Nach-
tisch — Sklavcnsinn der Großen und des Volkes — Iwan läßt einen Mönch zum
Engel werden — Schändung der Frau vor den Augen des gehängten Gatten —
Heldentod und Henkertod — Röstung des Fürsten Worotünskij — Ermordung
Morosows, weil er zulange lebt — Einnähen der Verurteilten in Bärenhäute —
Mord als Mittel Appetit zu machen — Zerschneiden der Glieder nach den Ge-
lenken — Der Mensch als Uhr — Das Gift des Bomelius — Sklavcnsinn und
Rangstreit — Ermordung der zarischen Verwandten — Iwans acht Frauen —
Der Thronfolger Iwan, des Vaters Ebenbild, vom Vater ermordet — Iwan
notzüchtigt die Schwiegertochter und stirbt — Alexej Romanows Milde —
Grausamkeiten Peters des Großen — Ausrottung der Strjeljzen — Peters
Folterkammern — Peter foltert seine Schwester Sofia — Der Zar als Henker
— Er züchtigt und peitscht seine Günstlinge und die Beamten — Peter gegen
Feinde — Trunkenheit und Grausamkeit des Zaren — Die Greuel im Polozker
Kloster — Abschneiden von Frauenbrüsten — Peters Sentimentalität — Hin-
richtung der Geliebten und des Sohnes — Peitschung der Gattin — Grausamkeit
1*
— i —
als Zivilisationsmcthodc — Die Zarin Anna läßt ihren Koch hinrichten — Bei-
spiele für Annas grausamen Charakter — Der geprügelte Dichter — Elisabeths
der Gütigen Grausamkeit — Aufhebung der Todesstrafe — Peinigung von
Rivalinnen — Knutung der schönen Lopuchin — Katharina II. — Grausam-
keit gegen Nebenbuhlerinnen — Pauls Verrücktheiten — Die Herrscher des
letzten Jalirhunderts.
Grausamkeit ist die Basis der russischen Herrschaft, des
russischen Staatswesens. Nur im Geiste dieses Grundprinzips
sprach jener Tambower Gouverneur Muratow, der im offi-
ziellen Regierungsblatt die Dezimierung des russischen Volkes
als das beste Heilmittel gegen die Revolution bezeichnete und
der Autokratie den Rat erteilte, ihren Bestand durch die Ent-
nahme von Geiseln aus dem Volke zu sichern. i) Seit tausend
Jahren ist Rußland nicht anders regiert worden. Mord und
Peitsche bilden Anfang und Ende aller Verwaltungskunst. Die
Herrscher selbst folgten einander nur durch das Gesetz der
Tütung, nicht durch das Gesetz der Erbschaft. War in alten
Zeiten ein russischer Fürst sanft gesinnt und milde gestimmt
und schrak vor dem Morden zurück, so zögerte er doch nicht,
seine Nebenbuhler zu blenden nach der Sitte, die man von den
Griechen übernommen hatte. Als Wßewolod III. Gregorje-
witsch im Jahre 1176 Großfürst geworden war, vollzog er als
erste Regierungshandlung die Blendung seiner Neffen.^) Groß-
fürst Wassilij Wassiljcwitsch ließ seinen Rivalen Wassilij
Kossoj blenden; im Jahre 1446 wurde aber Wassilij Wassilje-
witsch selbst geblendet.^)
Charakteristisch ist der Zug der Grausamkeit, der in Lei-
chenschändungen zur Geltung kommt. Haß russischer Herr-
scher macht auch an Gräbern nicht Halt. Boriß Godunow,
selbst ein Usurpator, läßt im Mai 1606 die Leiche des fal-
schen Dmitrij ausgraben und die Asche in die Moskwa
werfen, so daß keine Spur von dem Thron-Anmaßer auf
') Vgl. r. Band, S. 501.
-) Karanisin, Geschichte des russischen Kciches. Nach der zweiten
Originalausgabe übersetzt. Higa iJ^-4. III 41.
•') Karanisin V -15 8.
— 5 —
Erden bleibt.^) Peter der Große läßt bei seinem Regierungs-
antritt alle Parteigänger seiner Schwester Sofia nicht bloß
hinrichten, sondern befiehlt, die Leichen vor dem Fenster
der Prinzessin aufzuhängen. Als Peter 1697 im Begriffe ist,
zum ersten Male nach Europa zu reisen, entdeckt er ein Kom-
plott, geschmiedet von den ehemaligen Freunden seines ver-
storbenen Feindes Iwan Miloslawskij. Der Zar verschiebt seine
Abreise, um ein furchtbares Rachewerk auszuführen. Die von
Würmern ^zerfressene Leiche Miloslawskijs, die zwölf Jahre lang
in der Erde gelegen, wird ausgegraben und auf einem von
zwölf Schweinen gezogenen Schlitten nach Preobraschensk ge-
bracht. Dann stellt man sie in einem offenen Sarg auf das
Schaffot, auf dem die Teilnehmer des Komplotts eines lang-
samen Todes sterben müssen: sie werden kunstgerecht zer-
stückelt und zerschnitten, und bei jedem Messerstich, den der
Henker tut, spritzt das Blut der Verschwörer auf den ver-
faulten Leichnam ihres einstigen Führers.^) — Kaiser Paul
wütet sogar gegen Steine. Er befiehlt am 17. Januar 1798,
das Monument Patjomkins ,in Cherson zu zerstören und die
Asche des größten Günstlings Katharinas ins Wasser zu
werfen.^)
') Mcmoires du regne de Pierre Ic Grand Empcreur de RussiePerc de la
Patrie. Par le B. Iwan Ncstesuranoi. Nouvelle edition en quatre volumes.
A Amsterdam 1728. I 283. Bei diesem barbarischen Akte spielte auch der Aber-
glaube eine Rolle: ,,In der Woche vom 18. bis 25. Mai beschädigten Fröste die
Gärten und Felder. Es verbreitete sich das Gerücht, daß die Leiche des Pseudo-
Dmitrij als Vamp^n: an den Frösten Schuld hätte. Man wollte auf dem Grabe
gräßliche Erscheinungen gesehen haben. Die Leiche wurde also ausgegraben,
die Asche mit Pulver vermischt und aus Kanonen hinausgeschossen und in alle
Winde zerstreut".
*) K. Waliszewski, Pierre-le-Grand, l'education, Thomme, l'ocuvre;
d'aprds des documents nouveaux. 5öme ed. Paris 1897. pp. 54, 147.
') So erzählt in seinen Erinnerungen Comte Fedor Golovkine, La Cour et
le Rdgne de Paul I*^ Souvenirs et anecdotes. Avcc introduction et notes par
S. Bonnet, Paris 1905. 168. Aber der russische Historiker Schilder sagt in seiner
Biographie des Kaisers Paul: daß Patjomkins Leiche bis 1798 nur in der Kirche
beigesetzt war und daß Paul, weil der Platz ein Wallfahrtsort für Neugierige
geworden, den Sarg in aller Stille in die Erde versenken ließ, ohne daß Jemand
erfahren hätte, wo er sich seither befand. — Bei den Römern stand auf Leichen-
schändung Todesstrafe. Karl der Große erklärte die Gräberschänder als ehrlos
— fi —
Nach einem Regierungswechsel sind die neuen Macht-
haber vor Allem darauf bedacht, Jene, die vor ihnen den
Platz an der Sonne innegehabt haben, in den Schatten zu
drängen. Nach dem Tode Peters II. wird seine Braut Katha-
rina Dolgoruckij in das Kloster zu Tomsk in Sibirien ver-
bannt. Doch nicht genug damit; man will ihr auch den
Verlobungsring, die letzte Erinnerung an ihre zerstörten stol-
zen Hoffnungen entreißen; „schneide mir den Finger ab",
entgegnet die Fürstin stolz dem Offizier, der den Ring ver-
langt.^) Die ganze Familie der Zarenbraut, sechzig Personen,
wandert in die Verbannung nach Tobolsk. Aber sie könnte
doch noch gefährlich sein; Uschakow und Ssuworow, die
Henker der neuen Regierung, erhalten daher den Auftrag, die
Häupter der Familie Dolgoruckij unschädhch zu machen. Die
Henker sind der Aufgabe gewachsen. Sie martern die Opfer
bis zur Bewußtlosigkeit, entreißen ihnen in der Folter be-
liebige Geständnisse und fällen dann das Todesurteil: Iwan
Dolgoruckij wird gerädert und dann enthauptet; sein Bruder
Alexander zieht es vor, sich selbst den Bauch aufzuschneiden.
Die stolzesten Günstlinge wissen, was sie trifft, wenn ein Herr-
scherwechsel stattfindet, und sie sind alle kaltblütig auf das
Unvermeidliche gefaßt. Von Iwan Dolgoruckij wird erzählt,
daß er, während man ihm Arme und Beine brach, nach dem
Klang der Hiebe sein Gebet skandierend sprach. Nur ein
einziges Mitglied der Familie, Wassilij Wladimirowitsch Dol-
goruckij, entgeht wie durch ein Wunder dem Massakre. Aus
und ließ ihnen zur Strafe ihre Güter zur Hälfte rauben. Dies hielt aber einen
anderen römischen Kaiser, Heinrich VI., den Eroberer beider Sizilien, nicht
davon ab, die Leiche Tankreds ausgraben und ihr durch den Henker den Kopf
abschlagen zu lassen. 890 ließ Papst Stefan VI. die Leiche seines Vorgängers
Formosus ausgraben, in päpstlichem Ornat vor Gericht schleppen, verurteilen,
mit Kot beschmieren, verstümmeln und enthaupten und schließlich in den
Tiberfluß werfen. Unter der Herrschaft der Inquisition wurden die Knochen
verstorbener Ketzer öffentlich verbrannt. Philipp der Schöne ließ die Leichen
der Templer ausgraben und verbrennen. 1793 wurden die Königsgräber zu
St. Denis zerstört und die Knochen der Monarchen in ein Massengrab geworfen,
*) K. Waliszewski, L'hcritage de Pierre le Grand, Rdgnc des femmes,
gouvernement des favoris, 1725 — 1741. Paris icjck). 160.
dem Exil von Elisabeth zurückgerufen, hält er es für seine
wichtigste Aufgabe, jetzt seinerseits den Henkern zu tun zu
geben. Kanzler Ostermann und Fcldmarschall Münnich wer-
den vom Gericht des neuen Regimes zur einfachen Ent-
hauptung verurteilt; eine Stimme protestiert dagegen und
verlangt für Ost ermann das Rad, für den Feldmarschall Mün-
nich die Vierteilung. Dieser Unbarmherzige ist Wassilij Dol-
goruckij. Und seine Meinung dringt durch. Elisabeth die
Gütige unterschreibt das Urteil, behält sich aber vor, im letz-
ten Augenblick Gnade zu üben. Auf dem Schaffot wird den
Verurteilten kundgetan, die Gnade bestehe darin, daß statt
der komplizierten Todesstrafe einfache Enthauptung stattfin-
den solle. Erst als die Verurteilten schon das Haupt gebeugt
haben, um den Todesstreich zu empfangen, wird ihnen mit-
geteilt, daß die barmherzige Kaiserin auf ihre Hinrichtung
gänzlich verzichte.^) Eine furchtbar grausame Inszenierung,
würdig der sadistischen Natur der scheinheilig-frommen
Tochter Peters des Großen.
Die Grausamkeit erscheint den Russen als eine wahrhaft
erhabene Eigenschaft, als ein Attribut des Heldentums und
des Herrschertums ; und das Sprichwort: „Nahe dem Zaren,
nahe dem Tod!** ist nicht eine Klage, sondern der jubelnde
Schrei freudig sich opfernder Sklaven. Der Grausamste ist
der Heiligste. Der heilige Alexander Newskij Fürst von Now-
gorod war einer der unmenschlichsten Tyrannen, die die rus-
sische Erde hervorgebracht hat. Er verbündete sich mit den
Mongolen gegen das eigene Volk, und als Nowgorod den
Fremden den Gehorsam verweigerte, fiel der Fürst selbst über
seine Stadt her und ermordete die Einwohner. Und also
wurde Alexander ein Held und ein Heiliger. Auch Iwan der
Schreckliche wird gefeiert, dieser Zar, der das Ungeheuer
Kaligula, das Scheusal Nero zu übertreffen vermochte. Daß
dieser grauenhafte Fürst jahrzehntelang ungestraft sein Volk
morden konnte, bis er schließlich eines natürlichen Todes
starb; und daß dann die Großen und die Sklaven einmütig
*) K. Waliszewski, La dcrniöre des Romanov, Elisabeth I, Imperatrice de
Russic 1741 — 1762. Paris 1902. 14 — 15.
— 8 —
den Tod eines solchen Herrschers beweinten als ein Unglück
für Rußland und das russische Volk: das wird eines der
ewigen Rätsel des russischen Charakters bleiben. Iwan der
Schreckliche ist seinen Russen als ein großer Mann erschienen,
weil er sich selbst mit Alexander dem Großen verglichen
hat.i) Unter Iwan ist Kasan] erobert w^orden, der Zar je-
doch hat wahrlich keinen Anteil an den Siegen, da er sich
einem feigen Hunde gleich hinter den letzten Nachzüglern
verkroch. Man rühmt Iwans vortrefflichen Verstand; er
nützte. ihn aus, um furchtbaren Lüsten zu fröhnen. Von der
Erhabenheit der Majestät war er ganz erfüllt; sogar unver-
nünftigen Tieren gegenüber kannte er verletzte Herrscher-
ehrc: ein aus Pcrsien nach Moskwa geschickter Elefant, der
vor dem Zaren nicht niederknieen will, wird auf Iwans Befehl
in Stücke zerrissen. Niemand darf klüger oder geschickter
oder glücklicher sein als der Souverän : die Höflinge, die
mit dem Zaren Karten oder Dame spielen und zu gewinnen
wagen, werden grausam bestraft.
Russische Chronisten nannten Iwans IV. blutgierige Ty-
rannei: ein fremdes Ungewitter, das aus dem Abgrund der
Hölle abgeschickt worden, um Rußland zu verwirren und zu
zerreißen. Aber ein echt russisches Werk ist Iwans Institution
der Opritschina^), diese Leibgarde von sechstausend Mann,
die das Recht hatte, Hoch und Niedrig zu bedrücken und
zu morden. Das Trabantenkorps war zusammengestellt aus
den nichtswürdigsten Subjekten, die das Rußland Iwans des
Schrecklichen aufzuweisen vermochte. Wen die Opritschniki
verdächtigen wollten, konnte sich nimmer retten vor dem Un-
tergang. Wer einem Opritschnik ein böses Wort sagte, be-
leidigte den Zaren. Als Symbole ihres Amtes hatten die Op-
ritschniki an ihren Sätteln Hundeköpfc und Besen angebun-
^) Karamsin IX 62.
-) Oiipn'iiiiia , das Vorrecht; der Name galt für die Leibwache des Zaren.
Das Volk nannte die Opritschniki auch Kromeschniki, Auserlesene, nämlich:
Auserlesene der höllischen Finsternis. Vgl. Karamsin VIII 69. Nach Karamsin
VlII 64 war der Name Opritschina bis dahin in der russischen Sprache nicht
bekannt.
— 9 —
den; dies bedeutete: Die Opritschniki beißen die Feinde
des Zaren und fegen Rußland rein. Mit diesen merkwürdigen
Symbolen ritten die Opritschniki Tag und Nacht durch die
russischen Städte auf die Jagd nach dem russischen Volke.
Bei anderen berühmten Herrschern teilt man die Ge-
schichte ihres Lebens nach ihren Siegen oder Ruhmestaten
ein. Die Epoche des Zaren Iwan des Schrecklichen jedoch
zerlegt der russische Historiker Karamsin in folgende Kapitel :
erste Epoche der Grausamkeiten* zweite Mordepoche; dritte
Periode der Massakres und Torturen; und so fort bis zur
sechsten und letzten. i) Iwans erste Opfer sind seine alten
Ratgeber. . Sie wagen es, dem jungen Herrscher Vorschläge
zu machen, sie halten sich für klüger; fort mit ihnen, in
die Verbannung, aufs Schaffot! Er sollte seinen Ministern
dankbar sein, sie haben seine Stellung befestigt, seine Herr-
schaft gesichert. Der Dank ist ihm lästig, er befreit sich
von seinen moralischen Gläubigern durch den Henker. Kaum
hat er das Blut seiner besten und treuesten Freunde fließen
sehen, da erwacht die in ihm schlummernde Bestie; der
Götzendienst, den der Selbstherrscher sich selber weiht, for-
dert blutige Opfer. Und das Volk beugt sich in Ehrfurcht
vor dem Wilden. Es sieht in ihm nicht eine Ausgeburt der
Hölle, vielmehr den von Gott Erwählten. Es sieht in ihm
nicht den zügellosen Mörder, es sieht in ihm den Gerechten,
der nicht bloß die Gemeinen seiner Untertanen tötet, sondern
mit seinem Dolch und seinem spitzigen Stab auch die Höch-
sten und Vornehmsten trifft.
Iwan IV., 1530 geboren, war drei Jahr alt, als sein
Vater starb. 1547 ließ er sich zum Zaren krönen. Er soll
in seiner Jugend ebenso schön und tugendhaft gewesen sein,
als er später in der Epoche seiner Grausamkeit häßlich und
lasterhaft wurde. Er begann sogar mit Reformen, wollte Ruß-
land zivilisieren, brachte deutsche Handwerker, Künstler und
Gelehrte nach Moskau, begründete die ersten Buchdruckereien,
schloß einen Handelsvertrag mit Königin Elisabeth von Eng-
land, errichtete ein stehendes Heer, die Strjeljzy, und eroberte
') Karamsin VTI 262, VIII 15, 66, 7g, 113, 151, 213 und IX 62.
— 10 —
Kasanj und Astrachan]. Aber der Zivilisator macht dem
Aberglauben die größten Konzessionen, und als man ihm
berichtet, daß eine Frau, namens Maria, ihn hasse und durch
Zauberei zu verderben drohe, läßt er sie und ihre fünf Söhne
wegen Hexerei verbrennen. i)
Die erste große Mordepoche beginnt 1560. Der Zar liebt
den Wein und die Weiber. In seinem Palaste wird Tag und
Nacht gejubelt und gezecht. Aber „Wehklagen war nicht
fem der Freude, Wein floß in Moskwa vor dem Blute**, sagt
ein russischer Chronist aus der Zeit Boriß Godunows. Als
Zar Iwan ein unanständiges Narrenspiel aufführen läßt und
dabei mit seinen Lieblingen in Masken erscheint und tanzt,
bricht der alte Bojar Repnin ob dieses furchtbaren Ver-
brechens in Tränen aus. Der trunkene Zar lacht und will
dem alten Bojaren ebenfalls eine Maske vorbinden ; der wirft
die Larve zu Boden, tritt sie mit Füßen und klagt : „Ziemt
CS sich für den Zaren einen Possenreißer abzugeben?'* Der
Zar schweigt, aber als Repnin in den Tempel geht, um von
Gott Verzeihung für die Frevel des Zaren zu erflehen, wird
er von einem Söldling des Herrschers am Altar ermordet.
Der geliebteste Günstling Iwans ist Theodor Basmanow. Fürst
Dmitrij Obolenskij-Owtschinin sagt dem Basmanow ins Ge-
sicht : „Du bist beim Zaren in Gunst, weil du ihm durch
die schmutzigen Werke der Sodomie dienst.** Iwan läßt den
Fürsten zum Mahle einladen und neben sich setzen; und
während der Mahlzeit stößt er dem ahnungslosen Gaste plötz-
lich das Messer ins Herz, richtet er ihn mit höchsteigner
Hand.
Es blüht das Geschäft der Denunzianten. Niemand ist
sicher vor der Angeberei. Jeder sucht der Grausamkeit des
Zaren zu schmeicheln und sich zu retten, indem er Andere
verleumdet. Man behorcht die Gespräche in den Familien,
man schließt Freundschaften, um seine Freunde zu verraten ;
aber nicht bloß Worte geben Anlaß zu Anzeigen, auch Blicke
und Mienen finden ihre Kenner und Enträtselung. Der Zar
nimmt jede Denunziation als gerechtfertigt an und die Rich-
') Vgl. I. Band. S. 82.
— 11 —
tcr wagen niemals nach Beweisen zu suchen. Zwei Fürsten
Kaschin werden ohne Schuld und ohne Verhör dem Tode
durch Henkershand überliefert; der Fürst Kurljätew samt
seiner ganzen Familie ermordet; Scheremetjew, der Schrecken
der Krymer, wird gefoltert, und während er unter dem Knut
verblutet, kommt der Zar selbst zu ihm und fragt höhnisch:
„Wo ist deine Kasse ?** Das ist der verheißungsvolle Anfang.
Bald fheßt das Blut des Adels und des Volkes in Strömen.
„Moskwa erstarrte in Furcht**, sagt der Chronist; in Kerkern
und Klöstern stöhnten die Opfer, und der Tyrann von dreißig
Jahren wurde immer mißtrauischer und grausamer. „Der
Blutbecher stillte nicht seinen Durst**, schreibt Karamsin,
„sondern vermehrte ihn, ,und der Zar wurde eine wahre
Geißel**. Aber noch ist in ihm nicht alles Gefühl erstorben,
er bemüht sich wenigstens, seine Grausamkeit zu rechtfertigen,
das Morden als Gerechtigkeit hinzustellen, er behauptet: seine
Opfer seien Verräter, Zauberer, Feinde Christi und Ruß-
lands. Dann kommen Augenblicke, da er sich den Schein
der Zerknirschung und der Reue gibt, da er sich nennt:
schuldig vor Gott; einen abscheulichen Mörder der Unschul-
digen. In seiner Beichte sagt er von sich: „Ich bin ein
stinkender Hund, ich war jederzeit in Trunkenheit und
Hurerei, in Ehebruch, Unflätherei, Totschlag und Blutver-
gießen, Plündern, Rauben und jeglicher Schandtat**. In Wahr-
heit verhöhnte der Zar den Himmel wie die Menschen. Den
Teil der Zeit, den das Mordhandwerk ihm übrig ließ, ver-
brachte er in der Kirche, doch nur um in der tiefsten Stille
über neue Blutpläne nachdenken zu können. Er wollte sein
Schloß in ein Kloster verwandeln und seine Lieblinge zu
Mönchen machen. Aus seinen Opritschniki wählte er die
dreihundert allergottlosesten aus; er bildete aus ihnen eine
Bruderschaft, gab ihnen ein Taffja oder Käppchen und ein
schwarzes Mönchsgewand. Er selbst war der Abt dieser
Bruderschaft und ihr nachahmenswertes Vorbild. Nach der
von ihm verfaßten Klosterordnung läutete der Zar als Abt
um vier Uhr Morgens zur Frühmesse; wer nicht pünktlich
erschien, wurde für eine Woche eingekerkert. Der Morgen-
gottesdienst dauerte bis sechs oder sieben Uhr. Der Zar
10
„sang und betete eifrig und neigte sein Haupt zur Erde",
aber oft unterbrach er sich in der frommen Andacht, um
grausame Befehle zu erteilen. Um zehn Uhr fand ein
Brudermahl statt. Alle saßen, nur der Zar stand und gab
den Genossen seine Unterweisungen, wie man zum Seelen-
heil gelangen könne. Bei diesem Mahle floß Wein oder Meth
in Strömen, jeder Tag im Kloster war ein Festtag. Sobald
das Brudermahl zu Ende, speiste der Zar-Abt allein. Hierauf
folgten religiöse Unterhaltungen. Nachdem man sich ge-
nügend erbaut hatte, trat man eine Rundfahrt durch die
Gefängnisse an, um Unglückliche foltern zu lassen. War das
Schauspiel befriedigend ausgefallen, kehrte man heiter heim.
Um lo Uhr Abends zog sich der Zar ins Schlaf gemach zu-
rück, wo ihm drei Blinde nacheinander Märchen erzählen
mußten, bis er sanft einschlummerte.
Fürst Kurbskij ist der Erste, der sich gegen den Grau-
samen zu empören wagt. Aber nur aus sicherer Entfernung
erhebt er seine furchtbare Anklage, beginnend mit den Wor-
ten: „An den einst herrlichen Zaren, jetzt aber im Gewissen
aussätzigen Tyrannen, dessengleichen selbst unter den Herr-
schern der Ungläubigen nicht gefunden wirdi Gibt es keinen
Gott und keinen höchsten Richter für den Zaren? Die Trä-
nen der unschuldigen Opfer bereiten dem Tyrannen seine
Strafe. Fürchte auch die Todten! Die von dir Erschlagenen
stehen lebend vor dem Allerhöchsten; an seinem Throne
fordern sie Rache. Deine Kriegshaufen retten dich nicht.
Deine Schmeichler, die unwürdigen Bojaren, die Gesellen
deiner Schmausereien und deiner Wollust, die Verderber dei-
ner Seele, die dir ihre Kinder zum Opfer bringen, machen
dich nicht unsterblich!'* Iwan stieß dem Diener, der diese
Botschaft überbrachte, einen spitzigen Eisenstab durch den
Fuß, stützte sich mit aller Wucht auf den Stab und befahl
dann dem Boten, den Brief vorzulesen. Ruhig hörte er jetzt
Kurbskijs Klagen an und gab folgende Antwort : „Wir dürfen
nach Belieben unsere Knechte belohnen, wir dürfen sie auch
nach Belieben hinrichten. Bisher haben russische Herrscher
noch keinem Menschen Rechenschaft über ihr Tun und Lassen
gegeben.** Und mit diesen Worten eröffnete er seine zweite
— 13 —
Mordejx)che. Alle wahren oder vorgeblichen Freunde des
Fürsten Kurbskij wurden samt ihren Familien hingerichtet. Als
erstes Opfer fielen der Fürst Gorbatij-Schujskij, ein direkter
Abkömmling des heiligen Wladimir, und sein siebzehnjähriger
Sohn Peter. Ohne Furcht und Arm in Arm schritten beide zur
Richtstätte. Der Sohn trat zuerst zum Henker und beugte sein
Haupt unter das Schwert; er wollte den Vater nicht sterben
sehen. Der Vater aber schob den Sohn schnell beiseite und
bat: „Laß mich dich nicht tot sehen!** Und der Jüngling über-
ließ heldenmütig dem Vater den Vortritt, nahm des Teuern
abgeschlagenes Haupt in die Hände, und indem er es küßte,
empfing er den Todesstreich. i) Am selben Tage wurden noch
ein Schwager Gorbatijs und mehrere andere Fürsten hinge-
richtet; damit das einerlei Köpfen die Zuschauer nicht ermü-
dete, wurde der Abwechselung halber der Fürst Dmitrij Sche-
würew auf den Pfahl gespießt; „er lebte am Pfahle**, berichtet
der Historiker, „noch einen Tag und sang ein Loblied zu Ehren
Christi.**
Gleich Ludwig XI. verbindet Iwan der Schreckliche die
Grausamkeit mit der Wollust. Im Juli 1568 befiehlt er seinen
Henkern, in die Häuser jener Kaufleute und Ratssekretäre ein-
zubrechen, deren Weiber im Rufe außerordentlicher Schönheit
stehen. Man schleppt die Frauen aus der Stadt hinaus auf einen
Platz, wo der Zar für eine Nacht sein Quartier aufgeschlagen
hat. Iwan wählt die Schönsten für sein eigenes Lager aus und
überläßt die übrigen den Günstlingen. Zur Feier der Orgie
werden alle Herrenhäuser in der Umgegend niedergebrannt
und auch das Vieh und Getreide vernichtet. Am anderen Mor-
gen bringt man die geschändeten Weiber in die Häuser ihrer
Männer zurück. Dieses Ereignis bildet die Einleitung zur
dritten Mordepoche, die sich durch Erfindung neuer Strafen
auszeichnet. Ein unglücklicher schwacher Greis namens Feo-
dorow wird verleumdet, daß er dem Zaren nach dem Leben
1) Das war die neue Auflage einer weltgeschichtlichen Tragödie: Im Jahre
1 268 wurden in Rom Konradin der Hohenstaufe und sein Vetter Friedrich von
Österreich hingerichtet. Friedrich starb zuerst, Konradin hob des Vetters Haupt
auf und während er es küßte, traf ihn selbst der Streich.
— 14 —
trachte und selbst den Thron anstrebe. Iwan glaubt gern das
unsinnige Märchen und rächt sich also : Er bekleidet den Feo-
dorow mit dem zarischen Gewände, setzt ihm die Krone aufs
Haupt, drückt ihm das Zepter in die Hand und zwingt ihn, auf
dem Throne Platz zu nehmen. Dann spricht er feierlich-höh-
nisch zu ihm : „Sei gesund, großer Zar des russischen Landes.
Siehe, die ersehnte Ehre hast du von mir empfangen. Da ich
aber die Macht habe dich zum Zaren zu machen, so habe ich
auch die Macht, dich wieder vom Throne zu schleudern.** Und
mit diesen Worten stößt der Zar dem Greise ein Messer ins
Herz. Auf das Signal hin fallen die Opritschniki über den Ster-
benden her, reißen ihn in Stücke und schleppen den Fleisch-
klumpen aus dem Palast auf die Gasse, um den Leichnam den
Hunden vorzuwerfen. Dasselbe Schicksal trifft die altersgraue
Gattin des Märtyrers und eine Unzahl angeblicher Mitver-
schworener. Einige zog man nackt aus ; dann hieb man ihnen
den Kopf ab und warf den Rumpf ins Wasser. Den Fürsten
Schtschenjätew überfiel man im Kloster, wo er weltfern seinen
Lebensabend verbrachte, und quälte ihn zu Tode ; der Fromme
sollte als ein Heiliger den Martertod erleiden, und der Zar be-
fahl, ihn in seiner Zelle auf einer Pfanne zu rösten und ihm
währenddem Stacheln unter die Nägel zu treiben. Dem stein-
alten Fürsten Pronskij wurde die Gnade zu teil, einfach ertränkt
zu werden. Den Schatzmeister Tjutin nebst Frau, zwei kleinen
Söhnen und zwei blühenden Töchtern hieb der Fürst Tscher-
kaßkij, der Schwager des Zaren, eigenhändig in Stücke. Zer-
fleischen ist die Licblingsmethode der dritten Mordepoche.
,Die Opritschniki'*, erzählt der Historiker, „liefen mit langen
Messern und Äxten bewaffnet in der Stadt umher, suchten
nach Opfern und erschlugen täglich zehn bis zwanzig Men-
schen.** Mit Vorliebe mordeten sie die Betenden in den Kir-
chen. In allen Straßen floß das Blut, lagen die Leichen unbe-
erdigt, da sich niemand aus den Häusern wagte, um die Er-
mordeten zu bestatten. „Durch die Totenstille in Moskwa scholl
nur das fürchterliche Geheul der Henkersknechte.**
Demütigend gering ist die Zahl jener, die dem Massen-
mörder im Hermelinsgewande entgegenzutreten den Mut haben.
Der Zar kredenzte dem Bojaren Mitkow eine Schale Meth, erhielt
— 15 —
jedoch zur Antwort : „O Zar, du befiehlst uns, zugleich mit dir
Meth zu trinken, der mit dem Blute unserer Brüder, recht-
gläubiger Christen, vermischt ist.** Der Zar gab dem kühnen
Sprecher statt Meth den Tod, er durchbohrte ihn auf der Stelle
mit seinem gewöhnlichsten Mordwerkzeug, dem scharfen Eisen-
stabe. Ein anderer Held ist der Metropolit Filip. An einem
Sonntag dieses unheimlichen Jahres 1568 tritt Iwan der Schreck-
liche in die Kathedrale zur Himmelfahrt Maria. Der Metropolit
blickt starr auf das Bild des Erlösers und scheint den Herrscher
nicht zu bemerken. Bestürzt eilen die Bojaren zum Metro-
politen hin und rufen ihm zu : „Heüiger Vater, hier ist der Zar !
Heiliger Vater, segne ihn!** Der Metropolit aber spricht mit
dröhnender Stimme: „Ich erkenne den Zaren nicht I O Herr,
wir bringen hier Gott unser Opfer, und jenseits des Altars fließt
unschuldiges Christenblut. Seitdem die Sonne am Himmel
glänzt, ist es nicht gesehen noch gehört worden, daß gottcs-
fürchtige Zaren ihre eigenen Staaten so furchtbar zerrütteten.
Selbst in ungläubigen heidnischen Reichen giebt es Gesetze
und Recht, Barmherzigkeit gegen die Menschen — aber in
Rußland nicht. Vermögen und Leben der Bürger sind ohne
Schutz. Überall Raub, überall Mord ; und im Namen des Zaren
werden sie verübt. Noch stehst du auf dem Throne. Aber es
ist ein Höchster dein und unser Richter. Wie wirst du vor
seinen Richterstuhl treten, befleckt mit dem Blute der Unschuld,
betäubt von dem Geheul ihrer Qual? Denn selbst die Steine
unter deinen Füßen schreien um Rache. Herr, ich spreche als
Hirt der Seelen; ich fürchte nur den einzigen Gott!** Iwan
stand sprachlos da, zitternd vor Wut. Dann stieß er mit seinem
Stabe von Eisen gegen die steinerne Diele und schrie mit
grauenerregender Stimme : „Pfaff, bis jetzt hatte ich euch Auf-
rührer zu sehr geschont ; künftig werde ich so sein wie ihr mich
schildert!** Und nun beginnt eine neue Serie von Hinrich-
tungen; die hervorragendsten kirchlichen Würdenträger wer-
den als Verräter angezeigt, verhaftet, gefoltert und dem Henker
überliefert. Nur an den Metropoliten selbst wagt sich der Zar
doch nicht. Er hält die Formen ein, läßt Filip regelrecht als
Zauberer anklagen und vor Gericht stellen. Der Metropolit sagt
unerschrocken : „Es ist besser als unschuldiger Märtyrer zu
— 16 —
sterben, denn als Metropolit die Schrecken und Frevel dieser
unglücklichen Zeit stumm mitanzusehen**; und erklärt, seine
Würde niederzulegen. Der Zar schreit ihn zornig an: ,,Du
bist nicht dein eigener Richter!** reißt ihm die bischöfliche
Kleidung ab und läßt ihn mit dem Besen aus der Kirche fegen.
Filip wird zunächst in ein Kloster gesperrt und durch Hunger
gefoltert. Eines Tages öffnet sich die Tür seiner Kerkerzelle
und man bringt ihm auf einer Schüssel seines Neffen Haupt
nebst der zarischen Botschaft : „Da ist dein lieber Verwandter,
deine Zaubereien haben ihm nichts geholfen.** Und zum zweiten
Male erscheint ein Abgesandter Iwans bei Filip, um für den
Mörder-Zaren spöttisch den Segen des Ex-Metropoliten zu ver-
langen. Fest entgegnet Filip: „Man segnet nur die Guten!**
Auf dieses Trotzwort antwortet der Zarenbote mit Erdrosselung.
Die Mönche-Zellengenossen begraben vor Entsetzen zitternd in
aller Heimlichkeit in einer schnell aufgeworfenen Grube hinter
dem Altar die Leiche des Heldenpriesters. Nun ist der Zar
auch dieses unbequemen Warners und Richters ledig, und er
wütet ärger als zuvor. Er ermüdet sogar seine Henker, deren
mordgewohnte Arme nicht mehr fähig sind das grauenvolle
Handwerk unausgesetzt bei Tag und Nacht zu üben. Ein Ein-
ziger erschlafft nicht in der blutigen Tätigkeit und das ist Iwan
selbst. Für ihn gibt es keine Lust mehr als diese : die Menschen
leiden und sterben zu sehen. Die Verzweiflung seiner Höf-
linge, Bojaren und Untertanen ist die Würze seiner Mahlzeiten ;
die Erde, über die er schreitet, muß bedeckt sein mit einem
Teppich von Menschenfleisch. Sein Mißtrauen kann nur ge-
bannt werden durch Mord ohne Grenze; die Furcht, die er
selbst vor seinem Nächsten empfindet, erstickt er durch das
Entsetzen, das er verbreitet, wo er erscheint mit seinem von
Häßlichkeit entstellten Antlitz und seinem blutbefleckten
spitzigen Eisenstab, seinem unzertrennlichen Begleiter.
Dem Schrecklichen genügt nicht die Ermordung einzelner.
Er will ganze Familien auf einmal sterben sehen. Fällt einer
in Ungnade, so wird alles hingerichtet, was mit dem Unheil-
vollen in Verbindung gebracht werden kann. Mit peinlichster
Sorgfalt werden seine entferntesten Verwandten aus den ver-
borgensten Winkeln hcrbeigezerrt und aufs Schaffot geschleppt.
— 17 —
Greise und Säuglinge werden nicht geschont, schwangere
Frauen und unschuldige Mädchen dem Henker dargebracht.
Dann folgen den Menschenopferungen die Opferungen von
Städten, endlich von Provinzen. Nicht bloß alles lebende,
auch das unbewegliche Gut des Volkes fällt der Vernichtung
anheim. Die Tiere auf dem Felde und im Walde werden abge-
schlachtet ; die Flüsse und die Seen vergiftet, um die Fische im
Wasser zu verderben; die Herrenhäuser und die Hütten der
Bauern in Asche und Trümmer gelegt und das Getreide in den
Scheunen verbrannt. Das ist der Pogrom i), diese echt russische
Zerstörungswut, die alle Dämme überflutet, vor dem Heiligsten
nicht Halt macht und nicht gebändigt ist, solange noch ein
Nagel in der Mauer, ein Stein auf dem anderen. Um im Großen
sein eigenes Volk umbringen zu können und wenigstens einen
Schein der Rechtfertigung für sich zu haben, erfindet Iwan eine
Verschwörung der Provinz gegen das Schreckensregiment in
Moskau. Er tritt mit seinen Opritschniki den Rachezug an und
überfällt die Stadt Klin im Gebiete von Twer. In wenigen
Stunden ist aus dem blühenden Orte ein Trümmerhaufen ge-
worden, und da die Würger die Stätte des Unglücks verlassen,
bleibt darin nur der Tod zurück: weder Weiber noch Kinder
sind verschont worden, kein einziger Einwohner von Klin ist
mit dem Leben davongekommen. Von Klin geht der Zug der
Mörder nach Twer. Hier wird fünf Tage lang gemordet und
geplündert; kein Haus bleibt unversehrt, und was nicht mit-
genommen werden kann, wird an Ort und Stelle vernichtet.
Das blutige Schauspiel wiederholt sich in Medny und in Tor-
schok, wo sich der Zar den Spaß vergönnt, die krymschcn und
livländischen Gefangenen an ihren Ketten ermorden zu lassen.
Und so fort Ort um Ort, Tag um Tag. Wehe dem, der diesen
blutgierigen Scharen in den Weg tritt! Kein Mensch, kein
Tier wird am Leben gelassen; kein Warner soll übrig bleiben,
um die bedrohten Städte vor dem drohenden Unheil zu retten.
') Dieses heute vielgebrauchte Wort iiorpoMh bedeutet wörtlich Vcrhcc-
rung; es stammt vom Verbum iiorpuMiiXb, zu Trümmern zerschlagen, verwüsten.
Bei den Judenverfolgungen der neuesten Zeit feiert diese russische Zerstörungs-
sucht ihre höchsten Triumphe; man hat sich deshalb gewöhnt, ein Judcn-
massakrc einfach einen Pogrom zu nennen, eine Verwüstung ohne Rest.
Stern, Geschichte der öfleiitl. Sittlichkeit in Ruülaud. ** 2.
— 18 —
So kommen Iwans Vortruppen am 5. Januar 1570 unbemerkt
vor Nowgorod an. Die Stadt wird durch Schlagbäume von
der Außenwelt abgeschlossen, damit sich niemand flüchten
könne. Dann dringt eine Schar der Opritschniki in die Stadt
und versiegelt die Kirchen und Klöster, fesselt die Mönche
und die Geistlichen. Die Opritschniki legen jedem Popen und
jedem Mönch eine Abgabe von zwanzig Rubel auf. Wer das
Geld nicht sofort erlegt, wird öffentlich vom Morgen bis zum
Abend gepeitscht. Alle Kaufleute und Gerichtspersonen werden
an Ketten gelegt, alle Frauen in den Häusern eingesperrt. Toten-
still werden die Gassen, wie ausgestorben erscheint die große
Stadt. In dieser bangen Ruhe erwartet man des Zaren Ankunft.
Am Tage, wo er vor den Toren von Nowgorod eintrifft, schleppt
man die Mönche und Popen auf den Marktplatz ; mit ihrer Hin-
richtung feiert man das Erscheinen des Herrschers; mit Keulen
schlägt man sie tot, und ihre Leichen läßt man unbeerdigt auf
den Gassen liegen. Am 8. Januar rückt endlich der Zar mit
seinem Sohne in Nowgorod, das vor Entsetzen erstarrte, ein.
Auf der großen Brücke, die über den Wolchowfluß führt, geht
der Erzbischof dem Schrecklichen entgegen, mit den wunder-
tätigen Heiligenbildern in den Händen, mit zitternder Stimme
fromme Segenswünsche auf das Haupt des verruchtesten Men-
schen herabflehend. Aber Iwan schiebt den Erzbischof schroff
beiseite und schreit ihn an : „Nicht das lebenschaffende Kreuz
ist in deiner Hand, sondern die mörderische Waffe, die du uns
ins Herz stoßen willst. Ich kenne deinen Anschlag.** Dennoch
befiehlt er dem Priester, in die Kirche zu gehen und den Gottes-
dienst abzuhalten ; Iwan hört die Lithurgie und betet inbrünstig.
Zum Mittagsmahle erscheint er im erzbischöflichen Palaste und
läßt den Erzbischof an seiner Seite sitzen; mitten im Mahle
aber schreit er mit fürchterlicher Stimme auf, und auf sein
wütendes Signal hin ergreifen die Opritschniki den Erzbischof
und beginnen eine allgemeine Plünderung. Iwan und sein
Sohn begeben sich auf den Stadtplatz, um hier Gericht zu halten
über Nowgorod und die Nowgoroder. Täglich schleppt man
fünfhundert bis tausend Männer vor den Zaren und den Zaren-
sohn. Keiner kann eines Verbrechens überwiesen werden,
keiner ist sich einer Schuld bewußt ; aber alle werden verurteilt,
— 19 —
niemand besteht vor dem Gericht, das keine Gnade kennt, das
nicht Gerechtigkeit sucht, sondern Mord und Schrecken ver-
breiten will. In langen schier endlosen Reihen schleift man
die Opfer vom Gericht zur Richtstätte. Da wird einer mit einer
glühenden Masse überschüttet, ein anderer mit dem Kopf oder
den Füßen an einen Schlitten gebunden und in rasendem Lauf
in den Fluß geschleppt. Ganze Familien werden mit Stricken
zusammengebunden, Männer mit ihren Frauen, die Mütter mit
ihren Säuglingen, und wie Ballen ins Wasser gerollt. Eifervoll
rudern die Opritschniki in Kähnen den Wolchowfluß auf und
ab; mit Pfählen, Äxten und Fischerhaken sind sie bewaffnet,
um jene, die sich vielleicht noch über Wasser halten, aufzu-
gabeln, abzustechen und in Stücke zu hauen. Das ist eine
anstrengende Arbeit, bei Tag und bei Nacht ununterbrochene
Aufmerksamkeit erfordernd. Das Morden währt Woche um
Woche, fünf Wochen lang. Erst als Iwan das sechzigtausendste
Todesurteil gesprochen, steckt er sein Schwert wieder in die
Scheide und befiehlt plötzlich Frieden. Von den armseligen
Resten der Bewohnerschaft läßt er aus jeder Gasse je einen
Mann herbeischleppen. Aus den tiefsten Gruben, den heim-
lichsten Kellern kriechen sie hervor, zaghaft und ungläubig,
da man ihnen Freiheit und Leben zusichert. „Schattengleich,
bleich und abgezehrt erschienen sie,*' schreibt der Chronist,
„aber der Zar sah sie an mit gnädigem und sanftem Auge, in
dem aller Zorn erloschen schien,** und sprach : „Betet zum Herrn
für die wahre gottesfürchtigc Zarenherrschaft. Gott richte den
Verräter, eueren Erzbischof Pimen. Von ihm werde das Blut
gefordert, das hier geflossen ist. Nun mögen Weinen und
Wehklagen verstummen, lebt und gedeiht in dieser Stadt I**
Dann befahl er, den Erzbischof ,,in schlechter Kleidung, mit
einem Dudelsack und einer Schellentrommel in den Händen,
einem Possenreißer gleich, auf eine weiße Stute zu setzen** imd
nach Moskau zu führen. Er selbst aber begab sich nach Pskow,
um dieser Stadt das Schicksal Nowgorods zu bereiten. Pskows
Bürger, gewarnt, eilten beim Nahen des Zaren alle auf die
Gassen, kniend boten sie dem Herrscher Salz und Brot an und
flehten: „Nimm Brot und Salz von deinen liebenden treuen
l^ntertanen; aber mit unserem Leben thue nach deinem Gc-
— 20 —
fallen, denn Alles, was wir haben, und wir selbst sind dein,
großer Selbstherrscher!** Diese Unterwürfigkeit allein hätte
Pskow wohl nicht gerettet; es trat indessen ein Ereignis ein,
das den Schrecklichen verjagte. Ein Blödsinniger reichte dem
Zaren statt Salz und Brot ein Stück rohen Fleisches. „Ich bin
ein Christ,** entgegnete Iwan, „und esse in den Großen Fasten
kein Fleisch.'* Da schrie der Blödsinnige dem Zaren ins Ge-
sicht : „Du thust Schlimmeres, du nährst dich von Fleisch und
Blut der Menschen.** Bei diesen Worten des Irren überfiel den
Fürchterlichen eine unbegreifliche Angst. Er wagte nicht, den
frechen Sprecher anzurühren, kehrte auf der Stelle um und
befahl seinen Truppen: „Stumpft euere Schwerter an den
Steinen ab !**
Für das unterlassene Pskower Blutbad entschädigt sich
Iwan in Moskau. Diesmal sind es des Zaren vornehmste Günst-
linge und Lieblinge, die ihr Haupt unter das Henkerbeil beugen
müssen. Sie alle, die bisher an der wilden Menschenjagd teil-
genommen haben, die unbarmherzig ungerührte Jäger waren,
sie alle smd nun selber das gehetzte Wild. Dem nach immer
neuen grausamen Aufregungen lüsternen Herzen Iwans ist dies
ein seltsam prickelnder Genuß : die Henker auf der Schlacht-
bank als Opfer zu sehen. Des Zaren innigste, allerintimste
Freunde schreiten in der neuen langen Reihe der Märtyrer
obenan. Da ist der Knjäs Wjäsemskij. . Iwan hatte zu ihm
ein blindes Vertrauen. Ewig von der Furcht vor Meuchelmord
erfüllt, traute er nur diesem Genossen seiner Schandtaten; war
er in Krankheitsfällen genötigt, ein Medikament seines Leib-
arztes Arnulph Lensäus zu nehmen, so empfing er das Heil-
mittel aus Wjäsemskijs Händen; zog er sich nachts in sein
Schlafgemach zurück, dann wachte Wjäsemskij an des Wüte-
richs Lager, ihn in sanften Schlummer lullend durch Entwurf
neuer Mordpläne, durch die erquickende Ausmalung künftiger
Greuelszenen. Und währenddem schon schwelgt der Zar in
dem himmlisch freudigen Gedanken, dieses Werkzeug seiner
Schandlüste hinrichten zu lassen. Ein Wojewode, den Wjä-
semskij mit Wohltaten überhäuft hat, denunziert den Wohltäter
beim Zaren als Verräter. Iwan untersucht nichts, fragt nichts,
sagt nichts. Aber des Günstlings Schicksal ist entschieden.
— 21 —
Eines Abends kehrt Fürst Wjäsemskij aus dem Kremlj in sein
Wohnhaus zurück; da findet er im Vorzimmer den Leichnam
seines Dieners. Er kennt solches Vorspiel; er weiß, was ihm
bevorsteht, er weiß auch besser als jeder andere, daß sein
Los unabänderHch ist, und klaglos ergibt er sich darein. Nach
Wjäsemskij werden Basmanow Vater und Sohn ins Gefängnis
geworfen; der junge Theodor Basmanow war des Zaren Bett-
genosse und Lustknabe, das rettet ihn nicht. Sie, die unzählige
dem Zaren zu Gefallen zu Tode gemartert haben, werden nun
selbst zur Freude des Zaren unmenschlich gefoltert, bis sie
sinnlos vor Qualen Verbrechen gestehen, die sie nie zu erdenken
gewagt hätten, und hunderte Namen von Mitschuldigen nennen,
die niemals mit ihnen in Verbindung gestanden. Das ist dem
Zaren ein wahres Fest, die Häupter seiner Höchsten zu fällen.
Am 25. Juli 1570 läßt er auf dem Marktplatz von Kitajgorod
alles zu dem Schauspiel herrichten. Achtzehn gewaltige Galgen
werden aufgestellt und symmetrisch umgeben von den selt-
samsten Marterwerkzeugen. In der Mitte des Platzes erhebt
sich ein riesiger Scheiterhaufen und über diesem ist an einem
Seil eine Kufe mit Wasser aufgehängt. Die unheimlichen Vor-
bereitungen jagen den Moskowitern einen unbeschreiblichen
Schrecken ein. Ängstlich flüstert man einander zu, daß der
Zar nach Nowgorods U-ntergang nun auch den Moskaus selbst
beschlossen habe. Rette sich wer kann ! Es beginnt eine allge-
meine Flucht der Einwohner in die Keller und auf die Dächer.
Die Kaufleute lassen ihre Geschäfte im Stich, in offenen Maga-
zinen liegen die kostbarsten Waren herum ; man brauchte nur
zuzugreifen und könnte Vermögen erhaschen an Ck)ld und Ju-
welen. Aber wer denkt an Raub und Reichtum, da der tausend-
fache Tod einem auf allen Gassen droht! Unberührt bleiben
die fortgeworfenen Kostbarkeiten, jedweder ist nur darauf be-
dacht, das nackte Leben zu retten vor den Qualen der Torturen,
die Iwans Geist tagtäglich neu erfindet. Durch die stillen
starren Gassen ertönt plötzlich der Schall der Becken, der
Schritt von schwergepanzerten Rossen, Stöhnen von Verurteilten
und Klirren von Ketten. Voran zieht in festlichem Gewände
der große Zar, und ihm zur Seite sein geliebter ältester Sohn
Iwan, der Erbe seines Namenfe und seines Reiches, seines Sinnes
09
— — ^^
und seiner Grausamkeit. Den beiden folgt die Schar der Bo-
jaren und Fürsten, die Legion der Opritschniki, und endlich
die lange Reihe der Verurteilten, hunderte und hunderte der
Vornehmsten des Landes; gestern noch an der Spitze der
Verwaltung, auf dem Gipfel der Macht, auf beneidetem Platze
an der Sonne, sind sie heute unglücklicher und ärmer als
die Elendsten der Gasse, schleppen sie ihre zerfleischten
Leiber unter der Eisenlast der Marterwerkzeuge zu der Bühne
ihrer Leiden. Jäh macht der Zug Halt, und der Zar fragt,
weshalb kein Volk zu sehen. Man sagt ihm den Grund. Da
befiehlt der Herrscher, Leute herbeizuschaffen, Publikum für
das Schauspiel. Er selbst spornt sein Roß, zieht durch alle
Straßen, ruft überall seine treuen Moskowiter auf, Zeugen
seines Gerichts zu sein, das nicht dem Volke, sondern den
Großen droht. Rache und Strafe denen, die dem Rufe
nicht gehorchen; Gnade und Sicherheit jenen, die den Mut
haben, ihre Verstecke zu verlassen und sich rund um die
Galgen als Zuschauer zu scharen. Nachdem die Opritschniki
dem Zaren das verlangte Volk herbeigeschleppt, ruft Iwan:
„Volk, du wirst Qualen sehen und Tod. Doch ich züchtige
Verräter. Antworte, Volk: ist mein Gericht gerecht?** Und
alle antworten: „Langes Leben dem großen Zaren, Unter-
gang den Verrätern!** Und dann beginnt das Schauspiel. Zu-
erst fällt das Haupt Wjäsemskijs. Hierauf befiehlt Iwan dem
jungen Basmanow, den alten Basmanow zu erschlagen; be-
fiehlt dem Fürsten Nikita Prosorowskij, seinen Bruder zu er-
morden. Nachdem das Grauenvolle geschehen, werden der
junge Basmanow und der Fürst Nikita Prosorowskij als Vater-
mörder und als Brudermörder gerichtet und hingerichtet.
Auf daß das. Volk des Zaren Gericht gerecht und groß finde,
werden nicht alle Verurteilten nach gleichem Maße behandelt.
Die Einen werden zerstückelt, andere auf der rechten Seite
mit siedendem, auf der linken Seite mit eiskaltem Wasser
überschüttet. In einer Ecke des Platzes wird gehenkt, in einer
anderen gespießt. Iwan selbst nimmt Teil am Vergnügen.
Einen alten Mann duchstößt er kunstgerecht mit der Lanze,
einen anderen nagelt er mit dem spitzen Stab an die Erde,
einen dritten erschlägt er mit der Keule. In vier Stunden
— 23 —
werden zweihundert Menschen geschlachtet. Iwan ist befriedigt
von der Blutmahlzeit und gesättigt, doch es gelüstet ihn noch
nach einem süßen Nachtisch. So reitet er denn hinweg von
dem Mordplatz, um einzukehren in die Häuser der Ermor-
deten, und der Klagen der Witwen, der Tränen der Waisen
zu spotten, den Beraubten ihre letzten Habseligkeiten zu ent-
reißen. Im Hause des hingerichteten Tunikow gefällt dem
Zaren des Ermordeten fünfzehnjährige Tochter; unter dem
Tränenschleier leuchtet ihre Schönheit in überirdischem
Glänze, der Herrscher will sie zur Märtyrerin machen, und
während der Zar die Mutter foltert, wird die Tochter vom
Zarensohn vergewaltigt. Nach solchem Tagewerk gönnt sich
Iwan eine Pause; eine Pause von drei Tagen, und dann hält
er Gericht über eine neue Serie von Edelleuten. Diesmal
ist die Strafe gleich für alle: die Verurteilten werden er-
schlagen, hierauf in eine Reihe gelegt, und der Anführer der
Henkersknechte, Maljuta Skuratow, zerhackt die Leichname
mit Beilen in Stücke, die den Hunden als Fraß vorgeworfen
werden. Die Weiber der erschlagenen Edelleute endlich, acht-
zig an Zahl, schleppt man gebunden herbei und ersäuft sie
im Flusse.^)
Und Niemand erhebt sich gegen den Mörder. Stumm
*) Die Wahrhaftigkeit der " Schilderungen T russischer Historiker wird
durch die zeitgenössischen nichtrussischen Chronisten erhärtet. So erzählt
Th. Hiärns Lyf-, Ehst- und Lettländische Geschichte, Seite 277, aus dem
Jahre 1 567 : ,,Welchergestalt Iwan zu Moskau, Nauwogorod, Pleskau und anderen
örter gantze Familien ohnangesehen einigen Geschlechts, Alters oder Standes
ausgerottet, selbige an Weib, Kinder, Gesinde, Viehe, Hunde, Katzen, ja die
Fische im Wasser und alles, was sie hatten, durch seine Aprißniken, welche zwar
sonst die außerwehltesten Kriegsleute der Reußen seyn, anjetzo aber von dem
Großfürsten für nichts anders alß Henckersbuben gebrauchet werden mit un-
menschlicher Tyranney tödten, würgen und gäntzlich vertilgen, ehrliche Frauen
und Jungffern schänden und nackend herumb schleppen lassen, den Einwohnern
alles das Ihrige beraubet und dergestalt einen unglaublichen Schatz, so mit vieler
Hunderttausenden unschuldigem Blut besudelt, zusammengebracht, in seinem
eigenen Lande so viel hundert Edcl-Höfe, Flecken und Dörffer ausgebrant ....
Sogar erstreckte sich dieses Unmenschen Tyranney nicht allein über seine eigene
unschuldige Unterthanen und kleine Kinder, sondern auch leblose Dinge und
seiner eigenen Länder Früchte und Waren".
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und geduldig ertragen die Vornehmen und Geringen die
Qualen, die der Tyrann ihnen bereitet, vor dem kein Ein-
ziger Wert und Ansehen genießt. Er allein mit seinem
scharfen Eisenstabe und seinem furchtbaren Blick hält Alle
in Zittern und Demut, in Willenlosigkeit und Gehorsam. Er
erhebt seine Stimme, und wortlos sinken Hunderte und Tau-
sende in den Staub vor ihm; er erhebt seine Hand, und
klaglos wälzen sich die Scharen aufs Schaffot. Wer be-
steht neben dem Zaren, dem großen Selbstherrscher? Wer
ist reich, wer vornehm? Wer darf sich rühmen seiner Ver-
dienste, seiner Siege? Verdienst ist Gefahr und Reichtum
Verbrechen. Die Reichsten und Vornehmsten, die dem
Throne am nächsten stehen, die großen und glücklichen
Heerführer und Minister, die dem Zaren am eifrigsten
dienen, sie sind seinem Zorn am leichtesten erreichbar, sie
locken am ehesten seine Mordlust und seine Habgier, nach
ihren Schätzen und schönen Weibern strecken Zar und
Zarensohn am häufigsten ihre ruchlosen Hände aus.
Der von Iwan geliebteste Heerführer Fürst Peter Obo-
Icnskij-Sserebrjänow wird eines Tages nach Moskau berufen :
im Augenblick, da er vor dem Herrscher niederknien will,
wird er auf einen Wink Iwans ergriffen und von den Oprit-
schniki auf der Stelle enthauptet. Dem Wojewoden Kosa-
rinow-Golochwastow droht dasselbe Schicksal; gewarnt, flüch-
tet er sich in ein Kloster, um als Mönch seine Tage zu be-
schließen. Aber diese Flucht rettet ihn nicht vor dem
gewaltsamen Ende. Iwan erspäht seine Zuflucht, läßt ihn
auf eine Pulvertonne binden und in die Luft sprengen; „die
Mönche sind PLngel", höhnt Iwan, ,,und müssen gen Himmel
fahren". Die Verbrechen dieser Unglücklichen sind nicht be-
kannt, existierten wohl gar nicht. Das Verbrechen eines
dritten Opfers, des Beamten Mjäsojcd Wisloj, bestand in der
blendenden Schönheit seiner Gattin. Iwan läßt die Frau vor
den Augen des Mannes schänden und aufknüpfen, und
während sie noch lebend am Galgen baumelt, wird der Gatte
enthauptet. Einige von Jenen, die der Zar zu seinen Opfern
erwählt hat, weilen im Felde. Iwan schickt seine Henker
ab, um die Geächteten hinzurichten. Aber da die Henker
or,
nur die Leichen der vor dem Feinde gefallenen Helden
finden, befiehlt Iwan zur Strafe dafür, daß sie es gewagt,
den Heldentod zu sterben, ihre Kinder zu töten oder in den
Kerker zu werfen.
Nach dieser Mordepoche tritt eine kurze Pause ein. Die
Opritschniki verschwinden, die Massenhinrichtungen hören
auf. Ist der Bluthund ermüdet, erschöpft, gesättigt? Die
bange Frage wird bald beantwortet werden, der schlum-
mernde Tiger erwachen und mit neuer unstillbarer Gier nach
Opfern suchen. Je mehr sich dieses Ungetüm seinem Ende
nähert, je wilder wird seine Raub- und Mordleidenschäft.
Ruht sie eine Weile, so ist es nur, als wollte sie frische
Kräfte sammeln, um mit verhundertfachter Wut auszu-
brechen. Immer hastiger sucht der Tyrann unter seinen
Großen und unter seinem Volke aufzuräumen, als fürchtete
er, in der kurzen Spanne seiner Lebenszeit auf Erden nicht
genug des Grausamen leisten zu können; als hätte er die
Angst, daß er vor dem Richterstuhl der Hölle nicht voll-
kommen blutbedeckt erscheinen würde. Und der Himmel läßt
diesem Abgesandten des Teufels reichlich Muße, seinen Kreis-
lauf zu vollenden, alle Taten zu vollführen, die seine Mord-
lust ersinnt.
Fürst Michael Worotünskij, der Eroberer von Kasanj,
steht dem Zaren im Wege, weil er vom Volke geliebt wird;
er wird in Acht und Bann getan. Aber als Moskau vom
Chan bedroht wird, ruft Iwan den Fürsten zur Hülfe herbei,
und der Geächtete folgt dem Rufe des Herrn und rettet
Moskwa. Und was wird der Lohn des Helden? Ein Sklave
des Fürsten beschuldigt seinen Herrn der Zauberei und ge-
heimer Zusammenkünfte mit Hexen, mit denen er einen An-
schlag auf das Leben des Zaren plane. Das genügt. Der
Triumphator, der Eroberer Kasanjs, der Retter Moskwas, der
erste Diener des Zaren, der Mann, dessen Treue und Ge-
horsam sich in hundert bitteren Prüfungen bewährt haben,
der Greis, der nach einem Leben harter Arbeit, nach Jahr-
zehnten voller Siege nicht nach Ruhm und Ehren geizt, son-
dern bloß nach einem einsamen stillen Plätzchen strebt, um
friedlich den kargen Rest seiner Tage zu verbringen, er
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wird am Rande des Grabes von den Schergen seines Zaren
ergriffen, die ihm statt des friedhchen Endes gewahsam den
Tod des Märtyrers bereiten. Man schleppt ihn auf einen
Scheiterhaufen, martert ihn, legt ihn zwischen zwei Feuer,
um ihn bei lebendigem Leibe zu rösten; und Iwan selbst
schiebt mit seinem blutigen Stabe die glühenden Kohlen mit
raffinierter Berechnung immer näher an den Leib des Opfers,
ihn vorsichtig versengend, aber nicht barmherzig verbren-
nend. Denn im Augenblick, da der Dulder seinen Leiden
zu erliegen droht, reißt man ihn vom Scheiterhaufen
herunter und belebt den Sterbenden durch Stärkungsmittel
für noch einige Stunden, auf daß er nicht bewußtlos den
Tod des Ertrinkens im Bjelo Osero erleide, den der Zar ihm
zum Schlüsse zugedacht hat.
Zu derselben Zeit wie Worotünskij wird der Bojar Moro-
sow nebst seinen Söhnen und seiner Gerhahlin hingerichtet.
Morosow ist weder berühmt, noch ein hervorragender Günst-
ling, weder als Zauberer, noch als Majestätsverbrecher be-
schuldigt worden. Er lebt still und zurückgezogen, ein hoch-
betagter Mann, fern vom Hofe. Und doch ist er in den
Augen Iwans mit einer unverzeihlichen Schuld beladen: er
ist durch einen unbegreiflichen Zufall den früheren Massen-
hinrichtungen entgangen, als einziger von allen Bojaren der
früheren Zeit übriggeblieben; er hat es gewagt, fünf Mord-
epochen Iwans zu überleben! Um ihm das Sterben schöner
zu machen, werden mit ihm und seiner Familie gleichzeitig
umgebracht: Fürst Kurakin, Buturlin, zahlreiche Günstlinge,
Adlige und drei Geistliche: der Abt von Pskow, der Erz-
bischof Leonidas von Nowgorod und der Archimandrit Theo-
dorites. Den Geistlichen gebührt besondere Ehrung durch
besondere Todesart. Der Abt wird mit einem Marterwerk-
zeug zerfleischt, der Archimandrit ersäuft, der Erzbischof
aber als der Höchste in eine Bärenhaut eingenäht und den
Hunden vorgeworfen. i) Die letzterwähnte Hinrichtungsart ge-
fällt dem Zaren ganz besonders, sie wird für eine Zeitlang
1) Das Verbrechen des Erzbischofs Leonidas bestand darin, daß er sich
geweigert hatte. Iwans vierte Ehe. als eine ungesetzliche, einzusegnen.
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seine Lieblingsmördmethode.^) Er wendet sie namentlich für
Richter und Geistliche an. 2)
Aber auch seine alten Methoden läßt Iwan nicht in Ver-
fall geraten. Wie in früheren Zeiten springt er auch jetzt
plötzlich von der Tafel auf, trommelt seine Henker zusam-
men und reitet mit dem schauerlichen Mordruf: „Heida,
Heida" auf die Jagd nach Menschen. So begibt er sich ein-
mal vom Tische hinweg in die Kerker der litthauischen Ge-
^) Auch die römischen Tyrannen ließen Verbrecher in Tierhäute einnähen
und den Hunden vorwerfen. Afrikanische Despoten strafen ungehorsame
Sklaven auf gleiche Weise. In Havanna wurden früher alle zum Tode verur-
teilten Verbrecher den Hunden zum Fraß überliefert. Dictionnaire de la p6na-
lite III 239 berichtet von einem exotischen Volke, das besonders die Ehe-
brecher zu solcher Todesart verurteilt.
^) Der Grausame kann auch humoristisch sein: Ein Wojewode von Stariza
kommt zum Zaren, als dieser lustig tafelt. ,,Sei gesund, mein geliebter Woje-
wode," begrüßt der Herrscher gutgelaunt den Ankömmling, ,,du bist Unserer
Gnade würdig," und zum Zeichen dieser Gnade schneidet er dem Überraschten
ein Ohr ab ! Als Magnus Herzog von Holstein König von Livland geworden war,
gab Iwan seine Nichte dem neugebackenen König zur Frau. Der Hochzeit, so
wird in dem Buche Description de la Livonie, (Utrecht 1705, p. 126) berichtet,
wohnte Iwan persönlich bei, ,,und er bezeigte viel Freude in barbarischer Art
nach seiner Gewohnheit": er stellte sich in die Reihe der jungen Mönche und
sang mit ihnen, indem er mit seinem dicken Stock den Takt auf ihren Köpfen
schlug, bis das Blut in Strömen floß. Dem Abgesandten des Fürsten Kurbskij
stieß Iwan seinen spitzen Stab durch den Fuß in die Erde, und dann erst ließ er
sich vom Angenagelten die Botschaft vorlesen. Dem Gesandten eines auslän-
dischen Fürsten, der vor dem Zaren nicht das Haupt entblößte, ließ Iwan gar
den Hut auf den Kopf nageln. Ein anderer fremder Diplomat kam in gleichem
Falle besser davon. Es wird erzählt, in der ,, Reise nach Norden / worinnen die
Sitten / Lebens- Art und Aberglauben derer Norwegen / Lappländer / Kiloppen,
Borandier, Syberier, Moßcowiter usw. beschrieben werden" (Zum andcrnmahl ge-
druckt, Leipzig, bey Gottfried Leschen, 1 706, S. 1 69) : , .Der Ritter Hieronymus Bosc
/ der als Abgesandter zu Iwan geschickt ward / hat den Hut vor ihm abgenommen
und trotziglich wieder aufgesetzet. Der Kayser fragte ihn /ob er nicht das Tracta-
ment wüste / das ein anderer Abgesandte wegen dergleichen Kühnheit empfangen
hätte ? Ich weiß es / antwortete er / allein ich bin der Königin Elisabeth Abgesandter
/ welche ihre Mütze nicht abnimmt /noch ihr Haupt vor einigen Fürsten in der Welt
entblöset : und wenn man einen von ihren Ministern beschimpftet / so wird sie
solches / wie es ihr zukömmt / zu rächen wissen. Sehet einen tapfferen Mann /
sagte der Kayser / indem er sich gegen seine Boyards wendete / der sich unter-
stehen darff / vor die Ehre und das Interesse seiner Königin also zu reden".
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fangenen, um die Unglücklichen an ihren Ketten umbringen
zu lassen. Nachdem er sich im Blute von mehr als hundert
Menschen gebadet hat, kehrt er wieder zu seinem unter-
brochenen Mittagsmahle zurück und setzt mit frischem Appe-
tit das Essen fort.
Die Marterwerkzeuge und Todesarten werden in der letz-
ten Mordepoche immer mehr verfeinert, und Erfinder dieser
Art sind großen Lohnes und seltener Zarengunst sicher. Da
gibt es Pfannen zum Braten lebender Menschen, kunstvoll
konstruierte Oefen, vollendet ausgearbeitete Kneipzangen,
spitze Nägel und Stacheln als Werkzeuge der Folter. Handwerk,
Kunst, Industrie und Wissenschaft, Alles im Reiche ist tätig
für des Zaren Grausamkeit. Die Menschen werden nicht
blindwütig gemordet; im Wahnsinn herrscht Methode. Wird
ein Opfer zur Zerstückelung verurteilt, so muß der Henker
nach vorgeschriebener Norm verfahren, das Zerschneiden und
Zerhacken nach den Gelenken vornehmen und stets darauf
bedacht sein, das Opfer unter den Todesqualen möglichst
lange bei Bewußtsein zu erhalten. Die abgeschnittenen Stücke
werden an Schnüren aufgezogen. Andere Opfer werden mit
feinen dünnen Schnüren in der Leibesmitte durchgesägt.
Wieder Anderen zieht man bei lebendigem Leibe die Haut
vom Rücken, um Riemen daraus zu schneiden. Oder man
reißt einem Verurteilten Stücke Fleisch aus dem Leibe und
wirft diese Fetzen, während das Opfer noch lebt, hungrigen
Tieren vor; man zwingt den L^nglücklichen durch die kost-
barsten Mittel der ärztlichen Wissenschaft, bei Bewußtsein zu
bleiben und die Augen offenzuhalten, damit er diese Mahl-
zeit der Tiere, deren Kosten sein sterbender Leib bezahlt,
niitansehe. Das strömende Blut ist Nektar für den Tyrannen;
das Heulen der Tiere, das Schreien der Märtyrer Musik für
seine Ohren. Zuweilen stößt Iwan selbst mit seinem Dolche
oder Stabe zu, aber er bereut dies sofort als einen Akt der
Schwäche und wahnsinnigen Mitleids, weil er die Qualen der
Opfer abzukürzen fürchtet, da doch die Strafe lange, endlos
lange dauern soll. Er bemüht sich daher, wo es nur angeht,
seine Mordgier zu zügeln, den (^enuß nicht zu überhasten, und
begnügt sich damit, die Sterbenden zu beschimpfen oder
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zu verhöhnen und ihre Qualen zu verlängern. Und es gibt
verruchte Männer der Wissenschaft, die ihre Kräfte in den
Dienst dieser Barbarei stellen. Der Arzt Bomelius, ein teuf-
lisches Genie, erfindet in mühsamem Studium, als Resultat
zahlloser Nächte der Arbeit und des Denkens ein Gift, das
die Menschen nach bestimmten Stunden oder Tagen unfehl-
bar tötet. Der Zar braucht einem Opfer mehr oder weniger
von diesem Gift zu verabreichen, um es früher oder später
sterben zu lassen. Die Günstlinge und Untertanen werden
zu Uhrwerken, die nach einer von dem Herrn festgesetzten
Frist stillestehen müssen. Die infernalische Erfindung des Bo-
melius funktioniert so tadellos, daß Iwan nach dem Ende dieses
oder jenes Mannes seine Tageseinteilung bestimmt. Er setzt
eine Truppenparade fest für die Stunde des Todes des Für-
sten Gwosdew-Kostowskij, er ordnet das Mittagsmahl an für
den Augenblick des Hinscheidens eines anderen Günstlings.
Er gibt einem heimlich Verurteilten soviel Tropfen Gift, daß
der Mann just im Augenblick sterben muß, da er sich von
der Hochzeitstafel erheben will, um sich in das Brautgemach
zu begeben. Dieses Gift des Bomelius präzisiert im Vorhinein
Tage, Stunden und Minuten. Der Erfinder dieser Übernatür-
lichkeit aber muß schließlich selbst das Los Aller teilen, die
das Schicksal in der Nähe Iwans leben ließ. Der mißtrau-
ische Zar ängstigt sich am Ende vor der unheimlichen Ge-
nialität des Leibarztes. Bomelius wird plötzlich ergriffen, an
einen Pfahl gebunden und geröstet.^)
Iwans Mißtrauen gegenüber Bomelius war ungerechtfertigt.
Der Bluthund ist gefeit gegen alle Angriffe. Niemand wagt
auch nur daran zu denken, den Massenmörder durch Mord
zu beseitigen. Stumm sieht die ganze Welt dem Schauspiel
zu, stumm beugen die Russen ihr Haupt vor dem Henker,
wenn der Zar es befiehlt. Die Großen am Hofe klagen nicht
*) Wälirend Karamsüi i^j^t, daß Bomelius öffentlich verbraunt wurde
(„BCenapo.ui'» <•• •'«kvki'H'L irb M« mkbI.'*) berichten andere (Tradescant der Jüngere 1618
in Rußland, S. 145), daß „Bomelius gefoltert, nach der Folterung an einen Pfahl
gebunden, ans Feuer gelegt, schließlich auf einem Schlitten aus dem Kreml
hinausgeschleppt und, noch lebend, in eiu Grab geworfen wurde'*.
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einmal, begreifen gar nicht das Elend ihres Daseins. Trotzige
Kläger vor dem Herrscher werden sie nur bei Rangstreitig-
keiten, wenn ein vornehmes Geschlecht zu Gunsten eines
anderen bei der Tafel, im Heere oder in der Verwaltung
zurückgesetzt erscheint. Solchen Klagen schenkt Iwan auch
Gehör. Er schont die Empfindlichkeiten seiner Großen,
ihren Adelsstolz; nur nicht ihre Köpfe. Er verleiht ihnen
Rang, Amt und Würde; dafür gestatten sie ihm, jederzeit ihr
Leben zu vernichten. Auch die Familie des Zaren macht
keine Ausnahme; doch erfindet er für seine eigenen Ver-
wandten eigene Strafen: um seinen Schwiegervater Nagoj zu
martern, befiehlt Iwan, dem in der Heilung von Krankheiten
geschickten Kaufmann Stroganow, daß er dem zarischen
Schwiegervater die schmerzlichsten Haarseile in den Seiten
und auf der Brust einziehe. Der Schwager Iwans, Fürst Nikita
Odojewskij, wird zum Tode verurteilt, seine Hinrichtung aber
Jahre hindurch immer wieder aufgeschoben, weil sich der
Zar am Zittern des Verurteilten weiden will. Als Iwans dritte
Braut plötzlich abzumagern beginnt, beschuldigt man die Ver-
wandten der zwei ersten Frauen des Herrschers der Zaube-
rei; darauf werden des Zaren Schwäger teils zu Tode ge-
peitscht, teils auf Pfähle gespießt. Der einzige Verwandte
Iwans, der geschont wird, ist sein Vetter Prinz Wladimir Andre-
jewitsch. Aber auch für Wladimir Andrejewitsch kommt die
Stunde des Unheils. 1569 sendet Iwan seinen Vetter mit einem
Heere nach Astrachan]. In Kostroma empfangen die Bürger
den Prinzen als Vertreter des Zaren mit hohen Ehren. Ob
dieser Ehrenbezeigungen gerät Iwan in Zorn, er läßt die
Vorsteher der Stadt Kostroma nach Moskau bringen und
hinrichten und beruft den Vetter zurück. Als Prinz Wla-
dimir mit seiner Familie vor Moskau eintrifft, wird er über-
fallen und eines Giftattentats gegen den Zaren beschuldigt.
Iwan erscheint, reicht dem Prinzen, seiner Frau und seinen
Söhnen Gift und sagt: „Trinkt das nun selbst aus!'* Die
Prinzessin antwortet : „Besser ist es von der Hand des Ty-
rannen als von der des Henkers zu sterben.** Und die Ver-
urteilten trinken das Gift, und der Zar bleibt bei ihnen,
um Zeuge ihrer Leiden und ihres Todes zu sein; dann führt
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er die Dienerinnen zu den Leichen ihrer Herrschaft und ver-
spricht ihnen Gnade. Sie aber entgegnen: „Wir verlangen
Deine Barmherzigkeit nicht, blutdürstiges Ungeheuer! Zer-
reiße uns ! Dich verabscheuend verachten wir das Leben
und die Qualen.** Iwan läßt die Weiber auf der Stelle nackt
ausziehen und umbringen. Auf daß das Werk vollkommen sei,
begibt er sich in das Kloster, wo die Mutter des Prinzen Wladi-
mir als Nonne lebt, und ersäuft die Greisin an Ort und Stelle.
Auf den Charakter Iwans vermochten auch Frauen kei-
nen Einfluß zu üben, der irgendwie eine Milderung seiner
Sitten, seines Wahnsinns hätte herbeiführen können. Der
Grausame war zwar ein leidenschaftlicher Frauenfreund und
heiratete, den russischen Kirchengesetzen zum Trotze, nach-
einander acht Frauen; aber er liebte keine von ihnen, sie
waren ihm nicht Gattinnen, sondern Sklavinnen. Die erste
Ehe schloß er gleich, nachdem er sich in seinem siebzehn-
ten Lebensjahre hatte krönen lassen, nach der damaligen mosko-
witischen, von den Byzantinern übernommenen Sitte: Alle
heiratsfähigen Töchter der im Dienste des Zaren stehenden
Bojaren mußten nach Moskau pilgern; die fünfzehnhundert
schönsten von ihnen wurden in einem Riesengebäude einquar-
tiert, das mehr als hundert Schlafsäle und in jedem Saale
zwölf Betten enthielt. Dann erschien eines Tages der junge
Zar, begleitet von einem einzigen alten Höfling, um die Schönen
zu mustern. Seine Wahl fiel auf Anastasia Sacharin-Koschkin.
Als Anastasia nach kurzer Ehe an den Folgen einer Vergiftung
gestorben war, brach Iwan mit dem alten System der Braut-
schau. Er hatte von der Schönheit einer tscherkessischen Prin-
zessin, der Tochter des Fürsten Temgruk, vernommen und
befahl, daß man sie nach Moskau schaffe. Die wilde Tscher-
kessin gefiel ihm, er ließ sie taufen und heiratete sie im Jahre
1561. Von dieser zweiten Gemahlin Iwans, die als Christin
den Namen Maria führte, wird erzählt, daß sie dem Zaren an
Grausamkeit nicht nachstand. Nach zwei Jahren wurde auch sie
vergiftet, und Iwan schritt zu einer dritten Ehe mit der Kauf-
mannstochter Marfa Ssobakin. Diese überlebte die Hochzeit
nur um zwei Wochen und starb plötzlich an den Folgen einer
Vergiftung. Nun hätte die russische Kirche dem Zaren keine
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neue Ehe mehr erlaubt. Aber Iwan erklärte der Geistlichkeit
folgendermaßen die Gründe, die ihm eine vierte Ehe gestatten
mußten: „Die Zarin Marfa/* sagte er, „ist als Jungfrau ge-
storben, diese Ehe war nicht vollzogen, existierte in Wahr-
heit nicht. Ich wollte mich ins Kloster zurückziehen, doch ich
muß für die Erziehung meiner Kinder sorgen und das Reich
und den christlichen Glauben verteidigen; deshalb kann ich
der Weltlichkeit nicht entsagen. Um aber Sünden zu vermeiden
im weltlichen Leben, bin ich genötigt wieder zu heiraten.** Die
Geistlichkeit mußte des Zaren Gründe gutheißen, und Iwan
vermählte sich in vierter Ehe mit Anna Koltowskoj. Diese fand
kein gewaltsames Ende; doch nach kurzer Zeit wurde sie vom
Zaren ins Kloster geschickt. Nun emanzipierte sich Iwan ein
für allemal von priesterlicher Zustimmung zu seinen Ehen und
verheiratete sich zum fünften Male mit Anna Wassiltschikoff,
und nach ihrem Tode, der als Folge einer Vergiftung eintrat,
zum sechsten Male mit der Witwe Wassilissa Melentjeff; die
schöne Wassilissa fiel bald in Ungnade, weil sie stark ab-
magerte und der Zar die mageren Frauen haßte. Ihre Nach-
folgerin als siebente Gemahlin Iwans war Maria Dolgorukow;
der Zar entdeckte in der Hochzeitsnacht, daß sie einen anderen
geliebt hatte, ließ sie am frühen Morgen in einen geschlossenen
Wagen bringen und diesen samt der jungen Zarin ins
Wasser werfen. Jetzt erwählte Iwan im Jahre 1580 die Tochter
Maria des Höflings Nagoj zu seiner achten Gemahlin. Auch
diese Ehe befriedigte ihn nicht, und er beschloß, sein Glück
außerhalb seines Reiches zu versuchen und um die Hand einer
fremden Prinzessin anzuhalten.
Am Hofe des Zaren befand sich ein englischer Arzt, Jakob
Roberts, der die Aufmerksamkeit Iwans auf den englischen
Hof lenkte und sich anheischig machte, eine Verwandte der
Königin Elisabeth als Braut des moskowitischen Herrschers
herbeizuschaffen. Diese Verwandte war Marie Hastings, Toch-
ter des Lord Huntingdon, der tatsächlich ein entfernter Ver-
wandter der Königin war. Die Unterhandlungen zwischen
dem Doktor Roberts und dem Zaren führte im Auftrage des
letzteren Nagoj, der Vater der Zarin Maria, die im Falle des
Gelingens des Planes natürlich den Platz hätte räumen müssen !
— 33 —
Nachdem alles besprochen und festgestellt war, reiste der Diplo-
mat Fedor Iwanowitsch Pissemski als Gesandter des Zaren
nach London. Pissemski hatte auch politische und kommerzielle
Angelegenheiten zu erledigen, aber sie waren Nebensache.
Die Instruktion, die der Zar seinem Boten gab, besagte : „Vor
allen Dingen trachte die Prinzessin Titunski (so hatten die
Russen den Namen der zukünftigen Zarenbraut verstümmelt)
zu sehen. Prüfe sie mit Sorgfalt, notiere genau, wie sie aus-
sieht. Ich will wissen, was sie für ein Gesicht hat, von welcher
Farbe ihr Teint ist; und vergiß auch nicht, annähernd ihren
Leibesumfang zu beschreiben. Erforsche alles, was ihre Fa-
milie betrifft, und erkundige Dich bei verläßlichen Personen
über ihr Alter. Schließlich hast Du Sorge zu tragen für ein
getreues Porträt der Prinzessin. Wenn irgend möglich, be-
mühe Dich, genaue Maße von ihrer Größe und ihrem Umfang
zu erhalten.*' Pissemski erbat eine Instruktion für den Fall,
daß man in London Kenntnis von der früheren Verheiratung
des Zaren und von der jetzt noch bestehenden achten Ehe
haben sollte. Der Zar erwiderte : „Dann wirst Du antworten,
daß meine früheren Frauen alle tot sind. Was jedoch die
Zarin Maria, meine jetzige Gemahlin, anbelangt, so sage dieses :
Die Zarin besitzt keine Rechte. Da sie die Tochter eines simplen
Bojaren ist, hat ihre Ehe mit mir keine Konsequenzen^ und
die neue Zarin wird allein die Rechte und den Rang der Herr-
schersgattin haben.*' — „Und wenn man, o Zar, nach deinen
Kindern fragt?" — „Dann sage: Der Thron bleibt meinem
Sohne Fedor, der einer früheren Ehe entstammt und schon
zum Erben erklärt ist, vorbehalten. Wenn mir aber die eng-
lische Prinzessin Kinder schenken sollte, so werde ich ihnen
entsprechende Apanagen festsetzen. Bei dieser Gelegen-
heit erwähne auch folgende Bedingungen : Die zukünftige Zarin
muß, ebenso wie alle Personen, die sie aus England mitbringt
und bei sich behalten will, zum russischen Glauben übertreten.
Vor der Verlobung ist zwischen England und Moskau eine
Allian;-, in aller Form abzuschließen."
Im September 1582 kam Pissemski, den der Arzt Roberts
als Dolmetsch begleitete, in Windsor an. Das erste, was der
russische Gesandte in England erfuhr, war die Nachricht von
Stern, Cicschichtc der öfft-nll. Sililichkeit in Rußland. '* 't
— 34 —
dem Siege Bäthorys über Iwan, und es war natürlich, daß man
den Russen infolgedessen kühl empfing. Erst nach langem
Zögern ließ ihn die Königin zur Audienz berufen, Pissemski
brachte also seine Werbung vor und bat die Königin: man
möge ihm gestatten, die Prinzessin zu sehen und zu malen.
Elisabeth entgegnete : „Ich wäre sehr glücklich, mit dem Zaren
m Verwandtschaft zu kommen. Aber ich habe mir erzählen
lassen, daß der Zar nur schöne Frauen liebt, und Marie Hastings
ist nicht schön. Zudem hat sie kürzlich die Blattern über-
standen, und es wäre nicht gut, jetzt ihr Porträt anzufertigen.**
Dennoch fragte sie: „Und was würde mit den Töchtern ge-
schehen, wenn Marie Hastings solche haben sollte?** Worauf
Pissemski erwiderte : „Unsere Herrscher verheiraten ihre Töch-
ter mit fremden Potentaten!** was ein wenig stark übertrieben
war, da dies bisher nur einmal stattgehabt hatte.
Pissemski verließ die Königin voller Hoffnung und begann
nun den Instruktionen gemäß über die Allianz zu verhandeln,
deren Abschluß ja der Verlobung vorausgehen mußte. Die
Königin Elisabeth erklärte sich einem Bündnisse geneigt und
verlangte dafür bloß das Monopol des gesamten moskowitischen
Außenhandels. In den bezüglichen Verhandlungen war vom
Zaren Iwan immer nur als von dem „Neffen der Königin'* die
Rede. Die Russen merkten nicht, daß man sich über sie lustig
machte; dem guten Pissemski dämmerte erst die Erkenntnis,
uls die Geschichte sich furchtbar in die Länge zog und Monat
um Monat zwecklos verstrich. Da raffte er sich auf und be-
schwerte sich bei der Königin. Sie wollte ihr Amüsement nicht
vorschnell abbrechen und befahl, dem Russen die Erwählte
Iwans zu zeigen. Der 17. Mai 1583 war der große Tag. Man
führte Pissemski in den Garten des Lord Bromley und hier
zeigte man ihm von ferne eine Gruppe von Frauen, an deren
Spitze sich Marie Hastings befand, ,,die Braut des Zaren**. Der
Kanzler Lord Bromley sagte : „Die Königin hat befohlen, daß
man Ihnen ihre Nichte nicht in einem Zimmer, sondern im
Freien zeigen soll, damit Sic sie besser betrachten können.**
Der Russe grüßte die Dame respektvoll von fern und war aus
dem Parke kaum fortzubringen. „Haben Sic sie genug be-
trachtet ?" fragte der Kanzler, und Pissemski erwiderte: „Ich
— 35 —
habe den zarischen Instruktionen gehorcht.** Und in seinem
Bericht an den Zaren sagte er über dieses denkwürdige Rendez-
vous : „Die Prinzessin von Huntinsk, Marie Hantis, ist von hoher
Figur, von weißem Teint ; sie hat blaue Augen, blonde Haare,
eine gerade Nase und lange Finger.** Elisabeth wollte den
Spaß bis zum Schlüsse genießen und berief Pissemski: „Ich
bedaure bloß**, sagte sie, „daß meine Nichte nicht schön genug
für den Zaren ist.** Die Hastings war übrigens auch nicht mehr
jung, sondern schon dreißigjährig. Als Pissemski schwieg,
setzte die Königin hinzu : „Ich glaube, sie hat Ihnen selbst auch
nicht gefallen.** Worauf der Russe hastig entgegnete: „Ich
habe auf den Engel nur einen Blick zu werfen gewagt, und ich
glaube, daß sie schön ist. Der Rest ist Sache Gottes.**
• Pissemski ließ die Zarenbraut malen und reiste dann, mit
dem Erfolg seiner Reise vollkommen zufrieden, wieder nach
Rußland. Die Königin Elisabeth schickte mit ihm den Diplo-
maten Bowes nach Moskau, der den Auftrag erhielt, die Situ-
ation jedenfalls auszunützen und in Rußland kommerzielle Kon-
zessionen zu erlangen. Am 13. Dezember 1583 erschien Bowes
in Audienz beim Zaren. Die Unterredung war ganz intim,
denn der Zar wollte nichts von Politik hören, sondern nur über
„die geheime Affäre'* unterhandeln. Der Zar fragte kurzweg:
„Was denkt die Königin in Bezug auf meine Heirat mit Marie
Hastings zu thun?** Bowes erwiderte: „Die Königin hat mich
geschickt, um die Intentionen des Zaren zu erfahren.** Aber
der Zar drückte den Gesandten an die Wand und verlangte
ehrliche Antwort ; und da sagte Bowes : „Die Nichte der Königin
war krank, sehr krank. Auch weiß man nicht, ob sie sich zu
einem Religionswechsel entschließen könnte. Übrigens ist sie
unter den Verwandten der Königin die entfernteste; es gibt
zehn andere, die vielleicht besser für den Zaren passen würden.**
— ,,Was sind das für Personen?** fragte der Zar. „Sind es
Töchter von Fürsten oder von Unterthanen der Königin?'* —
^Ich habe keine Instruktionen, und weiß nicht, was ich sagen
soll.** Iwan geriet in Zorn und rief: „Sie sprechen in einer
Art, die nicht geduldet werden kann, denn unter den Souve-
ränen, die meinesgleichen sind, kenne ich einige, die ihrer
Herrin überlegen sind.*' Und er überschüttete den englischen
->*
— 36 —
Gesandten mit zahllosen Insulten und schickte ihn aus dem
Palaste fort. Aber seine fixe Idee ließ ihn nicht ruhen. Er
befahl Bowes, wieder zur Audienz zu erscheinen, und erklärte
ihm : den enghschen Untertanen solle alles Gewünschte bewilligt
werden, wenn der Zar sich mit einer Verwandten der Königin
verheiraten würde; falls nichts aus dem Projekte mit Marie
Hastings werden sollte, wollte der Zar eine andere Verwandte
Elisabeths heiraten und sich zu diesem Zwecke persönHch nach
London begeben. Der englische Prediger Humphry Cole mußte
dem Zaren ein Memoire über die Hauptpunkte des Protestantis-
mus ausarbeiten, und Gerüchte wollten schon wissen, daß Iwan
entschlossen war, seinen Glauben zu verlassen, um nur eine
englische Prinzessin zur Gemahlin zu erhalten. Des Zaren Tod
machte diesen Plänen ein Ende.^)
Iwan liebte keine von seinen Frauen, und von seinen Kin-
dern nur eins, den ältesten Sohn, den Prinzen Iwan. Die folge-
richtige Entwicklung aber fordert, daß der Mörder seines Vol-
kes schließlich auch zum Sohnesmörder wird. Bei allen seinen
Blulzügen wird Iwan von seinem gleichnamigen Sohne begleitet,
dem präsumtiven Erben seiner Krone. Der Sohn hält mit dem
Vater gleichen Schritt, wie er mit ihm gleichen Sinnes ist. Zar
und Zarensohn sind unzertrennlich. In allen wichtigen Ge-
schäften, auf Reisen, bei Mordtaten, in Schwelgercien und Aus-
schweifungen, immer sieht man sie Seite an Seite, Hand in
Hand. Oft tauschen sie ihre Maitressen untereinander aus,
oft haben sie zu gleicher Zeit dieselbe Beischläferin. 2) In Ehe-
sachen treibt es der Sohn wie der Vater. Er wird niemals
Witwer, heiratet aber doch zum zweiten und zum dritten Male,
indem er sich der ersten und der zweiten Frau durch ihre Ver-
bannung ins Kloster entledigt. Seine ungesetzlichen Beischläfe-
rinnen sind zahllos und werden gewechselt wie ein Nachthemd.
') Vgl. K. Waliszcwski, Ivan le Terriblo, Paris 1904.
'•^) Einmal schenkt der Zar eine Geliebte dem Zarewitsch. Das Mädchen
wird ob dieser Verschenkung von einigen Frauen des Hofes verhöhnt und beklagt
sich bitter beim Zaren. Daraufliin werden die Spötterinnen zu strengster Win-
terszeit in Gegenwart aller Leute nackt ausgezogen und lange im Schnee fest-
gehalten. ,,Nun lache du über sie!" sagt der Zar zur beschimpften Maitresse.
Karamsin VIII 2S2.
— 37 —
Der Sohn mordet Und hurt gleich dem Vater und ist so dessen
Liebling geworden. Es ist bezeichnend, wodurch schließlich
der Prinz in Ungnade fällt. Rußland ist 1582 vom Feinde be-
droht, und der Thronfolger tritt in einer Anwandlung von Pa-
triotismus vor den Herrscher mit der Bitte: „Vater, gieb mir
ein Heer zur Verjagung des Feindes!** Dieses Verlangen ist
dem Zaren verdächtig. „Rebell!** schreit er zomglühend und
von wahnsinniger Wut erfaßt, und mit seinem furchtbaren
Stabe schlägt er den Sohn wuchtig aufs Haupt. Blutend stürzt
der Prinz zu Boden. Des Zaren Zorn ist verraucht, er kommt
zum Bewußtsein seines ungeheuerlichen Verbrechens und er-
blassend klagt er sich vor allen laut an : „Ich habe meinen Sohn
ermordet!** Er wirft sich nieder, küßt und herzt den Ster-
benden und beschwört die Ärzte, den Sohn zu retten. Die
Ärzte wissen weder Hilfe noch Trost, der sterbende Prinz allein
verzweifelt nicht und bittet den Vater, nicht zu klagen: „Ich
allein trage die Schuld, mein Herr, verzeihe mir, ich sterbe als
dein treuer Sohn und treuester Unterthan!** Zerschmettert
wankt der Tyrann von der Leiche des Sohnes hinweg; tagelang
weigert er sich, Speise und Trank zu genießen; Nacht um
Nacht verbringt er schlaflos, stöhnend und jammernd, sich
selbst anklagend und laut seine Absicht verkündend, der Welt
zu entsagen und im Kloster seine Tage zu beschließen. Aber
die Großen, hinter diesem Plane nur eine List des Grausamen
witternd, die seine Minister und Günstlinge auf die Probe stellen
soll, sie kommen demütig herbeigeschlichen und betteln den
großen Zaren an, das heilige Rußland nicht ohne seinen mäch-
tigen Schutz zu lassen. Kein einziger wagte gegen die Greuel
zu protestieren; alle ohne Ausnahme aber protestieren dagegen,
daß das Scheusal vom Schauplatz verschwinde. Die Feigheit
wird belohnt: Iwan gibt den Bettelnden nach, bleibt Zar und
wütet weiter.
Und da auch dieses wilden Tigers Ende kommt, stirbt er
im Augenblick der Verübiing einer Tat, die die würdige Krö-
nung seines grauenhaften Lebens ist. Vom Fieber des Todes-
kampfes aufgerieben und verschmachtend wälzt sich Iwan auf
seinem Lager. Die keusche Gattin Feodors, der nach der Er-
mordung des Bruders durch den Vater Thronfolger geworden,
— 38 —
tritt zum Sterbenden hin, um ihn in seinen letzten Momenten
zu trösten; und sie neigt sich zu ihm hinab, seine Schmerzen
zu lindern. Da plötzlich stößt sie einen fürchterlichen Schrei
aus und stürzt von wahnsinnigem Entsetzen erfaßt von dannen :
der verreckende Unmensch hat seine letzten Kräfte zusammen-
gerafft, um seine barmherzige Schwiegertochter zu sich hinab-
zureißen und zu vergewaltigen ! — Und doch, als die Erlösung
des Reiches und des Volkes erfolgt ist, tönt nicht ein Schrei
des Jubels durch das Land, sondern von einem Ende bis zum
anderen erhebt sich laut und einmütig die Klage einer ganzen
Nation um den Verlust eines großen Zaren. Ist dies Verblen-
dung oder Sklavenfurcht, die selbst im Verstorbenen noch eine
Macht sieht ?
Mit Iwan dem Schrecklichen und seinem Sohne Feodor
endete das Herrscherhaus Rurik. Mit den Romanows kam kein
milderes Regime zur Herrschaft. Zar Alexej Michajlowitsch
wird zwar als sanfter Fürst gerühmt; aber seine Gesetze atmen
doch alle den Geist der Barbarei. 1653 erklärte er die früheren
Ukase, die für Räuber und Diebe die Todesstrafe anbefohlen
hatten, als „Gesetze, die dem göttlichen Willen widersprechen.**
Er verwandelte daher die Todesstrafe für Verbrechen des
Raubes und Diebstahls in Gliederstrafen, Verstümmelungen
einzelner Körperteile und Verbannung nach Sibirien. Für den
Wiederholungsfall, und handelte es sich auch um den gelin-
desten Diebstahl, setzte er jedoch selbst wieder die Todesstrafe
fest.i) Und Alexejs Sohn, Peter der Große, war in Bezug auf
Grausamkeit der direkte Fortsetzer Iwans des Schrecklichen.
Ja, es gibt Historiker, die Peter noch härter beurteilen als den
Zaren Iwan. 2) Der Schreckliche lebte in einer Zeit, wo auch
in anderen Ländern das barbarische Mittelalter noch fort-
^) H,a|)nBoBiuii(' uapH A.icKcrhji Miixaft.ioBiria, n3,;a.Tr. 11. CjiöHmn», C-TIoTei»-
r»vpn, 1831, Ma(Ti, RTopan, (tj). 9.
2) So sagt S. Sugenhcim: ,, Peter fehlt jedes Gepräge des Menschlichen,
weil ihm jede göttliche, jede höhere Grundlage fehlt. Seine Erscheinung ist die
eines reißenden Tieres, einer Bestie in Menschengestalt, die über und mit
Menschen in einer Art schaltet, wie ein Mensch kaum mit Tieren umgehen
würde". (Rußlands Einfluß auf und Beziehungen zu Deutschland. Frank-
furt am Main 1856. I 182.)
— 39 —
dauerte. Aber Peter hat europäische Sitten kennen gelernt und
begeht seine ungeheuerHchen sadistischen Exzesse just in seiner
Eigenschaft eines Zivilisators. Nur in der Theorie ist er liberal
und Kulturmensch, in der Praxis bleibt er Despot, Tyrann, ein
blutgieriger Wilder, viehisch roh bis ans Ende seines Lebens,
ein Trunkenbold, Wüstling und Sadist. Mit der Ausrottung
der Strjeljzen beginnt er sein Blutwerk. Zivilisierung des Rei-
ches und Volkes ist ihm Vor wand und Anlaß zum Massakre.
Die Strjeljzy unterstützen die Reaktion, sind die Säulen, die die
Herrschaft der Usurpatorin, der zarischen Schwester, der Re-
gentin Sophie aufrechthalten; sie verhindern das Eindringen
der europäischen Kultur, sie bedrohen die Fremden in Peters
Umgebung. Diese reaktionäre Macht muß eingeschüchtert, zer-
stört, unschädlich gemacht werden. Der junge Zar begnügt
sich nicht mit einigen Knutenhieben und einigen Hängungen;
er will gleich Iwan dem Schrecklichen im Großen arbeiten.
Köpfe in Massen fallen, Blut in Strömen fließen sehen. Die
Sasten^ki^) werden zu einer ständigen Einrichtung; kein ande-
rer russischer Herrscher, auch Iwan der Schreckliche nicht, hat
so viele Folterkammern gekannt. Peter beschäftigt ihrer vier-
zehn auf einmal. 2) Im Dorfe Preobraschenskoje funktionieren
die Folterknechte ununterbrochen Tag und Nacht, Wochen,
ja Monate hindurch. Da wird nach den modernsten Methoden
gequält und geschunden, zerstückelt und geröstet. Ein Ver-
urteilter wird siebenmal auf die Folter gelegt und erhält 99
Knutenhiebe; obwohl gewöhnlich schon einige wenige Knuten-
hiebe einen Menschen töten können, übersteht der Delinquent
doch diese Folterpein, da die Henker im Sastenok außer-
ordentlich geschickt arbeiten, ihr Opfer wohl an den Rand
des Graben bringen, aber nicht schnell verenden lassen. Der
Oberstleutnant der Strjeljzy, Korpakow, sticht sich selbst ein
Messer in den Hals, um weiteren Folterqualen zu entgehen. Er
trifft sich aber nicht tötlich, und man verbindet ihn ein wenig
und setzt dann die Folterung fort. Wie Iwan der Schreckliche
liebt auch Peter das Foltern und Morden nicht einzelner, son-
^) J^arrhneia., Folterkammer.
-) K. Waliszewski, Pierre Ic Grand, 133, 222, 436.
— 40 —
dern ganzer Familien. Nicht allein die verhaßten, zum Unter-
gang bestimmten Strjeljzy werden auf die Folterbänke ge-
schnallt ; auch ihre Frauen, Mütter, Töchter, Schwestern, selbst
ihre entferntesten Verwandten männlichen sowohl als weib-
lichen Geschlechts schleppt man in die Folterkammern. Die
Damen der Regentin Sofia werden alle ohne Ausnahme der
Folter unterworfen; eine von ihnen entbindet im Sastenok;
unter dem kunstvoll schlagenden Knut windet sie sich in Ge-
burtsschmerzen, und der Henker ist gleichzeitig Accoucheur.
Trotz aller Torturen werden keine Beweise für ein wirkliches
Komplott zutage gefördert. Manchmal entreißt man dem
oder jenem durch den Knut oder das Feuer die verzweifelte Zu-
sage eines Geständnisses ; aber kaum ist der Gefolterte zu Atem
gekommen, so muß er gestehen, daß er nichts zu gestehen habe,
und die Folter beginnt von neuem. Die Regentin Sofia selbst
wird gefoltert, von ihrem eigenen Bruder, dem Zaren.
Das ist das Abschreckendste. Nicht allein die Grausamkeit
der Justiz ruft unser Entsetzen hervor, sondern die Grausamkeit
dieses Herrschers, des Zivilisators. Wie Iwan der Schreck-
liche nimmt Peter der Große aktiv teil an den Folterungen. Er
wandert von einer Folterkammer in die andere, weidet sich an
den Qualen, ergötzt sich an dem zerfetzten Fleisch der nackten
Weiber, wühlt gierig in den blutenden Wunden, zieht selbst
die Stricke der Hängenden fester an, ergreift mit Wollust den
Knut, um auszuholen zu den vernichtenden Schlägen, assistiert
schließlich bei den Hinrichtungen in den geheimen Verließen
wie auf den öffentlichen Plätzen. Er spielt gern den Matrosen,
macht den Zimmermann ; also zur Abwechslung auch den Hen-
ker. Dieses Handwerk erscheint ihm der Ausübung durch den
Herrscher würdig wie jedes andere. In einem Lande, wo ein
Hofnarr wie Turgenjew ein Bataillon gegen den Feind führt;
wo ein anderer Hofnarr, Fürst Romadanowski, während der
Abwesenheit des Zaren im Ernst die zarische Gewalt ausübt,
die ihm im Karneval übertragen worden war^); in einem
1) Während der Europareise Peters vertritt Romadanowski, der durch
einen zarischen Fasching =?scherz den Titel eines Vizekaisers erhielt, faktisch den
Zaren in der obersten Leitung der Regierungsgeschäfte. Er spielt seine Rolle
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— 4L —
solchen Lande, wo die seltsamsten Persönlichkeiten die selt-
samsten Ämter und Würden innehaben, da darf schließlich
auch der höchste Richter zugleich der erste Kopfabschneider
sein. Hängen und Köpfen ist für Peter ein Vergnügen wie
Bäume fällen und Masten stürzen. Er genießt dieses Ver-
gnügen wie jedes andere maßlos. In dem Strjeljzen-Pogrom
tötet er mit eigener Hand nicht weniger als 84 Menschen.^)
Aber mit dem Morden allein ist seine grausame Wollust nicht
zu befriedigen. Er will die Opfer in ihrer scheußlichen Ver-
stümmelung noch so lange als möglich vor Augen haben.
Der Kopf des Bruders der Zarin Lopuchin und vier Köpfe
anderer Feinde Peter? bleiben jahrelang auf dem Richtplatz
ausgestellt; der Hinrichtung Gagarins, des sibirischen Gou-
verneurs, müssen alle Mitglieder des Senats, alle Freunde und
Verwandten des Verurteilten beiwohnen, und während der
Hingerichtete vor dem Senatspalaste am Galgen baumelt,
müssen alle diese Gäste mit dem Zaren lustig trinken.^)
Der Reformator und Zivilisator Rußlands eilt von
Wissensdurst getrieben nach Europa. Und eine der ersten
Fragen, die er in Königsberg an den Kurfürsten Friedrich
stellt, ist diese : wie man in Preußen die Verbrecher bestrafe.
Die Antwort lautet: „Man hängt die Diebe und rädert die
Mörder.** Das Rädern kennt der Zar noch nicht, und er
bittet, man möchte ihm diese Methode zeigen, ihm zuliebe
jemanden gleich rädern. Es ist aber niemand in den Ge-
furchtbar gut. In seinem Hause hat er, wie der Zar im Palaste: Gefängnisse,
Kerkerzellen, Folterkammern und Marterwerkzeuge. Als in Moskau ein Straßen-
auflauf entsteht,' läßt Romadanowski einfach zweihundert Menschen aus der
Menge herausgreifen, auf den Roten Platz schleppen und ohne weiteren Prozeß
an den Rippen auf Eisenhaken aufhängen. Peter erfährt von diesem Vorfall und
macht seinem Stellvertreter heftige Vorwürfe darüber, daß er sich in der
Trunkenheit zu einem solchen Mißbrauch seiner furchtbaren Gewalt hin-
reißen ließ. Und Romadanowski wagt darauf dem Zaren zu schreiben: ,,Der
Vorwurf der Trunkenheit trifft nicht mich, sondern Jene, die Muße zum Saufen
haben und ins Ausland wandern, um Iwaschka (Bacchus) zu frequentieren. Wir
aber haben Besseres zu tun, als im Wein zu waten. Wir waschen uns alle Tage
in Blut".
1) Ed. Pelz, Geschichte Peters des Großen, Leipzig 1848. S. 144.
*) Bergholz bei Büsching XIX 106.
— 42 —
fängnisscn, der diese Strafe verdienen würde; da sagt Peter:
„Nehmet nur einen aus meinem Gefolge.** Es kostet Mühe,
ihm diese Grille aus dem Kopf zu jagen.^) Es ist ihm da-
mit blutiger Ernst. In solchen Dingen spaßt er nicht. Er
gibt dem General Repnin den Befehl, die Einfuhr von Holz
aus Polen nach Riga zu verhindern; ein schlichtes Postskrip-
tum besagt : „wenn ein einziges Brett passirt, schneide ich
dir den Kopf ab.*' Und das ist keine leere Drohung, keine
bloße rhetorische Floskel, ebensowenig wie die Warnung, die
an einen nachlässigen Korrespondenten ergeht: „was er
nicht aufs Papier bringt, werde ich ihm auf dem Rücken
anbringen. **2) Ein Juwelier, der beschuldigt ist, Steine ver-
tauscht zu haben, wird zum Zaren gebracht, und der macht
persönlich den Folterknecht, wippt den Betrüger stundenlang,
gibt ihm den Knut. 3) Abends erzählt der kaiserliche Henker
in heiterster Laune den Vorfall dem Herzog von Holstein,
„um darzutun, daß Arbeit nicht schände.** Die Beamten, die
Fehler begangen haben, ruft Peter in sein Arbeitszimmer und
erteilt ihnen mit seiner Dubina*), seinem Stocke, den er
stets bei sich hat wie Iwan der Schreckliche seinen berüch-
tigten spitzigen Eisenstab, eine Lehre. Diese Bestrafung im
Arbeitszimmer des Zaren gilt, weil eine geheime, als beson-
dere Gnade. Da kommt mancher Minister aus dem Kabinett
des Herrschers heraus, tüchtig durchgebläut, aber Niemand
ahnt es, und gleich darauf sitzt der Geprügelte an der aller-
höchsten Tafel und trinkt Bruderschaft mit dem großen
Kaiser. Schwerer und schändend ist die Strafe erst, wenn
Peter den Stock öffentlich, im Rate oder gar auf der
Straße handhabt. Will der Zar einem Günstling Auszeich-
nung erweisen, so gestattet er ihm statt Seiner die Herren
des Hofes zu prügeln, mit dem Knut zu schlagen und sogar
mit dem Beil Köpfe abzuhauen.
1) Baron Charles Louis Pöllnitz, Mcmoircs. Berlin 1791. I 179.
'-) K. Waliszewski, Pierre le Grand, 195.
'•') M. II. ( V-MOHcKin: O'H'jMiii 11 i»a:icKn;iu ii:n. pvccKort iKTopiii XVII n. III:
Hapiiua I\inr|iiiHa ^VieKclvcBna, Anna 11 Hiu.iiiMr. M«)n(a, 1692 — 1724. II3,^. im*^
Top(»('. ('.-IIeT<'pnvi>n. 1884, <Tp. 154.
•*) Jl\C)i\U'd, wörtlich: Prügel.
— 4eS —
Gefährlich sind des Herrschers Launen für seine gelieb-
testen Freunde. Er gestattet seinen Tischgenossen die voll-
kommenste Redefreiheit, aber ein Gardekapitän, der in der
Trunkenheit von der kaiserlichen Erlaubnis Gebrauch macht,
wird von Peter auf der Stelle halbtot geknutet.i) Fürst
Mentschikow wird von dem Herrn auf offener Straße so
furchtbar mit dem Stab bearbeitet, daß man ihn zu Bette
bringen muß.^) Der Zar scheut sich nicht, eigenhändig auch
Plauen zu prügeln. Er inquiriert die Generalin Balk, die
Schwester des William Mons, über das Liebesverhältnis
ihres Bruders mit der Zarin. Die Balk leugnet, etwas zu
wissen. Peter knutet pie, bis sie gesteht; und als sie die
Wahrheit gestanden hat, erhält sie als Strafe für ihr anfäng-
liches Leugnen weitere dreizehn Knutenhiebe. 3)
Der große Zar ist frei von aller Großmut gegen be-
siegte Feinde. Nach der Eroberung von Narva ohrfeigt er
den Kommandanten Hom, weil dieser ihm solange tapfer
widerstanden hat, und da die Frau des Kommandanten
während des Sturmes auf die Festung getötet wurde, befiehlt
der Zar, ihre Leiche ins Wasser zu werfen.^) 1705 besucht
Peter das Kloster der Basilianer im eroberten Polozk und
betrachtet die dort aufgestellte Statue des heiligen Josaphat.
Wer hat den Heiligen getötet? fragt er. Die Schismatiker,
erhält er zur Antwort. Darauf zieht er ohne weiteres den
Degen und sticht den Pater Kosikowski, der die Antwort
erteilt hat, nieder. Die Offiziere der zarischen Suite fallen
über die übrigen Mönche her, ermorden drei, verwunden zwei
tötlich. Das Kloster wird geplündert, die Kirche geschändet.'*)
^) Bergholz bei Büsching XIX 79.
2) Russische Anecdoten oder Briefe eines teutschen Officiers an einen
Liefldndischen Edelmann. Wansbeck 1765. S. iii.
3) Büsching XI 491. — Halcm, Leben Peters des Großen, 1803. III,
S. 201.
^) Derselbe Zar umarmt 17 14 nach der Schlacht von Twaermynde den
Kapitän Ehrensköld und sagt ihm: ,,Ich bin stolz, mich mit einem solchen
Gegner geschlagen zu haben". Aber solche edle Haltung ist die exzeptionelle.
^) Waliszewski, Pierre le Grand 129. — Theincr, Monuments 412. — Dom
Guepin, Vic de Josaphat, Paris 1874. II 430.
— 44 —
Ein über diesen Vorfall von den Mönchen nach Rom
geschickter Bericht erzählt unglaubliche Details: Der Zar
hetzt einen englischen Hund auf einen der Mönche, um ihn
erwürgen zu lassen. Einige Frauen, die das Unglück haben,
Zeuginnen der Szene zu sein, beginnen zu weinen; ihr Mitleid
mit dem Ermordeten ist Verbrechen, und zur Strafe schneidet
man ihnen die Brüste ab. Makarow, der Sekretär des
Zaren, vermerkt in seinem Tagebuch unter dem Datum des
30. Juni entschuldigend: „Die Kirche der Unirten zu Po-
lozk besucht und fünf Unirte getötet, weil sie unsere Gene-
rale Häretiker genannt. Der Zar von einer nächtlichen Orgie
kommend war betrunken." —
Der Zar ist krank. Der Kriminalrichter kommt und
fragt, ob man nicht einigen zum Tode Verurteilten das
Leben schenken solle, damit sie zu Gott für das Leben des
Kaisers beten. „Meinst du,** fragt Peter, „daß Gott das Ge-
bet der Missetäter erhören werde? Ich lasse die Gerechtigkeit
walten, Gott waltet über mich.**i) Aber wenn er auch die
Gerechtigkeit walten läßt, ist er doch sentimental genug, um
seine Freunde oder Freundinnen, die er dem Henker über-
liefert, in der letzten schwersten Stunde persönlich zu trösten.
Er tritt eines Abends in die Zelle von William Mons, den
er im Bette der Zarin Katharina erwischt und deshalb zum
Tode verurteilt hat, und drückt ihm sein Bedauern aus, daß
er genötigt sei, ihm am nächsten Morgen den Kopf abschlagen
zu lassen. Er verurteilt seine Geliebte Hamilton, die ihr neu-
geborenes Kind umgebracht hat, zur Enthauptung, aber zu
ihrem Tröste erscheint er persönlich bei der Exekution; er
küßt die Verurteilte auf dem Schaffot vor aller Welt auf
die Stirn, klagt ihr mit Tränen in den Augen: ,,Ich kann
dich nicht retten!** und wendet sich dann ab, um nicht den
Todesstreich sehen- zu müssen.^) Trotz aller Sentimentalität
^) Stählins Anekdoten von Peter dem Großen, S. 10. — Halem, Leben
Peters des Großen. III 125.
2) Histoire de Russie et de Pierre-le-Grand par M. le G6n6ral Comte de
S6gur, Paris 1829, p. 410. — Halem und Stählin. — „Einige sagen sogar, daß
Peter das abgeschlagene Haupt in die Hände genommen und geküßt habe".
— 45 —
peitscht er seine Gemahlin Eudoxia Lopuchin halbtot; er-
mordet er seinen Sohn, den Thronfolger Alexej, nicht im
Zorn und unbedacht wie Iwan der Schreckliche, sondern mit
Überlegung, im Dienste seiner Zivilisationsidee, für deren
Verwirklichung der Sohn ein Hindernis scheint. Peters Zi-
vilisierungsmethoden sind auch sonst seltsamer Art. Er ver-
bietet eines Tages die altmoskowitische Sitte, daß sich das
Volk auf der Straße vor dem Zaren niederwerfe; ein Mütter-
chen, das den strengen Befehl nicht kennt, sinkt bei Peters
Erscheinen ehrfurchtsvoll in den Staub — der Zar läßt sie
aufheben und knutenl Bei einem Aufenthalt in Moskau be-
merkt der Zar zu seiner Überraschung, daß der Hof mann
J. D. Naumow einen Bart trägt; dieser Fortschrittsfeind er-
hält sofort die Batogy, ungezählte Stockstreiche auf die
Fußsohlen.!)
Die Zarinnen sind nicht milderen Sinnes als die Zaren;
nur sind die Frauen hinterlistiger, verüben die Grausam-
keiten heimlicher, zeigen sich dagegen in der Öffentlichkeit
als sanftmütig, lassen sich gern als gütig rühmen. Von der
Zarin Anna Iwanowna sagt Lady Rondeau: ,,Sie war ein
Modell der Humanität und manifestirte Widerwillen gegen
jede Art Grausamkeit.'* Und diese Kaiserin läßt vor den
Fenstern ihres Speisezimmers ihren Koch aufhängen, weil er
die Bliny, ihre Lieblingsspeise, mit ranziger Butter gebacken
hat! Während eines Festmahls an ihrer Tafel reicht Anna
dem Oberstallmeister Kurakin, ehemaligem Gesandten in
Paris, ihr Glas hin, damit er ihren französischen Wein koste;
er wischt den Rand des Glases, ehe er es zum Munde führt,
mechanisch mit der Serviette ab. „Elender, du scheinst dich
vor mir zu ekeln!'* schreit die Zarin wütend, und über-
liefert Kurakin dem Polizeichef Uschakow. Der Metropolit
Wanatowitsch von Kijew schmachtet während der ganzen Re-
gierung Annas im Gefängnis, weil er bei einem Tedeum im
Herleiern des Titels der Zarin einen Sprachfehler beging.
Herrn Jonas Hanvvay zuverlässige Beschreibung seiner Reise, von London
durch Rußland und Persicn. Hamburg und Leipzig 1754. I 396.
') Pelz, Peter der Große. 180.
— 46 ~
Anna läßt sich gern vorsingen; die Sängerinnen dürfen
mit dem Gesang nicht aufhören, bevor die Zarin dies befiehlt;
hält eine vor Erschöpfung inne, so riskirt sie Ohrfeigen von
der kaiserlichen Hand und außerdem Zwangsarbeit im Wasch-
haus. 1736 diktirt Anna einem Kabinettskurier die Knute, weil
er auf einer sibirischen Poststation von der bevorstehenden
Hochzeit der Prinzessin Anna Leopoldowna, der präsumtiven
Thronfolgerin, gesprochen hat; der Kurier hielt es gewiß für
kein Verbrechen, da man in Petersburg von dieser Hochzeit
ganz offen sprechen durfte.
Die Diener standen ihrer Herrin nicht nach. Annas
Polizeichef Uschakow läßt im Gefängnis in der Pause
zwischen zwei Folterungen den Richtern und Inquisitoren Er-
frischungen servieren und sagt: „Ihr habt gearbeitet, restau-
riert euch 1**1) Die Sittenverwilderung der höchsten und aller-
höchsten Gesellschaftskreise zeigt die Mißhandlung, die der
Dichter Tredjakowskij erdulden mußte: Es wird ihm befoh-
len, zur Feier des berühmten Narrenfestes im Eispalaste im
Jahre 1740 ein Festgedicht auf die Illumination zu fabri-
zieren. Der Überbringer des Befehls schnauzt den Dichter
an und der Beleidigte begibt sich zum Kabinettsminister Wo-
lünskij, um Beschwerde zu erheben; statt der Genugtuung
erhält er Ohrfeigen! Er schweigt, macht seine Verse, bringt
diese aber nicht dem Wolünskij, sondern Biron, dem Günst-
ling der Zarin, einem Todfeinde des Kabinettsministers. Un-
glücklicherweise trifft Tredjakowskij im Vorzimmer Birons den
Minister; der errät des Dichters Absicht, läßt dem Poeten
auf der Stelle die Kleider vom Leibe reißen und zählt ihm
siebzig Stockschläge auf den Rücken hin. Dann schleppt er
ihn zur Maskerade mit, zwingt ihn, sein Gedicht auswendig
zu deklamieren, und belohnt ihn schließlich mit einer neuen
Tracht Prügel.-) Dem wilden Wolünskij selbst ergeht es aller-
dings noch viel schlimmer. Biron fleht seine Geliebte, die
1) K. Waliszewski, L'heritage de Pierre Ic Grand, Rdgne des femmes,
gouvernement des favoris 1725 — 1741. Paris 1900. 159, 170, 196. — Die Me
inoiren Karabanows in PvccKan «-rapima 1871. II 147 und III 691.
'-*) A. von Keinholdt, C'»cschichto der russischen Literatur. S. j(>7.
— 47 —
Zarin, auf den Knieen an, seinen Todfeind Wolünskij hin-
richten lassen zu dürfen. Anna kann dem Liebhaber eine
solche Gnade nicht versagen. Man schleppt Wolünskij aus
seinem Palast ins Gefängnis, reißt ihm in der Folter die
Zunge und den rechten Arm heraus und zerrt den Halbtoten
am 27. Juni 1740 aufs Schaffot, um ihn zu pfählen. In
diesem Augenblick erst entdeckt Anna ihr mitleidiges Herz:
sie befiehlt, dem Verurteilten bloß zuerst den linken Arm
wegzuschneiden und dann den Kopf abzutrennen. — Die
Diplomaten La Chetardie und Mardefeld haben ausgerech-
net, daß Anna während ihrer zehnjährigen Regierung 7002
Todesurteile unterfertigt und 30000 Personen nach Sibirien
verbannt hat. Das ist das Modell der Humanität!
Elisabeth, Peters L Tochter, führt in der russischen
Geschichte den Beinamen: die Gütige. Sie hat zwar sechzig-
tausend Menschen in zwanzig Jahren nach Sibirien ver-
schickt ; aber sie war doch weichherzig, denn als sie eines
Tages durch Zufall Zeugin einer Hinrichtung wurde, fiel sie
in Ohnmacht. Die furchtbaren Sitten der Epoche Annas be-
trachteten die guten Russen als eine Folge der deutschen
Wirtschaft, die die Zarin, ehemalige Herzogin von Kurland,
nach der Newa verpflanzt hatte. Das streng nationale Regime
Elisabeths, der Tochter Peters des Großen, begann daher mit
der Ausrottung der deutschen Machthaber, der ßiron, Mün-
nich, Ostermann. In der bangen Nacht der Thronumwälzung,
da Elisabeth ängstlich auf das Resultat ihrer Verschwörung
harrte, schwor sie sich zu, während ihrer Herrschaft kein
Blut zu vergießen. Aber gleich nach ihrer Thronbesteigung
verurteilte sie doch die Machthaber des gestürzten deutschen
Regimes : Münnich, Ostermann, Golowkin, Löwenwolde und
Mengdcn, zum Tode durch Vierteilung, Räderung oder ein-
fache Enthauptung. Sie ersetzte allerdings die Todesstrafe
durch Verbannung, aber sie tat dies erst im letzten Augen-
blick, als der Henker schon seine Opfer an ihren Haaren
zu Boden zerrte, um ihnen den Todesstreich zu geben. i) Die
') Ausgang; des loansclicn Zwt'i^os der Konianow inul scMiicr Kicuiulc
Dargestellt durch V. W. Barthold. Historisches Taschenbuch VIII, S. iii.
— 48 —
junge Zarin, die den Verurteilten die Todesstrafe erließ, wollte
ihnen nicht auch die Schrecken vor dem Tode ersparen.
Den Charakter Elisabeths schildert ein Zeitgenosse eben-
so possierlich als treffend i): „Elisabeth war sanft und hart.
Holde Sanftmut und schrecklicher Tygersinn wohnten neben
einander in ihrem Busen.** Die Manifestationen ihrer kaiser-
lichen Barmherzigkeit, ihre zur Schau getragene religiöse
Frömmigkeit kontrastieren allzustark mit ihren Handlungen,
mit ihrer Rachsucht, ihrer persönlichen Grausamkeit, ihrer
grausamen Verwaltung, ihrer Sittenlosigkeit. Sie schont weder
Menschen noch Tiere. In 48 Stunden rast sie von Peters-
burg nach Moskau und besät die Straße mit krepierten Pfer-
den. Die sanfte Kaiserin flucht gemein wie ein Kosak. Katha-
rina II. erzählt in ihren Memoiren, wie Elisabeth 1750 auf
einer Jagd ihren Intendanten mit den ordinärsten Schimpf-
worten regalierte, weil nicht genug Hasen da waren. Aber
im Verkehr mit ihren Kammerfrauen genügen der Kaiserin
bloße Schimpfworte nicht mehr; sie ohrfeigt nach rechts und
links; greift auch zur Peitsche und zum Stock und ist
erst beruhigt, wenn sie Blut fließen sieht. Diese Frau ist
entsetzt bei der Kunde vom Erdbeben in Lissabon und be-
schließt, auf Kosten ihrer Privatkasse ein Quartier der zer-
störten Stadt aufbauen zu lassen. Sie verträgt es nicht, wenn
man einen verwundeten Soldaten vor ihr erscheinen läßt. Im
siebenjährigen Krieg muß man, um ihr gutes Herz nicht zu
betrüben, die Zahl der Gefallenen vor ihr verheimlichen. 2)
Als über den Dichter Lomonossow, wegen Beleidigung der
Orthodoxie durch das Gedicht „Der bepißte Popenbart'*, die
Knutenstrafe verhängt wird, verwendet sich Elisabeth persön-
lich dafür, daß ihm die Strafe erlassen werde „in Anbetracht
seiner gelehrten Verdienste und seiner vorzüglichen Geistes-
gaben*.', und Lomonossow kommt mit einer Gehaltsstrafe da-
von. Dieser Großtat rühmt sich Elisabeth Zeit ihres Lebens,
immerfort will sie dafür Bewunderung und Dank einheimsen.
') Biographic Peters des Dritten, Kaisers aller Russen, von Herrn von
Saldern. Petersburg 1800.
'-) K. Waliszewski, T,a dernidrc des Romanov, Elisabeth I *■•*.. p. 43.
— 49 —
Sie selbst kennt keine Dankbarkeit. Dem Chirurgen L'Estocq
verdankt sie den Thron; aber auf eine bloße Anschuldigung
hin läßt sie den Mann auf die Folter spannen und ihm die
Glieder zerbrechen; er erträgt die Qualen mit ebensoviel Ge-
duld als Stolz; erst als man ihm sagt, die Kaiserin begnadige
ihn, knirscht er mit den Zähnen und schreit : „Ich habe nichts
mit dieser Kaiserin zu thun, die mich dem Henker ausgeliefert
hat. Ich brauche ihre Gnade nicht.**
Einmal legt man der Zarin einen Gesetzentwurf vor. Die
darin angeordneten Strafen erscheinen ihr zu streng, barba-
risch. Sie verweigert ihre Unterschrift und sagt: „Das ist
mit Blut geschrieben.** Und gleich darauf erteilt sie den Be-
fehl, Mademoiselle Tardier ins Gefängnis zu werfen und un-
barmherzig zu behandeln. Welches Verbrechen mag die Un-
glückliche begangen haben? Sie hat, die Wahnsinnige, vor
der Zarin einige Nouveaut^s verheimlicht, die für andere Klien-
tinnen angekommen sind. Elisabeth wacht streng darüber,
daß sie alle Neuheiten zuerst zu sehen bekomme; nur was
ihr nicht gefällt, darf anderen Frauen angeboten werden, da-
gegen müssen Modelle von Kleidern und Coiffüren, die sie
adoptiert hat, für sie allein reserviert bleiben. Anna Wassil-
jewna Ssaltykow, deren Vater der Zarin mit zum Throne
verholfen hat, wird brutal vom Hofe verjagt, weil sie einmal
in einer Coiffure ä la coque, wie die Kaiserin, erscheint. i)
Am schlimmsten ergeht es aus ähnlichem Anlaß der Hof-
dame Natalia Balk, Gemahlin des Generals Lopuchin. Sie ist
die schönste Frau am Hofe und verletzt schon dadurch die
Eitelkeit der Herrin. Bei einem Hofball erscheint die Kaiserin
mit einer Rose in den Haaren; die Lopuchin hat den un-
glückseligen Einfall, dies nachzumachen. Wütend eilt die
Kaiserin auf die Verbrecherin zu, läßt sie im vollen Saale
niederknien, nimmt eine Schere und schneidet die Rose samt
dem Haarbüschel herunter; dann verabreicht sie der Knieen-
den ein paar schallende Ohrfeigen und kehrt zum Tanze zu-
rück. Als man ihr berichtet, daß die Lopuchin infolge der
erlittenen Beschimpfung in Ohnmacht gefallen sei, zuckt sie
^) Dolgoroukow, M6moires. I 477,
Stern, Geschichte der öfientl. Sittlichkeit in Rußland.**
— 50 —
die Achseln und sagt: „Sie hat, die Thörin, was sie ver-
dient 1**^) Von diesem Augenblick an ist Natalia Lopuchin
für den Henker gezeichnet; eine Denunziation genügt, um
ue ihm auszuliefern: Die schöne Frau unterhielt einst
ein Liebesverhältnis mit dem nach Solikamsk verbannten
Löwenwolde, Hofmarschall der verjagten Regentin Anna Leo-
poldowna. Löwenwolde vertraut dem kurländischen Offizier
Berger, der den Verbannten eskortiert, folgende Botschaft an
seine geliebte Natalia an : „Die Zeit der Prüfung wird vorüber-
gehen, das Unheil kann sich ändern." Berger denunziert diese
Botschaft, und mehr braucht es nicht, um die Lopuchin zu
verderben. Ein Komplott ist entdeckt, die Lopuchin als das
Haupt der Verschwörung gegen Elisabeth dem Verderben ge-
weiht. Alle ihre Freunde und Freundinnen werden mit
hineingezogen. Der Sohn der Lopuchin, ein junger Offizier,
ehemaliger Page der Regentin Anna Leopoldowna, von Eli-
sabeth seiner Stellung enthoben, gibt in einem Restaurant
in der Trunkenheit seiner Unzufriedenheit über seine Ent-
lassung lauten Ausdruck; man läßt ihn noch mehr trinken
und suggeriert ihm Anklagen gegen seine Mutter. Man ver-
haftet ihn auf der Stelle, knutet und foltert ihn, und er sagt,
t/as man von ihm hören will. 2) Die Affaire ist fertig. Wippe,
Knut, Tortur tun das Übrige. Eine der Mitangeklagten, Frau
Lilienfeld, wird bloß deshalb verurteilt, weil sie in einer Ge-
sellschaft wiedererzählt hat, was die Lopuchin über die Zarin ge-
sagt haben soll. „Foltert sie!** befiehlt Elisabeth. Der Polizeichef
Uschakow und seine Henkerkollegen wagen der Zarin vorzu-
stellen, daß die Lilienfeld hochschwanger und nicht imstande
sei, die Tortur zu überstehen. Worauf die sanfte Elisabeth
entgegnet : „Sie hat meine Gesundheit nicht geschont, ich habe
auch ihre nicht zu schonen.*'^) Der Diplomat Mardefeld be-
richtet, daß die Offiziere, die bei den Gefangenen die Wache
hielten, nicht die Kraft hatten, die Greuel der Torturen mit-
0 Vgl. Bd. I. S. 384 nebst Bild.
-) Ausgang des loanschcn Zweiges, von Barthold. Histor. Taschenbuch
VIII 120.
•") CaioHiiOBi,, Ilcropifl. XXI 281.
— 51 —
anzusehen. Elisabeth aber, die echte Tochter Peters des Gro-
ßen, ist bei den Folterungen oft anwesend und weidet sich an
den Qualen ihrer Rivalinnen auf dem Gebiete der Mode und
im Reiche der Schönheit. Dies tut die Heuchlerin indessen
nur heimlich, inkognito. Sobald zur Ausführung kommen soll,
was sie gewünscht hat, unternimmt sie schleunigst einen Aus-
flug nach Zarskaja Müsa; bei der öffentlichen Exekution will
sie nicht dabei sein. Die Zartfühlende hat den Henkern ge-
nügende Instruktionen hinterlassen. Ihr würdiges Spezial-Tri-
bunal verurteilt zu Räderung, Vierteilung, Enthauptung; findet
eine ganze Gesellschaft des schwersten Hochverrats schuldig.
Die Zarin ist just von einem Balle heimgekehrt, als man ihr
die unzählbaren Todesurteile zur Unterschrift vorlegt. Sie ist
noch wollüstig erregt vom Tanzen, in einer seligen Stimmung,
jetzt will sie vom Töten nichts wissen. Also denkt sie barm-
herziger, übt Gnade. Einige geknutete Rücken, einige zer-
fleischte Brüste, einige abgerissene Zungen werden ihrem Ge-
rechtigkeitssinn und ihrer Rachelust genügen.
Und so geschieht es. Am 31. August 1743 wird das Schau-
spiel feierlich inszeniert. Charakteristischerweise bezeichnen
die offiziellen Dokumente der Zeit das Schaffet als Theater.
Auf diesem Theater erscheinen nacheinander die Anwärter
auf Knut und Brandmarkung: der Gardeoffizier Moskow,
Fürst Putjätin, Staatsrat Sibin, Gräfin Anna Bestuschew, end-
lich Natalia Lopuchin, ihr Gemahl und ihr Sohn. Den letzten
vier Personen soll auf Elisabeths ausdrücklichen Befehl auch
die Zunge ausgerissen werden. Gräfin Bestuschew, geborene
Golowkin, die in erster Ehe Gemahlin Jaguschinskijs, des Günst-
lings Peters des Großen gewesen ist, kennt die Sitten des Lan-
des, weiß auch das Herz des Henkers auf richtige Weise zu
rühren. Im Augenblick, da der Henker sie ergreift, läßt sie
in seine Hand einen kostbaren Diamanten gleiten, und der
Brutale verwandelt sich in einen geschmeidigen geschickten
Menschen, der die Knutenhiebe bloß markiert und mit dem
Messer die Zunge nur leicht streift, verletzt, aber nicht zerstört.
Ehe der Betrug entdeckt wird, schleppt man die Gräfin Bestu-
schew auch schon fort, transportiert sie in die Verbannung
nach Jakutsk, wo sie zwanzig Jahre später vor Hunger und
4*
— 52 —
Kälte umkommt. Ihr Gatte, Bruder des Vizekanzlers, tat nicht
das Geringste zu ihrer Rettung oder Befreiung, sondern trö-
stete sich in den Armen der schönen Frau Haugwitz; auch
ihre Tochter, die am Hofe eine glänzende Rolle fortspielte,
kümmerte sich nicht um sie. Nicht so klug wie die Bestuschew
ging die Lopuchin mit dem Henker um, und so wird auch ihr
Los ein schlimmeres. Unter dem Jubel der zuschauenden
Menge reißt ihr der Henker die Kleider vom Leibe, bis die
schönste Frau der Hauptstadt vor dem Pöbel in voller Nackt-
heit dasteht. Sie wehrt sich, sie verteidigt jedes Kleidungs-
stück mit wilder Wut, sie beißt und kratzt den Henker; um-
sonst, er ist bald Herr der schwachen Frau, er packt sie am
Halse, würgt sie, und da sie verzweifelt nach Luft schnappt,
reißt er ihr mit einem einzigen Ruck die Zunge heraus, imd
lachend hebt er das blutende Stück hoch empor und bietet
CS der Menge zum Kaufe an: „Ein Rubel für die Zunge der
Lopuchin! Wer gibt einen Rubel für die Zunge der schönen
Lopuchin?** Er erlaubt sich damit nichts ungebührliches; er
übt nur sein jgesetzmäßiges Recht aus, er ist der Selbstherrscher
auf dem Schaffot; die abgerissenen Zungen, die abgehackten
Glieder seiner Opfer sind sein Eigentum, über das er verfügen
darf nach Gutdünken, und wenn er bei seinem blutigen Ge-
schäft auch Humor entwickelt, so ist ihm das liebe Publikum
nur dankbar dafür. Nachdem der gute Mann die Zunge ange-
bracht hat, wendet er sich wieder der Arbeit zu. Die ohn-
mächtige Patientin erweckt er mit einem feinen Knutenschlag
wieder zum Leben, dann vollführt er kunstgerecht die ihm ge-
wordene Aufgabe; nicht ein einziger Schlag geht fehl und
keiner ist so stark, daß er der Geprügelten gleich das Leben
kosten müßte. General Lopuchin wird vom Platze als halbtot
hinweggetragen, die Generalin aber übersteht die Marterung
und wird nach Selcginsk in Sibirien transportiert. i) Von hier
bettelt sie ununterbrochen um Gnade; nach zehn Jahren des
furchtbarsten Exils tritt sie, die Protestantin, zur Orthodoxie
*) Waliszcwski, La derniöre des Romanov. 42 und 317. — Russische
Günstlinge (von Heibig), Tübingen 1809, S. 230. — Sugenheim, Rußlands
Beziehungen zu Deutschland, I 250.
— 53 —
über, um auf diese Weise das Herz der frommen Elisabeth zu
erweichen; umsonst — einer Kreatur, die einmal schöner ge-
wesen ist als die Souveränin, kann dieses Verbrechen nie ver-
geben werden. Erst Peter III., der in seiner kurzen Regierungs-
zeit einige Befehle gab, welche die Aufhebung der Tortur be-
zweckten und die geheimen Verhaftungen perhorrcszicrteni),
befreite die Lopuchin gleich allen anderen Opfern des bar-
barischen Elisabethischen Zeitalters aus ihrem Kerker im ewi-
gen Eise.
Unter Katharina II. herrschte in der Justiz sicherlich eine
sanftere Auffassung, obwohl es nicht an Widersprüchen fehlte.
Die Kaiserin sorgte für ein beschleunigtes Verfahren, um die
Qualen der Gefangenen abzukürzen. Im Jahre 1769 erschien
ein Moskauer Kaufmann, namens Popow, der durch die Lang-
samkeit des Gerichtsverfahrens ruiniert worden war, vor Ge-
richt und schrie wild: „Es gibt im Rußland Katharinas II.
keine Justiz!'* Die Kaiserin befahl, aus dem Protokoll diese
Worte zu entfernen, aber gleichzeitig ordnete sie an, den Pro-
zeß Popows schnellstens zu beendigen, „damit man sehe, daß
es in Rußland eine Justiz gibt.** Katharina II. rühmte sich,
daß sie niemals ein Todesurteil unterschrieben; indessen ließ
sie Mirowitsch hinrichten, der beschuldigt war, zu gunsten des
entthronten und gefangenen loan Antonowitsch, des letzten
Romanow, eine Verschwörung angezettelt zu haben.-) Und
für Pugatschew, den falschen Peter III., verlangte sie eine
komplizierte Todesstrafe nach altrussischem Muster; es sollten
dem Thronanmaßer bei lebendigem Leibe zunächst die rechte
Hand und der linke Fuß, dann die linke Hand und der rechte
Fuß und hierauf das Haupt abgeschlagen werden; durch ein
unliebsames Versehen des Henkers wurde zuerst der Kopf ab-
geschlagen, und der ganze Spaß war verdorben. Aber im
allgemeinen war die Todesstrafe nicht mehr in Gebrauch, son-
dern ersetzt durch Verbannung und sogar bloß durch die
') Essai sur Thistoire de la civilisation cn Russic, par Nicolas de Gercbtzoff.
Paris 1858. II 39.
2) K. Waliszewski, I.e roman d'iinc imp^ratrice, Catherine II. de Russic.
5* 6d. Paris 1893 P- 350-
— 54 —
Peitsche; Knut und Tortur, um Geständnisse zu erzwingen,
wurden seltener angewendet. Große Toleranz bewies Katha-
rina II. in sogenannten sentimentalen Affären. Unter der Zarin
Anna Iwanowna wurde die Bäuerin Euphrosyne wegen Ermor-
dung ihres Gatten am 21. August 1730 lebendig eingegraben
und nicht begnadigt, trotzdem sie wie durch ein Wunder bis
zum 22. September leben blieb. i) Katharina II. war in ähn-
lichen Fällen milder gesinnt : Eine Bauernmagd, Tochter reicher
Eltern, liebt einen armen Burschen, liegt mit ihm im Bett. Da
kommt plötzlich der Vater des Mädchens nach Hause. Die
Erschrockene verbirgt den Geliebten unter der Bettmatratze.
Das Bett ist der Sitte entsprechend gemeinsames Lager der
Familie. Das Gewicht von Vater, Mutter und Tochter erstickt
den Versteckten. Am Morgen gehen die Eltern aufs Feld,
und die Tochter findet unter der Matratze eine Leiche. Im
Moment dieser schrecklichen Entdeckung tritt ein Nachbar ein.
Das Mädchen beichtet ihm die Entstehung des Unheils. Er
trägt die Leiche fort und wirft sie in den Fluß. Als Lohn seiner
Verschwiegenheit verlangt er das Mädchen zur heimlichen
Maitresse. Sie gewährt ihm. Sie bekommt ein Kind. Der Mit-
wisser ertränkt das Kind, um ihr Verhältnis nicht offenkundig
werden zu lassen. Sie muß es dulden und schweigen. Dann
kommt der Schreckliche und verlangt Geld und immer wieder
Geld. Sie bestiehlt ihren Vater. Einmal in der Trunkenheit
wandelt ihren Tyrannen die Lust an, in der Schenke vor seinen
Freunden seinen bisher verheimlichten Besitz zu zeigen. Er
zerrt sie mit sich fort und prunkt mit seiner Eroberung. Da
reißt sie sich los, stürmt hinaus, zündet die Schenke an und
sieht jauchzend zu, wie in den Flammen ihr Verfolger und
seine Freunde, vor denen ihre Schande enthüllt ward, hilflos
zugrunde gehen. Die Brandstifterin wird ausgeforscht und
verhaftet. Sie gesteht alles ohne Zögern und wird wegen Mord,
Diebstahl, Kindermord und Brandstiftung zum Tode verurteilt.
Aber Katharina begnadigt sie, absolviert sie und legt ihr bloß
eine Kirchenbuße auf.^) — Von dieser kaiserlichen Barm-
^) PvccKan craiMiiin 1877. VI 398. — Waliszcwski, L'hcritagc de Pierre le
Grand. 195.
-) Waliszewski, Le roman d'unc imix«ratrice. 351.
— 55 —
herzigkeit und weiblichen Sentimentalität ist keine Spur mehr
zu entdecken, wenn die Person Ihrer Majestät selbst irgendwie
mit im Spiele ist. Während eines S^jours in Peterhof erwacht
die Kaiserin nachts infolge eines Skandals. Ein Lakai, der bei
einem Kammermädchen schlief, hat es verursacht. Die Zarin
verurteilt den Verbrecher zu hundert Knutenhieben, was der
Todesstrafe gleichkommt; überlebt er dieses Hundert, so soll
man ihm die Nase abschneiden, die Stirn mit glühendem Eisen
brandmarken und ihn schließlich nach Sibirien verschicken.^)
Die Hofdame Gräfin Bruce wird mit dem Liebhaber der Kai-
serin, Korsakow, im Bette ertappt. Katharina zwingt das Paar
im Bette zu bleiben, ruft die Dienerschaft und läßt dem unge-
treuen Liebhaber und der respektlosen Hofdame auf der Stelle
eine tüchtige Tracht Prügel auf den Hintern applizieren. Die
Frau, die soviel liebt, duldet an ihrem Hofe keine Abenteuer
außer ihren eigenen. Am liebsten teilt sie die Schläge selbst
aus. Täglich findet sie Veranlassung zu solchen Züchtigungen.
Aber es wird behauptet, daß auch die Kaiserin manchmal
einen Peitschenhieb von ihrem Günstling Patjomkin auszu-
halten hat.
Der wahnsinnige Paul verurteilte für die harmlosesten
Versehen und seltsamsten Vergehen zu den schwersten Strafen.
Der Mißtrauische sah in allen Verschwörer. „Die Gilets haben
die französische Revolution verursacht,** sagte er und proskri-
bierte dieses Kleidungsstück.^) Knapp nach seiner Thronbe-
steigung befahl er, den Bau der Isaakskathedrale, den man
unter Katharina IL in Marmor begonnen hatte, in Ziegelsteinen
zu beenden. Darauf machte ein Humorist das Distichon: „In
Marmor ward er begonnen und wird jetzt in Ziegeln beendet,
also spiegelt der Bau beide Regierungen wieder.** Der Freche
wurde, nachdem man ihm die Ohren und die Zunge abge-
schnitten, nach Sibirien verschickt. Peter der Große verbot
das Niederknien vor dem Zaren, Paul verlangte es wieder
streng. Die Frau des Gastwirts Remuth fuhr spazieren, als
') Waliszewski, a. a. O. S. 232.
*) Une vie d'ambassadrice au sidclc dcrnier. La princesse de Lieven. Par
Erncst Daudet. Paris 1903. p. 27.
— 56 —
der Kaiser daherkam. Die Ärmste bemerkte den Monarchen
nicht und hielt nicht an, um auszusteigen und dem kaiserlichen
Ukase gemäß auf der Stelle niederzuknien. Paul ließ sie er-
greifen und im Gefängnis drei Tage hintereinander mit Ruten
streichen. 1)
Alexander I. und Nikolaj I. waren Freunde speziell des
Peitschens. Nikolaj prügelte, wie Iwan und Peter, seine Höf-
linge eigenhändig mit seinem Stock. Den Dichter Puschkin
ließ er wegen einer harmlosen Spötterei blutig schlagen.
Namentlich Frauen ließ der Zar der Peitschenstrafe unter-
ziehen. In seiner Armee herrschte eine Strenge ohnegleichen.
Die Soldaten wurden beim geringsten Vergehen zur Strafe des
Spießrutenlaufens verurteilt. Ein Fähnrich wurde verurteilt,
„zweimal durch eine Schwadron Spießruten zu laufen.** Nikolaj
änderte eigenhändig das Urteil ab : „Dreimal Spießrutenlaufen
durch zwei Schwadronen.**
31. Grausamkeit in der Verwaltung.
Humane Gesetze Iwans des Schrecklichen — Duell als Gottesgericht — Iwans
Opritschina — Die geheime Kanzlei des Zaren Alexej — Der Prikas von Preobra-
schensk, Staatsinquisition Peters des Großen — Der portugiesische Jude
Devier, erster Polizeimeister von Petersburg — Deviers Karriere — Der Polizei-
meister vom Zaren geprügelt — Peters Denunziantenukas — Das Rufen:
Slowo i djelo! — Folgen des Spionagesystems — Sittliche Verwirrung — Die
Zunge der Geheimpolizei — Überwachung der Würdenträger — Belohnung der
Denunzianten — Ein übel belohnter Denunziant — Die Karriere des Detektivs
Wanka Kain — Zarin Anna und die Spionage — Todesstrafe auf unbegründete
Anklage — Torturen — Verschickung aufs Geratewohl — Der Verbannten-
^) Karl VI., König von Frankreich, ist in einem gleichen Falle noch viel
barbarischer vorgegangen: Louis von Bourbon, berühmt durch die Schlacht
von Azincourt, traf auf einem Ritt den vorbeifahrenden König. Er grüßte
ehrerbietig, hielt aber nicht an und stieg nicht vom Pferde. Karl befahl dem
Profosscn von Paris, dem Frechen nachzueilen imd ihn ins Gefängnis zu werfen.
In der Nacht wurde I-ouis von Bourbon gefoltert imd in einen Sack, der die Auf-
schrift ,,T.aisscz passer la justice du Roy!" trug, gebunden imd so in die Seine
geschleudert.
„The most modern Paeranini."
SeJtcj,c cnEllscho K.n\.«tv>T »u( 4v^ N«,
gewiiltigunir Polens rln.r-V. Mil,„l..-.-<
— 57 —
transport als Forschungsexpedition — Thronumwälzungen und Geheimpolizei
— Die Spionage unter Kaiserin Elisabeth — Polizisten als Verbrecher -r— Blüte
der Brigandage — Peter III. unterdrückt die Geheimkanzlei — Katharina II.
errichtet die geheime Expedition — Die dritte Abteilung Nikolajs I. und
Alexanders II. — Ihre Bedeutung und die Folgen ihrer Wirksamkeit — Ihr
Wiederaufleben unter Alexander III. und Nikolaj II: — Eine russische Zeit-
schrift gegen die Polizei — Die Polizei auf dem Lande — Ein Idyll — Strafen
für Schuldner in alten Zeiten — Moderne Methoden der Steuereintreibung —
Willkür der Polizei — Vergewaltigung eines Mädchens durch einen Richter —
Russische Justiz — Seltsame Methode der Bekämpfung der Korruption — Ver-
wirrung in den Gesetzen — Russische Gesetzbücher — Kuriose Gesetze Pauls
und Nikolajs I. — Die Privilegierten vor den Gesetzen und den Strafen — Die
Frauen und die Körperstrafe — Wolostgericht.
Der Grausamkeit der Herrschenden entspricht die furcht-
bare Grausamkeit in der Verwaltung, die sinnlose Vergewal-
tigung und barbarische Züchtigung des Volkes seit tausend
Jahren. Wo der von unvertilgbaren Vorurteilen befangene
Souverän der alleinige Richter und so oft auch der Henker
ist, da gibt es keine Gerechtigkeit, da herrscht nicht die Justiz,
sondern die Polizei. Dies erklärt die traditionell gewordene
Allmacht der Staatspolizei in Rußland. Die modernen Russen,
die sich der polizeilichen Aufsicht, unter der ihr Land seit jeher
gestanden, zu schämen begaimen, haben uns den Glauben bei-
bringen wollen, daß im alten Rußland eine solche Institution
wie die der sogenannten dritten Abteilung der Kaiser des neun-
zehnten Jahrhunderts nicht existierte; daß damals, als die
Zaren in patriarchalischer Weise dem Volke zugänglich blieben,
kein Raum für geheime Kanzleien war.^) Wir aber haben die
Haltlosigkeit solcher Behauptungen durch das traurige Kapitel
von der Grausamkeit der Herrscher und Herrscherinnen in
Rußland von vornherein und wiederholt erwiesen.
Iwans des Schrecklichen Gesetze frappieren im ersten
Augenblick durch einen Zug der Humanität; die Torturen und
Körperstrafen werden auffallend stark eingeschränkt. Wenn
jemand jemanden eines Kapitalverbrechens anklagen will, so
muß er nach Moskau kommen und seine Anklage vor dem
Richter erheben. Dann wird der Angeklagte herbeigeholt.
^) Lcroy-Bcaulieii, Das Reich der Zaren und die Russen. II 115.
— 58 —
Gesteht dieser nicht, so muß der Kläger Zeugen herbeischaffen.
Der Angeklagte kann jedoch ein Duell verlangen; das Gottes-
gericht wird angerufen, und man ist von der Gerechtigkeit
dieser Methode so überzeugt, daß Kläger und Angeklagter
auch durch Stellvertreter die Entscheidung herbeiführen lassen
können ; nicht die Personen siegen, sondern die Wahrheit trium-
phiert. Bogen und Pfeile sind den Kämpfenden verboten.
Ihre Angrilffswaffen sind: Wurfspieß, Lanze, Axt und Dolch;
sie dürfen sich schützen durch Waffenrock, Schild und Küraß.
Bleibt das Gottesgericht erfolglos, oder erweist sich der Ver-
dacht als unbegründet, so braucht der Angeklagte zu seiner
vollkommenen Freisprechung bloß ein Moralitätszeugnis seiner
Mitbürger. 1) Aber dieses schöne Gesetz Iwans ist nur auf dem
Papier vorhanden. Der Schreckliche errichtet 1565 die Oprit-
schina, und diese Leibgarde der Auserwählten, die ursprünglich
nur für die Sicherheit des Zaren sorgen soll, wird bald zu einer
Institution von willkürlichen Polizisten, Spionen und Denun-
zianten, die das Volk namenlos bedrücken.
Das Beispiel, das Iwan der Schreckliche, der vorletzte
Herrscher aus dem Hause Rurik gegeben, befolgen die Roma-
nows schon von Alexej Michajlowitsch angefangen. Dieser
zweite Zar aus dem Hause Romanow hat für die den Hof be-
treffenden Angelegenheiten und für politische Prozesse „die
geheime Kanzlei**, die schnell zum Schrecken aller wird. Peter
der Große erweitert seines Vaters geheime Kanzlei zu einer
wirklichen Staatsinquisition, zum berüchtigten Prikas von Preo-
braschensk. Auch nachdem die Residenz von Moskau nach
Petersburg verlegt worden ist, dauert die Tätigkeit des Preo-
braschensker Prikas fort. 17 18 ernennt Peter zum ersten Male
einen Polizeimeister von Petersburg. Der erste Titular dieses
Amtes ist ein zur Orthodoxie übergetretener portugiesischer
Jude, namens Devier.^) Auf seiner Reise durch Holland im
Jahre 1697 hat Peter diesen Devier an Bord eines Handels-
schiffes aufgegabelt ; er nimmt ihn nach Rußland mit und steckt
1) Gcrcbtzoff, Essai. I 301. — St. Ednic, Dictionnaire de la p6nalit6.
I 301.
2) Waliszcwski, Pierre le Grand, p. 46.
— 59 —
ihn unter die Soldaten. 1705 ist der Fremdling schon Garde-
offizier, 1709 gar General. 171 1 ist er bereits ganz zum Russen
geworden und möchte sich mit einer Stockrussin verheiraten,
sich dabei auch gründlich für die Zukunft versorgen. Er hat
seine Wahl getroffen. Die Erwählte ist alt und häßlich, aber
die Schwester des Fürsten Mentschikow. Der allmächtige
Günstling Peters faßt diese Werbung als schmachvolle Beleidi-
gung auf und läßt den Unverschämten auf der Stelle von den
I^akaien durchpeitschen. Und drei Tage später führt der kleine
Jude Devier doch Mentschikows Schwester zum Altar. Von
Mentschikows Palast weg war Devier zum Zaren geeilt, und
Peter hatte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, ihm als Er-
satz für die erlittenen Peitschenhiebe die alte und häßliche
Schwester des Beleidigers zugesprochen. Kurze Zeit darauf gerät
Devier in Ungnade, a!ber 17 18 ist er plötzlich wieder obenauf,
ist er der erste Polizeimeister von Petersburg und in dieser
Eigenschaft der ewige Begleiter des Zaren in den Straßen der
Hauptstadt. Eines Tages muß Peters Wagen wegen einer be-
schädigten Brücke Halt machen. Man steigt ab, um den Scha-
den auszubessern. Der Zar legt ruhig selbst mit Hand an.
Endlich ist die Arbeit vollbracht. Peter vertauscht die Werk-
zeuge wieder mit seiner Dubina, seinem Prügclstock, packt
seinen Polizeimeister am Kragen und gibt ihm eine tüchtige
Lektion für seine Nachlässigkeit. i) Hierauf steigt er ruhig
wieder in den Wagen und lädt Devier ein, ebenfalls Platz zu
nehmen: „Ca^HCL, öpaT^B, setz dich, Bruder T* und die durch
die Fahrtstörung und die Prügelei unterbrochene Unterhaltung
zwischen Zar und Polizeimeister wird fortgesetzt. Der Vorfall
hat für t)evier keine weiteren bösen Folgen. Erst nach Peters
Tod ergeht es ihm schlimm. Mentschikow rächt sich für seine
Niederlage und verbannt seinen Schwager ins Exil, wobei er
nicht vergißt, dem Verbannungsdekret das zärtliche Postskrip-
^) Der gcpnigelte Polizeimeister blieb seither eine russische Spezialität.
Der Polizeichef Nikolajs I., Gideonow, wurde vom Baron Löwenstern geohr-
feigt (Löwenstern, M^moircs, II); der berühmte Polizeimeister Alexanders III.,
Wlassowskij, verdankte seine ganze Karriere den Olirfeigen, die er sich mit
stoischer Geduld applizieren ließ. (Vgl. Bernhard Stern, Aus dem mo<lcrncn
Rußland: ,,Eine Ohrfeigenkarriere".)
— ßO —
tum hinzuzufügen: öhtb KHyTOM'^t», man schlage ihn tüchtig
mit dem Knut I —
Gegen Spione im Kriege waren die Russen unbarmherzig ;
einen jungen Polen, der 15 14 als Spion von den Russen erwischt
wurde, band man an einen Spieß und röstete ihn langsam über
einem Feuer wie ein Lamm.^) Die Spionage im eigenen Lande
aber wurde gewaltsam großgezogen. Zuerst und in großem
Maßstabe von Iwan «dem Schrecklichen, der jedem Denun-
zianten willig Gehör schenkte und den Sklaven, die ihre Herren
verklagten, die Freiheit gab. In dem Strafgesetzbuch des Zaren
Alexej Michajlowitsch^) wird allerdings unbegründeten Denun-
ziationen schwere Strafe angedroht: „Wenn Jemand vorgiebt,
er wisse etwas, was S. M. Leben oder Staat angehe, und wenn
er nachgehend leugnet, sagend, daß er solches nur that, um
den Schlägen zu entgehen, oder in trunkenem Zustand, so soll
er mit der Knute gestraft und seinem Herrn wiedergegeben
werden." Von ganz ^anderem Geiste beseelt ist Alexejs Sohn.
Der große Peter Alexejewitsch erläßt am 25. Januar 17 15 fol-
genden Ukas : „Jeder, der ein wahrer Christ und treuer Diener
seines Souveräns ist, darf ohne Zweifel alle notwendigen und
wichtigen Angelegenheiten mündlich oder schriftlich denun-
zieren, sobald es sich um ein Komplott gegen den Kaiser, um
Verrat, Revolte oder Insurrektion handelt.** Dieser Ukas wird
ergänzt durch die Drohung: „Wer ein politisches Komplott
kennt imd nicht denunziert, verfällt der gleichen Strafe wie
der Verbrecher: dem Tode.** Verwandtschaft entbindet nicht
von der Pflicht der Denunziation; Kinder müssen die Väter
denunzieren, die Priester ihre Beichtkinder. Sklaven, die ihre
Herren wegen einer Konspiration denunzieren, erhalten sofort
ihre Freiheit. 3)
Der Zar-Reformator reformiert auch das Spionagewesen,
vereinfacht kolossal das System, drängt die furchtbarsten
Schrecken der Inquisitionsgreuel in zwei Worte zusammen.
Er dekretiert : Jeder kann gegen Jeden die Anklage des Hoch-
^) Dictionnairc de la penalitc. IV 12.
2) Struwcns Russisches Landrecbt. S. 5, § 14.
•^) Ivan Golovine. I.a Riissie soiis Nicolas I**". Paris, Leipzig 1845. p. 374.
— 61 —
Verrats erheben, indem er ausruft : Cjiobo n a'^JIo ! Wort und
Tat.i) Der Ankläger, der diese Worte ausgerufen hat, stellt
sich damit sofort unter den unmittelbaren Schutz des Mo-
narchen. Der Angeklagte aber ist auf der Stelle aller seiner
Rechte beraubt. Die Gewalt des Vaters über den Sohn, des
Herrn über den Leibeigenen hört auf. Alle, die zugegen sind,
wenn Jemand gegen Jemanden diese Worte spricht, haben die
Pflicht, den Beschuldigten zu verhaften und ohne Verzug nach
dem Prikas von Preobraschensk zu transportieren. Und lebt
auch der Unglückliche am Ende des Reiches, so muß er doch
mit seiner ganzen Familie, ja mit der ganzen Gesellschaft, die
sich im Augenblick der Beschuldigung bei ihm befand, nach
Moskau wandern. Im Prikas ist die Prozedur eine seltsame.
Hat der Ankläger keine Zeugen, so wird er dreimal der Knu-
tung unterzogen; hält er es aus, ohne seine Anzeige zu wider-
rufen, so gilt die Anklage als begründet, ja als halb bewiesen.
Der Angeklagte kann den Gegenbeweis ebenfalls durch den
Knut verlangen. Übersteht er die dreimalige Knutung und
erklärt sich noch immer als nichtschuldig, so beginnt die neuer-
liche Erprobung des Anklägers durch den Knut. Und so fort,
bis der Angeklagte gesteht oder der Ankläger widerruft. ^j
Wen das Unglück getroffen hat, der kann allem Valet sagen,
was ihm lieb und teuer ist. Der, gegen den einmal „Wort und
Tat** gerufen wurde, kann auf Rettung kaum mehr hoffen. Alle
Verteidigung ist umsonst, jahrelang schmachtet er im Kerker,
bis die Untersuchung beginnt; und dann hat er längst keine
Freunde mehr, die für ihn zu zeugen den Mut haben. Ver-
bannung in Sibirien ist das Ende. 3)
Der Ruf : Wort und Tat ! wurde das Signal zu einer allge-
meinen Demoralisation. Der niedrigste Leibeigene hatte das
Schicksal seines Herrn in Händen. Die Rechtspflege wurde
unmöglich. Der Verbrecher brauchte gegen den Richter bloß
^) M. PI. CoMebCKirt, O'irpKii ii paacKiiabi iiar» pyccKott uciopiii XVII yliKa.
n. doBo II A'fc^iü! 1700 — 1725. „Tattnan Kaim<\iapiji iipu ncrrpii BeJiuKOin.".
Ha,!. BTopoe. C.-IIeTei>6yprB, 1884. Cip. 1 — 124.
2) Russische Anccdoten oder Briefe eines teutschen Offiziers an einen Lief-
ländischen Edelmann. Wansbeck 1765. S. 52.
•^) Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland. I 54 — 57.
— 62 —
das Wort zu rufen, um seine Verurteilung zu hintertreiben;
sofort mußte die Verhandlung über den Fall abgebrochen, der
Richter unter der Beschuldigung des Hochverrats verhaftet
werden. Der Soldat, der vom Offizier gezüchtigt wurde, rächte
sich, indem er : Wort und Tat I rief. Der Offizier verlor sofort
seine Gewalt über den Untergebenen, mußte auf der Stelle
zur Wache und sich ins Gefängnis werfen lassen. Es ereignete
sich sogar der Fall, daß ein Patient, der sich im Spital nicht
operieren lassen wollte, gegen den Arzt das verhängnisvolle
Wort rief.i) Ein unkluges Wort, eine harmlose Geste kann
Veranlassung zu der verhängnisvollsten kriminellen Unter-
suchung werden. Ein Bauer wird von einem anderen be-
schuldigt, daß er in der Trunkenheit den Zaren „in ungewöhn-
licher Weise** gegrüßt habe; der Beschuldigte wird auf die
Folter gespannt. Ein anderer Bauer bekommt die Tortur, weil
er laut einer Denunziation nicht weiß, daß der Zar jetzt Kaiser
genannt werden müsse. Ein Priester wird beschuldigt, daß er
von der Krankheit des Zaren gesprochen und die Möglichkeit
seines Todes in Betracht gezogen habe; auf die Galeere mit
ihm ! Eine Frau findet in ihrem Keller Briefe von unbekannter
Hand in unbekannter Sprache; man denunziert ihren Fund;
man foltert sie, damit sie den Inhalt der Briefe bekannt-
gebe; sie vermag es nicht; Urteil: sie sterbe unter dem
Knut! Eine blinde und epileptische Frau schreit in der
Kirche auf; man denunziert sie deswegen, foltert sie. Ein
Student wird denunziert, daß er in der Trunkenheit „böse
Worte** gesprochen; Strafe: 30 Knutenhiebe, Ausschneiden
der Nasenlöcher, ewige Zwangsarbeit. Der Praporschtschik
Timofej Skobejew kommt in gleichem Falle besser davon; er
wird von seinem Leibeigenen Akim Iwanow durch den Ruf:
Wort und Tat! nach dem Prikas expediert. Der Kaiser selbst
verhört Kläger und Angeklagten. Es handelt sich um einen
ehelichen Streit. Skobejew war betrunken, verlangte noch
^) Geschichte Peters des Dritten, Kaisers von Rußland. Aus der Hand-
sclirift eines geheimen Agenten Ludwigs XV. am Hofe zu Petersburg. Begleitet
von der geheimen Geschichte der vornehmsten Liebschaften Katharinen IL
durch den Verfasser der Lebensgeschich tc Friedrichs IL (Montmorin). Nach
der Pariser Originalausgabe, 1799. Bd. I, S. 171.
— 63 —
mehr zu trinken, seine Frau verweigerte ihm den Wein; da
schlug er sie und sagte: „Unser Gossudarj Pjotr Alexeje-
witsch macht es ebenso!** Der Zar übt Gnade und befiehlt
am 21. April 1721 : „Den Praporschtschik Timofej Skobe-
jew soll man für seine thörichten Worte unbarmherzig mit
Batogen schlagen, dann freilassen. Der Denunziant Akim
Iwanow bekommt einen Freibrief; er und seine Frau und
seine Kinder sollen frei sein und leben dürfen, wo sie
wollen.**!)
Welch lockender Lohn für solchen Dienst! Eine ganze
Serie von Ukasen droht die schwerste Strafe allen denen an,
die etwas, was dem Zaren verdächtig erscheinen könnte, wissen
und es nicht anzeigen. Aber wirksamer noch als die Straf-
drohungen sind die in Aussicht gestellten Belohnungen. Die
gewöhnliche Prämie für eine Denunziation beträgt zehn Rubel.
Spezielle Umstände veranlassen weit höhere Verlockungen. Im
Jahre 1722 werden in Moskau unter einer Laterne 10 Säcke
aufgehängt; jeder enthält 100 Rubel. Eine daneben ange-
schlagene Ankündigung verspricht dieses ganze berauschende
Vermögen Jenem, der den Autor eines im Kremlj aufgefunde-
nen Pamphlets gegen den Kaiser angibt; der Denunziant soll
außer dem Gelde eine Anzahl Güter und ein Amt erhalten!
Unbeschreibliche Verkommenheit, namenlose Entsittlichung
sind die Resultate dieses Systems. Redlichkeit und Vertrauen
existieren nicht mehr, in jedem Mitmenschen sieht man nur
einen Verräter, Angeber, Verderber. Arretierung und Folte-
rung eines Beschuldigten haben hundert und hundert neue
Verhaftungen im Gefolge. Auf der Folterbank nennt man alle
Namen, die einem durch Zufall, in der Angst und Verzweif-
lung in den Sinn kommen. Weiß man keinen Namen mehr,
kann der Henker aus dem Gepeinigten nichts mehr heraus-
pressen, dann wird der Delinquent losgebunden; man stülpt
ihm eine Arrestantenmütze auf das Haupt und schleppt ihn
durch alle Gassen, damit er unter den zufälligen Passanten
seine Komplizen bezeichne. Würde die Pest leibhaftig in der
Stadt herumwandern, so könnte sie kein größeres Entsetzen
*) C'i'MOBCKirt, C.ioBO II ,i,1v.iü. (Tp. 52. — Waliszewski, Pierre le Grantl. 193.
— 64 —
hervorrufen. Erblickt man einen von diesen Unglücklichen,
so veröden die Gassen, Alles flüchtet, rettet sich. „Die Zunge !
die Zunge!** So bezeichnet das Volk diese durch Martern zu
Verderbern ihrer Mitmenschen gepreßten willenlosen Agenten
des Prikas von Preobraschensk.
Eine Armee von Spionen und Spürhunden, Entdeckern
und Erfindern ist über das ganze Reich verbreitet. Die ge-
heimen Agenten, freiwillige und gedungene, horchen an allen
Türen, lauschen an allen Wänden, mischen sich bei den Ban-
ketten unter die Gäste, kredenzen den Lcichtzüngigen die ge-
heimnislösenden Weine. Entsendet der Zar einen Heerführer
in die Provinz oder ins Feld, oder einen Botschafter ins Aus-
land, so mischt er unter die Begleiter sorgfältig ausgewählte
Kontrollagenten, die mit dem Kaiser in direktem Briefwechsel
stehen und über das Leben und Treiben ihres Vorgesetzten
minutiösen Bericht zu erstatten haben. Als Peter den Feld-
marschall Scheremetjew zur Unterdrückung einer Revolte
nach Astrachan j beordert, muß sich der Fürst einen Garde-
sergeanten als Wächter gefallen lassen; Baron Schleinitz,
Peters Gesandter in Paris, wird peinlich beobachtet von
einem Expedienten seines Amtes, einem gewissen Schurin.
Nach dem Tode Peters wird der Prikas von Preobra-
schensk gesperrt. Aber nur der Name verschwindet, das
System bleibt; die Rufe: „Slowo i djelo! Wort und That!**
hallen noch Jahrzehnte hindurch schauerlich durch ganz Ruß-
land, und die Gefängnisse leeren sich nicht.^) 1726 beschul-
digt ein kleiner Bureauschreiber, Wassilij Feodorow, den
Kapitän der Reserve Kobylin „aufrührerischer Rede**, und
der Denunziation wird ohne Untersuchung Folge gegeben, der
Denunzierte ins Gefängnis geworfen, zum Tode verurteilt; des
Hingerichteten Güter konfisziert der Staat, aber der Denun-
ziant findet diesmal nicht den erwarteten Lohn; „ich habe,**
klagt er in einem in den Archiven enthaltenen Aktenstück,
„von der Beute nichts erhalten als eine Kuh und ein Kalb,
ein paar Gänse und ein wenig Heu. Andere Donoßtschiki
(Denunzianten) sind für ihren Eifer besser belohnt worden.**
1) Waliszcwüki, L'hcritage de Pierre Ic Grand. 103.
— 66 —
Manche von diesen Donoßtschiki haben wirklich Karriere ge-
macht. Ein klassischer Fall: Der Leibeigene Wanka Kain
bestiehlt seinen Herrn Filatjew und entflieht. Filatjew ver-
folgt den Flüchtling, erwischt ihn in einer Straße von Mos-
kau, nimmt ihn gefangen und verurteilt ihn: zwei Tage lang
mit einem Bären an einer Kette angebunden zu bleiben; am
dritten Tag kommt Filatjew mit der Peitsche, um dem Gefes-
selten mit einer Tracht Hiebe die Freiheit zu schenken. Aber
kaum beginnt die Bastonnade, da schreit der Leibeigene in
seiner Angst: „Slowo i djelo, Wort und ThatI** Und im
Moment ist die Exekution eingestellt, der Herr wird verhaftet,
eine Untersuchung beginnt. Zufälligerweise hat Filatjew tat-
sächlich ein Verbrechen auf dem Gewissen; er hat einen
Polizisten umgebracht, und man findet die Leiche des Er-
mordeten in einem Versteck des Hauses. Wanka Kain, der
Dieb steht nun als ein großer Mann da, er wird Detektiv.
Das neue Geschäft macht ihm Spaß, es bereitet ihm woll-
lüstigen Genuß, sich für die Leiden seiner Vergangenheit an
den Leiden seiner Nebenmenschen entschädigen zu können,
er erfindet Komplotte und Verbrechen, um die Unschuldig-
sten zu verderben. So liefert er dem Henker eine junge
Witwe aus, die sich ihm nicht ergeben wollte; aber da er
sie nackt in den Händen des Furchtbaren sieht, erzittert er;
er besticht den Henker, daß er sie sanft schlage, und nun
heiratet die Gezüchtigte dankbar ihren Peiniger. Wanka
Kains Name findet man zuletzt im Jahre 1749 erwähnt, wo
er selbst in eine Grube fällt, die er anderen gegraben hat,
und infolge einer Brandstiftung zum Tode verurteilt wird.i)
Die Zarin Anna Iwanowna, in deren Zeit Wanka Kain
seine Laufbahn begann, machte übrigens den Versuch, die
Furchtbarkeit des Ausrufs: „Slowo i djelo I** zu lindern. Auf
falsche Denunziation wiu-de Todesstrafe gesetzt. Es wurde
verboten, eine im Gange befindliche Exekution zu suspen-
dieren, wenn der Verurteilte „Wort und Tat" rief. Also lautete
eine Verordnung vom 4. April 1730. Aber sechs Tage später
setzte ein Ukas Todesstrafe fest: für denjenigen, „der eine
1) Waliszewski, L'h6ritage. 194.
Stern, Geschichte der öffentl. SittHchkeit in Ru&land. ** 3
— 66 —
wichtige Angelegenheit nicht denunziert!" Anna beruft eine
Kommission zur Reformierung der Justiz; das Resultat langer
Arbeit ist: der Wiederabdruck des Gesetzbuches des Zaren
Alexe j. Die Trennung der Zivil Justiz von der Kriminaljustiz
wird anbefohlen; aber die Wolikita, die traditionelle Ver-
schleppungsmethode, paralysiert die schönsten Absichten. Die
Justiz bleibt nach wie vor wild und grausam. i) Die Willkür
herrscht und die Korruption unterstützt sie, ist ihre einzige
Dienerin. Eine Regierung von Abenteuerem muß mißtrauisch
sein. Der Priester Jossip Rjeschilow wird der Tortur unter-
zogen, obwohl er noch nicht einmal verdächtig ist; man
foltert ihn, um erst zu erfahren, wessen man ihn verdächtigen
könnte. Der zwanzigjährige Martin Karlowitsch Skawronskij,
ein Verwandter der verstorbenen Zarin Katharina I., sagt
scherzend seinen Freunden, was er täte, wenn er König wäre.
Man peitscht ihn, um ihm Lust zu solchen Spaßen zu ver-
treiben. Man foltert auf bloße Denunziation hin, man ver-
urteilt ohne Beweise und verschickt aufs Geratewohl. Der
Vizekanzler Golowkin und seine Frau werden zur „Intemier-
rung in Hemang" verurteilt und nach Sibirien expediert. Berg,
der Leiter des Verbannten-Transportes, kann den Ort auf kei-
ner Karte finden, imd zieht wochenlang, monatelang in der
Gegend von Irkutsk und Jakutsk umher, wie auf einer For-
schungsreise. Hat er den Ort jemals entdeckt? Man weiß es
nicht. Man weiß noch heute nicht, wo Golowkin und seine
Frau ihre Strafe verbüßten.^)
Im achtzehnten Jahrhundert, wo jeder Thronwechsel
durch eine Revolution bewerkstelligt wurde, jeder Herrscher
gewaltsam entthront oder ermordet wurde, jeder neue Macht-
haber die Günstlinge früherer Monarchen schleunigst zu be-
seitigen und die möglichen Rivalen von vornherein unschäd-
lich zu machen suchte, war das System der Denunziationen
und der Geheimpolizei das unentbehrliche Rüstzeug aller Re-
gierungen. Elisabeth schwor bei ihrer Thronbesteigung, keine
Todesstrafe zu verhängen; sie schwor auch, die Tortur nicht
1) A. a. O. 195.
*) Waliszewski, La demidre des Romanov. 21.
— 67 —
mehr anwenden zu lassen. Aber schnell mußte sie ihren
Schwiu: brechen, das Feld vollkommen der Polizeiwillkür
überlassen, und weniger noch als zuvor gab es jetzt irgend
eine Grenze, an der die Wirksamkeit der Polizei aufgehört hätte.
Die Polizei mischte sich in alles, behauptete allwissend, all-
durchdringend zu sein, riß die verborgensten Türen auf,
drang in die Schlafgemächer ein, schonte nicht die Großen
noch die Kleinen, nicht die Geheimnisse der Familie noch
der Ehe. Mit dem Schlagwort : Ordnung und Sicherheit ! fuhr
sie durch das ganze Land, überall Unordnung, Unsicherheit,
Verwirrung und Verzweiflung hervorrufend. Der Thron der
Zaren imd Zarinnen ist immer schwankend und stets um-
schleicht ihn die Furcht vor Komplotten. Die Spione und
Denunzianten machen sich dies zunutze. 1742 verbreitet je-
mand das Gerücht, daß im Schlafzimmer der Kaiserin Elisa-
beth eine Pulvertonne versteckt und entdeckt worden sei.
Das Gerücht erweist sich als lügenhaft, aber die Furcht der
Zarin ist erweckt und nicht zu bannen. Es erfolgt eine Reihe
von Verhaftungen, eine massenhafte Austeilung von Knuten-
hieben. Elisabeth wagt kaum zu Bett zu gehen, und zu ihrer
Sicherheit organisiert sie eine Geheimpolizei, die hinter der
Opritschina Iwans des Schrecklichen nicht zurücksteht. Im
ganzen Reiche beginnt eine Jagd nach Verdächtigen, das
Verhaften von Zehntausenden, das Verschicken von Zahllosen,
ohne Grund, ohne Prozeß, ohne Urteil. Und was ist das für eine
Polizei ! Ein und dasselbe Subjekt ist zumeist gleichzeitig Brigant
und Polizist. Im Hause des Grafen Tschemyschow wird ein
kleinrussischer Edelmann von dem Wächter erschlagen, der
das Haus bewachen soll. Polizeisoldaten überfallen das Haus
eines Kaufmannes, ermorden den Besitzer, vergewaltigen und
töten seine Frau und seine Nichte und plündern, was nicht
niet- und nagelfest ist. Die Edelleute auf dem Lande spotten
der Polizei. Der Wojewode von Kolomna, Iwan Orlow, läßt
das Polizeibureau von seinen Truppen umzingeln und zer-
stören. In den Ideen der Zeit ist Brigantentum kein schänd-
liches Gewerbe. Die als Räuber durch die entlegenen Gou-
vernements ziehen, genießen Ansehen und Popularität. Edel-
leute vornehmsten Ranges stellen sich an die Spitze von
!i
ii
i
-1 C8 —
Räuberbanden, belagern die Straßen, machen Gefangene, for-
dern Lösegelder. Der Räuberhauptmann Sinowjew, ein Vor-
fahre des Diplomaten unserer Tage, herrscht wie ein abend-
ländischer Raubritter in seinem Gebiet und plündert nament-
lich Kaufleute. Mit den Behörden steht er auf vortrefflichem
Fuße, imd da er einmal doch vor Gericht kommt, wird er
freigesprochen! 1740 beherrscht eine Räuberbande von 3000
I Mann mit Kanonen unter Leitung eines Edelmannes die ganze
Gegend an der Oka.^) Um 1750 erscheint an der Spitze
einer Bande eine vornehme Dame, Katharina Dirin; ihre
Gefolgschaft bilden ihre Verwandten und ihre Leibeigenen.
Sie greift die Herrenhäuser an, raubt und mordet. Zu
Anfang des 19. Jahrhunderts treibt Baron von Ungem-
Sternberg in den livländischen Gewässern sein Unwesen als
Seeräuber, durch falsche Leuchtfeuer lockt er Schiffe auf
Sandbänke und Klippen; er raubt und mordet; und 1802
errichtet er dankbar dem lieben Gott eine Kirche auf einer
Insel.^) Alle diese Herren imd Damen erwecken nicht das
Interesse der Polizei, die in der politischen Spionage ihren
einzigen Daseinszweck sieht.
Von einzelnen Herrschern verurteilt und aufgehoben „für
ewige Zeiten**, lebt die Institution der geheimen Kanzlei doch
immer neu auf, wenn auch unter anderen Namen. Peter III.
erklärte am 7./18. Februar 1762, daß er ohne eine ge-
heime Kanzlei regieren wolle; der jähe gewaltsame Tod, den
seine Gemahlin ihm schon nach kurzer Zeit bereitete, ermög-
lichte es ihm, sein Versprechen zu halten. Katharina IL,
die Peters des Großen Prikas von Preobraschensk „durch die
Zeitverhältnisse und die ungebildeten Sitten der Nation** zu
entschuldigen suchte, bestätigte die von Peter III. verfügte
Aufhebung der geheimen Kanzlei, doch nur, um eine eigene
Institution, „die geheime Expedition**, zu schaffen.^) Paul I.
^) 0».i()Bi>eBrL, ITcTopiji XXIIl 18, XXIV 99. — Walisrewski, La demiÄre
des Romanov. 173.
2) Petri, Gemälde von Livland und Estland. Leipzig 1809. 79—1.
Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland. I 12. —
^) Biographie Peters III. (von Heibig). Tübingen 1808. I 137 und II I3.
— Reimers, St. Petersburg am Ende seines ersten Jahrhunderts. 1805. I 264«
— 69 —
hat seine „geheime Untersuchungskanzlei"; sie wird von
Alexander I. wiederum feierlich „für alle Zeit** aufgehoben,
aber unter Nikolaj I. und Alexander II. ersteht sie von 1826
bis 1880 in der „III. Abteilung der kaiserlichen Kanzlei** als
eine furchtbare politische Inquisition neu und unter Alexan-
der III. und Nikolaj II. dauert sie unter verschiedenen Formen
und Namen fort. „Als ein Instrument der Kontrolle, das selber
ohne Kontrolle war, erzeugte diese politische Inquisition,** so
schreibt Leroy Beaulieu, „in den Händen der Machthaber und
Tagesgünstlinge Haß, Ehrgeiz, Furcht. Als Werkzeug der Herr-
schaft diente sie der Verfolgung und der Vertilgung. Von
Peter I. bis Alexander II. hat keine Maschine des Despotismus
soviel Menschen zermalmt, so geräuschlos und heimlich ge-
gearbeitet, wie diese. Die Zahl ihrer Opfer jeden Standes,
jeden Alters und Geschlechtes ist umso schwerer zu bestim-
men, als nicht öffentliche Autodafes sie verzehrten, sondern
die schweigenden Schneefelder Sibiriens das Geheimnis be-
gruben.**^) Die Chefs der dritten Abteilung unter Nikolaj I.
und Alexander II. waren nacheinander: Graf Benckendorff,
Graf Orlow, Fürst Wassilij Dolgoruckow, Graf Peter Schuwa-
low, General Potapow, General Mesenzew, General Drentelen.
Man ersieht aus der Liste, daß der Posten nur angesehenen,
vornehmen Männern gegeben wurde: Benckendorff war Bru-
der der Fürstin Lieven; Orlow, später zum Fürsten erhoben,
Vertreter Rußlands beim Pariser Kongreß; Graf Peter Schu-
walow wurde Bevollmächtigter Rußlands beim Berliner Kon-
greß. Es ist charakteristisch für die russischen Sittlichkeits-
begriffe, daß diese vornehmen, gebildeten Männer sich dazu
hergaben, Chefs der Spionage zu sein. Reizte die beispiel-
lose Macht den Ehrgeiz so sehr, daß alles Schamgefühl,
alles Mitleid erstickt wurde? Der Chef der dritten Abteilung
war immer der wahre Vize-Kaiser, ein unumschränkter Herr
über Freiheit und Leben aller Untertanen des Selbstherr-
schers. Er hatte Rechte, die keine Grenzen kannten. Die
Paläste der Großfürsten, selbst des Thronfolgers waren vor
— Bredow, Chronik des 19. Jahrhunderts. I 213. — Sugenheim, Rußlands Ein-
fluß auf Deutschland. I 54.
^) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren und die Russen. II ii6.
— 70 —
ihm ebenso wenig sicher wie die Dachkammer, die die ärmste
Studentin, oder das Nachtasyl^ das den heimatlosen Studen-
ten beherbergte. Vor ihm erzitterten die Minister und die
Generalgouverneure ; vor ihm sprangen die Tore der Festungen
und der Gefängnisse auf. Bei Tag und bei Nacht durfte er ein-
treten, wo er wollte; durfte er verhaften, wen er verdächtig
fand. Er führte den simplen Titel: Chef der Gendarmerie,
war aber Mitglied des Ministerkomit^s, und just das wich-
tigste aller Mitglieder; er erstattete direkt dem Kaiser Be-
richt, imd nur dem Kaiser, zu dem er jederzeit unangemeldet
Zutritt hatte. Er bestimmte Verhaftungen, aber auch Er-
nennungen; sein Wort bezeichnete die unverläßlichen, bürgte
für die verläßlichen Beamten. Er brauchte keine Rechenschaft
abzulegen über seine Handlungen, er brauchte keine Beweise
für seine Anklagen, keine Gründe für seine Verurteilungen.
An den Folgen der Wirksamkeit der dritten Abteilung krankt
Rußland heute. Mißtrauen und Angst beherrschten die Ge-
sellschaft, den engsten Familienkreis. Man wagte selbst vor
den Eltern oder den Kindern nicht Worte zu sagen, die irgend-
wie politisch gedeutet werden konnten. Ssaltykow-Schtsche-
drin hat in den „Briefen an meine Tante** mit bitterer Satire
die Atmosphäre geschildert, in der man dahinlebte, und ge-
zeigt, wie man frivol werden mußte in seinen Unterhaltungen,
um Gefahren zu vermeiden. So lähmend war die Angst, daß
selbst Russen im Auslande nur beklommen atmeten.^)
Diese dritte Abteilung war eine Institution, die niemals
zuvor imd nirgends in der Welt ihresgleichen hatte. Alexan-
der II. hatte sich anfangs von ihr losgesagt, aber nach dem
Attentat von 1866 doch wieder nach ihr gegriffen als nach
dem einzig sicheren Rettungsanker für das bedrohte Selbst-
herrschertum. Da erfolgte die Ermordung der Polizeichefs
durch die Nihilisten: General Mesenzew wurde in den Straßen
Petersburgs erdolcht, General Drentelen vom 18jährigen Mirs-
kij am hellen Tage vom Pferde geschossen. Jetzt erschrak
Alexander vor dem Volksunwillen und opferte 1880 die In-
stitution auf; er unterstellte die Staatspolizei dem Chef der
^) Leroy-Beaulien. II 135.
— 71 —
Exekutivgewalt Loris-Melikow. Alexander III. und Nikolaj IL
haben aber die dritte Abteilung, wenn auch nicht dem Namen
nach, doch tatsächlich wiederhergestellt und ein Gendarmerie-
korps aus den Söhnen der vornehmsten Familien organisiert;
diese Gendarmen leisten das Gleiche, das die Opritschniki
Iwans des Schrecküchen, die Denunzianten Peters des Großen
und die Agenten der dritten Abteilung Nikolajs I. und
Alexanders II. geleistet haben.^)
Die Bedrückung des Volkes durch die Polizei nahm mit-
unter auch in neuester Zeit solche Dimensionen an, daß die
russische Presse, sogar noch vor Beg^n der Hevolutions-
epoche, den Mut der Verzweiflung fand^ laut um Abhilfe zu
rufen. So wagte die Zeitschrift „PyccKoe 6oraTCTBO** einmal
1) Ich will nicht übersehen, daß es auch einen Verteidiger der III. Abtei-
lung gegeben hat, und zwar einen deutschen Schriftsteller. Man lese: Adolph
Zando, Russische Zustände im Jahre 1850, Hamburg 185 1, S. 216: „Die rus-
sische Polizei ist klug, umsichtig und tätig. Ihr allein verdankt Rußland die
Ruhe und Sicherheit, deren sein ungeheueres Gebiet sich erfreut ; sie wacht über
alle Laster, steuert dem Bösen, und kein schändliches Treiben, kein unlauteres
Vorhaben entgeht dem wachsamen Auge dieses mächtigen Instituts". Femer
S. 223: ,, Teils böswillige, teils mutwillige Erdichtungen haben alle Welt zu
überzeugen gesucht, man sei in Rußland stets von Häschern umgeben; Blicke,
Worte und Taten würden stets von Spähern überwacht. Wer sich keines Bösen
bewußt ist, hat auch nichts zu befürchten. Eine gerechte, wachsame und strenge
Polizei sichert die Ruhe und das Leben der friedlichen Untertanen. Ehre darum
der russischen Regierung, die sich dieser Aufgabe vollkommen bewußt ist und
sie, unbekümmert um böswillige oder hirnlose Verleumdungen standhaften
Sinnes durchzuführen versteht!" Und schließlich ein Erguß auf S. 183 zu Ehren
der russischen Justiz und des Knut! ,, Europa übertreibt schamlos. In Rußland
scheut sich das niedrigste Volk die Strafwerkzeuge des Henkerknechts zu er-
wähnen. Eine jede russische Dame von Bildung würde erröten, wenn jemand
es wagte, einer körperlichen Strafe oder peinlichen Sentenz in ihrer Gegenwart
Erwähnung zu tun. Die Zartheit des weiblichen Gefühls würde sich dem wider-
setzen. In einer gebildeten Gesellschaft würde man es als den größten Verstoß
ansehen, wenn irgend Jemand von Exekutionen oder Kriminalstrafen zu reden
sich einfallen ließe. Jeder weiß, dies gehört vor die Schranken der unerbitt-
lichen Gerechtigkeit und zu den Attributionen des Kriminalrichters, nicht aber
in die Salons der guten Gesellschaft; sogar der Bauer bekreuziget sich, wenn er
von entehrenden Strafen reden hört, aus Scheu, seine Gedanken damit zu be-
sudeln. Im Auslande aber, wie ich leider bemerkt habe, ist dieses nicht allent-
halben der Fall".
— 72 —
einen Artikel über die Vergewaltigungen der Polizeiorgane
zu bringen, worin es hieß: „Die Tätigkeit unserer Polizei
steht in striktem Gegensatz zu den Forderungen des CJesetzes;
dies trägt nicht wenig dazu bei, daß das Ansehen der Polizei
in den Augen der Bevölkerung sinkt. Dieser Tätigkeit gegen-
über kann der Bürger in den allerelementarsten seine Exi-
stenz betreffenden Fragen nicht auf sein Recht, sondern nur
auf einen mehr oder weniger glücklichen Zufall rechnen. Hier
haben wir es offenbar mit einem jener kleinen Mängel im
Mechanismus zu tun, deren Korrektur nicht mit kleinen Maß-
regeln zu erreichen ist, angesichts der ganz außerordentlichen
Machtvollkommenheiten, die der Polizei, wie überhaupt
der Administration dem Bürger gegenüber zustehen." In der
Praxis wird dem Bürger die Möglichkeit nicht gewährt, sich
auf gesetzlicher Grimdlage den Forderungen der Polizei zu
widersetzen oder doch wenigstens auf einer Erläuterung dieser
Forderungen zu bestehen. Somit hat denn die persönliche
Unantastbarkeit des Bürgers, selbst in dem vom Gesetz ge-
schaffenen Rahmen, einen äußerst problematischen Wert. Oft
hat ein in noch so bescheidener Form zum Ausdruck gebrach-
ter Zweifel an der Korrektheit dieser oder jener polizeilichen
Verordnung einen Prozeß wegen Beleidigung der Polizei-
organe bei Ausübung ihrer dienstlichen Funktionen zur Folge.
Die Möglichkeit, zu gerichtlicher Verantwortung gezogen zu
werden, ist in den Augen der Meisten ein Moment, das sie
veranlaßt, alle Forderungen der Polizei, ohne Unterschied,
unweigerlich zu erfüllen. Privatpersonen dürfen Klagen gegen
Polizeibeamte nur bei den diesen übergeordneten Instanzen
anbringen, die dann zu bestimmen haben, ob die Angelegen-
heit auf gerichtlichem oder administrativem Wege behandelt
werden soll. Eine so komplizierte Prozedur erschwert dem
Bürger die Inanspruchnahme gerichtlicher Hülfe. In seinen Be-
ziehungen zur Polizei ist der Bürger ausschließlich auf eine pas-
sive Rolle beschränkt und der Möglichkeit beraubt, das Gesetz
gegenüber dem ungeschriebenen Recht der Polizei zu behaupten.
Die Polizei lebt in den Städten von den Bedrückungen
der Gesellschaft. Geld ist der Talisman, der sie selbst gegen
offenkundige Verbrecher nachsichtig macht. Der Polizeichef
— 73 —
eines Quartiers in einer der Hauptstädte des Reiches hat
wenigstens zwanzigtausend Rubel Nebeneinkommen. Ein Poli-
zeibeamter in Odessa, der die Verg^ügimgslokale zu über-
wachen hatte, gewann jährlich über zwanzigtausend Rubel allein
aus den Trinkgeldern, die ihm zuflössen, weil er die Sperr-
stunde nicht allzu streng einhielt.^)
Auf dem Lande kümmern sich die Polizisten am wenigsten
um Sicherheit und Ordnung. Die russische Regierung ge-
braucht die Polizei nur zu politischen Zwecken; alles andere
ist ihr gleichgiltig. Für Spionage ist aber das flache Land kein
ergiebiges Gebiet. Deshalb sind Polizeibeamte hier Selten-
heiten. Ein einziger Stanowoj Pristaw, der Repräsentant der
Polizeigewalt auf dem Lande, muß oft einen Bezirk von 50000
Einwohnern, die auf einigen hundert von Quadrat wersten leben,
überwachen. Dieser Pristaw hat soviel mit dem Vertrieb der
offiziellen Kundmachungen, der Eintreibung der Steuerrück-
stände und der Frequentierung der Branntweinschenken zu
tun, daß ihm keine Zeit übrig bleibt, für den Schutz der Be-
wohner vor Räubern und Mördern zu sorgen. Die Gemütlich-
keit der polizeilichen Zustände auf dem Lande charakterisiert
folgender Vorfall, der sich im Gouvernement Orel ereignete.^)
Der Landwächter Nikoritschew führte auf der großen Karat-
schewschen Landstraße zwei Bauern ins Gefängnis nach Bol-
chow. Der Wächter war so betrunken, daß die beiden Ver-
brecher ihn in einen Schlitten legen und dann selbst das Pferd
lenken mußten. Die Arrestanten fürchteten, daß der betnm-
kene Landwächter unterwegs erfrieren könnte, und daß man sie
dafür verantwortlich machen würde; sie beschlossen daher, in
einer Herberge Halt zu machen. Gedacht, getan. In der
nächsten Herberge legen die Arrestanten ihren Wächter auf
eine warme Ofenbank und warten geduldig von 4 Uhr nach-
mittags bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr, bis der Polizist
endlich seinen Rausch ausgeschlafen hat. Lammfromm lassen
sich die Verbrecher nun ins Gefängnis abführen. Die Obrig-
keit aber wußte den zwei Menschenfreunden keinen Dank zu
1) Geheimnisse von Rußland. II 35.
*) Konrespondenz der „Lodzer Zeitung" vom 1./14. März 1906.
— 74 —
sagen, sondern bestrafte sie, weil sie es gewagt hatten, ohne
obrigkeitliche Genehmigung unterwegs zu übernachten I
Zu den Obliegenheiten der Landpolizei gehört das Ein-
treiben von Steuerrückständen. In solchen Dingen war man
in Rußland niemals sanft. Schon der milde Zar Alexe j befahl
in seinen Gesetzen vom Jahre 1649, von den Untertanen die
Schulden ohne Erbarmen einzutreiben. Auch der Privat-
gläubiger hatte furchtbare Rechte über seinen Schuldner; der
Gläubiger konnte dem Schuldner die Freiheit, sogar das Leben
nehmen. In der Epoche Iwans des Schrecklichen wurden Äbte
und Mönche, die mit den Steuern an den zarischen Schatz im
Rückstande blieben, 2u Tode gegeißelt. Ähnliche Beispiele
gibt es auch aus der Zeit des Zaren Boriß Godunow und noch
aus späteren Epochen. Die übliche Strafe für säumige Schuld-
ner, die Abschreckung, iipasejirb, war folgendermaßen: Man
band den Schuldner beim Gerichtshof oder Prikas, dem Ge-
fängnis des Ortes, am Tore fest, und da mußte er bleiben, bis
die entsprechende Zeit seiner Strafe um war; erlegte er aber
die schuldige Summe, wurde er sofort frei. Nach einem Ukas
aus dem Jahre 1558 mußte man für je 100 Rubel Schulden oder
Steuerrückstände einen Monat lang die Abschreckungsstrafe
erdulden. Bei jedem Schuldner, so berichtet Tatischtschew
in seinen Erinnerungen, stand der Pristaw mit dem Knut „und
schlug auf den nackten Fuß des Schuldners je nach dem, wie
er vom Gläubiger für seine Mühe bezahlt worden war, kräftiger
oder schwächer.** Ein Augenzeuge dieser Strafmethode, Moske-
witsch, sagt: die Schuldner wurden in Reih und Glied aufge-
stellt; darauf teilten die Prügel-Beamten die Verurteilten in
Gruppen ein, jeder Pristaw nahm eine Gruppe für sich in An-
spruch, und auf ein Zeichen begannen alle ihre Opfer der Reihe
nach zu bearbeiten. Jeder Schuldige bekam drei Hiebe. So
ging es Tag um Tag. Die Prügelstunden dauerten gewöhnlich
von 8 Uhr morgens bis 1 1 ühr vormittags. 1689 verlängerte der
Strjeljzcn-Oberst die Prügelzeit bis 2 Uhr nachmittags. Selbst-
verständlich waren die Pristawe nicht unbestechlich, und wer
sich mit ihnen auf guten Fuß zu stellen verstand, konnte die
Schläge leicht ertragen. Auch durfte man sich bei der Strafe
vertreten lassen, statt seiner seinen Diener oder Leibeigenen für
— 75 —
die Schläge zur Verfügung stellen I Peter der Große, der für
seine Reformen \ind seine kostspieligen Kriege Geld brauchte,
erkannte, daß diese alte Methode wenig praktischen Nutzen
brachte. Er gab daher 171 1 einen Befehl heraus, den Schuld-
nern und *Steuerrückständigen unbarmherzig ihre Häuser und
Magazine verkaufen zu lassen, in keinem Falle aber eine Stell-
vertretung der Herren diu"ch Arbeiter oder Leibeigene zu dul-
den. 1722 wurde den Schuldnern Verbannung und Zwangs-
arbeit auf den Galeeren angedroht ; von diesen Strafen wurden
auch Geistliche nicht ausgenommen. Zarin Anna Iwanowna
kehrte zu der alten moskowitischen Ordnung zurück. 1732
befahl ein Ukas, die Schuldner auf der Wache festzuhalten und
unbarmherzig zu schlagen. Der Gerichtshof für Rückstände
arbeitete mit äußerster Strenge, so daß hunderttausende Bauern
namentlich in den Grenzorten aus Rußland flüchteten. Boltin
erzählt : „Auf Befehl Birons hielt man die besten Leute bei der
Wache imd täglich stellte man sie in langen Reihen mit nackten
Füßen im Schnee auf und schlug sie mit Stöcken und Bein-
knöpfen auf die Füße so fest, daß die Schläge hörbar waren."
1754 stellte Elisabeth die Petersche Ordnung her, und Stock
und Peitsche als Eintreiber von Schulden und Steuerrück-
ständen «wanderten in die Rumpelkammer der russischen Sitten-
geschichte.i) Die jüngsten Herrscher haben die Prügel wieder
herausholen lassen und die Tschinowniki Alexanders II, Alexan-
ders III. und Nikolajs II. übertreffen an barbarischer Prügel-
wut ihre Vorgänger aus den finstersten Zeiten Rußlands. Der
russische Schriftsteller Nemirowitsch - Danschenko klagte :
„Selbst die Bären sind nicht ganz unempfänglich für Eindrücke
und wohl fähig, Regungen des Mitleids zu empfinden, nur der
Tschinownik kennt kein Erbarmen. Er wird dir, geradeso wie
er es tnit einem Hasen macht, fünfmal nacheinander das Fell
abziehen. "2) Im Gouvernement Rjäsan pflegte der Polizei-
beamte Popow die Bauern, die ihre Steuerrückstände nicht be-
zahlen konnten, tnit brennenden oder in Salzwasser getauchten
^) A. r. THMo<|)eeBT>, Hcropia rfejiecinjx'fc HaKaaanift btl pyecKOjfb npaßt.
C.-neTep6ypn>, 1897, crp. 185—187.
s) HoBoe BpeMfl, 7. m. 1891.
— 76 —
Ruten zu peitschen. i) Das Herausprügeln von Steuern und
Steuerrückständen ist so alltägliche moderne Methode^ daß die
russische Presse sich nur ganz krasser Fälle zu bemächtigen
wagt. 1891 hatte der Dorfälteste Obydcnkow im Orte Nildtin
seine besondere Methode erfunden : Er pflegte di«r zahlungs-
unfähigen Bauern solange mit den Füßen an der Decke aufzu-
hängen, bis der Gequälte Rat schaffte. Hatte ein Bauer den
Mut, gegen seinen Peiniger eine Klage bei Gericht einzureichen,
so wurde er wegen Beleidigung des Dorfältesten mit dem Knut
zur Ruhe verwiesen. Selbst in der Zeit der Hungersnot und
des Elends bestehen die Steuereintreiber auf sofortige Zahlung.
In einem armseligen Dorfe des Gouvernements Wjatka war
1891 das Elend so groß, daß die Bauern verhungerten; die
Steuereintreiber aber gingen rücksichtslos zu Werke. In einem
anderen Distrikt herrschten Hunger und Feuersbrünste. Die
Bauern richteten an den Zaren die Bitte nicht um Hülfe oder
Unterstützung, sondern bloß um Nachsicht und Erbarmen bei
der Eintreibung der Steuern. Aber die Polizei forderte erbar-
mungslos die Rückstände bis auf den letzten Kopeken. Die
armen Bauern verkauften ihr letztes; das genügte dem Tschi-
nownik nicht, er packte also fünfzig Bauern, ließ sie peitschen
und schleppte sie ins Gefängnis. Und von der Distrikts-
regierung wurde der Beamte zur Rechenschaft gezogen: wegen
unangebrachter Nachgiebigkeit, wegen Mangels an Eifer.*)
Die Willkür der modernen russischen Polizei hat mehr als
alles andere zu der trostlosen und endlosen Revolution beige-
tragen, die das heutige Rußland zerstört. General Trepow
Vater ließ einen politischen Sträfling, der ihn nicht ordentlich
gegrüßt hatte, halbtot peitschen; dies war die Ursache zum
Attentat der Wjera Sassulitsch und zum Beginn der nihi-
listischen Aktionen. General Trepow Sohn ließ in Moskau
harmlos demonstrierende Studenten in die Gefängnisse schlep-
pen und peitschen ; dies war das Signal zur Ermordung des
Großfürsten Ssergej und zum Ausbruch der allgemeinen Revo-
lution. Wollte man alle Willkürakte der russischen Polizei
1) Leroy-Beaulicu, Das Reich der Zaren und die Russen. II 343.
*) E. B. Lanin. Russische Zustände. I 6 — 9.
— 77 —
sammeln, so würde man mehr Bände füllen müssen, als jemals
die Druckerpressen der gesamten Erde verlassen haben. Aber
schließlich würde man immer dasselbe zu sagen haben, denn
ein russischer Gouverneur, ein russischer Polizeimeister gleicht
stets dem anderen. Jeder Gouverneur handelt so wie jener,
den Nemirowitsch-Danschenko einmal als Typus hingestellt
hat 1) : Ein Mann stahl einen mit Heu beladenen Wagen und
verschwand. Sein Bruder, ein Knabe, kam in die Gouverne-
mentsstadt, um den Vermißten zu suchen. Der Gouverneur
ließ den Knaben festnehmen und fragen: „Wo ist Dein Bru-
der?** — „Ich weiß es nicht, ich komme selbst herein, ihn zu
suchen.** — „Man peitsche und foltere ihnl** befiehlt der Gou-
verneur. Man peitscht ui^d foltert den Knaben drei Tage lang ;
am vierten Tage findet man den Jungen erhängt.
Wer, der sie einmal gelesen hat, wird die Tragödie von
Tichoretzkaja vergessen, die im März 1903 die russische wie
die europäische Presse beschäftigt hat? Ein junges Mädchen,
namens Solotowa, fuhr mit einem Zug der Wladikawkasbahn
zu Verwandten. In demselben Kupee saßen der Untersuchungs-
richter Pussepp und der Richter Alexandrow. Die schöne Tat-
jana Solotowa gefiel dem Untersuchungsrichter Pussepp außer-
ordentlich und er machte ihr einen unsittlichen Antrag, der
von dem Mädchen zurückgewiesen wurde. Nun verfiel Pussepp
auf eine bestialische Idee. Er entnahm dem Reisegepäck des
Richters Alexandrow den Säbel und verbarg ihn unter den
Habseligkeiten der Solotowa. Als der Zug in der Station Ticho-
retzkaja Halt machte, befahl Pussepp dem diensthabenden Gen-
darm, das Mädchen wegen Diebstahls zu verhaften. Vergebens
waren die Unschulds-Beteuerungen des Mädchens; sie wurde
nach dem Ortsgefängnis gebracht. Als Untersuchungsrichter
ließ Pussepp das beschuldigte Mädchen sich vorführen und
vergewaltigte es. Um jedoch die Schuld von sich abzuwälzen,
wurde die Solotowa den niederen Polizei-Organen, wilden Ko-
saken, einige Tage hindurch preisgegeben. Bald darauf fand
man die Solotowa im Gefangenenhause als Leiche. Die Polizei-
Organe verbreiteten das Gerücht, daß die Solotowa aus Krän-
^) In „KaMa h ypsurb", crp. 282. — Lanin, Russische Zustände. I 11.
— 78 —
kung über die Verhaftung sich mit Karbolsäure vergiftet hätte.
Doch die Arbeiter der Wladikawkasbahn erfuhren die schreck-
liche Wahrheit über die Tragödie von Tichoretzkaja. Gleich,
nach der Beerdigung der Unglücklichen überfielen sie das
Gerichtsgebäude, demolierten es und wollten des Unter-
suchimgsrichters Pussepp habhaft werden, um ihn zu erschla-
gen. Das herbeigeeilte Militär stellte die Ruhe wieder her und
nahm viele Verhaftungen vor. Pussepp flüchtete sich. Ein
Vertreter der „Petersburgskija Wjedomosti", Fürst Michael
Andronikow, begab sich nach Tichoretzkaja, um die Sache an
Ort und Stelle zu untersuchen. Er erfuhr schreckliche Einzel-
heiten. Er erfuhr nicht nur die Tatsache der Vergewaltigung
des unglücklichen Mädchens, sondern auch, daß die Karbol-
säure von den Polizei-Organen der Leiche der Solotowa in den
Mund gegossen worden war, um den Tod des Mädchens als
die Folge eines Selbstmordes hinzustellen, i)
Hat es in Rußland jemals eine Gerechtigkeit, eine ehr-
liche Handhabung von Gesetzen gegeben ? „Es giebt bey denen
Russen,** heißt es bei einem Reisenden des siebzehnten Jahr-
hunderts 2), „in denen richterlichen Verfahren soviel Ver-
wirnmg / daß es überaus schwer ist / davon gründlich zu
reden. Eine jede Provintz hat ihre Precause oder Hof -Gerichte /
worinnen ein Boyar oder Herr ist / der des Czaars Person re-
praesentiret / und ein Diack oder Cantzler / welcher viel Schrei-
ber oder Secretarien unter sich hat . . . Die schlechte Parole
eines Menschen / der einen Bart hat / gilt bey ihnen mehr als
eines andern Eyd / oder Schwur / der keinen hat . . . Man
erkaufft einen Todschlag durchs Geld: Wann einer ermordet
worden / und niemand um seinen Tod bekümmert ist / so
ziehet die Justitz deßhalber keine Erkundigung ein.** Nach
Aussage der Ausländer, die Rußland zu Ende des sechzehnten
Jahrhunderts besuchten, wie des Engländers Fletcher, gab es
in Rußland damals „außer der blinden Willkür des Zaren gar
keine bürgerlichen Gesetze. *'3) Auf dem Papier existierten wohl
*) Neue Freie Presse, 24. Februar 1903.
-) Reise nach Norden. 189.
^^) Karamsin IX 287.
— 79 —
bürgerliche Gesetze, aber die Richter urteilten nicht nach ihnen,
sondern nach Vorteil und Bezahlung der Parteien. „Der
Reiche,** sagt der russische Historiker Karamsin^), „wurde sel-
tener als der Arme für schuldig erkannt. Die Richter schämten
und fürchteten sich nicht, das Recht für Geld zu verdrehen."
Einst berichtete man dem Großfürsten Wassilij, daß ein Richter
zu Moskau sowohl von dem Kläger als dem Beklagten Geld
genommen hatte und denjenigen verurteilen ließ, der ihm
weniger gegeben. Der bestochene Richter, vom Großfürsten
zur Rede gestellt, leugnete gar nicht, erklärte sein Vorgehen
vielmehr als berechtigt: „Herr, ich traue dem Reichen immer
eher als dem Armen, da der Reiche des Betruges und fremden
Gutes weniger bedarf.** Wassilij lächelte, und der Richter kam
ohne harte Strafe davon. Aus der Zeit Iwans des Schreck-
lichen schreibt Barberini : „Was dem Zaren beliebt, das findet
das Gericht für recht. So geschiehts, daß Einer einer Kleinig-
keit wegen den Bären vorgeworfen, ein Anderer aber, der eine
schwere Schuld auf sich geladen hat, entschuldigt wird.^)
Peter der Große publizierte einen Ukas: „Jeder, der Un-
recht zu erleiden glaubt, kann sich direkt an den Zaren wenden,
um sein Recht zu erlangen.** Aber gleichzeitig bedrohte der
Ukas denjenigen mit Todesstrafe, dessen Klage sich als unbe-
gründet erweisen würde. Man schwieg lieber, und auch imter
Peter dem Reformator hatten die Ausländer, die das russische
Reich besuchten, nur die trostlose Überzeugung: „Es giebt
hier keine Richter, die nach dem Gesetz, sondern nur Richter,
die nach ihrem Willen urteilen. **3) Einer der volltönenden
historisch gewordenen Aussprüche Peters des Großen lautet :
„Der Richter thut besser, zehn Schuldige zu befreien, statt
einen Unschuldigen zum Tode zu verurteilen.'* Und doch ließ
Peter den Fürsten Gagarin, Gouverneur von Sibirien, in grau-
samster Weise hinrichten, trotzdem kein Beweis für die dem
Angeklagten zur Last gelegten Diebstähle und Dienstverbrechen
1) A. a. O. VII 163.
2) TnMo<I)eeBT>, IIcTopin TknecHtix-b HaKa3aHiit btj pyccKOMT» iipairfe, crp. 60.
®) Etat präsent de la Grande - Russie, par le Capitaine Jean Perry,
traduit de TAnglois. A la Haye 171 7. p. 136.
— 80 —
beigebracht werden konnte. Der Fürst leugnete jede Schuld,
gestand selbst unter dem Knut und in der Tortur nichts. Den-
noch wurde er zum Tode verurteilt. Am Tage vor der Exe-
kution kam der Zar zu ihm und sagte : „Gestehe Alles, und ich
schenke dir das Leben.** Aber Gagarin entgegnete : „Ich habe
nichts yerbrochen.** Am anderen Tage ließ Peter ihn auf-
hängen. Nicht aus Fanatismus im Kampfe für Wahrheit und
Gerechtigkeit, sondern weil er ein Opfer brauchte, um andere
abzuschrecken, und um zu zeigen, daß auch die höchsten
Würdenträger vom Arm des Zaren zerschmettert werden. Des-
halb wurde diese Hinrichtung auch zu einem pompösen Fest-
schauspiel, zu einer Huldigung für Peters Genie in dem bar-
barischen Geschmack dieses Herrschers: Fürst Gagarin wird
aufgehängt in Gegenwart aller seiner Verwandten und vor den
Fenstern des Senats. Nach der Exekution findet ein Festdiner
angesichts des Galgens imd des Gehenkten statt. Ein paar
Tage darauf bringt man die Leiche auf einen großen Platz,
wo auf Pfählen noch aus früheren Zeiten Köpfe hingerichteter
Würdenträger prangen. Dann erhält Gagarins Leiche einen
dritten Ausstellungsplatz am Ufer der Newa. Endhch transpor-
tiert man sie nach Sibirien, um sie auch dort auszustellen, wo
der Hingerichtete gewirkt hat.
Diese barbarische Methode sollte die Verwaltung kurieren,
die Justiz verbessern, die Korruption vernichten? Sie nützte
wahrlich nicht im geringsten. Peters Tochter, Kaiserin Elisa-
beth, mußte einige Jahrzehnte später in einem Befehl an den
Senat klagen ^j: „Die unersättliche Gewinnsucht hat bereits
eine solche Höhe erreicht, daß aus einigen zur Handhabung
der Gerechtigkeit verordneten Gerichtsstellen ordentliche Jahr-
märkte geworden, woselbst Wucher und Partheylichkeit das
Hauptaugenmerk der Richter sind, und wo die Bosheit durch
eine äußerst strafwürdige Nachsicht kräftigst unterstützt wird.**
Und Katharina II. spricht in einem gegen die Richter gerich-
teten Ukas^j von ,, gewaltsamer und listiger Gewinnsucht oder
deutlicher zu sagen: offenbarem Raub." — „La justice en
1) Büschings Magazin IX 277.
*) Büsching I 155.
— 81 —
Russie n'existe que de nom/* schreibt Fürst Dolgoroukow in
seinem berühmten Buche^) über Rußland unter Nikolaj I. Um
sich Gerechtigkeit zu verschaffen, fährt Dolgoroukow fort, muß
man, wenn man ein anständiger Mensch ist, zahlen; um zu
seinen Gunsten einen ungerechten Akt zu provozieren, muß
man zahlen ; immer und überall zahlen ; oder man muß mächtige
und tätige Protektoren haben, unter den Ministem, unter den
Mitgliedern der Kamarilla ; oder Personen kennen, die mit den
Ministern od^r der Kamarilla eng liiert sind. Die Richter und
Tribunalsekretäre nennen unter sich nur jenen unanständig,
der Geld erhält und den Bestecher betrügt; aber wer sich be-
stechen läßt und sein Wort hält, also nicht den Bestecher, son-
dern die Gerechtigkeit betrügt, der verdient keinen Tadel.
Und wenn die Richter gerecht und ehrlich sein wollten,
wie könnten sie es angesichts dieser barbarischen Verwirrung
in den Gesetzen? Seit Jaroslaw im elften Jahrhundert dem
russischen Volke das erste geschriebene Gesetzbuch gab, blie-
ben bis auf unsere Tage die russischen Gesetzessammlungen
ein wahres Chaos von Verordnungen voller Widersprüche.
Iwan III., Iwan IV. und Alexej Michajlowitsch nahmen in ihre
Gesetzessammlungen wahllos und willkürlich römische und
byzantinische Gesetze, tatarisches Gewohnheitsrecht und russi-
sche Überlieferungen auf. Die Kommissionen, die seit Peter
dem Großen zur Ausarbeitung eines geordneten Gesetzbuches
berufen wurden, haben die Konfusion stets nur vermehrt. Ni-
kolaj I. ließ alle Gesetze und Verordnungen von 1649 bis 1825
in 45 Quartbänden drucken und herausgeben. Nicht weniger
als 30920 Gesetze enthalten diese 5284 Druckbogen. 2) Ein
bloß chronologisches Verzeichnis, das dem Werke beigegeben
wurde, konnte seinen praktischen Wert natürlich nicht be-
deutend erhöhen.
Die meisten russischen Gesetze sind nichts anderes als Um-
schreibungen kaiserlicher Launen, die dem Augenblick dienten.
Man braucht beispielsweise nur die kuriosen Gesetze Pauls
1) La v6rit6 sur la Russie par le prince Pierre Dolgoroukow. Deuxidme
Edition. Leipzig 1861. (Biblioth. russe, nouv. s6rie, vol. IV et V) I 53.
*) Geheimnisse von Rußland. Regensburg 1844. II 57.
Stern, Geschichte der 0£fentl. Sittlichkeit in Rufiland. ** 6
— 82 —
durchzugehen. Was wird da alles für ewige Zeiten verboten
oder anbefohlen I Verboten wird : hellgrüne Kleider und Halb-
stiefel zu tragen. Verboten werden: Gilets und runde Hüte.
Ein feierlicher Ukas verordnet die Art des Haarputzes. Niko-
laj I. publiziert einen feierlichen Ukas über die Länge des
Schnurrbartes und ein anderes Gesetz über das Rauchen auf
den Straßen.
Merkwürdig sind die Verordnungen in bezug auf Privi-
legien einzelner Stände und Gesellschaftsklassen. Großfürst
Wassilij Iwanowitsch erklärt um 1500, daß auch Priester zu Knut
und Galgen verurteilt werden dürfen ; auf eine Beschwerde des
Metropoliten antwortet das Gericht: „Wir strafen nicht den
Priester, sondern den Verbrecher. "i) Erst am 9. Dezember
1796 verordnet Paul auf Vorschlag des Synods: Die Priester
sollen picht mehr geknutet noch sonst körperlich gestraft wer-
den ; denn eine an ihnen vor den Augen eben der Pfarrkinder,
die aus ihren Händen das Bundesmahl unseres Erlösers emp-
fangen, zu vollziehende Strafe möchte die Denkart des Volkes
leicht zur Verachtung des priesterlichen Standes verleiten.**
Für Freie gab es weder in den Gesetzen Jaroslaws noch in denen
Monomachs Leibesstrafen. Letztere wurden anfangs nur an
Sklaven vollzogen ; imd zwar unter einem Glockenturme, dessen
Glocke das Volk zum Schauspiel herbeirief.^) Die Prügelstrafen
wurden zuerst von den Gutsbesitzern gegen ihre Leibeigenen
angewendet; später erst führte die Regierung sie ein und be-
drohte alle Stände mit ihnen. Für adelige Kriegsleute milderte
man jegliche Strafe. Wo man einen Bauer oder Bürger henkte,
da setzte man einen Bojarensohn bloß ins Gefängnis oder gab
ihm die Batogi. Der Mörder seines eigenen Knechts kam mit
einer bloßen Geldbuße davon. Die Kriegsleute von Adel
hatten noch sonderbarere Vorrechte in bürgerlichen Rechts-
händeln. Sie konnten an ihrer Statt ihre Diener zum Schwüre
und, falls sie zahlungsunfähig waren, zur Strafe der körper-
lichen Züchtigung stellen. 3) Aber je näher der Zeit Peters des
1) Karamsin VII 163.
