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Full text of "Geschichte der öffentlichen sittlichkeit in Russland; kultur, aberglaube, sitten und gebräuche. Eigene ermittelungen und gesammelte berichte"

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GESCHICHTE 

DER 


ÖFFENTLICHEN  SITTLICHKEIT 


IN 


RUSSLAND 


KULTUR,  ABERGLAUBE,  SITTEN  UND  GEBRÄUCHE 

EIGENE  ERMITTELUNGEN  UND  GESAMMELTE  BERICHTE 


VON 


BERNHARD  STERN 

(VERFASSER  VON  »HEDIZInTaBERGLAUBK 
UND  GESCHLECHTSLEBEN  IN  DERTORKEI"! 


ZWEI  BÄNDE 
MIT  SO  TEILS  FARBIGEN  ILLUSTRATIONEN 

I. 

KULTUR,  ABERGLAUBE.  KIRCHE.  KLERUS, 
SEKTEN,  LASTER,  VERGNÜGUNGEN,  LEIDEN 


BERLIN  W.  30  •  VERLAG  VON  HERMANN  BARSDORF  •  1907 


K,  Roland  Holst,  holländische  Karikatur  auf  den  modernen 
russischen  Absolutismus. 


GESCHICHTE 

DER 


ÖFFENTLICHEN  SITTLICHKEIT 


IN 


RUSSLAND 


# 


KULTUR.  ABERGLAUBE.  KIRCHE,  KLERUS. 
SEKTEN.  LASTER.  VERGNÜGUNGEN,  LEIDEN 

EIGENE  ERMITTELUNGEN  UND  GESAMMELTE  BERICHTE 


VON 


BERNHARD  STERN 

(VERFASSER  VON  „MEDIZtNrABERGLAUBE 
UND  GESCHLECHTSLEBEN  IN  DER  TÜRKEI") 


MIT  29  TEILS  FARBIGEN  ILLUSTRATIONEN 


BERLIN  W.  30  •  VERLAG  VON  HERMANN  BARSDORF  .  1907 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


Inhalt 


Sdte 

Erstei  Teil:  Kultur  und  Aberglaube i — io8 

1.  Die  russische  Kultur 3 

2.  Der  Barbier  als  Erzieher 13 

3.  Dekorative  Bildung 3' 

4.  Aberglaube  und  Verbrechen 53 

5.  Geister,  Zauberer  und  Hexen 76 

6.  Heidentum  und  Orthodoxie 91 

Zweiter  Teil:  Kirche,  Klerus  und  Sekten 109—256 

7.  Religion  und  Popentum iio 

8.  Unsitten  im  Mönchstum 130 

9.  Heiligenkult  und  Mystizismus 153 

la  Sektenwesen 168 

11.  Erotische  Sekten  und  Flagellanten  ....  193 

12.  Selbstverstümmler  und  Skqpnn 228 

Dritter  Teil:  Russische  Laster 257—332 

13.  Ehrbegriff,  Duell  und  Verbrechen    ....  259 

14.  Lügensucht 267 

15.  Diebstahl   .     .     .  ' 271 

16.  Korruption 285 

17.  Trunksucht 294 

18.  Bettelwesen 324 

Vierter  Teil:  Russische  Vergnügungen 333 — ^43^ 

19.  Jagd  und  Hazardspiel 335 

2a  Kirchenfeste  und  Volksfeste 350 

21.  Hofnarren  und  Maskeraden 366 

23.  Tanz  und  Balle 380 

23.  Musik  und  Theater 397 

24.  Rauchen  und  Tabakbuden 421 

25.  Bäder 426 

Fünfter  Teil:  Russische  Leiden 439—502 

26.  Schicksalsglaube  und  Sdbstmoid      .     .     .     .  441 

27.  Feuer,  Hunger  und  Pestilenz 449 

28.  Medizin  und  Aberglaube 464 

29.  Räuberwesen  und  Revolutionen 497 


166600 


•  • 


•  % 


ERSTER  TEIL: 


Kultur  und  Aberglaube 


I.  Die  russische  Kultur.  —  2.  Der  Barbier 
als  Erzieher.  —  3.  Dekorative  Bildung. 
4.  Aberglaube  und  Verbrechen.  —  5.  Geis- 
ter, Zauberer  und  Hexen.  —  6.  Heidentum 

und  Orthodoxie. 


I.  Die  russische  Kultur. 

Selbsterkenntnis  im  Sprichwort  —  Der  Weg  der  Slawen  —  Slawen  und  Ger- 
manen —  Russische  Selbstüberhebung  —  Europäische  Urteile  über  Moskau 
und  die  Moskowiter  —  Strenge  Abgeschlossenheit  des  Zarenreiches  —  Aus- 
landsreisen Hochverrat  —  Des  aufgeklärten  Alexej  Angst  vor  Europas  Kultur 
—  Moralisches  Porträt  des  Kreml  —  Kontraste  der  Klassen  —  Gleichförmig- 
keit der  Menschen  —  Die  Stufe  der  heutigen  russischen  Kultur  —  Europäische 

Ansicht  —  Russische  Urteile. 

,,Wir  sind  ein  Volk,  das  noch  im  Plnstern  wandelt;  nicht 
wissen  wir,  was  Sünde,  und  nicht  wo  die  Erlösung  zu  fin- 
den ist." 

So  charakterisieren  sich  die  Russen  in  einem  der  ori- 
ginellsten und  tiefsinnigsten  ihrer  Sprichwörter;  so  zeichnen 
sie  selbst  mit  dem  breiten  Pinsel  der  eigentümlichen  Melan- 
cholie ihrer  Erde  ihr  ganzes  uns  so  schwer  verständliches 
Wesen,  ihr  Dahindämmern  und  fast  lautloses  Gleiten  durch 
das  Leben,  die  rätselhafte  Form  ihres  Staatswesens,  die  Un- 
sicherheit ihrer  Regierung,  die  Schwerfälligkeit  ihrer  Ent- 
wickelung  und  die  Resultatlosigkeit  aller  Revolutionen  und 
Reformen. 

Anders  als  die  anderen  Völker  der  europäischen  Welt  sind 
die  Russen  geworden.  Kultur  und  Zivilisation  sind  ihnen  wohl 
nicht  ganz  im  Äußerlichen,  aber  in  ihrem  wahren  Begriffe 
fremd  geblieben  trotz  reger  Berührung  mit  der  überfeinen 
Bildung  des  Westens.  Einer  der  ehrlichsten  Erforscher  des 
eigenartigen  russischen  Wesens  sieht,  und  ich  glaube  mit 
Recht,  einen  Hauptgrund  für  die  russische  Zurückgeblieben- 
heit darin^  daß  die  Russen  im  Anfange  jahrhundertelang  keinen 
Zusammenhang  mit  der  abendländischen  Zivilisation  hatten 
und  einen  Weg  zurücklegen  mußten,  der  verschieden  war 
von    allen    jenen    Wegen,    die    die   übrigen  Völker  Europas 


—    4    — 

gingen^):  Die  germanischen  Völker,  meint  er,  haben  vor  den 
Slawen  zur  Gewinnung  der  Bildung  große  Vorteile  und  leich- 
teren Weg  vorausgehabt;  sie  fanden  in  der  weströmischen 
Welt,  wo  sie  sich  niederließen  und  mit  den  Ureinwohnern 
zu  neuen  Volksbildungen  amalgamierten,  überall  eine  hohe 
und  alte  Kultur,  deren  Sprache,  die  lateinische,  nicht  bloß 
in  allen  diesen  Ländern  verbreitet  war,  sondern  auch  als 
Kirchensprache  mit  dem  Christentum  in  den  eigentlichen  ger- 
manischen und  skandinavischen  Ländern  Eingang  gewann. 
Dabei  war  durch  den  germanischen  Ursprung,  die  germanische 
Sprache,  die  germanischen  Sitten  ein  innerer  Zusanmienhang 
unter  allen  diesen  Völkern  begründet.  Diese  Völker  fanden 
einen  natürlichen,  durch  die  Kirche  begründeten  Mittelpunkt 
in  Rom.  Einigkeit  und  Disziplin  hatte  die  orientalische  Kirche 
sich  ebenfalls  erhalten,  aber  es  war  mehr  der  Staat,  das  orien- 
talische Kaisertum,  wodurch  diese  Einigkeit  aufrecht  erhalten 
wurde,  während  im  Okzident  nicht  bloß  Einigkeit,  sondern 
auch  Einheit  existierte.  Die  Kreuzzüge  verbreiteten  im  staat- 
lichen Leben  der  Völker  Europas  im  Mittelalter  das  Ritter- 
tum und  Bürgertum.  Die  Kultur  wurde  im  Okzident  nicht 
das  Eigentum  eines  bevorzugten  Volkes,  sondern  aller  Völker. 
Der  slawische  Stamm  aber,  der  sich  im  jetzigen  Rußland 
niederließ,  fand  kein  Kulturvolk  vor,  dem  er  sich  hätte  an- 
passen, von  dem  er  eine  alte  Kultur  und  Bildung  hätte  über- 
nehmen können.  Was  er  antraf,  waren  vielmehr  nur  spär- 
liche Reste  tschudischer  Völker,  die  in  Anlagen  und  Kultur 
noch  tief  unter  ihm  standen.  Dann  erhielten  die  Russen  das 
Christentum  von  der  orientalischen  Kirche  zu  einer  Zeit,  als 
sich  diese  Kirche  bereits  mit  der  okzidentalischen  in  eine  feind- 
selige Spannung  hineingelebt  hatte.  Das  griechische  Kaiser- 
tum hatte  bei  aller  Fernhaltung  vom  Westen  doch  aus  poli- 
tischen Rücksichten  den  lateinischen  Okzident  zu  sehr  nötig, 
um  mit  ihm  völlig  brechen  zu  können.  Rußland  aber  schloß 
sich  gänzlich  vor  Europa  ab  und  nahm  selbst  dem  griechischen 
Kaisertum  gegenüber,  obwohl  es  von  dort  seine  Religion  bc- 


1)  August  Freiherr  von  Haxthausen.  Studien  über  die  inneren  Zustande 
Rußlands.     Erster  Band,  S.  40. 


-    5    — 

zogen  hatte,  eine  mehr  feindliche  als  freundliche  Stellung  ein. 
Die  Religion  knüpfte  Rußland  nicht  allzufest  an  Konstanti- 
nopel, es  war  kein  inniges  Band,  nur  die  Person  des  jeweiligen 
Patriarchen  hielt  die  Verbindung  aufrecht,  und  diese  war 
sicherlich  lockerer  als  die  der  Völker  des  Westens  mit  Rom. 
Denn  wichtig  ist  es  zu  bemerken,  daß  Rußland  mit  der  grie- 
chischen Religion  nicht  den  griechischen,  sondern  einen  sla- 
wonischen  Kultus  akzeptierte;  mit  der  griechischen  Religion 
nicht  die  griechische  Sprache  übernahm  und  also  fremd  blieb 
der  altgriechischen  und  byzantinischen  Kultur.  War  auch  die 
altslawische  Sprache  schön  und  reich,  so  hat  sie  doch  nicht 
die  Fähigkeit  gezeigt,  eine  Literatur  zu  schaffen,  konnte  also 
keine  Grundlage  für  eine  Kultivierung  sein,  nicht  Rußland 
instand  setzen,  mit  der  Bildung  in  Europa  Schritt  zu  halten. 
Ihre  Leistungen  erschöpfen  sich  in  einigen  Heldenliedern  in 
der  Zeit  vom  zehnten  bis  zum  dreizehnten  Jahrhundert  und 
in  den  Annalen  des  Kijewer  Höhlenklostermönches  Nestor. 
Dabei  blieb  die  russische  Kultur  stehen,  und  dieses  Wenige 
wurde  von  den  Polowzern  und  Mongolen,  die  Rußland  in 
den  nächsten  Jahrhunderten  bedrängten  und  unterjochten,  ver- 
weht wie  Staub  in  der  Steppe. 

Und  als  sich  Rußland  wieder  erhob  zu  selbständigem 
Leben,  '  zu    einem   unabhängigen    Staatswesen,    knüpfte   man  I 

nicht  an  die  einstigen  Versuche  zur  Kultivierung  an,  sondern 
hielt  sich  schon  für  vollkommen,  weil  man  Kraft  genug  be- 
wiesen hatte,  das  Mongolen joch  abzuschütteln.  Als  unter  dem 
vierten  Iwan  einige  fremde  Kaufleute  in  Archangelsk  er- 
schienen, um  von  den  Russen  Getreide,  Holz  und  Kaviar  zu 
erhandeln,  glaubte  man  in  Moskau  schon:  Rußland  sei  der 
Stapelplatz  und  Speicher  von  Europa,  und  der  ganze  Westen 
müßte  ohne  russisches  Holz  vor  Kälte  umkommen,  ohne  russi- 
schen Kaviar  verhimgern.  Das  glaubten  dieselben  Russen, 
die  noch  kein  anderes  Geld  kannten  als  Stücke  von  Fellen^), 

^)  Dieses  Tauschmittel  nannte  man  Kunen  Die  einzelnen  Sorten  be- 
standen aus  größeren  oder  kleineren,  feineren  oder  gröberen  Fellen,  aus  Ohren 
von  Mardern.  Hälsen  von  Zobeln,  Füßen  von  Füchsen  und  aus  Htisschweifen. 
Eine  am  Ufer  der  Oka  gelegene  Vorstadt  von  Nischny-Nowgorod  heißt  noch 
heute  Kunawino  von  den  vielen  Kunen,  die  hier  als  Zoll  entrichtet  wurden. 


—    6    — 

und  nicht  imstande  waren  zu  zählen^  wenn  sie  nicht  die  auf 
einer  Schnur  aufgezogenen  Kugeln,  also  die  primitivste  aller 
Rechenmaschinen,  zur  Hand  hatten.  Noch  mehr,  die  Russen 
hielten  sich  in  ihrer  Ignoranz,  die  dem  Größenwahn  häufig 
verwandt  ist,  sogar  für  das  höchstgebildete  Volk  der  Welt, 
obwohl  sie  nach  den  Geständnissen  ihrer  eigenen  Historiker 
im  ganzen  Reiche  nur  drei  Priester  hatten,  die  Griechisch  ver- 
standen ;  obwohl  sie  die  Astronomie,  Anatomie  und  die  meisten 
anderen  Wissenschaften  für  Künste  des  Teufels  erklärten. 

Es  kann  nicht  wundernehmen,  daß  die  Europäer,  die 
damals  mit  Rußland  in  Berührung  zu  kommen  Gelegenheit 
hatten,  nicht  tiefer  in  das  Reich  eindrangen  und  sich  nicht 
bemühten,  ehrlich  zu  erforschen,  wie  das  Volk  wirklich  be- 
schaffen war.  Nach  den  Erlebnissen  an  der  Peripherie  des 
heiligen  Rußland  meinte  man  schon  das  Günstigste  gesagt 
zu  haben,  wenn  man  ein  Urteil  wie  dieses  fällte  i):  „Le  Mos- 
covite  est  prdcisement  Thomme  de  Piaton,  animal  sans  plumes, 
auquel  rien  ne  manque  pour  6tre  homme,  si  non  la  proprete 
et  le  bon  sens.** 

In  einem  in  meinem  Besitze  befindlichen  außerordentlich 
selten  gewordenen  Büchlein^)  heißt  es  noch  im  Anfang  der 
Regierung  Peters  des  Großen  von  den  Russen:  „Das  gemeine 
Volck  in  Russen  ist  in  Wahrheit  überaus  dumm  und  abgöt- 
tisch. Diejenigen,  welche  gegen  Norden  bey  Archangel  und 
Cola  wohnen  /  erkennen  keinen  andern  Gott  als  den  St.  Nico- 
las, den  sie  vor  den  Regierer  der  gantzen  Welt  halten.  Sie 
behaupten,  daß  er  von  Italien  bis  an  einen  Haven  /  der  seinen 
Namen  führet  /  und  nahe  bey  Archangel  lieget  /  auf  einem 


An  der  Oberfuhr  mußten  die  Kaufleute  oft  lange  warten,  bis  sie  ihre  Waren 
verzollen  konnten;  es  wurden  Hütten  und  Häuser  gebaut,  und  so  entstand 
das  Dorf  Kunawino.     Vgl.  Bernhard  Stern,  An  der  Wolga.     S.  5. 

^)  Aus  dem  Berichte  Johann  Gotthilf  Vockerodts  bei  Herrmann,  Zeit- 
genössische Berichte  zur  Geschichte  Rußlands.     S.  2. 

*)  Reise  nach  Norden/Worinnen  die  Sitten/Lebens-Art  und  Aberglauben 
derer  Norwegen/Lappländer/Kiloppen,  Borandier,  Syberier,  Moßcowiter/Samo- 
jeden,  Zemblaner  und  Ißländer  accurat  beschrieben  werden.  (Mit  Kupfern.) 
Zum  andemmahl  gedruckt  und  mit  den  annehmlichsten  Nordischen  Curiosi- 
taten  vermehret.  Leipzig,  Bey  Gottfried  Leschen.  1706.  12®.  511  Seiten. 
Vgl.  S.  214.  215 — 216. 


—     7     — 

Mühlsteine  geschwummen  kommen  /  und  wann  ein  Russe 
einigen  Zweiffei  in  diese  Historie  stellet  /  so  setzet  er  sein 
Leben  gantz  gewiß  in  Gefahr  .  .  .  Die  meisten  Russen  seyn 
ungeschickte  /  tölpische  imd  unerbare  Leute  /  ausgenommen 
etliche  /  die  durch  die  Handlung  /  so  sie  mit  denen  Frem- 
den gehabt  haben  /  civil  worden  sind  /  und  den  Polni- 
schen Hoff  durchwandert  haben.  Die  Polen  sind  nicht  so 
barbarisch  als  sie:  Es  giebt  derer  /  die  ihnen  den  Verstand 
durch  das  Studieren  /  und  die  Wissenschafften  /  die  aus 
Russen  gantz  verbannet  seynd  /  zuwege  bringen  /  und  sie 
haben  die  Freyheit  zu  reisen  /  die  denen  Russen  benommen 
ist." 

Eines  der  wertvollsten  Zeugnisse  aus  der  Zeit  am  Ende 
des  sechzehnten  Jahrhunderts  hat  der  Engländer  Fletcheri)  ge- 
liefert: „Die  Zaren/*  sagte  er,  „die  im  Handel  ein  Mittel 
zur  Bereicherung  ihres  Schatzes  sehen  und  sich  wenig  um  den 
Wohlstand  ihrer  Kaufmannschaft  bekümmern,  begünstigen 
auch  die  Volksbildung  nicht.  Sie  lieben  nichts  Neues,  ver- 
anlassen keine  Ausländer  nach  Rußland  zu  kommen,  ausge- 
nommen Solche,  die  sie  zu  ihren  Diensten  brauchen,  und  er- 
lauben ihren  Unterthanen  nicht  außer  Landes  zu  gehen  aus 
Furcht  vor  der  Aufklärung,  deren  die  Russen  bedeutend  fähig 
sind,  da  sie  viel  natürlichen  Verstand  haben,  den  man  sogar 
bei  den  Kindern  bemerkt.  Nur  Gesandte  und  Landläufer  sieht 
man  von  den  Russen  dann  und  wann  in  Europa.*'  Der  be- 
rühmte russische  Historiker  Karamsin,  der  eingestehen  mußte, 
daß  Fletcher  viel  Wahres  über  den  damaligen  Zustand  Ruß- 
lands gesagt,  konnte  die  von  mir  ausgewählten  Bemerkungen 
des    Engländers    nicht    verwinden    und    kommentierte-)    sie 


i)  Of  the  Russe  Comraon-Wealth,  or  manner  of  govemement  by  the 
Russe  Emperour;  commonly  called  the  Emperour  of  Moscovia,  with  the  man- 
ners and  fashions  of  the  people  of  that  countrey.  At  London  printed  by 
T.  D.  for  Thomas  Charde,  1591.  —  Die  Gesellschaft  der  Londoner  Kaufleute, 
die  mit  Rußland  Handel  trieben  und  den  Zorn  des  Zaren  fürchteten,  bat 
den  Minister  Cecil,  Fletchers  Buch   zu  verbieten. 

2)  Karamsin,  Geschichte  des  Russischen  Reiches.  Nach  der  zweiten 
Originalausgabe  übersetzt.  Neunter  Band,  Leipzig  1827.  S.  293.  (In  der 
französischen  Übersetzung  Bd.  X.  340.) 


—    8    — 

folgendermaßen:  „Wir  reisten  noch  nicht,  da  es  uns  noch 
an  der  einem  gebildeten  Geiste  eigentümlichen  Wißbegierde 
mangelte ;  den  Kauf leuten  war  es  nicht  verboten,  außer  Landes 
Handel  zu  treiben,  und  der  eigenmächtige  Johann  schickte 
junge  Leute  nach  Europa  auf  Universitäten.  Ausländer  nahmen 
wir  in  der  That  nur  mit  Auswahl  und  wohl  überdacht  bei  uns 
auf.  Gelehrte  wiesen  wir  nicht  ab,  sondern  luden  sie  vielmehr 
zu  uns  ein."  Karamsins  Polemik  ist  eine  unglückliche,  und 
das  Beispiel,  das  er  für  die  Einladungen  gibt,  spricht  klarer 
noch  als  Fletcher.  Wen  berief  der  Zar?  Den  berühmten 
Mathematiker  Dee;  aber  nicht  seiner  mathematischen  Gelehr- 
samkeit wegen,  sondern  weil  sein  Ruf  als  Sterndeuter  und 
Alchemist  in  Moskau  phantastische  Hoffnungen  erweckte.  Dee 
war  übrigens  klug  genug,  die  Berufung  abzulehnen. 

Das  Reisen  ins  Ausland  war  den  Russen  faktisch  streng 
untersagt.  Man  weiß,  daß  im  Jahre  1075  der  Großfürst  Isäs- 
law  von  Kijew  in  Mainz  den  Kaiser  Heinrich  den  Vierten 
besuchte;  aber  das  Rußland  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
war  fanatischer  und  abgeschlossener  als  das  des  elften,  und 
seit  Iwan  dem  Schrecklichen  galt  schon  der  bloße  Wunsch 
ins  Ausland  zu  reisen  als  Hochverrat.  Unter  dem  ersten  Ro- 
manowschen  Zaren  Michael  Feodorowitsch  war  der  Fürst 
Chworostinin  Gegenstand  einer  strengen  Verfolgung,  weil  er 
seinen  Freunden  gesagt  hatte:  „Ich  möchte  einmal  eine  Reise 
nach  Polen  und  Rom  machen,  um  jemanden  zu  finden,  mit 
dem  man  sprechen  könnte.*'  Kurz  darauf  wagte  es  der  Sohn 
des  meistgehörten  Ratgebers  des  Zaren  Alexej,  Ordin-Natscho- 
kin,  heimlich  die  Grenze  zu  überschreiten,  und  es  war  davon 
die  Rede,  den  Hochverräter  im  Auslande  töten  zu  lassen,  i) 
Und  Zar  Alexej  Michajlowitsch  galt  bereits  als  aufgeklärt. 
Er  ließ  seine  Kinder  in  der  Mathematik  und  Astronomie  unter- 
richten, so  daß  die  Geistlichen  weinten  und  jammerten  ob  der 
Sünden  des  Herrschers  2),  der  , .Philosophen  bei  sich  hielt,  die 

1)  K.  Waliszewski,  Pierre  le  Grand.  L'6ducation,  rhomme,  roeuvre. 
D'aprös  des  documents  nouveaux.  5dme  Edition,  Paris  1897.  S.  81  (Nach 
Ssolowjew,  Bd.  IX  461  und  X  93). 

2)  Bernhard  Stern,  Zwischen  der  Ostsee  und  dem  Stillen  Ozean.  Zu- 
stände und  Strömungen  im  alten  und  modernen  Rußland.  Breslau    1897.   S.  10. 


—    9    — 

die  Erscheinungen  des  Himmels  und  der  Erde  zu  erklären 
sich  erkühnen  und  die  Länge  der  Sternschweife  mit  einer 
Elle  messen.**  Selbst  dieser  Zar  hielt  ein  Überschreiten  der 
Grenze  für  todeswürdig.  Damit  fürchtete  er  eine  Einschränkung 
seiner  Selbstherrlichkeit  beginnen  zu  sehen.  Wer  über  die 
westliche  Grenze  ging,  stellte  sich  außerhalb  der  zarischen 
Macht,  außerhalb  des  Schreckens,  dieses  einzigen  Prinzips  der 
moskowitischen  Regierung;  der  war  ein  flüchtiger  Sklave,  ein 
Widerspenstiger;  noch  mehr:  aus  der  heiligen  Rußj  ins  heid- 
nische Ausland  gehen  war  eine  wahre  Sünde ;  hieß :  sich  aus- 
setzen einer  Infektion  durch  die  feindlichen  Religionen,  von 
denen  die  russische  Erde  verderbendrohend  umlauert  war; 
brachte  die  Gefahr  einer  unseligen  Vermischung  mit  jenen 
Ungläubigen,  deren  bloße  Berührung  einem  Moskowiter  damals 
schon  als  eine  Beschmutzung  erschien.  ^)  Ich  sage  damit  nicht 
übertreibende  Meinungen  von  Rußlandfeinden  oder  zeitge- 
nössischen Nichtswissern  nach,  sondern  stelle  eine  historisch 
beglaubigte    Tatsache   aktenmäßig   fest. 

Der  götzengleiche  Souverän  auf  dem  moskowitischen 
Throne  betrachtete  den  Kreml  als  Mittelpunkt  der  Erde,  sich 
selbst  als  den  geheiligten  Gebieter  der  Völker  Asiens  nicht 
bloß,  sondern  auch  Europas.  Als  Zar  Feodor  eine  Gesandt- 
schaft nach  Paris  schickte,  weigerte  sich  dort  der  Gesandte 
Patjomkin,  vor  dem  König  die  Mütze  abzunehmen;  verlangte 
jedoch,  daß  der  französische  Souverän  sich  bei  jeder  Nen- 
nung des  Zaren  vom  Throne  erhebe  und  das  Haupt  ent- 
blöße, i)  Um  den  Kreml  drehte  sich  das  ganze  russische 
Leben.  2)  Und  was  war  des  Wunderbaren  in  diesem  dreifach 
ummauerten  Palästegewirr  zu  finden  ?  Da  standen  heilige  und 
profane  Gebäude  regellos  durcheinander,  Klöster  und  Käthe- 

1)  Histoire  de  Riissie  et  de  Pierrf-le-Grand.  Par  M.  le  g6n6ral  Comte 
de  S6gur.     Paris  1829.     S.  219.  ' 

2)  Bernhard  Stern,  Von  der  Ostsee  zum  Stillen  Ozean.     Russisch-fran- 
zösiche  Bündnisse  und  Händel.     S.  74,  yy — 78. 

3)  Man   vergleiche   für  die    Kenntnis  des   häuslichen   Lebens  der  Zaren 
und   der  Zarinnen  die  beiden  schönen  Werke  von  Sabelin:  ÜBHirb  3a6tiJiHH'b, 

nMaiuHbift  6biri.  pyccKHX'h  uaport  btl  XVI  n  XVII  er.  3«  ii3;;aHi('  Moch-BU  1895; 
und  ;loMaiiiiii.iri  r)i>rn,  pvcrKiixT.  napHin».  3^  maji.  MocicBa   1891. 


—     10    — 

dralen  erstickten  unter  der  Nachbarschaft  der  schwerfälligen 
Amtsbauten  und  der  unbehaglichen  Wohnhäuser  der  Hofleute. 
Eine  schwere  Luft  wie  in  Gefängnissen  drückte  die  Stim- 
mung danieder;  fast  immer  herrschte  tiefe  Stille,  die  nur 
unterbrochen  wurde  durch  das  eintönige  Gebimmel  der  russi- 
schen Kirchenglocken,  die  näselnden  Gesänge  der  Priester  und 
Mönche,  seltener  durch  ein  schwermütiges  Lied  aus  den  fest- 
verschlossenen  Terems,  den  Harems  der  moskowitischen 
Großen,  am  häufigsten  durch  das  Stöhnen  der  gefolterten 
Gefangenen.  Wer  eins  der  Tore  des  Kremls  durchschritten 
hat,  ist  nicht  mehr  derselbe  Mensch,  der  er  früher  gewesen. 
Er  verlernt  im  Augenblick  das  Reden,  und  seine  Sprache 
wandelt  sich  in  ein  demütiges  Flüstern,  sein  Gang  wird  un- 
sicher und  schleppend  und  die  Hand  tastet  bei  hellichtem 
Tage,  als  gebe  es  tausend  Gefahren  abzuwenden;  ängst- 
lich beobachtet  man  sich  und  forschend  wird  man  beobachtet 
von  unzähligen  Augen,  obwohl  man  weit  und  breit  oft  keinen 
Menschen  sieht.  In  dem  Innern  der  Paläste  und  Häuser  gab 
es  einen  unbeschreiblichen  Luxus,  eine  Überfülle  in  Teppichen 
und  Juwelen.  Aber  die  Pracht  erlosch  unter  dem  Staub  und 
Schmutz,  die  mit  ihr  kontrastierten.  Diese  furchtbaren 
Kontraste  waren  nur  ein  Reflex  der  Gegensätze  auf  allen 
Gebieten  des  administrativen  und  politischen,  wirtschaft- 
lichen und  sozialen  Lebens.  Es  existierte  zwar  ein  Staats- 
grundsatz, der  hießi):  ,»Der  Zar  hat*s  befohlen,  die  Bo- 
jaren haben's  geraten  !**  Aber  dieses  Gesetz  war  nur  eine 
Formel,  denn  der  Zar  ließ  sich  niemals  raten.  Wie  das  Klima 
physisch  nur  überaus  starke  oder  überaus  schwache  Naturen 
in  Rußland  duldet,  so  kannte  auch  die  Regierung  nur  einen 
Herrn  und  Sklaven,  aber  keine  Ratgeber.  Custine^)  hat  von 
Rußland  gesagt:  „C'est  la  patrie  des  passions  effren^es  ou 
des  caract^res  debiles,  des  rdvolt^s  ou  des  automates,  des 
conspirateurs  ou  des  machines.  Ici  point  d'interm^diaire  entre 
le  tyran  et  Tesclave,  entre  le  fou  et  Tanimal;  le  juste  milieu  y 
est  inconnu.** 


^)  J.   H.  Schnitzler,  Geheime  Geschichte  Rußlands  unter  den  Kaisem 
Alexander  und  Nikolaus.     Grimma  1847.     (Zwei  Bände)  I   10 — 11. 
2)  La  Hussie  en   1839.     II  ed.  Paris  1843  (4  Bande)  II   lu^ 


—   11    — 

In  dem  Einen  aber  gleichen  sich  Hoch  und  Niedrig,  Arm 
und  Reich,  Tyrann  und  Sklave :  sie  alle  bauen  auf  den  Zufall, 
nicht  auf  ihre  Willenskraft.  Sie  werden  zwar  geboren  wie 
andere  Menschen,  das  allein  haben  sie  gemein  mit  den  Kultur- 
völkern; aber  sie  leben  und  sterben,  ohne  den  Zweck  ihrer 
Existenz  verstanden,  ja  man  kann  sagen:  ohne  ihre  Existenz 
selbst  bemerkt  zu  haben.  ,, Weder  Gutes  noch  Böses  ist  bei 
ihnen  wirklich.**  Sie  können  lachen,  aber  nicht  glücklich,  und 
können  weinen,  aber  nicht  unglücklich  sein.  Schon  Leroy- 
Beaulieu^)  hat  die  merkwürdige  Gleichförmigkeit  hervorge- 
hoben, die  alles  Russische  auszeichnet.  Die  Städte  haben  über- 
all dieselbe  Physiognomie,  die  Bauern  dasselbe  Aussehen,  die- 
selben Sitten,  dieselbe  Lebensweise.  In  keinem  anderen  Lande 
gleichen  sich  die  Menschen  mehr,  in  keinem  gibt  es  so  wenig 
von  der  prinzipiellen  Eigenart,  so  wenig  von  den  Gegensätzen 
im  •  Typus  und  Charakter.  Die  Nation  hat  sich  in  Ruß- 
land nach  dem  Vorbilde  der  Natur  gebildet,  sie  zeigt  dieselbe 
Einheitlichkeit,  ja  fast  dieselbe  Monotonie,  wie  die  Ebenen, 
die  sie  bewohnt. 

Deshalb  ist  auch  die  russische  Religion  seit  tausend  Jahren 
ein  unfruchtbarer  Formalismus,  in  dem  jeder  Aberglaube  Platz 
hat,  und  die  russische  Geistlichkeit  ungebildet  heute  wie  früher. 
Peter  hat  das  Reich  reformiert,  aber  diese  Eleganz  ist  ohne 
Geschmack,  eine  Nachahmung  ohne  Gefühl,  und  statt  eines 
zivilisierten  Volkes  gebar  das  neue  Rußland  ein  V^olk  von 
Parvenüs  in  allen  Klassen.  Äußerlicher  Glanz,  dekorative  Bil- 
dung, durch  Zufall  erworben,  durch  das  Gesetz  der  Trägheit 
erhalten.  So  dauert  dort  eigentlich  das  Mittelalter  noch  fort, 
trotz  Reformen  und  Revolutionen,  trotz  Buchdruckerkunst  und 
Elektrizität.  Wie  die  Wasser  des  Don  und  des  Dnjepr,  der 
Wolga  und  des  Ural  träge  fließen  im  breiten  Bette,  so  wälzt 
sich  auch  die  große  russische  Masse  nur  langsam,  im  Laufe 
von  Jahrhunderten  kaum  merkbar  weiter.  „Das  russische  Volk,*' 
ruft  einer  seiner  besten  Freunde  2)  in  Europa  aus,  ,,ist  im 
fünfzehnten  Jahrhundert  stehen  geblieben,  um  nicht  zu  sagen 

1)  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen.  Dtsch.  v.  Pezold.  2.  Aufl. 
Sondershausen  1887.     (3.  Bände.)     I  81. 

2)  Lerov-Beaulieu,  a.  a.  O.  III  9 — k>. 


-     12     - 

im  dreizehnten.**  Das  ist  die  Ansicht  eines  prätentiösen  Fran- 
zosen !  Jene  Russen  selbst,  die  ein  klares  Urteil  haben,  denken 
bescheidener.  Ein  panslawistischer  Patriot,  Salkowski,  er- 
klärte: ,,In  bezug  auf  Bildung,  Erziehung,  kurz  alles  das,  was 
den  Begriff  der  Zivilisation  begründet,  steht  das  russische  Volk 
noch  auf  der  Stufe  des  zwölften  Jahrhunderts!**  Die  Stufe 
des  zwölften  Jahrhunderts  —  was  bedeutet  dies?  Raub  ist 
kein  Vergehen,  Meineid  eine  feste  Institution,  Kindermord  eine 
moralische  Notwendigkeit,  sexuelle  unnatürliche  Verbrechen 
sind  verzeihliche  Schwächen ;  Aberglaube  ist  Religion,  Gewalt- 
tätigkeit heißt  Regierung,  Grausamkeit  gegen  Andersgläubige : 
Gottgefälligkeit  und  Staatsklugheit.  Dann  hat  der  Engländer 
Lanin^)  recht,  wenn  er  in  seinem  harten  Buche  über  Rußland 
sagt:  „Es  gibt  in  den  russischen  zehn  Geboten  keine  Sünde, 
die  nicht  gesühnt  werden  könnte.  Es  gibt  keine  soziale  Hölle. 
Wie  tief  auch  ein  Mann  oder  eine  Frau  gefallen  sei,  sie  werden 
nicht  für  unerlösbar  verloren  gehalten.** 

In  der  russischen  Literatur  der  Gegenwart  spiegelt  sich 
das  russische  Elend.  Der  Philosoph  und  Patriot  Wladimir 
Ssolowjew  klagt :  „Selbst  die  Poesie  zeigt  im  zeitgenössischen 
Rußland  eine  unerhörte  Tendenz  zur  Verherrlichung  roher 
Gewalt  und  wollüstiger  Grausamkeit.*'  Und  Graf  Alexej  Tolstoi 
fügt  diesem  Schmerzensrufe  die  Erklärung  hinzu:  ,, Rußland 
wird  vollkommen  ruiniert  durch  Trunksucht  und  Scham- 
losigkeit.** 

Rußland  steht  auf  der  Stufe  des  zwölften  Jahrhunderts  — 
vergebens  hat  seit  zwei  Jahrhunderten  der  Barbier  als  Er- 
zieher gewirkt,  umsonst  ward  ein  Patjomkinscher  Bildungs- 
bau  auf   dem   russischen    Steppenboden   errichtet. 


1)  Russische  Zustande.    Aus  dem  Englischen  von  Dielitz.    Leipzig  1892 
und  1893  (2  Bände).     I  41,   I  98. 


—     13 


2.  Der  Barbier  als  Erzieher. 

Auftreten  Peters  des  Großen  —  Moral  und  Ehrgefühl  der  Großen  —  Mora- 
lisches Porträt  Peters  —  Kleiderreform  —  Parallele  Anmerkung  über  Peter  III. 
und  Paul  —  Der  Kampf  gegen  den  Langbart  —  Bartgesetz  des  Monomach 

—  Der  Bart  Gottes,  des  Vaters  wie  des  Sohnes  —  Der  Bart  der  Russen  — 
Anmerkung  über  den  Bart  der  Karaiten  —  Der  Bart  als  Wärmespender  — 
Anmerkung  über  Haare  —  Frühere  Bartfeinde  in  Moskau  —  Peters  XJkas  — 
Barbarische  Zivilisationsmethode  —  Der  Barbier  als  Erzieher  —  Barttaxe  — 
Bartrevolution  in  Astrachan  —  Peitschenstrafe  für  Bartfreunde  —  Reaktion 
und  Langbärte  —  Religiöse  Bedeutung  des  Bartes  —  Parallele  Anmerkung 
über  andere  Länder  und  Völker  —  Die  Geistlichkeit  und  ihre  Schmähschriften 

—  Bartschneiden  Ketzerei  —  Der  Bart  des  Patriarchen  —  Rückkehr  zum 
Langbart  —  Die  Barte  der  Geistlichen  —  Lomonossows  Gedicht  über  den 
bepißten  Popenbart  —  Peter  III.  —  Pugatschews  Bartrevolution  —  Alexan- 
ders I.   Kampf  gegen  den  Bart  —  Die  Barte  Alexanders  IL  und  III. 

Die  Reformen  Peters  des  Großen  erweckten  in  Europa 
große  Hoffnungen.  In  einem  zeitgenössischen  großen  Reise- 
werke, wo  die  Manieren  des  damaligen  Russenvolkes  als  noch 
ganz  barbarische  geschildert  werden,  heißt  es  in  einer  An- 
merkung i),  daß  sich  bald  alles  ändern  werde:  „Surtout  les 
gens  de  condition  commencent  ä  prendre  un  air  de  politesse 
qu'ils  n'avoient  pas  sous  les  Pr^decesseurs  de  ce  Monarque. 
11  y  a  bien  d'esp^rer  que  les  Ecoles  publiques,  et  les  Aca- 
d^mies,  qu'il  commence  ä  etablir,  ach^veront  bien-tot  de  bannir 
la  barbarie  et  Tignorance,  et  changeront  enti^rement  la  face 
de  ce  vaste  Empire."  Die  höchste  Gesellschaft  war  noch 
zu  Zeiten  Peters  nicht  besser  als  das  verkommenste  Raubge- 
sindel. Als  Beispiele  hierfür  werden  folgende  angeführt:  Ein 
Fürst  Feodor  Chotewowskij  erhält  wegen  gemeinen  Betruges 
auf  öffentlichem  Platze  in  Moskau  die  Knute;  der  Edelmann 
Subow  wird  wegen  Diebstahls  bestraft;  der  Wojwode  Iwan 
Bartenjevv  entführt  Frauen  und  Mädchen  und  legt  sich  einen 
Harem  an;  der  Fürst  Iwan  Schedjakow  wird  wegen  Brigan- 
dage  und  gemeinen  Mordes  verurteilt;  zwei  Richter,  die  sich 

1)  Voyages  de  Corneille  Le  Brujm  par  la  Moscovie,  en  Perse,  et  aux 
Indes  Orientales.     A  la  Haye  1732  (5  vol.)     Bd.  III,  S.   112 — 114. 


—     14     — 

durch  Schnaps  und  zwanzig  Rubel  bestechen  ließen,  werden 
öffentlich  gepeitscht. 

Bei  Hoch  und  Niedrig  fehlt  jedes  moralische  Ideal,  der 
Respekt  für  Ehre  und  Pflicht.  Die  freien  Männer,  sagt  Korb 
in  seinem  lateinischen  Werke  über  das  damalige  Rußland, 
achten  ihre  Freiheit  für  nichts  und  sind  jederzeit  bereit,  sich 
selbst  als  Sklaven  zu  verhandeln.  Das  Denunziantentum  be- 
herrscht alle  Klassen,  es  ist  das  einzig  blühende  Geschäft. 
Die  Heerführer  kennen  auch  nichts  Höheres  als  ihre  Bequem- 
lichkeit. Als  Fürst  Scheremetjew  im  Jahre  1705  nach  Astra- 
chan geschickt  wird,  um  dort  eine  gefährliche  Bartrevolte 
zu  unterdrücken,  bleibt  er  plötzlich  in  Kasan  stehen  und  hat 
keinen  anderen  Gedanken  als  den :  nach  Moskau  zurückzu- 
kehren, um  dort  die  Osterfeiertage  angenehm  zuzubringen,  i) 
Ehre,  Pflicht,  Ambition,  Mut  —  lauter  neue  Dinge,  die  Peter 
erst  unter  seinen  Soldaten  nicht  bloß,  sondern  auch  unter  seinen 
Offizieren  einbürgern  muß;  denn  bisher  galt  allem  zuvor  die 
Lehre  des  nationalen  Sprüchwortes :  „Fliehen  ist  gesund.**  Und 
wie  reformiert  Peter?  Im  Jahre  1703  läßt  er  unter  den  Mauern 
von  Noteburg  eine  ganze  Kompagnie  von  Flüchtlingen  und 
FeigHngen  aufhängen. 

Mit  Schrecken  und  in  summarischer  Weise  bekämpft  der 
Zar-Reformator  den  Fanatismus  und  die  Verstocktheit  seiner 
Russen.  Peter  ist  nicht,  wie  man  versöhnend  behauptet  hat, 
ein  Mann  voller  Widersprüche,  zusammengesetzt  aus  Extre- 
men von  Gut  und  Böse ;  nein,  er  ist  in  allen  seinen  Handlungen 
ausnahmslos  der  nackte  Barbar.  Er  schwärmt  angeblich  für 
Leibnitz;  aber  als  ihm  der  große  Philosoph  vorschlägt,  in 
Rußland  magnetische  Observatorien  einzurichten,  verliert  er 
die  gute  Meinung,  die  er  von  dem  Manne  bisher  hatte.-) 
Der  Zar,  der  sein  Volk  bilden  und  kultivieren  will,  ist  nicht 
fähig,  seine  eigenen  Roheiten  zu  meistern.  Am  ,Hofe  Peters 
befand  sich  ein  Baron  von  Bülau,  der  mit  dem  Zaren  einen 
Kontrakt  gemacht  hatte,  daß  er  auf  eine  Distanz  von  tausend 


1)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand.     S.  454 — 455. 

2)  Baer,    Peters   Verdienste    um    die    Erweiterung   der    geographischen 
Kenntnisse.     St.  Petersburg  1868.     S.  56. 


—     16    — 

Schritten  ein  Schiff  anzünden  und  eine  Kugel  mit  einer  Kanone 
über  eine  Werst  hinausschießen  wolle.  Der  Zar  versprach 
ihm  für  das  Gelingen  großmütig  achtzigtausend  Dukaten ;  aber 
als  sich  Bülau  erlaubte,  Peter  in  dieser  Sache  anzusprechen  i), 
„da  spie  ihm  der  Zar  statt  aller  Antwort  einfach  ins  Gesicht 
und  ging  von  ihm  fort**.  In  Holland  stieg  der  Zar  in  einem 
Hotel  ab.  Er  fand  da  einen  seiner  Bedienten  auf  einem  Bären- 
fell in  einem  Winkel  liegend.  Er  jagte  ihn  mit  Fußtritten 
auf  und  sagte  einfach:  „Geh,  ich  will  deinen  Platz!**  Bei 
einem  Feste,  das  dem  Zaren  in  Berlin  gegeben  wird,  macht 
man  ihn  aufmerksam,  daß  er  Handschuhe  anziehen  müsse; 
aber  in  seinem  Gepäck  sind  keine  Handschuhe  zu  finden. 
Beim  Tanzen  greifen  der  Zar  und  seine  Begleiter  den  Tänzer- 
innen an  die  Mieder;  sie  nehmen  die  Mieder  für  natürliche 
Attribute  und  klagen  laut  über  die  steinerne  Härte  der  Brüste 
deutscher  Frauen.  Peter  will  sich  für  die  ihm  zuteil  gewordene 
Gastfreundschaft  revanchieren  und  die  Hofgesellschaft  auch 
seinerseits  unterhalten.  Er  läßt  einen  seiner  Hofnarren  rufen; 
da  aber  dessen  Produktionen  auf  die  Europäer  abstoßend 
wirken,  so  gibt  der  Zar  dem  Zwerge  mit  einem  Fußtritt  den 
Laufpaß.  Des  Zaren  un verhüllteste  Roheit  tritt  bei  Tische 
zutage.  Admiral  Golowin,  einer  der  Günstlinge  des  Zaren, 
lehnt  als  Gast  am  Zarentische  einen  Salat  ab,  weil  der  Essig 
ihm  schädlich;  da  ergreift  Peter  selbst  zornig  die  Schüssel 
und  stopft  dem  Admiral  den  ganzen  Salat  gewaltsam  in  den 
Hals,  bis  der  Unglückliche  Erstickungsanfälle  erleidet. 2)  Berg- 
holz erzählt  aus  dem  Jahre  17213):  „Über  der  Mahlzeit  diver- 
tierte  sich  der  Zar  mit  der  Zarin  Küchenmeister,  der  das  Essen 
anordnete,  und  die  Tische  besorgte,  nemlich,  da  er  vor  dem 
Zaren  eine  Schüssel  mit  Essen  niedersetzen  wollte,  so  kriegte 
er  ihn  bey  dem  Kopf,  und  machte  ihm  Hörner  über  dem 
Kopf,  weil  er  vormals  eine  Frau  gehabt,  die  sehr  liederlich 
gewesen,  welches  er  sich  aber  nicht  sonderlich  anfechten 
lassen,  daher  er  dann  noch  bis  auf  diese  Stunde  über  seinem 


^ )  Tagebuch  von  Friedrich  Wilhelm  von  Bergholz.   In  Büschings  Magazin 
für  die  neue  Historie  und  Geographie.     Hamburg.   1767.     XIX  S.  55. 

2)  VValiszewski,  Pierre  le  Grand.  .  S.  92,  98.   135.  451. 

3)  a.  a.  O.  S.  87. 


—     16     — 

Thorwege  ein  Hirschgeweihe  sitzen  hat,  welches  ihn  der  Zar  hat 
dahin  nageln  lassen.  So  oft  ihn  der  Zar  zu  sehen  bekommt,  so 
macht  er  ihm  mit  zwey  Fingern  Hörner  zu,  und  wenn  er  ihn  zu 
fassen  kriegt,  kann  er  ihn  wohl  eine  Viertelstunde  halten,  und 
ihn  immer  darmit  scheeren ;  er  aber  schlägt  bisweilen  dem  Zaren 
dermaßen  auf  die  Hand^),  daß  er  es  wohl  fühlet,  denn  eher  be- 
kommt  er  keinen  Frieden.  Da  aber  diesesmal  der  Iwan  Michailo- 
witsch^)  ihn  mit  zu  fassen  kriegte,  und  die  Dentschiken^) 
ihn  von  hinten  hielten,  so  hatte  er  eine  Zeitlang  seine  Noth, 
indessen  fassete  er  den  Zaren  so  stark  bey  den  Fingern,  daß 
ich  alle  Augenblick  meynete,  er  würde  sie  ihm  abbrechen.** 
Alle  diese  Züge  aus  Peters  Leben  waren  seinen  Zeitgenossen 
wohlbekannt*),  und  es  zeigt,  wessen  man  sich  von  ihm  ver- 
sah, wenn  der  Minister  Polens  in  Berlin,  Manteuffel,  den  Zaren 
also  drastisch  lobt:  „Er  hat  sich  selbst  übertroffen.  Er  hat 
bei  Tische  nicht  aufgestoßen^),  nicht  gefurzt,  sich  nicht  die 
Zähne  gestochert,  wenigstens  habe  ich  nichts  gesehen  und 
nichts   gehört;'*    und   um   der   Königin   die   Hand   reichen   zu 


^)  Der  Herausgeber  des  Bergholzschen  Tagebuches,  Büsching.  bemerkt 
hierzu:  .,In  Dänemark  wurde  des  Grafens  Brand  Vertheidigung  gegen  König 
Christian  VII.  in  einem  ähnlichen  Falle,  als  ein  Verbrechen,  durch  welches 
er  die  Hinrichtung  verdienet  habe,  angegeben." 

')  Iwan  Michailowitsch  ist  der  russische  Bacchus. 

^)  Zarische  Hofbediente,  besonders  Kammerdiener. 

^)  Die  Erzählungen  in  den  Memoiren  der  Markgräfin  von  Bayreuth  setze 
ich  als  so  verbreitet  voraus,  daß  ich  sie  nicht  weiter  erwähne,  wie  ich  es  ja 
als  meine  Aufgabe  betrachte,  bei  Erinnerungen  an  die  Vergangenheit  alles 
Bekannte  zu  vermeiden  und  nur  das  Wichtigste  und  wenig  oder  gar  nicht 
Bekannte  hervorzukehren. 

B)  ,,Wenn  vor  diesem  ein  Russe  schluckte  oder  aufstieß,  nahm  er  seine 
Mütze  ehrfurchtsvoU  ab,  und  kreutzete  sich  dreimal,  denn  er  glaubte,  das 
Schlucken  wäre  ein  sehnsuchtsvoller  Wunsch  der  Seele  mit  Gott  zu  reden. 
Hieraus  ist  leicht  abzunehmen,  wie  oft  durch  Unmäßigkeit  dergleichen  Unter- ' 
haltungen  mit  der  Gottheit  veranlasset  werden  mußten.  Das  gemeine  Volk, 
welches  allezeit  hartnäckig  den  einmal  gefaßten  Vorurteilen  nachhänget,  hat 
noch  diesen  frommen  Glauben,  wie  auch  die  alte  Gewohnheit,  die  Mütze  ab- 
zunehmen und  sich  dreimal  zu  kreutzen."  Sammlung  merkwürdiger  Anek- 
doten, das  Russische  Reich,  die  Gewohnheiten  und  Gebräuche  wie  auch  die 
Naturgeschichte  betreffend,  von  einem  Reisenden,  welcher  sich  13  Jahre  in 
diesem  Reiche  aufgehalten.  Aus  dem  Französischen.  Erster  Theil.  Greifs- 
wald 1793.     (Ein  sehr  seltenes  Buch.)     Vgl.  S.  33 — 34. 


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—     17     ~ 

können,  „hat  er  sich  sogar  Handschuhe  angezogen**,  allerdings : 
„il  s*est  gantö,  d*un  gant  assez  sale.**  Wie  es  sonst  am  Tische 
Peters  zuging,  erzählte  der  Staatsrat  und  Domherr  zu  Lüttich, 
de  Launage  ^),  der  vom  Zaren  in  Spaa  zu  einem  Diner  ein- 
geladen wurde:  „Der  Zar  saß  oben  an,  in  der  Nachtmütze 
und  ohne  Halsbinde.  Zwei  Soldaten  trugen  jeder  eine  große 
Schüssel  auf.  Nun  kam  ein  Kerl,  der  sechs  Bouteillen  Wein  auf 
die  Tafel  —  nicht  stellte,  sondern  gleich  einer  Handvoll  Würfel 
hinkollerte.  Der  Zar  nahm  eine  davon  und  schenkte  jedem 
Gast  ein  Glas  davon  ein.  Auf  dem  Tische  sah  es  schön  aus! 
Fast  aus  allen  Näpfen  war  Brühe  auf  das  Tischtuch  verschüttet ; 
so  auch  der  Wein,  weil  die  Bouteillen  nicht  ordentlich  zu- 
gepfropft wurden.  Als  man  von  der  Tafel  aufstand,  war  das 
Tischtuch  über  und  über  mit  Fett  und  Wein  getränkt.  Nun 
kam  das  zweite  Essen.  Dies  zweite  Gericht  bestand  aus  zwei 
Kälberkeulen  und  vier  jungen  Hühnern.  Se.  Majestät  nahm 
das  größte  davon  mit  der  bloßen  Hand  aus  der  Schüssel,  rieb 
es  sich  prüfend  unter  die  Nase,  und  nachdem  er  mir  durch 
einen  Wink  zu  verstehen  gegeben,  daß  er  es  köstlich  finde, 
war  er  so  gnädig,  es  mir  auf  meinen  Teller  zu  werfen.  Nach 
dem  Dessert  ging  der  Zar  an  ein  Fenster.  Hier  fand  er  ein 
Paar  Lichtscheren,  mit  denen  er,  so  voll  Talg  und  angerostet 
sie  auch  waren,  sich  die  Nägel  putzte.** 

Dieser  Zar  reformierte  nun  Rußland  nach  seiner  Art.  Er, 
der  keine  Handschuhe  hatte,  als  er  an  einem  europäischen 
Hofje  erschien,  und  mit  der  Nachtmütze  zu  Tische  ging,  er 
sah  die  Herrlichkeit  der  Zivilisation  in  dem  europäischen 
Kostüm  und  dem  rasierten  Kinn.  Die  französische  Tracht, 
die  er  für  Rußland  wählte,  sollte  nicht  bloß  von  den  Vor- 
nehmen, sondern  von  aller  Welt  angenommen  werden.  Sein 
Kleider-Ukas  ist  vom  29.  August  1699  datiert  2);  in  den 
Straßen   von   Moskau   wurden   damals    die    neuesten    franzö- 


1)  Gottschalck  und  Hoffmann,  Anhaltisches  Magazin  1827.  Vgl.  S.  Sugen- 
heim.  Rußlands  Einfluß  auf  und  Beziehungen  zu  Deutschland  vom  Beginne 
der  AUeinregierung  Peters  I.  bis  zum  Tode  Nikolaus  I.  (1689 — 1855)  nebst 
einem  einleitenden  Rückblicke  auf  die  frühere  Zeit.  Frankfurt  a.  M.  1856. 
(Zwei  Bände.)     I  S.  188—189. 

2)  Waliszewski,  Pierre  Ic  Grand.     S.  456. 

Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rufiland.  2 


—     18     — 

sischen  Modcbilder  affichiert.  Die  Reichen  mußten  die  neuen 
Kleider  sofort  anschaffen;  die  Armen  erhielten  eine  bestinmite 
Frist  zugebilligt.  Aber  vom  Jahre  1705  ab  mußte  alles  bei 
sonstiger  schwerer  Strafe  die  neue  Tracht  tragen.^)  Die  ge- 
waltsame Weise  der  neuen  Reform  mußte  namentlich  in  den 
unteren  Klassen  eine  berechtigte  Opposition  finden.  Die  Bo- 
jaren waren  gelehriger  und  willfähriger;  sie  hatten  schon  zur 
Zeit  des  falschen  Dmitry  polnische  Tracht  angenommen  ge- 
habt, die  französische  mißfiel  ihnen  durchaus  nicht,  und  schon 
im  März  1705  bemerkte  Withworth  unter  den  Vornehmen 
keine  einzige  Person  mehr  in  alter  russischer  Nationaltracht. 
Für  die  Männer  des  Volkes  bedeutete  die  Kleiderreform  jedoch 
eine  ökonomische  Kalamität.  Das  Klima  zwang  sie  zu  langen 
schweren  warmen  Kleidern,  die  man  trug,  bis  sie  zerfielen; 
nun  galt  es  diese  bequeme  und  warme  Tracht  zu  vertauschen 
gegen  kurze  und  teuere  Kleider  der  Fremden.  Heftiger  noch 
war  der  Trotz  des  Volkes,  als  Peter  seinen  schwersten  Schlag 
gegen  Altrußland  führte,  als  er  seine  zarische  Riesenschere 
ergriff,  um  dem  Volke  den  Bart  abzuschneiden. 

In  den  Gesetzen  des  Großfürsten  Wladimir  Wßewolodo- 
witsch  Monomach  heißt  es  Kap.  VII,  §  i  :  „Wer  einem  Anderen 
den  Bart   so  daß   ein  kahler  Fleck  entsteht  ausgerauft,   und 


^)  Bekanntlich  reformierten  auch  Peter  III.  und  Paul  I.  auf  ähnliche 
Art.  Zar  Paul  verbot,  runde  Hüte  zu  tragen.  Er  gab  Befehl  allen,  die  dem 
Verbote  zuwiderhandelten,  die  runden  Hüte  vom  Kopfe  zu  schlagen.  Wer 
sich  dies  nicht  stumm  gefallen  ließ,  wurde  von  den  Polizeisoldaten  geprügelt. 
So  erging  es  einem  Engländer,  aber  der  englische  Gesandte  machte  Skandal, 
darauf  wurde  das  Prügeln  der  Träger  runder  Hüte  auf  der  Straße  verboten, 
man  mußte  die  Übeltäter  zur  Polizei  bringen.  Stellte  sich  hier  heraus,  daß 
es  Ausländer  waren,  so  Ueß  man  sie  wieder  frei;  ausgenommen  waren  Fran- 
zosen, die  der  Zar  dann  als  Jakobiner  erklärte  und  verurteilte.  Waren  die 
Verhafteten  aber  Russen,  so  steckte  man  sie  unter  die  Soldaten.  Der  sardi- 
nische Gesandte  spottete  über  diese  Panische  Reform  und  sagte:  ,, Solche 
Kleinigkeiten  haben  in  Italien  oft  Empörungen  verursacht."  Der  Zar  Ueß 
ihm  seine  Pässe  zusteUen,  und  er  mußte  in  vierundzwanzig  Stunden  Peters- 
burg verlassen.  Vgl.  M^moires  secrets  sur  la  Russie  et  particuUerement  sur 
la  fin  du  Rdgne  de  Catherine  II  et  le  commencement  de  celui  de  Paul  I"". 
Formant  un  tableau  des  moeurs.  Paris  oder  Amsterdam  1800  (2  Bände). 
I  267.  (Die  deutsche  Übersetzung  dieses  Massonschen  Buches,  in  4  Bänden, 
ist  seltener  als  das  Original.     Vgl.  in  der  deutschen  Ausgabe  I  207). 


—     19    — 

zwar  in  Gegenwart  einiger  Personen,  die  es  bezeugen  können, 
der  bezahlt  zwölf  Griwnen  Strafe,  i)  Kann  der  Kläger  keine 
Zeugen  führen,  so  soll  seiner  Aussage  kein  Glaube  geschenkt 
und  dem  Beklagten  keine  Strafe  auferlegt  werden.**  Die  Strafe 
wird  illustriert,  wenn  ich  hinzufüge,  daß  für  die  Ermordung 
eines  Knechtes  oder  einer  Magd,  die  ein  Handwerk  erlernt, 
in  denselben  Gesetzen  ebenfalls  12  Griwnen  Strafe,  für  die 
Ermordung  eines  einfachen  Bauers  oder  einer  einfachen  Magd 
nur   5  und  6  Griwnen  Strafe  festgesetzt  wurden! 

In  der  „Reise  nach  Norden**  heißt  es  2):  „Die  russischen 
Päbste^)   schneiden   ihre   Haare*)    nie,   noch   putzen   sie   sich 


1)  Die  Gesetze  des  Großfürsten  Wladimir  Wßewolodowitsch  Monomach 
sind  vollständig  übersetzt  in  einer  sehr  seltenen  Sammlung  von  Nachrichten 
über  Rußland  und  die  Türkei:  ..Constantinopel  und  St.  Petersburg.  Der 
Orient  und. der  Norden.  Eine  Zeitschrift  herausgegeben  von  H.  von  Reimers 
und  F.  Murhard.  St.  Petersburg  und  Penig.  iSojj — 1806."  (Mein  Exemplar 
enthalt  acht  Bande.)    Vgl.  1806,  II.  S.  308. 

2)  a.  a.  O.     S.  121. 

3)  Der  Verfasser  versteht  darunter  ,,den  Pfarr  über  ein  Kirchspiel",  also 
einfach  einen  Popen. 

^)  Das  Haarschneiden  verdient  in  einer  Sittengeschichte  Rußlands  auch 
eine  kurze  Erwähnung.  Karamsin  (deutsche  Übersetzung  VII  174,  franzö- 
sische VII  272)  erwähnt  die  Bemerkung  von  Paulus  Jovius:  ,,Die  Männer 
beschnitten  ihre  Haare".  Der  Chronist  Nestor  spricht  mehrmals  „von  dem 
alten  Gebrauche  der  Russen,  die  Fürstensöhne  im  Alter  von  vier  Jahren  zu 
bescheren"  (Tonsur).  Vgl.  La  Chronique  de  Nestor.  Traduite  en  fran9ais 
par  Louis  Paris.  Accomp.  de  notes.  Paris  1834.  (2  Bände.)  Bd.  II  Anhang 
S.  191  u.  192.  —  Dieser  Gebrauch  der  Haarebescherung,  russisch:  Postrigy  ge- 
nannt, scheint  nach  Karamsin  (deutsch  III  113,  französisch  III  162)  der  Rest 
eines  heidnischen  Gebrauches  gewesen  zu  sein.  Man  bezeichnete  dadurch  den 
Eintritt  der  Kinder  in  das  soziale  Leben,  in  den  Rang  der  Ritter.  Durch  den 
Haarschnitt  wurde  eine  geistige  Verwandtschaft  zwischen  zwei  FamiUen  her 
gestellt:  die  Mutter  dessen,  dem  man  die  Haare  geschnitten,  galt  fortan  als 
Schwester  dessen,  der  die  Operation  vorgenommen.  (Auch  in  anderen  slawischen 
Ländern  war  diese  Tonsur  üblich,  so  in  Polen.)  Ein  Annalist  von  Susdal  er- 
zählt, daß  bei  dem  Haarschnitt  der  Kinder  Marias,  Gattin  Wßewolods,  große 
Feierlichkeiten  stattfanden:  nachdem  man  die  Knaben  rasiert  hatte,  setzte 
man  sie  aufs  Pferd  in  Anwesenheit  des  Bischofs,  der  Bojaren  und  der  Bürger. 
Wßewolod  gab  den  alliierten  Fürsten  bei  dieser  Gelegenheit  eine  Mahlzeit  und 
beschenkte  alle  Gäste.  Die  russischen  Fürsten  unterzogen  sich  femer  der  Ton- 
sur, wenn  sie  ernstlich  erkrankten.  Dann  entsagten  sie  feierUch  der  Weltlich- 
keit, nahmen  das  Mönchsgewand,  ließen  sich  das  Haupt  rasieren  und  weihten 

2* 


—     20     — 

den  Bart.**  Und  bei  Perryi):  ,,Die  Moskowiter  trugen,  nach 
dem  Beispiele  der  alten  Patriarchen,  bis  zu  Peter  dem  Großen 
immer  lange  Barte,  die  ihnen  bis  zur  Brust  herabhingen;  sie 
pflegten  sie  sehr,  gaben  acht,  kein  Härchen  zu  verlieren;  die 
Schnurrbarthaare  waren  so  lang,  daß  die  Leute  nicht  trinken 
konnten,  ohne  den  Bart  naßzumachen,  so  daß  sie  ihn  fort- 
während abwischen  mußten.  Die  Haare  aber  trugen  sie  kurz 
geschnitten,  nur  die  Geistlichen  hatten  auch  lange  Haare.** 
Der  Bart  war  den  Russen  in  mancher  Beziehung  eine  natür- 
liche Vervollständigung  ihrer  Kleidung,  als  Wärmespender  im 
kalten  Klima  ebenso  notwendig  wie  der  lange  dicke  Rock.^) 


sich  dem  Dienste  Gottes.  So  endeten  viele  rassische  Herrscher.  Der  Klerus 
ermutigte  zu  solchen  Entschlüssen,  die  der  Geistlichkeit  Geld,  Geschenke  und 
Gnaden  einbrachten.  —  Im  Gegensatze  zu  diesen  russischen  Sitten  stehen 
einige  Gebräuche  in  Esthland.  Hier  galt  das  Haarabschneiden  als  eine  emp- 
findliche Strafe;  wenn  ein  Leibeigener  einen  Diebstahl  oder  ein  anderes  Ver- 
brechen begangen  hatte,  so  ließ  sein  Herr  ihm  den  Schädel  ganz  kahl  rasieren, 
und  diese  Strafe  war  mit  vieler  Schande  verbunden.  (Vgl.  das  seltene  Werk 
von  J.  Chr.  Petri,  Esthland  und  die  Esthen.  3  Bände.  Gotha  1802.  II  S.  9.) 
In  einer  älteren  Geschichte  der  baltischen  Provinzen  heißt  es:  ,,Die  gewalt- 
same Entführung  der  Frauen  in  Esthland  führte  zum  Gebrauch,  den  Weibern 
die  Haare  abzuscheren.  Zum  Zeichen,  daß  sie  schon  unter  eines  Mannes  Ge- 
walt gewesen,  damit  sie  nicht  entlauf fen  noch  Jemand  sie  als  eine  gekränckte, 
weiter  begehren  möchte."  (Th.  Hiärns  Ehst-,  Lyf-  und  Lettländische  Ge- 
schichte, herausg.  von  Napiersky.  Monumenta  Livoniae  antiquae.  Bd.  I. 
Riga,  Dorpat  und  Leipzig  1835.     S.  40.) 

^)  Etat  present  de  la  Grande- Russie.  Contenant  une  Relation  de  plus 
remarquable.  Description  des  moeurs.  Trad.  de  l'Anglois.  A  la  Haye  171 7. 
S.   187—188. 

2)  Auch  andere  Völker  in  Rußland  haben  ihre  spezifische  Barttracht. 
So  erzählt  J.  G.  Kohl  in  seinem  Buche  über  Südrußland  (II  262)  von  dem 
Barte  der  Karaiten  in  der  Krym:  ,,Es  läßt  sich  besonders  bemerken,  daß  Alle 
ihn  auf  der  Lippe  stehen  lassen,  ihn  aber  übrigens  wegrasieren  bis  auf  einen 
ganz  merkwürdigen,  äußerst  schmalen,  langen  Backenbarts-Streifen,  der  unten 
vom  Kinn  über  die  Kinnladen  hinweg  und  beim  Ohre  vorbei  soweit  hinauf 
geht,  als  nur  Haare  wachsen.  Auf  dieser  äußerst  dünnen  Linie  dürfen  aber 
auch  die  Haare  nicht  wachsen,  wie  sie  wollen,  sondern  werden  gleich  einer 
Gartenhecke  so  stark  unter  der  Schere  gehalten,  daß  sie  nur  einem  gemalten 
Streifen  gleichen.  Diese  streifige,  über  die  Haut  hinirrende  Bartschattierung 
findet  sich  auf  der  Wange  aller  Karaiten  ganz  auf  dieselbe  Weise  und  voll- 
kommen in  derselben  Richtung.  Nicht  so  bei  den  Tataren.'*  Koch  meint, 
der  Ursprung  dieses  sonderbaren,  die  Karaiten  von  den  Tataren  unterscheiden- 


—     21     — 

Schon  vor  Peter  dem  Großen  hatte  der  Bart  in  Rußland 
Anfechtungen  zu  erleiden.  Margeret  i)  bemerkt  mit  besonderem 
Nachdruck,  daß  der  falsche  Dmitry  bartlos  war;  dieser  Um- 
stand hat  vielleicht  nicht  wenig  zu  seiner  Entthronung  und 
Ermordung  beigetragen,  da  der  Zar  schon  durch  die  Ein- 
führung der  polnischen  Tracht  das  russische  Nationalgefühl 
verletzt  hatte.  Auch  aus  der  Zeit  des  Zaren  Alexej  berichtet 
die  russische  Geschichte  einen  interessanten  Fall.  Der  Bojar 
Scheremetjew,  so  wird  erzählt,  weigerte  sich  seinen  Sohn  zu 
segnen,  weil  der  junge  Mann  mit  rasiertem  Kinn  vor  ihm 
erschien.  Dieser  scheint  damals  nicht  der  einzige  Verbrecher  der 
Art  gewesen  zu  sein,  denn  der  Patriarch  Joachim  bedrohte 
mit  den  Blitzen  der  Exkommunikation  alle  die  Sünder,  die 
sich  einfallen  ließen,  den  Bart  zu  rasieren.  Eine  solche  sum- 
marische Drohung  hatte  nur  Sinn,  wenn  die  Rasierbewegung 
schon  weite  Kreise  ergriff.  Und  das  war  tatsächlich  der  Fall. 
Der  alten  Kleidung  und  des  Bartes  Hauptstützen  waren  die  Geist- 
lichkeit und  Religion.  In  der  orthodoxen  Iconographie  sind 
Gott  Vater  und  Sohn  lang  bebartet  und  lang  gekleidet.  Ein 
Ukas  des  Zaren  Alexej  schuf  nun  ein  merkwürdiges  Kompro- 
miß, das  dann  durch  einen  Ukas  seines  Sohnes  Feodor  be- 
kräftigt und  erneuert  wurde:  Das  Verlangen  des  Patriarchen 
nach  einem  Verbot  des  Bartrasierens  wurde  für  berechtigt  er- 
klärt und  erfüllt;  aber  gleichzeitig  schrieb  man  dem  männ- 
lichen Personal  des  Hofes  und  der  Amter  verkürzte  Kleider  vor. 
An  die  göttliche  Tracht  hatte  man  sich  also  gewagt,  den 
göttlichen  Bart  ließ  man  unberührt. 

Bald  aber  kam  ein  mächtigerer  als  der  Patriarch  Joachim ; 
der  Sohn  des  Zaren  Alexej,  der  Antichrist  Peter   schloß  mit 


den  Bartstreifens  müsse  einen  eigenen  Grund  haben.  Ich  vermute  nun,  daß 
die  Käraiten  zu  dieser  Barttracht  als  zu  einem  Unterscheidungszeichen  von 
den  Moslems,  mit  denen  sie  sonst  dieselbe  Tracht  hatten,  gezwungen  worden 
sein  mögen.  Dieser  Bartstreifen  ist  demnach  bei  den  krymschen  Juden  eine 
Erinnerung  an  Zeiten  schmähUcher  Intoleranz. 

1)  Estat  de  1*  Empire  de  Russie  et  du  grand  Dvch6  de  Moscovie.  Paris 
1607.  (Diese  Originalausgabe  ist  eine  Rarität  ersten  Ranges.  Ich  benütze 
die  Ausgabe  Paris  1821,  die  dritte,  die  nur  in  100  Exemplaren  gedruckt  und 
daher  auch  bereits  rar  geworden  ist.)     S.   141. 


—    22     — 

der  Geistlichkeit  keine  Kompromisse  mehr  und  schnitt  ohne 
Furcht  vor  den  BHtzen  der  Kirche  dem  russischen  Barte  den 
Lebensfaden  ab.  Der  Reformator  hieh  mit  den  von  ihm  durch- 
gesetzten neuen  Sitten  und  Trachten  das  Beibehahen  des  alt- 
russischen Bartes  für  imvereinbar.  In  seiner  nächsten  Um- 
gebung, bei  seinen  Mitarbeitern  und  Günstlingen  fand  er  sofort 
volles  Verständnis.  Bei  seiner  Rückkehr  aus  dem  Ausland 
bemerkte  er,  wie  geneigt  seine  Hofleute  und  Minister  waren, 
seinen  Wünschen  entgegenzukommen.  Nicht  nur  Mentschikow 
und  Golowin  glänzten  mit  rasiertem  Kinn;  sondern  alle,  die  in 
der  ersten  Audienz  nach  Peters  Heimkehr  zur  Bewillkommnung 
erschienen,  einige  Alte  und  die  Geistlichen  ausgenonmien, 
waren  bartlos;  „Petern  gefiel  dies  ihm  gebrachte  Opfer  so 
sehr,**  erzählt  Korb^),  „daß  er  sie  mit  außerordentlichen  Zeichen 
des  Wohlwollens  umarmte  und  so  durch  einen  SonnenbHck 
der  Gunst  die  Verwüstungen  des  Messers  vergütete.**  Der 
Zar  überlegte  sich  jetzt  nicht  mehr  lange,  in  seiner  grandiosen 
Reform  fortzufahren.  Um  sie  streng  durchzuführen,  wurden 
Beamte  angestellt,  welche  allen  ohne  Unterschied  auf  offener 
Straße  die  Barte  abschneiden  mußten.  Dies  erschien  den 
Russen  so  fürchterlich,  daß  viele,  die  mit  zärtlicher  Liebe 
an  ihren  Barten  hingen,  den  Mitgliedern  dieser  hohen  Kom- 
mission große  Summen  für  ein  freundliches  Übersehen  boten.  2) 
Aber  die  sonst  so  Bestechlichen  waren  in  diesem  Falle  un- 
bestechlich; auch  hätte  das  wenig  genützt;  entschlüpfte  man 
einer  Bartscherkommission,  so  rannte  man  bald  einer  anderen 
in  die  bewaffneten  Arme.  An  der  Tafel  des  Zaren  gehörte  ein 
Barbier  fortan  zu  den  ständigen  Bedienern;  wagte  noch  je- 
mand hier  mit  dem  Barte  zu  erscheinen,  so  war  er  sicher 
die  Zierde  seiner  Männlichkeit  noch  während  der  Essenszeit 
zu  verlieren.  An  allen  Toren  von  Moskau  waren  Wachen  auf- 
gestellt,   die   den   bebarteten   Passanten   auflauerten;   Wider- 


1)  Bei  Halem,  Leben  Peters  des  Großen.  (3  Bände.)  Münster  und  Leipzig 
1803.  I  141.  —  Über  die  Bartreform  sind  auch  bei  Brückner,  Peter  der  Große 
(in  der  Onckenschen  Weltgeschichte)  einige  interessante  Angaben  zu  finden, 
so  S.  220,  272,  276.  280,  287,  303  und  525. 

2)  Le  Bruyn  a.  a.  O.  III  151. 


—    23    — 

spenstige  mußten  niederknien  i)  und  wurden  grausam  ge- 
schoren. Der  Zar  machte  aus  dieser  Reform  aber  auch  eine 
Einnahmsquelle.  Er  gestattete  das  Barttragen  gegen  eine  Taxe, 
die  von  einem  Kopeken  bis  hundert  Rubel  jährlich  betrug; 
als  Zeugnis  für  die  bezahlte  Taxe  mußten  die  Bartleute  auf 
der  Brust  eine  Medaille  tragen,  mit  einer  Inschrift,  welche 
besagte:  der  Bart  ist  eine  unnütze  Last.  Die  Armen,  die 
die  Taxe  nicht  bezahlen  konnten  und  den  Bart  verloren,  steckten 
die  abgeschnittenen  Haare  in  ein  Säckchen,  das  sie  bis  zum 
Tode  an  der  Brust  trugen  und  das  man  ihnen  mit  in  den 
Sarg  legte,  „damit  sie  anständig  vor  dem  heiligen  Nikolaj** 
erscheinen  konnten. 2)  Den  heftigsten  Widerstand  fand  die 
Bartreform  in  den  fernen  Provinzen.  Die  Diener  des  Zaren 
erlaubten  sich  hier  die  ärgsten  Gewalttätigkeiten.  Der  Gou- 
verneur von  Astrachan  ließ  an  den  Toren  der  Kirchen  Soldaten 
aufstellen,  die  allen  aus  der  Kirche  kommenden  Bebarteten 
die  Barte  ausreißen  mußten.  3)  In  Astrachan  entstand  infolge- 
dessen ein  furchtbarer  Aufruhr,  der  erst  nach  Aufbietung  von 
zwanzigtausend  Mann  und  nach  hartem  Kampfe  bewältigt 
wurde.  Auch  Peter  selbst  ging  grausam  genug  vor.  Als  er 
1704  in  Moskau  plötzlich  sein  Hofpersonal  musterte,  entdeckte 
er,  daß  ein  gewisser  Iwan  Naumow  noch  einen  Bart  trug; 
der  Ungehorsame  wurde  zur  Strafe  öffentlich  gepeitscht. 

Der  Zar  war  dem  Barte  gegenüber  unerbittlich.  Er  be- 
trachtete den  russischen  Bart  sozusagen  als  seinen  persönlich- 
sten Feind.  Der  Langbart  symbolisierte  in  seinen  Augen  alle 
jene  Ideen,  Traditionen  und  Vorurteile,  die  er  bekämpfte. 
In  den  Klagen,  die  er  gegen  seinen  dem  Tode  ausgelieferten 
Sohn  Alexej  erhob,  machte  er  für  des  Unglücklichen  Schick- 
sal dieLangbärte^),  diese  Stützen  der  Reaktion,  verantwortlich. 


^)  Sammlung  merkwürdiger  Anekdoten  das  Russische  Reich  betreffend. 
S.  104. 

2)  Perry,  a.  a.  O.  187. 

3)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand  456. 

*)  Acta  des  Inquisitions-Processes/So  zu  St.  Petersburg  wider  den  Czaaro- 
witz,  Herrn  Alexium  Petrowitz/Im  Jahr  1718.  angestellet.  Nach  dem  zu  Ham- 
burg gedruckten  Exemplar,  Anno  171 8.  S.  9.  —  Manifest  wegen  der  Gericht- 
lichen Inquisition  über  den  Zarewitsch  Alexium  Petrowitsch.  Franckfurt  und 
Leipzig  17 19.     S.  8. 


—    24    — 

Wahrlich  nicht  aus  ästhetischen  und  vielleicht  nicht  ein- 
mal aus  politischen  Gründen  konnten  sich  die  gemeinen  Russen 
von  ihren  Barten  nicht  leichten  Herzens  trennen.  Ihre  Motive 
waren    vielmehr    hauptsächlich    sittlich-religiöse,  i)     „Fast  die 


^)  Auch  in  anderen  Ländern  hat  der  Bart  eine  große  nationale  und 
politische  Rolle  gespielt;  aber  religiöse  Bedeutung  wurde  ihm  nicht  einmal 
im  Orient  beigelegt.  Bei  den  alten  Hebräern  wurde  das  Bartabschneiden  als 
Strafe  angeordnet,  bei  den  Osmanen  galt  ein  abgeschnittener  Bart  als  Zeichen 
der  Schmach,  als  Beraubung  eines  Teiles  der  Männlichkeit,  und  es  wurde  oft 
im  Kriege  an  den  Besiegten  eine  derartige  Entmännlichung  vollzogen.  Eine 
Empörung  infolge  gewaltsamen  Bartabschneidens  gab  es  einmal  im  osmanischen 
Reiche.  (Vgl.  Bernhard  Stern,  Medizin,  Aberglaube  und  Geschlechtsleben  in 
der  Türkei.  Band  II  129.)  —  In  Olmütz  wurden  kurzlich  zwei  nach  Salonich 
zuständige  Mohammedaner  Osman  Ramadan  und  Demir  Aga  wegen  Betruges 
zu  Kerkerstrafe  verurteilt;  nach  der  Hausordnung  der  dortigen  Frohnfeste 
muß  jedem  Sträfling,  dessen  Strafe  die  Dauer  von  drei  Monaten  überschreitet, 
der  Schnurrbart  abgenommen  werden.  Dieses  Schicksal  sollte  auch  die  beiden 
Türken  treffen.  Als  ihnen  dies  mitgeteilt  wurde,  fingen  sie  zu  jammern  an 
und  erklärten,  daß  in  ihrer  Heimat  das  Abnehmen  des  Schnurrbartes  die 
größte  Schmach  bedeute  und  daß  sie  sich  lieber  hängen,  als  dieser  Zierde 
berauben  lassen  wollten.  Sie  klagten  femer,  daß  im  Islam  der  Ehefrau  das 
Recht  zustehe,  den  Mann  sofort  zu  verlassen,  wenn  er  seinen  Schnurrbart  ab- 
rasieren  lasse  (eine  Behauptung  übrigens,  die  mir  absolut  unrichtig  erscheint), 
und  diesem  Grunde  ließ  das  Gericht  Rücksicht  angedeihen,  die  beiden  Türken 
durften  den  Schnurrbart  behalten.  (Zeitungsnotiz.)  —  Als  Zierde  männlicher 
Schönheit  und  der  Männlichkeit  im  allgemeinen  gilt  der  Bart  fast  überall. 
Als  man  den  Diogenes  fragte,  warum  er  einen  Bart  trage,  antwortete  er:  ,, Da- 
mit ich  in  Anschauung  und  Betastung  desselben  mich  erinnere,  daß  ich  ein 
Mann  sei."  Professor  Hieronymus  Rhetus  zu  Basel  erklärte:  ,, Der  Bart  lehret 
mich,  daß  ich  keine  Frau,  sondern  ein  Mann  bin,  und  daß  ich  mich  männ- 
licher Tugend  mit  standhafftem  Gemüthe  befleißigen  solle."  Im  ,, Leibdiener 
der  Schönheit"  (oder:  Neuentdeckte  Geheimnisse  von  der  Schönheit  der  Frauen- 
zimmer Leipzig  und  Bremen  1747.  Seite  33)  wird  geklagt,  ,,daß  mit  der  jetzigeü 
Zerstümmelung  des  lieben  Bartes  ein  groß  Theil  unserer  männUchen  Dignität 
und  Respekt  verlohren  gehe."  —  Bei  den  Narrinyesen  wird  (wie  Mantegazza 
in  ,,  Geschlechts  Verhältnisse  des  Menschen"  S.  15  nach  dem  Berichte  des  Re- 
verend Taplin  erwähnt)  der  Jüngling,  wenn  sein  Bart  sich  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  entwickelt  und  eine  bestimmte  Länge  erreicht  hat,  unter  feier- 
lichen Zeremonien  zum  Manne  erklärt.  —  Die  alten  Germanen  hielten  das 
späte  Erscheinen  des  Bartes  als  ein  günstiges  Zeichen,  als  einen  Beweis  von 
Kraft,  welche  die  Natur  bisher  auf  wichtigere  Funktionen  verwendet  hätte. 
Über  das  Verhältnis  des  Bartes  zu  den  Organen  der  Generation  herrschen 
widerspruchsvolle  Ansichten.  Alte  Schriftsteller  sprechen  von  Kindern,  die 
bärtig  waren;  in  den  Märchen  von  looi  Nacht  ist  häufig  die  Rede  von  drei- 


Aus  dem  russischen  Volksleben. 
(Aus  .|ukow.sky.  Sc^-m-  iiojml.iiro  Hiiv-t-.i 


—     25     — 

ganze  Nation,"  heißt  es  in  einem  zeitgenössischen  Berichte, 
„ist  von  der  vorigen  Affection  vor  ihre  Kleidung  so  vollkom- 
men zurück  gekommen,  daß  wofern  sie  auch  dermaleinst  das 
Heft  wieder  in  die  Hände  bekommen,  und  ihre  alte  Regierungs- 
form retablieren  sollten,  sie  dennoch  ihre  ehemalige  Mod^n 
ganz  gewiß  nicht  wieder  erwählen  würden.  —  Der  Bart  aber 
hat  viel  hartnäckige  Defensores  gefunden,  insonderheit  unter 
dem  gemeinen  Mann,  welche  sich  eingebildet,  Gottes  Eben- 
bild werde  geschändet,  wann  ein  Mensch  dieses  Zierrathes 
beraubet  würde,  weswegen  dann  viele  von  ihnen  lieber  ihre 
Köpfe  unter  das  Beil  legen,  als  ihren  Bart  verlieren  wollen. 
Der  Synodus  hat  zwar  eine  expresse  Schrift  publiciren  lassen, 
worinne  sehr  weitläufig  deduciret  wird,  daß  der  Bart  zum 
Ebenbilde  Gottes  nicht  gehöre.  Nichtsdestoweniger  finden  sich 
unter  den  Bürgern  noch  sehr  viele,  die  diese  Gründe  bei  sich 


zehn-  und  vierzehnjährigen  bebarteten  Knaben,  die  auch  schon  heiraten.  — 
Bei  einigen  Völkern  beginnt  den  Männern  der  Bart  erst  zu  wachsen,  nach- 
dem sie  schon  längst  mannbar  geworden  sind.  £s  gibt  viele  Beispiele  von 
Männern,  die  keinen  Bart  bekommen  hatten,  und  doch  fehlte  ihnen  sonst 
kein  Charakter  der  Männlichkeit.  (Eros  oder  Wörterbuch  über  die  Ph3^io- 
logie  und  über  die  Natur-  und  Cultur- Geschichte  des  Menschen  in  Hinsicht 
auf  seine  Sexualität.  1823.  2  Bände.  Neudruck  1849).  —  »."Die  Prediger  der 
Waldenser  nannte  man  Barbcts,  vermutUch,  weil  sie  ihre  Barte  lang  wachsen 
lassen'^  (Compendieuses  Kirchen-  und  Ketzerlexicon,  Schneeberg  1734  S.  83). 
,,Die  Capuciner  mußten  früher  ihre  Barte  wachsen  lassen,  1733  wurde  ihnen 
durch  ein  Päbstisches  Brevet  erlaubt,  ihre  Barte  abzuschneiden"  (Kirchen- 
und  Ketzerlexicon  S.  131).  Über  die  Barte  der  Kapuziner  gibt  es  ein  ebenso 
berühmtes  als  seltenes  Buch:  ,,La  Guerre  seraphique,  ou  Histoire  des  Perus 
qu'a  courus  la  Barbe  des  Capucins  Par  les  violentes  Attaques  des  Cordeliers. 
A  la  Haye,  chez  Pierre  de  Hondt.  1740."  Ich  besitze  auch  die  nicht  weniger 
seltene  deutsche  Übersetzung  davon:  ,, Wunderseltsame  Geschichte  der  Barte 
und  der  spitzen  Kapuzen  der  Ehrw,  P.  P,  Kapuziner  usw.  Mit  Kupfern.  Köln 
am  Rhein  1780."  —  Über  die  Rolle  des  Bartes  in  verschiedenen  Ländern 
Europas  will  ich  hier  nicht  weiter  sprechen  und  verweise  nur  kurz  auf  folgende 
Quellen:  Hellwald,  ,, Ethnographische  Rösselsprünge,"  S.  261 — 276  (Zur  Ver- 
breitung und  Geschichte  des  Bartes;  nichts  über.  Rußland).  —  ,,Das  Buch 
der  Haare  und  Barte.  Humoristische  Abhandlungen  für  Jedermann  und  — 
jede  Frau."  Leipzig  1844.  Seite  6 — 9  einige  historische  und  ethnographische 
Notizen,  aber  ebenfalls  nichts  über  Rußland.  —  Endlich  notiere  ich  hier  noch: 
Dr.  Iwan  Bloch,  Beiträge  zur  Ätiologie  der  Psychopathia  sexualis  (2  Bde.). 
Dresden  1902.     I  49. 


^»jf". 


—    26    — 

nicht  gelten  lassen  wollen,  und  lieber  alles  erdulden,  als  ihren 
Bart  dem  Scheermesser  unterwerfen.**  i)  Die  Moskowiter  hegten 
tatsächlich  für  den  Bart  einen  religiösen  Respekt,  und  die 
Priester  bestärkten  sie  in  dieser  seltsamen  Anschauung.  2)  Man 
fand  auf  den  Straßen  offene  und  versiegelte  Briefe  an  Peter, 
in  denen  das  Volk  und  die  Geistlichen  den  Zaren  des  Bart- 
raubes wegen  als  Tyrannen  und  Heiden  verfluchten.  „Ein 
gemeiner  Russe,  Talitzkoi,  der  die  Buchdruckerkunst  in  Mos- 
kau erlernet,  hatte  auf  dem  Lande  heimlich  eine  Druckerei 
angelegt,  und  eine  Brochure  an  das  Licht  gestellet,  worinne 
er  beweisen  wollen,  daß  Petrus  der  Antichrist  sey,  weil  er 
durch  Abschneidung  der  Barte  Gottes  Ebenbild  schändete, 
die  Menschen  nach  ihrem  Tode  aufschneiden  und  zergliedern 
ließe,  die  Gesetze  der  Kirche  unter  die  Füße  träte,  und  was 
dergleichen  alberne  Fratzen  mehr  sein  mochten.  Talitzkoi 
wurde  nun  bald  docouvriret  und  zu  Belohnung  seiner  Mühe 
zu   Tode  geschmauchet.**  3) 

Schon  Iwan  der  Schreckliche  hatte  im  Jahre  1552  er- 
klärt: „Von  allen  ketzerischen  Gewohnheiten  ist  keine  ver- 
dammlicher  als  die  sich  den  Bart  zu  rasieren.  Diese. Sünde 
könnte  nicht  durch  alles  Blut  eines  Märtyrers  hinweggewischt 
werden.  Seinen  Bart  rasieren  lassen  um  den  Menschen  zu 
gefallen,  heißt  alle  Gesetze  übertreten  und  sich  für  einen  Feind 
Gottes  erklären,  der  uns  nach  seinem  Ebenbilde  geschaffen 
hat.**  Peter  der  Große  konnte  noch  im  Anfange  seiner  Re- 
gierung trotz  aller  Macht,  die  er  aufwendete,  bei  der  Geist- 
lichkeit nicht  die  Ernennung  des  Metropoliten  von  Pskow  zum 
Patriarchen  durchsetzen :  „Marzell,**  sagten  die  Kleriker,  „kann 
nicht  Patriarch  werden  aus  drei  Gründen:  weil  er  barbarische 
Sprachen  spricht^);  weil  er  seinen  Kutscher  auf  seinem  Wagen 
sitzen  läßt^);  und  weil  sein  Bart  nicht  die  notwendige  Länge 
hat.** 


1)  Vockerodt,  a.  a.  O.  S.  106. 

*)  Perry  a.  a.  O.  188.  —  Chantreau,  Voyage  philosophique  politiqitc  et 
litteraire,  fait  en  Russie  pendant  Ics  annöes  1788  et  1789.  (2  Bände.)  Patis 
1794.     I  295. 

3)  Vockerodt,  a.  a.  O.  S.  10. 

*)  Latein  und  Französisch. 

^)  Statt  auf  einem  Vorreitpferde. 


—     27     — 

Die  Rücksicht,  die  auf  die  Geistlichkeit  genommen  wurde, 
hatte  zum  Resuhat,  daß  der  Bart  teilweise  bestehen  blieb  und 
viele  Russen  aus  dem  Volke  ihn  neuerdings  wachsen  ließen. 
Die  große  Masse  kehrte  zu  den  alten  Gebräuchen,  Vorurteilen 
und  Trachten  zurück,  und  hatte  glücklich  wieder  die  langen 
Barte. 1)  Und  schon  1747  heißt  es  in  einem  Berichte  2):  „Hof- 
leute, Soldaten,  Kronbediente  und  einige  wenige  Kaufleute 
ausgenommen,  sonst  alle  andere  Bürger,  Bauern  und  Priester, 
lassen  ihren  Bart  so  schnell  als  möglich  wachsen,  wodurch 
sie  denn  in  der  Geschwindigkeit  die  Hälfte  ihres  Gesichts 
bedecken.** 

Die  Bartreformfrage  hat  für  Rußland  niemals  zu  bestehen 
viufgehört,  der  Bart  blieb  also  auch  nach  Peter  dem  Großen 
was  er  früher  gewesen :  ein  Kultur-  und  Sittenmesser  für  Ruß- 
land, für  die  Stellung  des  russischen  Volkes  in  der  Zivili- 
sation, für  die  Bildung  und  Schätzung  namentlich  der  russischen 
Geistlichkeit.  Die  Zarin  Elisabeth  gestattete  in  einem  beson- 
deren Ukase,  die  Geistlichen  zu  Leibesstrafen  zu  verurteilen; 
man  durfte  sie  gleich  gewöhnlichen  Sterblichen  behandeln, 
knuten,  peitschen  und  an  allen  Körperteilen  verletzen,  aber 
ihr  Bart  sollte  geschont  werden  3),  denn  ihr  Bart  war  heilig. 
Der  große  russische  Dichter  Lomonossow  verspottete  damals 
mit  großem  Mute  diese  besondere  Heiligkeit  des  Geistlichen- 
bartes. Die  Russen,  hieß  es  in  diesem  Gedichte,  werden  im 
Himmel  keine  Barte  tragen  dürfen,  weil  diese  nicht  mit  ge- 
tauft werden.  Ein  einziger  aber  ist  ausgenommen,  und  das 
ist  der  Pope.  Der  taufte  bei  der  Wasserweihe  ein  Kind,  und 
da  er  es  aus  dem  Wasser  zog,  hob  er  es  so  hoch  über  sich, 
daß  ihm  das  Kind  in  den  Bart  pißte.  Glücklicher  Bart,  ruft 
der  Dichter  aus,  der  du  allein  getauft  und  also  auch  allein 
würdig  bist,  im  Himmel  zu  erscheinen  und  als  ein  Stern  erster 


1)  Breton,  Rußland  oder  Sitten,  Gebräuche  und  Trachten  der  sämtlichen 
Provinzen  dieses  Kaiserthums.     (6  Bändchen.)     Pesth  18 16.     I  15. 

2)  Abschnitte  aus  Peter  von  Havens  Nachrichten  von  dem  Russischen 
Reich.     Kopenhagen  1747.     In  Büschings  Magazin  X  356 — 357. 

')  Waliszewski,  La  demiöre  des  Romanov  Elisabeth  V^  1741 — 1762. 
Paris  1902.  S.  217.  (Nach  einem  Briefe  von  Breteuil  au  Choiseul  vom  i.  Sept. 
1760.) 


—    28    — 

Größe  zu  glänzen !  —  Lomonossow  hat  sich  durch  diese  Satire 
den  furchtbarsten  Haß  des  Klerus  zugezogen,  seine  Werke 
wurden  verpönt,  und  nur  der  Zarin  Elisabeth  i>ersönlichste 
Intervention  vermochte  es  durchzusetzen,  daß  der  Dichter  vor 
den  schwersten  Strafen  der  Kirche  gerettet  wurde. 

Peter  dem  Dritten  wurde  nachgesagt,  daß  er  die  Absicht 
hatte,  den  Bart  der  Geistlichen  zu  beseitigen,  wie  Peter  der 
Erste  den  Bart  des  Edelmannes  und  des  Bürgers,  des  Kauf- 
mannes und  des  Bauers  rasiert  hatte.  Aber  seine  kurze  Re- 
gierung ließ  wie  manche  andere  Reform  auch  diese  nicht 
zur   Ausführung   gelangen.^)     Und   die   Geistlichen   behielten 


^)  In  einem  zeitgenössischen  Buche  wird  über  die  Barte  der  Priester  und 
über  den  angeblichen  Plan  Peters  III.  also  philosophiert:  ,,Wie  ist  es  möglich, 
daß  der  Kayser  hat  auf  den  Einfall  gerathen  können  denen  rußischen  Pfaffen 
in  ihren  Barten  ein  wesentliches  Stück  ihres  äusserlichen  Ansehens  und  ihrer 
Verdienste  zu  rauben?  Hätte  er  nicht  wissen  sollen^  aß.  zumahl  in  der  rußi- 
schen Religion,  wo  man  mehr  als  bey  irgend  einer  anderen,  auf  das  Ausser- 
liche  siehet.  so  mancher  ansehnliche  Archimandrit,  nur  blos  seines  langen  und 
weissen  Bartes  halber,  ehrwürdig  ist  und  daß  ein  dergleichen  Priester  öfters 
eine  sehr  schlechte  Figur  machen  würde,  wenn  man  ihm  dieser  Zierde  berauben 
wollte?  Den  Priestern  die  Barte  abzuschneiden!  Welch  eine  kühne  Unter- 
nehmung! Heißt  das  nicht  das  Heiligthum  der  geistlichen  Ehre  entweihen, 
und  mit  verwegener  Faust  den  heiligen  Vorhang  zerreissen,  worunter  die  Un- 
wissenheit so  vieler  ehrwürdiger  Männer  verborgen  ist !  Hatte  Peter  der  Dritte 
nicht  das  Beispiel  seines  Großvaters  vor  Augen,  der  soviel  er  auch  durch  seine 
Klugheit,  die  er  mit  der  unumschränktesten  Gewalt  zu  unterstützen  wußte, 
bey  seiner  wilden  Nation  ausrichtete,  so  konnte  er  es  doch  in  diesen  Stücken 
nicht  einmal  so  weit  bringen,  daß  alle  Layen  ihre  Barte  ablegten,  vielweniger 
würde  er  die  Häupter  der  Gemeine  dazu  bewogen  haben.  Übrigens"  —  fährt 
der  Verfasser,  der  wenigstens  im  nachfolgenden  als  Humorist  genommen  werden 
will  —  ,,hat  Peter  der  Dritte  niemals  den  Einfall  gehabt  der  russischen  Geist- 
lichkeit ihre  Barte  zu  rauben.  Die  ganze  Historie  hiervon  kommt  vielmehr 
von  einem  rußischen  Priester  her.  der  sich  schon  seit  einigen  Jahren  in  Ham- 
burg befindet  und  den  Gottesdienst  in  dem  Hause  des  daselbst  befindlichen 
rußischen  Residenten  verrichtet.  Dieser  Mann,  bey  dem  die  teutsche  Luft 
bereits  die  Würkung  gethan,  daß  er  sich  nicht  grämen  würde,  wenn  ihn  die 
St.  Petersburger  Geistlichkeit  zu  ewigem  Aufenthalte  in  Deutschland  ver- 
dammte, dieser  Mann  ist  bereits  so  heidnisch  geworden,  daß  er  einen  Bart 
für  ein  sehr  entbehrliches  Stück  des  Priesteramtes  hält . . .  Die  Kleidung  der 
jüdischen  Rabbiner  hat  eine  große  Ähnlichkeit  mit  der  Kleidung  der  rnßischen 
Priester,  und  der  Bart  machte  sogleich,  daß  man  diesen  rußischen  Geistlichen 
mehrentheils  für  einen  Juden  ansähe.    Dieses  hielt  er  für  einen  schrecklichen 


—     29     — 

ihre  Barte  und  hatten  für  sie  eine  solche  Affenliebe,  daß  die 
Europäer  es  geradezu  widerwärtig  fanden:  „Wenn  man  mit 
dem  gemeinen  Popen  spricht,  so  streicht  er  sich  fast  jeden 
Augenblick  den  Bart,  der  oft  bis  auf  den  Nabel  reicht,  mit 
einem  solchen  Wohlbehagen,  daß  es  auf  seiner  Seite  meist 
eben  so  viel  Stupidität  voraussetzt,  als  es  beim  Zuschauer 
unausstehliche  Widrigkeit  erweckt.  Es  verursacht  gemeiniglich 
die  nämliche  Empfindung  als  wenn  man  mit  einem  dickwansti- 
gen dummen  Menschen  reden  muß,  der  jeden  Augenblick 
mit  innigem  Wohlgefühl  seinen  fetten  Schmerbauch  streicht.** 
So  schrieb  in  allerdings  etwas  komischem  Zorn  der  deutsche 
Professor  Bellermann  in  seinem  interessanten,  anonym  erschie- 
nenen Buche  1)  über  das  Rußland  Katharinas  der  Zweiten. 
Die  letztgenannte  Fürstin  hatte  übrigens  auch,  gleich  Peter 
dem  Großen,  ihrem  beliebten  Vorbilde,  einen  schweren  Bart- 
Aufruhr  zu  bekämpfen.  Die  Empörung  Pugatschews  wurde 
nämlich  am  kräftigsten  gefördert  durch  die  Jaik-Kosaken,  die 
man  durch  Abschneiden  ihrer  Barte  zur  Rebellion  getrieben 
hatte.  Diese  Kosaken  ließ  Katharina  unter  die  Husaren  ein- 
reihen ;  die  Husaren  durften  aber  keine  Barte  tragen,  und  da  sich 
die  Kosaken  dem  Raseur  gewaltsam  widersetzten,  ließ  General 
Traubenberg  die  neurekrutierten  Kosaken  auf  den  Marktplatz 
schleppen  und  öffentlich  enthärten.  Darauf  griffen  alle  Kosaken 
der  Gegend  zu  den  Waffen,  ermordeten  den  General  Trauben- 
berg und  scharten  sich  um  die  Fahne  Pugatschews  2)  —  Pu- 
gatschew  war  längst  tot,  aber  der  Bartkrieg  am  Ural  dauerte 


Schimpf,  und  er  schilderte  diese  Beleidigung  dem  Synod  in  Petersburg  so  leb- 
haft daß  man  ihm  die  Erlaubniß  ertheilte,  seinen  Bart  in  eine  Schachtel  zu 
legen.  Der  Geistliche  sagte  dann,  ein  Ukas  Peters  III.  habe  den  Geistlichen 
befohlen:  ihre  Barte  zu  scheren  xmd  teutsch  gekleidet  zu  gehen."  (Rußische 
Anecdoten  oder  Briefe  eines  teutschen  Officiers  an  einen  Liefländischen  Edel- 
mann, worinnen  die  vornehmsten  Lebens-Umstände  des  Rußischen  Kaysers 
Peter  III.  nebst  dem  unglücklichen  Ende  dieses  Monarchen  enthalten  sind. 
Wandsbeck  1765.     Seite  59.) 

1)  Bemerkungen  über  Rußland  in  Rücksicht  auf  Wissenschaft,  Kunst, 
Religion  und  andere  merkwürdige  Verhältnisse.     (Zwei  Teile.)     Erfurt  1788. 

II  159. 

**)  Catharina  die  Zweite,  Darstellungen  aus  der  Geschichte  ihrer  Regie- 
rung.    1797.     Seite  107 — 108. 


—    30    — 

noch  fort.  Im  Jahre  1817  begab  sich  Ajraktschajew  nach  Oren- 
burg,  um  im  Auftrage  des  Zaren  Alexander  1)  die  Bauern 
nach  Peterschem  Rezept  zu  zivilisieren :  durch  Uniformen.  Am 
13.  Juni  des  genannten  Jahres  schrieb  Araktschajew  an  den 
Zaren:  die  Uniformierung  gehe  von  statten,  wer  sich  wider- 
setze, werde  geknutet  und  erhalte  die  Batogi;  „die  Haare 
scheren  und  den  Bart  abschneiden  will  ich  noch  nicht,  das 
wird  später  von  selbst  kommen.**  Aber  es  kam  nicht  von 
selbst,  und  am  17.  Juni  wird  dem  Zaren  von  Araktschajew 
berichtet:  „Das  Scheren  und  Bartschneiden  hat  begonnen!** 
Die  Reform  ging  mit  solcher  Gewalt  vor  sich,  daß  allgemeines 
Entsetzen  herrschte.  Die  Bauern,  meist  Altgläubige,  petitio- 
nierten an  die  Obrigkeit,  daß  man  ihnen  „die.  abgeschnittenen 
Barte  wenigstens  zur  Aufbewahrung  zurückgeben  sollte,  damit 
sie  bei  der  Auferstehung  nicht  fehlten.**  •  Die  Barbiere  willig- 
ten ein  und  überlieferten  die  abgeschnittenen  Barte  den  Bauern 
gegen  eine  besondere  Taxe.  Später  kam  ein  obrigkeitlicher 
Befehl,  daß  die  Barte  unentgeltlich  ausgefolgt  werden  sollten; 
auch  gestattete  man  den  Greisen  das  Beibehalten  des  Bartes. 
Einige  der  Altgläubigen  trugen  auf  Anweisung  ihrer  Lehrer, 
um  Gottes  Zorn  wegen  des  geopferten  Bartes  von  sich  ab- 
zuwenden, eiserne  Ketten  auf  dem  bloßen  Leibe,  also  als  eine 
Art  Selbstgeißelung.  Bei  einer  Exekution  kam  dies  zutage, 
und  das  Kettentragen  wurde  bei  Strafe  verboten.^) 

Wenn  der  Bart  für  Rußland  wirklich  das  Symbol  der 
barbarischen  Vergangenheit  ist,  wie  Peter  der  Große  gemeint, 
dann  hat  der  Barbier  als  Erzieher  seine  Rolle  schlecht  ge- 
spielt, dann  ist  Rußland  heute  wieder  da,  wo  es  Peter  vor- 
gefunden hat. 


1)  Im  europäischen  Rußland  scheinen  damals  die  langen  Bäxtekaum 
mehr  in  Mode  gewesen  zu  sein.  Ich  zitiere  das  Zeugnis  des  Arztes  Wichel- 
hausen (Züge  zu  einem  Gemähide  von  Moskwa  1803):  ,,Kein  Edelmann  trägt 
mehr  einen  Bart.  Auch  die  meisten  angesehenen  Kaufleute  und  die  Bedienten 
der  Kaufleute  haben  in  diesem  Punkte  die  Gewissenskrupel  überwunden" 
Wichelhausen  machte  auch  die  Bemerkung,  ,,dsiQ  sich  der  Bart  und  die  Mann- 
barkeit in  Moskwa  früher  entwickele  als  in  Deutschland." 

2)  Vgl.  Theodor  Schiemann,  Geschichte  Rußlands  unter  Kaiser  Niko- 
laus I.  Band  I:  Kaiser  Alexander  I.  und  die  Ergebnisse  seiner  Lebensarbeit. 
Berlin  1904.     Seite  459  und  ebenda  Anmerkung  2. 


—    31    — 

Man  zeigte  1)  einem  Raskolnik,  der  zum  Militär  eingerückt 
war,  den  Kaiser  Alexander  den  Zweiten:  „Dies  ist  kein  Zar," 
sagte  der  Rekrut,  „er  trägt  nur  einen  Schnurrbart!  Er  hat 
eine  Uniform,  einen  Degen  wie  alle  Offiziere;  das  ist  ein 
General  so  gut  wie  jeder  andere.**  Für  diese  Anbeter  der  Ver- 
gangenheit, diese  Anhänger  des  Zeremoniells  ist  der  Zar  ein 
Mann  mit  langem  Barte,  in  langem  weiten  Gewände,  wie  er 
auf  den  alten  Bildern  abkonterfeit  ist.  Für  sie  war  der  wahre 
Zar  Alexander  der  Dritte,  der  seinen  langen  Bart  pflegte,  bei 
Tische  in  der  russischen  Bluse  und  mit  dem  Gürtel  erschien, 
und  nicht  einmal  im  Schlafe  davon  träumte,  die  Bahn  des 
Fortschritts  zu  betreten. 


3.  Dekorative  Bildung. 

Buchdruckereien  —  Reformen  des  Zaren  Boriß  —  Die  ersten  weltlichen  Bücher 
—  Empfindlichkeit  gegen  auslandische  Urteile  —  Korrumpierung  der  Mei- 
nung Europas  —  Akademie  und  Elementarschule  —  Der  Elefant  als  Krank- 
heitsgeist —  Die  Zivilisation  am  Hofe  der  Zarinnen  —  Französier ung  —  Zu- 
stände am  Hofe  Katharinas  II.  —  Verhungernde  Hofbedienstete  —  Bildung. 
Luxus  und  Puder  —  Erziehung  Rußlands  durch  Lakaien  und  Soldaten  — 
Keine  Schulen,  aber  Universitäten  —  Aus  den  Anfängen  der  Hochschule  — 
Geistliche  Aufsicht  —  Aufsicht  der  Regierung  —  Unsittlichkeit  der  Profes- 
soren und  Studenten  —  Schule  und  Familie  —  Letzte  Statistik  der  Elementar- 
schulen —  Intelligenzproletariat. 

„Alle  Mühe,  aller  Kostenaufwand  wird  doch  vergeblich 
sein,  in  des  Russen  Kopf  kommt  keine  Wissenschaft,**  sagte 
ein  alter  Bojar  dem  Zaren  Peter  2);  und  wahrlich,  diese  Pro- 
phezeiung ist  bis  heute  noch  nicht  Lügen  gestraft  worden. 

Die  erste  Buchdruckerei  in  Rußland  wurde  in  Moskau 
im  Jahre  1553^)  errichtet,  unter  der  Regierung  des  Zaren 
Iwan  Wassiljewitsch  und  zur  Zeit  des  berühmten  Metropoliten 


1)  Leroy-Beaulieu,  Das  Reich  der  Zaren.     III  341. 

*)  Halem,  Leben  Peters  des  Großen,  I  154. 

8)  Oldekop,  St.  Petersburg.  Ztschft.  I  215,  220.  —  Strahl,  Das  gelehrte 
Rußland  145.  —  Vgl.  S.  Sugenheim,  Rußlands  Einfluß  auf  Deutschland.  I  37. 
Halem  I  149  gibt  falsch  das  Jahr  1563  oder  1564  an;  der  Irrtum  mag  daher 
stammen,  daß  das  erste  russische  Druckwerk  1564  erschien. 


—     32     - 

Makarij.  Die  erste  Arbeit  dieser  Druckerei,  eine  Geschichte 
der  Apostel,  dauerte  elf  Jahre.  Ihr  folgten  Ausgaben  des 
neuen  Testaments.  Bei  den  Einfällen  der  Tartaren  und  Polen 
ging  die  russische  Buchdruckerei  zugrunde,  und  sie  wurde 
selbst  von  dem  frühesten  moskowitischen  Reformator,  dem 
Zaren  Boriß  Godunow,  nicht  wiederhergestellt.  Der  letzt- 
erwähnte Fürst  war  im  Wollen  größer  als  im  Können. .  Wenn 
Karamsin^)  sagt:  „in  der  Liebe  zur  Aufklärung  übertraf  Boriß 
alle  älteren  Herrscher  Rußlands,**  so  ist  dies  ein  gar  be- 
scheidenes Lob,  da  wir  wissen,  daß  vorher  kein  einziger  Sou- 
verän von  Moskwa  daran  gedacht  hatte,  der  Aufklärung  eine 
Gasse  zu  bahnen.  Boriß  hatte  als  Erster  aller  Zaren  die  löb- 
liche Absicht,  allgemeine  Schulen  und  sogar  Universitäten  zu 
stiften,  um  seine  Russen  in  den  europäischen  Sprachen  und 
Wissenschaften  unterrichten  zu  lassen.  Im  Jahre  1600  schickte 
er  den  Deutschen  Johann  Kramer  nach  Deutschland  mit  dem 
Auftrage  „dort  Professoren  und  Doktoren  zu  suchen  und  sie 
nach  Rußland  zu  bringen.**  Die  Nachricht  hiervon  erweckte 
in  Europa  überschwängliche  Erwartungen.  Der  Rechtslehrer 
Tobias  Luntzius  oder  Loncius  schrieb  an  Boriß :  „Euere  Zarische 
Majestät  wollen  ein  wahrer  Vater  des  Vaterlandes  werden, 
und  sich  dadurch  bei  aller  Welt  unsterblichen  Ruhm  erwerben. 
Sic  sind  vom  Himmel  erkoren,  ein  großes  für  Rußland  neues 
Werk  auszuführen,  nach  dem  Beispiele  Egyptens,  Griechen- 
lands, Roms  und  der  berühmten  europäischen  Staaten,  die 
durch  edle  Künste  und  Wissenschaften  blühen,  den  Geist  auf- 
zuklären und  dadurch  das  Gemüth  des  Volkes  zugleich  mit  der 
Macht  des  Staates  zu  erhöhen.**  Und  ein  Königsberger  Ge- 
lehrter verglich  den  Zaren  Boriß  mit  Numa  Pompilius.^)  Aber 
die  Geistlichkeit  in  Rußland  stellte  dem  Herrscher  vor:  daß 
die  heilige  Rußj  nur  durch  die  Einheit  des  Glaubens  und 
der  Sprache  die  Segnungen  des  Friedens  genieße;  daß  Ver- 
schiedenheil der  Sprache  der  Kirche  gefährlich  werden  müsse 
durch  Förderung  von  Meinungsverschiedenheiten  und  Aus- 
lieferung des  Jugendunterrichtes  an  Katholiken  und  Protestan- 


1)  Deutsche  Ausgabe  X  71  (franz.  übers.  XI  113). 

-)  Bernhard  Stern,  Von  der  Ostsee  zum  Stillen  Ozean.    S.  9. 


—  as- 
ten. Auch  zum  Patriarchen  Hiob  stürmten  die  Patrioten  und 
klagten:  „O  Heiliger  Vater,  du  siehst  das  Unheil  und  siehst 
ihm  ruhig  zul  O  Heiliger  Vater,  warum  schweigst  du?**  Der 
Zar  mußte  bald  seine  kühnen  Pläne  fallen  lassen  und  sich 
damit  begnügen,  achtzehn  junge  Bojarensöhne  nach  London, 
Lübeck  und  Frankreich  zu  Sprachenstudien  abzusenden  und 
gleichzeitig  junge  Engländer  und  Franzosen  nach  Rußland 
zur  Erlernung  der  russischen  Sprache  einzuladen.  Von  den 
achtzehn  jungen  Russen,  die  ins  Ausland  gegangen  waren, 
kam  nur  einer  zurück,  die  anderen  zerstreuten  sich  in  Europa. 
Boriß  berief  aus  England,  Holland  und  Deutschland  Ärzte, 
Künstler,  Handwerker  und  Beamte;  fünfunddreißig  von  den 
Polen  aus  ihrer  Heimat  vertriebene  livländische  Edelleute  nahm 
er  in  Moskau  gastfreundlich  auf  und  lud  sie  gleich  nach  ihrer 
Ankunft  in  seinen  Palast  ein;  als  sie  sich  ihrer  schlechten 
Kleidung  wegen  entschuldigten,  sagte  der  Zar:  „Ich  will  Men- 
schen sehen,  nicht  Kleider!**  —  Das  was  hier  erzählt,  ist  aber 
auch  alles,  was  Boriß,  der  so  viel  leisten  wollte,  leisten  konnte. 

Der  erste  Romanowsche  Zar  Michael  Feodorowitsch  er- 
richtete wieder  eine  Buchdruckerei,  die  fleißig  geistliche 
Werke  und  nur  ein  einziges  weltliches  —  das  russische  Land- 
recht —  herausgab.  Unter  der  Regentschaft  der  Sophia,  der 
Schwester  Peters  des  Großen,  entstanden  einige  neue  Drucke- 
reien: in  Moskwa,  Kijew  und  Tschernigow,  die  sich  selbst 
mit  europäischen  messen  konnten;  in  allen  wurden  nur  geist- 
liche Bücher  hergestellt  —  für  Künste  und  Wissenschaften 
hatte  noch  niemand  Verständnis  und  selbst  die  Jahrbücher 
Nestors  und  anderer  Chronisten  schlummerten  friedlich  und 
unberührt  in  den  Klosterbibliotheken  fort.  Die  große  Um- 
wälzung auf  dem  Gebiete  der  Buchdruckerei  begann  erst  unter 
Peter  dem  Großen,  aber  auch  er  richtete  sein  Augenmerk 
nicht  auf  das  Allgemeine,  sondern  bevorzugte  das,  wofür  er 
persönliche  Neigung  besaß.  Auf  seinen  Befehl  mußte  sich  der 
Russe  Elias  Kopjewitsch  nach  Holland  begeben,  dort  eine  durch- 
aus vollkommene  Buchdruckerei  anschaffen  und  sie  dann  nach 
Rußland  bringen,  i)     Die  Werke,   die  jetzt  gedruckt  wurden. 


1)  Halem,  Leben  Peters  des  Großen.    I   149. 
Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rulkland. 


—    34    — 

waren  folgende:  Brinkens  Schiffsbaukunst  und  eines  anony- 
men Holländers  Erfahrener  Steuermann;  Peter  hatte  aus  ihnen 
seine  Kenntnisse  geschöpft,  sie  wurden  nun  ins  Russische  über- 
setzt; die  holländischen  Kimstausdrücke  behielt  man  bei  und 
sie  blieben  bis  jetzt  größtenteils  in.  der  russischen  Marine  ge- 
bräuchlich. Andere  Bücher  über  Ingenieiu--  und  Wasserbau- 
kunst folgten.  Historische  wurden  aus  dem  Deutschen  und 
Lateinischen  übersetzt.  Der  Mönch  Gabriel,  dem  die  Aufgabe 
zuteil  geworden  war,  Pufendorfs  Staatengeschichte  zu  über- 
tragen, der  also  das  erste  Geschichtswerk  in  russischer  Sprache 
herausgab,  war  auch  gleichzeitig  der  erste  russische  Ge- 
schichtsfälscher :  die  für  Rußland  nicht  schmeichelhaften  Stellen 
ließ  er  einfach  fort.  Peter  korrigierte  die  Fälschung,  befahl 
auch  die  fortgelassenen  Stellen  zu  drucken  und  erklärte :  „Nicht 
zur  Schmach  meiner  Untertanen,  zu  ihrer  Besserung  will  ich 
dies  gedruckt  wissen.  Meine  Russen  müssen  erfahren,  wie 
man  im  Auslande  bisher  über  sie  geurteilt  hat,  damit  sie  er- 
kennen, was  sie  waren,  was  sie  durch  meine  Bemühung  ge- 
worden sind,  imd  wonach  sie  noch  zu  streben  haben.**  Peter 
ordnete  die  Gründung  von  Zeitungen  und  die  Ausgrabung  und 
Veröffentlichung  der  Handschriften  an,  die  in  den  Klöstern 
verstaubten  imd  vermoderten.  Alles  tat  er  jedoch  weniger, 
um  wirkliche  Kultur  im  Lande  zu  verbreiten,  als  um  dem  Aus- 
lande als  Zivilisator  zu  imponieren. 

Das  Urteil  des  Auslandes  hatte  schon  früher  die  russischen 
Fürsten  gekränkt  und  beleidigt.  In  dem  Buche  des  Freiherm 
Augustin  Mayerberg  1)  lesen  wir,  wie  heftig  sich  der  Zar  Alexej 
beim  König  von  Polen  über  einige  Bücher  beschwerte,  die 
in  Polen  gegen  Rußland  veröffentlicht  worden  waren.  Ver- 
gebens erklärten  die  Polen,  daß  die  Autoren  als  freie  Männer 
eines  freien  Staates  schreiben  konnten,  was  sie  wollten,  und 
daß  man  hierfür  weder  den  König  von  Polen  noch  den  pol- 
nischen Senat  verantwortlich  machen  durfte.   Putzkin,  der  Ge- 


1)  Voyage  en  Moscovie  d'un  Ambassadeur,  Envoy6  par  TEmpereur  Leo- 
pold au  Czar  Alexis  Mihalowics,  Grand  Duc  de  Moscovie,  A  Leide,  chez  FrÄ- 
derik  Harring  i688.  Seite  I2.  (Diese  französ.  Übersetzung  vom  Jahre  i688 
gehört  zu  den  großen  Raritäten.  Ein  Neudruck  erschien  1858  in  Paris  in 
zwei  Bänden.     Vgl.  daselbst  I  S.   11.) 


—     35    — 

sandte  des  Zaren,  war  durch  diese  Erklärung  nicht  befriedigt 
und  verlangte  als  Genugtuung  nicht  weniger  als  die  Rück- 
gabe des  von  den  Polen  besetzten  Smolensk  und  50000  Taler, 
ging  dann  allerdings  mit  seiner  Forderung  herunter  und  bat 
zum  Schlüsse  bloß,  daß  man  aus  den  beanstandeten  Büchern 
jene  Blätter  entfernte,  die  den  Zaren  und  die  Moskowiter  be- 
leidigten. Dies  wurde  endlich  bewilligt,  man  riß  aus  den 
Büchern  die  betreffenden  Blätter  aus  und  übergab  sie  dem 
Feuer. 

Nicht  minder  als  sein  Vater  Alexej  war  Peter  der  Große 
in  bezug  auf  das  Urteil  des  Auslandes  empfindlich.  Im  Jahre 
1705  schickte  er  den  Baron  von  Huyssen  nach  Deutschland 
mit  dem  Auftrage  i),  „die  Leipziger  Gelehrten  zu  überreden, 
zum  Vortheil  Rußlands  in  der  europäischen  Fama,  und  in 
den  öffentlichen  Zeitungen  zu  schreiben.**  Derselbe  Huyssen 
hatte  schon  drei  Jahre  zuvor  in  Deutschland,  Holland  und 
anderen  Ländern 2)  vergebliche  Versuche  gemacht,  die  Ge- 
lehrten zu  veranlassen,  „auch  etwas  zu  Rußlands  Ruhme  zu 
schreiben,  damit  hierdurch  dem  Publico  die  schlechten  Meinun- 
gen benommen  würden,  die  es  von  Rußland  hatte.**  Auch 
in  Leipzig  hatte  der  zarische  Korruptionsgesandte  augenschein- 
lich keinen  großen  Erfolg,  denn  just  in  der  Europäischen 
Fama  vom  Jahre  17052)  erschien  folgende  Auslassung:  „Die 
Moscowitischen  Avisen  haben  gemeiniglich  die  Eigenschafft 
an  sich,  daß  man  ihnen  entweder  nicht  glauben  darff,  oder 
nicht  glauben  will,  weil  sie  größtentheils  aus  solchen  Orten 
einlauffen,  die  extr^mement  partheyisch  sind,  und  dasjenige 
was  sie  wünschen,  auff  eine  solche  Art  erzehlen,  als  hätten  sie 
Alles  durch  ein  Vergrösserungs-Glaß  angesehen,  das  übrige 
aber,  was  ihnen  nicht  recht  in  den  Kram  dienet,  entweder  aus- 
lassen oder  mit  trefflich  gekünstelten  Expreßionen  in  Zweiffei 
ziehen.** 


1)  Unterschiedene  Abschnitte  aus  Peter  von  Haven  neuen  verbesserten 
Nachrichten  von  dem  russischen  Reich,  welche  1747  zu  Kopenhagen  gedruckt 
wurden.  In  die  deutsche  Sprache  übersetzt.  Büschings  Magazin  für  die  neue 
Historie  und  Geographie.     Zehnter  Theil  (1776).     S.  318 — 319. 

s)  Sugenheim,  Rußlands  Einfluß  auf  Deutschland.     I  59. 

8)  TheU  XXIX  S.  332. 

3* 


—    36     — 

Um  Europa  zu  blenden,  wollte  Peter  die  Akademie  der 
Wissenschaften  gründen,  während  es  noch  keine  Elementar- 
schulen gab  und  von  je  zehntausend  Russen  kaum  einer  lesen 
und  schreiben  konnte.  Das  schadete  in  Peters  Augen  nichts, 
die  Akademie  mußte  gegründet  werden,  und  Katharina  die 
Erste  führte  den  Plan  ihres  Gemahls  aus.  Es  wurde  also  wieder 
auf  dem  Wege  der  paradoxen  Kontraste  fortgeschritten,  auf  der 
Bahn  zwischen  Luxus  und  Elend.  Peter  hatte  auch  eine  Rechen- 
schule gestiftet;  sie  existierte  ein  paar  Jahre  und  verschwand 
dann  wegen  Mangels  an  Schülern.  Eine  Gamisonsschule  für 
die  Söhne  aristokratischer  Offiziere  ging  ein,  weil  der  Staat 
für  sie  keine  Mittel  zur  Verfügung  hatte,  während  Hunderte 
von  Millionen  an  die  Günstlinge  verschwendet  wurden.  Der 
Senat  hatte  eine  Schule  für  Zivilbeamte  gestiftet,  sie  stand 
leer.  1731  wurde  für  die  Kadetten  der  Armee  und  1750  für 
die  der  Marine  eine  Schule  eröffnet.  In  beiden  Schulen  gab  es 
je  350  Schüler,  zusammen  700,  aber  nicht  jährlich,  sondern 
während  einer  langen  Reihe  von  Jahren. 

Die  Frauen,  die  Peter  dem  Großen  während  des  ganzen 
achtzehnten  Jahrhunderts  in  der  Herrschaft  über  Rußland 
folgten,  hatten  sich  um  anderes  als  um  die  Schule  zu  kümmern. 
Die  Zarin  Anna  Iwanowna,  die  dem  Reiche  eine  Konstitution 
versprochen  hatte,  aber  ihr  Versprechen  schon  am  Tage  des 
Regierungsantrittes  zerriß,  lebte  nur  ihrem  Günstling  Biron- 
Bühren  und  ließ  die  wilden  Sitten  und  abergläubischen  Ge- 
bräuche sorglos  fortbestehen.  Im  Jahre  1737  entsteht  in  Mos- 
kau eine  Fieberepidemie.  Das  Volk  behauptet,  ein  Elefant 
sei  die  Ursache  dieser  Epidemie,  und  unzählbare  Leute  finden 
sich,  die  gesehen  haben  wollen,  wie  der  Krankheitsdämon  in 
Elefantengestalt  Nachts  in  die  Stadt  sich  eingeschlichen,  i)  Mit 
Recht  schreibt  daher  Locatelli  in  seinen  zeitgenössischen  Brie- 
fen: „Stellen  Sie  sich  die  Einwohner  dieser  großen  Stadt 
vor  wie  eine  neue  Kolonie  von  Lappen,  Samojeden  und  Ost- 
jaken,  die  als  die  stupidesten  Völker  des  ganzen  Nordens 
gelten.    Aber  glauben  Sie  nicht,  daß  dies  in  jeder  Beziehung 


1)  Waliszewski,  L'h6ritage  de  Pierre  le  Grand.    Rdgne  des  femmes,  goii- 
vemement  des  favoris  1725 — 1741.  Paris  1900.  Seite  277. 


—    37     -> 

eine  gerechte  Parallele  wäre;  denn  die  Moskowiter  stehen 
vielfach  unendlich  tief  unter  diesen  Völkern.**  Unter  den  Seig- 
neurs  bei  Hofe  sieht  man  wieder  jene  Stolniki  und  Okolnit- 
schije,  die  noch  aus  der  Vor-Peterschen  Reformzeit  übrig- 
geblieben sind;  die  niemals  eingewilligt  haben,  ihren  Bart  zu 
opfern  und  nach  w.ie  vor  in  alter  asiatischer  Weise  in  ihren 
Dwori  leben,  in  diesen  dumpfen  einstöckigen  Häusern,  die 
ebenerdig  eine  Küche  und  eine  Speisekammer  und  im  ersten 
Stocke  nichts  weiter  haben  als  zwei  Zimmer:  rechts  für  den 
Sommer,  links  für  den  Winter.  Die  weniger  bemittelten  Kon- 
servativen begnügen  sich  gar  mit  einer  Küche  und  einem  ein- 
zigen Wohnzimmer,  das  man  für  den  Winter  hermetisch  vor 
der  Kälte  abschließt,  monatelang  nicht  lüftet  und  nicht  reinigt. 
Die  jüngere  Generation,  die  dem  Zaren  Peter  gedient,  seine 
Maskeraden  und  seine  Kriege  mitgemacht  hat,  unterscheidet 
sich  zwar  äußerlich  von  den  Alten:  die  Jungen  tragen  fran- 
zösische Kleidung,  haben  ein  rasiertes  Kinn,  können  zum  Teile 
schon  lesen  und  schreiben;  aber  ihr  Charakter,  ihre  Manieren 
und  Sitten  sind  noch  immer  roh  und  wild. 

In  allem  zeigt  es  sich,  daß  die  Reformen  Peters  ihren 
Zweck  verfehlt  und  eigentlich  nichts  als  die  Erschütterung 
des  Gleichgewichts  erreicht  haben.  Zwischen  einer  bloß  de- 
korativen europäischen  Kultur  und  Bildung  und  einer  immer 
neu  hervorbrechenden  Barbarei  schwankt  das  Rußland  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  hilflos  hin  und  her.  Ein  Volk,  das 
ein  halbes  Jahrtausend  hindurch  in  tiefster  Verkommenheit 
zugebracht  hatte,  ließ  sich  einfach  nicht  durch  den  Barbier 
und  den  Schneider  brüsk  zu  einem  kultivierten  umgestalten, 
und  umsoweniger,  als  der  Despotismus  oben,  die  Knechtschaft 
unten  nicht  im  mindesten  geändert  worden,  die  Gesetze  der 
barbarischen  Zeiten  noch  dieselben  geblieben  waren.  Im  elften 
Jahrhundert  bestimmte  die  Russkaja  Prawda,  daß  ein  Schuld- 
ner, der  seine  Schulden  nicht  bezahlen  konnte,  der  Sklave 
seines  Gläubigers,  daß  ein  Mensch,  der  sich  nicht  selbst  zu 
ernähren  vermochte,  der  Sklave  des  erstbesten  werden  sollte. 
Das  achtzehnte  Jahrhundert  wagte  daran  nichts  zu  ändern, 
und  die  Leibeigenschaft,  statt  in  diesem  Säkulum  der  Auf- 
klärung milder  zu  werden,  wurde  durch  die  unerträglichsten 


—    38    — 

Neuordnungen  verschärft.  Für  Bildung  und  Aufklärung  ge- 
schah auch  weiter  nichts.  Iwan  Iwanowitsch  Schuwalow,  der 
Günstling  der  Zarin  Elisabeth,  gründete  1755  die  Universität 
Moskau  und  die  mit  ihr  verbundenen  Gymnasien,  1758  das 
Gynmasium  von  Kasan,  aber  an  Elementarschulen  wurde  nicht 
gedacht,  und  so  blieben  die  Gymnasien  ohne  Schüler,  die 
Universität  existierte  bloß  dem  Namen  nach.  Elisabeth  glaubte 
schon  alles  getan  zu  haben,  da  sie  nach  Rußland  das  fran- 
zösische Element  gebracht.  Nach  dem  Staatsstreiche,  der  diese 
Herrscherin  auf  den  Thron  ihres  Vaters  hob,  gab  es  eine 
neue  Revolution,  die  der  Moden,  der  Trachten,  des  Tanzes 
und  des  Schauspiels.  1)  „Peter  schenkte  seinem  Reiche  die 
Wissenschaften,  seine  Tochter  brachte  den  Geschmack,**  sag^e 
ein  russischer  Dichter  der  Zeit.  D'Eon  aber  illustriert  dieses 
Lob  stark  mildernd,  wenn  er  vom  Hofe  der  Zarin  sagt:  „Nur 
sieben  oder  zehn  Personen  können  wirklich  zivilisiert  genannt 
werden.**  Im  Koschelek,  einer  zeitgenössischen  russischen  Zeit- 
schrift, heißt  es:  „Ohne  das  Französische  wüßten  wir  nicht 
wie  man  in  einen  Salon  eintreten,  wie  man  grüßen,  einen  Hut 
abnehmen,  sich  parfümieren  muß.  Wovon  unterhielten  wir 
uns  früher,  wenn  wir  in  eine  Damengesellschaft  kamen?  Von 
Hühnern  und  Küchelchen.  Frankreich  lieferte  uns  wirkliche 
Unterhaltungsstoffe.**  Aber  trotz  dieser  Französierung  blieb 
alles  barbarisch.  „A  Petersbourg,  ä  Moscou,  les  ripailles  ig- 
nobles,  les  bouffonneries  grossiferes  de  Pierre  le  Grand  ^taient 
encore  trop  prfes,  laissaient  dans  l'atmosphfere  un  relent  trop 
vif  de  d^bauche  barbare,  pour  que  la  persistance  de  certains 
traits  de  moeurs  locales  n'y  trouvät  pas  un  aliment  naturel.**^) 
Das  Charakteristikum  der  russischen  Gesellschaft,  der 
Aristokratie  und  des  Hofes  blieb  Jahrzehnte  hindurch  die  fran- 
zösische Tünche,  diese  trügerische  Kulturschminke,  die  erst 
Elisabeth,  dann  Katharina  die  Zweite  auf  die  tartarische  Bar- 
barei strich.  Die  in  Massen  aus  Frankreich  flüchtenden  Emi- 
granten und  Abenteuerer,  die  beim  Anbruch  der  großen  Re- 
volution Europa  heimsuchten,  wandten  sich  zum  großen  Teile 


1)  Waliszewski,  La  demidre  des  Romanov.     S.  50 — 51. 

2)  Waliszewski,  La  demidre  des  Romanov.     58. 


—    39    — 

nach  Rußland  und  übernahmen  hier  willig  die  Aufgabe,  in 
ihrer  Weise  die  Erziehung  der  heranwachsenden  russischen 
Generation  zu  leiten  i),  eine  Aufgabe,  welche  ihnen  Katha- 
rina ohne  weiteres  übertrug. 

Als  Katharina  nach  Rußland  reiste,  glaubte  sie  noch  in 
Berlin,  daß  das  Reich,  dem  sie  ihre  Zukunft  anvertraute,  als 
ein  Kulturstaat  betrachtet  werden  mußte;  und  als  sie  an  den 
zarischen  Hof  kam,  blendeten  Gold  und  Brokat,  Wohlleben  und 
Luxus  ihr  unerfahrenes  Auge.  „Aber  bald,**  sagt  der  russi- 
sche Historiker  Bilbassow^),  „mußte  sie  erkennen,  daß  was 
sie  für  Gold  gehalten,  eine  Vergoldimg,  und  daß  das  Wohl- 
leben Sittenverderbnis  war.**  Was  sich  ihr  aufschloß,  war  eine 
fremdartige  barbarische  Welt  mit  unverständlichen  Gewohn- 
heiten, lockeren  Sitten,  wilden  Gefühlen;  sie  trat  in  einen 
Kreis  von  Menschen^  die  anders  dachten,  handelten,  lebten, 
selbst  anders  aßen  als  die  Menschen  in  Europa.  Und  dabei 
lernte  sie  natürlich  in  erster  Linie  die  Verhältnisse  am  Hofe, 
das  Leben  imd  Treiben  der  Vornehmsten  und  Reichsten  ken- 
nen, die  wenigstens  im  Äußerlichen  Europa  nachzuahmen 
schienen.  Die  Unordnung  und  Unkultur,  die  in  allen  Zweigen 
der  Verwaltung  herrschten,  konnte  sie  erst  nach  langen  Jahren 
begreifen.  Und  wie  der  äußerlich  glänzende  Hof,  der  sich 
mit  dem  von  Versailles  zu  vergleichen  wagte,  in  Wahrheit 
beschaffen  war,  erfuhr  sie,  als  sie  Selbstherrscherin  geworden 
war  und  in  ihrer  Umgebung  eine  Entdeckung  machte,  die 
sie  zu  diesem  Brief  an  ihren  Hofmarschall  veranlaßte^) :  „Ich 
erfahre,  daß  meine  Dienstboten  vor  Hunger  sterben  und  drei 
Tage  nichts  gegessen  haben  sollen  I**  Die  Kaiserin  mußte 
einen  Hofmarschall  daran  erinnern,  daß  auch  die  Dienstboten 
bei  Hofe  Menschen  sind  und  essen  wollen,  und  mußte  durch 
besonderen  Befehl  anordnen,  daß  den  Verhungernden  aus  der 
Hofküche  das  Essen  geschickt  wurde  I 

In  einer  Liste,  der  im  Jahre  1764  nach  Rußland  einge- 
führten Waren*)  finde  ich,  daß  bei  einem  Import  im  Werte 

1)  Schiemann,  Alexander  der  Erste  a.  a.  O.    S.  6. 

2)  Geschichte  Katharinas  der  Zweiten.     I  293. 

3)  Bilbassow,  a.*  a.  O.    II.  Bd.,  I.  Abt.,  S.  291. 
^)  Enthalten  in  Büschings  Magazin.     III  351. 


—     40     — 

von  vielen  Millionen  nur  8353  Rubel  für  gedruckte  Bücher 
aufgezählt  sind;  an  Papier  werden  4331  Rieß,  an  Bleistiften 
152460  Stück  eingeführt.  Handschuhe  braucht  Rußland  nur 
3751  Dutzend,  Strümpfe  4908  Dutzend  und  Schnupftücher 
1607  Dutzend.  Dafür  bezieht  es  Puder  im  Gewichte  von 
7187  Pud  und  an  Seidenstoffen  für  102131  Rubel. 

Man  sollte  glauben,  daß  eine  Herrscherin  wie  Katharina  IL, 
eine  deutsche  Fürstin,  vor  allem  die  Erziehung  des  Volkes 
durch  die  Schule  angestrebt  hätte.  Man  lese  nun  den  Bericht, 
den  Fabricius  aus  der  Zeit  gibt,  da  Katharinas  Regierung 
schon  zu  Ende  geht,  also  ihre  größten  Errungenschaften  hinter 
sich  hat^) :  „Unter  dem  gemeinen  Mann,  oder  unter  den  anderen 
Ständen  kann  nicht  die  Rede  von  Wissenschaft  seyn,  da  Ruß- 
land weder  in  den  Städten  noch  auf  dem  Lande  Schulein- 
richtungen hat.  Die  wenigen,  welche  wirkHch  einige  Erziehung 
und  einigen  Unterricht  wünschen,  müssen  solchen  aus  den 
Pensionsanstalten,  entweder  öffentlich  oder  Privat,  erhalten. 
Zu  den  öffentlichen  gehören  die  verschiedenen  Kadettenhäuser, 
das  Fräuleinstift  und  vielleicht  noch  einige  wenige  andere. 
Zu  den  Privateinrichtungen  im  Gegentheil  gehören  theils  die 
Klöster,  in  welchen  die  Jugend  von  Mönchen  und  Geistlichen 
erzogen  wird,  theils  einige  Anstalten  von  Franzosen  und  Deut- 
schen, die  dergleichen  Einrichtungen  zur  Erziehung  der  Jugend 
angelegt  haben.  Alle  diese  sind  nicht  für  den  gemeinen  Mann, 
da  sie  zu  kostbar,  auch  ist  wohl  der  Unterricht  in  den  eigent- 
lichen Wissenschaften  bei  diesen  Anstalten  nicht  der  vorzüg- 
lichste. Er  ist  dahero  auf  das  elende  Mittel  in  Ansehung  des 
Unterrichts  seiner  Kinder  eingeschränkt,  einem  verabschiedeten 
Soldaten  einige  Rubel  zu  geben,  um  sie  auszulernen,  wie  sie 
es  nannten,  oder  ihnen  zur  Noth  lesen  und  schreiben  zu  lehren. 
Dieß  ist  auch  die  Ursache,  daß  keine  christliche  Nation  so 
wenig  selbst  von  den  ersten  Grundsätzen  ihrer  Religion  weis, 
so  selten  lesen  und  schreiben  kann  als  die  Rußische.'* 

Katharina  die  Zweite  begründete  eine  Anzahl  Schulen; 
sie  stiftete  Internate  und  akademische  Gymnasien,  wo  die 
Kinder  bis  zu  vollendeter  Ausbildung  bleiben  mußten;  diese 


^)  Sugenheim,  Rußlands  Einfluß  auf  Deutschland.     I  59. 


—     41     — 

Anstalten,  die  nur  dem  Adel  offen  standen,  entsprachen  auch 
sonst  nicht  ihrer  Aufgabe;  die  Bildung,  die  man  hier  erhielt, 
war  eine  äußerst  oberflächliche.  Man  hat  von  Katharina  gesagt, 
sie  habe  die  gebildete  Frau  in  Rußland  eingeführt ;  mit  welchem 
Rechte  dies  behauptet  wurde,  werden  wir  jetzt  sehen.  Einmal 
faßte  sie  den  Plan,  den  allgemeinen  Unterricht  einzuführen; 
eine  vierklassige  höhere  Probeschule  für  400  Kinder  blieb 
aber  so  unbeachtet,  daß  man  —  um  den  Willen  der  Kaiserin 
einigermaßen  zu  befriedigen  —  Schüler  in  Ketten  in  die  Schule 
schleppte  und  sie  so  an  die  Bildung  fesselte.  Im  Jahre  1787 
gab  es  169  Schulen,  aber  auch  nicht  viel  mehr  Schüler,  und 
Katharina  entsagte  der  Sache  leichten  Herzens.  Denn  ob  die 
Schulen  wirkHch  ihren  Zweck  erfüllten,  war  der  Zarin  gleich- 
gültig.  In  erster  Linie  sollten  sie  dazu  dienen,  die  fran- 
zösischen Philosophen  zufriedenzustellen,  von  denen  gelobt  zu 
werden  Katharinas  höchster  Ehrgeiz  war.  Der  Gouverneur 
von  Moskau  schrieb  der  Kaiserin,  daß  niemand  seine  Kinder 
in  die  Schule  schicken  wollte,  und  Katharina  antwortete  dar- 
auf i):  „Mein  lieber  Fürst,  beklagen  Sie  sich  nicht  deswegen, 
daß  die  Russen  nicht  den  Wunsch  haben  sich  zu  bilden. 
Wenn  ich  Schulen  errichte,  so  geschieht  es  nicht  für  uns, 
sondern  für  Europa,  wo  wir  unseren  Rang  in  der  öffentlichen 
Meinung  behalten  müssen.  An  jenem  Tage,  da  unsere  Bauern 
anfangen  werden  nach  der  Aufklärung  zu  verlangen,  werden 
weder  Sic  noch  ich  auf  unseren  Plätzen  bleiben!'*  Zynischer 
und  aufrichtiger  konnte  an  höchster  Stelle  nicht  gesagt  werden, 
daß  alles,  was  die  Herrscher  und  Herrscherinnen  Rußlands 
für  die  Aufklärung  tun  wollten,  nichts  weiter  sein  durfte  als 
eine  dekorative  Bildung,  als  eine  Blendung  der  öffentlichen 
Meinung  Europas,  die  man  glauben  machen  wollte,  die  Sar- 
maten  zivilisierten  sich,  während  die  Barbarei  fortdauerte  und 
nur  der  Aberglaube  und  die  Unsittlichkeit  sich  konsolidierten. 
Neben  den  Obelisken  und  Triumphbogen  zu  Ehren  eines  Orlow, 
Rumjäntzow,   neben   den  Grabdenkmälern  für  ihre   Lieblings- 


1)  Custine  II  115.  —  Ich  weiß  nicht,  ob  dieses  Schreiben,  trotzdem 
Custine  die  Echtheit  verbürgte,  authentisch  genannt  werden  darf.  Aber  wenn 
es  erfunden  ist,  dann  ist  es  gut  erfunden  und  entspricht  vollkommen  den 
wahren  Ansichten  der  Zarin  über  die  russische  Volksbildung. 


~     42     — 

hunde,  neben  dem  Monument  für  Lanskoy,  ihren  geliebtesten 
und  schönsten  Genossen  im  Lotterbette,  neben  diesen  imver- 
gänglichen  Zeugen  ihrer  ruhmvollen  Herrschaft  wollte  Katha- 
rina auch  einige  Schulen  als  Erinnerimgen  an  ihre  Epoche 
hinterlassen.  Aber  Licht  und  Schatten  mußten  streng  verteilt 
werden:  Dort  der  prächtigste  Luxus,  hier  aller  Flitter;  dort 
der  Reichtum,  hier  das  Elend;  dort  die  Wahrheit,  hier  die 
Lüge;  dort  die  mit  Gold  und  Juwelen  geschmückte  Wollust 
der  Großen  imd  die  Schamlosigkeit  des  Hofes  in  Seide  und 
Samt,  hier  in  härenem  Gewände  die  barbarische  Verkom- 
menheit des  Volkes.  Der  kühlste  aller  Historiker,  der  Ruß- 
lands Geschichte  mit  imanfechtbarer  Objektivität  durchforscht 
und  geschildert  hat,  Theodor  Schiemann,  sagt  von  dem,  was 
Katharina  für  die  Bildimg  und  Kultivierimg  Rußlands  ge- 
leistet i):  „Es  hatte  zur  Folge  die  steigende  Entsittlichung, 
die  am  Hofe  verkleidet,  im  Innern  des  Reiches  in  fast  un- 
verhüllter Nacktheit  zu  Tage  trat,  eine  Erscheinung  wie  sie 
durch  das  Zusammenstoßen  der  überfeinerten  und  innerlich 
faulen  französischen  Kultur  des  ancien  regime  mit  der  bisher 
nur  wenig  übertünchten  Barbarei  des  altrussischen  Wesens 
ihre  natürliche  Erklärung  findet,  die  aber  die  entsetzlichsten 
Zustände  zeitigte.  Es  ist  dabei  nicht  zu  übersehen,  daß  jene 
Französierung  auch  den  gesamten  Kreis  der  höheren  russischen 
Verwaltungsbeamten  sowie  die  Spitzen  der  Armee  umfaßte 
und  umfassen  mußte,  solange  Hofgunst  über  die -Besetzung 
dieser  Stellungen  entschied.  Zwischen  dem  Volke  und  diesen 
zu  fremder  Umgangssprache,  in  fremden  Sitten  und  zu  einer 
unrussischen  Kultur  erzogenen  Spitzen  der  Nation  konnte  ein 
Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  sich  nur  soweit  behaupten,  als 
es  durch  das  Verhältnis  der  Herren  zu  ihren  Knechten  bedingt 
wurde.  Und  ebenso  hatte  die  Regierung  keine  andere  Fühlung 
mit  dem  Volke  als  die,  welche  ihr  durch  die  Verwaltungs- 
beamten, durch  das  besondere  Volk  der  Tschinowniki,  ver- 
mittelt wurde."  Die  Kaiserin  persönlich  trifft  also  die  Haupt- 
schuld an  der  steigenden  Entsittlichung  der  Nation;  Katharina 
kokettierte  mit  der  hyperfeinen  Zivilisation  des  Westens,  sie 


1)  Theodor  Schiemann,  Alexander  der  Erste.     S.  6 — 7. 


~    43    — 

schwärmte  ehrlich  oder  erheuchelt  für  die  Ideale  der  fran- 
zösischen Aufklärungsliteratur,  sie  schrieb  selbst  Erziehungs- 
programme; aber  für  die  Bildung  des  Volkes  interessierte  sie 
sich  nur  zum  Scheine,  aus  Gründen  der  Eitelkeit;  und  für 
die  Erleichterung  der  Knechtschaft,  der  geistigen  wie  der 
materiellen,  in  deren  Ketten  die  Massen  schmachteten,  tat  sie 
nichts.  Nach  wie  vor  blieb  das  Volk  moralisch  dem  Aber- 
glauben und  der  Sittenlosigkeit,  physisch  der  Willkür  der  Guts- 
herren  und    der   Tschinowniki    ausgeliefert. 

Die  Erbschaft,  welche  Katharina  die  Aufgeklärte  hinter- 
ließ, lastete  erdrückend  auf  den  nachfolgenden  Regierungen.^) 
Von  den  Emigranten  und  den  Abenteuerem,  die  während 
der  Revolution  aus  Frankreich  ausgezogen  waren,  um  Europa  . 
zu  verseuchen,  hatte  Katharina  die  meistverdorbenen  Elemente 
in  Rußland  aufnehmen  lassen,  und  von  diesen  hat  das  Zaren- 
reich die  sogenannte  französische  Kultur  gelernt.^)  Die  deutsche 
Kultur  und  Literatur  jener  Zeit  vermochten  selbst  unter 
Alexander  dem  Ersten  keinen  Einfluß  in  Rußland  zu  ge- 
winnen, aber  die  antiquierten  und  anderwärts  schon  über- 
wundenen geistigen  Strömungen  der  französischen  Zivilisation 
konnten  in  Rußland  in  breitem  Bette  durch  das  Land  fluten. 
Der  Jesuit  Abbe  Nicole  lehrte  die  Söhne  des  russischen  Adels 
reden  wie  die  Franzosen,  tanzen  wie  Balletmeister,  fechten, 
deklamieren,  Theaterspielen;  aber  von  Arbeit  war  keine  Rede, 
die  Bildung  blieb  oberflächlich,  und  die  Lebensauffassung,  wenn 
man  eine  solche  in  dieser  pädagogischen  Jesuitenanstalt  ge- 
winnen konnte,  hatte  mit  Rußland  nichts  gemein.  Die  Wenigen, 
die  wirklich  lernen  wollten,  gingen  ins  Ausland,  diese  erreichten 
jedoch  alles  nur  für  sich  und  nützten  nicht  der  russischen 
Kultur.    Rußland   mußte   sich  weiter  fortfristen   mit   kläglich 

^)  Der  kurzen  Regierung  Pauls  kann  flüchtig  auch  gedacht  werden. 
Diesem  Kaiser  war  die  Bildung  so  verhaßt,  daß  er  alle  Buchdruckereien  in 
seinem  Reiche  schließen  ließ;  nur  drei  durften  bestehen  bleiben  für  den  Druck 
der  Ukase,  der  religiösen  Schriften  und  solcher  Bücher,  die  dreimal  zensuriert 
worden  waren:  von  der  Regierung,  einem  Mitgliede  der  Schulenverwaltung 
und  einem  Vertreter  der  Kirche.  Die  Folge  war,  daß  die  unbedeutendsten 
Bücher  zu  Raritäten  wurden  und  die  höchsten  Preise  erzielten,  wenn  sie  heim- 
lich ausgeboten  werden  konnten. 

*)  Schiemann,  a.  a.  O.  394 — 395.  397 — 402. 


—     44     — 

geleiteten  Gymnasien,  Kadettenschulen,  dem  Lyceum  zu  Zars- 
koje Sselo  und  dem  Pagenkorps,  wo  nichts  zu  erlernen  war 
als  eine  oberflächhchste  formal  gesellschaftliche  Bildung  oder 
vielmehr  Dressur.  „Und  diese  staatliche  Erziehung,  der  bei 
strengster  Disziplin  jede  wahre  Zucht  fehlte,  war  doch  noch 
weit  besser  als  die  häusliche,**  welche  —  wie  Schiemann  auf 
Grund  unzähliger  Zeugnisse  nachgewiesen  hat  —  durchwegs 
von  unwissenden  französischen  oder  deutschen  Glücksrittern 
niedrigsten  Ranges  erteilt  wurde;  von  Leuten,  die  man  auf 
der  Lehrerbörse  im  Zagradschen  Gasthofe  zu  Moskau  oder 
an  der  Schmiedebrücke,  am  Kußnetzkymost,  zu  Petersburg 
auffischte.  Ein  Leibeigener,  der  das  Vertrauen  seines  Herrn 
genoß,  stellte  sich  zuweilen  an  der  Tür  der  Kathedralkirche 
auf  und  der  erstbeste,  der  ihm  als  intelligent  erschien,  wurde 
von  ihm  als  Erzieher  für  die  Kinder  des  Gutsherrn  gedungen. 
So  wurden  Lakaien,  Handwerker,  Gärtner,  wandernde  Klein- 
händler :  Lehrer  und  Erzieher  des  russischen  Bürgers  und  Edel- 
manns. Im  Jahre  1822  bot  in  einem  Inserat  der  Moskauer 
Zeitung  „ein  Piqueur  aus  Deutschland**  seine  Dienste  an  als 
„Piqueur  oder  Gouverneur".  Namentlich  um  die  Franzosen 
dauerte  der  Wettbewerb  der  russischen  Familienväter  fort. 
Graf  Schuwalow  hatte  für  das  Pagenkorps  sieben  Lakaien  aus 
Paris  kommen  lassen;  in  Rußland  angelangt,  fanden  es  alle 
Sieben  vorteilhafter,  statt  Lakaien  zu  bleiben,  als  Gouverneure 
in  adeligen  Häusern  Dienste  zu  nehmen.  Fürst  Peter  Andre- 
jewitsch  Wjäsemskij,  Gehilfe  des  Ministers  für  Volksaufklärung 
unter  Alexander  dem  Zweiten,  erzählt  in  seinen  Jugenderinner- 
ungen: „Die  Wahl  der  Erzieher,  Gouverneure  und  Lehrer, 
die  man  mir  gab,  war  höchst  unglücklich.  Am  Gelde  lag  es 
wahrlich  nicht.  Es  waren  viele  Franzosen,  Deutsche  und  Eng- 
länder bei  mir,  aber  keiner  von  ihnen  war  imstande,  mich  zur 
Arbeit  zu  gewöhnen.  An  russische  Erzieher  war  jedoch  über- 
haupt nicht  zu  denken.  Die  gab  es  nicht,  und  ich  weiß  nicht, 
ob  heute  viele  zu  finden  sind;  so  mußte  man  denn  auf  gut 
Glück  die  Fremden  einfangen.**  Senator  Ssacharow  klagte  in 
ähnlicher  Weise:  „Die  Bildung  des  Adels  besorgten  Gouver- 
neure und  Gouvernanten,  Leute  ohne  jede  wissenschaftliche 
Bildung.    Mit  ihnen  drangen  in  die  Familien  der  Gutsbesitzer 


—     45     — 

Sittenlosigkeit,  Frechheit,  Mißachtung  der  Eltern,  Verachtung 
des  Glaubens  der  Väter  und  schmähliche  Freigeisterei."  Wenn 
die  höchsten  Adeligen  in  den  beiden  Hauptstädten  des  Reiches 
für  die  Erziehung  ihrer  Kinder  Lakaien  als  das  möglichst 
Erreichbare  warben,  so  kann  man  sich  ein  Bild  von  dem 
Material  machen,  das  in  den  Provinzen  für  gut  genug  befunden 
wurde.  Hier  kamen  schon  die  Schüler  jener  Lehrer  zu  Ehren 
oder  man  engagierte  ungeschlachte  Seminaristen,  auf  die  man 
das  Wort  des  deutschen  Dichters  anwenden  darf:  ,,Was  sie 
gestern  gelernt,  wollen  sie  heute  schon  lehren.**  Und  wie  arm- 
selig war  das,  was  ihr  eigenes  Wissen  ausmachte;  wie  selt- 
sam mögen  die  Elemente  der  Bildung  gewesen  sein,  die  sie 
auf  ihre  Zöglinge  übertrugen !  Wir  haben  uns  bisher  mit  den 
höchsten  Kreisen  befaßt,  nur  die  Vornehmsten  in  den  beiden 
Residenzen  imd  die  reichsten  Häuser  in  den  übrigen  Städten 
und  auf  dem  Lande  betrachtet.  Aber  wie  erging  es  erst 
dem  unbemittelten  Adel  oder  den  Beamten  I  Die  Lakaien 
wurden  von  den  Großen  abgefangen,  den  Kleinen  blieben 
also  nur  die  kriegsgefangenen  französischen  Soldaten,  die  sich 
auch  leicht  in  ihre  neue  feine  Rolle  fanden,  sich  in  Rußland 
niederließen  und  die  Jugendbildner  der  russischen  Mittelklasse 
wurden.  Der  berühmte  Chirurg  Pirogow  erzählt  in  seinen 
Denkwürdigkeiten!)  über  die  Bildung,  die  ihm  zuteil  gewor- 
den: „Von  Jugend  auf  lernte  man  die  europäischen  Sprachen 
nur  in  den  höchsten  Schichten  der  Gesellschaft,  und  zwar  nur 
für  sich,  für  seinen  Kreis,  für  den  Salon  und  im  Interesse  der 
eigenen  Karriere,  denn  die  Kenntnis  einer  fremden  Sprache 
war  das  Aushängeschild  der  Bildung.**  Russische  Bücher  gab 
es  nicht,  man  brauchte  sie  auch  nicht.  „Als  nun  die  niederen 
Schichten  der  Gesellschaft  nach  Bildung  zu  streben  begannen, 
gab  es  für  sie  nichts  zu  lesen.  Eine  wissenschaftliche  und 
klassische  Literatur  existierte  in  russischer  Sprache  nicht,  weil 
diese  nicht  standesgemäß  war.  Und  so  zerfiel  denn  der  die 
Kultur  tragende  Teil  der  Gesellschaft  in  zwei  voneinander 
geschiedene   Schichten:    eine   obere,    welche   über   alle  Mittel 


1)  In  deutscher  Übersetzung  von  Schiemann  in  dessen  Sammlung  nis- 
sischer Denkwürdigkeiten  als  dritter  Band  (Stuttgart   1894)  herausgegeben. 


—    46     — 

der  Bildung  verfügte,  aber  ihrer  Geburt,  ihrer  Stellung,  ihren 
Vorurteilen  nach  zu  einer  ernsten  wissenschaftlichen  Arbeit 
nicht  berufen  schien,  und  zweitens  eine  untere  Schicht,  die 
sich  fast  ausschließlich  aus  dem  Proletariat  rekrutierte.** 

Die  beste  Absicht,  Volksschulen  zu  begründen,  hatte 
Alexander  der  Erste.  Er  wünschte,  daß  wenigstens  in  jedem 
Kirchspiel  eine  Schule  sein  sollte.  Aber  die  Regierung  gab 
dazu  kein  Geld  her,  die  Gemeinden  und  Gutsbesitzer  wollten 
die  Lasten  nicht  auf  sich  nehmen,  und  die  Resultate  entsprachen 
diesem  komischen  Wettbewerbe  im  Nichtsleisten:  1806  wurden 
im  Gouvernement  Nowgorod  hundert  Volksschulen  errichtet, 
nachdem  man  im  Jahre  1804  im  Gouvernement  Olonez  zwan- 
zig und  sogar  im  Gouvernement  Archangelsk  neun  eröffnet 
hatte.  Man  beeilte  sich  der  Welt  von  dieser  wunderbaren 
Kultivierung  Mitteilung  zu  machen,  man  erzählte  jedoch  nie- 
mals, daß  in  Nowgorod  nach  zwei  Jahren  von  den  hundert 
Schulen  nur  noch  eine  einzige  bestand,  und  daß  es  18 19  weder 
im  Gouvernement  Archangelsk  noch  im  Gouvernement  Olonez 
auch  nur  eine  gab.  Aber  die  Blendung  Europas  war  wieder 
gelungen,  und  Zar  Alexander  vervollständigte  sein  großes  Zi- 
vilisationswerk durch  die  Schaffimg  eines  Ministeriums  der 
Volksaufklärung,  durch  Neubelebung  der  Universitäten  von 
Wilna,  Moskau  und  Dorpat  und  die  Begründung  der  drei 
neuen  Universitäten  von  Charjkow,  St.  Petersburg  und  Kasanj. 
Rußland  hatte  mm  zwar  keine  Schulen,  aber  Universitäten! 
und  war  ein  Kulturstaat  ersten  Ranges. 

Verweilen  wir  einen  flüchtigen  Augenblick  bei  diesen  russi- 
schen Universitäten.  Der  große  russische  Gelehrte  Pypin 
sagte  1):  „Die  Anfänge  des  wissenschaftlichen  Lebens  in  Ruß- 
land waren  stets  von  Erscheinungen  der  Hohlheit  und  Will- 
kür begleitet,  weil  man  die  abstrakten  und  sittlichen  Forderun- 
gen der  Wissenschaften  nicht  begriff  und  nur  eine  Dekoration 
der  Wissenschaft  herzustellen  bestrebt  war.**  Das  Volk  war 
noch  für  die  Elementarschule  nicht  reif,  da  schuf  man  eine 
Universität  nach  der  anderen.    Die  Universitäten  mußte  man 


1)  Die  geistigen  Bewegungen  in  Rußland  in  der  ersten  Hälfte  des 
XIX.  Jahrhunderts.  Erster  Band.  Die  russische  Gesellschaft  unter  Alexan- 
der I.    Aus  dem  Russischen  übertragen  von  Dr.  Boris  Minzes.    Berlin  1894. 


-    47    - 

bevölkern;  also  befahl  man  in  Charjkow  den  Seminaristen, 
in  Kasanj  den  Gymnasiasten:  Studenten  zu  werden;  und  in 
Petersburg  wußte  man  sich  schon  gar  nicht  anders  zu  helfen 
als  damit,  daß  man  den  Leibeigenen,  die  sonst  keine  Rechte 
hatten,   das  Recht  des  Universitätsstudiums  verlieh. 

Die  Dorpater  Universität  wurde  vor  fast  dreihundert  Jahren 
von  Gustav  Adolf  gegründet,  „damit  das  martialische  Livland 
zu  Tugend  und  Sittsamkeit  gebracht  werde**.  Peter  der  Große, 
der  die  ausländische  Bildung  angeblich  nach  Rußland  ver- 
pflanzen wollte,  vernichtete  im  Jahre  1710  die  Universität  Dor- 
pat,  und  erst  Alexander  Pawlowitsch  erweckte  sie  wieder  zum 
Leben.  In  ihrem  ersten  Jahre,  1802,  zählte  sie  nur  47  Hörer, 
und  es  dauerte  lange,  bis  sie  die  Aufgabe  erfüllen  konnte, 
die  Zar  Alexander  ihr  gestellt  hat:  ein  Quell  der  mensch- 
lichen Kenntnisse  für  das  ganze  Reich  zu  sein.  Und  als  sie 
diesem  Zwecke  endlich  wirklich  entsprach,  brach  das  Russi- 
fizierungsgewitter  über  sie  herein  und  zerstörte  von  Grund  aus, 
was  Generationen  der  Besten  gebaut  hatten.^) 

Zwei  Jahre  nach  der  Neubegründung  der  Dorpater  Uni- 
versität entstand  die  von  Kasanj,  wo  es  schon  seit  1755  ein 
Gymnasium  gab  —  allerdings  ein  Gymnasium  sozusagen  ohne 
Schüler.  Das  war  das  kühnste  Blendwerk,  das  Alexander  der 
Erste  der  europäischen  Welt  vorspiegeln  ließ.  Wie  weit  mußte 
die  Kultur  in  Rußland  schon  vorgeschritten  sein,  daß  man 
es  wagen  konnte,  auf  ehemals  tatarischem  Boden,  im  äußersten 
Osten  des  europäischen  Zartums,  fern  von  den  Residenzen 
einen  Tempel  der  Wissenschaft  aufzurichten.  Sehen  wir  näher 
zul  Der  erste  Rektor  dieser  Universität,  zugleich  ihr  Haupt- 
professor und  auch  Direktor  des  Gymnasiums  war  der  ehe- 
malige Volksschullehrer  Ilja  Feodorowitsch  Jakowkin.  Vier 
Lehrer  des  Gymnasiums  waren  ihm  als  Professorsadjunk- 
ten für  verschiedene  Wissenschaften  beigegeben.  Ein 
Rechenlehrer     war     Professor     der     Mathematik,     ein     ehe- 


^)  Bernhard  Stern,  Aus  dem  modernen  Rußland.  Berlin  1893:  ,,Dorpat 
und  Jurjew,"  Seite  141 — 157.  —  Interessante  Mitteilungen  zur  Geschichte 
der  Dorpater  Universität  enthalt  das  Buch  von  Professor  Georg  Friedrich 
Bienemann:  Der  Dorpater  Professor  Georg  Friedrich  Parrot.und  Kaiser 
Alexander  I.  zum  Säkulargedächtnis  der  alma  mater  Dorpatensis."  Reval  1902. 


-    48    - 

maliger  Feldscher  brillierte  als  Professor  der  Medizin. 
Jakowkin  bevölkerte  die  Universität  mit  Studenten,  die  keine 
Prüfungen  abzulegen  brauchten,  sondern  sich  bloß  bei  ihrem 
Rektor  als  Pensionäre  einzumieten  hatten,  um  ihres  Studien- 
erfolges sicher  zu  sein.  Also  kamen  viele  Jünglinge  nach 
Kasanj,  um  mit  leichter  Mühe  Doktoren  aller  Wissenschaften 
zu  werden.  Das  imponierte  der  Regierung,  und  man  ver- 
schrieb nun  für  die  blühende  Universität  wirkliche  Gelehrte, 
wie  den  Orientalisten  Frehn^)  und  den  Astronomen  Littrow, 
denen  aber  Jakowkin  ein  saueres  Leben  bereitete;  er  konnte 
die  frechen  Gebildeten,  wie  er  die  Gelehrten  nannte,  nicht 
leiden,  und  als  die  Deutschen  sich  weigerten,  an  dem  Gottes- 
dienste in  der  russischen  Kirche  teilzunehmen,  ließ  er  sie 
wegen  Verhöhnung  der  rechtgläubigen  Kirche  vor  Gericht 
stellen.  2)  Auch  an  der  Petersburger-  Universität  sahen  die 
Rektoren  und  Kuratoren  ihre  wichtigste  Aufgabe  nicht  in  der 
Förderung,  sondern  in  der  Hemmung  des  Fortschritts  und 
der  Bildung.  Sagte  doch  der  Kurator  Runitsch  einem  Pro- 
fessor der  Philosophie,  diese  Wissenschaft  sei  eine  Satans- 
lehre: „Sie  sind  ein  Heide  und  lehren  heidnische  Irrlehren; 
philosophische  Argumente  stellen  Sie  auf,  die  einen  Christen 
tötlich  verletzen.  Die  lascive  Philosophie  gilt  Ihnen  mehr  als 
die  jungfräuliche  Gottesmutter!'*  Und  der  Rektor  ließ  diesem 
Satanslehrer  als  einem  „Anstifter,  Aufwiegler,  Verräter,  Mord- 
brenner, Revolutionär  und  Gotteslästerer"  den  Prozeß  machen. 
Das  war  die  Bildung  Rußlands  unter  Alexander  dem 
Ersten,  und  auch  dies  erschien  seinem  Bruder  und  Nachfolger 
Nikolaj  zu  viel,  der  gegen  die  Universität  als  gegen  seine 
Todfeindin  wütete  wie  einst  Peter  der  Große  gegen  den  Lang- 
bart. Und  doch  fand  sich  —  nicht  in  Rußland,  nein,  in 
Deutschland,  im  glorreichen  Jahre  1848  —  ein  Held,  der  die 
russische  Schule  unter  Nikolaj  dem  Ersten  als  ein  förmliches 
Ideal  der  Bildung  und   des  Fortschritts   und  der  Freiheit  zu 


1)  Diesem  verdankte  die  Universität  die  wunderbare  Sichtung  ihrer  einzig 
dastehenden  Bibliothek  von  chinesischen,  mongolischen  und  tibetanischen 
Manuskripten. 

*)  Bernhard  Stern,  Von  der  Ostsee  zum  Stillen  Ozean.  Breslau  1897. 
S.  243 — 246  über  die  Kasanjer,  S.  246 — 249  über  die  Petersburger  Universität. 


—    49     — 

loben  wagte  1):  „So  stark/*  heißt  es  in  einer  in  Weimar  er- 
schienenen Verteidigung  der  russischen  Barbarei,  „ist  das  Vor- 
urtheil  gegen  die  wissenschaftlichen  Anstalten  Rußlands,  daß 
man  es  am  wenigsten  erwarten  wird,  hier  eine  Parallele  öster- 
reichischen und  russischen  Unterrichtswesens  zu  lesen,  die  zu 
Gunsten  des  letzteren  ausfällt.  In  Rußland  geht  man  bei  dem 
Jugendunterrichte  allerdings  auf  Unterwerfung  des  Geistes  aus, 
aber  man  tritt  seiner  Entwickelung  nicht  so  hemmend  in  den 
Weg.  Der  Gebeugte  kann  sich  erheben,  und  seine  Rechte  vin- 
diciren,  wenn  er  sich  bevortheilt  glaubt,  er  kann  seine  phy- 
sische und  moralische  Kraft  nach  Willkür  gebrauchen,  wenn 
die  Fesseln  gelöst  sind.  Denn  die  Schule  steht  nicht 
unter  der  Vormundschaft  der  Geistlichkeit,  sondern  unter  der 
Aufsicht  der  Regierung,  welche  —  wenn  keine  andere  Wahl 
bleibt  —  gewiß  der  pfäffischen  Leitung  vorzuziehen  ist.** 

Auch  dieser  Vorzug  existiert  längst  nicht  mehr.  Von 
den  zehntausenden  Schulen,  die  Alexander  der  Zweite  begrün- 
den wollte,  sind  nur  Tausende  ins  Leben  getreten.  Die  Minister 
Alexanders  des  Dritten,  Tolstoj  und  Pobjedonoßzew,  haben 
auch  die  Tausende  dezimiert,  und  schließlich  wurde  durch 
den  Ukas  vom  i6.  Mai  1891  fast  das  gesamte  Schulwesen 
der  Geistlichkeit  ausgeliefert,  alles  was  noch  übriggeblieben 
war  aus  der  Epoche  Alexanders  des  Zweiten  unter  die  Zucht- 
rute des  Heiligen  Synod  gestellt,  der  sich  mit  der  Polizei 
in  die  Aufgabe  der  Entsittlichung  der  Jugend  teilt.  Eine 
neue  Institution  wurde  in  die  russische  Schule  eingeführt :  das 
System  der  Kollegendenunziation.  In  jedem  Gymnasium  wurde 
eine  Anzahl  Schüler  ohne  Schulgeld  aufgenommen,  und  diese 
Knaben  im  Alter  von  neun  bis  achtzehn  Jahren  haben  die 
Pflicht  als  Gegenleistung  für  die  Freischule  ihre  Kameraden 
auszuspionieren.  Die  offizielle  Aufsicht  der  Regierung  aber 
macht  sich  'in  dieser  Weise  geltend:  der  Minister  für  Volks- 
aufklärung versendet  an  die  Generalgouvemeure  und  Gou- 
verneure ein  Rundschreiben  mit  der  Anweisung,   die  Trunk- 


1)  Kaiser  Nicolaus  der  Erste  gegenüber  der  öffentlichen  Meinung  von 
Europa,  zur  Berichtigung  unreifer  Urtheile  über  russische  Diplomatie  und 
Regierungspolitik.  Audiatur  et  altera  pars!  Weimar  1848  (Druck  und  Ver- 
lag von  Bernhard  Friedrich  Voigt).     Seite  106. 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Ru&land.  a 


—    50    — 

sucht  und  Unsittlichkeit  der  Studenten  nicht  zu  bestrafen,  da- 
gegen mit  eiserner  Strenge  freie  Äußerungen 'gegen  die  Re- 
gierung zu  unterdrücken. 1)  Dementsprechend  werden  das  Pro- 
fessorenmaterial und  das  Korps  der  Pedelle  ausgewählt.  Unter 
Katharina  II.  und  Alexander  I.  waren,  wie  wir  wissen,  Lakaien 
und  Soldaten  die  Erzieher  der  russischen  Jugend,  denn  damals 
brauchte  man  wenigstens  dekorative  Bildung;  heute  aber  ver- 
langt man  Entsittlichung,  nackte  Verkommenheit,  und  so  stellt 
man  als  Lehrer  vornehmlich  liederliche  Subjekte  und  als  Uni- 
versitätsdiener Kellner  aus  Schandlokalen,  Kuppler  und  Bordell- 
wirte an.  Je  schändlicher  das  Privatleben  eines  Professors 
ist,  je  mehr  Maitressen  er  sich  hält,  desto  angesehener  ist  er 
bei  der  Regierung;  und  als  die  besten  akademischen  Bürger 
und  Bürgerinnen  in  den  Augen  des  Rektors  und  Kurators 
erscheinen  jene  Studenten  und  Studentinnen,  die  schamlos 
ein  freies  Leben  führen  und  die  ganze  Gesellschaft  zu  Zeugen 
ihrer  öffentlichen  Liederlichkeit  machen.  Nicht  die  Wissen- 
schaft soll  gepflegt  werden,  sondern  die  Lasterhaftigkeit,  denn 
diese  und  nicht  jene  gilt  in  Rußland  als  Begleiterin  der  Loyali- 
tät und  Untertanentreue.  Der  große  russische  Chirurg  Piro- 
gow  sagte  einmal:  in  Rußland  sei  die  Hochschule  das  emp- 
findsame Barometer,  das  den  geistigen  Zustand  der  gesamten 
russischen  Gesellschaft  anzeige.  Wenden  wir  diesen  Satz  auf 
die  geschilderten  Verhältnisse  an,  dann  erhalten  wir  ein  ent- 
setzenerregendes Spiegelbild  der  russischen  Gesellschaft,  und 
leider  ein  getreues. 

Es  hat  in  Rußland  selbst  nicht  an  mutigen  Männern  ge- 
fehlt, welche  die  Gebrechen  der  Schule  offen  dargelegt  haben. 
Da  liegt  vor  mir  ein  merkwürdiges  russisches  Buch  von  Maß- 
lowskij  über  die  allgemeinbildende  Schule.^)  Es  sind  Gedan- 
ken eines  Familienvaters,  der  uns  schildert,  wie  die  Schule 
es  ist,  die  die  Jugend  entsittlicht,  sie  der  Familie  entfremdet; 
wie  eine  förmliche  Kluft  zwischen  der  FamiHe  und  der  Schule 
entstanden  ist.  Unterricht  und  Erziehung  in  der  Schule  sind 
bar  der  lebendigen  Hingabe  an  die  Wissenschaft;  und  dann 

1)  Lanin,  Russische  Zustande.     I  22,  35,  38. 

*)  A.  (b.  MaccjiOBCKitt,  PycoKaa  o6iuco6pa30BaTe.ii>uafl  iiiKo.ia.  Mucjih  oina 
ccMCÜcTBa.     C.-neTop()ypn>,  1900. 


—    51     — 

beschuldigt  die  Schule  nicht  sich  selbst,  sondern  die  Familie 
der  mangelhaften  Resultate,  die  erzielt  werden.  Die  Schule 
untergräbt  die  Autorität  der  Familie,  diese  reagiert  durch  den 
Widerstand  gegen  die  Schule,  und  das  Opfer  ist  die  Jugend. 
Die  Schule  hat  nur  die  höheren  Schichten  der  Gesellschaft  im 
Auge  und  kümmert  sich  nicht  um  die  Bedürfnisse  der  Menge. 
Deshalb  kann  nur  ein  beschämend  kleiner  Teil  derjenigen, 
die  in  die  Mittelschule  eintreten,  sie  bis  zum  Ende  durch- 
gehen und  zum  höheren  Studium  gelangen.  Aber  auch  jene, 
welche  das  Ziel  erreichen,  haben  geringen  Gewinn  davon.  Die 
Kenntnisse  sind  trocken  und  oberflächlich,  die  Bildung  unwahr, 
Geist  und  Gemüt  werden  nicht  entwickelt,  sondern  entsittlicht. 
Das  Mißtrauen  gegen  wahre  Bildung  i3t  das  Administrations- 
prinzip,  und  beim  Examen  entscheiden  nicht  die  Befähigung 
und  die  Kenntnisse,  sondern  die  Protektion  und  die  sogenannte 
Loyalität  der  Kandidaten.  Die  Schule  regiert  durch  Furcht, 
man  will  absolut  nicht  Männer  erziehen,  die  fähig  wären  zur 
Selbstbestimmung.  Statt  der  Erzieher  gibt  es  nur  Reglements, 
statt  der  Wissenschaften:  Polizeiverordnungen. 

Vor  einigen  Jahren  hat  das  Ministerium  der  Volksauf- 
klärung i)  ein  Werk  über  den  Stand  und  die  Fortschritte  der 
Elementarschulbildung  in  Rußland  herausgegeben.  Sehen  wir 
davon  ab,  daß  ein  großer  Teil  der  dort  mitgeteilten  Daten 
auch  nur  auf  Blendung  und  dekorative  Wirkung  berechnet 
ist,  nehmen  wir  diese  amthchen  Mitteilungen  für  vollwertig. 
Danach  hat  Rußland  jetzt  79000  Elementarschulen  mit  vier 
Millionen  Schülern.  Diese  Schulen  sind  neun  verschiedenen 
Ministerien  unterstellt,  mehr  als  die  Hälfte  aber  dem  geistlichen 
Ressort.  Auf  die  Städte  entfallen  7797  Schulen,  die  übrigen  auf 
das  Land.  Da  die  Stadtbevölkerung  den  achten  Teil  der  Ge- 
samtbevölkerung ausmacht,  so  sind  die  Städte  ärmer  an  Schulen 
als  die  Dörfer;  dafür  sind  die  städtischen  Schulen  stärker 
besucht.  An  den  79000  Elementarschulen  sind  150000  Lehr- 
kräfte, davon  23566  in  den  Städten,  127094  in  den  Dörfern, 
so  daß  auf  eine  Stadtschule  durchschnittlich  drei,  auf  eine 
Dorfschule  aber  kaum  zwei  Lehrkräfte  entfallen.     Im  ganzen 


1)  Im  Jahre  1903,  unter  der  Redaktion  von  W.  S.  Farmakowskij. 

4» 


—     52     — 

Uralgebiei  gibt  es  keine  einzige  Lehrerin  an  einer  Elementar- 
schule ;  in  63  Gouvernements  und  Gebieten  sind  die  Lehrerinnen 
in  der  Minderheit  gegenüber  den  Lehrern;  in  den  Gouverne- 
ments Orel  und  Ssamara  und  im  Amurgebiet  ist  die  Zahl  der 
männlichen  Lehrkräfte  dieselbe  wie  die  der  weiblichen;  in  21 
Gouvernements  gibt  es  mehr  Lehrerinnen  als  Lehrer,  so  nament- 
lich im  Gouvernement  Petersburg  und  im  Gouvernement 
Wjatka.  Von  den  Schulkindern  sind  drei  Viertel  Knaben,  ein 
Viertel  Mädchen.  Eine  Elementarschule  entfällt  auf  243  Qua- 
dratwerst oder  1676  Bewohner,  und  bei  dieser  Verteilung  sind 
ganze  Gebiete  ohne  Schule.  Nur  in  den  Gouvernements  Est- 
land und  Olonez  steht  die  Anzahl  der  Schulen  in  dem  normalen 
Verhältnisse  zur  Kopfzahl  der  Bevölkerung,  hier  entfällt  eine 
Schule  auf  650  Bewohner.  Im  Gouvernement  Petersburg  muß 
eine  Schule  für  1405  Seelen,  im  Gouvernement  Kowno  für 
4427  und  in  Zentralasien  für  97526  Einwohner  genügen.  Von 
den  schulpflichtigen  Kindern  Rußlands  besuchen  nur  35  Pro- 
zent die  Schulen,  65  Prozent  bleiben  fern.  Für  den  Unter- 
halt der  79000  Elementarschulen  werden  40  Millionen  Rubel 
jährlich  verausgabt,  was  32^10  Kopeken  per  Kopf  der  Ge- 
samtbevölkerung ausmacht. 

Wir  kritisieren  nicht  weiter  diese  Daten,  aber  fragen  bloß : 
wozu  diese  zwecklose  Ausgabe  von  40  Millionen?  Wozu  Geld 
für  die  Elementarschulen  hinauswerfen,  so  lange  man  die  Mittel- 
schulen knechtet  und  die  Hochschulen  haßt  als  die  Herde 
des  RadikaHsmus  und  der  Revolution?  Wozu  Ideale  hoffen 
lassen,  die  das  Leben  nicht  erfüllt;  weshalb  mit  Wissenschaft 
und  Bildung  prunken,  die  man  unterdrücken  will?  Alexander 
der  Erste  glaubte  noch  die  Universität  einen  Quell  mensch- 
licher Kenntnisse  für  das  ganze  Reich  nennen  zu  müssen. 
Heute  ist  sie  ein  Quell  von  Schmutz,  eine  Flut  der  Unsitt- 
lichkeit  geworden,  dank  dem  System  der  Reaktion,  das  Von 
Jahr  zu  Jahr  brutaler  wird.  Unsinnig  ist  es  jährlich  viele 
Millionen  für  die  Elementarschulen  auszuwerfen,  und  anderer- 
seits Lehrfreiheit  und  Lernfreiheit  zu  vernichten,  weil  die  Schule 
bei  der  Regierung  im  Verdachte  des  Liberalismus  steht  und 
die  Studentenschaft  trotz  Rute  und  Knute  auf  dem  Märtyrer- 
wege zur  Freiheit  sich  drängt.     Der  Staat  hat  es  verstanden. 


—    53    - 

aus  den  Studenten  Leute  zu  machen,  denen  ihr  Leben  nichts 
gilt;  ihm  genügt  nicht  das  Elend  des  Volkes,  er*  schuf  auch 
einen  Universitätspauperismus,  wie  Leroy-Beaulieu  die  russi- 
sche Intelligenz  nennt,  ein  Abiturientenproletariat,  wie  Bis- 
marck  in  einer  berühmten  Reichstagsrede  den  Nihilismus  be- 
zeichnet hat.  Man  werde  konsequent,  schließe  die  Elementar- 
schule, vernichte  die  Mittelschule,  öffne  niemals  mehr  die  Uni- 
versitäten und  überlasse  das  Volk  ganz  dem  Aberglauben  und 
der  Unsittlichkeit,  die  ohnehin  bis  heute  mächtiger  geblieben 
sind  als  Bildung  und  Wissenschaft. 


4.  Aberglaube  und  Verbrechen. 

Gesetze  betreffend  Aberglauben  —  Stemdeuterei  —  List  und  Wollust  eines 
Bischofs  —  Abergläubische  Anzeichen  —  Träume  —  Schlange  —  Taube  — 
Insekten  als  Herdgeister  —  Unverletzlichkeit  der  Läuse  —  Vogelflug  —  Böser 
Blick  —  Kartenaufschlagen  —  Feuer  —  Das  Jahr  und  seine  Tage  —  Der 
Tag  des  heiligen  Wlaßj  —  Fasten  —  Wochentage  —  Der  Freitag  als  Gauner 

—  Mißgeburten  —  Aberglaube  und  Verbrechen  —  Erinnerungen  an  Bauopfer 

—  Das  Opfer  der  Müller  —  Verbrechen  und  Talisman  —  Die  Zehe  als  Talis- 
man —  Der  Zahn  als  Zaubermittel  —  Leichenteile  als  Heilmittel  —  Geschlechts- 
teile als  Zaubermittel  —  Der  Tod  im  Aberglauben  —  Angst  vor  den  Toten  — 

Scelenspeisung. 

Nach  den  vorhergehenden  drei  Kapiteln,  in  denen  wir 
den  Gang  der  russischen  Kultur  und  ihren  gegenwärtigen  Zu- 
stand kennen  gelernt  haben,  wissen  wir,  daß  Rußland  noch 
abgrundtief  im  Aberglauben  untersinkt.  Unter  den  kultivier- 
testen Völkern  unserer  Zeit  ist  der  Aberglaube  noch  nicht  ganz 
ausgerottet.  Aber  er  ist  bei  ihnen  nirgends  mehr  allgemein 
und  nimmt  in  den  seltensten  Fällen  gefährliche  Formen  an. 
In  Rußland  jedoch  ist  der  Aberglaube  die  wahre  geistige, 
moralische  und  auch  physische  Geißel  des  gesamten  Volkes; 
er  erscheint  hier  in  einer  Gestalt,  die  furchtbar  ist;  er  be- 
herrscht alle  Schichten  der  Gesellschaft  und  ist  begleitet  von 
Verbrechen,  wie  sie  sonst  nur  noch  bei  den  wildesten  Völkern, 
bei  Kannibalen,  vorzukommen  pflegen.  Die  grausamsten  Fol- 
terungen, brutale  Vergewaltigungen,  Meineid,  Mord  und  So- 
domie  als   Folgeerscheinungen   des   Aberglaubens   sind   nicht 


—    54     — 

die  Au:  nahmen,  sondern  die  Regel.  In  keinem  Lande  der  Erde 
sind  die  Gebiete  des  Aberglaubens  und  der  öffentlichen  Sitt- 
lichkeit in  so  unauflösbarem  Zusammenhange  wie  in  Rußland. 

Nicht  nur  die  älteren  Gesetzgeber,  auch  die  der  neuesten 
Zeit  haben  diesen  Umständen  besonders  Rechnung  tragen 
müssen.  Ich  erwähne  hier  zunächst  die  bedeutsamsten  Para- 
graphen aus  dem  Strafgesetzbuche  vom  Jahre  1845  ^^^  ^^^ 
Artikel  der  Allgemeinen  Gesetzessammlung  vom  Jahre   1890. 

In  dem  Strafgesetzbuche  vom  Jahre  1845  besagen  die 
Paragraphen  1 1 59  bis  1 164 :  Wer  aus  Eigennutz,  falscher  Ruhm- 
sucht oder  irgend  eines  Vorteils  willen  Gerüchte  von  vor- 
geblichen Wundern  verbreitet  oder  eine  durch  ihn  selbst  ver- 
anstaltete Erscheinung  leichtgläubigen  Leuten  als  ein  Wunder 
darstellt,  wird  für  diesen  aych  in  religiöser  Beziehung  straf- 
baren Betrug  nach  Maßgabe  seiner  Schuld  und  des  dadurch 
gestifteten  Ärgernisses  auf  sechs  Monate  bis  zu  einem  Jahre 
Besserungshaus  verurteilt.  Im  Wiederholungsfalle  erfolgt  Ver- 
lust der  Rechte,  eine  Strafe  bis  zu  zwei  Jahren  und  Kirchenbuße. 
Dieselben  Strafen  treffen  denjenigen,  der  um  irgend  eines 
unrechtlichen  Vorteils  willen  die  Leichtgläubigkeit  anderer  be- 
nützt und  sich  für  einen  Wahrsager  oder  Zauberer  ausgibt 
und  bei  Ausübung  dieser  betrügerischen  Kunst  Gegenstände 
mißbraucht,  die  dem  christlichen  Kultus  geweiht  sind.  Wer 
ohne  einen  dem  christlichen  Kultus  geweihten  Gegenstand 
herabzuwürdigen  sich  für  einen  Wahrsager  oder  Zauberer  aus- 
gibt und  angebliche  Gesichte  sehen  läßt,  angebliche  Zauber- 
tränke, Zaubermittel,  sogenannte  Talismane  und  andere  be- 
zauberte Dinge  zubereitet,  austeilt  und  verkauft,  erhält  beim 
ersten  Male  sieben  Tage  bis  drei  Monate  Arrest,  beim  zweiten 
Male  6  Monate  bis  zu  einem  Jahre  Besserungshaus.  Wer  auf 
solche  Weise  Gegenstände  austeilt,  die  der  menschlichen  Ge- 
sundheit schädlich  sind,  geht  auf  ein  bis  zwei  Jahre  seiner 
Rechte  verloren.  Stirbt  ein  Mensch  durch  den  Gebrauch  solcher 
Gegenstände,  so  erhält  der  Schuldige,  falls  er  Christ  ist,  eine 
Kirchenbuße  auferlegt.  Diesen  Strafen  sind  die  bei  einigen 
heidnischen  Völkerschaften  vorkommenden  Zauberer  und 
Geisterbeschwörer  nicht  unterworfen,  wenn  sie  ihre  Künste 
den   Gebräuchen   dieser  Völkerschaften  gemäß  und  bloß  für 


—    55    — 

ihre  Glaubensgenossen  üben.  —  Die  angeblich  besessenen 
Weiber,  die  gegen  andere  Leute  aussagen,  als  hätten  diese 
ihnen  durch  Zauberkünste  geschadet,  werden  für  solchen  bos- 
haften Betrug  auf  sechs  Monate  bis  zu  einem  Jahre  ins  Bes- 
serungshaus eingesperrt.  Wer  sich  für  eine  mit  übernatür- 
lichen Kräften  oder  besonderer  Heiligkeit  begabte  Person  aus- 
gibt und  das  so  gewonnene  Zutrauen  der  Menge  anwendet, 
um  im  Volke  Unruhen  oder  Verwirrung  zu  erregen,  es  zur 
Widersetzlichkeit  gegen  die  Regierung  anzureizen,  verfällt  in 
die  Strafe  der  Verbannung  und  der  Ansiedelung  in  Sibirien 
und  erhält  zwanzig  bis  dreißig  Peitschenhiebe. 

Im  vierzehnten  Bande  der  Allgemeinen  Gesetzessammlung 
vom  Jahre  1890  handeln  die  Artikel  28  bis  35  vom  Aberglauben. 
Hier  wird  verboten:  Der  Gebrauch  sich  zur  Weihnachtszeit 
in  Götzenkleider  zu  stecken,  auf  den  Straßen  zu  tanzen  und 
verführerische  Lieder  zu  singen;  in  der  Osterwoche  solche 
Leute  zu  baden  oder  mit  Wasser  zu  bespritzen,  die  nicht 
bei  der  Frühmesse  gewesen  sind.  Andere  Artikel  befassen 
sich  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Gesetze  vom  Jahre  1845  ^^ 
lügnerischen  Weissagungen  und  Afterprophezeiungen  und  mit 
den  Personen,  die  sich  für  Zauberer  und  Hexen  ausgeben. 
Am  5.  Oktober  1772  fürchtete  die  Regierung  anläßlich  der 
Pestepidemie  eine  stärkere  Verbreitung  des  alten  Gebrauches, 
in  Zeiten  der  Seuchen  die  Gräber  jener  zu  öffnen,  die  man 
für  Krankheitsgeister  und  Vampyre  hält.^)     Damals  entstand 


1)  Dieser  Aberglaube  erhält  sich  hartnäckig.  1871  kam  zum  Geistlichen 
des  Fleckens  Boguschewitschi  im  Gouvernement  Minsk  eine  Witwe  und  bat, 
man  möge  das  Grab  ihres  verstorbenen  Mannes  öffnen,  der  Leiche  den  Kopf 
abschlagen  und  zu  Füßen  des  Toten  legen,  damit  er  nicht  mehr  aufstehe;  er 
komme  noch  allnächtlich  in ''seine  Hütte  zurück,  klagte  die  Witwe.  Wird 
eine  Witwe  schwanger,  so  redet  sie  sich  leicht  auf  den  toten  Mann  als  Vampyr 
ausl  —  Mangel  an.  Regen  schreibt  man  dem  Einflüsse  plötzlich,  also  unbuß- 
fertig Verstorbener  zu;  sie  sind  Vampyre,  melken  die  Wolken  und  stehlen 
den  Tau.  Man  muß  ihre  Leichen  in  Schluchten,  Seen  oder  Flüsse  werfen. 
Das  Wasser  vertreibt  den  Zauber.  Als  im  Jahre  1889  große  Dürre  herrschte, 
grub  man  im  Dorfe  Ssinokriwez  im  Kreise  Cherson  die  Leiche  eines  Greises 
aus,  der  im  Leben  als  Vampyr  gegolten  hatte,  viele  wollten  sogar  einen  Schwanz 
auf  seinem  Rücken  gesehen  haben.  Man  begoß  also  die  Leiche  und  glaubte 
die  Bosheiten  des  Vampyrs  nicht  mehr  fürchten  zu  müssen.    Aus  dem  gleichen 


—    56    — 

ein  Gesetz,  das  für  solche  Verbrechen  als  Strafe  Zwangsarbeit 
und  Verschickung  zur  Ansiedelung  in  Sibirien  vorschrieb;  die 
neuere  Gesetzgebung  setzte  für  solche  Fälle  die  Strafe  auf 
Gefängnis  und  Korrektionsanstalt  herab.  Weitere  mit  dem 
Aberglauben  zusammenhängende  Gesetzartikel  werde  ich  später 
an  verschiedenen  Stellen  erwähnen. 