2) Konstantinopel und St. Petersburg, der Orient und der Norden, eine
Zeitschrift. 1806. II S. 324.
^) Karamsin IX 289.
— 88 --
Großen, je geringer werden die Privilegierten geachtet. In
den Folterkammern erscheinen unter den Händen der prügeln-
den Henker alle Klassen der Gesellschaft, die Nachkommen der
apanagierten Fürsten, die höchsten Würdenträger und Geist-
lichen, Frauen vornehmsten Geschlechts. Peter der Große läßt
im Jahre 17 14 Senatoren und 1724 mehrere Priester knuten,
die trotzdem ihrer Würden nicht verlustig gehen. Unter Elisa-
beth werden Frauen öffentlich geknutet. Peter III. befreit
den Adel gänzlich von den Körperstrafen, Katharina II. dehnt
das Privilegium aus auf alle Verbrecher unter 12 und über
66 Jahren. Paul I. aber vernichtet sämtliche Privilegien, und zu
Beginn des 19. Jahrhunderts peitscht man neuerdings öffent-
lich alle Welt, ohne Unterschied des Ranges, Alters oder Ge-
schlechts. 1801 hebt Alexander I. die Körperstrafen auf: für
Adlige. Bürgerliche und Geistliche, 1808: für Frauen von
Priestern, 181 1: für die einfachen Mönche. Nikolaj I. be-
fiehlt: „Adlige sind auch dann Körperstrafen nicht unter-
worfen, wenn sie verurteilt werden, als gemeine Soldaten zu
dienen; Adlige dürfen nicht ans Eisen gekettet werden, wozu
immer sie verurteilt sein mögen.** 1835 befreit Nikolaj die
Kinder der Priester von Körperstrafen. Erst 1841 erscheint ein
Ukas, der gleichzeitig mit den Hoflakaien und anderen nied-
rigen Beamten die Männer der Wissenschaft und ihre Frauen
von Körperstrafen ausnimmt I 1855 sollen kränkliche Ver-
brecher befreit werden, der Erlaß gelangt nicht zur Veröffent-
lichung. 1863 werden alle Körperstrafen abgeschafft, ausge-
nommen für Deportierte.
Bizarr sind auch die Gesetze, welche die FamUien Verhält-
nisse eines Verurteilten betreffen. Die Frau des Verurteilten
bleibt in Freiheit, und ihr Mann verliert alle Rechte auf sie, die
Frau ist geschieden und kann sich wiederverheiraten. Wenn
der Verurteilte aber beg^adig^ wird und seine Frau mittlerweile
noch nicht wieder geheiratet hat, so gewinnt er ohne weiteres
alle seine Rechte auf sie zurück. Die vor der Verurteilung
des Vaters geborenen Kinder behalten Titel und Rang, die
der Vater vor der Verurteilung hatte; die Kinder aber, die
nach der Verurteilung geboren werden, müssen die Konse-
quenzen der neuen Situation tragen. So kann es geschehen,
6»
— 84 —
daß ein Teil der Geschwister fürstlichen Standes ist, ein an-
derer Teil aber in Sibirien als Kolonisten lebt. Frau und
Kinder dürfen dem Gatten und Vat^r in die Verbannung
folgen; sie behalten ihre Eigentumsrechte, verlieren jedoch
ihre Freiheit, denn sie dürfen nach Rußland erst zurück-
kehren, wenn die Verbannungszeit des Familienhauptes ab-
gelaufen oder der Verbannte gestorben ist. Ergebenheit und
Treue werden also dem Verbrechen selbst gleichgestellt.^)
Katharina II. befahl die Aufhebung jedweder Körper-
strafe für schwangere Frauen. Alexander I. ging noch weiter
und verbot auch das Schlagen der Mutter, solange sie ein
Kind säugt. Alexander II. befreite durch seinen Ukas vom
April 1863 die Frauen vollständig von der Körperstrafe. Aber
unglückseligerweise gestattet das ' Emanzipationsgesetz von
1861, das im besonderen die Rechte der Bauern regelt, den
Wolostgerichten, Frauen unter fünfzig Jahren peitschen zu
lassen; und just dieses Emanzipationsstatut ist der einzige
Gesetzestext, der den Bauern-Richtern geläufig ist. 2) Auch
der gelehrte Jurist wüßte sich da schwerlich zurechtzu-
finden. Denn beide einander so widersprechenden Ver-
ordnungen sind in der Ausgabe der Reichsgesetze als rechts-
giltig verzeichnet.^) Die Richter in Rußland wählen bei sol-
cher Ungewißheit das kleinere von zwei Übeln : es wird
fortgepeitscht. Namentlich sind die Dorfrichter bereit, Frauen
zu peitschen, wenn deren Ehemänner sich an das Wolost-
gericht wenden, um ihre Lebensgefährtinnen für eheliche Ver-
gehen züchtigen zu lassen. Es gibt viele krasse Fälle. Im
Dukowtschinsker Bezirk wurde ein Weib, das eben Mutter
werden sollte, hart gepeitscht, weil es geäußert hatte, der
Vater des erwarteten Kindes sollte zur Erhaltung des letz-
teren veranlaßt werden. Der gesamte Mir mit dem Starosta
und die Polizei wohnten der Exekution bei.*)
Gesetzgebimg und gemeines Recht haben die Körper-
^) Golovine, La Russie sous Nicolas I^*". 379.
'^) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren. II 249.
3) Ausgabe der Reichsgesetze für 1876, II. Band, Artikel 2178; und
IX. Band, Anhang, Artikel 102 der Bauemverordnung.
^) Lanin, Russische Zustände. I 11.
— 8fi —
strafen abgeschafft, aber das Wolostgericht darf Stxafen bis zu
zwanzig Rutenhieben verhängen. Und diese Walostrichter sind
größtenteils Analphabeten, die ihre Urteile im Kabak bei einem
gemeinsamen Trunk mit den Schreibern imd Parteien erwägen.
32. Todesstrafen und Gliederstrafen.
Aufhebung der Todesstrafe und Wiederemführung — Russische Widersprüche
— Knut statt Todesstrafe — Das moderne Feldgericht — Die erste öffentliche
Hinrichtung in Moskau — Die Todesstrafen Iwans des Schrecklichen — Boriß
Godunows Strafen — Alexejs Gesetzbuch — Peters Lieblingsstrafmethode
— Todeswürdige Verbrecher — Mlitärische Justiz — Bürgerliche Justiz —
Todesstrafen unter Anna — Exekutionszeremoniell — Die Arten der Todesstrafe
— Köpfen — Verbrennen bei lebendigem Leibe — Ertränken — Lebendig
begraben für Gattenmord und Untreue — Zerfleischen — Hängen — Rädern —
Vierteilung — Fortbestehen der Todesstrafe — Hinrichtung von Küidern im
Jahre 1906 — Gliederstrafen — Polizeiliche Sicherheitsmaßregeln — Brand-
markung — Formen und Zeichen der Stempelung — Gliederverstümmelungen
— Blendung — Herausreißen der Zunge — Abhacken der Hände — Abhacken
der Finger — Abhacken der Füße — Eintreiben von Stift^i unter die Nägd —
Kombinierte Strafen — Abhacken von Ohr und Nase — Aufschlitzen der Nasen.
Der Kijewer Fürst Wladimir der Große, der dem rus-
sischen Volke das Christentum gegeben^ hat zum ersten Male
in Rußland die Todesstrafe aufgehoben.^) Einer seiner Nach-
folger, Wladimir Monomach, sprach zu seinen Söhnen : „Tötet
den Schuldigen nicht, das Leben des Christen ist heilig.**^)
Der Großfürst Isäslaw, in der Taufe Dmitrij benannt, berief
nach seiner Thronbesteigung im Jahre 1054 seine Brüder und
die weisesten Männer seiner Zeit zu einer Beratschlagung und
hob dann die Todesstrafe auf, indem er alle Verbrechen durch
Geldbußen zu sühnen befahl.-^) Genau sieben Jahrhunderte
später strich Kaiserin Elisabeth abermals und endgiltig die
Todesstrafe aus dem russischen Gesetzbuch. Allen diesen
Ukasen eines Jahrtausends zum Trotze besteht die Todesstrafe
^) La chronique de Nestor, Append. II 25.
^) Karamsin, Geschichte des russischen Reichs. V 297,
^) Karamsin II 70.
— se-
in Rußland fort. Von Wladimir dem Großen berichten die
alten Chroniken, daß er seinem eigenen Befehle entgegen zahl-
reiche Todesurteile vollziehen ließ.^) Vom Großfürsten Isäs-
law meint der russische Historiker Karamsin, man wisse nicht,
ob sein Befehl, die Todesstrafe durch Geldbußen zu ersetzen,
aus Menschenliebe oder aus Liebe für den großfürstlichen
Schatz erteilt wurde.^) Großfürst Isäslaw strafte sogar Mord
bloß durch Geldbußen.^) Aber derselbe Fürst erklärte: einen
auf frischer Tat ertappten nächtlichen Dieb zu töten steht
jedem frei ; wogegen es als Verbrechen galt, einen gefangenen
und gebundenen Dieb zu töten. Besonders hart wurden damals
Pferdediebe gestraft. Das Roß war geachtet als des Menschen
treuer Diener auf dem Acker, der Reise und im Kriege. Ein
Pferdedieb verlor alle bürgerlichen Rechte, sein Eigentum und
seine Freiheit.*)
Karamsin glaubt, die Todesstrafe sei eine den Russen
fremde Straf art; erst infolge des tartarischen Jochs, sagt er,
hat diese Strafe in die russische Justiz Eingang gefunden;
den alten Russen war Strenge unbekannt. Ein Beweis für
diese Behauptung läßt sich ebenso schwer führen als ein
Gegenbeweis. Tatsache ist, daß die Todesstrafe kaum in
einem anderen Reiche so häufig dekretiert worden ist. Unter
Elisabeth wurden im Jahre 1753, knapp vor dem Ukas über
die endgiltigc Aufhebung der Todesstrafe, noch schnell 3579
Todesurteile gefällt. Und dann trat an die Stelle der Todes-
strafe als Kapitalstrafe : Zwangsarbeit in den Bergwerken
Sibiriens und außerdem für Jene, die keine Edelleute sind,
der Knut.ö) Beim Gebrauch des letzteren lag es stets in der
Hand des Henkers, das Opfer durch einige wenige Hiebe zu
töten; und es wurden zuweilen dreihundert Schläge zuge-
urteilt. Dem Gesetze zufolge war die Todesstrafe in früheren
Zeiten oftmals nicht anwendbar, existiert sie namentlich seit
^) Coup d'oeil sur la 16gislation nisse suivi d'un 16ger aper9u sur Tadmini-
stration de ce pays. Paris 1839. p. 17.
^) Karamsin II 70.
^) Karamsin II 35.
^) Karamsin II 40.
5) Tolstoy a. a. O. jj.
— 87 —
1756 nicht mehr. Tatsächlich aber hat sie niemals zu bestehen
aufgehört, und wie sie den Ukasen zum Trotz das Volk der
Russen dezimiert, haben wir alle miterlebt als Zeitgenossen der
modernen Feldgerichte, die jeden Verhafteten binnen achtzehn
Stunden verurteilen, binnen vierundzwanzig Stunden jeden
Verurteilten zum Tode befördern. Vom Juli 1906 bis Mai
1907 sind von russischen Feldgerichten tausend Personen dem
Tode überliefert worden. Am 2. Mai 1907 wurde durch einen
Ukas die Institution der Feldgerichte abgeschafft, aber Todes-
urteile werden auch seither ununterbrochen gefällt imd voll-
zogen. Der Widerspruch wird dadurch erklärt, daß die Todes-
strafe nur für gemeine Verbrechen, nicht aber für politische
aufgehoben wurde. Das aber ist der echt russische Gegensatz
zur übrigen Welt der Kultur: Dort, wo die Todesstrafe noch
gesetzlich besteht, bedroht sie nur die gemeinen Mörder, aber
nicht die politischen Verbrecher; in Rußland jedoch sind nicht
Raub und Mord, sondern Vaterlandsliebe und Freiheitssehn-
sucht der Todesstrafe würdige Verbrechen geblieben.
Die erste öffentliche Hinrichtung in Moskau veranlaßte
Großfürst Dmitrij Joanowitsch im Jahre 1376. Als Verbrecher
hingerichtet wurden Söhne angesehener Familien, Iwan Welja-
minow imd Nekomat. Die Hinrichtung wurde auf dem Kutsch-
kowschen Felde vollzogen, auf dem man später das Sretens-
kische Kloster erbaute.^) Bald darauf, von Iwan III. ange-
fangen, begannen die Herrscher die Verhängimg der Todes-
strafe als ihr besonderes souveränes Vorrecht zu betrachten.
Iwan IV. beschränkte sich nicht auf simple Tötung, sondern
führte ganz neue Hinrichtungsarten in Rußland ein und
machte selbst den Henker. Wir kennen die folgenden von
ihm verhängten und vollzogenen Todesstrafen : Er stößt seinen
Opfern den Dolch ins Herz; mit seinem spitzigen Stab nagelt
er die Menschen an den Erdboden an; bei einer Hochzeit,
schlägt er Mönche tot, indem er auf ihren Köpfen mit einer
Keule den Takt des Gebetes einhält. Zu seinen Lieblings-
strafen gehören : die Ermordung von Betenden in der Kirche ;
das Zerfleischen der Opfer durch den Henker oder durch
^) Karamsin V 34.
— 88 —
Hunde: das Einnähen der Verurteilten in Bärenhäute, um sie
daim Hunden vorzuwerfen. Iwan verachtet zwar nicht das Er-
drosseln. Hängen, Enthaupten und Ertränken, aber ist stets
bemüht, in die einfachen Todesarten etwas Originelles hinein-
zubringen; so läßt er diejenigen, die zum Tode durch Er-
trunken verurteilt sind, an Fischerhaken ins Wasser senken.
Am liebsten verhängt er kombinierte Strafen, bei denen das
Opfer gleichsam mehrere Tode durchzumachen hat. Einer
winl auf einer Pfanne bei lebendigem Leibe geröstet, dann
mit einem Beile zerhackt; die zerhackten Glieder wirft man
ins Wasser. Einem anderen werden Stacheln unter die Nägel
getrieben» dann überliefert man ihn dem Hungertode. Ge-
fangene an den Ketten ermorden zu lassen bereitet dem Ty-
rannen Freude, wenn er zusieht, wie sie verzweifelt an den
Kessehi rütteln. Scheiterhaufen und Wasserfolter erscheinen
in (.heser Todesstrafenschau fast als harmlose Scherze. Der
Ziix sucht diese unschuldigen Strafen durch einige Details
interessanter zu gestalten. Man überschüttet den zum Scheiter-
h^iufeu X'erurteilten mit einer glühenden Masse, oder bald mit
M«.H.leml heiliem, bald mit eisig kaltem Wasser: eine Variante
«u letzterer Art : man legt den Verurteilten auf Eis und brennt
iluu den freibleibenden Körper mit glühenden Zangen. In
\eiueu letzten Lebensjahren erfrischt sich der müdgewordene
tU^UM her durch neue Erfindungen: er unterbricht sein Mit-
la^UMhl durch Mord, um sich Appetit zu machen; er mordet
\vu\e l ieblinge. Günstlinge, seine Verwandten, seinen Sohn.
K\U^ Strafe muß langsam vollzogen werden; bricht der Ge-
IvUv^Me ^\is^unmen, so ritzt der Zar selbst mit dem Dolche
vUe UmM des Sterbenden, um ihn zu neuen Leiden zu er-
uw^utei n
{ \\k\ tloeh hat Iwan das Repertoir der Todesstrafen für
KMiMsUul uirht erschöpft. Boriß Godunow schwört bei seiner
tU^\^^l>e^leigung, er werde keine Todesstrafe vollziehen lassen;
sOvi MMUotn Feinde Bjelskij läßt er durch den schottischen
V'Kuuruen rrabricl den langen dichten Bart Haar um Haar aus-
UH^fen. und die Anhängender Romanows, seiner Thron-Rivalen,
weulen t\x Tode gefoltert. Alexe j Michajlowitsch, der zweite
Kouvanowsche Zar, beschenkt das russische Gesetzbuch mit
Sibirische Strafe: Vergraben bei lebendigem Leibe.
— 89 —
den furchtbarsten Gliederstrafen und Körperverstümmelungen ;
und sein Sohn Peter der Große findet noch immer Raum
genug zur Einführung ganz neuer Strafen: des Rädems und
des Aufhängens an den Rippen vermittelst spitziger Eisen-
haken. Peters Lieblingsmethode ist folgende: Folterung, Ver-
stümmelung des einen Gliedes nach dem anderen, und erst,
wenn das Leben nicht mehr aufzuhaken ist, soll man dem Opfer
den Todesstreich geben; der Leiche muß dann der Kopf
abgeschlagen und dieser auf der Spitze einer Säule aufge-
steckt werden, während die übrigen Körperteile zu zerhacken
und symmetrisch wie ein Schmuck zu arrangieren sind.i)
Peters Gesetzen zufolge verdient man die Todesstrafe für:
Absichtliche Mißachtung wiederholter Befehle ; Nichterscheinen
zum Dienste; Desertion; Verbergen von Deserteuren; Bestech-
ung; falsches Zeugnis; falsches Urteil; Diebstahl mit Mord;
Totschlag; Brandstiftung; Hochverrat. Aber was wird von
Peter sonst noch mit dem Tode bestraft I Am 3. Juli 1703
werden die Stoljniki (Trüchseße) nach Moskau berufen, damit
sie Dienste bekommen; „wer den Befehl nicht befolgt, ist
mit dem Tode zu bestrafen; dies gilt sowohl für die nicht
erscheinenden Stoljniki als für die Wojewoden, die in solchem
Falle mitschuldig sind.** Am 25. Juni 1697 belegt ein Ukas
mit Todesstrafe den Privatverkauf des in Pacht genommenen
Tabaks, am 7. Februar 1704 ein anderer Ukas ebenfalls mit
Todesstrafe den Privatverkauf des in Pacht gegebenen Rha-
barbers. Wer Holz fällt in verbotenen Waldungen, der ist ein
Kind des Todes; wer ohne Paß nach China reist, ist dem
Tode geweiht. Der Tod droht dem Amtsschreiber, der eine
Angelegenheit nicht in der vom Gesetze vorgeschriebenen Frist
erledigt.!)
Zahllos sind die Ukase, die die Todesstrafe für militärische
Vergehen anordnen. Der Tod droht dem Soldaten im Kriege,
„wenn er beim Sturm wilde Schreie ausstößt," oder „wenn
er sich aufhält, um einem Verwundeten zu helfen, und sei
1) Comte de S6gur, Pierre le Grand. 325.
2) E. Sadler, Die geistige Hinterlassenschaft Peters des Großen als Grund-
lage für dessen Beurtheilung als Herrscher und Mensch. Leipzig und Heidelberg
1862. S. 13s — 142.
— 90 —
dies auch sein Vater.** Am 27. September 1700 bestimmt ein
Ukas für Deserteure Todesstrafe; am 19. Januar 1705 lautet
ein Befehl: von Deserteuren soll man nach dem Lose jeden
dritten Mann aufknüpfen, die übrigen zwei knuten und auf
die Galeeren schicken; am 24. August 1705 aber begnügt sich
Peter damit, von Deserteuren jeden zehnten aufhängen und
die übrigen unbarmherzig knuten zu lassen. Die Zahl der
Deserteure betrug beispielsweise im Jahre 171 5 zwanzig-
tausend; man mußte das Leben der Eingefangenen schonen,
wollte man nicht die ganze Armee dezinüeren. Auch die bür-
gerliche Justiz fordert in grausam vielen Fällen den Tod. Am
21. Mai 1720 wird für Bestechung und Wucher vorgeschrieben:
schwere Körperstrafe, Verlust des Vermögens, Entehrung und
selbst Todesstrafe. Noch 17 14 wurde ein russischer Priester
namens Foma, der die orthodoxe Religion beschimpft hatte,
in barbarischer Weise lebendig verbrannt.^) Aber in den zwei
letzten Jahren seines Lebens will Peter als ein etwas milder
denkender Monarch erscheinen und er befiehlt einige Ab-
schwächungen der Todesstrafen. Am 7. März 1721 ordnet ein
Ukas an : Reuige Mörder, die sich selbst dem Gerichte stellen,
sollen nicht getötet, sondern mit Spießrutenlaufen und zehn
Jahren Galeerenarbeit bestraft werden. Den Falschmünzern
wurde früher glühendes Erz in den Magen gegossen; am
5. Februar 1723 sagt ein Ukas, daß man, „falls die Verbrecher
bei dieser Strafe nicht alsbald sterben, ihre Leiden durch
Enthauptung abkürzen soll.** Wer falsches Stempelpapier her-
stellt, ist gleich einem Falschmünzer mit dem Tode zu be-
strafen, lautet ein Gesetz; Peter mildert es am 16. Juli 1723
ab: bloße Enthauptung, ohne Eingießen glühenden Erzes in
den Magen. Es gibt aber auch Verschärfungen statt Milde-
rungen. Ein altes Gesetz befahl, die Gattenmörderin bis an
den Hals lebendig eingraben und hinsterben zu lassen; 1689
wurde diese Strafe in einfache Enthauptung umgewandelt;
aber 1702 ließ Peter doch eine Gattenmörderin lebendig
begraben.
1) Memoires pour servir ä THistoire de rEmpire Russien sous le Regne
de Pierre le Grand par un Ministre etranger. A la Haye 1725. p. iii.
— 91 —
Die Zarin Anna Iwanowna unterschrieb während ihrer
zehnjährigen Herrschaft 7002 Todesurteile; dies macht fast
genau zwei Hinrichtungen per Tag. EHsabeth hatte bei ihrer
Thronbesteigung geschworen die Todesstrafe abzuschaffen und
einen darauf bezüglichen Ukas bereits am 30. September 1745
erlassen.!) Trotzdem wurden im Jahre 1753 noch 3579 Todes-
urteile gefällt. Erst als die Zarin durch Zufall Zeugen einer
Hinrichtung geworden und vor Schreck in Ohnmacht gefallen
war 2), erinnerte sie sich ihres Schwures. Um vor ähnlichen
Unannehmlichkeiten in Zukunft ganz sicher zu sein, befahl
sie die Aufhebung der Todesstrafe. Anfangs wurde diese zwar
noch ausgesprochen, aber jedes Urteil mußte der Zarin zur
Bestätigung vorgelegt werden; und sie verweigerte ihre Zu-
stimmung. Später wurden Todesurteile überhaupt nicht mehr
gefällt, ausgenommen in Fällen der Störung der öffentlichen
Ordnung und von Verbrechen gegen die Kirche.
Ein feierliches Zeremoniell bei dem Vollzug der Todes-
strafe hat es nicht gegeben. Aus dem Ende des sechzehnten
Jahrhunderts wird berichtet, daß damals die zum Tode Ver-
urteilten, wenn sie zum Richtplatz geführt wurden, in den
gebundenen Händen brennende Wachslichter tragen mußten.^)
Erst in späterer Zeit wurde bei Exekutionen, namentlich bei
öffentlicher Züchtigung mit Knut, Pletj oder Batogen, ein
großer Apparat von Feierlichkeiten gebraucht. Bei der Ver-
lu-teilung zur Todesstrafe überließen Gesetz und Herrscher,
die Art der Todesstrafe zu bestimmen, den Richtern und Exe-
kutor en. Diese konnten also nach ihrem Gutdünken für das-
selbe Verbrechen Hängen, Rädern, Ersäufen, Spießen oder
Vierteilung anordnen. Die Tradition führte jedoch zu einigen
bestimmten Gebräuchen:
Das Köpfen war die gewöhnliche Strafe für Hochverrat.
Der Zarewitsch Alexej . wurde von seinem Vater Peter dem
Großen als Hochverräter zur Enthauptung verurteilt. Die
^) Tolstoy, Legislation. 58.
^) Moeurs russes. L'hermite en Russie. Par £. Dupr6 de St. Maure. Paris
1829. I 304.
^) Karamain IX 388.
— 92 —
Strjeljzen als Hochverräter erlitten teils die Strafe der Enthaup-
tung, zumeist von des 2^ren eigener Hand^), teils die Strafe
des Galgens. Das Ausstellen der Köpfe Hingerichteter auf den
Spitzen von Säulen war namentlich in der Regierungszeit
Peters des Großen beliebt.^)
Das Verbrennen bei lebendigem Leibe war die Strafe
für Ketzer: Man baute einen kleinen Käfig aus Holz, setzte
den Verbrecher hinein, häufte um das Gitter herum Reisig
und Brennmaterial, zündete es an und ließ den Verurteilten
schmoren. 3) Die ersten Scheiterhaufen gab es in Rußland
unter Iwan III., dem Großvater Iwans IV. Die letzte gesetzliche
1) In Marokko vollzog der berüchtigte Sultan Muley Ismael ebenfalls mit
Vorliebe selbst die Köpf ung seiner zum Tode verurteilten Untertanen ; er soll
während seiner Herrschaft zehntausend Menschen geköpft haben. Dem Marok-
kaner dünkt es eine Auszeichnung, von der Hand des Herrschers, der ein direkter
Abkömmling Mohammeds ist, zu fallen. Sie erscheinen sich geheiligt gleich
jenen, die als erste im Reiche des Islams von Mohammeds Händen umgebracht
wurden. — In der Türkei war das Köpfen eine Schandstrafe, die man nur Skla-
ven erdulden ließ. In China ist das Köpfen eine der drei Hauptstrafen; Ent-
hauptung ist entehrend, während die Strangulierung als Ehrenstrafe gilt. In
Japan werden nur Verbrecher aus dem Volke geköpft. In Frankreich dagegen
wurden von 1678 — 1790 bloß Edelleute geköpft, so daß dort das Vorurteil
entstand, das Köpfen sei eine durchaus der Noblesse reservierte Strafe. Auch in
England war das Köpfen eine Strafe namentlich für hohe Persönlichkeiten; ge-
köpft wurden Johanna Gray und Anna von Bourbon, Gemahlinnen Hein-
richs VIII., Maria Stuart, Karl I., viele Edelleute, viele Prälaten, unter ihnen
William Land, Erzbischof von Canterbury. Im modernen Italien sahen Neapel,
Rom und Venedig ihre Staatsoberhäupter unter dem Henkerbeil fallen. In
Holland köpfte man gewöhnlich politische Verbrecher. In Juida in Afrika
wurden beim Tode des Königs dessen Lieblingsoffiziere dem Herrscher zu Ehren
am Rande seines Grabes geköpft. In Spanien enthauptete man die Leichen der
Hingerichteten, um ihre Köpfe auszustellen. In Persien und auf den Sandwich-
inseln kannte man neben der Strafe der Enthauptung das Zerschmettern des
Kopfes ; auch in Japan zerschmetterte man früher den Kopf dem Fremden, der
mit einer japanischen Frau überrascht wurde. In Siam, das sich durch besonders
grausame Strafen auszeichnete, verbrannte man dem Verurteilten den Kopf
langsam über glühenden Kohlen. (Dictionnaire de la p^nalit6, V 473.)
2) Der barbarische Gebrauch ist auch bei vielen Völkern in Amerika
bekannt gewesen. Die Türken liebten es, die Mauern ihrer Hauptstädte
mit den Köpfen der erschlagenen Feinde zu schmücken.
^) La chronique de Nestor, Append. II 182. — Voyages de Cor-
neille Le Bruyn par la Moscovie, 1732, III 133.
— 93 —
Verbrennung eines lebenden Menschen fand unter Peter dem
Großen statt, der im Jahre 17 14 den Gotteslästerer Foma
den Flammen überliefern ließ.^)
Die Strafe des Ertränkens wurde gewöhnlich nicht von
den Richtern, sondern nur von den Herrschern gegen Staats-
verbrecher und Thronanmaßer angeordnet. Michael Feodoro-
witsch, der erste Romanowsche TLar, ließ einen falschen Dmitrij
und dessen Mutter ertränken.^)
Fälle von Steinigung infolge gerichtlichen Beschlusses
sind in der russischen Geschichte nicht verzeichnet. Die Stei-
nigung ist die orientalisch^ Strafe für treulose Gattinnen und
Ehebrecher. In Rußland bestrafte man Gattenmord und ehe-
liche Untreue durch Vergraben bei lebendigem Leibe.^) Der
*) In Berlin sah man die letzte Verbrennung eines lebenden Menschen
infolge gerichtlichen Spruches im Jahre 1817I (Vgl. Heßlein, Berlins berühmte
und berüchtigte Häuser. 3. Auflage, II. Bd., S. 3.)
-) Auch in anderen Ländern wurde die gleiche Todesstrafe über Staatsver«
brecher und Hochverräter verhängt. In Frankreich ließ Karl VII. den Alexander
von Bourbon als Empörer ertränken; Louis von Bourbon fand dasselbe Ende,
weil er sein Pferd nicht anhielt, als König Karl VII. vorüberfuhr. Louis XI. ver-
urteilte zur Strafe des Ertränkens mit besonderer Vorliebe allerlei Verbrecher.
In Holland ertränkte man die Anabaptisten. Auch als Strafe für Hexen und
namentlich für ungetreue Frauen wurde das Ertränken vielfach angeordnet;
in Deutschland war nach der Carolina das Ertränken die Strafe für Kindes-
mörderinnen, für kriminellen Abortus, und schweren Diebstahl. Dict. de
la p6nalit^ IV 470.
•'*) Das Lebendigbegraben war eine bei den alten Völkern sehr gebräuch-
liche Strafe. Die Römer begruben bei lebendigem Leibe die unkeuschen Vesta-
hnnen. Die Peruaner bestraften, ähnlich wie die Römer, die Wächterinnen
des heiligen Feuers, die ihr Keuschheitsgelübde brachen. Wie bei den Russen
wurde bei den Koreanern diese Strafe namentUch für Gattenmörderinnen ver-
hängt ; die Verurteilte wurde auf einer belebten Straße bis zu den Schultern ein-
gegraben; neben die Grube legte man ein Beil, damit jeder Vorübergehende der
Verbrecherin einen Schlag versetze. In Nikaragua verurteilte man den Sklaven,
der ein Liebesverhältnis mit der Tochter seines Herrn angeknüpft hatte, zur
Strafe des Lebendigbegraben werden. Im ganzen Morgenlande ist diese Strafe
stark angewendet worden. In Persien zuerst vom achten Schach, Sefi IL, der die
Verurteilten in Gruben legen ließ, die mit Gips gefüllt waren. Einmal glaubte
Sefi, daß man ihn in seinem Harem vergiften wollte; er ließ vierzig Frauen, da-
runter seine Mutter, lebendig begraben. Chardin erzählt in seinen Reiseschilde-
rungen: Ein Arbeiter aus dem Gefolge Sefis schlief beim Aufschlagen der Zelte
— 94 —
Reisende Le Bruyn erzählt, daß er am 19. Januar 1702 Zeuge
einer solchen Exekution in Moskau war^): Eine Frau, die
ihren Mann umgebracht hatte, wurde bei lebendigem Leibe
bis zu den Schultern eingegraben. Um Haupt und Hals des
Opfers hatte man ein weißes Tuch gebunden. Einige Sol-
daten blieben bei der Grube als Wache, um zu verhindern,
daß die Verurteilte Nahrung erhielt. Doch durfte man ihr
Geld zuwerfen, das für Heiligenkerzen und für den Sarg ver-
wendet werden sollte. Für diese Geldspenden dankte die Ein-
gegrabene durch ein leichtes Kopfnicken. Es kam allerdings
auch vor, daß die Soldaten das Geld einsteckten und dafür
dem Opfer etwas Nahrung zukommen ließen. Manche leben-
dig Begrabene lebten lange fort in ihrer Grube. In der
Zeit der Strjeljzenrevolte hatte Peter der Große zwei Frauen
auf diese Weise bestraft. Nach Gmelins Reiseberichten wur-
den in Sibirien die Verbrecher zuweilen lebendig begraben;
Gmelin sah eine Frau, die bis zum Halse in einer Grube
stak und in diesem Zustande dreizehn Tage lang lebte.
Eine besonders von Iwan dem Schrecklichen mit Vor-
liebe verhängte Strafe war das Zerfleischen und das Zerreißen
des Opfers in unzählige Stücke. Schon Voltaire hat festge-
ein und wachte nicht einmal auf, als schon das Harem des Herrschers nahte.
Die Eunuchen rollten den Schlafenden, dessen Gegenwart das Harem ent-
weihte, in einen Teppich und begruben ihn mit diesem lebendig. Vom Schach
Abbas wurde eine Frau des Sserai, die dem Kamelführer gestattet hatte, an
ihrer Seite Platz zu nehmen, dazu verurteilt samt dem Kamelführer lebendig be-
graben zu werden. Eine persische SpeziaUtat war es, daß man dabei den Opfern
Einschnitte in den Körper machte, in die Einschnitte brennende Dochte steckte
und das Fett der Verurteilten schmorte. In Frankreich und Spanien gab es eben-
falls mehrere Fälle von Lebendigbegraben als Strafe. In Deutschland setzte die
Carolina diese Strafe für Kindesmörderinnen fest. Das Lebendigbegraben war
aber nicht bloß Strafe, sondern auch Sitte und Gebrauch. In einigen Gegenden
der Küste von Coromandel zwingen die Priester die Witwen ihren Männern ins
Grab zu folgen. Man begrub ferner in Neu Granada mit den Müttern die Säug-
linge. Dict. de la p6nalit6 III 485. Auch in Grönland herrschten ähnliche Ge-
bräuche. Erst jüngst hat der Konservator Schjetelig in Christiania nachgewiesen,
daß die Wikinger Frau dem Manne in den Tod folgte. Vgl. einen ausführlichen
Bericht in der Frankfurter Zeitung Nr. io8, Abendblatt vom 19. April 1907.
^) Le Bruyn, Voyagcs III 80 und 133.
— 95 —
stellt 1), daß diese Strafe den Chinesen entlehnt ist, die ver-
schiedene Kategorien von Verbrechern zur Zerhackung in
zehntausend Stücke zu verurteilen pflegten.^)
Die Strafe des Hängens soll im alten Rußland unbekannt
gewesen sein. Ein Reisender des XVII. Jahrhunderts, der
dies behauptet, gibt zugleich in possierlicher Weise die Gründe
an, weshalb die russischen Richter früher Niemanden auf-
hängen lassen wollten.^) „Es ist nun vor etlichen Jahren in
Russen der Gebrauch eingeführet worden / die Übelthäter auf-
zuhencken; Und die Russen haben sich lange Zeit Bedencken
gemacht / solchen anzunehmen / in der Meynung / daß die
Seele eines Menschen / der erwürget würde / genöthiget sey
unten auszufahren / welches ihn pogano^) machte. Derjenige /
den man henckt / legt ihm Selbsten den Strick um den Halß /
und wirfft sich herab / wenn mans ihm sagt / daß ers thun
solle.** Ein historisches Ereignis war die Aufhängung des
vierten der sechs Pseudo-Dmitrij, der i6io auftauchte
und in Pleskow einen Zarenhof hielt; nach der Thron-
besteigung des Zaren Michael wurde er gefangen genommen
und gehenkt.^)
Eine barbarische russische Strafe wird von allen älteren
Reisenden erwähnt : „Die Strafe / welche man denen falschen
*) Voltaires vorzüglichste Schriften (französisch und deutsch). Histoire de
l'Empire de Russie sous Pierre le Grand. Wien 1810. I 181.
2) Nach Dict. de la p6nalit^ IV 459 und V 37 wurde diese grausame Strafe
m China namentlich für Diebe und für Gattenmörderinnen angeordnet. Man
streckte die Verurteilten auf ein Brett und der Henker riß mit einer glühenden
Zange eine bestimmte Anzahl von Fleischstücken heraus, die er dann mit
seinem Messer zerhackte. Der Henker mußte geschickt vorgehen, um das Opfer
solange als möglich am Leben zu erhalten, damit es die Strenge der Strafe ent-
sprechend fühlte. Auch die alten Perser kannten eine ähnliche Strafe für Kindes-
mörderinnen. In Frankreich hat man ehemals Majestätsverbrechern ebenfalls
Stücke Fleisch aus dem Leibe gerissen.
^) Reise nach Norden. S. 194.
^) noraHLift, heidnisch, unrein.
^) Eine seltsame Todesstrafe kannten die Kalmücken: Der Verbrecher
wurde zwischen zwei Kamelen gehängt. Ländlich sittlich. (Vgl. Breton, Ruß-
land oder Sitten, Gebräuche und Trachten der sämtlichen Provinzen des Kaiser-
tums. Miniaturgemälde der Länder- und Völkerkunde. Pesth 18 16. IV 53.)
— 96 —
Müntzern anthut /bestehet darinnen /daß man dergleichen Ma-
terie / die sie zu ihrer Müntze gebrauchet haben / schmeltzen /
und ihnen solche verschlucken lasset. **i) Schon nach den altjen
russischen Gesetzen wurde Falschmünzern glühendes Erz in
den Magen gegossen und später galt dieselbe Strafe für die
Herstellung falscher Stempelpapiere. 2)
Die Strafe des Rädems war in Rußland vor Peter dem
Großen unbekannt, aber dann im achtzehnten Jahrhimdert
stark in Gebrauch, bis sie gleich allen anderen Todesstrafen
von Elisabeth abgeschafft wurde.^) Katharina II. befahl trotz-
dem für den falschen Peter III., den Kosaken Jemeljan Pu-
gatschew, als komplizierte Todesstrafe das Gliederzerbrechen
bei lebendgiem Leibe. Dem Offizier Mirowitsch, der als Auf-
rührer, Reichsverräter imd Kirchenschänder ebenfalls Vier-
teilung oder Rad erdulden sollte, gewährte die Zarin gnaden-
weise simple Enthauptung.*)
Trotz ihrer vor mehr als hundertfünfzig Jahren erfolgten
Abschaffung besteht die Todesstrafe in Rußland noch fort
bis auf den heutigen Tag. Wie Katharina II. ließ auch Paul
sogenannte Staatsverbrecher öffentlich hinrichten. Alexan-
^) Reise nach Norden. S. 193.
'^) Diese Strafe, die auch in Frankreich für den Mörder Heinrichs IV., Ra-
vaillac, nnd für Damiens, den Attentäter gegen Louis XV., angeordnet wurde,
ist zweifellos orientalischen Ursprungs und hauptsächlich im Orient zur Geltung
gelangt. Bei den Hebräern schüttete man den Verbrechern verschiedener
Kategorien geschmolzenes Blei in den Mund. Sefi von Persien, der das Tabak-
rauchen verboten hatte, ließ zwei Indiern, die das Gesetz mißachteten, ge-
schmolzenes Blei in den Mund schütten. In der Türkei traf die gleiche Strafe
jene Moslems, die das Weinverbot verletzten.
^) Die häufige Anwendung dieser Strafe in europäischen Staaten darf ich
als bekannt voraussetzen. Hier will ich nur bemerken, daß Peters des Großen
Gegner Karl XII. dem Russen an Grausamkeit nicht nachstand ; Patkul wurde
auf Befehl des Schwedenkönigs ,,bei lebendigem Leibe von unten auf gerädert"
(Sugenheim, Rußlands Beziehungen zu Deutschland, I 102.) Ein Bauernab-
gesandter, der zu Karl XII. kam, wurde auf des Letzteren Befehl und vor seinen
Augen getötet. (Vgl. Voltaire a. a. O. III 69 und 79). — In Berlin fand die letzte
Hinrichtung durch das Rad erst 1837 statt. (Vgl. Heßlein, Berlins berühmte
und berüchtigte Häuser. 3. Auflage, II 3.)
*) Barthold, Der Ausgang des loanschen Zweiges der Romanow. Hist.
Taschenbuch VIII 155.
— 97 —
der I. perhorreszierte die Todesstrafe, aber i8i2 ließ er sie
doch in den Kriegskodex als Kapitalstrafe für Vaterlands-
verräter aufnehmen. Seither hat sich die Todesstrafe als Au3-
nahmsstrafe in die Gesetze noch oft eingeschlichen: für An-,
griffe auf das Leben des Herrschers und die Sicherheit des
Staates und für sogenannte politische Verbrechen; letztere
hatte allerdings auch Elisabeth als des Todes würdige betrachtet
und von ihrem gnädigen Ukas nicht profitieren lassen wollen.^)
Wie dehnbar der Begriff der politischen Verbrechen, die mit
dem Tode gestraft werden müssen, in Rußland ist, haben- wir
in unserer Zeit häufig erfahren. Hat man doch selbst zwölf-
und dreizehnjährige Knaben und Mädchen als politische Ver-
brecher im glorreichen Jahre des russischen Völkerfrühlings,
im Jahre 1906, hinrichten dürfen 2)!
Wenn es sich vielleicht auch bestreiten läßt, daß das rus-
sische Strafsystem früherer Zeiten in bezug auf die Todes^
strafen grausamer war als die Systeme, die in denselben
Epochen in europäischen, geschweige denn in halbzivilisierten
Staaten Geltung hatten, so unterliegt es keinem Zweifel, daß.
für die barbarischen Gliederstrafen und Prügelstrafen Ruß-
lands in der Geschichte aller Rechtssysteme und Völker kein
Vergleich gefunden werden könnte.
Das Strafgesetzbuch Nikolajs I.^) sagt: „Unter der Be-
nennung Leibesstrafen sind zu verstehen: Die Brandmarkung,^
die Peitschenstrafe, das Spießrutenlaufen, Stockschläge, die
Rutenstrafe, das Anlegen von Fesseln.** Aber früher und seit-
her haben die Körperstrafen noch bedeutendere Ausdehnung
gehabt. Die Gliederstrafen, HneHOBpeAHTenBHHfl HaK^taama,
dienten gleicherweise als Mittel der Abschreckung wie als
polizeiliche Sicherheitsmaßregeln, als Brandmarkung des Ver-
^) Ivan Golovine, La Russie sous Nicolas I ''. Paris et Leipzig 1845. p» 37a,
^) Man erinnert sich des Schreibens, das der Franzose Alexandre Estrup^
1906 in der russischen Zeitung ,,Slowo" (,,Cjiobo") publizierte, und das dann
durch die europäische Presse seinen sensationellen Weg machte. Estrupe war in
Riga an den Fenstern seiner Wohnung Augenzeuge, wie ein 13 jähriger Knabe
und ein 13 jähriges Mädchen von Dragonern zur Exekution geschleppt wurden.
Die beiden Kinder waren eines politischen Mordes angeklagt gewesen.
^) Russisches Strafgesetzbuch, promulgieahrert im J 1845. S. 42I,
Stern, Geschichte der Ofifentl. Sittlichkeit in Rußland. ** 7
— 98 ^
brechers. Handelte es sich in erster Linie um die Ab-
schreckung, so verstümmelte man die wichtigsten menschlichen
Organe und fügte dem Verurteilten soviel Schmerz als möglich
zu; nur gab man acht, ihm nicht das Leben zu nehmen; der
Tod, den main angeblich g^adenhalber vermeiden wollte, würde
als Erlösung von namenlosen Leiden den Abschreckungszweck
vereitelt haben. Bei der Brandmarkimg zu polizeilichen Zwecken
wollte man den Verbrecher nur äußerlich als ein gefährliches
Individuum kennzeichnen ; oder man sollte auf diese Weise die
Rückfälligen unter eingefangenen Flüchtlingen sofort heraus-
zufinden vermögen. Ja, nach der Art der Verstümmelung
wußte die Polizei schon auf den ersten Blick, für welches Ver-
brechen die Gebrandmarkten früher bestraft worden waren.
Diese Brandmarkung, diese simple polizeiliche Maßregel war
in ihren moralischen Wirkungen allerdings nicht minder ver-
derblich als die schwerste Strafe. Sie bedeutete den bürger-
lichen Tod, den Verlust aller Rechte, die Aufhebung aller
Familienbande, die Unmöglichkeit, im Leben jemals wieder in
menschenwürdige Verhältnisse zu gelangen ; vor dem Gebrand-
markten blieben alle Türen verschlossen, niemand gab ihm
Stellung und Brot; für seine eigene Frau, für seine eigenen
Kinder war er tot. Und dabei galt die Brandmarkung, lüieö-
Menie, gesetzmäßig nicht als eine Strafe im eigentlichen Sinne
des Wortes ; sie war ja bloß verunstaltend, aber nicht beschädi-
gend; keine physisch schmerzhaft fühlbare Abschreckungs-
maßnahme, sondern eine polizeiliche Vorsichtsmaßregel.^)
Die erste Erwähnung einer Brandmarkung in Rußland
findet man in den, Mitteilimgen über die Dwinskische Empörung
des Jahres 1397; hier wird anbefohlen, jeden Dieb zu „stem-
peln**. Bis zum 17. Jahrhundert kannte man, soweit bis jetzt
von russischen Forschern festgestellt werden konnte, die Brand-
markung als gesetzliche Maßregel nicht. In der Praxis wurde
sie aber als eine Beigabe zur öffentlichen Züchtigung, nament-
lich bei Dieben und Räubern, angewendet; bald brandmarkte
man auch andere Kategorien von Verbrechern. 1637 brand-
1) A. r. TiiMo«|MM'iri.. lI(T<»j)iii rMecMUX'i. iiaKa^aiiift in. pyccKosn. npaiif..
C'.-llCrep^ypn., 1897. (Vp. 143—149. (Übet Gliederstrafen und Brandmarkung.)
— ge-
markte man Falschmünzer. Nach dem Zeugnisse Kotoschi-
chins brandmarkte man die Teilnehmer des Aufruhrs von 1662,
„damit sie für alle Ewigkeit gekennzeichnet seien.** Seit 1691
wurden alle Verbrecher gebrandmarkt, wenn sie eine Strafe
zu erdulden hatten, die ihnen gnadenhalber statt der Todes-
strafe zudiktiert worden war. An dem Stempel konnte man
erkennen, wie oft ein Dieb wegen Diebstahls bereits früher
verurteilt worden war; ertappte man einen Dieb zum dritten
Male, so verurteilte man ihn zum Tode. Ein Ukas aus dem
Jahre 1691 ordnet die Brandmarkung an, „damit man den aus
der Verbannung geflüchteten und in Moskau wieder erscheinen-
den Verbrecher erkenne.** Die Brandmarkungszeichen mußten
vor dem Verschwinden behütet werden; daher befiehlt ein
Ukas von 1705, die Wunden, die der Stempel verursacht, mit
Pulver einzureiben, „damit der Verbrecher die Zeichen nicht
ausmerzen körme und die Brandmarkung bis zum Tode des
Gezeichneten sichtbar bleibe.** Und ein Ukas von 1746 besagt:
„An der Brandmarkung soll man den Verbrecher allezeit von
den guten Leuten unterscheiden können ; einem entlaufenen
Verbrecher wird man dann sofort die Gefahr ansehen, die von
ihm droht.** Seit dem achtzehnten Jahrhundert fügte man die
Brandmarkung in Verbindung mit dem Aufschlitzen der Nasen-
löcher allen Verbrechern zu, die nach Sibirien verbannt wurden.
Peters Ukase von 1703 und 1704 befehlen Brandmarkung und
Aufschlitzung der Nase für alle Diebe und Räuber, die keine
Todesstrafe erleiden müssen; 1720 wird für Waldfrevler die
Todesstrafe abgeändert in ewige Verbannung und Brandmar-
kung. Elisabeth verfügt bei der Aufhebung der Todesstrafe,
daß alle Strafen, die fortan statt der Todesstrafe als Kapital-
strafen gelten, imfehlbar die Brandmarkimg im Gefolge haben.
Diese Ordnung bleibt lange bestehen und wird noch im Justiz-
reformprojekt des Jahres 18 13 festgehalten. Erst die Gesetz-
bücher von 1833, 1842 und 1845 schränken die Brandmarkung
ein auf „Verbrecher männlichen Geschlechts, die zur Zwangs-
arbeit verurteilt werden und von Körperstrafen nicht be-
freit sind.**
Die Zeichen der Brandmarkung wechselten oft im Laufe von
zwei Jahrhunderten. Die erste bekannte Form ist der in einem
7*
— 100 —
Ukas von 1637 erwähnte Aufdruck : Bop'b (Wor) Dieb ; hier ist
das Wort ganz ausgeschrieben. Die Teilnehmer des Aufruhrs
von 1662 werden mit dem Buchstaben B gezeichnet; das ist
der erste Buchstabe des Wortes oviiTOBmnKb (Buntowschtschik),
Empörer. 1691 befiehlt man, einen eisernen Buchstaben zu
gießen : B (das russische W) den ersten Buchstaben von Bop'b.
1698 ergeht der Befehl, die nach Sibirien Verbannten mit sibi-
rischen städtischen Stempeln zu brandmarken. Peter der
Große reformiert auch auf diesem Gebiete. Er stiftet für die
Zwecke der Brandmarkung eine Abbildung des Adlers imd
läßt damit die nicht zum Tode verurteilten Strjeljzen stempeln.
Auch der Name der Stempelung wird gewechselt. Bis zum
achtzehnten Jahrhundert kennt man für den Stempel den Aus-
druck iiflTHO (pjätno) ; Peter der Große schafft das Wort saopne-
iiie (saorlcnije), Aufadlerung. 1702 befiehlt der Zar, den Po-
pen Nikita wegen Verleitung eines Beichtkindes zu falschem
Zeugnis: „unbarmherzig mit dem Knut zu schlagen und mit
geadlerter Backe nach Asow zu verschicken.** Aber der Adler
erhält sich nicht lange, und schon 1704 ist die Rede von neuen
Brandmarkungsstempeln. 1705 werden zweierlei Kategorien
von Gebrandmarkten unterschieden: Schwere Verbrecher, die
zu ewiger Katorga (Kaxopra, Zwangsarbeit) verurteilt sind; und
Verbrecher, die wegen geringerer Übeltaten nur auf begrenzte
Zeit verbannt sind. Die Art der Brandmarkung der ersten
Kategorie wird nicht präzisiert : für die letztere wird wieder der
Buchstabe B (Bop'i., Dieb) vorgeschrieben. 1746 erscheinen
neue Stempel mit dem ganzen Worte Bo])t>, das aber in einzel-
nen Buchstaben aufgestempelt wird, also B. O.P.'L. Von 1753
bis 1845 druckt man nur die ersten drei Buchstaben auf. 1762
wird der Assignaten-Fälscher Sscrgej Puschkin mit dem Buch-
staben B auf der Stirn gebrandmarkt. 1780 wird der Mörder
Grigorjew auf der Stirn mit Y, dem ersten Buchstaben des
Wortes ynifirvi (rbyza, Mörder) gestempelt. 1782 befiehlt ein
Urteil, dem Registrator Schazkij nach vollzogener Glieder-
strafe unter dem Galgen die rechte Hand mit dem Buchstaben
JI, als dem ersten Buchstaben des Wortes .TvKt^u'i., Lügner, zu
stempeln. 1794 brandmarkt man in Petersburg die Offiziere
Feinberg und Baron Gumprecht wegen Assignatenfälschung
— 101 —
unter dem Galgen öffentlich!; man druckt ihnen auf beide Hände
die Buchstaben B. n c. ^. a. auf, die Anfangsbuchstaben der
Worte: BopTb h co^HHHTejiB ^ajiBmzBBixTb accnrnai^iÄ, Dieb
und Verfertiger falscher Assig^naten, Nikolaj I. verordnet aber-
mals neue Zeichen: K. A. T., die ersten drei Buchstaben von
KaTopacHHÖ, für die zu Zwangsarbeit Verurteilten; B, den
ersten Buchstaben von öpo^Hra (brodjäga, Landstreicher),
für eingefangene Flüchtlinge ; femer C. K., die beiden ersten
Buchstaben der Worte cchjibho- KaTopacHHÖ, zur Zwangs-
arbeit Verbannter, und C. 11., die beiden ersten Buchstaben der
Worte ccBuiBHO-nocejieHei^'b, zur Ansiedlung Verbannter.
Wir haben schon gesehen, daß die Brandmarkung gewöhn-
lich öffentlich unter dem Galgen vollzogen wurde. Sie war
also nicht bloß eine polizeiliche Maßregel, sondern gleichzeitig
eine schimpfliche Zugabe zur Gliederstrafe, Prügelstrafe und
Verbannung. Der najia^t (Palatsch), der Henker drückte
schweren Verbrechern den Stempel auf das Antlitz auf, zu-
meist auf die Stirn. Die in Sibirien von den Behörden vorge-
nommenen Brandmarkungszeichen wurden auf dem Rücken
des Verbrechers angebracht. Ein Ukas von 1637 befiehlt die
eisernen Buchstaben für den Gebrauch durch Feuer zu erhitzen.
Ein Ukas von 1691 schrieb vor: Wenn ein Verbrecher zum
ersten Male gebrandmarkt wird, so drücke der Henker den
Stempel auf die linke Backe ; beim zweiten Male auf die rechte
Backe. Von 1753 ab, da drei Buchstaben aufgedrückt werden
mußten, stempelte der Henker das B (W) auf die Stirn, das 0
auf die rechte, das P (R) auf die linke Wange. Genau so ging
der Henker später mit den drei neuen Zeichen K. A. T. um, die
Nikolaj I. anbefohlen hatte : K kam auf die Stirn, A auf die
rechte und T auf die linke Wange. Nikolaj I. befahl 1846
die Brandmarkung nur noch bei schweren Verbrechern öffent-
lich vorzunehmen. Landstreicher und Flüchtlinge wurden
fortan auf dem Polizeibureau in aller Stille ohne besondere
Zeremonie auf der Schulter oder auf dem Rücken gestempelt.
Die Zeichen wurden sofort nach dem Aufdruck mit einem
Pulver eingerieben, zubereitet nach Vorschrift des medizinischen
Departements; letzteres verfaßte auch für die Henker prak-
tische Ratschläge bezüglich der Anwendung der Brand-
— 102 —
markurg; in dieser ärztlichen Verordnung wurde empfohlen, die
für Landstreicher von dem Polizeiamt als Erkennungszeichen
angeordneten Stempel auf der Hand, wennmöglich auf dem
fleischigen Teile, anzubringen. Die Brandmarkung wurde erst
im Jahre 1863 von Alexander II. abgeschafft, geschieht aber
trotzdem noch gegenwärtig auf Anordnung der Gouverneure
und Polizeimeister.
Gleich der Brahdmarkung waren auch die Gliederstrafen^)
teilweise zu polizeilichen Zwecken bestimmt; man sollte den
Verbrecher an der Verstümmelung und die Art seines Ver-
brechens an der Art seiner Verstümmelung erkennen. Die
Gliederverstümmelung wurde deshalb gewöhnlich nicht als
selbständige Strafe angeordnet, sie war eine Zugabe zu anderen
Strafen. Gleichzeitig mit dem polizeilichen Zwecke wurde auch
erreicht, daß die Verstümmelung zur Abschreckung diente.
Die Blendung, ocji-fenjiBiiie , die härteste aller Ver-
stümmelungsstrafen, ist in Rußland von Richtern zweifellos
äußerst selten angeordnet worden. In dem Gesetzbuche des
Zaren Alexej (yjlOHceHie 1649 r.) wird das Ausstechen der
Augen neben dem Abhacken der Hände, der Füße, der Nase,
der Ohren und der Lippen wohl erwähnt, aber man hat vor-
läufig noch kein Dokument aufgefunden, welches bezeugen
könnte, daß die Blendung als Strafe für bürgerliche Verbrechen
von bürgerlichen Richtern jemals vorgeschrieben worden ist.
Dagegen ist aus dem siebzehnten Jahrhundert bekannt, daß
Schujskij den Staatsverbrechern Bolotnikow und Genossen vor
dem Vollzug der Todesstrafe die Augen ausreißen ließ. Auch
der englische Arzt Collins, Leibarzt des Zaren Alexej, erzählt:
es sei allgemeiner Gebrauch gewesen, den Aufruhrern die
Augen auszureißen, bevor man sie verbannte. In noch früheren
Jahrhunderten sind in Rußland Fälle von Blendung zwar oft
vorgekommen. Doch erfolgten sie fast immer aus politischen
Gründen. Sie waren Sicherheitsmaßregeln oder Racheakte des
Herrschers gegen seinen Rivalen, des Siegers gegen den Be-
siegten, wie dies schon im Kapitel, das die Grausamkeit der
Herrschenden in Rußland behandelt, erwähnt wurde. Hier
1) TiDio<J>t'eBT, a. a. O. S. 131 ff.
-^ 103 —
noch einige Beispiele: Als Fürst Mstislaw Isjäslawitsch 1068
aus der Verbannung nach Kijew zurückkehrte, ließ er viele
seiner Gegner blenden; 1098 wurde Fürst Wassilko geblendet;
1177 rissen die Wladimirzen dem in ihre Gefangenschaft ge-
ratenen Fürsten von Rjäsan die Augen aus. Die Bojaren des
Großfürsten Wßewolod verlangten im zwölften Jahrhundert
die Blendung der gefangenen Ssusdalzen und Rostowzen. 1446
ließ Wassilij der Finstere, den seine Feinde des Augenlichts
beraubt hatten, zwei ihm feindliche Fürsten, die in seine Hände
gefallen waren, blenden.^)
^) In bezug auf diese Barbarei steht Rußland hinter anderen Landern
zurück. Man sehe nachfolgende Vergleiche (Diction. de la p6nalit6, Yeux): Die
Hebräer blendeten selten, wurden aber häufig von ihren Feinden geblendet, wie
Simson von den Philistern. Das Blenden war in Byzanz zu einer förmlichen Sitte
geworden. Als Instrument bediente man sich eines glühenden Spießes; später
gebrauchte man siedenden Essig. Im Königreich Aschem wurde das Blenden als
eine milde Strafe betrachtet. Auf den Sandwichinseln hatte der beleidigte Ehe-
mann das Recht, dem Ehebrecher die Augen auszureißen. Stark verbreitet war
das Blenden in den orientalischen Ländern, in Kaukasien. Indien und nament-
lich im modernen Persien. Beim Regierungswechsel wurden früher in Persien
alle möglichen Thronrivalen des neuen Herrschers : Brüder, Onkel, Neffen, kurz
alle männlichen Verwandten, geblendet. Man schleppte die Verurteilten vor das
Tor des Sserai, ließ sie hier von Eunuchen festhalten und durch speziell zu diesem
Zwecke angestellte Offiziere blenden. Der grausame Schach Sefi ließ derartige
Blendungen in barbarischer Art in seiner Gegenwart vollziehen ; als er bemerkte,
daß einer seiner Pagenlieblinge entsetzt zusammenfuhr, sagte er: „Da dein Auge
so zart ist, brauchst du es nicht". Und ließ dem Pagen auf der Stelle die Augen
ausstechen. Dieser Schach Sefi befahl eines Tages in seinem Zorn, auch seinen
Sohn und Erben Abbas des Augenlichts zu berauben. Auf tlem Sterbebette
bedauerte er aber, diesen Befehl gegeben zu haben. Da erklärte ein Eunuch,
er könne den Prinzen sehend machen, und vollführte auf der Stelle das Wunder :
Dieser Eunuch, der früher den schrecklichen Auftrag erhalten gehabt, den Prin,-
zen zu blenden, hatte Mitleid empfunden und das Furchtbare nicht vollführt.;
aber um den Schach zu täuschen, spielte Abbas bis zur Sterbestunde des Vaters
den Blinden. Nadir Schach ließ 1729 den Usurpator Airaf blenden; aber nach-
dem er selbst als Usurpator sich des Thrones bemächtigt hatte, befahl er, um
sich vor gleichem Schicksal sicher zu stellen, die Blendung aller, die ihm den
Thron streitig machen konnten. In Venedig waren die Blendungen der Dogen
durch ihre Rivalen an der Tagesordnung. In Deutschland ließ Heinrich VI.
dem Tankred die Augen ausstechen; Friedrich II. bereitete dasselbe Los seinem
Kanzler Peter Desvignes, der ihm 30 Jahre gedient hatte. In England ließ man
für Jagdvergehen als Strafe die Blendung verhängen. In Frankreich befahl im
~ 104 —
Wie die Blendung wurde auch das Herausreißen der
Zunge, Btip-fesaHie ft3biKa, weniger für bürgerliche, als für poli-
tische und kirchliche Verbrechen angeordnet. Hierfür findet
man in den Dokumenten der Vergangenheit zahlreiche Be-
lege. Schon in früheren Jahrhunderten wurde „für un-
anständige Worte" (HeB-feÄnHBHÄ cjiOBa) gegen den Herrscher
diese Strafe angedroht. Iwan III. wollte dem Tatischtschew,
der eine freie R6de selbst dem Großfürsten gegenüber zu führen
liebte, die Zunge herausreißen lassen. 1545 wurde dem Afa-
nassij Buturlin „wegen ungeschliffener Rede'* (HenpHCTOÄHBiÄ
cjiOBa) die Zimge herausgerissen. Ähnliche Fälle kamen im
17. Jahrhundert vor. Das achtzehnte Jahrhundert beginnt,
im jähre 1 700, mit dem ersten Falle, daß einer Frau öffentlich
vom Henker die Zunge herausgerissen wird; diese Frau hatte
die Nachricht verbreitet, daß in einer Kirche eine Generalsfrau
vom Zaren erschlagen worden wäre — Peter der Große bestraft
■die Verleumdung durch die Ordre, die Verleumderin für immer
der Sprache zu berauben. In den nächsten Jahrzehnten, wäh-
rend des Fraueilregiments, wiederholt sich das Schauspiel oft
genug; die Zarinnen strafen ihr Geschlecht für Schwatzhaftig-
keit mit Vorliebe auf solche Weise, und 1743 läßt Elisabeth
der schönsten Frau am Hofe, Natalia Lopuchin, die Zunge
herausreißen, die über die Kaiserin zu spotten gewagt hatte.
Als Strafe für Ketzer wird das Herausreißen der Zunge 1505
erwähnt : Einem Anhänger der sogenannten jüdischen Häresie,
dem Nekraß Rukanow, wird vor seiner Verbrennung noch die
Zunge herausgerissen. Im siebzehnten Jahrhundert wird den
sechsten Jahrhundert Chilperic: „Wenn sich Jemand meinen Verordnungeft
widersetzt, so soll man ihm die Augen ausstechen;" im achten Jahrhundert
ließen die französischen Abb6s ihren Mönchen zur Strafe für kleine Vergehen di5
Hände, Füße und Ohren abhacken und die Augen ausstechen; im elften Jahr-
hundert blendeten die Grafen Coucy und Namur, die miteinander Krieg führten,
weil des letzteren Frau zum ersteren sich geflüchtet hatte, ihre beiderseitigen
Gefangenen. Das Merkwürdigste wäre aus Spanien zu berichten. Hier
'mächten die Räte Kastiliens in der Afrancesados - Affäre dem König Ferdi-
nand VII. den Vorschlag, statt einer Amnestie den Befehl zu geben, daß einem
uralten Gesetze gemäß die Verräter geblendet werden sollten. Dies rieten
spanische Minister am 22. November 1824]
^ 105 -^
Ra^koljniki wegen Verspottung der heiligen Kirche die Zunge
herausgerissen. Im Gesetzbuch des Zaren Alexej (yjioxemB
1649 p,) wird bemerkt, daß nach einer alten Veirordnung für
falsches Zeugnis die Zunge herausgerissen werden sollte; der
milde Zar Alexej aber befahl bloß „strenge Strafe**, Knut. Die
Prozedur des Herausreißens der Zunge beschreibt Timofejew^)
also: Der Verurteilte sitzt auf einem Schemel und der Henker
reißt mit einer Zange die Zunge ganz heraus oder zwickt, was
gewöhnlich der Fall war, bloß die Hälfte ab, so daß der Be-
strafte doch noch immer reden kann. Wir wissen, daß der
BestuBchew im Jahre 1743 dank ihrem Geschenk an den
Henker nur die Spitze ihrer Zunge abgezwickt wurde, während
die unglückliche Lopuchin ihre halbe Zunge verlor. In der
Zeit Peters des Großen wurde statt des Herausreißens der
Ztmge häufig das Verbrennen der Zunge durch ein glühendes
Eisen anbefohlen; diese Art Strafe erfolgte bei Verbrechen
der Gotteslästerung und der Korruption (Lichoimstwo).^)
Die erste Erwähnung der Strafe des Abhackens der
Hände, oTciHenie pyKH, findet man in Annalen des Jahres
1462, aus der Zeit des Fürsten Wassilij Jaroslawitsch ; der
') THMo<|>eeBT> a. a. O. 133.
') Im afrikanischen Königreich Benin durchbohrte man die Zunge nicht
cor Strafe, sondern zur Prüfung: Der Angeklagte wurde vor den Priester ge-
führt, der ihm eine spitze Hahnenfeder durch die Zunge stieß ; drang die Feder
leicht durch, so war dies ein Beweis für die Unschuld des Verdächtigten; blieb
die Feder stecken, so galt dies als böses Zeichen. Im alten Ägypten durchbohrte
man jenen, die dem Feinde Staatsgeheimnisse verrieten, die Zunge. Im christ-
liclven Konstantinopel ließ Konstantin, Sohn des Heraklius und der Eudona,
als er den Thron zurückerobert hatte, seinen Stiefbruder, den Usurpator,
ins Exil senden, seiner Stiefmutter Martina aber die Zunge ausschneiden,
„damit sie nicht das Volk aufwiegele". In Europa war die Zungenstrafe nament-
lich in den katholischen Landern üblich. Louis IX. ließ Gotteslästerern die
Zunge durchbohren; Louis XII. befahl, denjemgen, die achtmal Gott gelästert,
die Zunge ganz herauszureißen. Franfois I. erfand für die Protestanten eine
ntene Strafe: er ließ ihnen, bevor er sie auf den Scheiterhaufen schickte, die
Zunge dnrchbohren und mit einem Nagel an der Wange. befestigen. Doch wurde
in Frankreich auch die Zunge einfach abgeschnitten oder, wie im Rußland Peters
des Großen, mit dem heißen Eisen gestrichen. In England bestand bis zur Zeit
der Königin Elisabeth das Abschneiden der Zunge für Meineidige. (Vgl. Dict«
de la p6naL IV 302.)
— 106 —
Annalist bemerkt dabei: „Der Großfürst befahl eine flicht
bekannte Straf art**, nämlich eine bis dahin nicht bekannte,
wenigstens nicht angewendete. Diese Strafart soUte aber bald
in Rußland große Bedeutung erlangen. 1533 wurde sie in
Moskau für Geldverderber, Fälscher und Münzenbeschneider,
angeordnet. Im sechzehnten Jahrhundert straft man Räuber
und Diebe durch Abhacken einer Hand. Einen breiten Raum
nimmt diese Strafe im Gesetzbuch des Zaren Alexej ein; sie
wird angedroht: für Krawalle am Herrscherhofe; für das
Herausziehen des Schwertes in Gegenwart des Herrschers;
für Versuche, das Leben des Herrschers zu bedrohen; für
Betrug; dritten Diebstahl; für lügenhafte Denunziation; für
Pferdediebstahl im Dienste ; und noch zahlreiche andere Fälle,
Spätere Ukase dehnen die Strafe aus : auf Leute, die unbefugte
Schankwirtschaft treiben ; auf Teilnehmer an Gelddiebstählen ;
endlich auf Teilnehmer an Empörungen. Peters des Großen
Kriegsreglement befiehlt, jenen die Hände abzuhacken, welche
„dem Herrn oder seinem auf der Wache befindlichen Haus-
soldaten Wunden beibringen, sei es mit einem Stock oder
einer Waffe,** Peters Kriegsreglement entlehnte den west-
lichen Gebräuchen eine in Rußland bisher unbekannte Strafe :
„Demjenigen, der mit den Waffen in der Hand bei einer
Schlägerei ergriffen wird, soll man die Hand für eine Stunde
am Galgen annageln.** Die Zarin Elisabeth befahl statt der
Todesstrafe oft die Strafe des Abhackens der Hand. Diese
Strafe kommt noch in den Urteilen aus dem ersten Drittel
des neunzehnten Jahrhimderts vor; sie wurde zuletzt aller-
dings nur dem Buchstaben der alten Gesetze entsprechend
angeordnet, aber nicht mehr ausgeführt. i)
1) Die Strafe des Abhackens der Hände war in allen Ländern der Welt be-
kannt. Die chinesische Kaiserin Wu-Hen ließ 683 den von ihr verstoßenen
Frauen die Hände abhacken, bevor man sie des Lebens beraubte. In Indien
hieb man den Verbrechern, die man zum Hungertode verurteilt hatte, vor ihrer
Aussetzung die Hände ab. In Persien riskierte man beim geringsten Vergehen
den Verlust der Hände. Schach Sefi ließ im 17. Jahrhundert Offizieren, die bei
Gesang und Mahl den Dienst vernachlässigt hatten, sowie dem Dichter, def den
•Pflichtvergessenen seine Lieder vorgesungen, Nase, Ohren, Zunge, Füße und Hände
abschneiden. Noch im 19. Jahrhundert hieb man in Persien allen zum Tode
— 107 —
Als eine Milderung der Strafe des Abhackens der -Hand
war die Strafe des Abhackens der Finger, oTci^eHie najü-
i^eFB, angesehen. Sie wird zum ersten Male in Ukasen d^s
Jahres 1653 für ersten Diebstahl und ersten Raub, statt
der Todesstrafe, vorgeschrieben : „Den Verbrechern dieser Art
soll man vor ihrer Verbannung nach Sibirien die Finger
der linken Hand abhauen.** i66i befiehlt der Zar: „Den
Teilnehmern an Münzfälschungen zwei Finger abhauen.**
Dasselbe 1682 wieder für ersten Diebstahl und ersten Raub.
Peters Kriegsreglement setzt diese Strafe für Meineid fest.
Die Praxis wendet sie aber auch auf andere Fälle an.
So wurden, nach dem Berichte Kotoschichins, die Teilnehmer
an der Empörung von 1662 und 1687 auf solche Weise be-
straft. Betrügerischen Kanzleischreibern wurden ebenfalls zwei
Verurteilten vor dem Vollzug der Todesstrafe die Hände ab. In der Türkei hieb
man den Majestätsbeleidigem die rechte Hand herunter. In Ägypten beraubte
man Fal^hmünzer der Hände. Im alten Arabien verlor der Dieb, der in flagranti
ertappt worden war, die rechte Hand. In Marokko wurde der Sohn Muley
Ismaels als Revolutionär von seinem eigenen Vater zum Verlust der rechten
Hand und des rechten Fußes verurteilt; die abgehackten Glieder warf man
in einen mit kochendem Teer gefüllten Kessel. In Marokko strafte man noch in
der neuesten Zeit StraÖenräuber durch Abhauen von Hand und FuÖ. In Algier
hieb man dem in flagranti ertappten Dieb die rechte Hand herunter; das ab-
gehackte Stück hing man dem Verbrecher um den Hals, und den so Geschmück-
ten setzte man rücklings auf einen Esel und führte ihn durch den Ort. Auch in
europäischen Staaten machte man von der barbarischen Strafe häuügen Ge-
brauch. In Frankreich ließen die ersten Könige den Leibeigenen für die lieich-
testen Vergehen Ohren, Nase. Füße oder Hände abhacken. Fredegonde sandte
einen Boten zu Brunhilde, um sie zu ermorden. Der Attentäter wurde erwischt,
durchgepeitscht und heimgesandt; die erzürnte Fredegonde ließ dem Unge-
schickten einen Fuß und eine Hand abschneiden. Ein anderes Mal sandte
Fredegonde zwei Männer ab, um Childebert zu töten. Auch diese zwei wurden
ergriffen, man begnügte sich aber nicht damit, sie zu peitschen, sondern schnitt
ihnen die Ohren, Nasen und Hände ab. Charlemagne befahl, den Meineidigen
die rechte Hand abzuhacken. Bis 1824 wurden in Frankreich den zum Tode
verurteilten Eltemmördern vor dem Vollzug der Todesstrafe die rechte Hand
oder einzelne Finger der rechten Hand abgeschnitten. In Korsika (vor der Ver-
einigung der Insel mit Frankreich) wurde den Münzenbeschneidern beim ersten
Male die eine Hand, beim zweiten Male die andere Hand abgehackt ; ein drittes
Verbrechen derselben Art hatte die Todesstrafe im Gefolge. In Aragonien wurde
Finger der rechten Hand abgehackt; Nach Bolotows, Er-
zählungen aus der Zeit des siebenjährigen Krieges kann rnsax
annehmen, daß die Russen diese Strafe auch an hinterlistigen
Feinden vollzogen; elf preußischen Bauern, die aus einem
Hinterhalt auf russische Soldaten geschossen hatten, wurden
die Finger abgehackt. Im allgemeinen schnitt man die Finger
der linken Hand ab, um dem Bestraften nicht die Arbeits«
möglichkeit zu rauben. Olearius erzählt, daß einmal ein Ver-
brecher aus dem Bauernstände verurtdlt worden war, drei
Finger der rechten Hand zu verlieren; aber auf Intervention
des Patriarchen, der vorstellte, daß ein Bauer bei. seiner Be-
schäftigung die rechte Hand nicht entbehren könnte, bewilligte
das Gericht dem Verurteilten die Umwandlung der Strafe:
es. wurden ihm nicht die Finger der rechten, sondern die der
einem betrügerisdien Bankier die Hand abgehackt, imd das abgehackte Stfick
nagelte maa an die Tür aei^es Kontors. Papst Siztus V. lieB dem Pasquino
die Hände abschneiden und die Zunge durchbc^en, um ihn am Schreiben wie
am Reden zu verhindern. Die Carolina setzte für Falscheid die Amputatioa
der Han4 oder der Finger fest. Die sächsischen Gesetze befahlen für Kirchea-
schänduqg uad Gotteslästerung das Abhacken der Hände. In England war maa
bei dea verschiedensten Vergehen in Gefahr die Hand zu verlieren; dies drphi^
einem bei dem kleinsten Diebstahl, im 1 2. Jahrhundert bei den geringsten Jagd*
vergehen; Heinrich VIII. lieB denjenigen, die im Palast- oder im Gerichtshof
den Degen zu ziehen wagten, die rechte Hand abhacken; Königin Elisabeth ver-
ordnete für den Export von Leinen oder Schafen außer Güterkcmfiskation imd
einjährigem. Gefängnis Abhacken der linken Hand und deren Ausstellung auf
dem Marktplatz. Noch im 18. Jahrhundert war solche Strafe in England üblichw
Außer dem Abhacken der Hände kannte man in verschiedenen Ländern auch;
das Annageln der Hände (in England nagelte man dem Verurteilten die rechte
Hand an einen Tisch und legte auf diesen ein Messer; der Mann mußte sich mit
Hülfe der linken Hand selbst die rechte abhacken oder Hungers sterben; bei dem
Autodafe in Valladplid im Jahre 1636 wurden den Verurteilten die. Hände aa
ein Kreuz genagelt, und in dieser Situation mußten sie die Verlesung des Urteils
anhören ; Muley Ismael von Marokko nagelte zwei Hehler mit den Händen an
das Stadttor an und ließ die Angenagelten Hungers sterben); das Verbrennen
der Hände (besonders in Frankreich und Holland für Königsmörder), das aller-
dings vielfach, so bei exotischen Völkern, nicht als Strafe, sondern als Schuld-
oder Unschuldsprobe vollzogen wurde. Überall, wo man die Strafe des Ab-
hackens der Hände kannte, existierte auch die Strafe des Abhackens der Füße.
(Dict de la p^aUt6 IV 59 und V 69.)
— 109 —
linken Haiid abgehackt. Stets wurden aber die Finger der
rechten Hand abgehauen, wenn wegen Meineid die Verur-
teilung zu dieser Strafe erfolgte; die Idee der Ahndung
dieises Verbrechens erforderte die Bestrafung des Verbrechers
an jenen Fingern, die er zum falschen Schwur erhoben hatte.
Peter der Große befahl jedoch am 23. Februar 1720: für
Meineid soll man fortan nicht mehr die Finger, sondern die
Nase abschneiden.
An diese Stelle gehört wohl die Bemerkung, daß man
in Rußland, was schon von Paulus Jovius und Herberstein ea:-
zählt wurde, auch das Eintreiben von hölzernen Stiften unter
die Nägel ins Fleisch kannte. „Eine fürchterliche Gewöhn:
heit,** nannte Karamsin dies (VII 163), und er meint: „sie
war den Russen von dem Joche der Tartaren zugleich mit
der Knute, und allen übrigen qualvollen Strafen zurück-
geblieben.** Karamsin war von einem Vorurteil befangen. Die
meisten grausamen Strafen hatten die Russen schon vor dem
TartarenJQche gekannt und geübt. Das Eintreiben von Stiften
luiter die Nägel wurde übrigens niemals als Strafe für sich
verhängt^ sondern war gewöhnlich ein Mittel der Tortur.
Schon früher ist bei der Aufzählung der Fälle von Ab-
hackung der Hände mehrmals auch das Abhacken der Füße,
OTciHeme hofb, erwähnt worden. Statt der Todesstrafe
wurde dem Verbrecher oft der Verlust einer Hand und
eines Fußes zudiktiert; imd diese Gnade hieß in den
Ukasen „Strafe mit Erbarmen** (leasHB c^b nomaAOK)). Daß
sich diese erbarmungsvolle Strafe gewöhnlich zu einer sol-
chen gestaltete, welcher der Tod vorzuziehen gewesen wäre,
geht aus einem Berichte des Wojewoden von Solikamsk aus
dem siebzehnten Jahrhundert hervor: „Am Räuber Rodjka
wurde die ihm zudiktierte „Strafe mit Erbarmen** vollzogen:
man hieb ihm die linke Hand bis zum Arm, den rechten Fuß
bis zum Knöchel ab; und nach dem Vollzug der Strafe starb
dieser Rodjka schnell.** Seit dem 17. Jahrhundert verurteilte
man oft zu einer kombinierten Strafe, nämlich zum Verlust
einer Hand und eines Fußes, oder einer Hand und beider
Füße; diese kombinierte Strafe drohte Falschmünzern, Räu-
— 110 —
bern, Bieben, Kirchendieben und auch Mördern, die man nicht
zum Tode verurteilen wollte. In der Epoche vor Peter dem
Großen wurden einem deutschen Ingenieur in russischen
Diensten, der die Absicht geäußert hatte, nach seiner Heimat
^zurückzukehren, zur Strafe für solchen Wunsch Arme und
Beine zerbrochen und die linke Hand abgehauen.
Eine seltener kombinierte Strafe war das Abhacken von
Ohren und Nase auf einmal. Peters Kriegsreglement droht
solche Strafe, und dies als bloße Zugabe der Verbannung
2ur Zwangsarbeit, für einen Diebstahl im Felde oder auf dem
Marsche an, wenn der Wert des Gestohlenen zwanzig Rubel
übersteigt I Im allgemeinen war das Abhacken von Nase
=und Ohren keine Strafe, sondern eine polizeiliche Maßregel,
eine Brandmarkung wie die Stempelung, aber sicherer und
unverwischbarer als diese. Die polizeiliche Bedeutung des
Abreißens der Ohren, OTpiaame ymefi, ist zu erkennen
aus dem Gesetzbuch Alexejs (yjioaceme 1649 r., XXI. 19;
Struwens Landrecht S. 209), wo es heißt: „so sich etwa
mit abgeschnittenen Ohren sehen lassen würden, und keine
Schrift diesfalls vorzuzeigen hätten, soll man sie festnehmen
und zu dem Wojewoden bringen und im Gefängnis festhaken
bis zur Aufklärung." 1683 befiehlt ein Ukas die Umwandlung
der Strafe des Abhackens der Finger in die Strafe des Ab-
reißens der Ohren ; dies geschah offenbar, um dem Bestraf-
ten die Arbeitsmöglichkeit zu erhalten. Ein Ohr oder beide
Ohren werden den Dieben und Räubern abgerissen. 1657
befiehlt ein Urteil, die Ohren einem Manne abzureißen, der
einen Todschlag in der Trunkenheit und im Handgemenge
begangen hat. Peters Kriegsreglement behält das Abreißen
der Ohren als Erkennungsmaßnahme bei. Außer Dieben
wurden fortan auch Falschmünzern und Räubern die Ohren
abgerissen, und dies kommt, wenn auch immer seltener, noch
bis zu Ende des 18. Jahrhunderts vor. So schreibt Graf Panin
am I. Oktober 1774, als er während des Pugatschewschen
Aufruhrs ein im Aufstand befindliches Dorf des Grafen Schu-
walow besetzen muß, an den Letztgenannten: „Graf Schu-
walow möge nicht zürnen, daß ich dem Popen den Kopf
abgeschnitten und einigen anderen die Ohren gestutzt
— 111 —
habe." Das ist eins der letzten Dokumente dieser Maß-
regel.i)
Das Verstümmeln der Nase, OTciHeme Hoca, dauerte
länger an. Man begegnet dieser Grausamkeit in Rußland
schon in frühen Jahrhunderten. Alexander Newskij ließ im
dreizehnten Jahrhundert den Genossen seines aufrührerischen
Sohnes die Nasen abschneiden. Die Praxis, Staatsverbrecher
^- r 1) Das Abschneiden von Ohren und Nase war bei den meisten Völkern
als Strafe für verschiedene Vergehen in Gebrauch, so bei den alten Chinesen.
Von Aktisanes, dem Eroberer von Ägypten und König von Äthiopien« wird be-
richtet, daß er allen Dieben die Nase abschneiden und die Verstümmelten in
eine eigens für sie erbaute Stadt verbannen ließ. Im Königreich Aschem schnitt
man für die leichtesten Vergehen Ohren, Nase und Oberlippe ab; man mußte
dem Henker Trinkgeld geben, damit er die Prozedur schnell vollführte. In der
Türkei wurden die Händler für falsches Gewicht mit den Ohren an die Tür ihrer
Bude genagelt. In Persien strafte man besonders die kleinen Diebe durch Ab-
schneiden der Ohren und der Nase. Schach Sefi, der seinen Großwesir mit eigener
Hand getötet hatte, ließ einen Dichter, der fälschlich angeklagt war, diese
Grausamkeit des Herrschers öffentlich in Versen geschildert zu haben, auf den
Marktplatz führen und vor allen Volke der Zunge, der Hände, der Füße, schließ-
lich der Nase und der Ohren berauben. Im Frankreich alter Zeit wurde den Leib-
eigenen für das leichteste Vergehen die Nase abgeschnitten; der Gebrauch er-
hielt sich dann in den französischen Kolonien noch bis 1820! Louis IX. ließ
einem Bürger von Paris, der falsch geschworen hatte, die Nase abschneiden und
sie kochen. 1525 wurde einem Manne, der heilige Statuen in Paris umgestürzt
hatte, die Nase abgerissen und das abgeschnittene Stück verbrannt. Die fran-
zösischen Äbte straften auf ähnliche Weise ihre Mönche. Den merkwürdigsten
Anlaß für diese Art Strafe nahm Chilperic I. : er ließ zwei Schulmeistern, die sich
der vom König vorgeschlagenen Orthographie nicht anbequemen wollten, die
Ohren abschneiden. Auch Päpste bedienten sich solcher Straf mittel: Johann XII.
ließ allen, die zu seiner Absetzung beitragen wollten, die Nase abschneiden. Für
politische Verbrechen >yar dies auch schon in Mazedonien, in Rom und Byzanz
in Gebrauch gewesen, wogegen einige wilde Völker auf diese Weise weibliche
Untreue ahndeten. In England wurde für Insubordination dem Widerspenstigen
die Nase abgeschnitten. Friedrich Wilhelm, Vater Friedrichs des Großen, be-
strafte Deserteure durch Abschneiden von Nase und Ohren. Die Carolina be-
fahl, den Kupplerinnen, welche verheiratete Frauen zu schlechtem Lebens-
wandel verleiteten, die Ohren abzureißen. Saint-Edme erzählt in seinem Dic-
tionnaire de la p6nalit6 (IV 467) von einem unzivilisierten Volke, das zum Feste
des Götzen abgeschnittene Nasen bringt, um sie im Tempel an einer Schnur
aufzuhängen. In Spanien verbrannte man 1781 eine Frau wegen ihrer Ver-
bindung mit dem Teufel. Damit die Schöne auf dem Gang zum Scheiterhaufen
nicht ^ie Leute bezauberte, schnitt man ihr die Nase ab.
— 112 —
auf diese Weise zu kennzeichnen, erhielt sich bis zum 17.
Jahrhundert. Nach den Mitteilungen Herbersteins schnitt man
im 16. Jahrhundert auch den Dieben ein Stück der Nase
ab; das Gesetzbuch Alexejs droht das Abschneiden der Nase
denjenigen an, die zum dritten Male beim Tabakyerkauf er-
tappt werden. Die größte Bedeutung erlangte das Verstüm-
meln der Nase in der Zeit Peters des Großen. Dieser Herr-
scher befahl 1705: „Gefangene aller Grade, Leute, die für
Staatsverbrechen, Diebstähle, Ränke, Todschlag und Unruhe-
stiftung verhaftet, aber nicht zur Todesstrafe verurteilt worden
sind, sind vor ihrer Verbannung zu ewiger Zwangsarbeit mit
dem Stempel zu brandmarken und durch das Ausschneiden
der Nasenlöcher (Bup'bdaHie H03;^peö) kenntlich zu machen,
damit ihnen die Flucht aus der Verbannung erschwert
werde. Letzteres war der Hauptzweck; also eine polizeiliche
Maßregel wie die Stempelung, nur schmerzhaft und arg ver-
unstaltend. Peters Ukas von 1724 befiehlt: „Die Nasenlöcher
bis auf die Knochen ausschneiden." Von 1757 ab wird diese Ver-
unstaltung nur noch Männern zugefügt, Frauen sollen ihr nicht
mehr unterzogen werden, weil „nicht zu befürchten, daß Frauen
aus so entfernten Gegenden entfliehen." Noch das Reform-
projekt vom Jahre 1813 behielt diese Maßregel bei,, als das
beste Mittel, den Verbannten an den Ort seiner Verbannung
zu fesseln. Die Verwaltung unterschied zwischen gefährlichen
und weniger gefährlichen Verbrechern unter den Verbannten;
nur die gefährlichen sollten so furchtbar gezeichnet werden.
Die russische Auffassung von besonderer Gefährlichkeit ist
allerdings überaus dehnbar: 1727 werden dem Soldaten Zi-
gassow, der eines Totschlags beschuldigt wird, die Nasenlöcher
aufgeschlitzt. 1737 verurteilt man den Offizier Wosnizyn für
Mordtat zum Knut und zur Brandmarkung durch Aufschlitzen
der Nase. 1753 wird der Raßkoljnik Jakowlew wegen Kirchen-
lästerung mit aufgeschlitzter Nase nach dem Ssolowezkischen
Kloster verbannt. 1759 wird dem Bauer Stepanow, der ein
minderjähriges Mädchen geschändet hat, die Nase aufgeschlitzt.
1762 erläßt die philanthropische Kaiserin Katharina II. fol-
genden Befehl: „Dem Kasaken Terechow soll man wegen
lügenhafter Anklage und unnütze Bemühung Ihrer Majestät
— 113 —
die Nasenlöcher aufschlitzen." Der berühmte Detektiv Wanjka
Kain, von dem im vorigen Kapitel erzählt wurde, erhielt beim
Beginn seiner Karriere, die er bekanntlich als Dieb anfing,
statt der Todesstrafe den Knut und als Zugabe: die Nasen-
löcher aufgeschlitzt. 1771 wurden den Hauptanstiftern der
Bauemunruhen die Nasenlöcher geschlitzt. Das gleiche ge-
schah 1773 den Teilnehmern des Pugatschewschen Aufstandes.
1794 verurteilte man zwei Assignatenfälscher zur Nasenzer-
reißung. 1796 ließ Paul zwei Betrügern die Nase auf-
schlitzen. Seit Aufhebung der Todesstrafe wurde allen, die
statt der Todesstrafe Verbannung und Zwangsarbeit zugeur-
teilt erhielten, die Nase aufgeschnitten. Der Henker vollzog
die Aufschlitzung mit einer besonderen Schere, mit der er
das Fleisch bis zu den Knochen ausriß. Nach Beschreibung
von Augenzeugen solcher Exekutionen ähnelte die Schere einer
Haarschneideschere; der Henker stieß die eine Hälfte der
Schere in das Nasenloch, drückte die andere von außen an
und arbeitete gemächlich, bis er sein Werk vollführt hatte.
Doch konnte man ihn bestechen, um eine Abkürzung der
qualvollen Prozedur zu erlangen.
33. Prügelstrafen undZüchtigungsinstrumente
statt Todesstrafe Knut — Geschichte der körperlichen Züchtigungen in Ruß-
land — Angeblich tartarischer, tatsächlich originalrussischer Ursprung — Die
Untersuchungen des Professors Timofejew — Dokumente aus russischen
Annalen — Die Geistlichkeit verordnet Gliederstrafen — Einfluß der tar-
tarisch-mongolischen Sitten — Die Körperstrafen Stützen der Fürstenmacht —
Geistlichkeit und Körperstrafen — Sittlichkeitsverbrechen von der Geistlich-
keit gerichtet — Glaubensheldentaten des Erzbischofs Nektarij — Ra uhe
Sitten der Gesellschaft — Die Roheit im Familienleben — Der Domostroj —
Peter reformiert durch Prügel — Der Schrecken als Verwaltungsmittel — Neue
Strafmittel — Neue Verbrechen — Trotz der Gezüchtigten — Bestrafung
Minderjähriger — Die Geistlichkeit gegen Barmherzigkeit — Bestrafung der
Leibeigenen — Alle Klassen der körperlichen Züchtigung unterworfen — Ge-
schlagen werden ist keine Schande — Mildere Schläge für Vornehmere —
Situation des Soldatentums — Die Polizei ruft nach dem Prügel — Der Adel
sekundiert der Polizei — Abschaffung der Körperstrafen — Wiedererscheinen
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. ** 8
— 114 —
der Züchtigungen — Trepow Vater und Sohn als Geißeln des Volkes — Züch-
tigung der Revolutionäre — Die Züchtigungsinstrumente — Der Knut — Be-
schreibung des Knut — Wofür man geknutet wurde — Der Knut in den Ostsee-
provinzen und in Kaukasien unbekannt — Die öffentliche Züchtigung — Der
Knut als höchste Strafe — Die drei Arten der Exekution — Das einfache
Knuten — Das Knuten im Herumführen — Auf dem Bock oder der Stute —
Zeremonie bei der Exekution — Anzahl der Schläge — Der Knut als Todschläger
— Der Knutenmeister — Verteidiger des Knut — Die Strafe der Batogi — Ver-
anlassungen zu dieser Bestrafung — Seltsamkeiten — Batogi Strafe für Sitt-
lichkeitsverbrechen — Batogi für Steuerschulden — Die Stöcke — Stock und
Rute — Der Stock in der Armee — Die Peitsche (Pletj) — Pletj statt Knut —
Pletj und Batogi — Beschreibung des Pletj — Die Rolle des Pletj bei der Geist-
lichkeit — Peitschenstrafe für Ehebruch — Zahl der Peitschenhiebe — Schelepy
— Bedeutung der Peitsche im häuslichen Leben — Das Peitschen der Leib-
eigenen — Das Peitschen in der Schule und in der weltlichen Gerichtspraxis —
Veranlassungen zur Peitschenstrafe — Die zwei Arten des Pletj — Pletj fast so
schwer wie Knut — Pletj für Staatsverbrechen, Blutschande, Sodomie — Pletj
als höchste Körperstrafe nach dem Knut — Pletj als Polizeistrafe — Der Pletj
von 1906 — Koschki oder Kätzchen — Block — Fesseln und Ketten — Linjki
oder Taue — Militärische Strafen — Aus Peters Kriegersreglement — Niko-
lajs I. Militärsträfen — Spießrutenlaufen — Zeremonie dieser Strafe — 12000
Schläge — Geschichte der Spitzruten in Rußland — Die Rute in Rußland — Die
Rute in den baltischen Provinzen — Rutenstrafe für Sodomie — In Kleinrußland
Rutenstrafe für Kuppelei — Herrschaft der Rute in Rußland — 2^hl der
Rutenhiebe — Die Rute in der Schule — Rutenstrafen in der Gegenwart.
Schon vor der Aufhebung der Todesstrafe ersetzte man
diese gnadenweise manchmal durch den Knut, als die der Todes-
strafe nächstschwere Strafe. Schon vor anderthalb Jahrhunder-
ten wurde in Rußland die Todesstrafe abgeschafft. Lange
vor Leopold von Toskana, ein Jahrzehnt, bevor der Mailänder
Kriminalist Beccaria für die Abschaffung der Todesstrafe plä-
dierte, früher als in jedem anderen Lande Europas kam in
Rußland die Ansicht zur Geltung, daß der irdische Richter
nicht das Recht habe, einem Menschen das Leben zu nehmen.
Und doch blieb Rußland in seiner Strafrechtspflege der grau-
samste aller Staaten. Was half es, daß die Todesstrafe aus
dem Gesetze verbannt war, solange der Knut Tausende zu
Tode schmetterte imd die administrative Verbannung Hun-
derttausende mit barbarischer Quälerei zu langsamem Ver-
derben verdammte! Das Reich, wo es seit anderthalb Jahr-
hunderten keine Todesstrafe mehr gibt, war hundert Jahre
— 115 —
nach Aufhebung der Todesstrafe noch das Land des Knut, ist
heute noch das Land der Rute, der Kosaken-Nagaika. In
anderen Staaten gab es noch im neunzehnten Jahrhundert
Räderungen und Verbrennungen bei lebendigem Leibe, gibt
es noch heute Galgen, Guillotine und Schaffot; in Rußland
bedroht den gemeinen Verbrecher keine Todesstrafe. Aber
was war der Knut anderes als der Todbringer? „Man ver-
dammet selten,** heißt es bei einem Reisenden des siebzehn-
ten Jahrhunderts 1), „die Übelthäter zum Tode und lässt sich
an den Geissein vergnügen : allein in Russen ist es eine ärgere
Straff als der Tod Selbsten." Man versöhnte die Milde des
geschriebenen Gesetzes mit der traditionellen Wildheit der
Regierungssitten. Man verurteilte einen Verbrecher oder einen
unbequemen Menschen zu hundert Knutenhieben und mehr:
der Henker verstand den Wink und tötete, wenn er menschlich
fühlte, den Delinquenten schon mit dem dritten Hieb.^)
Kein Gebiet des sozialen, wirtschaftlichen oder politischen
Lebens, in dem nicht Knut und Peitsche ihre Herrschaft aus-
geübt hätten. Auf dem Throne, in den Ministerien, bei
Gericht, bei der Polizei imd dem Militär regierten die
Peitsche und der Stock. Jahrhunderte lang kannte das rus-
sische Gesetz als einzige Formel aller Urteile nur zwei Worte
oder drei Worte: 6hti> KHyTOKTB, mit dem Knut schlagen;
ÖHTb KHyTOM'b HemaAHO, unbarmherzig mit dem Knut
schlagen. „Woher dieses Vorherrschen der Körperstrafen in
Rußland?** fragt Leroy-Beaulieu^) und er antwortet selbst
darauf: „Man hat die Ursache in der weit zurückliegenden
Vergangenheit gesucht, die Verantwortlichkeit der Mongolen-
herrschaft aufgebürdet.** Diese Ansicht ist falsch, überholt.
Der Russe Karamsin hat sie ausgesprochen, um Rußland von
der Schmach solchen Ursprungs zu befreien. „Der Russe
aus Jaroslaws Zeit,** sagte dieser Historiker, „kannte Schläge
nur bei einer Prügelei. Erst das tartarische Joch führte körper-
liche Strafen ein. Erst seither wurde man für ersten Diebstahl
1) Reise nach Norden, S. 191.
*) La Russic en 1839, par le Marquis de Custine II 127.
^) Das Reich der Zaren und die Russen. II 339.
8*
— 116 —
gebrandmarkt, für Staatsverbrechen geknutet." Maximowitsch
meinte, daß die Slawo-Russen eine entschiedene Abneigung
gegen Körperstrafen jeder Art hatten; „erst nach dem drei-
zehnten Jahrhundert, seit dem tartarischen Joch sind infolge
der Verhärtung der Herzen und der Erniedrigung des Volkes
Körperstrafen möglich geworden.** Leontowitsch behauptet ge-
radezu: ,,Die russischen Fürsten sanktionierten einfach die
mongolischen Strafen.** Aber Stock und Peitsche sind seit
uraltersher Attribute der Strafrechtspflege fast aller slawischen
Nationen. Selbst bei denjenigen Slawen, die niemals unter
mongolischer Herrschaft gewesen, waren körperliche Züchti-
gungen mehr im Gebrauch als bei irgend einer anderen euro-
päischen Nation. Diese körperlichen Züchtigungen sind so-
gar noch heutigen Tages als eine alte Gewohnheit bei den
schlesischen und posenschen Deutchen zu finden; auch bei
den Wenden in der Lausitz waren sie länger heimisch, als
bei den Deutschen, die mit ihnen unter einem Gesetz standen. i)
Was nun speziell die Russen anbelangt, so hat einer der neuesten
Forscher, der vorurteilslose russische Professor Timofejew, den
überzeugenden Beweis geliefert, daß die Glieder- und Prügel-
strafen in Rußland so alt sind als Rußland selbst.^) Nament-
lich Sklaven züchtigte man schon lange Zeit vor dem tartarischen
Joch. Im elften und zwölften Jahrhundert, von der Epoche
des heiligen Wladimir angefangen, ließen die Fürsten Räuber
prügeln. Die interessantesten Tatsachen liefert die Geschichte
der russischen Geistlichkeit. Aus allcrfrühcster Zeit ist ein
geistliches Gesetz bekannt, das für zahlreiche Verbrechen der
Geistlichen Körperstrafen festsetzte. Schon im elften Jahrhun-
dert findet in der Gerichtsbarkeit des Klerus die Gliederstrafe
Anwendung: ein Dokument aus jener Zeit erzählt, daß der
Nowgoroder Bischof Luka Schidjäta einem Leibeigenen zur
Strafe für ein Vergehen beide Hände und Füße abzuhacken
befahl. Der Bischof Theodorcs, ein Grieche, geht auf solche
byzantinisch-grausame Weise im zwölften Jahrhundert nicht
1) J. G. Kohl, Südrußlaiul. III 332.
■*) Tn>io(|K^('iri>, iKTopin Tt>.i«*cin>ixi. naKaaaiiiii irr. pvcniuMh iJi)airIi. Cxp.
49 — 129: IIcpioAii paaBiiTiii 11 ruciin,icTiui rkuriiux'b iiaKuaaiiiil.
— 117 —
bloß mit den Leibeigenen, sondern auch mit den Geistlichen
um. Aus dem elften Jahrhundert kennt man einen Erlaß,
der die Körperstrafe für einen Cholop (Leibeigenen), der einen
Freien geschlagen hat, festsetzt. Endlich ist schon in ältesten
russischen Urkunden, wie wir später sehen werden, speziell
vom Knut die Rede. Namentlich im littauischen Rußland ist
die Körperstrafe schon in der Zeit vor dem tartarischen Joch
festgestellt. Indem er alles dies zusammenfaßt, konstatiert Timo-
fejew, daß die Körperstrafen in Rußland schon vor der tar-
tarischen Epoche bekannt waren ; doch wurden sie wahrschein-
lich verhältnismäßig selten angewandt, weil sich die vor-
nehmeren und wohlhabenderen Leute ihnen durch Loskauf,
die niederen aber durch Annahme temporärer Leibeigenschaft
entziehen konnten.
Selbstverständlich ist es, daß die mongolisch-tartarischen
Sitten auf die ohnehin zur Grausamkeit neigende russische
Strafjustiz nicht mildernd wirkten. In der Horde strafte man
mit Foltern und mit Stöcken. Marco Polo erzählt, wie die
mongolische Stockstrafe häufig den Tod herbeiführte, und
Plano-Carpini sagt von den Tartaren : „Sie sind so hartherzig,
daß sie weder mit Greisen noch mit Knaben Mitleid haben.
Die einen stürzt man vom Berge herunter, anderen schlägt
man mit einem Stein den Kopf in Trümmer oder man bricht
ihnen das Genick.** Man verurteilte in der Horde bis zu
hundert Stockschlägen auf den Rücken. Jede Beleidigung der
Obrigkeit und jeder Ungehorsam gegen sie wurde mit Kör-
perstrafen geahndet. y\scellinus erwähnt im dreizehnten Jahr-
hundert, die allgemein gebräuchliche Strafe in der Horde sei
das Abreißen der Haut. Aber die mongolisch-tartarischen
Einflüsse dürfen nicht überschätzt werden. Die Chane ließen
dem russischen Reiche, nachdem sie es erobert hatten, die
Selbstverwaltung und forderten bloß Tribut. Besonders schwer
war eigentlich nur das Joch der ersten zwanzig Jahre ; schon
mit der Thronbesteigung des Berke Chan im Jahre 1262 begann
für Rußland eine fühlbare Erleichterung. Nach dem Zeug-
nisse des Historikers Ssolowjew gab es im dreizehnten Jahr-
hundert im Norden, ausgenommen in Kursk, nicht einmal
mehr chanische Beamte. Das Joch blieb also wohl nicht ganz
— 118 —
ohne Einwirkung auf die sittlichen Verhältnisse in Rußland,
aber gewiß ist es, daß es nicht die einzige Quelle für die
furchtbare Grausamkeit der russischen Regierungen war, nicht
der Ursprung des Blutstromes, der sich unaufhaltsam durch
alle Gebiete der russischen Verwaltung ergoß. Die russischen
Fürsten waren trotz der chanischen Oberherrschaft örtliche
Herrscher geblieben, sie übten daheim alle Rechte und Ge-
walt aus und sahen aus eigenem Antrieb nur in den grau-
samsten Strafen die sichersten Mittel ihrer Macht.
Mit den Fürsten wetteiferte die Geistlichkeit. Dies ist
ein besonders bemerkenswerter und charakteristischer Beweis
für die natürliche Grausamkeit der Russen und den russisch-
originellen Ursprung der Prügelstrafen. Die Geistlichkeit wurde
von den Tartaren nicht bedrückt, vielmehr mit bedeutenden
Privilegien ausgestattet. Der Metropolit Peter erhielt vom
Chan Usbek das Recht, nicht bloß die kirchlichen Güter zu
verwalten, sondern auch seine Leute in allen Dingen zu rich-
ten. Und wie gut nützt der Klerus seine Privilegien! Für
alle möglichen kirchlichen Verbrechen wird die Todesstrafe
dekretiert. Das tartarische Joch existierte längst nicht mehr,
aber die wild-asiatische Grausamkeit der Geistlichkeit dauerte
fort. Seit dem siebzehnten Jahrhundert war der Patriarch der
Ratgeber des Zaren, der wahre Vize-Zar. Kotochischin, dieser
von europäischem Geiste erfüllte russische Sittenschilderer des
siebzehnten Jahrhxmderts, erzählt, daß der Patriarch, die Metro-
politen, die Erzbischöfe, Bischöfe und Klöstervorsteher wie
der Zar selbst über die Bauern ihrer Gebiete herrschten und
in allen Dingen, Räubereien ausgenommen, Urteile fällten
und Strafen verhängten. Aber auch außerhalb des Kreises
ihrer Bauern übten sie Jurisdiktion; in allen Kirchenange-
legenheiten unterstanden ihren Urteilen nicht bloß die Geist-
lichen, auch weltliche Personen mußten dem geistlichen Ge-
richt gehorchen. Verbrechen gegen die Sittlichkeit nament-
lich, ob von Geistlichen oder von Laien verübt, gehörten vor
das geistliche Gericht. So verhängt letzteres 1689 über einen
Mädchenschänder eine schwere körperliche Züchtigung. Den
stärksten Gebrauch von Körperstrafen macht der Klerus gegen
seine eigenen Mitglieder. Der Erzbischof Jossif von Kolomna
— 119 —
verordnet für die geringsten Vergehen seiner höheren Kleriker :
Pletj (njieTB, Peitsche), Schelep (inejieni>, eine andere Art
aus Bast geflochtene Peitsche), Fesselung mit Ketten. Die
simplen Popen läßt er nackt ausziehen und dann mit dem
Pletj bearbeiten. Jedes seiner Urteile schließt mit dem Aus-
ruf: Grausam schlagen I Ein feines Bild dieser Sitten ent-
rollt das liebenswürdige Schreiben des ehrwürdigen Nektarij,
Erzbischofs von Sibirien und Tobolsk, an einen seiner Gönner
am Hofe des Zaren Michael Feodorowitsch ; es berichtet fol-
gendermaßen über die Glaubensheldentaten dieses Kirchen-
fürsten auf asiatischem Boden: „Im Ganzen verteilte ich
während dieser zwei Jahre 1430 mal Schläge. Ich lehrte mit
Krücken; aber ich schlug nicht bloß mit hölzernen, sondern
auch mit eisernen. Und so rettete ich die Seelen.** Erst im
achtzehnten Jahrhundert fängt man an, sich solcher Barbarei
zu schämen. Der Moskauer Erzbischof Piaton erklärt, man
gehe mit den Klosterleuten zu schlimm um; er verbietet,
ohne Zustimmung aller Brüder oder wenigstens der Häupter
des Klosters, körperliche Züchtigungen zu verhängen. Man
würde versucht sein, anzunehmen, daß diese Grausamkeiten
des Klerus dem Herkommen der byzantinischen Kirche ent-
sprachen. Aber sie fielen jedenfalls wunderbar zusammen mit
der russischen weltlichen Praxis und stimmten mit den ge-
samten sittlichen Verhältnissen aller Klassen der russischen
Gesellschaft überein. Wir kennen bereits zur Genüge den Cha-
rakter der Herrscher und Herrscherinnen, der Minister und
Gouverneure. Nicht anders geartet sind alle Schichten des
Volkes. Schlägereien und Zank sind selbst in der vornehmsten
Gesellschaft, in den höchsten Sphären der Verwaltung durch-
aus nichts Seltenes. Das Familienleben und die Beziehungen
der Familienmitglieder zu einander sind ebenfalls durch grau-
same Gebräuche geregelt. Der „Domostroj**, das klassische
Hausbuch des sechzehnten Jahrhunderts \), empfiehlt dem
^) Der /l,uM(»(Ti)uft, das Buch von der Haushaltung, ist das merkwürdigste
Denkmal der russischen didaktischen Literatur des 16. Jahrhunderts. Das
Wort Domostroj kann durch Ökonomie wiedergegeben werden. Das Buch ist
der Kodex praktischer Lebensweisheit und bürgerlicher Moral, wie sie nicht nur
— 120 —
Familienoberhaupt: „zur Aufrechterhaltung der Ordnung im
Hause Schläge auszuteilen und Wunden zuzufügen.** Für jede
Schuld gebühren Schläge, sagt der Domostroj; „aber man
hüte sich das Ohr zu treffen, noch schlage man ins Gesicht
oder unter dem Herzen ; man soll weder mit dem Fuße stoßen
noch mit dem Possoch (0000x1» ein spitzer Stab) stechen,
denn hiervon entstehen Blindheit und Taubheit.** Der Stock
ist der wahre Hausregent; die Bücher des siebzehnten Jahr-
hunderts sagen: „»esjTB (der Stab oder Stock) ist der Er-
zeuger guter Kinder.** Der Vater soll seine Kinder nicht
schwach schlagen; wer die Knaben in der Jugend tüchtig zu
gerben versteht, der wird von seinen Kindern, wenn sie er-
wachsen sind, nicht schlechter Erziehung beschuldigt werden ;
„Gott selbst, der alles vermögende, hat solchen Gebrauch des
Züchtigens gezeigt.** Ein Gedicht zu Ehren der Rute verfaßte
Simeon Polozkoj, der Lehrer der Kinder des Zaren Alexej
Michajlowitsch. Und einer der frühesten Dramendichter des
achtzehnten Jahrhunderts, Danilo Tuptalo, als Erzbischof von
Rostow Dmitrij der Heilige benannt, schrieb an seine Schüler :
„Kinder, Kinder, ich höre Schlechtes über euch; wer sich auf-
lehnt, wird gezüchtigt werden mit der Peitsche !**
An erster Stelle steht die Gewalt. Schlagen ist das normale
Heilmittel für alle Übel. Der Stock und die Peitsche sind Stütze
das 16. Jahrhundert im besonderen, sondern das ganze russische Leben und die
russische Kultur seit den ältesten Zeiten herausgearbeitet haben. Das Buch
wurzelt tief in der altrussischen Weltanschauung und kann als deren Spiegel
betrachtet werden. Die darin enthaltenen Regeln und Vorschriften sind von
Jahrhunderten angesammelt, von der Tradition sanktioniert, längst in der Praxis
angenommen und erprobt worden. Wahrscheinlich ist der Domostroj eine
Kompilation aus früheren Didaktiken ; als Kömpilator gilt der Mönch Sylvester ;
seit 1547 Günstling Iwans IV. des Schrecklichen, fiel er 1553 in Ungnade und
lebte schließlich als Gefangener im Ssolowezkischen Kloster. Einige Abschnitte
hat Sylvester wohl auch selbst verfaßt, sicherlich das 64. Kapitel: Schreiben
und Ermahnung des Vaters an seinen Sohn; dies Kapitel, auch ,,der kleine
Domostroj'* genannt, ist gleichsam Resum6 des großen. Der Inhalt zeigt kein
strenges System. Kapitel i — 15 enthalten vornehmlich Regeln der Frömmigkeit
und Tugendhaftigkeit; 16 — 25 Vorschriften über das Familienleben und die
gegenseitigen Pflichten der Ehegatten; 26 — 33 Ökonomie, Haushaltung und
Wirtschaftsführung. — Vgl. Brückner, Russische Revue IV. und Reinholdt,
Geschichte der russischen Literatur. S. 177.
— 121 —
und Werkzeug der Regierung. Das Räuberunwesen wird durch
Prügel bekämpft. Härte ist das Prinzip der herrschenden
Systeme. 1670 schreibt der Wojewode von Wuchotur seinen
Beamten vor, die Diebe imd Flüchtlinge „hart zu strafen**. Zur
selben Zeit wird dem Wojewoden von Tjumen befohlen : „Strafe
hart, mit den härtesten Strafen, mit dem Tode auch, zum
Schrecken der Anderen.** In allen Regierungserlässen kehren
die Worte wieder: hart, unbarmherzig, mitleidslos, ohne jede
Gnade. „In der ganzen Welt,** seufzt Krischanitsch, „giebt
es nicht eine solche strenge, rauhe Verwaltung wie m Rußland.
Jeder Ort ist angefüllt mit Kabaken und Schlagbäumen, mit
Otkupschtschiki (oTKynmmrB, Pächter), Zjelowaljniki (i^ijiOBajib-
HHiTb, Zolleinnehmer), Wüjemschtschiki (BHeMin;HK'B, Grenz-
reiter) und geheimen Berichterstattern. Die Leute werden hier-
hin und dorthin geschleppt und was sie tun, das tun sie mit
Furcht xmd Zittern, und immer müssen sie sich hüten vor der
Menge der Verwalter imd der Henker.**
Peter der Große braucht Geld für seine Reformen und
Kriege, imd deshalb wohl führt er vielfach Geldstrafen ein, wo
früher Körperstrafen bestanden.^) Aber man glaube nicht,
daß letztere deshalb geringer oder sanfter werden. Die Zeit
der Reformen erzeugt eine ganze Reihe neuer Verbrechen;
die Verwaltung reformiert durch Schläge, der Stock ist der
Zuchtmeister, das alte Moskauer Erziehungsmittel beherrscht
auch die Petersche Periode. Abschreckung, Härte, Grausam-
keit werden ärger noch als zuvor. Dem Major Dolgorukow
wird befohlen, „die Kosakenstädte niederzubrennen und die
Leute tüchtig zu hauen, damit ihnen die Lust zum Widerstand
vergehe.** Nicht überall sind diese Mittel wirksam; oft versagt
sogar das furchtbarste Schreckmittel, und zum Entsetzen des
Zaren am meisten in der Armee. 1705 befiehlt ein Ukas : Deser-
teure mit Tod zu bestrafen; das Los entscheide, jeder dritte
werde gehängt. Tod auch den Verbergern von Flüchtlingen.
Aber der Tod schreckt nicht die Militärverdrossenen, das harte
^) Die geistige Hinterlassenschaft Peters I. als Grundlage für dessen Be-
urteilung als Herrscher und Mensch von E. Sadler, Leipzig und Heidelberg 1862.
135. — TiiMO({»eein>, crp. 71.
— 122 —
iwi^^ctx droht die Armee zu entvölkern. Der Zar befiehlt also :
um jede» zehnten Mann zu hängen; aber auch dies ist zu viel^
tuhii zu einer Dezimierung der Truppen. Nun heben Ukase
wa 17 1> und 1717 die Todesstrafe ganz auf. Man versucht es
uul dci Ciüte; man gibt den Flüchtlingen eine Frist zu frei-
v^ dliiicr Rückkehr. In der Epoche der Regierung Annas kehrt
die BiroiH>wschtschina, das Regiment Birons, zur Härte zurück.
l>ie Folge: es desertieren nicht bloß die gemeinen Soldaten,
auch dit^ Kadetten flüchten. Anna macht es wie Peter: ein
VkvU begnadigt alle, die freiwillig zur Pflicht zurückkehren:
^.Kürchtet aber sonst,** heißt es in einem ihrer Ukase, „nicht
bKvU die Strafe auf Erden, sondern auch das Gericht Gottes I**
l>ie über die Grenze Flüchtenden ermahnt man: „Jenseits der
^Ireuxe giebt es nicht orthodoxe Kirchen. Denkt an euer
ewiges Heill** Alles umsonst. Die Leute wußten, daß diese
sentimentalen Ukase, die so wenig dem Geiste der Justiz jener
Zeit entsprachen, auch der Aufrichtigkeit entbehrten. Die
Härte allein bestand, die Milde war eine Vorspiegelung. 1727
gibt Peter II. ein Manifest heraus: „Falschmünzer, die ihre
Schuld bereuen, ihre Falsifikate ausliefern imd versprechen,
(li4S Verbrechen nicht mehr zu verüben, sollen nicht bestraft
worden.** Aber neben diesem offenen gnädigen Manifest exi-
stiert ein geheimer Artikel: Die freiwillig sich Meldenden sind
ohne weitere Prozedur sofort nach Sibirien zu verschicken I
Die grenzenlose Roheit der Sitten, die Allgemeinheit des
Schiagens, der Schrecken als Mittel der selbstherrscherlichen
Verwaltung, dies alles erklärt zur Genüge die überaus große
Verbreitung und Vielseitigkeit der Körperstrafen. Zar Alexej
hatte in seinem Gesetzbuch nur die Praxis sanktioniert, als er
für 140 Fälle den Knut als gesetzliche Strafe festsetzte. Die
tyrannische Regienmg Peters des Großen vermehrte die Vari-
anten der Körperzüchtigungen. Es kamen bis dahin unbe-
kannte Strafmittel auf: Spitzruten, Kätzchen (KomKn), Linjki
(jihhbkh), Losa (ji03a, Rute) und Pletj (njieTB, Peitsche).
Für alles mögliche riskierte der Russe Schläge. Neue Strafen
für neue Verbrechen, die ein Resultat der Reformen, ein Ergeb-
nis der Zeit, des Tages, ja der Laune einer Minute sind ! Todes-
strafe bedroht die Fabrikanten, die für Posamentierzwecke Sil-
— 123 —
bermünzen einschmelzen; „harte Strafe" wird verordnet für
eine ganz neue Art von Rechtsverletzung : „für das Fangen
von Nachtigallen in der Nähe von Petersburg und in ganz
Ingemianland.** Tod und Schlagen überall, für alles und jedes.
17 13 schildert der Wojewode von Jakutsk seine Art der Züch-
tigung von Aufruhrern : „Dem Haupte der Unruhestifter habe
ich den Tod gegeben; die Anderen habe ich niedergelegt und
mit dem Knut gehauen und dann habe ich sie durch die Straßen
geschleppt ; Andere habe ich nackt ausziehen und mit Batogen
schlagen lassen.** Kaiserin Anna befolgt Peters Methode. 1732
werden in Nischny Nowgorod 20 Räuber zum Tode verurteilt,
15 erhalten den Knut und Verbannung zu ewiger Katorga, 85
den Knut und Batogi; Urteil von 1735 ' für 95 Menschen Tod,
197 Knut imd Verbannung; 1736: 102 Menschen zur Todes-
strafe, 157 zu körperlicher Züchtigung verurteilt. Elisabeth,
dieselbe Elisabeth, die 1754 die Todesstrafe aufhob, erwog die
Einführung einer neuen, nie zuvor dagewesenen Todesstrafe:
das Zerreißen durch Pferde.
Die Grausamkeit der Justiz verhärtet nicht bloß die Stra-
fenden, sondern auch die Gestraften. Man gewöhnt sich an
die Prügel. Struys erzählt aus dem Jahre 1699, daß ein Mann,
der von der Knutenstrafe noch nicht geheilt war, sich gleich-
mütig auf eine neue Knutenstrafe gefaßt machte, statt die ge-
forderten Steuern zu bezahlen; und Korb berichtet, daß Peter
ihm befahl, einen Muschik „mit einer schrecklichen Rute vom
Kopf bis zu den Füßen zu schlagen**, damit er einen Flüchtling
verrate ; der Bauer aber ertrug die Züchtigung ohne zu klagen
und schwieg trotzig.
Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhimderts begegnet man
einigen Anwandlungen der Milde namentlich gegenüber jugend-
lichen Verbrechern. Ein Ukas von 1740 erläßt die Strafe, die
wegen Nichterscheinens beim kirchlichen Treueschwur ver-
hängt worden war, allen jenen Personen, die unter 15 Jahren
alt sind. 1740 wird die Brandstifterin Anna Iwanowna von der
Todesstrafe befreit, „weil sie jugendlich ist, und nicht verstehen
konnte, was sie that**; dieses Motiv hinderte aber das Gericht
nicht, das Mädchen zu peitschen. Im Jahre 1742 wurde ein
vierzehnjähriges Mädchen als Mörderin zum Tode verurteilt.
— 124 —
Infolge dieses Falles beschäftigte man sich mit der Frage der
Bestrafung Minderjähriger. Der Senat entschied liberal und
erstreckte die Grenze der Minderjährigkeit bis rum siebzehnten
Lebensjahre: „Verbrecher im Alter unter 17 Jahren sollen für
Kirchenschändung, Todschlag und Brandstiftung auf öffent-
lichem Platze mit der Peitsche gestraft und mit eisernen Fesseln
an den Füßen zu 1 5 jähriger Zwangsarbeit nach fernen Klöstern
verbannt werden. Für Raub und schweren Diebstahl erhalten
sie Pletj oder Batogi und 7 Jahre Zwangsarbeit. (Für alle diese
Verbrechen war früher ausnahmslos Todesstrafe vorgeschrie-
ben.) Für Verbrechen, die früher Folter und Knut erforderten,
erfolgt für Minderjährige nunmehr nur Peitschenstrafe oder
Züchtigung mit den Batogi.** Dieses milde Reformprojekt rief
einen Protest hervor. Von welcher Seite? Die Geistlichkeit
war es, die ihrer Entrüstung Ausdruck verlieh. Der Heilige
Synod erklärte: „Der Mensch kann nach dem Willen des
Himmels schon vor seinem siebzehnten Lebensjahre Vater
werden, hat also schon vor diesem Alter Verstand genug.**
Und die Zarin gab nach, das Senatsprojekt wurde folgender-
maßen abgeändert : „Synod und Senat stimmten nach genügen-
der Überlegung darin überein, daß der Mensch mit 12 Jahren
als erwachsen zu gelten habe. Wer also unter 12 Jahren alt
ist, muß von Todesstrafe, sowie Folter und Knut befreit wer-
den.** 1744 wurde dann allerdings entschieden: „Nur theo-
retische Erwägungen können feststellen, daß ein Mensch mit
12 Jahren als volljährig angesehen werden könne; den that-
sächlichen Verhältnissen entspricht dies nicht** ; und so wurde
schließlich die Minderjährigkeit doch bis zum 16. Jahre
erstreckt.
Am schlimmsten waren von Anbeginn bis zum Schlüsse
die Angehörigen der unfreien Klasse von der Prügeljustiz be-
handelt worden. Die Gesetze waren ja eigentlich nur für die
Herren gemacht. Ein Dwinsker Aktenstück aus dem Jahre
1 397 dokumentiert, daß der Herr, der einen xonou^h oder pa6a
(Cholop bedeutet den temporären Leibeigenen und Raba den
ewigen Sklaven) zu Tode prügelte, deswegen nicht strafbar
war. Im sechzehnten Jahrhundert sind Körperstrafen, von den
Herren über die Leibeigenen verhängt, nicht bloß gewöhnlich.
— 125 —
sie galten als unbedingt notwendig. „Wenn der Sklave nicht
gehorcht/* so lehrt man in jener Zeit, „so strafe man ihn mit
dem Pletj." Der Gutsherr Rumjäntzow verfaßt in der zweiten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts besondere Bauernregeln;
Pletj und Batogi sind in seiner Hauswirtschaft die ständigen
Regenten. 1764 spricht der Gouverneur von Nischnij Now-
gorod, Sievers, in einem Bericht an die Kaiserin von den Leib-
eigenen als den „unglücklichsten Wesen.** 1802 konstatiert
man, daß auf den Gütern Orlows die Leibeigenen für die gering-
sten Vergehen an Ketten gefesselt und mit eisernen Stöcken
geschlagen werden. Aber die Herren selbst blieben auch nicht
von den Glieder- und Körperstrafen ausgenommen. Schon im
15. Jahrhundert befahl Wassili j Kossoj, dem Fürsten Roman
von Perejaslaw die Hand und den Fuß abzuhacken. 1488 wur-
den in Moskau auf dem Marktplatz der Fürst Uchtomskij und
der Archimandrit des Tschudowklosters mit Knuten gezüchtigt.
1495 erhielten zwei Geistliche die Knutenstrafe. Um 1600 wird
den Wojewoden, die Diebe aus den Gefängnissen entschlüpfen
lassen, der Knut angedroht. Nach westeuropäischem Recht
wurden Freie, die sich nicht loskaufen konnten, mit Körper-
strafen belegt. So durften auch nach dem Gesetzbuch des Zaren
Alexej (yjioHcenie 1649 ^0 Edelleute — Bojaren, Stoljniki,
Stojaptschi — die wegen Beleidigung zu einer Körperstrafe
verurteilt waren, sich loskaufen; zahlten sie aber nicht, so be-
kamen sie den Knut. Für das Verbergen eines Flüchtlings
war eine Geldstrafe von 100 Rbl. vorgeschrieben; wer sie nicht
erlegen konnte, bekam den Knut oder die Batogi. 17 14 wurden
zwei Senatoren, Wolkow und Opuchtin, öffentlich geknutet.
1755 befahl das Zollreglement, daß „Kaufleute, welche die Zölle
nicht bezahlen können, gepeitscht werden sollen.** Auch Frauen
der vornehmsten Gesellschaft wurden geknutet.
Weder Adel noch Bürgertum, weder der Bauer noch der
Sklave kennen den Begriff des Rechtes der Persönlichkeit oder
das Gefühl der Menschenwürde. Infolgedessen sieht auch
niemand in der Körperstrafe eine Schändung. „Der Groß-
fürst,** schreibt Barberini im Jahre 1565, „läßt die vornehmsten
Bojaren niederstrecken und züchtigen. Es giebt fast keinen
ungeprügelten Tschinownik. Aber sie geben nichts auf Ehre,
— 126 —
wissen nicht, was Schande ist.** Struys macht, als er im sieb-
zehnten Jahrhundert in Rußland weilt, dieselbe Bemerkung.
Nur Olearius meint, daß man beginne, auf den mit dem Knut
Bestraften verächtlich herabzusehen. Die Regierung selbst sah
in der Knutung früher ebenfalls keine Entehrung. Ukase von
1650 und 1655 befehlen, Deserteure zu knuten, dann aber wie-
der in ihre Regimenter einzureihen. Peters Ukas von 1705
ordnet für eine Kategorie von Flüchtlingen aus der Armee den
Knut und fünfjährige Zwangsarbeit an; nach verbüßter Strafe
müssen die Bestraften zu ihren früheren Regimentern zurück-
kehren. Ein gewisser Kikin wird wegen der Schändung eines
Mädchens öffentlich geknutet ; kurz darauf wird der Geprügelte
von Peter dem Großen zum Generalverwalter der Fischereien
ernannt. Trotz Olearius empfinden die Russen noch in der
ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nicht das Schän-
dende einer körperlichen Züchtigimg. Bergholz berichtet (in
seinem Tagebuch aus dem Ende der Regierungszeit Peters des
Großen) voller Erstaunen, daß ein Schauspieler, der wegen
unbefugten Herumtragens von Affichen zweihundert Batogen-
streiche erhalten hatte, nach empfangener Strafe mit hervor-
ragenden Damen zum Spiel sich niedersetzte. „Das gilt hier
für nichts,** bemerkte Bergholz, „das ist eine ganz gewöhnliche
Sache. Und thatsächlich wäre es seltsam von Seiten der Damen
anders zu denken, da ihre eigenen Väter und Männer von der
Administration Sr. Zarischen Majestät leicht der gleichen Strafe
ausgesetzt werden können.** Der französische Resident erzählt
in einem seiner Schreiben an seine Regierung, „daß der Zar vor
seiner Abreise aus Petersburg am 3. Januar 17 18 um 4 Uhr
morgens einige der bekanntesten und höchsten Beamten in
sein Zimmer rufen und der Reihe nach mit Batogen
prügeln ließ.** Die Beamten verfielen so bald einer Körper-
züchtigung I Iwan III. befahl, die Kanzleischreiber, die Schrift-
stücke nicht ordnungsmäßig siegelten, zu knuten. Wenn ein
Staatsrat ein ungerechtes Urteil fällte, erhielt er nach dem Ge-
setzbuche Alexejs den Knut.
Ein Unterschied zwischen hoch und niedrig, sehr zu Un-
gunsten des Niedrigen, wird zuweilen gemacht: Verzögert ein
Djak (äbhkb, Ratssekretär) eine Angelegenheit, so bekommt
— 127 —
er bloß Batogi, Stockstreiche auf die Fußsohlen; der simple
Podjatschij (noA'BaniÄ, Unterdjak oder Kanzleischreiber) aber
erhält den gewichtigen Knut. Für die Fälschung eines Proto-
kolls kommt der Djak mit dem Knut davon; der Podjatschij
aber verliert seine Hand.^) Für die Beleidigung des Patriarchen
erhalten ein Stoljnik (cTOJibnmrB, Truchseß), ein Strjäptschij
(cTpan^ifi) oder ein Moskauer Dworjänin (ABopamiH^, Edel-
mann) bloß die Batogen; aber Personen niedrigeren Ranges
den Knut. 1627 wird ein Richter wegen eines Verbrechens
ins Gefängnis gesperrt ; der Wojewode wagt nicht, ihm auch
vorschriftsmäßig den Knut zu geben, sondern appliziert ihm
mit Rücksicht auf seinen Rang bloß die Batogen. 1649 erhält
der Edelmann Michael Pleschtschejew statt des Knut die Batogi.
Nachsichtiger geschlagen werden ist also ein Privilegium der
höheren Klassen der Gesellschaft.
Eine spezielle Bemerkung verdient die grausame Situation
des Soldatentums. Unter Alexander I. und Nikolaj I. war just
der Soldat der meistgeprügelte unter allen Untertanen des
Zaren. „Die Behandlung der Soldaten," schreibt S. P. Schipow
in seinen Memoiren aus dem Anfang des neunzehnten Jahr-
hunderts, „war nicht bloß streng, sondern unvergleichlich hart.
Jetzt kann man sich solche Zustände kaum mehr vorstellen.
Oft wurden die Soldaten für die geringfügigsten Vergehen,
öfter noch ganz schuldlos unbarmherzig gezüchtigt. Es gab
Regimentskommandeure, wie Oberst Fricken, die den Soldaten
die Haare ausrissen, die mit den Säbeln auf die Köpfe hieben
und mit dem Stock auf den Rücken schlugen, bis die Knochen
entblößt waren.** In den Militärhospitälem in Petersburg waren
im Jahre 1841 unter den Kranken 1224 Soldaten, die an den
Folgen von Leibesstrafen schwer darniederlagen 1^)
Als man, um die Kräfte des Volkes zu schonen und um
dem Staate nicht die Arbeitsfähigkeit der Verurteilten zu ent-
ziehen, die Todesstrafe abschaffte und die Gliederstrafen immer
seltener verhängte, blieb doch die körperliche Züchtigung fort-
1) Struvens Russisches Landrecht. X § 12.
2) Zur Kenntnis von St. Petersburg im kranken Leben, von Aurelio
Buddens. Stuttgart und Tübingen. 1846 I 181.
— 128 —
bestehen. Die immer mächtiger werdende Polizei verlangte
nach diesem Abschreckungsmittel. So heißt es in einem Rap-
port der Polizeileitung an die Reformkonmiission des Jahres
1767: „Der Leiter der Polizei muß nicht bloß seine Beamten,
sondern alle Bürger zu Verstand bringen. Die Polizei muß das
Recht haben, Körperstrafen und Einsperrungen anzuordnen.
Die Polizei bittet ferner, daß man ihr den Eintritt in die Tempel
Gk)ttes gestatten möge, um die zum Gebete versammelten Leute
beobachten zu können. Die Polizei muß die Kinder, die gegen
die Eltern ungehorsam sind, nicht bloß auf Verlangen der
Eltern, sondern auch ohne solches Verlangen strafen." Und
die Regierung anerkennt die Billigkeit der polizeilichen Wün-
sche. Noch polizeilicher als die Polizei denken die Herren des
Adels. An dieselbe Kommission von 1767 richtet der Adel
von Alatyr ein Memorandum, worin ausgeführt wird, man müsse
nicht bloß zu den alten strengen Gesetzen zurückkehren, son-
dern manches alte Gesetz noch verschärfen, beispielsweise nicht
bloß für Raub und Todschlag, sondern auch für gewöhnlichen
Diebstahl die Todesstrafe anordnen. Der Adel von Temnikow
sekundiert dem Adel von Alatyr. Und die Adligen von Jelezk,
Orlow und Bjelew fordern „qualvollste Torturen** für allerlei
Arten von Verbrechern I Kein Wunder, daß da die Prügelstrafe
aufrechterhalten werden muß. Nikolaj L schenkt in seinem
Manifest 1826 dem Volk einige Erleichterungen, warnt aber
vor dei törichten Meinung, „daß mit der Milderung der Strafen
auch eine Schwächung der heilsamen Gesetzesfurcht erfolge.**
1841 fordert Professor Barschew: man solle die Gliederstrafen
beibehalten; „Gefängnis allein ist kein Schreckmittel, Glieder-
strafen und Schlagen sind notwendig.** Wohl unter dem Ein-
fluß dieser Forderung des gelehrten Barbaren schreibt Niki-
tenko im selben Jahre 1841 in sein Tagebuch: „Ein trauriges
Bild, diese Gesellschaft von heute; kein Rechtsgefühl, kein
Ehrbegriff.** Und N. N. Lebedew, ein Senator Nikolajs L,
notiert in seinem heimlichen Journal : „Welch ein hartes System
der Strafen ! Im Gesetzbuch liest man nichts anderes als : Ver-
bannung, Katorga, Pletj, selbst Knut.**
Nicht aus eigener Initiative, sondern aus Scham vor
Europa wird von den Züchtigungsinstrumenten zunächst der
Die große Knutenstrafe.
(Nach eiuem lussischen Bilde.}
:•
• • •
• •
— 129 —
Knut abgeschafft. 1832 kauft der Fürst von Eckmühl, Sohn des
Marschalls Davoust, in Moskau heimlich einen Knut und bringt
ihn nach dem Westen als ein Zeugnis des Zivilisationsstandes
Rußlands unter Nikolaj I. Der Zar wütet und befiehlt, „die
Knuten streng verwahrt zu halten und Niemandem zu zeigen.**
Mit der traditionellen Strafe bricht Nikolaj aber noch nicht,
doch er beginnt Ausnahmen zu machen. Es gibt Privilegierte,
die von den Körperstrafen mehr oder minder oder ganz befreit
sind. 1845 endlich wird der Knut abgeschafft; nur Pletj (Peit-
sche), Spießruten tmd Ruten werden beibehalten. Alexander II.
verbietet die Anordnung des Spießrutenlaufens, schafft 1861
die Peitsche ab; in der Armee dagegen bleiben die Linjki
(leichte Stöcke) und Koschki (KomKH, Kätzchen) in Gebrauch,
bis auch sie durch Ruten ersetzt werden. 1863 streicht ein
Ukas die Ruten aus dem Strafgesetzbuch, läßt aber den Wolost-
gerichten, den bäuerKchen Gerichten, das Recht, Rutenstrafen
zu verhängen. Langsam schleichen sich jedoch noch Ände-
rungen ein, entstehen Rückfälle, und diese Reaktionen werden
schließlich zu einer neuen Regel. 1870 g^bt es in der Armee
nicht weniger als 6149 Fälle von körperlichen Züchtigimgen,
1893 noch 348 Fälle. 1871 führt die Polizei m Odessa bei einem
Straßenkrawall Ladungen von Ruten auf und peitscht öffentlich
Männer, Frauen und Kinder. Zehn Jahre später, 1881, wieder-
holt sich in derselben Stadt dasselbe Schauspiel: bei einem
Angriff auf die Juden sucht die Polizei die Krawallmacher zu
beruhigen, indem sie aus der Mitte des Pöbels die Erstbesten
herausreißt und auf der Stelle mit Ruten, Stöcken und Nagaiken
prügelt. 1) 1889 gestattet ein Gesetz neuerdings den bäuerlichen
Richtern, Rutenhiebe auszuteilen ; ausgenommen sind nur Min-
derjährige und solche Erwachsene, die über 60 Jahre alt,
krank oder im Kriegsdienst sind, femer Gemeindebeamte und
Kirchenbedienstete. Und so wird in Rußland noch heute weiter
geprügelt. Auch außerhalb der Wirksamkeitsgrenzen der Wo-
lostgerichte. Die unmenschlichen Züchtigimgen, die General
Trepow der Ältere über die politischen Gefangenen verhängte,
führten zu dem berühmten Attentat der Wera Sassulitsch gegen
^) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren. II 344.
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in RuBland.
••
— 130 —
Trepow. In seiner Verteidigung der Sassulitsch sagte der Ad-
vokat Alexandrow : „Die Rute regierte in Rußland. Die Rute
leitete die Schule wie den Stall des Gutsbesitzers, sie wurde in
den Kasernen und Polizeibureaus angewandt wie in den Ge-
meindeverwaltungen. Es heißt sogar, daß die Rute an man-
chen Orten durch einen Mechanismus von englischer Erfindimg
in Bewegung gesetzt und so in besonderen Fällen gebraucht
wurde. Auf jeder Seite der Zivil- und Kriminalgesetzbücher
figurierte wie ein. unaufhörlicher Refrain die Rute in Gemein-
schaft mit Peitsche, Knut und Gassenlaufen. Da fragen sich
dann die Konservativen mit Recht : Wie könnte ein Reich, das
seine Größe der Rute verdankt, ohne Rute bestehen ?**
Bei der Unterdrückung der polnischen Revolution kon-
kurrierte der Knut mit dem Blei. Die gleichen Mittel gegen
Empörer wendet die Regierung des zweiten Nikolaj an. In
Kronstadt wurden die meuternden Matrosen mit dem Stock
gezüchtigt. Die Studenten imd Studentinnen, die man bei Kra-
wallen arretierte, schleppte man auf die Polizeiwachstuben und
ließ sie hier nach der Sitte der guten alten Zeit mit der Peitsche
zum Gehorsam gegen die Behörden bekehren. Die Polizei tut,
was sie für gut findet, imd sie sieht allen Gesetzen zum Trotz in
Knut tmd Rute noch, immer die besten Mittel, die Unzufriedenen
ziu- Raison zu bringen und die Unruhigen zur Ruhe zu zwingen.
Jeder Polizeimeister ist gleichzeitig Henkermeister und hat stets
seinen Kantschu zur Hand. Aber nicht bloß der Polizeimeister,
auch der erstbeste Pristaw, ja der letzte Gorodowoj hält sich
für berechtigt, einem Verdächtigen mit der Faust ins Gesicht
zu schlagen, einen Verhafteten mit der Peitsche zu bearbeiten,
um ihm Geständnisse zu erpressen. Bei den üblichen Massen-
verhaftungen hat die Polizei keine Zeit zu untersuchen, wer
schuldig und wer unschuldig ist. So läßt man, ohne lange zu
überlegen, die ganze verhaftete Gesellschaft ausnahmslos auf
die Bänke schnallen imd der Reihe nach peitschen: Greise,
Männer, Weiber, Kinder, alle erhalten ihren Teil. Und diese
diskretionäre Gewalt der Polizei wächst in demselben Maße,
in dem der Ort der Ereignisse vom Zentnmi der Verwaltung
entfernt ist. Je weiter von Europa, je mehr den Augen der
fremden Diplomaten entrückt, je schlimmer für das bedrückte
— 131 —
russische Volk. Alle die Gouverneure iind Kommissäre, die
Zar Nikolaj II. zur Unterdrückung der Revolution erwählt hat,
haben in Knut, Pletj und Rute die Rettungsmittel für die Auto-
kratie erblickt. Als General Kleigels vor einigen Jahren beim
Beginn der Unruhen Polizeipräfekt von Petersburg wurde, stellte
er allem zuvor die Peitsche und die Folter in den Dienst der
Polizei. General Trepow der Jüngere ließ in Moskau auf Befehl
des Großfürsten Ssergej die demonstrierenden Studenten mit
Knutenhieben niederschlagen; in Petersburg versuchte er die-
selbe Methode, imd dabei passierte es ihm, daß er einen mit
dem englischen Hofe verwandten Herzog für einen politisch
Verdächtigen hielt und auf offener Straße mit Püffen regalierte;
die Verdrießlichkeiten, die ihm hieraus erwuchsen, veranlaßten
ihn, sich nicht mehr persönlich an den Prügelungen zu be-
teiligen. Trepows Nachfolger, General von der Launitz, setzte
das Knutenregiment fort, bis ihn die Rache der Revolutionäre
traf.
Wenn die Zivilbehörden glauben, das Volk nur mit Peitsche
und Rute zügeln zu köimen, so ist es fast natürlich, daß die
militärische Verwaltung dieser Werkzeuge nicht entraten mag.
Wie im Volke sind jetzt auch im Heere an allen Ecken imd
Enden Revolution und Widerspruch erwacht. Man kann das
empörte Volk durch die Kosaken dezimieren, nicht aber auch
die Armee regimenter- und bataillonsweise hinrichten lassen.
Da ist die Peitsche das beste Mittel einer ausgiebigen Strafe,
gefürchteter und abschreckender als der Tod durch die Kugel
oder am Galgen. Man erschießt Deserteure oder Empörer in
der Armee nicht, weil ihrer zu viele sind ; aber man läßt sie auf
die Bänke schnallen und mit einer Anzahl Prügel bedenken,
die alle Freiheitsgelüste und jeden Widerspruchsgeist ertöten.
Das Repertoire der russischen Henkerbühne weist die fol-
genden Züchtigungsinstrumente auf: Knut (KHyTt); Batogi
(6aTorH, Stockschläge meistens auf die Fußsohlen) ; Palki (nanKn,
Stöcke); Pletj (njieTB, Peitsche); Spießruten (ninHi];pyTeHH) ;
Ruten (posra). Das Verhältnis der einzelnen Züchtigungs-
instrumente zu einander definierte der Ukas von 1846: 10
Schläge Knut gelten 30 Pletj, 40 bis 50 Knut gelten 100 Pletj.
Ein Knutenschlag ist gleich 2 — 3 Pletj, der Pletj also zwei oder
— 132 —
dreimal leichter als Knut. lo Schläge Pletj gelten wiederum
40 Rutenschläge, 20 bis 30 Pletj sind für 80, und 40 Pletj für
100 Rutenschläge anzurechnen. Ein Pletj ist also gleich 3 — 4
Rutenschläge, die Rute dreimal leichter als Pletj. Im Jahre
1855 galten 100 Pletjschläge so viel wie 2000 bis 3000 Spitz-
ruten. Es gab aber normale Verurteilungen zu 6000 Spitzruten,
also 300 Pletjschlägen oder 150 Knutenhieben! Das nannte
man Abschaffung des Knut und des Pletj.
Die erste Stelle als schwerstes Züchtigungsinstnmient, als
dem Herrscher im Reiche der charakteristisch-nationalen, tradi-
tionell-barbarischen Strafmethoden, blieb durch alle Jahrhun-
derte dem Knut vorbehalten, so daß der Ausländer das Zaren-
reich [kurzweg als das Knutenreich zu bezeichnen liebt. Karamsin
hat den Knut als Überbleibsel des Tartarenjochs erklärt, aber
Timofejew wies auch hier überzeugend nach, daß dieses Züch-
tigungsmittel ein uraltes russisches Inventarstück ist.^)
Die Knutenstrafe wurde verhängt als selbständige Strafe
oder als peinliche Zugabe zu anderen Strafen, beispielsweise
Verbannimg oder Gefängnis ; aber selbst die Todesstrafe wurde
oftmals verschärft durch die vorhergegangene Züchtigung mit
dem Knut. Mit dem Knut, der die Todesstrafe ersetzte, ihr an
Würde und im Rang zunächst stand, schlug man Verbrecher
verschiedenster Art: die schwersten wie die harmlosesten; denn
das russische Justizwesen kennt keine Logik, sondern nur Grau-
samkeit ; keine Gerechtigkeit, nur Willkür. Ein Ukas von 1 684
befiehlt, „diejenigen mit dem Knut zu schlagen, die die Ord-
nung im Kremlj stören**. Peter der Große läßt 1722 Raßkolj-
niki knuten, die sich aus Sibirien geflüchtet haben; derselben
Strafe unterliegen jedoch auch Soldaten, die zwanzig Rubel
stehlen. Für solchen winzigen Diebstahl droht also dem armen
Soldaten eine Strafe gleich der Todesstrafe in einem Lande,
wo alles stiehlt, wo die Minister offenkundig die Kassen ihrer
Ämter plündern und die Großfürsten selbst Millionen defrau-
dieren! 1756 wird ein armer Teufel, der sich für ein Pfund
Salz statt des vorgeschriebenen Preises von 4^/3 Kopeken : 5 Ko-
peken zahlen läßt, unbarmherzig geknuteti Mit dem Knut
^) TiiMO({>eeBT>, IIcTopifl rkiecuux'L iiaKaaaiiiÄ, tTp. 150 — 179: Kuyn,.
— 133 —
straft man Hebräer, Mohammedaner imd Heiden, die einen
Christen durch List oder Gewalt konvertieren, ferner: vorbe-
dachten Mord, Kinderdiebstahl, Fälschung von Dokumenten,
Münzfälschung, Banknotenfälschung, Einführung falschen Gel-
des. Der Knut ist die Lieblingsstrafe für Sittlichkeitsver-
brechen : für Notzucht an einem jungen Mädchen, an einer ver-
heirateten Frau oder einer Witwe, für gleichgeschlechtliche
Unzucht ; auch die Leibeigenen, die ihrer geschändeten Herrin
keine Hilfe angedeihen ließen, werden geknutet.^)
Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnt man mit
der selbständigen Knutenstrafe einige für den Bestraften unan-
genehme Konsequenzen zu verknüpfen: er darf weder in den
beiden Hauptstädten noch in den Gouvemementsstädten blei-
ben; 1787 wird befohlen, die mit dem Knut Geschlagenen als
Zwangsarbeiter in die Kreisstädte zu verschicken.
Die ausländischen Reisenden vom sechzehnten bis acht-
zehnten Jahrhundert, wie Struys, Perry, Olearius, haben Be-
schreibungen des Knut geliefert. Bergholz sagt 2): „Die Knute
ist eine Peitsche mit sehr kurzem Stiel und mit einem sehr langen
Riemen.** Bei Breton 3) heißt es: „Die Knute ist eine Peitsche,
deren Stiel ungefähr einen Schuh lang, sehr stark und mit Fell
überzogen ist. An diesem Stiel befindet sich ein schmaler
lederner Riemen, der viel länger als der Griff ist, an der Spitze
ist ein Stück Büffelleder angemacht, das einem biegsamen Hörn
gleicht und nach allen zwanzig Streichen gewechselt wird.
Der Riemen läuft spitzig zu und ist etwa drei Linien dick.**
Einige behaupten, daß „in den Riemenenden Draht einge-
flochten war**^); andere, ,daß „das Ende einige Zeit vor der
Exekution in Milch erweicht imd dann wieder getrocknet
wurde.*^^) Daß diese alten Beschreibungen der Westeuropäer
im allgemeinen richtig waren, ergibt sich aus einem von Timo-
fejew zitierten Artikel des Professors Ssergejewskij, der ein von
diesem aufgefundenes Exemplar eines alten Knut folgender-
^) Golovine, La Russie sous Nicolas I^*". I 379.
^) In Büschings Magazin XIX 79.
3) a. a. O. IV 53.
*) Corvin. Geißler. S. 60.
S) Wemirot, Rußland im Licht and Rußland im Schatten. S. 154.
— 134 —
maßen schildert: „Der hölzerne Griff ist i^s Werschok (ein
Werschok: etwa 4V2 Zentimeter) lang imd hat einen Durch-
messer von Ys Werschok. An den Griff schließt sich ein
elastischer Strang aus Leder, 14^/0 Werschok lang imd anfangs
1^8 Werschok dick, dann zum Ende immer dünner werdend.
Am Schlüsse befindet sich ein Ring mit einem 13 Werschok
langen und ^/g Werschok breiten Schwanz aus weißen Riemen.
Dieser Schwanz ist hart wie Knochen und mit einer Rinne ver-
sehen; die Ränder schneiden dem Gezüchtigten ins Fleisch,
die Rinne läßt das Blut abfließen." Jene, die daran festhalten,
daß der Knut eine tartarische Erfindung sei, glauben im Worte
Knut die Ableitung aus dem Türkischen herauszufinden. Doch
schon Leroy-Beaulieu 1) meinte, das Wort sei wahrscheinlich
arischen, vielleicht germanischen Ursprungs, etwa verwandt mit
dem deutschen Wort Knoten, lateinisch nodus. Welcher Ab-
stammung der Knut auch sein mag, so ist er doch nirgends so
heimisch geworden wie in Rußland, wo das Volk auf ihn das
tiefsinnige Sprichwort prägte : „Der Knut ist zwar kein Engel,
aber er lehrt die Wahrheit sagen.**
Bei der Armseligkeit der alten russischen Literatur ist es
begreiflich, daß die Zeugnisse für die Anwendung des Knut
in frühester Zeit äußerst dürftig sind. Schon in den tausend
Jahre alten Gesetzen Wladimir Monomachs aber findet man
in einem Paragraphen den Knut als Werkzeug der öffentlichen
Leibesstrafe erwähnt.2) Allerdings scheint dieses Werkzeug
viel zarter beschaffen gewesen als jenes der späteren Jahr-
haviderte; es wird beschrieben als „ein Strick von Hanf oder
mehreren dünnen Riemen zusammengeflochten und an einem
kurzen Griff befestigt.** Mit dieser simplen Peitsche, deren
man sich im gewöhnlichen Leben bediente, um ein Pferd anzu-
spornen, strafte man nur kleine Verbrecher, während der Knut
des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts der Todesstrafe
gleich geachtet wurde.
Ganz genaue Angaben über den Knut finden sich vom
^) Das Reich der Zaren. II 339, Anmerkting.
^) Wladimir Monomachs Gesetze in ,, Konstantinopel und St. Petersburg,
der Orient und der Norden", eine Zeitschrift. II 323.
— 135 —
fünfzehnten Jahrhundert angefangen. Im Ssudebnik, dem Ge-
setzbuch Joans III., wird der Knut angeordnet als Strafe für
die Zerstörung von Grenzsteinen und für Kirchendiebstahl;
das Gesetzbuch des Enkels Joans, Iwans des Schrecklichen,
kennt die Knutenstrafe schon für eine ganze Reihe von Ver-
brechen : Diebstahl, Raub, Meineid, falsches Zeugnis, Verleum-
dung ; und die Praxis geht über das geschriebene Gesetz hinaus,
und man knutet im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert
jeden, der dem Gericht in die Hände fällt: 1462 die Anhänger
des Fürsten Wassilij Jaroslawitsch, 1537 die Parteigänger des
Fürsten Andrej, 1490 die sogenannten judaisierenden Ketzer.
Zar Alexej, der zweite Romanow, gibt dem Reiche ein neues
Gesetzbuch, in dem es von Körperstrafen wimmelt : nicht weni-
ger als 140 Artikel kennen die Züchtigung mit dem Knut.
Seine schönste Blütezeit hat der Knut im achtzehnten Jahr-
hundert und in der ersten Hälfte des neunzehnten Säkulums
erreicht! Peter der Große knutet eigenhändig die Strjeljzen,
dann seine Gemahlin Eudoxia, seine Schwestern, schließlich
den Thronfolger Alexej. Katharina II. läßt 1774 nicht bloß
den Thronanmaßer Meteljka, der als Peter III. auftritt, sondern
auch alle jene knuten, die bloß Meteljkas Namen erwähnen.
Die mildherzige Elisabeth befiehlt, die Sektierer zu knuten;
und das gleiche Los trifft 1826 „zwei Hebräer, die zwei mit
ihnen bekannte Katholiken zum Judaismus verführten**. Staats-
verbrecher und Häretiker züchtigte man fast immer mit dem
Knut. Aber seit Iwan dem Schrecklichen bedrohte der Knut
auch die Beamten für dienstliche Vergehen, die Deserteure und
Soldaten. 1646 wird die Knutenstrafe einem Manne zudiktiert,
der den Patriarchen beleidigte. 1726 züchtigt Mentschikow,
selbst der größte Dieb und Defraudant aller Zeiten, den
Schljachtschitschen Ljarskij wegen Veruntreuung. Im sieb-
zehnten Jahrhundert bedroht der Knut den Ungehorsam des
Bürgers gegen den Vater, des Soldaten gegen den Befehls-
haber; den Ordnungsstörer, den Sittlichkeitsverbrecher, die
Huren.
Anfangs knutet man nur die Verbrecher aus der niederen
Klasse und bloß die Männer. Aber im glorreichen achtzehnten
Jahrhundert, in dem Säkulum der Frauenregierungen, macht
— 136 —
man keinerlei Unterschiede mehr. Männer und Frauen, Greise
und Kinder, Bauern, Leibeigene, Bürger, Adelige, Geistliche,
Hofdamen imd Reichskanzler — Alle müssen sie vor dem Hen-
ker niederknien, um die schändende Tracht Prügel zu empfan-
gen. Auch zwischen dem schwersten Verbrechen oder dem
gelindesten Vergehen wird ^cht mehr unterschieden. Die
häufig totbringende Knutenstrafe wird angedroht: 1627 den
Leuten, die in Moskau auf der Waganjkowa das beliebte Faust-
kampfspiel treiben; den Zotenreißern und den Leuten, die un-
züchtige Reden führen. Peter der Große läßt mit dem Knut
schlagen: die Händler, die altmodische Kleider verkaufen;
die Gastwirte, die unzüchtige Frauen beherbergen; die Haus-
bewohner, die Mist auf die Gasse werfen (diese Unvorsichtigen
werden nebenbei auch zur Verbannung imd Zwangsarbeit ver-
urteilt I) ; die Fleischer, die tote Tiere an dazu nicht bestimmten
Orten verkaufen; die gesunden Bettler (auch diese trifft die
Katorga, die Zwangsarbeit in Sibirien!). Seit Katharina IL
schränkt man die Knutenstrafe ein, indem man den Knut durch
Pletj, Spießruten oder Ruten ersetzt. Aber verdrängt wird der
Knut noch lange nicht ; im Gegenteil, seine Bedeutung wächst,
er ist die höchste Strafe, die Kapitalstrafe. Die Reformatoren
des neunzehnten Jahrhunderts weisen ihm einen erhabenen
Platz an, die Gesetzbücher von 1833 und 1842 widmen seiner
Anwendung fünfzig Artikel; und erst 1845 streicht man den
Knut formell aus dem Gesetze, läßt man ihn aus der Theorie
verschwinden, um ihn in der Praxis imter anderem Namen, als
Peitsche und Rute, beizubehalten bis auf unsere Tage.
Der Knut war indessen nicht überall in Rußland in Ge-
brauch. In den Ostseeprovinzen kannte man ihn nicht. Dies
geht aus einem Aktenstücke aus dem Jahre 1784 hervor. Ein
Mädchen, namens Leno, war zur Enthauptung verurteilt wor-
den; nach dem Gesetz vom 30. September 1754 mußte die
Todesstrafe in Knutenstrafe umgewandelt werden. „Was soll
ich nun tun?'* fragt der Generalgouverneur, „da die Knuten-
strafe hier nicht üblich ist und es nicht einmal Leute gibt, die
in solcher Exekution bewandert wären? Soll ich die Knuten-
strafe einführen oder Ruten anwenden, wie es hier gebräuch-
lich?** Der Senat entschied, daß in den Ostseeprovinzen die
Die groBe Knutenstrafe.
(Nach einem niasischen Bilde.)
— 137 —
landesübliche Rute statt des russischen Knut zu gebrauchen sei.
Auch in Kaukasien war der Knut unbekannt, und der Statt-
halter von Grusien, Fürst Zizianow, ließ daher im Jahre 1803,
als einmal ein Verbrechen nach dem russischen Gesetze die
Knutenstrafe erforderte, statt des Knut Spitzruten anwenden.
Im übrigen Rußland aber war die Knutenstrafe schließlich
so allgemein geworden, daß man in den Ukasen und Urteilen
das Wort Knut gar nicht mehr anzuwenden brauchte. Man
sagte noch bis 1845 : öffentliche Züchtigung. In der Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts hieß es einfach: HaKaaame, Be-
strafung, im Gegensatze zu Kaant, Strafe, Todesstrafe; oder
auch »ecTOKoe HaKasanie, harte Bestrafung. In der Peter-
schen Epoche befahl man: HvecTOKoe zcTasanie na Ttedb,
harte körperliche Folter. Letztere Bezeichnung blieb offiziel
bis 1808, traditionell bis 1830, wo man sie auf die Bauern, die
sich gegen die Quarantänemaßnahmen empört hatten, an-
wandte. Nach Aufhebung der Todesstrafe, KasHb, gebrauchte
man die Bezeichnung Kaanb für die Knutenstrafe. HaKaaaHie
oder KaaiLb, Strafe, das war dann ganz einfach und vollkonunen
selbstverständlich : der Knut. Wollte man noch deutlicher sein,
den Henker nicht etwa zur Milde verführen, so befahl man:
sKecTOKoe HaKaaanie, harte Bestrafung. Dann war kein Zwei-
fel möglich. Und der Henker hatte den Richter nur noch
zu fragen: „Birrf^e KHyTOM'b npocToe, crh noiu,a;^OK); hjiii
Hema^Hoe, öeai^ uou;aAii, Ges'h BcaKaro MHJiocepAi^i?" Das
heißt: ,,Mit Erbarmen oder ohne Erbarmen? Soll der Ver-
urteilte den Knut überleben ? oder soll er im Versehen getötet
werden?" 1614 befiehlt ein Urteil, einen Verleumder unbarm-
herzig zu schlagen. 1616 wird der Quarantänechef Bestuschew
unbarmherzig geschlagen, weil infolge der Nachlässigkeit seiner
Wachen mehrere Bauern unter den Schlagbäumen durch-
schlüpften. 17 19 wird vorgeschrieben, einige pflichtvergessene
Gerichtsleute unbarmherzig zu schlagen. 1730 werden Re-
kruten, die sich verstümmelten, um nicht dienen zu müssen,
unbarmherzig geknutet. Katharina II., die Freundin der auf-
geklärten Philosophen, befiehlt mit Vorliebe nicht bloß unbarm-
herziges, sondern „allerhärtestes martervollstes Schlagen**,
HaHHCPCTO^aümee iicTasaHie.
— 138 —
Das Knutschlagen vollzog man gewöhnlich auf dem öffent-
lichen Platze, auf dem Marktplatze, wo viel Volk zusammenzu-
kommen pflegte. So verordnete es das Gesetzbuch Alexejs im
Jahre 1649. In Moskau war der Rote Platz (KpacHaa njioiii,aÄi>)
oder der Platz vor den Spaßkij-Toren für die Exekutionen be-
stimmt; in St. Petersburg wurde 1724 der Troitzka-Platz zu
diesem Zwecke ausgewählt. Zuweilen, namentlich in früheren
Zeiten, knutete man den Verbrecher auch auf dem Orte seines
Verbrechens. Dies war laut dem Gesetzbuche Alexejs immer
der Fall, wenn jemand wegen Beschädigung oder Zerstörung
von Grenzsteinen zur Knutung verurteilt worden war. 1763
wurde der Pseudo-Zar Kremlew „in allen Dörfern, in denen er
lügenhafterweise als Peter III. aufgetreten**, geknutet. Räuber
wurden durch alle Orte, wo sie geraubt hatten, herumgeführt
und überall auf dem Marktplatz geknutet. Erst 1822 befahl
man : „nicht mehr zu strafen wie ehemals, nicht mehr den Ver-
brecher, ohne Rücksicht auf seine Wunden, von Ort zu Ort
zu führen und zu knuten.** Aus einigen Begleitumständen
konnte das Volk die Ursache der Strafe gleich erkennen. So
wurden nach Kotoschichins Bericht Männer und Frauen, die
wegen Unzucht und Hurerei geknutet wurden, nackt herum-
geführt. Olearius erzählt: Männer, die für den Verkauf von
Tabak den Knut erhielten, mußten während der Züchtigung
am Halse ein Päckchen des unglückseligen Krautes tragen.
Und Margeret berichtet, daß korrumpierte Beamte die erhal-
tenen Geschenke am Halse tragen mußten, während sie ihre
Knutenstrafe erduldeten.
Es gab dreierlei Arten des Knutenschlagens : npocToe
ÖHTBe KHyTOM'B, das einfache Knutenschlagen ; bI) npoBO^Ky,
der Knut im Herumführen; und na K03Jii, der Knut auf dem
Bock. Die einfache Art wurde folgendermaßen vollzogen:
Dem Verbrecher wurde das Hemd aufgehoben. Dann legte
man ihn auf den Rücken eines Mannes und während dieser
den Verurteilten festhielt, zählte der Henker die Schläge hin.
Bei der zweiten Art nahmen zwei Henkersknechte den Ver-
urteilten unter die Arme und führten ihn Straße auf, Straße
ab, und der Knutenmeister ging hinterdrein und hieb auf den
Rücken des Verbrechers los. 1713 wurde ein Lieferant, namens
— 139 —
Feodor Gredow, „der an Rekruten Brot und Kalatschen zu
wucherischen Preisen verkauft hatte", zum KnyTB BTb npoBO^Ky
verurteilt. Zum Knut im Herumführen verurteilte man 1750
Leute, die während des Brandes von Nischnij Nowgorod gestoh-
len hatten. Bis zur Zeit Alexanders I. bestanden alle drei Arten,
von da ab nur die letzte : Der Knut auf dem Bock. Wie diese
Maschine (K03Jia, Bock, oder auch Koömia, Stute geheißen)
früher beschaffen war, kann man alten Quellen nicht entneh-
men. Im neunzehnten Jahrhundert war sie ein, kreuzartiges
Gestell, das der Verbrecher, halb nach vom übergebogen, mit
den Händen umfaßte, die man an das Kreuz anband. Dann
knüpfte man die Füße mit Riemen fest. So blieb der Ver-
brecher unbeweglich. L. A. Ssärjakow beschreibt die „Stute*',
die er 1831 in Anwendung sah, als ein Brett in der Größe eines
Menschen, mit Ausschnitten für Hals und Hände; letztere wur-
den durchgesteckt und mit Riemen an den Hals befestigt. Eine
offizielle Beschreibimg des Gestells nennt dieses delikat nicht
Kobyla, Stute, sondern „Kobylka**, Stütchen.
Die Exekution mit dem Knut fand auf einer schaffotartigen
Erhöhung statt, so daß man sie von allen Seiten gut sehen
konnte. Im Laufe der Zeit bildete sich eine besondere Zere-
monie heraus, die nach der Abschaffung des Knut für den
Plet j beibehalten blieb : Nach Publikation des Urteils wurde
der Verbrecher für einige Tage isoliert und an Ketten ge-
schmiedet. Dann erhielt er den Besuch des Geistlichen, der
ihm das heilige Abendmahl reichte und Geständnisse zu er-
langen suchte. In der Nacht vor der Exekution brachte man
in den Hof des Gefängnisses den sogenannten Schand-Wagen.
Am großen Tage selbst wurde frühmorgens der Verurteilte
mit reiner Wäsche, einem schwarzen Kaftan und einer schwar-
zen Schapka bekleidet. Auf die Brust hing man ihm ein
schwarzes Brett, worauf in weißer Schrift das Verbrechen ver-
kündet war. Nim setzte man den Delinquenten rücklings auf
den Schandwagen und band ihn mit Riemen an einen Schemel
an. Unter einer Eskorte fuhr man zum Schaf fot. Stelzer be-
richtet als Augenzuge noch: „Hinter dem Wagen folgte der
Henker mit seinen Gehilfen imd der Verurteilte mußte in den
gebimdenen Händen eine schreckliche Wachskerze halten.**
— 140 —
Beim Schaffet angelangt, wurde der Wagen mit Trommel-
schlag begrüßt. Man stellte den Verurteilten auf die Treppe
des Schaf fots und las ihm das Urteil vor; war „Schandsäule"
vorgeschrieben, so band man den Delinquenten an einem auf
dem Schaffot aufgerichteten Pfahle mit Ketten fest. Nach der
Verlesung des Urteils kam endlich der spannungsvoll er-
wartete Augenblick: Der Palatsch (najia^'b, Henker) ergreift
den Verurteilten, reißt ihm Oberkleid und Hemd herunter imd
holt aus einem Winkel des Schaffots die Instrumente. Der
Henker muß ein Meister, ja ein Künstler in seinem Fache sein.
Schon ein einziger Schlag kann töten, imd doch darf kein
Schlag fehlgehen. Auf ein Zeichen des Exekutionsleiters holt
der Henker aus und schlägt kreuzweise auf den Rücken des
Opfers; springend schlägt er nach rechts und links, niemals
zu viel und niemals zu wenig, niemals zu hart oder zu sanft,
und inmier nur mit der einen Hand, denn die andere muß
das Blut vom Riemen streichen. Nach jedem zehnten Schlage
wechselt der Henker den Knut. Er sieht auch auf ein schönes
Muster. Zuerst schlägt er das Kreuz auf dem Rücken des
Delinquenten, dann zieht er lauter Querstreifen. Sind zahl-
reiche Schläge zu geben, dann macht er hie und da eine
Pause und stärkt sich aus einer Wodkaflasche, die ihm zu
Füßen steht. Sinkt der Verurteilte bewußtlos zusammen, so
bindet man ihn los, der Arzt ruft ihn ins Leben zurück, und
dann erhält er den Rest der Pein; erlassen wird kein einziger
Hieb. Nach beendigter Knutung setzte man früher den Be-
straften auf die Trommel und bedeckte ihn mit dem Tulup,
einem Schafpelz. Sonst aber tat man nichts für den tötlich
Verwundeten.
A. K. Grabbe erzählt in seinen Erinnerungen i), daß die
wegen der Cholerakrawalle von 1831 Geknuteten „mit bluten-
den Wunden verschickt wurden, so daß fast alle unterwegs
starben." In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erst
begann man die Gepeitschten menschlicher zu behandeln.
Man bedeckte den Delinquenten nach der Peitschung mit einem
Hemd oder Kaftan und schob ihn in einen mit herausziehbaren
^) PyccKaa crapHHa, 1876, crp. 533.
— 141 —
Matratzen versehenen Fourgon ; man legte ihn auf den Bauch,
imd ein Feldscher nahm neben ihm Platz, um ihm ärztliche
Hilfe angedeihen zu lassen.
Nicht das Gesetz, sondern die Praxis bestimmte die Anzahl
der Schläge. Das Urteil des Gerichts befahl einfach; Schlagen;
schlagen auf dem Bock; schlagen im Herumführen; schlagen
auf dem Markte während dreier Tage; einfach schlagen oder
unbarmherzig schlagen. Aber die Zahl der Schläge war bis
ziun Jahre 1807 nicht angegeben; erst von dieser Zeit an mußte
der Gerichtshof auch die Zahl bestimmen. Die Praxis hatte
indessen von selbst gewisse Grenzen festgestellt. Das Minimum
der Schläge war natürlich i Schlag. 18 16 erhielt der Soldat
Laschkow für Unterschlagung von 26 Kopeken einen einzigen
Knutenhieb zugeurteilt, weil er über 64 Jahre alt war. Solche
Milde ist beispiellos in der ganzen Geschichte der russischen
Straf Justiz, und Alexander I. mit dem Beinamen: der Gütige,
beeilte sich als Minimum fünf Schläge anzuordnen. Für das
Maximum gab es keine Ziffer. Die Strafe konnte zur Todes-
strafe werden. 1731 erhielt ein gewisser Stolätow „wegen böser
Worte gegen die Kaiserin" 300 Hiebe. 1828 bekamen in Si-
birien zwei Verbannte, die eines Mordes verdächtig, aber nicht
überführt waren, 300 Schläge. Im siebzehnten Jahrhundert
verordnete ein Urteil ,,zu Folterzwecken" 350 Hiebe. Damals
verteilte man die mehrere Hundert Schläge auf mehrere Tage,
ja Wochen ; man gab nach dem Zeugnis Kotoschichins auf ein-
mal nicht mehr als 1 50 Schläge. Zur Zeit, da Haxthausen Ruß-
land bereiste, also um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts,
verhängte man als Maximum 90 Hiebe. War einer unschul-
digerweise zum Knut verurteilt worden, so mußte ihm laut
Ukas von 1835 ^^s Gericht für jeden Hieb 200 Rubel Silber
Entschädigung zahlen. Im allgemeinen bedeutete die Formel
„mit Erbarmen" : nicht mehr als fünfzig Schläge ; „ohne Er-
barmen" : über fünfzig, ohne Begrenzung.
1840 publiziert Nikolaj I. einen Ukas: „Von der Knuten-
strafe befreit weder das hohe Alter, noch Krankheit, noch.
Krüppelhaftigkeit, noch das Geschlecht." Unter Kaiserin Katha-
rina II. verurteilt man einen Mann zu fünfzig Knutenhieben :
Graf Bruce, der Kommandant von Moskau, findet dies zu milde.
y>
— 142 —
Aber mehr ist der TodI** sagt man ihm; und er entgegnet:
Das soll ja so sein, der Knut ersetzt doch die Todesstrafe!"
Furchtbare Wahrheit. Der Knut war schon in der gelindesten
Anwendung lebensgefährlich. Kotoschichin erzählt : „Nach
jedem Schlage auf den Rücken wird ein großer Streifen bis
auf die Knochen abgerissen.** Le Bruyn^) bemerkt: „Die den
Tod nicht verdienen, erhalten den Knut. Aber man schlägt
oft so stark, daß sie doch davon sterben." Bei Breton heißt
es 2): „Jeder Streich reißt ein Stück Fleisch fort. Der Be-
strafte ist kaum mehr lebend. Es gibt keine Todesstrafe,
aber Knut ohne Gnade, und da bleibt der Gezüchtigte gewöhn-
lich tot oder er stirbt am Brande der Wimden." Olearius sah,
wie man eine Frau imd einen Mann knutete; die Frau wurde
nach dem sechzehnten, der Mann nach dem fünfundzwanzigsten
Hiebe bewußtlos; „ihre Rücken glichen denen von Tieren,
denen man die Haut abgezogen.** Schon aus dem Jahre 1493
erzählt ein Annalist, daß ein littauischer Gefangener zu Tode
geknutet wurde. Horsey war Zeuge dessen, wie Iwan der
Schreckliche den Fürsten Kurakin „mit 6 Knutenhieben des
Rückens, des Lebens imd der Eingeweide berauben ließ."
1604 berichtet Bär: „Auf dem Rücken blieb kein Winkel un-
verwundet.** 16 IG wurde befohlen, den zweiten Pseudo-Dmitrij
mit dem Knut zu Tode zu prügeln. 1762 wurden auf Befehl
Katharinas IL ungehorsame Kosaken zu Tode geprügelt. 1782
knutete man einen Mörder auf dem Newskij-Prospekt zu Peters-
biu-g; er blieb tot auf dem Platze. 3) Am 5. September 1800
wurde der Oberst Grusianow „wegen unehrerbietiger Worte
gegen den Kaiser** zu Tode geknutet. Man begann bei Sonnen-
aufgang mit dem Prügeln und hörte erst auf um 2 Uhr nach-
mittags, als der dritte Henker erschöpft zusammenbrach und
ein vierter nicht aufgetrieben werden konnte. Dem sterbenden
Opfer drückte man noch ein Brandmarkuhgszcichen auf. 1824
schreibt Dr. Trifonow, der den Zaren Alexander I. begleitet.
') Voyages III 135.
-) a. a. O. IV 59.
•*) Skizzen über Rußland, von J. J. Bellermann. Straßburg 179a. S. 11.
— 143 —
aus Ssimbirsk: „Ich ging zum Bestraften, sein Rücken war
voll Blut, ein Fleischklumpen.**
Dem Grafen Bruce hatte auf seinen grausamen Ausspruch
schon 1748 Senator Lopuchin geantwortet: „Die Aufhebung
der Todesstrafe gereicht Rußland zu höchstem Ruhm. Aber
wenn man, statt den Kopf abzuschneiden, nunmehr die Leute
mit dem Knut zu Tode quälen soll, so ist das milde Gesetz, das
die Aufhebung der Todesstrafe vorschrieb, zu einem barba-
rischen umgewandelt.** Lopuchins Worte verhallten ungehört.
Fürst M. Schtscherbatow klagte bald darauf: „Die Knuten-
strafe bedeutet Todesstrafe. Man schlägt ohne Berechnung,
bis auf den Tod; zuweilen nüt Berechnung, dreihundertmal.
Einige Geschlagene sterben auf der Stelle. Andere werden
bloß bewußtlos und sterben erst in den Gefängnissen. Einige
— es gibt auch solche — sterben nicht. Das Gesetz hat die
Todesstrafe verboten — aber existiert noch irgendwo eine so
martervolle Strafe wie die Knutenstrafe ?** Alexander I. nannte
18 17 den Knut: „unmenschlich hart**, und fügte hinzu: „es ist
beispiellos in einem eiiropäischen Staate, daß die Härte der
Strafe sozusagen dem Gutdünken des Henkers überlassen, bleibt.
Dies entspricht nicht den Zwecken der Gerechtigkeit und führt
zu einer schrecklichen Bestrafung, die im Kontrast zu dem
Gesetze von der Aufhebung der Todesstrafe den Verurteilten
nicht selten unter furchtbaren Qualen tötet.** Dennoch blieb
der Knut bis 1845. Seine Beseitigung erfolgte mit dieser Moti-
vierung: „Bei der Knutenstrafe hängt es von der Willkür des
Henkers ab, dem Verurteilten den Tod zu geben oder ihn,
dank einer Bestechimg, ganz leicht zu schlagen. **i) Der Knut
1) Einige Worte über die Henker in Rußland. Der Stand der Scharf-
richter wurde in alten 2^iten nicht für schimpflich gehalten; Kaufleute gaben
Geld her, um in die Zahl der Henker aufgenommen zu werden (Breton IV 61).
„Das Amt des Henckers (heißt es in der Reise nach Norden, S. 194) ist erblich /
derselbe erzeiget sich sorgfältig / seine Kinder in seinen Handwerck zu unter-
richten / und lässt ihnen ihre Kunst an einem ledernen Sacke lernen". Nach
Timofejew (TitMo<l)eeB7,, ITcropiff rlyiecHbixi» HaKasaniil, crp. 177) wurden im
17. Jahrhundert die Henker aus der Mitte der dienenden Klasse genommen;
sie bekamen bestimmten Gehalt. Während des Strjeljzenaufstandes mußten
auf Befehl Peters die vornehmsten Herren aus der Umgebung des Zaren als
Henker figurieren. Die Lage der Henker wurde erst eine peinliche, als die
— 144 —
wurde also verboten; alle vorhandenen Exemplare ließ man
einsammeln und in die Erde vergraben. Nur einige wenige
Stücke haben sich als Raritäten in Museen und in Privatbesitz
erhalten.
Merkwürdigerweise gab es auch Verteidiger des Knut;
nicht in Rußland selbst, sondern unter Westeuropäern des
neunzehnten Jahrhunderts. So sagt Stelzer im Jahre 1807:
„Die Knutenstrafe ist leichter als ehemals die leichteste säch-
sische Strafe gewesen. Die Zaren Alexej Michajlowitsch und
Peter der Große machten den Knut allerdings zu einem gräß-
lichen Werkzeug; aber welches Volk mußten diese großen
Ijeutt zähmen 1" Ein anderer deutscher Schriftsteller i) schrieb
russische Gesellschaft anfing, in der körperlichen Bestrafung etwas Schimpf-
liches zu sehen. Da findet man oft schwer Personen für den Henkerdienst.
Als 1768 in Jaroslaw der Henker erkrankt, kann der Polizeimeister keinen Ersatz
für ihn auftreiben. 18 18 starben in Petersburg beide Knutenmeister; Niemand
will ihr Nachfolger werden, man muß die Exekutionen verschieben. Ein Ukas
von 1836 befahl, die Henker aus dem Arrestantenkorps zu nehmen. Die Henker
wohnten in den Gefängnissen. Wenn sie in einen Kabak kamen, durften sie
trinken, soviel sie wollten, und brauchten nichts zu zahlen ; das Glas, aus dem
©in Henker getrunken, wurde sofort zerbrochen (Wemirot, Rußland im Licht
und Rußland im Schatten, S. 153). Die Henker verloren aber das Recht des
freien Umhergehens, als der Sohn des Marschalls Davoust von einem Henker
durch Bestechung einen Knut erhalten hatte. Seither blieb der Henker einem
Gefangenen gleich in seiner Kerkerwohnung, abgeschieden von jedem Verkehr
mit der Außenwelt, in die er nur bei Exekutionen trat. Vom Jahre 1833 ab er-
hielt der Henker außer seiner Wohnung 200 bis 300 Rubel jährlich. Collins
rühmt im 17. Jahrhundert ,,die geschmackvolle und geschickte Arbeit der
Knutenmeister", aber er erzählt auch schon von ihrer sprüchwörtlichen Be-
stechlichkeit: Sie waren imstande, mit einigen wenigen Schlägen zu töten, da-
gegen hundert Hiebe auszuteilen, ohne daß der Bestrafte darunter schwer zu
leiden hatte. Die Henker mußten eine Schule durchmachen. Sie lernten ihr
Handwerk an einer Kobyla, der Knutenstute, auf der das Modell eines mensch-
lichen Rumpfes (Schultern und Rücken) aus Birkenrinde lag. Die Instrumente
(Knut und Brandmarkungsutensilien) lieferte das Ministerium des Innern.
1840 wurden sorgfältig hergestellte neue Musterknuten, Pleti, Riemen für die
Kobyla und Brandmarkungsutensilien von der Zentrale an die Gouvernements-
gorichte ausgefolgt. Der Preis eines Knut stellte sich für die Regierung nach
einem Bericht aus dem Jahre 1768 auf 20 Kopeken.
1) Kaiser Nikolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von
Europa. Weimar 1848. S. 90.
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Strafe der Batoggen.
(Nach eiaem nissbcben Bilde.)
— 145 —
1848: „Die neunschwänzige Katze der Engländer ist schlimmer
als der russische Knut/* Die Russen selbst waren indessen
froh, den Knut endlich abgeschafft zu wissen. 1849 wies der
Vertreter Rußlands auf dem Brüsseler Kriminalistenkongreß
mit Stolz darauf hin, „daß Rußland nicht mehr hinter den auf-
geklärten Völkern zurückbleibe, denn der Knut, dieses schreck-
liche Strafwerkzeug, ist nicht mehr im Gebrauche.** Aber der
Stolz war nur wenig berechtigt. Auf demselben Brüsseler
Kongreß schon sagte jemand spöttisch: „Ihr habt den Knut
bloß ausgetauscht!** Und dies ist die Tatsache: Die Bruce
sind in Rußland nicht ausgestorben ; sie verstehen es, den Knut
durch Peitsche und Rute zu ersetzen, wie vor anderthalb Jahr-
hunderten die Todesstrafe durch den Knut; die Namen sind
geändert, die Barbarei ist geblieben.
In früheren Jahrhimderte», namentlich im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert, nahmen den zweiten Rang unter
den Züchtigungsinstrumenten die Batogi (öaTorn, Stockschläge)
ein. „Diese Stockschläge,** heißt es bei Breton i), „entsprechen
beynahe den Prügeleyen der Chinesen. Der Schuldige wird
auf den Bauch hingestreckt und mit 2 Stöcken auf das dicke
Fleisch der Schenkel geschlagen. Die Strafe ist hauptsächlich
beim Militär und bei den Leibeigenen in Gebrauch.** Der Arzt
Wichelhausen 2) schilderte den Vorgang als Augenzeuge: „Der
Verbrecher wird auf ein Bund Stroh gelegt. Ein Mann setzt
sich auf den Kopf und ein anderer Mann auf die Füße des
Verurteilten. Dann werden ihm mit Bündeln von kleinen Wei-
denruten 3) der Rücken, die Seiten und zuletzt der vordere Teil
des Körpers jämmerlich zerhauen.** Ein sprichwörtlicher rus-
sischer Drohruf ist : ;,Ich lasse dir die Batogi auf alle vier
Seiten geben.** Diese Art wurde einst so vollzogen: „Sobald
der Rücken zerfleischt war, entblößte man Hüften und Schenkel
und hieb sie wund. Darauf legte man den Patienten auf den
Rücken und auf die Seite und prügelte auf diese und den
t
1
1) a. a. O. IV 53.
') Gemähide von Moskwa. 1803. S. 257, Anmerkung.
^) Also nicht mit Stöcken?
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. ** lo
— 146 —
Bauch/*^) Die Batogenstrafe hatte auch eine müdere Fonn:
Schlageil auf die Fußsohlen und die Waden. Diese Art worde
gegen säumige Schuldner angewendet. Die Zahl der Schlage
war nicht von vornherein festgesetzt; man schlug so lange,
bis der Herr oder Richter, der die Strafe anbefohlen hatte, rief:
polno, stoj! (normo oder ctoü: genug! halt!)
Die Batogi^) standen in der Reihenfolge gleich hinter dem
Knut. Die höchste Batogistrafe hieß: Bvrbcro KHrra. anstatt
(l('s Knut. Strujs berichtet, daß man im allgemeinen jene mit
B<itogcn strafte^ die nicht imstande schienen, den Knut aus-
/uluiltcn. Doch schon Korb en^-ähnt die Möglichkeit, daß man
ebenso wie mit dem Knut auch mit den Batogi einen Menschen
luich wenigen Hieben töten konnte. Das sogenannte unbarm-
hrrzig<» Schlagen wurde stets verhängnisvoll, ob das Instrument,
<l;is vMT Anwendung gelangte, nun Knut oder Batog war. Für
die Verwirrung in der russischen Justizpflege, für den Mangel
jeder l'ahigkcit einer Unterscheidung zwischen schweren und
leic hten Verbrechen, liefert die Geschichte der Batogenstrafe
neue drastis(^he Beweise. Unbarmherzig mit Batogen, also so-
/iisa^jen /u Tode geschlagen werden 1623 Leute, die die Zölle
ni( In bezahlten. 1718 befiehlt Peter, einem gewissen Krassows-
Icij unbarmherzig die Batogi zu geben, „weil er in dem Briefe
an Se. Majestät nichts Wichtiges mitgeteilt hat.** 1732 wird
ein gewisser Bobnew wegen Betrugs zu einer Knutenstrafe ver-
urteilt ; „aber seines hohen Alters wegen und zur Gesundheit
Ihrer Majestät** begnadigt ihn Kaiserin Anna zu unbarmherziger
liatogcnstrafe. 1736 ordnet ein Ukas derselben Kaiserin an,
die freiwillig zurückkehrenden Flüchtlinge unbarmherzig mit
Batogen, statt mit dem Knut zu schlagen, ,,da sie nach natür-
lichem Recht geringer bestraft werden können.** Unbarm-
herzig mit Batogen geschlagen werden 1770 die Starosti und
Ssotskije^), die einige der Zauberei beschuldigte Bauern eigen-
mächtig prügeln ließen. Das Schlagen mit Batogen wurde
^) Nach Geißlcr und Richter bei Fmsta; Flagellantismus und Jesuiten-
beichte. S. 250.
' J^) TiiMo(j>o(>m,, TTcT(i]>in naKananirt, 180—187.
•*) (Ta|iMT:i, Dorfältester, und rnjcKif, Hundertmänner, Bauern, die
eine Aufsicht über hundert Bauern oder hundert Häuser hatten.
— 147 —
auch „mit Verstärkung" oder „mit Abschwächung" anbe-
fohlen, nämlich „ohne Hemdchen" oder „mit Hemdchen"
(cHHBTb pyöaniKy oder fb pyöamici). 17 13 befiehlt bei-
spielsweise Peter, einen Flüchtling statt mit dem Knut mit
„Batogen ohne Hemdchen" zu schlagen. Die Differenz mag
eine gar geringe, eine Art kaum weniger schmerzhaft als die
zweite gewesen sein. Mit anderen Strafen zusammen wurden
die Batogen selten angeordnet. So bekamen 1661 nachlässige
Dienstleute der Krone außer Batogen auch einige Tage Ge-
fängnis zudiktiert; 1662 erhielten einige Offiziere außer Ba-
togen die Strafe der Verbannung; auch Peter der Große be-
strafte 1707 Beamte, die nicht pünktlich zum Dienst erschienen,
außer mit Batogen mit Verbannung nach Asow und mit Güter-
konfiskation.
Das Wort Batog (öaTorB) findet man schon in alten Chro-
niken. Zeugnisse für die Anwendung der Batogi in der Justiz
gibt es seit dem sechzehnten Jahrhundert, aber erst im sieb-
zehnten Jahrhimdert beginnt die Blütezeit dieses Strafinstru-
ments. Das Gesetzbuch Alexejs (yjioaceme 1649 r.) verordnet
die Batogenstrafe für : Prügeleien in der Kirche ; Waffentragen
am Zarenhofe ; Ungehorsam gegen den Vorgesetzten ; und unbe-
rechtigte Schankwirtschaft. In einem Tobolsker Aktenstück
des siebzehnten Jahrhunderts wird Batogenstrafe festgesetzt
für: Schlägerei und Beleidigung in der Trunkenheit; Beleidi-
gung oder Bestechung von Beamten ; und widerrechtliche Frei-
lassimg von Gefangenen. Auch Staatsverbrecher wurden schon
im siebzehnten Jahrhimdert mit Batogen gezüchtigt, so 1649
drei Pskower Aufrührer. In den Geheimkanzleien der Zaren
Alexej und Peter wurden politisch Verdächtige mit Batogen-
streichen zu Geständnissen gezwungen. 1764 ließ Katharina II.
einem Genossen des Hochverräters Mirowitsch die Batogen
geben. 18 19 verurteilte der Gouverneur von Twer einen Mu-
schik wegen Majestätsbeleidigung zur Batogenstrafe, und der
Gouverneur von Wjatka izüchtigte auf gleiche Weise die Teil-
nehmer des Bauernaufstandes von 18 18. Für Fälle, die im
Gesetze nicht vorgesehen waren, verordneten die Richter will-
kürlich mit Vorliebe Batogen: 1667 wird ein Gonez (roHei^Tb,
Kurier), der ein Aktenstück verloren hat, zur Batogenstrafe
— 148 —
veruneüt. Am 27. Dezember 1684 dekretieren Iwan und Peter
gemeinsam ..unbarmherziges Batogenschlagen für unanständige
Reden bei Hofe." 1702 erhält der Hofbeamte Naumow, der
seinen Bart nicht rasieren ließ, zur Strafe dafür die Batogi.
Leute, die an Sonn- und Feiertagen den Kirchenbesuch unter-
lassen, riskieren die Batogi. Die Polizei sieht in dieser Züch-
ligungsar. ein vonreffliches Korrektionsmittel. In der Instruk-
tion des Moskauer Oberpolizeimeisters von 1722 wird Batogen-
strafe angedroht für : ..Heizen der Öfen in nicht dazu bestimmter
Zeit" und \>runreinigimg der Gassen.
Seit der rweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wer-
den die Batogi allmählich von anderen Strafen \'erdrängt. Das
Reformprojekt von 1754 sieht Batogri hauptsächlich für drei
Fälle vor : Blutschande in entfernteren \'erwandtschaf tsgraden ;
..Hurerei gemeiner Leute"; und Ehebruch. Die Reformkom-
mission von i~co nahm das Projekt von 1754 auf; im Projekt
von iSi ; aber 'wird nur konstatien : „ein Ukas von 1 — ^ befahl
die Batogi als existierende Strafe zu zählen, in den Gesetzen
geschieht ihrer jedoch keine En^ähnung mehr." Die Batogen-
sirafe Miirde seither noch in ungesetzlicher Weise, vereinzeh, wie
w:r gesehen haben, von Gouverneuren angeordnet. Aber die
Lebensfähigkeit der russischen Körperstrafen zeig: sich auch
:n der Geschichie der Baroin. Als diese im neunzehnten Tahr-
hur.ier: verschwanden, cef-chah dies e:gen:l:ch wie beim Knut
r.JT ier.-- N\in"ier. nach, in Wahrheit M:ebon sie in der Form
ifT Tj^lk* T.:-,7.y^.. 5:ojke bestehen, die noch lange Zeit die
Hr.r^.rrjT.i: ^n die Vergan^ienhe:: wachhielten; aber diese
^::•:i:t i-rrtir. ..n:ch: cicxcr a-5 der Kleine r:n*:er sein : wohl
■ivjLrer. urh i:-e Ba:. i:i nur ..fingerdick*", evi-.xh :-ch'.:e bei
Ir-^- i - r^-s'.n-.n.ur.i:. wilchfr Fmcer d-is M.i3 anruceben
* t. t *-.-Ä . .1.. v-t .- \ «-.*. .i...j.*e- 1 n-
«I *^.. »^... c*K.. .. .*.•.. Xi.^ ^\^
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W ütrrj.:!:. :i*- •crur:-.:!: icr Ka:>x*r n:eh: a".< :auscnd
— 149 —
Bauern zu je 250 Stockschlägen. Auch auf die Rücken seiner
Soldaten läßt Nikolaj I. gern die Stöcke herniedersausen;
aus einer geheimen Mitteilung über Unordnungen im Sseme-
nowschen Regiment geht hervor, daß dort im Jahre 1820 im
Laufe von sechs Monaten 44 Mann zusammen 14250 Stock-
prügel auszuhalten hatten. Die Stöcke waren endlich eine
beliebte Disziplinarstrafe in den Ostseeprovinzen. Der Guts-
herr hatte das Recht, seinen Leibeigenen oder Bauern als Haus-
zucht 15 Schläge zu verabreichen; die Polizei in den Balten-
ländern konnte aber bis zu 80 Stockhieben (gleich zehn iPaar
Ruten ä 10 Schläge) nach estländischer und bis zu 30 Stöcken
nach livländischer Ordnung (aus dem Jahre 18 19) gehen.
Frauen, sowie Kinder unter 15 Jahren waren von der Stock-
strafe ausgenommen, erhielten bloß Ruten.
Schon im achtzehnten Jahrhundert traten an die Stelle
der Batogi als die dem Knut nächstschwere Strafe die Pleti
(njieTH, Peitschen).^) Die Pleti bestanden aus einem kurzen
hölzernen Griff und einer ledernen Peitsche in Fingerdicke.
Bis 1839 war die Peitsche zweischwänzig, später drei-
schwänzig.2)
Die Pleti hatten namentlich in den Kreisen der Geistlich-
keit eine schreckliche Bedeutung. Die geistlichen Gerichte
verurteilten die ihnen unterstehenden Kleriker und Laien für
das geringste Vergehen zur Peitschenstrafe, die kirchliche
Obrigkeit sah in, den Pleti das allwirkende Disziplinarmittel.
Die große Ausbreitung, ja die allgemeine Herrschaft der geist-
lichen Methode der Bestrafimg durch Peitschenhiebe erkennt
man daraus, daß beispielsweise im siebzehnten Jahrhundert
unter dem Terminus „klösterliche Demütigung** glattweg Pleti
^) THMü<J)eein>, a. a. O. 187 ff.
^) Ein modemer Reisender, de Windt, beschreibt in seinem Buche ,,Von
Peking nach Calais über Land", S. 415, die Pleti also: ,, Die Riemen aus gefloch-
tener Rindshaut, zwei Fuß lang, laufen unten in dünne Streifen aus, an deren
Enden kleine Bleikugeln eingeflochten sind. Es ist ein furchtbares Instrument.
Ein geschickter Peitscher, der dem Bestraften rechte Schmerzen verursachen
will, lockt kein Blut hervor, das die Schmerzen lindert, sondern fängt leise an und
vergrößert nach und nach die Kraft des Schlages, bis der ganze Rücken mit
langen geschwollenen Striemen bedeckt ist".
— 150 —
verstanden wurden. Jemanden „durch klösterliche Demüti-
gung zähmen** hieß : ihn unbarmherzig mit Pleti schlagen.
Der Archimandrit des Tichwinschen Klosters verordnet am
15. November 1663 für Trunkenheit und Faulenzerei: harte
Zähmung und Demütigung, ohne Mitleid (acecTOKoe CMHpeme
6e3i> noiu,aÄM). Ein Urteil des genannten Klosterobern aus
dem Jahre 1678 befiehlt, den Greis Ignatij, der den Greis
Manassij in der Trunkenheit verwundet hat, mit Pleti zu de-
mütigen. Die von den weltlichen Behörden mit Knut bestraften
Verbrechen werden von den kirchlichen Autoritäten mit der
Pletistrafe belegt; dieses Mildere ist aber in, der Tat nicht
immer das Leichtere. Entsprechend dem Charakter der Zeit
sind auch die Pleti, selbst als simple Disziplinarmaßregel, genug
hart. 1666 klagen die Mönche von Ssolowezk, daß ihr Archi-
mandrit sie mit der Peitsche in unbarmherziger Weise demütige.
1651 läßt der Protopop von Oljschanskij in der Eparchie von
Bjelogorod einen Geistlichen so grausam peitschen, daß der
Gezüchtigte nicht mehr fähig ist, sich zu erheben. Ein bei der
Geistlichkeit beliebter Befehl lautet: Die Verurteilten „nackt**
peitschen, ohne Hemdchen. Die geistlichen Behörden strafen
mit der Peitsche auch die Laien, sobald diese der kirchlichen
Gerichtsbarkeit unterstehen. 1752 peitscht man in der Eparchie
von Bjelogorod eine Frau, die einen Geistlichen verleumdet
hat. 1755 erhält in derselben Eparchie eine Witwe, die mit
einem verheirateten Manne ein Verhältnis angefangen hat, auf
Verlangen der betrogenen Gattin die Peitsche. Die Peitschung
des weiblichen Geschlechts macht auch bei den Nonnen keine
Ausnahme. Ein Ukas von 1754, das der hochwürdige Jossaf
publiziert, verordnet die Peitschung von 18 Nonnen wegen
eines Disziplinarvergehens. 1750 befiehlt der Metropolit Pia-
ton von St. Petersburg, den Beamten des Konsistoriums, Chari-
tonow, „für seine Frechheit und Unverschämtheit angesichts
der anderen Kanzlisten mit der Peitsche zu bestrafen**; aber
daß diese Züchtigung keine Schandstrafe ist, die Ehre nicht
tangiert, geht daraus hervor, „daß Charitonow nach empfan-
gener Strafe in seine Stellung zurückkehren soll.** Die Zahl
der Schläge ist nicht bestimmt. Es heißt einfach: hart peit-
schen, ohne Mitleid, unbarmherzig. Der Willkür ist alles an-
— 151 —
heimgestellt. 1759 erhält ein Geistlicher „für freches Benehmen
gegen den Bischof*' 103 Peitschenhiebe.
Neben den Pleti kannten die Geistlichkeit und die Wolost-
gerichte (Dorfgerichte) als Strafmittel die Schelepy (lueJienH,
Peitschen aus Bindfaden oder Bast geflochten), eine Art Knut
mit kurzem Stiel. In bezug auf Härte und Schwere der Strafe
standen die Schelepy den Pleti nach und den Batogi am näch-
sten. Auch bei der Strafe der Schelepy verordnete man keine
bestimmte Anzahl der Schläge, sondern bloß allgemein: ein-
faches Schlagen (npocToe 6iiTbe) oder unbarmherziges (nemaA-
Hoe). 1695 wird eine Frau namens Tatjana unbarmherzig
mit Schelepy geschlagen, weil sie einen Popen der
Hurerei verdächtigte. 1756 erhalten auf Befehl des Synod
216 Mönche und Laien, die als Mitglieder der Quäkersekte
angezeigt wurden, die Schelepy. Wie die Pleti werden die
Schelepy häufig für Sittlichkeitsvergehen angeordnet. 1700
befiehlt der Patriarch Hadrian, die Paare, die in wilder Ehe
miteinander leben, imbarmherzig mit den Schelepy zu peitschen.
Endlich sind die Schelepy allgemeines Disziplinarmittel in den
geistlichen Schulen, wie aus einer Instruktion der slawisch-
griechischen Schule aus dem Jahre 1730 ersichtlich ist; die
Strafe soll an dem Schuldigen angesichts aller Mitschüler voll-
zogen werden.
Die Schelepy blieben eine absolut geistliche Züchtigungs-
methode, die Pleti aber fanden auch in das Familienleben und
in die weltliche Gerichtsbarkeit Eingang.^) Von der Bedeutung
1) Wie in Rußland war in den meisten Ländern der alten und neuen Welt
das Peitschen eine der gebräuchlichsten Strafen. Als die Israeliten ihren König
Rehobeam anflehten, das Joch zu mildem, unter dem sie zur Zeit Salomonis ge-
seufzt, gab ihnen der junge Herrscher zur Antwort: „Mein Vater hat euch mit
simplen Ruten geschlagen; ich werde euch schlagen mit eisernen". Im alten
Persien peitschte man selbst die Herren; Artaxerxes Langhand befahl jedoch,
daß man nur die Kleider, nicht die Menschen schlagen solle. Bei den alten Römern
war die Peitsche die Strafe der Sklaven. Im römis:hen Kaiserreich peitschte
man Verbrecher zu Tode. Vatermörder peitschte man vor dem Vollzug der
Todesstrafe. In Sparta gab man den Heloten täglich eine Portion Peitschenhiebe,
damit sie nicht an ihre Sklaverei vergessen sollten. In China peitschte man
die Kläger, um sie zu lehren, daß sie nicht die Behörden und den Hof unnützer-
weise belästigten. Dasselbe war in Ceylon der Fall, wo der Herrscher Bittsteller
— 152 —
der Peitsche in der Häuslichkeit, als Instrument der väterUchen
Züchtigung und der Züchtigung der Gattin durch den Gatten,
war teils schon die Rede, wird teils noch die Rede sein. Am
2. November 1733 befahl ein Ukas der Zarin Anna: „Danüt
die Bestraften fähig bleiben zum Dienste in der Armee soll man
die Peitschenstrafe der Knutenstrafe vorziehen.** Im achtzehn-
ten Jahrhundert begannen die Pleti in der weltlichen Gerichts-
barkeit eine dominierende Stellung unter den Körperstrafen
zu gewinnen und gleichzeitig die wichtigste Waffe des Guts-
herrn gegen seine Leibeigenen zu werden. Die Gerichte
der Edelleute bedienten sich der Pleti für die Hauszucht in
furchtbarem Maße. Die Disziplinarordnung eines Edelmannes
aus dem Jahre 1765 kennt für Vergehen der Leibeigenen
und Kläger peitschen ließ. In Marokko spielt die Peitsche bei allen Gerichts-
verhandlungen eine Rolle. In San Domingo koppelten die Spanier die Einge-
borenen wie Vieh zusammen und zwangen sie dann mit Peitschenhieben zu
marschieren. Wie in Rußland die Peitsche Lieblingsinstrumcnt der Geistlich-
keit, so auch im katholischen Europa. Einige Konzile befahlen die Peitschung
der Häretiker. Im Frankreich des heiligen Louis regierte die Peitsche auch bei
Hofe. Der heilige König selbst ließ sich von seinem Beichtvater peitschen.
Clotaire I. befahl seinen rebellischen Sohn Charamne nackt auf eine Bank zu
legen und halbtot zu peitschen. Ein Freund grausamen Peitschens war Fr6d6-
gond. Später wurden in Frankreich Sklaven und Leibeigene für die geringsten
Vergehen mit 150 Peitschenhieben bestraft. Im 14. Jahrhundert peitschte man
die Narren, im 15. nächtliche Ruhestörer. Die Kirche befahl Häretiker öffent-
lich zu peitschen. Diese Strafe erlitt Raymond VI. Graf von Toulouse. Ludwig
VIII von Frankreich und Heinrich II. von England unterzogen sich freiwillig
der kirchlichen Peitschenstrafe. Heinrich IV. von Frankreich erhielt öffent-
lich in Rom von Papst Clemens VIII. einige Hiebe. Wie bei den Russen gab es
auch bui den Franzosen zweierlei Arten IVitschcnstrafc : die öffentliche durch
Henkershand, als diffamierende; die andere im Gefängnisse als nicht dif-
famierende. Am französischen Hofe hatten die Edelleute das Recht die Pagen
zu peitschen. Im 17. und 18. Jahrhundert peitschte man in den Gefängnissen
die sittenlosen Mädchen und Weiber. 1789 wurde in Frankreich die Peitschen-
strafe aufgehoben. In England kannte das Gesetz ebenfalls zwei Arten der
Peitschenstrafe, die öffentliche und im Gefängnis. In Konstantinopel und in
Madrid war die Peitsche bis in die jüngste Zeit bekannt. Die Missionäre des
Christentums lehrten den Glauben an Jcsum mit der Peitsche. Die Jesuiten in
Paraguay peitschten Alt und Jung, Männer und Weiber nackt. Von den Mis-
sionären, die die Kongoneger bekehrten, wird erzählt, daß sie die Mütter der
Kinder, die man ihnen zur Taufe brachte, peitschten, bis auch die Mütter den
Irrtum abschworen. Vgl. Dictionnaire de la p6nalit6 IV loi — 112.
— 153 —
Strafen bis zu hundert unbarmherzigen Peitschenhieben. Na-
türlich bemächtigten sich auch die Gefäng^isverwalter und
die Polizei der Pleti ; A. M. Turgenjew erzählt, daß der Peters-
burger Polizeimeister Tschitscherin und der Moskauer Polizei-
meister Tatischtschew in ihren Droschken stets eine Peitsche
mitführten, „die man zärtlich Podlipika (noAJinnnKa, Schmeich-
lerin) nannte, weil sie bloß den Rücken streichelte, aber keine
Erinnerung hinterließ.**
In der Praxis der weltlichen Gerichte avanzieren die Pleti
um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nach der Auf-
hebimg der Knutenstrafe durch das Gesetzbuch Nikolajs I.
(yjiOHcenie 1846 r.) zur gesetzlichen schwersten Körperstrafe.
Über die Frage der Schwere der Pleti im Vergleiche zu den
anderen russischen Züchtiglingsinstrumenten sind die Ansichten
verschieden. Professor Filippow beruft sich auf einen Senats-
ukas, der „für unehrerbietige Worte gegen die zarische Maje-
stät** statt der Knutenstrafe die Pletjstrafe anordnet, und schließt
daraus, daß die Pleti für härter erachtet wurden als der Knut.
Timofejew tritt jedoch dafür ein, daß die Ersetzung des Knut
durch die Pleti eine Milderung, nicht eine Verschärfung be-
deutete.^) Diese Ersetzung geschieht schon im achtzehnten
Jahrhundert oft genug. 1700 erhalten Diwow, der sich be-
stechen ließ, und Kolytschew als Bestecher statt des Knut :
die Pleti „ohne Hemdchen**. Dieser Ausdruck weist auf die
Verwandtschaft der Pletjstrafe mit der Batogenstrafe hin, die
zweifellos milder war als Knut. 1701 bekamen Ssokolow und
Sseliwanow, in einer und derselben Affäre, der erstere für
schwere Schuld den Knut, der letztere für geringere Schuld
die Pleti; 1723 ereignete sich das Gleiche bei der Bestrafung
zweier Personen wegen unehrerbietiger Worte gegen den Zaren.
Man kann demnach mit Timofejew annehmen, daß Pleti
leichter waren als Knut und schwerer als Batogi.
Die von den weltlichen Gerichten verhängte Pletjstrafe
war ähnlich wie der Knut von zweierlei Art : die schwerere, als
Gerichtsstrafe, wurde öffentlich vom Henker vollzogen; die
geringere bekam man bei der Polizei. So gingen in allem und
^) TiiMCHtteeBi», a. a. O. 192.
— 154 —
jedem der Schrecken lund die Schande der Knutenstrafe auf
die Pletjstrafe über, die schließHch auch vom Knut die Be-
zeichnung ,, harte Strafe** übernahm. 1752 wird einem Lebens-
mittelwucherer „harte Strafe** zudiktiert : man peitscht ihn mit
Pleti; im selben Jahre erhält der Kaufmann Tschetschilin für
Wechselfälschung als „harte Strafe** (iKecTOKoe HaKasanie):
Pletjhiebe. Auf die Pletjstrafe verpflanzt man ferner die Zere-
monien der Knutenstrafe. Die Exekution mit den Pleti wird
wie die des Knut auf der Kobyla, der Stute, vorgenommen,
öffentlich, durch Henkershand. „Die Lebensmittelwucherer/*
befiehlt Kaiserin Elisabeth, „peitsche man im Angesichte aller
Handelsleute unbarmherzig mit den Pleti.** Auch wird die
Pletjstrafe gleich der Knutenstrafe zuweilen auf dem Orte des
Verbrechens vollzogen. Kaiserin Elisabeth ließ den Leutnant
Lanskoj, der einen Raub begangen und die Beraubten noch
gepeitscht hatte, an dem Orte seines Verbrechens peitschen;
,,er werde an dem Orte, wo er andere gepeitscht hat, ebenso
behandelt.** Wie das Gesetzbuch Alexejs die Verbrecher,
welche Grenzsteine zerstörten, auf dem Platze, wo 3as Ver-
brechen geschehen, knuten ließ, so befahl Katharina IL 1774
die Bauern, welche die Grenzsteine vernichtet hatten, an dem
Orte des Verbrechens zu peitschen. Nikolaj L befahl: „die
Verbrecher zu peitschen, in der Stadt auf dem Marktplatz, im
Dorfe auf einem möglichst freien Platze.** Eine weitere Ana-
logie zwischen Knut und Plet j ^) : Beiden folgt in wichtigen
Fällen die Verbannung. Zuweilen wird der mit Pletj Bestrafte
statt in die Verbannung zum Militär geschickt. So werden
1773 einige Teilnehmer an der Pugatschewtschina nach der
Pletjstrafe, „damit sie ihr Verbrechen mit Blut abwaschen, zum
Dienste gegen die Feinde** bestimmt.
Schlagen mit Pleti wird, wie mit Knut und Batogi, ein-
fach oder unbarmherzig anbefohlen. Die Urteile entbehren
hier abermals, man möchte sagen: selbstverständlich, aller
1) Daß die Pleti die offiziellen Stellvertreter des Knut waren, ist auch
daraus zu erkennen, daß sie ebensowenig wie der Knut nach den Ostseeprovinzen
importiert wurden. Da man für diese Provinzen den Knut als nicht landes-
üblich i)erhorreszierte , verweigerte man auch den Pleti den Eingang. Vgl.
TiUiCHj)tH.'b'h, 194, Anmerkung i.
— 165 —
Lx)gik. Schwere Verbrechen bestraft man mit einfachen, leichte
harmlose Dinge oft mit unbarmherzigen Schlägen. Peter der
Große befiehlt 1708, für Zauberei die Schuldigen mit Pleten
unbarmherzig zu peitschen. 1766 befiehlt ein Ukas diese Strafe
für Herstellung falscher Pässe und für Gliederverstümmelung
zum Zwecke des Untauglichmachens von Rekruten. Für Staats-
verbrechen wird dort, wo Knut erlassen wird, mit den Pleten
geschlagen, natürlich unbarmherzig. Einige minder schuldige
Teilnehmer der Lopuchinschen Affäre, sowie eine Anzahl von
Teilnehmern am Pugatschewchen Bunt erhalten unbarmherzig
Pleti. Das Justizreformprojekt von 1754 kennt aber noch wich-
tigere Staatsverbrechen, die schwere Pletjstraf e verdienen : „un-
geschicktes Malen zarischer Porträts soll mit Pletj unbarmherzig
bestraft werden.**
Im achtzehnten Jahrhundert werden die Pleti statt des
Knut als allgemeine Strafe für weniger bedeutende Eigen-
tumsdelikte verhängt. 1781 straft man Diebstähle bis 20 Rubel,
die früher den Knut nach sich zogen, mit einigen Peitschen-
hieben und Einsperrung ins Zuchthaus. 1799 werden auch
höhere Diebstähle, die früher Knut und Verbannung erforder-
ten, bloß mit Pletjstrafe belegt. Der Ukas Pauls begründet
diese Milderung also : „Man stiehlt mehr als 20 Rubel, um sich
verbannen zu lassen und dem Militärdienst zu entgehen. Die
Knutenstrafe dient daher nicht bloß zur Abschreckung, sondern
bringt auch Schwachsinnige zimi Straucheln.** 1825 aber ver-
bietet ein Ukas, Landstreicher und Deserteure, die mit Pleti
bestraft wurden, in die Armee zurückzunehmen, „da sie das
gute Gewissen verloren haben und allen Versuchungen er-
liegen.**
Die Zahl der Schläge mit den Pleten war bis 18 12 nicht
durch das Gesetz bestimmt. Erst in diesem Jahre befahl
Alexander I., „daß die Zahl der Pletjhiebe sowohl von den
Kriegsgerichten als den bürgerlichen Gerichten genau bestimmt
werden soll.** Das Reformprojekt von 18 13 sah zehn bis hun-
dert Schläge vor. Aber hundert Schläge waren schon ziemlich
selten. 18 18 bestimmt der Quarantäne-Ustaw für die erste
Überschreitung der Vorschriften 25 Hiebe. Nikolaj I. ver-
ordnet 1826 für abtrünnige Orthodoxe 50 Hiebe. 1830 erhalten
— 156 —
aufrüherische Bauern je 35 Schläge, 1831 die Cholerakrawall-
teilnehmer je 15 bis 25. Die öffentliche Pletjstrafe wurde für
29 Fälle vorgeschrieben, darunter für Nachahmung aller-
höchster Schriftstücke, Kontrebande, Blutschande, Sodomie.
10 — 30 Schläge ohne Brandmarkung erhielten Verbrecher, die
zur Ansiedlung verbannt wurden, 30 — 100 Schläge die zu
Zwangsarbeit Verschickten. Die genaue Abgrenzung, von 10
zu IG Schlägen, hing von der Art der Zwangsarbeit und der
Entfernimg des Verbannungsortes ab. Je leichter die Zwangs-
arbeit war, desto mehr verminderte sich, gradweise um 10
Schläge, die Köri>erstrafe. Die Ansiedlung in weniger ent-
fernten Orten veranlaßte nur 10 — 20, die in mehr entfernten
Orten aber 20 — 30 Schläge.
Die leichteste Art des Pletjschlagens, als polizeiliche Kor-
rektionsstrafe, ist „Pletka auf der Kleidung**. 1863 wurden
zwar die Pleti im allgemeinen abgeschafft, jedoch in den Ver-
bannungsorten beibehalten für Bestrafung neuer Verbrechen
der zur Zwangsarbeit oder zur Ansiedlung Verbannten, sowie
der Landstreicher männlichen Geschlechts i), und nach wie
vor schwingt man auch außerhalb des Verbannungsrayons idie
Peitsche und verteilt hundert Hiebe und mehr. Im März 1906
wurde in den Ostseeprovinzen ein Redakteur wegen eines Ar-
tikels gegen den Polizeichef auf der Polizeistube mit 400 Hieben
bedacht; der Gepeitschte blieb tot auf dem Platze.
Rußland kann die Körperstrafen trotz aller Abschaffungs-
gesetze nicht los werden. Verschwindet ein Instrument, so
kommt ein anderes zur Herrschaft. Man hat im Zarenreiche
der Züchtigungsinstrumente so viele gehabt, daß es fast nicht
möglich erscheint, eine vollständige Liste zu geben. Nament-
lich Peter der Große hat eine Reihe neuer Körperstrafen ein-
geführt. So brachte er von seinen Auslandsreisen für die
von ihm geschaffene Flotte die Linjki (jiuhlkh, Stücke Tau
mit Knoten) mit, um seine Matrosen für Disziplinarvergehen
zu züchtigen. Diese Linjki waren bis 1863 noch offiziell in
Gebrauch und sind in der Praxis auch jetzt bekannt. Außer
den gewöhnlichen Pleti hatte Peter ferner für seine Marine
^) ytTUHTL o <TLi.ii.nNxi,, ii3,^ank» 1890 F., CT. 435, 436. — 3aK0in, 1893 r.
— 157 —
spezielle Pleti-Koschki herstellen lassen (kohikh, Kätzchen, Kar-
batschen aus mehreren geteerten Stricken). Einige behaupten,
daß die Koschki nur in Peters Marine-Reglement auf dem
Papier vorhanden waren, laber niemals zur Anwendung ge-
langten. Timofejewi) hat jedoch einige dokumentarische Be-
weise für die durchaus nicht geringe Praxis der Koschki in
der Flotte beigebracht. Selbst nach Peter dem Großen findet
man die Koschki in Gebrauch, und zwar auch außerhalb der
Flotte. 1725 werden unehrliche Brotverkäufer und Lebens-
mittelfälscher mit Koschki gezüchtigt. 1739 trifft dieses Los
einige Männer, die Eier imd Früchte auf den Gassen verkauften,
was auf Befehl der Kaiserin Anna nur Frauen imd Minder-
jährigen erlaubt war. 1754 läßt Kaiserin Elisabeth die Leib-
eigenen des Edelmaims Jewreinow, die für ihren Herrn ein
Mädchen von der Schaukel weg entführten, mit Koschki öffent-
lich züchtigen. Die Koschki waren den Pleti im Range gleich-
geachtet: 1744 befiehlt ein Ukas den Verbergern von Flücht-
lingen Koschki oder Pleti zu geben. Die letzte Erwähnung
der Koschki findet Inan in der Epoche Katharinas IL, wo man
mit diesem Instrument die Leute züchtigte, welche „die Rein-
lichkeit in der Admiralität vernachlässigten**. In der Flotte
wurde die Bestrafung gewöhnlich öffentlich vollzogen. Man
band den Delinquenten an den Mast und prügelte ihn mit den
Koschki angesichts aller Kameraden.
Die Koschki waren die spezielle Matrosenstrafe, während
die Spießruten von Peter dem Großen sowohl für die Flotte
als für die Armee bestimmt wurden. Die Soldaten und Ma-
trosen in Rußland erfreuten sich niemals milder Behandlung.
Ihre Erzieher waren seit jeher Stock und Peitsche, Peters
Reglements für Armee und Marine sind mit Blut geschrieben.
Da heißt es beispielsweise im Artikel 21 des Kriegsreglements
für die Flotte i) : Wer ohne Vorwissen des Kapitäns Briefe
empfängt, abgibt oder wegschickt, soll gehängt werden. Ferner :
Wer sich mit jemandem prügelt, dann versöhnt und den Frie-
den bricht, dessen Hand soll abgehauen werden. Wer aus
^) HcTopifl HaKaaamft, 201.
2) Sadler, Peters des Großen geistige Hinterlassenschaft.
— 158 —
Zorn sein Messer nur entblößt, aber niemanden verwundet,
dessen Hand soll mit dem Messer am Mäste befestigt bleiben,
bis der Übeltäter sich selbst durch Abhacken der Hand befreit.
Wer jemanden tötet, soll mit dem Getöteten Rücken an Rücken
gebunden und ins Meer geworfen werden. Der Kapitän oder
dessen Stellvertreter können den, der sich nicht tapfer hält,
erstechen 1^) Bei solchem Grundcharakter der Gesetze erschei-
nen körperliche Züchtigimgen als Harmlosigkeiten. „Es stirbt
eine große Anzahl Rekruten in der Lehre, man prügelt sie
zu Tode ; auf dem Transport bis zur Armee bleibt ein Teil ver-
hungert unterwegs,** schrieb ein Offizier in der Zeit Katha-
rinas II.2) Wohl denen, die unterwegs starben. Im Dienst
haben die Überlebenden nur furchtbare Leiden zu erwarten.
Für das geringste Vergehen drohen ihnen die Spießruten, die
Peter der Große 17 16 ins Kriegsreglement aufnahm; in der
Praxis erschienen sie vereinzelt schon zu Anfang des acht-
zehnten Jahrhunderts: Scheremet jew züchtigt 1701 und Ment-
schikow 1706 die Soldaten mit Spießruten (russisch:
Spitzruten, inimn,pyTeHH ; auch xjihcti>, xjihcthicb, Geißel,
und npyTi>; Spießrutenlaufen: 6foKaTb CKB03b CTpoÄ.) 17 12
verordnet der Senat für flüchtige Rekruten Spitzruten.
Von 17 16 ab aber wird diese Strafe regelmäßig und allgemein.
Die Spitzruten sind, wie Timofejew^) hervorhebt, in Rußland
nicht bloße Nachahmung westlicher Ordnung und Gebräuche
gewesen, sondern ein wahres heimisches Erfordernis ; als Peter
der Große die Knutenstrafe zu einer Schandstrafe erhob, die
im allgemeinen die Wiederverwendung der Bestraften in der
^ ) Diese Grausamkeiten, von Peter in seine Flotte und Armee eingeführt,
wurden vorbildlich für andere Flotten und Armeen. Im Dictionnaire de la p6-
nalit6 IV 53 wird erzählt: „In einer der Garnisonsstädte im Zentrum von Frank-
reich ließ eines Tages ein Korpschef einen barhäuptigen Soldaten an eine
Mauer anbinden und der Sonnenglut aussetzen. Diese neue Art Strafe hatte der
Korpschef, wie es heißt, dem russischen Kodex entnommen". Das russische
Gesetzbuch kennt allerdings diese Strafe nicht. Aber die russische Militärdis-
ziplin erfreute sich mit Recht solchen Rufes der Grausamkeit, daß man alles
außergewöhnlich Grausame leicht ihr in Rechnung stellen konnte.
') Russische Anecdoten. Wansbeck 1765, S. 129.
'^) a. a. O. 208.
— 159 —
Armee ausschloß, war er genötigt, eine Strafe einzuführen, die
genügend züchtigte, aber dem Bestraften die Möglichkeit ließ,
in der Armee zu bleiben. Die Spitzruten erfüllten diesen Zweck,
weil sie nicht vom Henker, sondern von den Kollegen des Be-
straften gehandhabt wurden. An diese Methode hielten sich
auch Peters Nachfolger und Nachfolgerinnen. 175 1 ließ Elisa-
beth Armeeangehörige, die zu Knut und Verbannung verurteilt
waren, zu Spitzruten begnadigen, „damit sie im Dienst ihre
Schuld abdienen.** 1757 befahl die Kaiserin für Starosti und
Prikaschtschiki (cTapocTa, Dorfältester, npHKammcB, Amtmann),
die bei der Rekrutenaushebung Schwindeleien begangen
hatten, harte Bestraf img, acecTOKoe. HaKaaame; das Urteil,
worunter im allgemeinen Knut oder Pletj verstanden werden
konnte, wurde diesmal also erläutert: „nur die Untauglichen
sind mit Knut, Aufschlitzen der Nasenlöcher und Verbannung
nach Ochotzk zu bestrafen; die Tauglichen sollen Spießruten
laufen und als ewige Soldaten der Petersburger Garnison zu-
geteilt werden.** ,
Das Spießrutenlaufen beschrieben die Reisenden des acht-
zehnten Jahrhimderts 1) folgendermaßen: „Es geschieht hier
anders als in anderen Ländern. Der Sträfling wird von einem
seiner Kameraden auf den Rücken genommen und durch zwei
Reihen Soldaten getragen, die mit langen Ruten aus Leibes-
kräften auf den Verurteilten hauen imd von den Offizieren
dazu aufgemuntert werden.** Die Spitzruten waren lang imd
geschmeidig. Nach dem Zeugnis L. A. Ssärjakows sandte
Graf Kleinmichel 1831 zur Bestrafung der Bauembündler aus
Petersburg Ruten, die im Diameter ungefähr i Werschok
(= 4,445 cm) und in der Länge i Saschenj (Faden) hatten.
Die Exekution wurde gev/öhnlich bei Tagesanbruch ausgeführt.
Auf dem Platze mußten sich, wenn das Spießrutenlaufen durch
500 Mann befohlen war, der Bataillons- oder Divisionskomman-
dant, beim Spießrutenlaufen durch 1000 Mann: der Regiments-
oder Brigadekommandant einfinden. Das Militär erschien ohne
Abzeichen und ohne Musik, nur Trommler gingen mit. 4 Mann
führten den Verurteilten. Während des Verlesens des Urteils
1) Vgl. Breton, a. a. O. IV 53.
— 160 —
bildeten die Truppen eine Straße und nahmen die Ruten ent-
gegen. Dann ertönte die Trommel und der Verurteilte mußte
seinen schweren Lauf beginnen. Hinter ihm schritt, um ihn
am Stehenbleiben zu hindern, ein Unteroffizier mit vorgehalte-
nem Bajonett. Ab 1801 mußte der Exekution ein Arzt bei-
wohnen, der das Recht hatte, Halt zu gebieten, wenn der Be-
strafte die Hiebe nicht mehr auszuhalten imstande war; der
Zusammengebrochene wurde ins Spital gebracht, erhielt aber
nach seiner Gesundung den Rest der Hiebe bei gleicher Zere-
monie. In der Theorie erschien die Strafe nicht allzuhart. Aber
in der Praxis! Hören wir Augenzeugen. D. A. Rowinskij
erzählt in seinen Memoiren aus der ersten Hälfte des neun-
zehnten Jahrhunderts : „Jeder Soldat gibt einen ehrlichen Hieb
und nach wenigen Minuten ist der Körper des Geschlagenen
bedeckt mit breiten Flecken, mit blutigen Striemen. Stürzt
der Patient, so legt man ihn auf einen Schlitten und führt ihn
durch das Spalier zurück, und die Hiebe sausen weiter auf
ihn nieder.** Nach dem Zeugnis Rowinskijs führte man zu
den Exekutionen des Spießrutenlaufens zuweilen einen Sarg
mit! Ein anderer Augenzeuge erzählt aus dem Jahre 1832:
., Jeder Soldat machte einen Schritt aus Reih und Glied, führte
seinen Schlag und trat zurück. Auf den Delinquenten fielen
die Hiebe gleichzeitig von beiden Seiten, und sein Kopf zitterte
konvulsivisch und richtete sich stets unwillkürlich dorthin, wo-
her der nächste Hieb drohte. Während er durch die grüne
Straße schritt, hörte man immerfort seine Schreie: „Brüder!
erbarmt euch, Brüder!'* Aber die Offiziere wachten streng
darüber, daß niemand leicht schlug. Fiel der Gezüchtigte nieder,
so legte man ihn auf einen Schlitten, der Arzt gab dem Be-
wußtlosen Wodka zu trinken, rief ihn ins Leben zurück, und
dann setzte man die Exekution fort. Starb der Patient, so
schleppte man die Leiche vor die Front.** Besonders in den
vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war das Spieß-
rutenlaufen eine überaus grausame Strafe. Nikolaj I. ging nicht
bloß mit seinen Soldaten, sondern auch mit seinen Offizieren
barbarisch um. Ein Gardeoffizier, der eine Prinzessin von Ge-
blüt zum Tanz aufforderte, wurde auf der Stelle seines Ranges
enthoben. Ein anderer Offizier wurde zum gemeinen Soldaten
Spießrutenlaufen.
— 161 —
degradiert, weil er bei einer Quadrille auf dem Hofball aus dem
Takte gekommen war. Großfürst Konstantin schlug die Sol-
daten eigenhändig, ließ sie ganz nackt ausziehen und so exer-
zieren. Für das geringste Disziplinarvergehen riskierten die
Soldaten Spießrutenlaufen.
Als Peters Kriegsreglement die Spießruten als offizielle
Strafe einführte, kümmerte man sich nicht um die Frage der
Begrenzung der Schläge. Man bestinunte bloß: Durch das
Regiment jagen, zweimal, dreimal, sechsmal, zwölfmal. Ein
Ukas yom 2. Juli 1823 befahl eine Präzisierung der Hiebe:
Spießrutenlaufen durch 500 Mann (Bataillon) oder durch 1000
Mann (Regiment). Dementsprechend war das Reglement Peters
bis zu 12000 Mann (zwölf mal durch ein Regiment) gegangen I
Aber auch nach Peter wurde diese furchtbare Zahl häufig an-
befohlen. Katharina II. verordnete durch einen Ukas, die
weniger schuldigen Soldaten in der Affäre Mirowitsch statt
zur Todesstrafe „infolge unvergleichlicher Barmherzigkeit Ihrer
Majestät** bloß zu 12000 Spitzruten zu verurteilen. Der gütige
Alexander I. verurteilte 18 18 zu 12000 Schlägen 40 weniger
schuldige Bauembündler ; aus dem Berichte Araktschajews, der
diese Exekution vollführt, ist ersichtlich, daß eine solche Zahl
Schläge die grauenvollste Todesstrafe war : von den 40 blieben
bloß 3 am Leben! Nikolaj I. befahl, in Friedenszeiten nicht
mehr als 6000 Hiebe anzuordnen, aber gestattete als Strafe für
Widersetzlichkeit gegen die Oberen vor der Front auch bis zu
12000 zu geben. Die Spitzrutenstrafe kam auch in bürgerlichen
Affären zur Anwendung, sobald es sich um Unterdrückung
von Unruhen oder Räubereien durch das Militär handelte. 1831
wurden im Cholera- Auf rühr 1559 Bauern zu Spitzruten ver-
urteilt, davon nur 720 zu imter 1000 Hieben, etwa 200 zu 4000
Hieben. Von diesen 200 blieben 40 tot auf dem Platze. Diese
Ziffern sprechen für sich. Zeitgenossen konstatieren, daß nie-
mand 3000 Spitzruten überleben konnte. Das hieß Mitleid,
Barmherzigkeit, Aufhebung der Todesstrafe. Nikolaj I. schrieb
auf den Rand eines Rapports : „Gott sei Dank, es gibt bei uns
keine Todesstrafe mehr, und ich werde sie nicht einführen.**
Und er begnadigte zwei Hebräer, die jenem Rapport zufolge
wegen Überschreitung der Quarantäne-Gesetze zum Tode ver-
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in RuBland. ** II
— 162 —
urteilt worden waren, zu dieser milden Strafe: „Man jage sie
zwölf mal durch looo Mann!** Also 12000 Hiebe, viermaliger
Tod statt einfacher Todesstrafe! 1849 wurden in Kasanj die
Räuber Bykow und Tschaikin, der erstere zu 12000, der letztere
zu 1 1 000 Spießruten verurteilt. Der Arzt Dr. Iljinskij, der der
Exekution beiwohnte, erzählt in seinen Erinnerungen: „Schon
nach dem ersten Tausend waren die Rücken der Verbrecher
zerschunden; das Fleisch war abgerissen, das Blut floß in
Strömen. Die Schreie wurden immer schwächer. Die Exe-
kutoren waren sehr hart. Der Oberst, der die Exekution leitete,
schrie voll Wut den Soldaten zu, stärker zu schlagen, ohne Er-
barmen. Einige Soldaten, die schwach schlugen, wurden auf
Befehl des Obersten ergriffen und auf der Stelle bestraft. Nach
5000 Schlägen brach Bykow zusammen. Man legte ihn auf
eine Telega, führte ihn weiter durch die Reihe und gab ihm
noch tausend Hiebe. Tschaikin mußte schon nach 3000 Hieben
auf die Telega gelegt werden und hielt bloß noch 500 aus.
Die Strafe war umso härter, da ein furchtbarer Wind herrschte
und die Wunden der Patienten unter dem Staub entsetzlich
litten. Beide brachte man mit schwachen Lebenszeichen ins
Spital, wo sie noch am selben Tage starben. Obwohl die Räuber
viele Verbrechen auf dem Gewissen hatten, befand sich das
zuschauende Volk nicht auf Seiten der Gerechtigkeit. In der
Menge ertönten fortwährend Zornrufe gegen die Henker, Frauen
fielen in Ohnmacht, andere beteten.**
Einst stand die Todesstrafe an erster Stelle, dann folgten
Knut, Batogi und Pleti, dann erst Spitzruten. Nun waren die
Spitzruten aus der dritten Reihe in die erste gekommen und
nahmen würdevoll die Stelle der Todesstrafe ein. Nicht bloß
die Mitglieder der Armee und Marine, nicht bloß Leute, die
nur in entfernter, sondern selbst solche, die in gar keiner Be-
ziehung zur Armee standen, waren jetzt von dieser militärischen
Strafe bedroht. So machte unter Nikolaj 1. General Pissen den
Vorschlag: „Pleti und Ruten sind nicht imstande, die Ver-
bannten zu den Festungsarbeiten zu zwingen, man kann sie
bloß mit Spitzruten bändigen.** 1825 wurde befohlen, für flüch-
tige Arbeiter der Tulaer Gewehrfabrik „gemäß der Armee-
ordnung**, die Spitzrutenstrafe einzuführen. Götzenanbetung,
— 163 —
Schwarzkunst, leichtsinnige Gottes- und Heiligenlästerung, Kra-
walle, Schlägereien, Vernichtung von angeschlagenen Ukasen
wurden schon seit Peter dem Großen mit Spitzruten bestraft.
Nikolaj I. belegte mit dieser Strafe die Teilnehmer an Bauern-
revolten und Staatsverbrecher. Nach der Streichung des Knut,
der Batogi und der Pleti aus dem Gesetzbuche blieben die Spitz-
ruten bestehen. 1855 wurden sie von Alexander II. neuerdings
legalisiert : Die Bauem-Aufrührer von Wjatka wurden zu 6000
Schlägen verurteilt. 1861 aber ging man anläßlich der Er-
hebung der Bauern im Dorfe Kandewka schon milder vor : man
gab nur 400 — 700 Schläge, wo man wenige Jahre zuvor zu
3000 — 4000 verurteilt hatte. Nikolaj I. hatte 1843 anbefohlen,
daß die mit Spitzruten Bestraften für jedes Mal des Spießruten-
laufens eine dünne schwarze Schnur auf den Ärmel erhalten
sollten, „damit jeder sie von den anständig dienenden Soldaten
unterscheiden könne**. Alexander II. schaffte auch diesen
Schandfleck ab. Die Spitzruten sind so allmählich aus dem
Gebrauch gekommen, aber entsprechend dem russischen System
haben sie in den einfachen Ruten einen genügenden Ersatz
gefunden.
Die leichteste Art der körperlichen Züchtigung, die Ruten,
Rosgi oder Losy (poarn, jio3h), begann besondere Bedeutung
zu erlangen, als Knut und Batogi, Pleti und Spitzruten ihre
Wichtigkeit eingebüßt hatten. Bis zum achtzehnten Jahrhun-
dert findet man in russischen Gesetzen keine Erwähnung der
Rutenstrafe. 1) Erst die Reglements Peters des Großen von 17 16
und 1720 verordnen für Diebe unter 15 Jahren, „um sie vom
Laster zu entwöhnen**, die Rutenstrafe. In den baltischen Pro-
vinzen waren dagegen die Ruten das fast alleinherrschende
Züchtigungsmittel. Und dort waren die Strafen dieser Art
gewiß furchtbar, wenn schon ein russischer Generalgouvemeur
unter Katharina IL „das dreimalige Schlagen mit 40 Paar
Ruten als so unmenschlich** fand, daß er diese vom Gericht
vorgeschriebene Strafe nicht auf einmal, sondern in drei Por-
tionen, an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen, verabreichen
ließ. In den baltischen Provinzen waren infolge der Leibeigen-
1) TiiM(K|)eeBT> 212 ff.
II»
— 164 —
Schaft die sittlichen Verhältnisse entsetzlich; gegen Sittlich-
keitsverbrechen gelangt in erster Linie die Rutenstrafe zur An-
wendung. Auf Sodomie steht Todesstrafe, aber bei Minder-
jährigen wird Milderung geltend gemacht: 1765 erhält ein
15 jähriger Bauemjunge, der wegen Unzucht mit Tieren zur
l'odesstrafe verurteilt wurde, statt ihrer an drei auf einander-
f olgenden Sonntagen mit 10 Paar Ruten je drei Schläge, außer-
dem Kirchenbuße und ein Jahr Zwangsarbeit; merkwürdiger-
weise findet der russische Senat, der für Rußland die furcht-
barsten Knuten- und Pletjstrafen verhängt, dieses baltische Ur-
teil zu hart und veranlaßt die Kaiserin, die Angelegenheit einer
Prüfung zu unterziehen. Wie in den Ostseeprovinzen wurden
auch in Kleinrußland Sittlichkeitsverbrechern Ruten appliziert,
besonders Kupplern und Kupplerinnen, femer minderjährigen
Dieben ; die Schuldigen band man an Pfähle und prügelte sie
dann vor dem versammelten Volke. In Großrußland verhängen
die weltlichen Gerichte von 1742 ab für minder schwere Ver-
brechen Minderjähriger fast regelmäßig Rutenstrafen. 1763
erhält der Schüler Grünew „für lügnerische Briefe** angesichts
aller Kollegen die Ruten. Mit Ruten züchtigt man 1771 in
Moskau die minderjährigen Teilnehmer der Pest-Revolte. Spä-
ter verurteilt man auch Erwachsene, Männer und Frauen, zur
Rutenstrafe. Ein Gesetz von 1831 droht mit Rutenzüchtigimg
den Rekruten, die ihre geheimen Krankheiten nicht angeben.
1831 werden im Cholcra-Aufstand Minderjährige und Greise
mit Ruten geschlagen; die geringste Zahl der Schläge ist 25,
die höchste 500. Ein Gesetz Nikolajs I. stellt dfc Ruten in
eine Reihe mit der niedrigsten Knutenstrafe (fünf Hiebe), mit
dem Stock, dem Gcfangcnhaltcn bei Brot und Wasser, und
zählt die Rutenstrafc zu den Polizeistrafen und zu den Strafen,
die die Wolostgerichte verordnen können (gegen Dorfbewohner
für Diebstahl unter 5 Rubel). 1845 niußte der Knut verschwin-
den ; die Redakteure des neuen Gesetzbuchs suchten dies furcht-
bare Instrument durch die Rute zu ersetzen, indem sie die bis
dahin übliche Zahl der Rutenhiebe vervielfachten. So wurde
die Rutenstrafe aus einer leichten zu einer schweren Züchtigung,
die zusammenhing mit der Einsperrung ins Arbeits- und Straf-
haus. V^er zu Gefängnis, ja bloß zu Arrest verurteilt wurde,
— 165 —
bekam als Zugabe Ruten. Dreijähriges Zuchthaus erforderte
loo, zweijähriges Gefängnis 60 Rutenhiebe und drei Monate
Arrest hatten 30 Schläge als Zugabe. Die Polizei verhängte
Rutenstrafen als Korrektionsmittel ohne weitere Folgen: bei-
spielsweise für Zerstörung von Vogelnestern, Fluß-Überfahrt
in gefährlicher Zeit, Karten- und Würfelspiel um Geld. Als
von Alexander IL die Körperstrafen ganz aufgehoben wurden
(auf dem Papier), beließ man 1861 und 1863 im Bauern-Regle-
ment den Dorfrichtem und Friedensrichtern das Recht, für
Vergehen 5 bis 20 Schläge zuzuurteilen ; 1885 verordnete man
für Landstreicher 30 — 40 Rutenhiebe; und später noch ge-
stattet^ man der Polizei, minderjährigen Lehrlingen auf Klage
des Meisters 5 — 10 Rutenhiebe zu verabreichen. Im letzten
Jahrzehnt ist die Rutenstrafe neuerdings in viele Gesetze
eingedrungen : Wenn man für ein Vergehen eine Arreststrafe
abgebüßt hat und sich im selben Jahre ein zweites Vergehen
zu schulden kommen läßt, erhält man Rutenstreiche. M
1) Im alten Kreta war die Rutenstrafe stark in Gebrauch. Die Lace-
dämonier straften Diebe mit Ruten. Im republikanischen Rom züchtigte man
Brandstifter, bevor man sie ins Feuer warf, mit Ruten. Das Porciagesetz verbot
im Jahre 454 die Anwendung der Rutenstrafe. Aber der Kodex des Theodorich
befahl Rutenstrafe für das Begraben von Leichen in der Stadt Rom. Auch
setzte man, dem Porciagesetz zum Trotze, die Peitschung der Sklaven fort.
Domitian befahl, diejenigen, die mit Vestalinnen Unzucht trieben, zu Tode zu
schlagen. Hadrian züchtigte Soldaten, die in der Trunkenheit oder aus Nach-
lässigkeit ihre Gefangenen entschlüpfen ließen, mit Ruten. Julian strafte auf
diese Weise jene, die das Christentum nicht abschwören wollten. Heinrich VIII.
von England ließ aus Glaubensfanatismus den Advokaten Bainham vor der Ver-
bannung mit Ruten peitschen, um ihn in den Augen des Volkes zu schänden.
In Deutschland kannte man für gesetzliche Strafen mehr Spießruten als Ruten,^
in Spanien mehr die Peitsche. In Frankreich schlug man anfangs nur Sklaven
mit Ruten. Childeric II. aber ließ im Zorn einmal auch seinen Hof mann Bodillon
an einen Pfahl binden und mit Ruten peitschen ; Bodillon konspirierte aus Rache
gegen Childeric und tötete ihn. Später wurden viele Verbrechen neben der
gesetzlichen Strafe auch mit Rutenstrafe geahndet. 1789 wurde dem Soldaten,
der einen Diebstahl begeht, Rutenstrafe angedroht. Für die Kolonien Frank-
reichs führte das Edikt von 1724 die Rutenstrafe ein ; für den kleinsten Diebstahl
züchtigte man die Sklaven mit der Rute und gleichzeitig brandmarkte man ihre
Schulter mit dem Zeichen der Lilie; die Herren durften, wenn sie glaubten,
daß die Sklaven es verdienten, diese jederzeit in Ketten legen und mit Stricken
oder Ruten schlagen. Vgl. Dictionnaire de la p6nalit6 V. (Verges.)
— 166 —
Die Rute spielte und spielt noch heute in Rußland ihre
mchtigste Rolle als Züchtigungsmittel gegen Empörer. 1834
wurden die revoltierenden Tartaren von Ssimbirsk, „damit sie
sich beruhigen**, zu 100 Rutenhieben verurteilt. Noch schwe-
rere Rutenstrafe traf die russischen Bauern, die an der Revolte
teilgenommen hatten. Ein russischer Oberst, der der Exekution
beiwohnte, erzählt in seinen Memoiren : „Man fragte die Leute,
ob sie sich entschuldigen wollten, um der Strafe zu entgehen;
aber keiner bat um Verzeihung und Gnade. Man streckte sie
der Reihe nach auf die Erde. Ein Greis von 70 Jahren bekam
als erster die Ruten zu fühlen, man schlug ihn bis auf den
Tod, und dem Sterbenden legte man Fesseln an. Darauf
schlug man einen zweiten, dritten, und so fort bis zum drei-
zehnten. Der vierzehnte aber schrie, als er dreihundert Hiebe
erhalten hatte, um Gnade. Seinem Beispiel folgten die übrigen
noch nicht Gezüchtigten. „Der russische Mensch** — so schließt
der Oberst seine Erzählung — „ist nur dann aufrichtig unter-
würfig und beruhigt, wenn er für seine Schuld bestraft ist,
aber ohne Strafen sind seine Gelöbnisse nichts wert. Der Be-
strafte nur fürchtet sich, neu schuldig zu werden und beruhigt
sich.** Ein anderer russischer Memoirenschreiber berichtet über
die sogenannte 1842er Kartoffel-Revolte im Permschen Gou-
vernement : „Man befahl den Bauern, niederzuknien. Darauf
brachte man 4 Wagen, 2 mit Ruten, 2 mit Stöcken vollgeladen.
Zu jedem Bauer traten 2 Soldaten, der eine mit Ruten, der
andere mit Stöcken in den Händen. Dann begann ein wü-
tendes Schlagen. Da die Soldaten müde wurden, schlug man
zum Schlüsse nur jeden zehnten Bauer." Im Jahre 1843 wurden
nbermals im Permschen Gouvernement 1677 Bauern, in den
Jahren 1861 und 1879 die Teilnehmer der Cholera-Unruhen
auf solche Weise gebändigt.
Schwer zu leiden unter der Rute hatten die Leibeigenen.
Unter dem Terminus der Hauszucht bestimmte das Gutsbesitzer-
Reglement vom Jahre 1763 nicht weniger als 1000 bis 5000
Rutenhiebe für russische Leibeigene! In Grusien hatte Graf
Araktschajew auf seinem Gute stets mit Salzwasser gefüllte
Kufen stehen, in denen Ruten geweicht wurden; für die ge-
ringsten Vergehen riskierten die Leibeigenen hunderte Hiebe!
— 167 —
Ebenso waren in Esthland und Livland Ruten die gewöhnliche
Art der Züchtigung der Leibeigenen. i) Hier wurde aber sel-
tener auf den Rücken, sondern mehr auf den nackten Hintern
geschlagen. Das Instrument bestand aus einem Bündel frischer
Birkenzweige, Kinderruten geheißen, oder aus 2 langen starken
Spitzruten von Birken, die man nach je drei Schlägen gegen
frische austauschte; lo Paar Ruten bedeuteten: 30 Hiebe auf
den entblößten Rücken oder Hinteren mit je 2, nach jedem
dritten Hiebe gewechselten Ruten. Solche 10 Paar Ruten
genügten zum Zerfleischen des Opfers bis auf die Knochen.
Auch als militärisches Disziplinarmittel war die Rute in
Verwendung. Nach dem Zeugnis des Fürsten Imeretinskij,
der in den 40er Jahren des neunzehnten Jahrhundert im Preo-
braschenskij-Regimente diente, durfte der Regiments-Komman-
dant 800 Rutenhiebe verabfolgen lassen. Andere Offiziere
aus der Nikolajschen Epoche erzählen in ihren Erinnerungen
Gleiches oder Ähnliches.
Die Herrschaft der Rute in der russischen Schule muß
schließlich ebenfalls hier erwähnt werden. Im achtzehnten
Jahrhundert war die Rute souverän namentlich in den niedrigen
Lehranstalten. 2) Erst Katharina II., obwohl sie selbst eine
1) Petri, Ehstland und die Ehsten. II 33.
2) Schon bei den Hebräern wird die Jugend mit Ruten gezüchtigt:
„Züchtige deinen Sohn", heißt es, ..weil Hoffnung da ist. Schlägt man den
Spötter, so wird der Alberne witzig. Man muß dem Bösen wehren mit harter
Strafe und mit ernstlichen Schlägen, die man fühlet. Torheit steckt dem Knaben
im Herzen, aber die Zuchtrute wird sie ferne von ihm treiben, öffentliche
Schläge sind besser denn heimliche Liebe. Wer sein Kind lieb hat, der hält es
stets unter der Rute, daß er hernach Freude an ihm erlebt. Beuge dem Knaben
den Hals, wenn er noch jung ist, bläue ihm den Rücken, wenn er noch klein ist,
auf daß er nicht halsstarrig und dir ungehorsam werde". Der Römer Quintillian
aber war gegen die Rute in der Schule: ,,Ich wünsche nicht, daß man die Schüler
peitsche, obgleich dies im Gebrauche ist und selbst Chrysipp es nicht mißbil-
ligt". Im Mittelalter fehlten beim Unterricht der Prinzen und Prinzessinen,
Junker und Fräulein, Laien und Geistlichen nie Geißel und Ruten. Man züch-
tigte sie bis ins Alter des Erwachsenseins. Boileau teilt in seiner Hist. Flagell.
eine merkwürdige romanische Verordnung mit, wonach die Jugend beiderlei
Geschlechts bis nach zurückgelegtem 15. Jahre unter der Rute stehen sollte.
Nun sind in Italien und Spanien Mädchen im 12. Jahre schon heiratsfähig.
Im Mittelalter und bis in die neue Zeit hinein pflegte man auch die Pagen mit
— 168 —
Freundin körperlicher Bestrafung war, wendete sich gegen
die Züchtigung der Schüler. „Schläge sind nicht nützlich für
die Jugend,** meinte sie. 1766 forderte sie im neuen Kadetten-
statut: „man soll die Seele durch das Ehrgefühl, nicht durch
die Furcht vor körperlichen Strafen läutern.** 1767 verbot sie
energisch das Prügeln der Schulkinder; „die Physik beweist,
daß das Schlagen der Kinder nur Böses wirkt.** Aber Katha-
rinas Enkel Alexander I. befahl 1802 im Reglement für Pagen:
„abschreckende Rutenstrafe**, und 18 17 im Reglement für das
Richelieu-Lyceum : „äußerste Rutenstrafe.** 1820 heißt es im
Üstaw für die Gymnasien, die der Dorpater Universität unter-
stehen: „Man soll in den Gymnasien fortan die Körperstrafen
anwenden, hoffentlich werden sie in den oberen Klassen nicht
nötig sein.** 1828 wird die Rutenstrafe in die Gymnasien von
St. Petersburg, Moskau, Kassanj und Charjkow eingeführt. In
der Theorie waren die oberen Klassen ausgenommen, in der
Praxis nicht. Die Strafen verursachten zahlreiche Selbstmorde
aus verletztem Ehrgefühl. Besonders blühte die Rute in den
Seminarien und in den Kadettenschulen. Rostislaw^) berichtet
aus seiner Schulzeit im Seminar: „Manche Lehrer rissen die
Haare aus; andere arbeiteten mit den Fäusten, andere mit
Stöcken. Die Hospitanten hatten das Recht, im Auftrag des
Lehrers, ihren Kollegen bis zu zehn Schlägen mit der Rute zu
geben. In meiner Zeit gab es 8 Selbstmorde.** Und Dr. II-
jinskij, der in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts das
Gymnasiun; von Kasanj besuchte, überliefert uns dieses hübsche
Idyll: „Die Lehrer überschritten alles gesetzliche Maß. 1840
benutzte der Direktor des Gymnasiums von Kasanj starke Ru-
ten, die er beim Gebrauch fortwährend in siedendes Wasser
tauchte ; er verabreichte 50 Rutenhiebe, bis das Blut in Strömen
Ruten zu schlagen. Mehr als eine hohe Gebieterin liebte diesen Punkt des
riausreglemcnts, und dasselbe Spiel trieben die gnädigen Herren, indem sie das
Prinzip der Hauszucht geltend machten, mit dem Kammerfräulein. Auch bei
nichtchristlichen Völkern und in anderen Weltteilen hatte die Rute im Straf-
gesetz wie im Herrenrecht, in der Erziehung der Jugend wie als Flagellations-
instrument ihren bedeutenden Platz. Man sehe die Beispiele hierfür bei Frusta,
Der Flagellantismus und die Jesuitenbeichte. S. 203.
1) Vgl. die Memoiren Rostislaws.
— 169 —
floß.** In der polytechnischen Schule zu Petersburg sangen
5 Schüler angeblich die Marseillaise. Graf Kleinmichel befahl,
die Frechen mit je 5 Rutenhieben zu bestrafen. Diese Ruten-
hiebe waren furchtbarer als Knutenhiebe. Ein Schüler starb
auf der Stelle. Ein anderer erhielt einen tötlichen Hieb auf
den Bauch und rief dem Henker zu: „Der ungeschickte Kerl
versteht nicht sein Metier.** Die grausame Züchtigung erweckte
solchen Abscheu, daß tnan den allmächtigen Grafen Klein-
michel im Theater laut als Henker titulierte. i) Eine Statistik
der Kijewer Schulen aus den Jahren 1857 bis 1859 bemerkt,
daß 27 Perzent aller Gymnasiasten Ruten bekamen! Der be-
rühmte Professor Pirogow befahl, als er Kurator des Kijewer
Lehrbezirkes geworden war, trotz der Opposition fast aller Pro-
fessoren und Lehrer, die Einschränkung der körperlichen Züch-
tigungen; während seiner allerdings kurzen Amtierung wiurde
nur 26 Mal geprügelt I Als Prügler in den Gymnasien waren
verabschiedete Unteroffiziere angestellt. Der Inspektor stand
dabei und kommandierte die Exekution. Verdiente ein Schüler
besondere Strafe, so droschen zwei Unteroffiziere abwechselnd
den Bestraften durch. Die Prügler waren aber bestechlich
und für ein Geschenk markierten sie bloß die Schläge.^) Das
Gymnasialreglement von 1862 verbot endlich die Rutenstrafe
in den höheren Schulen ; aber in den niedrigen ist sie geblieben
und in der Theorie nur von der Einholung der elterlichen
Zustimmung abhängig.
In den Mädchenschulen hat sich die Prügelstrafe ebenfalls
bis heute erhalten ; namentlich in den Klosterschulen, wo adelige
Kinder erzogen werden. In den von Nonnen geleiteten Waisen-
erziehungshäusern führen die Kinder das traurigste Leben. Um
4 Uhr früh müssen sie aufstehen und bis abends 8 Uhr wird
gearbeitet oder gebetet ohne Unterbrechung; von 8 bis 9 Uhr
aber, vor dem Schlafengehen, werden die Kinder mit der Rute
jjezüchtigt; jene, die im Laufe des Tages Übles getan haben,
trhalten die Rute als Strafe, die anderen als Warnung. Die
1) Histoire de l'Empereur Nicolas. Trente Ann6es de Rdgne. Par Alphonse
Balleydier. Paris 1857. II 141.
2) Wernirot, Rußland im Licht. Hamburg 1852. S. 151.
— 170 —
Rute trifft nicht bloß die armen Kinder in den Waisenhäusern,
sondern auch die Töchter der reichsten Famihen in den vor-
nehmsten Instituten und Pension^iten. Großes Aufsehen erregte
vor einiger Zeit die Ursache der Züchtigung der polnischen
Komtesse Stephanie Kwilinska, die im Petersburger Adels-
lyceum erzogen wurde. Der Zar machte eines Tages diesem
Institut einen Besuch und führte die erwähnte siebzehnjährige
Komtesse, die ihm als die tüchtigste Schülerin vorgestellt wurde,
zu Tische. Es ist Sitte, daß der Kaiser als besondere Aus-
zeichnung dem Mädchen, das er vor allen anderen wegen seines
Fleißes belohnt hat, von seinem Teller den Rest der Speisen
gibt, den er stehen läßt. Kein größeres Glück für ein adeliges
Pensionatsfräulein, als vom Zaren in dieser Weise begnadet
zu werden. Die polnische Komtesse aber wußte nichts von
diesem Brauch oder wollte von ihm nichts wissen, und als der
Kaiser ihr seinen Teller mit den Speiseresten überreichte, da
rief sie einfach einen Diener und befahl ihm, den Teller hinaus-
zutragen. Ob dieses Vorfalles große Konsternation. Die Vor-
steherin rief die Schülerin, die noch eben von allen Kolleginnen
beneidet war, in ein anderes Zimmer und erteilte ihr mit der
Rute eine so derbe Lektion, daß die Bestrafte mehrere Tage
lang das Bett hüten mußte. i) Weit tragischer war der Vorfall,
der sich im Mai 1907 im Petersburger Alexander-Institut, einer
Tochteranstalt des Smolna-Instituts, ereignete. Im Alexander-
Institut werden die Töchter der im Staatsdienste stehenden
Adeligen erzogen. Eines Tages stürzten sich zwei Schülerinnen,
Nadcschda Kandaurowa und Olga Ssawinkowa, aus den Fen-
stern und verletzten sich tötlich. Es wurde eine Untersuchung
eingeleitet, die ein furchtbares Licht auf das Leben in einem
solchen Institut wirft. Das Regime ist streng bis zur Unmög-
lickeit. Für das Nichtgenießen einer Speise, für die geringste
Unordnung in der vorschriftsmäßigen Kleidung, zum Beispiel
für das nicht korrekte Anlegen der Schürze, für unkorrekte
Verbeugungen in der Kirche, mit einem Wort, für die aller-
nichtigsten Kleinigkeiten werden die Schülerinnen mit Ent-
ziehung des Ferienurlaubs, mit schlechten Noten für Betragen,
1) Vgl. M. Sadow, Das prügelnde Rußland. Leipzig (1906).
— 171 —
mit der Entziehung des Rechts auf den Empfang von Besuchen,
und sei es auch der Besuch der Mutter, und mit Ruten bestraft.
Einmal wurde der größte Teil der Schülerinnen einer der mitt-
leren Klassen des Alexander-Instituts für ein ganz geringfügiges
Vergehen durch Einschränkung des Ferienurlaubs bestraft, so
daß viele der Schülerinnen der Möglichkeit beraubt waren,
ihre in der Residenz lebenden Eltern zu besuchen. Das große
Verbrechen der Kandaurowa und Ssawinkowa war, daß sie
Tagebücher führten. Das ist verboten. Aber die meisten Schüler-
innen führen doch ein Tagebuch, und die Inspektrice und die
Klassendamen dulden es, um durch systematische Durch-
suchungen der Sachen der Schülerinnen und durch die Lektüre
des Tagebuches Auskünfte über das Leben der Schülerinnen zu
erlangen. Die beiden Freundinnen wurden wegen ihrer Tage-
bücher furchtbar gezüchtigt. Sie beschlossen nun, sich „zum
Opfer zu bringen**, um dadurch die Aufmerksamkeit der Außen-
welt auf die unerträglichen Zustände im Institut zu lenken. i)
Diese Selbstopferung ist echt russisch.
34. Gefängnisse^ Verbannung, Folter.
Die Rute im Gefängnis — Moderne Prügelstrafen in Sibirien — Bericht eines
russischen Arztes — Block — Ketten — Fesseln — Die Tat eines russischen
Philanthropen — Zustände in den Gefängnissen des europäischen Rußland —
Leroy - Beaulieus freundliche Ansicht — Moskau — Das Höllengefängnis von
Riga — Methode Gefangene in Ordnung zu halten — Die Nacktheit als Strike-
mittel — Systematische Infizierung politischer Gefangener — Das Gefängnis
von Nikolajew als Bordell — Geschichte der Folter in Rußland — Blutsaugen
als Unschuldsprobe — Die Probe des glühenden Eisens — Kalmückische Eisen-
probe — Der Knut als Folterwerkzeug — Alte russische Folterungsmethoden —
Des Zaren Alexej Torturvorschriften — Die Tortur zur Zeit Peters des Großen —
Die Kaiserinnen und die Folter — Torturen im 19. Jahrhundert — Moderne
Torturen — Verbannung nach Sibirien — Unsittlichkeit in den Etappenge-
fängnissen — Geschichte der Verbannung nach Sibirien — Ursachen zur
Deportation — Herrenrecht und Verbannung — Statistisches — Leiden der Ver-
bannten auf der Reise — In den Minen von Kara — Auf Sachalin — Sittlich-
keitsverhältnisse — Europäisches Lob der Verbannung nach Sibirien — Die
Aufhebung der Deportation durch Nikolaj II.
1) St. Petersburger Zeitung (deutsch), Mai 1907.
— 172 —
Von der Prügelstrafe in den russischen Gefängnissen ist
bisher noch nicht die Rede gewesen. Sie verdient, hier einen
besonderen Platz angewiesen zu erhalten. Die Rute war im
ganzen neunzehnten Jahrhundert ein beliebtes Disziplinarmittel
der Gefängnisdirektoren. Die 2^hl der Rutenhiebe wurde mehr-
fach durch Gesetze genau bestimmt. 1803 gestattete Zar
Alexander I. den Verwaltern der Zuchthäuser, bloß drei Schläge
für ein Vergehen anzuordnen. 1845 aber erlaubte Nikolaj I.
schon 10 Hiebe in den Arbeitshäusern, 30 in den Arrestanten-
kompagnien, und 30 — IOC Hiebe in den Verbrecherkolonien
und Verbannungsorten. Alexander II. verlieh dem Chef eines
Arrestantentransports das Recht, als Disziplinarstrafe eigen-
mächtig 30, nach Einholung der Erlaubnis des Gouverneurs
jedoch auch 100 Hiebe zu verordnen. Je weiter vom Zentrum
des Reiches, desto weniger genau nimmt man es mit diesen
gesetzlichen Vorschriften. Für die sibirischen Gefängnisdirek-
toren gar dauert noch die gute alte Zeit fort. Knut und Pleti
sind bei ihnen nicht abgeschafft, führen noch neben der Rute
ihr rührend idyllisches Leben: „In einem düsteren Korridor"
— so heißt es in einer allermodernsten Schilderung des rus-
sischen Arztes Dr. Lobas — „sind Tische und Stühle für die
der Exekution beiwohnenden Behörden aufgestellt, in einer
]^2ntfemung davon ist der Holzbock, hinter dem der Henkers-
knecht, eine weiße Mütze auf dem Kopf, die Füße in Filz-
rchuhen, in einem blutroten Hemde mit aufgestülpten Ärmeln
und mit dem Knut in der Hand auf sein Opfer wartet. An der
Wand stehen in einer Reihe die Arrestanten, ihnen gegenüber
die Aufseher, die geladenen Revolver in den Händen. Es
herrscht eine unheimliche Stille. Da wird der Name des ersten
Verurteilten aufgerufen. Zitternd tritt er zu dem Holzbock
und auf den Befehl des Henkers legt er sich nieder, worauf man
ihn mit Riemen festschnallt; die Hände werden unter dem
]k)ck festgebunden. Der Gefängnisdirektor erteilt nun den
Befehl zur Ausführung der Strafe, und wuchtig saust die Peit-
sche auf den nackten Körper nieder, ein schauerliches, plät-
scherndes Geräusch erzeugend, dem ein stöhnender, herzzer-
1) In der Petersburger Medizinischen Wochenschrift vom Jahre 1898. I.
— 173 —
reißender Aufschrei folgt. „Eins, zwei, drei!** zählt der Auf-
seher und das Sausen und Aufschlagen der Peitsche markiert
jede Zahl. Das Aufschreien des Gezüchteten verwandelt sich
nach und nach in ein ununterbrochenes Geheul und Gebrüll.
Es liegt in der Hand des Henkers, den Verurteilten nur leicht
zu züchtigen, oder ihn für Lebenszeit zum Krüppel zu machen.
Furchtbar ist die Roheit der Gefängnisdirektoren; so nahm
einer, mit der ihm zu milde erscheinenden Handhabe des
fürchterlichen Knut unzufrieden, dem Henker das Instrument
aus der Hand und zeigte am Arrestanten, wie man zuschlagen
müsse; ein anderer wieder ließ den Henker selbst durch Peit-
schenhiebe furchtbar verstümmeln, als er sah, daß der Kerl
nicht fest genug dreinhieb. So hat ein solcher Henker auf
diese Weise das ganze Gesäß durch Gewebsbrand verloren.
Doch nicht bloß Knutenhiebe,** so schließt Dr. Lobas seinen
nüchtern schauerlichen Bericht, „sind eine gsfürchtete Züch-
tigung in den sibirischen Gefängnissen, auch die gewöhnliche
Züchtigung mittelst Ruten, wie sie alltäglich vorkommt und ge-
wissermaßen als eine Bagatelle angesehen wird, ist in ihren
Wirkungen nicht weniger schlimm. Daß auch Schwerkranke
dieser Maßregelung nicht entgehen, ist leider nur nackte Wahr-
heit. Sehr häufig wurden schwere, auf Rutenstrafe folgende
Psychosen beobachtet. Im Kreise Korsakow wurde eine
Schwangere so lange geprügelt, bis sie ihre Seele aushauchte.**
Für den leisesten Widerspruch, das harmloseste Vergehen
erhalten die Gefangenen außer Ruten auch Block, Fesseln,
Ketten. Das sind nicht bloß Sicherheitsmittel, sondern Straf-
instrumente. Der Block (KOJiOAKa) war schon im alten Pskow-
schen Gesetze als weltliche Strafe bekannt. In anderen Gou-
vernements war der Block eine besonders bei der hohen Geist-
lichkeit beliebte bloße Disziplinarmethode. So klagt ein Akten-
stück aus dem Jahre 1729, „daß der Vorsteher der Kathedrale
zu Kursk seine Untergebenen in seinem Hause lange Zeit an
Blöcke fesselte.** Auch die Fabriksherren und Gutsbesitzer
bedienten sich dieses Mittels gegen ihre Arbeiter und Leib-
eigenen. Im Jahre 1740 kam es während eines berühmten
Petersburger Prozesses zutage, daß der Fabrikant Satrapesnow
seine Arbeiter für die geringste Schuld an Blöcke zu ketten
— 174 —
pflegte. Die russische Justiz scheint sich schon frühzeitig der
Blöcke bedient zu haben, um die Flucht von Arrestanten zu
verhüten. Im siebzehnten Jahrhundert erklärten zwar mehrere
Ukase solchen Gebrauch als Mißbrauch, und dem Wojewoden
von Werchotyr wurde beispielsweise ausdrücklich anbefohlen:
„man soll die Gefangenen nur in Eisen, aber nicht an Blöcke
legen**; aber trotzdem wurden die Blöcke angewendet, im acht-
zehnten wie im neunzehnten Jahrhundert. Aus dem Jahre 1819
erzählt ein Augenzeuge, wie man einen Ataman in Ssamara
so gewaltsam an einen Block schlug, daß man ihm Hände xmd
Füße verbrach und schließlich das Leben nahm. Selbst Nikolaj I.
sah sich veranlaßt, 1827 gegen die ,, Verwendung ungesetz-
licher Mittel** zu protestieren; „ein schrecklicher Vorfall** ver-
anlaßte diesen ükas des Zaren : „in Kleinrußland hat man einen
Arrestanten so unbarmherzig an einen Block geschlagen, daß
man ihn zu Tode geschlagen.*' 1847 wurde ein Edelmann,
des Diebstahls verdächtig, an den Block geschlagen; Nikolaj
erließ ein neues Verbot. i)
Ketten (r^iinii) waren im siebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert hauptsächlich den kirchlichen und Dorfrichtem
bekannt. Die Bischöfe ließen Mönche und Geistliche für unan-
ständige Reden oder Ungehorsam an Ketten legen. 2) Daß
auch die weltlichen Gerichte und die zarischen Wojewoden sich
der Ketten bedienten, um Gefangene an der Flucht zu hindern,
ist bekannt. Iwan der Schreckliche liebte es Gefangene an den
Ketten ermorden zu lassen. Aber doch war die alte Zeit nicht
so grauenhaft grausam wie die neuere. Früher legte man nur
von Fall zu Fall für ein Disziplinarvergehen die Gefangenen
an Ketten und nur für kurze Zeit, zwei Wochen oder einen
Monat. Aber ein Ukas Nikolajs 1. vom Jahre 1840 befahl, daß
man zu Zwangsarbeit Verurteilte für 5 bis 10 Jahre an Ketten
k'gen soll!
Fesseln (oKOBJii), Hand- und Fußfesseln als Strafe werden
0 Tn.Mn((.(>.'in. 224.
-') Vgl. A, S. Prugawin, Die russischen Klostcrgcfangnisse. Verlag des
Poßrcdnik, St. Petersburg (russisch) und die deutsche Übersetzung dieses Buches
von Prof. Dr. Reißncr. (Berlin 1906.)
— 175 —
zuerst vom Kriegsreglement Peters im Jahre 17 16 angeordnet. i)
Soldaten und Matrosen werden höchstens 14 Tage lang dieser
Strafe unterworfen. Aber einige städtische Beamte von Kijew,
die sich eines Amtsverbrechens schuldig gemacht haben, sollen
17 19 nach einem Befehle Peters „an Fuß und Hals gefesselt
bleiben, bis ihre Strafe verbüßt ist.** Die Fesselung ist noch
heute allgemein. Die Gefangenen, die in die Verbannung
transportiert werden, erhalten Fesseln an Händen, Füßen und
am Halse. Dann werden sie gruppenweise aneinandergekettet
und so transportiert. Sie können sich von einander nicht
• trennen, weder bei Tage noch bei Nacht, weder auf dem
Marsche, noch im Quartier. Schläft einer unruhig auf seinem
Lager, so reißt er, indem er an seinem Gürtel zerrt, auch die
anderen aus der Reihe. Will einer hinausgehen, um ein natür-
liches Bedürfnis zu befriedigen, so müssen alle, die mit ihm
zusammengekettet sind, ihn begleiten. Früher war es noch
schlimmer, da die Verbindung zwischen den einzelnen Arrestan-
ten durch schwere eiserne Stangen hergestellt war, die eine
Annäherung des einen an den anderen verhinderte. Ein be-
rühmter russischer Philanthrop, Dr. Haas, setzte es durch, daß
an Stelle der eisernen Stangen jetzt bewegliche Kettenglieder
verwendet werden.
Die Schilderungen aller früheren Reisenden malen das
russische Gefängniswesen in den düstersten Farben. So heißt
es vor hundert Jahren in einer Beschreibung des Moskauer
Gefängnisses 2) : ,,Es ist ein großes Gebäude aus Backsteinen
Die Verbrecher schmachten in Unreinigkeit. Ihr Aufenthalt
ist übelriechend, und sie selbst sind in ekelhafte Lumpen ge-
kleidet. Überdies sind soviele auf einmal in ein einziges Zimmer
eingesperrt, daß man sich wundern muß, wenn nicht alle an
ansteckenden Krankheiten zugrunde gehen. Die Elenden ver-
derben sich physiscb ebenso wie moralisch.** Aber Lcroy-
Beaulieu findet heute wenig Grund zu Klagen. „Wenn man,**
sagt er 3), „die russischen Gefängnisse als Furcht erregende.
*) TiiM-4of»Bi> 225.
2) Breton IV 54.
^) Das Reich der Zaren und die Russen. II 372.
— 176 —
verpestete Kerker schildert, in denen die Gefangenen den här-
testen und grausamsten Entbehrungen unterhegen, so sind
derartige Bilder nicht überall ganz wahr. Die Gefängnisse,
die der Reisende in den Hauptstädten kennen lernt, unter-
scheiden sich, wenigstens die nach europäischen Mustern ge-
bauten, wenig von den unseren. Ja, in mehr als einer Stadt
ist das Hauptbauwerk das Gefängnis, das über die Privathäuser
hervorragt. In diesen finsteren Palästen findet man die Art
von architektonischem Luxus, mitunter sogar den verhältnis-
mäßigen Komfort, den man heutzutage den Sträflingen zu
bieten sich gefällt.** Es ist bei dieser rosigen Schilderung
noch ein Glück, daß bemerkt wird : „Im Inneren der Gouverne-
ments ist das nicht immer der Fall, da man in den alten Ge-
bäuden aus Raummangel Angeklagte und Verurteilte zusammen
in buntem Gemisch einpferchen muß.** War dieser wunder-
bare Optimist, der eins der schönsten und ehrlichsten Bücher
über Rußland geschrieben hat, jemals im Innern eines rus-
sischen Gefängnisses ? Man braucht sich nicht auf die furcht-
baren Schilderungen eines George Kennan^), die Angaben
eines Custine^) zu berufen; man lese die trockenen Berichte
Haxthausens 3), die ärztlichen Mitteilungen von Aurelio Bud-
dens^): vor allem aber frage man die Russen selbst I Eine der
zivilisiertesten Städte des heutigen Rußland ist Riga. „In
Riga,** sagte der Engländer Lanin«^), „ist ein Gefängnis, bei
dessen Erwähnung den härtesten Verbrecher die blasse Furcht
überkommt und dessen Zellen furchtbarsten Schauder erregen.**
Ein russischer Schriftsteller erklärte : „Ich will lieber zum Tode
durch den Knut verurteilt werden, als eine Woche in einem
jener Löcher des Rigaer Gefängnisses eingesperrt sein.** Ich
kenne dieses Haus des Entsetzens; ich kenne noch andere
russische Gefängnisse; und ich füge hinzu: das Rigaer Gefäng-
nis ist ein Mustergefängnis im Vergleiche zu den anderen; und
ich verstehe die zitternden Worte Lanins, der ausruft: „Diese
^) Sibirien I — Berlin 1892.
^) La Riissie en 1839. II 128.
•^) Studien über die inneren Zustände Rußlands. I 331, II 235.
*) St.*" Petersburg im kranken'^und gesunden Leben. II 155 — 186.
^) Rassische Zustände. I 201.
Blutsaugen als Unschuldsprobe.
— 177 —
Gefängnisse sind kaum als Schweineställe zu gebrauchen, und
das System der Gefangenenbehandlung ist ein solches, daß
man meinen sollte, es sei von jenen scheußlichen Dämonen
erdacht, die uns Tertullian als Peiniger der verlorenen Seelen
schildert.** 1890 machten grauenerregende Vorfälle im Mohi-
lewer Gefängnis Aufsehen. Die Wächter gestanden, daß sie
auf Befehl des Gefängnisgouverneurs Morosow die Gefangenen
mit Knütteln und in Lumpen eingewickelten Steinen schlagen
mußten, „als sicherste Art die Schurken in Ordnung zu hal-
ten.**^) Als sich aus Ochotzk und Nertschinsk im Jahre 1879
Gefangene flüchteten, erließ der Minister des Inneren einen
Ukas, „daß alle Gefangenen an diesen beiden Orten an Ketten
gelegt und nur mit Brot und Wasser genährt werden sollen,
bis sie sterben. **2) 1907 inszenierten 400 Insassen des Gefäng-
nisses von Smolensk einen eigenartigen Strike. Sie verweiger-
ten das Anziehen von Wäsche und Kleidern und gingen nackt.
Es waren durchwegs politische Gefangene, die man besonders
züchtigen wollte; man gab ihnen also schmutzige Lumpen, die
von syphilitischen Arrestanten und Leprakranken abgelegt
waren. Als eine Anzahl der Häftlinge durch diese Kleidung
angesteckt worden war, verweigerten allp das Weitertragen
der Krankheitsbringer. Die Gefängnisverwaltung fragte in
Petersburg um Rat. Lakonische Antwort: „Laßt sie nackt
herumlaufen, bis sie erfrieren I**^) Es fehlt aber auch nicht an
fidelen Gefängnissen, wo die Grausamkeit der Wollust Platz
macht. Eine große Berühmtheit genoß in dieser Beziehung
das Gefängnis von Nikolajew zur Zeit des Regimes der beiden
Gouverneure Malinskij und Wladimirow im Jahre 1891. Die
verwegensten Verbrecher lebten dort, wenn sie reiche Ver-
wandte oder Freunde hatten, gleich Fürsten. Die russische
Zeitschrift .,Die Woche***) enthüllte ein liebliches Idyll: „Drei
Betrüger, Eichenholz, Moses und Litschizkij, wurden zu Einzel-
haft verurteilt. Aber die bestochenen Gouverneure gestatten
^) Lanin I 235.
2) PycLKaa crapHHa, 1879i 358. — Lanin I 209.
^) Russische Zeitungsberichte.
*) HeAtjifl, 19. anp. 1891 r.
Stern, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in RufiUmd. ** 12
— 178 —
ihnen, sich innerhalb des Gefängnisses ganz frei zu bewegen.
Gouverneur Malinskij lädt sie in seine Wohnung zu Tische, und
nach dem Essen wird Karten gespielt; und abends gibt es
Branntwein und Orgien. Gouverneur Wladimirow unterzieht
sich persönlich der Aufgabe, unter den weiblichen Häftlingen
die hübschesten auszusuchen und sie den Gefangenen in die
Zellen zu bringen."
In allen russischen Gefängnissen wird noch heute, im
zwanzigsten Jahrhundert, gefoltert. Die Grausamkeit der rus-
sischen Tortur charakterisiert das Volkswort : „Sagen was unter
dem Nagel verborgen ist.** In alten Zeiten kannte man wie
anderwärts auch in Rußland verschiedene Unschuldsproben:
das Saugen von Hundeblut; Eisenprobe; Wasserprobe. Die
erste Art verlief folgendermaßen: Wer seine Unschuld be-
hauptete, mußte einem Hunde unter dem linken Schenkel
eine Ader öffnen und das Blut saugen, bis das Tier vor Er-
schöpfung verendete. Erbrach der Beschuldigte das Blut oder
war er nicht imstande ans Ziel zu gelangen, so galt er als schul-
dig. In den Gesetzen des Großfürsten Jaroslow Wladimiro-
witsch und Wladimir Wßewolodowitsch Monomach wird die
Eisenprobe schon erwähnt, aber die Art ihrer Anwendung
nicht beschrieben : „Bei Anklage auf Mord und Diebstahl, wo
keine Zeugen, mache man die Probe des glühenden Eisens. Es
ist die Eisenprobe zur Bekräftigung jeder Anklage erlaubt,
wenn des Klägers Forderung sich auf i/o Griwne an Gold be-
läuft.** Ifctrug des Klägers Forderung nicht mehr als 2 Griwnen
an Silber, so bestimmte man die Wasserprobe. Diese wird
genau bcsc hrieben : Der Verurteilte muß seine Hand in ein mit
kochendem Wasser angefülltes Gefäß eintauchen und einen auf
dem lk)den des Gefäßes liegenden Ring herausnehmen. Darauf
wird die Hand in einem Sack eingebunden und versiegelt.
Nach drei Tagen erfolgt Öffnung des Sackes und Besichtigung
der Hand ; findet man diese unversehrt, so ist der Prozeß zum
Vorteile des Beklagten geschlichtet. i)
1) Konstantinopel und St. Petersburg, der Orient und der Norden, eine
Zeitschrift. S. 292 : Gesetze der Großfürsten Jaroslaw und Wladimir. — Auch
bei den Kalmücken kannte man eine Eisenprobe: Der Beschuldigte mußte ein
— 179 —
Aber nur im ältesten Rußland begnügte man sich mit
solchen Methoden. Bald begann man, wie es auch in Europa
glühendes Steigbügeleisen mit bloßer Hand anfassen und dann wegwerfen; man
umwickelte die Hand, besichtigte sie nach drei Tagen und entschied dann nach
der Beschaffenheit des Brandzeichens Schuld oder Unschuld des Beklagten. Vgl.
Benjamin Bergmanns Nomadische Streifereien unter den Kalmücken in den
Jahren 1802 und 1803. Riga 1804 II 41. —-Über Eisenprobe bei nicht russischen
Völkern findet man die Mitteilungen zusammengestellt in St. Edme, Dictionnaire
de la p6nalit6 IV 68. In Antigone von Sophokles erbietet sich ein von Kreon Ver-
dächtigter, ein glühendes Eisen in die Hand zu nehmen oder durch Feuer zu
gehen, um seine Unschuld zu beweisen. Theodor Lascaris, der seine Krankheit
der Zauberei zuschrieb, zwang die der Zauberei Verdächtigen, glühendes Eisen
in der Hand zu halten; geistreich sagt Montesquieu: „Das hieß bei dem unwahr-
scheinlichsten Verbrechen nach dem sichersten Beweis der Unschuld suchen".
Michael Paläologos der Usurpator war unter der Herrschaft seines Vorgängers
angeklagt, die höchste Gewalt anzustreben. Die Richter schlugen Eisenprobe
vor. Diese erfolgte nach byzantinischer Methode gewöhnlich so: Der Beschul-
digte mußte fasten und beten; dann band man seine Hand in einen Sack und
versiegelte ihn mit dem Siegel des Herrschers ; nach drei Tagen befreite man die
Hand, und nun mußte der Beschuldigte eine glühende Eisenkugel, genannt die
heilige, ergreifen und dreimal vom Altar bis zur Balustrade des Sanktuariums
tragen. Pachimeres erzählt^ daß er mit eigenen Augen mehrere solcher Fälle
gesehen, wo die Angeklagten keinen Schaden erlitten. Michael Paläologos aber
weigerte sich, die Unschuldsprobe vorzunehmen. „Wenn jemand mich anzu-
schuldigen wagt'', sagte er, „so bin ich bereit, mich mit ihm zu schlagen, ich
weiß anzugreifen und mich zu verteidigen, aber ich verstehe nicht Wunder zu
tun. Ich kenne kein Mittel, welches ermöglicht, glühendes Eisen in der Hand zu
halten, ohne die Hand zu verbrennen. Ich besitze nicht das Geheimnis, mich in
eine Marmor- oder Bronzestatue zu verwandeln". Phokas, Metropolit von
Philadelphia, Höfling und Prälat in einer Person, entgegnete : „Deine Geburt
verlangt mehr Courage ; es gilt, jeden Verdacht zu zerstreuen und deine Un-
schuld der ganzen Welt zu beweisen. Rechtfertige dich durch das geheiligte
Mittel, das man vorschlägt, da du es durch Zeugen nicht tun kannst". —
„Mein Meister", spottete Michael, ,, meine Augen sind nicht gut genug, um in
dieser Operation etwas Heiliges zu sehen. Ich bin ein armer Sünder, ein Knecht
im Erdenstaube. An dir, himmlischer Herr, der du mit Gott selbst sprichst, an
dir ist es, Wunder zu tun. Nimm das glühende Eisen in deine heiligen Hände und
lege du es in die meinigen; ich werde es mit Demut empfangen*'. Daraufhin
entschied Phokas : ,,Man soll Gott nicht versuchen !" und alle Richter waren von
Michaels Unschuld überzeugt. — In Europa kannte man die Eisenprobe im
feudalen Zeitalter; man zog auch Handschuhe aus glühenden Eisen an und
schritt barfuß über neun bis zwölf glühende Eisenstangen. Bei den alten Bre-
tonen mußte der Angeklagte mit verbundenen Augen bloß zwischen zwei
glühenden Eisenstangen unversehrt hindurchgehen, um seine Unschuld zu
12*
— 180 —
geschehen, sich der Folter zu bedienen, um Geständnisse zu
erzwingen. Der Knut war nicht nur Strafwerkzeug, sondern
auch Folterinstrument, und wir kennen bereits das russische
Sprichwort : „Der Knut lehrt die Wahrheit sagen/* Zu Zwecken
der Tortur schuf man eine Kombination der Verbindung des
Knutens mit dem Wippen: man band dem Beschuldigten die
Hände hinter dem Rücken zusammen und zog ihn dann mit
einem Seil an den zusammengebundenen Händen hinauf und
herunter. Der Henker hob seine mit dem Knut bewaffnete
Hand hinter die Schulter^), um mehr Kraft zum Schlägen zu
haben, und hieb mit voller Wucht auf den nackten Rücken
des Gewippten, den man erst losband, wenn seine Arme ganz
ausgerenkt waren. Die Erfindung des Wippens schreibt man
übrigens nicht den Russen, sondern Frangois I. zu; sie war
unter dem Namen Estrapade jedenfalls in Europa lange in
Gebrauch, namentlich in Frankreich, Spanien, Sardinien und
Venedig. Eine spezifisch asiatische Art des Gliederausrenkens
war abe- jene, die die Russen von den Kalmücken übernahmen :
man steckte die Beine des Angeklagten durch die Speichen
eines Karrens und dehnte sie solange aus, bis ein Geständnis
erfolgte.
Die Notwendigkeit der Tortur entschuldigte man in Ruß-
land damit, daß man gesetzlich niemanden verurteilen durfte,
der seine Schuld nicht selbst eingestanden hatte. ., Kein Mensch/
der wegen einiger Übelthat angeklaget wird / kan verurtheilet
werden / wofern er es nicht gestehet / ungeachtet tausend
Zeugen wider ihn Zeugniß ablegen.** Man tut ihm daher
„gewißlich zu Erlangung seines Bckänntnisses die greulichsten
beweisen. Königin Emma von England wurde von ihrem eigenen Sohn zur
Eisenprobe verurteilt; sie schritt, erzählt die Legende, barfüßig über neun
glühende Stangen, ohne Schaden zu nehmen. In Frankreich wurde nach der
Erzählung Gilberts ein Mönch durch die Eisenprobe der Hurerei überführt.
Ein Konzil unter Innocenz III. schaffte die Eisenprobe ab. Schließlich ist auch
bei verschiedenen wilden Völkern die Eisenprobe im Gebrauch gewesen. Bei
afrikanischen Völkern mußten die Beschuldigten glühendes Eisen lecken, drei-
mal oder siebenmal. Ähnliches geschah in Malabar und Siam.
1) Von dieser Art des Schiagens leitete man die Bezeichnung Sapljetschnik
für den Henker her: aaiMciuiufb, von :{aii.i(^Mi,e, „Stelle hinter den Schultern".
— 181 —
Martern an / die zu erdencken sind. Anfänglich wird er ge-
wippet ; wenn er nichts bekennt / gegeisselt / und der Hencker
gebraucht sich seiner Streiche so wohl / daß er denjenigen /
den er gegeisselt / mit 6. oder 7. Schlägen tödten kann. Man
sticht zuweilen den Beklagten mit einem glühenden Eisen in
die Seiten / oder spält ihm sogar den Rücken auf / den man
mit Saltz bestreuet / und auf dem Rost übers Feuer leget /
nachdem man ihn unterweilen ein wenig mit einem Stocke von
einander gethan hat. Dafern er noch nichts gestehet / so
macht man ihn die Schultern und den Rücken wieder zurechte /
und fanget / wenn ihme zwantzig Tage Ruhe gelassen worden
ist / wieder an / ihn wie zuvor zu martern. Oeffters werden
ihm die Seiten gantz aufgerissen / und wenn er alle die Martern
standhafft ausstehen kan / wie es öffters geschiehet / so ist
dieses der letzte Versuch / daß ihme auff dem Kopffe ein
Krantz überaus glatt geschoren / und Wasser tropffenweise
darauf gegossen wird / und dasselbe soll /wie man sagt / der
empfindlichste Schmerz unter allen Martern seyn.'i) Der rus-
sische Historiker Karamsin erwähnt aus der Zeit des Endes des
sechzehnten Jahrhunderts noch folgende Foltermethoden : „Um
einen erst noch zu überführenden Verbrecher zum Geständ-
nisse zu bringen, brannte man ihn manchmal; man brach ihm
die Rippen entzwei und schlug ihm Nägel in das Fleisch.**
Karamsin 2) findet aber auch eine vortreffliche Entschuldigung:
,,Die Ursache, daß die dem Herzen schauderhafte Grausam-
keit des Folterns bei uns eingeführt oder doch beibehalten
wurde, war das Bestreben, die Verbrechen zu vermindern.**
Das Gesetzbuch Iwans III. ordnet „die Tortur als Mittel zur
Entdeckung der Wahrheit** an, gestattet sie aber nur „bei Ange-
klagten, deren Vorleben ein anerkannt schlechtes und auf denen
große Wahrscheinlichkeit der Schuld ruht. Handelt es sich
aber um ehrenhaft bekannte Leute, so soll man die Tortur nicht
1) Reise nach Norden. 1706. S. 191. — Auch bei Le Bruyn, Voyages,
III 135, heißt es wörtlich gleichlautend: „Die furchtbarste Art der Folter ist,
den Kopf glatt rasieren und Wasser darauf tropfenweise fallen lassen. Wer
diesem unterzogen wird, gesteht, was man will".
*) Geschichte des russischen Reichs (deutsche Ausgabe). IX 288.
— 182 ~
anwenden. **i) Von den furchtbaren Torturen, die der schreck-
liche Iwan IV. anwenden ließ, braucht hier nicht nochmals
gesprochen zu werden. Aber Iwan IV. verhängte die Folter
nur in seinen Wahnsinnsanfällen, in den Gesetzen hielt er
Maß. Zar Alexej Michajlowitsch Romanow dagegen hat in
seinem Gesetzbuch (yjioaceme 1649 r.) für zahllose Fälle Fol-
terung ausdrücklich vorgeschrieben, und schon beim geringsten
Verdacht mußte gemartert werden. So heißt einer seiner
Gesetzartikel 2) : „Wenn Räuber auf der Folterbank einige Leute
beschuldigen, daß sie ihnen Quartier gegeben, sollen selbige
festgenommen, konfisziert, konfrontiert, gefoltert und bestraft
werden, als ob sie selbst mitgewirkt hätten. Ebenso soll ver-
fahren werden mit jenen, welche von den Räubern auf der
Folterbank als Hehler beschuldigt werden.**
Der Zivilisator Peter der Große gab mehrere Ukase, die
ihn als milden Herrscher erscheinen lassen sollten. Er hat
zwar selbst bei der Strjeljzen-Unterdrückung die furchtbarsten
Torturgreuel begangen, hat eigenhändig seine Schwester Sofia,
seine Gattin Eudoxia, seinen Sohn Alexej gefoltert; aber das
hindert ihn nicht, folgende Gesetze zu erlassen 3): „Was die-
jenigen anbetrifft, die auf der Tortur gewesen, so geschieht
es oft, daß gottlose Menschen andere aus Bosheit mit in ihre
Sachen verwickeln. Wir wollen, daß diejenigen, die also un-
schuldig gemartert werden, nicht für unehrlich angesehen wer-
den, sondern daß ihnen von Uns ein offener Brief mit einem
hinlänglichen Beweise von ihrer Unschuld gegeben werden soll.
In bürgerlichen Sachen soll die Tortur nicht vorgenommen
werden, wenn nicht die Bosheit und Übeltat klar zu Tage
liegen. Man mache bei der Tortur genaue Unterscheidungen :
Die starken, frischen und gemeinen Leute greife man schärfer
an, diejenigen aber, so zarten Leibes und guter Herkunft sind,
foltere man leichter. Der Richter soll nicht ohne starken Ver-
^) Etudes historiques sur la 16gislation nisse ancienne et moderne par
Spyridion G. Z6zas. Paris 1862. 88.
2) Allgemeines nissisches Landrecht, aus dem Russischen übersetzt von
B. G. Struve. Dantzig 1723. S. 221.
^) Halem, Leben Peters des Großen. III 170, Anmerkung 8. — Sadler,
Peters I. geistige Hinterlassenschaft.
— 183 —
dacht jeden zur Tortur bringen. Wegen unbedeutender Ange-
legenheiten soll nicht gefoltert werden.** Und zur gleichen
Zeit, da er diese schönen Ukase aus seinem zarischen Arbeits-
kabinett vom Stapel läßt, spielt er selbst wieder einmal den
Folterknecht: Fürst Gagarin, Gouverneur von Ssibirj, der Mal-
versation angeklagt, erscheint im Sommer 1721 vor dem Tri-
bunal zu Petersburg. Er beteuert seine Unschuld. Man foltere
ihn ! befiehlt Peter. Und man unterzieht den Fürsten siebenmal
der Tortur, ohne ein Geständnis zu erzwingen. Peter ver-
spricht dem Fürsten Gnade und Nachsicht der Strafe für ein
Geständnis. Umsonst. Neue Torturen erreichen auch nicht
mehr. Da wird dem alten Gesetze zum Trotze, daß niemand
verurteilt werden darf, der sein Verbrechen nicht eingestanden,
über Gagarin doch die Kapitalstrafe verhängt.^)
Von den Zarinnen beginnt Anna Iwanowna ihre Herrschaft
mit furchtbaren Torturen aller möglichen Verdächtigen. Vom
I . August 1 730 bis zum 3 1 . Dezember 1 73 1 läßt sie 425 Menschen
foltern. 2) Elisabeth befiehlt 1751 dem Senat, „dafür zu sorgen,
daß nicht falsche Anklagen und Erklärungen durch die Tortur
entrissen werden*'3)j aber als sie die Todesstrafe abschafft,
verschärft sie, um diese humane Anwandlung gutzumachen,
die Tortur^) und läßt unzählige Menschen qualvoll foltern.
Ein neues Gesetz bestimmt, daß die Angeklagten neben der
physischen auch einer moralischen Pein unterworfen werden
sollen : man schickt ihnen Geistliche, damit diese das Geständ-
nis erzwingen, wenn es dem Henker nicht gelingt I Der achtzig-
jährige Feldmarschall Münnich selbst, der an seinem Ver-
bannungsorte mit einem Offizier einen Streit hatte, soll der
Folterung unterzogen werden; zum Glück stirbt Elisabeth, und
ein Bote Peters III. rettet den Greis.
Katharina II. ist eine entschiedene Gegenerin der Tortur.
Ein Stoß von Aktenstücken dokumentiert ihre Ansichten gegen
dieses Furchtbare gelegentlich der Folterung, welcher der eines
^) Galitzine, La Rassie au XVIII. sidcle, p. 375. — Comte F6dor Golov-
kine, La Cour et le Rdgne de Paul I*^ Paris 1905. p. 12.
-) Waliszewski, L'h6ritage de Pierre. 196.
^) Waliszewski, La dernidre des Romanov. 169.
^) Dupr6 de St. Maure, L'Hermite en Rnssie. I 307.
— 184 —
Komplotts beschuldigte Offizier Mirowitsch unterworfen werden
soll.i) In tausend Variationen spiegelt sie selbstgefällig ihre
unvergleichliche Humanität wieder; kurze Zeit darauf befiehlt
sie, drei der Brandstiftung beschuldigte Personen zu foltern,
um Einschüchterung zu erzeugen! Alexander I. sagte: „Das
Wort Folter muß aus der russischen Sprache ausgemerzt wer-
den,** und sein Ukas von 1806 hob die Tortur auf; endgiltig,
unwiderruflich, für alle Zeiten. Vier Jahrzehnte später enthält
das Strafgesetzbuch Nikolajs folgenden Artikel 2): „Mißbrauch
der Amtsgewalt. Wer bei Ausübung seines Amtes irgend eine
Art Tortur oder Marter anwendet, wird nach Umständen zu
6 Monaten bis zu i Jahr Gefängnis oder auf 2 bis 3 Jahre
Besserungshaus oder zu einer korrektionellen Strafe verurteilt.
Ist aber infolge einer durch Tortur oder Marter erpreßten
falschen Aussage ein Unschuldiger zum Verlust aller Standes-
rechte verurteilt worden, so trifft den Beamten die peinliche
Strafe zweiter Klasse sechsten Grades (Verlust aller Standes-
rechte, Verbannung zu Zwangsarbeit, 40 — 50 Peitschenhiebe).
Bei Strafe der Absetzung vom Amt ist es dem Untersuchungs-
richter verboten durch Drohungen oder andere gesetzwidrige
Mittel ein Geständnis zu erzwingen oder einen Zeugen zu einer
Aussage zu nötigen.** Wie Peter der Große verhöhnte indessen
auch Nikolaj I. vor allen anderen die von ihm gegebenen dra-
konischen Antitorturgesetze.
Die peinliche Frage konnte wohl mit einem Federzug aus
dem Gesetzbuch gestrichen werden, aber nicht aus der Praxis
eines Landes, wo die Willkür und der Despotismus ihre Macht
auf die Spitzen von Ruten gestellt haben. Dauern Folter und
Körperstrafen im zwanzigsten Jahrhundert noch in dem Zen-
trum des Reiches fort, so ist es nur natürlich, daß in den ent-
legenen Gouvernements der „Mißbrauch der Amtsgewalt** seine
rohen Formen nicht einmal verhüllt. In den beiden Haupt-
städten, durch deren Fenster Europa schreckensbleich die
^) Geschichte Katharinas II. von Professor B. von BUbassoif. Des rus-
sischen Originals II. Band, II. Abteilung. Berlin 1893. S. 90 — 108.
^) Strafgesetzbuch des Russischen Reichs, promulgiert im Jahre 1845.
Carlsruhe und Baden 1847. (§§ 374 vuid 463.)
— 185 —
Greuel mitansehen kann, sucht man zuweilen das blutige Schau-
spiel durch einen Vorhang zu verdecken, aber im Inneren, wo
man die Neugier der westlichen Welt nicht fürchtet und achtet,
wütet man schrankenlos. In einer kleinen Stadt der Ostsee-
provinzen wurde 1875 ^^^ Richter Kümmel überführt, daß er
Angeklagten gegenüber alle Mittel der Tortur gebrauchte, um
Geständnisse zu erlangen : Ruten und Daumschrauben, Hunger
und Durst. 1) Die Regierung steckte den Mann erst dann ins
Irrenhaus, als ein Angeklagter infolge der Torturen gestorben
war. 1879 enthüllte ein Prozeß in Kasanj, daß die Polizei in
ganz Rußland in ihrem Wirkungskreis die Tortur ohne Be-
denken anwendet. Torturen werden aber nicht bloß in bürger-
lichen oder politischsen Affären als ein vortreffliches Hülfs-
mittel der Justiz betrachtet, sondern sind auch in Gebrauch,
um Sektierer und Abtrünnige in milder Weise in den Schoß
der orthodoxen Kirche zurückzuführen.^) Alexander III. hat
der Folter sogar wieder einen offiziellen Platz angewiesen.
Um die Triebfedern, Ziele und Geheimnisse der Nihilisten zu
enthüllen, befahl er gegen die Mörder des Zaren Alexander II.
die Folter anzuwenden; und Rüssakow zeigte vom Schaffot
herab seine ausgerenkten Arme dem Volke.^) In Jekaterinen-
burg wurde 1903 der Gouverneur des Nikolajewschen Straf-
hauses, Oberst Foß, wegen Unterschlagung und Fälschung
öffentlicher Urkunden vor Gericht gestellt. Dabei kam auch
die ungeheuerliche Grausamkeit, mit der gegen die Verbannten
vorgegangen wird, zur Sprache. In der Gerichtsverhandlung
stellte es sich heraus, daß Foß eine regelrechte Folterkammer
eingerichtet hatte, in welcher die Verbannten qualvollen Mar-
^) Auch in anderen Ländern geschieht solches. In Ungarn wurden im
Juli 1907, zufolge den Angaben ungarischer Zeitungen, einige des Mordes ver-
dächtigte Zigeuner von den Gendarmen mit gesalzenen Fischen gefüttert und
dann ohne Wasser gelassen, damit ihnen die Qual des Durstes ein Geständnis ent-
locke. Diese Fälle sind vereinzelte Verimingen untergeordneter Organe; in
Rußland aber stehen wir nicht Ausnahmen, sondern einer Regel gegenüber.
*) Faiocri, 1880, Nr. 283; B'fe<THHin> Ebi)oiiu, Mapn. 1881. — Leroy-
Beaulieu, Das Reich der Zaren und die Russen. II 303 und ebenda Anmerkung
des Übersetzers.
^) Leroy-Beaulieu, a. a. O.
— 186 —
tern unterzogen wurden. Der Gefängnisinspektor Schilkarskij,
welcher die Folterkammer besichtigt hatte, sagte vor Gericht
aus, daß das von Foß als Folterkammer eingerichtete Zimmer
einen grauenhaften Anblick bot. Alles im Zimmer, Wände,
Boden und Plafond, war von oben bis unten mit Blut bespritzt.
Die Verbannten, welche sich eines kleinen Vergehens schuldig
machten, wurden von Foß oftmals zu Tode geprügelt. Ein
wegen Fluchtverdachtes gefolterter Sträfling wurde in einem
Zustande ins Spital gebracht, welchen die Zeugen als „höllisch**
bezeichneten. Der Körper des Unglücklichen bildete eine
blutige Fleischmasse mit gebrochenen Knochen. Es sind Fälle
vorgekommen, wo Sträflinge infolge der erlittenen Folter irr-
sinnig wurden. Die Gerichtsverhandlung ergab, daß Oberst
Foß eigenhändig die Unglücklichen zu foltern liebte, wobei er
eine ausgesuchte Grausamkeit bekundete. i) Der Gerichtshof
verurteilte Foß zum Verluste aller Rechte und zu drei Jahren
Zuchthaus wegen Unterschlagung und Dokumentenfälschung;
der „Mißbrauch der Amtsgewalt** aber war nicht der Rede
wert. Im selben Jahre 1903 hatten sich vor dem Warschauer
Gericht der PoHzeimeister der Stadt Sjedletz und vier untere
Polizeibeamte wegen Mißhandlungen zu verantworten, die sie
an einem Häftling begangen hatten, um ihm ein Geständnis
abzupressen. Der Sachverhalt war folgender 2): In der Stadt-
apotheke von Siedletz wurden aus der kleinen Kasse 72 Rubel
gestohlen. Unter dem Verdacht des Diebstahls wurde der
junge Apothekergehilfe Sadowski der Polizei übergeben. Sa-
dowski wurde verhaftet, was eigentlich nur eine Formalität
sein sollte, da man ein Geständnis für selbstverständlich hielt.
Der unschuldige Sadowski wollte und konnte nichts einge-
stehen. Das wird hier als Aufruhr angesehen und dement-
sprechend behandelt. Die Mittel? Einfach Torturen! Tor-
turen an den Geschlechtsteilen, Zusammendrücken der Hoden,
Zwicken des Gliedes mit glühenden Zangen I Dann wurde der
Delinquent geschlagen, bis 820 Quadratzentimeter seines Kör-
1) Nach dem Berichte des „Ssibirskij Wjestnik" in der „Neuen Freien
Presse". 1903, Nr. 141 27, Abendblatt.
*) Nach russischen Zeitungsberichten im Berliner „Vorwärts" und in der
Wiener „Arbeiter-Zeitung" vom 22. Dezember 1903.
— 187 —
pers nur eine große Wunde bildeten. Wie schrecklich die
Qualen sein mußten, erhellt schon daraus, daß der Unglückliche
zweimal Selbstmordversuch verübte in einer Weise, die uner-
hört dasteht. Er warf sich zweimal in die Abortgrube und
wollte dort ersticken. Sein Henker, der Polizeimeister v. Arnold,
kam dazu, ließ ihn herausholen, abwaschen und abbaden — und
dann aufs neue peitschen als Strafe für den Aufruhr, der in dem
Selbstmordversuch lag. Als Sadowski die Qualen nicht mehr
aushalten konnte, gestand er den Diebstahl. Auf die Frage,
wo das Geld verborgen sei, sagte er : Im Keller der Apotheke.
Er wird hingeführt, macht sich an das Graben, greift im ge-
gebenen Augenblick nach einer Giftflasche und trinkt daraus.
Vor dem Tode ruft er verzweifelt aus: „Ich habe nicht ge-
stohlen ! In einem AugenbUck werde ich vor Gott stehen ; ich
sage nur die Wahrheit : ich habe nicht gestohlen.** Man konnte
die Sache nicht vertuschen, stellte den Polizeimeister und seine
Gehilfen vor Gericht. Die vier imteren Beamten, die nur die
Befehle ihres Chefs ausgeführt hatten, erhielten je 4 Monate
Gefängnis zugeurteilt. Der Polizeimeister bekam bloß zwei
Monate Festungshaft; er brauchte aber auch diese nicht abzu-
büßen, sondern vertauschte bloß seinen Siedletzer Posten mit
der Stellung eines Chefs der Landpolizei von Sokolom.
Im Chaos der letzten Jahre konnten die russischen Folter-
knechte ihre Tätigkeit üben wie kaum je zuvor. Die Inquisition
ist in Rußland neu auferstanden und ihre Wirksamkeit weist
in der allerjüngsten Zeit mehr Fälle auf, als alle russischen
Gesetzbücher zusammen Paragraphen enthalten. Berühmt ge-
worden sind namentlich die Heldentaten des baltischen General-
gouverneurs Baron Möller-Sakomelski und des sibirischen Ge-
fängnischefs Borodulin. Die Protokolle der zweiten Duma haben
ihre Grausamkeiten verewigt. Der Dumaabgeordnete Per-
gament legte im April 1907 in der Duma einen Bericht über
die Tätigkeit Möllers in Riga vor : „Mit dem Beginn der Straf-
expedition in den baltischen Provinzen** — heißt es in diesem
Bericht — „begannen auch die Folterungen von Gefangenen,
um ihnen Geständnisse zu erpressen, die genügten, um sie
erschießen zu lassen. In Riga wurde zum Zweck der Folte-
rungen eine Kommission gebildet, bestehend aus dem Gehilfen
— 188 —
des Chefs der politischen Pohzei, mehreren Polizeikommissären
und Agenten. 'Diese Kommission war vom Staatsanwalt und
der Gendarmerieverwaltung mit besonderen Instruktionen für
ihre Tätigkeit versehen und vom Gouverneur mit dem Recht
ausgestattet worden, politische Angeklagte ohne gerichtliches
Verfahren zu töten. Den Verwaltungsbehörden, dem Staats-
anwalt und dem Gendarmerieobersten waren die Martern xmd
Folterungen, denen Gefangene unterzogen wurden, bekannt.
Ein Gefangener wurde von einem Polizeikommissär nieder-
geworfen, worauf der Letztere auf der Brust des Gefangenen
so lange herumsprang, bis dem Opfer sämtliche Rippen
gebrochen waren; der Unglückliche konnte mehrere Tage
lang keine Nahrung zu sich nehmen, bis er dann erschossen
wurde. Ein anderer wurde so lange auf die Waden geschlagen,
bis alles Fleisch sich von den Knochen gelöst hatte. Einem
dritten wurde das Geständnis, das man von ihm verlangte,
buchstabenweise mit Kautschukknüppeln auf den Rücken ge-
prügelt. Diejenigen Gefangenen, die während der Folte-
rungen nicht gestorben waren, deren Wunden aber nicht geheilt
werden konnten oder dauernde Spuren hinterließen, wurden
nachts in der Nähe des Gefängnisses erschossen. Ein anderer
Gefangener wurde von zwei Kosaken an Händen und Füßen
gehalten und mit Gummiknütteln so lange geschlagen, bis der
Erdboden von Blut triefte. Um Geständnisse zu erzwingen,
wurden gefangenen Weibern die Nägel von Fingern und Zehen
gerissen, die Haare bündelweise ausgerissen, die Knochen an
Armen und Beinen gebrochen. Die Martern und Foltern waren
von der Polizeibehörde organisiert und unter ihrer Beteiligung
ausgeführt. Ein Lehrer wurde gemartert, um von ihm das Ge-
ständnis zu erzwingen, er habe im Gouvernement Mohilew einen
Polizeibeamten ermordet. Als sich herausstellte, daß er unmög-
lich der Mörder sein konnte, wurde er in das Gefängnis geschafft
und nach etwa Monatsfrist wieder vorgeführt, um zu gestehen,
daß er der Mithelfer Belenzows bei dem Moskauer Bankraub
gewesen sei. Er wurde so lange mit Kautschukknüppeln ge-
schlagen und mit Strangulation bedroht, bis er alles gestand.
Ein anderer wurde erst mit Kautschukknüppeln, sodann mit
Eisenstäben geschlagen, worauf er auf den Boden gelegt und
— 189 —
ihm in die Wunden Zucker gestreut wurde. Andere wurden
„massiert**, indem man sie blutig schlug imd die Wunden ein-
rieb. Ein anderer wurde auf eine Bank geworfen und auf seine
Brust legte man ein Brett, auf dem zwei Polizisten balanzierten,
bis das Rückgrat gebrochen war; worauf er erschossen wurde.**
Ähnlich klingt der Bericht, der die Dirnia am 19. April
1907 beschäftigte: „Schon beim Eintreffen in Akatui wurden
die Gefangenen mit Kolben geschlagen. Auf Befehl des Ge-
fängnischefs Borodulin wurden 60 Soldaten ins Gefängnis ge-
lassen. 15 Gefangene prügelte man bis zur Bewußtlosigkeit
und stürzte sie dann von einer hohen Treppe auf den Stein-
boden herab. Kolbenstöße regnete es dabei täglich, und stünd-
lich erwartete man den Henker, der den gepeinigten Gefangenen
den Garaus machen sollte. Als man den Gefängnischef nicht
ehrerbietig grüßte, brüllte er Soldaten zum Vollzug der Ruten-
strafe herbei. Es war ein schrecklicher Moment, die Ge-
fangenen drängten sich in einen Knäuel zusammen in eine Ecke,
und nun wurde auf sie eingeschlagen. Drei Gefangene blieben
halbtot liegen, die ganze Diele schwamm in Blut ; die Betten wur-
den darauf konfisziert, ebenso die warme Speise entzogen. Auf
einer Pritsche wurde zufällig ein Brotmesser gefunden. Der
Gefängnischef witterte sofort Attentatsgedanken. Neue Qua-
len für die Gefangenen waren die Folge. **i)
Wir befinden uns wieder im grausamsten Rußland der
ältesten Zeit. Im Jahre 1754 wurde von Elisabeth die Todes-
strafe, 1806 von Alexander I. die Folter, 1845 von Nikolaj I.
die Pletjstrafe, 1863 von Alexander II. die Spitzrute, 1900
von Nikolaj II. die Verbannung nach Sibirien aufgehoben.
Wenn irgendwo, so gilt aber hier: aufgehoben ist nicht abge-
schafft. Nur unter Iwan dem Schrecklichen wurden in Ruß-
land soviel Todesurteile gefällt, wie unter Nikolaj IL, dem
Weltfriedens-Kaiser. Folter und Körperstrafen dauern fort und
Sibirien ist und bleibt die unermeßliche Eiskammer, in welche
die zarische Autokratie Jahr um Jahr ungezählte, unzählbare
glühende Freiheitsfreunde sperrt. Seit der Kosakenführer Jer-
mak mit seinen tausend Begleitern über den steinernen Gürtel
^) Borodulin wurde von den Revolutionären am 18. Sept. 1907 ermordet.
— 190 —
des Ural nach Ssibirj eingedrungen ist und den Chan Kutschum
besiegt hat, ist das mächtige Gebiet zwischen dem Ural und
dem Stillen Ozean nicht für Zwecke der Zivilisation, sondern
als ein unendliches Gefängnis benützt worden. Nicht seines
Klimas und nicht seiner halbwilden Ureinwohner wegen hat
Sibirien in den verflossenen drei Jahrhunderten, seit es den
Zaren unterworfen worden ist, den unheimlichsten Ruf gehabt,
den je ein Reich der Erde besaß. Wohl ist auch die Natur
des Landes geeignet, Schrecken einzuflößen. Mit seinen weißen
stummen Wüsten liegt es da wie eine Hölle des Eises. * Selbst
seine wärmeren Landstriche kennen nichts Gemäßigtes, leiden
im Winter unter dem eisigen Polarwind, im Sommer unter dem
Gluthauch des mittelasiatischen Steppensturmes. Einsamkeit
und Todestraurigkeit wanderten mit den Unglücklichen, welche
dorthin verbannt wurden, von Tobolsk bis Tomsk, von Irkutsk
bis Ssachalin, durch die unermeßlichen Flußbecken des Ob,
Jcnissei und Amur. Hieher verschickte man seit dreihundert
Jahren die Verbrecher und Sektierer und politisch Verdäch-
tigen. Sie sollten das Land bevölkern und urbar machen, in
den Schneewüsten Ansiedlungen bauen und Städte gründen,
die Sümpfe trocknen und die Schätze der Berge heben. In der
weiten Wildnis von Transbaikalien, fünftausend Werst von der
Newa entfernt und tausend Werst vom Stillen Ozean, in einem
traurigen Tale, entstanden im Laufe der Zeit jene Nieder-
lassungen, welche als die Minen von Kara das Schrecklichste
jener Schrecken bedeuten. Millionen und Millionen sind in
diesen drei Jahrhunderten aus ihren Heimatsorten nach Sibirien
geschleppt worden. Wie viele Unschuldige, vielleicht mehr
als die Hälfte, mehr als drei Viertel dieser Millionen, sind un-
gerecht verbannt worden, denn die administrative Verschickung
war immer eine willkürliche, unkontrollierte. Die Zahl dieser
Vcrbaimten wurde nicht geringer, sondern wuchs von Jahr zu
Jahr. Ward Sibirien dadurch kultivierter? Ward Rußland
dadurch frei von Verbrechern? Nein; wo Willkür herrscht,
schlüpft auch die Bestechlichkeit in alle Ämter, und Tausende
der Verbannten befreiten sich, wenn sie Geld schaffen konnten ;
dann zogen sie als Räuber und Landstreicher durch Sibirien,
das sie kultivieren sollten. Und in Rußland wuchs die Zahl
— 191 —
der sogenannten politischen Verbrecher mit jedem neuen Jahre,
das Märtyrer schuf.
Exilierung war in Rußland eine alte Strafe. Iwan der
Schreckliche schickte Hofleute und Priester strafweise aus der
Hauptstadt nach den Gouvernements im Inneren ; zumeist nach
Wologda, Perm, Wjatka und der Ukraine. Boriß Godunow
verbannte schon nach dem erst wenige Jahre vor Beginn seiner
Regierung eroberten Sibirien. Der erste strafweise nach Si-
birien Verschickte soll der ukrainische Knjäs Samoilow gewesen
sein; man verbannte ihn 1588 und wies ihm 30 Kopeken täg-
lich zum Unterhalte an.^) Bis zur Mitte des achtzehnten Jahr-
hunderts erfolgte die Deportation nur auf zarischen Befehl, von
da an auch infolge richterlichen Urteils.
Wie bei den Todesstrafen, Gliederstrafen und Körper-
strafen herrschte auch bei der Strafe der Verbannung niemals
ein der Schwere des Verbrechens entsprechendes System. 171 1
verbannt man Wirte, die ungesetzliche Schankwirtschaft trei-
ben; 17 14 werden die Händler, die nationalrussische Kleider
und Stiefel in einer Zeit, da Peter europäische Trachten dekre-
tiert, zu verkaufen wagen, zu harter Strafe (körperliche Züch-
tigimg mit dem Knut) und zu Verbannung nach Sibirien ver-
urteilt; 17 18 trifft das Los der Deportation Posthalter, die in
den Gasthöfen und Poststationen nicht pünktlich erscheinen;
1720 befiehlt Peter als Strafe für Holzfällen in verbotenen
Waldungen 10 Jahre Sibirien; und im selben Jahre erhalten
„Bettler, die sich krank und krüppelhaft stellen,** die gleiche
furchtbare Strafe, „weil aus ihnen Diebe werden.** Mit Knut
und Verbannung zu ewiger Zwangsarbeit bestraft man Leute,
die mutwillig oder unabsichtlich „Flüsse und Kanäle ver-
stopfen*', und Gutsbesitzer, die bei einem Brande in ihrer Um-
gebung ihre Leute nicht zum Löschen dirigieren. Doch macht
man für Privilegierte seltsame Ausnahmen, indem man gestattet,
daß sie wie bei den Körperstrafen auch bei der Verbannung
durch Leibeigene oder Stellvertreter Ersatz stellen dürfen! 2)
Unter Nikolaj I. werden Mörder mit Knut und Verbannung
^) Haxthausen. II 234 Anmerkung.
*) TiiM(j<|H'OB'h, HcTüpin rfejiecubRT» HaKaaaiiiÄ, rrp. 140*.
— 192 —
bestraft ; für Bankerott ist als Körperstrafe bloß Pletj angeordnet,
aber die damit verbundenen Folgen sind die gleichen wie bei
Knut : Deportation nach Sibirien. Nach Abschaffung des Knut
kommen die Pleti an seine Stelle; es hat indessen tatsächlich
nur der Name gewechselt, denn die mit den milderen Pleti Ge-
züchtigten müssen gleichfalls, wie früher die mit dem schärferen
Knut Geschlagenen, die trostlose Reise nach Sibirien antreten.
Pleti und Sibirien riskiert man schon für einen Diebstahl von
25 Rubeln; und der dies schwere Verbrechen begangen hat,
muß auf Nikolajs Befehl auf dem monatelangen Marsche eine
fünf Pfund schwere Kette an den Füßen mitschleppen. Nicht
bloß die Gerichte, die Regienmg, die administrativen Organe,
die Polizei — auch die Gutsherren konnten ohne weiteres nach
Sibirien verbannen lassen: Ein junger Gutsherr zur Zeit des
ersten Nikolaj ist einer Leibeigenen, die er zwei Jahre lang als
Maitresse gehalten hat, überdrüssig. Er schickt sie in die
Stadt mit folgenden Worten: „Du bist hübsch, gesund, stark
und gewandt, also 1600 Rubel wert. Davon hast du mir jährlich
80 Rubel Zinsen zu bezahlen. Verdiene, wie und was du willst,
aber zahle mir pünktlich die Zinsen deines Leibes ; sonst wehe
dir!'* Das Mädchen geht nach Petersburg, holt sich eine Ge*
schlechtskrankheit und kommt ins Spital. Die Spitalkosten
hat der Erbherr zu bezahlen. Weigert sich der Edelmann, dies
zu tun, so ist nach einem Gesetze Nikolajs (Cboai> XIV 328) :
das Frauenzimmer einfach nach Sibirien zu verbannen!^)
Vor Antritt ihrer Reise wurden den Verbannten die Brand-
markungszeichen aufgedrückt und die Köpfe zur Hälfte rasiert ;
ein Gesetz vom Jahre 1825 befahl, das Rasieren allmonatlich
vorzunehmen, um so die Verbannten, die an dem halbrasierten
Kopf sofort zu erkennen waren, an der Flucht zu verhindern.
Die Ziffern der im Laufe von drei Jahrhunderten nach
Sibirien Verbannten werden sich niemals feststellen lassen.
Biron verschickte während der Regierung der Kaiserin Anna
20000 Menschen. Zarin Elisabeth ließ 80000 Personen ver-
bannen.2j Durch Kasanj allein marschierten zur Zeit Alexan-
1) Wernirot, Rußland im Licht und Rußland im Schatten. S. 347, 357, 369.
2) Biographie Peter des Dritten (von G. A. von Heibig). Tübingen 1808. 1 7.
— 193 —
ders I. und Nikolajs I. jährlich durchschnittlich 60000 Ver-
bannte. Nur ein Drittel aller Verbannten pflegte den Ort der
Bestimmung zu erreichen, der Rest ging unterwegs zugrunde,
verhungerte. Denn die nach Sibirien Verbannten erhalten
von den Behörden keine Nahrung irgendwelcher Art und auch
kein Geld: wenn die Gefangenen Station machen, so wandert
der Gefängniswärter mit ihnen auf den Straßen umher und
gestattet ihnen, Almosen zu sammeln. Von den Almosen
müssen sie leben, so gut es eben geht. Ist es den Gefangenen
gelungen, auch Geld zu erbetteln, so kommt in den Etappen-
Gefängnissen ein Kompromiß zwischen den Verbannten und
ihren Wächtern zustande; dann gibt es Schnaps, Weiber xmd
Orpen. Durch Bestechung der Wächter wird zwischen den
Männer- und den Frauenabteilungen in den Sammelgefäng-
nissen eine Verbindung hergestellt, und es entwickelt sich ein
Leben wie in einem Bordell. Unter den Gefangenen wird
auch gleichgeschlechtliche Liebe geübt, dabei geht man ohne
Rücksicht auf die Nachbarn vor. Die Wächter dulden nicht
bloß alles, sondern machen alles mit, solange die Gefangenen
nur noch einen Kopeken von dem Erbettelten besitzen. Aber
wehe den Gefangenen, wenn es ihnen nicht gelingt, Almosen
zu erhalten; dann verkaufen sie ihr letztes Kleidungsstück,
selbst das Hemd, und bleiben buchstäblich nackt, um nur
einen Bissen Brot, einen Tropfen Wodka kaufen zu können,
oder um die Möglichkeit zur Befriedigung anderer wichtiger
Lebensbedürfnisse von selten der Gefängilisverwaltung gewährt
zu erhalten. Die Gefängnis-Oligarchie bereichert sich, so un-
glaublich dies auch klingen mag, auf Kosten der Verbannten.
Ein Beispiel für viele: Die Gefangenen, die auf ihrem Ver-
bannungsmarsche in einem Sammelgefängnis übernachten,
müssen für die Benutzung des Nachtgeschirrs 3 Rubel bezahlen.
Sind sie es nicht imstande, so läßt man sie die furchtbarsten
Martern erbarmungslos ertragen. i)
Unter solchen Leiden gelangen jene Deportierten, die die
Qualen überdauern, endlich nach Sibirien, in die Steppen des
1) Nach Mitteilungen russischer Zeitungen und Zeitschriften, beiLanin,
Russische Zustände. I. 227, 232, 215.
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in RufiUnd. ** I3
— 194 —
Irtysch, nach Tomsk, den Minen von Kara und Ssachalin. Der,
Amerikaner George Kennan ^) hat vor fünfzehn Jahren das Ust-
Kara-Gefängnis in TransbaikaHen beschrieben: Beim Eintritt
steigt man einige mit zolldickem Schmutz bedeckte Stufen
hinan und tritt durch eine schwere Bohlentür in einen langen,
niedrigen, sehr dunklen Korridor, dessen unebener Fußboden
naß und schlüpfrig und dessen Atmosphäre feucht und mit
einem scharfen, allen sibirischen Gefängnissen eigentümlichen
Geruch erfüllt ist ; „man denke sich," sagt Kennan, „Kellerluf t,^
von der jedes Atom ein halbes Dutzend mal durch menschliche
Lungen gegangen, so daß sie mit Kohlensäure vollständig ge-
sättigt ist; diese nämliche Luft noch durch die scharfen am-
moniakalischen Ausdünstungen lange nicht gewaschener
menschhcher Körper und durch den Geruch von nassem mod-
rigen Holz und menschlichen Exkrementen verschlechtert —
und dann wird man doch erst einen nur annähernden Begriff
von dem Geruch in den sibirischen Gefängnissen erhalten/*'
Als Kennan zuerst den Korridor betrat, war er einer Ohnmacht
nahe. Zunächst kam er in ein Zimmer, das ungefähr 24 Fuß lang,
22 Fuß breit, 8 Fuß hoch war und 29 Sträflinge, zumeist in
schweren Ketten, beherbergte. Die Luft war noch viel schlech-
ter als die im Hausflur. Der Raum erhielt sein Licht durch
zwei beinahe quadratische, stark vergitterte Fenster, die nicht
geöffnet werden konnten, und nirgends war eine Vorrichtung
für Ventilation. Selbst der Backsteinofen, der die Zelle er-
wärmte, bekam seine Luft vom Korridor. Die Wände der Zelle
bestanden aus einstmals getüncht gewesenen Holzstämmen, die
aber im Laufe der Zeit schwarz und schmutzig geworden imd
an vielen Stellen mit dem Blut getöteter Insekten bedeckt
waren. Den Boden bildeten Dielen, die zwar kürzlich gekehrt
worden, aber von einer förmlichen Kruste festgetretenen
Schmutzes bedeckt waren. Von dreien der Wände gingen un-
gefähr sechs Fuß breite Holzpritschen oder Schlafbänke aus,
auf welchen die Sträflinge, dicht aneinandergedrängt, mit dem
Kopf an der Wand und den Füßen nach der Mitte der Zelle
ausgestreckt lagen. Sie hatten weder Kissen noch Decken
1) Sibirien! — Berlin 1892.
— 196 —
und mußten sich des nachts auf diesen Schlafbänken unent-
kleidet niederlegen, indem sie ihre grauen Überröcke als Bett-
decken benutzten. Die Zelle enthielt außer den Pritschen, dem
Backsteinofen und einem unbedeckten Holzkübel keine Möbel.
Wenn die Türe für die Nacht verschlossen war, hatte jeder der
29 Gefangenen für acht oder zehn Stunden fünf Kubikfuß Luft
zum Atmen. Nirgends war eine Öffnung zu entdecken, durch
welche frische Luft hätte eindringen können.
Nur zwei oder drei Minuten vermochte Kennan in dieser
Zelle zu verweilen. Dann trat er wieder auf den Korridor und
mit einem Gefühle der Erleichterung holte er hier tief Atem.
Wie übel ihm auch früher die Luft im Korridor erschienen war
— im Vergleiche zu der eben eingeatmeten Zimmerluft kam
sie ihm nun förmlich erquickend vor. Nach kurzer Erholung
durchschritt er in Eile noch sieben andere Zellen des Gefäng-
nisses; alle glichen der ersten, nur in Form und Größe des
Zimmers und in der Anzahl der Gefangenen waren sie ver-
schieden. Die schlechte Luft war überall die nämliche und
ihre Folgen sah Kennan im Gefängnishospital, wo Skorbut,
Typhus, Anämie und Lungenschwindsucht vorherrschende
Krankheiten waren. Die Durchschnittszahl der Kranken belief
sich bei einer Gefängnisbevölkerung von weniger als 1000
Menschen auf 117 täglich. Viele Verbannte werden wahn-
sinnig. Nun gibt es aber im ganzen Lande kein Irrenhaus und
die Behörden lassen deshalb die Verrückten in denselben Zellen
mit den Gesunden leben. Es ist ja bequemer und billiger, die
Mitgefangenen für die Geisteskranken sorgen zu lassen, als
eigene Anstalten mit Ärzten und Wächtern für sie zu errichten
und zu erhalten.
Das Frauengefängnis von Ust-Kara ist ein kleinerer Holz-
bau als das Mänjiergefängnis und enthält zwei große ineinander-
gehende Zellen. Die Räume waren bei Kennans Besuch gut
erwärmt und hell, höher als die Zellen im Männergefängnis
und gewährten mehr als zweimal so viel Luftraum pro Kopf;
aber in gesundheitlicher Hinsicht waren sie kaum besser. Die
Luft war nicht zu atmen. Der Fußboden befand sich in
erbärmlichem Zustande ; in den verfaulten Brettern waren große,
dunkle Löcher, in welche die Frauen offenbar Schmutzwasser
i3»
— 196 —
und Unrat gössen. Die beiden Zellen beherbergten 48 Mädchen
und Frauen, von denen mehrere blasse, kränkliche Säugling^e
an den Brüsten hielten . . . Und in diesen Zellen sah Kennan
an den Wänden große Karten, auf denen mit riesigen Buch-
staben Verse aus dem neuen Testamente standen, unter anderen
dieser : „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig xmd beladen
seid, ich will euch erquicken" . . .
In der Küche des Gefängnisses von Ust-Kara erkundigte
sich Kennan, welche Speisen den Gefangenen zugeteilt wurden.
Zwangsarbeiter in Kara erhalten täglich eine Ration von drei
Pfund Roggenbrot, ungefähr vier Unzen Fleisch einschließlich
der Knochen, eine kleine Menge Gerste, die gewöhnlich mit
dem Fleisch gekocht wird, um Suppe zu erhalten, und ein wenig
Ziegeltee. Gelegentlich verschaffen sie sich auch Kartoffeln
oder einige Krautblätter, aber solche Luxusartikel können nur
für Geld aus Überarbeit oder für Sparpfennige erstanden wer-
den. Die Ration erschien Kennan ausreichend, aber es fehlte
die Abwechslung in den Nahrungsmitteln und besonders an
Gemüsen. Das Brot war klebrig, feucht, nicht ausgebacken.
Das Fleisch machte den Eindruck von ,, Fettbrocken, die man
zur Seifenfabrikation verwendet".
Die Kleidung eines zur Zwangsarbeit verurteilten Sträf-
lings, auch des politischen, besteht aus einem groben Leinen-
hemd und einem Paar Leinenhosen für sechs Monate; aus
einer Mütze, einem Paar dicker Hosen und einem grauen Über-
rock im Jahr; einem „Poluschuba" oder Rock aus Schaffellen
für zwei Jahre; einem Paar „Brodnias" oder Lederstiefel für
drei und einhalb Monate im Winter und einem Paar „Kottli"
oder niedriger Schuhe für zweiundzwanzig Tage im Sommer.
Kleidung, Nahrung und alles übrige, was ein Sträfling braucht,
kostet der Regierung etwa 20 Kopeken täglich per Person. Daß
die Sträflinge sich nicht behaglich fühlen und jede Gelegenheit
zur Flucht ergreifen, leuchtet ein. Jeden Sommer, sobald das
Wetter warm genug ist, um Aufenthalt im Freien zu ermög-
lichen, ergießt sich ein ununterbrochener Strom von Flücht-
lingen in die Wälder. Der Kuckuck gibt das Zeichen zu dieser
Wanderung; und davonlaufen heißt deshalb: „Die Befehle
des Generals Kuckuck entgegennehmen." Selbstverständlich
— 197 —
werden die Gefangenen wieder eingefangen und zurückge:
schleppt und unterliegen dann den schlimmsten Martern. Das
wissen die Flüchtlinge auch, allein trotzdem ergreifen sie jede
Gelegenheit, um — sei es noch so kurze Zeit — Freiheit zu
genießen . . . Daß das Davonlaufen bei der strengen Be-
wachung, die den Verbannten zuteil wird, überhaupt möglich
ist, kommt daher, daß die Gefängnisbeamten selbst ein Auge
zudrücken, weil sie die Flucht von Sträflingen zu ihrem eigenen
Vorteile ausbeuten können. Sie verschweigen einfach, daß
die Sträflinge entlaufen sind, nehmen durch Wochen und Mo-
nate die für jene bestimmten Kleider und Rationen in Empfang
und verkaufen sie an Spekulanten. Dies sind häufig solche
Leute, welche die Verproviantierung der Verbannten von der
Regierung gepachtet haben, und die Krone muß so doppelt
und dreifach zahlen für das elende Brot, das sie ihren Sträf-
lingen zukommen läßt.
Über das Leben der Verbannten auf Ssachalin hat knapp
vor dem Ausbruche des Krieges Rußlands mit Japan, dessen
Mißerfolg den Russen die Hälfte der Straf-lnsel gekostet hat,
der Franzose Paul Labb6 interessante Schilderungen veröffent-
licht.i) Auf der Überfahrt vom Kontinent nach der Insel er-
halten die Gefangenen Prämien von lo Kopeken für jede auf
dem Schiff während der Fahrt getötete Ratte. Diese Prämien
bilden das Stammkapital für ihre zukünftige Existenz. Nach
Absolvierung der Quarantäne im Ankunftshafen erfolgt die
Verteilung der Verbannten. Wenn eine Frau dem verbannten
Manne ins Exil gefolgt ist, so wandert dieser. Dank der Treue
der Gattin, auf der Insel nicht ins Gefängnis, sondern erhält
einen Platz in irgend einem Ort angewiesen, wo er sich ein
Haus bauen und als Kolonist leben darf. Außerdem werden
bei der Ankunft jene bloß zur Kolonisation verschickten Ge-
fangenen von den anderen getrennt und ohne viel Umstände
mit weiblichen Häftlingen gepaart: Männer und Frauen stellt
man in langen Reihen in einem Garten einander gegenüber auf ;
jeder Mann wählt sich eine Gefährtin, imd sobald sie: Jal ge-
^) Paul Labb6, Un bagne russe. L'ile de Sakhaline. Paris 1903.
— 198 —
sagt hat, notiert ein Beamter das Paar in einem Buche, und
die beiden erhalten ihren Wohnplatz angewiesen.
Für die übrigen Gefangenen sind lo Gefängnisse in Alexan-
drowsk, Korsakowsk, Rykowski und Derbinski zur Aufnahme
bestimmt. 1902 lebten in diesen 10 Gefängnissen 8333 Ver-
bannte. Die Gebäude sind Holzbaracken mit schlecht beleuch-
teten und schlecht ventilierten Zimmern, in denen je 50 — 60
Verbannte beisammen wohnen und schlafen. Alle haben Ketten
an den Füßen. In jedem Gefängnis gibt es zwei Abteilungen :
Das Zuchthaus und das Besserungshaus. Die zu lebensläng-
licher Verbannung Verurteilten müssen auf Ssachalin 8 Jahre
im Zuchthaus und 3 Jahre im Bessenmgshaus zubringen; die
auf 20 Jahre Verbannten: 5 Jahre im Zuchthaus und 3 im
Besserungshaus; die auf 15 — 20 Jahre Verurteilten: 4 Jahre
im Zuchthaus, 3 im Besserungshaus; die auf 12 — 15 Jahre
Deportierten : 2 Jahte im Zuchthaus und 3 im Besserungshaus ;
die auf 8 — 12 Jahre Verschickten bringen nur 1Y2 Jahre im
Zuchthaus und 2 Jahre im Besserungshaus zu ; diejenigen end-
lich, die weniger als 8 Jahre erhalten haben, brauchen nur
ein Jahr im Zuchthaus und ein Jahr im Besserungshaus zu ver-
weilen. Nach Ablauf dieser Gefängnis-Perioden wird der Ssü-
lotschnüj (ccHJio^iHuä, der Verbannte) ein Posselenez (nocejie-
Heu,!), Kolonist), sozusagen ein Befreiter mit Aufenthaltszwang.
Ob der Tausch beneidenswert sein mag? Es ist eine harte
Aufgabe, diese Kolonisierung von Ssachalin. Mit Hacke, Säge
und Stricken beladen muß der Befreite auf dem ihm ange-
wiesenen Platze sein Haus errichten, mit den primitivsten Mit-
teln sein Feld urbar machen. Die ersten zwei Jahre erhält er
von den Behörden einige wenige Nahrungsmittel, die ihn vor
dem Hunger schützen sollen. Wie manchem mag der Tausch
nicht behagen ; und viele begehen ein Verbrechen bloß zu dem
Zweck, wieder in das Gefängnis zurückkehren zu können. Wer
aber 14 Jahre als Kolonist zuzubringen imstande war, der
avanciert zum Bauer, darf von der Insel nach dem Kontinent
übersiedeln, zuweilen sogar nach dem europäischen Rußland
heimwandern; nur Petersburg und Moskau und der Ort, aus
dem er einst ausgewiesen worden, bleiben ihm ewig ver-
schlossen.
— 199 —
Es gibt übrigens auch Deportierte, die das Zuchthaus über-
haupt nicht passieren, sondern gleich ins Besserungshaus kom-
men; und endlich selbst solche, die sofort nach ihrer Ankunft
auf Ssachalin Kolonisten werden; beispielsweise Vagabunden,
die man bloß deshalb nach Ssachalin verschickt hat, weil sie
ihre Identität nicht nachweisen können.
Beim Eintritt ins Zuchthaus zu Ssachalin rasiert man den
Gefangenen den Kopf und fesselt ihre Füße mit Eisen. Im
Sommer muß man um 4, im Winter um 5 Uhr aufstehen. Nach
dem Waschen erhält man Tee. Dann verteilt der Aufseher
die Gefangenen auf verschiedene Plätze zur Arbeit : zu Hafen-,
Brücken- und Straßenbau. Um 1 1 Uhr ist Frühstückspause.
Von i bis 6 wird wieder gearbeitet. Nach dem Nachtmahl
gemeinsames Gebet. Tabakrauchen ist in den Gefängnissei)
erlaubt; Branntwein und Kartenspiel dagegen sind verboten,
die Gefangenen trinken aber doch furchtbar viel und spielen
auch: sie fabrizieren Karten aus Papier, aus Wäschestücken,
Baumblättem und altem Brot. Sie spielen so leiden-
schaftlich, daß sie ihre Kleider und ihr Essen als Einsatz her-
geben.
Das Besserungshaus ist weniger hart als das Zuchthaus.
Dem I>eportierten wird nicht das Kopfhaar rasiert und er geht
ohne Fesseln umher. Zur Arbeit begiebt er sich ohne Soldaten-
begleitimg. Hält er sich gut, so bekommt er die Erlaubnis, im
Dorfe zu wohnen, und er braucht sich nur alle Morgen zur
Arbeit zu melden. Der Gefängnischef gibt solche Erlaubnis
leicht, denn wenn er dem Gefangenen auch so noch Fleisch,
Mehl und Tee liefern muß, die Suppe erspart er.
Unter den Gefangenen in Ssachalin ist der Wahnsinn so
häufig, daß man in Alexandrowsk ein Asyl für Irrsinnige er-
bauen mußte. Die meisten Fälle sind Folgen der Trunksucht,
während die Leiden der Verbannung auf die Verhärteten nur
selten noch Wirkung ausüben; wer sich bis hierher durch-
gerungen hat, ist allen Qualen gewachsen.
Der russische Justizminister N. W. Murawjew veranlaßte
im Jahre 1900 die Drucklegung eines offiziellen Memorandums
— 200 —
über die Verbannung nach Sibirien.^) Nach den darin bei-
gebrachten offiziellen Daten diente die Deportation im sieb-
zehnten Jahrhundert kolonisatorischen Zielen. Unter Peter dem
Großen traten die kolonisatorischen Interessen in die zweite
Reihe. Es kam die Zwangsarbeit auf, deren der Reformator
bei seinen großartigen Bauten bedurfte. Die Nachfolger Peters
kehrten zur Deportation als dem zuverlässigsten Mittel, die
Ruhe und Ordnung im Lande zu sichern, zurück. Um die
Mitte des i8. Jahrhunderts erhielt die Verbannung wieder einen
kolonisatorischen Charakter, als es darauf ankam, die chine-
sische Grenze zu besiedeln. Die Klagen aber, die jetzt aus
Sibirien einliefen, wo sich damals schon die ersten Anfänge
eines Kulturlebens zeigten, riefen bei der Regierung bald Zwei-
fel an der Zweckmäßigkeit der Zwangskolonisation wach und
im Jahre 1773 kehrte man neuerdings zur Zwangsarbeit zurück.
Diese Maßregel hatte, da sie zu unvorbereitet kam, keinen
Erfolg: es fehlte an den nötigen Haftanstalten, es fehlte an
Arbeit, und nach 1^/2 Jahren mußte man die Deportation in
ihrem ganzen bisherigen Umfange restituieren. Die Mißstände,
die sich in Sibirien immer mehr geltend machten, riefen
wohl die Bedenken der Regierung wach, doch die Maß-
regeln, die zur Abhilfe ins Leben gerufen wurden, erwiesen
sich als wirkungslos. Vielmehr kam die Organisation der De-
portation immer mehr in Verfall; mit der starken Zunahme
der Zahl der Verschickten schwand für die Administrativorgane
die Möglichkeit einer wirksamen Beaufsichtigung. Die Ver-
bannten streiften im Lande umher, bettelten, stahlen und be-
gingen Mord und Totschlag. In den dreißiger Jahren des neun-
zehnten Jahrhunderts erreichten die Mißstände ihren Kulmi-
nationspunkt und lenkten die Aufmerksamkeit Nikolajs I. auf
sich. Der Kaiser befahl „zu untersuchen, ob es nicht möglich
wäre, die Deportation nach Sibirien aufzuheben und sie nur
noch für die Zwangsarbeiten bestehen zu lassen." Der Reichs-
rat hat sich lange mit dieser Frage beschäftigt, konnte sich aber
^) CcbinKa BL CiiÖnph. OnopKn en iicropin 11 coBpevieHHaro no-iesKenifl
C.-neTep6ypn>. 1900. Ein stattlicher Band von 400 Seiten. — Vgl. auch die
Beiblätter der St. Petersburger Zeitung vom Juli 1900.
— 201 —
nicht dazu entschließen, sich für die Aufhebung der Depor-
tation auszusprechen, sondern plädierte für eine Reorganisation
derselben; der Reichsrat fand eben keinen Ersatz für die De-
portation, auch war der Glaube an die kolonisatorische Be-
deutung dieser Strafe damals noch zu wenig erschüttert. Durch
die Bauememanzipation und die Justizreform wurde diese Frage
wieder in den Vordergrund gerückt. Über Maßregeln von
sekundärer Bedeutung ist man aber damals nicht hinausge-
kommen, obwohl der Reichsrat sich noch im Jahre 1879 ™
Prinzip gegen die Beibehaltung der Verbannungsstrafe aus-
gesprochen hat. Ein ganz besonders lebhaftes Interesse brachte
Kaiser Alexander III. dieser Frage entgegen. Auf seinen Be-
fehl arbeitete der Minister des Innern Graf Tolstoi ein Projekt
aus, das eine fast völlige Aufhebung der gerichtlichen Ver-
bannung und eine radikale Beschränkung der administrativen
Deportation in Aussicht nahm. Das Projekt gelangte in den
Reichsrat, wurde aber von diesem zurückgewiesen: hinsicht-
lich der gerichtlichen Verbannung waren Erwägungen finan-
zieller Natur maßgebend, die Frage der Beschränkung der
administrativen Verbannung aber wurde bis zu dem Zeitpunkte
verschoben, wo die notwendig gewordene Reform der Bauern-
gemeindeordnung und der Beaufsichtigung der Gemeinde-
organe durchgeführt sein würde.
Seitdem haben sich in Sibirien große Ereignisse vollzogen.
Der Bau der großen Eisenbahn, die ganz Sibirien durchzieht
und den fernen Osten mit dem Zentrum des Reiches ver-
bindet, ist zum Abschluß gelangt. Die Justizreform ist in
Sibirien durchgeführt, die bäuerliche Verfassung nach den
im Reiche geltenden Prinzipien reorganisiert worden. Überall
im Lande pulsiert neues, frisches Leben, eine Periode kulturellen
Aufschwunges ist für Sibirien angebrochen. Unter diesen neuen
Gestaltungen ist die Deportation ein Anachronismus, ja noch
mehr — sie birgt eine große Gefahr in sich und kann die Ent-
wickelung der jungen Pflanzen im Keime ersticken. Gegen-
wärtig befinden sich in Sibirien 300000 Deportierte; von diesen
gehören zum mindesten 100 000, also nicht weniger als der
dritte Teil, zur Kategorie der Landstreicher; sie sind eine wahre
Plage für die ansässige Bevölkerung Sibiriens. Weitere 100 000
— 202 —
bilden ein Proletariat, das kein eigenes Heim besitzt und nur
durch zufälligen Erwerb seine Existenz fristet; 70000 Per-
sonen sind landlose Knechte oder beschäftigen sich mit irgend
einem Handwerk, und nur 30000 sind ansässige Ackerbauer
geworden; aber auch diese sind in den allermeisten Fällen als
unbemittelt, wenn nicht geradezu als bettelarm zu bezeichnen.
Die Verbannten leben unter so außerordentlichen Bedingungen,
daß keine einzige Reform ihre Lage nachhaltig zu bessern
imstande war.
Man kennt zwei Formen der Deportation, die durch Ge-
richtsspruch verhängte und die administrative, die man auch
die polizeiliche nennen könnte. Die letztere, die im Gesetz die
Bezeichnung „npHHy;i,HTejn>Hoe nepeceneme bi» Ch6hpb b'b no-
pa^Kt aAMHHHCTpaTHBHOM'b" trägt, ist als solche mit keinerlei
Rechtsbeschränkungen verknüpft, mit alleiniger Ausnahme der
Entziehung des Rechts der Wahl des Aufenthalsorts ; sie wird in
zweifacher Form angewandt ; einmal : als Folge der Abbüßung
einer gerichtlich verhängten Haft in der Korrektions-Arrestan-
ten-Abteilung oder im Gefängnis unter Entziehung aller beson-
deren Rechte, falls die Kleinbürger- und Bauerngemeinden die
Wiederaufnahme verweigern ; und dann : als Folge einer durch
die Bauern- und Kleinbürgergemeinden verhängten Ausschlie-
ßung aus denselben wegen lasterhaften I-ebenswandels. Die auf
administrativem Wege Verbannten, die meist in die Gouver-
nements Tobolsk und Tomsk dirigiert werden, müssen bei
dortigen Bauern- und Kleinbürgergemeinden angeschrieben
werden und können sich dann ihren Aufenthaltsort innerhalb
Sibiriens selbst wählen; nur diejenigen Verbannten, die aller
besonderen Rechte und Vorzüge verlustig erklärt worden sind,
unterliegen im Laufe der ersten 4 Jahre der polizeilichen Auf-
sicht und dürfen ohne obrigkeitliche Genehmigung ihren Auf-
enthaltsort nicht wechseln. Hat keine Entziehung der persön-
lichen Rechte stattgefunden oder sind diese nach Ablauf der
gerichtlich bestimmten Frist dem Verurteilten restituiert wor-
den, so kann der auf administrativem Wege Verbannte nach
Verlauf von 5 Jahren (nach dem Manifest von 1903 sogar nach
3 Jahren) unter der Voraussetzung, daß er sich gut aufgeführt
hat, die Erlaubnis erhalten, in andere Gemeinden und Gou-
— 203 —
vernements, das europäische Rußland nicht ausgeschlossen (mit
alleiniger Ausnahme der Gemeinde, aus der er ausgewiesen
worden), übergehen. „In diesem Vorrecht,** bemerkt das
zitierte offizielle Memorandum, „spricht sich doch recht deut-
lich die Erkenntnis aus, daß die administrative Verbannung
im Grunde eine verfehlte Maßregel ist.**
Bei den durch gerichtlichen Urteilsspruch nach Sibirien
Deportierten ist die Verbannungsstrafe unbefristet. Bei der
Verbannung durch gerichtliches Urteil gibt es drei Kategorien :
Die Verbannung zur Ansiedlung (ccujiKa Ha nocejieHie), die
Verbannung zur Arbeit (ccujiKa na BOABopeiiie) und die Ver-
bannung zum Aufenthalt (ccHJiKa Ha HCHTBe).
Die Verbannung zur Ansiedlung, die mit dem Verlust
aller Standesrechte verbunden ist, ist eine der schwersten Stra-
fen, außerdem bildet sie den Abschluß der Strafe der Zwangs-
arbeit. Die Lage dieser Verbannten ist eine äußerst schwere;
diese Sträflinge werden zu keiner Gemeinde angeschrieben
und dürfen ihren Aufenthaltsort nicht verlassen. Sie befinden
sich, solange sie sich noch nicht angesiedelt haben, unter sehr
strenger polizeilicher Aufsicht. In Städten dürfen sie nicht
wohnen; eine Ausnahme ist nur hinsichtlich der privilegierten
Klassen statuiert. Handel und Gewerbe dürfen sie nur mit be-
sonderer Genehmigung des Gouverneurs treiben, wenn die
Polizei sie gut attestiert. Immobilien können sie nicht erwerben.
In dem Kriminalkodex der zur Ansiedelung Verbannten drückt
sich die ganze Rechtlosigkeit dieser Leute aus : in den aller-
meisten Fällen sind sie der Willkür der Polizeiorgane über-
lassen, nur bei schweren Verbrechen treten die ordentlichen
Gerichte ein; unter den Strafen steht die Körperstrafe, die
seit 1863 gänzlich abgeschaffte! noch heute im Vordergrunde.
Übrigens darf der zur Ansiedlung Verbannte nach Ablauf von
10 Jahren, bei guter Aufführung nach 6 Jahren, sich bei einer
Bauemgemeinde, jedoch nur mit Einwilligung dieser, anschrei-
ben lassen, wodurch er das Recht erlangt, sich überall in
Sibirien niederzulassen und sich auch mit Handel und Gewerbe
zu befassen. Die Verbannung zur Arbeit, die nur über Land-
streicher verhängt wird, unterscheidet sich gegenwärtig wenig
von der Verbannung zur Ansiedlung, da es an den nötigen
— 204 —
öffentlichen Arbeiten fehlt. Die Verbannimg zum Aufenthalt
besteht nur für Personen der privilegierten Klassen und
entspricht in der Skala der Strafen der Einsperrimg in die
Korrektions- Arrestanten- Abt eilungen und der Gefängnishaft.
Diese Verbannten müssen sich einen bestinmiten Erwerbszweig
erwählen, wobei sie sich, mit Genehmigung der Obrigkeit, bei
einer Bauern- oder Kleinbürgergemeinde anschreiben lassen.
Sie dürfen ländliche Immobilien erwerben und können nach
Ablauf von drei Jahren, mit Genehmigung des Gouverneurs,
Handel imd Gewerbe treiben.
Außerhalb dieser Kategorien stehen die auf Allerhöchsten
Befehl wegen politischer Verbrechen, sowie die auf administra-
tivem Wege auf Grund der Verordnungen zur Erhaltung der
staatlichen Wohlfahrt und der öffentlichen Ruhe nach Sibirien
verbannten Personen.
1897/8, wo die letzte offizielle Verbannungsstatistik auf-
gestellt wurde, gehörten von den 298577 in Sibirien befind-
lichen Deportierten 146658 zur Kategorie der auf Gemeinde-
beschluß Verbannten, 1760 waren von staatlichen Administrativ-
organen verschickt; 100595 Personen waren zur Ansiedlung,
39683 zur Arbeit imd 9881 zum Aufenthalt nach Sibirien ver-
bannt. In den 12 Jahren von 1887 — 1898 kamen 100582 Ver-
bannte (davon 95876 Männer und 4706 Frauen) nach Sibirien,
was etwa 28 0/0 der Gesamtbevölkerung des Landes ausmacht.
Die Verbannung hat nach der offiziellen russischen Dar-
stellung ursprünglich einen kolonisatorischen Charakter ge-
habt „und jetzt liegt noch der Verbannung zur Ansiedlung und
der Zuzählung der Verbannten zu Bauerngemeinden der Ge-
danke zugrunde, daß auf diesem Wege die Zahl der Ackerbauer
im Lande vermehrt werde.*' Jedoch setzt sich nur ein verhält-
nismäßig geringer Teil der Verschickten auch wirklich auf der
Scholle fest ; die meisten suchen nach vollzogener Anschreibung
zur Bauemgemeinde andere Erwerbsquellen, wobei sie dann
größtenteils dem Bettel verfallen.
In Westsibirien schmilzt das kulturfähige, noch nicht unter
den Pflug gebrachte Land merklich zusammen. Das hat die
Regierung veranlaßt, die mit jedem Jahre wachsende Über-
siedlungsbewegung zu regulieren und vorübergehend auch
— 205 —
einzudämmen. Da können denn die Landanteile, die den Ver-
schickten angewiesen werden, natürlich nicht groß sein, „und
es ist auch ganz verständlich, daß die Gemeinde diesen Ein-
dringlingen mit Vorliebe gerade die schlechtesten Landstücke
überweist.** Auf einer solchen Parzelle muß der Verschickte,
der meist nur über sehr geringe, oft über gar keine Mittel
verfügt, seine Wirtschaft einrichten. In den Jahren 1894 bis
1898 trafen in einem Bezirk von 4732 Verbannten 1677 oder
35,4 0/0 mit Geld (durchschnittlich etwa 23 Rbl.) und 3055
oder 64,6 0/0 ohne Geld in ihrer neuen Gemeinde ein ! Diese
Zahlen reden eine beredte Sprache. Der Mittellose ist ge-
zwungen, wenn er es nicht vorzieht, die Gemeinde wieder zu
verlassen, sich als Knecht bei einem alteingesessenen Bauern
zu verdingen, der es dann natürlich nicht unterläßt, ihn gründ-
lich zu exploitieren. Hilfe und Unterstützung wird den Ver-
bannten bei der Einrichtung ihrer Wirtschaft von keiner Seite
zu teil. Im Gegenteil, die alteingesessenen Elemente geben
sich oft die größte Mühe, dem unerwünschten Eindringling
den Boden unter den Füßen zu nehmen. So beschäftigen sich
denn keineswegs alle Verbannten, die einen Landanteil ange-
nommen haben, wirklich mit der Landwirtschaft: ihr Grund-
besitz ist ein rein fiktiver.
Viel ungünstiger noch liegen die Verhältnisse für die Ver-
bannten in Ostsibirien. Der bäuerliche Grundbesitz beruht hier
auf Annexion und wenn auch der individuelle Besitz immer
mehr durch das Prinzip des Gemeindebesitzes verdrängt wird,
so ist es doch fast überall noch Regel, daß der Acker als Eigen-
tum desjenigen, der das Land annektiert hat, oder dessen Nach-
kommenschaft angesehen wird. So kommt es denn, daß dem
Verbannten in Ostsibirien fast nie Ackerland zugewiesen wird,
auch wenn die Bauemgemeinde das redlichste Bestreben hat,
seine Existenz sicher zu stellen : ist es doch ganz natürlich, daß
der Eigentümer des Ackerlandes nur ungern auf den ererbten
oder durch schwere Arbeit erworbenen Besitz zu gunsten eines
unerwünschten Eindringlings verzichten wird. Wo der Ge-
meinde der Acker zu eigen gehört, da ist sie schon jetzt ge-
zwungen, ein Zusammenschmelzen der Landanteile der be-
stehenden Höfe möglichst zu vermeiden. Um auf eigene Hand
— 206 —
Rodungen vorzunehmen, dazu fehlt es dem Verbannten ge-
wöhnlich an den nötigen Mitteln.
In den Städten dürfen sich nur die zum Aufenthalt nach
Sibirien Verbannten und die auf administrativem Wege ver-
schickten Kleinbürger niederlassen. Die Mehrzahl der sibi-
rischen Städte ist bereits von Deportierten überfüllt; ganz
besonders leidet in dieser Beziehung West-Sibirien: in Tobolsk
bilden die Verschickten 19 0/0, in Kurgan 22,4 0/0, in Mariinsk
42,2 0/0, in Turinsk 51 0/0, in Kainsk 53,1 0/0, in Tjukalinsk
71 0/0 und Jalutorowsk gar 75 0/0 der Gesamtbevölkerung; die
letztere Stadt zählt 2396 Einwohner, von denen 1797 Depor-
tierte sind. Der demoralisierende Einfluß, den die Deportierten
auf die örtliche Bevölkerung ausüben, ist natürlich in den
Städten noch größer als auf dem flachen Lande. Kein Wunder,
wenn da die Klagen der sibirischen Stadtverwaltungen über
diese Plage immer lauter werden.
Unter den zum Aufenthalt nach Sibirien Verbannten finden
sich vielfach Gebildete, die' ihre Kenntnisse verwerten könnten.
Aber die Nachfrage nach gebildeten Arbeitskräften ist nur
in den Gouvernementsstädten eine stärkere, und dorthin ge-
langt nur der geringere Teil der Verbannten. Dazu kommt
dann, daß die Zahl der mittleren und höheren Lehranstalten
in Sibirien stark im Zunehmen begriffen ist, wodurch den
gebildeten Verbannten ein gefährlicher Konkurrent erwächst.
Die Zahl der gebildeten Verbannten ist niedriger als man
eigentlich annehmen sollte und deckt sich keineswegs mit der
Anzahl derjenigen Verbannten, die, weil den privilegierten
Klassen angehörend, gewisse Vorrechte genießen. Das Bil-
dungsniveau des russischen Bürgertums ist eben noch ein sehr
niedriges. Der Ungebildete aber, der zudem kein Handwerk
kennt, findet in den sibirischen Städten nur äußerst schwer
Arbeit; fehlt doch Sibirien noch die Industrie.
Alles das führt dazu, daß die Verschickten nur ungern am
Orte ihrer Zugehörigkeit bleiben; die Zahl derjenigen, die
ansässig werden, schwankt zwischen 13,7 «/o und 45 0/0 und
beträgt im Durchschnitt nur 26,8 0/0. Im Gouvernement Jenis-
seisk beträgt beispielsweise die Zahl jener zur Arbeit Verbannten,
die als „spurlos verschollen** zu bezeichnen sind, nicht weniger.
— 207 —
als 72,9 0/0. Von den am Orte ihrer Zugehörigkeit verbleiben-
den Deportierten existieren viele nur durch Mildtätigkeit. So
nähren sich beispielsweise im Gouvernement Tobolsk 22,1 0/0
der ansässigen Deportierten durch professionellen Bettel.
Die im Lande vagabundierenden Deportierten bilden eine
gewaltige Masse. Ihre Zahl wird auf etwa 1 00000 geschätzt,
was den dritten Teil sämtlicher Verbannten ausmacht. Der
,,HBaHi> HenoMHHmiä", Iwan der Vagabund, ist eine typische
Gestalt Sibiriens. Diese Landstreicher leben hauptsächlich Vom
Bettel. Der sibirische Bauer weist den bettelnden Deportierten
nie zurück, sei es nun, daß er durch Mitleid oder durch Furcht
vor Rache bestimmt wird. Trunksucht und alle Laster wuchern
natürlich in dieser Bevölkerungsschichte üppig auf. Zur Arbeit
sind diese Leute nur schwer zu bewegen. Im Winter ist ihre
Lage, bei der sibirischen Kälte, eine entsetzliche : dann bemüht
sich der „Kotelnik**, ins Gefängnis zu gelangen. Die Sterb-
lichkeit ist im Winter sehr groß : fortwährend sieht man auf
den großen Posttrakten die erstarrten Leichen solcher Un-
glücklichen.
Nicht nur der vagabundierende, sondern auch der in besse-
ren Verhältnissen, etwa als Knecht oder Arbeiter lebende De-
portierte wird auf eine bezügliche Frage stets zur Antwort
geben, daß er lieber eine längere Kerkerhaft in der Heimat
ertragen hätte, als ein solch trostloses Leben.
Die Beaufsichtigung der Deportierten durch die Polizei-
organe ist eine fiktive. „Das darf man aber," meint das offi-
zielle Memorandum Murawjews, „der sibirischen Polizei nicht
zum Vorwurf machen. Ihr numerischer Bestand ist ein so
geringer, die Polizeidistrikte sind so gewaltig groß, daß an eine
wirkliche Beaufsichtigung der Deportierten hier gar nicht zu
denken ist.**
Von ganz hervorragender Bedeutung für die Kennzeich-
nung der Deportation in ihrem Verhältnis zur Sittlichkeit ist
die Frage über die Neigung der Verschickten ziun Verbrechen.
Im Gouvernement Tobolsk hatten sich im Zeitraum vom
1. Januar 1895 bis zum i. Juli 1897 im Jahre durchschnittlich
4326 Alteingesessene und 2620 Verbannte vor Gericht zu ver-
antworten, was in dem einen Falle 0,59 0/0, in dem anderen
— 208 —
aber 2,5 0/0 ausmacht: unter der alteingesessenen Bevölkerung
entfällt auf 170 Personen ein Verbrechen, unter den Depor-
tierten aber schon auf 40 Personen. Dazu kommt dann, daß
die Verbrechen der Eingesessenen hauptsächlich gegen das
Forstgesetz, das Akzisereglement und einzelne Vorschriften
der Regierungsorgane gerichtet sind, während die von De-
portierten begangenen Verbrechen viel schwererer Natur sind,
indem sie sich hauptsächlich gegen Leben, Gesundheit, Ehre
imd Eigentum anderer Personen richten. Dabei darf man
nicht unberücksichtigt lassen, daß bei der UnvoUkommenheit
des früheren Untersuchungswesens eine sehr große Anzahl
Verbrechen unaufgeklärt und ungeahndet blieb. Charakte-
ristisch ist, daß ein großer Prozentsatz der von Deportierten
verübten Verbrechen gegen die Frauenehre gerichtet ist, ein
Mißstand, der in verhängnisvoller Weise auf die Moralität
der örtlichen Bevölkenmg einwirkt. Nach dem Urteil von
hervorragenden Administratoren und Richtern in Sibirien kann
es als feststehend gelten, daß der Deportierte meist erst imter
dem Einfluß der ungünstigsten Verhältnisse, unter denen er
sein Leben fristen muß, zum gefährlichen Verbrecher ausartet.
Es war im Jahre 1893, als Kaiser Alexander III. auf dem
Bericht des Gouverneurs von Tomsk über den Schaden, den
die Deportation und die Deportierten dem ihm anvertrauten
Gouvernement brächten, den Vermerk machte: „Ich teile voll-
kommen diese Anschauung. Ich lenke die Aufmerksamkeit
der Minister des Innern und der Justiz darauf, daß es schon
längst Zeit ist, Sibirien von diesem Zuströmen der schlechtesten
Elemente aus dem Europäischen Rußland zu befreien, zumal
jetzt, wo der westliche Teil des Landes bereits durch einen
Schienenweg mit Europa verbunden ist.** Im Jahre 1895 trug
Kaiser Nikolaj II. auf dem Bericht des Ministers des Innern
Dumowo über die Revision, die der damalige Chef der Haupt-
gefängnis-Verwaltung, Galkin-Wrasskoi, in Sibirien und auf
Ssachalin ausgeführt, den Vermerk ein: „Ich bin erfreut zu
sehen, daß die Frage über die Zwangsarbeit imd die Ver-
bannung jetzt an die erste Stelle gerückt ist.** 1895 wurde
die Hauptgefängnisverwaltung aus dem Ressort des Mini-
steriums des Innern in das Justizministerium überführt. 1898
— 209 —
delegierte der Justizminister Murawjew den Chef der Haupt-
gefängnisverwaltung, Stallmeister A. P. Salomon, nach Sibirien
und Ssachalin, damit er an Ort und Stelle das Verbannungs-
wesen und die Strafarbeit eingehend studiere. Auf Salomons
Bericht verfügte Nikolaj IL im März 1899 die Bildung einer
besonderen Kommission und im Juli 1900 erschien der Ukas,
der die Aufhebung der Deportation nach Sibirien befahl. Aus •
der Aufhebung ist dann eine Einschränkung geworden; und
schließlich ist man, ohne laute Ankündigung und ohne selbst-
gefälliges Manifest, wieder zum alten grausamsten System der
schrankenlosen administrativen Verschickung zurückgekehrt.
35. Sklavensinn und Leibeigenschaft.
Die Peitsche im Sprichwort — Knechtischer Sinn der Russen — Selbst dem ütigung
vor dem Fürsten — Bewunderung der Tyrannen — Byzantinisch-tartarische
Einflüsse — Iwan der Schreckliche von den Zeitgenossen gerühmt — Iwan der
Schreckliche im Volksliede — Das Stirnschlagen der Bojaren — Knechtisch-
Patriarchalisches — Leibeigene und Edelleute — Das Küssen der Rute —
Sklaverei ein russisches Grundprinzip — Geschichte der Leibeigenschaft in
Rußland — Schuldner werden Sklaven der Gläubiger — Wie die russische Leib-
eigenschaft entstand — Peter der Große befestigt sie — Verschiedene Formen
der Leibeigenschaft — Haussklaven — Bauern — Krons-Leibeigene und Leib-
eigene der Edelleute — Grausame Herrschaften — Aus der Leidenschronik der
russischen Leibeigenen — Unerträgliches Los im 18. und 19. Jahrhundert —
Furchtbare Strafmethoden — Verkauf von Menschen — Annoncenrubrik für
Menschenhandel im 19. Jahrhundert — Zerreißung von Familien — Allmacht
der Herren — Unsittlichkeit — Spekulation der Edelleute mit den Reizen leib-
eigener Mädchen und Frauen — Wollüstlinge und Messalinen — Herrenrecht
— Hauszucht — Racheakte der Leibeigenen — Aus der Leidensgeschichte der
Leibeigenen in Estland und Livland.
Schwer wäre es zu entscheiden, ob die russischen Re-
gierungen durch das System der Grausamkeit das Volk de-
moralisierten, oder ob diese beispiellose Schreckenswirtschaft
erst möglich wurde durch die beispiellose Demoralisation des
Volkes; ob die Russen seit tausend Jahren vielleicht nur des-
halb so vergewaltigt werden konnten, weil sie die Herren
hatten, die sie verdienten. Jedenfalls mangelte den Russen
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in RuBland. ** 14
— 210 —
vollständig jeder Begriff der Sitte und Ehre, infolgedessen
auch die Auffassung der körperlichen Züchtigung als Schän-
dung ihrer Menschenwürde. Keine Strafe entehrte; aus den
Händen des Henkers kehrte man mit zerschundenem Rücken
und geprügeltem Hintern ruhig wieder auf seinen Platz in
Reih und Glied der Gesellschaft zurück und nahm seine alte
• Stellung ohne Einbuße an Ansehen und Achtung ein. Ja, man
fand das Geschlagenwerden notwendig für das physische \md
moralische Gleichgewicht und faßte die ganze Lebensphilo-
sophie zusammen in dem charakteristischen Sprichwort : „Nach
der Peitsche arbeitet und schläft sichs besser.**
Der russische Sklavensinn setzte alle Ausländer in Er-
staunen, die diesen östlichen Geschmack nicht begreifen
konnten und vergeblich eine Lösung des Rätsels suchten. Fra
da Collo 1) erzählt um 1 500 voller Verwunderung : in Rußland
gelte der Wille des Landesherrn statt geschriebener Gesetze;
der, dem der Großfürst befehle, sich aufzuknüpfen, erfülle
diesen Befehl unverzüglich; nach dem Willen des Großfürsten
werde der Mensch in einem Augenblick erhöht oder erniedrigt ;
man danke dem Großfürsten immerfort, sowohl für Gnade als
für Strafe; „die 400000 Reiter des Großfürsten**, sagt Fra da
Collo schließlich, „dienen nicht für Löhnung, sondern aus
Liebe, Furcht und Gehorsam (per amore, timore et obedientia).**
Im ÄOMocTpoii, dem russischen Hausbuch des Mönches
Sylvester, das dem Volke Lebensregeln vorschreibt, werden
der zarische Zorn und die zarische Ungnade gleichgestellt mit
dem Zorn Gottes, gegen den man sich unnützerweise wenden
würde; man könne nur beten.
Der knechtische Sinn des russischen Volkes zeigt sich
von allem Anfang an, schon auf den ersten Seiten der russischen
Geschichte. Wladimirs Sohn Swjätopolk mordet einen seiner
Brüder nach dem anderen,- um Alleinherrscher zu werden;
nur sein Bruder Jaroslaw entgeht dem Schicksal und zieht
•
aus, die ermordeten Brüder Boriß und Gljeb an dem Bruder-
mörder Swjätopolk zu rächen. Jaroslaw konmit mit seinen
1) Vgl. Karamsin, Geschichte des Russischen Reichs. VII 465, Anmer-
kungen 157 und 158.
— 211 —
Warägern nach dem mit ihm verbündeten Nowgorod, wütet
aber in der Stadt wie ein Feind und gestattet seinen Truppen
Plünderung der Häuser, Ermordung der Männer, Schändung
der Frauen. Da fallen die Nowgoroder über einige der männer-
mordenden und weiberschändenden Waräger her, und üben
Lynchjustiz. Als Jaroslaw von den Vorfällen erfährt, heuchelt
er Bedauern über die Zuchtlosigkeit seiner Waräger, und lädt
die vornehmsten Nowgoroder, um ihnen Genugtuung zu geben,
zu einem Feste ein. Und wie er sie alle hübsch beisanunen
hat, läßt er sie in dem festlich geschmückten Saale nieder-
metzeln. Aber am anderen Tage erfährt Jaroslaw, daß der
Brudermörder Swjätopolk mit einem großen Heere heranrücke,
und es erfaßt ihn Angst vor dem überlegenen Gegner. Da
bereut er sein Vorgehen gegen die Nowgoroder, appelliert an
die Herzen der Bürger der freien Stadt und sagt: „Gestern
tötete ich Unsinniger meine getreuen Diener ; mit allem Golde
meines Schatzes möchte ich jetzt ihr Leben wiederkaufen.**
Und die tapferen Nowgoroder, diese alten unerschütterlichen
Republikaner unter den Russen, antworten einstimmig: „Herr,
du hast unsere Brüder getötet; wir aber sind bereit, gegen
deine Feinde zu ziehen !**i) Um 1350 herrscht in Rjäsan Oleg,
nach den Worten des Chronisten ein Fürst, „frühzeitig zu allen
Lastern eines grausamen Gemüts herangereift.** In seiner
eigenen Stadt plündert und mordet er; aber seine Rjäsaner
lieben und loben ihn, sehen in seiner Mordlust Kühnheit und
Entschlossenheit und erwarten von einem so rücksichtslosen
Wüter gegen sein eigenes Volk ungewöhnliche Heldentaten
gegen die Feinde 1^)
Die byzantinischen und tartarischen Einflüsse sind nicht
dazu geeignet, das Tyrannentum zu schwächen, das Selbst-
bewußtsein des Volkes zu heben. Die Chane ließen die rus-
sischen Fürsten im Besitze der Herrschaft, verlangten nur den
Tribut; und die russischen Fürsten zahlten den Tribut und
entschädigten sich für diese ihnen auferlegte Abhängigkeit
vom Chan durch verdoppelte Grausamkeit in ihren eigenen
1) Karamsin. II 6.
2) Karamsin. IV 237.
14*
— 212 —
Reichen, durch schrankenlose Selbstherrschaft im Inneren.
Andrej Bogoljubskij sagte schon: daß er ^^allein herrschen"
wolle auf der russischen Erde ; und er ernannte sich von Gottes
Gnaden zum Allein-Herrschenden, seine Dienstleute aber zu
Cholopy, Sklaven. Was so unter dem Tartarenjoch schon vor-
bereitet wurde, wird traurige Tatsache und vollendetes Werk
unter den Großfürsten von Moskau, die das Joch abzuschüttehi
das Glück und den Ruhm hatten. Und nun weiß das Volk
sich gar nicht mehr genug zu tun in Kriecherei und Selbst-
demütigung, in Zerknirschung und Erniedrigung. Die beiden
freien Städte Pskow und Nowgorod verzichten freiwillig auf
ihre republikanische Verfassung und ihre alten Vorrechte und
senden dem Großfürsten Wassilij, dem Sohne Joans III. und
Vater Joans IV., diese Botschaft : „Die Städte Pskow und Now-
gorod werfen sich Dir zu Füßen ; erweise Deinem alten Erb-
gut Gnade! Wir, Deine verwaisten Kinder, hängen an Dir
und den Deinigen bis ans Ende der Welt; Gott und Dir ist in
deinem Erbgebiet Alles gestattet. Wir freuen uns der Hand
unseres Herrn und flehen ihn an, uns nicht ganz zu vernichten!"
Ist dieses Volk nicht einzig in der Vergötterung seiner
Henker ? Es betet sogar seinen schrecklichen Iwan an ! „Über-
trifft Iwan alle Tyrannen an Wildheit und raffinierter Grau-
samkeit, so übertreffen die Russen alle anderen Völker an
Geduld**; das wagt selbst Karamsin zornig niederzuschreiben i),
und er fügt hinzu: „Der Landesherr erscheint ihnen göttlich,
jeder Widerstand gesetzwidrig. Sie schreiben Joans Tyrannei
dem himmlischen Zorn zu, und bereuen ihre Sünden.** Der
wahnsinnige Bluthund zerreißt sein Volk; „und dessen unge-
achtet kan noch heutiges Tags kein Reuß leiden oder ohne
Ungedult hören, wenn man ihn für einen Tyrannen schildt,
sondern es fehlet gar wenig, daß sie ihn nicht für ein Gott
ausruffen. Wissen auch keinen, den sie dem Alexandro Magno
eigentlicher als mit ihm vergleichen können. **2) Zu Tausenden
schlachtet Iwan seine Dienstleute und Untertanen; und unter
allen Opfern ist keines, das nicht sterbend für das Wohlergehen
1) VIII 135.
2) Hiärn. 278.
— 213 —
des Zaren ein Gebet zum Himmel richtete I Vom Morden müde,
will Iwan sich ins Kloster zurückziehen; aber seine Russen
bitten imd betteln so lange, daß er bleiben imd wieder regieren
solle nach seiner Laime, bis er sich erweichen läßt und weiter
regiert, das heißt: das Werk der Greuel fortsetzt und ohne
Unterlaß und ohne Anlaß tötet. Und da er endlich stirbt, da
das Volk, wenn es jemals bloß aus Furcht Liebe und Ver-
ehrung geheuchelt haben sollte, frei von Furcht aufatmen und
aufjubeln dürfte, da kniet es vor Schmerz aufgelöst am Lager
des großen Toten nieder! und weint! und klagt in seinen
schönsten Liedern um den Verlust des Unersetzlichen, des
Helden, des Gerechten, des pater patriae! Welch ein furcht-
barer Gedanke für alle freiheitlich Denkenden, alle menschlich
Fühlenden, daß einem solchen Lande, einem solchen Volke
noch einmal ein Iwan der Schreckliche geboren werden imd
willkommen sein könnte!
In den historischen Liedern von Iwan dem Schrecklichen i),
die in Großrußland entstanden sind, zeigt sich der knechtische
Sinn des russischen Volkes in einem getreuen Spiegel. Da
wird der Landesdienst zum Hof dienst, zum Zarendienst. Diese
Volkslieder schildern Iwans Grausamkeit als Notwendigkeit,
förmlich als eine unentbehrliche Ergänzung seines edlen, allen
menschenfreundlichen Gefühlen zugänglichen, gerechten, sogar
großmütigen Charakters. Der rechtgläubigen Zarenmajestät Per-
son ist geheiligt, ihr Wille weises Gesetz. Das Volk steht unbe-
dingt auf Iwans Seite, seine Grausamkeit ist Gerechtigkeit, Kund-
gebung seines gerechten Zorns, ganz gleich, ob der Schreck-
liche seine blutigen Orgien über den Leichen der geschlachteten
Tartaren feiert oder auf bloßen unbegründeten Verdacht hin
die Bojaren dem Henker überliefert. Der Haß des Volkes gegen
die Tartaren ist nicht größer als sein Haß gegen die inneren
Bedrücker, und gern vergißt es seine eigenen Leiden, wenn
es auch die Großen unter der Zuchtrute des Größten verenden
sieht. In einem Liede wird der Zar geradezu als ein mit dem
Volke gutmütig verkehrender Herrscher gezeigt. Die grau-
same Natur des Fürsten kommt zwar auch zur Geltung, so
^) Vgl. Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur. S. 82.
— 214 —
beispielsweise in dem Liede, wo Iwan Auftrag gibt, seinen
Sohn hinzurichten 1); aber stets erscheint des Zaren Grausam-
keit als ein Ausfluß seiner Gerechtigkeit, die bestrebt ist, „den
in den russischen Landen nistenden Hochverrat auszurotten** :
die Hochverräter, das sind die Aristokraten, die nach der
Meinung der Volkslieder den Charakter des Zaren zu ihren
eigenen oligarchischen Zwecken auszunützen trachten und
der Macht des Zaren, des Selbstherrschers entgegenarbeiten,
bloß um selbst willkürlich über das Volk herrschen zu
können.
Dieses hochverräterische Trachten, das den Aristokraten
von den Liedern zugeschrieben wird, ist in Wahrheit der Ge-
schichte unbekannt. Diese kann nur konstatieren, daß nicht
bloß das Volk, sondern auch der Adel von Moskau das Un-
glaublichste an Servilität leistete. In den Staatsschriften nennen
sich die höchsten Würdenträger in tiefster Demut ersterbende
Leibeigene des Zaren, Cholopy, Sklaven. Solche Etiquette
ist so eingebürgert, daß Peter der Große gegenüber dem Für-
sten Romadanowskij, den er die Rolle eines Vize-Zaren spielen
läßt, sich ebenfalls als Leibeigenen, Cholop, bezeichnet. „Die
Großen nannten sich Knechte des Großfürsten,** sagt Karam-
sin2), „allein der Name ist nicht die Sache, er drückte nur
die unbegrenzte Ergebenheit der Russen gegen ihren Monar-
1) Dieses Lied befindet sich in einigem Widerspruch zur Geschichte. Es
wird erzählt: Iwan sitzt bei der Tafel und rühmt sich, den Hochverrat ausge-
rottet zu haben. Da zeigt sein Sohn Iwan auf den Bruder Fjedor, der durch
Leutseligkeit die Untertanen zu gewinnen suche. Iwan befiehlt sofort dem
Henker Maljuta Skuratow, den Fjedor hinzurichten. Aber des Zaren Schwager
Bojar Nikita Romanow (Ahnherr der jetzt regierenden Familie) eilt auf den
Richtplatz, erschlägt den Henker und bringt Fjedor in Sicherheit. Iwans Zorn
ist bald besänftigt, er bereut seinen Befehl und ordnet eine Trauermesse an;
zu dieser erscheint Nikita Romanow im Festgewand, der Zar fährt ihn deshalb
wütend an (nach einer Variante des Liedes erscheint der Zar im Hause Nikitas,
als dieser zu Ehren des Fjedor ein Fest gibt, und nagelt des Bojaren Fuß mit
einem Spieß an den Boden an, wie er es in Wahrheit mit dem Boten Kurbski js
getan). Aber Nikita schlägt seinen Talar zurück und zeigt dem Zaren den
geretteten Sohn. Historisch ist, daß Fjedor Iwanowitsch sanft und leutselig war.
Er wurde aber niemals zum Tode verurteilt. Iwan, der älteste Prinz, war es, der
durch die Hand des Vaters starb.
2) Geschichte VII 169.
— 215 —
chen aus.** Diese Meinung entspricht nicht den Tatsachen.
Der Würdenträger war faktisch der Sklave des Großherrn ;
xojioiTB (Cholop) war auch für ihn kein leeres Wort. Die
russische Sprache beweist es: bitten, supplizieren heißt noch
heute im Russischen: öhtb He^iOMi), mit der Stirn schlagen;
ein Supplikant: HeJicÖHTHmcb, Stirnschläger; eine Bittschrift:
HejiGÖHTBe, das Stirnschlagen. Das Wort stammt daher, daß
die moskowitischen Edelleute, um sich vor ihren Fürsten nur
ja möglichst tief zu erniedrigen, nicht bloß vor ihnen in den
Staub sanken, sondern bei Überreichung von Bittschriften mit
der Stirn auf den Boden aufschlugen. Sie unterzeichneten ihren
Namen nicht, wie er wirklich lautete, sondern mit knechtischen
Verkleinerungsformen, etwa statt Romanow: Dein Sklave Ro-
manowchen, statt Schuwalow: Schuwalowchen, statt Morosow:
Morosowchen. Erst Katharina II. schaffte die knechtische
Etikette ab und verbot den Adeligen, sich in den Staats-
schriften als Sklaven zu bezeichnen; das Wort tschelobitje
für Bittschrift aber konnte aus der Sprache nicht ausgemerzt
werden.
In merkwürdigem Gegensatze zu dieser adeligen Selbst-
erniedrigung steht das knechtisch-patriarchalische Verhältnis
des gemeinen Volkes zu dem Selbstherrscher. Der letzte Bauer
sieht in dem Tyrannen sein Väterchen und darf ihn duzen.
Dieses ist allerdings ein leeres Wort, denn der Bauer ist nicht
bloß Sklave des Zaren, sondern auch Sklave des Adels, und
dieser entschädigt sich für die Demut, die er dem Zaren be-
weisen muß, durch die Bedrückung des Muschik. Nur die
Peitsche nivellierte alles. Der Großfürst und Zar prügelte seine
Hofleute, der noMdiii^Hicb (Pomeschtschik, der Gutsbesitzer)
seine xojionu (Cholopy, die Leibeigenen), der Offizier seine
Rekruten, der Meister seine Lehrlinge. „Die Russen lernen
leicht, wenn man sie prügelt," sagt man; und „die russischen
Bauern verlangen nicht selten selbst Schläge, sagend, die Nach-
sicht und Milde stärke den Teufel in ihnen, und der müsse
herausgeprügelt werden. Bei vielen Gelegenheiten kommen
sie und erklären, sie müßten Prügel haben; sie bitten darum
und bestärken so unglücklicherweise den Herren in der An-
sicht, daß häufige Körperstrafe durchaus für den Bauern von-
— 216 —
nöten."!) Der Ahh6 Chappe d'Auteroche erzählt, daß er auf
seiner Fahrt durch Rußland die Bauern, die ihn führten, mit
Peitschenhieben bedienen mußte; das war das einzige Mittel,
sie in Gehorsam zu halten. 2) Die Herren betrachten konse-
quente Strenge als Notwendigkeit. Schwache, nachgiebige,
milde Herren, die die Peitsche nicht zu gebrauchen wissen,
werden von den Bauern betrogen und bestohlen. Ein Herr
befahl bei Übernahme eines neuen großen Gutes, daß jeder,
der ihn nicht untertänig und höflich grüßte, auf der Stelle 25
Stockschläge bekommen sol te. Alle faulen Arbeiter ließ er
unbarmherzig geißeln. Aber da er in seinen Bestrafungen
immer gerecht war, beweinten die Bauern diesen strengen
Herrn, als er gestorben war, als einen unersetzlichen Wohl-
täter.Sy Der gezüchtigte Russe küßt nach erhaltener Strafe
die Füße desjenigen, der die Strafe anbefohlen hat, und bedankt
sich dafür, daß man mit ihm nicht strenger verfuhr.*) Der
deutsche Arzt Wichelhausen bezeichnet „die demütigen Ver-
beugungen der Russen vor ihren Herren, wobei sie mit dem
Kopf die Erde berühren, als empörend für das Gefühl eines
jeden, der solche die Würde des Menschen verspottende Szenen
nie gesehen hat,** aber er ist der Meinung, daß man „aus dieser
alten Volkssitte nicht auf eingewurzelten Sklavensinn schließen
darf.** Indessen fügt er selbst folgendes hinzu ^): „Mehrere
Male habe ich gesehen, daß Freigelassene zu ihrem gewesenen
Herrn kamen und ihn demütig baten, sie wieder als Leibeigene
anzunehmen. Einige davon waren freilich alt und kränklich,
und hatten kein Mittel, sich zu ernähren und zu verpflegen.
Solche Leute ertragen gewöhnlich die härtesten Bedrückungen
ohne Murren, wozu vielleicht ihr Glaube an ein unvermeid-
liches Schicksal und ihr natürlicher Leichtsinn das meiste bei-
trägt. Doch ist dies nicht bei allen der Fall. Viele entlaufen
ihren Herren, wenn ihre Geduld auf zu harte Prüfungen gesetzt
1) Kohl. Südnißland. III 357.
2) Abb6 Chappe d'Auterrcche. Voyage. 1788.
8) Kohl a. a. O. III 353.
^) Voyage pittoresque, politique et litt^raire, fait en Russie pendant les
ann6es 1788 et 1789 par le citoyen Chantreau. Paris 1794. I 153.
^) Wichelhausen, Gemähide von Moskwa. 1803. 263.
— 217 —
wird. Andere sinnen auf Rache.** Diese Verteidigung der
Leibeigenschaft ist ebenso verfehh, wie jene des famosen, mehr-
fach zitierten Adolph Zando^), der alles lobt, was Rußlands
Regierung tut und der auch in der Leibeigenschaft natürlich
nur Glückseligkeit sieht: „Das Los des Leibeigenen in seiner
individuellen Existenz ist durchaus kein unglückliches, wenn
es auch von Unkundigen mit den grellsten Farben geschildert
wird, während der Leibeigene selbst sich in der Regel keines
traurigen Daseins bewußt ist . . . Diejenigen, die, wie ich
Gelegenheit gehabt haben, Leibeigene sprechen imd urteilen
zu hören, würden ganz andere Ansichten von diesem Gegen-
stande gewinnen, als sie bis jetzt gehegt haben. Ich habe
selbst Beispiele erlebt, wo Leibeigene die angebotene Freiheit
ablehnten und Freibriefe zurückwiesen . . . Hofsleute werden zur
Strafe befreit I . . . Das Schicksal des Leibeigenen ist durchaus
nicht beklagenswert. Es ist und bleibt ein unverzeihlicher
Irrtum, über die Leibeigenschaft so schonungslos abzuurteilen.**
Mir erscheinen alle die zitierten Beispiele nur als Beweise für
den angeborenen knechtischen Sinn des Russen. Auch die
estnischen und lettischen Leibeigenen ertrugen nach dem Zeug-
nisse von Petri und Merkel „mit kriechender Geduld und
Gleichgültigkeit die Mißhandlungen und küßten die Rute**,
aber sie blieben sich immer dessen bewußt, daß die Sklaverei
eine Schande sei, und zu ihrer Demut gesellten sich Scheu
und Hinterlist, hinter denen stets die Rachgier lauerte. Nicht
freiwillig wie der Russe, sondern nur der Not und der Angst
gehorchend, bewies der Lette oder Esthe seinem Herrn die
vorgeschriebene Achtung. „In einer Entfernung von 30
Schritten von dem Herrn, ja wenn er auch nur beim Hause
des Herrn vorübergeht, zieht der Lette,** wie Merkel schrieb 2),
„den Hut und knickt, beugen kann man es nicht nennen, sich
zusammen bei jedem Blick auf ihn. Dann schleicht er mit ge-
senktem Haupte herbei, den Rock- oder Fußkuß zu machen.**
Aber er ergibt sich nicht willenlos der Knechtschaft, ist immer
auf der Wacht vor dem Herrn: „Redet man ihn an, so ver-
1) Russische Zustände. Hamburg 1855. 129, 132, 143.
«) Die Letten. S. 35.
— 218 —
mutet er bei jeder Frage eigennützige Hinterlist und stellt jede
Antwort auf Schrauben. Er verheimlicht daher, was er kann,
selbst die Arzneimittel, die er gebraucht. Die gleichgültigste
Sache behandelt er geheimnisvoll.**
„Die Leibeigenschaft verpestet die ganze Atmosphäre der
geistigen Bildung,** klagte KohU), als er auf seiner großen
Reise durch Rußland das Traurige dieser Zustände kennen
lernte ; „sie macht nicht nur die ihr unmittelbar Unterworfenen
zu Sklaven, sondern steckt auch die ganze Bevölkerung mit
despotischen und sklavischen Sitten und Gesinnungen an.**
Das furchtbarste an der russischen Leibeigenschaft war der
Umstand, daß sie sich so lange erhalten konnte, und daß sie
ihre festesten Formen erst im achtzehnten Jahrhundert erlangte,
also zu einer Zeit, als man in den meisten anderen Ländern
schon mit dem System der Leibeigenschaft gebrochen hatte.
Peter der Große hat die Leibeigenschaft in Rußland erst, ge-
setzlich organisiert und von Elisabeth ist dann die größere
Hälfte der Bevölkerung zu Sklaven degradiert worden. Unter
6624021 Einwohnern der großrussischen Gouvernements (nach
der Revision von 1747) gab es 3444332 leibeigene Männer
und Frauen. Und je näher dem erleuchteten neunzehnten
Jahrhundert, je mehr wuchs die Zahl der Sklaven in Rußland.
Unter Nikolaj I., in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts,
schwoll sie entsetzlich an. Einem besonderen Ministerium
unterstanden 21463994 Leibeigene der Krone, und außerdem
gab es 23362595 Seelen, die den Edelleuten gehörten. Von
den 60 Millionen Einwohnern, die Rußland um 1850 zählte,
waren also 44826589 Sklaven. Rechnet man von dem Rest
noch die Soldaten, Matrosen und Bürger, dann die Kalmücken,
Kirghisen, Tartaren, Polen, Finnländer ab, so sieht man, eine
wie geringe Anzahl freier Männer das Zarenreich vor fünf
Jahrzehnten beherbergte. Wie kann in Rußland eine freiheit-
liche Bewegung dauernd triumphieren, da dort erst 1861 die
Leibeigenschaft aufgehoben wurde und noch die Generation
nicht ausgestorben ist, die teils absolut geherrscht hat, teils
absolut beherrscht worden ist!
^) J. G. Kohl, Reisen durch Südrußland. II. Aufl. III 5.
— 219 —
Es existierten in Rußland schon in ältesten Zeiten Sklaven,
aber die Sklaverei war von anderer Form als später. Kriegs-
gefangene waren es, die in erster Reihe als Sklaven verschenkt
wurden. Dann gab es arme Leute, die sich nicht ernähren
konnten : sie verschenkten sich selbst freiwillig an reiche Leute
und vertauschten das Los ihrer unerträglich sorgenvollen Frei-
heit mit einer Sklaverei, die ihnen wenigstens Brot und Haus
verhieß. Die Sklaven, sowohl die Kriegsgefangenen (Raby,
paÖH) als die freiwillig zu Leibeigenen (Cholopy, xononu) ge-
wordenen, unterstanden gänzlich der Willkür ihrer Herren, die
über die ihnen unterworfenen Raby und Cholopy nach Herzens-
lust verfügen konnten und sie bis auf den Tod prügeln durften;
Ermordete ein Herr seinen eigenen Sklaven, so zahlte er
dafür nicht einmal eine Geldstrafe; Bt xojion'b h paßli BHpu
H-tTyTb, heißt es bei einem alten Schriftsteller. Das Gesetz
mischte sich nicht darein, denn der Sklave war das alleinige
Eigentum seines Herrn. Ermordete ein freier Mann aber den
Sklaven eines anderen, so zahlte er eine Entschädigung, die
geringer war als die für das Ausraufen des Bartes ausgesetzte.
Eins der alten Gesetze gestattete geradezu die Tötung des
Sklaven: „Wenn ein Cholop einen Freien schlägt und sein
Herr ihn dem Beleidigten nicht herausgibt, so muß sein Herr
12 Griwnen Strafe zahlen, und der Beleidigte kann außerdem
den Cholop, wo er ihn erwischt, töten, ohne deswegen zur
Rechenschaft gezogen zu werden.** Erst die Söhne Jaroslaws
änderten dies Gesetz dahin ab, daß der Beleidigte bloß das
Recht hatte, den Cholop körperlich zu züchtigen. i) Nach den
Gesetzen des Großfürsten Wladimir Wßewolodowitsch Mono-
mach ließ man dann den Sklaven gegen ihre Herrschaft sogar
Gerechtigkeit widerfahren. Zwar hatte auch nach diesen Ge-
setzen der Edelmann das Recht, die Sklaven zu züchtigen,
aber die Strafe war nur bei evidenten Verbrechen erlaubt und
mußte dem Verbrechen angemessen sein; andernfalls konnte
der Sklave gegen seinen Herrn klagbar auftreten und auch
gerichtliche Genugtuung erhoffen.
Ich habe schon bemerkt, daß freie Leute aus Armut frei-
^) TiiM(-K|)eeB'L, Ilcropin rkieiiiuxi. HaKaaawift, 53.
— 220 —
Krillig Sklaven wurden. Doch auf gerichtlichem Wege ver-
wandelte man Freie auch zwangsweise in Sklaven : wenn näm-
lich Schuldner nicht bezahlen konnten, fielen sie den Gläubigem
als Sklaven anheim ; genügte der Wert eines Mannes nicht zur
Tilgung der Schuld, so durfte sich der Gläubiger auch der
Familie des Schuldners bemächtigen. Die Arbeit des Mannes
zählte für 5 Rubel im Jahre, die der Frau die Hälfte.^) Die so
zu Sklaven Gewordenen waren selten imstande, ihre Schuld
abzudienen und wieder frei zu werden.
Die Leibeigenen bildeten indessen nur einen kleinen Teil
der Bevölkerung; denn der Bauer war frei. Erst die willkür-
liche Eigenmächtigkeit der russischen Edelleute degradierte
auch die freien Bauern zu Leibeigenen; „die Leibeigenschaft
beruhte nicht auf Gesetzen, sondern auf einer Usurpation,
der nur die Verjährung eine Art Sanktion gegeben hatte,**
sagt Wichelhausen.2) Die Edelleute machten die zu einem
Dorfe oder Gehöfte gehörigen Knechte, die Nachkommen
von Kriegsgefangenen, von gekauften Leuten, von frei-
willig in Sklaverei Übergegangenen und von gerichtlich
wegen Schulden zum Abdienen Verurteilten, zu Leibeigenen.
Es gab erbliche Leibeigene, polnyje (nojiHHe, wörtlich: voll-
ständige) oder solche durch Vertrag für bestimmte Zeitdauer,
kabaljnyje (KaöajiBHHe: zufolge einer Verschreibung genom-
mene). Die Kabaljnyje wurden nach dem Tode des Herrn
wieder frei, hießen daher auch Krepkije (Kpinicie, die Starken).
Die übrigen Bauern waren frei, allerdings ohne Besitz ; infolge-
dessen verpflichteten sie sich den Edelleuten als Pächter. Sie
mußten sich über menschliche Kraft plagen und hatten nicht
zwei Tage in der Woche für sich selbst. Die Armut der Land-
leute drückt das Wort aus, mit dem man sie in alten Zeiten
bezeichnete: Swerden (soviel als Lumpe). Im sechzehnten Jahr-
hundert begann man den Bauer Krestjanin (KpecTi>flHHHT>) zu
heißen, nämlich: Christ. Die Mongolen bezeichneten nämlich
alle Russen schlechtweg als Christen, um sie zu beschimpfen
und dem Haß des Islams gegen die Orthodoxie Ausdruck zu
1) Le Bruyn, Voyages. III 135.
s) Gemähide von Moskwa. 273.
— 221 —
geben; und später nannten die russischen Edelleute ihre
Bauern so.
Die Bauern waren also schlechter daran als die Leib-
eigenen ; da wurde mancher Krestjanin ein Cholop, um wenig-
stens keine Nahrungssorgen zu haben. Denn im fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert war das Los der Leibeigenen
weder so hart wie im elften und zwölften, noch so elend, wie
es in den späteren Jahrhunderten werden sollte. Karamsin^)
stellt fest, daß in dem fünfzehnten und sechzehnten Säkulum
viele Cholopy, die durch das Testament eines wohltätigen Herrn
die Freiheit wiedererlangten, sich unverzüglich neue Herren
suchten. Herberstein, der damals Rußland bereiste, schreibt:
„Der Sklave bekümmerte sicji nicht um seine zahlreiche Familie,
fürchtete weder Alter noch Krankheit. Das Gesetz schwieg
zwar von den Pflichten der Herren, aber die herrschende
Meinung gebot für sie Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Ty-
rannen wurden als ehrlose Bürger verabscheut. Jeder Freie
weigerte sich, in ihre Dienste zu treten, und ihren Namen ge-
brauchte man auf den Plätzen zum Schimpfen.** Im „Do-
mostroj** Sylvesters gibt es humane Ermahnungen, „die Sklaven
und das leibeigene Hausgesinde freundlich zu behandeln.**
Erst zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts begann das
Schicksal des Bauernvolkes und der Leibeigenen sich in ein
trostlos tragisches umzuwandeln. Zar Fedor Wassiljewitsch
und der Usurpator Boriß Godunow verordneten im Jahre 1595,
daß kein Bauer das Land, wo er ansässig, verlassen dürfe. Zar
Wassilij Iwanowitsch Schujskij befahl : „Der Mann einer flüch-
tigen Leibeigenen wird Leibeigener der geschädigten Herr-
schaft,** aber am 9. März 1607 gab er auch ein Gesetz zugunsten
der Leibeigenen: „Der Herr ist verpflichtet, ein Mädchen bis
zu ihrem i8ten, einen Burschen bis zu seinem 20sten, und eine
Witwe spätestens zwei Jahre nach dem Tode ihres Mannes zu
verheiraten; das geschehe, damit sie nicht durch gezwungene
Enthaltsamkeit Ausschweifungen anheimfallen. Befolgt der
Herr nicht dieses Gesetz, so muß er ihnen die Freiheit geben
und kann sich bei Gericht nicht beschweren, wenn sie ent-
1) Geschichte des Russischen Reichs. VII 170.
— 222 —
fliehen." Zar Alexej verbot den Herren, die Leibeigenen an
Festtagen zur Arbeit anzuhalten. Aber schon fühlten sich die
Edelleute der Bauern sicher, schon hatten sie längst auf Ver-
träge keine Rücksicht mehr zu nehmen, und nun kümmerten
sie sich auch nicht um die zarischen Ukase zugunsten der
Bauern. In Zeiten der Ernte gab es fortwährend Verletzungen
der Gesetze; die Ukase existierten, aber niemand kontrollierte
ihre Beachtung. Und Peter der Große sanktionierte alle Miß-
bräuche. Nach der Schlacht bei Narwa, im Jahre 1700, ordnete
der Reformator eine Volkszählung an. Die Edelleute ließen
in die Listen als Sklaven ohne Unterschied die Nachkommen
von wirklichen Leibeigenen, die bei ihnen auf Verschreibung
dienenden Knechte (Kabaljnyje) und die freien Bauern ein-
schreiben. Peter der Große ignorierte den Kunstgriff des
Adels und sah in der Leibeigenschaft ein vortreffliches Mittel,
für seine Kriege billiges Menschenmaterial zu erlangen.^)
Stephan Bathory verbot den deutschen Herren in Livland
und Estland, ihre Untertanen mit Leibesstrafen zu züchtigen^
und gestattete ihnen bloß, Geldstrafen zu verhängen. Gustav
Adolf befahl, daß in den Gymnasien zu Riga und Reval ohne
Unterschied Adelige, Bürger und Bauemsöhne Aufnahme fin-
den sollten ; dieser König nahm den Erbherren das Recht über
Leben und Tod der Leibeigenen und verlieh den Bauern das
Recht der Klage gegen ihre Herren. Und nach Gustav Adolf
versammelte Karl XL im Jahre 1681 den Adel und stellte den
Antrag, den Bauern die Freiheit zu geben. Sicher hätte er
seine Forderung auch durchgesetzt, aber sein früher Tod rettete
den Adel vor der Maßnahme. In Rußland dagegen waren es
gerade die Herrscher, welche die Macht des Adels über die
Leibeigenen verstärkten. Nicht bloß Peter der Große, auch
Katharina II. handelte in diesem Sinne. Katharina unterdrückte
das Recht der Leibeigenen, bei der Souveränin direkt Klage
gegen ihre Unterdrücker zu führen ; dieses Recht bestand aller-
dings bloß auf dem Papier, aber es war doch als ein gewisser
Schutz gegen die furchtbarsten Übergriffe, gegen monströsen
') Vgl. Siigenhcims Geschichte der Leibeigenschaft in Rußland, sowie
Haxthansens Studien über die inneren Zustände Rußlands.
— 223 —
Mißbrauch der Herrengewalt vorhanden gewesen. Nun be-
gann man jene Kläger, denen es glückte, bis zur Herrscherin
vorzudringen, einfach ihren Herren, also ihren Henkern zurück-
zuschicken. Später befahl ein Ukas sogar, die Leibeigenen,
die gegen ihre Herren klagend auftreten, zu peitschen.^)
Im Jahre 1767 beschäftigt sich allerdings eine Kommission
mit der Frage der Aufhebung der Leibeigenschaft ; Katharina IL
hatte nämlich eine Volksversammlung einberufen, eine .Art
Parlament, die erste russische Duma. Den Volksvertretern
gegenüber wollte die Zarin als eine Frau von edlen Absichten
erscheinen. Sie durfte ruhig den Versuch wagen, konnte ganz
sicher auf sein Mißlingen rechnen. Das Projekt der Bauern-
befreiung stieß nicht bloß bei den Vertretern des Adels und
des Grundbesitzes auf Widerstand. Auch die sogenannten
liberalen und humanen Vertreter der Intelligenz jener Zeit
wollten die Leibeigenschaft nicht aufgehoben sehen. Der
Dichter Ssumarokow beispielsweise, der immerfort Liberalis-
mus und Humanität predigte, sprach entschieden gegen die
Aufhebung der Leibeigenschaft. 2) Wie Katharina II. selbst im
Herzen über die Frage dachte, zeigen viele Beispiele. Als
Diderot über die Unreinlichkeit der Bauern in der Umgebung
von Petersburg klagte, entgegenete Katharina: „Wozu sollten
sie sich um einen Körper kümmern, der nicht ihnen gehört?**
Die Greuel der Leibeigenschaft, die allerdings von der Tra-
dition längst geheiligt sind, nehmen daher unter dem Regime
der aufgeklärten Katharina erschreckliche Dimensionen an.
Der Luxus und die Lockerheit der Sitten in jener Epoche ge-
deihen auf Kosten der Leibeigenen. Der Publizist Nikolaj
Nowikow übernimmt es, das unerträgliche Schicksal der Bauern,
die Schrecken der barbarischen Leibeigenschaft zu schildern,
und es ergeht ihm deswegen ziemlich übel. Im Jahre 1779
wagt der französische Maler Velly, der Kaiserin gegenüber die
traurige Lage der russischen Leibeigenen zu beklagen; Katha-
rina gerät in wilde Wut, und nur diplomatische Intervention
hält sie davon ab, dem unvorsichtig menschenfreundlichen
1) Waliszewski, Le roman d'une imp^ratrice, Catherine II. p. 346.
2) Reinhold t, Geschichte der russischen Literatur. 347, 421.
— 224 —
Künstler einen Denkzettel für seine Freimütigkeit zu geben.^)
Als Radischtschew, durch Nowikows Mißerfolge nicht abge-
schreckt, ein Memorandum über die Lage der Leibfeigenen
ausgearbeitet hat, bemerkt die Kaiserin dazu: es gebe in der
ganzen Welt nirgends einen besser behandelten Bauer als den
russischen, nirgends einen sanfteren Menschen als den russi-
schen Herrn. Sie glaubt dies vielleicht von ganzem Herzen,
und es fehlt nicht an Schmeichlern und oberflächlichen Be-
obachtern unter den Ausländem 2), die sie in dem falschen
Glauben nur bestärken können. Da ist Comte de S^gur. Er
hat die russischen Bauern nur durch die Spiegelfenster der
kaiserlichen Karosse gesehen, aber sofort erklärt er: das Los
der Leibeigenen in Rußland lasse nichts zu wünschen übrig.
Und als Beispiel für dieses gute Los zitiert dieses Muster von
Genauigkeit und Gerechtigkeit eine Gräfin Ssaltykow — die-
selbe Ssaltykowa, die mehr als hundert Leibeigene beiderlei
Geschlechts unter den raffiniertesten Martern zu Tode ge-
quält hati
Zu bemerken ist, daß die Stellung der Leibeigenen in den
verschiedenen Gegenden Rußlands verschieden war 3): Der
Unterschied zwischen der Stellung beispielsweise der Leib-
eigenen in Großrußland und der jener in Kleinrußland und den
westlichen polnischen Provinzen war höchst folgenreich; er
bestand darin, daß die Leibeigenen in Kleinrußland und Polen
ganz und gar an die Scholle gebunden waren, während sie in
Großrußland nach ziemlich allgemeiner Gewohnheit gegen ge-
wisse Geldabgaben auch die Erlaubnis erhielten, in die Fremde
zu wandern. Ohne Erlaubnis durften sie sich natürlich auch
hier niemals von der Scholle entfernen; konnte einer den von
^) Waliszewski, Roman. 346.
2) Wir lesen in Wichelhausens Gemählde von Moskwa. S. 253 : „Der größte
Thcil der Einwohner von Moskwa seufzet unter dem Joche der Leibeigenschaft.
Indes ist diese im ganzen genommen nicht so drückend, wie im alten Rom und
Sparta und noch weniger kann man die russischen Leibeigenen mit den Neger-
sklaven in beiden Indien vergleichen. Ihr Loos ist selbst erträglicher als das
Loos der Letten".
3) Kohl, Reisen in Südrußland. III 332.
— 225 —
seinem Herrn herrührenden Paß nicht vorweisen, so wurde
er angehalten und seinem Besitzer wieder ausgehefert.
Im allgemeinen hatten die Bauern der Krone ein besseres
Schicksal als jene, die Privatleuten gehörten. „Die Leibeigenen
der Krone," sagt Wichelhausen ^), „haben der Krone einen
jährlichen Obrok (oßpoicb, wörtlich: Erbzins) und die übrigen
Abgaben richtig zu bezahlen und genießen dann vieler Frei-
heiten. Der Leibeigene der Krone kann entweder in Ruhe
das ihm zugeteilte Land bebauen, ohne Frohne zu leisten oder
sehr gedrückt zu sein; oder er treibt jedes andere Geschäft,
wozu er Talent und Neigung hat.** Jeder Kronbauer bekam
ein Stückchen Land zum Bebauen und mußte als Entgelt
1 5 Rubel jährliche Kopfsteuer zahlen, außerdem beim Straßen-
bau und bei gemeinnützigen Arbeiten tätig sein; die Kron-
bauem hatten auch für den Transport und die Verpflegung der
Truppen Sorge zu tragen; auf dem Papier war ihnen hierfür
besondere Entschädigimg zugesichert, die sie aber niemals er-
hielten. Die Kronbauem durften die Scholle nicht verlassen;
ihre eigenmächtige Entfernung galt als Desertion.^) Zuweilen
erhielten sie aber von amtswegen den Auftrag, in einer benach-
barten Stadt ein Handwerk zu erlernen. Zerstörten Frost und
Hagel ihre Felder, so waren sie dem Hungertode preisgegeben ;
der Zar spendete wohl in solchem Falle Almosen, die Spenden
blieben jedoch stets an den Händen der Tschinowniki kleben.
Das Schicksal der Leibeigenen der Krone konnte im Ver-
gleich zu dem Lose der Leibeigenen der Gutsbesitzer als ein
beinahe glückliches bezeichnet werden. Es gab zwar auch
unter den Edelleuten einige menschlich fühlende Herren, aber
wie wenige, geht daraus hervor, daß man sie aufzuzählen ver-
mag: Kohl 3) erzählt von einer Dame, „die 8oo Leibeigene hatte
und von jedem nur zehn Rubel jährlich nahm; ihre Bauern
stolzierten in samtnen und seidenen Kaftanen umher.** Die
Grafen Scheremetjew, Woronzow-Daschkow, Uwarow hatten
zur Zeit des Kaisers Niklaj I. Leibeigene, die in Petersburg und
') Gemähide von Moskwa. S. 253.
2) Geheimnisse von Rußland. II 154.
3) Südrußland, III 332.
Stern, Geschichte der öffeatl. Sittlichkeit in Rußland. ** 15
— 226 —
Moskau großartige Gold- und Silbermagazine, Fruchtbuden,
bedeutende Kattun- und Seidenfabriken ihr Eigen nannten; sie
waren Besitzer großer Vermögen, nicht selten Millionäre^ und
brauchten trotzdem nicht mehr als den gewöhnlichen Obrok
von IG Rbl. Silber jährlich an ihre Herren zu bezahlen.^) Der
Arzt Wichelhausen 2) kannte um 1800 in Moskau Edelleute, „die
mit ihren Erbleuten wie Väter mit Kindern verfuhren und nur
in den dringendsten Fällen zur Strenge griffen; andere, die
selbst für die Bedürfnisse und Vergnügungen der Leibeigenen
sorgten und sie in Krankheiten verpflegen ließen." Mit diesen
paar Beispielen ist jedoch alles erschöpft, was sich von der Güte
der russischen Edelleute sagen ließ — der Rest ist : Grausam-
keit ohnegleichen. Die Alten und Gebrechlichen sollten dem
Gesetze gemäß von den Erbherren Kost, Wohnimg und Klei-
dung erhalten ; man trieb sie indessen gewöhnlich vom Edelhof e
fort, und sie mußten sich durch Betteln erhalten. „Manche
sind so harte Herren,** heißt es bei Wichelhausen 3), „daß sie
bei jedem kleinen Versehen mit einer Strenge gezüchtigt wer-
den, welche alle Menschlichkeit beleidigt. So kannte ich einen
Herrn, der seinen Bedienten die Batogen geben Heß, wenn im
Winter die Temperatur der Luft in seinen Zimmern nicht so
war, wie er verlangte. Ein anderer ließ die Bedienten für jeden
Fleck, der sich in ihrer Staatslivree fand, oder für jedes Ge-
schirr, das sie zerbrochen, aufs grausamste geißeln.**
Die Edelleute konnten mit ihren Leibeigenen nach Willkür
und Laune verfahren. Kaiserin Elisabeth gewährte ihnen noch
außerdem das Recht, in gewissen Fällen ihre Sklaven statt mit
der Peitsche mit Verbannung nach Sibirien zu bestrafen.*) Die
aufgeklärte Katharina vervollständigte den Ukas Elisabeths,
indem sie der Verbannung noch die Zwangsarbeit hinzufügte.
Ein solcher Verschickter durfte aber nicht über 45 Jahre alt
sein. Die Regierung nahm die verbannten Leibeigenen willig
als Kolonisten an. Die Frau eines deportierten Leibeigenen
durfte dem Gatten folgen; die minderjährigen Kinder konnte
') Zando. Russische Zustände, 128.
2) Züge zu einem Gemähide von Moskwa, 257.
'^) a. a. O.
*) Waliszewski, La dernidre des Romanov, 224.
— 227 —
der Edelmann zurückbehalten, gab er sie aber den Eltern mit,
so zahlte ihm die Regierung für jeden Knaben unter 5 Jahren
5 Rubel, für jeden Knaben von 5 bis 15 Jahren 10 Rubel, für
Mädchen die Hälfte. Dieser Modus der Bestrafung der Leib-
eigenen war der einzige gesetzlich durch einen Ukas geregelte,
und erst nach dem Jahre 1845 brachte das Gesetzbuch Niko-
lajs I. etwas mehr Aufsicht über die Sklavenhalter. Bis dahin
waren die Edelleute Herren über Leben und Tod ihrer Leib-
eigenen gewesen. Es machte schon nicht geringes Aufsehen,
als Kaiserin Elisabeth im Jahre 1762 durch den Senat einen
Edelmann, der einen Leibeigenen zu Tode gepeitscht hatte, vor
Gericht stellen und zur Deportation nach Sibirien verurteilen
ließ. Noch 1761 war in einem solchen Falle dem grausamen
Herrn bloß eine Kirchenbuße auferlegt worden. In der Zeit
Elisabeths der Frommen und Gütigen ereigneten sich die furcht-
barsten Greueltaten gegen die Leibeigenen, und keine Strafe
wurde kontrolliert. Graf Rumjäntzow verfaßte 1756, um dem
Mangel eines Strafsystems abzuhelfen, einen speziellen Kodex
für die Leibeigenen auf seinen Gütern.^) Dieses gräfliche Ge-
setzbuch liest sich wie eine Liste von beängstigenden Höllen-
qualen, und es wurde begierig von vielen anderen Edelleuten
als nachahmenswert und mustergiltig übernommen. Nach
diesem Rumjäntzowschen Gesetzbuch ward einem Leibeigenen
für den kleinsten Diebstahl strafweise seine geringe Habe kon-
fisziert, außerdem bekam der Schuldige als Denkzettel Schläge
mit der Peitsche : die Anzahl ist nicht bestimmt, der edle Graf
befiehlt einfach: „solange schlagen, bis der Bestohlene zu-
friedengestellt ist". Ein anderer Paragraph besagt: eine Die-
nerin, die ins Schlafzimmer der Herrschaft eintritt und ihren
Herrn oder ihre Herrin in der Ruhe stört, erhält Rutenhiebe
(ohne Zahlbegrenzung) und verliert zur Strafe ihren Namen;
sie soll fortan mit einem Schimpfwort bezeichnet und gerufen
werden; und diejenigen Leibeigenen, die dies vergessen und
die Bestrafte bei ihrem Namen nennen, bekommen fünftausend
Stockschläge ohne Erbarmen I 5000 Stockschläge 1 1 Manche
1) 3a61iJinin>, EpBon. Btaraiio», 1871 ^ 2, $09- — Waliszewski, La der-
nidre des Romanov, 226.
IS*
— 228 —
Edelleute wollten als Gesetzgeber den Grafen Rumjäntzow noch
übertrumpfen; es gab einen, der in seinem Kodex alle mög-
lichen Vergehen aufzählte, und auch die Zahl der Schläge fix
bestimmte : für irgend ein Vergehen war die Zahl von siebzehn-
tausend Stockschlägen festgesetzt 1 — dagegen war martervollste
Todesstrafe wonnevoller Genuß. Auch Graf Rumjäntzow ließ
übrigens zuweilen siebentausend Stockschläge verabfolgen. Eins
seiner Gesetze verordnet nämlich : Ein Mann, der siebentausend
Stockschläge oder hundert Knutenhiebe (ein Knutenhieb zählte
für siebzig Stockschläge) erhalten hat, darf nur eine Woche
lang das Bett hüten; wenn er sich in dieser Zeit nicht erholt
hat, dann soll ihm die Nahrung entzogen werden. Der Kodex
des Grafen Rumjäntzow bestand noch zur Zeit Katharinas II.
zu Recht. Die Grausamkeit der Herren gegen ihre Leibeigenen
entsprach so sehr der allgemeinen Praxis der Epoche, daß die
g^oße Kaiserin nicht nur nichts gegen die Unmenschlichkeit
unternahm, sondern freiwillig das Los der Unglücklichen noch
elender zu gestalten sich bemühte: sie unterdrückte, wie wir
schon wissen, das Recht der Klage der Leibeigenen gegen ihre
Herren und schickte um Gerechtigkeit und Menschlichkeit
bettelnde Märtyrer, die durch wahre Wunder bis zur Souveränin
gelangt waren, ihren Herren und Henkern zurück.
Leibeigene, die irgend ein Talent verrieten, wurden von den
Herren zu einer nützlichen oder angenehmen Kunst erzogen;
die Peitsche und der Stock waren die Lehrmeister. Verstanden
dann die Sklaven ein Handwerk oder hatten sie sich zu Künst-
lern ausgebildet, dann mußten sie ihre Einnahmen den Herren
ablieefern ; sie wurden auch manchmal plötzlich aus der höheren
Sphäre wieder in das tiefste Elend zurückgeschleudert und
empfanden ihre Situation nur noch schwerer als zuvor, wo ihnen
die Kenntnis des Besseren gefehlt hatte. Aus den Leibeigenen
nahmen die Herrschaften ihre Diener, Reitknechte, Köche,
Kammermädchen, ja selbst die Lehrer und Erzieher für ihre
Kinder; aus den Reihen der Leibeigenen stellten die Herren
auch ihre Theater- und Musikerkorps zusammen. Manche große
Künstler sind aus dieser gemarterten Klasse hervorgegangen,
aber die Kulturgeschichte kennt ihre Namen nicht oder be-
zeichnet sie bloß mit dem Namen ihrer Herren : so ist die Musik
-^ 229 —
eiher Oper zu einem Text von Chersakow von einem anonymen
Leibeigenen des Fürsten P. M. Wolkonskij komponiert worden.
Die sogenannten Hofbedienten (ÄBopoBHe njopji, Hofleute,
nannte man alle leibeigenen Bedienten, die bloß im adeligen
Hause beschäftigt waren) bekamen nach der Vorschrift des
Grafen Rimijäntzow per Jahr je 50 Kopeken bis 6 Rubel Gehalt,
3 Tschetwert Mehl, 1 1/2 Tschetwert Grütze und 1 2 Pfimd Salz,
femer alle 2 oder 3 Jahre einen Pelz (iny6a) und einen Kaftan.
Ihr Los war aber nur wenig beneidenswerter als das der anderen
Leibeigenen; wohl waren sie besser gekleidet und genährt als
die gewöhnlichen Leibeigenen, aber sie wurden dafür auch
am unbarmherzigsten behandelt; der Mann mußte alle seine
Talente, die Frau alle ihre Reize dem Herrn opfern. Wie das
russische Sprichwort von dem Schicksal der Großen sagt : nahe
dem Zaren, nahe dem Tod, so konnte man von dieser Kategorie
der Leibeigenen behaupten : nahe dem Herrn, nahe der Peitsche.
Gräfin N. N. Ssaltykow, Gattin des berühmten Feldmarschalls,
trägt eine Perrücke; um das Schreckliche vor aller Welt zu
verheimlichen, muß der Leibeigene, der das „Glück** hat, ihr
Coiffeur zu sein, drei Jahre in einem Käfig neben ihrem Bette
zubringen.!) Als der deutsche Reisende Kohl zu einem rus-
sischen Magnaten kommt, findet er den Herrn beschäftigt, einen
Leibeigenen halb tot zu prügeln; dem Unglücklichen wird
Schuld gegeben, daß sein Herr beinahe über einen Hund ge-
fallen |2) Um die Gäste ihrer Herren zu amüsieren, haben die
Leibeigenen Wettrennen zu veranstalten; die intelligenten und
gebildeten Sklaven müssen Gedichte rezitieren, Theater spielen
und Konzerte geben. Einer dieser vornehmen Kunstenthu-
siasten ist Graf Skawronskij, ein Verwandter der Kaiserin
Elisabeth : sein Hauspersonal darf mit ihm nicht in gewöhnlicher
Prosa, sondern nur rezitativ sprechen ; Zuwiderhandlungen wer-
den grausam bestraft. Bei einem anderen hohen Herrn findet
eine Vorstellung von „Didon** statt; der Edelmann ist mit einer
Schauspielerin nicht zufrieden, stürzt also während der Vor-
stellung auf die Bühne, ohrfeigt die Schuldige, die die Prin-
1) M6moires secrets (par Masson) IV 20.
2) Kohl Südrußland, III 344.
— 230 —
I
zessin von Tyrus darstellt, und läßt ihr auf offener Szene noch
die Bastonnade geben. Der Reisende Clarke erzählt von einem
Edelmann, der in seinem Zorn einen Leibeigenen ans Kreuz
nageln ließ ; der Mörder erhielt als Strafe : Verbannung in ein
Kloster. Bolotow bekennt in seinen Memoiren aus der Zeit Eli-
sabeths, daß er selbst, dem Zeitalter und Zeitgeist entsprechend,
gegen seine Bauern von wilder Grausamkeit war; um einem
Leibeigenen ein Geständnis zu erpressen, ließ er ihn mit ge-
salzenen Heringen nähren und gab ihm nichts zu trinken. Die
Edelleute waren in ihren autokratischen Rechten nicht be-
schränkt, und in ihrer Wut gegen ihre Sklaven kannten sie kein
Maß. Weiber, Kinder und Greise unterlagen ebenso wie die
Männer den fürchterlichsten und schändlichsten körperlichen
Züchtigungen. Der Leibeigene mußte auf Befehl des Herrn
seine Leidensgenossen peitschen.^) Den Züchtigungen, die dem
Gatten und Vater zuteil wurden, mußten die Gattin und die
Kinder beiwohnen ; wehe aber der Frau, die erzitterte und Mit-
leid empfand, wenn man vor ihren Augen ihren Mann blutig
schlug ; wehe der Mutter, die nur mit der Wimper zuckte, werm
die Peitsche bluttriefend auf dem Rücken ihres Kindes tanzte I
Die Mitleidigen traf dieselbe Strafe wie die Schuldigen. Ver-
hielt sich ein Opfer während des Empfanges der Züchtigung
nicht ruhig, so mußten seine Familienmitglieder die Stellen
der Henker einnehmen, und der Bruder den Bruder, der Mann
die Frau, die Gattin den Gatten, ja selbst die Kinder ihre Eltern
oder die Eltern ihre Kinder peitschen. Derartige Exekutionen
wurden bei großen Gastmählern gleichsam zur Belustigung der
Gäste 2) und zur Erregung ihres Appetits veranstaltet. Das
waren dann wahre Orgien. Die bestraften Weiber wiurden völlig
nackt ausgezogen und gezüchtigt, und die Herren und Damen
der Gesellschaft ergötzen sich an den sadistischen Vergnü-
gungen, die ihnen zu teil wurden. Der russische Historiker
Ssemewskij berichtet, daß in der Zeit Katharinas II. die Edelleute
1) Geheimnisse von Rußland, II 164. — Geheime Nachrichten über
Rußland (deutsche Ausgabe der Memoiren Massons), II 107, Anmkg. 16.
*) Die Geißler, Historische Denkmale des Fanatismus. Von Corvin.
3. Auflage. Zürich. S. 61.
— 231 —
für ihre leibeigenen Bauern eine neue Strafe erdacht hatten:
Ein eiserner Ring wurde um den Hals des Opfers geschlossen ;
am Ring befand sich eine kurze Kette und an dieser hing ein
großer schwerer hölzerner Klotz. Der Ring war mit eisernen
Spitzen reich garniert, so daß der eingeschlossene Hals bei
jeder Bewegung des Kopfes verletzt werden mußte. Der Be-
strafte mußte auch nachts mit diesem Ring schlafen und litt
natürlich bei jeder Bewegung unbeschreibliche Qualen. i) In
den Städten pflegten die Herren die Bestrafungen ihrer Leib-
eigenen nicht in ihren Häusern vorzunehmen: Man schickte
diejenigen, die man züchtigen lassen wollte, einfach zur Polizei
und gab ihnen einen Zettel mit, auf dem die Anzahl der ihnen
zugedachten Schläge bestimmt war.^) Auf der Polizei legte man
die Überbringer solcher Zettel ohne weitere Zeremonie nieder,
zählte ihnen die Portion auf, gab ihnen eine Quittung und ließ
sie dann zu ihren Herren zurückkehren. Im Jahre 1845 wurden
endlich durch einige Gesetze Begrenzungen der Disziplinar-
gewalt der Herren festgestellt. Allein diese Gesetze waren von
problematischem Wert, so lange der Edelmann selbst Richter
und Exekutor blieb. Kein staatlicher Prokureur kontrollierte,
ob der Edelmann seine Rechte überschritt oder nicht, und das
Zeugnis der Leibeigenen gegen die Herren war ungiltig. Ein
Gesetz besagte, der Herr dürfe einem Leibeigenen nicht mehr
als 15 Schläge hintereinander geben lassen; es war aber nicht
bestimmt, welcher Zwischenraum zwischen einer Strafe und der
nächsten eingehalten werden mußte; es konnte also der Herr
alle 10 Minuten die 15 Schläge wiederholen lassen; er hatte
nur eine Respektspause einzuhalten, wenn es ihm überhaupt
darum zu tun war, das Gesetz zu beachten. Starb ein Opfer
unter der Peitsche, so gab man nicht der Züchtigung die Schuld,
sondern sagte: der Bestrafte war zu schwach oder zu jung.
Und im schlimmsten Falle hatte der Herr gesetzlich 4 Wochen
leichtes Gefängnis zu riskieren.
Eines der traurigsten Rechte der Edelleute war die ihnen
gegebene Autorisation, die Bauern von Grund und Boden zu
1) Vgl. TiiM<^>et'BT» HcTopiH, rfejiecHbirL HUKaauHitt, crp. 226.
«) Kohl. Südrußland. III 337.
— 232 —
versetzen. ' Der Edelmann durfte nach seiner Laune einzelne
Familienmitglieder aus dem Hause eines seiner Leibeigenen
nehmen imd dorthin kommandieren, wohin es ihm beliebte;
er konnte ebensogut ganzen Familien, ja ganzen Dorfgemeinden
befehlen, ihre alten Wohnsitze zu verlassen und sich dort anzu-
siedeln, wo er ihnen Platz anwies. Hofbedienter oder Acker-
bauer, der Leibeigene blieb eine Sache des Herrn, die ver-
kauft werden konnte mit oder ohne Familie, mit oder ohne
Boden. Peter der Große machte in einem Ukas den Senat
darauf aufmerksam, solchen Gebrauch zu verhüten; aber die
Gewohnheit war stärker. Ein Dokument aus dem Jahre 1760
behandelt den Verkauf von zwei minderjährigen Mädchen um
den Preis von 300 Rubeln. In einer Petersburger Zeitung von
1798^) finden wir folgende Annonce : „Wenn Jemand eine ganze
Familie oder daraus bloß einen jungen Mann und ein junges
Mädchen allein kaufen will, wende er sich an die Wäsche-
putzerin gegenüber der Kasanschen Kirche. Der junge Mann,
Iwan, ist 21 Jahre alt, gesund, kräftig und versteht das Damen-
frisieren. Das Mädchen, Marfa, gut gebaut und gesund, 15
Jahre alt, kann nähen und sticken. Man kann sie prüfen und
um mäßige Preise erhalten.** Solche Inserate bildeten eine
ständige, wenigstens einmal wöchentlich erscheinende Rubrik.
Zur Zeit des Arztes Wichelhausen-), also im Beginne der Epoche
Alexanders I., war in Moskau unweit vom Roten Platz (KpacnaH
njicma^b) neben dem Trödelmarkt ein öffentlicher Menschen-
markt. Unter der Regierung Elisabeths zahlte man für eine
Seele durchschnittlich 30 Rubel. Der höchste Wert eines Leib-
eigenen betrug selten mehr als 400 Rubel. Dies bezieht sich
niu auf die Männer. Weiber wurden nicht gerechnet, wenn sie
nicht hübsch waren. Nur schöne Frauenzimmer brachte man
daher auf den Markt. Schenkte der Kaiser oder die Kaiserin
einem Günstling Leibeigene, so waren mit der Seelenzahl nur
männliche Sklaven bezeichnet, Weiber zählten nicht, waren
keine Seelen, sondern totes wertloses Gut. Im neunzehnten
1) St. Petersburger Zeitung 1798 Nr. 36. — Vgl. Waliszewski, Le Roman
d'une imp^ratrice, 347.
') Züge zu einem Gemälde von Moskwa. 1803. S. 262.
— 233 —
Jahrhundert stiegen die Leibeigenen im Preise. Unter Alexan-
der I. zahlte man für einen Knaben von i6 Jahren oft 200 oder
300 Rubel, für einen zum Militärdienst taughchen Mann sogar
500 oder 600. Weiber und Mädchen waren aber noch immer
verhältnismäßig billig zu haben. Auf dem Moskauer Menschen-
markt sah man zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Mäd-
chen und Weiber für 30 oder 40 Rubel per Stück ausgeboten.
Die meisten der jungen und hübschen Mädchen wurden von
den Herrinnen aus Eifersucht verkauft. Für die hübschen oder
durch Talente ausgezeichneten Mädchen fanden sich stets
schnell Käufer.
Manche Edelleute zogen es vor, ihre Leibeigenen nicht zu
verkaufen, sondern mit diesem menschlichen Kapital zu
wuchern: Ein Edelmann, der seine Güter verpraßt hat, zwingt
die letzten ihm übrig gebliebenen Familien, in Moskau in den
Straßen zu betteln und ihm den Ertrag abzuliefern; wer des
Abends nicht genug bringt, der büßt mit seiner Haut für seine
geringe Gewandtheit. Andere Herren spekulieren mit den Rei-
zen ihrer Sklavinnen. Ein Dokument aus dem Jahre 1787 be-
richtet von einem Edelmann, der seine jugendlichen Leib-
eigenen weiblichen Geschlechts an Petersburger und Moskauer
Bordelle verleiht und vertragsmäßig per Frauenzimmer und
Jahr 100 bis 200 Rubel erhält. Der Herzog von Bassano kannte,
wie aus einer Note in Clarkes Reisebeschreibung hervorgeht,
einen russischen Leutnant, der Mädchen im Alter von 19 und
20 Jahren eigens aufkaufte, um sie dann unter seinen Kame-
raden kursieren zu lassen; er prügelte die Mädchen, wenn sie
ihm nicht genug verdienten. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts
lebte in Petersburg die Witwe eines Edelmanns namens Pos-
nikow, die alljährlich von ihren Gütern die hübschesten und
talentiertesten Mädchen in ihr Haus bringen ließ; sie gab
ihnen eine vortreffliche Erziehung, und wenn sie das fünfzehnte
oder sechzehnte Lebensjahr erreicht hatten, verkaufte sie sie
um den fixen Preis von 500 Rubeln per Stück an die Wollüst-
linge der Hauptstadt. 1) Kaiser Alexander I. verbot im Jahre
1) Geheimnisse von Rußland, II 160, 166. — Geheime Nachrichten
(von Masson, deutsche Ausgabe). II. Band. III. Abteilung, S. 165.
— 234 —
i8o8, Leibeigene ohne den Boden, auf dem sie lebten, zu ver-
kaufen; ebenso wurde verboten, Leibeigene ohne ihre Ein-
willigung zu verheiraten. Die Ukase blieben tote Buchstaben.
Nur in Petersburg wurden sie vielleicht beachtet, in der Pro-
vinz nahm man sie nicht einmal zur Kenntnis, und die den
kaiserlichen Befehlen Zuwiderhandelnden zog niemand zur
Rechenschaft. Alle fünfzehn Jahre fanden in Rußland Revi-
sionen der Bevölkerung statt. Die im Laufe dieser Perioden
verstorbenen Leibeigenen galten aber als existierend, wenn
die Edelleute Kredite aufnehmen wollten. Es gab Leute, die
tote Seelen billig kauften und dann auf solches Gut bei den,
Banken Darlehen behoben. Man kennt Gogoljs berühmten
Roman über die toten Seelen, der diese Zustände sarkastisch
schildert.
Es war das natürlichste Interesse der Gutsbesitzer, daß die
Bevölkerung auf ihrem Eigentum zunahm. Die Herren trugen
hierzu persönlich nach Möglichkeit bei. Ein junger Garde-
offizier Katharinas war durch das Spiel ruiniert worden. Nur
noch ein kleines Dorf war ihm geblieben. Kurz entschlossen,
verkaufte er alles Männliche, und dann ließ er sichs angelegen
sein, die Weiber und Mädchen fleißig zu befruchten, um sich
auf diese originelle Weise ohne pekuniäre Opfer eine neue
Sklavengeneration heranzuziehen. Ob in Rußland auch das
jus primae noctis, wie verschiedene Schriftsteller behaupten,
Gebrauch gewesen, konnte bis heute nicht klargestellt werden i) ;
*) Vgl. Slavische Geschichtsquellen zur Streitfrage über das Jus primae
noctis, von Dr. Karl Schmidt. Sonderabdruck aus der Zeitschrift der Histori-
schen Gesellschaft für die Provinz Posen, I. Jahrgang, Heft 3 und 4, Posen 1886.
(S. 5 — 18.) — Im Jahre 1809 veröffentlichte Professor A. L. von Schlözer
aus der russischen Chronik vom Jahre 964 folgende Stelle: ,, Damals schaffte
Olga das Fürstliche ab und verordnete, daß der Bräutigam einen schwarzen
Marder an den Fürsten entrichte, und so auch der Bojar von seinem Untertan
nehmen solle." (Nestor, Russische Annalen, in ihrer slavischen Grundsprache,
verglichen, von Schreibfehlern und Interpolationen möglichst gereinigt, er-
klärt und übersetzt von Ludwig August von Schlözer. 5. Teil. Göttingen 1809.
S. 126). — Eine berichtigte Übersetzung derselben Stelle gab Professor Joseph
Müller im Jahre 18 12 in folgender Form: ,, Damals schaffte Olga das Fürst-
liche ab und verordnete, von dem Bräutigam zu einem schwarzen Marder zu
nehmen, dem Knäsen sowohl als dem Bojaren von seinem Untertan." Und
— 236 —
aber Tatsache ist, daß die Allmacht der russischen Herren über
ihre weiblichen Leibeigenen traditionell unantastbar war. Der
Edelmann durfte jedes leibeigene Mädchen auf sein Lager
in einer Note fügte Müller hinzu: ,,£s ist hier die Rede von dem jus primae
noctis, welches früher auch in Rußland stattfand; daher jetzt noch eine Geld-
abgabe, die der Bräutigam für seine Braut entrichtet, Kunicznoje, bei Heym
Kunitsa, genannt wird." (Joseph Müller. Altrussische Geschichte von Nestor,
mit Rücksicht auf von Schlözers Russische Annalen, die hier berichtigt, er-
gänzt und vermehrt werden. Berlin 1812. S. 131, 220). — Eine ausführliche
Abhandlung veröffentlicht Joh. Phil. Gust. Ewers (Das älteste Recht der
Russen, Dorpat 1826, S. 70), der voraussetzt, daß der Ausdruck ,,das Fürst-
liche" auf das jus primae noctis zu beziehen sei, und ausführt, dies Recht sei
,,kein Herrscherrecht, sondern ein Recht des Häuptlings" gewesen. ,, Darum
darf auch die Handlung der Olga, indem sie das Fürstliche abschaffte, für
keine Regierungshandlung, für keine Handlung der Großfürstin, als Herrscherin
in Swjatoslav's Namen, angesehen werden; denn so weit waren die Sachen
schwerlich gediehen, so groß war wohl die Gewalt des gemeinschaftlichen Ober-
hauptes noch nicht, daß es dergleichen Neuerungen eigenwillig hätte anbefehlen
können, sondern höchst wahrscheinlich beschränkte sich Olga auf eine teil-
weise Einrichtung in ihren eigenen Besitztümern und vielleicht auch in den
Besitztümern ihrer Familie, in welchen beiden sie die Häuptlinge willig machen
konnte, statt jenes persönlichen Rechts sich die Abkaufung um einen be-
stimmten Preis gefallen zu lassen. Es mochte auch schon früher abgekauft
sein, nur ohne feste Bestimmung. Es liegt übrigens ganz im Charakter der
Olga als Christin, auf Abschaffung dieser den Grundsätzen der christlichen
Religion und ihrem Gefühl als Weib ganz widerstrebenden Sitte, so weit ihr
möglich war, hinzuwirken." Auf Grund dieser Abhandlung von Ewers be-
merkte Jacob Grimm: ,, Nestor erzählt, im Jahre 964 habe Olga das Fürst-
liche abgeschafft und dafür jene Abgabe verordnet; das fürstliche (Recht)
bezieht man auf die Sitte alter Völker, bei welchen die erste Nacht leibeigener
Bräute dem Herrn gehörte." (Deutsche Rechtsaltertümer, 3. Ausgabe, 1881,
S- 379). Unter Bezugnahme auf Grimm stellte Weinhold die Behauptung auf,
bei den Russen habe der ,, Gebieter der Braut" das jus primae noctis gehabt
(Karl Weinhold, Die deutschen Frauen in dem Mittelalter. Wien 185 1. I 194. —
Schmidt hebt hervor: in der zweiten Auflage, Wien 1882, I 300 fehlen die
betreffenden Sätze, so daß Weinhold jene Behauptung stillschweigend zurück-
genommen hat). Dieselbe Meinung verteidigten später Liebrecht, Johannes
Scherr und Albert Hermann Post. Einige meinen, Olga habe die Unter-
drückung jenes Rechts nicht durchführen können, es sei daher noch in späterer
Zeit ausgeübt worden. Kulischer in Kijew behauptete, in neuerer Zeit, noch
im 18. und 19. Jahrhundert, bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft, sei das
jus primae noctis in ganz Rußland gebräuchlich gewesen. Karl Schmidt be-
streitet alle diese Behauptungen und sucht nachzuweisen, daß es sich um nichts
anderes als um einen gelehrten Aberglauben handle.
— 286 -^
schleppen. War er der Geschändeten überdrüssig, dann jagte
er sie fort oder verheiratete sie, um aus ihrer Ehe neue Sklaven
zu erhalten. Ohne Erlaubnis ihres Herrn durfte die Leibeigene
mit keinem Manne geschlechtlichen Verkehr unterhalten. Wurde
sie trotzdem erwischt, so gab es zur Strafe Hunger, Einsperrung,
Peitsche und ekelhafte Arbeit; schließlich wurde dann die
Sünderin mit dem Dorflünunel, ihr Liebhaber mit einer ab-
stoßenden Alten vermählt. Puschkin erzählt, daß er eines Tages
auf der Straße nach Tobolsk unter den wegen Raub und Mord
Verbannten ein junges Mädchen von engelgleicher Schönheit
angetroffen; diese Unglückliche hatte erst den Lüsten ihres
Herrn dienen müssen, als sie aber ihr Herz an einen Burschen
zu vergeben gewagt, wurde sie zur Strafe nach Sibirien ver-
bannt.i)
Die Grausamkeit der Herren war am schlimmsten im neun-
zehnten Jahrhundert ; aber jetzt gab es auch schon Aufruhr über
Aufruhr. In der Zeit der Regierung Nikolajs I. zählte man 556
1) Die Menschen und Sitten der Leibeigenenzeit sind auch von P. Jv
Meljnikow (Pseudonym: Petscherskij) im „Bärenwinkel" und in seinen ,, Er-
zählungen aus alten Tagen", von M. £. Ssaltykow-Schtschedrin in seinen
„Gouvemementsskizzen" geschildert worden. In einem kleinen russischen
Städtchen starb im August 1907 eine bescheidene alte Frau, die von ihren
Nachbarinnen nur unter dem Namen M. A. Markowitsch gekannt war. Kaum
jemand ahnte, daß diese stille Matrone einst eine der gefeiertesten Schrift-
stellerinnen Rußlands gewesen. Zur selben Zeit, im selben Jahre 1852, da im
westlichen Weltteil Harriet Beecher-Stowe mit ihrem ,, Onkel Tom" gegen die
Negersklaverei zu Felde zog, erhob auf der östlichen Halbkugel die Markowitsch
zum ersten Male ihre Stimme gegen die Leibeigenschaft der Weißen, die im
Zarenreiche noch fortdauerte, als schon mit den Eisenbahnen und Dampf-
schiffen die Kultur längst den Eingang in die sarmatische Ebene sich erzwungen
hatte. Daß Alexander II. der Befreier der Bauern geworden ist, ist nicht
zum Wenigsten das Verdienst der Markowitsch, die durch ihre glühenden
Schilderungen das empfängliche Herz des Monarchen gerührt hat. Unter dem
Pseudonym Marko Wowtschok veröffentlichte die Markowitsch in den fünfziger
und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Romane und Novellen, in
denen sie die Leiden der Leibeigenen malte. Aber ihre dichterische Kraft
erstarb in dem Augenblick, da sie das Ziel erreichte; als die Leibeigenschaft
aufgehoben war, vermochte die Markowitsch mit keinem Werke mehr Auf-
sehen zu machen. 80 Jahre alt ist sie einsam, verlassen und fast vergessen
gestorben. Die Nachricht von ihrem Tode erst erinnerte daran, daß die russische
Beecher-Stowe ihren Ruhm um ein halbes Jahrhundert überlebt hat.
— 237 —
Bauernaufstände. Neben diesen großen allgemeinen Em-
pörungen auf" ganzen Strichen entstanden zahllose partielle Auf-
stände, Racheakte gegen einzelne Herren und Verwalter. Nach
den offiziellen Angaben der Regierung i) fielen jährlich durch-
schnittlich 60 Edelleute dem Zorn der Leibeigenen zum Opfer.
In einem kleinrussischen Gouvernement allein zählte man ein-
mal in einem Jahre 43 Fälle von Ermordungen, Durchprüge-
^ungen, Plünderungen und Brandstiftungen. 2) Ein harter Edel-
mann ließ auf einer Jagd im Walde einen von seinen Bauern,
der sein Mißfallen erregt hatte, hinstrecken und durchpeitschet.
Da riß den Genossen des Gezüchtigten die Geduld, sie brachen
von allen Seiten über den Edelmann und seine Gäste herein.
Auf derselben Stelle, wo er den Bauer hatte prügeln lassen,
wurde nun der Herr mit den für die Wölfe bestimmt gewesenen
Knüppeln und Piken zu einem formlosen Brei zerstampft; die
Gäste mußten unter Todesängsten der Exekution als Zuschauer
beiwohnen und das Musikkorps die Schreie des Sterbenden mit
einem munteren Jagdstück begleiten. Nach getaner Arbeit
zogen sich die Bauern ruhig in ihre Hütten zurück; kein ein-
ziger dachte an Flucht, jeder erwartete gleichgiltig die sichere
Strafe des Knut und Verbannung. Der russische Bauer ent-
schloß sich zu solcher Lynchjustiz erst in ärgster Bedrängnis;
aber dann ging er nicht hinterlistig, sondern offen und an hellem
Tage zu Werke und trug die Folgen der gesättigten Rache mit
frohem Mute. Ein Edelmann fuhr auf holperigem Wege im
Walde und zürnte dem Kutscher jedesmal, wenn der Wagen
an einen Stein anstieß. Einmal gab es gar einen gewaltigen
Ruck. Der Herr ließ halten und befahl seinem Kammerdiener,
dem Kutscher auf der Stelle eine Lektion der Hauszucht zu
geben. Der Lakai schlug nicht wütend genug drein, und der
Herr riß ihm die Peitsche aus der Hand, um selbst den Henker
zu spielen. Doch den Gepeinigten schwand die Lammsgeduld,
wie auf Kommando warfen sie sich auf den Herrn, zogen ihm
die Hosen herunter und peitschten ihn nach Herzenslust. Der
gebändigte Edelmann wagte nicht, mit Strafe zu drohen, er
*) Geheimnisse von Rußland II 166. — Kohl, Südrußland, III 366.
2) Kohl. a. a. O. III 367.