Braucht  man  es  besonders  hervorzuheben,  daß  alle  diese 
Gesetze  nur  illusorischen  Wert  haben  und  nicht  geeignet  sind, 
den  Aberglauben  zu  bekämpfen,  wenn  gleich  hier  gezeigt  werden 
wird,  daß  noch  heutzutage  die  Herren  Richter  selbst  in  Ruß- 
land dem  Aberglauben  huldigen?  Am  i6.  März  1896  hatte 
das  Bauerngericht  im  Dorfe  Ustj-Mulljänka  im  Permschen 
Kreise  des  Kama-  und  Wolgagebietes  über  die  Klage  eines 
Bauern  zu  entscheiden,  der  behauptete,  im  Dorfe  wäre  eine 
Hexe,  die  seinen  Stier  bezaubert  hätte.  Er  verlangte,  daß 
man,  um  die  Hexe  herauszufinden,  alle  Weiber  des  Dorfes 
durch  ein  Kummet  kriechen  lassen  sollte;  diejenige,  welche 
nicht  hindurch  käme,  sei  die  Hexe.  Und  das  löbliche  Dorf- 
gericht entschied  wirldich  im  Sinne  des  Klägers.  Im  Dorfe 
Peressadowka,  Gouvernement  Cherson,  schrieben  die  Bauern 
die  Regenlosigkeit  der  Zauberei  der  alten  Weiber  zu.  Die 
Gemeindeverwaltung  berief  drei  verdächtige  Weiber  ins  Ge- 
richtshaus und  befahl  ihnen,  dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  es 
am  17.  Juli  regnen  solle.  ^)  Dann  wurde  mit  den  Frauen  die 
Probe  angestellt,  man  badete  sie  im  Flusse,  wodurch  nach 
altem,  auch  in  anderen  Ländern  in  früheren  Zeiten  angewen- 
deten Gebrauche  herausgefunden  werden  kann,  wer  eine  Hexe 
sei;  eine  solche  geht  nämlich  dank  ihrer  Verbindung  mit  dem 


Grunde  grub  man  im  Jahre  1868  im  Dorf  Tichij  Chutovj  im  Kreise  Taracb- 
tschan  des  Kijewschen  Gouvernements  die  Leiche  eines  Altgläubigen  aus,  der 
als  Vampyr  gegolten.  Man  schlug  der  Leiche  auf  den  Kopf  und  rief  dabei: 
Gib  uns  Regen.  Dann  begoß  man  den  Toten  durch  ein  Sieb  und  beerdigte 
ihn  wieder.  Vgl.  Aberglaube  und  Strafrecht  von  August  Löwenstimm»  Ge- 
hilfe des  Juriskonsults  im  Justizministerium  zu  St.  Petersburg.  Übersetzung 
aus  dem  Russischen,  mit  Vorwort  von  Dr.  J.  Kohler.  Berlin  1897.  S.  loi — 103. 
1)  Geschehen  im  Jahre  1883.  —  XaphKORCicin  nliAoifocni  M  185.  — 
CyMnoBi»,  KieBcicafl  crapirna  1889,  crp.  82.  —  Vgl.  Lowcnstimm  a.  a.  O.  41 
und  83. 


—     57     — 

Teufel  im  Wasser  nicht  unter. i)  Die  Wasserprobe  nützte  nichts 
und  am  17.  Juli  gab  es  auch  keinen  Regen.  Man  zitierte 
abermals  die  drei  Weiber,  diese  aber  erklärten  jetzt  in  ihrem 
Zorn,  es  werde  auch  in  Zukunft  nicht  regnen.  Tief  erschrocken 
zogen  die  Gemeindemitglieder  andere  Saiten  auf  und  verlegten 
sich  aufs  Bitten ;  und  die  Frauen  ließen  sich  erweichen,  führten 
die  Gemeindeältesten  und  die  Dorfpolizei  in  die  Hütte  der 
einen  von  den  Dreien  und  zeigten  ihnen  dort  in  der  Ofen- 
röhre zwei  Feilen  und  ein  verkittetes  Schloß  als  die  geheim- 
nisvolle Zauberkraft.  Der  Bericht  erzählt  nicht,  ob  die  drei 
Hexen  zum  Danke  für  die  aufgelöste  Verzauberung  zu  Ehren- 
bürgerinnen des  Dorfes  Peressadowka  ernannt  wurden.  —  Das 
Gemeindegericht  von  Schetin  ini  Poschechonschen  Kreise  des 
Gouvernements  Jaroslaw  verurteilte  am  3.  Oktober  1884  den 
Bauer  David  Charitonow  wegen  zauberischer  Zufügung  eines 
Bruchschadens  zu  zwanzig  Rutenschlägen. 2)  —  Im  Dezember 
1887  verurteilte  die  Gemeindeverwaltung  von  Alexandrowo  im 
Kreise  Choper  einen  Bauer  zur  Ansiedelung  in  Sibirien  3),  „weil 
er  den  Satan  in  die  Leute  treibt ;  sobald  er  jemandem  ein  Glas 
Wasser  reicht,  beginnt  dieser  zu  schimpfen,  seine  Kleider  zu 
zerreißen,  und  der  Teufel  gibt  ihm  keine  Ruhe.** 

Wenn  die  Richter  an  Hexen  und  Zauberer  glauben,  können 
sie  natürlich  auch  selbst  behext  und  bezaubert  werden:  Die 
Dorfrichter  im  Kreise  Tscherkaßk  des  Dongebietes  verurteilten 
im  Mai  1880  eine  Saldatenwitwe  wegen  Kuppelei  zur  Aus- 
peitschung. Als  der  Übeltäterin  auch  mit  der  Verbannung 
nach  Sibirien  gedroht  wurde,  verfiel  die  erschrockene  Frau 
auf  den  Gedanken  sich  durch  Hexerei  die  Neigung  der  Richter 


1)  Löwenstimm  a.  a.  O.  81 — 82  erwähnt  diese  Wasserprobe  mehrmals. 
Die  Wasserprobe  dient  nicht  bloß  zur  Erkennung  der  Hexe,  sondern  auch 
zur  Behebung  der  Dürre.  Im  Kaukasus  wurden  im  Jahre  1870  dreizehn  alte 
Weiber  aus  dem  Dorfe  Nowo  Alexandrowska  der  herrschenden  Dürre  wegen 
ins  Wasser-  geworfen.  Es  ereignete  sich  ein  solcher  Fall  auch  im  Slawjäno- 
serbschen  Kreise. 

2)  Mitgeteilt  von  den  HpocaaBCK.  r\C>.  irlvioM.  1889,  M  67.  —  Ccio 
Ko3F»MO-;toMfiHCK'M»,    coMiiHcnio  C.  V.  Jl,(»pyiioHa.   —   Vgl.  Löwenstimm  a.  a.  O. 

S.  75. 

»)  Mitgeteilt  vom  ir(»pH,ioK7,  1881,  ,M  26.  —  Vgl.  Löwenstimm  a.  a.  O. 
S.  74. 


—    58     — 

zu  gewinnen.!)  Sie  versuchte  also  folgenden  Liebeszauber: 
sie  wusch  sich  mit  Wasser,  schüttete  dann  das  Waschwasser 
in  ein  Fäßchen  und  trug  dieses  in  die  Gerichtsstube  des  Ge- 
meindehauses. Die  Richter  tranken  das  verhexte  Wasser  aus, 
erfuhren  aber  am  nächsten  Tage  den  Streich,  der  ihnen  ge- 
spielt worden.  Die  Hexe  hatte  offenbar  den  Zauber  unvoll- 
kommen ausgeübt,  denn  die  Richter  waren  nicht  in  Liebe 
zur  Kupplerin  entbrannt,  sondern  vollzogen  an  ihr  eine  neuer- 
liche Auspeitschung.  An  dieser  Bestrafung  nahmen  außer  den 
Richtern  auch  die  angesehensten  Bauern,  im  ganzen  26  Mann, 
als  Henker  teil.  Das  Kreisgericht  von  Nowotscherkaßk  unter- 
suchte den  Fall  und  stellte  die  Gemeinderichter  und  Bauern 
von  Tscherkaßk  wegen  ungesetzlicher  Auspeitschung  einer  Frau 
vor  die  Geschworenen.  Die  letzteren  aber  sprachen  die  An- 
geklagten frei;  denn  obwohl  das  Gesetz  befiehlt,  daß  Frauen 
unter  keiner  Bedingung  zu  einer  Leibesstrafe  verurteilt  werden 
dürfen,  meinten  die  braven  Geschworenen  im  Falle  einer  Hexe 
von  den  Wohltaten  des  Gesetzes  absehen  zu  sollen. 

Auch  in  den  allerhöchsten  Kreisen  ist  der  Aberglaube 
eine  gewöhnliche  Erscheinung,  und  die  bedeutendsten  histo- 
rischen Ereignisse  der  russischen  Geschichte  sind  mit  ihm 
verknüpft.  Als  natürlich  kann  man  es  hinnehmen,  wenn  der 
russische  Hof  gleich  den  anderen  Höfen  früherer  Zeiten  bei 
der  Geburt  der  Fürstenkinder  die  Gestirne  zu  Rate  zog.  Aus 
der  russischen  Hofgeschichte  ist  ein  Fall  ganz  besonders 
bemerkenswert,  der  mit  der  Geburt  Peters  des  Großen  zu- 
sammenhängt. Am  Hofe  des  Vaters  Peters,  des  Zaren  Alexej 
Michajlowitsch,  lebte  der  Polozker  Gelehrte  Jaromonach  Si- 
meon,  der  seines  Zeichens  Astrolog  war,  in  hoher  Gunst.  Es 
wird  erzählt^),  daß  dieser  weise  Mann  sogar  die  Stunde,  da 
Peter  im  Leibe  seiner  Mutter  empfangen  wurde,  genau  er- 
kundete ;  daß  Simeon  schon  am  Morgen  nach  diesem  freudigen 
nächtlichen  Ereignisse  dem  Zaren  die  Nachricht  davon  brachte 
und  gleichzeitig  damals  aus  der  Erscheinung  eines  hellen  Sterns 


1)  Mitteilung  des  JioiicKott  raiurr,,  M  78  vom  Jahre  1880.  —  Wiederholt 
in  PyccKiH  bI^aomoctii  1881,  M  171.   —  Vgl.   Löwenstimm  a.   a.  O.    77 — 78. 
*)  Halem,  Leben  Peters  des  Großen.     I  277. 


—    59    — 

neben  dem  Planeten  Mars  vorhersagte,  das  in  letzter  Nacht 
entstandene  Kind  werde  ein  großer  Held  und  Eroberer  werden 
und  nach  seinem  Vater  zur  Regierung  gelangen.  Nach  einer 
andern  Version  bezog  sich  die  Prophezeiung  nicht  auf  die 
Empfängnis  Peters,  sondern  sie  wurde  erst  bei  der  Geburt 
des  Prinzen  ausgesprochen.  Jedenfalls  war  die  fragliche  Pro- 
phezeiung bei  der  Geburt  Peters  allgemein  bekannt,  und  der 
niederländische  Gesandte  Niklas  Heinsius  hielt  es  für  wichtig 
genug,  die  Ansichten  des  Sterndeuters  nach  Utrecht  an  Grä- 
vius  mitzuteilen,  worauf  letzterer  folgendermaßen  in  einem, 
seither  in  der  Petersburger  Akademie  der  Wissenschaften  auf- 
bewahrten Schreiben  antwortete:  „Ich  pflege,  wie  Sie  auch 
zu  thun  scheinen,  derartigen  Sachen  wenig  Glauben  beizu- 
messen. Möchte  nur  Peter  zu  seiner  Zeit  ein  guter  Hirte  der 
Völker  sein,  damit  er  dereinst  die  scythische  Barbarei,  welche 
besonders  die  nordischen,  in  Pelze  gehüllten  Völker  bedeckt, 
durch  heilsame  Gesetze  überwinde.** 

Gefährlicher  war  der  Aberglaube,  wenn  er  dazu  benützt 
wurde,  gleichzeitig  viehischen  Gelüsten  und  staatsumwälzen- 
den Plänen  zu  dienen.  Um  Peters  Reformen  zu  hindern  und 
in  einem  die  jungfräuliche  Prinzessin  Maria  zu  Falle  zu  brin- 
gen, erdichtete  der  hochwürdigste  Bischof  von  Rostow  eine 
Offenbarung  des  heiligen  Dmitry.^)  Dieser  Heilige  mußte  also 
dem  Bischof  von  Rostow  erscheinen  und  ihm  auf  Befehl  Gottes 
versichern:  daß  Peter  der  Antichrist  und  Kirchenfeind  nicht 
mehr  als  drei  Monate  zu  leben  hätte;  daß  Eudoxia,  Peters 
erste,  im  Kloster  zu  Ssusdal  eingesperrte  Gemahlin,  und  Maria, 
Peters  Schwester,  nach  Peters  Tode  auf  den  Thron  kommen 
und  zugleich  mit  Alexej,  dem  Sohne  der  Eudoxia,  regieren 
würden.  Eudoxia  und  Maria  glaubten  dieser  Offenbarung,  und 
die  zur  Klosterhaft  verurteilte  Zarin  warf  die  Nonnentracht 
ab,  ließ  sich  wieder  als  Majestät  titulieren  und  behandeln, 
in  dem  Kloster  zu  Ssusdal  in  dem  Gebete  für  das  Herrscher- 
haus  den  Namen  Katharinas  streichen  und  durch  ihren  eigenen 


1)  Nachrichten  von  dem  Zarewitsch  Alexej  Petrowitsch  (nach  Voltaire, 
mit  Anmerkungen  von  Büsching).  Büschings  Magazin  für  die  neue  Historie 
und  Geographie  III  228 — 230. 


—    60    - 

ersetzen.  In  freudiger  Hoffnung  erwarteten  Eudoxia  und  ihre 
Tochter  das  Ende  der  drei  Monate.  Als  aber  diese  ergebnis- 
los verstrichen  waren,  berief  Eudoxia  den  Bischof  von  Rostow 
und  sagte  ihm  vorwurfsvoll:  „Die  Zeit  ist  um,  und  der  Zar 
lebt!**  Da  entgegnete  der  Bischof:  „Die  Sünden  meines  Vaters 
sind  schuld  daran;  er  ist  im  Fegefeuer  und  hat  mir  Nachricht 
davon  gegeben.**  Worauf  Eudoxia  rasch  tausend  Seelenmessen 
für  den  in  der  Hölle  Bratenden  lesen  ließ.  Nach  einem  Monat 
erklärte  der  Bischof,  daß  die  Messen  Wunder  gewirkt:  ,JDie 
neuesten  Nachrichten,  die  mir  aus  der  Hölle  zugekommen 
sind,  besagen,  daß  der  Kopf  meines  Vaters  schon  aus  dem 
Fegefeuer  sei.**  Wieder  einen  Monat  später  war  der  Bischofs- 
vater nur  noch  bis  zum  Gürtel  im  Fegefeuer ;  und  dann  endlich 
stak  der  Alte  nur  noch  mit  den  Füßen  darin.  „Sind  aber 
die  Füße  erst  befreit,  und  dies  ist  das  Allerschwerste,  dann 
wird  Zar  Peter  sofort  sterben!**  Um  das  Allerschwerste  zu 
erreichen,  mußte  aber  ein  ganz  besonderes  Opfer  gebracht 
werden,  und  weder  Mutter  noch  Tochter  zögerten,  auch  dieses 
Allerletzte  für  den  Erfolg  zu  tun :  Prinzessin  Maria  opferte 
also  ihre  Jungfräulichkeit  dem  Bischof  unter  der  Bedingung, 
daß  der  Vater  des  Propheten  unverzüglich  aus  dem  Fegefeuer 
entlassen  und  der  Erfüllung  der  Prophezeiung  von  Peters  Tode 
kein  Hindernis  mehr  bereitet  würde.  Und  das  Vertrauen 
der  beiden  Frauen  in  die  Weissagungen  des  listigen  und 
wollüstigen  Bischofs  wurde  erst  erschüttert,  als  Zar  Peter  trotz- 
dem nicht  nur  am  Leben  blieb,  sondern  im  Zorn  über  die 
Verschwörung  seiner  Familie  aus  erster  Ehe  seinen  Sohn  Alexej 
umbrachte  und  Eudoxia  und  Maria  derartig  einsperren  ließ, 
daß  sie  nie  mehr  dem  Kerker  entschlüpfen  konnten. 

Die  Regentin  Anna  von  Braunschweig,  die  nach  dem  Tode 
der  Zarin  Anna  Iwanowna  den  Thron  der  Romanows  für  das 
Wickelkind  Iwan  behütete,  ahnte,  daß  die  Großfürstin  Elisabeth 
Petrowna  ihr  die  Herrschaft  entreißen  würde,  und  zwar  aus  fol- 
gendem Umstände^):  ,,Als  Sie  zur  Zeit  ihrer  Regentschaft  bey 
der  Prinzeßin  Elisabeth  einen  Besuch  ablegte,  fiel  sie  vor  den 


1)  Gründlich  untersuchte  und  entdeckte  ITrsachen  der  Regierungsver- 
änderungen in  dem  Hause  Romanow.     Biischings  Magazin  IS.    31. 


—    61     — 

Füssen  derselben  durch  einen  Fehltritt  zur  Erde.  Das  machte 
einen  solchen  Eindruck  auf  ihr  Gemüth,  daß  sie  zu  ihren 
Hofdamen  sagte,  ich  werde  mich  noch  vor  der  Prinzeßin  Elisa- 
beth demüthigen  müssen.** 

Kaiser  Nikolaj  der  Erste  hatte  sich  dem  Aberglauben, 
namentlich  Prophezeiungen,  ganz  ausgeliefert.  Zu  dem  Kriege 
mit  den  Westmächten  trieb  ihn  eine  Wahrsagung  von  dem 
unausbleiblichen  Ende  der  Türkei.  Von  dieser  Prophezeiung 
war  schon  im  Jahre  1848  in  einem  Buche,  auf  Grund  einer 
angeblichen  alten  Sage  die  Rede^):  „im  Jahre  1270  der  He- 
gira,  das  ist  1853  soll  die  entscheidende  Stunde  des  türkischen 
Reiches  eintreten.**  Und  daß  der  Untergang  der  Türkei  nicht 
anders  enden  konnte,  als  mit  der  Eroberung  durch  Rußland^ 
das    hatte   auch   eine    Prophezeiung   schon   längst   verkündet. 

Peter  der  Große  verurteilte  den  Aberglauben  2),  aber  er 
hatte  trotzdem  die  Gewohnheit,  seine  Träume  genau  zu  be- 
achten, sie  sorgfältig  zu  notieren,  und  aus  ihnen  Schlüsse 
zu  ziehen.  Der  russische  Historiker  Ssemewskij  hat  in  einem 
seiner  Bücher  über  die  Zeit  Peters  des  Großen  einen  besonderen 
Abschnitt  den  Träumen  Peters  einräumen  können  3),  und  dabei 
sind  hier  nur  die  Träume  aus  fünf  Jahren  aufgezählt.  In 
seinem  Tagebuch  verzeichnet  Peter  fast  täglich,  was  ihm  im 
Traume  erschien:  bald  berichtet  er  von  einem  Schiffe;  bald 
von  einer  Schlange,  die  mit  einem  Löwen  kämpft ;  oder  von  der 
Sonne,  welche  die  Wolken  durchbricht.  Diese  Träume  beun- 
ruhigen auch  die  fremden  Diplomaten.  Der  englische  Gesandte 
Whitworth  findet  sie  für  wichtig  genug,  um  sich  mit  ihnen 
in  seinen  Depeschen  speziell  zu  beschäftigen.  So  meldet  er 
am  25.  März  17 12  seiner  Regierung,  daß  Peter  in  einem  Traume 
einem  Tiger  eine  siegreiche  Schlacht  geliefert  und  daß  dies 
den  Zaren  in  seinen  kriegerischen  Plänen  bestärkt  habe.^) 


1)  Nicolaus  der  Erste  gegenüber  der  öffentlichen  Meinung  von  Europa. 
Weimar  1848.     S.  62. 

*)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand  153. 

')  M.  IT.  CeM(»BOKift,  OicpKn  11  paacKaaw  iiJi,  pywKoft  iicropiu  XVIII  b. 
Cjiobo  h  .T.tjio!  1700 — 172s.  C.-IIen^pöyprL  1884:  Ilerph  Be.inKift  in»  ero  chhxi» 
BT>  1714 — 1719  rr.  CTp.  271 — 276. 

*)  Auch  beim  Zaren  Paul  haben  die  Träume  eine  große  Rolle  gespielt ; 


—    62    — 

Eine  besondere  Bedeutung  im  Aberglauben  der  Russen, 
wie  der  i;iichtrussischen  Völker  in  Rußland,  muß  dem  Tier- 
orakel und  den  Orakeltieren  zugeschrieben  werden  i):  Wie 
bei  anderen  Völkern  steht  die  Schlange  2)  in  erster  Reihe  unter 
allen  Tieren,  welche  hier  in  Betracht  kommen.  In  Gestalt  einer 
Schlange  erscheinen  Geister,  besonders  Krankheitsdämonen. 
Bekommt  ein  Pferd  die  Darmseuche,  so  hat  es  den  Teufel 
verschluckt,  der  sich  als  Schlange  im  Gras  versteckte.  Der 
Hufschmied  besitzt  geheime  magische  Mittel  zur  Heilung  des 
vom  Dämon  geplagten  Tieres. 3)  Tauben  werden  vom  Volke 
nicht  gegessen;  sie  sind  heilig,  weil  sich  der  Heilige  Geist  in 
dieser  Gestalt  offenbarte.^)  Einer  gewissen  Heiligkeit,  min- 
destens einer  besonderen  Schonung  erfreuen  sich  in  vielen 
russischen  Häusern  jene  Insekten,  die  man  dort  Prussaki, 
Preußen  nennt,  während  sie  in  Preußen:  Russen,  anderwärts 
auch  Schwaben  heißen.  Diese  Tierchen  gelten  als  die  guten 
Geister  des  häuslichen  Herdes.  Werden  diese  Herdgeister  aber 
auch  dem  dickhäutigen  Russen  lästig,  so  tötet  er  sie  nicht, 
sondern  setzt  sie  dem  Frost  aus,  damit  die  Natur  sie  um- 
bringe. Aus  ähnlichen  Gründen  halten  die  Kalmücken  das 
Läusetöten  für  abscheulich,  und  sie  gehen  mit  diesen  Sechs- 
füßlern  äußerst  zart  um;  wollen  sie  sie  doch  los  werden,  so 
legen  sie  die  von  den  Tieren  bewohnten  Kleidungsstücke  in 
die  kalte  Luft. 


über  einen  Traum  Pauls  in  der  Nacht  seiner  Thronbesteigung  berichtet  Sanglen 
in  seinen  Memoiren  (in  der  Sammlung  russischer  Denkwürdigkeiten,  Stutt- 
gart) S.  31. 

1)  Über  Tieraberglauben  im  Orient  habe  ich  in  meinem  Werke  ,, Medizin. 
Aberglaube  und  Geschlechtsleben  in  der  Türkei"  ein  großes  Kapitel  abge- 
handelt; dort  sind  ausführliche  Parallelen  aus  anderen  Ländern  und  von 
anderen  Völkern  herangezogen,  so  daß  ich  hier  auf  tieferes  Eingehen  in  den 
Gegenstand  verzichten  kann. 

*)  BaÖ-kiuHT,,  .lOMaiOHutt  öutl  ua})ett,  crj).  702.  —  Über  die  Schlange 
bei  den  Südslawen  vgl.  Dr.  Friedrich  S.  Krauß,  Sreca.   Wien  1886,  S.  21 — 34. 

3)  Von  den  Esthen  und  Letten  erzählt  Hiäm,  Est-,  Lyf-  und  Lettlän- 
dische  Geschichte,  S.  37:  ,,Das  Werthhalten  der  Schlangen  bey  diesen  Völckem 
ist  noch  unverloschen,  welche  Schlangen  bey  ihnen  offt  so  zahm  sind,  daß 
auch  die  Kinder  mit  ihnen  aus  einem  Milch-Geschirre  speisen.  Man  sol  selten 
sehen,  daß  ein  Ehst  oder  Lette  eine  Schlange  töte." 

^)  Geheimnisse  von  Rußland  I  316. 


—    63    — 

Aus  dem  Vogelfluge,  namentlich  dem  Fluge  der 
Krähen,  schließen  die  Russen  auf  Ereignisse  der  Zukunft.  — 
Dem  bösen  Blick,  an  den  auch  in  zivilisierten  Ländern  ge- 
glaubt wird,  schreibt  man  natürlich  in  Rußland  alles  mögliche 
übel  zu:  Erkrankungen  einzelner  Menschen,  Epidemien,  Un- 
fälle. Teufelbeschwörungen  und  Gebete  sind  Mittel,  die  Folgen 
des  bösen  Blickes  zu  bekämpfen.  Wöchnerinnen  und  Neu- 
geborene haben  am  meisten  von  ihm  zu  befürchten.^)  Wenn 
die  Bauern  zu  bemerken  glauben,  daß  die  Farbe  ihrer  Tiere 
nicht  gleichmäßig  leuchtet,  so  ist  der  böse  Blick  daran  schuld, 
die  Tiere  sind  verhext  und  müssen  sofort  verkauft  werden, 
da  sie  sonst  der  ganzen  Herde  Unglück  bringen.  Den  Prophe- 
zeiungen der  Kartenaufschlägerinnen  legen  Männer  wie  Frauen 
aller  Gesellschaftsklassen  höchsten  Wert  bei.  Zar  Nikolaj  I. 
ließ  sich  in  kritischen  Situationen  immer  Karten  aufschlagen. 
Dem  Feuer  ist  im  Aberglauben  ein  hervorragender  Platz  ein- 
geräumt. Man  darf  kein  Licht  an  einem  Wachsstock  an- 
zünden, sondern  muß  zuerst  ein  Stück  Holz  am  Wachsstock 
und  dann  mit  dem  brennenden  Holze  das  Licht  anzünden. 2) 

Das  Jahr  und  seine  Tage  im  russischen  Aberglauben  würde 
eine  spezielle  Studie  verdienen.  Von  Neujahr  bis  Silvester 
ist  kein  Festtag,  an  dem  nicht  etwas  Besonderes  zu  befürchten 
oder  zu  erwarten  wäre  3):  Am  Weihnachtsabend  können  junge 
Mädchen  auf  folgende  Weise  erfahren,  ob  sie  bald  einen  Mann 
bekommen  werden.  Sie  machen  aus  Fruchtkörnern  einen  Kreis 
und  stellen  in  die  Mitte  desselben  einen  Hahn,  der  seit  vier- 
undzwanzig Stunden  gefastet  hat.  Der  Hahn  stürzt  auf  die 
Kömer  zu;  das  Mädchen,  das  sich  an  der  Stelle  befindet, 
zu  welcher  der  Hahn  zuerst  läuft,  die  heiratet  sicher  im  kom- 


1)  Dupr6  de  St.  Maure,  L'Hermite  en  Russie,  ou  observations  sur  les 
moears  et  usages  nisses  au  commencement  du  XI X«  sidcle.  Paris  1829  (3  Bde.) 
I  167. 

2)  Sammlung  merkw.  Anekdoten  das  Rußische  Reich  betr.  1793.  I  S.  105. 

*)  Ich  erwähne  nur  einige  wenige  charakteristische  Momente  und  ver- 
weise im  übrigen  auf  die  nachfolgenden  interessanten  Quellenwerke:  PyccKiü 
Hapo;^>.  Ero  oÖUMaii,  oöpfl^u,  npcAani«,  cyeBtpin  11  nqoai«.  Cü6p.  M.  3a6u[JiH- 
HLDTL.  MocKBa  1880.  (Gr.  8®.  607  Seiten.)  —  PyccKie  uapo^uuc  aaroBopti, 
nofflbpiH,  cyestpifl  n  npe;Q)a3cyAKu.     MocKBa  1901.     (Gr.  8®.     63  Seiten.) 


—     64     — 

menden  Jahre.  Man  kann  aber  noch  mehr  erfahren.  Man 
gibt  dem  Hahn,  nachdem  er  gefressen  hat,  zu  trinken;  ver- 
rät er  auffallend  großen  Durst,  so  wird  der  Mann,  der  dem 
Mädchen  bestimmt  ist,  ein  Trunkenbold  sein.  Die  Donkosaken 
zünden  am  Weihnachtsabend  mit  dem  trockenen  Dünger,  der 
dort  das  Heizmaterial  bildet,  auf  ihren  Höfen  ein  großes  Feuer 
an;  damit  verhüten  sie,  daß  die  Verstorbenen  im  Jenseits 
unter  der  Kälte  leiden. 

Dem  i6.  Januar  legen  die  Bauern  im  Gouvernement 
Kostroma  eine  besondere  Bedeutimg  für  das  Winterfutter  bei.^) 
Der  19.  Januar,  der  Tag  des  heiligen  Makarij,  entscheidet  über 
das  zukünftige  Wetter;  ist  dieser  Tag  klar  und  sonnig,  so 
gibt  es  einen  frühen  Lenz.  Die  Bauern  im  Gouvernement 
Ssaratow  sagen:  wenn  am  20.  Januar  von  früh  bis  abends 
Schneegestöber  herrscht,  so  wird  die  Butterwoche  verschneit 
sein;  wenn  am  20.  Januar  bloß  der  halbe  Tag  verschneit 
ist,  der  andere  halbe  Tag  jedoch  klaren  Himmel  zeigt,  so 
wird  der  Lenz  früh  ins  Land  kommen. 2)  Am  24.  Januar  be- 
trachten die  Bauern  sorgfältig  die  Spitzen  des  Getreides.  Sind  * 
diese  gerade  aufstrebend,  so  ist  man  überzeugt,  daß  die  Ernte 
mager  und  das  Brot  teuer  sein  werde;  neigen  sich  die  Spitzen, 
so  gibt  es  eine  fette  Ernte.  Auch  sagt  man  vom  24.  Januar: 
„Wie  dieser  Tag  des  Akßinj  ist,  so  wird  das  Frühjahr  sein."  3) 
Wichtige  Tage  sind  ferner:  Der  9.  Februar,  der  10.  Februar 
und  namentlich  der  11.  Februar,  der  Tag  des  heiligen  Wlaßj.*) 
Am  1 1 .  FebTuar  soll  die  Winterkälte  gebrochen  werden.  In 
Tambow  fürchten  sich  die  Bauern  an  diesem  Tage  zu  arbeiten, 
da  sie  der  heilige  Wlaßj  für  die  Verletzung  seines  Namens- 
tages mit  einer  Viehseuche  bestrafen  würde.  In  Zeiten  der 
Viehseuche  ruft  man  den  heiligen  Wlaßj  mit  diesen  Worten 
an :  „Heiliger  Wlaßj,  gib  Glück  zu  fetten  Ochsen,  dicken  Bullen, 
daß   sie   zum  Tore   hinaus  gehen   und  spielen   und  auf  dem 


1)    CapllTUBCKitt   JIH^^BHHK'I.    I9O4,     As    12. 

2)  Auch  bei  Italienern  und  Deutschen  wird  dem  20.  Januar  eine  ähn- 
liche Bedeutung  für  das  Frühjahrswetter  beigelegt,  besonders  im  Neapolita- 
nischen (St.  Sebastian^tag). 

3)  CapaToBCKift  ;;hcbihik"i.   1904,   As  19. 
*)  Blasius. 


Russischer    Sbitenver- 
Latemenputzer.     käufcr. 


Milchweib. 


—     65     — 

Felde  springen.**  Der  Glaube  an  den  heiligen  Wlaßj  ist  am 
stärksten  im  schwarzerdigen  Rußland.  Hier  findet  man  sein 
Bild  in  allen  Hütten  und  Buden.  Wenn  man  am  ersten  Tag 
das  Vieh  auf  die  Weide  treibt,  sowie  in  Zeiten  von  Epidemien 
versäumt  man  nicht  die  Herden  mit  einem  Bilde  des  Heiligen 
zu  segnen,  um  sie  vor  allen .  Gefahren  zu  schützen.  „Der 
Wlaßjtag  ist  der  Kühe  Feiertag,**  sagt  ein  Sprichwort;  und 
ein  anderes  lautet:  „Wlaßj  betrügt  nicht,  er  behütet  vor  jeder 
Gefahr.**  Der  heilige  Wlaßj  ist  an  die  Stelle  des  alten  sla- 
wischen Heidengottes  Weloß  getreten,  und  daher  haben  alle 
mit  diesem  Heiligen  zusammenhängenden  Gebräuche  einen 
stark  heidnischen  Einschlag. 

An  einem  Fastentage  soll  man  keinen  Kohl  pflanzen,  sagen 
die  Donkosaken ;  bei  ihnen  darf  man  auch  am  Gründonnerstag 
kein  Gemüse  pflanzen,  da  sonst  schädliche  Insekten  die  Pflan- 
zen vernichten.  In  der  Butterwoche,  während  des  russischen 
Faschings,  spinnen  die  Kosakenfrauen  keine  Wolle;  sonst  er- 
krankt das  Vieh  und  Käse  und  Butter  werden  voller  Würmer. 

Von  den  Tagen  der  Woche  sind  wenigstens  drei  von 
großen  Gefahren  umlauert:  der  Montag,  der  Donnerstag  und 
der  Freitag.  Am  Montag  unternimmt  man  nichts  Entschei- 
dendes, tritt  man  namentlich  keine  Reise  an.  Die  Donkosaken 
heiligen  den  Montag  in  ihrer  Weise,  da  sie  an  diesem  Tage 
niemals  die  Wäsche  wechseln ;  sie  behaupten,  daß  sich  Wunden 
auf  dem  Leibe  bilden  müßten,  wenn  sie  ihren  Aberglauben 
verletzten.  Am  Donnerstag  salzt  man  kein  Fett,  es  würde 
durch  Würmer  verdorben  werden.  Am  Freitag  darf  man  be- 
stimmte Arbeiten  nicht  verrichten,  namentlich  ist  den  Frauen 
das  Spinnen  verboten.  Gauner  machten  sich  diesen  Aber- 
glauben einmal  zunutze  i):  In  einem  Dorfe  des  Kreises  Ssoßniz 
im  Kijewschen  Gouvernement  kümmerten  sich  mehrere  Frauen 
nicht  um  das  Spinnverbot  am  Freitag.  Da  erschien  in  der 
Abendstunde  in  Häusern,  wo  Frauen  allein  fleißig  an  der 
Arbeit  sich  befanden,  in  phantastischem  Gewände  ein  Schauer- 
wesen, klagte,  daß  es  der  Freitag  sei,  daß  man  ihm  keine  Ruhe 


1)  Erzahlt  vom  lOaceiä  Kpafl,  19.  okt.  1883.  —  Vgl.  LöwensHmin  a.  a.  O. 
S.  161. 

Stern,  Geschichte  der  öffentl  Sittlichkeit  in  Rußland.  r 


—     60     — 

an  seinem  Tage  gönne,  zeigte  Blut  auf  seiner  Brust  aus  den 
Wunden  seiner  Schmerzen;  und  während  den  armen  Frauen 
vor  Schrecken  alle  Sinne  schwanden,  plünderte  ein  Spießgeselle 
des   heiligen   Freitag   die   Zimmer   und   Vorratskammern. 

Große  Angst  empfindet  man  vor  Mißgeburten.  Sie  werden 
als  Anzeichen  schweren  Unheils  betrachtet.  Unter  den  Wun- 
dem, die  die  russischen  Chronisten  den  Kriegen,  Epidemien 
und  Thronumwälzungen  vorausgehen  lassen,  werden  immer 
Mißgeburten  erwähnt. i)    Als  unheilbringende  Geschöpfe  gelten 


1)  Karamsin,  deutsche  Übersetzung  II  57  (französ.  Übersetzung  II  87): 
Die  Chronik  vom  Jahre  1064  erzahlt,  daß  der  Himmel  die  Drangsale  damals 
durch  schreckliche  Wunderdinge  vorhergesagt  habe.  Der  Fluß  Wolchow  floß 
fünf  Tage  lang  aufwärts;  ein  blutiger  Stern  (nach  Nestor  im  Jahre  1064;  wahr- 
scheinlich war  es  der  Komet  vom  Jahre  1066,  dessen  die  Com6tographie  S.  373 
erwähnt)  glühte  eine  ganze  Woche  hindurch  im  Westen;  die  Sonne  verlor 
ihren  Schein  und  ging  ohne  Strahlen  wie  der  Mond  auf;  die  Kijewschen  Fischer 
fingen  in  ihren  Netzen  eine  tote,  in  den  Dnjepr  geworfene  wunderbare  Miß- 
geburt. —  Der  Chronist  Nestor  fügte  der  Aufzählung  dieser  Wunder  eine  die 
damaligen  Zustände  illustrierende  Straf  rede  hinzu:  ,,Der  Himmel  ist  gerecht 
und  straft  die  Russen  wegen  ihrer  Gottlosigkeit.  Wir  nennen  uns  Christen, 
aber  leben  wie  Heiden.  Die  Tempel  sind  leer,  aber  auf  den  Erlustigungsplätzen 
drängt  sich  das  Volk.  In  den  Tempeln  ist  es  still,  aber  in  den  Häusern,  da 
fehlt  es  nicht  an  Trompetern,  Gusli  und  Possenreißern."  —  Auch  im  Jahre 
1605  galten  Epidemie,  Hungersnot  und  Verwirrung  als  himmlische  Strafen  für 
die  Ehrlosigkeit  der  Russen,  für  ihre  Unsittlichkeit,  für  die  Verkommenheit 
des  Adels  und  die  Liederlichkeit  der  Geistlichkeit.  Gottes  Zorn  zeigte  sich 
in  Wundem:  Nicht  selten,  erzählen  die  Chronisten,  sah  man  zwei  und  drei 
Monde,  zwei  und  drei  Sonnen  zugleich  aufgehen.  Feuersäulen  brannten  Nachts 
am  Firmament,  in  blitzendem  Scheine  eine  Kriegsschlacht  vorstellend  und 
blutigen  Schein  über  die  Erde  werfend.  Von  Stürmen  und  Wirbelwinden 
stürzten  die  Türme  der  Städte  und  Kirchen  ein.  Die  Fische  in  den  Flüssen 
und  das  Wildpret  in  den  Wäldern  verschwanden.  Die  Speisen,  die  man  genoß, 
verloren  allen  Geschmack.  Heißhungrige  Hunde  und  Wölfe  liefen  herden- 
weise herum,  fraßen  Menschen  oder  einander.  Nie  gesehene  Tiere  und  Vögel 
erschienen.  Adler  schwebten  über  Moskau.  In  den  Straßen,  bei  dem  Zaren- 
palaste  selbst  fing  man  schwarze  Füchse  mit  den  Händen.  Ein  weiser  Greis, 
den  Zar  Boriß  vor  Kurzem  aus  Deutschland  berufen  hatte,  prophezeite  dem 
Reiche  große  Gefahr.  Die  Anfj^t  stieg,  als  im  Sommer  1604  am  hellen  Mittag 
ein  Komet  am  Himmel  erschien.  (Nach  Bär  zeigte  sich  dieser  Komet  1604 
am  zweiten  Sonntag  nach  Pfingsten  am  hellen  Tage.  Andere  sagen:  er  sei 
am  3.  Oktober  erschienen.  Vgl.  Wagners  Geschichte  des  russischen  Reiches, 
Buch  43,  S.  71;    und  Karamsin,  deutsche  Ausgabe  Band  X,  Anmerkung  91.) 


—    67     — 

dem  Volke  nicht  bloß  abscheulich  verunstaltete  krüppelhafte 
Wesen,  sondern  auch  Blinde,  Stumme,  selbst  Schwerhörige. 
Gegen  solche  Menschen  verbindet  sich  der  Aberglaube  häufig 
mit  barbarischer  Grausamkeit  zu  den  schwersten  Verbrechen, 
und  vergebens  droht  das  Strafgesetzbuch i)  an:  „Wer  in  dem 
Falle,  daß  von  irgend  einem  Weibe  ein  Säugling  von  monströsem 
Aussehen  oder  sogar  von  nicht  menschlicher  Gestalt  geboren 
wird,  diese  Mißgeburt,  statt  davon  bei  der  zuständigen  Obrig- 
keit die  Anzeige  zu  machen,  des  Lebens  beraubt,  wird  für  dieses 
aus  Unwissenheit  oder  Aberglauben  verübte  Attentat  auf  das 
Leben  eines  Wesens,  das  von  einem  Menschen  geboren  ist 
und  folglich  auch  eine  Seele  hat,  bestraft.**  Das  Volk  sieht 
die  Verunstaltung  eines  Säuglings  als  ein  Werk  des  Teufels 
und  als  eine  Strafe  Gottes  an.2)  Rostow  im  Gouvernement 
Jaroslaw  war  in  früheren  Zeiten  eine  Fabrikstadt  für  Miß- 
geburten. Was  die  Natur  nicht  liefern  wollte,  machten  die 
Menschen  selbst,  indem  sie  zahllosen  Kindern  Verstümmelun- 
gen beibrachten,  um  sie  zu  Scheusalen  zu  gestalten.  Solche 
Mißgestalten  Rostowscher  Arbeit  3)  wurden  nach  dem  ganzen 
Reiche  verschickt,  namentlich  nach  Moskau,  wo  sie  den  Hexen 
oder  Zauberern  als  Werkzeuge  dienten,  um  die  abergläubi- 
schen Leute  zu  narren.^)  Die  Leute,  die  das  Unglück  haben, 
durch  ihre  Mißgestalt  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  ziehen, 
sind  heute  nicht  minder  als  in  der  Vergangenheit  den 
schwersten  Gefahren  ausgesetzt,  wenn  sie  vom  Volke  zufällig 


Das  größte  Entsetzen  erregte  aber  wieder  ..eine  Menge  von  Mißgeburten,  die 
von  Weibern  und  Tieren"  zur  Welt  gebracht  wurden.  Vgl.  Karamsin,  deutsche 
Übersetzung  X  99 — 100  (franz.  Übers.  XI  156). 

1)  y.iu/Keiiio  ü  uaKa3aHiflXT>.  1469. 

2)  Auch  die  Jakuten  glauben,  daß  Mißgeburten  Werke  der  unreinen 
Kraft,  wirkliche  böse  Geister  oder  Teufel  sind,  und  man  meint  dies  sowohl 
von  Menschen  als  von  Tieren. 

3)  Wie  früher  Rostow  genießt  jetzt  das  Dorf  Kljutschitschi  im  Wassil- 
ssurschen  Kreise  Berühmtheit  als  Fabrikstadt  von  Zauberern  und  Wunder- 
leuten. Die  Zauberkunst  ist  hier  erbhch.  Man  findet  da  alles,  was  das  Herz 
begehrt:  Leute,  die  wahrsagen,  Krämpfe  heilen,  zaubern,  entzaubern,  be- 
sprechen, verderben  und  vergiften  können.  Vgl.  Kölnische  Zeitung  1900» 
Nr.  1016. 

*)  3a6i»i.iiiin>,  Pyccidit  Hapo;cB»  crp.  399.     >!•  14:  ^apu  mh  Kawitirb. 

5» 


—    68    — 

mit  irgend  einem  beängstigenden  Ereignisse  in  Verbindung 
gebracht  werden.  Im  Jahre  1878  herrschte  im  Kreise  Ustj 
Ssyssolj  des  Gouvernements  Wologda  eine  Viehseuche,  und 
im  Volke  entstand  das  Gerücht,  diese  Seuche  wäre  durch 
stumme  Menschen  mit  Hilfe  von  geheimnisvollen  Gewürzen 
erzeugt  worden. i)  Kam  da  unglückseligerweise  in  das  Dorf 
Taratschewskaja  ein  armer  Bettler,  ein  stummer  Greis,  mit 
einem  Säckchen  über  der  Schulter.  Die  Bauern  fielen  sofort 
über  ihn  her  und  erschlugen  ihn  mit  Stangen  unter  den  Rufen : 
„Der  Cholera  auch  einen  Choleratod!" 

Im  letzterzählten  Falle  sahen  wir,  wie  der  Aberglaube  zum 
brutalsten  Verbrechen  wird  und  vor  keinem  Morde  zurück- 
schreckt. Das  Furchtbarste  und  am  schwersten  Bedrückende 
aber  ist,  daß  diese  Verbrechen  nicht  vereinzelt  vorkommen, 
sondern  eine  gewöhnliche  Erscheinung  bilden,  und  es  ist  nicht 
übertrieben,  wenn  man  annimmt,  daß  keine  Woche  vergeht, 
da  nicht  in  irgend  einem  Teile  Rußlands  ein  solches  Ver- 
brechen aus  abergläubischen  Motiven  begangen  wird.  Man 
kann  daher  tatsächlich  von  einer  Fortdauer  der  Menschen- 
opferung in  Rußland  sprechen,  über  die  wir  aus  früheren 
Zeiten  zahlreiche  Berichte  überliefert  erhalten  haben  und  von 
der  auch  noch  lebendige  Traditionen  erzählen.  Während 
meines  Aufenthaltes  in  Nischny-Nowgorod  hörte  ich  dort  fol- 
gende Sage  2) :  „Als  der  Erbauer  des  Nischny-Nowgoroder 
Schwengelturmes  3)  den  Grund  zu  diesem  Bauwerke  legen 
wollte,  ließ  man  vor  allem  eine  Grube  für  das  Bauopfer  graben. 
Wer  aber  sollte  das  Opfer  sein?  Die  Arbeiter  beschlossen: 
das  erste  menschliche  Wesen,  das  sich  der  Grube  nähern 
würde.  Sie  warteten  und  lauerten.  Plötzlich  kam  ein  liebliches 
Mädchen  daher,  ein  blutjunges  Kind  mit  Wangen  wie  Kirschen 
und  einem  Schwanenhals,  und  blond  war  ihr  Haar  und  blau 
waren  ihre  Augen.    Auf  der  Schulter  aber  ruhte  am  Schwengel 


1)  BeccHHT>,  OfeBepiiitt  BlxrrHHKL  1892,  35  9.  —  VgL  Löwenstimm  a.  a.  O. 

s.  53. 

2)  Diese  Sage  wird  auch  kurz  erwähnt  in:  II.i.iiocTpHpoBaHHuii  cnyTHHin» 
no  Bcirfe,  CocraB.  C.  MoHacrupciciÄ,  KasaHb  1884,  crp.  41.  —  Bernhard  Stern, 
An  der  Wolga.     Berlin  1897.     S.  36 — 37. 

*)  KopoMURJioBan  öiuimfl. 


—    69    — 

der  Wassereimer.  Lustig  singend  wanderte  die  Kleine  zum 
Brunnen.  Da  sah  sie  die  aufgeschütteten  Erdhaufen,  sah  sie 
die  Balken  und  Steine  für  den  Turm,  sah  sie  die  Grube. 
Ei,  ei,  was  geschieht  da?  dachte  sie  in  ihrem  Sinn.  Und  die 
böse  weibliche  Neugier  trieb  sie  zu  schauen  —  aber  schon  er- 
griffen sie  feste  Hände,  schon  lag  sie  tief  unten.  Wohl  bat 
sie  und  flehte  um  Rettung  und  Gnade,  aber  ihre  glockenhelle 
Stimme  erstarb  bald  im  dumpfen  Getöse  der  wuchtigen  Erd- 
schollen, die  auf  sie  niederfielen.  Die  Arbeiter  nannten  den 
Turm  den  Schwengelturm  zur  Erinnerung  an  das  Opfer,  das 
den  Schwengel  trug.**  —  Bei  den  Esthen  gab  es  ebenfalls 
Menschenopferungen.  Bei  Thomas  Hiäm^)  lesen  wir  folgen- 
des :  „Von  der  Ehsten  alten  Religion  findet  man  weiter  nichts 
beschrieben,  als  daß  sie  mancherley  abscheuliche  Abgötterey 
geübet  und  getrieben  haben,  die  Sonne,  den  Mond,  Drachen, 
Schlangen  und  andere  unreine  Tiere,  ingleichen  Bäume  und 
Hainen  angebetet  und  heilig  gehalten  haben,  denen  sie,  wie 
Adamus  Bremensis  berichtet,  Menschen  geopfert  haben,  welche 
sie  von  den  Kauffleuten  oder  vielmehr  See-Räubern  dazu  ge- 
kaufft.  Solche  Menschen  haben  kein  Mangel  oder  Gebrechen 
an  dem  ganzen  Leibe  haben  müssen.  Der  Zauberey  und  den 
Wahrsagungen  sind  sie  sehr  zugethan  gewesen.**  —  Im  Po- 
schechonschen  Kreise  im  Gouvernement  Jaroslaw  hört  man 
noch  heute  die  Erzählung,  daß  dort  die  Müller  früherer  Zeiten, 
um  den  Wassergeist  bei  guter  Laune  zu  erhalten,  verspätete 
Fußwanderer  abfingen  und  im  Mühlenteich  ersäuften. 2)  Ich 
brauche  wohl  nicht  ausführlicher  davon  zu  reden,  daß  ähn- 
liche Gebräuche  auch  in  außerrussischen  Ländern  zu  finden 
waren,  und  erinnere  bloß  an  die  Einmauerung  eines  Säug- 
lings in  dem  Brückenfundament  im  bayerischen  Göllschtal  oder 
an  die  rührende  Sage  vom  Thüringer  Schlosse  Liebcnstein.^) 


1)  Ehst-,  Lyf-  und  Lettländische  Geschichte.     S.   27. 

2)  Löwenstimm  a.  a.  O.  S.  16. 

*)  Vgl.  Andree,  Ethnographische  Parallelen  S.  18 — 23.  —  Lippert, 
Christentum,  Volksglaube  und  Volksbrauch.  Berlin  1882,  457 — 460.  —  Lieb- 
recht, Zur  Volkskunde.  Heilbronn  1879,  284 — 296.  —  Lippert,  Allgemeine 
Geschichte  des  Priesterthums.  BerUn  1883,.  II  585,  589.  —  Lippert.  Die  ReU- 
gionen  der  europäischen  Kulturvölker,  der  Litauer,  Slaven.  Germanen,  Griechen 


—     70     — 

Für  Rußland  aber  hat  das  Thema  leider  noch  immer  nicht 
die  Aktualität  verloren,  und  Mord  zur  Gewinnung  eines  Talis- 
mans beschäftigt  fortdauernd  die  russischen  Gerichte.  Wie 
vieles  aber  kommt  gar  nicht  zur  Kenntnis  der  breiteren  Öffent- 
lichkeit in  diesem  ungeheueren,  von  Unordnung  und  Sitten- 
losigkeit  zerrissenen  Reiche !  —  Von  Verbrechen,  die  mit  Dieb- 
stahlsaberglauben und  dem  Aberglauben  in  Zeiten  von  Epide- 
mien zusammenhängen,  werde  ich  in  den  entsprechenden 
Kapiteln  noch  viele  zu  verzeichnen  haben.  Hier  will  ich  nur 
noch  der  verbrecherischen  oder  schamlosen  Mittel  Erwähnung 
tun,  die  gebraucht  werden,  um  wirkungsvolle  Talismane  herbei- 
zuschaffen i)  : 

Im  Dorfe  Fokin  im  Wassiljssurschen  Kreise  des  Gouver- 
nements Nischny-Nowgorod  wurde  ein  Bauer  ergriffen,  als 
er  einer  schlafenden  Frau  eine  Zehe  abschnitt.  Die  Unter- 
suchung brachte  zutage,  daß  dieser  Bauer  sich  durch  diese 
Zehe  Zauberkraft  verschaffen  wollte,  und  man  erfuhr,  daß 
im  ganzen  genannten  Gouvernement  unter  den  Bauern  der 
Glaube  verbreitet  ist:  derjenige,  der  ein  Zauberer  werden  will, 
erreicht  sein  Ziel,  wenn  es  ihm  gelingt,  von  dem  rechten  Fuße 
einer  verheirateten  Frau  eine  Zehe  abzutrennen,  dieser  Talis- 
man verleiht  die  gewünschte  Zauberkraft.  —  Im  Dorfe  Wys- 
sokopiz  im  Rajewschen  Kreise  des  Gouvernements  Warschau 


und  Römer,  in  ihrem  geschichtlichen  Ursprünge.  Berlin  1881.  S.  13  und  57. 
—  Über  ,,das  Bauopfer  bei  den  Südslaven"  hat  Dr.  Friedrich  S.  Krauß  eine 
überaus  interessante  Studie  in  den  Mitt.  der  Anthropol.  Gesellschaft  in  Wien 
Bd.  XVII  1887  veröffentUcht.  (Als  Separatabdruck  Wien  1887  Holder.)  — 
Krauß,  Volksglaube  und  religiöser  Brauch  der  Südslawen,  Münster  i.  W.  1890. 
S.  158. 

^)  Es  gibt  natürlich  auch  unschuldigere  und  harmlosere  Mittel  und 
Methoden,  die  wir  aber  füglich  übersehen  können,  weil  sie  sich  kaum  von 
den  in  anderen  Ländern  üblichen  unterscheiden.  Vermerken  will  ich  jedoch 
den  wilden  Mohn,  der  ein  Mittel  zur  Behexung  ist  und  gleichzeitig  ein  Gegen- 
mittel sein  kann.  Er  tut  besonders  in  letzterem  Falle  seine  Schuldigkeit,  wenn 
es  sich  um  Vampyre  handelt.  Stirbt  ein  Mensch,  von  dem  man  glaubt,  daß 
er  ein  Vampyr  war,  so  legt  man  ihm  unter  den  Kopf  im  Sarge  ein  Bündelchen 
mit  Mohn  und  streut  beim  Begräbnisse  auf  dem  Wege  vom  Sterbehause  bis 
zum  Grabe  Mohnsamen  aus,  das  verhindert  sein  Aufstehen  aus  dem  Grabe 
und  seine  Rückkehr  ins  Haus.  —  Schweift  ein  Verstorbener  umher,  so  streut 
man  Mohn  um  das  Haus,  wo  er  gelebt  hat.     Vgl.  Löwenstimm  a.  a.  O.  S.  76. 


—     71     — 

fand  man  einmal  i)  eine  verstümmelte  Frauenleiche  mit  heraus- 
gerissenem Eingeweide.  Drei  Bauern  wurden  als  die  Leichen- 
schänder eruiert.  Sie  gestanden  ihre  Tat  ein  und  erklärten 
sie  folgendermaßen :  Sie  brauchten  einen  Zahn  und  eine  Leber, 
um  verschiedene  Zaubereien  verüben  zu  können.  Wenn  man 
nämlich  eine  Menschenleber  auf  dem  Felde  vergräbt,  so  kre- 
pieren alle  Herden,  die  über  dieses  Feld  gehen;  das  ist  also 
ein  prächtiges  Mittel,  sich  an  seinen  Feinden  zu  rächen.  Der 
zu  Staub  zermalmte  Zahn  eines  toten  Menschen  ist  mit  Tabak- 
pulver vermischt  und  als  Schnupftabak  verwendet  ein  vor- 
zügliches Vergiftungsmittel.  Doch  wirkt  nur  eines  toten 
Mannes  Zahn  bei  dem  Attentat  gegen  einen  Mann,  während 
man  für  die  Vergiftung  einer  Frau  den  Zahn  einer  Frau  braucht. 
—  Stücke  von  Leichen  sind  nicht  bloß  Mittel  zur  Schädi- 
gung, sondern  auch  unfehlbare  Heilmittel:  Im  Dorfe  Bobin- 
skoje des  Kreises  von  Wjätka  sah  man  2)  das  frische  Grab  eines 
Kindes  aufgewühlt.  Man  untersuchte  das  Grab,  holte  den 
Sarg  hervor  und  fand  die  Leiche  des  Kindes  furchtbar  ver- 
stümmelt. Der  Kirchen  Wächter  bekannte  sich  als  Leichen- 
schänder imd  erklärte  sein  Verbrechen:  er  zerschnitt  den  Kör- 
per, um  aus  der  Leber  und  anderen  Stücken  das  geronnene 
Blut  zu  stehlen,  das  er  dann  mit  Wein  als  ein  Mittel  gegen  eine 
Krankheit  genoß.  —  Eine  besondere  Wirkung  wird  den  Ge- 
schlechtsteilen der  Menschen,  namentlich  dem  männlichen 
Gliede  zugeschrieben:  Im  Gouvernement  Radom  im  Flecken 
Janow  entdeckte  man  einmal  3)  eine  abscheuliche  Leichenschän- 
dung. Die  Leichen  eines  Mannes  und  einer  Frau  waren  aus 
ihren  Gräbern  herausgerissen  und  verstümmelt  worden.  Der 
Frauenleiche  fehlten  Kopf,  Hände,  Füße  und  innere  Teile, 
der  Mannesleiche  aber  waren  die  Hände,  die  Füße  und  die 
Geschlechtsteile  abgeschnitten.  Vier  Hirten  hatten  das  Ver- 
brechen gemeinsam  ausgeführt.  Die  Leichenteile  wurden  ge- 
kocht und  die  so  gewonnene  Brühe  diente  zur  Besprengung 


1)  Im  Jahre  1865. 

2)  Im  April  1871. 

3)  Im  Jahre  1862.  —  Die  letztangeführten  drei  Beispiele  bei  Löwenstimm 
a.  a.  O.  S.  109 — III. 


—     72     — 

der  Schafe;  damit  war  deren  gutes  Gedeihen  gesichert  und 
die  Gefahr  einer  Ansteckung  von  ihnen  verbannt. 

Nur  für  den  Tod  ist  kein  Tahsman  zu  finden.^)  Ihm 
kann  niemand  entgehen.  Zieht  er,  heißt  es  in  einem  Helden- 
liede,  seine  scharfe  Sichel  hervor  und  schneidet  dem  Menschen 
die  Adern  durch,  so  sinkt  der  tapferste  Held  in  den  Staub. 
Er  schenkt  nicht  eine  Stunde,  nicht  eine  Sekunde  Frist.^) 
Trotz  ihrer  fatalistischen  Auffassung  fürchten  die  Russen  das 
Ende;  aber  sie  haben  nicht  bloß  Angst  vor  dem  Tode,  son- 
dern auch  vor  den  Toten.  Sie  fürchten  die  Wiederkehr  der 
Verstorbenen  und  deren  Bosheiten.  Sie  tun  daher  alles,  um 
die  Seelen  der  Toten  zufriedenzustellen.  Nach  der  Beerdi- 
gung findet  eine  Totenmahlzeit  statt;  die  Knochen,  die  hier 
übrig  bleiben,  überläßt  man  jedoch  nicht  den  Hunden,  sondern 
ntian  wirft  sie  ins  Wasser  des  Flusses,  damit  die  Fische  sie 
benagen  und  zum  Danke  des  Toten  gedenken.  Das  Brot,  das 
bei  den  Totenmahlzeiten  verzehrt  wird,  darf  nicht  geschnitten 
werden,  das  täte  den  Toten  wehe.  —  Manche  glauben  auch, 
daß  die  Seele  des  Toten  wochenlang  nach  dem  Tode  noch 
in  der  Wohnung,  wo  er  gestorben  ist,  verbleibe.^)  Die  Trauer 
tragenden  Anverwandten  werden  gemieden  wie  Parias,  nament- 
lich auf  Hochzeiten  und  Geburtstagsfestlichkeiten  dürfen  sie 
sich  nicht  sehen  lassen.  Ein  Mensch,  der  bei  einer  Leiche 
oder  bei  einem  Begräbnisse  war,  muß  sich  erst  förmlich  von 
dem  ihm  anhaftenden  Totengift  ausräuchern  oder  auslüften, 


1)  Die  Donkosaken  versuchen  aber  wenigstens  den  Tod  zu  erschrecken. 
An  den  Wänden  der  Viehställe  befestigen  sie  Schädel  von  Ochsen.  Kühen  und 
Schafen,  sobald  eine  Viehseuche  droht.  Auf  diese  Weise  glauben  sie  den  Tod 
abzuschrecken,  er  müsse  sich  vor  den  unheimlichen  Schädeln  fürchten  und 
weitergehen. 

*)  Bernhard  Stern,  Fürst  Wladimirs  Tafelrunde.  Altrussische  Helden- 
sagen.   Berlin  1892.    S.  70 — 72:    Das  Lied  vom  Tode  des  Helden  Dobrynja. 

*)  Schon  in  früheren  Zeiten  von  Reisenden  erwähnter  Glaube.  So  lesen 
wir  in  den  Memoires  pour  servir  ä  l'Histoire  de  T  Empire  Russien,  sous  le  Regne 
de  Pierre  le  Grand.  Par  un  Ministre  etranger,  1725.  Pag.  156:  „Le  pctit 
peuple  de  Russie  croit  bonnement,  que  l'Ame  d'un  mort  reste  encore  six  se- 
maines  au  m£me  lieu,  oü  eile  a  quitt6  son  Corps:  c'est  pour  cette  raison  que 
les  Parens  ont  grand  soin  d'encenser  le  lit  durant  ce  temps  lä.  et  de  faire  dire 
joumellement  la  Messe  dans  cet  endroit." 


—     73     — 

ehe  er  daran  denken  darf,  bei  einem  Russen  einzutreten.  Der 
Zar  besonders  wird  stets  vor  einer  solchen  Berührung  als 
vor  etwas  Unheiligem  und  gefährlich  Zauberischem  behütet. 
So  berichtet  man  aus  der  Zeit  des  Zaren  Michael  Feodoro- 
witsch^):  „Es  ist  der  Gebrauch,  daß  keiner,  der  bey  einer 
todten  Leiche  gewesen,  an  Ihro  Zar  Maj.  Hand,  oder  vor 
dero  klare  Augen  kommen  mag,  es  muß  eine  längere  Zeit 
dazwischen  kommen,  damit  die  vom  Todten  Verunreinigten 
auswittern  möchten.** 

Der  Glaube,  daß  die  Seelen  der  Verstorbenen  in  ihr  ehe- 
maliges Wohnhaus  und  zu  ihrer  Familie  zu  Besuche  kommen,  ist 
voniehmlich  bei  den  Weißrussen  verbreitet,  und  hier  herrscht, 
da  man  annimmt,  daß  die  Seelen  bei  diesen  Besuchen  auch  der 
Nahrung  bedürfen,  der  Gebrauch  der  Seelenspeisung.^)  Selbst 
die  Großeltern  imd  die  Urahnen,  glauben  die  Weißrussen, 
kehren  noch  immer  in  das  Haus  zurück.  Namentlich  ge- 
schieht dies  am  Tage  der  Totenfeier,  am  Dmitrow-Sonnabend 
zu  Ende  Oktober.  Manche  Hausfrauen  stellen,  nachdem  sie 
den  Tisch  rein  gedeckt  haben,  an  diesem  Tage  volle  Schüsseln 
von  allem  hin,  was  sie  für  das  Mahl  bereitet,  und  man  er- 
wartet erst,  andächtig  um  den  Tisch  herumstehend,  bis  die 
Geister  sich  gesättigt  haben,  ehe  man  selbst  zugreift.  Es  soll 
Auserwähltc  geben,  die  mit  ihren  eigenen  Augen  gesehen 
haben,  wie  die  Seelen  ihrer  verstorbenen  Verwandten  bei  einem 
solchen  Mahle  erschienen  und  sich  den  Lebenden  gleich  an 
den  Speisen  ergötzten.  Diese  Auserwählten  können  ihren 
Wunsch,  die  Verstorbenen  zu  sehen,  auch  selbst  durch  ge- 
wissenhafte Vorbereitungen  zur  Erfüllung  bringen:  wenn  es 
Männer  sind,  die  dieses  seltenen  Seherglückes  teilhaftig  werden 
wollen,  so  müssen  sie  sich  ein  ganzes  Jahr  vorher  des  Lachens 


1 )  Nachricht  von  Woldemar  Christian  Güldenlöwe  Grafen  von  Schleßwig- 
Holstein,  Sohn  des  dänischen  Königs  Christian  des  Vierten,  von  der  Christina 
Munk.  Reise  nach  Rußland,  zur  Vermählung  mit  des  Zaren  Michael  Fedoro- 
witsch  Tochter  Irene.  In  Büschings  Magazin  für  die  neue  Historie  und  Geo- 
graphie.    X  S.  233. 

2)  Am  Ur-Quell,  Monatschrift  für  Volkkunde.  Herausgegeben  von  Fried- 
rich S.  Krauß.  VI.  Band.  1896.  S.  25 — 27:  Seelenspeisung  bei  den  Weiß- 
russen von  Th.  Volkow  in  Paris. 


—     74     — 

vollständig  enthalten  und  dürfen  während  dieser  Zeit  nur  das 
Allernotwendigste  sprechen;  von  den  Frauen  wird  viel  weniger 
verlangt :  sie  dürfen  bloß  am  Totenfeiertage  von  früh  an  nichts 
sprechen  imd  erst  dann  den  Mund  öffnen,  wenn  sich  die  Seelen 
wieder  von  der  Mahlzeit  entfernt  haben.  Man  erzählt,  daß 
es  tatsächlich  eine  Frau  gegeben  habe,  die  imstande  war, 
ein  solches  Gelübde  abzulegen,  und  sie  sprach  den  ganzen 
Vormittag  nicht  und  sah  ihre  Großeltern,  die  längst  verstorben 
waren,  wie  Lebende  zur  Tür  hereinkommen.  In  diesem  Augen- 
blick aber  schrie  sie  vor  Freude  auf,  und  im  Nu  verschwanden 
die  Gäste  aus  dem  Jenseits.  —  Ein  Mann  wollte  einmal  alle 
seine  Alten  erscheinen  sehen  und  sprach  ein  ganzes  Jahr  lang 
nur  das  Notwendigste  und  lachte  nicht  ein  einziges  Mal.  Am 
iVllerseelen-Sonnabend  ließ  er  für  die  erwarteten  Geister  Schüs- 
seln aufstellen,  und  richtig  sah  er  sie  alle  durch  den  Rauchfang 
herabsteigen,  den  Vater,  den  Großvater  und  Urgroßvater,  und 
am  Tische  Platz  nehmen.  Da  blickte  der  Hausherr  auf  und  sah 
im  Rauchfang  verspätet  auch  noch  den  Onkel  anrücken,  der 
aber  stecken  blieb,  weil  er  eine  Egge  mit  sich  schleppte. 
Die  hatte  der  Onkel  bei  Lebzeiten  gestohlen  und  zur  Strafe 
dafür,  daß  er  die  Sünde  nicht  dem  Beichtvater  eingestanden 
hatte,  in  die  andere  Welt  mitnehmen  müssen.  Als  der  gute 
Bauer  seinen  Onkel  in  so  peinlicher  Lage  im  Rauchfang  stecken 
bleiben  sah,  lachte  er  auf,  und  im  Nu  verschwanden  alle 
Geister. 

Der  Gebrauch  der  Seelenspeisung  kommt  auch  bei  den 
Großrussen  vor.  Bei  den  Kleinrussen  und  in  der  Ukraine  feiert 
man  das  Andenken  an  die  Toten  am  Thomas-Sonnabend  nach 
Ostern,  wobei  man  aber  den  Toten  nichts  zu  essen  gibt, 
sondern  nur  für  den  eigenen  Magen  sorgt. 

Über  die  Seelenspeisung  bei  den  Littauem  berichtete  der 
Reisende  Johann  Arnold  Brandt  i):  „Dannenhero  etliche  unter 
ihnen  gar  heimlich  den  4.  Jan.  St.  N.  auf  aller  Seelentag  einen 
langen  tisch  mit  ihren  gewöhnlichen  besten  speisen  versehen, 
in  einer  verschlossenen  stube  anzurichten  pflegen,  sagend  in 


1)   Reisen  durch  die  Marck  Brandenburg,  Preußen,   Churland.      Wesel 
1702.      S.    81.      Zitiert   nach   Volkow   im   XTrquell  a.   a.   O. 


—    75     — 

ihren  sprach :  Wir  speisen  der  Voreltern  Seelen.  Gehen  darauf 
hinauss,  lassen  die  speise  die  nacht  über  stehen.  Morgens 
wird  die  thür  wiederumb  geöffnet,  finden  sie  nun  obgemeldete 
speisen  ohnverzehret,  deuten  sie  es  vor  ein  sonderbahres  glück 
und  Segen  ihren  fruchten,  viehs  und  dergleichen;  wo  nicht, 
befürchten  sie  sich  hefftig  eines  künftigen  Unglücks,  das  ihr 
vieh,  äcker  und  dergleichen  überfallen  werde.** 

Zum  Schlüsse  erwähne  ich  den  Gebrauch  in  Estland  und 
Lettland,  der  also  beschrieben  wird^):  „Weil  sie  zuvor  die 
Unsterblichkeit  der  Seelen  etlicher  maßen  geglaubet,  und  dar- 
nach die  Catholischen  ihnen  die  Seel-Messe  eingebildet  haben, 
ist  dieses  noch  bey  ihnen  im  Schwange,  daß  sie  auf  aller 
Seelen-Tage,  die  Seelen  der  Verstorbenen  speisen.  Dieses  ge- 
schieht noch  bey  etlichen  sowohl  in  Ehst-  als  Lettland  dieser 
gestalt:  Sie  heitzen  eine  Stube  oder  Badstube  an,  kehren  es 
rein,  und  setzen  Speise  und  Trank  auf,  der  Wirth  des  Hauses 
bleibet  alsdann  allein  darinnen,  und  hält  ihnen  die  Pergel 
oder  Höltzer,  so  sie  anstat  der  Lichte  gebrauchen,  nöthiget 
die  verstorbenen  Seelen  seiner  Eltern  und  Vor-Eltern,  Ver- 
wandten und  Kinder,  welche  er  bey  Nahmen  nennet,  und  der- 
gestalt zu  Gaste  ladet,  zum  Essen  und  Trincken.  Wenn  er 
nun  nach  etlicher  Stunden  Verlauff  meinet,  daß  sie  gnug 
haben,  hauet  er  mit  einem  Beil  auf  der  Thür  Schwelle  die  Pergel 
cntzwey,  und  gebietet  den  Seelen,  dieweil  sie  nun  gegessen  und 
getruncken  hätten,  möchten  sie  ihres  Weges  auf  der  Straßen 
und  auf  dem  Wege,  nicht  aber  über  den  Roggen-Acker  gehen, 
damit  sie  denselben  nicht  eintreten  und  verderben,  zumahlen 
sie  sich  einbilden,  daß  die  Seelen,  wo  sie  nicht  vergnügt  davon 
scheiden,  ihnen  auf  ihren  Feldern  Schaden  zufügen  und  die 
beseete  Äcker  verderben,  daß  ihnen  daraus  ein  Misswachs  ent- 
stehe: sind  auch  bey  dieser  Meinung,  daß  so  fern  der  Wirth 
oder  Feuer-Halter  etwas  siehet,  daß  sich  die  Seelen  einstellen 
oder  erscheinen,  so  müsse  er  gewiß  desselbigen  Jahres  sterben ; 
siehet  er  aber  nichts,  so  hoffet  er  noch  das  Jahr  zu  überleben.** 


1)  Thomae  Hiäms  Ehst-,  Lyf-  und  Lettländische  Geschichte.     S.  37. 


—     76     — 


5-  Geister^  Zauberer  und  Hexen. 

Hausgeist.  Domowoj  —  Der  Geist  des  Ehebettes  und  der  Potenz  —  Umzugs- 
gebräuche —  Hahn  und  Katze  als  Herd-  und  Hausgeister  —  Geister  des  Waldes. 
Feldes  und  Wassers  —  Polnische  Dämonologie  —  Der  Teufel  in  Rußland  — 
2^uberer  und  Hexen  —  Russisches  Bild  einer  Hexe  —  Der  Zauberer-  und 
Hexenschwanz  —  Krankheitsanzauberung  —  Lynchjustiz  an  Hexen  und 
Zauberern  —  Mordliste  —  Beispiele  europäischer  Hexenprozesse  neuester  Zeit 

—  Zaubererblut  als  Heilmittel  —  Besessenheit. 

,,Des  Russen  träge  Phantasie,"  schrieb  der  Arzt  Wichel- 
hausen i),  „wird  am  meisten  noch  durch  das  ÜbernatürUche 
und  Fabelhafte  erschüttert.  Leicht  glaubt  er  deswegen  an 
das  Daseyn  unsichtbarer  Mächte,  deren  Einflüsse  ihm  uralte 
Sagen  verkünden  und  die  Furcht  ihm  mit  neuen  Farben  aus- 
mahh." 

Dieser  Glaube  an  unreine  Kräfte,  an  gute  und  böse  Geister, 
an  Dämonen,  Hexen  und  Zauberer  ist  allgemein;  auch  die 
Geistlichkeit  huldigt  ihm  offenkundig. 

Es  gibt  kaum  einen  Russen,  der  nicht  aufrichtig  an  den 
Domowoj  glauben  würde.  Der  Domowoj  ist  der  Hausgeist, 
der  Familiengeist,  der  Geist  des  Ehebettes.^)  Der  Domowoj 
ist  bei  den  ehelichen  Funktionen  stets  anwesend,  er  leitet 
die  Samentropfen,  und  nur  jene  Akte  gedeihen,  die  er  mit 
seiner  Protektion  beglückt  und  fördert.  In  Moskau  kam  eine 
Kaufmannsfrau  zu  einem  Arzte  und  bat  um  ein  Mittel  zur 
Versöhnung  des  Domowoj,  der  sie  nicht  schwanger  werden 
ließ,  trotzdem  sie  vor  jedem  Beischlafe  dem  Hausgeist  ihre 
Reverenz  gemacht  und  geräuchert  hatte.^)  —  Bei  den  Vor- 
nehmen hat  der  Domowoj  die  Oberaufsicht  über  das  ganze 
Haus,  über  Küche  und  Keller,  bei  den  Bauern  über  Stall, 
Hütte  und  Herd. 

Wenn  ein  Haus  gebaut  werden  soll,  versäumt  es  der  Bau- 
meister nicht,  in  den  vier  Ecken  des  Fundaments  Geldstücke 
einzumauern  als  Schutzmittel  gegen  alle  möglichen  Unglücks- 


1)  Gemähide  von  Moskwa.     1803.     S.  303. 

2)  Bei  den  Polen  heißt  der  Hausgeist:    Gospodartschek. 

3)  Wichelhausen,  a.  a.  O.  S.  304. 


—     77    — 

fälle,  die  das  Haus  während  des  Baues  oder  in  der  Zukunft 
bedrohen  könnten.^)     Um   den   Einsturz   des   Hauses   zu  ver- 
hüten, ist  es  notwendig,  Salz  unter  die  Türschwellen  zu  legen.2) 
Im  Gouvernement  Jaroslaw  besteht  ein  uralter  Gebrauch,  der 
beim  Umzug  aus  einem  alten  Hause  in  ein  neues  stattfindet  3): 
Wenn  das  neue  Haus  im  Baue  beendet  und  im  Innern  ein- 
gerichtet ist,   so  wird  ein  besonders  mutiger  Mann  aus   der 
Verwandtschaft  des  Herrn  oder  aus  dem  Kreise  der  Knechte 
ausgewählt.    Dieser  hat  eine  Nacht  allein  in  dem  neuen  Hause 
zuzubringen.     Widerfährt  ihm  nichts  Schlimmes  und  wird  er 
auch  von  keinem  bösen  Traume  gequält,  so  kann  das  Haus 
von   dem  Besitzer  und  seinen  Leuten  ohne  Gefahr  bezogen 
werden.     Am  Tage,  an   dem  das   Hausgerät  aus   dem   alten 
Hause  in  den  neuen  Bau  gebracht  wird,  trägt  der  Hausherr 
zuerst  das  Heiligenbild  hinc'u  und  hängt  es  in  eine  Ecke.    Dar- 
auf werden  ein  Hahn  und  eine  Katze  gebracht,  die  letztere 
legt  man  auf  den  Herd.     Nach  dem  Volksglauben  vertreibt 
der   Hahn    durch   seine    Wachsamkeit    und   sein   Krähen   die 
bösen  Geister,  während  die  Katze  zum  Frieden  und  zum  Be- 
hagen beiträgt.    Den  Domowoj  führt  man  aus  dem  alten  Hause 
in  das  neue  Heim  auf  folgende  Weise  hinüber:  Das  älteste 
weibliche  Mitglied  der  Familie   nimmt  vom  Herde  des  alten 
Hauses  einige  noch  glimmende  Kohlen,  legt  sie  in  einen  zu- 
vor nie  in  Gebrauch  gewesenen  irdenen  Topf  und  trägt  diesen 
mit  den  an  den  Hausgeist  gerichteten  Worten:  „Bitte,  Väter- 
chen, folgen  Sie  uns  in  das  neue  Haus  !**  in  die  neue  Wohnung, 
schüttet  dort  die  Kohlen  auf  den  neuen  Herd  und  zerschlägt 
darauf  den  Topf.    Nach  also  gänzlich  beendetem  Umzug  findet 
die  Einweihungsfeier  statt,  und  zwar  durch  einen  christlichen 
Gottesdienst,   der   sich  somit   unmittelbar  an   die  heidnischen 
Gebräuche  anschließt.     Stellt  sich  im  Laufe  der  Zeit  heraus, 
daß   im   neuen  Hause   nachträglich   noch   eine   Tür  oder   ein 


1)  Geheimnisse  von  Rußland.     I  317. 

*)  Dupr6  de  St.  Maure,  P6tersbourg,  Moscou  et  les  Provinces.  Paris 
1830.  1  167.  —  Auch  die  alten  Lappen  verehrten  Geister,  die  unter  der  Schwelle 
des  2^1tes  ihren  Wohnsitz  hatten.  Roskoff,  Religionswesen  der  Naturvölker. 
Leipzig  1880,   S.  59. 

»)  Globus,  Bd.  86.  Heft  3.  S.  51. 


—     78     — 

Fenster  ausgebrochen  werden  muß,  so  hat  dies  unter  beson- 
deren Vorsichtsmaßregeln  zu  geschehen,  da  eine  am  unrechten 
Orte  oder  zu  unrechter  Zeit  durchbrochene  Tür  viel  Unheil 
über  das  Haus  bringen  könnte.  In  Dörfern,  die  in  der  Nähe 
von  Wäldern  liegen,  kommt  es  häufig  vor,  daß  Spechte  in 
den  frischen  Balken  des  neuen  Hauses  nach  Insekten  suchen; 
hört  man  im  Hause  das  Hämmern  des  Spechtes,  so  ist  man 
der  festen  Überzeugung,  daß  einem  Hausbewohner  der  Tod 
bevorstehe  oder  daß  ein  Hausbewohner  in  nächster  Zeit  das 
Haus  werde  verlassen  müssen. 

Außer  dem  Hausgeiste,  der  vornehmlich  gute  Eigenschaf- 
ten hat,  gibt  es  im  russischen  Volksglauben  zahlreiche  böse 
Geister  und  Unholde.  Diese  boshaften  Geister  und  Dämone 
haßt  man,  aber  man  fürchtet  sie  auch.  Sie  treiben  an  verschie- 
denen Orten  ihr  Unwesen  und  führen  je  nach  ihrem  Charakter 
und  ihren  Wohnplätzen  ihre  besonderen  Bezeichnungen.  In 
den  Wäldern  hausen  die  Waldgeister,  die  Gestnize^),  die  den 
Wanderer  auf  Irrwege  führen ;  auf  den  Feldern  und  Fluren 
tummeln  sich  die  Russalki^),  und  in  den  Gewässern  die  Wodc- 
niki  oder  Wassergeister.  Die  Eltern  schrecken  ihre  Kinder  mit 
dem  Nachtgespenst  Buka,  das  in  den  Höfen  herumschleicht 
und  die  kleinen  Kinder  frißt  3);  dieser  Dämon  hat  einen  großen 
Rachen  und  eine  lange  spitzige  Zunge.  In  den  Ammenmär- 
chen spielen  sowohl  Riesen  als  Zwerge  die  Rolle  der  Dämonen ; 
der  Riese  Polkan  ist  eine  stehende  Figur  in  diesen  Märchen, 
während  die  Zwerggeister  Püschiki  genannt  werden.  Es  gibt 
auch  ein  Riesengeschlecht,  das  Woloten  heißt.  Mit  diesem 
Namen  benannten  mehrere  slawische  Völker  die  alten  Römer, 


1)  Borowy  bei  den  Polen. 

2)  Bei  den  Polen  sind  die  Russalki  nicht  bloß  Nymphen  im  Gehölz, 
sondern  auch  Wassernymphen,  die  mit  Menschen  Liebesverhältnisse  anknüpfen, 
um  sie  dann  mit  Zärtlichkeiten  zu  ersticken  oder  zu  ersäufen. 

3)  Bei  den  Polen  Babok  und  Kurze  pluca  geheißen.  Auch  die  polnischen 
Mamune,  Boginki.  Dschiwojone  sind  kinderfeindliche  Dämone.  Man  nennt 
sie  auch  die  krasne  kobjety,  die  schönen  Frauen.  Sie  schleichen  sich  ans 
Bett  der  Wöchnerinnen  und  vertauschen  die  neugeborenen  Kinder  mit  Miß- 
geburten. Um  sich  vor  ihnen  zu  schützen,  erwarten  manche  Frauen  die  Nieder- 
kunft nicht  in  der  eigenen,  sondern  in  einer  fremden  Wohnung. 


—    79    — 

die  sie  sich  wegen  der  großen  Taten  nicht  anders  als  von  un- 
gewöhnlicher Größe  denken  konnten. 

Etwas  anders  geartet  sind  einige  Geister  des  polnischen 
Volkes. 1)  Die  Wilen,  die  die  Häuser  bewohnen,  sind  furcht- 
bar häßlich,  hohen  Wuchses,  bebartet;  sie  erscheinen  und 
verschwinden  ohne  Ursache  und  ohne  Anzeichen;  wer  ihnen 
begegnet,  erkrankt  sofort.  Die  Wjeschtsche^)  sind  Dämone 
von  menschlicher  Abkunft.  Kinder,  die  mit  Zähnen  auf  die 
Welt  kommen,  werden  nach  dem  Tode  Wjeschtsche,  steigen 
allnächtlich  aus  dem  Grabe,  klettern  auf  die  Kirchtürme,  läuten 
die  Kirchenglocken  und  rufen  die  Namen  aller  jener,  denen 
sie  den  Tod  wünschen;  wer  von  diesen  Verwünschten  seinen 
Namen  rufen  hört,  muß  sterben.  Auch  die  Zwora-Dämonen 
sind  von  menschlicher  Abkunft;  Kinder,  die  unregelrecht  ge- 
tauft und  nach  dem  Tode  Blutsauger  wurden.  Ihnen  ver- 
wandt sind  die  Upjur^)  oder  Vampyre,  die  aber  weit  grau- 
samer sind,  und  den  Menschen,  über  den  sie  herfallen,  sofort 
töten. 

Der  Teufel  ist  für  die  Russen  und  Polen  nicht  bloß  ein 
Wesen  der  Hölle,  sondern  wandelt  auch  sichtbar  auf  Erden. 
Gauner  machten  sich  diesen  Glauben  ihren  Zwecken  dienstbar 
in  ähnlicher  Weise  wie  wir  es  im  vorigen  Kapitel  bei  der  Er- 
wähnung des  Freitag  gesehen  haben.  Ich  erinnere  mich, 
daß  in  meiner  Vaterstadt  Riga  ein  als  Teufel  verkleideter 
Räuber  wochenlang  die  ganze  Bevölkerung  in  Angst  und 
Schrecken  versetzte  und  überall,  wo  er  spät  Abends  plötzlich 
erschien,  erhielt  was  er  verlangte.  Ein  zwölfjähriger  Knabe 
allein  hatte  den  Mut,  ein  Gewehr  seines  Vaters  zu  ergreifen 
und  mit  einem  glücklichen  Schusse  den  Teufel  zu  Boden  zu 
strecken;  dem  jugendlichen  Teufelstöter,  der  nicht  bloß  einem 
Räuber  ein  verdientes  Ende  bereitet,  sondern  auch  einem  feigen 
Aberglauben  den  Todesstoß  versetzt  hatte,  wurde  vom  Zaren 
eine  Tapferkeitsmedaille  verliehen. 


1)  V.  Begiel,  La  d^monologie  du  peuple  polonais.  Revue  de  l'histoire 
des  Rcligious.  Paris  1902.  Tome  XLV  >}  2,  pag.  158 — 170.  Vgl.  diese  Arbeit 
auch  bezüglich  der  früher  erwähnten  polnischen  Dämonen-Namen. 

2)  Polnisch  geschrieben:    Wieszczy. . 

3)  Polnisch  geschrieben:  Upiör. 


—    80    — 

Ani  liebsten  versteckt  sich  der  Teufel  hinter  Menschen, 
die  mit  ihm  ein  Bündnis  schließen  und  als  Zauberer  oder 
Hexen  seine  Werke  verrichten ;  dafür  dient  er  ihren  materiellen 
Wünschen.  In  Krynice  im  Gouvernement  Lublin^)  hatte  ein 
Bauer  im  Jahre  1890  dem  Teufel  seine  Seele  verschrieben; 
zum  Danke  dafür  wohnte  der  Satan  beim  Bauer  in  einem  Bienen- 
korbe, und  ohne  daß  der  Mann  sich  darum  zu  kümmern 
brauchte,  füllten  sich  für  ihn  zahllose  Bienenkörbe,  so  daß  er 
zu  großem  Reichtum  gelangte.  In  der  Stadt  Torshok  im  Gou- 
vernement Twer  hatte  ein  gewisser  Nikifor  Dorofejew  vom 
Teufel  die  Fähigkeit  erhalten,  Menschen  durch  seinen  bloßen 
Atem  ganz  nach  seinem  Belieben  zu  behexen  oder  zu  heUen. 

Daß  die  Russen  schon  in  den  frühesten  Zeiten  den  Zaube- 
rern und  Hexen  unbedingten  Glauben  schenkten,  ist  bekannt. 
Großfürst  Oleg  hieß  wegen  seiner  übernatürlich  großen  Siege 
der  Zauberer,  und  er  starb  den  Tod,  den  ihm  ein  Zauberer 
vorhergesagt  hatte.^)  Nicht  bloß  in  den  Märchen,  sondern 
auch  in  den  Heldensagen  wimmelt  es  von  Hexen  und  Zaube- 
rern. In  den  Bylinen,  die  vom  Fürsten  Wladimir  und  seiner 
Tafelrunde  erzählen  3),  spielt  eine  große  Rolle  die  Zauberin 
Marinka,  eine  junge  schöne  Witwe,  welche  die  üble  Gewohn- 
heit hatte,  ihre  Anbeter  in  Ochsen  zu  verwandeln.  Auch  dem 
Helden  Dobrynja  Nikititsch  erging  es  so,  als  er  ihr  Herz 
stürmen  wollte.  Sie  trat  ihm  zürnend  entgegen,  sprach  die 
geheimnisvollen  Worte,  und  der  Held  verwandelte  sich  in  einen 
brüllenden  Ochsen.  Vom  Himmel  war  es  bestimmt,  daß  die 
schöne  Zauberin,  die  den  Menschen  verachtete,  sich  in  den 
Ochsen  verlieben  mußte.  Aber  Satan  hatte  ihr  bloß  die  Kraft 
gegeben,  Zauber  zu  schaffen,  nicht  auch  Zauber  zu  lösen. 
Und  verzweifelt  flog  die  Zauberin  als  Rabe  verwandelt  auf 
die  grünen  Kijewsfluren,  um  sich  auf  des  geliebten  Ochsen 
Nacken  zu  setzen.  Endlich  entsagte  sie  ihren  Satanskünsten, 
verbrannte  alle  Kräuter,  vernichtete  alle  Tränke,  und  im  Augen- 
blick  wurde   Dobrynja   vom   Ochsen   wieder   zum   Menschen, 


1)  B6giel,  La  d6monologie  du  peuple  polonais.     a.  a.  O. 

8)  Chronique  de  Nestor.     II  180. 

3)  Bernhard  Stern,  Fürst  Wladimirs  Tafelrunde.     S.  47. 


—    81     — 

die  Rückkehr  zum  Gottesglauben  brachte  der  Marinka  den 
geliebten  Helden.  —  In  den  Heldenliedern  erscheint  auch  schon 
die  Jaga  Baba,  eine  Hexe,  die  in  einem  Mörser  wohnt  und 
in  ihm  herumfährt.  —  In  Kleinrußland  stellt  man  sich  heute 
eine  Hexe  fast  immer  als  eine  alte  Frau  vor;  auffallend  Lang- 
lebige sind  verdächtig,  weil  die  Kunst  der  Verlängervmg  des 
Lebens  ein  Hauptgeheimnis  der  Zauberei  ist.  Im  Gouvernement 
Wilna  glaubt  das  Volk,  daß  eine  Frau,  welche  am  Vorabend  des 
Iwan  Kupilo^)  bei  einem  Nachbarn  etwas  erbitten  will,  eine 
Hexe  sein  müsse;  sicher  ist  dies  der  Fall,  wenn  die  Frau 
Zündhölzchen  oder  Feuer  ausleihen  will. 2)  Das  meistverbreitete 
russische  Bild,  das  man  sich  von  einer  Hexe  macht,  ist  dieses : 
Eine  bejahrte  Frau,  hoch,  mager,  knöcherig,  mit  einem  kleinen 
Buckel,  mit  zerzausten  unter  dem  Kopftuche  hervordrängenden 
Haaren,  roten  Augen,  zornigem  Blicke,  breitem  Munde,  vor- 
springendem Kinn.  Nach  kleinrussischer  Ansicht  hat  die  Hexe 
immer  einen  kleinen  Schweif  und  einen  schwarzen  Streifen 
auf  dem  Rücken.  Im  Jahre  1875  wollten  die  Bauern  des  kau- 
kasischen Dorfes  Poljessje  ihre  Weiber  prüfen,  um  zu  erfahren,, 
welche  von  ihnen  Hexerei  treibe.  Sie  baten  den  Gutsbesitzer 
um  die  Erlaubnis,  die  Fralien  im  Flusse  zu  baden;  diejenige» 
die  nicht  untersinke,  sei  eine  Hexe.  Der  Gutsbesitzer  stimmte 
jedoch  nicht  zu.  Da  riefen  die  Bauern  eine  Hebamme,  die 
alle  Weiber  untersuchen  mußte,  ob  ihnen  nicht  ein  Schwanz 
vom  Rücken  herabhing. 3)  Weniger  zartfühlend  als  diese  Bauern 
mit  ihren  Weibern  umgingen,  indem  sie  das  Amt  der  Unter- 
suchung einer  Hebamme  anvertrauten,  war  im  Jahre  1900 
in  einem  Vororte  von  Kischenew  ein  Vater  gegenüber  seiner 
Tochter.  Die  Letztere,  ein  zweiundzwanzigj ähriges  Mädchen, 
hatte  das  Unglück  auffallend  häßlich  und  dazu  auch  buck- 
lig zu  sein.    Von  einer  Stiefmutter  gequält,  von  den  Nachbarn 


^)  Der  russische  Johannistag.  Bekanntlich  versammeln  sich  auf  dem 
Brockenberg  die  Hexen  in  der  Nacht  auf  den  Johannistag.  Der  Zusammen- 
kunftsort  der  russischen  Hexen  ist  der  Kahlenberg,  Lyssaja  Gera  bei  Kijew. 

2)  Über  das  Ausleihen  des  Feuers  und  seine  Bedeutung  im  Orient  habe 
ich  in  meinem  Bache  ,, Medizin,  Aberglaube  und  Geschlechtsleben  in  der  Türkei" 
einiges  mitgeteilt. 

3)  Löwenstimm,  Aberglaube  und  Strafrecht,  S.  35  und  82. 

Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.  5 


—    82     — 

gemieden  und  verspottet,  zieht  sich  das  Mädchen  ängstUch 
von  den  Menschen  zurück,  versteckt  sich  tagsüber  im  Garten 
oder  Weinberg  und  kehrt  erst  Abends  heim,  wenn  sie  den 
Vater  schon  zu  Hause  weiß.  Und  so  schleicht  sie  häufig 
erst  spät  Nachts  durch  den  Ort,  wenn  alle  schon  schlafen, 
und  stiehlt  sich  heimlich  in  das  Vaterhaus.  Sie  kommt  in  den 
Ruf  einer  Hexe,  alle  Unglücksfälle  werden  ihren  tückischen 
Zauberkünsten  zugeschrieben.  Zwar  trägt  sie  ein  Kreuz  am 
Halse  und  geht  fleißig  in  die  Kirche,  aber  das  ist  Hexenschlau- 
heit. Man  muß  der  Sache  auf  den  Grund  kommen,  und  der 
Vater  vor  allen  will  Gewißheit  haben.  Er  beruft  eines  Tages 
alle  Einwohner  zu  einer  Untersuchung,  man  entkleidet  das 
Mädchen  bis  auf  die  Haut,  und  jedermann  hat  durch  volle 
drei  Stunden  Gelegenheit  an  der  Splitternackten  den  Hexen- 
schwanz zu  suchen.!)  —  jm  Juli  1891.  erschien  in  einem  Kijewer 
Hospital  2)  ein  Bauer  beim  Arzte  mit  der  Bitte,  durch  ein 
amtliches  ärztliches  Zeugnis  zu  bestätigen,  daß  der  Bittsteller 
„keinen  Schwanz  habe  wie  ihn  die  Zauberer  zu  haben  pflegen ; 
denn  weil  man  ihn  für  einen  Zauberer  halte,  zwinge  man  ihn 
oft  sich  nackt  auszuziehen  und  sich  auf  einen  Zaubererschwanz  s) 
untersuchen  zu  lassen.** 

Die  Bosheiten  der  Zauberer  und  Hexen  äußern  sich  an 
den  Behexten  zumeist  durch  Krämpfe,  epileptische  Anfälle, 
Zuckungen.  Als  Zar  Iwan  der  Schreckliche  einmal  erkrankte, 
gab  man  die  Schuld  daran  einer  Frau  namens  Maria;  diese 
Frau  lebte  tugendhaft  und  war  angesehen  bei  Reich  und  Arm 
in  ganz  Moskwa.  Da  entstand  plötzlich  das  Gerücht,  Maria 
hasse  den  Zaren  und  trachte  ihn  durch  Zauber  aus  dem  Wege 
zu  räumen.  Sie  wurde  ergriffen  und  hingerichtet;  der  Vor- 
sicht halber  tötete  man  auch  ihre  fünf  Söhne.^)  Kurz  darauf 
wütete  in  Moskau  eine  förmliche  Zauberer-  und  Hexenmord- 


1)  Kölnische  Zeitung  1900,  Nr.  1016.  „T>ie  Macht  der  Finsternis  in 
Rußland."     (Notizen  aus  russischen  Zeitungen.) 

^)  He^lvin,  II  KU.  1891.  —  Auch  mitgeteilt  von  Lanin,  Russische  Zu- 
stande.    I  33. 

3)  Man  vergleiche  die  Mitteilungen  über  geschwänzte  Menschen  in  meinem 
Buche  ,, Medizin,  Aberglaube  und  Geschlechtsleben  in  der  Türkei'*. 

*)  Karamsin,  deutsche  Übersetzung  VIII  16  (franz.  Übers.  IX  21). 


—    83    — 

epidemie.  Niemand  war  sicher  vor  der  fürchterlichen  An- 
schuldigung. Die  vornehmsten  Leute  wurden  als  Zauberer 
und  Hexen  abgeschlachtet,  so  der  durch  seine  Kriegstaten 
ausgezeichnete  Okolnitschy,  Daniel  Adaschew  mit  seinem  zwölf- 
jährigen Sohne,  drei  Mitglieder  der  Familie  Satin,  ein  Schisch- 
kin  mit  Frau  und  Kindern.  Das  war  vor  dreiundeinhalb  Jahr- 
hunderten. Und  heute?  Man  lese  die  nachfolgende,  äußerst 
unvollständige,  nur  aus  zufälligen  Notizen  zusanmiengestellte 
Liste  über  Ereignisse  der  neuesten  Zeit! 

Im  Jahre  1878  entdeckte  die  Frau  Chodschigan  Natyrbow, 
Gattin  des  Ältesten  in  einem  kaukasischen  Aül  des  Kreises 
Jekaterinodar,  daß  ihr  Mann  sie  nicht  mehr  liebe.  Sie  suchte 
Hilfe  bei  der  berühmten  Zauberin  Chakalo  Chagutschew,  imd 
diese  gab  der  Klientin  ein  Mittelchen,  das  unter  die  dem  Manne 
bestimmten  Speisen  getan  werden  sollte.  Die  Frau  hatte  aber 
Gewissensbisse  und  entdeckte  ihrem  Manne,  was  sie  vorgehabt. 
Der  Älteste  war  erschrocken  und  entsetzt,  daß  in  seinem  Aül 
Hexen  und  Zauberer  existierten  und  beschloß  das  Satanswerk 
gründlich  auszurotten.  Berief  also  die  angesehensten  Leute 
des  Aül  zu  einer  Beratung,  trug  die  Angelegenheit  vor  und 
beantragte,  die  Hexe  einem  strengen  Gerichte  zu  imterwerfen. 
Man  begab  sich  in  die  Hütte  der  Chakalo  Chagutschew  und 
forderte  von  der  Hexe  die  Herausgabe  ihres  2^uberkrautes. 
Als  sie  dem  Verlangen  nicht  nachkommen  konnte,  zerrte  man 
sie  auf  den  Hof,  fesselte  sie  mit  Ketten  an  einen  Pfahl  und 
folterte  sie  durch  ein  Feuer,  welches  neben  ihr  so  angezündet 
wurde,  daß  sie  Brandwunden  erleiden  mußte.  Das  Mittel 
nützte  nichts,  man  schleppte  daher  die  Unglückliche  in  einen 
Keller  und  sperrte  sie  hier  ein.  Im  Aül  begannen  dann  massen- 
hafte Verfolgungen  aller  jener,  die  durch  irgend  eine  Tat  in  den 
Verdacht  geraten  waren,  Besitzer  unreiner  Kräfte  zu  sein.  Diese 
Zauberer  und  Hexen  zwang  man  zur  Feuerprobe,  sie  mußten 
durch  hoch  aufflammende  Scheiterhaufen  schreiten.  Dann 
sperrte  man  sie  in  Keller  imd  nährte  sie  bloß  mit  den  Lungen 
von  Himden,  da  man  durch  solche  Speise  die  Zauberkraft 
zu  besiegen  glaubte.  Einem  besonders  übel  Beleumundetien 
ging  man  auch  desto  schärfer  an  den  Leib.  Man  hängte  ihn 
so  auf,  daß  er  den  Erdboden  nur  knapp  mit  den  Fußspitzen 

6» 


—    84    — 

berührte;  dann  geißelte  man  ihn  mit  Dornen,  die  im  Aber- 
glauben als  zaubertötend  gelten;  hierauf  band  man  den  Ge- 
folterten los  und  zwang  ihn  zwischen  zwei  Feuern  zu  tanzen. 
Die  Behörden  machten  erst  nach  längerer  Zeit  diesem  Hexen- 
spuk ein  Ende.i)  Einer  der  krassesten  Fälle  ereignete  sich 
am  4.  Februar  1879  ™  Tichwinschen  Kreise  im  Kaukasus. 
In  dem  Dorfe  Wratschewka  lebte  die  Frau  Katharina  Ignatjew, 
welche  ihres  hohen  Alters  und  ihrer  Kränklichkeit  wegen  als 
Hexe  betrachtet  wurde.  Diese  Frau  benützte  den  Schrecken, 
den  sie  verbreitete,  um  auf  fremde  Kosten  zu  leben,  und  dies 
sollte  ihr  zum  Schlüsse  übel  bekommen.  Es  ereignete  sich, 
daß  zufällig  mehrere  Frauen  nacheinander  Nervenkrämpfe  er- 
litten. Sofort  wurde  allgemein  der  alten  Hexe  die  Schuld 
an  diesen  Erkrankungen  gegeben.  Die  Ältesten  des  Dorfes 
zogen  mit  einer  großen  Schar  der  Bewohner  vor  die  Hütte 
der  Hexe,  man  vernagelte  hier  alle  Türen  und  Fenster  mit 
Brettern,  legte  Holz  und  Stroh  um  die  ganze  Behausung  und 
zündete  das  Dach  an.  An  dem  erhebenden  Schauspiele  be- 
teiligten sich  17  der  Ältesten  als  Gerichtsvollstrecker  und 
Henker,  während  mehr  als  dreihundert  Menschen  als  Zuschauer 
assistierten.  Unter  ihnen  befand  sich  auch  der  Pope  des  Ortes. 
Alle  meinten,  daß  sie  ein  wahres  Gotteswerk  ausgeübt;  und 
als  sie  vor  Gericht  gestellt  wurden,  erfolgte  die  vollständige 
Freisprechung  der  meisten,  bloß  drei  wurden,  sozusagen  aus 
formalen  Gründen,  zu  einer  gelinden  Kirchenbuße  verurteilt.^) 
Im  selben  Jahre  1879  wurde  auch  in  der  Nähe  der  Stadt 
Nikolajew  im  Gouvernement  Ssamara  ein  Zauberer  erschlagen. 
Der  des  Mordes  Angeklagte  erklärte  ganz  ruhig:  „Ja,  ich 
habe  es  getan;  ich  habe  ihn  ganz  gerecht  totgeschlagen,  denn 
er   war   ein   Zauberer.*'     Das   Gouvernement   Pensa   zeichnete 


*)  Dieser  Fall  ist  auch  in  der  von  Heppe  neu  bearbeiteten  Soldanschen 
Geschichte  der  Hexenprozesse  (Stuttgart  1880)  in  Bd.  II  338 — 339  berichtet 
worden.  Dieses  große  zweibändige  Werk  enthält  aber  über  Rußlands  furcht- 
bar verbreitetes  Hexenwesen  nichts  weiter  als  eben  diese  Erzählung  und  einen 
kurzen  höchst  mangelhaften  Hinweis  auf  das  nachfolgende  Ereignis  in  Wra- 
tschewka. 

2)  Die  russischen  Quellen  für  dieses  Beispiel  und  für  die  näclisten  Angaben 
von  Hexentötungen  findet  man  bei  I^öwenstimm  a.  a.  O.  S.  44  ff. 


—    86    — 

sich  damals  durch  Hexengerichte  ganz  besonders  aus ;  im  Zeit- 
räume eines  einzigen  Jahres  gibt  es  dort  fünf  Ermordungen 
von  Hexen  und  Zauberern:  1879  wurde  im  Kerenschen  Kreise 
ein  Zauberer  erschlagen.  1880  ereignete  sich  in  einem  anderen 
Kreise  des  Pensa-Gouvemements  folgender  Fall:  Bei  einem 
Hochzeitsmahle  schrie  die  Mutter  des  Hauswirts  plötlich  laut 
auf;  dies  konnte  nur  die  Wirkung  einer  ßezauberung  sein, 
und  einer  der  Gäste,  der  im  Verdachte  der  Zauberei  steht, 
wird  von  den  anderen  ergriffen  und  zu  Tode  geprügelt.  Kurze 
Zeit  darauf  wurden  in  verschiedenen  Kreisen  desselben  Gou- 
vernements auch  drei  Hexen  ermordet.  —  1888  wird  im  Ssmi- 
jewschen  Kreise  des  Charkowschen  Gouvernements  bei  einer 
Hochzeitsfeier  die  Braut  von  einem  epileptischen  Anfall  heim- 
gesucht ;  der  Anblick  der  Erkrankten  verursacht  auch  bei  einer 
anderen  Frau  einen  Nervenkrampf.  Einer  der  Gäste  gilt  als 
der  Zauberer,  dessen  heimliche  Verwünschung  diese  Erkrankun- 
gen verursacht  hat.  Man  fällt  über  ihn  her  und  tötet  ihn 
auf  der  Stelle.  Diese  Fälle  sind  zahllos  und  in  Ursache  und 
Wirkung  durchaus  typisch.  1895  wurden  im  Dörfchen  Wladi- 
mirsk  im  Kubangebiete  auf  einer  Hochzeit  zwei  Frauen  plötz- 
lich ohnmächtig.  Den  anwesenden  Gast  Kusjma  Dolschenkow 
beschuldigt  jemand  dieser  Zauberei,  die  aufgebrachten  Leute 
fallen  über  den  Hexenmeister  her  und  schlagen  ihn  tot.  Auch 
im  Zentrum  des  Reiches,  im  Mittelpunkte  der  Residenzen,  sind 
solche  Vorkommnisse  niöglich.  Am  25.  September  1895  findet 
in  Moskau  vor  der  Kapelle  des  Heiligen  Panteleimon  eine 
Feier  statt.  Unter  der  Menge  stehen  eine  Frau  und  ein  Knabe, 
daneben  die  Bäuerin  Natalja  Nowikow,  welche  mit  dem  Knaben 
plaudert  und  ihm  einen  Apfel  schenkt.  Die  Frau,  die  den 
Knaben  begleitet,  erleidet  einen  hysterischen  Anfall;  und  auch 
der  Knabe  wird  just,  da  er  in  den  Apfel  beißen  will,  von 
Epilepsie  ergriffen.  Natürlich  war  der  Apfel  behext,  die  Menge 
fällt  über  die  Bäuerin  her  imd  prügelt  sie  halbtot.^)  Im  Jahre 
1900  wird  im  Dorfe  Sinizewo  im  Gouvernement  Ssaratow  der 
Bauer  Denissow  als  der  Zauberer  gehalten,  der  dem  Dorfe 
alle  möglichen  Unfälle,  den  Bewohnern  Krankheiten,  nament- 


1)  Löwenstimm  a.  a.  O.   57  ff. 


—    86    — 

lieh  den  Frauen  und  Kindern  Krämpfe  anzaubert.  An  einem 
Feiertage  findet  der  Polizeiwächter  Suwajew  den  Denissow  be- 
trunken auf  der  Straße  liegend.  Er  will  den  Betrunkenen 
wegschleppen,  erkennt  den  Zauberer,  ergreift  ein  Brett  und 
schlägt  dem  Verfluchten  mit  solcher  Wucht  auf  den  Kopf, 
daß  ihm  daraus  der  Teufel  zugleich  mit  dem  Leben  entflieht. 
Bemerkenswert  ist  ein  auch  im  Jahre  1900  stattgefundener 
Vorfall  in  der  Stadt  Wolsk,  die  gleichfalls  im  gesegneten  Gou- 
vernement Ssaratow  liegt.  Der  neunjährige  Sohn  eines  ge- 
wissen Schuganow  leidet  an  Krämpfen,  denen  kein  Arzt  ab- 
zuhelfen vermag.  Es  kann  daher  die  Krankheit  nichts  anderes 
sein  als  eine  Verzauberung.  Vater  Schuganow  hält  die  Familie 
Bjeloussow  für  die  Urheber  der  Hexerei,  eilt  in  ihre  Wohnimg 
und  droht  die  ganze  Zauberbande  zusammenzuschießen.  Vor 
Gericht  geschleppt  erklärt  Schuganow  in  seinem  Rechte  ge- 
wesen zu  seini),  denn  „die  Bjeloussows  lassen  die  Teufel  wie 
Tauben  auseinanderschwirren,  damit  sie  die  Menschen  nach 
allen  Seiten  verderben  und  verzaubern.**  Im  Jahre  1904  gab 
es  am  10.  Januar  vor  dem  Petersburger  Kreisgerichte  ein^ 
Verhandlung  wegen  Ermordung  einer  Hexe.^)  In  einem  Vor- 
orte der  Residenz  galt  die  Bäuerin  Ille  als  Besitzerin  unreiner 
Kräfte.  Eines  Tages  traf  die  Ille  einen  Bauer  namens  Lawone 
und  ersuchte  ihn,  indem  sie  ihm  einen  Rubel  gab,  ihr  Schnaps 
zu  kaufen.  Der  Bauer  vollführte  den  Befehl  der  Hexe,  brachte 
ihr  die  Flasche  mit  Schnaps,  wollte  aber  den  Rest  des  Rubels 
nicht  herausgeben.  Da  rief  ihm  die  Ille  zornig  zu :  „Du,  warte 
nur!  Ich  bin  eine  Hexe!  Ich  werde  dich  verhexen!**  Lawone 
geriet  in  Entsetzen,  ergriff  ein  Stück  Holz  und  erschlug  die 
Hexe  mit  zwei  wuchtigen  Schlägen,  um  sich  vor  ihrem  Be- 
zauberungswerk  zu  retten.^) 


1)  Kölnische  Zeitung  19CX).    Nr.  10 16. 

2)  Nach  Mitteilungen  Petersburger  Blätter  und  einer  Korrespondenz  im 
CapaTOBCKift  ,iiieBHHin>  M  10,    1904. 

3)  Daß  es  auch  im  Europa  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  noch  Fälle  von 
Hexenglauben  gibt,  brauche  ich  wohl  nicht  zu  entdecken.  Aber  die  Vorfälle 
erreichen  hier  nicht  die  furchtbare  Tragik  wie  in  Rußland,  sondern  erhalten 
fast  immer  eine  mehr  kuriose,  um  nicht  zu  sagen  humoristische  Form.  Ich 
erwähne  drei  Beispiele  aus  jüngster  Zeit:    In  Sulingen  in  Preußen  wurde  vor 


—    87     — 

Auch  weit  harmlosere  Anlässe  genügen  oft,  um  den  im 
Rufe  der  Zauberei  Stehenden  das  Leben  zu  rauben.  In  der 
Station  Jumachanj-Jurta  im  kaukasischen  Te rekgebiete  betrank 


dem  Schöffengericht  über  folgenden  Sachverhalt  verhandelt.  Der  Kätner 
F.  K.  in  Lindem  hatte  ein  krankes  Kind.  Eines  Tages  kommt  eine  Zigeunerin 
ins  Haus.  Sie  redet  mit  der  Frau  dies  und  das,  sieht  das  kranke  Kind  and 
merkt  bald,  daß  hier  ihr  Weizen  blüht.  „Liebe  Frau,"  sagt  die  Zigeunerin, 
,,Ihr  Kind  ist  behext,  und  das  hat  die  Person  getan,  die  nun  zuerst  hier  ins 
Haus  kommt,  etwas  zu  leihen."  Nach  einigen  Tagen  stirbt  das  Kind.  Der 
Nachbar,  Schlächter  L.,  muß,  wie  das  ja  Sitte  ist,  die  ,, Leiche  ansagen"  im 
Dorfe  und  bei  den  Verwandten.  Er  hat  aber  einen  schlechten  Handstock 
und  schickt  deshalb  seine  Frau  in  das  Sterbehaus,  um  einen  besseren  zu 
leihen.  Kaum  hat  die  Frau  L.  ihren  Wunsch  ausgesprochen,  da  geht  der  Spek- 
takel los,  und  es  dauert  nicht  lange,  so  weiß  das  ganze  Dorf  Lindem,  wer  das 
verstorbene  Kind  behext  hat.  Die  Frau  L.  ist  natürUch  darüber  empört,  daß 
sie  für  eine  Hexe  angesehen  und  als  solche  nun  gefürchtet  wird.  Sie  verklagt 
die  Frau  K.  wegen  Beleidigung.  Der  Prozeß  endete,  nachdem  der  Amtsrichter 
ein  ernstes  Wort  gesprochen,  mit  einem  Vergleich.  Die  Frau  K.  mußte  öffent- 
lich und  feierlich  vor  Gericht  erklären,  daß  die  Frau  L.  keine  Hexe  sei.  — 
In  der  französischen  Stadt  Noissy-le-Sec  wurde  eine  Frau  als  Hexe  vor  Ge- 
richt gestellt.  Man  warf  ihr  zwar  nicht  vor,  daß  sie  am  Hexensabbath  auf 
einem  Besen  durch  die  Lüfte  fUege,  trotzdem  aber  bezeichnete  man  sie  als 
„den  Schrecken  des  Landes",  als  eine  Person,  welche  den  ,, bösen  Blick"  werfe. 
Auf  Grund  dieser  Anschuldigungen  hätte  sich  das  Gericht  allerdings  mit  Frau 
Judin  —  dies  ist  der  Name  der  ,, Zauberin"  —  nicht  befaßt.  Man  konnte  ihr 
jedoch  nachweisen,  daß  sie  in  einer  Vermögensangelegenheit  eine  eigentüm- 
liche Rolle  gespielt.  In  Noissy-le-Sec  lebte  eine  reiche  Witwe  Blanchet,  zu 
welcher  ein  Tierarzt  nähere  Beziehungen  unterhielt.  Der  Einfluß  des  Mannes 
genügte  jedoch  nicht,  um  Frau  Blanchet  hinsichtlich  ihrer  testamentarischen 
Verfügungen,  um  die  es  Henry  zu  tun  war,  zu  bestimmen.  Da  führte  er  die 
Zauberin  bei  ihr  ein.  Diese  gewann  bald  eine  derartige  Macht  über  die  etwas 
schwachsinnige  Blanchet,  daß  letztere  bUndlings  alles  glaubte  und  tat,  was 
Frau  Judin  genehm  war.  Es  ist  erwiesen,  daß  Frau  Judin  von  Zeit  zu  2^it 
im  Hause  der  Witwe  wahre  Hexenszenen  aufführte,  Geistererscheinungen 
simulierte.  So  brachte  sie  die  abergläubische  Frau  Blanchet  endUch  dahin, 
ihr  Testament,  in  welchem  sie  ihr  ganzes  Vermögen  ihrer  Schwester  verschrie- 
ben, als  einen  von  Dämonen  bewohnten  Gegenstand  ins  Feuer  zu  werfen.  Es 
hielt  dann  nicht  schwer,  sie  zum  Verfassen  eines  neuen  Testamentes  zu  be- 
stimmen, durch  welches  Henry  zum  Universalerben  eingesetzt  wurde.  Auf 
die  Klage  der  FamiUe  der  Frau  Blanchet  erklärte  nun  das  Gericht  das  neue 
Testament  als  erschlichen  und  daher  ungiltig.  Di^i  ..Zauberin"  kam  jedoch 
ohne  Strafe  davon.  —  Ein  regelrechter  Hexenprozeo  faAd  am  12.  Januar 
1903  vor  dem  Bezirksgericht  in  Fadd  in  Ungarn  statt.  Die  Budapester  Zei- 
tungen vom  15.  Januar  berichteten  hierüber  in  folgendem:    Der    wohlhabende 


—    88     — 

sich  die  Frau  eines  Atamans  bis  zur  Bewußtlosigkeit  und  konnte 
trotz  aller  Mittel  nicht  leicht  wieder  zur  Besinnung  gebracht 
werden.     An   dieser  Hartnäckigkeit   der  Besoffenheit   konnte 


Landwirt  Andreas  Schukkert  kränkelte  seit  zwei  Jahren  unaufhörlich  und  an- 
geblich hatten  ihn  bereits  samtliche  Pakser  Ärzte  behandelt,  ohne  jedoch  im- 
stande zu  sein,  eine  Besserung  bei  ihm  herbeizuführen.  Während  seiner  langen 
Krankheit  hatte  sich  sowohl  bei  ihm,  als  auch  bei  seiner  Frau  der  Gedanke 
festgesetzt,  daß  ihn  jemand  ,, verwunschen"  habe  und  daß  dies  niemand  anderes 
sein  könne,  als  sein  eigener  Schwiegersohn,  der  Fleischhauermeister  Stefan 
Szalai.  In  dieser  Bedrängnis  ließ  das  Ehepaar  den  ,, Teufelsbeschwörer"  von 
Fadd  holen,  der  auch  bald  erschien  und,  nachdem  er  verschiedene  geheimnis- 
volle Zeremonien  veranstaltet  hatte,  in  einer  jeden  Zweifel  ausschließenden 
Weise  herausfand,  daß  Schukkert  in  der  Tat  ,, verwunschen"  worden  sei.  Das 
Erste,  was  das  Ehepaar  tat,  war  nun,  daß  es  Szalai  aus  dem  Hause  jagte  und 
die  Tochter  zwang,  ihren  Gatten  zu  verlassen.  Außerdem  aber  reichte  das 
Ehepaar  auch  eine  Klage  beim  Kgl.  Bezirksgerichte  ein.  Natürlich  nahm  der 
Richter  diese  Anzeige  nicht  ernst,  allein  nun  reichte  auch  Stefan  Szalai  eine 
Klage  wegen  Verleumdung  gegen  seine  Schwiegereltern  ein,  so  daß  sich  das 
Gericht  mit  der  kuriosen  Affaire  beschäftigen  mußte  und  der  Unterrichter 
Karl  Khväcsy  einen  Rechtsspruch  zu  fällen  genötigt  war.  Bei  der  Verhand- 
lung klagte  Schukkert  dem  Richter  fast  unter  Tränen,  was  er  leiden  müsse 
und  daß  die  Ursache  all  dieser  Leiden  niemand  anderes  als  Szalai  sei,  der 
ihn  durch  seine  teuflische  Kabala  verhext  habe,  um  ihn  zu  verderben  und 
sich  dann  durch  Erbschaft  in  den  Besitz  seines  Vermögens  zu  setzen.  —  ,,Wie 
können  Sie  so  dummes  2^ug  sprechen,"  sagte  der  Richter  zu  Schukkert, 
,, wissen  Sie  denn  nicht,  daß  es  weder  Hexen  noch  Zauber  gibt?"  Das  Ehe- 
paar Schukkert  ließ  sich  aber  dadurch  in  seinem  Hexenglauben  nicht  er- 
schüttern, sondern  begann  mit  felsenfester  Überzeugung  die  Details  der  ge- 
schehenen ,, Verwünschung"  zu  schildern.  ,,Als  ich  vor  einiger  Zeit  in  meinem 
Bette  lag,"  erzählte  der  alte  Schukkert,  ..ging  plötzlich  die  Türe  von  selbst 
auf  und  ein  großer  schwarzer  Hund  kam  herein.  Ich  sprang  aus  dem  Bette 
und  wollte  ihm  mit  dem  Besen  einen  Streich  versetzen,  da  hatte  sich  aber  der 
Hund  in  Luft  aufgelöst.  Als  ich  dann  in  die  Küche  hinausging,  fand  ich  ihn 
dort  wieder;  ich  wollte  ihn  auch  von  da  vertreiben,  da  begann  aber  der  Hund 
ein  schauerliches  Gelächter  auszustoßen.  Ich  hatte  mich  auch  davon  nicht 
überzeugen  lassen  und  begann  auch  bereits  an  die  Sache  zu  vergessen,  als  plötz- 
lich die  an  der  Wand  hängende  Uhr  mir  in  ihrem  Tiktak  zurief:  ,,Du  bist 
verwunschen.  Dein  Schwiegersohn  hat  dich  verzaubert".  Jetzt  erst  wandte 
ich  mich  an  den  Teufelsbeschwörer,  der  mir  —  mein  Schwiegersohn  befand 
sich  damals  auf  dem  Markte  —  sagte,  daß  er  Denjenigen,  der  mich  verhext 
habe,  zitieren  werde,  und  zwar  wäre  das  die  erste  Person,  die  ins  Zimmer 
treten  werde.  Kaum  hatte  er  jedoch  erst  die  Beschwörung  begonnen,  als 
mein  Schwiegersohn  hereintrat  mit  gesträubtem  Haar,  als  ob  ihn  der  Teufel 
bei  demselben  herbeigeführt  hätte."      Und  nun  brachte  Stefan  Szalai  seine 


—    89    — 

nur  Zauberei  schuld  sein.  Ein  Greis,  der  zufällig  dabei  war, 
wurde  bloß  wegen  seines  hohen  Alters  dieser  Zauberei  be- 
schuldigt und  sofort  halbtot  geprügelt.  —  Das  Volk  erwartet  von 
den  Zauberern  und  Hexen  nicht  bloß  übles,  sondern  verlangt 
von  ihnen  auch  Wunder  imd  Heilmittel  in  Krankheiten.  Wehe, 
wenn  sie  die  an  ihre  Kraft  geknüpften  Erwartungen  nicht 
rechtfertigen!  Im  Jahre  1889  wurde  im  Mohilewschen  Gou- 
vernement ein  Hexenmann  erschlagen,  weil  er  eine  Frau  von 
einer  Krankheit  nicht  zu  befreien  vermochte.  In  diesen  Fällen 
feiert  auch  ein  Aberglaube  Triumphe,  daß  ein  behexter  Mensch 
gesund  wird,  wenn  man  den  Zauberer  oder  die  Hexe  tötet 
und  mit  dem  Blute  der  Getöteten  den  Körper  des  Kranken 
beschmiert.  Ein  solcher  Fall  ereignete  sich  im  Jahre  1889 
im  Rauenburgischen  Kreise  i):  Die  kranke  Frau  eines  Dorf- 
ältesten beschuldigte  ihre  alte  Tante  der  Hexerei.  Die  Hexe 
wurde  zur  Kranken  geschleppt  und  am  Lager  derselben  mit 
einem  Zaunpfahl  durchbohrt;  dann  schnitt  man  der  gepfähl- 
ten Hexe  die  Finger  an  und  sammelte  das  Blut  sorgfältig 
in  einem  Gefäße,  um  die  Kranke  damit  zu  heilen. 

Die  russischen  Historiker  erzählen,  daß  Rußland  nament- 
lich im  siebzehnten  Jahrhundert  von  dem  Übel  der  Besessen- 
heit heimgesucht  wurde.  In  der  Stadt  Schuja  allein  gab  es 
damals  auf  einmal  siebzig  Besessene.  In  jedem  Orte  nah  und 
fern  ereigneten  sich  ununterbrochen  Fälle  von  Besessenheit. 
Die  Klikuschy,  wie  die  Besessenen  russisch  genannt  werden, 
litten  an  Konvulsionen  und  epileptischen  Anfällen.  Frauen 
besonders  gerieten  in  Verzweiflung,  stürzten  zu  Boden  und 
jammerten,    manchmal   ohne   besonderen   Anlaß,   gewöhnlich 


Klage  vor.  Er  sagte,  daß  man  auf  Schritt  und  Tritt  diese  Geschichte  über 
ihn  verbreitet  habe,  daß  die  Leute  ihn  beschimpften  und  verfluchten,  so,  daß 
er  nicht  mehr  unter  Menschen  gehen  und  auch  keine  Arbelt  bekommen  könne. 
Nach  Vernehmung  der  Zeugen  verurteilte  der  Richter  Andreas  Schukkert  und 
dessen  Frau  wegen  Ehrenbeleidigung,  weil  er  es  durch  die  Zeugenaussagen 
iür  bewiesen  fand,  daß  das  Ehepaar  Schukkert  den  angeblichen  Hexenspuk 
mehreren  Personen  mitgeteilt  und  dadurch  den  Kläger  der  allgemeinen  Ver- 
achtung preisgegeben  habe.  Der  arme  Schukkert  bezahlte  die  ihm  auferlegte 
Geldstrafe  und  betrachtet  auch  dieses  neue  Mißgeschick  als  eine  Folge  der 
Teufelskünste  seines  Schwiegersohnes,  des  Hexenmeisters. 
1)  Löwenstimm  a.  a.  O.  58. 


—    90    — 

aber,  wenn  sie  in  die  Nähe  eines  Heiligtums  kamen,  Kirchen- 
gesang und  Messe  hörten.  Es  ist  nachgewiesen,  daß  die  Ur- 
sache zu  der  historisch  festgestellten  förmlichen  Epilepsie-  uiid 
Krämpfeepidemie  von  den  abergläubischen  Weibern  selbst 
durch  das  Zurückhalten  der  Menstruation  hervorgerufen  wurde. 
Wen  mm  diese  hysterischen  Weiber  als  Urheber  der  Behexung 
beschuldigten,  der  wurde  den  Folterknechten  ausgeliefert.  Peter 
der  Große  suchte  die  besessenen  Weiber  nach  seiner  Art  zu 
kiu-ieren.  Er  ließ  alle,  deren  man  habhaft  werden  konnte, 
nach  Petersburg  bringen  und  in  Anstalten  einsperren,  wo  sie 
sich  durch  harte  Arbeiten  selbst  schnell  den  Teufel  austrieben.^) 
Seit  Peter  dem  Großen  sind  nun  bis  zum  Jahre  1839  nicht 
weniger  als  sieben  Erlässe  gegen  die  Besessenheit  erschienen, 
und  doch  hat  das  Übel  nichts  an  seiner  Verbreitung  noch  an 
seiner  Kraft  eingebüßt.  Außer  den  aufgezählten  einzelnen 
Fällen  gab  es  noch  in  neuerer  Zeit  wahre  Monstreprozesse  in 
Angelegenheiten  von  Besessenen  vor  allen  Gerichten  des 
Reiches;  so  am  12.  April  1861  in  Jekaterinoslaw,  am  28.  Juli 
1869  in  Jaroslaw,  am  31.  Juli  1868  imd  22.  Januar  1870  in 
Moskau. 2)  Wenn  Rußland  in  bezug  auf  seine  Kultur  im  all- 
gemeinen nach  den  eigenen  Geständnissen  der  russischen  Intelli- 
genz noch  auf  der  Stufe  des  zwölften  Jahrhunderts  steht,  so 
darf  man  behaupten,  daß  es  in  Hinsicht  auf  den  furchtbaren 
Aberglauben  imd  die  damit  zusanunenhängenden  tierischen 
Verbrechen  noch  in  seiner  heidnischen  Urzeit  stecken  ge- 
blieben ist. 


1)  Halem,  Leben  Peters  des  Großen,  III  136. 
*)  Löwenstimm  a.  a.  O.  172. 


—    91     — 


6.  Heidentum  und  Orthodoxie. 

Einfluß  der  Naturvölker  auf  zivilisierte  Europäer  —  Einfluß  der  Heiden  auf 
die  Russen  —  Machtlosigkeit  der  Ethik  in  Rußland  —  Grausamkeit  in  der 
Familie  —  Kraftlosigkeit  des  Christentums  —  Verwischung  der  Grenzen 
zwischen  Orthodoxie  und  (leidentum  —  Regierung  und  Kirche  —  Aberglaube 
der  nichtrussischen  Völker  in  Rußland  —  Kalmücken  —  Kirgisen  —  Osseten 
—  Ainos  —  Kamtschadalen  —  Tscheremissen  und  Tschuwaschen  —  Letten 
und  Esthen  —  Wotjäken  —  Die  tschudischen  Zauberer  —  Orthodoxie  und 
Heidentum  —  Heidnische  Christenfeste  und  Unsittlichkeit  —  Spaziergänge 
der  Jugend  bei  Russen  und  Wotjäken  —  Popen  als  Förderer  des  Heidentums 
und  Aberglaubens  —  Popen  bei  Tieropferungen  —  Popen  bei  Menschenopfe- 
rungen —  Popen  gegen  Vampyre  —  Nonnen  als  Hexen  —  Was  ist  Religion? 

Was  ist  Sünde? 

Die  Kulturhistoriker  und  Anthropologen  haben  schon  oft 
die  Bemerkung  gemacht,  daß  selbst  Europäer,  die  auf  der 
höchsten  Stufe  der  Zivilisation  stehen,  von  ihrer  Umgebung 
abhängen  imd,  sobald  sie  unter  Naturvölkern  leben,  zu  der 
Stufe  der  Kultur  dieser  Naturvölker  herabsinken.  Dies  gilt 
namentlich  dort,  wo  sich  Europäer  vereinzelt  unter  Natur- 
völkern ansiedeln.!)  Aber  was  bei  den  Europäern  sich  nur 
dann  ereignet,  wenn  sie  vereinzelt  unter  eine  Masse  fremd- 
artiger Umgebungen  geraten,  das  geschieht  bei  den  Russen, 
auch  wenn  sie  in  ganzen  Gruppen  unter  Fremdvölkem  wohnen ; 
ja  sogar  dort,  wo  die  Russen  die  Herrschenden  sind  und  die 
Übermacht  haben,  ordnen  sie  sich  bald  und  leicht  der  fremden 
Kultur  unter,  die  noch  tiefer  steht  als  ihre  eigene.  Der  seit 
tausend  Jahren  orthodox  christliche  Russe  fühlt  und  denkt 
noch  so  durchaus  heidnisch,  daß  er  sich  in  einem  Kreise  von 
Heiden,  wo  sein  abergläubischer  Sinn  und  seine  rohe  Auf- 
fassung der  Sittlichkeit  die  leichteste  Anpassung  an  gestattete 
und  offen  geduldete  Gebräuche  finden,  wieder  glücklich  als 
ganzer  Heide  vorkommt.  Leroy-Beaulieu^)  sagte:  „Wenn  der  rus- 
sische Ackersbauer  unter  eine  götzendienerische  Bevölkerung 


1)  Dr.  Heinrich  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur.     Leipzig  und  Wien 
1900.     S.   14. 

«)  Das  Reich  der  Zaren.     III  36. 


—    92    — 

• 

versetzt  wurde,  adoptierte  er  außerordentlich  leicht  die  aber- 
gläubische Vorstellung  seiner  neuen  Umgebung  und  bisweilen 
sogar  die  heidnischen  Riten."  Wir  haben  aber  bereits  er- 
fahren und  werden  es  bis  zum  Schlüsse  in  diesem  ganzen 
Buche  noch  sehen,  daß  nicht  nur  der  russische  Ackerbauer, 
sondern  alle  Schichten  des  russischen  Volkes  ohne  Ausnahme 
demselben  Gesetze  des  Herabsinkens  zu  noch  tieferen  Kulturen, 
zu  einer  noch  laxeren  Sittlichkeit  unterliegen.  Wir  kennen 
die  tierische  Verkommenheit,  die  zügellose  Barbarei,  die  nicht 
bloß  in  den  Provinzen,  sondern  auch  in  den  Zentren  und 
Residenzen  des  europäischen  Rußland  herrschen.  Wir  werden 
noch  mehr  über  diese  Roheit  der  Geister,  die  wahrhafte 
Impotenz  der  Ethik  in  Rußland  erfahren  müssen.  Ein  Jahr- 
tausend seit  der  Einführung  des  Christentums  hat  sich  ver- 
flüchtigt wie  der  Steppenrauch  und  nichts  ist  geblieben  als  eine 
dünne  Schicht  falscher  Zivilisation,  welche  die  überall  durch- 
brechende imzerstörbare  Wildheit  nicht  zu  decken  vermag. 
Es  sind  durchaus  nicht  zufällige  vereinzelte  Erscheinungen, 
mit  denen  wir  uns  zu  befassen  haben,  sondern  Glieder  einer 
erdrückend  schweren,  einer  endlos  langen  Kette,  die  in  ihrem 
Zusammenhange  um  das  ganze  Reich  sich  schlingt,  das  ganze 
Volk  in  ihre  Ringe  schließt.  Wenn  wir  mitteilen,  daß  ein 
Bauer  seine  Tochter  röstet,  um  sie  zu  einem  Geständnis  in 
einer  harmlosen  Sache  zu  zwingen,  so  ist  es  nicht  der  eine 
zufällig  erwähnte  Bauer,  der  unser  Entsetzen  hervorruft,  son- 
dern wir  sehen  einen  Typus  von  Hunderten,  von  Tausenden 
vor  uns;  einen  einzigen  Fall  von  endlos  vielen  der  gleichen 
Art.  Wenn  wir  erzählen,  wie  Söhne  ihre  Mütter  aus  Aber- 
glauben umbringen,  wie  Gatten  ihre  Gattinnen,  Töchter  ihre 
Mütter  und  Mütter  ihre  Kinder  als  Hexen  und  Zauberer  dem 
Martertode  ausliefern,  so  sind  dies  wieder  nicht  schauerliche 
Ausgeburten  einer  finsteren  Zeit,  sondern  ständige  Vorkomm- 
nisse der  Gegenwart,  die  statistisch  festzustellen  sind  wie  Ge- 
burten und  Todesfälle  und  häufiger  stattfinden  als  in  anderen 
Ländern  Verbrechen;  nein,  nicht  Verbrechen,  sondern  bloße 
Vergehen.  Die  Lehren  und  Sittlichkeitsauffassungen  des 
Christentums  sind  an  den  Russen  vollständig  wirkungslos  ab- 
geprallt.    Daher  kommt  es,  daß  die  Russen  im  europäischen 


—    93    — 

Rußland  zwar  noch  im  Scheine  des  offiziellen  Christentvuns 
wandeln,  sklavisch  die  Vorschriften  der  Kirche  beobachten, 
aber  sofort  ihr  innerstes  Heidentum  hervorkehren,  sobald  sie 
sich,  endlich  von  den  Fesseln  der  staatlichen  Kirchenaufsicht 
befreit,  in  den  asiatischen  Provinzen  niederlassen.  In  Sibirien 
schließen  sich  die  Altgläubigen  ganz  offen  den  Religionsübun- 
gen der  Schamanen  an  und  an  den  Ufern  der  Lena  besuchen 
auch  die  orthodoxen  Russen,  nicht  vereinzelt  sondern  gemeinde- 
weise, die  buddhistischen  Heiligtümer  der  Bur jäten,  ihrer  Nach- 
barn, um  dort  zu  beten  und  zu  opfern,  als  wären  sie  in  russi- 
schen Tempeln.i)  In  der  Gegend  von  Irkutsk,  der  Haupt- 
stadt des  ostsibirischen  Generalgouvernements,  der  Residenz 
eines  orthodoxen  Erzbischofs,  findet  man  in  den  russischen 
Isbas  burjatische  Götzen  und  in  den  Hütten  der  Burjäten  die 
Bildnisse  des  heiligen  Nikolaj.  Aber  wir  brauchen  nicht  so 
weit  zu  reisen.  Auch  im  europäischen  Rußland,  in  den  Ge- 
bieten der  Wolga-Gouvernements,  unterliegen  die  Russen  trotz 
der  Angst  vor  Kirchenstrafen  und  vor  Verfolgungen  der  Re- 
gierung immerfort  dem  Einflüsse  der  polytheistischen  Tschu- 
waschen und  Tscheremissen  und  deren  Fetischlehren.  Die 
Neigung  zu  Aberglauben,  Zaubermitteln  und  grausamen  wie 
schamlosen  Verbrechen  wird  durch  die  heidnischen  Gebräuche 
viel  eher  befriedigt  und  gerechtfertigt,  als  durch  eine  euro- 
päische Zivilisation  und  eine  edle  Auffassung  christlicher 
Lehren,  für  deren  Verbreitung  in  Rußland  in  tausend  Jahren 
sowohl  der  Staat  als  die  Kirche  bloß  Oberflächliches  getan 
haben.  Die  Regierung  hat  nie  ein  aufrichtiges  Interesse  an 
der  Aufklärung  gezeigt;  sie  verfolgte  im  Gegenteile  stets  das 
Prinzip  der  Unterdrückung  aller  Kultur,  der  Steigenmg  aller 
Dununheit  und  Unsittlichkeit,  aller  Laster  und  schlechten  In- 
stinkte. Es  gibt  eigentlich  nur  ein  einziges  Buch,  das  zensur- 
frei erscheinen  darf  imd  daher  am  stärksten  verbreitet  ist; 
das  ist  der  Ssonnik,  das  Traumbuch,  aber  nicht  einmal  die 
Bibel.  Denn  die  selbstherrliche  Regierung  ließ  vorsichtiger- 
weise neben  sich  auch  keinen  gebildeten  Klerus  aufkommen, 
und   aus    eigener   Kraft    hat   sich    die   Geistlichkeit    nie    dazu 


^)  Leroy-Beaulien  a.  a.  O. 


—    94    — 

aufraffen  wollen,  die  Religion  aus  dem  Sumpfe  der  Verkom- 
menheit, in  den  sie  immer  tiefer  versunken  ist,  emporzuheben 
zu  reiner  Höhe  und  auf  einen  Gipfel,  von  wo  sie  Glanz  und 
Erleuchtung  zugleich  hätte  ausströmen  können.  Es  ist  wahr- 
lich schon  des  Staunens  wert,  daß  Rußland  bei  alledem  wenig- 
stens dem  Namen  nach  noch  christlich  geblieben  ist,  da  das 
Wesen  der  Religion  mit  dem  Christentum  nichts  gemein  hat 
als  die  Reste,  die  sich  aus  dem  Heidentum  in  einzelne  christ- 
liche Festgebräuche  hinübergerettet  haben. 

Wenn  wir  nur  einen  flüchtigen  Überblick  über  die  aber- 
gläubischen Sitten  imd  Gebräuche  der  nichtrussischen  Völker 
in  Rußland  werfen,  müssen  wir  schon  erkennen,  daß  die  christ- 
lichen Russen  genau  denselben  Aberglauben,  genau  dieselben 
Gebräuche  besitzen  wie  die  Heiden  in  Rußland;  daß  in  dieser 
Hinsicht  nicht  einmal  ein  Unterschied  gemacht  werden  kann 
zwischen  Russen  einerseits  und  Kalmücken,  Kirgisen,  Tungusen, 
Burjäten,  Wotjäken,  Kamtschadalen,  Osseten  oder  Tschu- 
waschen andererseits.  Es  liegt  nicht  in  meinem  Plane,  das 
Thema  des  Aberglaubens  in  bezug  auf  alle  nichtrussischen 
Völker  Rußlands  zu  erschöpfen.  Ich  will,  wie  es  auch  bei 
der  Schilderung  des  Aberglaubens  der  Russen  geschehen  ist, 
und  hier  natürlich  in  noch  mehr  reduziertem  Maße,  nur  einige 
wenige  charakteristische  Momente  aus  dem  Aberglauben 
einiger  weniger  nichtrussischer  Völker  zum  Vergleiche  mit 
dem  Aberglauben  der  Russen  hervorheben. 

„An  Aberglauben  übertrifft  der  Kalmück  alle  bekannte 
Völker.  Jahrhunderte  wären  nöthig,  um  die  Macht  ihres  Vor- 
urtheils  zu  bezähmen**;  also  schrieb  ein  Livländer,  der  zwei 
Jahre  unter  den  Kalmücken  gelebt  hat,  vor  hundert  Jahren.^) 
Vergleichen  wir  nun  die  von  diesem  Schriftsteller  angeführten 
abergläubischen  Gebräuche  und  Auffassungen  der  Kalmücken 
mit  den  russischen  —  der  Zeitunterschied  von  hundert  Jahren 
braucht  nicht  in  Betracht  gezogen  zu  werden,  da  sich  bei 
diesen  Völkern  in  einem  Säkulum  nichts  geändert  hat  —  so 
werden  wir  finden,  daß  die  Kalmücken  zwar  ihren  Aberglauben 


1)  Benjamin  Bergmanns  Nomadische  Streif ereien  unter  den  Kalmücken 
in  den  Jahren  1802  und  1803.   (Vier  Teile.)  Riga  1804.   II.  Tl.  S.  258  und  261. 


—    95    — 

in  ein  System  gebracht  haben,  aber  daß  alle  diese  Gebräuche 
und  Sitten  großenteils  harmloser  Natur  sind  und  nur  selten 
zu  solchen  wahnsinnigen  Kapital-  und  Sittlichkeitsverbrechen 
führen  wie  bei  den  Russen.  Den  bedeutendsten  Platz  im  Aber- 
glauben der  Kalmücken  nimmt  wie  bei  den  Russen  die  Be- 
stimmung der  glücklichen  und  unglücklichen  Tage  ein.^)  Eine 
eigene  Klasse  der  kalmückischen  Priester,  die  ihre  besondere 
Bezeichnung  Dsurchaitschi  führt,  beschäftigt  sich  mit  solcher 
Bestimmung.  Bei  feierlichen  Gelegenheiten  zieht  man  die 
Meinung  dieser  Gelehrten  zu  Rate.  Die  Liste  der  schwarzen 
und  der  weißen  Tage  ist  auf  Monatstafeln  verzeichnet,  und  der 
Dsurchaitschi  entscheidet  mit  einem  Blicke  auf  seine  zwölf 
Monatstafeln  schnell  jede  Anfrage.  Ohne  Befragimg  des  Dsur- 
chaitschi wird  keine  Reise  angetreten,  keine  Hochzeit  voll- 
zogen, keine  Leiche  bestattet.  Den  Kalmücken  liegt  sehr  viel 
daran,  ob  sie  im  Hundejahre,  im  Pferdejahre  oder  irgend  einem 
anderen  Jahre  geboren  sind.  Wer  also  in  einem  Hundejahre 
geboren  ist,  darf  nur  in  einem  Hundejahre  heiraten.  Den 
Tod  vermag  man  natürlich  nicht  nach  dem  Jahre  einzurichten ; 
aber  die  Stunde  der  Beerdigung  kann  willkürlich  festgesetzt 
werden  imd  sie  muß  der  Stunde  der  Geburt  entsprechen. 
Von  dem  nachteiligen  Einflüsse  der  Mißgeburten,  des  Vogel- 
fluges und  der  Tierstimmen  auf  die  Schicksale  der  Menschen 
handehi  zahlreiche  Bücher  der  kalmückischen  Literatur.  Die 
Dsurchaitschi  kennen  genau  diese  Werke.  Nicht  alle  Vögel 
des  europäischen  und  russischen  Aberglaubens  sind  Gegen- 
stand des  kalmückischen,  aber  dafür  sind  im  letzteren  andere 
Augurvögel  vorhanden.  Einer  der  heiligsten  Vögel  ist  der 
Kranich,  dessen  Erlegung  ein  schweres  Verbrechen  wäre ;  denn 
der  Kopf  des  Kranichs  stellt  den  beschorenen  Schädel  eines 
Priesters  vor.  Verfolgt  ist  dagegen  die  weiße  Bergeule;  man 
schießt  sie,  zerhackt  sie  in  Stücke  imd  hängt  die  einzelnen 
Teile  in  den  Ställen  auf,  das  bringt  den  Herden  Gedeihen. 
Wenn  man  auf  einer  Reise  den  weißen  Mäusefalken  von  der 
Linken  zur  Rechten  fliegen  sieht,  so  bedeutet  dies  guten  Er- 
folg;  fliegt   der  Vogel   von  rechts   nach  links,   so  ist  es  am 


1)  Bergmann  a.  a.  O.  S.  261  ff. 


—    96    — 

klügsten,  die  Reise  aufzugeben.  Ein  Unglücksvogel  ist  der 
Flamingo.  Die  Taube  hat  nicht  die  Bedeutung  wie  bei  den 
Russen;  wenn  man  sie  unter  dem  Dache  eines  Hauses  er- 
wischt, tötet  man  sie  durch  einen  Peitschenhieb.  Im  allge- 
gemeinen  gilt  es  als  Unglückszeichen,  wenn  sich  Vögel  auf 
das  Dach  einer  Hütte  setzen.  Die  Schlange  genießt  kein  An- 
sehen, sie  ist  ein  Unglückstier.  Es  ist  Sünde,  sich  auf  die 
Schwelle  einer  Tür  hinzusetzen.  Der  Herd  ist  eine  heilige 
Stätte  und  das  Feuer  göttlich;  man  darf  nicht  auf  den  Herd 
treten,  die  Füße  nicht  nahe  ans  Feuer  geben,  eine  Feuer- 
flanmie  nicht  schwenken.  Wagt  man  im  Herbst  und  Winter 
zu  pfeifen,  so  ruft  man  Stürme  und  Schnee  herbei.^)  Im  Winter 
und  Herbst  darf  man  keine  Legenden  von  schrecklichen  Göttern 
lesen,  sonst  entsteht  stürmisches  Wetter.  Wer  seine  Tabaks- 
pfeife mit  einem  Papier  anzündet,  stirbt  in  Kurzem.  Den  Drei- 
fuß darf  man  nicht  schlagen.  —  Diese  kalmückischen  aber- 
gläubischen Meinungen,  sagt  Benjamin  Bergmann  bei  ihrer 
Aufzählung^),  sind  allgemein  verbreitet,  Adel,  Geistlichkeit  hul- 
digen ihnen  noch  mehr  als  das  gemeine  Volk.  Sie  sind  gött- 
liche Lehrsätze,  deren  Nichtachtung  ein  Verbrechen  wäre,  der 
strengsten  Ahndung  in  den  künftigen  Wanderungen  würdig. 
Bei  den  Kirgisen  ist  die  Weissagung  aus  den  Büchern  eben- 
falls Sache  einer  besonderen  Klasse  von  Priestern,  die  Faltscha 
heißen.^)  Die  Jauruntschi  dagegen  sind  Priester  oder  Zauberer, 
die  aus  dem  Schulterblatte  eines  Schafes  prophezeien.  Wenn 
sie  das  Schulterblatt  auf  ein  Feuer  legen,  können  sie  aus  den 
Rissen  und  Spalten  die  Entfernung  eines  abwesenden  Menschen 


1)  In  Livland  sagt  man:  Pfeift  man  am  Abend,  so  ruft  man  den  Teufel 
zor  Nacht  herbei. 

«)  a.  a.  O.  S.  265. 

•)  Ausführliches  in  den  Reisen  von  Pallas,  von  denen  ich  die  seltene 
französische  Ausgabe  in  fünf  Bänden  in  4®  nebst  einem  Atlas  besitze:  ,,Voyages 
de  M.  P.  S.  Pallas,  en  differentes  provinces  de  1' Empire  de  Russie,  et  dans 
l'Asie  septenthonale,  traduits  de  Tallemand  par  M.  Gauthier  de  la  Peyronie. 
Paris  1788."  —  Am  häufigsten  ist  der  deutsche  Auszug  in  einem  kleinen  Oktav- 
bändchen  von  300  Seiten,  auf  den  ich  daher  hier  bezug  nehme:  , .Merkwürdig- 
keiten der  Morduanen,  Kasaken,  Kalmücken,  Kirgisen,  Baschkiren.  Ein  Aus- 
zug aus  Pallas  Reisen.  Frankfurt  und  Leipzig  1773."  Über  kirgisischen  Aber- 
glauben S.  282. 


—    97    — 

bestimmen.  1)  Die  Bakscha-Zauberer  brauchen,  um  Propheten  zu 
werden,  die  Opferung  eines  Pferdes,  Schafes  oder  Bockes, 
und  führen  dann  bei  ihren  Weissagungen  mit  Zaubertronunel 
und  Klapperringen  einen  Zaubertanz  auf,  werfen  die  bemalten 
Knochen  der  geopferten  Tiere  gen  Westen  und  verschütten 
nach  derselben  Himmelsrichtung  auch  das  Blut  der  Opfer. 
Eine  vierte  Art  Zauberer  sind  die  Ramtscha,  die  Butter  oder 
Fett  ins  Feuer  schütten  und  aus  der  Farbe  der  Flammen  wahr- 
sagen. Die  Hexen,  Dschaadugar,  bezaubern  die  Gefangenen 
und  Sklaven,  um  sie  an  der  Flucht  zu  hindern;  die  Be- 
zauberung geschieht  auf  folgende  Weise:  man  rauft  dem  zu 
Bezaubernden  ein  paar  Haare  aus,  fordert  seinen  Namen  und 
bringt  den  Mann  dann  auf  den  Feuerplatz;  seine  Fußstapfen 
werden  von  der  Hexe  angespuckt,  seine  Zunge  aber  mit  Asche 
vom  Feuerplatze  bestreut. 

Im  Kaukasus  hat  jedes  der  dort  lebenden  Völker  seine 
abergläubischen  Spezialitäten.  Der  Unterschied  zwischen 
Christen,  Moslems  und  Heiden  besteht  gewöhnlich  nur  in  Äußer- 
lichkeiten. Bei  den  Osseten  beispielsweise  gelten  diejenigen, 
welche  Schweinefleisch  essen,  als  Christen;  jene  aber,  welche 
kein  Schweinefleisch  essen,  sind  die  Moslems.  Sowohl  diese 
sogenannten  Moslems  als  diese  sogenannten  Christen  opfern 
nach  alten  heidnischen  Gebräuchen  in  Höhlen  und  heiligen 
Hainen,  auf  uralten  Altären  und  Steinhaufen.  Wenn  jemand 
vom  Blitze  erschlagen  wird,  so  gilt  er  als  heilig  und  wird 
an  der  Stelle,  wo  er  gefallen,  unter  allgemeinem  Jubel  be- 
graben; das  Grab  wird  zu  einem  Wallfahrtsorte.  ™an  glaubt, 
daß  der  heilige  Elias,  der  Herr  der  Felsgebirge,  den  durch 
den  Blitz  Erschlagenen  unmittelbar  zu  sich  genommen  habe. 
Hunde,  Katzen  und  Esel  sind  bei  den  Osseten  zauberhafte 
Tiere.  Wenn  man  an  jemanden  eine  Forderung  hat  oder  von 
jemandem  beleidigt  worden  ist  und  nicht  zu  seinem  Rechte 


1)  Wie  sich  diese  Wahrsager  durch  zweideutige  Orakelsprüche  schlau 
aus  der  Af faire  zu  ziehen  wissen,  wird  erzählt  in  ..Des  Herrn  Kapitains  Niko- 
laus Rytschkow  Tagebuch  über  seine  Reise  in  die  Kirgiskaisakische  Steppe 
im  Jahre  1771  aus  der  russischen  Ausgabe  zu  St.  Petersburg  vom  Jahr  1772 
übersetzt  von  Hase."  In  Büschings  Magazin  für  die  neue  Historie  und  Geo- 
graphie, Bd.  VII,  417 — 474.     Vgl.  S.  458 — ^459. 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Ru&land.  7 


—    98    — 

gelangen  oder  Genugtuung  erhalten  kann,  so  wendet  man 
folgendes  Mittel  an:  man  schlachtet  auf  dem  Grabe  der  Vor- 
fahren des  Schuldners  oder  Beleidigers  eine  Katze,  einen  Hund 
oder  Esel.  Dadurch  geraten  die  Seelen  der  Verstorbenen  in 
Gefahr,  zu  Katzen,  Hunden  oder  Eseln  degradiert  zu  werden, 
wenn  nicht  der  Nachkomme  schleunigst  seine  Schuld  begleicht 
oder  dem  Beleidigten  Genugtuung  gibt.  Es  kommt  niemals 
vor,  daß  dieses  Mittel  nicht  helfen  würde.^) 

Das  Feuer,  das  im  russischen  Aberglauben  eine  große 
Rolle  spielt,  hat  auch  bei  vielen  Völkern  im  äußersten  Nord- 
osten eine  besondere  Bedeutung.  Bei  den  Ainos  auf  Sachalin  2) 
ist  es  verboten,  das  Feuer  des  Herdes  aus  dem  Hause  zu 
tragen.  Das  Herdfeuer  muß  Winter  wie  Sonmier  fortbrennen, 
denn  wenn  das  Feuer  verlöscht,  ist  es  der  Hausgeist  der  stirbt. 
Wenn  man  fortgehen  oder  schlafen  muß,  dann  deckt  man 
das  Feuer  sorgfältig  niit  Asche  zu,  um  bei  der  Rückkehr 
oder  beim  Erwachen  noch  einige  glimmende  Reste  zu  finden. 
Das  Herdfeuer  darf  man  nur  mit  dem  Feuerstahl  anzünden, 
während  man  Zündhölzchen  höchstens  für  das  Anbrennen  der 
Tabakspfeifen  verwenden  soll.  Man  hüte  sich,  ein  Zündhölz- 
chen, eine  brennende  Zigarette  oder  sonst  etwas  Brennendes 
ins  Wasser  fallen  zu  lassen;  das  wäre  die  schwerste  Sünde: 
Feuer  wird  dann  durch  Wasser,  der  hohe  Feuergott  durch 
einen  niedrigen  Wassergeist  besiegt.  —  Bei  den  Kamtscha- 
dalen^)  ist  es  Sünde,  sich  in  heißem  Wasser  zu  waschen, 
heißes  Wasser  zu  trinken  oder  sich  Vulkanen  zu  nähern. 

Besonderes  Interesse  gebührt  den  Gebräuchen  der  Tschere- 


1)  August  Freiherr  von  Haxthausen,  Transkaukasia.  Andeutungen 
über  das  Familien-  und  Gemeindeleben  und  die  sozialen  Verhältnisse  einiger 
Völker  zwischen  dem  Schwarzen  und  Kaspischen  Meere.  Reiseerinnerungen 
und  gesammelte  Notizen.  Leipzig  1856  (2  Bände)  II  17.  —  Man  vgl.  femer 
über  den  Aberglauben  der  kaukasischen  Völker  die  bekannten  Werke  von 
Karl  Koch,  Roderich  von  Erckert,  Schweiger-Lerchenfeld,  Gustav  Radde, 
C.  Hahn,  Baron  Thielemann,  Bodenstedt  und  die  älteren  Arbeiten  von  Han- 
way,  Chardin,  Klaproth,  Güldenstädt,  Reineggs,  Eichwald,  Wagner  und  Neu- 
mann. 

2)  P.  Labb6,  Un  bagne  russe.    L'ile  de  Sakhaline,  Paris  1903.    p.  193. 
S)  Histoire  de  Kamtschatka,  des  lies  Kurilski  et  des  contr6es  voisines. 

Publice  en  Langue  Russienne,  traduite  par  M.  £♦♦♦.    A  Lyon  1767.    II  169. 


—    99    — 

missen,  Tschuwaschen  und  Wotjäken.  Die  Tscheremissen^) 
arbeiten  während  der  Kornblüte,  etwa  drei  Wochen  lang,  gar 
nicht.  Arbeiten  in  dieser  Zeit  ist  Sünde.  Nur  das  Unkraut 
darf  man  ausreuten.  Nach  den  drei  Wochen  begibt  man  sich 
—  auch  bei  den  christlichen  Tscheremissen  —  in  den  Wald 
nach  den  alten  Opferplätzen  und  schlachtet  dort  Kühe,  Schafe 
und  Hausgeflügel  den  Göttern  zu  Ehren.  Die  Opfertiere  wer- 
den auf  Kosten  der  ganzen  Gemeinde  gekauft,  beim  Handel 
darf  nicht  gedungen  werden.  Das  Fest  fällt  um  die  Johannis- 
zeit.  Im  Walde  bezeichnet  auf  freier  Stelle  ein  einsamer  hoher 
Baum  den  Opferplatz.  Dort  versammeln  sich  die  Männer, 
die  Frauen  haben  keinen  Zutritt.  Drei  Tage  bleibt  man  vereint; 
während  dieser  Zeit  darf  man  nicht  rauchen,  schnupfen,  Brannt- 
wein oder  Bier  trinken.  Dagegen  ist  Met  zu  trinken  erlaubt, 
er  muß  aber  auf  dem  Opferplatze  selbst  bereitet  worden  sein. 
Sieben  Feuer  werden  in  einer  Linie  angezündet  von  Nordwest 
nach  Südost  und  vor  jedem  Feuer  breitet  man  ein  Tuch  aus. 
Sechs  Feuer  sind  Göttern  geweiht,  das  siebente  aber  gilt  der 
Jumon  Awa,  der  Gottesmutter.  Die  Zeremonie  verläuft  wie  eine 
christliche  Messe.  Und  so  wie  sich  Heidentum  und  Orthodoxie 
hier  mengen,  so  nehmen  an  dem  Feste  nicht  bloß  heidnische 
und  christliche  Tscheremissen,  sondern  auch  rechtgläubige 
Russen  teil.  Das  Gleiche  ist  bei  den  Gottesdiensten  der  Tschu- 
waschen zu  beobachten. 

Von  dem  Aberglauben  der  alten  Letten  und  Esthen  lesen 
wir  bei  Hiärn^):  „Wenn  bei  den  Letten  jemand  über  See 
verreist  und  lange  ausgeblieben  war,  gössen  sie  zerschmoltze- 
nen  Wachs  ins  Wasser  und  nahmen  ihre  Deutung  aus  dem 
Gestalt  des  Wachses,  wie  es  umb  den  reisenden  stünde.**  — 
„In  Ehstland  haben  sie  noch  diesen  abergläubischen  Gebrauch, 
daß  sie  alle  neue  Jahr  einen  Götzen  von  Stroh  in  Gestalt 
eines  Mannes  machen,  den  sie  Metziko  nennen,  und  eignen 
ihm  zu  die  Krafft,  daß  er  ihr  Viehe  vor  den  wilden  Thieren 
bewahren  und  ihre  Grentze  hütten  solle.  Diesen  begleiten 
sie   alle   aus   dem   Dorff,   und   setzen   ihn  an   dero   Grentzen 


^)  Haxthausen,  Studien  über  die  inneren  Zustände  Rußlands.     I  446. 
«)  a.  a.  O.,  30—33.  169. 

7* 


—     100     — 

auf  den  nächsten  Baum."  —  „Den  neuen  Mond  grüßen  noch 
die  Ehsten  mit  folgenden  Worten:  Terre  Terre  Kun  sina  wanax 
mina  norex  Kun  Kulda  pelgex  Rauta  Rohwat  terwex  pidagex. 
Den  eigentlichen  Verstand  können  sie  selbst  nicht  wissen,  son- 
dern sagen,  sie  habens  von  ihren  Vor-Eltern  also  gehöret  und 
gelernet.  Meiner  Meinung  nach  könnte  mans  also  verteut- 
schen:  Sey  gegrüßet,  Mond,  daß  du  alt  werdest,  und  ich 
jung  bleibe.  Dem  Monde  gedeye  das  Gold  zu  seiner  Schönheit, 
die  Menschen  aber  mögen  so  gesund  bleiben,  wie  das  Eisen 
fest  und  starck  ist.**  Diese  altlettischen  und  estnischen  Ge- 
bräuche sind  bei  den  Russen  in  getreuer  Nachahmung  an- 
zutreffen. 

Wir  haben  nun  noch  einiges  von  den  Wotjäken  zu  sagen, 
deren  Aberglaube  dem  russischen  am  nächsten  steht. 

Bei  den  Wotjäken  gibt  es  eine  Unmenge  abergläubischer 
Anzeichen  und  Anempfehlungen.  Wir  erwähnen  folgende^): 
Wenn  der  Bär  in  des  Dorfes  Nähe  seine  Höhle  gegraben  hat, 
wird  das  Jahr  wildreich  sein.  Wenn  der  Rosse  Mähnen  sich 
verwirren,  wohnt  die  viehhütende  Gottheit  im  Stalle.  Wenn  der 
Hund  heult,  geschieht  irgend  ein  Unheil.  Wenn  die  Katze  ihre 
Ohren  wäscht,  wird  schlechtes  Wetter.  Wenn  das  Schwein 
grunzend  Stroh  zu  seiner  Schlafstelle  trägt,  wird  kaltes  Wetter. 
Wenn  du  im  Frühjahre  das  Schwein  die  gefrorene  Erde  auf- 
wühlen siehst;  oder  wenn  du  den  Schweinigel  ausgestreckt 
liegend  siehst,  wirst  du  im  selben  Jahre  sterben.  Wenn  das 
Eichhörnchen  für  den  Winter  viele  Tannenzapfen  sammelt, 
wird  der  Winter  kalt  sein.  Wenn  du  eine  Ratte  während  einer 
Hochzeit  fängst  und  sie  in  den  Bach  wirfst,  werden  die  übrigen 
Ratten  aus  deinem  Hause  auswandern.  Ißt  du  von  Mäusen 
angefressenes  Brot,  werden  deine  Zähne  nie  schmerzen.  Die 
Getreideart,  welche  die  Mäuse  besonders  gefressen  haben,  wird 
in  dem  Jahre  nicht  besonders  gedeihen.  Wenn  im  Frühjahr 
die  Vögel  zeitig  ankommen,  wird  der  kommende  Sommer  warm 


1)  Dr.  B.  Munkdcsi,  Votjäk  nöpkölt6szeti  hagyomänyok.  Verfasser  hat 
im  Auftrage  der  ungarischen  Akademie  der  Wissenschaften  1885  eine  Studien- 
reise im  Lande  der  Wotjäken  und  Wogulen  unternommen  und  als  Ergebnis 
zitiertes  Werk  in  ungarischer  Sprache  im  Verlage  der  genannten  Akademie 
herausgegeben.  —  Auszüge  aus  diesem  Buche  in  ,.Am  Urquell'*  IV  88 — 91. 


—     101     — 

sein.  Wenn  der  Hahn  mittags  kräht,  wird  Krieg  werden.  Wenn 
deine  Henne  wie  ein  Hahn  kräht;  oder  wenn  deine 
Henne  ein  winziges  Ei  legt;  oder  wenn  die  Henne  sich  nicht 
bis  spät  abends  zum  Schlafen  setzt,  so  ist  Unheil  im  Anzug. 
Wenn  sich  eine  Krähe  aufs  Hausdach  setzt,  wird  in  diesem 
Hause  bald  ein  toter  Mensch  sein.  Wenn  an  deinem  Hause 
eine  Mauerschwalbe  oder  Taube  lebt,  so  wirst  du  glücklich 
leben;  wenn  eine  veCä-Schwalbe  (hirundo  rustica)  lebt,  so  wirst 
du  verarmen.  Wenn  der  Kuckuck  auf  deinem  Drecke  sitzend 
seinen  Ruf  erschallen  läßt  und  du  ihn  hörst,  wirst  du  im 
selben  Jahre  sterben.  Wenn  du  im  Frühling  zuerst  von  allen 
Vögeln  die  Wachtel  hörst,  werden  das  ganze  Jahr  hindurch 
deine  Pferde  fett  sein ;  hörst  du  aber  den  Wachtelkönig,  werden 
deine  Pferde  mager,  ausgehungert  sein.  Wenn  sich  die  Schaf - 
zacke  in  deinen  Nacken  einbeißt,  wächst  hoch  dein  Hanf. 
Schwarze  Ameisen  im  Hause  bedeuten  Glück,  Borkenkäfer  da- 
gegen Unglück.  Im  Regen  stehend  wächst  du  groß.  Beim 
ersten  Donner  im  Frühling  leg  dich  auf  die  Erde.  Wenn  es 
donnert,  halte  deinen  Hund  nicht  in  der  Stube,  neben  ihm 
geht  Schajtan  (Satan)  einher.  Wenn  nach  Inmars  (des  obersten 
Gottes)  Blitzschlag  Feuer  entsteht,  so  lösche  es  mit  Bier  oder 
Kwaß  oder  Milch;  mit  Wasser  kannst  du  es  nicht  auslöschen. 
Das  von  Inmars  Blitz  getroffene  Holz  ist  ein  Material  für 
gutklingende  Harfen.  Wenn  du  nachts  ein  Irrlicht  siehst, 
sprich:  Mein  Herr!  Dieses  Irrlicht  ist  die  Seele  einer  verstor- 
benen Hexe,  des  Menschen  Seele  zu  erhaschen  schweift  das 
Irrlicht  umher.  Im  Frühling  darf  man  nicht  Eier  essen  oder 
viel  schlafen,  man  bekommt  davon  die  Gelbsucht.  Wenn  die 
Sonne  untergeht,  schlafe  nicht;  dein  Kopf  wird  dir  schmerzen. 
Mittwoch  und  Freitag  beginne  nicht  zu  arbeiten.  Bei  Neu- 
mond beginne  nicht  das  Düngen  oder  welche  Arbeit  immer. 
Zu  Neumond  geborenes  Kind  wird  ein  schweres  Leben  haben. 
Am  21.  März  lege  man  die  Schlitten  beiseite;  an  diesem  Tage 
feiern  selbst  die  Tiere;  da  bellt  weder  ein  Hund,  noch  baut 
ein  Vogel  sein  Nest.  Wenn  du  im  Traume  ins  Wasser  fällst 
und  untersinkst,  wirst  du  sterben.  Wenn  du  im  Traume  vom 
Hausdach  herabfällst,  wirst  du  wachsen.  Wenn  du  im  Träume 
ein  neues  Haus  siehst,   so  stirbst  du  selbst  oder  es  wird  in 


—     102     — 

deinem  Hause  ein  Toter  sein.  Wenn  du  im  Traume  einen 
Pfarrer  siehst,  wirst  du  in  deinem  Hause  einen  Toten  haben. 
Damit  dein  geträumter  Traum  nicht  über  dich  komme,  so 
spucke  wenn  du  deine  Notdurft  verrichtet  hast  auf  deinen 
Dreck. 

Die  Wotjäken  ehren  außerordenthch  ihre  Wahrsager,  denn 
diese  erhahen  ihre  Ausbildung  direkt  von  den  Göttern  und 
Engebi.  Der  Priester  Wasüjev^)  erzähh:  Die  Götter  lehren 
den  Wahrsager  über  einen  Bach  gehen  und  warnen  ihn  vor 
dem  Absturz;  stürzt  er,  so  schlagen  ihn  die  Götter.  Sie  lassen 
den  Wahrsager  über  die  Wipfel  und  Birken  springen  oder  in 
Schlangen  schlüpfen,  die  Feuer  atmen.  Der  Wahrsager  legt 
sich  eine  Silbermünze  auf  den  Finger  und  sieht  und  erkennt 
aus  dieser  Münze  alles.  Wer  ein  Wahrsager  werden  wird, 
erkennt  das  Volk  daran,  daß  der  von  den  Göttern  Bestimmte 
sich  oft  vom  Hause  entfernt,  um  sich  durch  die  Götter  unter- 
richten zu  lassen.  Niemand  weiß,  wohin  der  Wahrsager  geht. 
Der  Auserwählte  zeigt  sich  gewöhnlich  närrisch,  er  schreit  und 
schlägt  sich.  Im  Feuer  verbrennt  er  nicht.  Viele  Wahrsager 
machen  verblüffende  Kunststücke  und  gewinnen  dadurch 
Ansehen. 

Zauberer,  Hexen  und  Geister  gibt  es  bei  den  Wotjäken 
ohne  Ende.2)  Am  Gründonnerstag  verwandeln  sie  sich  in 
Schweine,  Hunde,  Katzen.  Sie  holen  die  Kinder  noch  vor 
der  Geburt  aus  dem  Mutterleibe  und  verspeisen  sie;  statt  des 
Kindes  legen  sie  der  Mutter  einen  Feuersbrand  unters  Herz. 
Wer  ein  Hexenmeister  werden  will,  geht  um  Mitternacht  mit 
einem  großen  Brot  in  die  Badstube,  während  dort  kein  Feuer 
ist,  setzt  sich  auf  die  Pritsche,  tritt  mit  dem  Fuße  aufs  Brot, 
nimmt  sein  Kreuz  vom  Halse,  legt  es  unter  den  anderen  Fuß 
und  spricht:  „Ich  glaube  nicht  an  GottP*  Dann  kommen 
die  Teufel  und  lehren  ihn  wie  er  die  Menschen  verderben 
soll.  Der  Zauberer  kehrt  auch  nach  seinem  Tode  in  sein 
Haus  zurück;  man  erkennt  dies  daran,  daß  in  seinem  Grabe 

1)  Priester  Johann  Wasiljev,  Übersicht  über  die  heidnischen  Gebrauche, 
Aberglauben  und  Religion  der  Wotjäken  in  den  Gouvernements  Wjatka  und 
Kasan.     Helsingfors  1902.     S.  14. 

*)  Wasiljev  a.  a.  O.  21. 


—     103    — 

eine  Öffnung  sich  befindet;  man  stößt  dann  hier  einen  Pfahl 
aus  Espenholz  hinein,  und  der  Tote  kann  nicht  mehr  umher- 
schweifen. 

Von  dem  sogenannten  Schamanentum,  dessen  Reich  sich 
von  Finnland  bis  zum  äußersten  Osten  erstreckt  und  das  auf 
die  Gebräuche  und  Sitten  der  Russen  einen  mächtigen  Ein- 
fluß ausgeübt  hat,  werden  wir  im  nächsten  Teile,  wo  von  der 
Religion,  dem  Klerus  und  Kultus  der  Russen  die  Rede  sein 
wird,  zu  sprechen  Gelegenheit  haben. 

Alle  abergläubischen  Gebräuche,  die  in  diesem  Abschnitte 
erwähnt  wurden,  sind  uralt.  Die  Russen  haben  sie  ohne  Aus- 
nahme übernommen,  als  sie  selbst  noch  Heiden  waren;  sie 
haben,  seit  sie  Christen  geworden  sind,  es  niemals  verstanden 
und  auch  niemals  gewollt,  der  heidnischen  Völkersitten  Unter- 
drücker zu  werden;  sondern  vielmehr  ihr  eigenes  Denken 
und  Fühlen  dem  heidnischen  angepaßt  und  untergeordnet. 
Der  gesamte  Aberglaube  des  Nordens,  der  von  der  Ostsee 
bis  zum  Stillen  Ozean  herrscht,  stammt  aus  dem  alten  Finn- 
land. Dieses  Land,  das  Land  der  Tschuden,  war  schon  in 
den  ältesten  Zeiten  berühmt  wegen  seiner  Wahrsager  und 
Zauberer;  man  kam  aus  dem  christlichen  Rußland  zu  den 
Tschuden,  um  deren  Zauberer  Orakel  zu  vernehmen  oder  be-- 
rief  berühmte  tschudische  Wahrsager  nach  den  russischen 
Städten.  Die  tschudischen  Zauberer  fühlten  sich  stärker  als 
der  Russen  Christen-Gott  und  wagten  die  höchsten  kirchlichen 
Würdenträger  der  Russen  zu  verspotten.  Nur  einmal  hatte 
ein  Russe  den  Mut,  solchen  Spott  zu  strafen,  und  die  Chronisten 
verzeichnen  diesen  einen  Fall  mit  besonderer  Genugtuung  als 
ein  Zeichen  höchster  christlicher  Glaubenskraft.  So  berichten 
sie:  Ein  tschudischer  Zauberer  insultierte  den  Bischof  von 
Nowgorod,  indem  er  sagte,  er  könne  größere  Wunder  tun 
als  der  Diener  des  russischen  Gottes;  er  werde  also  den  Fluß 
Wolchow  trockenen  Fußes  durchschreiten.  Das  Volk  drängte 
sich  herzu,  um  Zeuge  zu  sein  wie  der  Heide  über  den 
Bischof  triumphieren  wollte,  und  überhäufte  schon  den 
christlichen  Hirten  mit  Hohnreden.  Da  kam  Gljeb  Fürst 
von  Nowgorod  herbei  und  näherte  sich  dem  Zauberer  mit  der 
Frage:  „Meister,  was  denkst  du  bald  zu  werden?**  —  „Ich 


—     104    — 

werde  große  Wunder  tun/*  entgegnete  der  Zauberer.  —  „Du 
lügst/*  sagte  der  Fürst  und  hieb  ihm  den  Kopf  ab.  Das  Volk 
sah  den  unverwundbaren  Wundermann  fallen,  aber  der  ver- 
einzelte Streich  hat  dem  Aberglauben  der  Russen  nicht  den 
Garaus  machen  können.  Das  tschudische  Zauberwesen  hat 
sich  neben  dem  Christentum  und  stärker  als  dieses  in  Ruß- 
land selbst  behauptet.  Es  ist  stärker  als  das  Christentum, 
stärker  wenigstens  als  das  Christentum,  das  sich  Orthodoxie 
nennt.  Denn  in  seinem  Ursprungslande  Finnland  und  in  Skan- 
dinavien, wo  der  Protestantismus  Wurzel  gefaßt  hat,  ist  der 
Aberglaube,  wenn  nicht  verdrängt,  so  doch  nicht  mehr  die 
finstere  Kraft,  welche  die  Völker  widerstandslos  macht.  Für 
seinen  Heimatsboden  ist  das  Zauberwesen  der  Tschuden  histo- 
rische Erinnerung  geworden,  lebt  es  nur  noch  fort  in  einer 
Zauberliteratur,  die  ihresgleichen  nicht  hat,  in  magischen  For- 
meln und  Beschwörungen,  die  in  Epen  und  Lieder  gebannt  sind ; 
und  wirkt  überzeugend  bloß  noch  in  den  niedersten  Schichten 
der  menschlichen  Gesellschaft.  Im  großen  Rußland  aber  hat 
die  Orthodoxie  dem  Aberglauben  kein  Hindernis  entgegen- 
gestellt; war  sie  vielmehr  der  Boden,  der  ihn  liebend  aufnahm 
und  dankbar  festigte;  und  durch  die  Unwissenheit  und  Träg- 
heit ihres  Priestertums  hat  sie  den  tschudischen  Aberglauben 
zu  einer  P^eligion  in  ihrer  Religion  gemacht,  zu  einem  Neben- 
buhler des  Christentums  und  meist  auch  zu  einem  Beherrscher 
der  russischen  Kirche.  In  Zeiten  der  Not  und  des  Janmiers, 
wenn  der  Hunger,  der  in  tausend  Jahren  hundertmal  das  russi- 
sche Volk  bedrückt  und  erschöpft,  oder  die  Pest  und  die 
Cholera  ihre  Geißel  erbarmungslos  schwingen,  wenden  sich  die 
Verzweifelten  nicht  zum  Gotte  der  Orthodoxie,  sondern  zu  jenen 
Heiligen,  die  an  die  Stellen  der  alten  Heidengötter  getreten 
sind;  man  vertraut  nicht  dem  Glauben,  sondern  dem  Aber- 
glauben, und  weniger  dem  Priester  als  dem  Magier.  In  Zeiten 
der  Ruhe  und  des  normalen  Lebens  sorgt  man  für  schwere 
Tage  vor,  indem  man  durch  die  Zauberer  Vorsichtsmaßregeln 
treffen  läßt.  Nicht  heimlich,  sondern  öffentlich;  nicht  Ein- 
zelne, sondern  die  Gemeinden  holen  bei  Schamanen  und 
Schwarzkünstlern  Rat  ein,  wie  die  Menschen  vor  Krankheiten, 
die  Tiere  vor  Seuchen  zu  behüten  sind.    Läßt  der  Bauer  seinen 


—     105     — 

Acker  durch  den  Priester  einsegnen,  so  ruft  er  auch  den 
Hexenmeister  zu  nachträglicher  Weihung  i),  die  ihm  sicherer 
scheint  als  der  Segen  der  Kirche.  —  Das  Fest  Semik,  das  am 
Sonntag  nach  Christi  Himmelfahrt  gefeiert  wird  und  die  Wieder- 
kehr der  Fruchtbarkeit  symbolisiert,  ist  die  reine  Kopie  des 
heidnischen  Festes  der  Slawen,  und  wie  vor  tausend  Jahren 
schmückt  man  die  Bäume  mit  Bändern  und  betet  sie  an.^) 
In  den  Festliedem  besingt  man  Tur,  Did  und  Lada,  die  Götter 
des  Vergnügens  imd  der  Liebe;  die  Alten  berauschen  sich 
im  Branntwein,  und  die  Jugend,  durch  laszive  Tänze  erhitzt, 
spaziert  in  die  Büsche.  Das  russische  Wort  für  spazieren,  guljat, 
bedeutet  in  ausgelassenem  Sinne  auch  huren,  und  beim  Feste 
Semik  gewinnt  es  diese  zweite  Bedeutung  vollkommen,  ohne 
daß  die  orthodoxe  Moral  sich  verletzt  fühlen  würde.  So 
machen  es  auch  die  heidnischen  Wotjäken^):  Jünglinge  und 
Mädchen  ziehen  am  Vorabend  der  Feste  von  Haus  zu  Haus 
und  tanzen  obszöne  Tänze,  singen  obszöne  Lieder  und  ver- 
schwinden dann  hinter  Gebälk  oder  in  Gärten,  um  der  Wollust 
zu  frönen;  auch  bei  ihnen  heißt  diese  freie  Sitte  der  Liebe 
jumgan,  der  Spaziergang.  Auch  bei  den  Prostituierten  ist  dieses 
Wort  vom  Spazierengehen  zur  eigentümlich  präzisen  Charakteri- 
sierung ihrer  Beschäftigung  in  häufigster  Anwendung.^)  So 
sagt  die  Prostituierte  in  Petersburg,  wenn  sie  sich  auf  den 
Kundenfang  vom  Hause  fortbegibt:  „ryjiHio",  ich  bummele. 
Und  sie  schildert  gleichzeitig  den  Grad  ihrer  Abhängigkeit  von 
ihren  Exploitatoren  durch  folgende  Ausdrücke:  „ryjiaio  na 
ceöa"  oder  „ryjiHio  na  xoaHÜKy**,  nämlich :  ich  bummele  für  mich, 
um  mir  selbst  Geld  zu  erwerben;  oder  ich  bummele  für  Rech- 
nung der  Wirtin,  um  für  die  Wirtin  Geld  zu  verdienen. 

Die    Popen     finden    in    den    erwähnten    Spaziergängen, 
nichts   Unsittliches   und   nichts   Unchristliches;   trinken   selbst 


1)  Leroy-Beaulieu,  Das  Reich  der  Zaxen.     III  38. 

2)  Chronique  de  Nestor  II  Anhang  173. 
8)  Munkäcsi,  in  „Am  Urquell"  IV  91. 

*)  Vgl.  Die  Prostitution.  Ein  Beitrag  zur  öffentlichen  Sexualhygiene 
und  zur  staatUchen  Prophylaxe  der  Geschlechtskrankheiten.  Eine  sozial- 
medizinische Studie  von  Dr.  C.  Ströhmberg,  Stadtarzt  und  Oberarzt  des 
Stadthospitals  in  Jurjew  (Dorpat).    Stuttgart  1899.    S.  35. 


—     106    — 

mit  bei  den  Festen,  beteiligen  sich  selbst  an  den  Vergnügungen, 
welche  die  alten  Liebesgötter  beschützen.  Machen  sie  doch 
auch  die  weniger  amüsanten  Überlieferungen  des  Heidentums 
willig  mit.  Der  gottesfürchtige  Priester  der  orthodoxen  Kirche 
hält  es  mit  dem  Glauben  vereinbar,  sich  über  ein  Feld  hin- 
ziehen zu  lassen,  um  dem  Bauer  die  Gewißheit  zu  verschaffen, 
daß  durch  diesen  magisch-religiösen  Akt  Gott  sich  bewegen 
lassen  werde,  die  Runkelrüben  dicker  und  größer  wachsen 
zu  lassen.  Freudig  legt  der  Pope  sein  Haupt  in  des  Bauern 
Schoß  und  läßt  sich  einige  Haare  ausrupfen,  damit  durch  deren 
Verbrennung  bei  entsprechender  Beschwörungsformel  das  Ge- 
deihen des  Flachses  gefördert  werde. i)  Wenn  es  gilt  dem 
Wüten  der  Rinderpest  Einhalt  zu  tun  2);  so  sieht  man  selbst 
im  Mittelpunkte  des  Reiches,  also  in  den  Gouvernements  um 
Moskau  herum,  die  ländliche  Bevölkerung  zu  den  Riten  der 
heidnischen  Ahnen  zurückkehren:  Dann  machen  sich  die 
Weiber  auf,  um  durch  das  Umpflügen  die  Seuche  zu  bannen. 
Die  Alten  gehen  halbnackt  mit  den  Heiligenbildern  voraus, 
die  Mädchen  aber  werden,  so  wie  Gott  sie  erschaffen  hat,  vor 
einen  Pflug  gespannt  und  ziehen  mit  ihm  dreimal  um  das 
Dorf  herum  eine  Furche,  einen  Schutzgraben,  über  den  die 
Seuche  nicht  hinüber  kann.  Nützt  das  Werk  der  Weiber 
nicht,  dann  wissen  die  Männer  ein  anderes  Mittel :  Sie  machen 
eine  Strohpuppe  als  Identifizierung  der  Seuche,  binden  die 
Puppe  mit  einer  Katze  oder  einem  Hunde  zusammen,  ziehen 
in  Prozession  zum  Flusse  unter  Voranschreiten  des  Popen,  der 
in  seiner  festlichen  Tracht  an  der  Ersäufung  der  Seuchenpuppe 
und  der  Seuchentiere  teilnimmt  und  die  heilige  Handlung  des 
Aberglaubens  nach  kirchlichem  Ritus  segnet. 

Die  Kirche  der  Orthodoxie  duldet  nicht  bloß  die  Opferung 
von  Stieren  und  Böcken  bei  den  Burjäten  gelegentlich  des 
Festes  am  Tage  des  Propheten  Elias  (am  20.  Juli),  sondern 
sie  läßt  diese  Opferung  auch  in  der  Umzäunung  der  Kirche 
vornehmen,  und  das  gekochte  Fleisch  der  Opfertiere  wird  zur 


1)  Lanin,  Russische  Zustande  I  85. 

s)  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.   III  38.  —  Löwenstimm,  Aberglaube  und 
Straf  recht.     (Aus  dem  Russischen.)     S.  24. 


—    107    — 

Hälfte  an  die  Bauern,  zur  anderen  Hälfte  aber  an  die  Priester 
und  Kirchendiener  verteilt. i) 

Von  der  Opferung  eines  Tieres  bis  zur  Opferung  von 
Menschen  ist  in  diesem  heidnisch-orthodoxen  Rußland  nur 
ein  einziger  Schritt.  Und  wir  sehen  tatsächlich  die  Kirche 
auch  bei  Menschenopferungen  und  Ermordungen  von  Zaube- 
rern assistieren.  In  alten  Zeiten  wurden  in  Rußland  Hexen 
mit  Vögeln,  Katzen  und  Hunden  zusammengebunden  und 
lebend  in  den  Fluß  geworfen  oder  in  die  Erde  verscharrt. 
Nicht  immer  wird  heutzutage  die  Krankheitshexe  durch  eine 
Strohpuppe  ersetzt,  wie  wir  es  vorher  gesehen  haben.  Allzu- 
oft wird  noch  dieselbe  Zeremonie  mit  lebenden  Menschen  und 
Tieren  wiederholt;  vielleicht  daß  man  eher  mit  den  Tieren 
Mitleid  hat  als  mit  den  Menschen;  und  wenn  der  Pope  mit 
dem  Kreuze  erscheint,  so  geschieht  dies  nicht,  um  das  Ver- 
brechen zu   verdammen,   sondern   die   Handlung   zu   heiligen. 

Glaubt  das  Volk,  daß  ein  Vampyr  im  Dorfe  umherschweife, 
so  zieht  es  mit  dem  Popen  an  der  Spitze  zum  Grabe  des  Vam- 
pyrs,  holt  die  Leiche  hervor  und  durchstößt  sie  mit  dem 
Eschenholzpfahle,  nachdem  der  Pope  seine  Genehmigung  und 
seinen  Segen  dazu  erteilt  hat. 

Und  stehen  nicht  die  Popen  und  Nonnen  selbst  den  heid- 
nischen Zauberern  und  Hexen  näher  als  Priestern  einer  christ- 
lichen Kirche?  Vor  zweihundert  Jahren  schrieb  ein  deutscher 
Reisender 2):  ^,Es  werden  selten  /  sonderlich  unter  vornehmen 
Leuten  Heyrathen  vollzogen  /  wo  nicht  einige  Zauberey  mit 
vorgehet  /  die  man  unter  anderen  denen  Nonnen  schuld 
giebet  /  welche  ihr  vornehmstes  Geschafft  darmit  treiben.** 
Das  ist  heute  nicht  anders,  nicht  besser  jedenfalls.  Das  Haupt- 
geschäft der  orthodoxen  Priester  und  Nonnen  ist  der  Handel 
mit  Aberglauben,   Verbrechen   und   Unsittlichkeit. 

Was  ist  hier  Religion?  Baron  Herberstein  erzählt,  daß 
Großfürst  Iwan  Danilowitsch  deshalb  Moskwa  zu  seiner  stän- 
digen Residenz  machte,  weil  dort  die  Gebeine  des  heiligen 
wundertätigen  Alexej  ruhten.    Als  Peter  der  Große  seine  Resi- 


1)  Löwenstimm  a.  a.  O.   lo. 

2)  Reise  nach  Norden.     1705.     S.  130. 


—    108    — 

denz  an  die  Newa  verlegte,  jammerte  Rußland,  das  könne 
nicht  Glück  bringen,  weil  in  der  neuen  Hauptstadt  keines 
Heiligen  Grab  sich  befand.  Und  Peter  der  Große,  der  das 
Patriarchat  abschaffte,  die  Zauberei  bekämpfte,  den  Bart 
rasierte,  ließ  eilig  die  Gebeine  des  heiligen  Alexander  Newsky 
von  Wolodimir  nach  Petersburg  mit  feierlichstem  Pomp  über- 
führen, um  das  Gedeihen  der  neuen  Hauptstadt  zu  sichern. 
Was  ist  Sünde  ?  Nicht  ehebrechen,  huren,  rauben,  morden, 
lügen.  Aber  Sünde  ist  es,  wenn  eine  Frau,  die  ihre  Men- 
struation hat,  ein  Heiligenbild  berührt ;  und  Sünde  ist  es,  wenn 
man  in  der  Kirche  freiwillig  oder  unabsichtlich  einem  Heiligen- 
bilde den  Rücken  zukehrt. 


ZWEITER  TEIL: 


Kirche,  Klerus  und  Sekten 


7.  Religion  und  Popentum.  —  8.  Unsitten 
im  Mönchstum.  —  9.  Heiligenkult  und 
Mystizismus.  —  10.  Sektenwesen.  — 
II.  Erotische  Sekten  und  Flagellanten. 
—    12.   Selbstverstümmler  und   Skopzen. 


7.  Religion  und  Popentum. 

Die  Gläubigkeit  des  Russen  —  Russische  Bekenntnisse  —  Falsches  Christen- 
tum —  Religiosität  im  Aberglauben  —  Der  Zar  ist  Gott  —  Religion  und  Auto- 
kratie —  Religion  und  Geschlechtsleben  —  Fasten  und  Coitus  —  Coitus  und 
Kirchenbesuch  —  Die  Frömmigkeit  der  Prostituierten  —  Unsittlichkeit  des 
Taufens  —  Predigen  ist  verpönt  —  Das  Kreuzschlagen  —  Feste  und  Fasten  — • 
Unzucht  und  Unordnungen  in  der  Butterwoche  —  Erfolglosigkeit  des  Pro- 
sel3rtismus  —  Bestrafung  Abtrünniger  —  Niedrigkeit  des  Priestertums  — 
Prügelung  von  Priestern  —  Die  Hauszucht  der  Bischöfe  —  Barbarei  in  den 
Popenschulen  —  Unwissenheit  des  niederen  Klerus  —  Urteil  eines  Bischofs  über 
das  Popentum  —  Verkauf  der  Kirchenstellungen  —  Armut,  Elend  und  Sitten- 
losigkeit  im  Popentum  —  Die  Beichte  im  Dienste  der  Polizei  —  Trunksucht 
der  Popen  —  Schacher  mit  Aberglaube  und  Religion  —  Der  Pope  ein  un- 
reines und  zuchtloses  Geschöpf  —  Schuld  der  Regierung  und  des  hohen  Klerus 
an  der  Verkommenheit  des  Popentums  —  Martyrium  der  Popen. 

Der  Franzose  Custine  ^)  schrieb  einmal  diesen  Satz  nieder : 
„Le  peuple  russe  est  de  nos  jours  le  plus  croyant  des  peuples 
chr^tiens.**  Es  wäre  falsch,  wollte  man  dieses  Urteil  des 
Westens  in  europäischem  Sinne  uneingeschränkt  bestätigen. 
Das  russische  Volk  ist  das  gläubigste  unter  allen  christlichen 
Völkern,  aber  sein  Glaube  selbst  verdient  nicht  den  Namen 
des  Christentums  und  entspricht  nicht  den  Begriffen,  welche 
die  Völker  des  Westens  vom  Christentum  haben.  Russen  sind 
es,  die  uns  am  aufrichtigsten  über  diesen  Punkt  aufklären. 
Wyrubow  schrieb  2):  „In  Rußland  gab  es  wohl  Kirchen,  aber 
es  hat  dort  niemals  eine  Religion  gegeben,  es  sei  denn  die 
primitivste  Vielgötterei.  Die  Kirche  hat  nach  und  nach  das 
Heidentum  aufgelöst,  ohne  daß  es  ihr  gelungen  wäre,  etwas 
Anderes  an  die  Stelle  zu  setzen."     Und  noch  deutlicher  ist 


1)  a.  a.  O.  III  115. 

')  Leroy-BeauUeu,  Das  Reich  der  Zaren  III  26. 


—     112     — 

der  Ausspruch  des  berühmten  Kritikers  Bjelinskij  in  einem 
Briefe  an  den  großen  Dichter  Gogolj :  „Betrachten  Sie  das  Volk 
genau,  und  Sie  werden  die  Wahrnehmung  machen,  daß  es  von 
Grund  aus  gottlos  ist.  Es  hat  seinen  Aberglauben,  aber  keine 
Religion."  Das  russische  Volk  ist  das  gläubigste  Volk,  doch 
sein  Glaube  erhebt  es  nicht  über  sich  selbst  zu  Reinheit  und 
Vollkommenheit,  sondern  zieht  es  hinab  zu  den  Anschau- 
ungen der  primitivsten  Naturvölker.  Der  Russe  ist  fern  davon, 
die  lichte  Einheitlichkeit  des  Weltenschöpfers  zu  erkennen; 
er  stolpert  noch  im  dunkeln  und  klammert  sich  an  die  ge- 
heimnisvollen Mächte  des  Heils  und  des  Unheils,  an  die  Götter 
der  Vergangenheit,  die  man  durch  Beschwörungen  und  Opfer 
versöhnte  und  günstig  stimmte  für  die  Pläne  der  Irdischen. 
So  dürfte  man  eigentlich  nicht  einfach  sagen:  der  Russe  ist 
tief  religiös,  durchaus  gläubig,  sondern  richtiger:  er  ist  religiös 
in  seinem  Aberglauben;  er  wäre  der  gläubigste  Christ,  wenn 
seine  Religion  das  Christentum  genannt  werden  könnte.  Die 
despotischen  Herrscher  Rußlands  haben  alles  aufgeboten,  um 
nicht  das  Christentum  wirklich  zur  Religion  werden  zu 
lassen,  denn  die  Zaren  selbst  setzten  sich  im  Glauben  des 
Volkes  an  die  Stelle  Gottes  und  wollten  sich  niemals  von 
diesem  Platze  verdrängen  lassen.  In  einer  älteren  muster- 
gültigen und  noch  heute  nicht  anfechtbaren  Schilderung  der 
russischen  Religion i)  heißt  es:  „Die  Moscowiter  halten  als 
einen  Glaubens-Articul  /  der  Wille  ihres  Fürsten  oder  Czars 
sey  Gottes  Wille;  so  daß  sie  /  wenn  sie  in  etwas  zweiffein  / 
als  ein  Sprichwort  sagen:  GOtt  und  unser  Czar  weiß  es.  Sie 
nennen  auch  den  Czar  /  den  Schlüssel-Träger  und  Kammer- 
Diener  unseres  GOttes.  In  Sununa  /  sie  glauben  dieser  Herr 
sey  derjenige  /  so  das  Wort  und  den  Willen  GOttes  aus- 
richte /  und  müsse  man  allem  /  was  er  in  Glaubens-Sachen 
billiget  /  und  ihm  gut  düncket  /  als  einer  gerechten  und 
billigen  Sache  folgen.**  Und  anderthalb  Jahrhunderte  später 
durfte  sich  ein  Verteidiger  des  Absolutismus  Nikolaj's  I.  dar- 
auf berufen  2),   daß   für  die  Russen   des  Zaren  Wille  Gottes 

*)   Religion  der  Moscowiter  /  Anno   17 12.     S.  38. 