— 238 —
kaufte vielmehr von seinen Knechten das Schweigen über den
schändhchen Vorfall. In solchen Fällen der Selbsthilfe griffen
die Leibeigenen selten zu Waffen, sie züchtigten die Herren
nur mit denselben Instrumenten, mit denen sie von ihnen ge-
schlagen wurden : mit Stock und Peitsche. Ein Verwalter, der
eine Anzahl Bauern in grausamster Weise plagte, um sie zu
Musikanten zu erziehen, wurde von den Gequälten endlich über-
wältigt; sie schnitten ihm den Bauch auf, rissen die Gedärme
heraus und machten daraus Saiten für ein Instrument. Bar-
barisch grausam wie die Herren werden auch die Sklaven, wenn
sie einmal die Ketten gebrochen haben. Eine grausame Herrin
wird von den empörten Leibeigenen in einem Kessel über einem
Feuer bei lebendigem Leibe gekocht. Einen Branntweinbrenner
werfen die wütenden Sklaven in einen Kessel mit siedendem
Spiritus. Ein Herr, dessen Lieblingsmethode es ist, die Bauern
nackt im Schnee zu halten und so zu peitschen, wird mitten im
Winter aus dem Bette geholt, in den Schloßhof geschleppt,
nackt in den Schnee gelegt und zu Tode gepeitscht. Ein junger
Edelmann erbte zweitausend Seelen; er kommt mit seinen
Kameraden auf sein neues Gut und weiht seine Ankunft mit
einer Orgie ein, zu deren Krönung er zwölf junge Mädchen
herbeischleppen läßt. Eine entflieht; der junge Edelmann be-
traut nun ihren Bruder und ihren Bräutigam mit der Mission,
die Scheue zurückzubringen; und die Sklaven gehorchen.
Mittlerweile trifft aber die Geliebte des Gutsherrn auf dem
Schlosse ein, und sie ist es, die aus Eifersucht die Bauern zur
Rache anspornt; man stürzt ins Schloß, schleppt den wein- und
wollusttrunkenen Herrn auf den Hof und verbrennt ihn auf
einem Scheiterhaufen.^) Graf de la Garde erzählt 2) : „Im Dorfe
Iwankof f , einige Meilen von Berditschew, wurde ein furchtbares
Verbrechen verübt. Graf Kaminskij, Vater des Obergenerals
von Wolhynien, hatte zwei seiner Untertanen nach Leipzig ge-
schickt, um dort die Tonkunst zu erlernen. Sie erwarben auch
1) Geheimnisse von Rußland, II 173.
2) Reise von Moskau nach Wien. In Briefen an Julius Griffiths. Au8
dem Französischen mit Anmerkungen von Therese Huber. Heidelberg 1825.
Seite 51.
— 239 —
Ansichten von Freiheit und Unabhängigkeit, die mit dem Ver-
hältnis, in dem das Schicksal sie geboren werden ließ, sich
nicht vertrugen. Nach ihrer Rückkehr wurden sie anfangs vom
Herrn ihren Talenten entsprechend mit Achtung behandelt,
aber eines Tages für ein geringes Vergehen im Angesicht der
übrigen Bedienten mit Batogen bestraft. Die Unglücklichen
schlichen sich rachedurstig nachts mit Beilen ins Schlafzimmer
des Herrn, warfen dem Grafen die Grausamkeit vor, sie ihrem
beschränkten Zustande entrissen, in ihnen Fähigkeiten und
Denkart freier Menschen erweckt zu haben, um sie nun wieder
durch sklavische Behandlung zu erniedrigen, und erschlugen
den hülflosen Greis. Sie klagten sich dann selbst bei Gericht
an." Manchmal suchten sich die Leibeigenen auf ganz sonder-
bare Art an ihren harten Herren zu rächen: Der Arzt Wichel-
hausen berichtet^), daß er zu kranken Leibeigenen gerufen
wurde, „die keine Arznei nehmen wollten, um ihrem Herrn
Verdruß zu bereiten und ihn durch ihren Tod in Schaden zu
bringen."
Mit den Gutsherren wetteiferten die Gutsverwalter in Qrau-
samkeiten gegen die Leibeigenen, und bemerkenswert ist es,
daß gerade deutsche Gutsverwalter die härtesten Sklaven-
peiniger waren. „Nie hat das Feudalsystem," schrieb Masson^),
„nie hat der Kodex der Schwarzen solche Greueltaten verur-
sacht. Und Liefländer, Deutsche, wagen es in diesem Jahr-
hundert, im Angesicht von ganz Europa, Menschen auf diese
Art zu behandeln." Und bei Adolph Zando^), der alles zu be-
schönigen sucht, die russische Justiz, PoHzei, selbst Sibirien
verherrlicht und die Leibeigenschaft als notwendig bezeichnet,
heißt es: „Leid tut es mir, und die Schamröte steigt mir ins
Angesicht, wenn ich nicht umhin kann, aus eigner Erfahrung
zu erklären, daß gerade deutsche Gutsverwalter sich öfters
gegen die ihnen anvertrauten Leibeignen die größten Unbilden
herausgenommen haben; viele Leibeigene führten bittere Be-
1) Züge 2u einem Gemähide von Moskwa, 264.
2) Geheime Nachrichten über Rußland (deutsche Ausgabe). Paris 1800.
II 102, Anmkg. 10.
'^) Russische Zustände im Jahre 1850. Hamburg 1851. S. 127.
— 240 —
schwerdc über deren Strenge und Schonungslosigkeit, und
hatten hiezu gegründetsten Anlaß. Dies wird manchem deut-
schen Philanthropen gar sehr befremdlich klingen, und doch
ist dem so!" Die russischen Edelleute nahmen mit Vorliebe
Livländer als Gutsverwalter in Dienst, denn in den Ostseepro-
vinzen verstand man die Behandlung der Sklaven, kannte man
die raffinierteste Hauszucht. Ludwig der Junge gab im Jahre
II 38 den Leibeigenen die Freiheit; 131 5 erklärte Ludwig der
Heilige: alle Menschen sind von Natur Freigeborene; und er
bewog seinen Adel, fast im ganzen Königreiche den Leibeigenen
die Freiheit zu geben. Zur selben Zeit traf man in England
ähnliche Maßregeln, und Deutschland ahmte sie nach. Die
deutschen Ordensritter aber, die nach Livland und Estland
kamen, brachten mit dem Kreuze auch die Leibeigenschaft"
dorthin und gaben ihr eine schreckliche Gestalt.^) Unter der
russischen Herrschaft wurde es natürlich nicht besser, und der
öffentliche Handel mit Leibeigenen blühte in den baltischen
Provinzen zu Ende des achtzehnten und zu Anfang des neun-
zehnten Jahrhunderts noch mehr als in Rußland. Skrupellos
verkaufte man einzelne Familienmitglieder oder ganze Familien
in die Fremde. Alle Jahre kamen russische Offiziere, Berg-
werksbeamte und Fabriksuntemehmer aus Asien nach Estland
und Livland, um hier Bauern als Rekruten und Arbeiter zu
kaufen. In den Zeitungen der Ostseeprovinzen fand man unter
dem Titel „Verkaufsstücke*' in jeder Nummer Leibeigene ein-
zeln oder familienweise ausgeboten, und mancher Edelmann
offerierte einen Bedienten oder Bauer als Tauschobjekt für ein
Pferd oder einen Hund. Allerdings möchte man fragen, ob dem
Leibeigenen in der Fremde, in Rußland oder in Asien, ein
übleres Los drohen konnte als daheim auf den Gütern des bal-
^) Vgl. Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen
Jahrhunderts. Ein Beytrag zur Völker- und Menschenkunde von G. Merkel.
Zweite verbesserte Auflage. Leipzig 1800. — Supplement zu den Letten nebst
einer Urkunde von G. Merkel. Weimar 1798. — Ehstland und die Ehsten,
oder historisch-gcographisch-statistisches Gemälde von Ehstland. Ein Seiten-
stück zu Merkel über die Letten, von Johann Christoph Petri, 3 Teile mit
Kupfern, Gotha 1802. — Sowohl die Schriften von Merkel als die von Petri
sind selten geworden.
— 241 —
tischen Herrn. Der Edelmann durfte seine Bauern ganz will-
kürlich mit Abgaben und Frohndiensten belegen: Ein liv-
ländischer Edelmann kommt von Zeit zu Zeit nach Riga, um
dort Wechselgeschäfte zu machen; die Wohnungsmiete in der
Stadt ist ihm aber zu teuer, da läßt er von seinem i8 Meilen
entfernten Gute durch seine Bauern das Material herbei-
schleppen und sich von ihnen, ohne für die dadurch verursachte
Vernachlässigung ihrer Felder einen Ersatz zu leisten, ein Wohn-
haus bauen. Einem anderen Edelmanne auf dem Lande konmit
die Kirchspielpost zu langsam, er erhält seine Zeitungen zu spät ;
da ruft er seine Bauernwirte zusammen und befiehlt ihnen, ab-
wechselnd zweimal wöchentlich einen Wagen nach der fünf
Meilen entfernten Kreisstadt zu schicken; damit er seine Zei-
tungen um 24 Stunden früher erhielt, mußten also seine Bauern
jährlich 1040 Meilen frohnen, ohne Ersatz beanspruchen zu
dürfen.!) Die Frohndienste waren ganz ungeregelt. Die leib-
eigenen Bauern mußten im Sommer ihr eigenes Feld vernach-
lässigen, um den Acker der Herren zu bestellen ; im Herbst von
ihrem mageren Erwerb fette Abgaben entrichten; im Winter
ohne jede Entschädigung 10, 20, ja 50 Meilen weit reisen, um
die Gefälle der Herrschaft zu verführen ; und im Frühjahr Brot
von den durch sie Ernährten erbetteln, wenn sie nicht ver-
hungern wollten. Sie lebten in Wohnungen, die ärger waren
als Ställe : in einer einzigen von Rauch zum Ersticken erfüllten
Stube schliefen nachts oft der Bauer und seine Familie, die
Knechte nebst ihren Frauen und Kindern, die Hühner, Schweine
und Hunde ; tags wanderten sie umher in zerlumpten Wämsern,
die Kinder Sommer und Winter bloß in zerfetzten Hemden;
und alle barfuß ; nur am Sonntag gönnten sich die Bauern, die
schon als wohlhabend galten, den Luxus von Stiefeln. Hatte
ein Bauer eine Stube mit Glasfenstern, so hielt man ihn für
einen Krösus. 2)
Im Jahre 1795 verbot Katharina II. in den Ostseeprovinzen
den Verkauf von Leibeigenen auf dem Markte und die Trennung
von Eheleuten. Aber man setzte die Offerierungen von Leib-
1) Merkel, Die Letten. S. 104.
2) a. a. O. 29, 30.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. ** i5
— 242 —
eigenen in den Zeitungsannoncen fort, und da es verboten war,
Eheleute zu trennen, entriß man bloß Kinder den Eltern, Eltern
den Kindern. Und im selben Jahre 1795, ^^ ^^ kaiserliche
Verbot publiziert worden war, konnte man in Livland auf allen
Straßen .Scharen von aufgekauften Leibeigenen antreffen, die
von ihren Händlern wie Vieh fortgetrieben wurden. Ein Land-
tagsbeschluß von 1797 konunentierte dann das Gesetz von
1795 folgendermaßen 1): Man darf die Bauern nur nicht über
die Grenze verkaufen, wohl aber an einen im selben Gouverne-
ment befindlichen Edelmann; Eheleute soll man nicht trennen
durch Verkauf, aber man darf sie verschenken, wenn die Be-
schenkten die Eltern, Kinder, Geschwister oder leibliche Ge-
schwisterkiiider der Schenkenden sind. Ähnlich wurden alle
Erlässe zu gunsten der Leibeigenen von den Edelleuten aus-
gespielt. Im Jahre 1765 hatte Elisabeth den alten Befehl Gustav
Adolfs erneuert, der den Bauern gestattet hatte, gegen offen-
sichtliche Ungerechtigkeiten bei Gericht zu klagen. Welchen
Wert diese Erlaubnis für die Gepeinigten hatte, sagte das
Sprichwort der Letten, welches das Klagen des Leibeigenen
bei Gericht folgendermaßen umschrieb: „Er ist nach Ruten
gegangen. **2) Ruten waren nämlich die Strafe des Bauers für
eine ungerechtfertigte Klage. Ein Paragraph des livländischen
Landtagsbeschlusses von 1797 lautet 3): „Der Bauer, der ohne
Grund und unnütz geklagt hat, soll zu seiner Besserung und
zur Warnung für andere das erste Mal 10 Paar Ruten zu je
3 Hieben, das zweite Mal doppelt soviel an der Tür der Kirche
erhalten, beim dritten Male aber mit Festungsarbeit bestraft
werden." Und ungerechtfertigt müssen alle Klagen erscheinen,
solange die Gutsbesitzer gleichzeitig die Richter sind. Wer sind
die Zeugen des Klägers? Seine Verwandten, die dem Herrn
untertänig sind. Wer sind seine Richter? Verwandte des
Herrn, oft der Herr, der Unterdrücker, der Geklagte selbst.
Und wenn der Bauer trotzdem stammelnd seine Klage vorzu-
bringen wagt, so darf er sich dabei dem Gesetze gemäß keinen
^) Ebenda 163, 51.
2) Ebenda 199, 202. — Auch bei Petri, I 432.
2) Merkel, Supplement und Urkunde, § 2$.
— 243 —
Advokaten zu Hilfe nehmen, keines anderen Rat erbiiten oder
annehmen; denn ein Ukas verordnet: wer die Bauern zu Un-
gehorsam aufhetzt, ist ein Auf ruhrstif ter ; und dies gilt be-
sonders dann, wenn man einem Leibeigenen rät, zu klagen.
Das Suchen des Rechtes bei Gericht — welch eine furchtbar
verdrehte Auffasung aller Moralitätsgesetze — ist Empörung.
Aber wenn der Leibeigene keinen Rechtsanwalt haben darf,
der Herr hat seinen Advokaten. Und der stellt dem armen
Opfer einer verkommenen Justiz verfängliche Fragen, treibt
ihn in ein Kreuzfeuer, in dem der Unbeholfene schnell zu-
sammenbricht; und das Ende: zu der früheren ungerechten
Strafe, über die er zu klagen gekommen ist, erhält der Bauer
nun auf Grund einer wahnsinnigen Rechtsordnung neue Ruten-
hiebe als Strafe für unnützes Klagen. Es ist vorgekommen,
daß einmal unter tausend Fällen eine Klage begründet befunden
wurde ; aber dann konnte der Richter nicht feststellen, daß die
beklagte Gewalttat auch vom Gesetze verboten gewesen --
und also gab es doch eine unstatthafte Klage, und als Folge
dessen lo oder 20 Paar Ruten. Ein seltener Fall ereignete sich
1793: Da fanden die Gerichte eine Klage begründet und das
Verbrechen strafbar ; und was war die Strafe des Edelmannes ?
ein geheimer Verweis I Schlimmer noch für die Leibeigenen,
wenn sie dem Prediger zu klagen wagen; denn der Prediger
ist nicht der Tröster der Armen, sondern der treue Diener des
Gutsherrn. Eine Bäuerin bittet den Prediger, ihr Kind zu be-
graben: „es ist Hungers gestorben," klagt sie, „weil der Guts-
herr kein Brot gibt.** Der Prediger berichtet die Äußerung
dem Herrn, der sofort 50 Paar Ruten in Salzwasser eintauchen
läßt, um die Klägerin zu züchtigen; die aber wartet die Strafe
nicht ab, sondern erhängt sich aus Furcht vor den
Hieben.i)
In Sittlichkeitsdingen wird in Livland und in Estland mit
den Leibeigenen genau so kurzer Prozeß gemacht wie in Ruß-
land. Eine Herrschaft will ein Mädchen nicht den Burschen
heiraten lassen, den es gern möchte; man ruft die Dirne und
redet ihr ab, da sie aber auf ihrem Verlangen beharrt und sich
1) Petri, I 364.
16*
— 244 —
auf das Gesetz beruft, das jeden Zwang in dieser Beziehung
verbietet, läßt der Herr die Widerspenstige solange peitschen,
bis sie völlig verunstaltet und dem Werber selbst zum Ekel wiri
Auf einem Gute verweigert ein Verwalter einem Mädchen die
Erlaubnis zur Heirat. Die Sklavin appelliert an die Herrschaft
und erhält deren Einwilligung. Da rächt sich der Verwalter,
indem er den Hochzeitszug überfällt und der Braut die Haare
scheren läßt, was als furchtbare Schändung gpilt. Der wahre
Liebesgott der Letten ist die Peitsche I^) sagt bei Erzählung
dieser Episode Merkel, der die Leiden der livländischen Leib-
eigenen vor hundert Jahren zuerst geschildert imd durch seine
Beschreibimg die ganze zivilisierte Welt zu Mitleid imd Zorn
hingerissen hat. Ähnliches wie Merkel aus Livland berichtete
zur selben Zeit Petri aus Estland: Auf einem Gute hatte ein
Hofmeister ein Mädchen geschwängert. Der Edelmann, dem
der Hofmeister sein Pech berichtete, erklärte: „Dem Ding
wollen wir abhelfen.** Er ließ einen Burschen kommen und
fragte ihn, ob er zehn paar Ruten erhalten oder lieber das ge-
schwängerte Mädchen mit einer Mitgift von 2 Kühen heiraten
wolle. Der Bursche wählte ohne Besinnen die gestempelte
Braut.2) Der Bediente einer Edeldame wollte nach 15 jähriger
treuer Dienstzeit heiraten und wagte seine Herrin um Erlaubnis
dazu zu bitten. Die Gnädige läßt die Erkorene kommen, findet
sie plump und linkisch: „Sie kann nicht waschen und nicht
putzen, ich kann den Klotz nicht brauchen,** sagt die Dame,
und die Sache ist abgetan. Der Bediente hängt treu an seinem
Mädchen, un i nach Jahren erneuert er seine Bitte ; wieder weist
ihn die Herrin ab. „Sie ist schwanger,** klagt er. — „So möge
sie eine Hure werden I** schreit die Edeldame. Der betrübte
Diener hat keine Hoffnung mehr; er rafft die 80 Taler zu-
sammen, die er im Laufe eines mühseligen Lebens erspart hat,
und bietet die Summe jenem, der die Geliebte heiraten will.
Dieser Zug rührt endlich die Herrin, und sie gestattet die Ehe.
„Ich hatte es nicht zu bereuen,** schloß die Edeldame, die diese
Geschichte selbst gern erzählte, jedesmal ihren Bericht, „denn
1) Merkel, Die Letten, 186.
«) Petri, I 435; II 33 ein ähnlicher Fall.
— 245 —
jenes Mädchen wurde die zuverlässigste arbeitsamste Bediente/*^)
Im Jahre 1756 hatte ein Ukas den baltischen Gutsbesitzern
anbefohlen, die Heiraten der Leibeigenen weder zu hindern
noch durch Zwang zu veranlassen. Dem Ukase zum Trotz
griffen die Edelleute skrupellos in diese heiligsten Angelegen-
heiten willkürlich ein. Der Bauer blieb nur soweit Herr seiner
Familie, als es dem Erbherrn paßte. Aber wenn die Herren
Heiraten stiften oder verhindern wollten, so konnten die Leib-
eigenen nichts dagegen machen. Um die Menschenzahl auf
seinen Gütern zu vermehren, verlangt der Edelmann, daß seine
Burschen Mädchen von anderen Gütern nehmen, denn die Dirne,
ob leibeigen oder frei, die einen Leibeigenen heiratet, wird die
Leibeigene des Herrn ihres Mannes. Konmit aber ein fremder
Freier, um ein Mädchen zu verlangen, so geben die Edelleute
dieses nur gegen ansehnliche Geschenke her. Findet ein Bauer
ein Kind auf der Straße und ninwnt es auf, so wird der Findling
leibeigen dem Herrn des Finders.
Dieser Macht des Herrn über die Leiber der Leibeigenen
entsprechend ist die Gewalt seiner Rechte im Strafen. Was
anderwärts die staatlichen Gerichte nur mit Zustimmung des
Fürsten verhängen dürfen, verordnet in Livland und Estland
als simple Hauszucht selbstherrlich der Gutsbesitzer : Festungs-
haft. Ein Leibeigener, eine Leibeigene mißfallen der Herr-
schaft, man schickt sie also einfach an die Behörde mit der
Ordre, sie auf der Festung für eine beliebige Zeit zur Katorga
anzuhalten. Das bürgerliche Gesetz verurteilt zu Katorga nach
langem Prozeß die gemeinen Mörder — der Gutsherr kann
diese Strafe auf kurzem Wege anordnen, ohne Gründe! Der
Edelmann hat nur eine einzige Formalität zu erfüllen : er muß
erklären, daß er, wenn er einmal seinen Sklaven zurückfordern
sollte, keinen Anspruch auf die Gefängniskleider und die Bast-
schuhe macht, die der Leibeigene auf der Festung erhält.^)
Die Exzesse in der Bestrafung spotteten aller Beschreibung.
Gesetzlich waren als Maximalstrafe 10 Paar Ruten zu je 3 Hie-
1) Merkel, 183.
^) Ukas vom 17. Januar 1765.
— 246 —
ben gestattet, aber die Edelleute und ihre Verwalter ließen
gewöhnlich so lange schlagen, bis von den Züchtigungsinstru-
menten nichts übrig blieb als der Stumpf und dem Gepeinigten
Haut und Fleisch herunterfielen.^) Als Verschärfung der Strafe
galt es, wenn die famose Hauszucht unter Assistenz des Predi-
gers und einer Gerichtskommission am Sonntag vor der Kirche
ausgeübt wurde, in dem Augenblicke, da die Gemeinde das
Gotteshaus verließ. Vor der Exekution machte der Geist-
liche von der Kanzel herab die Ursache der Bestrafung bekannt
und ermahnte die Gläubigen, ihrer Obrigkeit — nämlich den
Adeligen — besser zu gehorchen als der Übeltäter, der jetzt
seines Ungehorsams wegen die gerechte Züchtigung bekam.
Der Verbrecher wurde vor der Kirchentür an einen Pfahl ge-
bunden, der zu solchem Zwecke überall bei den Kirchentüren
angebracht zu sein pflegte; dann zog man den Verurteilten
an einem Strick in die Höhe, entblößte seinen Rücken und der
Glockenläuter der Kirche strich ihm mit Ruten die bestimmte
Anzahl der Hiebe auf.^) Die Veranlassung zu solchen Schand-
strafen ist oft die harmloseste. Unter dem Titel der Hauszucht
bringen die baltischen Herren ihrer Grausamkeit jedes Opfer:
Ein Herr von Uexküll gibt einem Riegenaufseher (das ist ein
Mann, der in der Scheune und Dreschtenne die Aufsicht hat)
die Schuld an einem geringfügigen Brand; der Unglückliche
wird gepeitscht, bis ihm die Eingeweide aus dem Leibe dringen
und der Tod seinen unsäglichen Qualen ein Ende bereitet;
ein falsches Wundarztzeugnis und eine Summe für die Richter
sühnen das Verbrechen. Ein Herr von P. läßt sechs Leibeigene
so eindringlich mit Ruten bearbeiten, daß fünf von den Ge-
schlagenen tot auf dem Platze bleiben; der sechste kommt
mit dem Leben davon, aber der Herr behauptet, der Gerettete
hätte sich beklagt, und zur Strafe läßt er ihn eine Stunde lang
stäupen ; auf den Ohnmächtigen wirft er sich dann selbst, ohr-
feigt ihn wütend und spaltet ihm den Schädel; diese Sache be-
schäftigt das Gericht, und das Urteil besagt: dieser Edelmann
geht mit seinem Gute (den Leibeigenen) zu leichtsinnig um.
1) Merkel, i66.
-f) t>etri, III 169. 178.
— 247 —
er ruiniert sich durch die Morde, also soll fortan nur seine
Frau die Gutsverwaltung leiten dürfen 1^)
Die Tribunale perhorreszierten die Folter, die Edelleute
aber wenden sie unter dem Titel der Hauszucht an : Herr von
Tiesenhausen erklärt, sein Riegenkerl bestehle ihn; der Be-
schuldigte leugnet, man foltert ihn, um ein Geständnis zu er-
langen. Ein Herr von J. argwöhnt, ein Stununer, der ihn
anbettelt, erheuchele das Gebrechen; er läßt den Bettler stäu-
pen, um ihn zum Reden zu bringen; lunsonst; aber es wird
weiter gestäupt, bis der Gequälte unter der Folter stirbt. 2)
Die Mädchen und Frauen, die der Wollust des Herrn sich
widersetzen, erleiden schwere Strafe. Ein Bauer des Edel-
manns F. will sein Weib nicht dem Herrn als Maitresse über-
lassen; Strafe: lo Paar Ruten. Rittmeister Herr von X. findet
ein Bauernmädchen nach seinem Geschmack und befiehlt ihr,
sein Lager zu teilen. Sie ist nicht willig. Er ist gnädig und
läßt sich zu Geschenken und Bitten herbei. Sie widersteht
noch immer. Da ordnet er an, daß die Dirne in einem Raum
neben seinem Schlafzimmer ihr Lager erhalte. In der Nacht
überfällt er sie mit seinem Bedienten, und der Lakai soll das
Mädchen festhalten, während der Herr es zu vergewaltigen
sucht. Beider Kräfte reichen nicht aus, die Widerspenstige
zu zähmen. Nun macht der Herr ein Ende: er diktiert der
Dirne zehn Paar Ruten und macht sie zur Schweinehirtin.^)
Besonders raffiniert geht ein anderer Edelmann, ein Herr von
P., zu Werke : Mit der Pistole in der Hand zwingt er seine Ge-
mahlin, ihm das Licht zu halten, während er ein Bauernmädchen
entjungfert!^) Eine Zigeunerbande bittet den Herrn von T.,
ihr zu gestatten, im Krug (Wirtsstube) des Gutes zu über-
nachten ; der Edelmann gestattet es unter der Bedingung, daß
die Männer an ihren Weibern in seiner Gegenwart die eheliche
Pflicht vollziehen, und weidet sich an den Manövern.^) Manch-
mal lassen sich die Herrschaften zu jovialer Teilnahme an den
*) Petri, I 359, Merkel, 174.
*^) Merkel, 171.
3) Ebenda 169.
4) Petri, II 33.
^) Ebenda II 425.
— 248 —
Täiizen tind Festen des Bauernvolkes herbei; aber diese Ehre
ist nicht immer eine wünschenswerte. Kapitän von Vietinghof
wohnt auf einem Gute im Pernauischen einer Hochzeit bei.
Die Braut gefällt ihm, und er befiehlt zwei Bauern, ihm das
Mädchen zu bringen. Die Hochzeitsgäste prügeln die Über-
bringer der Botschaft durch. Darauf schickt der Kapitän
ein Detachement Soldaten ab, um den Vater der Braut ge-
fangen zu nehmen. Von diesem fordert der Edelmann die
Tochter für eine Nacht, und als sich der Alte weigert, werden
ihm hundert Stockprügel appliziert, bis er bewußtlos liegen
bleibt. Die Geschichte spricht sich herum, aber man hält sie
nicht einmal einer Untersuchung würdig.^)
Wahrlich, nicht verwunderlich ist es, daß das Volk unter
solchen Verhältnissen sittlich verkommt. Bei den Festlich
keiten und Unterhaltungen ist das Prügeln an der Tagesord
nung; bei den Erntefesten herrschen Unzucht und Völlerei
auf den Jahrmärkten kommt es zu schauerlichen Exzessen
Die christliche Religion hat den Letten und Esten die Sklaverei
mitgebracht. So sehnen sie sich zurück nach den alten Göttern,
in ihrer Bedrängnis rufen sie nicht die Muttergottes, sondern
die Laiming Mahming, die heidnische Glücksgöttin, an. Sie
glauben im Innersten ihrer Seele noch immer an böse Geister,
und Beschwörer und Zauberer stehen in hohem Ansehen; in
heiligen Hainen, Höhlen imd Bergen, auf dem Blauberge, bei
der Gutmannshöhle, bei der heiligen Quelle im Revalschen
bringen sie den Waldgeistern Geschenke dar. Ihrem Aber-
glauben gesellt sich ihre Gefühllosigkeit. Sie haben selbst
soviel gelitten, daß ihnen anderer Leiden kein Mitgefühl ab-
ringen können. Die Eltern kümmern sich nicht um die hungern-
den Kinder, und die Kinder sehen gelassen ihre Väter imd
Mütter eines elenden Todes sterben. Wenn der Herr es befiehlt,
peitscht der Sklave unempfindlich seinen Bruder. Die einzige
Freude ist dem Volke das Saufen. Der Säugling schon be-
kommt Schnaps, die Knaben und Mädchen trinken mit den
Alten irni die Wette. Lügen und Stehlen sind keine Laster.
Die Edelleute leben von dem Schweiße der Bauern ; es ist keine
1) Petri. I 425.
— 249 —
Sünde, ihnen etwas zu entreißen, wenn die Gelegenheit dazu
vorhanden ist. Am Leben hängen die Leibeigenen nicht. Sie
bleiben ja immer Sklaven ; und von dem, was sie erwerben auf
Erden, gehört alles dem Herrn, nichts ihren Kindern, die das
eiserne Joch weitertragen müssen, wenn die Eltern darunter
zusammengebrochen. Je früher das Ende erfolgt, desto besser.
Jede Strafe bringt einen Schritt näher zum Grabe. Willig beu-
gen die Gepeinigten dem Henker den Rücken. Aber wenn sie
sich doch vor der Strafe fürchten, nicht aus Angst vor dem
körperlichen Schmerz, sondern seltsamerweise aus Ehrgefühl,
aus Angst vor der Schmach, dann schneiden sie sich die Gurgel
durch, erhängen oder ertränken sie sich : Ein Herr von Fontin
auf dem Gute Loper droht einem alten Bauer mit lo Paar
Ruten, wenn er in der Früh nicht pünktlich mit dem Wagen
am Hofe erscheinen würde ; der Mann hat von seinem vorigen
Herrn nie Schläge bekommen, er ist stolz darauf; es soll auch
nicht anders werden : er geht hin und erhängt sich. Ein Mäd-
chen der Frau von Fontin wird wegen eines Versehens bei der
Wäsche von der Dame gepeitscht; aus Scham rennt die Be-
strafte zum Teich und ertränkt sich.^)
Es fehlt aber auch nicht an solchen, die trotzig Vergeltung
üben: Zwei Bauern, erbittert über die Grausamkeit des Herrn
von Tiesenhausen, reißen den Edelmann vom Pferde herunter
und schlagen ihn tot. Die Mörder laufen nicht davon, sondern
lassen sich fangen und sagen dem Richter: „Es tut uns nicht
leid, wir sterben gern, denn wir haben doch unsere Mitbrüder
von dem Tyrannen befreit.** Ein anderer Tiesenhausen wird
nachts in seinem Bette verbrannt; da das Feuer nicht kräftig
genug ist, stößt man der Leiche eine Eisenstange durchs Herz.
Eine Edeldame wird durch drei Erbmädchen im Bette mit dem
Bettzeug erstickt. Mehr noch als die Erbherren werden die Ver-
walter von den Bauern gehaßt : Sechs estnische Bauern hauen
einmal einem Verwalter den Kopf ab, gehen damit auf den
Gutshof, werfen das abgeschlagene Haupt der Edelfrau vor
die Füße \md sagen: „Da hast du deines Amtmanns Kopf.
Strafe uns nun wie du willst. Wir haben unsere Brüder von
1) Petri, I 307.
— 250 —
deni Ungeheuer befreit." Auf dem Gute Kunda fallen 20
Bauern über den Verwalter her und schneiden ihn in Stücke.
Auf dem Gute Torgel, 3 Meilen von Pemau, erschlägt man
einen Amtmann mit Prügeln, mit denen er selbst zu schlagen
liebte, und hackt ihm dann die Beine ab.^)
Vor hundert Jahren ist die Leibeigenschaft in den Ostsee-
provinzen von Alexander I. aufgehoben worden.^) Aber der
Haß gegen die deutschen Herren ist geblieben im Herzen des
lettischen und des estnischen Volkes. Wie in alten Zeiten
schreckt man noch heute Kinder mit dem Ruf: „Ollewaid,
Saxa tullewad, sei still, der Deutsche kommt I** Als deutsch
bezeichnen Este und Lette in ihren Gesprächen alles Hoch-
mütige, Geizige, Boshafte, Hassenswerte. Schon Merkel sagte 3) :
„Bei einem allgemeinen Aufruhr würde keines Deutschen
Gebein davonkonunen.** Das Wort hat sich in unserer Zeit
furchtbar bewahrheitet. Auf den Leibern ihrer ehemaligen
deutschen Herren haben die Letten die lettische Republik auf-
richten wollen ; jene, die vor nicht langer Zeit in ihrer Sprache
noch kein Wort für Freiheit hatten, sondern das deutsche
Wort in Priti verstümmeln mußten, sie möchten jetzt schon
die letzten Deutschen aus den baltischen Provinzen vertrieben
sehen. In dem Jahrhundert, seit sie vom Joche der Sklaverei
befreit sind, haben sie an nichts anderes gedacht, denn Rache
zu nehmen an ihren einstigen Bedrückern. Sie sind aus Bauern
zu intelligenten Leuten geworden; sie haben gelernt, eine
Literatur geschaffen, Macht errungen, Industrien gegründet
imd Kapital angesammelt — und alles nur zu dem einzigen
1) Ebenda I 307. II 52. 53. 54.
*) In Rußland wurde sie bekanntlich erst von Alexander II. abgeschafft,
der deshalb den Beinamen der Zar-Befreier erhielt. Bei den Jakuten besteht
Sklaverei gegenwärtig trotzdem noch fort in der Form, daß arme Jakuten
ihre minderjährigen Geschwister oder Kinder an Reiche für 15, 10 und noch
weniger Rubel verkaufen oder an Zahlungsstatt für Schulden abtreten, nomi-
nell als Ola, Sohn, oder als Chamnatschit.. Knecht, oder als Magd ohne Lohn
für Lebenszeit oder eine Reihe von Jahren. Die Behandlung ist meist eine
sehr harte, so daß die Sklaven nicht selten entlaufen und bei den russischen
Behörden Schutz suchen.
3) Merkel. S. 38.
— 251 —
Zwecke : Vergeltung zu üben. Noch ist ihnen diesmal die völlige
Vernichtung des Deutschtums in Livland imd Estland nicht
gelungen, aber sie haben den Balten unheilbare Wimden ge-
schlagen und ihrem Rachedurst Hekatomben von Edelleuten
geopfert.
36. Grausamkeit des Volkes.
Alter der russischen Grausamkeit — Greuel bei Ermordung des Pseudo-Dmitrij
— Unzufriedenheit des Volkes mit Begnadigungen — Verbot der Faustkämpfe
— Die Grausamkeit in den Liedern — Grausamkeitsrubrik der Presse — Grau-
samkeit im Kriege — Gegen die Griechen — Russen gegen Russen — Greuel
der Russen in Livland und Estland — Peters des Großen Kriegsreglement —
Die Russen in Kamtschatka und in Preußen — Grausamkeit und Perversität —
Totleben und Repnin — Gleichheit nach russischer Methode — Eroberung
der Krym und Kaukasiens — Der Krieg gegen die Türken — Russische Sadisteh
— Kosaken und Kalmücken — Grausamkeit aus nationalen und religiösen
Motiven — Die Juden in Rußland — Eine Bemerkung von Olearius — Peter
verweigert den holländischen Juden die Niederlassung in Rußland — Juden
in hohen Stellungen am Zarenhofe — Meyer und Lups — Devier und Dacosta —
Schafirow, Peters Vizekanzler — Wesselowski — Birons Günstlinge Liepmann
und Bielenbach — Elisabeths Chauvinismus und Fanatismus — Verjagung
der Juden — Katharina II ruft sie zurück — Dokumente zur Judenfrage —
Maßregeln Nikolajs I. — Die Juden als Soldaten — Judenverfolgungen von
der Regierung angestiftet — Das Fliegen der Bettfedem — Die Pogrome von
Kischenew und Siedletz.
Die Racheakte der Leibeigenen gegen ihre Herren haben
uns gezeigt, wie furchtbarer Brutalitäten das Volk fähig sein
kann. Es wäre indessen falsch, wenn man annehmen wollte,
die russische Grausamkeit sei bloß eine Folge der jahrhunderte-
langen Sklaverei. Zweifellos hat die grausame Behandlung,
die die Russen tausend Jahre hindurch erdulden mußten, zur
äußersten Verrohung ihres Charakters beigetragen. Aber die-
ser Charakter war schon von Ursprung an grausam und wild.
Die russische Gutmütigkeit als angeborene Tugend ist jeden-
falls eine Fabel. Das russische Volk kann allerdings auch gut-
mütig sein, der Grundzug seines Charakters ist es nicht. Schon
um das Jahr 866 spricht der Patriarch Photius in einem Briefe
an die orientalischen Bischöfe von den „durch ihre Grausam-
-^ 262 —
keiten berühmten Russen.**^) Bei jeder Gelegenheit, wo die
Volkswut hervorbrechen durfte, gab es abscheuliche Exzesse.
Als der falsche Dmitrij (Rastriga) ermordet wiurde, schonten
die Russen keinen aus der Umgebung des Usurpators. Selbst
die Musikanten wurden niedergemacht. Der Beichtvater der
Polin Marina (Gemahlin Rastrigas) wurde während des Messe-
lesens überfallen und zerrissen. Zu Hunderten warfen sich die
Russen auf einen einzelnen; die rührendsten Bitten ließen sie
kalt, und zerstümmelte und zerhauene Menschenreste wurden
noch zerstampft. Mönche imd Priester liefen umher und feuer-
ten an zum Pogrom, zur Ausrottung der Polen mit dem Rufe :
„Schlachtet sie, die Feinde unseres Glaubens!** Aus den be-
nachbarten Dörfern kam das Volk mit Knüppeln bewaffnet
nach Moskau, um teilzunehmen am blutigen Feste. „Sieben
Stunden lang,** schreiben Augenzeugen, „hörten wir nichts
Jis Schießen und Schreien : Haue zu I haue zu 1** Der Leichnam
des Usurpators wurde zerstochen und zerfleischt imd aus dem
Kreml geschleppt. Man legte ihn auf einen Tisch, band ihm
ums Antlitz eine Maske, gab ihm in die Hand Pfeife und Dudel-
sack, zui Verhöhnung seiner Liebe für Musik und Possen-
reißerei. Und als dies geschehen, jubelte das Volk : „Du Tauge-
nichts hast uns oft blasen lassen, jetzt blase selbst zu unserem
Vergnügen."^)
Im achtzehnten Jahrhundert haben die Fremden mehr als
einmal Veranlassung ob der Lust der Russen an blutigen Schau-
spielen zu staunen. Am i8. Januar 1742 soll in Petersburg der
Blutdurst des Volkes in gar splendider Weise gestillt werden:
durch Hinrichtung des Exkanzlers Ostermann und des Feld-
marschalls Münnich. Auf Wassilij Ostrow ist ein einfaches
Schaf fot errichtet. Der Exkanzler, ein halb gelähmter Greis,
muß förmlich hinaufgeschleppt werden. Die beiden gestern
noch so Mächtigen sollen die Strafe der Räderung erleiden.
Aber im letzten Augenblick wird ihnen angekündigt, daß die
^) La Chronique de Nestor, traduite par Louis Paris. Paris 1834. I 25,
note 9.
2) Karamsin, Geschichte des Russischen Reichs (deutsche Ausgabe).
X 248, 250.
— 253 —
barmherzige Zarin Elisabeth sie begnadigt habe: zu einfacher
Köpfung. -Und als das Volk dies vernimmt, murrt es zornig
wegen der Repertoire-Änderung. Nun ergreift der Henker seine
Opfer, er reißt ihnen die Perrücken herunter, rückt ihnen den
Hemdkragen zurecht und holt aus dem Sack von* Bärenfell das
Beil hervor. Da erfolgt im allerletzten Augenblick ein neuer
Theatercoup der barmherzigen Kaiserin: die Verurteilten wer-
den von der Todesstrafe befreit und zu ewiger Verbannimg
beg^nadigt. Das Volk vernimmt, daß kein Blut fließen soll;
und wird deswegen von so wilder Wut erfaßt, daß die Garden
mit Waffengewalt intervenieren müssen, um die durch das
Fehlschlagen einer schönen Hoffnung auf ein gruseliges
Schauspiel gekränkten Massen zu beruhigen. i) Die Kaiserin
Elisabeth nahm auch sonst so wenig Rücksicht auf die rohen
Bedürfnisse ihrer Untertanen : sie untersagte den beliebten Faust-
kampf (KyjiaHHHÄ 6ofi) auf den Jahrmärkten und Volksfesten ;
es kostete aber Mühe, das Verbot durchzuführen, man mußte
militärische Gewalt in Anspruch nehmen, und statt des Faust-
kampfes gab es nun veritable Kämpfe zwischen den Soldaten
und dem Pöbel, der sich nur schwer sein Recht auf Roheit
rauben ließ.
In den historischen Liedern feiert die Grausamkeit des
russischen Volkes ewige Orgien. Wo es Zerfleischungen gibt,
verweilen die Volksdichter mit Vorliebe. Die Tartarenlieder,
die Lieder von Iwan dem Schrecklichen, die Lieder vom Räuber
Stenjka Rasin und die Strjeljzen-Lieder, in denen nur von Hin-
richtungen, Morden, Rauben die Rede ist und das Blut in behag-
licher Breite fließt, sind des Volkes Lieblingsgesänge. 2) Auch
die Scherze, die man sich in der Gesellschaft erlaubt ; der Unfug,
den man in der Trunkenheit treibt ; die Rache, die man wegen
der geringsten Unbill ausübt — alles ist erfüllt von unbeschreib-
licher Wildheit. Man lese die modernen russischen Zeitungen,
man verfolge aufmerksam die Berichte über Lokalereignisse.
Da liegen vor mir einige Blätter aus Kaukasien: die Schlag-
worte „wilde Sitten**, „grauenhafter Mord**, „bestialisches Ver-
^) Waliszewski, La derniöre des Romanov, pp. 14, 15.
-) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur. 81, 92.
— 254 —
brechen" fehlen in keiner Nummer. Da prüfe ich einen Jahr-
gang der deutschen „Lodzer Zeitung^*: „Lynchjustiz" bildet
eine ständige Rubrik; „Geschichten von Leuten gleich wilden
Tieren** kehren alle Tage wieder, erscheinen gleichsam in end-
losen Fortsetzungen, mit immer neuen Variationen. Der Zufall
lasse uns eine solche Geschichte herausgreifen: „Aus dem
Dorfe Kulpa verschwand der Beamte der Polizei, Ssossonskij.
Niemand zweifelte daran, daß er getötet worden sei, man wußte
nur nicht wo und wie. Bei der eingeleiteten Untersuchimg
erfuhr man, daß vier Mann ihn getötet hatten. Einer der Mör-
der, der mit dem S. gut bekannt gewesen, war, wie Augenzeugen
angaben, an das Opfer herangetreten und hatte um Feuer ge-
beten. Während S. aus der Tasche das Feuerzeug hervorholen
wollte, hatten die Räuber ihn ergriffen, vom Pferde gezogen,
gefesselt und entwaffnet. Hierauf hatten sie ihm mit einem
Steine den Schädel einzuschlagen versucht. Damit nicht genug,
begannen sie, als sie merkten, daß ihr Opfer noch nicht ganz
tot sei, dasselbe zu verspotten und dem Unglücklichen mehrere
Körperteile und Glieder abzuschneiden.**
Die ganze wilde Grausamkeit des Russen kommt im Kriege
zur Geltung. Nestor erzählt^), wie im Jahre 945 die Russen
imter Igor gegen die Griechen wüten : die gefangenen Griechen
werden von den Russen verstümmelt, gekreuzigt und in Stücke
zerschnitten ; man stellt sie als Zielscheiben auf und durchbohrt
sie mit Pfeilen; man bindet ihnen die Hände auf den Rücken
und stößt ihnen spitze lange Eisenstäbe in den Kopf. Aber
auch in ihren Kämpfen gegeneinander, in der Zeit der Teil-
fürstentümer und der Rivalitäten, kennen die Russen keine
Schonung: Als Fürst Swjätoslaw Joanowitsch von Smolensk
die Stadt Mohilew erobert, begnügt er sich nicht mit einfacher
Ermordung der Besiegten, sondern erdenkt für sie Höllen-
qualen : er erwürgt Männer, spießt Kinder und Frauen und er-
götzt sich an der Verzweiflung seiner Opfer. Gewiß waren die
Kriegsgesetze damaliger Zeit von barabarischer Brutalität ; doch
die Greuel Swjätoslaws werden von den Annalisten als unerhört
^) La chronique de Nestor, I 54.
— 255 —
verurteilt.^) Vor der Lipezker Schlacht beschließen die Führer
der beiden einander bekämpfenden russischen Heere, nieman-
den zu schonen und alle Gefangenen zu töten. Bei der Er-
oberung Kijews im Jahre 1169 werden Russen von Russen
unbarmherzig niedergemacht ; selbst die Kirchen werden nicht
respektiert, und von den orthodoxen Eroberem demoliert und
verbrannt.2) Natürlich geht es nicht milder zu, wenn die Russen
es mit den Polen oder Livländem zu tun haben. 1 502 verwüsten
die Russen das ganze Stift Dorpat, das halbe Stift Riga „und
hantieren mit vielen Frauen und Jungfrauen, auch kleinen
Kindern also, daß man von den Türken dergleichen nie ge-
höret.**3) In einem Brief des livländischen Heermeisters Berndt
von der Borch vom 25. März 1480 beschreibt dieser das Wüten
des moskowitischen Großfürsten Iwan III. und seiner Truppen
in Livland: „wie sie ym veligen bekußten vnnd vorssegelten
vrede diese Lande obirczogen, Jünckfrowen vnnd frouwen be-
schemten, ere Borste abesneten vnnd den Mennen yn de Münde
stißen, den Mennen ere Gemechte berobten vnnd den Weibes-
perßonen yn den Münde hynghen, den Christenn nesen und
Oren abesneten, fynghen, hyngehn, rederten, hende vnnd fuße
abehywen, besten schatcztene eve ee loffte, swanger Frouwen
vffsneten, de frucht awßen Leibe nomen vnnd spißeten, dy
Dermen hefften an dy Boeme, dy Lewthe drünghen ere eygene
Yngewethe awßen Leibe czu reißen, vnnd viele mehr unmensch-
liche vbelthat.***) Ähnlich trieben es fünfzig Jahre später die
^) Karamsin, Geschichte, V 79.
2) THMOilM^eiTb, ncTopin pvccKHXh HaK<i3aHiü, crp. 54.
3) Th. Hiäm's esth-, lyf- und lettländische Geschichte, 190. — Aller-
dings waren auch die Livländer nicht sanfter. Hiäm erzählt S. 228: ,,Gott-
hard Kettler, der livländische Ordensmeister arbeitete ebenfalls fleißig mit
Rädern und Hencken." Und erst die Schweden! König Erich von Schweden
ließ seinen Verbündeten Jürgen Persson treulos dem Herzog Johann ausfolgen.
Der Herzog „schnitt dem Persson die Ohren ab, die man an den Galgen nagelte,
darnach mußte die Nase auch herunter, darauf wurde der Verstümmelte an
den Galgen gehenckt, doch nicht erwürget. Alß er bey einer Stunde gehangen,
nahm ihn der Scharff-Richter wieder ab, räderte ihn und hieb ihm den Leib
in vier Stücken." (Hiärn 266.)
^) Sugenheim, Rußlands Einfluß auf und Beziehungen zu Deutschland,
I 12 und Anmerkung 28.
— 256 —
1 1 uppen Iwaiis IV. in den Ostseeprovinzen, indem sie ,jscb}
gcrc Frauen voneinander hauen, die Frucht ihrer Leiber,
auc h andere gebohrne junge Kinder mehr an die Zaun-Stecken
hpiüLWn, alte und junge Leute niederwerffen, ihnen in die
Siäten l*ulver streuen, dasselbe anstecken und die armen Leute
(»hni* lOrluirnien voneinander sprengen ließen; viel sind mit
Iriii II Kijn- oder Pergel-Holtz gespicket, und also verbrannt
wi»uU*n. Frau- und Jungfrauen wurden als Hunde nacheinander
ys^i haudrt, und die davon nicht stürben, ärger als das Vlehe
l liril*4 zur Srhiinde, Theils den Tartaren zu verkauffen^ ^'^'
y^iMwUm . . A) Waß die Reußen für unmenschliche Tyranney
iiiU i.uibrn. morden, Brennen, wegführen (einigen Alters, Ge-
44 hlri lit «iilrr Standes ohngeschonet) getrieben, steht nicht zu
l»rti( hinbrn. Ja« es sind auch die ungebohmen Kinder in ihrer
MtlMn Iribr nicht geschonet worden. Nach des Feindes Zurück-
n\ys h<i( man genug zu thim gehabt, die unschuldigen kleinen
Kiiulri Itin und wieder auf der gemeinen Straßen von den
/liuiM'ii. avh li liin und wieder die «m Arm und Beinen zer-
MhhiHurlt und am gantzen Leib jämmerlich zerhacket und zer-
iiirl«ii lirl >.:rwrsen, aufzulesen und etliche Schlitten und Wagen
villi h(i( h dru Städten oder sonst zum I3egräbnis zu führen/*')
I Mr *»» hwrdisclien Gefangenen wurden von den Russen „mit
Wrll» und Knul zu Tode geschmäurhet und am Feuer zu Tode
^jrhhilrn."*) Bartholomäus Taube zu Saga wurde 1573 nach
MM><kiUi ^;rlvihit, ,,da er an ein Spieß gebunden und am Feür
Ml li»dr ^;rl»i«iten worden.*) I)i(! adlirhc Frau- und Jungfrauen
:tiil \ni hriad, derer eine große M<'ng(! gewesen, hat der Gros-
I \\\a\ i\\\r lui seine Augen von dcu Tartaren sehenden und
li»'Mi«M h f:elän>;lich mit herumb srhirpprn lassen."^) In Wen-
ili II '»pirufitm sich die von Iwan IV. Hf^lagerten selbst in die
I iiM. um dem schmählichen 1 odt* dun h di«! Hand eines Russen
•II rhl^:i'lirn. I'liner von den Livländrrn aber, „Heinrich Bouß-
hiiinn. Irl»tr muh ein wenig. Zum (irosfürsten getragen, wiurde
M ItlAnt. ^IJ.
') Mirniti« JJO.
>) MuMida jH6.
— 257 —
er auf einen Pfahl gesteckt. Etliche Männer hat der Grosfürst
mit drättrnen Geissein, welche die Reüßen Knut heißen, so-
lange streichen lassen, bis das rohe Fleisch zu sehen war, und,
also verwundet und blutig, beym Feür lebendig braten lassen.
Des wendischen Castellanen Fürstenbergs Secretarium Jasper
Ummingshausen, hat man in des Großfürsten Gegenwart so-
lange gestrichen und gepeitschet, daß man ihm das Eingeweide
im Leibe sehen können, und er in solcher Qval seinen Geist
auffgegeben. Einem Priester ist die Zunge durch den Nacken
außgezogen, und einem Bürgermeister das Hertz aus dem Leibe
lebendig gerissen worden. Die übrigen alle sind gleicher Ge-
stalt mit unerhörter Marter und Pein ums Leben gebracht, deren
keine jemand, bey Verlust Leibes und Lebens, begraben
dürffen, sondern man hat den Hunden, Vögeln und wilden
Thieren zur Speise gelief fert, und unbegraben liegen lassen.
Etliche wenige sind entkommen, ohn Zweifel durch sonderbahre
göttliche Verhengnis, damit sie alles dasjenige, so sie auff
Wenden angesehen, der Welt berichten möchten. **i)
In seinem Reglement für Heer und Flotte befahl Peter der
Große: „bei Eroberung einer Stadt dürfen Kirchen, Schulen,
geistliche Stiftungen und Hospitäler nicht geplündert werden;
der Zuwiderhandelnde wird gleich einem Rauber gestraft wer-
den. Weibspersonen, Kinder, Greise und Priester soll man
schonen.** Aber als 1721 die Russen die Kamtschädalen mit
Krieg überziehen, verüben sie doch die ärgsten Greuel und
martern die Gefangenen zu Tode. Und wem sind wohl die
Barbareien fremd, die die Russen im achtzehnten Jahrhundert
in Preußen während des siebenjährigen Krieges verübt haben ?
Greise, Weiber, Kinder, Kranke wurden von ihnen gräßlich
gepeitscht, gemordet, lebendig verbrannt. Eine Relation des
Vizebürgermeisters Werner von Rageit berichtet über die
Aufführung der Russen in diesem Ort : „Der alte Zeugmacher
Walther wurde in seinem Hause mit der Pique todtgestochen
und verbrannte. Der alte Dohm-Inspektor Böhmke wurde
durch einen Säbelhieb getödtet und verbrannte. Der alte
Krancke Bahrin wurde mit einer Pique todt gestochen und
^) Ebenda 317.
Stern, Geschichte der öflfentl. Sittlichkeit in Rußland ** ly
— 268 —
verbrannte. Die alte Krancke Pisewitzin wurde in die Kirche
getragen und mußte verbrennen. Der arme Krancke Bürger-
meister Boltz wurde in seinem Bette nackend ausgezogen, be-
kam einen Säbelhieb und mußte nachhero verbrennen. Der
Hospitalist, Zülich, ein Krippel, wurde in die Träncke gejagt
und ersäufet. Die alte Krancke Frau Züllichin wurde, nach-
dem sie nebst vielen anderen verheyratheten und unverheyrathe-
ten Frauens-Personen öffentlich und zum Theil in Gegenwart
ihrer Männer und Eltern, aufs schändlichste gemißhandelt
worden, so erbärmlich und grausam gepeitscht, daß Sie auch
2 Tage hernach ihren Geist aufgeben mußte. Die Frauens
wurden alle Nackend ausgezogen, und biß aufs Blut ge-
peitschet.**^) Die russische Grausamkeit steht immer in Be-
ziehung zum Sexuellen, ist stets Sadismus; der russische
Kommandant General Totleben selbst verübte die empörendsten
Geschlechtsgreuel: „II y commit des exc^s en tous genres,
et devint le fl^u de cette province. Une jeune fille ä peine
nubile, pour avoir r6sist6 ä sa passion brutale, fut viol^e par
ses ordres par quelques Cosaques ; et ses deux f reres, qui 6toient
accourus ä son secours, furent massacr^s par ces monstres.**^)
Wie Totleben in Preußen wütete 1768 Repnin in Polen und
Podolien, „als vollendeter Kannibale, als eine der größten
Schandsäulen der Menschheit. **3) Er ließ zweimalhundert-
tausend Menschen unter gräßlichen Martern abschlachten.
Über den von ihm errichteten Galgen prangte die Inschrift:
„Alles ist gleich**, und darunter hingen zur Illustration dieser
Weisheit : je ein Edelmann, ein Mönch, ein Jude und ein Hund.
Bei der Eroberung der Krym verwüsteten die Russen unbarm-
herzig das Land; alle öffentlichen Gebäude wurden nieder-
gebrannt, die Wasserleitungen unbrauchbar gemacht, die Be-
wohner ausgeplündert. Man überfiel die betenden Tartaren
^) Sugenheim a. a. O. 275, Anmkung. 9.
2) La Vie du Comtc de Totleben, ci-devant colonel au Service des Etats-
Generaux des Provinces-Unies, et dcrnierement Lieutenant-G6n6ral des Arm6es
de Sa Majeste rimp6ratrice de toutes les Russies; contenant ses avantures
et ses Campagnes. Traduite du Hollandois. A Cologne, ches Pierre Marteau
(fingierter Verlag!) 1772. pag. 85.
^) Sugenheim, I 363.
— 259 —
in den Moscheen, man riß ihre Ahnen aus den Gräbern und
warf die Leichen den Schweinen vor oder verbrannte sie auf
Scheiterhaufen. Wenn die Muesin mittags die Minare be-
stiegen, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen, belustigten sich
die russischen Soldaten damit, auf sie zu schießen.^) Auch bei
der Eroberung Kaukasiens behandelten die Russen die ge-
fangenen Feinde wie Verbrecher: sie hieben ihnen Ohre und
Nase, die rechte Hand und das linke Bein ab. Kameraden der
also Bestraften mußten einen Topf mit Milch oder Talg bereit
halten, um das Blut zu stillen. Denn die Verstümmelten schickte
man in ihre Dörfer zurück, damit das Volk vor Schrecken den
Widerstand gegen die Russen aufgeben sollte.2) Die Greuel
der russischen Soldaten im letzten Türkenkriege veranlaßten
sogar diplomatische Vorstellungen und Interventionen. So
lenkte am 6. August 1877 die Hohe Pforte die Aufmerksamkeit
der Großmächte auf folgende Vorfälle: „In Herste haben die
Russen und Bulgaren muselmanische Bewohner aus dem Dorfe
gejagt und lebendig verbrannt. 70 Muselmanen wurden von
Bulgaren in eine Scheune geschleppt und diese in Gegenwart
von Kosaken angezündet. Acht Mädchen, die sich einer Schän-
dung widersetzten, wurden getötet. Die übrigen Weiber und
Kinder führte man vor das Dorf, dort stellte man sie in einer
Reihe auf und ermordete sie." Ein Protokoll der europäischen
Kriegskorrespondenten konstatierte am 20. Juli 1877 zu
Schumla : „Wir haben mit eigenen Augen sowohl in Rasgrad
als in Schumla Kinder, Frauen und Greise gesehen und befragt,
die durch Lanzenstiche und Säbelhiebe verwundet wurden.** In
einem Telegramm der Pforte vom 21. Juli 1877 an den Präsi-
denten der Schweizer Bundesregierung wurden zahllose Ver-
letzungen der Genfer Konvention durch die Russen konstatiert :
„Die russischen Soldaten schändeten die Frauen und Mädchen
von Binpunar und verstümmelten nachher die Geschändeten
in Gegenwart ihrer gefangen gehaltenen Angehörigen. Die
^) Berichte der Reisenden Clarke und Rcuilly. Vgl. auch Geheimnisse
von Rußland, II 356.
2) Lcrchs Reisebeschreibung in Büschings Magazin für die neue Historie
und Geographie, III }}.
17*
— 260 —
Bewohner von Terns bei Tirnovo wurden in der Moschee
lebendig verbrannt.** Der enghsche Botschafter Layard be-
stätigt die Wahrheit der türkischen Anklagen in einer Depesche
an Lord Derby : „Die Angaben über die von den Russen gegen
die mohamedanische Bevölkerung der von ihnen mit Krieg
überzogenen türkischen Territorien in Asien und Europa ver-
übten Grausamkeiten und Ausschreitungen entsprechen der
Wahrheit. Sir Arnold Kemball erwähnt in einer seiner De-
peschen, daß die Weiber in einem der muselmanischen Dörfer
unweit Kars unter dem Vorwande, daß sie den Belagerten In-
formationen gegeben hätten, gänzlich entkleidet, gepeitscht und
nach den türkischen Linien zurückgetrieben wurden.**^) Ver-
brennungen Lebender und Schändungen der Frauen, das sind
durchaus alltägliche Begleiterscheinungen russischer Kriegs-
führung, die im zwanzigsten Jahrhundert, wie die zahllosen
japanischen Beschwerden bewiesen, noch nicht menschlicher
geworden ist.
Auch die von den Russen unterjochten Völker, die in der
Armee namentlich in der Kavallerie vertreten sind, sind be-
rüchtigt ob ihrer Grausamkeit; so seit altersher die Kosaken
und die Kalmücken. Die donischen Kosaken pflegen die Ge-
fangenen ausnahmslos zu töten, aber nicht schnell, sondern
langsam unter qualvollen Martern. Ein berühmter Held der
Kalmücken, Marucka, beanspruchte stets, daß die Ermordung
von Gefangenen ihm überlassen werden sollte. Einst nahmen
seine Genossen sieben Männer und ein schwangeres Weib ge-
fangen. Marucka tötete die sieben Männer, aber auf Bitten
seiner Gefährten verschonte er das Weib. Als man jedoch zu
Pferde stieg, da reute es diesen Unmenschen, daß er ein mensch-
liches Wesen lebend zurücklassen sollte; schnell sprang er ab,
drückte das Weib mit dem Gesicht auf die Kohlen des Lager-
feuers und erstickte die Unglückliche. 2) Von einem anderen
sibirischen Helden wird berichtet, daß er alle Gefangenen
^) \'gl. Die Grausamkeiten der Russen in Bulgarien und Armenien im
Jahre 1877. Nach authentischen Dokumenten von Dr. L. Bernhard. Berlin 1878.
S. 44. 51. 75. 84.
') Benjamin Bergmanns Nomadische Streifercicn unter den Kalmücken
II 350.
— 261 —
nackt an Bäume band und ihnen dann mit dem Messer die Brust
beim Herzen aufriß. Er hatte seine Lust an den Zuckungen
der Opfer, und liebte dies Vergnügen so sehr, daß er seinen
Gefährten alle Beute überließ und für sich nur die Menschen
in Anspruch nahm.^)
Gesellt sich der angeborenen natürlichen Roheit noch
der künstlich angefachte religiöse und nationale Haß, dann
erreicht die Grausamkeit des russischen Volkes den Höhe-
punkt. Die Regierung gibt das Beispiel der Unduldsamkeit
und Verfolgungssucht. Im Jahre 1728 werden 18 Smolensker,
die von dem orthodoxen zum katholischen Glauben über-
getreten sind, durch Prozeduren schändlichster Art in den
Schoß der griechischen Kirche zurückgeführt: Knut und Beil
sind die überzeugenden Beweise der alleinseligmachenden
rechtgläubigen Kirche.^) Kaiser Paul behauptet, daß die Polen
als Katholiken die Ehrfurcht vor dem orthodoxen Zaren ver-
letzen, und verurteilt die nach Sibirien verbannten Polen zum
Verlust von Nase und Ohren. Nikolaj I. will die ruthenischen
Dörfer der Orthodoxie gewinnen ; er läßt die Missionäre durch
Soldaten begleiten, und Konfiskationen und Verbannungen sind
die Argumente der Popen. Eine geistliche Kommission besetzt,
unterstützt von zwei Bataillonen, eine Kirche und dekretiert
den versammelten Katholiken die Vereinigung mit der ortho-
doxen Kirche; wer sich widersetzt, wird niedergeschossen. Die
Grausamkeiten gegen die Protestanten, die Finnländer und die
Balten würden Bücher füllen können ; von der traurigsten Aktu-
alität endlich sind und bleiben die Barbareien gegen die Juden.
Olearius schrieb schon im siebzehnten Jahrhundert : „Die Mus-
cowiter mögen die Juden nicht gerne sehen noch hören, und
kann man einem Russen nicht weher thun als wenn man ihn
einen Juden schilt/* Als Peter der Große in Amsterdam weilte,
wandten sich die holländischen Juden an ihn mit der Bitte um
Erlaubnis zur Niederlassung in Rußland und Anlegung eines
Handlungskontors. Sie erboten sich sofort eine Erkenntlichkeit
von 100000 Gulden zu zahlen; „doch Peter hielt es zur Zeit
^) St. Edmc, Dictionnaire de la penalit6, I 465.
-) Waliszewski, I/h6ritagc de Pierre Ic Grand, p. 103.
— 262 —
noch nicht für ratsam, die Juden, die unter Iwan Wassiljewitsch
aus Rußland vertrieben worden waren, wieder aufzunehmen."^)
Er half sich durch ein Witzwort aus der Verlegenheit : „Mein
lieber Vitsen,** entgegnete er diesem, der die Sache hatte ver-
mitteln wollen, „aus Mitleid mit den Juden muß ich das Gesuch
abschlagen. Die Juden haben zwar den Namen, daß sie die
ganze Welt in Handel und Wandel überlisten können; aber
ich kenne meine Russen, bei ihnen würden sie doch zu kurz
kommen/*^) Wenn Peter auch die Juden nicht wieder nach
Rußland hineinlassen wollte, so machte er doch für einzelne
ganz auffallende Ausnahmen. In seiner Umgebung sehen wir
als seinen Finanzberater und Armeelieferanten einen gewissen
Meyer und dessen Schwager Lups; Meyer befindet sich sogar
in den Senatssitzungen oft an der rechten Seite des Kaisers und
wird zuvorkommend und achtungsvoll behandelt.^) Neben den
paar Ungetauften, die treu zu ihrer Religion halten, bemerken
wir eine ganze Legion Getaufter. Devier, der erste Polizei-
meister von Petersburg ist ein getaufter Jude ; ebenso Dacosta,
der tnächtige Hofnarr. Und nicht zu vergessen des Vizekanzlers
Schaf irow: Peter Pawlowitsch stammt aus Polnisch-Litthauen ;
sein Großvater, Chaja oder Chajuschka Schafir, war der Faktor
der Landedelleute von Orcha. Den Enkel des Faktors ent-
deckt der Zar in der Bude eines Moskauer Kaufmanns imd
engagiert ihn sofort als Korrespondenten für den Minister
Golowkin. Als Golowkin nach Poltawa zum Kanzler erhoben
wird, steigt sein Sekretär Schafirow plötzlich zum Range eines
Vizekanzlers empor und ist in Wahrheit der eigentliche Minister
des Auswärtigen. In der Pruth-Affäre verwendet er seine wun-
derbaren Talente so vortrefflich, daß ihm die Rettung des
Zaren, der Armee, vielleicht des Reiches zu verdanken ist.
Er ist auf dem Gipfel seiner Erfolge, triumphiert in jeder Be-
ziehung; er ist immens reich und Baron geworden; und hat
fünf der ersten Aristokraten zu Schwiegersöhnen : einen Gaga-
rin, einen Chowanskij, einen Ssaltykow, einen Golowin, sogar
^) Ilalcm, Leben Peters des Großen, III iii und 308, Anmerkung 34.
-) Stählin, Anekdoten von Peter dem Großen. S. 29.
^) Waliszewski, Pierre Ic Grand, p. 185.
— 263 —
einen Dolgorukij. Aber alle Herrlichkeit versinkt in einem
einzigen Augenblick : ein Moment der Abwesenheit des Kaisers
wird von den Rivalen Schafirows zu dessen Sturz ausgenützt.
Der Gegner hat der Mächtige, der trotz des orthodoxen Salböls
für die Russen immer der Hebräer geblieben ist, genug. Da
steht in seiner Feinde Reihe obenan der große Mentschikow,
dem er manchen Raub vor der Nase weggeschnappt hat; da
ist sein ehemaliger Protektor, der Kanzler Golowkin, der den
Vizekanzler haßt, weil er seine Konkurrenz füchtet; da ist
endlich Ostermann, ein Parvenü wie Schafirow, der offen-
sichtlich die gleiche Karriere erstrebt und schon den Posten
des Vizekanzlers begehrt: ihrer gemeinsamen Wühlarbeit er-
liegt Schafirow. Und am 15. Februar 1723 steht der Enkel
des Chaja Schafir auf dem Schaffot; und die Henkerknechte
werfen ihn zu Boden, und der Henker hebt das Beil. Doch
in letzter Sekunde erscheint atemlos keuchend ein kaiserlicher
Sekretär und vermeldet die Begnadigung zu lebenslänglichem
Exil. Schafirow arrangiert sich einigermaßen mit der Re-
gierung, und statt nach Sibirien geht er bloß nach Nowgorod.
Hier erwartet er resigniert Peters Tod, um dann nach Peters-
burg zurückzukehren. Die alte Macht erlangt er auch jetzt
nicht wieder, aber er bekommt seine konfiszierten Güter und
wird Präsident des Handelskollegiums. Außer Schafirow haben
noch einige seiner Verwandten große Rollen gespielt. Eine
Tante des Vizekanzlers heiratete einen getauften Juden, der
den Namen Wesselowski annahm und der Stammvater einer
berühmten Familie von Faiseurs und Diplomaten wurde. Auch
am Hofe der Zarin Anna Iwanowna finden wir einige Männer
jüdischer Abstammung; die Liepmann und Bielenbach, die
von Bühren-Biron, dem Regenten und Günstling Annas, pro-
tegiert werden, sind jedoch nicht ehrgeizige Staatsmänner, son-
dern bloß Finanzmänner; der eine, Liepmann, ein Rechner im
großen Stil, hat ein gewichtiges Wort in den großen ökono-
mischen Staatsfragen und nimmt vorkommenden Falles teU
an den Beratungen der Minister als deren gleichwerter und
^) Ebenda 238, 239, 240. — Russische Günstlinge (von Heibig). —
Büschings Magazin, XXI 195. — CoiobiiCBT,, HcTopifl XVHI 141.
— 264 —
gleichberechtigter Faktor ; der andere, Bielenbach, begnügt sich
mit der bescheidenen Rolle eines Faktotums des allmächtigen
Regenten und verkauft in dessen Vorzimmer ungeniert die
Stellen und Würden des Reiches nach einem fixen Tarif.i)
Die bevorzugte Stellung einer kleinen Anzahl von ge-
tauften und ungetauften Juden blieb ohne jeden Einfluß auf
die Lage des jüdischen Volkes im allgemeinen. Je näher der
Epoche, in der durch die ganze Welt der Zug der Freiheit und
Gleichheit weht, je trauriger wird das Los der russischen Juden.
Unter der Herrschaft der Zarin Elisabeth, der fanatisch-chauvi-
nistischen Tochter Peters des Großen, ist dies verständlich. Die
Kaiserin, die so viel Nachsicht für sich beansprucht, ist intole-
rant gegen alle Welt. Die Moslems sollen zwar nicht verbrannt
werden, aber zarische Ukase befehlen die erbärmlichsten Be-*
kehrungsmittel, verbieten den Bau von Moscheen und nehmen
den Bekennern Mohammeds alle Rechte von Bürgern. Bei
einer Fahrt über den Newskij -Prospekt bemerkt Elisabeth an
dieser Hauptverkehrsstraße der Residenz eine protestantische
Kirche ; das ist eine Beleidigung in den Augen dieser Majestät,
und nur ganz gewaltige Einflüsse vermögen das protestantische
Gotteshaus vor der Zerstörung zu retten. 1749 befiehlt Elisa-
beth, die selbst keinen Anstand nimmt, in Kirchen und Klöstern
heimlich mit ihren Liebhabern zusammenzutreffen und wol-
lüstige Orgien zu feiern, einige hohe Hofbeamte, die durch
lautes Gespräch den Gottesdienst störten, als Religionsver-
brecher an die Kette zu legen; und als ein Mann es gar wagt,
sich von der Orthodoxie loszusagen, läßt ihn die Zarin lebendig
verbrennen. 2) Zur Unterdrückung des Raßkol sind alle Mittel
recht : Geld, Schwert, Feuer. Sollen da die Juden als das
auserwählte V^olk gelten, das nicht angetastet werden darf?
1742 befiehlt Elisabeth die Verbannung aller Juden aus Ruß-
land, und Gnade wird nur jenen, die sich taufen lassen. 1743
erklärt der Senat der Kaiserin, die Maßregel ruiniere den Han-.
del; worauf die Zarin antwortet: „Ich will nicht gewinnen
durch die Feinde Christi." Und sie erneuert ihren Ukas und
^) Waliszewski, L'h^ritage de Pierre Ic Grand, 177.
2) Co-ioBLCB-i», IIcTopitt XXI 245.
— 265 —
schont niemanden. Der berühmte portugiesische Arzt Sanchez,
der von der Akademie zum Mitglied ernannt worden war, muß
ebenfalls ;aus Petersburg fort: „Die Kaiserin/* sagt man ihm,
„ist nicht böse gegen Sie, aber sie glaubt, daß ihr ihre Über-
zeugung nicht gestattet, in der Akademie einen Menschen zu
belassen, der nicht der Standarte Christi folgt, sondern unter
der Fahne Moses* und der Propheten des Alten Testaments
kämpft.** Der kaiserliche Blitzstrahl trifft auch jene Juden,
die außerhalb Rußlands in russischen Diensten stehen : so den
berühmten Simon, der als Privatsekretär des russischen Ge-
sandten in Wien fungiert und nun entlassen werden muß.^)
Elisabeths Maßregeln wirkten so gründlich, daß zur Zeit
Peters III. die Juden gänzlich aus dem Lande vertrieben waren.2)
Erst Katharina II. erteilte ihnen die Erlaubnis zur Rückkehr,
und 1772 konnte der Generalgouverneur von Weißrußland,
Graf Sachar Grigorjewitsch Tschernyschew, folgendes Manifest
erlassen: „Aus der feierlichen Gewährleistung der freien Aus-
übung des Glaubens und der Sicherung der Unantastbarkeit
des Vermögens folgt von selbst, daß auch die jüdischen Ge-
meinden, die in den mit dem russischen Kaiserreiche vereinigten
Städten und Gutsbezirken wohnen, im Genuß aller jener Frei-
heiten belassen und geschützt werden, welche sie gegenwärtig
in Gemäßheit der Gesetze und ihrem Vermögensstande ent-
sprechend genießen: denn die Menschenliebe Ihrer Kaiserlichen
Majestät läßt es nicht zu, daß die Juden allein von der für alle
gemeinsamen Gnade und dem zukünftigen Wohlergehen aus-
geschlossen werden.** Zar Alexander I. folgte dem Beispiel
seiner Großmutter. Das „Gutachten des Komitees für die Neu-
regelung der jüdischen Angelegenheiten**, welches aus dem
Oktober 1804 stammt, gibt dafür ein Beispiel. Dieses Komitee,
dem der General Subow, Fürst Kotschubey, der Justizminister
und berühmte Dichter Derschawin, Senator Potocki, der Ad-
^) Waliszewski, La dcrni^re des Romanov, 170.
2) Russische Anecdoten oder Briefe eines teutschen Officiers an einen
Liefländischen Edelmann, worinnen die vornehmsten Lebens-Umstände des
Russischen Kaysers Peter III. Wansbeck 1765. S. 71.
— 266 —
junkt des Ministers des Auswärtigen Fürst Tschartoryski und
Graf Speranski angehörten, sammelte alle Nachrichten, die
über den Gegenstand schon vorhanden waren, prüfte alle ein-
schlägigen Meinungen, verglich sie mit den tatsächlichen Ver-
hältnissen der Juden in Rußland und in anderen Staaten, berief
auch die Deputierten der jüdischen Gemeinden und entwarf
dann eine „neue Verordnung betreffend die Juden**. Es ward
festgestellt : man müsse die Juden so viel als möglich aus dem
bisherigen erniedrigenden Zustande emporziehen, sie in die
moralische und materielle Lage versetzen, sich einem arbeit-
samen Leben zuzuwenden und den Unterhalt auf ehrliche und
nützliche Art verdienen zu können ; „die besondere administra-
tive Behandlung ihrer inneren Angelegenheiten muß einge-
schränkt und ihr Interesse vom Standpunkte der allgemeinen,
für alle Untertanen geltenden Verwaltung wahrgenommen wer-
den ; alle Mittel zur Bildung und Aufklärung sind ihnen zugäng-
lich zu machen, indem man ihnen in dieser Hinsicht jede erfor-
derliche Ermutigung zu teil werden läßt**. Auch wurde vom
Komitee vorgeschlagen, die Juden zu gemeinnütziger Tätigkeit
zu ermuntern, sie zur Beschäftigung im Ackerbau, Fabrikwesen,
in den Handwerken heranzuziehen und ihnen ein Zusammen-
leben mit der übrigen Bevölkerung zu ermöglichen. Bezüglich
der Mittel zur Erfüllung dieser Prinzipien entschloß sich das
Komitee zur Anwendung einer „geräuschlosen, gemäßigten,
stufenweise vorgehenden Methode, die auf dem persönlichen
Interesse der Juden und der Förderung ihrer politischen Exi-
stenz ruht'*. Überall bemühte sich das Komitee, den Juden zu
zeigen, daß die Regierung nicht bloß sie, sondern auch ihre
Vorurteile schone, sie in friedlicher Weise, nicht mit Gewalt
einem vorteilhaften Zustande entgegenführen wolle, daß die
Regierung nur das eine Ziel verfolge : die materielle Lage der
Juden auf gesetzlicher Grundlage sicherzustellen und die jü-
dischen Untertanen an den Vorteilen und der Achtung teil-
nehmen zu lassen, deren sich die übrigen im Reiche erfreuten.
Bekannt ist, daß auch unter Alexander II. zahlreiche Be-
mühungen um die Verbesserung der jüdischen Verhältnisse
stattfanden. Vor allen war es der Minister des Innern Graf
Peter Alexandowitsch Walujew, welcher nicht müde wurde, in
— 267 —
Verordnungen und Vorschlägen in diesem Sinne zu wirken.
Die Ausuahmsmaßregeln, denen die Juden unterworfen wurden,
fanden also nicht immer allgemeine Billigung. 1785 erklärte
der dirigierende Senat es als Unmöglichkeit : die Juden in Kur-
land, die schon seit zwei Jahrhunderten dort ansässig waren,
plötzlich als Eindringlinge zu betrachten und aus einem so
lange innegehabten Wohnort zu verdrängen. Der dirigierende
Senat entschied vielmehr, daß sie ruhig in ihren Wohnorten
verbleiben könnten, und verlangte einen kaiserlichen Erlaß,
daß selbst bei der Wahl für die städtischen Ämter den Gesetzen
gemäß verfahren, kein Unterschied der Abstammung und des
Glaubens gemacht werde. Noch energischer sprach sich später
einmal, im Jahre 1869, in kurzen Worten der Generalgouverneur
der Ostseeprovinzen Baron Wilhelm Lieven aus: „Bei der
Schwere der auf den Juden lastenden Steuern und Abgaben
und der äußersten Armut der jüdischen Gemeinden, insbe-
sondere in den kleinen Städten, muß auf jede Weise Sorge
dafür getragen werden, daß die für sie drückenden und ihren
Zweck überdies verfehlenden Ausnahmsmaßregeln aufgehoben
werden.** Der schon früher erwähnte Minister des Innern Graf
Walujew sagte manches Treffende über diesen Punkt ; er suchte
die Ursache des Niederganges des Handwerks unter den Juden
in den Beschränkungen der bürgerlichen Rechte der letzteren
und vor allem in dem Verbot der Freizügigkeit : „Aus dem im
Ministerium des Innern erliegenden Material ergibt sich offen-
kundig, daß unter dieser Einschränkung des Rechtes der Juden,
außerhalb des ihnen zum ständigen Wohnsitz angewiesenen
Rayons sich aufzuhalten, am meisten die Klasse der Handwerker
leidet, und zwar nicht nur der jüdischen, sondern auch der
christlichen Handwerker.** Und er plädiert warm, wenigstens
den Handwerkern die Freizügigkeit zu gewähren. Auch Graf
Peter Schuwalow erklärt es für erforderlich, daß jenes Gesetz,
welches die Juden an bestimmte Rayons bindet, sobald als
möglich aufgehoben und den Juden das unbeschränkte Recht
der Niederlassung im ganzen Reich erteilt werde. Die Be-
schränkung dieses Rechtes steht in krassem Widerspruch zu
dem ewigen Ruf nach der Assimilation. Nikolaj I. stellte die
„Verschmelzung der Juden mit der übrigen Bevölkerung** als
— 2C8 —
ein wünschenswertes Ziel hin^), aber ein Vierteljahrhundert
später klagte Graf Pawel Dimitri je witsch Kisselew, Vorsitzender
des Komitees für die jüdischen Angelegenheiten, in einem Me-
morandum an den Zaren Alexander II. : „Die von allerhöchster
Seite gewünschte Verschmelzung der Juden mit der übrigen Be-
völkerung** werde durch die mannigfachen, im Laufe der Zeit
angeordneten Beschränkungen gehindert, welche „im Vergleich
zur allgemeinen Gesetzgebung zahlreiche Widersprüche ent-
halten und Mißverständnisse erzeugen**. Einige auf die Assi-
milierung und Bildimgsreformen bezügliche interessante Be-
merkungen enthält ein Bericht des Grafen Ssergei Lanskoi,
des ersten Ministers des Innern Alexanders II. : „Die Gerechtig-
keit erfordert es zu sagen, daß eine der Hauptursachen der
Armut des größten Teiles der jüdischen Gemeinden in jenen
Rechtsbeschränkungen zu suchen ist, die bisher die Annäherung
der Juden an die übrige Bevölkerung verhinderten und ihnen
den Weg zur Bildung und zur Verbesserung ihrer materiellen
Lage verlegten. Nach dem Willen des Kaisers wurde in letzter
Zeit die Milderung der erwähnten Maßnahmen ins Auge gefaßt.
Seit der radikalen Reform, die hinsichtlich der öffentlichen
Stellung des jüdischen Elements stattgefunden hat, machte sich
bei den aufgeklärten Juden des westlichen Europa allgemein
die Tendenz bemerkbar, in Sitten und Gewohnheiten sich der
übrigen Bevölkerung der europäischen Staaten zu assimilieren.
In Frankreich ist dieser Verschmelzungsprozeß bereits soweit
gediehen, daß selbst die Bezeichnung Jude in diesem Staate
verschwunden ist und man dort nur noch von Franzosen jü-
dischen Glaubens spricht. Dieser mächtige Einfluß der Auf-
klärung ist auch unter den russischen Juden, die eine höhere
Bildung genossen haben, zu tage getreten, wiewohl die Zahl
der gebildeten Juden noch unbedeutend ist. In neuester Zeit
hat unsere Regierung den Juden besondere Aufmerksamkeit
zugewandt, und sich ihre sittliche Umbildung und Verschmel-
zung mit der Stammbevölkerung des Reiches zum Ziele gesetzt.**
1) Wie schwer dies just damals gewesen wäre, geht daraus hervor, daß
1845 >^ einer Stadt Russisch-Polens zwei junge Juden, die ohne Peahs (Haar-
löckchen) in der Synagoge erschienen, auf der Stelle erdrosselt wurden. Vgl.
Nicolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von Europa, S. 40.
— 269 —
Daß Assimilierung, Bildung und Freiheit zusammen-
hängen, zeigen die Berichte des Volksaufklärungs-Rates Alexan-
der Posteis und das Gutachten der Kommission, welche im
Jahre 1865 zur Prüfung der letzterwähnten Berichte eingesetzt
worden war. Posteis äußerte am Schlüsse einer Abhandlung
über die staatlichen jüdischen Schulen die Ansicht, daß allen
Opfern und Anstrengungen zum Trotz der Endzweck ihrer Be-
gründung nicht erreicht werden könnte, so lange die Juden
in den gegenwärtigen beschränkten Lebensbedingungen ein-
gepreßt blieben. Diese Abgeschlossenheit, bemerkte er, nimmt
ihnen die Möglichkeit, das Gebiet ihrer Betätigung im Handel
und Gewerbe zu erweitern und läßt sie in einen mit jedem Tage
sich verschlimmernden Zustand der Armut versinken; diese
Beschränkung verhindert aber auch ihre Assimilierung mit der
russischen Bevölkerung, der naturgemäß erst eine gegenseitige
Annäherung vorausgehen muß. Der Bericht des Geheimrates
Posteis erhält eine reiche Ergänzung durch das erwähnte Gut-
achten der Kommission vom Jahre 1865; die Mitglieder der
Kommission Andriaschew, Siepuschkin undFeodorow bekannten
sich offen zu der Ansicht : daß man allem zuvor den Juden
das freie Niederlassungsrecht im ganzen Reiche gewähren
müsse; wenn die Regierung aufrichtig die Beseitigung aller
Übel erstrebe, so müsse die Gesetzgebung mit einem Hiebe den
Knoten zerschneiden. Erwähnen wir zum Schluß noch Doku-
mente, die von Geistlichen herrühren, die sich in Zeiten der
vielen Judenmassacres erhoben, um gegen die gewissenlosen
christlichen Mordbrenner zu predigen. Hier finden wir wahre
Perlen der Nächstenliebe, die der Metropolit Makarius von
Moskau und Kolomea also definierte: „Wenn wir unsere Ver-
wandten und Blutsfreunde, unsere Stammes- und Glaubens-
genossen lieben, so liegt darin noch wenig christliches; solche
Nächstenliebe besitzen auch die Nicht-Christen. Liebet viel-
mehr alle Menschen ohne Unterschied, ob sie euch nahe stehen
oder nicht, welcher Abstammung, welchen Glaubens sie auch
seien. Urteilet nun selbst, o Rechtgläubige, wie schwer sich jene
Unglücklichen unter unseren Brüdern gegen unseren heiligen
Glauben versündigen, die von der Leidenschaft hingerissen
oder aus Unverstand sich wider die Juden erheben und scho
— 270 —
nungslos ihr Eigentum vernichten. Wie dürfen wir uns er-
dreisten, unsere Arme gegen jene zu erheben, die von Staats-
und Gesetzeswegen unsere Brüder sind?** Ein anderer hoher
Kirchenfürst, Nikanor, Erzbischof von Cherson und Odessa,
war es, der unseres Wissens zum ersten Male nicht von Juden,
sondern von „Russen jüdischen Glaubens** sprach, gelegent-
lich seiner Rede zur Einweihung der Kirche der Odessaer
Handelsschule im Jahre 1884.^)
Alle diese Urteile zerschellten aber am Widerstand, den
gerade die letzten Herrscher Rußlands der Verbesserung der
Lage der Juden entgegensetzten: Nikolaj I. befahl 1843 den
an der Grenze wohnenden Juden, ihre Heimat zu verlassen
und sich in sieben bestimmten Gouvernements anzusiedeln,
wo die jüdische Bevölkerung ohnehin schon groß war und nun
eine neue Million Armer das Elend vermehrte. Auf die soge-
nannte Nationaltracht der Juden wurde eine Steuer ausge-
schrieben, ebenso auf das koschere Fleisch. Der jüdische
1) Vgl. das merkwürdige Buch: ,,Die Juden in Rußland", herausgegeben
von August Scholz, Berlin 1900; enthaltend Urkunden und Zeugnisse russischer
Behörden, Staatsmänner, Offiziere, Verwaltungsbeamten, hoher Geistlichen,
Schriftsteller, Journalisten und drei öffentliche Kundgebungen. Das Original
dieses Buches, an welchem unbewußt die hervorragendsten Autoritäten des
Zarenreiches seit hundert Jahren mitgearbeitet haben, wurde in Petersburg
vor zehn Jahren in russischer Sprache gedruckt. Kein einziger Beitrag war
eigens für das Buch verfaßt, es enthielt bloß eine Zusammenstellung von Äuße-
rungen, die ursprünglich zu dienstlichen Zwecken oder gelegentlich brennender
Tagesfragen in den Kirchenpredigten und in den Zeitungen provoziert worden
waren. Neben dem dirigierenden Senat, der höchsten russischen Staatsbehörde,
und verschiedenen Ministerkomitees für die jüdischen Angelegenheiten kamen
Militär- und Zivilgouverneure, sowie Beamte jeden Grades aus allen Ver-
waltungskrciseu zum Worte. Die Geistlichkeit war durch Metropoliten, Erz-
bischüfe, bis herab zu einfachen Priestern vertreten. Ihnen gesellten sich Stim-
men von Literaten und Gelehrten, Kaufleuten und Industriellen. Bei jedem
Urteil und Zeugnis stand Name und Stand der verantwortlichen Urheber,
und Ort und Zeit war quellenmäßig angegeben. Das Buqh, das dank diesem
Reichtum unzweifelhaft echter Urkunden bestimmt schien, einen bedeutenden
Einfluß auf die Behandlung der Judenfrage in Rußland auszuüben, verschwand
aber fast spurlos vor der Veröffentlichung. Nur ein einziges Exemplar wurde
gerettet und ins Ausland gebracht. Es lag dem Übersetzer vor und wurde
dem Londoner British Museum übergeben, um dort als kulturelles Denkmal
zu verbleiben.
— 271 —
Fleischhauer durfte das für trefe befundene Fleisch nicht an
die Christen verkaufen, sondern mußte es vergraben. Die
rituellen Gesetze ignorierend sagten die Behörden: „Ihr eßt
es nicht, also ist es ungesund. Für das koschere Fleisch aber,
das ihr essen wollt, zahlt ihr dem Staate 21 Rubel per Stück." i)
Nach einem Gesetze von 18 17 sollten Juden, sobald sie in den
Militärdienst eintreten, das Bürgerrecht erhalten. Nikolaj I.
erkannte dieses Gesetz nicht an, und die Juden, die Soldaten
waren, mußten die Rekrutenabgabe weiterzahlen; als Grund
für diese Maßnahme wurde angegeben : daß die Juden bei ihrer
Lebensweise vom hochbesteuerten Branntwein weit weniger
verbrauchen und daher zu den indirekten Steuern nicht so
viel beitragen als die übrigen Staatsangehörigen. 2) Und Niko-
laj I. hatte in seiner Flotte 4000 Matrosen, in seiner Armee
10 000 Soldaten jüdischen Glaubens I Die jüdischen Soldaten
waren trotzdem stets Patrioten. Dies beweisen mehrere Doku-
mente russischer Generale von 18 12 bis 1880. Als der Korps-
kommandant Dawydow 18 12 in Grodno einrückte, hatte er
nur zu den Juden Vertrauen und setzte sogar einen Juden, ein
Mitglied des Kahals oder Gemeindevorstandes, zum Polizeichef
ein. Wie Dawydow, später noch Chomutow und Rajkowski
von dem jüdischen Patriotismus Beispiele anführen, so betont
Alexej Nikolajewitsch Kuropatkin, der frühere Kriegsminister,
die Tapferkeit jener jüdischen Soldaten, welche ihn auf einem
seiner Feldzüge in Transkaspien begleiteten : „Die Juden haben
ebenso heldenmütig zu kämpfen und zu sterben gewußt, wie
^) Allerdings ließ sich auch Österreich eine Sabbathlichtsteuer zahlen;
sie war 1797 auf Antrag eines Lemberger Juden statt der früheren Schutz-
steuer eingeführt worden. Friedrich der Große, der jeden nach seiner Fa9on
selig werden lassen wollte, hatte — um seine Porzellanfabrik zu heben —
verordnet, daß Juden nur dann heiraten durften, wenn sie eine gewisse Menge
Porzellanwaren gekauft hatten. Bis 18 13 bestand in Leipzig der jüdische
Leibzoll; er wurde dort erst charakteristischerweise von dem russischen Stadt-
gouverneur abgeschafft. Vgl. Nicolaus der Erste gegenüber der öffentlichen
Meinung von Europa, Seite 34, Anmerkung.
2) Nicolaus der Erste usw., S. 41. — Aber jenen Juden, die durch Ver-
kauf von Branntwein zu dieser famosen indirekten Steuer beitragen wollten,
wurde das Halten von Schänkcn verboten.
— 272 -
die übrigen russischen Soldaten.** Kuropatkin hat die gleiche
Erfahrung auch im Kriege mit Japan gemacht.
Daß die Juden, denen fast bis zum neunzehnten Jahr-
hundert Rußland noch verschlossen war, dort im Laufe eines
Säkulums auf mehrere Millionen angewachsen sind, ist in erster
Linie eine Folge der Eroberung Polens, Südrußlands, der Krym,
Kaukasiens und Transkaspiens, wo die Juden seit alten Zeiten
lebten. 1) Die russischen Regierungen und das russische Volk
haben diese miteroberten Millionen Untertanen und Mitbürger
zu dezimieren versucht. Früher begnügte man sich mit gesetz-
lichen Maßnahmen moralischer und wirtschaftlicher Natur.
Solche Gesetze gegen die Juden gibt es über tausend. Natür-
lich wie alles Russische ohne System, ein Chaos ohnegleichen,
unentwirrbare Widersprüche. Außer den tausend Gesetzen
hat man noch unzählbare Ministerialerlässe, geheime Rund-
schreiben, tausende Befehle der Gouverneure, der Polizei ; jedes
bheb in Kraft, obwohl späteres oft das Gegenteil des früheren
besagt. In diesen Judengesetzen ist das Recht wie Kautschuk
dehnbar nach Lust und Kraft jedes einzelnen: handelt es sich
um Rechte, so ist der Jude ein Fremdling, handelt es sich um
Pflichten, so ist er ein Inländer; will der Jude ins Ausland, so
gibt man ihm keinen Paß, will er friedlich im Inland bleiben,
so weist man ihn aus. Er muß seinen Militärdienst absolvieren,
sein Blut fürs Vaterland opfern, aber wenn er in den Krieg
zieht, verliert seine Familie das Wohnrecht, weil sie des Er-
nährers beraubt ist und nur er Wohnrecht hat. Der Jude muß
pünktlicher als jeder andere seine Steuer bezahlen, aber er hat
davon nur dann Vorteil, wenn er reich genug ist, auch die
Behörden separat zu bestechen. Er darf nur in bestimmten
^) Vgl. über die Juden in Kaukasicn: Bernhard Stern, Zwischen Kaspi
un<l Pontiis, Breslau 1897, S. 246 — 258; über die Juden in Mittelasien: Bern-
hard Stern, Vom Kaukasus zum Hindukusch, Berlin 1893. S. 206 — 220;
über die Juden in Südrußland: Haxthausen, Studien über die inneren Zu-
stände Rußlands, II 17, 19, 398 — 409. Ferner: Lanin, Kussische Zustände,
II 212 — 296; Sara Rabinowitsch , Die Organisation des jüdischen Proletariats,
Karlsruhe 1903 (besonders interessant für die Geschichte des vielgenannten
,,Bund"); endlich: Ehikjii ki. INnrirt, O'iepKii aKoHoMii'K'cicarn 11 urmuTTMemiam
nijTa nvccKux'i. oHpeein,. II. V. OpiiiaiieKJirM, (\-II«'H'i>ovpri,, 1877.
— 273 —
Rayons wohnen. Nur eine bestimmte kleine Zahl Juden darf
studieren. Zuweilen erscheinen einem Gouverneur oder Herr-
scher die modernen Gesetze und Erlässe nicht ausgiebig genug ;
dann greift man zurück in die fernsten Zeiten und frischt uralte
Ukase auf: Zar Alexej Michajlowitsch hatte den Juden ver-
boten, Christen in ihren Dienst zu nehmen; Nikolaj I., der die
Verschmelzung der Juden mit der übrigen Bevölkerung als ein
wünschenswertes Ziel bezeichnet, sucht dieses Gesetz des Zaren
Alexej hervor und bestätigt es im Jahre 1835, nachdem es
zweihundert Jahre vergessen gewesen; und Alexander IIL er-
weitert es : nicht bloß Dienstboten christlichen Glaubens dürfen
nicht bei Juden dienen, auch in den Kontoren und Fabriken
von Juden dürfen keine christlichen Beamten, Buchhalter, Direk-
toren angestellt werden; die Christen selbst protestieren da-
gegen, und dieser Protest erst annulliert 1887 das seltsame
Gesetz. 1) Unter Alexander IIL, der sich mit der französischen
Republik verbündet und entblößten Hauptes die Marseillaise
anhört, erreicht die Intoleranz ihre äußerste Grenze, kommt
in die Verfolgung endlich sogar System, wird der Haß der Ver-
ordnungen in blutige Pogrome umgesetzt. Man lenkt mit Be-
wußtsein die Wut und Blutgier des Volkes auf die Juden, man
macht die Juden zum Puffer in den Zusammenstößen zwischen
der Autokratie und der revolutionären Masse. Wenn der Stano-
woj das letzte Stück Vieh eines rückständigen Steuerzahlers
gepfändet hat, läßt er es durch den Juden verkaufen und lädt
dadurch die Wut des Beraubten auf den Juden und das jüdische
Volk. Wenn der Zar einen Krieg verliert, sind die Juden
schuld ; und selbstverständlich sind auch die Juden verant-
wortlich, wenn der Finanzminister kein Geld von Europa be-
kommt. Ist der Muschik vom Hunger geplagt und ziehen die
Arbeiter in Massen auf, nach Brot verlangend, dann veranstaltet
man ihnen Spiele, blutige Schauspiele, immer nach dem gleichen
Programm : Man proklamiert die Juden als Anarchisten, man
verliest auf öffentlichen Plätzen als Ukase des Zaren mörderische
Pamphlete, worin der Kaiser seinen treuen orthodoxen Russen
gestattet, drei Tage lang die Juden zu schlagen und zu plündern.
^) Lcroy-Bcaulicu, Das Reich der Zaren und die Russen, III 573, 580.
Stern, Geschichte der öflentl. Sittlichkeit in Rußland. ** jg
— 274 —
Nach diesem Prolog geht der Vorhang auf, und der Pogrom,
die Vernichtung beginnt, während Gouverneure und Behörden,
Polizei und Truppen aufpassen, daß sich ja keiner der Ver-
fehmten verteidige. 1881 wurde so die Stadt Baha, die fast
nur von Juden bewohnt war, der Plünderung preisgegeben:
von über tausend jüdischen Häusern blieben nur 40 verschont ;
alle anderen wurden gestürmt, bis auf den Grund zerstört.^)
Aus halb kindischer, halb barbarischer Zerstörungswut hat sich
der Spaß herausgebildet, bei Judenhetzen die Federbetten aus-
zuleeren, und wenn man heutzutage ein Judenmassacre an-
kündigen will, sagt man bloß : Federn fliegen I Aber auch
Synagogen und Friedhöfe werden nicht verachtet; ja, Ent-
weihung der Gräber, Besudeln der ThoraroUen ist nicht weniger
beliebt als Bettfedern fliegen lassen. Unter Alexander III.
beschränkte man sich auf Zerstörung des Eigentums ; die apo-
kryphen Ukase des Zaren befahlen nur Plünderung, sprachen
damals noch nicht von Tötung. Unter Nikolaj II. ist man fort-
geschrittener; da wird schon gemordet. Man lese den Bericht
der Zeitung „Hobocth" über das Massacre in Kischenew im
Jahre 1903: „Die Straßen gleichen Kirchhof alleen ; man sieht
die unglücklichen Juden wie Schatten auf den Straßen herum-
schleichen, die meisten mit Wunden am Kopf und im Gesicht.
Am zweiten Tage der Unruhen ließ die wütende Menge keinen
einzigen Juden auf der Straße vorbei, ohne ihn zu mißhandeln.
Besonders schwer haben diejenigen Juden gelitten, die an die-
sem Unglückstage die Trambahn benützten. Wenn die wütende
Menge bemerkte, daß in einem Trambahnwagen ein Jude saß,
so schrie sie den christlichen Passagieren zu: „Werft uns den
Juden heraus!" Der Jude wurde auch hinausgeworfen und
buchstäblich dem Mob ausgeliefert, der ihn dann in schreck-
licher Weise mißhandelte. Es sind uns viele authentische Fälle
bekannt, wo auf diese Weise aus den Waggons hinausgeworfene
Juden von der Menge auf der Stelle getötet wurden. Es sind
Fälle von geradezu bestialischer Verstümmelung von Leichen
festgestellt worden. Wir wollen hier einige Fälle, die uns von
einer sehr kompetenten Person, Dr. N. A. Doroschewski, dem
1) Ebenda 568. 569.
— 275 —
Arzt am Landschafts-Hospital, mitgeteilt wurden, anführen:
Der Jüdin Sura Fonarschi sind zwei Nägel in die Nasenlöcher
geschlagen worden, die durch den Schädel hindurchdrangen;
sie starb infolge dieser Wunden; dem Juden Lys sind die Ge-
lenke an Händen und Füßen auseinandergerissen worden ; dem
Juden Charifon wurden die Lippen abgeschnitten und dann
mit einer Zange die Zunge samt der Kehle herausgerissen ; dem
Juden Selzer wurde ein Ohr abgeschnitten, auch erhielt er
zwölf Wunden am Kopf; er wurde wahnsinnig und befindet
sich im Hospital; an der Ecke der Spieschnoj- und Gostinoj-
straße ergriff die Menge eine schwangere jüdische Frau, setzte
sie auf einen Stuhl, und dann schlug man sie mit Stöcken auf
den Leib; in der Zirovskistraße warf man aus dem zweiten
Stock kleine Kinder auf die Straße hinunter. Außerdem sind
viele Fälle von Vergewaltigung kleiner Mädchen bekannt, die
in den Händen ihrer Peiniger starben ; es wurde auch die Leiche
eines in zwei Teile zerrissenen Kindes gefunden. Die Zahl der
Getöteten und infolge der Wunden Verstorbenen beläuft sich
auf 47. Im jüdischen Hospital befinden sich mehr als hundert
Verwundete, darunter etwa 30, die fürs ganze Leben unbrauch-
bare Krüppel bleiben werden.** Die „Peterburgskija Wjedo-
mosti** teilen mit, „daß am zweiten Tage der Unruhen einem
jüdischen Tischler beide Hände mit seiner eigenen Säge abge-
sägt worden sind. Einer Frau ist der Bauch aufgeschlitzt und
sind die Eingeweide herausgerissen worden, und es sind dann
in den offenen Leib Bettfedern und Daunen gestopft worden."
Man schreibt aus Odessa, daß alles, was die Zeitungen bis
jetzt gebracht haben, bloß einen kleinen Teil der begangenen
Greuel betrifft: „Frauen wurden, nachdem man sie verge-
waltigt hatte, die Augen ausgestochen. Es sind in Wirklich-
keit 46 Menschen erschlagen worden ; 80 sind den Wunden
erlegen, 300 sind schwer verwundet, neun Kinder sind bestia-
lisch zu Tode gemartert worden. Die Krawalle waren gxit
vorbereitet und organisiert; Mitglieder der russischen, christ-
lichen, sogenannten guten Gesellschaft nahmen tätigen An-
teU."
Dasselbe Schauspiel erlebte man 1905, 1906, 1907 in Kijew,
in Bjalystok, in Odessa und in Siedletz. Über den Pogrom in
x8»
— 276 —
Siedletz im August 1906 hat der Rittmeister Pj^tuchew einen
geheimen Bericht an den Generalgouverneur von Warschau
verfaßt, der durch eine Indiskretion in die Öffentlichkeit ge-
langt ist^): „Am 11. August** heißt es darin, „wurde ich in
das Gendarmerieamt gerufen, wo über die Vornahme einer
allgemeinen Haussuchung beraten wurde. Der Chef der Schutz-
gamison, Oberst Tichanowsky, forderte sogleich, man solle
ihm einige angesehene Bürger der Stadt Siedletz nennen, die,
obgleich sie persönlich an der revolutionären Bewegung nicht
teilnehmen, sie doch auf irgend eine Weise begünstigen. Der
Oberst Tichanowsky äußerte die Absicht, diese Leute ins Ge-
fängnis zu werfen und sie als Geißeln zu behalten. Er wolle
ihnen erklären, daß sie im Falle eines Attentates auf irgend
einen Regierungsbeamten alle ermordet werden sollten. Oberst
Tichanowsky sagte, daß er die Verantwortung für alles auf
sich nehme. Als Oberst Tichanowsky gefragt wurde, auf welche
Weise die Geißeln getötet werden sollten, wandte er sich an
den Polizeichef mit der Frage, ob er ihm nicht einen Polizei-
diener zur Verfügung stellen könne, der bereit wäre, Wahnsinn
simulierend, die Geißeln im Gefängnis niederzuschießen oder
ihnen Arsenik in die Speise zu mischen. „Dem Terrorismus
der Revolution müssen wir einen noch schrecklicheren Terro-
rismus entgegenstellen**, fügte Oberst Tichanowsky hinzu.**
Der Bericht schildert dann, daß auch das Militär mit der Ab-
sicht, einen Pogrom zu veranstalten, bekannt wurde; die Sol-
daten sagten: „Wir werden ihnen schon einen guten Pogrom
machen, wir werden schonungslos handeln**. In der ersten
Nacht der Beschießung von Siedlctz, gegen 3 Uhr, am 27.
August, wollte Oberst Tichanowsky aus den Kasernen des
Dragonerregiments das Militärorchester zu sich kommen lassen,
was ihm jedoch verweigert wurde. Da versammelte er einen
Soldatenchorus, und der Gesang erscholl mitten unter dem
Knattern der Gewehre, dem Blutvergießen, den Plünderungen
und der Feuersbrunst. Oberst Tichanowsky erklärte später,
daß er damit den Geist der Soldaten habe heben wollen. End-
^) Mitgeteilt von der Russischen Korrespondenz in Berlin. Vgl. Erste
Beilage zur Vossischen Zeitung vom 29. November 1906.
— 277 —
lieh, einige Tage nach den Unruhen, als ein Gerücht im Umlauf
war, daß Oberst Tichanowsky ermordet worden sei, kam er
zu der Schwadron, deren Kommandierender er früher war,
teilte den Soldaten dieses Gerücht mit und bat sie, daß sie,
wenn er wirklich getötet werden sollte, seinem Andenken zu
Ehren bis zu den Ohren tüchtig im Blute baden sollten. Das
erzählten später bei einem Frühstücke die Dragoneroffiziere,
indem sie das mutige Benehmen des Obersten Tichanowsky
als Vorbild hinstellten. Die Einzelheiten des Pogroms schildert
der Bericht also: „Am 26. August, um 8V2 ^^s Abends, er-
schollen in der Stadt einige Revolverschüsse und sofort ant-
worteten die Truppen mit einer Beschießung der Stadt, wobei
sie durchaus keine Rücksicht darauf nahmen, ob aus dem
betreffenden Hause geschossen worden war oder nicht. Die
Truppen verfuhren schonungslos gegen die friedliche Bevöl-
kerung. Ich selbst war zugegen, als in das Polizeiamt einige
Leute, hauptsächlich alte Juden, hineingeschleppt wurden, und
sah, wie eifrig die Soldaten in Gegenwart des Obersten Ticha-
nowsky die Leute mit Kolben mißhandelten. Ich sah auch,
wie ein Dragoner in der Nähe des Polizeiamts in die Wohnung
des Kreisrichters Herrn Mudrow Schüsse abfeuerte. Ich war
auch Zeuge, wie ein Dragoner zum Obersten Tichanowsky
kam, um ihn um Patronen zu bitten, und wie dieser bemerkte :
„Es sind zu wenig Tote**. Als ich dies alles sah, bat ich den
Obersten Tichanowsky, das unsinnige Schießen und Schlagen
einzustellen und sich lieber mit planmäßiger Aufsuchung der
Revolutionäre zu befassen. Dabei lenkte ich seine Aufmerk-
samkeit darauf, daß die Truppen, besonders ohne Nahrung,
bald ermüdet sein werden und daß gegen Abend die Revo-
lutionäre vielleicht etwas ernsteres vornehmen könnten. Ich
bekam zur Antwort, daß die Schlacht bei Ljaojang 12 Tage
gedauert habe, und daß, wenn es nötig sein werde, er zwei
Wochen auf dem Stuhle vor dem Polizeiamt zu sitzen bereit
sei, und weiter, daß es in der Stadt genug Läden mit Nahrungs-
mitteln gäbe, so daß es für alle ausreichen würde. Das alles
wurde in Gegenwart der Soldaten gesprochen. Schon in der
ersten Nacht wandten sich die Dragoner an die Gendarmerie-
Unteroffiziere Andrejuk und Sajaz und baten um Petroleum,
— 278 —
um die Häuser in Brand zu setzen. Befragt, wie sie das tun
dürften, antworteten die Soldaten: „So ist es befohlen." Die
Plünderungen fanden auch in der ersten Nacht statt. Zur
Zeit der Abenddämmerung am 27. August wurden die Truppen
ganz zügellos. Alle Bierhallen und einige Weinlager wurden
von ihnen überfallen; alles wurde ausgeplündert, zum Teil
auch ausgetrunken. In der zweiten Nacht waren die Truppen
fast durchweg besoffen.** — Dieser Bericht ist ein so krasses
Dokument russischer Wildheit und Moral, daß er hier ehrlich
seinen Platz verdiente.
37. Grausamkeit im Familienleben.
Russischer Frauencharakter — Zarin Maria die Tscherkessin — Zarin Präs-
kowja — Greueltaten der Edelfrauen — Gräfin Ssaltykow — Fürstin Koslo-
wskij — Sadistische Verbrechen — Los der Kammerzofen — Das Familien-
leben — Eltemmord bei den alten Slawen — Elternmord bei den Tschuktschen
— Vatermord bei den Osseten — Russische Gesetze — Zar Alexej gegen seinen
Schwiegervater — Peter der Große gegen Mutter und Sohn — Verwandten-
mord und Aberglaube — Schwiegertochter und Schwiegermutter — Kinder-
mord aus religiösem Fanatismus — Gefühllosigkeit der russischen Mutter —
Die Grausamkeit in der Ehe — Das Schlagen der Frau — Sprichwörter und
Volkslieder — Seltsamer Hochzeitsbrauch — Das Weib als Eigentum des
Mannes.
Den Männern stehen die Frauen an Grausamkeit nicht
nach. Manche behaupten sogar, daß die Weiber in Rußland
im allgemeinen barbarischer und grausamer als die Männer
seien; es komme daher, daß sie unwissender und abergläu-
bischer, daß sie seltener reisen, weniger lernen und gar nicht
arbeiten.!) Das kann sich natürlich nur auf die Frauen der
Vornehmen beziehen, die immer von Dienern umgeben sind,
1) Geheime Nachrichten über Rußland (von Masson), deutsche Ausgabe,
II 159. — Das gleiche sagt Petri, Esthland und die Esthen, I 364 von den
baltischen Edelfrauen: ,,Im allgemeinen sind die Damen härter als die Herren.
Sie ohrfeigen ihre Mägde mit der Hand, schlagen sie mit dem Pantoffel, lassen
sie niederstrecken und geben ihnen die Peitsche. Die Ausländerinnen, die
hergeheiratet haben, tun ebenso."
— 279 —
tags faul auf dem Sofa liegen, ihre Nächte am Spieltisch ver-
bringen, nichts lesen. Die Abwechslung in ihr Nichtstun bringt
die Grausamkeit, die Züchtigung der Dienerschaft. Die höchst-
gestellten Frauen gingen mit dem Beispiel voran. Von den
Frauen auf dem Throne, deren Willkür und Laune das Volk
anheimgestellt war, ist schon die Rede gewesen. Aber auch
die Frauen, die nicht als Herrscherinnen, sondern bloß als Zaren-
Gemahlinnen figurierten, sind meist durch nichts anderes be-
rühmt als durch ihre Grausamkeit. Die zweite Frau Iwans des
Schrecklichen, die Tscherkessin Maria, wetteifert mit dem Ge-
mahl in wilden Sitten und stachelt den Tyrannen zu immer
gräßlicheren Taten auf.^) Praskowja, die Witwe des Zaren
Iwan Alexejewitsch, erscheint nachts im Preobraschensker Pri-
kas (Gerichtshof) und befiehlt, daß man ihren Hofbeamten
Derewnin wegen eines geringen Vergehens vor ihren Augen
foltere ; man ist ihr offenbar zu mild, denn sie greift selbst zum
Knut und haut eigenhändig auf den Delinquenten los; dann
läßt sie ihr Opfer mit Talg und Scheidewasser überschütten
und anzünden.2)
Die elegantesten Damen betrachten das Schlagen der
Dienerschaft als ihr selbstverständliches Privilegium. Man be-
findet sich mit der vornehmen Hausfrau vielleicht in einem
Gespräch über Humanität, und da unterbricht sie die Konver-
sation durch den Befehl, diesen oder jenen Diener zu peitschen.^)
Der Barbarei gesellt sich die raffinierteste Wollust. Die Herrin
verfehlt nicht, den Exekutionen persönlich beizuwohnen und
erfreut sich am Blut, das sie fließen sieht, empfindet sadistische
Wonne beim Anblick der heruntergerissenen Fleischfetzen. Eine
Frau von Drewnik läßt einem dreizehnjährigen Mädchen, weil
es schlecht gesponnen, die Finger mit dem Flachs umwickeln
und zündet letzteres eigenhändig an. Mit den wunden Fingern
kann die Ärmste natürlich nicht besser spirmen. Sie wird daher
mit in Salzwasser geweichten Ruten gepeitscht, in einen kalten
^) Karamsins Geschichte des Russischen Reiches, VIII 37.
2) M. II. CeMCBCKift, OnepKn I: Uapima ITpacKOBhii 1664 — 1723. Ha^ianie
BT«HHM», C.-TIeTepöyprL 1883. — TmiOf^evh, Kcropiji HaKai^arnft, crp. 65.
^) Geheimnisse von Rußland, I 231.
— 280 —
Keller gesperrt, muß mehrere Tage himgemd auf Hecheln
stehen und in den an der Wand angebundenen Händen Butter
und Brot halten, während rundum die übrigen Bedienten ihre
Mahlzeit genießen. Die Tochter des Hauses, ein zwölfjähriges
Mädchen, macht Zangen und Nadeln glühend und zwickt und
sticht mit ihnen das blutende verschmachtende Opfer, das unter
diesen Qualen schließlich zusammenbricht. Die Affäre kommt
vors Gericht, imd es erfolgt wunderbarerweise eine Bestrafung
der Herrschaft ; aber nur deshalb, weil das Opfer während der
Foltenmg gestorben ist; hätte das Mädchen seiner Herrschaft
den Gefallen getan, erst später zu sterben, so wären die Mörder
straflos ausgegangen. 1) Im Sommer 1794 läßt die baltische
Edelfrau von H. eine Magd wegen eines schlecht gefalteten
Oberhemdes so entsetzlich peitschen, daß die Bestrafte be-
sinnungslos liegen bleibt. 2) Eines Morgens vergißt das Kammer-
mädchen der Frau von K. für den Schoßhund Sahne zu
machen; die Dame ruft zornig die Leute zusammen, um dem
schuldigen Mädchen in aller Gegenwart eine Lektion zu geben ;
aber das Schauspiel kann nicht stattfinden, denn die Haupt-
person hat sich aus Angst vor Schande und Schmerz ertränkt. 3)
Zur Zeit Alexanders I. läßt eine Edeldame ein Mädchen zur
Strafe für ein Vergehen bloßfüßig auf glühende Kohlen stellen
und ihre Hände in siedendes Wasser tauchen ; und dann werden
dem Opfer noch Nadeln in das Fleisch eingetrieben.
Solcher Megären sind zahllose. Der Gräfin Daria Niko-
lajewna Ssaltykow Greueltaten sind uns zum Teile nicht mehr
unbekannt; diese Dame wütete von 1756 bis 1762, und Katha-
rina IL bereitete ihr erst ein Ende, als es dem Bauern Jermolaj
gelungen war, zur Kaiserin zu dringen und ihr zu klagen, daß
seine Herrin ihm nacheinander drei Frauen getötet. In dem
Prozeß, den Katharina gegen die Gräfin anstrengen läßt, wird
konstatiert, daß dem Ungeheuer in den 6 Jahren wenigstens
138 Menschen zum Opfer fielen. Die Verbrechen wurden nicht
einmal auf einem weltabgelegenen Gute begangen, sondern
1) Merkel, Die Letten, 172.
2) Ebenda 168.
2) Ebenda.
— 281 —
im Zentrum von Moskau, in dem gräflichen Palast auf der be-
lebtesten Straße der Residenz, der Kusnezkaja. Folgendes wird
bei Gericht konstatiert : Die Ssaltykow knutet einen Mann eigen-
händig halbtot, dann stellt sie ihn im strengsten Winter nachts
in den Schnee und begießt ihm das Haupt mit siedendem
Wasser. Eine schwangere Frau läßt sie schlagen, bis die
Gequälte unter der Peitsche niederkommt; die unbarmherzige
Herrin aber schreit: „Schlagt weiter, schlagt sie tot!** und als
der Befehl pünktlich vollzogen ist, legt sie auf die Leiche der
Mutter das neugeborene Kind, um es Hungers sterben zu lassen.
Die Gräfin hat den Edelmann Tjutschew zum Geliebten; er
reißt sich von ihr los und heiratet ein Mädchen; wütend be-
fiehlt die Verlassene ihren Leuten, das Haus des Ungetreuen
niederzubrennen und das junge Paar zu töten. Die Phantasie
des Volkes begnügt sich nicht mit den aktenmäßig festgestelhen
Greueln und dichtet der Ssaltykow noch an, daß sie sich zum
Mahle geröstete Frauenbrüste vorsetzen läßt. Im Prozeß wird
aber kein Fall von Anthropophagie bewiesen — es gibt nur
barbarisch-sadistische Morde. Und das Resultat des Prozesses ?
Die Angeklagte leugnet. Um sie zum Geständnis zu bringen,
erdenkt man eine eigene Art Tortur : man fohert einen Mann
vor ihren Augen und droht ihr mit demselben Schicksal. End-
lich wird über sie das Urteil gesprochen : der Tod durch
Henkershand! Aber der Senat begnadigt sie zu Knut und
Zwangsarbeit. Katharina II. findet auch dies zu viel für ein
paar Dutzend Ermordungen von Leibeigenen. Die Ssaltykow
wird also bloß eine Stunde lang auf dem Schaffot ausgestellt
und dann in ein Kloster gesperrt, und lebt hier friedlich bis
1801, darf sich sogar einen Soldaten als Liebhaber halten.^)
Die Justiz ist wahrlich noch skandalöser als die Verbrechen
es sind. Aber niemand regt sich deswegen auf. Denn die
Gräfin Ssaltykow ist keine Ausnahme, sondern auch wieder
nur Eine von Vielen. Zu Beginn der Regierung Katharinas
gibt es noch ein Dutzend ähnlicher Prozesse. Und von wie
manchen solcher Frauen erfahren wir gar nicht oder nur durch
versteckte Aufzeichnungen in verschollenen Memoiren und
1) Waliszewski, La dernidre des Romanov, 228, 229.
— 282 —
Büchern der Zeitgenossen! So erwähnt Major Masson als
Beispiel aller Verbrechen und Ausschweifungen eine Fürstin
Koslowskij. Diese läßt Männer nackt ausziehen und in ihrer
Gegenwart mit Ruten hauen; dabei zählt sie kaltblütig die
Streiche und treibt den Büttel an, immer stärker zu schlagen.
Lascive Phantasie bereichert die Barbarei, die Grausamkeit
wird zum Sadismus. In Anfällen von viehischem Zorn und
wenn sie betrunken ist, bindet die Fürstin männliche Leibeigene
an Pfähle und läßt sie durch Sklavinnen peitschen oder durch
Himde zerfleischen. Oft ergreift sie selbst die Ruten und
haut auf die Geschlechtsteile los, oder sie nimmt brennende
Lichter und verbrennt den Bestraften die Schamhaare. Weiber
dagegen läßt sie auf dieselbe Weise durch Männer behandeln,
oder sie legt die Brüste der Gepeinigten auf eine kalte Marmor-
platte und schlägt dann auf die zarten Teile. ,,Ich habe selbst,"
schreibt Major Masson i), „eine von den LTnglücklichen ge-
sehen, an der sie diese unmenschliche Strafe vollzogen hatte.
Das unglückliche Mädchen war gänzlich zum Krüppel gehauen ;
sie hatte ihr die Finger in den Mund gesteckt und ihr die
Lippen bis zu den Ohren aufgerissen. Ich habe, sage ich, dieses
bedauernswerte Geschöpf selbst gesehen, wie sie, so zerrissen
und zerfleischt, ihr elendes Leben in einem Stalle zubrachte,
wo die übrigen Bedienten sie aus Barmherzigkeit verborgen
hielten und ernährten. Ihr Verbrechen hatte darinnen be-
standen, daß ihre Messaline sie in Verdacht hatte, als teile sie
mit ihr die Liebkosimgen eines ihrer verächtlichen Günstlinge.
Durch ähnliche Abscheulichkeiten, die sie schon in Moskau
begangen hatte, sah sich der Bruder dieser Tisiphone endlich
genötigt, sie nach Petersburg zu schicken, um sie der Rache
des Volkes zu entziehen. Aber auch dort führte sie unter dem
Schutze eines mächtigen Verwandten ihr satanisches Leben
fort. Sie lebt noch, ist ohngefähr 40 Jahre alt, ihr Körper ist
von einer außerordentlichen Größe und Dicke; sie gleicht
einer von den Sphynxen, die man unter den gigantischen Monu-
menten der Ägypter findet.**
Für die Kammerzofen dieser furchtbaren Weiber waren
1) Geheime Nachrichten über Rußland. II 163 (deutsche Ausgabe).
— 283 —
die Toilettestunden die gefährlichsten Augenblicke des Tages.
Der Arzt Wichelhausen i) überraschte, wenn er in diesen Stun-
den bei den vornehmen Familien seine Besuche machte, zu-
weilen „eine solche kleine Tyrannin bei den unbarmherzigsten
Mißhandlungen derer, die sich die äußerste Mühe gaben, ihre
Reize durch geschickte Anordnungen des Haarputzes zu er-
höhen: eine einzige kleine Locke, die nicht nach dem Sinne
der gebietenden Dame ging, gab oft die Veranlassung zu den
ärgsten Auftritten. Eine Dame bestrafte ihre Zofen beim Kopf-
putzen für das mindeste Versehen gewöhnlich mit 25 und mehr
Ohrfeigen, die eine Zofe der anderen geben mußte, bis den
armen Geschöpfen das Gesicht entsetzlich aufschwoll.** Das
Prügeln war den Damen die angenehmste Zerstreuung. Schasch-
kow erzählt 2) von einer Prinzessin Daria Galitzyn, die beim
Besuche eines Gastes auf ihrer Datscha (Sommervilla) folgende
Begrüßung vom Stapel ließ: „Welch ein Glück! Ich lang-
weilte mich schon so sehr, daß ich meine Leute peitschen ließ,
um mir die Zeit zu vertreiben!** Ein anderer Russe, Danilow,
berichtet in seinen Memoiren aus der Zeit Annas 3), daß eine
seiner Verwandten jedesmal, wenn sie sich zur Tafel setzte,
um Schtschi mit Hammelfleisch, ihre Lieblingsspeise zu ge-
nießen, ihre Köchin kommen und sie bis zur Beendigung der
Mahlzeit peitschen ließ. Dieser Spektakel und das Schreien
der Geschlagenen machten der Herrin Appetit. Fast mild
und sanft erscheint dagegen die Oberstenfrau, die ihren Kut-
scher halbtot ohrfeigen läßt, weil er zu rauchen wagt, obwohl
sie den Tabakgeruch verabscheut.
Bei solcher Grausamkeit der Frau muß das Familienleben
jeder Anmut und Freundlichkeit entbehren. Wenn die Frau,
die Seele der Familie, in Roheiten schwelgt, so kann im
Schöße der Familie nicht Platz sein für Sanftmut und Frohsinn.
Die Kinder sehen Tag für Tag das Schauspiel brutaler Züch-
tigungen, hören das Geheul der Geschlagenen, das Wimmern
^) Züge zu einem Gemähide von Moskwa, S. 258.
*) In seiner Geschichte der nissischen Frau, 1879, p. 321. Vgl. Wali-
szewski, L'h^ritage de Pierre le Grand, 170, 171.
3) Ebenda.
— 284 —
der Verwundeten mitleidslos an. Ja manche Eltern rufen ihre
Kinder nicht bloß zum Zusehen, sondern drücken ihnen auch
die Peitsche in die Hand, um ihnen einen Begriff ihres Standes
zu geben. In vielen adeligen Häusern bekam früher das Herren-
kind zur Gesellschaft ein Leibeigenenkind, über das es herr-
schen konnte nach Herzenslust, das es schlagen durfte nach
dem Beispiel der Großen. i) Nein, unter diesen Verhältnissen
können Liebe und Achtung nicht gedeihen. Die Familiensitten
der Russen waren ohnehin von altersher rauh und imfreund-
lich. In den heidnischen Zeiten hatte sogar die Mutter das
Recht, wenn die Familie zu zahlreich war, die neugeborene
Tochter zu töten ; doch war sie verpflichtet, des Sohnes Leben
zum Dienste des Vaterlandes zu erhalten. Die Kinder wiederum
durften die Eltern töten, die wegen Krankeit oder Alters-
schwäche den Angehörigen zur Last fielen. 2) Bei den Tschukt-
schen werden, wie bekanntlich bei vielen Naturvölkern die alten
Leute, die Eltern noch heute von den Kindern oft als unnütze
Esser beseitigt. Gewöhnlich verlangen die Eltern selbst drin-
gend ihre Tötung, fordern sie von ihren Söhnen als Kindes-
pflicht, so daß der Vater, dessen Sohn sich weigern würde ihn
zu erstechen, dem Sohn fluchen und dieser vom ganzen Stamm
als pietätlos gebrandmarkt werden würde. Bei der Tötung
wird wie folgt verfahren : Mit seinem Festkleide angetan, kauert
der Greis auf Seehundsfellen hinter einem Vorhang nieder,
so daß ihn die Anwesenden, auch der Sohn, nicht sehen. Der
letztere durchbohrt mit einer Lanze den Vorhang, der Greis
richtet dann selbst die Speerspitze gegen seine nackte Brust
und ruft : Stoß zu ! Wenn dabei, was aber selten vorkommt,
die Hand des Sohnes zittert, so (der Gewährsmann, der dies
erzählt, hat die Worte selbst gehört) ruft der Vater (oder die
Mutter) : ,, Warum zittert deine Hand ? Soll ich nicht in ein
besseres Land hinübergehen, wo ich nicht mehr hungern werde ?
*) Petri, Esthland und die Esthen, I 366. Man lese auch die ,, Memoiren
einer russischen Tänzerin", die so furchtbare Episoden aus dem Leben der
russischen Großen enthüllen, daß ihre Originalausgabe in französischer Sprache
gleichwie die deutsche Übersetzung nur als Privatdrucke erscheinen konnten.
-) Karamsins Geschichte, I 51.
— 285 —
Stoße noch einmal zu und zittere nicht. *'i) Bei den Osseten in
Kaukasien wird dagegen mit einem Vatermörder schrecklich
verfahren. Man legt ihn, und zuweilen mit ihm seine ganze
Familie, gebunden in sein Haus und verbrennt dieses mit allem,
was darin steht und weilt, alle Gerätschaften, alles Vieh, man
rottet die ganze Wirtschaft mit Stumpf und Stiel aus. Bei
anderen Gelegenheiten teilen die Osseten das Eigentum des
Verurteilten untereinander auf; aber von den Sachen eines
Vatermörders will niemand etwas nehmen.^)
Den neuen Russen hat schon Zar Alexej Michajlowitsch
strenge Gesetze nicht nur gegen Eltemmord, sondern selbst
gegen bloße Beleidigung der Eltern gegeben. In seiner yjio-
»enie aus dem Jahre 1649 bezeichnet Alexej als Verbrechen, die
am Leben oder Leibe gestraft werden müssen 3): „Wann ein
Sohn oder Tochter ihren Vater oder Mutter todtschlüge, so
sollen sie davor am Leben gestrafft werden. Wann ein Sohn
oder Tochter mit anderer Bey-Hilffe den Vater- oder Mutter-
Mord verrichtete, so sollen auch diejenige, so ihnen geholffen,
ohne alle Gnade am Leben gestrafft werden. Wann ein Sohn
oder Tochter das Christenthum vergässen, und ihren Vater
oder Mutter grob anführen, oder gar mit der Hand schlügen,
und ihre Eltern darüber klagen würden, so sollen sie mit der
Knute geschlagen werden. Wann ein Sohn oder Tochter ihrem
Vater oder Mutter ihr Gut mit Gewalt abnähmen, und mit
Hindansetzung des ihnen schuldigen Respekts sie von sich
jagen, und einiger Verbrechen beschuldigen wolten, oder wenn
ein Kind seine Eltern in ihrem Alter nicht emehrete, noch ihnen
das nöthige darreichete, und die Eltern desfals klageten, so soll
iasselbige ohne Barmhertzigkeit mit der Knute geschlagen, der
Beschuldigung nicht geglaubet, und ihm aufs kräfftigste anbe-
fohlen werden, seinen Eltern ohne Widerrede zu gehorchen.
Wann ein Kind seine Eltern gerichtlich belangete, so soll es
nicht gehöret, sondern mit der Knute gestrafft, und seinen
^) Vgl. die Mitteilung des Amerikaners Bogoroz: Elternmord bei den
Tschuktschen, Globus Bd. 84, Nr. 15, S. 243.
2) Kohl, Südrußland. I 308.
'^) Russisches Landrecht (übersetzt von Struve) XXII. Gap. Dantzig 1723.
— 286 —
Eltern abgeliefert werden.** Aber der Gesetzgeber selbst, Zar
Alexej, kümmert sich nicht um seine Gesetze. Zu großer Ver-
wunderung der europäischen Diplomaten behandelt der Herr-
scher seinen Schwiegervater Ilja Danilowitsch Miloslawskij, den
Zar und Zarin nicht Schwiegervater oder Vater, sondern wie
einen Diener einfach Ilja nennen, in schändlichster Weise vor
dem ganzen Hofe. Gerät der Zar in Zorn, so reißt er den
Schwiegervater am Bart und an den Haaren. Als Ilja dem
Schwiegersohn einmal einen Rat anzubieten wagt, erhält er diese
Antwort : „Wie, Infamer von Geburt I ? Rühmst du dich, mili-
tärische Kenntnisse zu besitzen? Alter Narr, laß dich auf-
hängen.** Und der Zar erhebt sich von seinem Thron, stürzt
auf seinen Schwiegervater los, gibt ihm kräftige Ohrfeigen
und befördert ihn mit Fußtritten aus dem Saal.^) Alexejs Sohn,
Peter der Große, weiß auch nichts von Zärtlichkeiten gegen
seine Familie. 1694 konunt Peters Mutter zum Sterben. Der
Sohn will nicht bei ihr bleiben in ihrer letzten Stunde, er hat
wichtigeres zu tun. Und als die Mutter gestorben, befiehlt
Peter, sie möglichst schnell zu beerdigen, damit er durch diese
Affäre nicht zu lange aufgehalten werde.
Der Kindesmord wird von den Gesetzen nicht mit so
schwerer Strafe bedroht wie der Eltemmord. Im Gesetzbuche
Alexejs, das für Eltemmord Todesstrafe festsetzt, heißt es:
„Wann ein Vater oder Mutter ihren Sohn oder Tochter todt-
schlügen, so sollen sie davor ein Jahr im Gefängniß sitzen, imd
nach Verlauff desselbigen in die Kirche kommen, und ihre
Sünde öffentlich, daß es jedermann höret, bekennen, aber
nicht am Leben gestraffet werden.**^) Krasse historische Bei-
spiele von Sohnesmord sind die Ermordung des Thronfolgers
Iwan durch Iwan den Schrecklichen^) und die Hinrichtimg des
Thronfolgers Alexej durch Peter den Großen. Man weiß, daß
zahlreiche Zeitgenossen behaupten, Peter sei sogar der Henker
seines Sohnes gewesen. Eines österreichischen Diplomaten Be-
^) Relation d'un voyage en Moscovie en 1688, 6crite par Augustin Baron
de Mayerberg, Paris 1858. II iio.
*) Russisches Landrecht, Dantzig 1723. XXII. Cap., Artikel 3.
^) Karamsin, VIII 284. — Ich habe von dieser Tragödie schon in einem
früheren Kapitel gesprochen.
— 287 —
rieht 1) erzählt: „Weil sich niemand wollte finden lassen, der
die Hand an seinen Kronprinzen, um solchen zu torquieren,
hätte legen wollen, so nahm der Czaar solches Amt Selbsten
über sich; da Er aber dieses Amt noch nicht so meisterlich,
als der ordinaire Büttelknecht verstehen mogte, versetzte er
seinem Sohn mit der Knutpeitsche einen solch unglücklichen
Streich, daß Er gleich sprachlos zur Erde sank, und die an-
wesende Ministri nicht anders meinten, als daß der Prinz so-
gleich verscheiden würde; der Vater hörete zwar auf zu schla-
gen, ließ sich aber im Weggehen diese heßliche Worte ver-
lauten: der Teufel wird ihn doch nicht holen.** Lamberti^)
sagt geradezu : „Sehr sonderbar ist es, daß der Czar, nachdem
er ihm selbsten die Knutpeitsche gegeben, so eine Art Folter
ist, ihn auch selbst enthauptet.** Andere stellen den Verlauf
der Tragödie folgendermaßen dar : „Peter versuchte dem Sohne
einen Giftbecher zu reichen. Alexe j weigerte sich das Gift zu
schlürfen. Da ließ ihm der Czar durch den Marschall Adam
Weyde mit einem Beile den Kopf vor die Füße legen, nachdem
man zuvor die Vorsicht gebraucht hatte, eine Diele im Fuß-
boden auszuheben, um das Blut in den Schutt rinnen zu lassen.
Eine Maitresse Peters, Mamsell Kramer, mußte des Prinzen
Haupt wieder an den Leichnam annähen, der dann mit einem
dicken Tuche um den Hals öffentlich ausgestellt wurde zur
Unterstützung der Mär, Alexej sei aus Angst an einem Herz-
schlag gestorben. **3)
Wie die Herren so die Knechte : Zur Zeit Elisabeths macht
großes Aufsehen die Affäre des Edelmanns Neledinskij, der
seine leibliche Mutter aus einem geringfügigen Anlaß mit den
Pleti unbarmherzig schlagen ließ.*) Die Leibeigenen aber
1) Bei Büsching, XI 487.
2) Bei Büsching, III 224.
3) Russische Günstlinge (von Heibig), S. 100. — Schmidt Phiseldek,
Hermäa 1786, S. 245 und Einleitung in die russische Geschichte, II 300. —
Spittler, Europäische Staatengeschichte, II 593 (3. Auflage). — Coxe, Reise,
I 422. — Herrmann, Geschichte des russischen Staates, IV 321, 330. — Sugen-
heim, Rußlands Einfluß, I 169. — Brückner, Peter der Große (in Onckens
Weltgeschichte) und Waliszewski, Pierre le Grand.
*) Tmiü(|ieeirt. llciopia iiaKiiaiiEiü, crp. 191.
— 288 —
htrmen noch weniger Ehrfurcht vor den Ehern oder Liebe zn
ihnen. Aid^ einem baltischen Gute ereigDcn sieb in onean «n-
zigen Jahre folgende Famijientragödien : Zweimal »yidcD Fhcra
von ihren Söhnen blutig get-chlagen. Ein Bruder eisrhlagi
anderen im Zank. Ein Haurvater der die Schenke mcSxt
lassen vrUL wird von einerr. Familierinijtglied gewaltsam
geschleppt, erschlagen und obendrein kastriert.^.,
zählt- aus dem Ji^hre 1794 ein charakteristisches
.,Ein Lette ertrank. Indeß wir uns bemühten, den \
glückten ins Leben zu rufen, legie sich seine ganze Famüie
uns her zum Schlafen nieder. Nach einer Stunde
ein Bruder des Ertrunkenen und fragt : ob unsere V
Erfolg gehabt. Nein, ist unsere Antwon. Da nimmt er
Pelz des Ertnmkenen und legt sich wieder damit zugedeckt
nieder."
Im Jahre 1906 geschah im Dorfe Zionschen im Slnpezfcer
Kreise, i*Te die russischen Tagesblätter berichteten, ein scJireck-
liches Verbrechen: Die Einwohnerin des' genannten Dorfes,
namens Jadwiga Ssoßnowskaja, die ihre 84jährige Mutter,
eine kränkliche und pflegebedürftige Frau, loswerden woDte,
schleppte die Greisin in einen Schweinestall imd ließ sie hier
verhungern. Diese unnatürlichen Verbrechen hängen aller-
dings oft mit dem Aberglauben zusammen. Weiber, die im
\*erdachte stehen, mi: dem Teufel Verbindung zu haben, tct-
liertn das Rech: auf die Achtung ihrer nächsten Verwandten;
Söhne foltern ihre Mü:-er. Männer ermorden ihre Weiber.
ih'i^ foltert in; Dorf" Vod-äna^'a im Gouvernement Taurien
f in Bauvr gemeinsam m:t ^inen Kltem seine Frau, weil sie
Zauberei L'et rieben hal-^.-r. soll; Gatte und Schwiegereltern hän-
gen die h'exe ar. den Haaren auf und zwicken ihren nackten
Körji'er mit g/jhenden Bratpfannen. Im Bauemieben kämpfen
Sch'A-iegerrr.utter und Sch"w-iegertochter auf solche Weise oft
den Ents'^.heidungirkan^.pf um die Herrschaft im Hause aus.
Eine junge Frau leidet an Zuckungen. Der Mann begießt am
l:^irten<'>^:erf eiertage die Kirchenglocke mit geweihtem Wasser.
) Merke!, Ln*: L'.tt'.i. S. 5
; Ebenda.
— 289 —
fängt die Tropfen in einem Glase auf, gibt seiner Frau dies
Wasser zu trinken und fragt sie, wer sie behext habe. Sie
nennt die Schwiegermutter. Der Gatte beruft darauf seine
Nachbarn imd legt seiner Frau die Frage nochmals vor; sie
nennt abermals kategorisch die Schwiegermutter und bezeichnet
den 21. November als den Tag des Unglücks. Nun bringt man
die Schwiegermutter herbei. Als diese ins Zimmer tritt, erleidet
die junge Frau einen Anfall; sie wirft sich auf die Schwieger-
mutter und schlägt sie. Also kein Zweifel, die Alte ist eine.
Zauberin. Da wirft sich auch der Sohn auf die zu Boden ge-
sunkene Greisin und haut auf sie los. Die übrigen Anwesenden
legen der Hexe einen Strick um den Hals und schleppen sie
in den Keller, um sie zu bewachen, bis der Scheiterhaufen für
sie errichtet worden. Ehe aber die Familie an der Hexe Ge-
rechtigkeit üben kann, holt der Teufel ihre Seele und rettet
seine Kreatur vor dem Feuertode. Im Kreise Myschkin des
Gouvernements Twer wird 1893 eine Mutter, die der Sohn als
Hexe betrachtet, von ihm ermordet. In einem zivilisierten Ge-
biete Mittelrußlands glaubt ein Ehepaar, es sei vom Teufel
besessen, und die unreine Macht wohne in der Mutter des
Mannes. Die Schwiegertochter fordert die Schwiegermutter
auf, gewisse Gebete zu lesen, ein Kummet umzulegen und
andere Mittel zu erproben, um den Beweis zu liefern, daß sie
keine Hexe. Aber die Mutter fühlt sich nicht belastet und
weigert sich zu tun wie die Kinder verlangen. Diese meinen:
das sei der Trotz Satans, und rufen die Verwandten zu Hülfe.
In deren Gegenwart setzt sich die Schwiegertochter zur
Schwiegermutter und ruft: „Geh hinaus, unreine Macht, aus
der Dienerin Gottes!** Die Alte wehrt sich, das ist abermals
Satans Trotz. Man packt sie also, schleppt sie auf die Straße
und würgt sie, und als man endlich ihr Todesröcheln vernimmt,
jubelt alles: „Satan geht heraus!** Wie sich die Schwieger-
tochter derartig von der Schwiegermutter befreit, so kann auch
der Mann auf ähnliche Weise seine Frau los werden. 1890
behauptet der Bauer Slynew im Kreise Karatschew des Orlow-
schen Gouvernements, seine Frau sei eine Hexe und habe ihm
Impotenz angezaubert ; er treibt ihr die unreine Macht so kräftig
aus, daß sie tot liegen bliebt. Erblustige Söhne zögern nicht,
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit ia Rußland. ** X9
f
— 290 —
mit Hülfe der Praktiken des Aberglaubens ihre Eltern vor-
zeitig ins Jenseits zu befördern. In dem Twerschen Gebiete
gibt es 1874 Massenfolterungen und Verbrennungen von
Vätern und Müttern. 1889 stirbt im Dorfe Tamuschi im Ssu-
chumschen Kreise einer Witwe ein Sohn und ein anderer
erkrankt bald darauf. Man ruft Wahrsager zu Hülfe, und
diese bezeichnen die Mutter als Hexe ; sie verordnen : die Hexe
soll vor dem Volk ihre Sünden bereuen oder sich der pein-
lichen Befragung durch glühendes Eisen imterziehen. Der
kranke Sohn gibt zu allem seine Zustimmung. Man errichtet
«
einen Scheiterhaufen und fordert die Frau auf, ihre Sünden
zu bekennen oder sich dem Feuer anzuvertrauen. Sie ver-
hert vor Schrecken die Sprache; dies gilt als Beweis ihrer
Schuld, man bindet sie an eine Stange und röstet sie über
dem Feuer.
Ereignet sich solches in den zivilisierten Gebieten des
europäischen Rußlands, so ist es in den asiatischen Gouverne-
ments selbstverständlich etwas alltägliches. Im Turchanschen
Kreise des Gouvernements Jenissei stirbt im Zelte des Ostjaken-
geschlechts Kussamin der Großschaman Iwan. Seine Ver-
wandten vollziehen die Begräbnisfeier, da geschieht es, daß
der Sohn Nikolaj aus Gram über den Tod des Vaters sich
plötzlich entkleidet, mit aufgerissenen Augen und aufgesperr-
tem Munde auf die Verwandten losstürzt und schreit: „Ich
werde euch alle aufessen.** Er springt auf seine eigene Mutter
zu, beißt ihr ein Stück von der Jacke herunter und verschluckt
es. Man hält ihn für einen bösen Zauberer, und die Mutter
ist es, die die Männer beauftragt, ihren Sohn auf einen Eichen-
pfahl aufzuspießen und zu verbrennen. i) Neben derartigen
Morden aus Aberglaube gibt es Sohnesmord aus religiösem
Fanatismus. Im Jahre 1847 wollte ein Muschik aus dem Gou-
vernement Perm mit einem Schlage seiner ganzen Familie
den Himmel erschließen, indem er sie dem lieben Gott opferte.
Ein anderer Bauer im Gouvernement Wladimir erschlug seine
1) Vgl. Aberglaube und Strafrecht von August Löwenstimm, Gehilfe
des Juriskonsul ts im Justizministerium zu St. Petersburg. Aus dem Russischen.
Berlin 1897. S. 51, 52, 54, 62, 63.
— 291 —
zwei Söhne und erklärte dann vor Gericht: er habe seine
Kinder vor der Sünde bewahrt. Im Jahre 1870 ahmte der
Muschik Kurtin im Gouvernement Wladimir die Opferung
Isaaks durch Abraham nach; er band sein siebenjähriges Söhn-
chen auf eine Bank, schlitzte ihm den Bauch auf und begann
zu den Heiligenbildern zu beten. „Verzeihst du mir?** fragte
der Vater das sterbende Kind. „Ich verzeihe dir, und Gott
verzeiht dir auch,** stöhnte das Opfer. Vor Gericht gestellt
gab der Muschik an, er hätte das getan, um Gott wohlgefällig
zu sein. Zwanzig Jahre später, um 1890, ereignete sich fast
genau das gleiche. Ein Bauer, namens Aslamasow, erstach
auf dem Altar, das Beispiel Abrahams nachahmend, sein sieben
Monate altes Kind. Eine symbolische Legende „von der Frau
Hallelujah*' billigt diese Form der Elternliebe: „Frau Halle-
lujah saß an einem Wintertage vor dem geheizten Ofen und
hielt ihr Knäblein in den Armen. Da trat plötzlich das Jesus-
kind in die Isba und bat um Schutz vor seinen Verfolgern.
Vergeblich sah sich das Weib nach einem Versteck um. Da
sagte das Jesuskind: „Wirf deinen Knaben in den Ofen und
nimm mich in die Arme statt seiner.** Die Frau gehorchte,
und als die Verfolger des Christuskindes kamen, wies sie auf
den Ofen, darin ihr Kind verbrannte. Kaum waren die Wider-
sacher von dannen gegangen, so fing sie an, ihr Kind zu be-
weinen. Das Christkind aber gebot der Frau: „Blicke in deinen
Ofen!** Sie schaute hin und sah im Ofen einen lieblichen küh-
len Garten, worin ihr Kind mit den Engeln singend herum-
spazierte. Darauf verließ Christus die Frau, nachdem er ihr noch
ans Herz gelegt hatte, sie tnöge die Frommen anweisen, die un-
schuldigen Leiber ihrer kleinen Kinder den Flammen zu weihen.**
Diese Weisung ist oft genug befolgt worden. Eine Bäuerin,
die ihr kleines Mädchen auf solche Weise Gott zum Opfer ge-
bracht hatte, erklärte den Richtern: „Ich bin der Frau Halle-
lujah nachgefolgt, freuet euch, das Kind ist im Himmelreich 1**^)
Gänzlich schwindet alles verwandtschaftliche Gefühl in
Perioden der Epidemien und Hungersnot. Wir haben früher 2)
1) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren und die Russen, III 353, 354«
«) Band I, S. 456, 457.
19*
— 292 —
Beispiele von Grausamkeit der Eltern gegen ihre Kinder in
Zeiten der Teuerung kennen gelernt. Aber auch sonst ist die
russische Mutter bei der geringsten Gefahr, die ihr droht, schnell
entschlossen, eher ihre Kinder als sich zu opfern. Berühmt
ist die Anekdote, die die Gefühllosigkeit der russischen Mutter
charakterisiert: Eine Frau, die mit ihren Kindern mitten im
Winter über Land fährt, wird von Wölfen angefallen; um
die wütenden Tiere aufzuhalten, wirft sie ihnen ein Kind nach
dem anderen vor, und auf diese grausame Weise rettet sie
ihr Leben.
Schließlich ist die Grausamkeit auch die Beherrscherin
des ehelichen Lebens, der Stock regiert das Haus und lehrt
Liebe. Herberstein soll zuerst die seither häufig wiedererzählte
Geschichte von der Russin erzählt haben, die, an einen Aus-
länder verheiratet, sich darüber beklagt, ihr Mann liebe sie
nicht, denn er schlage sie nicht. Spätere Schriftsteller i) sagten
zwar: „Dasjenige / so Johannes Barclaius, Petrus Petraeus und
einige andere erzehlen / nemlich / daß die moscowitische Wei-
ber gerne sehen / daß sie ihre Männer schlagen / und daß
je mehr Schläge sie bekämen / je mehr sie glaubeten / daß
sie von ihnen geliebet werden / ist eine Fabel.** Aber der
russische Historiker Karamsin-) meint, wenn die Erzählung
Herbersteins, ,,die zum Sprichwort geworden, auch nur zum
Teil wahr sei, so erinnere sie doch an die alten slawischen
Gebräuche und die rohen Sitten der Zeiten Batüs.** Die kör-
perlichen Züchtigungen kannte man in allen Teilen der Ver-
waltung, sie regierten in der Justiz, in hunderten Gesetzartikeln,
sie beherrschten das gesellschaftliche Leben, regelten den Ver-
kehr zwischen den Hohen und Niedrigen, den Herren und
den Leibeigenen; der Domostroj, das russische Lehrbuch des
guten Tones, hatte die Peitsche in das Familienleben eingeführt,
sie dem Vater bei der Erziehung der Kinder und dem Gatten
zur Behandlung der Gattin empfohlen. Als ganz selbstver-
ständlich erscheint da das Züchtigungsrecht des Mannes, die
1) Religion der Moscowiter / oder ausführliche Beschreibung derer
Religion usw., S. 95, 96.
?) Geschichte VIT 173.
— 293 —
Ansicht: die Frau muß Prügel haben; oder selbst diese: die
Frau will geprügelt sein. Eines Gatten Schläge schmerzen
nicht, tröstet das Sprichwort die Frauen ; aber gleichzeitig eifert
es die Männer an: Liebet euere Frauen wie euere Seele imd
klopft sie wie eueren Pelz. Lieb wie die Seele dein Weib und
schüttle wie die Birne ihren Leib. Nachsicht gegen die Frau
bringt nur Unheil. Gibst du deiner Frau keinen Hieb, so hat
sie dich nicht lieb. Das alte Heldenlied von der gemein-
samen Fahrt der Degen II ja und Dobrynja^) erzählt, wie die
beiden das berüchtigte Weib Gorinka treffen, das kräftig wie
ein Recke und ewig nach Kämpfen lüstern ist. Als es zum
Kampfe kommt, sagt Ilja zu Dobrynja : „Haue das Weib nicht
mit der Keule, haue das Weib nicht mit dem breiten Schwerte.
Solche Waffen sind für Männer. Schlage dem verfluchten
Weibe mit der Hand ins Antlitz, stoße und tritt es mit dem
Fuße: solche Dinge bezwingen die Weiber.**
In einem Hochzeitslied bittet die junge Frau den Gatten:
„O mein Teurer, mein Inniggeliebter, schlage dein Weib nicht
ohne Grimd, schlage dein Weib nur mit gutem Grund und
wemi es dich sehr gekränkt hat.**^) In einem anderen Volks-
liede singt die junge Frau: „Was bist du mir für ein Gatte,
für ein Mann? Du raufst nicht mein Haar und du schlägst
mich nicht!*' 3) Einem altrussischen Hochzeitsbrauch zufolge
*) Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde, S. 55.
2) Schein, Russische Volkslieder, I 403. — Vgl. Leroy-Beaulieu, Das
Reich der Zaren, I 414.
3) Die Welt der Slawen von Fr. von Hellwald. S. 213. Hier wird auch
das spanische Sprichwort zitiert : Mucho me quiere porque mucho me aporrea ;
er liebt mich sehr, weil er mich viel prügelt. — Bei den Bewohnern von Guiana
wird die Ehebrecherin zur Strafe geprügelt. Als ein Franzose solch einem Schau-
spiele beiwohnte und die Frau retten wollte, wehrte sie sich schäumend vor
Wut gegen die Hülfe und schrie: ,,Wenn mein Mann mich schlägt, so tut er
es, weil er mich liebt." Vgl. Zimmermann, Taschenbuch der Reisen, V. —
Bei den Orientalen ist das Schlagen der Frauen in Blüte, Sultanin und letzte
Sklavin stehen unter der Zuchtrute des Herrn und des Kislaraga. Die strengen
Züchtigungen der Frauen bei den Griechen und Römern sind bekannt. Moses
räumte den Hebräern das Züchtigungsrecht in der Ehe ein. Die Perser schwingen
unerbittlich die Peitsche im Hause. In den romanischen Staaten prügelte man
die Frauen häufig, und die altfranzösischen Gedichte und Romane erzählen
— 294 —
zeigte der Vater der Braut dieser eine Rute, gab ihr einige
Streiche damit und sagte: „Siehe, meine liebe Tochter, das
sind die letzten Schläge, die du von meiner Hand bekommst.
Ich entlasse dich aus der väterlichen Gewalt und übergebe
dich der deines Gatten. Erweisest du ihm jemals nicht den
gebührenden Gehorsam, so möge er dich an meiner Statt durch
diese Rute an deine Schuldigkeit erinnern.** Mit diesen Wor-
ten übergab der Vater der Tochter das Zweiglein, das bei den
Frauen Altrußlands, wie der Chronist sagt, gleiches Ansehen
genug Beispiele. Man lese die 38. Novelle der Cent nouvelles nouvelles:
„Une verge pour l'autre." Um 1820 wurde allerdings in Frankreich der Mann,
der seine Frau geschlagen hatte, strafweise auf einem Esel herumgeführt
(Dictionnaire de la p6nalit6, V 151). Auch in Deutschland kam es vor, daß
Männer ihre Frauen schlugen. Im Juristischen Vademecum für lustige Leute
(Frankfurt und Leipzig 1789, I 34) finde ich folgende Geschichte: Eine Frau
klagte ihren Mann auf die Ehescheidung wegen Mißhandlung. Unter den
Zeugenartikeln, welche sie gegen ihn übergab, war folgender: „Wahr, daß
Produkat die Producentinn geschlagen, daß sie eine Schwüle auf dem salva
venia Hintern gehabt I" — Der Mann formierte dabey das Fragstück: „Wie
hoch, wie breit und wie lang die Schwüle auf dem s.v. Hintern gewesen?"
worauf Zeuge antwortete: ,, Zeuge habe sie nicht gemessen." — Viel häufiger
scheint es in Deutschland vorgekommen zu sein, daß die Weiber ihre Männer
geschlagen. Wenk gibt in seiner Hessischen Landesgeschichte eine Nachricht
darüber, daß die Stadt Darmstadt jährlich 12 Malter Korn für einen besonderen
Gebrauch bestimmte, nach welchem die ihre Männer schlagenden Weiber gestraft
wurden. Eine Familie der Stadt bekam dieses Korn und hatte dafür die Ver-
pflichtung auf Ersuchen der Stadt einen Esel zu schicken, auf dem eine Frau,
die ihren Mann zu schlagen gewagt hatte, durch die Stadt geführt wurde.
Dieser Gebrauch bestand im sechzehnten Jahrhundert. Ein amüsantes Doku-
ment hierüber enthält das zitierte Juristische Vademecum, I 16. — Zum
Schlüsse will ich erwähnen, daß es eine interessante „Abhandlung über den
Gebrauch der Alten ihre Geliebte zu schlagen" gibt; das Büchlein erschien 1766
in Berlin und wurde 1856 in Stuttgart nachgedruckt. Die Einleitung weist
auf ein französisches Original hin, doch hielt man diesen Hinweis für fingiert.
Es ist mir jedoch geglückt, das seltene französische Original zu erlangen: Me-
moires de l'Academie des sciences, inscriptions, belles lettres, faux arts etc.
nouvellement stabile ä Troyes en Champagne. Tome I et II. A Troyes, chez
le Libraire de l'Academie (natürlich fingiert I). Et se trouve ä Paris chez Du-
chesne, Libraire, rue Saint Jacques, auTemple de goüt, 1756. Außer einigen
skatologischen Stücken findet man hier im zweiten Bande, S. 43 — 145 : Disser-
tation sur l'usage de battre sa maitresse.
— 295 —
genoß wie der Trauring.^) Die Tochter nahm es und sagte:
„Ich nehme es als Geschenk an imd hoffe, daß es nicht nötig
sein wird für mich.**^) Der englische Arzt Collins erzählte,
daß man dem Bräutigam bei der Hochzeit eine Peitsche in den
Stiefel legte als Zeichen seiner Gattenmacht.^) Das gleiche
wird auch von anderen berichtet : „Der Bräutigam hat in dem
einen seiner halben Stiefeln eine Peitsche / imd in dem andern
einen Edelgestein oder etwas Geld / befiehlet darauff der
Braut ihn auszuziehen / und wenn es sich zuträgt / daß sie
den Ersten Stiefel ergreifft / wo der Edelgestein drinne ist /
so giebt er ihr denselben / imd das ist ein glücklich Zeichen
vor sie; wann sie aber zuerst die Peitsche ertappet / hält man
sie vor unglücklich / und ihr Mann giebt ihr damit einen
Streich zu ihrer Straffe / und das ist nun der Anfang dessen /
was sie folgends wird auszustehen haben.*) Die Manier / wie
die Russen ihre Weiber tractiren / ist noch sehr grausam und
unmenschlich / ob sie schon viel geringer ist / als sie vor-
malen war. Es sind 3 oder 4 Jahr / daß ein Kauffmann
nachdem er seine Frau auffs greulichste geschlagen hatte /
selbige zwang ein Hembde in Brandewein eingedaucht anzu-
ziehen / welches er mit Feuer anzündete / und solche jänmier-
lieh in der Flamme umkommen ließ. Das wunderlichste hier-
bey ist / daß Niemand diesen Tod rächet / weiln kein Gesetz
wider sie vorhanden ist / welche ihre Weiber umbringen /
imter dem Vorwand einer Züchtigung. Andere von diesen
Barbam hängen die Ihrigen mit denen Haaren auff / ziehen
sie gantz nacket aus / und peitzschen sie.**^) Es gab aber auch
Väter, die ihren Töchtern ein solches Los ersparen wollten
und daher bei der Hochzeit kontraktliche Versicherung des
Ehemannes verlangten: daß er gegen seine Gattin „freundlich
sein, sie stets mit gutem Essen versorgen, sie nicht peitschen.
^) Bernhard Stern, Die Romanows, Intime Episoden aus dem russischen
Hofleben. Berlin 1906. (3. Auflage), I 37.
2) M. 3a6bi.inin., PyccKitt napojq», ero oöbPia«, oÖpaAM, npej^anifl, cyeirfepifl
11 iioaaifl. MocKBJi 1880, cri). 551.
^) THMo«|H?eirb, Ilcrropifl HUKasaHÜi, 191.
*) Reise nach Norden, S. 126.
•') Ebenda 128.
— 296 —
nicht mit den Füßen stoßen noch mit Faustprügeln übel trak-
tieren werde.** Solche Versicherungen waren wohl von prob-
lematischem Werte, denn allgemein klagt man noch lange
fort, daß die Moskowiter ihre Frauen grausam behandeln.
„Man siehet sie nicht selten ihre Weiber auf öffentlichen Gassen
dergestalt prügeln, daß sie heulen und bluten,** schreibt ein
Reisender!) lun die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Peter
der Große emanzipiert die Frau gesellschaftlich, reformiert
ihre Tracht, aber von der Peitsche befreit er sie nicht ; er selbst
peitscht nicht bloß seine Gemahlin Eudoxia, sondern auch
seine Maitressen; einmal erwischt der Zar das junge Fräulein
Matwejew, die er der Ehre, sein Lager teilen zu dürfen, ge-
würdigt hatte, in den Armen eines Rivalen; er ist gnädig imd
will der Majestätsverbrecherin nicht ans Leben, er prügelt sie
bloß tüchtig durch imd verheiratet sie dann mit dem Bojaren
Rumjäntzow.2) Ein berüch:igter Haustyrann ist W. F. Ssolty-
kow, der Oheim der Zarin Anna Iwanowna; er prügelt seine
Frau so kräftig, daß sie tot auf dem Platze bleibt. Des Mordes
angeklagt verteidigt er sich mit den Worten: „Ich wollte sie
wahrhaftig nicht zu Tode schlagen. **3) Daß er überhaupt vor
Gericht gestellt wird, ist ein Wunder, geschieht vermutlich
nur deshalb, weil die Erschlagene, eine geborene Dolgoruckij,
der vornehmsten Familie des Landes angehört hat.
Im allgemeinen ist die Frau vogelfrei, der Gatte hat alle
Rechte über sie; das Weib ist das Eigentum des Mannes, mit
dem er schalten kann wie er will ; und wenn einer im Zorn seine
Frau erschlägt, so wird dies nicht als schlimmer angesehen
denn Tötung eines leibeigenen Knechtes^), von Strafe ist keine
Rede.^) Erst das Strafgesetzbuch Nikolajs I. hat es für nötig
befunden, den Männern für schlechte Behandlung ihrer
Gattinnen Vergeltung anzudrohen; außer der mißhandelten
^) Abschnitte aus Peter von Haven, Nachrichten aus Rußland. Bei
Büsching, X 347.
2) Waliszewski, Pierre le Grand, 217.
") Waliszewski, L'h^ritage de Pierre le Grand, 170.
*) Russische Anerdoten, Wansbeck 1765. S. 57.
^) Etat present de la Grande-Russie par le capitaine Jean Perry. Traduit
de TAnglois. A la Haye 1717. p. 192.
— 297 —
Frau sind auch ihre Eltern klageberechtigt. i) Seither bemühen
sich die Gerichte die Frau zu schützen, aber beim Muschik
dürfen sie sich nur weniger Erfolge rühmen. Der Muschik
will nicht verstehen, daß man ihm das Recht seine Lebens-
gefährtin zu züchtigen nehmen könne. Ein wegen Mißhandlung
seiner Frau vor den Richter gebrachter Bauer antwortete auf
die Anklage: „Aber das ist mein Weib, das ist mein Eigen-
tum !**2) Wird der Mann einmal gestraft, so ist dies für die
Frau, wenn sie bei dem Gatten bleibt, durchaus nicht günstig,
er prügelt sie nur noch mehr; deshalb finden sich die Frauen
zumeist mit ihrem Schicksal in Geduld ab. In einigen Gou-
vernements haben die Frauen auch in neuer Zeit seit Jahr-
zehnten nicht ein einziges Mal die Hülfe des Gerichtes ange-
rufen. Doch gibt es Ausnahmen. 1892 ereignete sich der
früher ganz undenkbare Fall, daß eine Frau nicht bloß gegen
ihren Gatten, sondern auch gegen ihren Schwiegervater klag-
bar auftrat, und dann stellte sich heraus, daß sie Hiebe prompt
immer mit Hieben beantwortet hatte. 3) Welche Qualen muß
ein russisches Weib erst erduldet haben, um zur Befreiung
aus ihrem Elend gar kein anderes Mittel zu sehen als die
Tötung des Mannes. Während die Ermordung der Gattin
früher kein Aufsehen machte, wurde die Ermordung des Gatten
durch seine Frau stets furchtbar gestraft, durch Verbannung
der Mörderin oder durch Vergraben bei lebendigem Leibe.
In jüngster Zeit haben aber die Geschworenengerichte fast
stets milde geurteilt, zumeist sogar einen Freispruch gefällt,
was als Beweis dafür gelten kann, daß die Stellung der Frau
auch in den unteren Klassen eine geachtetere geworden ist.
^) Strafgesetzbuch des Russischen Reichs, promulgirt im Jahre 1845,
§ 2075,
2) Leroy-Beauheu, das Reich der Zaren, II 246.
^) IIoKpoiiCKirt, iKiiBan crapEua, VI 457: 0 ceMeÜHOMT» nojiOHceHÜt Kpe-
CTflHCKOft axeuiuiiHU.
SIEBENTER TEIL:
Das Weib und die Ehe
38. Geschichte der russischen Frau. —
39. Stellung der Frauen bei den nicht-
russischen Völkern Rußlands. —
40. Frauenraub und Frauenmarkt. —
41. Schönheitsideal, Schminke imd Liebe.
— 42. Hochzeitsbräuche und Hochzeits-
lieder der Russen. — 43. Hochzeitsbräuche
der nichtrussischen Völker Rußlands. —
44. Ehescheidimg. — 45. Ehebruch. —
46. Uneheliche Kinder, krimineller Abortus
und Kindesmord.
38. Geschichte der russischen Frau.
Grausamkeit gegen die Frau — Stellung der Frau bei den alten Slawen —
Großfürstin Olga von Kijew — Altrussische Amazonen — Die Poleniza der
Heldenlieder — Frau und Aberglaube — Frauenkauf Ursache der Erniedri-
gung — Witwenverbrennung — Verachtung der Frau — Bedeutende Frauen
des alten Rußland — Elena Glinski} — Ein Privilegium der Edeldamen —
Abgeschlossenheit der Frauen — Terem — Unreinigkeit der Frau in den
Augen des Volkes — Eine Schilderung Daniel des Verbannten — Ein Urteil
der Raßkoljniki — Die Kosaken gegen die Frauen — Anempfehlungen des
Domostroj — Berichte der Europäer aus dem siebzehnten Jahrhundert —
Zarin und Zarentöchter — Kotoschichins Klage — Zarin Natalia — Zarewna
Sofia — Emanzipation durch Peter den Großen — Die neuen Moden — Frauen
auf dem Throne — Roheit der Aristokratinnen — Die Weiber auf dem Lande
— Epoche Katharinas II. — Liste der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen
— Frauen-Romane des neunzehnten Jahrhunderts — Die ersten barmherzigen
Schwestern — Ein Ausspruch Mentschikows — Die Frauen in der Revolution
— Forderungen der Gräfin Ina Kapnist — Weibliche Dorfverwaltung — Stel-
lung der Frau des Muschik.
„Eine Henne ist kein Vogel, ebensowenig ist ein Weib
ein menschliches Wesen/* sagen die Russen und meinen, daß
die brutale Mißachtung der Frau weder den Himmel beleidige,
noch die irdischen Gesetze verletze. Wir haben schon erfahren,
wie das russische Volk in seinen Sprichwörtern und in der
rauhen Wirklichkeit die Frau zu behandeln liebt. Der Gatte
scheint sich tatsächlich erst wohlzubefinden, wenn er die Gattin
tüchtig durchgeprügelt hat ^) : „Wer nicht Wein trinkt, ist nicht
betrunken, und wer sein Weib nicht schlägt, kann nicht glück-
lich sein.** Man fürchtet sich nicht, des Guten dabei zuviel
zu tun; denn „ein Weib ist keine Erbse, man kann es nicht
zertreten.** Man schlage die Frau also „mit dem stumpfen
^) Lanin, Russische Zustände, II 57.
— 302 —
Ende der Axt und bücke sich und sehe, ob sie noch atmet;
und wenn sie noch lebt, dann ist es ein Zeichen, daß sie noch
mehr braucht.**
Was ist die Ursache solcher Grausamkeit und Verachtung,
dieser niedrigen und entwürdigenden Stellung, die der Frau
in Rußland in solchen Volksworten zugewiesen wird?. Bei
den alten Slawen haben manche Frauen große Rollen gespielt,
hohe Macht innegehabt; ja bei einigen slawischen Völkern
waren die ersten Regenten, Gesetzgeber, Richter, Organisa-
toren, Städtegründer nicht Männer, sondern Frauen. Man er-
innere sich der von Sagen und Legenden verherrlichten Libussa,
der Begründerin der böhmischen Pfemyslidendynastie, die so
weise geherrscht und angeblich sogar die Hauptstadt Prag ge-
gründet hat. Man gedenke auch der Freundin der Libussa,
jener Wlasta, der Urheberin des böhmischen Mädchenkrieges,
und Gründerin von Djewin (Mädchenburg), die auf radikale
Weise ein neues Amazonenreich schaffen wollte, indem sie
befahl: allen männlichen Kindern das rechte Auge auszu-
reißen und von jeder Hand Zeigefinger und Daumen abzu-
hacken.
Als in Kijew das erste russische Fürstentum entstanden
war, gab diesem Reiche eine Frau, die Großfürstin Olga, Halt
und Organisation, das Christentum und die Macht. Die Tra-
dition nannte Olga die Listige, die Kirche hieß sie die Heilige,
und die Geschichte bezeichnete sie als die Weise. Nachdem
sie an den Feinden den Mord ihres Gatten gerächt hatte, ver-
stand Olga dem Lande Frieden und Ruhe zu schaffen bis zu
ihres Sohnes Swjätoslaw mannbarem Alter. „Mit der Tätig-
keit eines großen Mannes," sagt Karamsin^), „begründete sie
Ordnung in dem weiten und neuen Reiche ; sie schrieb vielleicht
keine Gesetze, doch gab sie die einfachsten und allemotwendig-
sten Verordnungen jenen in der Kindheit der bürgerlichen
Gesellschaft lebenden Menschen. Die Großfürsten bis auf Olga
kriegten, sie aber regierte das Reich. Von ihrer Weisheit über-
zeugt, überließ ihr Swjätoslaw auch im männlichen Alter, wie
es scheint, die Verwaltung im Innern. Unter Olga wurde Ruß-
^) Geschichte des russischen Reichs, I 144.
— 303 —
land in den entferntesten Europäischen Ländern bekannt. Die
deutschen Annalisten sprechen von Olgas Gesandtschaf t an den
Deutschen Kaiser Otto I. Vielleicht hatte die Russische Groß-
fürstin von dem Ruhme und dem Siege Ottos gehört, wünschte
nun, daß auch ihm von Rußlands Größe Kunde würde, und bot
durch ihre Gesandten ihm ein Friedensbündnis an. Endlich
diente Olga, da sie eine feifrige Christin geworden, nach Nestors
Ausdruck, als Morgenrot des Heiles, Wladimir zum erwecken-
den Vorbilde und bahnte dem wahren Glauben in unserem
Vaterlande den Weg."
Die Slawinnen gingen zuweilen mit ihren Vätern und Gatten
in den Krieg und fürchteten den Tod nicht; so fanden die Grie-
chen unter den bei der Belagerung von Konstantinopel im Jahr
626 getöteten Slawen viele weibliche Leichname, i) Im heu-
tigen Rußland war ja die Heimat der Amazonen gewesen, und
die Erinnerung an diese klingt nach in den ältesten russischen
Heldensagen, den Bylinen von Fürst Wladimirs Tafelrunde,
worin die Poleniza, die Heldin, gar manchem tapferen Helden,
selbst dem gewaltigen Degen Dobrynja und dem unbesieglichen
Muromer Ilja gefährlich wird. Ilja findet eine würdige Gegnerin
in Palka, der Tochter des Briganten Ssolowe j (Nachtigall).
Eine furchtbare Poleniza ist Nastasia, „die immer zu Pferde
ist." Der Held Dunay Iwanowitsch will sie gewinnen; man
warnt ihn: ,, Beginne keine Feindseligkeiten gegen sie, denn
sie wird dich erschlagen, sie ist viel stärker als du." Und schon
kommt auch Nastasia „wie ein Berg" herbeigestürzt. Aber
die Liebe bezwingt sie, und Dunay führt sie als seine Gattin
an Wladimirs Hof nach Kijew. Hier verspottet Nastasia die
Kijewer Helden : „Wohl niemand übertrifft den Wladimir an
Glück, niemand den Ilja an Riesenkraft, den Aljoscha an Toll-
kühnheit, den Potyk an Schönheit, den Dobrynja an Höflich-
keit, den Dunay an Redekunst, den Djuk an Reichtum, den
Tschurilo an Zierlichkeit ; geht er durch die Straßen, so laufen
ihm die Frauen und Jungfrauen nach; niemand aber schießt
so gut wie ich. Halte, o mein Gemahl Dunay Iwanowitsch,
einen Ring auf deinem Haupte, in diesen Ring will ich dreimal
') Ebenda I 51.
-< 304 --
treffen, ohne ein Haar zu berühren, ohne daß der Ring herab-
fälh." Dunay Iwanowitsch geht mit Nastasia ins offene Feld,
häh einen Ring auf dem Haupte, und Nastasia schießt dreimal
in diesen Ring, ohne ein Haar zu berühren, ohne daß der Ring
herabfällt. Besonderes Mißgeschick verfolgt den Degen Do-
brynja Nikititsch in seinem Kampfe mit einer anderen Nastasia.
Ein Lied erzählt : Hervor aus den Bergen, hervor aus den
hohen, hervor aus den Wäldern, hervor aus den dunklen, trat
nicht das lichte Morgenrot, stieg nicht die goldene Sonne auf:
ein guter Held ritt heraus. Ein berühmter Held, der junge
Dobrynja Nikititsch, zog da zu Wanderfahrten in die weite
Welt. Da sah er vor sich eine gewaltige Heldin, Nastasia Mi-
kulischna. Er schlug nach ihr zweimal mit seinem Schwerte,
aber sie blickte nicht zurück. Beim dritten Male wandte sie
sich um, packte den Helden mit einer Hand, riß ihn an seinen
roten Haaren von der Erde empor und steckte ihn samt seinem
Rosse in ihre tiefe Tasche. Da klagte ihr gutes Roß über die
große Last: „Früher mußte ich nur eine Heldin tragen, jetzt
aber muß ich eine Heldin, einen Helden und sein Roß tragen
— was Wunder, wenn ich bald zusammenbrechen werde?**
Die Liebe ist es abermals, die die beiden endlich versöhnt.
Denn als die Heldin Nastasia Mikulischna ihr Roß klagen hörte,
sagte sie : „Ich will dich, mein gutes Roß, von der großen Last
befreien, ich will den fremden Helden und sein Roß wieder
aus meiner tiefen Tasche ziehen. Ist der Held alt und gefällt
er mir, so soll er mein Vater heißen; ist der Held jung und
gefällt er mir, so soll er mein lieber Freund sein ; gefällt er mir
aber nicht, so setze ich ihn samt seinem Rosse auf eine Hand
und drücke mit der anderen so lange zu, bis er samt seinem
Rosse platt wird wie ein Pfannkuchen.*' Sie zog den jungen
Helden aus der tiefen Tasche und er gefiel ihr. Da sprach
sie also: „Junger Held Dobrynja Nikititsch, du gefällst mir,
ich will dich heiraten. Wenn du aber nicht willst, dann töte
ich dich.** Dachte sich Held Dobrynja: Wenn sie mich töten
will, kann ich mich nicht wehren, denn sie ist viel stärker als
ich. Doch sie ist ein stattliches, schönes Weib, ich will sie
also heiraten. „Ich will dich heiraten, starke Heldin Nastasia
Mikulischna,*' sagte Dobrynja. Sie küßten sich, ritten zu-
— 305 —
sammen nach Kijew und hielten dort Hochzeit.^) Wehe dem
Manne, der seiner Heldengattin die Treue zu brechen wagt.
Eine Poleniza droht einem solchen Ungetreuen: „Ich habe
zwei Degen, ich habe zwei Dolche. Ich werde mir ein Kissen
machen aus deinen Armen und deinen Beinen; ich werde mir
Bier brauen aus deinem Blute; ich werde mir Licht gießen
aus deinem Fett.** Und sie hält ,Wort, tötet den Verräter, ruft
seine Verwandten zu einem Feste und sagt ihnen: „Ich sitze
auf den Armen und Beinen des 'Geliebten, ich trinke Bier von
seinem Blute und sein Fett leuchtet mir.** 2) Auch als Magierin
genießt die altrussische Frau Ansehen. Man glaubt, das Weib
stehe in Verbindung mit der übernatürlichen Welt, sei im
Besitze geheimer Kräfte. Wenn in Zeiten des Hungers die
Gerüchte sich verbreiten, daß die Weiber in ihren Adern Ge-
treide und Lebensmittel verborgen haben, so finden sie Gehör,
und das Volk stürzt sich auf die Frauen, um ihr Blut zu
trinken. 3)
Und das sagenhafte Heldentum der Frauen, ihre histo-
rischen Heldentaten und die abergläubische Furcht des Mannes
vor den geheimen Kräften des Weibes verhinderten doch nicht
die Sklaverei des weiblichen Geschlechts. Die Ursache hierfür
ist darin zu suchen, daß die Frauen gekauft wurden, eine Ware
bildeten, die des Herrn Eigentum blieb bis über seinen Tod
hinaus. Die Annalisten des Mittelalters erzählen, daß die Sla-
winnen ihre Männer niemals überleben wollten, und freiwillig
sich mit deren Leichnamen auf Scheiterhaufen verbrennen
ließen. Eine lebende Witwe entehrte ihre Angehörigen. Man
glaubt,, daß diese barbarische Sitte, wie bei den Indiern, zur
Verhütung des heimlichen Gattenmordes eingeführt wurde. Die
Männer betrachteten die Weiber als vollkommene, bei jeder Ge-
legenheit duldsame Sklavinnen; sie erlaubten ihnen weder zu
widersprechen noch sich zu beklagen, belasteten sie mit Ar-
beiten und häuslichen Sorgen, und bildeten sich ein, daß die
mit dem Gatten zugleich sterbende Gattin ihm auch in jener
1) Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde, Altrussische Heldensagen.
'^) Vgl. Band I, S. 283, über das Diebslicht aus Menschenfett und die
Geschichte dieses Aberglaubens.
''^) Vgl. Band I. S. 451.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. ** 20
— 306 —
Welt dienen naüsse.^) Das Christentum vertilgte die Sitte der
Witwenverbrennung in dem Reiche der Russen; die Sklaverei
der Frauen indessen dauerte fort; und wenn ein Mann einen
Wagen benützen wollte, so spannte er nicht Pferde oder Ochsen,
sondern Weiber vor. Die alten Gesetze kannten keine Be-
strafung der grausamen Gatten, der Männer, die ihre Frauen
mordeten; aber wenn eine Frau ihren Mann tötete, würde sie
lebendig begraben. Byzantinische und tartarische Einflüsse
haben dazu beigetragen, die Lage der Frauen noch zu ver-
schlimmern, bis schließlich sich jener Zustand herausbildete,
den das Volk in klassischer Weise in einem seiner Sprüche
so präzisiert : „Wer muß das Wasser tragen ? die Frau. Und
wer muß geschlagen werden? die Frau. Und weshalb muß
die Frau das Wasser tragen, weshalb muß sie geschlagen
werden? Weil sie eine Frau ist.** Die Verachtung der Frau
wird so sehr die Basis der russischen gesellschaftlichen Ver-
hältnisse, daß das Reich der Großfürsten noch am Beginn der
neuen Zeit in dieser Beziehung nicht mehr zu unterscheiden ist
von seinen asiatischen Nachbarn, von den Ländern der Bar-
baren, in denen das Weib das Lasttier, die Sklavin des Mannes
ist. Allerdings, auch diesmal hat die Regel Ausnahmen, und
wir dürfen sie nicht übersehen. In Nowgorod beispielsweise
erscheinen die Frauen bei den Volksversammlungen und neh-
men teil an den Entscheidungen der Männer über die wichtig-
sten politischen und sozialen Angelegenheiten. Doch ist Now-
gorod selbst schon eine Ausnahme: in dem autokratischen
Rußland hat sich diese Stadt eine republikanische Verfassung
zu erhalten gewußt; umgeben von Fürstentümern, in denen
fast alle Menschen willenlose Sklaven der Tyrannen sind, be-
wahren die Nowgoroder allein ihre Unabhängigkeit und Männer-
würde. Den freien Männern stehen freie Frauen zur Seite,
und eine Marfa Borezkaja, die berühmteste Heldin aus Now-
gorods Geschichte, gehört naturgemäß zu dem Bilde dieser
freien stolzen Stadt. Auffallender ist schon die Erscheinung
einer Anastasia Romanowna in Twer, einer Elena in Susdal,
einer Irina Feodorowna; endlich einer Sofia und einer Elena
1) Karamsin. I 50.
— 307 —
Glinskij in Moskwa.^^) Sofia hat als Gemahlin Iwans III. in
Regierungsfragen kluge und nützliche Ratschläge erteilt 2);
Elena Glinskij, Mutter Iwans des Schrecklichen, führte für ihren
minderjährigen Sohn gar die Regierung, bewies dabei Weis-
heit in der äußeren Politik und traf viele lobenswerte Ver-
fügungen im Inneren. Die Reichsverweserin, welche das Haupt-
bedürfnis eines so weit umfassenden und so wenig bevölkerten
Reichs kannte, berief Einwohner aus Litthauen, gab ihnen Land,
Vorrechte, Steuerfreiheit und sparte die Kasse nicht zur Los-
kaufung vieler, von den Tartaren in die Gefangenschaft ge-
schleppter Russen, wozu sie von der Geistlichkeit imd reichen
Klöstern eine milde Beisteuer verlangte. So schickte ihr der
Erzbischof Makarius (im Jahre 1534) aus seiner Eparchie 700
Rubel, indem er sagte: „die Seele des Menschen ist teuerer,
denn Geld.** Zur Ehre der Regierung Elenas rechnen die
Chronikenschreiber auch noch eine, durch die Umstände er-
zwimgene Veränderung im Münz-Fuße. Früher hatte man aus
einem Pfund Silber gewöhnlich fünf Rubel und zwei Griwen
geschlagen; allein die Habsucht ersann einen Betrug; man fing
an das Geld zu beschneiden und wegen des Zusatzes lunzu-
gießen, so daß aus einem Pfunde Silber schon zehn Rubel
herauskamen. Viele Menschen hatten sich durch dieses Hand-
werk bereichert und Unordnungen in den Handel gebracht ; die
Preise wechselten, stiegen; der Verkäufer fürchtete Betrug,
wog und untersuchte die Münze, oder verlangte von dem Käufer
einen Schwur, daß sie echt sei. Elena verbot den Umlauf des
beschnittenen unechten und überhaupt alles alten Geldes, be-
fahl es umzugießen und aus einem Pfunde sechs Rubel, ohne
irgend einen Zusatz, zu prägen; Falschmünzer und Geld-
beschneider aber ließ sie hinrichten. (Man goß ihnen, wie wir
aus einem früheren Kapitel wissen, geschmolzenes Blei in den
Hals und hieb ihnen die Hände ab.) Das Gepräge auf den
Münzen blieb dasselbe. Der Großfürst zu Pferde, aber nicht,
wie bisher, mit dem Schwerte, sondern mit einer Lanze (Kopje)
^) PyccKJin H<eniiuiHa XVIII cTixTfeiifl, ucTopwqecKio 3tk»aij B.i. MHXiieBHia,
KicBi. 1891, cTp. 20.
2) Karamsin, VI 258.
20*
— 308 —
in der Hand, weshalb man anfing, sie Kopjeken zu nennen.
Allein Elena konnte weder durch die Klugheit ihrer äußern
Politik, noch durch die vielen lobenswürdigen Verfügungen
im Innern des Reichs das Volk gewinnen. Ihre Tyrannei und
ihre gesetzwidrige, schon landkundige Liebe zu dem Fürsten
Iwan Telepnew-Obolensky erregten Haß imd sogar Verachtung
gegen sie, wovon — wie Karamsin zu schreiben wagte — weder
Gewalt noch Strenge den Herrscher retten, wenn die heilige
Tugend ihr Antlitz von ihm wendet. Auf den Straßen zwar
schwieg das Volk, desto mehr aber sprach man im engen, für
Tyrannen unzugänglichen Familien- und Freundes-Kreise von
dem Unglücke, Ausschweifungen auf dem Throne zu sehen.
Die Reichsverweserin, welche die Welt und ihr Gewissen zu
betrügen suchte, stellte häufige Wallfahrten in die Klöster an,
allein die Heuchelei wurde vor dem unerbittlichen Richter-
stuhl der Sittlichkeit zu einer neuen Anklage. Man wünschte
eine Veränderung und Elena starb plötzlich; Herberstein sagt:
sie sei vergiftet worden. Elena war ein trauriges Beispiel
dafür, wie die russische Frau auf dem Throne ihre Macht in
erster Reihe zur Begünstigung ihrer Ausschweifungen miß-
braucht.
Zu den Ausnahmen von der Regel der Verachtung und
Unterdrückung des Weibes in Rußland gehören nicht bloß
Herrscherinnen, sondern auch Edelfrauen. Die Gesetze und
die Traditionen, die die Frau in so barbarischer Weise behan-
deln, belassen im Widerspruch mit alledem wenigstens der
Dworjanka(;i;BopflHKa,Edeldame) ein ganz hervorragendes Privi-
legium: die Frau hat wie der Mann ein gleiches Recht des
Eigentums, sie darf ebenso wie er Leibeigene besitzen; Sklavin
ihres Gatten, von ihrem Gemahl tyrannisiert, darf sie ihrerseits
als Barünja-Chosjajka (6api>iH«-xo3HÜKa, Dame -Herrin des
Hauses) Sklaven und Sklavinnen nach Herzenslust tyranni-
sieren.
Von allen diesen Ausnahmen zu reden ist jedoch kaum
der Mühe wert, wenn man das allgemeine Bild betrachtet und
das Elend erkennt, in dem das russische Weib sein Dasein ver-
1) Kaxamsin, VII, 218, 219.
— 309 —
bringt. „Die Weiber haben keine Freyheit: die vornehmen
bleiben immer zu Hause • verschlossen / wie auch die Jung-
fern / und wenn sie sich von den Manns-Personen sehen
Hessen / so würden sie vor unehrlich und unzüchtig gehalt^a;
werden. Sie haben im Hause auch nichts zu sagen oder zu
befehlen: Sie thun auch nichts darinnen; (ich meine aber die-
jenigen / welche über die gemeinen sind /) sondern die Ga-
loppen i) oder Knechte verrichten alles in der Haushaltung.
Sie bringen ihre Zeit / samt ihren Kanmier-Mägden / deren
die reichen und vornehmen eine ziemlich grosse Anzahl haben /
mit Sticken / oder anderer Arbeit in Gold / Silber / Seiden /
zu. Alles / was von der Hand einer Frau geschlachtet ist /
wird bey den Moscowitern vor unrein gehalten. Sie haben
einen solchen Abscheu davor / daß / wenn der Mann und
die Knechte sich nicht zu Hause befinden / und die Frau ein
Hun / oder sonst ein ander Feder- Vieh / zurichten muß /
sie solches nicht selbst abthun darff: dieselbe stellet sich in
solchem Falle / mit ihrem Feder- Vieh und einem Messer in der
Hand / an die Thür / und wenn sie etwa eine Manns-Person
vorbey gehen siehet / so ruffet sie denselben / und bittet ihn /
er wolle das Hun / oder ander Thier / so sie zurichten will /
schlachten." 2)
Wenig schmeichelhaft zeichnet die russische Frau Daniel
der Verbannte, der im dreizehnten Jahrhundert in Olonez ge-
lebt und einen Traktat über Administration, Gesellschaft und
Familienleben jener Zeit hinterlassen hat. „Lieber einen Stier
ins Haus nehmen,** schreibt Daniel, „als eine böse Frau: ein
Stier spricht und denkt nichts Böses, eine böse Frau aber wütet
gar sehr. Was ist eine böse Frau? Eitel weltlich Getümmel.
Blendwerk des Geistes, der Anfang aller Bosheit, die Förderung
der Sünde, die Hemmnis allen Heils. Es ist besser Steine
zu behauen und Eisen zu kochen als eine böse Frau lehren :
Eisen läßt sich am Ende doch vielleicht kochen, eine böse
Frau aber kann man nicht klug machen. Einem Manne starb
seine böse Frau, und er machte sich nach ihrem Tode daran.
*) Soll heißen: Cholopy, Leibeigene.
-) Religion der Moscowiter, S. 89, 90.
— 310 —
seine Kinder zu verkaufen; da sprachen ru ihm die Leute:
warum verkaufst du deine Kinder ? Er aber antwortete : wenn
sie der Mutter gleichen, so werden sie, wenn sie groß werden,
mich selber verkaufen.** Es ist möglich, daß dem mysogynen
Verfasser dabei nicht ausschließlich das russische Weib vor-
geschwebt, sondern daß er das Bild orientalischen und bib-
lischen Vorbildern nachgezeichnet hat, wie er sie namentlich
in den Sagen von Salomo und den byzantinischen Geschichten
von schlimmen Weibern vorgefunden haben mochte, i) aber
wir kennen aus späteren Zeiten noch soviele ähnliche Schil-
derungen, daß solchen Auffassungen ein Zusammenhang mit
der Stellung speziell der russischen Frau wohl nicht abge-
sprochen werden kann. So heißt es in einer alten religiösen
Schrift der Raßkoljniki, in der die Gewohnheiten, Sitten und
Anschauungen des sechzehnten Jahrhunderts überliefert sind,
völlig in Übereinstimmung mit dem „Slowo** (cjiobo, das Wort
oder die Rede) Daniels des Verbannten: „Das Weib ist das
schwächste Geschöpf, ein Gefäß für alles Wehe, die rotglühende
Kohle des Widerspruchs, ein bedenkliches Spielzeug, die Fein-
din der Engel, ein unersättliches Tier, ein Abgrund von Leicht-
gläubigkeit, ein Bündel Widerspenstigkeiten, die Eitelkeit der
Eitelkeiten, sehr anziehend aus der Ferne, ein Engel auf der
Gasse, aber ein Teufel im Hause, eine Elster auf der Pforte
und eine Gais im Garten.** Bei den Kosaken gilt auch gegen-
wärtig noch das Weib, das nach ihrer Meinung in der ganzen
geistigen Veranlagung unermeßlich niedriger als der Mann
dasteht, als „ein unreines Gefäß und Behälter jeder Unsauber-
keit ; der unreine Geist siedelt sich gern in ihr an, verdirbt sie
leichter, wogegen er den Mann fürchtet.*'-) Die Saporeger
Kosaken sind allerdings alte Feinde des weiblichen Geschlechts.
Im Lande, wo einstmals die Amazonen gelebt, wollten die Ko-
saken, als sie dort herrschend geworden waren, überhaupt kein
Weib mehr dulden, und sie rekrutierten sich nur durch Knaben,
die sie aus den benachbarten Ländern entführen; Patjomkin
^) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, 151.
2) Rhamm, Der geschlechtliche Verkehr bei den Slawen in seinen gegen-
sätzlichen Erscheinungen. Globus Band 82, S. 274.
— 311 -.-
hat diese Republik der Weiber-Gegner biekannflich erobert
und die Saporeger Kosaken in verschiedene Provinzen verteilt.
Es hat in Rußland schon in früheren Zeiten nicht an Ver-
suchen gefehlt, die Stellung der Frau ru ändern, aber diese
Reform- Versuche bezweckten nur eine Vermehrung der Pflich-
teil, nicht der Rechte der Frau. Im „Domostroj**, dem russi-
schen Hausbuch des sechzehnten Jahrhunderts, wird von der
Frau verlangt: Geschäftstüchtigkeit, administrative Fähigkeit,
Rührigkeit, Kenntnis der Technik bei den Verrichtungen einer
Köchin, Näherin und Wäscherin. Im übrigen jedoch zeigt sich
gerade im ^,Domostroj** die rohe russische Hausdespotie in ihrer
ganzen abstoßenden Nacktheit, und dabei wird sie noch hier
für absolut gut und lobenswert anerkannt und als Ideal emp-
fohlen: Der Mann ist nach dem Domostroj der Zuchtmeister
der Frau. Mann und Frau sollen nicht im Zorn miteinander
leben, aber der Mann hat die Pflicht, die Frau zu strafen, wenn
sie ihren Pflichten nicht nachkommt. Es gibt Fälle, wo nicht
bloß die Kinder, sondern auch die Frauen mit der Peitsche ge-
züchtigt werden müssen. „Dies muß ohne Zeugen geschehen
und nicht im Zorn. Die Züchtigung mit der Peitsche ist ver-
nünftig und schmerzhaft, schrecklich und gesund. Ist die
Schuld der Frau groß, muß man die Züchtigung ver-
schärfen und die Frau, indem man sie bei den Händen faßt,
fein säuberlich mit der Peitsche durchhauen. Es darf aber
kein Zorn dabei sein. Zeigt die Frau dann keine Reue, so
muß eine noch stärkere Strafe folgen.**^)
Die Europäer, die im sechzehnten und siebzehnten Jahr-
hundert Rußland bereisten, berichten alle mit Worten großer
Verwunderung über die Härte, mit der man die Frauen be-
handelt, und über die Abgeschlossenheit, in der man sie hält.
Namentlich, wenn Gesandte aus dem Westen in der Zaren-
hauptstadt weilen, beaufsichtigt man die Frauen mit der größten
Strenge. Mayerberg erzählt 2): „Quant aux Femmes, il füt
d^fendu soüs de tres-s^v^res peines d'en laisser entrer aucune,
de quelque condition qu'elle füt." Und er fügt hinzu : „Et pour
*) Brückner in der Russischen Revue a. a. O. und Reinholdt, S. 179, 180.
2) Relation (Neudruck), I 135.
— 312 —
dire la v^rit6, le s^xe feminin n'est point en v^n^ration parmi
les Moscovites, comme il Test parmi la plüpart des Nations
de l'Europe. Personne en ce pays-lä ne ravalle la condition de
rhomme jusqu'ä parier aux Femmes le genou en terre. Per-
sonne ne leur apprend ä devenir fi^res jusques ä Tinsolence
par une adoration de leurs charmes, continu6e pendant plu-
sieurs ann^es; et ä n' ^couter les veux de ceux qui les recher-
chent, qu'apr^s avoir 6t6 r6y6r6es comme des Divinitös, par
une longue hmi6e de soüpirs, comme d'encens pr^cieux. EUes
sont en ce pays lä esclaves des Hommes qui en fönt peu
d'estime." Am schlechtesten hatten es die Schwestern und
Töchter des Zaren. Es war nur selten vorgekonmien, daß man
Zarentöchter Ausländem vermählt hatte. So heiratete eine
Tochter des Zaren Iwan Wassiljewitsch III. den König Alexan-
der von Polen und eine Nichte von Iwan Wassiljewitsch IV.
den Herzog von Holstein, Bruder Friedrichs II. von Dänemark.
Die allgemeine Regel war, daß man Zarentöchter nicht den
Fremdgläubigen anvertraute. Es gab dazumal aber keine
Fürsten orthodoxen Glaubens außer den russischen. Da des
Zaren Untertanen selbstverständlich ausgeschlossen blieben —
denn sie galten, ob Hoch ob Niedrig immer nur als Sklaven
des Alleinherrschers — so mußten die zarischen Prinzessinnen
unvermählt im Terem des Kreml j oder in Klöstern in unfrei-
williger Jungfernschaft ihr Leben vertrauern, i) Die Zarin da-
gegen entstammte fast stets dem \'olke, zuweilen sogar den
niedrigsten Klassen. Der Schwiegervater des Zaren Alexej,
11 ja Miloslawskij, „war ein blosser Wein-Schencke / und seine
Tochter ' die des Czaars Gemahlin / veikauffte Erdschwämme
auf den Marckt.** Die Verwandten einer Zarin erlangten be-
deutenden Einfluß. Aber sobald die Zarin gestorben war,
war es auch um ihrer Familie Ansehen geschehen.
Die weiblichen Mitglieder der Zarenfamilie erschienen nur
selten in der Öffentlichkeit: wenn dies einmal aus einem be-
sonderen religiösen oder höfischen Anlasse geschah, so sah
man ihr Angesicht nicht. So heißt es in der Beschreibung
^) über das häusliche Leben der Zanimen: Iliuiirb 3aOt.inirK j-'naorabitt
6hirh pvci'Kiirb uapmn».
— 313 —
dnes Aufzuges der Zarin und ihrer Töchter in der Zeit Boriß
Godunows^): „Zuerst fuhr ihre Mayestetin, in einem stattlichen
Wagen, der so breit, daß drey Personen neben einander sitzen
kondten, für diesem Wagen waren lö schöne weisse Pferde.
Das Frewlein fuhr in einem schönen Wagen, dafür acht schöne
Pferde, der Wage war gantz zugemacht, daß man nichts darin
sehen können. Das Frawenzimmer ritt alles zu Pferde, wie
das Mann Volck, hatten auff dem Haupte schneeweise Hüte,
mit leibfarben tafft gefuttert vnd gelbe seidene Hutbende,
daran Knöpffe von Goldt, vnd Quaste dadurch gezogen^ so auff
die Schultern hiengen, Ihre Angesichte waren verhüllet mit
weissen tüchern, biß an den Mund, sie hatten lange Röcke
vnd gelbe Stieffei an. Es reitt auch ein jde auff einem weissen
Pferde. Dieser reitenden Frawen oder Jungfrawen waren vier
vnd zwantzig beyeinander. Bey der Keyserinnen vnd deß
Frewlein Wagen giengen auch deß reitenden Frawenzimmers
vmbher, bey 300. Prestauen (wie in Deutschland die Lackeyen
oder Trabanten) wolgezieret mit weissen Stäblein in den Hen-
den. Es ritten auch noch für der Keyserinnen, etzliche Glied
drey bey einander, alte Menner, derer mehrer theil mit langen
grawen Härten, sonst wol staffieret.**
Noch im Beginne der Regierung des Zaren Alexej, der
später den Beinamen des Aufgeklärten erhalten sollte, hatte
sich nichts geändert; im Jahre 1674 begegnen zwei junge
Edelleute, Buturlin und Daschkow, dem Wagen der auf einer
Wallfahrt befindlichen Zariza und riskieren einen Blick hinein-
zuwerfen: man verhaftet sie, foltert sie, und nur mit knapper
Not entgehen sie der Todesstrafe. Es ist Majestätsverbrechen,
die Zarin anzuschauen. „La grande Duchesse ^tant un jour
malade; ne voulut point permettre qu'on fit entrer le M^decin
dans sa chambre, que les fenetres n'en eussent 6x6 bouch^es
de teile sorte qu*on ne pouvoit rien discerner, de peur qu'il
ne la vid; et ensuite eile lui presenta son Bras couvert d'un
volle tres-d^li^, afin de lui toucher le poux, craignant que sa
main ne füt souill^e s'il la touchoit ä nud. Si eile veut sortir
^) Johannis des jungem, Herzogs von Dänemark, Reussische Reise und
Einzug zu Moskau. Bei Büsching, VII 271.
— 314 —
pöur prendre Tair, eile est cach^ suivant la saison ou dans
son Carosse, ou dans son Tratneau. Quand eile va ä TEglise,
eile passe par une Galerie couverte et ferm^e qui Ty conduit
du Palais, pour n'fitre point profan^ par les regards des passans,
ayant un Dais rond qui Tenvironne port^ par une de ses Filles
d'honneur, et suspendu sur sa T^te aux jours ouvriers, ou de
moindres F6tes. Mais aux jours plus solemnels, qu'elle porte
sa Couronne sur sa T6te, son Dais est en long, port6 par quatr6
de ses Filles, soüs lequel entre Elle et les Soeurs du Czar qui
vont devant, puis marchent ses enfans."^)
Auch die Frauen der gewöhnlichen Sterblichen waren,
namentlich die jungen und schönen, vollkommene Einsied-
lerinnen und mußten in eigenen Gemächern im Terem (Tepeiin»,
eigentlich Dachkammer) leben, abgeschlossen von allen. Frem-
den. Bloß vor nahen Verwandten zeigten sie sich unverhüllt.
Wenn der Hausherr ein Fest gab, so nahmen bloß Männer
daran teil. Die Hausfrau erschien für einen Augenblick, wenn
es galt, hohe Gäste durch Darreichung eines Schälchens Brannt-
wein zu ehren : „La femme de celui qui traite, ^tant richement
vfitue, et chargöe de ses plus riches ornemens, suivis de deux
ou de plusieurs suivantes, entre dans la Salle, et met entre les
mains du plus consid^rable des assistans un Verre d'eau de
vie, apr^s qu'elle en a moüill6 le bout de ses l^vres. Pendant
qu*il le boit, eile se retire en diligence dans sa chambre, oir
s*6tant revetue d*une autre robe eile rentre dans la Salle, pour
rendre la m^me civilit^ au second; et ayant observ^ la meme
c^r^monie envers chacun ä son tour, eile se retire vers la
muraille du c6t^ du haut bout de la table; et lä ^tant debout,
les yeux baiss^s, et les bras pendans sur ses deux c6t^s, eile
regoit patiemment le baiser de chacun des convi^s, selon Tordre
de leur dignit^.**^) Dies war eine besondere Auszeichnung,
denn die Frauen fürchteten sich geradezu, sich vor fremden
Menschen sehen zu lassen. Wenn die vornehmen Damen das
Haus verließen, so gingen sie nie zu Fuß. 3) Selbst die Kirche
^) Mayerberg, Relation, II 117.
2) Mayerberg, Relation, I 59, 60.
^) Karamsin, VII 172 und IX 353.
— 315 —
besuchten sie selten; sie saßen zu Hause, nähten und spannen
oder faullenzten. Das einzige Vergnügen, das ihnen gestattet
war, waren die Schaukeln. Nur wenn in dem Kreise ihrer
Freundinnen oder Verwandten eine Hochzeit war, kamen die
Frauen und Mädchen aus dem Terem für längere Zeit heraus,
da die russischen Festlichkeiten bei solchen Gelegenheiten eine
gute Weile zu dauern pflegten. Nach der Hochzeit aber
„müssen die Frauen und Jungfern eine jede wieder in ihre
Kammer gehen / worinnen sie / nach Gewohnheit des Landes /
wie vorher / eingesperrt / und ohne einige Gemeinschafft mit
Manns-Personen bleiben.**^)
Die innere Fäulnis, die aus solchen Verhältnissen ent-
stehen mußte, schildert im Jahre 1664 der Russe Kotoschichin,
ein Djak oder Beamter der Gesandtschaftsbehörde (nocojiBCiciä
npHKaat, dem heutigen Ministerium des Auswärtigen ent-
sprechend), der aus Ärger über die Zustände in der Heimat
freiwillig in Stockholm ein Exil gesucht hatte. 2) Kotoschichin
entrollt vor uns das furchtbare Gewebe der Lüge, die alles
russische Leben umsponnen hielt, und deckt die Abgefeimtheit
auf, mit der in den moralischen Angelegenheiten, und nament-
lich in den Fällen der Eheschließung vorgegangen wurde.
Da sagt er von den russischen Frauen: „Das weibliche Ge-
schlecht im moskowitischen Reiche ist ungebildet, und das
ist so Sitte; ihrem angeborenen Verstand nach sind sie ein-
fältig, im Reden nicht gewitzt und sehr schamhaft: sie leben
nämlich von Kindheit auf bis zu ihrer Verheiratung bei ihren
Eltern in geheimen Gemächern, und mit Ausnahme der näch-
sten Verwandten darf sie kein Fremder und dürfen auch sie
niemand sehen, was auch erklärt, warum sie nicht allzu klug
und mutig sind. Ebenso werden sie auch nach ihrer Ver-
heiratung nur wenig von Leuten gesehen.**
^) Religion der Moscowiter, S. 105.
2) Diese Schilderung wurde 1837 vom Helsingforser Professor Ssolow-
jew im Stockholmer Staatsarchiv in einer lateinischen Übersetzung und
1838 in Upsala im Original aufgefunden und 1841 herausgegeben. Rein-
holdt, S. 226.
— 316 —
Aber nun nahte auch schon die Zeit der Frauen-Befreiung
aus der traditionellen asiatisch-despotischen Abgeschlossenheit.
Ein wesentlicher Anteil an diesem Umschwung gebührt der
Zarin Natalia Kirilowna Naryschkin, der zweiten Gemahlin des
Zaren Alexej. Sie war die Tochter eines einfachen Reiter-
offiziers und einer Ausländerin, einer geborenen Hamilton.
Aus Schottland war unter einem der früheren Zaren ein Hamil-
ton nach Rußland gekommen und seine Nachkommen lebten
als Dienstleute der Krone in der deutschen Sloboda bei Moskau.
Der Oberst des Reiterregiments, in welchem Kyril Naryschkin
diente, namens Matwe jew, heiratete eine Hamilton ; deren Nichte
wieder vermählte sich mit Naryschkin. Dieser wie auch Mat-
wejew waren beide niederer Herkunft. Selbstverständlich er-
schien es den Russen, daß der Zar eine niedriggeborene Landes-
tochter heiraten konnte; denn „ein Zar braucht weder Reich-
tum noch eine große Verwandtschaft, sondern nur ein schönes
und tugendhaftes Gemahl" — aber greulich war ihnen die
Heirat selbst des niedrigsten Russen nüt der vornehmsten
Fremden, einer Genossin des heidnischen römischen oder gar
lutherischen Glaubens, und an der Sache änderte der Übertritt
der Braut zur orthodoxen Kirche nur wenig. Matwejew und
Naryschkin wurden ob ihrer Heirat scheel angesehen, aber sie
ließen sich ihre Wahl nicht verdrießen und lebten glücklich.
Matwejew erreichte sogar einen gewissen Wohlstand, der es
ihm gestattete, die Tochter des Kyril in sein Haus zu nehmen,
um sie hier besser zu erziehen, als es sonst in der Sitte der Zeit
lag. Matwejews Haus war anders als die Häuser der übrigen
Russen. Hier herrschte europäische Art und Weise, hier war
ein Mittelpunkt für alle Fremden, es fanden sich die Gesandten
der Staaten Europas als willkommene Gäste ein und die „auf-
geklärten Geister*' der Zeit hielten hier ihre Versammlungen;
die Frauen nahmen teil an den Unterhaltungen der Männer
in einem beinahe ungezwungenen Verkehr. Natalia Kyrilowna
sah andere Sitten als Muster vor ihren Augen als die übrigen
russischen Mädchen jener Epoche, und eignete sich schönere
Umgangsformen an, die den Zaren wohl bestricken konnten.
So geschah es, daß die Tochter des abtrünnigen Kyril
Naryschkin und der heidnischen Fremden zur Zarin von
— 317 —
Moskau emporstieg und die Mutter Peters des Großen
waxd.i)
Nach Alexejs Tod trat eine Reaktion ein; dann kam ein
neuer Umschwung und Fortschritt; wiederum riß eine Frau
die Alleinherrschaft als Regentin an sich: Alexejs Tochter
Sofia. Aber diese Reichsverweserin des siebzehnten Jahr-
hunderts trieb es so wie jene des sechzehnten; gleich Elena
Glinskij stellte Sofia ihre Herzensangelegenheiten über die des
Staates und ihren Ehrgeiz über Recht und Gesetz, worauf sie
von dem eigenen Bruder brutal depossediert wurde. Für die
russischen Frauen war dies indessen nur von Heil, denn Peter
der Große machte die Emanzipation des weiblichen Geschlechts
zu seiner ersten Aufgabe. Er ging dabei wie in allen seinen
Reformen wild und bloß auf das Äußerliche los. Nicht in
der Bildung, sondern in der Kleidung sollten die Russinnen
den Ausländerinnen gleichgestellt erscheinen und also befahl
Peter den Frauen seines Reiches: fortan statt der nationalen
Trachten nur französische, englische und holländische Kleider
zu tragen. Die neumodisch Gekleideten wurden mit Ehren
und Vorrechten ausgezeichnet, diejenigen aber, die sich den
neuen Moden nicht anpassen wollten, mußten niedrige Skla-
vinnen bleiben wie bisher. Es gab nämlich auch solche, die
sich gegen die Kleiderreform und die Emanzipation wehrten,
sei es aus Furcht vor den eifersüchtigen tyrannischen Gatten,
sei es aus abergläubischer Angst vor einer Verletzung der
alten Sitten. Aber in solchen Fällen machte Peter, wie mit
den Männern, auch mit den Frauen kurzen. Prozeß : die Wider-
spenstigen wurden durch die Polizei aus ihren Häusern abge-
holt, europäisch gekleidet und in Gesellschaft und auf Bälle
geschleppt.
Im Zarenhause selbst war mittlerweile auch eine gründ-
liche Veränderung vorgegangen. Da gab es sogar theatralische
Vorstellungen, bei denen Prinzessinnen als Autoren und Dar-
stellerinnen mitwirkten. Da gab es Trinkgelage, bei denen
die Frauen in den Leistungen zu Ehren des Bacchus nicht hinter
den Männern zurückblieben.
1) Bernhard Stern, Die Romanows, I.
— 318 —
Und nach Peters Tode wiederholte sich ein Jahrhundert
hindurch etwas, was nie und nirgends dagewesen: fast nur
Frauen nahmen den Thron ein. In dem Lande, wo kurz zuvor
die Frauen noch die Sklavinnen ihrer Männer gewesen waren,
regierten nun als Alleinherrscherinnen fünf Frauen nachein-
ander: Katharina I., Anna Iwanowna, Anna Leopoldowna, Eli-
sabeth, Katharina II. Man sieht: die russische Frau ist völlig
emanzipiert. Allerdings darf man nicht näher hinschauea, die-
ses Geschöpf des östlichen Geistes nicht allzuscharf prüfen.
Die Zarin-Herrscherin macht auf dem Throne in Wahrheit
keine andere Figur als die erstbeste Barynja - Chösjajka ;
alle Unarten des Terem sind ihr noch anzumerken, und von
der Freiheit und Ungebundenheit profitiert sie eigenthch nur
dann, wenn sie ihrer wilden Sittenlosigkeit neue Tummelplätze
erschließen will. Und wie die Zarin, so sind die Prinzessinnen
und die freigewordenen Adelsdamen : grausam, ungebildet, roh,
gefühllos, geschmacklos. Die Großfürstin Katharina Iwanowna,
Schwester der Kaiserin Anna und Gemahlin eines deutschen
Fürsten, des Herzogs von Mecklenburg, weiß einem fremden
Diplomaten bei einer Theatervorstellung in ihrem Liebhaber-
theater nichts Interessanteres zu erzählen, als daß der Schau-
spieler, der so stolz die Rolle des Königs auf der Szene dar-
stellt, ihr Leibeigener und vor Beginn des Spieles mit 200
Stockhieben präpariert worden sei.
Nur in der Tracht waren die vornehmen Frauen wirklich
anders geworden. Ein Reisender erzählt uns aber, daß es dabei
nicht immer ganz regelrecht zuging und daß man oft einer
vornehmen russischen Dame begegnete, die nach deutscher
oder französischer Sitte aufs prächtigste in Seide und Atlas
gekleidet und mit Tressen, Spitzen und Bändern geschmückt
war, dabei jedoch bloßfüßig ging und ihre Pantoffeln verlegen
in der Hand trug, weil sie mit ihnen nichts anzufangen wußte.
Auf dem Lande war an den Weibern die Petersche Re-
formepoche fast spurlos vorübergegangen. Die Dorfbewohne-
rinnen kamen nach wie vor selten aus der Stube, blieben zumeist
bei ihren alten Sitten und Unsitten, gingen nach wie vor bar-
füßig oder zogen plumpe Schuhe wie die der Männer an. Auf
dem Leibe litten sie im Sonmier nur einen langen, dünnen
— 319 —
Kittel von blauem Linnen ohne Ärmel, welchen sie mit einem
Gürtel befestigten und nur selten auszogen; des Winters aber
trugen sie über dem Kittel einen Schafpelz. Den Hals zierten
sie mit einer Schnur Glasperlen, die Ohren mit großen dreifach
untereinander herabhängenden Ohrgehängen. Auf der Brust
hatten sie schließlich ein kleines bleiernes Kreuz, welches sie
nur ablegten, wenn sie eine Ausschweifung begehen wollten.
Erst mit der Epoche Katharinas II. beginnt die russische
Frau als Schriftstellerin und Künstlerin auf dem Plane zu
erscheinen. Aber die Zahl dieser Auserwählten ist so gering,
daß man sie schnell überblicken kann. Die erste russische
Schriftstellerin gehört übrigens schon einem früheren Jahr-
hundert an : Xenia Borissowna Godunowa, die Tochter des
Usurpxators, soll zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts Poe-
sien voll Innigkeit und Tiefe aus dem Kerker des Terem in die
Welt geschickt haben. Die Zarewna-Regentin Sofia und die
Zarewna Natalia Alexe jewna schrieben Theaterstücke. 1682
sah man in Moskau das überraschende öffentliche Erscheinen
der Zarentöchter bei einem Schauspiel im Zarenpalast, und dann
erfuhr man, daß die eine der Prinzessinnen der Autor des
Stückes war. Und nach hundert Jahren glänzte gar die Zarin
selbst, Katharina IL, als dramatische Dichterin. Katharina aller-
dings war ja schon von Hause aus eine gebildete deutsche
Prinzessin gewesen. Um die Kaiserin herum bildete sich in-
dessen auch ein Kreis von gelehrten Vollblutrussinnen, die den
Ehrgeiz hatten, ihre literarischen Salons zum Mittelpunkte der
Gesellschaft zu machen : da hören wir von den Gräfinnen Rasu-
mowskaja, Woronzowa, Naryschkina, von den Fürstinnen
Mentschikowa, Golizyna, Wolkonskaja, Dolgorukowa, Urussowa
und nicht zuletzt von der Fürstin Daschkowa, der „russischen
Minerva**, welche von Katharina II. zum „Präsidenten** der
Akademie der Wissenschaften gemacht wird. Diese Damen
philosophieren nach dem Beispiel der Kaiserin, dichten, schrei-
ben Memoiren. Berühmt ist der literarische Salon der Gräfin
Ssaltykowa und ihrer Tochter, der Frau Mjatlew; beide treten
auch als Schauspielerinnen auf. Neben den Aristokratinnen
gibt es ein paar Bürgerliche : einige wenige kleine Talente und
viele armselige Dilettantinnen — die Frauen Jelagin und Chrapo-
— 320 —
wizkaja ; die Tochter des Dichters Ssumarokow, die den Dichter
Knjaschnin geheiratet hat, brilliert in der von ihrem Vater
herausgegebenen Zeitschrift mit einer Menge miserabler Ele-
gien; Weljaschewa-Woljgnizewa begnügt sich, mit zahllosen
Übersetzungen nach Ruhm zu jagen; die Dichterinnen Pospe-
lowa, Wolkowa, Suschkowa, Rschewskaja und Bunina. Nicht
zahlreicher sind die Künstlerinnen. Die erste russische Ballerine
ist Awdotja Timofejewa, eine Schülerin des italienischen Tanz-
meisters Giulio Fusano ; ihr folgen die Berilowa, Nowizkaja und
Kolossowa. Als Schauspielerinnen glänzen Thekla Anikjewa,
Lisa Ssandunowa, zwei Ssemenowa.^) Und mit diesen paar
Dutzend Namen ist aller bemerkenswerten Frauen des acht-
zehnten Jahrhunderts gründlich Erwähnung getan.
Erst im neunzehnten Jahrhundert fangen die Frauen an,
wirklich Stellungen im Leben zu verlangen, ringen sie nach
Einfluß, Freiheit und Anerkennung gleicher Rechte mit den
Männern. Da schreibt Eugenie Tuhr ihre Novellen, Julie Scha-
dowskaja ihren Roman „Fern von der großen Welt**, M. Zebri-
kowa ihre ,, Memoiren einer Gouvernante**, um die Selbständig-
keit der Frauen zu betonen. Besonders beachtet werden die
Romane der Frau Wowtschok und die zahllosen Romane und
Novellen von Nadeschda Dmitrijewna Choschtschinskaja (Kre-
stowskij-Pseudonym), die starke Frauen meisterhaft zeichnet
und gleichzeitig ein scharfes Auge für die Schwächen der
Männer hat.2) Der Kampf für die völlige Frauen-Emanzipation
war kein leichter. Hatte doch erst im Jahre 1845 durchgesetzt
werden können, daß Frauen nicht mehr gebrandmarkt werden
sollten. 3) Und zur Zeit des Krymkrieges rief es geradezu Skan-
dal hervor, als die Frauen barmherzige Schwestern sein wollten.
Vielen schien dies undenkbar und unanständig, daß bei der
Armee Pflegerinnen zugelassen werden, und zynisch erklärte
Fürst Mentschikow, man werde neue Hospitäler für venerische
^) IVLixHeBiim., pycrKaH iKeniunna XVIII rTo.TfeTifl, 233 — 293: üiKiaTaib-
HHUa n yMeiian; apriiCTKa.
2) Einige ihrer Novellen sind im Russischen Novellenschatz erschienen.
Vgl. Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, 715, 716.
^) Strafgesetzbuch des Russischen Reiches, promulgiert im Jahre 1845
§ 28.
— 321 —
Krankheiten bauen müssen, wenn man den Frauen solche Ob-
liegenheiten zugestehen wollte. Die Frauen setzten es aber
doch durch, und Katharina Bakunin ging als erste barmherzige
Schwester auf den Kriegsschauplatz, gefolgt von zahlreichen
Genossinnen aus den verschiedensten Ständen; neben jungen
Mädchen aus der vornehmsten Gesellschaft arbeiteten einfache
Bäuerinnen. Der berühmte russische Chirurg Pirogow stellte
den Frauen ein glänzendes Zeugnis aus und behauptete, daß
dank ihrer Pflege die Sterblichkeit unter den Verwundeten sich
um die Hälfte verminderte.^)
Von der Aufhebung der Leibeigenschaft datiert dann die
größte Umwälzung in der gesellschaftlichen Stellung der rus-
sischen Frau, die wir seither als Studentin, als Ärztin, als Re-
volutionärin und Anarchistin auftreten sehen. Der schnelle
Umschwung hat manches Üble im Gefolge gehabt, und es liegt
Wahres in den Worten jenes Russen, der über die Entartung
der modernen russischen Frau klagt 2): „In Europa,** sagt er,
„gilt der Mann gewöhnlich für liberal und die Frau für konser-
vativ. Bei uns ist das Gegenteil der Fall. Die Frauen und be-
sonders die jungen Mädchen verschmähen die Anmut ihres
Alters und Geschlechts, sind einzig darauf bedacht, den neuen
Kultus zu verbreiten. Man trifft sie überall in der Gesellschaft,
wo sie für die neuen Ideen eintreten, in den Theatern, wo sie
die Anspielungen auf Umsturztheorien beklatschen, sogar auf
den Barrikaden, wo sie mit tragischem Wahnsinn die Kämpfer
anfeuern : Töchter von hohen Beamten, Edelleuten. Sie haben
eben die Werke von Karl Marx, von Nietzsche gelesen, ver-
schlungen, sie schwärmen für den Übermenschen, sie wollen
alle Überweiber werden und nehmen sich vor, eines Tages
aus ihren Söhnen Überkinder zu machen. Die Frühreife ist
einer der Charakterzüge der slawischen Rasse, wie überhaupt
aller jungen Rassen. In Amerika träumen die Kinder davon,
Millionäre zu werden, bei uns wollen sie die Menschheit um-
gestalten. Früher hielt man unsere Studenten, achtzehn- bis
^) Aus einem Briefe der Gräfin Ina Kapnist im Märzheft 1906 von
PvccKan Mbicüb.
2) Vgl. Lodzer Zeitung, 24. März 1906.
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland ** 21
— 322 —
zwanzigjährige Jünglinge, für angehende Staatsmänner, heute
sind es die Gymnasiasten. Zwölfjährige Jungen sprechen in
ihrer Blasiertheit über Soziologie, Politik und Frauen, und dabei
spielen sie mit Revolvern, die manchmal geladen sind. Ein
ähnliches Benehmen bemerkt man bei jungen Mädchen, die
sich ein Verdienst daraus machen, ihr Äußeres zu vernach-
lässigen, um nur an die Menschheit zu denken.** Gräfin Ina
Kapnist, eine eifrige Vorkämpferin für die politische Gleich-
berechtigung der russischen Frau, verteidigt ihr Geschlecht
gegen solche Vorwürfe und fordert vom neuen Rußland eine
ganz neue Stellung für die Frau : „Was hat nicht die Frau auf
ihrem Wege nach Berufsbildung erduldet!** schreibt sie. 2)
„Studentinnen und Kursistinnen, diese bescheidenen, unbe-
kannten Märtyrerinnen der weiblichen Aufklärung haben Hun-
ger und Kälte ertragen, Mißgunst, Feindschaft und Verachtung
seitens der Gesellschaft, ehe ihre Arbeit als nützlich, ihr Stre-
ben nach Selbstbildung als gesetzlich anerkannt wurde. Im
letzten Kriege sind die Barmherzigen Schwestern die einzige
lichte Erscheinung in der allgemeinen Wirrnis und Prinzipien-
losigkeit gewesen. ' Überall dort, wo neue Grundlagen ge-
schaffen wurden, wo es galt, Leiden zu erleichtern, sehen wir
die russische Frau den Mann auf seinem Wege unterstützen.
Und nach all diesen Mühen und Opfern ist jetzt, wo der
russische Mann endlich als Staatsbürger anerkannt ist, der
das Recht hat, frei zum Wohle des Landes zu arbeiten, seine
Meinung auszusprechen, seine Regierung zu wählen, die
russische Frau offiziell in eine Reihe mit den Minderjährigen
gestellt. Die Gegner der Gleichberechtigung können antworten,
daß außer Australien und einigen Staaten der nordamerika-
nischen Republik noch kein Staat den Frauen gleiche Rechte
mit den Männern gegeben hat. Hierauf werden wir antworten,
daß wir nicht auf Europa zu blicken haben, wo die Gesellschaft
sich in Jahrhunderten auf ganz anderen Grundlagen aufgebaut
hat als bei uns. Auf dem Gebiete des Fortschrittes, der An-
schauungen über Recht und Bildung muß Rußland den europä-
ischen Völkern vorangehen, aber nicht die alten Irrtümer der
1) a. a. O.
— 323 —
westeuropäischen Staaten wiederholen, wo jeder Schritt vor-
wärts immer den starken Protest einer in ihren Traditionen
erstarrten Partei hervorgerufen hat. Mit Rußland muß es sein,
wie mit manchen neuen Städten, die nachts von dem Licht
elektrischer Laternen überflutet sind, während alte Residenzen,
wie zum Beispiel Paris, sich mit der minder vollkommenen
Gasbeleuchtung begnügen. In allem ist es so : Junge Länder
genießen früher als alte die Segnungen des Fortschrittes. Alle
Erörterungen, daß der Beruf der Frau der häusliche Herd ist,
ihre einzige Pflicht die Mutterschaft, sind Worte, leere Worte.
Damit der Herd in Wirklichkeit existieren kann, braucht die
Frau wirtschaftliche und bürgerliche Rechte, damit sie ihre
Mutterschaftspflicht erfüllen kann, braucht sie sociale und po-
litische Rechte. Der Sklave kann nicht einen freien Menschen
erziehen, ein rechtloses Geschöpf wie die russische Frau kann
ihren Söhnen nicht den Begriff des Rechts und (Jer Würde des
Bürgers einflößen. Bei uns in Rußland sind weniger Vor-
urteile als in Westeuropa, wo die Männer in den Traditionen
des römischen Rechts erzogen sind, das offenbar keine andere
Kraft kennt als die der Muskeln. Die russische Frau darf
nicht aufhören, ihre Gleichstellung mit dem Manne zu fordern.
Die Frau muß jetzt vor allem das Stimm- und Wahlrecht in
den Landschaften und den städtischen Kommunen erringen,
und von hier aus muß sie zur vollen Gleichberechtigung
vorwärts schreiten ...**.
Manches ist hierfür in letzterer Zeit schon geschehen: In
Warschau starb im Jahre 1902 ein reicher Mann, namens
Eduard Lenko. Er vermachte testamentarisch seine umfang-
reichen Grundstücke der Regierung mit der Bedingung, daß
auf ihnen eine Akademie für Frauen errichtet werden soll;
und das Ministerium für Volksaufklärung nahm diese Bedin-
gung an.i) Auch Fälle von politischer Gleichberechtigung
gibt es: 1902 berichteten die russischen Zeitungen aus Irkutsk,
daß im Dorfe Klementjewa im Poschechonsker Kreise die
Bauern in der allgemeinen Gemeindeversammlung zum auf-
1) Zeitungsnotiz. Vgl. Münchener Allgemeine Zeitung, 24. Dezember 1902,
II. Abendblatt.
21*
— 324 —
sichtsführenden Polizeibeamten für das Jahr 1903 eine Frau
wählten.^) Im Dorfe Nikolskoje bei Rybinsk haben sich die
Frauen einen solchen Einfluß in der Dorf- imd Gemeinde-
verwaltung zu erringen gewußt, daß am 26. September 1902
dort die erste allgemeine Gemeindesitzung unter Zulassung
der Frauen stattfinden konnte. Allerdings hat die Macht der
Verhältnisse viel zur Herbeiführung eines solchen interessanten
Ereignisses beigetragen. Die meisten Männer des Dorfes be-
finden sich während des größten Teiles des Jahres in Arbeit
in Petersburg und Moskau. Der Bürgermeister, seine Bei-
sitzer und die Gemeinderäte werden daher von den Frauen
in ihren Ämtern vertreten. Auf einer Inspektionsreise haben
die Vertreter der Gouvernementsbehörde von diesen über-
raschenden Verhältnissen Kenntnis erlangt. Die Untersuchung
ergab die größte Regelmäßigkeit in allen Affären. Der offizielle
Bericht der Untersuchungskonomission bemerkte: „Allmählich
gewöhnen sich die Frauen an die Versammlungen so, daß ihre
anfängliche Scheu und Zurückhaltung völlig schwindet. Sie
kommen immer häufiger zu den Sitzungen und stimmen ge-
wissenhaft.** Der Bericht hebt weiter mit Befriedigung einen
der charakteristischen Beschlüsse der Frauen von Nikolskoje
heraus : „Die Weiber im Dorfe, die sich mit der ganzen Wirt-
schaft zu befassen haben, werden die sehr verfahrenen Dorf-
angelegenheiten, die von völlig untauglichen Leuten (meistens
Trinkern, die im Dorfe zurückgeblieben waren) nur noch mehr
verwirrt wurden, nun wohl mit Eifer und allmählich auch
mit Verständnis wieder ins richtige Geleise bringen, da sie
schon vor allem nicht trinken und daher solider und or-
dentlicher sind. So wurde von den Weibern auf einer der
letzten Versammlungen mit aller Energie durchgesetzt, daß
ein nach dem Beispiel vergangener Jahre veranstaltetes Trink-
gelage (an. 5. Oktober, zum Andenken an die Gräfin Orlowa-
Tschesmenskaja, die den Bauern, als diese noch ihre Leib-
eigenen waren, die Freiheit geschenkt hatte) in diesem Jahre
nicht mehr stattfinden sollte; und ihrem einmütigen Proteste
gelang es auch, diesen ihren dem Allgemeinwohle des Dorfes
1) CliBopHbitt Kpaii und Lodzer Zeitung.
— 325 —
entschieden nützenden Widerstand zur vollen Geltung zu
bringen.**
Aus solchen vereinzelten Fällen darf man aber trotzdem
nicht schließen, daß in Rußland die Frau schon am Ziele
aller ihrer Wünsche angelangt sei. Die Frau aus dem Volke
gar lebt im allgemeinen noch auf der niedrigen Stufe, auf der
sie tausend Jahre geseufzt hat. Zwar duldet sie diesen Zustand
nicht mehr willenlos und resigniert; sie emanzipiert sich in
mancher Beziehung von den alten Sitten, sie strebt nach Rein-
lichkeit und trägt saubere Kleider; aber die Oberhoheit des
Mannes, die Sklaverei und die Herrschaft der Peitsche in der
Ehe dauern in vielen, ja in den meisten Gegenden fort. Die
russische ethno'graphische Schriftstellerin Jefimenko in Archan-
gel sagt: „Die Frau muß arbeiten, arbeiten und nochmals
arbeiten, soweit ihre physischen Kräfte reichen. Es ist nicht
möglich, auch nur annähernd alles aufzuzählen, was der Frau
obliegt. Der Mann beendet seine Arbeit und ruht aus. Für
die Frau, zumal die verheiratete, gibt es keine Erholung. Wie
viele Erzählungen hörte ich in Archangel, daß die Frauen auf
dem Felde oder beim bcnnitt gebären mußten, wo sie in
glühender Hitze lagen, oder im Walde beim Sammeln von
Pilzen oder Beeren für den Winter.** Neben der physischen
Überbürdung besteht auch noch die moralische Erniedrigung.
Bei den Kosaken darf die Frau ihren Mann aus Respekts-
gründen nur mit seinem Namen nennen, also nicht etwa:
Väterchen, Mann, Bauer; er aber darf sie nennen wie er will.
Im südlichen Rußland muß ein Weib bei der Begegnung mit
einem Manne in einiger Entfernung stehen bleiben, bis er
vorbei ist, und beim Gruß muß sie zuerst den Kopf neigen
als Zeichen voller Unterwürfigkeit, i) Auf das Alter wird dabei
keine Rücksicht genommen; denn „jedes Mannsbild,** sagt
Jefimenko, „ist älter als das Weib,** und hat dementsprechend
stets Respekt zu fordern.
1) yTH()rpa([)HqecKoe oCosptnie bei Rhamm a. a. O. 275, 276. Hier Paral-
lelen aus den Gebräuchen der anderen slawischen Völker.
326
39- Stellung der Frauen
bei den nichtrussischen Völkern Rußlands.
Weiberherrschaft in Kamtschatka — Ursachen dieses Phänomens — Die
Geilheit der Kamtschadalen — Sklaverei der Jakutenfrau — Stellung der
Esthin — Die Tatarin von Astrachan — Die Lesghierin das Lasttier des Mannes
— Die Tscherkessin — Widerspruchsvolle Ansichten über ihre Stellung —
Die Rechtlosigkeit der Tschetschenzin — Die Armenierin — Merkwürdigkeiten
aus dem Leben der ossetischen Frauen — Das Wohlleben der Georgierin —
Die Frauen der Kosaken und der Duchoborzen — Das Elend der Frauen der
kaukasischen Bergjuden — Polygamie bei den Bergjuden.
Den Frauen bei den nichtrussischen Völkern Rußlands
ergeht es im allgemeinen nicht besser als ihren vollblut-
russischen Schwestern. Nur im äußersten asiatischen Osten,
in Kamtschatka, haben sich die Frauen eine Stellung zu erhalten
gewußt, die ihnen nicht bloß Selbständigkeit, sondern sogar
die Herrschaft über die Männer gewährleistet. Die Arbeiten im
Hause und außer dem Hause sind unter beide Geschlechter ver-
teilt, und dabei kommt der Mann nicht immer am besten weg.
Der Kamtschadale muß kochen und auch sonst jede Arbeit ver-
richten, die ihm von der Frau zugewiesen wird. Ein Reisender^)
erzählt über dieses merkwürdige Verhältnis : „Die Anhänglich-
keit oder vielmehr Untertänigkeit der Kamtschadalen ist so
groß, daß sie ohne Murren zugeben, daß ihre Weiber alles, was
sie von Wert besitzen, verwahren, und ihnen, so wie sie etwas
brauchen, nach dem Ermessen der Gebieterinnen austeilen.
Wenn die Männer sich gegen ihre Weiber versündigen, so
versagen die letzteren den erstem nicht nur die eheliche Um-
armung, sondern auch den Tabak, der den Kamtschadalen,
und den meisten übrigen Völkern von mongolischer Abkunft
noch unentbehrlicher als Branntwein ist. Dieses Bedürfnis
und die Gunstbezeugungen ihrer Weiber erzwingen die Männer
nicht mit Gewalt, sondern durch die demütigsten und anhaltend-
sten Bitten und Liebkosungen. Wenn Mangel und Hunger die
Kamtschadalen aus ihren Hütten heraustreiben, um Fische
1) Steller bei Meiners, Geschichte des weiblichen Geschlechts, I 22.
— 327 —
öder Wildpret zu fangen, so gehen sie nicht weiter, als daß sie
am Abend wieder zu Hause kommen, und sich an der Seite ihrer
Weiber von ihren Arbeiten und Beschwerden erholen können.
Werden Sie aber gezwungen, länger als einen Tag auszubleiben,
so bewegen sie ihre Frauen mitzureisen, weil sie ohne diese
nicht leben können." Die Ursache einer solchen Herrschaft
der Weiber sucht man einerseits in der eigenartigen, unseren
Begriffen allerdings kaum entsprechenden Schönheit der Kamt-
schadalinnen, die sich lange Zeit jung erhalten; andererseits
in der großen Geilheit der Männer, die, um ihre Wollust zu
befriedigen, jedes Opfer bringen ; „die Kamtschadalinnen haben
zwar alle unterscheidende Merkmale der mongolischen Bil-
dung : große Köpfe, platte Gesichter, eingedrückte Nasen, blin-
zelnde kleine Augen, dicke Lippen, . hervorragende Backen-
knochen, allein sie bleiben allem Anschein nach viel länger
frisch, als die übrigen sibirischen Weiber, indem ihre kleinen
runden Brüste noch im vierzigsten Jahre ziemlich hart sind.
Gewiß aber sind sie viel schöner und blühender von Farbe
als die Weiber aller, oder der meisten übrigen mongolischen
Völker. Die Haut der Kamtschadalinnen ist durch die wohl-
tätige Wirkung ihres Klima so weiß, als die von Europäerinnen,
und ihre Wangen sind nicht weniger, als die der letzteren,
durch einen lebhaften Purpur gefärbt. Die Kamtschadalinnen
sind aber nicht bloß schöner als die übrigen sibirischen Weiber,
sondern sie sind auch viel geistreicher, als diese, und selbst
als ihre Männer, und in diesen höheren Fähigkeiten ist die
Ursache der außerordentlichen Gewalt, welche sie über ihre
Männer erlangt haben, zu suchen. Zu diesen Vorzügen der
Weiber kommt endlich die negerartige Üppigkeit der Männer
hinzu, die so groß ist, daß die Umarmungen der Weiber ihnen
ebenso notwendig als die tägliche Nahrung sind. Da nun die
Männer durch ihren heftigen Hang zur sinnlichen Liebe mehr
als andere sibirische Wilden zu den Weibern hingezogen, und
durch die vorzüglicheren Reize der letztern mehr als anderswo
gefesselt werden, so ist es nicht zu verwundern, daß sie zu-
gleich von den ausgezeichneteren Fähigkeiten der Weiber auf
eine solche Art unterjocht worden sind.**
Der Stellung der Kamtschadalin ist im russischen Asien
— 328 —
ganz entgegengesetzt die Situation, in der sich die Frauen bei
den sibirischen Nachbarvölkern, beispielsweise bei den Tun-
gusen, Ostjaken und Jakuten befinden. Speziell die Jakuten-
frau wird erbarmungslos bedrückt. Der Jakute hat seine Frau
von ihrem Vater für einen Kalym gekauft, und sie ist dadurch
ihres Gatten und Herrn rechtlose Magd geworden. Wenn
sich einmal die russische Behörde einer allzuschlimm nüß-
handelten Choten (jakutische Bezeichnung für Frau) annimmt,
so weist der Jakute dies als einen unerhörten und ungesetz-
lichen Eingriff in seine Fanulien-Autonomie zurück.^) Sein
Weib ist sein Eigentum, mit dem er schaltet wie er will:
Ich will nur Herr sein meines Eigentums;
Sie ist mein Hab und Gut, sie ist mein Haus,
Mein Hausgerät, mein Speicher und mein Feld.
Mein Pferd, mein Ochs, mein Esel, ist mein Alles.2)
Begeben wir uns nunmehr vom äußersten Osten zurück nach
dem westlichen europäischen Rußland, so sehen wir, wie auch
dort die Weiber der Esthen neben den schwersten häuslichen
Arbeiten pflügen, ackern, säen, eggen und das Getreide ein-
fahren müssen. 3)
Bei den Wotjäken regiert die Peitsche in der Ehe schon
am ersten Tage des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ; wenn
die junge Frau nach der Trauung bei dem Hause ihres Gatten
angelangt nicht schnell genug vom Wagen steigt, greift der
junge Ehemann zur Peitsche^) und demonstriert der Gattin
an der Schwelle ihres neuen Lebens, daß er allein die Macht
im Hause besitzt.
Bei den astrachanschen Tartaren kann sich die Frau auf
zweierlei Art ihr Leben als Gattin einrichten: „Bey der einen
Art werden die Weiber eingeschränkt, und so der Gewalt der
Männer übergeben, daß sie Lebenslang in dem ihnen ange-
wiesenen Weiber-Behältniß verbleiben müßen, nicht Erlaub-
niß haben aus dem Fenster zu sehen, und ohne den Befehl
^) Globus, 84. Band, S. 383, Anmerkung.
^) Shakespeare, Zähmung der Widerspenstigen, III. Akt, 2. Szene.
3) Petri, Esthland und die Esthen, II 231.,
*) Max Buch, Die Wotjäken, S. 64.
J. H. Ramberg (1798): T
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Sklavinnentnarkt.
— 329 —
der Männer keinen Schritt thun dürfen. In diesem Fall aber
sind die Weiber von allen weiblichen Hauß-Geschäften ver-
schont, und ihre Verrichtung ist nur diese, daß sie gleich einer
Statue mit gefaltenen Händen zu Hause sitzen. Bey der andern
Art haben die tatarische Weiber die Freyheit überall hinzu-
gehen, wo sie wollen, und ohngescheut in dem Publiko zu
erscheinen. Hingegen sind sie verpflichtet die häußliche An-
gelegenheiten nach allen Umständen zu besorgen." i)
Unter den Kaukasierinnen^) sind die Lesghierinnen am
meisten bedauernswert. Der Lesghier betrachtet sein Weib als
ein Lasttier, das er oft härter behandelt als sein Pferd, und
das ihm, da er es gekauft hat, die schwersten Arbeiten in wie
außer dem Hause verrichten muß, „um ihn,** wie Petzholcjt
bemerkt hat, „gewissermaßen für die Auslagen zu entschä-
digen.** Das lesghische Weib teilt mit dem Esel die Mühe,
das geerntete Getreide nach Hause zu tragen. Sie muß das
Heu mähen, das gemähte Heu dreschen und bergen; muß die
Pferde und Ochsen warten ; das Brot bereiten ; die zur Kleidung
nötigen Stoffe weben. Von Jugend auf zu solchem Sklaven-
dienst angehalten, altert sie vor der Zeit und hat alsdann noch
weniger gute Behandlung zu erwarten. Bei alledem ist merk-
würdigerweise soviel Achtung vor dem weiblichen Geschlecht
vorhanden, daß niemand es wagen dürfte, sich gegen eine Frau
oder ein Mädchen unziemlich zu benehmen.
Besser als die Lesghierin hat es die Tscherkessin schon
in der Kindheit und später als Gattin und Mutter. Schweiger-
Lerchenfeld zwar sagt : „So schön die Tscherkessin ist, so elend
ist ihre Existenz im Familienleben. Für den Tscherkessen ist
die Frau nicht mehr und nicht weniger als eine Magd, die ihm
bei jeder Gelegenheit zu Willen sein, alle Arbeiten verrichten
und seine Ausrüstung in Stand halten muß. Diese Existenz
fristet bei allem äußern Glänze, der den Tscherkessen beiderlei
Geschlechts unleugbar anhaftet, die Frau in einer elenden
Lehmhütte oder in einem sogenannten Hause von Flechtwerk,
^) Gmelins Reise durch Rußland, St. Petersburg 1774, Zweyter Theil, 137.
2) Vgl. Bernhard Stern, Zwischen Kaspi und Pontus, 69ff. 85 ff., 95,
105, 121, 134.
— 330 -^
das mit Lehm bekleidet ist. Auch sonst ist das Betragen der
Männer gegenüber ihren Frauen nichts weniger als ritterlich.
Die Romantik dauert nur so lange, als die Schöne in den
weißen Beinkleidern des Mädchens steckt, und endet, wenn
sie in die roten der Frau schlüpft.** Aber dieser Ansicht wider-
sprechen die Mitteilungen anderer Kaukasuskenner, wie Karl
Koch, Bodenstedt, Karl Friedrich Neumann. Koch sag^ : „Das
weibliche Geschlecht ist von dem männlichen nicht so abge-
schieden, wie es sonst im Orient üblich ist, und es nimmt an
allen Festen und Belustigungen teil, nur an den Volksversamm-
lungen nicht.** Bodenstedt schreibt: „Eine Tugend, welche
unwillkürlich an die alten Germanen erinnert, und wodurch
sich die Tscherkessen auffallend von allen übrigen Völkern
des Kaukasus, sowie auch von allen Mohammedanern unter-
scheiden, ist Achtung vor dem Weibe.** Und was die von
Schweiger-Lerchenfeld bezweifelte Ritterlichkeit der Tscher-
kessen gegenüber den Frauen betrifft, so ist auf die Worte
Neumanns zu verweisen: „Bei dem Ende eines jeden Festes
werden Turniere gehalten. Hier wendet man alle Kraft, List
und Gewandtheit auf, nicht sowohl um den Siegespreis zu
erringen, sondern um das Vergnügen zu haben, ihn den Frauen,
welche dem Kampfspiele zuschauen, überreichen zu können.
So zeigen die Tscherkessen auch bei jeder anderen Gelegenheit
eine besondere Achtung für das weibliche Geschlecht. Wenn
ein Reitersmann einem Weibe begegnet, welches dieselbe Straße
zieht, so steigt er vom Pferde herab und bittet sie, aufzusitzen;
will sie dies nicht, so begleitet sie der Reiter zu Fuß, so weit
sie einen gemeinschaftlichen Weg haben. Das weibliche Ge-
schlecht erfreut sich in Tscherkessien einer größeren Freiheit
und Ehre als sonstwo im Orient.**
Die Frau des den Tscherkessen verwandten Tschetschenzen
hat im Familienleben kaum einen Einfluß. Die Kinder gehor-
chen ihr nicht, der Gatte behandelt sie schlecht. Scheidet sie
sich vom Manne, um ihr Leiden zu beenden, so verliert sie
all ihr Eigentum; nur wenn der Mann sie fortschickt, darf sie
das Wenige, das ihr gehört, mitnehmen.
Den Armenierinnen in Kaukasien geht es am besten,
solange sie ledig sind. Die Mädchen können mit den Männern-
— 331 —
frei verkehren und dürfen ihren Gatten ohne Zwang selbst
wählen. Aber mit dem Eintritt in die Ehe ändert sich alles.
Das Ja, das die Armenierin vor dem Traualtar Spricht, ist für
lange das letzte Wort, das man in der Öffentlichkeit von ihr
hört, denn die junge Frau zieht sich in tiefste Abgeschlossenheit
zurück. Im Hause selbst geht sie immer verhüllt und ein
Schleier deckt den unteren Teil ihres Gesichts samt dem
Munde. Die Straße betritt sie, dicht verschleiert und ver-
mummt, nur zweimal im Jahre, wenn sie sich zu Ostern und
Weihnachten in die Kirche begibt. Kommt ein fremder Mann
ins Haus, so muß sie sich verstecken. Außer mit ihrem Gatten
spricht sie bis zur Geburt ihres ersten Kindes selbst mit ihrem
Vater, mit ihrem Bruder nicht, nicht einmal mit ihrer Mutter.
Nach der Geburt ihres ersten Kindes darf sie, aber immer
nur flüsternd, erst mit den weiblichen, später auch mit den
männlichen Verwandten reden; nach sechs Jahren oder noch
später ist sie in bezug auf das Sprechen ganz emanzipiert,
dagegen bleibt sie nach wie vor in Gegenwart von Männern
verschleiert. Ich habe aber in Kaukasien von vielen vertrauens-
würdigen Kennern des Landes erfahren, daß die Armenierin
sich in dieser Lage glücklich fühlt. Der Armenier behandelt
seine Frau selten hart, er heiratet oft aus Liebe und bleibt
seiner Gattin zugetan, auch wenn ihre Reize, die früh ver-
blühen, ihn längst nicht mehr anziehen können. Er schont
sie wo und wie er nur vermag, läßt sie keine schweren Arbeiten,
nur die kleinen Hausgeschäfte verrichten und den Garten pfle-
gen. Selbst der armenische Bauer verwendet nicht seine Frau
bei der Feldarbeit.
Gleich der Armenierin befindet sich die Ossetin in ihrer
Mädchenzeit ziemlich frei, aber nach der Hochzeit in strengster
Abgeschlossenheit von der Außenwelt; auch die Ossetin darf
jahrelang mit niemandem sprechen. Die Osseten gehören zu
den interessantesten Bewohnern Kaukasiens ; genauere Kennt-
nis von ihnen besitzt man erst seit wenigen Jahren durch die
Arbeiten einiger unermüdlicher russischer Forscher, i) Man
1) Vgl. namentlich das große dreibändige Werk von BceBO-iojL MirLieirt,
OcernHchie aiioAu (TeKcrti, ii3cvit;ioBauifl) MocKBa 1881—1887.
— 332 —
spricht den Osseten germanische Abstammung zu; ihre Reli-
gion ist offiziell die christliche, doch huldigen sie dabei vielen
mohammedanischen und heidnischen Gebräuchen. Die hieraus
entstehenden verschiedenartigsten Anschauungen sind nament-
lich auf die Stellung der Frau von Einfluß gewesen. Die
Osseten sollen beispielsweise als Christen nur ein einziges Weib
haben. Dennoch kommt es vor, daß reiche Leute mehrere
Frauen heiraten, und ganz nach moslemischen Gesetzen bleibt
dann die erste die Hauptgattin ; aber während bei den Moslems
die übrigen Frauen in mancher Hinsicht doch gleiche Rechte
mit der ersten Gattin erhalten, sind bei den Osseten die später
geheirateten Frauen nicht viel mehr als Mägde der ersten,
und den Kinilern der späteren Gemahlinnen steht — ganz im
Gegensatz zu dem islamitischen Recht — keine Erbberechtigung
zu. Ein anderes ossetisches Gesetz, das der Frauen drückende
Lage bei diesem Volke erhellt, stammt aus heidnischer Zeit,
ist als heidnische Überlieferung in dem christlich gewordenen
Volke lebendig geblieben: es stellt als Sühne für den Mord
eines Mannes die Entschädigung mit i8 mal i8 Ochsen, für
den Mord einer Frau aber mit nur 9 mal 9 Ochsen fest. Die
ossetischen Frauen führen ein sorgenvolles Leben. Wie die
Lesghierinnen mähen sie das Heu, tragen sie das Korn zur
Mühle, das Holz aus dem Walde; sie müssen pflügen und den
ganzen Feldbau treiben. All das tun sie aber ohne zu murren.
Die chewsurischen Weiber, ebenso wie die der Tuschinen und
Pschawen, sind gleichfalls arbeitsam und von Arbeiten außer
und in dem Hause stark in Anspruch genonmien; man sieht
chewsurische Weiber nie ohne Strickstrumpf; selbst dann nicht,
wenn sie reiten.
Ganz anders lebt die Georgierin. Dieser fehlt jeder häus-
liche Sinn, in Müßiggang und Sorglosigkeit fließt ihr Leben
dahin. Die vornehme Georgierin liegt im Hause auf dem Sofa
herum, raucht Zigaretten, lacht und musiziert, oder sie verbringt
ihre meiste Zeit in den üppigen Bädern, wo sie gleich einer
Türkin die Besuche ihrer Freundinnen empfängt und ihre Mahl-
zeiten hält.
Die Frauen der kriegerischen Linienkosaken und der Du-
choborzen gehören dagegen wieder zu den fleißigsten und
— 333 —
arbeitsamsten des ganzen russischen Reiches. Ehe die Sonne
das Dorf bescheint, haben sie im Hause alles in Ordnung ge-
macht, um sich hierauf an der Feldarbeit zu beteiligen.
Ihre Stellung im Hause ist dabei eine angenehme und ge-
achtete.
Die kaukasischen Bergjuden nehmen, wenn ihre Frauen
häßlich und alt zu werden beginnen, eine zweite Frau. Aber
während bei den übrigen Völkern, bei denen die Polygamie
besteht, die erste Frau gesetzlich immer die Hauptperson bleibt,
bei den Osseten sogar die späteren Frauen, wie wir gesehen
haben, die Mägde der ersten Gattin sind, ist bei den Bergjuden
die ältere Frau geradezu die Magd der jüngeren ; sie ist es, die
arbeiten muß; sie hat das Haus in Stand zu halten, die Küche
zu führen, das Vieh zu füttern, den Stall zu reinigen, das Feld
zu bearbeiten, das Holz zu hacken, den Kisjak zum Brennen
herzustellen, sogar das Haus zu weißen und zu reparieren,
wenn es schadhaft geworden ist.
40. Frauen -Raub und Frauen -Markt
Raub und Kauf bei den Kaukasiern — Tscherkessische Entführungen — Osse-
tischer Frauenkauf — Preis einer Bergjüdin — Billigkeit einer Tuschinenfrau
— Frauenraub bei den alten Letten und Esthen — Frauenraub bei den heu-
tigen Wotjäken und Tscheremissen — Raubehe der alten Slawen — Entfüh-
rungsgeschichten in den Bylinen — Ein alter ukrainischer Gebrauch — Rus-
sische Volkslieder — Frauenkauf bei den heutigen Burjaten — Verbreitung
der Sitte im europäischen Rußland — Versteigerung der Mädchen — Heirats-
märkte in Petersburg und Moskau — Die gegenwärtigen Mädchenmärkte
von Klin, Gschatsk und Ssytschewka — Versaufen der Tochter — Der Mensch
als Ware — Regierungspraxis — Frauentausch.
Die gedrückte Lage des weiblichen Geschlechts bei den
meisten Völkern Rußlands ist hauptsächlich darauf zurück-
zuführen, daß die Frauen geraubt oder gekauft wurden, zum
Teil auch heute noch geraubt oder gekauft werden. Das Weib
wurde somit die Beute oder das ehrlich erworbene Eigentum
des Gatten.
— 334 —
Bei einigen Völkern Kaukasiens waren seit jeher Kauf
und Entführung die alleinigen Formen der Eheschließung. Der
Vorgang bei den Tscherkessen ist im allgenieinen folgender:
Wenn zwei junge Leute sich verständigt haben, daß sie einander
angehören wollen, so sendet der Jüngling einen guten Freund
an die Eltern der Geliebten, um von ihnen den Kaufpreis
(Kalym) für das Mädchen zu erfragen. Der Kalym besteht nur
selten in Geld, in der Regel in Waffen oder in Vieh; ehemal^
wurden auch Sklaven verlangt. Kann ein Bräutigam den Preis
nicht erschwingen, so borgt er Vieh und Waffen von Freunden
oder zahlt in Raten. In früheren Zeiten sah sich der Werber,
wenn der Vater der Geliebten den Preis zu hoch stellte, einfach
gezwungen, die Geliebte zu entführen; heute konmit dies sel-
tener vor. Im Falle des Raubes, der zur Nachtzeit geschieht,
ist der Entführer durch die Sitte verpflichtet, nach Zurück-
legung einer bestinunten Strecke Alarmschüsse abzugeben, um
selbst die beraubte Familie von dem Geschehenen zu ver-
ständigen. Von der Schnelligkeit des Rosses, das die Lieben-
den trägt, hängt dann alles ab : Wird das Paar von den Verfol-
gern eingeholt, so verliert der Räuber die Beute, dazu sein
Pferd und seine Waffen; gelingt aber die Flucht, so darf ihm
die Braut nicht mehr entrissen werden. Wenn anderen Tages
die Eltern des Mädchens zu denen des jungen Mannes kommen
und klagend fragen: „O, saget uns doch, weshalb hat Euer
Sohn unsere Tochter geraubt?** so erhalten sie zur Antwort:
„Unser Sohn tat nach der Sitte unseres Volkes** und sie müssen
ihre Zustimmung zum Bunde geben. Bei einem anderen kau-
kasischen Volke, den Osseten, sind solche Entführungen fast
unbekannt; sie gelten einem Morde gleich. Die Bräute können
bloß gekauft werden. Gewöhnlicher Preis : mindestens zwölf
Kühe oder ein Pferd, höchstens hundertvierzig Kühe oder
sieben Pferde ; eine Witwe kostet regelmäßig die Hälfte des
von ihrem ersten Manne für sie gezahlten Kaufpreises. Bei
den kaukasischen Bergjuden beträgt der Preis für ein Mädchen
durchschnittlich hundertfünfzig Rubel ; dazu kommt die gleiche
Sunmie für die Hochzeitsfestlichkeiten und die Brautkleider,
die ebenfalls der Bräutigam bezahlen muß; da aber die Berg'-
juden meist arm sind, gibt es viele Junggesellen. Am billigsten
— 335 —
ist ein tuschinisches Weib: da schenkt der Bräutigam der
Braut drei Rubel bar, und das Ehegeschäft ist abge-
schlossen.
Frauenraub gab es ehemals nicht bloß bei den asiatischen,
sondern auch bei den meisten westlichen und nördlichen Völ-
kern Rußlands. So wird von den Letten berichtet i): „Sie
haben diesen bösen Gebrauch gehabt, daß der Freyer bey den
Eltern umb die Tochter nicht anhalten dörffen, sondern sie
entweder mit List oder mit Gewalt entführen müssen. Es hat
sich derselbe, der das Weib haben wollen, mit etlichen seiner
guten Freunde, die er zu sich genommen, zu derselben Magd,
die er zur Ehe begehret, Eltern begeben, und etwan eine Ursach
erdichtet, warumb sie dahin kommen, wann sie nu dieselben
wol empfangen und aufgenommen, da ist einer draußen bey
dem Wagen und den Pferden geblieben, und wenn der Vater
oder Wirth sie zum Essen genötiget, haben die berichtet, es
were einer ihrer Gesellen draußen bey den Pferden, derhalbn
die Magd, so entführt werden sollen, gebeten, denselben mit
zum Essen zu ruffen. Wenn sie nun hingangen, hat sie der,
so draußen gewesen, ergriffen und mit sich geführet, welchem
die andern, so in der Stuben gewesen, bald gefolget. Wann
aber die Eltern und Verwandten ihnen nachgejaget, haben sie
sich gewehret, und die Entführte mit Gewalt nach Hauß ge-
bracht, da denn die Eltern ihren Consens und WUlen drein
geben müssen, wenn sie gesehen, daß es nicht anders seyn
können. Haben sie auf diese Weise nichts erlangen können,
so haben sie sich auf der Nähe wo verstecket, und auf die
Magd gelauert; wann die nu aus dem Hause gangen etwan
Wasser zu hohlen, oder sonsten sich wohin begeben, sind sie
unvermuthlich hervorkommen, und sie mit sich hinweggeführet^
daß offt die Eltern nicht gewust, wo die hinkommen, bis sie es
hernach erfahren. Diesen bösen heydnischen Gebrauch haben
sie noch in acht genommen und darnach gelebet, da sie schon
zum Christlichen Glauben gekonmien, und von den Teutscheil
bezwungen : es ist aber von der teutschen Herrschafft bey Lebens
Straffe verboten, und sind sie dazu gehalten, daß sie, wie
1) Hiärn. ehst-, lyf- und lettlaendische Geschichte, S. 38.
— 336 —
Christen gebühret, umb die Braut werben, und sich hernach,
Christhchem Gebrauch nach, öffentlich eheligen und zusammen
solten geben lassen.** — In Estland kannte man ebenfalls den
Gebrauch des Mädchenraubes, aber hier geschah dies zumeist
mit Wissen der Eltern. Dies kann man „aus den alten Recessen
abnehmen, da geboten wird, daß, wenn einer eine Magd wider
der Eltern Willen raubet, er das Leben sol verlohren haben,
geschiehet es aber mit Vorwissen der Eltern, müsse er sie
eheligen." 1)
Bei den Wötjäken^) existiert noch bis auf den heutigen
Tag der Mädchenraub, kukem. Wenn der Vater der Braut
einen zu hohen kalym fordert oder überhaupt nicht in die
Ehe willigt, die beiden jungen L^ute aber einig sind, dann
wird die Braut entführt. Man verabredet eine Stelle im Walde
oder Felde, hier arbeitet das Mädchen scheinbar fleißig und
ahnungslos, und wird plötzlich vom Geliebten und seinen Freim-
den auf ein Pferd oder einen Wagen gehoben und fort geht
es im Galopp. Unterwegs ist sie, wie Bechterew erzählt, fröh-
lich, vor dem Hause des Bräutigams aber fängt sie an zu heulen
und zu janmiern und wiJrd dann irgendwo in einem kenos ein-
gesperrt. Der Vater der Entführten erfährt gewöhnlich bald,
wo sie hingebracht worden, kommt und fragt, wo seine Tochter
ist. Der Bräutigam bietet ihm einen kalym, worauf der unzu-
friedene Vater mit der Peitsche zuschlägt, wenn die Summe
zu gering ist. Endlich einigen sie sich, und der Alte frag^
seine eingeschlossene Tochter, ob ihr das Leben hier gefalle.
Sie antwortet gewöhnlich: nicht ganz gut, aber um des Ge-
liebten willen wolle sie gerne alles ertragen. Nie kommt es
zur Klage bei den Gerichten. Man sieht, auch hier gibt es
Romantik, auch hier werden bisweilen Ehen aus Liebe ge-
schlossen. Es soll übrigens, wie schon der alte Georgi erzählt,
bisweilen vorkommen, daß ein Mädchen wider ihren Willen
vom Felde geraubt oder des Nachts in ihrem Bette überfallen
und fortgeschleppt wird. Ebenso ist es bei den finnougrischen
1) Ebenda 39.
') Max Buch, Die Wotjäken, S. 62.
— 337 —
Tscheremissen an der Wolga der Raub noch jetzt die üblichste
Form der Eheschließung. Es gibt Dörfer, wo seit hundert
Jahren keine regelmäßigen Heiraten stattgefunden haben.
Smirnow führt ein Dorf an, in dem im Laufe von siebzig Jahren
nur zwei regelmäßige Hochzeiten stattgefunden haben. Im
Kreise Malmysch raubt man die Frau aus dem Chorowod (xopo-
BOAi>, Reigen) zur Zeit der Feste, im Walde beim Sammeln der
Schwämme und Beeren, am Fluß, wenn sie wäscht. Smirnow
liebt hervor, daß er keine Spur von Exogamie habe entdecken
können, der Raub vollziehe sich in demselben Stamme.^)
Bei den alten Slawen war die Raubehe von zweifacher
Gestalt: bei den Drevljanen, wo die Jungfrauen beim Wasser
geraubt wurden, konnte es sich um eine wirkliche Gewalttat
handeln. Anders bei den Stämmen der Radimitschen, Wjä-
titschen und Severier, bei denen man die Weiber auf den
„Spielplätzen" zwischen den Dörfern überfiel. „Auf den Spiel-
plätzen**, heißt es, „kamen sie zusammen zum Tanz und zu
allerlei wilden Spielen, und hier raubten sie die Weiber, mit
denen ein jeder sich verständigt hatte.** Hier ist die Raubehe
nur eine äußere Form, nach der Darstellung des Chronisten
gar kein krimineller Akt, sondern lediglich ein summarisches
Zivilverfahren, und ein Schluß auf Exoganüe ist in keiner
Weise geboten oder nur naheliegend. 2) Wenn man davon
ausgeht, daß die altslawischen Dörfer im allgemeinen nicht
groß waren und in dem schwach bevölkerten Lande zerstreut,
so kann man die „Spielplätze** nur in nächster Nähe von Dorf-
schaften suchen. Ausdrücklich wird bemerkt, daß der Raub
nach Rücksprache und also mit Einwilligung des Mädchens,
daher auch wohl der Eltern geschah, wodurcli das Ganze als
eine Art Zeremonie gekennzeichnet wird, die wohl nur den
Zweck hatte, die Umständlichkeiten und Unkosten, die bei
dem Brautkauf dem Bewerber zur Last fielen, zu umgehen.
Denn die Töchter waren in alter Zeit ein Wertgegenstand ersten
1) Vgl. Rhamm, a. a. O. 272.
2) Ebenda.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. ** 22
— 338 —
Ranges, aus dem man so viel herauszuschlagen suchte wie
möglich.^)
In den russischen Bylinen ist mehrfach von gewaltsamen
Entführungen die Rede. Ein Lied erzählt: „Lust, große Lust
bekam Fürst Wladimir nach einem Weibe, er wollte heiraten.
Saß mit seinen Helden an dem runden Eichentisch, im hohen
goldgezierten Festsaal. Schnurrige Reden gingen von Mund
zu Mund, lustig kreiste das mächtige Trinkhom. Da fragte
der Fürst, ob keiner eine Gemahlin für ihn wüßte. Schön und
weise soll sie sein, ihr Angesicht weiß wie Schnee, mohnrot
die Wangen, wie Zobel die Augenbrauen, wie Falkenaugen
die Augen. Alle schwiegen, beschämt versteckte sich der
jüngere vor dem älteren. Da trat der stille Dunay Iwanowitsch
hervor und sprach: „Helle Sonne, Knjäs Wladimir! Mein
früherer Herr, der König von Litauen, hat zwei schöne Töchter.
Eine kühne Heldin ist die eine und reitet immer umher. Da-
gegen die andere ist wie geschaffen, deine Gemahlin zu sein,
zart ist ihres Leibes Gestaltung, süß ihr Angesicht und weiß wie
Schnee, mohnrot sind ihre Wangen, gleich Zobel die Augen-
brauen, wie 'Falkenaugen die Augen. Sie sitzt hoch im Fürsten-
gemache hinter 30 Stahlschlössern, die heftigen Winde be-
rühren sie nicht, die heiße Sonne versengt nicht ihr Antlitz.
Sie ist die jüngere Schwester, Apraxija ist ihr Name. Werben
will ich sie für dich, mein Fürst, doch soll Held Dobrynja mein
Begleiter sein." Die beiden Helden kommen zum Könige der
Litauer (in einer Variante heißt es : König Emanuel von der
goldenen Horde) werden aber übel empfangen und abgewiesen.
Da machen sie kurzen Prozeß und entführen mit Gewalt die
Prinzessin, die man ihnen nicht gutwillig geben wollte. Held
Dobrynja ist noch in einem anderen Liede der Brautwerber des
Fürsten Wladimir, in dem „Lied von der stolzen Rogneda** :
auch hier wird er von Rochwold dem Warjäger zu Polozk
schnöde abgewiesen und kann den Auftrag des Fürsten nur
nach Anwendung von Gewalt erfüllen. Rogneda ist übrigens
eine historische Persönlichkeit, und auch in der Geschichte
wird berichtet, daß Fürst Wladimir die Verbindung mit ihr
gewaltsam erzwang.
^) Ebenda.
— 339 —
Ein merkwürdiger Raub-Gebrauch wird in einer aus der
Mitte des siebzehnten Jahrhunderts stammenden Beschreibung
der Ukraine i) erwähnt : Wenn sich die Bauern an einem Sonn-
tag oder Feiertag in der Dorfschenke versammehen, um zu
tanzen, erschien die Gutsherrschaft, um der Unterhahung der
Bevölkerung zuzuschauen. Bei jedem Dorfe befand sich ein
dichtes Gehölz, in welchem sich die Bauern zu verstecken
pflegten, wenn die Tartaren nahten. Es wird nun erzählt : . . .
„bien que les paysans soient suiets presque comme esclaues,
ce neantmoins ils ont d'anciennet^ ce droit et privilege d'enleuer
en ceste occasion, s'ils peuuent dans TassembMe de la dance
vne Damoiselle quand mesme eile seroit fille de leur seigneur,
pourueu qu'il le fist avec teile dexterit^ et adresse que cela lui
reussist bien (car autrement il seroit perdu) et qu'il se puisse
enfuir dans ces bois taillis voisins de lä, oü s'il se peut tenir
vingt-quatre heures cach^ sans pouuoir estre descouuert, alors
il est absous du rapt qu'il a fait, et si la fille qui a est^ enleu^e
le veut espoTJser, il ne la peut refuser sans perdre la teste, sinon
il est quitte du crime, et on ne luy en peut plus faire aucune
peine, mais s'il arriue qu'il soit pris dans les vingt-quatre heures,
on luy couperoit la teste ä Theure mesme sans aucune forme
de procez; pour moy en dix-sept ans que i'ay est^ en ce pays,
ie n'ay point ouy parier que cela y soit arriuö, bien ay-ie veu
les filles faire Tamour aux gargons, et reüssir plusieurs fois,
comme ie Tay dit cydessus, mais en celuy cy il y a trop de
hazard: car d'enleuer vne fille par force, puis s'enfuir ä la
face dVne compagnie auec eile sans estre atteint, il faudroit
auoir de bonnes jambes, ce qui seroit bien difficile sans auoir
le mot et intelligence auec la fille, et d'ailleurs les paysans sont
plus mastinez ä präsent qu*ils n estoient autrefois, et la noblesse
aussi y est deuenue plus hautaine et imp^rieuse, il y a apparence
que lors qu'on a donn^ ce priuilege aux paysans, que c'estoit
du temps que les Polonnois en election de leurs roys prenoient
1) Description de rVkranie, par le Chevalier de Bevplan. Nouvelle
Edition publice par le Prince Augustin Galitzine. Paris 1861, p. 119. (Die
deutsche Übersetzung von J. C. Modler, Breslau 1780. konnte ich nicht auf-
treiben).
22*
— 340 —
celuy qui couroit le plus viste les pieds nuds, comme le plus
vaillant et adroit, comme si la vaillance et dext^rit^ d*esprit
consistoit en la vitesse et dexterit^ du corps : et de lä est encor
venu comme ie croy que les nobles fönt faire serment au roy
le iour suiuant de son eslection deuant Tautel, de n'emprisonner
aucun noble pour quel crime que ce soit, horsmis celuy contre
TEstat ou sa personne, apr^s les vingt-quatre heures passöes,
pour dire qu'ils estimoient fort les personnes qui auoient la
disposition de bien courir et d'aller viste.**
In den großrussischen Hochzeitsliedern gibt es zahlreiche
Reminiszenzen an die wilden Sitten der Vorzeit^); so singt ein
Mädchen;
Ich bitte dich, leibliches Brüderlein,
Den Säbel ergreife mit deiner Hand,
Versperre die Wege, die Stege mir
Mit frischen Tannen, mit Birken,
Ja, und mit bitteren Espen I
Sonst greifen mich Arme die Feinde 2) an,
Sie entführen mich junges Mägdelein
Von den leiblichen Stammgenossen,
Vom geliebten Freunde, dem Bruder.
Erscheint hier der Bruder als Beschützer des Mädchens,
so ist er in einem anderen Liede als Vertreter des verstorbenen
natürlichen Oberhauptes, des Vaters, der Verkäufer des
Mädchens :
Mein lieber Bruder,
Du blauer Tauber,
Verkauf nicht, o Bruder,
Die teure Schwester:
Verlange hundert
Und tausend Rubel,
Ja hunderttausend
Und ganze Städte.
^) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, S. 26.
*) Feinde: der Bräutigam und seine Helfer.
— 341 —
Laß nicht, o Bruder,
Mit Nüssen dich locken.
Nimm die Äpfel,
Die der Wurm benagt hat.
Daß Vater oder Bruder sich aber nicht durch des Mädchens
Bitten rühren ließen, ist nach allem, was wir von dem russischen
Familienleben kennen, selbstverständlich.
Der Frauenraub konnte unter den modernen Verhältnissen
nur in wenigen Gegenden fortdauern; und auch dort, wo
er noch stattfindet, ist er nicht viel mehr als eine Förm-
lichkeit oder wie andere traditionelle Zeremonien ein bloßer
Volksscherz. Dagegen ist das Kaufen der Frauen in ganz
Rußland stark verbreitet : in Kaukasien, bei den Kirgisen, den
Kalmücken, den Tartaren, in Sibirien. Wenn beispielsweise
der Burjate heiraten, richtiger eine Frau „erwerben" will, ist
er genötigt, sich in aller Form eine Braut von dem glück-
lichen Besitzer von Töchtern zu kaufen. Der Kaufpreis be-
trägt in der Regel 500 bis 700 Rubel, in besonders gün-
stigen Fällen 200 bis 300 Rubel, wozu noch häufig Vieh und
Schafe kommen. Bei der großen Armut der Burjaten er-
scheint es begreiflich, daß sich der hohe Kaufpreis wie eine
Last auf ihn legt, an der er sein ganzes Leben zu tragen
hat. Um das Cleld zu beschaffen, ist der heiratslustige Bur-
jate gezwungen, Schulden zu machen, die er erst dann in
der Regel abzuschütteln vermag, wenn seine Ehe mit Töch-
tern gesegnet ist, bei deren Verheiratung er dereinst den für
seine Frau gezahlten Preis zurückerhalten kann. Auf die Ehe
blickt der Burjate daher vom rein praktischen Standpunkt,
die Liebe kennt er nicht, er bedarf der Arbeitskräfte, die
er in seiner Frau und in seinen zukünftigen Kindern zu
finden hofft. Als ein großes Unglück wird es allgemein be-
trachtet, wenn die Ehe kinderlos bleibt; in diesem Falle
sieht sich der Burjate nach einer anderen Frau um, für die
er ein oft noch höheres Kaufgeld als für die erste entrichten
muß. Nicht selten soll es vorkommen, daß ein Burjate seine
Tochter an verschiedene Personen verkauft. Um dieses tun
zu können, überredet er seine Tochter, den Mann zu ver-
— 342 —
lassen und in das Elternhaus zurückzukehren, um sie dann
an den ersten Besten zum zweiten Male zu verkaufen. Klagen
bei den indigenen Bauerngerichten ziehen sich oft Jahre lang
hin, so daß in den meisten Fällen von Klagen gänzlich ab-
gesehen wird.^) Es erscheint begreiflich, daß dieser Modus
des Abschließens von Heiraten auch unliebsame wirtschaft-
liche Folgen nach sich zieht. Doch sind diese Bräuche so
festgewurzelt, daß sich nur schwer gegen sie ankämpfen läßt.
Ob ein Verschwinden der barbarischen Sitten von einer fort-
schreitenden kulturellen Entwicklung der Burjaten zu erwar-
ten wäre, bleibt fraglich, da der Brauch des Frauenkaufs auch
im eigentlichen zivilisierten Rußland nicht nur vorhanden
ist, sondern statt abzunehmen immer mehr zunimmt und
sich selbst in Gegenden einbürgert, wo er früher nicht be-
standen hat.2) Bei solchem Kauf geht es ganz so zu, wie bei
jedem anderen Handel: man schlägt einander in die Hände,
trinkt dazu und wendet das Mädchen hin und her, von einer
Seite nach der anderen, gleich einer Ware. Genügt dem Käufer
das bloße Schauen nicht, so wird das Mädchen von den weib-
lichen Verwandten des Käufers in die Badstube geführt und
dort auf die eingehendste Art auskultiert. In einigen südöst-
lichen Steppengegenden wird das Mädchen förmlich an den
Meistbietenden versteigert; ihre Tränen und Drohungen, sich
das Leben zu nehmen, lassen kalt. Über die Hochzeitsbräuche
in Wologdi wird von einem Beobachter^) erzählt, wie die
Freiwerber zum Vater des Mädchens kommen, die zufällig
aus einem Winkel hört, daß ihr Geliebter um sie werben
läßt, und einen unwillkürhchen Schrei ausstößt, den der
Vater für einen Ausruf des Schreckens hält. „Wäre es dem
V^ater — einem ebenso eigenwilligen Selbstherscher, wie die
Mehrzahl der Bauern — in den Sinn gekommen, daß die
Tochter sich freute, so würde er die Freier grob aus dem
Hause gejagt und der Mutter einen ins Genick gegeben haben.
^) Bericht eines russischen Regierungsbeamten in HpicvTCK. ryö Btao-
MOOTH. Vgl. Lodzer Zeitung vom 12. XII. 1902.
2) AneKcaiiipa EcIulmchko, II;?ci1aoHaHifl napciHort h<ii3HII m oöuhiioo npauo.
KpecThflHCKaH aa'nimina. 1884. Cip. 6S, 70. Vgl. Rhamm a. a. O.
^) iKneaii crapima VI 65 Vgl. Rhamm.
— 343 —
weil sie nicht auf die Tochter achtgegeben, und der Letz-
teren, weil sie gewagt, ohne sein Vorwissen zu heben."
Früher gab es selbst in Petersburg und Moskau öffent-
liche Heiratsmärkte; am Ostersonntag i) oder am Pfingstmon-
tag 2) trafen sich die jungen Männer und Mädchen in den öffent-
lichen Gärten und maxrhten Bekanntschaft, die auch schnell
zur Verlobung führte. Solche Heiratsmärkte hat man noch
jetzt zahlreiche: In Klin bei Ssaratow versammelt sich am
6. Januar nebst den Einheimischen eine große Menge von Leu-
ten aus der ganzen Umgegend. Die Pferde und Schlitten wer-
den auf den Plätzen zusammengestellt, die alten Leute gehen
in die Kirche, die Jugend aber bleibt auf dem Marktplatz. Die
heiratsfähigen und heiratslustigen Mädchen trennen sich darauf
von der Schar der Burschen, stellen sich in der Straße, die
zur Kathedrale des Ortes führt, in zwei oder drei Reihen auf
und bleiben so spalierbildend von neun Uhr vormittags bis
mittags und später. Jede Jungfrau hat ihr schönstes Gewand
an, außerdem aber muß sie als charakteristische Zugehörigkeit
zu dieser Parade in ihren über den Bauch gekreuzten Händen
ein helles Halstuch oder Schnupftuch halten. Das ist ein ganz
wunderbares Bild: diese langen Reihen frischer Mädchen in
den schwarzen Pelzen, von denen sich die weißen Tücher glän-
zend abheben. Für viele Eltern der Umgegend ist es die einzige
Gelegenheit, ihre Töchter in die Öffentlichkeit zu bringen und
sie mit jungen Männern bekannt zu machen. Die Burschen
schreiten nun die Reihen entlang, mustern die Schönen, prüfen
sie vom Kopf bis zu den Füßen, und die einem gefällt, wird vom
Bewerber sofort um Namen und Wohnort gefragt. Langsam
bilden sich Paare, die sich zusammengefunden haben, und wenn
die Alten aus der Kirche kommen, so stellen sich ihnen die
jungen Leute schon als Halbverlobte vor; die beiderseitigen
Verwandten kommen beglückwünschend herbei, und in dem
Trakt ir wird der neue Bund begossen und besiegelt. Ähnlich
geht es in den Städten Gschatsk und Ssytschewka zu. Auch
hier findet der Mädchenmarkt (A'hBHHbH TonKynKa) stets am
1) Hellwald, Die Welt der Slawen, 325.
-) Geheimnisse von Rußland, I 269.
— 344 —
6. Januar statt. Doch ist in den beiden letztgenannten Orten
insofern eine Abweichung zu konstatieren, als die Mädchen
nicht in Reihen stundenlang stehen, sondern gruppenweise
einander an den Händen haltend in den Straßen auf und ab-
marschieren, während die Burschen Spalier bilden. Auch halten
die Mädchen die Paradetücher nicht in den Händen, sondern
haben den Kopf damit bedeckt. Diese Tücher endlich sind
hier nicht einfarbig hell, sondern mit grellen Blumen bestickt.
Es gibt bei Moskau eine Fabrik, die sich das ganze Jahr nur
damit beschäftigt, solche Paradetücher für die Heiratsmärkte
der Wolgagegenden herzustellen.^)
Von diesem Verkauf der Töchter, von diesen Mädchen-
märkten wesentlich zu unterscheiden ist der Handel mit Mäd-
chen und Frauen, der nicht zum Zwecke der ehelichen Ver-
sorgung, sondern tatsächlich nur deshalb geschieht, um dem
Vater einen guten Trunk zu verschaffen, wie es etwa in diesem
alten Liede heißt:
O Trinker, Vertrinker,
Amdotjas Väterchen:
Vertrankst Deine Tochter
Beim Fäßchen Wein,
Vertrankst Dein Kind
Beim Schälchen Wein,
Vertrankst Dein Töchterchen
Beim leckeren Mahle!
Die Regierung gibt kein besseres Beispiel. Sie lehrt alle
Tage das Volk, daß der Mensch nichts ist als eine Ware: In
einzelnen Ländern des Reiches, beispielsweise in Finnland,
kennt man weder Armenhäuser noch Pfründen in den Städten ;
die Armen werden einfach am i. Januar eines jeden Jahres
gruppyenweise unter Trommelschlag verlizitiert. In Kaukasien
war um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der Sklaven-
handel schon vollständig unterdrückt. Da gestattete der Gene-
ralstatthalter Fürst Woronzow, um den Widerstand Schamyls
^) Mitteilung des Dr. med. Nikolai Stern in Ssaratow. Vgl. Ca]>aTOHcr;irt
.lucTOKT* 1904, Nr. 10.
— 345 —
2U brechen, jenen, die sich von dem Propheten lossagtien, wieder
den Mädchenhandel und den Verkauf tscherkessischer Mädchen
nach Konstantinopel. 1)
Wen kann es da Wunder nehmen, daß das Volk im
Menschenhandel, im Verkauf von Frauen' und Mädchen und
im Tauschen von Weibern nichts Unehrenhaftes oder Unsitt-
liches sieht 1 2) Findet ein Tunguse, daß seine Frau einem
Nachbarn gefällt, so tauscht er sie gern gegen die Gattin des
anderen, bei Aufzahlung einer Blase voll Tran ein; und die
Weiber finden gegen solchen Handel nichts einzuwenden. Im
Oktober 1902 hatten zwei Ehemänner des Dorfes Kljutschi im
Gouvernement Ssaratow eines Tages verschiedene Geschäfte
miteinander zu erledigen. Da es an barem Gelde mangelte,
wurden die gegenseitigen Verbindlichkeiten durch einen Tausch-
handel abgewickelt. Man hatte bereits Pferde, Kiihe, Wagen
und mancherlei andere Wirtschaftsgeräte getauscht, aber die
Rechnung wollte sich noch immer nicht ausgleichen. Man
1) Schamyl als Feldherr, Sultan und Prophet, von Dr. Friedrich Wagner,
Leipzig 1854. S. 85.
^) Übrigens kannten auch andere Länder solche Unsitten. In isländischen
Erzählungen wird geschildert, daß der Mann unter besonderen Umständen
seine Frau einem anderen verkaufte. In der Flammanasage will der Isländer
Thorgils aus Norwegen in seine Heimat zurückkehren und läßt seine Frau
seinem Freunde als Andenken. König Frodi schenkt seine ungetreue Gattin
strafweise einem unbedeutenden Manne. Im Jahre 14 14 verkaufte ein Bürger
von Costnitz zur Zeit des großen Konziliums seine Frau an die Kanzellarien
um 300 Dukaten (vgl. Die Frauen, kulturgeschichtliche Schilderungen des
Zustandes und Einflusses der Frauen in den verschiedenen Zonen und Zeit-
altem, von Dr. Gustav Klemm. Dresden 1859. II 144, 145). Der Kongo-
Neger kann jene seiner Frauen, die er aus einer niedrigeren Klasse der Bevölke-
rung genommen hat, jederzeit verkaufen. In Slam hat der Mann das Recht
jederzeit seine Frauen zu verkaufen. In China kann der Mann die Frau zur
Strafe für eine Untreue verkaufen (vgl. Dictionnaire de la p6nalit6, IV 68).
In England verkauften noch 181 5 und 18 19, zufolge einer altsächsischen Sitte«
Männer ihre Frauen öffentlich auf den Märkten : Wenn die Frau die Unzufrieden-
heit ihres Gatten erregt hatte, durfte dieser sie binden, mit einem Stricke auf
den Viehmarkt schleppen und um einige Schillinge an einen Witwer oder
Junggesellen verkaufen. Die so gekaufte Frau wurde ohne weitere Zeremonie
die legitime Gattin ihres Besitzers, und die aus dieser Ehe entsprossenen Kinder
waren in jeder Beziehung legitim (Klemm und Dictionnaire).
n:
TT
— 346 —
begann abermals zu tauschen, erhielt aber schließlich stets noch
einen Rest, Die Situation gestaltete sich immer schwieriger,
zumal aus verschiedenen Gründen die Beziehungen zwischen
den beiden Bauern geregelt werden mußten. Da durchzuckte
plötzlich ein Geistesblitz das Hirn eines der biederen Landleute.
Gott, rief er, wollen wir unsere Frauen auf die Wagschale
werfen I Das leuchtete auch dem Partner ein und nun begann
ein Handeln und Feilschen, von dem selbst Pferdehändler
lernen könnten. Die zu vertauschenden Objekte, in diesem
Fall die Frauen, wurden nun von ihren glücklichen Besitzern
als Inbegriff aller Tugenden bis in den Himmel gehoben. Jeder
suchte seine Frau so hoch als möglich zu bewerten, um das
Geschäft zu seinem Vorteil abzuschneiden. Schließlich wurde
auch eine Einigung erzielt und in üblicher Weise durch Hand-
schlag und die unvermeidliche „Margaritsch** besiegelt. Als-
dann ging es an die Erfüllung der eingegangenen Verpflich-
tungen, wobei es sich erwies, daß die Rechnung ohne den Wirt
gemacht worden war. Als nämlich ein Bäuerlein seine Hütte
erreicht, seiner besseren Hälfte Mitteilung von dem abge-
»schlossenen Geschäft gemacht hatte und diese zu ihrem neuen
Herrn führen wollte, wurde ihm in Worten und Taten ein Emp-
fang zu teil, der ihn veranlaßte, schleunigst das Weite zu
suchen. Kleinlaut teilte er seinem Gläubiger mit, daß seine
Frau nicht parieren wolle und manches gegen den Handel ein-
zuwenden habe. Dieser wollte von einem Vertragsbruch nichts
wissen, bestand hartnäckig auf der Erfüllung aller eingegan-
genen Verpflichtungen, und als dieses nichts half, suchte er
durch das Gemeindegericht zu seinem „Rechte** zu gelangen.
Als letzteres sich außer Stande sah, dem Vertrag Gesetzeskraft
zu verschaffen, nahmen die Bauern die Entscheidung kopf-
schüttelnd entgegen.^)
Im Dezember 1903 berichteten russische Blätter aus Irkutsk,
daß ein Bauer aus dem Dorfe Petrowka an den Polizeichef des
«
Kreises folgendes Schreiben gerichtet hatte: „Ich habe die
Ehre, Ew. Hochwohlgeboren ergebenst zu bitten, in den Zei-
tungen die Bekanntmachung zu erlassen, daß in Petrowka eine
1) Mitteilung des Dr. Nikolai Stern in Ssaratow.
— 347 —
20jährige Frau — meine Fraul — und zwei Ferkel verkauft
werden sollen — alles zusammen für 25 Rubel. Die Frau ist
sehr hübsch, eine tüchtige Wirtin, aber streitsüchtig und bos-
haft; die Ferkel sind gut genährt und fett. Auf Wunsch bin
ich bereit, die Frau und die Ferkel gegen Nachnahme zu ver-
senden.** Als der Kreischef dieses Schreiben empfing, fuhr
er sofort nach Petrowka, da er der Meinung war, daß der Brief-
schreiber nicht ganz zurechnungsfähig sei. Seine Zweifel waren
jedoch unbegründet. Der Bauer war ein sehr vernünftiger
Mensch und durchaus normal. Er erklärte, daß er die Frau
verkaufen müsse, weil sie ihm das Leben verbittere. Der Kreis-
chef ließ dann die Frau rufen und fragte sie, was sie von dem
Plane ihres Mannes halte. Sie war natürlich nicht sehr erbaut
davon, aber etwas Absonderliches fand sie nicht darin, i)
Folgende originelle Abmachung wurde allen Ernstes
•zwischen zwei russischen Bauern getroffen und auf einem Wech-
selblankett von 100 Rubeln verschrieben: „Im Jahre 1898 am
3. Oktober habe ich Endesunterzeichneter Reservesoldat I. K.
mit dem Bauern I. S. folgende Vereinbarung getroffen : Nach-
dem ich zur Genüge mit meiner gesetzlichen Ehefrau Eudokia
zusammengelebt habe, übergebe ich sie dem I. S. zum vollen
Eigentum behufs Zusammenlebens, vom obigen Datum ge-
rechnet bis zu ihrem friedlichen Lebensende, und mit dem
heutigen Tage entsage ich für die Zukunft sowohl gänzlich
jeglicher Einmischung in das Leben der beiden, als auch über-
haupt meiner gesetzlich bereits dem L S. abgetretenen Frau
Eudokia, auch verpflichte ich mich, im Falle der Übertretung
dieser Abmachung dem Iwan verantwortlich zu sein durch die
Verbindlichkeit, ihm als Arbeiter ohne Lohn zu dienen.** 2)
Häufig sind elementare Ereignisse Ursachen zum Ver-
stoßen der Frauen und Kinder, und an die finstersten Jahr-
hunderte des russischen Elends, an die furchtbaren Schilde-
rungen eines Petrejus, Bussow und Margeret erinnert das Tele-
gramm, das am 27. November 1906 aus Kasanj in die Welt
^) Zeitungsnotiz (Neues Pester Journal, 31. Dezember 1903).
2) Erzählt im Cuifb OTeqecTBa, 1898, Nr. 310. Zitiert auch von Dr.
C. Stroh mberg-Dorpat, „De Prostitution", Stuttgart 1899, S. 22.
— 348 —
geschickt wurde : „Wegen der Hungersnot verkaufen die Väter
ihre Töchter im Alter von 12 bis 17 Jahren um 10 bis 150
Rubel per Stück.**
41. Schönheitsideal^ Schminke und Liebe.
Schönheit wichtigstes Attribut der Zarengattin — Ausländische Urteile über
russische Frauenschönheit — Berühmte Schönheiten des Zarenhofes — Rus-
sische Schönheitsideale — Korpulenz — Rotes Gesicht — Geschichte des
Schminkens in Rußland — Kaiserin Anna über Schminken und Färben der
Augenbrauen — Schönheit der Frauen bei den verschiedenen Völkern Ruß-
lands — Das dicke Weib — Das flachbrüstige Mädchen — tVotjäkfache Schön-
heitsideale — Begriff der Liebe in Rußland — Europäische Ansichten über
russisches Lieben — Turgenjews Ausspruch — Die Liebe im Verkehr Peters
des Großen und Katharinas I. — Die Liebesinstruktion für Katharina IL
Mag man nun seine Braut durch Raub zu gewinnen suchen,
mag man sie kaufen oder nach zivilisierter Art um sie werben ;
mag es sich um eine Jakutin oder eine Lettin, um eine Polin,
Jüdin oder Russin handeln : immer will man, daß sie schön sei.
Paulus Jovius erzählte zu Ende des fünfzehnten oder Anfang
des sechzehnten Jahrhunderts, „daß die russischen Großfürsten
gleich den Sultanen bei ihren Weibern nicht auf hohen Stand,
sondern nur auf Schönheit und Tugend sahen.**
Was hielten und halten aber die Russen für schön? Und
sind die Russinnen selbst schön? Die Ausländer konnten in
diesen Fragen miteinander niemals einig werden. „Das rus-
siche Frauenzimmer im ganzen genommen,** schreibt ein ano-
nymer Verfasser interessanter Bemerkungen über Rußland i),
„scheint mir nicht so schön als das deutsche. Die russischen
Mädchen sind im Durchschnitt gerechnet, eher groß als klein,
haben eine lebhafte hohe Gesichtsfarbe, mehr starke als zarte
Gesichtszüge; sie sind mehr brünett als blond, mehr heftig als
sanft. Ihr Auge ist mehr klein und feurig, als groß und
schmachtend. Die Nase ist weniger charakteristisch und
^) J. J. Bellermann; sein zweibändiges Werk erschien in Erfurt 1788.
Vgl. I, S. 353.
— 349 —
national als bei den Männern; der Hals meist fleischig, rund,
eher kurz als lang. Ob sie gleich bis jetzt das Schnüren und
Busen-Heraufpressen nicht so wie die Obersachsinnen zu ver-
stehen scheinen, so zeigen sie doch meist eine volle Brust.
Schlanke Taille und kleiner Fuß muß bei ihnen kein wesent-
licher Teil der körperlichen Schönheit sein, weil sie beides sehr
vernachlässigen. Der Körper ist stark und gesund.** Und
weiter : „Die Schönheit des andern Geschlechts scheint mir hier
noch vergänglicher als in Deutschland zu sein. Vorzüglich
kommt sie mir im niedrigen und mittlem Stande, als von sehr
kurzer Dauer vor. Mit der Haltbarkeit der Engländerinnen
kann man sie gar nicht vergleichen. Das schnelle Abwelken
der Blumen im hiesigen Klima schreibe ich besonders den
heißen Dampfbädern zu. Zu dem frühen Verlust der Jugend-
reize mögen aber auch die frühen Heiraten, der unmäßige Ge-
nuß der Liebe, das Branntweintrinken, beitragen.** Noch ent-
schiedener im verneinenden Sinne als dieser deutsche Schrift-
steller spricht sich in bezug auf die Schönheit der Russinnen
der Franzose Marquis de Custine^) aus: „Le peuple est beau;
les hommes de pure race slave sont remarquables par leurs
cheveux blonds et leur teint tos6, mais surtout par la perfection
de leur profil qui rappelle les statues grecques. — Les femmes
du peuple sont moins belies; on en rencontre peu dans les
rues, et celles qu'on y voit n'ont rien d'attrayant; elles parais-
sent abruties. — De toutes les femmes du peuple que j*ai
rencontr^es jusqu'ici dans les rues, pas une seule ne m'a sem-
hl6 belle ; et le plus grand nombre d'entre elles m'a paru d'une
laideur remarquable. et d*une malpropret^ repoussante. On
s*^tonne en pensant que ce sont lä les ^pouses et les m^res de
ces hommes aux traits si fins, si r^guliers, aux profils grecs,
ä la taille ^l^gante et souple, qu*on apergoit m^me parmi les
derni^res classes de la nation. Rien de si beau que les vie-
illards, de si affreux que les vieilles femmes russes. — En g^n^-
ral, dans les diverses classes de la nation, la beaute est moins
commune chez les femmes qu'elle ne Test ehez les hommes,
ce qui n'emp^che pas qu*on ne trouve parmi ceux-ci un grand
^) La Russie cn 1839, I 293, II 103, 35.
— 350 —
nombre de physionomies plates et d^nu^es d'expression.** Auch
Fanny Tarnow-Lewald^) nennt die russischen Frauen geradezu:
„in der Regel häßlich.** Zum Glück haben die russischen
Frauen aber auch andere, ihnen günstigere Beurteiler gefunden.
In den „Rußischen Anecdoten oder Briefen eines teutschen
Officiers**2) wird versichert, „daß die Rußinnen mehr schön als
häßlich sind . . . Die Moscowiterianinnen haben eine gar zu
angenehme Gestalt, als daß man in ihrer Gegenwart unempfind-
lich seyn könne.** Die Historiker und Memoirenschreiber er-
wähnen manchmal wenigstens die auffallendsten Schönheiten,
die am Hofe glänzten. So lese ich im Tagebuch des Friederich
Wilhelm von Bergholz s) von der „Fürstin Tschirkaßin, daß
sie am Hofe Peters des Großen für die größte Schönheit ge-
halten wurde.** Der Zarin Elisabeth machte Frau Lopuchina
starke Konkurrenz; die Vorwitzige büßte ihre Schönheit unter
dem Knut des Henkers. Am Hofe der zweiten Katharina glänz-
ten durch Schönheit neben der Gräfin Bruce, die von der
Kaiserin geohrfeigt wurde, als sie mit Ihrer Majestät zu rivali-
sieren versuchte, noch besonders das Fräulein Ssenjäwin imd
zwei Fräulein Engelhard*), letztere beiden die Nichten und Ge-
liebten Patjomkins. Aus der Zeit Alexanders des Ersten ver-
dient besondere Erwähnung Frau Naryschkin, die Geliebte
des Zaren, ö)
Die Schönheitsbegriffe der Russen, wenigstens in den
Zeiten des Terem, sind ganz eigener Art : die Schönheit beurteilt
man nicht nach dem Gesicht, sondern nach dem Gewicht, und
fünf Pud gilt als das annehmbare Minimum. Der russische
Historiker Kostomarow erklärt beispielsweise den Widerspruch
zwischen den ungünstigen Urteilen der Ausländer und den
günstigen der Inländer über die Regentin 3ofia Alexejewna
damit, daß die Europäer in der Korpulenz der Zarewna etwas
Häßliches, die Russen aber gerade darin die vollkommenste
Schönheit sahen. Iwan der Schreckliche verstieß seine vierte
^) Briefe aus St. Petersburg, S. 138.
2) Wansbeck 1765, S. 150, 135.
8) Bei Büsching, XIX 42.
*) Bemerkungen über Rußland (von Bellermann) I 327.
^) Man sehe ihr Porträt im I. Bande, S. 392.
— 351 —
Gemahlin, Anna Koltowskoj, weil sie abmagerte; und als er:
einen Boten nach London schickte, um wegen seiner Verhei-
ratung mit einer Engländerin zu unterhandeln, mußte der Ge-
sandte sich vor allem um den Leibesumfang der Erwählten
kümmern.^) Peter III. vernachlässigt seine Gemahlin Katha-
rina; nur Elisabeth Woronzow, seine Maitresse, erscheint ihm
als das Ideal weiblicher Schönheit. Man betrachte nun das
Bild dieser Schöneren, die die schöne Gemahlin des Kaisers
in Schatten stellt: „Sie ist nicht sonderlich lang; aber desto
dicker. Ja sie ist von außerordentlicher Dicke, und so häßlich,
als die Nacht im Neumonde. Sie ist von schwarzbraunem Ge-
sichte, welches mit dickem Fleische überzogen und voller
Pockennarben ist, worinn die Schminke vesten Fuß fasset,
welcher sie sich in übermäßiger Menge bedienet. Ihre Augen
würden schön genannt werden, wenn sie mehr Reiz von sich
geben, und in einem andern Kopfe erschienen. Ihr Busen ist
ein ungeheures Feld der Begierden, und könnte mehr, als einer
Brust, reichen Vorrath ohne Schaden liefern. **2) Paul erbte
den Geschmack seines Vaters. Er mied seine schöne Frau
Maria Feodorowna, um mit einer dicken Köchin zu leben.^)
Von den russischen Bauernweibern bemerkt der Arzt Wichel-
hausen*), „daß ihr Bau zarter ist, und ihre Gesichtszüge einen
feineren Ausdruck haben. Ihre Brüste sind meistens ziemlich
groß und schlaff, ihre Hüften breit, und die Beckenhöhle g^t
gebauet, so daß selten schwere Geburten bei ihnen vorfallen.
Sie haben mehr Anlage zur Korpulenz als die Männer, und
häufig findet man — besonders unter solchen, die eine sitzende
Lebensart führen — runde, aufgedunsene, dicke Gestalten,
die, nach den Landesbegriffen, für schön gelten.**
Die liebenswerte Frau muß also dick sein. Doch Korpu-
lenz allein genügt nicht. Auch das Gesicht muß anziehen;
um anziehend zu sein, braucht es bloß rot zu sein, und rot
und schön wird im Russischen mit demselben Worte: krasno
*) Vgl. S. 32, 33 in diesem Bande.
. 2) Rußische Anecdoten, II 41.
3) Geheime Nachrichten (von Masson), III. Band, erste Abteilung,
S. XIV.
^) Züge zu einem Gemähide von Moskwa, 1803. S> 287, 288.
— 352 —
(KpacHo) bezeichnet. Um dieses Schönheitsattribut zu verdienen,
schminken sich die Russinnen, sowohl die vornehmen Frauen,
wie die des Volkes in ärgster Weise. „ . . . ce qui est de
plus blamable, c'est qu'encore qu*elles n'ayent aucun d^faut
naturcl qu'^Ues soient oblig^es de r^parer par le secours de
Tart, elles se chargent n&mmoins le visage et la gorge de c^ruse
et les joues et les l^vres de Vermeillon.**^) Der Gebrauch ist
also schon seit alten Zeiten verbreitet; der Bräutigam durfte
früher unter den Brautgeschenken „eine kleine Schachtel voll
Schmincke nicht vergessen; weil der Moscowiter Gewohnheit
ist / daß sich, die Frauen und Jungfern schmincken / sie
mögen auch so schön seyn / als sie wollen ; so daß; / wann eine
unter ihnen ungeschmincket auff einer Hochzeit erschiene /
selbige von jedermann verachtet und ausgelacht würde." 2)
Auch bei Hofe dürfen die Frauen nicht ungeschminkt er-
scheinen. 3) Da suchte es dann die eine der anderen zuvor-
zutun, die jüngsten Damen — am Hofe Peters des Großen
zum Beispiel die ganz jugendliche Tochter des Grafen Golow-
kin*) — schminkten sich, daß man ihre Gesichter schon von
weitem glänzen sah. Kaiserin Anna war weniger für das
Schminken als für das Färben der Augenbrauen: 1738 —
so wird in einem zeitgenössischen russischen Memoirenwerk
erzählt s) — macht sie einer alten Base Vorwürfe: „du hast
ja einen ganz gelben Teint.** — „Ich habe mich ein wenig
vernachlässigt,** lautet die Entschuldigung, „ich lege kein Rot
auf und male mir nicht mehr die Augenbrauen.** — „Da tust
du unrecht,** meinte die Zariza, „zwar brauchst du. Alte, kein
Rot aufzulegen; aber die Augenbrauen soll man färben.** In
der Zeit Annas war die Schminksucht bei den Russinnen so
stark, daß die armen Frauen auf den Straßen nicht um Brot,
sondern um einen Kopeken für Schminke bettelten. Die Sitte
ist so allgemein und charakteristisch, daß ein Reisender es
für interessant genug findet, die damals gebräuchlichen
^) Mayerberg, Relation, I 139.
2) Religion der Moscowiter, 97.
■^) Rußische Anecdoten 152.
*) Bergholz, Tagebuch bei Büsching, XIX 88.
^) Waliszewski, L'h^ritage de Pierre le Grand, 167.
— 363 —
Schminken und Schminkmethoden ganz genau zu beschreiben :
„Wenn das rußische Frauenzimmer sich putzt, so pudert es
sich nie, die Vornehmen ausgenommen, statt dessen aber
schminken sie sich alle im Gesicht. Die geitieinen Weibs-
bilder mahlen sich weiß mit Bleyweiß, und oben darauf roth
mit einem Spahn, den sie in Brantewein einweichen, und den
man hier im Lande für einen gemeinen Preiß kaufen kann, die
Vornehmen hingegen lassen ihre Schminke ausserhalb Landes
herkommen. Einige von ihnen bereiten auch selbst eine Gat-
tung von weisser Schminke, von Ratzenpulver und Weingeist,
auf folgende Weise. Sie reiben erstlich diese beyden Sachen
mit einander, und giessen so lange Weingeist darauf, bis das
Arsenikum nicht mehr austrocknet. Hierauf machen sie kleine
runde Kugeln daraus, welche sie in einer Schachtel aufheben.
Wenn sie nun eine solche Kugel in ein Glas ungarischen
Wassers werfen, und von selbigem einige wenige Tropfen in
dasjenige Wasser tröpfeln, in welchen sie da3 Handtuch ein-
tauchen, um das Gesicht damit zu waschen, so werden sie
gleich Schnee weiß.**^)
Bei der Beurteilung der russischen Frauenschönheit muß
man jedenfalls zwischen Großrussin und Kleinrussin unter-
scheiden. Die Großrussin, ein Kind des Nordens, ist selten
von großer Gestalt und zeigt fast immer Neigung zu starker
Korpulenz; das angenehmste an ihr sind ihre hellen Augen,
während selbst das hübscheste Gesicht durch das Breitknochige
in ihm stört. Dagegen ist die Kleinrussin im Süden des Lan-
des mit ihrer graziösen Figur, ihren dunklen Augen und kokett
aufgebundenen dunklen Haaren der Polin ähnlich, deren blen-
dende Schönheit sprichwörtlich ist. Berechtigten Schönheits-
ruhm genießen die Estinnen; schon Petri sagte von ihnen 2):
^,Sie sind so wohlgebildet, daß sie oft als Beischläferinnen
nach den Städten verkuppelt werden.** Bei den Kamtscha-
dalen findet man manchmal hübsche Frauen, ebenso bei den
Jakuten, dagegen selten bei den Tschuktschen und Wotjäken.
^) Abschnitt aus Peter von Haven Nachrichten von Rußland, bei
Büsching, X 353, 354.
^) Esthland und die Esthen, II 274.
Stern, Geschichte oer öffentl. Sittlichkeit in Rußland. ** 23
— 354 —
Wie die Polin die schönste Frau im europäischen Rußland,
so ist es die Mingrelierin im asiatischen; die Georgierin und
Tscherfcessin, zum Teil auch die Armenierin gelten ebenfalls
als schön, sie stehen aber hinter der Mingrelierin zurück.
Wie bei den Russen wünscht man sich auch bei den nicht-
russischen Völkern Rußlands das dicke Weib als Idealweib.
Allerdings gibt es auch andere Wünsche und andere An-
schauungen. So sucht der Baschkire, wie es in einem basch-
kirischen Liede heißt, bei seinem Liebchen nach „Augen-
brauen, die dem noch dünnen Neumonde**, und nach „Brü-
sten, die den noch warmen Butterknollen gleichen.** Da-
gegen sind flache Brüste beliebt bei den Kalmücken und einigen
kaukasischen Völkern, besonders bei den Kabardinern, Osseten
Und Tscherkessen. Bei ihnen zwängt man dem Mädchen schon
in früher Kindheit die Brüste in ein Korsett ein, das möglichst
eng um den Leib herumgenäht und erst in der Brautnacht vom
jungen Gatten aufgetrennt wird; bei den Osseten gilt eine
üppige Mädchenbrust als ein Zeichen von Unkeuschheit. Bes-
seren Geschmack bekundet der Wotjäke; er will eine Frau
von schlankem Wuchs, mit schönem Gesicht und schönen
Augen ^) * .
k'el'et no vallen d'al'ez küd^,
gu2em nynalen nynalez küdi;
tynad mugored mynam siiimy
uökysa um tyriäke küd^ nynalen.
„Unser Fuchs hat eine lange Mähne. Im Sommer sind
die Tage lang; meine Augen können auch am langen Tage
sich nicht satt sehen an deinem schlanken Wuchs.**
vylad no disam kamzolde
zök vyle ponysa vandid-a?
mugoryd ve:§kyd, bangyd ispai,
bagalma bakf;aiyn budid-a?
„Das Kamsol, das dich kleidet, ist es nicht auf dem Tische
zugeschnitten ?Dein Wuchs ist schlank, dein Gesicht ist schön;
bist, du nicht im Apfelgarten aufgewachsen?**
1) Max Buch, Die Wotjäken. S. 92 ff.
— 355 —
gufed^. no bordad s^öd pusnered,
söd pusÄer pölyn j^öd suter;
6 öd suter kaik öinjosyd
gord namer kaik banjosyd.
„Am Bergesabhang stehen schwarze Nesseln. Zwischen
den schwarzen Nesseln steht ein schwarzer Johannisbeerstrauch.
Deine Augen sind wie schwarze Johannisbeeren, doch dein
Gesicht wie rote Steinbeeren.**
vod^.josydlen no d'amjosyz
öalmo öaö'ä vafi dyrja.
nyrjosydlen no motorez
d'yrazy takja vafi dyrja.
„Die Wiesen sind schön, so lange der Sturmhut blüht;
die Mädchen sind schön, so lange sie das takja tragen.**^)
In anderen wotjäkischen Liebesliedern spricht sich starke
Sinnlichkeit aus; das Mädchen zwar ist in seinen Gedanken
noch zart und einfach: „Auf euerem Fenster stehen Rosen;
die Rose aber hat nur eine Blüte. In diesem Dorfe gibt es
viele Leute; doch nur Einen liebe ich.** Der Jüngling aber
geht gleich auf des Äußerste los :
takja id^. jamdy k'el'ysem
kijady azves zundes lüjesalke;
nalpai^ko, nalpasko uk vera^ky
tunne mynam kunylam lüsalytke.
„Das takja auf eurem Kopfe steht euch gut zum Gesicht;
doch besser stände euch ein silberner Fingerreif. Ich denke
und denke, doch sage ich's nicht, aber heute wirst du in meiner
Umarmung sein.**
kotyres tyijyn kyk lud Cö^,
cal' ybimy no kyk Cosen;
mamyk no tysak gül' mend'er
fal' id^. omy no kyk öo.^en.
^) Das takja, den Kopfputz, tragen die Mädchen bis zur Ver-
heiratung.
23*
— 356 —
„Auf dem runden See zwei Waldenten; wollen wir zwei
alsbald sie erschießen. Ein Daunenpfühl und ein Kissen aus
Rosen; wollen wir zwei alsbald darauf schlafen.**
§yn vuedlen kndi ajaz
gad'yz öybor vudor vaÄ;
p'eÄmyt §üisa mynytek en kil'y,
toYedi ke evöl kidiili vaÄ.
„Am Flüßchen Syny steht ein Reiher mit bunter Brust.
Komm und achte nicht darauf^ daß es dunkel ist, wenn es
keinen Mond gibt, so gibt es doch Sterne.**
Man besticht das Mädchen; der eine, Brutalere, mit Geld;
der andere, zartfühlend, mit Blumen :
töd'y keöpyly pusjos poni,
keCpyjezly evöl tüjezly,
ukno vyJyjaz t'enke poni
anajezly evol nylyzly.
„Auf die weiße Birke schnitt ich Zeichen; nicht in die
Birke, sondern in die Rinde. Aufs Fenster legte ich ein Silber-
geld; nicht der Mutter, sondern der Tochter.**
Kuzone myni b' ertöntem'
kal'ämp'er ba^ti vuzantem,
so kal'ämp'efez nyl'josly soti
odik 2yd oknaz id^. ontem.
„Ich fuhr nach Kasanj, nicht um wiederzukehren, und
kaufte Nelken, nicht um sie zu verkaufen. Diese Nelke schenkte
ich den Mädchen, um nicht eine Nacht allein zu schlafen.**
Das sind indessen noch schüchtern keusche Herzensergüsse
im Vergleich zu den Liebesliedern der Russen, die wir bei
den Hochzeitsgebräuchen kennen lernen werden. Die russische
Liebe ist : roheste Wollust, nur physisch und brutal. „En
affaires de coeur, les Russes sont les plus douces bötes f^roces
qu'il y ait sur la terre, et leurs g^ffes bien cach6es n'ötent
malheureusement rien ä leurs agT^ments,**^) heißt es bei
1) Custine, La Russic en 1839, III 342.
/
— 357 —
Custine, und der Engländer Lanin sagt^): „Im äußersten Nor-
den von Europa ist die Liebe häufiger ein Gefühl als eine
Leidenschaft und noch häufiger mehr Appetit als Gefühl."
Turgenjew hat in „Rauch** erklärt, daß die epische Literatur
der Russen als einzige unter allen europäischen und asiatischen
Literaturen nicht einmal imstande war, ein typisches Paar
von zwei Wesen, die sich heben, zu schaffen. Ein klassisches
Beispiel der russischen Auffassung von der Liebe liefert der
Briefwechsel Peters des Großen mit Katharina. In allen diesen
Briefen ist von nichts anderem die Rede als vom Geschlechtsakt,
und wenn die Gatten miteinander zärtlich sein wollen, so
sprechen sie unverhüllt von ihren intimsten ehelichen Geheim-
nissen. Der Zar gratuliert der Zarin zum Geburtstag des Prin-
zen Peter, der den Kosenamen Schischenka führt. Und dar-
auf antwortet Katharina: „Ich bin überzeugt, daß wenn mein
Alter bei mir wäre, dann hätten wir im nächsten Jahre einen
neuen Schischenka.** Diese ehemalige livländische Bauern-
magd hatte den Charakter der Liebe eines Russen richtig er-
faßt, und ihrem feinen Verständnis verdankte sie es ohne
Zweifel, daß sie den unbändigen Gemahl bis an sein Lebens-
ende an sich zu fesseln vermochte. Die andere Katharina,
die Prinzessin von Zerbst, konnte oder wollte mit Peter III.
nicht nach dieser Methode verfahren; es verflossen die ersten
neun Monate der Ehe, und die junge Frau zeigte keine Spur
einer Schwangerschaft. So ward es nötig, daß Kaiserin Eli-
sabeth für die Gemahlin ihres Neffen und Thronfolgers eine
„Instruktion für die Ehe** ausarbeiten lassen mußte, deren
zweiter Paragraph besagte: „Alle Gelegenheiten zu Kälte sind
zu vermeiden. Ein Erbe kann nur durch Liebe und eheliche
Aufrichtigkeit erzielt werden.** Nun lernte Katharina, dem
Befehle der Kaiserin gehorchend, zwar schnell die russische
Art zu lieben; doch nicht der Gemahl war der Glückliche,
der von ihrem Eifer profitierte.
^) Russische Zustände, II 53.
— 358 —
•42. Hochzeitsbräuche und Hochzeitslieder
der Russen.
Die Neuvermählte muß dem Gatten die Stiefel ausziehen — Fürstliche Hoch-
zeitsbräuche — Verheiratungen der Großfürsten mit Ausländerinnen — Ver-
heiratungen der Zaren mit Mädchen aus dem Volke — Die Heiraten des Zaren
Wassili j Jwanowitsch — Die zwei Heiraten des Zaren Alexe j — Untersuchung
der Kandidatinnen durch Hebamme und Arzt — Schwindel bei Zaren- Ver-
mählungen — Strafe für solchen Betrug — Die List eines Günstlings, um
seiner Protegierten zur Krone zu verhelfen — Hochzeitsbräuche des Volkes —
Ehezwang — Die Brautleute kennen einander nicht — Prüfung und Unter-
suchung durch Mittelspersonen — Das Bad am Tage vor der Hochzeit —
Verhüllung der Braut — Katoschichins Klage — Das Las der jungen Frau
im Volkslied — Folgen der Emanzipation der Frau — Fortdauernde Sitten
der Vergangenheit — Geheime Ehe — Hochzeitsbräuche der Weißrussen —
Fruchtbarkeit — Potenz des Mannes — Obszöne Hochzeitslieder der Klein-
russen.
Über die alten Hochzeitsbräuche der Russen ist wenig
bekannt. Aus der Antwort Rognedas, der Gemahlin Wladimirs,
an ihren Vater Rochwold Fürsten von Polozk weiß man nur,
daß die junge Frau verpflichtet war, am ersten Tage nach
der Hochzeit dem Gatten die Schuhe auszuziehen i); ein Ge-
brauch, der noch heute nicht bloß bei den Tschuwaschen an
der Wolga und anderen finnischen Völkern, sondern auch
in vielen rein russischen Gegenden vorhanden ist.
Die älteste Beschreibung einer fürstlichen Hochzeit betrifft
die Vermählung der jüngsten Tochter des Großfürsten Joan III.
von Moskau. Eine ältere Tochter war mit einem ausländischen
Prinzen unglücklich verheiratet; deshalb wollte der Herrscher
die jüngste und geliebteste in seiner Nähe behalten, und ein
Untertan — ein seltener Fall — wurde zum großfürstlichen
Schwiegersohn erwählt. Die Vermählung der Prinzessin Feo-
dosia mit dem Fürsten Chomlskij fand 1506 statt. Am Hoch-
zeitszuge nahmen über hundert Fürsten der Hauptstadt als
Begleiter des Bräutigams teü, während neben den Schlitten der
1) Chronique de Nestor, 11 Anhang 133.
2) M. 3a6Li;min>, pyccKift Hapoj^», cxp. 117.
- 359 —
Großfürstinnen griechische und russische Bojaren gingea.i)
Spätere Schilderungen erwähnen ausführlich die Gebräuche
und Festlichkeiten bei den Hochzeiten der Großfürsten und
der Thronfolger. Die russischen Herrscher zur Zeit der Teil-
fürstentümer vermählten sich mit Töchtern aus regierenden
russischen, aber auch aus ausländischen Häusern, besonders
aus Griechenland oder Polen; die Großfürsten von Moskau
hielten dieselbe Regel ein, bis Wassilij Iwanowitsch zuerst
von ihr abwich, indem er sich eine Braut aus den Töchtern
seiner Untertanen wählte. Seinem Beispiele folgten seine Nach-
kommen und die ersten Zaren aus dem Hause Romanow.
Der Gebrauch war wohl den Byzantinern entlehnt, jedoch auch
von der Notwendigkeit diktiert worden: Joan III. hatte für
seinen Sohn Wassilij keine Ausländerin zu werben vermocht.
Der König von Dänemark und der Markgraf von Brandenburg
erteilten demütigende Absagen. Mit den russischen Fürsten,
seinen Nachbarn und Rivalen, wollte der moskowitische Groß-
fürst keine verwandtschaftlichen Bande knüpfen. So machte
er aus der Not eine Tugend. Die Romanows hatten gleiche
Gründe : Zar Michael sandte Brautwerber nach Dänemark, der
König aber wollte die zarischen Gesandten nicht einmal emp-
fangen. Später allerdings war ernstlich die Rede von der Heirat
des Grafen Woldemar Christian Güldenlöwe, Sohnes des Königs
Christian IV., mit einer Tochter des Zaren Michael; letzterer
bot eine Mitgift von 600000 Dukaten bar, die zwei Städta
Susdal und Jaroslaw, Kleider und Kleinodien. 2)
Wenn sich ein Zar entschlossen hatte, eine Zarin oder
Schwiegertochter aus dem russischen Volke zu erwählen, so
brachte man ihm iiur Auswahl die schönsten Mädchen aus ganz
Rußland herbei. Hebammen untersuchten die Kanditatinnen
aufs genaueste und intimste, 3) und nur jene, die die Prüfung be-
standen hatten, wurden zur engeren Konkurrenz zugelassen.
Sobald der Zar seine Entscheidung getroffen, wurden die übri-
1) Karamsin, VI 288.
2) Büsching X 217.
^) IlBaiTL 3a6tjiHHB, ÄOManiHHft 6uti» pyccKHrB uapHi^b, MocKBa 1872.
222, 245.
— 360 —
gen Mädchen mit Offizieren und Würdenträgern des Hofes
vermählt. Während der Brautnacht des Zaren mußte sein
Oberstallmeister mit entblößtem Degen unter den Fenstern
des Schlafzimmers Wache halten. Am Morgen nach der Braut-
nacht begab sich das junge zarische Paar ins Bad.^) Als
Wassilij, Sohn des Zaren Joan III., heiraten sollte, wurden
fünfhundert — nach anderen fünfzehnhundert — Mädchen
nach Moskau gebracht. Aus ihnen wählte man zuerst drei-
hundert, dann zweihundert, dann hundert aus. Von den hun-
dert wurden nur zehn zur engeren Konkurrenz zugelassen, und
aus diesen zehn erwählte der Großfürst endlich ein Mädchen
namens Solomonia zu seiner Lebensgefährtin. 2) Ähnlich ge-
schah es 1526, als Wassilij — damals schon Selbstherrscher
— Elena Glinskij zur Zarin erhob. Die Festlichkeiten bei dieser
Hochzeit werden von den Historikern ausführlich beschrieben.^)
Als die Braut in den Palast des zarischen Bräutigams geführt
wurde, trug man zwei mit Zobel umwundene Hochzeitskerzen in
Laternen und zwei große runde Brote vor ihr her. Im Ge-
mache, wo sie den Bräutigam erwarten mußte, waren zwei
Sitze aus schwarzen Zobeln bereitet, und auf einem weiß-
gedeckten Tische stand eine Schüssel mit Semmeln und Salz.
Nachdem die Braut Platz genommen, rief man den Bräutigam
herbei mit den Worten: „Herr, gehe mit Gott ans Werk!**
Man kämmte dem Bräutigam und der Braut die Haare, ent-
zündete die Hochzeitskerzen an Kerzen, die schon am Feste
der Erscheinung Christi gebrannt hatten, und reichte der Braut
eine Kika (KHKa, Art Kopfputz) und eine Fata ($aTa, Art
seidener Schleier). In drei Winkeln des Zimmers lagen auf
einer goldenen Schüssel: Hopfen, Zobel, einfarbige sammetne,
atlasne und damastne Tücher und je 9 Geldstücke. Mit dem
Hopfen wurde das Brautpaar bestreut und mit dem Zobel an-
gefächelt. Die Tücher verschenkte man an die Gäste. Dann
begab man sich zur Kirche. Vor der Braut, die in einem
Schlitten fuhr, trug man Brot und Kerzen. In der Kirche
^) Karamsin VII 175.
*) Ebenda VII 468, Anmerkung. 173.
8) Ebenda VII 176.
— 361 —
war der Weg für das Brautpaar mit Damast und Zobel belegt.'
Die vornehmste Bojarin reichte dem Metropoliten eine Flasche
mit feinstem italienischen Wein; der Metropolit gab zuerst der
Braut, dann dem Bräutigam zu trinken, hierauf warf er die
Flasche zu Boden und zertrat sie. Nach der Rückkehr von
der Kirche trug man die Hochzeitskerzen und die großen
Brote in das Schlafgemach und gab sie in einen mit Weizen
gefüllten Scheffel. In den vier Ecken des Schlafgemachs
lagen Semmeln und Brote, auf Bänken standen zinnerne Krüge
mit Honigwein. Auf dem über 27 Korngarben errichteten
Brautbette waren zwei Kissen, zwei Mützen, eine Marderdecke
und ein Pelz. Heiligenbilder und Kreuze bedeckten alle Wände.
Das junge Ehepaar begab sich zu Tische. Man brachte einen
gebratenen Hahn herbei, den wickelte der Bräutigamsführer in
ein Tischtuch und trug ihn ins Schlafgemach. Hierauf geleitete
man das Paar ebenfalls dorthin. An der Tür lieferte der
vornehmste Bojar dem Großfürsten die Großfürstin aus, die
Frau des Schaf fers zog zwei Pelze, einen verkehrt^) und
einen andern richtig an und streute Hopfen über die Neu-
vermählten aus, und der Bräutigamsführer gab beiden Gatten
vom Hahne zu essen. Dann ließ man das Paar allein, und
der Stallmeister stieg zu Pferd, um unter den Fenstern des
Schlafgemachs Wache zu halten.
Die Art, wie die Zaren die Zarinnen erwählten, führte
natürlich zu vielen Versuchungen, durch fraudulose Manöver
diesem oder jenem Mädchen die Krone zu verschaffen. Als
Alexej zum ersten Male heiraten sollte, wurde der Oheim
einer Aspirantin, dem man auf seine Schliche kam, zur Tortur
mit Knut, Wippen und Feuer verurteilt. 2) Nach langer Prü-
fung entschied sich Alexej für ein Mädchen, in das er sich
verliebt hatte. Aber der Günstling Morosow, der ein anderes
Mädchen zur Zarin erhoben sehen wollte, bestach die Weiber,
die der Erwählten die Hochzeitskrone aufs Haupt zu setzen
^) Auch bei dem Volke herrschte der Gebrauch, daß die Schaf ferin, die
das Brautpaar zu Bett geleitete, einen Pelz richtig und einen anderen verkehrt
anzog. Das geschah aus abergläubischer Vorsicht vor dem bösen Blick.
2) 3a6fejmin>, 268.
— 362 —
•
hatten, und diese Frauen rissen das Mädchen so heftig an
den Haaren, daß es ohnmächtig wurde. Man hielt die Un-
glückliche darauf für epileptisch, und ihr Vater wurde, weil
er von der Krankheit seiner Tochter nichts gesagt hatte, ge-
knutet und nach Sibirien verbannt; der Zar aber vermählte
sich nun mit der Kandidatin Morosows, mit Maria, Tochter
des Elia Miloslawky. i) Nach dem Tode der Zarin Maria
wiederholte sich das aUe Schauspiel bei der zweiten Heirat
des Zaren Alexe j. Diesmal wurden aus allen Enden und
Winkeln des Reiches 70 schönheitstrahlende Jungfrauen nach
der Kremljstadt gebracht. Die zarische Oberhofmeisterin nahm
die Mädchen in Empfang und unter ihre Aufsicht und wies
einer jeglichen ein besonderes Zimmer im zarischen Schlosse
an. Sie lebten hier lange Zeit das Leben des Terem: in
völliger Abgeschlossenheit und Monotonie, die weder durch
Handarbeiten zerstreut noch durch Lieder erheitert wurde.
Tags lauschten die Mädchen zumeist den Erzählerinnen
frommer Legenden, und abends träumten sie von dem großen
Glücke, das eine jede für sich ersehnte. Mittags speisten
alle Kandidatinnen zusammen an einer großen Tafel. Reich-
lich hatte der Zar Gelegenheit, die Jungfrauen zu sehen. Manch-
mal verkleidete er sich und wartete den Fräulein als schlichter
Speisenträger auf, um unerkannt die Manieren einer jeden
studieren zu können. Allerdings blieb dies den jungen Damen
nicht verborgen, und sie nahmen sich in acht. Anders war
es jedoch, wenn der Zar die Mädchen durch Ritzen und Löcher
in den einzelnen Zimmerwänden beobachtete. Da konnte er
eher das wahre Wesen derer erkennen, von denen sich jede
in der Hoffnung wiegte, Zarin des moskowitischen Riesen-
reiches zu werden. In der Nacht erschien Alexej, begleitet von
seinem Arzte, in den Schlafstuben und ging prüfend entlang
den Betten der Schläferinnen. Das Ganze war diesmal mehr
eine Förmlichkeit; der Zar hatte schon gewählt, und nur aus
taktischen Gründen am alten Gebrauch festgehalten. Aber
er hütete das zarte Geheimnis, bis die Stunde der Verkündi-
gung schlug. Eines Tages rief er endlich die Oberhofmeisterin
1) Reise nach Norden, 1706. S. 131.
— 363 —
und befahl ihr: ,^Laß für 69 der Jungfrauen prächtige Kleider
verfertigen, das prächtigste aber, das Brautkleid, für die
siebzigste, deren Namen du am Wahltage erfahren wirst. Denn
gewählt habe ich aus dem wundersamen Kranze die köstlichste
Blume. Neunzehnmal habe ich die Frauengemächer durch-
wandert. Tage und Wochen hindurch habe ich das Wesen
einer jeglichen beobachtet, aber keine übertraf die eine, die
nun der Wunsch meines Herzens ist.** Und als der Morgen
des 17. Februar 1669 die Kuppeln des Kremls vergoldete, und
die Oberhofmeisterin mit dem Brautkleide vor dem Zaren
erschien und fragte, wem sie es bringen solle, da erwiderte
Alexej : „Geh zu Natalia, der Tochter des Kyrill Naryschkin,
und huldige ihr, deiner Zarin.** Und wenige Stunden später
ward die Auserwählte feierlich mit Alexej getraut; die andern
69 Jungfrauen aber zogen, reich beschenkt, heim in ihre Häuser
und Hütten.
Die einfachen Russen konnten nicht, wie der Zar, ihre
Zukünftige vor der Ehe kennen lernen. Bemühte sich ein
Heiratskandidat, die zukünftige Lebensgefährtin zu Gesicht zu
bekommen, so gaben ihm ihre Eltern zur Antwort: „Er-
kundige dich bei rechtschaffenen Leuten nach ihrl**i) Er
mußte sich also einer Vermittlung bedienen, und die Ver-
mittlerin hatte die Pflicht, sich im Interesse ihres Auftrag-
gebers die Braut ordentlich anzusehen. „Die meiste Heyrathen
der Russen werden durch dritte Personen geschlossen / und
ohne grosse Ceremonien verrichtet: Fünff oder sechs Freun-
dinnen desjenigen / der sich um eine Jungfrau bewirbt / be-
sehen sie gantz nackt / ehe er sich mit ihr verspricht / und
wenn sie einen Leibes-Gebrechen hat / so ermangelt sie nicht /
solchen auffs beste / als ihr möglichen ist / zu corrigiren;
Allein er bekömt sie fast niemaln zu sehen / ohne wann er
mit ihr in der Cammer ist / da die Heyrath vollzogen werden
soll.*' 2) Ein anderer Beobachter der russischen Zustände des
siebzehnten Jahrhunderts erzählt, daß auch der Bräutigam von
Seiten der Verwandtschaft der Braut einer Prüfung unterzogen
1) Karamsin, VII 172.
*) Reise nach Norden, S. 124.
— 364 —
wurde : „Gefället der Vorschlag denen Eltern / so lassen sie
die Partheyen / welche sie mit der Ehe vereinigen wollen /
von beyder Seite visitiren / um zu erfahren / ob sie nicht
etwa wichtige Mängel an sich haben ?**^) Fand man weder an
der Braut noch an dem Bräutigam etwas auszusetzen, so
schlössen die Eltern ohne weitere Befragung der Kinder den
Heirats vertrag ab. Die Mitgift bestand bei reicheren Leuten
in Kleidern, kostbarem Schmuck, Pferden, Leibeigenen. Was
aber Freunde und Verwandte der Braut dieser schenkten, mußte
der junge Ehemann ihnen nach der Hochzeit mit Geld bezahlen
oder, falls er dies nicht wollte, wieder zurückgeben. 2) „Sobald
der Hochzeitstag bestimmt ist, wozu man gemeiniglich den
Sonntag erwählet, so wird die Braut den Sonnabend vorher
von ihren Gespielinnen ins Bad geführt. Sie ist mit Bändern
und Blumen geziert, und wird von einem Haufen junger Mädgen
begleitet, die sie unter beständigem Tanzen und singen bis
an die Badstube führen. Der Bräutigam folgt seiner Braut
von ferne, und geht endlich auch in eine andere Badstube.** 5)
Am Hochzeitstage begibt sich die Brautwerberin „nach des
Bräutigams Hause: Sie machet darinnen das Hochzeit-Bett
auf 40. sauber in Ordnung gelegte Korn-Garben*) / auf wel-
chen der Bräutigam vorher geruhet hat. Um dieses Bett herum
setzet man einige mit Weitzen / Gersten und Haber angefüUete
Tonnen / um den Überfluß / so man denen jungen Eheleuten
wünschet / anzudeuten. Wenn nun alles zubereitet ist / so
begiebt sich der Bräutigam / samt seiner gantzen Familie /
und dem Popen, der sie trauen soll / nach dem Hause seiner
Braut. Die nächsten Anverwandten des Bräutigams setzen
sich erstlich zu Tische / und hernach der Bräutigam / nach-
dem er einen jungen Knaben / welchen man / nach der Ge-
wohnheit des Landes / an seine Stelle gesetzet hatte / durch
einige Geschencke / weggewiesen. Wenn er sich nun ge-
^) Religion der Moscowiter, S. 92.
^) Karamsin. ja. a. O.
^) Russische Anecdoten, 158.
*) Nach 3a6bLTHHT>, pyccicift napo;a:L erp. 160: auf 21 Garben. Die Korn-
Garben des zarischen Brautbettes betrugen bloß 27 Stück, wie früher gesagt
vmrde (S. 361).
— 365 —
setzet hat / so bringet man die Braut / welche herrlich und
prächtig geschmücket / aber mit einem Schleyer bedecket ist /
und welche sich / ohne sich aufzudecken / bey ihm setzet.
Zwischen dem Bräutigam und der Braut hänget eine Gardin von
rothem Taffet / so von zween jungen Knaben gehalten wird /
damit sie einander nicht sehen können. Unterdessen känunet
sie die Schwacha des Bräutigams / drehet oder flechtet ihr
die Haare / wovon sie zwo Flechten machet / und setzet ihr
eine von sehr dünnem Golde gemachte / und mit Perlen und
Edelgesteinen besetzte Krone / auff den Kopff / und lasset
sie also sitzen / ohne ihr den Schleyer wieder auffzulegen.
Eben diese Schwacha kämmet auch den Bräutigam / und
nimmt hernach den rothen taffeten Vorhang weg. Alsdann ist
die Braut schuldig ihre Backen neben dem Gesichte ihres
Bräutigams zu halten / und müssen beyde in solcher Positur
sich in einem Spiegel besehen / und einander Kennzeichen
ihrer Liebe / durch ein verliebtes und freundliches Lächeln /
geben." 1)
Kotoschichin, den ich schon mehrfach als autoritativen
Zeugen für die russischen Sitten des siebzehnten Jahrhunderts
zu zitiren Veranlassung hatte, klagt über die abgefeimten Be-
trügereien, mit denen man den Bräutigam anschmierte: „Ver-
ständiger Leser,** ruft dieser für seine Epoche radikal fort-
schrittlich gesinnte Russe aus, „unzweifelhafte Wahrheit ist es,
daß nirgends in der ganzen Welt dergleichen Betrug mit
Mädchen vorkommt wie in unserem moskowitischen Lande.
Denn die Gewohnheit, bei Zeiten und in eigener Person seine
Braut zu sehen und zu sprechen, wie in anderen Ländern üblich,
ist bei uns nicht eingeführt.**
Von alter Zeit her heißt bezeichnenderweise die Braut
im Russischen, wie auch in den übrigen slavischen Sprachen:
newesta (neBicTa), die Unbekannte. 2) Im Kreise Gadiatsch,
^) Religion der Moscowiter, S. 97.
2) Vgl. über dieses Wort Rhamm a. a. O. 271. Ebendort: ,,Nevesta
heißt die Braut und auch die junge Frau vielfach mit Hinblick auf ihr Verhält-
nis den Verwandten des Gatten gegenüber : gar vielfach nennen nur die Schwie-
gereltern die Schwiegertochter, die Geschwister des Mannes ihre neue Schwägerin
uev^sta. Dies wird der ursprüngliche Sprachgebrauch sein, und in unent-
— 366 —
Gouvernement Poltawa, begrüßen die Verwandten des Bräuti-
gams, wenn die Braut das Elternhaus verläßt, um in die
Wohnung des Bräutigams zu übersiedeln, mit diesem Lied
,,das fremde Kind**:
Bhkothjih, bhkothjih cMOJiaHyK) 6o^Ky,
BHCsaTajiH, BncBaTajiH b nana cBaxa AO^Ky:
Ta nocTejieM Kyjib, KyjiB
Ta aacTpoMHM xyS, xyö . . .
UJfi CXO^eMO, TG Ä 3po6HMO
"^yacoMy ähtatü . . .^)
Wir schleppen heraus, wir schleppen heraus ein
geteertes Faß,
Wir heiraten, wir heiraten das Töchterchen des
Herrn Vaters der Braut,
Wir breiten aus einen Sack, einen Sack,
Wir stoßen hinein den Schwanz, den Schwanz . . .
Was wir wollen, das tun wir auch
Dem fremden Kinde I
Der Mann, der die Katze im Sack kaufen muß, hat Grund
genug zu einer Klage wie der nachfolgenden, in der er die
ganze Tragik des Heiratszwanges zum Ausdruck bringt 2):
„Sitz nicht. Liebste, spät am Abend auf,
Laß nicht brennen Licht von heißem Wachs,
Harre du nicht mein um Mitternacht.
wickelten gesellschaftlichen Verhältnissen ist es ja wohl ganz denkbar, ohne
daß man gleich eine Entführung annehmen muß, daß die Braut ihren neuen
Verwandten bis zur Hochzeit, oder gar bis zur Ankunft in ihrem neuen Heim
unbekannt blieb. Darauf scheinen auch verschiedene Hochzeitsgebräuche zu
deuten, wonach bei der Hochzeit die Verwandten des Bräutigams die ver-
mummte Braut zu erkennen haben". (Zubaty, Archiv für slawische Philologie
XVI: Slawische Etymologiecn, Nr. 41). — Siehe später den weißnissischen
Hochzeitsbrauch.
^) KgvjTrddia V 37.
*) Großpietsch , Hochzeitsgebräuche des russischen Landvolks. Rus-
sische Revue, X, XT, XH. — Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur,
S. 28. 29.
— 367 —
Also hat mein eigner Vater es gewollt.
Also hats befohlen mein lieb Mütterlein:
Daß ich freien soll eine andre Frau,
Muß mich trauen wohl mit der andern Frau ;
Ach, die andre Frau ist mein früher Tod,
Ja, ein früher Tod, ein gewaltsamer . . . .**
Und sie sitzet nicht spät am Abend auf.
Doch es brennet Licht und das Wachs ist heiß :
Auf dem Tische steht der frische Sarg von Holz —
In dem Sarge liegt das arme junge Blut.
Ist die Braut dem Manne die Unbekannte, so ist er ihr
nicht weniger der Fremdling, Tschuschenin (lyaceHHffb), oder
auch der fremde Fremdling^) (Hy»iÄ nyaceliHH'B).
Ach, den ich treu geliebet.
Der steht hinterm Tor,
Den ich aber nie gekannt,
Dem reicht' ich meine Handl
In der Familie des Fremdlings ist das Los der jungen
Frau gewöhnlich hart. Die Schwiegertochter ist oft nichts
anderes als die Magd der Schwiegereltern:
Der fremde Vater, die Mutter,
Sind ohne Mitleid geboren,
Wecken früh mich des Morgens,
Lassen spät mich zur Ruhe
heißt es in einem der innigsten Lieder. „Grimmig" ist das
stehende Epitheton ornans des Schwiegervaters, „böse** das
der Schwiegermutter. Die Schwiegereltern heißen „die von
Gott gegebenen"; der Glaube des russischen Volkes ist ein
durchaus fatalistischer. Bitter klagt die junge Frau über ihr
Schicksal in folgendem Vergleich:
Vom Flüßchen flog ein Entchen,
Es flog herbei ein graues,
Aufs stürmische blaue Meer.
') Im Lettischen heißt heiraten, auf das Mädchen bezogen: tautas et,
in die Fremde gehen; der Bräutigam: tautetis, der Fremdensohn (Rhamm 271).
— 368 —
Es wußte nicht das Entchen,
Es wußte nicht das graue,
Wohin sich's setzen sollte.
Vorm Wirbelwind sich bergen.
Die Gänse begannen zu beißen,
Das Entchen laut zu schreien:
Ach du mein Fluß, mein Flüßchen,
Mein Flüßchen du, mein stilles I
Hätt' ich gewußt, hätt' ich bedacht
Solch Wetter über mir,
Nicht hätt* ich dich verlassen!
Es gibt jedoch einen Trost für die junge Frau in der
„Fremde**. Ein kleinrussisches Lied aus dem Kreise Gluchow
des Tschernygowschen Gouvernements^) erzählt davon:
y cafl,! ÄöpeBO OTTaKe BejmKe!
Ha eMy rijiBJie OTTaKe Kynepase!
Ha eMy «HCTBTe OTTaKe innpoKe!
Ha @My niHinKa OTxaRa AOBra! . .
„A TH, mnmKa moh!
Th noTimKO Moa!
Ha ^»iÄ CTopoHi —
HoKijiB acHBa 6yAy,
Te6e ne aaGy^yl"
Im Garten der Baunx ist so groß wie das Ding!
Seine Zweige sind gekräuselt wie das Dingl
Seine Blätter sind so breit wie das Dingl
Sein Apfel ist so lang wie das Dingl . . .
„Ach du, Apfel mein,
Du Vergnügen mein!
Im fremden Lande,
Solang ich lebe,
Vergeß ich nicht deini** ,
Als Peter der Große die Frau emanzipierte, griff er mit
seinen Reformen tief ins Familienleben ein und verbot den
^) KQVJixddia V 124.
— 369 —
Ehezwang. Im achtzehnten Jahrhundert sehen wir daher schon,
daß ein Bräutigam verlangen kann, man solle ihn mit der
Braut persönlich bekannt machen. Man nannte diese Zu-
sammenkunft des Paares, die zwar erst nach den Abmachungen
zwischen den Eltern, aber noch ohne Verbindlichkeit für den
eventuellen Bräutigam oder die Braut erfolgte, die kleine
Smotrenije (cMOTpinie, Beschauung): Der Bräutigam kam in
Begleitung seiner besten Freunde in das Haus der Braut, die
sich in Gesellschaft ihrer Freundinnen befand und ihrem Zu-
künftigen ein Schälchen Branntwein präsentierte, i) Seither
ist es zu völliger Freiheit im Verkehr der Geschlechter und
sogar zu der Einrichtung von Heiratsmärkten gekommen, wie
wir bereits aus einem früheren Abschnitt wissen. Doch sind
von den alten Zeremonien viele mehr oder weniger unver-
ändert bis heute geblieben:
In vielen Gegenden dürfen die Brautleute bei dem Hoch-
zeitsmahl nichts essen; und „die Braut verhüllt während der
ganzen Dauer der Hochzeit ihr Antlitz mit einer langen breiten
weißen Decke, weil sie sich schämt.** 2) Ebenso hat sich,
namentlich bei den Bauern, die Sitte erhalten, die Töchter mög-
lichst bald zii verheiraten; denn, wie es im Gouvernement
Kostroma heißt : „Für die erwachsene Tochter ist in dem
elterlichen Hause kein Raum.*'^)
Im Gouvernement Perm werden die Jünglinge schon, so-
bald sie das achtzehnte Lebensjahr erreicht haben, für voll-
kommen heiratsfähig gehalten; man findet dort selten ledige
Männer im Alter von mehr als fünfundzwanzig Jahren; un-
beweibt bleibt nur der Ärmste. Die Väter suchen je früher
^) Nachrichten von der Stadt Archangel und umhegenden Gegend.
Aufgesetzt 1764. Büschings Magazin IV, S. 503.
-) 3TH0i'pa(J)ii'iecKilt cöojmiiirb I 189 (aus Nischny - Nowgorod) und V 71
(aus Kursk). — Rhamm a. a. O. 276.
3) Aus dem Gouvernement Kostroma. IloKpoBCKiÄ, 0 ccMettHOMi. noJio-
HxOHiö KppcTbHHCKott HceHHuiHU BTL Kocip. Fyö. iKoBaH CiapHHa VI. Vgl.
Rhamm 186. — Vgl. femer: CyMUOBi, 0 CBaaeÖHtin» oC)pfljUiirb; CyMUOBi»,
KvjiBTvpH. oepesKiiBaHifl. — M. 3a6buiiDn>, PyccKifl uapoA'B 114 — 181 CBaÄt^Htio
uopfl^iij II oöu'ian; 538 — 561: CTapHHHHa >KeuHTi/)hi n cBaAböw,
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in RußUnd. ** 24
— 370 —
je besser Schwiegertöchter zu bekommen^ um eine Arbeiterin
mehr im Hause zu haben.
Die Braut muß weinen, heißt es allgemein. Das Wei-
nen ist ein Beweis ihrer Keuschheit. Ein altes russisches
Sprichwort sagt: He njiaHeni& 3a ctojiom^, 6yAeiiiB imaKaTB
8a CTOJiGoM'B^) ; weinst du nicht beim Hochzeitstische, so wirst
du weinen am Schandpfahl. — Trauer oder Angst soll mit dem
Weinen jedenfalls nicht dokumentiert werden. Im Kreise So-
lotonoscha des Gouvernements Poltawa singt man bei den
Hochzeitsfesten der Kleinrussen:
„E e, ^H He imaHem — th?
I MaTepi HH He cKaHcem — th?** —
„KojiH — 6 a CKaaajia,
To a— 6 To6i fi ho ÄaBajia!"^)
Pie Braut, die weinende, wird gefragt:
„Eh, eh, warum weinest du?
Wohl der Mutter klagst es du?** —
„Wollt ich mich bei ihr beschweren,
Würd* ich es dir nicht gewähren,**
lautet die Antwort.
Den Bräutigam und die Braut nennt man allgemein Fürst
und Fürstin. Im Dorfe Burschtschewa an der Wolga, im
Nerechotsker Kreise des Gouvernements Kostroma, begrüßt
man das Brautpaar und die Eltern mit diesen Worten:
Bbk) 'lejiOM'b 6aHK0,
6bK) nejiOM'B MaHKa,
KT> HOBOÖpaHHOMy KHa3K),
KB MOJIOÄOii KUHrnHi . . .^)
„Ich neige mich vor dem Vater, der Mutter, dem neu-
vermählten Fürsten und der jungen Fürstin!'* —
Im Tschernigowschen Gouvernement singen die Klein-
russen ein Hochzeitslied, in dem es heißt:
1) SaÖMJIHHT, 120.
2) KQVjnddta V 52. No. XVIII.
^) daöbuniH'L, 121.
— 371 —
y nonoBiM rpe^iu
6apaHT> Ha OBe'I^i,
a KiHb Ha Ko6HJii,
a KHaSB Ha KHflPHHi.^)
In des Popen Buchweizen
Ist ein Bock auf der Ziege,
Ein Hengst auf der Stute,
Und der Fürst auf der Fürstin.
Bei der Beschreibung der Heirat Wassilys war erwähnt,
daß man dem jungen Gatten beim Eintritt in das Brautgemach
einen gebratenen Hahn überreichte. Dieser Gebrauch war
schon bei den heidnischen Litthauem bekannt : man legte dem
jungen Gatten am ersten Morgen nach der Brautnacht ein
gebratenes Rebhuhn aufs Bett; er zerteihe es und gab ein
Stück davon seiner jungen Gemahlin zu essen. 2) Beim Volke
in Moskau schenkte man dem jungen Ehepaare früher einen
Schwan, jetzt begnügt man sich mit der Darbringung einer
Gans. In einigen Gegenden der Ukraine wird, aber erst am
Ende der Hochzeitsfeste, ein lebender Hahn oder ein lebendes
Huhn geopfert, so beispielsweise imGluchower Kreise des Tscher-
nygowschen Gouvernements. 3) Die Hochzeit findet gewöhnlich
am Sonntag statt ; am Montag nimmt nun der Bräutigamsführer
das von der jungen Frau aus ihrem Eltemhause mitgebrachte
Huhn und bittet die Heiratsstifter um den Segen zum „Opfer
der Stärke"; dann bindet er dem Huhn die Füße und die
Flügel los, reißt aus dem Schwanz oder den Flügeln eine starke
Feder heraus und tötet das Tier, indem er ihm die Feder ins
Genick bohrt. Hierauf legt man das tote Huhn auf eine Sänfte
und trägt es auf den Hof. Hier rupft man es, wobei man
Flaiun und Federn in die Luft wirft oder verbrennt. Dann
bringt man es ins Haus zurück, wäscht es und läßt es im
Ganzen kochen, ohne es mit dem Messer auch nur zu berühren.
Sobald es fertig gekocht ist, schmückt man es mit Bändern,
1) KQvmddia V 44. No. IX.
^) Bei den Deutschen im Mittelalter bestand eine ähnliche Sitte.
^) KQVJtrddia V 129.
24*
— 372 —
HoUunder und Immergrün, und trägt es zu den Eltern der
jungen Frau. Man legt es auf den festlichen Tisch und „ver-
teilt das Fleisch der Stärke"; den Kopf gibt man der Mutter
der Neuvermählten mit den Worten: „Du, du bist das Haupt
alles dessen, was geschieht; dir gebührt der Kopfl" Darauf
wird das Hintere abgeschnitten, das bekommt der Vater, und
man sagt ihm : „Und du, Väterchen, der du dich meistens um
die Pisda^) herumdrehst, dir gehört dies!** Sobald das letzte
Stück verteilt ist, schleudert man den Topf an die Türpfosten
und zerschmettert ihn mit dem Rufe: „Für die Raben!**
Originelle Hochzeitsbräuche kann man im Permschen Gou-
vernement kennen lernen. Wenn man die jungen Eheleute
ins Schlafzimmer bringt, überreicht man ihnen außer dem
Hochzeitsvogel auch eine Fischpirogge (nnpcFB, Pastete), die
sie zusammen essen „zum Zeichen dessen, daß sie Mann amd
Weib sind, und fortan in Einigkeit leben und ein und dasselbe
Brot essen werden.** Hierauf zieht die Gattin in Gegenwart
der Eltern beider und der Gäste dem jungen Ehemanne die
Stiefel aus und nimmt dabei einige Münzen, die sich im rechten
Stiefel befinden, an sich. Mit dem Schuh-Ausziehen anerkennt
sie den Beginn ihrer Untertänigkeit und ihres Gehorsams gegeii
den Mann. Nach dieser Zeremonie ziehen sich die Anwesen-
den zurück mit Ausnahme des Weschliwez (B'feacjiHBeu.'B, wörtlich :
der Artige, hier der Zerenionienmeister und Bräutigamsführer)
und der Swacha (csaxa, Frei werberin). Die beiden letzteren
richten an die Braut, nachdem sie sich bis aufs Hemd entkleidet
hat, die Aufforderung, den Bräutigam zu umarmen, zu küssen
und zu Bett zu bringen; nach einer weiteren Aufforderung
legt sie sich auch hinein. Die Swacha beginnt vor Freude
zu weinen, während der Weschliwez das Paar zurechtrückt, mit
der Bettdecke bedeckt und um das Brautlager herumgehend
Glückwünsche und Segenswünsche flüstert. Dann läßt man
die Glücklichen endlich allein. 2)
Bei den Kleinrussen in der Ukraine begibt sich die
junge Frau zunächst bloß mit ihren Frauen in die Komora,
das Brautgemach. Sie wird von ihnen gänzlich entkleidet, darf
^) TTH3,ia, Ordinäre Bezeichnung des weiblichen Geschlechtsteils.
^) 3a6huniirb 154.
— 373 —
weder Hemd noch Ringe oder Ohrgehänge anbehalten; die
Weiber untersuchen sie aufs Peinlichste, ob ihr nicht ein böser
Feind oder eine hinterlistige Rivalin geheimnisvolle Knoten
angezaubert hat, um sie unfruchtbar zu machen; man wendet
besondere Aufmerksamkeit den Haaren in den Achselhöhlen
und den Schamhaaren zu. Sobald diese Prozedur zur Zu-
friedenheit beendet ist, bekleidet man die Neuvermählte mit
einem ganz neuen Hemde und ruft nunmehr den jungen Gatten
herein, der in Begleitung des Druschko, wie hier sein Ehren-
kavalier heißt, kommt. Zunächst zieht die junge Frau ihrem
Manne die Stiefel aus. Dann entkleiden ihn der Druschko
und die Weiber vollständig und man untersucht ihn ebenfalls
aufs Genaueste daraufhin, ob ihm nicht seine Gegner Knoten
angewünscht haben, um ihn impotent zu machen. Schließlich
fordert man das Paar auf, zu Bette zu gehen, und entfernt sich
mit den Worten: „Tummelt euch, macht's nicht zu lange I**^)
Charakteristisch ist die in ganz Rußland — namentlich
aber bei den Großrussen — bekannte heimliche Ehe (TaSna«
CBaABÖa), auch Flüchtlingsehe (6irJiaa CBaABÖa) oder Selbstver-
bindung (caMOKpyTKa) genannt, weil sie ohne Befragung der
Eltern geschlossen wurde. Aber das junge Paar verlangt schon
gleich nach d^r Trauung den Segen der Eltern.
Ward abends das Mägdelein heimlich verlobt,
Gen Mitternacht heimlich entführet.
So ist's bei der Morgendämmerung
Im Herzen schon sichtlich gerühret.
Es eilet zu Vater und Mutter nach Haus
Und bittet sich ihre Vergebung aus.
Will gerne als reuige Tochter nun
Sich unterwerfen und Buße tun.
Man begibt sich also zu den Eltern, fällt auf die Knie,
bittet um Verzeihung und steht erst auf, wenn das Flehen die
Herzen der Erzürnten gerührt hat. Man nennt diese Zere-
monie : poklonitjsa (noKJlOHHTBCH, sich unterwerfen). In einigen
Gouvernements an der Wolga gibt der Vater der Braut den
*) KQv:ijd8ia V 47,
— 374 —
jungen Eheleuten erst einige Peitschenhiebe auf den Rücken;
dann verzeiht er ihnen, segnet sie und reicht ihnen Brot und
Salz. Zu den Eltern des Bräutigams geht man nicht, die sind
leicht zufriedengestellt, da sie eine Arbeiterin ins Haus be-
kommen. Gewöhnlich handelt es sich übrigens um eine abge-
machte Sache, nicht bloß zwischen den jungen Leuten, sondern
auch zwischen Braut- und Bräutigams-Eltern: die Romantik
ist nur eine Verschleierung des praktischen Wunsches, die
großen Kosten der Hochzeitsfeste zu ersparen. Womit ich nicht
kategorisch behaupten will, daß es manchmal nicht doch eine
innige Zuneigung ist, die listig alle Hindernisse besiegt; auch
in den Herzen eines jungen Muschik und einer temperament-
vollen Krestjanka kann sich jenes Feuer entzünden, von dem
ein altes russisches Liedchen singt:
Liebe läßt sich nicht gebieten,
Liebe läßt sich nicht verbieten.
Leichter ist's in wollenen Säcken
Heiße Kohlen zu verstecken.
Als zwei Liebenden verwehren.
Daß sie treu sich angehören.^)
Die Volkslyrik, allerdings wohl die erst in den letzten
Jahrhunderten entstandene, schreibt dem Burschen jedenfalls
nicht bloß Liebesgefühle zu, sondern hält ihn auch für fähig,
sich für Verrat zu rächen:
Schande tat der Bursch dem Mädchen,
Schande auf der offnen Straße.
Da die Schönen Lieder sangen,
Trat er vor in seinem Hasse.
Riß dem Mädchen weg das Kopftuch,
Von dem Hals das Band, das rote.
Und den Ring von ihrem Finger
Und sie grämt sich nun zu Tode.
Aber auch das Mädchen weiß den Ungetreuen zu züch-
*) Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde, 127.
— 375 —
tigen. Sie ruft alle ihre Freundinnen zu ihrer Hülfe herbei, und
sie wirken gern mit an der Bestrafung:
Eine kriegt er ins Gesicht,
Eine von der Seite:
Kräftig faßt beim Haar ihn an
Und zerzaust ihn dann
Schleift ihn gründlich übern Tisch,
Daß die Knochefi krachen I
Fällt er runter auf die Bank,
Gibt es was zu lachen.
Fällt er auf die Erden,
Soll er uns zum Besen werden!
Ei,* dann wird mit ihm gekehrt.
Wie er's wert.
Bleibt er auf denl Bänkchen liegen,
Soll als Wischtuch er sich fügen.
Doch, wie Mandeln wir behandeln.
Die wir stoßen her und hin, —
Gehn wir um mit ihm.
Kommt er in den Wald hinaus.
Walkt man eine Kugel draus.
Unsre Wut selbst nicht erlischt,
Wenn man ihn wie Weizen drischt.
Von den großrussischen und kleinrussischen Sitten unter-
scheiden sich in mancher Beziehung die Hochzeitsbräuche der
in den westrussischen Gouvernements i) Witebsk, Mobile w,
Plozk, Smolensk, Wilna und teilweise noch in Pensa, Wol-
hynien, Podolien und Cherson lebenden Weißrussen:
Vor der Hochzeit werden die Häuser des Bräutigams und
der Braut von den bösen Geistern gereinigt, indem man in der
Mitte des Wohnzimmers einen Haufen Stroh verbrennen läßt.
Alsdann wird ein Hochzeitkuchen, Korowaj genannt, ge-
backen, auf die Gasse hinausgetragen und inmitten derselben
auf die Erde gelegt. Nun hüpfen die anwesenden Gäste um
den Kuchen herum und singen dabei allerlei Lieder. Bei
*) Gregor Kupczanko, Am Urquell, II 137 — 139, 161 — 163.
— 376 —
Beginn der Hochzeit wird der Bräutigam zum Fürsten und die
Braut zur Fürstin erhoben. Die Zeremonie dieser Erhebung
in den Fürstenstand wird auf folgende Weise vollzogen: In-
mitten des Zimmers wird ein großes Faß mit dem Boden
nach oben aufgestellt und mit einem mit den Haaren nach aus-
wärts gewendeten Pelze bedeckt. Nun wird auf das Faß der
Bräutigam oder die Braut gehoben. Das Faß stellt also den
l'hron des Fürsten oder der Fürstin, auf den sie gehoben
werden, dar. Während der Bräutigam oder die Braut auf
dem Fasse sitzt, gehen die anwesenden Gäste mit dem Korowaj
und zwei brennenden Kerzen in den Händen um das Faß drei-
mal herum und brennen dem Bräutigam oder der Braut an der
Stirne, dem Nacken und den Schläfen mit den zwei kreuzweise
übereinander gehaltenen Kerzen ein wenig die Haarlocken an.
Hierauf setzt man dem Bräutigam seine Schaffellmütze und
der Braut ihren Kranz auf und begrüßt sie als Fürsten und
Fürstin. Dabei wird der Bräutigam aufmerksam gemacht, daß
er als Fürst von jetzt an vor niemandem die Mütze zu ziehen
brauche. Und endlich wird der Thron samt dem auf demselben
sitzenden Fürsten an eine Wand geschoben, an die oberhalb
des Hauptes des Fürsten eine Hacke gehängt wird ; diese Hacke
bedeutet, daß der Fürst sich auf seinem Throne ganz ruhig ver-
halten muß und mit niemandem sprechen oder essen und
trinken darf. Während also der Bräutigam oder die Braut
ruhig dasitzt, setzen sich die Gäste zu den Tischen hin und
verzehren das frugale Hochzeitsmahl.
Nach dem Hochzeitsmahle begeben sich der Bräutigam und
die Braut samt ihren Gästen in die Kirche. Bevor aber der
Bräutigam und die Braut vor der Kirche von ihren Wagen
oder Schlitten herabsteigen, geht ein Brautführer dreimal um
sie herum und schlägt mit dem Stocke Kreuze in die Luft,
um die bösen Geister, die sich unterwegs auf die Wagen oder
Schlitten hinaufgesetzt haben, zu vertreiben. Vor der Kirchen-
türe breitet man einen Pelz auseinander und läßt die Braut-
leute, nachdem sie einander die Hände gereicht haben,
über den Pelz in das Innere der Kirche eintreten. Hier lösen
die Brautjungfern alle Knoten an den Kleidern des Braut-
paares bis auf einen einzigen, damit das Leben des Paares
— 377 —
voller Freiheit sei. Während des Trauungsaktes stehen die
Hochzeitsgäste dicht um das junge Paar herum; es soll sich
kein Fremder durchdrängen können, sonst würde das Leben
des Paares unglücklich sein. Auch legt man den Flammen
der Kirchenkerzen große Bedeutung bei. Brennen sie hell,
so wird das Leben der Getrauten ein fröhliches, brennen sie
schwach, so wird es ein stilles sein; knistern sie aber, so muß
es zwischen dem Gatten und der Gattin Streit und Unfrieden
geben. Die Braut trachtet, während des Trauungsaktes dem
Bräutigam auf den Fuß zu treten, um sich die Herrschaft im
Hause zu sichern, i) Nach der Trauung kehren die Neuver-
mählten zunächst zu ihren Eltern zurück. Sie werden mit
Roggenkörnern beworfen und mit einem Löffel Honig traktiert,
und mit allerlei Gaben beschenkt; bringt man lebende Tiere
dar, so ahmt man bei Überreichung dieses Geschenkes die
Laute eines jeden Tieres nach. Sobald im Bräutigams-Eltern-
hause das Festmahl zu Ende gegangen ist, begibt sich der
junge Ehemann ins Elternhaus der Braut. Hier sind aber
alle Tore geschlossen und auf dem Hofe brennen Scheiter-
haufen, um die die Gäste der Braut, die sich Krieger nennen,
herumstehen: sie schützen den Hof gegen den Überfall der
Räuber, wie der Bräutigam und seine Freunde heißen. 2) Die
Vorposten des Bräutigamszuges klopfen an das Tor und be-
gehren Einlaß. Man antwortet den Räubern verneinend. Nach
kurzen Unterhandlungen öffnen die Verteidiger das Tor gegen
einen Zoll von einigen Flaschen Wodka. Der Bräutigam reitet
oder fährt als erster in den Hof und über den Scheiterhaufen
hinweg. Hinterdrein wälzt sich die Schar seiner Begleiter,
die sofort alles, was nicht niet- und nagelfest ist, zerschlagen;
darauf dringen sie in das Haus und zerbrechen die Töpfe,
Schüssel, Teller, Spiegel und überhaupt alles Zerbrechliche,
was ihnen unter die Hände kommt. Die Scherben werfen
sie unter die Füße und stolzieren dann auf den Trümmern der
diversen Töpfe und Schüsseln so lange als Sieger herum.
^) Ähnliches bei den Letten. Merkel, Die Letten, vorzüglich in Lief-
land, S. 55.
-) Eine Erinnerung an die Zeiten, da die Frau geraubt wurde.
— 378 —
bis die Gäste der Braut, erscheinen und sie um Frieden bitten.
Die Sieger gewähren ihn, setzen sich auf Ersuchen der Eltern
der Braut zu den Tischen hin und essen, trinken, singen
und tanzen so lange, bis die Hochzeitsgeschenke der Braut
auf einen Wagen geladen worden sind. Nun werden dem
Bräutigam als „Fürsten** und der Braut als „Fürstin** Glück-
wunschlieder gesungen, worauf der Bräutigam auf die Braut
zuschreitet, ihr eigenhändig die Zöpfe aufbindet, das schöne
rote Bändchen — die Hauptzierde des weißrussischen Mäd-
chens und das Zeichen der Jungfernschaft — abnimmt und
zu Boden schleudert. Dann setzt er seiner bitterlich weinen-
den Braut seine eigene Mütze auf, wodurch er sie ihres „fürst-
lichen Ranges** entkleidet und unter seine Gewalt stellt. Nach-
dem sich die Braut ausgeweint hat, nimmt sie rührenden Ab-
schied von ihren Eltern, Geschwistern, Verwandten, Freunden
und Bekannten und küßt dabei alle älteren Personen, vor denen
sie sich bis zur Erde verbeugt, die Hand, und allen jüngeren
Personen und selbst kleinen Kindern die Wange. Während
die Braut aus dem elterlichen Haus hinaustritt, bittet sie ihr
Glück, mit ihr zu ziehen und sie nie im Leben zu verlassen;
dabei wirft sie über ihren Kopf nach rückwärts einen Kuchen
in das elterliche Haus hinein. Dann setzt sie sich auf den
Wagen des Bräutigams und verteilt an die Dorfkinder allerlei
Geschenke eigenen Fabrikats, wollene Tücher und Gürtel, zur
Erinnerung an ihre Hochzeit. Nun fahren die Wagen über die
Scheiterhaufen zu den Toren hinaus. Fährt die Braut an der
Flur ihres Mannes vorbei, so wirft sie auf dieselbe einige
l^ogg^nkörner, damit der Boden gute Früchte trage. Vor
dem Hause der Schwiegereltern angekommen, wirft die Braut
zuallererst einen Kuchen in das Haus hinein. In die brennen-
den Scheiterhaufen, welche sie auch hier passieren muß, wirft
sie Münzen hinein. Der Schwiegervater kommt in einem
umgewendeten Pelze, mit einer Pelzmütze auf dem Kopfe und
mit Honig und Branntwein in der Hand, seiner Schwiegertoch-
ter, welche unterdessen von ihrem Manne vom Wagen ge-
hoben und vor die Haustüre geführt wurde, entgegen. Er
besieht sie aufmerksam von allen Seiten, indem er sie hin
und her dreht, macht einige Bemerkungen und beginnt dann
— 379 —
mit ihr zu ringen, um ihre Kraft zu erproben. Hierauf ergreift
er eine Peitsche und einen Gefäßdeckel, schlägt mit beiden
sanft die Braut und sagt dabei: „Gehorsam sein und keine
Klatschereien im Dorfe verbreiten !** Der Bräutigam stellt sich an
die Seite seiner Braut hin und betritt mit ihr, von den Gästen mit
Roggenkörnern und Hopfen beworfen, das Innere des Hauses.
Hier werden die jungen Leute von den Gästen beglückwünscht
und zu den Tischen geführt, worauf tüchtig gegessen, gezecht,
gesungen, gespielt und bis in die Nacht hinein getanzt wird.
Spät nachts werden die Getrauten von den Brautjungfern in
eine Kammer gesperrt. Vor der Tür bleibt ein Brautführer
als Wachposten zurück. Er hat die Pflicht, die ganze Zeit
hindurch, während das junge Paar in der Kammer verweilt,
um letztere herumzugehen und von Zeit zu Zeit zum Beweise,
daß er seinen Dienst tue, an die Wand der Kammer mit
einem Stocke zu klopfen. Am nächsten Morgen beschmieren
sich die jungen Gatten ihre Gesichter mit frischem Mehlbrei i),
erfassen einander bei den Händen und treten so in das Zim-
mer zu ihren Gästen hin. Da erheben die Anwesenden beim
Anblick der also verunstalteten jungen Leute ein fürchter-
liches Geschrei, fangen an zu hüpfen und herumzulaufen und
zerschlagen schließlich die Töpfe; dann singen sie der jungen
Gattin und ihrer Schwiegermutter Loblieder, führen die jungen
Leute unter Gesängen zum Brunnen und gießen dem Bräutigam
wie der Braut ganze Kannen voll kalten Brunnenwassers auf
die Köpfe. Nachdem die jungen Eheleute also gewaschen
worden sind, begibt sich die junge Frau in das Haus und über-
nimmt die Rolle der Hausfrau, indem sie die Gäste bewirtet.
Die meisten der abergläubischen Gebräuche, die wir kennen
gelernt haben, dienen dazu, die Fruchtbarkeit der jungen Frau
und die Potenz des jungen Gatten vor den Geistern und den
zauberischen Machinationen der Nebenbuhler und Neider zu
schützen. Reicher Kindersegen ist ja erwünscht: „Wenn die
Verehlichte aus der Kirche gehet / so wirfft der Panama
oder Küster Hopffen auff sie / und wünscht ihr so viele Kin-
der / als dieser Hopffe ist / und ein anderer / der in einem
^) Vgl. die Anmerkung Seite 366.
— 380 —
Hammel-Felle / woran die Haare heraus gekehret sind / ge-
kleidet / begleitet sie und wünscht ebenfalls / daß sie soviel
Kinder bekommen möge / als Haare sein Kleid hat.**^)
Aber deshalb muß auch alles getan werden, um die Zeu-
gungsfähigkeit des Ehemannes vor den Gefahren zu behüten,
die ihr am Hochzeitstage drohen. Der Glaube an die böse Wir-
kung des Knotenknüpfens auf die Potenz des Mannes ist all-
gemein: „Ich habe," erzählt ein älterer Erforscher russischer
Sitten anläßlich der Beschreibung der russischen Heirats-
bräuche 2), „einen jungen Menschen wie rasend aus seiner
Frauen-Cammer kommen sehen / der sich die Haare aus-
rauffte / und schrye / daß er verderbt und behext wäre. Das
Mittel / dessen man sich bey solchen Zaubereyen bedienet /
ist / sich zu etlichen weisen Hexenmeistern zu wenden / die
das Zauberwerck ums Geld auffheben / und den Nestel lösen /
den andere geknüpf f et haben; und daß war die Ursache des
Zustandes / worinnen ich diesen jungen Menschen gesehen
habe."
Um spaßhalber den jungen Ehemann zur Erfüllung der
Gattenpflichten in der Brautnacht unfähig zu machen, ist es
alte russische Sitte, ihn volltrunken zu machen. 3) Wird der
Zweck erreicht, so hat dies für den unvorsichtigen Ehemann
manchmal peinliche Folgen; zum Spott hat er noch den Scha-
den, denn in einigen Gegenden, namentlich der Ukraine, ist
es Vorschrift, daß die junge Gattin in der Brautnacht un-
bedingt entjungfert werden müsse, und ist der Ehemann nicht
dazu imstande, so muß er sich vertreten lassen! Der Hei-
ratsstifter selbst oder der Ehrenkavalier des Neuvermählten
übernimmt die Erfüllung des Liebesdienstes.
Unzählige Lieder, die man bei den Hochzeiten singt, rüh-
men die Potenz des Mannes und feuern ihn an, seine Pflicht
ausgiebig zu tun. Diese Lieder nennen die Sachen so un-
geschminkt bei ihren Namen, daß sich die europäischen Zu-
hörer darob seit jeher nicht genug verwundern konnten. „Ein
*) Reise nach Norden, S. 125.
-) Ebenda 130.
3) Vgl. Bandl, S. 321.
— 381 —
Hauffen junger Knaben und Mägdlein singen etliche der-
massen geile und unzüchtige Braut-Lieder und Gedichte / daß
sie nicht ärger sein können.** i) Dabei tun sich hauptsächlich
die Frauen hervor: „Die Hochzeit-Jungfern und die Schwacha
werffen Hopffen auff die Anwesenden / die Frauen steigen auff
die Bänke und Stühle / klatschen in die Hände / und singen
so unzüchtige Lieder / daß ich die Worte derselben hier
nicht anführen darff / aus Furcht / ich möchte die keusche
Ohren ärgern.** 2) Die Russen selbst finden die Gesänge durch-
aus nicht anstößig. In der Ukraine werden vom Augenblick
an, da die Braut das elterliche Haus verläßt, um sich in ihr
neues Heim zu begeben, bis zu dem Moment, wo die Gäste
die Neuvermählten gänzlich verlassen, durchwegs erotische und
phallische Lieder gesungen. 3) Wenn die Braut das Elternhaus
verläßt, empfängt sie ein Chor von Männern und Frauen mit
diesem Liede, in dem eine Erinnerung an die alte Sitte der
Entführung nachklingt:
BnnHJiH^nHBO, bhkothjih 6oHKy,
.BnKHBaÄHj^BHMoprajiH b nana CBaTa ÄOHKy:
nojio}KHMO cnaTH, Ha öijiiä^KpoBaTÜ
Mh-hc n He MaHHjiH," caMa BOHa xTijia
HepBOHoro 6ypaKa p,o öuioro Tijia.*)
Wir tranken aus das Bier und schleppten her das Faß,
Entlockten dem Herrn Vater der Braut die Tochter,
Wir legen sie schlafen aufs weiße Bett !
Wir entführten sie nicht, selbst wünschte das Weib
Die purpurne Rübe dem weißen Leib.
In einem Liede läßt man die Braut fragen:
^e BH MBHe, Jiro^e, noBeAexe,
^e BHMeHecnaTH noKJiaAexß?
^) Reise nach Norden 125.
*'^) Religion der Moscowiter 99.
3) Th. Volkov, Rites et usages nuptiaux en Ukraine, L' Anthropologie
II et III. 1891 et 1892. — My6HHCKitt, TpvAU aKcno^HiUH, C. Ilerepß^-prL 1877. IV.
— Kovjrxdfiiae, Recueil de documents pour servir ä T^tude des traditions
populaires,(tire k 175 exemplaires, Paris chez H. Welter) V. 36 — 129.
*) Aus dem Kreise Nowograd-Wolynsky in Wolhynien.
— 382 —
„Wohin führt ihr mich, ihr guten Leute,
Wo bringt ihr zu Bett mich heute?"
Und darauf gibt man zur Antwort:
IIoBeAeMO äo TOKy,
üocTejieMO ocoKy,
IIoCTeJieMO OKOJIOTH,
mo6 SHBeHBKO npOKOJIOTH^).
Wir führen dich in eine Tenne
Und legen dich ins Gras,
Und haben eine Kugel,
Um schnell dich zu durchbohren.
Mit Spott begrüßt man den alten Heiratsstifter, der wohl
Ehen zusammenbringen, aber selbst nichts mehr leisten kann:
CTapnä AiÄy, cTapaä ^lÄy,
CTapufi oceJiGAn;«),
He CTöIni TH Hi aa ^o^BKy, ni aa xya,
Hi 3a peABKy!
Hi 3a CTapy, m 3a Majiy!
Hi 3a MOJiOAeHBKy!
OaceHHBCB — He acypHCb,
ByAem nanyBaTH:
JKiiiKa öy^e iüioh^a npacTH,
A TH 6yÄeni CBHHi nacTH
3 BeJIHKOK) JIOMaKOK),
Ta 3 cipoK) co6aKOK)2)!
Ach du Alter, ach du Alter,
Alter Esel, hui!
Bist nicht wert die Pozjka^),
Bist nicht wert den Chuj!^)
Bist nicht einen Rettig wert,
Bist für alt und jung nichts wcrti
1) Ans dem Kreise Berditschew im Gouvernement Kijew«
2) Aus dem Kreise Gadiatsch im Kijewschen Gouvernement«
^) Bezeichnungen für den weiblichen und den männlichen Geschlechtsteil.
— 383 —
Doch beweibt^ kannst leicht du lachen
Und getrost den Meister machen:
Weben kann dein Weib das Leinen,
Du bist Hüter bei den Schweinen,
Hut* sie mit dem Prügelbund
Und mit einem grauen Hund!
Die Braut gelangt unter solchen Gesängen ins Haus des
Bräutigams. Man führt sie ins Schlafzimmer; der große Mo-
ment naht, da fängt sie an bange zu werden:
TopoxT, MaTH, no Aopoai, äk Hepe^a,
BeAyrfc xya na npmiOHi, an ßyraa;
A xyS pese, äo iihbäh iji,e.
— „ÜK ÄofiÄy B HO^, —
IIOBILKOJIIOH) IIH3Ai OhI." ^)
Ach hör* das Strampeln auf der Erde,
Ach, Mutter, wie von einer Herde!
Man schleppt den Chuj an einem Strick,
Der Pisda gilt sein Zornesblick.
Und höre, Mutter, was er sagt:
„Erwisch ich, Pisda, dich bei Nacht,
Erwisch ich dich bei Nacht, o Graus,
Dann reiß ich dir die Augen aus!**
In einem anderen Liede jedoch ist die Gefahr, die der
Pisda droht, nicht so gruselig ausgemalt:
Tyny-Tyny, KOHHHGKbKy,
SLk Hepe^a!
BeÄyTb xya na peMGHK),
SK^Gyraa;
I^e nna^a y Kapexi,
Hk nonaAfl!
Xyä ÄMeTfcca,
A nH3Äa CMicTbca:
^) Aus dem Perejaslawschen Kreise des Gouvernements Poltawa.
^ 384 —
Ohh npoAHpac,
Xya ÄOHCHÄac!
Kojih6-6 hk äo hohe
BnjiiayTb nHa^i ohh!^)
Strample, strample, du mein Rößlein,
Wie *ne Herde!
Sieh, man zerrt den Chuj am Riemen
Wie die Stiere;
Doch die Pisda fährt im Wagen
Wie die Popin!
Bläht der Chuj sich noch so sehr.
Lacht die Pisda desto mehr:
Sich die Augen reibend
Harrt sie auf den Chuj!
Wenn er sie bei Nacht befeuchtet,
Wie erst da ihr Auge leuchtet!
Die Mutter ist es, die in vielen Liedern die ängstliche
Tochter beruhigt:
JSfi KOMOpH BeAyTb!"
To6i MeAy Aa^yTt!"
^Oä, MaMii;K), K03aK
Ha MeHe Jiiae!"
— „IJ,HTb, ÄOHK),
Bin Te6e ne 8api»ce!^
„Oä, MaMii;H), BHce ii hohcük BnäMae! . ."^
— „lI,HTb, ÄOHK), bIh GoHce ÄyMac."2)
,,Oi, Mutter, ach.
Man führt mich in das Schlafgemach!"
„Still, Tochter, still,
Nur Honig man dir geben will.**
,,Oi, Mutter, wehe mir,
Der Kosak liegt schon auf mir!'*
*) Aus Sydoriwka im Kijewschen Gouvernement.
-) Aus Nowograd-Wolynskij im Gouvernement Wolhynien.
— 385 —
,, Still, Tochter, still.
Er dich nicht erwürgen will.**
,,Oi, Mutter, schau nur besser,
Er zieht schon heraus sein Messer.** —
„Still, Tochter, laß ihn machen.
Er besorgt nur Gottes-Sachen.**
In einem kürzeren Liedchen beruft sich die Mutter nicht
auf Gott, sondern bloß auf den Popen :
Oä MaTH, ÄO KOMopn Be^yi^B!"
— „lI,HTb, AOHK), TaM Me^y P.B'flJThl^
„Ofi MaTH, B>Ke niTaHH po3Bi>a3aB!"
— „1I,HTI», ÄOHK), TaK non npuKaaaB!"^)
„Oi, Mutter mein, in die Kammer führt man mich!**
„Still, Tochter, dort mit Honig labt man dich!**
,,Oi, Mutter, schon steht er ohne Hosen da!**
„Still, Tochter, so befahls der Pope ja!*'
Sobald die Braut und der Bräutigam im Schlafzimmer
allein gelassen worden sind, singen die Gäste, in Erwartung
der Rückkehr des jungen Paares in den festlichen Kreis, vor
der Tür des Brautgemaches aneifernde phallische Lieder:
Oü y nojii rpyniKa He TpymeHa
IHe-3K Haina ;i,iBOHKa He Bopyrnena!
Xto 5k TyK) rpyrne^Ky noxpycHTb
ToM namy AißO^Ky noBopyuiHTb!^)
Wie der Birnbaum in dem Felde,
Ist die Braut noch nicht berührt!
Wems gelingt den Baum zu brechen,
Der wird unsre Braut durchstechen!
lUaM-maM cajiOMOHBKa ua KaMopi,
PaacyHyjiHCL Ha;i;ynieHKi na caJiOMÜ
Oii npaci.ia ;i,BeB0^Ka Mana^i^a:
^) Aus dem Kreise Berditschew im Kijewschcn Gouvernement.
2) Aus dem Gouvernement Tschemigow.
Stern, Geschichte der Ofientl. Sittlichkeit in Rußland. ** 25
— 386 —
„He JiaacHCb, ManoA^HK, na npaMHJiHÜ 6yoK,
He saKH^aä, MajiOAHHK, He saKH^afi nyor!"
— „3k mhhI, ;i;ieBOHKa, nyor ne saKHAaTb —
Tpeßa TBaÄMy*pyOÄOHbKy necTb aT;i,aTi>."^)
Wie raschelt, raschelt schon das Stroh,
Wie hüpfen schon die Kissen so!
Das Mädchen fleht den Burschen an:
„Ach, leg dich nicht zu mir, mein Mann,
Bewege nicht auf mir die Füße!** —
„Weshalb willst du dich denn beschweren?
Ich muß ja die Familie ehren!**
Tyny, Kypo^KH, Tyny:
HoTHpi HOHceHKii Bi> Kyny;
A ni>aTa KopoTKa
Oä Me^y cojiOÄTa!^)
Strampelt, Hühnchen, strampelt :
Füßchen viere sind verbandelt;
Und dazu das fünfte kleine,
Honigsüß ist dieses eine!
Mit Vorliebe zieht man Vergleiche aus dem Tierreich
heran; dies ist namentlich bei Liedern aus dem Kreise Solo-
tonoscha im Gouvernement Poltawa der Fall :
TycaK rycKy KJin^e,
KpiSb THH KOaOCOK THHC:
„Oö TH, rycKO MOfl,
Th, rojiyÖKO Moa,
Ha To6i KOJiocoK naticTH,
HyoTH MBHe Ha nepoBO ajiisTHl^
Es sagt zur Gans der Gänserich:
,,Die Ähre hier hab ich für dich;
Oi, du, mein Gänschen,
Oi, du, mein Täubchen,
Da hast du was zu essen,
Laß mich auf dich indessen.**
^) Aus demselben Gouvernement.
2) Aus Jelisavetgrad, Gouvernement Cherson.
— 387 —
PaK no Gepeace^Ky jiasHTB
Ta Ha TyK) njiHTOHKy BaacHTb:
„0& njiHTOHKO — KpacHonipoHKO,
Po3CTaB CBoi nipbGHKa
3po6HMo BecijiJiGHKo!"
— .»Sapas, paneHbKy, 3apa3,
3po6HMO BecijiJieHKO rapaaA!"^)
Der Krebs am Uferrande liegt
Ans Rotaug* enge angeschmiegt :
„Oi Fischlein mit den roten flössen,
Tu auseinander doch die Flossen,
Und laß uns Hochzeit machen !** —
„Sogleich, mein lieber Krebs, sogleich
Laß ich dich Hochzeit machen I**
IIpOÄpaB KOTHK CTeJIH),
Ta BnaB na nocTeJiro:
IIoTH KanaBca,
IIOTH BaJIflBCff,
IIoKH tIö MapyceHbii;i
Mine HiHceHBKH BßpaBCfl!
Der Kater macht ein Loch im Dach
Und fällt aufs Bett herab mit Krach:
Er rollt und wälzt sich her und hin
Und ist dann schließlich mitten drin
In Marussjas Beinchen.
Das Mädchen läßt man sagen:
„OS xTO-ac Mene aa py^eHBKy —
ToMy pyKasH^KH,
A XTO Mene aa HiacenbKy —
ToMy HepeBHHKH!
Bijia Mene nojieacHTb, —
3a nyn Mene noÄep»HTB
ToMy rapHeii;B Me^y,
KOHOBOHKa UHBa,
mo6 CToaJia acHJia!
^) Aus dem Kreise Slawjanoserbsk, Gouvernement Jekaterinoslaw.
— 388 —
A a AyMajia iu,o ne 6yAy HczBa! . . .
AhC H HCHBa, Ta HCHBiceHBKa,
3k Taa poHca Ta noBHicmsKa."^)
Wer mich an den Händen faßt,
Der kriegt von mir Handschuh;
Wer mich an den Füßen packt,
Der kriegt von mir Stiefel!
Aber wer sich legt zu mir
Und mich greift am Nabel,
Dem schenk ich ein Krügel Bier
Und den Topf mit Honig,
Daß es fest ihm stehe !
Ach, ich glaubt, ich müßte sterben,
Doch ich lebe, lebe jetzt erst
Gleichwie eine Rose.**
Die Gäste harren mit Spannung des Wiedererscheinens des
jungen Paares und der Vorweisung des Tuches oder des Hem-
des der Braut mit den Zeichen ihrer Jungfernschaft. Aber
die Leutchen lassen auf sich warten; man lauscht an der
Tür, doch drin rührt sich noch nichts. Da wird man ungeduldig
und singt: ^v« . . -.
^ Ofi Ha xaTi ii;iTKa-rpeDiHKa,
A B KOMopi iiapyöoK xa AiBKa:
Horo BOHH TpyTLca, Ta MiiyTbCjr,
Horo BOHU He iöyTbca?!^)
Auf dem Dache Bürste, Kamm,
In dem Zimmer Weib und Mann:
Weshalb sie sich wohl nicht rühren
Und nicht endlich coitieren?
Der Bräutigam selbst gibt den Gästen Antwort und ent-
schuldigende Erklärung zugleich:
Mifi njiyr He ope,
II,ijiHHH ne 6epe?!
Sajiiaa Tynui,
Bo Jiixa mojioahI'!
^) Aus dem Kreise Solotonoscha im Gouvernement Poltawa.
^) Dieses Lied und das nächstfolgende aus dem Gouvernement Cherson.
— 389 ^
Weshalb mein Pflug nicht pflügt, . .
Das jungfräuUche Feld?
Das Eisen ist nicht scharf genung,
Es ist noch gar so jungl
Die Schwiegermutter singt nun auch den Schwiegersohn
an, um ihn zur Erledigung der Angelegenheit anzuspornen:
PycKa paKa hochdib;
Teii^a 3ama npocHu;B;
„^aM To6e Aa coponeHKy,
Bni6n mok) ÄoneHKy,
Jlfl.y.i To6e Bcö y6paHi>He
3a TBoe e6aHi>He."^)
Die Gans selbst trägt den Krebs;
Brautmutter sagt dem Schwiegersohn:
„Will dir das Hemdchen geben,
Wenn du die Tochter trennst;
Will dir die Kleider alle geben,
Wenn du ihr eine Nummer machst.
Oder:
CopoKa paKa nocHJia,
Teii;a 3>iTa npocHJia:
„Ha To6i MipKy MaKy —
3po6u AOHi;i npHSHaKy!
Ha To6i MipKy nepu,K) —
HpiiropHH AOHKy ;^o cepi^a!'*^'^)
Die Elster hat den Krebs getragen.
Zum Schwiegersohn hört man die Schwiegermutter sagen :
„Zum Trinken geb ich etwas dir,
Entjungfre nur die Tochter mirl
Ich geb dir einen Pfeffertrank,
Zieh nur mein Töchterchen ans Herz!**
Sobald das junge Ehepaar endlich zum Vorschein gekom-
men ist, gibt es der Festlichkeiten, des Jubels und der Aus:
^) Aus dem Kreise Mosir im Minsker Gouvernement.
2) Aus dem Kreise Nowograd-Wolynskij, Wolhynien.
— 390 —
gelassenheit kein Ende mehr. Man tanzt phallische Tänze und
singt die obszönsten Lieder:
ron;Hi^i, ron;Hii;i,
Kojio KypKH KocHi^i:
SLr öyAöMO l6aTHCH
By^e 3a mo ;i;ep3KaTHca!0
Hopsa, hopsa, hop.
Dein L . ch hat langes Haar, gottlob :
Ich hab, will ich dich spalten,
Woran mich anzuhalten!
Oä TyT cyxo, oö TyT rpaat;
Oä TyT JiflHce, oü TyT ^acTB.
Sei*s hier trocken, sei*s hier naß,
Leg dich hin und gib mir das.
A Bt Hamoi TeTAHH
IIoBHa nz3Aa CMCTaHH!
A XTO xone cnpo6yBaTH,
Tpe6a nepme nojiHaaTn!-)
Bei unserer Tatjana
Ist bitterlich der PisdasaftI
Und wer ihn möchte schmecken.
Braucht unten nur zu lecken.
Th PpHi^b, a MapHHKa,
B Te6e fliiii,H, b Mcne pHHKa:
nifleM co6i na ;i;oJiHHKy,
By^eM fläi^a 6hti> o6 puHKy.^)
Du bist Grizko, ich Marinka,
Du hast Eier große, volle,
Ich jedoch hab die Kassrolle;
Laß uns deine Eier rühren
Jetzt in meiner Kasserolle.
^) Aus dem Kreise Solotonoscha, Gouvernement Poltawa.
*) Aus dem Kreise Uschyzia im Gouvernement Poltawa.
8) Aus derselben Gegend.
— 391 —
Man verspottet die Brautjungfern, den Hochzeitsmarschall,
die Bräutigams-Ehrenkavaliere :
IlepBa Apy»CKa i^m^ÄTa,
Jl^pyra nepeeaTa,
TpeTH Ha pjiHx xojsßl
Bojicßi porz
^ißHaTaM Mi» hofh!^)
Die erste Druschka hat große Titten,
Die zweite ist geschwollen in der Mitten,
Die dritte wird bald gebären I
Hörner von Ochsen
Zwischen den Füßen junger Mädchen!
A B Hamoi csaxH
Be^Mi^^fc KOJio cpaKH:
He no xaxi ne noeepHeTbCH,
Hi Ao Hac He npHBepHeii,ii,H.
Bei unserer Swacha, hör,
Ist am anus ein Bär:
Drum kann sie sich nicht regen,
Und nicht zu uns bewegen.
HaHOBe CBaTOBe,
Ta HoiAeM Ha bjtobh!
Ta aK 6yjiH mh na BJiOBax,
To niÜMajiH 3aMii;H:
I öaTBKOBi i MaTepi,
1 MOJio;i;oMy i MOJiOAifi,
1 BaM, AoßpHl* Jiro^e,
Ychi HO 3aMD,K) 6yAe!
HaHOBe CBaTOBe,
Ta HoiAeM Ha bjiobh!
Ta HK 6yjiH mh na BJioBax,
To niÖMajin BOBKa:
^) Aus dem Charjkowschen Gouvernement.
— 392 —
I öaTbKOfii i Maxepi,
I MOJiOAOMy i MO.iOAiä,
I BaM, AOßpHl* JIIOA© —
yciM uo BOBKOßi 6yAe!
IlaHOBe CBaxoBe,
Ta noiAOM na BnoBn!
Ta HK ßyjiH Mu iia BJioBax,
To niÖMajiH Jincun,io:
I 6aTi>K0Bi i MaTepi,
I MOJiOAOMy i MOJiOAiH,
I BaM, Ao6pHi .^K)AO, —
YcIm no jiHcimi 6yAe!
IlaHOBe CBaTOBO,
Ta iiolAeM Ha bjiobh!
Ta iiK 6yjiH mii na BJioBax,
To iiiÖMajin noi;i>Ky:
I öaTbKOBi i MaTepi,
I MOJiOAOMy i MOJiOAiH,
1 BaM, Ao6pHT jiiOAe —
YciM HO non,T>i;i ßvAei^
„Ihr Herren Heiratsstifter, kommt auf die Jagd! Und da
wir waren auf der Jagd, erwischten wir einen Hasen : für den
Vater und die Mutter, für den jungen Ehemann und die junge
Frau, und für euch alle, ihr guten Leute — ein Hase ist für
euch alle da ! — Ihr Herren Heiratsstifter, kommt auf die Jagd !
Und da wir waren auf der Jagd, erwischten wir einen Wolf:
für den Vater und die Mutter, für den jungen Ehemann, und
die junge Frau, und für euch alle, ihr guten Leute — ein
Wolf ist für jeden da! — Ihr Herren Heiratsstifter, kommt auf
die Jagd! Und da wir waren auf der Jagd, fingen wir einen
Fuchs: für den Vater und die Mutter, für den jungen Ehe-
mann und die junge Frau, und für euch alle, ihr guten Leute
-- für jeden ist ein Fuchs da! — Ihr Herren Heiratsstifter,
kommt auf die Jagd! Und da wir waren auf der Jagd, er-
wischten wir eine Pisda: für den Vater und für die Mutter,
1) Aus dem Kreise Gadiatsch im Gouvernement Poltawa.
\
— 393 —
für den jungen Ehemann und die junge Frau, und für euch
alle, ihr g^ten Leute — es ist für jeden eine Pisda da.**
„^yacKy, non;ijiyä iiH3Äy b Ay^Ky!*^
— „Oä AK Meni ne i^jiyBaTH:
Bona » Moa pi^na MaTH.*^^)
„Druschka, küß die Pisda auf das L . ch I*'
— „Oi, ich kann es gerne tun,
Meine wahre Mutter ist sie dochl*'
Zum Schlüsse fühlt man sich veranlaßt, auch des Braut-
vaters besonders zu gedenken und ihn wegen des Verlustes
der Tochter — einer Arbeiterin im Hause — zu trösten :
BaTfcKO no AOHeni^i TyacHTt,
Ta i^iJiy Hin Maxip TioacHTB:
— „OAAaJia, CTapa, ujo^bo —
By^eM CTapaTHCb Ha ^py^yio."
Der Vater trauert um die Tochter,
Und darum bei Nacht die Mutter durchlocht er:
„Gabst du die Eine her, mein Schatz,
Laß gleich uns sorgen für Ersatz!**
^) Aus derselben Gegend.
— 394 —
k:
43. Hochzeitsbräuche
der nichtrussischen Völker Rußlands.
Unzüchtige und abergläubische Bräuche der Esten und litten — Vorherrschaft
in der Ehe — Rohe Zeremonien der Letten und Esten — Bräuche der Wotjäken
— Wotjäkische Hochzeitslieder — Heidnische Bräuche christlicher Völker —
Bräuche der Mordwinen und Tschuwaschen — Kalmückische Sitten — Von den
Giljaken-Ehen — Frühe Ehen bei den Tartaren — Das Meiden der Verwandten
der Braut — Die 72stündige tartarische Brautnacht — Armenische Zeremonien
— Tscherkessische — Ossetisch-georgische — Bräuche der Chewsuren, der
kaukasischen Bergjuden — Das Bad der Braut und des Bräutigams — Die
Angst vor Knoten — Die Brautnacht.
Nicht bloß bei den Russen sind die Hochzeiten will-
kommene Gelegenheiten zu Ausgelassenheit, unzüchtigen
Tänzen und Zoten i); bei den nichtrussischen Völkern Ruß-
lands geht es ebenfalls nicht gerade harmlos und keusch zu,
wenn ein Mädchen in den Stand der Ehe tritt. Von den Hoch-
zeitsbräuchen der alten Letten schon wird berichtet 2): „Wenn
sie nun ihre Hochzeiten gehalten, haben sie sich gar seltsamen
und wunderlichen Ceremonien gebrauchet, welche alle hier
nicht können beschrieben werden, und gebrauchen sie die-
selbe an vielen Orten noch heutigen Tag, wie ich selbst in
meiner Jugend gesehen. Wenn die Braut in des Bräutigams
Hauß oder Hoff geführet wird, und auf dem Wagen sitzet,
muß in dem Einfahren der Wagen nirgends anstossen : stoßet
er ein wenig an, so bedeutet ein solcher Anstos, daß sie in
ihrer Ehe und Haußhaltung gantz kein Glück haben werde.
Wenn sie nun eingeführet, wird sie neben dem Bräutigam in das
Gemach geleitet, da die Hochzeit gehalten wird, alsdann werden
zween blose Schwerter ihnen vorgetragen, davon das eine
über dem Bräutigam, das andere über die Braut über den Tisch
1) Solches ist Eigentümlichkeit aller slawischen Völker. Bei den serbischen
Bauern namentlich ist es allgemein üblich, während der Hochzeitsfeicr und beim
ersten Besuch im Hause der Eltern der j ungen Frau das Sauglöcklein zu schwingen.
,.Je derber, je lustiger," sagt Dr. Friedrich S. Krauß in der Anthroi)ophyteia.
I 30 und erzählt gleichzeitig eine zotige serbische Geschichte (8 — 30).
2) Th. Hiäms Lyf-, Ehst- und Lettlaendische Geschichte, S. 39.
— 395 —
gestecket wird, welches Schwert nu, indem es mit Gewalt hinein
gestecket wird, länger zittert oder bebet, derselbe wird unter
ihnen im Ehestand am längsten leben. Wann das geschehen,
so muß die Braut durch alle Gemächer gehen und in die
Stube, in die Cammern, Badstuben, in die Viehe- und Pferd-
ställe, in den Brunnen, ins Feur, in den Garten etwas Geld
werffen; thut sie das nicht, so hat sie nirgends Glück und
Gedeyen zu gewarten. Darauf gehet die Hochzeit an, und wird
da so ein abscheulich, viehisch und schandlos Leben ge-.
führet, daß es auch unter den allergröbesten barbarischen
Völckern nicht ärger zugehen möchte. Denn erstlich muß
das Essen und Trincken Tag und Nacht aufm Tische stehen,
da mag ein jeder fressen, wenn er wil, und wie lange er wil,
er muß auch nicht ehe vom Tische kommen, ehe die Hoch-
zeit vorbey und geendiget. Darnach werden solche unflätige,
unzüchtige und leichtfertige Lieder auf ihre Sprache gesungen,
Tag und Nacht ohn Aufhören, daß sie der Teuffei selbst nicht
unflätiger und schandloser erdencken oder fürbringen möchte.**
In den heutigen lettischen und estnischen Hochzeitsbräuchen
spielt das Vortragen von Zoten und obszönen Liedern keine
geringere Rolle. Solange Essen und Trinken reichen, wird
geschmaust, gesungen und getanzt. Auch die übrigen alten
Gebräuche und abergläubischen Zeremonien haben sich zumeist
fast unveiändert erhalten. Wenn bei den Letten^) und Esten 2)
ein Mädchen in das heiratsfähige Alter kommt, so beginnt es
vor allen Dingen die Geschenke vorzubereiten, die es bei
der Hochzeit den Gästen wird machen müssen, um von diesen
selbst welche zu bekommen. Ist zwischen einem Paare ein
Einverständnis erzielt, so genügt es zu einer rechtsgültigen Ver-
^ lobung, wenn der Bursche dem Mädchen vor Zeugen ein Glas
Branntwein als Verlobungstrunk gibt; und es kommt selten
vor, daß ein solches Verlöbnis gebrochen wird. Gleichzeitig
mit dem Verlobungstrunk erfolgt ein seltsamer Wetteifer
zwischen dem Burschen und dem Mädchen in bezug auf die
Sicherung der Oberherrschaft in der künftigen Ehe. Man
1) Merkel, 55. 58. 61.
2) Petri. II 278, 282; III 156.
— 396 —
legt ein Brot auf den Tisch; über dem Brot reichen Braut und
Bräutigam einander die Hände; dann brechen sie ein Stück
ab und beeilen sich, es herunterzuwürgen: wer mit seinem
Stück zuerst fertig wird, dem fällt die eheliche Oberherr-
schaft zu. Wenn die lettische Braut zur Trauung fährt, sowie bei
ihrem Eintritt in ihr neues Heim hat sie peinlich ver-
schiedene abergläubische Vorschriften zu beachten. Auf dem
Wege zur Kirche muß sie in jeden Graben und in jeden Teich,
den sie sieht, sowie an jede Hausecke, an der sie vorbei-
kommt, Bündel farbiger Fäden und eine Münze werfen als
Opfer für die Wasser- und Hausgeister, i) Wenn die junge
Frau später zum ersten Male in ihre neue Wohnung eintreten
will, so gehen die Brautführer ihr voran und schlagen über
jeder Tür mit Degen oder Peitsche ein Kreuz, um die bösen
Geister, die sich gern zum Hochzeitsschmause einfinden,
energisch zu vertreiben. Ob es auch aus Aberglauben ge-
schieht, daß der Bräutigamsführer dem von der Kirche fort-
fahrenden Brautpaar eine Bierkanne an den Kopf wirft, weiß
ich nicht. Ebensowenig, welchen Sinn es hat, daß die Herr-
schaft der Braut dieser beim Abschied eine schallende Ohr-
feige verabreicht. Bedeutet dieser Schlag etwa den Abschluß
der Gewalt der Gutsherrin vor dem Beginn einer Gewaltherr-
schaft des Gatten ? Wie sie es schon bei der Zeremonie der
Verlobung getan, versucht es zwar die lettische oder estnische
Braut auch bei der Trauung, sich dadurch, daß sie dem Bräu-
tigam heimlich auf den P'uß tritt 2), die zukünftige Herrschaft
im Hause zu sichern; daß ihr dies nur selten gelingt, erzählen
manche Hochzeitslieder der Letten, in denen der Übergang
des Mädchens aus dem Jungfernstand in den der Ehe keines-
wegs als ein erfreuliches Ereignis geschildert wird. So singt
man der Estin im Augenblick, da sie zur Hochzeitsfeier gehaubt
wird :
,, Schmücke, Jungfrau, schmücke dich!
Schmücke dich mit solchem Putze,
Der einst deine Mutter schmückte;
1) Das Gleiche ist bei den Esten der Fall. Vgl. Petri, Ehstland und die
Ehsten, II 282.
2) Ähnlicher Gebrauch ist bei den Weißrussen vorhanden. \'gl. S. m.
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Binde solche Bänder um,
Wie einst deine Mutter band:
Bind um den Kopf das Kummerband,
Und um die Stirn das Sorgenband,
Gib auf den Scheitel das Trauertuch !
Von den nichtrussischen Hochzeitsbräuchen in Rußland
sind noch diejenigen einiger finnisch-tartarischer und kauka-
sischer Völker besonders bemerkenswert. Bei den Festlich-
keiten der Wotjäken^) wird hauptsächlich getrunken, und da
die Hochzeit sich über mehrere Tage erstreckt, so ist zum
Schlüsse die ganze Versammlung total berauscht. Die Aufgabe
der Braut ist es, möglichst viel zu weinen, und jedem der
Gäste ein Glas Kumyska (Branntwein) zu reichen. Die Verab-
schiedung der Braut von ihren Eltern wird mit Liedern und
Sprüchen begleitet, die auf ein freundliches Familienleben
deuten könnten:
d^eöa vo^mat matuske?
inmared dieC- §udze med öotoz;
Togiskon muzjemed mamyk kad' med lo
juo-no vued §erbet med lo,
sio-no näfied 6äbei med lo;
tusmonly en ^ot inmare!
,,Hast du gut gewartet, Altechen? Möge dein inmar dir
gutes Glück geben! Worauf du trittst, die Erde, möge wie
Flaum sein; was du trinkst, das Wasser, möge Scherbet sein;
was du ißt, das Brot, möge Weizen sein! inmar gebe dich
nicht den Feinden preis!*'
Wenn endlich die Braut sich anschickt, das Elternhaus
zu verlassen, so heult sie endlos, und die ganze V^erwandtschaft
mit ihr. Ihr Vater aber tröstet sie mit den Worten: ,,die6
med ulod; d^eö murtly med jaralod; monenym ky^yke jarad
otynno odj^.yk med jaralod."
„Mögest du gut leben, möge der gute Mensch (der Bräu-
tigam) an dir Gefallen finden; so wie du mir lieb gewesen
bist, so mögest du auch dort angenehm sein.**
1) Max Buch, Die Wotjäkeu, 51 ff.
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Der Bräutigam, der hier also nicht, wie bei den Russen, der
Fremdling, sondern der gute Mensch heißt (auch viele andere
Lieder nennen ihn so), darf seine Braut nicht aus ihrem Eltem-
hause abholen, sondern erwartet sie in seiner eigenen Wohnung.
Bei diesem Empfange spielt, obwohl die Wotjäken nominell
Christen sind, die Hauptrolle der heidnische Priester, der dem
Brautpaar Bier zu trinken gibt und den Bund besiegelt. Die
Braut muß während der Trauungszeremonie mit verhülltem.
Gesicht auf dem Boden knien. — Die Hochzeitsbräuche der
Mordwinen oder Morduanen ähneln stark den wotjäkischen.
Wenn man die Braut nach der Trauung in der orthodoxen
Kirche dem Bräutigam m't den Worten: „Wolf, da hast du
das Schaf!** übergibt, so muß sie, um wohlanständig zu er-
scheinen, furchtbar weinen. Am Tage nach der Hochzeit
bringt der Älteste der \ erwandtschaft der jungen Frau als
Geschenk ein Laib Brot, worauf eine Münze und eine Brust-
spange befestigt sind. Dies Stück Brot setzt er ihr dreimal
auf den Kopf und spricht dabei in willkürlicher Ordnung
die Worte: Tätei, Mesei, Pawei; das zuletzt ausgesprochene
bleibt der neue Rufname der jungen Frau.
Auch bei den Tschuwaschen und Tscheremissen, sowie
den Kalmücken haben sich trotz der nominellen Herrschaft
des Christentums in den Hochzeitsgebräuchen die alten heid-
nischen Sitten unerschüttert erhalten. Bei den Tschuwaschen
darf die Braut am Hochzeitstage unter gar keinen Umständen
zu Fuße gehen; sie fährt im Wagen oder wird auf Matten ge-
tragen. Bei den Kalmücken i) muß der Wahrsager befragt
werden, welchen Tag man für die Hochzeit bestimmen soll.
Jeder achte, sechzehnte und vierundzwanzigste eines Monats
ist ungünstig. Der Astrolog entscheidet nach den Geburts-
jahren der Braut und des Bräutigams, ob die Elemente der-
selben miteinander übereinstimmen oder nicht. Findet er,
daß der Bräutigam im Feuerjahr und die Braut im Wasserjahr
geboren ist, so muß die Ehe nur unglücklich sein; zum Glück
können öffentliche Gebete der Geistlichkeit das Unglück ab-
wenden. Zuweilen behaupten die Astrologen, daß ein Auf-
1) Bergmanns Nomadische Streifereien, III 148.
— 399 —
Schub von mehreren Monaten oder Jahren nötig sei; aber zum
Glück können abermals die Geistlichen helfen. Der Klerus
versteht überall sein Geschäft, Bei der Trauung gibt es wie bei
den Weißrussen, Esten und Letten und anderen Völkern, einen
lebhaften Kampf zwischen Braut imd Bräutigam um die Siche-
rung der häuslichen Oberherrschaft: bei den Kalmücken ist
der Kampfplatz eine Schafskeule, die dem Brautpaare nach der
Trauung vom Priester gereicht wird; der Bräutigam faßt sie
oberhalb an, um seine Vorherrschaft zu dokumentieren, und
die Braut hat sie unterhalb zu ergreifen, aber sie macht —
natürlich vergebens — den Versuch, dem Manne zuvorzu-
kommen. Nach dieser Zeremonie erhält das neue Paar das
erste gemeinsame Mahl : eine Handvoll zerschnittenes Fleisch ;
doch gewöhnlich ißt nur der Gatte davon, die Gattin schaut
bescheiden zu. Sobald dieses Mahl beendet ist, drückt man
die Köpfe des Paares dreimal zur Erde und ruft dabei : „Ver-
beuge dich vor der Sonne, vor der Schafskeule, vor der
Butter I" Ein Festessen und gewaltiges Branntweintrinken be-
schließen die Hochzeitsfeier.
Die kalmückische Ehe wird nicht aus materiellem Interesse
geschlossen ; ihr Hauptzweck ist : Kinder zu zeugen. Dagegen
ist bei den Giljaken auf Sachalin die Verheiratung von Töch-
tern oder Schwestern ein schwunghaftes Geschäft der Väter
und Brüder. Der daraus resultierende Verdienst ist landes-
üblich bedeutend : denn für ein Mädchen bekommt man Hunde,
Wagen, Barken, je nach der Schönheit der Ware und dem An-
sehen des Verkäufers. Um baldmöglichst in den Besitz solcher
Kostbarkeiten zu gelangen, verlobt man die Mädchen schon in
der Wiege und verheiratet sie bereits mit dreizehn oder vier-
zehn Jahren ohne Zeremonien und ohne Formalitäten: es
gibt bloß ein Festmahl beim Verlassen des väterlichen Hauses
und noch eins beim Eintritt ins Haus des Mannes. Kann der
Gatte den Kaufpreis nicht auf einmal erlegen, so zahlt er in
Raten, etwa jährlich einen Hund. Und ein alter Giljake erhob
einmal die rührende wehmütige Klage : „Ich gab dem Schwie-
gervater eine Barke, eine Lanze und einen Fleischtopf; aber
nach dem Tode des Schwiegervaters mußte ich den Schwägern
noch jährlich einen Hund liefern. Das geht nun schon so
— 400 —
zehn Jahre fort, und ich muß es noch immerfort leisten, ob-
wohl ich jetzt in einem Alter bin, in dem man einen Hund
höher schätzt als ein Weib.**^) Wie bei den Giljaken werden
auch bei den Tartaren die Kinder schon in frühem Alter
verlobt; mancher Bräutigam ist acht, manche Braut erst vier
Jahre alt. 2) Die Hochzeitszeremonien sind fast die gleichen
wie bei den Türken, da die Tartaren in Rußland den mosle-
mischen Gebräuchen folgen; doch räumen sie den Frauen
mehr Freiheit ein als die Mohammedaner in der Türkei. In
der Pause zwischen Verlobung und Hochzeit, die manchmal
viele Jahre dauert, wenn das Paar sehr jung ist, muß der
Bräutigam die Gesellschaft seines zukünftigen Schwiegervaters
und selbst der entfernteren Verwandten seiner Braut meiden;
trifft er sie zufällig auf der Straße, so weicht er ihnen aus.
Seine Braut aber kann er sehen so oft er will. An den hohen
Religionsfesten überbringt er ihr Geschenke. Der Hochzeits-
tag wird festgesetzt, sobald der Kalym vollständig bezahlt ist.
Die Feier findet im Hause der Braut satt, und der Bräutigam
kommt mit seinen Freunden dorthin, wie zufällig angelockt
von dem Lärm und Trubel. Er schickt zuerst einen Boten
hinein, um sich zu erkundigen, was da vorgehe. Der Priester,
der die Trauung zu vollziehen hat, läßt dem Bräutigam Glück
wünschen, und daraufhin kommt dieser in das Haus, und die
Trauung wird vollzogen. Nach der Trauung geht der junge
Gatte allein fort. Die junge Frau bleibt noch drei Tage im
Hause der Eltern und feiert mit ihren Freundinnen den Ab-
schied unter ununterbrochenen Festlichkeiten. Dann geleitet
man sie in ihr neues Heim. Die Heiratsvermittlerin oder eine
alte Frau „bereitet das Hochzeitsbett, und wird dafür von
dem Bräutigam belohnt. Sie zieht die Braut aus, und legt
sie in das Bett, in welchem der Bräutigam drey Tage lang mit
seiner jungen Frau aushalten muß, und dieses Gemach darf
keiner von beyden Theilen verlaßen, er werde denn dazu
durch einen Umstand genöthiget, den die Natur haben will.
Eben diese Frau, welche das Hochzeit Bett zurecht gemacht
1) Paul Labb6, Un bagnc russc, l'üc de Sakhaline. Paris 1903. p. 168.
2) Gmelin, II 132.
— 401 —
hat, reicht binnen diesen drey Tagen dem Braut-Paar Essen,
Trinken, und Waßer zum Waschen. Inzwischen machen sich
die Freunde des Bräutigams in seinem Hause lustig, ein
gleiches geschieht bey den Aeltern der Braut, und am Morgen
des vierten Tages versammlen sich die Hochzeits-Gästfe zum
letzten mal, spülen mit einigen Schaalen Brandtwein die Un»-
reinigkeiten weg, welche ein dreytägiger Schmauß verursachet
hat, und machen also der ganzen Historie ein Ende.**^-
Die Armenier passen sich leicht den Gebräuchen der
Völker an, in deren Mitte sie leben. Deshalb sind die arme-
nischen Hochzeitszeremonien verschieden in den verschiedenen
Gegenden Rußlands. Ihre nationalen Sitten haben sie am
reinsten in den kaukasischen Provinzen erhalten. 2) Es wird
bei den armenischen Hochzeiten unendlich viel gebetet, imd
der Priester spricht unzählige Segenssprüche. 3) Der Trau-
ring, die Hochzeitskleider der Braut und des Bräutigams wer*
den feierlich eingesegnet. Wenn der Priester die Rechte der
Braut in die des Bräutigams legt, sagt er zu letzterem: ,,Nach
dem göttlichen Gebote, welches Gott den Vorfahren gegeben,
gebe ich dir diese Braut zum Gehorsam. Bist du ihr Herr?**
Der Bräutigam antwortet : ,,Ich bin ihr Herr durch den Willen
Gottes.'* Darauf fragt der Priester die Braut: „Bist du ge-
horsam?*' Und sie antwortet: „Ich bin gehorsam nach dem
Befehle Gottes.'* Der Gatte ist aber nicht bloß der Herr,
sopdern auch der Schützer der Gattin. Wenn die junge Frau
in ihr neues Haus eintritt, so stellt sich der junge Gatte
unter die Tür, hält ein Schwert empor und läßt die Neu-
vermählte unten durchschlüpfen: so wird sie in Zukunft unter
seinem männlichen Schutze allen Gefahren entgehen. Als
ersten Trunk nach der Trauung erhält das junge Paar süßes
Wasser; nach einigen symbolisiert dies die reinen und süßen
Genüsse des ehelichen Lebens, nach anderen soll es. eine Er-
innerung an die Hochzeit in Kana sein, wo das Wasser in
Wein verwandelt wurde.
1) Gmclin, IIJ13B.
■*') Bodenstedt hat sie ausführlich beschrieben in ,,1001 Tage'*.
^) Diese Segenssprüche allein füllen bei Bodenstedt a. a. O. zehn Druck-
seiten!
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rufiland. ** 26
— 402 —
Bei den Tscherkessen sieht eine Hochzeitsfeier ganz kriege-
risch aus. In Erinnerung an die alten Entführungsgebräuche
erscheinen die Männer alle bewaffnet, und zwischen den Ver-
wandten der Braut und den Freunden des Bräutigams gibt es
ein scheinbares Gefecht, bis die Braut aus dem Hause kommt
und in die Arme des Bräutigams sinkt, während alles jauchzt :
Sieg, Sieg ! Nach der Festmahlzeit führen die Jünglinge wieder
kriegerische Spiele auf. Dann erscheint auf hinkendem Rosse
ein Spaßmacher. Bricht der Abend an, so löst den Scherzer
ein Sänger ab, tmd die jungen Leute tanzen bis zur Erschöpfung.
Äußerst einfach wird die Ehe bei den Osseten geschlossen :
ein Mann bittet den Vater der begehrten Maid um ihre Hand,
bezahlt den Kaufpreis, nimmt die Gekaufte zu sich, und schon
sind die Beiden verheiratet. Nur einige wenige, halb heid-
nische, halb christliche Zeremonien i) gibt es dabei: Wenn
eine Ossetin heiratet, so verläßt sie mit dem Fortgang aus
dem elterlichen Hause den Schutzgeist des häuslichen Herdes
und begibt sich unter den Schutz des Hausgeistes ihres Mannes.
Sie muß sich deshalb von dem elterlichen Schutzgeist ver-
abschieden und den Segen für ihren Auszug erbitten. In
Gegenwart aller Verwandten und Freunde tritt die Neuver-
mählte zum Herd und geht dreimal um denselben, während
der Älteste und Würdigste aus der Versammlung den Schutz-
geist anfleht, der Scheidenden wohlwollendes Andenken zu
bewahren. Eine ähnliche Feierlichkeit wiederholt sich b^im
Eintritt der jungen Frau in ihr neues Heim, wo sie den neuen
Schutzgeist um seine Gnade anfleht. Dann muß sie auch zu
einer im westlichen Winkel der Sakla oder Hütte stehenden
Säule treten; diese Säule, geziert mit den Hörnern häuslicher
und wilder Tiere, ist das Symbol des Schutzgeistes. Vor dieser
Säule spricht der Schaffer, der Bräutigamsführer : „O schenke
uns deine Gnade! Diese junge Frau, die vor dir steht, wird
dich ehren als heUig ihr ganzes Leben lang." Nahe bei dieser
Säule muß die Frau die ersten drei Tage ihrer jungen Ehe un-
*) Sie sind von Dschantcmir Schanajew und Wßcwolod Miller (in russi-
scher Sprache) beschrieben worden. Vgl. Bernhard Stern, Zwischen Kaspi und
Pontus.
— 403 —
unterbrochen verweilen. Dann spricht der Schaff er wiederum
ein Gebet zum Schutzgeist, wobei er diesmal um männliche
Nachkommenschaft fleht. Dem letzteren Zwecke dient auch
das Hinführen der jungen Frau zum geweihten Stein der
Mutter Maria, welcher in der Nähe eines, jeden ossetischen
Auls oder Dorfes sich befindet. Während die Neuvermählte
sich dem heiligen Stein naht, eilen Knaben voraus, werfen
Steine und Flintenkugeln nach dem heiligen Stein und rufen:
„So viel Steine und Kugeln wir werfen, so viel Knaben
schenke, o Mutter Maria, unserer g^ten jungen Frau, und
ein blauäugiges Mädchen dazul** Nachdem der junge Ehe-
mann an dieser Stätte eine ähnliche Bitte gesprochen, kehrt
man nach Haus zurück und tritt ins Schlafzimmer. Hier end-
lich sagt der Schaff er, ehe das Paar sich niederlegt: „O Geist
des Schlafes, beschenke diese Ehe mit langlebender männlicher
Nachkommenschaft I**
Merkwürdig frühzeitig wird bei den Georgiern (Grusiern)
geheiratet. Mancher ist schon mit 15 oder gar 14 Jahren
Vater, manche im Alter von 13 oder 12 Jahren Mutter. Die
Hochzeit folgt zuweilen unmittelbar auf die Verlobung; die
Festgebräuche ähneln teils den tscherkessischen, teils den ar-
menischen. Interessanter sind die chewsurischen Sitten. 1) Die
Verlobung findet gewöhnlich schon in früher Jugend statt,
die Heirat aber erfolgt nicht vor dem zwanzigsten Jahre des
Mädchens. Offiziell muß um das Mädchen knapp vor der
Hochzeit noch einmal geworben werden. Der Freier entsendet
eine Frau und einige Freunde in das Haus der Braut. Sie
bringen ein paar Schafe mit. Die Eltern der Braut verhalten
sich ablehnend, weil sie des Freiers nicht würdig seien. Endlich
lassen sie sich überreden, man schlachtet ein Schaf, schmaust
und führt dann die Braut ins Haus der Eltern des Bräutigams,
wo sie einige Zeit bleibt, aber ihren Gatten weder sehen, noch
von ihm gesehen werden darf. Dann kehrt sie zu ihren Eltern
zurück, und nun wird die Hochzeit gefeiert. Am Hochzeits-
tage werden die Kleider des jungen Paares mit einer Nadel
oder mit einem Faden aneinandergeheftet. Ähnlich wie bei
1) Vgl. Gustav Radde, Die Chewsuren.
26*
— 404 —
den Osseten erfolgt die Trauung auch hier am Herdfeuer im
Hause des Bräutigams. Der Priester reicht dem Bräutigam und
der Braut Wachslichtchen, stellt ihnen Speisen hin, wünscht
ihnen Segen und reichliche Nachkommenschaft, und die Ehe
hat begonnen.
Bei den den Chewsuren verwandten Tuschinen und Pscha-
wen ist der Bräutigam fast immer jünger als die Braut ; letztere
heiratet nie unter 20 oder 25 Jahren, der Gatte aber ist oft
nur 14 oder 15 Jahre alt. Bei den kaukasischen Bergjuden,
deren wir zum Schlüsse noch gedenken müssen, ist das um-
gekehrte Verhältnis üblich. Da hat manche Mutter noch nicht
das fünfzehnte Lebensjahr zurückgelegt, i) Wenn ein junger
Bursche heiraten will, so läßt. er es seinen Vater durch einen
Freund wissen. Der Vater schickt einen Freier in das Haus
des Mädchens, zwischen den beiden Vätern beginnt dann
das Feilschen um 4en Preis der Braut. Diese wird nicht gefragt,
auch die Mütter haben nichts dreinzureden. Die jungen Leute
sehen sich selten vor der Hochzeit, da die Mädchen wenig
aus dem Frauengemach, und dann nur mit verhülltem Ange-
sicht, herauskommen. Die Hochzeiten sind fast ausschließ-
lich im Winter, weil da die Weinvorräte größer, und dauern
mehrere Tage. Am Sonntag beginnt man die Gäste einzu-
laden. Aus jedem jüdischen Hause des Auls müssen wenigstens
ein junger Bursche und ein junges Mädchen kommen. Alle
jungen Männer bilden das Gefolge des Bräutigams, alle jungen
Mädchen das Gefolge der Braut. Am Sonntag abend ist im
Hause des Bräutigams die erste Festlichkeit. Unter Musik und
Gesang verläuft die Mahlzeit, bei welcher Männer und Frauen
getrennt in besonderen Zimmern speisen. Nach Tisch aber
vereinigen sich die jungen Männer und die jungen Mädchen
zu fröhlichem Tanz, der erst in später Nachtstunde ein Ende
hat. Am andern Morgen erscheinen die jungen Burschen
1) Vgl. Bernhard Stern, Zwischen Kaspi und Pontus; und die Sclüldc-
rungen des kaukasischen Berg Juden Anissimow in der russisch- jüdischen
Wochenschrift .,l^)Cxo;n.". 1888, die auch als selbständige Schrift in dem
genannten Jahre in Moskau erschienen. Einen deutschen Auszug daraus brachte
Professor C. Hahn in Tiflis in seinen Skizzen aus dem Kaukasus.
^ 405 —
im Haxise des Bräutigams und verlangen jeder drei Becher
Wein. Dann stellen sie sich im Kreise auf und wählen aus
ihrer Mitte einen „Schach**, der die Hochzeitszeremonien zu
beaufsichtigen hat, während die anderen sekundieren. Sobald
alle G^te beisammen sind, beginnt das Mittagmahl und darauf
von neuem Tanz unter Begleitung von Musik und Hände-
klatschen. Rings um den mit Sand oder Häcksel bestreuten
Tanzplatz stehen Bänke und Sessel für den „Schach** und
seine „Polizisten**. Rechts vom Schach sitzt der „Wesir**,
links der Bräutigam. Einige der Polizisten sind mit Knuten
bewaffnet und haben die Aufgabe, die vom Schach zum Nutzen
des Bräutigams diktierten Strafen von 50 Kopeken bis zu
mehreren Rubeln einzusammeln; wer nicht bezahlen will, wird
von den Polizisten an einen Pfosten gebunden und nicht eher
losgelassen, als bis er bezahlt hat; wer sich gegen den Schach
auflehnt oder ihn schilt, wird auf mehrere Stunden in den
Stall gesperrt. An diesem oder am nächsten Tage zieht die
ganze Festgesellschäft unter Anführung des Schachs zu dem
Hause der Braut, welche den bisherigen Festlichkeiten fern-
geblieben war. Auf halbem Wege kommt dem Zuge des
Bräutigams der Zug der Braut entgegen. Mehrere Freunde
des Bräutigams spornen ihre Rosse an, um die Braut zuerst
zu begrüßen. Wem dies gelingt, der erhält vom Schach ein
seidenes Tuch oder einige Ellen Stoff zu einer Tscherkeßka;
die Trophäe bindet der Belohnte um den Hals seines Pferdes.
Die vereinigte Gesellschaft begibt sich darauf zu dem Eltern-
hause der Braut, falls diese im selben Dorfe wohnt; ist sie
aus einem andern Aül, so zieht die Gesellschaft in das Aül
des Bräutigams zurück, und die Braut steigt bei einer befreun-
deten Familie ab. Am nächsten Tage versammeln sich alle
im Hause, wo die Braut sich befindet, und bringen ihr Geld
und Geschenke dar. Die jungen Männer unterhalten die weib-
lichen Gäste mit Spaßen und Tänzen, Akrobatenstücken und
Heldenspielen. In der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch wird
die Braut von ihrer Mutter und ihren Freundinnen ins Bad
geführt. Von hier heimgekehrt, findet sie den vom Bräutigam ge-
schickten Brautanzug und Brautschmuck. Am Mittwoch mittag
begibt sich auch der Bräutigam in Begleitung des Schachs, des
— 406 —
Wesirs und seiner Freunde ins Bad ; während er im Bad ist, ver-
treibt sich das Gefolge die Zeit mit Tänzen. Im Vorhaus des
Bades stehen Frauen und singen unaufhörlich : „Ach wie langf,
wie lang läßt der Bräutigam auf sich warten." Kommt der Bräu-
tigam endlich heraus, so ertönen von allen Seiten Schüsse,
die Freunde eilen auf ihn zu und küssen ihn, während die
Frauen ihn mit Grütze und Mehl, den Symbolen des Wohl-
standes, bestreuen. Unter hebräischen und tartarischen Ge-
sängen geht es zur Braut, wo die ganze Hochzeitsgesellschaft
beisammen ist. Der Bräutigam begrüßt die Eltern der Braut,
indem er vor ihnen sich verneigt und ihre Hände und Füße
zum Zeichen der Ergebenheit küßt. Jetzt wird die Braut zum
erstenmal dem Bräutigam zugeführt. Ihr Gesicht ist aber ver-
hüllt. Das Brautpaar und die Gäste begeben sich nunmehr in die
Synagoge. Hier ist es die wichtigste Pflicht der guten Freunde
des Brautpaares, die Knoten des Teufels oder böser Menschen
zu entkräften; die gefährlichen Folgen dieser Knoten sind:
Unfruchtbarkeit der Frau und Impotenz des Mannes. Die
größte Kraft haben diejenigen feindlichen Knoten, die in der
Zeit geschlungen werden, da der Bräutigam der Braut den Ring
an den Finger steckt und die neun Worte aus der heiligen
Schrift spricht, welche die Ehe gültig machen. Die guten
Freunde suchen in dieser Zeit möglichst viel Knoten der
Freundschaft zu schlingen, damit ihre Zahl die der bösen
übersteige und die guten Wünsche die bösen wettmachen. Die
Trauung wird von dem Rabbiner in ähnlicher Weise wie bei
den übrigen Juden vollzogen. Sobald dies geschehen ist, bricht
die Gesellschaft in lautes Jubelgeschrei und Segenswünsche
aus, und alles begibt sich zum Hause des Bräutigams. Unter-
wegs wird das junge Paar mit Flintenschüssen begrüßt und
von allen Seiten mit Mehl, Gerste und Weizen überschüttet.
Zu Hause angelangt wird das junge Paar von des Bräutigams
Eltern empfangen, geküßt und in zwei besondere Zimmer ge-
bracht. Im Zimmer des jungen Ehemanns halten die Männer,
im Zinmier der jungen Frau die Weiber den Schmaus. Neben
dem jungen Gatten sitzt der Rabbiner, und vor diesem ist ein
Tischtuch ausgebreitet, auf das die Gäste Geldgeschenke für
die Neuvermählten niederlegen. Betrag und Name des Spen-
— 407 —
ders werden ausgerufen und aufgeschrieben. Um Mittemacht
verschwindet die Braut aus dem Kreise der Freundinnen und
wird ins Schlafgemach gebracht. Ihre Freundinnen eilen ihr
nach, singen im Brautgemach das Hochzeitslied und ziehen
sich diskret zurück, nachdem der Bräutigam eingetreten. Nur
der nächste Freund des jungen Ehemannes bleibt draußen vor
der Tür stehen und hält Wache. Nach etwa drei Stunden
tritt der junge Ehemann wieder aus dem Zimmer und begibt
sich zu seinen Freunden; währenddem kommen die Fretm-
dinnen der jungen Frau ins Brautgemach, bringen ihre Glück-
wünsche dar und räumen unter Scherzen und Gesängen das
Brautbett weg. Zum Schluß erscheinen unter Flintenschüssen
bei der jungen Frau : der Schach, der Wesir und die anderen
jungen Leute, um ebenfalls ihre Glückwünsche darzubringen.
Sie setzen sich der jungen Frau zu Füßen und erhalten jeder
ein Glas Wein, wofür sie die junge Frau mit einer Münze be-
schenken.
44. Ehescheidung.
Polygamie — 'Wladimirs 8cx) Frauen — Russisch-orthodoxe Ehegesetze —
Ausnahmen für die Herrscher — Polygamische Großfürsten — Großfürst
Semen — Großfürst Wassilij — Iwan der Schreckliche — Peter der Große —
Das Los der verstoßenen Zarin Jewdokia — Die Ehescheidung des Günstlings
Jaguschinskij — Die Scheidung gewöhnlicher Sterblicher — Scheidung und
Strafgesetz — Die Kirche gegen Wiederverheiratung — Ehescheidung bei den
nichtrussischen Völkern Rußlands — Bei den Tschuwaschen, Kalmücken und
Giljaken — Die Witwe und die Geschiedene bei den Osseten — Übertritt
zur Ortho<loxic und Ehescheidung der Nichtrussen — Ein neues russisches
Scheidungsgesetz.
Bei den heidnischen Russen herrschte Polygamie. Noch
Wladimir der Heilige, dem Rußland das Christentum ver-
dankt, hatte ungezählte Frauen. Der Historiker i) berichtet
von Wladimir : „Nach des Bruders Ermordung nahm er dessen
schwangere Gemahlin zur Beischläferin, die den Swätopolk
gebar; eine andere rechtmäßige Frau, eine Tschechin oder
^) Karamsin, I 164.
— 408 —
Böhmin, gebar ihm den Wychesslav ; eine dritte Swätosslav und
Mstlißlav ; eine vierte, aus Bulgarien gebürtige, Boris und Gljeb.
Überdieß hatte er, wenn wir dem Annalisten Glauben beimessen^
300 Beischläferinnen in Wyschegorod, 300 in Bjelgorod (un-
weit Kijew), und 200 im Dorfe Berestov. Jedes schöne Weib
oder Mädchen fürchtete seine lüsternen Blicke, denn er ach-
tete weder der Ehe Heiligkeit noch die der Unschuld. Mit
einem Worte, der Annalist nennt ihn, hinsichtlich der Weiber-
sucht, den andern Salomo.**
Im christlichen Rußland ward auf Polygamie Todesstrafe
gesetzt. 1) Trotzdem dauerte die Vielweiberei lange fort; und
die Herrscher waren es wiederum, die mit dem bösen Bei-
spiel vorangingen, denn für ihren Gebrauch hatten sie der
Kirche ein Ausnahmegesetz abzutrotzen gewußt. Die Todes-
strafe, heißt es 2), ist „denenjenigen geordnet / welche mehr als
eine Frau nehmen; der Czar oder Groß-Fürst selbst darff
nicht mehr als eine haben / es sey denn / daß sie / wie
man Exempel gesehen hat / unfruchtbar wäre / oder keinen
Printzen bekommen könte / denn in solchem Fall kan er sie
in ein Kloster einschliessen lassen / und eine andere heyrathen.
Was anbelanget eine andere Frau / nach Absterben der ersten /
zu nehmen / so leiden sie zwar solches / und glauben / es
könne geschehen / aber sie halten eine solche Heyrath kaum
vor gut und rechtmäßig / darum darff sich keiner unter ihren
Priestern zum andern mahl verheyrathen. Was die dritte
Heyrath betrifft solche lassen sie gar nicht zu / es müste denn
derjenige / der sie verlanget / sehr wichtige Ursachen anzu-
führen haben. Die vierdte aber ist so scharff verboten / daß
man diejenigen / welche dergleichen unternehmen / mit dem
Tode straffet.** Zur Zeit des Zaren Alexej war indessen eine
Heirat zum vierten Male möglich; Alexejs Gesetzbuch spricht
von einer solchen 3): „Wann jemand sich zum vicrdten mahl
verheyrathete, und mit derselben Frauen Kinder zeugete, so
soll man denenselben von seinen Erb- oder Lehn Gütern nichts
*) Säint-Edme. Dict. de la p6nalit6, V 95.
-*) In der ,, Religion der Moscowiter", S. 36.
•') Struwens Russisches Landrecht, XVI 15.
— 409 —
lassen." Die Kinder mußten also die Sünden der Eltern
büßen.
Das besondere, das sich die Herrscher gestatteten, war
dieses, daß sie gleichzeitig mehrere Frauen hatten.
Großfürst Semen Iwano witsch, der im Jahre 1353 von der
Pest hingerafft wurde, war mit drei Frauen verheiratet gewesen,
Großfürst Wassilij IV. verstieß seine Gemahlin Salomonia nach
zwanzigjähriger Ehe in ein Kloster in dem rauhen Klima von
Kargopol und heiratete Elena Glinskij; die Frucht dieser Ehe
war Iwan der Schreckliche, der es ärger trieb als alle anderen
christlichen Herrscher Rußlands, welche sich der Vielweiberei
schuldig gemacht haben. Iwan heiratete achtmal. Seine Metro-
politen hatten nicht den Mut, ihn zu exkommimizieren, wie es
in Byzanz einst der Patriarch Nikolaus gegen Kaiser Leo V.
gewagt hatte, als dieser sich zum vierten Male verheiraten
wollte. Der Moskauer Erzbischof Leonidas, der sich bloß
weigerte, des Schrecklichen vierte Ehe einzusegnen, wurde
zur Strafe in eine Bärenhaut eingenäht und den Hunden vorge-
worfen.^)
Peter der Große konnte nicht behaupten, daß seine Ge-
mahlin Jewdokia Lopuchin unfruchtbar war; aber sie stand
als starre Reaktionärin allen seinen Wünschen und Reform-
plänen im Wege und wurde deshalb auch ohne den gesetzlich
notwendigen Grund ins Kloster gesperrt, um der Nebenbuhlerin
Katharina Platz zu machen. Der Zar schied sich so gründlich
von ihr, daß er ihr weder Geld noch Rang ließ und sogar
ihren Namen änderte; sie wurde die Nonne Elena und mußte
von der Mildtätigkeit Fremder leben. „Ich brauche ja nicht
viel,** schrieb sie in einem ihrer Briefe an ihren Bruder Abra-
ham; „aber ich muß doch essen; ich trinke zwar weder Wein
noch Branntwein, aber ich möchte doch einem Besuch et-
was anbieten können. Hier gibt es nichts. Solange ich lebe,
ich bitte euch darum, gebt mir wenigstens zu essen, gebt mir
zu trinken, gebet Kleider der Bettlerini** Als sie dies schrieb,
zählte sie 26 Jahre; und 21 Jahre mußte sie in solchem Elend
schmachten, während ihre Rivalin als Kaiserin an der Seite
1) Vgl. II 26.
— 410 —
des Kaisers, dann als Selbstherrscherin figurierte! -r- Die.
Toleranz, die Peter für sich beansprucht hat, beweist .er in-
dessen in diesem Punkte auch den anderen. Sein Günstling
Jaguschinskij will 1723 die Gattin los werden. Er hat ihr
nichts vorzuwerfen; sie ist keine Ehebrecherin, sie ist auch
nicht unfruchtbar, sie hat ihm mehrere. Kinder geschenkt;
aber der Ehrgeizige begehrt nach der Tochter des Kanzlers
Golowkin. Frau Jaguschinskij ruft die Kirchengesetze zu
Hilfe, und der Kanzler Golowkin macht ebenfalls Hindernisse^
>vill dem Emporkönunling nicht zu Willen sein. Da appel-
liert Jaguschinskij an den Zaren. Und Peter, der jede Gelegen-
heit ergreift, dem Klerus einen Streich zu spielen und die
alte Aristokratie, welcher Golowkin angehört, zu erniedrigen,
sagt dem Günstling einfach: „Jage das Weib fort und wirf
sie ins Kloster 1** und er löst selbst als Imperator-Papst der
Orthodoxie die erste Ehe und segnet selbst die zweite ein,
ohne den Kanzler um Einwilligung zu fragen.
Alexander I. lebte zwar skrupellos in einem ehebreche-
rischen Verhältnis nüt der schönen Maria Naryschkin, zeigte
sich aber in der Frage der Ehescheidung überaus streng kirch-
lich gesinnt, als sein Bruder Konstantin sich von seiner Ge-
mahlin, der sachsen-koburgischen Prinzessin Julie Henriette
trennen und die polnische Gräfin Johanna Grudzynska heiraten
wollte. Erst nach vielen Schwierigkeiten erreichte Großfürst
Konstantin sein. Ziel.
Nikolaj II. hat seinen Oheim Paul Alexandrowitsch aus
Rußland verbannt, weil dieser sich mit einer geschiedenen
Frau vermählte; und das gleiche Schicksal traf den Groß-
fürsten Kyril Wladimirowitsch, der die geschiedene Großher-
zogin von Hessen heiratete. In allerjüngster Zeit hat jedoch
eine offenbare Umwandlung der Anschauungen des regierenden
Kaisers stattgefunden: Großfürst Paul wurde begnadigt, und
Großfürst Kyril erhielt nicht bloß alle seine Würden zurück,
sondern seine Gemahlin wurde auch zum Range einer russi-
schen Großfürstin erhoben; und als schließlich sich die Frau
des Herzogs Peter Nikolajewitsch von Leuchtenberg, eine mon-
tenegrinische Prinzessin, eigens von ihrem Manne schied, um
den Großfürsten Nikolaj Nikolajewitsch den Jüngeren zu hei-
— 411 —
raten, gab Kaiser Nikolaj dazu ausdrücklich seine Zustimmung
und seinen Segen.
Schwerer als der Herrscher hatte es der gemeine Sterb-
liche in Rußland, wenn er sich von seiner Frau scheiden lassen
wollte. Gesetzlich war nur in wenigen Fällen die Wieder-
verheiratung nach der Scheidung gestattet; so gab es im sech-
zehnten Jahrhundert folgende legalisierte Sitte : Wenn jemand
auf den Tod krank gelegen war und die letzte Ölung erhalten
hatte und dann gesund wurde, so trug er bis an sein Ende
ein schwarzes Gewand nach Art der Mönchskleider; er galt
als ausgeschieden aus dem weltlichen Leben, und seine Frau
durfte sich mit einem anderen Manne verheiraten, i) Das
Strafgesetzbuch Nikolajs I. setzte in neuerer Zeit fest 2): „Der
zu Zwangsarbeit verurteilte Verbrecher und der auf Ansiedelung
in Sibirien Verbannte verlieren ihre Familien- und Eigentums-
rechte. Der Verurteilte verliert seine Rechte als Ehegatte,
ausgenommen, wenn der andere Ehegatte ihm freiwillig in
die Verbannung folgt. Der Gatte, der dem Verbannten nicht
in die Verbannung folgt, darf um gänzliche Trennung der Ehe
bei seiner geistlichen Behörde ansuchen. Die Trennung der
Ehe ist auch im Falle des Folgens in die Verbannung dann
gestattet, wenn der Verbannte durch ein neues Vergehen eine
neue Verurteilung, die ebenfalls Auflösung der Familienrechte
nach sich zieht, veranlaßt. Falls der Verurteilte vom Monar-
chen begnadigt wird oder ein neues Urteil das alte umstößt,
dann besteht die alte Ehe fort, vorausgesetzt, daß vom an-
deren Teil nicht unterdessen die Trennung der Ehe beantragt
worden ist.** Wer auf solche *Ehescheidungsmittel nicht war-
ten will, ist ganz auf die Entscheidungen der Kirchenjustiz
angewiesen. Die Orthodoxie nimmt in dieser Frage, wie Leroy-
Beaulieu^) richtig gesagt hat, den Platz zwischen Katholiken
und Protestanten ein. Mit der Abneigung der ersten Christen
gegen die Erneuerung des Ehebundes ließ die orientalische
*) Karamsin, IX 311.
-) Strafgesetzbuch des Russischen Reichs promulgiert im Jahre 1845,
§§ 29. 30. 31.
^) Das Reich der Zaren, III 145, 146.
— 412 —
Kirche bei den Laien i) eine zweite und dritte Vd-heiratung zu,
wobei sie bloß anordnete, daß die zum zweiten Male Ver-
heirateten zwei Jahre, die ^um dritten Male Verheirateten zwan-
zig Jahre lang nicht in die Kirche Eintritt erhalten sollten.*)
Einer vierten Ehe verweigerte die Kirche ihren Segen. Diese
Kirchengesetze begünstigten in erster Linie Witwer und Wit-
wen, deren Ehe der Tod gelöst hat. Schwieriger ist die Wieder-
verheiratung eines geschiedenen Gatten, schwierig die Schei-
dung selbst. Die griechisch-russische Kirche faßt gleich dem
Katholizismus die Ehe als ein Sakrament auf und erklärt sie
im Prinzip für unlöslich; aber gleich dem Protestantismus ist
sie der Ansicht, daß die Untreue eines der Gatten dem andern
Teile das Recht zur Scheidung gebe; denn ihren Überliefe-
rungen zufolge ist der Ehebruch der Tod des Ehebundes, und
die Verletzung des Gelöbnisses hebt das Sakrament auf. Die
russische Kirche gestattet dem ehrverletzten Gatten, eine neue
Verbindung zu schließen, aber sie verbietet sie demjenigen,
welcher in der ersten die Treue brach. In Rußland, wo es
für die Orthodoxen keine andere als die kirchliche Trauung
gibt, ersetzt die kirchliche Gerichtsbarkeit auf diesem Gebiete
die bürgerliche. Ein großer Übelstand haftet ihr an: sie
leistet nicht selten betrügerischen Kompromissen und schimpf-
lichen Kaufgeschäften Vorschub. Das weltliche Gesetzbuch
hat in eigentümlicher Weise das kanonische verändert und
verdreht. So kommt es nicht selten vor, daß Männer sich des
von ihrer Frau begangenen Verbrechens schuldig bekennen
und der letzteren noch behilflich sind, ihren Buhlen zu heiraten.