')   Kaiser  Nikolaus  der  Erste  gegenüber  der  öffentlichen  Meinung  von 
Europa,   Weimar  1848.     S.   51. 


—    113    — 

Wille  sei;  „er  mag  Gutes  oder  Böses  befehlen,  so  halten  sie 
es  für  den  ruchlosesten  Frevel  sich  zu  widersetzen,  da  Gottes 
und  des  Fürsten  Wille  einerlei  sei,  und  sie  von  Gott  stets 
einen  solchen  Fürsten  erhielten,  wie  sie  ihn  verdienten,  bald 
einen  milden,  bald  einen  harten.  Die  Russen  glauben  femer, 
daß  alle  diejenigen,  welche  auf  Befehl  des  Czars  sterben, 
sogleich  selig  werden,  wie  Märtyrer,  die  in  und  für  den  wahren 
Glauben  gestorben  seien.**  Der  Verteidiger  des  russischen  Ab- 
solutismus schwingt  sich  auf  Grund  der  Auffassung  von  der 
Gottgleichheit  der  Zaren  zu  diesen  Schlußfolgerungen  auf: 
„Mögen  auch  die  Völker  des  Westens  diesen  kindlichen  Glauben 
belächeln  und  in  ihm  nur  das  brauchbarste  Werkzeug  des 
Absolutismus  erkennen ;  doch  sollten  sie  sich  zugleich  die  Frage 
stellen,  ob  eine  solche  Politik  nicht  zweckmäßiger  ist,  als  das 
sehr  kostspielige  Scheinkönigthum  der  Briten,  welches  wenn 
das  Volk  ein  in  die  Sinne  fallendes  Bild  der  Oberherrschaft 
nicht  entbehren  zu  können  meint,  durch  eine  kostbar  gekleidete 
Puppe  ebensogut  und  zugleich  weit  billiger  repräsentiert  werden 
könnte.**  Die  Stellung,  die  der  Zar  im  Glauben  der  Russen 
einninmit,  zeigt  „wie  schlecht  diejenigen  über  Rußland  unter- 
richtet sind,  welche  hoffen,  daß  eine  politische  Umwälzung 
daselbst  aus  dem  Volke  selber  hervorgehen  könne !  Aus  diesem* 
Gesichtspunkte  wird  man  es  auch  begreiflich  finden,  warum 
Nicolaus  seinen  Unterthanen  das  Reisen  ins  Ausland  erschwert, 
die  Communication  mit  demselben  zu  verhindern  strebt,  vor 
Allem  aber  der  seit  Peter  dem  Großen  unter  dem  Adel  ein- 
gerissenen Nachäffung  des  Auslands  aus  allen  Kräften  ent- 
gegenzuwirken trachtet,  damit  nicht  Rußland  einst  den  Tod 
der  Türkei  sterbe,  deren  letzte  Lebenskräfte  durch  Reform- 
projekte verzehrt  werden.** 

In  dieser  unfreiwillig  freimütigen  Darstellung  des  Selbst- 
herrschertums  spiegelt  sich  nicht  bloß  das  Wesen  der  Auto- 
kratie klar  wieder,  sondern  wir  finden  darin  auch  die  wahren 
Gründe,  warum  in  Rußland  keine  Religion  existieren  kann; 
solange  der  Zar  Gott  auf  Erden  sein  und  bleiben  will,  darf 
das  Volk  nur  ein  Christentum  kennen,  das  sich  in  Äußer^ 
lichkeiten,  Dogmen  und  Formeln  erschöpft;  darf  es  außer 
an  die  Allmacht  und  Her/lichkeit  des  Zaren  an  nichts  sonst 

Stern,    Geschichte  der  o£fentl.  Sittlichkeit  in  Kufiland.  g 


V 


—     114     — 

glauben  und  die  unter  der  Schwelle  des  Bewußtseins  schlum- 
mernden rehgiösen  Bedürfnisse,  wenn  sie  einmal  erwachen, 
nur  durch  solche  Gebräuche  befriedigen,  die  dem  Ssamoder- 
schez,  dem  Alleinherrschenden  Gott-Zaren,  niemals  gefährlich 
werden  können. 

In  richtiger  Schätzung  der  Sinnlichkeit  als  des  bedeu- 
tendsten Charakterzuges  des  russischen  Volkes  hat  der  Klerus 
als  gehorsamer  Vollstrecker  der  zarisch-göttlichen  Intentionen 
die  Religiosität  der  Russen  vornehmlich  in  allen  jenen  Hand- 
lungen sich"  ausleben  lassen,  die  mit  dem  Geschlechtlichen 
in  Zusammenhang  sind.  Die  Fastenzeit  ist  die  schwerste  Prü- 
fung, welcher  der  rechtgläubige  Russe  sich  zu  unterwerfen 
hat ;  denn  man  muß  während  der  Fasten  nicht  bloß  der  Fleisch- 
und  Milchnahrung  und  dem  Tabakschnupfen  entsagen,  sondern 
fühlt  die  ernste  Wirkung  der  Glaubensregel  namentlich  in  dem 
Verbote  selbst  des  gesetzlichen  Beischlafs.  Die  Neuvermählten 
förderte  der  Priester  früher  auf,  die  ersten  zwei  Nächte  ihres 
Zusanmienlebens  keusch  und  in  Gebeten  zu  verbringen;  die 
erste  Nacht,  um  die  Dämone,  die  das  Ehebett  umlauem,  zu 
vertreiben;  die  zweite  zu  Ehren  der  Patriarchen.  Ein  frommes 
russisches  Ehepaar  gibt  sich  dem  ehelichen  Vergnügen  nicht 
hin,  ohne  vorher  gebetet  zu  haben ;  auch  nach  Vollendung 
des  Geschlechtsaktes  spricht  man  ein  Gebet,  aus  Angst  vor 
Behexung.  Der  russische  Gesandte  Dmitry  erzählte,  als  er 
um  1 500  in  Rom  weilte,  dem  Paulus  Jovius :  „daß  in  Rußland 
Eheleute  nach  dem  Genüsse  gesetzlicher  Liebe  nicht  in  das 
Innere  der  Kirche  treten  dürfen,  sondern  die  Messe  in  der 
Vorhalle  stehend  hören;  und  daß  junge  unbescheidene  Leute, 
die  sie  da  sehen,  die  Ursache  erraten,  und  die  Weiber  durch 
ihre  Spöttereien  schamrot  machen.**  Ist  schon  die  gesetzliche, 
von  den  Priestern  geweihte  Liebe  solchen  religiösen  Skrupeln 
ausgesetzt,  so  ist  es  natürlich,  daß  die  Prostituierten  für  ihr 
Gewerbe  noch  schlimmere  Anfechtungen  des  Gewissens  be- 
fürchten; sie  umgeben  sich  daher  mit  Talismanen  und  Re- 
liquien. Kein  Bordell  ist  ohne  Heiligenbilder,  jedes  Mädchen 
hat  in  ihrem  Zimmer  ihren  Schutzpatron,  an  den  es  sich  in- 
brünstig vor  Ausübung  einer  jeden  Tat  wendet,  auf  daß  der 
Akt  nicht  von  bösen  Folgen  begleitet  sei.    Während  der  Zeit, 


—     115     — 

da  nach  dem  Gebet  zum  Heiligen  der  Wollust  geopfert  wird, 
bleibt  das  Bild  des  Heiligen  zur  Wand  gedreht  oder  mit  einem 
Tuche  verhängt.  Nach  Entfernung  des  Gastes  wird  das 
Heiligenbild  von  dem  Tuche  befreit  und  empfängt  von  dem 
Mädchen  außer  Dankesworten  auch  ein  Geschenk  in  barem 
Gelde  oder  eine  neue  Kerze. 

Bei  der  Taufe  von  Proselvten  müssen  sich  Männer  wie 
Frauen  nackt  ausziehen  und  vor  der  Versammlung  gänzlich 
in  einer  Wanne  oder  in  einem  Teiche  untertauchen  lassen. 
Dieser  Gebrauch,  der  von  der  Kirche  als  etwas  Unabänder- 
liches gefordert  wird,  ist  gewiß  nicht  geeignet,  das  ohnehin 
laxe  Schamgefühl  der  Russen  und  Russinnen  zu  veredeln. 
Allein  Dogmen,  Formeln  und  Tradition  sind  die  Fundamente 
der  russischen  Religion,  die  keine  Ethik  und  keine  Ästhetik 
kennt,  die  nur  eine  mechanische  Erfüllung  der  Gebräuche 
und  nicht  Rücksicht  auf  die  Sittlichkeit  fordert. 

,, Unter  zehen  wird  kaum  einer  unter  den  Moscowitern 
gefunden  /  der  das  Vater-Unser  beten  /  und  fast  keiner  / 
der  das  Symbolum  d6r  Apostel  hersagen  könne.  Hierüber 
sagen  sie  /  ein  so  heiliges  Geheimniß  müsse  nicht  so  gemein 
gemacht  /  noch  so  öffentlich  hergesaget  werden.**^)  —  Der 
russische  Gesandte  Dmitry  erklärte  in  Rom  dem  Paulus  Jo- 
vius^),  „daß  die  Russen  in  ihren  Kirchen  keine  Predigten 
dulden,  um  da  Gottes  Wort  allein,  ohne  Zusatz  menschlicher, 
mit  der  Einfachheit  des  Evangeliums  nicht  übereinstimmender 
Spitzfindigkeiten  zu  hören.**  Also  keine  Bildung,  keine  Predigt, 
jedoch  unermüdliches  Kreuzschlagen  und  unaufhörliches  An- 
beten der  Heiligenbilder.  Morgens  beim  Aufstehen  und  Abends 
beim  Schlafengehen,  beim  Speisen,  beim  Beginn  einer  Arbeit, 
beim  Anblick  einer  Kirche,  eines  Klosters,  einer  Kapelle  schlägt 
man  das  Kreuz.  Aber  auch  der  Dieb,  bevor  er  einen  Raub 
ausführt,  und  der  Mörder,  bevor  er  die  Waffe  zum  todbringen- 
den Schlage  erhebt,  auch  sie  bekreuzigen  sich  und  beten  zu 
ihrem  Schutzpatron  um  Gelingen  des  Werkes.     „Vor  einigen 


1)  Religion  der  Moscowiter  S.  53. 

2)  Karamsin,  Deutsche  Ausgabe  VII  174  (franz.  Übersetzung  VII  273). 

8» 


-     116     — 

Jahren  geschah  es/*  erzählte  einst  Peter  von  Haven^),  ,,daß 
als  ein  rußischer  Soldat  einer  Missethat  halber  angeklagt  ward, 
dieser  im  Gericht  aussagte :  daß  er  diese  That  nicht  als  sündlich 
angesehen,  auch  selbige  niemahls  begangen,  ehe  er  nicht  sich 
mit  dem  Kreutze  bezeichnet,  und  vor  Gott  auf  die  Erde  nieder- 
geworfen hätte.**  Mord  und  Diebstahl,  durch  ein  Kreuzschla- 
gen eingeleitet  und  geweiht,  sind  im  schlimmsten  Falle  harm- 
lose Vergehen  im  Vergleiche  zu  dem  Verbrechen,  das  man  be- 
geht, wenn  man  in  der  Fastenzeit  seiner  Frau  beiwohnt,  oder 
Fleisch,  Eier  und  Mehlspeisen  genießt.  Man  halte  nur  streng 
die  Festtage  und  Fastenzeiten,  und  man  ist  der  frömmste  und 
gläubigste  aller  Christen.  Außer  den  52  Sonntagen  hat  man 
ebenso  viele  Festtage  im  Jahre ;  die  zarisch-göttliche  Katharina  II. 
hatte  außer  den  kirchlichen  Festtagen  dem  Kultus  ihrer  Maje- 
stät 25  Tage  einräumen  lassen:  man  mußte  mit  Gottesdienst 
und  Sabbatruhe  nicht  bloß  alljährlich  ihren  Geburts-,  Namens-, 
Thronbesteigungs-  und  Krönungstag  feiern,  sondern  auch  den 
Tag,  an  dem  sie  zum  ersten  Male  geimpft  worden  war.  Fest- 
tage sind  jetzt  nicht  nur  die  Geburts-  und  Namenstage  des 
Zarenpaares,  sondern  auch  die  des  Thronfolgers,  die  des  ver- 
storbenen Vaters  und  Großvaters  des  Zaren,  und  der  Er- 
innerungstag an  die  Katastrophe  bei  Borki.  Einen  noch 
größeren  Teil  des  Jahres,  von  dem  schon  nach  Abrechnung  der 
Festtage  für  das  profane  Leben  nicht  viel  übrig  bleibt,  nehmen 
die  Fasten  ein:  Das  große  Fasten,  dem  katholischen  ent- 
sprechend, dauert  40  Tage.  Ein  zweites  Fasten  beginnt  acht 
Tage  nach  Pfingsten  und  endet  am  Peterpaulstage.  Das  dritte 
Fasten  vom  i.  August  bis  zum  Tage  Maria  Himmelfahrt  ge- 
schieht zu  Ehren  der  Mutter  Gottes.  Das  vierte  Fasten  end- 
lich beginnt  am  12.  November  und  schließt  Weihnachten  ab. 
Außerdem  fasten  besonders  Fromme  alle  Mittwoch  und  Freitag ; 
den  Sonnabend  darf  man  nicht  zum  Fastentage  machen. 

Es  wäre  nach  dem  bisherigen  kaum  notwendig  zu  sagen, 
daß  die  russische  Religion  keine  werbende  Kraft  besitzt  und 
sich  darauf  beschränken   muß,   Proselyten   durch  Korruption 


1)  Abschnitte  aus  Peter  von  Haven    Nachrichten   aus    Rußland.     Bü- 
schinf^  Magazin  X  343. 


—    117    — 

zu  gewinnen.  So  lesen  wir  in  einem  älteren  Buche  i):  „Der 
Gebrauch,  den  sie  sonst  hatten  /  die  Fremden  zu  Annehmung 
ihrer  Religion  zu  erkauf fen  /  ist  aufgehoben.  Wann  einer 
der  Seinigen  absaget  /  es  sey  ein  Catholic  oder  Reformirter 
/  so  muß  er  auch  seiner  ersten  Tauffe  renunciren  /  seinen 
Vätern  und  seine  Mutter  verschweren  /  und  dreymal  über 
seine  Achsel  speyen.  Etliche  alte  Einwohner  in  Rußland 
haben  observiret  /  daß  von  200.  so  wol  Engelländer  /  als 
Schott-  und  Holländer  /  welche  die  Russische  Religion  an- 
genommen /  fast  nicht  ein  eintziger  eines  natürlichen  Todes 
gestorben  sey.**  Die  von  der  Orthodoxie  geforderte  Ver- 
fluchung der  Eltern  hat  sicher  manchen  Proselyten  im  letzten 
Augenblicke  von  dem  entscheidenden  Schritte  zurückgehalten, 
und  dies  umsomehr  als  die  bloß  auf  das  Äußerliche  zugerich- 
teten Gebräuche  der  russischen  Kirche  keine  fühlende  Seele 
zu  fesseln  vermögen.  Erst  unter  der  Zarin  Elisabeth  Petrowna 
begann  der  offizielle  Zwang  zum  Übertritte  Fremdgläubiger 
in  die  russische  Kirche  und  die  schwere  Bestrafung  von  Russen, 
welche  ihren  Glauben  verließen.  Als  zur  Zeit  der  Herrschaft 
dieser  Zarin  die  Fürstin  Irene  Dolgorukij  zum  Katholizismus 
übergetreten  war,  wurde  der  Gemahl  der  Abtrünnigen,  „weil 
er  den  Glauben  seiner  Frau  nicht  ^  genügend  bewachte,**  straf- 
weise in  ein  Kloster  gesperrt ;  die  französische  Gouvernante  der 
Fürstin,  Mademoiselle  Beret,  die  im  Verdachte  stand,  die  Gram- 
matik mit  dem  Katechismus  vertauscht  zu  haben,  mußte  viele 
Jahre  als  Gefangene  des  Heiligen  Synod  schwere  Leiden  er- 
dulden.2)  Nikolaj  I.  und  Alexander  III.  verfolgten  nicht  bloß 
die  Altgläubigen,  Sektierer  und  Abtrünnigen,  sondern  erneuer- 
ten die  Ukase  alter  Zeiten,  in  denen  befohlen  wird,  jeden  als 
Rebellen  zu  behandeln,  der  sich  der  Ausbreitung  der  russischen 
Religion  widersetzen  würde.  Aber  weder  Gewalt  noch  Kor- 
ruption vermochten  viel  zu  erreichen,  und  dies  ist  begreiflich, 
wenn  man  bedenkt,  daß  nicht  nur  die  Religion  keine  werbende 
Kraft  besitzt,  sondern  auch  das  Priestertum,  welches  diese 
Religion  lehrt  und  vertritt,  weder  bei  den  Fremden  noch  bei 


1)  Reise  nach  Norden  S.  122. 

2)  Waliszewski,  La  derni^re  des  Romanov,  p.  47. 


—     118     — 

den  eigenen  Religionsgenossen  sich  die  geringste  Achtung  zu 
erwerben  verstand.  Diese  Priester  und  Mönche  der  russischen 
Kirche  hahen  alle  anderen  Religionen  für  verächtlich,  sie  fühlen 
aber  nicht  den  Beruf  in  sich,  Bekehrer  zur  Rechtgläubigkeit 
zu  sein,  und  besitzen  nicht  die  Kraft  der  Überzeugung,  um 
durch  die  Macht  ihrer  rechtgläubigen  Religion  die  Irrenden 
der  übrigen  Konfessionen  auf  den  rechten  Weg  zu  bringen. 
So  bleiben,  wenn  man  Proselyten  machen  will,  nur  die  Mittel 
der  Bestechung  oder  der  Knute.  Diese  Mittel  mögen  uns 
fremdartig  und  barbarisch  erscheinen,  in  Rußland  sind  sie  die 
natürlichsten;  werden  doch  dort  auch  die  Popen  der  eigenen 
Kirche  nicht  anders  erzogen  als  durch  die  Knute.  Seit  alter 
Zeit  her  bestand  ein  Gesetz,  das  die  körperliche  Züchtigung 
der  Popen  und  Diakone  durch  ihre  Vorgesetzten  gestattete. 
In  den  Aufzeichnungen  Rostislawows,  Professors  der  Peters- 
burger geistlichen  Akademie  i),  wird  eine  solche  Züchtigungs- 
szene geschildert:  „Was  bist  du  für  ein  Schelm,  Intrigant^ 
Taugenichts,  rief  der  Bischof,  ich  will  dich  lehren!  Bringt  die 
Peitschen*)  her!  —  Sofort  erschienen  die  Kutscher  oder  andere 
Diener  mit  zweischwänzigen  Riemen.  —  Entkleide  dich  und 
strecke  dich  hin!  befahl  der  Bischof.  —  Der  zu  Bestrafende 
legte  seine  Oberkleidung  ab  und  mußte  sich  auf  den  Boden 
strecken.  Dann  traten  zwei  Diener  des  Bischofs  mit  Peitschen 
herzu.  Vier  Geistliche  knieten  nieder  und  hielten  die  Füße 
und  die  im  Kreuze  übereinandergelegten  Hände  des  Delin- 
quenten, der  so  lag,  daß  für  die  Zweischwänzigen  räumlich 
genügend  entblößter  Körper  vorhanden  war  und  für  den 
Bischof,  der  auf  dem  Divan  saß,  ein  freier  Ausblick  blieb 
zur  Kontrolle,  ob  die  Schläge  alle  gut  trafen.  Am  häufigsten 
prügelte  man  die  Küster,  dann  die  Diakone,  aber  es  gab  auch 
für  die  Pfarrer  keine  Gnade,  besonders  wenn  sie  noch  jung 
waren.  Man  schlug  grausam.  So  wurde  häufig  ein  Priester, 
der  noch  vor  kurzem   das   unblutige   Opfer^)  gebracht  hatte. 


1)  ;l.    II.    PcHTiiaiaBom.,    PycncaH   orapiina    1880.    —    Vgl.    Schiemann. 
Alexander  I.    S.  405  und  407  Anmerkung. 

2)  Peitsche,  Pletj. 

3)  Das  Abendmahl. 


—     119     — 

selbst  bis  aufs  Blut  geschlagen.  Mein  Großvater,  der  mehr 
als  einen  am  Fuße  oder  an  der  Hand  gehalten  hat,  pflegte 
zu  sagen:  Hu!  man  wurde  heiß  dabei,  und  ein  Zittern  ging 
durch  den  ganzen  Körper.**  —  Im  Jahre  1802  wurde  vom 
Zaren  Alexander  dem  Ersten  das  Gesetz,  das  die  Züchtigung 
der  Geistlichen  gestattete,  aufgehoben.^)  Und  doch  mußte 
genau  himdert  Jahre  später,  am  i.  April  1902,  in  einem  offi- 
ziellen Erlaß  der  Regierung  die  Angelegenheit  ganz  neu  er- 
wogen werden.  Dieses  merkwürdige  Dokument,  ein  Statut 
für  die  Kirchengemeindeschulen,  besagt  in  seinen  Paragraphen 
7  und  1 1 :  daß  von  den  Körperstrafen  zu  befreien  seien  erstens : 
die  Zöglinge  der  Lehrerseminare  sowohl  während  ihrer  Schul- 
zeit als  auch  nach  Absolvierung  des  Kursus;  und  zweitens: 
die  Lehrer  und  Kuratoren  der  Kirchengemeindeschulen.  — 
Diese  Lehrer  sind  fast  durchwegs  Geistliche  und  die  Zöglinge 
dieser  Lehrerseminare  werden  Popen.  Bemerkenswert  ist,  daß 
infolge  des  Regierungserlasses  und  auf  Veranlassung  des  Un- 
terrichtsministeriums der  Kurator  des  Moskauer  Lehrbezirkes 
sich  im  Oktober  19022)  an  die  Lehranstalten  wandte,  um 
deren  Ansichten  darüber  einzuholen:  ob  auch  dem  Bauern- 
stände angehörende  Schüler  mittlerer  und  unterer  Lehranstal- 
ten von  der  Körperstrafe  zu  befreien  seien.  — 

Knute  und  Pletj  als  Erzieherinnen  der  Geistlichkeit  haben 
nicht  viel  gefruchtet,  wohl  auch  deshalb  nicht,  weil  sie  nicht 
einmal  von  einem  einigermaßen  geeigneten  Unterricht  unter- 
stützt wurden.  Bis  vor  einem  Jahrhundert  lehrte  man  in  den 
geistlichen  Senünaren  in  lateinischer  Sprache,  seither  auch 
in  russischer.  Was  man  aber  in  diesen  Schulen  Philosophie, 
Rhetorik  und  Theologie  nannte,  hatte  mit  keiner  dieser  Wissen- 
schaften  etwas   gemein  3);   man   verlangte   bloß   eine   unnütze 


1)  Schiemann  a.  a.  O.  S.  407. 

2)  Lodzer  Zeitung  Nr.  248  vom  16./29.  Oktober  1902. 

3)  Es  fand  sich  nichtsdestoweniger  doch  ein  Verteidiger  dieser  Art  Bil- 
dung. In  der  Jen.  Literaturzeitung  1843,  S.  11 10,  ließ  sich  Stephan  Sabinin 
also  vernehmen:  ..Die  Kinder  des  Klerus  werden,  solange  sie  in  den  Dorf- 
und  Bezirksschulen  sind,  auf  Kosten  ihrer  Eltern  erzogen,  aber  in  den  Semi- 
naren ohne  Ausnahme  auf  Kosten  der  Krone  mit*  Wohnung  und  Unterhalt, 
die  Armen  auch  mit  Bekleidung  versehen.     Nach  beendetem  Kursus  fahren 


—     120    — 

furchtbare  Anstrengung  des  Gedächtnisses,  und  wem  dieses 
versagte,  der  unterlag  den  härtesten  körperlichen  Strafen.^) 
Und  so  wurden  diese  Popenschulen,  durchwegs  Internate,  zu 
wahren  Marterinstituten,  denen  die  Eltern  ihre  Kinder  zu  ent- 
ziehen suchten,  trotzdem  es  in  Rußland  Tradition  ist,  daß 
Popensöhne  wieder  Popen  werden  müssen.  Viele  Seminaristen 
entflohen,  um  der  geistigen  und  materiellen  Not,  die  sie  in 
den  Internaten  zu  erdulden  hatten,  zu  entgehen,  und  wurden 
wieder  Angehörige  des  simplen  Bauernstandes,  aus  dem  ihre 
Ahnen  hervorgegangen  waren.  Die  Regierung  ließ  solche 
Flüchtlinge  einfangen  und  gewaltsam  in  die  Schulen  zurück- 
schleppen. Auch  war  es  keine  Seltenheit,  daß  die  Polizei 
einen  Popensohn,  der  von  den  Eltern  versteckt  gehalten  imd 
noch  gar  nicht  dem  Seminar  ausgeliefert  worden  war,  als 
„Rekruten  der  Seminarbildung**,  wie  man  diese  jungen  Leute 
nannte,  aus  seinem  Versteck  hervorholte  und  gefesselt  in 
das  Internat  schleppte,  damit  er  nolens  volens  Pope  wurde! 
So  bereitete  man  diese  durch  Jahrhunderte  einzigen  Lehrer 
des  russischen  Volkes  auf  ihren  Beruf  vor;  die  Resultate  ent- 
sprachen und  entsprechen  noch  heute  dem  Ursprung.  Wohl 
ist  seit  einem  Säkulum  mehrmals  versucht  worden,  die  geist- 
lichen Schulen  auf  ein  höheres  Niveau  zu  bringen,  aber  die 
Reformen  blieben  stets  in  Anfängen  stecken,  und  der  Dorf- 
geistliche 2)  ist  noch  immer  der  Paria  Rußlands.  Die  Urteile 
aus  Verschiedenen  Jahrhunderten,  von  Ausländem  über  die 
russische  Geistlichkeit  gefällt,  sind  immer  die  gleichen  ge- 
bheben; noch  mehr:  auch  heute  gelten  sie,  ohne  daß  irgend 
eine  günstigere   Korrektur  möglich  wäre: 

„Les  prßtres,  seuls  instituteurs  alors,**  heißt  es  bei  Sdgur 
über  die  Priester  zur  Zeit  Peters  des  Großen  3),  ,,6taient  trop 


diejenigen,  die  keine  Stelle  gleich  erhalten,  in  theologischen  und  philologischen 
Studien  fort,  die  Armen  bleiben  weiter  in  den  Seminarien.  Die  russische 
Geistlichkeit  schreitet  in  der  Bildung  langsam  aber  sicher  fort." 

^)  Schiemann  a.  a.  O.    S.  407. 

*)  Man  lese  die  merkwürdigen  Memoiren  eines  Dorf  geistlichen  in  der 
Schiemannschen  Bibliothek  russischer  Denkwürdigkeiten,  Stuttgart  1894« 

S)  Histoire  de  Russie  et  de  Pierre-le-Grand  par  le  g6n^ral  Comte  de  S6gur. 
Paris  1829,  pp.  215,  310.  312. 


—    121     — 

grossiers  pour  inspirer  de  la  moralit^.  —  Les  prfitres,  grecs 
de  religion,  ignoraient  le  grec,  le  latin,  savaient  ä  peine  lire, 
et  croupissaient  dans  une  ivrognerie  continuelle:  une  correc- 
tion  typographique  faite  aux  grossiferes  ^ditions  de  leur  Bible 
leur  paraissait  un  horrible  sacril^ge.  —  Les  prötres,  superstitieux 
par  6tat,  fanatiques  par  ignorance,  par  int^röt,  par  l'orgueil 
de  leur  puissance  sur  Tesprit  d*un  peuple  plus  Ignorant  qu*eux ; 
ces  prStres  maudissent  d'avance  toute  innovation,  venant  sur- 
tout  des  pays  oü  rfegne  une  secte  redout^e.  Ce  sont  eux  qui 
ont  brül(?  la  premifere  imprimerie  qu 'Alexis  avait  essay^  d*etablir. 
Voilä  comme  ils  repoussent  toutes  les  ameliorations  comme 
d'abominables  sacrilöges,  soit  fanatisme,  soit  instinct  d*immu- 
tabilit^,  indispensable,  en  effet,  ä  Texistence  de  tout  pouvoir 
{ond6  sur  Terreur  et  la  superstition.**  —  „Die  Unwissenheit 
der  Clerisei  zu  Anfang  der  Regierung  Peters,"  schreibt  der 
Zeitgenosse  Vockerodt^),  „war  weit  gröber  als  sie  in  Europa 
in  den  finstersten  Seculis  des  Pabstthums  gewesen  sein  kann. 
Predigen  war  bei  ihnen  ganz  und  gar  nicht  Mode.  Wer  lesen 
und  schreiben  konnte,  und  die  Ceremonien  der  Kirche  zu  be- 
obachten wußte,  der  hatte  alle  Requisiten,  die  man  nicht  nur 
zu  einem  Priester,  sondern  auch  zu  einem  Bischof  erforderte. 
Konnte  er  sixrh  dabei  in  Reputation  eines  strengen  Lebens 
setzen,  und  war  von  Natur  mit  einem  weitschichtigen  Bart  be- 
gäbet, so  passirte  er  vor  einen  ausnehmenden  Geistlichen.** 
—  „Les  Ministres  de  leurs  Eglises,**  sagt^)  der  ebenfalls  zeit- 
genössische Kapitän  Perry  über  die  Priester  zu  Anfang  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts,  „ne  prßchent  jamais  au  Peuple;  ils  n'en 
seroient  pas  capables :  il  n*  y  a  qu*un  fort  petit  nombre  des  Prin- 
cipaux,  qui  prfichent  quelquefois  devant  le  Czar,  et  dans  les 
Eglises  Cathddrales  les  jours  des  plus  grandes  Ffites.  Le  plus 
haut  point  de  Doctrine  oü  s*61eve  le  Bas  Clergö,  et  ce  qu'on 
requiert  effectivement  de  ceux  qui  se  prdsentent  aux  Evfiques, 
pour  etre  admis  aux  Ordres  sacrez,  est  qu'ils  sachent  chanter 
et  lire  distinctement  TOffice;  qu'ils  ne  soient  pas  en  mau- 
vaise  r^putation  parmi  leurs  voisins,  qu*ils  ayent  la  voix  bonne 


1)  Vockerodt  a.  a.  O.    S.  14. 

2)  Jean  Perry,  Etat  present  de  la.Grande-Russie,  A  la  Haye  1717,  p.  205. 


—     122     - 

et  claire,  et  qu*ils  puissent  prononcer  aussi  ferme  qu'il  est 
possible,  douze  ou  quinze  fois  sans  prendre  haieine,  Hospidi 
Pomolio,  Seigneur  aye  piti^  de  nous.  Ils  ne  se  mettent  pas 
non  plus  en  peine  d'oü  ils  tirent  leurs  Prötres;  car  j*en  ai 
connu   qui  avoient   6t6   6\evez   ä   des   Metiers  Mechaniques.** 

—  „Man  zehlet  in  der  Resident z-Stadt  Moscau  4000  Popen 
ohne  die  Mönche/*  sag^  ein  ungenannter  Autor i)  im  Jahre 
17 12.  „Diese  Herren  Popen  haben  keine  andere  Gelehrsamkeit 
/  als  daß  sie  fertig  lesen  /  schreiben  und  singen  können  / 
und  es   wurd  auch   nichts   mehr   von  ihnen  erfordert.** 

Aus  der  Zeit  der  Regierungen  der  Zarinnen  Elisabeth  und 
Katharina  erwähne  ich  endlich  nachfolgende  Urteile  von  Zeit- 
genossen: In  einem  Briefe  des  Baron  de  Breteuil  au  Choiseul 
im  Jahre  1760  sagt  der  französische  Diplomat  2):  „Rien 
n'est    plus  m6pris6  ni  m^prisable  que  le  Clerg6  de  Russie.** 

—  „Sie  können  sich  gar  nicht  vorstellen,**  schreibt  ein 
deutscher  Offizier  um  das  Jahr  1765,  „wie  groß  die  Un- 
wissenheit der  rußischen  Geistlichkeit  ist.  Selbst  die  noth- 
wendigsten  und  ersten  Grundsätze  der  griechischen  Religion 
sind  einer  imzähligen  Menge  Pfaffen  unbekannt;  und  man 
kan  fast  behaupten,  daß  unter  tausend  gemeiner  Popen  gröste 
Gelehrsamkeit  nur  bloß  darinn  besteht,  daß  sie  vor  den  Al- 
tären funfzigmal  Gospodi  pomilui,  HErr,  erbarme  dich  unser! 
in  einem  Othem  hersagen  können.**^)  —  Und  ein  französischer 
Offizier  urteilt  einige  Jahre  später  in  demselben  Sinne  wie 
der  deutsche:  „Die  allerverächtlichsten  imd  allerverachtetsten 
Wesen  in  Rußland  sind  die  Priester.  Viele  von  ihnen  können 
nicht  lesen;  aber  noch  ärger  als  ihre  Unwissenheit  sind  ihre 
Sitten.  Es  giebt  Seminarien  zum  Unterricht.  Aber  man  braucht 
sie  nicht,  um  Priester  werden  zu  können.  Ein  Vater  tritt  an 
seinen  Sohn  seine  Pfarre,  seine  Kirche  und  seine  Heerde  ab; 
hiezu  wird  nichts  weiter  erfordert,  als  die  Einwilligung  des 
Edelmanns,   der  alsdann  die  des  Bischofs  sehr  leicht  erhält. 

1)  Religion  der  Moscowiter  S.  42. 

2)  Waliszewski,  La  dernidre  des  Romanov,  p.  216. 

3)  Russische  Anekdoten  oder  Briefe  eines  deutschen  Offiziers,  Wansbeck 
im  Jahr  1765,  S.  68.  —  Geheime  Nachrichten  über  Rußland  (von  Major  Massen, 
deutsche  Ausgabe  1800)  II  122.     Französ.  Orig.-Ausgabe  II  91. 


—     123    — 

Kann  dieser  Sohn  ein  wenig  das  Slavonische  lesen,  kann  er 
femer  die  Messe  lesen  und  die  Vesper  singen,  so  ist  er  so  weitj 
wie  sein  Vater;  er  ist  Meister  in  seinem  Handwerk,  und  darf 
es  nunmehr  treiben.  Nach  seinen  Dienstverrichtungen  darf 
er  sich  besaufen  und  mit  seinen  Pfarrkindem  sich  herumbalgen, 
wie  er  will;  wenn  diese  ihn  tüchtig  durchgeprügelt  haben, 
so  küssen  sie  ihm  nichts  desto  weniger  wieder  die  Hand  und 
bitten  um  seinen  Segen.  An  gewissen  Tagen  im  Jahr  gehen 
die  Popen  in  ihrer  ganzen  Pfarrei  herum,  und  fordern  von 
Hütte  zu  Hütte  Eier,  Butter,  Flachs,  Hühner  und  dergleichen. 
Wenn  sie  zurückkommen,  so  liegen  sie  gewöhnlich  mitten  unter 
den  erbettelten  Vorräthen  besoffen  auf  einem  Karren.  Es 
ist  nichts  Seltenes,  daß  man  in  den  Straßen  zu  Petersburg 
und  Moskau  betrunkenen  Priestern  und  Mönchen  begegnet, 
die  taumeln,  fluchen,  singen,  den  Vorbeigehenden  Grobheiten 
zurufen,  und  Frauenspersonen  durch  unsittliche  Berührungen 
beleidigen.** 

Die  Zahl  solcher  Urteile  über  den  russischen  Klerus  ließe 
sich  vervielfachen  und  man  müßte  für  sie  einen  eigenen  Band 
bilden,  aber  alle  würden  dasselbe  erzählen,  das  gleiche  traurige 
Lied  von  der  Unwissenheit,  Roheit  und  Unsittlichkeit  des  russi- 
schen Pries tertums.  Und  dabei  sind  die  ausländischen  Urteile 
noch  milde  im  Vergleiche  zu  den  russischen  Selbstbekennt- 
nissen in  Betreff  des  Klerus  vergangener  Zeiten  nicht  bloß, 
sondern  auch  desjenigen  unserer  Tage.  Man  kann  mit  Recht 
behaupten  1),  daß  in  der  westlichen  Literatur  nichts  geschrieben 
worden  ist,  was  dem  Anklagematerial  an  Furchtbarkeit  gleich- 
käme, das  von  russischer  Seite  über  die  Popen  des  neunzehn- 
ten und  zwanzigsten  Jahrhunderts  in  Rußland  veröffentlicht 
worden  ist.  Ein  russischer  Bischof  sagte  von  den  Popen*): 
,,Sie  sind  eine  von  Armut  gedrückte,  habsüchtige,  unwissende 
und  trunksüchtige  Menschenklasse.**  Nächst  Unwissenheit 
und  Trunksucht  sind  Habgier  und  Korruption  zwei  Laster, 
die   sie   seit    den   frühesten    Zeiten    mit    sich   schleppen.     Zar 


1)  Schiemann  a.  a.  O.  S.  406.  —  Man  vergleiche  die  erwähnten  Denk- 
würdigkeiten eines  russischen  Dorf  geistlichen ,  sowie  die  Jugenderinnerungen 
von  Röstislawow  in  ,,PyccKafl  crapHHa"   1880. 

2)  Lanin,  Rusissche  Zustande  I  21. 


—     124     — 

Iwan  III.  sah  sich  genötigt,  den  berühmten  Erzbischof  Gennadij 
zu  entthronen  und  in  das  Tschudowkloster  einzusperren,  nicht 
weil  dieser  Kirchenfürst  die  Kirchenstellungen  nach  einem  fixen 
Tarif  verkaufte  i),  sondern  deshalb,  weil  er  diese  allgemein 
übliche  Korruption  in  brutalster  Weise  betrieb.  Unter  der 
Regierung  der  Zarin  Elisabeth  Petrowna  nahmen  Habgier  und 
Korruption  der  Geistlichkeit  in  allen  Rängen  der  Hierarchie  die 
schrecklichsten  Formen  an.^)  Auf  öffentlichen  Plätzen  verhan- 
delten die  Priester  ihre  Dienste.  Eine  der  Ursachen  zu  diesem 
schamlosen  Schacher  war  allerdings  die  beispiellose  Armut 
des  niederen  Klerus.  Vom  Lande,  wo  sie  sich  nicht  ernähren 
konnten,  strömten  die  Popen  bandenweise  nach  den  Städten, 
versammelten  sich  hier  in  den  Vorhallen  der  Kirchen  und 
lauerten  frommen  Klienten  auf.  Wurde  der  Skandal  zu  arg, 
so  ließen  die  Bischöfe  die  hungrigen  Popen  zusammentreiben 
und  auspeitschen.  Das  Elend  der  Diener  Gottes  war  aber 
manchmal  so  groß,  daß  die  Geprügelten  nach  empfangener 
Züchtigung  wieder  zu  ihren  Standplätzen  zurückeilten,  um  bei 
Gefahr  einer  neuerlichen  Auspeitschung  von  der  Gläubigkeit 
der  Kirchenbesucher  einen  Kopeken  für  einen  Bissen  Brot 
zu  erpressen.  Die  Moralität  und  das  Selbstbewußtsein  des 
Klerus  konnten  nicht  dadurch  gehoben  werden,  daß  die  Geist- 
lichkeit von  der  Regierung  zu  Polizeizwecken  ausgebeutet 
wurde ;  die  Beichte  blieb  kein  der  Kirche  anvertrautes  Geheim- 
nis, sondern  mußte  vom  Priester  sofort  aufgezeichnet  und 
pünktlich  der  geheimen   Kanzlei  ausgeliefert   werden. 

Die  Ehrerbietung,  die  man  trotzdem  solchen  Geschöpfen 
einer  schamlosen  gouvernementalen  und  ekklesiatischen  Or- 
ganisation notgedrungen  entgegenbringen  muß,  kann  nur  eine 
ganz  oberflächliche  und  jeden  wahren  Begriffs  entkleidete  sein. 
Begegnet  man  dem  Popen,  so  grüßt  man  ihn,  küßt  ihm  wohl 
die  Hand.  Aber  man  prügelt  den  Diener  Gottes  im  Wirtshause 
auch  ohne  weiteres  weidlich  durch,  wobei  man  ihm  allerdings 
vorher  die  Popenmütze  vom  Kopfe  nimmt,  die  man  als  Zeichen 


1)  Karamsin.    deutsche    Ausgabe    VI     286    (französische     Übersetzung 

VI  453). 

2)  Waliszewski,  La  demiöre  des  Romanov,  p.  213. 


—     125     — 

des    Standes    mehr    zu    respektieren    sich    verpflichtet    fühlt 
als  den  Träger;  denn^)  „die  gantze  Würde  ihrer  Priesterschafft 
bestehet  nur  in  diesem  Skuffia  oder  Mütze   /    und  wird  der- 
jenige /   welcher  ihnen  solche  abschlaget  /  oder  vom  Kopffe 
fallen  machet    /    gar  streng  gestraffet.     Unterdessen    /    weil 
der  meiste  Theil  solcher  Popen  Säuffer  und  liederliche  Ge- 
sellen sind    /    so  traget  man  kein  Bedencken    sie  braf  abzu- 
prügeln   /    wofern  man  ihnen  die  Mütze  auf  eine  geschickte 
Weise  vom   Kopffe   abzunehmen   weiß    /    und  sie  ihnen  auf 
gleiche  Art    /    nachdem  sie  die  Schläge  bekommen  haben  / 
wieder  aufsetzet.    Weil  man  auch  nur  die  Mütze  zu  respectiren 
hat    /    so  werden  sie  offt  in  denen  Cabbacken    /    oder  Bier- 
Meth-  und  Brandtwein-Häusem    /    welche  dem  Czar  gehören 
/  zum  Spass   und  grosser  Verwunderung  der  Frembden  mit 
Schlägen  übel  tractiret.**     Wie   könnte  der  Pope  auch  mehr 
Achtung  verlangen?    Sittigenden  Einfluß  hat  er  niemals  aus- 
geübt.^)    Er  steht   in   den  Augen   des  Bauern  nicht  als   ein 
besseres  oder  höheres  Wesen  da;  er  ist  gleich  jedem  Trunken- 
bold im  Wirtshaus  und  am  Spieltisch  zu  finden;  erhebt  sich 
durch  seine  Bildung  nicht  über  seine  oft  viehische  Umgebung, 
hängt  wie  der  abergläubischeste  Dörfler  an  den  alten  rohen 
Unsitten,  kennt  wie  dieser  nur  blinde  Unterwerfung  unter  die 
weltliche  Macht.  Der  Bauer  oder  der  gemeine  Städter  verlangt 
vom  Batjuschka,  dem  Väterchen,  wie  man  den  Popen  in  ge- 
dankenloser Liebenswürdigkeit  nennt,  auch  nichts  Höheres  und 
Besseres;  die  Pfarrkinder  sind  zufrieden,  wenn  Batjuschka  die 
vorgeschriebenen  Zeremonien  ableiert  und  in  Ausnahmsfällen 
für  ein  paar  Hühner  oder  ein  Dutzend  Eier  einen  besonderen 
Dienst  leistet,  etwa  eine  Sonnenfinsternis  oder  eine  Mondfinster- 
nis beschwört  oder  durch  Hokuspokus  mit  Totenknochen  dem 
Himmel  einen  fruchtbringenden  Regen  in  dürrer  Zeit  abringt. 
Durch   seine   Würde   vermag   der   Pope   die  Bauern  nicht  zu 
blenden.     Er  ist  ebenso  arm  wie  seine  Herde,  zuweilen  noch 
ärmer.    Der   niedere   Klerus,   die   weiße   Geistlichkeit  genannt 


1)  Religion  der  Moscowiter  Anno  17 12,  S.  42. 

2)  Das  gilt  nicht  bloß  von  den  Popen  in  Rußland,  sondern  in  allen  sla- 
wischen Ländern.     V'gl.  Hellwald,  Die  Welt  der  Slawen,  •  Berlin  1890,  S.  347. 


—     126     — 

im  Gegensatz  zu  den  Mönchen,  der  schwarzen  Geistlichkeit  ^j, 
ist  verheiratet.  Der  Pope  hat  also  eine  Familie  zu  ernähren 
von  dem  Ertrag  eines  winzigen  Ackers,  den  er  gleich  dem 
erstbesten  Muschik  selbst  bearbeiten  muß.  Da  sieht  man  den 
Popen  armselig  und  barfuß  neben  seinem  wackligen  Karren 
und  seinem  abgemagerten  Klepper  einherhumpeln  oder  auf 
dem  Stückchen  Feld,  das  er  bebaut,  die  Furche  mühsam  mit 
dem  primitiven  Ackergeräte  ziehen.  Sein  Los  kann  niemals 
besser  werden,  denn  die  höheren  Stellungen  in  der  Kirche 
sind  den  Ehelosen,  den  Schwarzen  vorbehalten,  den  Mönchen. 
Der  Pope  bleibt  ewig  Pope,  und  diese  Armut  und  dieses 
Elend  sind  verer^lich  durch  alle  Generationen:  Popensöhne 
werden  wieder  Popen;  und  konunt  es  auch  vor,  daß  manche 
in  den  Bauernstand  zurückkehren,  so  ist  es  äußerst  selten, 
daß  ein  Popensohn  etwas  Besseres  wird,  sich  der  Misere  der 
väterlichen  Scholle  entreißt  und  aufwärts  klimmt  auf  fremdem 
Bildungsboden  zu  glänzenderem  Berufe.  In  vieler  Beziehung 
ist  der  Pope  noch  schlimmer  daran  als  der  ärmste  Muschik. 
Hat  der  Seminarist  nach  einer  Jugend  voller  Prügel  und  Ent- 
behrungen die  armselige  Bildung  des  Internats  erworben,  so 
muß  er  sich  verheiraten,  ehe  er  Pope  werden  und  diesen 
kärglichen  Lohn  seiner  jahrelangen  Leiden  erhalten  kann ;  aber 
die  Wahl  seiner  Lebensgefährtin  ist  nicht  seinem  freien  Willen 
anheimgestellt,  sondern  der  Bischof  sucht  ihm  unter  den  Popen- 
töchtern eine  Gattin  aus.  Nach  der  Heirat  erhält  der  Pope 
die  Weihen.  Und  die  ihm  vom  Zufall  geschenkte  Gattin  muß 
er  hegen  wie  seinen  Augapfel,  denn  die  Kirche,  die  nur  dem 
verheirateten  Popen  ein  Amt  gibt,  entzieht  es  dem  verwitweten 
und  zwingt  den  Witwer,  da  ein  Priester  sich  nur  einmal  ver- 
ehelichen darf,  Laie  zu  werden  oder  ins  Kloster  zu  gehen.^) 


1)  Die  Mönche  tragen  stets  «in  langes  schwarzes  Gewand,  die  Popen  da- 
gegen nie  ein  schwarzes,  sondern  ein  braunes  oder  anderes  dunkelfarbiges  Kleid. 

2)  Zu  Zeiten  Alexanders  des  Ersten  erhielt  jedoch  Sambursky,  Kapellan 
der  Großfürsten  Nikolaj  und  Konstantin,  ausnahmsweise  die  Erlaubnis  nach 
dem  Tode  seiner  Gattin  seine  Pfarre  zu  behalten.  Sambursky  galt  übrigens 
bei  den  Geistlichen  und  strengen  Orthodoxen  als  Ketzer,  weil  er  sich  anlaß- 
lich einer  Reise  nach  England  den  Bart  abrasieren  ließ  und  auch  nach  seiner 
Rückkehr  bartlos  blieb. 


—    127     ~ 

Mit  der  Frau,  die  ihm  sein  Bischof  ausgesucht  hat,  hängt  der 
Pope   also   im   Leben   wie    im   Tode   zusammen.     Wie   durch 
frühzeitiges  Sterben  kann  die  Popenfrau  auch  durch  ein  un- 
sittliches   Leben  ihrem  Gatten  seine  Stellung  verderben.    Der 
Pope   selbst   mag   ein   Trunkenbold,   Wüstling,   liederlich,   un- 
sauber sein,  so  schadet  es  ihm  in  seinem  Amte  wenig;  lastet 
aber   auf    der    Popin    nur    der    geringste    Verdacht    eines    un- 
reinen Lebenswandels,  so  ist  es  um  seine  Stellung  geschehen. 
Nicht  der  Pope,  sondern  die  Popenfrau  hält  durch  ihre  eheliche 
Treue  die  Würde  des  Priestertums  aufrecht.     So  verkommen 
und  sittenlos  oft  der  Pope  ist,  so  selten  ist  der  Fall  einer  sitten- 
losen  Popenfrau.     Glaubt    ein    Pope    Grund   zu    Besorgnissen 
im  Punkte  der  Treue  seiner  Gattin  zu  haben,  so  zeigt  er  bloß 
auf   seinen    Bart    und   gibt    durch    ein    Zeichen    gleich    einem 
Scherenschnitt  zu  \^rstehen,  daß  die  Verkürzung  des  Bartes 
drohe  1)  als  Symbol  der  priesterlichen  Unwürdigkeit,  und  die 
Gattin  kehrt   sicher   nicht   mehr  ab  vom  Wege  der  Tugend. 
So  schleicht   des   Popen   Leben   in   einem  ewigen  Zittern  um 
den  Verlust  selbst  dieser  trostlos  armseligen  Existenz  hin.  Hat 
der  Pope  zahlreiche  Kinder,  so  wachsen  die  Sorgen  ins  End- 
lose.    Vergebens  plagt  sich  dieser  traurige  Diener  Gottes  ab 
mit  seinen  Händen  in  den  freien  Stunden,  die  der  Kirchendienst 
und   das   Wirtshaus    ihm   lassen,    dem   Acker   der   Pfarrei    in 
er^höpfendem    Fronen    einige    Früchte    abzugewinnen;    der 
Lohn    selbst    des   härtesten    Fleißes    reicht    nicht   aus   für   die 
vielen  Hungernden  in  der  kleinen  Popenstube,  und  der  Priester 
wird  von  den  nach  Brot  verlangenden  Schreien  seiner  Kinder 
getrieben,    zu    den    Mitteln    Zuflucht    zu    nehmen,    welche   seit 
jeher  üblich  waren :  Vergehen  und  Verbrechen  zu  absolvieren 
für  Brot   und  Schnaps,   den  Diebstahl   im  Namen  Gottes  für 
einige    Eier,    und    einen    Todschlag   für    eine   Anzahl   Hühner 
oder  eine  Kuh  zu   verzeihen.     Gerne  bringen  die  Schuldigen 
solche  Opfer,  um  ihr  Gewissen  zu  erleichtern,  und  der  Pope, 
der  zur  Erkenntnis  gelangt,  wie  bequem  er  leben  könnte,  wenn 
er  den  Aberglauben  und  die  Dummheit  ausbeutet,  scheut  vor 
keiner  Gelegenheit  zurück,  die  ihm  Linderung  seines  Elends 


1)  Dupre  de  St.  Maure,  St.  P6tersbourg,  Moscou  et  les  Provinces.    I  107. 


—    128    — 

verheißt.  Bald  erfindet  er  dann  selbst  neue  noch  nie  dage- 
wesene Gelegenheiten  und  schließlich  hat  er  für  alle  möglichen 
Fälle  einen  Preistarif  aufgestellt,  dessen  Höhe  allerdings 
Schwankungen  unterliegt,  je  nach  der  lebhafteren  oder 
schwächeren  Nachfrage.  Das  Priestertum  wird  zur  Ökono- 
mie, der  Glaube  zum  Schacher,  der  Aberglaube  ein  Lebens- 
mittel. 

Nicht  als  ob  er  moralische  Bedenken  hätte,  solchem  geist- 
lichen Hirten  zu  folgen,  zeigt  der  Muschik  eine  offene  Ver- 
achtung des  Popen,  dem  er  zwar  die  Hand  küßt,  weil  es  so 
Gebrauch  ist,  den  er  aber  schlägt,  wenn  er  mit  ihm  im  Wirts- 
haus trinkt.  Die  Ursache  dieser  Verachtung  ist  vielmehr  darin 
zu  suchen,  daß  der  Muschik  im  Popen  nur  dann,  wenn  er 
ihn  für  seine  dunklen  Triebe  als  Heilarzt,  für  seine  Betrügereien 
als  Fürbitter  bei  Gott  und  den  geheimnisvollen  Mächten  der 
abergläubischen  Phantasie  braucht,  ein  um  ein  Geringes  höheres 
Wesen  erkennt  als  er  selbst  ist.  Sind  diese  Gründe  nicht 
vorhanden,  so  erscheint  der  Pope  dem  Muschik  nicht  mehr 
als  eine  höhere  Menschenspezies,  nicht  einmal  als  ein  dem 
Bauern  gleichgestelltes,  sondern  als  ein  noch  tiefer  stehendes, 
geradezu  als  ein  unreines  Wesen.  Man  könnte  fast  sagen, 
der  Muschik  sehe  in  seinem  heidnischen  Gemüte  den  Popen 
wie  einen  Zauberer  an,  dem  man  auch  sich  vertrauensvoll 
zuwendet,  um  seine  Wunder  zu  Vorteilen  zu  genießen,  den 
man  jedoch  im  übrigen  als  einem  unreinen  Geschöpf  aus  dem 
Wege  geht ;  dem  man  in  einem  unbestimmbaren  Schauer  Ehr- 
erbietung erzeigen,  aber  hinterdrein  ein  Kreuz  zur  Erleichterung 
nachschlagen  muß.  Begegnet  man  im  Augenblick,  da  man 
eine  Reise  antritt,  allzuerst  einem  Popen,  so  ist  dies  ein  übles 
Vorzeichen,  man  speit  aus,  um  das  drohende  Unheil  abzu- 
wenden, und  tut  am  klügsten,  die  Reise  aufzugeben.  Man 
könnte  vielleicht  sagen,  daß  auch  in  anderen  Ländern,  wo  der 
Klerus  gebildeter  ist  und  Achtung-  genießt,  ein  Zusammen- 
treffen mit  Geistlichen  im  Eisenbahnzuge  oder  auf  dem  Schiffe 
dem  Aberglauben  als  gefahrbringend  erscheint  und  daß  es  sich 
in  Rußland  um  nichts  anderes  handeln  dürfte,  als  um  ein 
Echo  dieses  allgemeinen  Aberglaubens;  aber  zweifellos  hat  die 
Scheu  des  Muschiks  vor  dem  Popen  einen  tieferen  und  durch- 


—     129    — 

aus  sozialen  Grund:  dies  geht  auch  daraus  hervor,  daß  eine 
Bauemfamilie  sich  mit  einer  Popenfamilie  nicht  verschwägert; 
selbst  die  leibeigenen  Bauern  in  früheren  Zeiten  verschmähten 
eine  Ehe  mit  Popentöchtem  oder  weigerten  sich  ihre  Töchter 
Popensöhnen  zu  geben.  Die  Popenfamilien,  aus  dem  Bauern- 
stände hervorgegangen,  gelten  dem  Muschik  mithin  nicht  als 
etwas  besser,  sondern  als  noch  schlechter  Gewordenes.  In 
den  geheimen  erotischen  imd  obszönen  Erzählungen,  Liedern 
und  Sprichwörtern  am  Schlüsse  meines  Buches  i)  werden  wir 
sehen,  wie  das  Volk  dem  Popen  die  erbärmlichsten  Streiche 
in  die  Schuhe  schiebt,  ihn  der  größten  Dununheiten  zeiht 
und  ihm  die  Ausübung  der  furchtbarsten  Unzucht  zuschreibt. 

Die  Religion  und  die  Regierung,  und  als  Handlangerin 
der  letzteren  die  obere,  die  schwarze  Geistlichkeit :  sie  tragen 
die  Schuld,  daß  der  niedere  Klerus,  das  Popentum,  einer  solchen 
allgemeinen  Verachtung  des  Volkes  preisgegeben  ist.  Der 
Muschik  sieht  seit  tausend  Jahren,  daß  der  Pope  von  seinen 
Vorgesetzten  genau  so  rücksichtslos  geknutet  und  gepeitscht 
wird,  wie  der  Bauer  von  dem  Gutsherrn.  Die  Regierung  will 
den  Popen  nicht  anders  haben  als  er  ist,  überwacht  das  Popen- 
tum ängstlich  durch  Spione,  um  jede  Regung  menschlicher 
Gefühle  zu  unterdrücken,  um  jedes  Verlangen  nach  Bildung 
und  Freiheit  im  Keime  zu  ersticken,  und  seit  aus  dem  Popen- 
stande trotz  aller  Fesselung  gar  in  Gapon  ein  Revolutions- 
führer hervorgegangen,  ist  dieses  System  der  Knechtung  noch 
maßlos  verschärft  worden.  Man  hat  in  den  letzten  Jahren 
der  Wirren  unter  den  Popen  und  Popensöhnen  strenge  Muste- 
rung gehalten. 

Katharina  II.  und  Nikolaj  I.  haben,  als  sie  im  Popentum 
einen  widerspenstigen  Geist  wahrnahmen,  der  die  Ketten  der 
Sklaverei  zu  sprengen  drohte,  aus  den  frommen  Hirten  der 
Gemeinde  Artillerie-Bataillone  gebildet  und  diese  den  Feinden 
als  Kanonenfutter  hingeworfen;  Nikolajs  des  Zweiten  fromm- 
mystisches Gemüt  aber  duldet  nicht  den  Gedanken,  die  Künder 
des  göttlichen  Friedenswortes  zu  blutigem  Kriegshandwerk  zu 
pressen;  und  so  werden  die  verdächtigen  Popen  scharenweise 


1)  II.  Band,  60.  Kapitel. 
Stern,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  RuftUnd. 


—    130    - 

bloß  nach  Sibirien  geschleppt,  um  unter  Burjäten  und  Ost- 
jaken  das  Lob  des  Zaren  und  die  Herrlichkeit  des  russischen 
Christentums  zu  singen.  Die  Popen  waren  niemals  Erzieher 
ihres  Volkes,  nun  werden  sie  unfreiwillige  Märtyrer  für  seine 
Freiheit. 


8.  Unsitten  im  Mönchstum. 

Weißer  und  schwarzer  Klerus  —  Kontraste  —  Reichtum  der  Kirchen  und 
Klöster  —  Konfiskation  der  Klöstergüter  —  Stellung  des  hohen  Klerus  im 
Rußland  vergangener  Zeit  —  Die  Metropoliten  —  Berühmte  und  gelehrte 
Bischöfe  und  Mönche  —  Patriarch  Nikon  —  Abschaffung  des  Patriarchats  — 
Der  Heilige  Synod  —  Die  Stellung  des  Oberprokurators  —  Unordnungen  im 
Synod  —  Einflußlosigkeit  auch  des  Mönchstums  und  des  hohen  Klerus  auf 
Bildung  und  Kultur  —  Die  Bildung  im  kleinrussischen  Klerus  —  Bedeutungs- 
losigkeit des  russischen  Mönchstums  —  Urteile  über  die  schwarze  Geistlichkeit  — 
Die  Ehelosigkeit  der  Klosterleute  —  Unzucht  in  Klöstern  —  Klagen  des  Zaren 
Iwan  im  Stoglaw  —  Kebsweiber,  halbe  Priesterfrauen  —  Gemeinsames  Baden 
von  Mönchen  und  Nonnen  —  Sodomie  in  Klöstern  —  Peters  des  Großen  Kloster- 
reformen —  Ihre  Resultatlosigkeit  —  Ein  Kloster  als  Verbannungsort  —  Regeln 
der  Frauenklöster  —  Nichtachtung  dieser  Regeln  —  Schlechter  Ruf  der  russi- 
schen Nonnen  —  Nonnenklöster  als  Bordelle  —  Tingeltangel  im  Nonnen- 
kloster —  Elisabeth  als  Frömmlerin  und  Messalina  —  Orgien  der  Zarin  Eli- 
sabeth im  Troitzkakloster  —  Sadismus  an  heiliger  Stätte  —  Erotische  Raserei 
und  FlagellationstoUheit  im  Mönchstum  —  Die  Männertöterin  Darja  Saltykow 
—  Folgen  der  Demoralisation  des  Klems  —  Unzucht  und  Mord  in  Nonnen- 
klöstern des  neunzehnten  Jahrhunderts  —  Allgemeinheit  der  sittlichen  Ver- 
kommenheit der  Klosterleute  —  Parallele  zwischen  der  Sittenlosigkeit  im 
russischen  Mönchstum  und  im  kalmückischen  Priestertum. 

Der  Pope  verhungert;  die  weiße  Geistlichkeit,  der  ge- 
samte niedere  Klerus,  stirbt  in  Elend  und  Verkommenheit; 
die  Kirche  aber  ist  unermeßlich  reich,  und  der  schwarze  Klerus, 
das  Mönchstum,  erstickt  in  seinen  Schätzen.  Kein  größerer 
Kontrast  ist  denkbar  als  der  zwischen  dem  armseligen  Popen- 
tum  und  dem  prunkenden  Mönchstum;  zwischen  dem  Priester 
auf  der  niedrigsten  Stufe  und  dem  Bischof  oder  Erzbischof; 
zwischen  der  Bettelhaftigkeit  des  Dorf pfarrers  und  dem  Glänze, 
den  eine  Fülle  von  Gold,  Silber  und  Juwelen  in  den  Kirchen 
ausströmt.  Eine  betäubende  Pracht  ist  es,  welche  die  schwarze 
Geistlichkeit  und  die  Kirche  bei  den  geringsten  Anlässen  ent- 


—    131     — 

falten.  Der  Altar,  ist  eingetaucht  in  ein  Meer  von  funkeln- 
dem Edelmetall  und  blitzenden  Edelsteinen ;  und  der  die  Messe 
zelebrierende  Bischof,  Erzbischof  oder  Metropolit  erscheint  in 
dem  Übermaße  des  Luxus  seiner  Kirchentracht,  mit  seinen 
Ketten  und  Kreuzen  aus  Diamanten  und  Perlen,  der  Mitra, 
die  unter  der  Last  von  Rubinen  und  Smaragden  tief  auf  die 
Stirne  sinkt,  und  den  unschätzbar  kostbaren  Kirchengefäßen, 
die  er  in  Händen  hält,  der  berauschten  Menge  nicht  wie  ein 
demütiger  Knecht  Gottes,  sondern  wie  der  stolze  Träger  einer 
orientalischen  Herrscherkrone.  Die  große  Masse  der  Geist- 
lichen hungert  und  dürstet,  seufzt  in  Elend  und  Not ;  die  Kirche 
und  ihre  Spitzen  jedoch  leuchten  umso  höher  in  ihrem  fabel- 
haften Reichtum,  der  nicht  von  heute  oder  gestern  datiert, 
vielmehr  fast  so  alt  ist  wie  die  Kirche  selbst.  Iwan  III.  der 
Fürchterliche  1)  war  der  erste  Herrscher,  der  einen  schüchternen 
Versuch  machte,  der  Geistlichkeit  diese  toten  Güter  zu  ent- 
reißen. Aber  die  Versammlung  der  Kirchenoberhäupter  warnte 
den  Zaren  durch  folgenden  Briefe):  „Seit  dem  apostelgleichen 
Kaiser  Konstantin  bis  auf  die  spätesten  Zeiten  haben  die 
Bischöfe  und  die  Klöster  überall  Städte  und  Dörfer  besessen. 
Nie  haben  die  Kirchenversammlungen  der  heiligen  Väter  dies 
verboten.  Sogar  bei  Deinen  Vorfahren  und  bis  auf  unsere 
Zeit  hatten  die  Bischöfe  und  Klöster  Städte  und  Landgüter, 
Flecken  und  Dörfer,  Gerechtigkeitspflege,  kirchliche  Abgaben 
und  Steuern.  Haben  Yiicht  der  heilige  Wladimir  und  der  große 
Jaroslaw  gesagt:  wer  von  meinen  Kindern  oder  Nachkommen 
es  übertritt;  wer  sich  anmaßt  das  Eigentum  der  Kirche  und 
die  Zehnten  der  Bischöfe,  der  sei  verflucht  für  diese  und 
jene  Ewigkeit !  ?  Sogar  die  gottlosen  Zaren  der  Horde  schonten 
aus  Furcht  vor  dem  Herrn  das  Eigentum  der  Klöster  und 
Bischöfe.    Also  wollen  wir  es  nicht  wagen  und  finden  es  nicht 


1)  Rußland  hatte  zwei  Herrscher  mit  dem  Beinamen  eines  Fürchter» 
liehen  oder  Schrecklichen:  Iwan  Wassil  je  witsch  III.  war  der  Großvater  des  IV. 
gleichen  Namens  und  Beinamens.  Dem  dritten  Iwan  wurde  dieser  Beiname 
aber  mehr  wegen  seiner  Erfolge  gegen  Rußlands  Feinde  gegeben  (vgl.  Petrus 
Petreji,  Mußkowitische  Chronika  S.  165),  während  der  vierte  Iwan  seiner 
grauenhaften  Mordgier  wegen  der  Schreckliche  genannt  wurde. 

*)  Karamsin  (deutsche  Ausgabe)  VI  285. 

9* 


—     132    — 

für  gut,  das  kirchliche  Eigentum  zurückzugeben;  denn  es  ist 
Gottes  und  unantastbar."  Der  Fürst  wagte  nicht  auf  seinem 
Plane  zu  bestehen.  Im  Jahre  7159^)  wurde  aber  bei  Abfassung 
eines  neuen  Gesetzbuches  verordnet,  daß  man  seine  Güter  unter 
keinem  Vorwande  an  die  Klöster  oder  Geistlichkeit  schenken 
oder  verkaufen  dürfe;  den  Geistlichen  wurde  verboten,  Güter 
durch  Kauf  oder  auf  eine  andere  Weise  zu  erwerben,  bei 
Androhimg,  daß  ihnen  solche  Güter  gewaltsam  wieder  ab- 
genonmien  werden  würden;  im  Besonderen  wurde  denen,  die 
ins  Kloster  gehen  wollten,  sowohl  Männern  als  Frauen,  den 
Klöstern  Güter  zu  schenken  verboten.  Peter  der  Große  wagte 
trotz  der  schroffen  Stellung,  die  er  gegenüber  der  Geistlich- 
keit einnahm,  auch  nicht  viel  weiter  zu  gehen  als  das  letzt- 
erwähnte Gesetz.  Erst  Katharina  II.  hatte  den  Mut  den  Plan 
Iwans  des  Fürchterlichen  wieder  aufzunehmen,  die  Ländereien 
und  Dörfer  der  Kirche  mit  dem  Eigentum  des  Staates  zu  ver- 
schmelzen und  den  Geistlichen  Geldgehälter  anzuweisen.  Da- 
mals bestand  der  Kirchen-  und  Klösterstaat  Rußlands  aus  479 
Mönchsklöstern,  74  Frauenklöstern  und  18 3 19  Kirchen^);  von 
letzterer  Zahl  waren  in  der  Eparchie  Moskau  3)  1850,  in  dem 
Bischof stum  Nowgorod  1657,  im  Gebiete  von  Rjäsan  1220, 
von  Kijew  1163,  von  Belgorod  1089,  dagegen  in  der  Eparchie 
Petersburg  nur  106.  Die  Zahl  der  Kirchenbediensteten  betrug 
insgesamt  67873.  In  den  Mönchsklöstern  gab  es  7263,  in 
den  Frauenklöstem  5264  Bewohner.  Die  Erzbischöfe,  Bischöfe 
und  Klöster  besaßen  zu  Ende  der  Regierung  Elisabeths  ein 
Eigentum  von  818575  Bauern;  aber  in  Katharinas  Verord- 
nung vom  Jahre  1764  wird  die  Zahl  der  dem  Klerus  Leib- 
eigenen schon  mit  910866  angegeben.  Die  Gesamtbevölkerung 
Rußlands  betrug  im  Jahre  1788  gemäß  den  Ergebnissen  der 


1)  Nach  unserer  Zeitrechnung  1649.  ^^  Rußland  wurden  bis  zum  Ende 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  die  Jahre  seit  Erschaffung  der  Welt  gezählt. 
Um  1500  war  bestimmt  worden,  daß  das  neue  Jahr  stets  am  i.  September 
beginne. 

2)  Büschings  Magazin  I  43 — 106. 

3)  Olearius  berichtete,  daß  es  zur  2^it  seines  Besuches  in  Rußland  in 
Moskau  1500  Kirchen  und  Klöster  gab;  dies  dürfte  sich  aber  auf  den  ganzen 
von  dem  Moskauer  Metropoliten  abhängigen  Kreis  bezogen  haben. 


—    133    — 

vierten  Revision i):  28  Millionen  Seelen.  Jeder  dreißigste 
Mensch  in  Rußland  war  also  der  Geistlichkeit  leibeigen. 

Die  Zahl  der  Klöster  und  Kirchen  ist  seither  nicht  ge- 
ringer geworden.  Um  1800  gab  es  in  der  Stadt  Moskau 
allein  wohlgezählte  943  Kirchen  und  Klöster,  davon  150  inner- 
halb des  Kremls.*)  Haxthausen  erzählt  3),  daß  er  bei  seinem 
Besuche  der  Stadt  Arsamaß,  um  die  Mitte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts,  in  diesem  Orte  34  Kirchen  und  2  Bethäuser, 
2  Manns-  und  2  Frauenklöster  zählte;  Arsamaß  hatte  damals 
im  ganzen  4390  männliche  und  4602  weibliche  Einwohner 
in  78  steinernen  und  1399  hölzernen  Häusern.  In  den  Klöstern 
gab  es  HO  Mönche  und  650  Nonnen,  an  den  Kirchen  waren 
weitere  70c  Geistliche  beschäftigt.  Auf  rund  40  Häuser  oder 
260  Einwohner  kam  eine  Kirche,  der  sechste  Teil  der  Be- 
völkerung gehörte  dem  geistlichen  Stande  an. 

Die  von  Katharina  II.  durchgeführte  Konfiskation  der 
Kirchengüter  verursachte  nicht  die  geringste  Aufregung  im 
Volke,  und  dies  kann  als  Beweis  dafür  gelten,  daß  die  Mönche 
kein  Ansehen  und  keine  Liebe  genossen.  Allerdings  hat  die 
Güterkonfiskation  den  Reichtum  des  Klerus  nur  um  die  Güter 
vermindert,  während  die  in  Metallen,  Edelsteinen  und  Stoffen 
in  den  Kirchen  und  Klöstern  aufgehäuften  Schätze  von  der 
Konfiskation  verschont  blieben.  Demnach  ist  der  schwarze 
Klerus  in  Rußland  noch  immer  unermeßlich  reich  und  man 
behauptet,  daß  schon  das  Troitzkakloster  Schätze  genug  be- 
sitzt, um  damit  Rußlands  sämtliche  Staatsschulden  bezahlen 
zu  können.  Dieses  Kloster  hatte  im  fünfzehnten  Jahrhundert 
bereits  hunterttausend  leibeigene  Bauern;  Katharina  II.  nahm 
dem  Kloster  die  Bauern  fort,  doch  blieb  ihm  noch  bis  heute 
aus  seinem  Barvermögen  ein  jährliches  Einkommen  von  min- 

1)  In  Rußland  wurden  früher  als  Grundlage  für  die  Erhebung  der  Kopf- 
steuer von  Zeit  zu  Zeit  Abschätzungen,  sogenannte  Revisionen  vorgenommen. 
Solcher  Revisionen  gab  es  zehn,  die  erste  fand  1722,  die  letzte  1858  statt. 
Die  erste  wirkliche  Volkszählung  in  westeuropäischem  Sinne  geschah  erst  am 
28.  Januar  1897  russischen  Stils.  Vgl.  Brockhaus'  Konversationslexikon. 
Neue  revidierte  Jubiläumsausgabe  1903.    Band  XIV,  S.  71. 

2)  Konstantinopel  und  St.  Petersburg,  Der  Orient  und  der  Norden, 
II.  Jahrgang  (1806),  Band  III,  S.  30. 

3)  Studien  über  Rußland  I  312. 


—     134    — 

destens  hunderttausend  Rubeln;  von  dem  toten  Kapital,  das  in 
Gold  und  Juwelen  angelegt  ist,  nicht  zu  reden.  Schätze  an 
Gold  und  Juwelen  hat  auch  die  geringste  Kirche,  das  kleinste 
Kloster.  In  den  großen  Kathedralen  aber  findet  man  Reich- 
tümer, deren  Beschreibung  orientalischen  Märchen  entnommen 
zu  sein  scheint.  Da  gibt  es  Meßgewänder,  die  Vermögen  ver- 
schlungen haben,  Heiligenbilder,  deren  Augen  aus  Riesen- 
brillantei),  deren  Zähne  aus  den  reinsten  Perlen  bestehen,  Iko- 
nostase i)  aus  purem  Golde,  Kronleuchter  von  ungeheuerlichem 
Gewichte   in  purem  Silber. 

Im  Strahlenglanze  dieses  Reichtums  sonnen  sich  nur  die 
Mitglieder  des  schwarzen  Klerus,  die  Mönche  und  die  aus 
der  Klostergeistlichkeit  hervorgegangenen  hohen  Würdenträger 
der  Kirche.  Und  doch  hat  der  schwarze  Klerus  für  Rußland 
nur  wenig  mehr  geleistet,  als  der  weiße.  Ein  Kultureinfluß  ist 
auch  von  ihm  nicht  ausgegangen*),  obwohl  er  eher  die  Mittel 
hatte  sich  zu  bilden  und  Bildner  des  Volkes  zu  sein.  Aber 
die  gelehrten  und  zivilisierten  Bischöfe  Rußlands  im  Laufe 
von  zehn  Jahrhunderten  lassen  sich  an  den  zehn  Fingern  ab- 
zählen. Bis  um  die  Mitte  des  vierzehnten  Säkulums  hatte  der 
Patriarch  von  Konstantinopel  noch  Einfluß  auf  die  Wahl  der 
hohen  Geistlichkeit  Rußlands.  Die  ersten  Metropoliten  der 
Großfürstentümer  waren  sogar  Griechen,  ernannt  vom  griechi- 
schen Kaiser  und  geweiht  vom  Konstantinopeler  Patriarchen, 
ohne  Vor-  und  Mitwissen  der  russischen  Großfürsten.  Nach 
der  Eroberung  Konstantinopels  durch  die  Türken  schwand 
naturgemäß  das  Ansehen  des  griechischen  Patriarchen  in  Ruß- 
land, die  russischen  Großfürsten  wählten  selbst  ihren  Metropo- 
liten und  die  russischen  Bischöfe  weihten  ihn.  Der  Metro- 
polit war  die  höchste  Instanz,  er  sprach  das  Anathem  über 
Städte  und  Länder  wie  Großnowgorod,  Nischny-Nowgorod 
und  Pskow  aus ;  er  hatte  den  Vorsitz  in  dem  von  ihm  gebildeten 
Synod,  er  entschied  über  die  Klagen  der  russischen  Fürsten 
gegen  ihre  Bischöfe,  übte  die  weltliche  Gerichtsbarkeit  über 
die  zu  den  Metropolstühlen  gehörenden  Besitzungen  aus, 
salbte  den  Herrscher  bei   der  Thronbesteigung  und  hatte  in 

1)  Heiligensäulen. 

2)  Schiemann,  Alexander  I.  a.  a.  O.  408.   Anmerkung  2. 


—    135    — 

der  Kirche  und  bei  allen  festlichen  Gelegenheiten  den  Ehrensitz 
neben  dem  Großfürsten  oder  Zaren.  Bei  Staatsangelegenheiten 
wurde  sein  Rat  eingeholt,  und  alle  Befehle  des  Herrschers  be- 
gannen mit  dem  Satze :  Nach  Einholung  des  Segens  und  Rates 
unseres  Vaters  des  Metropoliten.  Der  Jesuit  Antonius  Posse- 
vinus^)  sagt,  daß  der  Zar  imd  die  übrigen  Fürsten  dem  Metro- 
politen bei  dessen  Einzug  in  die  Residenz  stets  entgegengingen 
und  ihm  die  Hand  küßten.  Als  später  die  zersplitterten  russi- 
schen Fürstentümer  zu  einem  einzigen  Reiche  vereinigt  ^rden, 
trat  an  die  Spitze  der  Geistlichkeit,  als  Chef  der  drei  Metro- 
politen, der  Patriarch.  In  der  Mongolenzeit  wuchs  der  Ein- 
fluß des  Klerus  an,  weil  dieser  es  war,  der  den  Widerstand 
gegen  die  Ungläubigen  nährte.  Ein  Mönch  trug  1380  zur 
Befreiung  Rußlands  von.  den  Tartaren  bei.  Ein  ob  seiner 
Weisheit  und  Tugend  berühmter  Kleriker  war  um  dieselbe 
Zeit  Theognoß,  Metropolit  von  Moskau,  ein  großer  Gelehrter 
der  Metropolit  von  Kijew  Gregor  Samlawk,  der  bei  seinem 
Tode  im  Jahre  1419  zahlreiche  geistliche  Werke  hinterließ. 
Der  Erzbischof  Gennadij  von  Nowgorod  unternahm  gegen  Ende 
des  fünfzehnten  Jahrhunderts  eine  Korrektur  der  Bibel,  und 
auf  seine  Aufforderung,  ihm  alle  im  Reiche  vorhandenen  Texte 
der  beiden  Testamente  einzusenden,  lieferte  Nowgorod  allein 
6000  Manuskripte.  Ein  Zeitgenosse  und  Mitarbeiter  dieses 
Erzbischofs  war  Sanin,  Prediger  in  Wolokolamssk ;  er  schrieb 
ein  Werk  unter  dem  Titel  „Der  Aufklärer**,  enthaltend  fünf- 
zehn Dissertationen  gegen  die  Sekte  der  Strigolniki,  und  eine 
Geschichte  dieser  Sektierer.  Der  Grieche  Maxim,  vom  Zaren 
Wassilij  1506  nach  Rußland  berufen,  wirkte  als  Bibliothekar. 
Der  im  Jahre  1562  gestorbene  Metropolit  Makarij  hatte  als 
der  gelehrteste  und  arbeitsamste  Mensch  seiner  Zeit  gegolten; 
zwölf  Jahre  widmete  er  der  Niederschrift  einer  Geschichte  der 
von  der  russischen  Kirche  anerkannten  und  kanonisierten  Heili- 
gen, die  Frucht  dieser  Arbeit  waren  zwölf  enorme  Foliobände, 
Der  Mönch  Paiß  Jaroslawow  raffte  sich  zu  einer  historischen 
Arbeit  auf;  er  schrieb  1526  eine  Geschichte  der  zweiten  Ehe 


^)  Antonii  Possevini  Societatis  Jesv,  Moscovia,  et,  alia  Opera  de  statv 
hvjvs  secvli.  aduersus  Catholicae  Ecclesiae  hostes.  .  1597 


—    136    — 

des  Zaren  Iwan;  Erzählungen  aus  der  Geschichte  von  Kasan] 
lieferte  der  Priester  Iwan  Glassatij;  Annalen  betreffend  die 
Invasion  der  Polen  tinter  Bathory  verfaßte  der  Pskower  Mönch 
Serapion;  eine  Geschichte  der  Belagerung  des  Klosters  des 
heiligen  Ssergej  hinterließ  der  Mönch  Abraham  Palitzyn,  eine 
mythische  Geschichte  der  Scythen  der  Priester  Andreas  Lys- 
low;  einen  Abriß  der  Geschichte  des  Ursprungs  der  Slawen 
imd  der  Regierung  der  Fürsten  von  Kijew  schrieb  Innocenz 
Gisel,  Archimandrit  zu  Kijew.  Der  Mönch  Jonas  verfaßte 
sogar  ein  Reisewerk.  1588  gründeten  die  Mönche  von  Kijew 
eine  Schule,  aus  der  später  die  geistliche  Akademie  hervor- 
ging, die  jahrhundertelang  die  einzige  Bildungsstätte  Rußlands 
blieb.  Peter  Mogila  rekonstruierte  diese  Lehranstalt  des  Klerus, 
führte  Kurse  der  Philosophie  und  Theologie,  Sprachunterricht 
im  Lateinischen  und  Polnischen  ein  und  berief  Lehrer  aus 
Deutschland  und  Italien.  Von  dieser  Schule  gingen  die  so- 
genannten „Bursaki**  aus,  die  sich  über  die  ganze  Umgebung 
verbreiteten  und  gegen  ein  Honorar  von  Eiern,  Schinken  oder 
CJetreide  als  Lehrer  wirkten.  Aus  der  Kijewer  Akademie 
stammten  die  berühmten  Simeon  Polotzkoj,  Theophan  Proko- 
powitsch,  Slowinetz,  Schaworskij,  Lopatinskij.  Einige  Jahre 
nach  der  Gründung  der  Kijewer  geistlichen  Schule  entstand 
auch  in  Moskau,  vom  Zaren  Boriß  Godunow  angeregt,  eine 
Akademie,  die  vom  Zaren  Feodor  Alexejewitsch  „slawisch- 
griechisch-lateinische Akademie**  benannt  wurde;  aber  sie 
leistete  nichts.  Der  Patriarch  Job  hinterließ  eine  Biographie 
des  Zaren  Feodor  Iwanowitsch,  der  Patriarch  Hermogen,  der 
161 2  von  den  Polen  zu  Tode  gemartert  wurde,  eine  Menge  heili- 
ger Schriften.  Stefan  Jaworskij,  Professor  der  Kijewer  Aka- 
demie, verfaßte  ein  großes  Werk  gegen  die  Dissidenten; 
Gabriel  Buschinskij,  Bischof  von  Rjäsan,  war  berühmt  als  Red- 
ner, wurde  Erzpriester  der  ersten  russischen  Flotte,  Direktor 
aller  Kirchenschulen  und  übersetzte  Puffendorffs  Geschichte 
der  europäischen  Staaten  ins  Russische.^)  Der  Rostower  Me- 
tropolit Dmitrij  schrieb  nicht  bloß  eine  Geschichte  des  Lebens 


1)  Gerebtzoff,  Essai  sur  Thistoire  de  la  civilisation  en  Russie.  Paris  1858. 
I  166,  421,  445.     II  218,  572. 


—    137    — 

der  Heiligen,  ein  Werk  über  die  Raskolniki,  sondern  auch 
Mysterien  in  Versen,  die  ersten  russischen  Theaterstücke.^) 
Der  berühmteste  Kleriker  Rußlands  war  der  Patriarch  Nikon. 
Er  führte  in  vier  Partien  des  Kirchendienstes  den  Gesang  ein, 
gab  dem  schwarzen  imd  dem  weißen  Klerus  neue  Reglements, 
schrieb  eine  Schilderung  des  Berges  Athos  und  seiner  Klöster, 
sowie  mehrere  Werke  geistlichen  Inhalts;  seine  große  Tat 
aber  ist  die  Korrektur  der  Bibel.  Sein  Ende  war  ein  trauriges, 
und  mit  ihm  ist  die  Geschichte  des  Sektenwesens  in  Ruß- 
land verknüpft.2)  Er  ist  der  letzte  große  Patriarch  gewesen 
und  hat  es  gewagt,  den  Zaren  Alexej  zu  exkommunizieren. 
Und  Alexejs  Sohn  Peter  der  Große  schaffte  das  Patriarchat  ab. 
An  die  Stelle  des  Patriarchats  trat  der  Heilige  Synod. 
„Nicht  der  Kirche,**  sagte  Stephan  Sabinin^),  „sondern  nur  den 
Mißbräuchen  in  ihr  trat  Peter  entgegen;  nicht  als  ihr  Ober- 
haupt, sondern  als  ihr  Schirmherr.**  Mitglieder  des  Heiligen 
Synod  sind  die  vom  Kaiser  hierzu  ernannten  Erzbischöfe  und 
Bischöfe,  der  Beichtvater  des  Kaisers,  die  Chefgeistlichen  der 
Armee  und  der  Flotte,  femer  die  Metropoliten  von  Moskau, 
Kijew  und  Petersburg-Nowgorod;  der  letztere  ist  stets  Präsi- 
dent des  Synod.  Unabhängig  von  der  Geistlichkeit,  nur  Ver- 
trauensmann der  Krone,  ist  der  Oberprokurator  des  Heiligen 
Synod,  von  Peter  dem  Großen  „des  Kaisers  Auge**  beigenannt. 
Der  Synod  überwacht  alle  Klöster,  Kirchen,  jetzt  auch  die 
meisten  Schulen  des  Reiches,  hat  das  Recht  bei  Besetzungen  von 
Kirchenwürden  Vorschläge  zu  machen,  entscheidet  in  theolo- 
gischen Fragen,  hat  die  Verwaltung  der  Reliquienschätze,  ur- 
teilt in  Eheangelegenheiten,  namentlich  in  Ehescheidungen, 
zieht  die  Priester  wegen  Unsittlichkeit  zur  Verantwortung,  beauf- 
sichtigt den  Bau  von  Kirchen;  kurz,  der  Synod  ist  die  höchste 
Kircheninstanz,  aber  seine  Beschlüsse  unterliegen  der  Zustim- 
mung des  Zaren,  und  so  ist  der  Oberprokurator  der  eigent- 
liche Chef  dieser  kirchlich-juridischen  Organisation.  Allerdings 
hat  es  einen  heftigen  Kampf  zwischen  der  Geistlichkeit  und 


1)  Darüber  wird  noch  im  Kapitel,  das  Musik  und  Theater  behandelt; 
die  Rede  sein. 

*)  Vgl.  das  Kapitel,  welches  das  Sekten wesen  schildert. 
3)  Jen.  Literaturzeitung  1843. 


—    138    — 

den  Vertretern  des  Kaisers  gegeben,  bis  dieses  Resultat  er- 
zielt wurde.  Peter  der  Große  hatte  die  Macht  des  Patriar- 
chen vernichtet  und  den  Heiligen  Synod  an  dessen  Stelle  ge- 
setzt. Nach  Peters  Tode  riß  der  Synod  die  Macht  an  sich, 
die  einst  der  Patriarch  besessen  hatte,  und  der  zarische  Ober- 
prokurator blieb  nur  eine  Schattenfigur.  Zur  Zeit  der  Zarin 
Elisabeth  sank  die  Bedeutung  des  Oberprokurators  auf  die 
tiefste  Stufe.  Elisabeth  ernannte  zu  ihrem  Vertreter  beim  Synod 
einen  zum  Polizisten  gewordenen  Exsoldaten  namens  Scha- 
chowskoj,  der  keine  Ahnung  von  seiner  Aufgabe  hatte.  Aber 
Schachowskoj  wollte  sich  unterrichten  und  im  Archiv  Be- 
lehrung finden.  Auf  seine  Frage  nach  dem  Archiv  erhielt 
er  zur  Antwort:  Es  gibt  keinsl  Er  bittet,  dann  wenigstens 
das  Dossier  der  laufenden  Angelegenheiten  herbeizuschaffen. 
Man  versteht  nicht  einmal,  was  er  damit  meint.  Die  Mitglieder 
des  Synod  pflegten  alles  nach  Gutdünken  zu  erledigen,  brauch- 
ten keine  Aktenstücke  und  Protokolle.  Die  Kirchengüter  wur- 
den seit  Peter  dem  Großen  vom  Synod  verwaltet;  der  Ober- 
prokurator fordert  die  Unterbreitung  des  Standes  der  Ein- 
nahmen und  Ausgaben.  Er  wartet  bis  zum  Ende  seiner  Amts- 
zeit vergebens  auf  diese  Unterbreitung.  Schachowskojs  Nach- 
folger versteht  seine  Stellung  besser.  Er  kümmert  sich  nicht 
um  solche  Dinge  und  sammelt  bloß  fleißig  die  Trinkgelder, 
mit  denen  man  ihn  freigebig  überhäuft.  Erst  Alexander  der 
Erste  vermochte  die  Macht,  die  der  Heilige  Synod  und  seine 
klerikalen  Mitglieder  sich  angemaßt  hatten,  zu  brechen  und 
dem  Oberprokurator  die  dominierende  Stellung  zu  schaffen^), 
die  er  seither  einnimmt.  Der  Synod  erhielt  eine  bureaukrati- 
sche  Organisation,  die  dann  auf  die  ganze  kirchliche  Hierar- 
chie übertragen  wurde.  Die  Stellung  des  Synods  glich  jener 
des  Senats  in  Verwaltung  und  Justiz.  Die  Erzbischöfe  ent- 
sprachen den  Generalgouvemeuren,  die  Bischöfe  den  Gou- 
verneuren, die  Konsistorien  in  den  Eparchien  den  Gouverne- 
mentsregierungen, die  unteren  geistlichen  Verwaltungen  den 
Kreisgerichten  und  den  Polizeiverwaltungen,  die  aus  der  weißen 
Geistlichkeit  hervorgegangenen  Probste  den  Kommissaren  für 


1 )  Diese  lehrreiche  Wandlung  erzählt  ausführlich  Schiemann  a.  a.  O.  409. 


—    139    — 

Stadt  und  Land.  Nikolaj  der  Erste  ging  noch  weiter.  Er 
organisierte  Synod  und  Klerus  militärisch  und  setzte  in  seinem 
Flügeladjutanten,  einem  Kavallerieobersten,  den  Klerikern 
einen  soldatischen  Oberprokurator  auf  den  Nacken;  und 
Custine  durfte  spotten,  daß  die  russische  Geistlichkeit  nur  eine 
Miliz  sei,  in  einer  etwas  anderen  Uniform  als  sie  die  weltlichen 
Truppen  des  Kaisers  tragen.  In  den  „Grenzboten**  sagte  da- 
mals auch  ein  anderer  Beobachter^):  „Obgleich  ein  Metro- 
polit den  Rang  eines  Generals  en  chef,  ein  Erzbischof  den 
Rang  eines  Generallieutnants,  ein  Bischof  den  Rang  eines 
Generalmajors  besitzt  oder  vielmehr  eben  deshalb  erinnert  die 
Behandlung,  die  diese  Kirchenfürsten  vom  Kaiser  erfahren, 
an  die  Kaserne.*'  Der  furchtbarste  Oberprokurator,  dem  sich 
der  Heilige  Synod  je  beugen  mußte,  entstand  in  unserem 
Zeitalter:  Konstantin  Petrowitsch  Pobjedonoßzew,  der  dem 
Klerus  die  letzten  Reste  seiner  einstigen  Macht  entrang  und 
ih^i  herabdrückte  zu  einem  völlig  willenlosen  Werkzeuge  der 
Staatsgewalt. 

Zu  bedauern  ist  diese  Bedeutungslosigkeit  des  Klerus 
gegenüber  der  Regierung  deshalb  nicht,  weil  wie  die  weiße 
auch  die  schwarze  Geistlichkeit,  von  den  wenigen  erwähnten 
Ausnahmen  abgesehen,  sich  niemals  durch  Bildung  auszeich- 
nete und  niemals  ernstlich  danach  strebte,  zur  Kultivierung 
des  Volkes  ein  wenn  auch  nur  bescheidenes  Maß  beizutragen. 
Wohl  hatten  die  Schwarzen  in  Rußland  schon  von  der  frühesten 
Zeit  her,  mit  Ausschluß  nicht  bloß  des  Volkes,  sondern  selbst 
der  Amtsbrüder  von  der  weißen  Geistlichkeit,  die  Bildung 
monopolisiert  und  ganz  für  sich  allein  in  Anspruch  genommen, 
allein  sie  haben  in  den  seltensten  Fällen  von  diesem  kultu- 
rellen Monopol  Gebrauch  gemacht.  Auch  von  den  wenigen 
Ausnahmen,  die  ich  emsig  hervorgesucht  habe,  um  nach  jeder 
Richtung  hin  die  Parteilosigkeit  des  Historikers  zu  dokumen- 
tieren, muß  man  beklagenswerterweise  konstatieren,  daß  ihre 
Bildung  stets  einseitig  und  äußerst  beschränkt  war;  auch  sie 
blieben  in  vollständiger  Unkenntnis  fast  aller  Wissenschaften 


1)  Vgl.   Nikolaus   der   Erste   gegenüber  der  öffentlichen   Meinung  von 
Europa  S.  48. 


—     140    — 

und  kannten  von  den  meisten  selbst  die  Namen  nicht,  lernten 
fast  nie  fremde  Sprachen,  haßten  fremde  Literaturen  imd  waren 
unfähig  mit  fremden  Gelehrten  in  Verkehr  zu  treten.  Dieses 
Urteil  gilt  für  die  Vergangenheit  wie  für  die  Gegenwart.  Nur 
in  der  Klerisei  in  der  Ukraine  fanden  sich  dank  der  Nachbar- 
schaft Polens  hier  und  da  einige,  die  wenigstens  den  Schein 
der  Gelehrsamkeit  hatten.  Die  Polen,  die  in  der  Ukraine 
eine  Zeitlang  geherrscht  hatten,  gründeten  in  verschiedenen 
Klöstern  von  Kijew  und  Tschemigow  lateinische  Schulen  für 
Theologie  und  Philosophie  i),  übrigens  auch  keine  Pflanzstätten 
höherer  und  wirklicher  Bildung,  sondern  Akademien  letzten 
Ranges.  Dennoch  galten  schon  die  kleinrussischen  Mönche 
als  Ideale  einer  gebildeten  Geistlichkeit,  und  die  Zarin  Elisa- 
beth 2)  ließ  eiue  Anzahl  von  ihnen  nach  Rußland  berufen  und 
zu  Bischöfen  machen.  Die  Kleinrussen  wurden  jedoch  von  den 
Großrussen  als  Halbfremde  mit  scheelen  Augen  angesehen  und 
förmlich  boykottiert;  sich  selbst  aber  zur  Bildung  zu  drängen 
hatte  der  großrussische  Klerus  auch  keine  Lust,  und  so  blieb 
bis  heute  die  Aufgabe,  welche  der  schwarzen  Geistlichkeit  in 
Rußland  gestellt  war,  unerfüllt.  Das  einzige  Lob,  das  dem 
russischen  Mönchstum  ehrlich  nachgesagt  werden  kann,  ist 
dieses :  daß  die  Mönche  in  Rußland  nur  einen  einzigen  Orden 
bilden  imd  insofern  dem  Staate  weniger  schaden,  als  es  in 
anderen  Ländern  geschieht,  wo  es  viele  Ordensregeln  gibt 
und  aus  der  Vielfältigkeit  Herrschsucht,  Neid  und  Eitelkeit 
entstehen.^)  Es  gibt  kaum  drei  günstigere  Urteile  über  das 
russische  Mönchstum.  So  sagt  Haxthausen*) :  Im  Gegensatz 
zur  Weltgeistlichkeit  müsse  anerkannt  werden,  daß  das 
Leben  der  Klostergeistlichkeit  im  ganzen  sittlicher,  ihr  Geist 
gebildeter  war.  Aber  Kontemplation  und  beschauliches  Leben, 
die  Grundlagen  dieser  Richtung  eines  Mönchswesens,  herrsch- 
ten nur  ausnahmsweise  bei  einzelnen  Individuen  unter  ihnen. 
—  „Ich  habe  nirgends  behaupten  hören,  daß  in  Rußland 
Mönche  und  Nonnen  in  Wohlleben  und  Üppigkeit  versunken 


1)  Vockerodt  a.  a.  O.   15. 

2)  Waliszewski.  La  demiöre  des  Romanov. 

3)  Bemerkungen  über  Rußland  (von  Bellermann)  II   144, 
*)  Studien  I   322. 


—    141     — 

seien.  Ob  dies  in  früheren  Zeiten  der  Fall  gewesen  ist,  weiß 
ich  nicht."  —  Seit  Katharina  II.  die  Klostergüter  für  den 
Staat  einzog,  seien  alle  Klosterleute  auf  eine  so  kärgliche  Sub- 
sistenz  gestellt,  daß  jedes  Wohlleben  dadurch  ausgeschlossen 
scheine,  ja  sie  könnten  kaum  existieren,  wenn  nicht  Opfer 
und  Geschenke  den  Mönchen,  Handarbeiten  und  Bettelei  den 
Nonnen  den  Unterhalt  erleichtern  würden;   auf  allen  Straßen 

finde  man  bettelnde  Nonnen. Man  erkennt  aus  diesem 

Urteil  das  offenbare  Bestreben,  der  Sache  nicht  auf  den  Grund 
zu  gehen,  und  wir  werden  später  sehen,  wieviele  von  den 
mühsamen  imd  verklausierten  günstigeren  Zugeständnissen  be- 
stehen bleiben  können.  Hier  will  ich  vorerst  noch  das  Zeug- 
nis des  Johann  Faber  i)  anführen,  ein  Zeugnis  aus  vergangener 
Zeit:  „Mönche  und  Nonnen,  die  alle  denselben  Regeln  unter- 
worfen sind,  erfüllen  so  streng  ihre  religiösen  Pflichten,  daß 
sie  Respekt  und  Bewunderung  verdienen.  Die  Gelübde  werden 
bei  ihnen  nicht  so  gering  geachtet  wie  heutzutage  bei  uns. 
Wer  einmal  in  ein  Kloster  eingetreten  ist,  kann  es  unter  keinem 
Vorwande  mehr  verlassen.  Das  Gelübde  wird  so  hoch  ge- 
schätzt, daß  es  von  den  Erzbischöfen  und  Bischöfen  trotz 
deren  weitgehender  Befugnisse  nicht  gelöst  werden  kann.  Na- 
türlich haben  sie  auch  eine  so  hohe  Idee  von  der  Keusch- 
heit, daß  sie  ihren  Mönchen  und  Nonnen  die  Ehe  verbieten.** 
Faber  stellt  zum  Schlüsse  den  russischen  Klerus  dem  katho- 
lischen als  Muster  vor.  Die  russische  Kirchengeschichte  selbst 
weiß  aber  in  ihrer  Gesamtheit  nicht  soviel  Ausgezeichnetes 
vom  schwarzen  Klerus  Rußlands  zu  sagen,  als  d6r  Wiener 
Prälat  Faber,  der  niemals  in  Rußland  war,  sondern  von  zwei 
durchreisenden  Russen,  noch  dazu  Laien,  in  Tübingen  flüch- 
tige Informationen  erhielt  und  daraus  schleunigst  ein  Büch- 
lein machte. 

In  Wahrheit  unterschied  sich  der  schwarze  Klerus  von  dem 
weißen  im  ganzen  nur  durch  den  Reichtum,  den  er  gesammelt, 
und  durch  die  Ehelosigkeit,  die  er  sich  auferlegt  hatte.  Den 
Reichtum  wandten  die  Schwarzen  verständnisvoll  zu  ihrem 
eigenen  Besten  an ;  und  wie  sie  es  mit  der  Ehelosigkeit  hielten, 

1)  De  Riissorum,  Moscovitarum  et  Tartarorum  Religione.  Spire  anno 
1582,  pag.  170. 


—     142     — 

darüber  klären  unzählige  zarische  Verordnungen  am  besten 
auf.  Schon  Olearius^)  berichtete,  daß  Rußland  überfüllt  wäre 
mit  Mönchen  und  Nonnen  und  daß  die  Mönche  trotz  der 
strengen  Ordensregeln  in  großer  Zügellosigkeit  lebten.  Die 
Nonnen  unterhielten  öffentlich  Liebhaber  und  erzogen  ebenso 
öffentlich  ihre  Kinder,  die  gewöhnlich  wieder  Nonnen  und 
Mönche  wurden  und  in  die  Fußstapfen  der  Eltern  traten.^) 
Diese  Angaben  werden  von  zarischen  Ukasen  bestätigt.  In 
der  Kirchenversammlung  von  1503  wurde  folgende  Mahnung 
des  Zaren  Iwan  III.  verlesen 3):  „Die  Furcht  Gottes  aus  den 
Augen  setzend  halten  sich  viele  der  Priester  und  Diakone 
Kebsweiber,  die  halbe  Priesterfrauen  genannt  werden.*)  Fortan 
erlauben  wir  ihnen  nur,  wenn  sie  ein  untadelhaftes  Leben 
führen,  auf  dem  Chore  zu  singen  und  vor  dem  Altare  das 
heilige  Abendmahl  zu  empfangen.  Die  des  Lasters  der  Wol- 
lust überwiesen  werden,  mögen  in  der  Welt  leben  und  welt- 
liche Kleidung  tragen.  —  Noch  bestimmen  wir,  daß  Mönche 
und  Nonnen  nie  zusammen  leben,  sondern  Manns-  und  Frauen- 
klöster stets  getrennt  sein  sollen."  Aber  schon  fünfzig  Jahre 
später,  am  12.  April  1552,  mußte  Iwan  IV.  wieder  den  Un- 
sitten des  Klerus  steuern  und  ein  Laiengericht  zur  Über- 
wachung der  Priestermoralität  einsetzen.  Die  aus  hundert  Ar- 
tikeln bestehende  Verordnung^)  dieses  Zaren  ist  das  furcht- 
barste Gemälde  der  Unwissenheit,  des  Aberglaubens  und  der 
Sittenverderbtheit  des  Klerus  und  des  Volkes  in  Rußland 
während  des  sechzehnten  Jahrhunderts.^)  Da  heißt  es'') :  „Nicht 

1)  In  seiner  moskawitischen  Reisebeschreibung. 

2)  Die  Möncherey  oder  geschichtliche  Darstellung  der  Kloster- Welt  (von 
Weber).     Stuttgart  1819,  I   119. 

3)  Karamsin,  deutsche  Ausgabe  VI  286  (französische  Übersetzung  VI  453). 
*)  Dieser  Anfang  der  Mahnung  bezieht  sich  auf  den  weißen  Klerus,  auf 

verwitwete  Popen,  die  nach  dem  Gesetze  sich  nicht  wieder  verheiraten  dürfen, 
aber  eine  wilde  Ehe  eingingen  und  dem  Kanon  zum  Hohne  durch  Korruption 
ihre  Stellungen  behielten. 

*)  CTor.iain.. 

ö)  Vgl.  Aug.  Theiner,  De  l'Eglise  ruth^nienne  et  de  ses  rapports  avec  Ic 
Saint-Siöge.  —  Schiemann,  Rußland.  Livland  und  Polen  (in  Onckens  Welt- 
geschichte). —  Marmier,  Rußland,  Finnland  und  Polen. 

7)  Im  4.  und  im  12.  Artikel  des  Stoglaw.  Der  12.  Artikel  entwirft  auch 
eine  Schilderung  des  allgemeinen  Aberglaubens,  der  allgemeinen  Unwissenheit 


—     143    — 

das  Heil  seiner  Seele  sucht  man  in  den  Klöstern,  sondern 
Müssiggang,  Vergnügungen  und  niedrigste  Wollust.  Die  Ar- 
chimandriten  empfangen  und  bewirten  auswärtige  Gäste  in 
ihren  Zellen.  Die  Mönche  halten  sich  Diener  und  sind  so 
schamlos,  daß  sie  Frauenzimmer  in  das  Kloster  bringen,  um 
in  Saus  und  Braus  die  Güter  des  Klosters  zu  verprassen  und  der 
gemeinsten  Unzucht  zu  fröhnen.  Es  soll  daher  von  nun  an 
in  jedem  Kloster  bloß  noch  einen  einzigen  Tisch  geben.  Es 
sollen  die  Mönche  ihr  junges  Gesinde  abdanken  und  keinen 
Umgang  mit  Weibern  pflegen,  sie  sollen  auch  weder  Wein 
noch  Meth  haben  und  nicht  meht  als  Müssiggänger  in  den 
Städten  und  Dörfern  herumlaufen.  —  Männer  und  Weiber 
gehen  miteinander  ins  Bad,  und  sogar  Mönche  erröten  nicht, 
mit  Nonnen  dahin  zu  gehen.  —  Endlich  —  und  dies  ist  das 
Bejammernswerteste,  das  was  über  ein  Volk  den  göttlichen 
Zorn,  Krieg,  Hunger  und  Pestilenz  bringt  —  man  ergibt  sich 
der   Sodomie.** 

Aber  nicht  nur  die  Zaren  früherer  Zeiten,  selbst  Peter  der 
Große  kämpfte  vergebens  gegen  die  Unordnung  im  Klerus. 
Peter  verbot  am  31.  Dezember  1703,  neue  Klöster  anzulegen 
und  ließ  einige  alte  sperren.^)  Er  befahl  eine  genaue  Zählung 
aller   Mönche    und    Nonnen.    Laien,    die    man   bisher   in    den 


und  Unsittlichkeit.  Der  Zar  fordert  darin  die  Geistlichkeit  auf,  ,, darüber  zu 
wachen,  daß  gewisse  schimpfliche  und  des  Heidentums  würdige  Mißbrauche 
ganz  verschwinden.  Wenn  ein  gerichtlicher  Zweikampf  stattfinden  soll,  geben 
die  Zauberer  vor,  in  den  Sternen  lesen  zu  können,  auf  welcher  Seite  der  Sieg  sein 
werde.  Diese  ungläubigen  Leute  haben  alberne  Aristotelische  und  astrologische 
Bücher  in  den  Händen,  desgleichen  Tierkreise,  Almanache  und  andere  Werke, 
die  voll  von  heidnischer  Wissenschaft  sind.  Am  Pfingstfest  weinen  sie,  stoßen 
ein  Geschrei  aus,  stehen  schluchzend,  heulend  und  teuflische  Lieder  singend 
in  den  Kirchengängen.  Donnerstag  morgens  verbrennen  sie  Stroh  und  rufen 
die  Toten  mit  Namen  auf;  die  Priester  legen  Salz  auf  den  Altar  und  suchen 
die  Kranken  damit  zu  heilen.  Falsche  Propheten  laufen  nackt,  ohne  Schuhe 
und  mit  verwirrten  Haaren  von  Dorf  zu  Dorf;  sie  zittern  an  ihrem  ganzen 
Leibe,  wälzen  sich  auf  der  Erde  und  erzählen  Erscheinungen  vom  heiligen 
Anastasius  und  anderen.  Truppen  Besessener,  die  manchmal  bis  auf  hundert 
Personen  anwachsen,  fallen  plötzlich  in  ein  Dorf  ein,  leben  auf  Kosten  der 
Einwohner,  besaufen  sich  und  plündern  die  Reisenden.  Die  Bojarensöhne 
liegen  stets  in  der  Schenke,  wo  sie  all  ihr  Vermögen  durchs  Spiel  verschwenden." 
1)  Halem,  Leben  Peters  des  Großen  III  89. 


—     144     — 

Klöstern  zu  verschiedenen  Verrichtungen,  nicht  zum  wenigsten 
aber  als  Werkzeuge  der  Unzucht  verwendet  hatte,  mußten 
entfernt  werden.  Die  Mönche  lehnten  sich  gegen  diese  Ver- 
fügungen auf  und  versuchten  in  offenen  Briefen  den  2^ren  als 
Gottesfeind  zu  brandmarken;  darauf  ließ  Peter  den  Klöstern 
Papier  und  Dinte  entziehen,  imd  die  Mönche  hatten  keine  Mög- 
lichkeit mehr,  auch  nur  eine  Zeile  zu  schreiben.  Weiter  be- 
fahl der  Zar,  daß  in  ein  Kloster  nicht  eintreten  durften :  Männer 
unter  dem  dreißigsten  Lebensjahre;  Militärs;  Leibeigene  oder 
nicht  Freigelassene;  des  Lebens  und  Schreibens  Unkundige; 
Ehemänner,  deren  Frauen  noch  am  Leben;  Staatsdiener;  in 
Schulden  Geratene;  endlich  Solche,  die  der  Justiz  entflohen. 
Die  Zugelassenen  mußten  einen  Erlaubnisschein  vom  Kaiser 
oder  vom  heiligen  Synod  vorweisen  und  ein  Noviziat  von 
drei  Jahren  absolvieren.  Für  die  Frauenklöster  wurden  fol- 
gende Regeln  festgesetzt:  Falls  ein  junges  Mädchen  den 
Schleier  nehmen  will,  soll  es  alle  Umstände  zuvor  genau  er- 
wägen; beharrt  die  nach  dem  Kloster  Verlangende  auf  ihrem 
Willen,  so  stelle  man  sie  im  Kloster  unter  die  Aufsicht  einer 
alten  Klosterfrau  und  erteile  ihr  die  Weihen  erst  nach  ihrem 
sechzigsten,  in  Ausnahmsfällen  nach  dem  fünfzigsten  Lebens- 
jahre. Bis  .zu  diesem  Zeitpunkte  soll  sie  immer  das  Kloster 
verlassen  und  in  den  Ehestand  treten  können. 

Der  Widerspruch  in  allen  Handlungen  Peters  kommt  auch 
hier  wieder  zum  Vorschein.  Während  der  Zar  die  Zahl  der 
Klöster  im  Reiche  zu  vermindern  trachtet,  begründet  er  selbst 
ein  neues  Kloster  in  seiner  neuen  Residenz  an  der  Newa. 
Während  er  die  schärfsten  Maßregeln  trifft,  um  die  russischen 
Frauen  davon  abzuhalten,  daß  sie  ihr  Leben  hinter  Kloster- 
mauern  verbringen,  verbannt  er,  um  sich  den  Weg  zu  einer 
Vermählung  mit  seiner  Maitresse  Katharina  freizumachen,  seine 
eigene  erste  Gattin  Jewdokia  in  ein  Kloster  zu  ewigem  Ge- 
fängnis. Diese  Inkonsequenz  verhindert  den  Kaiser  nicht,  1724 
seine  Verordnung  vom  Jahre  1703  durch  einen  neuen  Ukas^) 
zu  erläutern,  in  dem  er  gegen  Mönche  und  Nonnen  also  wettert : 
„Das  heutige  Leben  der  Mönche  ist  nur  ein  Schein  und  wirkt 


^)  Büschings  Magazin  I  84. 


i-^ 


Russischer      Scliorn-    Donischer  '\ 
Schinicenhäiidler.  sleinfeger.    Kosal<, 


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—     145    — 

nicht  wenig  Böses,  weil  der  größte  Teil  von  ihnefn  nur  Fau- 
lenzerei treibt.  Jedermann  aber  weiß,  was  für  Aberglauben 
und  welche  Empörungen  aus  Müssiggang  entstanden  sind.  Da 
die  Mönche  fast  alle  von  gemeinem  Stande  sind,  ist  es  klar, 
daß  sie  nichts  zu  verlassen  haben;  daß  sie  keinem  Luxus  ent- 
sagen, sich  vielmehr  durch  das  Mönchstum  ein  gutes  und 
bequemes  Leben  zu  erwählen  trachten.  Denn  zu  Hause  sind 
sie  auf  dreifache  Weise  zinsbar:  sie  müssen  ihre  Familie  er- 
nähren, der  Krone  Steuern  und  ihren  Erbherren  Abgaben 
entrichten.  Gehen  sie  aber  ins  Kloster,  so  entfallen  diese 
drei  Sorgen:  die  Mönche  finden  alles  fertig  was  sie  brauchen. 
—  Geben  sie  sich  Mühe,  die  heiligen  Schriften  zu  verstehen 
oder  Andere  zu  unterrichten?  Keineswegs.  —  Wem  nützen 
sie?  In  Wahrheit  weder  Gott  noch  Menschen."  Um  die 
Klöster  zu  nützlicheren  Anstalten  zu  machen,  befahl  Peter  „ab- 
gedankte Soldaten,  die  nicht  arbeiten  können  und  andere  wahre 
Arme  in  die  Klöster  zu  verteilen.  Zu  ihrer  Bedienung  sollen 
Mönche  bestellt  werden.  Ebenso  sollen  Nonnen  die  Armen 
ihres   Geschlechts  bedienen.** 

Für  Mönche,  die  sich  einer  schlechten  Aufführung  schuldig 
gemacht  hatten,  wurde  später  das  Kloster  Ssolowezk  bei  Archan- 
gelsk als  Strafaufenthaltsort  bestimmt.  Hier  soll  es  um  1830 
mehrere   tausend  verbannte   Mönche   gegeben   haben.^) 

Die  Regeln  für  die  russischen  Frauenklöster  besagen:  Es 
soll  kein  Unterschied  des  Standes  und  der  Herkunft  gelten. 
Die  Novize  hat  der  Oberin  ihre  Papiere  auszuliefern,  ihre 
Herkunft  nachzuweisen,  einen  Erlaubnisschein  ihrer  Familie  und 
ein  Attest  ihrer  Gemeinde  vorzulegen.  Im  Kloster  erhält  sie 
einen  Klostemamen,  und  fortan  darf  sie  keine  kostbaren,  son- 
dern nur  leinene  oder  wollene  Kleider  tragen.  Die  Probe- 
zeit dauert  einen  Monat,  ein  Jahr  oder  noch  länger,  je  nach 
dem  Kloster,   das   man  wählt.     Ein  bindendes  Gelübde,  das 


1)  Dupr6  de  St.  Maure,  P6tersbourg,  Moscou  et  les  provinces.  Paris 
1830,  I  icx>.  —  Diese  Angabe  scheint  übertrieben  zu  sein,  da  die  Zahl  sämt- 
licher russischer  Mönche  wohl  nie  mehr  als  zehntausend  betragen  hat.  Da 
das  Kloster  aber  auch  als  Verbannungsort  für  politische  imd  selbst  kriminelle 
Verbrecher  diente,  wird  sich  die  genannte  Ziffer  auf  die  Gesamtheit  der  Ver- 
urteilten beziehen  lassen. 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.  lo 


—    146    — 

den  Rücktritt  in  die  Welt  verhindern  würde,  wird  nicht  ge- 
geben und  darf  nicht  verlangt  werden.  Es  soll  jedoch  noch 
nie  vorgekommen  sein,  daß  eine  Jungfrau,  die  in  ein  Kloster 
getreten,  wenn  sie  ein  Jahr  darin  verweilt,  nach  der  Welt 
zurückverlangt  hätte.  Dagegen  geschieht  es  oft,  daß  ver- 
heiratete Frauen,  die  ins  Kloster  eintreten,  weil  ihre  Gatten 
verschollen  sind,  in  die  Welt  zurückkehren,  wenn  ihre  Männer 
wieder  auftauchen. i)  Trotz  der  schönen  Klosterregeln  führen 
die  Nonnen  meist  ein  flottes  Leben.  Sie  verfügen  frei  über 
ihr  Vermögen,  entbehren  wenn  sie  reich  sind  keinen  Luxus, 
und  die,  welche  arbeiten,  tun  dies  nicht  des  klösterlichen  Be- 
rufes, sondern  des  Erwerbes  wegen.  Man  kennt  nur  wenige 
Beispiele  von  unschuldsvollen,  sittlichen,  tugendhaften  und 
wahrhaft  frommen  Nonnen  in  Rußland.  Im  allgemeinen  gal- 
ten vielmehr  die  russischen  Nonnenklöster  seit  jeher  und  bis 
heute  als  Stätten  der  Zügellosigkeit,  des  Sittenverfalls,  als  förm- 
liche Lasterhöhlen.  Augustin  Mayerberg 2),  der  Gesandte  des 
Kaisers  Leopold  an  den  Zaren  Alexej  Michailowitsch,  berichtete 
zu  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts:  „Ce  que  je  puis  dire 
particuli^rement  des  Religieuses,  tant  il  y  en  avoit  un  grand 
nombre  r^pandu  dans  toutes  les  rues.  II  y  a  en  Moscovie 
plusieurs  Monast^res  de  Religieuses;  dont  la  moindre  partie 
est  Celle  des  Filles,  celle  des  Veuves  est  plus  grande;  mais 
Celle  des  Femmes  r^pudi^es  par  leurs  maris,  est  en  tres-grand 
nombre;  et  dans  ces  Monastdres  leurs  sanctes  Constitutions 
sont  tres-mal  observ^es.  Car  contre  Tordre  on  y  void  plusieurs 
femmes  marines,  qui  n*y  sont  pas  tant  enfermdes,  par  Tamour 
de  rhonnStet^,  que  par  la  force  des  grilles.  Pour  ce  qui 
est  des  Religieuses  vierges;  elles  n'ont  rien  qui  les  retienne. 
Ce  qui  fait  que  le  s6xe  curieux,  qui  a  toute  libert^,  regoit 
les  visites  des  hommes,  et  qu'apr^s  avoir  assist6  le  matin 
ä  Toffice,  elles  se  prominent  librement  dans  les  villes.  Et 
comme  elles  n*ont  nul  Gardien  de  leur  Pudicit6  qu'elles  ap- 
pr^hendent,  se  laissans  empörter  aux  mouvemens  d6r6gl6s  de 
leur  cupidit^,   elles   se   pr^cipitent   dans  Tabisme  profond  de 

^)  Haxthansen,  Studien  I  316. 

*)  Voyage  en  Moscovie  d'un  Ambassadeur.  A  Leide  1688,  p.  103  (französ. 
Neudruck  I  99). 


—     147     — 

rinfamie,  au  grand  scandale  des  gens  de  bien,  et  au  deshon- 
neur  du  Voile  Sacr6  qu'elles  ont  regeu.**  Die  Frauenklöster 
wurden  manchmal  offen  in  Bordelle  verwandelt.  Pseudo- 
Dmitry  ließ  seine  Braut,  die  Polin  Marina,  ins  Kloster  bringen, 
damit  sie  hier  das  Kirchengesetz  lernte  und  fastete,  ehe  sie 
die  Taufe  empfing.  Den  ersten  Tag  fastete  sie  auch,  aber 
nur  deshalb,  weil  ihr  die  russischen  Speisen  ein  Greuel  waren ; 
dann  schickte  ihr  der  Bräutigam  die  Köche  ihres  Vaters,  und 
es  ging  gar  nicht  mehr  klösterlich  zu.  Marina  empfing  im 
Kloster  nicht  bloß  den  Besuch  ihres  leidenschaftlichen  Bräuti- 
gams, sondern  brachte  mit  ihm  allein  manche  Stunde  zu,  und 
waren  sie  des  Liebens  überdrüssig,  so  vertrieben  sie  sich  die 
Zeit  mit  Gesang,  doch  nicht  mit  geistlichem,  und  mit  Tanz 
und  Musik.  Pseudo-Dmitry,  ein  aus  der  Kutte  gesprungener 
Mönch,  brachte  Possenreißer  und  Musiker  ins  Kloster,  „gleich- 
sam als  geschehe  dies,**  klagt  der  Historiker  i),  „um  mit  der 
Heiligkeit  des  Ortes  und  der  Würde  unbefleckter  Nonnen 
Scherz  zu  treiben;  Moskau  hörte  davon  mit  Abscheu.**  Man 
könnte  hier  entschuldigend  bemerken,  daß  die  Übeltäter  ein 
entlaufener  Mönch,  der  den  Zarenthron  usurpiert  hatte,  und 
eine  polnische  Abenteurerin  waren.  Aber  solche  Vorfälle  waren 
nicht  vereinzelt,  fanden  nicht  bloß  in  jener  wirren  Epoche 
statt,  sondern  sind  typisch  und  wiederholen  sich  fortwährend. 
Am  häufigsten  unter  der  Herrschaft  der  stockrussischen  Zarin 
Elisabeth,  Tochter  Peters  des  Großen,  und  die  Hauptschuldige 
ist  diesmal  die  Kaiserin  selbst  2),  die  sich  gern  als  die  frömmste 
Frau  ihrer  Zeit  aufspielte.  Lange  Stunden  pflegte  sie  in  den 
Kirchen  zuzubringen,  in  inbrünstigen  Gebeten  stehend  oder 
kniend,  bis  sie  ohnmächtig  zusammenbrach  und  in  Starr- 
krampf fiel.  Als  sie  auf  einer  Schiffsfahrt  von  einem  Sturm 
überrascht  wird,  sucht  sie  ihre  Zuflucht  und  Rettung  im  Gebete, 
bleibt  die  ganze  Nacht  kniend  und  zu  den  Heiligen  flehend, 
deren  Reliquien  sie  als  unfehlbare  Rettungsmittel  nicht  aus 
den  Händen  läßt. 3)     Eines   Tages  findet  sie,   daß  auf  einem 


1)  Karamsin,   deutsche  Ausgabe  X  224,    (französische  Übers.  XI  352). 

2)  Vgl.  Waliszewski:  L'h6ritage  de  Pierre  le  Grand  92;  La  demidre  des 
Romanov  45,  212;  Le  Roman  d'une  imp6ratrice,  Catherine  II,  344. 

»)  M6moire3  de  Catherine  II.  Londres  1859,  p.  180. 

lO* 


—     148    — 

Heiligenbilde  die  Engelein,  die  den  heiligen  Sergej  umgeben, 
zu  sehr  Amoretten  ähneln;  ihr  keusches  Gemüt  ist  tief  be- 
leidigt, und  sie  befiehlt  dem  Oberprokurator  des  heiligen  Synod 
das  Ärgernis  zu  beseitigen  und  den  Engeln  ein  heiligeres  Aus- 
sehen anstreichen  zu  lassen.  Die  wichtigste  Person  in  Elisabeths 
Hofstaate  ist  ihr  Beichtvater  Dubjanskij,  der  auch  eine  politische 
Rolle  an  sich  reißt  und  namentlich  die  Saporegerkosaken  pro- 
tegiert, weil  sie  ihm  regelmäßig  tonnenweise  gesalzene  Fische 
senden.  Nun  die  Kehrseite :  der  Beichtvater  Dubjanskij  ist  auch 
der  Gelegenheitsmacher  Elisabeths  und  namentlich  der  Ver- 
traute bei  dem  Liebesverhältnisse  des  ehemaligen  Kirchen- 
sängers Rasumowsky  mit  der  Zarin,  die  entsprechend  ihrem 
frommeii  Sinne  die  Klöster  zu  ihren  Absteigquartieren  wählt 
und  besonders  das  Troitzkakloster  mit  ihren  Orgien  erfüllt. 
Dorthin  pilgert  sie  um  zu  beten,  dort  gibt  sie  ihren  bevor- 
zugtesten Liebhabern  zärtliches  Stelldichein;  und  fühlt  sie  ob 
ihrer  Ausschweifung  an  heiliger  Stätte  Skrupel,  so  tut  sie  gleich 
an  Ort  und  Stelle  durch  gütige  Vermittelung  des  gefälligen 
Beichtvaters  Buße.  Die  Regierungsgeschichte  Elisabeths  ist 
eine  unaufhörliche  Reihenfolge  erotischer  und  pietistischer 
Skandalosa,  und  dem  von  der  frommen  Zarin  und  ihrem  Beicht- 
vater gegebenen  Beispiel  folgt  in  einem  Taumel  von  Ver- 
zückung imd  Zynismus  der  ganze  Klerus.  Der  Historiker, 
der  es  sich  zur  Aufgabe  macht,  diese  religiösen  und  erotischen 
Possen,  die  in  toller  Abwechselung  einander  den  Schauplatz 
überließen,  genau  zu  schildern,  erscheint  als  ein  getreuer  Ab- 
schreiber der  Werke  eines  Sade.  Wie  in  den  wahnsinnigsten 
Szenen,  die  dieses  teuflische  Genie  gemalt  hat,  sehen  wir 
im  Rußland  Elisabeths  in  den  Klöstern  die  furchtbarsten  und 
blutigsten  erotischen  Dramen  sich  abspielen.  Zu  den  Füßen 
der  Altäre  werden  Orgien  gefeiert;  mit  den  Heiligenbildern 
in  den  Händen  opfert  man  der  raffiniertesten  Unzucht.  Völ- 
lerei und  Ausschweifung  greifen  gleich  epidemischen  Krank- 
heiten im  ganzen  russischen  Kirchen-  und  Klosterstaat  um  sich. 
Ein  Archimandrit  vergewaltigt  ein  Mädchen  auf  offener  Straße. 
Er  wird  in  der  Ausübung  seines  Verbrechens  von  Bauern 
überrascht  und  insultiert.  Der  Skandal  kommt  vor  Gericht,  und 
man  verurteilt  nicht  den  Priester,  der  seine  Würde  geschändet 


—    149    — 

hat,  sondern  die  Bauern,  weil  sie  den  Archimandrit  insultierten ! 
Die  Priester  dürfen  die  wundertätigen  Heiligenbilder  aus  den 
Kirchen  und  Klöstern  in  Privathäuser  schleppen,  um  Sauf- 
gelage im  Zeichen  der  Heiligen  festlich  zu  gestalten.  Der 
höchsten  Geistlichen  bemächtigt  sich  eine  erotische  Raserei,  die 
sich  in  den  gräßlichsten  Flagellationstollheiten  austobt.  Der 
Bischof  von  Wjatka,  Warlam,  peitscht  eigenhändig  die  An- 
gestellten seiner  Kirche  bis  aufs  Blut,  wenn  der  sinnliche  Koller 
ihn  in  Aufruhr  bringt;  der  Bischof  von  Archangelsk,  Warso- 
nofij,  benützt  den  Umstand,  daß  in  seiner  Verwaltung  ein 
kleiner  Mangel  entdeckt  wird,  um  seiner  Lust  zu  Züchtigungen 
freien  Lauf  zu  lassen ;  er  beruft  den  ganzen  ihm  unterstehenden 
Klerus  vor  die  Pforte  der  Kirche  und  zwingt  die  Schuldigep? 
mit  nackten  Füßen  eine  Stunde  lang  in  tiefem  Schnee  zu 
stehen;  Warsonofij,  ein  Todfeind  aller  Bildimg  und  Kultur, 
schlägt  seine  Priester  bei  jedem  Anlaß  und  läßt  sie  wegen 
des  geringsten  Vergehens  an  die  Kette  schmieden.  Der  Bar- 
bar ist  aber  nicht  unerbittlich  grausam:  ein  Fäßchen  Wein 
oder  Schnaps  zähmt  seine  Wildheit,  und  die  Klugen  sichern 
sich  auf  solche  Art  von  vornherein  vor  der  Wut  des  hochwürdig- 
sten Vaters. 1)  In  einer  solchen  Zeit  konnte  die  schauerliche 
Männertöterin  Gräfin  Darja  Saltykow  ihr  Wesen  treiben,  die, 
was  die  Legende  von  einer  mythischen  Königin  erzählt,  in 
Wahrheit  am  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  vollführte: 
die  Liebhaber,  an  denen  sie  sich  gesättigt,  ließ  sie  umbringen ; 
und  sie  konnte  Jahre  hindurch  ungestraft  bleiben,  weil  der 
Klerus  nicht  bloß  sie  schützte,  sondern  an  ihren  Mordtaten 
und  blutigen  Orgien  teilnahm.  Erst  mehrere  Jahre  nach  dem 
Tode  der  Zarin  Elisabeth,  unter  Katharinas  II.  Regierung, 
wagte  man  dieses  blutdürstige  Ungeheuer  vor  Gericht  zu  schlep- 
pen und  die  Schandtaten  des  vertierten  Weibes  in  breiter 
Öffentlichkeit  zu  verhandeln.  Der  Prozeß  dauerte  lange  Jahre; 
man  stellte  die  Zahl  der  Opfer  mit  130  fest.  Von  wievielen 
Verbrechen  mag  man  nach  so  vielen  Jahren  aber  nichts  mehr 


^)  Diese  Schandtaten  sind  nicht  von  Ausländem,  sondern  von  Russen 
erzählt,  von  Snamierski  und  Schachowskoj.  Man  vergleiche  die  Zeitschrift 
„PyccKaa  crapHHa  1878'*,  S.  185 — 190. 


—     150    — 

erfahren  haben.  Unter  den  Opfern  der  Wollust  und  Grausam- 
keit der  Saltykow  waren  beide  Geschlechter  vertreten,  und  ne- 
ben Männern  und  Frauen  figurierten  auch  zwölfjährige  Kinder. 
Die  Toten  konnten  nicht  mehr  gegen  ihre  Mörderin  zeugen,  aber 
von  Opfern,  welche  die  von  diesem  Weibe  erdachten  Martern 
überstanden  hatten,  erschienen  noch  fünfimdsiebzig  vor  Gericht 
um  die  Saltykow  anzuklagen.  Die  meisten  Opfer  hatte  sie 
sich  aus  ihrem  Gesinde  und  aus  ihren  Leibeigenen  geholt. 
Und  was  war  die  Strafe,  die  sie  jetzt  ereilte  ?  Katharina  dachte 
gar  nicht  daran,  vollständige  Justiz  zu  üben  —  es  war  doch 
eine  Aristokratin,  die  die  Verbrechen  begangen  hatte,  und 
nur  Leibeigene  waren  die  Opfer.  Die  Gräfin  Saltykow  wurde 
also  bloß  zu  ewigem  Gefängnis  verurteilt;  sie  zu  züchtigen, 
wie  sie  selbst  gezüchtigt  hatte,  dazu  konnte  sich  die  Freundin 
der  französischen  Philosophen  und  Enzyklopädisten  nicht  auf- 
raffen. Aber  die  Helfershelfer  des  Ungeheuers  waren  nicht 
Mitglieder  einer  bevorzugten  Klasse,  und  ihnen  durfte  voller 
Lohn  zuteil  werden:  die  Diener  der  Gräfin,  die  selbst  unter 
der  Zuchtrute  der  Tyrannin  stehend  zitternd  ihre  Befehle  voll- 
führten und  die  Opfer  zu  Tode  geißelten;  und  der  Pope,  der 
den  Erschlagenen  ein  kirchliches  Begräbnis  zukommen  ließ 
und  an  ihren  Gräbern  das  Märtyrerkreuz  aufpflanzte  —  diese 
Übeltäter  wurden  auf  offenem  Platze  in  Moskau  geknuteti  — 
Die  Folgen  solcher  Demoralisation,  einer  so  unglaublichen 
Verwirrung  aller  sittlichen  Begriffe  sind  noch  heute  zu  spüren. 
Man  hat  in  Rußland,  wo  schon  früher  kein  hohes  Verständnis 
für  Moral  und  Recht  vorhanden  war,  sich  seither  auf  ein 
einigermaßen  sittliches  Niveau  nicht  mehr  hinaufzufinden  ver- 
mocht. Namentlich  die  Klöster,  und  im  besonderen  die  Frauen- 
klöster i),  blieben  seit  dem  Elisabethischen  Zeitalter  die  Heim- 
stätten wilder  Sittenlosigkeit.  Alle  tiefen  Kenner  des  Ruß- 
land im  neunzehnten  Jahrhimdert  bestätigen,  daß  bei  der 
Klostergeistlichkeit    im   verflossenen   Säkulum   die   sinnlichen 


1)  Ist  das  nicht  bloß  für  Rußland,  sondern  im  allgemeinen  gültig  für  die 
Länder  der  orthodoxen  Religion?  In  den  Balkanländem  stehen  die  Frauen- 
klöster ebenfalls  im  schlechtesten  Rufe,  und  von  rumänischen  Frauenklöstem 
ist  es  den  Reisenden  bekannt,  daß  man  dort  eine  Gastfreundschaft  wie  in 
Bordellen  genießen  kann. 


—    151    — 

Ausschweifungen  an  der  Tagesordnung  waren  i),  daß  dort  die 
gräulichste  Sittenverwilderung  herrscht.  Der  vielangefeindete, 
aber  als  Zeuge  in  Sittenfragen  durchaus  nicht  unverläßliche 
Custine^)  sagte  bei  Schilderung  der  russischen  Klostersitten: 
„Ces  faits  rappellent  un  peu  notre  litt^ratuire  rdvolutionnaire 
de  1793:  vous  vous  croirez  aux  Visitandines  de  Feydeau." 
Ich  aber  muß  hier  nochmals  wiederholen:  kein  Ausländer  hat 
so  furchtbares  Material  gegen  die  russische  Geistlichkeit  zu- 
sammentragen können,  als  in  den  russischen  Selbst  anklagen 
enthalten  ist,  welche  wir  sowohl  in  der  russischen  Kirchen- 
geschichte, bei  den  Chronisten  und  Historikern  von  Nestor 
bis  Karamsin  und  Ssolowjew,  als  in  den  russischen  Zeit- 
schriften, namentlich  in  „Russkaja  Starina**,  die  ßich  die  Er- 
forschung der  Vergangenheit  zur  Aufgabe  macht,  turmhoch 
aufgehäuft  finden.  Wir  meinen  schon  das  Gräßlichste  erfahren 
zu  haben,  da  wir  den  Fall  der  Gräfin  Saltykow  kennen  lern- 
ten; und  dann  wird  uns  Kenntnis  davon,  daß  um  ein  Jahr- 
hundert später,  zu  einer  Zeit  also,  wo  Rußland  sich  nicht 
nur  als  europäisch  betrachtete,  sondern  Europa  förmlich  zu 
bedrohen  und  beherrschen  begann,  in  einem  russischen  Frauen- 
kloster solches  sich  ereignen  kann:  Ein  junger  Mann  wird 
einen  Monat  lang  von  den  Nonnen  festgehalten  und  in  wilder 
Gier  durch  Liebesdienste  zu  Tode  erschöpft.  Er  wird  zuletzt 
so  schwach,  daß  er  nicht  mehr  imstande  wäre,  sich  aus  dem 
Kloster  fortzubewegen.  Siecht  er  langsam  in  den  Mauern  des 
gott geweihten  Gebäudes  dahin,  so  kann  es  zu  einem  Skandal 
kommen.  Da  beschließen  die  frommen  Schwestern  dem  Übel 
vorzubeugen  und  vollenden  das  Werk,  das  der  Tod  zu  lässig 
betreibt.  Der  Ermordete  wird  dann  in  Stücke  zerschnitten 
und  in  einen  Brunnen  versenkt.  —  Ein  Fall,  wie  ihn  die 
blutigste  Phantasie  eines  hirnverbrannten  Kolportageroman- 
schreibers nicht  schauerlicher  ersinnen  könnte.  Und  dieser 
Fall  ist  der  Wirklichkeit  des  russischen  Lebens  entnommen. 


1)  Measchen  und  Dinge  in  Rußland,  Anschauungen  und  Studien,  Gotha 
1856.  Der  nicht  genannte  Verfasser  ist  F.  Leizmann,  er  lebte  lange  Jahre  im 
Zarenreiche. 

Ä)  a,  a.  O.  III  355. 


—     152    — 

und  nicht  einmal  ein  vereinzelter,  sondern  wieder  nur  einer 
für  viele.  — 

Wäre  es  da  seltsam,  wenn  die  heidnischen  Völker  in  Ruß- 
land nicht  gesitteter  wären  als  die  herrschende  Rasse?  Bei 
den  Kalmücken  zum  Beispiel  ist  dem  Klerus  der  Zölibat  eben- 
falls zur  Pflicht  gemacht;  und  auch  bei  diesem  barbarischen 
Volke  sucht  sich  die  ehelose  Geistlichkeit  durch  Ausschweifun- 
gen für  die  gesetzlich  ihr  aufgezwungene  Enthaltsamkeit  schad- 
los zu  halten.  Doch  wir  sehen,  daß  nur  die  Mandschi  und  die 
Gätzuln,  also  die  niedersten  Priester,  der  Versuchung  zu  er- 
liegen pflegen,  während  die  Obergeistlichen  im  allgemeinen 
ihrem  Stande  keine  Schande  machen.^)  Aber  selbst  für  die 
Sünder  gibt  es  hier  eine  Entschuldigung.  Denn  die  kalmücki- 
schen Frauen  sollen  dem  Umgang  mit  den  Gcistlidien  ays 
einem  gewissen  religiösen  Grunde  geneigt  sein,  weil  sie  durch 
solchen  Geschlechtsverkehr  einen  Anteil  an  der  Heiligkeit  des 
geistlichen  Standes  zu  erlangen  glauben.  Es  wird  die  Un- 
sittlichkeit  also  zu  einer  Kulthandlung  und  sie  darf  nicht  mit 
dem  Maße  strenger  Moral  gemessen  werden.  Bei  der  russi- 
schen Geistlichkeit  fällt  der  Mantel  der  Scheinheiligkeit  fort, 
und  die  brutalste  Sinnlichkeit  und  Unsittlichkeit  stehen  in 
völliger  Nacktheit  vor  unseren  Augen.  Die  Russen  haben 
sich  die  Rolle  der  Zivilisatoren  Asiens  angemaßt,  wir  aber 
erkennen,  daß  dort  die  Wilden  noch  immer  die  besseren 
Menschen   sind. 


1)  Bergmann,  Nomadische  Streifereien  unter  den  Kalmücken  II  288. 


—    153    — 


9-  Heiligenkult  und  Mystizismus. 

Russisches  Christentum  und  Schamanismas  —  Geisterglaube  und  Heiligen- 
verehrung —  Pässe  für  den  Himmel  —  Schaffung  und  Absetzung  von  Heiligen 
durch  Ukas  —  Die  Heiligen  —  Ilja  —  Nikolaj,  der  Thronfolger  Gottes  — 
Die  Heiden  und  der  heilige  Nikolaj  —  Andreas  —  Georg  —  Alexander  Newskij 
—  Leben  und  Wunder  des  heiligen  Ssergej  —  Ikone  —  Wallfahrten  und 
Unzucht  —  Herrscher  und  Heiligenbilder  —  Bilderdienst  und  Mystizismus  — 
Ursachen  des  russischen  Mystizismus  —  Klima  und  Natur  —  Mystizismus 
des  Muschik  und  der  Städter  —  Der  Mystizismus  der  Herrscher  —  Iwan  der 
Schreckliche  —  Peter  der  Große  —  Nikolaj  I.  und  Alexander  III.  —  Paul  L 
und  Alexander  I.  —  Alexander  II.  und  Nikolaj  II.  —  Die  mystischen  Dichter 
—  Tolstoj  —  Dobroljubow  —  Der  Einzeilendichter  Brjußqw. 

"'vi 

Lferoy-Beaulieu  stellt  in  seinem  großen  Werke  über  Ruß- 
land i)  die  Fragen:  Ist  das  russische  Volk  tatsächlich  religiös? 
Ist  es  in  Wahrheit  christlich  ?  Verdient  der  unklare  rohe  Glaube 
des  Muschiks  überhaupt  den  Namen  Religion?  Entstammen 
seine  verworrenen  Lebens-  und  Weltanschauungen  dem  christ- 
lichen Bekenntnisse? 

Auf  alle  diese  Fragen  haben  wir  schon  in  den  bisherigen 
Abschnitten  trostlos  klare  verneinende  Antwort  erhalten.  Je 
weiter  wir  fortschreiten  in  der  Geschichte  der  öffentlichen 
Sittlichkeit  in  Rußland,  desto  dichter  die  Finsternis,  die  uns 
auf  allen  Seiten  umgibt ;  desto  undurchdringlicher  die  Schatten, 
die  jedes  Gebiet  unseres  Planes  bedecken ;  desto  hoffnungsloser 
die  Sehnsucht  nach  einem  einzigen  Lichtblitz  der  Aufklärung, 
nach  einem  noch  so  winzigen  Ausblick  in  ein  minder  trauriges 
Kapitel.  Endlos  wie  die  russische  Steppe  dehnt  sich  die  Ge- 
schichte der  russischen  Leiden  imd  Laster;  und  die  Religion, 
sonst  die  erhebende  Trösterin  im  Jammer  des  Einzelnen  wie 
der  Völker,  ist  in  diesem  unglückseligen  Reiche,  bei  diesem 
sittlich  verkommenen  Volke  zugleich  Grundlage  und  Krönung 
aller  Übel.  Das  russische  Christentum  muß  nicht  bloß  als 
ein  primitives,  sondern  geradezu  als  ein  Glaube  bezeichnet 
werden,  der  sich  von  dem  alten  slawischen  Heidenglauben  gering 
unterscheidet;   es   ist   ihm   nichts   anderes   gelungen   als   den 

1)    III    26. 


—     154     — 

Namen  zu  wechseln,  das  Wesen  der  Gedanken  und  die  Formen 
des  Kultus  sind  fast  unverändert  geblieben  oder  nur  durch 
Zusätze  mongolischen  Aberglaubens  ergänzt  worden.  Bei  den 
Ainos  im  äußersten  Osten,  die  von  der  Kultur  noch  kaum 
berührt  sind,  ist  das  Schamanentum  beinahe  schon  verschwun- 
den; man  kennt  heute  vielleicht  nur  drei  oder  vier  Männer  i), 
welche  dort  diese  uralte  Kaste  noch  im  zwanzigsten  Jahrhundert 
vertreten.  Bei  den  Russen  aber  spielen  die  Priester  alle  nichts 
anderes  als  Rollen  von  Schamanen,  und  die  Zeremonien,  die 
sie  üben,  sind  voller  Anklänge  und  Anlehnungen  an  die  scha- 
manistischen  Zauberkunststücke.  Der  Glaube  der  Schamanen- 
völker ist  ein  Geisterglaube.^)  Er  beruht  in  der  Meinung, 
•  daß  die  Seelen  der  Verstorbenen  als  Gespenster  durch  die 
Lüfte  und  über  die  Schneefelder  fliegen.  Diese  Geister  hausen 
in  dunklen  Tannenwäldern,  Felsenklüften  und  Abgründen.  Die 
heftigen  und  verderblichen  Naturerscheinungen,  Mißwachs  und 
Seuchen,  plötzliche  Krankheiten,  Epilepsie,  Raserei  einzelner 
Individuen  werden  dem  Einflüsse  solcher  Geister  zugeschrieben. 
Der  russische  Heiligenglaube  ist  kaum  etwas  anderes  als  der 
Geisterglaube  der  Schamanenvölker.  Man  fürchtet  sich  vor 
der  Rache  der  Heiligen,  bemüht  sich  um  ihre  Gunst,  macht 
das  Christentum  zu  einem  Fetischdienst ;  versagt  der  angerufene 
Heilige,  so  zürnt  man  ihm,  entreißt,  um  ihn  zu  strafen,  seinem 
Bilde  die  Geschenke  und  spottet  des  trügerischen  unverläß- 
lichen Halbgottes  mit  dem  Sprichwort  3):  „Er  taugt  nicht  dazu, 
daß  man  ihn  anbete;  er  taugt  um  Töpfe  damit  zuzudecken.** 
Der  größte  Teil  des  russischen  Volkes  kennt  nicht  Gott, 


1)  Labb6,  Un  bagne  russe,  l'ile  de  Sakhaline.  Paris  1903,  page  196. 

*)  Stuhr,  Die  Religionssysteme  der  heidnischen  Völker  des  Orients, 
S.  250.  Vgl.  Julius  Lippert,  Allgemeine  Geschichte  des  Priestertums  (2  Bande), 
Berlin  1883,  I  250.  —  Lippert  hat  in  seinem  Werke  ,,Die  Religionen  der  euro- 
päischen Kulturvölker",  S.  91 — 109,  auch  eine  interessante  Darstellung  der 
altslawischen  Religion.  —  Kurz  und  lichtvoll  sind  die  Abhandlungen  von  Jo- 
hannes Scherr,  Geschichte  der  Religion,  Leipzig  1857,  I.  Buch  Seite  17,  38, 
43,  47  und  II  255.  —  Über  den  Schamanismus  der  Samojeden  und  Tungusen 
sehe  man  die  Stellen  bei  Le  Bruyn  a.  a.  O.  III  31,  365  u.  a.  oder  bei  Pallas 
a.  a.  O.;  endlich  M.  3a6buiiH'i>,  pyccKitt  HapojL,  MocKBa  1880,  256 — 259. 

')  ,,He  ri),';nTF.CH  Bory  MOJiirrhCH,  ro,iiiTF.eH  ropiuKn  nonpuBaib".  Leroy- 
Beaulieu  III  35,  Note  der  Übersetzer. 


—    155    — 

sondern  bloß  die  Heiligen;  nicht  die  Religion,  sondern  die 
Reliquien.  Heilige  und  Reliquien  sind  ohne  Zahl,  vermehren 
sich  mit  jedem  neuen  Jahre.  Zur  Schaffung  eines  neuen  Heili- 
gen bedarf  die  Geistlichkeit  allerdings  seit  jeher  der  Bewilli- 
gung des  Herrschers  1) ;  aber  Fürsten  und  Großfürsten,  Zaren 
und  Kaiser  gaben  stets  ihre  Zustimmung,  sobald  sie  nicht 
nur  durch  bloße  Gerüchte  und  Erzählungen  des  Volkes,  son- 
dern „durch  glaubwürdige  Zeugnisse  von  der  Wahrhaftigkeit 
der  Wunder  überzeugt**  worden  waren ;  dann  erteilten  sie  auch 
sofort  den  Befehl,  den  neuen  Heiligen  und  die  von  ihm  er- 
fahrenen Wunder  allgemein  bekannt  zu  machen,  die  Glocken 
zu  läuten  und  Dankgebete  zu  singen;  und  die  Siechen,  die  bei 
den  bisherigen  Heiligen  keine  Rettung  gefunden,  strömten 
hoffnungsvoll  von  allen  Seiten  zu  den  Gebeinen  des  neuen 
Heiligen.  So  ließ  Kaiser  Paul  durch  die  Petersburger  Zeitung 
vom  7.  Dezember  1798  seinem  Volke  folgendes  mitteilen  2): 
„Im  Jahre  1796  wurde  in  der  Eparchie  von  Wologda,  in  dem 
Kloster  Ssumorin  in  der  Stadt  Trotma,  ein  Sarg  entdeckt, 
in  dem  sich  ein  Leichnam  in  Mönchskleidem  befand;  dieser 
Mönch  war  im  Jahre  1568  gestorben  und  begraben  worden, 
aber  sowol  seine  Leiche  wie  seine  Kleidung  sah  man  völlig 
unversehrt.  An  den  Buchstaben,  die  in  die  Kleider  ein- 
gestickt waren,  erkannte  man  in  dem  Leichnam  den  Körper 
des  hochgelobten  Feodosius  Ssumorin,  Stifters  und  Superiors 
des  Klosters,  der  schon  bei  seinen  Lebzeiten  durch  die  Wun- 
der, die  er  verrichtet,  für  einen  Heiligen  gehalten  worden  war. 
Der  heilige  dirigirende  Synod  stattete  über  diesen  Vorfall 
Seiner  Kaiserlichen  Majestät  allerunterthänigsten  Bericht  ab; 
worauf  folgender  Ukas  erlassen  wurde:  Wir  sind  durch  einen 
Spezialbericht  des  heiligen  Synods  benachrichtigt  worden,  daß 
man  in  dem  Kloster  Spaßo-Ssumorin  die  wunderthätigen  Ge- 
beine des  hochgelobten  Feodosius  Ssumorin  entdeckt  habe; 
diese  wunderthätigen  Gebeine  sind  dadurch  ausgezeichnet,  daß 


1)  Karamsin,  deutsche  Ausgabe  VII  175. 

*)  Zuerst  reproduziert  in  den  ,,Geh.  Nachrichten  über  Rußland"  (von 
Masson),  Paris  1800,  II  143;  wiederholt  in  den  „Geheimnissen  von  Rußland", 
1844,  I  311  Anmerkung. 


—     156     — 

ein  jeder  Kranke,  der  sich  ihnen  mit  vollem  Vertrauen  nähert, 
sich  der  glücklichsten  Genesimg  zu  erfreuen  hat.  Also  können 
Wir  die  Entdeckimg  dieser  heiligen  Gebeine  für  nichts  Anderes 
halten,  denn  als  sichtbares  Zeichen  dafür,  daß  Gott  Unsere 
Regierung  mit  gnädigen  Blicken  ansieht.  Dafür  steigt  Unser 
heißes  Gebet  der  Dankbarkeit  zu  dem  höchsten  Gnadenspen- 
der empor,  und  Wir  tragen  Unserem  heiligen  Synod  auf, 
Unserem  ganzen  Reiche  diese  höchst  merkwürdige  Entdeckung 
bekannt  zu  machen,  nach  den  Gebräuchen,  die  von  der  heiligen 
Kirche  und  den  heiligen  Vätern  dafür  vorgeschrieben  sind."  — 
Der  Zar  kann  aber  nicht  bloß  Heilige  ernennen,  sondern  auch 
absetzen :  Beim  öffnen  der  Gruft  eines  Metropoliten  von  Now- 
gorod fand  man  den  Leichnam  unversehrt.  Das  Wunder  wurde 
vom  heiligen  S>Tiod  dem  Kaiser  mitgeteilt,  und  dieser  entschi^ 
daß  der  vom  Himmel  so  sichtbar  begnadet  gewesene  Prälat 
auch  bei  den  Irdischen  den  Heiligenschein  verdiene.^)  Man 
packte  die  Glieder  des  Heiligen  in  ein  Reliquienkästchen,  aber 
da  zerfielen  sie  plötzlich  in  Staub.  Darob  große  Bestürzung, 
und  der  Kaiser  befahl  eine  strenge  Nachforschung  betreffs 
des  Lebenswandels  des  Heiligen.  Der  neue  Bericht  stellte 
fest,  daß  der  Metropolit  Zeit  seines  Leb^is  ein  lasterhaft»- 
Mensch  gewesen.  Der  erzürnte  Kaiser  begnügte  sich  nidit, 
den  Heiligen  feierlich  wieder  abzusetzen,  sondern  verordnete 
die  Verbannung  des  Leichnams  nach  Sibirien! 

Die  Heiligen  sind  den  Gläubigen  so  gütig  gesinnt,  daß 
sie  ihnen  auch  Pässe  für  die  andere  Welt  zurück  lassen,  die 
dann  hunderttausendfältig  kopien  werden  und  in  allen  Zeiten 
Gültigkeit  behalten;  die  Popen  imd  Bischöfe  verkaufen  scrfdie 
Pässe  um  ein  Geringes.  Ein  deraniger  Paß,  dessen  Original 
vom  Metroj>oliten  von  Kijew  am  30.  Juli  1541  geschrieben 
wurde,  und  dessen  in-undenätige  Abschriften  sich  nodi  heute 
besonderer  Nachfrage  erfreuen,  hat  folgenden  Wortlaut*) :  , Jdi 
bekenne  und  bezeusre.  daß  der  Inhaber  dieses  Briefes 


*^  Z-fT?:  ü^iSTs^tr:  vz.    'Br^zsiL  *zit  Ycctzz^  K<mew  .  Jahr  iSj9w  —  V| 


—     157     — 

als  wahrer  Christ  unter  uns  gelebt  und  die  orthodoxe  Religion 
bekannt  hat;  obwohl  er  manchmal  fehlte,  erhielt  er,  nachdem 
er  seine  Sünden  gebeichtet,  die  Absolution,  die  Kommunion 
und  die  Vergebung  seiner  Sünden.  Er  hat  Gott  und  die 
Heiligen  verehrt,  in  den  von  der  Kirche  angeordneten  Stunden 
und  Zeiten  gefastet  und  gebetet  und  sich  sehr  gut  mit  mir, 
seinem  Beichtiger,  vertragen,  so  daß  ich  keinen  Anstand  nahm 
ihn  von  seinen  Sünden  loszusprechen  und  keinen  Grund  habe 
mich  über  ihn  zu  beschweren.  Demzufolge  wurde  dem  In- 
haber dieses  Briefes  gegenwärtiges  Zeugnis  ausgestellt,  damit 
der  heilige  Petrus,  wenn  er  ihn  sieht,  ihm  die  himmlische 
Thür  öffne.** 

Der  jüngste  russische  Heilige  ist  Seraphim,  ein  1833  ge- 
storbener Mönch,  der  im  Jahre  1903  vom  Zaren  Nikolaj  IL 
zum  Heiligenrange  erhoben  wurde.  Der  heilige  Seraphim,  Be- 
gründer des  Diwejewklosters  im  jetzigen  Wallfahrtsorte  Ssa- 
row  bei  Nischny-Nowgorod,  hatte  durch  seine  unversehrt 
gebliebene  Leiche  sieben  Jahrzehnte  nach  seinem  Tode  solche 
Wunder  zu  wirken  begonnen,  daß  Kaiser  Nikolaj  1902  eine 
Spezialkommission  zur  Untersuchung  der  merkwürdigen  Vor- 
fälle einsetzte.  Diese  Kommission  stellte  fest,  daß  der  Leich- 
nam bereits  94  Wundertaten  vollführt  hatte,  die  genügend 
bezeugt  werden  konnten.  Am  7.  August  1902,  am  Geburts- 
tage des  Mönchs  Seraphim,  beendete  die  Kommission  ihre 
Forschungen.  Auf  den  Bericht  der  Konmiission  antwortete  der 
Kaiser  mit  dem  an  den  Heiligen  Synod  gerichteten  Wunsch, 
daß  Seraphim  heilig  gesprochen  werden  möge.  Am  24.  Januar 
1903  überreichte  der  Synod  dem  Kaiser  die  Entscheidung, 
daß  Seraphim  als  Mitglied  in  die  Gemeinschaft  der  Heiligen 
aufgenommen  wurde.  Der  Kaiser  schrieb  an  den  Rand  dieser 
Entscheidung:  ,,Mit  aufrichtiger  Freude  und  tiefer  Bewegung 
gelesen";  und  im  „Regierungsanzeiger**  erschien  folgender 
Kommentar :  „Der  Heilige  macht  die  Lahmen  gesund  und  heilt 
die  Blinden.  Fünfzehn  Krücken  wurden  am  Ufer  des  Flüß- 
chens  Ssarowka  von  geheilten  Gläubigen  unter  Dankesgebeten 
verbrannt.  Schwer  aber  weiß  der  Heilige  die  Ungläubigen 
zu  strafen.  In  Stepurino,  einem  Dorfe  im  Kreise  Bogorodskij, 
beschlossen  die  Bauern  am  Tage  des  heiligen  Seraphim  keine 


—    158    — 

Feldarbeit  zu  tun.  Ein  Raskolnik^)  namens  Ssitnow  erklärte, 
er  werde  seine  Arbeit  dem  heiligen  Seraphim  zu  liebe  nicht 
vernachlässigen.  Kaum  hatte  der  Frevler  dies  gesprochen, 
als  er  zu  schwanken  begann  und  zur  Erde  stürzte.  Als  man 
ihm  näher  trat,  war  er  schon  tot.  Selbst  die  Ungläubigsten, 
die  Ssitnow  bloß  für  betrunken  hielten,  wurden  eines  Besseren 
belehrt;  denn  schon  nach  drei  Stunden  ging  die  Leiche  in 
Verwesung  über.  Dieses  Ereignis  machte  auf  alle  Anwesenden 
einen  erschütternden  Eindruck.  Kaiser  Nikolaj  schenkte  einen 
kostbaren  Reliquienschrein  für  die  Gebeine  des  Heiligen,  die 
Zarin  Alexandra  stickte  eigenhändig  die  Decken  dazu  und  auf 
kaiserliche  Kosten  wurde  eine  Verherrlichungsfeier  in  der  Ssa- 
row- Wüste  veranstaltet.  Als  im  Kriege  mit  Japan  die  Dinge 
für  Rußland  eine  schlimme  Wendung  nahmen,  wallfahrtete 
die  ganze  zarische  Familie  nach  Ssarow,  um  die  Hilfe  des 
Heiligen  anzurufen.  2) 

Die  vornehmsten  russischen  Heiligen  sind  Nikolaj,  Alexan- 
der Newskij,  Andreas,  Georg,  Ssergej,  II ja,  Michael,  Wlaßj.^) 
Sie  teilen  sich  alle  in  die  Erbschaft  nach  den  alten  Heiden- 
göttern. Von  Wlaßj  als  Nachfolger  des  heidnischen  Herden- 
gottes Woloß  habe  ich  sction  in  dem  Kapitel  über  Aberglauben 
gesprochen.  —  Der  alte  Perun,  der  Gott  des  Blitzes  und  des 
Donners,  lebt  fort  im  heiligen  Ilja  oder  Elias ;  wenn  es  donnert, 
rollt  nach  Meinung  des  Muschik  der  Wagen  des  Propheten  über 
die  Wolken;  Ilja  beherrscht  Sturm  und  Hagel,  und  feiert  man 
ihn  nicht  genügend,  so  vernichtet  er  die  Ernte.  —  Im  Gegen- 
satze zu  diesem  häufig  zürnenden  Ilja  steht  der  gütige  Nikolaj ; 
das  ist  der  wahre  russische  Nationalheilige.  Er  ist  stets  dienst- 
fertig und  hilfreich,  behütet  die  Kinder,  beschützt  die  Matrosen, 
die  Pilger,  alle  Notleidenden.    Fast  jeder  Russe  trägt  das  Bild 


1)  Sektierer. 

2)  Bernhard  Stern,  Die''Romanows,'^3.  Auflage,  Berlin  1906,  II  281. 

3)  Vgl.  die  Werke  (in  russischer  Sprache)  von  Kostomarow,  Gemälde 
des  häuslichen  Lebens  und  der  Sitten  des  russischen  Volkes  im  sechzehnten  und 
siebzeljnten  Jahrhundert;  Goltzew,  Die  Gesetzgebung  und  (^ie  Sitten  Ruß- 
lands im  achtzehnten  Jahrhundert;  Miljukow,  Skizzen  zur  Geschichte  der 
russischen  Literatur,  Petersburg  1899.  —  Ferner:  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O. 
III  33;  Geheimnisse  von  Rußland  I  318;  Marmier  I  272,  II  5. 


—     159    — 

Nikolajs  bei  sich.  Der  Soldat  stellt  sich  unter  den  Schutz 
dieses  Heiligen,  der  Postknecht  treibt  nicht  die  Rosse  an, 
ehe  er  sich  nicht  dem  heiligen  Nikolaj  empfohlen  hat.  Ist 
jemand  in  seinen  Unternehmungen  vom  Glücke  begünstigt, 
so  verdankt  er  dies  dem  heiligen  Nikolaj.  Dann  kommen 
^  die  Nachbarn  herbeigelaufen  und  wollen  sich  von  dem,  der  so 
sichtbar  in  des  Heiligen  Gunst  steht,  das  wundertätige  Bild 
ausleihen,  er  aber  gibt  es  ungern  her.  In  den  Spielhöllen, 
Wirtshäusern  und  Bordellen  fehlt  niemals  ein  Bild  Nikolajs. 
An  den  Toren  des  Kreml  sind  die  Bilder  dieses  Schutzpatrons 
sowie  des  Erlösers  angebracht,  und  keiner  geht  vorüber,  ohne 
hier  seine  tiefste  Ehrfurcht  zu  bezeugen;  diese  Bilder  ver- 
dienen besonderen  Dank:  Als  im  Jahre  1771  Moskau  von 
der  Pest  verheert  wurde,  strömte  das  Volk  in  Massen  zum 
Kremltore,  um  des  Erlösers  und  des  Heiligen  Nikolaj  Gnade 
zu  erflehen ;  der  Bischof,  der  in  dem  Zusammenströmen  großer 
Mengen  in  der  Zeit  der  Epidemie  eine  Gefahr  der  Ansteckung 
erblickte,  wollte  die  Bilder  entfernen  lassen.  Das  erzürnte 
Volk  erschlug  den  Bischof  auf  der  Stelle.  Die  Moskowiter 
wurden  dafür,  daß  sie  die  Bilder  vor  dem  gottlosen  Bischof 
beschützt  hatten,  belohnt;  denn  bald  nach  diesem  Vorfall  er^ 
losch  die  Pest.  Das  Bild  des  Erlösers  hatte  schon  früher  Mos- 
kwa von  den  Tartaren  befreit;  als  die  Barbaren  in  den  Kreml 
eindringen  wollten,  sah  das  Erlöserbild  sie  so  furchtbar  drohend 
an,  daß  sie  sofort  die  Flucht  ergriffen  und  vor  Schrecken 
nicht  einmal  zurückzuschauen  wagten.  Die  Franzosen  gaben 
sich  im  Jahre  1812  umsonst  alle  Mühe  dieses  Bild  zu  zer- 
stören. Auch  vom  Bilde  des  heiligen  Nikolaj,  das  sich  am 
Kremltore  befindet,  wird  das  Wunder  berichtet,  daß  es  bei 
der  großen  Explosion  im  Jahre  181 2  samt  seinem  Glase  un- 
versehrt blieb,  während  das  Arsenal  in  Trümmer  sank  und 
die  Wälle  des  Kremls  barsten.  Nach  dem  Volksglauben  der 
Russen  wird  Nikolaj  dem  lieben  Gott,  wenn  dieser  alt  ge- 
worden sein  wird,  im  Regiment  folgen.  Die  Heidenvölker 
Sibiriens  und  die  Mongolen  sehen  schon  jetzt  im  heiligen 
Nikolaj  den  eigentlichen  Russengott  und  bekehren  sich  nicht 
zu  Christus,  sondern  zu  Nikolaj,  abgekürzt  Kolla.  Bei  den 
Sibiriern  ist  Nikolaj  der  Gott  des  Ackerbaues  und  des  Bieres. 


—     160     ~ 

Die  finnisch-tartarischen  und  türkischen  Stämme  Rußlands, 
die  das  Christentum  angenommen  haben,  beten  nur  zu  Nikolaj  ; 
die  Tschuwaschen  an  der  Wolga,  welche  von  den  Popen  be- 
kehrt wurden,  beschränken  ihr  junges  Christentum  auf  Pilger- 
fahrten zu  den  Heiligentümem,  welche  Nikolaj  geweiht  sind. 
Aber  auch  die  Heiden,  welche  fast  ganz  in  ihren  alten  Ge- 
bräuchen verharren,  wie  die  Wotjäken  und  Ostjaken,  verehren 
Nikolaj  wie  einen  mächtigen  Schutzgott.  Die  Mongolenstämme 
schrieben  das  Anwachsen  Rußlands  der  Macht  des  russischen 
Spezialgottes  zu,  und  da  sie  beobachteten,  daß  die  Russen 
am  meisten  den  heiligen  Nikolaj  verehrten,  so  hielten  sie  ihn 
für  den  Gott  der  Russen  und  führten,  um  desselben  Glückes 
wie  letztere  teilhaftig  zu  werden,  den  Nikolajkult  ein.  Ähn- 
lich haben  die  Lappen  i)  Büder  der  christlichen  Dreieinigkeit 
unter  ihre  Zauberzeichen  aufgenommen.«) 

Vom  heiligen  Andreas  erzählt  die  russische  Kirchenge- 
schichte, daß  er  sich  zur  Zeit,  als  sich  die  griechische  Kirche 
von  der  lateinischen  trennte,  in  Rom  auf  einem  Mühlstein 
einschiffte  und  statt  des  Ruders  ein  Schilfrohr  benützte,  das 
im  Augenblicke,  wo  es  der  HeUige  ergriff,  zu  Stein  wurde. 
Die  Kleider  und  Kirchengewänder  schwammen  dem  Mühlstein 
nach.  Diese  merkwürdigen  Transportstücke  sind  als  Reliquien 
in  Nowgorod  zu  sehen.^)  —  Der  heilige  Georg  ist  neben  dem 
heiligen  Wlaßj  Beschützer  der  Herden;  sein  Fest  am  23.  April 
ist  das  Frühlingsfest  der  Russen.  —  Alexander  Newskij  ist 
der  Heros  unter  den  Heiligen ;  er  hat  als  ein  furchtbarer  Tyrann 
in  Nowgorod  gewütet  und  gut  namentlich  als  Schutzherr  des 
Heeres.  —  Eine  besondere  Erwähnung  verdient  schließlich 
der  heilige  Ssergej,  der  Stifter  des  berühmtesten  russischea 
Klosters  Troitzka  bei  Moskau.    Er  lebte  im  vierzehnten  Jahr- 


*)  Gunner,  Knud  Leems  Nachrichten  von  den  Lappen,  Leipzig  1771, 
S.  233. 

*)  Und  ganz  so,  sagt  Lippert  (Geschichte  des  Priestertums  I  255),  hatten 
die  Tahitier  gehandelt  als  sie  sich  den  stärkeren  Gott  von  Bolabola  holten. 

')  Man  verwechselt  manchmal  die  Erzählungen  über  Andreas  und  die 
über  Nikolaj  und  berichtet  von  letzterem  die  Fahrt  auf  dem  Mühlstein.  Vgl. 
erstes  Kapitel  (,,Die  russische  Kultur")  S.  6  das  Zitat  aus  der  „Reise  nach 
Norden". 


—     161    — 

hundert.  Aus  einer  Rede  des  Metropoliten  Philaret  über  das 
Leben  des  heiligen  Ssergej  i)  erfahren  wir,  daß  dieser  Heilige 
schon  im  Mutterleibe  alle  Gebote  der  Kirche  kannte.  Während 
ihrer  Schwangerschaft  ging  seine  Mutter  in  die  Kirche;  als 
der  Priester  das  Evangelium  las,  stieß  das  Kind  im  Mutter- 
leibe einen  so  lauten  Schrei  aus,  daß  es  die  ganze  Gemeinde 
hörte;  dies  wiederholte  sich  nach  der  Kommunion.  Als  Säug- 
ling weigerte  sich  Ssergej,  an  Fasttagen  an  der  Brust  seiner 
Mutter  zu  trinken.  Im  schulpflichtigen  Alter  sandte  man  den 
kleinen  Heiligen  zur  Schule,  aber  er  konnte  die  weltlichen 
Wissenschaften  nicht  verstehen;  vergebens  züchtigten  ihn  die 
Lehrer,  er  lernte  weder  lesen  noch  schreiben.  Dann  aber 
gab  ihm  ein  Mönchgreis  ein  Stück  geweihtes  Brot,  und  sofort 
konnte  Ssergej  die  Psalmen  lesen  und  sich  dem  Studium  der 
heiligen  Schrift  widmen.  Später  zog  er  sich  als  Einsiedler  in 
einen  Urwald  zurück  und  baute  zu  Ehren  der  Troitza,  der 
Dreieinigkeit,  eine  schlichte  Hütte  an  der  Stelle,  wo  heute 
das  stolze  Kloster  steht.  Durch  seine  Wunderwerke  machte 
Ssergej  das  Kloster  früh  zu  einer  Wallfahrtsstätte.  Als  der 
Heilige  einmal  Durst  hatte,  segnete  er  ein  paar  Regentropfen, 
und  daraus  entsprang  der  Bach,  der  noch  jetzt  hier  fließt. 
Der  Heilige  konnte  nicht  bloß  Rasende  zähmen,  sondern  auch 
Tote  erwecken.  Und  seine  Wundertätigkeit  dauerte  nach 
seinem  vor  fünf  Jahrhunderten  erfolgten  Tode  fort.  Als  man 
1421  seine  Leiche  aus  dem  Sarge  nahm,  um  sie  in  einem 
Reliquienschrein  aufzubewahren,  war  sie  völlig  unversehrt.  Die 
Feinde,  ob  Polen  ob  Tartaren,  vermochten  das  Kloster  nie 
zu  erstürmen;  Pest  und  Cholera  machten  an  den  Toren  dieses 
Heiligtums  Halt.  Hinter  seinen  Mauern  suchten  viele  Herr- 
scher Schutz  oder  Ruhe;  Peter  der  Große  rettete  sein  Leben 
vor  den  Dolchen  der  Streljzen  durch  die  Flucht  ins  Troitzka- 
kloster.  — 

Die  Heiligenverehrung  überschreitet  in  Rußland  alles  Maß 
und  wird  zu  einem  wahren  Polytheismus.  Noch  heidnischer 
als  die  Anbetung  der  Heiligen  selbst  ist  der  Kult,  der  mit  den 
Heiligenbildern   getrieben  wird.     Der   von   mir   schon   früher 


1)  MocKBa  1822.  —  Vgl.  Maxmier  II  6. 
Stern,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  Rufiland.  u 


—    162    — 

erwähnte  Wiener  Prälat  Johann  Faber  zwar  schrieb  im  ersten 
Viertel    des    sechzehnten  Jahrhunderts    von   dem  russischen 
Bilderdienste  1):  „Die  Heiligenbilder  sind  bei  ihnen  nicht  so 
wenig  respektiert  oder  gar  verachtet,  wie  man  dies  bei  mis 
sieht  als  Kontrast  zu  aller  Pietät,  als  Folge  der  Streitigkeiten 
imserer  Zeit.**     Dagegen  lesen  wir  in  dem  Buche  über  die 
Religion  der  Moscowiter  von  Anno  17 12*):  „Sie  rühmen  sich  / 
daß  sie  das  Bildniß  Maria  der  Mutter  Gottes  vom  heiligen 
Apostel  Luca  gemahlet  haben   /   und  sie  sagen  /  die  heilige 
Jungfrau   habe   befohlen   /    es    solte    in    der    Stadt    Moscau 
auffgehoben  und  verwahret  werden.    Basilides  sag^e:  So  lang 
als  dieses  Bild  in  imser  Residentz-Stadt  wird  behalten  werden 
/  wird  die  Christenheit   nicht  verunruhiget   werden.     Dieses 
Volck  glaubet  f estiglich  /  daß  alles  was  man  ihnen  von  diesem 
Bilde  öffentlich  gesagt   /    unstreitig  wahr  sey   /  so  daß  nian 
/  wenn  einer  das  geringste  darwider  sagte   /   demselben  die 
Zimge   ausreissen    /    und   ihn   hernach   lebendig   verbrennen 
würde.    Basilides  hat  die  Ordnung  der  Bilder  gestifftet  /  imd 
denen   Moscowitem   die   Weise   gelehret    /    sie    /    nach   der 
Stelle    /   die  sie  haben  sollen    /   zu  setzen.    Er  setzet  in  die 
erste  Stelle  das  Bildniß  unsers  HErm  Jesu  Christi   /   in  die 
andere  das  Bild  der  Jungfrau  der  Mutter  GOttes  /  und  her- 
nach den  himmlischen  Hauffen  und  alle  Heiligen    /    welche 
/  nach  ihrer  Meynimg  /  die  Seeligkeit  der  Menschen  zu  wege 
bringen   /   und  ihnen  zu  Hülffe  kommen.    In  der  Stadt  Mos- 
cau sind  diese  Bilder  an  einem  gewissen  Orte  /  der  Heiligen- 
und  Bilder-Marckt  genandt  /  zu  vertauschen  /  denn  sie  sagen 
nicht    /    zu  verkauffen.     Die  Moscowiter  sagen    /    sie  haben 
die  Verehrung  der  Bilder  vom  heiligen  Damasceno  gelemet; 


1)  Außer  den  schon  früher  erwähnten  Bildern  des  Erlösers  und  des  hei- 
ligen Nikolaj  sind  besonders  berühmt:  Das  Marienbild  mit  den  drei  Händen 
(der  Maler  hatte  nur  zwei  Hände  gemalt,  aber  über  Nacht  war  auf  dem  Bilde 
eine  dritte  Hand  aufgemalt  worden,  der  Maler  wischte  die  dritte  Hand  fort, 
sie  kam  immer  wieder,  und  endlich  erschien  Maria  und  sagte:  sie  wolle  mit 
drei  Händen  abgebildet  sein,  welchem  Wunsche  der  Maler  Folge  leistete)  und 
das  kasanjsche  Marienbild  (einem  Frommen  in  Kasanj  erschien  Maria  im 
Traume,  er  erfaßte  ihre  Züge  so  lebhaft,  daß  er  sie  am  andern  Tage  malte, 
obwohl  er  bisher  nie  gemalt  hatte). 

*)  Seite  55. 


—    163    — 

und  wollen  gar  nicht  gestehen  /  daß  solche  Verehrung  eine 
Abgötterey  sey.  Man  findet  hin  imd  wieder  in  gantz  Mos- 
cau  viel  solcher  Art  Heiligen;  imd  weil  man  sich  einbildet  / 
sie  haben  die  Krafft  die  Kranckheiten  zu  curiren  /  so  gehet 
alle  Jahr  ein  grosser  Hauffe  Volcks  Processionsweise  nach 
ihren  Klöstern  oder  Kirchen  /  welches  aber  bey  solchen  an- 
dächtigen Verrichtungen  viele  Ueppigkeiten  und  grosse  Un- 
ordnungen begehet  /  denn  bey  dergleichen  Gelegenheiten 
hängen  die  Moscowiter  dem  Fressen  /  Sauffen  und  Huren 
sehr  nach ;  sie  begehen  auch  Mordtaten  und  andere  dergleichen 
Laster.**  —  Peter  der  Große  versuchte  dem  Unfug,  der  mit 
Heiligenbildern  getrieben  wurde,  zu  steuern  und  namentlich 
die  Menge  der  Ikone  zu  vermindern.  Als  er  in  Asow  ein 
Schiff  bestieg,  bemerkte  er,  daß  alle  Kabinen  vollgestopft  waren 
mit  Heiligenbildern;  jeder  Mann  hatte  seinen  Schutzpatron  in 
zahlreichen  Exemplaren  mitgenommen.  Der  Kaiser  erklärte: 
„Ein  einziges  Heiligenbild  genügt  für  ein  Schiff,**  und  ließ 
alle  anderen  Bilder  wieder  ans  Land  schaffen.^)  Peters  Tochter 
Kaiserin  Elisabeth  gab  jedoch  dem  Bilderdienste  neuen  An- 
stoß.  Als  Peter  III.  dem  Beispiele  Peters  des  Großen  nicht 
bloß  folgen,  sondern  es  noch  übertreffen  wollte  und  Heiligen- 
bilder aus  den  Kirchen  entfernen,  den  Erzbischof  von  Now- 
gorod, der  sich  der  kaiserlichen  Verordnung  widersetzte,  ver- 
bannen ließ,  bereitete  er  sich  damit  selbst  sein  jähes  tragisches 
Ende.  Katharina  die  Zweite,  die  einstige  Protestantin,  wußte 
dem  russischen  Heiligenkult  und  Bilderdienste  besser  zu  schmei- 
cheln, sie  warf  sich  vor  den  Ikonen  nieder,  nahm  Staub  von 
dem  geweihten  Platze,  auf  dem  die  Heiligenbilder  sich  befanden, 
und  bestrich  damit  ihre  Krondiamanten. 


1)  Perry  a.  a.  O.  215.  —  In  den  Bemerkungen  über  Rußland.  Erfurt  1788, 
II  227  wird  erzählt:  ,,Im  Jahr  1718  hatte  ein  russischer  Geistlicher  in  Peters- 
burg ein  gewöhnlich  Marienbild,  das  auf  einmal  Wunder  zu  tun  anfing.  Jeder, 
der  dem  Bilde  sein  Anliegen  klagte,  mußte  natürlich  etwas  opfern.  Peter 
schickte  zum  Geistlichen  und  sagte  ihm,  er  möchte  doch  ein  ihm  beliebig  Wunder 
in  seiner  Gegenwart  vom  Bilde  verrichten  lassen.  Da  gestand  der  arme  Teufel 
den  Betrug,  daß  er  es  des  Gewinnstes  halber  getan  habe.  Zur  eignen  Beloh- 
nung und  zur  Warnung  anderer  wurde  er  in  die  Festung  gebracht,  mit  harter 
Leibesstrafe  belegt  und  seines  Dienstes  entsetzt." 


—     164     — 

In  innigem  Zusammenhange  mit  dem  Heiligenglauben  und 
dem  Bilderdienste  steht  der  Mystizismus,  der  über  Rußland  liegt 
wie  Rauch  und  Nebel ;  der  alle  Klassen  der  Gesellschaft  erfaßt ; 
vom  Zarenhofe  hemiedersteigt  in  die  Niederungen  des  Volkes, 
zu  den  Bürgern  und  Bauern,  zu  den  Denkern  und  Dichtern, 
zu  den  Kaufleuten  und  Soldaten.    Niemand  ist  von  ihm  aus- 
genommen, keiner  kann  sich  ihm  entwinden.    Leroy-Beaulieu^) 
bemerkt,  daß  der  Mystizismus  in  Rußland  mehr  im  Norden 
als  im  Süden  zu  Hause  sei  und  der  Isba  des  Landmannes  vor 
dem  Herrenschlosse  den  Vorzug  gebe,  weil  der  Muschik  in- 
timer mit   der   Natur   in   Berührung   kommt   und   die .  Natur 
des  JMordens  geheimnisvoller  und  melancholischer  ist  als  die 
des  Südens.    Mit  dem  einen  Teile  dieser  Bemerkung,  soweit 
sie    die    räumliche  Beschränkung  aufstellt,    stimme    ich  »fast 
überein.     Der  Hang   der   Russen   zum   Mystischen   ist   nicht, 
wie  andere  meinten  und  beweisen  wollten,  ein  einfaches  Attri- 
but der  Rasse,  des  slawischen  Blutes,  sondern  viel  eher  ent- 
sprungen aus  dem  eigentümlichen  Klima  und  Boden  des  Landes, 
aus  dem  scharfen  Kontraste  der  Jahreszeiten,  die  denselben 
Mangel  an  Gleichgewicht  aufweisen  wie  die  Menschen  dort, 
und  die  wie  diese  nicht  fähig  sind  Maß  zu  halten.    Die  endlos 
langen  Wintemächte  in  den  Schneewüsten;  die  endlos  langen 
Sommertage  auf  den  geheimnisvollen  Steppen,  über  die  man 
tagelang   ziehen  kann,   ohne   einem   menschlichen   Wesfen   zu 
begegnen;  die  Abende  im  Dezember  imd  Januar,  wenn  am 
schwarzen  Himmel  die  Sterne  in  einem  fast  blendenden  Glänze 
funkeln ;  und  die  Abende  im  Juni,  wenn  der  Äther  einen  wunder- 
bar durchsichtigen,  phantastisch  weitgedehnten  Himmel  sehen 
läßt  —  das  alles  ist  wohl  geeignet,  in  der  Seele  des  Schauen- 
den   und    Erschauernden,    des    einsam    ziellos    Wandernden 
mystische  Regungen  wachzurufen;  und  es  erklärt  gewiß  das 
geheimnisreiche  Hindämmern  des  Russenvolkes,  das  willenlose 
Verharren  in  geistiger  Untätigkeit  und  kulturellem  Zwielicht. 
Aber  dieser  Mystizismus  beschränkt  sich  nicht  bloß  auf  die 
Muschiks  in  den  Isbas;  man  kann  auch  kaum  sagen,  daß  er 
bei  ihnen  häufiger  zu  finden  sei  als  in  den  übrigen  Klassen 


1)  a.  a.  O.  III  23. 


—    165    — 

des  russischen  Volkes.  Nur  den  einen  Unterschied  dürfte 
man  zugestehen :  daß  er  bei  dem  Muschik  unbewußt  vorhanden 
ist,  bei  dem  Städter,  im  Herrenschlosse,  im  Zarenpalaste  be- 
wußt vorherrscht ;  daß  der  Muschik  sich  ihm  gedankenlos  unter- 
ordnet, daß  ihn  die  anderen  aber,  wenn  nicht  zu  bannen, 
doch  zu  verleugnen  trachten,  sich  seiner  schämen  und  ihm 
gern  einen  anderen  Namen  geben.  Und  diesen  Mystizismus 
der  Städter,  Edelleute,  Hofleute  und  Herrscher,  der  Intelli- 
genz imd  der  Geistlichkeit,  ihn  kann  man  nicht  mehr  mit  dem 
fatalistischen  Achselzucken  abtun,  daß  er  das  unabwend- 
bare Wiegengeschenk  des  Klimas  und  der  Natur  sei.  Nein, 
dieser  Mystizismus  der  Nicht-Muschiks  ist  die  Folge  der  un- 
ermeßlichen historischen  Leiden  und  Laster  Rußlands.  Er 
ist  der  schwarze  Faden,  der  uns  durch  alle  Irrgänge  des  Laby- 
rinths führt,  welches  Geschichte  Rußlands,  und  für  uns  im 
besonderen  die  Geschichte  seiner  öffentlichen  Sittlichkeit  heißt. 
Durch  ihn  irregeführt  erhielten  sich  die  Herrscher  Rußlands 
auf  dem  blutigen  Throne  des  Absolutismus;  und  er  ist  es, 
der  die  Sklaven  die  Ketten  klaglos  tragen  hieß.  Die  einen 
wie  die  anderen  glaubten  bis  heute,  daß  es  so  und  nicht 
anders  sein  müsse  und  sein  könne.  Mit  der  Alleinherrschaft 
steht  und  fällt  der  Mystizismus.  Darum  waren  alle  russischen 
Zaren  und  Kaiser  die  ersten  Mystiker  in  ihrem  Reiche,  und 
darum  die  Dichter  und  Denker  die  größten  Nihilisten.  Bei 
den  Zaren  der  alten  Zeit  äußerte  sich  der  Mystizismus,  wie 
bei  Iwan  dem  Schrecklichen  als  typischem  Beispiel,  bald  in 
erotisch-neronischem  Wahnsinn,  bald  in  der  Feigheit  als  Fröm- 
migkeit. Als  Iwan  der  Schreckliche  zur  Eroberung  von  Kasanj 
auszog,  wagte  er  nur  Schritt  um  Schritt  vorzudringen,  hielt  er 
in  jedem  Kloster  und  in  jeder  Kirche  Rast,  nicht  um  den 
Sieg  des  Heeres,  sondern  um  den  göttlichen  Schutz  für  sein 
zarisches  Haupt  zu  erflehen.  Während  er,  endlich  vor  Kasanj 
angelangt,  die  Krieger  in  den  Kampf  schickte,  blieb  er  angetan 
mit  dem  Kriegskleide  bei  seiner  geistlichen  Garde  zurück  und 
las  zitternd  Gebete.  Als  die  Heerführer  ihn  baten,  die  ver- 
zagenden Truppen  zu  befeuern,  entgegnete  er:  ,, Kämpfet  nur, 
meine  Helden,  ich  bete  für  euch!  Lasset  mich  nur  der  Gnade 
Christi  teilhaftig  werden,  und  ihr  müßt  siegen!**  —  Bei  den 


—    166    — 

Romanows  tauchen  alle  Herrscher,  wie  immer  sie  auch  be- 
gonnen haben  mögen,  in  einem  mystischen  Dämmer  unter. 
Selbst  Peter  der  Große,  der  Freigeist  und  Antichrist,  endet  als 
krankhafter  Traumdeuter.  Nikolaj  I.  flüchtet  sich  trotz  seines 
sadistischen  Zäsarenwahnsinns,  trotzdem  er  sich  als  Gott  fühlt, 
in  schwierigen  Fällen  zu  Hexen,  um  ihren  Ratschlägen  zu 
horchen*  imd  zu  folgen ;  und  verfällt  zum  Schlüsse  religiöser 
Verfolgungswut.  Der  Mystizismus  Alexanders  III.,  der  sich 
anfänglich  in  einer  Sehnsucht  nach  der  Rückkehr  zur  Natur 
äußert  und  den  Zaren  den  Wunsch  aussprechen  läßt:  „Ich 
möchte  der  Bauernzar  heißen  und  sein",  wird  endlich  wie 
bei  Nikolaj  I.  religiöse  Verfolgungswut.  Der  erste  Romanow, 
der  fast  gänzlich  einem  religiösen  Mystizismus  anheimfiel,  war 
Paul.  Im  Gatschinaer  Schlosse  zeigte  man  die  Stellen,  wo 
der  Kaiser  in  Gebet  versunken  und  in  Tränen  aufgelöst  zu 
knien  pflegte ;  das  Parkett  war  an  diesen  Stellen  abgerieben.^) 
Pauls  Liebschaft  mit  Katharina  Nelidow  war  eine  platonisch- 
mystische. Ein  ähnliches  platonisch-mystisch-religiöses  Ver- 
hältnis bestand  zwischen  Pauls  Sohne  Alexander  I.  und  Frau 
von  Krüdener.  Propheten  und  Wundermänner  gehörten  von 
allem  Anfang  an  zu  den  Vertrauten  des  Kaisers  Alexander  I. 
Er  ließ  sich  immer  die  Vorsehung  künden  und  glaubte  zeit- 
weilig göttliche  Eingebungen  zu  empfangen.  Der  Kirchen- 
prediger Philaret  wurde  schnell  Metropolit  von  Moskau,  weil 
er  durch  seine  Lehre,  das  Reich  Gottes  liege  in  den  Menschen, 
in  der  mystischen  Seele  Alexanders  I.  eine  mitklingende  Saite 
berührte.2)  Der  Kaiser  trat  zu  dem  Skopzengott  Peter  Feodo- 
rowitsch  in  persönliche  Beziehungen;  die  Kriegsjahre  und  die 
Errettung  Rußlands  aus  der  napoleonischen  Not  steigerten 
seine  Hinneigung  zum  Mystizismus;  die  russische  Bibelgesell- 
schaft wurde  begründet  und  Geistliche  und  Laien  aller  Kon- 
fessionen, Mystiker,  Freimaurer  und  Sektierer  suchten  deren 
Mitgliedschaft.  Frau  von  Krüdener  übte  auf  den  krankhaften 
Herrscher  einen  solchen  Einfluß,  daß  er  nach  Zwiegesprächen 


1)  3anncKH    CaÖJiyKOBa,   PyccKitt    Apxirari.    1869.    1877.  —  IIIyMHropCKift, 
Mapifl  GeoÄopoBHa,  C.-IIeTep6ypn»  1892,  I  357. 
•)  Schiemann,  Alexander  I.  413. 


—     167    — 

mit  ihr  zerknirscht  zu  ihren  Füßen  sank  und  erst  durch  ihre 
Versicherung,  daß  ihm  noch  Hoffnung  auf  himmhsche  Be- 
gnadigung winke,  wieder  aufgerichtet  werden  konnte.  Diese 
Zwiegespräche  dauerten  häufig  bis  zwei  Uhr  Nachts.  Dann 
sah  man  den  Kaiser  mit  verweinten  Augen  aus  dem  Zimmer 
der  Apostelin  kommen.^)  —  Die  Reihe  der  pietistischen  Schwär- 
mer im  Hause  Romanow-Holstein-Gottorp  setzte  sich  fort  in 
dem  weinerlichen  Heiligenbildanbeter  Alexander  II.  und  endet 
vorläufig  in  dem  weichlichen  Nikolaj  II.,  der  gleich  Iwan  dem 
Schrecklichen  es  vorzog,  statt  an  der  Spitze  der  Armee  durch 
persönlichen  Mut  zu  glänzen,  durch  Heiligenbilder  und 
mystische  Opfer  den  Sieg  vom  Himmel  zu  erflehen;  der  statt 
auf  die  brausenden  Stimmen  der  Zeit  zu  hören,  nur  dem  ge- 
heimnisvollen Flüstern  des  wundertätigen  Joan  von  Kronstadt, 
den  Ratschlägen  von  Zauberern  und  Wahrsagern  lauscht. 

Zu  Zeiten  Alexanders  I.  ging  der  Mystizismus  vom  Zaren 
und  seiner  Umgebung  aus  und  ergriff  die  ganze  Gesellschaft. 
Diesmal  unter  Nikolaj  II.  war  es  umgekehrt.  Die  Dichter  des 
neueren  Rußland,  von  Gogolj  bis  Tolstoj,  sie  waren  es,  die 
vor  dem  trostlosen  Elend  des  russischen  Lebens  im  Mystizismus 
Zuflucht  suchten  und  mit  ihren  Poesien  und  Traktätchen  das 
ganze  Volk  wie  mit  einem  Nessusgewand  umhüllten.  Nikolaj  II. 
bekennt  sich  selbst  als  Verehrer  und  Schüler  eines  Leo  Tolstoj, 
der  alle  seine  großen  Dichtungen  für  nichts  schätzt  im  Ver- 
gleiche zu  seinen  religiös-mystischen  Predigten,  in  denen  er 
die  Rückkehr  zum  Urchristentum  sucht  und  zur  Überzeugung 
kommt :  Nur  dort  sei  es  gut,  wo  es  keine  Kultur  gebe.  An  dem 
heutigen  Christentum  übt  Tolstoj  die  schärfste  Kritik  und  sagt : 
der  Mensch  habe  die  Aufgabe  sein  Glück  in  seinem  Inneren 
zu  suchen;  das  Glück  kann  nur  im  einfältigen  Gottesglauben 
und  in  der  Rückkehr  zur  Einfachheit  des  natürlichen  Urzu- 
standes gefunden  werden,  i)  Ein  großer  Teil  der  modernen 
russischen  Dichter  ist  mystisch-symbolistisch.  Berühmt  und 
berüchtigt  zugleich  wurde  die  Poetengruppe  der  sogenannten 


1)  Rußland  was  es  war  und  was  es  ist.     Eine  bis  auf  die  neueste  Zeit 
fortgesetzte  Geschichte  Rußlands,  Pest  1855,  208. 

*)  Bernhard  Stern,  Aus  dem  modernen  Rußland,  Berlin   1893,  51. 