In der vornehmen Welt verfährt ein Ehrenmann auf diese
Weise, ohne daß man Anstoß daran nimmt, ja, man hat aus
einem derartigen Vorgehen fast eine Regel des guten Tones
gemacht. Können die Gatten nicht miteinander auskommen,
so ist es Sache des Mannes, wenn der Fall eintritt, alle Schuld
auf sich zu nehmen; er muß sich nach Bedürfnis in flagranti
erwischen lassen und selbst, sollte es nicht anders gehen, vor
1) Den Popen ist in keinem Falle eine zweite Khe gestiittet.
2) Mayerberg, I 137. Dies wurde im siebzehnten Jahrhundert streng be-
obachtet; die Betreffenden mußten im Vorhaus der Kirche bleiben.
— 413 —
Zeugen eine Ehebruchskomödie aufführen. Viel seltener ist
es die Frau, welche sich opfert und die Schande des Ver-
brechens, welches sie gar nicht begangen hat, auf sich ladet.
Einige tun es aus Ergebenheit, andere aus Habsucht. Man
erzählt beispielsweise, daß in der Handelswelt reiche Witwen
auf solche Weise vermögenslosen Frauen einen Mann nach
ihrem Geschmack abgekauft haben. Eine Komödie von
Ostrowsky, „der Schöntuer**, behandelt diesen Gegenstand.^)
Die Andersgläubigen haben es in Rußland besser. Den
kaukasischen Bergjuden, den Juden in Zentralasien, den Mos-
lems ist die Polygamie gestattet. Die Protestanten und Katho-
liken können nach ihren Kirchengesetzen verfahren. Noch
weniger kümmert man sich um die heidnischen Völker oder
um jene, die zwar nominell Christen sind, aber noch nach
ihren alten heidnischen Sitten leben. Wenn der Tschuwasche
an der Wolga sich von seiner Frau scheiden will, so schneidet
er ihren Surban (den Schleier) mitten durch, und sie muß ohne
Widerspruch von dannen gehen. 2) Auch den Kalmücken
macht die Ehescheidung keine Sorgen: „Ist der Mann mit
seiner Frau nicht zufrieden, so verläßt er sie, und sucht sich
eine andere, ohne daß er für dies Verfahren verantwortlich
gemacht werden kann. Die verstoßene Frau hat indessen
ebenfalls das Recht, eine andere Verbindung einzugehen.
Solche Ehescheidungen ereignen sich bey der leichtsinnigen
Denkungsart der Kalmüken nicht selten. Mancher Kalmük
wechselt auf diese Weise in kurzer Zeit 2, 3 und mehrere
Weiber. Das kalmükische Gesetz setzt dergleichen Eheschei-
dungen keine Gränzen.**^) Und von den Giljaken auf der
Insel Sachalin erzählt man:^) „Le mariage se d^fait aussi
facilement qu'il a 6te conclu; un mari peut renvoyer sa femme
et r^clamer la reddition de la dot, un p^re qui trouve sa fille
mal nourrie peut la reprendre en rendant Targent regu. Les
enfants appartiennent alors au pere.** Schlecht hat es eigent-
1) Leroy-Bcaulieu, III 147.
2) Pallas, Merkwürdigkeiten, S. 26.
^) Bergmanns Nomadische Streifereien, III 152.
') Paul Labbc, Un bagne russe, p. 169.
— 414 —
lieh nur die Witwe bei den Osseten. Diese darf nicht wie-
der heiraten, gleichwie das Pferd eines verstorbenen Osseten
von keinem anderen bestiegen werden soll. Pferd und Witwe
eines Osseten werden bei dessen Begräbnis dreimal um das
Grab herumgeführt zum Zeichen, daß sie des Verstorbenen
Eigentum bleiben und an niemanden übergehen können. So
berichtete Baron Haxthausen. Nach den Feststellungen von
Dschantemir Schanajew und Wßewolod Miller kann die osse-
tische Witwe jedoch heiraten, und zwar: wenn sie Kinder
hat, nur den Bruder ihres verstorbenen Gatten, niemals einen
Fremden, und die Kinder der zweiten Ehe gelten in solchem
Falle als Kinder der ersten Ehe; ist die Witwe kinderlos, so
kann sie heiraten wen sie will, doch muß ihr zweiter Mann
die Hälfte des Kaufpreises, den für sie ihr erster Mann gegeben,
an die Familie des letzteren zurückzahlen. Scheidungen kom-
men bei den Osseten seltener vor als bei den übrigen Kaukasiern.
Bei den Tscherkessen scheidet man sich beispielsweise auf-
fallend viel. Der Mann schickt die Frau dann einfach ihren
Eltern heim. Hat die Frau an der Trennung keine Schuld,
dann braucht ihr Vater den Kaufpreis nicht zurückzuerstatten.
Innerhalb eines Jahres kann der Mann seine verstoßene Frau
jederzeit wiederverlangen; nach Ablauf des Jahres aber muß
er einen neuen Kalym bezahlen, wenn er sich mit seiner Gat-
tin neu vereinigen will.
Wenn sichs nun aber die Katholiken, Protestanten, Mos-
lems, Juden und Heiden in Angelegenheiten der Ehescheidung
gar bequem machen wollen, so brauchen sie bloß zur Ortho-
doxie überzutreten. Im Augenblick, da dies geschieht, gilt
ihrer aller Ehe sofort als Konkubinat und zählt nicht. Tritt
ein Mann oder eine Frau zur Orthodoxie über, so ist die
alte Ehe von selbst gelöst, die Gattin verliert ihre legitimen
Rechte, die Kinder sind Bastarde. Treten beide Gatten gleich-
zeitig zur Orthodoxie über, so müssen sie einander nochmals
heiraten.
Die Russen kämpfen seit langen Jahren für Scheidungs-
freiheit und das Recht der Wiederverheiratung auch des schul-
digen Gatten. Die Kirche scheidet gewöhnlich nur wegen
Bigamie, Impotenz und Ehebruch, das bürgerliche Gesetz, wie
— 41B —
gesagt, bloß wegen Verurteilung zu Zwangsarbeit und Verban-
nung. Nur in den beiden letzten Fällen ist das Verfahren ein-
fach, sonst aber kostspielig und langwierig, so daß es in
Rußland unter den Russen durchschnittlich bloß tausend Ehe-
scheidungen im Jahre gibt. Den Scheidungslustigen ortho-
doxen Glaubens winkt jedoch eine bessere Zukunft. Im
April 1907 ist vom Oberprokureur des Heiligen Synod,
Iswolskij, eine neues liberales Ehegesetz dem Senat unter-
breitet worden, das auch bestätigt werden wird. Die Schei-
dung soll diesem Projekt zufolge verbilligt und erleichtert
werden. Außer den alten Gründen: Bigamie, Ehebruch, Im-
potenz, Unfruchtbarkeit der Frau, körperlichen Gebrechen, Kri-
minalverbrechen (welche Zwangsarbeit und Deportation nach
sich ziehen), sind neue Scheidungsgründe möglich: „Wenn
einer der Ehegatten den orthodoxen Glauben wechselt und
aus der Landeskirche austritt, können sich die Gatten scheiden
lassen und neue Ehen eingehen. Wenn die Gatten sich in
gegenseitigem Einvernehmen trennen, können sie sich beide
nach Ablauf eines Jahres scheiden lassen und dürfen sich beide
von neuem verheiraten. Geschieht die Trennung ohne gegen-
seitige Einwilligung, verläßt der eine der Gatten den anderen
böswillig, so wird die Scheidungsfrist auf drei Jahre verlängert,
es sei denn, daß inzwischen die Zustimmung des anderen Gatten
erfolgt ist. Tritt nach wenigstens dreijähriger Ehe bei Mann
oder Frau ein körperliches Gebrechen ein, welches das eheliche
Zusammenleben oder die Kinderzeugung unmöglich macht,
wird ferner der eine oder der andere der Gatten von Irrsinn
oder von Schwachsinn befallen, so kann auf ein ärztliches
Zeugnis hin die Ehe ohne weiteres geschieden werden.**
— 416
45- Ehebruch.
Ehescheidung und Ehebruch — Der Ehebruch beim Baoemvolk — Die wilde
Ehe in den höheren Klassen — Gesellschaftliche Toleranz — Historische Ehe-
bruchs-Affären — Der gehörnte Morosow — Eheiming der Zarinnen Maria
und Natalia — Peter der Große auf der Suche nach seinem Vater — Der Spaljnik
der Zarin Praskowja — Wie Peter der Große über Ehebruch denkt — Wie er
in eigener Sache mteilt — Ehebruch et^-as Alltägliches — Gesetze über Ehe-
bruch der Leibeigenen — Peters populäre Erklärung des Ehebruchs — Strafen
für Ehebrecher im Gesetzbuch Nikolajs — Zaubermittel zur Sicherung der
Treue und Entdeckung der Untreue — Bestrafung der Ehebrecherin durch das
Bauemgericht — Lynchjustiz in Zdj\zyn — Strafe bei den Kosaken und in
Polen — Keuschheitsgürtel der Polinnen und Samojedinnen — Ehebruch bei
den Esten und Letten — Bei den Wotjäken — Bei den Kamtschadalen ist nur
der' Mann strafbar — Duell der Kurilen — Sitte der Kalmücken, Kirghisen
und Kaukasier.
Die Folgen der russischen Ehegesetze, die eine Scheidung
so schwer und eine Wiederverheiratung kaum möglich ma-
chen, waren für die öffentliche Sittlichkeit wahrhaft verhäng-
nisvoll. Die vielen Sekten, die die Ehe verabscheuen, ver-
danken der Härte der Kirchengesetze und dem Mangel einer
Zivilehe ihren Ursprung. Die wilde Ehe hat nirgends soviel
Anhänger als in Rußland. In den unteren Volksschichten sieht
man im Ehebruch und im Zusammenleben in wilder Ehe nichts
Schändliches. Der Muschik ist dazu förmlich gezwungen. Der
Mann muß aus dem Dorfe hinaus, um in der Stadtfabrik als
Arbeiter das Brot zu verdienen, die Frau bleibt zu Hause ; jeder
Teil verliert den anderen auf Monate, auf Jahre aus den Augen,
macht Bekanntschaften, führt mit einem anderen Manne oder
Weibe gemeinsame Wirtschaft; Scheidung und Wiederverhei-
ratung sind fast ausgeschlossen, also bleibt nichts anderes
übrig als die wilde Ehe.
In den intelligenten Gesellschaftskreisen sind nicht die
gleichen Ursachen vorhanden, aber das Resultat ist dasselbe.
Man heiratet leichtfertig, auf das Wort und das Gelöbnis legt
man keinen Wert, und was man gestern beschworen hat,
das bricht man heute leicht in aller Gemütsruhe. Gestern
glaubte man, daß man zueinander passen könnte; heute ist
man vom Gegenteil überzeugt : kurz entschlossen geht man
— 417 —
auseinander. Scheidung ist schwierig, Wiederverheiratung un-
möglich; also sind die Folgen: freie Liebe und wilde Ehe.
Jeder Teil geht seinen Weg und keiner stört den anderen.
Die wilden Eheleute genießen in der besten Gesellschaft das
gleiche Ansehen wie die legitimen Paare, und es wird nieman-
dem einfallen, etwa eine Dame, die gestern mit ihrem legi-
timen Gatten vorgesprochen hat, heute nicht zu empfangen,
weil sie mit ihrem Liebhaber kommt. Sie kann ruhig in den
alten Häusern verkehren, in denen sie bisher erschienen ist;
keine Tür wird sich ihr bloß deshalb verschließen, weil sie
eine Ehebrecherin ist.
Der Wiener Prälat Faber, der sich im Jahre 1525 von zwei
in Europa weilenden Russen manchen Bären aufbinden ließ,
hat sich von ihnen damals auch erzählen lassen, daß die
Russen vor dem Ehebruch einen größeren Abscheu haben als
die Westeuropäer, und daß sie ihn als den ärgsten Greuel
verfolgen und verwünschen. Der leichtgläubige Prälat ist in
dieser Beziehung unglaublich frech angelogen worden. Der
Ehebruch war damals wie jetzt den Russen ein gewohnheits-
mäßiger Greuel. Der Unterschied zwischen damals und jetzt
besteht nur darin, daß in den Zeiten des Terem den Frauen
die Gelegenheit nicht immer günstig war. Dennoch sagt
selbst der russische Historiker i) von den Sitten jener Epoche:
„Ungeachtet des Verschließens der Frauen gab es doch Bei-
spiele von Untreue, und dies desto natürlicher, da gegen-
seitige Liebe an den Ehebündnissen keinen Teil hatte, und
die Männer adligen Geschlechts im Dienste des Großfürsten
standen und selten zu Hause lebten.**
Auch die zarischen Damen werden ausnahmslos ehe-
brecherischer Handlungen beschuldigt. Boris Morosow, der
Günstling und Schwager des Zaren Alexej kann ein Lied davon
singen. Ein zeitgenössischer Reisender 2) erzählt: „Boriß
war alt und sehr Jaloux / seine Frau jung und sehr schön / es
kam ein Mißverständnis unter sie / er tractirte sie übel / und
') Karamsin VII 172.
'^) Reise nach Norden, S. 134.
Stern, Geschichte der Oflfeatl. Sittlichkeit in Rußland. '* 27
- 418 —
ließ den William Barnsley einen Engelländer aus der Provinz
Worchester / in Syberien verweisen / weil er ihn wegen allzu
grosser Gemeinschafft mit ihr in Verdacht hatte. Barnsley
ist in diesem Elend 20. Jahr verblieben / und endlich zu einer
reichen Heyrath gekonjmen / nachdem er den Rußischen
Glauben angenommen," Morosow tröstet sich damit, daß es
seinem Schwager, dem erhabenen Zaren, nicht bloß mit seiner
ersten Gemahlin, Maria Miloslawskij, der Schwester der Frau
Morosow, sondern auch mit der zweiten Gattin, dem Muster
aller Tugenden, der Mutter Peters des Großen, Natalia Kyri-
lowna Lopuchin, nicht besser ergangen ist.
Es ist bezeichnend für das Leben, die Sitten und die Moral
jener Zeit, daß man niemals erfahren hat, wo eigentlich der
größte Russe aller Zeiten, Peter der Erste, geboren worden
ist. Ist sein Geburtsort der Kremlj von Moskau? Ist es das
Nachbarschloß Kolomenskoje ? Oder Ismailow? Man weiß
es nicht. Aber man weiß noch manches andere nicht. Peter
ähnelte weder seinen Stiefbrüdern Feodor und Iwan, noch
seiner Schwester Sofia, noch seinem Vater Alexej. Als Peter
zur Welt kam, war Zar Alexej ein todkranker Mann, und kurz
darauf starb er; konnte dieser Schwächhng einen so kräftigen
Sohn zeugen ? Die Zeitgenossen haben deshalb Peter gar nicht
als Sohn Alexejs anerkannt, sondern fast übereinstimmend er-
zählt, daß Zarin Natalia ein schwächliches Mädchen geboren
hatte; an dessen Stelle wurde Peter, Sohn eines deutschen
Chirurgen untergeschoben. Peter der Große sdbst hat diese
Mutmaßung verspottet; er glaubte nicht an diese Unter-
schiebung. Dies geht aus einer ganz merkwürdigen Episode
hervor: Eines Tages, da man heiter zecht, fährt der Kaiser
jäh von seinem Platze empor, zeigt auf Iwan Mussin-Puschkin
und sagt: ,,Der da weiß wenigstens, daß er der (uneheliche)
Sohn meines Vaters (des Zaren Alexej) ist. Aber wessen Sohn
bin ich?" Und plötzlich packt er den Höfling Tichon Niki-
tisch Streschnjew an der Brust und schreit: „Bin ich viel-
leicht dein Sohn, Tichon Streschnjew ? Hast du mich gezeugt ?
Gehorche, sprich ohne Furcht! Sprich, oder ich erwürge dich !"
— Tichon sinkt in die Knie und stammelt: „Gnade, Väter-
r
— 419 —
chen, Gnade, ich weiß nicht, was ich antworten soll — ich
war nicht der Einzige 1**^)
Der Zar Iwan Alexejewitsch, Peters Mitregent und Stief-
bruder, war vollkommen impotent. Die Staatsraison verlangte
nichtsdestoweniger, daß er verheiratet sei und Kinder habe.
Man gab ihm zur Gemahlin ein Mädchen aus einer vornehmen
Familie, Praskowja Ssoltykow; um den Zweck dieser Ehe zu
erreichen, ernannte man zum Kammerherrn der Zarin den
Edelmann Wassilij Juschkow, einen robusten Burschen, und
machte so wenig Hehl aus den erhabenen Absichten, daß man
dem Kämmerer den Spezialtitel eines Spaljnik (cnajibHHin»,
dem Schlafzimmer zugeteilt) verlieh. 2) Juschkow entsprach
aber nicht vollständig dem in ihn gesetzten Vertrauen. Pras-
kowja gebar keinen Sohn, sondern bloß Töchter: die Prin-
zessin Katharina, spätere Herzogin von Mecklenburg; und die
Prinzessin Anna, spätere Herzogin von Kurland, und nach
dem Tode Peters II. Kaiserin von Rußland.
Ehebiuch auf dem Throne ist also förmlich Hausregel,
unter Umständen Staatsnotwendigkeit. Daß Peter der Große
sich keineswegs kränkte bei dem Gedanken, nicht dem er-
lauchten Romanowschen Stamme entsprossen zu sein, wissen
wir. Sein Gewissen beunruhigt ihn durchaus nicht, es macht
ihm keine Skrupel, daß er eigentlich ein Usurpator. Er
betrachtet auch vom Standpunkt des Gesetzgebers Ehebruch
nicht als strafbar. Den Kindesmord bedroht er durch ein
besonderes Gesetz mit Todesstrafe, aber bei dieser Gelegenheit
äußert er seine lebhafte Verwunderung darüber, daß Karl
der Fünfte eine gleich schwere Strafe für Ehebruch festzu-
setzen wagte; „hatte Karl zu viel Untertanen?** fragt er. 3)
Er seinerseits ordnet im Artikel 3 des dritten Kapitels seines
Kriegsreglements bezüglich des Ehebruchs nur folgendes an:
„Der Ehebruch soll je nach den Rechten der Nation, welcher
der Beschuldigte angehört, gestraft werden.** Einmal aber, im
1) Vgl. Band I, S. 191 und 471. — Ferner: Waliszewski, Pierre le Grand,
p. 5. — Vockerodt bei Hermann, Zeitgenössische Berichte.
2) Dolgoroukow, Memoires I 34. — Waliszewski, L'h^ritage de Pierre le
Grand, 163.
•') Stählins Anekdoten, S. 333.
; '
— 420 —
Jahre 1724, uird doch seine präzise Entscheidung in cin^z
Ehebnichsaffäre verlangt, die in Moskau großes Aufsehen
macht: und da fallt er ein salomonisches Urteil^ : Fines
betagten vornehmen Russen junge und schöne Ehegattin lebte
mit einem anderen in ungeziemender X'ertrauhchkeit. Diese
aber wurde einst durch des Gatten unerwartete Dazwiscfaen-
kunft so plötzlich gestört, daß der Buhle in der Besrürzung^
stan seiner eigenen Beinkleider, in denen sich eine goldeoe
Repetieruhr, eine schwere Goldbörse imd andere Kostbarkeiten,
befanden, die Hosen des Geprellten ergriff. I>ieser fand di«
Beute, faßte aber die vernünftige Entschließung, der kost-
baren Hose zuliebe seinen \'erdruß und Schimpf 5tiIIschweigeii<i
zu verbeißen. Nicht so zufrieden mit dem Tausch war der
verliebte Flüchtling; ihm war dsr \'erlust seiner Hcse so emp-
findlich, daß er kurz darauf den Alten, als dieser aus der
Kirche trat, in eine Ecke führte, ihm Hände imd Füße küßte
und ihn sowohl um \'ergebmig des Vergehens als um ^c
Auslieferung der im Stiche gelassenen Hose ersuchte. E>er
weise Alte aber schalt d«i Bitt«iden einen Unsinnigen, der
nicht wüßte, was er redete, rühmte die junge Frau, seine Gattin,
als ein Muster der Tugend und ehelichen Treue, und lieö
den Jüngling stehen. Dieser warf sich darauf zu des Kaisers
Fü£en. beichtete alles offenherziz und bat um sxädrge Hilfe.
.\llein der Zar spricht dieses Urteil: ..Einem Ehemanne gehört
alles, was er auf seinem Eiiebette findet."
Nicht humoristisch nimmt Peter es allerdings auf. wenn ihn
selbst das Unglück trifft. Seine Moral imd sein Ehxgefiihl rwar
fülilen sich auch dann nicht getroffen, aber seine Eirelkrrr
wird verletzt, und dies fordert Genugtuung. Feter hat seine
erfte Gemahlin Fewdokia ins Kif>ster verbannt, und al.5 vii-e
:ui:<e Frau dort rrfr dem Ma*or Girrfww ein Liebesverhältnis
anknüpft. i»-ird der verwegene Offizier zum Tode venirteiLt.
die verstoßene Zarin gepeitscht und gemartert. Peter hat
sich :r. ra-eiter Ehe niit Katharina verheiratet, di-^ 5.:hoc durjb.
so vi*rl^ Hände zetranzen und leirwetliz ^in.^ ottent^-rbe Hure
ge'^fsen; und dann ist er erstaunt, daß sie mn >e.rst auch
— 421 —
betrügt. Von manchem weiß er nicht, aber mit William Mons
findet er sie im Bette, und ohne sich um seine sonstigen An-
sichten über Ehebruch im allgemeinen zu kümmern, läßt er
den, der sich gegen ihn, den Zaren vergangen hat, köpfen;
auch Katharina zu züchtigen, bleibt ihm keine Zeit, da er zu
schnell stirbt. Peter duldet nicht einmal bei seinen Maitressen
eine Extratour, während er sich selbst jede Untreue vergönnt ;
dem Zaren ist alles gestattet; hat ja doch schon ein byzanti-
nischer Patriarch den Ehebruch Kaiser Konstantins mit den
Worten gerechtfertigt: „Den Herrschern ist es erlaubt, sich
auch über die göttlichen Gebote hinwegzusetzen." An diesen
gefälligen Byzantiner halten sich die späteren russischen
Herrscher und namentlich die Herrscherinnen, wie wir es auch
im Kapitel über die Unsittlichkeit am russischen Hofe erfahren
werden.
Das gemeine Volk macht natürlich noch weniger Um-
stände. Baron Mayerberg i) erzählt aus der Zeit des Zaren
Alexej : „Die Frauen des niedrigen Volkes sind nicht so ein-
geschlossen in ihre Häuser, sie haben stets tausend Ausreden
um hinzugehen, wo es ihnen gefällt. Sie gehen besonders in
die Schenken und treffen dort ihre guten Freunde, mit denen
sie um die Wette trinken. Beim Saufen verlieren sie alles
Schamgefühl, sie ergeben sich ihren Geliebten aus Liebe oder
opfern sich für eine kleine Entlohnung. Die Russen sehen
es für einen groben Irrtum an, wenn man den Verkehr eines
Ehemannes mit einem Mädchen als Ehebruch bezeichnet; ihrer
Ansicht nach tritt erst dann ein Ehebruch ein, wenn beide
Personen verheiratet sind.** Ähnlich lautet hundert Jahre
später die Schilderung eines deutschen Offiziers 2): „In dem
rußischen Reiche scheint das sechste Gebot sehr überflüßig zu
seyn. Man hört hier in den Gerichten gar selten Klagen über
Hurerey und Ehebruch, und es scheint, als ob nur blos die
Ausländer diesen Ausschweifungen ergeben sind, und dieser-
1) Voyage en Moscovie, Neudruck I 140.
2) Rußische Anecdoten, oder Briefe eines teutschen Offiziers, S. 88.
Man lese über diesen von mir mehrfach zitierten Autor die Mitteilungen von
Bilbassow (Katharina II. im Urteile der Weltliteratur, I 37), der die Anek-
dDtcn eine der interessantesten Quellen für die Geschichte jener Zeit nennt.
— 422 —
wegen hin und wieder vor das teutsche Justitz-Collegium, als
ihr Forum competens, Klagen führen. Der gemeine Mann
folgt hier blos den Trieben der Natur, und ob sie sich gleich
noch mit mehr Ceremonien verheyrathen, als bey uns, so
binden sie sich doch an diesen heiligen Contract so wenig,
daß sie nach Gefallen selbst da rinn Öftere Veränderungen
treffen, ohne die Richterstuben damit zu belästigen. Ein
Mann prügelt seine Frau aus dem Hause; sie begiebt sich in
ein ander Quartier der Stadt, und läßt sich einem andern
antrauen; dieser jagt sie wieder fort; sie nimmt den dritten;
der läuft endlich davon, und läßt sie sitzen; sie verträgt sich
darauf wieder mit ihrem ersten Mann, und sie leben ver-
gnügt mit einander. Die Weiber der Soldaten, die mit zu
Felde ziehen, haben unterdeß mehre ntheils andere Männer
genommen, mit denen sie jährlich Kinder gezeugt : Wenn
nun der erste und rechte Mann gesund aus Teutschland wieder
kommt, so hat er nur zwey Wege für sich; entweder er jagt
seinen Vicarium zum Hause hinaus, und behält seine Frau
nach wie vor, oder er nimmt sich auch selbst eine andere."
Ich habe schon früher erwähnt, daß der Ehebruch keiner
gesetzlichen Strafe unterlag; nach dem Gewohnheitsrecht und
nach den kirchlichen Gesetzen strafte man zuweilen die Frau
am Leben, den ehebrecherischen Mann aber im allgemeinen
gar nicht. Das Gesetzbuch des Zaren Alexej kennt in allen
fünfundzwanzig Kapiteln keinen Artikel, der sich auf Ehe-
bruch bezieht. Nur zwei Paragraphen, die von Leibeigenen
handeln, haben im Interesse der Herren annäherungsweise die
Frage behandehi): ,,Wenn jemand mit einer Magd, sie sey
ein Weib, oder Mägdgen, in seinem Hause hurete, und Kinder
mit ihr zeugete, die Magd aber desfals über ihn klagen würde,
so sollen beyde Partheyen in Moscau in des Patriarchen, und in
denen Land-Städten in derer Metropoliten und Ertz-Bischöffc
Cantzeleyen geschickt, und die Sache durch das geistliche
Gericht, nach denen Reguln der Apostel und Heiligen Väter,
und nach ihrer beyden Beicht-Väter Befragung, entschieden
werden. Wann ein verheyratheter alter leibeigener, oder sonst
M Striiwcns Riiwischcs l^ndreclit, XX So und «4 (S. 195. igfi).
w
— 423 —
fester Knecht entlieffe, seine Frau verliesse, und eine andere
nähme, mit Verschweigung seiner erstem, hernach aber wieder
zu seinem alten Herrn käme, oder von ihm ertappet und wegge-
nommen würde, so soll er nach, wie vor, mit seinem ersten
Weibe bey ihm bleiben. Die andere Frau aber behält der-
jenige bey sich, in dessen Diensten er sich mit ihr verheyrathet.
Wäre aber die erste Frau inzwischen gestorben, so soll ihm die
andere zu seinem vorigen Herrn folgen. Eben also soll es auch
mit denen Mägden gehalten werden, wenn sie ihre Männer
verliessen, und sich an andere verheyratheten.** Man sieht
also deutlich, wie der Gesetzgeber bestrebt ist, das Menschen-
Eigentum des Sklavenhalters zu sichern. Die Schändlichkeit
des Ehebruches kommt gar nicht in Betracht. Von Peter
dem Großen haben wir /schon vernommen, wie er über die
Sache dachte. Er fühlte aber doch, daß er dem Volke, das
er zivilisieren wollte, einfe gewisse Anleitung zur Moral geben
mußte. Auf seinen Befel^l wurde denn in Druck gegeben ,,Eine
kurtze Erklärung der zehen Gebote**. In einer solchen Erklä-
rung konnten das siebente und zehnte Gebot nicht totge-
schwiegen werden. Man lese Peters Kommentare; zunächst
die „Erklärung des siebenden Gebots. Frage: Was befiehlet
GOtt im siebenden Gebote? Antwort: Er verbietet den Ehe-
bruch. — Frage : Was Ist der Ehebruch ? Antwort : Der eigent-
liche Ehebruch ist, wann ein Mann mit eines andern Weibe,
oder ein Weib mit einem andern Manne sich fleischlich ver-
mischen: und dieses wird vor andern in diesem Gebote unter-
saget, dabey aber auch alle andere Unreinigkeit des Fleisches
und Hurerey. — Frage: Ist es dann Sünde, seinem eigenen
Weibe fleischlich beyzuwohnen? Antwort: Dieses ist ein ohn-
sündliches und ehrbares Werck, als welches GOtt selbst ein-
gesetzet hat, zu Vermehrung des menschlichen Geschlechts,
und gemeinschafftlicher Hülffe in diesem Leben. Es bestehet
aber die Pflicht angetrauter Männer und Weiber darinne, daß
sie sich einander lieben und ehren, vor die Haußhaltung, wie
auch Unterweisung und Erziehung ihrer Kinder gemeinschafft-
lich Sorge tragen, ingleichen die Treue ihres Ehe-Bettes der-
gestalt bewahren, daß weder der Mann mit einem fremden
Weibe, noch das Weib mit einem andern Manne sich ver-
f
1
i;
— 424 —
mische; ferner, daß sie, ausser ihrer rechtmäßigen ehehchen
Beywohnung, keine andere fleischhche Wollüste treiben. Denn
alle dieselbigen, ausser besagter ehelichen Beywohnung alleine,
sind Sünden wider dieses Gebot. Über dieses sündigen auch
diejenigen gegen dieses Gebot, welche sich davor nicht hüten,
was zu verbotener Lust und Hurerey reitzet : als da sind buhle-
rische Blicke, Berührung, schandbare Worte, und desgleichen."
— In der „Erklärung des zehenden Gebots** heißt es: „Was
befiehlet GOtt in diesem Gebot? Antwort: Er verbietet die
unrechtmäßige Begierde, und befiehlet uns,* dasjenige, was
er uns in denen vorhergehenden fünff Geboten mit Worten
und Wercken zu erfüllen aufgegeben, auch in unserm Hertzen
zu wünschen und zu verlangen: hingegen dasjenige, was er
uns in gedachten Geboten mit Worten und Wercken zu thun
verboten, auch nicht zu wünschen oder zu verlangen: damit
ein jeder Mensch alles, was ihm nicht gehöret, allein nicht
rauben, oder auch auf eine oder andere Art, wie sie auch
Nahmen habe, zu sich reissen, sondern sich solches auch nicht
einmahl wünschen möge. — Frage : Wie kan man dann dieses
Gebot mit denen fünff vorhergehenden zusanunen setzen?**
Hierauf erfolgt in bezug auf das siebente Gebot die Antwort :
„Im siebenden Gebot verbietet er die Gemeinschafft eines
fremden Ehe-Bettes : hier aber verbietet er, daß man auch im
Hertzen keine fremde Frau begehren solle. Dieses gehet auch
die andern Unreinigkeiten an.'* —
Im achtzehnten Jahrhundert wurde die ehebrecherische
Frau, wenn der Mann sie zur Rechenschaft zog, bloß in ein
Kloster gesperrt. Erst das Strafgesetzbuch Nikolajs I. hat
der Entführung verheirateter Frauen und der Verletzung ehe-
licher Pflichten einige Aufmerksamkeit geschenkt. Es droht
jenem Strafen an, der eine verheiratete Frau gewaltsam ent-
führt, besonders strenge Strafe aber^): Wenn die gewaltsam
entführte, verheiratete Frau infolge dieses Verbrechens ent-
ehrt oder auf irgend eine Weise gezwungen wird, mit dem
Entführer oder mit einem andern eine gesetzwidrige Ehe cin-
1) Strafgesetzbuch des Russischen Reichs, promulgirt im Jahr iJ<45,
Elfter Abschnitt, §§ 2073 und 2074.
— 425 —
zugehen. Wurde die Frau nicht gewahsam, sondern mit ihrer
EinwilHgung entführt, so ist über den Entführer sowohl als
über die Entführte, auf die Klage des Ehemannes, ein- bis
zweijährige Gefängnisstrafe, und, falls sie den christlichen
Glauben bekennen, auch eine Kirchenbuße zu verhängen. —
Der spezielle Ehebruchs-Paragraph aber ist dieser i): Der Ehe-
gatte, welcher einen Ehebruch begeht, wird, auf die Klage
des beleidigten Gatten, für sechs Monate bis zu einem Jahr in
ein Kloster, wenn ein Kloster seiner Konfession an dem Ort
besteht, oder in ein Gefängnis eingesperrt, und muß sich, falls
er den christlichen Glauben bekennt, einer Kirchenbuße unter-
ziehen. — Wenn der beleidigte Gatte keine Klage erhebt,
und der verübte Ehebruch bei Gelegenheit einer andern ge-
richtlichen Verhandlung an den Tag kommt, so muß das
Zivilgericht den schuldigen Ehegatten dem geistlichen Gericht
zuweisen. — Ist der Ehebruch mit einer ledigen Person be-
gangen, so wird diese, nach Umständen, entweder mit drei
bis sechs Monaten Gefängnis oder mit drei Wochen bis zu
drei\ Monaten Arrest bestraft, und muß sich, falls sie den
christlichen Glauben bekennt, einer Kirchenbuße unter-
ziehen. —
Das gemeine Volk verläßt sich indessen, wenn es sich
überhaupt für Treulosigkeit und Ehebruch interessiert,, nicht
auf diese Gesetze von problematischem Wert, sondern auf
seine abergläubischen Gebräuche; es hat seine Zaubermittel,
um die Treue des Gatten zu erhalten und die Untreue zu er-
fahren 2): Fühlt die Frau, daß der Mann ihr untreu wird,
so schmiere sie den Unbeständigen mit Bärenfett ein, und er
kann nicht mehr an eine andere Frau denken ; wenn sich aber
der Mann die Liebe und Treue seiner Frau sichern will, so
gebe er ihr ein Sperlingsherz zu essen. Wenn der Mann
vermutet, daß seine Frau ihm trotz aller Zaubereien untreu
sei, und nun gern erfahren möchte, mit vTem sie es hält,
so braucht er bloß das Herz einer Eule in ein Handtuch zu
1) Ebenda- § 2077.
2) M 3116^1.111111», jjyfXJKirt Hapo,ii», crp. 406, 407 AsAi 33 n 34: Bopo/Koji
iipoTiiHh lU'Ht.piiocTii (.iH>rM)Baji 3<Mifl); yanaTi. wo cid; o Bt.pH«HTn ;i:t'in.i.
— 42(! —
wickeln und dieses der schlafenden Gattin an die linke Seite
zu drücken, und sofort beginnt sie im Schlafe zu sprechen und
verrät, wo sie überall ohne ihren Mann war und was sie ver-
biochen hat.^} Ist der Mann erst soweit, und will er sich
nun einmal an der Ehebrecherin rächen, dann geht er nicht
zum staatlichen Gericht, um zu klagen, sondern sucht Genug-
tuung beim Wolostgericht, dem Bauemgericht, wo er ohne
langen Prozeß seine Frau beschuldigen und auch gleich mit
zehn bis zwanzig Rutenhieben belohnen kann. Will er ihr
zum Schmerz noch Spott und Schande zufügen, so übt er selbst
an ihr die traditionelle Lynchjustiz. Auch in großen Städten
kommt es vor, daß ein Ehemann seine ehebrecherische Frau
nackt durch die Straßen schleppt, um dem Volke unverhüllt
jenen Teil ihres Leibes zu zeigen, den die Ungetreue selbst
schamlos entweiht hat. 2) In Zarizyn an der Wolga wird die
Ehebrecherin nackt statt der Stute vor den Wagen gespannt
und muß diesen durch die Straßen ziehen; der rachefreudige
Gatte aber sitzt auf dem Bocke und peitscht mit den Rufen :
„Hü, hü, hü, Verdammte! hüI hü! führe meinen Jammer
hinaus!" auf das Weib los. Und dann ziu* Abwechslung schreit
er : „Kaufet die verfluchte Stute ! Wer will sie ? Ich gebe
sie umsonst!" So bestrafte ein bekannter Zarizyner Fuhrmann
<) Ein älmliches südslawisches Mittt-i erwähnt Krauss, Antliropophyteia,
I S : Der Mann kauic einen kleinen Spiegel, ohne beim Kauf zu ft^ilschen, und
abends legt er ihn dem Weib unters Haupt, und sie wird dem Manne im Traume
alles aussagen, was und mit wem sie getrieben.
2) Ein überraschendes Scitcnstüek zu diesem russischen Sittenbild fand
ich im „Jurist. Vadc Mecum für lustige Leute, enthaltend eine Sammlung
juristischer Scherie, witiiger Einfälle und sonderbarer Gesetze, Gewohnheiten
und Rechtshändel", Erster Teil, Frankfurt und Leipzig 1789, S. j, Nr. 4;
, .Seltsam und die guten Sitten beleidigend ist die Strafe, welche in dem alten
lübischen Recht auf den Ehebruch gesetzt ist. Der Ehebrecher soll nemlich an
dem Theile, womit er gesündigt hat, durch alle Winkel und Straßen der Stadt
gezogen werden," ,,Issct,'' sagt das Gesetz, ..dat en Man wert bcgrepen bcy
coes echtes Mannes Wiwe, dat is recht, dat man ehme the by Syncme Dinge,
de Strate up und dall.- Eben diese Strafe diktiert das alte Ripischc Stadt-
recht mit folgenden Worten: „Wer mit eines andern Ehefrau im Ehebruch
ertappt wird, der soll nach dem Hechte dieser Stadt, von der Ehebrecherinn bey
seinem männlichen Cliede durch die StraOen auf und nieder gezogen werden,
und sodann von aller weiteren Untersuchung beircyet scyn."
— 427 —
Iwan Paramono witsch im September 1904 seine Frau für eine
begangene Untreue. Hinter dem sonderbaren Gespann wälzte
sich eine Schar von Männern, Frauen und Kindern. Die
Männer suchten den Antreiber noch anzufeuern: „Nur zu,
Iwan Paramonowitsch, ordentlich! Damit unsere Frauen sich
das auch zu Herzen nehmen!** Die Frauen dagegen weinten
und baten: „Laß sie in Frieden, Iwan Paramonowitsch! Tust
dir ja nur selber Schande an!** Der grimmige Iwan Para-
monowitsch hörte aber nicht rechtshin, nicht linkshin und
hieb auf das Opfer ein, bis das Blut in Strömen floß. Ein-
zugreifen wagte niemand, denn die Sitte ist alt und geheiligt.*)
Die Kosaken in der Ukraine führten früher an der ehe-
brecherischen Frau eine noch furchtbarere Strafe aus; sie
banden sie nackt vor die Mündung einer Kanone und feuerten
sie in die Luft. Diese Sitte soll sich noch in der Form einer
bloßen Schandstrafe erhalten haben : man läßt die Ehebrecherin
in dieser Situation eine Zeitlang ausgestellt. Ein Kosakenlied 2)
erzählt davon :
niÜMajiH coTHHKa y HacTi,
ÜOBeJiH Oro KysaTH
^o aajiianoi rapMaTH.
„ÜToMTe, naHOBe, ne KyMxe:
He MÜH BHna — BAOBHHa, —
Hopny cTCHCKy Tonxajia,
B OKOHeHKO TopKajia.
Weil sie nachts gefunden hatten
Bei Nastasia den Soldaten,
Banden sie das Weib gleich ohne
Faxen schnell vor die Kanone.
„Liebe Herren, laßt mich los:
Meine Schuld ist nicht so groß,
Jene Witwe gab den Rat,
Bracht' mich auf den schwarzen Pfad.**
Bei den Polen züchtigte man in alten Zeiten nicht bloß
die ehebrecherische Frau, sondern auch den ehebrecherischen
^) Nach dem Bericht eines Augenzeugen im ..Hapin;. BIuthuki.".
-) Kov.TTdAta, V 116.
-- 428 —
Mann. Die Methode erinnert an die früher erwähnte russische,
das schuldig befundene Individuum an jenem Teil zu strafen,
mit dem es das Verbrechen begangen : Man schleppte nämlich
den Ehebrecher nackt auf den Marktplatz, stach ihm einen
eisernen Haken durch seinen Hodensack und band das
Opfer so an die Schandsäule an. Zu seinen Händen ließ
man ein scharfes Messer liegen, und der Mann hatte nun die
Wahl. Schmach und Schmerz noch lange zu ertragen und
endlich Hungers zu sterben, oder durch einen schnellen Schnitt,
der ihn allerdings seiner Männlichkeit beraubte, wenigstens
das Leben zu retten. Für ehebrecherische Frauen setzte König
Boleslav von Polen im Jahre 1076 eine nicht minder grausame
Strafe fest : Der ehebrecherischen Frau wurde das Kind, das sie
noch nährte, entrissen und im Walde wilden Tieren vorge-
worfen; dafür mußte sie an ihrer Brust Hunde säugen, und sie
durfte öffentlich bei Todesstrafe nicht anders erscheinen als mit
diesem entsetzlichen Adoptivsäugiing.^) In Polen haben die
Ehemänner auch, wenn sie verreisten, die Treue ihrer Gattinnen
durch Keuschheitsgürtel geschützt.^) Merkwürdigerweise wird
von den Samojeden ebenfalls erzählt, daß sie Keuschheitsgürtel
kannten ä): ,,Sie sind so eyfersüchtig / daß sie ihre Frauen
viel genauer eingeschlossen halten / als man in Italien nicht
thut; Gestalt sie dann /wann sie auf die Jagd ziehen /
Machinen haben / dadurch zu verhindern / daß sie ihnen nicht
untreu werden . . . Wenn einer unter ihnen in Ehebruch
ergrieffen worden ist / wird er gesteiniget."
Von den alten Esten und Letten behauptete ihr Geschichts-
schreiber Thomas Hiärn*): ,,Die Ehsten halten ihr Ehe-Bette
rein und unbefleckt, auch habe ich in Ehstland von ihnen noch
nie gehöret, daß ein Ehe-Weib jemahls des Ehebruches solte
beschuldiget, weniger überwiesen seyn. la da sie noch Heyden
gewesen, und von Gottes- Wort nichts gewust, haben sie doch
') Dictionnaire de la p6nalitC-, I 119.
') Zciclion und Wert der verletzten und unverletzten Jungfrauscliaft.
Berlin 1795. Hier ist aueh die Abbildung eines polnischen Keuschbcitsgiirtcls.
*) Keise nach Norden, S. i(u,
') Lyf-, Killt- und Lettländischc Geschichte, S, 43.
f
— 429 —
den Ehestand geehret, und denselben wol in Acht genommen.
Von der Polygamia, daß ein Mann viel Weiber habe, wie bey
den Juden und Türeken gebräuchlich, haben sie nichts ge-
wust; gestaltsam Einhorn^) solches auch an den Letten
rühmet.** Die guten alten Sitten haben längst schlechten Platz
gemacht. Bei den modernen Esten und Letten unterliegt der
Ehebruch gewöhnlich kaum einer Strafe. Im achtzehnten Jahr-
hundert legte man Ehebrechern wenigstens noch Kirchenbußen,
manchmal sogar Rutenstrafen auf, und die also Bestraften
mußten in der Kirche auf einem besonderen Schemel, allen
Betenden zum Spott, während des ganzen Gottesdienstes sitzen.
Aber Kaiserin Katharina fand solche Bestrafungen zu hart
und befahl durch Ukas vom Jahre 1764 bloße Geldstrafen;
verheiratete Standespersonen, Kaufleute und ändere bemittelte
Bürger zahlten fünf Rubel, geringere Bürger, gemeine und
unbemittelte Leute, sowie Bauern einen Rubel per Ehebruch;
war eine Partei unverheiratet, so hatte sie in der ersten Ka-
tegorie bloß zwei Rubel, in der zweiten Kategorie bloß einen
halben Rubel zu erlegen; der Tarif war für beide Geschlechter
der gleiche.
Bei den Wotjäken darf das Mädchen frei über sich ver-
fügen, die Frau aber ist ihrem Manne treu. Das Mädchen,
sagen die Wotjäken, gehört eben noch niemandem an, und nie-
mand hat daher das Recht, ihr ein geschlechtliches V^ergnügcn
zu verbieten, während die Frau durch die Heirat Eigentum ihres
Mannes wird, der ja auch einen Preis für sie zahlt. 2) Die Kam-
tschadalin, die allein unter allen ihren östlichen Schwestern sich
die Herrschaft im Hause zu sichern gewußt hat, hält es mit
der Ehe, wie es ihr paßt, während der Mann seine außerehe-
lichen Neigungen sorgsam verbergen muß. Der Kamtschadale
1) Historia Lettica, cap. XI, pag. 39.
2) Bechterew bei Max Buch (Die Wotjäken), der hinzufügt: ,, Einen Haupt-
grund dürfte aber wohl die Legalität der Erbfolge abgeben, worauf auch der
WotjÄke hält, denn auch er will sein Gut, meine ich, nicht dem Kinde eines
fremden Mannes überlassen und achtet deshalb auf die Treue seines Weibes;
da aber das sogenannte höhere Gefühl der Liebe der Wotjäkenfrau in der Regel
fremd ist, so verspürt sie auch weiter keine Lust, die Treue zu brechen. Deshalb
ist denn auch die weibliche Treue üblich, ist Sitte geworden."
— 430 —
darf zwar mehrere Frauen nehmen, aber solange er mit diesen
Weibern in ehehcher Gemeinschaft lebt, muß er etwa beliebte
Seitensprünge in aller Heimlichkeit ausführen ; die Weiber treiben
ganz offen unverschämtesten Ehebruch, ohne daß der Gatte
ihnen Vorwürfe zu machen wagt.i) Auf den kurilischen Inseln
in der Nähe von Kamtschatka dagegen muß der Mann, der seine
Frau auf einer Untreue ertappt, der Landessitte gemäß wählen
zwischen dem Verlust seiner Ehre oder seines Lebens. Er ist
gezwungen, den Verführer seiner Frau zum Duell zu fordern,
zu einem Stöckeduell. 2) Tut er es nicht, so gilt er als ehr-
los; tut er es, dann riskiert er leicht sein Leben. Denn die
Duellvorschriften setzen fest: Die ersten drei Schläge darf
der beleidigte Ehegatte geben, hierauf dreschen beide aufein-
ander so lange los, bis einer von ihnen tot zu Boden fällt.
Der barmherzige Gesetzgeber hat jedoch dem Gatten das Recht
eingeräumt, die ihm zugefügte Schmach durch eine anständige
Quantität von Tieren, Kleidern und Mundvorrat sühnen zu
lassen; und da eine solche Abfindung nicht unehrenhaft
und das Duell bis aufs Äußerste immerhin eine bedenkliche
Sache ist, so wird mit einem leichten Stockstreichwechsel den
Regeln der Ritterlichkeit Genüge geleistet und die Affäre fried-
lich beigelegt. Ähnliches, sagen die Bewohner der kurilischen
Inseln, komme auch im zivilisierten Europa vor.
Bei den Kalmücken wird von vornherein ein anderer Fall
als materielle Entschädigung für Ehebruch gar nicht in Betracht
gezogen: Der Ehebrecher hat fünf, die Ehebrecherin vier
Stück Vieh zu zahlen. 3) — Die kirgisischen Weiber der Vor-
nehmen sind berühmt wegen ihrer Neigung zu ihren Sklaven.
Die Ursache soll ihre „Gutherzigkeit** sein; „bei vielen Ge-
legenheiten retten sie die Sklaven von den Drangsalen, die
ihnen ihre Männer antun wollen; und diese Zeichen der Men-
schenliebe vermehren die Ergebenheit, womit ihnen die Sklaven
zugetan sind. Nicht selten nehmen die Sklaven teil an der
Zärtlichkeit, zu welcher sie ziemlich geneigt sind. In solchem
^) Mcincrs, Geschichte des weiblichen Geschlechts, I 23.
-) Dict. de la penahte, I 121.
•^) Benjamin Bergmanns Nomadische Streifercicn, II 40.
— 431 —
Fall aber wird beyder Leben das Opfer, wenn ihre eifersüchtigen
Männer dahinter kommen.** i)
Am gemütlichsten ist die alte mingrelische Sitte, von wel-
cher schon der berühmte Reisende Chardin erzählt hat : Über-
raschte ein Mann sein Eheweib mit ihrem Buhlen, so durfte
er von diesem zur Strafe bloß ein Schwein verlangen; andere
Rache durfte er nach den Gesetzen und den Gebräuchen der
Zeit nicht nehmen. Das Schwein aber wurde von allen dreien
— von dem betrogenen Ehemann, seinem ungetreuen Weibe
und ihrem Buhlen — feierlich geschlachtet und bei gemein-
samem Mahl verzehrt, womit die Schande ausgelöscht war.
Die Mingrelier nehmen auch heute den Ehebruch nicht viel
tragischer.
Bei den Osseten im Kaukasus muß, wenn eine Frau ihren
Mann böswillig verläßt, um mit einem anderen zu leben, der
neue Mann dem ersten den ganzen Kalym ersetzen. Jagt ein
Mann seine Frau infolge eines Verschuldens ihrerseits davon,
so erhält er den halben Kaufpreis von ihren Eltern zurück.
Entflieht aber eine Ossetin vor der ungerechten Behandlung
des Mannes, so erhält dieser gar keine Entschädigung.
Nach den alten tscherkessischen Gesetzen gilt nächst
Feigheit und Mord der Ehebruch als das größte Verbrechen.
Die ehebrecherische Frau ist ganz in die Macht ihres betrogenen
Gatten gegeben ; er kann ihr die Nase und die Ohren abschnei-
den, das Haar abrasieren und sie so geschändet ihren Eltern
zurückschicken, welche die schlechte Tochter verstoßen oder als
Sklavin in die Fremde verkaufen. Die Frau oder ihren Galan
zu töten, wagt der verratene Mann selten, da er dann der
Blutrache verfallen ist ; diese kann er allerdings durch ein
Blutgeld von 40 bis 60 Ochsen von sich fern halten. Ein
ehebrecherischer Mann wird verbannt oder hat eine Strafe
von 25 Ochsen zu zahlen.
Bei den Georgiern endlich, die sich niemals durch Keusch-
heit ausgezeichnet haben, ist der Ehebruch namentlich in den
großen kaukasischen Städten keine Seltenheit; beide Teile
sprengen gern die Fesseln, die ohnehin nicht fest sind. Viel
*) Kytschküw Ini Biisching, VII 434.
— 432 —
trugen zu der Unsittlichkeit die russischen Offiziere und Be-
amten bei, die schamlos ihre Macht mißbrauchen und Mäd-
chen und Frauen verführen, während den gedemütigten Geor-
giern jeder rechtliche Schutz versagt blieb. Die furchtbaren
Wirren der jüngsten Zeit, die ununterbrochenen Attentate
gegen die russischen Offiziere und Beamten sind nichts an-
deres als Rache für solche Ehebruchsaffären.
46. Uneheliche Kinder^
krimineller Abortus und Kindesmord
Peters des Großen Toleranz — Katharina II gründet Findelhäuser — General-
plan des Moskauer Findelhauses — Erziehung der Findelkinder — Privilegien,
Belohnungen und Bestrafungen — Findelhaus und Ehrenbeleidigung —
Nikolaj I. gegen die unehelichen Kinder — Moderne Reformen — Gesetze be-
treffend kriminellen Abortus — Engelmacherinnen — Prozeß Wagen in Lodz
— Milde gegen Kindesmörderinnen — Kindermord bei den Kosaken und den
Swanethen.
Wenn der Ehebruch nicht eine außergewöhnliche Erschei-
nung, sondern der ständige Gast im Familienleben eines Volkes
ist, und die wilde Ehe zu den gesellschaftlich anerkannten,
Einrichtungen gehört, dann ist es keine Schande, uneheliche
Kinder zu haben. Peter der Große begriff dies am ehesten.
Eines Tages geht er in Wischnij Wolotschok (Gouvernement
Nowgorod) über die Straße und trifft ein hübsches Mädchen
weinend an. ,,Was fehlt dir, mein Kind?'* fragt er. Sie
verbirgt ihr Angesicht in den Händen und antw^ortet nicht.
„Beruhige dich, mein Kind,'* sagt der Kaiser, „ich kann dir
vielleicht helfen; ich werde dich verheiraten." Ein Kreis von
Neugierigen hat sich gebildet, und als der Zar diese Worte
spricht, beginnen einige Mädchen zu kichern. Weshalb lachen
sie? Dem Zaren wird es sofort erklärt: Das Mädchen hat
sich mit einem deutschen Offizier vergangen und ein Kind
bekommen, und wird nun Hure geschimpft. „Ei, ei,'* meint
-^ 433 ^
Peter, „ist das denn ein Verbrechen?** Nein, ein uneheliches
Kind, das ist kein Verbrechen und keine Schande. Ist es
ein Knabe oder ein Mädchen? Ein Knabe I Desto besser:
ein Soldat I Der Kaiser tröstet die Mutter, verlangt sogleich,
ihr Kind zu sehen, und schenkt ihr eine hübsche Summe ^)
Katharina IL handelt in bezug auf die unehelichen Kinder
als Kaiserin und als Frau: den Gesundheitszuständen der
großen Masse ihre Aufmerksamkeit zuwendend, beginnt sie
ihre polizeilich-medizinischen Einrichtungen in beiden Haupt-
städten des Reiches mit der Erbauung von Findelhäusern.
Für die Beurteilung der Sittenzustände der Zeit ist dies gewiß
ein merkwürdiges Charakteristikum.
Im zweiten Jahre ihrer Regierung, 1763, stiftet Katharina
zunächst in Moskau das „Kinderhaus und Accouchier-Hospital."
In ihrem Manifest^) erklärt sie: „Sich der Armen und Noth-
leidenden anzunehmen, imd für die Vermehrung nützlicher
Einwoner in einem State zu sorgen, sind zwei Hauptpflichten
und Tugenden eines jeden gottseligen Regenten. Da Uns
nun diese Pflichten jederzeit am Herzen liegen: so haben Wir
den Uns von dem General-Lieutenant Iwan Iwanowicz Betzkoj
vorgelegten Entwurf und Plan zu einem in Moskau, als der
alten Hauptstadt Unsers Reichs, durch allgemeine CoUecten
und milde Beisteuer zu errichtenden Kinderhause, mit einem
besondern Hospital für arme und unvermögende Wöchne-
rinnen, welche auf Unsern speciellen Befehl von dreien Unserer
wirklichen Geheimen Räthe beprüfet worden, allergnädigst
confirmiret. Befehlen demnach, so wohl erwähnten Entwurf
und Plan, nach allen Teilen, als auch den an Uns darüber er-
statteten Bericht, mittelst dieser Unsrer allerhöchsten Confir-
mation, als eine Reichsverordnung anzusehen.**
1) Waliszewski, Pierre le Grand, p. 185.
') Neuverändertes Rußland oder Leben Catharina der Zweyten, Kaiserinn
von Rußland. Aus authentischen Nachrichten beschrieben (von Haigold),
Riga und Leipzig, 1772, Zweyter Theil, S. 3 ff. — Zur Geschichte der Findel-
häuser sind besonders interessant die Denkwürdigkeiten des Grafen Jakob
Johann Sievers, des Hauptmitarbeiters Katharinas bei der Einrichtung der
Wohlfahrtsanstalten. (Ein russischer Staatsmann, von Karl Ludwig Blum,
4 Bde. 1857.)
Stern, Geschichte der öffentL Sittlichkeit in Rußland. ** 28
— 434 —
Der „Generalplan** sagt im zweiten Kapitel, „von den
Kindern, die in das Findelhaus aufgenommen werden/* f ol-
gendes: „So wol die Mütter selbst, als diejenigen, denen sie
ihr Kind anvertrauen oder auch fremde Leute männlichen
und weiblichen Geschlechts, können die Kinder, welche sie
gefunden haben, nach dem Kinderhause bringen, woselbst jedes
Kind ohne den geringsten Anstand angenommen, auch kein
Mensch befragt werden soll, wer er sei, und wessen Kind er
bringe. Nur wird man ihn fragen, ob das Kind getauft sei
oder nicht, und was es für einen Namen hat. Falls die iTeber-
bringer sonst noch einige Umstände aus freien Stücken an-
geben wollten, sollen solche in ein besonderes Buch einge-
schrieben werden. Ein jeder kan dergleichen Kinder, nach-
dem es ihm am bequemsten ist, zu den Priestern der Stadt-
kircheh, nach den Armenhäusern, oder hiesigen Mönchs- und
Nonnenklöstern, bei Tag oder bei Nacht bringen, woselbst
die Pförtner und Thürhüter dasselbe sogleich nach dem Kin-
derhause hintragen müssen, allwo man den Ueberbringem für
jedes Kind 2 Rubel für ihre Bemühungen zalen wird, \yenn
auch jemand, es sei bei Tage oder bei Nacht, dergleichen
Kinder trüg:e: so soll ihn keine Wache von der Polizei oder
andern Commanden, noch die Nachtwächter, irgendwo an-
halten, oder befragen, wer er sei, und wohin er das Kind
trage; vielmer soll man ihm in allen Stücken hülf liehe Hand
leisten, und ihn wider allen etwanigen Unfug schützen. Wenn
die Kinder herangewachsen, so müssen die Knaben von 1 1
bis 14 Jaren, so viel es ihre Kräfte und übrige Umstände zu-
lassen, Hanf, Flachs, Wolle und dergleichen reinigen, käm-
men und zubereiten; die erwachsenen Mädchen aber machen
hieraus allerhand Garn, und verarbeiten es wieder, weben auch
seidene oder andre Bänder, oder Leinwand. Die Knaben wer-
den dabei immer mer und mer zur Garten- und auch zur
Hausarbeit angehalten; die Mädchen aber gehen wechselweise
in die Küche, backen Brod, waschen, stärkein, plätten, nähen,
und thun alle andre Hausarbeiten. In diesen Jaren lernen
sowol die Mädchen als Knaben täglich eine Stimde schreiben
und rechnen und den Catechismus. Ueberhaupt soll mit Sorg-
falt darauf gesehen werden, daß die in diesem Hause erzogene
— 436 —
Kinder von Jugend auf sich zur Arbeit und Reinlichkeit ge-
wöhnen. So wol die Mädchen als Knaben müssen sich, so
bald sie 14 oder 15 Jar alt sind, anschicken, allerhand Arbeiten
und Handwerke völlig auszulernen; daher die Knaben zu Er-
lernung desjenigen Handwerks, zu welchem sie Lust haben,
in die Lehre gegeben werden sollen. Bei gemeinen Handwerken
werden 4 oder 5 Jare bestimmt. Es sollen auch nur solche
Meister, die ein ehrbares Leben führen, beim Kinderhause
gehalten, und ihnen darinn besondere Wohnungen eingeräumt
werden, damit die zu ihnen in die Lere gegebene Jugend, \mter
der Aufsicht ihrer Vorgesetzten, desto weniger Gelegenheit
haben möge, ihre gute Sitten zu verderben. — Ein Aufzögling
männlichen Geschlechts erhält, wenn er sich durch seine Auf-
führung dessen selbst nicht unwürdig macht, nachdem er sein
Handwerk oder sonst eine Arbeit gehörig erlernet, bei seiner
Auslassung aus dem Kinderhause, ein neues Kleid von Tuch,
einige Hemden, Halstücher, und Schnupftücher, eine Mütze,
einen Hut, Strümpfe, Schuhe, und Stiefeln ; femer einen Man-
telsack zu seinen alten Kleidern, und einen Rubel an Gelde;
nebst einem Paß, mit welchem er im ganzen Reiche, wo er
nur will, hinreisen, und überall als ein freier Mensch seine
Profeßion treiben kann. Doch ist ein solcher verbunden, so
lang er lebt, alljärlich, oder für einige Jare auf einmal, aus dem
Kinderhause einen neuen Pass zu nemen, und für jedes Jar,
auf wie lange der Paß gerichtet ist, einen Rubel, und falls
er eine Kunst erlernet hat, auch etwas mer zu erlegen. Eben
dieses verstehet sich auch von denen im Kinderhause erzognen
Mädchen, welche, nachdem sie das nötige gelernt haben, eben
dergleichen Belonung an Kleidern und einen Paß erhalten
sollen, um ihr Brod selbst zu erwerben. — Leibesstrafen tollen
im Findelhause auch bei den allerniedrigsten Bedienten durch-
aus nicht statt finden, damit die Jugend keine Gelegenheit
bekomme, sich zur Härte zu gewöhnen. Wenn aber jemand
durch Abzug seines Lohnes nicht z\X bessern seyn sollte: so
soll ein solcher auf Wasser und Brod ins Gefängms geworfen,
oder bei schweren Verbrechen dem Gerichte, wohin die Sache
gehört, zur Bestrafung überliefert, und sodann aus dem Kinder-
hause ausgeschlossen werden.**
28*
— 436 —
„Die Aufzöglinge, welche teils wegen ihrer Jugend, teils
aus Veranlassung, daß ihrer so viele beisammen sind, sich
sehr oft vergehen können, soll man sich angelegen seyn lassen,
durch Vermanungen von dergleichen Unart abzuhalten; und
wo dieses nicht hilft, bei der Züchtigung dennoch darauf sehen,
daß man sie durch eine gar zu große Strenge nicht zur Hart-
näckigkeit und Unempfindlichkeit bringe. Daher soll man
die Strafen mehr so einrichten, daß sie dadurch beschämt
werden. — Alle in diesem Hause Auferzogene so wol männ-
lichen als weiblichen Geschlechts, und deren Kinder und Nach-
kommen, sind zu ewigen Zeiten freie Leute, und sollen nie-
malen und unter keinerlei Vorwande einer Privatperson als
Leibeigene verschrieben werden können. Die in diesem Hause
auferzogene Leute sollen sich durchaus mit keinen Leibeigenen
verheiraten; dahero den Priestern bei Verlust ihres Amtes
verboten wird, dergleichen Leute nicht zu trauen. Falls es
aber dennoch durch irgend einen Betrug geschähe: so sollen
sie nicht nur für ihre Person niemandes Leibeigene werden,
sondern auch der andre Teil, welcher sie geheiratet, wird
dadurch frei, und ist kein Leibeigner mer."
Um die Mittel zur Erhaltung des Findelhauses zu mehren,
erfindet die Kaiserin ein famoses Mittel: „Wenn ein Kauf-
mann oder ein andrer von geringem Stande, Leibeigene aus-
genommen, nach eigenem Wolgef allen entweder auf einmal,
oder durch verschiedene von Zeit zu Zeit vermehrte Gaben,
von 25 Rubel bis 1000 und darüber, dem Kinderhause schenket :
so bekömmt er für seine etwanige Beschimpfung eben so viel,
als er dem Kinderhause geschenkt hat; doppelt so viel aber,
wenn jemand gar Hand an ihn gelegt hat.**^)
Dem Moskauer Findelhaus folgte 1770 die Gründung eines
Petersburger Findelhauses. Dieses wurde ursprünglich im
Smolnakloster untergebracht; bald genügten die vorhan-
denen Räume und Mittel nicht mehr für die Zahl der Findlinge.
Daher mußte bereits 1797 eine Anzahl Häuser an der Mojka
eigens für die Anstalt eingerichtet werden. Aber noch immer
wuchs der Zudrang, und abermals mußte man neue Gebäude
1) Vgl. Band I. S. 262.
— 437 —
ankaufen. In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts schreibt
der Petersburger deutsche Arzt Buddeus^): „Das Findel-
institut lunfaßt mit seinen Nebenanstalten jenes ganze un-
geheure Viereck, welches nordwestlich durch die Moika^ süd-
westlich durch die Erbsenstraße, südöstlich durch die Met-
schanskoi und nordöstlich durch den Nefskyprospekt begrenzt
ist. Mehr denn 1800 Ellen beträgt der Umfang dieses Rau-
mes; an IG 000 Menschen sollen dessen verschiedene Gebäude
bewohnen, über 5000 Kinder werden alljährlich aufgenommen,
nahe an 20000 beträgt fortwährend die Generalsumme aller
Pfleglinge des Instituts inner- imd außerhalb seiner Peters-
burger Räume.**
Die Kosten des Petersburger Findelhauses stellten sich
damals schon auf zwanzig Millionen Rubel. Diese Summe
floß dem Institut teils direkt durch die Krone zu, teils kam
sie vom Ertrage des Spielkartenmonopols, aus dem Gewinn
des Petersburger Leihhauses und aus dem Mietzins der dem
Findelhaus gehörenden Gebäude.
Katharina II. hatte angeordnet, daß die Findlinge im ent-
sprechenden Alter, je nach ihrem Geschlecht und nach den
Fähigkeiten teils zu Handwerkern, teils zu Künstlern, teils zu
Wäscherinnen, Näherinnen, Lehrerinnen vorbereitet, teils so-
gar für die Universität herangebildet werden sollten. Allein
im Jahre 1837 verordnet ein Ukas, daß sowohl die Findlinge,
welche sich noch auf den Dörfern befänden, als auch diejenigen,
welche in Zukunft in die Anstalt gebracht werden würden,
„nur den arbeitenden Klassen, also dem Bauern- und Hand-
werkerstand, doch auch nur auf eignen Wunsch, und nach
Erreichung des gehörigen Alters, dem Militär** einverleibt wer-
den sollen. Der Unterricht wird dadurch zwar nicht aufge-
hoben, aber die Zahl der Schüler und Schülerinnen (500 in
St. Petersburg und 500 in Gatschina) durch Waisen „ver-
dienter Beamten von der vierzehnten bis zur neunten Rang-
klasse inklusive** ersetzt. Die Zahl der eingelieferten Pfleg-
linge vermindert sich sogleich bedeutend, denn das Findel-
^) Zur Kenntniß von St. Petersburg im kranken Leben. Zweiter Band,
1846, S. 7Z,
-^ 438 ~
haus *bäßt seinen ^eigentlichen Zweck ein' und ist den armen
Klassen nicht mehr das, was es sein soll. Der Oberarzt des
Findelhauses, Staatsrat von Döpp, versucht den Ukas Nikolajs
folgendermaßen begpreiflich zu machen : „Die rein philanthro-
pische Tendenz der Anstalt und daher die fast unbegrenzte
Aufnahme der Kinder in selbige und ihre musterhafte Ver-
pflegung, ferner die ausgezeichnete Erziehung, deren die nur
einigermaßen fähigen unter ihnen genossen, imd die glänzende
Zukunft, die sich dadurch ihnen für die Zukunft eröffnete,
alles dies verursachte einen beunruhigenden Zuwachs der Zög-
linge. Es >yurden dem Hause nicht allein alle unehelichen
Kinder der Residenz sowohl, als der übrigen Gouvernements
rings um sie herum — selbst Kinder sehr bemittelter Eltern
— zugeführt, sondern es brachten sogar sehr viele Eheleute,
besonders von der steuerpflichtigen Klasse, ihre Kinder, unter
der Firma: , uneheliche* in das Haus, um sie den ihrem Stand
obliegende^ Pflichten zu entziehen.** -^ Welch fiu-chtbares
Licht wird in dieser Erklärung auf die sittlichen Zustände ge-
worfen! Die unbeschreibliche Lieblosigkeit der Eltern gegen
die Kinder, die wir im Kapitel über die Grausamkeit im Fami-
lienleben kennen gelernt haben, könnte nicht drastischer illu-
striert werden, als durch die Konstatierung, daß Vater und
Mutter — wegen möglicher, aber nicht immer wahrscheinlicher
Erfolge in der Zukunft — ihr Kind gleich nach der Geburt
von sich tun.
Kaiser Nikolaj I. geht in seinen feindseligen Akten gegen
das Findelhaus und gegen die unglücklichen unehelichen Kin-
der noch weiter. Am 15. Mai 1839 erläßt er einen neuen
Ukas: „daß vom i. Januar 1840 an zwar jedes in das Haus
gebrachte Kind, wie früher, sogleich aufgenommen, dem ßrin-
ger desselben aber kein Empfangschein mehr erteilt werden
soll.** Dieser Schein, welcher mit dem Namen und der Nummer
des Kindes versehen war, diente nämlich in den vorhergehen-
den Jahren nicht allein zum Auffinden desselben, sondern
auch als Beweis des Elternrechts auf dasselbe. Wer dagegen
von jetzt an sein Kind dem Findelhaus überliefert, dem bleibt
es auf immer verloren. Allerdings bringt dieser neue Be-
fehl auch wieder eine Verminderung der dem Hause zuge-
— 439 —
m
führten Findlinge hervor, trotzdem bleibt die Zahl der jährlich
hier Eingelieferten die größte aller ähnlichen Anstalten Euro-
pas, während Petersburg damals nur den dritten Platz hinsicht-
lich seiner Bevölkerungsmenge einnahm. Im Jahre 1840 findert
wir innerhalb des Hauses 2424 Kinder, außerhalb desselben
16536; also wiirde eine Gesamtsumme von 18960 Findlingen
verpflegt. Im Jahre 1844 beträgt allein die Zahl der ein-
gelieferten Findelkinder genau 4000, und am i. März des-
selben Jahres die Generalsumme der Verpflegten 19 271. —
„Man nennt gewöhnlich,** schreibt Buddeus, „Paris und Lon-
don die demoralisiertesten Städte; dennoch gibt St. Peters-
burg in allen einzelnen Offenbarungen seines Lebens ver-
hältnismäßig weit zahlreichere Beweise dieser moralischen Zer-
rüttung der Gesellschaft. Paris hat bei einer Volksmenge von
mehr denn einer Million Menschen in seinem Findelhause
keinen numerisch großem Zuwachs als St. Petersburg; Lon-
don zählt bei einer Bevölkerung von nahe an zwei Millionen
jährlich nur 10 000 Findlinge.**^)
Gegenwärtig werden in Rußland in den fünfzig euro-
päischen Gouvernements alljährlich durchschnittlich 1 1 2 000
uneheliche Kinder geboren. Dabei ist hervorzuheben, daß die
Zahl dfer illegitimen Geburten im nördlichen Rußland weit
größer ist als im südlichen, obwohl im Norden weniger* Städte*
sind als im südlichen; eine der Ursachen dieser auffallenden
Erscheinung ist, daß die Bauern in den nördlichen Dörfern
zu Hause keine Beschäftigung haben, ins Zentrum des Reiches
ziehen, um Arbeit zu finden, und monatelang, ja jahrelang
fortbleiben.
Die Gesetzgebung hat sich seit Katharina II. um das Los
der unehelichen Kinder wenig bekümmert, imd wenn sie es tat,
wie zur Zeit Nikolajs, so geschah es nur zu Ungunsten der Ver-
lassenen. Der vom Kaiser Nikolaj I. stammende § 994 der
Strafgesetzgebung stellt sogar die wilde Ehe in die Reihe
der strafgerichtlich zu verfolgenden Handlungen. Nikolaj spielt
gern den Tugendwächter seines Volkes, imd so degradiert er
1 ) Buddeus, a. a. O. 79. Daselbst ausführliche Beschreibung dier Gebäude
und der Krankheiten der Findlinge.
— 440 ~
Millionen Menschen seines Reiches, die zufällig unehelich ge-
boren sind, zu ^^ungesetzlich Geborenen" (HedaBOHHoposA^HHKe);
Dostojewski]' prägt auf sie den bitteren Namen: schuldlose
Schuldige.
Aber wie in bezug auf die Ehescheidung hat sich auch in
betreff der unehelichen Kinder in jüngster Zeit eine glückliche
Wandlung vollzogen. Schon 1880 war der Reichsrat zur Er-
kenntnis gekommen, daß eine Gesetzesänderung zugunsten der
unehelichen Kinder stattfinden müsse. 1891 wurde dann ein
Gesetz veröffentlicht, das die gesetzliche Anerkennung der un-
ehelichen Kinder und ihre Adoption gestattete. Gleichzeitige
wurde eine Kommission mit der Ausarbeitung einer vollstän-
digen Gesetzesreform zur Verbesserung der Lage der unehe-
lichen Kinder betraut; sie beendete 1902 ihre Arbeit mit dem
Bekenntnis: >>Die Ansicht, daß nur durch Härte und Strengte
die Zahl der unehelichen Kinder herabgemindert werden könne,
entspricht dem humanen Geiste der neuen Gesetzgebimg^en
nicht und ist an sich ungerechtfertigt. Weder die Strafen für
das uneheliche Zusammenleben, noch die Verschlechterung* der
Lage der unehelichen Kinder sind imstande, das moralische
Niveau der betreffenden Gesellschaft zu heben. Die gesetz-
lichen Bestimmungen, welche den Vater hindern, die Lag^e
seines außerehelichen Kindes zu verbessern, sind eher schäd-
lich, denn sie vermindern das Verantwortlichkeitsgefühl,
welches dem Vater des Kindes als demjenigen, durch welchen
das außereheliche Zusanunenleben gewöhnlich entsteht, zufällt.**
Das neue Gesetz bezweckt nach dem Ausspruch seines
Schöpfers : „den unehelichen Kindern wenigstens eine Art Fa-
milie zu geben, und sie ihre Eltern, die sie berechtigt sind, als
ihre nächsten Blutsverwandten anzusehen, kennen lernen zu
lassen/* In erster Linie wird die Bezeichnung der „ungesetzlich
Geborenen** abgeschafft und die natürliche: „außereheliche"
(BH-bßpaHHHe) eingeführt. Das außereheliche Kind darf nun-
mehr i) mit Zustimmung des Vaters dessen Vor- und Familien-
namen tragen ; wenn dieses nicht der Fall ist, bekommt das Kind
1) Vgl. das Resum6 von Julie Goldbaum in „Die Frauen-Zeit", Beilage
zum Tagblatt „Die Zeit", vom 20. Januar 1903.
— 441 ^
mit Zustimmung des Vaters seiner Mutter deren Familiennamen*
Auch enthält das Gesetz die Bestimmung, daß die einer für
ungiltig erkannten Ehe entsprossenen Kinder nicht als außer-
ehelich betrachtet werden und alle Rechte der ehelichen Kinder
besitzen. Die außerehelichen Kinder haben ferner das Recht,
einander und auch ihre Mutter zu beerben; das Recht, den
Vater oder dessen Angehörige zu beerben, steht ihnen aller-
ding auch jetzt nicht zu. Die Mutter genießt in bezug auf
das außereheliche Kind die Rechte der elterlichen Gewalt und
hat auch diesem gegenüber entsprechende Pflichten. Der Vater
ist verpflichtet, nach Kräften materiell für die Mutter und
das Kind zu sorgen, und auch die Mutter muß, wenn sie
die Mittel besitzt, an den Ausgaben für die Erhaltung und Er-
ziehung des Kindes teilnehmen. Dem Vater, welcher materiell
für sein Kind sorgt, steht endlich das Recht zu, seine Er-
ziehung und Pflege zu überwachen.
Die Wirkung des neuen liberalen Gesetzes über die im-
ehelichen Kinder wird sich vornehmlich in einer Abnahme der
Fälle von kriminellem Abortus bemerkbar machen. IJ)ie Zahl
der verbrecherischen Abtreibungen, soweit diese überhaupt be-
kannt werden, ist eine furchtbare, so daß das Strafgesetzbuch
Nikolajs I.^) die schwersten Strafen androhen mußte: Die
Mutter, welche ihr neugeborenes, uneheliches Kind, aus Scham
oder Furcht, hilflos liegen läßt, und dadurch den Tod des
Kindes bewirkt, wird zur korrektioneilen Strafe erster Klasse
vierten Grades verurteilt (für die von der Leibesstrafe eximier-
ten Klassen: Verlust aller besonderen Standesrechte und Ver-
bannung zu lebenslänglichem Aufenthalt im Gouvernement
Tomsk oder Tobolsk, mit i — 2 jähriger Einsperrung. Für Nicht-
eximierte: Verlust aller Standesrechte, von der Hand der
Polizeidiener 60—70 Rutenstreiche, 3 — 6 Jahre Arbeitshaus);
dabei wird die Schuldige statt in die Arrestanten-Kompagnie
auf drei bis sechs Jahre in ein Arbeitshaus abgegeben. — Ist
aber das Kind tot zur Welt gekommen, und hat die Mutter es
aus Scham oder Furcht verborgen, anstatt ihre Niederkunft
^) Strafgesetzbuch d«8 Russischen Reichs, promulgiert im Jahre 1845,
H 1931— 1935.
pflichtmäßig anzuzeigen : so wird sie mit sechs Monaten bis^zO
einem Jahr Gefängnis bestraft. Wer die Leibesfrucht eine^
schwangeren Person, ohne deren Wissen und Willen, vor-
sätzlich, auf welche Weise es auch sei, abti'eibt, unterliegt der
peinlichen Strafe zweiter Klasse, siebenten Grades (für Exi-
mierte : Verluste aller Standesrechte, 4 — 6 Jahre Zwangsarbeit
in den Kronsfabriken, Deportati<m nach Sibirien zu lebensläng-
licher Ansiedelung. Für Nichteximierte : Dieselbe Strafe, aber
vorher noch öffentlich von Henkershand 30 — 40 Peitschenhiebe
lind Brandmarkung). Erleidet die Mutter selbst, infolge dieses
ohne ihre Einwilligimg verübten Verbrechens> einen bedeuteii-
den Schaden an ihrer Gesundheit, so trifft den Schuldigen
die peinliche Strafe zweiter Klasse, sechsten Grades^ (für
Eximierte : Verlust aller Standesrechte, 6^—8 Jahre Zwangs-
arbeit in den Kronsfabriken, Verbannung nach Sibirien zu
lebenslänglicher Ansiedelung. Für Nichteximierte: Dieselbe
Strafe, vorher aber 40 — 50 Peitschenhiebe öffentlich voii Hen-
kershand und Brandmarkung). Erleidet die Mutter den Ifod;
so erfolgt die peinliche Strafe zweiter Klasse, fünften Gradfes-
(für Eximierte: Verlust aller Stahdesrechte, 8— lojährige
Festungsarbeit, Deportation nach Sibirien zu lebenslänglicher
Ansiedelung. Für Nichteximierte: dieselbe Strafe neSst
50—60 Peitschenhieben und Brandmarkimg). Wer mit Wissen
und Willen einer schwangeren Person irgend ein Mittel in der
Absicht anwendet, ihre Leibesfrucht abzutreiben, erleidet die
peinliche Strafe dritter Klasse, ersten Grades (für Eximierte : Ver-
lust aller Standesrechte, Verbannung in entfernte Gegenden Si-
biriens zu lebenslänglicher Ansiedelimg. Für Nichteximierte
dieselbe Strafe, außerdem 20 — 30 Peitschenhiebe von Henkers-
hand). Die Schwangere, welche auf eigenen Antrieb oder im'
Einverständnis mit einem andern, irgend ein Mittel anwendet,
um ihre Leibesfrucht abzutreiben, verfällt in die peinliche Strafe
dritter Klasse, zweiten Grades (für Eximierte: Verlust aller
Standesrechte und Verbannung zu lebenslänglicher Ansiedelung
in minder entfernten Gegenden Sibiriens. Für Nichteximierte :
Dieselbe Strafe, außerdem 10 — 20 Peitschenhiebe öffentliclv
von Henkershand). Die Strafen werden um einen Grad ver-
schärft, wenn die daselbst genannten Verbrechen durch einen
— 443 —
Arzt, Geburtshelfer, Apotheker, durch eine Hebamme oder
durch eine Person verübt werden, die schon früher einmal
ein solches Verbrechen begangen hat.
Trotz dieser beispiellos strengen, ja fast barbarischen Ge-
setze ist der kriminelle Abortus in Rußland eines der am
häufigsten vorkommenden Verbrechen. Das Volk bedient sich
dabei des Quecksilbers oder eines mit Scjiießpulver vermisch-
ten Getiänkes als innerlichen Medikaments und hilft dann
mit spitzigen Instrumenten nach. Natürlich fehlt es auch nicht
an abergläubischen Mitteln, wie es das folgende ist i):^ „Man
sammle den Monatsfluß in einerii Gefäße, die kluge Frau
schütte es in der Badstube auf den glühenden Ofen. Man hott
dabei das Kinderweinen.** Kann man sich aber nicht selber
helfen, so nimmt man die Dienste von Weibern in Anspruch,
die das Geschäft betreiben und in einigen Städten ihr Handwerk
ganz öffentlich ausüben. So ist Lodz in Polen ein berüchtigtes
Zentrum derartiger Verbrecherinnen, die nebenbei auch Engel-
macherei nicht verachten. Im Dezember 1902 wurde die Polizei
infolge einer gar zu entsetzlichen Anhäufung von Schauder-
taten gezwungen, einmal vom Verdienst, den ihr das Schweigen
einbringt, abzusehen und die gefährlichste Kindesmassen-
mörderin Chajaruchla Wagen dem Gericht auszufolgen. Die
Anklage besagte, daß die Angeklagte: erstens im November
1901 das uneheliche Kind Moschek Sarakowski, für welches
sie das Kostgeld für drei Monate voraus erhielt, mit Vorbedacht
und in eigennütziger Absicht, um die Kosten für den Unterhak
zu sparen, hat sterben lassen ; zweitens : daß sie im Februar 1902
unter denselben Umständen und aus denselben Beweggründen
den in Pflege und Kost genommenen Abraham Schadek hat
umkommen lassen; drittens: daß sie im März 1902 unter
gleichen Bedingungen und in gleicher Absicht den Icek Sand-
berg hat sterben lassen ; und viertens : daß sie Ende Februar
oder Anfang März 1902 die Gitla Zinnamon, für welche sie
das Pflegegeld für zwei Monate voraus erhalten hatte, mit
Vorbedacht und in eigennütziger Absicht, um das Kostgeld
zu behalten, durch Ersticken ums Leben gebracht hat. Es
^) Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 143.
— 444 —
wiirden Zeugen vorgerufen, welche durch ihre Aussagen die
Tatsache, daß die Wagen die ihr anvertrauten Pfleglinge
Hungers sterben ließ, einstimmig bestätigten. Die Aussagen
der Zeugen vor Gericht stimmten vollkonunen mit denjenigen
überein, die bei der Voruntersuchung gemacht worden waren.
Der Protektion der Polizei verdankte es das Ungeheuer, daß
von weiteren unzähligen Verbrechen nicht gesprochen wurde;
und so fiel das Urteil ziemlich milde aus : Verlust aller Rechte
und zehn Jahre Zwangsarbeit.
Hätte nicht das Bezirksgericht von Lodz, sondern irgend ein
Bauerngericht oder selbst ein städtisches Geschworenengericht
über die Engelmacherei zu entscheiden gehabt, so wäre das
Urteil allerdings noch viel glimpflicher ausgefallen. Ganz milde
urteilt man aber in jedem Falle, wenn die Mutter selbst als
Mörderin ihres Kindes vor Gericht kommt. Berühmt gewor-
den in dieser Hinsicht ist in der Geschichte der russischen Justiz
des neunzehnten Jahrhimderts ein Urteil des Tribunals von
Kasanj, das einer Kindesmörderin nur eine leichte Knuten-
strafe zudiktierte mit folgender Begründung i): „Der Mord
am eigenen Kinde ist nicht ein so schweres Verbrechen wie
der Mord an einem fremden Kinde. Wenn eine Mutter ihr
eigenes Kind ermordete, so mußten die Motive überwiegend
und übermächtig sein, daß sie die natürliche Mutterliebe über-
wältigen und die Tat herbeiführen konnten. Ein imzurech-
nungsfähiger augenblicklicher Wahnsinn nur vermochte sie
möglich zu machen. Der Mord an einem fremden Kinde aber
ist in der Regel die Folge einer vorbedachten Absicht.**
So stark Engelmacherei und Tötung des neugeborenen
Kindes durch die Mutter in Rußland und besonders in Polen
verbreitet sind, so selten hört man von diesen Verbrechen
in den baltischen Provinzen. Schon Petri^) bemerkte vor
hundert Jahren in bezug auf die estnischen Frauen: „Es gibt
ganze Gegenden, wo der Name einer Kindermörderin völlig
unbekannt ist.** Dagegen weiß man von einigen anderen Völ-
kern in Rußland, daß bei ihnen der Kindermord, besonders der
^) Haxthausen, Studien, I 482.
^) Ehstland und die Ehsten, II 43.
— 445 —
Töchtermord, früher obligat war, teilweise noch heute obligat
ist.i) Von den Kosaken, die sich am Jaik ansiedelten, wird
erzählt 2): „Nach ihren mörderischen Räuber-Sitten, oder viel-
mehr aus einem gewissen abergläubischen Wahn, oder wie
andere wollen, weil sie bey dem Kinder-Geschrey ihren Auf-
enthalt nicht hätten vor ihren Feinden verbergen imd ver-
hüten können von ihnen aufgehoben zu werden; machten Sie
in einem gemeinschaftlichen Vertrag unter einander aus, daß
alle ihre Kinder gleich bey der Geburt umgebracht werden
sollten. Diese Tyranney übten sie einige Jahre lang wirk-
lich aus, wie alle jaikische Koßaken noch jetzt bekräftigen, nur
mit dem Unterschied, daß einige meynen, sie hätten blos die
Mädgen umgebracht, die Knäblein aber beym Leben gelassen.
Nachdem dieses unmenschliche Verfahren eine 2^itlang unter
diesen Koßaken im Schwange gegangen war: wurde einem
aus ihrem Mittel, Namens Tit Fedorow, eine Tochter geboren;
das Flehen seiner Frau erweichte ihn, daß er sie zwey Jahr
heimlich bey sich erhielt. Endlich aber erfuhren es etliche
seiner Mitbrüder, und er sähe, daß er es nicht weiter ver-
bergen konte. Als nun eben eine Koßaken- Versammlung ge-
halten wurde: nahm er seine Tochter auf die Arme, trat nut
ihr in den Kreis und brachte an: Er wisse zwar den \mter
ihnen bestehenden Vertrag wegen Umbringung der Kinder sehr
wohl, es sey ihm aber nicht möglich, seine Hände in seinem
eigenen Blute zu baden; er überliefere also hiermit dem Kriege-
recht nicht allein das unschuldige Kind, sondern auch sich
selbst, weü er den gemeinen Vertrag aus den Augen gesetzt.
Anfangs fällten viele das Urtheil, es müßten beyde, sowohl
Vater als Kind, vom I^ben zum Tode gebracht werden, danüt
ihr Recht und Vertrag nicht gebrochen und entkräftet würde.
Endlich aber wurde der größte Theil gerührt und zum Mit-
leiden bewegt. Voller Erbarmung schryen sie, man sollte
beyde verschonen. Und so wurde denn nicht nur dieser
^) Von dem Kinder mord aus religiösem Fanatismus habe ich schon im
ersten Bande, S. 248, und in diesem Bande (im Kapitel über die Grausamkeit
im Familienleben) gesprochen.
') Die jaiker Miliz und ihre Verfassung. Büschings Magazin.
— 446 —
Koßak, Tit Fedorow, mit seiner kleinen Tochter vom Tode
errettet, sondern auch ihr unmenschlicher Vertrag gänzlich
aufgehoben, und seitdem haben sie alle ihre Kinder aufge-
zogen.**
Von den Swanethen, einem wenig bekannten Volke des
Kaukasus, behaupten russische Forscher: es sei bei ihnen alte
Sitte, daß die Väter zur Verhütung eines Überschusses des
weiblichen Geschlechtes bei der Geburt einer vierten Tochter
diese aus der Welt schaffen. Der Gebrauch soll dort noch
heute bestehen. 1)
^) Bodenstedt fand diese russische Mitteilung eines Zweifels wert; doch
wurde sie in neuester Zeit als glaubwürdig bestätigt von dem vor kurzem ver-
storbenen berühmten Kenner Kaukasiens, Gustav Radde, der lange Jahre in
Tiflis gelebt und speziell die Sitten der Chewsuren, Pscbawen, Tuschinen und
Swanethen studiert hat.
ACHTER TEIL:
Geschlechtliche Moral
47. Erziehung der Jugend. — 48. Scham-
gefühl und Keuschheit. — 49. Probenächte
und Jungfemschaft. — 50. Coitus und
Religion. — 51. Snochatschestwo.
47- Erziehung der Jugend.
Unsittlichkeit und Komiption der Jugend — Urteile über Erziehung in Ruß-
land — Die Töchter im Terem — Bildung der Zarin und der Prinzessinnen —
Allgemeine Unbildung — Reformen Peters des Großen — Kronsinstitute und
öffentliche Mädchengymnasien — Privatunterricht — Gouvernanten — Pen-
sionate *— Wandlung zum Extremen — Klage eines Familienvaters — Neigung
der Mädchen zu geschlechtlichen Exzessen — Frühe Menstruation und frühes
Erwachen der Naturtriebe — Masturbation — Knaben-Pensionate und Knaben-
Gymnasien — Die Päderastenschule Bitschkow — Gleichgültigkeit und Fatalis-
mus der Eltern.
„Es würde für die Russen schwer sein, noch unsittlicher
zu werden als sie gegenwärtig sind. Kinder von dreizehn
Jahren bleiben die Nacht über vom Hause weg und bringen
ihre Zeit an Orten zu, wo sie ungezügelter Ausschweifung
fröhnen.** Also schrieb ein Russe im Jahre 1889.^) ^^^ zwei
Jahrzehnte, die seither verflossen sind, diese zwanzig Jahre
der Gärungen, Unruhen, Revolutionen, Morde und Gegen-
morde, haben nicht dazu beigetragen, das Niveau der Sittlich-
keit der Jugend zu heben. Nicht bloß im Inneren, in den von
der sogenannten kultivierten russischen Welt entfernten Pro-
vinzen, sondern auch in den zivilisiertesten Städten, ja selbst
im Dorado der Bildung und des feinen Tones: in den bal-
tischen Ländern, ist die Jugend vollständig verroht. „Wohl
das Traurigste an den heutigen Eindrücken bei einem Besuche
Rigas,** sagte in jüngster Zeit ein deutscher Beobachter 2), „ist
die allenthalben zutage tretende totale Verlotterung, geistige,
sittliche und körperliche Korruption der Jugend männlichen
^) Im „Fpaa^AaEHHi", der Zeitung des Fürsten Meschtscherskij, 12.
VIII. 1889. — Lanin, Russische Zustände, II 55.
s) Baltische Eindrücke von Freiherm A. v. £. in der Sonntagsnummer des
Berliner Lokal- Anzeiger (11. Beiblatt) vom 21. April 1907.
Stern, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in Rußland. ** 29
— 450 —
und weiblichen Geschlechts." Namentlich die russische, lettische
und jüdische Schuljugend befindet sich in einem hoffnungs-
losen Zustande: Keinerlei Autorität wird von den verwahr-
losten jungen Leuten anerkannt. Alles konkurriert um die
Palme im gemeinen Betragen, im Verstoßen gegen Sitte und
Herkommen. „Im Äußeren gilt als schick für die männliche
Jugend: ein zur Schau getragenes Strolchgepräge ä la Gorkis
„Nachtasyl". Die Typen dieses Dichters sind ja das Ideal
der demokratischen Jugend Rußlands. Der demokratische
Gymnasiast läuft daher mit langem, schmutzigem Haar herum,
das in Strähnen ums Antlitz hängt. Die Mütze sitzt auf einem
Ohr und ist weit in den Nacken geschoben. Der breite Deckel
muß unordentlich eingedrückt und möglichst schmutzig sein.
Der äußerst schmierige graue Uniformpaletot wird salopp offen
getragen und schlenkert um die haltungslose Gestalt, die in
einer ostentativ schäbigen Bluse steckt. Die Hände werden
entweder tief in die Taschen des Mantels gesteckt oder auf
dem Rücken in die Ärmel geschoben, wobei die Ellbogen
möglichst weit vom Körper abstehen müssen. Natürlich wird nie-
mandem ausgebogen, im Gespräch roh gegrinst, geraucht, ge-
spuckt, und man befleißigt sich der ordinärsten Ausdrucks-
weise. Die holde Weiblichkeit der entsprechenden Kategorie
zeichnet sich durch ein Äußeres und Benehmen aus, das
den schlechter erzogenen Repräsentantinnen der Halbwelt liebe-
voll und mit entschiedenem Talent abgelauscht ist. Der Flirt
dieser jungen Leute, den jeder, den es interessiert, auf dem
Alexander-Boulevard oder noch besser in zahlreichen Kon-
ditoreien beobachten kann, trägt einen solchen Charakter, daß
man an der Zukunft, dem sittlichen Wert und der erzieherischen
Qualifikation dieser gesamten Generation schier verzweifeln
muß. Der Stempel der Verkommenheit ist diesen jugend-
lichen Gestalten, die leider auch einmal Familie gründen wer-
den, aufgeprägt."
Diese Jugend entspricht aber nur den allgemeinen Ver-
hältnissen, ist eine Pflanze des Sumpfes, den wir russische
Sittlichkeit nennen müssen. „Die Bezirksgerichte betrachten
den Ehebruch gar nicht als eine ernsthafte Verletzung der
ehelichen Pflichten,** sagt der Verfasser eines russischen Buches
— 451 —
über die russischen Frauen.^) Wo man keine eheliche Treue
zu wahren für nötig hält, kümmert man sich auch wenig oder
gar nicht um die Erziehung und die Moralität der Jugend.
Nur ein Bruchteil der russischen Jugend erhält überhaupt eine
Erziehung. Und wie ist diese Erziehung beschaffen? Vor-
stellungen von Pflicht zu erwecken, die Notwendigkeit der
Pflichterfüllung zu lehren, dies betrachtet sie nicht einmal als
ihre Aufgabe. „Die Erziehung der russischen Jugend,** schrieb
der Engländer Lanin^), „geschieht in jenem engen Geiste,
der sie niemals ihre Beziehung zu Familie, Gesellschaft und
Vaterland erfassen läßt; denn was ihnen an Unterricht zuteil
wird, besteht hauptsächlich in einem Zusammenhang- imd ziel-
losen Stück- und Flickwerke von zum Teil höchst zweifelhaftem
Lehrwerte. Davon, daß die zarten, jungen Seelen mit fester
und zugleich milder Hand in der Selbstbeherrschung, wie in
der Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit geschult, daß die
jungen Triebe und Begierden da, wo sie gar zu üppig empor
sprießen wollen, auch wenn es wehe tut, geputzt und be-
schnitten werden müssen, auf daß ihre moralische Kraft er-
starke, ihr sittliches Urteil sich festige und erhöhe, daß ihre
Neigungen sich veredeln und der Kreis der Dinge, für welche
ihre jugendlichen Herzen Zuneigung fassen, sich immer mehr
erweitere, kurz, von jener auf liebevolle Sorge und weise
Lehre, vor allem aber auf die wirksame Predigt des eigenen
Beispiels gegründeten Erziehungs weise, die das Ziel der moder-
nen Pädagogen ist, hat man in Rußland bis heute noch nicht
die geringste Vorstellung.**
In früheren Kapiteln habe ich schon mehrfach Gelegenheit
gehabt, die Bildung, die dem männlichen Geschlecht in Ruß-
land in den verschiedenen lEpochen zuteil wurde, zu schildern, s)
Noch schlimmer als um die Erziehung der Knaben war es
um die der Mädchen bestellt. Das weibliche Geschlecht ver-
brachte fast sein ganzes Leben in dem Terem und benötigte
keine Bildung. Im Gesetzbuch des Großfürsten Jaroslaw gilt
die russische Frau des elften Jahrhunderts als „auf einer
1) Pachmann, Das Buch von den Frauen, S. 59. — Lanin a. a. O,
2) a. a. O. 31.
3) Band I. S. 31—53.
29*
— 452 —
Stufe stehend mit einem Lahmen, einem Blinden, einem
Krüppel, einem Bettler," mit einem Worte als ein un-
vollkommenes oder verunstaltetes menschliches Geschöpf,
stark genug aber, um dem gemeinen Manne ak Lasttier
zu dienen; und schön und reizvoll genug, dem Vornehmen
ein Werkzeug der Wollust zu sein. So bleibt es bis zum Ende
des siebzehnten Jahrhunderts, und es fällt weder den Be-
drückern noch den Bedrückten ein, die Situation ändern zu
wollen. Die Töchter der Vornehmen schmachten ganz zu-
frieden in dem Terem und lernen nichts, weil sie nichts zu
wissen brauchen. Ist einmal ein Bojar gar erleuchtet, so läßt
er seinen Töchtern durch einen Popen oder Kirchendiener
etwas von der Kunst des Lesens, seltener auch des Schreibens
beibringen. Die Zarin Praskowja, Gemahlin des Zaren Iwan V.,
des Stiefbruders und Mitregenten Peters des Großen, ist die
Erste, die für ihre Töchter einen Gouverneur und Sprachen-
lehrer engagiert: den Deutschen Johann Christophor Dietrich
Ostermann; später beruft sie in ihr Haus noch einen zweiten
Lehrer, ebenfalls einen Deutschen, Stefan Ramburg, „damit er
den Prinzessinnen das Tanzen und die Anfangsgründe der
französischen Sprache beibringe.** Die beiden Lehrer scheinen
aber nicht viel zustande gebracht zu haben. Die Prinzessinnen
sprechen die Sprachen schlecht, im Tanz reüssiert nur die aus-
gelassene Katharina, spätere Herzogin von Mecklenburg; na-
mentlich Anna, die spätere Kaiserin, bleibt hinter allen Er-
wartungen zurück und schreibt noch als Zarin ein entsetzlich
fehlerhaftes Russisch. Und dies sind schon die leuchtenden
Ausnahmen der ZeitI Die Töchter adeliger oder gar bürger-
licher Familien verstehen weder zu lesen noch zu schreiben.
Allerdings darf man nicht vergessen, daß auch die Männer
in diesen Künsten nicht gar so fortgeschritten sind; selbst in
der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, Jahrzehnte nach dem
Tode Peters des Großen, findet man noch unter den ersten
russischen Staatsmännern Leute von verblüffender Ignoranz.
Man hat schon Akademien, aber keine Elementarschulen, und
diesen Widersinn charakterisiert ein Aktenstück aus 1740, das
von einem Schüler der Akademie, einem gewissen Nartow,
erzählt: „Er kann selbst seinen Namen im Russischen nur
— 463 ^
mit Mühe unterfertigen." Nach dem Zeugnisse Gribowskijs^)
konnten von allen Hofleuten Katharinas II. nur zwei : Patjomkin
und Besborodko orthographisch russisch schreiben!
Sollten da die immer als Geschöpfe niedriger Ordnung
behandelten Frauen ehrgeiziger sein als die Herren der Gesell-
schaft? Peter der Große hatte die Frau aus dem Terem
hinausgeführt in die große Öffentlichkeit, aber als er ihr befahl,
an der Unterhaltung und den Reformen, die er meinte, teil-
zunehmen: da verlangte er von ihr nicht auch Bildung; ihm
genügte es, wenn sie tanzte und Branntwein trank. Erst
Katharina II. stiftete Bildungsanstalten für die weibliche
Jugend; doch nur für die Töchter der Adeligen. Die Er-
ziehungsanstalt des Smolnaklosters und das Katharinenstift zu
Petersburg, das Katharinenstift zu Moskau und das Fräulein-
stift zu Charjkow nahmen ausschließlich junge Mädchen
adeliger Herkunft auf. Bürgerliche konnten bloß im Alex-
anderinstitut zu Moskau und im Findelhaus zu Petersburg,
wenn die Väter besondere Protektion hatten, auf Kronskosten
eine Erziehung erhalten. Der Rest war der totalen Unbildung
ausgeliefert, wenn keine Mittel da waren, den kostspieligen
Aufenthalt in einem Pensionat oder den noch kostspieligeren
Privatunterricht zu bestreiten.
Und es ist wahrlich noch die Frage: ob man besser tut,
die Töchter gar nicht erziehen zu lassen oder ihnen die Er-
ziehung zu geben, die geboten wird. Gelingt es, die Mädchen in
eines der privilegierten adeligen Institute zu bringen, so müssen
sich die Eltern verpflichten, sie jahrelang dort zu lassen. Das Re-
glement macht zum Gesetz, daß die Schülerinnen, die als kleine
Kinder aufgenommen werden, die Institute bis zur Beendi-
gung niemals — auch während der Ferien nicht — verlassen
dürfen. Sie werden also der Familie vollständig entfremdet.
Und was gewinnen sie dafür? Das Programm des Unterrichts
schreibt Wissenschaften und Künste vor, die nichts mit der
Bildung noch mit dem Leben zu tun haben; und wenn die
Schülerinnen endlich die Anstalt verlassen, sind sie zu gar
nichts tauglich: „Künstlich von dem wirklichen Leben und
1) MEXHeBiTTL, PyocKaa yKßBnjfma. XVUI crai., 81.
- 454 —
namentlich von jeder Berührung mit Männern abgesperrt, pfleg-
ten die entlassenen Töchter der kaiserlichen Institute sich
mit dem Heißhunger junger Fliegen auf die Freuden der Ge-
selligkeit zu stürzen tmd das Versäumte so gründlich nach-
zuholen, daß sie gewöhnlich schon nach wenigen Wochen
von routinierten Veteranerinnen des Salons nicht mehr zu
unterscheiden waren.** i) Die nichtadeligen Töchter, die auf die
Privatpensionate und auf Hausunterricht angewiesen waren,
erreichten nicht viel mehr. Ihre Erzieherinnen sind in erster
Linie Gouvernanten, die jene Staatsinstitute absolvierten, also
Lehrerinnen, die selber nichts gelernt haben. Neben diesen
russischen Erzieherinnen gibt es deutsche Gouvernanten,
Schweizerinnen und Französinnen; das Wichtigste, was von
ihnen gefordert wird, ist die korrekte Aussprache ihres hei-
mischen Idioms; alles andere ist Nebensache. Besonders beliebt
sind ausrangierte Tänzerinnen 2) und Schauspielerinnen, „weil
Personen dieser Kategorien sich in bezug auf Tournure, Unter-
haltungsgabe und esprit de conduite gewöhnlich brauchbarer
zeigten als die pedantischen Deutschen und die schwerfälligen
Schweizerinnen von Waadtland und Neufchätel.** In vor-
nehmen Häusern brachte man es häufig zu Repräsentantinnen
aller Nationen; und dies galt als nobelste Erziehung.
Die Regierung fand erst im Jahre 1856 die Zustände re-
formbedürftig, und seit 1860 befaßte man sich mit der Grün-
dung von Mädchengymnasien. Ende 1872 zählte man in Ruß-
land und Polen 55 Gymnasien und 131 Untergymnasien für
Mädchen mit etwa 25 000 Schülerinnen. Wie die weibliche
Jugend früher jede ernstere Beschäftigung als mit den An-
sprüchen des guten Tones unvereinbar belächelt hatte, so warf
sie sich jetzt mit Übereifer auf die Studien, die bisher den
Männern allein reserviert gewesen waren. Den merkwürdigen
Umschwung, der sich rapid vollzog, schildert ein feiner Be-
obachter also^): Zahllose Frauenzimmer, die gewohnt ge-
1) Aus der Petersburger Gesellschaft, III 255, 256.
2) Turgenjew schildert in ,,Rudin" eine zur Erzieherin erhobene Ex-
tänzerin, die bei dem Klang des Wortes amour emporfährt ,,und die Ohren
spitzt wie ein ausrangiertes Dragonerpferd beim Ton der Trompete".
^) Aus der Petersburger Gesellschaft, III 266.
— 455 —
Wesen waren, ihre Tage mit dem geschäftigen Müßiggang
des Gesellschaftstreibens auszufüllen und das althergebrachte
Herumlungern in den Häusern wohlhabender Verwandter pro-
fessionell zu betreiben, begeisterten sich plötzlich für den Ge-
danken, „nützliche Glieder** der Nation zu werden und es den
Männern an Arbeit, Tätigkeit und Bildung gleichzutun. Da
von allem, was bisher Regel und Herkommen gewesen, plötz-
lich das Gegenteil galt und da sich in der Tat nicht leugnen
ließ, daß der Müßiggang, die Putzsucht und geistige Leere
des weiblichen Teils der gebildeten Klasse in den Tagen des
ancien regime Krebsschäden des russischen Lebens gebildet
hatten, glaubte das junge Geschlecht aller Rücksichten auf
die Gewohnheiten, und Sitten seiner Mütter entbunden zu sein
und es in jeder Rücksicht anders als diese machen zu müssen.
Das an und für sich löbliche Bestreben, das Leben inhaltreicher
und würdiger als bisher m gestalten, verzerrte sich unter dem
Einfluß, der die mittleren und höheren Lehranstalten für
Männer beherrschenden, kraßrealistischen und demokratischen
Tendenzen zu einer Karikatur, die anfangs nur lächerlich und
geschmacklos, in der Folge aber höchst gefährlich wurde.
Unter den bildungsdurstigen jungen Russinnen kam ein Ra-
dikalismus in die Mode, der denjenigen der Männer alsbald
an Entschiedenheit und Zynismus übertraf. Weil in den Pen-
sionaten alten Zuschnitts französische Sprache, Musik, Tanz
und „Börsensticken** die ernsteren Beschäftigungen zurück-
gedrängt hatten, sollte es eine Schande sein, sich mit Künsten
und weiblichen Arbeiten überhaupt noch abzugeben; weil
Kleiderluxus und Modekultus früher bis zum Unsinn getrieben
worden, gefiel die auf der Höhe der Zeit stehende weibliche
Jugend sich darin, alle Schönheitsrücksichten außer Augen
zu setzen, nach Männerart zugeschnittene knappe Jacken an-
zulegen, das Haar kurz zu verschneiden und Brillen aufzu-
setzen; an die Stelle der aristokratisch-koketten „Tournure**,
mit deren Erlernung die Dorfschönen und Beamtentöchter
früherer Zeit sich abgequält hatten, trat ein zynisches Ge-
bahren, das Geschlechtsunterschiede und Geschlechtsrück-
sichten systematisch außer Augen setzte und eingehende Be-
kanntschaft mit den Geheimnissen der Anatomie und Em-
— 466 —
bryologie für ebenso selbstverständlich ansah, wie Zigarren-
rauchen und Kneipenbesuchen. „Alles das/* klagt ein nissi-
scher Familienvater, „was man früher in Gegenwart eines
Mädchens nicht erörtern durfte, setzt die moderne Jung-
frau detailliert auseinander, und sie analysiert es mit
einem Geschick, wie es selbst einem Fachmann zuweilen
nicht eigen ist.**
Diese Klage ist bezeichnend. Sie wird verstärkt durch
die Bekenntnisse einer Russin, die als Direktrice^) eines Mäd-
chengympasiums Erfahrungen gesammelt und in einem Buche
über die weibliche Erziehung in Rußland bestätigt hat, „daß
die faule Atmosphäre der Straße und des Marktplatzes Zu-
gang in die Schulzimmer des Mädchengymnasiums geftmden."
Sie zeigt uns die studierende weibliche Jugend Rußlands in
einem unbeschreiblichen Zustande der Unsittlichkeit und Ver-
worfenheit; man fühlt sich versucht, ihre Wahrheitsliebe zu
bezweifeln, wenn sie erzählt, wie die Gymnasiastinnen — Mäd-
chen von 12 bis i6 Jahren — ihre Abende in Caf6s chantants
niedrigster Sorte zubringen und sich dort unverschämt un-
anständig aufführen. 2)
Nicht weniger traurig steht es um die Mädchen, die Privat-
unterricht erhalten, oder gar um jene, die in Pensionaten er-
zogen werden. Das russische Mädchen wird auffallend früh
reif. Schon im zwölften Jahre zeigt sich mit der Menstruation
ihre Mannbarkeit. Während einige 3) die frühe Reife dem
Gebrauche der Dampfbäder zuschreiben, bezeichnen andere*)
als die Ursachen dieser Erscheinung das Klima und das frühe
Erwachen der Naturtriebe. Die Gouvernanten geben ihren
Zöglingen gern versteckte und offene Aufschlüsse über die Ge-
^) Der Unterricht an den Mädchengymnasien wird von Lehrern erteilt,
auch der Turnunterricht. Aber neben dem Direktor gibt es eine Direktrice,
und außerdem für jede Klasse eine Klassendame, die — von den Schülerinnen
Cerberus genannt — in jeder Stunde neben dem Lehrer sitzt und auf ,, Ordnung
und Anstand" zu sehen hat.
^) Lanin, a. a. O. 32.
^) Storch, Historisch-statistisches Gemähide des Russischen Reiches, I 482.
^) Der Arzt Wichelhausen, Züge zu einem Gemähide von Moskwa, 289.
^ 457 —
fühle, die sie schon im dreizehnten Lebensjahre beunruhigen,
und den Rest besorgt die Ungeniertheit der Mütter, die die
kleinen Mädchen an den intimsten Unterhaltungen der Großen
teilnehmen lassen.^) Da die Töchter im Hause keine ernste
Arbeit zu besorgen haben, können sie fast ihr ganzes Denken
und Sinnen auf ihre physischen Triebe richten, und es ist
Tatsache, daß in keinem Lande die Masturbation des weib-
lichen Geschlechts so stark verbreitet ist wie in Rußland. Die
Wahrheit dieser Behauptung wird jeder Arzt bestätigen, der
die höheren und mittleren Kreise der russischen Gesellschaft
besucht. Das Laster findet man in den Pensionaten noch
häufiger; ja hier gehört es förmlich zu den Attributen der
Anstalt. Die schädlichen Folgen kann man ermessen, wenn
konstatiert wird, daß in jeder Stadt Rußlands durchschnittlich
die Hälfte der Mädchen schulpflichtigen Alters in Pensionaten
und öffentlichen Instituten erzogen wird.
Die Knaben-Pensionate und Knaben-Gymnasien zeigen die-
selben trostlosen Bilder. Der Junge von vierzehn Jahren be-
sucht schon das Bordell; die Sinnlichkeit beherrscht alle Hand-
lungen der Jugend, und die Lehrer fördern die Unsittlichkeit.
Vor wenigen Jahren machte in Petersburg der Fall des Direktors
Bitschkow großes Aufsehen; dieser Jugendbildner hatte sein
Gymnasium in eine komplette Päderastenanstalt umgewandelt;
infolge einiger schwerer Unfälle wurde seinem Treiben ein
Ziel gesetzt und seine Verbannung nach Sibirien ausgesprochen.
Wieviele Direktoren Bitschkow laufen frei herum! Alle Ka-
dettenschulen stehen auf derselben Stufe wie das Gymnasium
Bitschkows, alle kaiserlichen Pensionate und alle Privatinstitute
sind solche Lasterhöhlen, und kein Geringerer als der frühere
Ministerpräsident Witte hatte auf die entsetzliche Situation in
einer warnenden Schrift hingewiesen. Aber die Eltern selbst
bleiben gleichgültig und halten alles für unabänderlich. Man
fragte einen höheren Beamten des Unterrichtsministeriums, der
diese Zustände bestätigt und beklag^ hatte: „Wo lassen Sie
denn Ihre Kinder erziehen?** und erhielt folgende philoso-
phische Antwort : „In denselben Instituten. Ich bin Fatalist
^) Buddeus, Zur Kenntnis von St. Petersburg im kranken Leben, I 89«
— 458 —
und denke, daß Kinder von der Natur stark ausgerüstet sind.
Einige werden überhaupt von dem Laster nicht angesteckt,
andere nehmen die Krankheit in geheimnisvoller Weise auf,
anderen wieder scheint das Laster angeboren zu sein."
48. Schamgefühl und Keuschheit.
Schamlosigkeit der Vorfahren der Russen — Sprichwort — Ausländische Urteile
über das russische Schamgefühl — Peter der Grofift — Elisabeths Bettgenossä
— Die Edelfrauen und ihre Sklaven — Geilheit der russischen Frauen und Männer
— Dienstmägde — Seltsame Prüderie der Geistlichkeit — Russen und Polen *■:—.
Die Polen in Rußland — Warschauer Sitten — Die Sittenlosigkeit in Kauka-^
sien — Schamhaare und Schamgefühl — Schamgefühl und Keuschheit bei den
Kalmücken — Kamtschadalische Zustände — Der Penis der Kamtschadalen
und die Vulva der Kamtschadalinnen — Hurerei ehrenhaft — Wotjäkische
Anschauungen — Geschlechtliche Moral der Esten und Letten — Sittenlosig-
keit der deutschen Ordensbrüder.
Die Erziehung, die wir der russischen Jugend zuteil werden
sehen, ist also nicht darauf berechnet, das Schamgefühl zu
erwecken und die Keuschheit zu erhalten. Schamgefühl und
Keuschheit sind namentlich den Großrussen stets unbekannte
Begriffe gewesen. Der älteste russische Chronist Nestor erzählt
von den slawischen Vorfahren der Großrussen: „Die Drewljä-
nen lebten auf tierische Weise wie Vieh; feste Ehen hatten
sie nicht, sondern raubten die Jungfrauen beim Wasser. Und
die Radimitschen und Wjätitschen und Sewerjänen hatten eine
und dieselbe Gewohnheit und lebten wie allerlei Getier, aßen
alles Unieine, und trieben vor den Vätern und vor den Weibern
schandbares Zotenreißen.** i) Die Russen waren schon seit lan-
gen Jahrhunderten Christen, doch in ihren geschlechtlichen Sitten
hatte sich nichts geändert. Ein mittelalterliches russisches
Sprichwort sagt: „Eines Mädchens Gedächtnis und Scham-
gefühl reichen nur bis an die Türschwelle,** und es drückt
damit aus, daß die Russin in den Zeiten des Terem nur solange
^) La Chronique de Nestor, par Louis Paris — Rhamm, a. a. O. 321.
— 469 —
schamhaft und keusch blieb, als sie sich hinter verschlossenen
Türen befand. Die Fremden, die Rußland in den früheren Jahr-
hunderten bereisten, bestätigen genügend die Wahrheit des
russischen Wortes. „Von der Keuschheit kan ich nichts ver-
sichern,** schreibt einer von ihnen, „dann / obschon das Mosco-
witische Frauenzimmer allezeit eingesperret bleibet / so öffnen
sich dennoch bißweilen die Thüren ihres Gefängnisses / und
die natürliche Liebe / welche künstlich ist giebt ihnen / so
wohl als andern Völckern / die Mittel darzu an die Hand.**
Und als die Frauen von Peter dem Großen aus der Abge-
schlossenheit befreit worden waren, mißbrauchten sie sogleich
die ihnen gewährte Freiheit in ausschweifendstem Maße. „Es
ist nicht zu vermuthen,** heißt es in den Berichten des zeit-
genössischen preußischen Legationssekretärs Johann Gottlieb
Vockerodti), „daß die Frauenzimmer die Freiheit, so sie unter
Petri l. Regierung erlanget, gerne verlieren würden, ohner-
achtet selbige auch noch heutigen Tages sehr borniret ist, und
sich lange so weit nicht erstrecket, als in Frankreich und
Polen oder auch nur in Teutschland: welches auch generale-
ment davon zu sprechen, vor die Ehe ihrer Männer vielleicht
nicht gar zu wohl gerathen wäre, massen ihre Passiones vif
und durch die Education selten gebrochen sind, daher dann,
wann sie sich verlieben, der Roman insgemein sehr kurz wird.**
Peter der Große selbst verursacht keine besonders gute
Meinung von dem russischen Schamgefühl, da er auf seiner
Reise durch Europa in Obszönitäten schwelgt. 17 18 besucht
er mit Katharina in Berlin das Königliche Medaillenkabinett
und ergötzt sich an einer jener obszönen Statuen, mit denen
die Römer ihre Hochzeitskammern zu schmücken liebten. Er
ruft die Kaiserin herbei, zeigt ihr die Statue und befiehlt ihr,
das Ding zu küssen. Und als sie, die ja sonst nicht so keusch
ist, sich dennoch weigert, angesichts vieler Fremder des Zaren
schweinischem Befehl zu folgen, da droht er ihr, nicht spaß-
haft, sondern in brutalem Ernst : Kop ab I Kop ab I ^) Peters
^) Bei Herrmann, Zeitgenössische Berichte zur Geschichte Rußlands
unter Peter dem Großen. Leipzig 1872, S. 106, 107.
2) Memoiren der Markgräfin von Bayreuth. lo. Aufl. S. 32. Berlin,
Verlag von Herrn. Barsdorf.
— 460 ~
und Katharinas Tochter Elisabeth hat von den Eltern nicht
viel Gutes lernen können. Ihre Keuschheit verliert sie schon
in einem Alter, da andere Mädchen in kurzem Kleide noch
nicht einmal den Unterschied der Geschlechter, kennen; und
Schamgefühl hat sie nicht im geringsten. Die Türkin duldet
es nicht, daß der entmannte Wächter, der vollständig gefühl-
lose Eunuche in ihrem Schlafzimmer verweilt, wenn sie sich
entkleidet, um zu Bette zu gehen; aber Elisabeth, Kaiserin
aller Reußen, läßt ihren Gardisten Tschulkow nicht bloß in
ihrem Zimmer, sondern auch zu ihren Füßen im Bette schlafen,
während sie sich mit einem Rasumowskij oder Schuwalow
den intimsten Beschäftigungen widmet.
Die Sittlichkeit der Gesellschaft entspricht der des Hofes.
Die Edelfrauen lassen sich von ihren Sklaven die heikelsten
Dienste leisten ; denn der Sklave, der Niedrige, ist in den
Augen des Höheren kein Mensch, man braucht sich also vor
ihm ebensowenig zu schämen wie vor einem Tiere, i) Man
muß, nach Ansicht der Russin, ihres Ranges sein, lun sie
erröten zu machen. Eine russische Dame ging mit einer Fran-
zösin spazieren, und zwei Bediente folgten ihnen nach. Auf
einmal rief die Dame ihre Diener, ließ sich von ihnen unter
die Arme greifen und entfernte sich ein wenig vom Wege. Hier
ließ sie sich hinter einem Gesträuch durch ihre zwei Pagen
die Röcke aufheben und verrichtete, von ihnen gehalten, ein
dringendes Bedürfnis. Die Französin konnte es nicht unter-
lassen, ihr ihre Verwunderung und Mißbillig^ung zu erkennen
zu geben, daß sie sich nicht schämte, ein solches Geschäft
zwischen zwei Männern zu besorgen. „Wie?** antwortete die
Russin, „es sind ja meine Sklaven; sie sollten sich nur einmal
den Gedanken einfallen lassen, daß ich noch etwas anderes
habe als einen Rock, oder sich gar einbilden, daß ich für sie
Frau bin und sie für mich Männer sindl** Eine andere Russin
bekam Lust, sich die Zeit mit Fischfang zu vertreiben. Sie
ließ Netze holen und befahl einigen Bedienten, daß sie sich
auskleiden und ins Wasser gehen sollten. Sie taten dies
sofort und standen vor der Gebieterin in völliger Nacktheit
1) Eine ähnliche Auffassung werden wir bei den Armeniern kennen lernen.
— 4ßl —
da. Die Dame erteilte ihnen kaltblütig die nötigen Befehle
„und sah mit einem, in der Tat komischen Blick der Verachtung
auf ihre durch Wasser und Kälte eingeschrumpften Glieder
herab."!)
Die Russinnen könnten also ziemlich abgestumpft sein. Von
früh auf sehei^ sie ohne Schrecken den Mann in seiner ganzen
physischen Nacktheit vor sich. Die Badesitten 2) sind auch
nicht geeignet, das Schamgefühl zu beleben. Nun sind ja
die Auffassungen des Schamgefühls und die Ansichten darüber,
ob diese oder jene Art berechtigter sei, verschieden. Aber bei
den Russinnen ist die ländlich-sittliche Ungeniertheit gleich-
zeitig verbunden mit einer unbezähmbaren Geilheit; und eine
Folge ihrer Abgestumpftheit ist nicht Gleichgültigkeit gegen
das andere Geschlecht, sondern die krankhafte Sucht, sich
durch raffinierte Mittel Reizungen zu verschaffen. Nach dem
Sturm von Otschakow wurden auf dem Dnjepr, der damals zu-
gefroren war, große Haufen von nackten Leichnamen der ge-
fallenen Moslems aufgetürmt; um diese Pyramiden herum
fuhren die russischen Damen in Schlitten spazieren und
ergötzten sich an den steifen Körpern und Körperteilen. Ein
Europäer war einmal Zeuge, wie eine russische Dame um
einen jungen Hengst handelte; „sie untersuchte ihn mit einem
besonderen Wohlgefallen, und streichelte ihm seine Testikeln,
die sehr stark vorlagen.*' Eine Fürstin Galizyn wieder erzählte
einmal in einer großen Gesellschaft, daß sie „drei Affen ge-
kauft habe, ein Weibchen und zwei Männchen. Wenn zwei
davon sich paaren, sagte sie, so ist der dritte sich selbst genug ;
ich sitze dabei auf dem Kanapee, und sehe mit großem Ver-
gnügen dem sonderbaren Schauspiel zu.** 3)
Diese Pikanterien erzählt der französische Major Masson.
Die Russen lassen ihn ebensowenig als unverdächtigen Zeugen
gelten wie seinen Landsmann, den Marquis de Custine, der
vierzig Jahre später als Masson sagte : „Les Berits de nos
peintres des moeurs les plus hardis ne sont que de bien
1) Geheime Nachrichten, II 158, 159.
2) Vgl. Band I 428.
3) Geheime Nachrichten II 197.
— 462 —
faibles copies des originaux que j'ai journellement sous les
yeux depuis que je vis en Russie.** Aber des deutschen Pastors
Bellermann Wahrheitsliebe und Unparteilichkeit hat man nie-
mals in Zweifel gezogen, und dieser Zeuge sagt auf Grund
mehrjähriger Beobachtungen und Erfahrungen (von 1778 bis
1782): „Im ganzen genommen lebt das russische Mädchen
keusch; keuscher als die Frau. Bei der letzteren ist die
Moralität sehr gesunken; ja Angehörige dieses Standes
scheinen gar keine Moralität zu haben. Sklaverei, Gewalt
des Erbherrn und dessen rohesten Junkers über seine Unter-
tanen, öffentliches Bad, Beispiel der höchsten Damen, Un-
sittlichkeit der Mannespersonen und andere dergleichen Dinge
geben diesem Krebsschaden immer mehr Nahrung."^) Und
einer der wärmsten Freunde Rußlands, Leroy-Beaulieu^),
schreibt endlich hundert Jahre nach Bellermann: „Bei beiden
Geschlechtern scheint das Schicklichkeitsgefühl geringer, die
Schamhaftigkeit weniger scheu als im Westen; Männer wie
Frauen setzt die Nacktheit weniger in Verlegenheit."
Wie die Herrinnen, so die Mägde. Fanny Tarnow, spätere
Lewald, die zu Anfang der Regierung Nikolajs I. ihre Peters-
burger Briefe verfaßte, klagte ''^) „Wenn einem das häusliche
Leben hier ernstlich verleiden kann, ist die Sittenlosigkeit der
Dienstboten. Von der unter dieser Klasse herrschenden Sitten-
losigkeit kann man sich nach allem, was ich davon höre,
wohl keine zu grelle Idee machen.** Katharina II. hatte durch
die Stiftung von Findelhäusem imd Entbindungsanstalten dafür
gesorgt, daß die Armen vor jeder unangenehmen Folge ihrer
Unkeuschheit behütet blieben. „Die Köchin hier im Hause,**
heißt es in Fanny Lewaids Briefen 4), ,,hat nun schon 9 Kinder
gehabt, was ihr weiter nicht die geringsten Umstände, oder
die kleinste Sorge macht. In einer Abendgesellschaft bei Frau
V. Kr. kam der Bediente herein, ihr zu melden, die Katinka sei
krank geworden und bitte daher um die Erlaubnis, die Nacht
bei ihrer Schwester zubringen zu dürfen; morgen bei guter
^) Bemerkungen über Rußland, I 355.
2) Das Reich der Zaren, I 118.
^) a. a. O. 132.
*) S. 133.
— 463 —
•
Zeit hoffe sie wieder kommen zu können. Als Frau v. Kr.
mich am andern Tag besuchte, fragte ich nach dem Befinden
der Kranken. Ach, antwortete sie mir, die ist wieder ganz
wohl, sie ist gestern abend nur nach dem Entbindjungshause
gefahren; nun ist das abgemacht und die kleine Episode ver-
gessen. — Solche Vorfälle sind hier sehr häufig."
Auf dem Lande, im Hause des Muschik^ hat die Scham-
haftigkeit nicht einmal Raum zur Entwicklung. Die schweren
Winter mit ihren langen Nächten zwingen die Familien nicht
bloß ununterbrochen in einem einzigen Räume zu wohnen,
sondern auch zu gemeinschaftlichem Schlafen auf dem breiten
Ofen, der in der Isba gewöhnlich die Lagerstätte der ganzen
Familie abgibt; die Eltern schämen sich nicht, neben und vor
ihren Kindern ihre ehelichen Genüsse zu verkosten, und es
wäre ein Wunder, wenn als Folgen dieser Ungeniertheit nicht
noch viel mehr Fälle von Blutschande und Unzucht sich er-
eignen sollten, als in den letzten Jahren durch die Presse an
das Tageslicht gebracht worden sind. Es wäre wohl Auf-
gabe der Geistlichkeit, auf das Volk günstig einzuwirken. Aber
wir kennen ja schon zur Genüge diese russische Geistlichkeit
und ihre merkwürdigen Anschauungen in bezug auf Sittlich-
keit, Keuschheit und Schamgefühl, i) Ein klassisches Beispiel
dessen, was dem Popentum Schamgefühl und Keuschheit be-
deuten, lieferte in unseren Tagen der Metropolit Hermogen von
Saratow. Zugunsten der unbemittelten Schülerinnen der Sa-
ratower Eparchialschule veranstaltete im April 1907 eine Opern-
sängerin, die berühmte Bobrowa, ein Konzert. Sie trug viele
Lieder geistlichen Inhalts, daneben aber auch einige Arien
aus den Opern Martha, Traviata und Mignon vor. Als der
Metropolit nachträglich vom Programm Kenntnis erhielt, wies
er das eingeflossene Geld zurück und setzte die Direktrice und
den Inspektor der Eparchialschule ab. Als Grund für seine
Handlungsweise gab er an: Das DecoUet^ der Sängerin und
den Vortrag komödienhafter Lieder! „Das Decollet^ der Sän-
gerin," erklärte der Metropolit, „mußte die jungen Seelen
^) Vgl. Band I 105, 115, 121, 123, i3off. Ferner in diesem II. Bande
das 54. und das 60. Kapitel.
— 464 —
•
der Schülerinnen demoralisieren, und der Vortrag von Arien
aus Opern kann nur nachteilig einwirken auf die religiös-
sittliche Erziehung der Mädchen I**^)
Fragt man die russischen Historiker nach dem Urspnmg
der allgemeinen Sittenlosigkeit des Volkes, so schieben sie
die Verantwortung auf fremde Einflüsse. So wie an der Grau-
samkeit der Russen die Tartaren schuld sein sollen, so werden
die Polen bezichtigt, den keuschen russischen Charakter ver-
dorben zu haben, als sie unter Pseudodmitry-Rastriga nach
Moskau kamen. „Pseudodmitry,** sagt Karamsin^), „der unseren
Gebräuchen und der Vernünftigkeit zuwider handelte, ver-
achtete auch die, heiligeren Gesetze der Sitthchkeit; et wollte
seine groben Begierden nicht im Zaume halten und verletzte,
von Wollust glühend, offenbar die Vorschriften der Keusch-«
heit und des Anstandes ; Weiber und . Jimgf rauen, den Hof,
Familien und heilige Klöster entehrte er durch. die Frech-
heit der Ausschweifung." Die Wahrheit ist nur die, daß nüt
der pohlischen Invasion eine Epoche beispielloser VerwUde-
rung begann. Aber die Sittenlosigkeit brauchten die Polen
nicht erst nach Rußland zu verpflanzen; Schamgefühl und
Keuschheit konnten sie dort nicht* vernichten, weil sie gar
nicht existiert hatten. Abraham Palizyn, den Karamsin selbst
einen „tugendhaften Augenzeugen, erfüllt von Liebe zu seinem
unglücklichen Vaterlande und zur Wahrheit** nennt, klagt im
Jahre 1608, als die Polen Moskwa verheerten 3): „Rußland
wurde von seinen eigenen Söhnen mehr zerfleischt als von
Fremden; die Führer, Lehrer und Beschützer der Polen waren
die Verräter unter den Unsrigen; die Polen sahen nur zu
und spotteten. Alle Beute gehörte den Polen: diese suchten
sich die besten Gefangenen, die schönsten Jünglinge imd
Mädchen aus, oder ließen selbige von ihren Verwandten aus-
lösen — und nahmen sie diesen, zur Ergötzlichkeit der Russen,
aufs Neue wieder abl Das Herz erbebt bei der Er-
innerung an ihre Freveltaten; dort, wo so eben das warme
1) Bericht der Saratower Zeitung „CapaTOBCKift ähctoki.*'.
2) Geschichte X 189.
^) Karamsins Geschichte XI 105. xo6, X07.
— 465 —
Blut gerann, wo die Leichen der Erschlagenen lagen, dort
suchte schändliche Wollust ein Lager für ihre verruchten Ge-
nüsse Junge geweihte Nonnen wurden entblößt, ge-
schändet; der Ehre beraubt, verloren sie auch das Leben in
den Qualen der Schmach I Es gab Frauenzinuner,
welche sich von den Fremdlingen und der allgemeinen Sitten-
losigkeit verführen ließen; andere dagegen retteten sich durch
den Tod vor viehischer Gewaltthat. Aus Kelchen zechte man
und setzte die Speisen in Hostienschüsseln auf; auf den Hei-
ligenbildern würfelte man; die Kirchenpaniere dienten statt
der Fahnen, und im Priesterschmucke tanzten die Huren. Ein-
siedler und Klausner mußten freche Lieder singen: wer da
schwieg, wurde niedergemacht.**
Es ist nach alledem töricht, die Polen als die Urheber der
russischen Sittenlosigkeit zu bezeichnen, ebensowenig wie die
Polen das Recht hätten, für ihre eigene Verwahrlosung die
Russen verantwortlich zu machen, wenn auch zugestanden
werden kann, daß die alte polnische Unsittlichkeit durch die
Berührung mit dem Rußland der zweiten Katharina bis ziu:
Abgrundlosigkeit vertieft wurde. Aus dieser Zeit besitze ich
ein rares Büchlein, das in possierlicher Weise die Warschauer
Zustände beschreibt; der Verfasser ist offenbar ein entschiede-
ner Gegner der Polen, aber seine Beobachtungen besitzen viel
des Wahren und seine Erzählungen sind amüsant und für
die Sittengeschichte des Landes charakteristisch genug, um
seinem Pamphlet Beachtung zu verschaffen, i) Warschau nennt
er: „Das heutige Sodom, Aufenthalt der Abentheurer, Mittel-
1 ) Die Schrift gehört zu den seltensten Stücken der deutschen erotischen
Literatur. Sie ist bloß 94 Seiten stark (zu 22 Zeilen, die letzten vier Seiten
sind enger gedruckt). Die einzelnen Kapitel behandeln : Regierungsart, Reichs-
tag, Gesetze, Warschau, Kriegswesen, Gesellschaft, Frauenzimmer, Unsauber-
keit, Reisen, Zweikämpfe. Dem Büchlein sind zwei Titelblätter vorgedruckt:
,,Die gröbsten Lügen des 18. Jahrhunderts. 1780" als erstes; und ein zweites:
,,Der Orang-Outang in Europa oder der Pohle, nach seiner wahren Beschaffen-
heit; eine methodische Schrift, welche im Jahr 1779 einen Preis in der Natur-
geschichte davon getragen hat. Orang-Outang heißt so viel, als ein Einwohner
der Wälder: dies ist eine Benennung der Affen, die in Amerika, in dem König-
reich Congo und in Ostindien befindlich sind. Californien 1780". (Mein Exem-
plar kostete bei einem Nürnberger Antiquar 48 Mark.)
Stero, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in RuBland ** 30
— 466 —
punkt der Laster." Von dem Polen sagt er: „Ist er von der
niedrigen Ctasse, so nmcht er des Morgens seinem Herrn oder
Beschützer die Aufwartung, wo er kaum einen Blick erhält,
und raucht Taback oder trinckt Bier, um sich zu vergnügen.
Ist er ein Vornehmer, so fähret er spatzieren durch die Straßen
von Warschau, er erhebt sich durch eine tägliche Bewegung
in einem Schausptelsaal, um daselbst seine Maitresse zu zeigen,
spielet den größten Theil der Nacht hindurch, und legt sich
zu Bette, wenn er einen Theil seines Vermögens verlohren, wenn
er übertölpelt worden, oder andere übertölpelt hat. Die jungen
Herren sind etwas lustiger; sie legen sich fast nie zu Bette,
ohne sich bei den Mädgen im ungarischen Weine wie die
Schweine besoffen zu haben." Von dem polnischen Frauen-
zimmer hat unser Anonymus die schlechteste Meinung: „Ich
muß versichern, daß das weibliche Geschlecht in Pohlen die
äußerste Unempfindlichkeit in der Liebeslust besitze, und daß,
wenn sie ja ein Vergnügen empfinden, sie solches so schlecht zu
erkennen geben, daß man sie für unempfindhch, und in diesem
Betracht gar nicht geschickt zur Liebe halten mögte. Diese
Wahrheit scheinet mir um so ungezweifelter zu seyn, da ich
Warschau mit fremden Frauenzimmern angefüllt gesehen habe,
zu welchen die Pohlen gehen, um sich (wie sie selbst sagen)
von den vergeblichen Bemühungen, ihre Frauen zu erhitzen,
zu erholen." Der Mangel des Schamgefühls bei den Polinnen
und Polen geht aus der Bemerkung hervor, daß dort die Frauen
volle Freiheit genießen, ihre Männer zu Hahnreien zu machen ;
die Gatten sind so wenig eifersüchtig, daß die Gattinnen offen
bekennen dürfen, wer ihre Liebhaber sind : „Diese Bloßstel-
lung ist dem Gatten mit andern gemein, und der gleiche Ruf
erhält die Schande der Männer im Gleichgewicht, folglich
kommt der Tadel zum Stillschweigen." Ebensowenig wie der
Gatte ist der Liebhaber von Eifersucht geplagt. Irgendein'
Fürst bringt den Sommer mit seiner Maitresse auf einem Gute
zu; die Maitresse gibt einem Generalmajor Gehör, und um
ihn nachts bei sich empfangen zu können, meldet sie sich
krank. Kaum ist der General bei ihr erschienen, da klopft
der besorgte Fürst, um sich nach dem Befinden seiner Ge-
liebten zu erkundigen. Während der General unters Bett
V
— 467 —
kriecht, legt sich der Fürst, „der sich in einem Alter von
57 Jahren rühmet, ein Frauenzimmer noch sieben mahl des
Nachts bedienen zu können," zu der Maitresse, die nun aus
Furcht dem Fürsten ihren Fehler gesteht und dabei schwört,
„daß der General noch nichts mit ihr habe vornehmen können.**
Der betrogene Liebhaber aber kränkt sich nicht; er zieht
den General unter dem Bette hervor und sagt ihm lachend:
„Haben Sie nur keinen Groll auf mich.** Das ist die Moral
der Geschichte: „Die Gleichgültigkeit, mit welcher der Fürst
die Untreue seiner Maitresse angesehen hat, gleichet durchaus
dem kalten Geblüt, womit alle Pohlen ihre Frauen oder Mai-
tressen in den Armen eines andern sehen können. Ich kenne
einen von Kopf und Wuchs kleinen Fürsten, welcher überall
ausbreitet, daß seine Kinder nicht von ihm sind; dieser arme
kleine Fürst begreift nicht, daß dergleichen Geständniß von
seiner Unempfindlichkeit und dem guten Geschmack seiner
liebenswürdigen Hälfte zeuget.** Die Liebe einer Polin ist
leicht zu gewinnen : bei den gewöhnlichen Frauen ist es nur
eine Geldfrage, einige der vornehmsten Damen aber bezahlen
umgekehrt ihre Liebhaber. Doch ist Vorsicht immer am Platze,
da die venerischen Krankheiten alle Kreise angesteckt haben.
Eine andere „noch gemeinere Unannehmlichkeit bey dem pohl-
nischen Frauenzimmer ist diese, daß sie fast alle den weissen
Fluß haben; eine sehr würdige Frau und Gemahlinn eines
Wojwoden sagte mir einstmahls, da sich die Unterredung dar-
auf lenkte, ich habe ihn selbst gehabt ; alle meine Töchter und
meine ganze Familie haben ihn ; man kann sich in ganz Pohlen
umsehen, und man wird finden, daß kaum der achte Theil
vom weissen Fluß befreyet ist.** Aber nicht bloß die Frauen-
welt ist schamlos und unkeusch, auch die Mädchen ^,thun
insgemein wenig Widerstand, wenn man sie plötzlich und ohne
Überlegung auf gerathe wohl angreift. Ich erinnere mich,-
daß ich an einem Abend eine Dame begleitete, welche einer
Freundinn, auf die sie wartete, entgegen gegangen war; die
Landdame kam bey Mondschein mit zwo jungen und schönen
Töchtern an. Ohne sie jemahls gesehen zu haben, setzte ich
mich mit der einen nebst ihrem kleinen Bruder in den zweyten
Wagen, ich stammelte sogleich einige pohlnische Worte her,
30*
— 468 ^
welche das Mädchen zum Lachen brachten, und darauf wurde
ich unverschämt; ich erhielt alle vorläufige Vergünstigungen
ohne Schwierigkeit . . . Ein ander mahl befand ich mich
bey einer kleinen Landlustbarkeit; man tanzte fast die ganze
Nacht, und da man solche des Morgens beschloß, so suchte
sich ein jeder eine Ruhestätte, wo er zu kam. Der ohngefähre
Zufall verschaffte mir einen Platz bey einer Demoiselle, die
ich in meinem Leben das erste mahl sähe; sie beklagte sich,
daß sie nicht gut läge, ich machte ihr den Antrag meinen
Platz mit ihr zu theilen; sie nahm ihn an, und ich theilte
bald darauf mit ihr ein leichtes Vergnügen , . . Ein Freund
marterte sich mit Seufzern fast zu Tode, und verzweifelte schon,
die Keuschheit oder Tugend seiner Schönen zu besiegen. Ich
rieth ihm, sie mit Sturm anzugreifen; dies war ihm anstößig,
und ich wurde meinerseits um so mehr dadurch angereizet,
und wettete, nächster Tagen mit der Eroberung zu Stande
zu kommen. Mein Freund nahm die Wette an, und ich ließ
ihn in das nächste Zimmer an dem ihrigen gehen, wo er bald
mit seinen eigenen Augen sähe, daß er verlohren hatte." i)
Nächst Polen zeichnete sich unter den von den Groß-
russen unterjochten Ländern der Kaukasus seit jeher durch
die Sittenlosigkeit seiner Bewohner aus. Von den Tscherkessen
erzählte der Reisende Interiano, daß sie, sobald sie in die
Schlacht zogen, das Brusthaar wegrasierten, weil sie es für
eine Sünde und Schande hielten, wenn man nach ihrem Tode an
diesem Teile Haare gefunden hätte. Diese schamhaften Tscher-
kessen halten es aber für anständig, „daß der Gast, in Gegen-
wart der Eltern, ihre erwachsenen Töchter allenthalben vom
Kopf bb zu den Füßen berührt; sie erlauben ihm alles, den
Beischlaf ausgenommen. Es kommen die Jungfrauen zu dem
Gast, mag er schlafen oder wachen, und säubern ihn unter
vielen Schmeicheleien von dem Ungeziefer, was hiesigen Lan-
1) Wem die Schilderungen dieses Pamphletisten übertrieben oder bös-
willig erscheinen, der lese die durchaus ernsten, fast gleichzeitigen „Briefe über
den jetzigen Zustand von Galizicn". Ein Beitrag zur Statistik. (Zwei Bände,
Leipzig 1786), wo die Verhältnisse im österreichischen Polen in nicht minder
krasser Beleuchtung hervortreten.
— 469 —
des als etwas Gewöhnliches und Natürliches betrachtet wird.**
Es gehen die Mädchen auch, wie in Rußland, vor aller Leute
Augen ganz nackt in die Flüsse, i) Das weibliche Geschlecht
in Tscherkessien erfreute sich, nach den übereinstimmenden
Berichten der besten Kenner des Landes, stets einer größeren
Freiheit und Ehre als sonst irgendwo im Orient, und fast
allgemein wurde auch hervorgehoben, daß es die Freiheit
nicht mißbrauchte und „nach ihrer Weise keusch und züchtig**
sich betrug. 2) Es ist wahrlich nichts so verschiedenartig, als
die Auffassung von Schamgefühl und Keuschheit bei den ver-
schiedenen Völkern. So erzählt Moriz Wagner von einem
Besuch in einem armenischen Hause: „Vor mir suchte die
Frau ihr Gesicht so viel als mögUch versteckt zu halten. Zu
meiner größten Verwunderung bemerkte ich aber, daß sie
gegen meinen Kosaken gar nicht dieselbe Sprödigkeit zeigte
und selbst in Gegenwart ihres Mannes den Schleier ganz
fallen ließ, wenn sie glaubte, daß nur Iwan, der Kosak, in der
Nähe sei. Bald ward mir dieser seltsame Umstand erklärt:
Wenn Sahakow, mein Wirt, nicht duldete, daß seine Frau
unverhüllt in meine Nähe kam, so geschah dies weit mehr
aus Rücksicht des AnStandes, als aus Eifersucht. Je vornehmer
in den Augen eines Armeniers der Gast, um so ängstlicher
wacht er, daß eine Verletzung des Anstandes, wie seiner Mei-
nung nach die Erscheinimg eines imverhüUten Weibes ist,
nicht stattfinde. Gegen gemeinere Leute glauben sie diese
Beobachtung des Anstandes weniger strenge befolgen zu müs-
sen; bei Dienern, Knechten, fallen diese Rücksichten end-
lich ganz weg. Als ich Tags darauf in einem anderen arme-
nischen Dorf nur einen Augenblick einkehrte, um Buttennilch
zu trinken, flüchteten die Weiber und Töchter des Hausbe-
wohners sogleich voll Schrecken hinter das Bett; zuweilen
aber steckten sie doch ihre CJesichter, zwischen Schüchtern-
heit und Neugierde ringend, ein bißchen hervor: Mein Haus-
wirt, der dies bemerkte, rief zornig: ,Glaubt Ihr, daß Ihr dort
von dem Fremden nicht gesehen werdet?* Dann wandte er
1) Neumann, Die Tscherkessen, S. 35, 37.
*) Ebenda 114.
— 470 —
sich mit höflichen Wonen zu mir, um dieses .unanständige"
Benehmen seiner Weibsleute zu entschuldigen."
Von einem anderen kaukasischen Volke, den Mingreliem
und ihren Frauen, hat schon der berühmte Reisende Chardin*)
Ergötzliches zu sagen gewußt : „Es giebt an diesem Ort ge-
sunde und wohlgestalte Leute, und sind die Weiber absonder-
lich schön. Die Fürnehmen haben für anderen etwas An-
mut higes in ihrem Gesichte, und erinnere ich mich einige
gesehen zu haben, welche wegen ihrer schonen Statur und
Majestätischen Ansehen Printzessinnen bedeuten können. Man
muß in dieselben nothwendig verliebet werden, weil sie bey
ihrer natürlichen Schönheit alle, so sie anschauen, mit hol-
den und liebelnden Augen, nicht anders, als wollten sie sie zur
Liebe reitzen, anblicken. Ihr Verstand ist von Natur spitzig
und erleuchtet, sie sind höflich und von vielen Gebärden,
übrigens aber boßhafft und leichtfertig, trotzig, auffgeblasen,
untreu, gefährlich, grausam und unzüchtig: da ist keine
Leichtfertigkeit so groß, deren sie sich nicht bedienen sotten,
damit die Männer in sie verliebet werden, hemachmahls von
ihnen bedienet und bey unausgesetzter Bedienung erhalten,
auch wenn sie ihrer satt und müde geworden, dieselben schänd-
hch hinrichten mögen. Das Geschwätz so man mit den Weibern
hat, ist ziemhch unerbar, weil sie einen grosen Gefallen an
Liebes-Gesprächen, fleischlichen Vermischungen und unzüch-
tigen Reden tragen. Ihre Kinder lallen ihnen solche Schand-
Reden nach, ehe und bevor sie noch recht reden können; sie
haben kaum das zehende Jahr erreichet, so pflegen sie als
Kinder schon von dergleichen schändlichen Dingen zu schwa-
tzen, und bleibet wohl dabey, daß die Kinder-Zucht in Mingre-
lien die allerschändlichste und leichtfertigste der Welt ist,
indem der Vater die Kinder zur Dieberey, die Mutter aber
zur Geilheit und Unflätherey aufferziehen." Natürlich waren
die Männer auch nicht besser. „Die Männer," sagt Chardin,
„sind noch viel schlimmer als die Weiber und viel verbübter
und ist ebenfalß keine Boßheit so groß, zu welcher sie ihr
böses Gemülh nicht verleiten solte. Sie sind in Dieberey er-
1) Ich zitiere nach einer .Ausgabe seiner Reisen von 1667.
U
— 471 —
zogen, der Meuchelmord und die Lügen, Trug und Gefähr*
lichkeit werden für die schönsten Thaten gehalten, Unfläthe-
rey und Ehebruch, zwiefache Ehe und Blut -Schande aber
vor Tugenden gepriesen. Die Männer berauben einander ihrer
Weiber. Da macht man kein Bedenken, Blut-Freundinnen und
Schwestern zu Ehe- Weibern sich zu erkiesen. Manche ob-
gleich Christen nehmen zwey biß drey Weiber, halten darbey
soviel Concubinen als ihnen beliebet, und lest sich Mann und
Weib dasselbe wenig irren, allermaßen man d^in nicht die
geringste Eyffersucht an ihnen spüret.** Als Chardin sich in
dem Orte Anarghie in Mingrelien aufhielt, hatte er zum Esseii
alles, was sein Herz begehrte, nur an dem lieben Brot fehlte
es. Dieses bekam er also : In Anarghie befand sich eine Dame
von hoher Abkunft. Chardin bezeigte ihr seine Ehrerbietung
und machte ihr einige Geschenke : ein paar Messer, eine Schere,
ein Band und Papier. Um sich dankbar zu erweisen, sendete
die Dame ihm täglich ein halbes Pfund Brot. Eines Tages
besuchte sie den Reisenden, er erwies ihr alle Höflichkeiten,
allein sie fing ihn „fast allzusehr zu lieben an.** Er hätte
sich ihrer gern entledigt, jedoch um des lieben Brotes willen
mußte er sie befriedigen, weil er sich das Brot eben anderswo
nicht verschaffen konnte. Chardin gab sich als Priester aus,
um ruhiger die damals durch Kriege unsicheren Gegenden
Mingreliens bereisen zu können. Diese scheinbare geistliche
Eigenschaft schützte ihn indes nicht vor den wollüstigen Be-
gierden der mingrelischen Frauen. Während Chardins Aufent-
halt in Sapias, der kleinen Residenz einiger Theatinerpriester,
erschien daselbst die Fürstin von Mingrelien. Der Vorsteher
der Theatiner ging ihr entgegen, um sie zu empfangen. Sie
war zu Pferde und hatte acht berittene Frauen und ebenso
viele Männer zu Fuß als Begleitung. D>ie Fürstin sagte zu dem
Vorsteher, sie hätte vernommen, daß er einige Europäer „mit
viel Bagage** beherberge ; sie wäre über die Ankunft der Frem-
den erfreut und möchte sie sehen. Chardin wurde sogleich
gerufen. Man gab ihm zu verstehen, er sollte der Fürstin ein
Geschenk machen, und er erklärte, ihr ein solches in ihre
Wohnung schicken zu wollen. Da die Fürstin hörte, daß
Chardin Türkisch und Persisch zu reden verstand, üeß sie
— 472 —
einen der ersteren Sprache kundigen Sklaven rufen und den
Reisenden tausenderlei Dinge fragen. Er erzählte, daß er
ein Kapuziner sei und nur frommer Andacht und heiligen
Verrichtungen lebe. Allein sie schien dadurch nicht aiige-
fochten zu sein, ihre Fragen drehten sich nur um „lieben
und verliebte Dinge." Sie ließ den angeblichen Kapuziner
fragen, ob er bei ihrem Anblick „keine Liebes-Empfindlig-
keit verspührete, auch sonsten nicht davon gereitzet würde.
Ferner wie das zugienge, und ob es wohl möglich were, daß
man sich so gäntzlich der Liebe und Weibes-Bilder entschlagen
könte. Dieses Gespräch wolle kein Ende nehmen und ge-
schähe ihr gar sonderlich wohl dabey, massen denn ihr gantzer
Anhang sich sonderlich darüber frölig machte." Am andern
Tag wurde der Reisende von der Fürstin, welche von ihrem
Gatten getrennt lebte, zu Tische geladen. „Sie hatte sich
viel schöner als vormahls angeputzet, geschmücket und nach
Mögligkeit angelegen seyn lassen, andern durch solchen Putz
zu gefallen. Sie war in gantz güldene Stuck gekleidet, ihr
Hauptschmuck bestand in Jubelen, der Schleier des Hauptes
war sehr gallant, gar sonderlich zugerichtet; sie saß auff einer
Tapecerey, an ihren beyden Seiten aber neun biß zehn Cammer-
frauens. Der Saal war mit halb nackenden Zigeunern ange-
füllet, darinnen eigentlich ihr Hof bestand." Nachdem Chardin
seine Geschenke — gebackene Torten, Nadeln, Scheren, Mes-
ser, Bänder, Papier — abgeliefert, wurde zwei Stunden lang
gegessen und getrunken. Die Gastgeberin wunderte sich, als
er Wasser in den Wein tat, „während sie und ihre Frauen-
zimmer denselben gantz rein und in grosen Überfluß trancken."
Es fehlte auch hier nicht an obszönen Reden, und die Fürstin
wollte ernstlich den angeblichen Kapuziner zu Liebesdiensten
gegen ihre Kammerfrauen zwingen. Und wie bei Hofe,
herrschte Sittenverderbnis im ganzen Land. Einer vom Adel
hatte sich in eine Dame verliebt und wollte dieselbe heiraten,
wiewohl er schon mit einer anderen verheiratet war. Nun
werden in Kaukasien die Weiber gekauft. Dieser Edelmann
aber hatte sein Gut schon längst verpraßt und wußte nicht,
woher er das Geld zimi Kauf der Geliebten und zur Bestreitung
der teuren Hochzeitsfeier hernehmen sollte. Endlich kam er
— 473 —
auf die gute Idee, sein eigenes Eheweib an die Türken zu ver-
kaufen, und vom Erlös bestritt der schlaue Ehemann die Kosten
seiner zweiten Heirat.
Wie die Fürstin von Mingrelien trieb es die Herrscherin
des benachbarten Königreiches Imeretien: „Die Königin ist
zwar eine sehr schöne Printzessin, allein ihre Geberd und An-
stellungen sind allzufrech und liederlich. Ihr Thun und Reden
sind unzüchtig und unverschämt und ist nichts, so einer Fürst-
lichen Person anständig, bey ihr zu finden. Sie kan ihre
Geilheit und zur Unzucht geneigte Gedancken nicht verbergen,
sie steigen selbst in dem Munde empor und pflegen in offen-
bahre Unfläthereyen aus zu brechen, welches alles aber in
dieser Lapdschafft gar nicht ärgerlich oder lasterhafft geachtet
wird, dieweil alles, groß und klein, in Ueppigkeit, Fraß und
Trank gäntzlich daselbst ersoffen ist." Die Königin hatte eine
Liebschaft mit dem Bischof Janatelle. „Dieser ihr Bischoff Jana-
telle siehet sie öffters nüt so unkeuschen Augen an, alß wenn
er sie für Liebe auff einmahl verschlingen wolte. Man wird
wohl niemahls so hohe Personen in so offenbahrer und unge-
scheuter Geilheit und Unreinigkeit haben leben sehen, und
leuchtet ihnen die Unzucht aus ihren Gesichtern heraus.**
Gleiche Dinge berichtet Chardin von den Georgiern oder
Grusinern. Auch hier rühmt er die unvergleichliche Schön-
heit der Frauen und Männer, auch hier aber schildert er mit
grellen Farben die herrschende Unsittlichkeit. „Die Unflä-
thereyen in Georgien sind gantz ungeschehen, weil jedwedes
daselbst sonder eintzigen Zwang oder Mäßigung seinen vieh-
ischen Lüsten nach hänget. Die Geistlichen sauffen sich ebenso
voll als das liederliche Gesindlein und halten sich schöne
Sclavinnen, derer sie sich zu Concubinen bedienen; Kein
Mensch ärgert sich daran, weil es eine durchgehende Ge-
wohnheit und durch die Fürnehmsten allda eingeführet ist**
. . . „Ihr Weibs- Volck ist so böß u|id lasterhafft alls immer
das Mannes- Volck sein mag. Sie sind, auff die Männer gantz
rasend erhitzt, und solcher Viehischen Wollust weit mehr alls
die Männer ergeben.**
Schließlich erzählt Chardin auch von der UnreinHchkeit
der kaukasischen Frauen, insbesondere der Mingrelierinnen,
— 474 —
geradezu Haarsträubendes : .,Mann und Weib, reich und arm
hat niemahls mehr alls ein Hembd und ein paar Schlaff-
Hosen auf einmahl an, welche ihnen ein Jahr lang aushalten
müssen; binnen der Zeit waschen sie sie zwey- bis dreymahl
zum Höchsten, weil sie aber viel Ungezieffer haben, so schüt-
teln sie selbe unter weilen über den Feuer aus, daß sie sich
solcher getreuer Leibes-Zucht auff solche maße entschütten
mögen, und dieser Ursach wegen pflegt es um das Weibs-
Volck von Mingrelie nicht gar wohl zu riechen. Ich nahete
mich ihnen vielmahls, durch ihre Schönheit gefangen, wenn
ich aber nur einige Augenblicke bey ihnen verharrte, so stieg
mir ein Geruch so in die Nase, daß meine Liebes-Hitze auf ein-
mal verlöschen mußte." — —
In den Straßen zu Tiflis, in denen die öffentlichen Dirnen
ihr Heim haben, sitzen die Mädchen halbnackt, oft nur im
Hemd, vor den Türen und locken die Fremden. Man tritt
in ein Haus; da laufen die Dirnen splitternackt herum. Aber
wie überrascht ist man zu sehen, daß alle diese Mädchen ihre
Schamhaare vollständig abrasiert haben. Ihr Schamgefühl wäre
im höchsten Maße verletzt, wenn sich an diesem Körperteile
Haare finden heßen; nicht die Nacktheit, nicht Hurerei ist
Schande, sondern das Stehenlassen eines Härchens auf dem
Venushügel !
Eine besondere Beachtung verdienen die Sitten der Kal-
mücken in bezug auf Schamgefühl und Keuschheit.^) Die
Kalmücken heiraten frühzeitig, und gehen in ihrem Benehmen
gegen das andere Geschlecht selten über die Grenze der Zucht
und des Anstandes hinaus. Das Mädchen kann sich sorglos
in der Nachbarschaft von Männern niederlegen ohne Angriffe
auf seine Tugend befürchten zu müssen. Die Kalmücken haben
sich im Kriege Mißhandlungen des weiblichen Geschlechts
zuschulden kommen lassen, aber im Frieden beweisen sie airf-
fallende Sittsamkeit. Es ist bei diesem Volke weder ein Zeichen
von Frechheit, noch ein Beweis für Mangel an Prüderie, son-
dern bloß die natürhche Sitte, wenn sich Töchter angesehener
Familien in Hütten schlafen legen, mitten unter einer Schar
') BergmaauG Nomadische Streifereien. II 149. 18;.
— 475 —
junger Männer, unbewacht von Tugend wächterinnen. Sie kön-
nen es voller Vertrauen tun, denn kein Mann denkt an An-
schläge auf ihre Unschuld. Beim Aufstehen werden weder
die Männer von der Toilette der Weiber, noch diese von der
Toilette jener ausgeschlossen. Die Männer sind noch viel-
leicht enthaltsamer als die Frauen ; die letzteren sündigen zu-
weilen, aber zumeist nur mit Geistlichen, da sie solche Sünde
für eine Tugend halten. Erst wenn ein Paar verlobt ist,
ninunt es sich weitgehende Freiheiten heraus; ehe sie noch
verheiratet sind, gönnen sich die kalmückischen Brautleute
eheliche Freuden, doch kann dies nicht als unsittlich betrachtet
werden, weil die Verlobung fast die Ehe bedeutet und ein
Auseinandergehen eines Brautpaares zu den größten Selten-
heiten gehört.
Wollen wir unter den exotischen Völkern Rußlands einen
krassen Gegensatz zu den kalmückischen Sitten haben, so
brauchen wir nur die geschlechtliche Moral der Kamtschadalen
zu prüfen. Wie die Großrussin im Norden Rußlands, die Polin
im Westen, die Mingrelierin im Süden, so genießt die Kam-
tschadalin im äußersten Osten den Ruf der unsittlichsten und
schamlosesten Frau. Das kamtschadalische Liebespaar oder
Ehepaar übt öffentlich und selbst vor den Augen von Kindern
geschlechtliche Handlungen aus. Die Sinnlichkeit der Kamtscha-
dalinnen ist so tierisch und unwiderstehlich, ihre Sittsamkeit und
Treue so gering, daß sie sich einem jeden Manne preis geben.
Die Kamtschadalen sind nach den Berichten der Kenner des
Landes auffallend schwach gebaut; die Kleinheit ihres Penis
soll geradezu zwergenhaft, der Geschlechtsteil der Frau da-
gegen von bedeutender Geräumigkeit sein. Das Gleiche wird
von den Tungusen und Tung^sinnen behauptet. Steller, der
von dieser merkwürdigen Organisation der Geschlechtsteile
der Männer und der Frauen bei diesen Völkern zuerst be-
richtet hat, bezeichnete dies als Grund dafür, daß die Kam-
tschadalinnen viel mehr zu europäischen Männern als zu ihren
Landsleuten hinneigen. Tatsache ist, daß sie bei der Eroberung
des Landes durch die Russen ihr Vaterland an die Kosaken
verrieten und sich massenhaft ins russische Lager begaben,
um als Spioninnen gegen ihre eigenen Leute zu dienen. Sie
— 476 —
verschenkten sich den Kosaken und hatten nichts dagegen^
daß diese sie wie eine Ware umsetzten oder verspielten. Den
einzigen Lohn, den sie verlangten, war: von einem Kosaken
eines Beischlafs gewürdigt zu werden; die das erreicht hatte,
rühmte sich im ganzen Ostrog oder Dorfe der ihr zuteil ge-
wordenen Ehre; die aber, welche verschmäht worden war,
lief voll Verzweiflung ob der Schande, die sie erleben mußte,
in den Fluß.i)
Eine ähnliche Auffassung in betreff der Frauenehre oder
Mädchenehre, des Schamgefühls und der Keuschheit finden wir
auch bei anderen, der Kultur des Westens viel näher stehen-
den Völkern Rußlands. Beispielsweise bei den Wotjäken und
den Esten. Bei den Wotjäken 2) verkehren Mädchen und Bur-
schen ungeniert miteinander ; die Keuschheit nach unserem Be-
griffe setzt dort der Liebe keine Schranken. Ja, es ist sogar
schimpflich für ein Mädchen, wenn sie wenig von den Bur-
schen aufgesucht wird. Eine Russin, die bei einer Wotjäkin
wohnte, ertappte die Haustochter mit einem Burschen in fla-
granti. Sie fragte die Mutter, wie sie das zulassen könne.
Die aber erwiderte: „Warum nicht, das ist nur ein Zeichen,
daß meine Tochter beliebt ist. Sie wird genug von den Bur-
schen aufgesucht, Gott sei Dankl** Gott sei Dank: „Pinal
pios uz dz*ä ratu inmar uz dz*ä ratu : liebt der Bauer ein Mäd-
chen nicht, liebt auch Gott es nicht,** lautet ein wotjäkisches
Sprichwort, das in einem einzigen Satze die ganze geschlecht-
liche Moral dieses Volkes wiedergibt. Mädchen und Burschen
spielen ein Spiel, genannt: das Heiratsspiel. Einige Burschen
und Mädchen verteilen sich dabei paarweise; die Paare ver-
stecken sich an einem dunklen Orte und machen in durchaus
realistischer Weise Hochzeit; nach der Hochzeit erscheinen sie
dann alle wieder und setzen als Familienpaare das Spiel fort.
Die Folge dessen, daß es für ein Mädchen eine Schande ist,
nur wenige Liebhaber zu haben, ist nach wotjäkischer Logik:
der ehrenvolle Besitz vieler Kinder. Je mehr Kinder ein Mädr
chen hat, eine desto bessere Partie ist es, und die meist ge-
^) Meiners Geschichte des weiblichen Geschlechts, I 26, 27.
2) Max Buch a. a. O. 45.
— 477 —
segnete Jungfrau erzielt ihrem Vater den höchsten Kalym.
Unsere Unkeuschheit ist bei den Wotjäken eine Tugend. Die
Gründe dafür sind den tatsächlichen Bedürfnissen des Volkes
entsprechend: Ein Mädchen, das dem Gatten gleich Kinder
ins Haus mitbringt, führt der neuen Familie dadurch früher
Arbeiter zu, als es sonst möglich wäre; das ist von großer
Bedeutung dort, wo es viel Land und wenig Leute gibt. Zwei-
tens liefert das Weib von vornherein den Beweis seiner Frucht-
barkeit. 1)
Fast genau dasselbe erfahren wir über die Esten und
Letten. Die wenigsten Eltern kränken sich, wenn ihre Tochter
geschwängert worden ist. Weit entfernt, sich das zu Herzen
zu nehmen, melden sie es ruhig, als wäre es eine Freudenbot-
schaft, dem Prediger und dem Gutsherrn. Die Mädchen
halten es sogar geradezu für eine Schande, wenn sie sich
so verachtet sehen, daß sich noch nie ein junger Kerl zu
ihnen gelegt hat. Wenn ein Mädchen in den Armen eines
Burschen gefunden wird, so ist das nichts Böses. Sagt man.
ihnen etwas Vorwurfsvolles, so entgegnen sie: „Das ist so
der Brauch.** „Der Beischlaf scheint ihnen etwas so Unbedeu-
tendes und Gleichgiltiges zu sein, daß sie sich nicht ent-
blöden, ihn in Gegenwart anderer zu verrichten. *) Auch vor
Fremden schämen sie sich nicht. Ich erinnere mich, wie wir
zur Sommerszeit im Badeort Dubbeln bei Riga als Kin-
der oft in Heuschobern unsere lettischen Kutscher und
Mägde in den intimsten Beschäftigungen überraschten. Sie
ließen sich durch unser Erscheinen nicht im geringsten stören.
Manches Mädchen, um nicht ausgelacht oder gar verachtet
zu werden, wendet alle Kunstgriffe an, um einen Burschen
ihren Wünschen willig zu machen, damit es im Orte von
ihr heiße: „Ei, sieh doch, diese hat auch einen Liebhaber!**
Es konmit manchmal vor, daß die Mädchen von den Burschen
die Zurückhaltung des Samens fordern, um einer Schwanger-
schaft auszuweichen; aber solcher Vorsichtigen sind wenig.
Denn Schwangerschaft ist keine Schande, vielmehr wie bei
^) Ebenda 46.
2) Petri, Ehstland und die Ehsten, II 32 ff. — Merkel, Die Letten.
— 478 —
den Wotjäken ein Beweis der Fruchtbarkeit des Weibes. Wird
bei einem Mädchen die Schwangerschaft sichtbar, so hat sie
nichts anderes zu tun, als den Perk (eine schmale Kopfbinde,
mit der das Haar auf dem Scheitel umbunden wird) abzu-
legen, weil diese Binde der ausschließliche Kopfputz der Jung-
frau ist; statt des Perk muß die Schwangere die Weiber-
haube tragen, imd man nennt sie fortan Emmand, Weib (nicht
Praua, Frau, eine Bezeichnung, die bloß den deutschen Damen,
den Adeligen besonders gebührt). Altgewordene Jungfern be-
kennen sich oft ganz mit Unrecht zu Unkeuschheits-Sünden
und Schwangerschaft, nur um die Haube des Weibes tragen
zu dürfen. In früheren Zeiten, als noch die Leibeigenschaft
bestand, hatte die Unkeuschheit einen ganz besonderen Vor-
teil, eine förmliche Prämie: das schwangere Mädchen ward
frei von der beschwerlichen Hofsarbeit und hatte nur leichteren
•
Hausdienst zu tun. Gelegenheit, in andere — und nach est-
nischen Begriffen: in bessere — Umstände zu kommen, hat
das Mädchen genug, und auch an Anreizungen fehlt es nicht.
Männer und Weiber baden nicht bloß in den Badstuben, son-
dern auch in offenem Wasser, in den Teichen und Flüssen
miteinander, und dabei vergißt niemand das Stoßgebet zu
sprechen: „Wie ich jetzt meinen sündlichen Leib reinige, so
mache mich Gott auch rein von meinen Sünden." Sie kom-
men aus den Badstuben oder aus dem Flusse nackt heraus
und plaudern miteinander. Sie tragen kein Bedenken, ihre
Blöße zu zeigen. Im Sommer tragen Weiber und Mädchen
auf dem Lande gewöhnlich nichts als ein nicht immer durch
einen Gürtel ein wenig zusammengehaltenes Hemd, das kaum
übers Knie reicht; werfen sie über das Hemd manchmal einen
dünnen Rock, so schürzen sie ihn jedenfalls so hoch auf, daß
er kürzer ist als das Hemd, und gehen sie in die Kirche
hinein, so legen sie drin der Hitze wegen den Rock ganz ab
und sitzen halbnackt. Im Felde bei der Arbeit bücken sie
sich, daß oben die Brüste herausfallen und unten und hinten
alles zu sehen ist, was ein Weib vom Manne imterscheidet. Die
Nächte schlafen Burschen und Mädchen in derselben Stube
oder Scheune oder in demselben Stalle, oft auf einer Streu.
Ein Volk wie die alten Hellenen konnte auf solche Weise
-^ 479 —
7ur Abhärtung und geschlechtlicher Keuschheit erzogen wer-
den; bei den Esten aber trägt diese Lebensweise nur dazu
bei, alles Schamgefühl zu ertöten und die in ihnen wohnen-
den starken Naturtriebe zu höchster Geilheit auffallend früh
zu entwickeln. Geschwängerte Mädchen im Alter von drei-
zehn Jahren sind nicht selten. Nicht bloß die bäuerischen
Mädchen ergeben sich leicht und willenlos dem geschlecht-
lichen Verkehr, sondern auch die besseren Jungfern, die im
Hause der Gutsherrin dienen; ja es wird behauptet, daß diese
durch das bequemere Leben noch mehr zu Ausschweifungen
verführt werden. Der Name Hure ist keine Schande. Die
geschwängerten Mädchen verheiraten sich ohne Anstand, und
nicht immer mit denen, die ihnen das Kind gemacht haben.
Ein Mädchen, das ein Kind bekommt, darf vom Prediger nicht
einmal nach dem Namen des Vaters gefragt werden. Früher
gab es für Unsittlichkeit Rutenstrafe; aber sie wurde schon
von Katharina II. abgeschafft. Heiratet ein Mädchen, so
bewahrt sie als Frau dem Manne die Treue. Nur das junge
Volk hat volle geschlechtliche Freiheit, aber Ehebruch ist
wenig bekannt, selbst der Mann weicht selten ab vom Pfade
der ehelichen Treue. Die Esten unterscheiden sich dadurch ge-
radezu vorteilhaft von ihren baltischen Herrschaften, denen
man Gesetze geben mußte wie diese: „Wer eine Jungfrau
entführet, es geschehe mit oder wieder ihren Willen, daß der
zu langen Tagen des Landes solte verwiesen werden; wo die
Jungfer drein verwilligt hätte, solte sie ihrer erblichen Güter
verlustig seyn. Wer eine Jungfrau nothzüchtiget, der sol sie
zur Ehe nehmen, oder seines Hauptes verlustig seyn.**^) Aber
die Ordensherren selbst waren die ärgsten Wollüstlinge. Der
letzte Ordensvogt in Wesenberg ist ein berüchtigter „öffent-
licher Hurer gewesen, der nicht allein mit gemeinen Weibern,
sondern auch "mit anderer Männer Ehefrauen öffentlich Hurerey
und Schand getrieben hat. Der Ordens-Herren Diener tägliche
Arbeit ist nichts anders gewesen, als Löfeley und Buhlerey,
welches bei ihnen für keine Schande, sondern für eitel Ehr
1) Hiärns Geschichte, S. 169.
— 480 —
und Ruhm ist gehalten worden."') Selbst die Moskowiter
stauntea ob der Unzucht in den baltischen Landen. Während
die Moskowiter im Jahre 1576 Hapsal stürmten, sind die bal-
tischen Hfciren in der Stadt „so gutes Muhtes gewesen, daß
sie sich noch mit den Jungfrauen lustig machen und schertzen
können, worüber sich die Reüßen hÖchUch gewundert und
gesaget haben: Was sind die Teütschen für seltsame Leute;
wenn wir Reüßen ein solches Hauß so ohne Noht übergeben
sollten, dütfften wir unsere Augen vor keine redUche Leute
aufschlagen, und unser Grosfürst würde nicht wissen, mit was
für einem Tode er uns hinrichten sollte: Und die Teütschea
auf Hapsal dürffen nicht allein ihre Augen aufschlagen, son-
dern auch noch woll mit Jungfrauen spielen, als hätten sie es
noch so woll ausgerichtet."^)
49. Probenächte und Jungfemschaft.
Probenächte bei den Esten und Letteo — Seltsame Gebräuche der Tartaren
von Astrachanj — Probenächte bei den Jaiker Kosaken — Eine alte klein-
russische Sitte: das Mädchen wirbt um den Burschen — Die kleinruuiscben
Jugendgesellschaften — Reifeprüfung der Burschen und Mädchen — Loblied
auf den Penis — Veispottung der weiten Vulva ~ Spottlieder — Beisammen-
schlafen der Burschen mit den Mädchen — Onanie, aber nicht Coitus —
Elterliche Anschauungen in betreff dieser Volkssitte — Erotische Liadec der
Jugend — Wert der unverletzten Jungfernschaft bei den Kleinrussen — Bnuit-
nachtsbräuche — Loblied auf die Jungfernschaft — Spottlieder auf die Un-
keuschheit — Obstöae und skatologische Spottlieder — Wert der Jungfern-
schaft bei den GroOrussen ^ Großrussische Brautnachtsgebräoche — Vor-
Weisung des blutbefleckten Brauthemdes — Sicherung der Jungfernschaft bei
den Samojeden — KeuschhcitsgOrtel — Kirghisische Sitten.
Die Sitten der Völker sind zuweilen voll rätselhafter Wider-
sprüche, Wir haben zuletzt den mehr als zwanglosen Verkehr
der beiden Geschlechter bei den unverheirateten Esten kennen
gelernt. Ist bei ihnen mm ein Bursche mit einem Mädchen
~ 481 —
versprochen, haben sie „zum ersten Male Branntwein mitein-
ander getrunken", so hört die Intimität für den Augenblick
gänzlich auf. Nach dem Versprechen darf zwar der Bräutigam
schon zum ersten Male bei seiner Braut schlafen. Aber nur in
allen Ehren. Es ist nicht üblich, daß er in diesem Falle die
Rechte eines Gatten in Anspruch nehme. Der Zweck dieses
platonischen Beischlafs ist bloß der, dem Bräutigam die Ge-
legenheit zu bieten, die verborgenen Reize seiner Braut und
ihr Benehmen bei Nacht kennen zu lernen, i) Erst wenn ihn
die Beschau befriedigt hat, entschließt er sich zur Ehe; hat
er diesen Entschluß einmal gefaßt, dann gibt es den zweiten
Branntweintrunk, und dann gönnt sich das Paar allerdings
auch ein vollkommenes eheliches Vergnügen noch vor der
Trauung. Dies wird merkwürdigerweise vom Prediger übel
aufgefaßt, von demselben Prediger, der sich um die Unkeusch-
heit der ledigen, nicht verlobten Leute nicht kümmert und
keinem Mädchen einen Vorwurf macht, das die Geburt eines
unehelichen Kindes zur Anzeige bringt. Einem verlobten
Brautpaare aber, das eine Unkeuschheit begangen hat, wird
eine Kirchenstrafe auferlegt; sie beträgt gewöhnlich einen
Rubel, wenn die Braut ihre Sünde selbst gesteht; erscheint
sie jedoch zur Trauung wie eine Jungfer mit der jungfräulichen
Binde auf dem unbedeckten Haupte, so muß sie, wenn die
Wahrheit an den Tag kommt, für den Mißbrauch des jung-
fräulichen Brautschmuckes eine Strafe von zwei Rubel erlegen.
Die Letten, deren Sitten und Gebräuche sich mit denen der
Esten fast vollständig decken, halten die Probenächte in der-
selben Weise: platonisch bis zur festen Verlobung, faktische
Ausübung des Beischlafes nach dem zweiten Branntweintrunk
und vor der Trauung.
Eine merkwürdige Art Probenächte ist bei den astrachanj-
schen Tartaren bekannt. In der Zeit zwischen Verlobung
und Hochzeit muß der Bräutigam die Verwandten seiner Braut
vollständig meiden. Seine Braut darf er jedoch besuchen, so
oft er will 2): ,Ja, es bleibt nicht einmal bei leeren Besuchen,
1) Petri I 281.
'^) Gmelin II 135.
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit io Rußland. ** ^i
— 482 —
nicht als ob es sich auf Gesetzen gründet, den Beyschlaf so
frühzeitig halten zu können, sondern weil es durch die Gewohn-
heit gäng und gebe geworden ist. Man sieht ihn wenigstens
für keine schändliche Sache an, denn jedermann weiß davon,
auch die Aeltern einer solchen geschwächten Braut. Und
diese gleich als wann sie es haben wollten, daß sie ihre Jung-
ferschaft vor der Zeit verlieren möchte, setzen zu mehrerer
Sicherheit der Braut Schlaf-Lager an einem ganz besonderen
Ort. Doch muß der Bräutigam als ein würklicher Ehebrecher
den ersten Beyschlaf mit Geld bezahlen, dann ob es ihm
gleich erlaubt ist, mit seiner Braut in einem Bette zu schlafen,
so sitzen gleichwohl neben demselben ein paar alte Frauen
mit brennenden Kerzen in der Hand, und beobachten ganz
genau ob sich nicht der Bräutigam eines unerlaubten Vorwitzes
gelüsten laße. Sobald sie etwas von dieser Art wahrnehmen,
sobald nehmen sie sich der Braut an, doch, damit sie in ihrem
Amt nicht allzu gewißenhaft verfahren, so beschenkt sie der
Bräutigam mit einigen schon vorher darzu fertigen Rubeln,
und weil sie diese gerne haben wollen, so löschen sie die
Lichter aus, suchen die Thür, und laßen den Bräutigam mit
der Braut alleine.**
Ähnlich wie bei den astrachanjschen Tartaren ist es bei
den Jaikcr Kosaken. Sobald ein Kosakenmädchen sich ver-
lobt hat. beginnen in ihrem Elternhause die Festlichkeiten,
Tänze und Gesänge; sie dauern ununterbrochen bis zur Hoch-
zeit an; der Bräutigam hat für seinen Teil das besondere Ver-
gnügen, daß er sich in dieser Zeit in der Stille schon die Frei-
heiten eines Ehemannes bei seiner Frau gestatten darf.\)
Bei den Kleinrussen schlafen nicht nur Brautleute, sondern
junge Burschen und Mädchen, die miteinander kaum ein Liebes-
verhältnis angeknüpft haben, häufig beisammen. Die Freunde
des kleinrussischen Volkes bestreiten aber, daß es dabei zu
Ausschweifungen komme. Bei den Kleinrussen gab es seit
jeher seltsame Sitten. Der alte Beauplan^) hat uns die Be-
schreibung eines Gebrauches überliefert, der bei diesem Volke
zu seiner Zeit l)estanden hat. .,Comme les filles fönt Tamour
•) Pallas Merkwürdigkeiten 112.
') Dcscriptioii de l'l^kranie 115--11S.
— 483 —
aux gargons** heißt dieser Brauch: „La fille amoureusc s'en
va en la maison du p^re du jeune homme qu'elle aime;
oü ayant pris place eile fait son compliment ä cclui qui a
blesse son cocur et lui parle en ces termes : reconnoissant en
ton visage vne certaine debonnairetö, que tu sgauras bien
gouuerner et aimer ta femme, et que ta vertu me fait esperer
que tu scras bon Dospodorge; ces bonnes qualitez me fönt
tc prier tres humblement de m'accepter pour ta femme, cela
fait eile en dit autant au pcrc et h la mcre cn les priant
humblement de consentir au mariage, et si eile en regoit
vn refus ou quelqu*excuse, qu'il est trop icune, et non encor
prest ä marier, eile leur repond qu'elle ne partira iamais de
lä qu'elle nc Tayc espous^, tant que luy et eile viuront. Voila de
quelle fagon les filles amoureuses ne peuuent manquer d*estrc
bien tost pouruues, car elles contraignent le pere, la mere et
leurs seruitcurs ä ce qu'elles dcsirent, crainte d'encourir le cour-
roux de Dieu, et qu*il leur en arriuast quelque sinistrc malheur :
car de mettre hors la fille ce seroit offencer toute sa race.**
Neuere russische Ethnographen^) schildern das idyllische
Leben der kleinrussischen Jugend folgendermaßen: Wenn der
Bursche sein achtzehntes Lebensjahr erreicht hat, denkt er
schon ans Heiraten. Seine Lebensgefährtin sucht er sich häufig
bereits im Kindheitsalter aus, wenn die Knaben und Mädchen
zusammen das Vieh weiden oder sich mit ihren einförmigen
Spielen unterhalten. Die Anhänglichkeit vertieft sich im Laufe
der Jugendjahre bei den abendlichen Zusammenkünften, die
spezielle Namen je nach der Jahreszeit führen: im Frühjahr
nennt man sie einfach: Gasse-), im Winter Abendstunden 3).
Bei diesen Rendezvous irgendwo auf einem freien Platze singt
und tanzt man bis Mitternacht. Wenn sich die Alten, die
^) Khamm a. a. ().
'^) Uliza: nmiiuh bei den Klcinrussoii, yjiiina bei den Großrussen.
•') Doswitki und Wetschomizi: ;ioeBiTKi und Bc'iopmuü bei den Klein-
lusscn, ,iocBliTKii und BC'iepuHua bei den Großrussen. Vgl. außer den bei
Kliamm angeführten Quellen : Th. Volkov, Rites et usages nuptiaux en Ukraine,
L'Antropologie II 173. — 5IcriK<>0B'b, Hubuh ,iaiim>ifl 0 (•uH»3ax'L ne ^KOHaxoit
Mo.ii>;ie;Kii iia Huii Poccin, KieBcKan cTai)iina 1890, Aa 10, (Tp. 110 — 128. —
Kor.-TTd()in V 2 — 6; VIII 303 — 359. Aus dem Nachlaß dos ukrainischen Folk-
loristen Dikarew.
3,,
— 484 —
Kinder und die Verheirateten schlafen gelegt haben, bleibt die
Jugend noch im Freien; und im Frühjahr, Sommer und Herbst
verstummen die Lieder nicht. Ein jeder Bursche macht ohne
Hehl dem Gegenstande seiner Zärtlichkeit den Hof. Nachdem
man sich müde gesungen 'hat, verschwinden die einzelnen Liebes-
paare unbemerkt, verhüllt durch die geheimnisvolle Decke der
Nacht; sie bleiben fast stets bis zum Morgen beieinander.
Die jungen Leute eines jeden Dorfes oder eines KyTOK
(Kutok: wörtlich Winkel, hier Quartier eines Dorfes) bilden
eine Art geschlossene Gesellschaft, in die man nicht aufge-
nommen werden kann, wenn man noch nicht die geschlecht-
liche Reife erlangt hat. Es wird bei den Kleinrussen auch
niemand zum Hirten der Dorfherde genommen, ehe man ihn
nicht untersucht hat, ob seine sexuellen Organe in Ordnung
sind. Ist die Prüfung zur Zufriedenheit der Gemeinde aus-
gefallen, so wird folgende Zeremonie beobachtet: Alle An-
wesenden ergreifen brennende Fackeln und schreiten rund
um ein großes Feuer; an der Spitze der Prozession marschiert
ein alter Mann, der den neuen Hirten an seinem Gliede nach
sich zieht. Dieser Gebrauch, der namentlich im Gouvernement
Chcrson stattfindet, ist das Überbleibsel eines alten Kultus, in
dem das Zeugungsprinzip eine wichtige Rolle im Hirtenleben
spielte. Auch die Prüfung der Jünglinge und Mädchen auf
ihre geschlechtliche Reife hin vor der Aufnahme in die Gesell-
schaft der mannbaren Jugend ist eine uralte Sitte.
Die Schönheit und Größe des männlichen Gliedes und die
Enge des weiblichen Geschlechtsteils bilden dabei wichtige
Fragen. Das Mädchen erkundigt sich bei dem Burschen, ehe
sie zu ihm in nähere Beziehungen tritt : „Ha^io Jiyyae BejiiiKa?
Ist dein Ding groß?'* Mit Vorliebe singen die Mädchen dieses
^^^^ • Iliiipxa.'io iiaiue niaiio,
A npiiBC3:io HaM piano:
I ;i,OBree, i miipoKce,
I rpyoeo, i r.iuüOKoe, —
I Tane aarpyGiuKii,
I TaKC aarayöuiKii,
A OTxaKe 3a;i,0BmKn,
A OTxaKe aaBinnpiuKu!
— 485 —
Mein Schatz kam spät bei Nacht,
Doch hat er mitgebracht
Ein wunderbares Ding,
Ich schätz' es nicht gering:
Es ist ein prächtig Stück,
So lang, so breit, so dick,
Von einer — solchen Breite,
Von einer — solchen Weite!
und dazu macht man die entsprechenden Gesten, um das
Maß des Instruments zu bezeichnen.
Die Burschen wiederum erkundigen sich nach der Reife
der Mädchen mit den Worten : „/I,iBHaTa, y akoIl no^aTa, ;i,aäTe
Meni; Mädchen, bei wem sie (die Pisda) begonnen hat (zu
reifen), die soll mir geben.** Wie sich das Mädchen für die
schöne Form des männlichen Gliedes interessiert, so forscht
der Bursche vor allen Dingen nach der Bildung des Geschlechts-
teils der Auserwählten. Nichts erscheint den kleinrussischen
Burschen so entsetzlich als ein weiter weibhcher Geschlechts-
teil. Von einem derartig unglückselig gebauten Frauenzimmer
heißt es: „cIm BopcT ;i,OBra a Tpn ;i;Hi jiHca; ihre Öffnung
ist sieben Werst lang und drei Ackerfelder breit.** Oder:
^iiii3,T,a nyjiKOM BiiBepTaexBCji ; in ihre Pisda kann man wie
in einen Strumpf hinein.** Die Burschen singen mit Vorliebe
folgendes Spottlied:
111,0 B MaTepi, 111,0 b ;i;0HKn —
OAnaKOBi nns^OHKn.
O^Ha o^HÜi HC BipnjiH,
Bsfl.^n po/Ken, noMipa.iii:
He BGJinKa, ni Mana,
Tii.iT>Ki Bjiu3e Tpn BO.ia,
A ^eTBOpTHÜ 6lIK, —
Tii.iLKi HoraMH 6puK,
I xaMyT i Ayra —
Iii;e nua^a iie Tyra;
I nonoBa nianKa —
Iin.e nna^a ciaÖKa
— 480 —
I noniß MaJiaxaii —
I TOH y nH3;iy aanxaö;
CiM Bosiß xBopocTy —
HIhk nnsAii He aaMOCTio:
CiM Bi3 Ap^My —
ITpflMO B nH3;i;y npnMo!
Die Mutter und das Töchterchen
Die haben gleiche Löcherchen.
Bezweifelt's wer indessen,
So braucht er bloß zu messen
Und sehn wie gleich sie sind
Bei Mutter und bei Kind:
Das Loch ist weder groß noch klein,
Drei Ochsen gehen bloß hinein,
Ein vierter Stier, der zornig brummet.
Muß auch hinein mit Krummholz und mit Kummet,
Drin stößt er mit den Hinterfüßen wild --
Die Pisda aber ist nicht ausgefüllt;
Man wirft hinein des Popen Mütze
Und noch zu breit bleibt diese Ritze;
Hinein des Popen Malachaj^),
Den Popen selbst trotz Wchgeschrei
Und sieben Wagen Zweige noch - -
Und immer weit bleibt dieses Loch :
Bequem kann man hinein noch sieben
Mit Dünger volle Wagen schieben.
Hat ein Bursche also die Prüfung seiner männlichen Reife
bestanden und Eingang gefunden in die PpoMa^a (gromada,
wörtlich großer Haufen, bedeutet hier den geschlossenen
Kreis der Gesellschaft), so trifft er auch bald auf das Mädchen,
das allen seinen Wünschen entspricht. Er wirbt um ihre Gunst
persönlich oder durch Vermittlung eines Freundes. Willigt sie
ein, so sagt man, daß ihre Antwort feucht war; lehnt sie
ab, so nennt man ihre Entgegnung trocken. Das Paar, das
') Ma.iaxart ist auch eine Mütze, aber nicht die hohe Scha])ka, von der
in der früheren Verszeile die Hede war, sondern eine niedrigere große Pelz-
mütze mit vier Zipfeln.
— 487 —
sich zusammengefunden hat, darf ungenierten Verkehr pflegen,
und die Gromada achtet stets darauf, daß die Liebenden von
niemandem gestört werden. Finden der Bursche und das Mäd-
chen, daß sie zueinander passen, dann folgt auf die Probezeit
die Ehe; kommen sie zur Erkenntnis, daß sie miteinander
nicht glücklich werden können, dann gehen sie friedlich aus-
einander, und jeder Teil darf neue Verhältnisse anknüpfen.
Während der Probezeit empfängt das Mädchen heimlich oder
offen den Burschen in der Scheuer oder auf dem Boden, in
dem Garten oder in einem Wagen, in einem Heuschober oder
auch im elterlichen Hause, wenn sie da ein separiertes Zimmer
hat, in das der Liebhaber durch das Fenster einsteigen kann.
Kenner des Landes und des Volkes behaupten nun, daß
es bei diesem Zusammenschlafen fast niemals zu unzüchtigen
Handlungen komme. Der Zweck sei einfach der, daß die Paare
einander genau kennen lernen wollen, bevor sie sich für das
ganze Leben verbinden. Man gewinnt eine vollständige Kennt-
nis der beiderseitigen körperlichen Beschaffenheit, denn man
darf miteinander zärtlich sein so viel man will. Das Mädchen
läßt, den Coitus ausgenommen, alles mit sich machen: der
Liebhaber darf seine Füße um sie legen, sein Antlitz an das
ihrige pressen, und sie windet und bewegt sich unter ihm, als
wenn faktisch der Geschlechtsakt ausgeführt würde. Beide
tun alles, um einander zu gefallen und zu entzücken, nur das
gewisse Eine vermeiden sie. Er darf ihre Brüste streicheln,
ihre Genitalien berühren und kitzeln, mit einem Worte : Onanie.
Es geschieht auch oft, daß mehrere Paare, besonders zwei
Brüder mit ihren Auserwählten oder zwei Schwestern mit
ihren Geliebten in einem Raum auf solche Weise die Nacht
verbringen, obwohl die Mädchen sich gegen solche allzugroße
Öffentlichkeit des Liebeslebens wehren : „ JI tjt To6i ni 3a um
TiicmH HO Ai^>i- a TG HKa TyT loim, ilK AG — HKi He CnJIflTb?
Hier gebe ich's dir nicht um viele tausende Rubel I Wie ist's
möglich zu coitieren, wo so viele wach sind?'* fragt die Ge-
liebte. Das Wort coitieren ist aber eine Hyperbel, wenn unsere
Gewährsmänner wirklich recht haben. Denn ihren Versiche-
rungen zufolge sind ja gar keine Fälle bekannt, daß in diesen
Probenächten die Jungfräulichkeit eines Mädchens Schaden
488 ---
gelitten hätte. Ja, es soll Burschen geben, die imstande sind,
die Nächte kalt wie Steine neben ihren Bräuten zu verbringen :
„Der Bursche sieht auf das Mädchen als auf seine zukünftige
Gattin und achtet ihre Ehre so weit, daß er nicht einmal wagt,
vor seiner Genossin die Triebe seines feurigen Alters zu ver-
raten.** Auch sollen Beispiele nicht selten sein, „daß ein Mäd-
chen sich weigert, ferner die Gesellschaft ihres Liebhabers
zu teilen, weil er sich herausgenommen hat, mehr zu ver-
langen, als die Wohlanständigkeit der Volkssitte erlaubt.** Ein
Mädchen, das sich von dem Temperament hinreißen läßt,
ihre Jungfernschaft aufs Spiel zu setzen, wird aus der Gesell-
schaft ausgestoßen, und das Haus, in dem sie wohnt, versehen
die Burschen mit Schandzeichen.**
Die Eltern haben gewöhnlich nichts gegen die Liebeleien
der Töchter einzuwenden ; • sie betrachten sie als einen tra-
ditionellen Gebrauch, der die Ehre des Mädchens nicht kom-
promittieren kann, solange das Jungfernhäutchen intakt bleibt.
Daß letzteres der Fall sei, darüber wacht die Mutter sorgfältig.
Ein Mädchen, das sich hat verführet! lassen, zeigt dem Ge-
liebten vorwurfsvoll den blutigen Fleck auf dem Hemde und
klagt: „0! Ca jie nponajia KpacKa! Ach, auf diesem Plätzchen
ist die Blume verloren gegangen T* Zitternd reibt sie und
wäscht sie sofort an dem verdächtigen Zeichen herum und
weint dabei : „Xnoa bh moo'i MaTepi hg anaeTe, HKaBOHaara? Mh
nK no^iieM copo^iKH npaTt, to Boiia moio Kon^ny copoHKy ncpe-
;i,HBHTT>c}r. A H KaHcy: MaMO, ^loro bh ;i,HBHTecB? A BonaKanxe: a
Toro AnB.Tiocr>, 111,0 th, 6icoBa ;i,OHKa, KOHvuy iiin TiKaem! Kennst
du denn nicht meine Mutter, was das für eine Hexe ist? Wenn
wir zu Hause unsere Wäsche waschen, so untersucht sie genau
jedes Stück. Frage ich: Mamo, was schauen Sie so? Und
sie sagt : Ich schaue, Teufelsmädchen, weil du alle Nächte
verschwindest!** Am liebsten haben es die Eltern, daß das
Mädchen den Liebhaber im elterlichen Hause empfängt.
„Sieh, du Teufelssohn,** fährt eine Mutter einen Burschen an,
den sie bei ihrer Tochter in einem fremden Hause überrascht
hat, „wenn du mein Kind liebst, so führe sie nicht in fremde
Häuser, komm zu uns ins Haus und schlafe zu Hause mit ihr;
da werdet ihr wenigstens keine Schläge bekommen."
489 —
Ist das Mädchen trotz aller Vorsicht ins Unglück ge-
kommen, dann wird es sofort leichtsinniger. A xn6a Iothch
rpix? Ist denn coitieren eine Sünde? fragt sie sich. Wohl
denkt sie mit Schrecken an den Zorn der Mutter, aber sie
tröstet sich damit, daß das Geschehene unabänderlich ist : „HJ^o,
a n MaTH ycTane, xa npHfi;i;e cioah? Hy, Ta ^opT ero BiatMH, mo
öyAe, To GyAC ! Ach, wenn die Mutter herkäme ? Nu, hole sie der
Teufel, es geschehe, was da wolle !" Das arme Mädchen nament-
lich, das keine Aussicht hat, einen Gatten zu finden, gibt sich
leicht hin, um nicht die Jugend ohne Liebesgenuß verstreichen
zu lassen; auf Ehe wird dann nicht spekuliert, das Glück der
Sinne allein wird in diesem Falle gesucht. Man fragt ein
Mädchen : „Ta bh MaöyTB, He bo riiiBB BaM ßy^e, HBaniBHO, ii;e fi ao
CBaöÖH AaBann? Mit Respekt zu fragen, ist es wahr, Iwanowna,
daß Sie es schon vor der Ehe hergegeben haben?" Und die
ruhige Antwort lautet: „0, a 3 im iÖJiacb, anv nns^a Tpiii;ajia!
3 ö He ;;yMajia ji\o Bin Mene BißbMe. A mh ;i;0Ma sKHßeMO
6iAHo! O, ich arbeitete mit ihm, daß die Pisda in Fetzen zer-
riß I Ich dachte nicht ans Heiraten. Aber wir leben zu Hause
so armselig!**
Die Lieder, welche die Burschen und Mädchen bei ihren
Zusammenkünften singen, lassen ebensowenig an Frivolität et-
was zu wünschen übrig wie ihre Tänze. Beim Zigeunertanz
singt man die Neulinge an:
JJ^nrane, loy 6aTBKa TBoro!
.Tynn nu3,T;a, .^ynn xyii!
Hopna nn3;;a, Jincnii xyii!
Xa, xa, xyii
ro-ro, reü-reö, rcioaii
roJioiiH3Aa, rynaii ! . . .
Hei, Zigeuner, deinen Vater coitier ich!
Mut Pisda, Mut Penis!
Schwarze Pisda, kahler Penis!
Ha, ha, Penis.
Hoho, hei-hei, unbehaarter Knabe,
Unbehaarte Pisda, amüsier dich!
— 490 —
ThIIH-THHH, TIIHH-Tnilll, TIIHHHenbKn,
A M y nojii KpHiin4eiii>Ka.
TaM nH3ÄH CBJlilTh
Ho COKHpi^i ;iiep3KHTb
XonyTL xya 3apy6aTi>.
A xyü HG ;;ypaK:
ÜK icKO'ie Ha jiaBOHKy,
ÜK yxBaTO GyjiaBOHKy —
II,an cTapy nii3;i;y no ayoax!
Tini-tini, tinitschenjki.
In dem Felde fließt ein Bächlein,
An dem Ufer sitzen Löchlein,
Halten in den Händen Hacken,
Wollen ach ein Schwänzlein packen,
Schnell ihm den Garaus zu machen.
Schwänzlein wird sie bald verlachen.
Schwänzlein ist ja nicht so dumm —
Beißt ins Löchlein, bringt es uml
Ein Lied warnt deshalb die Mädchen:
OM IlIyTHn,>i, namyTiiu;« moh,
He BiixaH^yBaii na yjiuuio caMa!
He BHMaiiiOBaii piiGaT 3 Bi.^ou,
Ho noKaayBaö iia3a;i, nii3;i,ii!
A puÖHTa iie;i,opocTOMKif,
lIo.iaMaJIU BT> I1H3A0 kocto'ikh!
Oj Schutizja, liebes Mädchen mein.
Gehe auf die Gasse nicht allein I
Rufe nicht die Burschen aus dem Hause,
Zeige deine Pisda nicht von hinten!
Haben erst die Burschen sie gerochen
Brechen sie der Pisda alle Knochen!
Und die jungen Mädchen tanzen dazu den Reigen und
rufen : Hop, hop, hop ! Und wenn die Burschen fragen : „Ist
es schön, was wir gesungen haben, dann antworten die Mäd-
— 491 —
chen stereotyp: „Es war schön; es liegt Melodie darin und
es ist auch frivol."
Schon im ersten Bande meines Werkes^) haben wir die
obszönen kleinrussischen Tänze und Tanzlieder und in diesem
Bande auch schon kleinrussische obszöne Hochzeitslieder ken-
nen gelernt. Trotz alledem und trotz der Proben, die eben
gegeben wurden, soll man den Versicherungen Glauben schen-
ken, daß das Volk nicht so ausgelassen lebt wie es singt?
Es gestehen selbst diejenigen, die die Sittenlosigkeit der Klein-
russen im Vergleich zu der Sittenlosigkeit der Großrussen
rühmend hervorheben, daß sich die Verhältnisse unter dem
Einflüsse der Großrussen rapid verschlechtern. Zugegeben
werden kann allerdings ohne Vorbehalt, daß früher bei den
Kleinrussen auf die Unverletztheit der Jungfemschaft der
größte Wert gelegt wurde. Beauplan^) erzählt von den klein-
russischen Brautnachtsgebräuchen seiner Zeit:
„L'heure donc estant venüe de couchcr la marine, les
femmes parentes du marie la prennent et la menent en vne
chambre, oü ils la despouillcnt toute nüe, et la visitent de
tous costez, iusqucs dans les oreilles, dans les cheueux, entre
les doigts des pieds et autre partie de son corps, pour voir
s'il n'y a point de sang, d'espingle ou coton imbu de quelque
sirop rouge cach6 sur eile, et s*ils y trouuoient vne de ces
choses les nopces seroicnt troubldes et y auroit grand des-
ordre, mais s'ils ny trouuent rien, ils lui vestent vne belle
chemise de cotton toute blanche et ncuue, puis la couchent
entre deux draps, et fönt venir le nouueau marie ä la des-
robee pour venir coucher auec eile, et quand ils sont en-
semblc ils tirent le rideau; cependant la pluspart de ceux
qui assistent aux nopces viennent ä la chambre auec la cor-
nemuse, dangant chacun vn verre ä la main, les femmes sau-
tant et dangant en claquant des mains, tant qu*ils ayent de
tous poincts consomme le mariage; et dans cette heureuse
conioncture, si eile fait quelque signe de ioye, aussitost toute
l'assemblee saute, et battant des mains, hausse les cris de
^) Seite 393.
*-) Description de VUkranic 124.
— 492 --
resiouyssance, les parens du marie sont tousiours en sentinelle
autour du lict pour ^couster ce qui se passe attendant ä tirer
le rideau que la farce soit iou^e, et ils viennent lors luy donner
la chemise blanche, et s'ils trouuent en celle qu'ils luy ostent
des marques de sa virginit6, ils en fönt retentir toute la
maison par les cris excessifs de ioye et de satisfaction que
toute la parent^ en tesmoigne. — Le lendemain il se ioue vne
autre farce, non moins plaisante, qui est qu'ils passent vn
baston dans les deux manches de la chemise, la tournent ä
Tenuers et la pourmenent en frome de banniere dans les rues
de la ville auec grande solemnit^, comme vn drapeau portant
les marques honorables du combat, afin que tout le peuple
soit tesmoin, et de sa virginitd et de la virilite de son mari,
tous ceux de la nopce suiuent auec les instrumens de musique
chantans et dansans mieux que iamais, et en cette procession
les ieunes gens menans chacun vne des filles de la nopce
par la main, fönt tout le tour de la ville, toute la populace
accourt ä ce bruit lä les suiuant iusques a ce qu'ils soient de
retour au logis du nouueau mari6.
Que si au contraire les marques d'honneur ne si ren-
controient point, chacun iette son verre ä terrc, les femmes
cessent de chanter, car la feste est troublöe, et les parens
de la fille confus et diffamez, et des lors les nopces finissent,
puis fönt mille rauages dans le logis, fönt des trous aux pots
qui ont serui ä cuire la viandc, escornent los gobelets de terre
dans Icsquels ils ont beu, mettent au col de la mere de la
fille vn Collier de cheual, puis la fönt mettre au haut bout,
et luy chantent mille chansons sales et vilaines, luy donnant
ä boire dans vn de ces gobelets escornes, et luy fönt mille
reproches de n*auoir pas assez veilld ä la conseruation de
l'honneur de sa fille: en fin apres luy auoir dit toutes les
injurcs infames dont ils sc sont pu aduiscr chacun se retire
chcz soy honteux d'vne si fascheusc rencontre, particuliere-
ment les parens de la mariee sc ticnnent comme cachez en
leurs maisons d*oü ils sont quclque temps sans sortir. Quand
au marie il est ä son choix de la retenir ou non, mais aussi
s*il si resoult il faut qu'il s'appreste ä souffrir toutes les iniures
qu'on luy voudra faire pour ce suiet/*
— 493 —
In den Gebräuchen und Liedern wird auch heute noch
auf Jungfernschaft gesehen; wenn man aber einerseits sagt,
daß die Obszönität der Lieder nichts mit dem wirklichen Leben
zu tun habe, so weiß ich nicht, wie man behaupten dürfte,
daß die alten Lieder, die die Jungfernschaft loben, ein voll-
giltiger Beweis für fortdauernde Sittenreinheit seien.
In der Brautnacht soll der Bräutigam die Braut bloß ent-
jungfern; die Sitte verlangt es, daß er den Akt nicht zu
Ende bringe, sondern unterbreche, sobald er das Häutchen
durchstoßen hat; es handelt sich hier vermutlich, wie bei
den Großrussen, um eine religiöse Vorschrift, von der auch
im nächsten Kapitel die Rede sein wird. Ein Vergnügen ist
also die erste Nacht nicht, sondern reine Pflichterfüllung wird
erfordert. Es kann nun der Fall eintreten, daß der Bräutigam
der Arbeit nicht gewachsen ist. Seine Impotenz wird magischen
Einflüssen, einem zauberischen Ncstelknüpfen zugeschrieben.
Eine alte Frau führt den unglücklichen jungen Gatten also
auf den Hof und läßt ihn alle Nägel berühren, die er findet,
denn Eisen entkräftet und vertreibt den Zauber.^) Wenn der
Neuvermählte aber dann noch immer impotent bleibt, so muß
er die Entjungferung der Neuvermählten durch den Heirats-
stifter oder einen Ehrenkavalier vornehmen lassen. Denn
gleich wie der Koitus mit Samenerguß absolut verboten ist,
ist andererseits die Entjungferung in der Brautnacht obliga-
torisch. In einigen Gegenden läßt man es gar nicht auf den
Versuch der Entjungferung durch den Gatten ankommen; die
Braut selbst zerreißt sich das Häutchen mit den Fingern, oder
eine der älteren Frauen besorgt dies. Das junge Paar verweilt
jedenfalls im Schlafzimmer nur die ganz kurze Zeit, die zur
Entjungferung nötig ist, und kehrt dann zu den Gästen zu-
rück, um ihnen die Mitteilung von dem vollzogenen Ereignis
zu machen. Bestätigt der Bräutigam, daß seine Braut eine
Jungfer war, dann ist der Jubel groß, und man singt:
TeMHoro Jiyry KanHHa,
^oöporo poAy ÄHTHHa,
1) Auch bei den Orientalen herrscht diese Meinung. Vgl. Bernhard Stern,
Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei, I 303, 366.
— 494 —
CiM JiiT no Honax xoAHJia
Ilpn co6i Kpacy HOCHJia:
Kynn,i KynoBajiH — ne npo^ana,
Xjionu,! npocnjiii — ho A^Jia;
Hörn moBKOM SB-Laaajia,
^jiH CBoro ÜBacH ;i;ep}KaJia ! 0
Hollunder^) in dem dunklen Forste gleich
Ist dieses Kind aus einem Hause, das an Ehren reich,
Denn sieben Jahre ging sie stets bei Nacht
Und immer hielt sie bei sich ihre Mädchenpracht;
Die Händler wollten ihren Schmuck, und sie verkaufte
ihn um keinen Preis,
Sie gab ihn nicht den Burschen, die drum baten heiß;
Die Beine band sie fest mit einem Seidenband,
Bis ihr Iwan das schöne Schmuckstück fand.
Man zeigt den Gästen und den Verwandten die Trophäe,
das blutbefleckte Hemd. Darauf neuer Jubel. Man schreit,
springt auf die Bänke und Tische, tanzt und singt:
A B iiOKOiKy ;^a ^HipoMKaMu
Cto'itb iiocTejibKa 3 ncAymeHKaMH,
Ha Tis uocTejim,i Mapyca jighciitl,
Me>Kii iioraMU nna^y AepaciiTb:
Ofi Tpeöa ;i,o5pe Mapyci npocHTH,
JTJ^ooji ;i;a:ia iin3An 3a>KnTJi.'^)
In einem kleinen Kämmerlein,
Da ist ein kleines Bettelein,
Marussja liegt dort auf den Kissen
Und hält die Pisda zwischen ihren Füßen:
Marussja läßt gar lange warten,
Bis frei sie Eintritt gibt in ihren Garten.
^) Aus Bcrclytschcw im Gouvernement Kijew. Ein ähnliches Lied singt
man in Gadiatsch im Gouvernement Poltawa.
^) Der Hollun(UT symbolisiert in den Liedern die Juni;fernsch ift.
•*) Aus Uschytzja im Gouvernement Podolien.
— 495 —
KajiHua, KajiHHa,
^oöporo GaTtKa AHTHHa:
IliA Kajinnoio cnajia,
niOBKOM IIOHvCHKH 3B'Lfl3ajia,
^jiii cBoro MOJiOAoro noii,bKH AepHcajia!^)
Hollunder, Hollunder,
Des Vaters gutes Töchterlein
Schlief unter dem Hollunder ein,
Die Füße fest mit Seidenschnur umschlungen
Bewahrt* die Pozjka^) sie für den Gemahl den jungen.
Wird aber konstatiert, daß die Braut nicht mehr Jungfer
war, so machen die Gäste Skandal und verspotten den Bräu-
tigam, beschimpfen die Braut, deren E^ltern und ganze Ver-
wandtschaft :
TcMHoro Jiyry KaJiiiHa,
He Aooporo poAy AöTuiia:
Bo BOHa TtiKa Ao6pa
>3k Aipj^BJ^ Topöa.'^)
Hollunder in des Waldes Schatten,
Das Kind von Eltern, die nie Ehre hatten :
Du passest zum gemeinen Pack,
Bist grad wie ein durchlochter Sack.
Tu, BaciiJiLKy, Kajinna-Majiuiia,
A na Teße ahbiithcji mhjio;
Tu, HapacKO, Hopna xanaßa:
yBecb pi^ noKajifljia!^)
Der Hollunder-Himbeer' gleichest du, Wassili;
Vergnügen ist's, wenn man dich anschaun will;
Doch du, Paraska, schmutziges Gefäß, du mußt es wissen.
Du hast ja die Familie angesch . ssen.
^) Aus Gadiatsch im Gouvernement Poltawa.
-) Bedeutet ebenso wie Pisda den weiblichen Geschlechtsteil.
■^) Aus Nowograd Wolhynsky in Wolhynien.
*) Aus Solotonoscha im Ciouvernement Poltawa.
496
_•:>.: r.iHaÜTe kboiitv b oC'HKV.
A Kypiaxa b B^pmy;
npuiuaBaiicji. iLipyeio,
KoMv :iaBa.ia cnepmy?-
— -J,aBajia Xoiii.
IUe Oyae ii T'-.oi:
JaBa.ia nonoBi.
JaBaaa aaKOBi
^aBaaa ni;iaaHOMy —
Ulf* ii no cooaiOMvI . ."*)
„Sperrt die Henne in die Tonne ein
Und die Küchlein werfet in den Kot hinein:
L'nd Manissja, jetzt gesteh es mal,
Wem gabst du es wohl zum ersten Mal?** —
,,Erst genoß der Thomas dieses Glück,
Doch genug blieb noch für dich zurück;
Auch dem Popen gab ich das.
Und dem Diakon etwas.
Selbst dem Kirchendiener, bitte —
Gab zum Schluß nach Hundesitte.**
ni,T; cociioio cna.ia —
B ui\:i;iy miiuiKa Bnaaa:
CoMcpo KOiieii aaiipHraaii,
.'3 iinn;i.ii iiiiiuncy BiiTHraaii.-)
Wie sie unter einer Tanne liegt - -
Ihr (in Zapfen in die Pisda fliegt.
Sieben^; Pferde spannt man an,
nis man ihn hcrausziehn kann.
') Aus Sfjl()tr)n()S( lia stammen die ersten vier Zeilen. Die restlichen
sechs fü^t man in Cliarjkow und in Gadiatsch im Gouvernement Poltawa hinzu.
*-') Aus '1 s( licrny^'ow. Ähnliche Lieder singt man in Nowograd-Wolhynsky,
(iouvcrurmrnl Wolhynicn.
•*) l)ie häufige Wiederkehr der Zahl Sieben in diesen Liedern ist be-
achtenswert.
— 497 —
II Iä üiKOK) cnaaa
He AiBKOK) BCTajia;
3 ropH IlOKOTHJiaCH
^a Ha mHüiKy npoöiiJiaoi!')
Bei einer Fichte schlief sie schwer
Und als sie aufstand war sie keine Jungfer mehr:
Sie rollt' sich her und rollt' sich hin
Und hatte schon den Apfel drin.
Xo'i 'ifl,h MaTiHKO, xoH hc 'iji^hj
Bo B5Ke ÄOHeHii.i pos^ep BeÄMiAi»^
^a xoAiMO ÄO njioTa,
^a po3ÄepeMO Koxa,
3aHeceM0 ni^ nepHHy,
Ta 3po6nMO Kajinny!')
Komme, Mutter, komm, du sollst es wissen,
Deiner Tochter hat der Bär das Ding zerrissen !
Laß uns eine Katze schnell erschlagen
Und sie auf das Ehebette tragen,
Und mit ihrem Blute den Hollunder färben,
Ach, sonst muß dein Kind vor Schande sterben.
3a KJiyöo^ioK BajiKy
IßajiacÄ 3 MajiKy;
BmÖJia jrhfLTh copoHOK:
111,0 Aßi yB ip3KHu,i,
A abI.b KOHonjiHui,
A n-BHTaa Taa,
111,0 MaTBOHKa ;^ajia!'^)
Für ein wenig Zwirn, für ein Röllchen Fädchen
Ließ seit früher Kindheit fädeln sich das Mädchen;
Sie gewann als Preis Hemden fünf für ihren Fleiß.
*) Aus dem Kreise Mosyr im Gouvernement Minsk.
-) Aus dem Kreise Dubno in Wolhynien.
'^) Aus dem Kreise Perejaslaw im Gouvernement Poltawa.
Stern, Geschichte der öflfentl. Sittlichkeit ia Rußland ** ^j
— 498 —
Zwei davon im Roggenfeld
Andere zwei im Feld von Hanf,
Und das fünfte ganz aliein
Dürfte von der Mutter sein.
ÜKaKae ropo6en,b no nptOHKy,
HacpaTb SaTbKosi li Marepi
3a ÄO'iKy!
CKaKae ropo6eub no Tiiny!
HacpaTt SaxiiKOBi ii MaTopi
Ua jiHTUuy!')
Der Mönch springt in das Eck,
Seh . . ßt auf den Vater und die Mutter:
Die Tochter bracht' sie in den Dreck.
Der Mönch springt hin zum Zaun
Seh . . ßt Vater, Mutter an :
Das Kind ist schuld daran.
ÜKaKaB ropoÖcÜKO no To^wy,
Hacepy cßaTO'iKy 3a ;io^Ky,
3a Pro iieiepnoiiy Ka;iiiHy,
3a iTo HciecTiiy AiiTBiiy!-)
Der Mönch stürmt an die Luft, schreit laut ;
Ich seh , . ße auf den Schwiegervater wegen diesi
Und wegen des Hollunders, der kein Blut hat,
Und wegen dieses Kindes, das nicht gut tat.
IIi;t cociioio poc.ia,
A iie,^o6paii ,io nae'r. npHui.Ta;
Hi'ioro A'iRyuJiTii,
]>o Taiia fiyjia Ti Marii,
IlanuuiiTL y .ToocTpu:
IIJ,o Tann fjy.iii ii i"i cncTpii!-')
') Aus Uüguslaw im Gouvenifiiiciit Kijtw.
2) .\iis Solotonosclia im Gouvernement l'oltawa.
*| Aus (l^rftotbc II Gegend. Das g1i'ichel.i(i] singt münaiicIiiiiTst
— 499 —
Bei einer Tanne wuchs sie auf
Und ehrlos kam sie her zu uns;
Doch staunen braucht man wahrlich kaum,
Der Apfel fällt nicht weit vom Baum:
Die Mutter die war alle Tage
Vom gleichen Schlage,
Und schreibt es ins Register:
So sind auch die Geschwister.
^Th TG, ÄlBUe, TH TO BHHHa,
Tu - 6 TG Ä^TH He nOBHHHa!"
— „Hk He A^TH, HK sin npocHTb,
Ahc ao Bora pyKH SHGCHTb!"*)
„Du Tochter, du, weil du gefallen,
Du ganz allein bist schuld an allem!**
„Ach Gott, wie könnt ich*s ihm nicht geben.
Als ich ihn bittend sah die Hand zum Himmel heben!**
Ta ne auajia (löy tbgk) MaxLl)
KajiiiHH jiaMaTL
Ta 3Hajia (T6y tbgk) MaTb!)
XjiGiiiviM nGu,bKU AaBaTb!-)
Du hast es nicht verstanden (ich koitiere deine Mutter!)
Nach HoUunder zu fahnden,
Doch wußtest du, mein Leben, (ich koitiere deine Mutter !)
Dem Burschen Pozjka zu geben!
Oii TaM EG AOJIUHI
Ilacjia nna^a cbhhi;
MiniKGM GÖropHyjiacb,
A xycM aacTiÖHyjiacb!-^)
^) Aus Nowograd-Wolynsky in Wolhynicn.
-) Aus Gadiatsch im Gouvernement Poltawa.
•^) Aus Gadiatsch.
2 ->*
- 500 —
Oj da unten, seht nur, seht einmal,
Pisda hütet Schweine in dem Tal;
Und sie hüllt sich in ein Säckchen,
Steckt den Schwanz sich an das Jäckchen.
Die Serie der Lieder beschließt man endlich damit, daß
man der Braut folgende unschöne Handlung andichtet :
3a CTOJIOM cnAiJia,
KpinKo HAÖajüna:
Oite To6i, MOK MaTiiiKo!
3 3a CTOJia tinyin,
IlepAHyJia Asiin:
Oofi To6i, Miä 6aT(;HLKy!
A Bitämna iia ABip,
Hacpana an Bin:
Oije To6i, uiii pOAOHbKy!
Sie saß bei Tische, kurz,
Sie ließ dort einen Furz :
Für dich, mein Mütterchen 1
Und als vom Tisch sie ging.
Zwei Fürze ließ das Ding:
Für dich, mein Väterchen!
Dann schritt sie in den Hof
Und seh . ß dort wie ein Ochs:
Für dich, meine Verwandtschaft!
Auch bei den Großrussen hielt man ehemals die un-
verletzte Jungfernschaft in Ehren. Für den Popen war es
sogar strenges Gesetz, nur eine reine Jungfrau zu heiraten.
„Wenn sich die Geistlichen verhcyrathen / so müssen sie eine
reine Jungfer erwehlen / indem ihnen nicht erlaubet ist / eine
Witwe / viel weniger eine Person / auff d^ren Sitten und
Lcbens-Wandcl sich etwas zu sagen findet / zu nehmen."
Aus älterer Zeil wird von den großrussischen Brautnaclits-
gebräuchen erzählt: ..Man führte das Brautpaar mitten unter
dem Essen von der Tafel zu Bette, und brachte hernach die
Marquen ihrer Unschuld im Hemde an die Brauttafel, und
was dergleichen abenteucrUclic Z2remonien mehr waren, weicht;
— 501 —
anjetzo (zur Zeit Peters des Großen) alle Leute von Kondition,
ja selbst wohlhabende Kaufleute und Bürger höchst albern
und abgeschmackt finden, ob sie gleich vom gemeinen Mann,
insonderheit in denen Provinzen, noch bis auf den heutigen
Tag beobachtet werden.** i) Die Heiratsvermittlerin bekam erst
ihren Lohn, wenn der Bräutigam den Beweis für die Keuschheit
seiner Braut selbst erlangt hatte: „Nach den Trauungszere-
monien schliessen sich beyde in die zwei Stunden lang in
die Cammer; die Alte wartet auff der Braut Jungf erschaff t-
Zeichen / und so bald als sie solches hat / bind sie ihre
über die Schulter zerstreuete Haare wieder hinauff / und gehet /
von ihren Eltern das Abricias zu fordern,*' 2) Aus der Epoche
Katharinas IL berichtet ein deutscher Offizier 3) als Augen-
zeuge einer russischen Hochzeit : „Es war bereits eine gute
Stunde verflossen, seitdem sich das neue Ehepaar von uns
wegbegeben, als ich in der Kammer klopfen hörte. Sogleich
stunden zwey der ältesten Männer und ebensoviel betagte
Weiber auf, und begaben sich zu ihnen in die Brautkammer.