—    168    — 

Moskauer  Symbolisten  ^),  die  einen  eigenen  Verlag  „Skorpion" 
für  ihre  Erzeugnisse  gründeten.  Der  Götze  dieser  Gruppe 
ist  Alexander  Dobroljubow,  ein  überaus  origineller  Geist,  der 
in  den  Mystizismus  eine  scharfgewürzte  geschlechtliche  Un- 
moral mischt.  Seine  Anschauung,  sein  Denken  und  Fühlen 
faßt  sein  Biograph  Iwan  Konewskoj  in  folgenden  Satz  zu- 
sammen: „Er  hat  seine  eigene  Welt  außerhalb  der  mensch- 
lichen Gedanken,  außerhalb  des  Körpers  imd  außerhalb  des 
Verstandes.  Sein  Schaffen  ist  von  den  gewöhnlichen  Sinnes- 
wahmehmungen  und  von  der  gewöhnlichen  Logik  mit  ihren 
Traditionen  losgelöst.**  Noch  mystischer  als  dieser  Meister 
ist  sein  Schüler  Walerij  Brjußow,  der  nur  ganz  kurze  Ge- 
dichte, am  liebsten  einzeilige  verfaßt  wie  etwa  dieses:  ,',0 
umhülle  deine  bleichen  Füße!'*  Dann  ein  Gedankenstrich, 
und  sonst  nichts  weiter.  Lächelnd  darf  man  aber  in  Rußland 
auch  an  solchen  Erscheimmgen  der  Literatur  nicht  vorüber- 
gehen, denn  gewöhnlich  werden  sie,  weil  sie  niemand  versteht, 
Stifter  von  erotischen  und  religiösen  Sekten,  deren  Bildung  eine 
natürliche   Folge  des  nebelhaften  Mystizismus   sein  muß. 


lo.  Sektenwesen. 

Geringe  Kenntnis  vom  russischen  Sektenwesen  —  Gründe  dafür  —  Neuer 
Gesichtspunkt  —  Sektenwesen  und  Erotik  —  Anzahl  der  Sektierer  —  Die 
frühesten  Ketzereien  —  Die  Lehre  des  Bischofs  Leon  —  Unmoral  der  hohen 
Geistlichkeit  —  Die  Bogumilen  —  Wie  Sekten  entstehen  —  Die  Strigolniki  — 
Ertränkung  eines  Ketzers  —  Die  jüdische  Häresie  —  Ihre  Gründer  und  Lehren  — 
Des  heiligen  Joseph  Schrift  gegen  die  Ketzerei  —  Die  Beschneidung  in  Ruß- 
land —  Ein  Ketzer  Metropolit  —  Spaniens  Autodaf6  als  Muster  für  Rußland  — 
Bestrafung  von  Ketzern  —  Scheiterhaufen  in  Rußland  —  Fortsetzungen 
der  jüdischen  Ketzerei  —  Der  Jude  Baruch  und  sein  Schüler  lebendig  ver- 
brannt —  Die  modernen  Subotniki  und  ihr  Apostel  Iljin  —  Rothschild  der 
Satansrabbi  —  Verbrennung  von  Ketzern  unter  Peter  dem  Großen  —  Die 
Mjrstiker  Kuhlmann  und  Nordermann  lebendig  verbrannt  —  Tanzende 
Ketzerinnen  geknutet  —  Verbrennung  von  Ketzerleichen  —  Toleranz-Ukas 
Alexanders  I.  —  Ketzergesetze  Nikolajs  I.  —  Polizei  und  Gendarmen  als 
Wächter  der  Kirche  —  Klagen  des  Synod  und  der  Mission  gegen  den  Staat  — 


1)  Vgl.   die  von  A.   Wolynskij   geschriebene  Geschichte  der  russischen 
Poesie  der  Gegenwart  (in  russischer  Sprache). 


—    169    — 

Mafiregeln  Nikolajs  II.  —  Religion.  Gesellschaft  und  Moral  —  Entstehong 
des  großen  Raßkol  —  D^  Mönch  Maxim  —  Reformen  des  Patriarchen  Nikon  — 
Inkonsequenz  der  Konzile  —  Folgen  davon  —  Peter  als  Antichrist  —  Peters 
Sittenlosigkeit,  Ursache  des  großen  Raßkol  —  Der  Trotz  gegen  die  Kirche 

wird  zum  Hasse  gegen  den  Staat. 

Eine  Geschichte  der  öffentlichen  Sittlichkeit  in  Rußland 
wäre  nicht  denkbar  ohne  eine  Geschichte  des  russischen  Sekten- 
wesens. Schon  Leroy-Beaulieu^)  sagte :  der  Raßkol  2)  mit  seinen 
verschiedenen  Sektenbildungen  sei  vielleicht  das  charakteristi- 
scheste Merkmal  Rußlands,  an  dem  man  den  moskowitischen 
Orient  von  dem  europäischen  Okzident  zu  unterscheiden  ver- 
möge. Trotzdem  ist  gerade  dieses  Gebiet  eines  der  inoch,  dunkel- 
sten des  russischen  Lebens  geblieben.  An  Versuchen  es  auf- 
zuhellen hat  es  nicht  gefehlt,  aber  in  diesem  Falle  begegnet 
der  Forscher  oft  unübersteiglichen  Hindernissen,  weil  es  sich 
zum  größten  Teile  darum  handelt,  die  furchtbarsten  Verbrechen 
aufzudecken,  die  in  tiefster  Verborgenheit  verübt  werden;  Ver- 
brechen, bei  denen  nach  den  Geopferten  auch  die  Henker, 
mit  den  blutigen  Fanatikern  auch  die  Zeugen  verschwinden. 
Ich  habe  auf  weiten  Reisen  durch  Rußland,  namenthch  im  Zen- 
trum, in  den  Ostseeprovinzen,  entlang  der  Wolga,  in  Kaukasien, 
an  den  Küsten  des  Kaspi  und  Pontus  Euxinus,  also  fast  überall, 
wo  die  Hauptsitze  der  Sektierer  zu  finden  sind,  viele  per- 
sönliche Beobachtimgen  gesammelt  3)  und  diese  unermüdlich 
ergänzt  durch  Mitteilungen,  die  mir  aus  zahlreichen  russischen 
Quellen  zufloßsen,  sowie  durch  Notizen  aus  der  gesamten  vor- 
handenen J-iteratur,  sowohl  aus  den  Schriften  russischer  als 
aus  jenen  europäischer  Forscher*);  und  so  darf  ich  wohl  sagen. 


1)  a.  a.  O.  III  312. 

*)  PacKan»,  eigentlich  Riß  oder  Spalte,  bedeutet  Sekte,  Ketzerei, 
Schisma.  Dieses  Hauptwort  stammt  vom  Verbum  pacKOJioTi.  oder  pacKaJiiBaTi», 
zerhauen,  zerspalten  oder  trennen. 

«)  Vgl.  Bernhard  Stern,  Aus  dem  modernen  Rußland,  S.  91  ff. 

*)  Ich  zitiere  nachstehend  die  wichtigsten  Quellen.  Von  russischen: 
Murawjew,  Geschichte  der  russischen  Kirche,  Karlsruhe  1857;  Philaret,  Die 
Kirche  Rußlands.  Frankfurt  a.  M.  1872,  zwei  Bände;  Basarew,  Die  russisch- 
orthodoxe Kirche,  Stuttgart  1873;  di*  nur  in  russischer  Sprache  erschienenen 
Werke  von  Makarij,  Schtschapow,  Liwanow,  Jusow,  Golubinskij ;  die  Romane 
von  Pawel j  Iwanowitsch  Meljnikow  (unter  dem  Pseudonym  Andrej  Petscheiskij). 


—    170    — 

daß  ich  hier  zum  ersten  Male  ein  möghchst  erschöpfendes  Bild 
dieser  eigentümlich  nissischen  Zustände  und  Sitten  liefere; 
erschöpfend  mindestens  nach  der  einen  Richtung  hin,  die  für 
.  unseren  Zweck  am  wichtigsten  ist :  in  Hinsicht  auf  die  öffent- 
liche Sittlichkeit.  Dieser  Hauptzweck  veranlaßte  mich  auch, 
das  Sektenwesen  von  einem  ganz  neuen  Gesichtspunkte  zu 
betrachten.  Ich  erkenne  weder  politische,  noch  religiöse,  son- 
dern nur  Sittlichkeitsmomente  an  und  glaube  durch  die  Auf- 
zählung der  tatsächlichen  Umstände,  soweit  sie  unanfechtbar 
nachgewiesen  sind,  überzeugend  feststellen  zu  können,  daß 
es  sich  bei  allen  diesen  Sekten  fast  durchgehends  um  sexuelle 
Probleme  handelt.  Mackenzie  Wallace  teilt,  die  russischen  Sek- 
ten in  vier  Gruppen  ein :  in  solche,  welche  die  heilige  Schrift 
als  Basis  ihres  Glaubens  annehmen,  aber  die  darin  enthaltjenen 
Lehren  durch  gelegentliche  Inspiration  oder  innere  Erleuchtung 
ihrer  leitenden  Mitglieder  auslegen  oder  vervollständigen; 
zweitens  in  solche,  welche  die  heilige  Schrift  wenig  oder  gar 
nicht  beachten  und  ihre  Lehre  aus  der  vermeintlichen  Inspi- 
ration ihrer  Propheten  entnehmen ;  drittens  in  Sekten,  welche  an 
die  Wiedermenschwerdung  Christi  glauben;  und  viertens  in 
Sekten,  welche  Religion  mit  nervöser  Erregung  verwechseln 
und  mehr  oder  weniger  erotischer  Natur  sind.  Nach  Leroy- 
Beaulieu  und  Haxthausen  zerfallen  die  russischen  Sekten  ein- 
fach in  priesterliche  und  priesterlose.  Andere  haben  wieder 
andere  Einteilungen. 

Alle  diese  Unterscheidungsmethoden  sind  verwirrend,  und 
ich  finde  es  am  richtigsten,  derartige  Abgrenzungen  gar  nicht 
vorzunehmen.  Tatsächlich  zieht  sich  durch  fast  alle  Sekten 
derselbe  Charakter  roher  Sinnlichkeit.    Selbst  jene  Schismati- 


Von  Ausländem  nenne  ich  den  Engländer  Mackenzie  Wallace;  den  baltischen 
Pastor  Dalton  (Die  russische  Kirche,  Leipzig  1891);  F.  Knie,  Die  russische 
schismatische  Kirche  (Graz  1893);  Haxthausen,  Studien  über  die  inneren 
Zustände  Rußlands,  I  337  ff.;  Friedrich  Meyer  von  Waldeck  und  Folticineano 
in  ihren  populären  Werken  über  Rußland;  Nikolaus  von  Gerbel-Embach, 
Russische  Sektierer,  Heilbronn  1883,  52.-  Heft  der  Zeitfragen  des  christlichen 
Volkslebens;  Tsakni,  La  Russie  sectaire,  Paris  1888;  Brissard,  L'Eglise  de 
la  Russie,  Paris  1866 — 1867;  und  endlich  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.  III  312 — 528, 
wo  auch  russische  Quellen  zitiert  sind.  Einige  andere  bedeutendere  Quellen- 
schriften werden  an  den  entsprechenden  Stellen  noch  erwähnt  werden. 


—     171     — 

ker,  die  noch  den  Schein  einer  Religion  wahren,  ergeben  sich 
infolge  ihres  Gesetzes  der  Ehelosigkeit  erotischen  Ausschweifun- 
gen, die  bei  den  tiefer  stehenden  Arten  den  alleinigen  wahren 
Zweck  ihres  Daseins  ausmachen.  Unter  mehreren  hundert  Sek- 
ten gibt  es  kaum  drei,  die  einem  einigermaßen  verständigen 
und  verständlichen  System  folgen.  Unter  vielen  Millionen,  die 
von  der  orthodoxen  Kirche  abgefallen,  sind  kaum  wenige 
Hunderttausend,  die  in  ihren  aparten  Zeremonien  den  Glauben 
und  die  Wahrheit  suchen.  Wir  haben  es  dabei  mit  einer 
spezifisch  russischen  Originalität  zu  tun.  Dies  geht  aus  der 
Art  der  Verbreitung  der  Sekten  hervor.  Jene  Gruppen,  die 
den  brutalen  erotischen  Charakter  oder  einen  Zug  ins  Sadi- 
stisch-Wahnsinnige aufweisen,  gehören  fast  ausnahmslos  dem 
Großrussentum  an,  entstehen  und  gedeihen  zumeist  bei  dem 
großrussischen  Muschik,  in  dem  Zentrum  von  Moskau  und 
Groß-Nowgorod,  am  weißen  Meere,  an  den  Abhängen  des 
Ural,  in  Sibirien.  Die  Minderheit  der  Philosophierenden  und 
religiösen  Schismatiker  findet  man  dagegen  bei  den  Bauern, 
die  aus  den  finnisch-tatarischen-  Stämmen  hervorgegangen  sind, 
bei  den  Kolonisten  in  Südrußland,  Kaukasien  und  den  Wolga- 
gebieten, bei  den  Donkosaken  und  den  Russen,  die  durch 
die  protestantischen  Kolonisten  beeinflußt  sind.i)  Von  dieser 
großen  allgemeinen  Regel  werden  sich  nur  wenige  Ausnahmen 
abtrennen  lassen.  So  hat  namentlich  die  wilde  Sekte  der 
Springer,  vielleicht  auch  ihren  Ursprung,  jedenfalls  ihre  größte 
Verbreitung  in  Finnland  und  von  dort  aus  im  Umkreise  von 
Petersburg  gefunden. 

Vor  zwei  Jahrhunderten  zählte  der  Bischof  Dmitry  von 
Rostow  in  einer  Schrift  über  das  Schisma  in  der  orthodoxen 
Kirche  mehr  als  zweihundert  verschiedene  Sekten  auf.    Viele 


1)  Vgl.  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.  III  362 — 363.  Entsprechend  seiner 
Auffassung  von  den  zwei  Zweigen  des  Schismas,  dem  priesterlichen  und  dem 
priesteriosen,  verteilt  er  beider  Gebiete  folgendermaßen:  Die  Priesterlichen 
wie  die  Priesterlosen  herrschen  außer  im  Zentrum  vornehmlich  in  den  ab- 
normen äußersten  Zonen,  in  den  Wäldern  des  Nordens  und  in  den  Steppen 
des  Südens.  Die  Popowzy  oder  Priesterlichen  nehmen  das  Zentrum  und  den 
Südosten  ein,  die  Bespopowzy  oder  Priesterlosen  aber  hauptsächlich  den 
Norden,  die  Küsten  am  weißen  Meere,  das  Uralgebiet  und  Sibirien. 


—     172    — 

von  diesen  sind  verschwunden,  aber  an  ihre  Stelle  traten 
immer  neue,  und  jetzt  ist  die  Zahl  nicht  mehr  zu  übersehen. 
Ein  Bericht  des  heiligen  Synods  im  Jahre  1835  schätzte  die 
Zahl  der  Sektierer  auf  480000.  Im  Jahre  1870  wurde  sie 
offiziell  mit  zwölf malhunderttausend  festgestellt:  997600  im 
europäischen  und  173400  im  asiatischen  Rußland.^)  Vor 
zwanzig  Jahren  sprach  Pobjedonoßzew  schon  von  anderthalb 
Millionen.  Diese  Ziffern  müssen  heute  mindestens  verzehnfacht 
werden.  Ein  Raßkoljnik  antwortete  auf  die  Frage,  wie  zahl- 
reich die  Altgläubigen  wohl  sein  mögen,  lakonisch :  „Wir  sind 
zahlreich,  aber  wir  wissen  nicht  wie  viele  wir  sind."  Der 
heilige  Synod  hätte  jedoch  ein  ziemlich  sicheres  Mittel  der 
Feststellung,  wenn  er  sich  hach  dem  geistlichen  Reglement 
Peters  des  Großen  richten  würde;  in  diesem  Reglement  hieß 
es:  das  Fembleiben  vom  heiligen  Abendmahl  ist  das  untrüg- 
lichste Zeichen  eines  Raßkoljnik.  Nun  ergaben  schon  die  im 
Jahre  1860  verfaßten  Osterbeicht-  imd  Osterkommunions- 
tabellen  ein  Fehlen  von  rund  zehn  Millionen  Seelen.  2) 

Das  Sektenwesen  in  Rußland  ist  fast  so  alt  wie  die  russische 
Kirche  selbst.  3)  Schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften 
Jahrhunderts,  zur  Zeit  des  Großfürsten  Andrej  Jurjewitsch  mit 
dem  Beinamen  Bogoljubowskij,  der  Gottesfürchtige,  erhob  sich 
der  wegen  seiner  Habsucht  und  Erpressungen  verrufene  Bischof 
Leon  von  Rostow*)  zu  der  ketzerischen  Behauptung,  es  sei 


1)  Bernhard  Stern,  Aus  dem  modernen  Rußland,  S.  107. 

2)  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.  III  359  nach  Sch6do-Ferroti,  Toleranz  und 
religiöses  Schisma  in  Rußland. 

3)  ,.£n  Russie  l'esprit  sectaire  est  en  quelque  sorte  contemporain  des 
premiöres  pr^dications  orthodoxes,  du  premier  baptSme  administr6  k  nos 
ancßtres  par  les  missionaires  grecs.*'  Vgl.  Le  Raskol.  Essai  historique  et 
critique  sur  les  Sectes  religieuses  en  Russie.  Paris,  Berlin  et  Londres  1859, 
pag.  I — 2. 

*)  Die  hohe  Geistlichkeit  scheint  unter  dem  gottesfürchtigen  Großfürsten 
auch  sonst  nicht  aus  Tugendbolden  bestanden  zu  haben.  Der  von  Andrej 
zum  Nachfolger  Leons  erwählte  Mönch  Theodor  verweigerte  dem  Metropoliten 
den  Gehorsam,  maßte  sich,  ohne  die  Weihe  des  MetropoUten  erhalten  zu  haben, 
das  Bischofsamt  an,  bedrängte  —  wie  der  Chronist  erzählt  —  die  Leute  in  der 
Stadt  und  in  den  Dörfern,  marterte  um  zu  erpressen,  ließ  den  Mönchen,  Priestern 
und  Abten  das  Haar  und  den  Bart  scheren,  schnitt  ihnen  auch  die  Zungen  ans. 


—     173    — 

Sünde  an  irgend  einem  Feiertage,  besonders  an  Weihnachten 
und  am  Dreikönigstage,  wenn  diese  Feiertage  auf  einen  Mitt- 
woch oder  Freitag  fallen,  Fleischspeise  zu  genießen.  Leon 
fand  für  seine  Lehre  eifrige  Anhänger  im  Bischof  Anton  von 
Tschernigow  und  im  Metropoliten  selbst,  i)  Aber  der  grie- 
chische Kaiser  Emanuel  nahm  den  Ketzer,  der  sich  zu  ihm 
geflüchtet  hatte,  gefangen  und  wollte  ihn  ertränken  lassen^ 
worauf  Leon  augenscheinlich  besseren  Sinnes  wurde,  denn 
von  seiner  Lehre  wird  nicht  mehr  gesprochen.  Bald  sollte 
es  jedoch  zu  ernsteren  Zwischenfällen  in  der  russischen  Kirche 
und  zu  tatsächlichen  Ketzereien  kommen,  die  sich  nicht  auf 
einige  wenige  Geistliche  beschränkten,  sondern  das  Volk  selbst 
in  größerem  Maße  ergriffen.  Die  frühesten  Sekten  entstan- 
den nach  allgemeiner  Ansicht  durch  die  Berührung  der 
Griechen  mit  den  Slawen  oder  der  Albigenser  mit  den  orien- 
talischen Mönchsorden,  wie  den  bulgarischen  Bogumilen.^)  Ruß- 
land war  damals  wie  jetzt  ein  fruchtbares  Feld  für  Mystik, 
und  die  Häresien  konnten  sich  ausbreiten  und  vervielfältigen, 
ohne  auf  bedeutende  Hindernisse  zu  stoßen.  Die  Regierung 
kümmerte  sich  nicht  darum,   und  von  der  Kultur  oder  den 


blendete  und  kreuzigte,  um  fremdes  Eigentum  an  sich  zu  reißen.  Der  Groß- 
fürst duldete  diesen  Hirten,  der  seine  eigene  Herde  mordete,  bis  ein  Aufruhr 
entstand,  der  Bischof-Mordbrenner  gefangen  und  vom  Metropoliten  als  Ketzer 
gestraft  wurde  wie  er  gehandelt  hatte :  man  schnitt  ihm  die  Zunge  aus,  blendete 
ihn  und  hieb  ihm  die  rechte  Hand  ab. 

1)  Karamsins  Geschichte  (Deutsche  Ausgabe)  IH  25. 

*)  Leroy-Beaulieu  III  315.  —  Als  Rußland  das  Christentum  annahm, 
gab  es  unter  den  Südslawen,  die  gleichfalls  den  griechischen  Glauben  hatten, 
schon  eine  Sekte,  die  Bogumilen,  welche  gewissermaßen  den  bosnischen  Staat 
gründeten  und  durch  die  er  auch  zu  Grunde  ging.  Vgl.  Hellwald,  Die  Welt 
der  Slawen,  Berlin  1890,  S.  353:  ,,Die  Entstehung  dieser  Bogumilen.  die  ihre 
Religion  die  bosnische  nannten  und  dem  Propheten  Johann  von  Leyden, 
den  Albigensern,  Waidensem  und  Hussiten  sehr  nahe  standen,  fällt  zeitlich 
mit  der  Einführung  des  Christentums  unter  den  Südslawen  zusammen.  Die 
heidnischen  Überlieferungen  und  apokryphen  Bücher,  welche  die  ältere  heid- 
nische Denkweise  des  Volkes  in  sich  aufnahmen  und  widerspiegelten,  diese 
sogenannten  Lo2nija  knigi  oder  Lügenbücher,  die  sich  besonders  in  Bulgarien 
großer  Behebtheit  erfreuten,  haben  die  Anlage  zum  Bogumilismus  hervor- 
gerufen; sie  sind  es  aber  auch  nachgewiesenermaßen,  auf  deren  Grundlage 
die  zahlreichen  Sekten  der  russischen  Kirche  entstanden." 


—     174     — 

Sitten  jener  Zeit  war  ein  Widerstand  gegen  Irrlehren  nicht 
zu  erwarten.  Die  geringste  Ursache,  ja  bloße  Laune  eines 
Einzelnen  schuf  mit  leichter  Mühe  eine  Sekte.  Ein  unzu- 
friedener Geistlicher  oder  ein  simpler  Mann  aus  dem  Volke 
brauchte  bloß  einige  imruhige  Geister  um  sich  zu  versanmieln, 
ihnen  die  Dogmen  der  Kirche  nach  seiner  Art  zu  erklären,  seine 
Zuhörer  als  seine  Schüler  zu  bezeichnen,  und  eine  Sekte  war 
geschaffen.  So  wird  beispielsweise  die  Geschichte  der  Sekte 
der  Martinowzi^)  erzählt,  die  im  dreizehnten  Jahrhundert  ent- 
stand, aber  im  vierzehnten  wieder  verschwand;  und  ähnlich 
ist  der  Ursprung  der  Sekte  der  Strigolniki.2)  Der  Gründer 
dieser  Sekte,  die  berühmt  geworden  ist,  weil  sie  die  erste 
größere  Kirchenspaltimg  in  der  russischen  orthodoxen  Kirche 
verursachte,  war  ein  Haarscherer  3),  namens  Karp,  dem  sich 
ein  Diakon  Nikita  anschloß.  Die  Sekte  trat  namentlich  in 
Pskow  und  Nowgorod  auf  und  richtete  sich  gegen  die  Simonie 
der  Bischöfe;  ihre  Anhänger  verwarfen  alle  Hierarchie  und 
erklärten  die  Darreichimg  der  Sakramente  für  unabhängig 
von  der  Priesterweihe.  Karp  wurde  vom  Nowgoroder  Pöbel 
in  den  Wolchowfluß  geworfen,  seine. Lehre  aber  bestand  noch 
durch  das  ganze  fünfzehnte  Jahrhundert  fort,  bis  sie  im  Beginne 
des  sechzehnten  Säkulums  durch  die  Verfolgungen  des  Metro- 
politen Photius  ausgerottet  wurde. 

Im  letzten  Viertel  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  entstand 
die  sogenannte  jüdische  Häresie^),  die  ebenfalls  zuerst  in  Now- 
gorod an  den  Tag  trat.  Ihr  Gründer  war  ein  Jude  aus  Kijew, 
namens  Sßcharias,  der  wahrscheinlich  zum  Christentum  über- 
getreten war.  Die  Lehre  verwarf  das  Dogma  von  der  heiligen 
Dreifaltigkeit,  die  Verehrung  der  Heiligen  und  der  Heiligen- 
bilder und  versicherte:  das  mosaische  Gesetz  sei  das  einzig 
göttliche,  die  Erzählung  von  Christus  erfunden,  der  Erlöser 


1)  Le  Raskol,  p.  2. 

2)  Leroy-Beaulieu  III  405.  —  Hellwald,  Die  Welt  der  Slawen  353.  — 
Alexander  von  Reinhold t,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  Leipzig,  S.  165. 

3)  Russisch  Strigolnik,  daher  der  Name  der  Sekte. 

*)  /KiuuBc^Kaji  epech.  —  Vgl.  Bernhard  Stern,  Aus  dem  modernen  Rußland, 
98.  —  Karamsins  Geschichte,  Deutsche  Ausgabe  VI  153.  —  Haxthaosen, 
Studien  I  347. 


—    175    — 

noch  nicht  geboren.  Die  Geschichte  dieser  Sekte  ist  vom 
heiligen  Joseph  Ssanin,  dem  Gründer  des  Wolokolamschen 
Klosters,  in  drastischer  Weise  geschrieben  worden.^)  In  dieser 
Schilderung  heißt  es:  daß  der  genannte  Jude,  der  dem  Zaren 
wohlbekannt  war,  im  Jahre  6979,  also  1471,  nach  Nowgorod 
kam;  dieser  „Schwarzkünstler,  Astronom,  Astrolog,  dieses  Ge- 
fäß des  Satans**  veranlaß te  den  Popen  Denis  zum  Judentum 
überzutreten.  Denis  wieder  verführte  den  Popen  Alexej.  Her- 
nach kamen  nach  Nowgorod  noch  andere  Juden:  Joseph 
Schmoila,  Skarey  Moses  und  Chamusch.  Denis  und  Alexej 
wurden  bald  die  Häupter  der  Ketzerei.  Sie  aßen  nur  bei 
Juden  tmd  unterrichteten  auch  ihre  Familien  im  mosaischen 
Gesetze.     Sie   wollten   sich   sogar   beschneiden   lassen  2),   aber 


1)  Eine  Übersetzung  der  Einleitung  dieser  merkwürdigen  mönchischen 
Arbeit  findet  man  in  der  Zeitschrift  ,, Konstantinopel  und  St.  Petersburg,  Der 
Orient  und  der  Norden",  II.  Jahrgang,  III.  Band  (1806)  S.  147.  Die  Skizze 
führt  den  Titel:  ,, Kampf  des  Lichts  mit  der  Finsternis,  oder  des  sündigen 
Mönchs  Joseph  Erzählung  von  der  in  Nowgorod  im  vorletzten  Jahrzehend  des 
15.  Jahrhunderts  veranlaßten  Ketzerei  durch  die  Sektierer  und  Abtrünnigen, 
den  Protopop  Alexej,  Denis,  Oßyp  und  Fedor  Kurizin".  Nach  der  Einleitung 
voll  derber  Schimpfereien  und  zorniger  Verfluchungen  folgen  im  Original 
15  Abhandlungen  zur  Widerlegung  der  ketzerischen  Lehrpunkte.  Josephs 
Reden  gegen  die  jüdische  Ketzerei  sind  unter  dem  Gesamttitel:  lIpocBtTirrejL 
(Der  Aufklärer)  ein  berühmtes  Stück  altrussischer  Literatur.     Vgl.  S.   135. 

2)  Die  weite  Verbreitung,  welche  die  jüdische  Ketzerei  fand,  mag  zu  der 
in  Europa  damals  geäußerten  Meinung  Anlaß  gegeben  haben,  daß  in  Moskowien 
der  Gebrauch  der  Beschneidung  Religionsgesetz  wäre.  Der  Dominikanermönch 
Johann  Faber  nämlich,  der  im  Jahre  1525  für  den  Erzherzog  Ferdinand  von 
Österreich  auf  Grund  von  Mitteilungen  zweier  durch  Tübingen  reisender  russi- 
schen Diplomaten  ein  Memoire  über  die  Religion  der  Moskowiter  veröf  f enthchte, 
fragte  seine  Gewährsmänner,  ob  es  wahr  wäre,  daß  die  Moskowiter  die  Be- 
schneidung anwendeten.  Worauf  die  beiden  Moskowiter  erwiderten:  ,,Wir 
sind  weit  davon  entfernt.  Wir  betrachten  die  Beschneidung  als  einen  Überrest 
des  alten  Judentums  und  wir  verabscheuen  sie  so  sehr,  daß  ein  Jude,  auch 
wenn  er  mehrere  tausend  Goldstücke  hierfür  bieten  würde,  nicht  das  Recht 
erhält,  sich  in  unserem  Lande  aufhalten  zu  dürfen".  Das  Fabersche,  von  mir 
schon  früher  (auf  Seite  141)  erwähnte  Buch  wurde  mehrmals  neugedruckt  und 
ist  auch  in  verschiedene  Sammlungen  von  Reisewerken  über  das  alte  Moskwa 
übergegangen.  Eine  französische  Übersetzung  erschien  1860  in  Paris:  La 
Religion  des  Moscovites  en  1525.  Traduit  du  Latin  de  Jean  Faber.  Bibliothöque 
russe,  nouvelle  s6rie  (im  III.  Bande).  Vgl.  die  Stelle  betr.  die  Beschneidung  S.  18. 


—     176    — 

unterließen  dies  aus  taktischen  Gründen.  Alexe]  nannte  sich 
Abraham  und  seine  Frau  hieß  fortan  Sara.  Äußerlich  beobach- 
teten die  Nowgoroder  Ketzer  so  vorsichtig  den  Anstand  und  alle 
Pflichten  frommer  Orthodoxer,  daß  der  Großfürst  die  beiden 
Häupter  der  Ketzerei,  Alexej  und  Denis,  als  ausgezeichnete 
und  verdienstvolle  Priester  nach  Moskau  nahm,  dem  Einen 
die  Stelle  eines  Protopopen  an  der  Kirche  der  Himmelfahrt 
Maria,  dem  Anderen  eine  Stelle  an  der  Kirche  des  heiligen 
Erzengels  Michael  verlieh.  Von  den  Verführern  wurden  des 
Großfürsten  Schwiegertochter  Jelena,  des  Großfürsten  Lieb- 
ling der  Djak  Fedor  Kurizyn  und  viele  andere  betört.  „Wer 
kann  ohne  Tränen,"  klagt  der  heilige  Joseph,  „das  große 
und  schreckbare  Unheil,  welches  diese  räudigen  Hunde  in 
jener  volkreichen  Stadt  angerichtet  haben,  erzählen?  Da  sie 
öffentlich  die  Maske  nicht  abziehen  durften,  so  verbargen  sie 
sich  wie  Schlangen  in  Steinklüften.  Vor  der  Welt  erschienen 
sie  als  heilige,  ruhige,  gerechte  und  in  den  Grenzen  der  Mäßi- 
gung sich  haltende  Lehrer.  Insgeheim  aber  säeten  sie  den 
Samen  des  Unkrauts  aus  und  stürzten  viele  Seelen  ins  Ver- 
derben. Manche  ließen  sich  beschneiden  wie  Iwaschko  Tscher- 
noy  und  Ignaz  Subow.  Der  Protopop  Alexej  und  Fedor  Kuri- 
zyn gelangten  durch  ihre  Frechheit  so  weit,  daß  sie  sich  bei 
dem  Monarchen  in  Ansehen  setzten,  denn  sie  gaben  sich  für 
große  Sterndeuter  aus,  lehrten  viele  die  lügenhafte  Astrologie, 
Zauberei  und  schwarze  Kunst  und  erwarben  sich  dadurch  An- 
hänger, die  alle  im  Dreck  der  Abtrünnigkeit  stecken  blieben." 
Der  heilige  Joseph  berichtet  auch,  wie  die  Abtrünnigen  vom 
Himmel  gestraft  wurden :  „Im  Jahre  6997  traf  den  Djak  Istoma, 
den  Gefährten  des  Teufels,  den  Höllenhund  und  Schüler  des 
Alexej,  die  strafende  Hand  Gottes.  Sein  unreines  Herz,  eine 
Wohnung  von  sieben  arglistigen  Teufeln,  und  seine  Eingeweide 
gerieten  in  Fäulnis.  Bald  darauf  starb  auch  das  verruchte 
Gefäß  des  Teufels,  der  Höllen-Eber,  der  Entweiher  des  Wein- 
gartens Christi,  der  Protopop  Alexej,  imter  den  unsäglichsten 
Schmerzen,  vom  Schwerte  Gottes  vertilgt.  Seine  Seele  holte 
der  Teufel.  Der  Pop  Denis  endlich  verfiel  in  eine  schwere 
Krankheit,  während  welcher  er  einen  ganzen  Monat  lang  wie 
wilde  und  zahme  Tiere,  Vögel  und  Ungeziefer  schrie;  so  spie 


—    177    — 

er  seine  unreine  Seele  aus/*  Doch  langsamer  als  die  göttliche 
Gerechtigkeit  war  die  weltliche.  Hing  ihr  vielleicht  der  Herr- 
scher, beeinflußt  durch  seine  Schwiegertochter,  im  Geheimen 
selbst  an  ?  Jedenfalls  widerstand  er  lange  allen  Aufforderungen 
zur  Verfolgung  der  jüdischen  Ketzerei;  ja,  er  machte  sogar 
den  Archimandriten  Soßima,  das  neue  Haupt  der  Häresie, 
zum  Erzbischof  und  später  zum  Metropoliten.  „Das  Kind  Satans 
sitzt  auf  dem  Throne  der  heiligen  Märtyrer  Peter  und  Alexej, 
der  raubende  Wolf  trägt  das  Gewand  des  friedlichen  Hirten, 
das  größte  Gefäß  des  Übels,  der  größte  Brand  des  Sodomiti- 
schen  Feuers,  die  himdertköpfige  Schlange,  die  Höllenspeise, 
der  verruchte  Soßima  ist  zur  erzbischöflichen  Würde  gelangt  1** 
also  jammert  der  heilige  Joseph  und  er  erzählt:  daß  Soßima 
öffentlich  behauptete,  Christus  hätte  sich  eigenmächtig  einen 
Sohn  Gottes  genannt ;  daß  er  femer  die  heilige  Mutter  Gottes 
lästerte,  das  heilige  Kreuz  an  unreine  Orte  setzte,  die  Heiligen- 
bilder, die  er  Blöcke  nannte,  verbrannte  und  folgendes  sprach : 
„Was  ist  das  himmlische  Reich?  Was  das  jüngste  Gericht? 
Was  die  Auferstehung  der  Toten  ?  Alles  dies  ist  Fabelei  I  Wer 
stirbt,  der  ist  tot  und  hört  auf  zu  sein  T*  Endlich  wagte  der  Erz- 
bischof Gennadij  von  Nowgorod  gegen  die  Ketzer  aufzutreten 
und  zu  verlangen,  daß  sie  verbrannt  werden  sollten.  Er  berief 
sich  dabei  auf  „Erzählungen  des  deutschen  Gesandten,  daß 
auch  der  spanische  König  Ferdinand  seine  Länder  durch  Auto- 
dafe von  Ketzern  reinige.**  Gennadij  und  Joseph  bestimmten 
den  Herrscher,  eine  Untersuchung  anzubefehlen ;  und  der  Fürst 
betraute  just  den  Metropoliten  Soßima  mit  der  Führung  dieser 
Untersuchung.  Soßima  konnte  nicht  verhindern,  daß  einige 
der  Angeklagten  verurteilt  wurden,  setzte  aber  eine  gelinde 
Bestrafung  durch:  Vier  der  Verurteilten  wurden  rücklings i) 
auf  Pferde  gesetzt,  in  Kleidern,  die  von  innen  nach  außen  ge- 
kehrt waren,  mit  spitzigen  birkenen  Teufelshelmen,  auf  denen 
Troddeln  aus  Stroh  befestigt  waren  und  die  Inschrift  prangte: 
„Dies  ist  das  Kriegsheer  des  Teufels.**.  So  führte  man  sie  in 
der  Stadt  herum;   den   ihnen  Begegnenden   befahl  man,   sie 


1)  ,, Damit  sie  nach  Westen  in  die  ihnen  bereitete  Hölle  sehen  sollten", 
sagt  der  heilige  Joseph, 

Stern,  Geschichte  der  offen tl.  Sittlichkeit  in  Rufiland.  12 


—    178    — 

anzuspeien  und  dabei  auszurufen :  „Dies  sind  die  Feinde  Gottes 
und  die  Lästerer  des  Christentums.**  Nachher  verbrannte  man 
die  Mützen.  Trotz  dieses  warnenden  Ereignisses  wagte  Soßima 
die  Ketzerei  weiter  zu  verbreiten  und  Schüler  um  sich  zu 
versammeln.  Mönche  und  Weltliche  stritten  öffentlich  auf 
den  Marktplätzen  über  die  Natur  des  Erlösers,  die  Dreieinig- 
keit, die  Heiligen  und  die  Heiligenbilder.  Soßima  begnügte 
sich  aber  nicht  damit,  sondern  verfolgte  nun  seinerseits  die 
Gegner  der  Sekte,  entsetzte  eifervolle  Priester  ihrer  Würden, 
tat  jene,  welche  die  Ketzer  schmähten,  in  den  Kirchenbann  und 
ließ  viele  ins  Gefängnis  werfen.  Zu  der  Unduldsamkeit  traten 
Habsucht  und  Plünderungen,  und  diese  Handlungen  waren  es, 
die  den  Sturz  des  Metropoliten  herbeiführten.  Der  Großfürst 
wollte  nicht  offen  zugestehen,  daß  der  höchste  Geistliche  des 
Reiches  als  Ketzer  entlarvt  worden,  und  er  verbannte  Soßima 
unter  diesem  Vorwande  ins  Kloster:  „weil  er  den  Wein  liebt 
und  nicht  für  die  Kirche  taugt.**  Nun  hatten  die  Eiferer 
freies  Spiel  und  verlangten  abermals  Hinrichtung  der  Ketzer. 
„Der  Großfürst  aber  hieß  den  heiligen  Joseph  schweigen," 
denn  die  Todesstrafe  sei  dem  Geiste  des  Christentums  zuwider. 
Schließlich  jedoch  mußte  Iwan  III.  nachgeben,  um  nicht  selbst 
in  den  Verdacht  der  Ketzerei  zu  geraten,  und  vom  Dezember 
des  Jahres  1503  an  begannen  endlich  zur  Freude  und  Er- 
hebung der  Frommen  die  Autodafd  auch  in  Rußland  aufzu- 
flammen. Den  bloß  Verdächtigen  schnitt  man  die  Zunge  aus, 
die  durch  die  Tortur  Überführten  aber  verbrannte  man  in 
Käfigen.  Die  jüdische  Ketzerei  galt  durch  diese  Verfolgungen 
in  den  Jahren  1503  und  1504  als  vernichtet.  Aber  die  Lust 
zu  Sonderbündeleien  war  nicht  erstickt.  Noch  im  sechzehnten 
Jahrhundert  fanden  die  Lehren  des  Matwej  Baschkin  und  Fo- 
dossij  Kossoj,  welche  die  Kirchendogmen  von  Jesus  Christus 
verwarfen,  zahlreiche  Anhänger.  Und  um  die  Mitte  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  tauchte  gar  die  alte  jüdische  Ketzerei 
urplötzlich  und  machtvoll  wieder  auf.  Im  Jahre  1738  wurde 
nämlich  der  Kapitän  Wosnitzin,  den  seine  Frau  beschuldigte, 
daß  er  vom  Juden  Baruch  zum  Judentum  bekehrt  worden,  samt 
seinem  Verführer  lebendig  verbrannt.  Nikolaj  I.  erwähnt  in 
seinen   Ukasen  gegen   das   Sektentum   mehrmals   eine   judai- 


k 


—    179    — 

sierende  Ketzerei,  und  seit  einem  halben  Jahrhundert  kennt 
man  die  weitverbreitete  Sekte  der  Ssubotniki;  man  muß  an- 
nehmen, daß  diese  eine  Fortsetzung  der  alten  jüdischen  Ketzerei 
sei.  Die  Ssubotniki  oder  Sabbatleute  i)  nennen  sich  auch  Jeho- 
visten.  Im  Oktober  1901  wurden  hunderte  Mitglieder  dieser 
Sekte  von  den  verschiedensten  russischen  Gouvemements- 
gerichten  zur  Verantwortung  gezogen.  Nach  den  Berichten 
russischer  Blätter  2)  ergaben  die  Gerichtsverhandlungen  fol- 
gende Aufklärungen:  Die  Sekte  wurde  vor  etwa  45  Jahren 
von  einem  Artillerieoffizier  Iljin  gegründet,  der  unter  seinen 
Untergebenen  in  naiver  Weise  europäisch-rationalistische  Ideen, 
gemischt  mit  heiligen  Sprüchen,  progagierte.  Die  dunklen 
Predigten  gefielen  dem  unwissenden  und  unterdrückten  Volke, 
so  daß  sie  den  Iljin  bald  mit  der  Aureole  eines  Propheten  um- 
gaben. Begeistert  von  seinen  Erfolgen  bildete  sich  der  Offizier 
in  maniakalischer  Weise  ein,  in  der  Tat  ein  Bote  Gottes  zu 
sein.  In  einer  seiner  viel  verbreiteten  Hauptschriften,  „Die  all- 
gemein menschliche  Wahrheit**  betitelt,  erklärt  er  dement- 
sprechend :  „So  verkündete  vor  mir  der  unsterblich  ewige  Jeho- 
va  siebenhundert  Jahre  vor  seiner  Menschwerdung  wie  folgt: 
Den,  der  aus  dem  Osten  kam,  werde  ich  nach  Norden  rufen, 
und  er  wird  allen  Völkern  meinen  Namen  und  die  allgemein- 
menschliche Wahrheit  verkünden.*'  Iljin  wurde  nach  dem 
SsolowezkijKloster  am  Ural,  einem  Verbannungsorte  für  Ver- 
brecher gegen  die  Kirche,  auf  zwanzig  Jahre  verbannt.  Hier 
lernte  er  mehrere  andere  Sektierer  kennen,  die  ihm  erzählten, 
daß  nach  einem  alten  Gerüchte  von  diesem  Kloster  aus  Wunder- 
taten verrichtet  werden  würden :  es  würde  eine  Hostie  er- 
scheinen, an  der  sich  Theologen  aller  Religionen,  und  mit  ihnen 
die  Lügner,  Schwätzer  und  Betrüger  aller  Art  verbluten  müßten. 
Iljin  erklärte  sofort  selbst  diese  Hostie  zu  sein  und  predigte 
mit  Fanatismus  seinen  Genossen  in  der  Verbannung  seine  neue 
Religion.  Der  Behörde  erklärte  er:  „Obwohl  man  mich  mit 
hundert  Augen  bewachte,  konnte  man  doch  nicht  den  Strahl 
der  Wahrheit  während  einer  Zeit  von  sieben  Jahren  verlöschen ; 


^)  Vom  russischen  Cy6oTa,  Sabbat. 

2)  Vgl.  Allgemeine  Zeitung,  6.  Okt.   1901. 

12' 


—    180    — 

denn  Gott  hat  mit  meiner  Hand  über  700  Bücher  geschrieben 
und  sie  durch  seine  heilige  Kraft  über  die  ganze  Erde  ver- 
breitet.**   Er  gab  an,  manche  dieser  Schriften  auch  an  Roth- 
schild geschickt  zu  haben  mit  der  Bitte,  ihm  zu  helfen,  die 
Juden  zu  Jehova  zurückzuleiten;  allein  der  Satansrabbi  Roth- 
schild wollte  davon  nichts  hören,   denn  er  ist  mit  Millionen 
von  Goldketten  an  den  Satan  gebunden.    Die  Lehre  Iljins  er- 
griff  die   Volksmassen   der   Uralgebiete   und   schuf,   wie  aus 
den  Prozessen  hervorging,  in  wenigen  Jahren  eine  geschickt 
organisierte  geheime  Macht.    Der  Inhalt  der  Iljinschen  Lehre 
läßt  sich  einigermaßen  also  erklären:  Bei  der  Schöpfung  des 
Sonnensystems  gab  es  nur  zwei  Wesen:  Jehova  und  Satan. 
Dementsprechend  teilen  sich  die  Menschen  in  zwei  Gruppen: 
in  die  der  Jchovisten  und  die  der  Satanisten.  Wenn  120  siebzig- 
jährige i)   Perioden  seit  der  Vertreibung  Adams  und  Evas  aus 
dem  Paradiese  verflossen  sein  werden,  wird  Jehova  den  Satan 
besiegen,   ihn  in  Fesseln   schlagen   und   eine  freie  glückliche 
Welt  mit  einem  einzigen  Glauben  unter  seiner  Alleinherrschaft 
in  Jerusalem  oder  in  der  Republik  Israels  auf  tausend  Jahre 
gründen.     Darauf  wird   Satan   wieder  frei   werden   und  viele 
Religionen  verbreiten,  aber  Jehova  wird  ihn  jetzt  völlig  ver- 
nichten, und  eine  neue  Erde  ohne  Ozeane  und  Meere  schaffen, 
die  viel  größer  sein  wird  als  die  jetzige,  und  wird  sich  auf  ihr 
auf  28000  Jahre  niederlassen.    Von  Zeit  zu  Zeit  wird  Jehova 
Reparaturen  an  der  Erde  vornehmen  und   sie  immer  besser 
machen,  bis  sie  den  Grad  der  höchsten,  von  dem  menschlichen 
Verstände  kaum  faßbaren  Vollkommenheit  erreicht  haben  wird. 
Sobald  dies  eingetreten,  werden  die  Menschen  auf  Erden  ewig 
leben.   —  Die  Anhänger  Iljins  halten  ihn  für  den  Propheten 
Elias,  der  vom  Himmel  auf  die  Erde  gekommen  ist.    Als  er 
ins  Kloster  eingesperrt  wurde,  beteten  sie:  „Wir  erflehen  von 
dir.  Allmächtiger,  die  Erlösung  des  Elias  aus  dem  Gefängnisse ; 
zerschmettere  den  steinfesten  Felsen,  in  dem  die  heilige  Nachti- 
gall eingekerkert  ist  T*   Nachdem  lljin  zwanzig  Jahre  im  Ssolo- 
wezkijkloster  zugebracht  hatte,  wurde  er  freigelassen,  und  seit- 


1)    In  dem   Berichte  über  die  Gerichtsverhandlungen  steht  irrtümlich: 
120  siebenjährige  Perioden. 


—    181    — 

her  blieb  er  in  Mitau.  Seine  Einkerkerung  erklärte  er  als 
das  Werk  Satans,  seine  Freiwerdung  als  einen  Sieg  über  Satan, 
und  als  er  das  Gefängnis  verließ,  begrüßte  er  seine  Anhänger 
mit  diesen  Worten :  „Ich  grüße  euch,  Brüder,  Schwestern  und 
Freunde,  in  euere  Arme  eile  ich  jetzt;  mit  uns  ist  der  König 
des  Ruhmes,  Jesus  der  Gott.  Er  zerstörte  die  Fesseln  und 
ließ  mich  das  Wort  der  Offenbarung  euch  verkünden,  das 
Geheimnis  der  Schlacht  erzählen,  die  listigen  Absichten  der 
Feinde  verraten.**  Aus  dem  Mitgeteilten  darf  man  mit  ziem- 
licher Sicherheit  auf  einen  Zusammenhang  mit  der  alten  jüdi- 
schen Ketzerei  schließen,  die  sich  also  trotz  der  Scheiterhaufen 
durch  vier  Jahrhunderte  erhalten  hat. 

Die  Scheiterhaufen  waren  während  dieser  Jahrhunderte 
eine  ständige  Erscheinung  in  dem  Kampfe  gegen  die  Sektie- 
rerei.  Aber  es  war  weniger  die  Geistlichkeit  als  die  Regierung, 
welche  die  Verfolgungen  und  Hinrichtungen  veranlaßte.  Die 
Autokratie  suchte  sich  unter  dem  Vorwande  des  religiösen 
Eifers  aller  ihrer  Gegner  zu  entledigen,  durch  die  Vernichtung 
der  Unzufriedenen,  durch  die  Massenmorde  im  Namen  Christi, 
der  Dreieinigkeit  und  der  Heüigen  die  unbeschränkte  Herr- 
schaft zu  sichern.  Nur  in  einem  einzigen  Falle  noch  könnte 
man  behaupten,  daß  die  Religion  die  Urheberin  eines  Autodafe 
war:  Es  geschah  zu  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  daß 
der  Mystiker  Kuhlmann  auf  Befehl  des  Patriarchen  Joachim  auf 
dem  roten  Platze  in  Moskau  verbrannt  wurde.  Dieser  Patriarch 
war  der  letzte  russische  Kirchenfürst,  der  noch  eine  Autorität 
ausübte.  In  seinem  Testament  forderte  dieser  Eiferer  den 
Zaren  auf,  in  der  Armee  keinem  Häretiker  ein  Kommando  an- 
zuvertrauen und  die  protestantischen  Kirchen  in  der  deutschen 
Slobada  zu  Moskau  zu  zerstören.^)  Die  Verbrennung  des  Qui- 
rinus  Kuhlmann  fällt  schon  in  die  Regierungszeit  Peters  des 
Großen,  und  das  Ereignis  verfehlte  nicht  in  Europa  Aufsehen 
zu  machen.  In  dem  zeitgenössischen  Buche  über  die  Religion 
der  Moskowiter 2)  wird  hierüber  berichtet:  Kuhlmann  aus  Schle- 
sien hatte  sich  zuerst   nach  Holland  begeben;  er  verteidigte 


^)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand  62. 
2)  Religion  der  Moskowiter  S.  26. 


—    182    — 

in  Leyden  die  Lehre  des  Schusters  Böhme  und  wurde  deshalb 
ausgewiesen.  In  England  erging  es  ihm  ebenso,  worauf  ihn 
sein  Schicksal  nach  Moskau  führte,  wo  er  bei  dem  deutschen 
Kaufmann  Nordermann  Aufnahme  fand:  „Dieser,"  heißt  es 
in  dem  erwähnten  Berichte  weiter,  „hatte  den  Kopff  allbereit 
mit  denen  ungereimtesten  Irrthümern  angefüllet  /  und  glaubete 
unter  andern  /  daß  JEsus  Christus  unser  Seeligmacher  noch  ein- 
mahl als  ein  großer  Prophet  auff  die  Erd  kommen  /  darauff  viel 
Wunder  thun  /  alle  Sünder  bekehren /und  sie  hernach  mit  sich 
in  sein  Himmelreich  einführen  solte.  Je  mehr  man  ihn  warnete  / 
je  hartnäckiger  bestand  er  auff  seinen  närrischen  Einbildun- 
gen /  biß  er  endlich  ein  kleines  Buch  /  so  er  in  Moscowiti- 
scher  Sprach  geschrieben  hatte  /  einem  Buchdrucker  brachte 
/  er  möchte  sein  Tractätlein  drucken.  Dieser  brachte  das 
Manuscriptum  dem  Patriarchen  /  welcher  /  da  ers  gelesen 
/  den  Nordermann  und  Kuhlmann  beym  Kopff  nehmen  / 
und  ins  Gefängniß  setzen  ließ.  Weil  sie  mit  Halsstarrigkeit 
ihre  Irrthümer  behaupten  wolten  /  wurden  sie  in  einer  Stube 
/  welche  die  Moscowiter  die  schwartze  Stube  nennen  / 
lebendig  verbrandt.**  Peter  der  Große  zog  es  im  allgemeinen 
vor,  die  Sektierer  durch  Verhöhnung  zu  bekämpfen;  er  zwang 
den  Altgläubigen,  die  den  Bart  nicht  opfern  wollten,  eine 
Barttaxe,  und  jenen,  die  ihre  alte  Tracht  beibehielten,  farbige 
Lappen  als  Abzeichen  ihrer  Sektiererei  auf;  aber  unter  Um- 
ständen machte  es  auch  ihm  Spaß,  einen  Ketzer  brennen  zu 
sehen:  Ein  gewisser  Toma  betrat  eines  Tages  in  Moskau  eine 
Kirche,  um  öffentlich  gegen  die  Verehrung  der  Heiligen  zu 
predigen.  Als  man  ihn  daran  hindern  wollte,  verließ  er  die 
Kirche,  kehrte  aber  bald  darauf  mit  einer  Hacke  zurück  imd 
zertrümmerte  die  Bilder  der  heiligen  Jimgfrau  und  des  heiligen 
Alexej.  Peter  diktierte  dem  Bilderfeinde  den  Scheiterhaufen. 
Toma  vernahm  sein  Urteil  mit  Ruhe,  streckte  selbst  seine 
Hand  ins  Feuer  und  ließ  sie  verkohlen,  während  sein  Mund 
gegen  die  Popen  und  die  Mißbräuche  in  der  Kirche  donnerte.^) 
—  Die  Zarin  Anna  Iwanowna  wütete  mit  Knute  und  Schwert 
gegen  Ketzer  und  Proselyten.     In  Moskau  entdeckte  man  im 


1)  Chantrcau,  Voyage  en  Russie,  Paris   1794,  pag.   179. 


—    183    — 

Jahre  1733  heimliche  Versammlungen  von  Frauen,  die  einer 
Sekte  angehörten,  welche  ihren  Kultus  durch  wilde  Drehtänze 
feierte.  Wenn  die  Orgien  den  höchsten  Punkt  erreicht  hatten, 
verkündigten  die  Prophetinnen  der  Sekte  die  Ankunft  des 
heiligen  Geistes. i)  Auch  andere  seltsame  Sekten  verbreiteten 
sich  damals  im  Reiche.  Der  Minister  Ostermann  glaubte  die 
Sektiererei  einzudämmen,  indem  er  zwar  einige  strenge  Maß- 
regeln vorschlug,  die  sich  aber  im  Rahmen  der  Menschlich- 
keit bewegten :  die  Abtrünnigen  sollten  doppelte  Taxen  zahlen ; 
die  Kinder  der  Sektierer  wurden  zwangsweise  getauft;  den 
Proselyten  drohten  Zwangsarbeiten ;  und  endlich  sollte  die  Auf- 
sicht der  Kirche  auch  über  Sibirien,  wohin  sich  viele  Sektierer 
geflüchtet  hatten,  ausgedehnt  werden.^)  Aber  der  Heilige 
Synod  verlangte  auf  Vorschlag  des  berühmten  Erzbischofs 
Feofan  Prokopowitsch  vom  Senate  die  Anordnung  der  Todes- 
strafe für  Ketzer  und  Proselyten ;  er  rief  in  Erinnerung,  daß  der 
ekklesiastische  Kodex  3)  die  Ketzer  und  Glaubensverräter  leben- 
dig zu  verbrennen  befahl.  Der  Eifer  richtete  sich  auch  gegen 
Tote.  Auf  Wunsch  desselben  Feofan  Prokopowitsch  veranlaßte 
der  Senat  die  Ausgrabung  der  Leichen  zweier  Ketzer,  Lupkin 
und  Ssußlow,  die  in  einem  Moskauer  Kloster  begraben  waren, 
und  die  Vernichtung  der  vorgefundenen  Überreste  dieser  Ver- 
fluchten, über  deren  Bedeutung  für  das  Sektenwesen  in  Ruß- 
land später  an  einigen  Stellen  noch  die  Rede  sein  wird.  Erst 
Alexander  I.  wagte  Milde  gegen  die  Sektierer  zu  üben.  „Die 
Vernunft  und  die  Erfahrung,**  erklärte  er  in  einem  Ukas, 
„haben  längst  bewiesen,  daß  die  geistigen  Irrtümer  eines  Volkes 
durch  Wortstreit  und  angeordnete  Ermahnungen  nur  noch 
tiefer  eingebohrt  werden  und  allein  durch  Außerachtlassen, 
gutes  Beispiel  und  Duldsamkeit  beseitigt  werden  können.** 
Alexanders  Bruder  und  Nachfolger  Nikolaj  I.  verfolgte  wieder 
die  Politik  der  Grausamkeit.  Folgende  sind  die  von  Nikolaj 
gegebenen  Gesetze*)  gegen  die  Sektiererei  und  Ketzerei:  Wer 
die  ketzerischen  und  schismatischen  Lehren  derer  verbreitet, 


1)  CoJiOBbeBTb,  HcTopiH  PocciÄ,  XX  307. 

2)  Waliszewski,  L'h6ritage  de  Pierre  le  Grand  217. 

3)  CoöopHoe  y.iOHceHie. 

*)  Strafgesetzbuch  1845,  {{  206 — 207. 


—     184    — 

die  von  der  rechtgläubigen  Kirche  abgefallen  sind,  oder  eine 
neue,  der  Religion  schädliche  Sekte  stiftet,  hat  den  Verlust 
aller  Standesrechte  und  Verbannung  auf  Ansiedelung  zu  ge- 
wärtigen. Dieselben  Strafen  treffen  den  Sektierer,  der  sich 
in  fanatischer  Verblendung  unterfängt,  die  rechtgläubige  Kirche 
oder  deren  Geistlichkeit  zu  schmähen.  —  Statt  der  Ansiede- 
lung kann  die  Strafe  in  Militärdienst  bestehen;  die  Bestraften 
können,  so  lange  sie  nicht  zur  rechtgläubigen  Kirche  zurück- 
kehren, weder  Abschied  noch  Urlaub  erhalten  (also  Verur- 
teilung zu  ewigem  Militärdienst  in  Reih  und  Glied  I).  —  Wenn 
ein  Anhänger  einer  für  schädlich  erklärten  Sekte  (wie  die 
Duchoborzen,  Ikonoborzen,  Malakaner,  Judaisierenden,  Ver- 
schnittenen) seinen  Irrglauben  anderen  Personen  initteUt:  so 
hat  er  den  Verlust  aller  Standesrechte  und  Verbannung  zu 
gewärtigen;  an  dem  Verbannungsort  muß  er  sich,  von  den 
anderen  Kolonisten  und  Einwohnern  der  Gegend  abgesondert 
ansiedeln.  Wenn  Eltern  oder  Erzieher  es  zulassen,  daß  ihre 
nünderjährigen  christlichen  Kinder  oder  Pflegebefohlenen  reli- 
giöse  Handlungen  nach  jüdischem  oder  ketzerischem  Ritual 
verrichten  oder  an  solchen  Handlungen  teilnehmen,  so  werden 
sie  ebenso,  als  hätten  sie  einen  Volljährigen  zum  Schisma  ver- 
leitet, bestraft.  Die  Minderjährigen,  welche  solche  Gebräuche 
verrichten,  werden  wenn  sie  dazu  tauglich  sind,  zum  Militär- 
dienst, falls  sie  dazu  untauglich  sind,  an  die  Kronfabriken 
abgeliefert.  Wenn  die  Verbreitung  einer  Ketzerei  und  Sekte 
von  Gewalttätigkeiten  und  anderen  erschwerenden  Umständen 
begleitet  war:  so  trifft  den  Schuldigen  die  Strafe  von  12  bis 
15  Jahren  Arbeit  in  den  Bergwerken  und  70 — 80  Peitschen- 
hieben. Der  Sektierer,  der  in  fanatischer  Verblendung,  wenn- 
gleich ohne  Gewalt  anzuwenden,  einen  anderen  verschneidet, 
erhält  4 — 6  Jahre  Arbeit  in  Fabriken,  40—^50  Peitschenhiebe. 
Wer  sich  selbst  verschneidet,  verliert  die  Standesrechte  und 
wird  auf  Ansiedelung  verwiesen.  Solche  Sektierer,  deren 
Ketzerei  mit  einer  wütigen,  gegen  das  eigene  oder  fremde 
Leben  gerichteten  Zerstörungssucht,  oder  mit  unsittlichen 
scheußlichen  Gebräuchen  verbunden  ist,  werden,  auch  wenn  sie 
keinen  Rechtgläubigen  verführt  haben,  verbannt.  Wer  auf 
Antrieb  eines  solchen  Fanatismus  einen  Menschen  tötet,  wird 


DIMITRIVANOWICWI  ELK  I  CA  R.Z  MOSKI  ET  SK  1 


ZapoorPiKni  jm   l(i^l\äiqTc 

tT  PiiwBt  pt  Ji  rr jTfflt«  pj-i«  »  ejit 

neaut/ pViimt  giomili  t1l«(ie( 
i*«  pPLurfiBOii  frwijpnaiw 
aili  tniHr  tn«lh(<i|ti(  /  uiuil 

[iCnAdviitli.  KToicBBOii  jJb  na 

pmipifiiMliBsMIinM/liMi  mDpolil 

cllknd  paiift<»>>>i>«ii(powß 
«!J<«n.fit  pina  »oja  nJ  pjiini 
]k  iKcBlsgsfKlnllo/  bjtna|hi 


.Lt)Io|fic(;sSs[itj«n>T<'"l>"ii 

uOmttiBfliDf  poriiS«i«/Hii> 
r  j'T)»<dil)enii  T)tYii<ni IIS*. 

Mlffebd/Ciniiiiii  ^isrinODlii/i* 
Ipiüii  pTjDniili/ir  pTJiu'iriUl.  IMV 


Der  falsche  Dmitrij. 

IcidiKLiliges   [lolnischos   Kliinblatt   iu   h 


—    186    — 

als  Mörder  bestraft  (12 — 15  Jahre  Zwangsarbeit,  70 — 80  Peit- 
schenhiebe). Ein  Ketzer  oder  Sektierer,  der  zur  rechtgläubigen 
Kirche  zurückkehrt  und  demzufolge  aus  dem  Verbannungsorte 
entlassen  worden  ist,  wird  im  Rückfalle  zu  ewiger  Verbannung 
in  die  entferntesten  Gegenden  Sibiriens  verwiesen.  Wer  Ein- 
siedeleien für  Schismatiker  anlegt,  erhält  i — 2  Jahre  Gefäng- 
nis. Wenn  ein  Jude  aus  einem  Orte,  wo  die  sogenannte  jüdische 
Ketzerei  besteht,  ausgewiesen  worden  ist  und  dahin  eigen- 
mächtig zurückkehrt,  so  erhält  er  20  bis  40  Rutenstreiche  und 
wird  unter  das  Militär  abgegeben,  um  als  Gemeiner  ohne  Aus- 
sicht auf  Beförderung  noch  Verabschiedung  zu  dienen,  oder, 
falls  er  dazu  untauglich  ist,  zur  Ansiedelung  jenseits  des  Kau- 
kasus verwiesen. 

Unter  Alexander  IL  'siegte  abermals  die  mildere  Auf- 
fassung; Alexander  III.  verfuhr  wie  Nikolaj  I.,  und  Nikolaj  IL 
übertrifft  in  der  Strenge  gegenüber  den  Sekten  seinen  Vater 
und  Urgroßvater,  entsprechend  dem  Worte  des  nationalisti- 
schen Fanatikers  Akßakow:  „Polizei  und  Gendarmen  müssen 
die  Wächter  russischer  Seelenrettung  sein.**  Synod  und  Geist- 
lichkeit sind  allerdings  mit  Polizei  und  Gendarmen  nicht  zu- 
frieden, und  wir  werden  gleich  sehen  aus  welchen  Gründen: 
Vor  einigen  Jahren  fand  in  Kasanj  ein  orthodoxer  Missions- 
kongreß statt;  auf  Grund  der  dort  gefaßten  Beschlüsse  stellte 
der  heilige  Synod  neue  Regeln  für  die  Methode  der  Bekämpfung 
des  Raßkol  und  des  Sektentums  auf.  Die  Veranlassung  zu 
diesen  neuen  Regeln  sah  der  heilige  Synod  darin,  daß  die 
Zivilgewalt  noch  zu  milde  vorgehe.  Die  Polizei  erhält  früher 
als  die  Eparchialobrigkeit  Kunde  von  dem  Auftauchen  der 
Sekten,  und  „diese  Praxis  bringt  mehr  Schaden  als  Nutzen.** 
Bei  der  Anstrengung  von  Prozessen  gegen  die  Sektierer  müsse 
vorsichtiger  zu  Werke  geschritten  werden.  „Es  ist  nämlich 
nicht  unbekannt,'*  klagte  das  Organ  des  heiligen  Synod,  „daß 
die  vom  geistlichen  Ressort  in  den  Gerichtsinstanzen  an- 
gestrengten Prozesse  gegen  Sektierer  und  Altgläubige  von  den 
Untersuchungsrichtern  niedergeschlagen  und  vom  Senat  kas- 
siert werden,  oder  aber  aus  irgend  einem  Grunde  mit  der 
Freisprechung  der  Angeklagten  endigen.  Ein  solcher  imer- 
wünschter  Ausgang  der  Sektiererprozesse  hängt  von  verschie- 


—    186    — 

denen  Gründen  ab :  von  der  unbestimmten  Fassung  der  Gesetze, 
von  dem  Charakter  der  Verbrechen,  die  sich  schwer  eruieren 
und  durch  Zeugenaussagen  selten  feststellen  lassen,  von  den 
subjektiven  Glaubensanschauungen  und  Glaubensbeziehungen 
der  Richter.**  Weshalb  sich  „Missionerskoje  Obosrenije**,  das 
Organ  des  Synod,  zu  einer  derartigen  Verdächtigung  der  Rich- 
ter versteigt,  ist  verständlich :  „Solch  für  die  Sektierer  und  Alt- 
gläubigen günstiger  Ausgang  der  Prozesse  wirkt  sehr  schlecht, 
sehr  aufreizend  auf  die  Masse  der  Sektierer,  die  die  Resultate 
als  einen  Schutz  auslegt,  den  ihnen  die  Zivilgewalt,  ja  das  Gesetz 
selbst  gewährt.  Statt  der  erwarteten  Unterdrückung  der  Irr- 
lehren ergeben  sich  erhöhte  Gärung  und  Erbitterung  gegen 
die  Geistlichkeit.  Leider  herrscht  in  dieser  Beziehung  auch 
unter  der  Ortsgeistlichkeit  in  hohem  Maße  die  Tendenz,  vor 
allem  durch  polizeiliche  und  richterliche  Maßregeln  auf  die 
Sektierer  und  Altgläubigen  zu  wirken,  was  dem  Geiste  unserer 
Mission  vollkommen  widerspricht.  Polizeimaßregeln  sind  nicht 
unsere  Maßregeln,  so  lautet  der  klassische  Ausspruch  des  Metro- 
politen Georgij." 

Diese  Furcht  vor  der  Polizei  hat  ihre  gute  Ursache.  Nicht 
die  Geistlichkeit,  sondern  Gericht  und  Polizei  bestinunen,  ob 
eine  Sekte  in  Rußland  gemeingefährlich  sei  oder  nicht.  Diese 
Bestimmung  aber  hängt  ganz  vom  Rubel  ab,  der  Willkür  ist 
freier  Spielraum  .gewährt,  und  wo  Willkür  herrscht,  gedeiht 
auch  die  Bestechlichkeit,  das  Gesetz  wird  zum  schlaffen  Seile : 
die  Großen  können  darüber  hinwegspringen,  die  Kleinen  unten 
durchkriechen,  und  wen  Polizei  und  Gericht  entschlüpfen 
lassen,  dem  läuft  der  eifernde  Klerus  vergebens  nach.  Man 
beschränkt  die  bürgerlichen  und  religiösen  Freiheiten  der  Sek- 
tierer, man  gibt  ihnen  keine  Ämter  in  den  Gemeinden  und  im 
Staate,  man  entzieht  ihnen  das  Recht,  bei  Gericht  gegen  Recht- 
gläubige auszusagen,  man  verbietet  ihnen  das  Reisen  ins  Aus- 
land, man  duldet  keine  corjiacie  oder  oömecTBO,  keine  Ver- 
einigung oder  Gesellschaft,  man  schließt  jede  cketT)  oder 
Ketzer-Einsiedelei.  •  Aber  alle  diese  Maßregeln  gelten  nur,  so 
lange  der  Rubel  nicht  rollt.  Das  klingende  Gold  macht  Tschi- 
nownik  und  Urjadnik  taub,  sie  hören  nicht  mehr  den  Ruf 
nach  Härte  und  Strenge  und  bekehren  sich  zum  Satze  Alexan- 


—    187    — 

ders  I.;  „Geziemt  es  einer  Regierung  die  verirrten  Kinder 
der  Kirche  durch  Heftigkeit  und  Grausamkeit  in  den  Schoß 
der  Orthodoxie  zurückzuzwingen  ?** 

Vergebens  sind  hunderte  Gesetze  gegen  das  Sektenwesen 
geschaffen  worden.  Vergebens  hat  Nikolaj  IL  den  zahllosen 
alten  Gesetzen  neue  eigener  Erfindung  hinzugefügt  und  be- 
fohlen: daß  die  Altgläubigen  keinen  Gottesdienst  abhalten 
dürfen;  daß  ihre  Missionäre  nicht  predigen  sollen;  daß  ihre 
Geistlichen  sich  nirgends  öffentlich  in  ihrer  Tracht  sehen  lassen ; 
daß  niemand  die  orthodoxe  Kirche  einer  Kritik  zu  unterziehen 
wage.  Das  Sekten wesen  war  nicht  zerstörbar,  so  lange  die 
Autokratie  unantastbar  auf  ihrem  Götzenthrone  saß;  es  wird 
jetzt  noch  weniger  als  je  ausgerottet  werden  können,  da  es, 
ein  Geschöpf  des  Chaos  unter  den  ersten  Romanows,  heute 
unerschöpfliche  Nahrung  im  neuen  Chaos  unter  dem  vielleicht 
letzten  herrschenden  Romanow  findet.  Geboren  von  der  Ver- 
wirrung, gesäugt  und  großgezogen  von  der  wildesten  Sitten- 
losigkeit,  die  je  in  einem  Reiche  geherrscht  hat,  bleibt  es  im 
Feuerregen  der  platzenden  Bomben,  in  dem  stürzenden  Bau 
des  russischen  Sodom  allein  aufrecht  als  das  furchtbarste  Denk- 
mal dieser  barbarischen  Tyrannendynastie,  dieses  kulturlosen 
Reiches,  dieses  sklavischen  Volkes,  dieser  sittenlosen  Kirche. 
Wenn  wir  von  den  alten  Häresien  absehen,  so  erscheint  das 
ganze  russische  Sektenwesen  seit  mehr  denn  zweihundert  Jahren 
als  die  Folge  der  politisch-religiösen  Wirren  unter  den  ersten 
Romanows;  anfänglich  nur  von  religiöser  und  politischer  Be- 
deutung, ist  der  Raßkol  in  seiner  abschüssigen  Entwicklung 
eine  rein  soziale  und  sittliche  Erscheinung  geworden,  ein 
Spiegelbild  aller  bösen  moralischen  Instinkte  des  Reiches  und 
Volkes. 

Die  Entstehimg  des  großen  Raßkol,  der  Sekte  der  Alt- 
gläubigen, wird  im  allgemeinen  den  Meinungsverschiedenheiten 
bei  der  Interpretation  der  Dogmen,  der  Revision  der  liturgi- 
schen Bücher  durch  den  Patriarchen  Nikon  zugeschrieben. 
Würde  dies  der  einzige  Grund  sein,  so  hätte  der  Raßkol  schon 
viel  früher  sein  Haupt  erheben  müssen.  Denn  bereits  im  Jahre 
1470  berichten  die  russischen  Chronisten  das  Entsetzliche:  ,/daß 
in  dem  Winter  dieses  Jahres  einige  Philosophen  anfingen  zu 


—    188    — 

sagen:  „O  Herr,  erbarme  dich  unser!**  statt:  „Herr,  erbarme 
dich  unser  I**  Um  dem  abscheulichen  Greuel  ein  Ende  zu 
machen  und  die  richtige  Leseart  des  Ausrufs  festzustellen, 
berief  der  Zar  einen  gelehrten  Mönch  vom  Berge  Athos,  den 
Griechen  Maxim  i),  und  übertrug  ihm  die  Aufgabe  der  Reini- 
gung des  Textes  in  den  Manuskripten.^)  Ein  Schreiber,  der  die 
korrigierten  Texte  zu  kopieren  hatte,  notierte  in  seinen  Denk- 
würdigkeiten:  „Als  mir  von  dem  Griechen  der  Befehl  erteilt 
wurde,  die  falschen  Wendungen  und  Ausdrücke  unserer  alt- 
ehrwürdigen Meß-  und  Gesangbücher  zu  tilgen,  ergriff  mich 
ein  heiliger  Schauer,  eine  entsetzliche  unerklärliche  Furcht  I** 
Diese  Furcht  war  verständlich.  Für  das  rohe  russische  Volk, 
das  im  Scheine  des  Christentums  seine  alten  heidnischen  Götter 
ehrte,  vom  Wesen  des  Christentums  nichts  erfaßt  hatte,  war 
nur  das  Äußere  von  wahrem  Werte.  In  den  altehrwürdigen 
Wendimgen  und  Ausdrücken  der  Meß-  und  Gesangbücher  sah 
es  gleichsam  nur  die  uralten  Beschwörungsformeln  wieder; 
und  man  weiß,  daß  der  Aberglaube  Zauberformeln  nur  dann 
eine  Wirkung  zuschreibt,  wenn  sie  selbst  im  Sinnlosesten  einen 
verborgenen  Sinn  vermuten  lassen,  und  an  den  Ausdrücken 
und  Zeichen  nicht  im  geringsten  gerüttelt  wird.  Eine  Korrektur 
in  der  Reihenfolge  der  Worte,  eine  Abweichung  in  irgend 
einer  der  Zeremonien:  und  der  Zauber  ist  unwirksam.  Die 
Änderungen  Maxims  verursachten  also  natürliche  Aufregung, 
aber  zu  Aufruhr  oder  Kirchenspaltung  kam  es  damals  trotz- 
dem nicht.  Das  Volk  begnügte  sich  damit,  daß  man  ihm 
den  kühnen  Griechen  zum  Opfer  brachte,  den  Verbesserer 
als  Verderber  der  Kirchentexte  für  Lebenszeit  in  ein  klöster- 
liches Gefängnis  sperrte.  Durch  ein  Jahrhundert  wurden 
mehrere  neue  schüchterne  Versuche  unternommen;  und  die, 
welche  den  Reformen  gegenüber  Widerspenstigkeit  bewiesen, 
wurden  mit  dem  Kirchenbann  belegt  und  mit  der  Knute  be- 
arbeitet. Es  fanden  sich  daher  nur  wenige,  welche  offen  ihre 
Unzufriedenheit  zu  äußern   wagten.     Im  geheimen  gärte  in- 


1)  Kostomarow  hat  in  seinen  (nur  in  russischer  Sprache  vorhandenen) 
„Biographieen"  dem  Mönch  Maxim  ein  schönes  Denkmal  gesetzt. 

•)  Bernhard  Stern,  Aus  dem  modernen  Rußland,  102.  —  Leroy-Beaulieu 
III  315  ff.  —  Le  Raskol.  —  Hellwald  a.  a.  O. 


—    189    — 

dessen  ein  furchtbarer  Aufruhr  der  Gemüter,  und  es  bedurfte 
nur  des  zündenden  Anlasses  zum  Aufflammen  des  Brandes. 
Diesen  Anlaß  gab  das  energische  Auftreten  des  Patriarchen 
Nikon  ^),  der  das  Reformwerk  unter  dem  Zaren  Alexej  zu 
Ende  führte.  Aber  sein  Triumph  war  ein  Pyrrhussieg  ohne- 
gleichen. 3eine  Verbesserungen  wurden  vom  Kirchenkonzil 
angenommen,  er  selbst  aber  gestürzt  und  eingekerkert.  Ein 
Bild  echt  russischer  Sitte  und  Moral!  Während  die  Reform 
triumphiert,  verschmachtet  der  Reformator  hinter  Gefängnis- 
mauern. Mit  Nikon  ging  der  hohe  Klerus,  gegen  Nikon  standen 
der  niedere  Klerus  und  das  Volk,  aber  auch  die  Beamten- 
schaft und  der  Adel.  Denn  der  Patriarch  wollte  nicht  bloß 
die  Kirche,  sondern  auch  die  Verwaltung  reinigen  von  den 
Irrtümern  und  Fehlern,  an  Stelle  der  Raubsucht  und  der  Will- 
kür die  Ehrlichkeit  und  die  Gerechtigkeit  setzen.  Zwanzig 
Jahre  lang  dauerte  dieser  Kampf  zwischen  Patriarchat  und 
Bojarentum;  jede  der  beiden  Parteien  nannte  sich  die  für 
die  Rechtgläubigkeit  streitende,  und  endlich  im  Jahre  1666 
ergab  sich  das  merkwürdige  Resultat,  das  wir  schon  erwähnt 
haben:  Nikons  Reformen  wurden  gutgeheißen,  Nikon  selbst 
aber  dem  Hasse  des  Adels  und  Volkes  zum  Opfer  gebracht. 
Dieses  unsinnige  und  unmoralische  System,  welches  das  Recht 
bestrafte  und  die  Falschheit  belohnte,  mußte  die  Sittlichkeits- 
begriffe des  Volkes  vollkommen  verwirren.  In  dem  Siege 
der  Nikonschen  Reformen  sah  man  den  Triumph  eines 
römischen  und  protestantischen  Machwerkes,  in  der  Einkerke- 
rung Nikons  den  Triumph  des  gerechten  Gottes  über  den  schon 


1)  Nicolas  de  Gerebtzoff,  Essai  sur  Thistoire  de  la  Civilisation  en  Russie,  II. 
—  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.  III  318.  —  Aus  den  zahlreichen  russischen  Arbeiten 
über  Nikon  erwähne  ich  das  schöne  Werk  des  Metropoliten  Makarij,  die  Skizze 
von  Alexej  Ssuworin  in  seinem  Buche  über  hervorragende  russische  Männer, 
die  kulturhistorischen  Novellen  und  einen  Roman  von  D.  L.  Mordowzew,  endlich 
Schuscherins  ältere  Schrift,  die  1788  in  Riga  auch  in  deutscher  Übersetzung 
erschien.  —  Vgl.  Bernhard  Stern,  Aus  dem  modernen  Rußland,  103.  —  Nikon 
war  zweifellos  ein  genialer  Mann,  und  nicht  an  ihm,  sondern  an  dem  unglück- 
seligen Charakter  des  Volkes  und  an  den  unveränderlichen  eigentümlichen 
Zuständen  dieses  Reiches  lag  es,  daß  er  für  Rußland  nicht  Schöpfer  von  Freiheit, 
Fortschritt  und  Wohlfahrt  wurde. 


—     190    — 

siegenden  Antichrist. i)  Als  im  Volke  auf  Grund  dieser  An- 
schauung die  konsequente  Folgerung  zur  Geltung  gelangte, 
daß  die  Taten  des  Antichrist  nicht  befolgt  werden  dürften; 
als  sich  in  weiterer  Folge  eine  große  Kirchenspaltung  ergab 
—  da  brachte  es  die  merkwürdige  Logik  der  führenden  Geister 
dahin,  folgenden  Beschluß  zu  verkündigen:  die  Nikonsche 
Reform  ist  verdammenswert,  aber  gültig;  und  verdammt  als 
Feinde  der  Rechtgläubigkeit  sind  jene,  welche  die  Gültigkeit 
der  neuen  Kirchenordnung  nicht  anerkennen.  Bannstrahl  und 
Verfolgung  aber  vernichteten  nicht  das  „Unkraut  Satans**,  das 
winkende  Martyrium  schuf  den  Raßkol,  der  dem  Volke  im 
Glänze  eines  Verteidigers  der  uralten  Formen,  Traditionen, 
Sitten  und  Gebräuche  erschien.  Peters  des  Großen  barbarische 
Europäisierungsmethode  war  neue  Nahrung  für  die  Alt- 
gläubigen. Zu  den  religiösen  Motiven  der  Unzufriedenheit 
traten  politische,  soziale  imd  sittliche  Momente.  Peter  der 
Große  konnte  dem  rohen  Russen  als  die  wahre  Inkarnation 

• 

des  Antichrist  gelten,  als  der  Herr  der  Hölle,  als  der  Voll- 
strecker satanischer  Gesetze.^)  Sein  ganzes  Wesen  und  Leben 
war  geeignet,  dem  einfachen  Volke  als  ein  Spiegelbild  der 
Hölle  zu  erscheinen.  Seine  und  seiner  Umgebung  Sittenlosig- 
keit  überschritt  alles  Maß.  Man  sah  wie  Peter  brutal  die 
Moralgesetze  verhöhnte,  in  den  gemeinsten  Ausschweifungen 


^)  Kabbalistische  Klügelei  sieht  in  der  2^hl  666  ein  teufliches  Zeichen, 
und  Nikon,  im  Jahre  1666  gestürzt,  wurde  auf  mühsamem  Umwege  also  zum 
Antichrist  gestempelt. 

2)  Auch  hier  ergab  die  Kabbala  durch  Herbeizwingung  der  Zahl  666  das 
untrügliche  Satanszeichen.  Jeder  Buchstabe  hat  im  Slawomschen,  wie  auch 
in  verschiedenen  anderen  Sprachen,  Bedeutung  als  Ziffer.  Mit  einigen  kleinen 
Änderungen  ergibt  Peter  der  Erste  666,  die  teuflische  Zahl.  Aus  dem  verhaßten 
Titel  ÜMneparopi,  den  Peter  statt  des  IXapb-Titels  annahm,  war  666  herausge- 
bracht; man  brauchte  nur  das  m  fortzulassen,  so  erhielt  man  666  (h  ig,  n  80, 
e  5,  p  100,  a  I,  T  300.  0  70,  p  100);  M  bedeutet  40,  dies  hätte  einen  Strich  durch 
die  Rechnung  gemacht  und  wurde  deshalb  geopfert,  mit  der  Motivirung :  der 
Antichrist  habe  schlauer  Weise  diesen  Buchstaben  hineingeschmuggelt,  um  sich 
nicht  fangen  zu  lassen.  Die  Zahl  666  fanden  die  Sektierer  später  bei  allen 
sektenfeindlichen  Herrschern  und  Herrscherinnen  heraus:  Katharina  II., 
Paul  I.  und  Nikolaj  I.  ergeben  nach  Sektiererberechnung  666,  wogegen  diese 
Zahl  bei  den  sektenfreundlichen  Alexander  I.  und  II.  in  keinem  Falle  soll 
herausgebracht  werden  können. 


~     191     — 

öffentlich  schwelgte,  wie  er  seine  Gattin  verstieß  und  allen 
Gesetzen  zum  Trotze  bei  ihren  Lebzeiten  eine  gemeine  Hure 
zur  Kaiserin  erhob,  wie  er  selbst  dieser  Dirne  zuliebe  seinen 
leiblichen  Sohn  Alexej  ermordete.  Auch  war  er  vom  Satan 
gezeichnet,  da  er  trotz  seiner  riesenhaften  Gesundheit  stets 
krampfhaften  Zuckungen  erlag,  die  bei  allen  Abergläubischen 
als  Zeichen  einer  heimlichen  Verbindung  des  Leidenden  mit 
dem  Teufel  gelten.  Dieses  Gefäß  der  Sünde,  dieser  grimmige 
Werwolf  war  nicht  der  weiße  Zar,  sondern  ein  Usurpator; 
war  auch  nicht  ein  Zarenkind,  sondern  ein  Wechselbalg,  er- 
zeugt aus  einem  unreinen  verbrecherischen  Geschlechtsakte 
des  Antichrist  Nikon  mit  einer  Teufelin.  Andere  wollten  wissen, 
daß  der  wahre  Zarensohn  Peter  Alexejewitsch  bei  einer  Meer- 
fahrt verunglückte  imd  daß  der  Teufel  an  Stelle  des  Er- 
trunkenen einen  Juden  vom  Stamme  Dan  untergeschoben  habe, 
der  dann  im  Auftrage  Satans  die  Zarin  Jewdokia  ins  Kloster 
verbannte,  den  Prinzen  Alexej  tötete,  die  deutsche  Hure  Ka- 
tharina heiratete  und  Rußland  unter  das  Joch  von  Ausländem 
z;wang.  Nur  der  Hülfe  des  Teufels  konnte  es  ja  Peter  ver- 
danken, daß  ihn  die  schwersten  Niederlagen  nicht  zerschmet- 
terten, daß  er  bei  Poltawa  den  Türken  entrann,  daß  er  zum 
Schlüsse  so  unmögliche  Siege  erfocht.  So  entwickelte  sich  der 
Widerstand  gegen  die  kirchlichen  formalen  Neuerungen  zu 
einer  Opposition  auf  allen  Gebieten  des  russischen  Lebens, 
und  die  Altgläubigen  klammerten  sich  nicht  bloß  an  die  alten 
Riten,  sondern  auch  an  die  alten  sla wonischen  Lettern  i),  an 


1)  Sie  wurden  deshalb  die  gewissenhaften  Hüter  der  lyrischen  und  epischen 
Schätze,  die  sorgsamen  Bewahrer  der  Romanzen  und  Heldenlieder.  Melj- 
nikow-Petscherskij  fand  bei  ihnen  ein  Lied  zur  Feier  des  Frühlingsfestes,  das 
deutlichen  Anklang  an  altslawische  Poesie  verrät,  und  Rybnikow  und  Hilfer- 
ding sammelten  den  größten  Teil  der  von  ihnen  herausgegebenen  Bylinen  ekler 
Heldenlieder  bei  den  Rhapsoden  der  Raßkoljniki  in  den  Gouvernements 
Olonez  und  Tschemigow.  Die  Berichte  dieser  Literaturforscher  sind  auch  für 
die  Sittengeschichte  von  großem  Interesse.  Bei  der  Bevölkerung,  die  dort 
großenteils  aus  Altgläubigen  besteht,  haben  sich  die  alten  Trachten,  Gebräuche, 
Sagen,  Lieder  und  Aberglauben  ganz  unverändert  erhalten.  Vgl.  IltcHH 
coöpaHHfaifl  n.  H.  PuÖHHKOBUirb,  1861 — 1867.  —  OHoaccidfl  ÖbUHHLi,  saimeaHHiiifl 
A;ieKcaH;q>oirb  GeoAopoBHHoin>  rHJu4>epAHHroin>  jt^tomi»  1871  ro^a.  C-üerep^ypTB 
1873. 


—    192    — 

die  alten  Trachten,  an  den  langen  Bart^),  an  die  unveränder- 
lichen Gebräuche  im  Privatleben,  und  in  Konsequenz  alles 
dessen  verabscheut  man  alles  neue  nicht  bloß  in  Religion, 
sondern  in  jeder  Beziehung  bis  hinab  zu  den  Speisen  und 
Getränken.2)  Indem  nicht  bloß  die  Kirche  durch  ihre  Mittel 
die  Sektierer  zur  Orthodoxie  zurückzuführen  trachtete,  sondern 
auch  die  Regierung  mit  ihrem  Drakonismus  gegen  die  harm- 
lose Anhänglichkeit  der  Raßkoljniki  an  den  alten  Sitten  auf- 
trat, wurde  der  trotzige  Widerstand  gegen  die  Kirche  wie 
gegen  den  Staat  hervorgerufen,  und  der  Raßkol  zu  einem 
Feinde  der  Kirche  wie  des  Staates  gewaltsam  erzogen.  Die 
religiösen  Fragen  und  der  kleinliche  Streit  um  die  Dogmen 
wurden  vermengt  mit  politischen,  sozialen  und  sittlichen  Wider- 
setzlichkeiten;  dem  Antichrist,  der  jetzt  also  seit  zweihundert 
Jahren  Rußland  beherrscht,  wird  in  allen  Fällen  der  Gehorsam 
verweigert,  und  der  Tod  in  der  Schlacht  gegen  Satan  ist 
ein  ersehntes  Martyrium.  Die  Orthodoxie  wurde  zur  Religion 
der  Herrschenden  und  der  Bedrücker,  das  Schisma  die  Zu- 
flucht der  Leibeigenen,  der  Mühseligen  und  Beladenen. 


1)  Der  .Langbart  namentlich  ist  das  äußere  Zeichen  der  Zusammen- 
gehörigkeit aller  Altrussen,  das  treu  bewahrte  und  ängstliche  Sinnbild  der  guten 
alten  Vorväterzeit.  Man  vgl.  oben  mein  Kapitel  über  den  Barbier  als  Er- 
zieher,  sowie  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.  III  337. 

*)  Daher  sind  Tabak,  Kaffee  und  Tee  verpönt.  Ein  Sprichwort  der  Alt- 
glaubigen  sagt:  Wer  raucht,  verscheucht  den  heiligen  Geist;  wer  Kaffee  trinkt, 
wird  vom  Blitz  getroffen;  wer  Tee  trinkt,  kann  nicht  selig  werden.  Vom  Tee 
heißt  es  auch  sjrmbolisch:  Ein  Pfeil  kam  aus  China  nach  Rußland  geflogen 
und  durchbohrte  das  Herz  des  Volkes. 


—    193    — 


II.  Erotische  Sekten  und  Flagellanten. 

Altgläubige  und  Gleichgläubige  —  Güterverteilung  verlangt  —  Verfolgung 
der  Altgläubigen  —  Kleinliche  Ursachen  der  Ketzerei  —  Die  Malakanen  oder 
Milchesser  —  Abarten  dieser  Sekte  —  Weibergemeinschaft  —  Duchoborzen  — 
Ein  Gouverneursbericht  —  Anständigkeit  Grund  zur  Verfolgung  —  Abarten 
der  Duchoborzen  —  Eheliche  Ungebundenheit  —  Strafe  für  zuchtlose  Frauen 

—  Ermordung  schwächlicher  Kinder  —  Stundisten  —  Pobjedonoßzews  Angst 
vor  Sozialpolitik  —  Katkow  gegen  die  Stundisten  —  Neu-Stundisten  und 
Flagellanten  —  Das  Sektenwesen  in  den  baltischen  Provinzen  —  Wie  die 
deutschen  Orden  Livland  christianisierten  —  Salonstundismus  oder  Paschko- 
^\'ismus  —  Verfolgung  rationalistischer,  Duldung  erotischer  Sekten  —  Die 
Sselesnowzy  —  Der  Bauemapostel  Ssutajew  und  Graf  Leo  Tolstoi  —  Sekte 
der  Anhänger  der  ..Kreutzersonate"  —  Närrische  Sekten  —  Spuckersekte  — 
Die  Verneiner  —  Die  Nichtbeter  —  Seufzende  —  Stumme  —  Parallele  zwischen 
russischen  und  katholischen  Sekten  —  Roheit  und  Wildheit  der  russischen 
Sekten  —  Peter  III.  als  Sektengott  —  Napoleon  als  Erlöser  —  Anarchie  — 
Neue  Heilande  —  Panow  Christus  —  Christussucher  —  Selbstgötter  —  Chlysty 
oder  Gott  menschen  —  Religion  und  Erotik  —  Gott  Zebaoth  Daniel  Filipowitsch 

—  Iwan  Timofejewitsch  Christus  —  Parodie  auf  die  Auferstehung  —  Christus 
auf  Erden  —  Ein  Christus  für  jede  Gemeinde  und  jede  Generation  —  Neue 
Gottesmütter  —  Die  heilige  Jungfrau  Uljana  Wassiljew  —  Der  Sektenwall- 
fahrtsort Staroje  —  Rolle  der  russischen  Frau  im  Sektenwesen  —  Die  vor- 
nehme Gesellschaft  unter  erotischen  Sektierern  und  Flagellanten  —  Tötung 
der  Sünde  durch  die  Sünde  —  Unzucht  in  Sektenklöstem  —  Die  Sekte  im 
Michaclspalast  —  Russische  Adamiten  —  Tänzer  —  Springer  und  Hüpfer  — 
Vortrag   bibüscher  Obszönitäten    —   Die   Sekte   der  Lichtauslöscher  —  Die 

Skakuny  als  Kindermörder. 

Der  Raßkol  in  Rußland  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  aus 
ganz  geringfügigen  formalen  Streitigkeiten  und  Textfragen 
hervorgegangen  und  schien  in  seinem  Beginne  eine  leicht  zu 
überbrückende  Kirchenspaltung.  Und  doch  gibt  es  in  keiner 
Religion  ein  ähnliches  Beispiel  dafür,  daß  ein  Schisma  von 
so  nichtigem  Urspnmg  solche  Dauer  und  im  Fortleben  solche 
wachsende  Kraft  gezeigt  hätte.  Den  großen  Stamm  des  Raßkol 
bilden  die  Starowerzy^),  die  mit   unausrottbarer  Zähigkeit  an 


1)  CiapoirfepuLi,  wörtlich  die  Altgläubigen,  auch  c-rapoo6pflAHW,  die  Alt- 
bräuchigen;  vgl.  die  Skizze  von  II.  /Kii.ikhht>,  CTapooöpajmw  na  Bcirh,  C.-lIor. 
BtÄOMocTii,  HHBap.    1904. 

Stern,  Geschichte  der  OfTentl.  Sittlichkeit  in  RufiUnd.  j^ 


—    194    — 

dem  Formalismus  und  Buchstabenkultus  hängen.  Die  Alt- 
gläubigen sind  daher  von  Peter  dem  Großen  als  die  Fort- 
pflanzer der  reaktionären  Traditionen  betrachtet  worden,  und 
sie  sind  auch  heute  unter  Nikolaj  II.  Elemente,  die  eine  Re- 
form in  europäischem  Sinne  mit  aller  Gewalt  verhindern 
würden.  Sie  sind  konservativ  in  ihren  Grundprinzipien.  Der 
früh  verstorbene  älteste  Sohn  Alexanders  IL,  Großfürst  Ni- 
kolaj, fragte  einmal  einen  Raßkoljniki):  „Warum  verwerft  ihr 
unsere  Kirche?**  und  erhielt  darauf  zur  Antwort:  „Weil  dies 
unsere  Väter  und  Vorväter  gelehrt  haben**.  Und  einem  Richter 
entgegnete  ein  anderer  Altgläubiger:  „Das  sind  die  ehrwürdi- 
gen Gebräuche  unserer  Väter,  die  wir  befolgen.  Man  verbanne 
uns  wohin  immer  und  lasse  uns  nur  den  alten  Glauben!** 2) 
Da  in  Rußland  aber  alles  Lebende  und  Tote  ewige  Kontraste 
aufweist,  ist  auch  der  Raßkol,  sonst  so  konservativ  und  reak- 
tionär, gleichzeitig  revolutionär,  ja  anarchisch.  Wie  die  Ortho- 
doxie die  Religion  der  Herren,  ist  der  Raßkol  der  Glaube  der 
Sklaven.  Die  Entstehung  des  großen  Schisma  fällt  fast  zu- 
sammen mit  der  Einführung  der  Leibeigenschaft.  In  der  Ab- 
trünnigkeit von  der  Kirche  fanden  die  Geknechteten  einen 
Trost  für  ihre  Leiden;  den  Unterdrückern  sahen  sie  wohl 
ihre  Leiber  ausgeliefert,  ihre  Seelen  aber  blieben  frei  in  einem 
Glauben,  der  dem  der  Herren  entgegengesetzt  war.  Leroy-Beau- 
lieu^)  sieht  im  Raßkol  nicht  einzig  und  allein  ein  Krankheits- 
symptom, ein  Zeichen  geistiger  Schwäche,  sondern  auch  einen 
Beweis,  wenn  nicht  für  Verstand,  so  doch  für  Gewissenhaftig- 
keit, Pflichttreue  und  Charakterstärke  des  Russen.  Dies  kann 
nur  im  Großen  und  Ganzen  und  nur  für  Jene  gelten,  die  sich 
aus  religiösen  und  moralischen  Motiven  von  der  orthodoxen 
Kirche  getrennt,  aber  in  dem  Schöße  ihrer  Gemeinden  auch 
den  Armen  und  Bedrückten  Zufluchtsstätten  geboten  haben; 
reaktionär  imd  konservativ  in  allen  Fragen  der  Religion,  des 
Staates  und  der  Gesellschaft,  nährten  diese  Altgläubigen  doch 


1)  PacKaibniihT>  heißt  zwar  jeder  Sektierer;  man  bezeichnet  aber  damit 
im  allgemeinen  den  Altgläubigen. 

2)  (P.  B.  .liiBaHOBT>.   PacKaiLHHKii  I!  ucTportnniai,  I  28. 

3)  a.  a.  O.  III  356. 


—    195    — 

immer  die  Hoffnung  auf  ein  Rußland,  in  dem  auch  der  Mu- 
schik  wird  frei  leben  können ;  drängten  sie  nach  Erfüllung  der 
Forderung,  die  in  einer  Verteilung  von  Grund  und  Boden  unter 
die  Bauern  1)  das  Prinzip  der  allgemeinen  Gerechtigkeit  auf- 
stellt. Aber  wie  gering  ist  die  Zahl  der  Logiker  und  Ver- 
standcsketzer ;  wie  schwächlich  diese  große  Gruppe  der  Sta- 
rowerzy  gegenüber  den  zahllosen  kleinen  Gruppen,  die  sich 
auch  religiöse  Sektierer  nennen  und  nichts  anderes  sind  als 
Nihilisten  oder  Sittensünder. 

Zwischen  den  Altgläubigen  und  den  orthodoxen  Russen 
bestehen  tatsächlich  nur  formale  Differenzen  in  betreff  des 
Kultus ;  es  konnte  deshalb  geschehen,  daß  die  Regierung  einem 
Teil  dieser  Schismatiker,  unter  Einräumung  von  Konzessionen 
von  beiden  Seiten,  staatliche  und  kirchliche  Anerkennung  ge- 
währte. Man  nennt  solche  Halbbekehrte  Jedinowerzy^);  sie 
dürfen  ihren  Kultus  frei  ausüben;  sie  haben  zwar  ihre  eigenen 
Priester,  die  jedoch  von  der  orthodoxen  Kirche  bestätigt  wer- 
den; sie  besitzen  ihrq  eigenen  Männer-  und  Frauenklöster, 
deren  Regeln  sich  aber  von  den  Klosterregeln  der  Orthodoxen 
kaum  unterscheiden.  —  Auch  die  noch  im  Schisma  ver- 
bliebenen Starowerzy  sind  bloß  theoretische  Abtrünnige.  Sie 
folgen  zwar  meist  ihrem  Spruche:  „Wer  Gott  fürchtet,  geht 
nicht  in  die  Kirche!**  aber  sonst  geben  sie  keinen  Anlaß  zu 
Verdrießlichkeiten,  sind  angesehene  Handwerker,  reiche  Kauf- 
leute, fleißige  Bauern,  die  ihre  Religion  in  Übung  von  Wohl- 
taten, in  Beachtung  von  Recht,  Gerechtigkeit  und  Ehrlichkeit, 
und  das  Heil  auf  Erden  in  der  Arbeit  sehen.  Die  russische 
Regierung  hat  nun  gerade  diese  ruhigen  Frommen  zu  Opfern 
ihrer  Verfolgungssucht  gemacht  3),  und  so  durch  einen  zweck- 


^)  Unter  Alexander  II.  richtete  der  Raßkoljnik  Adrian  Puschkin,  ein 
Kaufmann  aus  Perm,  Briefe  an  den  Zaien  und  die  Minister,  worin  er  erklärte: 
Die  Zeit  sei  da,  wo  das  Land,  das  Eigentum  Gottes,  unter  alle  verteilt  werden 
müsse.  Er  erhielt  dafür  fünfzehn  Jahre  Zwangsaufenthalt  in  dem  Kloster 
für  kirchliche  Verbrecher  zu  Ssolowezk  am  Weißen  Meere.  Puschkins  Schüler, 
der  Arzt  Korobow,  entfloh  beizeiten  nach  der  Schweiz  und  gab  in  Genf  ein 
Blatt  heraus,  das  Organ  der  „Kinder  Gottes",  wie  sich  die  bald  darauf  ent- 
standene Puschkinsche  Gemeinde  von  Sektierern  nannte. 

2)  I'^/vmoBtpeui},  der  Gleichglaubige. 

S)  Die  Verfolgten  flüchteten  aus  den  Zentren  in  die  Verborgenheit  der 

13* 


—    196    — 

losen  Druck  einen  Fanatismus  erzeugt,  der  dem  Ausgangs- 
punkte des  Schismas  längst  nicht  mehr  entspricht.  Das  win- 
kende Martyrium  verlockte  Zahllose,  sich  durch  stets  gesteigerte 
Wahnsinnslehren  zu  Prophetentum  und  Erlöserglorie  hinauf- 
zuschwingen. 

Anfänglich  kannte  man  neben  den  Starowerzy  nur  solche 
Sekten,  die  aus  dogmatischen  Meinungsverschiedenheiten  ent- 
sprungen waren.  So  gab  es  einmal  einen  Streit  über  die  Frage, 
ob  man  nach  dem  dreifachen  Gloria  zwei-  oder  dreimal  Halle- 
luja  singen  müsse.  Ein  anderes  Mal  trennten  sich  viele  von  der 
Kirche,  weil  sie  den  Namen  des  Heilands  nicht  mehr  lissus, 
dreisilbig,  sondern  Issus,  zweisilbig,  auszusprechen  begannen. 
Die  Fragen,  ob  man  beim  Opfergange  nach  rechts  oder  links 
schreiten,  ob  beim  griechischen  Kreuz  der  Hauptstab  von  zwei 
oder  drei  Stäben  durchschnitten  sein,  ob  man  sich  mit  zwei, 
drei  oder  mehr  Fingern  bekreuzigen  müsse,  alle  diese  Fragen 
führten   zu   Kirchenspaltungen. 

Nur  drei  von  den  vielen  Hunderten,  Sekten  sind  es,  die  von 
religiösem  Standpunkte  aus  eine  ernste  Betrachtung  verdienen 
würden,  weil  sie  tatsächlich  auf  Prinzipien  begründet  sind : 
das  sind  die  Sekten  der  Malakanen,  Duchoborzen  und  Stun- 
disten.i)     Bei   allen   dreien   erkennt   man   den   Einfluß   euro- 


fernen Gouvernements,  in  die  Wälder  von  Wjatka,  Wologda,  Kostroma,  in 
die  Einöden  Sibiriens  oder  über  die  Grenze  nach  Polen,  Rumänien,  Öster- 
reich. Zahlreiche  Altgläubige  siedelten  sich  namentlich  in  den  Regionen  der 
Wolga  an,  deren  weite  Landschaften  mit  ihrem  Reichtum  an  Wäldern  und 
Wassern  für  ganze  Völker  überflüssigen  Raum  boten.  Vgl.  über  diese  An- 
siedlungen  die  eingangs  zitierte  Skizze :  VKiUKHin.,  CTajX)or)pn;iiiLi.  Viele 
Sektierer  flüchteten  auch  in  die  nördlichen  Regionen,  nach  Olonez  und  Ar- 
changelsk; sie  sind  unter  der  allgemeinen  Bezeichnung  UoMopiUJ,  die  am 
Meere  Wohnenden,  bekannt.  Die  ersten  Mittelpunkte  von  Sektierern  bildeten 
c'KHTU  oder  Einsiedeleien,  eine  Art  Klöster,  die  in  Wäldern  errichtet  wurden; 
rund  herum  ließen  sich  immer  neue  Anhänger  nieder.  Unter  Nikolaj  I.  wurden 
die  berühmtesten  ckhtm  zerstört.  Vgl.  darüber  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.  III 
382.  Trotzdem  sind  noch,  im  Norden  und  Osten  besonders,  solcher  Einsiedeleien 
zahllose  übriggeblieben.  Diese  ckhtu  wurden  im  Laufe  der  Zeit  Zufluchts- 
stätten von  Verbrechern  und  Höhlen  der  Wollust  und  Sittenlosigkeit,  da  sie 
den  Behörden  häufig  unbekannt  bleiben  dank  der  großen  Ausdehnung  der 
Wälder  und  der  Verschwiegenheit  der  Sektierer. 

1)  Diesen  drei  Sekten  habe  ich  schon  in  meinem  Buche  ,,Aus  dem  mo- 


—    197    — 

päischer,  namentlich  protestantischer  Anschauungen.  Als  die 
älteste  von  ihnen  gilt  die  der  Malakanen  oder  Milchesser  ^), 
welche  so  genannt  werden,  weil  sie  in  der  Fastenzeit  im.  Gegen- 
satze zu  den  Orthodoxen  Milch  genießen.  Die  Malakanen 
behaupten,  daß  ihr  Schisma  schon  dem  zehnten  Jahrhundert 
angehörte;  es  scheint  jedoch,  daß  der  Ursprung  dieser  Sekte 
aus  dem  sechzehnten  Jahrhundert  datiert  und  von  aus  dem 
Auslande  gekommenen  Protestanten  hervorgerufen  wurde. 
Die  erste  offizielle  Erwähnung  der  Malakanen  enthält  ein  Akten- 
stück aus  der  Zeit  der  zweiten  Katharina. 2)  Haxthausen  fand 
1847,  daß  die  Milchesser  damals  wenig  zahlreich  waren;  jetzt 
übersteigt  ihre  Menge  viele  Hunderttausende.  Ausgenommen 
einige  wenige  Gemeinden,  die  in  Tambow,  dem  augenschein- 
lichen Ursprungsorte  der  Sekte,  leben  dürfen,  sind  die  meisten 
nach  der  Krim,  dem  Kaukasus  und  Sibirien  verbannt  worden, 
wo  sie  blühende  Kolonien  gebildet  haben.  Mackenzie  Wallace 
meint,  daß  ihre  Lehre  der  presbyterianischen  ähnlich  sei;  sie 
beruhe  aber  nur  auf  mündlicher  Tradition;  ihre  Theologie 
sei  deshalb  noch  in  einem  halbflüssigen  Zustande,  und  so 
gebe  es  lokale  und  individuelle  Meinungsverschiedenheiten 
unter  ihnen.^)  Allgemein  gilt  bei  ihnen  folgendes :  Die  Heilige 
Schrift  ist  die  einzige  Richtschnur  für  Glauben  und  Wandel  des 
Menschen;  sie  darf  aber  nur  dem  geistigen  und  nicht  dem 
wörtlichen    Sinne    nach    ausgelegt    werden.     Auf   Erden    gibt 


dernen  Rußland"  vor  Jahren  eine  ausführliche  Schilderung  gewidmet.  Auch 
bei  Mackenzie  Wallace  (über  die  Malakanen  namentlich),  bei  Haxthausen 
I  376 — 417  und  bei  Leroy-Beaulieu  III  466 — 485  findet  man  genügend  ein- 
gehende Darstellungen.  Der  Vollständigkeit  halber  gehe  ich  hier  über  diese 
drei  Sekten  nicht  einfach  hinweg,  aber  ich  kann  mich  ganz  kurz  fassen  und 
brauche  nur  die  wichtigsten  und  neuesten  Momente  hervorzuheben. 

1)  Sie  selbst  nennen  sich  wahrhaftige  Christen,   ncTHHUue  xpiicriiHc. 

2)  Ob  die  Duchoborzen  oder  die  Malakanen  älter  seien,  ist  eine  alte, 
noch  unentschiedene  Streitfrage.  Die  Malakanen  nennen  ihre  Sekte  die 
Mutter  der  Duchoborzensekte.  Haxthausen  hält  ebenfalls  die  der  Malakanen 
für  die  ältere  (I  379).  Die  Ideen  beider  Sekten  berühren  sich  wohl  manchmal, 
aber  eine  Verbindung  ist  kaum  herzustellen,  und  zwischen  den  einen  und  den 
anderen  herrscht  jedenfalls  seit  langer  Zeit  große  Feindschaft. 

8)  So  sagte  auch  schon  Haxthausen  (a.  a.  O.  380):  „Sie  sind  selbst  unter- 
einander nicht  völlig  einig  in  ihren  Lehren". 


—    198    — 

es  keine  Autorität,  die  über  zweifelhafte  Punkte  entscheiden 
könnte,  und  deshalb  darf  jeder  sie  nach  seinem  eigenen  Ur- 
teile auslegen.  Haxthausen  erhielt  von  Malakanen  selbst  eine 
ausführliche  Darstellung  ihrer  Auffassungen,  woraus  hervor- 
geht, daß  in  ihre  Anschauungen  westeuropäische  spiritua- 
listische  Ansichten  und  in  ihre  Vorschriften  selbst  ausgeprägte 
protestantische  Redewendungen  eingedrungen  sind. 

Die  Malakanen  glauben  an  die  Bibel  als  an  das  Wort 
Gottes,  an  die  Einheit  Gottes  in  drei  Personen.  Bei  der  Aus- 
legung der  zehn  Gebote  bekennen  sie,  dem  Zaren  und  jeder 
Obrigkeit  Gehorsam  schuldig  zu  sein.  Für  einen  Totschlag 
zählen  sie  es  auch,  wenn  jemand  einen  beleidigt,  verfolgt  imd 
haßt;  nach  den  Worten  Johannis:  jeder,  der  seinen  Bruder 
hasset,  ist  ein  Mörder.  Trunkenheit,  Völlerei,  böse  Gesell- 
schaft sind  zu  meiden;  und  Unzucht  und  „geistiger  Ehebruch 
ist:  wenn  jemandem  diese  Welt  und  ihre  geschwind  vorüber- 
rauschende Lust  zu  teuer  ist".  Alle  Leidenschaften  müssen 
bezähmt  und  unterdrückt  werden;  jede  Gewalttätigkeit,  List, 
Betrügerei  wird  dem  Diebstahl  gleich  geachtet.  Nach  diesen 
Glaubensregeln  kommen  bei  Bewertung  der  Sakramente  die 
spiritualistisch-protestantischen^)  Ansichten  zur  Geltung.  Vom 
Sakrament  der  Taufe  sagen  sie,  daß  sie  darunter  die  geistige 
Reinigung  von  der  Sünde  im  Glauben  und  die  Tötung  des 
alten  Menschen  in  uns  verstehen;  sie  waschen  wohl  die  Neu- 
geborenen, aber  sie  nehmen  dies  nur  als  eine  leibliche  Reini- 
gung, nicht  als  eine  Taufe  an.  Priester,  Bischof  oder  Hohe- 
priester sind  bloß  in  der  Person  Christi  zu  suchen;  die  Mala- 
kanen kennen  daher  nur  Alte,  die  aus  ihrer  Mitte  ausgewählt 
werden,  um  Gottes  Worte  vorzulesen  und  die  geistigen  An- 
gelegenheiten zu  leiten.^)  Das  Sakrament  der  Ehe  endlich 
wird  durch  die  gegenseitige  Einwilligung  der  Verlobten  und 
durch  gemeinsames  Gebet  der  Gemeindemitglieder  ersetzt;  die 


^)  Auch  Leroy-Beaulieu  meint,  der  Kultus  der  Malakanen  sei  indirekt 
aus  der  Reformation  Luthers  und  Calvins  hervorgegangen,     a.  a.  O.  III  468. 

*)  Leroy-Beaulieu  III  467:  „Wir  sind  allesamt  Priester",  sagen  die  Molo- 
kaner;  der  Älteste  hat  gar  keine  Gewalt  über  die  Gemeinde  und  zeichnet  sich 
während  des  Gottesdienstes  vor  den  übrigen  Mitgliedern  nicht  einmal  durch 
ein  besonderes  Gewand  aus. 


—    199    — 

so  geschlossene  Ehe  ist  unauflöslich.  Den  Begriff  der  Kirche 
sieht  man  in  dem  Worte  Christi:  „Wo  Zwei  oder  Drei  ver- 
sammelt sind  in  meinem  Namen,  da  bin  ich  mitten  unter  ihnen*' ; 
und  man  braucht  keine  steinernen  oder  hölzernen  Tempel. 
Eine  Kirche,  sagen  die  Malakanen,  besteht  nicht  aus  Balken, 
sondern  aus  Rippen,  des  Menschen  Brust  ist  der  Tempel 
Gottes.  Natürlich  verwerfen  sie  auch  die  Heiligenbilder.  Bei 
einer  Prozession  in  Nikolajew,  Gouvernement  Ssaratow,  sprang 
ein  Malakane  in  die  Reihen  der  Orthodoxen,  erfaßte  ein  Hei- 
ligenbild, warf  es  zu  Boden  und  trat  es  mit  den  Füßen.  Der 
Fanatiker  wurde  von  den  Orthodoxen  auf  der  Stelle  getötet. 
Die  Malakanen  zählen  zwar  zu  den  friedlichen  Sektierern,  doch 
fehlt  es  auch  bei  ihnen  nicht  an  Verirrimgen  ins  Extreme,  und 
es  gibt  einige  Malakanengemeinden,  denen  man  nachsagt,  daß 
sie  nicht  bloß  Asyle  für  Verbrecher  seien,  sondern  auch  selbst 
die  Verfertigung  falscher  Pässe  und  Falschmünzerei  als  von 
der  Religion  erlaubte  Dinge  betreiben.  Es  gibt  sogar  Mala- 
kanengruppen,  die  längst  nicht  mehr  die  Lehren  der  Mutter- 
sekte beachten,  die  die  Behörden  und  die  Gesetze  verhöhnen, 
Eid  und  Militärpflicht  verweigern,  sich  der  Steuerzahlung  wider- 
setzen, die  Gütergemeinschaft  predigen  (an  der  Spitze  dieser 
Gruppe  befand  sich  der  berühmte  Popow,  der  von  Nikolaj  I. 
an  den  Jenissej  verbannt  wurde)  und  die  Weibergemeinschaft  ^) 
verlangen  (der  Prophet  dieser  Gruppe  erstand  erst  während 
der  Regierung  Alexanders  II.  in  Ssamara). 


^)  Auch  katholische  und  protestantische  Sekten  haben  \iäufig  die  Poly- 
gamie und  die  Weibergemeinschaft  als  religiöses  Gesetz  aufgestellt.  Die  Poly- 
gamophili  traten  in  Schriften  und  Handlungen  für  die  Vielweiberei  ein.  Der 
Italiener  Ochinus  predigte  im  i6.  Jahrhundert  in  Zürich  die  Polygamie  und 
mußte  deshalb  nach  Polen  flüchten.  Die  Sekte  der  David  Georgisten,  «ben- 
falls  im  i6.  Jahrhundert,  hatte  die  Vielweiberei  statuiert.  Berühmt  wurde 
die  Lehre  des  Carpocrates  von  Alexandrien,  der  im  zweiten  Jahrhundert 
lebte;  er  erklärte:  Es  gebe  nichts  Böses  in  der  Natur,  das  Böse  bestehe  nur 
in  der  Einbildung  des  Menschen.  Der  Mensch  sei  aber  in  diesem  Leben  unter 
der  Gewalt  böser  Engel,  die  man  am  besten  durch  schandliches  Leben  ver- 
söhne. Daher  solle  man  lasterhaft  leben  und  namentlich  die  Weiber  gemein- 
schaftlich besitzen,  so  wie  alle  gemeinschaftlich  das  Licht  der  Sonne  genießen 
oder  gemeinschaftliches  Recht  haben  auf  die  zur  Nahrung  dienenden  Mittel. 
An  die  Münsterer  und  Mormonen  brauche  ich  wohl  nicht  besonders  zu  erinnern. 


—    200    — 

Den  ursprünglichen  Malakanen  verwandt  sind  die  ur- 
sprünglichen Duchoborzen^)  oder  Geisteskämpfer,  die  man  die 
Quäker  Rußlands  genannt  hat,  weil  sie  an  die  unmittelbare 
Einwirkung  des  heiligen  Geistes  glauben.^)  Sie  besitzen  eigen- 
tümliche Vorstellungen  von  Seele,  Verstand  und  Herz.  Ihre 
Lehren  sind  ebenfalls  bloß  in  mündlichen  Traditionen  erhalten. 
Im  Jahre  1805  wurde  dem  Kaiser  Alexander  eine  offizielle  Dar- 
stellung des  Duchoborzentums  geliefert.  In  diesem  Dokument 
heißt  es,  daß  die  Duchoborzen  um  die  Mitte  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  auftauchten.  Sie  verwarfen  alle  Gebräuche  und 
Riten  der  orthodoxen  Kirche,  die  Taufe  und  die  Konmiunion. 
Ihren  Namen  erhielten  sie  im  Jahre  1785,  wahrscheinlich  vom 
Erzbischof  von  Jekaterinoßlaw.  Bis  dahin  nannte  die  Regie- 
rung sie  Ikonoklasty3),  wörtlich  Heiligenkastrierer,  weil  sie  die 
Verehrung  der  Heiligen  verneinten,  oder  auch  Ikonoborzy, 
Bilderstürmer;  sie  selbst  heißen  sich  Christen  und  nennen 
die  anderen :  Laien.  Als  ihre  Apostel  bezeichnen  sie  drei  Knaben 
aus  ältester  Zeit :  Hanani,  Asaria  und  Misael,  die  den  Martertod 
erlitten,  weil  sie  sich  geweigert  hatten,  Nebukadnezars  Bild  an- 


1)  Von  ayx'b,  Geist,  und  öopeui»,  Ringer  oder  Kampfer.  Jyxoöopoui. 
kann  Geist-  oder  Lichtbekämpfer  (so  meinen  es  die  Orthodoxen)  ebensogut 
wie  Geistes-  oder  Lichtkämpfer  heißen  (und  den  letzteren  Sinn  meinen  die 
Sektierer  selbst). 

*)  Unter  den  wichtigeren  Arbeiten  über  diese  Sekte  erwähne  ich:  Die 
Studie  (in  russischer  Sprache)  des  Kijewer  Professors  Nowizkij  (1882);  von 
deutschen  Berichten:  Die  Mitteilungen  von  Petzholdt,  Karl  Koch,  Wagner, 
Erckert,  Thielemann  in  ihren  kaukasischen  Reiseschilderungen  und  eine  überaus 
interessante  Skizze  von  einem  ungenannten  Offizier  im  XI.  Bande  der  Bal- 
tischen Monatsschrift.  Haxthausen  und  Leroy-Beaulieu  wurden  bereits  früher 
zitiert.  Die  Verfolgungen,  denen  die  Duchoborzen  in  jüngster  Zeit  in  Ruß- 
land'^usgesetzt  waren  und  die  zu  ihrer  teilweisen  Auswanderung  nach  Kanada 
führten,  veranlaßten  zahlreiche  Artikel  in  russischen  Zeitungen  und  nament- 
lich Verteidigungsschriften  des  Grafen  Leon  Tolstoi.  Einige  der  letzteren 
wurden  in  fremde  Sprachen  übersetzt,  so  von  J.  W.  Bienstock  in  seinem  Buche 
„Tolstoi  et  les  Doukhobors,  faits  historiques,  r6unis  et  traduits  du  russe", 
Paris  1902.  Unter  der  Redaktion  von  Bontsch-Brujewitsch  planten  die  Russen 
Tschertkow,  Birukow  und  Tregubow  die  Herausgabe  eines  die  Duchoborzen 
betreffenden  Aktenmaterials  in  16  Riesenbänden. 

*)  Hkohi»,  Heiligenbild;  RiacTi,,  legen,  bauen,  hat  auch  den  Sinn  von 
Wallachen,  kastrieren. 


—    201     — 

zubeten^);  und  ebenso  müssen  sie  selbst  alle  leiden  für  ihre 
Verachtung  der  Ikone. 

Wegen  der  Verfolgungen,  denen  sie  ausgesetzt  waren, 
konnten  sich  die  Duchoborzen  anfangs  nirgends  in  kompakten 
Massen  ansiedeln,  sie  mußten  sich  durch  das  ganze  Reich  zer- 
streuen. Zu  Beginn  des  neunzehnten  Jahrhunderts  fand  man 
sie  zumeist  in  Archangelsk,  Asow,  Georgjewsk,  Stawropol, 
Kola,  Irkutsk  und  Kamtschatka,  also  an  den  äußersten  Grenzen 
im  Süden,  Norden  und  Osten.  Der  früher  erwähnte  offizielle 
Bericht  sagt,  daß  man,  wenn  von  der  religiösen  Frage  ab- 
gesehen werde,  das  soziale  imd  Familienleben  der  Duchoborzen 
als  ein  musterhaftes  bezeichnen  müsse.  1792  schrieb  der  Gou- 
verneur von  Jekaterinoßlaw  an  den  Oberprokurator  des  Sy- 
nods,  daß  „diese  Häretiker  die  Trunkenheit  und  den  Müßig- 
gang hassen  und  regelmäßig  ihre  Steuern  zahlen*'.  Aber  sie 
mußten  doch  verfolgt  werden,  „weil  sie  nicht  in  die  Kirche 
gehen,  nicht  die  orthodoxen  Fasten  einhalten,  die  Heiligen- 
bilder nicht  ehren,  beten  ohne  das  Kreuz  zu  schlagen  und 
weder  an  den  Vergnügungen  noch  an  den  Ausschweifungen 
der  Laien  teilnehmen.**  Solcher  Verbrechen  wegen  wurden 
die  Sektierer  zumeist  nach  Sibirien  verbannt.  Der  genannte 
Gouverneur  von  Jekaterinoßlaw  versicherte:  sie  verdienten 
trotz  ihrer  von  ihm  selbst  hervorgehobenen  Tugenden  kein 
Mitleid,  ,,denn  ihre  Häresie  wird  nur  noch  gefährlicher  durch 
ihr  anständiges  Leben**.  Der  Gouverneur  rief  also  nach  dem 
Scheiterhaufen,  Katharina  gewährte  bloß  die  Deportation.  Ale- 
xander L  bewies  den  Duchoborzen,  wie  allen  Sektierern,  To- 
leranz und  überließ  ihnen  Land  im  taurischen  Gouvernement; 
aber  die  Zeit  der  Ruhe  dauerte  nur  kurze  Zeit.  Die  heftigsten 
Verfolgungen  hatten  diese  Sektierer  in  unseren  Tagen  zu  er- 
leiden. Im  Kaukasus  überfielen  1895  Kosaken  die  Ducho- 
borzendörfer,  töteten  die  Männer  und  notzüchtigten  die 
Frauen  2),  und  seither  wanderten  viele  von  diesen  Sektierern 


1)  Es  ist  dies  die  Geschichte  vom  feurigen  Ofen,  die  der  Prophet  Daniel 
erwähnt. 

*)  Über  diese  Grausamkeiten  der  Regierungsorgane  bei  der  Verfolgung 
der  Duchoborzen  vergleiche  man  die  Berichte  bei  Bienstock,  beispielsweise 
auf  Seite  49,  61,  77,  80,  87,  94,   loi,   115,   176. 


—    202    — 

nach  Amerika  aus.  In  Rußland  sind  allerdings  noch  Hundert- 
tausende zurückgeblieben;  deren  Häupter,  wie  der  berühmte 
Werigin,  wurden  jedoch  für  ewige  Zeiten  nach  Sibirien  ver- 
bannt. 

Die  Sittenlehren  1)  der  Duchoborzen  verdammen  die 
Leidenschaften,  verachten  die  sinnlichen  Freuden;  selbst  die 
reinen  Freuden  der  Natur,  die  Blumen  der  Erde,  der  Gesang 
der  Vögel  lenken  den  Menschen  ab  vom  Geistigen  und  fesseln 
ihn,  daß  er  sich  nicht  zu  erheben  vermag.  Gesellschaftliche 
Unterschiede  kennen  die  Duchoborzen  nicht,  alle  Menschen 
sind  gleich,  weil  alle  gefallen  und  alle  der  Versuchung  unter- 
worfen sind.  Weder  Herren  noch  Knechte  g^bt  es.  Als  Grund- 
lage für  die  Eingehung  der  Ehe  ist  bloß  die  Einwilligung  der 
Verlobten,  als  Grundlage  für  die  Fortdauer  die  Liebe,  die  ihrem 
Wesen  nach  göttlicher  Natur  ist,  erforderlich;  hört  die  Liebe 
auf,  muß  die  Ehe  getrennt  werden,  weil  sonst  das  göttliche 
Band  zu  einer  fleischlichen  Sünde  würde. 

Wie  bei  den  Malakanen  entstanden  auch  bei  den  Ducho- 
borzen Abzweigimgen,  bei  denen  namentlich  das  Wesen  der 
reinen  Sittlichkeit  verschwunden  ist;  und  wenn  auch  nicht, 
wie  bei  einigen  Malakanengemeinden,  die  Weibergemeinschaft 
eingeführt  wurde,  so  kennt  man  doch  auch  bei  diesen  Ducho- 
borzenabarten  kaum  mehr  den  Begriff  der  Treue  im  Punkte 
der  Liebe.  Solange  eine  Frau  sündigt,  ohne  öffentliches  Ärger- 
nis zu  erregen,  bleibt  sie  straflos;  nur  wenn  ihre  Sittenlosig- 
keit  alles  Maß  überschreitet,  wird  der  Mann,  falls  er  selbst 
noch  immer  schweigen  wollte,  von  seinen  Glaubensbrüdern 
gezwungen,  das  zuchtlose  Weib  vor  das  Gemeindegericht  zu 


1)  Die  ausführliche  amtliche  Darstellung  des  Duchoborzenglaubens  ent- 
•  hält  das  Buch  von  Bienstock,  S.  i6 — 36.  Man  vergleiche  auch  die  symbolische 
Schilderung  in  meinem  Buche  ,,Aus  dem  modernen  Rußland"  S.  127  ff.  Die 
Lehre  der  Duchoborzen  bildet  ein  ganzes  System,  dessen  genaue  Wiedergabe 
viele  Kapitel  erfordern  würde.  Aber  als  rein  theologisch-mystisch-philosophische 
Frage  fällt  sie  aus  dem  Rahmen  unseres  Werkes  und  muß  den  Raum  frei- 
lassen für  jene  mit  der  Geschichte  der  Sittlichkeit  inniger  zusammenhängenden 
Sekten.  Haxthausen  gab  übrigens  schon  in  seinen  Studien  über  Rußland  I 
389  ff.  Übersetzungen  von  Bekenntnissen  der  Duchoborzen  selbst,  die  vielleicht 
die  beste  Aufklärung  verschaffen. 


—     203    — 

schleppen;  die  Strafe  der  für  schuldig  befundenen  Frau  be- 
steht darin,  daß  man  sie  nackt  durch  die  Straßen  schleift  und 
mit  Kot  bewirft.  Andere  dieser  Duchoborzengruppen  sollen 
den  Kindermord  als  Glaubensartikel  betrachten;  sie  sagen, 
daß  die  Seele  als  Gottes  Ebenbild  nur  in  einem  gesunden 
Körper  wohnen  dürfe;  und  deshalb  töten  sie  alle  schwäch- 
lichen und  mißgestalteten  Kinder.  Als  Nikolaj  I.  die  Ducho- 
borzen  verfolgte,  begründete  er  es  damit,  daß  diese  Sektierer 
von  einem  Mordfanatismus  beseelt  wären;  angeblich  bestand 
bei  ihnen  eine  Art  Inquisition,  die  jedes  im  Verdachte  des 
Unglaubens  stehende  Gemeindemitglied  unbarmherzig  ver- 
urteilte und  entweder  durch  das  Schwert  richtete  oder  leben- 
dig begraben   ließ. 

Von  den  drei  Sekten,  die  ursprünglich  erhabenen  Lehren 
folgten,  sahen  wir  also  schon  zwei  im  Laufe  der  Jahre,  und 
nicht  zum  wenigsten  durch  die  Verfolgungen  der  Regierung, 
in  ihren  Ausläufern  völlig  ausgeartet.  Nun  werden  wir  das 
gleiche  Resultat  auch  bei  der  letzten  dieser  drei  rationalistischen 
Sekten  finden,  bei  den  Stundisten.^)  Deren  Ursprung  erscheint 
als  ein  rein  protestantischer.  In  einer  reformierten  Kolonisten- 
gemeinde bei  Odessa  wurde  von  einem  Pastor  der  altwürttem- 
bergische  Gebrauch  des  religiösen  Stundenhaltens  gepflegt. 
Diesen  Kolonisten  gesellte  sich  vor  etwa  vierzig  Jahren  der 
orthodoxe  Muschik  Michael  Ratuschny  aus  Osanowa  zu;  die 
protestantisch-deutschen  Andachtsübungen  gefielen  ihm  so,  daß 
er  nach  seiner  Rückkehr  in  die  Heimat  Genossen  um  sich  sam- 
melte und  mit  ihnen  die  Gemeinschaft  der  Stundisten^)  grün- 
dete. Als  Lehre  gab  sich  die  neue  Sekte  folgendes:  Keine 
Kirche,  keine  Heiligenbilder,  keine  Priester,  keine  Sakramente. 


1 )  Kurz  mögen  hier  auch  die  deutschen  Chiliasten  in  Transkaukasien 
erwähnt  werden,  die  eine  reine  Pietistensekte  sind  und  auf  das  russische  Sekten- 
wesen keinen  Einfluß  ausgeübt  haben.  Sie  wurden  ausführlich  von  Professor 
Kolenati  in  seiner  Schrift  ,.Die  Bereisung  Hocharmeniens  und  Elisabethpols** 
geschildert;  Moritz  Busch  hat  in  seinem  Buche  ,,\Vunderiiche  Heilige,  Reli- 
giöse und  politische  Geheimbünde  und  Sekten",  Leipzig  1879,  S.  121 — 139 
einen  Auszug  aus  Kolenati. 

2)  Das  deutsche  Wort  Stunde  wurde  ins  Russische  übernommen: 
lJlTyH.ia.    daher    IllTyiuiicn.. 


—    204    — 

Branntwein,  Tabak,  Fluchen  und  gemeine  Reden  sind  ver- 
boten. Strenge  Arbeit  ist  Pflicht,  aber  Ersparen  verboten, 
denn  Überfluß  führt  zu  Lastern.  Alle  Menschen  sind  gleich, 
nicht  einmal  der  Zar  ist  höher  zu  schätzen  als  jeder  der  Men- 
schen, ein  rechter  Christ  kennt  nur  Gott  als  Oberhaupt;  doch 
fügen  sich  die  Stundisten  den  Staatsgesetzen,  weil  das  wahre 
Gottesreich  auf  Erden  noch  nicht  gekommen  ist.  Die  Ehe 
beruht  bloß  auf  freiem  Übereinkommen  und  wird  vor  dem 
Ältesten  der  Gemeinde  geschlossen,  eine  Scheidung  ist  nicht 
zulässig. 

In  einem  aus  dem  Jahre  1898  stammenden  Berichte  des 
Oberprokurators  des  Heiligen  Synod^)  wird  das  Gespräch  eines 
russischen  Missionars  mit  Stundisten  mitgeteilt;  letztere  sag- 
ten :  „Wir  wünschen  nicht  euch  nachzueifern,  denn  wir  lieben 
nicht  eueren  Christus;  ihr  habt  mit  euerem  Christus  die  Men- 
schen zu  Hunden  gemacht,  wir  aber  wollen  mit  imserem  Christus 
freie  Menschen  bleiben.  Haben  wir  uns  vom  Herrendienste 
frei  gemacht,  werden  wir  auch  den  Popendienst  los  werden.** 
Der  Oberprokurator  Pobjedonoßzew  bemerkte  zu  diesem  Be- 
richte, man  müsse  dem  Stundismus  viel  Gewicht  beilegen,  denn 
aus  den  Gesprächen,  welche  diese  Sektierer  führten,  ginge 
hervor,  daß  sie  sich  für  Sozialpolitik  interessierten!  Schon 
früher  als  Pobjedonoßzew  hatte  der  Panslawist  und  orthodoxe 
Fanatiker  Katkaw^)  strenge  Maßregeln  gegen  die  Stundisten 
gefordert,  die  von  ihm  als  eine  gefährliche  Sekte  geschildert 
wurden.  Die  Gefahr,  die  von  den  Stundisten  drohte,  war  aber 
dieselbe,  die  jener  Gouverneur  von  Jekaterinoßlaw  genau  hun- 
dert Jahre  zuvor  mit  den  ersten  Duchoborzen  über  Rußland 
hereinbrechen  sah :  man  mußte  befürchten,  daß  die  Stundisten 
durch  ihre  Rechtschaffenheit,  Mäßigkeit  und  Arbeitsliebe  unter 
den  Russen  ein  böses  Beispiel  der  Anständigkeit  geben  und 
die  Orthodoxen  aus  dem  gedankenlosen  Dahinleben  in  der 
Verkommenheit  erwecken  würden  zu  höherem  Streben.  Das 
mußte  gründlich  verhütet  werden,  und  man  bedrückte  die 
Stundisten  ärger  noch  als  die  Malakany  und  Duchoborzy.  Der 


1)  Vgl.  St.  Petersburger  Herold.  Juli  1898. 

2)    MOCK.  Bt,lUM(XTII,    23.   VI.     1892. 


—    205    — 

Erfolg  war  schließlich  der  gleiche  wie  bei  den  zwei  letzt- 
genannten Sekten.  Die  Quälereien,  Marterungen  und  Ver- 
bannungen trugen  zwar  nur  dazu  bei,  den  Stundismus  in  ra- 
pider Weise  zu  verbreiten,  aber  gleichzeitig  verlor  er  seinen 
hohen  geistigen  Gehalt  und  zeitigte  unter  Rute,  Knute  und 
Pletj  den  Neu-Stundismus,  der  nicht  mehr  die  guten  Ortho- 
doxen zu  edlerem  Leben  erziehen,  sondern  bloß  zu  willkom- 
mener Sittenlosigkeit  hinabzerren  kann. 

Die  Neu-Stundisten  nähern  sich  in  ihren  entsetzlichen  Ge- 
bräuchen den  ärgsten  der  wilden  Sekten,  sehen  nur  mehr  im 
Flagellantismus  das  Ziel  des  Daseins,  und  geißeln  sich  zu 
Tode,  um  den  Himmel  mit  den  Schandtaten  der  Menschen 
zu  versöhnen,  die  erbarmungslos  Gottes  wahre  Anbeter  ver- 
folgen. Ihre  Stunden  sind  nicht  mehr  feierliche  Andachts- 
übungen wie  früher,  sondern  wilde  Orgien,  bei  denen  die  Fana- 
tiker nach  furchtbaren  Tänzen  zusammenbrechen,  um  im 
Krämpfe  der  Verzückung  phantastische  Gesichte  zu  haben. 
Da  sie  ohnehin  vor  den  Verfolgern  nichts  mehr  retten  können, 
arbeiten  die  Neu-Stundisten  nicht;  sie  denken  nicht  mehr  an 
die  entsetzliche  Sozialpolitik  und  leben  nur  ihrem  fanatischen 
Eifer,  sich  zu  kasteien  und  zu  züchtigen  durch  die  Auflösung 
aller  verwandtschaftlichen  und  Verachtung  aller  ehelichen 
Bande. 

Hatten  sich  die  ersten  Stundisten  hauptsächlich  im  Süden 
verbreitet,  so  fanden  die  als  Flagellanten  auftretenden  Neu- 
Stundisten  ihre  Anhänger  hauptsächlich  in  den  baltischen  Pro- 
vinzen. „Die  Gottesdienste  dieser  Sektierer,"  berichtete  ein 
russischer  Geistlicher  1901  in  einem  Briefe^),  ,, bringen  der 
Bevölkerung  großen  Schaden;  sie  bestehen  in  einer  starken 
nervösen  Erregung,  die  sich  bis  zur  Ekstase,  bis  zu  Hallu- 
zinationen steigert.  Die  Versammlungen  dauern  häufig  die 
ganze  Nacht  und  finden  in  dumpfen  Hütten  statt.  Die  Teil- 
nehmer gleichen  gestörten  Leuten.  Besonders  die  Frauen  sind 
der  religiösen  Ekstase  zugänglich.  Die  Zuschauer  werden  von 
der  nervösen  Erregung  angesteckt  und  unwillkürlich  zu  Teil- 

1)  In  den  HepKoHiiUH  HiÄOMOCTii.  Dieser  Brief  bezog  sich  besonders 
auf  Verhältnisse  in  Estland,  denn  der  Schreiber  bezeichnete  sich  als  Priester 
A.  G — w  aus  Reval. 


—     206    — 

nehmem  an  den  sektiererischen  Gottesdiensten;  aus  diesen 
resultieren  nervöse  Krankheiten,  Hysterie,  Melancholie  und  so- 
gar Wahnsinn.  Daher  mehrt  sich  in  der  letzten  Zeit  die  Zahl 
der  Geisteskranken.  Die  sektiererische  Bewegung  hat  viele 
Familien  zerrüttet  und  viele  Wirtschaften  ruiniert.  Frauen 
haben  ihre  Häuser  im  Stich  gelassen  und  sind  seelisch  und 
physisch  verkommen.  Männer  verkauften  ihr  Eigentum  und 
verwenden  das  Geld  zum  Unterhalte  der  Wanderprediger. i)  An- 
fangs leistete  die  weltliche  Gewalt  dieser  Bewegung,  welche  die 
lutherischen  Pastoren  unter  ihren  Schutz  genommen  hatten, 
keinen  Widerstand.  Die  Sektiererei  begann  sich  aber  in  Stö- 
rungen der  öffentlichen  Ordnung  zu  äußern,  und  die  weltliche 
Gewalt  traf  daher  einschränkende  Maßregeln  in  bezug  auf 
die  nächtlichen  Versanmilungen  und  das  Vagabundieren  der 
Propheten.  Nun  sind  die  Sektierer  zum  Teil  in  die  vom  Ge- 
setze gestattete  Baptistengemeinde  oder  in  den  Bestand  der 
lutherischen  Kirchspiele  eingetreten  und  setzen  ihre  Hand- 
lungen fort  unter  dem  Schutze  der  lutherischen  Pastoren,  die 
diese  Bewegung  für  ein  Werk  des  heiligen  Geistes  erklärten 
und  sie  unter  ihre  Leitung  nahmen.  Auf  diese  Weise  ver- 
hindern die  Sektierer  die  Einmischimg  der  Polizei,  die  nicht 
das  Recht  hat,  sich  in  die  häuslichen  Angelegenheiten  der 
lutherischen  Gemeinden  zu  mengen,  und  alle  schädlichen 
Folgen  der  Sektiererei  bleiben  in  ihrer  ganzen  Kraft  bestehen.*' 
Die  russische  Geistlichkeit  war  mit  diesen  schädlichen 
Folgen  imzufrieden ;  die  Polizei  und  die  Regierung  aber  wollen 
nichts  anderes,  denn  je  zerrütteter  und  verwilderter  das  Volk 
ist,  desto  besser  für  die  Autokratie.  Regierung  und  Polizei 
lassen  sich  also  selbst  durch  die  Verdächtigung  der  luthe- 
rischen Pastoren  2)  als  der  Störenfriede  in  der  orthodoxen  Herde 

1)  Der  russische  Ausdruck,  der  hier  gebraucht  wird:  yqirre.Tn-iipono- 
Ht,;iHHK]i  heißt  wörtlich  Lehrer-Prediger,  doch  gibt  der  Ausdruck  Wander- 
prediger dem  deutschen  Leser  den  richtigeren  Sinn  wieder. 

S)  Diese  Verdächtigung  war  selbstverständlich  ungerechtfertigt.  Es 
geht  dies  schon  daraus  hervor,  daß  der  wilden  Sekte  der  Neu-Stundisten  nicht 
bloß  orthodoxe  Russen,  sondern  nicht  minder  lutherische  Esten  und  Letten 
sich  anschlössen;  diese  Völker  stehen  ja  auf  nicht  viel  höherer  Kulturstufe 
als  die  Russen.  Weder  Katholizismus  noch  Protestantismus  haben  unter 
den  Unterdrückten  in  den  baltischen  Provinzen  tiefer  Wurzel  schlagen  können. 


—    207    — 

nicht  zu  einer  energischen  Verfolgung  sittenloser  und  wahn- 
sinniger Sekten  treiben;  solche  mögen  gedeihen,  sagt  die  rus- 


als  die  griechische  Religion  in  Rußland.  Den  heidnischen  Letten  und  Esten 
wurde  das  Christentum  durchaus  nicht  als  Religion  der  Liebe  beigebracht. 
Bei  Hiam  a.  a.  O.  34 — 36  lesen  wir:  ,,Es  hat  Einhorn  angemercket:  Die 
Teutschen  Ordens-Leute  haben  sich,  was  (der  Esten  und  Letten)  Religion 
betrifft,  wenig  bekümmert,  und  nicht  groß  danach  gefraget,  wie  sie  vor  ihrer 
Heidnischen  Abgötterey  und  falschem  Gottesdienst,  zur  Erkäntnis  des  wahren 
Gottes  gerathen  und  kommen  möchten.  Das  hat  man  Alles  nichts  geachtet, 
sondern  die  Pabstischen  Priester  sind  im  Lande  herumbgezogen,  und  hie 
und  wieder  Messe  gehalten,  im  Christlichen  Glauben  aber  sie  gar  wenig  unter- 
richtet, auch  zu  unterrichten  nicht  vermocht,  indem  sie  die  Sprache  nicht 
gekunt,  dieselbe  auch  zu  lernen  keine  Mittel  oder  Gelegenheit  gehabt,  weil 
fast  Niemand  gewesen,  der  sich  der  Religion  und  des  Gottesdienstes  ange- 
nommen, oder  darumb  bekümmert,  sondern  die  Herrschaft  nur  darnach 
getrachtet,  wie  sie  die  armen  Leute  zu  ihren  Diensten  gebrauchen,  und  in 
allerhand  Üppigkeit  und  Wollust  leben  möchten.  Wie  denn  solch  ein  un- 
christliches, hoffertiges  und  üppiges  Wesen,  so  im  Lande  getrieben,  auch  aus 
ländischer  Nation  bekandt,  welche  mit  Verwunderung  davon  zu  sagen  ge- 
wust.  Sonderlich  wird  dasselbe  auch  in  dem  Liede,  so  zu  der  Zeit  gemachet,  da 
die  Mußcawische  Tyranney  und  Grausamkeit  im  Lande  grassiret,  herzlich  be- 
klaget mit  diesen  Worten: 

Diß  Land  den  Teutschen  gegeben  ist. 
Schier  für  Vierhundert  Jahren, 

Daß  sie  dein  Nahmen  Herr  Jesu  Christ, 
Die  Heyden  solten  lahren. 

Sie  aber  haben  gesucht  vielmehr 

Ihr  eigen  Nutz  und  Lust  und  Ehr, 
Und  Deiner  wenig  geachtet. 
Sie  haben  die  armen  Heydnischen  und  Barbarischen  Völcker  nicht  mit  Christ- 
licher Bescheidenheit  und  Sanfftmuth  gelehret  und  unterrichtet,  sondern  mit 
Gewalt,  Ungestüm  und  Tyrannischer  Weise,  ja  mit  Wehr  und  Waffen,  zum 
Glauben  zwingen  wollen.  Anderer  zu  geschweigen,  ist  ein  Bischoff  hier  im 
Lande  gewesen,  einer  von  der  Linden,  derselbe  wird  gerühmet,  daß  er  großen 
Fleiß  angewandt  die  Letten  von  ihrer  heydnischen  Abgötterey  zum  rechten 
Gottesdienst  zu  bringen,  hats  aber  also  mit  ihnen  gehalten,  daß  der  Stiffts- 
Vogt  und  die  Lands  Knechte  sie  verhören  müssen,  ob  sie  auch  beten  könten, 
welcher  nun  etwas  gekont,  den  hat  er  tractiret  und  ihn  etwas  zu  essen  gegeben ; 
welche  aber  nichts  gelemet,  die  hat  er  mit  Ruthen  jämmerlich  streichen 
lassen".  Ein  so  jämmerlich  eingebläutes  Christentum  konnte  natürhch  keine 
herzlichen  Anhänger  finden,  und  es  blieben  tatsächhch  sowohl  Letten  als 
Esten  noch  bis  heute  halbe  Heiden,  in  ihren  Gebräuchen  herrscht  die  alte 
Sittenlosigkeit  ihrer  heidnischen  Feste,  der  ungenierte  Geschlechtsverkehr  als 
Kulthandlung. 


—    208    — 

sische  Regieningsmoral,  der  Bekämpfung  wert  sind  bloß  Ra- 
tionalismus und  Sozialismus,  alle  jene  Vereinigungen,  welche 
Sittsamkeit  und  Fortschritt,  Freiheit  und  Gerechtigkeit  zu  er- 
reichen streben.  Dies  traf  einigermaßen  bei  dem  sogenannten 
Salonstimdismus  zu,  der  zu  Ende  der  Regierung  Alexanders  IL 
in  der  vornehmen  Gesellschaft  von  Petersburg  Verbreitung  fand. 
Der  Laienprediger  Lord  Radstock  —  vom  Fürsten  Mesch- 
tscherskij  in  seinem  satirischen  Roman  „Der  Lord- Apostel*' 
gegeißelt  —  erschien  eines  Tages  in  der  russischen  Hauptstadt 
und  predigte  den  Vornehmen  Buße  und  Einkehr ;  Wassilij  Ale- 
xandrowitsch  Paschkow,  ein  reicher  Gutsbesitzer,  ward  von 
diesen  Reden  so  begeistert,  daß  er  laut  die  Sünden  seiner 
Jugend  bereute  und  die  Sekte  der  Salonstundisten  begrün- 
dete, deren  Mitglieder  aus  den  vornehmsten  Kreisen  stamm- 
ten und  die  hehrste  Menschenliebe  lehrten;  die  Sekte  fiel  der 
Nihilistenfurcht  zum  Opfer  und  wurde  schon  nach  wenigen 
Monaten  ausgerottet. 

Ähnlich  erging  es  einigen  Sekten,  die  mit  den  mystischen 
Lehren  des  Dichters  Leon  Tolstoi  in  Zusammenhang  gebracht 
werden  müssen,  so  den  Sselesnowzy  und  Ssutajewzy.  Die  erste- 
ren,  Bauern  des  Gouvernements  Ssmolensk,  namentlich  aus 
den  Dörfern  Tschalsk  und  Ssemjonowsk,  vereinigten  sich  1893 
zur  Zeit  der  großen  Hungersnot  als  Wohltätigkeitsgesellschaft, 
da  ihr  Hauptzweck  die  Unterstützung  der  Leidenden  mit  Brot 
und  Geld  war;  erst  als  die  Regierung  sie  verfolgte,  sagten  sie 
sich  von  der  Kirche  los,  verjagten  sie  ihre  Popen  und  schufen 
sich  eine  bessere  Religion  als  jene,  die  im  Wohltun  ein  kirchen- 
und  regierungsfeindliches  Verbrechen  sieht.  Sie  verwerfen  das 
Priestertum,  verehren  weder  die  Heiligenbilder  noch  die  Hei- 
ligen, da  sie  die  Sichtbarkeit  in  religiösen  Dingen  nicht  zu- 
geben, suchen  den  Fortschritt  im  sozialen  und  wirtschaftlichen 
Leben  und  lehren  und  lernen  horribile  dictu  lesen  und  schrei- 
ben; die  von  Tolstoi  herausgegebenen  Volksschriften  unter 
dem  gemeinsamen  Titel  „Der  Vermittler**  2)  zeigen  ihnen  den 
Weg  zur  Aufklärung;  die  Vorgeschrittenen  lesen  aber  selbst 
Buckle,  Spencer  und  Mill  in  russischer  Übersetzung,  und  die 


)   IIoc{)e;iHiiirL. 


—    209    — 

Landwirte  unter  ihnen  haben  die  primitiven  Ackergeräte  durch 
englische  Pflüge  ersetzt. 

Der  Gründer  der  Ssutajewszy  war  ein  Bauer,  Basil  Ssu- 
tajew,  der  1889  im  Gouvernement  Twer  auftrat  und  die  prak- 
tische Nächstenliebe  lehrte,  die  Ausübung  der  Gerechtigkeit 
als  die  wahre  Religion  erklärte.  Liebe  und  Gerechtigkeit, 
diese  göttlichen  Elemente,  müssen  vor  allen  Dingen  auch  im 
Leben  von  Mann  und  Frau  zur  Geltung  gelangen;  nicht  die 
lügnerische  Ehe  hat  Raum  für  sie,  sondern  nur  die  freie  ge- 
schlechtliche Verbindung;  und  da  in  dieser  die  Liebe  allein 
walten  soll,  sind  Zank  und  Prügeln  als  schwerste  Sünden  aus 
ihr  verbannt.  Diese  Lehren  des  Ssutajew  klingen  wie  Tol- 
stoische  Sätze,  man  weiß  aber  nicht,  ob  der  Muschik  den 
Dichter  beeinflußt  hat  oder  ob  Ssutajew  schon  ein  Schüler 
Tolstois  ist.  Es  ist  seltsamerweise  das  Wahrscheinlichere,  daß 
der  Bauemapostel  Ssutajew  der  Lehrer,  und  der  größte  Poet 
Rußlands  sein  Jünger  war.  Tolstoi  hat  seine  Lehre  bekannt- 
lich in  zahlreichen  Schriften  und  Traktätchen  selbst  nieder- 
gelegt: die  Nächstenliebe  ist  ihre  Grundlage,  und  sie  predigt 
unermüdlich  die  Rückkehr  zur  Natur  und  zum  Urchristentum, 
das  Glück  des  Menschen  kann  nur  im  einfältigen  Gottesglauben 
bestehen.  Die  Wirkung  der  Tolstoischen  Lehren  war  eine  ge- 
waltige; nicht  bloß  seine  Volksschriften  und  religiösen  Trak- 
tate, sondern  selbst  seine  Romane  wurden  Ursachen  zu  Sek- 
tenbildungen ^) :  nach  den   Grundsätzen  der  ,,Kreutzersonate** 


1)  Die  Regierung  Alexanders  III.  beabsichtigte  infolgedessen  zweimal, 
1886  und  1892,  den  Grafen  Tolstoi  in  ein  Kloster  zu  sperren,  führte  aber  den  Plan 
nicht  aus,  Klöster,  namentlich  das  von  Ssolowezk  am  Weißen  Meere,  waren 
in  Rußland  seit  jeher  beliebte  Verbannungsorte,  in  denen  die  Regierung  nicht 
bloß  religiöse,  sondern  auch  vornehme  politische  Unzufriedene,  denen  sie 
ans  Leben  zu  gehen  nicht  den  Mut  hatte,  wenigstens  für  die  Außenwelt  auf 
Lebenszeit  abschloß.  A.  S.  Prugawin  hat  in  einem  Buche  ,,Die  russischen 
Klostergefängnissc"  betitelt,  das  von  Professor  Reußner  in  Berlin  auch  ins 
Deutsche  übersetzt  wurde,  diese  Verbannungsorte  ergreifend  schön  geschildert. 
Derselbe  russische  Schriftsteller  veröffentlichte  1906  in  Petersburg  im  Verlag 
des  „Possrednik"  eine  neue  Auflage  seines  Buches,  betitelt  ..Die  Kloster- 
gefängnisse im  Kampfe  gegen  das  Sektenwesen",  worin  der  geplant  gewesenen 
Einkerkerung  Leo  Tolstois  im  Klostergefängnisse  von  Susdalj  ein  besonderer 
Abschnitt  gewidmet  ist.  Hierüber  ist  unter  den  literarischen  Anzeigen  der 
Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.  j^ 


—    210    — 

entstand  die  Gemeinschaft  der  Perchowzy^),  deren  Mitglieder 
hauptsächlich  gebildete  und  vornehme  Leute  wurden ;  die  Per- 
chowzy  tragen  Bauemkleidung  wie  Tolstoi,  arbeiten  wie  Bauern 
auf  ihren  Gütern,  verdingen  sich  auch  als  Arbeiter;  sie  ver- 
abscheuen die  Ehe,  denn  es  ist  am  besten,  meinen  sie,  wenn 
diese   sündenreiche   Menschheit   aussterbe.^) 

Vom  Tragischen  zum  Lächerlichen  ist  im  russischen 
Sektenwesen  der  Weg  so  kurz  wie  nirgends  sonst.  Da  gibt 
es  eine  Reihe  von  (Gemeinschaften,  die  sich  von  der  Kirche 
losgesagt  haben,  aber  das  Popentum  und  die  meisten  äußer- 
lichen Gebräuche  behalten  und  nur  in  Absonderlichkeiten  den 
Unterschied  zwischen  ihrem  Glauben  und  dem  der  Orthodoxen 
kenntlich  zu  machen  suchen.  Zu  ihnen  gehören  die  Anhänger 
des  Mönchs  Hiob,  der  1667  unter  den  Donkosaken  predigte, 
und  die  Sektierer  von  Tschernobol;  diese  glauben,  das  Ende 
der  Welt  sei  nahe,  man  dürfe  deshalb  weder  Eide  ablegen 
noch  Pässe  von  den  Behörden  annehmen;  sie  verehren  keine 
Heiligenbilder,  aber  statt  deren  das  Kreuz  mit  dem  Gekreu- 
zigten wie  die  Katholiken.  Im  Troitzakloster  befindet  sich  ein 
Bild  des  Erlösers,  wie  er  vom  Schmerze  verklärt  zum  Himmel 
emporfährt.  Dieses  Bild  wurde  zum  Mittelpunkt  des  Kultus 
einer  Sekte,  die  alle  anderen  Bilder  verbannt  und  zu  ihm 
v/allfahrtet  man  als  dem  einzigen  verehrungswürdigen  Symbol 
des  Christentums.  Im  Gouvernement  Ssaratow  entstand  1866  die 
Sekte  der  Zähler  3),  so  genannt,  weil  sie  andere  Feiertagsrech- 
nung einführten,  sie  zählen  die  Feiertage  nicht  wie  die  Russen ; 
sondern  so,  daß  Ostern  auf  einen  Mittwoch  und  jeder  Sonntag 
auf  einen  Mittwoch  fällt.  Im  übrigen  suchen  sie  das  Seelen- 
heil durch  die  Sünde.    Bei  meinem  Aufenthalte  in  Astrachan 


„Neuen  Freien  Freie"  von  30.  Dezember  1906  (wohl  von  N.  Golant)  ein  aus- 
führliches  interessantes  Referat  erschienen,  auf  das  ich  verweise. 

*)  IXepxoBUiJ  =  die  sich  Räuspernden. 

*)  Ähnlich  war  die  Lehre  der  katholischen  Sekte  der  Patareni  im  drei- 
zehnten Jahrhundert.  Diese  erklarten  auch,  sie  seien  in  die  Welt  gekommen, 
um  die  Bedrängten  zu  trösten  und  ihnen  zu  helfen;  ebenso  vereinten  sie  damit 
die  Ansicht,  daß  der  Ehestand  ein  Ehebruch  sei,  also  verworfen  werden  müsse ; 
JLucifer  habe  alle  sichtbaren  Dinge  geschaffen,  auch  die  Ehe  sei  Teufelswerk. 

•)  ^HCiiiTe.ir,  =  der  Zähler. 


—    211    — 

hörte  ich  von  einer  dort  existierenden  Spuckersekte,  bei  deren 
Andachtsübungen  vor  jeden  Frommen  eine  Tasse  Tee  gestellt 
wird:  Der  Prophet  der  Sekte  geht  von  Tasse  zu  Tasse,  spuckt 
hinein,  und  der  Trank  ist  geheiligt  i);  die  Frauen  der  Sek- 
tierer müssen  zu  diesen  Versammlungen  weißgekleidet  er- 
scheinen. 

Auf  noch  seltsamere  Dinge  verfallen  jene  Sekten,  die  über- 
haupt keine  Geistlichen  dulden.  So  behaupten  die  Anhänger 
der  Sekte  der  Verneiner  2),  daß  von  Peter  dem  Großen  mit  dem 
Patriarchat  zugleich  alles  Heilige  von  der  Erde  vertrieben 
wurde;  es  sei  in  den  Hinmiel  emporgestiegen.  Diese  Sektierer 
verneinen  deshalb  die  Kirche  und  den  Kultus,  die  Heiligen 
und  Heiligenbilder,  die  Sakramente  imd  das  Priestertum  und 
verkehren  nur  direkt  mit  dem  Erlöser.  Einen  Schritt  weiter 
gehen  die  Nichtbetenden^),  indem  sie  auch  das  Kreuz  ver- 
werfen. Ihr  Apostel  Zimin,  ein  Donkosak,  lehrte,  daß  es  vier 
Weltjahreszeiten  gebe :  den  Weltfrühling  oder  die  vorgottväter- 
liche  Zeit  von  der  Schöpf img  bis  Moses;  den  Weltsonmier,  die 
Zeit  des  Vaters  Gott,  von  Moses  bis  Christus;  den  Weltherbst, 
die  Epoche  des  Sohnes  Gott,  von  Christus  bis  1666,  dem  Ein- 
tritt des  Schismas;  und  den  Weltwinter,  das  Zeitalter  des  hei- 
ligen Geistes,  von  dem  Beginn  des  Schismas  bis  ans  Ende 
der  Welt.*)    In  dem  Zeitalter  des  heiligen  Geistes  aber  sollen 


1)  Zu  Zeiten  des  Kaisers  Heinrichs  V.,  um  1124,  war  in  Antwerpen 
ein  Apostel  Tandemus,  auch  Tachelinus  genannt,  erschienen,  der  viele  Tausende 
Anhanger  fand.  Das  Wasser,  worin  er  sich  gebadet  oder  mit  dem  er  sich  ge- 
waschen hatte,  wurde  von  seinen  Verehrern,  wie  die  Chronisten  berichten, 
gierig  getrunken.  Die  Frage  bleibe  offen,  ob  die  Astrachaner  oder  die  Ant 
werpener  Sekte  das  Appetitlichere  wählte. 

*)   OTpeuaxe-Ti.Hiae. 

3)   HeMOHHim. 

♦)  Diese  Jahreszeiten- Verteilung  ist  zweifellos  keine  russische  Erfindung. 
Schon  die  Valentinianer  im  2.  Jahrhundert  kannten  vier  Weltalter,  und  auch 
bei  ihnen  entwickelten  sich  infolge  ihrer  Lehren  große  Greuel  und  Laster. 
Sie  hielten  es  nicht  für  nötig,  Gutes  zu  tun,  sondern  lebten  nach  ihrem  Wohl- 
gefallen, mißbrauchten  skrupellos  nicht  bloß  des  anderen  Weib,  sondern 
lebten  auch  mit  ihren  leiblichen  Schwestern  und  hielten  sich  selbst  für  voll- 
kommene Menschen,  aber  jene  für  einfältig,  die  nicht  taten  wie  sie.  Die  Schüler 
der  Valentinianer,  die  Ptolemaei,  fügten  zu  den  vier  Weltaltem  vier  andere 
hinzu,  und  lehrten,  Gott  habe  zwei  Weiber  gehabt,  den  Verstand  und  den 

14* 


—     212    — 

sich  Geburt,  Ehe  und  Begräbnis  ohne  Zeremonien  volkiehen. 
Die  Nichtbetenden  taufen  also  nicht,  vereinigen  sich  zu  ge- 
schlechtlichem Leben  auf  Gnmd  bloßer  Übereinstimmung,  und 
übergeben  die  Toten  der  Erde  nicht  auf  geweihten  Friedhöfen, 
sondern  wo  immer  es  ihnen  paßt.  Nach  Leroy-Beaulieu^)  leug- 
nen sie  auch  die  Unsterblichkeit;  nach  dem  Tode,  sagen  sie, 
habe  alles  ein  Ende.  Ein  Zweig  der  Nichtbetenden  sind  die 
Seufzenden  2);  sie  haben  die  Weltaltereinteilung  wie  jene,  ihr 
Apostel,  der  Schuster  Tichanow  aus  Kaluga,  der  zuerst  1871 
auftrat,  gestattet  jedoch,  das  Gebet  durch  Seufzer  zu  markieren ; 
die  Seufzer  des  Herzens,  sagte  er,  sind  das  wahre  Gebet  der 
Christen.^)    Eine  andere  Sekte  verzichtet  auch  auf  das  Gebet, 


Willen,  und  mit  diesen  andere  Götter  gezeugt.  —  Simon  der  Zauberer,  der 
Gründer  der  Simonianersekte,  statuierte  acht  Zeitalter,  gab  seine  Maitresse 
für  den  menschgewordenen  heiligen  Geist  aus  und  erklärte  den  Gläubigen: 
,,wer  sich  auf  sie  verläßt,  den  mache  ich  selig,  im  übrigen  aber  lebe  jeder  wie 
er  wolle**.  —  Ums  Jahr  1204  lehrte  Almaricus  zu  Paris:  Wenn  Adam  nicht 
gesündigt  hätte,  gäbe  es  keine  natürUche  Fortpflanzung  und  keinen  Unter- 
schied der  Geschlechter.  Gottes  des  Vaters  Macht  habe  nur  bis  zur  Ankunft 
Christi  gewährt;  Christi  Lehre  aber  hörte  nach  Ausgießung  des  heiligen  Geistes 
auf,  daher  seien  Taufe  und  Abendmahl  nicht  mehr  nötig.  Almaricus  leugnete 
die  Auferstehung  der  Toten,  Paradies  und  Hölle,  und  sagte:  Die  Liebe  bringe 
es  zuwege,  daß  Sünde  keine  Sünde  sei.  —  Im  14.  Jahrhundert  lehrte  Dulcinus 
in  Italien:  Gott  der  Vater  habe  von  Anfang  der  Welt  bis  zur  Ankunft  Christi 
regiert,  Christus  bloß  bis  zum  Jahre  1300,  jetzt  werde  Dulcinus  das  Reich 
des  heiligen  Geistes  aufrichten.  Im  Reiche  des  heiligen  Geistes  aber  ist  Un- 
zucht keine  Sünde,  und  so  sammelte  sich  um  Dulcinus  binnen  kurzem  ein 
Heer  von  6000  Anhängern,  Männern  und  Frauen.  Auf  Befehl  des  Papstes 
Clemens  IV.  wurden  aber  der  Apostel  und  sein  Weib  in  Stücke  zerrissen  und 
verbrannt.  —  Auch  in  England  predigte  die  Fanatikerin  Attawey  die  Variation 
der  uralten  gnostischen  Lehre:  Unter  dem  Gesetze  regiere  der  Vater  und 
unter  dem  Evangelio  der  Sohn.  Vater  und  Sohn  aber  übergeben  das  Reich 
dem  heiligen  Geist  in  der  besten  Zeit,  da  alle  Gottlosigkeit  vertrieben  und 
die  wahre  Heiügkeit  und  Gerechtigkeit,  die  vor  dem  Fall  bestanden,  her- 
gestellt werden  würden.  Von  sich  selbst  sagte  die  Attawey :  sie  würde  nimmer 
sterben,  sondern  zu  Jerusalem  lauter  Jesuskinder  zur  Welt  bringen,  sich  mit 
Christo  sichtbarlich  vereinigen  und  in  Ewigkeit  mit  ihm  regieren. 

1)  a.  a.  O.  III  427. 

2)  i^;ai.ixaHUU. 

3)  Ähnlich  lehrte  im   16.  Jahrhundert  Paulus  von  Krakau:  Gott  müsse 
nicht  mit  dem  Munde,  sondern  mit  dem  Herzen  angerufen  werden.     Dieser 


—    213    — 

aber  nicht  auf  das  Abendmahl ;  zu  letzterem  nimmt  sie  indessen 
nur  Rosinen,  die  von  reinen  Jungfrauen  an  die  Gläubigen  ver- 
teilt werden  müssen. i)  Die  Sekte  der  Gähnenden  kennt  einen 
noch  einfacheren  Gebrauch  des  Abendmahls ;  sie  schreibt  ihren 
Anhängern  vor,  am  Gründonnerstag  den  Mund  offen  zu  halten 
solange  bis  Engel  ihnen  zu  trinken  gegeben  haben.  Kon- 
sequenterweise gibt  es  auch  ganz  schweigende  oder  stumme  2) 
Sektierer,  die  angeblich  den  Glauben  an  Gott,  Religion  und 
Schöpfung  gänzlich  leugnen.  Positives  ist  von  ihnen,  trotz- 
dem sie  zu  den  ältesten  Sekten  gehören,  nicht  bekannt,  da 
sie  ihrem  Namen  entsprechend  über  ihr  Leben  und  Treiben 
tiefstes  Geheimnis  verbreitet  haben.  Schon  im  achtzehnten 
Jahrhundert  fand  man  Mitglieder  dieser  seltsamen  Gesellschaft 
in  Bessarabien,  an  der  unteren  Wolga  imd  in  Sibirien.  Zur 
Zeit  Katharinas  II.  wollte  der  sibirische  Generalgouverneur 
Pestel  die  Schweigenden  zum  Reden  bringen;  er  ließ  sie  fol- 
tern, unter  den  Fußsohlen  kitzeln,  tröpfelte  ihnen  brennendes 
Siegellack  auf  den  nackten  Leib,  aber  er  vermochte  diesen 
stummen  Fanatikern  nicht  einmal  einen  Schmerzensseufzer  zu 
entreißen.^)  Im  Jahre  1855  entdeckte  man  an  der  Wolga 
einen  Zweig  der  Schweigenden.  Diese  Gruppe  sah  nicht  bloß  in 
der  Schweigsamkeit  die  erste  Bedingung  zur  Seligkeit,  son- 
dern ihre  Mitglieder  glaubten  auch  unermüdlich  über  die  Felder 
und  durch  die  Wälder  rennen  zu  müssen,  um  das  Heil  ihrer 
Seele  zu  suchen,  das  sich  ihrer  Ansicht  nach  immer  auf  der 
Flucht  vor  ihnen  befindet.  Ähnlich  treibt  es  die  Sekte  der 
Wanderer  oder  Irrenden,  von  der  später  die  Rede  sein  wird. 
Es  ist  möglich,  daß  gleich  den  Wanderern  auch  die  Stummen 
in  ihren  Riten  furchtbare  Greueltaten  begehen.  Wie  unter  Katha- 


Apostel  meinte  auch,   es  sei  nicht   Ehebruch,   wenn  man  bei  eines  anderen 
Weib  liege. 

1)  Das  ist  jedenfalls  nicht  so  schlimm  wie  bei  jener  abendländischen 
Sekte  der  Catharisten,  die  unter  das  Mahl  zum  Abendmahlsbrote  männlichen 
Samen  mischten  und  auf  diese  Erfindung  so  stolz  waren,  daß  sie  sich  selbst 
Purificati  oder  Purgatores  nannten. 

2)  Man  nennt  sie  bald  Mai^iaHiiKii,  Schweigende,  bald  Be;ic.iOB(»CHwe, 
Sprachlose  oder  H'bMue,    Stumme. 

')  Haxthausen  I  346.  —  Leroy-Beaulieu  III  426. 


—    214    — 

rina  II.  wurde  unter  Alexander  IL  im  Jahre  1873  der  Ver- 
such gemacht,  aus  diesen  geheinmisvollen  Sektierern  eine  Er- 
klärung ihres  Verhaltens  herauszubringen.  Die  vor  die  Ge- 
richte geschleppten  Schweigenden  gaben  aber  auf  keine  Frage 
eine  Antwort  und  ließen  sich  kaltblütig  zur  Deportation  nach 
Sibirien   verurteilen. 

Und  alle  diese  bisher  erwähnten  Sekten  muß  man  als 
harmlose  Erscheinungen  bezeichnen  im  Vergleiche  zu  jenen 
Schöpfungen,  welche  religiöser  und  erotischer  Wahnsinn,  die 
beide  nirgends  so  innig  Hand  in  Hand  gehen  wie  hier,  in 
Rußland  hervorgerufen  haben.  Russische  und  europäische  For- 
scher haben  nach  Erklärungen  für  diese  entsetzliche  Fruchtbar- 
keit von  Roheit,  Mordlust,  Wollust  und  Selbstgeißelungsgier 
vergebens  gesucht  und  sich  zumeist  mit  der  Vermutung  ab- 
gefunden, daß  sich  hier  und  da  bei  den  russischen  Sekten  un- 
verkennbare Spuren  von  gnostischen  Beschauungen  nach- 
weisen lassen  könnten,  sei  es,  daß  diese  unnuttelbar  vom  Orient 
und  bereits  im  Mittelalter,  sei  es,  daß  sie  vom  Okzident  und 
erst  seit  dem  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts  eingedrungen 
wären.  Sicher  imterliegt  es  auch  kaum  einem  Zweifel,  daß 
zwischen  einigen  russischen  und  einigen  abendländischen  oder 
morgenländischen  Ketzereien  Parallelen  herzustellen  wären. 
Einmal  kann  man  die  alten  Gnostiker,  ein  andermal  die  Quäker 
zu  Vergleichen  heranziehen.  Bei  einigen  wenigen  Sekten  darf 
man  fast  von  einer  Nachahmung  sprechen,  so  daß  der  russische 
Klerus  in  seinen  Berichten  die  Sektierer  je  nach  ihrer  Lehre 
mit  den  alten  Namen  katholischer  Sektierer  bezeichnet.  Ich 
habe  mich  bemüht,  wo  sich  solche  Ähnlichkeiten  aufdrängen 
oder  solche  Einflüsse  tatsächlich  nachweisen  lassen,  dies  stets 
in  Anmerkungen  zu  notieren. i)  Im  allgemeinen  aber  erscheint 
mir,  wie  ich  wiederholt  betont  habe,  das  Sektenwesen  in  Ruß- 


1)  Mein  Leitfaden  ist  für  die  älteren  nichtrussischen  Sekten  das  merk- 
würdige, jetzt  schon  überaus  selten  gewordene  Buch:  ,,Compendieuses  Kirchen- 
und  Ketzer-Lexicon,  in  welchem  alle  Ketzereyen,  Ketzer,  Secten.  Sectirer, 
geistliche  Orden  und  viele  zur  Kirchen-Historie  dienende  Termini  auffs  Deut- 
lichste erkläret,  und  insonderheit  die  Urheber  und  Stiffter  jeder  Secte  ange- 
zeiget  werden.  Denen  angehenden  Studiosis  Theologiae  zur  Erleichterung 
der  Theolop^iae  Polemicae,   wie  auch  Ungelehrten   zu  einiger  Bestärkung  in 


—    215    — 

land  als  ein  spezifisch  russisches  Gewächs.  Zunächst  ist  es 
origineller  schon  durch  die  Vermischung  mit  Heidnischem; 
dann  ist  hervorzuheben,  daß  anderswo  kaum  jemals  Ausbrüche 
so  roh  sinnlichen  Charakters  und  solche  Massenmorde  in  ero- 
tisch-religiösem Wahnsinn  stattgefunden  haben.  Aber  das  be- 
sonders Merkwürdige  ist,  daß  sich  diese  Sekten  immer  stärker 
erneuem,  daß  sich  jede  von  ihnen  zerteilt  in  zahlreiche  Äste 
und  Zweige;  kaum  verschwindet  eine  von  ihnen  und  schon 
wachsen   Dutzende   anderer   nach. 

Dem  Betrug  und  der  Lüge,  dem  Müßiggang,  der  auf 
Kosten  der  Leichtgläubigkeit  fett  wird,  der  Gesetzlosigkeit  und 
der  Raubsucht  stehen  da  natürlich  alle  Tore  offen.  Neben 
den  Fanatikern  ist  Raum  für  die  Spitzbuben  i),  und  wo  Hei- 
lande und  Gottesmütter  alljährlich  massenhaft  wie  die  Pilze 
aus  dem  Boden  schießen,  da  kann  es  auch  der  falschen  Zaren 
die  Menge  geben.  Über  die  Persönlichkeiten  der  Dmitry, 
Peter  III.^),  Konstantin  haben  sich  Legenden  gebildet,  und  die 
Legenden  schufen  Sekten.    Man  erklärt  den  regierenden  Herr- 


der  Erkändtniß  der  Wahrheit  zur  Gottseeligkeit  herausgegeben   von   J.   G. 
H.  Andere  und  verbesserte  Auflage,  Schneeberg,  bey  Fulden,    1734." 

1)  Lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  eine  interessante  Schrift:  26  mo- 
CKOBCKHXT,  -THce-npopoKoin..  .T/Ke-IOl)o;^Hm,Ix•L,  jtypT,  n  ;;ypaKOBT>,  uj^anie  H.  BapROsa, 
MocKBa,  Tiinorpa(|)ifl  CewiMia,  1865,  worin  eine  Reihe  moskauer  Trugpropheten, 
Schehne  und  Narren  geschildert  ist.  Diese  zwei  Dutzend  sind  im  Laufe  ganz 
kurzer  Zeit  aufgetaucht! 

2)  1770  trat  in  Orel,  Tambow  und  Tula  ein  gewisser  Kondrati  Seiiwanow 
als  Gottmensch  und  Peter  III.  auf,  als  Zar  und  Christus  in  einer  Person.  Katha- 
rina verschickte  ihn  nach  Sibirien,  Paul  rief  ihn  zurück.  Aber  als  der  Schwärmer 
noch  immer  nicht  aus  der  Rolle  fiel  und  Paul  als  Sohn  titulierte,  ließ  der  Zar 
ungnädig  den  Gott  und  Vater  ins  Irrenhaus  sperren.  Alexander  I.  gab  dem 
Kondrati  abermals  die  Freiheit,  doch  neuerdings  spielte  der  Konsequente 
seine  Rolle,  nun  als  Großvater,  weiter.  Jetzt  sperrte  man  ihn  in  ein  Kloster, 
wo  er  erst  1832,  112  Jahre  alt,  starb.  —  Auch  in  Napoleon  sah  eine  Sekte  einen 
Gottmenschen,  den  wiedergekehrten  Christus,  der  das  Reich  Satans  ver- 
nichtete, die  Leibeigenschaft  aufhob,  und  viele  glauben,  Napoleon  lebe  noch 
heute  als  Christus  am  Baikalsee  und  werde  nochmals  nach  Rußland  kommen, 
um  es  zu  befreien  von  der  satanischen  Bedrückung.  —  Es  fehlt  nun  noch, 
daß  eine  Sekte  entstehe,  die  im  japanischen  Marschall  Oyama  einen  Gott- 
menschen erkenne. 


—    216    — 

scher  als  Usurpator  oder  Antichrist,  und  hat  den  frömmsten 
Vorwand  zur  Verweigerung  aller  gesetzlichen  Pflichten,  kann 
seinen  Glauben  nicht  mehr  vereinigen  mit  dem  Gehorsam 
gegen  die  Behörden,  man  bezahlt  also  keine  Steuern,  entzieht 
sich  dem  Militärdienst,  hält  Diebstahl,  Raub  und  selbst  Mord, 
vor  allem  aber  die  furchtbarste  Unzucht,  sogar  Sodomie,  teils 
für  erlaubte,  teils  für  lobenswerte  Dinge.  Satan  Beelzebubo- 
witsch  sitzt  auf  dem  Throne,  sagen  diese  Weisen,  und  Unter- 
werfung unter  seine  Befehle  ist  Vergehen  gegen  Gott.  Andere 
wieder  meinen,  daß  Christus  leibhaftig  und  sichtbarlich  auf 
Erden  regiere,  aber  dann  braucht  man  gewiß  nicht  Menschen 
zu  gehorchen.  In  dem  einen  wie  dem  anderen  Falle  hält  man 
sich  befreit  von  seinen  Bürgerpflichten  und  trotzt  den  staat- 
lichen, gesellschaftlichen  und  Moralgesetzen. i)  Die  Emanzi- 
pation der  Leibeigenen  hat  in  diesen  Ideen  keine  merkliche 
Veränderung  hervorgerufen.  Man  muß  vielmehr  sagen,  daß 
die  Unzufriedenheit  mit  den  bestehenden  Zuständen  gewachsen 

* 

statt  gefallen  sei;  der  befreite  Muschik  begehrt  auch  Grund 
und  Boden.  Während  so  einerseits  das  Verlangen  nach  einer 
Verteilung  der  Güter  inmier  stärker  wurde  und  in  den  jahre- 
langen Wirren  der  letzten  Zeit  stets  neue  Nahrung  fand, 
konnte  ddr  Glaube  an  die  Wiederkehr  Christi  und  an  die 
Entstehung  einer  neuen  freien  Weltordnung  Sekte  um  Sekte 
ins  Leben  rufen. 

Der  gnostische  Gedanke  von  der  Aufrichtung  eines 
tausendjährigen  Reiches  bleibt  für  Rußland  ein  unvergäng- 
licher 2)  und  nimmt  hier  eine  originelle  materielle  Form  an; 


1)  So  machte  es  auch  die  Sekte  der  Beghardi  in  Deutschland  zu  Ende 
des  13.  Jahrhunderts,  die  namentlich  in  Köln  auftrat.  Sie  lehrte:  der  Mensch 
könne  es  in  diesem  Leben  so  weit  bringen,  daß  alles,  was  er  tue,  keine  Sünde 
mehr  sei.  Er  brauche  dann  nicht  mehr  zu  fasten  und  nicht  mehr  der  Obrig- 
keit zu  gehorchen,  auch  keine  Tugenden  mehr  auszuüben  und  könne  huren 
nach  Herzenslust,  denn  die  Natur  inkliniere  zu  fleischlicher  Vermischung; 
dagegen  ward  das  Küssen,  als  eine  nicht  von  der  Natur  vorgesehene  Leiden- 
schaft, als  Todsünde  verboten.  —  Die  russischen  Sektierer  vereinigen  gleich- 
falls .ihre  Sozialrevolutionären  und  agrarsozialistischen  Tendenzen  mit  ge- 
schlechtlicher Freiheit  und  Ungebundenheit. 

2)  Die  Chiliasten  behaupteten  bekanntlich,  daß  nach  der  allgemeinen 
Auferstehung  ein  sichtbares  Reich  Christi  auf  Erden  sein  und  tausend  Jahre 


—    217    — 

die  Russen  warten  nicht  erst  auf  den  jüngsten  Tag,  sondern 
lassen  sich  das  tausendjährige  Reich  von  zahllosen  Propheten 
schon  jetzt  zimmern.  Es  gibt  fast  kein  Gouvernement  im 
Zarenreiche  mehr,  das  nicht  einen  neuen  Christus  hätte  er- 
scheinen sehen,  namentlich  die  Wolgaländer  erweisen  sich  als 
überaus  fruchtbare  Heilanderzeuger;  auch  das  Gouvernement 
Tambow,  diese  förmliche  Sektenfabriksstätte,  erfreut  sich  in 
dieser  Beziehung  besonderer  Bevorzugung.  Im  Jahre  1868  trat 
hier  ein  gewisser  Panow  als  Christus  auf  und  lehrte,  daß  nur 
jene  rein  seien,  die  ihm  folgen;  alle  anderen  aber  unrein  und 
der  Hölle  verfallen.  Häufig  erfährt  man,  daß  in  irgend  einem 
Dorfe  auf  Veranlassung  irgend  eines  Propheten  die  Muschiks 
sich  zusammentun  und  betend  die  Nächte  durchwachen,  um 
auf  das  Erscheinen  Christi  und  den  Posaunenschall  des  jüng- 
sten Gerichts  zu  hoffen.  Läßt  aber  Christus  zu  lange  auf  sich 
warten,  so  begibt  man  sich  auf  die  Suche  nach  ihm;  man 
meint,  er  müsse  schon  auf  Erden  weilen,  halte  sich  jedoch 
irgendwo  versteckt,  und  es  sei  nun  die  Aufgabe  der  Gläu- 
bigen, ihn  ausfindig  zu  machen.  Zur  Zeit  des  ersten  Nikolaj 
gab  es  in  Sibirien  eine  Sekte  mit  diesem  Programm;  jeder,  der 
sich  ihr  anschloß,  nannte  sich  einen  Christussucher  i)  und  eilte 
ruhelos  durch  Wälder  und  Täler,  durch  Wüsten  und  über  die 
Berge,  um  den  Erlöser  aufzustöbern.  Am  klügsten  stellten  es 
die  Sektierer  an,  die  im  Jahre  1880  sich  zu  einer  Gemeinde 
vereinigten  und  erklärten :  jeder  von  ihnen  sei  ein  Selbst- 
gott 2),  ein  Christus;  sie  verehren  nur  einer  den  anderen.  Einen 
ähnlichen  Namen  führen  viele  Sekten,  die  mit  dem  gemein- 
samen Namen  Chlysty^)  vom  Volke  bezeichnet  werden,  weil 


währen  würde.  Es  gibt  aber  dreierlei  Meinungen:  nach  einer  soll  das  tausend- 
jährige Reich  noch  vor  dem  jüngsten  Tage  geschaffen  werden,  nach  der  anderen 
werde  es  nur  ein  geistliches,  nach  der  dritten  Ansicht  aber  ein  fleischliches 
Reich  sein,  worinnen  alle  Wollüste  die  Glücklichen  umfangen.  Die  dritte 
Gattung  fand  im  Abendlande  die  meisten  Anhänger,  und  sie  ist  auch  in  Ruß- 
land die  ersehnteste. 

1)   IIcKaxo.ih  Xpiicra. 

*)  X.iiiicTbi,  die  Geißler,  von  Jüiecraii.  oder  xJiuciaxf..  peitschen.  Die 
wichtigste  Flagellantensekte  nennt  sich  auch  Gottmenschen,  »liojqi  BoaidJt, 
oder  Gemeinde  des  Heilands,  xpiicroBiUHHa,  daraus  machte  das  Volk  x.iijICTO- 


—    218    — 

bei   ihnen    die    Geißelung   obligatorisch    ist.     Doch   bestehen 
zwischen  diesen  Sekten  vielfach  große  Unterschiede. 

Die  berühmteste  Flagellanten-  oder  Chlystysekte  ist  die 
der  Gottmenschen;  sie  soll  angeblich  schon  zugleich  mit  der 
Orthodoxie  aus  Bulgarien  oder  aus  dem  Orient  nach  Ruß- 
land gekonunen  sein.  Andere  Ansichten  halten  sie  für  ein 
Produkt  des  siebzehnten  Jahrhunderts  und  bringen  sie  mit 
dem  deutschen  Schwärmer  Kuhlmann  in  Verbindimg,  von  dem 
ich  schon  im  vorigen  Kapitel  erzählt  habe.  Die  Gottmenschen 
selbst  behaupten  folgendes  in  bezug  auf  ihren  Ursprung:  zur 
Zeit  Peters  des  Großen  erschien  Gott- Vater  in  einer  feurigen 
Wolke  auf  dem  Gorodinberge  im  Gouvernement  Wladimir, 
nahm  menschliche  Gestalt  an  imd  nannte  sich  Prophet  Da- 
niel Filipowitsch.  Er  brachte  zwölf  Gebote  mit;  deren  erstes 
lautet:  „Ich  bin  der  von  den  Propheten  geweissagte  Gott  und 
zum  Heile  der  Menschheit  zum  zweiten  Male  auf  die  Erde 
herabgestiegen;  es  gibt  keinen  Gott  außer  mir.**  Einer  der 
ersten  Befehle  dieses  Gottes  war:  seine  Lehre  nie  aufzu- 
schreiben, es  sollte  alles  seiner  und  seiner  Nachfolger  Inspi- 
ration überlassen  bleiben;  er  warf  selbst  alle  seine  Schriften 
in  die  Wolga.  Bald  nach  seiner  Menschwerdung  vermählte 
sich  Daniel  Filipowitsch  Gott  Zebaoth  —  dies  sein  voller  Titel 
—  mit  einer  hundertjährigen  Frau  imd  zeugte  mit  dieser  Sarah 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  einen  Sohn,  genannt  Iwan  Ti- 
mofejewitsch  Sußlow,  der  als  Leibeigener  der  berühmten  Adels- 
familie Naryschkin  angehörte.  Bevor  Daniel  Filipowitsch 
wieder  in  seinen  Himmel  zurückfuhr,  ernannte  er  Iwan  Ti- 
mofejewitsch  zum   Heiland   und   bestimmte,    daß   beim   Tode 


BfUHua.  Manchmal  bezeichnet  sich  diese  Sekte  als  Gesellschaft  der  Brüder 
und  Schwestern,  das  Volk  nennt  sie  dann  im  Anklang  an  Francma9ons:  <|)ap- 
Ma30HULi.  (Die  Freimaurerei  hat  im  eigentlichen  Rußland  wenig  Anhänger 
gefunden,  sondern  ist  bloß  zu  Zeiten  Katharinas  II.  und  Alexanders  I.  haupt- 
sächlich in  den  Ostseegouvemements  verbreitet  worden.  Nikolaj  I.  verfolgte 
die  Freimaurer  überall,  wo  er  welche  vermutete.)  Der  Klerus  bezeichnet  in 
seinen  Berichten  die  Chlysty  am  häufigsten  als  russische  Quäker.  Außer 
der  bisher  zitierten  Literatur  sind  speziell  für  die  Gottmenschen  nachstehende 
Werke  von  Interesse:  PsHUKÜt,  JIruh  BoHcift  ii  ckoiiuh,  MocKBa  1872;  ^{06^01- 
H<^pcKirt.  riMaii  Bo5Kitt;  A.  nc'iei)CKift  (=  Me.Ti>HifKoirL),  Bi,  ix)pax7.. 


—    219    — 

eines  Heilands  stets  ein  neuer  bestellt  werde,  auf  daß  Christus 
in  Menschengestalt  immerdar  auf  Erden  wandele.  Iwan  Ti- 
mofejewitsch,  der  erste  Christus  der  Chlysty,  wählte  sich  zwölf 
Apostel  und  predigte  an  den  Ufern  der  Oka  die  zwölf  Gebote 
seines  Vaters  Zebaoth  Daniel  Filipowitsch.  Die  das  Evan- 
gelium parodierende  Legende  erzählt  weiter,  daß  Iwan  ge- 
fangen, gegeißelt,  gefoltert  und  vor  der  Kremlpforte  hinge- 
richtet wurde.  Am  Freitag  begrub  man  ihn,  aber  in  der 
Nacht  von  Sonnabend  auf  Sonntag  ist  er  auferstanden.  Man 
nahm  ihn  abermals  gefangen  und  kreuzigte  ihn  zum  zweiten 
Male ;  um  sein  neues  Auferstehen  unmöglich  zu  machen,  wurde 
er  geschunden.  Ein  Weib,  das  des  Weges  kam,  warf  ein 
Leichentuch  auf  den  geschundenen  Leib  und  das  Tuch  ward 
zu  einer  neuen  Haut,  und  so  konnte  Iwan  abermals  auferstehen. 
Er  blieb  dann  lehrend  unter  seinen  Anhängern,  bis  er  in  den 
Himmel  emporstieg;  vorher  hatte  auch  er  einen  Nachfolger 
gezeugt.  Denn  obwohl  die  Gottmenschen  die  Ehe  verdammen 
als  etwas  Unreines,  so  ist  es  doch  Pflicht  des  jeweiligen  Christus, 
sich  zu  vermählen,  damit  das  Blut  des  Daniel  Filipowitsch  nicht 
versiege  und  sein  Same  sich  fortpflanze  in  alle  Ewigkeit.  Die 
Erbschaft  Daniels  kann  auch  durch  Adoption  verpflanzt  oder 
auch  auf  eine  weibliche  Linie  übertragen  werden.  Es  hat 
so  jedes  Mitglied  der  Sekte,  ob  Mann  oder  Frau,  die  Aus- 
sicht auf  die  Heilandschaft,  und  deshalb  betrachten  sich  die 
Gottmenschen  alle  zugleich  als  Heilande  in  spe  und  zollen 
sich  gegenseitig  Verehrung,  wie  die  früher  erwähnten  Selbst- 
götter. Wenn  die  Erbschaft  Daniels  einer  Frau  zufällt,  so 
wird  letztere  die  Gottgebärerin  genannt,  Muttergottes,  oder 
auch  Göttin. 1)  Mit  Vorliebe  erhebt  man  hysterische  Weiber 
zu  diesem  Ehrenposten.  Im  Flecken  Staroje  bei  Kostroma 
lebte  zu  Ende  der  Regierung  des  ersten  Nikolaj  ein  Mädchen 
Uljana  Wassiljew^),  die  von  den  Gottmenschen  als  letztes  Glied 
der  Familie  Daniels  betrachtet  und  als  heilige  Jungfrau  ver- 
göttlicht  wiurde.  Der  Kaiser  ließ  die  Göttin  in  ein  Kloster 
einsperren,  doch  übertrugen  die  Gottmenschen  nunmehr  ihre 


1)    BoropoÄHiia  oder  Eomefl. 

*)  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.  III  435. 


—     220    — 

Verehrung  auf  das  Dorf  Staroje  selbst  und  wallfahrten  seit- 
her dorthin,  ebenso  wie  nach  dem  historischen  Hause  in  Mos- 
kau, in  dem  einst  Daniel  selbst  gewohnt  hat;  in  Staroje  be- 
findet sich  ein  Brunnen,  aus  dem  zur  Winterszeit  nach  allen 
Richtungen  das  zu  Eis  gewordene  Wasser  verfrachtet  wird, 
das  den  Gottmenschen  zur  Bereitung  des  Abendmahlbrotes 
zu  dienen  hat. 

Die  Rolle  der  russischen  Frau  im  Sektentum  ist  eine  be- 
merkenswerte. Das  Weib,  im  allgemeinen  das  Lasttier  des 
Muschik,  die  Sklavin  des  Sklaven,  die  man  beim  geringsten 
Anlaß  halb  tot  prügelt,  tritt  bei  den  Sekten  als  frei  und 
gleichberechtigt  auf,  als  gewänne  sie  mit  der  von  diesen  Sekten 
zumeist  proklamierten  Geschlechtsfreiheit  auch  die  soziale  Un- 
abhängigkeit. Bei  vielen  priesterlosen  Sekten  können  Frauen 
die  Siellungen  der  Ältesten  erhalten,  und  dort,  wo  Taufe  und 
Beichte  noch  bestehen,  taufen  und  die  Beichte  abnehmen. 
Frauen  sind  auch  Sektenstifterinnen,  wie  die  Prophetin  Marfa 
Possadniza,  die  zur  Zeit  des  Zaren  Alexej  im  Gouvernement 
Nowgorod  eine  Gemeinde  von  Flagellanten  um  sich  versam- 
melte, oder  Xenia  Iwanowna,  die  um  1880  unter  den  Don- 
kosaken eine  asketische  Sekte  gründete,  deren  Mitglieder  sich 
die  Enthaltsamkeit  vom  Fleischgenusse  und  von  fleischlichen 
Genüssen  gelobten.  Ähnliche  Prophetinnen  gab  es  eine 
Menge. 1)     Hervorzuheben   wäre'  auch,    daß    die   meisten   ero- 


1)  Auch  im  katholischen  Sektenwesen  haben  viele  Frauen  Prophetinnen- 
rollen inne  gehabt.  Ich  erwähnte  schon  früher,  daß  Simon  der  Zauberer  seine 
Konkubine  Selene  als  den  heiligen  Geist  ausgab.  Agape,  ,,ein  erfahren  aber 
verführerisch  Weib"  aus  Spanien,  gründete  im  4.  Jahrhundert  die  Liebes- 
sekte, deren  Mitglieder  nur  Frauen  waren  und  sich  Bet-  oder  Liebesschwestem 
nannten.  Der  Ketzer  Apelles,  welcher  lehrte,  daß  dem  höchsten  Gott  noch 
ein  feuriger  Gott  unterworfen  sei  und  daß  dieser  Untergott  es  war,  der  dem 
Moses  im  Busche  erschien  und  den  Israeliten  das  Gesetz  gab,  ließ  seine  Lelire 
durch  die  Hure  Philomena  verbreiten,  die  er  zur  Prophetin  erklärt  hatte. 
Ein  Zweig  der  Montanisten  nannte  sich  Pepuziani  nach  dem  Orte  Pepuza  in 
Phrygien,  wo  Montanus  mit  seinen  beiden  Maitressen  und  Prophetinnen 
Quintilla  und  Priscilla  sich  oft  aufgehalten;  Pepuza  hieß  bei  den  Montanisten 
das  himmlische  Jerusalem,  weil  hier  Christus  in  Frauengestalt  den  beiden 
Prophetinnen  erscliienen  war.  Nach  der  Priscilla  hieß  eine  montanistische 
Sekte  die  Priscillianer  und  eine  andere  nannte  sich  nach  der  Quintilla  die 


—     221     — 

tischen  und  Geißlersekten  Rußlands  im  achtzehnten  Jahr- 
hundert entstanden,  in  jenem  Säkulum,  wo  fast  nur  Frauen 
herrschten. 

Während  sich  den  rationalistischen  und  idealistischen  Sek- 
ten zumeist  Bauern  tind  Kaufleute  anschlössen,  rekrutieren  sich 
die  Mitglieder  der  erotischen  Geißlersekten  auch  aus  den  höhe- 
ren Klassen.  Historische  Dokumente  zählen  unter  den  bei  Verfol- 
gungen der  Regierungen  aufgefangenen  Geißlern  Namen  von 
Bojaren,  Fürsten,  hohen  Militärs,  Staatsmännern  und  auffallend 
vielen  vornehmen  Damen  auf ;  auch  die  Geistlichkeit  der  ortho- 
doxen Kirche  verließ  in  Massen  heimlich  ihre  Klöster,  um  sich  an 
den  religiös-sinnlichen  Ausschweifungen  der  Geißlerbrüder  und 
Geißlerschwestern  zu  beteiligen.  In  Moskau  war  früher  das 
sogenannte  Jungfernkonvikt  ( AiBuniü  o6nTe.iT>)  berüchtigt 
als  ein  Zentrum  des  Flagellantenwahnsinns.  Im  Jahre  1744 
wohnte  die  Fürstin  Darja  Feodorowna  Chowanskaja  der  Ver- 
sammlung einer  Flagellantensekte  in  der  Nähe  von  Moskau 
an  1) :  Männer  und  Frauen  befanden  sich  hier  in  buntem  Durch- 
einander. Plötzlich  erhob  sich  aus  ihrer  Mitte  ein  Kaufmann, 
der  unter  Zeichen  lebhafter  Erregung  sich  um  sich  selbst  zu 
drehen  anfing  \md  dabei  schrie:  „Höret  mich,  der  heilige 
Geist  spricht  durch  meinen  Mund!  Betet  die  Nacht  hindurch. 
Begehet  keinen  Ehebruch,  geht  weder  zur  Taufe,  noch  zur 
Hochzeit,  trinkt  nicht  Wein  noch  Bier!"  Dann  hielt  er  still, 
verlangte  Brot  und  Wasser,  segnete  es  mit  dem  Zeichen  des 
Kreuzes  und  verteilte  es  an  die  Gemeindemitglieder.  Endlich 
begannen  alle  nach  seinem  Beispiel  einen  Drehtanz,  fingen  an 
zu  springen,  sich  mit  Stöcken  zu  schlagen  und  selbst  mit 
Messern  zu  stechen.  —  Die  Zarin  Anna  Iwanowna  hatte,  um 
dem  Unfug  zu  steuern,  die  Leichen  einiger  Flagellantenhei- 
ligen, an  deren  Gräbern  die  exaltierten  Pilger  entsetzliche  Or- 


Quintillianer ;  die  letzteren  administrierten  das  heilige  Abendmahl  mit  Brot 
und  Käse  und  machten  der  Prophetin  Quintilla  zu  Ehren  ihre  Weiber  zu 
Priestern  und  Bischöfen.  Auch  der  französische  Jesuit  Labadie,  der  Stifter 
der  Labadistensekte,  führte  Huren  als  Prophetinnen  mit  sich.  Bekannt  ist, 
welche  große  Rolle  eine  Bourgignon,  Moritzin,  Butler  und  Krüdener  im  Sekten- 
wesen und  Mystizismus  des  Abendlandes  spielten. 

1)  Waliszewski,  La  demidre  des  Romanov,  210. 


—    222    — 

gien  feierten,  aus  den  Särgen  reißen  und  durch  den  Henker 
verbrennen  lassen.  Aber  der  Fanatismus  der  Flagellanten 
wurde  dadurch  nur  noch  mehr  angefacht;  namentlich  unter 
der  Geistlichkeit  wuchs  die  Zahl  der  phantastischen  Schwär- 
mer: in  den  sieben  Jahren  von  1745  bis  1752  wurden  nicht 
weniger  als  75  Priester,  Diakonen,  Mönche  und  Nonnen  als 
Flagellanten  verfolgt. 

Die  Zahl  dieser  Art  Sektierer  ist  heute  ins  Unüberseh- 
bare gewachsen.  Die  Lehre  der  Geißler  besteht  darin,  daß 
man  die  Sünde  durch  die  Sünde  töte,  und  diesem  Prinzipe  haben 
sich  immerdar  die  Menschen  willfährig  gezeigt. i)  Derartige 
Ausschweifungen  wurden  besonders  jenen  Flagellantengruppen 
nachgesagt,  die  sich  aus  den  höheren  Kreisen  ihre  Mitglieder 
zusanunengesucht  hatten.  So  waren  das  früher  erwähnte  Jung- 
fernkloster in  Moskau,  femer  das  Iwanowskykloster  bekannt 
als  Stätten,  wo  die  CTapnq;bi  und  die  BijiHi^Li,  sowohl  die 
Alten,  die  Prophetinnen,  die  Nonnen,  als  die  Weißen,  die 
Novizen,  in  wunderbarer '  Weise  Religion  und  Erotik,  Mystik 
und  Wollust  zu  vereinigen  wußten;  und  deshalb  wurden  diese 
Geißlerklöster  besonders  häufig  von  mystisch-erotischen 
Schwärmern  aufgesucht.  Im  Jahre  18 17  entdeckte  man,  daß 
im  kaiserlichen  Michaelspalaste  zu  Petersburg,   in  der  Woh- 


^)  Die  Gnostiker  und  Manichäer  lehrten  die  Kreuzigung  des  Fleisches, 
der  bösen  Lüste  durch  die  Sünde.  Pelagius  und  sein  Schüler  Cölestus  sagten, 
daß  Adam  schon  vor  dem  Falle  sterblich  gewesen  und  daß  also  nicht  die  Sünde 
Ursache  seines  Todes  war.  Die  Nicolaiten,  femer  die  Anhänger  der  Epiphanias, 
Augustinus,  Aeneus  Alexandrinus  und  Eusebius  erklärten:  fleischliche  Lüste^ 
und  Hurerei  seien  nicht  Sünden.  Die  Antitacti  hielten  die  Erbsünde  für  nach- 
ahmungs-  und  belohnungswürdig  ,,und  wälzten  sich,  indem  sie  sich  auf  dieses 
falsche  Prinzipium  gründeten,  in  allen  Lastern  sonderlich  der  Hurerey". 
Die  Borboritae,  eine  gnostische  Sekte  im  zweiten  Jahrhundert,  deren  An- 
hänger sich  mit  Kot  beschmierten,  um  zu  zeigen,  daß  der  Mensch  ein  Greuel 
für  Gott  sei,  führten  das  schändlichste  Leben.  Die  Patemianisektierer  nannte 
man  wegen  ihrer  unerhörten  Ausschweifungen  auch  Venustiani.  Aetius  Athens 
lehrte  im  4.  Jahrhundert,  die  gröbsten  Laster  seien  entschuldbare  Natur- 
wirkungen ;  Hurerei  und  fleischüche  Werke,  sagte  er,  sind  keine  Sünde.  Marga- 
retha  Porreta,  die  anno  12 10  verbrannt  wurde,  hatte  ein  Buch  geschrieben 
des  Inhalts,  daß  ein  Mensch,  der  sich  der  Liebe  des  Schöpfers  ganz  ergeben 
hätte,  alles  tun  dürfte,  wonach  sein  Herz  gelüstete,  ohne  fürchten  zu  müssen, 
daß  Gott  dadurch  beleidigt  werden  könnte. 


—    223    — 

nung  der  Hauptmannswitwe  Tartarinow,  sich  regelmäßig  hohe 
Offiziere  und  Beamte,  Leute  dienenden  Standes,  Frauen  und 
Mädchen  aus  den  verschiedensten  Gesellschaftskreisen  versam- 
melten und  Bußübungen  mit  Geißelungen  abhielten.  Unter 
den  Teilnehmern  an  den  Tänzen  und  Flagellationen  befand 
sich  auch  der  Minister  für  Kultus  und  Volksaufklärung,  Fürst 
Galitzyn.  Die  Gedanken,  die  hier  verbreitet  wurden i),  ent- 
sprachen den  mystischen  Lehren  der  Madame  Guyon  und  Jung- 
Stillings,  und  die  vorgetragenen  Gesänge  waren  Nachbildungen 
Derschawinscher  Gedichte.  Aber  diese  Schwärmereien  blieben 
nicht  platonisch,  sondern  arteten  in  Orgien  aus.  Die  Gesell- 
schaft wurde  aufgehoben  und  verboten;  doch  zwanzig  Jahre 
später  überrumpelte  man  in  einer  Vorstadt  von  Petersburg 
dieselbe  Sekte  mit  fast  denselben  Mitgliedern.  Sie  bestand 
auch  noch  1849  und  hatte  damals  den  populären  Namen  Ada- 
miten^j,  der  die  Vorgänge  bei  den  Versammlungen  und  Gottes- 
diensten genügend  bezeichnet.  1840  hatte  man  eine  ähnliche 
Gesellschaft  auch  am  Wassertore  in  Moskau  ausgehoben. 


1)  Leroy-Beaulieu  III  443. 

*)  Der  Begründer  der  Adamitensekte  in  der  katholischen  Kirche  war 
Prodicus,  Schüler  des  Carpocrates ;  er  lehrte,  daß  sich  beide  Geschlechter  öffent- 
lich vermischen  dürfen  und  forderte  Weibergemeinschaft.  Seine  Anhänger, 
deren  Zahl  schon  bei  der  Begründung  der  Sekte  im  2.  Jahrhundert  eine  große 
war,  hießen  Prodicianer  oder  Adamiten,  letzteres  deshalb,  weil  zu  ihren  Ver- 
sammlungen Männer  wie  Frauen  nackt  erschienen.  Dadurch  sollten  alle 
bösen  Lüste  ertötet  werden.  Es  geschah  natürlich  das  Gegenteil.  Trotz  aller 
Verfolgungen  blieb  diese  Sekte  bestehen.  Im  12.  Jahrhundert  entdeckte 
man  sie  in  Antwerpen,  im  16.  in  Amsterdam,  im  14.  und  15.  in  Frankreich. 
Rabelais  erwähnt  in  seinem  Roman  „Gargantua  und  Pantagniel"  (aus  dem 
Französischen  von  Gottlob  Regis,  Privatdruck  München  1906, 1.  7.  Anmerkg.  3) 
die  Tirelupins,  eine  Sekte,  deren  Anhänger  nackt  im  Lande  umherzogen  und 
alles  offen  trieben  was  sonst  der  Anstand  verbirgt.  Gregor  XI.  belegte  sie 
mit  dem  Kirchenbann.  Das  Wort  Tirelupin  gewann  später  die  Bedeutung 
eines  Possenreißers  und  wird  von  Rabelais  auch  in  solchem  Sinne  angewendet. 
Der  Kirchenbann  vertrieb  diese  Adamiten  nicht  aus  Frankreich,  denn  im 
15.  Jahrhundert  erschienen  sie  wieder  zahlreich  unter  dem  Namen  Piccardier, 
nach  ihrem  Oberhaupt  Piccard  aus  der  Piccardie;  Piccard  gab  sich  für  Gottes 
Sohn  Adam  aus,  der  auf  die  Erde  gesandt  worden  war,  um  das  Naturgesetz 
einzuführen.  Piccard  hielt  sich  bei  Huß  in  Böhmen  auf;  hier  wurde  er  wegen 
Plünderungen   und  Mordtaten  mit  seinen  Anhängern  zum  Tode  verurteilt. 


—     224    — 

Es  gibt  wohl  einige  Geißlersekten,  die  wirklich  nur  aus 
frommem  Wahnsinn  sich  kasteien  und  streng  das  Gesetz  der 
Keuschheit  beobachten.  So  berichtet  man  von  Männern  und 
Frauen,  die  sich  bei  ihren  Versammlungen  bis  zum  Gürtel  ent- 
kleiden und,  barfuß  auf  scharfen  Kieseln  stehend,  solange  auf 
ihren  Rücken  losschlagen,  bis  sie  kraftlos  zusammenbrechen. i) 
Andere  Chlysty  tragen  zur  Abtötung  des  Fleisches  alte  Panzer- 
hemden auf  dem  bloßen  Leibe  oder  Hemden  aus  Pferdehaaren. 
Haxthausen  sah  einen  Geißler,  der  auf  der  Brust  ein  kleines 
metallenes  Kreuz  und  auf  dem  Rücken  ein  Bild  trug;  beide 
Stücke  hingen  an  einem  ledernen  Riemen  um  den  Hals  und 


Die  böhmischen  Brüder  hat  man  mit  Unrecht  mit  den  Piccardiern  auf  eine 
Stufe  gestellt.  Eine  berühmte  Adamitensekte  existierte  auch  in  Wien ;  sie  hielt 
ihre  Versammlungen  in  den  Katakomben  zu  St.  Stefan.  Von  russischen  Sekten 
befolgen  außer  der  erwähnten  Petersburger  Gruppe  noch  zahlreiche  andere 
neben  ihren  separaten  Verrücktheiten  die  Lehre  des  Prodicus. 

1)  Die  Sarabaitae  im  4.  Jahrhundert,  die  als  Einsiedler  in  Felsenhöhlen 
Ägyptens  lebten,  pflegten  ähnlich  mit  nackten  Füßen  auf  spitzen  Steinen 
stehend  und  unter  Geißelungen  ihren  Gottesdienst  zu  verrichten.  •  Heilige, 
die  nackten  Fußes  durch  die  Welt  wandern,  galten  immer  als  wirkliche  Fromme. 
Von  einem  solchen  Heiligen  berichtet  Hiäm,  nach  Russow,  in  seiner  mehr- 
fach zitierten  Geschichte  der  baltischen  Provinzen  S.  209:  ,,Im  Winter  Anno 
1557  ist  ein  seltsamer  Mensch,  namens  Jürgen,  auß  Hoch-Teutschland  in 
Lyfland  kommen.  Ist  gantz  nackend,  barfus  gangen.  Es  hat  dieses  alle  Leute 
wunder  genommen,  daß  ein  Hoch-Teutscher,  der  der  großen  Lyfländischen 
Kälte  ungewohnt,  so  eine  schwere  Kälte  gantz  nackend  vertragen  könte. 
Und  wie  wohl  er  keine  Strümpfe  und  Schuhe  angehabt,  sind  ihm  doch  seine 
Füße  so  heiß  gewesen,  daß  der  Schnee  unter  seinen  Fußsohlen,  da  er  gestanden, 
zerschmoltzen  ist.  Hat  kein  Geschenk  angesehen  und  keine  Speise  nehmen 
wollen.  Er  hätte  sie  denn  erstlich  mit  Arbeit  verdient.  Hat  allerhand  Knech- 
tische Arbeit  verrichtet,  und  zwar  an  einem  Tage  so  viel,  als  ihm  sonsten 
kein  ander  in  viel  Tagen  nachthun  können.  Als  er  gefragt  wurde,  worum b 
er  in  Lyiland  gekommen  wäre?  gab  er  zur  Antwort:  Gott  hätte  ihn  gesandt, 
der  Lyfländer  Geitz,  Hoffart  und  Müssiggang  zu  straffen;  welche  Laster  er 
auch  allenthalben  gestraffet  hat.  Ging  daneben  fleißig  zur  Kirche,  hörete, 
was  gepredigt  wurde:  und  als  ihn  die  Priester  umb  etwas  fragten,  schalt 
er  sie  vor  Heuchler.  Etliche  hielten  ihn  vor  einen  Unsinnigen:  Etliche  vor 
einen  Phantasten:  Etliche  aber  sprachen:  Er  wäre  ein  Wunder- Zeichen  Gottes. 
Alß  er  von  Reval  nach  Narva  reisete,  hat  er  sich  verlonren.  Daher  man  sagen 
wil:  Er  sey  von  den  Russen  umbgebracht  worden."  —  In  russischen  Chroniken 
und  Geschichtsbüchern  ist  von  diesem  nackten  Heiligen  keine  Erwähnung 
gethan. 


—    225    — 

wurden  gleichzeitig  durch  zwei  kleine  Ketten  verbunden,  die 
unter  den  Armen  durch  die  Haut  gezogen  waren.  Die  Zahl 
wirklicher  Asketen  ist  aber  auffallend  gering,  während  die 
der  erotischen  Flagellanten  Hunderttausende  beträgt. 

Das  russische  Volk  ist  entsprechend  seinen  Gefühlen  und 
seinem  ganzen  Charakter  wie  geschaffen  für  jenen  Mystizis- 
mus, der  Religion  mit  Wollust  verknüpft.  Das  Heidenchristen- 
tum des  Muschik  sieht  in  der  vollen  geschlechtlichen  Frei- 
heit einen  Lohn  und  Ersatz  für  tausendjähriges  Leiden,  und 
für  die  Blasierten  der  oberen  Zehntausend,  die  nicht  mehr  nach 
Herzenslust  die  Sklaven  peitschen  können,  ist  die  Selbstgeiße- 
lung Mittel  zu  neuen  Reizungen  der  Sinne.  Aus  diesen  rohen 
Gründen  gibt  es  auch  bei  den  Geißlersekten  weniger  Lehren 
und  mehr  Zeremonien.  Sie  plagen  sich  nicht  ab  mit  mysti- 
schen Motivierungen  und  präsentieren  gleich  frank  und  frei 
die  grausamen  imd  sexuellen  Genüsse,  die  sie  zu  bieten  haben. 
Mit  Tänzen  und  G^ängen  wie  in  einem  gutgeleiteten  Tingel- 
tangel imd  Bordell  beginnen  die  reizvollen  Übimgen.  Ziuneist 
bestehen  die  Tänze  in  Drehungen  wie  sie  die  tanzenden  Der- 
wische im  Morgenlande  ausführen :  Die  Tänzerinnen  und  Tänzer 
bleiben  auf  den  Plätzen,  blicken  hypnotisiert  nach  dem  Bilde 
einer  weißen  Taube,  das  an  die  Decke  des  Versanmüungs- 
saales  gemalt  ist,  und  drehen  sich  mit  ausgebreiteten  Armen 
unermüdlich  um  sich  selbst  herum,  anfangs  langsam,  dann 
inuner  schneller,  zum  Schlüsse  in  rasendem  Tempo,  so  daß 
die  weißen  Röcke,  die  alle  bei  der  Zeremonie  anhaben,  rad- 
mäßig mitfliegen.  Im  Augenblicke  der  höchsten  Ekstase  be- 
ginnt ein  Schreien  und  Rufen;  jener  betet  zum  Gotte  Daniel 
Filipowitsch ;  dieser  fleht  Iwan  Timofejewitsch  Christus  an ;  eine 
Frau  bricht  verzückt  zusamümen  und  stößt  Laute  hervor,  die 
ihr  Gott  eingibt.  Einer  nach  dem  anderen  und  eine  nach  der 
anderen  fallen  aus  den  Reihen,  bis  Erschöpfung,  Ohnmacht 
und  Starrkrampf  für  eine  Weile  die  ganze  Versanunlung  um- 
fangen. Aber  die  Wildheit  ist  nur  für  kurze  Zeit  erloschen 
und  wird  wieder  aufgestachelt  durch  Geißelungen  mit  Ruten 
oder  durch  Berührungen  nackter  Körperteile  mit  den  Flanmien 
der  Kerzen.  Und  von  neuem  begiimt  das  erregte  Tanzen  um 
einen   mit   Wasser  gefüllten   Bottich,   dem   die  Auserwählten 

Stern,  Geschiebte  der  Offentl.  Sittlidikelt  in  Ruiland.  15 


—    226    — 

in  ihren  Halluzinationen  Christus  leibhaftig  entsteigen  sehen. 
Nach  vollendeter  Zeremonie  bleiben  Männer  und  Frauen  bis 
zum  Anbruch  des  Tages  in  wirrem  Durcheinander  liegen. i) 

Die  unter  dem  allgemeinen  Namen  Chlysty  oder  Geißler 
zusammengefaßten  Sekten  bestehen  eigentlich,  wie  schon  früher 
angedeutet  wurde,  aus  vielen  Gruppen  von  Sekten,  die  nur 
das  eine  Prinzip  der  Verknüpfung  von  Religion  imd  Wollust 
gemeinsam  besitzen;  im  übrigen  aber  hat  jede  Gemeinde,  die 
sich  als  Kopa6jib,  Schiff,  bezeichnet,  ihre  separaten  Zere- 
monien, ihre  eigenen  Oberhäupter,  ihren  eigenen  Christus  und 
ihre  eigene  Gottesmutter.  Von  den  Lehren  der  Flagellanten 
ist,  wie  bemerkt,  nicht  viel  zu  sagen,  denn  sie  haben  offenbar 
keine,  sondern  beschränken  sich  auf  die  Wirkimg  ihrer  sinn- 
lichen Zeremonien  und  finden  dafür  genug  Teilnehmer.  Die 
brutalsten  Abarten  der  Chlysty  sind  die  als  Skakuny  und  Pry- 
guny2)  bekannten  Sektierer.  Sie  unterscheiden  sich  von  den 
Tanzenden  dadiu-ch,  daß  sie  springen  oder  hüpfen,  wenn  sie 
sich  in  Erregung  versetzen  wollen ;  während  ferner  die  Chlysty 
einzeln  tanzen,  springen  imd  hüpfen  die  Skakuny  und  Pr>^- 
guny  immer  paarweise,  je  ein  Mann  mit  einem  Weibe.  Bei 
ihnen  ist  alle  Mystik,  alle  idealistische  Bemäntelung  der  Sinn- 
lichkeit völlig  entschwimden,  der  tierische  Schrei  nach  rohe- 
ster  Geschlechtlichkeit  hat  das  Gebet  ersetzt,  und  die  Sehn- 
sucht nach  dem  Abendmahl  ist  verwandelt  in  heißen  Genuß 
leidenschaftlicher  Liebe.  Jene,  die  selbst  bei  den  Chlysty  noch 
wohlwollend  nach  einer  sympathischen  Erklärung  der  Tollheiten 
suchen,  und  niu:  widerstrebendan  die  Ausschweifungen  glauben 
wollen,  von  denen  man  ihnen  berichtet  hat,  sie  müssen  bei 
den  Skakimy  und  Pryguny  alle  Rechtfertigungsabsicht  von 
vornherein  fallen  lassen.  Nicht  einmal  von  einem  theoretischen 
Asketismus  kann  die  Rede  mehr  sein,  sondern  die  nackte  Un- 
zucht ist  zur  Gottheit  erhoben,  die  Sünde  an  sich  Gesetz  und 


^)  Man  muß  hierbei  an  die  Sekte  denken,  die  in  Deutschland  um  das 
Jahr  1233  existierte  und  deren  Mitglieder  sich  Condormientes,  die  Beisammen- 
schlafenden, nannten.  Junggesellen  und  Jungfrauen  wurden  abends  zu- 
sammen in  ein  Zimmer  eingesperrt  und  erst  in  der  Morgenfrühe  wieder  befreit. 

■)  CicaKyHT»,   der  Springende,  der  Springer;  Ilpuiym»,  der  Hüpfer. 


—    227    — 

Zweck.  Statt  der  wenigstens  anscheinend  andächtigen  Ge- 
sänge gibt  es  nur  noch  obszöne  Lieder,  die  unverhüllt  zu  fleisch- 
licher Vermischung  auffordern,  oder  Vorträge  solcher  Bibel- 
stellen, die  sich  auf  die  Geschichte  Loths  und  seiner  Töchter, 
auf  das  Harem  Salomos  und  andere  Schlüpfrigkeiten  be- 
ziehen.i)  In  einer  Skakunygemeinde  zu  Rjäsan  forderte  die 
Muttergottes  mit  folgendem  Liede  die  jungen  Mädchen  auf, 
sich  an  der  Liebe  des  Heilands  zu  ergötzen:  „Nahet  euch,  ihr 
Bräute,  sehet,  der  Bräutigam  konmit,  euch  liebend  zu  um- 
fangen. Lasset  euch  nicht  vom  Schlafe  übermannen,  wachet, 
ihr  Töchter,  und  lasset  euere  Lampen  brennen  !**  Ihre  Haupt- 
versammlungen halten  diese  Sektierer  gewöhnlich  zu  Ostern 
in  der  Nacht  von  zwölf  Uhr  angefangen.  Charakteristisch  ist, 
daß  bei  allen  Schiffen  oder  Gemeinden  der  Chlysty,  Skakuny 
oder  Pryguny  ein  Wassergefäß  in  der  Mitte  des  Saales  auf- 
gestellt wird.  Ob  dies  eine  besondere  Bedeutung  hat,  oder 
nur  zur  Erfrischung  der  Tanzenden,  Hüpfenden  und  Springen- 
den dienen  soll,  bleibt  eine  offene  Frage.  Nach  dem  Tanzen, 
Hüpfen  und  Springen  werden  bei  einigen  Gruppen  dieser  Sek- 
ten die  Lichter  verlöscht  2)  und  es  beginnt  das  Sündigen  im 


1)  ,,Sie  verachten  den  Körper,  den  sie  in  ihrer  manichäischen  Denkungs- 
art  oft  geradezu  als  Schöpfung  des  Teufels  betrachten,  so  sehr,  daß  sie  sich 
als  plumpe  Mystiker  leicht  überreden,  die  von  Gott  nach  seinem  Ebenbilde 
geschaffene  Seele  könne  überhaupt  durch  keine  noch  so  unreine  Handlung 
des  Körpers  befleckt  werden."     Leroy-Beaulieu  III  444. 

2)  Jonas  Hanway  gibt  nach  Olearius  und  Otter  in  der  ,, Beschreibung 
seiner  Reisen  von  London  durch  Rußland  und  Persien",  Hamburg  und  Leipzig 
1754,  I  283  folgende  Schilderung  einer  ähnlichen  mohammedanischen  Sekte, 
welche  Moum  Seundurain  oder  Auslöscher  der  Lichter  genannt  wurden:  ,, Diese 
sind  das  Gegenteil  von  den  römischen  Matronen,  die  den  geheimen  Gottes- 
dienst der  Bona  Dea  verwalteten,  welchen  es  für  die  größte  Unheiligkeit  an- 
gesehen wurde,  Mannspersonen  in  ihre  Gegenwart  zuzulassen.  Zu  den  Ge- 
bräuchen der  Moum  Seundurain  sind  beyde  Geschlechter  nothwendig.  Diese 
versammlen  sich,  essen  und  trinken  tapfer,  löschen  unter  tiefem  Stillschweigen 
und  mit  großer  Feyerlichkeit  ihre  Lichter  aus,  verwechseln  ihre  Stellen  durch 
einander,  und  werfen  alle  Vorzüge  vernünftiger  Creaturen  bey  Seite.  Ob- 
gleich die  mohammedanische  Religion  vor  allen  anderen  Religionen  in  der 
Welt  ihren  Bekennem  den  Venusdienst  nachsieht:  so  ist  doch  diese  Secte 
mehr  als  einmal  verfolget  worden,  und  wird  von  den  Mohammedanern  gar 
sehr  verabscheuet." 

IS« 


—    228    — 

Gedränge  1):  jeder  Mann  sucht  eine  Frau  zu  ergreifen,  um  sich 
mit  ihr  zusammenzuwälzen,  wie  sie  sagen.  Nach  ihrer  Mei- 
nxmg  ist  auch  die  Blutschande  keine  Sünde.  Man  findet  die 
Springer  imd  die  Hüpfer  hauptsächlich  in  der  Umgebung  von 
Petersburg  und  ist  deshalb  vielfach  der  Ansicht,  daß  ihre  Ur- 
heimat in  Finnland  sei.  Eine  positive  Berechtigung  zu  sol- 
cher Annahme  ist  von  niemandem  erwiesen  worden.  Die  Ska- 
kuny  wurden  zuerst  unter  Alexander  I.  erwähnt,  der  sie  aufs 
strengste  verbot.  Aber  sie  tauchten  bald  wieder  massenhaft 
auf.  Im  Jahre  1867  ließ  ihnen  Alexander  II.  neuerdings  den 
Prozeß  machen,  weil  man  entdeckt  hatte^  daß  sie  nicht  bloß 
Unzucht  trieben,  sondern  auch  Kinder  mordeten.  Durch  diese 
Handlungen  grenzen  die  Skakuny  an  jene  furchtbaren  Sekten, 
die  im  nächsten  Kapitel  vorgeführt  werden. 


12.  Selbstverstümmler  und  Skopzen. 

Die  Religion  der  Ehelosen  —  Das  Weib  vom  Teufel  geschaffen  —  Verwerfung 
der  Zeugung  —  Ausschweifungen  gottgefällig  —  Die  Sekte  Seraphims  — 
Hurerei  Religionsgesetz  —  Freie  Liebe  —  Die  Schaloputy  oder  närrischen 
Käuze  —  Frau  und  Mann  im  Geiste  —  Bauer  und  Arbeiter  in  ihrer  Stellung- 
nahme zur  Ehe  —  Lehre  des  Propheten  Korilin,  daß  Sodomie  gottgefällig  — 
Los  der  unehelichen  Kinder  —  Kindermord  —  Die  Skopzy  oder  Verschnittenen 
—  Origines  —  Die  Valerianer  —  Die  Gebern  —  Infibulation  des  Zeugungs- 
gliedes —  Legenden  der  Skopzy  —  Des  Propheten  Sseliwanow  wahre  Lebens- 
geschichte —  Die  Gottesmutter  Akulina  Iwanowna  —  Die  Lehren  der  Skopzy  — 
Kastration  Religionsgesetz  —  Versammlungen  der  Skopzy  —  Arten  ihres 
Tanzes  —  Sadistische  Orgien  —  Feuertaufe  und  Beschneidungstaufe  —  Grade 
der  Reinheit  —  Arten  der  Operation  —  Ersatz  des  ZeugungsgUedes  —  Ver- 
stümmlungen der  Brüste  und  der  Geschlechtsteile  der  Frauen  —  Die  Rekruten 
der  Skopzensekte  —  Die  Zahl  ihrer  Anhänger  —  Vermehrung  durch  Propa- 
ganda —  Verheiratete  Skopzen  —  Prostitution  der  Skopzenfrauen  gestattet  — 
Gekaufte  Kandidaten  der  Kastration  —  Kindermord  als  Kulthandlung  —  Das 
blutige  Abendmahl  —  Neue  Märtyrer  —  Opferung  der  Muttergottesbrust  — 
Die  Kindermörder  —  Die  Feodosianer  —  Waisenhäuser  für  die  Kinder  der 
Feodosianer  —  Die  Totschläger  —  Die  Würger  —  Die  Lebendverstorbenen  — 
Die  unter  dem  Boden  Lebenden  —  Mördersekten  —  Die  Kitzler  —  Selbst- 
mördersekten —  Filipon  —  Selbstverbrenner  —  Domitian  —  Schaposchnikow 


1)  Man  hat  hierfür  den  speziellen  Ausdruck:  cRajihHbift  rpi^xi». 


—    229    — 

—  Morelschtschiki  —  Juschkow  Vater  und  Sohn  —  Der  himmlische  Tod 
durch  das  Beil  —  Der  selige  Hungertod  —  Malewan  und  seine  Anhanger  — 

Die  wilde  Sekte  der  Wanderer. 

Wir  sind  auf  der  tiefsten  Stufe  des  russischen  Sektenwesens 
angelangt;  und  stehen  an  dem  unermeßlichen  Abgrund 
menschlicher  Barbarei,  vor  den  grausamsten  Rätseln,  die  Wahn- 
sinn und  Unsittlichkeit  in  innigem  Bunde  jemals  gezeugt  haben. 
Fast  möchte  man  an  Methode  im  Wahnsinn,  an  Konsequenz 
in  den  sexuellen  Verbrechen  glauben.  Denn  folgerichtig  ent- 
wickelt sich  eines  aus  dem  anderen;  an  die  Verachtung  aller 
moralischen  und  bürgerlichen  Gesetze,  an  die  Beseitigung  der 
Kirchenzeremonien,  der  Kirchen  und  des  Priestertums  reihen 
sich  die  Abschaffung  der  Ehe,  die  Proklamienmg  der  zügel- 
losen geschlechtlichen  Freiheit;  ztun  Schlüsse  gelangt  man 
zur  Verneinung  des  geschlechtlichen  Verkehrs  überhaupt,  zur 
Verstümmelung  der  Geschlechtsteile,  zur  Vernichtung  der  Zeu- 
gimgsfähigkeit,  zu  Kindermord,  Mord  und  Selbstmord.  Und 
allen  diesen  Prinzipien  gemeinsam  ist  das  Erotisch-Sadistische. 
Es  g^bt  Sekten,  die  jeden  Verkehr  zwischen  Mann  und  Weib 
verdanmien,  die  weder  von  einer  ehelichen,  noch  von  einer 
außerehelichen  Liebe  etwas  wissen  wollen ;  ihnen  ist  nicht  bloß 
die  Ehe  ein  Greuel,  sondern  das  Weib  an  sich  ein  unreines, 
vom  Teufel  geschaffenes  Wesen  i),  mit  dem  man  keine  wie 
immer  geartete  Berührung  haben  soll.  Aber  auch  diese  as- 
ketisch angehauchten  Sektierer  erliegen  der  fleischlichen  Ver- 
suchung, sobald  sie  an  sie  herantritt,  und  trösten  sich  dann 


1)  Ein  alter  Gedanke  der  Gnostiker  und  Manichäer.  Schon  die  Ketzer- 
propheten Andronicus  und  Severus  im  zweiten  Jahrhundert  verwarfen  den 
Ehestand  unter  dem  Vorgeben,  an  einem  Weibe  sei  nur  der  obere  Teil  bis 
zum  Nabel  von  Gott,  der  untere  Teil  aber  vom  Teufel  geschaffen  worden. 
Die  Patemiani  oder  Venustiani  des  fünften  Jahrhunderts  spannen  den  Ge- 
danken weiter  und  erklärten:  Die  unteren  Teile  sowohl  der  Weiber  wie  der 
Männer  sind  vom  Teufel  geschaffen;  diese  Sektierer  folgerten  daraus,  daß 
Geilheit  und  Ausschweifung  nicht  Sünde  seien,  und  lebten  so  unzüchtig,  dafi 
man  ihnen  den  Beinamen  gab:  Ethioproskoptae,  Sittenverhöhner.  Am  wei- 
testen ging  der  spanische  Sektengründer  Prisdllianus,  der  die  ganze  Welt  als 
vom  Teufel  geschaffen  ansah,  daher  den  Ehestand  verwarf  und  die  Unzucht 
zum  Gesetze  erhob.  Er  wurde  wegen  furchtbarer  sexueller  Verbrechen,  die  er 
als  Gebote  seiner  Religion  erklärte,  hingerichtet. 


—    230    — 

leicht  mit  dem  Gedanken,  daß  sie  in  solchem  Falle  das  kleinere 
von  zwei  Übeln  gewählt  haben:  die  gröbste  Ausschweifung^^ 
sagen  sie,  ist  noch  immer  verzeihlicher  als  die  reinste  und  beste 
Ehe;  wer  eine  Ehe  eingeht,  ist  unauflöslich  an  die  Sünde  ge- 
fesselt, wer  aber  einer  vorübergehenden  noch  so  schlimmen 
Ausschweifung  sich  ergibt,  dem  bleibt  die  Möglichkeit  offen, 
durch  Einkehr  und  Buße  die  momentane  Verirrung  wieder 
gut  zu  machen.  Diese  so  seltsame  Askese,  diese  strenge  Lehre 
der  Verwerfung  der  Ehe  bedeutet  also  nicht  gleichzeitig  ein 
Gebot  der  Enthaltsamkeit,  ein  unbeugsames  Gesetz  emstei 
Zucht  und  Sittsamkeit. 

Aus  dem  Schisma  entwickelt  sich  als  letzte  Wirkung  der 
religiösen  Entartung  der  Kultus  rohester  Sinnlichkeit;  das 
Dogma  der  orthodoxen  Kirche  wird  ersetzt  durch  ein  System 
von  wilden  Ausschweifimgen,  worin  kein  Platz  mehr  ist  für 
fromme  Zeremonien,  sondern  Platz  nur  für  die  Riten  der  Ob- 
szönität. Wenn  die  Orthodoxen  ihre  Seligkeit  im  Nebel  des 
Weihrauchs  zu  sehen  vermeinen,  so  finden  die  Sektierer,  die 
wir  jetzt  kennen  lernen  werden,  ihr  Glück  im  Dunste,  den 
der  Wollustfanatismus  erzeugt.  Der  Mystizismus  beherrscht 
die  Kirche  wie  den  Raßkol;  in  der  Kirche  verwirrt  er  aber 
bloß  die  Seele  oder  die  Phantasie;  im  Sektenwesen  verwirrt 
er  das  Herz,  erzeugt  er  die  Verderbnis  des  Fleisches.  Mit  der- 
selben Innigkeit,  Verzückung,  Rauschigkeit,  nüt  welcher  der 
Orthodoxe  vor  dem  Bilde  der  Muttergottes  kniet,  betet  der 
Sektierer  zu  der  in  Fleisch  und  Blut  vor  ihm  stehenden  hei- 
ligen Jungfrau,  die  er  sich  selbst  erkoren  hat,  und  berauscht 
sich  an  den  Genüssen  dieser  Welt,  indem  er  sich  in  seinem 
systematischen  Wahn  dadurch  die  Seligkeit  der  anderen  Welt 
zu  gewinnen  glaubt.    Man  verwirft  brutal  die  Ehe^)  und  hei- 


^)  Die  Gnostiker  und  Manichäer  betrachteten  fast  durchweg  die  Ver- 
werfung des  Ehestandes  als  das  Hauptprinzip  ihrer  Lehren.  So  dachten  die 
Tatiani  oder  Encratitae  und  die  sogenannten  Abstinenten,  spanische  und 
französische  Ketzer  des  dritten  Jahrhunderts.  Die  Aginnenser  im  siebenten 
Jahrhundert  leugneten,  daß  der  Ehestand  jemals  von  Gott  eingesetzt  worde  n. 
Die  Engelsbrüder,  eine  Abart  der  Böhmisten,  erklarten:  ihrer  Engelsnatur  sei 
der  Ehestand  zuwider.  Basilides  lehrte  zur  Zeit  des  Kaisers  Hadrian,  daß 
man  der  Ehe  jede  unordentliche  Vermischung  vorziehen  solle.     Die  Eusta- 


—    231    — 

ligt  den  unreinen  Koitus,  man  predigt  die  Ehelosigkeit  und 
erhebt  die  Weibergemeinschaft  zum  Gemeindegesetz. 

Völkern,  die  sich  noch  im  Stadium  der  primitiven  Kultur 
befinden,  erscheint  die  Zeugung  häufig  als  eine  gewissermaßen 
religiöse  Handlimg,  als  ein  von  der  Natur  festgestellter,  von. 
dem  Himmel  geheiligter  Akt,  der  die  Fortpflanzung  der  Men- 
schen sichert.  Aber  ein  solcher  Satz  könnte  nicht  auch  auf 
die  russischen  Sektierer,  von  denen  wir  jetzt  sprechen,  ange- 
wendet werden.  Denn  diese  Fanatiker  der  Wollust  verwerfen 
nicht  bloß  die  Ehe,  sondern  verabscheuen  auch  die  Zeugimg. 
Sie  wollen  durch  Verbrechen  und  Kindermord  die  Fortpflan- 
zung der  Menschheit  verhindern.  Der  Geschlechtsakt  ist  ihnen 
nur  ungezügelter  Genuß,  keineswegs  Kulthandlung.  Im 
Jahre  1872  wurde  in  Pskow  von  dem  aus  einem  Kloster  ent- 
sprungenen angeblichen  Mönch  Seraphim  i)  eine  Sekte  mit 
folgendem  Progranun  gegründet:  Im  Sündigen  allein  ist  das 
wahre  Seelenheil  zu  finden,  denn  je  mehr  man  sündigt,  desto 
ruhmvoller  wird  das  Verdienst  des  Erlösers.  Hier  versucht 
man  nicht  einmal  mehr  die  Schamlosigkeit  zu  verhüllen.  Das 
Sektenwesen  solcher  Art  hat  nüt  der  Religion  nichts  mehr  zu 
schaffen.  Das  sind  keine  Schismatiker,  die  sich  von  der  Kirche 
aus  theologischen  Gründen  getrennt  haben,  sondern  Nihilisten, 


thiani  im  vierten   Jahrhundert  wollten  in   Häusern,   wo  Eheleute  wohnten, 
nicht  beten  und  sprachen  niemals  mit  Verheirateten. 

1)  Leroy-Beaulieu  III  487  berichtet  von  Seraphim,  daß  er  sich  mit 
Vorliebe  an  junge  Mädchen  heranmachte  und  ihnen  die  Haare  abschnitt, 
angeblich  um  sie  zu  verkaufen;  es  dürfte  sich  aber  wahrscheinlich  um  einen 
Fall  von  Fetischismus  gehandelt  haben.  Vermutlich  von  demselben  Sera- 
phim ist  auch  bei  BapKOBi»  die  Rede  (in  dem  schon  erwähnten  Buche: 
26  ifocKOBcKHX'b  JDice-npopoicoHB  usw.  usw.  MocKBa  1865,  crp.  150 — 154:  OieuB 
Cepa(|>HM'b).  Hier  wird  erzählt,  daß  der  Bauer  Jermil  Ssidorow  aus  dem 
Dorfe  Wesnowatka  im  Gouvernement  Woronesch  1859  seine  Frau  und  sein 
Haus  im  Stich  ließ  und  im  Mönchsgewand  unter  dem  Namen  Vater  Seraphim 
als  Lügenprophet  von  Ort  zu  Ort  zu  wandern  begann.  Er  zeigte  alle  mög- 
lichen Zauberkunststücke,  konnte  sich  verwandeln,  bezeichnete  sich  unver- 
wundbar und  fand  viel  glaubige  Gemüter,  die  ihn  als  Heiligen  ansahen.  Nament- 
lich von  den  Frauen  wurde  er  stets  gastfreundlich  aufgenommen.  Wegen  ver- 
schiedener Schwindeleien  mußte  er  aus  dem  Gouvernement  Woronesch  flüchten ; 
er  scheint  die  Zeit  bis  1872  in  einem  Kloster  zugebracht  zu  haben.  Seine 
Karriere  ist  typisch  für  die  der  meisten  russischen  Sektengründer. 


—    232    — 

die  keine  Bande  der  Moral,  keine  Gesetze  der  Gesellschaft  an- 
erkennen. Diese  Sektierer  haben  nicht  bloß  mit  allen  Dog- 
men der  Orthodoxie  restlos  aufgeräumt,  nicht  bloß  die  Kirchen, 
die  Priester  und  die  Sakramente  abgeschafft,  sondern  ver- 
achten alles,  was  Menschen  geschaffen  und  begfründet  haben. 
Sie  kennen  kein  Vaterland  und  kein  Familienheim;  sie  kennen 
weder  Eltempf lichten  noch  Kindesliebe;  was  gesetzlich  ist, 
gilt  ihnen  als  Verbrechen ;  die  Sünde  allein  als  das  Erstrebens- 
werte, als  das  Glück  in  dieser,  als  die  Pforte  zu  der  Herrlichkeit 
der  anderen   Welt.^) 

Alles  ist  zu  Ende;  es  gibt  keine  Religion  mehr,  keine 
Regierung,  keine  Obrigkeit,  keine  Steuern,  keine  Kirchen,  keine 
Beichte,  keine  Priester  und  keine  Ehe,  keine  Familie.  Aber 
wo  wäre  etwas  Russisches,  das  nicht  Kontraste  aufwiese?  So 
sehen  wir  auch  bei  einigen  Sekten  der  Ehelosen  ein  plötzliches 
Zurückweichen  vor  den  letzten  Konsequenzen,  eine  Milderung 
der  Allesverneinung  durch  einen  seltsamen  Kompromiß.  Man 
verwirft  die  Ehe,  aber  entschließt  sich  zu  einer  freien  Ge- 
meinschaft; Mann  und  Weib  sind  namentlich  bei  den  Bauern 
einander  unentbehrlich,  nicht  bloß  aus  geschlechtlichen  Grün- 
den, sondern  als  ergänzende  Teile  bei  der  Haus-  und  Feld- 
arbeit. Man  verzichtet  also  auf  das  feste,  aber  nicht  auf  ein 
loses  Band.  Man  kümmert  sich  nicht  um  den  kirchlichen 
Segen,  begnügt  sich  mit  dem  Segen  der  Eltern,  der  Ver- 
wandten oder  einiger  Gemeindemitglieder.  Die  Übereinstim- 
mung zwischen  Mann  imd  Frau  ist  das  Maßgebende,  und  das 
Zusammenleben  dauert  so  lange  wie  diese  Übereinstimmung. 
Die  Ehe  ist  Menschenwerk,  die  Liebe  aber  von  göttlicher 
Natur;  und  nur  die  Liebe  wird  als  die  Grundlage  einer  wirk- 
lichen Vereinigung  von  Mann  und  Frau  angenommen;  hört 
die  Liebe  auf,   so  gilt  auch  die  Vereinigung  als  von  selbst 


^)  Die  Sekte,  die  anno  1433  in  Schwaben  auftauchte,  verfolgte  dieselben 
Prinzipien:  .,Es  ist  erlaubt  zu  lügen;  man  braucht  keinen  Glauben  zu  halten, 
keine  Versprechungen  einzulösen;  man  darf  morden,  auch  Unschuldige  und 
selbst  seine  Eltern  töten."  Die  Mitglieder  der  schwabischen  Sekte  hielten  sich 
für  so  vollkommen,  daß  sie  erklarten,  es  könnte  ihnen  nichts  als  Sünde  ange- 
rechnet werden.  Vor  allem  aber  sahen  sie  in  der  Unzucht  das  höchste  Glück, 
die  Hurerei  öffnete  ihnen  die  Pforte  zum  Paradiese. 


—    233    — 

rechtlich  gelöst.  Diesen  Gemäßigten  unter  den  Besbratschniki^) 
ist  nur  das  von  der  orthodoxen  Kirche  aufgestellte  Dogma 
von  der  Unlösbarkeit  einer  kirchlichen  Ehe  ein  Greuel;  sie 
anerkennen  jedoch  einen  Bund  aus  freier  Liebe.  Der  Despo- 
tismus, den  Kirche  und  Staat  in  Beziehimg  auf  die  Ehe  aus- 
üben, wird  beseitigt  durch  die  natürliche  Folgerung,  daß  zwei 
Menschen  im  Augenblicke,  wo  sie  nicht  mehr  miteinander 
harmonieren,  nicht  nur  auseinandergehen  können,  sondern 
müssen.  Und  wie  die  Vereinigung  vor  Zeugen  geschlossen 
wurde,  so  erfolgt  auch  die  Scheidung  in  Gegenwart  der  Eltern, 
Verwandten  oder  Gemeindemitglieder.  Zu  diesen  Arten  der 
Ehelosen  gehören  die  vom  Volke  so  betitelten  Schaloputy^) 
oder  närrischen  Käuze,  die  sich  selbst  Genossenschaft  wahr- 
haft geistiger  Christen  oder  Bruderschaft  des  geistigen  Lebens 
nennen.  Ihr  Gründer  war  um  1820  der  Bauer  Awakum  Kopy- 
low,  der  Vernunft  und  Gewissen  als  die  Grundlagen  der  Re- 
ligion erklärte,  die  Autorität  der  Bibel  verwarf,  Christus  zwar 
als  einen  genialen  Menschen  ehrte,  aber  ihn  nicht  als  gött- 
liches Wesen  anerkannte,  und  die  Wunder,  die  Jesus  getan, 
als  Legenden  bezeichnete.  Der  wahre  Christus  der  Schalo- 
puty  ist  niemals  gestorben,  sondern  lebt  als  Mensch  von  Fleisch 
und  Blut ;  in  den  Versanmilungen  werden  Christi  Photographien 
gezeigt,  er  ist  ein  alter  Mann  mit  grauem  Bart  und  mit  Ketten 
an  den  Händen.  Während  er  in  der  Verbannimg  seine  Zeit 
abwartet,  vertreten  ihn  bei  seinen  Getreuen  die  Propheten  imd 
Gottesmütter.  Vom  heiligen  Geiste  sagen  die  Schaloputy,  daß 
er  in  jedem  Menschen  sei;  die  Gottestempel  sollen  nicht  aus 
Balken,  sondern  in  den  Herzen  der  Gläubigen  errichtet  sein. 
Man  schildert  diese  Sektierer  als  bescheiden  und  fleißig.  Es 
herrscht  bei  ihnen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Gütergemein- 
schaft, denn  sie  bearbeiten  gemeinsam  die  Felder  und  teilen 
den  gesamten  Ertrag  unter  allen  Gemeindemitgliedern  auf. 
Im  Prinzip  verwerfen  sie  das  eheliche  Bündnis  und  kennen  nur 
den  freien  Liebesbund.  Da  sie  aber  von  den  Gutsherren 
häufig  zu  kirchlichen  Ehen  gezwungen  werden,  so  haben  sie 


^)  Be36pa4Hiiift,  der  Ehelose. 
2)  niajih  =   dumm,  albern. 


—    284    — 

eine  merkwürdige  Methode  erfunden,  um  einerseits  dem  Zwange 
keinen  Widerstand  entgegensetzen  zu  müssen  und  andererseits 
ihren  Prinzipien  Gehung  zu  verschaffen:  Sie  führen  mit  den 
ihnen  kirchlich  angetrauten  Frauen  gemeinsamen  Haushah, 
leben  aber  mit  ihnen  nicht  geschlechtlich^),  sondern  schließen 
neben  der  legitimen  Ehe  mit  anderen  Frauen  einen  Bund 
der  Liebe.  Im  Gegensatze  zu  der  wirklichen  Frau,  die  niemals 
Gattin  w^ird,  heißt  die  Konkubine  die  Frau  im  Geiste,  Du- 
chowniza.  Die  vernachlässigte  Frau  geht  nicht  leer  ays,  sie 
wählt  sich  einen  Mann  im  Geiste,  dem  sie  körperlich  näher 
steht  als  dem  ihr  angetrauten  Manne.  Die  merkwürdigen  vier- 
eckigen Ehen  dauern  zumeist  lange  und  ungetrübt,  weil  jede 
Partei  völlige  Freiheit  in  allen  Handlungen  des  Geschlechts- 
lebens  behält. 

Ähnlicher  konzilianter  Gemeinschaften  unter  den  ehelosen 
Sekten  gibt  es  indessen  nur  wenige.  Im  allgemeinen  entziehen 
sich  die  Mitglieder  dieser  Sektierergruppen,  wie  sie  nur  können, 
den  Fesseln  selbst  einer  platonischen  Zwangsehe.  In  den 
Städten  ist  dies  natürlich  noch  leichter  als  auf  dem  Lande; 
der  Bauer  und  die  Bäuerin  im  Dorfe  sind  gegenseitig  auf  ihre 
Arbeit  und  Hilfe  angewiesen,  der  Muschik  braucht  eine  Gehilfin 
in  der  Isba  imd  auf  dem  Felde;  der  Arbeiter  in  der  Stadt 
oder  in  der  Fabrik  aber  ist  in  dieser  Beziehung  ein  freier 
Mann,  und  das  Gesetz  der  Ehelosigkeit,  das  ihm  in  erster 
Linie  als  ein  religiöses  gelten  soll,  wird  für  ihn  auch  zu  einer 
Existenznotwendigkeit:  hat  er  keine  Frau,  keine  Familie,  so 
braucht  er  sich  nur  um  das  Stückchen  Brot  für  sich  selbst 
zu  sorgen.  Da  wird  der  freie  Geschlechtsverkehr  zu  einer 
Institution  der  Leichtfertigkeit  ohne  Gleichen,  die  freie  Liebe 
führt  zu  Eintagsverbindungen,    ein  festes  Band  gibt  es  nicht 


1)  Man  findet  hierfür  eine  gewisse  Parallele  in  der  Sekte  der  Abelianer, 
die  in  den  frühesten  Zeiten  des  Christentums  in  der  afrikanischen  Diözese 
Hippon  entstand.  Die  Abelianer  behaupteten,  daß  Abel  zwar  im  Ehestande 
gelebt,  aber  keine  Gemeinschaft  mit  seinem  Weibe  gehabt  habe,  weil  keine 
Meldung  seiner  Kinder  geschieht.  Deshalb  nahmen  die  Abelianer  gleich  Abel 
zwar  Weiber,  aber  sie  gebrauchten  sie  nicht  zum  Kinderzeugen  und  verdammten 
aus  Furcht  vor  der  Erbsünde  den  ehelichen  Beischlaf  als  teuflisches  Werk; 
um  ihre  Sekte  zu  erhalten,  adoptierten  sie  fremde  Kinder. 


—    235    — 

mehr,  alle  Moralbegriffe  entschwinden  oder  verwirren  sich, 
heute  lebt  man  mit  diesem,  morgen  mit  jenem  Weibe,  imd 
von  solchen  Verhältnissen  zur  Weibergemeinschaft  ist  der 
Weg  wahrlich  nicht  weit;  und  noch  einige  Schritte  tiefer  auf 
der  abschüssigen  Bahn  gelangt  man  zu  der  Ansicht,  daß  Onanie, 
Päderastie  und  Sodomie  die  natürlichsten,  dem  Himmel  wohl- 
gefälligsten Akte  seien. 1)  So  lehrt  der  Sektenprophet  Kori- 
lin:  „Es  ist  besser,  mehrere  Weiber  heimlich  zu  besuchen, 
als  mit  einer  einzigen  Frau  öffentlich  zu  leben;  besser  als 
mit  dem  hübschesten  Mädchen  zu  schlafen  ist  es,  geschlecht- 
lichen Umgang  selbst  mit  einem  Tiere  zu  haben.**  Wenn 
die  Welt  vom  Teufel  geschaffen  ist;  wenn  der  Antichrist  auf 
Erden  herrscht;  wenn  man  jeden  Augenblick  aufhorcht,  um 
den  Posaunenschall  des  jüngsten  Gerichtes  zu  vernehmen:  so 
ist  es  widersinnig,  nach  veralteter  menschlicher  Auffassung 
ein  Weib  zur  Gattin  zu  nehmen  oder  mit  einer  einzigen  Frau 
im  Konkubinat  zu  leben,  Kinder  zu  zeugen  und  die  Mensch- 
heit fortzupflanzen.  2) 

Was  geschieht  aber  mit  den  Kindern,  Früchten  der  freien 
Liebe?  Deren  Los  ist  wahrlich  kein  fröhliches.  Am  besten 
ist  es  noch,  wenn  man  sie  als  erwünschten  Arbeitemachwuchs 
ansieht;  es  gibt  Sekten  auf  dem  Lande,  bei  denen  die  Väter 
ihre  Töchter  zu  schamlosen  Ausschweifungen  ermutigen,  ihnen 
alles  erlauben,  ausgenommen  die  Ehe,  und  wo  die  illegitimen 
Kinder  dann  als  Vermehrung  des  Arbeitspersonals  der  Familie 
willkommen  geheißen  werden. 3)  Bei  anderen  Sekten  leben 
die  Männer  nur  so  lange  nüt  ihren  Frauen  oder  Geliebten, 
als  dem  Bunde  Töchter  entsprießen;  die  Geburt  eines  Sohnes 
macht  der  Vereinigung  sofort  ein  Ende,  weil  diese  Sektierer 
nicht  Rekruten   für   das   Heer  Satans  zeugen  wollen.*)     Dies 


1)  Die  gnostisch-manichäische  Sekte  der  Origeniani  im  vierten  Jahr- 
hundert zog  ebenfalls  nicht  bloß  Konkubinat  und  Hurerei  dem  Ehestand  vor, 
oonclem  erklarte  auch  Kinderzeugen  als  Sünde  und  begnügte  sich  daher  zur 
geschlechtlichen  Befriedigung  mit  der  Ausübung  der  Onanie. 

■)  Auch  die  Satumiani  im  zweiten  Jahrhundert  meinten,  Kinderzeugung 
sei  ein  Werk  Satans  und  verwarfen  deshalb  den  Ehestand. 

•)  Leroy-Beaulieu  III  417. 

♦)  Hellwald,  Die  Welt  der  Slawen,  357. 


—    236    — 

alles  ist  noch  harmlos;  es  gibt  jedoch  Sekten,  bei  denen 
man  die.  Kinder  einfach  aus  der  Welt  schafft  und  auf  diese 
Weise  die  Frage  radikal  zur  Lösung  bringt.  Am  berühmtesten 
imd  vielleicht  am  meisten  verbreitet  von  allen  diesen  radikalen 
Sekten  ist  die  der  Verschnittenen  oder  Skopzy^),  welchen 
zuerst  der  russische  Schriftsteller  Meljnikow-Petscherskij  nach- 
wies, daß  bei  ihnen  in  bestinmiten  Fällen,  von  denen  noch 
die  Rede  sein  wird,  der  Kindermord  zu  den  religiösen  Zere- 
monien gehört. 

Die  Entmannung,  die  im  allgemeinen  als  eine  Schand- 
strafe gilt^),  hat  sowohl  in  der  Religion  des  Abendlandes  wie  des 
Morgenlandes  Anhänger  unter  fanatischen  Asketen  gefunden, 
die  es  als  das  sicherste  Mittel  gegen  die  Unkeuschheit  betrach- 
ten, das  Glied  der  Zeugimg  imd  der  Sünde  einfach  wegzu- 
rasieren.  Als  Origines,  der  berühmte  Kirchenlehrer  des  dritten 
Jahrhunderts,  sich  kastrierte,  berief  er  sich  auf  die  Worte 
Matthäi  XIX,  12:  „Denn  es  sind  etliche  verschnitten,  die  sind 
aus  Mutterleibe  also  geboren;  und  sind  etliche  verschnitten, 
die  von  Menschen  verschnitten  sind;  und  sind  etliche  ver- 
schnitten um  des  Himmelreiches  willen.  Wer  es  fassen  mag, 
der  fasse  es!"  Auch  andere  Stellen  des  Neuen  Testaments 
und  der  Bergpredigt  sind  zur  Rechtfertigung  der  Kastration 
herangezogen  worden;  so  die  folgenden.  Matth.  XVIII,  8 
und  9:  „So  deine  Hand  oder  dein  Fuß  dich  ärgert,  so  haue 
ihn  ab,  und  wirf  ihn  von  dir.  Und  so  dich  dein  Auge  ärgert, 
reiß  es  aus,  und  wirf  es  von  dir.**  Matth.  X,  28:  „Und 
fürchtet  euch  nicht  vor  denen,  die  den  Leib  töten,  und  die 


1)  CKonHTb,  verschneiden,  kastrieren;  cKonem»,  der  Verschnittene;  cKonima, 
die  Verschnittene. 

2)  In  Rußland  selbst  ist  dies  beispielsweise  bei  den  halbwilden  Kirgisen 
der  Fall.  In  ,,des  Herrn  Kapitains  Rytschkow  Tagebuch/'  a.  a.  O.  S.  431 
heißt  es:  .«Einen  Mann  untüchtig  zu  machen  oder  zu  entmannen,  wird  bey 
ihnen  für  einen  halben  Totschlag  gerechnet,  und  es  muß  daher  dem  verstüm- 
melten die  Büssung  eines  völUgen  Mords  gezahlt  werden."  Es  ereignete  sich 
einmal,  daß  ein  Kirgise  das  Harem  des  Chans  entweihte  und  von  den  Chans- 
dienem  zur  Strafe  dafür  entmannt  wurde.  Auch  in  diesem  Falle,  wo  nach 
orientalischer  Auffassung  der  Entmannte  nur  den  Lohn  für  seine  Übeltat  er- 
halten haben  sollte,  mußte  der  Chan  selbst  die  nach  dem  Rechte  bestimmte 
Buße  bezahlen. 


—    237    — 

Seele  nicht  mögen  töten.**  Evang.  Lucä  XXIII,  29:  „Denn 
siehe,  es  wird  die  Zeit  kommen,  in  welcher  man  sagen  wird: 
Selig  sind  die  Unfruchtbaren  imd  die  Leiber,  die  nicht  ge- 
boren haben,  imd  die  Brüste,  die  nicht  gesäugt  haben.**  Ko- 
losser III,  5 :  „So  tötet  mm  euere  Glieder,  die  auf  Erden  sind, 
Hurerei,  Unreinigkeit,  schändliche  Brunst,  böse  Lust.**  Auch 
die  Sekte  der  Valerianer,  die  den  Ehestand  und  das  Kinder- 
zdugen  verdanmite,  lehrte  die  Kastrienmg  als  das  einzig 
sichere  Mittel  zur  Bewahrung  der  Keuschheit.  Die  Valerianer 
entmannten  nicht  mu:  sich  selbst,  sondern  verschnitten  auch 
Jene,  die  das  Unglück  hatten,  in  ihre  Gewalt  zu  fallen.  Von 
den  griechischen  Mönchen  ist  bekannt,  daß  sie  die  Infibulation 
ziu:  Bewahrung  der  Keuschheit  anwendeten.^)  Je  schwerer 
der  Ring  am  Gliede,  desto  größer  der  Stolz  des  Büßenden. 
Manche  trugen  einen  Ring  von  sechs  Zoll  im  Umfang  und  einem 
Viertelpfund  an  Gewicht.^) 

Die  russischen  Skopzy  beziehen  sich  auf  keine  Bibelstellen 
zur  Begründung  der  Kastration ;  sie  betrachten  die  ganze  Bibel, 
wie  wir  sie  besitzen,  als  eine  Fälschung.  Das  wahre  Evan- 
gelium, „das  Buch  der  Taube**,  befand  sich  nach  Ansicht 
der  Skopzy  einst  in  ihren  Händen,  bis  Peter  der  Dritte,  ihr 
Oberhaupt  und  Christus,  die  göttliche  Schrift  in  der  Kuppel 
der  Andreaskirche  auf  Wassili j-Ostrow  zu  St.  Petersburg  ein- 
mauerte. Das  Datum  der  Entstehung  der  Skopzensekte  läßt 
sich  ziemlich  genau  feststellen.^)  Im  Jahre  171 5  wurden  im 
Kreise  Uglitsch  im  Gouvernement  Jaroßlaw  mehrere  Ketzer 


^)  Die  Geber  in  dem  Kloster  zu  Ateschdjah  bei  Baku  kasteien  sich, 
indem  sie  schwere  Eisenstücke  an  das  Glied  hangen,  das  sie  am  meisten  zur 
Sünde  gereizt  hat.  Durch  derartige  jahrelange  Marter  wird  der  Büßer  in  einen 
Zustand  versetzt,  der  sich  von  jenem  des  Eunuchen  nur  dadurch  unterscheidet, 
daß  eine  Operation  als  nicht  mehr  notwendig  vermieden  wird.  Vgl.  Bernhard 
Stern,  Zwischen  Kaspi  und  Pontus  145 ;  Reineggs,  Beschreibung  des  Kaukasus, 
1796,  I  157;  Eichwald,  Reise  in  den  Caucasus,  1834,  I  178. 

>)  Man  vergleiche  über  Infibulation  die  interessante  Abhandlung  in 
„Zeichen  und  Werth  der  verletzten  und  unverletzten  Jungfrauschaft  nach 
physiologischen  moralischen  und  Nationalbegriffen".  (Von  C.  G.  Flittner.) 
Zweite  Ausgabe.    Berlin  1795,  bei  Oehmigke  dem  Jüngern.    S.  268 — 278. 

*)  Die  russische  Kirchengeschichte  kennt  zwar  schon  aus  dem  elften 
Jahrhundert  zwei  berühmte  Kastraten  unter  den  hohen  Geistlichen,  die  Metro- 


—    238    — 

entdeckt,  die  die  Entmannung  an  sich  vollzogen  hatten.  Im 
Jahre  17 17  wurden  in  Moskau  ein  gewisser  Prokop  Lupkin 
imd  ein  paar  Dutzend  Männer  und  Frauen  verhaftet,  die  eine 
Sekte  von  Eunuchen  und  verstünunelten  Frauen  bildeten;  1738 
wiu'de  auf  Befehl  der  Zarin  Anna  Iwanowna  die  Leiche  Lup- 
kins,  dessen  Grabstätte  zu  einem  Wallfahrtsorte  für  diese 
Sekten  geworden  war,  ausgegraben  imd  verbrannt.^)  Trotz- 
dem —  oder  richtiger:  seit  damals  erst  —  vermehrte  sich 
die  Zahl  der  Anhänger  der  Skopzensekte.^)  Im  Jahre  1771 
wurde  der  Regierung  bekannt,  daß  ein  Bauer  namens  Andrej 
Iwanow  im  Gouvernement  Orlow  dreizehn  Bauern  zur  Kastra- 
tion überredet  hatte.  Andrej  Iwanow,  der  eigentlich  Kon- 
dratij  Sseliwanow  hieß,  nannte  sich  auch  Ssemen,  Iwan,  Foma. 
Er  gab  sich  gleichzeitig  als  Zar  Peter  III.  aus;  femer  als 
„Christus,  der  wahre  Gott,  geboren  von  der  unbefleckten  Jung- 
frau, die  als  Kaiserin  den  Namen  Elisabeth  Petrowna  führt.** 
Diese  Kaiserin-Gottesmutter  starb  nicht,  wie  die  Geschichte 
erzählt,  im  Jahre  1760,  sondern  zog  sich  unter  dem  Namen 
Akulina  Iwanowna  zuerst  zu  den  Skopzen  des  Gouvernements 
(Drei,  später  nach  Kursk  zurück,  wo  man  sie  noch  im  Jahre 
1865  hinter  einem  goldenen  Gitter  anbeten  konnte.  Peter  III.- 
Christus^)    war  mittlerweile  aufgewachsen;  als  er  von  Katha- 


politen  Iwan  und  Jefrem  von  Kijew,  die  aus  Griechenland  nach  Rußland  ge- 
kommen waren;  aber  diese  beiden  Prälaten  gehörten  keiner  Sekte  an,  sondern 
waren  Eunuchen  von  Geburt. 

1)  Vgl.  S.   183. 

*)  Vgl.  Pelikan,  Gerich tüch  medizinische  Untersuchungen  über  das 
Skopzentum  in  Rußland  nebst  historischen  Notizen ;  übersetzt  von  Dr.  Nikolaus 
Iwanoff,  Gießen  1876.  —  von  Stein,  Die  Skopzensekte  in  Rußland  in  ihrer 
Entstehung,  Organisation  und  Lehre  nach  den  zuverlässigsten  Quellen  dar- 
gestellt, in  der  Zeitschrift  für  Ethnologie,  Berlin  1875.  —  Peni^dÄ,  JIioah 
BosKitt  II  cKonubi.  —  Leroy-Beaulieu  a.  a.  O.  III  451 — 465.  —  Haxthausen, 
Studien,  1  340.  —  Schiemann,  Alexander  I.,  413.  Hier  sind  auch  mehrere 
russische  Quellen  erwähnt.  —  Mantegazza,  Die  Geschlechtsverhältnisse  des 
Menschen,  Jena,  3.  Auflage,  S.  145.  —  Dr.  Richard  Wrede,  Die  Körperstrafen 
bei  allen  Völkern,  Dresden  1898,  S.  258 — 273.  —  Laurent  und  Nagour,  Okkul- 
tismus und  Liebe,  Studien  zur  Geschichte  der  sexuellen  Verirrungen,  Berlin, 
Barsdorf,  1903,  S.  79 — 80.  —  Caufeynon,  L'Eunuchisme,  Historie  g6n6rale  de 
la  Castration,  Paris,  -jy — 81.  —  Busch,  Wunderliche  Heilige,  140. 

«)  Vgl.  S.  215. 


—    239    — 

rina  einen  Nachfolger  erhalten  hatte,  entmannte  er  sich  xind 
kastrierte  auch  alle  seine  Anhänger.^)  Seine  Gemahlin  Katha- 
rina wollte  ihn  ermorden  lassen,  er  aber  entkam  den  Nach- 
stellungen -der  Meuchelmörder,  hielt  sich  eine  Zeitlang  ver- 
borgen und  tauchte  dann  als  Muschik  Kondratij  Sseliwanow 
auf,  verrichtete  Wunder  und  verbreitete  die  Lehre  der  Kastra- 
tion. In  Tula  wrurde  er  verhaftet,  mit  Knutenhieben  bestraft  und 
hierauf  nach  Irkutsk  verschickt.  Paul  ließ  ihn  zurückrufen, 
wollte  sich  aber  zum  Glauben  seines  Vaters  nicht  bekehren 
und  sperrte  ihn  in  ein  Irrenhaus.  Alexander  ließ  den  Groß- 
vater frei,  und  Sseliwanow  lebte  in  einem  Hause  des  reichen 
Skopez  Ssladownikow  unbehelligt  als  Christus  so  lange,  bis 
ihn  die  zarischen  Knechte  wieder  verfolgten  und  ins  Kloster 
von  Ssusdal  schleppten,  wo  er  noch  heute  lebt  in  Stille  und 
Verborgenheit;  imd  eines  Tages  wird  er  wieder  hervortreten, 
und  dann  werden  sich  alle  Kaiser  und  Fürsten  der  Erde  in- 
brünstig vor  ihm  neigen.  Dieser  Legende  der  Skopzen^)  liegen 
tatsächliche  Momente  zugnmde:  Sseliwanow  wurde  1775  in 
Moskau  ergriffen,  am  15.  September  dieses  Jahres  geknutet 
und  nach  Irkutsk  verschickt;  er  entfloh,  wurde  1797  neuerdings 
in  Moskau  verhaftet  und  auf  Befehl  des  Zaren  Paul  ins  Irren- 
haus gebracht,  da  er  die  Frechheit  gehabt  hatte,  sich  dem 
Kaiser  als  Peter  III.  vorzustellen.  Im  Jahre  1802  wurde  Sse- 
liwanow auf  Intervention  einiger  reichen  Skopzen  aus  dem 
Irrenhaus  entlassen,  zuerst  in  eine  der  Armenanstalten  des 
Smolnaklosters  überführt  und  dann  durch  Vermittlung  des 
Staatsrates  Alexej  Michajlow  Jelinsky,  der  selbst  der  Sekte  an- 


1)  Nach  einer  Version  wurde  Peter  schon  in  Holstein  Skopze.  —  Das 
geheime  Erkennungszeichen  der  Skopzen  untereinander  ist  gewöhnlich  ein 
Porträt  Peters  III.,  auf  dem  der  Kaiser  dargestellt  ist,  wie  er  ein  rotes  Tuch 
auf  dem  rechten  Knie  hält  und  mit  der  rechten  Hand  das  rote  Tuch  berührt. 
Bei  ihren  Zusammenkünften  oder  wenn  sie  sich  in  unauffälliger  Weise  einander 
als  Sektenbrüder  zu  erkennen  geben  wollen,  legen  die  Skopzy  auf  ihr  rechtes 
Knie  ein  rotes  Tuch  und  schlagen  mit  der  rechten  Hand  darauf. 

2)  Die  Legende  macht  konsequenterweise  auch  den  Fürsten  Daschkow. 
der  ein  Günstling  Peters  III.  war,  während  die  Fürstin  Daschkow  zu  Katharina 
hielt,  zu  einem  Skopzen.  Der  Bauer  Iwan  Sufilow  gab  sich  als  Fürst  Daschkow, 
alias  Johannes,  Lieblingsjünger  des  Jesu-Sseliwanow  aus.  Er  wurde  erst  in 
Dünaburg,  dann  in  Schlüsselburg  eingesperrt  und  starb  1799. 


—    240    — 

gehörte,  in  dem  Hause  des  Kaufmannes  Nenastjew,  eines 
Skopzen^  fürstlich  installiert.  Er  lebte  mm  lange  Jahre  als 
angesehener  Prophet  imd  Erlöser,  und  im  Jahre  1805  pilgerte 
sogar  der  mystisch  veranlagfte  Zar  Alexander  I.  vor  dem  Auf- 
bruch ins  Hauptquartier  zum  Skopzengott.^)  Drei  Tage  nachher 
begab  sich  Lubjänowski,  später  Senator,  ebenfalls  zu  Sseli- 
wanow;  Lubjänowski  erzählt  in  seinen  Memoiren:  Der  Pro- 
phet richtete  sich  in  seinem  Bette  auf  und  segnete  den  Gast; 
dann  fragte  er:  „Ist  Aleksaschka  abgereist?**  Als  die  Frage 
bejaht  wurde,  sag^e  er  bedauernd :  „Was  soll  man  da  machen  ? 
Vorgestern  habe  ich  ihn  angefleht,  nicht  zu  fahren  und  keinen 
Krieg  mit  dem  verfluchten  Franzosen  anzufangen.  Gott  be- 
hüte ihn,  ich  sehe  nichts  Gutes  kommen.  Du  wirst  es  ja  sehen.** 
—  Alexander  I.  ließ  widerstandslos  die  Ausbreitung  der  Sseli- 
wanowschen  Sekte  zu;  ihren  Gottesdiensten  durften  die  Be- 
hörden nichts  in  den  Weg  legen.  Erst  im  Jahre  1820  erkannte 
man  das  Übel,  das  man  gefördert  hatte,  und  brachte  Sseli- 
wanow  ins  Kloster  zu  Ssusdal.  Das  geschah  unter  großen 
Ehrenbezeigungen.  Dem  Propheten  wurde  auf  kaiserlichen 
Befehl  vom  Fürsten  Galitzyn^)  eine  Staatsequipage  zur  Ver- 
fügung gestellt.  Im  Kloster  Ssusdal  ist  Sseliwanow  gestorben, 
nach  einigen  1823,  nach  anderen  1832,  doch  scheint  die  letz- 
tere Jahreszahl  die  richtigere  zu  sein.  Auch  die  legendäre 
Akulina  Iwanowna  gehört  der  Wirklichkeit  an,  doch  fehlen 
über  sie  genaue  Nachrichten.  Im  Jahre  1844  wurde  zu  Mor- 
schansk  im  Gouvernement  Tambow  eine  himdertjährige  Frau 
von  den  Skopzen  als  heilige  Jungfrau  und  Gottesgebärerin  ver- 
ehrt. Man  nimmt  an,  daß  sie  die  Akulina  Iwanowna  ge- 
wesen sein  dürfte,  die  mithin  den  Propheten  um  wenigstens 
ein  Jahrzehnt   überlebt   haben   würde. 

Die  Lehre  der  Skopzy,  die  sich  selbst  weiße  Tauben,  die 


^)  Schiemann,  Alexander  I.,  S.  414. 

2)  Fürst  Galitz3m,  der  erste  Kultusminister  Rußlands,  gehörte  einer 
Geißlersekte  an,  die  im  Michaelspalais  in  der  Wohnung  der  Offizierswitwe 
Tartarinow  ihre  Orgien  feierte;  nach  einem  Berichte  des  Archimandriten 
Photij  sollen  die  Anhanger  der  Tartarinowschen  Gruppe  großenteils  Skopzen 
gewesen  sein;  ,,auch  Frauen  und  Madchen  sollen  hier  verschnitten  werden," 
fügt  der  hohe  geistliche  Referent  hinzu.    VgL  S.  323. 


—    241    — 

Reinen,  die  Gerechten,  wahre  Kinder  Gottes  nennen,  besteht 
ungefähr  in  folgendem:  Als  Gott  den  Menschen  erschuf,  ge- 
schah dies  für  ein  geschlechtsloses  Leben.  Aber  Adam  und 
Eva  sündigten.  Die  Erbsünde,  das  ist  der  Geschlechtsakt; 
sie  kann  nur  gesühnt  werden  durch  Vertilgung  der  Fortpflan- 
zungsfähigkeit, also  durch  Vernichtung  der  Geschlechtsteile 
des  Mannes  und  durch  Zerstörung  der  Brüste  und  der  Ge- 
schlechtsteile der  Frau.  Aus  der  ersten  Menschensünde  wurden 
immer  neue  geboren,  und  die  Verderbnis  der  Welt  wuchs  ins 
Chaotische.  Da  sandte  Gott  seinen  Sohn  Jesus  auf  die  Erde 
herab.  Ihn  erkennen  die  Skopzy  mithin  als  Gottes  Sohn  an, 
indessen  nur  als  Vorläufer  des  zweiten  und  größeren  Gottes- 
sohnes Sseliwanow;  nicht  das  Martyrium  am  Kreuze,  sondern 
das  Martyrium,  das  man  dem  Zeugungsgliede  auferlegt,  kann 
die  Menschheit  von  dem  Übel  der  Erbsünde  erlösen.  Übrigens 
hat  auch  Jesus  Christus  die  Skopzenlehre  verbreiten  wollen, 
Beweise  dafür  sind  die  früher  erwähnten  Bibelstellen ;  seine  Ab- 
sicht wurde  nicht  verstanden,  und  infolgedessen  mußte  Gott 
seinen  zweiten  Sohn  Sseliwanow  auf  die  Erde  senden,  um 
das  große  Sühnewerk  der  Kastration  zu  vollführen.  Sseli- 
wanow ging  mit  dem  besten  Beispiel  voran,  indem  er  sich  der 
Feuertaufe  unterzog,  das  heißt :  der  Vernichtung  des  Zeugungs- 
gliedes durch  ein  glühendes  Eisen.  Doch  gestattete  der  Pro- 
phet als  Konzession  an  die  menschliche  Schwachheit  die  Vor- 
nahme der  Operation  mit  einem  Rasiermesser  oder  Stemm- 
eisen. Die  Kastration  ist  das  unerläßliche  Opfer,  das  allein 
von  der  Hölle  retten  kann.  Im  Augenblicke,  da  das  sündige 
Zeugungsglied  des  Mannes  oder  die  Saugwarze  der  Frauen- 
brust unter  dem  Messer  fällt,  öffnet  sich  den  Seligen  und 
Frommen  die  Pforte  des  Paradieses.  Wir  sollen  nicht  mehr 
sündigen,  wie  unsere  Eltern  gesündigt  haben ;  deshalb  ist  es 
Pflicht  der  Proselyten  vor  ihrer  Aufnahme  in  den  heiligen 
Skopzenbund  das  Andenken  von  Vater  und  Mutter  ebenso  zu 
schmähen,  wie  den  sündigen  Staat  und  die  Heiligen  der  Or- 
thodoxie. Die  russische  Kirche  ist  das  Reich  des  Antichrist, 
die  Popen  und  Bischöfe  die  Diener  Satans.  Die  Skopzy  kennen 
keine  Sonntagsfeier,  sie  glauben  nicht  an  die  Auferstehung  der 
Leiber  Unverschnittener,  sie  verachten  die  Sakramente.  Wenn 

Stern,  Geschichte  der  Afientl.  Sittlichkeit  in  Rufiland.  i6 


—    242    — 

sie  trotzdem  die  russischen  Kirchen  besuchen,  so  tun  sie  es 
unter  dem  Zwange  der  Behörden,   um  sich  und  die  Ihrigen 
nicht  zu  verraten,  und  weil  sie  meinen,  damit  etwas  Gleich- 
gültiges zu  besorgen,  das  ihrem  Seelenheil  nicht  schaden  kann. 
Über  die  Versanmilungen  der  Skopzen  ist  bisher  folgen- 
des in  Erfahrung  gebracht  worden:  Die  Mitglieder  der  Sekte, 
die  zusammen  eine  Gruppe  oder  ein  Schiff    {Kopa»1jib)   bilden 
wie  die  Chlysty,  erscheinen  alle  in  weißen  Hemden.    Die  Zere- 
monien beginnen  um  zehn  Uhr  abends  und  dauern  die  Nacht 
durch.     Da  den  Skopzen  tiefste  Verschwiegenheit  über  ihre 
Gebräuche  und  Handlxmgen  auferlegt  ist,  gibt  es  keine  ge- 
schriebenen Liturgien  oder  Vorträge;  die  Lieder,  die  sie  singen, 
pflanzen  sich  durch  mündliche  Überlieferung  fort,  oder  ent- 
stehen in  der  Inspiration  des  Augenblickes.    Haxthausen,  der 
einer  Skopzenversammlung  beiwohnte,  hat  ein  Lied  aufgezeich- 
net: „Haltet  zusammen,  ihr  Schiffsleute,  lasset  das  Schiff  im 
Sturme  nicht  untergehen.    Der  heilige  Geist  ist  bei  uns,  unser 
Vater   und  Christus   ist   bei   ims,   seine  Mutter  Akulina   Iwa- 
nowna  ist  bei  uns.    Er  wird  konunen,  er  wird  erscheinen;  er 
wird  die  große  Glocke  Uspenskij  läuten ;  er  wird  alles  gläubige 
Schiffsvolk  zusammenrufen;  er  wird  Masten  setzen,  die  nicht 
fallen,   Segel  spannen,   die   nicht   reißen  und  ein  Steuerruder 
bauen,  das  sicher  leitet!*'    Der  Gesang  wird  von  den  Männern 
allein,   die  auf  Stühlen   oder  Bänken  sitzen  und  die  Melodie 
durch  Aufschlagen  der  flachen  Hände  auf  die  Schenkel  be- 
gleiten, begonnen.     Die  Frauen  sind  zunächst  bloße  Zuhöre- 
rinnen ;  nach  einer  Weile  hören  die  Männer  auf  imd  die  Frauen 
stimmen  ein  Lied  an.     Die  Gesänge  enden  mit  Tanz  wie  bei 
den  Chlysty;   und  wie  bei  den  Geißlern  heißt  auch  bei  den 
Skopzen  dieser  Tanz:  Radenije,  Glut,  Inbrunst,  das  Arbeiten 
in  Gott.    Man  kennt  vier  Arten  des  Radenije:  Das  Schiffchen, 
das  Wändchen,   das  Kreuzchen  und  Mann  für  Mann.     Wird 
ein  Schiffchen  gemacht,  so  bildet  man  einen  Kreis  und  springt 
herum;    ein    Wändchen    entsteht,    indem   man,    ebenfalls    im 
Kreise,   Schulter  an   Schulter  preßt;   das  Kreuz  macht  man, 
indem  man  beim  Tanzen  imd  Hüpfen  Reihen  in  Kreuzesform 
zu  entwickeln  sucht;  das  Tanzen  Mann  für  Mann  gleicht  dem 
Drehen  der  Derwische,  da  man  auf  dem  Flecke  bleibt  und  sich 


—    243    — 

um  sich  selbst  dreht.  Die  Wirkung  der  Tänze  ist  bei  den 
Verschnittenen  die  gleiche  wie  bei  den  unverschnittenen  Sek- 
tierern: die  Versammlimg  fällt  in  Verzückung,  gerät  in  einen 
Taumel  sinnlicher  Erregung,  die  natürlich  nur  durch  heilige 
Küsse,  wie  Sseliwanow  es  befohlen  hat,  befriedigt  werden 
könnte.  Diese  Befriedigung  ist  imgenügend,  und  so  ist  die 
Folge  eine  sadistische  Orgie,  die  Vornahme  von  Operationen 
an  den  Gliedern  männlicher  Proselyten  und  an  Frauenbrüsten. 
Die  Verstümmelungen  werden  seltener  an  Kindern,  ge- 
wöhnlich an  schon  Erwachsenen  vollzogen.  Es  gibt  verschie- 
dene Arten  der  Operation  und  mehrere  Grade  der  Reinheit, 
die  durch  sie  erreicht  werden  können.  Durch  zahlreiche  Pro- 
zesse vor  den  russischen  Gerichten  wurde  erwiesen,  daß  die 
Feuertaufe  oder  Beschneidungstaufe^)  in  zwei  Klassen  zerfällt: 
in  die  des  kaiserlichen,  des  großen  Siegels,  der  zweiten  Rein- 
heit; und  in  die  des  kleinen  Siegels.^)  Die  niedrigere  Klasse 
erfordert  nur  die  Entfernung  der  Hoden,  die  höhere  die  Ab- 
schneidung des  Gliedes.  Die  Operation  wird  von  Spezialisten 
vorgenommen,  die  in  ihrer  Kunst  solche  Meister  sind,  daß 
Katastrophen  selten  eintreten,  trotzdem  die  Operationsinstru- 
mente die  denkbar  primitivsten:  ein  Rasiermesser,  oft  auch 
ein  gewöhnliches  Messer,  eine  Blechschere,  imd  eine  Serviette 
genügen  dem  Operateur.  Zum  Blutstillen  wendet .  man  ein 
glühendes  Eisen  an.  Bei  einigen  Gemeinden  vollführen  alte 
Weiber  die  Operation.  Es  kommt  vor,  daß  Fanatiker  mit 
einem  Stück  Glas,  einem  Messer  oder  einer  Axt  auch  selbst 
die  Operation  an  sich  vornehmen.^)  In  einer  Statistik  über 
5444  Skopzen,  die  man  1866  entdeckt  hat,  wurde  konstatiert, 
daß  sich  von  dieser  Zahl  863  —  darunter  160  Frauen  — 
selbst  kastriert  hatten.    Nach  einigen  Berichten  wird  das  kaiser- 


^)  In  manchen  Skopzengemeinden  soll  es  auch  eine  Wassertaufe  geben. 
Busch,  Wunderliche  Heilige,  S.  161,  schildert  eine  solche  Wassertaufe. 

*)  Andere  Bezeichnungen  sind:  das  erste  Siegel,  das  erste  Weißen,  die 
erste  Reinheit,  das  Besteigen  des  scheckigen  Pferdes;  und  für  die  höhere  Klasse: 
volle  Taufe,  zweites  Weißen,  Besteigen  des  weißen  Pferdes. 

*)  Solches  praktizieren  auch  häufig  die  Chinesen,  die  eine  glänzende 
Stellung  als  Eunuchen  erringen  wollen.  "Man  lese  darüber  bei  Dr.  1. 1.  Matignon, 
Superstition,  crime  et  mis^re  en  Chine,  4.  6d.  Paris  et  Lyon  1902,  p.  250. 

i6» 


—     244    — 

liehe  Siegel  nicht  immer  auf  eimnal,  sondern  manchmal  in 
zwei  Sitzungen  gemacht.  Im  ersten  Falle  werden  Hodensack 
und  Glied  zusammengebunden  und  mit  einem  einzigen  Schnitt 
oder  Hieb  abgetrennt ;  im  anderen  Falle  wird  zuerst  der  Hoden- 
sack und  später  das  Glied  abgeschnitten.  Die  Verstümmelten 
erhalten,  teils  um  den  Abfluß  des  Urins  zu  erleichtern,  teils 
um  die  Verwachsung  der  Wunde  zu  verhindern,  eine  kleine 
Röhre  aus  Zinn  oder  Blei  als  Ersatz  des  Gliedes.^) 

Den  Frauen  ist  angeblich  die  Verstümmelimg  nicht  Ge- 
setz, es  gibt  aber  kaum  eine  unverstümmelte  Skopzin.  Auch 
bei  den  Frauen  gibt  es  zwei  Grade  der  Weihe :  die  erste  und 
die  zweite  Reinheit.  Man  zerstört  durch  Eisen  oder  Feuer 
eine  Warze  oder  beide;  man  schneidet  eine  Brust  oder  beide 
ganz  ab;  oder  man  verunstaltet  die  Geschlechtsteile.  Die  Ope- 
ration der  Geschlechtsteile  erfolgt  durch  Messer  oder  Schere. 
Sie  ist  keineswegs  immer  so  vollkommen,  daß  dadurch  die 
Wollust  oder  nur  die  Zeugungsfähigkeit  der  Frauen  verhindert 
werden  könnte;  es  gibt  unter  den  Skopzenweibern  sogar  viele, 
die  sich  dem  Prostitutionsgewerbe  zuwenden. 

Das  Skopzentum  rekrutiert  sich  nicht  bloß  aus  dem  Bauern- 
stande, sondern  hat  Mitglieder  aus  allen  Berufskreisen:  man 
findet  unter  ihnen  Edelleute,  Offiziere,  Beamte,  Geistliche, 
Feldscher«r,  Bürger,  Kaufleute,  Gewerbetreibende,  Grund- 
besitzer, Vagabunden,  Arrestanten,  Soldaten,  Kolonisten  und 
selbst  Angehörige  der  Intelligenz.  Auffallend  groß  ist  die 
Zahl  bejahrter  Leute  unter  den  Skopzen.  Es  gibt  nicht  bloß 
viele  Siebzigjährige  und  Achtzigjährige,  sondern  auch  Männer 
und  Frauen,  die  ein  Alter  von  iio  bis  130  Jahren  erreicht 
haben.  Zur  Statistik  der  Verbreitung  der  Skopzen  sind  einige 
interessante  Zahlen  festgestellt  worden.  Von  1805  bis  1839 
zählte  man  offiziell  1665  männliche  imd  357  weibliche  Mit- 
glieder der  Sekte;   von   1840  bis   1859:   1559  männliche  und 


1)  Pelikan  gab  folgende  Statistik  von  1481  Fällen,  die  ihm  bekannt 
waren:  588  vollkommene  Verschneidungen,  833  Entfernungen  der  Hoden, 
18  Entfernungen  bloß  eines  Hodens,  16  Entfernungen  bloß  des  Gliedes,  6  Ent- 
fernungen des  Gliedes  und  eines  Hoden,  22  Verschneidungen  besonderer  Art. 
(Vgl.  VVTrede,  263.) 


—    245    — 

825  weibliche;  von  1860  bis  1871:  764  Männer  und  283 
Frauen.  Im  Jahre  1843  verzeichnete  ein  Regierungsbericht 
1701  Skopzy  und  Skopizy.  Die  offiziellen  Berichte  bleiben 
aber  hinter  der  Wahrheit  weit  zurück.  Schon  Haxthausen 
glaubte,  daß  man  die  Zahl  der  Skopzen  mit  wenigstens  zwan- 
zigtausend annehmen  müsse;  und  seither  hat  sich  die  Menge 
dieser  Sektierer  gewaltig  vermehrt.  Am  meisten  findet  man 
sie  in  den  Gouvernements  Orel  und  Petersburg,  dann  in  Ko- 
stroma, Rjäsan,  Kaluga,  Kursk,  Taurien,  Perm,  Moskau,  Ssa- 
mara,  Ssaratow,  Bessarabien,  Tambow,  Tula.  In  geringerer 
Anzahl  treten  sie  in  etwa  zwanzig  anderen  Gouvernements 
auf.  Die  russische  Regierung  hat  die  Skopzen  vielfach  blutig 
verfolgt,  und  es  gab  besonders  in  den  letzten  Jahrzehnten 
vor  den  Gerichten  mehrere  Monstreprozesse  gegen  die  Ver- 
schnittenen, wobei  Hunderte  Angeklagte  erschienen.  Infolge 
der  Urteilssprüche  wurden  viele  Tausende  dieser  Sektierer  nach 
Sibirien  verbannt ;  andere  flüchteten  nach  Galizien  und  nament- 
lich nach  Rumänien,  wo  ihre  drei  Hauptgemeinden  in  Bu- 
karest, Galatz  und  Jassy  mindestens  zwanzigtausend  Köpfe 
zählen.  Die  Verfolgungen  haben  also  nicht  im  geringsten  ge- 
nützt, und  es  werden  die  Skopzen,  wenn  sie  sich  in  nächster 
Zeit  in  gleichem  Maße  vermehren,  bald  am  Ziele  ihres  Strebens 
stehen :  denn  das  tausendjährige  Reich,  sagen  sie,  muß  an- 
brechen, wenn  die  Zahl  der  Skopzen  und,Skopizen  auf  144000 
gebracht  sein  wird.  Wie  bei  allen  russischen  Sekten  gibt  es 
auch  unter  den  Skopzen  verschiedene  Abarten.  So  existiert 
eine  Gruppe,  genannt  die  Perewertyschy,  welche  die  Kastrie- 
rung schon  bei  den  Kindern  durch  einen  Schnitt  und  die 
Drehung  des  Samenstranges  vornehmen.  Eine  andere  Gruppe, 
die  Prokolyschy,  zerdrückt  den  Hodensack  mit  einem  Bande 
und  durchbohrt  den  Samenstrang  mit  Nadeln.  In  den  letzten 
Jahren  erst  ist  im  Distrikt  von  Belew  eine  neue  Skopzenart 
entstanden,  deren  Anhänger  sich  nach  ihrem  Propheten,  einem 
Unteroffizier   namens   Tombow,    die   Tombowisten    nennen. 

Da  die  Skopzen  infolge  der  Zerstörung  der  Geschlechts- 
teile ihre  Sekte  nicht  direkt  fortpflanzen  können,  haben  sie 
folgende  Mittel  zur  Vermehrung  ihrer  Anhänger  gefunden : 
Sie  lassen  sich  gewöhnlich  erst  dann  verschneiden,  wenn  sie 


—    246    — 

mit  ihren  Frauen  Kinder  in  die  Welt  gesetzt  haben.  Man  ent- 
faltet femer  eine  Propaganda,  die  durch  den  großen  Reich- 
tum der  Skopzen  .mächtig  imterstützt  wird.  Die  Skopzen  sind 
gewöhnlich  überaus  wohlhabende  Kaufleute,  Juweliere  oder 
Geldwechsler;  die  meisten  verwenden  ihre  ganzen  Reichtümer 
für  die  Gewinnung  neuer  Sektenmitglieder.  Wer  sich  ihnen 
anschließt,  der  kann  sich  dem  Messer  ihrer  Operateure  nicht 
entziehen.  Ihre  Organisation  ist  so  gefürchtet,  daß  es  nur 
wenige  Deserteure  imd  Verräter  imter  ihnen  gegeben  hat. 
Und  wer  ihnen  auch  entflieht,  wird  früher  oder  später,  wo 
immer  im  Inlande  oder  Auslande  er  sich  aufhalten  mag,  von 
ihrer  Rache  ereilt.  Auch  wer  unfreiwillig  in  die  Hände  der 
Fanatiker  fällt,  oder  wer  sich  aus  Neugier  ihren  Versanmi- 
lungen  beizuwohnen  verleiten  läßt,  kann  seiner  Mannheit  Lebe- 
wohl sagen;  er  wird  ergriffen,  auf  ein  Kreuz  gebunden,  ge- 
knebelt und  gewaltsam  zum  Eunuchen  gemacht.  Man  kennt 
viele  Hunderte  gewaltsamer  Verschneidungen.  Im  Jahre  1866 
allein  wurden  470  Fälle  bekannt.  Der  Skopze,  dem  es  ge- 
lungen ist,  der  Sekte  zwölf  Mitglieder  zuzuführen,  erhält  die 
Würde  eines  Apostels.  Manche  Skopzen  schließen  noch  im 
späten  Alter  Ehen^)  und  gestatten  ihren  Frauen  loyal  den  ge- 
schlechtlichen Verkehr  mit  fremden  Männern ;  aber  die  Kinder, 
welche  solche  Frauen  dann  zur  Welt  bringen,  gehören  von 
vornherein  der  Sekte.  Man  besoldet  schließlich  eine  ganze 
Armee  von  Agepten,  die  durch  die  Lande  ziehen,  um  unter 
den  Armen  und  Soldaten  für  Geld  Proselyten  zu  werben  und 
Kinder  für  die  heilige  Kastration  aufzukaufen. 

Schon  früher  ist  bemerkt  worden,  daß  die  an  den  Ge- 
schlechtsteilen der  Frauen  vorgenonmienen  Verstümmelungen 
nicht  immer  die  Zeugungsfähigkeit  vernichten;  tritt  nun  der 
Fall  ein,  daß  eine  Skopiza,  welche  die  Rolle  der  heiligen  Jung- 
frau spielen  soll,  einen  Knaben  gebärt,  so  gilt  dieser  als  ein 
Sohn  Gottes  und  muß  für  die  Sünden  der  Menschheit  wie 
Christus  den  Martertod  erleiden.  Am  achten  Tage  nach  seiner 
Geburt  durchsticht  man  dem  heiligen  Kinde  die  linke  Seite 
und  durchbohrt  ihm  das  Herz ;  das  warme  Blut  dient  der  Kom- 


^)  Dies  hat  auch  den  Zweck,  die  Behörden  zu  täuschen. 


—    247    — 

munion.  Der  Körper  wird  getrocknet,  zu  Pulver  zerrieben  und 
zu  Brötchen  verarbeitet,  die  man  am  ersten  Ostertage  den 
Gläubigen  nebst  einem  Schluck  Wasser  als  Abendmahl  dar-  " 
reicht.  Dieses  blutige  Abendmahl  hat  eine  gräßliche  Ver- 
breitung gefunden.  Die  Symbolik  des  Abendmahls  entspricht 
dem  heidnisch  gebliebenen  Volke  nicht  vollkommen,  es  will 
wirkliches  Blut  und  wirklichen  Leib  Christi  haben,  wie  dies 
nur  bei  Völkern  auf  der  primitivsten  Kulturstufe  denkbar  wäre, 
bei  denen  das  Blut  das  heiligste  Reinigungsmittel  bedeutet, 
ein  lebendes  Opfer  allein  die  finsteren  Mächte  versöhnen  kann. 
Fälle  von  Abschlachtung  neugeborener  Kinder  sind  nicht  nur 
bei  den  Skopzy  und  Chlysty,  sondern  noch  bei  vielen  anderen 
Sekten  zu  finden.^)  Gewöhnlich  wird  bei  diesen  Barbaren  die 
Jungfrau,  die  man  als  Bogorodiza  oder  Gottesmutter  erklärt, 
schon  bei  ihrer  Installation  mit  diesen  Worten  begrüßt:  „Ge- 
benedeit seiest  du  unter  den  Weibern,  du  wirst  einen  Heiland 
gebären!*'  Dann  entkleidet  man  sie,  leg^  sie  auf  einen  Altar 
und  treibt  einen  schändlichen  Kultus  mit  ihrem  nackten  Leibe ; 
die  Fanatiker  drängen  sich  herzu,  um  ihn  an  allen  Stellen  ab- 
zuküssen. Man  betet,  der  heilige  Geist  möge  der  heiligen 
Jungfrau  ein  Christuslein  machen,  auf  daß  es  den  Frommen 
übers  Jahr  vergönnt  wäre,  von  diesem  heiligen  Leibe  zu  kom- 
munizieren. Wird  die  Bogorodiza  während  der  nun  folgenden 
Orgie  geschwängert,  so  wird  übers  Jahr  nüt  dem  Neugeborenen 
wie  erzählt  verfahren.  Bei  anderen  Sektengruppen  ist  die  Bo- 
gorodiza  selbst    das    Opfer.     Unter   wilden   Tänzen   und   Ge- 


^)  Die  Gnostiker  wurden  der  gleichen  Verbrechen  beschuldigt.  Sie  sollen 
die  in  ihren  nächtlichen  Zusammenkünften  gezeugten  Kinder  gleich  nach  der 
Geburt  zu  Brei  zerstampft,  den  Brei  mit  wohlriechendem  Gewürz  vermischt 
und  den  Glaubigen  zum  Abendmahl  vorgesetzt  haben.  Das  gleiche  wird  nach- 
gesagt den  Sekten  der  Barbeliotae,  Borboriani,  Coddiani,  Naasini.  Socratitae, 
Stratiotici,  Zachaei.  Die  lombardischen  Fratricelli  des  dreizehnten  Jahrhunderts, 
welche  die  Weibergemeinschaft  eingeführt  hatten,  warfen  die  aus  ihrer  Hurerei 
erzeugten  Kinder  bei  ihren  Versammlungen  so  lange  von  einer  Hand  in  die 
andere  im  Kreise  herum,  bis  die  armen  Würmer  starben.  Derjenige,  in  dessen 
Hand  ein  solches  Kind  gerade  verendete,  wurde  zum  Hohepriester  erklärt. 
Das  gleiche  wie  von  den  Fratricelli  wird  auch  von  den  Messaliani  berichtet. 
Es  waren  aber  beide  Sekten  vielleicht  nur  eine  einzige  unter  verschiedenen 
Namen. 


—    248    — 

sängen   schneidet   man    ihr   die   linke   Brust   ab   und   verteilt 
Stücke  davon  an  die  Gläubigen.^) 

Es  ist  die  richtige  Entwickelung,  daß  sich  an  die  Selbst- 
verstümmelung die  Opferung  anschließt,  daß  auf  die  Kastra- 
tion der  Kindesmord,  Frauenmord  und  Männermord,  der  Selbst- 
mord des  einzelnen  und  der  Massenselbstmord  folgen.  Im 
Jahre  1879  hatte  das  Gericht  in  Odessa  auf  einmal  vier  Fälle 
dieser  Art  zu  verhandeln:  eine  Selbstgeißelung,  eine  gewalt- 
same Kastrierung,  einen  Fall  von  Selbstverbrennung  und  einen 
Fall  von  Kreuzigung.  Eine  Sekte  heißt  geradezu:  Kinder- 
mörder; sie  betrachtet  es  als  heiligste  Pflicht,  die  Neugebore- 
nen in  den  Himmel  zu  senden,  um  ihnen  die  Leiden  des  ir- 
dischen, vom  Teufel  regierten  Reiches  zu  ersparen.  Bei  der 
Sekte  der  Feodosianer,  welche  lehren :  „Der  Jüngling  soll  sich 
kein  Mädchen  nahe  kommen  lassen,  der  Ehemann  seiner  Gattin 
nicht  beiwohnen,  die  Jungfrau  soll  keinen  Mann  erhören,  die 
Ehefrau  keine  Kinder  zeugen,*'  bei  diesen  Fanatikern  werden 
Eheleute,  die  Kinder  bekommen,  aus  der  Gemeinde  ausge- 
stoßen, falls  sie  es  nicht  vorziehen,  die  Neugeborenen  sofort 
umzubringen  oder  zur  Sühne  für  ihre  Sünden  lebendig  zu 
begraben.  Die  menschliche  Seele,  sagen  die  Feodosianer, 
kommt  bei  dem  Zeugungsakt  nicht  von  Gott,  sondern  vom 
Teufel.  In  neuester  Zeit  hat  eine  Gruppe  dieser  Sektierer 
in  Moskau  und  Riga  Waisenhäuser  errichtet,  wohin  sie  ihre 
Kinder  abgeben,  die  dann  erzogen  werden,  ohne  jemals  zu 
erfahren,  wer  ihr  Vater  und  ihre  Mutter  sind.  Von  den  Feo- 
dosianem  haben  sich  noch  andere  Dissidenten  abgezweigt : 
solche,  welche  die  Ehe  wieder  eingeführt  haben ;  andere,  welche 
ein  Konkubinat  gestatten  und  die  Kinder,  die  sie  zeugen,  weder 
töten   noch   in   die   Waisenhäuser  verbannen.     Die   radikalen 


^)  Nach  Haxthausens  Bericht  ist  die  heilige  Jungfrau  meist  ein  halbes 
Kind,  fünfzehn  bis  sechzehn  Jahre  alt.  Man  setzt  sie  nackt  in  eine  mit 
warmem  Wasser  gefüllte  Wanne.  Die  Operation  wird  von  alten  Weibern  vor- 
genommen. Um  dem  Mädchen  den  Schmerz  zu  lindem,  hält  man  ihm.  ein 
Bildnis  des  heiligen  Geistes  vor  Augen.  Nach  vollzogener  Operation  hebt 
man  das  nackte  Mädchen  auf  einen  Thron,  und  alle  Anwesenden  tanzen  her- 
um und  singen:  „Tanzen  wir,  springen  wir  den  Zionsberg  hinan."  Plötzlich 
verlöschen  die  Lichter,  und  es  beginnt  im  Dunkel  eine  wilde  Orgie. 


—    249    — 

Feodosianer  wollen  von  allen  diesen  Abtrünnigen  nichts  wissen ; 
sie  verharren  starr  bei  der  Ehelosigkeit  und  beim  Kindermord. 

Andere  Sekten  nehmen,  um  die  Prüfungszeit  auf  dieser 
höllischen  Erde  zu  beenden  und  beschleunigt  ins  Paradies 
zu  gelangen,  Zuflucht  zu  dem  einfachsten  Mittel  des  Totschlags. 
„Auf  dieser  Welt/'  heißt  es  in  dem  Gesang  einer  solchen  Sekte, 
„ist  kein  Heil  zu  finden.  Nur  die  Heuchelei  beherrscht  diese 
Welt.  Der  Tod  allein  kann  uns  erretten.  Gott  hat  die  Welt 
verlassen,  lasset  ims  zu  ihm  zurückkehren.**  Es  gibt  zweierlei 
Arten  von  Totschlagfanatikem :  Mörder  und  Selbstmörder.  Da 
sind  zunächst  jene,  die  im  Volksmunde  einfach  die  Totschläger 
heißen;  sie  behaupten,  das  Himmelreich  verschließe  sich  nur 
jenen,  die  eines  gewaltsamen  Todes  sterben.  Die  Würger 
sind  des  gleichen  Glaubens.  Die  Lebend  verstorbenen  betrach- 
ten das  Leben  auf  Erden  als  eine  Strafe  und  die  Geburt  eines 
Kindes  als  ein  Unglück.  Im  Jahre  1894  entstand  eine  neue 
Sekte,  deren  Anhänger  sich  „Die  unter  dem  Boden  Leben- 
den** nannten.^)  Sie  sind  vorzüglich  organisiert,  werden  von 
Ältesten  geleitet  und  haben  zahllose  unterirdische  Schlupf- 
winkel, in  denen  sie  ihre  Versanmilungen  abhalten  und  Vaga- 
bunden und  entlaufenen  Rekruten  Zuflucht  gewähren.  Haupt- 
sächlich aber  nehmen  sie  Schwerkranke  auf.  Diese  werden 
getauft,  erhalten  einen  neuen  Vornamen  und  den  Beinamen : 
Knecht  Gottes,  werden  dann  in  die  Höhlen  gesperrt  und  dem 
Hungertode  preisgegeben.  Ebenfalls  jüngsten  Datums  ist  die 
Sekte  der  Kitzler,  bei  deren  Versammlungen  die  Männer  die 
Frauen  so  lange  kitzeln,  bis  diese  ohnmächtig  werden;  man 
entdeckte  die  Sekte  in  Charjkow,  als  ein  junges  Mädchen  in- 
folge  des   Lachkrampfes   verschied. 

Zu  den  ältesten  Sekten  gehören  jene,  welche  den  Selbst- 
mord   predigen. 2)     Diese    Sektierer   fand   man   hauptsächlich 


^)  IIo;inaibHUKU.  —  Die  abendländische  Sekte  der  Lothardi,  die  im  vier- 
zehnten Jahrhundert  bekannt  war,  darf  wohl  als  eine  dieser  russischen  Sekte 
verwandte  bezeichnet  werden.  Die  Lothardi  erklärten,  Gott  bekümmere  sich 
nicht  darum,  was  drei  Ellen  tief  unter  der  Erde  geschehe;  sie  hielten  deshalb 
an  unterirdischen  Stellen  ihre  Versammlungen  und  verübten  hier  die  furcht- 
barsten Schandtaten,  Geißelungen,  Ausschweifungen,  Mord  und  Selbstmord. 

«)  Der  Ketzer  Montanus,  der  sich  um   170  für  den  von  Christus  vcr- 


—    250    — 

unter  den  Pomorzy^),  jenen  Raßkoljniki,  die  sich  vor  den  Ver- 
folgungen der  Behörden  an  die  nördlichen  Meeresküsten  ge- 
flüchtet hatten.  Zur  Zeit  der  Zarin  Elisabeth  Petrowna  machte 
sich  besonders  die  Sekte  der  Filiponen,  genannt  nach  ihrem 
Stifter  Filipon,  durch  ihre  Ausschreitungen  berüchtigt.  Fili- 
pon  lehrte,  es  gebe  keinen  anderen  Zaren  als  den  Zaren  des 
Himmels  und  keine  andere  Hierarchie  als  die  der  Engel.  Die 
Regierung  ergriff  gegen  diese  Sektierer  zunächst  Maßregeln 
nach  Peters  Art;  man  legte  ihnen  doppelte  Steuern  auf,  und 
der  Staatsschatz  stand  sich  gut  dabei,  man  konnte  durch  Ver- 
dächtigung unfreiwillige  Sektierer  schaffen  und  die  Staats- 
einnahmen nach  Belieben  in  die  Höhe  schrauben.  Die  Ver- 
folgten und  Bedrohten  verließen  massenhaft  ihre  Heimstätten 
und  flüchteten  in  die  Wälder,  in  verlassene  Gegenden,  zumeist 
an  die  Ufer  des  Eismeeres.  Aber  die  zarische  Gewalt  reichte 
auch  dorthin,  man  hetzte  die  Flüchtlinge  wie  wilde  Tiere;  so 
wurde  der  religiöse  Wahnsinn  erzeugt,  man  sah  nur  im  Selbst- 
mord die  Rettung,  und  fühlte,  daß  Filipon  recht  hatte,  wenn 
er  predigte:  „Das  Ende  der  Welt  ist  nahe,  der  Antichrist 
herrscht  auf  Erden,  betet  nicht  mehr  in  den  Kirchen,  ge- 
horchet nicht  der  Zarin.  Die  uns  verfolgen,  sind  die  Vorläufer 
imd  Diener  des  Antichrist,  wir  aber  die  Diener  Gottes.**  Und 
man  gehorchte  ihm  freudig,  als  er  erklärte:  „Nur  die  Selbst- 
entleibung ist  der  Weg  zur  Seligkeit.  Nur  das  Feuer  kann 
die  Seelen  von  den  Flecken  dieser  dem  Antichrist  verfallenen 
Welt  reinigen.**  Ein  Vater  schloß  sich,  von  Filipons  Worten 
begeistert,  mit  seiner  Frau  und  seinen  Kindern  in  einer  Holz- 
hütte ein,  und  der  Prophet  selbst  legte  Stroh  und  Reisig  rund- 
um und  zündete  es  an.  Bald  darauf  brach  eine  wahre  Selbst- 
verbrennungsepidemie aus,  in  unzähligen  Orten  triumphierten 
die  Selbstverb renner  2)    über  ihre  Verfolger.    Nahten  sich  die 

sprochenen  heiligen  Geist  ausgab,  endete  durch  Selbstmord;  zwei  seiner  Mai- 
tressen und  Prophetinnen,  Priscilla  und  Maximilla,  folgten  seinem  Beispiel. 
Die  Lehre  der  Patriciani  im  vierten  Jahrhundert  hieß:  Nicht  Gott,  sondern 
Satan  habe  die  Welt  und  das  menschliche  Fleisch  geschaffen;  es  sei  daher 
wohl  gestattet,  sich  selbst  umzubringen,  um  sich  von  solchem  Fleisch  zu  befreien. 

^)  lIoMopie,  Gegend  an  der  Küste. 

')  CaHO»CHraTeJ[b,  Selbstverbrenner,  nannte  man  jeden  Raßkoljnik.  der 
sich  auf  diese  Weise  vor  den  Schergen  der  Zarin  rettete. 


—    251     — 

Soldaten  der  Zarin  irgend  einer  Zufluchtsstätte  der  Sektierer, 
so  schlössen  sich  diese  schnell  in  ihren  Häusern  ein,  die  sie 
zuvor  reichlich  mit  brennbaren  Stoffen  angefüllt  hatten,  und 
legten  Feuer  an.  Vom  Weißen  Meere  bis  zum  Ural  und  in 
die  Schneewüsten  Sibiriens  hinein  flanmiten  die  riesigen 
Scheiterhaufen  auf.  In  der  Umgebung  von  Kargopol  ver- 
brannten sich  auf  einmal  240,  an  einem  anderen  Orte  400, 
in  der  Umgebung  von  Nischny-Nowgorod  600,  im  Distrikt 
von  Olonez  gar  3000  Sektierer.  Zuletzt  vereinigte  Filipon  selbst 
einige  Dutzend  seiner  Intimsten,  schloß  sich  mit  ihnen  in  einer 
Hütte  am  Ufer  eines  Flusses  ein  und  fand  gleich  seinen  An- 
hängern  den   seligen   Feuertod. 

Ein  Nachfolger  Filipons  war  Domitian,  der  sich  mit  seiner 
ganzen  Gemeinde  von  1700  Personen  verbrannte.  Dem  Do- 
nütian  folgte  Schaposchnikow,  der  sich  mit  seinen  Anhängern 
in  der  Nähe  von  Tobolsk  durch  den  Feuertod  das  Paradies 
erschloß.  Selbstverbrenner  sind  auch  die  Morelschtschiki,  über 
deren  Lehren  man  nichts  weiß,  da  man  von  ihnen  nur  durch 
ihre  Katastrophen  hört.  Seit  hundert  Jahren  ereignet  es  sich 
fast  alljährlich,  daß  bald  im  Norden,  bald  in  Sibirien  oder  an 
der  Wolga  eine  Gruppe  dieser  Sekte  sich  in  einer  unterirdischen 
Höhle  einschließt,  alle  Zugänge  durch  Holz,  Stroh  und  Reisig 
verstopft,  das  Brennmaterial  entzündet  und  unter  wilden  Ge- 
sängen den  Flammentod  erwartet.  Schon  die  Reisenden  Pallas, 
Gmelin  und  Georgi  haben  davon  zu  Ende  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  erzählt,  und  seither  gehören  derartige  Berichte 
aus  jeder  neueren  Epoche  der  russischen  Sittengeschichte  zu 
den  ständigen,  im  Wesen  immer  unveränderten,  nur  mit  an- 
deren Namen  und  Ziffern  versehenen  Wiederholungen.  Selten 
sind  die  Fälle,  daß  unter  den  Selbstverbrennem  Reue  ent- 
steht. Eines  Abends  versanunelten  sich  achtzig  Selbstmord- 
kandidaten in  einem  unterirdischen  Räume,  um  die  Seligkeit 
im  Feuertode  zu  finden.  Da  wurde  eine  Frau  wankelmütig  und 
entfloh.  Sie  verständigte  die  Behörde.  Aber  als  die  Morelsch- 
tschiki die  Polizei  kommen  sahen,  setzten  sie  beschleunigt  den 
Holzstoß  in  Flanunen  und  riefen :  „Der  Antichrist  kommt,  laßt 
uns  sterben,  damit  wir  nicht  lebend  in  die  Gewalt  des  Feindes 
fallen  1" 


—     252    — 

Andere  Selbstmordsekten  halten  den  Tod  durch  den 
Hunger  oder  das  Beil  für  seliger  als  den  Feuertod.  Im 
Jahre  1802  lehrte  ein  gewisser  Alexej  Juschkin,  wie  einst  Fi- 
lipon,  den  Tod  durch  Selbstverbrennung.  Er  wurde  von  der 
Behörde  unschädlich  gemacht.  Fünfundzwanzig  Jahre  später 
erhob  sich  sein  Sohn  als  Prophet,  der  das  Heil  im  Selbstmord 
durch  das  Beil  lehrte.  Für  einen  bestinunten  Tag  wurde  das 
Blutfest  angesetzt.  Zuerst  brachten  die  Männer  ihre  Weiber 
und  Kinder  um.  Dann  begaben  sie  sich  einer  nach  dem  anderen 
zu  dem  Propheten  Juschkin,  legten  einer  nach  dem  anderen 
das  Haupt  auf  einen  Block  und  empfingen  jubelnd  den  Todes- 
streich.i)  Haxthausen  erzählte,  daß  um  1840  auf  dem  Gute 
des  Edelmannes  Gurjew  am  linken  Wolgaufer  die  Bauern  eines 
Tages  einander  aus  religiösem  Wahnsinn  abschlachteten.  Nur 
eine  junge  Frau  entfloh  und  rief  Hilfe  herbei.  Als  diese  kam, 
war  es  zu  spät.  47  Leichen  lagen  da,  bloß  zwei  Menschen 
lebten  noch.  Diese  zwei  wurden  mit  der  Knute  bestraft,  aber 
bei  jedem  Schlage  frohlockten  und  dankten  sie,  denn  sie  hatten 
jetzt  das  Martyrium  erlang^. 

Den  Hungertod  als  gottgefällig  lehrte  der  Prophet  Schod- 
kin  unter  der  Regierung  Alexanders  II.  im  Gouvernement 
Perm.  Schodkin  predigte,  daß  der  Weltuntergang  bevorstehe 
und  der  Antichrist  auf  Erden  herrsche.  Es  gebe  nur  eine 
Rettung:  sich  in  einer  Höhle  in  einem  Walde  zu  vergraben 
und  den  Hungertod  zu  erwarten.  In  Sterbekleidern  zogen  der 
Prophet  und  seine  Anhänger  mit  ihren  Familien  in  eine  Höhle, 
hier  schworen  sie  den  Satan  ab,  bestreuten  ihr  Haupt  mit  Erde 
und  verschlossen  den  Eingang.  Plötzlich  bemerkte  man,  daß 
zwei  Weiber  entflohen  waren.  Da  beschloß  der  Prophet  aus 
Furcht  vor  Verrat  das  Ende  der  Frommen  gewaltsam  zu  be- 
schleunigen, ehe  die  Schergen  des  Antichrist  das  Werk  Gottes 
stören  würden.  ,,Die  Stunde  des  Todes  ist  gekommen,'*  rief 
er,  „seid  ihr  bereit?**  —  „Wir  sind  bereit,**  lautete  die  Ant- 
wort. Da  ergriff  man  zunächst  die  Kinder  und  erschlug  sie. 
Dann  tötete  man  die  Weiber,  hierauf  begann  man  die  Männer 


1)  Löwenstimm,  Der  Fanatismus  als  Quelle  des  Verbrechens,  Berlin  1899. 
—  Hans  Rau,  Die  Verirrungen  in  der  Religion,  Leipzig,  S.  419. 


—    253    — 

abzuschlachten.  In  diesem  Augenblick  kam  die  Polizei;  sie 
konnte  nur  mehr  den  Propheten  selbst  und  drei  junge  Männer 
retten. 

Vor  einigen  Jahren  begründete  der  Bauer  Malewan  im 
Städtchen  Taraschtschi  des  Kijewschen  Gouvernements  eine 
Sekte.  Malewan^)  lehrte:  „Das  Weltende  ist  nahe  und  es 
wird  eine  andere  Welt  entstehen,  in  der  Gleichheit  und  Brüder- 
lichkeit, Wahrheit  und  Gerechtigkeit,  eine  Seligkeit  ohne  Tod 
und  ohne  Verwesung  herrschen  werden.  Es  wird  keine  Sünden, 
keine  Gerichte,  keine  Behörden,  keine  Arbeit  und  keine  Sorgen 
mehr  geben.*'  In  dieser  Erwartung  des  Weltenwechsels  halten 
es  die  Malewanzy  für  unnötig,  sich  jetzt  noch  weiter  zu  plagen. 
Sie  verachten  jeden  festen  Besitz,  verkaufen,  was  sie  haben  und 
ziehen  ruhelos  von  Ort  zu  Ort,  um  das  Heil  der  Zukunft  zu 
suchen.  Diese  neue  Sekte  ist  zweifellos  eine  Abart  der  alten 
Wanderer-),  deren  Prophet  zu  Ende  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts der  Soldat  Jefim  war,  welcher  desertierte  und  in  einer 
Einsiedelei  der  Feodosianer  Zuflucht  fand.  Er  lehrte  gleich 
vielen  seiner  Konkurrenten,  daß  nicht  das  Reich  Gottes,  sondern 
das  Reich  Satans  auf  Erden  sei.  Deshalb  soll  man  der  Obrig- 
keit und  dem  Zaren  allen  Gehorsam  verweigern.  Die  Wan- 
derer befinden  sich  ewig  auf  der  Flucht  vor  dem  Antichrist 
und  seinen  Schergen,  leben  in  Höhlen  oder  Wäldern,  haben 
weder  Haus  noch  Familie.  Heimatlos  sein  ist  ihnen  heiligstes 
Gesetz,  darin  liegt  ihre  Seligkeit.  Sie  vernichten  alle  ihre  Iden- 
titätsnachweise, wollen  nichts  von  Pässen  wissen,  denn  nur 
der,  von  dem  man  nicht  sagen  kann,  wer  und  woher  er  sei, 
ist  ein  wahrer  Christ.  Als  im  Jahre  1897  in  Rußland  eine 
allgemeine  Volkszählung  stattfand,  brachten  sich  im  Kreise 
Teraspol  des  Chersonschen  Gouvernements  mehrere  Dutzend 
Wanderer  lieber  um,  ehe  sie  sich  in  die  Volkszählungslisten 
hätten  aufnehmen  lassen,  auf  denen  das  Siegel  des  Antichrist 
prangte.  Sie  gruben  sich  Gräber,  stiegen  ergeben  hinab,  legten 
sich  nieder  und  ließen  sich  bei  lebendigem  Leibe  verschütten. 


^)  Er  wurde  kurz  darauf  von  der  Regierung  ins  Irrenhaus  von  Kasanj 
gesperrt  und  befindet  sich  gegenwärtig  noch  dort. 

2)  OrpaHHHKH,  Wanderer,  Pilger,  Fremdlinge.  Man  nennt  sie  auch 
Flüchtlinge  oder  Lauflinge,  Ö'bn'Hhi. 


—    254     — 

Die  Wanderer  gehören  zu  den  grauenvollsten  unter  den 
russischen  Sektierern.  Sie  zeigen  wie  in  einem  Kaleidoskop 
die  schlechtesten  Charaktereigenschaften  des  russischen  Volkes : 
den  Zug  des  Nomaden,  welcher  sich  nirgends  heimisch  fühlt; 
die  Wildheit  in  den  Neigimgen  zum  weiblichen  Geschlecht; 
die  Verachtung  aller  Begriffe  von  Ehrlichkeit.  Sie  verwerfen 
die  Ehe,  aber  führen  auf  ihren  rastlosen  Wanderzügen  förm- 
liche Harems  mit  sich.  Sie  halten  den  Diebstahl  für  gestattet, 
weil  die  Welt  ohnehin  dem  Teufel  verfallen  sei.  Sie  kennen 
wohl  die  Taufe,  aber  sie  gebrauchen  nur  Wasser,  das  vom 
Hinunel  kommt>  also  Regenwasser ;  denn  die  Flüsse  und  Bäche 
hat  der  Antichrist  verunreinigt.  Sie  haben  auch  Heiligen- 
büder,  hängen  diese  aber  nur  an  Bäimien  in  abgelegenen 
Hainen  auf.  Das  sind  Beweise,  wie  tief  das  Heidentum  im 
russischen  Volke  noch  wurzelt,  es'  ist  der  unveränderte  Baiun- 
kultus.  Die  Organisation  der  Stranniki  oder  Wanderer  ist  eine 
glänzende.  Sie  besitzen  in  allen  Städten  des  Reiches  sogenannte 
Gastfreunde,  die  um  die  Behörden  zu  täuschen  als  brave  Bür- 
ger leben,  ihre  Geschäfte  betreiben,  ihre  Steuern  pünktlich 
zahlen  und  selbst  die  Kirchen  besuchen.  Diese  Helfershelfer 
sind  unentbehrlich,  um  den  Wanderern  im  Notfalle  einen  Zu- 
fluchtsort und  bei  ihren  Zügen  durch  die  Städte  eine  Herberge 
zu  sichern,  da  die  Pilger  bei  Profanen  weder  wohnen  noch 
essen  dürfen.  Erkrankt  ein  Wanderer,  so  wird  er  in  Sterbe- 
gewänder gehüllt  und  auf  ein  Bett  geleg^.  Ein  anderes  Mit- 
glied der  Gemeinde  erscheint,  mit  einem  roten  Hemde  angetan, 
legt  dem  Patienten  ein  Kissen  in  rotem  Überzug  auf  das 
Gesicht,  setzt  sich  darauf  und  bleibt  so  lange,  bis  der  Kranke 
erstickt  ist.  Im  Volksmunde  nennt  man  dies  den  roten  Tod. 
Es  sei  daran  erinnert,  daß  auch  bei  den  Skopzy  ein  rotes  Tuch 
eine  Rolle  als  Erkennungszeichen  spielt. 

Die  Sekte  der  Wanderer  rekrutiert  sich  namentlich  in 
Zeiten  der  Wirren  aus  Deserteuren  und  entlaufenen  Sträf- 
lingen. Unter  Nikolaj  I.,  wo  der  Militärdienst  gewöhnlich 
fünfundzwanzig  Jahre  dauerte  und  den  bürgerlichen  Tod  be- 
deutete, flüchteten  sich  Tausende  zu  den  Stranniki,  die  in 
ihren  Schlupfwinkeln  in  den  Wäldern  von  Jaroßlaw,  Perm 
und  namentlich  in  den  nordöstlichen  Gouvernements  den  Deser- 


—    255    — 

teuren  unauffindbare  Verstecke  boten.  Unter  Alexander  II. 
war  ein  Deserteur  namens  Nikonow  das  Oberhaupt  der  Sekte. 
Man  verhaftete  ihn  mehrmals,  er  entfloh  immer  wieder.  Die 
Revolutionsepoche  imter  Nikolaj  II.  hat  besonders  der  Sekte 
der  Stranniki  unzählbare  Tausende  Anhänger  zugeführt,  ganze 
Scharen  von  Räuberbanden  haben  sich  unter  dem  Deckmantel 
des  religiösen  Fanatismus  ausgebreitet,  hausen  in  den  Wäldern, 
sanmieln  sich  in  unzugänglichen  Verstecken  und  brechen  dann 
über  die  Dörfer  herein,  morden,  rauben,  vergewaltigen  Frauen 
und  schänden  Kinder.  Jede  Untat,  die  man  begeht,  ist  ein 
heiliges  Werk  zu  größerer  Ehre  Gottes,  denn  man  bekämpft 
und  schädigt  das  Reich  des  Antichrist,  die  Macht  des  Teufels. 
In  der  beispiellosen  Verwirrung,  welche  di^  Regierungen  Jahr- 
hunderte hindurch  systematisch  vorbereitet  haben,  feiert  nun 
der  groteske  Wahnsinn  der  russischen  Sektierer  seine  größten 
Triiunphe.  In  Strömen  fließt  das  Blut,  das  dem  tierischen 
Wollüstling  prickelnden  Reiz  verschafft,  und  aus  der  rauchen- 
den Erde  steigen  immerfort  neue  phantastische  Gebilde  her- 
vor, um  das  Chaos  zu  vervollständigen.  Was  die  Sekten  in 
ihrem  Irrwahn  erstrebten,  das  hat  die  zarische  Regierung  selbst 
vollbracht:  alle  Bande  der  Ordnung  sind  gelöst,  es  gibt  keine 
Gesetze,  keine  Autorität,  keine  Pflichten  und  keine  Rechte 
mehr. 


13-  Ehrbegriff,  Duell  und  Verbrechen. 

Das  russische  Wort  für  Ehre  —  Traditionelle  Untugenden  der  Russen  —  All- 
gemeinheit des  Diebstahls  —  Der  Großfürst  als  Millionendieb  —  Korruption 
in  der  Armee  —  Duldung  von  Ehrenbeleidigungen  —  Einschätzung  der 
Bürgerehre  —  Satisfaktion  für  Beleidigung  Vornehmer  —  Leibesstrafen  und 
Geldstrafen  für  Schläge  und  Beschimpfungen  —  Die  Genugtuung  für  Männer 
und  für  Frauen  —  Anmerkung  über  kalmückische  Ehrbegriffe  und  Strafen 
für  Beleidigungen  —  Ehrenkodex  Katharinas  II.  —  Ein  Pauschale  für  Be- 
schimpfungen —  Das  Geschäft  mit  der  Ehre  —  Zehn  Moralgebote  —  Duell- 
wesen —  Duell  auf  Peitschen  —  Moderne  Standesehre  —  Puschkins  Duell 
—  Verbrechen   in   Rußland  —  Seltsame  Statistik    —    Lügenhaftigkeit   der 

Regierung  —   Ursachen  der  Verbrechen. 

Der  Ehrbegriff  ist  dem  Russen  etwas  durchaus  Fremdes. 
Bis  zum  achtzehnten  Jahrhundert  hatte  die  russische  Sprache 
nicht  einmal  ein  Wort  für  Ehre.^)  Seither  findet  man  im 
Wörterbuch  das  Wort  ^ecTb  als  Notbehelf.  Peter  der  Große 
mußte  selbst  seinen  Feldherren  den  soldatischen  Ehrbegriff 
erst  klannachen.2)  Bei  Hoch  und  Niedrig  fehlte  jedes  Ver- 
ständnis für  die  Schändlichkeit  der  Lüge,  des  Stehlens,  des 
Rauhens  und  sogar  des  Mordens.  Noch  jetzt  kann  man  be- 
haupten, daß  von  zehn  Russen  wenigstens  fünf  zwischen  Mein 
und  Dein  keinen  Unterschied  machen  und  den  Falscheid  als 
kein  Verbrechen  ansehen.  Wie  einst  ist  auch  heute  derjenige 
am  meisten  geachtet,  der  am  geschicktesten  zu  betrügen  weiß. 
Die  Minister  und  Ministergehilfen  stehlen  und  betrügen  ebenso 
schamlos  und  öffentlich  wie  der  letzte  Tschinownik;  der  Groß- 
fürst Nikolaj  Nikolajewitsch  der  Ältere  ließ  im  letzten  Türken- 
kriege ungezählte  Millionen,  die  der  Verpflegung  der  Armee 


1)  ,,Ils  ont  si  peu  de  connoissance  de  l'Honneur  pris  dans  son  v6ritable 
sens.  qu'il  n'y  a  dans  leur  langue  aucun  mot  qui  le  puisse  exprimer."  Capi- 
taine  Jean  Perry,  Etat  present  de  la  Grande-Russie,   171 7.    S.  208. 

2)  Vgl.  Seite  14. 

17* 


—     260    — 

dienen  sollten,  in  seinen  Taschen  verschwinden;  und  ebenso 
machten  es  im  letzten  Kriege  mit  Japan  die  meisten  Feld- 
herren und  Admirale.  „Ein  ehrlicher  Mann/*  heißt  es  im 
Sprichwort,  „ein  dummer  Mann**.  Ein  bestrafter  Mann  gilt 
nicht  als  entehrt.  General,  Priester,  Hofmann  oder  Kaufmann, 
für  sie  alle  ist  das  Gefängnis  eine  Station,  an  der  zu  halten 
sie  alltäglich  bereit  sind.  Nach  verbüßter  Strafe  kehrt  man 
auf  seinen  Posten  oder  in  seine  Ehrenstellungen  zurück,  und 
in  der  Schätzung  seiner  Mitbürger  hat  man  nichts  verloren. 
Früher  wurden  selbst  die  höchsten  Persönlichkeiten,  wenn  sie 
sich  die  Ungnade  des  Herrschers  zugezogen,  mit  dem  Knut 
oder  der  Peitsche  gezüchtigt.  Diese  Züchtigung  entehrte  sie 
keineswegs;  sie  verschmerzten  die  Tracht  Prügel  und  blieben 
auch  nach  der  Bestrafung  dieselben  hohen  und  angesehenen 
Herrschaften,  die  sie  vorher  gewesen. 

Das,  was  wir  Ehrenbeleidigung  nennen,  läßt  den  richtigen 
Moskowiter  kalt.  Wenn  man  von  jemandem  beleidigt  wird, 
steckt  man  die  Beleidigung  ein  ohne  daraus  eine  Affäre  zu 
machen.  Wurde  man  in  früheren  Zeiten  von  jemandem  ge- 
schlagen, so  durfte  man  nicht  zurückschlagen,  sondern  mußte, 
wenn  man  auf  Genugtuung  Anspruch  machte,  die  Sache  vor 
Gericht  bringen.  Die  Reparierung  einer  Bürgerehre  erfolgte 
gewöhnlich  durch  eine  Geldstrafe,  die  höchstens  zwei  Rubel 
betrug.  In  einem  von  mir  schon  häufig  erwähnten  Buche, 
das  die  Religion  der  Moskowiter  behandelt,  aber  auch  vor- 
trefflich die  Sitten  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhun- 
derts schildert,  heißt  es:  „Die  Scheit-  und  Schmach- Worte 
lassen  sie  ungestrafft  /  dergestalt  /  daß  nichts  gemeiners 
ist  /  als  zu  sehen  /  wie  sie  sich  mit  dem  Maul  herum 
beissen.  Das  gemeine  Volck  thut  es  hierinnen  den  alten  Weibern 
nach  /  und  kommt  also  selten  zu  den  Schlägen.**  i)  Den 
Vornehmen  bot  die  Justiz  allerdings  eine  größere  Genugtuung 
und  zwar  nach  einem  bestimmten  Tarif  in  barem  Gelde  oder 
in  einer  körperlichen  Züchtigung  des  Beleidigers;  die  Wahl 
hatte   der   Beleidigte.^)     Die   Körperstrafe   bestand  in   Stock- 


1)  Religion  der  Moscowiter,  17 12.     Seite  86. 

*)  Capitaine  Margeret,  Estat  de  1' Empire  deRvssie,  1669=  1821,  S.  118. 


—    261     — 

schlagen^)  auf  den  nackten  Rücken  und  den  nackten  Hintern. 
Die  Exekution  vollzog  der  Henker  in  Gegenwart  des  Richters, 
des  Beleidigten  und  aller  jener,  die  bei  der  Beleidigung  an- 
wesend waren.  Die  Zahl  der  Schläge  bestimmte  der  Richter; 
erst  wenn  dieser:  genug I  rief,  hörte  der  Henker  auf.  Die 
Geldstrafe  war  folgendermaßen  festgesetzt:  Der  Beleidiger 
mußte  dem  Beleidigten  so  viel  zahlen,  als  dieser  jährlichen  Gehalt 
vom  Zaren  hatte.  War  der  Beleidigte  verheiratet,  so  mußte 
der  Beleidiger  das  Doppelte  entrichten.  Wenn  die  Beleidigung 
eine  besonders  schwere  war,  so  mußte  der  Beleidiger  sowohl 
die  Batogen-  als  die  Geldstrafe  erdulden.  In  einigen  Fällen 
wurde  der  Verurteilte  sogar  durch  die  Stadt  gepeitscht  und 
dann  verbannt. 

Einen  sinnigen  Strafkodex  für  Ehrenbeleidigungen  schuf 
die  große  Katharina;  sie  befahl 2):  Derjenige,  der  einen  Bürger 
mündlich  oder  schriftlich  beleidigt,  muß  die  Summe  bezahlen, 
die  der  Beleidigte  alljährlich  an  die  Stadt  und  den  Staats- 
schatz als  Steuern  entrichtet.  Derjenige,  der  einen  Bürger 
mit  der  bloßen  Hand,  ohne  Waffen,  schlägt:  zahlt  als  Strafe 
das  Doppelte  von  dem,  was  der  Beleidigte  an  jährlichen  Steuern 
leistet.  Derjenige,  der  die  Frau  eines  Bürgers  beleidigt,  muß 
ihr  das  Doppelte  von  dem  zahlen,  was  ihr  Mann  jährlich 
an  Steuern  abliefert.  Wenn  die  beleidigte  Frau  auch  selbst 
Steuern  entrichtet,  muß  ihr  der  Beleidiger  das  Doppelte  von 
dem  geben,  was  sie  und  ihr  Mann  jährlich  dem  Staate  und 
der  Stadt  zahlen.  Derjenige,  der  die  Tochter  eines  Bürgers 
beleidigt,  muß  viermal  soviel  zahlen,  als  die  jährlichen  Steuern 
des  Vaters  und  der  Mutter  betragen.  Derjenige,  der  die  er- 
wachsenen Kinder  eines  Bürgers  beleidigt,  muß  die  Hälfte 
der  jährlichen  Steuern,  welche  die  Eltern  der  Kinder  entrichten, 
als  Strafe  zahlen.  Derjenige,  der  den  erwachsenen  Sohn  eines 
Bürgers  beleidigt,  bezahlt  die  Summe,  die  den  jährlichen 
Steuern  des  Vaters  des  Beleidigten  entspricht.  —  Am  schlimm- 
sten war  man  also  daran,  wenn  man  die  Tochter  eines  Bür- 
gers beleidigte.     Die  Kaiserin  begnügte  sich  aber  nicht  mit 


1)  Das  war  die  berüchtigte  Strafe  der  Batogen,  von  6aTorL,  Stockschlag. 
*)  Geheimnisse  von  Rußland»  Regensburg  1844.     I  234. 


—    262    — 

diesem  Tarif,  sondern  suchte  aus  den  Ehrenbeleidigungen  auch 
einen  Profit  für  ihre  Liebhngsanstalt,  das  Findelhaus,  heraus- 
zuschlagen. Sie  erließ  demnach  eine  Verordnung,  daß  ein 
Bürger,  der  dem  Findelhaus  eine  Summe  von  25 — 1000  Rubel 
zuwende,  das  Recht  erhalte,  für  jede  Beleidigung  dieselbe 
Sunune,  die  er  dem  Findelhaus  geschenkt,  für  jeden  Schlag 
aber  das  Doppelte  dieser  Summe  von  dem  Beleidiger  zu  for- 
dern. Durch  diese  Verordnung  wurde  eine  merkwürdige  Moral 
gezüchtet.  Man  versicherte  sich  mit  irgend  einer  Summe  beim 
Findelhaus  und  trachtete  dann,  soviel  als  möglich  beleidigt 
zu  werden.  Je  höher  die  Taxe,  die  man  dem  Findelhaus  ent- 
richtete, desto  glänzender  das  Geschäft,  das  man  mit  dem  Be- 
leidigtwerden machen  konnte. i)  Richtiger  vermag  man  den 
traurigen  Zustand  der  russischen  Sitte  und  Sittlichkeit  nicht 
zu  illustrieren  als  durch  diesen  Tarif  Katharinas,  durch  diesen 
seltsamen  Ehrenkodex  der  Kaiserin,  die  sich  anmaßte,  die 
Freundin  der  aufgeklärtesten  Geister  des  achtzehnten  Jahr- 
himderts  genannt  zu  werden.  Dieselbe  Katharina  inspirierte 
die  satirische  Zeitschrift  „Buntes  Allerlei**,  in  der  die  Mängel 
und  Laster  der  Gesellschaft  verspottet  und  der  russischen  Ver- 
waltung die  folgenden  neuen  zehn  Moralgebote  gepredigt  wur- 
den: Du  sollst  nicht  Handsalben  nehmen;  du  sollst  eine  An- 
gelegenheit, die  von  dir  abhängt,  nicht  verschleppen;  du  sollst 
keine  Ränke  schmieden;  du  sollst  mit  den  Leuten  nicht  grob 


^}  Selbst  die  halbwilden  Kalmücken  haben  mehr  Ehrgefühl  als  die 
Russen.  Bei  ihnen  ist  für  Schläge,  je  nach  dem  Range  der  beleidigten  Per- 
sonen und  der  Heftigkeit  der  verübten  Gewalttätigkeiten,  die  Strafe  so  ge- 
nau bestimmt,  daß  man  sogar  festgesetzt  hat,  wieviel  für  einen  Zahn,  ein 
Ohr  und  einen  jeden  Finger  an  der  linken  oder  rechten  Hand  gutgetan 
werden  soll.  Eltern  oder  Schwieger,  die  ihre  Kinder  ohne  Ursache  schlagen, 
sind  ebenfalls  straffällig.  Femer  gibt  es  Strafen  für  folgende  Beschimpfungen : 
wenn  man  einen  Mann  am  Haare  oder  Barte  zerrt,  ihm  die  Quaste  von  der 
Mütze  reißt,  ihm  Sand  oder  Speichel  ins  Gesicht  wirft;  oder  wenn  man  eine 
Frau  an  den  Zöpfen  zerrt,  oder  nach  ihren  Brüsten  greift;  im  letzteren 
Falle  sind  die  Strafen  geringer,  je  älter  die  Frau  ist.  Die  Ehre  ist  bei  den 
Kalmücken  sogar  höher  eingeschätzt  als  das  Leben.  Die  Bestrafungen  für 
Beleidigungen  sind  empfindlicher  als  die  Strafen  für  Todschlag ;  selbst  Eltern - 
mord  zieht  weder  Lebens-  noch  Leibesstrafen  nach  sich.  Vgl.  Merkwürdig- 
keiten aus  Pallas  Reisen.   1773.     Seite  205. 


—    263    — 

sein;  vertröste  die  Bittsteller  nicht  auf  morgen;  mache  aus 
den  Akten  und  Gesetzen  keine  unberechtigten  Auszüge;  gib 
dich  nicht  mit  Ohrenbläserei  ab ;  betrinke  dich  nicht ;  du  sollst 
dich  jeden  Tag  kämmen  und  rein  halten;  wirf  die  Feigheit 
den  einen  und  die  Frechheit  den  anderen  gegenüber  ab.  Ka- 
tharina erkannte  und  verspottete  also  selbst  die  alten  traditio- 
nellen Untugenden  des  russischen  Volkes.  Aber  sie  tat  nichts, 
um  sie  zu  bekämpfen.  Ihr  ausgesprochenes  Prinzip  war :  Leben 
und  leben  lassen!  und  eine  andere  satirische  Zeitschrift  von 
damals,  „Trutenj"^),  warf  der  Kaiserin  berechtigterweise  mit 
kühner  Offenheit  moralischen  Indifferentismus  vor  2);  denn  es 
herrschte  tatsächlich  unter  der  Regierung  der  aufgeklärten 
Katharina  eine  grenzenlose  Verwirrung  aller  Sitten  und  Ehr- 
begriffe. 

Die  französierende  Kultur  jener  Zeit  hatte  noch  nicht  ein 
einziges  Übel  der  alten  Zeiten,  die  sich  imter  der  schützenden 
Decke  der  trägen  Tradition  fortgefressen  hatten,  ausgerottet 
oder  selbst  anzutasten  gewagt;  und  trotzdem  ließ  Katharina 
in  das  Volk  und  die  Gesellschaft  die  Schlagworte  der  vor- 
geschrittensten Zivilisation  werfen,  die  natürlich  niemand  ver- 
stand. Der  Russe  wußte  noch  immer  nicht,  was  Ehre  sei 
oder  was  er  mit  der  Ehre,  die  man  ihm  aufdrängte,  anfangen 
sollte;  und  da  predigte  man  ihm  eindringlich  die  Lehre  von 
der  höheren  Standesehre,  sagte  man  dem  Edelmanne,  der 
Bürger  könne  sich  die  Beleidigung  seiner  Ehre  nüt  Geld  be- 
zahlen lassen,  der  Aristokrat  aber  müsse  Blut  fordern,  müsse 
sich  duellieren.  Die  alten  Russen  kannten  den  Zweikampf 
auf  dem  Schlachtfelde,  aber  das  Duell  als  Mittel  zur  Repa- 
rierung einer  beleidigten  Ehre  war  ihnen  etwas  Unbegreif- 
liches geblieben.  Wollte  man  einmal  an  einem  Beleidiger  schär- 
fere Rache  nehmen,  als  sie  die  erwähnten  Gesetze  gewährten, 
so  räumte  man  den  Gegner  durch  Verrat  oder  Meuchelmord 
einfach  aus  dem  Wege.  Die  Vornehmsten  kannten  zwar 
eine   Art  Duell  als   Selbstjustiz,   jedoch   nicht   ein  Duell  auf 


1)  TpyreHh,  die  Drohne. 

s)  Geschichte  der  russischen  Literatur  von  Alexander  von  Reinhold t. 
Leipzig  (1886).     S.  419 — 420. 


—    264    — 

Säbel   oder  Pistolen,    sondern  auf  Peitschen.     „Die   Knesen 
und  andere  große  Herren  schlagen  sich  offt  zu  Pferde  mit 
Peitschen  /  und  zerfetzen   sich  auff  eine  grausame  Weise   / 
alsdenn  kommen  sie  bey  dem  Czar,  wenn  ers  erfährt  /  in  Un- 
gnaden." i)    Bei  Margeret 2)  heißt  es:  „II  faut  noter  qu'il  n'y 
a  nuls  duels  entre-eux,  ils  ne  portent  nuUes  armes  sinon  ä  la 
guerre   ou   en   quelque   voyage.**     Nur   zwischen   Ausländern 
fanden  zuweilen  Duelle  statt;  wurde  einer  von  den  Duellanten 
verwundet,  so  bestrafte  man  sowohl  den  Herausforderer  als 
den  Geforderten  so,  als  wenn  sie  einen  Mord  begangen  hätten, 
und   da  gab  es  keine   Entschuldigimg.     Den   Einheimischen 
aber  fiel  es  gar  nicht  ein,  sich  um  der  Ehre  willen  solchen 
Gefahren  auszusetzen.    Noch  aus  der  Zeit  Peters  des  Großen 
erzählt    der    preußische    L^gationssekretär    Johann     Gotthilf 
Vockerodt^):  „Überhaupt  konunt  denen  Russen  unter  allen 
ausländischen  Erfindungen  nichts  lächerlicher  vor,  als  wenn 
man   ihnen   vom   point   d'honneur  spricht,   und   sie   dadurch 
bewegen  will,  etwas  zu  t\in  oder  zu  lassen.    Daher  hat  auch 
Petrus  I.  bei  keinem  seiner  Befehle  von  seinen  Russen  willigerem 
Gehorsam  gefunden,  als  da  er  die  Duelle  verboten  hat,  und 
noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  wird  kein  russischer  Offizier,, 
wenn  er  von  seines  gleichen  geschimpfet  wird,  sich  in  den 
Sinn   kommen   lassen^  Satisfaction   zu   fordern,   sondern  sich 
stricte  nach  der  Vorschrift  des  Duellmandats  achten,  welches 
verordnet,  daß  solchenfalls  der  beleidigte  Theil  klagen,  und  dar- 
auf der  Inquirant  ihm  öffentliche  Abbitte  und  Reparation  d'hon- 
neur  tun  solle;  darf  auch  nicht  besorgen,  daß  ihm  desfalls 
von  einem  seiner  Landsleute  ein  Vorwurf  geschehe.**     Erst 
die  kulturelle  Epoche  Katharinas  IL,  da  man  krampfhaft  Eu> 
ropa  gleichzukommen  sich  bemühte,  aber  nur  die  Untugenden 
Europas  anzimehmen  verstand,  brachte  das  Duellwesen  nach 
Rußland.    Das  berühmteste  und  traurigste  Duell  in  Rußland 
wurde  ein  halbes  Jahrhundert  später  jenes  vom  27.   Januar 
1837,  in  dem  Alexander  Puschkin,  der  größte  Dichter  Ruß- 

^)  Religion  der  Moscowiter,  17 12.     S.  87. 
S)  a.  a.  O.    S.  118. 

S)  In  Ernst  Herrmanns  Zeitgenöss.  Berichten  zur  Geschichte  Rußlands 
(Rußland  unter  Peter  dem  Großen).    Leipzig  1872.    S.  112. 


Schornsteinfeger  im  Restaurant. 

{Aiisjuk.iwiliy,  Sctnes  po|uil^iir<;s  K„5^„.) 


--     265    — 

lands,  von  der  Kugel  des  französischen  Barons  Dant^s-Heeckeren 
fiel.  Die  Ursache  zu  diesem  tragischen  Duell  lag  in  der  Ver- 
kommenheit der  höchsten  Gesellschaft,  in  welcher  Ehebruch 
imd  Ausschweifung  gleichsam  zum  guten  Ton  gehörten.  So- 
wohl Puschkin  als  sein  Gegner  gehörten  zu  den  berüch- 
tigtsten Frauenverführern  der  vornehmen  Kreise;  oft  genug 
gingen  sie  Arm  in  Arm  auf  Eroberungen  aus.  Nun  mußte 
es  der  Dichter  erleben,  daß  man  seine  eigene  Frau  im  Ver- 
dacht hatte,  seinem  Lastergenossen  zum  Opfer  gefallen  zu 
sein.  In  früheren  Zeiten  setzte  man. sich  über  solchen  Ver- 
dacht leichtmütig  hinweg;  jetzt  war  es  indessen  schon  Gesell- 
schaftsgesetz geworden,  die  beleidigte  Familienehre  durch  ein 
Duell  zu  rehabilitieren.  Und  wie  gewöhnlich  wurde  der  un- 
glückliche Ehemann  selbst  die  Sühne  für  die  Verletzung  der 
Ehre. 

Der  blutige  Ehrenkodex  existiert  aber  nur  für  die  Ari- 
stokratie. Der  Bürger  und  gemeine  Mann  künmiert  sich  da- 
gegen auch  heute  nicht  um  seine  sogenannte  Ehre.  Ihn  kann 
nichts  beleidigen,  denn  Denunziantentum  und  Verleumdung 
sind  keine  schändlichen  Gewerbe;  und  Diebstahl  oder  Raub, 
selbst  Mord,  ist  ein  Geschäft  wie  jedes  andere,  das  einen  Ver- 
dienst gibt,  wenn  man  geschickt  ist,  und  Verdrießlichkeiten 
einbringt,  wenn  man  Pech  hat.  Kaiser  Nikolaj  I.  selbst  sah 
namentlich  den  Diebstahl  für  ein  solches  Vergehen  an,  das 
die  Moral  nicht  berührte;  und  er  bestrafte  die  Diebe  einfach 
in  der  Weise,  daß  er  sie  unter  die  Soldaten  stecken  ließ.  Man 
kann  sich  eine  Vorstellung  davon  machen,  welche  Moral  in 
seiner  Armee  herrschen  mußte. 

Eine  Statistik  der  Verbrechen  in  Rußland  gehört  vorläufig 
zu  den  unlösbaren  Aufgaben.  Die  offiziellen  Angaben  sind 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  erlogen.  Die  Regierung  gibt  bei- 
spielsweise einmal  bekannt,  daß  im  Laufe  -eines  Jahres  im 
ganzen  Reiche  etwa  2000  Verbrechen  gegen  das  Eigentum 
und  3000  gegen  das  Leben  vorgekommen  sind  und  daß  die  nie- 
drigeren Vergehen  die  Zahl  7000  erreicht  haben.  Vergleicht 
man  diese  offizielle  Regierungsangabe  mit  den  ebenfalls  offi- 
ziellen Mitteilungen  der  einzelnen  Gouvemementsverwaltungen 
aus  demselben  Jahre,  so  erfährt  man  ungefähr  folgendes:  in 


—     266     — 

den  Gefängnissen  der  Ostseeprovinzen  befanden  sich  170CX) 
Personen,  von  denen  mindestens  die  Hälfte  zu  schweren  Kri- 
minalstrafen verurteilt  wurden.  Berichte  aus  einigen  anderen 
Gouvernements  ergeben  weitere  300000  Verbrechen,  die  mit 
Verbannung  und  Zwangsarbeit  bestraft  wurden.  Von  den  leich- 
teren Vergehen  nehmen  wir  nicht  Notiz.  Und  dabei  haben  wir 
etwa  dreißig  Gouvernements,  aus  denen  uns  keine  Berichte 
vorliegen,  und  die  zwei  größten  Verbrecherbezirke  Moskau  und 
Petersburg  gar  nicht  berücksichtigt.  In  einem  anderen  Jahre 
erzählt  die  Übersicht  der  Regierung,  daß  sich  in  sämtlichen 
Staatsgefängnissen  des  Reiches  etwa  40000  Personen  be- 
fanden; und  dann  erfährt  man  aus  den  Gouvemementszei- 
tungen  ganz  zufällig,  daß  sich  in  jenem  Jahre  in  den  Gefäng- 
nissen von  Moskau  allein  20000,  in  jenen  von  Petersburg 
35000,  in  jenen  von  vierzig  anderen  Gouvernements  rund 
300000  Individuen  befanden.  Für  diesen  kleinen  statistischen 
Scherz  sind  nicht  einmal  die  letzten  Jahre  gewählt  worden,  wo 
infolge  der  allgemeinen  Anarchie  das  Verbrechen  schranken- 
los regiert,  sondern  zwei  der  friedlichsten  Jahre  des  neueren 
Rußland.  Die  Lüge,  die  alles  Russische  verhüllt,  verhindert 
auch  einen  klaren  Einblick  in  das  Kapitel  der  Verbrechen  in 
Rußland.  Es  ist  daher  begreiflich,  wenn  selbst  die  schärfsten 
Kritiker  der  russischen  Zustände  im  Tone  aufrichtiger  Wahrheit 
und  voller  Überzeugung  die  Behauptung  aufstellen,  daß  in 
Rußland  grobe  und  blutige  Verbrechen  selten  vorkommen; 
daß  man  im  allgemeinen  von  Mord,  Straßenraub  und  Ein- 
bruch nicht  häufig  höre.  Dies  ist  in  der  Natur  jener  Publi- 
zität begründet,  welche  die  russische  Regierung  gestattet.  Die 
Berichte  der  Regierung  sind  Lügen;  die  Berichte  der  Gou- 
vernements aber,  aus  denen  man  sich  durch  Vergleiche  und 
Addierungen  ein  einigermaßen  richtiges  Bild  machen  könnte, 
sind  nicht  jedem  leicht  zugänglich.  In  den  populären  Zei- 
tungen endlich  findet  man  nur  hier  und  da  die  krassesten  Fälle 
verzeichnet.  Diese  schwersten  Verbrechen  erwecken  ein  be- 
sonderes Interesse,  weil  sie  gleichzeitig  ein  blutiges  Streiflicht 
auf  das  kulturelle  und  sittliche  Niveau  des  Volkes  werfen. 
Der  träge  Russe  rafft  sich  zu  einer  Mordtat  gewöhnlich  nur 
dann  auf,  wenn  ihn  der  Rausch  mutig  macht  oder  der  Zorn  ver- 


—     267     — 

wirrt,  wenn  ihn  der  Teufel  seines  Aberglaubens  jagt  oder  der  in 
ihm  schlummernde  sadistische  Trieb  erwacht  und  seine  Wol- 
lust wild  aufpeitscht.  Typische  Morde  aus  Aberglauben  und 
Wollust  sind  in  den  früheren  Kapiteln  schon  geschildert  wor- 
den; wir  werden  den  Verbrechen  aus  solchen  Motiven  noch 
öfter  in  den  späteren  Kapiteln  begegnen.  Wenn  man  in  Ruß- 
land von  alledem  trotz  des  häufigen  Vorkommens  nicht  viel 
hört,  so  liegt  dies  auch  daran,  daß  man  dort  überhaupt  nicht 
laut  von  etwas  spricht,  das  irgendwie  in  Zusammenhang  mit 
der  Staatsverwaltung  gebracht  werden  könnte.  Man  entschließt 
sich  schwer  dazu,  was  man  erfahren  hat,  weiter  zu  berichten  oder 
zu  veröffentlichen;  man  will  nicht  mit  der  Polizei  zu  tun  be- 
kommen, die  zur  Beruhigung  der  oberen  Behörden  wenigstens 
die  unschuldigen  Anzeiger  ins  Gefängnis  wirft,  wenn  es  ihr 
nicht  gelingt,  der  wirklichen  Täter  habhaft  zu  werden. 


14.  Lügensucht. 


Die  Lügen  der  Regierenden  —  Pobjedonoßzews  Lehrmethoden  —  Baron 
Mayerberg  über  die  Lügensucht  der  Russen  —  Allgemeinheit  der  Lügen- 
haftigkeit —  Meineid  alltäglich  —  Meineid  und  Aberglaube  —  Das  Geschäft 
mit  dem  falschen  Eid  —  Bureau  für  falsche  Zeugen  —  Tarif  für  Mein- 
eide —  Religion  und  Lüge  —  Die  Taufe  des  Dichters  Bogrow  —  Die  Lüge 
in  der  Ehe  —  Die  Sittengeschichte  Kotoschichins  —  Graf  Leon  Tolstoj  — 
Gogolj  —  Äußerungen  Schtschedrins  und  Nikitenkos  —  Sprichwörter  über 
Lüge  und  Wahrheit  —  Ausländische  Urteile  über  die  russische  Lügensucht. 

Alles  ist  auf  Lüge  aufgebaut  und  auf  Täuschung  berech- 
net. Der  Zar  täuscht  das  Volk,  und  die  Minister  und  Be- 
hörden betrügen  einander  und  den  Herrscher.  Der  Kaiser 
schenkt  dem  Reiche  eine  Verfassung  und  ein  Parlament,  und 
denkt  nur  daran,  wie  er  die  Verfassung  vernichten  und  die 
Volksvertreter  verderben  könnte.  Konstantin  Pobjedonoßzew 
schrieb  ein  Buch  über  russisches  Zivilrecht  und  unterschlug 
darin  alle  Rechtsreformen  Alexanders  IL,  weil  sie  seinen  An- 
sichten widersprachen;  und  in  seinem  Lehrbuch  des  Zivil- 
rechtes für  Studenten  behandelte  derselbe  Pobjedonoßzew  noch 


—    268    — 

die  Leibeigenschaft,  die  vor  vierzig  Jahren  abgeschafft  worden 
ist,  wie  eine  fortbestehende  Institution. 

„Die  Moskowiter/*  schrieb  vor  mehr  als  zweihundert  Jahren 
der  Diplomat  Mayerberg  i),  „sind  von  der  Wiege  an  doppel- 
züngig; in  ihren  Worten  findet  man  niemals  Aufrichtigkeit. 
Lügen  halten  sie  durch  neue  Lügen  mit  solcher  Unverschämt- 
heit aufrecht,  daß  man  ihnen  gegenüber  an  der  eigenen  Wahr- 
haftigkeit zu  zweifeln  beginnen  muß.  Überführt  man  sie  der 
Lüge,  so  erröten  sie  nicht,  sondern  lächeln  bloß." 

Die  Lüge  ist  das  Gewöhnliche;  das  Überraschende  nur, 
wenn  jemand  einmal  die  Wahrheit  sagt  oder  gar  die  Lüge  zu 
tadeln  wagt.  Die  Zahl  solcher  Helden  ist  verschwindend,  nie- 
mand hat  Lust,  sich  mit  der  Allgemeinheit  in  Widerspruch 
zu  setzen.  Die  Lüge  herrscht  nicht  stärker  in  dieser  oder  jener 
Provinz,  in  dieser  oder  jener  Gesellschaftsklasse,  sondern  über- 
all gleich;  sie  ist  nicht  exklusiv,  sie  ist  die  wahre  National- 
untugend, die  nivellierende  Erbsünde.  Man  lügt  nicht  um 
eines  Vorteils  willen,  sondern  um  zu  lügen.  Man  verspricht 
nur,  um  das  Versprechen  nicht  zu  halten;  man  sagt:  ja,  und 
denkt  sofort:  nein. 

Der  Meineid  ist  kein  Verbrechen.  „Sie  glauben  nicht  / 
daß  es  eine  Sünde  sey  /  einen  falschen  Eyd  zum  Nachtheil 
ihres  Feindes  /  und  absonderlich  eines  Römisch-Catholischen  / 
zu  thun.**2)  Das  angeborene  Laster  wird  vom  Aberglauben 
unterstützt :  muß  man  vor  Gericht  einen  Eid  ablegen,  so  steckt 
man  ein  Haar  zwischen  die  Finger,  das  macht  den  Eid  un- 
gültig. Der  Meineid  ist  eine  Institution,  das  Handeln  mit  fal- 
schen Zeugnissen  und  falschen  Zeugen  ein  Geschäft  wie  jedes 
andere.  In  einer  chauvinistisch-russischen  Zeitschrift')  wurde 
berichtet,  daß  sich  in  Lodz  eine  öffentliche  Anstalt  für  falsche 
Zeugnisse  befinde;  ein  fester  Tarif  regelt  die  Ware:  jede 
Angelegenheit  hat  ihren  Preis,  das  billigste  Zeugnis  kostet 
drei,  das  teuerste  fünfzig  Rubel.  Aber  nicht  Lodz  allein,  jede 
Stadt   hat   ihre   eigene   Institution   für  Meineid.     Ist   man   in 


1)  Voyage  en  Moscovie,   1688.     Seite  124  und  161. 
*)  Religion  der  Moscowiter.    S.  64. 
8)  CBt>Ti.,    5.   (|x^Bp.  1889. 


—    269    — 

Verlegenheit,  so  kann  man  offen  darüber  mit  seinem  Advo- 
katen reden,  und  will  dieser  nichts  davon  wissen,  so  verhilft 
die  Polizei  selbst  zu  einem  zuverlässigen  falschen  Zeugen :  „Für 
ein  wenig  Wodka  kann  man  soviel  Zeugen  haben  als  man 
braucht,"  sagt  Fürst  Meschtscherski^),  „man  rufe  sie,  wohin 
man  wolle,  und  sie  kommen;  man  sage  ihnen,  was  sie  be- 
schwören  sollen,   tmd   sie   beschwören   es.** 

Ist  nicht  die  Orthodoxie  selbst  eine  große  Lüge?  Viele 
Millionen,  welche  die  Kirchen  besuchen,  sind  dem  rechten 
Glauben  längst  untreu  geworden  und  zurückgekehrt  in  den 
Schoß  des  Heidentums  oder  Anhänger  barbarischer  Sekten  ge- 
worden. Alljährlich  treten  Zehntausende  Juden,  Katholiken, 
Protestanten  zur  Orthodoxie  über;  unter  ihnen  ist  kein  ein- 
ziger Proselyt  aus  Überzeugung,  jeder  von  den  Bekehrten  hat 
nichts  anderes  im  Sinne  als  sich  mit  Hilfe  dieser  großen  reli- 
giösen Lüge  vor  Verfolgungen  zu  retten  oder  Karriere  zu 
machen.  Der  Dichter  Bogrow  trat  vom  Judentiun  zur  Ortho- 
doxie über,  um  das  Recht  des  Aufenthaltes  in  Petersburg  zu 
erwerben,  das  ihm  Pobjedonoßzew  um  diesen  Preis  zugesagt 
hatte;  am  Tage  nach  der  Taufe  aber  wurde  Bogrow  aus  der 
Hauptstadt  ausgewiesen,  weil  die  Orthodoxie  ihm  eine  fünf- 
jährige Probezeit  vorschrieb,  während  der  er  seine  aufrichtige 
Rechtgläubigkeit   erweisen   sollte. 

Der  Lüge  in  der  Religion  ist  die  Lüge  in  der  Ehe  würdig. 
Kotoschichin  hat  die  sexuelle  Lüge  des  siebzehnten  Jahrhun- 
derts in  seiner  eigenartigen  Schrift  ,,Über  Rußland  unter  der 
Regierung  des  Zaren  Alexe j  Michailo witsch**  in  naiver  ein- 
facher Weise  beschrieben;  ein  Sohn  des  alten  Rußland,  hat 
er  die  innere  Fäulnis  im  russischen  Leben  und  Staat  der  vor- 
peterschen  Epoche,  die  furchtbare  Gewalt  der  Lüge,  die  da- 
mals alle  Stände  verwüstete  und  alle  Lebenslagen  umlauerte, 
geschildert  2);  und  zweihundert  Jahre  später  hat  der  große 
Leon  Tolstoj  dasselbe  Thema  angeschlagen  und  gezeigt,  daß 
Rußland  sich  nicht  ändert.  Und  wie  haben  Gogolj  in  seinem 
„Revisor**  oder  in  den  „Toten  Seelen**  und  der  moderne  Sa- 


^)  Im  rpa»^naHHHi>,    15.  anp.  1889. 

^)  Alexander  von  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur.    S.  227. 


—    270     — 

tiriker  Saltykow-Schtschedrin  in  seinen  „Gouvernements-Skiz- 
zen**^), in  seinen  „Zeichen  der  Zeit  und  Briefen  aus  der  Pro- 
vinz** die  russische  Lügensucht  gegeißeh;  keine  Literatur  der 
Welt  kennt  eine  solche  Lügengestalt  wie  den  Schtschedrinschen 
Porf irij  Petrowitsch,  und  kein  Schriftsteller  der  alten  oder  neuen 
Zeit,  der  alten  oder  neuen  Welt  hat  in  bezug  auf  die  eigene 
Nation  das  furchtbare  Geständnis  gemacht  wie  derselbe 
Schtschedrin :  „Seit  undenklichen  Zeiten,**  schrieb  er,  „hat  man 
beobachtet,  daß  der  echte  Russe  stets  zu  einer  Lüge  bereit 
ist.  Es  ist  historisch  erwiesen,  daß  schon  in  alten  Zeiten 
die  von  einem  Russen  gemachten  Angaben  niemals  ernst  ge- 
nommen wurden.**  Ähnlich  klagte  Professor  Nikitenko^):  „Die 
Lüge  ist  der  Götze  unserer  Gesellschaft;  die  russische  Gesell- 
schaft lügt  in  jeder  Minute  ihres  Daseins,  in  Wort  und  Tat, 
bewußt  und  unbewußt.** 

Und  die  russischen  Sprichwörter  endlich  sagen :  Das  Lügen 
begann  mit  der  Welt  und  wird  erst  mit  der  Welt  sterben.  Die 
Wahrheit  ist  heilig,  aber  wir  sind  sündig.  Die  heilige  Wahr- 
heit ist  gut,  aber  nicht  für  sterbliche  Menschen.  Die  Wahr- 
heit taugt  nicht  für  die  Praxis,  man  soll  sie  in  einen  gläsernen 
Heiligenschrein  stellen  und  anbeten.  Trauere  nicht  um  die 
Wahrheit,  sondern  suche  dich  gut  zu  stellen  mit  der  Falsch- 
heit. Von  der  Falschheit  lebt  der  Mensch.  Die  Falschheit  ist 
nicht  das  Kraut,  woran  man  stirbt.  Lügen  ist  nicht  wie  Teig 
kauen,  man  erstickt  nicht  daran.  Eine  schmackhafte  Lüge  ist 
besser  als  eine  bittere  Wahrheit.  Der  Roggen  schmückt  das 
Feld,  die  Lüge  die  Sprache. 

Nicht  anders  als  die  Russen  selbst  denken  die  Ausländer. 
„In  der  Handlung,**  sagte  ein  Reisender  vor  zweihundert 
Jahren  3),  „machen  sich  die  Moscowiter  kein  Gewissen  grau- 
same Schwüre  zu  thun  /  jemehr  sie  aber  schwören  /  je 
weniger  glauben  ihnen  die  Teutschen.**  Der  Engländer  Perry*) 
klagte  ununterbrochen  über  die  Perfidie  der  Russen.  Als 
Peter  der  Große  Europa  von  der  Kultivierung  Rußlands  über- 


1)  Deutsch  unter  dem  Titel  „Aus  dem  Volksleben  Rußlands". 

2)  „PyccKan  crapiraa",   1890. 

8)  Religion  der  Moscowiter,  anno  17 12.    S.  65. 
*)  Etat  present  de  la  Grande-Russie,   17 17. 


—    271     — 

zeugen  wollte,  -erklärte  „Die  europäische  Fama**,  daß  man 
„den  moscowitischen  Avisen  nicht  glauben  darff.**^)  Custine 
schrieb  2):  „Les  Russes  sont  encore  persuad^s  de  Tefficacit^ 
du  mensonge.**  Und  der  Engländer  Lanin  endlich  fällte  das 
folgende  Urteil  3):  „Der  Wahrheitsliebe  sind  die  Russen  hoff- 
nungslos bar.  Sie  thun  es,  man  kann  das  ohne  Übertreibung 
sagen,  den  alten  Kretensem  in  dieser  Beziehung  zuvor  und 
beschämen  die  heutigen  Perser.** 


15.  Diebstahl. 


Vergleich  zwischen  Lügensucht  und  Stehlsucht  —  Die  Freiheit  des  Wortes  — • 
Der  Diebstahl  im  Sprichwort  —  Ein  Ausspruch  Alexanders  II.  über  die  Stehl- 
sucht der  Russen  —  Mentschikows  Gaunereien  und  Ansichten  —  Katharinas 
Günstling  Soritsch  als  Banknotenfälscher  —  Kanzler  Bestuschew  als  Wechsel- 
fälscher —  Hoch-  und  höchstgeborene  Diebe  —  Der  Grundsatz  der  Poüzei  — 
Allgemeinheit  des  Stehlens  —  Vergleich  der  Russen  mit  den  Spartanern  — 
Stehlsucht  und  Treue  des  gemeinen  Russen  —  Gesetze  gegen  den  Diebstahl  — 
Todesstrafen  —  Leibesstrafen  —  Peters  ABC  der  zehn  Gebote  —  Die  Gebote 
des  Chlystygottes  Daniel  Filipowitsch  —  Das  Märchen  vom  Recht  und  Unrecht 
—  Der  Diebstahl  bei  den  Tscherkessen  und  Osseten  —  Bei  den  Kalmücken  und 
Kamtschadalen  —  Was  die  Russen  am  liebsten  stehlen  —  Angst  vor  Versiegel- 
tem —  Diebstahl  und  Aberglaube  —  Den  Dieben  günstige  Nächte  —  Diebstahl, 
Aberglaube  und  Verbrechen  —  Die  Totenhand  als  Diebstalisman  —  Menschen- 
fett für  Diebslichter  —  Mordtaten  zur  Gewinnung  von  Menschenfett  —  Ent- 
deckung der  Diebe  durch  Hexerei. 

Wenn  man  von  den  Russen  gesagt  hat*):  sie  seien  sich 
beim  Lügen  keines  Unrechts  bewußt,  denn  sie  leiden  an  völ- 
hger  Anästhesie  in  bezug  auf  jenes  sittliche  Gefühl,  das  andere 
Völker  so  empfindlich  gegen  die  Lüge  macht  —  so  kann  man 
diesen  Anspruch  nicht  auch  auf  ihren  Hang  zum  Stehlen 
anwenden.  Die  Lügensucht  ist  bei  ihnen  Naturanlage,  die 
durch  Erziehung  und  das  Beispiel  der  Regierenden  verstärkt 


1)  Vgl.  Seite  3$, 

«)  a.  a.  O.  II  320. 

')  Russische  Zustände  I  48. 

^)  Lai^in,  a.  a.  O.  I  54. 


—     272     — 

wurde.  Das  Wort  ist  das  Einzige,  worüber  der  Russe  frei  ver- 
fügen darf;  es  ist  sein  persönliches  Eigentum,  er  kann  damit 
den  Gebrauch  machen,  der  ihm  beliebt;  der  Sklave,  der  für 
jede  seiner  Handlungen  nicht  nach  Recht  und  Gerechtigkeit, 
sondern  nach  Laune  und  Willkür  des  Herrn  verantwortlich  ist, 
hat  die  Freiheit  zu  lügen,  und  für  Lüge  keine  Strafe  zu  befürch- 
ten. Das  Stehlen  aber  ist  strafbar.  Jedermann  weiß,  daß  er 
durch  Diebstahl  mit  den  Behörden  in  Konflikt  geraten  kann; 
diese  Naturanlage  wird  vom  Staate  nicht  geduldet,  unzählige 
Gesetze  beweisen  es.  Dies  gilt  jedoch  nur  in  der  Theorie,  in 
der  Praxis  herrscht  auch  in  bezug  auf  das  Stehlen  die  laxe 
Moral;  wo  alles  lügt,  muß  alles  stehlen. 

Ein  russisches  Sprichwort  sagt:  „Unser  Christus  selbst 
würde  stehlen,  wenn  er  nicht  durchstochene  Hände  hätte.** 
Und  Kaiser  Alexander  der  Erste  meinte^):  „Wenn  meine  Rus- 
sen nur  wüßten,  wo  sie  sie  verstecken  sollten,  sie  würden 
meine  Linienschiffe  stehlen  2);  könnten  sie  mir  meine  Zähne 
im  Schlafe  ausziehen  ohne  mich  zu  wecken,  sie  würden  es  thun.** 
Mentschikow,  der  vom  Bäckerjungen  zum  Fürstenrange  gelangt 
war,  verwendete  seine  genialen  Anlagen  vor  allem  zu  seiner 
eigenen  Bereicherung  durch  schamlosen  Diebstahl.  Im  Jahre 
17 14  trieb  er  es  so  arg,  daß  Peter  der  Große  den  Anklagen 
gegen  ihn  Gehör  schenken  mußte.  Mentschikow  aber  zog  sich 
aus  der  Schlinge,  indem  er  nachwies,  daß  der  Staat  ihm  mehr 
schulde,  als  er  je  gestohlen;  und  er  verlangte  mit  kühlster 
Unverfrorenheit,  daß  man  ihm  nunmehr  die  Differenz  bezahle. 
Vier  Jahre  später  häuften  sich  die  Anklagen  gegen  den  Günst- 


1)  J.  H.  Schnitzler,  Geh.  Gesch.  Rußlands  unter  Alexander  und  Nikolaus, 
Grimma  1847,  I  276. 

*)  Auch  dies  bringen  sie  schon  fertig.  Man  braucht  nur  an  die  Diebstahle 
im  türkischen  und  japanischen  Kriege  zu  denken.  —  Aster,  Die  Kriegsereignisse 
rwischen  Peterswalde  und  Pirna  im  August  18 13  (Dresden  1845,  Seite  212)  er- 
zählt, daß  die  Russen  nach  der  Schlacht  bei  Kulm  die  durch  den  Siegesrausch 
hervorgerufene  Verwirrung  dazu  benützten,  um  preußische  Kanonen  zu  stehlen 
und  sie  dann  für  erbeutete  französische  auszugeben;  ,,die  russischen  Kürassiere 
plünderten  die  verwundeten  österreichischen  und  preußischen  Offiziere  mit 
Gewalt  aus,  zu  Hunderten  drängten  sie  sich  zu  diesem  Zwecke  in  die  Häuser", 
heißt  es  in  demselben  Buche. 


—    273    — 

ling  abermals  so  sehr,  daß  Peter  seinem  Zorne  freien  Lauf 
ließ.  Mentschikow  stellte  seine  Diebstähle  gar  nicht  in  Abrede, 
sondern  entgegnete  dem  zürnenden  Zaren:  „Jawol,  ich  habe 
die  hunderttausend  Rubel  gestohlen,  von  denen  Njeganowsky 
spricht;  ich  habe  noch  mehr  gestohlen,  ich  wüßte  selbst  nicht 
zu  sagen:  wieviel.  Nach  der  Schlacht  von  Poltawa  fand  ich 
im  schwedischen  Lager  große  Summen ;  ich  legte  davon  einige 
zwanzigtausend  Thaler  bei  Seite.  Ich  nahm  aus  Ihrer  Kasse 
für  mich  zu  verschiedenen  Malen  größere  oder  kleinere  Sum- 
men :  in  Lübeck  fünftausend  Dukaten,  in  Hamburg  zehntausend, 
in  Mecklenburg  zwölftausend  Thaler,  in  Dantzig  zwanzigtau- 
send. Die  Anderen  in  Ihrer  Umgebung  nehmen  im  Kleinen; 
ich  nahm  für  mich  größere  Rechte  in  Anspruch  Dank  der 
absoluten  Autorität,  die  Sie  mir  eingeräumt  haben.  Wenn  ich 
unrecht  that,  so  hätte  man  es  mir  früher  sagen  sollen.**  Der 
Zar  mußte  schweigen  und  bekennen,  daß  er  selbst  den  Diebstahl 
an  seinem  Hofe  legalisiert,  weil  er  ihn  solange  geduldet  hatte. 
Aber  nicht  so  leicht  kam  Mentschikow  ein  anderes  Mal  davon, 
als  er  einige  tausend  Rubel  unterschlug,  die  für  den  Ankauf  von 
Kriegsmaterial  bestimmt  gewesen  waren ;  man  stellte  den  Günst- 
ling vor  ein  Kriegsgericht  und  verurteilte  ihn  zum  Verlust 
aller  Ämter  und  Würden.  Und  wenige  Tage  später  war 
Mentschikow  wieder  oben  auf,  die  Verurteilung  entehrte  ihn 
nicht,  er  spielte  die  alte  Rolle  weiter.  Häufig  drohte  Peter 
ihm,  ihn  wegen  seiner  unverbesserlichen  Stehlsucht  in  das 
Nichts  zurückzuschleudern,  aus  dem  er  gekommen,  oder  ihn 
köpfen  zu  lassen;  aber  mit  einem  guten  Witz  entwaffnete  der 
geniale  Dieb  stets  den  Zorn  des  Zaren.  Als  Mentschikow  unter 
Peter  dem  Zweiten  gestürzt  wurde,  fand  man  allein  in  seinem 
Petersburger  Hause  für  200000  Rubel  Tafelsilber,  für  3  Mil- 
lionen Edelsteine  und  Kostbarkeiten,  8  Millionen  Dukaten  in 
Gold  und  30  Millionen  Rubel  in  SUber;  in  einem  geheimen 
Versteck  entdeckte  man  siebzig  Pud  SUber;  in  Amsterdamer 
und  Londoner  Banken  hatte  er  neun  Millionen  Rubel  deponiert; 
der  Wert  seiner  unbeweglichen  Güter  und  seiner  Leibeigenen 
konnte  gar  nicht  abgeschätzt  werden.  Wie  Mentschikow  unter 
Peter  stahl  Patjomkin  unter  Katharina;  ein  anderer  Günstling 
Katharinas,  Soritsch,  beschäftigte  sich,  als  er  aus  dem  Liebes- 

Stern,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  Ruftiand.  iS 


—     274     — 

dienste  bei  Hofe  entlassen  war^  in  seinem  Schlosse  Schklow  mit 
der  Fabrikation  falscher  Banknoten.  Der  Reichskanzler  der 
Zarin  Elisabeth,  Bestuschew,  wurde  vom  französischen  Ge- 
sandten Marquis  de  la  Chetardie  eines  ähnlichen  Verbrechens, 
der  Wechselfälschung  beschuldigt.  Alexander  III.  machte  mit 
seinen  intimsten  Freunden,  denen  er  die  höchsten  Staatsstel- 
lungen anvertraute:  General  Krischanowsky  und  Walujew,  ge- 
nau dieselben  Erfahrungen,  wie  Alexander  II.  mit  dem  Grafen 
Adlerberg,  der  nach  Mentschikowschem  Prinzip  die  Kasse  des 
Zaren  stets  als  seine  eigene  betrachtete.  Alexander  II.  mußte 
seinen  eigenen  Bruder  Nikolaj  Nikolajewitsch  und  dessen  Sohn 
Nikolaj  Nikolajewitsch,  der  jetzt  als  Diktator  Rußland  regiert, 
wegen  unerhörter  Diebstähle  aus  Rußland  verjagen,  einen  an- 
deren Großfürsten,  Nikolaj  Konstantinowitsch,  als  unverbesser- 
lichen Kleptomanen  ins  Irrenfiaus  sperren.  Niemals  jedoch  ist  in 
Rußland  so  viel  gestohlen  worden  wie  jetzt,  seit  die  politischen 
Wirren  und  die  permanente  Hungersnot  imzählige  Millionen 
ins  Rollen  bringen,  aber  auch  eine  strengere  Kontrolle  darüber, 
in  wessen  Taschen  sie  gerollt  sind,  unmöglich  machen. 

Wie  die  Großen  so  die  Kleinen.  Die  Polizei  huldigt  dem 
Satze:  Jeder  will  leben;  und  wenn  es  die  Diebe  nicht  gar  zu 
geräuschvoll  treiben,  so  läßt  man  sie  nach  Herzenslust  arbeiten. 
Ein  Revolutionär  ist  wichtiger  als  tausend  Diebe.  Auch  den 
Bestohlenen  fällt  es  nicht  ein,  bei  der  Polizei  Hilfe  zu  verlangen ; 
dies  würde  Geld,  Zeit  und  wieder  Geld  kosten,  und  das  Ge- 
stohlene käme  doch  nicht  zustande.  Man  muß  schon  eine  ganz 
bedeutende  Persönlichkeit  sein,  auf  daß  die  Polizei  sich  in 
Bewegung  setze,  aus  purem  Pflichtgefühl  und  ohne  Spesen- 
vorschuß. So  ist  Rußland  das  wahre  Dorado  für  Diebe.  Im 
Hotel  werden  einem  die  Kleider  und  Stiefel  gestohlen ;  läßt  man 
in  einer  Poststation  seinen  eigenen  Wagen  stehen,  so  kann 
man  sicher  sein,  am  nächsten  Morgen  nichts  zu  finden  als  das 
nackte   Gestell. 

Der  Russe  setzt  seinen  Stolz  darein,  geschickt  zu  stehlen,  i) 


1)  Es  wäre  ungerecht  nicht  daran  zu  erinnern,  daß  auch  die  alten  Ägypter 
große  Diebe  vor  dem  Herrn  waren.  —  ,,Die  Lacedämonier,"  sagt  femer  Michael 
Montaigne  (Gedanken  und  Meinungen  über  allerley  Gegenstände,  ins  Deutsche 
übersetzt,  Berlin  1794,  IV  62  und  112),  ,, hatten  über  nichts  mehr  Schimpf  und 


—    276    — 

Bei  den  Hofbällen  stiehlt  man  wie  auf  dem  Jahrmarkt.  Der 
Minister  muß  sich  vor  seinem  Gehilfen,  der  General  vor  seinem 
Adjutanten  hüten;  aber  auch  umgekehrt.  Vom  Höchsten  bis 
zum  Niedrigsten  huldigt  jeder  diesem  Laster.  Wird  man  er- 
tappt, so  hat  dies  keine  Entehrung  im  Gefolge:  „Ich  habe 
gefehlt,  Herr,**  sagt  man;  und  die  Sache  ist  abgetan.  Diebe 
sind  keine  Gauner,  keine  schlechten  Kerle.  Sie  haben  das 
heiterste  Wesen  und  das  freundlichste  Gesicht.  Namentlich 
die  Leute  aus  dem  Volke  sind  trotz  ihres  Hanges  zum  Stehlen 
gleichzeitig  Modelle  einer  sogenannten  ehrlichen  Haut.  Man 
hat  einen  Diener,  der  mit  größter  Gemütsruhe  alles  stiehlt, 
was  man  in  der  Vergeßlichkeit  liegen  läßt ;  und  derselbe  Mensch 
legt  sich  abends  vor  die  Tür,  um  mit  seinem  Leben  das  Haus 
des  Herrn  vor  Einbrechern  zu  schützen.  „Es  ist  die  Ehrlichkeit 
des  Hundes,  vermischt  mit  der  Stehllust  des  Raben,**  sagte 
einmal  ein  deutscher  Forscher,  i) 

Gegen  die  Stehlsucht  der  Russen  haben  die  Gesetze  seit 
tausend  Jahren  umsonst  gekämpft.  Als  die  Byzantiner  mit 
Oleg  von  Kijew  einen  Handelsvertrag  abschlössen,  mußte  vor 
allem  ein  Diebstahlsparagraph  verfaßt  werden.  Wenn  ein 
Russe  einen  Griechen  bestiehlt,  hieß  es  darin,  oder  ein 
Grieche  einen  Russen,  und  der  Dieb  in  flagranti  ertappt 
wird,  aber  Widerstand  leistet,  hat  der  Eigentümer  des  gestoh- 
lenen  Gegenstandes  das  Recht   den  Dieb  zu  töten  und   das 


Schande  zu  besorgen,  als  wenn  sie  sich  über  einem  Diebstahl  ertappen  ließen. 
Das  Stehlen  war  erlaubt,  man  durfte  nur  nicht  erwischt  werden.  Lykurgus  zog 
beim  Stehlen  die  Lebhaftigkeit,  Behendigkeit,  Dreistigkeit  und  Geschicklichkeit, 
die  erfordert  werden,  seinem  Nächsten  etwas  zu  entwenden,  sowie  den  Nutzen 
in  Erwägung,  der  dem  gemeinen  Menschen  daraus  entwachsen  müsse,  wenn 
jedermann  sorgfältig  auf  die  Erhaltung  dessen  bedacht  seyn  müßte,  was  sein 
gehört;  und  hielt  dafür,  diese  doppelte  Vorschrift  des  Angriiia  und  der  Ver- 
teidigung würde  der  militärischen  Disziplin  zu  großem  Nutzen  gereichen, 
welcher  wichtiger  wäre  als  die  Unordnung  und  die  Ungerechtigkeit,  die  darinn 
liegt,  sich  des  Eigenthums  eines  anderen  zu  bemächtigen."  Die  Russen  haben 
allerdings  solche  Gründe  wie  diejenigen  des  Lykurgus  niemab  für  sich  ange- 
führt. Bei  ihnen  ist  der  Diebstahl  einfach  Sitte;  „le  vol  y  a  pass6  dans  les 
moeurs,"  sagte  Custine  (a.  a.  O.  IV  31). 

1)  Aurelio  Buddeus,  St.  Petersburg  im  kranken  Leben.    Stuttgart,  1846, 
II  147- 

i8* 


—    276    — 

Gestohlene  selbst  an  sich  zu  nehmen.^)  Zai  Alexej  Michajlo- 
witsch  setzte  folgende  Strafen  fest^):  Wenn  ein  Dieb  zum 
ersten  Male  ertappt  wurde,  so  sollte  man  ihn  foltern,  um  zu 
erfahren,  ob  er  nicht  auch  andere  Verbrechen  begangen.  Ge- 
stand er  nichts,  so  wurde  er  mit  der  Knute  gestraft,  man 
schnitt  ihm  das  linke  Ohr  ab  und  sperrte  ihn  für  zwei  Jahre 
ins  Gefängnis,  wo  er,  stets  gefesselt,  Arbeiten  für  den  Zaren 
verrichten  mußte;  nach  der  Entlassung  aus  dem  Gefängnisse 
wurde  er  nach  der  Ukraine  verschickt.  Wurde  jemand  ziun 
zweiten  Male  des  Diebstahls  überführt,  so  folterte  und  knutete 
man  ihn  wie  das  erste  Mal,  schnitt  ihm  auch  das  rechte  Ohr 
ab  und  diktierte  ihm  vier  Jahre  Gefängnis.  Wenn  einer  zum 
dritten  Male  als  Dieb  ergriffen  wurde,  so  wurde  er  am  Leben 
gestraft.  Kirchendiebe  wurden  schon  bei  der  ersten  Tat  zum 
Tode  verurteilt.  Diese  strengen  Strafen  win-den  von  Alexejs 
Söhnen  gemildert.  So  erzählt  der  Verfasser  der  Religion  der 
Moskowiter  3):  „Die  Diebe  werden  in  Moscau  nicht  gehencket 
/  sie  mögen  so  viel  gestohlen  haben  /  als  sie  wollen.  Wenn 
es  ein  kleiner  Diebstahl  ist  /  als  zum  Exempel  /  zwey  Thaler 
werth  /  so  wird  der  Verbrecher  zu  einer  Straffe  /  welche  sie 
Batokki  nennen  /  verdammt.  Wenn  er  nun  offtmahls  einen 
solchen  kleinen  Diebstahl  begangen  hat  /  so  g^ebt  man  ihm 
die  Batokki  mit  solcher  Hefftigkeit  /  daß  er  im  Bette  liegen 
muß  /  ohne  sich  bewegen  zu  können.  Wenn  der  Diebstahl 
groß  ist  /  und  der  Dieb  zum  ersten  Mahl  ertappet  wird  /  und 
nicht  erstatten  kan  /  was  er  gestohlen  hat  /  so  straffet  man 
ihn  mit  der  Knut-Peitsche  auff  eine  erschreckUche  Weise; 
der  Scharf frichter  schneidet  ihm  das  rechte  Ohr  ab ;  man  setzet 
ihn  darnach  ins  Gefängniß  /  worinnen  er  zwey  Jahre  mit  Was- 


1)  Etudes  historiques  sur  la  l^gislation  nisse  ancienne  et  moderne  par 
Spyridion  G.  Z^zas,  Paris  1862,  p.  15. 

2)  Allgemeines  Russisches  Land-Recht  Wie  solches  Auf  Befehl  Ihr. 
Czaar.  Majest.  Alexei  Michailowicz  zusammengetragen  worden  damit  allen 
Standen  des  Moscowitischen  Reichs  vom  Höchsten  bis  zum  Niedrigsten  gleich- 
mäßiges Recht  und  Gerechtigkeit  in  allen  Dingen  wiederfahren  möge.  Aus 
dem  Rußischen  ins  Teutsche  übersetzt  nebst  einer  Vorrede  Burcard  Gotthelff 
Struvens.    Dantzig  1723,  Seite  205  ff. 

8)  Anno  1712,  S.   105. 