Die alte Kupplerin aber blieb draussen an der Thür stehen,
und machte eine jämmerliche Figur. Der Bräutigam kam
hierauf zuerst aus der Kammer, und hielt ein Glas in der
Hand, welches mit Meth angefüllet war. Er gab es der Alten,
die es mit zitternden Händen von ihm annahm. Doch die
Scene veränderte sich gar bald, denn kaum hatte sie das
Glas in ihren Händen, als sie es voller Vergnügen auf unser
aller Gesundheit austrank, und sich vor Freude halb närrisch
anstellte. Furcht und Ungewißheit ist die Ursache, warum
sie das problematische Glas mit zitternden Händen von dem
Bräutigam empfängt : Denn wenn der Bräutigam bey seiner
rechtsgegründeten scharfen Untersuchung nicht alles nach
Wunsch gefunden, so hat das Glas, welches er der Alten
darbietet, unten im Boden ein Loch, welches er mit dem
Finger zuhält, und wodurch, sobald er es aus der Hand läßt,
der Meth hinaus und auf die Erde läuft. Dis ist alsdann das
^) Vockcrodt bei Hermann, S. 106.
-) Heise nach Norden 127.
••) Russische Anecdoten 1 59.
— 502 —
Signal zu einer guten Prügelsuppe. Die ganze Gesellschaft
sieht sich dabey genöthiget, nach Hause zu gehen, und ist
natürlicher Weise nicht sonderlich damit zufrieden, daß sie
in ihrer verhoften Freude gestöret worden, und die Gelegen-
heit, sich etwas zu Gute zu thun, auf diese Art verlohren
siehet.** Da dies bei der geschilderten Hochzeit glücklicher-
weise nicht geschah, bekam der Gast etwas anderes zu sehen :
„Die Kammertür öfnete sich aufs neue, und die vier ehr-
würdige Abgeordnete führten die Braut in das Zimmer, darinn
wir uns befanden, so wie sie aus dem Bette aufgestanden war.
Ich kann ohnmöglich die Verwunderung und das Erstaunen
beschreiben, worinn mich dieser Anblick setzte. Ich machte
ein Paar noch grössere Augen, als ein Krämer von Zwoll,
wenn er das erstemal auf die Börse in Amsterdam kommt.
Eine junge Frau im bloßen Hemde, welche die Siegeszeichen
ihres neuen Gemahls gleichsam im Triumph unseren Augen
darstellte; niemals habe ich dergleichen Dinge gesehen. Die
ganze Gesellschaft erhob sich bey diesem Schauspiel von der
Tafel, und fieng an um die Braut herumzutanzen. Wir waren
genöthiget mitzutanzen, und man trank zur Ehre der Keusch-
heit."
Die Vorweisung des Brauthemdes geschieht in verschie-
denen Gegenden Rußlands auch heute. Ich habe dieser Zere-
monie als kleiner Knabe in Riga selbst mehrmals beigewohnt,
natürlich ohne damals eine Ahnung zu haben, was sie bedeuten
.sollte.
Besonderen Wert auf die Jungfernschaft legen einige der
exotischen Völker des Zarenreiches, wie die Samojeden und
Kirghisen.
Der samojedische Vater läßt seine Töchter, die ihm ein
gutes Einkommen garantieren, nicht sehen, bevor sie ver-
sprochen sind; andererseits will auch der Mann der Jungfern-
schaft seiner zukünftigen Gattin vollkommen sicher sein, er
kauft also für eine Anzahl Hirsche eine Braut von 6 oder
7 Jahren und verschließt ihren Geschlechtsteil mit einer Art
Keuschheitsgürtel bis zu ihrer Mannbarkeit.^)
^) Heise nach Norden 201.
— 503 —
Bei den Kirghisen geht es auf der Hochzeit fröhlich zu,
wenn die Braut als Jungfer befunden wurde; wenn aber das
Gegenteil der Fall ist, so erstechen die Freiersleute das geputzte
Pferd des Bräutigams und zerschneiden und zerhacken sein
Kleid in kleine Stückchen, um dadurch den Unfall, der ihn
betroffen hat, kundzutun. Der Brautvater hat zum Spott noch
den Schaden, da er den Kalym sofort zurückzahlen muß. Um
sich vor solchem Malheur zu schützen, verheiraten die Kirghisen
ihre Töchter möglichst jung.^)
50. Coltus und Religion.
Kirchliche Verbote — Der Coitus des Popen — Der Coitus unrein — In der
Brautnacht beten statt coitieren — Armenische Enthaltsamkeitsgebräuche —
Die Enthaltsamkeitsschnur — Verbot des Coitus in der Fastenzeit — Coitus
verboten an drei Wochentagen — Ebenso an Sonntagen und Feiertagen —
Das Beisammenschlafen des Zarenpaares — Coitus und Kreuz — Rcinigungs-
bad — Zeremonie der Heiligung des Wassers für die Frauen — Schamhaftigkcit
der Eheleute — Junge Eheleute meiden die Öffentlichkeit — Kaukasische
Gebräuche — Unreinigkcit der Menstruirenden, Schwangeren und Gebären-
den — Coitus vom Kult gefordert — Prostitution vom religiösen und nationalen
, Standpunkt.
Die Sitte gestattet die größte geschlechtliche Freiheit,
den ungebundenen Verkehr der Jugend, die Probenächte
der Brautleute. Die Religion aber und religionsähnliche
Satzungen verbieten nicht bloß die illegale Liebe, sondern ver-
kümmern auch den Genuß der von der Kirche selbst feier-
lich eingesegneten. Den Popen gestattet die Orthodoxie die
Ehe mit einer Jungfrau; aber sie dürfen am Vorabend der
Zelebrierung der heiligen Messe niemals bei ihren Gattinnen
schlafen, und nicht gerade befohlen, aber anempfohlen ist
es ihnen, auch den Tag darauf in Keuschheit zu verharren.
Die Ehe ist ein Sakrament, der Coitus aber unrein. Der Sitten-
lehrer Possoschkow rät im Geiste dieser Auffassung den jungen
Eheleuten, die ersten zwei Nächte ihres Beisammenlebens un-
') H>i:schko\v bei Hüsching VIT 433.
— 504 —
genützt verstreichen zu lassen und statt sich dem langerwarteten
Genüsse hinzugeben, zu beten; durch derartige Enthaltsam-
keit, meinte dieser Weise, vertreibt man in der ersten Nacht
die Dämone, die der Neuvermählten Ehebett umlauern, und
in der zweiten Nacht ehrt man so die Patriarchen, i) Aus
ähnlichen Motiven ist es bei den Kleinrussen Brauch geworden,
in der ersten Nacht bloß die Entjungferung, die Zerreißung
des Häutchens, vorzunehmen, aber einen vollendeten Coitus zu
vermeiden.
Einen sonderbaren Gebrauch, der ehemals bei den armeni-
schen Hochzeiten bestanden haben soll, berichtet in einer
„wahrhaften und eigentlichen Beschreibung deß gegenwär-
tigen Zustandes derer unter der Türkischen Tyranney seufzen-
den griechischen und Armenischen Kirchen** ein Reisender
des siebzehnten Jahrhunderts: „Montags früh Morgends ist
gemeiniglich die Zeit, da sie mit oder noch vor aufgehender
Sonne die Hochzeiten zu halten pflegen. Das Fest beginnet
Sonntag Abends, und wird drey oder vier Tage lang mit grossen
Freuden fortgesetzt: welche Zeit die Braut fast immerdar in
einem Sessel sitzet, und nicht schlaffen darff: so muß auch
der Bräutigam sich indessen ihrer enthalten und ist ihm nicht
eher, alls erst Mittwochs Abends oder Donnerstags früh ihr
ehelich beyzuligen erlaubt; worauff allsdann der Braut Jung-
frauschafftzeichen öffentlich vorgezeiget werden.** Das gleiche
Enthaltsamkeitsgebot besteht bei den in Rußland lebenden
Armeniern: Bei den Armeniern der Wolga-Gegend, den so-
genannten astrachanjschen Armeniern, wird dem Bräutigam
bei der Trauung vom Priester „an seinen Halß ein dünner
Faden gebunden, deßen Endungen mit einem Knopf feste
sind, zu einem Zeichen, daß der Bräutigam nicht befugt sey,
den Beyschlaf zu halten, bis er, der Priester, mit eigener Hand
nach dreycn Tagen die Schnur wiederum unter Gcbeth los-
gemachet habe.'*-)
^) Vgl. Band I 114. — Bei den Südslawen herrschen gleiche Sitten. Man
lese die Werke von Dr. Friedrich S. Krauß über Brauch und Sitte bei den
Südslawen, und Rhamm a. a. O.
-) Gmelin II 152.
— 505 —
Der Ehe ungestörte Freuden werden den Othodoxen aber
auch dann nicht zuteil, wenn sie die Flitterwochen hinter sich
haben. In der Fastenzeit ist der Coitus streng verboten. „Das
armenianische Frauenzimmer,** schreibt Gmelin, „ist imgemein
fruchtbar, vermuthlich sind an diesem Umstand die strenge
Fasten dieses Volkes, in welchen der Beyschlaf verbothen ist,
mehr schuldig als der bey ihm eingeführte häufige Gebrauch
des Knoblauchs.** 1) Den Russen ging es noch viel schlimmer.
Ihnen „veibiethen die geistlichen Gesetze mit denen Weibern
3. Tage in der Wochea / Montags / Mittwochs und Frey tags
Gemeinschafft zu halten.** 2) Am schlimmsten aber war es
offenbar um das Liebesleben des Zarenpaares bestellt. Ko-
toschichin erzählt über das häusliche Leben des Zaren Iwan
Alexejewitsch und der Zarin Praskowja^): „Außer an den
Fasten schliefen Zar und Zarin auch an allen Sonntagen und
Feiertagen getrennt.** Rechnet man noch die verbotenen drei
Wochentage hinzu, so bleibt für ihre ehelichen Freuden nicht
viel Muße. Und auch diese geringen Wonnen sind von ver-
schiedenen religiösen Vorschriften eingeengt: „Wenn der Zar
und die Zarin beisammenschlafen sollen, so begibt sich der
Zar zur Zarin oder er befiehlt ihr, in sein Schlafzimmer zu
kommen und bei ihm zu schlafen. Und wenn sie des Nachts
beisammen geschlafen haben, so gehen sie immer am Morgen
darauf getrennt ins Bad und gehen nicht am Kreuze vorüber,
weil sie unrein und sündig sind.***) Paulus Jovius erzählte
schon, nach den Angaben des russischen Gesandten Dmitrij,
„daß russische Eheleute nach dem Genüsse der gesetzlichen
Liebe nicht in die Kirche treten durften, sondern die Messe
in der Vorhalle stehend hören mußten.**^) Vor und nach jedem
Geschlechtsakt mußte man beten, und zur Reinigung von der
Sünde nahm man ein Bad, ehe man das Kreuz berührte oder
in die Kirche ging. Die Gebräuche blieben bis in die neuere
^) Ebenda 156.
2) Reise nach Norden, S. 130.
^) M. H. CoMCBCKift, O'icpKii H paacKaai.! iiai* pvecKoit jicTopin XVIII BliKii.
1. llapima IIpacKOBhJi 1664—1723. II:w»Hie winpoc, C-TldepT). 1883, crp. 15.
**) Ebenda.
•') Karamsin Geschichte VII 174.
— 506 —
Zeit erhalten. „Man muß aber nicht glauben," schrieb ein
Beobachter in der Zeit der zweiten Katharina i), „daß alle
Rußinnen ohne Unterschied so gewissenhaft sind (und in der
Vorhalle der Kirche stehen bleiben). Seitdem die russischen
Damen die französischen Manieren angenommen, seitdem sind
sie auch nicht mehr so einfältig, daß sie ihre Männer oder
andere Personen von ihren nächtlichen Abentheuem auf eine
so überzeugende Art unterrichten sollten," Die Frauen aus dem
Volke hielten sich strenger an das Gesetz. Sie hatten übrigens
außer dem vorschriftsmäßigen Bade einmal im Jahre Gelegen-
heit zu einer Universalreinigung anläßlich der Zeremonie der
„Heiligung des Wassers für die Frawen: Den 18. May gieng
der Vater Babst mit den Patriarchen und allen Priestern in
gantzem Proceß, mit allen heiligen Creutz vnd Fahnen, auff der
lebendigen Brücken so auff dem Wasser Mußko liegt, weihete
vnd heiligte er das Wasser für alle Frawenspersonen. Es
folgeten ihm etliche tausent Frawen, die sich auß dem Wasser
wuschen, in meinung, daß sie von jhrer Vnzucht oder Vnreinig-
keit damit gereiniget würden. "*)
Die Sitte gestattet die Vorweisung des Brauthemdes mit
den. blutigen Zeichen der Jungfernschaft. Die religiöse An-
schauung von der Unreinigkeit des Geschlechtsaktes aber ver-
bietet, daß sich junge Eheleute in der Öffentlichkeit zeigen.
Der Sitte erscheint nichts, was mit dem Geschlechtsakt zu-
sammenhängt, als schamverletzend; der Religion ist selbst die
von der Kirche geweihte Liebe eine Unreinigkeit, die sorgfältig
verborgen werden soll. Bei den Wotjäken ebenso wie bei den
astrachanjschen Tartaren muß sich der Bräutigam von dem
Moment an, wo er mit seiner Braut geschlafen hat, vor ihren
Verwandten verstecken. Bei den Tscherkessen ist es unschick-
lich, daß junge Eheleute beisammen gesehen werden. Der neu-
vermählte Ehemann verschwindet beim Beginne der Hochzeils-
festlichkeiten von der Seite seiner Gattin. Beim Einbruch der
Nacht schleicht er heimlich zu ihr, aber beim ersten Morgen-
') Russische Anccdoten 139.
2) Russische Reise und EiniUR zn Moskau Jolianiiis ilcs Jüngern, Hcric^s
Diinemark. Biischings MaRaiin VII 28f>.
r
— 507 -^
grauen muß er wieder flüchten. Zwei volle Monate dauert
dieses heimliche Zusammenkommen. Dann erst beginnt das
eigentliche gemeinsame Leben, wobei aber noch immer darauf
geachtet wird, daß kein Fremder die Eheleute miteinander sehe.
Treffen sie sich im Beisein dritter Personen, sei es im fremden,
sei es im eigenen Hause, so müssen sie hastig einander fliehen.
Das Erkundigen nach dem Befinden des Mannes, der Frau,
der Familie gilt als unhöfliche Neugierde, ja geradezu als
Beleidigung. Auch bei den Tschetschenzen tritt mit der Ehe
nicht sogleich das öffentliche Zusammenleben ein; doch ist
hier die Zeit, während welcher sich die jungen Eheleute öffent-
lich meiden müssen, nicht so lange, sondern sie hat schon
nach sechs Tagen ein Ende. Beim Erscheinen dieses sechsten
Tages nimmt die junge Frau eine Anzahl Eierkuchen und
einen Krug und wandert, von den Frauen ihrer Verwandtschaft
begleitet, zum Ufer des Dorfbaches. Die vorher mit einer
Nadel durchbohrten Kuchen wirft sie in das Wasser; sie füllt
dann ihren Krug mit dem Naß des Baches und schreitet wieder
heim. Damit ist der Bund definitiv, und das Zusammenleben
kann fortan öffentlich sein.
Bei allen slawischen Völkern ruht ein ähnliches Gebot
der Scham auf der jungen Frau so lange, bis durch die Geburt
eines Kindes Raum zu einer anderen und höheren Auffassung
des ehelichen Verhältnisses gegeben ist.^) Auch eine neu-
vermählte tartarische Frau darf ihr Schlafzimmer nicht ver-
lassen, ehe sie geboren hat. 2) Bei den kaukasischen Bergjuden
soll die junge Frau, bis drei, vier Monate nach der Hochzeit
verflossen sind, ihr Gesicht nicht aufdecken. 3)
Alles, was mit der physischen Beschaffenheit des Weibes und
mit demCoitus zusammenhängt, ist unrein. Die orthodoxe Kirche
verbietet der Russin in der Zeit ihrer Menstruation ein Kreuz
oder ein Heiligenbild zu berühren.^) Bei den Chewsuren und
Tuschinen in Kaukasien gilt nicht bloß die Menstruierende, son-
^) Rhamm a. a. O.
2) Gmelin II 138.
^) Bernhard Stern, Zwischen Kaspi und Pontiis.
») Band I 108.
— 508 —
dern auch die Gebärende als unrein; bei den Chewsuren wird
sie sogar in eine Hütte außerhalb des Dorfes verbannt, um dort
ihre Niederkunft abzuwarten i) ; bei den Tuschinen darf sie eben-
falls nicht im eigenen Hause bleiben, aber sie ist nicht ge-
zwungen, außerhalb des Dorfes zu gebären, sondern kann bei
ihren Verwandten Zuflucht suchen. Die Ostjaken, Burjäten
und Tungusen in Sibirien verabscheuen ihre unpäßlichen,
schwangeren, entbindenden und säugenden Frauen als unreine
Geschöpfe; die Männer hüten sich mit ihnen in Berührung
zu kommen; auch dürfen solche Frauen sich nicht dem hei-
ligen Feuer, den Götzen, den Opferplätzen nähern und nichts
mit den Speisen zu tun haben; man verbannt deshalb die
menstruierenden, schwangeren, gebärenden und säugenden
Weiber gewöhnHch in besondere Hütten. 2) Daß zu solchen
Anschauungen religiöse Motive Veranlassung geben, hat schon
Meiners hervorgehoben 3) : „Eine der Hauptursachen der Ver-
achtung und Verworfenheit, worin die Sibirischen Weiber
leben, ist das unter den Männern allgemein verbreitete Vor-
urtheil, daß die Weiber unreine, den Göttern verhaßte
Geschöpfe, daß ihre periodischen Reinigungen, ihre Schwan-
gerschaften, Entbindungen, und selbst das Säugen, Wirkungen
des göttlichen Zorns, oder ansteckende Zufälle seyen, wodurch
Menschen, Thiere, und andere Gegenstände, welche die Weiber
berührten, zu gottesdienstlichen Handlungen untüchtig, und
der göttlichen Strafen theilhaftig würden. Dies Vorurtheil war
unter allen Völkern um desto tiefer eingewurzelt, je unver-
mögender ihr Geist, und je weniger sie fähig waren, die Ur-
sachen und Absichten aller der weiblichen Natur eigentüm-
lichen Veränderungen einzusehen; und eben dieses Vorurtheil
brachte wiederum einen desto größern Abscheu, und eine
desto härtere Behandlung des weiblichen Geschlechts hervor,
je gefühlloser die Männer gegen die Reize, die Verdienste, und
die Leiden der Weiber waren. Die geistreichsten Völker der
^) C. Hahn, Aus dem Kaukasus.
2) Das Band der Ehe (von Chr. G. F. Flittncr). Berlin 1820, I 68.
'^) Die rehgiösc Unreinigkeit der Weiber. Berlin. Monatsschrift 1787. —
(ieschichte des weiblichen Geschlechts T 1 2.
— 509 —
Erde, die Nationen reinen Celtischen Ursprungs hielten selbst
als Barbaren ihre Weiber in den vorher genannten Zuständen
nicht allein nicht für unrein und verabscheuungswürdig, son-
dern bewiesen, und beweisen ihnen alsdann gerade am meisten
ihre Zärtlichkeit, ihre Teilnehmung und ihren thätigen Bey-
stand. Die Griechen und Römer waren zwar in dem uncel-
tischen Vorurtheile, daß Weiber in den Zeiten der Reinigung,
und bey und nach der Niederkunft ansteckend oder befleckend
seyen; allein dieser Wahn verlor sich in den Zeiten der Auf-
klärung, und er war also unter diesen Völkern weniger un-
ausrottlich, als unter den Morgenländern, unter welchen er
noch bis auf den heutigen Tag herrscht, und zwar um desto
mehr herrscht, je roher sie sind. Selbst unter den Morgen-
ländern aber brachte dieselbige Meynung von der religiösen
Unreinigkeit der Weiber nicht ein solches Betragen gegen
die letztem hervor, dergleichen sie unter allen oder den meisten
Mongolischen Völkern erzeugt hat.'*
Wenn die Religion im allgemeinen den Geschlechtsakt als
unrein betrachtet und verabscheut, so gibt es doch wiederum
Fälle, wo der Kultus gerade diese Handlung im Interesse einer
heiligen oder nützlichen Sache fordert i), ich erinnere bloß an
die Ausschweifungen bei den russischen Sektierern. 2) Bei den
„Wanderern" beispielsweise ist die religiöse Prostitution oberstes
Gesetz. Dieses Gesetz wird auch von anderen Bespopowzy
(priesterlosen Sektierern) so willig eingehalten, daß im Gou-
vernement Jaroslaw unter vier unverheirateten Mädchen je eines
bereits Mutter ist.^)
Von den alten Tscherkessen erzählte Interiano^): „Bei
dem Begräbnisse der großen Herren findet noch ein anderes
barbarisches Opfer statt, das wohl des Sehens werth ist. Es
wird ein Mädchen von zwölf bis vierzehn Jahren auf der Haut
eines eben geschlachteten Ochsen ausgestreckt und vor den
Augen aller herumstehenden Männer und Frauen auf die Erde
M Vgl. Band I 352 ff.
-) Band I Kap. 10 — u.
•*) Besobrasow, Etudcs sur rcconomic nationale de Kussic, 1886, II.
*) Neumann, Die Tscherkessen, S. 39.
— 510 —
hingelegt. Hier versucht es der muthigstc und kühnste Jüng-
Hng, sie unter seinem Filzmantcl zu entjungfern. Sehr selten
geschieht es, daß das Mädchen nicht drei, vier oder auch
mehrere Jünglinge ermüdet, bis sie überwunden wird. Ist sie
endlich matt und erschöpft, so erbricht der Tapfere, unter
tausend Versicherungen, daß er sie heirathen werde und der-
gleichen, die Pforten und geht in das Haus. Der Sieger zeigt
hierauf den Umstehenden die mit Blut befleckten Siegeszeichen.
Die Frauen bedecken sich, vielleicht bloß aus verstellter Scham,
das Gesicht und thun als wenn sie nichts sehen wollten; sie
können aber doch das Lachen nicht halten."
Bei den Tscheremissen läßt man die jungen Eheleute in
den Kornmagazinen wohnen, i) Dies bringt ihrer Ehe und ihren
Feldern Glück und Fruchtbarkeit. 2)
Daß es bei einigen nichtrussischen Völkern Rußlands auch
die sogenannte gastliche Prostitution gibt, hat Georgia) erzählt:
„So wenig die Väter sich bey der Verheirathung von Töchtern
um die Einwilligung der letztern bekümmern, so wenig fragen
die Männer ihre Weiber, wenn sie mit den Reizen derselben
guten Freunden dienen, oder sonst einen ehrlichen Gewinn
machen können. Man sieht es in Sibirien als eine Pflicht der
Gastfreundschaft an, Fremdlingen, oder einkehrenden Bekann-
ten Weiber und Töchter anzubieten; und eben so gehört es
zu den Sibirischen Rechten des Ehemannes, daß er seine Frau,
wie seine Rennthiere, oder Hunde und Schlitten gegen die
Gebühr auf eine Zeitlang abtreten kann."
Die Russen kannten Prostitution als wahre Kulthandlung
in früheren Zeiten ebenfalls. Sie hielten es zwar für „ein sehr
') Haxthauscn, StiuHcn, I 446.
2) Von den Südslawen erzählt Dr. Friedrich S. Krauß: Beschläft der
Hausvorstand sein Weib unter einem Fruchtbaum, so fördert dies das Ge-
deihen der Früchte. I'Vrner: Wenn eine Aussaat gedeihen soll, so ist es gut,
daß sich ein Bursche mit einem Mädchen auf dem Felde splitternackt begatte.
Das Weibsbild darf nicht vergewaltigt werden, muß vielmehr einverstanden
sein und sich unter den Jüngling legen. Die Stelle, wo man den Beischlaf
vollzieht, heißt man jcbali§tc (Coiticrplatz).
^) Beschreibung der Russischen Völker, S. 349, 356, 372. — Meiners,
(ieschichte des weiblichen (ieschlcchts I 16.
\
— 611 —
großes Laster / Svenn ein Russe bey einer Engel- oder Hollän-
derin schläft; einer russischen Frau aber nicht vor sehr übel /
wann sie mit einem Fremden Unzucht treibt / weil die Kinder /
die daher kommen können / in der Rußischen Religion erzogen
werden.** 1) Nicht so loyal denken die Esten in bezug auf
den Verkehr ihrer Mädchen mit den Russen. Den Estinnen
ist nichts so verächtlich, als „mit Russen oder Deutschen der
Wollust zu pflegen.** Eine Geschwängerte braucht bei den
Esten keine Schande zu befürchten und findet noch immer
einen Mann; aber sie darf nicht im Rufe stehen, daß sie mit
einem Deutschen oder Russen zu tun gehabt hat; dann ist
sie verloren, niemand will sie heiraten. Infolgedessen ent-
schließt sich eine Estin zum Verkehr mit einem Deutschen
oder Russen nur dann, wenn die Not sie treibt, sich um Geld
hinzugeben. 2)
51. Snochatschestwo.
Der Gebrauch der Schwiegertochtcrschaft — Blutschande bei den Vorfahren
der Russen — Blutschande bei den ersten christlichen Russen — Blutschande
bei den Wotjäken, Ostjaken und Giljaken — Kalmückische Sitten — Die
Schwiegertochterschaft — Zeugnisse für diese Sitte in Rußland — Das Snocha-
tschestwo in Sibirien und in Kleinrußland — ökonomische Ursachen dieses
Brauches — Altersunterschied der Eheleute bei den Wotjäken — Snocha-
tschestwo bei den Osseten.
Zu den Merkwürdigkeiten der geschlechtlichen Moral in
Rußland gehört dieses Kapitel von dem Zusanunenschlafen
des Schwiegervaters mit der Schwiegertochter. Die russische
Sprache hat (gleich den übrigen slawischen Sprachen) für
diese Abnormität die besondere Bezeichnung : Snochatschestwo
(Ciioxa^ecTBO, von CHOxa, Schnur, Schwiegertochter).
Die alten Chronisten berichten, wie uns bekannt ist, von
den Vorfahren der Großrussen, daß sie wie die Tiere lebten
1) Reise nach Norden, S. 188.
-) Petri, Ehstland un<l die Ehsten, II 35. 17,
— 512 —
und Blutschande nicht verabscheuten, i) Der russische Pa-
triarch Philaret schilderte noch die ersten Russen ähnlich:
„Viele nehmen ihre eigenen Schwestern und ihre Basen zu
Weibern, während andere mit eigenen Müttern und Töchtern
Blutschande treiben oder ihre Mütter und Schwestern hei-
raten.** Die griechische Kirche hat natürlich gegen solche
Sitten alle ihre Verfluchungsblitze geschleudert, ja den Begriff
der Blutschande stark ausgedehnt und die Ehe selbst denen ver-
boten, die zueinander im vierten Grade der Verwandtschaft
stehen; außerdem verdammt sie die Ehe mit der Schwester
des Schwagers, die Ehe zweier Brüder mit zwei Schwestern,
die Ehe eines Gevatters mit seiner Gevatterin. „Quant au
mariage,** heißt es 1525 in der kurzen Abhandlung des Wiener
Prälaten Johann Faber über die Religion der Moskowiter 2),
„il est certain qu*ils admettent Tempöchement d*affinitd et
de consaguinit^ jusqu'au quatri^me degr6 inclusivement et qu'ils
sont si s^vferes sur cet article que, si quelqu*un se trouve
avoir contractu mariage avec empSchement au quatri^me degr^,
le mariage est reput^ nul et illicite; car ils ne cherchent
^) Dr. Friedrich S. Krauß hat über Blutschande bei den Südslawen ein-
gehend geschrieben. Vgl. Krauß, Sitte und Brauch der Südslawen, Wien 1885,
XII; ferner: Krauß, Die Zeugung in Sitte und Brauch der Südslawen, Kgimtdöia
V — VII. ,,Die serbischen und bulgarischen Bauern verdammen blutschände-
rischen Verkehr als die schauerlichste Versündigung. Sie straften ihn ehedem
mit Steinigung." Aber in den Liedern und Erzählungen ist oft genug von
solchem Verkehr die Rede. Man lese Krauß' südslawische Geschichten in
Anthropophyteia I 233, 314 — 325. Ebenda I 257 nach Sima Trojanovic im
Karadiie, von Tih. R. Gjorgjevic: ,,Bei den alten Iraniern hat man nicht im
geringsten auf die Verwandtschaft in der Ehe geschaut, denn Eltern konnten
sich sogar mit ihren eigenen Kindern und die Brüder mit den Schwestern ver-
heiraten. Die alten Hellenen, Germanen, Littauer und Preußen durften jedes
Weibsbild, die eigene Mutter ausgenommen, ehelichen. Bei den Persern und
Ägyptern, das ist gewiß, durften in alten Zeiten die Fürsten auch ihre Schwestern
heiraten; einige Schriftsteller beweisen, daß dieser Brauch auch bei den alten
Slawen einst bestanden haben mag. Obwohl dies für die Serben auch nicht
bezeugt ist und die Volksüberlieferung in dieser Hinsicht lügenhaft sein kann,
will ich dennoch anführen, daß dieser Schmach in unseren Volksliedern gedacht
wird. Im zweiten Bande der von Vuk herausgegebenen Volkslieder ist eins
überschrieben: Duäan will seine Schwester ehelichen."
'•2) Seite 19. • •
— 513 —
Jamals ä contredire ce que les St.-Peres ont d^cid^ une fois.
II faut observer aussi que rempfechement que les personnes
contractent en se pr^sentant pour parrain et marraine au
bapteme ou ä la confirmation est rigoureusement maintenu,
en quoi ils se conforment aux d^crets de la cour de Rome/*
Bei einigen von den Russen unterworfenen und zur
griechisch-orthodoxen Religion bekehrten Völkern dauert aber
blutschänderischer Verkehr noch fort. Bei den Wotjäken bei-
spielsweise gilt die Blutschande als kein besonders großes
Verbrechen. Ein junger Wotjäke erzählte selbst i): „Ich weiß
nicht, wie es kam; wir hatten den ganzen Tag Kumyska ge-
trunken, und als ich am andern Morgen aufwachte, lag der
Vater bei meiner Frau, und ich bei des Vaters Frau.** Bei den
Ostjaken in Sibirien ist nahe Blutsverwandtschaft kein Ehe-
hindernis. 2) Bei den Giljaken auf der Insel Sachalin erhält,
wenn der Gatte verreist, dessen jüngerer Bruder das Recht des
Beischlafs bei der Strohwitwe ; aber der ältere Bruder hat nicht
das gleiche Recht bei der Frau des jüngeren.'^) Bei den Kal-
mücken ist das gemeine Volk in bezug auf die Heiraten unter
Verwandten strenger als die Vornehmen. Die letzteren heiraten
zuweilen ihre Schwägerinnen, aber die gemeineren Leute gehen
keine Verbindung ein, die nicht wenigstens um 3 oder 4 Glieder
voneinander entfernt ist. Seinen Abscheu gegen die Heiraten
der Vornehmen gibt das Volk durch das Sprichwort : „Fürsten
und Hunde wissen von keiner Verwandtschaft** zu erkennen.*)
Verabscheut wird die Ehe zwischen Blutsverwandten auch von
den Esten und von den Tscherkessen ; bei letzteren dürfen sich
selbst Mitglieder einer Verbrüderung, weil sie als verwandt
gelten, nicht miteinander verheiraten.
Das Gesetzbuch Nikolajs I. traf folgende Bestimmungen^)
in betreff des „Gesetzwidrigen Geschlechtsumganges zwischen
Anverwandten** : Die zwischen Verwandten in auf- oder ab-
^) Max Buch, Die Wotjäken, S. 47.
-) Das Band der Ehe (von FHttner) I 13.
^) Labbe, Un bagne russe, l'ile de SakhaUuc, 171.
**) Bergmanns Nomadische Streifereien III 146.
•^) Strafgesetzbuch des Russischen Reichs, §§ 2087 — 2090.
Slcrn, Geschichte der öifentl. Sittlichkeit in Rußland. ** 33
— 514 —
steigender Linie verübte Blutschande wird bestraft mit zehn-
jährigem einsamen Gefängnis in der Verbannung in entfernteren
Gegenden Sibiriens; nach Ablauf dieser Frist werden die Ver-
bannten zu schwerer Arbeit verwendet. Überdem müssen sie
sich, falls sie den christlichen Glauben bekennen, einer Kir-
chenbuße unterziehen. Die Blutschande zwischen Seitenver-
wandten und Verschwägerten wird an Mitgliedern der recht-
gläubigen Kirche folgendermaßen bestraft: Stehen die Schul-
digen miteinander im zweiten Grade der Blutsverwandtschaft :
so erleiden sie die Strafe der Verbannung in minder entfernte
Gegenden Sibiriens, jedoch mit der Abänderung, daß sie in
Sibirien fünf Jahre im Gefängnis gehalten und dann für die
übrige Lebenszeit in ein Kloster abgegeben und daselbst zu
schweren Arbeiten verwendet werden. Stehen sie miteinander
im dritten Grade der Blutsverwandschaft oder im ersten Grade
der Schwägerschaft, wie der Schwiegervater mit der Schwieger-
tochter, der Schwiegersohn mit der Schwiegermutter, so trifft
sie zwei- bis dreijährige Verbannung nach Tomsk oder Tobolsk.
Ähnliche schwere Strafen gibt es, wenn die Schuldigen
miteinander im vierten Grade der Blutsverwandtschaft stehen,
wie Geschwisterkinder, oder im zweiten Grade der Schwäger-
schaft, wie der Ehemann mit der Schwester seiner Frau, oder
die Frau mit den Brüdern ihres Mannes. Die Mitglieder der
anderen christlichen Konfessionen werden für die im zweiten
Grade der Blutsverwandtschaft oder im ersten Grade der
Schwägerschaft begangene Blutschande ebenso bestraft, wie die
Glieder der rechtgläubigen Kirche. — Machen sie sich eines ver-
botenen Geschlechtsumganges in solchen Graden der Verwandt-
schaft oder Schwägerschaft schuldig, in denen die Ehe nach
den Grundsätzen ihrer Konfession gestattet wird : so unterHegen
sie den Strafen der Blutschande nur insofern, als Vergehen mit
Ehebruch verbunden oder die Ehe zwischen den Schuldigen,
aus irgend einem besonderen Grunde unzulässig ist. — Der
außereheliche Beischlaf zwischen Personen, die miteinander
in solchen Graden der Verwandtschaft oder ^ Schwägerschaft
stehen, wo die Ehe nach den Gesetzen der Kirche erlaubt ist,
wird gleich wie der außereheliche Geschlechtsumgang zwischen
ledigen Personen mit einer Kirchenbuße bestraft. Wer aber in
— 515 —
solchen Graden der Verwandtschaft oder Schwägerschaft einen
Ehebruch begeht, unterHegt dem höchsten Maß der Strafen
des Ehebruchs. In allen diesen Fällen müssen sich die Schul-
digen auch einer Kirchenbuße unterziehen. —
Diese Gesetze beweisen, daß die Blutschande bei den Rus-
sen noch immer vorkommt. Doch Volkssitte wie in alten Zeiten
ist sie jedenfalls nicht mehr, und die Fälle sind im allgemeinen
selten. An Stelle der Blutschande aber trat ein anderer furcht-
barer Brauch, das Snochatschestwo, der Beischlaf des Schwie-
gervaters bei der Schwiegertochter. Wie alt die Sitte der wSchwie-
gertochterschaft sein mag, ist noch nicht festgestellt worden.
,,Die Einrichtung," bemerkt ein Ethnograph, i) „die in Ruß-
land trotz Kirche und Gesetz im Schwang, ist schon aus dem
achtzehnten Jahrhundert bezeugt.** Ein viel älteres historisches
Beispiel eines blutschänderischen Attentats des Schwiegervaters
auf die Schwiegertochter bietet die Geschichte vom sterben-
den Iwan dem Schrecklichen, die in diesem Buche erzählt
wurde 2); hier handelte es sich allerdings bloß um ein Ver-
brechen, nicht um einen Gebrauch. Der Gebrauch selbst wird
auch schon viel früher erwähnt als in Zeugnissen aus dem
achtzehnten Jahrhundert. Im Rußland des Großfürsten Jaros-
law war das Zusammenleben des Schwiegervaters mit der
Schwiegertochter ein ganz bekanntes Verhältnis, das in den
Dokumenten der Zeit regelmäßig erwähnt wird. 3) Im acht-
zehnten Jahrhundert, so berichtet Smirnow^), verheiratete man
in Sibirien Knaben, und die Schwiegerväter lebten mit den
Schwiegertöchtern, zeugten Jahre hindurch mit ihnen Kinder,
und man ertrug leidlich diesen Zustand, obgleich er durch
die Glaubenssatzung verpönt war. Die Gerichte verhielten sich
solchen Konflikten gegenüber ziemlich kalt, denn sie erkannten
den Brauch an; nur wenn zufällig ein Sohn wegen solchen
Eingriffs in sein eheliches Recht Klage erhob, riet man ihm,
aus der ehelichen Gemeinschaft auszutreten. Doch nicht bloß
1) Bei Rhamm a. a. O. 321.
-) Vgl. dis Kapitel über die Grausamkeit der Herrschenden, S. 38.
^) Anthropophyteia I 257.
^) Skizzen von den Familienverhältnissen nach dem Gewohnheitsrechte
des großrussischen Volkes. Anthropophyteia a. a. O.
o5
— 516 —
im fernen Sibirien, auch im europäischen Rußland gab es
im achtzehnten Jahrhundert zweifellos das Snochatschestwo.
Der Serbe Sava Tekelija Popovic aus Süd-Ungarn erzählt in
seiner Autobiographie über seinen Aufenthalt in der russischen
Stadt Kursk im Jahre 1787: „Hier lenkte ein Knabe einen
Leiterwagen, auf dem ein junges schmuckes, dralles und rosiges
Frauenzimmer von 18 oder 19 Jahren saß. Aus Scherz sagte
ich zum Wachtmeister: ,Geh, laß uns dieses junge Weibsbild
diesem jungen Kinde rauben!* Das Kind mochte etwa zehn
Jahre zählen. Der Wachtmeister darauf: ,Ei, das ist doch
sein Weib!* Ich: ,Was? Wie sollte dieses Kind ein Weib
haben, dazu so einen kernigen Trampel!* Der Wachtmeister:
,Es ist doch so. Fragen Sie nur den Knaben !* Ich fragte, und
der Knabe bestätigte die Worte des Wachtmeisters, und sagte :
,Ich habe auch zwei Kinder.* Ich : ,Du lügst gewiß, bist
doch selber noch ein Kind.* Der Knabe»: ,Freilich, aber mein
Vater beschläft meine Frau, und die Kinder schreibt man auf
meinen Namen, und sie halten mich für ihren Vater.' Ich:
,Und tut*s dir nicht leid?* Der Knabe: ,Aber nein, denn
bin ich einmal groß, so verheirate ich wieder meine Kinder
und werde mit meiner Söhnerin zusammenschlafen.* Ich fragte
weiter : , Warum treibt ihr's so ?* Das Kind antwortete : ,Weil wir
die Söhnerin als Hausarbeitcrin brauchen und darum beküm-
mert sich jeder, ihrer soviel als möglich zu bekommen,"*^)
1) Anthropophytcia I 260. Der Serbe bemerkt, daß ihm nach seiner
Rückkehr nach Ungarn gesagt wurde, ,,daß derlei auch bei uns unter den
Kusnjaken vorkomme, doch im Gegensatz verheirate man hier Mädchen von
7 bis 8 Jahren an kräftige Burschen, und bis das Mädchen heranwächst, schläft
die Schwiegermutter mit dem Eidam." Krauß fügt dieser Bemerkung hinzu:
,,Er hätte sagen müssen, daß dies nur dort geschieht, wo ein Bursche in das
Haus seiner Frau hineinheiratet." Tihomir R. Gjorgjevic schreibt im Karadzic
1901, S. 2ü2 : ,,Die Schwiegertochterschaft ist auch bei uns keine unbekannte
Sache, doch betrachtet man sie als keinen Brauch, sondern als eine Sünde
und man weist auf jenen, der sie ausübt, als auf einen Sünder und schlechten
Kerl hin und schaut mit \'erachtung auf ihn. Ich meine, man könnte in unseren
Gerichtsarchiven genug \'erhandlungen wegen der Schwiegertochterschaft vor-
finden, die eben dadurch hervorgerufen wurden, weil man dieses Verhältnis
nicht dulden mag" (und er führt verschiedene Fälle an). — ,,Aus rein ökono-
mischen Gründen bestand auch noch bis in die jüngste Zeit in Serbien da und
dort die Schwiegertochterschaft und noch jetzt erkennt man davon Spuren
- 517 —
Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Sitte in mancher
russischen Gegend selbst heute besteht, und gar nicht als
eine sündhafte betrachtet wird, da es in erster Linie dem
Oberhaupt der Familie darum zu tun ist, eine tüchtige Arbeits-
kraft ins Haus zu bekommen. Daß der Schwiegervater seine
Schwiegertochter nebenbei begattet, fällt angesichts der ganzen
geschlechtlichen Moral der Russen wenig ins Gewicht. Die
junge Frau rechnet von vornherein nicht auf den nominellen
Gatten, der oft noch in der Wiege liegt i), wenn sie ihm an-
getraut wird. Verwickelter ist das Verhältnis zwischen Schwie-
germutter und Schwiegertochter, und kritisch könnte es zwi-
schen Vater und Sohn werden, wenn der Sohn herangewachsen
ist und nun selbst seine Rechte geltend machen will. Indessen
ist in dem Lande, in dem solche Zustände möglich sind, ja
dem Volke ganz natürlich erscheinen, von den Verhältnissen
in den Bezirken von Studenica und Svrjlika. Der Vorstand der Familie oder
der Hausgemeinschaft pflegte die Jungen von 14 Jahren schon zu verheiraten
und ins Haus kam ein Mädchen in der Blüte ihrer Entwicklung, in den üppigsten
Jahren. Auf diese Weise erwarb das Haus eine kräftige unentgeltliche Arbei-
terin, und das war das Hauptziel. — Bei den Gurbeten (Zigeunern) in Serbien
besteht dieser Brauch noch in voller Geltung. — Unter den Chrowoten in dem
ehemaligen Militärgrenzgebiet gilt es als selbstverständlich, daß der Schwieger-
vater und alle seine Söhne der neuen Schnur beischlafen. Nur die Brautnacht
gehört ausschließlich dem Ehegatten. Bis 1860 war es auch unter den Chrowoten
üblich, Knaben an ausgewachsene reife Mädchen zu verheiraten, um Arbeits-
kräfte ins Haus zu bekommen. Besondere Gesetze sind dagegen erlassen worden,
und vollends seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht sind frühzeitige Ehe-
schließungen dieser Art äußerst erschwert." Krauß bringt in Anthropophyteia
I 255 — 281 mehrere obszöne Geschichten aus dem Gebiete der Schwiegertochter-
schaft (die Nummern 212 — 230). Vgl. auch Anthropophyteia II 435, An-
merkung. (Die lediglich für Forscher unter strengstem Ausschluß der Öffent-
lichkeit erscheinenden Bände der Anthropophyteia (bis jetzt 4 Bände) können
auch durch Vermittlung des Verlages Herm. Barsdorf in Berlin W. 30 bezogen
werden.) — Richard Schmidt, Liebe und Ehe in Indien (Verlag Hermann Bars-
dorf, Berlin 1904) S. 335 erzählt von einer außergewöhnlichen Sitte bei den
Vellalars von Caroor : ,,Die Väter nehmen für ihre unmündigen Söhne erwachsene
Weiber, schlafen selbst mit ihnen und zeugen mit ihnen Kinder, die dann den
unmündigen und unmannbaren Gatten zugeteilt werden. Sind letztere er-
wachsen, so finden sie Frauen für die ihnen zugeteilten Söhne und kohabitieren
mit ihnen; und so pflanzt sich diese Sitte fort."
1) Rhamm a. a. O. 321.
— 518 —
selbst dafür Sorge getragen worden, daß die Seltsamkeiten sich
regelrecht abwickeln und keine Konflikte hervorrufen: bis der
Wiegengatte erwachsen, ist seine Gattin, bei der frühen Reife
und dem schnellen Verblühen der Russinnen, längst welk und
reizlos, und er sucht sich leichten Herzens eheliche Freuden
wieder bloß bei seinen Schwiegertöchtern.
Möglicherweise besteht das Snochatschestwo auch bei den
Wotjäken, denn bei ihnen sind die Ehemänner fast immer
bedeutend jünger als die Ehefrauen : der Bursche zählt bei
der Hochzeit fünfzehn, höchstens achtzehn Jahre, das Mäd-
chen ist gewöhnlich wenigstens zehn Jahre älter. Und ganz
sicher existiert die Schwiegertochterschaft bei den Osseten
in Kaukasieni): es kauft hier der Vater seinem achtjährigen
Sohne eine sechzehnjährige Frau; der Schwiegervater lebt mit
der Schwiegertochter; der Sohn, der in diesem Verhältnis
gezeugt wird, erhält dann von dem nominellen, mittlerweile
erwachsenen Vater eine Frau, die aber nicht mit ihrem nomi-
nellen Gatten, sondern mit dem nominellen Vater desselben
lebt; und dies geht so fort von Geschlecht zu Geschlecht.
^) Schon Haxthausen, Transkaukasia, hat sie erwähnt; neuere Reisende,
welche das Osseten volk besucht haben, bestätigen das Vorhandensein des Ge-
brauches, und mir selbst haben während meines Aufenthaltes in Kaukasien
alte Bewohner des Landes davon als von einer gar nicht anfechtbaren Tatsache
gesprochen.
NEUNTER TEIL:
Prostitution,
Perversität und Lustseuche
52. Prostitution der Herrschenden. —
53. öffentliche Prostitution. — 54. Bes-
tialität und gleichgeschlechtliche Liebe. —
55. Lustseuche.
Fürstin Tarrakanow im Gefängnis.
Nach dem Gemältie Flavitzkis.
52. Prostitution der Herrschenden.
Ein Ausspruch von Alexander Herzen — Die Legitimität der Romanows — Die
Herkunft Katharinas I. — Maitressen Peters des Großen — Unsittlichkeit
Katharinas I. — Ihre Umgebung — Boudoirgeheimnisse — Der Zarewitsch
Alexej und Peter II. — Gynäkokratie und Bordellwirtschaft — Ein Besuch im
Landhause der Zarin Praskowja — Zarin Anna Iwanowna — Prinz Moriz
von Sachsen am Petersburger Hofe — Zarin Anna und die Familie Biron —
Das Tagewerk einer Kaiserin — Zotenerzählerinnen — Anna Leopoldowna
und Graf Lynar — Elisabeths Skandalaffären — Lakaien und Kutscher im
Bette der Kaiserin — Die geheime Ehe Elisabeths mit Rasumowsky — Prin-
zessin Tarakanow — Peter III. und Katharina IL — Die offiziellen Günstlinge
— Patjomkin als Kuppler — Katharinas Ende — Die Kinder der Zarinnen —
Hof und Gesellschaft — Allgemeine Sittenlosigkeit — Weiber in Männerrollen
— Der geheime kleine Zirkel in der Ermitage — Pauls Geschlechtsreifeprüfung
— Pauls Maitressen — Die Erotomanie der Nachkommen Pauls.
„La Russie d'avant Pierre le Grand est alldc ä la Russie
nouvellc par une maison publique,'* sagte Alexander Herzen.
Tatsächlich ist nur Zar Alexej, der Sohn und Nachfolger des
Begründers der Dynastie Michael Feodorowitsch, als ein Ro-
manow zu betrachten. Die Legitimität aller übrigen Herrscher
aus diesem Hause unterliegt berechtigten Zweifeln. Die beiden
Gattinnen des Zaren Alexej haben sich nicht durch eheliche
Treue ausgezeichnet. Peters des Großen Geburt ist in myste-
riöses Dunkel gehüllt. Und von da an sind die Familien-
register der regierenden Dynastie ein unentwirrbares Chaos. Der
russische Hof wimmelt von Maitressen der Herrscher, Günst-
lingen der Herrscherinnen, unehelichen Kindern, i) Peters
zweite Gemahlin Katharina ist buchstäblich aus einem öffent-
lichen Hause gekommen und durch unzählige Hände gegan-
^) Bernhard Stern, Die Romanows. Intime Episoden aus dem russischen
Hofleben. 2 Bände.
— 522 —
gen. Sie nimmt es weiter mit der Treue nicht genau ; verlangt
aber auch keine, führt dem kaiserlichen Gatten selbst Lieb-
haberinnen zu oder freut sich, wenn er von Zeit zu Zeit einen
Seitensprung macht, da er nach der Abwechslung immer wieder
gern zu ihr, der unverwüstlich Robusten, zurückkehrt. Der
Zar holt sich seine Maitressen aus den verschiedensten Ge-
sellschaftskreisen. Sein Adjutant Generalmajor Tschernitschew
hat eine schöne Frau; der Kaiser belegt sie mit Beschlag,
und ihr Gatte macht Karriere. Ein Fräulein Hamilton ist
lange Zeit Peters Geliebte; aber ihr Kammermädchen Anna
Kramer, die den Besitzer ihres Leibes Schon oft genug ge-
wechselt hat, macht ihr erfolgreich Konkurrenz. Die betro-
gene Hamilton rächt sich an dem Ungetreuen durch Ermor-
dung des Kindes, das sie vom Zaren hat, sie büßt die Tat mit
ihrem Kopf, und ihre Nebenbuhlerin nimmt ihren Platz ein.
Ja die Kramer erhält sogar einen Platz in der Geschichte Ruß-
lands; sie wird in das Geheimnis der Ermordung des Thron-
folgers Alexej eingeweiht und hilft es behüten, indem sie
kaltblütig den Kopf des Enthaupteten wieder an den Rumpf
näht. In seinem letzten Lebensjahre hat Peter den Schmerz,
zu erfahren, daß ihn Katharina, die er aus der Hefe des
Bordells auf den Kaiserthron gehoben hat, schmählich mit
ihrem Kammerherrn William Mons betrügt. Er will die Un-
dankbare verstoßen; aber sie ist schneller als er, und er stirbt,
ehe er seinen Vorsatz ausführen kann.
Nun wirtschaftet Katharina I. als Selbstherrscherin nach
Herzenslust. Sie stellt sich eine wunderliche Umgebung zu-
sammen. Als Hauptperson erscheint an ihrem Hofe ihres
Gatten einstige Maitresse: Anna Kramer, daneben sind die In-
timsten der Kaiserin drei andere Plauen mit deutschen Namen :
eine Johanna, deren Familienname nicht einmal bekannt ist
(man nennt sie einfach: Johanna Petrowna; vielleicht irgend
eine uneheliche Tochter Peters); eine Justine Grünwald; end-
lich im Jahre 1727 ein Frauenzimmer namens Caro, die
einem öffentlichen Hause in Hamburg entkommen ist, in Pe-
tersburg alle Hurenhäuser unsicher gemacht hat und von der
Kramer aus einem Gefängnis in den Palast protegiert wird.
Aber die Familie der Kaiserin ist ja nicht viel feiner. Der
— 523 —
Schwiegersohn, Herzog Karl Friedrich von Holstein, Gemahl
der Prinzessin Anna Petrowna, wird in den ersten Tagen nach
der Hochzeit im Bordell gefunden; die junge Herzogin nimmt
sich daran ein Muster und bringt die Nächte in Gesellschaft
ihrer Base Anna Iwanowna, der späteren Zarin, überall zu
nur nicht zu Hause. Bei der Kaiserin selbst schadet sich
der Herzog auch nicht durch sein Schandleben : Schwieger-
mutter und Schwiegersohn leben in der allergrößten Intimität
miteinander. Katharina ist längst nicht mehr jung, ihre Reize
sind schon ziemlich verwelkt. Desto leidenschaftlicher ver-
langt sie geliebt zu werden. Einer ihrer Kammerherren speku-
liert darauf, möchte sich der Alternden opfern und durch
solches Opfer sein Glück machen: er besticht das Zimmer-
mädchen Katharinas, läßt sich von der Zofe unter dem Bett
der Kaiserin verstecken, um nachts auf kürzestem Wege ans
Ziel zu gelangen. Aber der Schrecken, den seine sinnige
Überraschung verursacht, verdirbt das Spiel; und Prügel von
der Zarin höchsteigener Hand sind der Lohn, den die Undank-
bare gewährt. Offiziell Begünstigte der Kaiserin sind in erster
Linie der junge hübsche, kräftige und immer gut gelaunte
Graf Peter Sapicha, auf dessen väterlichen Gütern Katharina
einst Leibeigene gewesen ist; und dann Reinhold Loewen-
wolde, der mit den Geldern der Frauen, die ihn aushalten,
so lange großen Aufwand macht, bis er Katharina auffällt
und zu ihrem Günstling avanciert. Neben den offiziellen Lieb-
habern gibt es eine Legion in der großen Öffentlichkeit Un-
bekannter; bloß die genannte Kammerfrau Johanna Petrowna
weiß von ihnen: sie führt sie ein, entlohnt sie, und Diskre-
tion ist Ehrensache. „Ich fürchte als Lügner zu erscheinen,"
schreibt der sächsische Resident Lefort an seinen Fürsten,
,,wenn ich erzähle, wie der Hof hier lebt. In schauderhafter
Trunkenheit macht man die Nacht zum Tage. Von den Staats-
affären ist gar keine Rede. Enfin, Majestät, ich kann nicht
genug Farben auftragen, um dieses Chaos zu malen.** i) Fürst
Mentschikow, der als einer der ältesten Liebhaber Katharinas
sich besondere Rechte herausnimmt, wagt seine Stimme gegen
^) Waliszewski, L'heritagc de Pierre le Grand, 15, 16.
— 524 —
diese selbst ihm entsetzlich erscheinende Wirtschaft zu er-
heben. Die Kaiserin droht ihm mit Verbannung. Da ist er
vorsichtiger als sie, und sie stirbt ebenso überraschend schnell,
wie zwei Jahre zuvor Peter der Große endete, als er Katharina
verbannen wollte.
Die Kinder haben den Geschmack der Eltern. Wie Peter
der Große seine rechtmäßige Gemahlin Jewdokia hinausprü-
gelte, um mit der Dirne Katharina leben zu können, so miß-
handelt sein Sohn Alexej die Prinzessin Charlotte der fin-
nischen Sklavin Euphrosyne zuliebe. Alexejs Sohn Peter, der
nach Katharinas schnellem Tode zur Regierung gelangt, be-
ginnt seine Tätigkeit mit Orgien im Bordell; und als er sich
endlich mit der Prinzessin Dolgoruckij verlobt, behandelt er die
Braut als Hure, die bei des Bräutigams jähem Tode mit einem
Kinde unter dem Herzen in die Verbannung wandern muß.
Die Gynäkokratie, die dann durch das ganze achtzehnte
Jahrhundert andauert, kann ebensogut eine Herrschaft der Pro-
stitution auf dem Zarenthrone genannt werden. Anna Iwa-
nowna, die zehn Jahre lang, von 1730 bis 1740, diesen Thron
ziert, hat schon in ihrem Elternhause, bei der Zarin Praskowja,
das Beispiel grenzenloser Ungeniertheit gesehen, das sie selbst
geben wird. Der deutsche Diplomat Bergholz erzählt i), wie
man ihn im Landhause der Zarin Praskowja zu Ismailowo
empfing, als er dort einmal abends eine Meldung zu erstatten
hatte: Man führte ihn ohne weiteres durch das Schlafzimmer
der Prinzessinnen, die schon im Bette lagen und dem Besucher
die Hände entgegenstreckten; dann gelangte er durch ein
Zimmer, wo die Kammerfräulein und Dienstmägde in tiefstem
Neglige sich befanden; sie ließen sich durch den fremden
Mann nicht stören, begrüßten ihn vielmehr mit einem Schwall
zweideutiger Worte. Da kam manche Nacktheit zum \^or-
schein, aber es war nicht verführerisch, denn der Schmutz
paralysierte jede V^ersuchung. Endlich stand der Diplomat
vor Praskowja; sie empfing ihn ,,bloß mit dem Hemd auf dem
Leibe.*' Das geschieht wenige Jahre nach der Befreiung der
russischen Frau aus dem Terem; so schnell hat sich hier die
1) Bergholz' Tagebuch bei Büsching XXI 180.
— 525 —
strengste Abgeschlossenheit zu einer derartigen Ungeniertheit
verwandelt, daß Peter der Große das Haus seiner Schwägerin
mit Vorliebe „das Narrenspital** nennt. Die Töchter aus diesem
Hause: Katharina, welche Herzogin von Mecklenburg, und
Anna, welche Herzogin von Kurland wird, leben so, wie sie
erzogen worden. Anna hat das Unglück, ihren Gatten in der
Brautnacht zu verlieren; er hat sich zu Tode gesoffen, ehe,
er ins Hochzeitsbett gelangen konnte. Im Jahre 1725 erscheint
die junge, damals 29 jährige Witwe, am Hofe ihrer Tante
Katharina; zur selben Zeit weilt dort Prinz Moriz von Sachsen,
der Sohn des Königs August aus seiner unebenbürtigen Ver-
bindung mit Aurora von Königsmark. Die galanten Abenteuer
des Prinzen Moriz sind auch Anna nicht unbekannt, und sie setzt
ihren Ehrgeiz darin, den Liebling der Frauenwelt ganz für sich
zu erobern. Der Prinz ist nicht abgeneigt, Herzog von Kurland
zu werden, aber als Anna dem Fürsten Mentschikow schreibt,
sie wolle den Prinzen heiraten, da läßt der russische Kanzler
den Sachsen kommen und donnert ihn an : „Eine Zarewna darf
nicht einen Bastard heiraten! Wer sind Ihr Vater und Ihre
Mutter?'* Der Prinz entgegnet kaltblütig: „Wer sind die
Ihrigen ?" und läßt den verdutzten Fürsten, der darauf wirk-
lich nicht zu antworten wußte, einfach stehen. Vielleicht wäre
bei alledem dennoch aus Anna und Moriz ein Paar geworden.
Allein eines Tages erfährt die Herzogin, daß ihr lieber Prinz
trotz der Aussicht auf ihre Hand immerfort neue Verhältnisse
anknüpft; ihre Eitelkeit ist verletzt, sie sagt sich von dem Un-
beständigen los und nimmt sich ihren Kammerdiener Bühren-
Biron zum Geliebten und Gebieter. Als sie als Kaiserin nach
Moskau übersiedelt, folgt ihr Biron mit Frau und Kindern ; Frau
Biron ist eine gefällige Dame, sie geht aus dem Schlafzimmer
hinaus, wenn die Kaiserin kommt, und die Kinder der Zarin
erkennt sie als ihre eigenen an. Dafür erhält sie Equipagen,
Juwelen, Geld soviel sie will; dafür ist ihr Gemahl der eigent-
liche Herr von Rußland. Und während Biron regiert, liegt die
Zarin Anna in Birons Zimmer nackt auf dem Diwan, schlafend,
träumend oder den Erzählungen einer Schar von Schwätze-
rinnen zuhörend, den obszönen Spaßen ihrer Zwerge und Hof-
narren zusehend. Also verfließt ihr kaiserliches Leben Tag
— 52Ü —
um Tag: Von sieben bis acht nimmt sie das Frühstück. Von
acht bis zehn prüft sie Edelsteine und Stoffe für ihre Toiletten.
Dann empfängt sie ihre Minister und Sekretäre, unterfertigt
ohne zu lesen was man ihr vorlegt, und eUt dann in die Manege
Birons, wo sie besondere Gemächer hat und sogar Audienzen
erteilt. Mittags diniert sie im Neglige, bloß mit einem roten
Tuch, wie die simpelste Bürgersfrau, auf dem Kopf, zusam-
men mit der Familie Biron, und nach der Tafel legt sie
sich mit dem Günstling auf ein Ruhebett, während Frau Biron
und die Kinder sich diskret zurückziehen. Nach der Siesta
öffnet sie einen Vorhang und ruft den schon wartenden Ehren-
damen zu : „Singt, Kinder, singt !** und das Konzert darf nicht
enden, ehe nicht die Kaiserin: Genug! sagt. Ermüdet eine
der Sängerinnen, so bewegt sich die Kaiserin hurtig von ihrem
Fauteuil auf die Unglückliche zu und ohrfeigt sie gehörig
ab. Nach dem Konzert kommen die Schwätzerinnen mit ihren
erotischen Geschichten und obszönen Witzen an die Reihe.
Manchmal allerdings erinnert sich Anna doch, daß sie eine
Herrscherin ist und Minister und Gouverneure zur Entgegen-
nahme ihrer Befehle bereitstehen hat. Dann setzt sie sich
nieder und schreibt an Ssoltykow, einen ihrer ersten Staats-
männer: „Besorgen Sie mir einen Staar!** Oder: „Kopieren
Sie sofort das pikante Lied, das gestern in dem Tingeltangel
gesungen wurde!" Ein Gouverneur erhält eine dringende Bot-
schaft der Kaiserin, der Überbringer wartet auf die Beantwor-
tung der Frage: „Man sagt hier, daß sich der Kammerherr
Jussupow von seiner Frau trennen will und daß er viel Frauen
besucht. Teilen Sie mir sofort mit, ob das Gerücht der Wahr-
heit entspricht!** Oder: „Schreiben Sie mir sofort, natürlich
unter strengster Diskretion, wann sich Bjeloßelskij verheiraten
wird!** Oder: „Senden Sie mir sogleich die Tochter des
Fürsten Wjäsemskij, die man mir als große Schwätzerin emp-
fohlen hat.'* Da wäre fast von Naivität zu sprechen, wenn
man nicht wüßte, daß diese Einfältige Koch und Köchin hän-
gen läßt, wenn sie eine zarische Lieblingsspeise verpfuschen;
und daß ihr gleichsam nicht wohl ist, wenn ihr ihr Liebhaber
nicht berichtet, daß durchschnittlich wenigstens zwei Menschen
täglich in ihrem Namen hingerichtet worden sind.
— 527 —
Wie Anna Iwanowna bringt sich auch Anna Leopoldowna,
die für den minderjährigen Iwan VI. die Regentschaft führt,
ihren Liebhaber aus der Fremde nach Rußland mit : es ist der
Sachse Lynar, mit dem sie schon als siebzehnjähriges Mädchen
ein intimes Verhältnis unterhalten hat ; die Zarin Anna Iwanowna
hatte es nicht geduldet und Lynar fortgeschickt. Aber kaum'
ist Anna Leopoldowna selbst zur Macht gelangt, so beruft sie
den Geliebten an .ihre Seite. Sie ist zwar verheiratet; das ge-
niert sie nicht: wie die Gattin Birons drückt dieser gefällige
Gatte die Augen zu und zieht sich diskret zurück, sobald
der Liebhaber erscheint. Anna Leopoldowna unterhält sich
gleich Anna Iwanowna mit Schwätzerinnen und läßt sich von
ihnen zur Reizung der Wollust die Fußsohlen kitzeln. In einer
schönen Nacht wird sie aus ihren Vergnügungen gewaltsam
herausgerissen und nach Cholmogorij bei Archangel ver-
bannt, Peters des Großen Tochter Elisabeth hat sich des
Thrones bemächtigt. Ein neuer Name, der alte Typus. Eli-
sabeths Hof wimmelt wie jener Katharinas und der beiden
Anna von weiblichen Parasiten, von Fußsohlenkitzlerinnen,
Schwätzerinnen und Günstlingen. Elisabeth kümmert sich eben-
falls wenig um die Regierung; einmal vergeht ein Zeitraum von
drei Jahren, ehe man von Elisabeth bloß die Unterschrift unter
ein wichtiges Aktenstück erlangen kann. Sie verbringt ihre
Tage und Nächte in den Armen ihrer Liebhaber. Schon früh
hat sie zu lieben begonnen. Ihr erster Gehebter ist ein robuster
Soldat, Schubin; noch schämt sie sich, sie läßt ihn also nicht
in ihr Zimmer kommen, sondern zieht sich Männerkleider an
und geht zu ihm. Als Zarin Anna Iwanowna hinter das Ge-
heimnis ihrer Base kommt, erzürnt die Tugendhafte und
verbannt den Soldaten nach Sibirien. Elisabeth aber tröstet
sich in den Armen von Alexej Rasumowskij : dieser ukrainische
Bauernsohn ward seiner schönen Stimme wegen als Sänger
in der Hofkapelle angestellt, und sang sich in Elisabeths Herz
und Bett hinein; und als die Prinzessin Kaiserin geworden,
avanciert der Bauernsohn zum Grafen und heimlichen Gemahl
der Herrscherin. Rasumowskij bleibt jedoch nicht der letzte
Liebhaber Elisabeths. Er wohnt zwar Zimmer an Zimmer
mit der Kaiserin, aber er hat weiter kein Recht als zuzusehen,
~ 528 —
wer im Schlafzimmer seiner Gemahlin ein- und ausgeht. Eine
seltsame Gesellschaft; aus den tiefsten Tiefen des Volkes wer-
den die zarischen Liebhaber heraufbefördert: Da erscheint
zuerst der Gardesoldat Buturlin. Dann kommt ein Kalmücke
von abstoßender Häßlichkeit, aber gewaltiger Stärke; sein
Name tut nichts zur Sache, die Hofgeschichte hat ihn nicht
einmal aufbewahrt. Ein gewisser Karl Sievers hat lange Jahre
an der Tür des Schlafgemaches Wache zu halten und der
Kaiserin nach dem Abschied ihrer nächtlichen Besucher den
Kaffee zu bringen; einmal ist Mangel an geeigneten Männern,
er tritt in die Bresche und macht sein Glück; bald wird er
Graf und Ahnherr einer vornehmen P'amilie werden. An Stelle
von Sievers wird ein gewisser Woschinskij Türsteher ; er macht
die gleiche Karriere wie sein Vorgänger. Der Posten wird be-
liebt: Eines Tages steht auf ihm ein gewisser Michael Wo-
ronzow; am Abend schon hat er Dienst bei der Herrin, und er
verläßt ihr Bett als Graf und Großkanzler. Bei einer Wagen-
fahrt lernt die Kaiserin an ihrem Kutscher schätzenswerte
Eigenschaften kennen. Der Mann erscheint im Schlafzimmer
seiner Herrin, liefert den Beweis seiner Tüchtigkeit, den sie ver-
langt, und erhält zur Belohnung den Grafentitel und Güter.
Ein Straßenkehrer, namens Ljalin, verrichtet vor dem Fenster
der Zarin ein kleines Geschäft : Elisabeth sieht ihm zu, be-
scheidet ihn zu sich, behält ihn einige Wochen und verab-
schiedet ihn als Großgrundbesitzer. Eines Morgens will Rasu-
mowskij die Kaiserin, seine Gemahlin, besuchen; da findet er
in ihrem Bett einen ehemaligen Kollegen, den Sänger Polta-
ratzkij, dem die Herrscherin zum Lohn für seine Dienste soeben
das Amt eines Direktors der kaiserlichen Kapelle verleiht.
Kaiserin Elisabeth ist, man sieht es, durchaus demokratisch
gesinnt: sie schenkt nur Kindern des Volkes ihre Gunst. In
der langen Liste stört zum Schlüsse nur der Name Iwan Schu-
walows, der einem altadligen Geschlecht angehört. Die Kinder
dieser Verhältnisse sind die Ahnherren der vornehmsten mo-
dernen russischen Aristokratie geworden. Einer Tochter Elisa-
beths und Rasumowskijs, just dem einzigen legitimen Kinde
dieser Messalina, wird jedoch ein trauriges Los zuteil : Elisabeth
läßt die Tochter, die unter dem Namen ,,Prinzessin Tarakanow**
Katharina II. und Fatjomkin.
Kontrast der V'erscbwendung nnd der Aimu
— 529 —
bekannt wurde, in Italien erziehen; Katharina II. wittert später
in ihr eine Thronrivalin, lockt sie nach Rußland und sperrt
sie in Schlüsselburg ein; bei einer Überschwemmung der
Newa ertrinkt die Prinzessin Tarakanow in ihrer Zelle.
An diesen Hof kommt die Prinzessin von Zerbst als Braut
des Großfürsten-Thronfolgers Peter. Die deutsche Prinzessin
gewöhnt sich aber schnell an die Verhältnisse; bald muß ihr
ihre eigene Mutter den Vorwurf machen, daß sie nachts zu
ihrem Bräutigam gehe. „Das kränkte mich am meisten von
meiner Mutter,** schreibt Katharina II. in ihren Memoiren, „ich
sagte ihr, daß das eine himmelschreiende Verleumdung.** Ka-
tharina hat zweifellos recht; Peter ist ja impotent. Das zeigte
sich bald. Das Paar ist schon lange verheiratet, und es ist
noch keine Spur von den Folgen der Ehe an Katharina zu
bemerken. Kaiserin Elisabeth sieht sich veranlaßt, durch Bestu-
schew-Rjumen für die Gesellschafterin der Großfürstin eine
besondere „Instruktion zur Förderung der ehelichen Vertrau-
lichkeit der beiden kaiserlichen Hoheiten** verfassen zu lassen.
Die Gesellschafterin hat in erster Linie Katharina aufmerksam
zu machen, daß sie zur Würde einer russischen Großfürstin nur
erhöht wurde, „damit das Reich den gewünschten Erben des
allerhöchsten Hauses erhalten könne**; die Großfürstin wird
also ersucht, zur Erreichung dieses Zieles ,,die größte Ge-
fälligkeit und alle möglichen Mittel anzuwenden.** i) Katharina
erklärt: es treffe sie keine Schuld; „s'il avait voulu etre aim^,
la chose n'aurait pas 6t6 difficile pour moi,** gesteht sie in
ihren Memoiren. Der impotente Gemahl aber will nicht einmal
einen Versuch machen, sondern amüsiert sich in seiner Weise
mit der dicken Woronzow. Kaiserin Elisabeth kennt das Leben
und seine Gefahren. Sie beauftragt die Gesellschafterin be-
sonders darüber zu wachen, ,,daß die Gemahlin des Thron-
folgers nicht mit den Kavalieren, Pagen und Dienern des
Hofes in irgend einen Verdacht erregende Familiarität gerate.**
Die Besorgnis ist gerechtfertigt, die Warnung aber kommt zu
spät : Der Kammerlakai Tschernyschew ist mit der Großfürstin
schon „familiär**. Frau Tschoglokow, der die Aufgabe zu-
^) B. von Bilbassoff, Geschichte Katharinas II. Band I 265.
Stern, Geschichte der öflFentl. Sittlichkeit in Rußland. '* ^4
— 530 —
gefallen ist, „die eheliche Vertraulichkeit des Großfürsten-
paares zu fördern,** ist ihrem Amte nicht gewachsen; dem
Kammerdiener folgen die Pagen und Kavaliere ; die gefürchtete
Serie ist komplett. Kammerherr Ssergej Ssoltykow, der Freund
des Großfürsten, wird auch Freund der Großfürstin; er ist der
Vater Pauls. Bald überläßt er seinen Platz dem schönen Polen
Poniatowski, der später zur Belohnung seiner Liebesdienste
König von Polen wird; wie einst Elisabeth zum Soldaten
Schubin, so geht Katharina zu Poniatowski in Männerkleidern ;
sie bekommt wieder ein Kind, ein Mädchen. Ihrem Gemahl
dämmert nun doch etwas: ,,Dieu sait,** sagt er einmal, wie
Katharina selbst zynisch berichtet, in der Trunkenheit vor
allen Hofleuten, „Dieu sait oü ma femme prend ses grossesses ;
je ne sais pas trop si cet enfant est ä moi et s*il faut que je
le prenne sur mon compte.** Die Gemahlin läßt sich aber
nicht einschüchtern, und als Poniatowski fort ist, nimmt sie
Gregor Orlow zum Liebhaber. Orlow und sein Bruder Alexej
erweisen Katharina den Gefallen, ihr den Gemahl vom Halse
zu schaffen, und setzen ihr die Zarenkrone aufs Haupt. Zur
Belohnung erhält Gregor Orlow die Stellung eines offiziellen
Günstlings der Zarin; er bezieht im Palast eine Reihe von
Zimmern neben denen der Herrscherin, wird mit den höchsten
Orden dekoriert, mit Titeln, Würden und Reichtümern über-
schüttet; alle seine Brüder und Vettern kommen an den Hof,
einer auch ins Bett der Kaiserin. Neben den Orlows glänzen
einige kleine Sterne: ein Rekrut Andreas, ein junger Offizier
Wissenskij, ein junger Edelmann Alexander Wassiltschikow.
Plötzlich aber müssen alle Platz machen für den großen Pat-
jomkin, den Sohn eines einfachen Offiziers. Patjomkin geleitet
eines Tages zu Pferde den Wagen der Kaiserin. Als er weg-
reiten soll, geht das Pferd nicht von der Stelle. Die Kaiserin
schaut auf, der Bursche gefällt ihr, und sie sagt lachend : „Ihr
Pferd ist klüger als Sie.*' Das ist der Anfang, und kurz darauf
ist Patjomkin der mächtigste Mann im Reiche und bleibt es
bis an sein Lebensende, obwohl auch er wie alle anderen die
Liebe der Zarin nicht dauernd genießen darf. Er ist die wunder-
bare Ausnahme : jeder ausgediente Günstling muß sofort vom
Hofe verschwinden, nur er bleibt. Dies dankt er seinem
— 531 —
genialen Einfall: Im Augenblick, da er Katharinas Liebe ver-
loren hat, wird er ihr Kuppler; er führt ihr fortan alle ihre
Bettgenossen zu, und bleibt so der Herr ihres Lotterbettes
und ihrer Lotterbuben. Zuerst protegiert er auf den wichtigen
Posten den Sohn eines ukrainischen Popen, Peter Sawadowskij.
Der Undankbare will den Meister stürzen; er wird sogleich
entfernt und durch einen anderen Schützling Patjomkins, durch
den Serben Soritsch ersetzt. Auch dieser lehnt sich gegen
den Wohltäter auf; er wird also ebenfalls auf der Stelle be-
seitigt. Nun versucht es Patjomkin wieder mit einem Stock-
russen, dem Kürassierhauptmann Korsakow. Entschiedenes
Pech! Diesmal verrät der Liebhaber gar die Kaiserin selbst:
Katharina findet Korsakow im Bette ihrer Hofdame Gräfin
Bruce; wütend ruft sie die ganze Dienerschaft zusammen und
läßt das Paar noch im Bette durchprügeln. Endlich scheint
Patjomkin den Richtigen gefunden zu haben: Alexander
Lanskoj, Edelmann und Offizier. Der Siebenundzwanzigjährigc
lebt -nur für die alternde Herrscherin und ist dem mächtigen
Patjomkin treu. Aber die Mühen seines Dienstes bekommen
ihm schlecht, er ist der Arbeit nicht gewachsen und ruiniert
sich schnell. Katharina ist trostlos, schließt sich in ihre Zimmer
ein, um sich auszuweinen, klagt sich der Schuld an dem Tode
des schönen jungen Mannes an, will die Regierung nieder-
legen, sterben; sie errichtet auf dem Grabe des Unvergeß-
lichen eine kostbare Marmorurne und schwört : ,,Lanskoj war
der letzte.*' Und sie hält ein Jahr lang ihr Wort. Dann stellt
ihr Patjomkin mit Erfolg den Unteroffizier Alexander Jermolow
vor. Wieder ein Undankbarer; er intriguiert gegen Patjomkin,
und er wird entlassen. Denn Patjomkin sagt der Kaiserin:
,,Er oder ich!** und Katharinas Wahl ist leicht getroffen; ein
Patjomkin ist unersetzlich, für einen Jermolow aber gibt es
einen Mamonow, Kapitänleutnant der Garde. Doch die Kaiserin
und Patjomkin, beide sind wieder betrogen: Mamonow intri-
guiert bei Katharina gegen Patjomkin und betrügt die Kaiserin
mit der Hofdame Prinzessin Schtscherbatow. Um sich am
Intriganten zu rächen, erzählt Patjomkin der Kaiserin von diesem
Seitensprung ihres Liebhabers. Sie will es nicht glauben, ruft
Mamonow, stellt ihn auf die Probe: „Ich werde alt, mein
34*
— 532 —
Lieber, möchte dich versorgen und mit einer reichen, vor-
nehmen Dame verheiraten.** Da platzt Mamonow heraus : „Ich
habe schon gewähh, die Prinzessin Schtscherbatow.** Katha-
rina schluchzt: „Also doch wahrl'* und entfernt ihn. „Es ist
nicht zu sagen, was ich darunter leide,** klagt sie. „Wenn
er mich nur nicht so hinters Licht geführt hätte. Ich habe eine
bittere Lektion erhalten, aber der Farce so schnell wie möglich
ein Ende gemacht.** Die bittere Lektion hindert die alte Frau
nicht, sich noch einen Liebhaber zu nehmen, ehe der Tod ihrer
Sinnentollheit ein Ende macht: Subow ist der Glückliche,
Piaton Subow, und die Witzlinge spotten: ihre letzte Liebe ist
eine platonische. ^) Subow sitzt an ihrem Sterbebett und huldigt
als erster dem neuen Kaiser. „Freund meiner Mutter,** sagt
Paul huldreich zu ihm, „sei auch der meinige**.
Das ist die Liste der offiziellen Günstlinge. Ein offizieller
Günstling ist anerkannter Würdenträger wie jeder andere: er
erhält den Rang eines Generaladjutanten, bewohnt im Palast
ein Appartement neben dem der Kaiserin und genießt die
Ehren eines temporären Kaiserin-Gemahls. Am Tage des An-
tritts seiner Stellung erhält er looooo Rubel, und an jedem
ersten eines Monats zahlt ihm die Hofkasse 12000 Rubel aus.
Der Glückliche ist aber in einem goldenen Käfig, den er
ohne Erlaubnis der Herrin niemals verlassen darf. Auch sind
die an seine physische Leistungsfähigkeit gestellten Ansprüche
nicht gering; und wehe ihm, wenn er im entscheidenden Mo-
mente versagt. Um keine Enttäuschungen zu erleben, hat die
Kaiserin allerdings das Menschenmögliche an Voraussicht
getan : jeder Kandidat muß sich erst eine genaue Untersuchung
durch den Leibarzt Dr. Rogerson gefallen lassen; ist diese
günstig ausgefallen, dann hat er noch eine vierundzwanzig-
stündige Probe im Bette der einen der beiden Probiererinnen
Protasow-) und Branizka zu bestehen, und erst, wenn diese
1) Vgl. das 54. Kapitel.
2) Lord Byron hat ihrer, da er Don Juan vor Katharina II. erscheinen
läßt, nicht vergessen:
,,... Miss Protasoff
Named from her mystic office TEprouveuse
A term inexplicable to thc musc."
— 533 —
rapportiert haben : „in jeder Hinsicht vortrefflich**, erfolgt das
fixe Engagement.
Wie aus den Liebschaften Elisabeths entstammen auch
den offiziellen Verhältnissen Katharinas viele Ahnherren vor-
nehmer russischer Familien. Ein Sohn Katharinas und Gregor
Orlows, Bobrinskij, wurde nicht bloß von seiner Mutter, son-
dern später auch vom Kaiser Paul anerkannt und von letzterem
sogar in den Grafenstand erhoben, i)
Die Gesellschaft ist des Hofes würdig. Alles Sinnen und
Tun der Männer und Weiber dreht sich nur um den gewissen
Punkt. Alle, die schön gewachsen sind und sich auf ihre
Potenz etwas einbilden, glauben ihr Glück machen zu können
und suchen der Kaiserin aufzufallen. Ehrgeizige Staatsmänner,
die Einfluß gewinnen, hohe Hofbeamte, die ihre Stellung be-
festigen wollen, umgeben sich mit Sekretären, die sie dem
Geschmack der Kaiserin entsprechend halten und bei jeder
passenden Gelegenheit vor sich her schieben, um sie der Herr-
scherin unter die Augen zu bringen. Manchem Streber, der
auf nichts pochen kann als auf seine Ausdauer im Liebes-
kampf, verdreht die Sehnsucht nach dem lockenden Ruhm und
Reichtum den Kopf. Ein kleiner häßlicher Kerl, Iwan Stra-
chow, Sekretär eines Ministers, wird einmal von Katharina
huldvoll angesprochen. Er weiß sich vor SeHgkeit nicht zu
fassen, sieht sich schon im Bette der Kaiserin, als Großkanzler,
als Feldmarschall und Fürsten. Wo die Herrscherin erscheint,
drängt er sich herzu, und macht die possierlichsten Bemühun-
gen, von ihr wieder angeredet zu werden. Er erreicht es, und
die Kaiserin, durch seine belustigende Aufdringlichkeit in
heitere Laune versetzt, sagt ihm: ,;Iwan Strachow, bitten Sie
sich eine Gnade aus.*' Worauf er laut aufjauchzend nieder-
sinkt und schreit: „Deine Liebe, Majestät!** Die Kaiserin lacht
nicht mehr, sie verweist ihn streng für immer vom Hofe, aus
der Residenz, und verbannt diesen seltsamen Liebhaber nach
Kostroma ; aber die eitle Frau will den, der sie liebt, nicht zu
hart strafen: sie gibt ihm also auch einen hohen Orden und
macht ihn zum Vizegouverneur in seinem Verbannungsort;
1) Er war ein berüchtigter Kartenspielen Vgl. Band I 345.
^ 634 —
so hat der dumme Kerl doch sein Glück gemacht, wenigstens
wie ein kleiner Günstling, ohne die Plage dieses schwierigen
Amtes gehabt zu haben.
Die Atmosphäre der Liebe betört die ältesten, wie die
jüngsten Leute. Der 81jährige Feldmarschall Münnich, der
nach einer langjährigen leidensvollen Verbannung wieder an
den Hof zurückgekehrt ist, hat hier keinen anderen Gedanken,
als: allen Weiberröcken nachzulaufen. Der gefeierten Schön-
heit Gräfin Stroganow schickt er ein Billetdoux: „Ich werfe
mich Ihnen zu Füßen, und es gibt keine Stelle Ihres entzücken-
den Leibes, auf die ich nicht voller Bewunderung die heißesten
Küsse drücke,** und er unterzeichnet: „Der zärtliche Greis**.
Jeder Würdenträger, der etwas auf seine Würde hält, hat sein
halbes Dutzend Maitressen unter den vornehmsten Damen des
Hofes; doch werden unter Umständen auch Schauspielerinnen,
Sängerinnen und Tänzerinnen von Ruf nicht verschmäht.
Markow, ein hoher Diplomat, lebt mit der Tragödienspielerin
Hus; Besborodko, der große Staatsmann, vergeudet mit der
Metschanskij die ihm anvertrauten Gelder; er überhäuft mit
Gold die Actrice Sandunowa ; er gibt der italienischen Sängerin
Davia achttausend Rubel monatlich, und die Undankbare be-
trügt ihn mit jedem Kutscher und Lastträger; endlich erwirbt
er die Gunst der Tänzerin Karatygina, und während seine Frau
zu Hause darbt, präsidiert die Tänzerin in einem Landhaus des
Ministers einer Orgie, bei der die vornehmen Herren alle mit
ihren Maitressen erscheinen.
Und erst die Damen der Gesellschaft I Die einen eifern der
Kaiserin darin nach, daß sie wie sie männliche Rollen spielen
wollen, die anderen suchen sie in der Hurerei zu erreichen und
zu übertrumpfen, die dritten wollen beides zugleich. Die Fürstin
Daschkow geht mit Katharina durch dick und dünn. Sie ist
„Direktor** der Akademie der Wissenschaften, reitet wie die
Kaiserin zu Pferde in Männerkleidern, hat ihre Liebhaber en
masse. Die Gräfin Puschkin gibt ihrem Gatten die Ratschläge,
wie er in Finnland seine Truppen kommandieren soll, und er
wagt keine Bewegung gegen den Feind, ehe er nicht die
Meinung seiner Frau eingeholt hat. Der Kriegsminister Ssolty-
kow zittert vor seiner Gemahlin mehr als die ganze Armee vor
— 535 —
ihm. Das Weiberregiment herrscht auch fern vom Hofe. Frau
MeUin ist der eigenthche Oberst des Regiments Tobolsk;
während der Gatte sich kaum zu zeigen getraut oder besoffen
zu Bette liegt, empfängt die Frau Oberst in Narwa bei ihrer
Toilette die Rapporte, geht auf die Parade, inspiziert die
Wachen; bei einem Überfall, den die Schweden versuchen,
tritt sie in Uniform aus dem Zelt, stellt sich an die Spitze eines
Bataillons und marschiert gegen den Feind. Die stärkste
Gruppe bilden indessen jene Frauen, die der Kaiserin nur in
der Unersättlichkeit des Liebesgenusses gleichen wollen : „Viele
unter ihnen,** erzählt Major Masson^), „übertrafen ihr Muster.
Wem waren die verliebten Ausschweifungen einer Maria
Pawlowna unbekannt? Welch junger Offizier, der nur halb
liebenswürdig war, ist nicht von Madame S — w zur Befriedi-
gung ihrer Wollust gebraucht worden? Ärgerte sich nicht
ganz Rußland an den Liebeshändeln der Madame P. ? Vorher
hatte man die Damen B., K., G., und viele andere, im Wetteifer
mit ihrer Monarchin, aus dem Palast der Zare ein wahres
Bordell machen sehen.**
Ein Bordell, nichts anderes, ist der sogenannte „kleine
Zirkel" in der berühmten Ermitage Katharinas, und wenn man
die Mysterien, die sich hier abspielen, kennen lernt, muß man
meinen, daß die Teilnehmer die erotischen Phantasien eines
Nerciat, die Figuren seiner Felicia und seiner Aphrodites ins
wirkliche Leben umsetzen wollen : Da werden die furchtbarsten
Orgien gefeiert, zu denen nur die ganz auserwählten Günstlinge
und intimsten Lastergenossinnen Zutritt erhalten. Alle müssen
maskiert erscheinen, und unter dem Schutze der Maske darf
man sich die größten Freiheiten erlauben. Es werden obszöne
Tänze und Spiele aufgeführt, bis alle wie die wilden Tiere über-
einander herfallen. Die Ausschweifungen ruinieren zum Schluß
doch die unersättliche Herrscherin. Sie kommt in ihren letzten
Lebensjahren körperlich vollständig herunter, wird ein unförm-
licher Fleisch- und Fettklumpen und ist bedeckt mit übel-
riechenden Wunden. Alle Parfüms und selbst das Geheim-
mittel des ehemaligen Korsaren Lambro-Cazzioni, der sich seine
^) Geheime Nachrichten, II 153, 169.
— 536 —
Kurpfuscherei mit Reichtümern bezahlen läßt, helfen nichts :
Katharina verfault bei lebendigem Leibe.
Das ist das Ende des Weiberregiments des achtzehnten
Jahrhunderts, aber nicht das Ende der Prostitution der Herr-
schenden. Der Zarenpalast bleibt noch immer das Riesen-
bordell, in dem Hurer und Huren ein- und ausgehen. An der
Spitze der neuen Männerherrschaft steht ein Narr, Kaiser Paul.
Seine Mutter Katharina, durch ihre eigenen ehelichen Erfah-
rungen gewitzigt, hat den Sohn, um sich Gewißheit in betreff
seiner Potenz zu verschaffen, beizeiten durch die Gräfin Sofia
Ossipowna Czartoryska ausprobieren lassen ; der Versuch ist vor-
trefflich ausgefallen, nach neun Monaten bringt die Gräfin ein
Knäblein zur Welt, das den Namen Simeon Welikoj erhält.
Nach diesem Beweise seiner Potenz vermählt sich der junge
Großfürst mit einer deutschen Prinzessin, aber er kümmert
sich nicht um seine Gemahlin, treibt sie selbst in ein ehebreche-
risches Verhältnis zu seinem Jugendfreunde Andreas Rasu-
mowskij und in den Tod. Mit seiner zweiten Gemahlin Maria
Feodorowna zeugt Paul neun Kinder, dann vernachlässigt er
sie plötzlich, um sich an die häßliche Katharina Nelidow zu
hängen, die er zynisch zur Ehrendame der Kaiserin erhebt;
aber als sich die zwei, die Gattin und die Geliebte, miteinander
verständigen, spielt der Kaiser einen Trumpf aus und setzt
die ebenso jugendliche als durch ihre Leichtfertigkeit i) be-
rüchtigte Anna Lopuchin über alle beide; und schließlich lebt
er gar mit seiner dicken Köchin. Pauls Söhne, Enkel und
Urenkel zeigen alle Züge des von diesem Ahnen der letzten
Generationen ererbten Typus einer Degenerierung von Epi-
lepsie zu Wahnsinn und Erotomanie. Konstantin Pawlowitsch,
der zweitgeborene Sohn Pauls, treibt seine Frau durch seine
Brutahtäten ins Ausland und ergibt sich dem liederlichsten
Leben; eine ganze Schar unehelicher Kinder bereichert Ruß-
land mit einer Anzahl neuer Aristokratischer Ahnherren : die
Familien Knjasew, Alexandrow, die fürstliche Familie Lwow
^) Das Märchen von der jugendlichen Reinheit dieser zarischen Maitresse
ist zerstört worden durch die Memoiren des Grafen Fedor Golowkin (Golovkinc.
La Cour et le Rögnc de Paul I, Paris 1905).
— 537 —
und viele andere entstammen den Liebestollheiten Konstantins,
der schließlich seinem Bruder, dem Zaren Alexander I., die
Erlaubnis zu einer neuen Ehe erpreßt und die Polin Johanna
Grüdzynska heiratet. Alexander I., der älteste Sohn Pauls,
hat die gütigste und tugendhafteste Gemahlin, unterhält aber
trotzdem zahllose Maitressen, bis ihn die geliebteste von ihnen,
die schöne Maria Antonowna Narischkin^), mit seinem eigenen
Adjutanten, dem Grafen Adam Ojarowskij, betrügt, und diese
herbe Entäuschung dem Kaiser den Todesstoß versetzt.
Nikolaj I., der dritte Sohn Pauls, spielt vor der Welt den
Sittenstrengen, verbietet die Anwesenheit junger Mädchen bei
schlüpfrigen Theaterstücken, beauftragt aber den Theaterinten-
danten Gideonow, alle hübschen Theaterelevinnen ins kaiser-
liche Lustgemach abzuliefern; neben Gideonow, dem wahren
maitre des plaisirs des Kaisers, fungieren noch Fürst Dol-
goruckij und Kleinmichel als „pecheurs** : Fürst Dolgoruckij
führt dem Zaren die Frau von Stolypin, Nichte des Fürsten
Ssergej Trubetzkoj und die schöne deutsche Baronin Krüdener
zu; Kleinmichel verkuppelt seine eigene Nichte Olympiada
Arkadjewna Nelidow und avanciert mit Hilfe der Maitresse
zum Grafen und allmächtigen Günstling; die Nelidow wohnt
im Palast Kleinmichels an der Fontanka, und die Gräfin Klein-
michel muß sich schwanger stellen, wenn die Nelidow vom
Zaren es wirklich ist; schHeßlich werden aber die zarischen
Kinder doch legitimiert und zu Baronen Paschkin erhoben. 2)
Die streng erzogenen ehelichen Kinder des Zaren haben Lust
dem Vater nachzugeraten. Die Großfürstin Olga Nikolajewna
macht dem sittenstrengen Vater schon früh Schande, sie hat
heimliche Zusammenkünfte mit dem jungen Gardeoffizier Bar-
jatinskij ; der Kaiser erwischt den Kühnen und verbannt ihn
nach dem Kaukasus mit den Worten: „Hier bist du über-
flüssig, dort wirst du dich nützlich machen können.** Die
Hoffnung geht in Erfüllung, der Verbannte wird später der
Besieger des Propheten Schamyl. Die Großfürstin Olga weint
um den Jugendgeliebten und wird schließlich Königin von
^) Vgl. Band I 387, dazu das Bild bei Seite 392.
-) Über Michael Pawlowitsch, den jüngsten Sohn Pauls, im 54. Kapitel.
— 538 —
Württemberg. Glücklicher ist die andere Tochter Nikolajs,
Maria: nach hartem Kampfe mit dem Vater erhält sie die Er-
laubnis zu einer Liebesheirat mit dem Herzog Maximilian von
Leuchtenberg, dem Sohne des Eugen von Beauharnais. Niko
laj würde seine Nachgiebigkeit bereut haben, wenn er in die
Zukunft hätte sehen können. Die Leuchtenberge verursachten
dem Zarenhause bald bitteren Verdruß : Nikolaj Leuchtenberg
mußte wegen seiner Liebesskandale aus Rußland verwiesen wer-
den. Eugen schloß eine Mesalliance mit der schönen Schwe-
ster des Generals Skobelew. Der jüngste Leuchtenberg, Georg
Maximilianowitsch, heiratete die Montenegrinerin Stania, schied
sich aber 1907 von ihr,, um sie dem Großfürsten Nikolaj Niko-
lajewitsch dem Jüngeren zu überlassen. Die Mutter dieser
drei Leuchtenberge, die Tochter Nikolajs L, verleugnete gar
alle Grundsätze ihres Vaters: nach dem Tode ihres Gatten
heiratete sie ihren Hofvorstand, den Grafen Stroganow, und
als sie auch diesen begraben hatte, abermals ihren Hofvorstand
Herrn von Abasa.
Und nun erst die jüngeren und jüngsten Mitglieder des
Zarenhauses! Kaum ein einziger Großfürst und kaum eine
einzige Großfürstin, die sich nicht durch skandalöse Liebes-
affären in unerquicklicher Weise hervorgetan hätten. Groß-
fürst Konstantin Nikolajewitsch und sein Sohn Nikolaj Kon-
stantinowitsch wetteifern miteinander um den Ruhm des größ-
ten Wüstlings der Familie; Großfürst Nikolaj beraubt schließ-
lich die Schmuckkassette der Mutter, um seine Maitresse zu
bereichern, und kann nicht anders gebändigt werden als durch
die Zwangsjacke des Irrenarztes; man verschickt ihn nach
Transkaspien, und er lebt noch heute fern vom Hofe in der
Krym. Von den Kindern des Großfürsten Michael Nikola-
jewitsch verursachte die Großfürstin Anastasia schon als Mäd-
chen zu Hause so viel Skandal, daß man glücklich war, als
sich der Erbgroßherzog von Mecklenburg-Schwerin bereit fin-
den ließ, sie trotz alledem zu heiraten. Das Temperament
der alten Dame ist aber noch so lebhaft, daß die Skandal-
chronik eines jeden Ortes, wo sie weilt, durch ihre Abenteuer
bereichert wird. Von ihren Brüdern hat Michael Michajlo-
witsch nach einem Flirt mit Fräulein Ignatjew Rußland den
— 539 —
Rücken kehren müssen und sich dann im Ausland mit der
Gräfin Sophy Merenberg vermählt. Ein anderer Bruder, Sscr-
gej, konkurrierte lange mit dem Zaren Nikolaj IL um die
Gunst der Tänzerin Mathilde Krzesinska, trug endlich den
Sieg davon, mußte aber samt der Tänzerin die Heimat ver-
lassen.
In ähnlichen Geleisen bewegt sich schließlich die Familie
Alexanders II. Der Kaiser selbst geht mit dem Beispiel voran.
Er hat neben seiner legitimen Familie eine vollständige zweite
illegitime Famiüe, und kaum ist seine Gemahlin gestorben,
läßt er sich seine Maitresse, die Fürstin Katharina Dolgoruckij
antrauen. Sein Sohn und Nachfolger Alexander III. ist der
Mustergatte im ganzen Zarenhause; dieser Ruf hindert ihn
nicht, mit der Sängerin Maria FüUö ein intimes Verhältnis an-
zuknüpfen, das erst mit dem Tode der Maitressc erlischt. Seine
Brüder sind alle nicht normal, durchwegs gefährliche Eroto-
manen: Alexej Alexandrowitsch steckt die Millionen ein, mit
denen er die Marine ausgestalten soll, und verschwendet sie
dann mit Frauen. Er lebt als Junggeselle mit einem Fräulein
Schukowskaja und läßt einen Sohn aus diesem Verhältnis zum
Grafen Belowskoj erheben. Die Nachfolgerin dieser Maitresse
ist eine Pariser Halbweltdame, Madame Benin. Mit ihr am
Arm erschien Alexej an jenem Abend im Theater, da just
die Niederlage der russischen Flotte bei Tschuschima bekannt
geworden ist; die mit Brillanten überladene Maitresse erregt
den Zorn des Publikums und man treibt den Großfürsten aus
dem Theater unter den Rufen : „Her mit unserem Gelde T* Groß-
fürst Alexej verheß noch zur selbigen Stunde dieses freche Volk
auf Nimmerwiederkehr und lebt seither in Paris von den Mil-
lionen, die er an der russischen Flotte erspart hat. Großfürst
Wladimir, der älteste der Brüder nach dem Tode Alexanders III.,
raubt wie Alexej und verpraßt wie dieser die Millionen mit
Huren in Paris und Petersburg; er hat die Freude zu sehen,
daß seine "Kinder ihm nachgeraten : die Tochter Helene heiratet
den Prinzen Nikolaus von Griechenland, brennt dem jungen
Gatten in der ersten Flitterwoche durch, und man muß sie mit
sanfter Gewalt zurückholen; die Söhne Kyril und Boriß sind in
Petersburg die Gründer eines „Klubs der Sybariten von Charj-
— 540 —
kow"; der Klub zählt nur zwei Dutzend Mitglieder, durchwegs
Großfürsten und hohe Aristokraten. Als Gäste darf man nur
Damen mitbringen. Die Bedienung besorgen Frauen imd junge
Mädchen. In dem Unterhaltungspalast bestehen alle Wände
aus Spiegeln. Die vorzüglichsten Amüsements sind Flagellation
und Notzüchtigung kleiner Mädchen. Ein Skandal, den ein
Neffe des Fürsten Swjätopolk-Mirskij verursacht, führt zur Auf-
lösung des Sybaritenklubs, und dessen beide Protektoren, die
Großfürsten Kyril und Boriß, müssen für einige Zeit Rußland
verlassen. Großfürst Kyril heiratet, um den Zaren Nikolaj II.
zu ärgern, die geschiedene Großherzogin von Hessen, des Zaren
ehemalige Schwägerin. Eine Trotz-Ehe geht auch der jüngste
Oheim Nikolajs IL, Großfürst Paul Alexandrowitsch, ein. Er
verführt die Frau Pistolkors, und als sich deren Gatte von der
Ehebrecherin scheiden läßt, entflieht Großfürst Paul mit der
Maitresse nach Italien und heiratet dort die Geschiedene trotz
des Bannstrahls, den Nikolaj IL als Zar wie als Kirchenober-
haupt schleudert. 1) Nikolaj IL haßt jede Mesalliance, obwohl
er selbst als Thronfolger auf die Krone verzichten wollte,
um eine jüdische Witwe zu heiraten. Als Kaiser denkt er an-
ders wie als Thronfolger, und er konnte es denn auch seinem
Bruder Georg nicht verzeihen, daß dieser sich in Abbas-Tuman
mit der schönen, aber unebenbürtigen mingrelischen Fürstin
Nakaschidse vermählt hat. Er zürnt selbst dem Toten und
kümmert sich um dessen Familie nicht, so daß Herzog Kon-
stantin von Oldenburg, der wegen einer ebenfalls uneben-
bürtigen Ehe mit der Kaukasierin Agrippina Dschaparidse
vom Hofe verbannt ist, sich der Landsmännin seiner Frau an-
nehmen muß, um sie und ihre Kinder vor Not zu bewahren.
Für Bastarde haben die Zaren des Hauses Romanow-Holstein-
Gottorp weder Mitleid noch Geld.
1) Von dem Großfürsten Ssergej Alexandrowitsch ist in den beiden
nächsten Kapiteln die Rede.
541 —
53- Öffentliche Prostitution.
Gesetze des Zaren Alexej gegen Kuppelei — Peters des Großen Kriegsreglcment
gegen Dirnen — Prostitution und politische Spionage — Kaiserin Elisabeth
gegen die Liederlichkeit — Die Gelegenheitsmacherin Dresdenska — Beginn
des Bordell Wesens unter Katharina II. — Der physische Klub — öffentliche
Bordelle — Das Etablissement der Frau Riedl — Schwimmschule — Das
Bordellwesen in Petersburg — Eine Statistik der Prostitution in verschiedenen
Städten — Das Los der Prostituierten — Besonderheiten einzelner Orte —
Estinnen — Zigeunerinnen — Männliche Prostituierte — Die Harfnerinnen
von Nischnij Nowgorod — Mädchenhandel — Das Bordell als Tanzschule —
— Nikolajs I. Sittlichkeitsgesetze — Die Polizei und die Prostitution — Groß-
fürst Ssergej als Förderer der P^rostitution.
Die Herrscher und Herrscherinnen, die ihre Paläste in
Bordelle verwandeln, erlassen die strengsten Ukase gegen die
öffentliche Prostitution. Zar Alexej befiehlt in seinem Ge-
setzbuch^): „Wenn ein Mann oder Weib mit Hindansetzung
der Furcht GOttes und des Christlichen Glaubens Weiber oder
Mägdgen kuppelte, und solches erwiesen würde, so soll der-
gleichen Persohn mit der Knute aufs schärffste gestrafft wer-
den.** Und Peter der Große sagt im ersten Artikel des dritten
Kapitels seines Kriegsreglements: „Eine öffentliche Dirne soll
weder bei der Miliz noch in der Garnison, weder auf dem
Marsche, noch in den Feldlagern geduldet, sondern angegeben
und sofort durch die Profosse hinweggej^gt werden.** Peter
weiß trotzdem den Wert der Verführungskünste einer gerie-
benen Kurtisane genügend hoch einzuschätzen. Als es sich
darum handelt, in Wien und Rom Geheimnisse der Diplo-
matie zu erforschen, beauftragt er mit dieser Mission eine
notorische italienische Hure, die er gerade wegen ihrer selbst
in Petersburg unerträglich gewordenen Ausschweifungen aus-
weisen lassen will; und Tolstoi, der Präsident des Handels-
kollegiums, zahlt der liederlichen Schönen für Reisespesen
blanke loooo Dukaten aus. Die gleiche Ansicht von der
Nützlichkeit der Gemeinheit wird später Katharina II. ver-
1) Russisches Landrecht, S. 235, XXII 25.
— 542 —
raten. Um einige schwedische Senatoren für die russische
Partei zu gewinnen, schickt die Kaiserin die wegen ihrer Aus-
schweifungen berüchtigte Frau von Diwow nach Stockholm.
Noch rigoroser als Peter der Große ist seine Tochter
Kaiserin Elisabeth. Ihre Gewissensskrupel ob ihres laster-
haften Lebens hat sie behoben, indem sie sich mit ihrem
Liebhaber Rasumowskij vom Priester zu einer kirchlich ge-
segneten Ehe verbinden ließ; sie ist zwar dadurch nicht sitt-
samer, aber frömmer geworden; nicht die geschlechtliche, son-
dern die religiöse Moral kommt zur Gehung, und diese dul-
det nur die geheime, nicht die öffentliche Prostitution. Also
setzt EHsabeth sofort nach ihrer heimHchen Trauung eine
,, strenge Kommission zur Unterdrückung aller außerehelichen
Verhältnisse** einl^) 1745 beginnt sie schwere Strafen gegen
alle jene zu verhängen, die sich solcher Verhältnisse schuldig
machen. Sie befiehlt die Konfiskation des Eigentums der
Witwe Nossow, „weil diese Frau ein liederliches Leben führt.**
Und 1750 verfolgt sie wütend eine gewisse Dresdenska, die
Gelegenheitsmacherei betreibt. In dem auf der Wosnesenskaja
belegenen schönen Hause dieser Frau (deren Name im offi-
ziellen Aktenstück offenbar ersetzt ist durch den Ort ihrer
Herkunft), finden allabendlich amüsante zwanglose Zusammen-
künfte der ganzen eleganten Welt der Residenz statt. Es
erscheinen nicht bloß Junggesellen und professionelle Prosti-
tuierte, sondern auch verheiratete Leute beiderlei Geschlechts
aus den vornehmsten Kreisen. Man zahlt der Wirtin ein hohes
Entree und kann sich dann ungeniert mit der Gewählten in ein
separates Zimmer zurückziehen oder teilnehmen an der pi-
kanten Unterhaltung im gemeinsamen Salon. Als Elisabeth
von den Amüsements des Palastes an der Wosnesenskaja
Kenntnis erhielt, befiehlt sie sofort, die Besitzerin unbarm-
herzig auszuweisen. Aber damit begnügt sich ihre beleidigte
Moral nicht : die Kaiserin läßt sich die Liste aller Gäste der
Dresdenerin vorlegen und zwingt die hohen Funktionäre, die
eines Attentats gegen die Sittlichkeit überführt sind, die von
ihnen Verführten oder Mißbrauchten zu heiraten, pine all-
^) Waliszcwski, La demiOrc des Komanov, 234.
— 543 —
gemeine Razzia gegen das Nepotrebstwo (iienoxpeGcTBO be-
deutet gleichzeitig das Liederliche und Unnütze) ist die un-
mittelbare Folge des Zusammenbruches des Freudenhauses
der Dresdenerin. Aus allen Ecken und Enden treibt man
die „unnützen, liederlichen Frauenzimmer" zu Hunderten auf
die Polizei, in die Festung und in die Kanzlei des Heiligen
Synod, imd es muß eine besondere Kommission unter Vor-
sitz des Kabinettsministers Dawidow eingesetzt werden, um ihr
Schicksal zu regeln. Friedrich der Große spottet in einer
Satire gegen diesen Übereifer der russischen Zarin, und an-
dere europäische Witzlinge meinen, es gebe auch im Winter-
palast und im Anitschkowpalaste genug solcher „unnützer**
Frauen.
Unter Katharina II. ist das Bild ein anderes; man bringt
die öffentliche Prostitution ungeniert in Übereinstimmung mit
der Prostitution des Hofes. Entsprechend dem „kleinen Zir-
kel** der Ermitage der Kaiserin gründet die vornehme haupt-
städtische Gesellschaft für ihren eigenen Gebrauch einen famo-
sen „physischen Klub**, einen Orden, zu dessen Mysterien und
Ausschweifungen nur Eingeweihte Zutritt haben. An gewissen
Tagen kommen die Männer und Frauen zusammen, um sich
gemeinsam den Orgien zu weihen. Männer lassen ihre Weiber,
Brüder ihre Schwestern als Mitglieder aufnehmen. Nach dem
Beispiel des Hofes gibt es auch hier strenge Prüfer und Prüfe-
rinnen. Die Frauen werden nur aufgenommen, wenn sie jung
und schön sind; von den Männern wird vor allem Stärke
und Ausdauer im Liebeskampf -verlangt, und sie müssen ihre
Befähigung praktisch erweisen, ehe sie das Diplom eines Mit-
gliedes erhalten. An den Gesellschaftsabenden findet eine
schwelgerische Mahlzeit statt; deren Beschluß bildet eine Lot-
terie, in der keine Nieten, sondern nur Treffer herauskommen :
das Paar, welches das Los zusammenkoppelt, gehört sich für
den Rest der Nacht an.i)
Für die Leute niedrigeren Ranges gibt es zwar noch immer
keine privilegierten Tempel, worin die Priesterinnen der Bona
Dca ihre Mysterien feiern, aber man duldet desto mehr Win-
^) Geheime Nachrichten über Kuülaiul, II 171.
— 544 —
kelkapellen der Venus. Die Polizei sieht angesichts der all-
gemeinen Unmoral die unvermeidhche Notwendigkeit der
öffentHchen Prostitution ein, drückt die Augen zu und schweigt,
solange Kupplerinnen und Lustmädchen zu keinen Klagen Ver-
anlassung geben und die Zuvorkommenheit der behördlichen
Organe durch loyale Spenden anerkennen. Man nennt
die wohltätigen Institute: Pensionsanstalten. Eine der be-
rühmtesten Pensionsanstalten zur Zeit Katharinas befindet sich
am Kai. Das Haus hat drei Etagen, darin in dreierlei Zungen
zyprische Loblieder angestimmt werden. Das unterste Stock-
werk bewohnen lauter Russinnen, das mittlere Französinnen,
das oberste deutsche Freudenmädchen. Am Tor sitzt Tag
und Nacht ein Pförtner, der die Gabe aller drei Sprachen hat
und den Ankömmling nach Erlag des Eintrittsgeldes in das
Departement geleitet, das er verlangt, i)
Die vornehme russische Gesellschaft weiß leider nichts von
der französischen Einrichtung der petites maisons. Die hohen
Herrschaften dürfen einander ungeniert in ihren Palästen besu-
chen, denn wenn ein Fürst Orlow eine Fürstin Daschkow liebt,
so gehört dies nur zum guten Ton, entspricht es der feinsten
Mode der Zeit und kann keines Menschen Mißfallen erregen,
nicht einmal von der Fürstin Orlow oder dem Fürsten Daschkow
verurteilt werden. Anders ist es, wenn der Fürst Orlow ein
Verhältnis mit einer simplen Näherin hat, oder die Fürstin
Daschkow sich von ihrem Kutscher bedienen läßt. Weder der
Fürst noch die Fürstin werden mit diesen Eroberungen vor
aller Welt prunken wollen. Da ist guter Rat teuer; nicht
jede Frau namentlich kann sich über diese Schwierigkeiten
so leicht hinwegsetzen wie eine Kaiserin. Aber jede große
Zeit findet ihre großen Geister. Am Hofe zu Petersburg lebt
als Gesellschafterin der Baronin Goletti, Gattin des österreich-
ischen Botschafters, eine Frau Riedl, eine gebürtige Ungarin. 2)
Diese Dame erfaßt mit raschem Blick die Situation und hat
auch schon ihre Idee. In der stillen Wolkonskaja kauft sie ein
^) Bemerkungen über Rußland (von Bellcrmann) I 355.
2) Julius Kemeny, Hungara, l^ngarischc Mädchen auf dem Markte.
Budapest 1903. S. 187 ff.
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Armenische Prostituierte mit tartarischer Wirtin in Baku.
(Nach einet Photographie.)
— 546 —
Haus; sie läßt es prächtig einrichten, besucht dann die Aristo-
kratinnen und Hofdamen der Reihe nach und stellt ihnen,
natürlich unter strengster Diskretion, ihre luxuriösen Räum-
lichkeiten zu geheimen Rendezvous zur Verfügung. Der Er-
folg zeigt, wie vortrefflich die Idee war. Ununterbrochen
schlüpfen durch die drei Tore des Hauses in der Wolkonskaja
tiefverschleierte Damen hin und her, und von den 32 Zimmern
der drei Stockwerke ist selten eins vakant. Die Riedl ist eine
erfinderische kluge Frau. Sie bleibt nicht bei dem erreichten
Erfolg stehen, sie sucht das Geschäft auszugestalten. Sie arran-
giert die sogenannten improvisierten Rendezvous. Sie macht
den Herren kurz begreiflich, daß sie auch kommen können,
wenn sie just keine Partnerin haben, da Damen der besten
Kreise stets zur Verfügung stehen. Diese Damen kommen
zu improvisierten Rendezvous tief verschleiert und maskiert
und lüften ihr Geheimnis niemals; der Mann erfährt nicht, wer
seine liebenswürdige Gesellschafterin ist, und die schlaue Riedl
streicht ein doppeltes Honorar ein. Die Sache macht Furore,
die Herren drängen sich zu dem pikanten Abenteuer und
erlegen beim Eintritt gern die Taxe von zweihundert Rubeln.
Jedweder hat alles nach seinen Wünschen, der bizarrste Ge-
schmack kann befriedigt werden ; nur das Gesicht der Priesterin,
die sich der Liebe opfert, wird nicht sichtbar. Die Riedl
macht ein brillantes Geschäft, sie findet zahlreiche Damen
der höchsten Gesellschaft bereit, sich in ihre Dienste zu stellen,
nur aus Liebe zur Sache, nur um die ausgepreßte Zitrone —
das ist : den Gatten — gegen eine kräftige Nahrung ver-
tauschen zu können. Da passiert es allerdings mancher Ehe-
frau, daß sie es mit dem eigenen Gemahl zu tun bekommt,
und daß der Gute, der daheim die ausgepreßte Zitrone ist,
hier im Hause der Frau Riedl eine nicht zu verachtende Lei-
stungsfähigkeit entwickelt, im heiligen Glauben, daß seine Part-
nerin irgendein exotisches Wunderprodukt der Sinnlichkeit sei.
Die Riedl ruht nicht auf ihren Lorbeeren aus. Das schnell
erworbene Vermögen vergeudet sie nicht; sie legt es auch
nicht in unfruchtbarer Weise an, sondern wuchert mit dem
Gewinn : sie kauft auf Wassilij Ostrow ein riesiges Grundstück
und baut hier ein neues mächtiges Etablissement mit einer
btern, Geschichte der üffentl. Sittlichkeit in Ruüland. ** ^c
— 646 —
Schwimmschule. Rund um das Bassin ist eine Wand mit
40 kleinen Guckfensterchen, hinter jedem Fensterchen ein
luxuriös eingerichtetes Kabinett mit schwellenden Sofas. Eine
Anzahl robuster Kerle ist engagiert, zu einer bestimmten Stunde
im Bassin zu baden, während männerhungrige Weiber in den
Kammern lauern und jenen Schwimmer wählen, der ihnen
am besten gefällt. Zu den geheimen Besucherinnen zählt
die Kaiserin selbst, die manchen ihrer Günstlinge hier zuerst
erprobt. Allerdings leidet das Haus in der Wolkonskaja unter
der Konkurrenz des Hauses auf Wassilij Ostrow. Jetzt ist bloß
für die vornehmen Damen gesorgt, die alle nach der Newa-
Insel pilgern; die hohen Herren aber gehen leer aus. Allein
die Riedl weiß auch da Rat zu schaffen. Sie läßt durch
Vermittlung ihrer in Preßburg lebenden Schwester eine Anzahl
bildschöner Ungarinnen als Kammerzofen und Bonnen enga-
gieren; es kostet dann wohl Mühe, die getäuschten Mädchen
nach ihrer Ankunft in Petersburg zur Raison zu bringen, aber
Geld und Geschenke tun das ihrige : — und eines Tages hat die
russische Residenz in dem Riedischen Hause in der Wolkons-
kaja das erste regelrechte Bordell. Die Hurenwirtin sorgt
fleißig für Nachwuchs; die Mädchen dagegen, die nichts mehr
taugen, verheiratet sie mit einer kleinen Mitgift, und diese
weise Methode führt ihr jetzt ganz von selbst immer neue
Opfer zu. Doch eine Unklugheit hat die vorsichtige Frau
Riedl begangen: sie kümmert sich nicht um die Polizei. Auf
die Protektion ihrer vornehmen Gäste bauend, verweigert sie
den üblichen Tribut. Die Polizei rächt sich, lockt sie in eine
Falle, verwickelt sie in einen Hochverratsprozeß, und das ist
der Riedl Ende. Ihr Vermögen zerstiebt in alle Winde, sie
selbst stirbt in einem Gefängnis an irgend einem fernen
Orte.
Die Riedl ist elend untergegangen, ihr Werk aber ge-
deiht, das Bordellwesen ist in Rußland felsenfest begründet.
Die Zahl der öffentlichen Bordelle wächst so rapid, daß bei-
spielsweise in Petersburg im Jahre 1840 mehr als 80 größere
und kleinere Bordelle existieren und außerdem mehr als 14000
,, Unterhaltsdamen** (das ist die landläufige Übersetzung des
französischen femme entretcnue ins Petersburger Deutsch)
— 547 —
unter polizeilicher Aufsicht stehen, i) 1879 zählt man in der
russischen Hauptstadt schon mehr als zweihundert Bordelle. 2)
Vom letztgenannten Jahre ab aber werden strenge Maßregeln
— nicht gegen die Prostitution, sondern bloß gegen die Bor-
delle — ergriffen, so daß die Zahl der Freudenhäuser im
Laufe eines Jahrzehnts von 268 auf 65 sinkt.
Die polizeiliche Kontrolle ist mangelhaft organisiert. Nur
dem Zufall verdankt man folgende Daten: Die Zahl der kon-
trollierten Prostituierten betrug in Petersburg im Jahre 1892:
3242 bei einer Einwohnerzahl von i 035 939. Am ärgsten ist
es der offiziellen Statistik zufolge in Warschau; da gibt es
bei einer Einwohnerzahl von einer halben Million 2800 kon-
trollierte Prostituierte (im Jahre 1892); in Nikolajew bei 76098
Bewohnern 393 (im Jahre 1892); Moskau hatte 1892 bei 826000
Einwohnern nur 1834, Tula bei etwa 60000 Einwohnern im
Jahre 1893 nur 64, Charjkow bei 197 210 Einwohnern im Jahre
1892 nur 231 und Odessa bei 328014 Bewohnern im Jahre
1892 nur 404 kontrollierte Prostituierte. Diese Zusammen-
stellung mag nur als ein Beweis dafür beigebracht werden,
wie unzuverlässig und unvollkommen die russische Statistik
in dieser Beziehung noch ist, da der Prozentsatz der Prosti-
tuierten in Warschau oder Nikolajew fast fünfmal so stark ist
als jener in Odessa, obwohl letzteres notorisch mindestens soviel
Prostituierte hat wie das weit dichter bevölkerte Warschau.
Die Bäder in ganz Rußland und die Hotels vieler Städte
— namentlich Polens — sind mehr oder weniger öffentliche
Freudenhäuser. Das Gros der Prostituierten liefern die Ar-
beiter- und die Bauernklasse, die in Rußland übrigens von-
einander nicht zu unterscheiden sind, da die Arbeiter auch dem
Stande des Muschik angehören. Daß nicht Not in der Form
des Arbeitsmangels, „sondern angeborene Arbeitsscheu die de-
generierten Weiber zur Prostitution führt,** ist namentlich für
die baltischen Provinzen nachgewiesen worden, wo von Arbeits-
^) Buddcus, Zur Kenntnis von St. Petersburg im kranken und gesunden
Leben, I 93.
2) A. PI. <to;iopoin>, O'K'picb BpiiMe6HO-no.TuuoftcKiiro Ha^sopa bl C.-IIpt«^p-
fiyprh 1897.
35*
— 548 —
mangel keine Rede sein kann und jede halbwegs fleißige
Arbeiterin ihr genügendes anständiges Auskommen findet, ^j
Es geht den Prostituierten hier genau so, wie anderAvärts.
Sie streben nach einem flotten sorgenlosen Leben ohne Ar-
beit und geraten erst recht in Not. Ohne Schulden beginnen
sie ihr Gewerbe, und weil sie ihre Einkünfte nicht zu ver-
werten verstehen, stehen sie bald mit einer schweren Schulden-
last da und werden Sklavinnen ihrer Wirtinnen.^) Dies prä-
zisieren die Petersburger Dirnen ganz charakteristisch mit eini-
gen wenigen Worten, indem sei beim Ausgang auf den Kunden-
fang sagen : ryjiaK) na ce6« oder : yjiaio na xoaaHKy, ich bum-
mele für mich, auf eigene Rechnung, oder: ich bummele für
meine Wirtin, um für sie Geld zu verdienen.^)
Auffallend groß ist unter den russischen Prostituierten
die Zahl der Diebinnen. In Dorpat gab es 1899 unter 462
polizeiHch kontrollierten Prostituierten 175, die als Diebinnen
bekannt waren; 32 von diesen stammten aus notorischen Diebs-
familien.'*) Um ihrer Opfer leichter habhaft zu werden, sucht
die Prostituierte, die auf Diebstahl ausgeht, ihre Kunden in den
Traktiren und Kabaken und schleppt dann die Betrunkenen
und Willenlosen in ihre Wohnung, wo sie freies Spiel hat ;
gibt das Opfer nicht freiwillig, was gefordert wird, so erscheint
der Zuhälter als deus ex machina, und der Geprellte und Be-
stohlene ist ffoh, wenn er ungeprügelt die Höhle wieder ver-
lassen kann. Wie in Petersburg und Moskau kann man solche
Erfahrungen in ganz Rußland machen. Die Prostituierten blei-
ben sich überall gleich, sind dieselben in der Lärmgasse zu
Riga oder in dem Hurenviertel Awlabar zu Tiflis. Nur einige
Städte zeichnen sich durch Besonderheiten auf diesem Gebiete
aus. So sind es in der Universitätsstadt Dorpat (Jurjew) die
^) Dr. C. Ströhmbcrg, Stadtarzt in Jurjew (Dorpat): Die Prostitution,
ein Beitrag zur öffentlichen Sexualhygiene und zur staatlichen Prophylaxe der
Geschlechtskrankheiten, eine sozial-medizinische Studie, Stuttgart 1899, S. 68.
2) Ebenda 81.
''^) Ebenda 35. — Vgl. auch Band I S. 105, wo die Bezeichnung des
Bummelns oder Spazierens für Hurerei schon erklärt ist.
•*) Ströhmberg a. a. O. 55. Daselbst eine interessante Statistik und merk-
würdige Nachweise.
— 549 —
Estinnen, die durch ihre Verworfenheit und Perversität auf-
fallen. In Petersburg und namentlich in Moskau stellen Zi-
geunerinnen das größte Kontingent der Prostituierten, i) Sie
sind die teuersten Huren des ganzen Reiches, und es ist das
Ideal der jeunesse dor^e, das Vermögen der Eltern mit einer
Zigeunerin zu verprassen. Eine Spezialität Moskaus sind ferner
die Bordelle mit männlichen Prostituierten, wohlgemerkt : Pro-
stituierten, nicht Werkzeugen der Päderastie. Der Salon des
Zigeuners Dawidow war in den letzten Jahrzehnten berühmt
wegen der Zahl und Qualität der stets kampfbereiten Riesen,
die hier zahlungsfähigen und liebeshungrigen Damen der Ari-
stokratie und Plutokratie zur Verfügung standen. Der Oper-
ettensänger Sassikow hat sich liier ein Vermögen erworben. 2)
Man sieht, die Ideen der Frau Riedl sind nicht spurlos verloren
gegangen, und ihre Nachahmer und Nachahmerinnen rnachen
nicht weniger glänzende Geschäfte, denn die russische Gesell-
schaft ist in diesen hundert Jahren nicht keuscher geworden.
Wie zu Zeiten Katharinas II. watet sie durch ein Meer von
Schmutz und Gemeinheiten, und es ekelt sie dieser Weg nicht
bloß nicht im geringsten, sondern sie fühlt sich erst wohl, wenn
sie ihn betreten hat. In der Unsittlichkeit sehen Russen und
Russinen so wenig eine Sünde und ein Verbrechen, daß sie
diesen Zustand für den natürlichsten halten. Es erregte des-
halb nicht geringes Aufsehen, als vor einigen Jahren die Kauf-
leute die Hilfe der Regierung gegen die „Harfnerinnen** von
Nishnij-Nowgorod anriefen; die Messestadt ist seit altershcr
ein beliebter Rendezvousplatz aller russischen Prostituierten,
und im Vorort Kunawino^), wo sie zumeist ihr Lager aufschla-
gen, wird ein großer Teil des Geldes, das die Kaufleute wäh-
rend der Messe verdienen, umgesetzt in Wein und Liebe. Die
Prostituierten erscheinen hier nur zur Zeit der Messe, und
um sich leichter mit der Polizei auseinanderzusetzen, kom-
men sie als Harfenistinnen.
^) Princesse Olga. La vie galante en Russie, Efeuillons de Marguerite.
Paris. — Geheimnisse der Prostitiitionsverhältnisse Rußlands. Schaaffhausen
1862.
-) Mitteilung eines Moskauer Kaufmanns.
^) Bernhard Stern, An der Wolga, Reisemomente, S. 5.
— 550 —
Neben den öffentlichen Prostituierten gibt es wie überall
auch in Rußland solche, die nur der Pohzei bekannt sind:
Frauen der besseren Stände, Beamten- und Offiziersgattinnen,
die, um Kleinigkeiten zur Bestreitung von Parfüms und Putz-
artikeln zu erwerben, ihre weibliche Ehre um einen Spottpreis
verkaufen; sie suchen meistens Frisierstuben und Modesalons
auf, wo sie in den vorderen Räumlichkeiten gleich ausgeben
können, was sie in den hinteren verdient haben. Berühmt war
in jüngster Zeit der Salon der Schneiderin Minanga.
Seltener als in anderen Ländern tritt in Rußland der
Fall ein, daß Mädchen der Prostitution direkt verkauft werden.^)
Dies ereignet sich gewöhnlich bloß in den polnischen Gouver-
nements, in Odessa und Kaukasien. Namentlich in der letzt-
erwähnten Statthalterschaft hört man häufig von Entführungen
von Mädchen jugendlichen Alters 2), die dann an Agenten ver-
kauft und von diesen zumeist an die Bordelle in Baku oder
Tiflis weitergegeben werden.
Auf dem 1897 in Petersburg stattgehabten Kongreß zur
Bekämpfung der Syphilis machte ein Arzt 3) Mitteilung von
einer merkwürdigen russischen Spezialität : er erzählte, daß in
der durch ihre Gewehrfabrik und ihre SUberwaren berühmten
Stadt Tula, wo es keine Tanzschulen und keine Tanzlehrer
gibt, die jungen Leute — beiderlei Geschlechts ! — die Bordelle
besuchen, um tanzen zu lernen. Aber nicht bloß in solchen
einigermaßen entfernten Städten wie Tula, sondern auch in
Petersburg und Moskau ist ähnliches der Fall. Da gibt es
Kupplerinnen, die der Polizei gar wohl bekannt sind und
dennoch anstandslos Bälle und Abendgesellschaften für so-
genannte wohltätige Zwecke veranstalten dürfen. Durch Kund-
schafte! innen und Agenten lassen sie alle möglichen hübschen
Mädchen aus besseren Familien heranlocken. Die Damen
brauchen kein Entree zu bezahlen, die Herren aber, die an den
Bällen teilnehmen wollen, müssen einen bedeutenden Betrag
^) B. Okoix)K<>ki», Mt'Hx;(j^iiap<viHan ToproBJifl ,it»BymK-aÄiii, Mockbji 1892.
2) Lodzer Zeitung, Oktober 1902.
^) JXyl A|)XiiüRMi>cidrt (Ti)v;u»i Biaco4aftiiJe paaplinn'Hnaix) ci.t.aja iio 06-
evHU^HiK) Mf.pi> niMtrinri, rH([nf.TiK'a in. Poociii C.-irr)r. 1897). — Ströhmberg
a. a. O. 13.
— 651 —
als Eintrittsgeld erlegen. Dem Tanz folgt ein Gelage, und
das Übrige ergibt sich von selbst.
Das gegenwärtig noch geltende Strafgesetzbuch Niko-
lajs I.i) kennt eine ganze Reihe von Strafen für Verletzung
weiblicher Ehre und Vergehen wider die öffentliche Sittlich-
keit. Hier die interessantesten:
Wer ein Mädchen, das das vierzehnte Lebensjahr noch
nicht zurückgelegt hat, gewaltsam der jungfräulichen Ehre
beraubt, erhält lo — 12 Jahre Arbeit in den Festungen. Wer
einem noch nicht vierzehnjährigen Mädchen ohne Gewalt,
jedoch durch Berückung ihrer Unerfahrenheit die jungfräu-
liche Ehre raubt, wird zu 4 — 8 Jahren Arbeit in den Fabriken
oder zu 8 — 10 Jahren Festungsarbeit verurteilt. Bei Bestim-
mungen des Grades und des Maßes dieser Strafen werden die
Umstände, unter denen das Verbrechen geschah, das Alter und
die geistige Bildung des Verbrechers und die Folgen, welche
die Tat für die gemißbrauchte Person haben kann, berück-
sichtigt. Hat aber der Verbrecher bei dieser Tat sich nicht
bloß die Unerfahrenheit des Mädchens zunutze gemacht,
sondern auch die ihm durch seinen Beruf zustehende oder
durch die Eltern, Vormünder oder Anverwandten der weib-
lichen Person übertragene Autorität mißbraucht: so erhält er
IG — 12 Jahre Festungsarbeit. Die unfreiwillige Schwächung
einer mehr als vierzehnjährigen Frauensperson wird an dem
Täter mit 4 — 8 Jahren Festungsarbeit bestraft. Bei Bestim-
mung des Grades und Maßes dieser Strafen werden ebenfalls
die Umstände, unter denen das Verbrechen geschah, das Alter
und die geistige .Bildung des Verbrechers und die Folgen,
welche das Verbrechen für die gemißbrauchte Person haben
kann, in Betracht gegeben. Diese Strafen werden alle in fol-
genden Fällen um einen Grad erhöht: wenn die unfreiwillige
Schwächung an einer verheirateten Frauensperson verübt
worden ist; wenn jemand ein solches Verbrechen an einer
Frauensperson begeht, welche er zu diesem Zwecke wider ihren
Willen oder durch Betrug entführt hat; wenn die unfreiwillige
*) Strafgesetzbuch des Kussischen Reichs promulgiert im Jahre 1845,
§§ 1998 — 2007 und 1281 — 13^x3.
— 552 —
Schwächung unter körperlichen Mißhandlungen und Peinigun-
gen stattgefunden hat ; wenn sie an einer Frauensperson verübt
wurde, die vorher auf Veranstaltung des Täters in einen Zu-
stand vorübergehender Bewußtlosigkeit oder Betäubung ver-
setzt worden war; wenn das Verbrechen durch den Vormund,
Kurator oder Lehrer der Geschwächten, durch den Aufseher
des Gefängnisses oder der Anstalt, wo sie sich befand, durch
den Arzt, der sie behandelte, oder sonst durch jemand begangen
worden ist, dem sein Beruf oder andere Umstände über sie
eine gewisse Autorität verliehen hatten; wenn der Täter als
leibeigener oder gedungener Diener im Hause der Geschwäch-
ten oder ihres Ehemannes, ihrer Eltern, Vormünder oder Er-
zieher angestellt war ; wenn dabei das Leben der Geschwächten
bedroht oder gefährdet wurde. Wird eins von den bezeich-
neten Verbrechen an einer Jungfrau verübt, so trifft den Täter
das höchste Maß der daselbst angeordneten Strafen. Wenn
die unverheiratete Frauensperson, welche unfreiwillig ge-
schwächt worden ist, keine Unterhaltsmittel besitzt : so muß,
falls sie selbst oder ihre Eltern oder Vormünder darauf an-
tragen, aus. dem Vermögen des Täters so viel, als zu ihrem
standesmäßigen Unterhalt bis zu ihrer Verheiratung nötig ist,
beigesteuert werden. — Wer eine Frauensperson in der Ab-
sicht entführt, den Beischlaf mit ihr gegen ihren Willen zu
vollziehen, und hieran nur durch äußere, nicht von ihm ab-
hängende Umstände gehindert wird, erleidet die Strafe der
versuchten, unfreiwilligen Schwächung. Entsagt aber der Ent-
führer seinem Vorhaben freiwillig oder auf Zureden der Ent-
führten, so beschränkt sich seine Strafe, nach Umständen,
auf drei bis sechs Monate Gefängnis, oder auf drei Wochen
bis zu drei Monaten Arrest. Wer eine Frauensperson wider
ihren Willen entführt, jedoch nicht um an ihr Gewalt zu üben,,
sondern um sie zum Beischlaf zu bereden, oder auch nur um
deren guten Ruf zu beeinträchtigen, kommt, wenn die Ent-
führte ledig oder Witwe ist, auf sechs Monate bis zu einem
Jahr ins Besserungshaus. Ist aber die Entführte mit einem
anderen verehelicht oder versprochen, so wird der Entführer
zu zwei bis drei Jahren Besserungshaus verurteilt. Wer
eine ledige Frauensperson durch ein feierlich gegebenes Ehe-
versprechen zum Beischlaf verleitet, und sein Versprechen nicht
erfüllt, wird auf zwei bis drei Jahre ins Besserungshaus ein-
gesperrt. Über unfreiwillige Schwächung, Defloration, Ent-
führung und Verführung von Frauenspersonen wird, falls das
Verbrechen nicht etwa den Tod der Geschwächten veranlaßt
hat, ein gerichtliches Verfahren nur dann eingeleitet, wenn
diese selbst oder- deren Eltern, Vormünder, Anverwandte oder
andere zu ihrer Obhut verpflichtete Personen darüber klagend
einkommen. Ist die geschwächte Person verheiratet, so findet
das gerichtliche Verfahren nur statt, wenn entweder sie selbst
oder ihr Ehemann klagt. —
Männer sowohl als Weiber, die eine liederliche Lebens-
weise führen und solches an öffentlicher Stelle, durch scham-
lose Ärgernis erregende Handlungen an den Tag legen, werden
auf sechs Monate bis zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
— - Wer ein Unzuchthaus hält, oder die Wollustbefriedigung
anderer als Gewerbe betreibt, wird beim ersten Mal, in den
Hauptstädten um zehn bis fünfzig, in anderen Städten um drei
bis zehn, in den Dörfern um einen bis drei Rubel gestraft, beim
zweiten Mal aber auf sechs Monate bis zu einem Jahr zum Besse-
rungshaus verurteilt, und nachher auf zwei Jahre unter Polizei-
aufsicht gestellt, oder, falls er ein Ausländer ist, aus dem Reich
gewiesen. Wenn der Inhaber eines Gast-, Speise-, Kaffee-,
Trink-, Bade- oder anderen öffentlichen Hauses seinen Gästen
wissentlich im Lokal seiner Wirtschaft Mittel zur Unzucht dar-
bietet : so wird er beim ersten Mal um zehn bis zwanzig Rubel,
beim zweiten und dritten Mal um das Doppelte gestraft. Über-
dem wird seine Anstalt beim dritten Mal geschlossen. Ist an
einem solchen Vergehen nicht der Wirt, sondern der Dienst-
bote schuld: so kommt dieser auf drei Wochen bis zu drei
Monaten unter Arrest, und der Wirt muß, als Strafe für mangel-
hafte Beaufsichtigung, fünf bis zehn Rubel erlegen. Wer ohne
ein beständiges Unzuchthaus zu halten, wissentHch, für Geld
oder sonstigen Lohn, in einem zu seiner Verfügung stehenden
Lokal anderen wollüstige Ausschweifungen gestattet, wird mit
sieben Tagen bis zu drei Wochen Arrest belegt. — Wer als
Aufseher oder Dienstbote eines Unmündigen oder Minder-
jährigen der Neigung desselben zu irgend einem Laster Vor-
— 554 —
Schub tut oder ihn gar dazu anleitet, wird mit drei bis sechs
Monaten Gefängnis bestraft und darf nie wieder als Jugendauf-
seher angestellt werden.
Wer öffentlich, mit frecher Sittenverhöhnung, liederliche
Weiber besucht, wird um einen bis zehn Rubel bestraft. Weiber,
die aus der Unzucht ein Gewerbe machen, werden mit Arrest
auf sieben Tage bis zu drei Monaten belegt. Liederliche Weiber,
die mit der Lustseuche behaftet sind und solches nicht gleich
beim Ausbruch der Krankheit einem Arzt anzeigen, werden,
nachdem sie geheilt worden, beim ersten Mal mit einer Geld-
buße von zehn Rubeln und Arrest auf sieben Tage bis zu
drei Wochen, beim zweiten Male zu einer Geldbuße von dreißig
Rubeln und Arrest auf drei Wochen bis zu drei Monaten, beim
dritten Mal mit drei- bis sechsmonatiger Einsperrung im Besse-
rungshaus bestraft. — Wer an einem öffentlichen Ort oder in
einer zahlreichen Versammlung betrunken, in liederHchem, un-
anständigen Aufzug erscheint, oder sich an öffentlicher Stätte
bis zur Bewußtlosigkeit trunken betreffen läßt, wird beim ersten
Mal auf einen bis drei Tage, beim zweiten Mal auf drei bis
sieben Tage und beim dritten Mal auf drei Wochen bis zu
drei Monaten unter Arrest gesetzt. —
Wer in eine öffentliche, für Personen eines anderen Ge-
schlechts bestimmte Badeanstalt, absichtlich, mit oder ohne
Gewalt, zu einer Zeit eindringt, wo daselbst gebadet wird, muß
einen bis zehn Rubel Strafe zahlen, und wird im Wieder-
holungsfall zu derselben Geldbuße und zu drei bis sieben Tagen
Arrest verurteilt. —
Den Vater und die Mutter, die ihre Kinder verkuppeln;
den Ehemann, der seine Frau verkuppelt ; den Lehrer, Vor-
mund und Kinderaufseher, der die ihm anvertrauten jungen
Leute verkuppelt : treffen schwere korrektionelle Strafen. Wenn
andere, als die früher bezeichneten Personen sich der Kuppelei
schuldig machen, so werden sie beim ersten Mal um fünf bis
zehn Rubel, beim zweiten Mal mit drei bis sechs Monaten Ge-
fängnis bestraft. Wer das Kuppeln als ein Gewerbe treibt,
wird wie jener, der ein Unzuchtshaus hält, bestraft. — —
Was helfen aber alle diese Gesetze, solange die Polizei
selbst si(*h um sie nicht kümmert! Und doch muß man noch
— 555 —
die Polizei mild beurteilen, wenn man erfährt, wie ganz andere
höhere Persönlichkeiten sich zur Prostitution verhalten. Der als
Sadist und Päderast berüchtigte Großfürst Ssergej verweigerte
als Generalgouverneur von Moskau vor einigen Jahren einer
ehrenwerten Dame, welche vornehme Tanzkurse leitete, die
Erneuerung ihres Privilegiums. Der Großfürst erklärte sich
nur dann zu dieser Erneuerung bereit, wenn die Dame. ihm in
ihrem Tanzsalon eine Orgie mit einigen ihrer Schülerinnen
aus den besten Familien gestatten würde ; als sie aber ablehnte,
ließ der Großfürst sie als Kupplerin verfolgen I Eines Tages
erließ Großfürst Ssergej den Befehl zur Ausweisung aller Juden ;
bleiben sollten nur dürfen: die jüdischen Mädchen, die Prosti-
tuierte waren oder werden wollten, und jüdische Knaben, die
sich ziu: Päderastie hergeben würden, i) Wurde festgestellt,
daß solche Knaben und Mädchen ihr „Handwerk** nicht aus-
übten, sondern nur, um in Moskau ihr Brot behalten zu dürfen,
sich die Scheine der Schande und Zeugnisse als „Lehrlinge**
und „Lehrmädchen** erschlichen hatten, so wurden sie zur
Polizei befohlen, vergewaltigt und dann unerbittlich ab-
geschoben. Ein junges Mädchen aus Podolien war in einem
Kaufgeschäfte angestellt und hatte sich das „Diplom** einer
Prostituierten verschafft. Eines Tages wurde sie zur Polizei
befohlen und befragt, warum sie das vorgeschriebene Gewerbe
— die Prostitution — nicht ausübe. Sie gesteht ihr Verbrechen :
sie sei gar keine Prostituierte. Man ruft den Arzt; er unter-
sucht sie, und das Resultat : das Mädchen ist Jungfer. Darauf
macht der Polizeichef kurzen Prozeß, er behält die Jungfrau
bei sich, vergewaltigt sie, läßt sie durchpeitschen und schließ-
lich ausweisen. Der Brotgeber der Unglücklichen, ein einfluß-
reicher russischer Kaufmann, bringt den Fall nach langer Mühe
vor den Zaren. Es wird auch eine Untersuchung angestellt,
aber man muß die Anklage fallen lassen; denn der Polizei-
chef beruft sich auf einen Befehl des Generalgouverneurs
Großfürsten Ssergej Alexandrowitsch : „Wenn ein Frauen-
zimmer dem Reglement entgegen noch Jungfrau sein sollte,
muß man das Reglement anzuwenden verstehen!**
*) AlexandiT Ular, Die russische Revolution. Berlin I9<\«;. S. 104.
556 —
54- Bestialität und gleichgeschlechtliche Liebe.
Der Domostroj und die Sodomie — Sodomie keine Sünde — Zar Joan III.
als Sodomit — Die Sodomie des Zaren Ursache zum Kriege gegen Livland —
Die bestialische Sodomie in Estland — Sodomie und Aberglaube — Die Popen
als Sodomiten — Peter bedroht bestialische Sodomie und Päderastie mit dem
Tode — Peter der Große als Sodomit und Päderast — Lesbische Liebe — Die
Regentin Anna Leopoldowna und Juliane Mengden — Katharina II. und ihre
Tribaden — Die Perversitäten der Brüder Subow — Katharina verlangt Barm-
herzigkeit für die Perversen — Nikolajs I. Gesetze gegen Perversitäten — Die
neuesten Gesetze Nikolajs II. — Großfürst Michael Pawlowitsch als Päderast
— Die Internate Pflanzstätten der Päderastie — Berühmte Persönlichkeiten
als Päderasten — r Potapow — Naryschkin — Päderastenlieder — Rußlands
große Dichter besingen die Päderastie — Großfürst Ssergej als Päderast —
Öffentliche Päderastie — Die Päderastie in den Bordellen und Bädern Kau-
kasiens.
Der „Domostroj'*, der russische Knigge des sechzehnten
Jahrhunderts, führt in seinem Verzeichnis verdammenswerter
Sünden die folgenden furchtbaren Dinge auf: Spiel, Musik,
Jagd mit abgerichteten Hunden und Vögeln, Pferderennen.
Das alles verdient wahrhaftig nicht mehr und nicht weniger
als Höllenstrafen in jener und Kapitalstrafe in dieser Welt.
Milder warnt der Domostroj vor einigen anderen kleineren
Lastern des russischen Volkes, beispielsweise : Trunksucht und
Sodomie. Der Meinung des Domostroj schließt sich das
russische Volk an: Sodomie mag ein Laster sein, ist aber
kein Verbrechen. ,,Die Verehelichungen in Russen werden
sehr hoch gehalten und rccommandiret / als ein Mittel zu
verhindern / daß die Russen mit denen Knaben oder Thieren
nicht Unzucht treiben / wozu sie sehr geneigt sind / und
welches Laster mit dem Tode nicht bestrafft wird. Als vor
7. oder 8. Jahren ein junger Pursche ertappet wurde / welcher
mit einer Kühe in dieser schändlichen Verrichtung begriffen
war / so schrie er denselben / der ihn antraff / also zu :
NemisheayM, das ist / störe mich nicht: man beschreibet
dieses Laster in gantz Moskau nicht weiter / als mit diesen
1) Richtig: nr meschaj. Hi'.\rl,iiiai1
~ 557 —
Worten; Ne misheay.*'^) Zar Iwan III. trieb so ungeniert
Sodomie (Bestialität), daß man in ganz Europa davon wußte.
Als er den Wunsch hegte, mit den europäischen Fürstenhäusern
in verwandtschaftliche Beziehungen zu treten, und einen Boten
nach Polen schickte, um die Hand der Schwester des Königs
August Sigismund zu verlangen, wagte der polnische Herr-
scher dem Zaren als höhnische Antwort eine mit Weiber-
kleidern angezogene Stute zu senden. Ein ähnlicher Schimpf,
der dem Zaren in Reval angetan wurde, war die Ursache zu
seinem Kriege und zu seinen Grausamkeiten gegen die Balten.
Es wird hierüber erzählt 2): „Anno 1494, ließ Ivan Wasilie-
witz Grodzdin alle Teutsche Kaufleute, welche sich zu No-
wogorod (alwo die Hansee-Städte ihr vierdtes Contor hatten)
aufhielten, gefangen nehmen und in schwere Gefengnis werffen,
so daß etliche gantzer 9 Jahre in den faulen Thürmen elendig-
lich zubringen musten. Welches daher anfangs verursachet,
daß die von Reval zwey Reußcn, ihrer Mißhandelung halber,
gerechtfertiget, und den einen, der falsche Schillinge in ihrer
Stadt gemüntzet hatte, nach Teutschem Rechte, zu Tode sieden,
den andern, der bey einer Stute auf unnatürlicher That be-
schlagen, verbrennen laßen. Solches verdroß den Reußen
hefftig, als die sich bedüncken ließen, daß man sothane Miß-
handelung am Leben nicht straffen könne. Crantius meldet:
einige sollen, da sie bey den Revelischen sich darüber be-
klaget, aus Unbedacht ausgefahren und gesagt haben : sie
wolten den Großfürsten selbsten, wenn sie ihn in solchem Laster
betreten, wie einen Hund, verbrennen. Als es aber dem Groß-
fürsten hinterbracht, sol er dermaßen ergrimmet worden seyn,
daß er auch seinen Stock, dabey er ging, zerbrochen, auf die
Erde geworffen und zugleich, mit zusammen gebißenen Zähnen,
gen Himmel sehend, gesagt haben: Räche Gott und richte
meine Sache. Drauf er sich obgedachtermaßen an die Teutsche
Kaufleute, welche in den Contors-Hoff ihre gewönliche Re-
sidentz hatten, vergriffen, ließ es auch dabey nicht bewenden,
sondern begehrte noch dazu von den Ständen in Lyfland mit
^) Reise nach Norden.
2) Hiärns Geschichte S. 188.
— 558 —
vielem Drohen und großem Ernst, daß man ihm die Revel-
schen, die seine Reußen unschuldig zum Tode vcrurtheilet
hatten, überantworten solte."
Die Herausforderung des Zaren Iwan III. durch die Revaler
erscheint übrigens gänzlich deplaziert, wenn man weiß, daß
die Sodomie — die Unzucht mit Tieren — in Estland selbst
ein altes Laster ist, das noch bis heute nicht ausgerottet Averden
konnte. 1) Stute, Kuh und Ziege sind vor dem estnischen und
lettischen Bauer nicht sicher. Nicht bloß ledige, sondern auch
verheiratete Personen sind dieses widernatürlichen geschlecht-
lichen Verkehrs überführt worden. Vor den baltischen Ge-
richten erscheinen als Sodomiten sogar nicht selten Männer,
die in der glücklichsten Ehe leben. Einrrial ertappte man
,,einen Ehemann, der eben erst seiner Frau ehelich beigewohnt
hatte, gleich darauf mit einer Ziege.'* In den Ostseeprovinzen
war die Strafe für Sodomie immer eine verhältnismäßig
geringe: „1792 wurde ein Pastoratsbauer aus dem Andern-
schen Kirchspiel, der dem Herrn Pastor Kornrumpf gehörte,
öffentlich am Kirchenpranger gepeitscht, weil er eine Stute
bestiegen hatte.*' Schlimmer erging es 1790 einem Manne im
Testamaschen Kirchspiel; ,,er trieb es lange Zeit mit seiner
Stute und erhielt in Pernau 40 Paar Ruten und Verweisung
nach Sibirien.'* Ein siebzehnjähriger Bursche auf dem Gute
Nürms sündigte mit einer Kuh. Laut dem Urteile des Nieder-
landesgerichtes in Baltischport bekam er ,, vierzig Paar Ruten,
Kirchensühne und 2 Jahre öffentliche Arbeit.** Die Kuh mußte,
,,um ärgerliche Gedanken zu verhüten, aus der Gegend fort-
geschafft werden." Der Propst Glanström im Kirchspiel Mi-
chaelis fragte einen Sodomiten, wieso er aufs Laster verfallen,
und erhielt folgende interessante Antwort : ,,Ich habe einen
Sodomiten öffentlich abstrafen sehen; da habe ich gedacht,
ein Laster, um dessentwillen ein Mensch so großen Schmerz
erduldet, einen Schmerz, von dem er wußte, daß er ihm als
Strafe für sein Laster drohte, ein solches Laster, hab ich
gedacht, muß doch wohl durch seinen Reiz und seine Ver-
gnügungen für die Schmerzen entschädigen.** Eine Veran-
1) Pctri, Elistlaiul uiul die Kli^tcii, 11 44.
— 559 —
lassung zur Sodomie gibt der häufige Umgang der Bauern
mit ihrem Vieh. Mancher Bauer verbringt mit seinen Kühen,
Stuten und Ziegen den ganzen Sommer auf einer einsamen
Weide. Im Winter schläft er oft mit den Tieren im Stall
oder er hält sie in seiner eigenen schmutzigen Stube. Die
Pastoren predigen allsonntäglich gegen das Laster, aber indem
sie es ausmalen, lehren sie es erst recht kennen. Und mancher,
den man erwischt, sagt dann, wie er es vom Prediger gehört
hat: „Der Teufel hat mich verführt,** und hält sich für völlig
schuldlos, da gegen des Teufels Macht ein Sterblicher nicht
aufkommen kann.
Bei dem gemeinen Russen ist der Aberglaube häufige
Ursache der Sodomie. In einigen Gegenden glaubt das Volk,
daß der geschlechtliche Verkehr mit einem Pferde das beste
Mittel zur Heilung des Fiebers sei/); so entschuldigten Bauern
im Gouvernement Tomsk ihr Vergehen. 2) Auch Fälle von
Unzucht der Frauen mit Tieren sind in Rußland nicht selten.
Ich füge diesem Kapitel das Bild einer Sodomitin bei. Ks
ist das Porträt der Athanasia, Tochter des Akzisebeamten
Nikolaj Njemtzen, Bürgerin aus Nischnydewitzk im Gouverne-
ment Woronesch, 38 Jahre alt. Sie wurde im April 1901 durch
das Woronescher Kreisgericht für Geschlechtsakte mit Tieren
zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien verurteilt und
in Jakutsk angesiedelt. Sie ließ aber auch an ihrem Verban-
nungsorte von ihrer Perversität nicht ab, wurde 1902 schwanger
und abortierte eine Mißgeburt. Nach ihrer Genesung wurde
sie deshalb mit hundert Peitschenhieben bestraft, und seither
treibt sie bloß Onanie. Gegenwärtig ist sie als Krankenwärterin
im Gefängniskrankenhause zu Jakutsk angestellt. ^)
Berüchtigte Sodomiten sind in ganz Rußland die Popen.
,,Les pr^tes sont fort enclins ä Thorrible Pech6 de Sodomie,
^) Die gleiche Kur kennen die Orientalen bei Geschlechtskrankheiten,
namentlich Tripper. Vgl. mein Buch „Medizin, Aberglaube und Geschlechts-
leben in der Türkei", II 220, 221.
-) Kocrrpoiri., r.iacnbitt Cy;n« 1886, ^ 50; und Löwenstimm, Aberglaube
und Strafrecht, S. 147.
■') Mitteilung des Dr. M. \V. Wassiljew in Jakutsk; von ihm stammt
auch tlic photographische Aufnahme, nach der tlas Bild angefertigt wurde.
— 560 —
lorsqu'ils sont ivres,** sagte schon der Kapitän Jean Perry^)
und fügte hinzu, daß diese Sünde kaum als ein Verbrechen an-
gesehen wurde. Die milde Anschauung gilt sowohl der bestiali-
schen Sodomie (rpixi^ coÄOMCKiü, grech sodomskij: sodomi-
tischc Sünde) als der Päderastie (MyjKejioHCCTBO, musche-
loschstwo: Mannesbeischlaf), also der Unzucht mit Tieren wie
der gleichgeschlechtlichen Liebe. Iwan IV. der Schreckliche-
war ein bekannter Päderast. Als sein Lieblingsknabe galt
Theodor Basmanow; Fürst Obolenskij-Owtschinin wagte in
einem Streite mit Basmanow diesem gegenüber die homosexuelle
Neigung des Zaren als ein schmutziges Werk der Sodomie zu
bezeichnen, und wurde dafür von Iwan erdolcht. 2) Sodomie
und Päderastie waren auch noch zur Zeit des Zaren Alexej
nicht schwer bestraft. Der Diplomat Mayerberg erzählt in
seiner Reiserelation: „Dans.le temps que j'6tois ä Moscou, on
mit en prison un jeune homme qui avoit d^robe dans une
Eglise des Images sacr^es. Comme il nioit son crime, il füt
appliqu^ ä la question, dans les tourmens de laquelle il avoüa
la vQnt6 ; et ajoüta qu*il y avoit long-temps qu'un certain Prßtre,
Moine du Monast^re oü il avoit fait le vol, abusoit de lui. Etant
cite en justice, et en prescncc de son complice, il ne nia point
Ic fait, mais H tächa de s'excuser sur Tinfirmite humaine.
Je nc doute point que quiconque se souvient de la vangeance
divinc sur les cinq villcs criminelles, ne se persuade de voir
deja Ic bücher dress^ pour la punition de cc miserable. Cela
se seroit fait avec justice; mais il ne se fit pas pourtant. Car
ayant ete cnferme peu de jours dans un cachot, et de lä
envoye en un autre Monasterc, pour y bluter la farine Tespace
de quarante deux jours, Le temps de cette l^g^re penitence
etant cxpirc, allant aux Cellules des Profus du Monastere,
et frapant ä Icurs portes, il repetoit, Gospodi pomilui, c'est-a-
dire, Seigneur, ayez pitie de moi ; et recevant alors de chacun
deux ou trois coups descourgecs, il füt absous de son crime.**
In den kirchlichen Gesetzen wird Päderastie allerdings
als strafbar bezeichnet, aber aus Mayerbergs Erzählung ist
^) Etat prcscnt ile la Grande- Kussic, trad. de l'Anglois, A la Haye 1717,
p. 219.
'^) Vgl. in diesem Baiule S. 10.
Athanasia Njemtzan,
n.-ich Sibirien verbannt. (Nsch einer Photogrjphie,)
— 561 —
zu erkennen, daß die Praxis nicht allzustreng war. In der welt-
lichen Gesetzgebung hat noch das Gesetzbuch des Zaren Alexej
(yjiojKeme 1649 r.) nicht einmal eine Erwähnung der Sodomie
und Päderastie; die ersten gesetzlichen Bestimmungen enthält
das Kriegsreglement Peters des Großen, das im fünften Artikel
des Unzuchtskapitels befiehlt: „Unnatürliche Unzucht mit
einem Viehe, Unzucht zwischen Männern und Männern und
Knabenschändung soll man unbarmherzig mit dem Knut stra-
fen; wird dabei Gewalt angewendet, so laute das Urteil auf
lebenslängliche Galeerenstrafe oder Todesstrafe.**^)
Die Strenge Peters des Großen ist befremdend, da er sich
selbst sowohl der bestialischen Sodomie schuldig macht als
unter Umständen auch dem Verkehr mit Männern nicht ab-
geneigt ist. Im Jahre 1708 wird der Pope Koslowskij im Preo-
braschensker Ukas torturiert, weil er behauptet hat, daß er
mit eigenen Augen den Zaren in überraschender Intimität mit
seiner Lieblingshündin Finette gesehen. Die Tatsache dieser
Intimität wird auch von anderen bestätigt und ist nicht einmal
ein Geheimnis, das erst enthüllt zu werden braucht. Man kennt
so allgemein die überschwängliche Neigung des Zaren zu seiner
Hündin Finette, daß einmal ein ingeniöser Beamter die Pro-
tektion der Hündin in einer wichtigen Sache anruft : der Kaiser
hat bei Todesstrafe verboten, ihn mit unnützen Bittschriften
zu behelligen; nun gilt es, seine Gnade für einen Funktionär
zu erflehen, der zu unbarmherzigem Knut verurteilt ist; der
kluge Vermittler achtet die kaiserliche Order, indem er sich
nicht an den Zaren direkt wendet, sondern die Bittschrift der
gefälligen Finette tim^ den Hals hängt. Der Zar nimmt es
gnädig auf, und der Verurteilte ist gerettet. 2)
Nicht so empfindlich wie gegen den Vorwurf der Unzucht
mit Tieren ist Peter der Große, wenn man ihm homosexuellen
Verkehr nachsagt. Im Jahre 1702 erzählt ein Kapitän des
^) Bernhard Stern, Die Romanows I, S. 46. — Vladimir Nabokoff, Pro-
fessor des Strafrechts au der KaiserHch russischen Rechtsschule zu St. Peters-
burg: Die Homosexualität im Russischen Strafgesetzbuch. In Dr. Magnus
Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, V. Jahrgang, II. Band,
S. IICK).
-) Waliszcwski, IMenc Ic Grand, J14.
btern, Geschichte der üflfentl. Siulichkeit in Ru6IaDd. ** 76
— 662 —
Preobraschensker Regiments öffentlich, daß Peter ein Päderast
sei; er wird dafür bloß nach einer entfernten Garnison ver-
bannt; und nicht schlimmer ergeht es einigen anderen, die
immer wieder auf dieses heikle Thema zurückkommen. Kaum
einem Zweifel unterliegt es, daß der Bäckerjunge Mentschikow
nicht bloß seinem genialen Kopfe, sondern auch seinem ge-
fälligen Hintern seine glänzende Karriere verdankt. Peters
Briefwechsel mit Mentschikow ist in dieser Beziehung wohl
beachtenswert. Der Zar nennt seinen Günstling in seiner
deutschelnden Schreibweise : tnin Herzenskind, min bester Frint,
min Bruder; die Antworten des Favoriten sind ebenso fami-
liär und die Unterzeichnung erfolgt ohne jede Respektsformel,
während andere große Günstlinge, wie selbst Scheremetjevv,
nicht vergessen dürfen ihren Namen hinzuzufügen: Hanno-
cjiiAHiiöiiiiä pa6TE> tboS, der allerletzte deiner Sklaven.^) Peter
ist kein Freund des Alleinschlafens. Seine Maitressen läßt
er nicht in sein zarisches Bett hinein; dieses teilt nur Katha-
rina mit ihm, ist aber Katharina nicht da, so liegt an der Seite
des Zaren sicher der erstbeste ÄßHimiirB (Derischtschik, ein
Soldat als Bedienter eines Offiziers). 2) Der berühmte Jagu-
schinskij, der es gleich Mentschikow zu den höchsten Würden
und Ehren bringt, hat als Bettgenosse-Denschtschik des Zaren
begonnen. Zwei der beliebtesten Denschtschiki Peters sind
„Tatischoff, er soll von rußischer Familie seyn; und Wassili,
welcher nur von gar schlechtem Herkommen und Ansehen ist.
Der Zar hat ihn als einen armen Jungen in seine Kapelle der
Sänger genommen, weil er eine ziemliche artige Stimme ge-
habt haben soll, und da der Herr selbst ein Sänger ist, auch
alle Sonn- und Festtage bey den andern gemeinen Sängern
in einer Reihe stehet, und mit ihnen in der Kirche singet,
so hat er diesen Burschen zu sich genommen, und dermassen
nachgerade seine Affection auf ihn geworfen, daß er keinen
Augenblick fast ohne ihn leben kann. Die beyden zuletzt
erwehnten sind die größten Favoriten, und ob man gleich
den Tatischoff für den allergrößten hält, indem selbiger auch
1) Briefe Peters des Groüen III 780. -^ Waliszewski, Pierre le Grand 226.
2) Waliszewski a. a. O. 215, 114.
— 563 —
fast ordinair, wenn der Zar allein oder in kleinen Gesell-
schaften ist, mit ihm an der Tafel speiset, so bin ich doch
gewiß der Meynung, daß der allerletzte noch diesen weit über-
trifft, indem der Zar ihn zuweilen wohl hundertmal an einem
Tage beym Kopf kriegt, und ihn küsset, auch die vornehmsten
Ministers stehen läßt, und zu ihm gehet, um sich mit ihm
zu entreteniren. Man kann sich nicht genug wundern, wie die
grossen Herren ihre Gnade auf allerhand Arten von Leuten
werfen können. Dieser Mensch ist von schlechten gemeinen
Leuten her, hat niemalen andere Education gehabt, als die
gemeinen Sängerjungen zu haben pflegen, er ist auch sonst
nur von gar schlechtem und gemeinem Ansehen, mit einem
Wort, aller Wahrscheinlichkeit nach, nur ein simpler, einfäl-
tiger Mensch; und dennoch machen ihm die vornehmsten
Herren aus dem ganzen Reich die Cour.**i) Viele der hervor-
ragendsten Personen am Hofe Peters stehen ebenfalls im Rufe,
Päderasten zu sein: so der junge Fürst Gagarin; „der deutsche
Kammerjunker Hecklau soll Kavalier bey ihm gewesen sein.'*^)
Die Neigung Peters des Großen für gleichgeschlechtliche Liebe
geht auf Peter II. über und wird schließlich auch bei Peter III.
konstatiert.
Mit der Frauenherrschaft hält die lesbische Liebe ihren
Einzug in den Zarenpalast. Nach dem Tode der Zarin Anna
Iwanowna besteigt den russischen Thron, als Regentin für das
Wickelkind Joan Antonowitsch, die Braunschweigerin Anna
Lcopoldowna. Die Regentin bleibt wochenlang für die Öffent-
lichkeit unsichtbar, ja sie verläßt nicht einmal ihre Apparte-
ments und nimmt selbst die Mahlzeiten in ihren innersten Ge-
mächern. Sie duldet in ihrer Umgebung nur die Fußsohlen-
kitzlerinnen und die Schwätzerinnen, die ihr pikante Ge-
schichten erzählen müssen. Ihr Geliebter, der sächsische Di-
plomat Lynar, ist in Petersburg noch nicht angelangt, aber
sie hat für ihn einen Ersatz: Juliane Mengden. Diese teilt
mit ihr die absolute Abgeschlossenheit von der Außenwelt.
Der Gatte, Herzog Anton Ulrich, zählt nicht, ist nur Statist.
^) Bergholz bei Büschiug, XIX 43.
2) Ebenda 80.
r>'
— 564 —
Wenn sich Juliane Mengden bei der Regentin befindet, wird
dem Zaren der Eintritt ins Schlafgemach und ins Ehebett ver-
weigert.^) Juliane Mengden gilt schon seit lange als Tribade;
Kaiserin Anna Iwanowna sah sich sogar veranlaßt, das Mäd-
chen ärztlich untersuchen zu lassen, aber der Bericht der Unter-
suchungskommission konstatierte, daß „Juliane Mengden in
jeder Beziehung ein Mädchen und kein Mannweib sei.** Trotz
des Berichtes der Untersuchungskommission behält die
Mengden ihren Ruf. Sogar in den diplomatischen Akten-
stücken der Zeit wird die Frage immer wieder behandelt. Der
französische Gesandte La Ch^tardie hält an der Wahrheit des
Gerüchtes fest; der preußische Gesandte Mardefeld spricht
von schwarzer Verleumdung, muß aber hinzufügen: „Ich ver-
stehe nicht den Grund der übernatürlichen Neigung der Groß-
fürstin für Juliane und bin nicht überrascht, daß das Publikum
dieses Mädchen beschuldigt, es habe den Geschmack der be-
rühmten Sapho.**
Daß eine Frau kein Mannweib sein müsse, um an lesbischer
Liebe Gefallen finden zu können, dafür ist Katharina IL ein
Musterbeispiel. Sie hat eine Legion von Liebhabern zur Ver-
fügung, dennoch gerät sie nicht bloß in den Verdacht, daß
ihre große Liebe für Tiere eine zweideutige sei, sondern man
hat gar keinen Zweifel daran, daß ihre Freundin Fürstin Dasch-
kow und ihre Probiererinnen Branizka und Protasow zeitweilige
an die Stelle der Günstlinge treten: „gegen das Ende ihres
Lebens hatte sich Katharina so sehr vermännlicht, daß sie
Weiber nötig hatte ; ihre Verhältnisse mit den Tribaden Dasch-
kow, Protasow und Branizka waren jedermann bekannt, und
der letzte Günstling Piaton Subow diente weiter zu nichts, als
daß er das Licht hielt.** Daher stammt auch das Witzwort
von der platonischen letzten Liebe Katharinas. Piaton Subow
war übrigens für die Aufgabe, die ihm zufiel, ganz geeignet,
denn er selbst hatte den Ruf eines Päderasten und Perversen.
Nach dem Tode Katharinas zog er durch ganz Europa mit
einem Mädchen herum, das als Kammerdiener verkleidet war.
*) Bericht des französisichrn (iosaiuUcn La Chctardio bei Waliszewski ,
L'hcritagc de Pierre le Grand, 31J.
— 565 —
Auch Piatons Bruder Valerian war pervers veranlagt. Seine
Leidenschaft bestand darin, junge Knaben für teueres Geld zu
engagieren und vor seinen Augen Onanie treiben zu lassen.
Im Zusammenhang mit Katharinas Neigung nicht bloß
für simple Ausschweifungen, sondern auch für gleichge-
schlechtlichen Verkehr ist es von Interesse, Kenntnis davon zu
nehmen, daß unter ihrer Regierung im Jahre 1785 der Senat
einen berühmten Ukas erließ, der die Bestialitätsfälle dem
sogenannten Gewissenstribunal zuwies, damit letzteres solche
Fragen „mit aller Nachsicht und barmherziger Milde** be-
handle, weil „die bei solchen Fällen vorkommende Selbstver-
gessenheit fast jede Art Wahnsinn übertrifft; und deshalb
müssen auch solche Albernheiten, welche sich zu Zeiten bei
der ungebildeten Menschheit einschleichen und mit grenzen-
loser Unkenntnis des einzelnen Wesens verbunden sind,** dem
Gewissenstribunal zuständig sein.
Nikolaj I. kannte für solche Fälle keine barmherzige
Milde ^): Wer sich „des naturwidrigen Vergehens der Päde-
rastie** schuldig macht, wird zur peinlichen Strafe dritter
Klasse, zweiten Grades (Deportation nach Sibirien) verurteilt,
und muß sich überdem, falls er den christlichen Glauben be-
kennt, einer Kirchenbuße unterziehen. Wer das Verbrechen
mit Anwendung von Gewalt oder an einer unmündigen oder
schwachsinnigen Person verübt, erleidet die peinliche Strafe
zweiter Klasse, vierten Grades (Katorga, Deportation mit schwe-
rer Zwangsarbeit, 10 — 12 Jahre). Wer „das nicht minder na-
turwidrige** Verbrechen der bestialischen Sodomie begeht, wird
zur peinlichen Strafe dritter Klasse ersten Grades verurteilt
(Deportation nach den entferntesten Gegenden Sibiriens) und
muß sich, falls er den christlichen Glauben bekennt, einer
Kirchenbuße unterziehen. — Seit 1900 ist an Stelle der De-
portation in den zwei ersten Fällen (Päderastie ohne und mit
Gewalt) Zuchthaus von 4 — 5 Jahren, und im Falle der bestia-
lischen Sodomie Zuchthaus von 5 — 6 Jahren getreten. Das
Gesetz versteht unter Päderastie „den Coitus zwischen Per-
1) Strafgesetzbuch des Russischen Reichs promulgiert im Jahre 1845,
1293, 1294, 1295 (in der russischen Ausgabe von 1885: Artikel 995, 99^), 997).
— 566 —
sonen männlichen Geschlechts und zwar per anum" ; dies geht
aus der Bezeichnng MyacejiOHCCTBO, Mannesbeischlaf, hervor;
im Jahre 1869 hat aber der Senat als oberster Kassationshof
den Gesetzesparagraphen, der die Päderastie mit Gewaltan-
wendung betrifft, auch in Fällen anzuwenden befohlen, wo
ein Weib von einem Manne per anum genotzüchtigt wird.
Diese Entscheidung erfolgte, weil das Gesetzbuch unzüchtige
Handlungen gegen das Weib als solche nicht bestraft (sie kön-
nen eventuell nur als Injuria mit unbedeutender Arreststrafe
geahndet werden) und ferner, weil diese Handlung nicht unter
den Begriff der Notzucht fällt. In Fällen aber, wo solcher Coitus
ohne Gewalt stattfindet, läßt der Senat die Bestimmungen über
einfache Päderastie nicht anwenden.
Das neue Strafgesetzbuch von 1903, das aber vor-
läufig noch nicht in Wirksamkeit getreten ist, hat an allen
diesen Gesetzen bedeutende Veränderungen vorgenommen, i)
Das Verbrechen der bestialischen Sodomie existiert nicht mehr.
Die freiwillige einfache Päderastie zwischen Erwachsenen ist
mit einem Minimum von drei Monaten Gefängnisstrafe belegt.
Päderastie mit einem Knaben unter 14 Jahren zieht immer Ka-
torga nach sich, auch wenn gar keine Gewalt vorliegt. Da
das neue Strafgesetzbuch besondere strenge Bestimmungen über
unzüchtige Handlungen mit Personen weiblichen Geschlechts
enthält, so wird die Senatsentscheidung von 1869, die die Not-
züchtigung eines Weibes per anum wie die gewaltsame Päd-
erastie zu bestrafen befahl, aufgehoben.
An den neuen Gesetzen ist es charakteristisch, daß die
bestialische Sodomie gänzlich straffrei, während die gleich-
geschlechtliche Liebe noch immer schwer bestraft wird. Die-
sen von Nikolaj II. festgesetzten Strafen wird es wohl ebenso-
wenig als jenen Nikolajs I. gelingen, die in Rußland sichtlich
immer mehr zunehmende Päderastie an der Ausbreitung zu
hindern. Nikolaj I. mußte die bittere Erfahrung machen, daß
sein eigener jüngster Bruder Michael Pawlowitsch ein Päderasl
war und daß just unter seiner den Päderasten so feindlichen
Herrschaft alle seine hervorragendsten Würdenträger und seine
*) Nabokoff a. a. O. 1162, 1163.
— 567 —
vornehmsten Pagen dem MyHcojioBCTBO, dem Mannesbeischlaf,
huldigten. Die Junkerschule, die Kadettenschule, die Rechts-
schule wimmelten von Päderasten;. und die Zöglinge dieser
Internate blieben zum Teil auch später leidenschaftliche An-
hänger der Päderastie: so Fürst Alexander Iwanowitsch Bar-
jatinskij, später Generaladjutant des Kaisers Alexander IL;
Loris-Melikow, Schuwalow, Ignatjew, Nabokow, Pobjedonoß-
zew. Der Zögling der Junkerschule Potapow wurde strafweise
nach Pskow verschickt, weil er in Frauenkleidern auf der Hof-
maskerade erschien und den Kaiser so geschickt intriguierte,
daß dieser dem Junker die Hand küßte. Potapow richtete
sich in seinem Verbannungsorte eine ganz weibische Woh-
nung ein und hatte zierliche Frauennachttöpfe mit seinem
Wappen. Er kleidete sich häufig in Frauentrachten, trug im-
mer, auch wenn er männliche Kleider anziehen mußte, kost-
bare türkische Tücher und sang mit Vorliebe den roten Sarafan.
Sein Liebesgenosse war Graf Kreuz, später Flügeladjutant;
und als der Zar sie einmal in einem Schlitten zusammen fahren
sah, sagte er lachend: „Seht da, Kreuz und seine Frau!**
Ähnlich trieb es Naryschkin, Bruder der Gräfin Woronzow-
Daschkow, ein hübscher blonder Junge mit ganz weibischen
Manieren. Er lebte wie eine große Kokotte, hatte immer
mehrere Liebhaber und schrieb ihnen die zärtlichsten Briefe.
Als er Ulan im Korps des Generals Baron Osten-Sacken war,
erschien er einmal auf einem Maskenball in dem kostbaren,
mit Brillanten übersäten Kostüm einer Marquise des acht-
zehnten Jahrhunderts; er ahmte so täuschend eine Frau nach,
daß alle Herren um seine Gunst buhlten.
In den Kadettenschulen sangen die Schüler gewöhnlich
statt des Abendgebets, wenn die Stunde zum Schlafengehen
gekommen war, im Chore ein Liedchen, das folgendermaßen
begann :
Et nnsAy öTH He topjitcHj
Jly^ime bt> Hcony aa Bcer;i;a,
On> nii3;i;bi 6o6ohi> po^nTor,
A OTi> jKonLi liHKorAa,
ByMi>, öyM'b.
— 568 —
In die Pisda stechen lohnts nicht,
Besser in das H.nternl.ch,
Aus der Pisda kommt der Schanker,
Aus dem H.ntern niemals noch,
Bum, bum.
In den vierziger und fünfziger Jahren des neunzehnten
Jahrhunderts sang man an der Petersburger Rechtsschule mit
Vorliebe dieses Päderastenlied :
Benepa, Benepa
CKaacH TM CKop'hii
KajcaH MaHepa
Htoötj exB Becejiiii? —
npomjia BCK) Eßpony
CKaaajiH nespfk:
J],aBaTi, ^epeai) acony
IIpiaTHifi JiiLsp.'hl —
TaKB Hy3KH0-JiB CT> nua^aMii
3HaK0MHTbCa TJ^Tl)?
ToBapniii,n caMii
flaiOTB ir eöyT'B,
IIpiHTHoe Ä'fe^o
^pyFi> Äpyry AaBaTB
H 3K0nK0K) CM'iiJIO
IIpeAt xyeMt biijihtl.
O Venus, o Venus,
So sag es nur frei.
Ob diese, ob jene
Art richtiger sei?
Ja selbst in Europa
Das männliche Glied
Die Liebe von hinten
Der Pisda vorzieht.
Man braucht keine Pisdas
Solange verkehrt
— nßo —
Ein jeder Kollege
Dem andern gewährt.
O liebliche Sache
Wenn fröhlich und kühn
Der eine dem andern
Den H.ntern streckt hin.
Die berühmtesten russischen Dichter jener Zeit — Pusch-
kin, Lermontow, Gribojedow — waren Päderasten und haben
die Päderastie in schwungvollen Gedichten gefeiert. In einem
dieser Gedichte, betitelt „Erlebnisse eines Pagen**, schildert
ein Dichter, von dem nur die Anfangsbuchstaben A. Schtsch.
bekannt sind, in einem klassischen Russisch die Gefühle des
Homosexuellen, und schließt mit der Bitte, „die gleichge-
schlechtliche Liebe nicht als schändliche Sünde, sondern als
natürlich anzusehen und nachsichtig zu beurteilen*' :
. . . TenopL CBoCoAHO iipeAaBaTbc«
Mory ii cjiaöocTii CBoeä
H cejiaAOHaMi» OTJiaBaTboi
Mirb iixi» jiK)6oBi> Bcero Mim'fefi;
fl He noKiiny iixi» kohg^ho,
He BHacy b'b tomT) ceß't CTLi;;a,
fl HceHu^nHoir ocTauycb B-fe^iHO,
Mofl B-hp,h Hcona TajKh nnsAa.
MojiOÄeHbKHMi» KpacaBU,aMT> iia^o
Cef)« JIK)60BHHK0B'I> A^pHcaTb,
KpacoK) HceHCTBeHnaro 3a;;a
JKap'i> noxoTU Bt HHXb BoaöyHCAaTh.
B'^At HvCHii^HHaMii Hac'b npHpo^a
Ct My3KCKiiMi> jiiimb ^JienoM'L co3Aa-ia
H CBoiicTB'L MyjKHiin'L HaM'L He ;i,ajia,
Mm cymecTBa iinoro po^a:
Ocyii;ecTBJifleT'i> n;i;eaji'i>
Mh ;xpeBnHro repMa<J)poAnTa.
H Haei» Be3A'h ne Majio OKpwTo;
~ 570 —
Jlpcen.'b CBtTb nact ocyHCÄajn>,
H^iM'Jb MLI BHHOBHM? HG CyAHTG
A CHHXOÄHTGJIBHO CMOTpHTG.^)
Wie zu Zeiten Nikolajs I. stand auch zu Zeiten Nikolajs II.
bis vor kurzem ein Großfürst an der Spitze der Päderasten:
Ssergej Alexandrowitsch, des Zaren Oheim, der von den Re-
volutionären ermordet wurde. Er pflegte mit seiner Gemahlin
keinen geschlechtlichen Verkehr und befriedigte seine ero-
tischen Bedürfnisse fast ausschließlich per anum. Denn auch
die Frauen und Mädchen, die er seinen Leidenschaften willig
machte, gebrauchte er auf unnatürliche Weise. Großfürst
Ssergej besaß eine komplette Sammlung von Schriften über
Päderastie und Sodomie. Er war regelmäßiger Besucher eines
Moskauer fashionablen Restaurants, das die Päderastie zu einem
fruchttragenden Geschäftszweig auszugestalten gewußt hat.
Auch in der anderen Residenz und in vielen großen Städten
des Reiches gibt es derartige Restaurants, die nichts anderes
sind als Rendezvousplätze für Leute, die gegen Bezahlung per-
verse Gelüste befriedigen wollen. Im südlichen Rußland, na-
mentlich in Kaukasien sind, bedingt durch die Sitten des
Orients, in allen Hotels und Bädern Lustknaben zur Verfügung
der Gäste. Die Tscherkessen sind merkwürdigerweise unter
allen Bewohnern Kaukasiens das einzige Volk, bei dem
die Päderastie als eine Entweihung der Manneswürde und
eine der Verachtung aller Stammesgenossen würdige Hand-
lung betrachtet wird. In den Bordellen Kaukasiens sind selbst
die Prostituierten auf den Coitus per anum einstudiert: die
Russen haben die dortigen Freudenmädchen so sehr an eine
derartige Perversität gewöhnt, daß sich in den Bordellen zu
Batum oder Tiflis das Mädchen auch ohne Aufforderung in
erster Linie nicht zu einem natürlichen Coitus, sondern zum
sodomitischen Genuß erbietet.
1) Eine Anzahl dieser geheimen Gedichte, von denen ich auch noch im
letzten Teile zu reden Gelegenheit haben werde, ist in einem Büchlein ver-
einigt, das den Titel führt: PyccKirt i^poTL ne ;i;ih ;\aa'h (der russische Eros, nicht
für Damen). Es enthält 21 Nummern auf 66 Seiten. Ich verdanke das über-
aus seltene Exemplar dem Berliner Gelehrten Dr. F. Karsch, dem Verfasser des
im Werden begriffenen großen Werkes über die gleichgeschlechtliche Liebe.
571
55- Lustseuche.
Erstes Auftreten der Syphilis in Rußland — Die Angst des Zaren Joan III.
— Die Syphilis in dem Briefwechsel Peters des Großen und Katharinas I. —
Verbreitung der Syphilis — Die Syphilis im Spital — Ungenügende medi-
zinische Polizei — Volksmittel und Aberglaube.
Schon im Jahre 1499 erwähnt ein russisches Aktenstück
zum ersten Male die Lustseuche. Sechs Jahre früher hatte
eine Frau aus Rom nach Krakau die französische Krankheit
gebracht. Das Gerücht von der neuen Seuche dringt bis nach
Moskwa, und bald erscheint in Rußland die Pest selbst. Als
der Großfürst Joan III. 1499 den Bojarensohn Iwan Mamonow
nach Litauen schickt, befiehlt er ihm: „Bei deinem Aufenthalt
in Wjasma erforsche, ob nicht jemand aus Ssmolensk mit
einer Krankheit angelangt ist, wo der Körper mit Schwären
bedeckt ist, und welche man die Französische nennt.** i)
Joan III., der Herrscher des fünfzehnten Jahrhunderts, zittert
also offenbar für die Gesundheit seiner Untertanen und will
sich beizeiten über die drohende Gefahr unterrichten, um ihr
wirksam begegnen zu können. Nicht so ängstlich denken der
große Reformator und Zivilisator Peter L und seine Gemahlin
Katharina, wenn es sich um die Syphilis handelt. Am 18. Juni
1717 schreibt Peter aus Spa, wo er zur Kur weilt, an die Zarin
und sendet ihr mit dem Briefchen eine seiner Maitressen zu-
rück: er könne sie nicht brauchen, denn er müsse allen in-
timen Zerstreuungen auf ärztlichen Befehl entsagen. Und Ka-
tharina antwortet ihm darauf: „Sie sagen, daß Sie Ihre Mai-
tresse zurückschickten, weil Sie wegen des Wassertrinkens sich
ihrer nicht erfreuen können. Aber ich glaube eher, daß Sie
sie zurückgeschickt haben wegen ihrer Krankheit, und ich
möchte nicht, daß ihr Galan hier mit derselben Krankheit an-
käme, die sie hat.** Nun, der Zar selbst erwischt sie wunder-
barerweise nicht, aber die ganze Hofgesellschaft, ja die ganze
Hauptstadt ist bald gründlich verseucht. Die junge Residenz
ist schon im zweiten Jahrhundert ihres Bestandes ein furchtbarer
1) Karamsin VI 2S3.
I
- 572 —
Herd der Lustseurhe. Ein Chaos von Abenteurern, Wol!-
lüstlingen. Sittenlosen wogt auf dem sumpfigen Boden, und
in diesem Chaos und in diesem ungesunden Klima, in dieser
regellosen und undisziplinierten Gesellschaft, die nur nach Lust
und Geld jagt, kann die Krankheit leicht Wurzel fassen und
sich rapid entwickeln. Die Abenteurer und Abenteurerinnen
verpflanzen die Seuche auf ein gar zu günstiges Terrain, und
die furchtbaren Auswüchse nehmen in wenigen Jahrzehnten
solche Formen an, daß Katharina II, bei ihrer Thronbesteigung
zur Einsicht kommt : das Wichtigste sei die Stiftung eines
Findelhauses und die Gründung eines Spitals für Syphilitische,
und zwar in erster Reihe für syphilitische Frauen. Die eintreten-
den Kranken, verordnet die Kaiserin, dürfen weder nach Namen
noch nach Stand befragt werden; man behandle sie mit vieler
Sorgfalt, Achtung und Diskretion; namentlich auf die letztere
ist besonderer Nachdruck gelegt; ja sogar in die Wäsche, die
man den Kranken im Spital gibt, ist das Wort „Diskretion"
gestickt. Es ist die höchste Zeit zu energischen Maßnahmen.
„Die garstige Krankheit," heißt es in dem Briefe eines deut-
schen Offiziers, ,, deren bloßer Name schon Abscheu und Ekel
erregt, ist hierzulande so gewöhnlich, daß man auch in den
vornehmsten Häusern die größte Vorsicht gebrauchen muß,
um nicht durch das Gesinde, oder durch eine Amme die ganze
Familie anzustecken," J) Von der Hauptstadt hat sich die
Seuche schon längst nach allen und den entferntesten Gouver-
nements verbreitet, ,,und in einem gewissen Teile Sibiriens
ist sie so sehr eingewurzelt, daß sie von Geschlecht zu Ge-
schlecht fortgepflanzt wird."-)
Die Ursachen der großen Verbreitung des Syphilis in
Rußland liegen nicht bloß in der allgemeinen Sitteniosigkeit,
sondern in der Unzulänglichkeit der medizinischen Polizei. Aus
der Mitte des vorigen Jahrhunderts berichtet Buddeus") aus
Petersburg :
„Die öffentlichen Mädchen jedes Stadtquartiers werden
') Russische Anecdolcn, S. 9K.
^) ILbfnda.
^) St. Pfttrsbiirg im kranken und gesunilfii Leben, I 139.
— 573 —
zwar wöchentlich von dazu bestimmten Ärzten untersucht, für
Inspizierung irgend verdächtiger Lokahtäten bestehen außer-
dem noch sechs Ärzte und ein medizinisch-pohzeiliches Ko-
mitee sucht den Folgen der Prostitution im allgemeinen ent-
gegenzuarbeiten. Allein diese Vorkehrungen betreffen schon
immer unvollständig die niedern Klassen und keine Art der
Kontrolle kann sich auf die höhern Stände verbreiten, wo doch
die Krankheit ebenso vorwaltend ist als in den Volksmassen.**
Auffallend ist die große Anzahl der Kinder in den männlichen
sowohl als weibHchen Abteilungen der Spitäler; und dabei
kann nicht ein einziges Mal von Lues congenita oder heredi-
taria die Rede sein, sondern immer erscheint die Lustseuche
als erworbene Krankheit.^) Wie weit die Sittenverderbnis be-
reits im kindlichen Alter gedeiht, dafür findet man hier un-
zählige Beispiele: Mädchen von 14 oder 15 Jahren sind
Stammgäste der Spitäler, Kinder von 10 und 1 1 Jahren werden
jeden Augenblick aufgenommen, und diese Geschöpfe haben
die Krankheit nicht durch einen außerordentlichen Zufall, son-
dern bei gewerbsmäßiger Ausübung der Prostitution erworben.
Die Spitäler waren namentlich zur Zeit Nikolajs L statt
Heilanstalten Brutstätten neuer Laster. Als Assistenten des
Arztes und als Aufseher der Kranken fungierten auch in den
Abteilungen für weibliche Patienten nur Feldscherer. Die Ärzte
klagten nun allgemein, daß durch diese ihre* Assistenten der
letzte Rest der Verschämtheit und des sittlichen Gefühls in den
Prostituierten erstickt wurde. Als Wärter und Wärterinnen
wiederum hatte man durchgehends leibeigene Menschen an-
gestellt, die von ihren Erbherren zur Strafe hierher geschickt
waren. Sie blieben nur solange da, als es ihren Eigentümern
gefiel; sie traten ein, ohne Ahnung von Krankenpflege zu be-
sitzen und hatten auch keine Gelegenheit sich solche Kennt-
nisse zu erwerben; aber Zeit genug fanden sie, alle Sitten
und Gewohnheiten der Prostituierten zu erlernen und aus dem
Hospital in die Kreise, in die sie zurückkehrten, mitzunehmen.
Eine Ausnahme von dieser Art der Bekämpfung der Syphüis
machte nur das Hospital in Riga. Hier mußte jedes von
^) Ebcmla S. 31X).
— 574 —
der Polizei eingelieferte Frauenzimmer nach Beendigung der
Kur gegen eine geringe Vergütung ebensolange Krankenwärter-
dienste tun, als die Behandlung gedauert hatte.
Die Zustände sind heute nicht viel besser. In Dorpat
wurden die Prostituierten bis vor wenigen Jahren in einer mit
Gittern versehenen Abteilung des Krankenhauses hinter Schloß
und Riedel gehalten. Sie führen in solchen Spitälern, die
für sie eher Gefängnisse sind, nichtsdestoweniger ein flottes
Leben : „Die in ihnen wohnende Unruhe,** erzählt Dr. Ströhm-
berg aus Dorpat i), „treibt sie zu beständigen Neckereien und
Zänkereien mit den unflätigsten Ausdrücken untereinander,
zu schamlosem Entblössen des Körpers, Aufführen von ob-
szönen Tänzen, oft nur, um die Hospitalbedienung zu ärgern
und zu kränken. Kurz, dieselbe Schamlosigkeit, mit der sie sich
bei sich zu Hause und überall bewegen, wo nicht die Furcht vor
der Polizei sie dämpft, tritt bei ihnen auch im Krankenhause
zu Tage. Dadurch unterscheiden sie sich sehr wesentlich von
allen anderen Kranken und charakterisieren sie sich in typischer
Weise.** Wie wenig solche Anstalten zur Bekämpfung der
Syphilis geeignet sind, beweist der Umstand, daß gerade Dor-
pat bis vor kurzer Zeit den traurigen Ruhm genoß, ein Ort
mit besonders schweren Schankerinfektionen zu sein.-) 1892
wurde ermittelt, daß von den Studierenden der Dorpatcr Uni-
versität 24 Prozent die Stadt als Luetiker verlassen!
Zu der Unzulänglichkeit der medizinisch-polizeilichen Or-
ganisation kommt noch der Unwille oder der Aberglaube des
Volkes. Der gemeine Mann hat einen großen Abscheu vor
dem Arzt. Er kümmert sich anfangs gar nicht um die Krank-
heit, wird sie aber schlimmer, so geht er zu einem alten Weibe
oder einem Kurpfuscher; deren Universalmittel ist: Schwitzen
und ein Kräutertrank. Auch die Chinawurzel gebraucht man
häufig. Bei den Esten, welche behaupten, daß ihnen die
Syphilis von den Deutschen und Russen gebracht worden sei
(tatsächlich haben sie in ihrer Sprache kein Wort für die
Lustseuchc ; sie nennen sie, wie den Skorbut, einfach : böse
^) Die IVostitiition, S. 54.
') Ebenda 151.
— 575 —
Krankheit) gebraucht man Umschläge von saurer Milch, Kraut-
laken und Dekokten. Bei den Wotjäken ist die Syphilis eine
wahre Volkskrankheit. Der ungehinderte Geschlechtsverkehr
der Jugend verursacht es, daß — sobald ein Bursche oder
Mädchen angesteckt ist — bald das ganze Dorf die Krankheit
hat. Wotjäkische Universalmittel sind : Zinnober und Sublimat.
Bei solchen Verhältnissen kann es nicht mehr Wunder
nehmen, daß kaum ein Land in Europa so verseucht ist wie
Rußland. Manches Dorf besteht aus lauter verkrüppelten
Menschen mit eingefallenen Nasen und ausgefressenen Augen,
und keine Stadt, in der nicht die Spitäler überfüllt wären von
den Opfern der Sittenlosigkeit dieses Volkes und der Sorg-
losigkeit dieser Regierung.
ZEHNTER TEIL:
Folkloristische Dokumente
56. Das Erotische und Obszöne in der
Literatur und Karikatur. — 57. Sexuelles
Lexikon. — 58. Obszöne Sprichwörter. —
59. Erotische und obszöne Lieder. —
60. Erotische und obszöne Erzählungen.
§
56. Das Erotische und Obszöne In der
Literatur und Karikatur.
Der „üomostroj** des Mönches Sylvester warnt schon im
sechzehnten Jahrhundert das russische Volk eindringlich vor
Zoten und Possen. Peter der Große sagt im zweiten Artikel
des dritten Kapitels seines Kriegsreglements : ,,Weil unzüchtige
Reden eine große Veranlassung zur Unzucht geben, sollen
sie, wie auch schandbare Lieder, bei harter Strafe verboten
sein.** Und Nikolaj I. schließlich erläßt eine ganze Reihe
von Gesetzen gegen unmoralische Literatur i): ,,Wer unan-
ständige, unsittliche, zum Laster verführende ^Schriften oder
Zeichnungen, mit Umgehung der Zensur, durch den Druck oder
auf irgend eine andere Weise verbreitet, wird, nach Umstän-
den, mit hundert bis fünfhundert Rubeln oder mit Arrest auf
sieben Tage bis zu drei Monaten gestraft. Alle Schriften und
Zeichnungen dieser Art werden weggenommen und vernichtet.
Dieselben Strafen treffen denjenigen, der Fabrikarbeiten mit
unanständigen Abbildungen verfertigt, verkauft oder auf an-
dere Weise verbreitet, oder in einem Kaufladen oder an öffent-
licher Stätte ausstellt. Die Lehrer, Erzieher und Vormünder,
welche unsittliche, unanständige Schriften oder Abbildungen
in einer Unterrichtsanstalt verbreiten oder den ihnen anver-
trauten jungen Leuten mitteilen, werden von ihrem Amt und
Beruf entfernt und mit Gefängnis von drei bis sechs Monaten
bestraft. Wer bei einem öffentlichen Schauspiel, auf der Bühne,
seinem Gesang oder seiner Rede Worte beimischt, oder sich
Geberden und Handlungen erlaubt, die der Sittlichkeit und
^) Strafgcsetzbiicli des Russischen Kcichs, S. 2Chj, §§ 1 301— 1305.
— '580 —
dem Anstände zuwider sind, wird mit drei Tagen bis zu drei
Wochen Arrest bestraft. Wer bei einer öffentlichen Verhand-
lung oder vor einer feierlichen und^ zahlreichen Versammlung
eine Rede hält und sich darin unanständige und unsittliche
Ausdrücke erlaubt, wird nach Maßgabe seines Berufs, Alters,
Standes und je nach den übrigen Umständen, entweder mit
einer Geldbuße von einem bis hundert Rubeln oder mit einem
Tag bis zu drei Tagen Arrest bestraft; wer solche Reden in
einer Lehr- und Erziehungsanstalt vor den Zöglingen hält,
wird von seinem Amt und Beruf entfernt und erhält drei bis
sechs Monate Gefängnis.**
Diese Warnungen und Gesetze aus verschiedenen Jahr-
hunderten sind Beweise dafür, daß die erotische Literatur zu
allen Zeiten in Rußland stark verbreitet war. Allerdings nur
ganz im geheimen. In 'der öffentlichen belletristischen, lyrischen
und kulturgeschichtlichen Literatur sind Spuren der Erotik
kaum zu bemerken.
Zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts erschienen einige
Geschichten ä la Boccaccio : „die Historie von Sawwa Grudeyn**
und die „Historie vom russischen Edelmann Frol Skobejew
und Ännchen, der Tochter des Truchsesses Nardin-Naschtscho-
kin.** Beide sind wenig pikant und noch weniger originell. In
der ersten Geschichte vermischt der unbekannte Autor Boc-
caccio mit Faust und braut daraus seinen tragikomischen Ro-
man : Ein flotter Kaufmannssohn setzt einem alten Freunde
seines Hauses, der eine junge Frau hat, Hörner auf. Später
erkaltet seine Liebe zu der Dame, die sich an dem Treulosen
dadurch rächt, daß sie ihm einen Liebestrank gibt und ihn dann
selbst bei ihrem Gatten verklagt. Der betrogene Ehemann
wirft den Liebhaber seiner Frau hinaus, aber jetzt brennt in dem
Bezauberten die Liebe wieder lichterloh, und er verschreibt
sich ä la Faust dem Teufel, um seine Lüste befriedigen zu
können. Nach vielen langweiligen Kapiteln endet die Ge-
schichte damit, daß der Held, um sich vor dem Teufel zu retten,
Mönch wird. Pikanter und realistischer ist die andere Historie,
in der ein armer Nowgoroder Edelmann das reiche Ännchen
einfach dadurch erobert, daß er des Mädchens Amme besticht
und selbst als Mädchen verkleidet in die Gemächer der Bc-
— 581 —
gehrten gelangt. Aber alle diese Pikanterien sind keineswegs
so geartet, daß sie allzu strengen Tadel verdienen würden.
Den ersten wirklich frivolen Roman bekam Rußland unter
Katharina II., als Ippolit Fjodorowitsch Bogdanowitsch im
Jahre 1774 sein Hauptwerk „Seelchen*' (,HyinenbKa) veröffent-
lichte. Dieses ist indessen kein Orginal sondern eiiTe ge-
reimte freie Übersetzung von Lafontaines Roman „Les amours
de Psycho et de Cupidon**, nur mit noch mehr Frivolitäten
durchsetzt, die bei dem Russen plump und geschmacklos er-
scheinen.
Bald darauf übersetzten Jelagin und Lukin den Roman
des Abb^ Prevost: „M^moires de Marquis ***, ou aventures
d*un homme de qualit^, qui s*est retir^ du monde**; und auch
Louvet de Couvrays „Amours du Chevalier de Faublas*' wur-
den ins Russische übertragen. Einige Schriftsteller versuchen
Nachahmungen, aber der pornographische Roman gelingt ihnen
nicht, die Imitationen werden ungeschickt, und selbst das fri-
volste Werk dieser Gattung: „Jewgenij oder verderbliche Fol-
gen schlechter Erziehung und Gesellschaft** des achtzehnjäh-
rigen Ismajlow artet in eine hausbackene Moral aus: die
Hauptperson gerät durch Schulden ins Gefängnis, und die Gou-
vernante Sanspudeur, deren Name ihre Rolle im Roman be-
zeichnet, endet in einer Tuchfabrik. Bedeutender ist das Werk
„der russische Gil Blas oder Abenteuer des Fürsten Gawrila
Ssemjono witsch Tschistjakow** vom Kleinrussen Wassili j Nar-
jeschnij. Von diesem sechs Bände umfassenden Werke er-
schienen 18 14 drei Bände, die übrigen drei wurden von der
Zensur als unsittlich unterdrückt. Zu originellen erotischen
oder pornographischen Produktionen bringt es auch der be-
rühmte Sittenschilderer Krestowskij nicht, der sich in seinem
Sensationsroman „Petersburger Spelunken** einfach an die Pa-
riser Mysterien des Franzosen Sue anlehnt. Gogolj, Tolstoj
und Dostojewski] sind zwar naturalistische Dichter; doch nur
Dostojewski] schildert in „Verbrechen und Sühne** die Pro-
stitution und zeigt uns, wie seine Heldin Ssonja, um den
trunksüchtigen Vater, die schwindsüchtige Stiefmutter und fewei
kleine Stiefgeschwister zu ernähren, kein besseres Mittel weiß,
als Prostituierte zu werden.
— 582 —
Reichhaltiger als die öffentliche Literatur ist die geheime
an erotischen Liedern, Gedichten, Sprichwörtern, Anekdoten
und Erzählungen. Zu diesem Reichtum hat in erster Linie das
Volk selbst, eine Legion unbekannter Dichter beigetragen.
Aber auch von den großen Poeten haben einige, wie Gribo-
jedow, Puschkin und Lermontow, zu dem Schatze des Ero-
tischen und Obszönen wertvolles beigesteuert. Während die
Volkslieder zumeist den natürlichen Geschlechtsakt oder ska-
tologische Stoffe behandeln, feiern die großen russischen Dich-
ter hauptsächlich die gleichgeschlechtliche Liebe. In einem
schmächtigen Büchlein, betitelt : „Eros russe, PyccKiä 3poTi> ne
ÄJiHAaM'B", das im geheimen gedruckt worden ist, sind 21 klei-
nere und größere Gedichte des Dichters Lermontow, des Schau-
spielers Karatygin und einiger anderer vereinigt. Von diesen
21 Geclichten sind die meisten der Päderastie gewidmet. Da
es sich um ein sittengeschichtliches Dokument ersten Ranges
handelt, gebe ich hier den Inhalt des Bändchens:
Titelblatt, zwei Seiten Inhaltsangabe, eine Seite Vorwort
(Kt ^HTaTejiK)); diesem Vorwort zufolge sind die Gedichte
in den Kreisen der Junkerschule, der Rechtsschule und des Ka-
dettenkorps in den vierziger und fünfziger Jahren des neun-
zehnten Jahrhunderts entstanden; die Publikation erfolgte 1879
in hundert Exemplaren, i)
Lermontow eröffnet unter dem Pseudonym „Gr. Diarberkir**
den Reigen mit drei Stücken : dem großen Gedicht „Poninn-
Tajib" (Das Hospital. Seite 3 — 9), der Epistel „THaenrayaeHy"
(An Tiesenhausen) und einer „O^a kb nyjKHnKy" (Ode an
den Abtritt), die mit der berühmten Blumauerschen Ode nichts
gemein hat als den ähnlich klingenden Titel. Das letzte der
drei Gedichte ist unterzeichnet: 3Kpeii,'b MyacHKa, HHBajiiiA'i>
HifKOJiaii HBanoBiiH'B (Der Opferpriester des Muschik, der Invalid
Nikolaj Iwanowitsch). Das zweite Gedicht warnt den Apostro-
phierten (den Schulkollegen Tiesenhausen) vor den sozialen
Folgen seines homosexuellen Lebens:
^) Dr. Karsch, dem ich dieses Büchlein verdanke, hat noch eine andere
Ausgabe von II + 92 Seiten gesehen. Der Inhalt ist in beiden Ausgaben
genau derselbe.
— 583 —
He BOAn TaKT> tomiio okomr,
KpyrJiOM Mconofi ne sepTH,
CjiaAOCTpaCTBGM'B H nopoKOMT>
CßoeHpaBHO He myTu.
He xoAH B'B HyHcofi nocTejiii
H KT> CBoefi He AonycKafi,
Hh myTÄ HH B'B caMO\n> A'hJi'h
H'Jb»cHO pyiTB He noHCHMaii.
Snaä, npejiecTHHfi Hannb nyxonei^'B,
IOhoctb AOJiro ne ÖJiecTHrB,
XOTB JiroÖOBHHITB TBOS HepBOHei^Tb
Ka}KAHÖ pa3'B Teßi AapnT'B;
Snaä KorAa pyKa rocuoÄHH
PaapasHTCH Ha^^b toGoS,
Beb KOTopBryB tbi ceroAHH
SpHHIB y HOFB CBOHXTb CT> MOHBÖOlf,
CnaAKoä BJiarofi noi^ajiya,
He ySMyTB TocKy tbok),
XoTB Tor^a 3a kohhhitb xy«
Tbi 6h OTAaJi'B jkhbhb cbok).
Sollst nicht mit den Augen schmachten,
Nicht den runden Hintern drehn,
Spaß nicht vor der Welt mit Wollust,
Laß sie nicht dein Laster sehn.
Steige nicht in fremde Betten,
Niemand laß in deins hinein.
Nicht im Scherz und nicht im Ernste
Sollst du allzuzärtlich sein.
Wiß, verführerisches Wesen,
Jugend dauert nicht gar lang.
Laß dich nicht vom Golde locken.
Das dir wird zum Lohn und Dank.
Wenn die Hand des Herrn zu strafen
Einmal auf dich niederfällt.
Werden alle diese Braven,
Die dein Reiz gefangen hält.
Die jetzt dir zu Füßen schmachten,
^^im
— 584 —
Nicht dein Laster mehr verstehn;
Alle werden dich verachten,
Keiner deinen Kummer sehn.
Wisse, für ein Stückchen Schwanz
Opferst du dein Leben ganz.
Die nächsten zwei Gedichte: „OmnÖKa" (Das Versehen)
und „CMHpeme OTii,a IlaxoMa" (Vater Pachoms Demut) wer-
den von einigen Barkow, von anderen Ismajlow (dem von mir
bereits erwähnten Verfasser des Romans „Jewgenij'*) zuge-
schrieben. Letzteres ist wahrscheinHcher ; beide Gedichte sind
bloße Übersetzungen aus dem Französischen des Gr^court.
Den größten Raum nimmt das sechste Stück ein: „Doxo-
5KAeHi}i naaca" (Erlebnisse eines Pagen). Es besteht aus
23 Abschnitten in zwei Hauptteilen (Seite 15 — 44) und behandelt
ausschließlich Päderastie. Einige Zeilen daraus sind von mir
bereits in einem früheren Kapitel (Perversität) zitiert worden.
Der Autor bezeichnet die Kadettenschule als das wahre Sodom ;
Rom, Griechenland und der Orient vereinigen sich hier mit
ihren Lastern, und alle Pagen der Anstalt sind „Bougre's oder
Bardache's**. Das Leben und Treiben wird ebenso poetisch
als realistisch geschildert. Von demselben Verfasser, AI.
Feodorowitsch Schtsch., sind noch mehrere Stücke: „JI oii"
(An L.), eine Hymne auf die Sodomie mit dem Weibe;
„CBu;i;aHie" (Das Rendezvous); „P y" (An R., nämlich
Rostowzew), eine Verteidigung der Päderastie.
Es folgen weiter:
MocKOBCKiii CTHxoTBopeniK (Moskauer Gedichte). Das
erste ist der Fürstin Warwara Pawlowna Gagarin, späterer Frau
Ssolyzew, gewidmet; das zweite wendet sich an die Gräfin
Lydia Arssenjewna Nesselrod, geborene Sakrewskaja; das dritte
ist ein Glückwunsch für den Moskauer Oberpolizeimeister Ber-
nitsch aus Anlaß seiner Dekorierung mit dem Stanislausorden
erster Klasse. Verfasser dieser satirisch-erotischen Episteln ist
D. Lenskij.
Von den restlichen Nummern sind besonders die Gedichte
des Schauspielers P. Karatygin hervorzuheben, die zum Teile
ebenfalls homosexuelle Töne anschlagen: „ITo'hRAKaBiiCoprioB-
\
I
— 585 —
CKyK) nycTfciHy noÄi> üeTepSyproMi»; CKopoMHOH nicim Ha
nocTHOM'B Macjin" (Fahrt nach dem Ssergejewkloster bei Peters-
burg, eine verbotene Speise in Fastenöl) ; die Schilderung einer
Vergewahigung von vier englischen Seekadetten durch ägyp-
tische Matrosen in einem Konstantinopeler Kaffeehause im
Jahre 1854, dazu eine türkische Beantwortung der Beschwerde;
„Cnopt" (der Streit) ; „ A^aMii 11 EBBa b'b üeTepro^j'fe" (Adam
und Eva in Peterhof).
Den Beschluß des Büchleins bilden einige Gedichte, deren
Verfasser unbekannt sind.
In den letzten Jahren sind von einigen russischen For-
schern, wie Tschubinskij, Wolkow und Dikarew, eine Menge
Lieder, Sprichwörter und Anekdoten gesammelt und in Welters
KpuTTTaSta (Paris) V, VII und VIII einem ganz kleinen Kreise
von Folkloristen zugänglich gemacht worden. Schon im ersten
Bande der KpuTTTotSwc (1883) waren 77 geheime russische Er-
zählungen in französischer Übersetzung erschienen; Isidore
Liseux publizierte sie dann als ,,Edition unique ä deux cent
vingt exemplaires num^rot^s** 1891 unter dem Titel: „Contes
secrets russes (rousskiia zavetnia skazki) traduction complöte.**
Diese Übersetzung erfolgte nach einem russischen Exemplar
(200 Seiten kl. 8 ^) der Pariser Nationalbibliothek ; das russische
Original nennt als Druckort und Druckerei: „Balaam, aus
der Kunstbuchdruckerei der Mönchsbruderschaft, im Jahre der
Teufelei der Hölle.** Im letzten Kapitel bringe ich einige dieser
Geschichten; wie die Romane von Bogdanowitsch, Ismajlow
und Narjeschnij stehen auch diese geheimen Erzählungen ganz
unter dem Einfluß der französischen Erotiker des siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts; manche sind geradezu Kopien
der gallischen Erotik. Die Cent nouvelles nouvelles, Rabelais,
Lafontaine, Gr^court, dann aber auch Boccaccio, Bonaventure
des Periers und viele andere sind von den russischen Imitatoren
geplündert worden; wirklich russisch erscheinen die letzteren
nur dort, wo sie skatologisch werden.
Origineller als die Erzählungen sind die Volksbilderbogen
(jiyGoHJiun KapTHHKH) mit erläuterndem Text, zumeist plumpe
Holzschnittdrucke; die ältesten stammen aus dem siebzehnten
Jahrhundert. Sie zeichnen sich alle durch beißende Satire aus
^j
— 586 —
und geißeln nicht bloß die Sitten der Gesellschaft, sondern
wagen sich selbst an die Regierung und schließlich an die
geheiligten Personen der Zaren und Zarinnen heran. Nach
Peters des Großen Tode kursiert unter den Altgläubigen ein
Bilderbogen, auf dem die Mäuse feierlich den Kater (Peter
den Großen) begraben ; die Mäuse (die Altgläubigen) frohlocken
über den Tod des Feindes. Man plakatiert selbst in den Wirts-
häusern Bilder wie dieses : Peter der Große sitzt an einem reich
gedeckten Tische ; Mentschikow bringt ihm auf einer Platte als
Dessert eine üppige Schönheit: Katharina; unter dem Bilde
als Text die Worte : „Der gute Untertan bringt das Kostbarste,
was er besitzt, dem Zaren dar.** Dieses Bild spiegelt alles
wider, was man von der Vergangenheit der ersten Katharina
Sicheres weiß: daß sie Mentschikows Maitresse war und daß
der Günstling sie dem Herrn abtreten mußte.
Die Zeit Katharinas IL fordert noch mehr zu solchen
Satiren heraus. Die Sittenlosigkeit der Gesellschaft spottet
aller Beschreibung, nur mit Hilfe der Satire und Karikatur kann
man sie noch einigermaßen treffend charakterisieren. Etwa
1780 ist ein aus acht einseitig gedruckten und mit 8 Bildern
geschmücktes Volksbuch erschienen, das ich einmal zu Gesicht
bekam. Es führt den Titel: „Die Kaufmannsfrau und der
Kommis.** Die Überschriften der Bilder schildern den derben
Inhalt kurz : „Von Weiberwinkelzügen und Bankerottpapieren ;
die Hausfrau verliebt sich in den Kommis ; der Mann wird durch
Vorspiegelungen getäuscht, in eine Falle gelockt und vom
Kommis erschossen; über Unterhaltungen und allerlei List; die
Frau führt jetzt auch den Kommis an und jagt ihn in Schrecken ;
die listige Frau steckt den Kommis in einen Schrank und ist
einem anderen Mann zu willen; dann befreit die Frau den
Kommis, macht ihm Schrecken, indem sie ihm den Tod
wünscht, und beschwichtigt ihn durch Liebesbezeigung ;
Schlußbild: die listige Frau heiratet den Kommis.**
Katharina II. selbst gab Stoff genug zu erotischen und
obszönen Karikaturen. Auch die Ausländer bemächtigten sich
natürlich der Figur der Zarin für satirische Werke und Zeich-
nungen. Der deutsche Vielschreiber Albrecht veröffentlichte
eine ganze Reihe von Schlüsselromanen gegen Katharina, ihren
— 587 —
Hof und ihren Sohn: „Pansalvin, Fürst der Finsternis (Pat-
jomkin) und seine GeHebte**; „Miranda**; „Staub der Erste,
Kayser der Unterweh/* ^) Die berühmteste europäische Karika-
tur auf Katharina II. ist diesem Kapitel beigegeben : Die Kaiserin
steht mit einem Fuße auf Warschau, mit dem anderen auf
Konstantinopel, und unter ihren weiten Röcken liegen wie
unter einem Zelt mit starren Augen und offenem Mund die
Regenten Europas, den Mittelpunkt anstaunend, den ihnen
Katharina zeigt. Jeder stößt einen passenden Ruf aus, ent-
sprechend seiner Lage und seinen Gesinnungen. Der Papst
beispielsweise sagt: „Ach Jesus, welch ein Abgrund des Ver-
derbens!" aber Poniatowski, König von Polen, ruft stolz aus:
„Auch ich habe zu seiner Vergrößerung beigetragen!" Ein
anderer in Polen hergestellter Kupferstich führt den Titel „Ka-
tharinas Mahlzeit" : Die Kaiserin sitzt an der Tafel. Von
der einen Seite reichen ihr Kosaken blutige Glieder von
Schweden, Polen und Türken dar; auf der anderen Seite liegt
in einer Reihe eine Anzahl junger Männer wie Tonnen in einem
Weinkeller, und ein altes Weib zieht aus ihren Zeugungsgliedern
durch eine handgreifliche Operation einen Saft, den sie in einen
Pokal auffängt und der Kaiserin zum Trinken hingibt. Unter
diesem Bilde stehen einige Verse: „Weil dir die Männer stets
wohl bekamen, so iß ihren Penis und trink ihren Samen!"
Der große englische Karikaturist Thomas Rowlandson hat
später Katharina II. zum Gegenstand eines nicht minder obszönen
Bildes gemacht: „The Empress of Russia receiving her brave
guards"; die Kaiserin lehnt sich gänzlich aufgedeckt an ein
Sofa, ein Kosak bearbeitet sie; ein zweiter steht, aufgeknöpft
wartend, schon hinter dem beschäftigten Kollegen ; drei andere
trinken und onanieren. 2) Schließlich fehlt es in Petersburg
selbst nicht an Satiren und Karikaturen dieser Art. Im Kreise
der Hofgesellschaft zeigt man lachend die Zeichnung einer
jungen achtzehnjährigen Hofdame, des Fräuleins Buturlin; sie
1) Vgl. auch die von uns reproduzierten Titelbilder zu diesen Werken
im ersten Bande, S. i6.
2) Dieses rohe Bild des Meisters ist reproduziert in dem Rowlandson
Werke (Fünfzig erotische Grotesken von Thomas Rowlandson, Wien 1907,
Privatdruck).
— 588 —
stellt vor, wie Katharina sich von ihrer Hofdame, der schönen
Gräfin Bruce, verschiedene Maße anprobieren läßt. Ein anderes
Werk dieser jungen Dame zeigt Patjomkin auf einem Sofa
liegend und seine drei jungen nackten Nichten prüfend; jede
der drei Grazien weist ausdrucksvoll auf ihr Schmuckstück
hin und ist bestrebt, durch Miene und Gebärde diesem Paris
die Meinung zu suggerieren, daß sie den Preis vor den
Schwestern verdiene. Katharina erhielt Kenntnis von diesen
Zeichnungen und ließ die vielversprechende Künstlerin Vor
der ganzen Hofgesellschaft mit Ruten streichen; aber als Fräu-
lein Buturlin später Frau von Diwow geworden war und die
zarische Regierung eine Spionin in Stockholm brauchte, schickte
die Kaiserin diese ebenso freche wie lasterhafte junge Dame
als die für solche Zwecke am besten geeignete Person nach
der schwedischen Hauptstadt.
57. Sexuelles Lexikon.
Für das männliche Glied haben die Russen als populärste
Bezeichnung das ordinäre Originalwort xyii (chuj); daneben
den Ausdruck xbocti» (chwost), der eigentlich aber nur für den
Schweif des Tieres gebraucht werden soll.
Will man das Schamgefühl soweit als möglich schonen, so
sagt man wie im Deutschen: das männliche Zeugungsorgan:
/i.'bTopoÄHuii My/KCKÜi ^newh (djetorodnüy muschskij tschlen).
Die Umschreibungen sind nicht allzu häufig. Geläufig
ist das Wort Jioara (Losga, Rute) für Penis. In den Liedern
bedient man sich allerdings mancher sozusagen poetischen Frei-
heit. So spricht man von der roten Rübe, HepBOH öypaK (tscher-
won burak) in einem kleinrussischen Liede.
Im Kreise Uschitzja, Gouvernement PodoHen, singt man
ein Lied, in dem der Penis als ein ,, Unglück** bezeichnet wird;
dies geschieht hier zweifellos dem Reim zuliebe:
— 589 —
ÜToiTb ÜHJiHn HaA boaoio
3 npeBejiHKOH) 6iAOio;
flißKH KpHHrfTL: „IlHJiHn, IIiinHn!"
A bIh xyeM Tejiin, Tejiin!
Pilip steht am Bachesrand,
Hält sein Riesenunglück in der Hand;
„Pilip, Pilip!** rufen ihm die Mädchen zu,
Doch er dreht sein Glied nur in aller Ruh.
Charakteristischer und richtiger ist der Ausdruck^ Wurst,
K0Ji6aca (kolbassa); kleinrussisch KOBÖaea (kowbassa):
IniJia ÄiBKa ia apMapKy,
Ha;i; pi^KOH) cijia,
Pyi;i, H03i poacTaBiiJia
Taii aarojiocHJia:
^Hexaii noi^a BO^y iii>e,
Bo KOBÖacy iJia!"^)
Ein Mädchen geht vom Markt nach Haus
Und setzt sich an ein Flüßchen,
Sie rastet da ein wenig aus
Und öffnet ihre Füßchen:
' „Trink jetzt Wasser, lösch den Durst,
Hast gegessen eine Wurst!**
Der Vollständigkeit halber muß ich auch ein burschikoses
baltisches Studentenlied erwähnen, das den Penis als Degen
bezeichnet :
Wie ich auf einer Reise
Die Jungfernschaft verlor:
Es kroch aus dem Gehäuse
Ein Riesenkerl hervor.
Der Degen des Barbaren
War härter noch als Stein,
Bewachsen ganz mit Haaren,
Ein Beutel obendrein.
Er wollt ins Gras mich drücken,
Begann ich ein Gewein.
*) Aus dcui Orte Karabatschiii im Kreise Kadomysl, Gouvernement Kijcw.
— 590 —
Doch fing er an zu f ^
Da faßte mich Entzücken,
Da hört ich auf zu schrein.
Im allgemeinen aber umschreibt die baltische Jugend die
Dinge nicht, sondern nennt sie einfach bei ihren populären,
Namen : beispielsweise Eiersack.