—    277    — 

•ser  und  Brodt  unterhalten  /  und  am  Ende  desselben  wieder 
losgelassen  wird.**  Die  späteren  Herrscher  haben  in  ihren 
Gesetzbüchern  endlose  Kapitel  mit  Paragraphen,  welche  den 
Diebstahl  mit  allen  möglichen  Strafen  bedrohen,  angefüllt, 
aber  mit  den  Gesetzen  ist  man  dem  Laster  nicht  beigekommen. 
Peter  der  Große  versuchte  in  populärer  Weise  sein  Volk  auf- 
zuklären, indem  er  in  einer  besonderen  Schrift  die  zehn  Ge- 
bote erklären  ließ.^)  Klarer,  kürzer  imd  wirksamer  als  alle 
diese  offiziellen  Androhungen  ist  eines  der  zwölf  Gebote  des 
Chlysty  Gottes  Daniel  Filipowitsch,  die  vom  Gottessohne  und 
Propheten  Iwan  Sußlow  verkündet  wurden ;  dieses  Gebot  lautet : 
,,Ihr  sollt  nicht  stehlen.  Wer  nur  einen  einzigen  Kopeken  ent- 
wendet hat,  dem  wird  man  beim  jüngsten  Gericht  diesen  Ko- 
peken auf  den  Kopf  legen,  und  seine  Sünde  wird  ihm  erst 
vergeben  werden,  wenn  dieser  Kopek  im  Feuer  zerschmolzen 
sein  wird.**  Stockschläge,  Peitsche,  Knut,  das  alles  rührt  den 
Russen  nicht,  das  schreckt  ihn  nicht,  daran  ist  er  gewöhnt; 
aber  das  Bild  dessen,  der  am  Tage  des  jüngsten  Gerichts 
mit  dem  brennenden  Kopeken  auf  dem  Scheitel  seine  Sünde 
büßen  muß,  ergreift  ihn  bis  ins  Innerste.  Leider  kennen  nicht 
alle  Russen  die  Gebote  des  Gottes  Daniel  Filipowitsch,  und  so 
wird  weiter  gestohlen  im  heiligen  Rußland  bis  zum  jüngsten 
Gericht. 

Der  Unterschied  zwischen  Gut  und  Böse,  Recht  und  Un- 
recht ist  dem  russischen  Volke  noch  nicht  klar  geworden, 
obwohl  eines  der  schönsten  russischen  Märchen  sich  gerade 
dieses  Thema  gewählt  hat^):  Zwei  Bauern,  erzählt  dieses  Mär- 
chen, stritten  einmal  darüber,  wer  besser  durch  die  Welt 
komme,  jener,  der  Recht,  oder  jener,  der  Unrecht  tue.  Beide 
begeben  sich  auf  die  Reise,  aber  wo  immer  sie  fragen,  wer 


1)  Vgl.  Erste  Unterweisung  der  Jugend,  Enthaltend  ein  ABC-Büchlein, 
-wie  auch  eine  kortze  Erklärung  der  zehen  Gebote  etc.  Auf  Befehl  Petri  des 
Ersten.  Bei  Stnive.  Russ.  Landrecht,  als  Anhang.  Seite  23 — 28:  über  DiebstahL 

*)  CKa3Ka  0  iipaBi^  h  kphb;^  Das  Märchen  ist  alt,  aber  vielfach  um- 
gearbeitet; die  Idee  hat  ein  christliches  Kolorit  und  im  sechzehnten  oder 
siebzehnten  Jahrhundert  ihre  letzte  Umgestaltung  erhalten,  indem  die  Sitten 
jener  Zeit  mit  hineingezeichnet  wurden.  VgL  Reinholdts  Geschichte  der  russi- 
schen Literatur  S.  41. 


—    278    — 

von  ihnen  die  Wahrheit  behauptet  habe^  stets  triuniphiert  der 
Bauer,  der  Unrecht  tut.  „Was  willst  du  mit  dem  Recht?** 
heißt  es  überall,  „mit  dem  Recht  kommt  man  nach  Sibirien.** 
Während  der  Schwindler  sich  bei  jedem  einschmeichelt  und 
immer  satt  ist,  kommt  der  ehrliche  Bauer  fast  vor  Hunger  um. 
Er  muß  endlich  den  Gefährten  um  einen  Bissen  Brot  bitten, 
bekommt  ihn  aber  nur  um  den  Preis  eines  Auges.  Sie  wan- 
dern weiter,  und  stets  dasselbe  Schicksal:  Glück  dem  Unge- 
rechten, dem  Falschen,  dem  Diebe,  Unglück  dem  Gerechten, 
Ehrlichen.  Diesem  kostet  ein  zweites  Stück  Brot  das  zweite 
Auge,  und  er  bleibt  hilflos  am  Wege  liegen,  während  der 
andere  heiter  weiterzieht.  Jetzt  endlich  wendet  sich  das  Blatt. 
Ein  heißes  Gebet  des  Erblindeten  verschafft  ihm  ein  Lebens- 
.  wasser,  er  erhält  die  Sehkraft  wieder,  belauscht  die  Geheim- 
nisse der  bösen  Geister,  heilt  eine  Prinzessin  und  führt  sie 
als  Braut  heim.  Als  der  andere  erfährt,  auf  welche  Weise 
sein  Gefährte  ein  solches  Glück  gemacht,  eilt  er  auch  schnell 
dorthin,  wo  jener  die  bösen  Geister  belauschte,  aber  er  wird 
von  den  Teufeln  bemerkt  und  zerrissen.  Dieses  Märchen  ist 
weitverbreitet,  doch  niemand  kümmert  sich  um  die  schöne 
Moral,  jeder  hält  sich  nur  an  den  einen  Satz  daraus:  mit  dem 
Recht  kommt  man  nach  Sibirien  oder  man  verhungert,  das 
Unrecht  macht  satt. 

Wie  die  Russen  denken  auch  einige  der  nichtrussischen 
Völker  in  Rußland.  Bei  den  Tscherkessen  beispielsweise  gilt 
das  Stehlen  nicht  als  schimpflich,  sondern  als  ein  Zeichen  von 
Gewandtheit,  so  daß  eine  Braut  ihren  Bräutigam  am  härtesten 
mit  dem  Vorwurf  kränkt,  er  habe  noch  keine  Kuh  gestohlen.^) 
Es  g^bt  zwar  auch  gesetzliche  Strafen  für  Diebstahl;  schon 
wer  zum  ersten  Male  erwischt  wird,  soll  den  siebenfachen  Wert 
des  Gestohlenen,  überdies  neun  Stück  Rindvieh  als  Sühne 
für  die  beleidigte  Ehre  des  Besitzers  zahlen.  Aber  diese  Strafe 
ist  illusorisch,  weil  sich  selten  ein  Tscherkesse  erwischen  läßt. 
Blutsbande,  Gastfreundschaft  und  Verbrüderung  schützen  vor 
Diebstahl,  und  man  beraubt  nur  seine  Feinde,  geht  also  mit 
Vorsicht  zu  Werke.    Bei  den  Osseten  in  Kaukasien  muß  ein 


1)  Neumann,  Rußland  und  die  Tscherkessen,  S.  102. 


—    279    — 

Dieb  das  Fünffache  des  Entwendeten  bezahlen^  wenn  er  es 
in  heimlicher  hstiger  Weise  gestohlen  hat;  das  gewaltsam  Ge- 
raubte braucht  er  aber  nur  einfach  zu  ersetzen  i);  Schwäche 
wird  verachtet,  der  Gewalt  kann  man  sich  erwehren,  vor  List 
aber  nicht  hüten. 

Bei  den  Kalmücken  dagegen  wurde  der  Diebstahl  überaus 
streng  bestraft.  Der  Dieb  mußte  das  Gestohlene  nicht  nur 
zurückerstatten  und  eine  Bußezahlung  leisten ;  sondern  in  jedem 
einzelnen  Falle,  auch  wenn  es  sich  um  Kleinigkeiten  handelte, 
wurde  dem  Verbrecher  ein  Finger  abgehauen,  falls  er  sich  nicht 
mit  fünf  Stück  Vieh  loskaufen  konnte.  Selbst  auf  die  Entwen- 
dung von  Nadeln  und  Nähgarn  waren  schwere  Strafen  gesetzt. 
Aufseher'  über  hundert  Zelter  hafteten  für  die  Diebstähle  ihrer 
Untergebenen;  wenn  sie  aus  Furcht  vor  Strafe  die  Diebstähle 
ihrer  Untergebenen  verheimlichten,  wurden  sie  zum  Verluste 
einer  Hand  verurteilt.  2)  Pferdediebe  mußten  das  Gestohlene  er- 
setzen und  ihr  Vergehen  durch  Geißelhiebe  auf  den  nackten 
Rücken  büßen;  nach  vollzogener  Strafe  wurden  sie  vom  Jar- 
gatschi,  dem  Gerichtsdiener,  mit  einem  glühenden  Stahl  auf 
der  Wange  gezeichnet.  3)  Auch  in  Kamtschatka  prägte  man 
den   Dieben   Brandmerkmale   auf.*) 

Man  ersieht  aus  diesen  Beispielen,  um  wieviel  höher  die 
Moral  der  halbwilden  unterjochten  Völker  Rußlands  steht  als 
jene  der  großrussischen  Herren.  Der  Russe  sieht  im  Diebstahl 
ein  Unrecht  nur  im  Stile  des  schönen  Märchens,  aber  nicht 
in  der  Praxis  des  Lebens.  Wenn  sonst  das  Laster  zum  Ver- 
brechen entartet,  so  ist  hier  das  Verbrechen  des  Diebstahls 
nichts  als  ein  Laster,  eine  Nationalimtugend.  Das  Stehlen  na- 
mentlich kleiner,  scheinbar  wertloser  Gegenstände  ist  so  all- 
gemein, daß  man  sich  gar  nicht  wundert,  wenn  man  in  der 
besten  Gesellschaft  solche  Dinge  verschwinden  sieht.  Wert- 
volle voluminöse  Stücke  nimmt  nur  der  Dieb  von  Profession 
mit,  der  nicht  bloß  stiehlt  aus  Lust  am  Stehlen,  sondern  um 


1)  J.  G.  Kohl,  Reisen  in  Südrußland,  I  309. 

s)  Merkwürdigkeiten  aus  Pallas  Reisen,  206. 

3)  Bergmanns  nomadische  Streifereien,  II  41^ 

^)  Histoire  de  Kamtschatica,  trad.  du  russe,  A  Lyon  1767,  II  106. 


—    280    — 

des  Gewinnes  willen.  Auf  dem  Lande  raubt  man  häufig  Pferde, 
die  man  bei  der  Einsamkeit  der  Gegenden  schnell  unbemerkt 
und  mühelos  fortschaffen  kann.  Im  allgemeinen  heißt  es  im 
Volke:  Alles  was  unverschlossen  ist,  kann  nehmen  wer  will. 
Man  hütet  sich  jedoch  Versiegeltes  zu  stehlen,  der  inhaltreichste 
Geldbrief  bleibt  unversehrt;  dies  geschieht  nicht  aus  Respekt 
vor  dem  kaiserlichen  Siegel,  das  die  Post  ^en  Wertsendungen 
aufdrückt,  sondern  aus  Aberglauben. 

Der  Aberglaube  hat  jedoch  nur  in  diesem  einen  Falle  eine 
gute  Wirkung.  Viel  häufiger  ist  er  die  Ursache  zur  Förderung 
des  Diebstahls  1) :  Allgemein  ist  in  Rußland  der  Aberglaube, 
daß  Geld,  von  den  Reliquien  geraubt,  Segen  bringt  und  die 
Wirtschaft  aufbessert.  Ebenso  verbreitet  ist  die  Meinung,  daß 
ein  Dieb  in  der  Nacht  auf  Maria  Verkündigung  irgend  etwas 
stehlen  solle;  gelingt  ein  noch  so  geringfügiger  Diebstahl,  so 
hat  man  das  ganze  Jahr  Glück  im  Stehlen;  im  Gouvernement 
Pensa  sichern  sich  die  Bauern  auf  diese  Weise  für  ein  ganzes 
Jahr  vor  Strafe  wegen  der  Holzdiebstähle.  Fast  jedes  Gou- 
vernement hat  seinen  speziellen  Diebsaberglauben.  Im  Wjäsem- 
schen  Kreise  im  Gouvernement  Ssmolensk  ist  den  Dieben  nicht 
bloß  die  Nacht  auf  Maria  Verkündigung  günstig,  sondern 
auch  die  Nacht  des  Heiligen  Boriß  und  jene  des  Heiligen 
Gljeb;  in  den  letzterwähnten  zwei  Nächten  sollen  namentlich 
die  Pferdediebe  ihr  Glück  auf  die  Probe  stellen.  Alles  Ge- 
stohlene bringt  Gedeihen.  Im  Kreise  Onega  des  Archangels- 
kischen Gouvernements  sagt  man :  ein  Pferd  wird  schöner  und 
gesünder,  wenn  es  mit  gestohlenem  Hafer  gefüttert  wird;  die 
Onegaer  gehen  auch  auf  den  Dorschfang  am  liebsten  mit 
gestohlenen  Angelhaken  aus.  Ähnliche  Gründe  veranlassen  die 
Bewohner  des  Kreises  Rostow  im  Gouvernement  Jaroßlaw  zum 
Diebstahl  von  Blxunen. 

Auch  zu  Verbrechen  führt  der  Diebsaberglaube,  zu  Lei- 
chenschändung und  Mord.  Ein  Sprichwort  sagt:  „Die  Leute 
schliefen,  als  wäre  eine  Totenhand  um  sie  gefahren.**  Dieses 
Sprichwort  ist  aus  der  düsteren  Realistik  des   Diebstreibens 


1)  Löwenstimm,  Aberglaube  und  Straü-echt,  114  ff.,  149  ff.    Hier  findet 
man  S.  121  ff.  auch  Parallelen  aus  Deutschland  und  anderen  Ländern. 


—    281    — 

entstanden.  Man  öffnet  die  Gräber,  um  eine  Totenhand  zu 
entwenden;  wird  die  Totenhand  in  ein  Fenster  des  Hauses 
gelegt,  wo  man  einbricht,  so  schlafen  die  Bestohlenen  so  fest, 
daß  der  Dieb  ruhig  arbeiten  kann.  Dieser  Aberglaube,  der 
hauptsächlich  bei  Pferdediebstählen  zur  Geltung  kommt,  ist 
besonders  im  Gouvernement  Kijew  verbreitet.  Im  Jahre  1872 
wurde  im  Kreise  Kanew  des  Kijewschen  Gouvernements  aus 
solchem  Grunde  das  Grab  eines  Mädchens  geschändet;  im 
Jahre  1900  fand  man  im  Dorfe  Paschkowskoje  im  Kijewschen 
Kreise  auf  dem  Friedhofe  das  Grab  der  Bäuerin  Germanowa 
ganz  aufgewühlt  und  entdeckte,  daß  der  Leiche  eine  Hand  ab- 
gehackt war.i)  Ein  Diebstahl,  der  bald  darauf  im  Dorfe  statt- 
fand, gab  der  Obrigkeit  Anlaß  bei  einem  verdächtigen  Bauern 
eine  Untersuchung  vorzunehmen;  man  fand  ein  Stück  von 
dem  Ärmel  des  Leichenhemdes  der  Germanowa.  Der  Bauer 
bekannte  sowohl  den  Diebstahl  als  auch  die  Leichenschändung ; 
er  hatte  die  Totenhand  nötig,  um  den  Diebstahl  erfolgreich 
auszuführen.  Er  erzählte  selbst,  wie  er  das  Verbrechen  voll- 
führte :  er  trank  ein  Gläschen  Schnaps,  um  Mut  und  Kraft  zur 
Arbeit  zu  haben;  dann  ging  er  auf  den  Friedhof,  grub  das 
Grab  auf,  hieb  mit  dem  Beil  eine  Öffnung  in  den  Sargdeckel, 
sprach  ein  Entsühnungsgebet  und  hackte  der  Leiche  die  Hand 
ab.  Zu  Hause  schnitt  er  von  der  Hand  das  Fleisch  ab  und 
warf  dieses  den  Hunden  vor,  den  Knochen  aber  bewahrte  er 
sorgfältig  als  Talisman  auf.  Gleiche  Vorfälle  ereigneten  sich 
im  genannten  Jahre  auch  im  Gouvernement  Woronesch  und 
im  Orte  Faleschtuj  im  Gouvernement  Bessarabien. 

Nächst  einer  Totenhand  ist  den  Dieben  ein  Zauberlicht 
von  großer  Wichtigkeit.  Man  stehle  aus  den  Gräbern  die 
Wachskreuze,  die  den  Leichen  in  den  Sarg  mitgegeben  wer- 
den, und  mache  daraus  Kerzen;  bei  deren  Licht  kann  man 
gefahrlos  stehlen.  Noch  besser  ist  ein  Licht  aus  Menschen- 
fett, der  Schein  dieses  Lichtes  versetzt  die  zu  Bestehlenden 
in  tiefsten  Schlaf.  In  der  Nacht  auf  den  27.  Februar  1873 
raubten  auf  dem  Kirchhofe  des  Dorfes  Scheljesnjäki  im  Kreise 
Grodno  Soldaten  der  Leiche  eines  Kollegen  die  Eingeweide,  um 


1)  Kölnische  Zeitung  1900.  Nummer  1016. 


—    282    — 

aus  dem  Fette  ein  Diebslicht  zu  fabrizieren.  Im  Jahre  1884 
überraschte  man  auf  dem  Friedhofe  der  Stadt  Perejaslawl  im 
Gouvernement  Poltawa  drei  Burschen  bei  der  Zerstückelung 
einer  dicken  Männerleiche;  sie  brauchten  Menschenfett  für 
ein  Diebslicht. 

Hat  man  nicht  den  Mut  zur  Grabschändung^  so  zögert  man 
nicht,  einen  Mord  zu  begehen.  Am  19.  April  1869  fand  man 
im  Wiükowitschwalde  des  Kreises  Wladimir-Wolynsk  die  gräß- 
lich verstünmielte  Leiche  eines  Bauemknaben;  die  Haut  am 
Bauche  war  rund  aufgeschnitten  und  abgezogen  worden.  Der 
Bauer  Kyrill  Dschuß  hatte  den  Knaben  in  den  Wald  gelockt 
und  ermordet,  tun  aus  dem  Fette  des  Getöteten  ein  Diebslicht 
zu  machen,  nüt  dem  man  ungestraft  stehlen  könnte.  Am  24. 
April  1881  verhandelte  das  Kreisgericht  in  Pensa  einen  Mord- 
prozeß gegen  zwei  junge  Burschen,  die  im  Tschembarschen 
Kreise  einen  Mann  ermordet  hatten,  tun  aus  seinem  Bauche  die 
Netzhaut  mit  den  Eingeweiden  als  Material  für  ein  Diebslicht 
herauszureißen.  Am  15.  November  1896  hatte  das  Kreisgericht 
von  Korotojak  im  Gouvernement  Woronesch  genau  den  glei- 
chen Fall  zu  verhandeln.  Zwei  Bauern  hatten  einen  zwölf- 
jährigen Knaben  erdrosselt,  der  Leiche  dann  den  Bauch  nach 
drei  Richtungen  aufgeschnitten  und  die  Netzhaut  mit  den  Ein- 
geweiden herausgenommen,  um  aus  dem  Fett  ein  Diebslicht 
herzustellen.  Der  berühmteste  FaU  dieser  Art  in  den  letzten 
zwei  Dezennien  ist  aber  die  am  3.  Oktober  1887  stattgehabte  Er- 
mordung eines  Mädchens  im  I>orfe  Nikitskoje  des  Kreises  Bjel- 
gorod  im  Kurskschen  Gouvernement.  Das  Charakteristische  an 
diesem  Falle  war  die  Hartnäckigkeit,  mit  der  die  Mörder  ihr 
Ziel  verfolgten,  um  xmbeding^  in  den  Besitz  von  Menschenfett 
für  ein  Diebslicht  zu  gelangen.  Die  Bauern  Tolmatschew  und 
zwei  Brüder  Semljänin  wollten  zuerst  eine  Leiche  schänden, 
beschlossen  aber,  sich  das  Fett  lieber  von  einem  frischen  Toten 
zu  verschaffen,  und  machten  sich  gemeinsam  zur  Ermordimg 
eines  Menschen  auf.  Sie  lauerten  zuerst  einem  Knaben  in 
einem  Walde  auf,  das  Opfer  entkam  ihnen  aber  durch  einen 
Zufall.  Dann  begegneten  sie  einem  ihrer  Nachbarn,  sie  ver- 
loren jedoch  den  Mut,  weil  sie  sejne  riesige  Stärke  kannten. 
Hierauf  machten  sie  sich  an  einen  feisten  Geistlichen  heran 


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und  führten  ihn  unter  irgend  einem  Verwände  in  den  Wald; 
den  Popen  aber  quälte  eine  beängstigende  Vorahnung,  und 
er  rief  zu  seinem  Glücke  einen  Arbeiter  herbei,  daß  er  ihn 
begleite.  Endlich  gelang  den  finsteren  Gesellen  doch  ihr  Plan. 
Ein  Mädchen  kam  daher,  das  ein  entlaufenes  Pferd  suchte.  Die 
drei  Männer  lockten  die  Suchende  in  den  Wald,  erwürgten 
sie,  schnitten  der  Leiche  das  Fleisch  ab  und  schmolzen  das 
Fett  aus.  Es  reichte  für  ein  ganz  großes  Licht,  und  die  Mörder 
gingen  mit  diesem  Talisman  auf  Diebstähle  aus.  Der  Zauber 
wirkte  vortrefflich,  ein  halbes  Jahr  lang  gelangen  alle  Unter- 
nehmungen nicht  bloß,  sondern  der  Mord  selbst  wurde  auch 
nicht  entdeckt.  Erst  bei  einem  zufälligen  Besuche  der  Polizei 
im  Hause  des  Semljänin  fand  man  ein  Bündel  mit  gekochtem 
Fleisch,  und  da  man  in  dem  Tuche  das  Eigentum  der  ver- 
schwundenen Magd  erkannte,  kam  das  Verbrechen  zutage. 
Die  merkwürdigen  Begleitumstände  dieser  Tat  machten  den 
Prozeß  zu  einem  sensationellen,  und  alle  Ethnographen  und 
Juristen  Rußlands  begannen  nach  dem  Ursprung  des  fürchter- 
lichen Aberglaubens  zu  forschen.  In  einer  interessanten  Ab- 
handlung in  einer  Zeitung  i)  sprach  ein  ungenannter  Autor  die 
Meinung  aus,  daß  der  Diebslichtaberglaube  ein  Überbleibsel 
des  Kannibalismus  sei,  dessen  Spuren  man  noch  in  folgendem 
russischen  Volksliede  erkenne:  „Ich  backe  ein  Gebäck  aus 
den  Händen,  aus  den  Füssen;  aus  dem  tollen  Kopfe  schmiede 
ich  ein  Trinkgefäß;  aus  seinen  Augen  gieße  ich  Trinkgläser; 
aus  seinem  Blute  braue  ich  berauschendes  Bier ;  und  aus  seinem 
Fette  gieße  ich  Licht.** 

Wie  der  Dieb  sich  durch  einen  Talisman  vor  Entdeckung 
sichert,  so  ist  der  Aberglaube  auch  dem  Bestohlenen  zur  Er- 
forschung des  Diebes  durch  zauberhafte  Mittel  behilflich. 
Wenn  in  einem  Hause  ein  Diebstahl  bemerkt  wird,  aber  der 
Schuldige  nicht  entdeckt  werden  kann,  man  auch  nicht  genau 
weiß,  wen  man  anklagen  soll,  so  beruft  man  einen  Hexenmeister 
oder  eine  Wahrsagerin,  und  diese  „beobachten  den  Leib  der 
Verdächtigen.**  Sabylin,  der  diesen  Brauch  erwähnt,  weiß  aber 
selbst  nicht,  wie  diese  Beobachtung  erfolgte,  und  bemerkte  nur. 


1)  PyccioH  Biv^oMocTH  1888,  359. 


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daß  von  diesem  Gebrauche  das  Sprichwort  herstamme :  ILioxo 
nesHTT»  —  6pK)xo  öcjuttb;  wer  schlecht  liegt,  dem  tut  der  Leib 
weh.i)  Tereschtschenko  kennt  noch  ein  anderes  russisches  Mit- 
tel-): Die  Wahrsagerin  ninunt  einen  Psalter,  schlägt  mit  einem 
Messer  auf  die  Mitte  einer  Seite  und  sagt :  „Da  ist  er,  und  da 
ist  noch  ein  anderer.  Er  ist  hier  und  hat  sich  versteckt!" 
Wen  sie  dann  nennt,  der  ist  der  Dieb.  Gesteht  er  das  Ver- 
brechen nicht  ein,  so  muß  er  seine  Unschuld  vor  dem  Bilde 
des  Heiligen  Iwan  des  Kriegers  beeidigen.  Wenn  ein  Haus- 
diebstahl stattgefunden  hat,  so  ruft  die  Hausfrau  das  ganze 
Gesinde  zusanmien;  und  eine  Babuschka,  die  Wahrsagerin, 
deren  Hilfe  in  Anspruch  genonmien  wird,  macht  so  viele  Brot- 
kügelchen  als  Leute  da  sind,  stellt  ein  Gefäß  mit  Wasser  vor 
sich  hin,  wirft  eine  Kugel  nach  der  anderen  hinein  und  sagt 
stets  einen  der  Namen  der  Verdächtigen  nebst  der  Beschwö- 
nmg.  „Bist  du  schuldig,  so  fällt  diese  Kugel  auf  den  Grund 
wie  deine  Seele  in  die  Hölle.**  Die  Kugeln  der  Unschuldigen 
aber,  behauptet  sie,  bleiben  oben  schwimmen.  3)  Vor  dieser 
Methode  haben  die  gemeinen  Russen  eine  furchtbare  Angst,  und 
der  Schuldige  bekennt,  so  wie  die  Sache  ernst  wird,  freiwillig 
den  Diebstahl,  um  nicht  seine  Seele  der  Hölle  anheimfallen 
zu   lassen. 

Auch  die  nichtrussischen  Völker  in  Rußland  versuchen  es 
mit  der  Zauberei,  um  die  Diebe  zu  entdecken. 

Wenn  dem  Osseten  etwas  gestohlen  worden  ist,  so  ruft 
er  einen  Kurismezok  oder  Zauberer.  Dieser  geht,  mit  einer 
Katze  unter  dem  Arm,  in  Begleitung  des  Bestohlenen  zu  den 
Häusern  jener,  die  im  Verdachte  des  Diebstahls  stehen,  und 
ruft  überall  laut  aus:  „Wenn  du  es  genommen  hast  und  dem 
Eigentümer  nicht  wiedergiebst,  so  möge  diese  Katze  die  Seelen 
deiner  Vorfahren  peinigen.**  Man  kann  überzeuget  sein,  daß 
der  Schuldige  sofort  das  Gestohlene  zurückerstattet,  da  nichts 
mehr  gefürchtet  wird  als  die  angedrohte  Strafe.*)    Die  Kam- 

*)  M.  3a6ijjmin>,  PyccKÜt  Hapo;i:b,  MocKBa  1880,  crp.  406,  3^  29:  Oru- 
cKauie  BopoBi». 

*)  TepeiueoKo,  Burb  pyccnaro  uapo^a.   Vgl.  Löwenstimm  a.  a.  O.  88. 

3)  Haxthausen,  Studien  I  312. 

^)  Haxthausen,  Transkaukasia,  II  20. 


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tschadalen^)  glauben  einen  Dieb  ausfindig  zu  machen,  indem 
sie  unter  großen  Zeremonien  die  Sehnen  eines  wilden  Bockes 
verbrennen;  wie  sich  die  Sehnen  im  Feuer  zusammenziehen, 
so  verliert  der  heimliche  Dieb  den  Gebrauch  seiner  Glieder, 
imd  wenn  man  in  der  Gemeinde  also  einen  Gelähmten  ent- 
deckt, so  ist  dies  der  Verbrecher. 


i6.  Korruption. 


Zarisches  System  alter  Zeiten  —  Die  Verwaltung  —  Eine  Anekdote  des  Jehan 
Sauvage  aus  Dieppe  —  Strafen  für  Bestechlichkeit  —  Einfache  Methode  Iwans 
des  Schrecklichen  —  Der  Richterstand  —  Die  Gerichtsdiener  —  Das  Trinkgeld 
im  Osterei  —  Das  Heiligenbild  als  Vermittler  —  Strafgericht  Peters  I.  —  Hin- 
richtungen —  Cato  Nesterow  und  sein  Ende  —  Die  Ansichten  des  Cato  Tatisch- 
tschew  —  Eriaubte  und  unerlaubte  Korruption  —  Ausspruch  des  Günstlings 
Jaguschinskij  —  Die  Geschenke  für  den  Zaren  —  Katharina  II.  gegen  das 
Licholmstwo  oder  Geschenkfressen  —  Korruption  unter  Nikolaj  II.  —  Die 
Zollbeamten  —  Medizinalinspektoren  und  Rekruten  —  Prügelgesellen  in  den 
Schulen  —  Richter  und  Recht  im  Sprichwort  —  Das  Rechtsmärchen  Kaulbars 
Bortig  —  Das  Urteil  des  Schemjaka  —  Satiren  Ssumarokows  und  Gogoljs  — 

Unausrottbarkeit   der    Korruption. 

Wollte  ein  Zar  im  alten  Rußland  einen  Bojaren  für  be- 
sondere Dienste  belohnen  oder  einem  Günstling  große  Gnade 
erweisen,  so  schenkte  er  ihm  eine  Provinzvcrwaltung  mit  fol- 
genden Worten:  „Ziehe  hin,  lebe  daselbst  und  iß  dich  satt!** 
Und  jeder  tat  nach  den  Worten  des  Zaren.  War  die  Provinz 
dem  Begnadigten  zu  fem,  so  hatte  er  das  Recht,  das  Gouverne- 
ment einem  anderen  zu  verkaufen,  und  dieser  mußte  nun  dop- 
pelt fleißig  stehlen  und  plündern,  um  den  riesigen  Kaufpreis 
hereinzubringen  und  sich  nebenbei  selbst  sattzuessen. 

Ein  solches  von  dem  Zaren  statuiertes  System  mußte  natur- 
gemäß die  Korruption  in  der  ganzen  Verwaltung  einbürgern. 
Plündern  imd  Rauben  wurden  die  Grundgesetze  der  Admini- 
stration; es  gab  gar  keine  Möglichkeit,  auf  normale  ehrliche 
Weise  das  Fortkommen  zu  finden.    Der  Gouverneur  mußte 


1)  Histoire  de  Kamtschatka,  II  107. 


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stehlen,  um  sich  sattzuessen,  die  höheren  und  die  niederen 
Beamten  suchten  durch  Diebstahl  und  Trinkgelder  ihr  Leben 
zu  fristen. 

Das  erste,  was  der  Fremde  sieht,  der  nach  Rußland  kommt, 
ist  die  offene  Hand  des  Zollbeamten;  und  bei  jedem  weiteren 
Schritte  muß  man,  um  unangefochten  zu  bleiben,  nach  rechts 
und  nach  links  dem  Moloch  der  Korruption  opfern.  Das 
früheste  französische  Memoire  über  Rußland,  von  dem  Ma- 
trosen Jehan  Sauvage  aus  Dieppe  verfaßt,  erzählt  wie  der 
Kommandant  des  Hafens  von  Archangelsk  die  Franzosen  nicht 
landen  lassen  wollte,  „weil  er  noch  niemals  zuvor  Franzosen 
gesehen  hatte.**  Da  half  aber  ein  Mittel:  „environ  250  dalles,** 
und  die  Franzosen  wurden  sofort  willkommen  geheißen.^) 

Zuweilen  rafften  sich  die  Zaren  zu  einer  Bestrafung  der 
korrupten  Beamten  auf,  aber  sie  griffen  nicht  das  System  an, 
sondern  begnügten  sich  mit  der  Praktizierung  einzelner  Bei- 
spiele. Iwan  der  Schreckliche  erfuhr  einmal,  daß  einer  seiner 
Wojwoden  sich  durch  eine  mit  Dukaten  gefüllte  Gans  hatte 
bestechen  lassen.  Er  verheimlichte  seinen  Zorn,  aber  als  er 
bald  darauf  mit  diesem  Wojwoden  über  d^n  Platz  ging,  wo  die 
Exekutionen  stattzuhaben  pflegten,  ließ  er  den  Beschuldigten 
plötzlich  vom  Henker  ergreifen  und  ihm  die  Arme  und  Beine 
ab  hacken  2);  und  bei  jedem  Hiebe  fragte  der  Zar  spöttisch: 
„Na,  Batuschka,  wie  schmeckt  das  Gansfleisch?** 

Sporadische  Züchtigungen  dieser  Art  konnten  das  Übel 
nicht  hemmen.  Man  fand  leicht  Mittel  und  Wege,  das  Gesetz 
zu  umgehen.  Am  traurigsten  und  verkommensten  blieb  der 
Richterstand.  Schon  der  Gerichtsdiener  stellte  den  Parteien 
Klagen  und  Vorladungen  nicht  zu,  wenn  er  nicht  dafür  extra 
bezahlt  wurde;  Zar  Alexej  mußte  in  seinem  Gesetzbuche  einen 
besonderen  Paragraphen  den  Gerichtsdienern  widmen  und 
ihnen  androhen,  daß  sie  beim  ersten  Male  der  Pflichtverletzung 
mit   den  Batogy,   beim  zweiten  Male  mit   der  Knute  gestraft 


1)  Das  interessante  Manuskript  des  Jehan  Sau  vage  wurde  von  Louis 
Paris  entdeckt  und  der  französischen  Übersetzung  der  Nestorschen  Chronik 
angefügt. 

2)  Reise  nach  Norden,  anno  1706.     S.   167. 


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werden  würden. i)  Aber  es  nützte  nichts;  und  konnte  auch 
nicht  helfen,  da  die  Richter  selbst  nicht  nach  Recht  und  Ge- 
rechtigkeit, sondern  nach  der  Bezahlung  von  seiten  der  splen- 
dideren Partei  urteilten.  Das  Gesetz  zwar  bestimmte,  daß  ein 
bestechlicher  Richter  zum  Bettler  gemacht  und  verbannt  wer- 
den sollte;  vorher  aber  wurde  er  mit  Ruten  durch  die  Stadt 
gepeitscht  und  während  der  Exekution  mußte  er  am  Halse 
einen  Sack  tragen,  worin  das  Bestechungsmittel  sich  befand; 
ganz  gleich  ob  dieses  Gold,  Pelzwerk,  gesalzene  Fische,  Schnaps 
oder  etwas  anderes  gewesen  war.  Doch  wer  konnte  leichter 
das  Gesetz  ausspielen  als  der  Richter?  Er  nahm  also  ein  Ge- 
schenk nur  an,  wenn  es  ihm  mit  einem  Osterei  am  Oster- 
sonntag, wenn  in  Rußland  sich  alles  küßt  und  umarmt,  in 
die  Hand  gedrückt  wurde;  noch  harmloser  war  es,  wenn  der 
Verführer  im  Hause  des  Richters  erschien,  sich  wie  üblich 
zuerst  zum  Heiligen  wandte,  um  zu  beten,  und  dann  in  from- 
mer Andacht  sein  Geschenk  vor  dem  Hausaltare  nieder- 
legte. 2) 

Peter  der  Große  kämpfte  bis  zu  seinem  Lebensende 
gegen  die  Korruption.  Er  verminderte  die  Zahl  der  Gou- 
vernements, gab  den  Gouverneuren  und  Beamten  fixe  Ge- 
hälter, forderte  aber  dafür  die  Abschaffung  der  Trink- 
gelder. Er  verfügte:  wer  in  einer  Sache,  sie  sei  gerecht 
oder  ungerecht,  Geschenke  annehme  und  gebe,  es  sei  vor  oder 
nach  der  Entscheidung,  der  erleide  dafür  die  Strafe  am  Galgen. 
Der  Generalfiskal  t<Iesterow  überreichte  dem  Kaiser  ein  Memo- 
randum, worin  zahlreiche  Malversationen  von  Senatoren  und 
Würdenträgern  aufgedeckt  wurden.  Es  erfolgt  ein  furchtbares 
Strafgericht:  Zwei  meineidigen  Senatoren  zieht  der  Henker  ein 
glühendes  Eisen  über  die  Zunge;  dann  werden  die  also  grau- 
sam Gestraften  noch  gepeitscht  und  schließlich  nach  Sibirien 
verbannt.  Den  Vizegouvemeur  von  Petersburg  klopft  der  Hen- 
ker mit  dem  Knut  öffentUch;  einen  Admiralitätsherm  und  den 
Intendanten  der  Gebäude  züchtigt  man  bloß  mit  dem  Kam- 
merknut, nämlich  in  einem  geschlossenen  Räume.  Der  Günst- 


1 )  Russisches  Landrecht  des  Czaren  Alexei,  von  Stnive,  S.  6 1 ,  Nummer  145. 

2)  Margeret,  4.2  und  67, 


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ling  Schafirow,  der  Vizekanzler  des  Reiches,  wird  zur  Ent- 
hauptung verurteilt  und  erst  auf  dem  Schafott  begnadigt.  Am 
Galgen  baumeln  der  Gouverneur  von  Sibirien,  Knjäs  Gagarin, 
und  der  Kommandant  von  Bachmut,  Knjäs  Masolskoj.  Zum 
Finale  entpuppt  sich  der  Cato,  der  Generalfiskal  Nesterow 
selbst,  als  korrupt :  ein  Geschenk  von  zweitausend  Rubeln  hat 
den  Ankläger  verführt  und  zum  Angeklagten  degradiert;  er 
wird  bei  lebendigem  Leibe  gerädert.^) 

Noch  ein  anderer  Cato  lebt  am  Hofe  Peters:  der  Staats- 
rat Wassilij  Nikititsch  Tatischtschew.  Er  hinterließ  eine  Reihe 
von  Satiren  imd  ein  Testament  an  seinen  Sohn,  2)  worin  er 
geistreich  über  das  Sportelnehmen  spottet  und  die  Korruption 
der  Verwaltung  geißelt.  Auch  dieser  Cato  wird  eines  Tages 
wegen  Bestechlichkeit  vor  Gericht  gestellt  und  hält  hier  dem 
Zaren  folgenden  Vortrag :  „Es  gibt  zweierlei  Arten  des  Sportel- 
nehmens,  eine  unstatthafte  und  eine  statthafte.  Falls  ein  Rich- 
ter bei  Führung  einer  gerechten  Sache  über  die  offiziellen 
Stunden  hinaus  arbeitet;  falls  dem  Prozeßführenden  ein  Vor- 
teil daraus  erwächst,  wenn  der  Richter  seine  ganze  Muße 
der  Angelegenheit  widmet :  dann  ist,  und  zwar  nach  Erledigung 
der  Sache,  eine  Belohnung  statthaft,  wohlverdient  und  nicht 
entehrend."  Peter  entgegnete  darauf:  „Dich  selbst  halte  ich 
zwar  für  gewissenhaft.  Aber  es  gibt  auch  gewissenlose  Richter, 
und  in  jedem  Falle  ist  ein  Beispiel,  das  durch  die  Annahme 
von  Geschenken  gegeben  wird,  zu  mißbilligen.  Tue  stets  das 
aus  Antrieb  der  Pflicht,  wozu  dich  die  Belohnung  ermuntert." 
Tatischtschew  erreichte  so  viel,   daß   er  straflos  ausging. 

Die  Folge  war,  daß  die  Korruption  noch  ärger  wurde  als 
sie  zuvor  gewesen.  Man  sah,  daß  der  Zar  Unterschiede  zu 
machen  wußte  und  nur  jene  dem  Henker  überlieferte,  auf  die 
er  schon  aus  anderen  Gründen  erzürnt  war;  daß  er  nur  die 
kleinen  Diebe  köpfte,  die  großen  aber,  wie  Mentschikow  und 
Apraxin,  ruhig  weiterwirtschaften  ließ.    Erst  im  letzten  Jahre 

1)  Handschriftliche  Berichte  des  preußischen  Legationssekretärs  Vocke- 
rodt,  bei  Herrmann  a.  a.  O.  Seite  31. 

*)  Gedruckt  wurden  seine  Schriften  erst  zur  Zeit  Katharinas  II.  Vgl. 
über  Tatischtschew:  Reinholdt,  Geschichte  der  russ.  Litt.  287. 


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seines  Lebens  raffte  sich  Peter  noch  einmal  zu  voller  Strenge 
auf.i)  Er  setzte  eine  Untersuchungskommission  aus  unerbitt- 
lich grausamen  Männern  ein,  und  der  neue  Generalfiskal  Mä- 
kinin  mußte  neben  dem  Schlafzimmer  des  Zaren  amtieren, 
damit  zu  jeder  Stunde,  bei  Tag  und  bei  Nacht,  ein  Urteil 
gefällt  werden  konnte.  Auf  die  Frage  Mäkinins:  „Soll  ich 
nur  die  Zweige  abkappen  oder  die  Axt  an  die  Wurzel  legen?** 
entgegnete  Peter  lakonisch:  „Alles  mit  Stumpf  und  Stiel  aus- 
rotten!** Selbst  auf  die  geringste  Bestechlichkeit  wurde  die 
Todesstrafe  gesetzt.  Der  Günstling  Jaguschinskij  erklärte 
darauf:  „Wir  alle  stehlen,  die  Einen  mehr  oder  plumper,  die 
Anderen  weniger  und  gewandter.  Wollen  Ew.  Majestät  allein 
im  Reiche  übrig  bleiben?**  Und  zum  Schlüsse  mußte  Peter 
aus  dem  Munde  des  Generalleutnants  Buturlin  folgende  An- 
klage vernehmen:  „Umsonst  gibst  du  Verordnungen  gegen 
Jene,  die  Geschenke  nehmen;  umsonst  verfolgst  du  die  Über- 
treter deiner  Gesetze  mit  Strafen;  denn  du  selbst  erzwingst 
Geschenke,  und  dein  eigenes  Beispiel  ist  wirksamer  als  Ge- 
setz und  Ahndung.  Als  ich  durch  Twer  reiste,  speiste  ich  bei 
einer  Kaufmannsfrau ;  da  kam  ein  Abgeordneter  des  Magistrats 
imd  forderte  hundert  Rubel  als  Beisteuer  zu  dem  Geschenk, 
das  die  Stadt  dir  geben  mußte,  und  als  die  Frau  wegen  Mangel 
an  barem  Gelde  nur  um  einen  kurzen  Aufschub  bat,  da  drohte 
man  ihr  mit  dem  Gefängnis,  so  daß  ich  schnell  das  Geld  für 
sie  erlegte.  So  freiwillig  sind  die  Geschenke,  die  man  dir 
gibt.**  Da  legte  Peter  entmutigt  die  Axt  aus  der  Hand,  gab 
den  Kampf  nüt  der  unausrottbaren  Korruption  auf  und  erwar- 
tete resigniert  das  Ende  seiner  Herrschaft. 

„Das  Lichoimstwo,  das  Geschenkfressen  2),  die  Beste- 
chungen und  Erpressungen  sind  die  Grundübel  des  Reiches,** 
klagte  Katharina  die  Zweite  vierzig  Jahre  später  in  ihrem 
berühmten  Ukas  vom  i8.  Juli  1762.  „Man  findet  kaum  einen 
Richter,  der  bei  Ausübung  der  Gerechtigkeit  nicht  von  dieser 
Seuche  angesteckt  wäre.  Sucht  jemand  eine  Stellung,  so  muß 
er  zahlen;  will  sich  jemand  vor  Verleumdungen  schützen,  muß 


1)  Halem,  III  122. 

>)  JIhxohhctbo,  wörtlich:  der  Wacher. 
Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rufiland.  19 


—    290    — 

er  dies  mit  Geld  erkaufen;  will  jemand  einen  anderen  ver- 
leumden, so  unterstützt  er  seine  Ränke  durch  Bestechungen. 
Die  Richter  verwandeln  den  heiligen  Ort,  wo  sie  Recht  spre- 
chen sollen,  in  einen  Marktplatz.  Das  Amt  des  Richters  ist 
eine  Rente,  nicht  ein  Dienst  für  Gott,  Herrscher  und  Vater- 
land. Bloße  Verleumdungen  verwandeln  die  Richter  gegen 
Lohn  in  gerechte  Angebungen.  Solche  Richter  dienen  nur 
ihren  Bäuchen,  indem  sie  ihre  Habsucht  mit  Geschenken  sät- 
tigen. Wie  in  den  vornehmsten  Gerichten  der  großen  Städte, 
so  plagen  in  den  entferntesten  Orten  die  kleinsten  Richter  und 
Beamten  das  Volk  mit  Erpressungen  und  Schikanen  unter 
dem  Scheine  des  Gesetzes.** 

Dasselbe  Lied  kann  noch  heute  gesungen  werden,  und  es  ist 
nur  verwunderlich,  daß  eine  so  kleinliche  Affäre  Skandal 
macht,  wie  die  des  Minister-Stellvertreters  Gurko,  der  um  Geld 
und  Frauengunst  einem  mittellosen  Getreidehändler  Millionen- 
aufträge zuschanzt,  im  sicheren  Bewußtsein,  daß  der  Beauftragte 
nur  die  Millionen  erhalten,  aber  nichts  liefern  werde.  Dieser 
Gurko,  der  auf  einem  Ministerposten  nicht  anders  denken  kann, 
als  der  erstbeste  Richter  auf  dem  Stuhle,  auf  dem  er  Gerechtig- 
keit sprechen  soll;  dieser  Gouverneur  Baron  Fredericks,  der 
die  Kasse  des  Staates  als  seine  eigene  betrachtet,  wie  es  alle 
Gouverneure  vor  ihm  getan  haben ;  dieser  Alexandrowskij,  der 
als  Leiter  des  Roten  Kreuzes  Unsununen  verschwinden  ließ 
und  zur  Strafe  dafür  mit  dem  Gouvernement  Pensa  belehnt 
wurde,  danüt  er  sich  endlich  ganz  satt  esse,  und  der  hier 
in  der  Zeit  der  allgemeinen  Hungersnot  wirklich  die  schönste 
Gelegenheit  zum  Rauben  findet,  bis  ihn  endlich  im  Februar  1907 
die  rächenden  Kugeln  der  Revolutionäre  treffen :  —  sie  alle  sind 
ja  keine  charakteristischen  Typen,  die  zu  besonderer  Betrach- 
tung anregen  würden,  sondern  bloß  ein  Abklatsch  uralter 
Schablonen.  Es  verdient  auch  kein  besonderes  Erstaunen, 
wenn  vor  dem  Petrikauer  Bezirksgericht  eines  Tages  hundert 
höhere  Eisenbahnbeamte  erscheinen,  um  sich  wegen  systema- 
tischer Fälschung  von  Eisenbahnfrachtscheinen  zu  verant- 
worten i);  oder  wenn  bei  der  Verhandlung  vor  einem  Peters- 


1)  Lodzer  Zeitung,    14/27.  März    1906  (Monstre-Prozeß). 


—    291    — 

burger  Gericht,  das  über  die  Bestechungsaffäre  des  Friedens- 
richters Patalajew  urteilt,  ein  Zeuge  dem  Richter  über  den 
Richter  ins  Gesicht  sagt,  daß  er  vor  dem  Beginn  der  Verhand- 
lung den  Versuch  gemacht  hätte,  den  Zeugen  zu  bestechen^); 
oder  wenn  in  Pemau^)  der  Volksschulinspektor  Proschljakow 
die  Stellen  an  der  Schule  nach  einem  fixen  Tarife  verschachert 
und  schließlich  von  den  unzählbaren  Opfern  seiner  Erpressung 
vor  Gericht  geschleppt  wird. 

Das  sind  nicht  vereinzelte  Fälle,  nicht  Ausnahmen,  son- 
dern sie  bilden  die  Regel;  die  Immoralität  ist  allgemein,  die 
Korruption  eine  selbstverständliche  Ergänzung  der  Ehrlosigkeit, 
Lügensucht  und  Stehlsucht.  Wir  sehen,  wie  die  Erpresser 
bestraft  werden,  indem  man  sie  mit  Gouvernements  belehnt. 
Für  die  Bestechlichkeit  sind  förmlich  Prämien  ausgesetzt,  die 
Wege  des  Lasters  von  der  Regierung  selbst  nüt  Gold  gepflastert. 
An  der  Grenze  sind  die  Zollbeamten  durch  regelrechte  Ge- 
schäftsverträge mit  den  Schmugglern  verbunden ;  Gogolj  fand 
für  seinen  Sittenroman  „Tote  Seelen**  keinen  passenderen  Hel- 
den, um  Rußlands  Entsittlichung  zu  zeichnen,  als  jenen  Tschi- 
tschikow,  der  ehemals  Chef  der  Douane  und  gleichzeitig  Hehler 
einer  großartigen  Schmugglerbande  war.  Die  Gutsherren  muß- 
ten früher  eine  gewisse  Anzahl  ihrer  Leibeigenen  an  die  Armee 
abliefern;  es  war  nun  die  Haupteinnahmsquelle  der  Medizinal- 
inspektoren, daß  sie  bei  der  Aushebung  der  Rekruten  den  Guts- 
herren durch  ein  ärztliches  Gutachten  nur  die  kranken  und 
schlechten  Leibeigenen  als  für  das  Heer  tauglich  abnahmen,  die 
gesunden  aber  übersahen.  Früher  gab  es  in  den  Gymnasien 
eigens  angestellte  Prügelgesellen,  die  den  schlechten  Schülern 
die  Liebe  zum  Fleiß  einbläuea  mußten ;  diese  Prügler  bezogen 
von  den  Eltern  der  Schüler  ein  jährliches  Pauschalsümmchen, 
wofür  sie  vorkommenden  Falles  die  Rutenstreiche  bloß  mar- 
kierten.  Die  Medizinalinspektoren  sind  um  ihr  Brot  gekommen, 
seit  es  keine  Leibeigenen  mehr  gibt ;  die  Schuldiener  aber  haben 
glücklicherweise  noch  immer  ihre  Einnahme:  sie  sind  Spione 
der  Polizei  und  beziehen  deshalb  von  den  Schülern  Schweige- 


^)  HoBoe  BpeMfl,   24.  II.   1906. 
«)  „Pärwalehi",  20.  III.  1906. 

19* 


—    292    — 

gelder.  In  einigen  Zweigen  der  Verwaltung  hat  also  wenigstens 
die  Form  der  Korruption  gewechselt. 

Äußerlich  wie  innerlich  unverändert  blieb  die  Korruption 
des  Richtertums.  Da  gelten  noch  immer  die  uralten  Sprich- 
wörter des  Volkes:  Ein  Richter  ist  wie  ein  Zimmermann:  was 
er  will,  das  haut  er  heraus.  Fürchte  nicht  das  Gericht,  fürchte 
nur  den  Richter.  Was  gehen  mich  die  Gesetze  an?  Ich  bin 
gut  Freimd  mit  dem  Richter. 

Die  Verkommenheit  des  Richterstandes  wurde  in  der  Lite- 
ratur des  Volkes  und  in  der  Kunstdichtung  oft  als  Thema 
dankbarer  Satiren  gewählt.  So  erzählt  das  Tiermärchen  von 
Kaulbars  Bortig,  das  in  der  Nachahmung  der  offizielen  Rechts- 
sprache und  des  Kanzleistils  des  sechzehnten  Jahrhunderts  an 
Rabelais  erinnert,  mit  bitterem  Humor  von  der  Bestechlich- 
keit der  russischen  Richter;  „ihr  Herren  Richter,**  ruft  Kaul- 
bars am  Schlüsse  der  Geschichte  aus,  „ihr  habt  nicht  nach 
euerer  Überzeugung  geurteilt,  ihr  seid  bestochen."  Spie  den 
Richtern  in  die  Augen,  und  hui!  sprang  er  ins  Strauchwerk 
auf  Nimmerwiedersehen.  —  Das  klassische  und  berühmteste 
russische  Märchen,  das  die  Bestechlichkeit  des  Richters  geißelt, 
ist  die  Erzählung  vom  Urteil  des  Schemjaka:  Ein  armer  Kerl 
leiht  von  seinem  Bruder  ein  Pferd ;  da  passiert  ihm  das  Malheiu*, 
daß  er  dem  Tier  aus  Versehen  den  Schweif  abreißt.  Er  wird 
von  seinem  hartherzigen  Bruder  zum  Gericht  geschleppt.  Auf 
dem  Wege  in  die  Stadt  müssen  sie  nachts  in  einer  Herberge 
übernachten.  Da  fällt  der  Pechvogel  von  der  Pritsche  und 
erdrückt  ein  Kind,  das  in  der  Wiege  liegt ;  der  Vater  des  Kindes 
geht  mit  zu  Gericht.  Als  man  eine  Brücke  passiert,  beschließt 
der  Pechvogel,  sich  in  den  Fluß  zu  werfen,  um  alle  seine 
Leiden  los  zu  werden.  Aber  er  fällt  nicht  ins  Wasser,  sondern 
auf  ein  Boot  und  tötet  einen  Greis,  der  im  Boote  sitzt.  Der 
Sohn  des  Greises  schließt  sich  den  zwei  Klägern  an.  Als 
die  drei  Kläger  und  der  Übeltäter  vor  dem  Richter  Schemjaka 
erscheinen,  wickelt  der  Angeklagte  einen  Stein  in  sein  Taschen- 
tuch und  winkt  dem  Richter,  das  Paket  zu  betrachten.  Schem- 
jaka hat  seine  eigenen  Gedanken  darüber  und  fällt  ein  gün- 
stiges Urteil;  damit  aber  die  Absichtlichkeit  nicht  gemerkt 
werde,  gibt  er  dem  Urteile  den  Schein  salomonischer  Gerech- 


—    298    — 

tigkeit.  Er  ordnet  also  an:  Der  Geklagte  ist  schuldig.  Der 
Bruder  soll  ihm  daher  das  Pferd  lassen,  bis  diesem  ein  neuer 
Schweif  gewachsen  ist;  der  Mann,  dessen  Kind  getötet  wurde, 
soll  seine  Frau  dem  Mörder  geben,  damit  er  ihr  ein  neues 
Kind  mache;  der  Sohn  des  Greises  endlich  soll  sich  von  der- 
selben Brücke  in  derselben  Weise  in  das  Boot  stürzen,  wie 
es  der  Angeklagte  getan  hat,  während  sich  dieser  darin  in 
derselben  Lage  befinden  muß,  wie  der  Greis  vor  seiner  Tötung. 
Die  Kläger  halten  es  für  klüger,  sich  mit  dem  Angeklagten 
auszugleichen  und  geben  ihm  Geschenke,  damit  er  von  der 
Ausführung  der  richterlichen  Befehle  abstehe.  So  kommt  der 
Pechvogel  schnell  zu  großem  Wohlstand.  Da  erscheint  der 
Richter  und  fordert  die  versprochene  Handsalbe,  seinen  Lohn. 
Er  erhält  aber  zur  Antwort:  „Der  Stein  bedeutete  nicht  eine 
Handsalbe,  sondern:  daß  ich  dich  totgeschlagen  hätte,  wenn 
dein  Urteil  für  mich  ungünstig  ausgefallen  wäre."  Und  der 
betrogene  Richter  muß  seufzen:  „Dem  Himmel  sei  gedankt, 
daß  ich  das  Urteil  zu  seinen  Gunsten  gefällt  habe.** 

Einer  der  frühesten  und  bedeutendsten  Kunstdichter  Ruß- 
lands, Ssumarokow,  schrieb  zur  Zeit  der  Kaiserin  Katharina  IL 
mit  dem  Pathos  ehrlicher  sittlicher  Entrüstung  zahlreiche  Sa- 
tiren gegen  die  Bestechlichkeit.  Seine  Erzählung  „Von  den 
schlechten  Richtern**,  seine  ,, Epistel  über  eine  gewisse  anstek- 
kende  Krankheit**  und  seine  „Klage  der  bedrückten  Wahrheit 
vor  Jupiter**,  zeichnen  sich  durch  eine  seltene  Kühnheit  und 
Rücksichtslosigkeit  aus.  In  der  letztgenannten  Satire  bittet  die 
Wahrheit  Jupiter,  er  möge  das  widerliche  Nesselgezücht  der 
sportelnehmenden  Beamten  ausrotten;  Jupiter  schleudert  seine 
Blitze,  die  Beamten  fallen  um,  und  das  Volk  jubelt.  Aber  o 
wehe!  nur  die  kleinen  Gauner  sind  getroffen  worden,  die 
großen  Spitzbuben  unversehrt  geblieben.  Die  Wahrheit  stellt 
Jupiter  zur  Rede,  und  dieser  entschuldigt  sich  beschämt:  „Ich 
hielt  die  Unversehrten  für  die  Blüte  der  Aristokratie  und  wagte 
gar  nicht  daran  zu  denken  — **. 

Im  Jahre  1836  gab  Kaiser  Nikolaj  die  Erlaubnis  zur  Auf- 
führung eines  Lustspiels:  „Der  Revisor**  von  Gogolj.  Der  Zar 
selbst  wohnte  der  Prenüere  bei  und  lachte  aus  vollem  Halse.  Er 
begriff  gar  nicht,  daß  dieses  Lustspiel  just  das  nikolaitische 


—    294    — 

korrupte  Regierungssystem  mit  ungeheuerer  Frechheit  und 
tötendem  Witz  verspottete;  und  ahnte  nicht,  daß  es  der  Aus- 
gangspimkt  aller  modernen  russischen  Revolutionen,  der  An- 
fang des  Kampfes,  nicht  der  Regierung,  sondern  des  Volkes, 
gegen  den  Drachen  der  Korruption  werden  sollte.  Konsequenter 
als  Iwan  der  Schreckliche,  Peter  I.  und  Katharina  IL,  führt  das 
Volk  diesen  Kampf,  aber  das  Resultat  ist  nach  sieben  blutigen 
Jahrzehnten  das  gleiche  wie  früher:  das  Lichoimstwo  ist  un- 
besiegt, dauert  und  ißt  sich  satt. 


17.  Trunksucht. 


Aberglaube  und  Trunksucht  —  Trunkenbolde  werden  Vampire  —  Satan  und 
die  Trunksucht  —  Russische  Weinlegenden  —  Der  Weinstock  als  Baum  der 
Erkenntnis  —  Das  Märchen  vom  Elend  —  Das  Lied  von  Iwan  dem  Kauf- 
mannssohn —  Die  Heldensagen  von  Wassilij  dem  Saufbold  und  dem  Helden- 
trinker Ilja  von  Murom  —  Ausländische  Urteile  über  die  russische  Trunksucht 

—  Benehmen  eines  russischen  Gesandten  am  Hofe  des  Schah  Abbas  —  Alter 
der  Trunksucht  in  Rußland  —  Orgien  Iwans  des  Schrecklichen  —  Wie  Iwan 
Klatschweiber  zu  bestrafen  pflegte  —  Iwans  Strafen  für  Trunkenbolde  — 
Einführung  des  zarischen  Branntweinmonopols  —  Gelöbnis  der  Schenkwirte  — 
Tottrinken  zu  Ehren  des  Zaren  —  Heimlicher  Privathandel  mit  Branntwein  — 
Boriß  Godunows  Maßregeln  gegen  die  Trunksucht  —  Ein  Vorfall  an  der 
Tafel  des  Zaren  Michael  —  Gesetze  des  Zaren  Alexej  zum  Schutze  des  zarischen 
Monopols  —  Die  Namen  des  Bacchus  bei  den  Russen  —  Peters  Lehrer  Lefort 
als  Trinkmeister  —  Orgien  im  Hause  Leforts  —  Exzesse  Peters  des  Großen 
in  der  Trunkenheit  —  Trunksucht  und  Grausamkeit  —  Das  Saufen  am  Hofe 
Peters  —  Saufwut  der  Popen  und  Geistlichen  —  Saufzwang  an  der  2^en- 
tafel  —  Scherze  Peters  des  Großen  —  Der  Bär  als  Kellner  —  Teilnahme  der 
Frauen  an  den  Saufgelagen  —  Trunksucht  der  Zarin  Katharina  I.  und  ihrer 
Töchter  —  Trinkfreiheit  am  Thronbesteigungstage  Katharinas  II.  —  Sta- 
tistisches —  Verbreitung  der  Trunksucht  nach  Volksstämmen  —  Das  Treiben 
in  den  Schenken  —  Saufwut  des  Volkes  und  der  Intelligenz  —  Förderung 
der  Trunksucht  Regierungsprinzip  —  Die  Komödie  vom  Temperenz-Komitee 

—  Trunksucht  und  Hurerei  —  Die  Sitte  des  Impotent-Trinkens  in  der  Hoch- 
zeitsnacht —  Eines  jungen  Ehemanns  Glanzleistung  —  Eines  anderen  jungen 
Ehemanns  Todestrunk  —  Geschichte  des  Weines  in  Rußland  —  Einführung 
des  Champagners  —  Orgien  am  Hofe  der  Zarin  Anna  —  Odeure  als  Schnäpse. 

Im  Januar  1907  starb  im  Dorfe  Jegorowka  im  Gouverne- 
ment Tula  ein  junger  Mensch,  ein  Trunkenbold.  Man  begrub 
ihn,  aber  in  der  Nacht  hörten  Bauern,  die  an  dem  frischen 


—     295     — 

Grabe  vorübergingen,  ein  dumpfes  Geschrei  aus  der  Erde  her- 
vordringen. Statt  das  Natürliche  anzunehmen:  daß  hier  ein 
Scheintoter  begraben  worden  und  der  Hilfe  bedürfe,  er- 
griffen die  Bauern  einen  Pfahl  aus  Eichenholz  und  stießen  ihn 
in  das  Grab  bis  durch  den  Sarg,  um  den  unruhigen  Toten 
anzunageln.  Die  Polizei,  die  davon  erfuhr,  beeilte  sich  den 
Sarg  auszugraben.  Man  fand  die  Leiche  in  einem  entsetzlichen 
Zustand.  Der  Scheintote  hatte  unter  der  Erde  einen  furcht- 
baren Kampf  gekämpft,  um  sich  von  der  erstickenden  Last 
zu  befreien;  seine  Hände  waren  ihn  dabei  zerbrochen  und 
seine  Haare  ergraut.  Sein  Kampf  war  vergeblich  gewesen,  er 
wurde  das  Opfer  des  Vampirglaubens. 

Im  russischen  Volke  ist  man  allgemein  der  Ansicht,  daß 
ein  Trunkenbold  nach  seinem  Tode  ein  Vampir  werde,  aus 
seinem  Grabe  steige  und  Unheil,  namentlich  Regenlosigkeit 
oder  Seuchen  verursache.  Im  Jahre  1860  gruben  die  Bauern 
des  Dorfes  Tschuwaschkij  Kalmajur  im  Kreise  Stawropol  des 
Gouvernements  Ssamara  die  Leiche  eines  Muschik  aus,  der  an 
Trunkenheit  zugrunde  gegangen  war,  und  nun  als  Vampir 
als  Urheber  der  herrschenden  Dürre  galt.  Man  durchbohrte 
die  Leiche  mit  einem  Eichenpfahl,  um  den  Vampir  unschädlich 
zu  machen.  1889  zerrten  die  Bauern  des  Dorfes  Jelischenki 
im  Ssaratowschen  Kreise  die  Leiche  eines  an  der  Trunksucht 
gestorbenen  Mannes  aus,  durchbohrten  sie  und  warfen  sie 
in  den  Fluß.^) 

Die  Vorstellung  von  der  Verwandlung  der  Seele  eines 
Trunkenboldes  in  eine  Teufelsseele  kennen  auch  die  alten 
russischen  Legenden  und  Märchen.  Eine  „Geschichte  vom 
Ursprung  des  Weintranks  oder  das  Märchen  vom  hochweisen 
Hopfen**  schildert  2),  gleich  der  talmudischen  Tradition,  den 
Weinstock  als  den  verhängnisvollen  Baum  der  Erkenntnis  im 
Paradiese.  Da  die  Rebe  eine  Teufelspflanze  ist,  verfallen  die 
Trunkenbolde  ewigen  Qualen;  so  lange  sie  auf  Erden  wan- 
deln, sind  sie  den  bösen  Streichen  Satans  willenlos  ausgeliefert. 


1)  Löwenstimm,  Aberglaube  und  Strafrecht,   loi. 

*)  Vgl.  „Altslavische  Kreuz-  und  Rebensagen",  Russische  Revue  XIII; 
und  Alexander  von  Reinholdt.  Geschichte  der  russischen  Literatur,  240. 


—    296    — 

werden  sie  von  ihm  auf  Abwege  geführt  und  in  Sümpfe  ge- 
lockt; nach  dem  Tode  aber  kommen  sie  in  die  Hölle  tmd 
müssen  den  Teufeln  als  Lasttiere  dienen.  In  einem  geist- 
lichen Liede  von  Wassilij  und  der  heiligen  Jungfrau  wird 
die   Trunksucht   als   Haupt-   und   Todsünde   verdammt. 

Eines  der  bedeutendsten  poetischen  Erzeugnisse  des  sieb- 
zehnten Jahrhimderts,  das  „Märchen  vom  Elend,  das  einen 
braven  Jüngling  unter  die  Mönchskutte  gebracht**,  ist  ebenfalls 
gegen  die  Tnmksucht  gerichtet.  Hier  heißt  es  zu  Beginn  der 
Erzählung:  „Im  Eden  gab  Gott  sein  heilig  Gebot:  Sie  sollten 
nicht  kosten  von  der  Rebenfrucht.**  Aber  das  Gebot  ward 
übertreten  und  alle  Trübsal  ist  Folge  davon.  Traurig  ergeht 
es  daher  dem  braven  Jüngling.  Vater  und  Mutter  belehren 
ihn,  wie  er  ehrsam  leben  solle,  warnen  ihn  vor  Gastmählern, 
Trinkgelage  und  Spiel.  Aber  den  unvernünftigen  Jüngling  ver- 
drießen diese  Lehren,  er  lebt  nach  seinem  Gefallen.  Bald  hat 
er  fünfzig  Rubel  beisammen  und  wankt  in  Gesellschaft  eines 
Verführers  von  Schenke  zu  Schenke.  „Trinke,**  sagt  ihm  der 
Freund,  „trinke  dir  zur  Freude,  zur  Lust,  zur  Gesundheit. 
Und  wenn  du,  Bruder,  dich  betrinkst,  lege  dich  schlafen  da  wo 
du  stehst,  verlaß  dich  auf  mich.**  So  ergeht  es  ihm  auch,  er 
betrinkt  sich  bis  zur  Bewußtlosigkeit;  und  als  er  am  anderen 
Morgen  erwacht,  findet  er  sich  vom  Freunde  verlassen  imd 
beraubt.  Er  schämt  sich  nach  Hause  zurückzukehren  und  wan- 
dert in  die  Welt  hinaus.  Die  harte  Lehre  hat  ihn  kuriert, 
er  lebt  verständig,  konunt  vorwärts  und  gewinnt  eine  reiche 
Braut.  J)b.  tritt  ihm  in  den  Weg  das  Elend,  das  von  sich  sagt : 
„Mich  wird  man  auch  mit  Stockschlägen  nicht  los;  mein  Nest 
und  mein  Erbgut  die  Schlemmer  sind.**  Das  Elend  warnt  den 
Jüngling  vor  der  Heirat.  Die  Frau  würde  ihn  vergiften.  Er 
soll  lieber  in  die  Schenke  gehen  und  alles  vertrinken:  „Be- 
neidenswert ist  nur  das  Leben  der  Nackten  und  Barfüßigen, 
niemand  quält  sie,  niemand  tut  ihnen  ein  Leid  an.**  Der  Jüng- 
ling folgt  dem  Rat,  verläßt  die  Braut,  vertrinkt  sein  Geld  und 
wandert  wieder  als  Bettler  und  Säufer  durch  die  Welt.  Er 
kommt  an  einen  Fluß  und  hat  kein  Geld,  den  Fährmann  zu 
bezahlen.  Vor  Verzweiflung  will  er  sich  in  den  Fluß  stürzen, 
da  springt   das  Elend  hervor  und   sagt   ihm:   unterwirf  dich 


—    297    — 

mir  gänzlich,  so  setze  ich  dich  hinüber.  Er  stimmt  ein  Lied 
an,  gedenkt  der  glücklichen  Jugend,  und  endet  dann  mit  der 
Klage:  „Kein  Scharlach  wird  ohne  den  Meister  gemacht,  kein 
Kind  getröstet  ohne  die  Mutterlieb,  kein  Trunkenbold  wird 
jemals  reich  und  in  gutem  Leumund  kein  Würfler  steht."  Die 
Klage  rührt  den  Fährmann  und  er  setzt  den  Jüngling  über  den 
Fluß.  Nun  will  der  Reuige  heimkehren  ins  Elternhaus  zu 
ehrlicher  Arbeit,  aber  er  kann  sich  vom  Elend  nicht  losmachen 
und  flüchtet  in  ein  Kloster,  auf  den  sichersten  Weg  des  Heils : 
„vor  dem  heiligen  Tor  hält  das  Elend  still.** 

Trauriger  noch  ist  das  Schicksal  des  Trunkenboldes  Iwan 
des  Kauf mannssohnes  i) :  Ein  verständiger  Vater  und  eine  ver- 
ständige Mutter  hatten  ein  unverständiges  Kind,  mit  Namen 
Iwan  der  Kaufmannssohn.  Der  Vater  starb  und  die  Mutter 
Afimja  Alexandrowna  schickt  ihren  Sohn  mit  Waren  übers  Meer 
und  spricht  warnend  zu  ihm:  „Gehe  nicht,  o  mein  geliebtes 
Kind,  in  die  Schenken  des  Zaren  und  trinke  nicht  den  grünen 
Wein  und  suche  keine  Gemeinschaft  mit  Saufbolden  und  hänge 
dich  nicht  an  die  feilen  Weiber!**  Iwan  vergißt  die  mütterlichen 
Lehren.  In  die  Schenken  des  Zaren  geht  er,  übermäßig  trinkt  er 
den  grünen  Wein,  schließt  Freimdschaft  mit  Saufbolden  und 
mit  feilen  Weibern.  Da  ist  bald  sein  väterliches  Erbteil,  da 
sind  bald  die  Waren  der  Mutter  verschleudert;  selbst  seine 
Schiffe  muß  Iwan  schließlich  versetzen.  Die  Mutter  erhält  die 
böse  Kunde,  eilt  über  das  Meer  in  die  fremde  Stadt,  geht  in 
den  Straßen  umher  und  klagt:  „Habt  ihr  nicht  mein  Kind 
gesehen?**  Aber  kein  anständiger  Mensch  weiß  von  ihrem 
Sohne.  Da  geht  sie  unter  den  Saufbolden  in  den  Schenken  um- 
her und  findet  auf  einem  Ofen  den  berauschten  zerlumpten 
Iwan.  Sie  schleppt  ihn  an  den  Haaren  zu  den  babylonischen 
Kaufleuten  und  bittet:  „Kauft  mir  den  da  ab  um  fünfhundert 
Rubel.**  Fragen  die  babylonischen  Kaufleute :  „Aber  sage,  ehr- 
bare Witwe  Afimja  Alexandrowna,  verkaufst  du  uns  da  keinen 
Dieb  oder  Wegelagerer?**  Sagt  Afimja:  „Nicht  einen  Dieb 
oder  Wegelagerer,  sondern  meinen  eigenen  einzigen  Sohn  Iwan, 
mein  großes  Herzeleid,  verkaufe  ich  euch.**  Spricht  Iwan:  „Ach 


*)  Vgl.  Bernhard  Stern,  Fürst  Wladimirs  Tafelrunde. 


—     298    — 

ihr  lieben  babylonischen  Kaufleute,  bin  ich  wirklich  nur  fünf- 
hundert Rubel  wert?  Zahlet  doch  tausend  Rubel  für  michl" 
Und  weinend  fährt  er  fort:  „Und  du  lebewohl,  lebewohl,  du 
meine  leibliche  Mutter,  du  ehrwürdige  Witwe  Afimja  Alexan- 
drowna!  Dem  Gesetze  nach  warst  du  meine  leibliche  Mutter, 
deinem  Handeln  nach  aber  eine  grimmige  Schlange!**  Nun 
nimmt  die  Mutter  Abschied:  „O  ihr  rechtgläubigen  Leute 
wundert  euch  nicht,  daß  ich  mein  eigenes  liebes  Kind  verkaufe. 
Denn  kein  Erhalter  war  er  der  leiblichen  Mutter,  sondern  ein 
Verschwender,  ein  liederlicher  Trunkenbold  1** 

Unter  den  russischen  Heldensagen,  den  Bylinen,  gibt  es 
aber  auch  mehrere  Lieder  zur  Verherrlichung  der  Trinker, 
so  das  Lied  von  Wassilij  dem  Saufbold:  Der  Tartarenchan 
Batyga  belagert  die  Kijewstadt  und  fordert  den  Fürsten  Wladi- 
mir auf,  einen  Helden  zum  Zweikampf  zu  schicken.  Tief  be- 
trübt ist  der  leutselige  Fürst  Wladimir,  denn  kein  Held  ist 
in  Kijew.  Da  tritt  ein  Schenkwirt  zum  Fürsten:  „Unser  Heil 
und  unsere  Hoffnung,  rote  Sonne,  Fürst  Wladimir!  In  der 
Kijewstadt  treibt  sich  seit  zwölf  Jahren  ein  Degen  herum, 
der  all  seine  Habe  versoffen  hat.  Nichts  gibt  es,  womit  er 
sich  nüchtern  trinken  kann,  von  dem  Sichnüchterntrinken  tut 
der  Kopf  ihm  weh,  und  von  den  Wehen  des  Trunkes  ist  das 
Herz  ihm  beklommen.  Aber  er  ist  ein  wackerer  Held  und 
kann  mit  Batyga  sich  messen.*'  Der  Fürst  geht  in  den  Schen- 
ken umher  und  sucht  den  Saufbold.  Endlich  findet  er  den 
Wassilij  Iwanowitsch  schwer  besoffen  auf  einem  Ofen,  ohne 
Hosen,  weil  er  sie  vertrunken  hat,  und  im  dünnen  Hemde.  Als 
der  Saufbold  den  Fürsten  bemerkt,  kriecht  er  vom  Ofen  henm- 
ter,  verneigt  sich  tief  und  spricht:  „Du  unsere  Sonne,  Fürst 
Wladimir!  Du  kennst  nicht  meine  große  Trübsal.  Du  hast 
große  Bekümmernis,  aber  mein  Leid  und  meine  Trauer  sind 
noch  größer.  Vor  Schmerz  birst  mir  das  Haupt,  es  zittern 
mir  die  Sehnen  der  Knie,  denn  ich  habe  nichts  zu  trinken, 
die  verfluchten  Wirte  pumpen  mir  keinen  Tropfen  mehr. 
Stärke  mich,  o  edler  Fürst,  mit  einer  stärkenden  Schale,  dann 
werde  ich  stark  und  kann  mit  Batyga  mich  messen.*'  Der  Fürst 
läßt  dem  Saufbold  ein  Faß  Meth  bringen  und  ein  Faß  Bier 
und  ein  Faß  Wein;  ein  jedes  Faß  wiegt  anderthalb  Pud.   Was- 


—    299    — 

silij  aber  hebt  alle  drei  Fässer  mit  einer  Hand  auf  und  trinkt 
eins  nach  dem  anderen  in  einem  Zuge  aus.  Darauf  spannt 
er  dreimal  den  Bogen,  schießt  drei  Pfeile  ab  und  tötet  Batygas 
Sohn,  Schwiegersohn  und  Pfaffen.  Batyga  fordert  wutentbrannt 
den  Mörder.  Wladimir  zittert,  aber  Wassilij  sagt:  „O  unsere 
rote  Sonne,  Wladimir!  Nicht  kann  ich  jetzt  zu  Batyga  gehen. 
Nach  dem  Trünke  schmerzt  mein  Haupt.  Gib  mir  eine  be- 
lauschende Schale  voll  grünen  Weines,  eine  zweite  voll  be- 
täubenden Bieres,  eine  dritte  voll  süßen  Methes;  dann  kann 
ich  mit  Batyga  mich  messen."  Der  Fürst  wiederholt  sein 
früheres  Geschenk.  Nun  ist  Waßjka  wieder  in  Ordnung  und 
jubelt:  „Dank  dir,  du  Zar  Batyga,  daß  du  zu  unserer  Stadt 
gezogen  kamst.**  Dann  nimmt  er  ein  Roß  und  reitet  zu 
Batyga,  beklagt  sich  dort,  daß  der  undankbare  Wladimir  ihn 
aufknüpfen  lassen  wollte,  und  schwört  dem  Fürsten  Rache. 
Batyga  läßt  sich  überlisten,  gibt  dem  Saufbold  zu  trinken  und 
vertraut  ihm  das  Heer  an,  um  es  heimlich  nach  Kijew  zu 
führen.  In  einem  Walde  aber  reißt  Wassilij,  durch  einen  kräf- 
tigen Trunk  gestärkt,  einen  Baum  aus  der  Erde  und  erschlägt 
das  ganze  Heer  Batygas.  Jubelnd  empfangen  die  Kijewer  den 
Helden  und  wollen  ihn  mit  Ehren  und  Schätzen  überhäufen. 
Er  dagegen  erbittet  dieses :  daß  jedes  Haus  in  Kijew  ihm  ein 
Faß  Wein,  ein  Faß  Bier  und  ein  Faß  Meth  spende;  vom  Für- 
sten aber  verlangt  er  einen  Geleitsbrief  mit  Siegel  und  eigen- 
händiger Unterschrift  für  alle  zarischen  Schenken:  daß  Was- 
silij der  Saufbold  überall  auf  des  Fürsten  Rechnung  trinken 
dürfe  bis  an  sein  seliges  Ende. 

Auch  der  Hauptheld  des  Kijewschen  Sagenkreises,  Ilja 
Muromez,  ist  ein  gewaltiger  Trinker.  In  einem  Liede  wird  er- 
zählt, wie  Ilja  in  armseligem  Pilgergewande  in  den  Straßen 
von  Kijew  umherwandert.  Den  Helden  plagt  ein  furchtbarer 
Durst,  und  in  der  Tasche  hat  er  nicht  einen  Kopek.  Da  denkt 
er:  Mache  kurzen  Prozeß;  gehe  in  einen  Zarewkabak^),  in  eine 
Kronsschenke;  da  müssen  sie  dir  schon  einen  Heldentrunk 
pumpen,  hast  lange  Jahre  selbstlos  dem  Fürsten  gedient!    Ilja 


1)   Kabak,  KaöniCB,   ist  die  Krons  -  Schnapsschenke .    während  Traktir. 
TpaicrupT»,  das  Wirtshaus  überhaupt  bezeichnet. 


—    300    — 

kommt  in  die  Schenke  und  schreit:  „Heda,  Brüderchen  Wirt, 
pumpe  mir  für  zweitausend  Rubel  grünen  Wein!**  Der  Wirt 
schaut  sich  den  armsehgen  Pilger  an  und  sagt :  „Ei,  du  törichter 
Trunkenbold,  mach  daß  du  fortkommst.**  Ilja  appelliert  an 
das  gute  Herz  der  zweimal  vierzig  Kellner;  dieselbe  Antwort. 
Da  weckt  Ilja  die  Zechbrüder  i),  die  auf  den  Bänken  und 
Öfen  herumliegen,  und  schreit:  „Ach  Brüder  Trunkenbolde, 
ich  verschmachte  schier  vor  Durst,  schenkt  mir  einen  Tropfen 
grünen  Weines.**  Und  die  armen  Trunkenbolde  legen  ihr  letztes 
Geld  zusammen  und  kaufen  dem  Ilja  anderthalb  Eimer  grünen 
Weines.  Zum  Dank  verspricht  ihnen  Ilja,  sie  am  nächsten  Tage 
zu  bewirten.  Am  anderen  Morgen  erscheint  Ilja  nicht  als  Pilger, 
sondern  als  Held.  Mit  einem  Fußstoße  sprengt  er  das  Tor 
des  Zarewkabak,  drei  riesige  Fässer  schleppt  er  heraus  und 
bewirtet  die  Spender  von  gestern.  Brüderchen  Wirt  und  Brü- 
der Kellner  platzen  vor  Wut,  aber  Ilja  kümmert  sich  nicht 
um  sie,  legt  sich  nach  der  Orgie  auf  den  Ofen  und  schläft 
drei  Tage  und  drei  Nächte  seinen  gewaltigen  Rausch  aus. 

Der  russische  Trinkerruhm  erfüllte  schon  früh  die  Welt. 
Die  europäischen  Reisenden,  die  aus  Rußland  zurückkehrten, 
berichteten  in  Worten  starren  Staunens  über  die  moskowitische 
Trunksucht.  Contarini  schreibt  2)  lun  1500,  „daß  sich  die  Mosko- 
witer vom  Morgen  bis  zum  Mittag  auf  den  Märkten  und  Plätzen 
herumtreiben  und  den  Tag  in  Trinkhäusern  beschließen.**  — 
Mayerberg  erzählt  3):  Branntwein  beginne  und  ende  die  Mahl- 
zeiten. Der  Rausch  allein  setze  der  russischen  Art  des  Trin- 
kens ein  Ziel.  Man  trinke  nicht  tropfenweise,  sondern  schütte 
die  Schale*)  auf  einen  Zug  in  die  Kehle  aus.  Einen  Festsaal 
verlasse  der  Moskowiter  nicht  freiwillig,  man  müsse  ihn  hinaus- 
schleppen. Während  der  Mahlzeit  höre  man  die  besten  Herr- 
schaften fortwährend  aufstoßen,  rülpsen  und  andere  Laute 
von  sich  geben;  sie  seien  deswegen  nicht  ängstlich,  und  auch 


1)  FoJiutt  KaÖaniit,  wörtlich:  der  arme  Zecher. 

2)  Karamsin,  deutsche  Ausgabe  VII  168,  französische  VII  263. 

3)  Voyage  en  Moscovie,   1688.     61 — 63,  78,  Sj,  138,   141,  und  noch  an 
vielen  Stellen. 

*)  Die  alten  Russen  tranken  den  Branntwein  aus  Schalen.    Vgl.  darüber 
auch  Margeret  a.  a.  O.   100. 


—    301     — 

peinliche  Gerüche  verursachen  keinen  Verdruß.  Vor  der  Mahl- 
zeit erscheine  die  Hausfrau  mit  einer  Schale  Branntwein;  sie 
nippe  daran,  reiche  dem  vornehmsten  Gaste  den  Ehrentrunk 
und  ziehe  sich  dann  wieder  zurück.  —  Le  Bruyn  berichtet  i) 
aus  dem  Jahre  1 703 :  An  den  Festtagen  saufen  die  Russen  so 
wütig,  daß  man  sie  in  Massen  berauscht  auf  den  Straßen  liegen 
sehe,  namentlich  vor  den  Schenken.  In  die  Lokale  selbst 
dürfen  sie  nicht  hineingehen ;  an  der  Tür  der  Kabaken  befinde 
sich  eine  Bank,  auf  die  sie  das  Geld  legen  müssen,  dann 
folge  man  ihnen  die  bezahlte  Quantität  aus.  In  jedem  Zarew- 
kabak  seien  zwei  Bediente :  einer  nehme  das  Geld  in  Empfang, 
der  andere  schöpfe  mit  einem  großen  Holzlöffel  den  Schnaps 
aus  einem  mächtigen  Kessel.  Die  Frauen  drängen  sich  wie 
die  Männer  zum  Saufen.  —  Endlich  erwähne  ich  hier  die 
Mitteilungen  des  dänischen  Reisenden  Peter  von  Haven^) :  „Die 
vornehmste  Neigung  des  ganzen  Volkes  bestehet  darinn,  Essen 
und  Trinken  in  Überfluß  zu  genießen  und  sich  vornehmlich 
allerley  Arten  vom  starken  Getränk  ohne  Ordnung  und  Maaß 
zu  bedienen.  Ungeachtet  sie  mm  öfters  Schiffbruch  am  Ver- 
stände leiden,  so  scheinet  es  doch,  als  wenn  es  ihren  Körpern 
keinen  grossen  Schaden  thäte.  Es  ist  soweit  entfernt,  daß  der 
gemeine  Mann  sich  seiner  Trunkenheit  schämen  sollte,  daß 
er  sich  vielmehr  derselben  rühmet,  seine  Lieder  in  den  Schen- 
ken herschreyet,  und  taumelnd  auf  der  Strasse  gehet;  zu- 
weilen begegnet  man  wohl  auch  Bauern  von  beyderley  Ge- 
schlecht, die  öffentlich  herumgehen,  sich  einander  unter  die 
Arme  gefaßt  halten,  und  die  in  ihrer  Trunkenheit  singen  imd 
schreven.** 

Die  wenigen  Russen,  die  als  Diplomaten  ins  Ausland  ge- 
schickt wurden,  schleppten  ihr  Laster  mit  sich.  Von  Chardin^) 
erfahren  wir,  daß  die  russischen  Gesandten,  vom  Schach  Abbas 
zu  einem  Feste  geladen,  sich  an  der  Tafel  des  persischen  Königs 
derart  mit  Schiraswein  betranken,  „daß  sie  allzu  deutliche 
Beweise  von  Unfläthigkeit  von  sich  gaben;  so  daß  derKönig 


1)  Voyages,  III  250. 

*)  Büschings  Magazin  X  351. 

*)  Chardin,  Reise  in  Persien. 


—    302    — 

die  Tafel  aufhob  mit  dem  Bemerken:  Die  Russen  seien  wie 
die  Usbeken,  welche  das  schmutzigste  tatarische  Volk." 

Obwohl  die  friiher  angeführten  Nationallieder  die  Meinimg 
erwecken,  daß  das  Nationallaster  mit  der  Begründung  des 
Reiches  begonnen  habe,  kann  doch  behauptet  werden,  daß 
die  furchtbare  Ausartung  der  Trunksucht  in  Rußland  erst 
aus  dem  sechzehnten  Jahrhundert  datiert.  Soweit  historisch 
festgestellt  ist,  war  der  weiberliebende  schreckliche  Iwan  der 
erste  Zar,  der  den  Sapoj^)  am  russischen  Hofe  einbürgerte. 
Zur  Aufpeitschung  seiner  durch  ein  Hurenleben  erschlafften 
Sinne  braucht  der  Tyrann  die  erhitzenden  Kräfte  des  Weines. 
Im  Zarenpalaste  gibt  es  endlose  Schmausereien  und  Trink- 
gelage, bei  denen  man  einander  mit  Hymnen  auf  den  Wein, 
der  des  Menschen  Herz  erfreue,  zu  Ausschweifungen  anfeuert, 
während  der  alte  Gebrauch  der  Mäßigkäeit  verhöhnt  und  das 
Fasten  als  Heuchelei  erklärt  wird.^)  Der  Palast  ist  bald  zu 
eng  für  die  rauschenden  Festversammlungen;  man  überführt 
die  jungen  Prinzen  in  besondere  Häuser,  um  Platz  zu  schaffen 
für  die  Zecher.  Täglich  werden  neue  Vergnügungen  ersonnen, 
bei  denen  Nüchternheit  und  Wohlanständigkeit  als  unschick- 
lich verpönt  sind.  Mancher  Bojar  kann  der  guten  alten  Zeit 
der  Mäßigung  nicht  vergessen,  sitzt  an  der  unter  der  Weinlast 
seufzenden  zarischen  Tafel  mit  trübem  Blicke  und  stummem 
Munde;  man  verlacht  oder  verachtet  ihn,  gießt  ihm  Wein  auf 
das  nachdenklich  gesenkte  Haupt,  setzt  ihm  ein  nacktes  Dirn- 
lein auf  die  vor  Angst  schlotternden  Knie.  Mönche  erscheinen 
unter  den  Zechern,  um  durch  nachsichtige  Lehren  das  schüch- 
terne Gewissen  des  Zaren  gänzlich  zum  Schweigen  zu  bringen 
und  durch  ihre  Gegenwart  und  eigene  Anteilnahme  die  Zügel- 
losigkeit  vor  dem  murrenden  Volke  zu  heiligen.  Der  Archi- 
mandrit  von  Tschudow  selbst  erweist  sich  als  der  ärgste 
Schlemmer,  und  Hof  und  Klerus  taumeln  Arm  in  Arm  von 
einer  Orgie  zur  anderen.  In  einem  älteren  deutschen  Reise- 
werke 3)  wird  erzählt,  auf  welche  Weise  Iwan  der  Schreckliche 
seinen  Säufer-„Himeur**  zu  beweisen  pflegte :  „Nachdem  fremde 

1)  3anoft,  Saufwut,  eigentlich:  anhaltendes  Trinken. 

2)  Karamsin,  deutsche  Ausgabe  VIII  15,  französische  IX  18. 

3)  Reise  nach  Norden  /  anno  1706,  S.   168. 


-     303     — 

Eng-  und  Schottländische  Weiber  sich  über  ihn  lustig  gemacht 
hatten  /  ließ  er  sie  holen  /  volltruncken  machen  /  dann  selbige 
gantz  nacket  ausziehen  /  und  in  diesen  Zustande  eine  nach 
der  anderen  5.  oder  6.  Scheffel  Erbsen  /  die  er  in  sein  Zimmer 
hatte  streuen  lassen  /  wieder  auflesen  i)  und  schickte  sie  darauf f 
wieder  fort  mit  der  Warnung  /  sich  über  ihn  ein  andermal 
nicht  zu  kützeln." 

Dieser  Tyrann,  der  sich  und  seinen  Günstlingen  kein  be- 
schränkendes Maß  vorschreiben  ließ,  verfolgte  grausam  die 
Trunkenbolde  unter  dem  Volke.  Die  gemeinen  Sterblichen  durf- 
ten bloß  an  Feiertagen  trinken,  an  Werktagen  war  es  ihnen  ver- 
boten. Nur  die  ausländischen  Krieger,  die  dem  Zaren  für 
Geld  dienten,  konnten  sich  nach  ihrem  Belieben  berauschen  2); 
deswegen  hieß  auch  die  Vorstadt  jenseits  des  Moskwaflusses, 
wo  sie  wohnten:  Naleika.  Von  dem  russischen  Worte  najin- 
BaÄ,  schenk  voll  ein!  Die  russischen  Trunkenbolde  aber, 
die  dem  zarischen  Befehle  zuwiderhandelten,  brachte  man  beim 
ersten  Male  in  den  Säuferturm,  wo  sie  bei  Brot  und  Wasser 
eingesperrt  blieben,  bis  sie  Besserung  bekundeten;  beim  zwei- 
ten Male  wurde  ihnen  das  Gesetz  der  Nüchternheit  mit  Knuten- 
hieben eingebläut. 

Während  der  Zar  im  Widerspruch  zu  seinem  eigenen 
schamlosen  Treiben  Mäßigkeitsgesetze  gab,  schuf  er  gar  einen 
Widerspruch  mit  dem  Widerspruch,  indem  er  das  zarische 
Schnapsmonopol  ins  Leben  rief,  die  zarische  Kabakwirtschaft 
begründete,  die  Trunksucht  als  Staatsnotwendigkeit  statuierte. 
Nach  dem  Muster  der  Chans-Schenken,  die  er  in  dem  von 
ihm  eroberten  Kasanj  kennen  gelernt  hatte,  organisierte  Iwan 
die  Zarew-Kabaki.  Der  Branntwein  wurde  eine  Hauptein- 
nahmsquelle  des  zarischen  Schatzes.  Der  Zar  allein  durfte 
fortan  mit  Branntwein  handeln.  Im  ganzen  Reiche  wurden 
im  Namen  des  Zaren  Branntweinbrennereien  errichtet.  Zu- 
gleich mit  dem  Befehle  an  die  Statthalter,  die  Trunksucht  zu 
bekämpfen,  ging  der  andere  Befehl :  überall  Kronsschenken  zu 


1)  Ich  erinnere  an  den  ähnlichen  Vorfall,  den  sich  Dorat  und  Gr6court 
sn  poetischer  Bearbeitung  erwählt  haben,  und  an  die  deutsche  Bearbeitung 
der  ,, Kirschen"  von  Heinse. 

*)  Jovius  und  Herberstein,  Die  Moscouitische  Chronica.     1576. 


—     304     — 

öffnen.  Die  Vertreter  des  Zarenschatzes,  denen  die  Verwaltung 
der  Schnapsfilialen  anvertraut  wurde,  mußten  beim  Kreuze 
schwören,  eine  hinreichende  Menge  auszuschenken;  wenn  sie 
nach  einer  bestimmten  Zeit  das  vorgeschriebene  Quantum 
nicht  verkauft  hatten,  machte  man  sie  für  das  Defizit  ver- 
antwortlich. Wie  glänzend  sie  ihre  Aufgabe  lösten,  beweist 
ein  Gesuch  des  Schenkwirtes  Andrej  Obrasow,  der  zur  Unter- 
stützung seiner  Bitte  anführte :  er  hätte  das  Interesse  des  Zaren 
stets  so  sehr  gewahrt,  daß  sich  in  seiner  Schenke  sogar  viele 
Leute  zu  Tode  getrunken.  Anfangs  waren  die  Priester  Gegner 
des  Branntweins,  später  fanden  sie  an  ihm  ebenso  Geschmack 
wie  das  Volk.  Der  Zar  bereicherte  sich  durch  das  Laster  des 
Volkes,  und  gleichzeitig  triumphierte  die  zarische  Politik,  welche 
die  Aufrechterhaltung  der  Autokratie  nie  anders  zu  sichern 
wußte  als  durch  systematische  Verdummung  und  Entsittlichung 
der  Massen. 

Die  Trunksucht  breitete  sich  aus  gleich  der  Pest.  Zur 
Zeit  des  Zaren  Fedor  Iwanowitsch  gab  es  schon  in  allen  Städten 
Kronstrinkhäuser.  Trotz  des  zarischen  Monopols  handelten 
auch  viele  Privatleute  heimlich  mit  Schnaps.^)  Boriß  Godunow 
ergriff  gegen  diesen  Privathandel  strenge  Maßregeln;  ein  ern- 
ster Freund  der  Mäßigkeit  2)  verurteilte  er  die  Schenkwirtschaft 
auch  im  allgemeinen  und  erklärte:  er  würde  eher  einen  Dieb 
oder  Räuber  als  einen  Schenkwirt  begnadigen;  er  forderte 
die  Schnapshändler  auf,  sich  ehrlicher  Arbeit  zu  widmen,  und 
versprach  ihnen  in  diesem  Falle  Ländereien.  Dieses  Lockmittel 
half  nicht;  half  umso  weniger,  als  der  Zar  nicht  den  Mut 
hatte,  mit  der  Aufhebung  der  Kronsschenken  den  Anfang 
zu  machen. 


1)  Karamsin,  deutsch  X  71,  französisch  XI   112. 

2)  Als  Boriß  Godunow  Uvländische  Flüchtlinge  zu  einem  Mahle  bei  sich 
empfing,  wollten  die  Bojaren  die  Gäste  betrunken  machen.  Diese  waren 
auf  ihrer  Hut,  weil  sie  wußten,  daß  der  Zar  ein  Freund  der  Nüchternheit 
war.  Der  Zar  bemerkte  ihre  Enthaltsamkeit  und  fragte:  „Warum  trinkt 
ihr  nicht,  wie  es  bei  euch  der  Gebrauch  ist?"  Sie  antworteten,  in  Gegenwart 
des  enthaltsamen  Zaren  wollten  sie  auch  nicht  unmäßig  sein.  Da  sagte  Boriß: 
„Ich  nötige  euch  als  Wirt  zum  Trinken,  macht  euch  getrost  lustig,  trinkt 
in  die  Runde  auf  meine  Gesundheit."     Vgl.  Bär,  Muscowitische  Chronik. 


—     305      - 

So  wurde  die  Trunksucht  bereits  unausrottbar,  und  gras- 
sierte weiter,  nicht  bloß  im  Volke,  sondern  auch  am  Hofe. 
Als  Graf  Woldemar  Christian  Güldenlöwe  von  Schleswig-Hol- 
stein an  der  Tafel  des  Zaren  Michael  Romanow  als  Gast  er- 
schien, wagte  der  Bojar  Boriß  Iwanowitsch  Morosow  in  trun- 
kener Laune  den  Protestanten  aufzufordern,  er  möge  zur  Ortho- 
doxie übertreten ;  um  der  peinlichen  Szene  ein  Ende  zu  machen, 
befahl  der  Zar  dem  Morosow,  sich  sofort  zu  entfernen;  „dieser 
aber  verweigerte  sich  aus  Trunkenheit  dessen,**  so  daß  der 
Thronfolger  Alexej  den  Besoffenen  an  der  Brust  packen  und 
höchsteigenhändig  an  die  Luft  setzen  mußte,  i)  Auf  Alexej 
hatte  dieser  Vorfall  einen  tiefen  Eindruck  gemacht,  und  als 
er  bald  darauf  Zar  geworden  war  imd  ein  Gesetzbuch  zusammen- 
stellen ließ,  befahl  er,  ein  eigenes  Kapitel  den  Bestrafungen 
der  Schenkwirte  und  Trunkenbolde  zu  widmen.  Das  Kapitel 
kam  auch  zustande;  es  enthält  ein  Dutzend  Strafparagraphen: 
Da  wird  Schenkwirten  und  Trunkenbolden  gedroht  mit  harten 
Geldbußen,  Gefängnishaft  bis  zu  vielen  Monaten,  Verbannung 
nach  Sibirien,  furchtbaren  Züchtigungen,  Knuten,  Batogy  und 
Folterungen.^)  Aber  alle  diese  Beängstigungen  sind  nur  den 
Schlimmen  bestimmt,  die  privat  mit  Schnaps  handeln  oder 
nichtzarischen  Schnaps  trinken,  wogegen  der  Vertierung  des 
Volkes  durch  zarischen  Schnaps  keine  Grenze  gesetzt  wird; 
die  strengen  Maßregeln  sollen  um  Gottes  willen  nicht  etwa 
dazu  dienen,  die  Trunksucht  auszurotten,  sondern  dafür  Sorge 
tragen,  daß  man  sich  bloß  am  zarischen  Schnaps  berausche, 
bloß   den  zarischen   Schatz   bereichere. 

Alles  ist  prächtig  präpariert,  um  den  Einzug  des  Bacchus 
am  Hofe  Peters  des  Großen  glänzend  zu  gestalten  und  dem 
Gotte  des  Weines  und  des  Branntweins  seine  schönsten 
Triumphe  zu  bereiten.  Peter  gibt  dem  russischen  Weingott  erst 
die  russischen  Namen.  Im  allgemeinen  und  in  der  großen 
Öffentlichkeit  tituliert  er  ihn  feierlich:  Chmjelnizkij.  Das  war 
der  Name  jenes  Kosakenhetmanns,  der  einige  Jahre  zuvor  dem 


1)  Nachricht  von  Woldemar  Christian  Güldenlöwe  Grafen  von  Schleswig- 
Holstein  Reise  nach  Rußland  zur  Vermählung  mit  des  Czaren  Michael  Feodoro- 
witsch  Tochter  Irene.     In  Büschings  Magazin  X  234. 

>)  Russisches  Land-Recht  S.  338,  Kap.  XXV  i— 11. 
Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.  20 


—    306     — 

Zaren  Alexej  beigestanden  hatte,  die  Polen  zu  bekämpfen,  und 
der  deshalb  bei  den  Russen  Popularität  erwarb ;  in  den  Liedern 
wird  er  als  großer  Säufer  gefeiert  gleich  dem  altrussischen 
Helden  Ilja  von  Murom,  und  die  Bilder,  die  von  ihm  erhalten 
sind,  zeigen  uns  auch  das  Antlitz  eines  unverkennbar  kräftigen 
Trinkers.  1)  Für  Peter  entscheidend  ist  die  sprachliche  Be- 
deutung dieses  Namens;  denn  XÄrkib  heißt:  Hopfen,  XM'kiB- 
Huä:  berauscht.  In  intimem  Kreise  nennt  Peter  den  Gott 
der  Trinker:  Iwan  Michajlowitsch  oder  kurzweg  Iwaschka; 
mit  demselben  Namen  bezeichnet  er  seine  Lieblingsschöpfung, 
die  Flotte. 

Peter  der  Große  hat  eine  vortreffliche  Trinkerschule  durch- 
gemacht. Sein  Lehrer  und  Meister,  der  Genfer  Lefort,  ist  auch 
der  Organisator  seiner  Vergnügungen,  der  guten  wie  der 
schlechten.  Er  lehrt  ihn  nicht  bloß  Schiffe  bauen.  Schlachten 
schlagen,  Reiche  regieren,  sondern  auch  trinken  und  huren. 
In  allen  Arten  Ausschweifungen  ist  Lefort  ein  unverwüstlicher 
Heros.2)  Auf  der  Reise  durch  Europa,  auf  der  er  den  jugendlichen 
Herrscher  begleitet,  setzt  er  durch  seine  klassische  Trinkerkraft 
selbst  die  trinkfesten  Deutschen  und  Holländer  in  Erstaunen. 
Und  wie  er  gelebt,  so  stirbt  er.  Im  Jahre  1699  gibt  er  ein 
großes  Gelage.  Es  ist  Februar  und  furchtbar  kalt.  Da  schlägt 
Lefort  vor,  die  Orgie  im  Freien  fortzusetzen.  Es  bekommt 
ihm  schlecht,  er  erkrankt  auf  den  Tod.  Der  Pastor  wird  ge- 
rufen, um  ihm  die  letzte  Tröstung  zu  spenden,  Lefort  aber 
schickt  den  geistlichen  Herrn  lachend  fort,  verlangt  nach  Wein, 
Weibern  und  Musik,  und  trinkend  und  singend  haucht  er  sei- 
nen Atem  aus.  Das  war  ein  flottes  Haus  gewesen,  das  Haus 
Leforts  in  der  Sloboda^)  zu  Moskau.  Da  gab  es  bei  Tag  und 
bei  Nacht  heitere  Gesellschaft.  Da  war  man  frei  von  der 
russischen  Melancholie,  wenn  der  Becher  in  die  Runde  ging. 
Auch  durch  den  Wechsel  der  Sitten  mußten  alle  berauscht 


1)  Ein  Porträt  Chmjelnizkijs  findet  man  in  Spamers  illustrierter  Welt- 
geschichte 1894,  VI,  S.  654. 

2)  Lefort  trinkt  wie  ein  Heros,  sagte  Leibnitz.    Vgl.  Guerrier,  Leibnitz  in 
seinen  Beziehungen  zu  Rußland,  S.  1 2 ;  und  K.  Waliszewski,  Pierre  le  Grand,  p.  60. 

3)  CJioÖOAa,  Vorstadt;  man  verstand  damals  darunter  das  Quartier  der 
Auslander,  speziell  der  Deutschen,  in  Moskau. 


—    307    — 

werden:  bisher  gewohnt,  die  Frauen  nur  hinter  den  Gittern 
der  Teremsi)  oder  gehülh  in  der  Fatas^),  die  keinen  Zug  des 
Gesichts  erkennen  heßen,  zu  sehen,  tritt  man  plötzlich  in  einen 
Kreis,  wo  die  schönsten  Schottländerinnen,  Holländerinnen  und 
Deutschen  ungezwungen  von  Mann  zu  Mann  hüpfen,  fröhlich 
lachen,  plaudern,  küssen,  tanzen. 

Als  Trinker  übertraf  Peter  schnell  seinen  Meister.  Er  sauft 
ununterbrochen.  Im  Jahre  1707  ist  beim  Beginne  des  Krieges 
mit  Karl  XII.  die  Verteidigung  Rußlands  vernachlässigt,  weil 
der  Zar  sich  ganz  dem  Saufen  hingegeben  hat.  Vergebens 
sendet  Mentschikow  einen  Boten  um  den  andern  nach  Moskau, 
um  den  Zaren  aufzurütteln :  der  junge  Herrscher  will  von  nichts 
anderem  wissen  als  von  seinen  Amüsements  mit  Wein  und 
Weibern.  Man  rühmt  Peter  dem  Großen  nach,  daß  er  viel  ver- 
tragen konnte ;  doch  wissen  wir  auch,  daß  er  häufig  genug  im 
Rausche  die  gräßlichsten  Exzesse  beging.  Friedrich  der  Große 
erzählte  Voltaire,  daß  Peter  vom  preußischen  Gesandten  Baron 
von  Printzen  dabei  angetroffen  wurde,  wie  er  bei  seiner  Mahl- 
zeit im  Zorne  des  Rausches  zwanzig  Streljzen  enthaupten  ließ; 
während  die  Exekutionen  vor  seinen  Augen  vollzogen  wur- 
den, aß  der  Zar  nicht  bloß  ruhig  weiter,  sondern  machte  sich 
den  Spaß,  bei  jedem  Streiche  des  Henkers,  wenn  ein  Kopf  zur 
Erde  rollte,  ein  Gläschen  auf  die  Gesundheit  des  Hingerichteten 
zu  leeren;  er  lud  den  preußischen  Gesandten  lachend  ein,  an 
seinem  Vergnügen  teilzunehmen.  Auf  seiner  Reise  in  Europa 
trank  Peter  als  wäre  er  daheim.  In  Königsberg  wollte  er 
in  der  Trunkenheit  Lefort  erstechen.  In  Dresden  gesellte  er  sich 
2U  Lakaien  im  Hofe  eines  Hauses  und  trank  mit  ihnen.  In 
Berlin  hielt  er  die  Hoftafel  vier  Stunden  lang  hin,  da  er  fort 
und  fon  Gesundheiten  ausbringen  wollte,  um  maßlos  trinken 
zu  können.  „Es  vergeht  kein  Tag,  wo  er  sich  nicht  volltrinkt," 
sagt  Baron  PöUnitz.^)  Die  Kurfürstin  Sophie  von  Hannover 
aber  war  enttäuscht,  nachdem  sie  so  viel  von  des  Zaren  Saufe- 


^)  Tepeirb,  wörtlich  Dachkammer,  Bezeichnung  für  das  Franengemach, 
das  bei  den  alten  Russen  von  der  Wohnung  der  Männer  so  streng  geschieden 
^i^ar,  wie  der  Harem  der  Moslems. 

>)  ^aia,  Seidenschleier. 

S)  M6moires,  II  66. 

20* 


—    308    — 

reien  gehört  hatte;  „er  hat  vor  uns  gar  nicht  gesoffen,"  schrieb 
sie  in  ihren  Erinnerungen^);  „aber  seine  Leute  abscheulich. 
Sie  wußten  nichts  von  sich  selbst,  so  voll  waren  sie." 

Nach  der  Rückkehr  Peters  aus  Europa  und  nach  der  Be- 
gründung von  Petersburg  beginnt  am  2^enhofe  die  Hochflut 
des  Saufens.  Die  Gelage  dauern  ununterbrochen  an,  oft  tage- 
lang, ja  wochenlang  Tag  und  Nacht  hindurch.  Wann  inuner 
man  bei  Hofe  erscheint,  stets  gibt  es  dort  ein  Braschnitschanje.  ^) 
Die  Altrussen  tadeln  die  Sauferei  als  eine  nichtrussische  Sitte  5); 
sie  behaupten,  der  Zar  habe  sie  aus  der  bösen  Fremde  mit- 
gebracht, aus  den  deutschen  Schenken  imd  Tingeltangels  nach 
der  heiligen  Rußj  verpflanzt.  Dies  gerade  ist  es,  was  Peter 
veranlaßt,  die  skandalöse  Sitte  noch  forcierter  einzuführen. 
Er  gründet  am  Hofe  den  Rat  der  Alltrinker*),  als  Gegenstück 
zum  Kirchenrat,  zum  größten  Ärger  des  Klerus  und  der  Nation^ 
die  in  dieser  Verhöhnung  allen  Anstandes  eine  Tat  des  wirk- 
lichen Antichrist  sehen. 

Es  ist  ein  furchtbarer  Spelimkengestank,  der  einem  beim 
Betreten  des  Zarenpalastes  entgegenschlägt,  atembeklemmend 
und  betäubend  wie  der  Dunst  aus  der  niedrigsten  Schenke.  Die 
Zeitgenossen  erzählen  schier  unglaubliche  Dinge:  Wenn  man 
in  den  zarischen  Schloßgarten  kam,  begegnete  man  zunächst 
Grenadieren,  die  eine  große  Kufe  voll  allergemeinsten  Kom- 
branntweins  trugen.  Wer  sie  sah,  schlich  sich  fort,  als  wäre 
er  den  Teufel  gewahr  worden.  Aber  Spione  waren  überall 
aufgestellt,  um  die  Flüchtlinge  einzufangen.  Dem  Diplomaten 
Bergholz  ö)  passierte  es,  daß  er  einem  solchen  Spion  in  die 
Arme  lief;  er  weigerte  sich,  den  Schnaps  anzunehmen,  und 
erklärte,  er  habe  schon  getrunken.    Da  verlangte  der  Spion, 


1)  Vgl.  Pelz.  Peter  der  Große,  128. 

2)  BpaHCHinaHbe,   Sauigelag. 

«)  Vgl.  Comte  F6dor  Golovkine,  La  Cour  et  le  rdgne  de  Paul  I,  Paris 
1905,  p.  9;  Erinnerungen  des  Enkels  des  Großkanzlers  Golowkin,  der  am  Hofe 
Peters  eine: große  Roll«  spielte. 

4)  BoeiibflHMiiiiä  eo6opi>.  Co6oprb  bedeutet  namentlich  die  Kirchenver- 
Sammlung.  Der  Zar  verhöhnte  damit  gleichzeitig  den  Klerus.  Vgl.  CeMeBCidfi^ 
O'iepini,  II.    Cjiobo  h  ;^tjioI  crp.  282. 

*)  Vgl.  sein  Tagebuch  bei  Büsching  XIX  45. 


mmmmmmmm^mtm 


—    309    — 

Bergholz  solle  den  Mund  aufmachen  und  seinen  Atem  riechen 
lassen.  Es  half  weder  Bitten  noch  Flehen,  man  mußte  trinken. 
Den  Grenadieren,  welche  den  Branntwein  trugen,  folgten  Offi- 
ziere, die  die  Aufgabe  hatten,  Gewalt  anzuwenden,  wenn  man 
sich  nicht  gutwillig  ergeben  wollte.  An  Festtagen  gab  es 
Freischnaps  für  die  Truppen;  der  Zar  selbst  ging  dann  die 
Reihen  entlang  imd  überreichte  den  Soldaten  den  Trunk  in 
einer  Schale,  in  die  das  Maß  eines  großen  Bierglases  hinein- 
ging. Vor  dem  Zarenschlosse  konnte  man  an  Feiertagen  die 
Betrunkenen  haufenweise  herumliegen  sehen.  Es  war  ein  lieb- 
liches Durcheinander  von  Würdenträgem,  Volk  und  Geist- 
lichen. „Ein  Pope  stand  noch  aufrecht,**  erzählt  Bergholz,  „aber 
er  war  so  voll,  daß  er  hätte  platzen  mögen,  ein  anderer  gab 
Lunge  und  Leber  von  sich,  andere  rülpsten.** 

Am  schärfsten  ging  es  an  des  Zaren  eigener  Tafel  her. 
Der  Herzog  von  Holstein,  vom  Zaren  eingeladen,  brachte 
sich  vorsichtigerweise  seine  Weine  mit,  „rotes  und  weißes 
Brotwasser,**  imd  vertauschte  sie  heimlich  mit  den  zarischen 
Getränken.  Peter  bemerkte  dies,  nahm  dem  Herzog  das  Glas 
weg  und  sagte:  „De  Win  dogt  nit,  de  Win  is  mehr  schädlich 
als  min  Win,**  und  gab  ihm  ein  Glas  bitteren  Ungarwein. 
Des  Herzogs  Begleiter,  Geheimer  Rat  Bassewitz,  kam  zu  spät 
zur  Tafel;  Peter  sagte  ihm:  „Straf I  Straf I**  und  zwang  ihn, 
vier  mächtige  Gläser  Wein  auf  einmal  auszutrinken.  Der  Zar 
erfuhr,  daß  die  Minister  an  ihrem  Tische  enthaltsam  waren; 
er  diktierte  ihnen  sofort  riesige  Strafgläser  Branntwein.  Man 
stelle  sich  solch  ein  Bild  vor:  Alle  sind  betrunken,  und  doch 
verlangen  sie  inuner  mehr.  Der  Großadmiral  Apraxin  ist 
so  voll,  daß  er  weint  wie  ein  Kind.  Fürst  Mentschikow  stürzt 
besinnungslos  zur  Erde;  man  muß  seine  Familie  holen,  damit 
sie  ihn  nach  Hause  schleppe  imd  ins  Leben  zurückrufe.  Der 
Fürst  der  Walachei  gerät  mit  dem  Oberpolizeimeister  in  Streit, 
während  nebenan  zwei  Todfeinde  Bruderschaft  trinken  imd 
einander  ewige  Treue  geloben.  Einige,  die  noch  nüchtern  sind, 
stellen  sich  trunken,  um  nicht  mehr  trinken  zu  müssen,  i)  Die 
Türen  werden  geschlossen,  niemand  hat  die  Erlaubnis  fortzu- 


1)  Bergholz  bei  Büsching  XIX  94. 


—    310    — 

gehen,  bevor  der  Zar  das  Zeichen  dazu  gibt.  Bei  den  Sauf- 
gelagen durften  alle  den  Zaren  duzen.  Wer  aber  in  der  Ver- 
traulichkeit auch  frech  wurde,  erhielt  zur  Strafe  eine  Riesen- 
portion gemeinsten  Fusels,  die  den  Sünder  sofort  unter  den 
Tisch  beförderte  und  ihn  also  von  der  Teilnahme  an  den 
weiteren  Vergnügungen  ausschloß.  Zu  den  beliebten  Gasten 
gehörten  die  Geistlichen.  Peter  machte  sich  gern  den  Scherz, 
die  obszönsten  Reden  durch  fromme  Sprüche  und  theologische 
Abhandlungen  würzen  zu  lassen. 

Einmal  gab  Peter  einem  deutschen  Gesandten  zu  Ehren  ein 
Gastmahl  im  Schlosse  Peterhof.  Den  Gästen  wurde  mit  Tökajer- 
wein  so  scharf  zugesetzt,  daß  endlich  keiner  mehr  auf  den 
Füßen  stehen  konnte;  und  dennoch  mußte  jeder  noch  ein 
Quartier  Branntwein  von  der  Hand  der  Zarin  annehmen,  wo- 
durch alle  den  Rest  bekamen.  In  diesem  Zustand  ließ  der  Zar 
seine  Gäste  in  den  Garten,  in  den  Wald  und  in  verschiedene 
Zimmer  tragen,  damit  sie  ihren  Rausch  ausschliefen.  Um  vier 
Uhr  nachmittags  schleppte  man  die  kaum  Ernüchterten  in  einen 
jungen  Wald  und  befahl  ihnen.  Bäume  umzuhauen;  der  Zar 
selbst  ging  mit  dem  Beispiel  voran.  Zur  Belohnung  für  die 
schwere  Arbeit  gab  es  beim  Abendessen  wieder  eine  solche  La- 
dung, daß  man  ohne  Vemimft  zu  Bett  kam.  Sogleich  wurden 
die  Erschöpften  erbarmungslos  aus  den  Federn  gerissen  und 
zu  neuen  Orgien  geschleppt;  um  acht  Uhr  morgens  rief  man 
sie  zum  Kaffee,  dieser  aber  bestand  in  einer  Schale  Brannt- 
wein. Hierauf  mußte  man  auf  ungesattelten  Kleppern  einen 
Berg  hinanreiten.  Mittlerweile  war  wieder  Mittag  geworden; 
man  mußte  sich  neuerdings  volltrinken  und  endlich  bei  sturm- 
bewegter See  nach  Kronschiott  fahren. 

Der  Zar  liebte  es  zuweilen,  während  alle  seine  Gäste  stark 
trinken  miißten,  selbst  gar  nichts  zu  nehmen.  Er  blieb  aber 
nicht  etwa  enthaltsam  aus  plötzlich  erwachter  Neigung  zur 
Mäßigkeit,  sondern  aus  Berechnung,  um  seine  Leute  auszu- 
spionieren. Was  der  Nüchterne  im  Herzen  verbirgt,  das  hat 
der  Betrunkene  auf  der  Zunge,  sagt  ein  russisches  Sprich- 
wort.^) 

1)  4to  y  ui>}iHaro  Ha  fl3biKi^,  to  y  xpesBaro  na  yirli.  Vgl.  CcMeBCKÜt^ 
O'icpKH  II,  CiüBO  H  ;gj^o,  C-Üerepö.    1884,  crp.  5. 


—     311     — 

Ein  deutscher  Diplomat i)  behauptete:  „Peter  trinkt  viel, 
aber  ich  habe  ihn  nie  der  Vernunft  beraubt  gesehen.  Ob- 
wohl er  selbst  viel  vertragen  kann,  ist  er  doch  ein  erklärter 
Antagonist  aller  Trunkenbolde.**  Dieses  Urteil  kann  nur  in 
bezug  auf  die  letzten  Lebensjahre  des  Zaren  Geltung  haben. 
Auf  Verlangen  seiner  Ärzte  entsagt  Peter  zeitweilig  dem 
Weine;  er  trinkt  nur  Kißlijeschtschi,  Säuerliches,  Kwaß.-) 
Diese  Zeit  der  Mäßigkeit  verschafft  ihm  die  flüchtige  Repu- 
tation der  Nüchternheit.  Die  Periode  seiner  Enthaltsamkeit 
ist  aber  nur  eine  ganz  kurze ;  der  Zar  kehrt  in  den  letzten  Mo- 
naten seines  Lebens  zu  den  früheren  Ausschweifungen  zurück, 
und  der  französische  Diplomat  Campredon  muß  dasselbe  er- 
zählen, was  wir  schon  von  dem  Deutschen  Bergholz  gehört 
haben.  „L'on.but  beaucoup,**  damit  schließt  jeder  Bericht  des 
Franzosen  über  ein  Fest  am  Zarenhofe  3);  die  Kufe  mit  Schnaps, 
von  Grenadieren  getragen,  erscheint  wieder;  man  muß  sich 
wie  früher  auf  Befehl  berauschen  und  um  dem  Zaren  zu  ge- 
fallen sich  den  Tod  in  den  Hals  trinken.  Der  sächsische  Ge- 
sandte sucht  am  22.  August  1724  um  eine  Audienz  nach; 
aber  er  erhält  zur  Antwort,  daß  der  Zar  seit  sechs  Tagen  in- 
folge der  Orgien,  die  anläßlich  der  Einweihung  einer  Kirche 
stattfanden  —  man  vertrank  3000  Flaschen  Wein  —  das  Bett 
hüten  müsse.  1/^25  werden  die  Verhandlungen  wegen  des 
Abschlusses  der  ersten  französisch-russischen  Allianz  geführt; 
plötzlich  tritt  eine  Stockung  auf  russischer  Seite  ein.  Camp- 
redon ist  beunruhigt  und  urgiert  die  Entscheidung;  nach 
langem  Zögern  gesteht  endlich  Ostermann:  Der  Zar  amüsiert 
sich;  begleitet  von  zweihundert  Personen  wandert  er  von  Haus 

1)  Vgl.  die  Zeitschrift  ,, Konstantinopel  und  St.  Petersburg",  II.  Jahr- 
gang, II.  Band,   1806,  S.  36. 

2)  KBacn,,  ein  leicht  gegorenes  Roggen wasser ;  bekanntlich  ein  russisches 
Nationalgetränk  wie  mot»,  Meth,  oder  natt,  Tee.  Diese  Nationalgetränke 
haben  aber  keine  Beziehung  zur  Sittlichkeit,  wie  der  Branntwein.  Vom  Tee 
meinen  die  Russen,  er  paralysiere  die  Trunkenheit  durch  Schnaps;  man  nimmt 
ihn  vor  dem  Saufen  als  Vorbeugungsmittel,  oder  nachher,  um  die  Dünste 
des  Rausches  zu  zerteilen.  Vgl.  J.  Ph.  Kilburgers  Unterricht  von  dem  russi- 
schen Handel,  in  Büschings  Magazin  III  271. 

*)  Louis  XV  et  Elisabeth  de  Russie,  6tude  sur  les  relations  de  la  France 
et  de  la  Russie,  par  Albert  Vandal.     3*n»c  6d.     Paris  1896,  p.  47. 


—    312    — 

zu  Haus;  es  gibt  Musik  und  Gesang,  Essen  und  Trinken;  aber 
für  Regierungsarbeit  hat  der  Zar  keine  Zeit.  Die  Diplomaten 
müssen  mithalten  und  beklagen  sich  deswegen,  denn  es  geht 
ans  Leben.  Der  englische  Gesandte  Withworth  hat  den  Mut, 
die  Teilnahme  an  den  Saufgelagen  abzulehnen,  und  seither 
wird  auf  die  Gesellschaft  der  ausländischen  Regierungsvertreter 
nicht  mehr  reflektiert. 

Der  Zar  vergißt  auch  seine  lieben  Matrosen  nicht.  Wenn 
ein  Schiff  abgeht,  erhält  es  von  Peter  tausend  Rubel  für 
Weine.  Das  Beispiel  des  Zaren  müssen  die  Großen  befolgen; 
Romadanowskij  läßt  die  bei  ihm  als  Gäste  Erscheinenden  am 
Eingang  des  Hauses  mit  einer  Riesenschale  Branntwein  will- 
kommen heißen,  die  ein  gezähmter  Bär  grinsend  präsentiert. 

Das  Sittenbild,  das  hier  gezeichnet  ist,  übt  noch  eine  be- 
sondere Wirkung  durch  das  starke  Hervortreten  des  weib- 
lichen Elementes  bei  den  Trinkgelagen.  Es  ist  schon  früher 
angedeutet  worden,  daß  sich  zu  den  zarischen  Kronsschenken 
die  Weiber  aus  dem  Volke  nicht  weniger  drängen  als  die 
Männer.  Aber  die  Trunksucht  der  Frauen  findet  man  auch 
in  den  vornehmsten  Kreisen  der  Gesellschaft.  Als  Woldemar 
Christian  Güldenlöwe  Graf  von  Schleswig-Holstein,  der  nach 
Moskau  gekommen  ist,  um  vom  Zaren  Michael  die  Hand  der 
Prinzessin  Irene  zu  erbitten,  auffallend  lange  zögert,  Ernst  zu 
machen,  fragt  ihn  eines  Tages  ein  Würdenträger  des  Zaren: 
„Ist  Ihro  Gräfl.  Gnaden  vielleicht  zu  Ohren  gekommen,  daß 
die  Prinzessin  nicht  schön  wäre?  Zudem  möchten  Ihro  Gräfl. 
Gnaden  sich  auch  nicht  die  Gedanken  machen,  daß  die  Prin- 
zessin sich  nach  moskowitischer  Art  den  anderen  Weibern 
gleich  ofte  voll  und  truncken  söffe,  gar  nicht:  Sie  lebt  mäßig 
und  ist  ihre  Lebenstage  nicht  mehr  denn  nur  einmal  truncken 
gewesen.**  1) 

Am  Hofe  Peters  des  Großen,  des  Enkels  des  Zaren  Michael, 
ist  man  nicht  mehr  so  ängstlich  um  den  guten  Ruf  der  rus- 
sischen Frau  besorgt.  Beim  Zwangsaufen  gelegentlich  der  Feste 
im  Zarenschlosse  werden,  wie  Bergholz  berichtet  2),  „nicht  ein- 

1)  Nachricht  von  des  Grafen  von  Schleswig-Holstein  Reise  nach  Ruß- 
land, in  Büschings  Magazin  X  225. 
«)  Bei  Büsching  XIX  45. 


—    313     — 

mal  die  allerzartesten  Damen  dispensiret,  weil  die  Zarin  es  bis- 
weilen selbst  mit  thut.**  An  Galatagen  trinken  die  Frauen 
in  separaten  Gemächern,  zu  denen  kein  Mann,  der  Zar  aus- 
genommen, Zutritt  hat.  Bei  intimen  Gelagen  aber  gibt  es 
keine  Trennung  der  Geschlechter;  da  müssen  sich  die  Frauen 
mit  den  Männern  an  dieselbe  Tafel  setzen  und  dürfen  im 
Trinken  nicht  hinter  dem  starken  Geschlecht  zurückbleiben. 
Die  Tochter  des  Vizekanzlers  Schaf irow  wagt  eine  Tscharka^) 
Branntwein  auszuschlagen;  der  Zar  schreit  sie  an:  „Du  ver- 
dammte hebräische  Kreatur  2),  ich  werde  dich  gehorchen 
lehren!"  und  versetzte  ihr  zwei  Ohrfeigen.  Und  sie  muß 
trinken,  bis  sie  umfällt. 

Da  liegen  oft  dreißig  oder  vierzig  der  vornehmsten  Da- 
men berauscht  und  erbrechend  unter  den  besoffenen  Männern. 
Ist  das  hehre  Ziel  glücklich  erreicht,  so  packt  man  die  Weiber 
in  Wagen  und  schickt  sie  ihren  Familien  zurück.  Die  Frau, 
die  eine  Einladung  zu  einem  zarischen  Trinkfeste  erhält,  darf 
sie  unter  keinem  Vorwande  ablehnen.  Die  Frau  des  Mar- 
schalls Olfusjew  läßt  sich  entschuldigen;  sie  könne  nicht  kom- 
men, weil  sie  einem  freudigen  Ereignis  entgegensehe.  Der 
Zar  schickt  nochmals  um  sie;  die  Entschuldigung  ist  ihm 
nicht  genügend.  Verzweifelt  wendet  sich  die  Frau  an  die 
Zarin  und  bittet  sie  unter  Tränen,  vom  Trinken  wegbleiben  zu 
dürfen;  die  Zarin  geht  zum  Kaiser,  umsonst:  Die  Unglück- 
liche muß  kommen ;  ihr  Fembleiben,  meint  Peter,  könnte  böses 
Blut  machen,  weil  sie  als  eine  geborene  Ausländerin  vor  rus- 
sischen Frauen  einen  Vorzug  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
wolle.  Nach  der  Rückkehr  von  diesem  Feste  erleidet  Frau 
Olfusjew  eine  Fehlgeburt;  sie  legt  das  Embryo  in  Spiritus 
und  schickt  das  Glas  dem  Zaren.  3) 

Jede  Gelegenheit  wird  benutzt,  um  Damen  zum  Trinken 
einzuladen;  namentlich  am  Geburtstag  und  Namenstag  der 
Zarin  fließt  in  den  Frauengemächem  der  Branntwein  in  Strö- 


1)  Hapa,  MapKa  oder  Mapo'iKa,  Schale  oder  Schälchen. 
>)  Schafirow,  ein  getaufter  Jude,  gehörte  zu  den  bedeutendsten  Günst- 
lingen Peters. 

S)  Bergholz  bei  Büsching  XIX  157. 


—    314    — 

men,  gewöhnlich  ein  ganz  ordinärer  Kombranntwein.  Am 
S.Dezember  1721  berichtet  Campredon^):  „Das  letzte  Fest  zum 
Namenstag  der  Zarin  war  großartig  nach  Landessitte:  die 
Damen  tranken  viel.**  Katharina  I.  selbst  ist  eine  Trinkerin 
erster  Klasse,  wie  Bassewitz  konstatiert;  und  sie  dankt  diesem 
Talent  nicht  zum  wenigsten  die  Ausdauer  in  der  Gunst  des 
sonst  so  flatterhaften  Gemahls.  Einmal  sitzt  sie  an  fröhlicher 
Tafel  und  beginnt  plötzlich  zu  weinen;  ein  Töchterchen  ist 
ihr  vor  einigen  Tagen  früh  verstorben,  und  die  Erinnenmg 
an  das  geliebte  Wesen  bedrückt  ihr  Herz.  Die  Rührseligkeit  der 
Zarin  droht  die  Stinmiung  zu  verderben.  Da  reicht  Graf 
Sapieha  der  Kaiserin  ein  Glas  Wein  und  ruft  ihr  einen  Trink- 
spruch zu;  top,  sagt  sie,  wischt  die  Tränen  fort  und  leert 
das  Glas  auf  einen  Zug. 

Selbst  Zarin  geworden,  setzt  Katharina  die  Tradition  und 
Sitten  Peters  fort.  Campredon  meldet  am  14.  Oktober  1725: 
„Die  Herrscherin  überläßt  sich  den  Vergnügungen  bis  zur 
Zerstönmg  ihrer  Gesundheit,**  und  am  22.  Dezember  desselben 
Jahres:  „Die  Zarin  ist  krank  infolge  einer  Orgie  am  Andreas- 
tage.** 2)  Und  das  geht  so  fort  die  ganzen  zwei  Jahre  ihrer 
Alleinherrschaft.  Der  dänische  Gesandte  Westphal  berechnete, 
daß  der  zarische  Hof  während  dieser  zwei  Jahre  für  Ungar- 
weine und  Danziger  Schnäpse  eine  Million  Rubel  verausgabte; 
die  gesamten  Revenuen  des  Staates  betrugen  damals  zehn  Mil- 
lionen Rubel  jährlich.  3)  Auch  Elisabeth  die  jüngere  Tochter 
Peters  und  Katharinas,  die  später  Zarin  wurde,  soll  als  Prin- 
zessin Unsummen  für  Spirituosen  verbraucht  haben.  Nach  Eini- 
gen ist  sie  auch  als  Zarin  eine  starke  Trinkerin  gewesen.  Sie  hat 
sich,  so  behauptet  man,  durch  ihre  maßlose  Trunksucht  die 
Krankheiten  zugezogen,  an  denen  sie  schließlich  in  abscheu- 
licher Weise  zugrunde  ging.  *)  Einige  andere  Zeitgenossen  loben 
indessen  gerade  ihre  Nüchternheit.  So  sagte  Mardefeld  1742: 
„Gleich   ihrer  Mutter  Katharina  versagt   sie  sich  nichts,   den 


1)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand,  462. 

*)  Waliszewski,  L'h6ritage  de  Pierre  le  Grand,   15. 

8)  Korsakow,  Thronbesteigung  der  Zarin  Anna,   1880.     Anhang  S.   75. 

*)  Sugenheim,  Rußlands  Beziehungen  zu  Deutschland,  I  279. 


-r      315      — 

Bacchus   ausgenommen;"    und   Marquis   de   THöpital   schrieb 
1758:  „Elle  mange  peu,  eile  boit  ä  son  ordinaire  de  la  petite 

• 

bifere  et  du  vin  de  Hongrie.   En  tout  eile  est  sobre.** 

Der  Verkommenheit  des  Hofes  entsprachen  die  Sitten  der 
Gesellschaft  und  des  Volkes.  Katharina  II.  traf  das  rich- 
tigste, als  sie  den  Truppen  zu  saufen  gab,  um  sie  für  sich 
zu  gewinnen.  1)  Am  Tage  ihrer  Thronbesteigung  standen  alle 
Schenken,  Weinkeller  und  Wirtshäuser  den  Soldaten  offen. 
Die  Soldaten  und  Soldatenfrauen  trugen  eimerweise  Wein, 
Branntwein,  Bier,  Meth  und  Champagner  nach  Hause  imd 
gössen  alles  durcheinander  in  Zuber  und  Fässer,  die  sich  ge- 
rade vorfanden.  Die  Bauern  standen  den  Soldaten  nicht  nach. 
Die  Trinkgelage  waren  allgemein  und  die  Straßen  bedeckt  mit 
Betrunkenen,  die  sich  nicht  mehr  begnügten,  die  Getränke 
aus  den  Kronsniederlagen  zu  holen,  sondern  auch  die  Privat- 
schenken und  Herbergen  stürmten  und  plünderten;  die  Händ- 
ler wagten  nicht  Widerstand  zu  leisten  und  gaben  alle  ihre 
Vorräte  freiwillig  her.  Die  Soldaten  soffen  zur  Selbstbelohnung 
der  Dienste,  die  sie  dem  Vaterlande  durch  die  Entthronung 
Peters  III.  geleistet  zu  haben  glaubten,  das  Volk  trank  auf 
das  Wohl  der  neuen  Kaiserin,  die  so  freigebig  war.  Die  Polizei 
selbst  wurde  von  der  Sauferei  mitgerissen,  kümmerte  sich 
nicht  mehr  um  die  Ordnung  in  der  Stadt;  ihre  Organe  lagen 
berauscht  neben  den  Popen,  Soldaten,  Bauern  und  Weibern 
in  den  Straßenrinnen.  Der  Festtag  wurde  zu  einem  Tage 
beispiellosen  Unfugs.  Am  späten  Abend  jagten  betrunkene 
Husaren  durch  Petersburg  nach  der  Ismailowschen  Sloboda 
und  riefen  das  Ismailowsche  Regiment,  welches  am  meisten 
soff,  zur  Rettung  der  Zarin  auf.  „Die  verfluchten  Preußen," 
schrien  sie,  „wollen  un3  unsere  Mutter  entführen.**  Die  be- 
trunkenen Ismailowzen  verlangten  die  Kaiserin  zu  sehen  und 
drohten  mit  Krawallen,  wenn  sie  sich  nicht  zeige.  Vergebens 
stellte  man  ihnen  vor,  die  Kaiserin  schlafe  längst.  „Kapitän 
Passeck,**  erzählt  Katharina  selbst,  „trat  um  Mitternacht  in 
mein  Schlafzimmer  und  weckte  mich,  erzählend,  daß  das  Ismai- 


1)  B.  von  Bilbassoff,  Geschichte  Katharina  II.     Deutsch  von  P.  v.  R, 
des  russischen  Originals  Band  II,  erste  Abteilung.     Berlin  1893.     S.   105. 


—    316    — 

lowsche  Regiment,  schwer  betrunken,  nach  mir  verlange.  Ich 
mußte  aufstehen  und  zu  den  Soldaten  fahren.  Aber  als  ich 
mich  ihnen  gezeigt  und  gesagt  hatte :  „Nun  gut,  ich  danke  euch, 
jetzt  geht  schlafen,**  gingen  sie  ruhig  wie  die  Lämmer  aus- 
einander.** 

Katharina  II.  selbst  war  keine  Saufheldin.  Desto  trauriger 
war  es  um  ihre  Umgebung  bestellt.  Patjomkin  beging  die 
furchtbarsten  Exzesse.  Als  Orlow  von  der  Zarin  seiner  Stel- 
lung als  Liebhaber  enthoben  wurde,  rächte  er  sich  dadiu"ch, 
daß  er  sich  in  allen  Schenken  mit  Huren  der  niedrigsten  Sorte 
herumwälzte  und  das  Vermögen,  das  er  von  Katharina  erwor- 
ben hatte,  versoff.  1)  Friedrichs  Gesandter,  Solms,  schrieb  über 
den  Kanzler  Bestuschew^):  „Der  alte  Schwätzer  ertränkt  den 
letzten  Rest  seines  Verstandes  in  starkem  Liqueur.**  Der  Dich- 
ter Lomonossow  untergrub  seine  Schaffenskraft  und  seine  Ge- 
sundheit durch  seine  Leidenschaft  für  geistige  Getränke.  3) 

Die  historische  Entwickelung  der  Trunksucht  und  ihre 
systematische  Züchtung  durch  die  Regierung  lassen  es  be- 
greiflich erscheinen,  daß  sich  dieses  Laster  im  russischen  Volke 
so  verbreiten  konnte.  Wenn  man  der  Statistik  glauben  will, 
so  ist  es  in  Rußland  allerdings  weniger  schlimm  als  in  anderen 
Ländern.  So  verbraucht  Deutschland  jährlich  rund  drei  Mil- 
liarden Mark  für  geistige  Getränke.  Auf  den  Kopf  kommen  in 
Deutschland  125  Liter  Bier,  6^/3  Liter  Wein  und  4Y2  Liter 
Spirituosen.  In  England  kommt  auf  den  Kopf  ein  Konsum  von 
142  Liter  Bier,  2  Liter  Wein  und  5  Liter  Spirituosen.  Frank- 
reich hat  einen  geringeren  Bierkonsum,  braucht  dagegen  1 1  Yg 
Liter  Wein  und  fast  5  Liter  Spirituosen  per  Kopf.  In  der 
Schweiz  rechnet  man  auf  den  Kopf  67  Liter  Wein,  70  Liter 
Bier  und  mehr  als  6  Liter  Spirituosen.  Belgien  hat  einen  ge- 
ringen Weinkonsum,  aber  einen  Bedarf  von  219  Liter  Bier  und 
92/g  Liter  Spirituosen.  In  Italien  verbraucht  man  88  Liter 
Wein,  fast  gar  kein  Bier  und  nur  i  Liter  Schnaps.    In  öster- 


1)  Waliszewski,  Autour  d'un  trone  91. 

2)  Ebenda,  35. 

3)  Reinhold t,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  308. 


—    317    — 

reich-Ungarn  kommen  auf  den  Kopf  15  Liter  Wein,  46  Liter 
Bier  und  1 1  Liter  Spirituosen.  In  Schweden,  Norwegen,  Däne- 
mark braucht  man  wenig  Wein  und  Bier,  aber  viel  Spirituosen, 
so  in  Dänemark  16  Liter  für  jeden  Einwohner.  Für  Rußland 
hat  man  nur  4  Liter  Bier  und  bloß  2V2  Liter  Spirituosen  per 
Kopf  festgestellt.  Niemals  hat  aber  die  Statistik  so  getäuscht 
wie  in  diesem  Falle.  Petersburg  allein  verkauft  jährlich  für 
300  Millionen  Rubel  geistiger  Getränke.  Mehr  als  200000  Be- 
trunkene werden  in  dieser  Stadt  in  einem  Jahre  polizeilich  ein- 
gezogen; davon  sind  ein  Fünftel  Frauen.  Es  gibt  Tage,  an 
denen  mehrere  tausend  Personen  wegen  Volltrunkenheit  arre- 
tiert werden  müssen.  In  den  Petersburger  Krankenhäusern 
sind  jährlich  2500  Alkoholiker  imtergebracht.  Man  zählt  fer- 
ner im  Reiche  jährlich  wenigstens  zweitausend  plötzliche 
Todesfälle  infolge  allzu  nachdrücklichen  Trinkens.  Die  Ein- 
nahmen des  Staates  aus  der  Branntweinsteuer  betragen  jähr- 
lich zweihundert  Millionen  Rubel,  sie  decken  ein  Fünftel  des 
gesamten  Budgets.  Fast  die  gleiche  Summe  verdienen  die 
Zwischenhändler,  so  daß  das  russische  Volk  jährlich  eine  halbe 
Milliarde  für  Schnaps  aufbringen  muß. 

Die  früher  angeführte  Statistik  entspricht  ziffermäßig  mög- 
licherweise der  Wahrheit,  aber  dann  bedarf  sie  nachfolgender 
Erklärung :  in  Rußland  wird  nicht  zu  allen  Zeiten  gleichmäßig 
getrunken.  Der  Muschik  enthält  sich  wochenlang  des  Trin- 
kens, spart  jeden  Kopek  und  wartet  einen  Feiertag  ab,  an 
diesem  aber  trinkt  er  bis  zur  Bewußtlosigkeit.  Für  Ostern 
besonders  rüstet  sich  alles  schon  lange  vorher;  dann  wandert 
man  mit  Weib  und  Kindern  zur  Schenke  und  macht  sich  einen 
guten  Tag.  Auch  wird  nicht  in  allen  Gegenden  des  Reiches 
gleich  stark  getrunken.  So  heißt  es  von  den  Bewohnern  der 
Ukraine  1):  „Die  Ukraine  ist  das  Land  der  Fressereien.  Die 
Einwohner  lieben  Essen,  Trinken,  Wollust.  Sie  sind  fleißig, 
studieren,  strengen  sich  sehr  an,  und  werden  am  Ende  gemeinig- 
lich stumpf  im  Hirne,  oder  überlassen  sich  dem  Trünke.**  Die 
Kleinrussen  trinken  beständig,   aber  mäßig.    Als  die  ärgsten 


^)  Taurische  Reise  der  Kaiserin  von  Rußland  Katharina  II.     Aus  dem 
Englischen  übersetzt.     Koblenz  1799.    S.  49. 


—    318    — 

Säufer  gelten  die  Weißrussen;  sie  sind  ganz  entnervt i);  sie 
trinken  am  meisten  und  immerfort,  an  Feiertagen,  gewöhn- 
lichen Sonntagen,  und  an  Werktagen.  Der  Großrusse  endlich 
trinkt  nicht  beständig,  nicht  täglich.  Beginnt  er  aber,  so  hört 
er  nicht  bald  auf,  trinkt  tagelang,  selbst  wochenlang  fort,  bis 
er  das  Letzte  versoffen  hat  und  buchstäblich  nackt  aus  der 
Schenke  hinausbefördert  und  auf  die  Straße  geworfen  wird. 
Es  ist  zwar  den  Schenkwirten  verboten,  Pfänder  anzunehmen, 
aber  niemand  kümmert  sich  um  das  Verbot.  Und  damit  ist 
der  größten  Verderbnis  die  Bahn  freigegeben.  Der  Schenkwirt 
nimmt  statt  Geld  was  man  ihm  bringt:  Naturalien,  Korn, 
Talg,  Brot,  Flachs,  Pelz,  Kleidungsstücke,  selbst  die  Mützen 
oder  Stiefel;  ist  die  Ware  noch  so  schlecht,  ein  Glas  Schnaps 
kann  sie  doch  bezahlt  machen.  Der  Preis  muß  stets  im  Vor- 
hinein erlegt  werden.  Da  sieht  man,  wie  ein  Besoffener  herein- 
wankt, sein  letztes  Kleidungsstück  auf  den  Schanktisch  wirft 
und  das  Maß  Schnaps  dafür  eintauscht. 

Der  Reisende  kann  nur  mit  Schaudern  an  einem  Kabak 
vorübergehen,  wenn  er  einmal  in  seinem  Leben  einen  Blick 
in  eine  solche  Lasterhöhle  geworfen  hat.  In  den  Dörfern  ist 
der  Kabak  gewöhnlich  das  letzte  und  elendeste  Haus,  der  Wirt 
der  gemeinste  Kerl  der  ganzen  Gegend.  In  den  letzten  Jahren 
sind  in  den  Schenken  ganz  neue  sonderbare  Typen  aufgetaucht. 
Da  erscheinen  langhaarige  Studenten,  die  dem  besoffenen 
Volke  gegen  Bezahlung  von  einem  Kopeken  per  Zuhörer,  die 
neuesten  Nachrichten  aus  den  Zeitungen,  Strafgesetze,  Ge- 
schichten und  Märchen  vorlesen;  zuweilen  wagt  sich  auch  ein 
Revolutionär  hinein,   um  die  trägen  Massen  aufzurütteln. 

So  traurig  die  Szene  sein  mag,  so  sehr  dieses  Laster  maß- 
loser Trunksucht  auch  die  Ursache  zu  Verbrechen  und  Unsitt- 
lichkeit  ist,  so  muß  doch  anerkannt  werden,  daß  es  im  Kabak 
selbst  niemals  zu  Schlägereien  kommt.  Wenn  der  Russe  be- 
soffen ist,  wird  er  zärtlich,  umarmt  seinen  schlimmsten  Tod- 
feind. Er  sucht  im  Rausche  die  Glückseligkeit,  die  ihm  das 
Leben  versagt,  und  findet  sie.  „Unser  Volk,"  sagt  Koschelew, 
„trank  stets  und  trinkt  jetzt  unter  dem  Drange,  im  Branntwein 


1)  Haxthausen,  Studien  II  512. 


—     319     — 

Vergessen  seiner  wirklichen  Lage  zu  finden. *'i)  Der  Bauer  trinkt, 
um  zu  vergessen,  daß  Frau  und  Kinder  hungern;  der  Hand- 
werker und  Fabriksarbeiter  tragen  den  kargen  Arbeitslohn, 
der  nicht  ausreicht  für  die  schmälste  Kost  einer  Woche,  am 
Sonnabend  Abend  in  die  Schenke,  um  wenigstens  eine  einzige 
glückliche  Nacht  zu  haben;  es  ist  ihnen  dann  gleichgültig, 
daß  sie  in  der  konmienden  Woche  noch  mehr  hungern  müssen. 
Man  schleppt  die  Kinder,  namentlich  wenn  sie  in  den  Fabriken 
arbeiten,  in  die  Kabaki  mit;  Ha^oßHO  noÄKp'bnjiaTbCfl,  man 
muß  sich  frühzeitig  stärken,  sagt  man.  Beide  Geschlechter 
huldigen  dieser  Stärkungsmethode.  Wie  die  Bauern  und  Hand- 
werker denken  auch  die  Polizisten  und  Soldaten,  die  Beamten, 
die  Offiziere,  bis  zu  den  Höchsten  hinauf.  Auf  dem  Kriegs- 
marsch bleibt  man  plötzlich  stehen  und  muß  einen  unfrei- 
willigen Halteplatz  wählen,  weil  die  Hälfte  der  Soldaten  vor 
Trunkenheit  umfällt.  Admiral  Roschdestwenskij  sieht  in  seiner 
Trunkenheit  im  englischen  Kanal  harmlose  Fischerboote  für 
japanische  Torpedoboote  an  und  provoziert  einen  gefährlichen 
Zwischenfall;  Admiral  Nebogatow  erwacht  bei  Tschusima  aus 
seinem  Rausch  erst,  als  alles  schon  vorüber  ist.  Bei  Gericht 
erscheint  ein  Polizist,  um  eine  wichtige  Zeugenschaft  abzu- 
legen, und  sinkt  dem  Richter  taumelnd  in  die  Arme;  auf 
der  Bühne  stürzt  ein  berühmter  Schauspieler  im  unrichtigen 
Moment  zur  Erde,  weil  er  in  dem  Zwischenakt  statt  eines  Glases 
Wasser  ein  Glas  Schnaps  geleert  hat.  „Der  Muschik  kann 
nicht  zu  Gott  beten,  bevor  er  sich  betrunken  hat,**  sagt  der 
Russe  Leskow.  Aber  so  will  es  ja  die  Regierung  haben:  Ein 
Student,  der  nicht  trinkt,  ist  verdächtig  als  Nihilist.  Eine  Dorf- 
gemeinde, in  welcher  Nüchternheit  herrscht,  ist  eine  auf- 
rührerische Gesellschaft  und  muß  unter  Belagerungszustand 
gestellt  werden.  Eine  Sekte,  welche  die  Trunkenheit  verab- 
scheut, verdient  die  Ausrottung  mit  Feuer  und  Schwert. 

Das  russische  Volk  hat  sich  dem  Regierungsprinzip  nur 
zu  willig  angepaßt.    Das  schlimmste  bei  alledem  ist,  daß  man 


^)  Dasselbe,  wie  dieser  Russe,  schrieb  schon  der  Franzose  Custine  vor 
vi^en  Jahrzehnten:  „Le  plus  grand  des  plaisirs  de  ce  peuple,  c'est  Tivresse, 
antrement  dit,  ronbli."    Custine  III  309. 


—     320     — 

den  Trinkern  seit  neuester  Zeit,  um  sie  desto  schneller  zu 
ruinieren,  den  allerschlechtesten  Stoff  verabreicht.  Man  ninunt 
keinen  Komspiritus  als  Urstoff,  sondern  zieht  den  Branntwein 
aus  Kartoffeln.  Und  diesen  Schnaps  verfälschen  die  Wieder- 
verkäufer noch  mehr  durch  scharfstoffige  und  ätzende  Mit- 
tel, wie  Schwefelsäure.^) 

Alexander  III.  berief  bekanntlich  ein  Mäßigkeitsparlament, 
um  der  Trunksucht  entgegenzuarbeiten.  Unter  Nikolaj  II.  hat 
dann  Witte  im  Jahre  1900  ein  ständiges  Temperenzkomitee 
begründet.  Jede  russische  Stadt  erhielt  eine  Filiale  dieses 
Komitees.  Witte  stellte  als  Grundsatz  auf,  daß  in  Rußland 
Mangel  an  guter  Nahrung  und  vernünftigen  Vergnügungen  die 
Ursachen  des  Übels  seien.  In  Moskau  und  Petersburg  zunächst 
schuf  man  deshalb  Volkshäuser,  wo  die  Arbeiter  für  25  Kopeken 
Wohnung  und  ganze  Kost  für  einen  Tag,  für  5  Kopeken  ein 
Nachtlogis  erhielten.  Ein  Volkshaus  in  Moskau  war  zugleich 
Restaurant,  Arbeiterklub  und  Bibliothek.  Im  Petersburger 
Volkshaus  gab  es  sogar  einen  Konzertsaal  und  ein  Theater 
für  2000  Personen.  Konzert  und  Theater  sollten  gratis  sein. 
Im  ersten  Jahre  spendete  Witte  vier  Millionen  Rubel  für  das 
gute  Werk,  und  er  sagte  für  die  Zukunft  mehr  zu,  aber  nur 
entsprechend  den  Erträgnissen  des  Branntweinmonopols  I  Eine 
wahrhaft  russische  Methode:  eine  Prämie  auf  die  Steigerung 
des  Schnapskonsums  zu  gunsten  der  Mäßigkeitsvereine.  Es 
war  übrigens  alles  nur  eine  Komödie,  von  der  kaum  eine  Er- 
innerung mehr  vorhanden  ist.  Die  paar  Millionen  sind  irgendwo 
kleben  geblieben,  und  das  Prinzip  der  Regierung  ist  mehr  als 
je  zuvor:  die  Trunksucht  allein  rettet  die  Autokratie  vor  dem 
Untergang;   ein  entsittlichtes   Volk  macht   keine  Revolution. 

Das  Volk  soll  trinken  und  huren.  So  unzuverlässig  und 
unsicher  sonst  die  russische  Statistik  sein  mag,  in  dieser  Be- 
ziehung wird  sie  lehrreich.  Sie  zeigt  uns,  daß  in  den  Monaten, 
wo  die  Trunksucht  am  stärksten  grassiert,  also  in  den  Monaten 
Dezember,  Januar,  April  und  Mai,  in  denen  die  wichtigsten 
russischen  Feiertage  vorkommen,  die  Polizei  die  meisten  Scheine 
für  Prostituierte  auszufolgen  hat ;  in  diesen  Monaten  gibt  es  auch 


1)  Buddeus,  St.  Petersburg  im  kranken  Leben,  I  56. 


—    321    — 

die  meisten  venerischen  Erkrankungen;  und  schließlich  sind 
die  meisten  außerehelichen  Geburten  ebenfalls  auf  die  Epoche 
der   stärksten   Saufwut   zurückzuführen. 

Seit  jeher  hat  man  in  Rußland  den  Geschlechtsakt  mit 
der  Saufwut  zu  verbinden  sich  bemüht.  In  den  Hochzeitsnächten 
gab  es  Orgien  ohnegleichen.  Es  war  eine  alte  löbliche  Sitte, 
den  Bräutigam  so  volltrunken  zu  machen,  daß  ihm  die  Kraft 
fehlte,  in  der  ersten  Nacht  seine  junge  Gattenpflicht  zu  er- 
füllen. Peter  der  Große  veranstaltete  solche  Trinkgelage  mit 
besonderer  Vorliebe.  Als  der  Sohn  seines  Günstlings  Schafirow 
sich  vermählte,  ließ  er  dem  Bräutigam  so  heftig  zusetzen,  daß 
man  ihn  schon  dem  Tode  verfallen  glaubte.  Nachdem  man 
ihn  mit  Mühe  und  Not  wieder  zum  Leben  zurückgerufen  hatte, 
legte  man  ihn  zur  Braut  und  entfernte  sich  mit  dem  freudigen 
Bewußtsein,  „daß  die  junge  Frau  für  die  erste  Nacht  wohl 
wenig  Gutes  von  ihm  zu  erwarten  hätte.  Am  folgenden  Mor- 
gen,** erzählt  Bergholz  in  seinem  Tagebuch  i),  „sagten  ihm 
seine  Freunde,  alle  hätten  die  Braut  sehr  beklagt,  weil  sie 
ebensosehr  würde  von  ihm  aufgestanden  sein,  wie  sie  sich 
bei  ihm  niedergelegt.**  Der  junge  Schafirow  aber  erwiderte: 
„Ey,  ey,  ihr  Narren,  ich  habe  sie  elfmal  geküsset  und  umge- 
wendet.** Man  erzählte  dies  dem  Zaren,  der  es  nicht  glauben 
wollte,  und  er  ging,  wie  unser  Gewährsmann  berichtet,  „die 
junge  Frau  selbst  auszuholen;  glaubte  es  endlich,  als  diese  die 
Versicherung  des  jungen  Ehemannes  bestätigte.** 

Nicht  so  gut  wie  dem  jungen  Schafirow  erging  es  um 
dieselbe  Zeit  dem  Herzog  von  Kurland,  der  sich  mit  Peters 
Nichte,  der  späteren  Zarin  Anna  Iwanowna  vermählte ;  er  trank 
in  der  Hochzeitsnacht  so  viel,  daß  man  der  Braut  eine  Leiche 
ins  Hochzeitsbett  legen  mußte.  Die  Erinnerung  an  dieses  Ereig- 
nis wirkte  so  nachhaltig  auf  die  Witwe,  die  niemals  Gattin 
gewesen,  daß  sie  als  Kaiserin  an  ihrem  Hofe  keinen  Brannt- 
wein duldete.  Bei  ihren  Festen  ließ  sie  nur  französische  Weine 
aufstellen.  So  wurde  jener  tragische  Vorfall  gewissermaßen 
Anlaß  zur  Verfeinerung  wenigstens  des  höfischen  Trinker- 
geschmackes. 


1)  Bei  Büsching  XIX  66. 
Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.  21 


—    322    — 

Im  alten  Rußland  war  die  Auswahl  der  Weine  gering  ge- 
wesen. Aus  dem  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  gibt  es 
eine  authentische  Liste  der  in  Rußland  gebrauchten  Wein- 
sorten. Im  Jahre  1597  schickte  nämlich  der  Zar  aus  dem  Hof- 
keller ein  Geschenk  für  den  neu  angekommenen  österreichi- 
schen Gesandten,  bestehend  in:  Romanze,  Rheinwein,  Muska- 
teller, weißem  Franzwein,  Baster,  Alikante,  Malvasier,  Meth, 
Kirschmeth,  Johannisbeerwein,  Wacholderwein,  Schlehenwein, 
Himbeerwein,  Bojarenwein  imd  Fürstenwein.^)  Romanze  war 
Burgunderwein,  von  deutschen  Kaufleuten  eingeführt;  Baster, 
deutsch  Bastardwein  genannt,  ein  Kanarienwein.  Peter  der 
Große  bewirtete  seine  Gäste  bloß  mit  Prostaja  wodka,  ordi- 
närem Branntwein,  Kornbranntwein  ^)  und  Ungarweinen,  na- 
mentlich Tokajer ;  französische  und  Rheinweine  liebte  er  nicht.*) 
Als  die  Ärzte  ihm  die  starken  Spirituosen  verboten,  bequemte 
er  sich  indessen  dazu,  in  den  Kombranntwein  etwas  Medoc 
und  Gabors  zu  mischen.*)  Auch  an  den  Tafeln  der  russischen 
Großen  brachte  man  früher  die  Toaste  nur  mit  Ungarwein 
aus.  Erst  unter  Anna  Iwanowna  änderte  sich  dies.  Franzö- 
sische Weine  wurden  obligat,  Burgunder  und  Champagner 
kamen  in  Massen  nach  Rußland.  Den  Champagner  hat  der 
französische  Gesandte  Marquis  de  la  Chetardie  in  eigener  Per- 
son importiert ;  er  brachte  in  seiner  diplomatischen  Bagage  nicht 
weniger  als   16800  Flaschen  mit.^) 

Es  zeigt  sich  glücklicherweise,  daß  man  auch  mit  fran- 
zösischen Weinen  Orgien  feiern  kann.  Bei  einem  Feste,  das 
am  Jahrestage  der  Thronbesteigung  Annas  im  Moskauer  Zaren- 
palaste  gegeben  wird,  geht  es  zu  wie  in  den  g^ten  alten  Zeiten 
der  Herrschaft  des  Branntweins  am  Hofe  Peters:  die  höchsten 
Würdenträger,  Militärs,  Geistlichen  und  die  vornehmsten 
Damen  betrinken  sich  bis  zur  Bewußtlosigkeit;  „es  wäre  herr- 
lich gewesen,**  berichtet  Ssaltykow  als  Teilnehmer,  „wenn  nicht 
ein  General  sich  geweigert  hätte  mitzutrinken;**  dieser  bringt 


1)  Karamsin,  deutsch  IX  309,  französisch  X  365. 

2)  Waliszewski,  L'h6ritage  de  Pierre  le  Grand,  273. 

3)  Bergholz  bei  Büsching  XIX  94. 
*)  Waüszewski,  Pierre  le  Grand,  209. 
*)  Waliszewski,  Autour  d'un  tröne,  34. 


—    323    — 

eine  Störung  in  das  harmonische  Bild,  der  Gk)uverneur  ver- 
sucht vergebens  ihn  zu  überreden  durch  den  Hinweis,  daß  es 
Pflicht  eines  patriotischen  Russen  sei,  auf  die  Gesundheit  der 
Zarin  zu  trinken;  es  bleibt  nichts  übrig,  als  den  einzigen  Nüch- 
ternen  aus   der  Gesellschaft   hinauszuwerfen. 

Die  russischen  Frauen  jener  Epoche,  welche  den  Brannt- 
wein zeitweilig  wenigstens  von  den  Tafeln  der  Vornehmen 
verbannen  mußten,  gaben  ihm  ein  Asyl  in  ihren  Toiletten. 
Sie  wuschen  sich  zur  Verschönerung  des  Teints  mit  einer 
Lösung  von  Kampescheholz  in  Branntwein  und  tranken  heim- 
lich, was  nach  der  Operation  übrig  blieb.^)  Von  den  vornehmen 
Frauen  nahmen  die  Weiber  des  Volkes  den  Modus  an,  Koket- 
terie und  Trunksucht  zu  vereinigen ;  und  es  war  nichts  Seltenes, 
daß  man  auf  den  Straßen  von  Mädchen  und  Frauen  um  „ein 
paar  Kopeken  für  Schönheitswasser**  angebettelt  wurde.  Odeure 
und  andere  mit  Spiritus  bereitete  duftende  Essenzen  treten 
auch  heute,  besonders  im  ostasiatischen  Rußland,  wenn  dort 
die  Getränkevorräte  zur  Neige  gehen,  an  die  Stelle  von  Schnäp- 
sen. In  Ochotsk  war  im  Winter  1902  der  Schnaps  ausgegangen; 
da  stellten  die  Wirte  in  den  Restaurants  englische  Odeure,  das 
Fläschchen  zu  vier  Rubel,  auf  die  Speisekarte.  Und  so  tief  und 
unbezähmbar  nistet  die  Trunksucht  im  Russen,  daß  eine  der 
Intelligenz  angehörige  Person  selbst  von  diesem  Surrogat  zwei- 
undzwanzig Flacons  austrank,  infolgedessen  erkrankte  und 
starb.  2) 


^)  Vgl.  die  Mitteilungen  des  dänischen  Reisenden  Peter  von  Haven, 
bei  Büsching  X  281. 

*)  „Jlojihn.  BtcTHHKB",  1902.  —  Vgl.  Lodzer  Zeitung  vom  29.  XI.  =3  12. 
XII.  1902,  Korrespondenz  aus  Ochotsk. 


21 


—    324 


i8.  Das  Bettelwesen. 

Bettler  im  alten  Rußland  —  Maßregeln  Peters  des  Großen  gegen  Bettler  und 
Almosenspender  —  Wohltätigkeitsakte  der  Zarin  Katharina  I.  —  Gläubiger 
und  Schuldner  —  Die  Sklaverei  der  Insolventen  —  Regieningsmethode  billiger 
Ernährung  der  Gefangenen  —  Charakter  der  russischen  Bettler  —  Ihre  Be- 
scheidenheit —  Ihr  Sprüchlein  —  Moderne  Bettlerorganisation  —  Sammler 
von  frommen  Spenden  —  Die  Kubraki  von  Mstislaw  —  Die  Lodyry  oder 
Labory  —  Entstehung  von  Bettlerzünften  —  Die  Abbrändler  —  Schuvraliki 
und  Sachodnizi  —  Gusljaki  —  Krüppel  —  Krüppelfabriksorte  —  Rostow  und 
Sudogda  —  Hauptziele  der  Bettler  —  Bettelwesen  und  Unsittlichkeit  — 
Schamlosigkeit  in  den  Asylen  —  Lasterhöhlen  in  Charjkow  und  Riga  —  Sta- 
tistisches —  Freiwillige  und  unfreiwillige  Bettler. 

Eine  selbstverständliche  Folge  der  Ehrlosigkeit,  Lügen- 
sucht, Stehlsucht,  des  Sportelnehmens,  der  Korruption  und  der 
Trunksucht  ist  das  Bettelwesen.  Betteln  ist^  keine  Schande, 
sagt  man  in  Rußland.  Es  ist  dabei  keine  Rede  von  denen, 
die  aus  Not  betteln,  sondern  von  jenen  Organisierten,  die  den 
Müßiggang  zu  einer  lobenswerten  Tugend  erheben,  auf  die 
Leichtgläubigkeit  ihrer  Mitmenschen  spekulieren  und  aus  der 
Mildtätigkeit  der  anderen  Kapital  für  sich  schlagen.  Als  Bett- 
ler ziehen  sie  durch  die  Lande;  als  Reiche  kehren  sie  heim, 
um  zu  verprassen,  was  sie  erobert  haben.  Das  Bettelwesen, 
das  hier  geschildert  wird,  ist  nicht  aus  dem  Elend  entsprungen, 
nicht  eine  Begleiterscheinung  der  ewigen  Hungersnot,  welche 
Rußland  seit  der  Begründung  des  Reiches  fast  alljährlich, 
bald  in  diesem,  bald  in  jenem  Gouvernement  heimsucht;  son- 
dern ein  Laster,  das  auf  diesem  Boden  der  Lüge  und  Fäulnis 
noch  besser  in  den  Jahren  der  Fülle  und  des  Reichtums  ge- 
deiht, als   in   den  mageren  Zeiten. 

Der  Engländer  Fletcher  berichtete,  daß  schon  im  sech- 
zehnten Jahrhundert  die  Bettler  in  Rußland  eine  wahre  Land- 
plage waren.  1)  In  Moskau  wurde  man  auf  Schritt  und  Tritt 
von  Landstreichern  um  Almosen  angefleht.  Die  des  Tages 
bettelten,  gingen  nachts  auf  Raub  und  Diebstahl  aus.  Zu  Zeiten 


1)  Fletcher,  Of  the  Russe  Common- Wealth,  London  1591.  —  Karam- 
sin,  deutsch  IX  315,  französisch  X  375. 


—    325    — 

Peters  des  Großen  wimmelte  es  in  Moskau  ebenfalls  von  sol- 
chem Gesindel.  Der  Zar  verbot  nicht  bloß  das  öffentliche 
Betteln,  sondern  bestrafte  auch  jeden,  der  einem  Bettler  auf 
der  Straße  ein  Almosen  verabreichte;  wer  nur  einen  Kopeken 
gab  und  von  der  Polizei  dabei  ergriffen  wurde,  mußte  fünf 
Rubel  Strafe  zahlen.  Da  dieses  Mittel  wohl  die  Wohltätigkeit 
einschränkte,  die  Zudringlichkeit  der  Bettler  jedoch  nicht  im 
geringsten  mäßigte,  befahl  Peter:  alle  Bettler,  die  man  auf 
den  Straßen  aufgriff,  in  die  Spitäler  zu  schleppen.  Diese 
Bettlerasyle  müssen  einen  gar  üblen  Ruf  gehabt  haben,  denn 
es  wird  erzählt,  daß  viele  Faulenzer  sich  schleunigst  eine  ehr- 
liche Arbeit  suchten  aus  Furcht,  in  die  Spitäler  gesteckt  zu 
werden.  1)  Die  Strenge  Peters  des  Großen  gegen  die  Bettler 
wurde  gemildert  durch  das  Wohlwollen,  welches  seine  Ge- 
mahlin Katharina  allen  Almosenjägem  entgegenbrachte.  Das 
Vorzimmer  im  Appartement  der  Kaiserin  war  stets  von  so 
vielen  Bettlern  erfüllt,  daß  man  gewöhnlich  Mühe  hatte,  sich 
durch  sie  hindurchzuwinden. 2)  In  dem  Ausgabenbuch  der  Zarin, 
das  in  dem  Staatsarchiv  aufbewahrt  ist,  findet  man  namentlich 
aus  der  ersten  Zeit  ihrer  Alleinherrschaft  zahlreiche  Wohl- 
tätigkeitsakte verzeichnet:  bald  gibt  sie  einen  Dukaten  einem 
Mädchen,  das  plötzlich  seine  Eltern  verlor ;  zwei  Dukaten  einem 
Muschik,  der  seine  Kopfsteuer  nicht  bezahlen  kann;  einen 
Dukaten  einem  angeblichen  Abbrändler.  Diese  Humanitäts- 
anwandlungen erscheinen  in  einem  wesentlich  schwächeren 
Lichte,  wenn  man  in  dem  Ausgabenbüchlein  der  Kaiserin 
gleichzeitig  folgende  famose  Posten  entdeckt:  zehn  Dukaten 
einem  Bauer,  der  eine  Stange  herauf  kletterte ;  einmal  zehn, 
einmal  fünfzehn,  einmal  gar  zwanzig  Dukaten  der  Fürstin 
Anastasia  Galitzyna,  weil  sie  zwei  Glas  Bier  oder  zwei  Glas 
Wein  oder  eine  mächtige  Portion  Branntwein  auf  einmal  aus- 
trank. 

Wie  alle  anderen  Laster  des  russischen  Volkes  hat  die  Re- 
gierung auch  die  Bettelei  gern  gefördert.  Bis  zu  den  Zeiten  der 
Zarin  Anna  Iwanowna  gestattete  das  Gesetz  dem  Gläubiger, 


1)  Le  Bruyn,  Voyages,  III   152. 

«)  Waliszewski.  L'h^ritage  de  Pierre  le  Grand,  13. 


—    326    — 

seinen  zahlungsunfähigen  Schuldner  als  Sklaven  zu  verkaufen; 
diese  Sklaven  sperrte  ma»  in  ein  Depot,  aber  man  kümmerte 
sich  nicht  darum,  ob  sie  dort  auch  zu  essen  bekamen,  so  daß 
viele  imter  Lebensgefahr  entflohen  und  als  Bettler  und  Land- 
streicher die  Gegend  unsicher  machten.  Die  Regierung  selbst 
gab  den  Sklavenhaltern  das  seltsamste  Beispiel.  Um  die 
Kost  für  die  Gefangenen  zu  ersparen,  wurden  die  letzteren, 
an  Händen  imd  Füßen  gefesselt,  von  ihren  Wächtern  in  den 
Straßen  umhergeführt,  damit  sie  sich  ihr  Brot  erbettelten  i); 
wen  ihre  hohlen  Wangen  nicht  rührten,  der  wurde  durch 
den  Anblick  der  blutigen  Peitschen-  und  Knutenfurchen  auf  den 
Rücken  der  Unglücklichen,  die  halb  nackt  in  der  bittersten 
Kälte  umherzogen,  gewiß  zur  Mildtätigkeit  angespornt;  und 
die  Regierung  brauchte  sich  lun  die  Verproviantierung  der 
Gefängnisse  nicht  mehr  zu  sorgen. 

Das  Charakteristische  an  den  russischen  Bettlern  ist  die 
Bescheidenheit  ihrer  Ansprüche.  Sie  sind  mit  der  geringsten 
Gabe  zufrieden,  im  Falle  der  Verweigerung  nur  betrübt,  aber 
nicht  grob.  2)  Der  russische  Bettler,  er  mag  noch  so  hungrig, 
noch  so  zudringlich  sein,  wird  selbst  dort,  wo  er  durch  Schrek- 
ken  wirken  könnte^  nie  zu  einer  Drohung  Zuflucht  nehmen ; 
er  wag^  iliemals  den  Ausruf:  „Dein  Geld  oder  dein  Leben," 
sondern  entsprechend  der  passiven  Natur  des  Volkes  ist  sein 
letztes  Wort  seit  jeher^):  „Gib  mir  etwas  oder  schlag'  mich  tot  I** 
'  •  Obgleich  das  Laster  der  Bettelei  ein  Jahrhunderte  altes  und 
traditionelles  ist,  so  muß  man  doch  feststellen,  daß  es  in 
früheren  Zeiten  kein  so  organisiertes  gewaltiges  Bettlerheer 
gegebrä  hat  wie  im  modernen  Rußland.  Ganze  Dörfer,  Städte, 
Bezirke  sind  nur  von  Leuten  bewohnt,  die  das  Betteln  als 
Beruf  betreiben  und  zu  bestimmten  Zeiten  aus  ihrer  Heimat 
nach  den  verschiedensten  Richtungen  ausschwärmen.*)  In  allen 
diesen  Bettelstammbezirken  erbt  sich  das  Bettlerhandwerk  von 
einer  Generation  auf  die  andere  fort.    Ein  Handwerk  ist  es, 


1)  Waliszewski,  L'h6ritage,  198. 

*)  J.  G.  Kohl,  Südrußland,  II  28,  erzählt  ein  Beispiel  davon. 
•)  Schon  Giles  Fletcher  zitierte  dieses  Wort.      Vgl.  Karamsin  a.  a.  O. 
^)  Roskoschny,  Das  arme  Rußland,  Leipzig  1889,  S.  176 — 190,  hat  eine 
so  ausführliche  und  interessante  Beschreibung  hierüber  geliefert,  daß  füglich 


.—    327     — 

da  es  große  Übung  erfordert;  aber  es  ist  auch  eine  Kunst, 
welche  die  feinsten  Kniffe  aufweist;  ein  Studium,  das  immer 
ergänzt  werden  muß  durch  die  Erfahrungen  und  Bedürfnisse 
der  Epoche. 

Da  ist  der  Ort  Mstislaw  in  Weißrußland,  die  Heimat  der 
sogenannten  Kubraki,  die  im  Frühjahr  ausziehen,  um  Spen- 
den zur  Stärkung  der  Orthodoxie  und  zum  Baue  von  russischen 
Kirchen  in  den  katholischen  Provinzen  zu  sammeln.  Ein  Ku- 
brak  braucht  ein  Betriebskapital,  ein  paar  hundert  Rubel:  für 
den  Paß,  ein  Pferd,  eine  Telega^),  sowie  für  eine  Anzahlung 
an  die  Gehilfen  auf  ihr  künftiges  Honorar.  Der  Kubrak  selbst 
ist  bloß  der  Chef,  der  die  oberste  Aufsicht  führt,  während  die 
Bettelsummen  durch  die  Gehilfen  eingebracht  werden  müssen. 
Der  Kubrak  und  seine  Leute  suchen  zumeist  die  beiden  Haupt- 
städte des  Reiches  heim,  Moskau  und  St.  Petersburg.  Das 
Geschäft  ist  ein  glänzendes;  der  Kubrak  kehrt  heim  in  elegan- 
tem Wagen,  hat  jetzt  statt  des  einen  armseligen  Gaules  ein 
feuriges  Zweigespann  oder  gar  Dreigespann  und  einen  wohl- 
gefüllten Geldsack;  einen  Teil  des  Erbettelten  liefert  er  groß- 
mütig wirklich  dem  Konsistorium  ab,  den  Hauptanteil  aber 
behält  er  für  sich.  Er  verlebt  einige  Monate  in  Saus  und 
Braus,  in  der  Schenke  und  im  Bordell,  und  tritt  dann  einen 
neuen  Raubzug  an.  War  er  in  den  Ferien  vorsichtig,  so  hat 
er  so  viel  übrig  behalten,  um  die  Reise  jetzt  statt  in  der  im- 
bequemen  Telega  im  Eisenbahnwaggon  zurücklegen  zu  können. 

Wie  die  Kubraki  sind  auch  die  sogenannten  Labory  oder 
Lodyry  Sammler  von  frommen  Spenden;  pilgern  aber  die 
Bettler  von  Mstislaw  nach  der  Newa  und  der  Moskwa,  so 
plündern  die  Lodyry,  die  im  Dorfe  Motol  und  im  Städtchen 
Janow  im  Kreise  Kobrinsk  des  Grodnoschen  Gouvernements  zu 
Hause  sind,  nur  die  Landbevölkerung.  Die  Kubraki  ziehen 
im  Frühjahr  aus,  um  in  den  Feiertagswochen  ihre  Ernte  zu 
halten,  und  bleiben  auch  über  den  Sommer  fort;  die  Lodyry 
können   im  Sommer   nichts    machen,   denn   da   arbeitet    der 


nur  das  Hervorheben  des  Wichtigsten,  besonders  jener  Momente,  die  mit  dem 
Sittlichen  in  näherer  Beziehung  stehen,   nötig  ist  und  im  übrigen  auf  Ros 
koschny  selbst  verwiesen  werden  kann. 

^)  Terbra,  der  landesübliche,  schwerfällige  Wagen. 


—    328    — 

Muschik  auf  dem  Felde  und  hat  selber  nichts  Überflüssiges; 
erst  wenn  die  Erntezeit  vorüber  ist,  da  können  die  Lodyry 
ihren  Schnitt  machen,  und  sie  stürzen  sich  dann  haufenweise 
auf  die  Landbevölkerung.  Diese  Bettler  spekulieren  auch  auf 
den  Aberglauben  imd  treten,  wenn  es  nötig  ist,  als  Hexen- 
meister und  Medizinmänner  auf.  Was  etwa  die  Wohltätigkeit 
ihnen  vorenthalten  sollte,  wird  ihnen  reichlich  ersetzt  durch 
den  Erfolg  ihrer  schamanistischen  Kunststücke. 

Eine  ganz  andere  Art  von  Bettlern  sind  die  berüchtigten 
Jammergestalten,  welche  die  Städte  Witebsk,  Twer  und  Pskow 
alljährlich  im  Frühjahr  ausspeien  und  nach  den  beiden  Haupt- 
Städten  werfen.  Die  Witebsker,  Pskower  und  Twerer  ziehen 
nicht  in  einzelnen  kleinen  Gruppen,  sondern  massenweise,  alle 
mit  ihren  Familien,  nach  Moskau  und  Petersburg ;  in  den  Resi- 
denzen haben  sie  ihre  speziellen  Absteigequartiere,  Asyle  er- 
bärmlichster Art.  Die  Herbergen  genügen  aber  vollkommen 
den  Ansprüchen  dieser  Bettler,  die  für  sich  und  ihre  Fanülie 
höchstens  einen  Rubel  monatlich  zahlen.  Sittlichkeitsmomente 
kommen  nicht  in  Betracht;  man  schläft  in  gemeinsamen  Räu- 
men. Oft  liegen  Mann  und  Frau  und  ein  erwachsenes  Kind 
auf  einer  einzigen  Pritsche;  und  wenn  die  Lust  sie  anwandelt^ 
tun  sich  die  Eltern  selbst  in  ihren  intimsten  Verrichtimgen 
keinen  Zwang  an. 

Das  Dorf  Kiepen  im  Kreise  Sytschowka  im  Moskauer 
Gouvernement  ist  ein  Beispiel  für  die  Art  der  Entstehung  rus- 
sischer Bettlerzünfte:  bis  vor  himdert  Jahren  kannte  man  hier 
keine  Bettler;  in  der  Zeit  der  napoleonischen  Drangsal  muß- 
ten sich  die  Klepener  aus  ihrem  Dorfe  flüchten  und  in  der 
Umgegend  durch  Betteleien  erhalten;  daran  fanden  sie  Ge- 
fallen, und  die  Kinder  setzten  das  Metier  der  Eltern  fort,  so 
daß  jetzt  Kiepen  ein  Dorf  von  Bettlern  ist.  Ähnlich  ist  die 
Geschichte  des  Bettlerdorfes  Spaß-Djominski  im  Gouvernement 
Kaluga. 

Zu  den  meistberüchtigten  Bettlern  gehören  die  Schuwaliki 
aus  dem  gleichnamigen  Dorfe  im  Norden  des  Gouvernements 
Kaluga;  man  fürchtet  sie  als  Säufer  und  Diebe.  In  Moskau 
sind  sie  schon  so  bekannt,  daß  sie  seit  Jahren  nur  noch  nach 
Süden  ausschwärmen.    Sie  sind  immer  in  größeren  Truppen 


—     329     — 

anzutreffen,  als  sogenannte  Abbrändler;  sie  fahren  in  Wagen, 
die  alle  Zeichen  des  Feuerschadens  aufweisen,  und  schleppen 
das  angeblich  gerettete  Hausgerät  mit  sich.  Da  ihre  Fahrten 
weitgedehnt  sind  und  lange  dauern,  haben  sie  unterwegs  in 
größeren  Städten,  wie  Tula,  ihre  ständigen  Herbergen  und 
Hehlereien.  Gleichfalls  verrufene  Abbrändler  sind  die  Sacho- 
dnizi  aus  Bogorodok,  während  die  sogenannten  Gusljaki  aus 
demselben  Orte  als  nüchterne  Altgläubige  umherwandern,  die 
nicht  betteln,  sondern  bloß  gelungen  gefälschte  alte  Heiligen- 
bilder unter  den  Raßkoljniki  verteilen  und  dafür  großmütig 
Geschenke  in  Naturalien  oder  Leinwand  und,  wenn  man  es 
ihnen  absolut  aufdrängen  will,  in  Geld  annehmen.  Die  Waren 
werden  auf  dem  erstbesten  Markte  verkauft,  und  man  zieht 
dann  wieder  als  armer  Kerl  weiter. 

Natürlich  fehlt  es  auch  nicht  an  Krüppeln,  echten  imd 
falschen.  In  früheren  Zeiten  war  die  Stadt  Rostow  im  Gou- 
vernement Jaroßlaw  als  Fabriksstadt  für  Mißgestalten  be- 
kannt; man  verschickte  von  dort  verstümmelte  Kinder  nach 
dem  ganzen  Reiche,  namentlich  auf  dem  Fußgängerwege  von 
Moskau  nach  dem  Kloster  des  heiligen  Ssergej  begegnete  man 
bei  jedem  Schritte  Blinden  und  Krüppeln  Rostowscher  Arbeit. 
Die  Fabrikanten  von  Rostow  hatten  ihren  fixen  Tarif  für  das 
Ausstechen  von  Augen,  das  Abhacken  von  Füßen  und  Händen 
oder  andere  widerwärtige  Verstümmelungen,  durch  die  man 
auf  die  Tränendrüsen  der  Passanten  unfehlbar  wirken  muß.i) 
Heute  genießt  einen  ähnlichen  Ruf,  wie  Rostow  ihn  einst  hatte, 
der  Kreis  Sudogda.  Die  Bewohner  von  Sudogda  gehen  nur 
mit  Krüppeln  auf  Bettelei  aus.  Sie  sind  zwar  Meister  in  der 
Ausstaffierung  falscher  Krüppel,  ziehen  jedoch  wirkliche  Miß- 
gestalten vor,  um  vor  jeder  Entlarvung  gesichert  zu  sein. 
Das  Dorf  Marinin  ist  außerordentlich  reich  an  echten  Krüp- 
peln; diese  wandern  alle  nach  Sudogda  und  werden  hier  an- 
geworben. Reicht  die  Zahl  der  Rekruten  für  das  Bettlerheer 
von  Sudogda  nicht  aus,  so  mietet  oder  kauft  man  Kinder  und 
venmstaltet  sie  gewaltsam.  Nach  Moskau  dürfen  sich  die  Bett- 


*)  M.  3a6ujraHi>,  pyccidä  Hapojn»,  MocKRa  1880,  crp.  399,  3i  14,  n  npHMlv- 
name.  —  Vgl.  auch  in  meinem  Kapitel  ,, Aberglaube  und  Verbrechen",  S.  67. 


—    330    — 

lermeister  von  Sudogda  mit  ihrem  Gefolge  nicht  mehr  wagen^ 
denn  man  erkennt  sie  dort  trotz  ihrer  gelungenen  Entstellimgen. 
sofort  an  ihrer  eigentümlichen  Aussprache;  sie  ziehen  deshalb 
nach  Süden,  nach  Norden  .oder  ostwärts  nach  Nischny  Now- 
gorod. Ihr  Zug  ist  nur  in  den  Feiertagswochen  lohnend.  Nach 
den  großen  Fasten  kehrt  man  immer  reichbeladen  heim;  die 
Krüppel,  besonders  die  Kinder,  aber  läßt  man,  nachdem  sie 
ihre  Schuldigkeit  getan  haben,  erbarmungslos  auf  dem  Wege 
liegen.  Der  große  Erfolg,  der  den  Bettlern  von  Sudogda  blüht, 
hat  zu  vieler  Nachahmung  gereizt  und  eine  maßlose  Konkur- 
renz gezeitigt.  Aus  dem  Kreise  Makarjew  im  Gouvernement 
Kostroma  und  aus  dem  Kreise  Ssaransk  im  Gouvernement 
Pensa  ziehen  die  sogenannten  Kaluni  oder  Sammler  ebenfalls  mit 
Krüppeln  auf  Bettelei  aus;  die  Ssaransker  haben  ihre  Vorbilder, 
die  Sudogdaer,  schon  übertroffen  und  können  es  als  die  einzigen 
unter  allen  Bettlern  wagen,  sogar  dreimal  jährlich  auszuziehen. 

Neben  den  großen  Städten  und  besonders  beliebten  Flek- 
ken  in  den  verschiedenen  Gouvernements  sind  die  Wallfahrts- 
orte die  Hauptziele  der  Bettler.  Das  Troitzkakloster  und  das 
Höhlenkloster  in  Kijew  sind  ständig  von  Bettlern  aus  fast  allen 
bisher  erwähnten  Bettelei-Ursprungsorten  umlagert.  Andere 
Scharen  gehen  bis  zum  Ural  und  selbst  nach  Sibirien;  letz- 
teres aber  in  seltenen  Fällen,  denn  in  diesen  Gegenden  wim- 
melt es  ohnehin  von  Bettlern,  die  wirklich  aus  Not  die  Mild- 
tätigkeit anrufen  müssen,  wie  die  zwangsweise  Angesiedelten 
oder  flüchtige  Verbannte.  Die  bettelnden  Mönchs-  und  Npn- 
nenscharen  sind  bei  alledem  ganz  außer  acht  gelassen  worden. 

Den  verderblichen  Einfluß  des  Bettelwesens  auf  die  Mo- 
ralität  des  Volkes  brauche  ich  wohl  nicht  erst  nachzuweisen.  Es 
ist  schon  gesagt  worden,  wie  die  Bettler  in  ihren  temporären 
Quartieren  in  schamloser  Weise  zusammenwohnen.  Das  Ge- 
fühl für  Anstand  und  Sitte  ist  ihnen  vollständig  verloren 
gegangen,  und  es  hat  niemand  daran  etwas  auszusetzen,  daß 
Geschlechtsakte  unter  Zeugenschaft  von  Fremden  vor  sich 
gehen.  Da  ist  es  denn  nicht  einer  speziellen  Verwunderung 
wert,  daß  es  neben  den  Heeren  von  Bettlern  auch  Heere  von 
Bettlerinnen  gibt.  Im  Kreise  Wessjegonsk  im  Gouvernement 
Twer   verlassen   zu   bestimmten   Zeiten   nur   die   Frauen   und 


—    331    — 

Mädchen  ihre  Dörfer  und  ziehen,  beladen  mit  armseliger  Habe 
und  gefolgt  von  zerlumpten  Kindern,  in  kleineren  und  größe- 
ren Gruppen  als  Abbrändlerinnen,  Witwen  und  Waisen  in 
die  Fremde.  Bekannt  im  ganzen  Reiche  sind  auch  die  soge- 
nannten Kasanjschen  Waisen.  Sie  betteln  und  huren  sich 
durch  alle  Provinzen  und  bringen  dann  den  reichen  Schand- 
lohn ihren  Vätern  und  Gatten.  In  Charjkower  Vorstädten 
befinden  sich  zahlreiche  Erdhöhlen,  in  denen  nachts  die  scham- 
loseste Prostitution  Orgien  feiert.  Hier  sind  auf  der  Durch- 
reise befindliche  Bettlerinnen  stets  willkommen.  Ähnliche 
Lasterhöhlen  gibt  es  in  Riga,  in  der  Moskauer  Vorstadt.  Wan- 
dernde Bettlerinnen  schlagen  in  Gruben  am  sogenannten  Apfel- 
markt ihr  Lager  auf  und  „gewähren",  wie  der  Ausdruck  lautet, 
jedem  Passanten  um  den  Preis  von  fünf  bis  zehn  Kopeken  oder 
für  irgend  ein  Entgelt  in  Naturalien  und  Waren,  oder  wenn 
es  nicht  anders  sein  kann:  für  einen  Schluck  Schnaps,  den 
ein  betrunkener  Nachtwandler  aus  seiner  Flasche  anbietet. 

Der  Tiefstand  der  durch  das  Bettelwesen  herabgedrückten 
russischen  Sittlichkeit  wird  klar,  wenn  man. erfährt,  daß  sich 
die  Zahl  der  freiwilligen  russischen  Bettler  und  Bettlerinnen 
auf  mindestens  eine  Million  veranschlagen  läßt.  In  den  Dör- 
fern der  Kreise  Jusur  und  Ssaransk  verlassen  von  3500  Ein- 
wohnern nicht  weniger  als  3000  Männer  als  Kaluni  zur  Bettler- 
zeit die  Heimat,  um  im  Namen  Christi  die  Mildtätigkeit  der, 
Mitmenschen  zu  täuschen.  In  Akschenaß,  einenl  Dbrfe  von 
120  Höfen,  bleiben,  wenn  der  Bettelzug  begonnen  hat,  nur 
vier  Familien  als  Hüter  des  Ortes  zurück.  Im  Kirchdorfe  Golizyn 
sind  von  dreihundert  Hofbesitzern  zweihundert  Wanderbettler.i) 
In  solchen  Orten  sind  die  Ältesten  natürlich  auch  Bettler,  und 
so  wird  es  erklärt,  daß  diese  Landstreicher  in  dem  paß- 
strengen Rußland  stets  reichlich  mit  den  nötigen  Dokumentea. 
ausgestattet  sind,  um  in  ihrer  Freizügigkeit  keine  Behinderung 
fürchten  zu  müssen. 

Zu  den'  freiwilligen  Bettlern  kommen  nun  noch  die  Hun- 
derttausende  Unfreiwilliger.    Alexander   III.,    der   ein   Mäßig- 


^)  Roskoschny  a.  a.  O.     Er  zählt  noch  zwölf  Dörfer  auf,  in  denen  alle 
Einwohner  ohne  Ausnahme  in  der  bestimmten  Zeit  auf  Bettelei  ausgehen. 


—    332    — 

keitsparlament  zur  Bekämpfung  der  Trunksucht  einberief,  er- 
nannte auch  eine  „Regierungskommission  aus  Vertretern  sämt- 
Hcher  Ministerien  zur  Lösung  der  Frage  von  der  Versorgung 
von  Bettlern  in  Dorf-  und  Stadtgemeinden**.  Die  Kommission 
mit  dem  langen  Titel  erzielte  ebensowenig  praktische  Resul- 
tate wie  jenes  Temi>erenzkomitee,  von  dem  ich  im  vorigen 
Kapitel  erzählt  habe.  Man  kümmerte  sich  nämlich  nur  nebenbei 
um  das  Grundübel,  um  die  organisierte  Bettelei,  und  beobach- 
tete bloß  die  wirklichen  Bettler,  die  nicht  in  die  Fremde  ziehen, 
um  Wohltätigkeitsspenden  zu  erschwindeln,  vielmehr  an  der 
Scholle  kleben  und  den  Heimatgemeinden  zur  Last  fallen. 
Man  vermag  sich  einen  Begriff  von  der^  unbeschreiblichen 
Entsittlichung  und  Verarmung  des  Volkes  zu  machen,  wenn 
der  offizielle  Bericht  damals  folgende  Ziffern  feststellte  i):  für 
die  Stadt  Moskau  26000  Bettler,  für  das  Gouvernement  Mos- 
kau 15000,  Livland  16000,  Kurland  15000,  Warschau  14000, 
Nischny-Nowgorod  und  Wjatka  je  10 000;  zusammen  zählte  man 
293445,  davon  lebten  etwa  200000  vom  Bettel  allein,  die 
übrigen  erhielten  auch  ständige  Unterstützungen;  adlige  Bett- 
ler gab  es  3235,  Bettler  geistlichen  Standes  3491,  Kaufleute 
20,  Kleinbürger  43434,  Bauern  181 932,  Reservisten  und  ehe- 
malige Soldaten  11345,  aus  verschiedenen  Ständen  35039. 
Wie  müßten  diese  Ziffern,  wenn  sie  der  Wahrheit  von 
heute  entsprechen  sollten,  vervielfacht  werden!  Welch  furcht- 
bare Quelle  des  Elends,  der  Verkommenheit,  der  Unsittlichkeit 
wird  aus  diesem  Zahlenmeer  unerschöpflich  gespeist! 


1)  Vgl.  die  vom  Fürsten  Meschtschersky  herausgegebene  Zeitschrift 
«.FpasH^aHMHi»**  ceHTaöpb  1889.  Die  angeführten  Zifiem  beziehen  sich  nur  auf 
zusammen  71  Beobachtungsfelder:  54  Gouvernements,  neun  Gebiete  und  acht 
Städte.  Alle  Ziffern  sind  gewiß  eher  zu  niedrig  als  zu  hoch  angesetzt.  Es  er- 
scheint beispielsweise  unmöglich,  daß,  wie  dort  angegeben  wurde,  die  Stadt 
Ssebastopol  keinen  einzigen  Bettler  habe;  auch  die  Behörden  des  Gouver- 
nements Esthland  gaben  an,  daß  in  ihrer  ganzen  Provinz  kein  einziger  Bettler 
konstatiert  wurde.  Neun  Gouvernements  und  fünf  Gebiete  erteilten  keine 
Auskunft.  Einige  andere  Gouvernements  wurden  als  zu  sehr  entlegen  in  die 
Beobachtung  überhaupt  nicht  einbezogen. 


VIERTER  TEIL: 


Russische  Vergnügungen 


19.  Jagd  und  Hasardspiel.  —  20.  Kirchen- 
feste und  Volksfeste.  —  21.  Hofnarren  und 
Maskeraden.  —  22.  Tanz  und  Bftlle.  — 
23.  Musik  und  Theater.  —  24.  Rauchen 
und  Tabakbuden.  —  25.  Bäder. 


ig.  Jagd  und  Hazardspiel. 

Die  ersten  russischen  Jäger  —  Hetzjagd  mit  Hunden  —  Jagden  des  Groß- 
fürsten Wassilij  —  Belustigungen  Iwans  des  Schrecklichen  —  Kämpfe  mit 
Bären  —  Zar  Alexe j,  Verfasser  von  Jagdregeln  —  Peter  der  Große  ein  Feind 
der  Jagd  —  Ein  zarischer  Scherz  —  Peter  II.  als  Jäger  —  Elisabeth  Pe- 
trowna  —  Jagd  und  Sittenlosigkeit  —  Moderne  Jagden  —  Bärenjagd  — 
Der  Bär  im  Heidenglauben  —  Südrussische  Windhunde  —  Die  Jagden  des 
Herrn  Skarzinski  —  Wolfsjagden  in  den  Steppen  —  Kosakenmethode  — 
Jagd  und  Kartenspiel  —  Zur  Geschichte  der  Spielkarten  in  Rußland  — 
Kartensteuer  —  Peter  der  Große  gegen  das  Kartenspiel  —  Kartenpartien 
Katharinas  II.  —  Die  Partner  der  Zarin  —  Der  gute  Ton  am  Hofe  Katha- 
rinas —  Brillanten  als  Spielmarken  —  Berüchtigte  Spieler  —  Aus  den 
Memoiren  des  Baron  Löwenstem  —  Frauen  beim  Spiel  —  Verspielte  Seelen 
—  Petersburger  Klubs  —  Ein  Vorfall  im  Petrowskij  Jachtklub  —  Frauen 
in  Klubs  —  Privatspielhöllen  —  Spiel  und  Ehebruch  —  Gefährliche  Familien- 
abende —  Die  Spielsalons  der  Balleteusen  —  Turf  —  Läusespiel  —  Merk- 
würdige Polizeiordnung. 

Den  Zusammenhang  von  Jagd  und  Hazardspiel  mit  Grau- 
samkeit und  Wollust  braucht  man  nicht  erst  zu  entdecken. 
Fließendes  Blut  und  gespannte  Nerven  sind  unfehlbare  Aphro- 
disiaka.  Die  angeborene  Roheit  und  barbarische  Sinnlichkeit 
des  Russen  mußten  an  beiden  Mitteln  Geschmack  finden. 
Schon  die  ersten  russischen  Fürsten,  wie  Wßewolod  und  Mono- 
mach, waren  leidenschaftliche  Jäger,  i)  Die  Hetzjagd  mit  Hun- 
den wurde  erst  im  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts  vom 
Großfürsten  Wassilij  von  Moskau  eingeführt;  früher  war  der 
Hund  als  ein  so  unreines  Tier  verabscheut,  daß  man  jeder 
Berührung  mit  ihm  auswich.  Wassilij  vermehrte  auch  die 
Würden  seines  Hofes  durch  die  Ernennung  eines  Jägermei- 
sters. 2)   Parforce-  und  Falkenjagden  waren  die  Vergnügungen 


^)  M.  3a6iiiJiHirb,  FyccKÜt  Hapo;^»,  crp.  567:  sstpHafl  n  imra>H  oxora  vb 
PoociH. 

S)  Karamsin,  deutsch  VII  145,  französisch  VII  227. 


—    336    — 

der  großen  wie  der  kleinen  Herren.^)  Der  Zar  lud  zu  seinen 
Unterhaltungen  auch  die  fremden  Diplomaten  ein.  Herber- 
stein erzählt,  daß  der  Herrscher  in  der  Umgebung  von  Mos- 
kau ein  großes  Jagdgebiet  hatte,  dessen  Betreten  den  Unter- 
tanen streng  verboten  war.  Wenn  der  Großfürst  den  Wunsch 
zu  jagen  kundgegeben  hatte,  so  brachte  man  alle  Hasen,  deren 
man  habhaft  werden  konnte,  nach  diesem  Jagdgebiet.  In  der 
Regel  pflegte  Wassilij  Iwanowitsch  sich  nur  bis  zur  Mittagstafel 
mit  Staatsgeschäften  zu  plagen,  gleich  nach  Tische  aber  mit 
großem  Gefolge  auf  die  Hetzjagd  nach  Moschaisk  und  Woloko- 
lamßk  aufzubrechen.  Die  eingeladenen  fremden  Gesandten 
wurden  von  einem  Bojaren  abgeholt  und  nach  dem  Jagdplatz 
geleitet.  Sie  mußten  in  einer  gewissen  Entfernung  vom  Zaren 
aus  den  Satteln  springen  und  sich  dem  Göttlichen  zu  Fuße 
nähern.  Der  Zar  trug  stets  ein  kostbares  Jagdgewand;  seine 
hohe  Mütze  war  mit  Edelsteinen  besetzt,  und  goldene  Federn 
zeigten  den  Jägersmann  von  weitem  an.  An  der  Hüfte  hingen 
ein  Dolch  und  zwei  Messer,  rückwärts  unter  dem  Gürtel  eine 
Schleuder.  Ständige  Begleiter  des  russischen  Herrschers  waren 
der  getaufte  Zar  von  Kasanj,  welcher  Pfeil  und  Bogen  führte, 
und  zwei  jugendliche  Fürsten,  die  mit  Axt  und  Keule  hantierten. 
Der  Sohn  des  Wassilij,  Zar  Iwan  der  Schreckliche,  liebte 
vor  allem  die  Jagd  auf  Vögel.  Er  hatte  dreihundert  Falkoniere 
zu  seiner  Verfügung;  aus  Sibirien  ließ  er  die  besten  Geier- 
falken kommen,  mit  denen  er  auf  wilde  Enten  jagte.  2)  Ein 
besonderes  Vergnügen  bereitete  es  seiner  grausamen  Natur, 
blutige  Bärenkämpfe  veranstalten  zu  lassen,  bei  denen  bloß 
andere  sich  den  Gefahren  aussetzten,  während  er  selbst  in 
sicherer  Entfernung  Zuschauer  blieb.  Man  sperrte  wilde  Bären 
in  Käfige  und  ließ  sie  an  bestimmten  Tagen  in  eine  Arena 
bringen,  wo  ein  Jäger  des  Zaren  mit  einem  Jagdspieße  seinen 
Gegner  erwartete.  Gelang  es  dem  Gladiator  nicht,  mit  einem 
einzigen  Stoß  den  Bären  zu  Boden  zu  rennen,  so  war  er 
verloren.  3)     Hatte  er  aber  gesiegt,  so  belohnte  ihn  der  Zar 


1)  Gerebtzoff,  Essai  I  374. 

2)  Reise  nach  Norden,   179. 

*)  Der  englische  Reisende  Fletcher  beschrieb  einen  solchen  Bäxenkampf 
als  Augenzeuge.     Vgl.  Karamsin,   deutsch   IX   313,   französisch    X  373.    — 


Tierhetze  in  Moskau  im  hölzernen  Amphitheater 
vor  dem  Twerschen  Tore. 


—    337    — 

oft  damit,  daß  er  ihn  mit  einem  zweiten  Bären  das  Stück 
wiederholen  ließ.  Das  Volk  dagegen  führte  den  Bärentöter 
nach  dem  Ende  des  Schauspiels  in  die  Schenke  und  bewirtete 
ihn  nach  Landessitte  freigebig  mit  Branntwein.  Von  seinem 
Vater  Iwan  hatte  auch  der  jugendliche  Zar  Theodor  die  grau- 
same Lust  an  solchen  Schauspielen  ererbt. 

Unter  den  Romanows  gab  es  fast  gar  keine  großen  Jäger : 
Zar  Alexej  Michajlowitsch,  Peter  IL  und  Elisabeth  Petrowna 
sind  die  Ausnahmen.  Alexej  war  ein  Freund  von  Falken- 
jagden; er  schrieb  eigenhändig  ein  Jagdreglement  mit  dem 
Motto:  „Möge  die  Zeit  der  Arbeit  gewidmet  sein;  aber  eine 
Stunde  bleibe  für  das  Vergnügen."  —  Peter  der  Große  war 
niemals  Jäger,  i)  Schon  im  Jahre  1690  war  daher  das  Jagd- 
schlößchen Sokolniki,  der  Rendezvousplatz  seiner  Vorfahren 
bei  ihren  Jagden,  in  Trümmer  zerfallen.  Als  Peter  bei  seinem 
Besuche  bei  der  Markgräfin  von  Brandenburg  gefragt  wurde, 
ob  er  die  Jagd  liebe,  zeigte  er  seine  schwieligen  Arbeiterhände 
und  sagte:  „Ich  habe  keine  Zeit  zum  Jagen.**  Einmal  gelang 
es  jedoch  seiner  Umgebung,  den  Zaren  zu  einer  Hasenjagd  zu 
verlocken.  Peter  rächte  sich  dafür.  Er  machte  die  Jagd  nur 
unter  der  Bedingung  mit,  daß  man  die  Rüdenknechte  und  die 
Hundetreiber  zurückließ.  Der  Streich  gelang.  Die  Hunde, 
von  ihren  Führern  verlassen,  warfen  sich  zwischen  die  Beine 
der  Pferde,  machten  die  Tiere  wild,  und  in  wenigen  Minuten 
war  die  Strecke  besät  mit  abgeworfenen  Reitern.  Eine  allge- 
meine Verwirrung  entstand,  und  man  mußte  die  Jagd  auf- 
geben. Am  anderen  Tage  machte  sich  Peter  den  Spaß,  nun 
seinerseits  eine  Einladung  zur  Jagd  ergehen  zu  lassen,  aber 
man  hütete  sich,  Folge  zu  leisten,  die  meisten  der  Teilnehmer 
vom  vorigen  Tage  lagen  mit  zerbrochenen  Gliedern  zu  Bette. 

Peters  Günstlinge  waren  dagegen  zumeist  eifrige  Jagd- 
liebhaber. Fürst  Romadanowskij,  den  Peter  spaßeshalber  zum 
Vizekaiser  ernannt  hatte,  zog  auf  die  Jagd  mit  dem  Luxus 


Kostomarow  schildert  in  seinem  Roman  ,,Kadejar"  (deutsch  von  Kuptsche) 
im  vierten  Kapitel,  wie  Iwan  der  Schreckliche  die  Tapferkeit  eines  Helden 
dorch  einen  Zweikampf  mit  Bären  auf  die  Probe  stellt. 

^)  Halem  III  119.  —  Waliszewski,  Pierre  le  Grand,  an,  233. 
Stern,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  Ruftland.  22 


—    338    — 

eines  wahren  asiatischen  Monarchen  und  einem  Gefolge  von 
fünfhundert  Personen.  Auch  Peters  Tochter  Elisabeth  und 
sein  Enkel  Peter  II.  huldigten  dem  Jagdsport  mit  großer  Lust; 
Zur  Zeit  der  Herrschaft  Peters  II.  ritten  Tante  und  Neffe  stets 
mitsammen  aus.  Der  jugendliche  Zar  war  in  sexueller  Be- 
ziehung überaus  früh  entwickelt.  Als  er  die  Regierung  antrat, 
stand  er  noch  im  Knabenalter.  Sein  ganzes  Sinnen  und  Trach- 
ten aber  galt  schon  der  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes. 
Ihn  lockte  in  Wahrheit  nicht  das  Wild  im  Walde,  sondern  das 
einsame  Rendezvous  mit  der  üppigen  sinnlichen  rothaarigen 
Tante.  Ihr  war  der  Knabe  gleichgültig,  sie  streifte  lieber  mit 
einem  robusten  Soldaten  durch  die  Gebüsche  und  überließ 
den  schwärmerischen  Neffen  seinen  Seufzern  und  seinen  Ver- 
sen. Doch  fand  der  jugendliche  Zar  gute  Freunde,  die  ihn 
aufklärten  und  ihm  Hilfe  schafften.  Sobald  Peter  durch  die 
Nähe  der  Tante  und  die  Hitze  der  Jagd  exaltiert  heimgekehrt 
war,  führte  ihn  sein  Kamerad  Iwan  Dolgoruckij  im  Dunkel 
der  Nacht  in  ein  Bordell,  wo  der  junge  Kaiser  leicht  die  Genüsse 
fand,  die  ihm  sein  Roman  verweigerte.  An  diesem  Leben 
fand  der  zarische  Knabe  bald  solches  Gefallen,  daß  seine  ganze 
Regierungszeit  zwischen  Jagd  und  Bordell  verfloß;  zum 
Schlüsse  hielt  er  sich  fast  gänzlich  von  der  Hauptstadt  fem 
und  lebte  nur  im  Jagdzelte  mit  seiner  Braut  Katharina  Dol- 
goruckij, die  ihrem  zukünftigen  Gatten  das  nicht  zu  versagen 
wagte,  was  sie  auch  Femstehenden  nicht  vorenthielt. 

Das  Jagdleben  übte  auf  die  gesamte  Hofgesellschaft  einen 
demoralisierenden  Einfluß  aus.  Da  man  sich  auf  lange  Zeit 
von  dem  heimatlichen  Herde  entfernt  hielt,  traf  man  stets 
Vorsorge,  sich  mit  allem  zu  versehen,  was  das  Leben  verlangt. 
Im  Gefolge  des  jungen  Zaren  zogen  Scharen  von  liederlichen 
Frauenzimmern  mit,  und  auf  die  Tage  der  Jagd  folgten  nächt- 
liche Orgien,  die  kaum  ihresgleichen  haben.  Wenn  der  Zar 
einen  Jagdzug  antrat,  mußten  ihn  die  ganze  Generalität  imd 
die  Mitglieder  des  höchsten  Rates  begleiten.  Den  fünfhundert 
Herrschaftsequipagen  folgten  unzählige  Wagen  mit  Dienern, 
Weibern  und  Proviant,  und  zum  Schlüsse  kam  eine  Armee 
von  Handelsleuten,  die  an  jedem  Halteplatz  förmliche  Basare 
errichteten,  alles  nur  Erdenkliche  feilboten,  den  liebeshungrigen 


—     339     — 

Bojaren  Schmuck  für  ihre  Maitressen  und  im  Notfalle  auch 
bares  Geld  gegen  gute  Zinsen  zur  Verfügung  stellten. 

Man  jagt  den  Wolf,  den  Fuchs  und  den  Hasen  mit  eng- 
lischen Hunden,  die  wilden  Enten  mit  Falken  und  abgerichteten 
Sperbern.  Man  hetzt  zuweilen  den  Bären,  aber  dem  Beispiel 
der  früheren  Zaren  folgend  hält  sich  in  solchem  Falle  auch 
Peter  IL  abseits  von  der  Gefahr.  Ist  die  Tagesarbeit  getan, 
so  schlägt  man  ein  Lager  auf,  veranstaltet  ein  Trinkgelage  nach 
altmoskowitischem  Geschmack,  zur  großen  Freude  der  Fa- 
milie Dolgoruckij,  die  dem  Zaren  zuredet,  Moskau  wieder  zur 
alleinigen  Residenz  des  Reiches  zu  erheben.  Die  Orgien  dul- 
den keine  Unterbrechung:  Des  Zaren  Schwester  Anna  Pe- 
trowna  stirbt;  Peter  befiehlt,  die  Leiche  nach  Petersburg  zu 
schaffen,  denkt  aber  nicht  daran,  sie  selbst  zu  geleiten,  sondern 
läßt  unbekünunert  den  für  den  Tag  schon  angesetzten  Ball 
abhalten.  Schweden  und  die  Türkei  verbünden  sich  und  be- 
drohen Kleinrußland,  die  Gesandten  von  Österreich  und  Spanien 
drängen  in  den  Kanzler  Ostermann,  daß  er  den  Zaren  nach 
Petersburg  berufe;  Peter  indessen  verläßt  um  keinen  Preis 
sein  Nomadenzelt  im  Walde  von  Gorenki.  Ostermann  ver- 
sucht den  Zaren  durch  ein  Manöver  bei  Moskau  für  das  Kriegs- 
spiel zu  interessieren;  Peter  jedoch  ergreift  die  Flucht  und 
zieht  nach  Rostow,  um  dort  zu  jagen  und  Orgien  zu  feiern. 
—  Monatelang  gibt  es  gar  keine  Regierung  mehr,  der  Zar  und 
alle  seine  Räte  weilen  fern  vom  Mittelpunkte  der  Verwaltung, 
kümmern  sich  nicht  um  die  Politik,  nicht  um  das  Wohl  und 
Wehe  des  Reiches,  schwelgen  und  schmausen,  jagen  und  huren. 
Eine  einzige  Jagdperiode  dauert  einmal  achtMonate.^)  Der  Trubel 
nimmt  erst  ein  Ende,  da  der  Zar  der  schönen  Katharina  Dol- 
goruckij überdrüssig  wird.  Nach  einem  aufregenden  Jagdtage 
gibt  es  abends  ein  Pfänderspiel;  aber  als  Peter  gewinnt  und 
zum  Lohne  wieder  nichts  anderes  erhält  als  die  Erlaubnis, 
die  Prinzessin  Katharina  küssen  zu  dürfen,  da  erhebt  er  sich 
brüsk,  verläßt  die  Gesellschaft,  und  mit  einem  jähen  Ruck 
steht  alles  still.  Der  Jubel  ist  zu  Ende,  katzenjämmerlich  kehrt 
man  heim  nach  Moskau;  hier  erkrankt  der  junge,  von  Aus- 


1)  Waliszewski.  L'h6ritage  de  Pierre  le  Grand.  75,  91. 

22' 


—    340    — 

Schweifungen  erschöpfte  Zar  an  den  schwarzen  Blattern  und 
stirbt  nach  wenigen  Tagen. 

Die  Jagd  war  damak  ein  Privilegium  des  Hofes  und  der 
vornehmsten  Günstlinge  gewesen.  Gewöhnliche  Sterbliche 
mußten  sich  speziellen  Regeln  unterwerfen.  Ein  Gesetz  be- 
stimmte sogar,  wieviel  Jagdhunde  ein  jeder  Edelmann  seinem 
Range  entsprechend  besitzen  durfte,  i)  Gegenwärtig  ist  die 
Jagd  allen  freigestellt.  Beliebt  ist  die  Bärenjagd,  namentlich  in 
Großrußland.  Man  muß  bei  der  Bärenjagd,  um  seines  Er- 
folges sicher  zu  sein,  sorgfältige  Maßnahmen  treffen.  So  ist 
vor  allem  das  Rauchen  untersagt.  Die  Jäger  tragen  dicke 
Stoffüberzüge  über  den  Schuhen,  um  beim  Gehen  jeden  Lärm 
zu  vermeiden.  Der  Bär  wird  umringt  und  aufgehetzt.  Er  er- 
schrickt aber  nicht,  sieht  sich  kaltblütig  um,  wie  er  der  Gefahr 
entrinnen  könnte,  und  wählt  eine  Stelle,  wo  nach  seiner  Be- 
rechnung zwei  der  Jäger  von  einander  entfernter  stehen  als 
an  den  übrigen  Stellen.  Hier  versucht  er  klug  durchzubrechen, 
aber  schnell  springt  ihm  ein  Jäger,  der  zum  Schutze  vor  den 
Tatzen  des  Bären  nur  eine  Lederhaube  und  Panzerhandschuhe 
trägt  und  als  Waffe  bloß  einen  Dolch  gebraucht,  in  den  Weg. 
Der  Bär  stürzt  sich  verzweifelt  auf  den  Verfolger,  aber  der  Kampf 
ist  in  einem  Nu  zu  Ende;  denn  die  geübten  Bärentöter  kennen 
so  genau  die  Stelle,  die  sie  treffen  müssen,  daß  das  Tier  beim 
ersten  Stoße  zusammenbricht.  Der  besiegte  Feind  wird  mit 
einem  Eichenzweig  geschmückt. 

Das  russische  Wort  für  Bär  bedeutet:  Honigkenner. 2)  Des 
Bären  Liebe  für  den  Honig  benützen  die  sibirischen  Völker,  um 
Meister  Petz  zu  überlisten.  Sie  füllen  eine  Kugel  mit  Honig, 
bedecken  sie  mit  Eisenstacheln  und  legen  das  Lockmittel  an 
den  Rand  einer  Grube.  Wenn  der  Bär  zugegriffen  hat,  gerät 
er  in  die  Falle.  Auf  eine  besondere  Art  wird  der  Bär  in  der 
Provinz  Jenisseisk  überrumpelt.  An  einem  Baume  wird  ein 
Brett  so  hoch  befestigt,  daß  Petz  sich  auf  die  Hintertatzen 
stellen  muß,  um  hinaufzureichen.  Auf  dem  Brette  winkt  ein 
Stück  prächtigen  Fleisches ;  verborgen  aber  sind  die  tückischen 


1)  Le  Bruyn,  Voyages  III  113. 

2)  Me;^Blv]:b,  auch  Me^B'i^eii^,  von  Me;n>>  Honig,  und  Biflß^b,  Kenner. 


—    341    — 

Eisenspitzen.  Petz  sieht  nur  den  fetten  Bissen,  nicht  den  listigen 
Todbringer.  Er  hebt  heiter  eine  Vordertatze  empor,  um  das 
Fleisch  zu  holen,  und  haut  sie  auf  eine  Eisenspitze.  Er  hebt 
die  andere  Vordertatze  um  sich  zu  befreien,  und  hängt  nun 
sicher  angenagelt,  den  Verfolgern  preisgegeben.  Bei  einigen 
Völkern  Asiens  ist  der  Bär  ein  heiliges  Tier;  so  verehren  die 
Wogulen  eine  Bärentatze  als  Hausgott  und  gebrauchen  eine 
Bärenschnauze  als  Zaubermittel,  i) 

Eine  südrussische  Eigentümlichkeit  sind  die  Windhunde, 
mit  denen  dort  gejagt  wird.  Diese  Hunde  vermögen  das  Wild 
nicht  aufzuspüren,  sondern  jagen  nur  die  Tiere,  die  sich  ihren 
Blicken  zeigen,  üir  Geruch  ist  nicht  fein,  aber  ihr  Auge  desto 
schärfer  und  ihre  Schnelligkeit  größer.  Für  die  Steppe  sind 
ihre  Eigenschaften  die  besten.  Wenn  sie  das  Wild  erfaßt  haben, 
beißen  sie  es  zu  Tode,  und  halten  bei  dem  Getöteten  Wache. 
Die  Jäger  folgen  der  Meute  zu  Pferde  und  müssen  genau  auf 
den  Weg  achten,  den  die  Hunde  nehmen;  denn  diese  würden 
sich  zu  ihren  Herren  nicht  allein  zurückfinden.  Ein  berühmter 
südrussischer  Steppenjäger  war  um  die  Mitte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  der  Gutsbesitzer  Skarzinskij ;  er  veranstaltete  all- 
jährlich von  seinem  Schlosse  Trikrati  bei  Wosneßensk  aus  mit 
seinen  Gästen  großartige  Jagden  auf  Wölfe,  Hasen,  Füchse  und 
Trappen;  25  Kamele  mußten  die  Zelte,  Küchengerätschaften 
und  Viktualien  mitführen;  das  Gefolge  der  Jäger  bestand  aus 
Hunderten  von  Dienern.  Man  wanderte  wochenlang  von  Do- 
mäne zu  Domäne,  tötete  tagsüber,  was  von  Tieren  in  den  Weg 
kam,  und  praßte  die  Nächte  hindurch  mit  Weibern  und  beim 
Kartenspiel;  Champagner  floß  in  Strömen;  eine  Kapelle  von 
dreißig  Musikern,  die  dem  Zug  überallhin  folgte,  sorgte  für  die 
Begleitung  bei  Tanz  und  Gesang.  2)    In  den  russischen  Step- 


1)  Vgl.  W.  Mannhart,  Zauberglaube  und  Geheimwissen,  3.  Auflage  (Ver- 
lag H.  Barsdorf)  S.  ig.  —  Der  Aberglaube  der  Jäger  ist  in  Rußland  nicht 
anders  als  in  anderen  Landern.  Charakteristisch  sind  nur  die  Zaubersprüche 
und  weitläufigen  Beschwörungen,  durch  die  man  sich  einen  glücklichen  Er- 
folg sichern  und  vor  Gefahren  schützen  will.  Bei  3a()U.iHin>,  P^ccKÜi  HapoAT>, 
sind  ein  Dutzend  solcher  Beschwörungen  und  Gebete  wörtlich  angeführt  (Crp. 
334  —  34 1>  OxoTUHUide  aaroBopti  h  moüihtbu). 

«)  J.  G.  Kohl,  SüdruBland,  I  22  —  23. 


—     342     — 

pen  jagt  man  hauptsächlich  auf  Wölfe.  Man  geht  dabei  brutal 
zu  Werke.  Ein  Gebüsch,  in  dem  Wölfe  vermutet  werden,  um- 
stellt man  mit  Netzen,  vor  diesen  lauern  die  Jäger  mit  Flinten, 
während  hinter  den  Jägern  Bauern  mit  Spießen  und  hölzernen 
Gabeln  stehen.  Die  Treiber  jagen  mit  wildem  Geschrei  die 
Wölfe  den  Netzen  zu;  entkommen  die  Tiere  den  Flinten  der 
Jäger  so  bleiben  sie  in  den  Netzen  hängen;  dann  stürzen 
die  Bauern  über  sie  her,  heften  sie  mit  den  Gabeln  über  dem 
Nacken  an  den  Boden  fest  und  machen  ihnen  mit  Spießen  ge- 
mächlich den  Garaus.  Ein  echter  Steppenkosak  verschmäht 
diese  rohe  Herrenmethode  der  Wolfsjagd;  der  Kosak  braucht 
weder  Flinte  noch  Gabel,*  sondern  reitet  an  die.Wölfe  heran,  und 
wenn  sie  fliehen,  so  zieht  er  dem  Wirbelwinde  gleich  neben 
ihnen  her  und  haut  mit  seiner  Nagaika  einen  nach  dem  anderen 
zu   Boden. 

Für  den  russischen  Landbewohner  gibt  es  kein  größeres 
Vergnügen  als  die  Jagd.  Der  reiche  Gutsbesitzer  lädt  seine 
minder  begüterten  Nachbarn  ein,  auf  seinem  Gebiete  zu  jagen, 
und  sorgt  freigebig  für  die  Gäste,  ihre  Diener,  Pferde  und 
Hunde  während  der  ganzen  Zeit  der  Feste.  Man  läßt  aus  den 
Städten  Sängerinnen,  Tänzerinnen  und  Spaßmacher  kommen 
und  jubelt  wochenlang  ohne  Unterbrechung.  Die  Jagd  be- 
reitet dem  Steppenbewohner  und  Landedelmann  das  aufregende 
Vergnügen,  das  der  russische  Städter  im  Kartenspiel  findet. 

Das  Datum  der  Einführung  des  Kartenspiels  in  Rußland  ist 
unbekannt.  Nach  einer  russischen  Handschrift  aus  dem  Jahre 
1623I)  kann  man  nur  so  viel  feststellen,  daß  man  damals  für 
die  Erlaubnis,  ein  Spielhaus  halten  zu  dürfen,  eine  Steuer  von 
2  Rubel  3  Altyn  und  2  Denjgi  erlegen  mußte.  Ein  Befehl  des 
Zaren  Alexej  Michajlowitsch  an  die  Stadt  Turinsk,  der  die  Aus- 
rottung der  Spielkarten  und  des  Würfelspiels  vorschrieb,  nannte 
als  Städte,  in  denen  Spielhäuser  existierten :  Tobolsk,  Wercho- 
turjka  und  Ssurguta.  Alexej  ordnete  sogar  an,  daß  die  Ein- 
nahme aus  der  Steuer  der  Spielhäuser  ein  für  alle  Mal  aus 
dem  Budget  gestrichen  werde.  2)    Aber  die  Maßregeln  kamen 


*)  JlfiwacKoti  .TfetoiiHceirb,  bt»  XVIII  xoirfe  JlpcBHett  PoccüIckoä  BHBJiioe. 
*)  H.  C.iÖHHirb,  HapcTBOBanie  Uapa  A-ieiccbfl  MiixaftjiOBina,  CaHrnerepöypn», 
1831.     HacTi.  BTopaH,  crp.  17:  HcTiMJÖJienie  aepnoBUX'b  j^omobi  h  Kapn». 


—     343     — 

nicht  zur  Geltung,  weil  Krieg  herrschte  und  die  Abgaben  der 
Spielhäuser  an  den  Staatsschatz  so  bedeutend  waren,  daß  man 
sie  in  solchen  Zeiten  nicht  entbehren  konnte. 

Peter  der  Große,  ein  Mann,  dem  die  Natur  großmütig 
die  höchste  geschlechtUche  Potenz  gewährt  hatte,  entbehrte 
leicht  aller  künstlichen  Reizungen.  Er  mußte  kein  Freund  der 
Jagd  sein  und  konnte  auch  auf  die  Erregungen  des  Hazard- 
spiels  verzichten.  , »Entweder,**  pflegte  er  zu  sagen i),  „haben 
die  Spieler  keinen  Geschmack  an  nützlicher  Unterhaltung,  oder 
es  ist  Eigennutz,  der  ihnen  die  Karten  in  die  Hand  drückt; 
beides  ist  verächtlich.**  Ein  zarischer  Ukas  vom  28.  Juni  17 18 
verbot  das  Kartenspiel  bei  Knutenstrafe.  2)  Ein  solides  Spiel- 
chen durfte  allerdings  gewagt  werden;  in  der  Armee  und 
der  Marine  beispielsweise  war  es  gestattet,  einen  Rubel  an 
einem  Abend  zu  verlieren  3);  nur  was  darüber  ging,  wurde  als 
Hazardspiel  bestraft.  In  den  Assembleen  bei  Hofe  war  ein 
eigenes  Zimmer  für  Schachspieler  reserviert;  aber  Kartcn- 
spieler  wurden  nicht  geduldet,  schon  der  bloße  Wunsch  nach 
einem  Hazardspiel  galt  als  Verbrechen. 

Ganz  anders  dagegen  ging  es  am  Hofe  und  zur  Zeit 
Katharinas  II.  zu.  Da  gab  es  im  Kabinett  der  Zarin  regel- 
mäßig am  Abend  eine  Kartenpartie.  Die  Kaiserin  war  eine 
eifrige  Spielerin.  Sie  spielte  zumeist  Whist,  Rocambole,  Pikett 
oder  Boston.  Ihre  gewöhnlichen  Partner  waren  Graf  Rasu- 
mowskij,  Feldmarschall  Graf  Tschernischow,  Feldmarschall 
Fürst  Galitzyn,  Graf  Bruce,  Graf  Stroganow,  Fürst  Orlow,  Fürst 
Wjäsemskij.*)  Auch  fremde  Diplomaten  wurden  der  Ehre 
teilhaftig,  mit  der  Kaiserin  Karten  spielen  zu  dürfen.  Am 
liebsten  spielte  Katharina  mit  Rasumowskij  und  Tschernischow, 
weil  sie  vorsichtig  waren  und  niemals  den  Versuch  machten,  die 
Souveränin  aus  bloßer  Galanterie  gewinnen  zu  lassen.  Sie 
selbst  nahm  durchaus  keine  persönlichen  Rücksichten.  Der 
Kammerherr  Tschertkow,  den  sie  manchmal  zum  Mitspielen 
einlud,  geriet  immer  in  Zorn,  wenn  er  stark  verlor,  warf  der 


1)  Halem,  Leben  Peters  des  Großen,  III  119. 

*)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand,  460. 

3)  Ebenda  212. 

♦)  Waliszewski,  Le  Roman  d'une  imp^ratrice,  503. 


—    344     — 

Kaiserin  ihr  schonungsloses  Spiel  vor,  schleuderte  ihr  die  Kar- 
ten vor  die  Nase.  Aber  sie  zeigte  sich  nicht  beleidigt,  ver- 
teidigte sich  so  gut  sie  konnte,  und  rief  zu  ihrer  Rechtfertigung 
die  Zuschauer  an.  Einmal  forderte  sie  zwei  anwesende  fran- 
zösische Emigranten  auf,  zwischen  Tschertkow  und  ihr  zu  ent- 
scheiden. „Schöne  Schiedsrichter,"  schrie  Tschertkow  wütend, 
„sie  haben  ihren  eigenen  König  betrogen.**  Das  war  doch  zu 
stark,  Tschertkow  wurde  aus  dem  kaiserlichen  Spielzirkel  aus- 
geschlossen. Katharina  hatte  genug  zu  tun,  um  an  ihrem 
Hofe  den  guten  Ton  festzuhalten.  Das  Kartenspiel  trug  gewiß 
nicht  dazu  bei,  diese  Aufgabe  zu  erleichtem,  Moral  und  An- 
stand zu  heben.  Graf  Stroganow  verlor  einmal  eine  große 
Summe  an  die  Kaiserin.  Da  geriet  er  aus  der  Fassung,  ver- 
gaß, daß  er  seiner  Souveränin  gegenüberstand,  warf  wütend 
die  Karten  auf  den  Tisch  und  schrie  davoneilend:  „All  mein 
Geld  wird  da  noch  verschwinden.  Ihnen  macht  es  nichts, 
aber  mirl**  Ein  Mitspieler  wollte  Stroganow  beruhigen,  doch 
Katharina  sagte :  „Lassen  sie  das.  So  ist  er  schon  seit  fünfzig 
Jahren.  Sie  werden  nichts  daran  ändern,  noch  weniger  ich.** 
Gewöhnlich  wurde  um  wenig  Geld  gespielt,  und  um  zehn  Uhr 
abends  pflegte  sich  die  Kaiserin  zurückzuziehen.  Aber  manch- 
mal ging  es  auch  lebhafter  zu.  Zuweilen  kam  es  sogar  vor, 
daß  man  am  grünen  Tisch  der  Kaiserin  um  Brillanten  spielte. 
Diese  kostbaren  Spielmarken  lagen  in  kleinen  goldenen  Käst- 
chen und  wurden  mit  goldenen  Löffelchen  ausgeteilt.^)  Solche 
Abendpartien  kosteten  der  Kaiserin  Unsummen,  denn  die  Mit- 
spielenden durften  die  Spielmarken  nach  dem  Ende  des  Spieles 
mitnehmen.  Auch  beim  großen  Günstling  der  Zarin  Katha- 
rina, bei  dem  Fürsten  Patjomkin,  spielte  man  häufig  statt  um 
Geld :  um  Edelsteine.  Hier  dauerten  die  Kartenpartien,  die  sich 
an  die  feenhaften  Bälle  anschlössen,  die  ganze  Nacht  hindurch ; 


1)  Sugenheim,  Rußlands  Einfluß  auf  Deutschland  II  ii.  —  Die  Frei- 
gebigkeit der  Zarin  wird  aber  in  ein  merkwürdiges  Licht  gestellt,  wenn  man 
aus  der  „Minerva"  von  Archenholtz,  1798,  III  3 — 6  erfährt,  daß  im  Jahre 
1791  bei  einem  Hofballe  in  Peterhof  auf  der  Haupttreppe  der  Ersparnis 
halber  kein  Licht  brennen  durfte;  oder  daß  die  71  Pagen  der  Herrscherin 
erst  1792,  im  dreißigsten  Jahre  der  Regierung  Katharinas,  neue  Livreen 
erhielten. 


Mai  im  Falkenwalde  bei  Moskau. 


—    345    — 

während  des  Spiels  durfte  nichts  gesprochen  werden,  es 
herrschte  oft  stundenlang  lautlose  Stille,  i) 

Einer  der  verrufensten  Kartenspieler  jener  Epoche  war 
der  Kanzler  Bestuschew.  „Er  trinkt  die  Tage  und  spielt  die 
Nächte  hindurch,"  klagte  seine  Frau.  In  einer  Woche  verlor 
er  zehntausend  Rubel,  in  anderen  unglücklichen  Nächten  Ver- 
mögen um  Vermögen.  Um  Geld  für  das  Kartenspiel  herbeizu- 
schaffen, bestahl  er  den  Staat,  machte  er  falsche  Wechsel, 
nahm  er  schließlich  Bestechungsgelder  von  fremden  Staaten, 
besonders  englisches  Gold.  Einst  war  er  den  ausländischen 
Diplomaten  als  ein  arroganter  und  ewig  drohender  Staatsmann 
entgegengetreten  und  hatte  ihnen  Respekt  einzuflößen  ver- 
standen. Seine  Leidenschaft  für  Spiel,  Schnaps  und  Weiber 
aber  hatte  ihn  schnell  heruntergebracht;  um  Geld  zur  Befrie- 
digung seiner  Laster  war  er  schließlich  für  alles  zu  habe;n; 
seine  Geldnot  war  so  furchtbar,  daß  er  oft  in  verzweifelte 
Situationen  geriet ;  um  der  Zarin  nach  Moskau  folgen  zu  können, 
mußte  der  Kanzler  schleunigst  den  Schmuck  und  selbst  die 
Kleider  seiner  Frau  versetzen.  2) 

Dieses  Porträt  der  Verkonunenheit  der  Großen  wieder- 
holt sich  hundertfach.  Von  Besborodko  heißt  es:  er  ist  ein 
zügelloser  Spieler  3);  von  Panin:  er  liebt  nur  die  Tafel,  die 
Weiber  und  das  Spiel.*)  Interessant  sind  die  Bekenntnisse  des 
Generalmajors  Löwenstern ^),  der  erzählt,  wie  er  als  junger 
Offizier  in  wenigen  Tagen  sein  immenses  Vermögen  verspielte. 
Einmal  spielte  er  mit  dem  Grafen  Bobrinskij,  einem  natürlichen 
Sohne  Katharinas  II.  und  Orlows,  und  der  Gräfin  Bulgarin  eine 
Partie  Boston  zu  kleinen  Einsätzen ;  und  gewann  doch  mehrere 
tausend  Rubel.  Am  anderen  Morgen  erschien  Bobrinskij  bei 
Löwenstem  und  verlangte  Revanche;  Bobrinskij  verlor  wieder 
und   immer  wieder,    schließlich   70000   Rubel,    und   dies    bei 


1)  Potemkin.  Ein  interessanter  Beitrag  zur  Regierungsgeschichte  Katha- 
rinas der  Zweiten.    Halle  und  Leipzig  1804. 

*)  Waliszewski,  La  derni^re  des  Romanov,   115. 

*)  Waliszewski,  Autour  d'un  tröne,  22. 

^)  Laveaux,  M6moires. 

*)  M6moires  du  g6n6ral-major  russe  Baron  de  Löwenstem  1776 — 1858, 
publi^s  par  M.-H.  Weil,  Paris  1903.    I  156 — 164. 


-     346     — 

niedrigem  Spiel.  Löwenstem  erkrankte,  mußte  vierzehn  Tage 
das  Bett  hüten;  das  Spiel  wurde  am  Krankenbette  fortgesetzt, 
ununterbrochen  wochenlang.  Plötzlich  drehte  sich  das  Blatt, 
Bobrinskijs  Beharrlichkeit  wurde  belohnt,  er  gewann  sein  Geld 
zurück  und  dazu  noch  400000  Rubel;  dann  ließ  er  sich  nicht 
mehr  blicken.  Der  junge  Baron  Löwenstern  war  ruiniert,  aber 
er  tröstet  sich  in  seinem  Tagebuche  damit,  daß  durch  seinen 
riesigen  Verlust  sein  Ruf  rehabilitiert  worden  sei;  ,, früher; 
konnte  man  behaupten,**  schreibt  er,  „daß  ich  das  Glück  korri- 
gierte, weil  ich  fortwährend  gewann;  jetzt  sieht  man,  daß  es 
Zufall  war.**  Ein  anderes  Mal  erzählt  Löwenstem :  ,,Ich  war  bei 
Alexis  Orlow  eingeladen.  Alle  waghalsigen  Spieler  waren  dort 
\'iersammelt.  Nach  dem  exquisiten  Diner  begann  sofort  das 
Spiel.  Ich  gewann  von  Herrn  Dickow,  einem  Spieler  von 
Profession,  dreißigtausend  Rubel.**  Am  anderen  Tag  lud  Dickow 
den  jungen  Löwenstem  zum  Tee,  nahm  ihm  in  einem  kleinen 
Spielchen  nicht  nur  die  dreißigtausend  Rubel  wieder  ab,  son- 
dern raubte  den  Gast  vollständig  aus. 

Kein  Kartenspiel  ohne  Damen.  Die  vornehmsten  Frauen 
geben  sich  dazu  her,  ihren  Gatten  oder  Freunden  als  Schlep- 
perinnen zu  dienen,  um  immer  neue  Opfer  ins  Netz  zu  locken. 
Die  früher  erwähnte  Gräfin  Bulgarin  gehörte  zur  höchsten 
Gesellschaft;  sie  machte  aber  ganz  ungeniert  ein  Kompanie- 
geschäft mit  dem  Grafen  Bobrinskij,  und  niemand  nahm  daran 
Anstoß,  nicht  einmal  die  Gattin  Bobrinskijs  oder  der  Gatte  der 
Bulgarin.  Es  ist  nicht  übertrieben,  wenn  man  sagt:  der  Vater 
machte  sich  nichts  daraus,  seine  Töchter  zu  verspielen.  Jefim- 
jew,  ein  dramatischer  Dichter  aus  der  Zeit  Katharinas,  geißelte 
diese  familienschänderische  Spielleidenschaft  in  seinem  Stücke 
,,Der  Verbrecher  aus  Kartenspiel  oder  die  vom  Bruder  verkaufte 
Schwester.**  Der  Mensch  ist  in  Rußland  nichts  als  Ware.  Wie 
oft  kam  es  vor,  daß  Spieler,  die  all  ihr  Bargeld  und  ihre  Wert- 
sachen verloren  hatten,  nun  um  Seelen  zu  spielen  begannen; 
Graf  Schuwalow  verspielte  in  einer  einzigen  Nacht  fünfhundert 
Leibeigene,  und  er  schickte  sie  am  nächsten  Tage  dem  glück- 
lichen Gewinner  zu,  wie  man  einem  ein  paar  hundert  Säcke 
übermittelt.  Mancher  kommt  in  prunkender  Troika  als  Gast 
in  einen  fürstlichen  Hof  gefahren  und  muß  am  anderen  Mor- 


—     347     — 

gen,  da  er  Geld,  Schmuck,  Wagen,  Pferde  und  Kutscher  ver- 
spielt hat,  zu  Fuß  heimwärts  taumeln.  Zu  den  leidenschaftlich- 
sten Spielern  gehören  die  Geistlichen;  ein  Pope  verlor  bei 
seinem  Gutsherrn  den  letzten  Rubel,  der  Patron  war  aber 
großmütig  genug,  dem  Väterchen  einen  Wagen  zur  Verfügung 
zu  stellen,  damit  der  geistliche  Herr  noch  rechtzeitig  zur 
Messe  ins  Dorf  zurückkehren  k<5nnte. 

In  den  großen  Städten  wird  in  allen  Klubs  rasend  gespielt. 
Im  Gegensatze  zu  den  vornehmen  Kasinos  in  Europa  ist  man 
in  Petersburg  und  Moskau  bei  der  Aufnahme  von  Mitgliedern 
nicht  allzu  streng,  und  so  findet  man  unter  diesen  oft  notorische 
Professionsspieler  und  Schwindler.  Im  Winter  1906  verur- 
sachte ein  Vorfall  im  Petrowskij  Jachtklub  einen  großen  Skan- 
dal im  Petersburger  Highlife.  An  dem  Spieltisch  des  soge- 
nannten besten  Kreises  ging  es  eines  Abends  hoch  her.  Gold 
und  Banknoten  häuften  sich  pyramidal.  Aber  binnen  kurzem 
floß  alles  in  den  Hafen  des  glücklichen  Bankhalters.  Alle 
Spieler  verloren,  nur  der  Bankier  gewann.  Plötzlich  trat  einer 
der  Kibitze  an  den  Spieltisch  heran  und  bat  einen  der  Mit- 
spieler, sich  an  dem  Einsatz  beteiligen  zu  dürfen.  Nun  machte 
der  neue  Gast  von  seinem  Rechte  als  Mitspieler  Gebrauch  und 
verlangte,  daß  der  Bankhalter  ein  frisches  Kartenspiel  erhal- 
ten sollte.  Großes  Erstaunen,  man  forderte  eine  Erklärung, 
und  sie  wurde  sofort  erteilt.  Der  Skeptiker  nahm  dem  Bankier 
die  Karten  aus  der  Hand  und  zeigte,  daß  alle  Neuner  an  der 
Längsseite,  alle  Bilder  an  der  Breitseite  mit  Fett  gezeichnet 
waren.  Der  entlarvte  Falschspieler  wurde  sofort  entfernt.  Und 
mm  kommt  das  Russische  an  der  Geschichte.  Einer  der  Herren 
des  Klubkomitees  führte  den  Entlarver  in  eine  Ecke.  Die  Aus- 
sprache war  ebenso  kurz  als  originell :  es  wurde  dem  Stören- 
fried bedeutet,  daß  durch  solche  Szenen  die  Reputation  des 
Klubs  geschädigt  würde ;  er  möchte  daher  die  Güte  haben,  die 
Räume  der  Gesellschaft  sofort  auf  Nimmerwiederkehr  zu  ver- 
lassen. Am  nächsten  Tage  ging  allen  vornehmen  Klubs  von 
Petersburg  ein  Rundschreiben  des  Petrowskij  Jachtklub  zu, 
welches  die  Ausschließung  —  nicht  des  Schwindlers,  sondern 
des  Entlarvers  —  offiziell  bekanntgab. 

Früher  hatten  auch  die  Frauen  in  allen  Klubs  Zutritt  zum 


—    348    — 

g^nen  Tisch.  Die  russischen  Frauen  spielen  noch  leidenschaft- 
Hcher  als  die  Männer,  und  werfen,  wenn  Geld  und  Schmuck 
verloren  sind,  ihre  Ehre  leichtmütig  als  Einsatz  hin.  So  wur- 
den die  Säle  der  Klubs  in  Bordelle  verwandelt,  während  sich 
im  Erdgeschosse  der  Paläste  maskierte  Versatzämter  etablier- 
ten. Ein  angeblicher  Goldschmied  mietete  einen  Laden  im 
Klubhause,  und  der  fleißige  Mann  saß  die  ganze  Nacht  hin- 
durch an  seinem  Werktischlein.  Wenn  die  Damen  oben  ihren 
letzten  Rubel  verloren  hatten,  eilten  sie  zum  gefälligen  Gold- 
schmied himmter,  der  ihnen  um  einen  Spottpreis  ihre  Bril- 
lanten abnahm.  Das  Ärgernis,  das  der  Ruin  der  besten  Fami- 
lien durch  Spiel  imd  Sittenlosigkeit  selbst  in  der  lasciven  Pe- 
tersburger Gesellschaft  hervorrief,  führte  endlich  zum  Ver- 
bot der  Teilnahme  von  Frauen  an  den  Hazardspielen  in  den 
Klubs. 

Wäre  das  Spiel  nur  auf  die  Klubs  beschränkt,  so  hätte  es 
als  Wertmesser  für  die  russische  Sittlichkeit  keine  Bedeutung. 
Das  Charakteristische  des  Hazardspiels  in  Rußland  ist  jedoch 
seine  allgemeine  Verbreitung.  Jedermann  spielt,  vom  Groß- 
fürsten bis  herab  zum  letzten  Muschik,  vom  General  bis  zum 
Soldaten,  vom  Großkaufmann  bis  zum  ärmsten  Schuster  und 
Schneider.  In  den  Familien  gibt  es  keinen  Ball,  der  nicht  mit 
einem  Spiele  enden  würde.  Die  jungen  schönen  Frauen  fliegen 
aus  den  Armen  der  Tänzer  an  den  Spieltisch,  aus  einer  Er- 
regung in  die  andere,  und  untergraben  ihre  Gesundheit  durch 
die  furchtbarsten  Leidenschaften.  Am  Kartentisch  spielen  die 
traurigsten  Romane,  wird  am  meisten  die  Ehe  gebrochen. 
Deshalb  verblüht  die  russische  Frau  so  schnell,  deshalb  muß 
die  Russin  früher  als  die  Frau  aller  anderen  Nationen  Zuflucht 
nehmen  zu  Perücken,  Schminken  und  Schönheitsmitteln,  um 
die  Spuren  zu  verwischen,  welche  zahllose  durchwachte  Nächte 
an  ihr  zurückgelassen.  Bis  zum  dämmernden  Morgen  fiebert 
man  am  grünen  Tisch,  und  dann  muß  man  nach  einigen 
wenigen  Stunden  der  Ruhe  zum  Rendezvous  mit  dem  Manne 
eilen,  an  den  man  das  Geld  verloren  hat,  um  für  den  Preis 
eines  Ehebruchs  das  Verspielte  wieder  zurückzuerobern. 

In  den  besten  und  anscheinend  solidesten  Familien  wird 
hazardiert.     Man   erhält    eine   harmlose   Einladung   zum   Tee 


—    349    — 

oder  Souper,  aber  kaum  ist  man  angelangt,  so  setzt  man 
sich  schon  zu  einem  Spielchen  nieder.  Musik  und  Tanz,  Essen 
und  Trinken  werden  nebensächlich,  man  hat  nur  noch  Interesse 
für  Gewinn  und  Verlust.  Da  gibt  es  große  vornehme  Häuser, 
die  einen  unbeschreiblichen  Luxus  entfalten,  wo  an  jedem 
Abend  der  Champagner  in  Strömen  fließt,  wo  die  Frau  und 
die  Töchter  in  den  kostbarsten  Roben  erscheinen.  Alles  das 
müßte  im  Nu  verschwinden,  wenn  nicht  die  Hausfreunde  all- 
abendlich neue  Opfer  herbeischleppen  würden,  die  man  in 
graziöser  Weise  auszuplündern  versteht.  Ein  junger  Millionär 
wird  in  einem  hocharistokratischen  Hause  eingeführt  und  rech- 
net es  sich  zur  Ehre  an,  mit  der  Fürstin  und  den  Töchtern 
ein  kleines  Spielchen  zu  spielen ;  wenn  er  endlich  aufsteht,  ist  er 
um  hunderttausend  Rubel  ärmer. 

Eine  Spezialität  sind  die  Spielsalons  der  Balletteusen  der 
kaiserlichen  Hofoper.  Nach  Theaterschluß  erscheinen  hier 
Großfürsten,  hohe  Würdenträger,  Kaufleute  und  Professoren, 
und  in  bunter  Reihe  setzt  man  sich  an  den  Spieltisch.  In  der 
vierten  oder  fünften  Morgenstimde  schleichen  blasse  müde 
unglückliche  Menschen  heim;  diese  Spielhöllen  sind  alle  der 
Polizei  gut  bekannt,  aber  sie  erfreuen  sich  solcher  Protektion, 
daß  man  noch  niemals  an  ein  Einschreiten  der  Behörden  auch 
nur  zu  denken  gewagt  hat. 

Nur  gegen  das  Spiel  am  Turf  hat  man  Maßregeln  ergrif- 
fen, wenigstens  solche,  welche  die  ärmere  Bevölkerung  vor  dem 
Spielteufel  schützen  sollen.  Man  ordnete  nämlich  an,  daß  der 
geringste  Einsatz  zehn  Rubel  sein  müsse.  Aber  es  machen 
eben  zehn  arme  Leute  gemeinsame  Sache,  und  so  verspielt  man 
trotz  der  behördlichen  Vorsorge  seinen  kargen  Verdienst  rubel- 
weise. An  der  Spitze  des  Rennklubs  von  Zarskoje  Sselo  steht 
der  Großfürst  Dmitrij  Konstantinowitsch ;  vor  zwei  Jahren 
war  dieser  Großfürst  in  dieser  Eigenschaft  der  Mittelpunkt  eines 
Skandals :  man  erfuhr,  daß  das  Publikum  von  dem  hohen  Herrn 
einfach  betrogen  wurde,  daß  nur  die  Pferde  ans  Ziel  kamen, 
welche  der  Großfürst  ans  Ziel  kommen  lassen  wollte.  Aber 
der  Skandal  ist  vorübergegangen,  der  Großfürst  blieb  Klub- 
präsident, imd  Arm  und  Reich  verspielt  nach  wie  vor  hoff- 
nungslos das  Geld  auf  dem  Turfplatz. 


—     350     — 

Die  Lust  am  Spiel  ist  so  groß,  daß  man  mit  allem  und  um 
alles  spielt.  Berühmt  ist  das  russische  Läusespiel.  Zwei  Rus- 
sen setzen  sich  zusammen,  zeichnen  auf  einen  Tisch  oder  eine 
Bank  einen  Kreis  und  legen  in  den  Mittelpunkt  des  Kreises  — 
ländlich  sittlich  —  jeder  eine  Laus.  Wessen  Tierchen  zuerst 
die   Kreislinie  erreicht,   der  hat   gewonnen. 

Obwohl  sich  in  bezug  auf  das  Spiel  kein  Mensch  um  die 
Polizeiordnung  bekümmert,  ist  es  doch  Pflicht,  der  Vollständig- 
keit halber  ihrer  zu  gedenken.  Sie  besagt:  Alle  Klagen  und 
Forderungen  in  betreff  der  Spielschulden  sind  von  vornherein 
nichtig.  Die  Polizei  hat  von  Fall  zu  Fall  zu  entscheiden,  welches 
Spiel  erlaubt  ist  und  welches  nicht.  Im  allgemeinen  sind  nur 
solche  Spiele  gestattet,  die  sich  auf  erlaubten  Zufall  und  auf 
Geschicklichkeit,  oder  auf  Stärke  und  Gewandtheit  gründen.  — 
Diese  Polizeiordnung  scheint  in  Wahrheit  gar  nicht  für  die 
Russen,  sondern  nur  für  die  Kalmücken  gemacht  zu  sein ;  denn 
im  ganzen  russischen  Reiche  gibt  es  bloß  bei  den  Kalmücken 
regelmäßige  Ringerspiele. 

20.  Kirchenfeste  und  Volksfeste. 

Heidnische  Reminiszenzen  —  Weihnachten  und  Koljada  —  Erotischer 
Charakter  der  Festgebräuche  —  Rothügelfest  —  Chorowody  oder  Reigen- 
tänze —  Der  Georgstag  —  Der  Koitus  auf  dem  Ackerfelde  —  Südslawische 
Parallele  —  Gebrauch  der  ukrainischen  Jugend  auf  dem  Saatacker  —  Ssemik 

—  Russalki  und  Pfingsten  —  Das  russische  Johannisfest  —  Iwan  Kupalo 
und  Jarilo  —  Das  Springen  durchs  Feuer  —  Das  Aufeinanderwälzen  — 
Aberglaube  in  der  Johannisnacht  —  Erotische  Johannisfestgebräuche  in 
Estland  —  in  Livland  —  Das  Beilager  der  Mooner  —  Altestnische  Ge- 
bräuche —  Die  russischen  Petrowkigebräuche  —  Wirtschaftliche  Bedeutung 
des  Peterpaulstages  —  GeschlechtUche  Freiheit  der  Frauen  am  Petrowkifest  — 
Der  Teufel  und  die  Schaukel  —  Begleiten  des  Frühlings  in  Ssaratow  —  Nächt- 
liche Spaziergänge  zum  Quell  des  Kupalo  —  Die  weiblichen  Heihgen  Mitt- 
woch  und   Freitag   —  Geschlechtliche   Freiheit  der   Frauen   am   Charfreitag 

—  Parallelen  aus  südslawischen  Ländern  —  Heidnisches  Frühlingsfest  und 
russische  Butterwoche  —  Die  Orgien  der  Maßljäniza  —  Verloren  gegangene 
Feierlichkeiten:   Versuchung   des  Bischofs;    Einzug  Christi  in   Jerusalem  — 

Die  großen  Fasten  und  das  Osterfest  im  alten  Moskau. 

Die  griechische  Kirche  vermochte,  das  wissen  wir  bereits, 
den  heidnischen  Aberglauben  aus  deJm  russischen  Volkstum  nicht 


—     351     — 

zu  verdrängen.  Im  Kampfe  zwischen  Heidentum  und  Ortho- 
doxie unterlag  schließlich  die  letztere ;  und  sie  gab  den  Versuch 
auf,  die  vorgefundenen  Riten  und  Sitten  nach  ihren  soge- 
nannten christlichen  Prinzipien  umzuwandeln,  sondern  begnügte 
sich  damit,  ihre  neuen  Gebräuche  möglichst  den  alten  anzu- 
passen, da  sie  sonst  der  Gefahr  ausgesetzt  gewesen  wäre,  das 
Feld  räumen  und  das  mühsam  eroberte  Reich  im  Stich  lassen 
zu  müssen.  Die  orthodoxen  Kirchenfeste  fallen  demnach  mit 
ihrem  Datum  und  teilweise  auch  mit  ihren  Gebräuchen  mit 
den  alten  heidnischen  Festen  zusammen.  Nur  hat  sich,  und  auch 
nicht  immer,  der  Name  geändert,  das  Wesen  ist  dasselbe  ge- 
blieben. An  Stelle  der  Heidengötter  ruft  man  Gott,  Christus 
und  die  Heihgen  an;  aber  in  Wahrheit  verehrt  man  noch 
Daschbog,  Woloß  und  Perun;  feiert  man  die  Feste  Koljada, 
Russalki  und  Kupalo,  wenn  man  Weihnachten,  Pfingsten  oder 
das  Johannisfest  begeht.  Die  Lieder,  die  das  Volk  an  den 
christlichen  Festen  singt,  beziehen  sich  auf  die  heidnischen 
Zeremonien  und  erwähnen  die  unvertilgbaren  Namen  der  alten 
Götter.  1)  Diese  Feste  sind  reich  an  merkwürdigen  Gebräuchen, 
Rätseln,  Weissagungen  und  Spielen.  Fast  jedes  Gouvernement 
hat  seine  speziellen  Zeremonien.  In  vielen  Gegenden  nennt 
man  den  heiligen  Abend  Koljada;  in  anderen  Bezirken,  be- 
sonders im  südlichen  und  westlichen  Rußland,  kennt  man  zwei 
Abende  dieses  Namens :  BacHJibeBCKaflKOJiHAa  oder  den  Silvester- 
abend, und  KpemencKaa  nonaj^a  oder  den  Vorabend  der  Wasser- 
weihe. Die  erste  Koljada  bezeichnet  man  auch  als  die  reiche, 
ßoraTaa,  die  andere  als  die  arme  oder  strenge,  ßtAHafl  oder 
nocTHaa.  Das  Volk  begeht  diese  Feste  mit  Liedern,  Umzügen, 
Maskenspielen.  In  Weiß-  und  Kleinrußland  zieht  die  ganze 
Dorf  Jugend  in  Verkleidungen  von  Haus  zu  Haus  und  bringt 
den  Bewohnern  Ständchen.  In  der  Umgebung  von  Moskau 
fährt  man  mit  den  Mädchen  im  Schlitten  weit  hinaus  in  die 
Wälder.  2) 

Durch  alle  Gebräuche  geht  ein  stark  erotischer  Zug.     In 


1)  Vgl.  die  Lieder  mythischen  Ursprungs,  die  sich  auf  die  alten  slawisch- 
russischen  Feste  beziehen,  bei  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur, 
Seite  19. 

')  3a6iiUiiBi>,  Pyocidft  Hapo;n>*  CBanoi:  crp.  3 — 34. 


—    362    — 

der  Thomaswoche  nach  Ostern  feiert  das  Volk  das  soge- 
nannte Rothügelfest,  Kpacnaa  ropKa;  dann  begmnen  dieChoro- 
wodyi),  diese  charakteristischen  Gesangstänze  der  Slawen,  die 
unstreitig  heidnisch  piythischen  Ursprungs  und  ein  Symbol 
der  Sonnenbewegung  sind.  Auf  den  mythischen  Ursprung  der 
Lieder,  welche  diese  Tänze  begleiten,  deutet  der  im  Refrain 
vorkonmiende  Name  der  Gottheit  Did-Lado,  Urvater-Licht,  hin : 
wahrscheinlich  war  danmter  der  Lichtgott  Daschbog  verstan- 
den. 2)  Bei  den  Tänzen  kommt  es  zu  Obszönitäten  und  ge- 
schlechtlichen Ausschweifungen.  Es  ist  aber  daran  zu  erinnern, 
daß  nicht  nur  bei  allen  slawischen,  sondern  auch  bei  vielen, 
anderen  Völkern  ähnliche  Sitten  und  Bräuche  herrschen.  Wäh- 
rend indessen  bei  den  Südslawen  und  den  anderen  Völkern 
hauptsächlich  die  Perioden  Frühjahr  und  Herbst,  die  Zeit  des 
Erwachens  der  Natur  und  die  Zeit  des  Schwelgens  im  Über- 
flusse, Veranlassung  zu  sexuellen  Ausschweifungen  geben,  sind 
bei  den  Russen  alle  Feste  im  ganzen  Jahre  Ursachen  zu  ero- 
tischer Ausgelassenheit. 

Am  Georgstage,  dem  23.  April,  wird  das  Vieh  nach  dem 
Winter  zum  ersten  Male  aufs  Feld  getrieben,  und  zugleich 
trifft  man  die  Vorbereitungen  zu  den  Feldarbeiten;  an  Stelle 
der  früheren  Opfer  ist  die  kirchliche  Einsegnung  getreten, 
aber  die  heidnischen  Geschlechtsbräuche  sind  dieselben  ge- 
blieben: Der  Muschik  muß  auf  dem  Felde,  das  vom  Winter 
befreit  ist,  vor  allem  sein  Weib  beschlafen;  tut  er  es  nicht, 
so  kann  ihm  auf  diesem  Felde  kein  Segen  erblühen  und  das 
Futter  dem  Vieh  nicht  Gedeihen  bringen.  3)    In  der  Ukraine 


*)  XopoBojb.  Reigen. 

8)  Reinholdt,  24. 

*)  Ähnlich  bei  den  Südslawen.  Vgl.  Dr.  Friedrich  S.  Krauß:  Anthropo- 
phyteia,  Jahrbücher  für  folkloristische  Erhebungen  und  Forschungen  zur 
Entwicklungsgeschichte  der  geschlechtUchen  Moral  (Privatdruck  nur  für  Ge- 
lehrte und  nicht  für  den  Buchhandel  bestimmt),  Leipzig  1906,  III.  Band, 
Seite  30,  XII:  ,,Am  Georgstage,  wenn  der  Landmann  Kukuruz  auf  dem 
Acker  aussät,  da  umfriedet  er  die  Stelle,  an  der  das  Pferd  zum  ersten  Male 
mit  dem  Fuße  scharrt,  indem  er  Kukuruzkömer  um  den  Pferdeschatten  hin- 
wirft. Dann  besteigt  er  das  Pferd  auf  dieser  Stelle.  Auf  dieser  selben  Stelle 
besteigt  er  auch  sein  Weib.  Nachdem  er  das  Weib  koitirt  hat,  zündet  er  auf 
dieser  Stelle  ein  großes  Feuer  an  und  in  dieses  Feuer  legt  er  sieben  Kukuruz- 


Lustbarkeit  bei  den  Tschuktschen  im  nördlichen 
Sibirien. 


—    353    — 

^ieht  am  Georgstage  nach  beendigtem  Gottesdienste  der  Geist- 
liche in  vollem  Ornat  mit  seinen  Kirchendienern  und  der  gan- 
zen Gemeinde  auf  die  ausgesäten  und  bereits  grünenden  Felder 
des  Dorfes,  um  sie  nach  griechischem  Ritus  einzusegnen.  Den 
ganzen  folgenden  Nachmittag  bis  in  die  sinkende  Nacht  bringt 
darauf  der  Bauer  auf  den  Feldern  zu.  Man  geht  von  einem 
Feld  zum  anderen,  begrüßt  die  Nachbarn  und  genießt  beson- 
ders für  diesen  Tag  zubereitete  kalte  Speisen  unter  dem  ge- 
hörigen Zusatz  von  Branntwein.  Die  alten  Leute  mit  den  Kin- 
dern bleiben  in  der  Nähe  der  Feldwege;  die  jungen  Leute 
aber  entfernen  sich  über  die  Felder,  bis  sie  den  Alten  in  einer 
Vertiefung  aus  dem  Gesichte  verschwinden.  Hier  stecken  sie 
eine  Stange  mit  einem  angebundenen  Tuche  oder  einer  Flagge 
auf,  angeblich  um  den  Platz  zu  bezeichnen,  auf  dem  sie  sich 
vergnügen,  und  ziun  Zeichen,  daß  hier  die  Alten  nichts  zu 
suchen  haben.  Alle  legen  sich  auf  die  Felder,  und  wer  eine 
Frau  hat,  wälzt  sich  einigemal  mit  ihr  auf  dem  Saatacker  um. 
Man  sagt,  darnach  werde  Getreidesegen  zum  Vorschein 
kommen,  i) 

Vom  Ssemik^),  dem  Feste  am  siebenten  Donnerstag  nach 
Ostern,  ist  schon  kurz  im  ersten  Teile  dieses  Buches  die  Rede 
gewesen.  3)  Ssemik  ist  ein  Fest  der  Kränze,  und  speziell  ein  Fest 
zu  Ehren  der  Verstorbenen,  der  Russalki.  Die  Alten  pflegen 
die  Gräber  der  Angehörigen  zu  besuchen  und  dort  Pfann- 
kuchen oder  andere  Speisen  für  die  Toten  niederzulegen.  Die 
Jugend  aber  belustigt  sich,  indem  sie  Kränze  windet,  die  Bäume 
mit  Bändern  schmückt.  Kränze  und  Zweige  in  den  Fluß  wirft 
und  das  Schicksal  um  die  Zukunft  befragt:  schwimmt  das 
Hineingeworfene  fort,  so  bedeutet  es  Gutes;  sinkt  es  unter, 
dann  hat  man  Schlimmes  zu  erwarten.  Hierauf  tanzt  und  singt 


körner  zum  Verbrennen,  die  er  sieben  Heiligen  zugedacht,  und  nachdem  dies 
alles  verbrannt  ist  und  sich  in  Asche  verwandelt  hat,  alsdann  klaubt  er  diese 
Asche  auf  und  zerstreut  sie  über  den  ganzen  Acker.  So  machen  es  manche  Leute 
auf  jedem  Ackerfeld."    (Zu  beziehen  durch  H.  Barsdorf  Verlag,  Berlin  W.  30.) 

1)  Krauß,  Anthropophyteia,  III,  Seite  26 — 27.  Daselbst  interessante 
Parallelen. 

')  CeMHiTb.  von  ceMh,  sieben. 

3)  Vgl.  Seite  105  (dort  heißt  es  irrtümlich  Soimtag  statt  Donnerstag). 

Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.    .  23 


—    354    — 

man,  und  schließlich,  wenn  die  Alten  dem  Branntwein  hul- 
digen, frönen  die  Jungen  der  Wollust.  Auf  diese  Weise  feiern 
die  Russen  Pfingsten,  das  Fest  der  Wiederkehr  der  Frucht- 
barkeit. 

Die  Erotik  ist  femer  der  Mittelpunkt  jener  Feste,  bei  denen 
der  Gebrauch  herrscht,  daß  die  jungen  Leute  durch  das  Feuer 
springen.  Das  ist  in  einigen  Gegenden  auch  am  ersten  Oster- 
tage,  allgemein  aber  am  Vorabend  des  Festes  Johannis  des 
Täufers,  am  Abend  des  23.  Juni,  der  Fall.  Das  Johannisfest 
fällt  zusammen  mit  dem  heidnisch-slawischen  Feste  des  Ku- 
palo^),  dem  infolgedessen  auch  der  Vorname  Iwan  beigegeben 
wiu-de.  In  Weißrußland  wird  eine  Strohpuppe  auf  einea 
Scheiterhaufen  gelegt  und  verbrannt.  In  Kleinrußland  badeu 
die  jungen  Leute  beiderlei  Geschlechts  am  Nachmittag  vor 
Kupalo  gemeinsam  im  Flusse;  bei  Sonnenimtergang  zündet 
man  auf  den  Weiden,  den  Feldern,  in  den  Gärten  und  in  den 
Höfen  ein  Feuer  an,  und  die  jungen  Leute  hüpfen,  paarweise 
je  ein  Mädchen  mit  einem  Burschen,  durch  das  Feuer.  ^)  So- 
bald das  Feuer  verlöscht,  schlägt  man  sich  in  die  Büsche,  um 
sich  aufeinanderzuwälzen,  wie  der  Ausdruck  lautet.  Ähnliche 
Gebräuche  herrschen  in  Wolhynien  und  Podolien.  In  den  Gou- 
vernements Jaroßlaw,  Twer  und  Nischnij-Nowgorod  heißt  das 
Johannisfest:  Jarilo.  Bis  zum  sechzehnten  Jahrhundert  fanden 
hier  zu  Ehren  des  Jarilo  Feste  statt,  bei  denen  volle  geschlecht- 
liche Freiheit  herrschte.  Regierung  und  Kirche  versuchten  den 
Festen  diesen  Charakter  zu  nehmen,  allein  die  alten  Gebräuche 
erneuem  sich  inuner  wieder.  Im  Aberglauben  ist  die  Jarilo- 
oder  Kupalonacht  eine  Art  Walpurgisnacht.  Man  nimmt  an,, 
daß  sich  tun  diese  Zeit  die  russischen  Hexen  auf  dem  Kahlen- 
berg3)  versammeln.  Ferner  heißt  es:  in  der  Kupalonacht  blüht 
ein  Famkraut*),  das  wie  Feuer  leuchtet;  bei  dem  Glänze  dieses 


1)  Vgl.  S.  81  (daselbst  heißt  es  falsch:  Kupilo).  —  Kupalo  war  der  Gott 
der  Feldfrüchte. 

*)  3a6ujiHHi>,  PyecKÜt  Hapo;n>,  crp.  66 — 80:  HBaui>  Kynaao  h  Arpa(t>eRa 
KynajiMiHua  (Kupalo  ist  am  24.,  Ag^rafena  Kupaljniza  am  23.  Juni). 

^)  JIucaH  ropa.     Vgl  3a6ujiHH'L  tj. 

*•)  rianopoTB  oder  nanoporiiHin»,  mia?e  KaHe;(U3KHHKT>.  SaöbLSHHi»,  78  (Hsa^ 
HOBi.  Hutn»).     Die  Hexenmeister  suchen  in  dieser  Nacht  auch  nach  „paapuBK 


—    355    — 

Krautes  kann  man  verborgene  Schätze  entdecken,  über  die 
Bedeutung  und  Abstammung  des  Wortes  Kupalo  können  sich 
die  russischen  Gelehrten  nicht  einigen;  manche  von  ihnen 
haben  sich  zu  den  merkwürdigsten  Vermutungen  verstiegen. 
Die  einen  behaupten,  Kynajio  stanmie  von  der  Wurzel  KynaTJb, 
baden,  weil  man  von  diesem  Tage  an  in  offenem  Wasser  zu 
baden  beginnt ;  andere  leiten  Kynajio  vom  lateinischen  copula 
oder  dem  deutschen  Worte  Kuppelei  her.  Kyna,  auch  Kyna, 
bedeutet  lexikalisch  einen  Haufen,  kann  also  bezogen  werden 
auf  das  Zusammenwerfen  des  Reisigs  für  das  Feuer. 

In  Esthland  war  es  noch  zu  Ende  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts Brauch,  sich  am  Abend  vor  dem  Johannistag  um  eine 
alte  Kirchenruine  zu  scharen  und  Feuer  anzuzünden;  sterile 
Frauen  tanzten  nackt  herum,  um  fruchtbar  zu  werden,  junge 
Mädchen  aber  eilten  mit  den  Burschen  in  den  Wald,  um  nach 
Lust  miteinander  zu  verkehren.  In  meiner  Knabenzeit  sah  ich 
im  livländischen  Badeorte  Dubbeln  alljährlich,  wie  die  Bauers- 
leute auf  den  Höfen  um  die  Johannisfeuer  sprangen,  aber 
nicht  mehr  nackt,  sondern  bloß  barfüßig,  und  dann  in 
Gärten  oder  in  Heuschobern  sich  aufeinanderwälzten ;  kein, 
Vorübergehender  nahm  an  solcher  Sitte  an  diesem  Abend  An- 
stoß, i)  Bei  den  Esthen  auf  der  Insel  Moon  ist  das  Beilager 
der  Johannispaare  ein  alter  Brauch.  Am  23.  Juni,  oder  auch 
am  I.  Juli,  dem  Vorabend  des  Heu-Marientages,  zündet  man 
dort  große  Feuer  an.  An  diesem  heiligen  Abend,  sagt  man, 
muß  der  Mooner  eine  Beischläferin  haben.  Während  die  Wei- 
ber und  Mädchen  den  Rundtanz  um  das  Ledotulli,  das  Fest- 
feuer ausführen,  gehen  die  jungen  Männer  um  den  Kreis 
herum,  beobachten  die  Mädchen  und  entfernen  sich  dann  in 
den  Wald.  Bald  gibt  dieser  und  jener  einem  Trupp  kleinerer 
Jungen  den  Auftrag,  die  Auserkorene  zu  holen.  Ein  Junge  ruft 
die  Bezeichnete  unter  irgend  einem  Vorwand  aus  dem  Ring 
der  Tänzerinnen  heraus.  Die  übrigen  Knaben,  etwa  zehn  an 
der  Zahl,  umringen  das  Mädchen  und  schleppen  es  mit  Gewalt, 

TpaBy",     der  Springwurzel   der  Deutschen,   welche  die  Eigenschaft  hat,  die 
festesten  Schlösser  zu  öffnen. 

1)  Parallelen  aus  dem  Orient:  Mein  Buch  über  Medizin,  Aberglaube  und 
Geschlechtsleben  in  der  Türkei.    II  176.     (Verlag  H.  Barsdorf,  Berlin  W.  30.) 

23* 


—    366    ~ 

ziehend  und  stoßend,  über-  Stock  und  Stein,  über  Zäune  und 
Gräben,  bis  der  Zug  nach  mehrmaligem  Fallen  und  wiederholtem 
Ringen  bei  dem  Harrenden  angelangt  ist.  Der  Bursche  wirft 
das  Mädchen  nieder,  legt  sich  neben  seine  Auserkorene  und 
schlägt  ein  Bein  über  sie;  diese  Zeremonie  muß  er  durchaus 
beobachten,  wenn  sie  ihn  nicht  für  einen  Stümper  halten  soll. 
Ohne  sie  weiter  zu  berühren,  liegt  er  bis  zum  Morgen  neben 
ihr.  Die  Mädchen,  denen  solches  widerfährt,  freuen  sich  dessen 
nicht  wenig,  selbst  wenn  man  ihnen  auf  dem  Transporte  das 
Hemd  zerrissen  hat;  die  Moonschen  Weiber  und  Mädchen 
tragen  nämlich  bloß  ein  Hemd  am  Leibe,  nur  wenn  sie  zur 
Taufe  oder  Hochzeit  gehen,  ziehen  sie  darüber  einen  Rock.  Die 
Mädchen,  die  nicht  gewählt  werden,  können  ihren  Neid  und 
Mißmut  nicht  bezwingen,  die  Mütter  der  Bevorzugten  aber 
erzählen  mit  Wonne  den  Ruhm  ihrer  Töchter.^) 

Ein  russisches  Sommerfest  sind  die  sogenannter  ITeTpoBKH, 


1)  Verhandlungen  der  Esthnlschen  Gesellschaft,  Band  XII,  2.  Dorpat  1872. 
S.  64 — 65.  Zitiert  bei  Mannhardt.  Antike  Wald-  und  Fcldkulte  aus  nordeuro- 
päischer Überlieferung,  Berün  1877.  S.  284 ff.  und  in  Anthropophyteia  III: 
Beischlafsausübung  als  Kulthandlung.  S.  25.  —  Nach  den  Verhandlungen  der 
Esthnischen  Gesellschaft  zu  Dorpat,  1850,  Band  II,  3.  Seite  46 ff.  erwähnen 
Mannhardt  und  Krauß  noch  folgenden  Brauch  der  alten  Esthen:  Zur  Zeit 
des  Frühlingsfestes  zu  Ehren  des  Donnergottes  Ukko  Paudel,  mußten  sich 
unfruchtbare  Weiber  beim  Ukkowak  einsperren  lassen  und  sich  daselbst  einer 
geheimen  Zeremonie  unterziehen.  Nachdem  der  Hausherr  frühmorgens  nüchtern 
die  Grenzen  seines  Ackers  umwandelt,  begann  ein  Bacchanal,  bei  dem  nament- 
lich die  Weiber  viel  trinken  mußten.  —  In  Hiäms  Ehst-,  Lyf-  und  Lettlaen- 
discher  Geschichte,  S.  28  findet  man  folgende  auf  den  Gott  Ukko  bezügliche 
finnische  Verse  des  Sigfridi  Aronis: 

Ja  quin  Kelwe  Kylwo  Kylwätin 

sillon  Uckon  Mallia  jotin 

Sieben  hantin  Uckon  wacka 

nin  jopuj  Pica  ette  acka 

Syte  palio  Häpie  siele  techtin 

quin  seke  cuultin  ette  nechtin 

quin  Raunj  Uckon  Naini  härsky 

jalosti  Ukoj  pohiasti  pärsky. 
Aus  diesen  Versen  geht  hervor,  ,,daß  Ucko  und  sein  Weib  Rauni  über  das 
Wetter  zu  gebieten  hatten;  wenn  die  Frühlingssaat  sollte  gesät  werden,  so 
trank  man  dem  Gotte  zu  Fähren,  und  Weiber  und  Mädchen  soffen  sich  voll 
und  verübten  schändliche  Dinge." 


Volksbelustigungen  der  Russen 


—    357    — 

die  airi  Vorabend  des  29.  Juni,  des  Peterpaultages,  als  ein 
wirkliches  Volksfest  gefeiert  werden.  Mit  den  Petrowki  beginnt 
das  Düngen  der  Felder,  der  Schnitt  des  Getreides,  die  Zeit 
der  Hitze,  neTpoBciuH  acapu.  In  vielen  Städten  Rußlands  ist 
an  diesem  Tage  großer  Jahrmarkt.  In  alten  Zeiten  war  der 
Peterstag  der  wichtigste  Gerichtstag,  die  Zölle  wurden  dann 
eingehoben,  es  war  der  Termin  für  die  Abgaben  und  Steuern. 
Bei  den  Bauern  ist  der  Peterstag  noch  heute  der  Zahltag  der 
Steuern.  Am  Petrowki  Vorabend  gab  man  sich  allen  möglichen 
Belustigungen  hin.  Die  Frauen,  die  sonst  so  streng  abgeschlos- 
sen waren,  durften  am  Petrowkifeste  ihre  Kerker  verlassen  und 
frei  umherstreifen,  auf  den  Jahrmärkten  sich  unterhalten,  die 
Reigentänze  imitmachen  und  sich  auf  den  öffentlichen  Schaukeln 
wiegen  lassen.  Im  Stoglaw,  dem  Buche  der  hundert  Kapitel  von 
den  russischen  Lastern,  die  Zar  Iwan  zusammenstellen  ließ, 
heißt  es:  daß  ganz  Moskau  am  Montag  des  Petrowkifastens 
auf  Völlerei  ausgehe.  Man  nennt  dies  ryjiHHbo  na  HajiHBKax'B, 
spazieren  auf  die  Sauferei.  Ein  älterer  russischer  Schriftsteller 
klagt:  ,,Am  Feiertage  der  Apostel  Pjotr  und  Pawel  legt  der 
Teufel  seine  Schlingen  und  Netze  über  die  Katscheli^)  und 
schaukelt  die  Bösen  in  Tod  und  Verderben.**  Der  gute  Alte 
hat  umsonst  gepredigt  und  gewarnt.  Die  Petrowki,  der  Vor- 
abend wie  der  Peterpaulstag  selbst,  gehören  noch  immer  zu 
den  ausgelassensten  Festen  der  Russen.  Im  Ssaratowschen 
Gouvernement  ergötzt  man  sich  am  Vorabend  des  29.  Juni  in 
folgender  Weise,  den  Frühling  zu  begleiten  2),  wenn  er  von 
dannen  zieht.  Männer  und  Frauen  fahren  in  ihren  Telegen  im 
Gänsemarsch  von  einem  Ende  des  Dorfes  bis  zum  anderen, 
treiben  freche  Spaße  und  beschließen  die  Nacht  mit  Reigen- 
tänzen imd  Aufeinanderwälzen.  Im  Gouvernement  Twer  be- 
ginnen am  ersten  Sonntagnachmittag  nach  dem  Peterpaulstage 
die  sogenannten  nächtlichen  Spaziergänge.  3)  In  Kaschina  spa- 
ziert   man    zum    Klobukowkloster,    wo    eine    wunderwirkende 


1)  Ka«i«'.if>,  die  Schaukel,  bildet  auf  den  Volksfesten  seit  jeher  das  Haupt- 
vergnügen der  niederen  Volksklassen,   namentlich  der  Frauen. 

■)  üpOBOÄbl  BecHH. 

*)  Ho'iHHifl  r^'.TflUKH.  Über  die  Doppelbedeutung  von  r\Mflni,e,  Spazier- 
gang und  Hurerei,  ist  bereits  S.  105  gesprochen  worden. 


—    358    — 

Quelle  fließt.  Der  Tradition  zufolge  stand  einst  an  dieser 
Quelle  die  Bildsäule  des  Kupalo.  An  der  vom  heidnischen 
Gefühl  geheiligten  Stelle  finden  die  ausgelassensten  Maskeraden 
statt,  bei  denen  die  Burschen  ihr  Gesicht  mit  Tüchern  ver- 
hüllen, um  nicht  von  den  Mädchen,  mit  denen  sie  der  Wollust 
frönen,  erkannt  zu  werden.  Es  spielen  sich  in  voller  Öffentlich- 
keit die  seltsamsten  Szenen  ab,  man  stolpert  fortwährend  über 
aufeinandergewälzte  Liebespaare,  und  es  kommt  zu  Skandalen, 
Eifersuchtsszenen,  Handgemenge  und  Totschlag,  i) 

Eigentümlich  erotische  Gebräuche  sind  auch  jene,  die 
sich  an  die  Feier  des  Mittwochs  und  Freitags  der  Karwoche 
anlehnen.  Mittwoch  und  Freitag,  Ssereda  und  Pjatniza,  sind 
in  der  anthropomorphischen  Vorstellung  des  Volkes  die  Personi- 
fikationen der  weiblichen  Heiligen  Ssereda  und  Praßkowja. 
Ursprünglich  sollte  dieser  Kultus  die  Marterwoche  Christi  ehren ; 
die  Roheit  und  die  Sinnlichkeit  des  Volkes  fanden  aber  keine 
Befriedigung  in  einem  rein  religiösen  Kultus,  und  Aberglaube 
und  Unzucht  verdrängten  die  Zeremonien  der  Kirche.  Der 
Unfug  wurde  so  furchtbar,  daß  die  orthodoxe  Geistlichkeit  im 
sechzehnten  Jahrhundert  die  Ssereda-  und  Pjatnizafeier  unter 
Androhung  der  schwersten  Strafen  gänzlich  untersagen  mußte.^) 
Die  Sseredafeste  sind  seither  auch  verschwunden,  dagegen  ist 
der  Freitagskult  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  ganz  Rußland  un- 
beeinträchtigt aufrecht  geblieben.  3)  Man  müßte  das  Andenken 
der  heiligen  Großmärtyrerin  Praßkowja  am  28.  Oktober  feiern, 
dem  eigentlichen  Praßkowia-Freitag*),  obwohl  der  Namenstag 
der  Heiligen  natürlich  nicht  immer  auf  einen  Freitag  fällt. 
Die  Russen  haben  aber  diese  Heilige  so  sehr  mit  dem  Freitag 
identifiziert,  daß  in  vielen  Gegenden  die  Frauen  an  keinem' 
Freitag  arbeiten  dürfen,  um  diesen  heiligen  Tag  nicht  zu  ent- 
weihen. Praßkowja  ist  die  Spezialheilige  der  Weiber,  die  zu 
ihr  in  allen  schlimmen  Lagen  des  Lebens  beten.  5)  Der  Freitag 
der  Karwoche  besonders  wurde  den  Frauen  ein  Tag  der  Frei- 

*)  SaÖHWHin,,  crp.  83 — 88;  TTcrpoBKn. 

2)  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  S.  121. 
8)  Vgl.  über  den  Freitag  bei  den  Russen  auch  Seite  65. 
*)  üpacKOBKH-IIflTnHua. 
^)  S'dOhuuwf^y  pyccidft  napojub,   100 — 101. 


—    369    — 

heit,  an  denen  sie  sich  in  früheren  Zeiten  der  Fesseln  des 
Hauses  und  des  strengen  Gatten  entledigen  und  zu  ihrer  Be- 
schützerin flüchten  durften.  Unter  den  Fittigen  der  Heiligen 
rächten  sie  sich  für  die  langen  Leiden  und  die  schlechte  Be- 
handlung durch  Ausgelassenheit  und  Unzucht.  Die  Verehrung 
der  Praßkowja  wurde  eine  Art  Venuskultus ;  es  hat  auch  schon 
der  russische  Volksforscher  Afanaßjew  die  Verehrung  der  Praß- 
kowja-Pjatniza  mit  dem  Kultus  der  Freya  und  der  Venus  in 
Zusammenhang  zu  bringen  versucht,  i) 

Wir  sehen  also,  wie  Kirchenfeste  zu  Volksfesten  geworden 
sind,  bei  denen  das  erotische  Element  das  Charakteristische 
ist.  Natürlich  muß  es  noch  viel  bunter  und  gänzlich  zügellos 
bei   jenen   Gelegenheiten   zugehen,    die   mit   der   Kirche   und 


^)  Es  ist  selbstverständlich,   daß  die  Herbstfeste  denselben  erotischen 
Charakter  aufweisen,  den  die  Frühlings-  und  Sommerfeste  zeigen.     Die  Zeit 
der  Einheimsung  der  Feldfrüchte  ist  ebenso  eine  Epoche  der  Liebe  und  der 
geschlechtlichen  Ausschweifung  wie  die  Periode  des  Frühlings,  wenn  die  Nator 
«rwacht  und  die  Feldarbeit  beginnt.  Der  Engländer  Havelock  Ellis  (Geschlechts- 
trieb und  Schamgefühl,  Würzburg  1901),  hat  alles  zusammengestellt,  um  zu 
beweisen,  daß  es  Wechsel  im  menschlichen  Organismus  gibt,  die  sich  jahres- 
.zeitlich  regeln  und  besonders  mit  den  Geschlechtsfunktionen  in  Verbindung 
istehen,  und  daß  Frühjahr  und  Herbst  in  der  ganzen  Welt  Perioden  erotischer 
Feste  sind.    Die  interessantesten  Parallelen  zu  den  russischen  Bräuchen  sind 
natürlich  die  aus  den  südslawischen  Ländern:   In  Gomja  Tuzla  in   Bosnien 
inrälzen  sich  beim  Erntefest  die  Schnitter  mit  den  Schnitterinnen  über  eine 
schiefe  Ebene  hinab.    In  Serbien  fallen  die  eigentlichen  geschlechtlichen  Aus- 
schreitungen hauptsächlich  in  die  erste  Herbstzeit.     Dann  geberden  sich  die 
jungen  Leute  wie  liebestoll.    Fest  folgt  auf  Fest.    Man  stampft  ganze  Nächte 
hindurch  den  Reigen  bis  zur  Erschöpfung  und  singt  bis  zum  Heiserwerden 
die  obszönsten  Lieder.     Die  sinnlich  aufregende  Macht  dieser  Kolotänze  ist 
verwirrend  und   der  Ansturm    des    Geschlechtstriebes  entwurzelt   allen  An- 
stand. —  Die  südslawischen  Gebräuche  zuerst  gesammelt  zu  haben,  wird  ein 
unvergängliches   Verdienst   des    unermüdlichen   Meisters   der  folkloristischen 
Wissenschaft,  Dr.  Friedrich  S.  Krauß,  bleiben.    Man  sehe  die  überwältigende 
Fülle  seiner  Arbeit  und  den  Reichtum  seiner  Erfolge  in  seinem  grundlegenden 
Werke  ..Volksglaube  und  religiöser  Brauch  der  Südslawen",  in  den  hunderten 
Liedern.  Sprüchen,  Erzählungen,  die  er  im  Originaltext  und  mit  Übersetzungen 
im  V.,  VI.  und  VII.  Band  der  Privatdrucke  der  Kryptadia.  sowie  in  den  bis- 
herigen drei  Bänden  seiner  Anthropophyteia  veröf fentücht  hat.  Solche  Leistung 
steht  auf  dem  Gebiete  der  folkloristischen  Wissenschaft  ohne  Beispiel  da  und 
wird  kaum  jemals  übertroffen  werden  können. 


—    360    — 

dem  Glauben  gar  nichts  oder  wenig  zu  tun  haben.  Die  heid- 
nischen Slawen  feierten  ein  Frühlingsfest,  das  nach  Einführung^ 
des  Christentums  nicht  wie  die  übrigen  heidnischen  Feste  einen 
Platz  imter  den  neuen  Riten  und  Zeremonien  erhielt,  sondern 
in  selbständiger  Form  bestehen  blieb,  jedoch  verschoben 
wurde;  das  slawische  Frühlingsfest  wurde  zur  Butterwoche, 
ziu-  Maßljänitza^),  liegt  zwischen  Weihnachten  und  dem  Großen 
Fasten  und  ist  der  russische  Karneval;  ein  Teil  der  alten 
Frühlingsfestgebräuche  wurde  auch  an  den  Ostersonntag  abge- 
geben. Der  russische  Karneval  ist  zweifellos  origineller  und 
lebhafter  geblieben  als  der  westeuropäische. 

Die  Fasten  sind  ein  streng  beobachteter  Bestandteil  der 
Religion,  imd  um  sich  für  die  auferlegte  Enthaltsamkeit  im 
Vorhinein  zu  entschädigen,  hat  man  in  der  den  großen  Fasten 
vorausgehenden  Butterwoche  reichlich  Gelegenheit.  Man  heißt 
diese  Woche  Butterwoche,  weil  das  Fleischessen  schon  aufhört,, 
die  Butterspeisen  aber  noch  erlaubt  sind.  In  der  Butterwoche 
feiern  die  Wollust  und  die  Völlerei  ihre  schlimmsten  Orgien. 
So  wie  gegenwärtig  noch,  war  auch  früher  diese  Zeit  eine  Reihe 
von  schrecklichen  Tagen.  In  dem  Buche  über  die  Religion 
der  Moskowiter 2)  lesen  wir:  „Tn  dieser  Zeit  /  welche  billig 
zur  Busse  /  und  zu  einer  Vorbereitung  zum  Fasten  solte  ange- 
wandt werden  /  scheinet  es  /  als  wenn  die  elenden  Leute  ihnen 
vorgesetzt  hätten  /  dem  Teuf  fei  ihre  Seelen  zum  Opffer  zu 
bringen  /  so  gar  sehr  begeben  sie  sich  in  allerhand  Liederlich- 
keiten :  Sie  bringen  Tag  und  Nacht  in  der  greulichsten  Schwel- 
gerey  zu  /  wobey  sie  auch  mit  Weibsbildern  ein  sehr  unzüch- 
tiges Leben  führen;  Sie  erwürgen  sich  einer  den  andern  /  und 
verüben  solche  grausame  Und  entsetzliche  Boßheiten  /  daß  man 
sie  ohne  Schrecken  nicht  kan  erzehlen  hören.  Sie  haben  die 
Gewohnheit  /  daß  sie  eine  Menge  Pasteten  /  Gebackenes  und 
Kuchen  mit  Butter  imd  Eyer  backen  /  womit  sie  einander  be- 
wirthen  /  und   trincken   eine   unbeschreibliche   Menge   Honig- 

*)  MacjMiumia;  cwpHafl  He;;t.iH.  3a6ujniHT>,  PycoKifl  Hapo;n>,  crp.  34 — 48. 
In  neuerer  Zeit  schreibt  man  auch  MacjieHHi^a.  Der  Ausdruck  KapiieBajL 
ist  ebenfalls  in  die  russische  Sprache  übergegangen.  Schließlich  übersetzt  man 
einfach  das  Wort  Fastnacht:  HaHCiopio  Bojincani  iioria. 

2)  S.  126. 


Russisches  Vergnügen  in  der  Osterwoche. 


[.  ÜMul   20,  K.ipilcl.      Kirchenftstc,   Volksfesle 


MHCJiHHHua.     (Mnc'Kiin  ISfilr    Butterwoche. 

(Russisch«  I.LtliOBr,4.hie.) 


^^ 


—    361    — 

Wein  /  Bier  und  Brandtwein  darauff  /  daher  sie  sich  /  wann 
ihnen  diese  Getränke  zu  Kopffe  steigen  /  schrecklicher*  Weise 
herumschlagen  /  und  als  die  unvernünfftige  Thiere  einander 
umbringen :  Man  höret  auch  alsdann  von  nichts  anders  reden  / 
als  von  Leuten  /  so  umgebracht  /  oder  ins  Wasser  geworffen 
worden.  Zu  der  Zeit  /  als  ich  in  Moscau  war  /  zehlete  man 
einige  hundert  Menschen  /  so  in  diesen  8  Tagen  des  Masla- 
nizc  umkommen  waren  /  welche  acht  Tage  man  wol  die  Teuf- 
fels-Woche nennen  kan  /  wegen  der  ungezäumten  Freyheit  und 
Unordnung  /  darin  die  Moscowiter  alsdann  leben.  Weil  die 
Stadt  Moscau  sehr  groß  /  so  ist  ein  eigener  Platz  dazu  be- 
stimmt /  daß  man  die  Cörper  derjenigen  /  so  auff  den  Gassen 
todt  gefunden  worden  /  dahin  lege :  man  bringet  sie  des  Mor- 
gens dahin  /  und  wer  Jetnand  von  seinen  Angehörigen  ver- 
lohren  hat  /  muß  ihn  an  solchem  Orte  suchen.  Diejenigen 
Cörper  /  welche  nicht  erkannt  noch  wiedergefodert  werden  / 
wirfft  man  in  eine  mit  ungelöschten  Kalck  angefüllete  Grube  / 
darin  sie  gar  bald  verzehret  werden.  Die  Wachen  versehen 
zur  Zeit  des  Maslanize  ihren  Dienst  nicht  /  sondern  sauffen 
sich   voll  /  und    leben   unordentlich  /  eben   wie    die   andern.** 

An  dieser  alten  Schilderung  ist  kaum  etwas  zu  ändern.  Die 
Butterwoche  ist  auch  heute  noch  der  Gipfel  aller  russischen 
Vergnügungen  und  Unterhaltungen,  an  denen  sich  Reich  und 
Arm,  Vornehm  und  Gering,  Alt  und  Jung  in  ausgelassenster  und 
ausschweifendster  Weise  beteiligen. 

Die  Lust  zu  Verkleidungen  und  Maskeraden  ist  den  Russen 
angeboren.  Wir  werden  im  nächsten  Kapitel  einige  Beispiele 
aus  der  Hofgeschichte  und  der  vornehmen  Welt  erhalten.  Hier 
erwähne  ich  nur  einige,  seit  Jahrhunderten  gänzlich  verloren 
gegangene  Volksgebräuchc.  So  erzählte  der  Verfasser  der 
„Nachricht  von  Güldenlöwe  Reise  nach  Rußland'*  i)  von  einer 
seltsamen  Art  der  Versuchung,  welcher  die  Bischöfe  vor  ihrer 
Weihe  vom  Volke  ausgesetzt  wurden:  ,,Der  Bischof  ward  auf 
einen  Schlitten  gesetzet,  von  zwey  Pferden  in  der  Stadt  Moscau 
herumgeschleppet,  und  von  vielen  Pfaffenknechten,  deren 
etliche  in  leichtfertiger  Teufelskleidung  verkleidet  waren,  also 


1)  In  Büschings  Magazin  für  die  neue  Historie,  X  240. 


—    362    — 

begleitet,  daß  sie  um  ihn  her,  auch  bald  auf,  bald  vom  Schütten 
gesprungen,  und  nach  bestem  Vermögen  ihre  hohen  Künste 
versucht,  ob  sie  den  Vater  durch  ihre  leichtfertige  Worte  und 
Geberden  zu  etwa  einem  Lachen  bewegen,  und  also  sträflich 
und  der  bischöflichen  Ehre  verlustig  machen  könnten,  oder  ob 
er  dergestalt  untadelhaft  und  geschickt  mußte  befunden  wer- 
den.** Von  einem  ebenfalls  jetzt  nicht  mehr  bekannten  mosko- 
witischen  Gebrauch  am  Palmsonntag  berichteten  ältere  aus- 
ländische Beobachter  1):  Am  Palmsonntag  versammelte  sich 
das  Volk  von  Moskau  vor  der  Messe  im  Kreml.  Aus  der 
Kathedrale  zur  Himmelfahrt  Maria  ward  ein  großer,  mit  aller- 
hand Früchten,  Rosinen  und  Äpfeln  behängter  Baum  heraus- 
getragen. Man  machte  ihn  auf  zwei  Schlitten  fest,  die  von 
sechs  Pferden  langsam  gezogen  wurden.  Unter  den  Zweigen 
des  Baumes  standen  fünf  Knaben  in  weißer  Kleidung  und 
sangen  laut  das  „Hosianna  dem  Sohne  Davids,  gesegnet  der  da 
kommt  im  Nam^n  des  Herrn.**  Hinter  den  Schlitten  kam  zahl- 
reiche Jugend,  mit  Wachskerzen  und  einer  ungeheuren  Laterne ; 
darauf  folgten  Männer,  die  zwei  Kirchenfahnen,  sechs  Rauch- 
fässer und  sechs  Heiligenbilder  trugen,  ferner  mehr  als  hundert 
Priester  in  Prunkgewändern,  die  Scharen  der  Bojaren  und  vor- 
nehmen Staatsbeamten  in  Gala,  endlich  der  Patriarch  und  der 
Zar.  Der  Patriarch  ritt  quer  nach  Damenart  auf  einem  mit 
weißem  Zeuge  bekleideten  Esel  oder  auf  einem  Pferde,  dem 
man  dann  lange  Ohren  aus  Leinwand  aufgesetzt  hatte,  um 
ihn  einem  Esel  ähnlich  zu  machen.  Mit  der  Linken  hielt  der 
Patriarch  das  mit  Gold  beschlagene  Evangelium  auf  seinem 
Schöße  fest,  mit  der  Rechten  teilte  er  dem  Volke  den  Segen 
aus.    Den  Esel  führte  ein  Bojar,  der  Zar  aber,  der  nebenher 


1)  Hakluyt  bei  Karamsin,  deutsch  IX  85,  französisch  IX  594,  erwähnte 
ihn  zuerst ;  er  lernte  ihn  im  Moskau  Iwans  des  Schrecklichen  kennen.  Spater  be- 
richtete dasselbe  Margeret,  Estat  de  1' Empire  de  Rvssie,  29:  ,,Le  iour  de  Pas- 
ques  fleuries  Ton  monte  le  Patriarche  sur  un  asne,  lequel  s'assied  en  femme. 
et  au  d6faut  d'un  asne  Ton  prend  un  cheval  que  Ton  couvre  d'un  Unge  blanc, 
tellement  que  Ton  n'en  voit  rien  que  les  yeux.  L'on  luy  fait  de  grandes  oreüles 
et  l'Empereur  le  conduit  par  la  bride  jusques  dans  une  Eglise  hors  du  Chasteau. 
II  y  a  gens  ordonnez  ce  jour-lä,  qui  d^poüillans  leurs  robbes  les  estendent  sur 
le  chemin  suivans  en  la  Procession  les  Prestres  et  autres  Ecclesiastiques  de  la 
Ville." 


—    363    — 

ging,  berührte  mit  einer  Hand  einen  Zügel,  um  zu  tun,  als  ob 
er  den  Patriarchen  führte,  während  er  mit  der  anderen  Hand 
eine  Osterpalme  schwenkte.  Dieser  Aufzug  sollte  den  Einzug 
Christi  in  Jerusalem  symbolisieren. 

Was  von  den  alten  Kirchengebräuchen  existiert,  das  kann 
man  hauptsächlich  in  Moskau  beobachten.  Matuschka  Mos- 
kwa i)  ist  nach  wie  vor  der  Mittelpunkt  der  Orthodoxie  und 
der  Kirchlichkeit,  obwohl  seit  der  Verlegung  des  zarischen 
Hofes  a,n  die  Newa  auch  hier  nichts  mehr  im  alten  Glänze 
leuchtet.  Der  Zar  hatte  einst  durch  seine  Teilnahme  nament- 
lich den  Großen  Fasten  und  dem  Osterfeste  in  Moskau  eine 
besondere  Feierlichkeit  verliehen.  2)  Wenn  sich  die  Großen 
Fasten  näherten,  trug  der  Zar  persönlich  dafür  Sorge,  daß  die 
Ruhe  in  den  heiligen  Wochen  nicht  durch  kirchenwidrige  Er- 
scheinungen gestört  wurde.  Am  letzten  Tage  der  Butterwoche 
erteilte  er  einem  Dumnij  Djak  oder  Ratssekretär  den  Befehl, 
in  der  ersten  und  der  letzten  Woche  der  Fasten  sämtliche 
Schenken  zu  schließen  und  die  auf  den  Straßen  aufgegriffenen 
Betrunkenen  der  strengsten  Strafe  zuzuführen.  Am  letzten  Tage 
der  Butterwoche  erging  auch  der  zarische  Befehl,  für  die  Zeit 
der  Großen  Fasten  den  Lebensmittelhandel  auf  Kalatsch^), 
Kwaß  und  vegetabilische  Nahrungsmittel  zu  beschränken.  Wer 
Fische  verkaufte,  verfiel  strenger  Strafe.  Manche  Zaren  führten 
selbst  die  Fasten  mit  größter  Genauigkeit  durch.  Vom  Zaren 
Alexej  erzählen  die  ausländischen  Reisenden,  daß  er  während 
der  Großen  Fasten  nur  dreimal  in  der  Woche,  am  Donnerstag, 
Sonnabend  und  Sonntag  zu  Mittag  speiste,  an  den  übrigeh 
Tagen  aber  sich  mit  einem  Stücke  Schwarzbrot,  einer  Salzgurke 
und  einem  Glase  Halbbier  begnügte.  Fisch  nahm  er  nur 
zweimal  während  der  ganzen  Fastenzeit  zu  sich.  Die  zarische 
Familie  und  der  Hofstaat  befolgten  des  Herrschers  Beispiel ;  die 
Kinder  jedoch  durften  eine  Ausnahme  machen.    Vom  Patriar- 


1)  M.iTyunca  Mockbu,  Mütterchen  Moskau  nennt  der  Russe  die  alte  Zaren- 
residenz, wie  er  auch  vom  Wolgafluß  als  von  MaiymKa  Baira  spricht. 

*)  Vgl.  Fpnropitt  FeoprbeBCKitt,  BejiiiKofi  iiocrb  h  nacxa  fb  Mockb^,  PyccKitt 
BtcTHHK'L  1900.  —  SaÖHJiHirL,  PyccKÜt  HapoaT»,  48 — 49;  Bop^Ha«  ne;?^fejiH; 
49 — 51:  BeJTHKift  'lexBeprL;  $1 — 54:  Ilacxa. 

*)  KaJiant,  eine  Art  Semmeln. 


—    364    — 

chen  bis  zum  Lastträger  fastete  alles  im  alten  Moskau.  Wer 
das  Speise  verbot  brach,  verlor  sein  Amt.  Alexe  j  nahm  aii 
allen  Gottesdiensten  teil,  und  die  Kirche  bot  ihm  zu  Ehren  den 
größten  Pnmk  auf.  Am  Sonntag  vor  der  Butterwoche  sagte 
man  feierlich  dem  Fleisch  Valet,  Carne  vale.  An  diesem  Tag 
pflegte  Zar  Alexej  frühmorgens  um  drei  Uhr  heimlich  den 
Kreml  zu  verlassen,  um  die  Gefängnisse  und  Armenhäuser 
aufzusuchen,  Geld  zu  verteilen  und  Gefangenen  persönlich  die 
Freiheit  zu  schenken.  Nach  der  Frühmesse  fand  unter  Voran- 
tritt des  Patriarchen  eine  Kirchenprozession  nach  dem  Iwan- 
platze statt,  wo  ein  allgemeines  Gebet  vor  dem  Bilde  des  jüng- 
sten Gerichts  veranstaltet  wurde.  Nach  dem  Hochamt  gab  es 
im  zarischen  Dwor  Freitisch  für  die  Bettler  der  Stadt ;  der  Zar 
speiste  mit  ihnen  und  bewirtete  sie  als  seine  teueren  Gäste; 
und  zur  selben  Zeit  wurden  in  den  Gefängnissen  auch  die  Ge- 
fangenen auf  Kosten  des  Zaren  gespeist.  An  einem  der  Abende 
der  Butterwoche  hielt  man  in  der  Uspenskijkathedrale  die  feier- 
liche Zeremonie  der  Versöhnung  ab.  Dann  begannen  die 
Fasten.  Am  Sonntag  in  der  ersten  Fastenwoche  erschien  bei 
der  Feier  der  Orthodoxie  i)  der  Zar,  um  mitzubeten  für  das 
ewige  Gedächtnis  der  für  die  Orthodoxie  gefallenen  Männer. 
Besondere  Feierlichkeiten  gab  es  in  der  Fastenzeit  noch  in 
der  vierten  Woche,  sowie  am  Donnerstag  und  Sonnabend  der 
fünften  Woche.  Alle  Feierlichkeiten  und  alle  Tage  haben  ihre 
speziellen  Namen.  2)  Die  Fasten  schlössen  mit  mehreren  Gottes- 
diensten der  stillen  Woche  3)  ab.  Am  feierlichsten  war  der 
Gottesdienst  am  Mittwoch  dieser  Woche,  welcher  Tag  auch 
der  große  Mittwoch*)  heißt.  Der  Zar  kam  mit  seinen  Bojaren 
ohne  jegliches  Gepränge  in  die  Kathedrale,  und  Zar,  Beamte, 
Patriarch  und  Volk  baten  einander  um  Vergebung.  Am  Don- 
nerstag, der  ebenfalls  der  große  ^)  genannt  wird,  verließ  der 
Zar  um  die  erste  Morgenstunde  die  inneren  Gemächer,  um 
in  den   Siechenhäusem  und  Gefängnissen  abermals  Almosen 


*)  TopacecTBO  npanoc.iabin. 

*)  KpecTonoiuioHHafi  Ho,^tKiJi;  Ahjqk'obo  crojiiiie;  und  IToxbiuh  Boropo;;Hut. 

^)  CxpatTHaH  ncA'fe.iH. 

*)  Bo.imuMi   c«»pe,ia. 

^)  Be.iiiiart  'loiHepn*. 


—    365     — 

zu  verteilen.  Unter  den  Ostcrbräuchen  war  die  bemerkens- 
werteste die  am  frühen  Ostersonntagsmorgen  stattgefundene 
Kniebeugung  im  Angesicht  des  Zaren,  i)  Alle  höheren  Beamten 
wurden  zugelassen,  um  vor  dem  Zaren  einen  Fußfall  zu  tun 
und  ihm  in  die  klaren  Augen  zu  schauen.  2)  Das  galt  als 
besondere  Belohnung  für  treuen  Dienst.  Niedere  Beamte  wur- 
den nur  nach  Auswahl  dieser  hohen  Gnade  teilhaftig.  Nach 
dieser  Zeremonie  begab  sich  der  Zar  in  einem  von  Edelsteinen 
schweren  Gewände,  in  Begleitung  seines  ganzen  Hofstaates,  zur 
Frühmesse  in  die  Uspenskijkathedrale.  Hier  hatten  nur  die 
Beamten  vom  goldenen  Kaftan^)  Zutritt.  Nach  der  Frühmesse 
folgte  der  Osterkuß.  Der  Patriarch  küßte  zuerst  den  Zaren 
auf  den  Mund,  darauf  küßte  der  Zar  die  Heiligenbilder  und  die 
Erzbischöfc;  mit  den  übrigen  Geistlichen  und  den  Bojaren 
tauschte  der  Herrscher  bloß  einen  Händedruck  aus.  Streng 
nach  der  durch  den  Tschin  bestimmten  Reihenfolge  traten  alle 
vor  den  Fürsten,  der  jedem,  je  nach  seiner  Dienststellung, 
ein,  zwei  oder  drei  prächtig  gemalte  Eier  überreichte.  Von 
der  Uspenskij-Kathedrale  zog  der  Zar  nach  den  wichtigsten 
Kirchen  und  Klöstern,  und  überall  wiederholte  er  dieselbe 
Zeremonie.  Zum  Schlüsse  besuchte  er  die  Gefängnisse  und 
begrüßte  die  Verbrecher  gnädig  mit  den  Worten:  ,, Christus 
ist  auch  für  euch  erstanden!**  -- 

Von  dieser  Tyrannengemütlichkeit  ist  nichts  übrig  geblie- 
ben. Sie  ist  ebenso  verloren  gegangen  wie  fast  alles,  was  an 
rein  kirchlichen  Zeremonien  und  eingebildeter  Gläubigkeit  im 
alten  Moskau  früher  vorhanden  gewesen  sein  mag.  Nur  jene 
Gebräuche  vermochten  sich  dauernd  zu  erhalten,  welche  die 
Kirche  den  heidnischen  Empfindungen  des  Volkes  angepaßt 
hat,  oder  in  denen  erotische  Elemente  die  Sinne  zur  Teilnahme 
anregen. 


1)  HapcKoe  .iimoapt.iiir,  wörtlich  der  zarische  Anbhck.  Diese  Zeremonie 
ist  zweifellos  asiatischen  Ursprungs,  denn  sie  gleicht  fast  genau  der  Zeremonie 
am  Bairamsfeste  im  Sultanspalast. 

')  y^apiiTF»  ncioMT»  UapK)  h  nirjito»  r<x">MapH  np^'cnf.T.ihiH  o'ni. 

*)  Eine  ebenfalls  asiatische  Rangabstufung.  Der  Vergleich  mit  den 
chinesischen  Mandarinen  drängt  sich  von  selbst  auf. 


—    366    — 


21.  Hofnarren  und  Maskeraden. 

Vergnügungen  der  vornehmen  Gesellschaft  im  alten  Rußland  —  Die  Frauen 
im  Terem  —  Die  Männer  unter  sich  —  Saufwut  —  Leibeigene  als  Leibnarren 
der  Aristokraten  —  Die  Aristokraten  als  Leibnarren  der  Zaren  —  Lohn  und 
Strafe  der  Narren  —  Adelung  eines  Narren  —  Ermordung  des  Narren  Fürst 
Gwosdew  durch  den  Zaren  Iwan  den  Schrecklichen  —  Die  Narrenwelt  am  Hofe 
Peters  des  Großen  —  Uschakow  erhält  die  Narrenkappe  statt  des  Galgen- 
stricks —  Der  portugiesische  Jude  Dacosta  —  Der  König  der  Samojeden  — 
Die  Eskadron  der  Zwerge  —  Der  Narr  Turgenjew  als  Kombattant  —  Neujahrs- 
spiel —  Feuerwerk  —  Assembleen  —  Der  Narrenorden  —  Verspottung  des 
Klerus  durch  Maskeraden  —  Der  Papstnarr  —  Heirat  des  Papstes  —  öffent- 
liches Beilager  —  Narren  und  Würdenträger  —  Zwerge  —  Am  Hofe  Annas  — 
Der  Narr  Fürst  Wolkonskij  —  Apraxin  —  Fürst  Gaützyn  als  Henne  —  Bala- 
kirew  —  Pedrillo  —  Die  Wöchnerin  Ziege  —  Heirat  Galitzyns  mit  einer 
Kalmückin  im  Eispalast  —  Fußsohlenkitzlerinnen  —  Tschulkow,  Oberauf- 
seher der  Fußsohlenkitzlerinnen  —  Die  Kitzlerinnen  Elisabeth  Schuwalow 
und  Frau  Woronzow  —  Frau  Schepelew  —  Das  Klapsweib  Golowin  —  Der 
letzte  offizielle  Hofnarr  Aksakow  und  sein  Ende  —  Spaßmacher  Katharinas  IL 
—  Naryschkin  —  Die  Plaudertasche  Matrona  Danilowna  —  Beginn  der  euro- 
päischen Vergnügungen,  Tänze  und  Bälle. 

Die  Unterhaltungen  der  Vornehmen  im  alten  Rußland 
waren  ganz  eigener  Art.  Die  Frauen  der  Aristokraten  ver- 
ließen nur  selten  die  vergitterten  Tore  des  Terem,  lebten 
abgeschlossen  von  der  Außenwelt  und  vertrieben  sich  die 
Langeweile  durch  Amüsements  mit  ihren  Sklavinnen,  die 
obszöne  Geschichten  erzählen,  Tänze  aufführen  oder  den  Her- 
rinnen, um  ihre  Wollust  zu  reizen,  die  Sohlen  kitzeln  mußten. 
Gemischte  Gesellschaften,  an  denen  die  Frauen  mit  den  Män- 
nern hätten  teilnehmen  dürfen,  gab  es  nicht.  Wenn  der  Haus- 
herr ein  Fest  veranstaltete,  so  geschah  dies  nur  für  männliche 
Gäste.  Die  Hausfrau  erschien  zwar  für  einen  Augenblick,  um 
dem  vornehmsten  der  Gäste  den  Ehrentrunk  zu  bringen,  aber 
dann  verschwand  sie  sofort  wieder.  Das  Hauptvergnügen  bei 
solchen  Festlichkeiten  der  Männer  unter  sich  war  das  Saufen. 
Der  Wirt  setzte  seinen  Stolz  darein,  seine  Gäste  volltrunken 
zu  machen;  und  jede  Einladung  zu  einer  Gesellschaft  schloß 
mit  dem  Refrain:  „Gib  mir  die  Ehre,  dich  bei  mir  zu  be- 
trinken.**  So  schrieb  zu  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts 


—    367    — 

noch  Mentschikow  in  einer  Einladung,  die  er  an  Peter  den 
Großen  richtete.  Für  den  Humor  der  Gäste  sorgten  Erzähler 
von  Legenden  und  Märchen,  Guitarrenspieler,  Jongleure  und 
namentlich  Narren  mit  ihren  obszönen  Spaßen  imd  Sprüngen 
und  mit  frechen  Reden,  in  denen  dem  Wirt  imd  den  Gästen 
unverblümt  die  Wahrheit  gesagt  werden  durfte,  da  man  der 
Meinung  war,  ein  Narrenwort,  vom  Augenblick  geboren  imd 
vertilgt,  könne  nicht  den  Respekt  des  Sklaven  vor  dem  Herrn 
schädigen. 

Denselben  Wert,  den  der  Leibeigene  in  den  Augen  des 
Bojaren  hatte,  besaß  der  Vornehmste  in  der  Schätzung  des 
Zaren;  und  so  geschah  es,  daß  jener,  der  sich  in  seinem  Hause 
an  den  Qualen  seiner  Narren  ergötzte,  am  Zarenhofe  häufig 
selber  die  Rolle  des  Hofnarren  spielen  mußte.  Dieses  Amt 
war  so  gut  und  so  schlecht  wie  jedes  andere ;  Verdienste  in  der 
Pflichterfüllung  wurden  belohnt,  Nachlässigkeiten  bestraft.  Zar 
Fedor  Alexejewitsch  war  mit  seinem  Hofnarren,  dem  simplen 
Bürgersmann  Andrejew  Jirowoj-Zaßjekin  so  zufrieden,  daß  er 
dem  braven  Spaßmacher  für  seine  Bemühungen  um  die  Er- 
heiterung des  zarischen  Gemüts  den  erblichen  Adelstand  ver- 
lieh, i)  Iwan  der  Schreckliche  liebte  wahnwitzige  und  rasende 
Narren,  und  um  solche  zu  erhalten,  ließ  er  die  von  ihm  für 
würdig  befundenen  Hofbeamten  oder  Edelleute,  besonders  ganz 
alte  Männer,  mit  Hunden,  Katzen,  Eidechsen  und  Menschen- 
fleisch bewirten,  damit  sie  vor  Ekel  verrückt  würden.  Iwans 
Lieblingsnarr  war  Fürst  Gwosdew,  der  mit  dem  Herrscher  an 
derselben  Tafel  speisen  durfte.  Eines  Tages  gefielen  dem  Zaren 
des  Narren  Spaße  nicht  mehr;  da  bestrafte  er  ihn  auf  folgende 
Weise:  Der  Fürst  mußte  niederknien  und  der  Zar  goß  eigen- 
händig dem  Knienden  heiße  Brühe  zwischen  Hemd  und  Haut. 
Als  der  Narr  darob,  statt  lustig  zu  werden,  jämmerlich  schrie 
und  um  Gnade  bat,  stieß  Iwan  ihm  ein  Messer  in  die  Kehle 
und  sagte:  „Laßt  den  Hund  hinfahren,  weil  er  selber  nicht 
hat  leben  wollen.**^)    Er  fand  an  den  Marterqualen  des  Ster- 


1)  Rovinskijs  Lexikon  der  gravierten  Porträts  (nissisch),   1889,  IV  510; 
und  Waliszewski,  L'h6ritage  de  Pierre  le  Grand.  266. 

«)  Webers  verändertes  Rußland,  zweyter  Theil,  S.  37. 


—    368    ~ 

benden  das  Vergnügen,  das  der  Lebende  ihm  vorenthalten 
hatte.  Dieser  Tyrann  war  zweifellos  selbst  auch  ein  Narr,  ein 
wahrer  CaMOÄypi>,  ein  exzentrischer  Teufel.  Die  wichtigsten 
Männer  Rußlands,  von  Iwan  und  Peter  dem  Großen  bis  hinab 
zu  Paul  und  Alexander  I.,  Nikolaj  I.  und  Alexander  III.,  dann 
die  Mentschikow,  Patjomkin,  Ssuworow,  endlich  die  Gogolj, 
Puschkin,  Dostojewskij,  Tolstoj  —  sie  alle  sind  Ssamoduri, 
exzentrisch  in  schlechtem  oder  gutem  Sinne  gewesen. 

Peter  der  Große  pflegte  den  Adligen,  die  sein  Mißfallen 
erregt  hatten,  einfach  zu  befehlen,  daß  sie  fortan  Narren  sein 
sollten.  Von  diesem  Augenblick  an  muß  der  Unglückliche, 
den  die  Verwandlung  von  des  Zaren  Gnaden  betroffen  hat, 
allen  Hofleuten  zum  Spotte  dienen.  Er  mag  noch  so  klug 
und  edel  denken  und  handeln :  er  hat  aufgehört  Mensch  zu  sein 
und  ist  und  bleibt  nichts  als  ein  Gegenstand  der  Verhöhnung. 
Er  hat  zwar  damit  das  Recht  erlangt,  jedem  die  Wahrheit  frei 
heraus  zu  sagen,  aber  es  braucht  niemand  seine  Frechheit  ernst- 
nehmen, und  es  ist  jedem  anheimgestellt,  den  Narren  zu  schla- 
gen und  zu  peitschen;  dieser  darf  sich  dagegen  nicht  auf- 
lehnen i),  darf  sich  nicht  verteidigen,  denn  er  ist  kein  Mensch; 
er  muß  vielmehr  zu  allen  Schlägen,  die  ihm  zuteil  werden, 
Scherze  machen,  lustig  sein,  lachen  und  die  anderen  zum  Lachen 
bringen,  denn  er  ist  ein  Narr. 

Bei  seinem  Aufenthalt  in  Amsterdam  sieht  Peter  den  be- 
rühmten Spaßmacher  Testje-Roen  auf  offener  Straße  vor  dem 
jubelnden  Volke  seinen  Ulk  treiben;  der  Zar  will  sofort  diesen 
Meister  aller  Narren  als  Hofnarren  nach  Rußland  mitnehmen; 
aber  der  Narr  hat  Verstand  genug,  um  den  verlockenden 
Antrag  glattweg  abzulehnen.  Peter  braucht  deshalb  nicht  un- 
tröstlich zu  sein,  denn  er  hat  der  Hofnarren  gerade  genug. 
Sie  sind  so  viele,  wenigstens  hundert  an  Zahl,  daß  sie  einen 
Hofstaat  für  sich  bilden  und  in  Klassen  abgeteilt  werden 
können.  2}    Da  sind  erstens  jene,  denen  die  Vernunft  von  der 


1)  Memoiren  der  Fürstin  Daschkoff,  zur  Geschichte  der  Kaiserin  Katha- 
rina II.    Nebst  Einleitung  von  Alexander  Herzen.    Hamburg  1857.    I  125. 

2)  Vgl.  ausführlicheres  bei  Weber  a.  a.  O.  —  Jakob  von  Stahlin,  Original- 
anekdoten von  Peter  dem  Großen,  270  und  320.  —  Bergholz'  Tagebuch  bei 
Büsching  XIX  123  und  131.  —  Waliszewski,  Pierre  le  Grand,  167  und  460.  — 


Trois  tStes  dans  un  bonnet  ou  le  triumvirat  des  fous. 

(Sellciic  K::iiik.iliir  ;>ul   ,lii-  Foimlü  X.ipulwiiii-, 


—    369    — 

Natur  versagt  wurde.  Peter  läßt  sie  auf  seine  Kosten  verpflegen 
und  bei  Gelegenheit  seinen  Russen  vorführen,  um  diesen  den 
Unterschied  zwischen  Vernünftigen  und  Unvernünftigen  klar- 
zumachen. Die  zweite  Klasse  besteht  aus  Leuten,  die  sich 
durch  eine  Dummheit  im  Dienste  unsterblich  blamiert  haben; 
sie  müssen  eine  Narrenjacke,  einen  Narrenkolben  und  Schellen 
tragen,  ob  sie  auch  die  Vornehmsten  im  Reiche  sein  mögen; 
ihr  Los  soll  die  anderen  lehren,  von  der  Vernunft  den  richtigen 
Gebrauch  zu  machen.  Die  dritte  Klasse  besteht  aus  freiwilligen 
Narren,  nämlich  aus  Männern,  denen  eine  Strafe  drohte  und 
die  sich  närrisch  stellten,  um  dem  Unheil  zu  entgehen.  Die 
letzte  Klasse  bilden  die  jungen  Leute,  die  Peter  zu  ihrer  Aus- 
bildung nach  Europa  geschickt  hatte,  die  aber  nichts  lernen 
wollten  und  so  dumm  blieben  als  zuvor;  zur  Strafe  wurden 
sie  Hofnarren. 

Die  berühmtesten  Hofnarren  Peters  des  Großen  sind :  Tur- 
genjew, Schanskoj,  Lenin,  Schachowskoj,  Kirsantjowitsch,  Da 
Costa,  Uschakow,  Tarakanow,  Sotow,  Witaschij,  Romadanows- 
kij,  Strechnjew,  Golowin,  Buturlin. 

Uschakow  war  früher  Offizier.  Er  erhielt  einmal  den  Be- 
fehl, Briefschaften  des  Generals  von  Smolensk  an  den  kom- 
mandierenden General  von  Kijew  zu  überbringen.  Er  ritt 
in  rasendem  Galopp  Tag  und  Nacht  und  kam  endlich  nachts 
an  sein  Ziel.  Die  Wache  zögerte,  ihn  einzulassen;  da  kehrte 
er  beleidigt  um  und  ritt  nach  Smolensk  zurück,  um  sich  bei 
seinem  General  über  den  Kijewer  Wachtposten  zu  beschweren. 
Das  Kriegsgericht  verurteilte  Uschakow  zum  Tode.  Aber  Peter 
fand  seine  Handlungsweise  so  dumm,  daß  er  ihn  zum  Wirk- 
lichen Hofnarren  begnadigte. 

Da  Costa  war  ein  getaufter  portugiesischer  Jude.  Peter 
gefielen  seine  Kommentare  zur  Bibel,  er  ernannte  ihn  daher  zum 
theologischen  Hofnarren  und  verlieh  ihm  als  Zeichen  dieser 


Floegels  Geschichte  des  Grotesk  Komischen,  bearbeitet  von  Ebeling,  5.  Auflage, 
Leipzig  1888  (Barsdorf),  S.  299.  —  Herrmann  bei  Vockerodt,  18.  —  Halem 
I5i8;lli55.  269,  334;  III  86.  —  Sadler,  geistige  Hinterlassenschaft  Peters,  iii. 
Nestesoranoi,  M^moires  sor  Catherine,  61 .  —  Custine  II 342 ;  III  329.  — Manstein» 
M6moires  338.  —  Vandal,  Louis  XV  et  Elisabeth  de  Russie,  76,  —  Breton» 
RnBland,  IV  38.  —  Bernhard  Stern,  Die  Romanows  I,  erstes  Kapitel. 
Stern,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  Rufiland.  24 


—     370     — 

Würde  den  Titel  eines  Herrn  von  Samoröe,  einer  unbewohnten 
Sandinsel  im  Finnischen  Meerbusen,  die  eigens  für  Da  Costa 
zu  einer  Grafschaft  erhoben  wurde.  Da  Costa  hatte  bei  Tafel 
darauf  zu  achten,  daß  fleißig  auf  die  Gesundheit  des  Iwan 
Michajlowitsch,  das  heißt:  der  russischen  Flotte,  getrunken 
wurde.  Für  jede  Vernachlässigung  seiner  Pflicht  drohte  ihm 
eine  Tausendrubelstrafe. 

Ein  anderer  Hofnarr  führte  den)  Titel  König  der  Samo jeden, 
und  zu  seiner  Krönung  wurden  24  Renntiere  und  24  Samojeden 
nach  Petersburg  gebracht.  Zuweilen  spielen  die  Hofnarren 
auch  ernste  Rollen.  Ein  Scherz  ist  es  noch,  wenn  1692  bei  den 
Manövern  unter  der  Kavallerie  eine  Eskadron  von  Zwergen 
dahergeritten  konmit;  aber  1694  erscheint  auf  dem  Schlacht- 
felde während  des  Kampfes  eine  Kompagnie  von  Kirchen- 
sängem  imter  dem  Konunando  des  Hofnarren  Turgenjew  als 
Hilfstruppe.  Peter  der  Große  liebt  eine  derartige  Verquickung 
von  Ernst  imd  Narreteien.  Das  neue  Jahr  hatte  in  Rußland 
früher  mit  detti  i.  September  begoimen,  Peter  führte  die 
europäische  Rechnung  ein.  Darob  Entsetzen  im  Volke.  Am 
I.  Januar,  sagten  die  einen,  gab  es  ja  keine  Äpfel,  mit  denen 
Eva  den  Adam  hätte  verführen  können;  und  wie  sollte  der 
I.  Januar  der  erste  Tag  des  Jahres  gewesen  sein,  da  vor  Er- 
schaffimg des  Menschen  alles  zur  Ernte  reif  gewesen  sein 
mußte.  Die  Fronmien,  die  in  Peter  den  Antichrist  sehen,  halten 
diese  Zeitänderung  für  ein  richtiges  Teufelswerk.  Aber  der  Zar 
läßt  sich  nicht  einschüchtern  und  veranstaltet  justament  am 
I .  Januar  1 700  im  ganzen  Reiche  mythologische  Festspiele  zur 
Feier  der  Jahrhundertwende,  um  das  Volk  mit  einem  Schlage 
in  die  neue  Ordnung  hineinzubringen.  Eine  ähnliche  Methode 
verfolgt  Peter,  um  seine  Russen  an  den  Geruch  des  Pulvers 
und  den  Lärm  der  Kanonen  zu  gewöhnen :  er  läßt  jeden  Augen- 
bUck  ein  kolossales  Feuerwerk  abbrennen,  und  wenn  dabei 
hier  und  da  Menschen  verunglücken,  so  macht  dies  nichts 
aus,  denn  im  wirklichen  Krieg  kommen  auch  nicht  alle  aus 
dem   Getümmel   mit   geraden   Gliedern   davon,  i) 


1)  Die  Russen  haben  sich  trotzdem  mit  dem  Effekt  eines  Feuerwerks 
lange  nicht  befreimden  können.  Bei  einem  Feste,  das  die  Zarin  Anna  Iwanowna 


■i 


—     371     — 

Mit  aller  Gewalt  reformiert  Peter  sein  Volk.  Durch  ein 
Gesetz  ist  man  gezwungen,  ein  Gesellschaftsmensch  zu  werden. 
Es  ist  gewiß  einzig  in  der  Weltgeschichte,  daß  man  durch 
kaiserlichen  Befehl  zu  einer  bestimmten  Stunde  in  ein  bestimm- 
tes Haus  zu  Gaste  geladen  wird  und  dort  erscheinen  muß, 
wenn  man  sich  nicht  einer  Strafe  aussetzen  will.  Eine  Strafe 
trifft  auch  den  Hausherrn,  der  seinen  Gästen  entgegengeht; 
denn  des  Zaren  Lehre  vom  guten  Ton  hat  ein  für  alle  Mal 
festgesetzt,  daß  jeder  Gastgeber  seine  Gäste  an  der  Tür  des 
Salons  empfangen  müsse.  Persönliche  Einladungen  werden 
nicht  ausgeschickt.  Die  Etikette  setzt  fest,  welche  Rangklassen 
an  diesen  oder  jenen  Assembleen  teilzunehmen  haben,  imd 
Tag  imd  Ort  dieser  oder  jener  Reunion  werden  in  Petersburg 
vom  Polizeimeister,  in  Moskau  vom  Militärkommandanten  durch 
Affichen  an  den  Straßenecken  bekarmtgegeben. 

Der  Zar  führt  einen  harten  Kampf  mit  dem  Klerus  und 
hat  den  Mut,  nicht  bloß  das  Patriarchat  einfach  abzuschaffen, 
sondern  die  Geistlichkeit  obendrein  zu  verhöhnen.  Er  ernennt 
den  Hofnarren  Sotow  zum  Phantasie-Erzbischof  von  Preßburg^i), 
zum  Patriarchen,  schließlich  zum  Papst ;  er  betitelt  ihn :  Heiliger 
Vater,  läßt  ihn  feieriich  krönen  und  setzt  ihm  eine  Mitra, 
auf  der  ein  obszöner  Bacchus  als  Schmuck  prangt,  auf  das 
greise  Haupt.  Eine  Truppe  Bacchanten  führt  den  Zug  an, 
mit  dem  der  gekrönte  Papst  das  Konklave,  eine  Gesellschaft 
von  Trunkenbolden,  die  bei  der  Papstwahl  als  Kardinäle  figu- 
rierten, verläßt.  Kurz  zuvor  ist  zum  Schrecken  der  Fronunen 
das  Tabakrauchen  gestattet  worden.  Um  die  zürnenden  Ortho- 
doxen zu  verhöhnen,  tragen  einige  Narren  bei  einer  Maskerade 
auf  ihren  Hüten   Pakete   rauchenden   Tabaks;   und  aus   dem 


im  Februar  1740  veranstaltete,  gab  es  infolge  eines  Feuerwerks  eine  furcht- 
bare Panik  unter  dem  zuschauenden  Volke.  Die  offiziöse  Petersburger  Zeitung 
brachte  über  diesen  Vorfall  folgenden  gemütvollen  Bericht:  ,,Ein  blinder 
Schrecken  ergriff  die  Menge,  als  das  Feuerwerk  losprasselte.  Man  sah  sie  in 
Verzweiflung  nach  allen  Richtungen  flüchten,  was  die  Freude  und  das  Amüse- 
ment der  hohen  Persönlichkeiten  des  Hofes  Ihrer  Majestät,  die  als  Zeugen  dieses 
Schauspiels  auf  dem  Balkon  des  Palastes  standen,  außerordentlich  erhöhte." 
^)  So  hieß  die  kleine  Festung,  die  Peter  als  Knabe  in  der  Umgebung 
Moskaus  für  seine  Kriegsspielereien  hatte  errichten  lassen. 

24* 


—     372    — 

feierlichen  Anlaß  der  Hinrichtung  von  150  Streljzen  erscheint 
der  Pseudopapst  Sotow  unter  einer  Festversammlung  bei  Hofe 
und  segnet  die  Anwesenden  mit  der  Tabakspfeife  wie  mit  einem 
Kreuze. 

Die  von  dem  Augenblick  und  der  Laune  geschaffenen 
Narrenwürden  bleiben  dauernde  Einrichtungen.  Die  Maske- 
raden wiederholen  sich  alljährlich.  In  der  Butterwoche  des 
Jahres  1724  spielt  sich  auf  offener  Straße  eine  besonders  furcht- 
bare Orgie  ab.  Der  Zar  erscheint  mit  einem  Cortfege  der  ärg- 
sten Trunkenbolde,  welche  die  von  ihm  ernannte  Narr-  und 
Saufbrüderschaft  1)  bilden,  und  mit  einer  Schar  trunkener 
Frauen.  Der  Narr  Golowin,  ein  achtzigjähriger  Greis  aus  vor- 
nehmer Familie,  erhält  vom  Zaren  den  Befehl,  im  Zuge  als 
Teufel  zu  figurieren.  Der  Alte  will  nicht ;  da  bemächtigt  man 
sich  seiner,  zieht  ihn  vollständig  aus  und  stülpt  dem  Nackten 
bloß  eine  Teufelsmütze  auf  den  Kopf.  Im  Adamskostüm  muß 
der  Alte  eine  Stunde  lang  auf  dem  Newaeise  stehen;  er  bricht 
endlich  zusammen  und  stirbt. 

Eines  Tags  wird  der  Papst  Sotow  verheiratet  und  seine 
Hochzeit  mit  großem  Gepränge  gefeiert;  es  erscheinen  zum 
Feste  nicht  bloß  Dutzende  Pseudo-Geistliche,  sondern  auch 
Pseudo-Äbtissinnen  und  Pseudo-Nonnen.  Nach  dem  Tode  So- 
tows  wird  der  Narr  Buturlin  zum  neuen  Papste  gewählt;  er 
muß  sich  aber  gleichzeitig  mit  des  alten  Papstes  Witwe  ver- 
mählen. Er  und  sie  befinden  sich  schon  längst  im  Greisenalter ; 
um  so  lustiger.  Im  Inneren  der  Pyramide,  die  sich  vor  dem 
Senatspalast  erhebt,  wird  das  Brautbett  aufgestellt.  Bei  der 
Hochzeitsfeier  wird  aus  Gläsern  getrunken,  deren  Formen  ge- 
treu den  Penis  und  die  Vulva  wiedergeben.  Zum  Schluß  legt 
man  die  beiden  betrunkenen  Alten  entkleidet  in  das  Bett, 
und  durch  ein  Fenster  an  der  Pyramide  ist  es  der  Menge  er- 
laubt, dem  köstlichen  Augenblick  beizuwohnen,  wo  der  Papst 
seine  ihm  soeben  angetraute  Gattin  beschläft.  2) 


*)  „CyMac6po;xirfeÄniitt,  Bc/^myTtfiiiiitt  h  BcenbaHlittiuitt  coßojyt"  :  der  allerver- 
rückteste,  allerdümmste  und  allerversoff enste  Rat.  Vgl.  CeMeBcidtt,  04epKH  II, 
280  H  npoH. 

•)  Der  Papstnarr  ist  keine  russische  Erfindung.     In  Amiens  gab  es  im 
sechzehnten  Jahrhundet  einen  von  den  dortigen  Geistlichen  gewählten  Papst 


—    373    — 

Diese  Phantasiekönige,  Fürsten,  Päpste,  diese  Narren  und 
Komiker  haben  neben  ihren  Faschingsämtern  zuweilen  ganz 
wichtige  staatliche  Stellungen  inne :  Der  Narr  Golowin  ist  Chef 
der  Admiralität.  Von  Turgenjew  haben  wir  schon  früher  ver- 
nommen, daß  er  im  Kriege  seinen  Mann  stellen  muß.  Der 
Papst-Narr  Sotow  ist  Großsiegelbewahrer.  Fürst  Romadanows- 
kij,  Vizekaiser  und  König  von  Preßburg  aus  dem  Stegreif, 
dessen  Titel  und  Faschingswürden  sich  ordnungsmäßig  auf 
seinen  Sohn  vererben,  hat  die  Aufgabe,  wenn  der  Zar  ab- 
wesend ist,  alle  auszuspionieren  und  dem  Herrscher  allergeheim- 
sten  und  allergetreulichsten  Bericht  zu  erstatten. 

Eine  Unterabteilung  der  Hofnarren  sind  die  Zwerge,  die 
seit  jeher  und  noch  heute  den  Gegenstand  der  Amüsements 
der  russischen  Großen  bilden.  Mentschikovv  gibt  1710 
aus  Anlaß  der  Vermählung  der  Prinzessin  Anna  Iwanowna, 
Nichte  Peters  des  Großen,  mit  dem  Herzog  von  Kurland  ein 
Festmahl,  bei  dem  zwei  riesige  Pasteten  aufgetragen  werden. 
Aus  den  Pasteten  steigen  zwei  Zwerge  hervor,  und  sie  tanzen 
in  der  Mitte  der  Tafel  ein  Menuett.  Im  selben  Jahre  findet 
in  Petersburg,  ebenfalls  zu  Ehren  der  Prinzessin  Anna,  eine 
Zwergenhochzeit  statt,  an  der  sechsunddreißig  Zwergenpaare 
teilnehmen.  Drei  Jahre  später  veranstaltet  Prinzessin  Nathalie, 
Peters  Schwester,  die  Hochzeitsfeier  zweier  ihrer  Lieblings- 
zwerge; 93  Zwerge  aus  allen  Teilen  des  Reiches  werden  zu 
dem  Feste  als  Gäste  herbeigeschafft,  i)  Im  Januar  1715  stirbt 
ein  Zwerg,  den  Peter  besonders  geliebt  hat.  Man  veranstaltet 
ein  feierliches  Begräbnis.  Vier  Popen  und  dreißig  Kirchen- 
sänger gehen  vor  dem  Sarge  her,  der  auf  einem  von  sechs 


der  Narren;  1548  wurde  der  Spaß  verboten.  In  Chartres  wurden  bis  zum  An- 
fang des  sechzehnten  Jahrhunderts  in  den  ersten  Tagen  eines  jeden  Jahres 
von  den  Kantoren  ein  {Papi-fol.  ein  Papst  der  Narren,  und  Kardinäle  gleicher 
Art  gewählt.  Die  Mönche  von  I^on  ernannten  einen  aus  ihrer  Mitte  zum 
Patriarchen  der  Narren.  Man  sehe  weitere  Parallelen  bei  Dinaux  und  Brunet, 
Les  soci6t6s  badines.  bachiques.  Iitt6raires  et  chantantes,  leur  histoire  et  leurs 
travaux,  Paris  1867,  I  334.  —  Floegel,  1.  c.  S.  299  ff. 

^)  Diese  seltsamen  Feste  sind  schon  so  oft  geschildert  worden,  daß  ich  sie 
hier  nicht  ausführlicher  zu  erzählen  brauche.  Man  vgl.  Bernhard  Stern,  Die 
Romanows  I,  erstes  Kapitel;  und  Flögel,  Geschichte  der  Hofnarren,  524 — 529. 


—     374     — 

winzigen  Rappen  gezogenen  Wurstschlitten  ruht.  Hinter  dem 
Schlitten  kommen  alle  Zwerge,  die  man  hat  auftreiben  können, 
in  schwarzen  Kleidern;  zum  Schlüsse  der  Zar  mit  seinen  Mi- 
nistern und  Offizieren.  1) 

Die  Zarin  Anna  Iwanowna,  bei  deren  Hochzeitsfeier  die 
Zwerge  en  masse  aufmarschieren  mußten,  ist  eine  besondere 
Freundin  von  Narren,  Zwergen  und  Mißgeburten  aller  Art. 
An  ihrem  Hofe  wimmelt  es  von  Krüppeln;  die  Besnogije  und 
Gorbuschy2)  sind  die  wichtigsten  Persönlichkeiten.  Wenn  ein 
Gouverneur  sich  die  Gunst  der  Zarin  sichern  will,  schenkt  er 
ihr  einen  ekelhaften  Neger,  eine  bucklige  Tscheremissin  oder 
einen  häßlichen  Kalmücken.  Besonderen  Spaß  macht  der 
Kaiserin  folgendes  oft  wiederkehrendes  Spiel:  Ein  Teil  der 
Narren  muß  sich  mit  dem  Gesichte  zur  Wand  aufstellen,  dann 
tritt  eine  andere  Gruppe  heran  und  schlägt  im  Takt  mit  den 
Fußsohlen  auf  die  Hinterbacken  der  Vordermänner.  In  Nach- 
ahmung des  Trinker-  und  Narrenkonseils  Peters  des  Großen 
will  auch  Zarin  Anna  einen  Narrenorden  vom  heiligen  Benno 
als  Karikatur  des  Alexander-Newskijordens  gründen.  Sie  hat 
aber  doch  nicht  den  Mut  des  Oheims  und  läßt  den  Plan  aus 
Angst  vor  dem  Zorn  der  Kirche  fallen. 

Die  Narren  und  Närrinnen  genießen  Redefreiheit  gegen- 
über den  höchsten  Personen,  nur  der  Kaiserin  dürfen  sie  nicht 
nahetreten.  Wir  finden  am  Hofe  Annas  manchen  alten  Bekann- 
ten wieder :  Vor  allen  Da  Costa,  den  portugiesischen  Juden,  den 
der  russische  Resident  in  Hamburg  einst  Peter  dem  Großen 
mitgebracht  hat;  imd  noch  andere.  Neben  den  alten  aber  viele 
neue  originelle  Käuze.  Wie  Iwan  der  Schreckliche  und  Peter 
der  Große  liebt  auch  Anna  Mitglieder  der  höchsten  Aristokratie 
zu  Hofnarren  zu  machen.  Die  vornehmsten  Familien  des 
Reiches,  die  Apraxin,  Wolkonskij  und  Galitzyn  müssen  der 
Spaßwut  der  Kaiserin  einen  Tribut,  eine  wahre  Blutsteuer  ent- 
richten :  Fürst  Nikita  Fedorowitsch  Wolkonskij  steht  im  Rufe, 
daß  er  auf  seinem  Landgute  wie  ein  Sonderling  lebe ;  die  Zarin 


1)  Memoires  pour  servir  ä.  l'histoire  de  Tempire  russien  sous  Pierre  le 
Grand  par  un  Ministre  etranger,  1725,  p.  114. 

*)  Be3Horitt,  ein  Mensch  ohne  Füße;  ropöyiiia,  eine  Bucklige. 


-    375    — 

befiehlt  ihm,  bei  Hofe  zu  erscheinen,  und  macht  ihn  zum  Hof- 
narren. Ähnlich  ergeht  es  dem  Grafen  Alexe j  Petro witsch 
Apraxin,  der  mit  einer  Prinzessin  Galitzyn  verheiratet  ist.  Auf 
eine  merkwürdige  Weise  gelangt  auch  der  Schwiegervater 
Apraxins  zu  der  Würde  eines  Hofnarren:  Fürst  Galitzyn  reist 
nach  dem  Tode  seiner  Frau  nach  Italien,  tritt  dort  zum  Katholi- 
zismus über  und  heiratet  ein  einfaches  Mädchen  aus  dem 
Volke.  Dann  kehrt  er  nach  Moskau  zurück  und  lebt  hier  in 
aller  Stille,  sowohl  seine  zweite  Frau  aus  Eifersucht,  als  seine 
Konversion  aus  Furcht  vor  Strafe  geheimhaltend.  Aber  das 
Geheimnis  wird  enthüllt  und  die  Kaiserin  erfährt  davon;  sie 
befiehlt,  den  Fürsten  und  seine  Frau  vorzuführen.  Beim  An- 
blick des  zitternden  Paares  bricht  sie  in  ein  schallendes  Ge- 
lächter aus  und  jubelt:  diesem  Manne  gebühre  der  Vorrang 
vor  allen  Narren  der  Welt.  Dem  Grafen  Ssaltykow,  dem  sie 
die  Bekanntschaft  mit  Galitzyn  verdankt,  schreibt  sie:  „Der 
hat  mit  seiner  Dummheit  alle  geschlagen;  wenn  Sie  noch 
seinesgleichen  finden,  will  ich  sofort  davon  verständigt  sein.** 
Die  Zarin  erklärt  Galitzyns  zweite  Ehe  und  seine  Konversion 
für  ungültig;  seine  Italienerin  wird  einfach  dem  Elend  ausge- 
liefert, so  daß  sie  eines  Tages,  weil  sie  nicht  drei  Rubel  für 
ihr  Logis  bezahlen  kann,  auf  die  Straße  hinausfliegt  und  unter- 
geht; der  Fürst  selbst  aber  wird  zum  Hofnarren  und  Knjäs- 
Kwaßnik,  zum  Obermundschenk  für  den  Kwaß,  ernannt.  Die 
Kaiserin  ist  mit  ihrer  Erwerbung  außerordentlich  zufrieden, 
und  zum  Zeichen  dessen  befiehlt  sie  dem  Fürsten,  fortan  kein 
Mensch,  sondern  eine  Henne  zu  sein!  Von  diesem  Augen- 
blicke an  muß  Fürst  Galitzyn  im  Gemache  der  Zarin  stets 
in  einem  mit  Eiern  gefüllten  Korbe  wie  eine  Henne  sitzen 
und  gackern;  bei  Todesstrafe  ist  es  ihm  verboten,  menschliche 
Laute  auszustoßen.  1)  Wenn  die  Kaiserin  zur  Kirche  fährt, 
muß  Galitzyn  sich  rückwärts  auf  den  Wagen  hocken  und  auf 
dem  ganzen  Wege  zum  Gaudium  der  Zarin  und  des  Volkes  wie 
eine  Henne  gackern. 

Seltsam  ist  auch  die  Karriere  des  Hofnarren  Balakirew. 
Er  war  zur  Zeit  Peters  des  Großen  Schreiber  in  einem  Kloster, 


^)  Memoiren  der  Fürstin  Daschkow  I  125. 


—    376    — 

später  Studiosus  der  Ingenieurwissenschaft  und  schließlich  im 
Hofstaate  der  Kaiserin  Katharina  angestellt  gewesen.  In  seiner 
letzten  Eigenschaft  verwickelte  er  sich  in  die  Affäre  der  Kaiserin 
mit  ihrem  Liebhaber  Mons,  und  als  diesen  des  Kaisers  Rache 
traf,  wurde  auch  Balakirew  der  Inquisition  ausgeliefert,  ge- 
peitscht und  zu  lebenslänglichem  Bagno  verurteilt.  Katharina  I. 
aber  vergaß  ihn  dort  nicht;  kaum  war  sie  zur  Selbstherrschaft 
gelangt,  als  sie  Balakirew  die  Freiheit  gab.  Anna  übernahm 
ihn  in  ihren  Hofstaat   und  machte  ihn  zum  Hofnarren. 

Ein  anderer  Hofnarr,  Pedrillo,  ein  Neapolitaner,  der  eigent- 
lich Pietro  Mira  hieß,  war  als  Sänger-Bouffon  und  erster  Violi- 
nist an  die  italienische  Oper  in  Petersburg  engagiert  worden. 
Eines  Tages  zerschlug  er  sich  mit  dem  Orchesterchef,  und  es 
blieb  ihm  nichts  anderes  übrig,  als  unter  die  Hofnarren  zu 
gehen.  Er  mußte  gewöhnlich  beim  Kartenspiel  für  die  Kaiserin 
Bank  halten,  und  das  Sprichwort  wurde  wahr:  der  Narr  hatte 
Glück  und  gewann  ein  Vermögen.  Seine  Frau  war  von  außer- 
ordentlicher Häßlichkeit ;  als  Anna  ihn  fragte :  „Hast  du  wirklich 
eine  Ziege  geheiratet?**  entgegnete  er:  „Tatsächlich;  und  sie 
wird  nächstens  gebären.  Ich  hoffe,  daß  Ew.  Majestät  sie  be- 
suchen und  nicht  die  üblichen  Geschenke  vergessen  werden.** 
Die  Zarin  ging  auch  richtig  mit  dem  ganzen  Hofstaat  hin,  und 
man  fand  Pedrillo  im  Bette,  an  seiner  Seite  eine  große,  mit 
Bändern  und  Spitzen  geschmückte  Ziege  als  Wöchnerin.  Die- 
ser Narr  verstand  das  Geschäft.  Die  Kaiserin  schickte  ihn 
mehrmals  ins  Ausland,  um  Sänger  und  Sängerinnen  zu  enga- 
gieren, Schmuck  und  Möbel  einzukaufen,  und  er  wußte  dabei 
seinen  Vorteil  wahrzunehmen.  Die  Schwatzfreiheit,  die  ihm 
als  einem  Narren  am  Zarenhofe  gestattet  war,  glaubte  er  aus 
dem  sicheren  Hinterhalte  an  der  Newa  heraus  auch  gegenüber 
fremden  Fürstlichkeiten  mißbrauchen  zu  dürfen.  Als  1735  ^i^ 
Spanier  Toscana  besetzten,  schrieb  Pedrillo  an  Gaston  de  Medi- 
cis  einen  Brief,  worin  er  ihm  im  Namen  der  Zarin  15000  Ko- 
saken Hilfstruppen  versprach  „für  eine  konvenable  Quantität 
Danziger  Schnaps  von  jener  Sorte,  an  der  Ew.  Hoheit  sich 
in  Böhmen  zu  betrinken  pflegten.**  i) 


1)  Waliszewski,  L'h^ritage  de  Pierre  le  Grand,  267. 


—    377    — 

Neben  den  offiziellen  Narren  gibt  es  freiwillige,  die  sich 
durch  ihre  sogenannten  Spaße  in  die  zarische  Gunst  einschmei- 
cheln wollen;  zu  ihnen  zählt  der  alte  Generalleutnant  Ssalty- 
kow,  der  durch  seine  unübertrefflichen  Gliederverrenkungen 
der   Kaiserin   stets   ein   unstillbares   Lachen   verursacht. 

Die  Spezialität  des  Hofes  der  Kaiserin  Anna  sind  die  När- 
rinnen. Aus  Kurland  hat  sich  die  Kaiserin  als  ihre  Haupt- 
favoritin die  Frau  Anna  Iwanowna  Juschkow  mitgebracht,  deren 
wichtiges  Geschäft  es  ist,  der  Zarin  die  Fußnägel  zu  schneiden. 
Anna  ißt  leidenschaftlich  Schweinebraten  mit  Essig  und  Zwie- 
bel; eine  Kalmückin  von  abscheulicher  Häßlichkeit  versteht 
diese  Leibspeise  der  Herrscherin  am  besten  zuzubereiten,  und 
da  die  Köchin  beim  Präsentieren  des  Bratens  die  entsetzlichsten 
Grimassen  schneidet,  erhöht  sie  der  Herrin  den  Genuß  und 
erwirbt  sich  den  Rang  einer  Hofnärrin.  Diese  Närrin,  Anna 
Iwanowna  geheißen  wie  die  Zarin  selbst,  wird  nun  auf  Befehl 
der  Kaiserin  mit  dem  Narren  Galitzyn  vermählt,  und  ihre 
Heirat  gibt  im  Winter  1740  Veranlassung  zu  dem  berühmtesten 
russischen  Narrenstück,  tu  der  Errichtung  des  Palastes  aus 
Eis  1),  der  nach  allen  Regeln  der  Architektur  aus  mächtigen  Eis- 
quadem  hergestellt  wurde  und  wie  aus  einem  einzigen  Stücke 
gemacht  schien.  Vor  dem  Gebäude  standen  sechs  Kanonen 
aus  Eis  auf  Lafetten  von  Eis;  es  wurde  aus  diesen  Kanonen 
mehrmals  mit  eisernen  Kugeln  geschossen.  Am  Eingang  des 
Eispalastes  befanden  sich  zwei  Delphine  aus  Eis,  aus  deren 
Rachen  des  Abends  brennende  Naphta  floß.  Im  Hause  selbst 
gab  es  Treppen,  zahlreiche  Zimmer,  Galerien  aus  Eis.  Die 
Fenster  waren  aus  dünngeschabtem  Eise  gemacht.  Bei  Nacht 
wurde  das  Haus  illuminiert.  Auf  den  Tischen  aus  Eis  standen 
Uhren,  Spielkarten,  Spielmarken,  Geschirre  —  alles  aus  Eis. 
In  diesem  Eispalaste  feierte  Galitzyn  seine  Hochzeit  mit  der 
Kalmückin,  und  in  der  Hochzeitsnacht  mußte  er  mit  seiner 
jungen  Gemahlin  in  einem  Bette  aus  Eis  schlafen. 

1)  Wahrhaffte  und  Umständliche  Beschreibung  und  Abbildung  des  im 
Monath  Januarius  1740.  in  St.  Petersburg  aufgerichteten  merckwürdigen 
Hauses  von  Biß,  mit  dem  in  demselben  befindlich  gewesenen  Haußgeräthe; 
den  Liebhabern  der  Natur-Geschichte  mitgetheilt  von  Georg  Wolffgang  Krafft. 

1741.  4*. 


—    378    — 

Eine  bemerkenswerte  Truppe  am  Hofe  der  russischen 
Zarinnen  des  achtzehnten  Jahrhunderts  bilden  die  zahlreichen 
offiziellen  Fußsohlenkitzlerinnen.  Die  russischen  Frauen  hatten 
seit  jeher  in  ihrem  Terem  Sklavinnen,  deren  einzige  Pflicht  es 
war,  der  Herrin  die  Fußsohlen  zu  kitzeln,  um  ihr  Wollust  zu 
bereiten.  Anna  Iwanowna  erhob  dieses  Amt  zuerst  zu  einer 
offiziellen  Hofwürde.  Die  Regentin  Anna  Leopoldowna,  die 
Braunschweigerin,  die  nach  dem  Tode  der  Zarin  Anna  Iwa- 
nowna für  das  Wickelkind  Iwan  die  Herrschaft  führte,  hatte 
in  ihrem  Alkoven  nicht  weniger  als  sechs  offizielle  Fußsohlen- 
kitzlerinnen, die  der  Fürstin  um  die  Wette  Vergnügen  zu  be- 
reiten trachteten.  Während  diese  Frauen  die  Sohlen  kitzelten, 
erzählten  sie  auch  schlüpfrige  Geschichten  und  sangen  obszöne 
Lieder.  Bei  der  Zarin  Elisabeth  bilden  die  Kitzlerinnen  ein 
großes  Korps,  das  unter  Aufsicht  eines  besonderen  Beamten, 
des  ehemaligen  Ofenheizers  und  späteren  Generalleutnants  Was- 
silij  Iwanowitsch  Tschulkow  steht;  Tschulkow  hat  am  Hofe 
Elisabeths  die  Stellung  eines  Kanmierherrn ;  seine  spezielle 
Pflicht  ist  es,  allabendlich  seine  Matratze  vor  dem  Bette  Elisa- 
beths auszubreiten  und  zu  ihren  Füßen  zu  schlafen,  ganz  gleich, 
ob  die  Zarin  in  ihrem  Bette  allein  liegt  oder  Gesellschaft  hat. 
Die  Kitzlerinnen  besitzen  nicht  geringeren  Einfluß  als  die  Günst- 
linge; ja  oft  muß  ein  Liebhaber,  um  sich  dauernd  in  der  Gunst 
der  kaiserlichen  Maitresse  zu  erhalten,  die  Hilfe  einer  Kitzlerin 
in  Anspruch  nehmen.  Der  Günstling  Schuwalow  bringt  seine 
eigene  Schwester  Elisabeth  Iwanowna  auf  einen  dieser  wich- 
tigen Posten,  damit  er  in  ihren  Schwätzereien  jederzeit  eine 
Stütze  finde.  Elisabeth  Iwanowna  weiß  ihre  Stellung  so  vor- 
trefflich auszunützen,  daß  ein  Zeitgenosse  sie  den  eigentlichen 
Minister  des  Äußeren  nennt.  Später  erhält  sie  eine  scharfe 
Konkurrentin  in  der  Person  der  Frau  Woronzow,  der  leibhaf- 
tigen Gemahlin  des  durchlauchtigsten  Großkanzlers.  Diese 
kitzelt  der  wollüstigen  Zarin  die  Sohlen  und  erfreut  sie  noch  in 
manch  anderer  Weise,  um  dann  von  der  in  Verzückung  schwel- 
genden Frau  nicht  bloß  Gnaden  für  den  Gatten  zu  erbitten, 
sondern  auch  Vorteile  für  den  englischen  Gesandten  zu  er- 
haschen, der  durch  seine  Freigebigkeit  den  mit  ihm  kon- 
kurrierenden französischen  Gesandten  Marquis  de  THöpital  leicht 


—    379    — 

besiegt.  Auch  die  übrigen  Kitzlerinnen  entstammen  größten- 
teils der  vornehmsten  Gesellschaft:  so  Mawra  Jegorowna 
Schepelejew  und  Maria  Bogdanowna  Golowin,  die  Witwe  des 
Admirals  Peters  des  Großen.  Die  Golowin  führt  auch  den 
besonderen  Titel:  XjioirB-6a6a,  Klapsweib,  weil  sie  hauptsäch- 
lich die  durch  Ausschweifungen  erschöpfte  Zarin  durch  Klap- 
sen auf  den  kaiserlichen  Hintern  zu  erfrischen  hat.^) 

Der  letzte  russische  Hofnarr,  der  diesen  Titel  offiziell 
führte,  war  Aksakow;  er  nahm  ein  böses  Ende.  Er  erlaubte 
sich  einmal  mit  der  Kaiserin  Elisabeth  einen  Scherz  zu  machen, 
indem  er  aus  seinem  Hute  ein  Stachelschweinchen  herausfallen 
ließ.  Die  Kaiserin  hielt  das  Tier  für  eine  Maus  und  flüchtete 
schreiend;  Aksakow  wurde  der  Geheimen  Kanzlei  überliefert 
und  zur  Strafe  der  Tortur  verurteilt,  „weil  er  Ihre  Majestät  er- 
schreckte." 2)  Katharma  II.  schaffte  die  Institution  der  Hof- 
narren ab;  aber  sie  hatte  doch,  wenn  auch  mehr  keine  offi- 
ziellen Titulare  dieser  Würde,  einen  Lustigmacher  in  der 
Person  des  Leo  Naryschkin,  der  ihr  in  seinen  Taschen  stets 
allerlei  Kleinigkeiten,  Süßigkeiten,  Spielereien  nütbringen 
mußte;  und  eine  alte  Plaudertasche,  Matrona  Danilowna,  die 
das  Recht  hatte,  den  Höflingen  die  größten  Frechheiten  ins 
Gesicht  zu  sagen.  Nicht-offizielle  Hofnarren  und  Hofnärrinnen 
finden  wir  am  Zarenhofe  noch  bis  in  die  jüngste  Zeit.^)  Aber 
sie  spielen  nicht  mehr  die  wichtige  Rolle,  wie  namentlich  im 


1)  Des  Vergleiches  halber  lese  man  folgende  Stelle  aus  Flögeis  Geschichte 
der  Hofnarren,  Liegnitz  und  Leipzig  1789,  S.  120  (Von  den  Lustigmachem 
bei  den  Griechen  und  Römern) :  ,,£s  haben  nicht  allein  Männer  ihre  Schmarotzer, 
sondern  auch  Frauen  ihre  Parasitinnen  gehabt,  als  die  Königinnen  in  Syrien 
und  Cypem,  welche  Leitern  genannt  worden,  weil  sie  ihren  Frauen  den  Rücken 
darbothen,  daß  sie  sich  deßelben  als  einer  Leiter  oder  Stiege  bedienten,  wenn 
sie  auf  den  Wagen  steigen  wollten.  In  Macedonien  wurden  sie  zu  schandlichen 
Verrichtungen  gebraucht  (Totßadeg),  Andere  Frauenzimmer  bedienten  sich, 
in  Ermangelung  menschlicher  Spaßmacher,  gewisser  Thiere,  womit  sie  sich  die 
Zeit  vertrieben." 

«)  Catherine  II,  M6moires,  Londres  1859.    115. 

*)  Der  Großfürst  Konstantin  Pawlowitsch,  der  Diktator  Polens,  hatte 
einen  Affen  als  Spaßmacher.  Einmal  ergriff  der  Affe  eine  Flinte  und  schoß 
auf  den  Großfürsten,  der  nur  durch  eine  schnelle  Bewegung  der  Kugel  entging. 
Vgl.  Harring,  Memoiren  über  Polen,  Deutschland  183 1.    S.  61. 


—    380    — 

Laufe  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  Die  Französierung  Ruß- 
lands machte  unter  Elisabeth  schon,  dann  aber  unter  Katha- 
rina II.  solche  Fortschritte,  daß  die  Gesellschaft  sich  der  alten 
moskowitischen  Narrensitten  und  Maskeraden  zu  schämen  und 
europäisch  zugeschnittene  Unterhaltungen  und  Tänze,  elegante 
Bälle  imd  vornehme,  wenn  auch  langweilige  Komödien  zu  be- 
suchen begann. 


22.  Tanz  und  Bälle. 

Tanzen  Ketzerei  —  Ein  geplanter  Ball  als  Zarenstürzer  —  Peters  Reformwerk  — 
Polizisten  müssen  Tänzerinnen  bringen  —  Peter  der  Große  als  Tanzmeister  — 
2^emonialtänze  —  Am  Hofe  der  Zarin  Anna  —  Rasumowskijs  Tanzstunden  — 
Toilettenluxus  der  Kaiserin  Elisabeth  —  Aus  den  Erinnerungen  der  Kaiserin 
Katharina  —  Maskenbälle  —  Am  Hofe  Katharinas  —  Stolz  der  Adeligen  — 
Geschichte  des  russischen  Klubwesens  —  Paul  verbietet  Tanzen  und  Klubs  — 
Neues  Leben  unter  Alexander  I.  —  Ball  und  Politik  —  Der  Herzog  zu  Vicenzia 
und  Frau  Wladek  —  Kaiser  Alexander  und  Narjrschkin  —  Sittenlosigkeit 
auf  den  Bällen  der  Vornehmen  —  Nikolajs  I.  Sittenstrenge  —  Etikette  — 
Der  Bart  des  Orchesterdirektors  —  Tanzwut  der  Kaiserin  Alexandra  —  Katha- 
rina Dolgoruckij  auf  den  Hofbällen  —  Volkstänze  —  Volksspiele  —  Der  Tauben- 
tanz —  Sexueller  Charakter  der  Nationaltänze  —  Schumki  oder  Tanzbrauser 
der  Kosaken  —  Obszöne  und  erotische  Tanzlieder  aus  der  Ukraine  —  Der 
Text  der  Kamarinskaja  —  Der  Kranichtanz  —  Der  Chaliandratanz  —  Pol- 
nischer Nationaltanz  —  Tänze  der  Wotjäken  und  Kalmücken  —  Tartarische 

und  tscherkessische  Tänze. 

Der  Tanz  im  alten  Rußland  konnte  infolge  der  strengen 
Trennung  der  Geschlechter  nur  eine  Unterhaltung  der  niede- 
ren Volksklassen  sein.  Der  Kirche  und  den  Orthodoxen  war 
Wissenschaft  Ketzerei,  Kunst  ein  Verbrechen,  Musik  und  Tanz 
eine  Entheiligung  des  Glaubens.  Die  Polin  Marina,  die  Ge- 
mahlin des  Pseudo-Dmitrij,  beschleunigte  selbst  den  Sturz  und 
die  Ermordung  des  falschen  Zarei)  dadurch,  daß  sie  im  ehr- 
würdigen Kremlpalaste  einen  polnischen  Ball  veranstalten 
wollte.  1)  Erst  Peter  der  Große  sah  auch  in  der  Einführung  der 
Bälle  nach  europäischer  Art  ein  kulturelles  Reformwerk.  Er 
zerriß  mit  rauher  Hand  die  Traditionen  und  zwang  die  Ehe- 


1)  Karamsin.  deutsche  Ausgabe  X  238. 


-     381     - 

männer,  ihre  Frauen  aus  dem  Terem  zu  befreien,  in  die 
Gesellschaft  zu  schicken  und  in  den  Armen  fremder  Männer 
herumdrehen  zu  lassen.  Die  Frauen  folgten  zumeist  willig 
und  freudig  dem  zarischen  Befehle.  Aber  es  gab  auch  manche, 
die  aus  Furcht  vor  dem  eifersüchtigen  Gatten,  aus  Angst  vor 
der  Strafe  des  Himmels  oder  aus  bloßer  Trägheit  mit  den 
alten  Gewohnheiten  der  Abgeschlossenheit  hinter  vier  Mauern 
und  der  Scheu  vor  fremden  Männern  nicht  brechen  wollte. 
Diese  Ängstlichen  und  Zögernden  wurden  von  der  Polizei  ab- 
geholt und  gewaltsam  in  den  Tanzsaal  geschleppt. 

Lefort,  der  Lehrer  und  maltre  de  plaisir  des  jungen  Zaren, 
hatte  in  seinem  Palaste  in  der  Sloboda  zu  Moskau  einen  Ball- 
saal einrichten  lassen,  der  1500  Personen  fassen  konnte.  Die 
ersten  Bälle  müssen  gar  kurios  gewesen  sein.  Die  Bojaren  und 
ihre  Frauen  hatten  sich  von  ihren  Leibeigenen  und  Sklavinnen 
zwar  oft  etwas  vortanzen  lassen,  aber  selbst  nicht  getanzt,  i)  Zur 
Not  könnten  sie  nun  wohl  einen  Nationaltanz  nach  dem  Muster 
ihres  Gesindes  nachhopsen,  aber  Peter  verlangt  von  ihnen 
gleich  europäische  Zeremonialtänze  nach  allen  Regeln  der 
Kunst.  Da  bleibt  schließlich  dem  Zaren  nichts  anderes  übrig,  als 
selbst  den  Tanzmeister  zu  machen  und  seine  Russen  tanzen  zu 
lehren.  Noch  lange  nach  der  Gründung  von  Petersburg  sieht  man 
Peter  den  Großen  als  Tanzmeister  Bälle  eröffnen,  der  Gesellschaft 
vortanzen,  und  alles  macht  im  Takte  die  Bewegungen  und  Ver- 
renkungen des  hohen  Herrn  nach.  Während  man  aber  beim 
Tanzen  selbst  die  Regeln  streng  beobachten  muß,  darf  mau 
die  Etikettefragen  ganz  außer  acht  lassen.  Der  Kaiser  ergreift 
die  erstbeste  Frau,  die  ihm  gefällt,  und  dreht  sich  mit  ihr,  bis 
er  genug  hat;  so  steht  es  auch  jedem  der  Gäste  frei,  die 
Kaiserin  ohne  weiteres  zu  einem  Tänzchen  aufzufordern.  2)  Nur 
für  die  Hochzeitsfeste  der  Vornehmen  hat  der  Zar  genau  fest- 
gestellt, in  welcher  Reihenfolge  und  was  für  Tänze  man  tanzen 
müsse:   Sobald  die  Tafel  aufgehoben  ist,  so  befahl  die  kaiser- 


1)  Reise  nach  Norden /anno  1706.  S.  155:  ..Die  Russen  können  nicht 
tantzen  /  und  halten  dafür  /  der  Tantz  komme  ihrer  Gravität  nicht  zu  /  doch 
geschiehet  es  zu  weilen  /  daß  sie  mitten  in  einer  Debauche  ihre  Tartarische 
und  Polnische  Sclaven  tantzen  lassen". 

>)  Bergholz  bei  Büsching  XIX  135.  154  und  170. 


-      382     - 

liehe  Instruktion,  tanzt  zuerst  der  Hochzeitsmarschall  mit  der 
Braut,  während  die  zwei  ältesten  Schaffer  die  Brautmutter  und 
Brautschwester  engagieren.  Diese  drei  Paare  tanzen  polnisch, 
nachdem  sie  vorher  einige  Touren  mit  langsamen  Schritten 
gemacht  und  im  Vorbeitändeln  der  Gesellschaft  ihre  Reverenz 
erwiesen  haben.  Dann  tanzt  der  Marschall,  der  seinen  Mar- 
schallstab in  der  Linken  hält,  noch  einmal  mit  der  Braut, 
während  die  Brautmutter  und  Brautschwester  von  zwei  anderen 
Schaffern  engagiert  werden.  Hierauf  tanzt  der  Bräutigam  mit 
der  Braut,  der  Bräutigamsvater  mit  der  Brautmutter,  der  Braut- 
bruder mit  der  Bräutigamsschwester.  Dann  tanzen  wieder 
Bräutigam  und  Braut,  ferner  die  Bräutigamsmutter  mit  dem 
Brautvater,  und  die  Brautschwester  mit  dem  Bräutigamsbruder. 
Schließlich  tanzt  der  Vorschneider  mit  jeder  Brautjungfer.  Bei 
allen  diesen  Tänzen  muß  der  Marschall  mit  dem  Marschall- 
stabe allein  voraushüpfen.  Nachdem  die  Zeremonialtänze  be- 
endet sind,  herrscht  Tanzfreiheit. 

Trotz  des  Eifers,  den  Peter  persönlich  auf  diesem  Zivili- 
sationsgebiete entfaltet  hat,  können  sich  die  Russen  nur  schwer 
an  die  Bälle  nach  europäischer  Art  gewöhnen.  Am  Hofe  der 
Kaiserin  Anna  Iwanowna  herrscht  bei  Bällen  die  größte  Ver- 
wirrung. Die  Zarin  hat  zwar  den  französischen  Ballettmeister 
Landet  eigens  dafür  engagiert,  daß  er  die  Hof  balle  arrangiere  i), 
aber  der  gute  Mann  kann  nicht  verhindern,  daß  mitten  im 
zierlichsten  Menuett  ein  Unteroffizier  der  Garde  mit  seiner 
Gattin,  einem  Kosakenweibchen  aus  der  Ukraine,  einen  feurigen 
Schurawlj,  einen  schmachtenden  Golubez  oder  einen  phalli- 
schen Zigeunertanz  aufführt.  Selbst  die  Kaiserin  Elisabeth 
Petrowna,  der  es  gelungen  ist,  ihren  Tartarenhof  mit  einer 
brutal  dicken  französischen  Schminke  zu  übermalen,  muß 
ihren  heimlichen  Gemahl,  den  ehemaligen  Kirchensänger  Ra- 
sumowskij,  in  den  Schäferstunden  im  Tanzen  unterrichten  und 
ihm  schließlich,  da  ihre  Mühe  umsonst  ist,  einen  Franzosen, 
der  für  den  Zarenhof  Ballette  komponiert,  als  ständigen  Lehrer 
der  Tanzkunst  beigesellen.  2)  Im  übrigen  geht  es  bei  Elisabeths 


*)  IlBiiu'L  3aöiximrh,  iicropimecKie  3TK)äw,  II  447. 
*)  Waliszewski,  La  demidre  des  Romanov,  51,  65;  40 — 42. 


—    383    — 

Hoffesten  schon  prunkvoll  genug  zu.  Die  Zarin  treibt  einen 
unerhörten  Toilettenluxus.  Als  Großfürstin  war  sie  knapp  ge- 
halten gewesen,  nun  höh  sie  alles  fieberhaft  hastig  nach.  Sie 
braucht  viel,  denn  sie  ist  sehr  dick,  schwitzt  furchtbar  und 
muß  während  eines  Balles  wenigstens  dreimal  die  Wäsche  und 
die  Kleider  wechseln.  Femer  zieht  sie  dasselbe  Kleid  nicht 
gern  viele  Male  an.  So  häufen  sich  in  ihren  Garderobeschrän- 
ken ganze  Magazine  auf.  Im  Jahre  1753  verbrennen  beim 
Ausbruch  eines  Feuers  in  ihrem  Moskauer  Palais  viertausend 
Roben.  In  ihrem  Petersburger  Palais  findet  man  nach  ihrem 
Tode  15000  Kleider,  zwei  Koffer  voUgepropft  mit  Seiden- 
strümpfen, tausende  Taschentücher  und  hundert  Stück  noch 
nicht  angeschnittener  Stoffe.  Eigens  dazu  angestellte  Hof- 
beamte müssen  auf  die  im  Hafen  ankommenden  Schiffe  auf- 
passen und  im  Namen  Elisabeths  Hand  auf  die  Nouveaut^s 
legen,  ehe  andere  Frauen  sie  zu  Gesicht  bekommen.  Der  rus- 
sische Gesandte,  der  1760  in  Paris  weilt,  um  die  Beziehungen 
beider  Länder,  die  unterbrochen  waren,  wieder  anzuknüpfen, 
verwendet  seine  meiste  Zeit  dazu,  um  Seidenstoffe  mit  den 
neuesten  Mustern  aufzutreiben.  Der  englische  Gesandte  in 
Petersburg,  Lord  Hyndford,  beschäftigt  sich  tagelang  nüt  Mode- 
blättern, um  für  die  Zarin  Stoffe  aus  England  bestellen  zu 
können.  Eine  Merkwürdigkeit  in  der  Garderobe  Elisabeths 
sind  die  zahllosen  Männerkleider.  Zweimal  wöchentlich  gibt  die 
Kaiserin  in  der  Ballsaison  Maskeraden ;  sie  hat  von  ihrem  Vater 
den  Geschmack  an  Verkleidungen  ererbt  und  liebt  es,  bei  Hofe 
in  Männertracht  zu  erscheinen,  einmal  als  französischer  Mus- 
ketier, ein  andermal  als  holländischer  Matrose,  ein  drittesmal 
als  Kosakenataman.  Sie  hat  schöne  Beine,  und  in  Hosen 
kann  sie  ihre  Pracht  zur  Geltung  bringen.  Sie  ist  der  Meinung, 
daß  die  Männertracht  nur  sie  allein  gut  kleide,  ihre  Rivalinnen 
aber  nicht  begünstige.  Sie  befiehlt  deshalb,  daß  bei  den  Maske- 
raden die  Frauen  alle  in  französischer  Herrentracht,  die  Män- 
ner in  Frauenkleidem  erscheinen.  ^)  Auch  sieht  sie  sehr  streng 
darauf,  daß  die  Modelle  jener  Kleider  und  Koiffüren,  die  sie 
adoptiert  hat,  vollständig  für  sie  reserviert  bleiben,  solange  sie 


^)  M6moires  de  Catherine  II,  148. 


—    384    — 

ihr  gefallen;  erst  dann  darf  man  sie  nachmachen,  wenn  die 
Kaiserin  sie  aufgegeben  hat.  Wehe  der  Unglückseligen,  die 
es  wagt,  mit  Elisabeth  zu  konkurrieren,  ihr  den  .  Preis  der 
ersten  Schönheit  im  Reiche  oder  den  Rang  der  geschmack- 
vollsten Frau  am  Hofe  streitig  zu  machen;  die  arme  Frau 
Lopuchin  zieht  sich  aus  solchem  Anlaß  den  Zorn  der  Zarin  zu 
und  wird  dem  Henker  überliefert,  der  nüt  der  Knute  ihre 
Schönheit  in  Fetzen  reißt. 

Eine  glänzende  Ballsaison  ist  der  Winter  1745/46.  Ruß- 
land führt  Krieg,  aber  am  Hofe  Elisabeths  amüsiert  man  sich. 
Die  Vornehmen  sind  gehalten  abwechselnd  bald  in  diesem, 
bald  in  jenem  Palaste  Maskenbälle  zu  veranstalten.  Es  vergeht 
kein  Abend  ohne  Fest.  Tagsüber  gibt  es  ein  wUdes  Treiben 
von  Schneiderinnen,  Modistinnen  und  Friseurinnen,  und  der 
Tanzmeister  fliegt  von  Palast  zu  Palast,  um  die  Schönen  die 
neuesten  Pas  zu  lehren.  Abends  via  sechs  beginnt  die  Reunion 
mit  einem  Tanz  für  die  Jugend  und  einem  Kartenspielchen  für 
die  Älteren.  Um  zehn  Uhr  geht  man  zum  Büfett.  An  einem  Tische 
speisen  nur  die  Kaiserin,  ihr  Neffe  Peter,  dessen  Gemahlin 
Katharina  und  einige  Privilegierte;  die  übrigen  Gäste  nehmen 
das  Souper  stehend  ein.  Nach  dem  Essen  wird  wieder  ge- 
tanzt bis  zum  frühen  Morgen.  Eine  höfische  Etikette  wird 
bei  diesen  Bällen  nicht  beobachtet.  Die  Hausherren  und 
Hausfrauen  brauchen  niemandem  beim  Eintritt  entgegenzu- 
gehen, niemanden  beim  Fortgehen  hinauszubegleiten,  selbst  die 
Kaiserin  macht  keine  Ausnahme.  Ja,  es  ist  geradezu  untersagt, 
sich  von  den  Plätzen  zu  erheben,  wenn  die  Kaiserin  plötzlich 
in  einen  Ballsaal  konunt,  was  häufig  geschieht ;  Elisabeth  pflegt 
sich  bald  bei  einem  Aristokraten,  bald  bei  einem  fremden  Ge- 
sandten selbst  zum  Ball  oder  Souper  einzuladen. 

Auch  um  die  Weihnachtszeit  1750  geht  es  lustig  her; 
Katharina  II.  erzählt  in  ihren  Memoiren  i),  daß  bei  Hofe  Bälle 
und  Maskeraden  miteinander  abwechselten  und  des  Tanzens 
kein  Ende  war:  „Um  jene  Zeit  tanzte  ich  gem.  Auf  großen 
Bällen  mußte  ich  mich  dreimal  umkleiden.  Mein  Anzug  war 
immer  sehr  gewählt.  Wenn  auf  einem  Maskenball  mein  Kostüm 

1)  Seite  155. 


Bestrafung  der  Frau  Lopuchin. 


Elisabeth  Alexiewna,  Gemahlin  Alexanders  I. 


—    386    — 

allgemein  gefallen  hatte^  so  zog  ich  es  natürlich  nie  mehr  an; 
denn  was  einmal  Effekt  hervorgebracht,  darf  zürn  zweiten 
Male  nicht  mehr  auf  Wirkung  rechnen.  Auf  Maskenbällen,  wo 
die  Damen  in  Herrenkleidem  und  die  Herren  in  Frauenkleidem 
erschienen,  trug  ich  prachtvolle,  auf  allen  Nähten  gestickte 
Kostüme,  und  die  Kaiserin  machte  mir  keine  Vorwürfe  darüber. 
Ich  muß  bekennen,  daß  die  Koketterie  damals  bei  Hofe  ganz 
gebräuchlich  war,  imd  jede  die  andere  durch  Eleganz  zu  über- 
treffen suchte.  Ich  erinnere  mich,  daß  zu  einem  Maskenballe 
sich  alle  Leute  neue  schöne  Kleider  machen  ließen,  imd  ich 
verzweifelte  daran,  sie  übertreffen  zu  können/* 

Als  Kaiserin  ist  Katharina  durchaus  nicht  mehr  so  tanz- 
lustig. Und  namentlich,  seit  sie  älter  geworden  ist,  zieht  sie 
den  Kartentisch  dem  Ballsaal  vor  und  veranstaltet  in  ihrem 
Palaste  lieber  Gesellschaftsspiele  als  Tanzunterhaltungen.  In 
der  Intimität  ihrer  Ermitage  macht  man  lustige  Verse,  spielt 
man  Theater  und  treibt  allerlei  Ulk.  Wer  beim  Pfänderspiel 
verliert,  muß  zur  Strafe  ein  Glas  Wasser  a\if  einen  Zug  hin- 
untertrinken oder  gar  horribile  dictu  eine  Passage  aus  Tred- 
jakowskijs  Telemach  deklamieren  ohne  zu  gähnen.  Es  gibt 
selbstverständlich  auch  große  Bälle,  Galafeste,  denn  man  ist 
ja  ein  eturopäischer  Hof  geworden;  aber  da  herrscht  die  kühle 
Zeremonie;  die  Zeit  der  Tanzwut  bei  Hofe  ist  vorbei.  Wie 
der  Hof  ist  auch  die  Gesellschaft  fein  liniiert  und  genau  ge- 
messen geworden.  Die  Adeligen  in  Moskau  haben  an  jedem 
Donnerstag  einen  Ball  des  Adels,  bei  dem  ein  Bürgerlicher 
nicht  erscheinen  darf;  sein  Eindringen  wäre  eine  förmliche 
Revolution,  müßte  einen  Kampf  auf  Leben  und  Tod  hervor- 
rufen. Diese  Adeligen  verachten  das  Bürgert irni,  das  Volk, 
nüthin  auch  alles  Nationale,  tanzen  nur  Quadrille,  Polonaise, 
Anglaise  imd  Menuett. 

So  bleibt  das  Bürgertum  darauf  angewiesen,  sich  selbst  zu 
sammeln.  1770  entsteht  in  Petersburg  der  erste  Klub,  der 
englische  genannt,  weil  er  zumeist  von  englischen  und  aus- 
ländischen Kaufleuten  der  Hauptstadt  begründet  wurde.  ^)  1772 


^)  Kaostantmqpel  und  St.  Petersburg,  eine  Zeilachxift.    Jahrgang  1805, 
4.  Heft,  S.  528. 

Stern,  Geschichte  der  OffentL  Sittlichkeit  in  Roftland.  2$ 


—    386    — 

folgt  die  Eröffnung  des  ersten  musikalischen  Klubs,  1776  die 
Begrüudm^  des  Bürgerklubs;  1783  konstituiert  sich  der  Khib 
der  vereinigten  Gesellschaft,  gewöhnlich  der  amerikanische  ge- 
nannt; endlich  kommen  dazu  1785  der  ältere  Tanzkhib  und 
1790  die  neue  bürgerliche  Tanzgesellschaft.  Außerdem  gibt  es 
eine  Menge  englische  und  deutsche  Ballgesellschaften.  1781 
wird  auch  ein  gelehrter  Klub  eröffnet,  aber  den  paar  Gründern 
geseilt  sich  kein  einziges  Mitglied,  und  die  Pforten  dieses  Klubs 
bleiben  ewig  geschlossen.  Der  verrückte  Paul  haßt  alles,  was 
•  anderen  gefällt.  Vor  allem  wird  der  Walzertanz  als  staats- 
gefährlich verboten,  dann  fällt  man  über  die  Klubs  her,  schon 
das  Wo^  Klub  hat  in  den  Ohren  des  wahnsinnigen  Monarchen 
einen  aufrührerischen  Klang;  kein  Klub  darf  fortan  bestehen, 
es  gibt  nur  noch  simple  musikalische  Gesellschaften  mit  be- 
hördlich konzessionierten  Programmen  und  vorsichtig  zensu- 
rierten  Musikstücken.  Erst  Zar  Alexander  Pawlowitsch  ge- 
stattet neuerdings  die  Eröffnimg  von  Klubs,  läßt  sich  sogar  in 
diesem  und  jenem  als  Mitglied  einschreiben  imd  erscheint  bei 
den  Bällen  der  Bürger  mit  der  Kaiserin  imd  den  Großfürsten 
zu  Gaste. 

In  der  Gesellschaft  imd  bei  Hofe  gibt  es  wieder  Festlich- 
keiten, aber  es  ist  nicht  mehr  die  ungetrübte  und  zügellose 
Fröhlichkeit  von  einst,  die  Politik  singt  oft  ihr  garstig  Lied 
zur  Begleitung:  181 1  veranstaltet  der  französische  Botschafter 
Herzog  zu  Vicenzia  einen  Maskenball.  Den  Gästen  ist  vorge- 
schrieben im  Kostüm  venezianischer  Edelleute  zu  erscheinen. 
Das  diplomatische  Korps  und  die  Ausländer  befolgen  die  An- 
ordnung; die  russischen  Gäste  aber  kommen  alle  unmaskiert 
auf  den  Maskenball  und  in  möglichst  einfachen  Kleidern,  oder 
gar  in  russischen  Nationaltrachten;  das  ist  eine  Demonstration 
gegen  Napoleon,  ein  Ärgern  ganz  eigener  Art.  Auch  die  Gegen- 
partei demonstriert.  Die  Vertreter  jener  Staaten,  die  Napoleon 
unterworfen  hat  oder  die  mit  ihm  verbündet  sind,  erscheinen 
in  Prachtkostümen.  Der  Herzog  wütet  gegen  die  Russen,  muß 
ab^r  schweigen,  kann  doch  die  Einheimischen  nicht  einfach 
hinaüsweisen.  Frau  Wladek,  die  Gattin  eines  Kammerherrn 
des  Zaren,  ist  die  einzige  Russin,  die  in  einem  glänzenden 
venezianischen  Kostüm  auftritt.    Der  Botschafter  bemächtigt 


—    387    — 

sich  sofort  dieser  einzigen  Venezianerin  iinter  den  Russen  und 
Russinnen^  unterhäk  sich  den  ganzen  Abend  nur  mit  ihr  und 
vernachlässigt  die  übrigen  russischen  Damen  demonstrativ. 
Aber  dahinter  stecken  nicht  bloß  politische  Gründe;  Frau 
Wladek  ist  die  Maitresse  des  Botschafters,  und  nicht  aus  Ver- 
achtung der  nationalen  Motive,  sondern  aus  Liebe  hat  sie  das 
venezianische  Kostüm  angezogen.  Darum  verurteilt  auch  nie- 
mand die  unpatriotische  Handlimgsweise  der  Dame.  Der  Liebe 
wird  alles  verziehen.  Daß  diese  Liebe  ein  Ehebruch  ist,  das 
tut  nichts.  Diese  ganze  Gesellschaft  denkt  exzessiv  liberal  in 
solcher  Hinsicht;  der  Kaiser  selbst  gibt  das  Beispiel,  lebt  öffent- 
lich mit  der  Frau  seines  intimsten  Jugendfreundes^  der  schönen 
Maria  Antonowna  Naryschkin,  und  ernennt  in  einem  humor- 
vollen Augenblick  den  betrogenen  Gatten  zum  Oberstjäger- 
meister mit  den  Worten:  „Dem  ich  Hörner  aufgesetzt  habe, 
der  soll  auch  in  Harmonie  mit  den  Hirschen  leben/'  Die  Bälle 
sind  die  beliebtesten  Rendezvousplätze,  wo  sich  alle  Liebhaber 
mit  ihren  Geliebten  treffen;  und  jener,  der  noch  keine  Mai- 
tresse hat,  kann  sicher  sein,  auf  den  Bällen  der  Vornehmen 
sofort  eine  zu  finden.  „Ich  erinnere  mich,**  schreibt  der  General 
Löwenstem  in  seinen  Memoiren^),  „daß  ich  beim  Verlassen 
eines  Balles  eine  Frau  von  vornehmstem  Range  mit  mir  führte, 
die  bei  mir  über  Nacht  blieb.**  Kaiser  Nikolaj  I.  räumt  mit 
solchen  Sitten  auf.  Sich  selbst  erlaubt  er  zwar  alles,  dem  ge- 
wöhnlichen Sterblichen  gegenüber  aber  läßt  er  unerbittliche 
Strenge  walten.  Junge  Mädchen  dürfen  nur  bei  ausgesproche- 
nen Familienstücken  im  Theater  erscheinen.  Ehebruch  wird 
unnachsichtlich  bestraft,  der  Ehebrecher  verliert  seine  Stellung. 
Liebesabenteuer  bei  Hofe  sind  Kapitalverbrechen.  Im  Anitsch- 
kowpalais,  in  Gatschina,  im  Winterpalais  sind  die  Bälle  kalte 
Spiegelbilder  des  absoluten  Willens  des  Alleinherrschers.  Jede 
Rang^lasse  hat  ihre  genau  vorgeschriebenen  Kostüme  zu  tra- 
gen, niemand  darf  sich  auch  nur  durch  ein  Bändchen  oder 
ein  Knöpfchen  eleganter  machen,  als  seiner  vom  Zaren  f^t- 
gesetzten  Stellung  entspricht.  Man  muß  den  Anstand  wahren 
bis  ziu:  Selbstverleugnung;  und  für  den,  der  die  Etikette  ver- 


1)  a.  a.  O.  I  i68 — 170. 

25* 


—    388    — 

letzt,  ist  Sibirien  eine  gelinde  Strafe.  Zur  Zeit  der  Manöver  in 
Wosnetschensk  gibt  der  Handelsstand  der  Stadt  Odessa  der 
kaiserlichen  t^^aniilie  zu  Ehren  einen  Ball.  Aber  die  das  Fest 
arrangieren  imd  bezahlen,  dürfen  nicht  dabei  erscheinen.  Der 
Hof;  die  Minister  imd  Offiziere  werden  doch  nicht  mit  den 
Handelsleuten  tanzen.  Es  ist  also  wirklich  nichts  vom  Plebs 
zu  sehen.  Da  erblickt  plötzlich  die  Kaiserin  als  Direktor  des 
Orchesters  einen  Mann  mit  langem  Barte.  Nur  Leibeigene  und 
Bauern  tragen  solche  lange  Barte.  Die  Kaiserin  ruft  entsetzt 
d^n  Zeremonienmeister  nmd  befiehlt  ihm,  sie  von  dem  Ärgernis 
zu  befreien.  Der  Zeremonienmeister  ruft  den  Orchestermeister 
ein  wenig  zur  Seite,  schneidet  ihm  einfach  den  Bart  ab,  und  der 
Zwischenfall  ist  beseitigt  i),  der  Zeremonienmeister  hat  durch 
seine  Geistesgegenwart  seine  Stellung  gerettet.  Und  just  diese 
Kaiserin  Alexandra,  die  Tochter  der  König^  Luise  von 
Preußen,  kennt  nur  ein  einziges  Vergnügen :  das  Tanzen.  Sie 
walzt,  wie  ein  Zeitgenosse  schreibt,  mit  Wut  und  Tollheit; 
sie  tanzt  mit  Leidenschaft  imd  endlos;  es  ist  das  einzige  Ge- 
schäft ihres  Lebens.  Sie  gibt  manchmal  Morgenbälle,  die  bis 
in  den  nächsten  Tag  währen  und  bei  denen  sie  nicht  vom  Platze 
weicht.  Auf  ihrem  verwüsteten  Gesicht  kann  man  die  Zahl  der 
durchtanzten  Nächte  ablesen ;  aber  die  hohe  Frau  versteht  der 
Terpsichore  die  strenge  Etikette  anzuhängen  und  ihre  Leiden- 
schaft nur  in  den  Armen  der  Vornehmsten  des  Reiches  auszu- 
leben. 