Der Russe sagt für.Hode: My^o (mudo) oder auch: Zeu-
gungseier, AiTopo;^HHa aHn;H (djetorodnüja jajzy).
Di^ rein lexikalischen Ausdrücke für den weiblichen Ge-
schlechtsteil sind: A'^TopcAHHa nacTii (djetorodnüja tschasti,
Zeugungsteile) ; npoxo^t metrh (prochod matki, Mutterscheide) ;
JiOHcecHa (Loschesna, ebenfalls Mutterscheide); hhm^h (nimfy)
oder ryÖH Ä'^Topo^naro y^a SKeHCKaro (guby djetorodnawo
uda schenskawo, wörtlich: Lippen des weiblichen Zeugungs-
gliedes).
Die ordinären Ausdrücke für vulva: nnsAa (pisda) und
noij,bKa (pozjka) erfreuen sich größerer Popularität und werden
von Alt und Jung, Vornehm und Gering ohne Scheu ange-
wendet. Kleinrussisch sagt man Man^a (manda) ; berüchtigt ist
der Geschlechtsteil der Frauen von Brussylow im Gouvernement
Tschernigow; denn man beschimpft eine Frau furchtbar, wenn
man ihr zuruft: Man^a öpycimoBCbKa, Brussylowsche Vulva du!
Die Balten in Estland kennen den merkwürdigen Ausdruck :
Kutte. 1)
Die Kleinrussen haben für das Jungfernhäutchen das
hübsche Wort: öapnniHH (großrussisch ßapHinim; baryschnja,
Fräulein) und ein Lied erzählt:
Oii xoAiiJia CoiiH no paKii
BiiKyoiLTii „öaj^niuHio" co5aKJi:
„lU^o-HC H öy^y, 6i;i,Ha, poöiiTir,
HIm h 6yAy xjroiiu,iB ManiiTii?"
Ho JKypiK'H, cepu,o, BaciiJiio:
IIIivypaTJiiiy „napiiuiHro" iipiiiniiio.
EcTb y MOHo rojiKa 6e3 Byinua,
To nouinio „öapiimiiio" :^ KOKyiuKa.
*) Pctri, EhstlamI uml die Khstcn, II 90.
— 591 —
Sonja ging auf Krebsenjagd,
Hat an Böses nicht gedacht,
Als die Hunde sie gebissen,
Und das „Fräulein** ihr zerrissen:
,,Wie,** schrie sie da auf erschrocken,
„Soll ich jetzt die Burschen locken?**
Weine nicht, mein Herz, Wassili,
Da ich mir schon helfen will:
Eine Nadel ohne Öhr
Repariert mir das Malheur,
Und das „Fräulein** kriegt dann schnell
Neues Mäntelchen von Fell.
Eine merkwürdige Bezeichnung für die Vulva ist das Wort
Kyna, auch KyHKa oder KyHHii,a (kuna, kunka oder kuniza).
Dieses Wort bedeutet einen Marder. In alten Zeiten wurden
in Rußland Pelze als Geld im Verkehr genommen, Steuern
und Strafen zahlte man in Pelzen ab, und man bezeichnete die
Abgaben nach dem Namen der Gegenstände, worin sie ent-
richtet wurden, als : Ochsen, Kühe, Schafe, Füchse, Hermeline,
Wiesel, Eichhörnchen und Marder. Die Bezeichnungen
blieben, als die Abgaben nicht mehr in Pelzen, sondern in
Geld bezahlt wurden. Die Heiratsabgabe bestand in einem
schwarzen Marder i), und der Marder ist bis heute das hoch-
zeitliche Symbol der russischen Braut, wie anderwärts die
Myrte. In Volksliedern gebraucht man das Wort Marder
für den weiblichen Geschlechtsteil. In einem Liede, das im
Kreise Nowograd-Wolynskij in Wolhynien gesungen wird, schil-
dert ein Mädchen den Verlust ihres „Marders** folgender-
maßen :
Hk h öyjia rocnoja;iiim,
To AO MicTa xoAiiJia,
Ka'iana KyniiJia,
Ha ropoAi iioca;;njia,
CIm iieAiJii> iia ropo^ ho xoamjiu,
BicbMOi' iieAiJii lui ropo;^oij,L npiiiiinjia:
^) Vgl. Schmidt, das jus primae noctis nach slawischen (icschichtsquoilen
Posch 1886.
1
— 592 —
B»ce MÜi KaiaH padBUBaerbCH,
y HepBOHi HOÖiTKH ysysaeTbca!
111,0 a. öro 3a cxeöno:
To bIh Mene aa cxerHo!
JlXo a öro 3a Bepmon!
To bIh Mene 3a lyöoK!
111,0 a. 6ro 3a jiiiTKy:
To bIh Mene 3a i^Hn,i>Ky!
OH Kaiane, Ka^aiie,
3a moiK Mene Ka^aera,
B Mene KyiiKii niyKaem?
fl ÄO MicTa xoÄHJia,
Cbok) KyHKy sryönjia,
A nonoBUH imoB,
MoH) KyHKy 3naMinoB!
Als ich einmal Muße hatt,
Ging hinein ich in die Stadt,
Kaufte einen schönen Kohl,
Setzte ihn in meinen Garten.
Sieben Wochen harrt ich wohl.
Länger wollt ich nicht mehr warten;
In der achten endlich ging
Ich hinaus zu diesem Ding,
Und zu meiner Freud' ich sah :
Ganz entwickelt stand er da.
Griff ihn also an am Stengel :
Hielt am Fuße mich der Bengel!
Packte ihn an seiner Spitze:
Griff er frech nach meiner Ritze!
Kohl, o Kohl, sei nicht so dumm,
Sag, was rollst du mich herum?
Suchst du denn, mein lieber Kohl,
Meinen Marder bei mir wohl?
Ach, den Marder hat dein MädchcMi
Doch verloren in dem Städtchen.
Hinter mir des Popen Sohn
Ging und fand den Marder schon.
7
— 593 —
Für Hurerei haben die Prostituierten den simplen Aus-
druck ryjiHTb (guljat, Spazierengehen, bummeln). In den Ge-
setzen kommt in älterer Zeit das Wort HenoTpeßctBO (nepo-
trebstwo) vor; HenoTpeÖHbiii (nepotrebnüy) bedeutet ebenso-
wohl unnütz als liederlich. Die geläufigsten Bezeichnungen
einer Hure sind: 6naji,h (bljadj) und Kypsa (kurwa). Als
Schimpfworte gebraucht man hauptsächlich das letztere und
die Ableitungen: cKyjiBHu chh (skurwij ssyn, kleinrussisch:
Hurensohn) und Rypsajib (kurwalj , kleinrussisch Hurenkerl).
Im kleinrussischen hat man für Hure noch die Worte: niJiöii-
Apa (schljondra) und niJiioxa (schljucha); ein Bastard heißt:
öaöcTpiOK (bajstruk). Weitere großrussische Ausdrücke sind:
ÖJiyAOA'bii (bludodej , Hurer); 6jiyA0ÄMHHn;a (bludodejniza,
Hure); ßjiyAHTb (bluditj, huren, herumschweifen): ßjiyAJiii-
BOCTb (bludliwostj , Hurerei, Unzucht); öjijjiiimiiufi (bludi-
lischtsche, Hurenhaus).
MyH{ejiK)6Hu,a (muscheljubiza) ist eine Frau, die ihren
Mann liebt ; aber MyaceiiencTOBCKaii (muscheneistowskaja)
eine mannstolle Frau. HCeHOJHoÖJiBuü (schenoljubiwüy) ist ein
Mann, der den Frauen allzu ergeben ist.
MtenmiiHa (schenschtschina) heißt die Frau, und von
diesem Worte stammt HcenonencTOBCTBO (schenoneistowstwo,
Unkeuschheit).
Für Päderastie gibt es keine Übersetzung des Wortes
Knabenschändung, sondern bloß den Ausdruck: Mannesbei-
schlaf, MyjKejioKCTBo (muscheloschstwo) ; ein Knabenschänder
heißt My)Kejio}Keii,i» (muscheloschez).
Schon die älteren Reisenden staunten ob der Ungeniert-
heit, mit der in Rußland die vornehmsten und gebildetsten
Leute in ihren Konversationen die ordinärsten Worte aus dem
sexuellen Lexikon gebrauchen. Namentlich das Wort, mit
dem man den Coitus (jebitj) bezeichnet, erregt nicht den ge-
ringsten Anstoß, und Kaiser wie Bauer, Großfürstin wie Dirne
wenden es bei jeder Angelegenheit an. „Selten oder fast
niemahls hört man sie scherzen,** schrieb Peter von Haven von
den Russen 1), „schelten aber desto öfter, und sie bedienen
*) Nachrichten von Rußland. Bei Büsching X 346.
Stern, Geschichte der OfTentl. Sittlichkeit iu Rußland. ** 38
— 594 —
sich des Scheltworts Jebjonomat fast bei jedem anderen Worte,
das sie sagen."
Die Großrussen sind in dieser Beziehung tonangebend.
Der geläufigste Ausdruck ist dieser: E6h tboio Maxb! Jebi
twoju matj, ich koitiere deine Mutter!
Daneben gibt es folgende Variationen: Deine Mutter ist
zu koitierenl ich habe deine Mutter koitiert! ich habe deine
Mutter durch und durch koitiert (pacnpo66'b tboio MaTb) !
Man hat für diese Art Flüche eine besondere Redewen-
dung: pyraTbca no METepHOMy oder pyraHB orh ynoMHiiOBC-
HieMi» poAHTeJiefi, beleidigen durch die Erwähnung der Mutter
oder der Eltern.
Ähnlich fluchen die Kleinrussen; diese nennen aber solche
Art MocKOBCKaa jiaÜKa, Moskauer Flüche:
I6aB a TBOH) Maxip, ich habe deine Mutter koitiert! oder:
ich koitiere deine Hundemutter! gehe zu deiner koitierten
Mutter !
Originelle kleinrussische Flüche sind:
Maxepi TBoiä 6ic, den Teufel — deiner Mutter 1 Oder :
Ein Brunnen voll Teufel deiner Mutter!
Marepi tboIü cto xyiB, hundert Chujs deiner Mutter! Oder
gar: Hundert gabelförmig zerteilte und zerbrochene Chujs dei-
ner Mutter! ein Stück Schweinsbauchfell in die Gurgel deiner
Mutter! ein Hundeschwanz deiner Mutter! drei Pisdas deiner
Mutter !
Auch anders kann man die Mutter des Gegners beschimpfen.
Man flucht: Hacepy a tboiü MaTopi, ich werde auf deine
Mutter seh . . ßen ! Ich werde deiner Mutter einen Topf Dreck
seh . . ßen ! ich werde deiner Mutter die Osterhaube voll-
sch . . ßen !
Und wenn man schon gar gewaltig losdonnert, dann schreit
man : iiacepy tboiü MaToj)i noBHy nii3;;y, ich seh . . ße deiner
Mutter eine volle Pisdal
Auch wenn sie die Mutter aus dem Spiele lassen, können
Großrussen wie Kleinrussen ihrem Zorn und ihrer Wut durch
mancherlei kräftige Flüche Ablenkung verschaffen :
Xyü Teßi wh poT^h, nna^y na saKycKy, sagen die Groß-
russen : der Chuj in deinen Mund, und die Pisda als Vorspeise I
— 595 —
Die Klcinrussen haben noch folgende Ausrufe und
Flüche 1):
OAtißiiCb HaTpiieaJKiii! Koitiere dich selbst drei Ssaschenj
(Klafter) von mir entfernt!
Hä"? Hoxaii To6i caji;i,aTKu ja;aAyT'i>, laß es dir von den
Soldatenweibern geben !
Baoa^iii xyä, Weiberschvvanz I Xyii rajiaiiCLKiiii , hol-
liindischer Chuj !
XyoBa roJiOBa, Schwanzkopf!
Jaii k xyHM, gehe zu den Schwänzen!
IIu3A0B0iiK)HKa, Stinkpisda!
B.SAyH oder KiicjioßsAiü, Stinker!
Bo^aö To6i oni 3 Jio6a bh'iöjio, gebe Gott, daß man dir
die Augen aus ihren Höhlen hcrauskoitiere !
BuiiepAOK, Furz-Geborener!
roBHOCGÖane, roBHOCBHHfl^ie; Hundedreck, Schweinsdreck!
Iloi^ijiyä Mene b xyii, Ta 6ijiLnie iic TOJiKyii, küß mir
den Chuj und schweig!
Coöa^iiiii Clin, auch ey^iii cim: Hundesohn!
111,06 Teoe npann,! Hanajiii, daß dich die französische Krank- .
heit überfalle!
Selbstverständlich fehlen auch die Schimpfwörter nicht,
die den Gegner mit dem Hintern in nähere Berührung brin-
gen. Auch hier gibt es reizende Variationen:
Tau y epaKy oder i^ii co6i b rya^Ho: geh in den A.!
ist ja eine ziemUch harmlose} Aufforderung ebenso wie: iio-
cBiiCTii Mciii oder noii,ijiyH :Meno b cj)aKy, pfeife mir in den
A., oder: küsse mich im A. I Man sucht also nach Kompli-
kationen: rysAHO cBimme, Schweinsa.; KoßHJiana cpaKa,
Stutena. ! Das Schrecklichste glaubt man gesagt zu haben
mit dem Ausruf: öo^aä To6e skh^h b cpaKy n;ijiyBajiii, gebe
Gott, daß dich die Juden im A. küssen! Oder gar: non.i-
jiyii mup,Si b cpaKy, küsse du den Juden im A.l
Und schließlich wendet man sich von dem Beschimpften
fort mit dem verächtlichen Ausruf: a 3 T06010 M cpaxL niKOJiH
HO nüi^y, ich gehe mit dir nicht einmal seh . . ßen !
^) KQVJtzndia, V 151.
18*
— 596 —
Die nichtrussischen Völker in Rußland haben von den
Russen nichts anderes zu lernen gewußt, als diese gemeinen
Flüche. „Man muß sich wundern/* heißt es in einer Schil-
derung der Kalmücken 1), „wenn selbst fürstliche Frauen Aus-
drücke im Munde führen, welche in keinen gesitteten Cirkeln
erlaubt seyn können. Die gemeinsten Schimpfwörter des rus-
sischen Volks hört man von Fürstentöchtern, obgleich die Be-
deutung solcher Wörter unter den Kalmüken kein Geheim-
niß ist, nicht bloß im Zorn, sondern im gewöhnlichen Um-
gange vorbringen."
Die Polen haben nicht erst wie die Kalmücken bei den
Russen eine Anleihe zu machen gebraucht; sie haben selbst
ganz gute derbe Flüche:
Jebal ciq pies, daß der Hund dich koitiere!
Psie nasienie, Hundesamen du!
Im Jargon der Juden in der Ukraine endlich findet man
Anklänge an die Flüche der Großrussen, der Kleinrussen und
der Polen:
Ein Bastard heißt Baistrjuk (genau wie bei den Klcinrussen)
oder Mamser; Hure: Hultai, Hultaike oder Kurwe (wie bei
den Großrussen). Die Mutter wird von den Juden nicht be-
schimpft, dagegen hört man oft : Ich kak af dajn Taten !
Die Essenz aller saftigen Flüche hat ein großrussischer
Volksdichter in einem hübsch gereimten Gedichte gegeben,
das den würdigen Abschluß dieses Kapitels ermöglicht.
Ax'h Tl.I, MUTh TBOIO CTH,
Ha noiioBoü ivJi-hTii —
Taici> HTOÖi. KJi'feTb iipoBajiuJiacb
H MaTi» TJJOH xyeMii iioAaBUJiacij!
OTi;a — c'h KOnu,a,
CocTpy — B'b nu^Ay»
(ryBcpiiaHTKy — na HanauKy),
TeÖH, cyivinia CHiia, bi» cpaKy.
*) Bergmanns Nomadische Streifereien, II 289.
— 597 —
Mepsjiyio co6aKy Teßii wh cpaKy,
Hto6i» OHa TaMT) Taajia, Jiaajia
BbiJia, pHJia, CKpeßjiacb, eÖJiacL
II Bueßjia Teöji cyKima CHHa
HepesTj nyirij, bT) KO-Thno, cb BLiBepTi;oMT>!
Daß man deine Mutter, Hundebube,
Koitiere in des Popen Stube I
Daß die Stube ganz in Trümmer ginge!
Und daß deine Mutter quer den Chuj verschlinge!
Auch dein Vater kriege dies da
Was der Pisda
Deiner Schwester wird beschert
(Auch der Gouvernante werd es — doch verkehrt),
Dir du Hündin-Sohn werd', wies gebührt,
Ein erfrorner Hund hinten eingeführt,
Daß er im Gedärme
Drinnen sich erwärme,
Dir im Leibe taue,
Um sich beiße, schlage, haue;
Drinnen koitier' das Vieh
Dich vom Nabel bis zum Knie!
58. Obszöne Sprichwörter.
Die Derbheit der russischen Redeweise kommt besonders
in einigen Sprichwörtern zur Geltung, die ihre Bilder teils
dem sexuellen Leben, teils der Skatologie entnehmen.
Das einfache : entweder — oder, übersetzt man mit : iiJin
xyii iio nojiaM'B, hjih uusj^a b'i> Apeöeani; entweder der
Chuj wird in die Hälfte oder die Pisda ganz in Stücke ge-
rissen.
Wenn jemand eine hohe Ordensauszeichnung erhält und
keine andere Verdienste hat, als seine hübsche und gefällige
Frau, so heißt es: nojiy^iiJi7> .iBto^y ^lepea-B JKeHiniy nii:vT,y;
er bekam einen Stern durch die Pisda seiner Frau.
— 598 —
Einen steifen Menschen, der sich immer geziert gerade
hält, nennt man: ctoiitb Kairb xyii na CBaÄtö'h; er steht wie
der Chuj bei der Hochzeit. (Ein polnisches Sprichwort lautet
ebenfalls wörtlich so: stoi jak chuj na weselu.)
Eine merkwürdige Übersetzung ist jene für das franzö-
sische chacun ä son gout: y BOiKaro cüoii BKyeT>, CKa3aji'i>
<J)paHDi;y 3'h , Bi>ief)mii KopoBy jyl uoa^pK); jeder nach seinem
Geschmack, sagte der Franzose, als er einer Kuh in die Nasen-
löcher hineinarbeitete.
Ob man mit Nachfolgendem eine schlechte Gewohnheit
geißeln oder eine gute als mustergiltig loben will, bleibe dahin-
gestellt: 6aTHHa npHBhiHKa waMy 3a nii3Ay A^pJKaTb; es ist des
Vaters Art, die Mama an der Vulva zu halten.
Wenn jemand sich an eine schwere Arbeit macht, dann
sagt er:
BjiarocjiOBU OTeivb n MaTb,
;i,Ba;i;u,aTyR) u.'hjiKy jroMaTh!
Vater, Mutter segnet mich,
Die zwanzigste Jungfer entjungfre ich!
Um dem sich selbst Rühmenden einen Dämpfer auf-
zusetzen und ihm zu zeigen, daß man seine Arbeit nicht für
gar zu schwierig hält, entgegnet man :
.yu, cyii,
CTo;i,BaAU,iiTbiii xyli!
Stoß hinein, stoß hinein, hui,
Der hundertundzwanzigste Chuj !
Ein Sprichwort lobt den Junggesellenstand :
HaThMi> }KennTbCH,
Koivi,a 'lyjKan jioHcnTCii?!
Heiraten — weswegen,
Solange fremde Frauen sich niederlegen ? !
— 599 —
Ein anderes Sprichwort verteidigt die eheliche Treue:
BoraxoMy BopoBaTi>,
aceiiaTOMy Cjin^oBaTi,.
Der Reiche soll um Geld nicht raufen,
Der Eh'mann nicht zu Huren laufen.
Wenn man aber jemandem, der über Familiensorgen klagt,
nicht helfen will, sagt man ihm:
OT^aii }KeHy A^A'h,
a caM'b CTynaii Kh ^Jin^n.
Zum Onkel *das Weib gib,
Selbst nimm mit Huren vorlieb.
Bietet sich jemand zur Arbeit an und wird nicht angenom-
men, so weist man ihn ab mit den Worten: roA'i> njioxi»,
HHHLHO iie narayTi> xy>iMH, iia to coxh eexL; ein schlechtes
Jahr, heuer pflügt man nicht mit Chujs, sondern mit pflügen.
Wenn die Geschäfte schlecht gehen, klagt man: kt*
HanieMy Cepery ne KopaöjiH ^a ßapKii, a Bce xyii a^ najiKu;
nicht Schiffe und Barken landen an unserem Ufer, sondern
bloß Chujs und Stöcke.
Wenn jemand eine Sache auf sich lädt, der er nicht
gewachsen ist, warnt man ihn: Cpajicfl-6'i> tu 3a MarKoe ji^e-
peBO, aa 0Tu,0BCKiii xyii; nimm doch weicheres Holz, den
väterlichen Chiij.
Zeigt man jemandem etwas, was er nicht zu enträtseln
weiß, so sagt der zu Rat gezogene: BiiHcy nii3Ay p^Hcy, Aa
lio 3Haio Kairr> iiaaBaTt; ich sehe eine rote Pisda, aber ich
weiß nicht, wie man das nennt.
V^on einem Dummkopf heißt es:
rjiym>
Kam. 6a6iii nym>
Dumm
Wie Weibernabel.
Man sagt dem Volke: Trunksucht und Hurerei seien
Laster. Das Volk aber meint : HopT'B iio BLeTi», ho eöeT'b, a
— 600 —
Bce Bi> a^y HCHBeTi»; der Teufel trinkt nicht, koitiert nicht,
doch muß er in der Hölle leben.
Die Geschlechtsliebe ist das Höchste : hto aa KyMa, kojih
noAi> KyMOMT) ne GiiJia! was ist die Base wert, die nicht unter
dem Vetter warl
Ein Schwiegermutter - Sprichwort ä la russe: xopouian
Teii;a iia ceÖH shth BCTaiij,HTi> ; eine gute Schwiegermutter
zieht den Schwiegersohn auf sich hinauf.
Ein kleinrussisches Sprichwort sagt, daß man zu nichts
gezwungen werden könne : CyiKa ne exo^e, KoßejiB ne ccKone;
wenn die Hündin nicht will, kann der Hund nicht auf sie.
Dem Hundeleben ist auch ein anderes kleinrussisches Bild
entnommen : a ero ne i6yTi>, TaK Bin iiexafi i xBOCxa iie ni^-
iiiMa; und wenn man ihn nicht koitiert, braucht er den Schweif
nicht aufzuheben.
Man denkt eben realistisch; die Hauptsache ist der Er-
folg, der Gewinn, das Vergnügen; auf die Ehre verzichtet man
und sagt daher (kleinrussisch) : II,e hg tbog ai^o, xo^ i noiöae,
aöii 3 C06010 ne y3HB! Wenn er mich nur koitiert, so ist es
egal, ob er mich nach Hause nimmt oder nicht!
59. Erotische und obszöne Lieder.
Die Freiheit, die die russischen Eltern den Kindern ein-
räumen, wird in charakteristischer Weise in einem ganz kurzen
kleinrussischen Licdchcn, das man im Gouvernement Tscher-
nigow singt, präzisiert :
,,()ii MaTii, MaTH, MaTH, MaTii!
3 icJM vKe n Gyji^y cnaTn?"
— „3 X.TIOT!U,}IMU, MOJI ;;oni(),
)fl''A< To6i ii iie Goponio!^
,,Oj Mutter, Mutter, Mutter mein!
Bei wem werd heute Nacht ich sein ?"
,J)u wirst, mein Kind, bei Burschen liegen.
Ich wehre dir nicht das Vergnügen!"
- 601 —
Aus einem anderen kurzen Gedichtchen können wir er-
fahren, in welch einfacher Weise die Kosaken im Gebiete des
Schwarzen Meeres ihren Flirt betreiben:
IIpHHinoB Kjiohko
ni;^ BiKoneHKO
Tau KJiH^e! . . .
IliÄHHB aanacKy
Bhhhhb KOBÖacKy
TaM TH^e! . . .
Klotschko kommt zum Fenster hier,
Klotschko schaut herein zur Tür,
Schreit: Du, du! . . .
Hat die Hosen aufgemacht.
Hat die Wurst hervorgebracht,
Und stößt zu! . . .
Eine überraschend große Anzahl der Volkslieder spottet
über die Unsittlichkeit des Klerus. Nicht bloß die niedere
Geistlichkeit, die Popen, sondern auch die Schwarzen, die
Mönche und Nonnen, kommen da schlecht weg. Eine köst-
liche Satire ist beispielsweise dieses Zwiegespräch zwischen
dem Metropoliten und einer Nonne:
„111,0 TH Maem ni^ HaMiicTOM,
HepHiii;e-cecTpHn;e,
HepnenbKaK, M0Ji0Aeiir>Kaii,
HepHyine^KO, moh Ajuienmo?^
— „niiiio Maio, OT^e ^MHTpie,
Apxiepeio, Bna^r^HKO,
MHTponojiHTe ! . ."
„A usfi Maem iiHHcie inHi,
HepHHu,e-cecTpiin;e? ..."
— „1J|hII,IO MaK), OTHO J],MHTpie"
„A ii;o Maem imjKHe i;Hu;i,
^Iepniiu,e-cocTpHn;e? . . ."
— „riyna Maio, otho Jl^MiiTpio . . .''
- 604 -
Man läßt Mönche und Nonnen die heiligsten Dinge des
Glaubens verhöhnen:
y KhIbI Ha Ä3B0HHI^i
HepHGi^B jiesKHTL Ha HopHHi;i:
Ta TaK HepHeii;b cnacaeTboi,
A» Ä3BiHHivi xHTaerc«.
— IU,o TH poönm, ^BH^e?
— „CnacaiocH cepDüe:
CnoBi^aK), npH^au^aK),
B cepeAHHy rpixH 3anym,aK)!"
Zu Kijew auf dem Glockenturm
Da läutet eine Glocke Sturm :
Der Mönch liegt auf der Nonne
Und zieht den Strang mit Wonne.
O Mönch, o Mönch, was machst du da?
„Ich beichte meine Sünden ja.
Kommuniziere munter,
Stoß alles tief hinunter I"
Die Bauernweiber haben es nicht gern mit den Popen und
Mönchen zu tun; wenigstens behaupten die Mädchen im Gou-
vernement Tschernigow in einem Liede, daß sie der ganzen
Klerisei einen einzigen weltlichen Studenten vorziehen :
Ißjio Mene cto noi^iß,
JI,nHK0HiB TpiiCTa —
Oahh THJihKi ;i;oroÄHB:
13o TG 6yB lopiiCTa!
Wohl hundert Popen trennte« mich
Und auch dreihundert Küster —
Doch keiner ach befriedigt mich
So gut wie ein Juristcl
Neben dem Klerus sind es die alten Leute, die man ver-
spottet, indem man sie als Sodomiten bezeichnet. Dem Klein-
- 605 —
russen namentlich, der von gesunder Sinnlichkeit erfüllt ist,
erscheint die Sodomie, der Coitus in anum als etwas Verächt-
liches :
Ha ropoAi Gyanna,
lÜA ropoK) HMKa,
A ÄiÄ 6a6y
l6e 33afl;y,
A» ryßaMH njiHMKa!
Im Garten ein Holunderbaum,
Am Hügel ist ein hohler Raum,
Der Greisin tut's der Greis
Von hinten in den Steiß,
Und mit den Lippen klatscht er!
Bei den Tänzen und Unterhaltungen singt man Lieder im
Chore. Der Vorsänger intoniert eine Melodie und improvisiert
Zweizeiler, und der Chor wiederholt immer nur den Refrain.
In diesen improvisierten Liedern verspottet man häufig auch
die Sittenlosigkeit der gnädigen Herrin oder man erteilt den
Töchtern und Söhnen des Volkes goldene Ratschläge. Hier
ein Beispiel, wie der Vorsänger in seinen Einfällen die Herrin
schildert :
noiujia öapuHH 3a KBacoMi»,
O'iyTHjiacb noAt PepfiacoMh!
BapLiHH, öapMHH,
Cy^apHiiH, GapLiHa!
A öapuHfl noÄ'i> 3a6opo\ri>
HoeßjiacH cb nepeüopoMt!
BapuHfl . . .
A Ha GapHH-b nenei^'b,
E6eT7> 6apMHio Kyneut!
BapHHH . . .
A Ha ßapUHi KOKOHIHHITh,
ye6'B 6apHirio canoacHHirb!
BapuH}! . . .
A öapbiua niHTa-GpuTa,
Ha 6a3ap'b xyeM'b ÖHTa!
BapHHH! . . .
— 606 --
Ging die Gnädige um Kwaß,
Legte sich auf sie Gerwass!
Gnädige, o Gnädige,
O du Herrin, Gnädige!
Sitzt die Gnädige am Zaun,
Kann sie jeder haben, traun!
Gnädige, o Gnädige . . .
Trägt die Gnädige ein Häubchen,
Trennt der Kaufmann gleich das Täubchcn!
Gnädige, o Gnädige . . .
Hat Madamchen den Kokoschnik^),
Dann bekommt sie der Saposchnik ^) !
Gnädige, o Gnädige . . .
Gnädige ist wie zerbrochen.
Ward am Markte ganz zerstochen.
Gnädige, o Gnädige . . .
Eine besondere Art Couplets kennen die großrussischen
Fabrikarbeiter und Eisenbahnarbeiter in Woronesch. Es sind
Zweizeiler, und nach jedem Couplet singt der Chor: Icha--
cha cha — choschki, deshalb nennt man diese Liedchen Icha-
choschki (nxaxomKu). Merkwürdigerweise führen sie auch den
Titel CTpa^aniH (Stradanija, Leiden; wohl richtiger: Marterln,
Denkzeichen) :
I^-bjiOBaiibo, MUJioBaiibo,
llpoMesKL uori, u^^orb iiHxaHbe!
Zärtlichkeiten, Küssen, Kosen,
Und dazu ein Beinestoßen!
Ha iieii nyjiim iiojiocaTbi,
ITo KOJiinii oooccaTbi!
Schön gestreifte Strümpfe, sieh.
Doch dabei bepißt das Knie.
^) Der Kopfputz der russischen Frau.
2) Der Schuster.
- 607 —
Hü OÖlITCCb Ä'feßKH CTj 3KapOM'I> —
IIponaAOT'i> jik)6obi> aa^apoM'B!
Mädchen, koiticret kalt —
Denn die Lieb wird nicht bezahlt!
KsiWh Bhl HC ßjiHÄyÜTe,
A 6ojii>hhi;h ho MUHyÜTü!
Ob huren oder nicht: egal,
Man kommt zum Schluß ins Hospital!
HacTOTy ;i,'feBKa ÖJiioJia,
nn3;ty BtHiiKOMt Mejia!
Das Mädchen ist stets rein gewesen,
Sie kehrt ihr Ding mit einem Besen!
CiiAHTi) Ä'I^BKa hoäIj JioanHoii
Ofe^ierb UH3Ay xBopocTHHoii!
Bei einer Weide sitzt die Gute
Und peitscht die Pisda mit der Rute!
Ali, MaMama, BcnaKoii AOHKy —
OTHycTH ryjiHTB Ha iio^iKy!
Mütterchen, ich bitt mir aus —
Laß mich jede Nacht vom Haus!
Ha Bopouo/KCKo\ri> BOK^ajili
HpoAaiOTi» A'i^BOK'h BoaaMu.
In Woronesch am Perron
Kauft man Mädchen per Waggon.
Bpoiuy Mip'b, noii;ty bti MonauiKu,
By;;y eTbCÄ bo Bci JianiKn!
Ich laß die Welt und geh ins Kloster
Und koitier beim Pater noster.
Zum Schlüsse einige originelle kleine polnische Lieder
aus Russisch-Polen:
1
- 608 —
Siuchaj, Ka^ko, cy ty spis?
daj mi tego, cym ty scys.
— Nie dla ciebie ja to mam;
dam ci tego, cym ja sram.
Schläfst du, Kathi ? du vergissest :
Gib mir das, womit du p . ssest. —
„Nicht umsonst dein Maul zerreiße;
Geb's nur dem, mit dem ich seh . . ße.**
Moja Maryö, daj mi psiochy,
Dam ci welny na poficochy;
Twoi psiochy nie ubefidzie,
A w poncochach ciepto beAdzie.
Mariechen, gib die Pizka mir,
Ich gebe Strümpfe dir dafür;
Die Pizka wird dadurch nicht arm.
Die Strümpfe aber halten warm.
Odradajca, odradajca —
Urwaly mi dziwki jajca.
Jagem zacun na nich ksycyc-,
Musialy mi nazod psysyc.
Odradajza, odradajza —
Mir zerriß das Mädchenpack
Meinen armen Eiersack.
Nun müßt ihr, ihr Ungeheuer,
Mir zusammennähn die Eier!
Chociazem ja katolicka,
Moja picka heretycka:
Cy to piontek, cy wilija,
Zre kielbase kanalija.
Ich bin zwar eine Katholikin,
Mein Ding ist ketzerisch indessen,
Denn selbst am Freitag, die Kanaille,
Verlangt sie eine Wurst zu fressen.
- 609 —
ProsiJ Jasio Kasie, azeby mu data,
A ona mu na to, ze miesioncke miaia.
„Ctery lata mija, jak dziewcenta hipie,
A jescem nie slysat o miesioncu w dupie.**
Jasjo bittet Kathi, doch sie hat die Regel,
Kann es nicht gewähren; sagt darauf der Flegel:
„Koitier vier Jahre schon; hörte nie von einer Mode,
Daß ein Weib im H gleichfalls kriege die Periode ?**
Siadta Ka^ka nad strumykiem
I nazwala Jaöka bykiem.
Jasiek sobie r6g przyprawil
Jak j^ ub6d, tak rozkrwawil
Ka^ka place i narzeka; —
„Nie nazywaj bykiem cleka?**
Die Kathi sitzt am Bache hier
Und schimpft den Jaschka lachend: Stier!
Doch Jaschka nimmt heraus sein Hörn
Und sticht die Kathi fest von vorn.
Als Kathi weint, da sagt er ihr:
„Was nennst du einen Menschen: Stier?"
60. Erotische und obszöne Erzählungen.
Die russischen erotischen und obszönen Erzählungen
wählen gern die Form einer Fabel. Beispielsweise „Die Ge-
schichte vom Muschik, dem Bären, dem Fuchs und der Bremse,**
deren Thema allerdings nicht russischen Ursprungs ist :
Der Muschik wußte nicht, wie er seinen Feinden entrinnen
sollte. Da kam ihm plötzlich eine Idee. Er packte sein Weib
und warf es auf die Erde. Die Frau wollte sich wehren, er
aber sagte: „Schweig I** und ohne zu zögern, riß er ihr den
Rock und das Hemd herunter und hob ihre Füße so hoch
hinauf als nur möglich. Der Bär sah, daß der Muschik ein
Weib mißhandelte. „Nein, Fuchs,** sagte er, „ich würde mich
Stern, Geschichte der Oflfentl. Sittlichkeit ia Rufiland. ** 39
— 610 —
niemals dem Menschen nähern.** — „Weshalb denn nicht?**
— „Aber schaut doch, wie er ein Weib mißhandelt.** Der Fuchs
sah hin und sagte: „Du hast recht. Der Mensch bricht je-
mandem die Beine.'* Nun sah auch die Bremse hin und rief
aus: „Das ist noch nicht alles. Er steckt auch einen Stab
jemandem in den H hinein.** Die Tiere erkannten nun,
daß ihnen von dem Menschen Gefahr drohte, und entflohen
in den Wald.
In einem gewissen Reiche — erzählt eine andere Geschichte
— lebte ein Edelmann, der eine außergewöhnlich schöne
Tochter hatte. Eines Tages ging das Fräulein spazieren, und
der Lakai, der sie begleitete, dachte bei sich: „Welch ein
Bissen! O könnte ich sie nur einmal trennen, dann möchte
ich gern sterben!** Und dieser Gedanke beschäftigte ihn so,
daß er unwillkürlich laut sagte: „O Fräulein, wenn ich Sie
nur einmal grüßen dürfte nach Art der Hunde !** Das Mädchen
hörte die Worte, und als sie wieder zu Hause waren, fragte
sie den Diener: „Was hast du damit gemeint? Tue nun
sofort, was du gewünscht hast; oder ich erzähle alles dem
Papa!** Und mit diesen Worten hob das Mädchen ihre Röcke
auf, kniete nieder und sagte dem Bedienten : „So, nun schnüffle
wie die Hunde schnüffeln! So! Nun lecke wie die Hunde
lecken!'* Er gehorchte. „Gut,** sagte sie darauf, „nun laufe
um mich herum wie die Hunde laufen.*' Er lief. „Gut," sagte
sie endlich, „jetzt gehe schlafen, aber morgen abend komme
wieder!** Am andern Abend wiederholte sich dasselbe Spiel.
Endlich aber hatte das Fräulein Mitleid mit dem Burschen und
legte sich mit dem Rücken aufs Bett und gewährte ihm. Nach-
dem der Lakai sein Vergnügen genossen hatte, sagte er zu sich :
„Das macht nichts ! Ich habe sie im H lecken müssen
-- es sei! Aber ich habe doch erreicht, was ich wollte!**
Ein beliebtes Thema ist der Wettstreit zwischen dem After
und der Pisda. Die Pisda sagte zum After: „Du tätest klug
zu schweigen! Ich erhalte allnächtlich hohen Besuch, du aber
tust während dieser Zeit nichts anderes als stinken!" — „Ach
du miserable Pisda," brauste der After auf, ,,wenn man dich
koitiert, fließt aller Speichel über mich; und da soll ich noch
schweigen !"
- 611 —
Ein Floh und eine Laus begegneten einander. „Wohin
gehst du?** — „Ich will die Nacht in der Pisda zubringen.**
— „Und ich in dem After.** — Am andern Morgen kamen
sie wieder zusammen. „Guten Morgen,** sagte der Floh, „wie
hast du geschlafen?** — „Sprich mir nicht von dieser Nacht.
Ich habe furchtbare Angst ausgestanden! Eine Art Kahlkopf
drang ein und trieb mich immer tiefer hinein, ich sprang ver-
zweifelt hin und her, endlich erbrach er sich aber und zog
sich zurück.** — „Nun wohl, meine liebe Gevatterin, auch
an meinem Nachtlogis waren zwei Gäste, die immerfort an-
schlugen, aber schließlich gingen auch sie fort.**
Diese geheimen Erzählungen haben alle einen Zug ins
Skatologische. Weiter ist an ihnen charakteristisch, daß den
Mönchen und Popen alles mögliche — das Schlechteste und
das Dümmste — zugemutet wird. „Der Mönch und die Stute**
zeigt uns den Geistlichen als Sodomiten : Im Hofe eines Muschik
befand sich eine ganze Mönchsbande. Einer der Mönche sagte
zu den anderen: „Seht nur, seht, diese graue Stute ist ganz
verliebt in mich! Wollt ihr, daß ich sie vor unserer ganzen
ehrenwerten Versammlung besteige?** — „Laß sehen!** —
Also ging der Mönch zur Stute und sagte zu ihr: „Guten
Morgen, geliebtes Stütchen!** — „Guten Morgen, mein Sänger,
was wünschest du?** — „Ich wollte dich fragen — ** „Schon
gut, mein Freund! Bei uns auf dem Lande ist es Sitte, daß
ein Bursche, der um die Liebe eines Mädchens wirbt, sie durch
kleine Geschenke zu gewinnen trachtet, Nüsse oder Lecker-
bissen. Aber was gibst du mir?** — ,,Sage, was du willst.** —
., Wohlan, bringe mir einen Tschetwerik Hafer; dann wollen
wir der Wollust fröhnen.** Der Mönch brachte bald den
Hafer und brannte vor Ungeduld. „Wohlan,** sagte die Stute,
„ich will dich nicht länger hinhalten. Ich kann doch nicht
mein Leben lang eine keusche Jungfer bleiben, und überdies
ist die Liebe eines Patrons von deinem Schlage nicht ent-
ehrend. Steige also auf meinen Hintern hinauf und warte,
bis ich den Schweif aufhebe.** Die Stute begann den Hafer
zu fressen, und der Mönch plazierte sein Instrument vor . ihre
Öffnung. Die anderen Mönche aber harrten gespannt der
Dinge, die da kommen würden. Die Stute fraß und fraß und
39*
— 612 —
fraß. Plötzlich hob sie den Schweif auf und flugs stieß der
Pope auch schon ins Loch hinein. Die Stute preßte ihn aber
mit dem Schweif so fest, daß sich der Arme sehr übel befand.
Nun begann die Stute auch zu furzen. Das war dem Mönch
denn doch zu viel. Er zog sich schleunig zurück und sagte
zu den Kameraden: „Na, seht ihr, wie tüchtig ich beschlagen
bin ! Die Stute hat mich nicht auszuhalten vermocht, sie mußte
furzen I**
Sodomie und Dummheit des Popen schildert die „Ge-
schichte von dem Popen, der ein Kalb zur Welt bringt** : Ein
Popenpaar hatte als Arbeiter einen Kosaken namens Wanka.
Die Popin war so geizig, daß der arme Kosak kein gutes Leben
hatte. Eines Tages ging der Pope mit seinem Arbeiter auf
ein Feld, das zehn Werst vom Hause entfernt war. Sie ar-
beiteten lange tüchtig, da kam eine Herde Kühe daher. Der
Pope jagte sie mit Mühe fort und kehrte dann schweißtriefend
zum Kosaken zurück. Nach getaner Arbeit machten sie sich
auf den Heimweg, aber die Dunkelheit brach schnell herein,,
und der Pope sagte: „Wanka, ist es nicht gescheiter, im
nächsten Dorfe bei Gwosd zu übernachten. Das ist ein guter
Muschik, und sein Hof ist gedeckt.** — „Gut, Väterchen!** Man
trat also in die Isba des Gwosd ein. Der Kosak sprach sein
Gebet und sagte dem Herrn des Hauses : „Höre, Patron, wenn
wir zu Nacht essen, so sprich: Setzet euch, die ihr getauft
seid I Denn wenn du zum Popen sagst : Setze dich, geistlicher
Herr! so würdest du ihn verletzen und er würde nicht zu
Tische gehn wollen; er liebt es nicht, daß man ihn so tituliere!'*
Während dieser Zeit spannte der Pope draußen die Pferde aus.
Dann ging man zum Nachtessen. Der Muschik sprach, wie
ihm der Kosak geraten hatte. Alles setzte sich sofort zu Tische,
nur der Pope reicht; denn er erwartete eine spezielle Ein-
ladung als geistlicher Herr. Er wartete und wartete vergebens,
unterdessen wurde die Mahlzeit beendet. Da fragte der Muschik
den Popen: „Weshalb, Vater Michail, hast du dich nicht zu
uns gesetzt?'* — „Ich habe keinen Hunger,** sagte der Pope.
Man ging schlafen. Der Muschik führte seine Gäste in den
Stall, wo es wärmer war als in der Isba. In der Nacht stöhnte
der Pope vor Hunger und weckte den Kosaken. Der fand
— 613 —
etwas Nahrung und gab sie dem Popen, aber im Versehen
verschüttete er so viel, daß dem Hungrigen nicht viel übrig
blieb. Als der Pope eingeschlafen war, kalbte eine Kuh. Die
Bäuerin kam herein und legte das neugeborene Kalb an die
Seite des schlafenden Popen. In der Nacht erwachte der Pope,
als das Kalb ihn leckte. Er weckte schnell den Kosaken. „Was
wünschest du noch, Väterchen?** — „Wanka, neben mir liegt
ein Kalb; ich weiß nicht, wie es da hingekommen ist.'* —
„Nun wohl, Väterchen, du erinnerst dich, daß du gestern den
Kühen nachliefst. Da hast du jetzt gekalbt I** — „Um Gottes-
willen, Wanka, wie soll ich das vor der Popin verbergen?**
— „Gib mir dreihundert Rubel, dann will ich dafür sorgen, daß
niemand von der Sache erfährt.** Der Pope gab ihm das Geld.
„So, Väterchen, nun geh sofort heimlich nach Hause, aber laß
deine Schuhe hier, und nimm dafür meine.** So geschah es.
Kaum war der Pope fort, ging der Kosak zum Muschik und
sagte: „Ah, ihr seid Esell Ihr wißt nicht, daß euer Kalb
den Popen gefressen hat; es ist vom Popen nichts zurück-
geblieben als seine Schuhe.** Der Muschik bot dem Kosaken
dreihundert Rubel Schweigegeld. Der Kosak nahm das Geld,
stieg zu Pferde und holte den Popen ein. „Batuschka,** sagte
er, „der Muschik will mit dem Kalb zur Popin gehen und ihr
erzählen, daß du der Vater des Kalbes bist.** — „Da hast du
noch hundert Rubel,** jammerte der Pope erschrocken, „und
bringe die Sache in Ordnung.** Wanka kam nun wieder zum
Muschik und sagte: „Die Popin wird wahnsinnig werden, wenn
sie den Tod des Popen erfährt.** Der Bauer gab ihm noch
hundert Rubel. Nun kehrte Wanka in des Popen Haus zurück ;
er zog da noch manchen Rubel heraus, dann verabschiedete
er sich vom Popen und der Popin, verheiratete sich, und
seine Geschäfte gingen gut.
Derber ist eine andere humoristische „Erzählung von
einem geistlichen Vater** : Die großen Fasten waren gekommen,
ein Bauer begab sich zum Popen um zu beichten. Er legte
in einen Sack einen Birkenklotz, verknüpfte den Sack und
brachte ihn dem Popen. „Wohlan, mein Lieber : welche Sünden
hast du begangen? und was hast du da im Sack?'* — „Eine
Weißwurst, die ich dir bringe, Väterchen.** — „Desto besser.
— 614 —
Sie ist wohl gefroren?" — „Jawohl, sie war die ganze Zeit
in meinem Keller.** — „Nun gut, sie wird schon auftauen.'*
— „Ich bin gekommen, um zu beichten, Väterchen: Als ich
einmal bei der Messe war, habe ich gestunken.** — „Närrchen/*
sagte der so reich beschenkte Pope gut gelaunt, „ist das denn
eine Sünde? Mir selbst ist einmal am Altar ein Furz entschlüpft.
Das ist nichts, mein Lieber. Gehe, und Gott stehe dir bei!**
Und mit diesen Worten öffnete der Pope den Sack und sali
Holz statt Wurst. „Ah, du verfluchter Stinker,** schrie er dem
Bauer nach, „wo ist denn die Weißwurst?** Der Bauer aber
sagte: „Möchtest du nicht gar einen Chuj haben, Furzer, der
du bist I"
Endlich zeigt eine Geschichte auch, wie der Pope es ver-
steht, die Naivität seiner Pfarrkinder zur Befriedigung seiner
Wollust auszunützen: Ein Muschik hatte eine junge Frau ge-
heiratet und die Frau schwanger zu Hause gelassen, während er
in einem anderen Dorfe arbeitete. Den Popen gelüstete nach
dem jungen Weibchen, und der Zufall war ihm günstig. Eines
Tages kam die Frau zur Beichte. „Guten Tag,** sagte der
Pope, „wo ist jetzt dein Mann?'* — „Er ist weit fortgegangen,
um Arbeit zu suchen, Väterchen.** — „Ah, der Schuft! Wie
konnte er dich in diesem Zustande verlassen! Er hat dich
geschwängert, aber sein Werk nicht vollendet. Nun wirst du
ein Monstrum gebären, ein Kind ohne Arme und ohne Beine,
und alle werden mit Fingern auf dich weisen !'* — „Was ist da
zu tun, Väterchen?** — „Ich werde dir zu helfen suchen, aber
das tue ich nur für dich, für deinen Mann täte ich es um
keinen Preis!** — „Suche mir zu helfen, Väterchen,** bat die
Naive mit Tränen in den Augen. — „Nun denn, es sei, Ma-
ruschka, ich werde dein Kind vollenden. Komm abends in
meinen Stall, ich werde den Tieren zu essen bringen und mich
dort mit dir beschäftigen.** — ,,Ich danke, Väterchen!*' — Die
Bäuerin kam des Abends. „Lege dich auf das Stroh,** sagte der
Pope. Sie breitete die Füße aus und der Pope machte es ihr
sechsmal. „Jetzt gehe nach Hause,** sagte er dann zu ihr, „und
Gott möge dir beistehen, alles wird gutgehen." Als der
Bauer endlich nach Hause kam, empfing ihn die Frau schlecht-
gelaunt. ,, Warum bist du so mißgestimmt ?** fragte der Muschik.
- 615 —
„Ach, laß mich doch,** antwortete sie, „du weißt nicht, was
sich gehört! Du bist abgereist, ohne das Kind zu vollenden!
Zum Glück hat sich der Pope meiner erbarmt und die Arbeit
zu Ende gebracht. Sonst würde ich ein Monstrum zur Welt
bringen.** Der Muschik erkannte, daß ihn der Pope zum Hahnrei
gemacht. „Warte,** dachte er bei sich, „das soll dir heimgezahlt
werden!** — Bald darauf gebar die Bäuerin einen Knaben.
Der Muschik ging zum Popen und bat ihn, den Jungen zu
taufen. Nach der Zeremonie setzte man sich zu Tische. Der
Pope aß und trank und lobte die Speisen und den Branntwein.
„Es ist alles großartig,** sagte er zum Muschik, „du solltest
um die Popin schicken; sie würde gewiß auch gern mittrinken.**
„Ich werde selbst gehen, Väterchen.** — „So gehe, mein
Lieber.** — Ging also der Bauer die Popadia einladen. —
„Danke,** sagte die Popin, „daß ihr an mich gedacht habt, ich
werde mich schnell ankleiden.** Sie legte ihre Ohrgehänge auf
eine Bank und wusch sich. Als sie ihr Gesicht abtrocknete,
steckte der Muschik die Ohrgehänge ein. Die Popin suchte
nun ihre Ohrgehänge, aber sie fand sie nicht. „Hast du sie
nicht genommen, Muschik?** — „Wie wäre das möglich,
Mütterchen! Aber ich habe gesehen, wo sie hineingeschlüpft
sind ; ich kann es nur nicht sagen.*' — „Macht nichts, sage es
nur!** — „Als du auf der Bank saßest, Mütterchen, sind die
Ohrgehänge in deine Pisda hineingeschlüpft.** — „Könntest du
sie nicht herausziehen?** — ^ „Es sei; um dir gefällig zu sein,
will ich es versuchen.*' Er legte sie um, bearbeitete sie zweimal
und präsentierte ihr dann ein Stück' Ohrgehänge an der Spitze
seines Penis. „Siehst du, Mütterchen, eins habe ich schon
gefunden." Nach zwei neuen Operationen fand sich auch das
zweite. — „Du hast dich arg geplagt, mein Lieber," sagte
die Popin, „aber ich habe noch eine Bitte an dich. Vor
zwei Jahren ist mir ein kupferner Topf verloren gegangen,
vielleicht ist der auch da drin.'* Der Muschik tat es ihr noch
zweimal. „Nein, Mütterchen,** sagte der Muschik, „es ist un-
möglich. Der Topf ist zwar drin, aber ganz verbohrt." Man
gab also das weitere Suchen auf und ging in das Haus des
Muschik. Als sie sich zu Tische setzte, sagte die Popadia dem
Popen : „Nicht wahr, Väterchen, die Zeit, bis wir gekommen
— 616 —
sind, ist dir wohl etwas lang erschienen?** — „Das glaub ich
wohl, Mütterchen!** — „Aber was willst du? Meine Ohr-
gehänge waren verloren. Ich hatte sie auf eine Bank gelegt
und mich dann darauf gesetzt. Und meine Pisda hatte sie
verschlungen. Zum Glück fand der Muschik sie wieder.** Der
Pope erkannte die Rache des Muschik und schwieg kleinlaut.
Sachregister.
Abbrändler, sog. 329.
Abenteurer in RuRland43.
Aberglaube Sjff. ; II 10.
— alte Leute betr. 476.
— u. Baden 436.
— u. Bettelei 328.
— u. Bibeltext 188.
— u. Coitus 437.
— der Diebe 280.
— bei Epidemien 46off.
— bei Feuersbrünsten
450.
— geistlicher 142.
— bei Hängen II 95.
— höchster Kreise 58.
— bei Hochzeiten II 377,
396.
— in Hungerszeiten 451.
— medizinischer 36.
— bei Meineid 268.
— in d. Orthodoxie 154.
— Parallelen 64.
— von d. Regierung ge-
fördert 460.
— u. Selbstmord 443 ff.
— U.Trunksucht 294, 295.
— Ursache d. Sodomie
II 559.
— u. Verbrechen II 288.
— d. Weißrussen II 375.
Abergläubische Gebrauch.
um d. Treue d. Gatten
zu erhalten II 425.
Abmagerung e. Folge d.
Zauberei II 30.
Abraham, Bischof v. Sus-
dal, schildert e. Schau-
spielvorstellung zu Flo-
renz 404.
Abtreibungen, kriminelle
II 441.
Abtritt, alle zusammen-
geketteten Gefangenen
müssen auf einmal hin-
aus II 175.
Abschaffung d. Knute
II 144.
j — d. Spitzruten II 163.
' Abzehrung, abergl. Heil-
mittel 483.
: Ackermannsche Theater-
gesellsch. in Rußland
I 413-
I Adamiten 223.
! Adel geg. Milde d. Justiz
I II 128.
j — Grausamkeit geg. den
498.
— von d. Räubern be-
drängt 489.
1 Adelige, körp. gezüchtigt
II 125.
I Adelsbälle 385.
' Adelsprivilegien bei Stra-
fen II 86.
Adler als Zeichen der
Brandmkg. II 100.
Affe, Spaßmacher des
I Grßf. Konstantin Pawl.
379.
Arnos, abergl. 98, 154.
Akademie II 452.
— f. Frauen II 323.
— d. Wissen.«*chaften 36.
Aksakow , letzter of f iz.
russ. Hofnarr 379.
Akulina Iwanowna, Got-
tesmutter 238, 240.
Alexander I., Ausspruch
über Folter II 184.
— Humor als Ehebrecher
387.
Alexander I. geg. Men-
schenfreunde 418.
— mild geg. Sektierer! 83.
— Mystizismus 166, 167.
— prügelt gern II 56.
— ruft d. weg. s. Liberal-
verbannten Radisch-
tschew zurück 499.
— u. d. Schulen 46.
— u. d. Skopzengott 240.
— u. d. heil. Synode 138.
— u. Todesstrafe II 97.
— verbietet, Geistliche zu
prügeln 119.
— verb. Verkauf einzelner
Familienmitglieder II
234.
— verurteilt den Knut
II 143.
Alexander II. II 129.
— u. d. Dolgoruckij II
539.
— Mystizismus 167.
— u. d. Schulen 49.
— gilt d. Sektierern nicht
als Zar, weil er nur
Schnurrbart trug 31.
— f. Witze empfängbch
388. 389.
— Toleranz 185, 419.
Alexander III. II 273.
— geg. Bettelei 332.
— relig. Fanat. 117.
— für Mäßigkeit 320.
— Mvstizismus 166.
— u. d. Sängerin Maria
Fullö II 539.
— u. d. Schulen 49.
— weg. s. langen Bartes
bei d. Sektierern beliebt
31.
— 618 —
Alexander d. Gr., Iwan d.
Sehr, vergleicht s. mit
ihm II 8.
Alexanderinstitut II 453.
Alexander Newsky 160.
— 3 Grausamkeit II 7.
Alexandra, Zarin 158.
Alexandrow. Advokat 11
130.
Alexej, der heilige 107.
— d. Wundertäter als
Arzt 473.
— Pope, Ketzer 175.
— Zar 21, 276; II 38, 318.
— s Ehen II 362.
— Freund d. Falkenjagd
337.
— führt furchtb. Folter
ein II 182.
— s Frauen treulos II 418.
— s Gesetzbuch II 285 ff.
— Gesetze geg. Kuppelei
II 541.
— geg. Kartenspiel usw.
342.
— geg. Räuber 494.
— geg. Tabakrauchen
422.
— erstes russ. Theater
unter 406.
— verlangt Verbrennung
e. polo. Werkes üb.
Rußland 34, 35.
— verordnet Gliederstra-
fen II 88 ff.
— verord. 140 Knuten-
strafen II 135.
— Alexandrowitsch II
539.
Alleinherrschaft 113, 114.
— Iwans IV. Ansicht II
12.
Alleinherrscherinnen II
318.
Almosengeben verboten
325-
Alte sind Priester der
Malakanen 198.
Alte Leute opfert man in
Epidemiezeiten 475.
Alter befreit von Körper-
strafe II 129.
— hohes 475. 476.
Altgläubige 193 ff.
— u. Reaktion 194.
Amazonen II 310.
Ambrosij, Archimandrit.
ermordet 474.
Ameisen im Abergl. loi.
Anarchistin II 321.
Anastasia, Großfürstin II
538.
Andreas, d. heil. 160, 428.
Andrej Bogoljubskij, Al-
leinherrschaft II 212.
— Iwanow, Sektierer u.
Pseudo-Peter III 238.
Anerkennung d. unehel.
Kinder II 440.
Anna Zarin geg. Flagell.-
Sekten 221.
— liebt Narrenwes. 374 ff.
— befiehlt, d. Peitche
dem Knut vorzuziehen
II 152.
— Torturen II 183.
— V. Braunschweig, russ.
Regentin, Abergl. 60.
— Iwanowna, Zarin 36.
— Bälle am Hofe 382.
— Grausamk. H 45.
— Justiz II 66.
— geg. Sektiererei 183.
— Sitten ihres Hofes II
525.
— Theaterfreundin 412.
— Trinkersitten an ihr.
Hofe 322.
— verhängt 7002 Todes-
urteile II 91.
— ihr Gemahl säuft s. in
d. Hochzeitsnacht tot
321.
— Leopoldowna, Regen-
tin 378; II 46.
— d. lesb. Liebe ver-
dächtig II 563.
— Sitten ihres Hofes II
527.
Annageln usw. II 22, 87.
— beliebte Strafmethode
Iwans II 12.
Antichrist 216, 241, 250,
251.
— moderner 460.
— ist d. Patriarch Nikon
190.
Anton, d. deutsche Arzt,
ermordet 465.
— V. Tschernigow, Ket-
zer 173.
Anzahl d. Hiebe II 156.
Anzahl d. Rutenhiebe II
167.
— d. Schläge II 132. 149,
153. ISS-
m. Knut II 141.
(Kodex Rumjänt-
zow) II 227.
mit Spitzruten
(12 000) II 161, 162.
m. Spießruten II
163.
Apotheken 466 ff., 469,
485. •
Appetit durch Morden er-
regt II 88.
— erregen durch Züch-
tigung d. Leibeigenen
II 230.
Apraxin, Günstling 288.
— Hofnarr 374ff.
Aprilscherz, von Peter I.
übelgenommen 411.
Araja, Theaterdirektor
412.
Araktschajew geg. die
Bartträger 30.
Avenskij, Komponist 404.
Aristokratinnen als Schau-
spielerinnen 410.
Armee, Grauskt.ind.il 56.
Armenierin, d. II 320.
Armenische Brautnachts-
gebräuche II 504.
Arten d. Knutenschlagens
11 138.
Arzt b. Exekutionen II
140, i6o.
, — unvorsichtig in der
Rede 454.
Ärzte bedroht als Ketzer
465 ff.
— ermordet 474.
— dürfen in Frauenbäder
eintreten 431.
Arztin II 321.
Assignatenfälscher II loi.
Astrologie 58.
Aufhebung d. Deporta-
tion plant Nikolaj I.
II 200.
— — Alexander III. 11
207, 208.
— verfügt Nikolaj II.
II 209.
— d. Leibeigenschaft II
321.
- 619 —
Aufruhr d. Barttxäger 23.
Aufrührer II 148.
— geknutet II 135.
— geprügelt II 130, 131.
— m. Ruten bestraft II
166.
Aufstecken d. Köpfe Hin-
gerichteter II 41.
Auskultierung d. Braut-
leute II 363, 373.
— gekaufter Bräute II
342.
Ausländische Krieger hab.
Trinkfreiheit 303.
— Urteile üb. Ehebrüche
in Rußl. II 422.
über die russ. Geist-
lichk. 120 ff., 140 ff.
üb. d. Justiz II
78, 79'
üb. russ. Keusch-
heit II 459.
kränken d. Russen
34. 35-
üb. d. russ. Lügen-
sucht 270, 271.
üb. Schönheit d.
Russin II 348.
Ausschweifung verzeihlich
230.
— d. Jugend 351, 354.
— d. Sektierer 171 ff., 2 22.
— s. a. Unsittlichkeit.
— auf d. Throne II 308.
Ausstellung v. Köpfen
II 89, 92.
Autokratie 501, 502.
— sieht in Trunksucht
d. Volkes etw. Gutes
304-
— u. Orthodoxie 206.
Awlabar zu Tiflis, Huren-
viertel II 548.
Bacchus, s. russ. Namen
16, 306.
Backen krank. Kinder im
Ofen, s. Hundealter484.
Bad d. Brautleute II 364.
Baden, gemeins. II 478.
f. Mönche u. Non-
nen 143.
Badeanstalt u. Sittlich-
keitsgesetze II 554.
Bäder 426 ff.
Badesitten u. Schamge-
fühl II 461.
Badstube II 342.
— u. Aberglaube 102.
Bakunin Katharina II
321.
Balakirew, Hofoarr 375.
j — Komponist 404.
Balalajka 401.
Balk, Generalin, v. Peter
geprügelt II 43.
Bälle 381 ff.
— b. Hofe gefährl. II 160,
161.
— u. Todesurteile II 51.
Ballet 402, 409, 413.
Balletteusen halten Spiel-
höllen 349.
Ballettkorps liefert d.Mai-
tressen f. d. Kaiser 420.
Bändchen, rotes, d. Jung-
frau II 378.
Bandura 401.
Barbier s. Bart.
Bär als Kellner 312.
Bärenhäute zu Hinricht.-
Zwecken usw. II 26, 88.
Bärenjagden 340. 341.
Barjatinski, Fürst, Päder-
ast II 567.
Bärenkämpfe 336. 337.
Barsche w, Prof. II 128.
Bart 37, 192, 262, 388,
493; n 45, 78, 148.
— ausrupfen II 88.
— d. Russen u. Nicht-
russ. 20.
— Parallelen aus and.
Ländern 21.
Bartreform 17, 18 ff.
Baruch, Jude, leb. ver-
brannt 178.
Baschkin, Matwej, Ketzer
178.
Baschkirenliebchen, d. II
354.
Baska Us, Räuber 493.
Basmanow, Iwans Lieb-
ling II IG.
— Vater u. Sohn hin-
gerichtet II 21.
Batogen II 123.
— Beschreib, d. Strafe
261, 276. 286; II 145,
146.
— ihre Geschichte II 147.
Batogen u. Knut II 146.
Bauer u. Mystizismus 164.
— verachtet d. Popen
125, 126.
Bauern II 2 20 ii.
aufstände unt. Niko-
laj I. II 237.
— Indolenz 459.
regeln 64.
zar (Alexander III.)
166.
Baumkult 105.
— bei Sektierern 254.
Beaufsichtigung d. Frauen
II 311.
Befreiung d. Frauen aus
d. Abgeschlossenh. II
316.
Begräbnis, unehrl., für
Selbstmörder 445, 447,
Behandlung d. Schau-
spieler II 318.
Beichte u. Polizei 124;
II 60.
Beisammenschlafen vgl.
Probenächte II 479.
— beider Geschlechter in
Bettlerasylen 328.
— d. Jugend bei d. Klein-
russen II 487.
— d. Zaren paares II 505.
Beisammenwohnen von
Mensch, u. Tier. II 241.
Beketow, Kadett, als Bal-
letteuse 414.
Belohnungen 285.
— für Saufleistungen 325.
Bergjüdin, d. II 333.
Besborodko, Kartenspie-
ler 345.
Beschauung d. Braut II
369-
Bescheidenheit russ. Bett-
ler 326.
Beschneidung russ. Sek-
tierer 175, 176.
— verabscheut v. d. Rus-
sen 175.
Beschwörungen 112.
Besen d. Opritschniki II 8.
Besessenheit 89.
Besoffenheit angehext 88.
Bestechlichkeit II 90.
— d. Henkers II 51, 113,
169.
Bestialität II 556ff.
Bestrafung von Ketiem
177.
— d, kosak. Ehebreche-
rin II 427.
Bestuschew, als Trunken-
bold 316.
— Frau, besticht d. Hen-
ker II 51.
— Kartenspieler, versetzt
d. Kleider s. Frau 345.
— Minister «. Wechsel-
fälscher 274.
Besuch, öfienü.. d. liederl.
Weiber bestraft II S49-
Beten statt koitieren II
S04.
Betende ermordet II 14,
87.
Betteln d. Verbannten II
193.
Bette! Wesen 324ff.
— bettelnde Nonnen 141.
Bettler, gesunde, geknutet
u. verbannt II 136, 191.
Bettlerinnen 3J0, 331-
Bettlerspruch 326.
Bezeichnungen verschied.
Arten körp. Züchtigung
n [37-
Bibel 93.
— u. Malakanen :97.
Bibeltextkorrekturen iSg.
Bibelworte u. Wollust 227.
— V. d. Skopien verdreht
236. 237.
Biron II 525.
Bitte um Schläge der
jungen Frau II 293.
Blattern 485, 486.
Bleistifte, Import 40.
Blenden II 4, I03.
Blinde im Abergl. 67.
Blitz u. Donner im Aber-
glaub. 101.
— vom. Erschlagene hei-
lig 97-
Block als Strafmittel 11
173-
Blödsinniger rettet Pskov'
vor Iwans Zorn II 20.
BlöOe keine Schande II
478.
Blumentrost, Arit 407.
Blut im Abergl. 89. 97.
— V. Kindern z. Abend-
mahl 247.
Blutschande II 148, 512.
— keine Sünde 228.
— — s. a. Snochatsche-
Bobrinskij, Sohn Kath.II.
Kartenspieler 345.
Bobrowa, Sängerin, u. ihr
D^colletg II 463.
Boccaccio, Vorbild I. russ.
Erotiker II 580.
Bock im Abergl. 285.
— Strafmethode 422; II
138«-. 172-
Bockpfeife 402,
Bogdanowitsch. frivoler
Schriftsteller II 5B1.
Bogrow. Schriftsteller,
tauft sich 269.
Bogumilen 173, 173'.
■Bojaren, Sklaven d. SUa-
ven 11 212, 214.
— V. Volke gehaQt II 214.
Bomelius, Arzt 466.
— s. furchtb. Gift II 29.
Bordell u. Gefängnisse
II 193-
— hat Heiligenbilder 159.
— u. Religion 225.
— V. jungen Peter II. be-
sucht 338.
Bordelle II 545.
— in Bädern 433.
— erste öffcntl. II 544.
^ in Tabakbuden 425.
— Klöster als B. 147.
— u. leibeig. Mädchen
II 233.
Boriß, Heiliger 280.
— Godunows Grausamk.
II 88.
Boris Wadimir. II 5^9.
Borodin, Komponist 404.
Borodulin. Gefängnischef
II 189.
Bortnjanskij, Musiker403.
Böser Blick 63.
Bottich m. Wasser bei
Zerem. d. Sekten 325,
227.
Brände II 19t,
Brandmarkung 279; II ji,
SS, 98»., 142.
Branizka II 564.
Branntwein 269.
— als Verlobungstrunk II
395.
— b. d.^Wotjäken 396.
— mit SchieQpuIver, Alt-
heilmittel 485.
— trinken d. Stundisten
nicht 204.
Branntweintrinkea ver-
boten auf d. tscheremiss.
Opferplätzen 99.
Bräutigam jünger als d.
Braut II 404.
Brautnacht II 372.
— d. Tartaien II 401.
— d. Zaren II 360.
Brautnachtsgebräuche b.
d. Kleinntssen II 491.
Brillanten als Karten-
spielmarken 344.
Brinkens Schiffs bau kunst
34-
Brjussow, myst. Einzeilen-
dichter 16S.
Brotkügelchen (Abergl.)
284.
Bruce, Graf, geg. Milde
II 141, 142, 143-
— Gräfm4i7: II 55, 350.
Bruch, russ. Heilmethode
483.
Bruder, als Beschützer d.
Mädchen II 340.
Brudermord, v. Iwan ge-
fordert II 22.
Brunnen, heiliger, d. Geiß'
Icr 220.
Brüste d. Frauen abge-
schnitten II 44.
dürfen bei d. Kal-
mücken n. böswillig
gegriffen werd. 362.
— flache, b. d. Kalm.
beliebt II 354.
verstümmelt b. d,
Skopzen 243.
— — zerschnitten u.
teilt 248.
Buch der Taube. Bibel d.
Skopzen 237.
Buchdruckereien 31.
33.
Bucklig sind Hexen 82.
Buntes Allerlei, russ. Zett-
schrift 262.
Burjaten-Ehe II 341.
— 621 —
Bursaki, geistl. Studenten
136.
Butterwoche 360 ff., 405.
— Abergl. 65.
— Theatervorstell. 414.
Buturlin macht Peter
d. Gr. f. allg. Korrup-
tion verantwortlich 289.
— u. Daschkow bestraft
weg. Anschauens der
Zarin II 313.
— Hofnarr 372.
— Frl., spätere Frau v.
Diwow II 587.
Bylinen, Entführungen II
338.
Byzant. Einflüsse II 211.
Caermarthen, Marquis, er-
hält d. Tabakmonopol
422.
Caro, berücht. Hure am
Hofe Kath. I. II 522.
Champagner in Rußland
322.
Chamusch, Jude 175.
Chardin über Trunksucht
russ. Diplomaten am
pers. Hofe 301.
Chewsurin, d. II 332.
— ihre Unreinigkeit II
508.
Chewsurische Hochzeits-
bräuche II 403.
Chiliasten, deutsche Sekte
in Kaukasien 203.
Chlopko Kossolap, Räu-
ber hauptm. 488.
Chlysty s. Geißler.
— Erklär, d. Wortes 217.
Chmeljnizkij, russischer
Bacchus 305, 306.
Cholera 463.
— Abergl. 68, 478.
krawall II 156, 168.
Cholopy, Name f. Sklaven
II 212.
Chorowod II 337.
Choschtschinskaja Na-
deschda II 320.
Chowanskaja, Fürstin,
wohnte e. Flagell.- Ver-
sammlung bei 221.
Christen, geistige, Sek-
tierer 233.
I Christen dürf. n. in jüd.
I Dienste gehen II 273.
Christi Photographie 233.
1 Christi. Religion bringt
! Sklaverei II 248.
Christuskind im Märchen
II 291.
Christussucher 217.
Coitus u. Abergl. 76.
— u. Baden 437.
— mit d. eie. Frau ver-
boten (b. d. Feodo-
sianem) 248.
— kleinruss. Auffassg. II
489.
— als Kulthandl. 352,
355 ; II 509.
— in d. beid. erst. Ehe-
nächten verbot. 114.
— öffentlich II 475, 477.
— u. Religion 114; II503.
— im Sprichwort 436.
— unrein II 503.
— vor Zeugen 328, 330,
372; II 487.
Cosimo aus Dresden 412.
Couplets obszöne II 606.
Dacosta. portug. Jude,
Hofnarr 369, 374.
Damespiel II 8.
Daniel d. Verbannte II
309.
— Filipowitsch, Skopzen-
gott 225.
Danilow II 283.
Dant6s-Heeckerens Duell
m. Puschkin 265.
Daschkow, Fürst, in d.
Skopzenlegenden 239.
Dawidows, Zigeuner, Sa-
lon II 549.
Demütigung, klösterliche,
d. h. körp. Züchtigung
II 149.
Denis, Pope, Ketzer 175.
Denunziantentum II 60.
Derschawin, Dichter 416.
— s Gedichte f. Sektierer-
zwecke nachgebild. 223.
Deserteure II 121, 122,
126. 155.
— Zuflucht b. Sektierern
249, 254.
Desertion II 89 ff.
Deutsche v. Letten ge-
haßt II 250.
Deutscher Einfluß 43 ;
II 47.
Deutsches Theater 413.
Devier, getaufter Jude,
Polizeimeister II 587.
Dichter Rußlands, my-
stische 167, 168.
Dicke d. Frau erwünscht
n 32. 33-
Die unter dem Boden
Lebenden, Sekte 249.
Diebe II 38, 98, 121.
— die Schuwaliki be-
rüchtigte 328.
— darf m. töten II 86.
— kleine u. gr. 288.
Diebslicht 281.
Diebstahl 198, 216, 271 ff.
— geringer, hart bestraft
II 132, 155.
— u. Desertion II 155.
— u. Prostitution II 548.
Dikarew, Folklorist II585.
Diplomatie rechnet m.
Peters d. Gr. Träumen
61.
Dirin, Kath., Banden-
führerin II 68.
Disziplin in d. Armee
untergr. II 62.
Diwow, Frau v. II 542.
Dmitrij, Erzb. v. Rostow
II 120, 410.
— — entjungferte, aber-
gläub. Prinzessin 59.
— Großf., schwindelt im
Rennklub 349.
— Iwan., verfügt d. erste
öff. Hinrichtg. II 87.
— Metropolit 136.
Dobroljubow, mod. myst.
Dichter 168.
i Dobrynja, Bylinenheld 80.
I Dogmatische Spitzfindig-
keiten 196.
I Dolgoruckij, Alex, schnei-
det s. d. Bauch auf II 6.
— Iwan II 6.
— Kath. Peters II.Braut
II 6.
— Kath., Gemahlin Alex-
anders II. 388.
— Wassili j u. s. Gegner
n 7.
— 622
Domitian, Sektenober-
haupt 2$o.
Domostroj, d. II 1 19. 1 19,
120. 210, 292. 311, 556,
$80.
— gegen Musik 401.
— ford. humane Behand).
d. Leibeigenen II 221.
Domowoj, Hausgeist 76.
Donnerstag. Abergl. 65.
Donoßtschik, Name für
Denunz.
Dorgomijskij, Komponist
403.
Dornen vertreiben Zau-
ber 84.
Dorpater Universität 47.
Dostojewskij 501.
— 's Schilderg. d. Prosti-
tution II 581.
Dreifuß 96.
Drewnik, Frau v. II 279.
Dritte Abteilung der kais.
Kanzlei II 69, 70.
Dubbeln, Seebad 433.
Dubina, Peters d. Gr.
Prügelstock II 42, 59.
Duchoborzen, Sektierer
196 ff., 200.
— u. Malachanen, Alter
dieser Sekten 197.
Duchoborzin, d. II 332.
Dudelsack 401, 496; II 19.
Duell 263 ff.
— als Gottesgericht II 58.
Durchbohren d. Hexen 89.
Durchcinanderliegen 226,
354.
Eckmühl, Fürst, kauft e.
Knut II 129.
Edelfrauen als Privile-
gierte II 308.
Ehe, Abergl. 63.
— abgeschafft 229.
— b. d. Duchoborzen 202.
— der Geistl. 126, 141 ff.
— d. Herrscher m. Aus-
länder. II 359.
— bei d. kaukas. Berg-
juden II 404.
— ^ d. Leibeig. II 221.
— bei d. Malakanen 198.
— d. Nonnen 144.
— v. d. Perchowzy ver-
abscheut 210.
Ehe freie, b. d. Stundisten
204.
— ohne Zerem. vollzogen
212.
— mss. PrinzeFS. m. Aus-
länd. II 34.
— verachtet 492.
— Verbannter II 197.
— verworfen23off.,322ff..
254.
— vierte II 26.
— wilde 232.
Ehebruch 202 ff., 265. 387 ;
II 93, 148,412.416,450.
— (Lied) 391. 392.
— b. Esten u. Letten II
428.
— b. d. Georgiern II 431.
— u. Kartenspiel 346.
— b. d. Kirgisen II 430.
— b. d. Mingreliem II
431-
— b. d. Osseten II 431.
— in Polen II 467.
— straflos II 422.
— auf d. Throne II 419.
— b. d. Tscherkessen II
431-
Ehebruchsfrucht in Spiri-
tus gelegt 472.
Ehefeindliche Sekten II
416.
Eheliche Züchtig. II 84.
Ehelose Sektierer 232 ff.
Ehescheidung 137, 233,
II 407.
— b. d. Giljaken II 413.
• — b. d. Kalmücken II
' 413-
! — Peter I.
I — b. d. Tschuwaschen II
413-
Ehetrennung b. d. Ducho-
borzen 202.
Ehezwang v. Peter I. auf-
gehoben II 369.
Ehrbegriff 2 59 ff. ; II 210.
Ehrenbeleidigung 260.
Ehrentrunk 301, 366.
Ehrgefühl II 168.
— unbekannt II 126.
— u. körp. Züchtigungen
II 150-
Eichenpfahl u. Varapir-
zaubcr 295.
Eichhörnchen im Abergl.
100.
Eid II 78.
— v. Sektierern n. ge-
leistet 199.
Eier dürfen nur Frauen
verkaufen II 157.
Ein tagsehen 234.
Eisen vertreibt Zauber
(Hufechmied) 62.
Eisenbahnen. Korruption
290.
Eisenprobe II 178. 290.
Eispalast 377.
Elefant weg. Majest. -Be-
leid, zerfleischt II 8.
Elena, Schwiegertochter
Iwans III., wendet s. d.
jüd. Häresie zu 176.
— in Susdal II 306.
Elend am Hofe d. Zaren
u. Zarinnen 39.
— im Trinken vergessen
318. 319-
Elias (Ilja) der Heilige 97,
158. •
— u. d. Baden 436.
— Prophet 106.
— Iljin, Gründer d. Sekte
d. Ssubotniki 180.
Elisabeth, Zarin II 96.
— Aufhebg. d. Todes-
strafe II 85, 86.
— 's Grauskt. II 47 ff.
— ehrtHeiligenbilder 163.
—'s Hof 378.
— 's Liebschaften 528.
— geg. Prostitution II 542.
— u. körp. Straf, der
Geistl. 27.
— 's Orgien in Klöstern
147, 148.
— soll viel getrunken hab.
314.
— engag. e. Tanzmeister
f. Rasuraowskij 382.
— schamlos II 460.
— theaterfreundlich 414.
— u. d. Todesstrafe II 91 ,
123.
— verschärft d. Folter
II 183.
Akulina Zarin-Gottes-
mutter 238.
— V. England u. Iwan
d. Sehr. II 32.
623 —
Elternmord II 285.
— b. d. Kalmücken 262.
Eltemverfluchung 117.
Emanuel Kaiser v. By-
zanz 173.
Emanzipierte Mädchen II
455.
Embryosammlung 472.
Engelhard Frl. II 350.
Engelmacherei II 443.
Entbindung auf d. Felde
n 325.
Entführung II 381.
— bestraft II 157.
— d. Frauen II 337.
Enthaltsamkeit d. Sek-
tierer 220.
Enthauptungen bei Peters
Trinkgelagen 307.
Entjungferung in der
Brautnacht obligat. II
493.
— als Kulthandlung bei
Begräbnis s. II 509.
— Stell vertret. d. Bräuti-
gams II 380.
Entleerung, Schamlosig-
keit e. Russin II 460.
Entmannung 236.
— gewaltsame, durch d.
Skopzen 246.
— s -Arten d. Skopzen 24 1 ,
245.
Entschädigung f. Ehe-
bruch b. d. Kalmücken
II 430.
D'Eon. UrteU üb. Ruß-
lands Hof 38.
Epidemien 460 ff. , 469,
479-
— (abergl.) 70, 104, 106,
295.
— d. Heiligenbilder be-
kämpft 473.
— u. Hungersnot II 291.
— vgl. auch Pest, Chol.
Epigrammverfasser von
Paul bestraft II 55.
Epilepsie 482.
— d. Zauberei verursacht
85.
Erbarmen b. Schlagen
II 115, 121.
— b. Strafen II 109.
Erbarmungsvoller (Knut)
II I3--
Erbsünde nach d. Skop-
zenlehre 241.
Erdbeben 449, 451.
Erfrischungen b. Folter
Hingen II 46.
Erlebnisse e. Pagen (päd-
erast. Gedicht) II 569.
Eremitage Kath. II. 417.
Ermordung d. Gatten d.
d. Frau II 297.
Eros russe! Sammig. ge-
heimer Gedichte II 582.
Erotik bei Festen 351 ff.
— im Sekten wesen 193 ff.
Erotische Sekten 183.
Erpressungen 290, 291.
Ertränken II 14, 23, 26,
31. 93.
— Strafe f. Ketzer 174.
f. Unkeuschheit II
32.
— V. Zauberern 295.
Erzählungen, erot. u. ob-
szöne II 609 ff.
— obszöne II 425.
Erziehung 40; II 458.
— d. Jugend II 449 ff.
durch Abenteurer
39.
— durch Schläge II 120.
Eschenpfahl 478, 479.
Esel im Abergl. 97.
Espenholz vertreibt Zau-
berei 103.
Essen, General, verlangt
Spitzrutenstrafe II 162.
Essen u. Abergl. 10 1.
Esten, Abergl. 69.
Esten u. Letten, Abergl.
99.
— — Geschlechtsfreiheit
d. Jugend II 477.
Esther, Korsettenverkäu-
ferin, verwickelt in mo-
dern. Lieferungsskandal
458.
Esthin, d. II 328.
Estland, Erot. Feste 355.
— Hungersnot 453.
— U.Lettland, Abergl. 75.
Estnische u. lettische Leib-
eigene II 217.
Aberglaube 62.
Etikette, strenge, 388.
am Hofe Nik. I.
II 160, 161.
Eule imAbergl.d. Kalm.95 .
Eunuchen (Sektierer) s.
Skopzy.
,, Europäische Fama*" d.
35-
Exekution d. Spießruten
II 159, 160.
Eximierte v. Körp. -Straf.
II 129.
Exkommunikation, Strafe
f. Rasieren 21.
Exzesse in d. Bestrafung
d. Leibeig. II 245.
Falsche Zeugnisse, öff.
Anstalt dafür 268, 269.
Fälschen von Banknoten
274.
Falschmünzer II 90, 96,
99, 122.
Falschmünzerei b. d. Sek-
tierern kein Verbrechen
199.
Falschspieler 347.
Familie, regiert v. d.
Peitsche II 152.
— u. Schule 50, 51.
— u. Strafen II 83 84.
Familienleben II 283.
— Grausamkt. im 451;
II 30.
— Gefühllosigk. Peters II.
339-
— Roheit im II 119.
Familienliebe d. Russen
fremd II 52.
— verpönt II 89, 90.
— wird unterdrückt II
230.
Familien weises Morden II
16, 40.
Fanatismus v. Sektierern
(Zertreten e. Heiligen-
bildes 199.)
Farnkraut 354.
Fasten 114, 116, 360 ff.,
363.
V— d. Brautleute II 376.
— u. Abergl. 65.
Fata (Schleier) II 360.
Fatalismus 441 ff.
Faullenzen d. Frauen II
315.
Faustkampf 389, II 253.
Federn fliegen, bei Juden-
Pogromen II 274.
FedjkoSchold)ak. Räuber [
494-
Fedor Alexejewitsch, Zar
468.
Fehltritt im Abergl. 61.
Feigheit bestraft II 158.
Feldgerichte unter Niko-
laj II. II 87.
Feldscher als Uaiversit.-
Prof. 48. I
Feodorowna Irina II 306.
Feodosianer, Sekte 248.
Feofan Bokopowitsch,
Dramatiker 410.
Fesseln II 174, 175.
Fest bei Hinrichtung des
Fürsten Gagarin II 80. I
Festtage 116,
Feuer 96, 102.
— im Abergl. 63, 98.
Feuerprobe 83; II 40.
Feuersbrünste 449 ff.
Feuerwehr 450.
Feuerwerk. Angst d. Rus-
sen davor 370.
— b. Opernvotstellungen
414-
Filip, Metropolit, gegen
Iwan d. Sehr. II 15 f.
Filipon. Sektengründer
350.
Filiponen Sekte 250.
Findelhaus II 434)!., 453.
— u. Ehrcnbeleidigung
262.
Findling wird leibeigen
II 245. I
Finger abhauen 279: II |
107. I
— im Religionskultus 196. ■
Finnische Bäder 426.
Finnland. Urheimat der
Springer-Sekte 228. \
Fischerhaken i. Auffang. \
Ertränkter II 87. j
Flagellantismus 221. I
— b. d. Neu-Stundisten '
205.
Flagellation bei d. Geist-
lichkeit 1 18, 149.
Fleck in d. Kleidung An-
laß 2U Züchtigung II
Fluchen bei d. Stundisten
verboten 204.
— d. Zarin Elisabeth II
48.
Flucht d. Verbannten II
197.
Flüchtlinge, Strafen II 99.
Folter 488, 493 ; 11 11, 46,
54, 63. 66, 83, 88, 89,
117, 128, 141. 178«..
230.
— in Gefängnissen 11
172 ff.
— in d. Haiiszucht II 247
Folterinstrumente 11 28.
Folterkammern Peters d.
Gr. II 39.
Folterung aus Angst vor
d. Teufel II 288.
■ — d. Raucher 422.
— wohnt Elisabeth bei
II 51.
Foma, Heiligenverspotter
n 90.
Fomina. Musiker 403.
FoO, Gefängnisgouvern. II
T85.
Fra da CoUo üb. russ.
Sklavensinn 11 210.
Französ. Musik 402.
— Einfluß 38, 42.
auf d. russ. Kultur
: 26J.
I ^ Theater 413.
I — Weinein Rußland 321,
! Frau, Abgeschtossenheitd.
1 366.
I — im Geiste (Konkubine)
! 334-
1 — bei d. Kosaken II 310.
I — in religiöser Anschau-
ung d. Raskolniki II
310-
— Stellung im russ. Ge-
setzbuch II 451.
Frauen als Apostelinnen
u. Prophet. 220.
— Beleidigung 262.
— -brüste, geröstete, als
Speise II 281.
— waren Einsiedlerinnen
11 3U-
emanzipation 381; II
320.
Frauen geknutet II 83.
125.
— in Herrenkleidern 383,
385.
— Iwans d. Sehr. II 3 1 ff.
— als Kartenspielerinneii
346. 347. 349-
— b. d. Kalmücken 262.
— u. Körperstrafe 58.
— V. d. körp. Strafe be-
freit II 84.
— -markt II 333.
— von Peter geschlagen
1143-
raub If 333.
— religiös eKaltierte 205.
206.
— im Sektenwesen 219.
— läßt Nikolaj I. prügeln
II 56.
— Stellung 409, 410.
— V. Stockstrafe ausge-
nommen 11 149.
— Trunksucht d. 301,
307, J12, 3a2ff.
— v.d. tscheremiss.Opfer-
pläti. ausgeschlossen 99.
— d. Volkes als Ehe-
brecherinnen II 421.
Fredericks, Baron 290.
Frehn, Orientalist 48.
Freiheitshymnen 498.
Freimaurerei 499.
I Frei'Schnaps erhält d.
russ. Gladiator 337.
1 Freispruch f. e. Gatten-
I mörderin II 297.
] Freitag der Karwoche358,
— im Abergl. 65.66. loi.
j Freitisch f. Bettler zu
j Ostern 364.
I Freudenmädchen sind für
I Perversitäten II 570.
I Frondienste d. Leibeig.
: II ^41-
Frotteurinnen in Männer*
bädern 434.
Fruchtbarkeit 11 379.
— d. Ackers durch Koitus
gesichert II ; 10.
Früchte dürfen nurFrauen
verkaufen II 157.
Frühe Ehen II 369, 403.
— Reife d. Russin II 456.
Frühlingsfeste 357.
— 625
Fürst,Theaterdirektor4i 2.
— u. Fürstin, Bezeichn.
f. Bräutigam u. Braut
n 370. 376.
Füße abhacken II 109 f.
— d. Strafenden küßt d.
Bestrafte II 216, 217.
Fußsohlenkitzeln als Tor-
tur 213.
— als Wollust 365.
Fußsohlenkitzlerinnen
365. 378.
Gabriel, Chirurg, als Hen-
ker II 88.
— Mönch, korrig. Puffen-
dorfs Staatengesch. 34.
Gagarin, Fürst, gehängt
288; II 80.
— als Päderast II 562.
Gähnende Sekte 213.
Galitzyn, Fürst, Hofnarr
Annas 375.
— Fürstin, als Trinkerin
325-
— Prinzessin Daria II
283.
— Kultusminister Alex. I.
als Geißler 223, 240.
Gapon 1 29.
Gattenmord II 90, 93.
raörderin läßt Peter
leb. eingraben II 54, 90.
treue bei Verbannung
II 197.
Gebärende gefahrbringend
behandelt 483.
Geber, pers. Flagellanten
in Baku 237.
Gebet nicht notwendig
211 ff.
— bei Verbrechen 281.
Gebote, 12, d. Daniel
Filipowitsch 218.
Gebräuche, heidn. und
abergl. 55.
Gefangene w. nicht ver-
pflegt 326.
Gefängnisse II 172 ff.
— als Bordelle II 193.
— fidele II 177.
— Prügelstrafe II 153.
Gehorsam d. Obrigkeit v.
Sektierern verweigert
250, 253.
Geilheit d. Kamtscha-
dalen II 327.
— d. russ. Frauen II 461.
Geiseln aus d. Volke z.
Schutz d. Autokratie
501.
Geist, Heiliger 233.
Geister 76 ff.
Geisterglaube 154.
Geisteskämpfer s. Ducho-
borzen.
Geistliche im Abergl. 102.
— berühmte 135 ff.
— ihr Bart 28.
— als Erpresser u. Mord-
brenner 172.
— als Saufbolde 302, 315.
— als Sektierer 222.
— Sittenlosigkeit 123.
— Unsittlichk. d. schwar-
zen Geistl. 142, 143.
— d. Kalmücken sitten-
los 152.
— körp. gezüchtigt II
125.
— d. Prügel gedemütigt
ii8ff.
— raffin. Strafen für II
27.
— ihre Privilegien bei
Bestraf. II 82 ff.
— erpressen Geständnisse
II 183.
— V. Iwan IV. ermordet
II 87.
— z. Militär gepreßt 129.
— Mönche u. Nonnen
müssen Arme bedienen
145-
— V. d. Räubern be-
drängt 491, 49 2.
— russische, als Hexen-
meister 105, 154.
— nach Ansicht d. Skop-
zen Satansdiener 241.
— in Versuchung geführt
(Maskenfest) 361.
— Zahl d. Mönche u.
Nonnen 122.
Geistlichkeit io9ff. ; II
463.
— assistiert b. abergl.
Zeremonien 481.
— Grausamkeit d. II
106 ff.
— geg. Bildung 32.
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rufiland.
Geistlichkeit u. Keusch-
heit II 481.
— geg. Milde d. Reg. II
124.
— geg. d. Tabakrauchen
421.
— kath. u. protest., in
d. baltischen Provinzen
brachte Sittenlosigkeit
207.
— Peitschenstrafe II 149.
— Popen u. Nonnen als
Zauberer u. Hexen 107.
— schwarze 126, 130 ff.
— u. Schule 49.
— u. Unsittlichkeit 105,
137.
— Unzucht 429.
Geißelung aus relig. Mo-
tiven 205.
Geißler (Chlysty) 217.
Gekreuzigt wird e. Leib-
eigener II 230.
Geldbußen statt Todes-
strafe II 85, 86.
Geldstrafen 261; II 121.
Gemeindesitzung unt. Zu-
lassung V. Frauen II
324.
Gendarmerie Alexanders
II. u. III. II 70, 71.
Gennadij. Erzbischof 135.
— geg. d. jüd. Häresie
Georg Alexandr. u. d.
mingrel. Fürstin II 540.
Georg d. Heil. 160.
Georgier, Ehe II 403.
Georgierin, d. II 332.
Georgsfest 352.
Gerechtigkeit II "jZ.
Gericht Iwans d. Sehr.
II 19. 21.
Geruch 435, 436.
Gesang 398.
Geschlechtsfreiheit 220,
225, 229, 234, 354,
357".
— d. kalmück. Verlobten
II 475.
— bei d. Kamtschadalen
II 430.
— b. d. Kleinrussen II
483-
— bei d. Wotjäken, Esten
u. Letten II 429, 476.
40
Gescblecbtsmoral Mutter
u. Tochter 393.
Geschlechtsrei f cprüf ung
II 484.
— PauU I. II 536.
Geschlechtsteile II 484.
— im Abergl. 71.
— d. Frau im Sprich-
wort 437.
— geschlagen II 282,
— zwicken zu Fotter-
zwecken II 186, 187.
— -präparate in Peters I.
Kunstkabinett 472,473.
Gesellschaft Unsittlichkt.
unt. Kath. II. II 533.
Gesellscbaftsregeln Peters
d. Gr. 371-
Gesetzbuch Nik. I. gegen
Blutschande II 513.
Gesetze Alexejs geg. kor-
rupte Richter 286.
— betr. Aberglauben 54.
SS-
— betr. kiimin. Abortus
II 44'-
— d. Bart betr. 18.
— geg. Brandstifter 450.
— geg. unsittliche Bücher
u. Bilder II 580.
— d. Zaren Alexej geg.
Denunzianten II 60.
— geg. Diebstahl 275.
— d. Jagd betr. 340.
— Kriegstcglement
Peters I. 11 157,
— betr. Leibeigene 11219.
-— *— Mißgeburten 67.
— Nikolajs I. II 97.
Mißbrauch der
Amtsgewalt II 1S4.
— Peters geg. Sodomie
11 s6i.
— geg. d. Rauchen auf
d. Straße 423.
— geg. Schenkwirte u.
Trunkenbolde 305.
— Schuldner betr. 37.
-— geg. Sektierer 184.
— geg. Selbstmordver-
suche usw. 446,
— betr. Sittlichkeit II
SSI-
Gesetze betr. Sodomie n.
Päder, II 565.
— geg. d. Tabak42i, 422.
— betr. Züchtigung d,
Leibeigenen II 231.
Gesetibuch des Zaren
I Alexej II 422.
Gesetzessammlungen II
81, 82.
Gestohlenes bringt Glück
280.
Gideonow, kais. Theater-
direktor u. Kuppler420,
Gift des Dr. Bomelius II
29.
1 Giletgesetz II 82.
' Giljaken-Ehe II 399.
. Glas abwischen strafwür-
1 dig II 45.
Glasunow,Komponi.'?t404.
Gleichberechtigung der
Frau II 323.
Gleichgeschlechtl. Liebe
II SS6«.
Gleichgläubige 195.
Glied. männUches, Namen
dafür II 588.
Gliederstrafen II 38, 89,
97 ff-, I02.
Glinka, Komponist 403.
Glinsky. Elena, Mutter
Iwans II 307.
— Familie. Opferd. Aber-
glauben'« 450.
— Sofia u. Elena 11 307.
Gljeb, Fürst v. Nowgorod
u. d. heidn. Zauberer
103, 104.
— Heiliger 280.
Glühende Zangen als Fol-
termittel II 280,
Glühendes Erz I! 96.
— — zu Strafiwecken II
88, 90.
Gnostische Einflüsse bei
d.russ.Sektenji4,2i6.
Godunow, Zar 32, 452.
— Gesetze betr. Leib-
eigenenehe II 221.
— verbannt schon nach
Sibirien II 191.
— will Menschen sehen,
nicht Kleider 33.
Godunowa Xenia II 319.
Gogol). Dichter 269. 291,
293. 419. 5°'-
läQt s
— Maria, Klapsweib 379.
Golowkin, Vizekanzler,
verbannt II 66.
Golubet Taubentanz 391.
Gorinka II 293.
Gorkij. Maxim 419. 501.
— Nachtasyl II 450.
Gott bei den Russen 154.
— Vater u. Sohn in d.
russ. Iconographie be-
Gottesmutter auf d. Bühne
spricht obszön 415.
— neue 218.
Gottessöhne d, Skopzen
246.
Gouvernanten II 454.
Grausamkeit II 4 ff.
— d. niss. Dichter 419.
— bei Eintreibung von
Steuern II 75, 76.
— im Familienleben 93 ;
II 248, 27S.
— der Frauen (Ssalty-
kow) 149, 150; II 27S.
Iwans d. Sehr. II 27g.
— d. Herren geg. Leib-
eigene II 326.
— im Kriege II 121, 359.
— d.Leibeigenenll 237fl.
— Peters d. Gr. 496.
— d. Räuber 491.
— der Revolutionäre 495.
. — geg. Sektierer 213.
I — d. Volkes II 249, 25 I if.
Gricourt russisch II 584.
Gregorj', Pastor, erster
russ. Theaterdirektor
I — verbannt 409.
I Grenzsteinezerstörung II
154-
Gribojedow, Dichter 41g.
— Päderast II 569.
GroBmut kennt Peter d.
Gr. nicht II 43-
GroQrussen schamlos II
— 627 —
Gudok 401.
Güldenlöwe W. Chr. II
359.
Gummiknüttel, neuestes
Straf Werkzeug II 188,
189.
Günstlinge Iwans hinge-
richtet II 20.
— Katharinas I. II 523.
Gurbatij - Schujsky, von
Iwan enthauptet II 13.
Gurjew, auf s. Gute gibt
es e. Blutfest 252.
Gurko, Minister-Stellver-
treter Nikolajs II. 290,
458.
Guter Mensch heißt d.
Bräutigam b. d. Wot-
jäken II 398.
Gütergemeinschaft 199,
233.
Güterverteilung 216.
Gutmütigkeit, russ. II251.
Gutsherren, gute II 225,
226.
— lassen Leibeigene ver-
bannen II 226, 227.
Gutsverwalter, deutsche,
Grausamkeit II 239.
Guyon, Mad., ihre Lehren
in Rußl. 223.
Gwosdew, Fürst, Hofnarr,
von Iwan d. Schreckl.
spaßhalber umgebracht
367.
Gynäkokratie II 524.
Haar 262.
Haare im Abergl. 97.
— zwischen den Fingern
machen d. Eid ungültig
268.
— d. Popen als Zauber-
mittel 105.
Haarschneiden 19.
Haarseile läßt Iwan s.
Schwiegervater durch d.
Haut ziehen II 30.
Haas, Philanthrop II 175.
Hahn im Abergl. 63, jy,
481.
— im Hochzeitsbrauche
II 361, 371.
— u. Henne im Abergl.
IUI.
Hahnenschrei treibt d.
Vampire ins Grab zu-
rück 444.
Haine, heilige 97.
Hallelujah, Frau II 291.
Halsring zu Folterzweck.
II 230.
Halbbekehrte Sektierer
195-
Hamilton II 316.
— Fräulein II 522.
Hand abhauen 279; II
105 ff., 157.
— u. Fuß abhacken 286;
II 102 ff.
Handschuhe 17, 40.
Hängen 493; H 95. m-
— Strafe 288.
Harems der Wanderer-
Sektierer 254.
Harfen, v. Blitz getroff.
Holz gutes Material da-
für lOI.
Harfnerinnen v. Nishnij-
Nowgorod II 549.
Haarscherer-Sekte (Stri-
golniki) 174.
Harte Strafe, was dies be-
deutete II 137.
Hastings, Marie II 32.
Haugwitz, Frau II 52.
Hausbau u. Abergl. j6,
Hausfrau beim Fest II
314.
Hausunterricht II 459.
Hauszucht II 166, 246.
— in d. Ostseeprovinzen
II 149.
Heida! Mordruf d. Hen-
ker Iwans II 27.
Heidentum 91.
— d. Esthen u. Letten
II 248.
— u. Orthodoxie 154,
35off.
Heidnische Feste 351.
Heilande, neue 215, 217.
Heilige, russ. 158 ff.
— V. Zar ernannt u.
abges. 155 ff.
Heiligenbilder jj, 108,
496.
— berühmte 159, 162,
162*. 163.
Heiligenbilder im Bordell
114. 115.
— V. d. Malakanen ver-
worfen 199.
— Mittel geg. Epidemien
473. 474-
— retten Moskau vor Pest
159.
— bei Saufgelagen 149.
— verhöhnt 178.
— verpönt 203.
— zertrümmert 182.
Heiligenkastrierer heißt
d. Sekte d. Duchobor-
zen 200.
Heiligenkult 153 ff.
Heilmittel, abergl. 482 ff.
— zauberische 89.
Heimliche Ehe II 373.
Heimlichkeit d. ehel. Ge-
nüsse II 507.
Heimweh, Strafe e. dtch.
Ingenieurs II iio.
Heinsius 59.
Heirat z. 4. Male II 408.
Heiraten d. Leibeig. II
244.
— V. Päpsten- Hofnarren
372.
Heiratsmärkte II 343.
Hemdchen II 153.
— b. Schlagen m. Bato-
gen II 147.
Henker II 113, 410.
— ist Iwan IV. II 87.
— ist d. Chirurg Gabriel
II 88.
— Grausamkeit II 162.
— ist Eigentümer der
Glieder d. Hingerichte-
ten II 52.
— kann s. Opfer mild
oder hart strafen II 86,
115. 143-
— d. Russen verehren
ihre II 212.
Henne muß Fürst Ga-
lizyn sein 375.
Herberstein 107.
— über russ. Hofjagd336.
Herd 96, 98.
— häuslicher yy,
Heringe essen zu Folter-
zwecken II 230.
Hermogen, Metropolit II
463.
40*
628
Herrenrecht üb. leibeig.
Frauen u. Mädchen II
229, 248.
Herrscher, Grausamk. II
4ff.
Vielweiberei II 409.
Herzen, AI., über d. Un-
sittlichkeit d. Hofes II
521.
Hexe, wie s. d. Russen e.
vorstellen 81.
Hexen y6U.
— u. Zauberer 56 ff.
Hexenglaube, Parallelen
86.
Hexenmord 461.
Hexenproben 56 ff.
Hilferding, Theaterdirek-
tor 413.
Hinrichtung, erste öffentl.,
in Moskau II 87.
Hiob, Mönch, Apostel d.
Donkosaken 210.
— Patriarch 33.
Hochmut d. Kaiserin Alex-
andra 388.
Hochverrat II 91.
Hochzeit II 315.
Hochzeitsbett II 396.
Hochzeitsbräuche II 293.
— d. Armenier II 401.
— d. Großfürsten II 360.
— b. d. Kalmücken II
398.
— d. Kleinrussen II 373.
— d. Letten II 394.
— d. Nichtrussen II 394.
— d. Russen II 358, 363.
— b. d. Tartaren II 400.
— bei d. Tscherkessen II
402.
— bei d. Tschuwaschen
II 398.
— d. Weißrussen II 375.
— in Wologada II 342.
— d. Wotjäken II 397.
Hochzeitslieder II 293,
340.
— d. Letten II 395.
— obszöne II 381.
— d. Russen II 366, 373.
Hochzeitstänze 382.
Hochzeitsvogel II 372.
Hode, Namen dafür II 590.
Hof, Prostitution am zar.
n 521.
Hofbediente, zarische 16.
Hofleute d. Adeligen II
229.
Hohes Alter 84.
der Skopzen 244.
Hopfen u. Zobel als Talis-
mane II 360.
Hörnermusik 401.
Hund im Abergl. 97,
looff., 106, 481.
Hunde als Hexen u. Zau-
berer 102.
Hundealter, Name e. Kin-
derkrankheit 484.
Hunden werden Menschen
vorgeworfen II 26, 88.
Hungersnot 451 ff., 488.
— u. Abergl. 104.
Hungertod als Strafe 118 8.
— freiwill., a. rel. Fanat.
252.
Hüpf er, Sekte 226.
Hure, kein' Schimpfname
II 479.
Hurerei II 148.
— Bezeichnung dafür II
593.
— Knutenstrafe dafür II
138.
— u. Trunksucht 321.
Hutgesetz II 82.
Hutreform 18.
Huyssen, Baron, n. d. Aus-
land geschickt, um d.
europ. Presse zu be-
stechen 35.
Hysterische Weiber als
Apostelinnen u. Gottes-
mütter 219.
Jaga Baba, Hexe 81.
Jagd 335 ff.
Jagdmusik 402, 403.
Jaguschinskij, Bettgenosse
Peters I. II 526.
— üb. Korruption 289.
— Ehescheidung II 410.
Jakowkin , Uni versi t. - Rek-
tor 47.
Jakuten, Abergl. 67.
Selbstmord betreff.
445-
Jakutin, d. II 328.
Janow, Bettlerort 327.
Jarilofest 354.
Jaromonaeh, Astrolog 58.
Jaroslaw, Groß f. II 211,
451-
Jefim, Soldat. Sekten-
prophet 253.
Jefimjew geißelt in e.
Drama d. Kartenspiel
346.
Jelagin, Freimaurer 499.
Jesuslegende d. Skopzen
241.
Jewdokia, Gemahl. Peters
d. Gr., Abergl. 59, 60.
Ignatjew, Päderast II 567.
Ignoranz d. ersten russ.
Staatsmänner II 452.
Ikone auf der Bühne 415.
II ja u. Dobrynje II 293.
Ilja V. Murom, altruss.
Held 299.
Iljin, Gründer der Sekte
der Ssubotniki 179.
Imp/ung V. Kath. II. an-
geordnet 485, 486.
Impfungstag Kath. II. e.
Staatsfest 116.
Import V. Waren, selts.
Statistik 39 ff.
Impotenz in d. Braut-
nacht; 321 II 493.
— Peters III. II 529.
Inglis, Dekor. -Maler 407.
Inquisition s. Kanzlei.
— geistlich-polit. 203.
Intoleranz 184, 185.
Joachim, exkommuniz. d.
Bartlosen 21.
— läßt Ketzer lebend ver -
brennen 181.
Joan III. üb. Syphilis II
571-
Joan Antonowitsch II 53.
— V. Kronstadt 167.
Johannisfest 354.
Johannisfeuer 354. 355.
Johannistag 355.
Joseph Schmojla, Jude
175.
Irene, Zarentochter, keine
Säuferin 312.
Irrende. Sektierer 213.
Irrlicht im Abergl. 10 1.
Isäslaw. Großf. II 85, 86.
Ismajlow frivoler Schrift-
steller II 580.
Italien. Musik 402.
Juden gehaßt 175.
— 629 —
Juden, Leon d. Arzt 465.
— weg. Proselytenmache-
rei geknutet II 135.
Jüdische Ketzerei 174 ff.
Juferow, Komponist 404.
Jugend, d., in Riga II 449.
— u. Strafen II 164 ff.
— u. Verbrechen II 123.
— z. Trinken angehalten
319.
Jungfernkonvikt, eroti-
sche Sekte 221 ff.
Jungfernkopfband, rot
433.
Jungfernschaft, Wert d.
verletzten u. unverl.
II 492.
Jungfrauen verteilen Ro-
sinen z. Abendmahl 213.
Jung-Stillings Lehre in
Rußland 223.
Jüngstes Gericht erwartet
217.
Juschkin lehrt d. Selbst-
mord durchs Beil 377.
Juschkow, Nägelschneide-
rin m.
— Wassilj II 419.
Jus primae noctis II 234.
Justiz II, 53. 57, 58, 61.
66. 243, 281.
— Grausamkeit II 128.
— Aussprüche Peters d.
Gr. II 79.
Justizreform 499.
Iwan (oder Joan) III. u.
Todesstrafe II 87.
— über Folter II 181.
— als Sodomit II 557.
— ruft Arzte 465.
— s Strafen II 126.
— geg. d. Unsittl. d.
Geistl. 142.
— im Verdacht, e. jüd.
Ketzer zu sein 177.
— will d. Geistl. d. toten
Güter entreißen 131,
132.
Iwan IV.. d. Schreckl. 430,
488; II 9ff., 58, 515.
— s Beichte 496; II 11.
— nach d. Tode beweint
II 2I2ff.
— u. d. Buchdruckereien
31.
— s Feigheit 165; II 8.
Iwan gefeiert II 7.
— s Grauskt. 367.
— haßt magere Frauen
II 350.
— als Henker II 87.
— als Jäger ijß.
— als Päderast II 560.
— bürgert d. Saufwut in
Rußld. ein 302.
— s Todesstrafmethoden
II 87.
— geg. d. Rasieren 26.
— geg. d. Unsittl. d.
Geistl. 142, 143.
— macht Weiber trunken
303.
— Sohn Iwans d. Sehr.
II 21. 23. 36.
— von s. Vater ermordet
n n.
— d. Krieger, Heiliger
284.
— Kupalo 81, 354, 358,
404, 405, 436.
— Micha jlowitsch,
Iwaschka. russ. Bacchus
16, 306.
— Nepomnjaschtschij,
Name f. d. sibir. Land-
streicher II 207.
Iwanowitsch Semen, Groß-
fürst II 409.
Iwanowskijkloster, Stätte
d. Ausschweifungen d.
Geißler 222.
Kabak , Erklärung des
Namens 299.
— Sitzungssaal d. Wo-
lostgerichte II 85.
Kabaki als Lasterhöhlen
318.
Kabbala, russ. 190, 190.
' Kadetten als Balletteusen
412.
• Käfig f. e. Friseur II 229.
I — Pugatschews 498.
; Kalinnikow, Komponist
, 404.
Kalmücken, Abergl. 94 ff.
— berühmte Renner 350.
— Ehe II 399.
— Ehrgefühl 262.
— Foltermethode II 180.
— Medizin u. Ärzte 486,
487.
Kalmücken schonen aus
Abergl. d. Läuse 62.
— Tänze 396.
Kalmückische Gebräuche
279.
Kalym II 336.
Kamarinskaja, obszöner
Text 393.
Kammerherr d. 2Sarin,
Praskowja II 419.
Kammerzofen gepeinigt II
282.
Kampf um Scheidungs-
freiheit II 414.
Kamtschadalen, Abergl.
98.
— Ansichten betr.Selbst-
mord 445.
— Gebräuche 279.
— Gebr. geg. Diebe 285.
Kannibalismus 283.
— in Hungerszeiten 454 ff.
Kanzlei, geheime II 57, 68.
d. Zaren Alexej II
58.
— III. Abtlg. II 69.
Karaiten, zumeist Tabak-
händler 424.
Karasin, Menschenfreund,
von Alexdr. I. gefangen-
gesetzt 418.
Karatygin, F., Verf. ob-
szöner Gedichte II 584.
Karikaturen, obszöne II
586.
Karp, Gründer d. Sekte
der Strigolniki 174.
Karsch, Prof. Ör., Verf.
e. Werkes üb. d. gleich-
geschl. Liebe II 570,
582.
Kartenaufschlägerinnen
63-
Kartenpartien am Hofe
Kath. II. 343.
Kartenspiel 342; II 165.
— in Gefängn. II 199.
Kartenspielen m. Iwan d.
Sehr, gefährlich II 8.
Kasan j, Universität 47.
Kaschin, Fürsten, hin-
gerichtet II II.
Kasteiung 224.
Kater als Opfer 475.
Katharina I. als Almosen-
spenderin 325.
— 630 —
Katharina I. als Ehe-
brecherin II 421.
— liebt nicht Theater4 12.
— trinkt stark 313, 314.
—8 Unsittlichkeit II 521.
Katharina II. II 113, 281,
319.
— denkt an Aufheb. d.
Leibeigensch. II 223.
— üb. Bälle am Hofe
Elisabeths 384, 385.
— u. d. Bildung 40 ff.
— stiftet Bildungsanstal-
ten f. d. weibl. Jugend
n 453-
— geg. Chappe d'Aute-
roche 430.
— baut Findelhäuser II
433.
— üb. Folter II 183, 184.
— ehrt Heiligenbilder 163.
— 8 Hofnarren 379.
— Inquisition II 68.
— Instruktion für die
Ehe II 357.
— Justiz II 53.
— alsKartenspielerin343.
— konfisziert d. Kloster-
güter 133, 134, 141.
— verordnet Knuten-
strafen f. bloße Er-
wähnung V. Präten-
denten II 135.
— geg. Korruption 289 ff.
— geg. Liberalismus 499.
— s Liebschaften II 529.
— f. d. Medizin 485.
— Milde geg. Sodomiten
u. Homosexuelle II 565.
— in. d. obszönen Kari-
katur II 586.
— befiehlt allerhärtestes
Schlagen m. Knut II
— üb. Schlagen d. Schü-
ler II 168.
— üb. Schule u. Bildung
41.
— macht d. Soldaten
trunken 315.
— über Sjrphilis II 571.
— gibt d. Tabakhandel
frei 423.
— s Tarif f. Ehrenbeleidi-
gungen 262.
— u. d. Theater 4i6ff.
Katharina IL u. ihre Tri-
baden II 564;
— will keine Todesstrafe
verhängen II 96.
— Iwanowna. Großf. II
318.
Katharinenstift II 453.
Katkows Fanatismus geg.
d. Sektiererei 204.
Kätzchen (Koschki) II
157.
— Strafinstrument II 122.
Katzen im Abergl. 97, 98,
100, 106, 481.
d. Osseten 284.
— als Zauberer u. Hexen
102.
Kaufen d. Frauen II 305,
341-
— Kaufpreis II 341, 399.
! Kaukasien II 253.
— Abergl. d. Völker 97 ff.
— Knut unbekannt II
! Kaulbars Bortig, Märchen
' 292.
Kennan, sibir. Gefängnisse
II 194.
; Ketten II 119.
I — Adelige werden n. an-
I gekettet II 83.
— Gefangene an d. Ket-
ten ermordet II 17, 28.
— als Lemzwang 41.
— Priester angekettet 149.
— als Straf mittel II 173,
174.
— schwere, müssen d.
Verbannten mitschlep-
pen II 192.
Ketzer geknutet II 135.
— müssen d. Zunge ver-
lieren II 104.
— leb. verbrannt II 92,93.
Keulen z. Erschlagen v.
Geistlichen II 18.
Keuschheit II 458.
— Elisabeth verbannt
Engelsbilder, die Amo-
retten ähneln 148.
— polizeiliche Bewachg.
d. Bäder 433.
Keuschheitsgürtel H 428,
502.
Keuschheitsschutz und
Selbstmord 447.
Kika (Kopfputz) II 360.
Kinder mitleidslos II 283.
— i. J. 1906 hingerichtet
II 97.
— uneheliche, d. Zarinnen
n 533.
— verkauft in Zeiten d.
Teuerung 45 1 f f.
— d. Wölfen vorgeworfen
II 292.
Kindererzeugung verab-
scheut 235.
Kinderfressende Geister
78, 102.
Kindermord 150; II 419.
444.
— aus rel. Fanatismus
229.
— b. d. Duchoborzen 203.
— b. d. Skopzen 246, 247.
Kindermordende Sektierer
228.
Kindermörder-Sekte 236.
248.
Kinder-Verstümmelungen
243. 245.
Kindesmord II 54, 286.
Kirche u. Malakanen 199.
— demoliert II 255.
— haben d. Stundisten
nicht 203.
Kirchenbesuch u. Koitus
II 506.
Kirchenfeste 3 50 ff., 406.
Kirchenmusik 403.
Kirchenschändung 497.
— d. Peter d. Gr. II 43.
Kirghisen, Abergl. 96.
— Medizin 486.
— unkeusche Braut II
503.
Kitzler-Sekte 249.
Kjutschitschi. Fabriksort
für Krüppel 67.
Klagen d. Leibeig. geg. d.
I Herren, Gesetze II 219,
! 221, 222, 223. 228.
Klagerecht d. Leibeigenen
II 242.
Klapsweib, Hofamt 379.
Kleider, polnische 18.
— Händler, die alt-
modische verkaufen, ge-
knutet II 136.
i Kleiderluxus Elisabeths
383.
- 631
Kleiderreform 17 ff.
Kleidung (Tracht) 37.
— europ. 4CX).
— verursacht Unreinlich-
keit 436.
Kleininichel, Graf II 169.
Kleinrussen, Einfluß auf
d. Kultur d. Klerus 140.
Kleinruss. Sittlichkeit 39 5.
Kiepen, Bettlerort 328.
Klerus in erot. Erzäh-
lungen verspott. II 61 1.
— d. Unsittlichk. in ob-
szönen Liedern ver-
spottet II 601.
— u. Wollust 59.
Klistiere, Angst davor
485.
Kloster u. Ehe 146.
— bruderschaft Iwans d.
Sehr. II II, 12.
Klosterregeln 144 ff.,
Klöster, Sittenlosigk. dar-
in I46ff.
Klösterstaat Rußlands
132. 133.
Klöster, Ziele d. Bettler
330.
Klubs 347, 386, 387.
— physischer Klub II
543.
Knabenraub II 310.
Kniebeugung vor d. Zaren
365.
Knotenknüpfen II 373,
380.
Knut 205, 276, ff. 286 ff.,
303, 422 ff.; II 39, 42,
51. 55» 62, 90. ii3ff.,
117, I22ff., 125, 126,
129, I32ff., 154, 180.
— Abschaffung II 129.
— bekehrt z. Orthodoxie
117, 118.
— Beschreib, d. Instru-
ments II 133, 134.
— f. Denunzianten II 60.
— als Folterwerkzeug II
40.
— noch heute in Ge-
brauch II 172, 173.
— f. Kartenspieler 343.
— gegen Ketzer 182.
— f. unvorsichtige Reden
451.
Knut und Peitsche, was
schwerere Strafe sei II
153.
— u. Pletj II 154.
— u. Spießruten II 158.
— Wippen u. Feuer als
Strafe f. Korruption
II 361.
— von Europ. verteidigt
II 144, 145.
— V. Nik. I. abgeschafft
II 144.
Knutenstrafe f. Lomo-
nossow 418.
Knüttel z. Schlagen d.
Gefangenen II 177.
Koch, gehängt, der eine
Speise verdirbt II 45.
Kodex f. Leibeigene II
227.
Kokowzew, Finanzminist.
458.
Koljada, Fest 351.
Koltowskoj, Anna, weg.
Abmagern verstoßen II
351-
Kombinierte Strafen II
109 ff.
Konstantin. Herz. v. Ol-
denburg, u. d. Kauka-
sierin II 540.
Konstantin Nikolajew. II
538.
Konstantin Pawlow. ,Grßf .
379.
— s. Ehescheidg. II 410.
Konvulsionen kommen v.
Teufel 190.
Kopf ab! Peters d. Gr.
Lieblingsdrohung II 42.
Köpfen 495; II 91.
Kopje II 307.
Kopjewitsch, Elias 33.
Koptjajew, Komponist
404.
Korilin, Prophet d. Un-
zucht 235.
Korngarben als Braut-
lager II 361, 364.
Komwucherer, V. Kath.II.
witzig bestraft 453.
Körperl. Züchtigung II
97. ii3ff-
Körperstrafen 260, 261;
II 82, 122.
, — abgeschafft II 83.
Körperstrafen fördern
Uniformierunj? u. Bart-
reform u^ter Alex. I.30.
— f. Geistliche 27, 11 8 ff.,
124.
— f. Sektierer 184, 185.
— f. Steuerschuldner II
74-
Korpulenz d. Frau be-
liebt II 350, 354.
— d. Zarin Sofia Alexej.
II 350.
Korruption 28 5 ff., 458,
464; II 80. 81, 89.
— d. Gefängnisverwaltg.
n 193. 197. 199.
— d. Geistlichen 124,
127 ff., 149.
— d. Oberprok. d. heil.
Synod. 138.
— d. Polizei II y^, 74.
— d. Professoren 48.
— d. Richter 287; II 79.
— d. Verwaltung II 225.
— bei Zarenhochzeiten II
361.
— erleichtert d. Situa-
tion der Sektierer 186.
— fördert d. Proselytis-
mus 117, 118.
— gegeißelt 419.
— Kämpfer dagegen, geh.
zugrunde 189.
— selts. Auffass. Tatisch-
tschews 288.
Korsakow, Günstling 417;
II 55.
Kosaken, Abergl. 64.
— als Jäger 342.
— Empörung weg.Bärte-
abschn. 29.
lieder, obszöne 393.
niederlassung, Zen-
trum d. Räuberbanden
489.
Kossoj, Ketzer 178.
Kotoschichin, russ. Sitten-
schilderer 269; II 99,
142. 315, 365.
Krähe im Abergl. loi.
Kramer, Anna II 522.
— Johann 32.
Krämpfe, v. Hexen ver-
ursacht 82 ff.
Kranichtanz 394.
Krankheiten 483 ff.
632
Krankheiten, AnlaQ z.
Ehescheidg. 11 411.
Krank he itsdämone 460.
Kränze in d. Fluß werfen
353-
Krestjanin (Christ), als
Schimpiwort, wird z.
Bezeichn. d. Muschik
II JJO. 221.
Krestowskij, Sittenschit-
derer II 581.
Kreuz, Tabalcspfeife als
423'
— u. Abergl. 102.
— verworfen an.
Kreuichen, Tantart der
Skopzy 242.
Kreuzschlagen 115, 116.
Krenischwur, Trunksucht
zu fördern 304.
Krieg u. Beteiligung d.
Slawinnen II 303.
Krieger nennen s. die
Gäste <1. Braut II 377.
Kriegsreglcment Peters d.
Gr. II 157, 419, 541.
Krim krieg II 320.
— d. Abergl. entstanden
61.
Krischanow-skij, General
Kronsbauern II 225II.
Krüdener, Frau v. t66;
H 537-
Krüppel 32g.
Kubraki, Bettlergesell-
schaft 327,
Kuckuck im Abergl. 101.
— gibt d. Verbannten d.
Signal z. Flucht II 196.
Kuhlmann, Sektierer, leb.
verbrannt iSl, 21S.
Ku], Komponist 404.
Kultur u. Geistl. 134.
Kümmel, Richter, läßt
foltern II 185.
Kummet f. Hexen probe
i6.
Kunawino. Huren quartier
vonN. -Nowgorod II 549.
Kunstkabinett Peters d.
Gr, voll Obszönitäten
Ktinatmuaik 403.
Kupalo ». Iwan Kupalo.
Kuppelei II 542.
— Strafen II 164, 554.
Auspeitschung 57.
Kuppler geknutet II 136.
— als Pedelle 50.
Kurbskijs Brief an Iwan
d. Sehr. 11 12.
Kurizyn Fedor. Sektierer
176.
Kurijäten, Fürst, hinge-
richtet II II.
Kusmitsch, Zauberer u.
Kurpfuscher 483.
Kutschkowsches Feld,
Hinrichtungsplatz II 87.
KwaQ 311.
Kyril Wladimirow. II 539.
Labory od. Lodyry, Bett-
lergesc Ilse halt 327.
Lakai, d. Kath. II. Nacht-
ruhe stört, erhält 100
Knutenhiebe II 55.
Lakaien als Lehrer 44.
Langbärte. Reaktionäre,
— nur können Patri-
Langlcbigkeit todes wür-
dig 476; II 26.
Lärmgasse in Riga. Hu-
renviertel 11 548.
Laster 25 7 H.
Lateinisch sprechen Sünde
Läuse, nicht getötet 62.
Läusespiel 350.
Lebedew, N. N. II 128.
Lebendig begraben, Strafe
j f. Gattenmord II 54.
begrabene Sektierer
I Lebensmittel Wucherer be-
straft 11 154.
j Lefort. Peters d. Gr. Leh-
I reru.Saufmeister 3o6(f.,
1 381.
I Legitimität d. Romanows
1 11 5".
Lehrerbörse 44.
Leibeigene 291 ; 11 433.
— geknutet II 133.
I — geschlagen II 116.
I — körp. geiüchtigt II
1 124.
i — grausambehandeltrso.
I — ihre Ermordung we-
! niger strafbar als Bart-
I ausraufen i8.
1 — können v. d. Guts-
I herren verbannt wer-
253-
— eingraben II 90, 93,
94-
— verbrennen II 26, 92.
— ^ Brandstifter 450.
— ■ verbrennt man noch
heute Zauberei 481.
Lebendverstorbene, Sek-
tierer 249.
Lebensmittel in Adern
verborgen II 305.
— -falscher, Strafe II
192.
- der Klöster 13z.
— wählen d. Lehrer f. d.
Herrschaftskinder aus
44.
-~ als Musiker abgerich-
tet 403. 407.
— als Opernkomp. TI
228 ff.
— werden gepeitscht II
[52.
— strafweise als Wärter
u. Wärterinnen in Sy-
philis-Hospitälern II
573-
Lei beigen scbalt 11 2isff.
— Geschichte II 319.
— freiwillige, statt Kör-
perstrafe II t 17.
— in d. Ostseeprovinien
aufgehoben II 250.
— u. Sektenwesen 3i6.
Leichenschändung 183,
— aus Abergl. 280, 28 t,
448, 478-
— aus polit. Rachemoti-
vcn II 4. 5.
Leichen Verstümmelung
aus Abergl. 71.
Lensäus, Leibarzt Iwans
IV. II 10.
Leon d. Jude, Arzt 465.
— von Bostow, Ketzer
— 633 —
Lermontow, Päderast II
569.
— s geheime Päder. - Ge-
dichte II 582.
Lesen u. Schreiben unbe-
kannt 37.
Lesghierin, d. II 329.
L'Estocq, Chirurg, II 49.
Lettin, d. II 335.
Lettische Republik II 250.
Leuchtenberge II 538.
Lexikalisches, obszöne
Sprache d. Volksbühne
415.
Lexikon , sexuelles II
588«.
Ljadow, Komponist 404.
Libussa II 302.
Lichoimstwo s. Korrup-
tion
Licht aus Menschenfett II
305.
Lichtauslöscher, erot.
Sekte 227.
Lidwall, Schwindelliefe-
rant 458.
Liebe braucht k. priesterl.
Segen 232.
— ist roheste Wollust II
356.
— gleichgeschlechtliche
II 561 ff.
— lesbische II 563.
Lieben dürfen Leibeigene
n. ohne Erlaubnis d.
Herrschaft II 236.
Liebesaffäre v. Kath. IL
mild beurteilt II 54.
Liebeslieder d. Russen II
356. 374.
— wotjäkische II 354.
Liebesverhältnis d. Zarin
Jewdokia II 420.
Liebeszauber 58.
Liebschaften Alexanders I.
n 537.
Lied, obszönes, üb. d . Penis
II 484.
über d. Vulva II
485.
— d. Springer-Sekte 227.
— Volkslied, d. Kanni-
bal. bezeugend, 283.
Lieder, alte 191.
— erotische u. abszöne
II 6ooff.
Lieder feiern d. Grausam-
keit II 253.
— V. Iwan d. Sehr. 253;
II 213.
— obszöne 105, 392, 395;
II 366, 368, 370, 384,
389, 5 89 ff.
d. balt. Studenten
II 589.
d. Kleinrussen II
489.
— päderast. II 567 ff.
— aus d. Räuberleben 490.
— V. Räuber Stenjka Ra-
sin II 253.
— religiös-obszöne 227.
— skatologische II 498.
— der Skopzy 242, 248.
— über d. unkeusche
Braut II 495.
— z. Lobe d. Jungfern-
schaft II 494.
Linar, Liebhaber d. Re-
gentin Anna 413.
Linjki, Tau, als Straf -
mittel II 122, 156.
Lipezker Schlacht II 255.
Lippen abschneiden,
Strafe II 102.
— d. weibl. Zeugungs-
gliedes II 590.
Literarische Salons II 319.
Littrow, Astronom 48.
Livland v. d. Russen ver-
heert II 255.
Lobas, Dr., Bericht über
Folter u. Prügelstrafe
in Gefängnissen II 172.
Lobnoje mjesto zu Mos-
kau 495, 496.
Locatelli, Theaterdirektor
414.
Lodz, Anstalt f. falsche
Zeugnisse 268.
Lohn f. Denunzianten II
6off.
Lomonossow, Dichter 316,
415, II 48.
— von der Knutenstrafe
befreit 418.
— s Gedicht ,,Der bepißte
Popenbart" 27, 28.
Lopuchin, Anna, Geliebte
Pauls I. II 536.
— Natalia, geknutet 384;
II 49, 50, 104.
Loris-Melikow, Päderast
II 567.
Loskauf V. Strafen II 125.
Loths Geschichte, nachge-
ahmt V. Sektierern 227.
Löwenstern, Baron, über
Unsittl. auf russ. Hof-
bällen 387.
— üb. Kartenspieler 345.
Löwenwolde, R. II 50,
523.
Lubjänowskis Besuch b.
Skopzengott 240.
Lüge 215, 266ff.
Lügen u. Stehlen keine
Laster II 248.
Lügenhaftigkeit d. Re-
gierg. II 122.
Lügenpropheten 231.
Lügensucht 35, 271.
Lügner II 100.
Luntzius, Lobrede auf
Boriß God. $2.
Lupkin, Heiliger d. Skop-
zen 183, 238.
Lustseuche II 571 ff.
— in Polen II 467.
Lutherische Pastoren ver-
dächtigt 2o6ff.
L^mchjustiz II 254.
— an Ehebrecherinnen II
426.
— d. Leibeigenen II 2 37 f.
Mädchen der Prostitution
verkauft II 550.
brüste, üppige, Zeichen
V. Unkeuschheit II 354.
gymnasien II 454.
— -raub II 336.
Schändung, Strafe da-
für II 126.
schulen, Prügelstrafe
II 169 ff.
Magere Frauen gehaßt II
Matrona t)anilowna, Plau-
dertasche 379.
Majestätsbeleidigung,
Strafe II 153.
Makarjew, Krüppelland
330.
Makarij, Metropolit 32.
Mäkinin, Generalfiskal
289.
634
Malakanen, Sektierer
196 ü.
— Ausspr. üb. Kirche
199.
Maler dürfen in Frauen-
bäder eintreten 431.
Malewan, Sektengründer
253.
Mann für Mann, Taniart
d. Skopzy 242.
Mann als Zuchtmeister d.
Frau II }ii.
Mannesbeischlaf s. Sodo-
miten II 566.
Männerkleider Ehsabeths
3«3-
Männhebe Prostituierte
ir 549-
Märchen u. Sagen v.
Trunksüchtigen 295 ff.
Marder, Bezeichnung f.
Vulva II 591.
Maria Possatniza, Prophe»
tin der Donkosaken zzo.
Maria, e. Hexe, v. Iwan
d. Sehr, verbrannt II
— Iwans d. Sehr. Ge-
mahlin II 31.
— Priniessin. opfert e.
Bischof ihre Jungfern-
schaft 59.
Marina. Gemahlin d. Pseu-
do-Dmitrij 147. 380.
Marinin, Ort v. Krüppeln
329-
Marinka, Zauberin So.
Marseillaise, Gesang, be-
straft 11 169.
Martinowzi, Sekte 174.
Marzell, Mctrop,, kann s.
Bartes weg. n. Patri-
arch wcrd. j6,
Maskenbälle 386.
Maskenfeste 361.
Maskenspiele 351.
Maskerade, unanständige,
v. Iwan d. Sehr, auf- '
geführt II 10.
— Peters d, Gr. 37o(f. ,
Masolskoj gehängt 288. 1
Massenf oiterungen II 290. |
Massieren, Folter II 1S9. |
Mäßigkcitsparlament 320. 1
Masturbation II 457,
Matwejew II 316. |
Matwejew Bojar, Bedeut.
f. d. russ. Theater 406.
Mäuse im Abergl. 100.
Maximd. Grieche 13s, 188.
Mayerberg II 311,
Medizin 465 ff.
— u. Abergl. 62.
d. Volkes 473.
(Gelbsucht) loi.
Medizinbuch, erstes russ.
466.
Medizinische Ratschläge
(.d.Henkerllioi, roz.
Meiden d. Verwandten d.
Braut II 506.
Meineid 26S, 2S7.
— kein Verbrechen 259.
Meinung d. Russen über d.
Frau II 302.
Meljnikow-Petscherskij,
Sektenschi 1 derer 236.
Mengden. Juliane, Tribade
II S63
Menschenblut, Heilmittel
481.
handel 11 242.
markte II 232.
Opfer 68 ff, 106, 478.
— b. Epidemien 474. 47S.
Menstruation u. Abergl.
90.
Menstruierende unrein
108; II 507.
Mentschikow, Fürst 22;
II 310.
— alsHonkersknecht49S.
— diktiert s, Schwager
Knutung II 60.
— s. Diebstähle 272ff.
— s Narrenlest 373.
— Peters Bettgenosse II
: II
— V. Peter gckni
43.
Meteljka, ThronanmaOer,
geknutet II 135.
Michael, Zar II 95.
— s Buchdruckerei 33.
— geg. d. Tabakrauchen
421.
— Michajlow, II 538.
— Pawlow., GroDf.. Päd-
erast II 566.
Militärdienst u. Sektierei
185, 199. 216-
MUlionäre unter Leibei-
genen II 226.
Miloslawskij Ilja II 312,
. — Maria, Zarin II 362.
Minister geprügelt II 42,
MinLsterposten für e.
Schauspieler 416-
Mirowitsch II 53.
Mißbrauch d. Amtsge-
walt II 184, 1S6.
Mißgeburten 66, 67.
— bei den Kalmückea95,
— u, Peter d. Gr. 472 ff,
— als Narren 374.
Mitgift II 364-
— d. Tochter d. Zaren
Michael II 359.
Mitkow gegen Iwan II 14.
Mittwoch L^n Abergl. loi.
— d. Karvroche 358.
— ist bei e. Sekte Ostern
p. Sonntag 210.
Mjatsch. Lederballspiel
389-
Modebilder in den Straßen
afiichiert 18.
Mogila, Peter 136.
Mohn im Abergl. 70'.
Molifre übersetzt 410.
Möller-Sakocnelski. foltert
Gelang, H 187.
Mond im Abergl. looff.
Mons, Liebhaber Katha-
rinas I. 376T II 43.
Montag im Abergl. 65.
Mord 2t6, 266, 267.
— aus Abergl. 480. 483,
— aus rel. Fanat, 229.
— in Frauenklöstern 151.
— Hexenmorde 83 ff.
— an Lcibeig, II 246.
— b, d. Malakanen 19S.
Morden d, Juden nnt. Ni-
kolaj IL 11 274-
— d, Sklaven nicht straf-
— nach d. Takt d. Gebets
II 87.
Mördersektierer 249.
Morelschtschiki, Selbst -
verbrennet 251,
— 635
Moriz V. Sachsen u. Anna
Iwanowna II 525.
Morosow, B. J., betrinkt
s. an Alexejs Tafel 305.
— s Korruption bei Zarin-
wahl II 361.
— V.S.Frau betrogenIl4i 7.
— berücht.Gefängnisgou-
verneur II 177.
Motol, Bettlerort 327.
Mozart soll f. Patjomkin
engagiert werden 402.
Mstislaw, Bettlerort 327.
Münnichs, Feldmarschall,
Folterung II 183.
— als Greis u. Wollüst-
ling II 534.
Münze II 307.
Murasow, Gouv. v. Tam-
bow 501 ; II 4.
Murawjews Memoran-
dum üb. Verbann, n.
Sibirien II 20off.
Muschik. d. als Ehemann
II 297.
— Trunksucht 317.
Musik 399 ff, 407 ,4 IG ff.,
417; II 252.
— bei Jagden 341.
— im Kloster 147.
instrumente 399, 401.
— Ketzerei 380.
Musikanten-Niedermetzel.
II 252.
Mussorgskij, Kompon.404
Mutter u. Tochter II 488.
Mütze der Geistl. geehrt
124, 125.
Mysterien-Aufführungen
405.
Mystizismus 164 ff.
— in Altrußland 173.
Nabokow II 567.
Nachtgeschirr- Benützung
müssen d. Gefangenen
bezahlen II 193.
Nachtigallen fangen, Stra-
fe II 123.
Nackt durch d. Straßen
schleifen, Strafe für
Ehebruch 203.
— müssen wegen Hurerei
Bestrafte d. Strafe er-
leiden II 138.
Nackt werden d. Geistl.
geschlagen II 150.
Nacktheit 3 54 ff, 372; II
52-
— u. Abergl. 106, 480 ff.
— u. Religion 115.
— keine Schande II 478.
Nägel als Folterwerkzeuge
II 28.
. Nagaika, Züchtig.-Instru-
ment II 129.
Nagoj, Schwiegervater
Iwans, II 30.
Nalejka, Vorstadt v. Mos-
kau 303.
Namen verlieren Leib-
eigene II 227.
Napoleon als russ. Sekten-
gott 215«.
Narjeschnij, W., Verfasser
frivoler Romane II 581.
Narren 367 ff.
Narrenorden 374.
Narrenspiele am Hofe An-
nas 374.
Närrische Käuze,Sektierer
233.
Naryschkin, Leo, Spaß-
macher 379.
— Maria, Geliebte Alex-
anders I. 387, 392.
— Oberst Jägermeister, v.
Zar gehörnt 387.
— Zarin Natalia II 316.
Nase abschneiden II 102,
III.
Nasenlöcher aufschlitzen
422; II 99, 112.
Natalia. Prinz., ihre grus.
Dramen 410, 412.
— Zarin 408.
Nationalismus u. Koitus
II 511.
Nebogatow, Admiral, be-
trunken 319.
Nekrophilie 479.
Neledinskij, Edelmann II
.287.
Nelidow. Katharina 166;
n 536.
— Olympia, Geliebte Ni-
kolajs I. II 537.
Nepotrebstwo (Liederlich-
keit) II 543.
Nesterow, russ. Cato,
selbst korrupt 287, 288.
Nestor II 254, 458.
Neuber, Caroline 413.
Neugeborne im Schwitz-
bad 436, 437.
Newesta (Unbekannte),
Bezeichnung f. Braut
II 365.
Nichtbetende Sektierer
211.
Nicoles, Schule in Ruß-
land 43.
Niederknien vor d. Zaren
bei Knutenstrafe ver-
boten II 45.
V. Paul gefordert
II 56.
Nihilismus 500.
Nihilisten der Religion
231, 232.
Nikitenko, Prof. II 128.
Nikolajsl., Aberglaubeöi,
63.
— u. d. Bildung 48.
— u. d. Dichter 419.
— geg. Ehebruch 387.
— u. d. Premiere v. Go-
gol js Revisor 293.
— geg. Sodbmie u. Päd-
erastie II 565.
— u. d. heil. Synod 139.
— geg. d. Tabakrauchen
423.
— u. d. Theater 420.
— geg. d. unehel. Kinder
II 438-
— geg. unmoralische Lite-
ratur II 580.
— s relig. Fanatismus 1 1 7.
— s Grausamkeit 183: II
56, 141, i6off.
— s Mystizismus 166.
— prügelt s. Leute II 56.
— verbietet. Fremden e.
Knut zu zeigen II 129.
— verordnet 50 versch.
Knutenstrafen II 136.
— zerstört d. Einsiede-
leien d. Sektierer 196.
Nikolaj II. II 540.
— jßmennt e. Heiligen
157. 158-
— 3 Mystizismus 167.
— und Sektenwesen 187.
— u. d. Tänzerin Ma-
thilde Krzesinska II
539-
Nikolaj u. ä. Theater 430.
~ d. heil. 93, tsSii.
— Konstantin., Groß-
liirst. Kleptomane 274;
II 538.
— Nikolaj e witsch d. Al-
tere bestiehlt d. Armee-
kasse 259, 274.
d. Jüngere 274.
Nikolajewna Maria II 53S.
— Olga, GroOf. II 537.
Nikon. Patriarch, 1 37,
187 ff, 403-
Nikonow, Deserteur, Sek-
ten-Oberhaupt 355.
Nischnij- Nowgorod. Sage
V. Schwengeltunn 68.
Nogaier. starke Raucher
als Räuberhaupt-
424.
mann 493-
Nossom Wittwe, ihre Gü-
ter weg. liederl. Lebens
konfisziert II 592.
Notzucht 201.
— e. Archimandrit ver-
gewaltigt e. Mädchen
auf off. StraQe 148, 149.
Nouveaut6s der Moden u.
d. Zarin 383; II 49.
Nowgorod von Iwan ler-
stört II [8 ff.
Nowgoroder Bischof u.
tschudischer Zauberer
103.
Nowikow, Freimaurer 499.
— Nik. über d. Leibei-
genschaft II 223.
Nüchternheit verdächtig
Oberherrschaft in d. Ehe
II 396. 399-
Oberhoheit d. Mannes II
325-
Obolenskij. Dmit., v.Iwan
erdolcht II 10.
— Peter, enthauptet II
Obrasow, Schankwirt 304.
Odeure als Schnaps 323.
Odojewskij, Schwager
Iwans II 30.
Ofen, worin Menschen ge-
br. werden II 28.
Ofenheizen zu um-echtcr
Zeit II 148.
Ohr abhauen 276.
— abreißen II 102. 1
— abschneiden II iio. 1
Ohrfeigen u. SängerinoeD '
II 46.
— u. Poliieimeister II 59.
— V. Zarin Elisabeth II
48. 49-
Oleaiius. niss. Scham-
losigkeit 429.
Oleg, Großfürst, u. ä. Zau-
— Fürst v.Rjäsan II 2:1.
Oltusjew, Frau, u. zari-
sches Trinkgelage 313.
Olga, Großf. II 302.
Onanie gottgefällig 235.
Operationsmethoden der
Skopzy 24!. 243.
Opfer in Epidemiezeiten
474-
Opritschina, Leibgarde
Iwans II 8ff, 58.
Ordensritter, deutsche Sit-
tenlosigkeit 207.
— deutsche, u. Leibeigen-
schaft II 240.
Orgien d, Skopzen 247.
Orlow, Fürst, Trunken-
bold 316.
— Gregor, als Schauspie-
ler 417.
I Ort d. Verbrechens ist Ort
d. Strafe II [38, 154.
Orthodoxie 9"ff-
-~ u. Ehescheidung II
412. 414-
— u. Lüge 269.
— verspottet 492.
I Osseten, d. Christentum
u. Islam 97.
— • Snochatschestwo II
Ossetin, d. II 331.
Ossetische Gebr. 279, 284.
Osterei bei Bestechungen
I Ostermann. Lehrer II 452.
Ostern 363.
' — abergl. Gebr. 55.
' — fällt auf e. Mittwoch
' — bei d. Sektierern 227.
' Ostjakengeschlecht, Kus-
I samin II 290.
l Ostjakin, d. II 328.
> Ostrowski] , Dichter 419.
' Ostseeproviozen kennen
, d. Knut nicht II 136.
— Stöcke als Strafmittel
II 149-
Päderasteaanstalt d.
; Schuldirektor Bitsch-
, kow If 457.
. PäderastengedichtellsSj.
Päderastie 434.
— Bezeichnung dafür II
593.
— in Bädern u. Hoteis
II s,o.
— in Gefängnissen II 193.
— gottgefällig S3S.
Palast d. Ergötzlichkeiten
408 ff.
Palmsonntag 362.
Panin, Kartenspieler 345.
Paoow. moderner Christus
217.
Paolo. .\rzt 466.
Paschkow, u. d.
stund isten 2
Pässe, falsche II 155.
— — bei Sektierern 199,
— für d. andere Welt
156 ff.
— verabwheut 253.
Patalajew. Richter, be-
stechlich 291.
Patjomkin (Potemkin)
273. 418; n 311-
— als Kartenspieler 344.
— als Trunkenbold 316.
— Musikliebhaber 402.
— prügelt Kath. II. 1X55,
— 's Asche ins Wasser ge-
worfen II 5.
Patriarch v. Peter ver-
höhnt 371.
Patriarchat 211.
Paul I, Buchdruckereien
43-
t Heilige 155,
- 637 —
Pauls I. Gcschlechtsreife-
prüfung II 536.
— s selts. Gesetze II 82.
— als Freimaurerfreund
499. 500-
— s geh. Kanzlei II 69.
— lebt m. e. dicken
Köchin II 351.
— s Mystizismus 166.
— u. Tcxiesstrafe II 96.
— verbannt Leichname
156.
— s Wahnsinn II 55.
— Alexandrow., Großf. II
540.
Pedrillo, Hofnarr 376.
Peitsche 58; II 75, 119,
122, 149 ff., 192, 210.
— u. Batogen II 153,
223.
— u. Gattin II 311.
— erzieht Schauspieler
411.
— i. J. 1906 II 156.
— d. Liebesgott d. Letten
II 249.
— vgl. Pletj.
Peitschen d. Leibeigenen
II 227, 230.
— während d. Mahlzeit
II 283.
Pcitschenduell 264.
Peitschenstrafe 287.
— f. Bartträger 23.
— f. Kuppelei 59.
Penis, Beschaffenheit II
484.
— Größe 394.
— künstlicher, d. Skopzen
244.
— zwergenhaft bei d.
Kamtschadalen II 475.
— u. Bajonett, Lied 393.
— ungeheurer, v. Peter d.
Gr. ausgestopft 472.
Pensionat II 453, 457.
Perchowzy-Sekte 210.
Pereswa, Hochz. -Zeremo-
nie 394.
Pcrewertyschy, Skopzen-
sekte 245.
Pergament, Dumaabge-
ordn. über Folterungen
II 187, 188.
PermschesGouvernement,
Heiratsbr. II 369, 372.
Perücke d. Gräfin Ssalty-
kow II 229.
Perversität Elisabeths4i4.
Pest u. Abergl. 55.
Pestel foltertSektierer 213.
Peter L, d.Gr. 11200,286.
— gilt als Antichrist 190,
191, 192.
— u. Aprilscherz 411.
— als Arzt 471.
— führt Bälle ein 380.
— s Bartreform 2 1 ff.
— prügelt s. höchsten Be-
amten II 126.
— gegen Bettelei 325.
— Behandlung s. Familie
II 286.
V. Frauen u. Mai-
tressen II 296.
— u. d. Bildung 31 ff.
— s Briefwechsel m. Ka-
tharina II 357.
— u. d. Buchdruck 33.
— fordert Denunzierun-
gen II 60.
— geg. hohe Diebe 272.
— geg. Diebstahl 277.
— geg. Dirnen II 541.
— als Folterknecht II 182,
183.
— emanzipiert d. Frau
II 296. 317.
— läßt e. Frauenzunge
herausreiß. II 104.
— u. d. Gebeine des Alex-
ander Newsky 108.
— Geldstrafen statt Kör-
perstr. II 121.
— Grausamkeit II 38 ff.
— graus. Gesetze II 157.
— geg. Hazardspiele 343.
— geg. Heiligenbilder 163.
— als Henker 495 ; II 40.
— s Hofnarren 368.
— u. die Hure II 432.
— Feind d. Jagd 337.
— verbannt Jewdokiai44.
— s Justiz II 79.
— s Ketzerverbrenng. 182.
— geg. die Klöster 143 ff.
— knutet selbst II 135.
— s Kommentar d. 10 Ge-
bote II 423.
— geg. Korruption 287.
— Begründer d.Leibeigen-
schaft II 222.
Peters seltsame Medika-
mente 473.
— Musikliebhaber 401.
— s Mystizismus 166.
— schändet Leichen II 5.
— geg. obszöne Literatur
II 580.
— u. d. Patriarchat 138.
— als Sodomit u. Päder-
ast II 561.
— schamlas II 459.
— durch d. heil. Ssergij
gerettet 161.
— u. d. Steuerschuldner
II 75.
— graus. Strafen II 89,
HO, 122 ff.
— f. d. Tabakrauchen 42 2,
423-
— als Tanzmeister 381.
— bei Tische 17.
— s Traumabergl. 61.
— prüft d. Treue s. Leib-
arztes 470.
— Trinkgelage jo6.
— unehelich 471 ; II 418,
471.
— u. ausländ. Urteile 35.
Peter II. als Jagdliebhaber
3 38 ff.
Peter III. u. d. Bart d.
Kleriker 28.
— s geh. Expedition II 68.
— geg. Heiligenbilder 163.
— s Hutreform 18'.
— s Liebschaften II 522,
529.
— als Skopzengott 237.
— in d. Skopzenlegenden
239-
Petersburger Bordelle II
546.
— Universität 48.
Petrowki 356, 357.
Petrowna Joh., Kammer-
frau Kath. I. II 523.
Pfählen 495; II 13.
Pfänderspiel am Hofe
Kath. II. 385.
Pfannen z. Braten v.
Menschen II 28.
Pfeifen im Abergl. 96.
Pferde hochgeschätzt II
86.
Photius, Patriarch H 251.
Physischer Klub II 543.
Pimen, ErzbUchaf,II 19,
Pirogow, Chirurg, Erinne-
rungen an s. Schulzeit
45-
— üb. Hochschulen 50.
— Prügeln in d. Schule
II 169.
Pisda siehe Geschlechts-
teile d. Frau.
Pissemsky, Dichter 419.
— ru5s. Gesandter II 33,
Pletj 205.
— s. auch Peitsche.
Pletka, Peitsche, II 156-
Pobjedonosszew 49. 169.
— Päderast II 567.
— geg. d. Stundisten 204.
— Verlogenheit in 3. Wer-
ken 267, 2C6.
Pocken, Tod Peters II
340-
Podlipika. Peitschell 153.
Pogrom II 173, 275,
— in Odessa II 275, in
Siedlet« 276,
— lur Ausrottung d.Polen
II 252.
— Erklärung d. Wortes
II 17.
Polen in Rußland, Sitten-
loslgkeit II 464.
Polenira, Heldin II 303.
Polizei 267, 269, 274; II
57, 67, 71H.. tigd.,
148, 317-
— ihr Aberglaube 478,
— darf brandmarken II
— dirigiert die Volks-
theater 4'8.
— foltert troti aller Ver-
bote noch heute II 185.
— f. körp. Züchtigungen
eintretend II 128.
— u. Klerus 186.
— Trunksucht 315.
— vollzieht Prügelaulträ-
ge an Leibeignen II 231.
Polizeimeister II 77.
— erster, v. Petersburg
II 58.
— als Prügeimcister II
1S3.
Polizisten, betrunken 00.
— als Diebe u. Mörder
11 67.
I Polkau, Reise 78,
.' Pöünitz, Baron, üb. Peters
j I. Trunksucht 307.
■ Polnischer Abergl. 444.
Polnische Geister 79. ,
■ — obszöne Lieder II G08, ,
— Tänze 395.
1 — UnSittlichkeit II 465. '
I Polygamie, Todesstrafe ,
darauf II 408.
I Pomorzy, Sektierer 196,
I HO.
PopenimmtteilamHexen-
l mord 84.
I Popen tragen langes Haar
j — als Sodomiten II 559.
I — unreine Wesen u. Zau-
! Popenfrauen müssen sitt-
sam sein 127.
Popow, ber. Sektierer 199. ,
— über mangelnde Justiz 1
, II 53 1
Poreskaja Marfa II 306. 1
' Porträts d. Zarin, Strafe f. I
I schlecht gemalte II 155. j
Posnikow. Frau, verkauft ,
I ihre leibeig. Mädchen 1
an Wüstlinge II 233.
Possoch (Stab) II 120. ,
Posthalter, unpünktliche,
verbannt 11 191. '
Potapow, weiblicher Mann '
, II 567-
' Potemkin s. Patjomkin.
Potenz II 379.
— hohe 321.
— Peters d. Gr. 343. I
I Prämie f. Rattentötung
II 197.
] — f. Trinken 304, 320.
, Praskowja, Zarin, Sitten ,
ihres Hofes II 524.
I Pjatnitza 358. 1
Preise f. Frauen II 334.
— f. Leibeigene II 227, j
233.
Preobraschensker Prikas
n 39- S8, 61. i
Priester u. Malakanen 193. 1
— verpönt 203.
Priesterliche u. -lose Sek- '
■ ten 171 ff. I
' Printien.preuQ. Diplomat ,
' 495- '
Privatunterricht II 456,
Privilegien b. körp.Strafen
.II Baff, 126, 137, ISO.
Probenächte II 4Soff.
— b. d. Kosaken II 482.
— d. Tartaren II 481.
Professoren, Korruption
48, so.
Prophezeiung, Peter d. Gr.
betr. 58, 59.
Proschi jakow verkauft
Lehrerstellen 29 1 .
Proselytismus ii6ff., 369.
Prostitution II S24.
— durch d. Gutsherren ge-
fördert II 192.
—am Hofe Kath. II. II
543-
— als Kulthandlung t$2.
— d. Leibeigenen II 233.
— öffentliche II 541.
— U.Religion 114,1 15.235.
— in Tiflis II 474.
— zwecks Rekrutierung
V. Skopzen Jüngern 246.
Prostituierte, Skopzen -
weiber 244.
Protasow 11 564.
Protestantische Kirchen-
zerstörg. 181.
Protestantismus bei Sek-
ten 203.
Prüderie II 463.
Prüfung d. aus). Arzte d.
Würdenträger 466.
Prügeln allgemeine Sitte
U 215.
Prügelstock Nikolajs I. II
56.
Prügelstrafen s. Körper-
strafen.
— in Gefängnissen II T72,
Pseudo-Dmitrij 18. 380,
494, 496; II 4, 93-
— s Bartlosigkeit 21.
— entheiligt Klöster d.
Ausschweifungen 147.
— ermordet II 252.
— Sittenlosigkeit II 464.
— (d. Vierte) wird gehängt
II 95-
Pseudo-Peterlll. 496.
Pseudo- Zaren als Sektie-
rergründer 215.
Pskower Bettler 328.
— Sklavensinn II 2I3.
639 —
Puder, Import 40.
Puffendorfs Staatenge-
schichte 34.
Pug^tschew 490, 496; II
53. 96, 154.
— u. d. Bartfreunde 29.
Pulvergeruch, wie Peter
d. Russen daran ge-
wöhnt 370.
Pulvertonne als Hinricht.-
Instrument II 24.
Puschkin, Adrian, Sek-
tierer, verlangt Güter-
verteilung 195.
— Dichter, Duell 265.
— Erzählung von e. ver-
bannten Leibeigenen II
236.
— geprügelt II 56.
— Päderast II 569.
Pussepp, Richter, not-
züchtigt e. Mädchen II
77, 78.
Putzsucht II 455.
Quarantäne 466: II 137,
148. 155-
Quellen werke z. Gesch. d.
russ. Theaters 405.
Raby, Kriegsgefangenen
219.
Rache d. Leibeigenen 497 ;
II 237 ff., 249.
Radenije. Tanz d. Skopzy.
242.
Rädern 288; II 6. 7, 96,
252.
— u. Peter d. Gr. II 41.
Radischtschew 499.
— liberal u. verbannt 418.
— tritt f. d. Lcibeig. ein
II 224.
Radstock, Lord, als Apo-
stel auftretend 208.
Rangstreit II 30.
Rasieren d. Gefang. II 199.
— d. Verbannten II 192.
— s. Bartreform.
Rasin, Stenjka, Räuber-
hauptmann 490 ff.
Raßkol, Glaube d. Sklaven
194.
— s. auch Sektenwesen.
Raßkoljniki, Sektierer, u.
d. Barte 31.
I Raßkoljniki, geg. d. Tabak
424.
Rasumowskij, heiml. Ge-
mahl Elisabeths 382.
Ratte im Abergl. 100.
i Ratuschny, Begründer d.
Stundistensekte 203.
Raub 216.
Raubehe II 117.
Räuber II 38, 98, 109,
121, 182.
Räuberlieder 490 ff.
Räuberwesen 488 ff., II 68.
Raubsucht u. Sektenwesen
215.
Recht u. Unrecht, Mär-
chen 277.
Rechtlosigkeit d. russ.
Frauen II 295, 296.
Redefreiheit auf d. Bühne
418.
— d. Hofnarren 374, 376.
Reden, unanstdg.bei Hofe,
schwer bestraft II 148.
Regen im Abergl. loi.
Regenlosigkeit, Abergl. 5 5 ,
56.
— durch Selbstmörder
verursacht 448.
— u. Vampirismus 295.
Regierung fördert d. Ent-
' sittlichung 205.
Regierungserlässe betr.
Gefangene II 177.
Reglement in d. adel. Er-
ziehungsinstituten II
453.
— zur Förderung d. Pro-
stitution II 555.
Reichtum der Geistl. 134.
— Mentschikows 273.
Reisen im Abergl. 65, 128.
— ins Ausland 33, 43.
Rekruten d. Sekten 221.
— d. Skopzen 244, 246.
— hartes Los II 158.
. Rekrutierung d. Sektierer
aus höchst. Kreisen 2.
' Religion 92 ff., 107, 1 1 1 ff.,
152.
— u. Absolutismus 113.
— u. Bart 24, 26.
— u. Lüge 269.
Rendezvous, improvisierte
n 545.
Rennklub 349.
Reparaturen im Abergl. 78.
Repnin, Bojar, u. Iwan d.
Sehr. II IG.
Revisionen der Bevölke-
rungszahl 133. 133».
Revolten II 166.
Revolutionäre 274, 290:
II 99.
Revolutionen 494 ff.
Rezitativsprechen Leib-
eigener II 229.
Rhabarber, Privat verkauf
m. Tod bestraft II 89.
Richter, ihr Aberglaube 56.
— korrumpiert 286, 292 ff.
— nicht Gesetze, bestim-
men Art d. Todesstrafe
II 91.
Richtplatz, russ. Name da-
für 495.
Riedl, Frau, Kupplerin II
544.
Riemen aus Menschen-
häuten II 28.
Riesen im Aberglauben 78.
Riesengeschlecht v.Peterl.
gezüchtet 472.
Riga, furchtbare Gefäng-
nisse II 176.
Rimskij-Korsakow, Kom-
p>onist 404.
Ringer 389.
Ringerspiele d. Kalmücken
350.
Rippen, an den R. auf-
hängen 492; II 89.
Rivalisieren m. d. Zarin
gefährlich 384.
Roberts, engl. Arzt am
Hofe Iwans II 32.
Rogneda II 338, 358.
Romadanowski j , Fürst3 1 2
— *s Grausamkeit II 40*).
— Hofnarr u. Spionage-
chef 373.
— leidenschaftl. Jäger 338.
Romanow, Nikita Iw.,
Musikfreund 400.
Romanowna Anastasia II
306.
Römer v. d. Russen Wo-
loten (Riesen) genannt
78.
Roschdestwenskij, Admi-
ral, betrunken 319.
Rosinen z. Abendmahl 213.
Rösten V. Menschen II 14,
60. 88.
Rostislaws Erinner, aus
s. Seminarzeit llSf.; II
läS.
Rostow , Fabrikstadt i.
Krüppel 67, 339.
Roß im Abergl. 100.
Roter Platz in Moskau,
alte Hinrichtungsstätte
181: II 138.
Roter Sarafan 391.
Roter Tod 254.
Rotes Tuch u. Hemd bei
d. Sektierern 154.
RothschilJ als Satans-
Rotbügellef^t 352.
Rubin^tein. Komponist
404.
Riilpsen 300.
RuRijäntzow, Kodex f.
Leibeigene II 227.
Runitsch u. Philosophie
48.
Rüssakow, Mörder Alex-
anders II. II 18;.
Russalki, Geister 78, 353.
Russische Frau als Ma-
gierin II 305.
im Sprichwort II J06.
— Mütter II 291.
Rute 205.
Ruten 287; II 56. 76, 120,
122, 129, 149, 163, ;;3.
— in Geißelzwecken 225.
— d. Mechanismus bewegt
II 130.
— für Hexen 57.
— in den Ostseeprovinzen
II ij6.
Rute alsSymbol bei Hoch-
zeiten II 294.
Rutenstrafen f. Ehe-
brecher in d. balt. Pro-
vinzen II 428.
Sachalin, Verbannung II
197"-
Sachodnizi, Bcttlergesell
schalt 329.
Sadismus 267, 479; II 230
247. 279. 282.
— in Klöstern 148.
— Peters d. Gr. II 39
— u. Religion ;7i.
1 Sadismus b. d. Skopzen
I 243. 247-
I — bei d. Sekten 229.
' Sakramente u. Stundisten
i 20J.
Salkow, Räuberhaupt-
. mann 489.
1 Salomon, Chef d. Gcfäng-
nisvcrwaltung II 209.
' Salomos Harem u. Sek-
' Salz im Abergl. 77.
' Samo jeden — Keusch-
I heitsgürtel II 502.
I Samoicdenkönig, Hofnarr
I Peters d. Gr. 370.
' Samoilow, Fürst II 191.
I Sanin, Prediger 135.
, Sapicha.GrafPeter 11523.
Sapoj, Saufwut 302.
Sassikow. Operettensän -
ger II 549.
Sassnlitsch-Wera II 76,
129.
Saufbrüderorden Peters d.
Gr. 308.
Saufbrüderschaft Peters d.
Gr. 372.
Säuferturm 303.
Saufzwang am Hofe Pe-
ters I. joSff.
Schachspiel 343.
! Schadon'skaja , Julie II
I 320.
I Schafott heißt Theater
II 51.
Schafirow. Günstling 188.
I — s Sohn s. Hochzeits-
nacht J2I.
— s Tochter v. Zaren ge-
ohrfeigt 3:3.
Schafs,schulterblatt in d.
Propheieiung 97.
; Schafzäcke im Abergl. 101.
Scham anentum 93, 103,
'54-
Schamgefühl 394; II
■ 457 ff-
' — d. Armenierin II 469.
— d jungen Eheleute II
— u Keuschheit bei d.
Kalmvicken II 474,
Schamhaare II 373.
I Schamlosigkeit 431.
' — in Badern 427ff.
I Schamlosigkeit in B
I lerasylen 328, 330.
i — d. GefaDgenen II
' — d. Muschik II 46
' — d. Zarin Elisabeth .
! Schandpfahl II 140.
' Schandstrafe II 154.
I Schändung v. NoDnei
465.
I Scbaposchaikow, Sekt
Oberhaupt 35 1 .
Scharlow. Major, graus
mordet 497.
— s Witwe vergewal'
497f-
Schaschkow II 283.
Schaufel zum Scbauh
der Gebärendeo 483
Schaukeln 357, 390.
Schäumer( Tanil iederjj
■ Schauspieler- Elend im .
' Rußland 408.
Schauspielerin erhält
off. Szene d. Bast
nade II 230,
Scheiterhaufen 2Q1 ; II
93. 290. 305-
i — f. Ketzer 178, 181.
: — V. d. Geistl. herbei
Schelepy, Peitsche II i
' 15'-
Schepelejew, Mawra. Fi
sohlenkitzlerin 379.
' Schere z. Nasettschlit
II ..3-
'■ Scheremetjew 21.
— gefoltert II 11.
I Schesl (SUb oder Sto
II 120.
Schicksalsglaube 441 1
I 449.
I Schiff bei d. Skopzy 3
■ — d. GeiDler 226.
Schiffchen, Tanzart
Skopzy 242.
Schimpfworte, obszöne
S94(f.
Schlafen u. Abergl. |i
Schlafmittel Abergl. 2.
Schläge als Beweis
Liebe II 292.
verlangen d. Rus!
II :
15, 216,
7,
— 641 —
Schlagen d. Familienmit-
glieder II I20.
— d. Frauen 220; II 45,
55» 152.
— Genugtuung daf. 260 ff.
— d. Hofnarren 368.
— im Sprichwort II 292,
293.
Schlange 102.
— im Abergl. 62.
— als Krankheitsdämon
460.
— beid.Esten U.Letten 62.
— bei d. Kalm. 96.
Schloß, verkittet, Zauber
57.
Schlucken im Abergl. 16.
Schminken II 352.
Schmuggler 291.
Schnapshandel verboten
f. Private 304.
Schnapsmonopol 303.
Schnupftücher, Import 40.
Schnurrbartlänge d. Ukas
bestimmt II 82.
Schodkin. Apostel d.
Selbstmordes 252.
Schönheit II 348.
— d. Kamtschadalinnen
II 327.
— d. nicht russ. Frauen
n 353.
Schönheiten am Hofe II
350.
Schönheitsmittel u.
Branntwein 323.
Schönheitsruhm d. Estin-
nen II 353.
Schöntuer. Komödie v.
Ostrowiky II 413.
Schornsteinfeger 450.
Schreiben können selbst
d. Vornehmsten nicht
n 453.
Schreien in d. Schlacht m.
Tod bestraft II 89.
Schroeder , Heinr. , Arzt
467.
Schriftstellerinnen und
Künstlerinnen II 319.
Schuhe d. Gatten aus-
ziehen II 358.
Schuja, Stadt voll Be-
sessener 89.
Schuldner werden Sklaven
Z7. 326.
Schule, Rute in d. II 164,
i67ff., 291.
Schulen 32.
— in d. geistl., regiert d.
Peitsche II 151.
— Stätten d. Päderastie
II 567.
Schuwaliki, Bettlergesell-
schaft 328.
Schuwalow 44, 423.
— Päderast II 567.
— Elisab., Fußsohlen-
kitzlerin 378.
— Iwan gründet Univer-
sitäten 38.
Schwaben heilige Tiere 62.
Schwalbe im Abergl. loi.
Schwangere v. Elisabeth
gefoltert II 50.
— zu Tode geprügelt II
173.
Schwangerschaft u. Aber-
glaube 76.
— d. Mädchens ehrenhaft
II 477.
Schwanz d. Zauberer u.
Hexen 55, 81, 82.
Schwätzerin, Hofamt ^77,
378.
Schwcigende.Sektierer 213
Schwein im Abergl. 100,
102.
Schwiegereltern u. -toch-
ter II 367.
Schwiegermutter d. Hexe-
rei beschuldigt II 289.
— obsz. Sprichw. II 600.
— u. Schwiegersohn (obsz.
Lied) II 389.
Schwiegertochter v.
Schwiegervater (Iwan d
Sehr.) vergewaltigt II
38.
— -Schaft II 511.
Schwimmschule als Bor-
deU II 546.
Seelenspeisung 72 ff.
S^gur, de, üb. Leibeigen-
schaft II 224.
Sektenwesen 168 ff. (siehe
auch Raßkol).
— Parallelen aus and.
Ländern (Fußnote) 199,
2ioff., 216. 220, 222 ff.,
' 229ff., 232, 234ff., 247,
I 249-
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Ruftland.
Sektierer II 151.
— gefoltert II 185.
Selbstgötter 217.
Selbstmord 443 ff., 477.
— aus Angst II 280.
— aus rel. Fanat. 229.
— aus Ehrgefühl II 249.
— Radischtschews 499.
Selbstmordsekten 249 ff.
Selbstopferung 482.
Selbsttäuschung 458.
Selbstverbrenner, Sektie-
rer 250.
Selbstverstümmler 228 fl
Seiiwanow derGottmensch
215.
Seminaristen als Schau-
spieler 410.
Senatoren geknute 1 1 1 1 2 5 .
SentimentalitätElisabeths
bei Hinrichtungen II 5 1 .
— Kath. II. II 54.
— Peters I. bei Hinrich-
tungen II 44.
Seraphim, Sektengründer
231.
Serigny, Theaterdirektor
413-'
Serow, Komp>onist 403.
Seufzende, Sektierer 212.
Sibirien siehe Verban-
nung.
Sibirier, Unreinigkeit d.
Weibes II 508.
Sieden Verurteilter II 22,
88.
Siedletz, Foltermeister II
186.
Siegel der Reinheit bei
d. Skopzy 243.
Siegellack, brennender, zu
Torturzwecken 213.
Silbermünzen einschmel-
zen.Todesstrafe dafür II
122. 123.
Simeon Polozkoj, Drama-
tiker II 120.
Sinnlichkeit bei den Sek-
tierern 215.
— u. Religion 114.
Sinnlichkeitskultus 230.
Sinowjew,Raubritter II68.
Sittenlehren d. Ducho-
borzen 202.
Sittenlosigkeit im Kau-
kasus II 468.
41
I
Sitten losigkeit Niktdaj I.
— b. Sekten 303.
Sittlichkeit u. Abergl. 91,
92.
— d. KleinniESen II 491.
— in Liv- u. Esthland
II 243 0-
— u. Religion i7off.
— ist in RuOl. verdächtig
— u. Theater 419.
Sittlichkei tsverbrechen II
133. 143, 164.
r- d. Verbannten I[ J08.
Sitttichkeitsvergehen v. d.
Geistlichkeit bestraft II
ISO, 151,
Skarey Moses. Haupt der
jud. Häresie 175.
Skanin^kij . berühmter
Steppcnjägtr 341.
Skatologischc, das, in Lie-
dern u. Erzähl. II 6n.
Skawronskij Graf, Freund
rezitativen Redens II
Skity, Einsiedeleien der
Sektierer 196.
Sklave ein Tier 11 460.
Sklaven, freiwillige II aio.
Sklaveiisinn d. Russen II
a, 9, 19. 22, 24, 30, 37,
2ioff.
Sklavenhandel in Kau-
kasien II 344,
Sklaverei d. weiblichen <
Geschlechts II 305, 306. ■
— droht <1. Schulden- j
macher 37.
Skopzen 236.
^- -ehen 246.
— -irauei», Verstümme-
lung d. Brüste 244.
— -gott Peter Feodoro-
witscli u. Alexander I.
166.
— -lehre 240.
Skorpion. Verlag d. mod.
myst. Dichtungen 168.
Skrjabin, Komponist 404.
Skuratow, >Ienker Iwans
n 23.
„Slowo^desDaniclUjin.
Slowo i delo II61, 64,65.
Smolnakloster II 453.
I Snochatscbestwo (Sdiwie-
' gertochterschaft) II j ' '.
Sodomie II 10, 164, 5;6.
— vgl. Bestialität, Päder-
' — der Geistl. 14311
— gottgefällig 235.
— d. Mönche in erot. Er-
zählungen II 61 1.
— u. Sektenwesen 316.
' — m. Tieren II ss6-
, Sodomitenlied 393.
Sofia. Alexejs Tochter II
I 317. 319-
. — Gemahlin Iwans I I.II
307.
— Priniessin, als Dramen-
dichterin u. Schauspie-
Söhne, Geburt e. Sohnes
beendet c, Sektiererehe
«35-
Sohnesmord II 45, 286,
— aus relig. Fanatismus
II 290.
Soldaten als Lehrer 40.
— graua. behandelt II 127,
131. 149. 157-
— alte, in Klöstern ver-
pflegt 145.
— betrinken s. am Tage
d. Thronbesteigung
Kath. II, 315.
— fallen auf d. Marsche
besoffen nieder 319.
Soldatendienst. Strafe f.
Aufruhr II 1 54,
Soldatenpenis 394.
Solotowa, Heldin V. II 77.
Sonnabend im Abergl. 73,
74.
Sonntag wird am Mittwoch
gehalten 210.
Sonn tags feicr kennen die
Skopzy nicht 241.
Sophie V. Hannover über
Peters I. Saufereien 30S.
Soritsch, Günstling Kath.
11., f.'ilscht Banknoten
273, 274.
Sossima, Archimandrit.
jüti. Ketzer 177,
Sotow, Papst u. Hotnarr
37'".
Sozialpolitik u. Religion
Spaitnik (dem Schlafi
mer zngeteUt) II .
I SpaB-Djomiaski, Beti
] dort 328.
1 SpazietExi, gleicfabcdei
tend m. Hur«ii 105
I Specht tin Abergl. 7»
Spießen , Strafe II 22,
I 60.
SpieBmten (oder 5p
I ruteu) II i57ff.
I — abgeschafft II i3{
I SpieOrutenlanien II 56,
— Beschreib, d. Exe
tionen II isgH.
I Spion, polnischer, ge
I spießt II äo.
Spionage II öo.
— II 64.
I-II wi.
I — 468; II 10, s«, 60,
— u. Beichte 124.
i — in d. Gymnasien 49
! — u. Narrenwesen 373
I — u. Trunksucht 31a
1 Spitzruten od. SpieOru
I II las. il?.
I Splawskij, Ungar 411.
I Sportein siehe Korn
I Sprachen, ihre Kennt
I Ketzerei 27, 3z.
} Sprichwort, abergl. 65.
1 — betr. Koitus 436,
I — betr. Ehrlichkeit 31
— betr. Folter 11 178,
— betr. d. Heiligen i;
— betr. e, Mädchc
Schamgelübl II 458.
— betr. Peitsche II 21
— „Nahe d. Zaren" tis
II 7-
— (Totenhand) 280.
— weibl. Geschlechtst
betreffend 437-
— V. Weinen d. Bra
11 370.
— (Wer schlecht liegt lls^
284.
Sprichwörter, d. Bad be
436.
— Diebstahl betr. Z73,
— d. Fatura betr. 443.
— korrupte Richter bei
— 643 —
Sprichwörter , Lüge u.
Wahrheit betr. 270.
— obszöne II 597.
üb. Bad u. Baden
427.
— über die niss. Frauen
II 302.
Springer, Sekte 171, 226.
Spmch der Sektierer 195.
Spucken vertreibt Zauber
102, 128.
Spuckersekte 211.
Ssacharow. Senator, a. s.
Schulzeit 44.
Ssaltykow, Anna, verjagt
II 49.
— Gräfin Daria, Sadistin
149. 150; II 280.
Schtschedrin, Schrift-
steller, 270; II 70.
verbannt 419.
Ssaningeg. d. jüd. Ketzerei
175.
Ssaransk , Krüppclland
330.
Sselesnowzy, Sekte 208.
Sseliwanow 2 38 ff.
Ssemik, Festtag 105, 353.
Ssenjäwin, Fräulein II350.
Sseraphim, der jüngste
Heilige 157 ff.
Ssergej d. heilige 160. 161.
— Großfürst, II 76.
u. d. Prostitution II
555.
— Alexandr., Großf., Pä-
derast II 570.
Ssolowezk, Kloster f. Ver-
bannte 145, 179; II 150.
Ssolowjew, Komponist404.
Ssoltykow. W. F. II 296.
Ssosnowskaja Jadwiga
tötet ihre Mutter II 288.
Ssubotniki, Sekte 179 ff.
Ssumarokow u. Richter-
korrupt. 293.
— geg. Aufheb. d. Leib-
eigenschaft II 223.
Ssustow, neuer Christus
183, 2i8ff., 225, 277.
Ssutajewzy-Sektc 208 ff.
Staatsgesetze v. d. Stnn-
disten geachtet 204.
Staatsverbrecher II 93,
102.
' Stab Iwans d. Sehr. II 12,
I 87.
I Stacheln unter die Nägel
treiben II 88, 109.
Statistik betr. Bettelei
331. 332.
— betr. Brände 450.
— betr. Leibeigenschaft
I II 218.
j — d. Prostitution II 547.
' — d. Schulen 51.
— der Sektierer 172.
j — d. Skopzen 243, 244,
245.
I — betr. Trunksucht 316,
317.
— betr. Verbannung II
192, I93ff., 201, 204ff.
— der Verbrechen 265,
266.
Steinigung unbekannt II
93.
Stellung d. Frau bei d.
alten Slaven II 302.
— — b. d. Kamtscha-
dalen II 326.
— u. Gehalt d. Günstlinge
II 532.
Stellvertretung bei Stra-
fen II 83, 117.
— bei Verbannung II 191.
Steuerrückstände II 74.
Stinken 301.
Stirnschlagen II 215.
Stock im ehel. Leben II
292.
Stöcke (Strafe) II 129,
148«.
Stöckeduell II 430.
Stockschläge 277; II 46,
120.
— f. Tabakraucher 423.
Stockschlagen (Spiel) 389.
Stockstrafe, tartarische II
117.
Stoglaw 142, 429 ff.
Stolypin, Frau v., Ge-
liebte Nik. I. II 537.
Störung d. Schlafs der
Herrschaft bestraft II
227.
Strafe d. Aufhängens an
d. Rippen 492.
Strafen f. Brandstifter 450.
451.
— für Diebe 275, 276.
Strafen f. Diebstahl bei d.
Tscherkessen 278.
— bei d. Osseten 279.
— bei d. Kalmücken 279.
— für Ehebruch 203.
— f. Ehebrecher bei den
Polen II 427.
Strafe d. Hängens 493.
— f. Heldentod H 25.
Strafen hoher korrupter
Beamten Peters d. Gr.
287.
— Iwans IV. für korrupte
Beamte 286.
— kombinierte II 88.
— f. Sodomie u. Päder-
astie II 560.
— f. Töten Leibeigener
gering II 227, 230.
— f. Trunkenbolde 303.
— entehren nicht 260; II
42, 210.
Straf gesetzbuchNikolajsI .
II 296.
üb. Entführ, verheir.
Frauen II 424.
Strjeljzen- Hinrichtung ;
495 II 39.
dramatisiert von d.
Prinzessin Natalia 412.
lieder II 253.
Strjeljzy, von Iwan orga-
nisiert II 9.
Strigolniki, Sekte 174.
Stroganow, Heilkünstler
II 30.
Strümpfe, Import 40.
Studenten in d. Kabaki
318.
— als Schauspieler 405.
Studentin II 321.
Stumme im Abergl. 67, 68.
— Sektierer 213.
Stundisten, Sektierer
196 ff. 203 ff.
Stute (Strafart) II 139.
154.
Subow Piatons Perver-
sitäten II 564.
Sudogda, Fabriken für
Krüppel 329.
Sünde ist Gesetz 226 ff.
— heilig 210.
— russische Auffass. 108.
— tötet Sünde 222.
41'
I
II
Sündigen im Gedränge (s, |
auch Durcheinander-
liegen) 227, 128.
Swajka (Bolien) 3S9.
Swjätopotk, Brudermör-
der II 21a.
Swjätoslaws Greuel II 254.
Swiatunow, Kadett, als
Balletteuse 444.
Synod, heiliger 137.
Syphilis s. Lustseuche.
Systemlosigkeit d. Straten
u. Gesetze II 136, 147,
'55-
— bei d. Verbannung II
191.
Tabak 371. 4aiff.
— bei d. Stundisten ver-
pönt 304.
— Privatvetkauf m. Tod
bestraft 11 89.
Tabakbuden 41 4 Ü.
Tabakgeruch als Verbrech.
II 283.
Tabakrauchen aui d. Stra-
ßen verboten II Si.
— in Gefängn. erlaubt II
199.
Tabakschnupfeni. Fasten-
zeit verboten 1 14.
Tage im Abergl. 63, 95-
vgl. die eioielnen
Wochentage.
— an w. d. Koitus ver-
boten II 505.
Tagebuch führen in d.
Pensionateo verboten
II 171.
Talentierte Leibeigene II
Talisman durch Mord ge-
Talismane der Diebe zSj.
Talitzkois, Pamphlet geg.
Peter 26.
Tamboiv, Ursprungsort d.
Sekte d. Milchesser {Ma-
lachany) 197. 217.
Tanz 38.
Tänze 38off.
— der Flagellanten 221.
— obszöne 105, 352.
— religiös- obszöne 225.
— phänische II 390.
— bei d. Sektiecetn 205.
Tanzschule u. Bordelle II
550.
Tarakanow, Priaieasin II
49-
Tarif für Ehrenbeleidi-
gungen 261.
Tartarin II 31S.
Tartar. Einflösse 11 109,
uSff.. 13^; II 2M.
auf Strafen II Sa.
— Tänze 397.
Tatarinow, Hauptmaans-
witwe. hält e. Salon für
erotische Sektierer und
Geißler 223.
Tatiscbtschew,W.N.,rnsj.
Cato 288.
Tauben im Abergl. 62, 96,
— bei d. Skopzen 237, ff.
Taufe 198, 200.
— durch Frauen 220.
— Feuer- u. Beschnei-
dungstauf e bei d . Skopzy
343-
Tausendjähriges Reich
2l6,
Taxe fürs Barttragen 33.
— für Sektierer 183,250.
Telepnew-Obolensky II
308.
Temperatur, schlechte,
Strafanlaß II 226,
Terem 381. 410; II 312,
417. 45'»-
Testje-Roen, holl. SpaÜ-
macher 368.
Teufel 79, 80, 101 ff., 288,
395.
■ rettet Peter bei Pol-
Teufelsaustreibung 90.
Theater 38, 137, 404ff.;
Theatralische Vonb
gen U 317, J18.
Thtatre de l'Hermiti
417.
Thronamu&Qer II 93
Thronumwälzong u. 1
glanbe 66.
Thronwechsel u. Spie
II 66.
Türschwelle im Aber]
Ilcbanow, Schuster,
Apostel ziz.
Hchanowsky, Obers
276.
Tieren werden Verurl
voii^worfen II 28
Tieropfer 97, 99,
— bei d. heutigen Ri
106.
Tierorakel 62, 95, 100
Titow, Komponist.
Töchter s. Wertge
stände II 337.
— willkommen, Si
nicht 235,
Töchtermord bei d.
saken II 445.
— b. d. Swaneten II
Töchterverkanf bei 1
gersnot II 348.
Tod im Abergl. 73,
480, 482.
— u. Totenklagen 442,
Todesstrafe 489, 499
5ff.. 38.47. 53. 66, 8
IZ2H.. 134, 157, 16
— Aufhebung II 91.
— Ausspruch Nikolaj
11 lÖT.
— falls man nicht dei
ziert II 66.
— (. falsche Denunt. 1'.
— f. Ketzer verlangt.
— f. Korruption 289
— f. Tabakraucher ,
— f. unnütze Klag«
I 79.
I — nennt Iwan III.
1 christlich 178.
I — u. Knut II 142.
, Todesurteile, Anzahl, 1
Elisabeth II 86.
— 645
Todesurteile unter Anna
II 47.
Todschlag II 78.
Toleranz, relig. 183, 185,
187.
— und Theater 408.
Tolstoj, Dichter U.Mystik.
167, 269, 419, SOI.
— soll verbannt werden
209.
— alsSektengründer2o8ff.
— Minister 49.
Toma(oder Foma), Ketzer,
lebendig verbrannt 182.
Tombow, Gründer e. neuen
Skopzen-Sekte 245.
Tortur (auch Folter) 178.
213. 379; II 80.
Tote im Abergl. 64.
Totenhand 280, 281.
Totschläger, Sekte 249.
Tötung V. Altersschwa-
chen II 284.
— d. Eltern II 287.
— d. Tochter II 284.
Traktir, Erklärg. d. Na-
mens 299'.
Traubenberg, General, er-
mordet 29.
Trauernde gemieden 72.
Traum Pauls 62.
Traumbuch 93.
Träume im Abergl. 61,
lOI ff.
— Peters d. Gr. 166.
Tredjakowsky, Dichter,
geohrfeigt II 46.
— s Gedichte als Strafe 385.
Trennung von Leibeigenen
II 241.
Trepow, Vater u. Sohn II
76.
Treue geg. d. Helden-
gattin II 305.
Tribaden II 564.
Trinker II 324.
Trinkgelage II 317.
— bei Jagden 339.
— Hauptvergnügen der
alten Russen 366, $67.
Troitzkakloster, Absteige-
quartier d. Zarin Elisa-
beth u. ihres Liebhabers
148.
Troitzkaplatz in St. P.,
Strafplatz II 138.
Trompeten 401.
Tropfenweises Wasserauf-
schütten als Folter II
181.
Trotz d. Russen bei Be-
strafungen II 123.
Trunkenbold, Abergl. 64.
Trunkenheit 497; II 150.
Trunksucht 198, 294 ff. ,
411, 488; II 344.
— im Drama 409.
— gefördert 50.
— d. Geistl. 125, 127, 178.
— Mäßigkeit Verbrechen
204.
— Nüchternheit v. e. russ.
Gouverneur als Ver-
brechen betrachtet 201.
— Peters d. Gr. Exzesse
II 44.
— d. Popen 123.
— d. Tabakrauchen vor-
zuziehen 421.
— der Tscherkess. -Weiber
397.
Trutenj, russ. Zeitschrift
263.
Tschaikowski j , Komponist
404.
Tscheremissen 93, 99.
— Raubehe II 337.
Tscherkessen, Diebstahl
nichtsSchimpfliches278.
Tscherkess.-Tänze 397.
Tscherkessin d. II 329.
Tschetschenzin II 330.
Tschinowniki 42, 43.
— Grausamkeit II 77.
— Haß der Räuber gegen
sie 490. 492.
Tschirkassin , Fürstin II
350.
Tschubinskij, Folklorist
II 585.
Tschuden, Vorahnen der
russisch. Hexenmeister
103.
Tschuktschen, Selbstmord
bei ihnen 445.
j Tschulkow, schläft im
' Bette Elisabeths 378;
! II 460.
Tschuschenin (Fremdling)
Bezeichn. f. Bräutigam
II 367.
Tschuwaschen II 359.
Tugend der Zarengattin
II 316.
Tuhr, Eugenie II 320.
Tungusin, d. II 328.
Turf 349.
Turgenjew II 357.
— Hofnarr II 40, 370.
Twersche Bettler 328.
Überleben d. Witwe II
305.
Übertritt z. Orthodoxie
löst Ehen II 414.
Ukase auf d. Richtplatz
verlesen 496.
Ukraine, Frauenraubge-
brauch II 339.
Uljana Wassiljew, Gottes-
mutter 219.
Umpflügen 106, 479 ff.
Umzug im Abergl. 77.
Unarten d. Terem II 318.
Unbarmherziges Schlagen
II 115, 121. 132, 137,
146, 150, 154.
Unbildung d. Geistlichen
120 ff.
Uneheliche Kinder II 432.
Peter d. Gr. unehe-
lich 191, 471.
Ungebrauchtes im Abergl.
77-
Ungehorsam m. Tod be-
straft II 89.
Ungeniertheit in d. Rede-
weise II 593.
Ungem-Stemberg, Seeräu-
ber II, 68.
Universität von Charjkow
418.
Universitäten 32, 38, 46ff.
Unkeuschheits-Prämie f.
Leibeigene II 478.
Unnütze Klagen hart be-
straft II 113.
Unreinigkeit d. Frauen II
229, 309, 507.
Unreinlichkeit 411.
— bestraft II 157.
— d. kaukas. Frauen II
473.
— d. Russen 434ff.
Unsittlichkeit vgl. Scham-
gefühl u. Keuschheit.
— d. Dienstboten II 462.
— d. Georgier II 473.
- 646 —
UnsittUchkeit, vgl. Schani -
gefühl u. Keusscheit.
— d. Gesellschaft II 460,
549.
— d. Jugettd II 449.
— d, Mingrelier II 470-
— bei Prozessionen u.
Wallfahrten 163.
— d. Sektiefer zij,
— d. studierenden weibt.
Jugend II 456.
— soll gefördert werden
SO.
— von d. Geistlichkeit be-
straft II u8.
Unsterblichkeit geleugnet
„Unterhalt3dameQ"IIs46.
Unterof filiere t. Prügeln
d. Schuler angestellt II
169.
UnterrichtS'Ptogramme
II 4S3.
Unterschiedslos wird alles
geprügelt II 125. 136.
Untreue II 374.
Unverschlossenes darf ge-
stohlen werden 380.
Unzucht in d. baltischen
Landen II 480.
— in Gefängnissen II 177,
178, 193-
— ■ d. Gutsherren II »38,
— u. Räuberwesen 492.
Urinuntersuchung b, d.
Kalmücken 4S7.
Ursachen d. Syphilis II
572.
Urteil, salomon., Peters I.
in e. Ehebruchsaffäre
— d, Sehern jaka-Märchen
292, 293.
Urteile siehe ausländische.
Uschakow. Hofnarr 369.
— Poliicichef II 6. 46.
Velly. Mala, tritt t d.
Leibeigenen ein II 133.
Verachtung d. Frau Iljoä.
Verbannung 287; II 47,
55, 61, 62,99, io>. 154.
.56.
Vagabunden 326.
— in Sibirien II 203(1,,
Vampir 55, 103, 107.
Vampirismus 444, 478.
— u. Trunksucht 295.
Vatermord, v. Iwan ge-
fordert II ii.
Ehescheidung II
411.
— aufs Geratewohl II 66,
— V. Geistlichen 130.
— Leibeigener durch ihre
Herren II 236, 337.
— V. Leichnamen is6.
— nach Sibirien II 38,
57, i9off.
— Strafe f. Verletig. d.
Etikette 388.
Verbotsmenschen (Arrte)
\ 470-
Verbrechen 53ff., 26iff.
1 — aus Abergl. 68ff.
I — gemeine u. politische
i n 87. 97.
I — u. Religion 115.
I — gem., der Sektiereri99.
I — 3. Verbannten II 307.
I Verbrennungen v. Eltern
II S90.
I — von Ketiem i?8.
I — Strafe f. Pamphletist
I i6.
I Verfolgungen der Ducho-
borzcn 201.
j — d. Musikliebhaber 400.
; — d. Sektierer 195.
■ — d. Skopzen 245.
1 Vergiftungen d. Frauen
I Iwans d. Sehr. II 31, 31.
1 Vergnügungen 333 ff.
! Vergraben bei lebendigem
I Leibe II 297.
I Verkauf d. Glieder d,
Opfer durch d. Henker
I n 52-
' — von Leibeigenen II
' Verkehrt anziehen II 36r,
! 378.
] Verkommenheit des Po-
pentums ii8ff.
. Verlizitierung d. Armen
II 344-
Verlobungstrunk II 369,
' 481-
Vcmeiner, Sekte 31 'i
Versiegeltes, .\bergL
Verunreiniguiig d. G»
m. Kant bestraft II
Verwaltung, Granskt
57.
Vicenzia, Herzog, I
kenball 387.
Vieh u. A.bei^. 64. 6
Vierteilung 498 ; II 7
Vogelflog im Abergl.
95, 100.
Vogetjagd 336.
Volksbilderbogen II <
Volksspiele 389,
Volkstänze 389 ff.
Volkstheater 414, 42c
Vongad, Arzt, in Stü
zerrisMn 46S,
Von-Wisin, Dichter t
Vorweisung d. Jungft
schaftszeicbens II <
504.
Vulva II 484.
— Namen dafür II ;
— d. Kamtscbadalin
rüchtigt II 475-
— u. Alter, Wettsb
(Erzählung) II 610.
Wachslicht bei Exekut
II 9'. 139-
Wachtel im Abergl. i
Wahnsinn unter d. V
bannten II 199.
Wahrheit s. Läge.
Wahrheit Verbrechen 4
Wahrsager bei d. W
jäken 102.
Waisenhäuser d. Feen
sianer 248.
Waldfrevel II 99.
Waldgeister 78.
Walujew 274.
Wändchen, Tanzart c
Skopzy 242.
Wanderer, Sekte 213, 21
Wanka Kain, Dieb
Detektiv II 65. 113.
Warlam. Bischof, Flag
Wäschewechseln u, Abi
glaube 65.
Wasser im Abergl. ;s. c
— -folter n 88.
^ -geister 69, 78.
647
Wasserprobe 8i; II 178.
Wassilij, Großfürst II 79,
335«.
— Ehen II 409.
— Kossoj geblendet II 4.
— Wassiljewitsch II 4.
Weib, Eigentum d. Mann.
II 296, 297.
— V. Teufel geschaffen
229.
Weiber als Zugtiere II 306.
Weibergemeinschaft 199,
231.
Weiberregiment in Rußl.
unter Kath. II. II 335.
Weibertausch b. d. Tun-
gusen II 345.
Weibliche Rollen d. Män-
ner dargest. 413, 414.
Weihnachten, abergl. Ge-
br. 55.
Weihnachtsabend i. Aber-
glaub. 63 ff.
Weinen c. Keuschheits-
zeichen II 370.
Weinrebe eine Teufels-
pflanze (Märchen) 295.
Weiße Hemden d. Skopzy
242.
WeiJÖgeklcidet gehen d.
Frauen d. Spuckersek-
tierer 211.
Weißrussen II 375.
Weitende 210, 252.
Welt Jahreszeiten 211.
Werbung um d. Mann bei
d. Kleinrussen II 482.
Wertcp, tragbare Volks-
bühne 405.
Werwolf (siehe auch Vam-
pir) 482.
Wettrennen d. Leibeige-
nen II 229.
Wjäsemskij, Fürst, Er-
innergn. an s. Schulzeit
44.
— von Iwan hingerichtet
II 21.
Widersprechende Gesetze
II 84.
Wilde Ehen II 417, 432.
— Sitten II 253.
Wilen 79.
Willkür d. Zaren ist Ge-
setz II 78.
Windhunde, russ. 341.
Wippen (Estrapade) II 42,
180, 246.
Witebsker Bettler 328.
Witte, Minister, Flugschr.
geg. Päderastie II 457.
I — geg. Trunksucht 320.
Witwe bei d. Osseten II
I 414.
. Witwenverbrennung II
I 306.
, Wladek, Frau, Maitresse
I 386 ff.
Wladimir, Großf. II 539.
' — Andrejewitsch, V.Iwan
vergiftet II 30, 31.
I — d. Heilige II 85, 407.
— Monomach II 85, 134.
I 335.
— Bartgesetz 18.
! Wlasta II 302.
I Wlaß, d. heilige 64, 158,
481.
I Wolfsjagd 342.
Wolkonskij, Hofnarr 374.
Wolkow, Fedor, erster
russ. Schauspieler 41 5 ff.
— (oder Volkov), Folk-
lorist II 585.
j Wollust u. Abergl. 59.
— in d. Einsiedeleien d.
I Sektierer 196.
Wollust u. Grskt. 496;
; II 23 ff.
I d. Räuber 491.
I — u. Jagd 335.
— Iwans d. Schreckl. II
I 10, 13.
'■ — u. Religion 225. 231.
— b. Schlagen II 279.
Wollüstige Tänze 390.
' Wolostgerichte dürfen
j noch peitschen lassen
' II 84.
— Rutenstrafe II 164.
— u. körp. Züchtigung
II 150.
Woronzow, Elisabeth, Ge-
liebte Peters III. II 35 1.
— Frau, Fußsohlenkitz-
lerin 378.
Worotänskij, Eroberer v.
Kasan j, hingerichtet II
25.
Wort U.Tat s. Slowo idelo.
•Wosnitzin als Ketzer leb.
verbrannt 178.
Wotjäken, Abergl. 100.
— geschlechtl. Freiheit d.
Ledigen II 476.
— Schaukeln 390.
— Snochatschestwo II
518.
— Stockspiel 389.
Wotjäkin, d. II 328.
Wotjäkische Tänze 395.
Wowtschok II 320.
Wßewolod III. II .4.
Wucher II 90.
— m. Menschen wäre II
233-
Würfelspiel s. Karten-
spiel.
Würger, Sekte, die Mord
lehrt 249.
Zahlen, geheimnisvolle
190.
Zähler, Sekte 210.
2^hn im Abergl. 71.
Zahnarzt, Peter d. Gr.
als Z. 471.
Zangen zu Folterzwecken
II 88.
Zar ist Gott 112 ff.; II
212, 213.
— den Räubern heilig
489.
— behütet vor Berüh-
rung m. Leidtragenden
73-
— gilt d. Stundisten als
simpler Mensch 204.
Zaren züchten Korrup-
tion 285.
Zarenpalast II 536.
Zarentochter nicht an
Fremd gläubig, verheir.
II 312.
Zarin anschauen Maje-
stätsverbrechen II 313.
— u. Arzt 467.
— aus d. Volke gewählt
n 312, 359.
Zarinnen, Grausamkeit II
45-
Zarische Ehebettgebräu-
che II 505.
Zartitel u. Imperatortitel
190.
Zauberei II 146, 154, 288.
Zauberer 54, 76ff. ; II 290.
— als Arzt 482.
648 —
Zauberer (Bettler) 328.
— erforschen Diebe 283.
— d. Osseten 384.
— als Urheber v. Feuera-
brflnsten 450.
— am heutigen Zaienhof
167.
Zauberlicht aSi.
Zehe als Talisinan 70.
Zehn Gebote der Moral
262.
Peters d. Gr. 277.
Zehntaus. Stöcke, Todes-
strafe II 95.
Zeitungen 34.
Zeremonien, asiatische.am
russ. Hofe 365.
— bei d. Exekution m.
Knut II 139.
— beiHinrichtungenllgt.
— -meister als Bart-
scherer jSS.
Zerfleischen II 2], 26, 94.
— Lieblingsstrafmethode
Iwans II 14.
Zerhacken d. Hingerich-
teten II 23, 24.
— d. Opfer Iwans II 88.
Zerreißen d. Beichtvaters
d. Polin Marina II 252,
— durch Pferde II 123,
Zerschneiden der Verur-
teilten II 28.
Zerstückelung Strafe für
Hochverräter II 5.
Zeugung als relig. Hand-
lung 231.
— ist Teufelswerk 248.
Ziege als Wöchnerin 376.
Zigeunerinnen Prostitu-
ierte in Moskau II 549.
Zigeunertanz 3Q4.
Zimin, Apostel d. Don-
kosaken 211.
Zirkel, der kleine in der
Eremitage Katharinall.
335-
11 i
— Acta des Inquisitions-
prozesses 23.
— AUgem. Zeitung 179.
— Am Urquell 100', 445.
— Andree, Ethnogr. Pa-
rallelen 69.
Zitate Anthropophyteia 1 1
SIS. 5'6-
— Aus d. Petersb. Gesell-
schaft II 4S4.
— BatteydicT A., Histoire
d« Nicolas II 169.
— Bär, Muscowlt-, Chro-
. — Barthold, Ausgang d.
Ivanschen Zweiges 415;
II 96. '
— Barthold, F. W., Hist, ,
, Taschenbuch II 47, 50,
< — Bastian, A., Allerlei
Menschenkunde 435.
— Battifol L., La vie in-
\ time 43 S ■
j — Bäumer, Dr. E., Bade-
wesen 426. I
' — B*giel,V,,Lad6nionolo- ,
j gie 79. 80. 445- i
I — Bellermann, Bemerk. 1
über Rußland 29, 140,
390, 400, 402, 471; II I
! 142. 348, 3SO. 47a- j
\ — Bergholz in Büschings
Magazin 1 5 , 15, 16, 39, I
1 381,471:1141.43.3s*. !
I SM. I
] — Bergmann, Nomad.
I Streif ereien 94, 95, 152,
379. 396, 487. II 398,
413. 430, 474, 513.
— Bernhard, Dr. L.,
Grausamkeiten II 260.
— Beschreibung d. Russ,
Volkes II sio.
— Besobrasow Etudes II 1
509.
— Beyplan L'Ukraine II
— Bilbassow, Geschichte
Katharinas II. 39, 39,
315, 416; II 184, 529.
— Bodcnstedt II 401.
— Bogoroz, Eltcrnmord,
II 28;.
— Bredow, Chronik II 69
— Breton, Rußland 271,
369. 400; II 1S9-
— Brückner, Kulturhist.
Studien 404. 407, 4Ö1 ;
II 2B7, 3:1.
Zitate, — Brückner
vae II \30.
— Bruneaa, Die t
404.
— Buch. Max, Die
476.
— Buddens, A.,St. P.
bürg im kranken t.
275.320,485:11137
— Busch, Mor„ Woi
liehe Heilige 303.
343.
— Bäscbing, Magazin
144. 301. 308. 309.
3"*. 3>3. 321. 3".
368, 433; II 43,
133. *63, 350.. 359.
— Byron, Lord II
— Catherine II., HAm
379. 383-
— Chardin, Reise in
siea 301.
— Chantrean, Voyagi
Russie 183; II 2i(
— Chroniqne de Nesto
loS. 390. 438. 46s
8S,92,»S».2S4.358,
— Clarke Travels in 1
sia 433
— Collins, S., Stati
Russia 463.
— Constantinopel u.
Petersburg 19, 133,
385: II 8a, 134, 17
— Corvin Geißler II
230.
— Cox Reise II 287,
— Custlne la Russie
1839 41, Ml, 375. ;
369; II 115, 349, ;
— Daschkoff, M6mo
368, 375-
— Daudet, E., Lap
cesse de Liev^n II
— Descript. de l'UkrE
II 482, 491.
— De Windt, Von Pek
n. Calais II [49.
— Dictionnaire de la
nalite II 37, da, 93,
103, 105, 108, m, a
, 408. 428, 430.
— Die religiöse Unreti
keit d. Weiber II 5
\ I ht
— 649 -
Zitate — Dikurew II 483.
— Dinaux, Les soci^tts
badines 373.
— Dolgoroukow II 49,
81, 419.
— Dupr^ de St. Maure,
L'Hermite en Russie
63. ^7, 127. 145. 402;
n 91. 183.
— Estrupe im ..Slowo" II
97-
— Faber, De Russorum
religione 141.
— Fletcher. G., Of the
Russe Common-Wealth
7, 324, 326.
— Flittner, Chr. G., Das
Band d. Ehe II 508,
513-
— Floegel, Geschichte d.
Grotesk. Komischen 369,
373. 379.
— Gahtzine, La Russie
II 183.
— Geheime Nachrichten
über Rußland 431: II
233. 239, 278, 282, 351,
461, 535» 543-
— Geheimnisse von Ruß-
land 62, 77, 15s, 261,
433; n 71^ 81, 225, 230,
233, in, 238. 243. 279.
— Gerebtzoff, Nie., Essai
sur l'histoire en Russie
189, 336,465:11 53, 58.
-»- Globus 77 \ II 328.
— Gmelin, S. G., Reise d.
Rußland 397; II 329,
400, 401, 481, 504, 507.
— Golant, N.,„NeueFreie
Presse" 210. 415.
— Golovine, Ivan, La
• Rttssie II 60, 84, 97,
133.
— Golovkine, La Cour
de Pauli 308; 115,536.
— Goltzew, Die Gesetz-
gebung 158.
— Gu^pin, Vie de Josa-
phat II 43.
— Guerrier, I^bnitz in
seinen Beziehungen zu
Rußland 306.
— Güldenlöwe in Bü-
schings Magazin 73,305.
Zitate — Gunner, Knud
Leems Nachrichten 160.
— Hahn, C, Aus d. Kau-
kasus II 508.
— Halem, Leben Peters
des Gr. 22, 31. 31. 33,
90. 143. 289. 337. 343.
369.402,472; II 43. 44,
182, 262.
— Hanway. J..ReiscIl45.
— Hase, H.. in Bi'isch.
Magazin 491.
— Havelock, Ellis, Ge-
schlechtstrieb 359.
— Haven, Nachrichten v.
d. Russ. Reich 27, 35,
116, 323; II 296, 353.
— Haxthausen, A. v.,
Studien über die inner.
Zustände Rußlands 4,
133. 146. 174. 284, 318.
— Transkaukasia 98, 99,
202, 213, 424; II 191,
272, 510, 518.
— Heinse 303.
— Heibig, Russ. Günst-
linge II 287.
— Hellwald, Welt der
Slawen 125, 174. 188,
235: n 343.
— Herberstein, Die Mos-
couitische Chronica 303.
— Herrmann, Zeitgenöss.
Berichte 421; II 459.
— Hiärn (sprich: Gäm),
Geschichte 62, 69, 75,
356. 454, 457; II 23,
212, 255, 256, 325, 394,
428, 479.
— Histoire de Kam-
tschatka 279, 285, 445.
— Jenaer Literaturzettg.
119» 137.
— Johann Wasiljev, Prie-
ster, Aberglauben und
Religion d. Wotjäken
102.
— Johannis d. J., Herzog
V. Dänemark, Russ.
Reise II 506.
— Kaiser Nikolaus I.
gegenüber der öffentl.
Meinung von Europa
49,61, 112. 139; II 144,
268.
Zitate — Kapnist, Gräfin
II 321.
— Karamsin, Geschichte
des russischen Reichs
7, 66, 82, 115, 124, 131,
142, 147, 155, 173, 174,
300, 302, 304. 322, 336.
362, 380, 390, 399, 429,
466,476,485,489:114,8.
9. 29, 36, 78, 82. 85.
86. 87, 91, 181, 210,
211, 221. 252, 255, 279,
284, 286, 302, 303, 306.
307, 308, 314, 359, 362.
364, 407. 411. 417. 467,
505.
— Katharina IL, Dar-
stellungen aus d. Ge-
schichte ihrer Reg. 29.
— Kem6ny, J., Hungara
n 544-
— Kirchner, E., Zeltleb.
in Sibirien 476.
— Klemm. G., Das Feuer
421.
— ' Kohl, J. G., Reisen in
Südrußland 279. 326,
341, 425: II 116, 216,
218, 224, 229, 231. 237,
285.
— Kolenati, Die Berei-
sung Hocharmeniens
203.
— Kölnische Zeitung 82,
86, 281.
— Korsakow.Thronbestei-
gung d. Zarin Anna 314.
— Kostomarow, Gemälde
d. häuslichen T^bens
158. 188.
— Krafft. G. W., Be-
schreibung St. Peten»-
burg 377.
— Krauss, Friedrich S.,
480; II 394, 426. 504,
510, 512.
Sreöa 62.
Am Ur-Quell 71,
352. 352. 359, 359. 394.
437. 441. 479.
— Kupczanko, G., ,,.\m
Urquell" II 375.
— Labbe, Un bagnc russc
154; II 197. 400, 413.
513.
Zitate — l.anin. E. B.,
Rds->. Zmtäode
Sa,t05. I2j,i7i,44i;ri
76. 77. 84. i:.
l'^2. 357 4SoH, 456,
— Laveanx M^oirea)4S.
— L« Bmpi. Vc/yaf^ por
1a Moocovic 13, II,
315, 340; II 91. 94.
— LcizmanD, F., Sien-
tchCD a. Dinge in Ra&-
~~ Lerch h« Bösching
II .5».
— I.eroy- Bcanlieu, Das
Reich der Zaren 11, 31.
91, 93. to5, 106. III,
158. 17'. 172. 441. 174.
tJtg. 198, it3, 319. 123,
127. m. 2.15: 11 57.
69. 7«. r'J. 84. i'S. 1^9.
'34. iHs. 273. ^9". 293.
197, 41 [, 413. 461. I
— Liebrecht. Zur Volks- 1
IcDiide 69.
— Lippert, Christen tum, ,
Volksglanbe und Volks- 1
brauch 69, 154, t6o, [
477.
— Liwanow li>4.
^ Lodzer Zeitung ]i9, '
313; II 73. 32'. 3^4.
342-
— Löwcnstem, Memoires
345-
— LfiwonRtimm, A.. Aber-
glauben u . Strafrecht
56. 57. '15. "'. 84. 35,
90, ('16, 252, 280, 295,
448, 474. 479. 4«0. 4«3;
11 I90.
— Manifest betr. Zure-
witsch Alexej 33.
~ Mannhart, \V.. Zau-
berff!. u. Geheim wissen
341, 356.
— Manstein,M£nioirc3369.
— Marcuse, Dr, Julian,
Bade Wesen 416.
— Margeret, Kstat de
l'F.mpire 31. 260. 187,
300. 363, 47 ö.
— Markgräfin v, Bay-
reuth, Memoiren ifi; II
459-
Schule 50L
— Masson.CcheinM Nach-
richten 401, II 329-
— Matignoa. Dr. J. J„
Sapentitioa 143.
— Montaigne M. 174.
— Mayerberg. \'oyages
430. 467; II i36. 314,
352. 411.
— Meiners. Geschichte d,
weibl. Geschlechts II
326, 430, 476, ;io.
— Mimoires de Cathe-
- Merkel, Ehe Letten
il :
. 242,
244, 145, 246, 147, 250.
180, 388, 377. 395. 477-
— Meschtscheisld), Fürst
II 4SO- j
— Miljukow, Skizzen 158. |
— Ministre ^tianger, Mi- i
moires 72, 374, 433. .
428 ; II 90. I
— MonaMyrskij, Illostr. ',
Wolgaführer 68.
— Munkaci. Dr. B., 100.
105.
< II 5
5.1w
~ Neue Freie Presse II
78. 186.
— Neumann. Rußland u.
die Tscherkmsen 278,
469. 509-
— Oldeko]>. Sit. Peters-
burg. Ztschr. 31.
— Olearius 131, 142.
— Pachmaun, Das Buch
V, d. Fraueu II 4;).
— Pallas Reisen 96. 263,
279, 486; II 413. 482.
— Pelikatis Statistik 344.
— Pell, Peter d. Gr, 308,
! II 41. 45-
— Perry, Etat present de
la Grande- Russie 33,
:2i, 163. 269. 270; II
79. 296,
— St. Petersburger He-
rold 204; II 171,
n-Wocb
scfanft II 172-
Zeitmig n 232.
— PetTi_ Esthland n.
EstbcQ 455; II 68. I
»43. 244- *«6. 247. i
149. 278. a«4. 32«. 3
395. 396. 47«. 481. S
— PßUnitz, Memoires
42.
— Passevinus 135.
— Potemkin, Beitragj
— Progawin, A. S., 1
rnsa. KlostergefäDifiii
109: II 174.
— Pj-pin, Geistige I
wegang 46.
— Rabinowitsch, S.. J
disches Proletariat
172.
— Radde, Gustav, r
Chewsuren II 403.
— Ran, H.. Die V.
imingen in d. Religii
— Le Raskol 172, t;
18S.
— Reden-Esbeck. Car
line Nenber 413.
— Reichsgesetze II 84
— Reimers, St. Petci
bürg II 68.
— Reinholdt, A.. von G
schiebte d. russ. Lit
raturi74, 263, 269, 27
288. 195, 316, 3SI. 35
338, 431, 443, 443. 46
490; II 46, 120, II
223. 253. 310. 320, 34
366.
— Reise von Moskau
Wien 433; n 238.
— Reise nach Nordi
(1706) 6, 107, 117, 38
302, 336, 381. 397. 40
n 78, 95. 90, 115. i8
195. 362, 363, 380, 41
428, SOI, SOS. Sit.
— Religion d. Moscoviti
113, IIS, 122, 125. 18
260, 264, 168, 270; ]
292. 309. 3'5. 352. 36.
36;, 381, 408.
— Reusner, v., Profess<
209-
- 651 -
Zitate — Rhamm , '. K.,
Verkehr d. Geschlechter
394; II 310, 325. 337,
342, 365, 369. 483. 507.
S15. 517.
— Roskoschny, Das arme
Rußland 326, 331.
— Rosenbaum, J., Ge-
schichte d. Lustseuche
437.
— Rostislaw 118; II 169.
— Rovinskijs Lexikon
— Russische Anekdoten
29, 122: II 43, 61. 158,
265, 296, 351, 352. 364.
421, 501 ff., 506.
Zeitungsberichte II
177.
— Russischer Volksgl. 63,
67.
— Russisches Landrecht
II 541.
— Rytschkow, Tagebuch
in Büschings. Magazin
97; n 431.
— Rytskow II 503.
— Sabclin, I., Häusliches
Leben d. Zaren und
Zarinnen 9, 62; II 359.
— Sabylin, Das russische
Volk 63; II 358. 370.
372.
— SadJer 369. 470; II 89,
121. 157.
— Sadow, M., Dcis prü-
gelnde Rußland II 170.
— Saldem, Herr v., Bio-
graphie Peters III. II
48.
— Sammlung merkwür-
diger Anekdoten 16, 23,
63= 437. 476.
— Sanglen, Sammlung
russischer Denkwürdig-
keiten 62, 424.
— Saratower Ztg. II 464.
— Sauvage, Jehan 286.
— Schachowskoj 149.
— Schaffarik, P. J., Ge-
schichte d. slawischen
Sprache 398.
— Schein, Russ. Volks-
lieder II 293.
— Scherr, Joh., Gesch.
d. Religion 154, 435.
Zitate — Schilder, Bio-
graphie. Paul II 5.
■ — Schilkin 193.
I — Schiemann, Alexand.I.
39. 42, 118, 119. 120,
123, 134, 138. 142. 163,
I 238. 240.
' — Schmitt, Dr. K., Sla-
vische Geschichtsquell.
II 234.
— Schnitzler, J. H., Ge-
schichte Rußlands 10.
272.
— Schumigorskij, Kais.
Maria Feodorowna 166.
— Schurtz, Dr. H., Ur-
geschichte d. Kultur 91.
— S6gur, Histoire de
Russie 9, 120; II 44,
89.
— Shakespeare, Zäh rag.
d. Widersp. II 328.
— Snamierski 149.
— Soldan, Geschichte d.
Hexenprozesse 84.
— Spittler, Europäische
Staatengeschichte II
287.
— Ssablukow, Memoiren
166.
— Ssaratowskij dncwnik
64, 86.
— Ssemewsky, SIowo i
djelo 61.
— Ssolowjews Geschichte
Rußlands 183.
— Ssumzow 56.
: — Ssu worin, Skizze 189.
— Stählin, Originalanek-
doten 402. 471, 473; II
44, 262. 419.
— Stern, Bernhard, Zw.
der Ostsee und dem
Stillen Ozean 8, 9, 47,
48, 62, 68, 72, 80, 81,
j — Die Romanows 1 58, 167,
! 169, 172, 174, i88, 189,
297. 355. 369, 372. 388,
437. 454. 47^>. 480; II
59. 272, 293, 295, 305.
317. 329. 374. 402, 404,
420, 493. 507. 520.
— Storch, Historisch-stat.
Gemälde d. Russischen
Reichs II 456.
Zitate — Strafgesetzbuch
d. russ. Reiches 188,
446; II
184. 297, 320, 411, 424,
513.
— Strahl, Das gelehrte
Rußland 31.
— Ströhmberg, Dr. C,
Prostitution II 347.
— Struvens, B. G., Allg.
Russ. Landrecht 276,
277. 287, 305, 422; II
60, 127, 182, 285, 408,
422.
— Stuhr, Die Religions-
systemc 154.
— Sugenheim, S., ..Ruß-
lands Einfluß und Be-
ziehungen zu Deutsch-
land" 17. 31, 35, 40,
314; II 38, 52, 61, 69,
222, 255, 258, 287.
— Tamow, Fanny, Briefe
II 350.
— Theiner, Aug., De
TEglise 142; II 43.
— Tolstoy II 86, 91.
— Tradescant d. Jüngere
II 29.
— Turgenjew II 454.
— Ular, A.. Erlebnisse
in Rußland 458. 460.
— Vandal, Albert 311,
369.
— Veuillot, Louis, M6-
lauges r^ligieux 435.
— Vockerodt, bei Herr-
mann, Zeitgenössische
Berichte zur Geschichte
Rußlands 6, 26, 121,
140, 288. 369, 471,496;
II 419, 501.
— Volkow, Seelenspeisg.
bei den Weißrussen 73,
74; II 381, 483.
— Voltaire, Histoire de
Pierre I 469; II 95.
— Vorwärts II 186.
— Voyage en Moscovie
34, 146, 268, 300, 301;
II 142, 421.
— Wagner, Dr. Fr. II 345,
— Waldbrühl. W. v., Sla-
wische Balalaika 391.
IJi
öl.
Walisznvski,
s Grand S.
27, 36, l8. 38.
124. 140.
147. 496; II
.a.. 183. 23..
.114. 316. 322- 311;,
337. 339. 343- 345. 368,
376, 382. 402, 414, .
417, 422. 47.1-
■ K. n 7, 36. .ly. 42.
43, 46, 48. 51. 53. 54.
55. 58. Ö3. 64. 6S. 66.
68, 183, »23,
117. 232, 253, a6i, 262,
264. 265. -281. 283. 287,
296. 35'
^ Weber 142, 367. 368.
— Webers Verändertes
Rußland 470.
— Wernirot. F.. Rußland
Licht u . Schatten
Zitate — Wichelhausea,
GemäUde von Moskwa
76,77.390. 398; II 145.
JI7, 220, 224, 223, 226,
23*. 139. s83, 351. 456.
— Wiener Arbeiter- Zeitg.
11 186.
— Wolynski, Geschichte
ä. russischen Poesiei68.
— Zando, A-, Rassische
Zustände II 71, 226.
— Zezas Spyridion. Etu-
dcs 276; II 182.
Zivilisten dürfen n. ins
Hoftbeater 420.
Zobelfelle als Honorar f.
Theatervorstellu ngen
ruptio
423; II 133.
192
408.
Zollbeainti.',
Zotenreißer 425.
Zu wenig Tote II 277.
Züchtigung entehrt nicht
Züchtigu ngs-Iostmi
Abstiiig.II 131, 1
Zuckungen als Bewi
Zauberei II 38t.
Zunge, Beieicbii.
zwung. P<dizeiS|)il
64.
— verbrennen als !
287.
Zusammeaschlafen
Jugend bei Esti
Letten II 479.
Zwangsarbeit II 86.
Zwölf Gebote des Chi
gottes Daniel 377
Zwerge im Aberg).
Zwergei^eschletJit
Peter d. Gr. gesd
472.
A/
GESCHICHTE nnnnnunnnnnn
DER nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn
ÖFFENTLICHEN —
SITTLICHKEIT
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RUSSLAND
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