Seit  jener  Zeit  ist  das  Tanzen  bei  Hofe  nicht  wieder  gemüt- 
lich geworden.  Selbst  als  Alexander  II.  seine  Geliebte  Katha- 
rina Dolgoruckij  sich  schon  hat  morganatisch  antrauen  lassen, 
also  eine  imebenbürtige  Zaren-Gattin  den  Winterpalast  be- 
herrscht, kann  das  Zeremoniell  bei  den  Hofbällen  nicht  durch- 
brochen werden. 'Keine  Hoffest lichkeit  vergeht,  ohne  daß  die 
schöne  Dolgoruckij  einen  Strom  von  Tränen  ob  der  ihr  zuge- 
fügten Zurücksetzimg  vergießen  würde.  Aber  eines  Tages  end- 
lich ist  der  Augenblick  der  Genugtuung  gekommen.  Auf  einem 
Hofball  postiert  sich  ein  junger  Offizier  mit  einer  Dame  von 
nicht  tadellosem  Rufe  bei  der  Quadrille  keck  in  die  Reihe  der 


1)  Bernhard  Stern,   Die  Romanows,  II  50. 


—    389    — 

Großfürsten  und  Großfürstinnen.  Eine  Prinzessin  beklag^  sich 
beim  Kaiser.  Alexander  II.  ruft  den  jungen  Offizier  und  sag^ 
ihm:  „Wähle  deine  Tänzerin  nach  Belieben,  aber  nicht  mit 
jeder  darfst  du  in  die  Reihe  der  Großfürstinnen  treten.**  Der 
junge  Offizier  verbeugt  sich,  engagiert  die  Fürstin  Dolgoruckij 
und  begiebt  sich  abermals  in  die  Reihe  der  Großfürstinnen. 
Diese  sind  wütend,  wagen  aber  jetzt  nichts  zu  reden,  und  der 
Kaiser  lacht  über  den  vortrefflichen  Witz. 

Bei  Hofe  und  in  der  Gesellschaft  werden  nur  fremde  Tänze  ge- 
tanzt, die  nationalen  kennt  bloß  das  Volk.  Für  Ball  hat  die  rus- 
sische Sprache  das  französische  Wort  übernehmen  müssen :  6ajrB. 
Für  Tanz  aber  hat  sie  neben  dem  Fremdwort  Tanei^  noch  das 
alte  russische  njiflCKa.  Das  Volk  liebt  den  Tanz  und  gibt  sich 
ihm  bei  jeder  Gelegenheit  im  Hause,  in  der  Isba,  auf  dem  Dorf- 
platz, auf  dem  Jahrmarkt  und  bei  den  Volksfesten  mit  Leiden- 
schaft hin.  Man  imterhält  sich  auch  mit  verschiedenen  Spielen. 
Am  beliebtesten  von  diesen  sind  die  folgenden:  Das  Ringen, 
öopoTB,  wo  die  halbentblößten  Athleten  einander  zu  Boden  zu 
werfen  suchen.  Der  Faustkampf,  Kyna^iHiifi  6oä,  ähnlich  dem 
englischen  Boxen;  die  Kämpfer  tragen  dabei  dicke  Hand- 
schuhe. CsafiKa  oder  CBae^Ka  ist  ein  eiserner  Bolzen  mit  einem 
Knopfe,  den  man  geschickt  in  einen  am  Boden  befestigten  Ring; 
hineinzuwerfen  trachtet ;  wer  einen  Fehlwiirf  tut,  muß  so  lange 
beim  Ziele  stehen  und  das  Instrument  aufheben,  bis  einem  an- 
deren ein  Fehlwurf  passiert.  Ma^'b  oder  mä^bbcb  ist  ein  schwe- 
rer Lederball,  nüt  dem  die  russische  Jugend  schon  seit  Jahrhun- 
derten Football  spielt.  Eine  echt  russische  Unterhaltimg  ist  das 
Stockschlagen,  ropoAKs:  in  einem  Kreise,  den  man  mit  Kreide 
zieht,  stellt  man  vier  Kegel  nebeneinander  imd  einen  fünften 
obenauf ;  dann  zielt  man  aus  einer  bestinunten  Entfemimg  mit 
einem  langen  Stock;  wer  alle  fünf  Kegel  auf  einen  Hieb  umwirft 
und  am  weitesten  hinwegschleudert,  der  hat  gewonnen.  Diese 
Spiele  haben  die  Nichtrussen  von  den  Russen  gelernt.  Ein 
wotjäkisches  Lied  sagt:  „Auf  euerem  Hofe  ist  grüner  Rasen, 
so  wollen  wir  spielen,  Ringe  werfen.**  Ebenso  verbreitet  ist 
bei  den  Wot jäken  das  Stockspiel.  Doch  spielen  die  wotjäkischen 
Knaben  auch  ein  bei  den  Russen  nicht  bekanntes  Ballspiel, 
welches  die  Badstube  heißt:  auf  der  Erde  zeichnet  man  einen 


—    390    — 

Kreis,  in  diesen  tritt  einer  der  Spieler,  und  die  anderen  zielen 
mit  einem  Ball  nach  ihm ;  er  muß  so  lange  aushalten,  schwitzen 
' —  daher  der  Name  des  Spiels  -^  bis  er  einmal  durch  gewandtes 
Springen  einem  Wurf  entgeht,  dann  ist  er  befreit,  imd  jener, 
dessen  Ball  ihn  nicht  getroffen  hat,  muß  statt  seiner  schwitzen.^) 
Das  Hauptvergnügen  der  Frauen  und  Mädchen  bei  allen  Völ- 
kern Rußlands  ist  das  Schaukeln.  Aber  ob  man  sich  zu 
diesem  oder  jenem  Spiele  begiebt,  immer  ist  die  Sehnsucht 
nach  dem  anderen  Geschlecht  das  Leitmotiv.  So  heißt  es  in 
einem  wotjäkischen  Liede:  „Wenn  ein  feiner  Regen  geht, 
so  (H-dnet  die  Taube  ihre  Federn ;  wenn  die  Mädchen  zum  Spiele 
gehen,  so  kämmen  sie  die  Haare  und  salben  sie  mit  öl."  Wem 
anders  zuliebe  tim  sie  es,  als  lun  dem  Manne  zu  gefallen? 

Des  Ringens  und  des  Spielens  oder  des  Schaukeins  wird 
man  endlich  überdrüssig ;  dann  beginnt  das  Singen  imd  Tanzen, 
und  davon  hat  man  nie  genug.  Man  tanzt  nicht  bloß  im 
Sommer,  sondern  auch  im  Winter  auf  offener  Straße  ganze 
Nächte  hindurch  bis  zur  Erschöpfung.  Der  alte  Nationaltanz 
der  Russen  bestand  darin,  „die  Muskeln  zu  pressen,  die  Arme 
zu  rühren,  mit  den  Händen  zu  fächeln;  man  drehte  sich  immer 
auf  demselben  Platz  herum,  hockte  sich  nieder,  stampfte  mit 
den  Füßen.**  Mit  Tänzen  feierten  die  Slawen  die  geheiligten 
Zeremonien  zu  Ehren  ihrer  Götter,  die  Wahl  und  die  Hochzeit 
des  Fürsten,  die  Geburt  eines  Kindes.  2)  Der  russische  National- 
tanz weist  die  Züge  des  uralten  slawischen  Charakters  auf. 
Er  hat  seine  Originalität  bis  heute  behalten,  imd  dieses  Ori- 
ginelle ist  das  starke  Hervorschlagen  der  sexuellen  Leiden- 
schaft in  den  sanften  wie  in  den  wilden  Takten.  Es  gibt  kein 
Volk,  das  durch  die  Pantomimen  beim  Tanze  so  wie  die  Russen 
die  verschiedenen  Gefühle  der  Sinnlichkeit  ausdrücken  könntet 
Die  Liebeserklänmg  eröffnet  den  Tanz,  die  Gewährung  oder 
Versagung  schließt  ihn.^)    Immer  tanzen  zwei  Personen  mit- 


1)  Max  Buch,  Die  Wotjäken,  Helsingfors  1882,  S.  76. 

2)  Chronique  de  Nestor,  II.    Anhang  S.  69.  —  Karamsin,  deutsch  I  57, 
französisch  I  86.  ' 

•)  Bellermann,   Bemerkungen   über  Rußland,   I   359.   —  Wichelhausen, 
Gemähide  von  Moskwa,  S.  301 :  ,,Der  russische  Nationaltanz,  bedeutender  als 


—    '391     — 

einander.  Das  Hauptpas  besteht  aus  zwei  Schritten  und  einem 
Sprung;  es  ist  ähnlich  dem  Masurischen  oder  Hanakischen, 
aber  ungleich  mannigfaltiger  imd  veränderlicher.  Die  Stel- 
lung der  Füße  ist  überaus  künstlich;  steht  der  eine  auf  dem 
Absatz,  so  ruht  der  andere  auf  den  Zehen ;  Kopf,  Augen,  Schul- 
tern, Arme,  Leib,  alles  ist  mit  beschäftig^.  Zwei  Personen  treten 
ganz  nahe  aneinander  heran.  Der  Mann  macht  seiner  Dame 
eine  stumme  Liebeserklärung,  sie  verhält  sich  passiv,  hebt  und 
senkt  bloß  die  Schultern,  wie  eine  Puppe,  und  neigt  er  sich 
rechts  zu  ihr,  so  beugt  sie  sich  links  von  ihm.  Das  wechselt 
einige  Male.  Da  wird  er  eindringlicher,  und  sie  entflieht  scheu, 
aber  zögernd.  Er  folg^  ihr,  imd  sie  flieht  wieder.  Da  wird  er 
traurig,  nun  kommt  sie  ihm  tröstend  entgegen,  schließlich  ver- 
ständigen sie  sich  und  drehen  sich  jubelnd  im  Kreise.  Dieser 
Tanz  ist  der  berühmte  Golubez,  Tonyöeniy,  der  Taubentanz  der 
Großrussen. 

Noch  deutlicher  als  der  großrussische  Tanz  sind  die  Tänze 
der  Kosaken,  des  Volkes  in  der  Ukraine.  Die  Großrussen  haben 
keine  eigenen  Tanzlieder,  der  Golubez  mit  seinen  gemäßigten 
geistvollen  Bewegungen  kann  auf  jedes  Lied  hin  getanzt  wer- 
den, am  liebsten  zum  Lied  vom  roten  Sarafan.  Die  Kosaken 
aber  haben  zu  ihren  wildbewegten  Tänzen  ihre  eigenen 
Schiunki^),  die  Schäumer,  Tanzbrauser,  Brauselieder,  voll  hei- 
ßer Glut  und  vernichtender,  alles  hinwegreißender  Leiden- 
schaft 2) : 

Ente  fliegt  auf  starkem  Fittich, 

Rauschet  mit  dem  schweren. 

Hast  mir  gute  Nacht  gewünschet, 

Mögst  sie  auch  gewähren. 

Im  Sturm  des  Tanzes  zersplittert  die  eheliche  Treue,  lösen 
sich  alle  Bande: 


die  meisten  Tänze  anderer  Nationen, *^  drückt  unverkennbar  den  Gang  der 
menschlichen  Leidenschaft  aus." 

*)  Von  lüyM'feTh,  brausen. 

«>  Wilhelm  von  Waldbrühl,  Slawische  Balalaika.  Leipzig  1843,  S.  329 — 339, 
gibt  2$  solcher  Tanzlieder  in  wortgetreuer  Übersetzung,  wovon  zwei  hier  als 
Proben. 


—    392    — 

Hai  das  rauscht  und  das  braust, 
Regen  läßt  sich  spüren  I 
Sag,  wer  wird  wohl  mich,  die  Jimge, 
Heut  nach  Hause  führen? 

Der  Kosak  zecht  und  zecht, 
Seine  Augen  flimmern. 
Ich  führ  dich,  o  Schwarzbebraute, 
Lasse  dichs   nicht   kümmern! 

Führ  mich  nicht,  trautes  Herz, 
Führ  mich  nicht,  ich  bitte  I 
Sonst  wird  mich  mein  Mann  zerprügeln, 
Ungeschlacht  an  Sitte. 

Teufel  auch!  laß  ihn  nur! 
Burschen,  weicht  hinüber! 
Wenn  dein  Mann  mich  nur  erschauet. 
Rüttelt  ihn  das  Fieber. 

Wie  im  Wind  Halme  sich 
Regen,  mags  ihn  rütteln. 
Aber  ich  will  mich,  ich  Junge, 
Noch  im  Tanze  schütteln. 

Ha!  das  rauscht,  ha!  das  braust, 
Geig  und  Baß  sich  rühren! 
Alle  Wissens:  der  Kosake 
Wird  nach  Haus  sie  führen. 

Das  sind  noch  ganz  solide  Aussprachen,  die  man  auch 
in  der  besten  Gesellschaft  anhören  kann.  Aber  häufiger  als 
an  solchen  lyrischen  Produkten  begeistern  sich  die  Tanzwütigen 
imd  Liebestollen  an  Liedern,  die  von  Unflätigkeiten  strotzen. 
Da  ist  beispielsweise  gleich  der  primitive  Originaltext  der  be- 
rühmten Kamarinskaja  ein  Sammelsurium  gereimter  und  un- 
gereimter Gemeinheiten  1): 


^)  Kgvnrddia.  Recaeil  de  docoments  pour  servir  4  l'ötude  des  tradi- 
tions  popolaires  (tir6  4  175  exemplaires).  Paris,  Welter.  VII.  Chansons  nisses. 
Pag.  67. 


Marie  Antonowna  Naryschkin, 
Geliebte  Alexanders  I. 


—    393    — 

AX'I>I     TM,    CyKHH'B  CKHT>,    KaMapHHCIciä    MyÄHKb! 

ubHHHH  6e3i>  inTaHOB'b  no  yjnmi  6'bmwirh: 

a  My^HMH  OHTb  no^epPHBaeTb. 

„O   du,   Hiindesohn,   Kamarinscher  Bauer, 
besoffen,  ohne  Hosen,  läuft  er  durch  die  Gasse, 
läuft,  läuft,  furzt  immerfort, 
und  wackelt  mit  dem  Hodensack.'* 

Ein  anderes  Tanzliedchen  sing^:  „Oh,  wie  der  Pope  die 
Stute  besteigt  I  ^)  Die  Popin  hält  die  Mähne,  der  Diakon  hält 
von  der  Seite,  dirigiert  in  den  After.**^)  —  Mit  der  Sodomie 
bringen  die  obszönen  Volkslieder  fast  unmer  den  Popen  in 
Verbindung. 

Humorvoll  ist  die  Moral,  welche  die  Mutter  der  Tochter 
in  einem  Liedchen 3)  predigt:  „Die  Tochter  stand  am  Thor  und 
bohrte  sich  die  Faust  in  die  Pisda.  Die  Mutter  bemerkte  sie 
und  begann  sie  auszuzanken:  Ei  du  Hure,  ei  du  Hure!*)  ich 
coitire  durch  und  durch  deine  Mutter  1 5)  Verkaufe  deinen  Zopf, 
kaufe  einen  Penis,  mit  der  Faust  aber  bohre  nicht  in  der  Pisda 
hertmi.  Der  Zopf  dient  dir  nicht  ewig,  aber  der  Penis  ist  ein 
guter  Kerl.** 

Der  Kosak  befeuert  sich  selbst  mit  dem  jubelnden  Reim : 

PyccidÄ  WLTUKb  H  pyccKifi  xyü  — 
ABa  poAHBie  6paTa: 

OHH   H3'B    ÖijSfil   BHBOAHTb 

pyccKaro  coÄ^aTa. 
„Das^)  russische  Bajonett  und  der  russische  Penis  —  zwei 


^)  Im  Original  das  ordinäre  russische  Wort:   0!  KaKb  noirr»  eOerb  Ko6uay! 

•)  HaQpaBJifleT&  (den  Penis  des  Popen)  npHMo  bt,  sKony. 

')  Beginnend:  Y  Bopon»  ;i:i^Ka  croana, 

KyjiaKOBTL  iiH3Ay  coBa.ia. 

^)  Das  Original  braucht  zwei  verschiedene  Ausdrücke:  KypBa  und  6juiAi>- 
Kurwa  ist  das  ordinäre  Wort»  Bljadj  bedeutet  auch  Herumstreicherin,  Strich* 
monsch« 

*)  Dieses  Schimpfwort  (pacnpoe(h»  tboiü  uaTb)  ist  so  allgemein  gebräuch- 
lich. daB  die  Sprechende  sich  ungeniert  selbst  befleckt. 

*)  Im  Russischen  ist  das  Bajonett  männlichen  Geschlechts. 


-    394    ~ 

leibliche  Brüder:  aus  der  Not  führen  sie  den  russischen  Sol- 
daten.** -    . 

Und  der  Soldatenpenis  hat  den  Ruhm  besonderer  Größe : 

He  noMo»ceTB  KpHirb  tboS  öji^aciöS, 
Kor^a  BCTaneTB  xyä  cojiÄaTCKÜt 
6ojiBinoä.' 

„Nicht  hilft  dein  Hurenschreien  dir,  erhebt  sich  das  Sol- 
datenghed   das  große." 

An  solchen  Texten  nimmt  niemand  Anstoß ;  ja  bei  beson- 
deren Gelegenheiteq  bemühen  sich  die  jungen  Burschen,  einan- 
der dxwch  Improvisationen  derartiger  Strophen  zu  übertreffen, 
und  wem  es  am  besten  gelingt,  der  ist  ein  MOJioAei^T>,  ein  wackerer 
Junge.  1)  Selbst  Frauen  und  Mädchen  schrecken  nicht  davor 
zurück,  einem  klingenden  Reim  zuliebe  einen  gewagten  Witz 
zu  machen. 

Bei  den  Hochzeitsfesten  in  der  Ukraine  sind  die  Tanzlieder 
durchwegs  obszön,  und  die  Tänze  haben  einen  vollständig  phal- 
lischen Charakter,  Nach  dem  Schmause  beginnt  die  sogenannte 
Pereswa.  HepeaBa  bedeutet  soviel  wie  Hochzeitsgesellschaft,  im 
übertragenen  Sinne  ist  es  der  Abschied  vom  Hochzeitsfeste, 
das  Ende  der  zeremoniellen  Feierlichkeiten  und  der  Anfang 
der  brausenden  Unterhaltimg,  der  obszönen  Reden  und  Ge- 
sänge, der  Tanzschäume.  Diese  Tänze  sind  nichts  anderes  als 
öffentliche  Onanie;  mit  eindeutigen  erotischen  Gesten  bewegt 
man  sich  so,  als  wollte  man  sich  an  den  Geschlechtsteilen  zu 
tun  machen.  Man  nennt  diesen  Tanz  Kranichtanz:  JKypaBJib. 
Auf  ihn  folgt  zumeist  noch  der  Zigeunertanz  Chaliandra-) : 
Die  Tanzenden  halten  sich  mit  einer  Hand  am  Ohre  und  legen 


^  1)  Wie  bei  den  Südslawen ;  vgl.  die  angeführten  Arbeiten  von  Dr.  Friedrich 
S.  Krausz.  —  Ferner  bei  Karl  Rhamm,  Der  Verkehr  der  Geschlechter  unter 
den  Slaven  in  seinen  gegensätzUchen  Erscheinungen.  Globus,  Band  S2,  Nr.  7, 
Seite  105,  Spalte  links:  ,,In  Slavonien  gibt  es  keine  anderen  Gesänge  als  Tanz- 
Ueder  zur  Begleitung  des  Reigens  (Kolo).  Bei  den  größten  Festlichkeiten  und 
nationalen  Manifestationen  wetteifern  sozusagen  die  Kinder,  denen  die  Milch 
noch  aus  den  Zähnen  seiht,  in  diesen  Zoten.  Je  mehr  ein  solches  Geschöpf 
mit  Sauereien  um  sich  wirft,  um  so  braver  (öestitij)  ist  es". 

2)  Vielleicht  vom.  Worte .  xa.Ti»  oder  xart.m,   das  einen  frechen  Menschen 
bedeutet;  xiuxia,  ein  freches  Weib. 


-      396    — 

die  andere  auf  die  Geschlechtsteile.  Man  springt  wütend  auf 
und  nieder  und  schlägt  mit  den  Fußsohlen  an  die  Arschbacken. 
Im  Distrikt  von  Berditschew  tanzen  die  Frauen  einen  Rundtanz, 
bei  dem  sie  zwischen  den  Beinen  einen  Küchenlöffel  halten  oder 
sonst  ein  langes  Ding,  worauf  sie  während  des  Tanzens  einen 
Trinkbecher  stecken.  Die  Lieder,  die  man  bei  solchen  Tänzen 
singt,  entsprechen  den  Gesten : 

Oft,  rpaftTe,  MySHKu, 

B  Mene  i^Hii^bKii  bojibku  ! 

B  Mene  i^halkh  TpflcyTbca 

3  Meiie  xjioni^i  CMiiOTLca.^) 

„O,  spielet,  Musikanten,  meine  Zitzen 2)  sind  groß,  meine 
Zitzen   schütteln   sich,   die   Burschen   lachen   über   mich.** 

Dabei  genießen  die  Kleinrussen  unter  allen  Volksstämmen 
des  Zarenreiches  in  sittlicher  Beziehung  den  besten  Ruf.  So 
seltsam  ist  die  Verschiedenheit  der  Auffassung  von  dem,  was 
ländlich   sittlich   ist. 

Von  den  Tänzen  der  nichtrussischen  Völker  in  Rußland 
sind  zunächst  die  polnischen  Nationaltänze  zu  erwähnen,  die 
teilweise  ebenfalls  eine  Versinnbildlichung  der  Wollust  dar- 
stellen. Die  heidnischen  oder  bis  vor  kurzem  noch  heidnischen 
Völker  haben  die  russischen  Tänze  adoptiert.  Bei  den  Wotjäken 
in  den  Gouvernements  Wjatka  und  Kasanj  gibt  es  aber  zwei 
Originaltänze,  die  gewöhnlich  öffentlich  nur  von  den  Frauen 
getanzt  werden.  3)  Bei  dem  einen  Tanz  stellen  sich  drei  Mädchen 
oder  Frauen  nebeneinander  auf  und  beginnen  sich  bei  den 
Klängen  des  zitherähnlichen  Krödz  im  Takt  umeinander  zu 
drehen,  trippelnd,  nicht  hüpfend.  Die  erste  Tänzerin  dreht  sich 
mit  der  zweiten  herum  und  tauscht  mit  ihr  den  Platz ;  dasselbe 
Spiel  zwischen  der  ersten  und  der  dritten  Tänzerin,  bis  alle  in 
umgekehrter  Reihenfolge  stehen;  dann  wieder  in  die  alte  Ord- 
nung zurück.  Der  andere  Tanz  wird  von  vier  Frauenzimmern 
ausgeführt  und  ist  lebhafter.    Die  vier  stellen  sich  gleichfalls 

1)  Aus  dem  Distrikt  Uschitzja,  Gouvernement  Podolien.  Vgl.  H^yÖnn- 
cidÄ,  TpYÄU  DKCiiejpiiyii,  C.-IIÖr.  1877.  IV.  .V)  1571.  —  Kovnxd^iu  V.  Folklore 
de  rUkraine,  p.  91.  Nr.  66, 

>)  Im  Russischen  das  gleichlautende  Wort:  uinu>Kn. 

Ä)  Buch,  Die  Wotjäken,  S.  82. 


—    396    — 

zunächst  nebeneinander  auf.  Die  zwei  mittleren  Tänzerinnen 
fassen  sich  an  den  Händen  und  gehen  in  raschem  Takt  einige 
Schritte  vorwärts,  drehen  sich  umeinander,  wechseln  die  Plätze, 
und  begannen  dasselbe  Spiel  von  neuem.  Währenddem  be- 
schreiben die  beiden  seitlich  befindlichen  Tänzerinnen  Achter- 
touren um  das  mittlere  Paar  und  winden  sich  zwischendurch. 
Und  so  viel  Temperament  entwickelt  man  auch  bloß  dann,  wenn 
man  ein  paar  Gläschen  kumyschka  oder  Branntwein  im  Leibe 
hat.  Der  russische  Nationaltanz,  einfach  pyccKaÄ  njiÄCKa,  russi- 
scher Tanz  genannt,  wird  ebenfalls  von  den  Wotjäkinnen  ge- 
tanzt, aber  nicht  mit  solchem  Feuer  wie  von  den  russischen 
Frauen  und  Mädchen.  Man  hat  Tänze  bei  den  Wotjäken, 
bisher  nur  von  Weibern  tanzen  gesehen;  es  ist  wahrschein- 
lich, daß  auch  die  Männer  tanzen,  aber  vermutlich  tanzt  jedes 
Geschlecht  für  sich  allein.  Ein  wotjäkisches  Sprichwort  zwar 
sagt:  „Der  Henne  Gackern  ist  nichts  wert,  wenn  nicht  der 
Hahn  zugleich  mit  kollert.**  Doch  scheint  es  trotzdem  nicht  zu 
großen  Intimitäten  zwischen  beiden  Geschlechtem,  wenigstens 
nicht  in  der  Öffentlichkeit  zu  kommen. 

Die  Kalmücken  sind  besondere  Liebhaber  von  athletischen 
Spielen  und  die  berühmtesten  Ringer  in  Rußland.  Bei  ihrem 
Uerrüßfest  gibt  es  ein  großes  Schauringen.  Getanzt  wird  haupt- 
sächlich im  Monat  des  Zogaanfestes  und  an  den  Winterabenden. 
Beim  kalmückischen  Nationaltanz  rühren  sich  die  Tänzer  oder 
Tänzerinnen  nicht  von  ihrem  Standpunkt  fort,  sondern  drehen 
sich  bei  dem  Takte  des  eintönigen  Domburr  bloß  um  ihre 
eigene  Achse;  beide  Arme  werden  immer  zugleich  bewegt, 
bald  in  gleichen  Winkeln  vom  Kopfe  entfernt,  bald  in  gleichen 
Krünunungen  über  die  Brust  gebogen.  Die  Tänze  sind  inamer 
sehr  kurz  und  sehr  ernsthaft,  die  Musik  langsam  und  feierlich. 
Jedes  Geschlecht  tanzt  für  sich,  die  kalmückische  Wohlanstän- 
digkeit gestattet  nicht  das  gemeinsame  Tanzen  von  Männern 
nüt  Frauen.  Gewöhnlich  tanzen  sogar  die  Kalmücken  einzeln, 
immer  ein  Mann  oder  eine  Frau.  Wenn  aber  zwei  Männer  oder 
zwei  Frauen  zugleich  tanzen,  dann  ist  es  lebhafter,  wird  es  zu- 
weilen sogar  wild.^) 


1)  Bergmann,  Nomadische  Streifereien,  II  198. 


—     397     — 

Bei  den  moslemischen  Tartaren  geht  es  natürlich  nicht  viel 
stürmischer  zu  als  bei  den  Kalmücken.  Ahnlich  wie  bei  diesen 
drehen  sich  die  Männer  mit  ausgebreiteten  Armen  einzeln  um 
sich  selbst  herum.  Das  Tanzen  der  Mädchen  ist  nichts  als  ein 
schüchternes  Hin-  und  Hergehen  und  nach  einigen  Schritten 
zu  Ende.i) 

Am  leidenschaftlichsten  imter  allen  nichtrussischen  Völ- 
kern Rußlands  tanzt  man  bei  den  Tscherkessen ;  namentlich 
die  Weiber  sind  hier  so  tanzwütig,  daß  man  schon  vor  Jahr- 
hunderten von  ihnen  sagte  2):  „Sie  saufen  sich  voll  und  tragen 
eine  so  gewaltige  Begierde  zum  Tantzen,  daß  sie  keine  Manns- 
Person  nicht  achten,  wenn  er  nicht  eine  Geige  bei  sich  hat.** 


23.  Musik  und  Theater. 

Gesang  —  Anmerkung  über  die  Nationalinstrumente  —  Weltliche  Musik  ver- 
pönt —  Musikalische  Ketzer  —  Peter  der  Große  und  die  Musik  —  Franzö- 
sische und  italienische  Musik  —  Patjomkin  und  Mozart  —  Geschichte  der 
russischen  Jagdmusik  —  Kunstmusik  —  Komponisten  —  Ursprung  des 
Theaters  in  Rußland  —  Europäisches  Theater  in  russischer  Schilderung  — 
Aufführungen  von  Mysterien  —  Typen  der  russischen  Urbühne  —  Das  erste 
Theater  in  Moskau  —  Der  deutsche  Pastor  Gregorij  erster  russischer  Theater- 
direktor  —  Die  erste  Aufführung  eines  Dramas  am  Zarenhofe  —  Der  Palast 
der  Ergötzlichkeiten  —  Sold  der  Schauspieler  —  Das  erste  Ballet  —  Dauer 
der  Vorstellungen  —  Erstes  Drama  in  russischer  Sprache  —  Bischof  Simeon 
von  Polozk  als  Dramatiker  —  Männer  spielen  die  Frauenrollen  —  Amateur- 
vorstellungen der  Aristokraten  —  Prinzessin  Soüa  Alexejewna  als  Dramen- 
dichterin und  Schauspielerin  —  Bischof  Dmitry  Rostowskij  —  Feofan  Proko- 
powitsch  —  Prinzessin  Nathalie  Romanow  —  Der  deutsche  Direktor  Kunst 
—  Erstes  öfFentliches  Theater  in  Moskau  —  Aprilscherz  Kunsts  —  Direktor 
Fürst  —  Obszönitäten  auf  der  Bühne  —  Übersiedlung  des  Theaters  nach 
Petersburg  —  Direktor  Mann  —  Italienische  Truppe  am  Hofe  der  Zarin 
Anna  —  Caroline  Neuber  in  Petersburg  —  Französische  Triumphe  —  Kadetten 
als  Balletteusen  —  Elisabeth  und  die  Kadetten  —  Das  Nationaltheater  — 
Volksschauspielc  —  Die  heilige  Jungfrau  auf  der  Bühne  —  Begründung  des 


^)  Der  Tanz  bei  den  Astrachaner  Tartaren  ist  ausführlicher  geschildert 
worden  von  Samuel  Gottlieb  Gmelin,  Reise  durch  Rußland  zur  Untersuchung 
der  drey  Natur-Reiche,  St.  Petersburg  1774.  II  S.  138. 

*)  Reise  nach  Norden  /  anno  1706.   S.  156. 


—     398    — 

Nationaitheaters  durch  Wolkow  —  Katharina  II.  —  Ein  Volkstheater  von 
der  Polizei  dirigiert  —  Bedeutung  des  russischen  Theaters  für  die  Geschichte 

der  Sittlichkeit. 

„Wo  eine  Slawin  ist,**  sagt  Schaffarik,  der  Verfasser 
der  ersten  Geschichte  der  slawischen  Literatur  i),  „da  ist 
auch  Gesang.  Die  Slawin  erfüllt  Haus  und  Hof,  Berg 
und  Thal,  Wiesen  und  Felder,  Gärten  und  Weingärten  mit 
dem  Schall  ihrer  Lieder.**  Dies  gilt  bei  den  Russen  für  die 
Frauen  ebenso  wie  für  die  Männer.  Der  Russe  singt  fast  immer, 
bei  der  Arbeit  und  in  der  Pause,  auf  dem  Felde  und  im  Kabak. 
Der  Muschik  singt,  wenn  er  mit  dem  Pfluge  die  Furchen  durch 
den  Acker  zieht;  der  Soldat  auf  dem  Marsche,  oder  auf  dem 
Schlachtfelde,  wenn  er  der  tödlichen  Kugel  entgegenschreitet ; 
der  Matrose  auf  dem  schwankenden  Schiffe,  wenn  der  brau- 
sende Sturm  ihn  umdroht;  der  Arbeiter  an  der  Düna,  wenn 
er  seine  schwere  Last  über  den  Kai  schleppt;  der  Burlak^)  an 
der  Wolga,  wenn  er  mit  wuchtiger  Kraft  sein  Floß  zimmert; 
der  Iswoschtschik^)  sing^,  wenn  er  mit  seinem  Gaste  einen 
weiten  Weg  durch  einsame  Gegenden  fährt;  und  der  Postillon 
stimmt,  sobald  er  sich  bekreuzigt  hat  *und  die  Pferde  antreibt, 
sein  Liedchen  an.  Die  Melodie  ist  ziuneist  einförmig  und 
schwermütig,  der  Inhalt:  die  Liebe,  die  Steppe,  die  Wolga, 
der  Don.  Dieselben  Volkslieder  singt  man  im  ganzen  Reiche, 
von  der  Ostsee  bis  zum  Stillen  Ozean  und  von  dem  Weißen 
bis  zum  Schwarzen  Meer.  Wie  die  Großrussen  sind  auch  die 
Kleinrussen  und  die  Kosaken  sangesfreudig,  ihre  Lieder  jedoch 
heiterer  imd  lebhafter.  Im  Süden  liebt  man  nicht  bloß  das 
Volkslied,  sondern  man  läßt  ihm  auch  künstlerische  Pflege 
angedeihen,  verbreitet  es  in  den  Familien  und  den  Schulen, 
und  die  Studenten  veranstalten  öffentliche  Volksliederkonzerte. 
Ein  deutscher  Arzt  und  Forscher*),  der  als  das  Charakteristische 


1)  Geschichte  der  slawischen  Sprache  und  Literatur  nach  allen  Mund- 
arten von  Paul  Joseph  Schaffarik.     Ofen  1826. 

*)  Byp.iaKi>  heißen  speziell  die  Arbeiter,  die  auf  den  Barken  der  Wolga 
beschäftigt  sind.  Es  sind  durchwegs  rohe  ungeschlachte  Kerle.  Daher  nennt 
man  in  ganz  Rußland  einen  brutalen  Menschen:  Burlak. 

*)  Il3B0uuiKT>,   der  Fuhrmann. 

*)  Wichelhausen,  Gemähide  von  Moskwa,   299. 


—    39»    — 

am  Muschik  dessen  roheste  Sinnlichkeit  konstatiert^  sieht  in 
dem  unverkennbaren  Hang  der  Russen  zu  Gesang  und  Musik 
den  Beweis,  daß  dieses  Volk  von  der  Natur  auch  zu  feineren 
sinnlichen  Vorgängen  aufgelegt  sei. 

Schon  von  den  Bewohnern  des  ältesten  Rußland  wird  be- 
richtet, daß  Musik  die  vorzüglichste  Erheiterung  ihres  Lebens 
war,  und  daß  sie  auf  den  Kriegszügen  ihre  Lieblingsmusikinstru- 
mente mitführten;  singend  und  spielend  zogen  sie  in  den 
Kampf.  ^)  Es  zeugt  für  die  tiefe  Empfänglichkeit  der  Russen 
für  Harmonie  imd  Melodie,  daß  noch  jetzt  unter  ihnen  die 
uralten  Lieder  leben,  in  denen  die  heidnischen  Gottheiten  und 
die  Donau,  an  deren  Ufern  die  Vorfahren  der  Russen  vor 
zwölf  Jahrhunderten  gekämpft  haben,  besungen  werden.-) 

Als  Rußland  moskowitisch  geworden  war,  begannen 
die   Regierung,   die   die   Trunksucht   und   die   Korruption   zu 


1)  Karamsin,  deutsch  I  56,  franzosisch  I  83.  —  Vgl.  femer:  von  Arnold, 
Die  Tonkunst  in  Rußland  bis  zur  Einführung  des  abendländischen  Noten- 
Systems.    Leipzig  1867. 

>)  Die  alten  nationalen  Musikinstrumente,  fast  durchwegs  noch  heute 
in  Gebrauch,  sind  folgende:  Dudka  (^yAKa),  eine  einfache  Hirtenpfeife,  die 
man  besonders  in  Kleinrußland  findet,  wo  sie  den  speziellen  Namen  Ssopelka 
(con'kQca)  führt.  Roschok  (po»OKi>),  ebenfalls  ein  Hirteninstrument,  aber  in 
Form  eines  Roms,  also  ein  Kuhhorn.  Schilejka  oder  Ssipowka  (HcnjicftKa 
HJH  cHOOBKa),  eine  Schalmei.  Sswirelj  (cBiipikib),  eines  der  ältesten  musika- 
lischen Instrumente  der  Russen,  eine  Rohrpfeife,  die  jetzt  meist  bei  den. 
Hirten  in  Kleinmßland  anzutreffen  ist  und  noch  viel  bei  den  Reigentänzen 
zur  Geltung  gelangt.  Auch  der  Dudelsack,  Wolynka  (uo-iUHKa),  gehört  zu  den 
ältesten  Stücken;  unter  den  slawischen  Altertümern  fand  man  die  Abbildung 
eines  Kriegsgottes,  der  den  Dudelsack  spielt.  Bei  allen  großen  Festen  und 
auf  den  Jahrmarktsunterhaltungen  kommt  der  alte  Dudelsack  zu  hohen  Ehren. 
Gudok  (ryAOKB)  ist  eine  Violine  mit  drei  Saiten,  von  denen  nur  die  oberste 
gegriffen  wird ;  ein  kurzer  Bogen  bestreicht  alle  drei  Saiten.  Der  Spieler 
des  Gudok  heißt  Gudilo  (ry,iiLio,  auch  ry,ie.ibmnina>  und  ryÄonmiiun.).  Diese 
russischen  Bauemgeiger  findet  man  nicht  häufig.  Oft  und  überall  dagegen 
trifft  man  die  Balalajschtschiki,  die  Spieler  der  Balalajka  (Biuiaiu^Ka),  einer 
Harfe  mit  zwei,  seltener  drei  Saiten.  Dieses  Instrument  ist  äußerst  einfach 
und  so  leicht  zu  spielen,  daß  Jedermann  imstande  ist,  wenigstens  ein  Volks- 
lied oder  die  Begleitung  zu  einem  Tanze  zu  klimpern.  Die  Balalajka  ist 
das  Lieblingsinstrument  der  nogajschen  Tartaren.  Die  Balalajki,  die  man 
zvL  den  Reigen  und  den  Hochzeitstänzen  mitbringt,  zeichnen  sich  von  den 
gewöhnlichen  dadurch  aus,  daß  sie  mit  frivolen  und  selbst  eindeutig  obszönen 


~    400    — 

Fundamenten  der  Selbstherrschaft,  und  der'  Klerus,  der  die 
Duminheit  und  die  Verlogenheit  zu  Stützen  der  Orthodoxie 
gemacht,  in  der  Musik  ein  der  schärfsten  Verfolgung  würdiges 
Übel  zu  sehen.  In  der  ersten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts belegt  der  Patriarch  die  Ausübung  der  Instrumental- 
musik mit  schweren  Strafen.  Aber  im  Zarenhause  selbst  erhebt 
sich  der  erste  Ketzer  und  Verächter  des  heiligen  Verbots:  der 
Bojar  Nikita  Iwanowitsch  Romanow,  der  Oheim  des  Zaren 
Michael.  Er  ist  der  erste,  der  ausländische  Kleidung  zu  tragen 
wagt.  Der  Patriarch  verbrennt  eigenhändig  das  heidnische 
Gewand  imd  zwingt  den  Bojaren,  sich  durch  Weihwasser  rei- 
nigen zu  lassen.  Nikita  ist  dadurch  nicht  orthodoxer  gewor- 
den, der  Abtrünnige  begeht  noch  schlimmere  Schandtaten: 
er  hält  m  seinem  Hause  weltliche  Musikanten,  und  diese  Musi- 
kanten sind  Ausländer.  Das  böse  Beispiel  scheint  verhängnis- 
volle  Nachahmung  zu   finden.     Der  Holländer  Konrad  von 


Figuren  geschmückt  sind.  Loschki  (.kt/Kku).  wörtlich  Löffelchen,  sind  zwei 
Instrumente  ans  alter  Zeit;  ihre  Form  entspricht  ihrem  Namen.  Sie  sind 
mit  Schellen  und  Glöckchen  behängt  und  dienen  hauptsächlich  als  Begleitung 
zu  anderen  Instrumenten.  Gusli  (rycjiu),  Harfen  mit  drei  Saiten,  ähnlich 
dem  Psalterium,  werden  mit  den  Fingern  gerissen.  Die  GusU  waren  früher 
namentlich  in  Kleinru  Bland  stark  verbreitet,  in  neuerer  Zeit  kommen  sie 
immer  mehr  aus  der  Mode,  man  findet  sie  nur  noch  hier  und  da  bei  Soldaten. 
Trompeten  (TpyÖiii)  werden  in  Rußland  schon  in  einer  Chronik  des  zwölften 
Jahrhunderts  gelegentlich  der  Belagerung  Kijews  im  Jahre  1151  erwähnt. 
Aus  dem  Jahre  12 16  wird  berichtet,  daß  die  Nowgoroder  bei  ihren  Truppen 
60,  die  Wladimirzen  40  Trompeter  hatten.  Aus  jener  Zeit  besitzt  man  die 
frühesten  Angaben  über  Trommeln,  Bubny  (CyCnu)  oder  Nakry  (Haspu); 
Sturmtrommeln,  Nabatny  (Ha6aTHu)  oderBarabany  (6apa6aHu);  Flöten,  Flejty 
(((».lettTH) ;  Pauken,  Litawry  (.inraBpu) ;  und  die  zwei  schon  früher  erwähnten 
Schalmeien-Arten,  Ssopelki  (contaai)  und  Ssipowki  (ennoBKn).  Auch  die  Maul-* 
trommel,  Wargan  (ßapran'b),  und  Zimbeln  (nnMbÖaJiu  oder  khhbsjuii),  kannte 
man  seit  jeher  in  Rußland.  Ein  speziell  kleinrussisches  Instrument  ist  die 
Bandura  (Caiiiiypa),  auch  Kobsa  (Ko63a)  genannt,  eine  Art  Harfe  mit  12,  zu- 
weilen mit  28  metallenen  Saiten.  Die  Bettler  und  Greise  tragen  sie  an  einem 
Strick  um  den  Hals  gehängt  und  wandern  musizierend  von  Dorf  zu  Dorf. 
Die  Edelleute  hielten  früher  Kapellen  von  Banduristen,  die  beim  Mittagstisch 
und  abends  bei  den  Festlichkeiten  den  Herren  anspielten.  Von  der  russischen 
Hömermusik  wird  im  Texte  die  Rede  sein.  M.  SaÖujnnn,,  pyccKÜt  Hapo;i>, 
527.  —  Bemerkungen  über  Rußland,  1788  (von  Bellermann)  I  362.  —  Breton, 
Rußland  IV  39. 


Russische  Bauern.  Der  Quass-  und  Bra 


—     401     — 

Klenck,  der  nach  Rußland  kommt,  bemerkt,  „daß  man  bei 
vielen  russischen  Großen,  Liebhabern  der  Musik,  polnische 
Musikanten  findet,  die  auf  verschiedenen  Instrumenten  spielen.** 
Und  ein  russischer  Würdenträger,  der  seinen  Sohn  nach  Holland 
geschickt  hat,  schreibt  dem  Jungen:  ,, Treibe  allerlei  Kavalier- 
künste, gehe  in  den  Mußestunden  in  Gesellschaften,  besuche 
das  Theater,  lerne  fechten,  schießen  und  reiten.**  Alle  diese 
Kavalicrkünste  aber  sind  vom  Domostroj,  dem  Haus-  und  Hof- 
gesetzbuch der  Russen,  als  Todsünden  verdammt.  Solcher 
Ungehorsam  einiger  Vornehmer  ruft  neue  strenge  Maßregeln 
des  Patriarchats  hervor,  die  wirksamer  sind  als  die  früheren, 
so  daß  man  bald  nur  noch  den  Dudelsack  und  den  Gudok,  und 
auch  nur  heimlich  zu  spielen  wagt.  Bloß  Bettler  sind  jetzt  noch 
Musikanten.  Und  ein  Russe,  der  um  diese  Zeit  wieder  nach 
Holland  als  Gesandter  kommt,  kann  sein  Erstaunen  nicht  ver- 
bergen, daß  man  ihm  zu  Ehren  ein  Konzert  veranstaltet;  „bei 
uns  zu  Hause,**  sagt  er,  „verdienen  die  Bettler  auf  solche  Weise 
ihr  Almosen.**  1) 

Peter  der  Große  hört  in  seiner  Jugend  nur  die  rauheste 
Musik  von  Tronuneln  und  Pfeifen,  seltener  die  Balalajka  und 
das  Kuhhom;  in  besonders  eleganten  Häusern  wohl  auch  die 
Bandura.  Er  ist  deshalb  ganz  begeistert,  als  bei  seiner  An- 
kimft  in  Riga  und  Danzig  der  Chor  der  Stadtmusikanten  ihm 
von  den  Kirchtürmen  herab  mit  Zinken  und  Posaunen  den 
Morgengruß  entgegenschmettert;  dies  erscheint  ihm  als  der 
höchste  künstlerische  Genuß,  und  sofort  engagiert  er  in  Riga 
fünf  solcher  Meister,  die  seine  Tafelmusik  zu  besorgen  haben 
und  von  den  Russen  mit  Bewunderung  und  Staunen  angehört 
werden.  Auf  seiner  Weiterreise  durch  Deutschland  lernt  Peter 
die  Regimentsmusik,  Hoboisten,  Fagottisten  und  Waldhomisten 
kennen;  sie  gefallen  ihm  noch  besser  als  die  Posaunenbläser. 
Später  imponieren  ihm  mehr  die  Querpfeifer,  Trommler  und 
Trompeter.  Nacheinander  wechseln  sie  in  des  Zaren  Gunst, 
der  die  Trompeter  besonders  für  die  Flotte  bevorzugt.  In 
Holland,  in  Amsterdam  hört  der  Reformator  Rußlands  vor  der 
Börse  zum  ersten  Male  das  Glockenspiel;  in  Petersburg  läßt 


1)  Reise  nach  Norden,  154. 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rufiland.  26 


—     402     — 

er  daher  auf  dem  Turm  der  Festungskathedrale  und  auf  jenem 
der  Isaakskirche  Glockenspiele  anbringen.  Alles  Bisherige  wird 
schließlich  verdrängt  von  der  Bockpfeife,  deren  Bekanntschaft 
Peter  in  Polen  gemacht  hat.  Der  Zar  erlernt  selbst  dieses 
Instrument  und  stellt  für  seine  Tafelmusik  einen  Bockpfeifer- 
chor zusammen.  1)  Wenn  die  Musik  nicht  klappt,  so  vertauscht 
der  Kapellmeister  den  Taktstock  mit  den  Batog^^)  und  haut 
dabei  nicht  immer  pianissimo  drein. 

Die  französische  und  italienische  Musik  konnte  Peter  der 
Große  nicht  leiden.  Elisabeth  und  Katharina  II.  berufen  da- 
gegen oft  Tonkünstler  aus  Frankreich  und  Italien  nach  Ruß- 
land. Der  Günstling  Katharinas,  Patjomkin,  betrachtet  sein 
Privatorchester  als  seinen  Schatz,  den  er  überallhin  mit  sich 
führt.  Ins  Hauptquartier  von  Bender  nimmt  Patjomkin  nicht 
weniger  als  zweihundert  Musiker,  ein  Ballettkorps  und  eine 
Schauspielertruppe  mit.  Als  leidenschaftlicher  Musikliebhaber 
steht  er  lange  Zeit  mit  dem  in  Wien  befindlichen  Grafen  Andrej 
Rasumowskij  in  Unterhandlimgen  bezüglich  des  Engagements 
eines  tüchtigen  Kapellmeisters.  Rasiunowskij  empfiehlt  eifrig 
„einen  exzellenten  Klavierspieler  und  einen  der  besten  Kompo- 
nisten Deutschlands,"  einen  gewissen  Mozart,  als  Orchester- 
chef für  die  Patjomkinsche  Truppe.  Mozarts  Tod  macht  den 
eingeleiteten  Verhandlungen  ein  jähes  Ende,  und  Patjomkin 
engagiert  den  Italiener  Sarti.^) 

Ein  historisches  Ereignis  auf  dem  Gebiete  der  Musik  voll- 
zieht sich  zur  Zeit  Katharinas  durch  die  vom  Oberjägermeister 
Naryschkin  veranlaßte  Reform  der  Jagdmusik.*)  Die  russi- 
schen Jäger  und  Rüdenknechte  führten  seit  alten  Zeiten  Hörner. 
Da  auf  Harmonie  keine  Rücksicht  genommen  wurde,  war  diese 
Jagdmusik  eine  entsetzliche.  Naryschkin  stellte  nun  ein  merk- 
würdiges  System  fest:    Fünfzig  oder  sechzig  Musiker  haben 


1)  Stahlin,  Originalanekdoten  von  Peter  dem  Großen,  298.  —  Halem, 
Leben  Peters  des  Großen,  III  220. 

2)  Methode  schwerer  Züchtigung  mit  Stöcken. 
8)  Waliszewski,  Autour  d'nn  tröne,   131. 

*)  Waliszewski  a.  a.  O.  132.  —  (Bellermann)  Bemerkungen  über  Ruß- 
land I  367.  —  (Masson)  Geheime  Nachrichten  über  Rußland,  deutsch  II  82, 
(französisch  II  61).  —  Dupr6  de  St.  Maure,  L'hermite  en  Russie,  I  263. 


—     403     — 

durchwegs  an  Größe  und  in  der  Stufenreihe  verschiedene 
Hörner.  Jedes  Hörn  gibt  nur  einen  Ton  von  sich  und  jeder 
Musikant  hat  nur  eine  Note  vor  Augen.  Durch  die  Verschieden- 
heit der  Größe  der  Instrumente  und  die  Gesamtheit  der  Töne 
entsteht  das  Konzert,  das  als  russische  Hömermusik  (porosafl 
MysHKa)  eine  berühmte  Spezialität  des  Zarenreiches  geworden 
ist.  Die  Marine  besitzt  ein  vortreffliches  Ensemble,  und  die 
großen  Herren  halten  sich  ein  Hornistenkorps,  das  namentlich 
auf  die  Jagd  mitzieht  und  bei  den  Unterhaltimgen  in  den  Pau- 
sen vielbewunderte  Konzerte  veranstaltet.  Die  Möglichkeit  der 
Durchführung  dieser  Reform  der  Jagdmusik  und  die  Dauer 
dieser  Institution  bis  heute  kann  man  mit  Recht  als  Zeichen 
des  sklavischen  Charakters  des  russischen  Volkes  betrachten. 
Nirgends  in  der  Welt  sonst,  sagte  schon  Major  Masson,  der 
Zeitgenosse  dieser  seltsamen  Reform,  hätte  Naryschkin  fünfzig 
Menschen  für  ein  solches  Werk  auftreiben  können.  Alle  diese 
Musikanten  müssen  sich  entschließen,  ihr  ganzes  Leben  hin- 
durch ein  und  dieselbe  Note  auf  einem  und  demselben  Hom 
zu  blasen;  stundenlang  haben  sie  nichts  anderes  zu  tun,  als 
die  Pausen  zu  zählen,  um  den  Moment  abzuwarten,  wo  sie 
an  der  Reihe  sind.  Die  Arie,  die  sie  spielen,  kennen  sie  nicht. 
Für  die  Kirnst  haben  sie  kein  Interesse  und  kein  Gefühl.  Sie 
sind  Automaten,  Sklaven,  auf  die  der  Stock  des  Kapellmeisters 
niedersaust,  wenn  sie  ihren  Augenblick  verpassen. 

Die  Epoche  Katharinas  II.  sah  auch  den  Beginn  der  russi- 
schen Kunstmusik.  Die  Namen  der  ersten  russischen  Kompo- 
nisten sind  fast  vergessen,  obwohl  an  manche  von  ihnen  glän- 
zende Triumphe  sich  hefteten.  So  hatte  Fomina  am  Theater 
Katharinas  lärmende  Erfolge,  während  gleichzeitig  Bortnjanskij 
die  vom  Patriarchen  Nikon  in  Angriff  genommene,  aber  durch 
den  Sturz  dieses  Reformators  jäh  unterbrochene  Verbesserung 
der  Kirchenmusik  fortsetzte  und  prächtige  Motetten  und  Psal- 
men komponierte.  1805  machte  Titow  zuerst  den  Versuch, 
eine  nationale  Oper  zu  gründen.  Aber  erst  Michael  Glinka 
gelang  es  1836,  mit  seiner  Oper  ,,Das  Leben  für  den  Zaren** 
ein  Werk  zu  schaffen,  das  einen  dauernden  Wert  behalten  hat. 
Glinkas  Erben  waren  Serow  und  Dargomijskij.  Der  übrigen 
Großen  sind  nicht  viele.     Man  hat  nur  die  berühmten  Fünf 

26* 


—     404     — 

zu  erwähnen:  Borodin,  Mussorgski j,  Balakirew,  Cäsar  Kuj, 
Rimskij-Korsakow;  femer  den  Jünger  dieser  fünf:  Alexander 
Glasunow ;  die  erbitterten  Widersacher  der  fünf :  Anton  Rubin- 
stein und  Tschaikowskij ;  und  schließlich  etwa  noch:  Ssolow- 
jew,  Iwanow,  Arenskij,  Ljadow,  Skrjabin,  Juferow,  Koptjajew 
und  Kalinnikow.^) 

Interessanter  als  die  Entwickelung  der  modernen  russi- 
schen Musik  ist  für  die  Sittengeschichte  der  Ursprung  des 
Theaters  in  Rußland.  Aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundert  be- 
sitzen wir  die  erste  russische  Schilderung  eines  europäischen 
Theaters.  Sie  stammt  aus  der  Feder  des  Bischofs  Abraham 
von  Susdal,  der  mit  einigen  Russen  nach  Italien  ging  und  dort 
der  Aufführung  von  Mysterien  beiwohnte.  Zwei  Jahrhunderte 
später  sah  der  Russe  Lichatschew  am  Hofe  zu  Florenz  eine 
Theatervorstellung,  die  er  in  seinem  Gesandtschaftsbericht  fol- 
gendermaßen zu  beschreiben  versucht  2):  „Es  war  ein  Meer, 
darin  hat  es  schwimmende  Fische  gegeben,  auf  diesen  ritten 
Menschen.  Ebenso  sind  oben  am  Himmel  Menschen  gesessen. 
Die  Menschen,  die  auf  den  Fischen  waren,  sind  auch  gen 
Himmel  gefahren.  Dann  erschienen :  ein  alter  Mann  in  einem 
Wagen  und  ein  Fräulein  in  einem  anderen  Wagen,  die  Pferde 
an  beiden  Wagen  waren  wirkliche  Pferde  und  zappelten  nüt 
den  Beinen;  \md  der  Großherzog  hat  gesagt  imd  erklärt:  der 
Mann  imd  das  Fräulein  wären  Sonne  und  Mond.  In  anderen 
Szenen  kamen  vor:  ein  Feld  mit  menschlichen  Gebeinen,  die 
von  Raubvögeln  benagt  wurden;  ein  Meer,  bedeckt  nüt  Schif- 
fen; eine  Menge  Ritter,  die  nüteinander  kämpften,  so  daß 
einige  derselben  scheinbar  getötet  wurden.  Dann  tanzte  man 
auf  der  Bühne.  Dann  kam  ein  hungriger  Mann  und  bat  um 
Speise;  und  man  gab  ihm  viele  Weißbrote,  ohne  ihn  sättigen 
zu  können.** 

Der  Russe  verstand  augenscheinlich  nichts  von  den  Vor- 
gängen. Das  Schauspiel  war  ihm  völlig  neu.  Nur  an  zwei 
Orten  Rußlands  gab  es  damals  sogenannte  Mysterien-Auffüh- 


1)  VgL  über  die  moderne  russische  Musik  den  neunten  Band  der  von 
Richard  Strauß  herausgegebenen  Sammlung  «,Die  Musik"  (Essay  von  Alfred 
Bruneau,  übertragen  von  Max  Graf).     Berlin  1904. 

s)  VgL  Brückner.  Kulturhistorische  Studien. 


—     405    — 

rungen.  In  Nowgorod  im  Norden,  und  in  Kijew  im  Süden 
existierte  seit  dem  zehnten  Jahrhxmdert  der  Gebrauch,  zu  Weih- 
nachten, in  der  tollen  Woche,  der  Butterwoche,  sowie  am  Tage 
des  Iwan  Kupalo,  öffentliche  Vorstellungen  zu  veranstalten, 
in  denen  die  heidnische  Vergangenheit  mit  ihren  Göttern  imd 
Sitten  wieder  auflebte,  i)  Durch  die  Wiederholungen  bildeten 
sich  Typen:  der  Gevatter-Lustigmacher,  die  Gevatterin,  der 
Zar  Rote-Sonne,  der  Hexenmeister,  die  Baba-Jaga,  der  Haus- 
geist Domowoj,  der  Waldteufel  (.Tfemefi),  der  Wassergeist  (Bo- 
.üeHoö).  Zu  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  begannen  die 
Kijewer  Studenten,  die  imter  dem  Einfluß  der  polnischen  Kultur 
standen,  auf  den  öffentlichen  Plätzen  heilige  Szenen  darzu- 
stellen. Statt  der  heidnischen  Götter  und  Geister  wurden  jetzt 
die  Apostel,  die  Propheten,  die  heilige  Jungfrau  und  Jesus  Christus 
selbst  als  Puppen  vorgeführt.  Das  Repertoire  dieser  tragbaren 
Bühne,  die  man  Wertep  (BepTen'b)oder  Höhle  nannte,  bestand 
in  einem  einzigen  Stück:  Schilderung  der  Leiden  Christi.  Wäh- 
rend einer  der  Studenten  für  die  Puppen  sprach,  ein  anderer 
replizierte,  sangen  die  übrigen  im  Chore  fromme  Lieder. 

*)  Die  Quellen  zur  Geschichte  des  russischen  Theaters  sind  folgende: 
Russisches  Theater,  vollständige  Sammlung  aller  russischen  Theaterstücke, 
43  Bände,  St.  Petersburg  1786  (russisch).  Karabanow,  Die  Anfänge  des 
russischen  Theaters,  1849  (russisch).  —  P.  Arapow,  Chronik  des  russischen 
Theaters,  St.  Petersburg  1861,  Tiblen  &  Comp.  —  Pekarskij,  im  Februarheft 
des  „Zeitgenossen"  1858  (CoBpsMeHHHirb).  —  Derselbe,  Wissenschaft  und  Lite- 
ratur unter  Peter  dem  Großen,  Band  I  (russisch).  —  Tichonrawow,  Ursprung 
des  russischen  Theaters,  Annalen  der  russischen  Literatur  und  Altertümer, 
Bd.  III,  1861  (russisch).  —  Alexej  Wesselowskij,  Das  alte  Theater  in  Europa, 
Moskwa  1870  (russisch).  —  Derselbe,  Deutsche  Einflüsse  auf  das  alte  russische 
Theater,  Prag  1876  (deutsch).  —  II.  H.  HoHiepjiiioiri..  ii.i.iiocTpiipoijaiinafl  iKTOpi« 
pvccicaro  leaipa  XIX.  bIikb,  C.  ncT<*pCypn..  1903.  —  Von  der  Direktion  der  kaiser- 
lichen Theater  wurde  mir  durch  Vermittlung  des  deutschen  Theaterdirektors 
Paul  Bock  vor  einigen  Jahren  ein  nur  als  Privatdruck  in  wenigen  nume- 
rierten Exemplaren  gedruckter  Folioband  (von  über  1500  Seiten)  übersendet, 
worin  sämtliche  amthche  Aktenstücke  zur  Geschichte  des  russischen  Theaters 
veröffentlicht  wurden:  Ai)xnB7.  iinpoKuiii  iiMiiepaTopciaixi.  Teaxpoin».  Bbiiiycin»  I 
1746 — 1801.  C.  neTt'j)6ypn.  1892.  —  Femer  vgl.  man:  Le  Th^dtre  de  la 
Moscovie  par  le  R.  P.  Boussingault  (BibUoth.  russe  et  pol.  vol.  V).  —  Pierre 
de  Corvin  (Pierre  Newsky),  Le  Th6atre  en  Russie,  depuis  ses  origines  jusqu'ä 
nos  jours.  Paris  1890.  —  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur.  — 
Bernhard  Stern,  Zwischen  der  Ostsee  und  dem  Stillen  Ozean. 


—    406     — 

In  Moskau  fehlten  bis  zum  siebzehnten  Jahrhundert  auch 
diese  primitiven  Anklänge  ans  Theatralische.  Es  gab  bloß 
in  den  Zeremonien  der  Kirchenfeste  manches,  was  einem  dra- 
matischen Symbolismus  gleichkam.  Von  zweien  dieser  Ge- 
bräuche, die  den  Einzug  Christi  in  Jerusalem  und  eine  Allegorie 
des  jüngsten  Gerichts  darstellten,  ist  schon  in  einem  früheren 
Kapitel  die  Rede  gewesen,  i)  Eine  dritte  Szene  beobachtete 
der  Engländer  Fletcher^) :  „Ein  Engel  stieg  von  einem  Kirchen- 
dach in  einen  Ofen  herab  zu  drei  Jünglingen ;  im  Ofen  loderten 
Flammen,  welche  die  Chaldäer,  wie  man  die  Akteure  nannte, 
mit  Hilfe  von  Pulver  anfachten.  Diese  Akteure  waren  bekleidet 
mit  weiten  farbigen  Überröcken,  imd  auf  den  Köpfen  trugen  sie 
spitzige,  vergoldete  Hüte.** 

Das  erste  wirkliche  Theater  lernten  die  Russen  in  Ruß- 
land erst  zu  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts  kennen.  Im 
Hause  des  Bojaren  Artamon  Ssergejewitsch  Matwejew  fanden 
sich  zur  Zeit  der  Regierung  des  Zaren  Alexej  Michajlowitsch  die 
wenigen  Russen  zusammen,  die  europäischen  Sitten  huldigten. 
Hier  verkehrte  der  Zar  selbst,  und  hier  ward  ihm  die  Anregung 
zur  Gründung  des  ersten  russischen  Theaters.  Am  15.  Mai 
1672  befahl  Alexej  dem  Oberst  Nikolaus  von  Staden,  der  nach 
Kurland  reiste,  um  Bergleute  anzuwerben,  „auch  Trompeter 
und  Komödianten,  die  Komödien  darzustellen  verstehen,**  mit- 
zubringen. Auf  Stadens  verlockende  Anträge  wollte  aber  fast 
niemand  eingehen,  und  der  Bote  brachte  bloß  einen  Trompeter 
und  vier  Musiker  nach  Moskau.  Als  Staden  mit  ihnen  in 
der  Kremlstadt  anlangte,  fand  er  hier  zu  seiner  Überraschung 
schon  ein  Theater  vor.  Der  Zar  hatte  nämlich  erfahren,  „daß 
der  Magister  Jogan  (Johann)  Gregory,  Pastor  an  der  lutheri- 
schen Kirche  in  der  deutschen  Sloboda,  Komödien  darzustellen 
verstehe.**  Alexej  holte  die  Zustinmiung  seines  Beichtvaters 
ein  und  wagte  dann  den  kühnen  Wurf.  Er  befahl  am  4.  Juni 
1672  dem  Pastor  Gregory,  eine  Komödie  zu  veranstalten,  den 
Stoff  dazu  aus  dem  Buche  Esther  zu  nehmen  und  im  Dorfe 
Preobraschensk   ein   Komödienlokal   einzurichten,    „mit   allem 


1)  Vgl.  s.  361  ff. 

*)  Corvin  bezeichnet  (pag.  14)  Fletcher  irrtümlich  als  Deutschen. 


—     407    — 

Schmuck  und  Putz,  das  für  ein  solches  Lokal  vonnöten  ist." 
Gregory  griü  sofort  zur  Feder  \md  dichtete  in  wenigen  Wochen 
ein  biblisches  Stück:  Die  Tragikomödie  von  Esther  oder  die 
Artaxerxes'sche  Handlung.  Gregory,  sein  Freund  Doktor  Lau- 
rentius  Rinhuber  und  der  russische  Lehrer  Jurij  Michajlowitsch 
richteten  64  Schüler  der  deutschen  Schule  als  Komödianten  ab, 
während  ein  gewisser  Peter  Inglis,  „der  perspektivischen  Zeich- 
nimg Meister,**  die  Kulissen  malte.  Die  Hauptrolle  des  Stückes 
wurde  dem  Sohne  des  Doktor  Blumentrost,  des  zarischen  Leib- 
arztes, übertragen.  Eine  Schwierigkeit  machte  die  Frage  der 
musikalischen  Begleitung,  nicht  der  Musiker  wegen,  sondern 
weil  der  Zar,  der  das  Schauspiel  begründete,  gegen  die  Ein- 
führung der  weltlichen  Musik  als  gegen  eine  gottlose  Tat  Be- 
denken hatte.  Erst  als  Gregory  vorstellte,  daß  der  Chor  ohne 
Musik  ebensowenig  singen  könnte,  wie  die  Tänzer  ohne  Füße 
zu  tanzen  vermöchten,  gab  Alexej  nach  und  beauftragte  Mat- 
wejew,  eine  Kapelle  aus  Geigern  und  Flötisten  zu  schaffen. 
Und  Matwejew  ließ  eine  Anzahl  seiner  Leibeigenen  in  wenigen 
Monaten  zu  Musikern  ausbilden.  Am  17.  Oktober  1672  fand 
die  erste  Vorstellung  statt,  i)  Aus  dem  ganzen  Reiche  waren 
Gäste  „zu  dieser  bisher  nie  gekannten  Unterhaltung**  einge- 
laden worden.  Der  Zar  war  mit  seinem  ganzen  Hofe  anwesend. 
Für  die  Frauen  und  die  Kinder  hatte  man  eine  große  vergitterte . 
Loge  hinter  dem  Sitze  des  Zaren  eingerichtet.  Die  Sprache 
der  Schauspieler  war  natürlich  die  deutsche.  Neben  dem  Zaren 
stand  daher  ein  Dolmetsch,  der  Satz  um  Satz  übersetzte  und 
gleichzeitig  den  Gang  der  Handlung  erklärte.  Die  Aufführung 
dauerte  nicht  weniger  als  zehn  Stunden  ohne  Unterbrechung. 
Der  Herrscher  war  entzückt  und  gewährte  dem  Pastor  Gregory 
die  Erlaubnis,  eine  Gnade  zu  erbitten:  Dieser  bat  um  die 
Tolerierung  der  protestantischen  Kirche  in  Moskau  und  um 
den  Bau  einer  Kapelle;  und  der  Zar  entgegnete:   „Ein  Mann, 


^)  So  Brückner  am  zuverlässigsten,  nach  den  maßgebenden  Forschungen 
von  Tichonrawow  und  Morosow.  Corvin  glaubt,  daß  Gregory  erst  im  Herbst 
1672  nach  Moskau  kam,  und  bezeichnet  den  2.  November  1673  als  das 
historische  Datum.  Vgl.  Corvin  Seite  17  und  19.  —  L.  Rinhuber,  Relation 
du  voyage  en  Russie,  Publice  d'aprds  les  manuscrits  originaux.  Berlin  1883 
(niir  in  350  Exemplaren  gedruckt). 


—     408     — 

der  so  tugendhafte  Stücke  zu  spielen  weiß,  kann  gewiß  nur 
Gutes  lehren,**  und  bewilligte  die  Bitte.  Das  Stück  Gregorys 
machte  zweifellos  auch  tiefe  Wirkung  durch  die  unabsichtliche 
Aktualität,  die  es  in  bezug  auf  die  Zustände  am  Hofe  besaß. 
In  der  Königin  Esther  sahen  die  Zuschauer  die  Zarin  Natalia 
Naryschkin,  die  als  Waise  im  Hause  Matwejews  erzogen  worden 
war  imd  durch  ihre  Schönheit  und  Klugheit  ihr  Glück  ge- 
macht hatte;  Haman  aber  war  niemand  anderer  als  der  ehe- 
malige Günstling  Hitrowo,  der  gleich  dem  biblischen  Böse- 
wicht  zur   Strafe   für   seine   Intrigen  gehängt   worden   war. 

Das  Theater  blieb  eine  dauernde  Einrichtung.  Der  Tragi- 
komödie Esther  folgte  die  Tragödie  von  Holofernes  und  Judith, 
worin  in  einer  Szene,  da  die  Heroine  dem  Scheusal  den  Kopf 
abschneiden  will,  eine  andere  Aktrice  ausrief :  „O  armer  Kerl. 
Beim  Erwachen  wird  er  erstaunt  sein,  daß  ihm  der  Kopf  fehlt.** 
Für  die  theatralischen  Unterhaltungen  wurde  ein  spezielles 
Haus  im  Kreml  adaptiert,  das  den  Namen  führte :  IToT'feuiHwS 
ABopei^T^,  Palast  der  Ergötzlichkeiten ;  dieser  Palast  existiert  noch 
imd  dient  jetzt  als  Amtswohnung  des  Platzkommandanten. 
Der  Bojar  Matwejew  wurde  zum  Direktor  der  Vergnügungen 
des  Zaren  ernannt,  Johann  Gregory  erhielt  den  Titel  eines 
Regisseurs.  Der  Zar  befahl  ferner,  die  Manuskripte  Gregorys 
in  Saffian  zu  binden  und  in  der  zarischen  Bibliothek  zu  hinter- 
legen; endlich  sollte  man  aus  dem  Ressort  der  auswärtigen 
Angelegenheiten  40  Zobelfelle  im  Werte  von  100  Rubel  und 
ein  Paar  im  Werte  von  8  Rubel  ;iehmen  und  diese  42  Zobel- 
felle dem  Magister  Gregory  als  Geschenk  des  Zaren  über- 
reichen. Dagegen  vergaß  Alexej  ganz  daran,  den  armen  Komö- 
dianten, die  Gregory  nuiunehr  aus  russischen  jungen  Leuten 
auswählen  muß,  die  Mittel  zum  Leben  anzuweisen,  so  daß 
diese  den  Zaren  selbst  an  ihr  Elend  erinnern :  „O  mitleidiger,  o 
barmherziger  Herr,  o  Vater  deines  Volkes!'*  schreiben  sie  in 
ihrem  Bittgesuche,  „man  hat  uns,  deine  Sklaven,  zum  Meister 
Jogan  Gottfried  Gregory  gesandt,  damit  wir  die  Kunst  der 
Komödie  erlernen  sollen ;  aber  man  hat  nicht  für  unsere  Nah- 
nmg  gesorgt.  Da  wir  alle  Tage  zum  Meister  wandern,  rui- 
nieren wir  unsere  Kleider  und  unsere  Schuhe,  und  wir  haben 
nichts  zu  essen  und  sterben  vor  Hunger.    O  barmherziger  Herr, 


—    409     — 

befiehl,  daß  man  uns  täglich  zu  essen  gebe,  damit  wir  nicht 
Hunger  leiden,  wenn  wir  Komödie  spielen  lernen.**  Und  der 
barmherzige  Zar  befiehlt  sofort,  für  jeden  Eleven  einen  Gro- 
schen per  Tag  für  das  Essen  anzuweisen;  die  Ausfolgung 
dieses  Gehalts  aber  darf  jedesmal  erst  dann  erfolgen,  wenn 
der  Meister  die  Fortschritte  und  den  unermüdlichen  Fleiß 
der  Aspiranten  durch  ein  Attest  bekräftigt  hat  I 

Im  Jahre  1675  erschien  auf  der  zarischen  Bühne  das  erste 
Ballett,  betitelt  „Orpheus**.  Da  man  lange  Vorstellungen  liebte, 
gab  man  nach  einer  Tragödie  gewöhnlich  noch  ein  Ballett. 
Solch  ein  Theaterabend  begann,  wie  das  Dokument  über  eine 
Vorstellung  vom  21.  Februar  1675  beweist,  um  fünf  Uhr  nach- 
mittags  und   dauerte  bis   drei   Uhr   morgens. 

Das  erste  Stück  in  russischer  Sprache  verfaßte  der  Bischof 
Simeon  von  Polozk.  Es  hieß :  Alexej,  der  Gottesmensch.  Die 
russischen  Schüler  Gregorys  führten  es  auf.  Simeon  verfaßte 
noch  mehrere  andere  Dramen.  In  einem  seiner  Stücke,  be- 
titel  „Der  verlorene  Sohn**,  wird  Moral  gepredigt,  indem 
die  landesüblichen  Laster  —  Tnmksucht  und  Wollust  —  in 
ihren  bösen  Folgen  dargestellt  werden;  den  ganzen  zweiten 
und  dritten  Akt  hindurch  tut  der  Titelheld  nichts  anderes  als 
saufen.  Die  Dramen  Simeons  hatten  zumeist  bloß  sechs  Akte; 
um  den  Theaterabend  nicht  zu  kurz  zu  halten,  füllte  der  Autor 
die  Pausen  nüt  kleineren  Stücken  aus,  die  mit  dem  Drama  selbst 
in  gar  keinem  Zusammenhang  standen,  aber  den  Zweck  er- 
reichten, die  Unterhaltung  bis  über  Nacht  auszudehnen.  Zu 
bemerken  ist  noch,  daß  die  weiblichen  Rollen  von  Männern 
gespielt  werden  mußten. 

Nach  dem  Tode  des  Zaren  Alexej  trat  ein  jäher  Rück- 
schlag ein.  Die  Reaktionären  setzten  es  beim  jugendlichen 
und  kränklichen  Fedor  Alexejewitsch  durch,  daß  Gregory  ver- 
trieben, Matwejew  verbannt  und  der  Palast  der  Vergnügungen 
geschlossen  wurde.  Die  Kunst,  vom  Hofe  vertrieben,  fand 
indessen  Zuflucht  in  den  Häusern  einiger  Fortschrittsfreunde, 
bei  den  Dolgorukij,  Scheremetjew,  Galitzyn.  Diese  Bojaren 
waren  gleichzeitig  die  Dichter  und  die  Schauspieler.  Aber 
das  Wunderbarste  war,  daß  sich  diesen  Männern  auch  eine 
Frau  aus  dem  Zarenhause  zugesellte,  Prinzessin  Sofia,  die  Toch- 


—     410    — 

ter  Alexe js.  Sie  trat  kühn  aus  dem  Terem  hinaus,  geradewegs 
auf  die  Bühne  des  Scheins  und  auf  die  Bühne  des  Seins. 
Einige  Jahre  später  spielte  sie  als  Regentin  eine  weltgeschicht- 
liche Rolle;  vorher  aber  erschien  sie  auf  einer  Privatbühne 
in  ihrem  eigenen  Palaste  als  dramatische  Dichterin  und  Schau- 
spielerin. Das  russische  Drama  „Die  heilige  Katharina"  trägt 
unter  seinem  Titel  als  Automamen:  Sofia  Alexejewna  Ro- 
manow. Und  während  vor  wenigen  Jahren  der  Vorstand  der 
Apothekerbehörde  Golosow  und  der  junge  Bojar  Ordin-Na- 
tschokin  den  Orthodoxen  als  des  ewigen  Höllenfeuers  würdige 
Ketzer  erschienen  waren,  weil  sie  lateinisch  sprachen;  während 
noch  zu  Zeiten  Alexejs  die  Frauen  nicht  offen,  sondern  nur 
hinter  Gittern  den  theatralischen  Vorstellungen  im  Zarenpalaste 
anwohnen  durften :  übersetzte  jetzt  die  Prinzessin  Sofia  Moliöres 
„Le  Mddecin  malgr6  lui**  aus  dem  Französischen  ins  Russische, 
führte  das  Stück  auf  und  spielte  selbst  darin  eine  Rolle;  ihre 
Partner  waren  die  Fürsten  Dolgorukij,  Galitzyn,  Odjewsky, 
Tscherkassow,  Koslowsky,  Scherbatow,  Oberst  Gribojedow,  die 
Prinzessinnen  Howanska  und  Bariatinskij  und  die  Gräfin  Sche- 
remetjew. 

Dies  ereignete  sich  in  Moskau.  Mittlerweile  begann  auch 
im  Süden  das  theatralische  Leben  zu  pulsieren.  Dmitry  Tuptalo, 
Bischof  von  Rostow,  dichtete  sechs  biblische  Dramen  und 
führte  sie  in  einem  Betzimmer  seiner  Amtswohnung  mit  Hilfe 
von  Seminaristen  der  Kijewer  geistlichen  Akademie  auf.  Noch 
am  Hofe  der  Zarin  Elisabeth,  sechzig  Jahre  später,  spielte  man 
Dmitrys  Dramen. 

Unter  Peter  dem  Großen  war  es  ebenfalls  ein  Geistlicher, 
der  berühmte  Feofan  Prokopowitsch,  der  Dramen,  sogar  die 
ersten  weltlichen  in  russischer  Sprache  schrieb.  Neben  den 
Dramen  von  Feofan  führte  man  auch  Stücke  der  Prinzessin 
Natalia  Alexejewna,  einer  Schwester  der  Sofia  und  Peters,  auf. 
Die  Stoffe  für  ihre  Stücke  entnahm  Natalia  wie  Feofan  ebenfalls 
zum  Teil  3chon  weltlichen  Chroniken.  Ein  Zeitgenosse  er- 
zählt i):  „Des  Czars  Vergnügen  sind  besonders  Musiccomödien. 
Die  Slawonische,  Moscowitische,  auch  Lateinische  und  Teutsche 

1)  Des  großen  Herms  Czar  Peter  Alexowicz  Leben  und  Thaten  von 
J.  H.  von  L.    Franckfurt  17 lo,  S.  97. 


—     411     — 

Comödie  werden  den  Winter  durch  und  sonsten  öffter  auf 
öffentlichen  Theatris  mit  Vocal-  und  Instrumental-Music  nach 
der  auswärtigen  Art  ziemlich  gut  gespielet,  damit  dadurch 
die  Aktores  sowohl  als  die  Zuschauer  sich  in  Reden  und  Ma- 
nieren üben,  absonderlich  den  Lastern  durch  lächerliche  und 
absurde  Vorstellung  ihrer  Scheußlichkeit  möge  abgeholffen 
werden.**  1701  beauftragte  Peter  den  Kapitän  Johann  Splawskij, 
einen  Ungarn  von  Geburt,  der  ein  ehemaliger  Schauspieler 
gewesen  sein  soll,  sich  nach  dem  Ausland  zu  begeben  und 
eine  Komödiantentruppe  zu  rekrutieren.  Splawskij  engagierte 
in  Danzig  einen  gewissen  Johann  Kunst  als  Direktor  der  Hof- 
komödianten der  Zarischen  Majestät.  Am  25.  Dezember  1702 
wurde  das  erste  öffentliche  Theater  in  Moskau  auf  dem  Roten 
Platze  (KpacHaH  njioma Ab)  mit  einem  Stücke  von  Kunst  eröffnet. 
Die  meisten  Stücke,  die  hier  gegeben  wurden,  waren  dem 
Geschmacke  Peters  entsprechend  frivol  und  zynisch.  Der  Zar 
wies  dem  Direktor  3000  Rubel  jährlich  für  die  Schauspieler, 
für  jeden  der  zwölf  Musiker  des  Orchesters  extra  150  Rubel 
an.  Schauspieler  und  Musiker  waren  durchwegs  Russen,  Söhne 
von  Edelleuten,  Offizieren  und  Würdenträgem.  Der  Direktor 
hatte  aber  mit  ihnen  seine  Plage.  Sie  betranken  sich  alle 
Tage  bis  zur  Bewußtlosigkeit,  wollten  nicht  zu  den  Proben 
kommen,  machten  Skandale  und  wurden  dann  mit  der  Peitsche 
gestraft.  Kunst  klagte  über  ihre  Unreinlichkeit  und  weigerte 
sich,  ihnen  seine  Theaterkostüme  zu  leihen.  Schließlich  nahm 
die  Herrlichkeit  des  Direktors  Kunst  ein  jähes  Ende.  Er  kün- 
digte für  den  i.  April  1705  eine  Gala- Vorstellung  an,  und 
ganz  Moskau,  mit  dem  Zaren  an  der  Spitze,  strömte  herbei. 
Aber  als  nach  der  Ouvertüre  der  Vorhang  in  die  Höhe  ging, 
sahen  die  Zuschauer  nichts  als  eine  Tafel  mit  der  Aufschrift: 
„Heute  ist  der  erste  April  !**  Weder  der  Zar  noch  seine  Russen 
verstanden  den  Witz  und  warteten  geduldig;  Kunst  erschien 
endlich  und  erklärte,  daß  er  sich  einen  Aprilscherz  erlaubt 
hätte.  Der  Zar  sagte  zornig :  „Das  ist  eine  wirkliche  Komödian- 
tenfrechheit I**  und  Kunst  hatte  für  immer  ausgespielt;  er  ver- 
schwand aus  Moskau,  und  an  seine  Stelle  trat  ein  anderer 
deutscher  Direktor,  Otto  Fürst,  der  mit  einer  deutschen  Truppe 
nach  Moskau  gekonmien  war. 


-  —     414     — 

aber  er  braucht  sich  deswegen  keine  großen  Sorgen  zu  machen, 
denn  „die  Vornehmen  des  Hofes  beschenken  die  Schauspieler 
mit  manch  schönem  und  kaum  einmal  getragenem  Kleide." 
Auch  der  Italiener  Locatelli  verdient  ein  Vermögen  mit  leich- 
ter Mühe,  namentlich  da  er  die  Kxmst  durch  das  Handwerk 
unterstützt  und  in  die  Opemvorstellungen  Feuerwerk  einführt. 
Elisabeth  liebt  Musik  imd  Theater.  Noch  als  Prinzessin,  da 
ihre  Mittel  äußerst  beschränkte  waren,  hatte  sie  in  ihrem  Hof- 
staate neun  Musiker  imd  zwölf  Sänger  i),  unter  letzteren  Ra- 
sumowskij,  der  sich  zum  heimlich  angetrauten  Gatten  Elisabeths 
hinaufsang.  Als  Zarin  läßt  Elisabeth  die  weiblichen  Rollen  zu- 
nächst noch  immer  durch  Kadetten  darstellen.  Ihrer  perversen 
Natur,  die  sie  treibt,  sich  bei  Maskeraden  in  Männerkleider 
zu  werfen,  um  ihre  schönen  Beine  zu  zeigen,  gefallen  Männer 
in  Frauenkleidem ;  den  hübschen  Kadetten  Sswistunow  kleidet 
sie  am  liebsten  selbst  an,  und  an  dem  Kadetten  Beketow  ent- 
deckt sie,  als  sie  ihn  ebenfalls  auskleidet,  um  ihn  umzukleiden, 
solche  Vorzüge,  daß  sie  ihn  von  seiner  Theatergaderobe  hin- 
weg direkt  in  ihr  Schlafzimmer  führt. 

Das  Interesse  für  das  russische  Nationaltheater  ist  unter- 
dessen fast  ganz  verloren  gegangen.  Das  russische  Volk  ergötzt 
sich  in  der  Butterwoche  wie  früher  bloß  an  den  rohen  Vor- 
stellungen geistlicher  Dramen  oder  an  Hanswurstiaden.  Für 
diese  Komödien  hat  man  nirgends  ein  bestimmtes  Gebäude.  Die 
Schauspieler  wandern  von  Platz  zu  Platz,  schlagen  für  einen 
Tag  hier,  für  einen  andern  dort  ihr  Heim  auf,  legen  eine  Matte 
auf  den  Boden,  dekorieren  die  Wände  mit  buntem  Papier,  und 
Bühne  und  Zuschauerraum  sind  fertig.  Zuweilen  mietet  die 
Gesellschaft  einen  Stall;  dann  hängt  man  abends  eine  Laterne 
vor  die  Tür,  und  der  Ton  eines  Waldhorns  verkündet,  daß 
hier  ein  Schauspiel  (Hrpnme)  stattfinden  soll.  Der  vornehmste 
Platz  kostet  vier  Kopeken.  Der  Inhalt  der  Stücke  ist  einfach 
blöd.  Man  führt  die  alten  Mysterien  auf,  aber  die  Zensur 
ist  eine  strenge  geworden.  Früher  kam  es  vor,  daß  in  dem 
Stücke,  welches  die  Verkündigung  Maria  feierte,  die  heilige 
Jungfrau  dem  Engel,  der  ihr  die  Geburt  Christi  prophezeite, 


1)  Waliszewski,  La  demiöre  des  Romanow,  39. 


--    415    — 

zornig  zurief :  „Hältst  du  mich  für  eine  Hure,  da  du  mir  vom 
Schwangerwerden  vorplauderst  ?  Packe  dich  fort  oder  ich  werde 
dich  wegfegen!**  Elisabeth,  die  fromme  und  keusche,  verbot 
derartige  Profanierungen  der  Gottesmutter  und  befahl,  daß 
man  die  Personifikation  der  heiligen  Jungfrau  durch  ein  Hei- 
ligenbild ersetzte;  jedesmal,  wenn  an  Maria  die  Reihe  kommt, 
zu  erscheinen,  bringt  man  ein  Ikon  auf  die  Bühne.i) 

Und  doch  dichteten  damals  schon  die  großen  russischen 
Dramatiker  Lomonossow  und  Ssumarokow.  In  Petersburg  ver- 
einigten sich  die  drei  Kadetten  Melessino,  Sswistunow  und 
Osterwald  sogar  zur  Darstellung  eines  Dramas  von  Ssumaro- 
kow. Die  Zarin  erfuhr  davon  und  räumte  den  drei  Jünglingen 
einen  Saal  ein,  worin  sie  Stücke  der  beiden  genannten  russi- 
schen Dichter  vor  geladenem  Publikum  aufführten.  Zur  selben 
Zeit,  1750,  wurde  in  Jaroßlawl  das  erste  öffentliche  russische 
Nationaltheater  von  dem  ersten  russischen  Schauspieler  Fedor 
Wolkow  begründet.*)  Wolkow  war  im  Hause  seines  reichen 
Stiefvaters  Poluschkin  europäisch  erzogen  und  von  einem  deut- 
schen Pastor,  dem  Prediger  des  nach  Jaroßlawl  verbannten 
Herzogs  Biron  von  Kurland,  mit  Liebe  zur  Schauspielkunst 
erfüllt  worden.  Er  studierte  in  Moskau  und  Petersburg,  be- 
suchte hier  eifrig  Theatervorstellungen,  befreundete  sich  mit 
deutschen  und  italienischen  Künstlern  xmd  machte  sich  mit 
dem  theatralischen  Mechanismus  bekannt ;  dann  kehrte  er  nach 
Jaroßlawl  zurück,  organisierte  hier  aus  Freunden  eine  Truppe, 


1)  F.  W.  Barthold,  Ausgang  des  Joanschen  Zweiges  der  Romanow  und 
seiner  Freunde.     Raumers  bist.  Taschenbuch  VIII,  S.  70. 

S)  Gelegentlich  der  150.  Jahreswende  dieses  Ereignisses  fanden  an  allen 
Theatern  Rußlands  große  Feierlichkeiten  statt,  und  dem  Andenken  Wolkows 
wurden  Bücher,  Festschriften  und  Festartikel  nicht  bloß  in  Rußland,  sondern 
auch  im  Ausland  gewidmet;  unter  letzeren  erwähne  ich  das  schöne  Feuilleton 
von  N.  Golant  (,,Der  Begründer  des  russischen  Theaters")  im  Literaturblatt 
der  Neuen  Freien  Presse  vom  12.  Juli  1900.  Seither  hat  man  die  Verdienste 
Wolkows  auf  Grund  neuerer  Forschungen  vielfach  herabgesetzt.  So  wider- 
legte namentlich  P.  Morosow  im  E;Kcr<>;uiiTix'i>  iiMin'paTopfKnxb  TeaipoirL  1 899/1900 
manche  der  Legenden,  die  sich  um  die  Erscheinung  des  ersten  russischen 
Schauspielers  gebildet  haben.  Es  ist  aber  das  Eine  jedenfalls  nicht  anzu- 
fechten, daß  Wolkow  der  Bahnbrecher  und  Pfadfinder  der  nationalrussischen 
Schauspielkunst  war.     Wolkow  starb  im  Alter  von  nur  34  Jahren. 


—     416     — 

erbaute  auf  eigene  Kosten  ein  Theater  und  eröffnete  es  am 
12.  Juli  1750  mit  dem  Drama  „Esther**  und  der  Schäferidylle 
„Emwon  und  Versa**,  zu  der  er  selbst  die  Musik  komponiert 
hatte.  Der  Erfolg  übertraf  alle  Erwartungen.  Man  sprach  in 
ganz  Rußland  von  dem  Ereignis,  und  Elisabeth  befahl,  „die 
Truppe  Wolkows  mit  aller  Eile  nach  Petersburg  zu  bringen.** 
Die  Zarin  war  von  der  ersten  Vorstellimg,  welche  die  Wol- 
kowsche  Truppe  an  ihrem  Hofe  gab,  entzückt  und  ordnete  die 
Gründung  eines  öffentlichen  russischen  Theaters  an.  i)  Wolkow 
wurde  zum  ersten  Hofschauspieler,  der  Dichter  Ssumarokow 
^um  Direktor  mit  einem  Gehalt  von  1000  Rubel  ernannt;  für 
die  Schauspielergagen  waren  5000  Rubel  jährlich  angewiesen 
worden. 

Katharina  II.  erklärte:  „Das  Theater  ist  die  Schule  der 
Nation ;  sie  muß  absolut  unter  meiner  Aufsicht  stehen,  ich  bin 
der  erste  Lehrer  dieser  Schule,  denn  meine  erhabenste  Pflicht 
ist  vor  Gott  für  die  Sitten  meines  Volkes  verantwortüch  zu  sein.** 
Diese  Verantwortlichkeit  hat  die  große  Zarin  wirklich  in  merk- 
würdiger Weise  erfüllt,  der  liebe  Gott  hat  wenig  Freude  an  ihr 
erlebt.  Als  erster  Lehrer  der  theatralischen  Nationalschule 
verlieh  Katharina  zunächst  dem  Meister  Wolkow  den  Andreas- 
orden und  den  Adel;  gleichzeitig  trug  sie  ihm,  nicht  mehr 
und  nicht  weniger,  einen  Ministerposten  an!  Wolkow  wollte 
aber  nichts  als  Schauspieler  sein,  und  bekümmerte  sich  bloß 
lun  die  Vorbereitung  der  Festvorstellungen  an  den  bevor- 
stehenden Krönungsfeierlichkeiten.  Mitten  in  dieser  Tätigkeit 
ereilte  ihn  der  frühe  Tod.  Seine  Lebensarbeit  war  aber  trotz 
ihrer  kurzen  Dauer  keine  verlorene  gewesen,  das  russische 
Theater  war  erschaffen  und  blieb  bestehen.  Katharina  selbst 
schrieb  —  zumeist  mit  der  Feder  ihres  Sekretärs  Derschawin  — 
eine  ganze  Reihe  von  Theaterstücken^),   die  sowohl  auf  der 


1)  Das  historische  Dokument  ist  abgedruckt  im  ApxHBrb  imnepaTopcKBrB 
TearpoHb,  'arjj^jrb  II:  ÄOKVMeHTH,  crp.  54,  Jß  55  (0(rt  yHpe3^y^eHiH  PyccKaro  Tearpa). 

8)  Die  verschiedenen  Ausgaben  der  Theaterstücke  Katharinas  findet  man 
verzeichnet  bei  B.  von  Bilbassofi,  Katharina  II.  im  Urteile  der  Weltliteratur, 
autorisierte  Übers,  aus  dem  Russischen,  mit  einem  Vorwort  von  Dr.  Theodor 
Schiemann,  Berlin  1897  (2  Bände).  —  Man  vergl.  femer  Th6dtre  de  l'Her- 
mitage  de  Catherine  II,  imp6ratrice  de  Russie,  compos6  par  cette  princesse. 


—     417     — 

öffentlichen  Bühne  als  auf  der  kaiserlichen  Privatbühne,  dem 
Th^atre  de  TH^nnitage,  wie  die  Kaiserin  ihr  intimes  Bühnen- 
haus nannte,  zur  Aufführung  kamen.  Im  Ermitage-Theater 
spielten  gewöhnlich  Dilettanten,  intime  Freunde  der  Kaiserin, 
ihre  Gelegenheitsmacher,  Günstlinge  und  Freundinnen.  Unter 
letzteren  war  die  Gräfin  Bruce  besonders  beliebt;  aber  eines 
Tages  entdeckte  Katharina,  daß  ihr  Liebhaber  Korsakow  seine 
Gunst  heimlich  der  schönen  Gräfin  zugewendet  hatte,  und 
die  Bruce  mußte  sofort  aus  Petersburg  verschwinden.  Auch 
sonst  spielten  sich  bei  diesen  intimen  Vorstellungen  pikante 
Szenen  im  allerhöchsten  Zuschauerräume  ab.  Baron  de  Bre- 
teuil  erzählte,  wie  er  einst  an  der  Seite  der  Zarin  der  Auf- 
führung einer  Tragödie  beiwohnte,  in  welcher  Gregor  Orlow, 
der  Günstling  Katharinas  auftrat.  Er  spielt  seine  Rolle  linkisch, 
aber  Katharina  schreit  immerfort  Bravo!  und  fragt  ununter- 
brochen rechts  und  Unks  um  die  Ansichten  der  Zuschauer.  Sie 
selbst  findet  ihn  entzückend,  lobt  seine  Noblesse,  preist  seine 
Schönheit.  1)  Sobald  aber  ihre  Person  aus  dem  Spiele  kommt, 
hat  diese  große  Sittenlehrerin  kein  Interesse  mehr  für  ihre 
Schule,  das  Theater.  Um  Europa  zu  blenden,  wirft  sie  Millionen 
hinaus  für  das  Engagement  von  Sternen;  sie  beruft  Madame 
Toldi,  bewilligt  jede  Summe,  welche  die  Künstlerin  verlangt, 
aber  muß  sich  nachher  erst  darüber  informieren  lassen,  wer 
die  Toldi  eigentUch  sei,  und  was  sie  leiste.  Musik  liebt  die 
Kaiserin  nicht,  die  Komödie  langweilt  sie,  die  Tragödie  miß- 
fällt ihr  —  und  so  zieht  sie  sich  endlich,  nachdem  sie  genug 
getan  hat,  um  Europas  Staunen  ob  ihres  Kunstverständnisses 
zu  erwecken,  mit  den  alten  Herren  an  den  Kartentisch  oder 
mit  den  jungen  Günstlingen  in  ihren  Alkoven  zurück. 

Dem  gemeinen  Volke  waren  die  Hoftheater  nicht  zugäng- 
lich. Auf  Befehl  der  Regierung  wurde  auf  einem  Platze  an 
der  Mojka  eine  offene  Bühne  für  den  Petersburger  Plebs  er- 


par  plusieurs  personnages  de  sa  soci6t6  intime  et  par  quelques  ministres 
6trangers  (publ.  par  F.  Castöra).  2  vols.  Paris  1799.  Enthalt  die  Stücke,  die 
1787  und  1788  auf  Katharinas  intimer  Bühne  von  französischen  Schauspielern 
aufgeführt  wurden. 

1)  Wiüisxewski,  Autour  d'un  tröne,  page  8a  —  Derselbe,  Le  Roman 
d'une  imp6ratrice>  227,  441. 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  RuAland.  37 


—     418    — 

richtet,  wo  eine  von  der  Polizei  dirigierte  und  besoldete  Truppe 
die  Moral  durch  die  Kunst  lehrte!  Die  Schauspieler  erhielten 
für  jede  Vorstellung  sofort  ihr  Honorar  —  fünfzig  Kopeken 
per  Person  —  vom  Vertreter  des  Polizeichefs  ausbezahlt. 

Dies  waren  die  Anfänge  des  russischen  Theaters,  das  be- 
rufen gewesen  wäre,  in  der  Geschichte  der  SittUchkeit  einer  der 
wichtigsten  Faktoren  zu  sein,  das  aber  seine  hohe  moralische 
Aufgabe  nicht  erfüllt  hat.  Wieviel  Gutes  hätte  es  gerade  für 
die  Veredlimg  der  Sitten  in  Rußland  leisten  können  I  Trotz  der 
allgemeinen  Knechtung  des  Gedankens  und  des  Wortes  hat 
die  Bühne  sich  einer  merkwürdigen  Freiheit  erfreut.  Auf  jedem 
anderen  Gebiete  der  Literatur  war  die  Wahrheit  Verbrechen, 
aber  auf  der  Bühne  durfte  sie  sich  frei  und  kühn  aussprechen. 
Der  Publizist  Radischtschew  wird  von  Katharina  vor  Gericht 
geschleppt  und  nach  Sibirien  verbannt,  weil  er  in  seiner  „Reise 
von  Petersburg  nach  Moskau**  eine  ziemlich  harmlose  Kritik 
der  sozialen  Zustände  zu  veröffentlichen  gewagt  hat;  aber  die- 
selbe Zarin  überschüttet  den  Lustspieldichter  Von-Wisin,  der 
in  seinen  Stücken  erbarmungslos  den  Hof  und  die  Gesellschaft 
geißelt,  mit  einer  Überfülle  von  Ehren;  und  Patjomkin,  selbst 
durch  die  Satire  schwer  verwundet,  drückt  dem  Dichter  die 
Hand  und  sag^  ihm:  „Jetzt  stirb,  oder  dichte  nicht  mehr!** 
Ssumarokow,  der  erste  ernste  russische  Dramatiker,  darf  mit 
Stolz  den  Beinamen  eines  Beschützers  der  Wahrheit  und  Geiß- 
lers der  Laster  führen.  Über  Lomonossow  wird  die  Knuten- 
strafe wegen  Beleidigung  hoher  Beamten  verhängt,  aber  des 
Dichters  Verdienste  als  Dramatiker  erwirken  ihm  Begnadigung. 
Knjäschnin  und  Ssudowtschikow  dürfen  in  Dramen  das  Sportel- 
nehmen  und  die  Unehrlichkeit  des  Beamtentums  verspotten. 
Kaiser  Alexander  I.  sperrt  den  Menschenfreund  Karasin,  den 
Begründer  der  Universität  von  Charjkow,  in  das  furchtbare  Ver- 
ließ der  Schlüsselburger  Festung,  weil  dieser  Mann  es  gewagt 
hat,  dem  Zaren  in  einem  Buche  das  Elend  des  Reiches  zu 
zeigen;  doch  der  Dichter  Gribojedow,  der:  Wehe  dem  Ge- 
scheiten !  schrieb  und  in  diesem  Lustspiel  die  vornehmste  rus- 
sische Gesellschaft  so  furchtbar  an  den  Pranger  stellt,  daß  es 
anfänglich  nur  im  Geheimen  gegeben  werden  konnte,  wird 
von   demselben    Zaren   ausgezeichnet,    als   das   Stück   endlich 


—     419     — 

in  die  Öffentlichkeit  dringt  und  die  Verurteilung  der  knech- 
tischen und  faulen  Bureaukratie  jubelnden  Beifall  findet.  Niko- 
laj  I.  läßt  den  Satiriker  Ssaltykow-Schtschedrin  nach  Wjätka 
verbannen,  weil  er  das  verrottete  System  des  Tschin  ange- 
griffen ;  aber  wir  wissen  auch,  daß  derselbe  Nikolaj  dem  Dich- 
ter Gogolj  nicht  bloß  die  Aufführung  des  Lustspiels  „Der 
Revisor**  ermöglicht,  sondern  der  Premiere  dieses  Stückes,  das 
die  Willkür  und  Korruption  der  Tschinowniki  bloßstellt,  mit 
seiner  Gegenwart  einen  besonderen  Glanz  verleiht.  Auch  unter 
Alexander  II.  darf  Ostrowskij  in  seinem  Lustspiel  „Eine  ein- 
trägliche Stelle**  ungestraft  die  heilige  Bureaukratie  angreifen. 

Die  russischen  Dramatiker  haben  aber  nicht  immer  der 
Freiheit  und  der  Gerechtigkeit  gedient,  sondern  häufig  genug 
auch  den  schlechten  Instinkten  geschmeichelt  und  namentlich 
der  Wollust  und  der  Grausamkeit  weiten  Spielraum  auf  der 
Bühne  verschafft.  Im  Herbst  1889  wurde  im  Abramowtheater 
zu  Moskau  ein  Stück  aufgeführt,  worin  eine  der  handelnden 
Personen  bestimmte  weibliche  Mitglieder  des  Zirkus  Sala- 
monskij  bezeichnete,  die  ihre  Gunst  willig  verschenkten.  Woh- 
nung und  Tarif  der  Damen  wurden  genau  angegeben.  Außer- 
dem empfahl  man  in  diesem  Stücke  Hurenhotels  und  Ver- 
gnügungslokale niedrigster  Sorte.  ^)  Pissemskij  zeigte  in  seiner 
Volkstragödie  „Bitteres  Los**,  wie  der  Bauer  Ananij  das  von 
seinem  Weibe  aus  einem  Liebesverhältnis  mit  dem  Gutsherrn 
geborene  Kind  in  einem  Anfall  eifersüchtiger  Raserei  an  einer 
Tischecke  zerschmettert.  Leon  Tolstoj  hat  in  der  „Macht  der 
Finsternis**  die  schauerlichsten  Tiefen  aufgewühlt,  wie  Maxim 
Gorkij  in  seinen  Szenen  „Das  Nachtasyl**.  Am  weitesten  in 
der  Brutalität  aber  gehen  jene  modernsten  Dramatiker,  die, 
von  der  Regierung  in  den  Dienst  der  Reaktion  gestellt,  in 
ihren  Stücken  zeigen  müssen,  wie  man  Juden  und  Fortschritts- 
männer erschlägt;  dies  geschieht  beispielsweise  in  dem  Stück 
„Die  Söhne  Israels**,  das  seit  1901  aufgeführt  wird  und  von 
allem  Anfang  an  zu  fanatischen  Demonstrationen  der  Liberalen 
wie  der  Reaktionären   Veranlassung  gab. 

Was  bedeutet  das  Theater  in  Rußland  für  die  Geschichte 


^)  HoBoe  BpeMfl,  30.  okt.  1889. 

27' 


—     420     — 

der  öffentlichen  Sittlichkeit  ?  Die  Herrscher  und  Herrscherinnen 
des  Zarenreiches  haben  es  nur  als  ein  AGttel  ihres  ^oistischen 
Vergnügens  betrachtet.  Die  Zarinnen  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts unterstützten  es,  weü  sie  im  Schauspielerpersonal  eine 
neue  Gattung  von  Liebhabern  fanden,  gleichwie  im  neunzehnten 
Jahrhundert  der  sittenstrenge  Nikolaj  I.  sich  seine  Maitressen 
vom  General  Gideonow,  dem  Chef  der  kaiserlichen  Theater, 
aus  dem  Ballettkorps  auswählen  ließ.  Nikolaj  IL,  der  ein  glück- 
liches Familienleben  führt,  stellt  an  das  Theater  keine  derartigen 
Ansprüche:  aber  da  es  mm  besteht,  so  werde  es  eine  Stätte 
der  Propaganda  für  die  zarische  Autokratie,  predige  es  die 
Ausrottung  der  Feinde  des  Selbstherrschers  durch  Mord  und 
Feuer. 

Ein  Nationalverg^ügen  im  guten  Sinn  des  Wortes  konnte 
das  Theater  schon  deshalb  nicht  werden,  weU  man  das  Volk 
von  ihm  fast  immer  femgehalten  hat.  Im  Hoftheater  Nikolajs  I. 
gab  es  weder  Balkone,  noch  Logen,  sondern  nur  ein  Parterre, 
einen  einzigen  Raum  für  die  Allervomehmsten,  für  die  Uni- 
formierten ;  Zivilisten  durften  nicht  erscheinen.  Die  sogenannten 
Volkstheater,  die  im  Laufe  der  zwei  Jahrhunderte  gegründet 
wurden,  hatten  keinen  Bestand,  weU  man  aus  ihnen  Schulen 
machte,  in  denen  nach  autokratischer  Lehre  mit  der  Peitsche 
des  Polizisten  unterrichtet  wurde.  Die  Zuschauer  schleppte 
man  durch  Kosaken  in  diese  Theater.  So  zog  es  der  ge- 
meine Russe  vor,  bei  seinem  Hanswurst  der  Butterwoche  zu 
beharren,  der  nüt  seinen  obszönen  Gesten  und  zynischen 
Reden  die  Sprache  spricht,  die  das  Volk  versteht,  die  dem 
Volke  gefällt  und  die  das  Volk  nicht  verlernen  wird,  so  lange 
die  Selbstherrschaft  dauert  und  das  Prinzip  der  Entsittlichung 
der  Massen  regiert.  Nikolaj  II.  eröffnete  vor  einigen  Jahren 
im  Alexanderpark  zu  Petersburg  wieder  einmal  ein  Volks- 
theater und  ließ  stolz  verkünden:  „Dies  soll  eine  Stätte  sein 
für  die  Entwickelung  der  Kultur,  ein  Geschenk  Rußlands  an 
das  zwanzigste  Jahrhundert.**  Die  Geschichte  aber  läßt  sich 
nicht  durch  Worte  verblüffen  und  urteilt  unbeugsam  nur  nach 
den  Ergebnissen. 


..I.  g- 


—     421     — 


24.  Rauchen  und  Tabakbuden. 

Tabak  ein  Höllenkraut  —  Legende  vom  Tabak  —  Bibelworte  gegen  das  Rauchen 
—  Todesstrafe,  Folter  und  Verstümmelung  für  Raucher  —  Über  die  Raucher- 
leiden in  der  Türkei  —  Peter  der  Große  Urheber'der  Rauchfreiheit  —  Monopole 
des  Marquis  Caermarthen  und  des  Grafen  Schuwalow  —  Rauchen  auf  den 
Straßen  —  Ukas  Nikolajs  I.  zugunsten  eines  Rauchers  —  Raßkoljniki  und  Geist- 
lichkeit gegen  das  Rauchen  —  Rauchen  ein  Nationalvergnügen  —  Nogaier  — 
Soldaten  —  Tabaksalons  —  Tabakbude  und  Bordell. 

Das  Rauchen  ist  dem  Russen  gleicherweise  Vergnügen  wie 
Lebensbedürfnis.  Merkwürdig  aber,  daß  just  in  Rußland  und 
in  der  Türkei,  also  in  jenen  Staaten,  die  gegenwärtig  als  die 
eigentlichen  Raucherländer  gelten,  der  Tabak  i)  im  Anfang 
verpönt  war  als  das  Kraut  der  Hölle.  Die  russische  Literatur 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  besitzt  sogar  eine  „Legende  vom 
Ursprung  des  Tabaks"  2)^  worin  alle  Schrecken  ausgemalt  sind, 
die  dem  Seelenheil  des  Tabakfreundes  drohen.  Besonders  die 
Mönche  verabscheuten  den  Tabak.  Ein  Abt  aus  einem  Kloster 
in  der  Ukraine  sagte  dem  preußischen  Legationssekretär  Vocke- 
rodt^):  „Gk)tt  habe  das  Tabakrauchen  ausdrücklich  verboten; 
es  heißt  in  der  Bibel :  Was  zum  Munde  hineingeht,  verunreinigt 
den  Menschen  nicht;  aber  was  zum  Munde  herausgeht,  ver- 
unreinigt den  Menschen.  Deshalb  sei  eher  Bier  oder  Brannt- 
wein erlaubt  als  Tabakrauchen.**  Zar  Michael  Feodorowitsch, 
der  erste  Romanow,  verbot  in  einem  Gesetze  „sowohl  den 
Russen  als  den  Ausländem,  Tabak  bei  sich  zu  haben,  Tabak 
zu  trinken  oder  damit  zu  handeln.**  Käufer  und  Verkäufer 
sollten   festgenonmien   amd   sogleich   mit  dem   Tode  gestraft 

1)  Dr.  Gustav  Klemm  (Das  Feuer,  die  Nahrung,  Getränke,  Narkotica. 
Leipzig  1855,  S.  366)  meint,  daß'^die* Russen'][den  Tabak  durch  die  Engländer 
kennen  lernten.  Nach  England  aber  kam  Tabak  erst  um  1583,  während  nach 
Olearius,  Orient.  Reise  S.  126,  schon  im  Jahre  1542  der  Tabak  in  Rußland 
verboten  wurde.  Es  wird  daher  angenommen,  daß  die  Russen  wie  den  Tee 
auch  den  Tabak  aus  China  erhielten.  Vgl.  Nicotiana,  oder:  Taschenbuch  ffir 
Tabakliebhaber,  Berlin  1801,  S.  35  und  44. 

s)  VgL  A.  V.  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  S.  240. 

S)  Bei  Herrmann,  Zeitgenöss.  Berichte,  S.  15,  Abschnitt  22.  ' 


—     422     — 

werden;  ihre  Häuser  und  Güter  verfielen  der  Konfiskation, 
das  einfließende  Geld  erhielt  die  zarische  Kasse.  Zar  Alexej 
Michajlowitsch  der  Aufgeklärte  i)  bestätigte  nicht  bloß  das  Ge- 
setz des  Vaters,  sondern  verschärfte  es  noch  durch  die  An- 
ordnimg, daß  der  Todesstrafe  die  Folterung  vorausgehen  sollte. 
Wenn  jemand  beteuerte,  daß  er  den  Tabak  nicht  gekauft,  son- 
dern zufällig  auf  der  Straße  gefunden,  so  wurde  er  auf  die 
Folter  gespannt ;  bestand  er  in  der  Folter  bei  seinen  Angaben, 
so  nahm  man  diese  als  wahr  an.  War  der  Beschuldigte  ein 
Bojar,  so  ließ  man  ihn  jetzt  frei;  „ein  Streljze,  ein  Ausländer, 
ein  Herrenknecht,  ein  Bauer  oder  ein  Spaziergänger**  aber 
wurden,  bevor  man  sie  freiließ,  „über  dem  Bock  nüt  der 
Knute"  geschlagen.  Wenn  ein  Streljze  zum  zweiten  Male  im 
Besitze  von  Tabak  gefimden  wurde,  so  folterte  man  ihn  — 
falls  er  angab,  den  Tabak  wieder  nur  gefunden  zu  haben  — 
diesmal  wiederholt,  tun  die  Wahrheit  zu  erfahren.  Bestand  er 
auf  seinen  Angaben,  so  ließ  man  ihm  das  Leben,  verbannte 
ihn  jedoch  in  ferne  Provinzen  oder  nach  Sibirien  imd  gab  ihm 
einen  Denkzettel,  indem  man  ihm  die  Nase  abschnitt  oder 
wenigstens  die  Nasenlöcher  aufschlitzte^). 

Peter  der  Große,  der  seine  Russen  rasierte  und  nach  euro- 
päischer Art  kleidete,  steckte  ihnen  auch  die  Tabakspfeife  in 
den  Mund.  Schon  vor  seiner  Reise  ins  Ausland,  im  Jahre 
1697,  hob  er  das  Verbot  des  Tabakrauchens  auf.  In  England 
schloß  er  mit  dem  Marquis  von  Caermarthen  einen  Vertrag 
betreffe  eines  Tabakshandelmonopols  für  Rußland.  Er  selbst 
raucht  und  schnupft;  bei  den  Assembleen  müssen  auf  allen 
Tischen  Tabaksäckchen  und  Pfeifen  aufliegen  s),  und  die 
Russen,  in  neuen  eleganten  französischen  Kleidern  herum- 
sj)azierend,   dampfen   auf   zarischen   Befehl   aus  den   plumpen 


1)  Vgl.  die  §§  10 — 21  des  Kap.  XXV  in  Struvens  Allg.  Russ.  Land- Recht, 
Dantzig  1723,  S.  241  ff. 

*)  In  der  Türkei  waren  die  gleichen  Strafen  in  Gebrauch.  Dem  Raucher 
wurde  die  Nase  durchbohrt  und  der  also  bestrafte  Rauchlüstling  als  abschi'ecken* 
dte  Beispiel  2ur  Schau  herumgeführt.  Murad  IV.  ließ  1638,  zur  selben  Zeit 
wie  Zar  Michael,  die  Raucher  in  seinem  Heere  köpfen,  hängen,  vierteilen  und 
die  Leichen  solcher  Verbrecher  vor  die  Zelte  werfen. 

»)  Waliszewski»  Pierre  le  Grand,  pp.  60,  212,  458. 


—    428    — 

holländischen  Matrosenpfeifen.  Die  Anhänger  der  alten  Ge- 
bräuche sahen  in  der  Erlaubnis  des  Tabakrauchens  eine  Ent- 
heiligung des  Glaubens;  um  diese  Fanatiker  zu  ärgern,  ver- 
anstaltete Peter,  wie  bereits  in  einem  früheren  Kapitel  erzählt 
wurde  1),  eine  Maskerade,  bei  der  die  Teilnehmer  Päckchen 
brennenden  Tabaks  auf  den  Hüten  trugen,  während  der  After- 
papst Sotow  das  Volk  mit  einer  Tabakspfeife  wie  mit  einem 
Kreuze  segnete. 

Die  Russen  gewöhnten  sich  schnell  an  das  Höllenkraut, 
und  bald  wurde  im  ganzen  Lande  so  stark  geraucht,  daß  der 
Marquis  von  Caermarthen  ein  glänzendes  Geschäft  machte; 
er  allein  hatte  das  Recht  des  Tabakhandels  in  ganz  Rußland, 
die  Ukraine  und  Livland  ausgenommen,  und  wer  sein  Monopol 
verletzte,  verfiel  der  Knutenstrafe  2).  Zarin  Elisabeth  überließ 
ihrem  Günstling  Generalfeldmarschall  Grafen  Schuwalow  und 
dessen  Erben  im  Jahre  1759  die  Tabakpacht  für  zwanzig  Jahre 
gegen  eine  Summe  von  70000  Rubel.  Ein  Ukas  Katharinas  11. 
hob  1762  diesen  Vertrag  auf  und  gab  den  Tabakhandel  im 
ganzen  Reiche  frei  3).  Nur  das  alte  Verbot  des  Rauchens  auf 
den  Straßen  blieb  unverändert  bestehen.  Noch  unter  Nikolaj  I. 
wurden  Personen,  die  auf  der  Straße  mit  brennenden  Zigarren 
angetroffen  wur,den,  von  den  Polizisten  arretiert  und  auf  der 
Polizeiwachstube  mit  25  Stockschlägen  bestraft.  Ausländische 
Matrosen,  die  sich  mit  Unkenntnis  der  Gesetze  entschuldigen 
konnten,  zahlten  beim  ersten  Male  bloß  5  Rubel  Strafe.  Eine 
Ausnahme  ließ  Kaiser  Nikolaj  nur  für  den  Chefarzt  des  Ge- 
neralstabs der  Marine  gelten;  dieser  war  ein  so  leidenschaft- 
Ucher  Raucher,  daß  er  seine  Zigarre  fast  niemals  aus  dem 
Munde  nahm.  Der  Zar  gestattete  ihm  durch  einen  speziellen 
Ukas  das  Rauchen  auf  der  Straße*). 

1)  Vgl.  Seite  372. 

2)  Memoires  pour  servir  ä.  l'histoire  de  1' Empire  Russien  par  un  Ministre 
etranger,  ä,  la  Haye  1725,  p.  102. 

S)  Büschings  Magazin  für  die  neue  Historie  und  Geographie,  III  284.  -^ 
Man  vgl.  auch  den  Ukas  Katharinas  vom  1 1 .  Februar  1 763  über  die  Tabaks- 
plantagen in  Kleinrußland,  bei  Haigold,  Neuverändertes  Rußland,  II.  Bd., 
S.  IV  und  141 — 152. 

*)  Vgl.  FjMor  Wemirot,  Rußland  im  Licht  und  Rußland  im  Schatten. 
S.  416. 


—    424    — 

Die  Raßkoljniki  oder  Altgläubigen  sind  unerbittliche 
Gegner  des  Tabaks^).  Das  im  Eingang  dieses  Kapitels  er- 
wähnte Bibelwort  dient  ihnen  als  Beweis  dafür,  daß  das  Rauchen 
ein  Höllenwerk  sei  2).  Wenn  ein  Fremder,  der  bei  einem  Alt- 
gläubigen zu  Besuche  ist,  in  Unkenntnis  des  Absehens  der 
Raßkoljniki  vor  dem  Tabak  ahnungslos  seine  Zigarette  raucht, 
so  sagt  ihm  der  Wirt  kein  Wort.  Aber  kaum  ist  der  Gast 
fort,  so  beginnt  die  Reparierung  des  Verbrechens.  Alle  Fenster 
werden  geöffnet,  Türen  und  Tische  gewaschen  und  gescheuert, 
das  ganze  Haus  gereinigt  imd  vor  allem  die  Plätze,  auf  denen 
der  Fremde  gesessen,  einer  gründlichen  Säuberimg  unter- 
zogen 5). 

Gleich  den  Russen  sind  auch  die  nichtrussischen  Völker 
in  Rußland,  namentlich  die  im  Süden  lebenden,  leidenschaft- 
liche Raucher;  der  Nogaier  beispielsweise  könnte  alles  ent- 
behren, nur  den  Tabak  nicht*).  Für  die  Soldaten  ist  die  Zi- 
garette der  Inbegriff  des  Süßesten  und  Kostbarsten.  Ich  er- 
innere mich,  daß  wir  als  Knaben  den  in  den  türkischen  Krieg 
ziehenden  Soldaten  alle  möglichen  Geschenke,  Eßwaren  und 
Wertsachen  brachten;  sie  wiesen  alles  zurück  und  baten  nur 
um  Tabak  xmd  Papiroß^).  Die  Tabakbude,  Ta6aHHaa  jiaBKa, 
ist  für  den  echten  Russen  ein  Ort  der  Unterhaltung,  eine  Art 
Kaffeehaus,  wo  er,  namentlich  in  den  großen,  fast  durchwegs 
von  krymschen  Juden,  den  Karaiten,  gehaltenen  Geschäften, 


1)  Ähnlich  sind  auch  die  Wahabiten,  die  man  die  Altgläubigen  unter  den 
moslemischen  Sekten  nennen  kann.  Gegner  des  Tabakrauchens. 

*)  Einst  sagte  ein  Pfarrer  in  Basel:  ,,Wenn  ich  Männer  sehe,  die  Tabak 
rauchen,  so  ist  mir  als  sähe  ich  lauter  Kamine  der  Hölle".  Der  Glaubensprediger 
Scriver  schrieb  in  seinem  ,, Seelenschatze"  (17.  Jahrhundert):  ,, Damit  man 
immer  mehr  saufen  könne,  macht  man  den  Hals  zur  Feuermauer  und  zündet 
dem  Teufel  ein  Rauch  werk  an".  Kanzler  Jäger  (in  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts)  rief  von  der  Kanzel  herab:  ..Sie  saufen,  fressen,  huren,  buben, 
ja  sie  rauchen  sogar  Tabak".  Der  Klerus  ist  überall  derselbe.  Bei  den  Indianern 
aber  ist  das  Rauchen  eine  religiöse  Handlung.  Vgl.  V.  Strebel,  Die  Rauchhexe, 
Stuttgart  1857,  S.  40,  71. 

*)  Sammlung  merkwürdiger  Anekdoten  das  Russische  Reich  betreffend. 
Greif swald   1793,  S.  33. 

**)  Haxthausen,  Studien  über  die  inneren  Zustände  Rußlands,  II  371. 

*)   Ilaniipori,.    das  russische  Wort  für  Zigarette. 


Prostituierte  in  einem  Bad  in  Batutn. 


■•» 


—     426    — 

jeden  nur  erdenklichen  Luxus  antrifft.  Da  gibt  es  prächtige 
Hallen  mit  Diwanen;  Zeitungen  liegen  auf;  und  ist  man  stän- 
dige Kundschaft,  so  erhält  man  auch  sein  Glas  Tschaj.  Man 
kann  an  Ort  und  Stelle  die  besten  Rauchsorten  erproben,  er- 
zählt währenddem  Geschichten,  hört  auch  einem  von  Tabak- 
bude zu  Tabakbude  wandernden  Sskwernoßlow  ^)  zu.  Diese 
Tabatschnije  Lawki  sind  außerordentlich  sauber  gehalten 
und  die  Waren  appetithch  aufgestapelt,  wie  in  einem  Delika- 
tessengeschäft 2).  Im  Süden  Rußlands,  beispielsweise  Odessa, 
sind  die  kleineren  Tabakbuden  aber  auch  Stätten  der  Prosti- 
tution. Hier  steht  am  Verkaufstische  statt  eines  Mannes  stets 
eine  Frau,  die  dem  Käufer  durch  einige  Worte  zu  verstehen 
gibt,  sie  müsse  selbst  bedienen,  weil  sie  frische  Mädchen  be- 
kommen habe,  die  das  GescTiäft  noch  nicht  verstehen.  „Frische 
Mädchen,  hübsche  Mädchen,**  fügt  sie  hinzu,  und  öffnet  die 
Tür  eines  Nebenzimmers,  worin  man  zwei  oder  drei  halbnackte 
oder  auch  völlig  nackte  Frauenzirmner  erblickt.  Der  Tarif 
beträgt  für  Fremde  einen  Rubel,  für  Einheimische  oder  Be- 
karmte  die  Hälfte.  In  manchen  Straßen  Odessas  reiht  sich 
eine  derartige  Tabakbude  an  die  andere,  und  der  Fremde,  der 
den  eigentlichen  Zweck  der  Geschäfte  nicht  kennt,  staunt  nicht 
wenig  ob  der  scheinbar  unvernünftigen  Häufigkeit  und  un- 
sinnigen Konkurrenz:  er  erhält  aber  einen  geradezu  imponie- 
renden Eindruck  von  der  russischen  Rauchwut,  beobachtet 
er  dann  gar  die  lebhafte  Frequenz  dieser  Tabakbuden,  die 
trotz  des  großen  Wetteifers  glänzend  nebeneinander  bestehen. 


^)  CKB(^pnofJii>KT>.  Zotenreißer. 

^)  Vgl.  J.  G.   Kohl,  Südrußland.   II  85. 


—     426     — 


25-  Bäder. 


Vorgänger  des  nissischen  Schwitzbades  —  Das  Bad  der  Sk)rthen  —  Das  finnische 
Dampfbad  —  Russisches  Schwitzbad  —  Flagellation  im  Bade  —  Das  Badblatt 
im  Sprichwort  —  Arten  des  Badens  —  Nacktheit  —  Bad  als  Heilmittel  — 
Der  heilige  Andreas  über  die  Bader  von  Nowgorod  —  Gemeinsames  Baden  von 
Männern  und  Weibern  —  Klagen  des  Stoglaw  —  Bericht  Fletchers  —  Olearius 
über  die  Schamlosigkeit  der  Russinnen  —  Abb6  Chappe  d'Auteroche  und 
Katharina  II.  —  Katharina  verbietet  das  gemeinsame  Baden  —  Maler  und 
Ärzte  haben  freien  Zutritt  zum  Frauenbad  —  Weitere  Berichte  —  Major  Masson 

—  Erlebnisse  eines  deutschen  Offiziers  —  Erzählung  des  Grafen  de  la  Garde 

—  Trennung  der  Geschlechter  in  den  stadtischen  Bädern  —  Unzucht  in  Bade- 
anstalten —  Frotteurinnen  im  Wannenbad  —  Päderastie  in  den  Bädern  von 
Tiflis  —  Anmerkung  über  Unzucht  in  abendländischen  Bädern  —  Bad  und 
Reinlichkeit  —  Der  Geruch  der  Russen  —  Bad  und  Aberglaube  —  Der  Samstag 

und  das  Baden  —  Coitus  und  Bäder. 

Das  berühmte  Schwitzbad  der  Russen  hat  berühmte  Vor- 
gänger. Herodot  erzählt,  daß  man  bei  den  Skythen  ein  Dampf- 
bad bereitete,  indem  man  Hanfsamen  auf  glühende  Steine 
warf.  Den  Hauptreiz  dieses  Bades  sucht  man  wohl  nicht  mit 
Unrecht  in  seiner  narkotischen  Wirkung  i).  Unter  den  nord- 
europäischen Völkern  besitzen  die  Finnen  die  ältesten  Dampf- 
bäder. Den  Finnen  ist  das  Badehaus  nicht  bloß  unentbehrlich, 
sondern  ein  wahres  Heiligtum.  Jeder,  selbst  der  Ärmste,  hat 
sein  eigenes,  wenn  auch  noch  so  kleines  Badehaus.  Hierher 
flüchtet  er  sich,  um  Heilung  zu  finden,  wenn  eine  Krankheit 
ihn  befällt;  dann  läßt  er  sich  massieren  und  schwitzt  tüchtig. 
Die  Schwangere  begibt  sich,  wenn  sie  ihre  schwere  Stunde 
kommen  fühlt,  ins  Badehaus,  um  hier  ihre  Niederkunft  abzu- 
warten. Das  finnische  Badehaus  ist  ein  aus  Balken  errichteter 
kleiner  viereckiger  Bau  nüt  einem  aus  Feldsteinen  zusammen- 
gefügten, großen  Ofen.  An  den  Wänden  entlang  läuft  oben 
eine  hängende  Galerie,  die  Schwitzbank.  Nur  zwei  oder  drei 
Luken  sind  dazu  bestimmt,  dem  Rauch  und  Dampf  Abzug  zu 

1)  Vgl.  Die  Geschichte  des  Badewesens  von  Dr.  Eduard  Bäumer,  Breslau 
1903,  S.  58 — 60:  Das  Badewesen  der  Finnen.  —  Bader  und  Badewesen  in 
Vergangenheit  und  Gegenwart.  Eine  kulturhistorische  Studie  von  Dr.  med. 
Julian  Marcuse.  Stuttgart  1903,  S.  86 — 89. 


—     427     — 

lassen;  sonst  hat  der  Raum  keine  Öffnungen.  Der  Dampf 
wird  dadurch  erzeugt,  daß  man  Wasser  eimerweise  auf  die 
heißen  Ofensteine  schüttet;  die  Temperatur  erreicht  die  Höhe 
von  70  bis  75  Grad  Celsius.  Man  badet  im  Sonmier  zur 
Erntezeit  gewöhnlich  jeden  Abend,  sonst  zwei-  oder  dreimal 
wöchentlich.  Männer,  Frauen  und  Kinder  sind  im  Baderaume 
in  buntem  Durcheinander  und  tummeln  sich  ungeniert  nackt 
herum,  peitschen  sich  selbst  oder  einander  mit  Birkenreisern 
und  übergießen  sich  mit  kaltem  Wasser.  Oft  läuft  man,  selbst 
im  Winter,  aus  dem  Badehaus  ins  Freie  und  stürzt  sich  in 
einen  Fluß  oder  wälzt  sich  nackt  im  Schnee. 

Die  Russen  haben  zweifellos  das  Dampfbad  von  den  Finnen 
übernommen.  In  den  russischen  Dörfern  wird  das  Schwitz- 
bad noch  heute  so  bereitet,  wie  es  bei  den  Finnen  Brauch  ist, 
indem  man  auf  den  glühenden  Ofen  kaltes  Wasser  schüttet. 
In  den  Städten  sind  die  Bäder  eleganter  und  räumlicher  und 
bestehen  aus  wenigstens  drei  Stuben:  einem  Auskleide-  und 
Ankleidezimmer,  einer  Kammer,  in  der  man  sich  auf  Bänke 
legt,  um  sich  von  dem  Banschtschik  (öaHmHicB)  einseifen  7u 
lassen,  und  aus  dem  eigentlichen  Schwitzraum,  wo  in  der 
Mitte  sich  ein  eingemauerter  Kessel  voll  siedenden  Wassers 
befindet,  während  in  einer  Ecke  Haufen  von  Birkenruten  liegen. 
Man  nimmt  einen  starken  Besen,  läßt  sich  tüchtig  flagellieren 
und  steigt  dann  die  Treppe  zur  Schwitzbank  hinauf,  auf  der 
man  ausgestreckt  so  lange  bleibt  als  man  es  aushalten  kann. 
Ehe  man  das  Schwitzbad  verläßt,  überschüttet  man  sich  tüchtig 
mit  kaltem  Wasser.  Dies  geschieht  nicht  bloß  der  Abkühlung 
wegen,  sondern  auch  um  die  Birkenblätter,  welche  sich  überall 
am  Körper  festsetzen,  wieder  wegzuspülen,  was  keine  leichte 
Arbeit  ist.  Daher  stammt  das  russische  Sprichwort  zur  Be- 
zeichnung eines  zudringlichen  Menschen:  „Er  ist  anhänglich 
wie  ein  Badblatt  am  After"  (üpHCTajrb  KaKB  6aHHHÄ  jihctb 
KB  jKOwh),  Ein  anderes  Sprichwort  warnt  daher:  „Badest 
du  viel,  so  sproßt  dir  die  Weide  im  After'*  (Bjjiemh  ^raoro 
KynaTBCfl  —  Bep6a  BTb  aconi  EHpocTerB).  Von  einem  ängst- 
lichen Menschen  heißt  es :  „Er  schriunpfte  zusammen,  wie  die 
Vorhaut  nach  dem  Bade**  (CMopmajica,  Kain>  aajiyna  nocn-fe 
6aHH.) 


•  ~.' 


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—     42«     — 

Vor  zwei  Jahrhunderten  beschrieb  ein  Diplomat  folgende 
vier  Arten  des  Badens,  die  damals  in  Petersburg  üblich  waren  i) : 

Man  setzt  sich  nackt  in  ein  Boot  und  rudert  rührig,  bis 
man  in  Schweiß  gerät,  dann  springt  man  in  den  Fluß  und 
schwimmt  umher,  hierauf  klettert  man  in  das  Boot  zurück  und 
trocknet  sich  mit  dem  Hemd  ab  oder  läßt  sich  von  der 
Sonne  trocknen.  •  Oder  man  badet  im  Flusse  und  begibt  sich 
dann  zu  einem  am  Ufer  angemachten  großen  Feuer,  bestreicht 
den  Körper  mit  öl  oder  Fett  und  geht,  als  wollte  man  sich 
rösten  lassen,  so  lange  nackt  um  das  Feuer  herum,  bis  die 
Haut  die  Fettigkeit  ganz  eingesogen  hat. 

Eine  dritte  Art  des  Badens  war  die  in  dem  finnischen 
Vorort  gebräuchliche.  Hier  waren  in  einem  großen  Holzbau 
am  Ufer  eines  Flüßchens  nebeneinander  dreißig  Bäder  errichtet. 
Beide  Geschlechter  badeten  zwar  getrennt,  aber  man  entkleidete 
sich  ungeniert  draußen  und  lief  nackt  hinein,  und  wenn  man 
drinnen  genug  geschwitzt  hatte,  kühlte  man  sich  durch  kaltes 
Wasser  ab,  lief  zurück  ins  Freie  und  trocknete  sich  an  der 
Sonne.  Oft  kamen  vierzig  oder  fünfzig  Männer  und  Frauen 
nackt  aus  ihren  Abteilungen  heraus,  liefen  ungeniert  hin  und 
her  und  lachten  die  Passanten  aus.  Diese  Bäder  in  der  fin- 
nischen Sloboda  gehörten  dem  Zaren ;  für  die  Benützung  zahlte 
jede  Person  einen  Kopeken.  Das  vierte  Bad,  das  unser  Ge- 
währsmann schildert,  ist  das  eigentliche  russische  Schwitzbad. 
„Nach  dem  Bad,**  heißt  es  zum  Schlüsse,  „werfen  sie  sich  in 
kaltes  Wasser  oder  itn  Winter  in  den  Schnee  und  vergraben 
sich  in  ihm  so  tief,  daß  nur  Nase  imd  Augen  frei  bleiben ;  und 
so  liegen  sie  oft  zwei  Stunden  lang.  Das  betrachten  sie  als 
ein   Universalmittel   in   den   verschiedensten  Krankheiten**. 

Vom  heiligen  Andreas  wird  berichtet,  daß  er  bei  seiner 
Ankunft  in  Nowgorod  dort  das  Schwitzbad  in  derselben  Art 
kennen  lernte,  in  der  es  noch  jetzt  gebräuchlich  ist  2).  Nach 
Rom  zurückgekehrt,  soll  der  Heilige  seinen  staunenden  Zu- 
hörern das  Schwitzbad  als  eine  der  Merkwürdigkeiten  des  rus- 


1)  Memoires  pour  servir  ä  Thistoire  de  1' Empire  russien  par  un  niinistre 
etranger,  ä  la  Haye  1725,  p.  39. 

2)  Chronique  de  Nestor  I  7. 


Russisches  Dampfbad. 


-      429     — 

sischen  Landes  geschildert  haben  i):  „Ich  besuchte  die  Bad- 
stuben. Sie  sind  aus  Holz  gebaut.  Die  Slawen  heizen  soviel 
als  möglich,  dann  werfen  sie  ihre  Kleider  ab  und  tauchen  sich 
in  Seifenwasser  ein.  Sie  haben  Ruten  und  flagellieren  sich 
stumm  bis  sie  schwitzen.  Darauf  tauchen  sie  in  kaltem  Wasser 
imter.  Diesen  Gebrauch  üben  sie  mehrmals  täglich.  Geschützt 
vor  der  Tyrannei  2),  quälen  die  Slawen  auf  diese  Weise  sich 
selbst  und  machen  aus  dem  Bad  statt  eines  Vergnügens  eine 
wahre  Strafe." 

Ob  nun  wirlUich  der  heilige  Andreas  selbst  diese  Worte 
gesprochen  hat  oder  nicht,  wahr  ist  diese  Schilderung  jeden- 
falls, und  sie  paßt  noch  für  heute  ganz  gut.  Nur  eines  ist 
in  dem  altert  Berichte  nicht  ausdrücklich  erwähnt :  Das  ge- 
meinsame Baden  beider  Geschlechter.  Es  ist  möglich,  daß 
diese  Sitte  erst  später  entstanden  ist,  denn  im  „Stoglaw**  Iwans 
des  Schrecklichen  wird  es  als  trauriges  Charakteristikum  ge- 
rade jener  Zeit  hingestellt,  daß  Männer  und  Frauen,  sogar 
Mönche  und  Nonnen  miteinander  baden  3).  Der  Engländer 
Giles  Fletcher*),  der  damals  Moskau  besuchte,  wundert  sich 
über  die  Leidenschaft  der  Russen  für  die  Schwitzbäder  und 
über  ihre  Unempfindlichkeit  gegen  Hitze  und  Kälte,  erwähnt 
aber  nur  nebenbei,  daß  sie  ganz  nackt  aus  der  Badstube  ins 
Freie  laufen  und  sich  ungeniert  herumtummeln.  Deutlicher 
ist  der  Reisende  Olearius:  „Die  Frauenspersonen  sind  sehr 
unverschämt  und  ausgelassen.  Es  ist  in  Rußland  nichts  Sel- 
tenes, daß  junge  Weiber,  wenn  sie  baden  wollen,  sich  unter 
freiem  Himmel  ausziehen  und  aus  dem  Bade  wieder  nackt 
herauslaufen.  Vierzig,  fünfzig  und  mehr  Frauen  und  Mäd- 
chen tanzen  und  springen  ohne  Scham  und  Ehrbarkeit,  so 
wie  Gott  sie  erschaffen  hat,  herum  und  scheuen  sich  auch  nicht 
vor  den  Fremden,  die  vorübergehen.**  Baron  Mayerberg  be- 
tont,  daß  die  Bäder  zwar  getrennte  Abteilungen  für  Männer 


1)  Ebenda,  II.  Anhang  76. 

2)  Nowgorod  war  eine  Republik.  Die  russische  Autokratie  beginnt  erst 
mit  der  Hegemonie  von  Moskau  und  erreicht  ihre  eigentliche  Gewalt  mit  der 
Romanowschen  caMOAepscaBCTBO  oder  Alleinherrschaft. 

»)  Vgl.  S.  143. 

^)  Karamsin,  deutsche  Ausgabe  IX  314.  französische  X  374. 


—     430     — 

und  für  Frauen  besitzen,  aber  er  fügt  hinzu,  daß  die  Frauen 
ganz  nackt  aus  ihrer  Abteilung  herauskommen  und  zur  Tür 
der  Männerabteilung  gehen  „und  schamlos  mit  ihren  männ- 
lichen Bekannten  sprechen;  wenn  ihr  Blut  durch  die  Flagel- 
lation  erhitzt  worden,  werfen  sie  sich  vor  den  Augen  der 
Männer  oder  zusanmien  mit  ihnen  in  kaltes  Wasser"  i). 

Trotz  der  Verdammung  durch  den  Stoglaw  Iwans  des 
Schrecklichen  blieb  diese  Sitte  durch  die  Jahrhunderte  fort- 
bestehen. Alle  Werke  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  die  Ruß- 
land schildern,  tun  des  gemeinsamen  Baden«  nicht  bloß,  son- 
dern auch  der  schamlosen  Nacktheit  der  Russen  und  Rus- 
sinnen außerhalb  der  Badeanstalt  Erwähnung.  Berühmt  wurden 
die  Mitteilungen  des  Franzosen  Chappe  d'Auteroche^)  dadurch, 
daß  Katharina  II.  sich  veranlaßt  sah,  sie  anzufechten.  Der 
Franzose  erzählt  fast  wörtlich  dasselbe,  was  Baron  Mayerberg 
um  ein  Jahrhundert  früher  berichtet  hatte:  „Die  Abteilung 
der  Männer  ist  von  jener  der  Frauen  durch  einen  Holzverschlag 
getrennt,  aber  Männer  und  Frauen  kommen  aus  ihren  Ab- 
teilungen nackt  heraus  und  unterhalten  sich,  werfen  sich  auch 
mitsammen  in  den  Schnee.  In  den  Volksbädern  ist  selbst 
das  Bad  gemeinsam  für  beide  Geschlechter.  In  den  Salzwerken 
von  Solikamskaja  sah  ich  nackte  Männer  an  die  Tür  des 
Frauenbades  kommen  und  mit  den  Weibern  sprechen."  Katha- 
rina II.  suchte  mit  großem  Eifer  und  noch  größerer  ermüdender 
Ausführlichkeit  die  Schilderung  des  Franzosen  als  freche  Lüge 
hinzustellen  3).  Aber  man  darf  nicht  einmal  von  Übertreibung 
sprechen.    Oder  man  müßte  die  anderen  hier  erwähnten  älteren 

1)  Mayerberg,  Voyage   i688,   150  (Neudruck  I   141). 

2)  Voyage  en  Sib^rie  fait  en  1761,  contenant  les  moeurs  et  les  usages  des 
Russes  et  l'^tat  actuel  de  cette  puissance,  Paris  1768,  I  16.  Unsere  schöne 
Illustration  ,,Les  Bains  publics  de  Russie"  von  Le  Prince  haben  wir  diesem 
seltenen  Buche  entnommen. 

3)  In  ihrer  satyrisch  sein  sollenden  Schrift:  L' Antidote,  ou  Examen  du 
mauvais  livre  superbement  imprim6,  intitul6  Voyage  en  Sib6rie  par  M.  l'abb^ 
Chappe  d'Auteroche,  1770.  Das  zweibändige  Buch  der  Kaiserin  ist  überaus 
selten.  Eine  englische  Übersetzung  mit  langem  Titel  (The  Antidote  etc.) 
erschien  London  1772.  Ein  unvollständiger  und  veränderter  Abdruck  des  fran- 
zösischen Originals  ist  Lausanne .  1 799  datiert. 


-      431     — 

Berichte,  die  russischen  inbegriffen,  allesamt  als  unglaubwürdig 
verwerfen  und  die  Erzählungen  der  neueren  Reisenden  als 
bloße  Plagiate  an  den  früheren  Behauptungen  hinstellen.  Es 
gibt  kaum  ein  Werk  über  Rußland,  das  nicht  als  charakte- 
ristisch das  gemeinsame  Baden  beider  Geschlechter  hervor- 
heben würde.    Ich  führe  noch  einige  Beispiele  an. 

Chantreau  erzählt  i):  „Das  ordinäre  Dampfbad  besteht  aus 
einer  einzigen  Stube  nüt  hermetisch  verschlossenen  Fenstern. 
Darin  waltet  eine  alte  Frau,  die  Wasser  auf  heiße  Steine 
schüttet,  um  Dampf  zu  erzeugen;  auch  seift  sie  die  Leute 
ein,  frottiert  sie  und  schlägt  sie  mit  Ruten.  Reiche  Leute  haben 
ihre  eigenen  Bäder.  Aus  dem  Bade  tritt  man  nackt  ins  Freie, 
stürzt  sich  in  den  Fluß  oder  in  den  Schnee;  auch  die  Frauen 
und  Mädchen  tun  dies,  ohne  deswegen  ängstlich  zu  sein,  daß 
man  sie  in  naturalibus  erblicke.** 

Major  Masson^)  sah  im  Juni  einen  Haufen  Weiber  nackt  an 
den  Ufern  eines  Flusses  herumlaufen,  ehe  sie  sich  zum  Baden 
entschlossen.  Überrascht  von  dieser  seltsamen  Ungeniertheit, 
blieb  er  stehen,  aber  seine  Aufmerksamkeit  führte  keine  Unter- 
brechung des  Spiels  herbei.  Eine  Alte  schwamm  mit  einem 
jungen  Manne  um  die  Wette  und  gewann.  Als  sie  aus  dem 
Wasser  gekommen  waren,  ergriff  die  Frau  den  Besiegten  am 
Barte  und  am  Penis  und  warf  ihn  ziu*  Strafe  für  seine  Nieder- 
lage unter  allgemeinem  Hohngelächter  wieder  ins  Wasser. 

Katharina  II.  befahl  durch  einen  Ukas  den  Besitzern  der 
öffentlichen  Badeanstalten  in  den  Städten,  für  beide  Ge- 
schlechter getrennte  Bäder  anzulegen;  „besonders  sollen  in 
jene,  welche  für  die  Frauen  bestimmt  sind,  keine  anderen 
Männer  hineingelassen  werden  als  die  zum  Dienste  durchaus 
erforderlich  sind,  und  außerdem  noch  Maler  und  Ärzte,  die 
ihre  Kunst  darin  studieren  wollen**.  Es  geschah  daraufhin,  daß 
sich  viele  den  Titel  eines  Arztes  oder  Malers  willkürlich  bei- 
legten,  um   die  Frauenbäder  besuchen  zu  dürfen.    In  Peters- 


1)  Voyage  philosophique,  politique  et  litt^raire  fait  en  Russie   1788  et 
1789.     Trad.  du  Hollandais.  Hambourg  1794,  I  296. 

2)  Geheitne  Nachrichten  über  Rußland,  II 174  und  199,  französische  Origi- 
nalausgabe II   131  und  149. 


—     432     — 

bürg  gibt  es  seitdem  nur  Bäder,  in  denen  die  Abteilungen  für 
Frauen  und  Männer  streng  voneinander  geschieden  sind.  Auf 
dem  Lande  ist  aber  das  gemeinsame  Baden  beider  Geschlechter 
noch  heute  üblich. 

Major  Masson  bemerkte,  daß  das  gemeinsame  Baden  in 
Rußland  nicht  von  Ausschweifimgen  begleitet  sei,  weil  man 
von  Kindheit  an  alles  sehe  imd  kennen  lerne.  Zu  anderer  An- 
sicht aber  gelangt  ein  deutscher  Off izier  in  seiner  Schilderung^) : 
„Als  ich  zum  ersten  Male  diese  öffentlichen  Bäder  gesehen, 
glaubte  ich  in  Amerika  imter  den  Wilden  zu  seyn.  Ich  sähe 
eine  Menge  Männer  und  Weiber,  Mädchen  und  Jünglinge, 
Kinder  imd  Greise  nackend  und  ohne  alle  Scham  für  meinen 
Augen  herumlaufen;  einige  wuschen  sich  im  Flusse;  andere 
schwammen ;  noch  andere  saßen  an  der  Anhöhe  des  Flusses 
und  wärmten  sich  in  der  Sonne.  Es  hatte  das  Ansehen,  als 
wenn  alle  diese  Leute  noch  im  Stande  der  Unschuld  lebten,  und 
durch  den  Anblick  verborgener  Schönheiten  zu  keinen  un- 
ordentlichen und  ausschweifenden  Begierden  gereizt  würden. 
Am  mehresten  wunderte  ich  mich  darüber,  daß  Alte  und  Junge 
von  beyden  Geschlechtem,  ohne  die  geringsten  Zeichen  der 
Scham,  untereinander  vermischt  waren,  und  daß  die  Mutter 
sich  den  unverschämten  Blicken  des  Sohnes  und  der  Vater 
den  neugierigen  Augen  seiner  Tochter  darstelleten.  Der  An- 
blick war  neu  für  mich,  und  mein  Freund,  mit  dem  ich  einen 
Spaziergang  gethan,  und  der  meine  Furchtsamkeit,  mich  diesem 
Orte  zu  nähern,  merkte,  führte  mich  bis  an  die  Badstuben  selbst : 
Ich  glaubte  hier  unseren  Erzvater  Adam  mit  seiner  ersten 
Familie  zu  sehen.  Ich  habe  gefunden,"  schließt  der  Bericht, 
„daß  diese  unverschämte  Entblösung  vor  den  Augen  der  ganzen 
Welt  die  Ursache  ist,  daß  sie  schon  von  Jugend  auf  eine 
Gewohnheit  erhalten,  sich  ihren  viehischen  Begierden  unein- 
geschränkt zu  überlassen.** 

Der  Verfasser  der  „Geheimnisse  von  Rußland**  sagt  ge- 
radezu, daß  in  den  Bädern  auf  dem  Lande  die  gemeinsam  Ba- 
denden Handlungen  der  Wollust  begehen.    Man  läßt  sich  die 


1)  Rußische  Anecdoten  oder  Briefe  eines  teutschen  OificierB  an  einen 
Liefländischen  Edelmann.     Wansbeck  1765,  S.  95. 


—     433     — 

Haut  mit  den  Fingernägeln  kratzen,  um  die  Sinnlichkeit  noch 
mehr  zu  reizen  i). 

Endlich  finden  wir  im  Tagebuche  des  Grafen  de  la  Garde  ^'j 
folgende  Mitteilung  über  ein  Erlebnis  in  Wassilkow,  auf  dem 
Wege  von  Kijew  nach  Berditschew :  „Junge  Burschen  und 
Mädchen  baden  sich  gemeinschaftlich  in  einem  großen  See, 
nahe  bei  der  Stadt;  sie  schwimmen  um  die  Wette,  tauchen 
unter  und  jagen  sich  einander,  ohne  eine  andere  Hülle,  als 
die  der  durchsichtigen  Wogen.  Das  mag  hie  und  da  Folgen 
haben,  welche  eins  oder  das  andere  dieser  schönen  Kinder 
verhindern  könnten,  als  Rosenmädchen  von  Salency  gekrönt 
zu  werden;  oder  welche  sie  des  rothen,  wollenen  Bandes  be- 
rauben, das  die  Jungfrauen  hier  zu  Lande  bis  zum  Hochzeits- 
tage im  Haare  tragen;  allein  die  Gewohnheit  macht  Alles, 
und  der  Mißbrauch  ist  hier  wahrscheinlich  selten/' 

Gegenwärtig  ist  man  strenger  in  Keuschheitsfragen  und 
in  der  Auffassung  des  Schamgefühls.  Das  gemeinsame  Baden 
beider  Geschlechter  ist  in  keiner  russischen  Stadt  mehr  ge- 
stattet. Im  Seebad  Dubbeln  am  jrigaschen  Meerbusen  existierte 
eine  Zeitlang  die  Erlaubnis  für  ein  gemeinsames  Baden  in  Ko- 
stümen; aber  diese  Einführung  fand  keinen  Anklang.  Der 
Tag  blieb  daher  in  bestimmte  Stunden  für  das  Baden  der 
Männer  und  Frauen  eingeteilt.  Polizisten  wachen  auf  den 
Sandhügeln  am  Strande  darüber,  daß  sich  Männer  und  Frauen 
nicht  einmal  in  Sehweite  in  jenen  Stunden  nähern,  die  dem 
anderen  Geschlecht  eingeräumt  sind.  In  den  städtischen  Dampf- 
bädern existiert  zwischen  den  Abteilungen  des  Männerbades 
und  des  Frauenbades  keine  Kommunikation  mehr,  wie  sie  in 
alten  Zeiten  bestanden  hat  und  auf  dem  Lande  zumeist  noch 
besteht.  Dagegen  ist  es  erlaubt,  daß  Mann  und  Frau  gemein- 
sam ein  Kabinett  mit  Wannenbad  mieten,  wo  sie  unter  sich 
bleiben  können,  ohne  das  Schamgefühl  anderer  zu  verletzen. 
In  Polen,  Südrußland,  Odessa  und  Kaukasien  ist  es  Sitte,  daß 
der  Badewirt  einem  männlichen  Gaste  unaufgefordert  ins  Bade- 


1)  Geheimnisse  von  Rußland,  I  250.  —  Clarke,  Travels  in  Russia,  Tartary 
and  Turkey,  Hartford  181 7,  I  185. 

>)  Reise  von  Moskau  nach  Wien,  Heidelberg  1825,  16.  Brief,  S.  35. 
Stern.  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Ruftland.  2g 


—     434     — 

kabinett  mehrere  Mädchen  bringt,  von  denen  man  sich  eine 
als  Frotteurin  auswählen  kann.  Hierfür  ist  ein  besonderer  Preis 
zu  entrichten,  der  ausgehandeh  werden  muß.  Je  nach  dem 
Aussehen  des  Gastes  verlangt  der  Wirt  fünfzig  Kopeken  bis 
fünfzehn  Rubel.  Betreffs  des  Bades  selbst  kann  man  ebenfalls 
handeln.  Werden  drei  Rubel  gefordert,  so  ist  es  wahrschein- 
lich, daß  man  bei  einiger  Energie  nur  40  Kopeken  zu  zahlen 
haben  wird.  In  den  Bädern  von  Batum  und  Tiflis  werden 
den  Besuchern  auch  Knaben  als  Werkzeuge  der  Päderastie 
angeboten.  1) 

Das  Bad  ist  dem  Russen  nicht  Reinigungsbedürfnis  in 
erster  Linie,  sondern  Vergnügen.  Wäre  es  anders,  so  hätte  der 
Franzose  Veuillot  nicht  vor  etwa  fünfzig  Jahren  den  Satz 
aufstellen  dürfen,  daß  die  Moskowiter  Aussicht  haben  die 
Weltherrschaft  zu  erringen,  weil  die  Herrschaft  über  die  Welt 
den  schmutzigen  Völkern  gehöre:  „Gott  hat  die  menschlichen 
Körper  aus  Schmutz  gebildet,  und  sie  befinden  sich  am  wohl- 
sten  in  inniger  Berührung  mit  ihren  IJrstoffen;  die  Reinlich- 

1)  Der  sittenverderbende  Einfluß  des  Badelebens  war  auch  im  Abendlande 
nicht  selten  zu  verspüren.  Es  bedurfte,  wie  Marcuse  (a.  a.  O.  64)  sagt,  nicht  erst 
des  äußeren  Umstandes,  daß  die  Kreuzfahrer,  nachdem  sie  im  Orient  die 
Üppigkeit  der  morgenländischen  Bäder  kennen  gelernt  hatten,  diese  Ausschwei- 
fungen in  die  Heimat  übertrugen ;  schon  in  dem  Charakter  der  abendländischen 
Badestuben,  in  der  totalen  Mischung  der  Geschlechter  lag  genügend  Unter- 
grund für  Sittenlosigkeit.  In  Frankreich  waren  die  Bäder  lange  Zeit  Rendez- 
vousplätze der  Galanterie  und  Ausschweifung.  Der  König  St.  Louis  mußte 
dagegen  Maßregeln  ergreifen,  obgleich  der  physische  Geschlechtsgenuß  damals 
nicht  so  geheim  gehalten  wurde.  ,, Meine  Damen",  fragte  der  Prediger  Maillard 
seine  Zuhörerinnen  einmal,  ,, gehen  Sie  denn  nicht  in  die  Badstuben  nur  um 
dort  das  zu  tun  —  Sie  wissen  schon,  was  ich  meine?"  Von  den  Germanen 
erzählt  Cäsar:  ,,Und  doch  macht  man  aus  der  Geschlechts  Verschiedenheit  kein 
Geheimnis,  denn  beide  Geschlechter  baden  sich  gemeinschaftlich  in  Flüssen." 
Im  ganzen  Mittelalter  herrschte  in  Deutschland  die  Sitte  des  gemeinsamen 
Badens  von  Männern  und  Frauen.  Eine  Synode  im  Jahre  745  ordnete  an, 
daß  die  Männer  nicht  mit  den  Frauen  vereint  baden  sollten,  der  Kirche  galt 
dies  als  eine  Sünde.  Aber  trotzdem  blieb  die  Sitte  bis  in  die  Neuzeit  bestehen. 
In  Basel  badete  man  gemeinschaftlich  bis  1431.  Die  Bedienung  im  Badehause 
besorgten  bis  zum  16.  Jahrhundert  in  beiden  Abteilungen  Frauen.  Die  An- 
gehörigen der  unteren  Volksklassen  entkleideten  sich  zu  Hause  fast  völlig  und 
verfügten  sich  dann  über  die  Gasse  nach  der  Badestube.  Guarinonius  klagt 
zu  Beginn  des  17.  Jahrhunderts,  daß  nicht  bloß  ,, Mannes-  und  Weibspersonen 


—     435     — 

keit  aber  erschlafft  und  tötet.  Die  Moskowiter  schmeicheln 
sich,  die  Weltherrschaft  zu  erringen,  und  ich  wäre  keineswegs 
erstaunt,  wenn  es  ihnen  gelänge.  Ihr  Triumph  hängt  nicht 
von  ihren  Fortschritten  in  der  Zivihsation  ab,  sondern  von  der 
Kraft  und  Dauer  ihrer  Vorliebe  für  den  Kerzentalg.  Die 
Männer,  die  Bart  und  Haupthaar  mit  Unschlitt  und  ranzigem 
Öl  salben,  das  sind  die  großen  Überwinder  der  Welt.**i)  Alle 
älteren  Reisenden  erzählen  von  der  beängstigenden  Unreinlich- 
keit  der  Russen,  und  von  dem  dadurch  entstandenen  spezifisch 
russischen  Geruch.  Auch  moderne  Schriftsteller  haben  viel- 
fach diesem  russischen  Geruch  Bemerkungen  gewidmet.  Der 
Franzose  Custine  entsetzte  sich  bei  dem  Gedanken,  daß  er  am 
Neujahrsfeste  in  Peterhof  mehrere  Tausend  Russen  auf  ein- 
mal antreffen  sollte.  Die  Russen,  sagte  er 2),  tragen  im  allge- 
meinen einen  unangenehmen  Geruch  mit  sich,  den  man  schon 
von  fem  spürt:  „Les  gens  du  monde  sentent  le  musc,  et  les 
gens  du  peuple  le  chou  aigre,  mel6  d*une  exhalaison  d'oignons 
et  de  vieux  cuirs  gras  parfum6s.**    Der  Deutsche  Kohl  3)  teilt 


in  offenen  Bädern  ganz  unverschambt  baden",  sondern  auch,  daß  sie  ,, nackend 
über  die  öffentlichen  Gassen  bis  zum  Badehaus  gehen".  Vgl.  Johannes  Scherr, 
Geschichte  der  deutschen  Frauenwelt,  II.  Auflage,  Leipzig  1865,  I  276;  Max 
Bauer,  das  Geschlechtsleben  in  der  deutschen  Vergangenheit,  Leipzig  1902, 
216;  Wilhelm  Rudeck,  Geschichte  der  öffentlichen  Sittlichkeit  in  Deutschland, 
Berlin  (Barsdorf)  1902,  S.  5. 

1)  Louis  Veuillot,  M^langes  r6ügieux,  historiques,  politiques  et  litt6raires, 
Paris  1857. 

2)  La  Russie  en  1839,  Paris  1843,  II   ^^3- 

')  Reisen  im  Inneren  von  Rußland  und  Polen.  Man  vergleiche  mit  diesen 
Bemerkungen  den  Artikel  von  A.  Bastian,  AUeriei  aus  Volks-  und  Menschen- 
kunde, Berlin  (2  Bände)  I  384  ff. :  ,,Über  gute  und  schlechte  Gerüche";  und 
die  wertvolle  Arbeit  von  Dr.  Albert  Hagen,  Die  sexuelle  Osphresiologie,  Die 
Beziehungen  des  Geruchssinnes  zur  menschlichen  Geschlechtstätigkeit,  Berlin 
(Barsdorf)  1906.  Besonders  beachtenswert  der  Abschnitt:  Ethnologie  der 
sexuellen  Gerüche,  S.  166 — 190,  wo  auch  Kohls  Mitteilungen  über  Rußland 
zitiert  sind.  —  Wenig  bekannt  und  erst  jüngst  durch  ein  Buch  von  Louis 
Batiffol  (La  vie  intime  d'une  reine  de  France  au  XVI  le  sidcle,  Paris  1906, 
p.  82)  ausführlicher  dargelegt  ist,  daß  die  Vorliebe  der  Königin  Maria  von  Medicis 
für  Parfüms  keinen  Luxus,  sondern  eine  Notwendigkeit  befriedigte,  weil  Hein- 
rich IV.  einen  üblen  Geruch  um  sich  verbreitete.  Des  Königs  geliebteste  Maitresse, 
Henriette  d'Entraigues,  erklärt  offen,  Heinrich  stinke  wie  ein  Aas.  In  einem 
seltenen  Buche  von  Theodore  Agrippa  d'Aubign6  (Les  avantures  du  Baron 

28* 


-     436     — 

sogar  jedem  Volke  in  Rußland  seinen  besonderen  Geruch  zu: 
„Es  herrscht  in  diesem  Gerüche  oft  eine  Sache  vor,  mit  der 
die  Nation  vielfach  in  Berührung  kommt ;  so  bei  den  Litthauern 
der  Hering,  bei  den  Polen  der  Branntwein,  bei  den  Großrussen 
das  Juchtenleder,  bei  den  Kleinrussen  der  Knoblauch,  bei 
den   Juden   ihr  eigentümlich   spezifischer  Hautgeruch/* 

Die  Unreinlichkeit  der  Russen  hat  übrigens  ihre  guten 
Gründe.  Das  Volk  ist  durch  das  rauhe  Klima  gezwungen, 
den  größten  Teil  des  Jahres  dicke  Kleidung  zu  tragen,  und 
viele  haben  sich  daran  so  gewöhnt,  daß  sie  sich  auch  im 
Sommer  ihres  Pelzes  nicht  entledigen.  Der  Bauer  schläft  sogar 
in  seinem  Tulup.\)  Nach  dem  Bade  zieht  man  wieder  die 
schmutzigen,  vom  Ungeziefer  nie  gesäuberten  Kleider  an ; 
Wäsche  wechselt  man  selten,  sofern  man  solch  zweckloses 
Zeug  überhaupt  trägt. 

Also  nicht  aus  purer  Reinlichkeitsliebe  geht  man  ins  Bad, 
sondern  weil  dieses  teils  ein  Nationalvergnügen  ist,  teils  gleich- 
sam zu  den  religiösen  Vorschriften  gehört.  ,, Nachdem  Gott 
die  Welt  erschaffen  hatte,  ging  er  am  sechsten  Tage  ins  Bad/* 
lehrt  ein  Sprichwort  2)  die  Russen.  Ein  anderes  Sprichwort 
kennt  sogar  drei  wichtige  Sonnabendpflichten  3) :  „Den  Sonn- 
abend feiert  man  dreifach:  man  muß  die  Bliny^)  backen,  das 
Bad  besuchen  und  das  Weibchen  begatten.** 

Schließlich  ist  auch  der  Zusammenhang  des  Aberglaubens 
mit  dem  Baden  zu  erwähnen.  In  offenem  Wasser  soll  man 
nicht  vor  Iwan  Kupalo,  dem  24  Juni,  und  nicht  nach  dem 
Eliastage,  dem  20.  August,  baden.  Wer  Letzteres  trotzdem 
tut,  den  warnt  man  mit  den  Worten:  „Elias  hat  ins  Wasser 
geschissen**   (Hjiba  b'i>  BOAy  Hacpajit). 

Die   Neugeborenen,   namentlich   aber   die  Erstgeborenen, 


de  Foeneste,  1729,  A  Cologne  chez  les  Heritiers  de  Pierre  Marteau  (fingierter 
Verlag!)  fand  ich  die  merkwürdige  Bemerkung,  daß  man  zur  Zeit  Heinrichs 
die  Edelleute  am  Geruch  erkannte.  Der  König  als  erster  Gentilhomme  seines 
Reiches  stank  am  ärgsten. 

1)  Ty.TyiTL,   Schlaf  pelz. 

^)  Bon»,  C03AaBinH  Mipi»,  Ha  luecroft  :\eub  noiuejn>  bt.  6aHio. 

*j  Bt>  cy66oTy  Tpii  npaajuniKa:  6.1HHU  neKyn.,  wb  öaiuo  häytl  h  öaÖr»  eöyn.! 

*)  EjDOfb,  Art  Pfannenkuchen. 


437     — 

trägt  man  sobald  als  möglich  ins  Schwitzbad  und  brüht  sie 
mit  heißem  Wasser  ab,  um  sie  von  allem  zu  reinigen,  was 
etwa  vom  Teufel  an  ihnen  sein  könnte. 

Beim  Geschlechtsakt  hat  Satan  immer  seine  Hand  im 
Spiel.  Vor  der  Hochzeit  geht  die  Braut  ins  Bad,  um  sich 
von  dem  Unreinen,  Unheiligen  zu  befreien,  und  nach  der 
Brautnacht  badet  sie  nochmals,  um  des  Teufels  List  zu  ent- 
gehen.i)  Dieser  Gebrauch  war  seit  jeher  im  Hause  des  Zaren 
wie  des  Bojaren  und  ebenso  in  der  Tsbä  des  Muschik  einge- 
führt und  ist  noch  heute  allgemein. 2)  Auch  späterhin  muß 
die  Frau  jedesmal  ein  Bad  nehmen,  wenn  sie  mit  ihrem  Manne 
den  Geschlechtsakt  ausgeübt  hat. 3)  Tut  sie  das  nicht,  dann 
kann  der  Teufel  Gewalt  über  sie  gewinnen  und  als  Frucht  des 
Geschlechtsverkehrs  leicht  ein  Wechselbalg  entstehen.  Rein- 
lichkeitsliebe spielt  bei  diesen  Bädern  gewiß  keine  Rolle.  Denn 
wie  die  Russen  über  die  Reinlichkeit  beim  Geschlechtsakt  und 
über  die  Sauberkeit  der  Geschlechtsteile  denken^),  erfährt  man 
deutlich  genug  aus  ihrem  Sprichwort*'*):  ,,Für  einen  guten 
Hurer  existiert  keine  dreckige  Pisda." 


1)  Über  die  Unreinigkeit  des  Geschlechtsaktes  nach  der  Auffassung  des 
Orients  und  über  die  Notwendigkeit  des  Badens  nach  dem  Coitus  vgl.  Bernhard 
Stern,  Medizin,  Aberglaube  und  Geschlechtsleben  in  der  Türkei,  II  193;  über 
Bäder  und  Waschungen  nach  dem  Beischlaf  im  Gebrauche  der  alten  Völker: 
J.  Rosenbaum,  Geschichte  der  Lustseuche,  7.  Aufl.,  Berlin,  Barsdorf  (II.  Ab- 
schnitt). 

*)  ^iafi-kiiim^  pyccKift  Hapo;n.,  119:  IIbluh,  M-fexa  11  nutiMa  n|»a4n<»i"i  ho'ih: 
525:  BaHH. 

3)  Sammlung  merkwürdiger  Anekdoten,  das  Russische  Reich  betreffend. 
Aus  dem  Französischen,  Greifswald   1793,  I   105. 

*)  Alinliches  sagt  Krauß,  Anthropophyteia  I  247,  Anmerkung,  von  den 
Südslawen:  Die  Bäuerinnen  pflegen  sich  absichtlich  ihre  Gesclilechtsteilc  nicht 
zu  \vaschen,  weil  sie  glauben,  die  angesammelte  Unreinlichkeit  erhölie  den 
Liebesgenuß.  Auch  der  Mann  bewahrt  sorgsam  den  käsigen  Schmutz,  der  sich 
hinter  seiner  Zumpthaut  ansammelt. 

*)  ;Uh  xopoiuaio  «M'ma  uf»Ti>  3a('piiHH<»ft  iin:j,u»i. 


FÜNFTER  TEIL: 


Russische  Leiden 


26.  Schicksalsglaube  und  Selbstmord. 

—  27.  Feuer,  Hunger  und  Pestilenz. 

—  28.  Medizin  und  Aberglaube.  — 
29.  Räuberwesen  und  Revolutionen. 


•  1. 


^      —'/    •  -     j' 


26.  Schicksalsglaube  und  Selbstmord. 

Fatalismus  des  russischen  Volkes  —  Sprichwörter  —  Totenklagen  —  Die  Vor- 
stellung vom  Jenseits  —  Selbstmörder  als  Dämone  —  Polnischer  Aberglaube 
in  betreff  der  Selbstmörder  —  Aberglaube  der  Jakuten  und  Mongolen  —  Der 
Selbstmord  bei  den  Tschuktschen  —  Selbstaufopferung  als  Mittel  gegen  Seuchen 
—  Russische  Gesetze  gegen  den  Selbstmord  —  Begräbnis  der  Selbstmörder  an 
einem  ehrlosen  Orte  —  Der  Selbstmord  im  russischen  Aberglauben  —  Selbst- 
mörder werden  Vampyre  und  Krankheitsgeister  —  Leichenschändungen. 

Widerspruchslose  und  widerstandslose  Ergebung  in  die 
traurigen,  für  unabänderlich  gehaltenen  Verhältnisse  ist  eine 
charakteristische  Eigentümlichkeit  der  slawischen  Völker,  so- 
wohl der  südlichen  als  jener  im  Norden.^)  Im  russischen  Natio- 
nalcharakter ist  der  Schicksalsglaube  einer  der  prägnantesten 
Züge.  Er  ist  nicht  bloß  allgemein  bei  den  Bauern  anzutreffen, 
sondern  dringt  häufig  genug  in  die  höheren  und  intelligen- 
testen Klassen  der  Gesellschaft  ein.  Kr  ist  mit  der  russischen 
Denkweise  verwachsen.  Man  findet  bei  dem  Russen  Spuren 
von  Fatalismus  ebenso  in  den  Momenten  todesverachtender 
Tapferkeit  wie  in  Stunden  völliger  Resignation,  bei  der  Auf- 
lehnung wie  bei  der  Unterwerfung,  in  der  Tollkühnheit 
nicht  weniger  als  in  der  Entmutigung,  in  den  Anwandlungen 
fieberhafter  Tätigkeit  gleichermaßen  wie  bei  der  größten  Ab- 
spannung, im  Verneinen  wie  im  Glauben,  in  allen  Neigungen 
und  Vergnügungen. 2)  Man  kann  so  weit  gehen,  diesen  Charak- 
terzug über  alle  anderen  Züge  des  russischen  Charakters  zu 
stellen.    Der  Glaube  an  V^orsehung  und  Schicksal  ist  im  russi- 


> )  Vgl.  Dr.  Friedrich  S.  Krausz.  Sreca,  Glück  und  Schicksal  im  \'olksglauben 
der  Südslaven.  Separatabdruck  aus  den  Mitteilungen  der  Anthropologischen 
Gesellschaft  in  Wien.    1886. 

2)  Leroy-Beaulieu.  Das  Reich  der  Zaren  und  die  Russen.  111  23. 


442      - 

sehen  Volke  so  tief  eingewurzelt,  daß  er  manchem  in  der  Tat 
als  der  einzige  wirkliche  Glaube  erscheint,  der  die  Seele 
dieses  Volkes  durchdringt ;  er  hat  jenen  eigentümlichen  Geistes- 
zustand ausgebildet,  der  die  außerordentliche  Wankelmütig- 
keit des  russischen  Volkes  verständlich  macht  und  die  Laxheit 
in  der  Moral  als  eine  unvermeidliche  Notwendigkeit  erschei- 
nen läßt.i) 

Das  unabwendbare  Fatum,  vom  Christentum  in  das  Gericht 
Gottes  verwandelt,  wird  durch  zahlreiche  Sprichwörter  gelehrt : 
Was  einmal  bestimmt  ist,  kann  nicht  vermieden  werden.  Jedem 
Menschen  geschieht,  was  ihm  bei  der  Geburt  bestimmt  worden 
ist.  Was  geschehen  soll,  wird  geschehen.  Dem  Schicksal  wirst 
du  nicht  entrinnen,  auch  nicht  zu  Pferde.  Sünde  und  Sorge 
überholen  alle  Menschen  gleichmäßig.  Wenn  ein  Hund  ge- 
schlagen werden  soll,  fehlt  es  nicht  an  Stöcken.  Ein  Narr 
schießt,  aber  Gott  lenkt  die  Kugel.  Der  Wolf  packt  die  Schafe, 
die  ihm  bestimmt  sind.  Magst  dich  fürchten  oder  nicht,  dem 
Geschick  entgehst  du  nicht.  —  Im  Igorlied  und  bei  Daniel 
dem  Verbannten,  einem  Dichter  des  zwölften  Jahrhunderts, 
endlich  heißt  es :  Weder  die  Schlauen  noch  die  Kühnen  werden 
Gottes  Gericht  entrinnen. 

In  den  Totenklagen  2)  wird  erzählt,  wie  der  Mensch  ver- 
geblich dem  Tode  auszuweichen  sucht.  Weder  Gewalt  noch 
List  können  das  Leben  verlängern;  umsonst  bemühen  sich 
auch  die  Verwandten,  den  Tod  durch  Geschenke  zu  besänf- 
tigen, um  ihm  eine  kurze  Frist  abzugewinnen;  der  Tod  bleibt 
unerbittlich,  er  duldet  keinen  Aufschub,  wenn  er  kommt  und 
das  Leben  fordert,  muß  man  unverweilt  den  langen  unbe- 
kannten Weg  antreten.  Diese  Volkslieder  sind  vom  kirch- 
lichen Einfluß  freigeblieben,  man  findet  in  ihnen  keine  Er- 
wähnung des  Paradieses  oder  der  Hölle.  Das  Jenseits  wird 
mannigfach,  meist  unbestimmt,  aber  immer  phantastisch  und 
mit  einer  Menge  heidnischer  Bilder  geschildert.  Entweder 
nimmt  den  Toten  die  feuchte  Mutter  Erde  auf,  oder  er  fliegt 
empor  zu   den  Planeten,   wohin  weder  Winde  noch  lebendige 


1)  Lanin,   Russische  Zustände.   I  95. 

2)  Reinholdt,  Geschichte  der  russ.  Literatur,   30. 


—     443     — 

Wesen  dringen,  oder*  endlich:  er  kommt  auf  die  mythische 
Insel  Bujan,  die  in  ewiger  Blüte  prangt;  dort  wohnen  die 
Verstorbenen  in  ihren  Häusern.  Ebenso  ist  die  Schicksals- 
idee zu  einer  halb  märchenhaften,  halb  allegorischen  Gestalt 
verkörpert  werden,  welche  in  den  Totenklagen,  in  den  Volks- 
märchen und  den  volkstümlichen  Erzählungen  in  heidnischem 
Gewände  auftritt;  und  man  wird  beispielsweise  in  einer  Er- 
zählung vom  Ursprung  des  bösen  Geschickes  in  der  Welt 
lebhaft  an  den  Mythus  der  Pandora  und  im  Einzelnen  an 
Thors  Fischfang  erinnert,  i) 

Alles,  was  sich  ereignet,  und  alles,  was  nicht  eintritt,  ist 
also  Fatum.  Es  ist  töricht,  etwas  zu  unternehmen,  um  sich 
selbst  zu  helfen.  Man  vegetiert  dahin,  ohne  sich  zu  rühren. 
Man  liegt  tatlos  auf  dem  Ofen  und  sieht  zu,  wie  das  Fatum 
sich  gestaltet.  Bei  dieser  fatalistischen  Auffassung  vom  Guten 
und  Bösen,  das  einem  während  des  Lebens  auf  Erden  begegnet, 
muß  der  Selbstmord  in  Rußland  eine  Seltenheit  sein.  Die 
trostlosen  politischen,  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhält- 
nisse haben  zwar  einige  Sekten  erzeugt 2),  die  nicht  mehr  träge 
das  Schicksal  an  sich  heranschleichen  lassen,  sondern  dem 
unabänderlichen  Tod  zuvorkommen  und  durch  freiwillige  Ver- 
nichtung ihres  Lebens  den  Qualen  ein  vorzeitiges  Ende  be- 
reiten. Das  Volk  im  großen  und  ganzen  aber  begreift  den 
Selbstmord  eines  Menschen  nicht,  und  sieht  im  Selbstmörder 
ein  unreines  Wesen.  Dieses  Volk  ist  so  sehr  an  das  Dulden 
gewöhnt,  erträgt  alle  Leiden  so  gleichmütig,  daß  es  sich  nicht 
vorstellen  kann,  wie  ein.  Mensch  es  wagt,  sich  der  Peitsche 
seines  Herrn,  dem  Kummer,  den  das  Schicksal  ihm  auferlegt 
hat,  trotzig  zu  entziehen. 

Nicht   bloß   bei   den   Russen  selbst-^),  auch  bei   fast  allen 


i)  Reinholdt  a.  a.   O.    t^i. 

2)  Vgl.  S.  248—255. 

3)  Ich  will  nicht  ermangeln,  hier  einige  seltene  Schriften  zu  notieren,  die 
mir  bei  der  Aufsuchung  der  Quellen  zur  Geschichte  des  Selbstmordes  unter- 
gekommen sind.  Namentlich  zur  Geschichte  des  Selbstmordes  aus  Fanatismus 
enthalten  diese  Werke  interessante  Angaben:  Christliche  Vermahnung  vnd 
Tröstung  /  Aus  Heiliger  Schrifft  /  wider  die  schwere  anfechtung  der  Entleibung 
seiner  selbst  /  so  offt  aus  verzweiffelung  geschieht  /  Durch  Egidium  Mecheler 


444     — 

in  Rußland  lebenden  Völkern,  ja  selbst  bei  vielen  heidnischen, 
betrachtet  man  den  Selbstmörder  als  einen  vom  Teufel  Be- 
sessenen, der  nach  seinem  Tode  keine  Ruhe  findet  und  in  der 
Welt  umherschweift,  um  den  Menschen  zu  schaden:  Die  pol- 
nische Dämonologie  sieht  in  jedem,  der  sich  erhängt  oder  er- 
tränkt hat,  einen  bösen  Geist,  einen  unversöhnlichen  Feind 
der  Menschheit.  Wehe  dem,  der  nachts  in  die  Nähe  der  Leiche 
eines  Selbstmörders  gerät.  Die  Leiche  erwacht  und  stürzt  sich 
über  den  ahnungslosen  Passanten  und  erwürgt  ihn.  Es  hilft 
nichts,  wenn  man  einen  Selbstmörder  begräbt.  Die  Leiche 
steigt  um  Mittemacht  aus  dem  Grabe,  wandert  Schrecken 
säend  umher,  und  kehrt  erst  beim  dritten  Hahnenschrei  in 
die  Erde  zurück.  In  Polen  begräbt  man  die  Selbstmörder 
am  Rande  eines  Waldes.  Die  Hirten  hüten  sich,  mit  ihren 
Herden  nachts  ihr  Lager  in  der  Nähe  eines  Waldes  aufzu- 
schlagen. Tun  sie  dies  doch,  so  steigt  um  Mittemacht  einer 
der  am  Waldrand  begrabenen  Selbstmörder  hervor  und  ver- 
jagt die  Hirten:  wer  nicht  sofort  flieht,  der  kann  sich  nicht 
retten,  der  Dämon  reißt  ihm  den  Kopf  ab.  Dann  setzt  sich 
der  Geist  selbst  ans  Feuer,  um  sich  zu  wärmen,  und  erst  beim 
dritten  Hahnenschrei  kehrt  er  in  sein  Grab  zurück.  Auch  am 
l-fer  eines  Flusses  soll  man  sich  nachts  nicht  aufhalten.  Die 
Geister  jener,  die  sich  im  Flusse  ertränkt  haben,  steigen  her- 
vor und  ziehen  den  unvorsichtigen  Wanderer  ins  Wellengrab 
hinunter.  Die  Selbstmörder  werden  nach  dem  Tode  auch  \'am- 
pyre:  während  aber  die  gewöhnlichen  Vampyre  die  Menschen 


einem  gnten  freunde  zugeschrielien  Anno  1541.  Sampt  etlichen  Brief fen 
D.  Lutheri  wieder  solchen  Fall  nützlich  zu  lesen  /  mit  einer  Vorrede.  M.  Georgij 
Süberschlags  Pfarren;  der  Christlichen  Gemeine  zum  Predigern  in  Erffurd  t 
Jetzt  auffe  newe  auffgelegt  vnd  gedruckt  ,'  Durch  Joachim  Mecheler  '  Im 
Jahr  1600.  —  Traite  du  suicide  ou  de  meurtre  volontaire  de  soi-meme.  Par 
Jean  Pumas.  A  Amsterdam  chez  D.  J.  Changuion.  1773.  —  Meine  Lieblings- 
stunden in  Brieten  den  besten  Menschen  bestimmt.  Von  dem  Verfasser  der 
Gallerie  der  Teufel.  Berlin  1781.  bey  Christian  Ludewig  Stahlbaum.  Erster 
Band  70 — \o2:  Von  der  Epidemie  des  Selbstmordes.  —  Der  Selbstmord, 
psychologisch  erklärt  und  moralisch  gewürdigt,  ein  Beitrag  zur  Warnung  vor 
Trübsinn  und  Verzweiflung  und  zur  Empfehlung  der  ächten  Lebenskunst : 
teüs  nachdem  Französischen,  teils  eigentümlich  bearl>eitet  von  Aucust  v.  ^iiin> 
röder.  Weimar  1837.    Zwei  Teile. 


44o 

iiach  und  nach  entkräften  und  töten,  sind  die  aus  Selbstmör- 
dern rekrutierten  so  furchtbar,  daß  sie  sc  hon  bei  ihrem  ersten 
Besuche  dem  Menschen  alles  Blut  aussaugen  und  ihn  auf  der 
Stelle    umbringen. 1) 

Bei  den  Jakuten  werden  die  Selbstmörder  Yours,  eben- 
falls den  Menschen  feindliche  Dämone.  Die  Mongolen  glau- 
ben, daß  die  Seelen  der  Selbstmörder  als  Boks  umherirren, 
als  Geister,  die  namentlich  jenen  Übles  zufügen,  die  ihnen  im 
Leben  nahegestanden.  Die  Kamtschadalen  betrachten  den 
Selbstmord  als  eine  ziemlich  gleichgültige  Sache.  Wenn  sich 
jemand  in  einen  Fluß  stürzt,  um  sich  zu  ertränken,  leistet  ihm 
ein  Kamtschadale  niemals  Hilfe;  denn  in  Kamtschatka  sagt 
man :  Es  sei  Sünde,  einen,  der  sich  ertränken  wolle,  zu  retten : 
wer  das  trotzdem  unternehme,  werde  sich  zur  Strafe  dafür 
früher  oder  später  selbst  ertränken.^) 

Bei  den  Tschuktschen  dagegen  herrscht  der  Selbstmord  als 
ein  Gebrauch,  erzeugt  aus  religiösem  Fanatismus,  aus  dem  Glau- 
ben an  das  jenseitige  Leben  imd  dem  Wunsche,  die  ver- 
storbenen Verwandten  schneller  wiederzusehen.  Die  Seelen 
der  \'erstorbenen  werden  von  den  Überlebenden  als  Beschützer 
der  Familie  angesehen.  Gibt  es  Unglücksfälle  oder  Krank- 
heiten in  der  Familie,  so  sind  daran  nicht  l^loß  die  bösen 
Geister,  sondern  auch  die  Seelen  der  Verstorbenen  schuld, 
denen  man  Ursache  zur  Unzufriedenheit  gegeben  hat ;  um  die 
Erzürnten  zu  versöhnen,  opfert  ein  Familienmitglied  sein  eige- 
nes Leben.  Der  Selbstmord  vollzieht  sich  in  aller  Öffentlich- 
keit 3):  Der  Selbstmörder  in  spe  macht  allen  Nachbarn  Mit- 
teilung von  seinem  Entschluß.  Man  versucht  pro  forma,  ihn 
von  dem  Vorhaben  abzubringen,  oder  ihn  wenigstens  zu  einem 
Aufschub  der  Ausführung  zu  bereden.  Er  bleibt  jedoch  fest, 
bezieht   sich  auf   die   Toten,   die   ihn   quälen,   auf   Teufel  und 


1)  V.  Begiel,  La  d^monologie  du  peuple  polonais.  Revue  de  l'histoire 
des   Religions.     Paris  1902.     Tome  XLV  No.   2.  p.  158 — 170. 

2)  Histoire  de  Kamtschatka  II  169. 

8)  Vgl.  die  Schilderung  dieser  Zeremonie  von  dem  Missionär  Adolf  Skrzyncki 
aus  St.  Louis  in  der  Zeitschrift  ,,Am  Urquell",  V  267 — 268.  Skrzyncki  bemerkt, 
daß  dieser  von  alters  her  erhaltene  Brauch  noch  heute  mit  derselben  Genauig- 
keit befolgt  wird,  wie  er  dort  vor  der  Einführung  des  Christentums  geschah. 


--     446     — 

verstorbene  Verwandte,  die  ihm  fortwährend  im  Traume  er- 
scheinen und  ihn  zu  sich  rufen.  Man  beginnt  also  die  Vor- 
bereitungen zum  Selbstmord  nach  dem  üblichen  Ritual.  Der 
zukünftige  Selbstmörder  erhält  eine  neue  Kleidung  aus  weißen 
Renntierfellen,  dann  stellt  man  einen  neuen  Schlitten  her  und 
kauft  neue  Geschirre  für  die  Renntiere,  mit  denen  das  frei- 
willige Opfer  die  Reise  ins  Jenseits  antreten  wird.  In  zehn 
bis  fünfzehn  Tagen  sind  die  Vorbereitungen  beendet.  Am 
feierlichen  Tage  versanmieln  sich  die  Verwandten  und  Nach- 
barn. In  ihrer  Gegenwart  zieht  sich  der  Fanatiker  die  neue 
Kleidung  an  und  setzt  sich  in  die  Ecke  der  Jurte.  Sein  näch- 
ster Verwandter  hält  das  Werkzeug  des  Todes,  entweder  einen 
Speer,  ein  Messer  oder  einen  Riemen.  Der  Todeslustige  kann 
zwischen  diesen  drei  Dingen  wählen.  Will  er  mit  dem  Messer 
seinem  Leben  ein  Ende  machen,  so  halten  zwei  Verwandte 
ihn  an  den  Händen  fest,  während  ein  dritter  ihm  von  der 
Gurgel  bis  zum  Herzen  einen  tiefen  Schnitt  macht  und  die 
Spitze  des  Messers  zum  Schluß  in  sein  Herz  stößt.  Will  er 
mit  dem  Speer  erstochen  werden,  so  steckt  man  diesen  durch 
eine  Öffnung  in  der  Wand  hindurch.  Der  Fanatiker  stellt 
sich  so,  daß  die  Spitze  direkt  sein  Herz  treffen  muß  und  ruft 
dann  laut,  daß  man  zustoße.  Die  Erdrosselung  vollführt  man, 
indem  zwei  Verwandte  den  Riemen  um  den  Hals  des  Mannes 
drehen  und  dann  die  Enden  so  lange  nach  entgegengesetz- 
ten Richtungen  ziehen,  bis  der  Zweck  erreicht  ist.  Die  Leiche 
trägt  man  in  den  neuen  Schlitten  und  setzt  sie  hier  halb  auf. 
Dann  fährt  man  hinaus  an  den  Ort  der  Toten.  Hier  werden 
die  Renntiere,  die  den  Geopferten  hergebracht,  erstochen.  Dem 
Toten  zieht  man  die  Kleidung  aus  und  zerschneidet  sie  in 
kleine  Stücke,  die  man  wegwirft.  Die  Teilnehmer  der  Zere- 
monie beschmieren  ihre  Hände  und  ihr  Antlitz  mit  dem  Blute 
des  Opfers,  bitten  den  Toten,  ihrer  nicht  zu  vergessen,  und 
verbrennen  die   Leiche  auf  einem  Scheiterhaufen. 

Das  russische  Gesetz  hat  namentlich  unter  Nikolaj  I.  merk- 
würdige Bestimmungen  bezüglich  der  Selbstmörder  festge- 
legt^):   „Wer   sich    selbst    vorsätzlich   (nicht    etwa   im   Wahn- 

1)  Vgl.  Strafgesetzbuch  des  Russischen  Reichs,  promulgiert  im  Jahr  1845; 
deutsche   Ausgabe,   Carlsruhe  und  Baden   1847,   S.   367.   §§   1943 — 1947. 


447 

sinn  oder  bei  vorübergehender  Geistesstörung)  tötet,  wird  als 
eine  Person  betrachtet,  die  nicht  befugt  war,  Verfügungen  für 
den  Todesfall  zu  treffen.  Demnach  bleibt  das  Testament  des 
Selbstmörders,  als  nichtig,  ohne  Vollziehung;  ebenso  jede 
andere,  von  ihm  für  den  Fall  seines  Ablebens  gemachte  An- 
ordnung, sie  betreffe  seine  Kmder,  Pflegebefohlenen,  Diener, 
sein  Vermögen  oder  sonst  irgend  einen  Gegenstand.  Dem 
Selbstmörder  ist  die  christliche  Bestattung  versagt.  Wer  bei 
gesundem  Verstände  einen  Selbstmord  versucht,  und  daran 
nur  durch  äußere  Umstände  verhindert  wird,  muß  sich,  falls 
er  den  christlichen  Glauben  bekennt,  einer  Kirchenbuße  unter- 
ziehen. Diese  Bestimmungen  finden  keine  Anwendung  auf 
den,  der  sich  aus  Vaterlandsliebe  oder  Pflichttreue  einer  Lebens- 
gefahr aussetzt  oder  dem  Tode  opfert;  ebensowenig  gegen 
die  weibliche  Person,  die  sich  tötet  oder  zu  töten  versucht, 
um  ihre  Keuschheit  und  Ehre  gegen  einen  nicht  anders  ab- 
zuwehrenden Angriff  zu  schützen.  Wer  einen  andern  zum  Selbst- 
morde beredet,  ihm  dazu  Mittel  verschafft  oder  dazu  sonst 
auf  irgend  eine  Weise  mitwirkt,  wird  als  Begünstiger  eines 
mit  Vorbedacht  verübten  Mordes  bestraft.  Eltern,  Vormün- 
der und  andere  Vorgesetzte,  welche  durch  grausamen  Miß- 
brauch ihrer  Gewalt  eine  ihnen  untergebene  Person  zum  Selbst- 
morde verleiten,  werden  mit  Entziehung  der  Ehren-  und  Stan- 
desrechte auf  ein  bis  zwei  Jahre  Besserungshaus  verurteilt 
•  und  müssen  sich,  falls  sie  den  christlichen  Glauben  bekennen, 
einer  Kirchenbuße  unterziehen.**  Bis  in  die  neueste  Zeit  be- 
stand der  Artikel,  der  dem  Selbstmörder  das  christliche  Be- 
gräbnis versagte;  dieser  Artikel  wurde  in  den  Entwurf  des 
neuen  Strafgesetzbuches,  das  sich  in  Vorbereitung  befindet, 
nicht  aufgenommen,  aber  in  der  Verordnung  für  die  Ärzte 
aus  dem  Jahre  1892  ist  stehen  geblieben:  daß  der  Körper 
eines  vorsätzlichen  Selbstmörders  vom  Schinder  an  einen  ehr- 
losen Ort  zu  schleppen  und  dort  zu  verscharren  sei. 

Solche  Bestimmungen,  ob  sie  nun  befolgt  werden  oder 
nicht,  lassen  dem  Volke  den  Selbstmord  nicht  nur  als  etwas 
Schändliches  und  Ehrloses  erscheinen,  sondern  haben  auch 
den  Aberglauben  bestärkt,  der  seit  jeher  und  fast  überall  mit 
dem  Selbstmord  im  Zusammenhang  steht.  Die  an  einem  ehr- 


448     — 

losen  Orte  verscharrten  Leichen  können  nach  russischem  Glau- 
ben keine  Ruhe  finden,  schweifen  als  Geister  und  Vampyre 
umher,  sind  schuld  an  Dürre,  Hungersnot  und  Seuche i):  Im 
Jahre  1887  erhängte  sich  im  Dorfe  Iwanowka  im  Alexandrij- 
schen  Kreise  des  Gouvernements  Cherson  ein  Bauer.  Kurz 
darauf  entstand  anhaltende  Trockenheit.  Natürlich  war  der 
Selbstmörder  schuld.  Die  Bauern  pilgerten  zu  seinem  Grabe, 
gruben  die  Leiche  aus,  besprengten  sie  mit  Wasser  und 
sprachen:  „Ich  besprenge,  ich  besprenge;  Gott  gebe  einen 
Platzregen;  führ'  ein  Regenchen  herbei  und  befreie  uns  vom 
Unglück."  Als  dies  Mittel  nicht  geholfen  hatte,  wurde  die 
Leiche  abermals  ausgegraben  und  möglichst  weit  weg  vom 
Dorfe  entfernt,  damit  der  Verstorbene  den  Weg  nicht  zurück- 
finde. 1872  wurde  aus  ähnlichen  Gründen  im  Kamenezschen 
Kreise  des  Gouvernements  Podolien  die  Leiche  eines  Mannes, 
der  sich  erhängt  hatte,  ausgegraben  und  in  den  Teich  ge- 
worfen; 1883  im  Dorfe  Begitowskij,  im  Gouvernement  Stawro- 
pol,  die  Leiche  eines  Mannes,  der  im  Wahnsinn  einen  Selbst- 
mord begangen  hatte,  aus  dem  Grabe  gerissen  und  verbrannt. 
Das  Merkwürdigste  ereignete  sich  1892  im  Dorfe  Ssomenitschki 
des  Kreises  Ponewjesch  im  Gouvernement  Kowno:  Eine 
Bäuerin  hatte  sich  im  Walde  erhängt.  Sie  war  Katholikin. 
Der  katholische  Geistliche  weigerte  sich,  die  Selbstmörderin 
beerdigen  zu  lassen,  und  lehnte  es  ab,  Geld  für  ein  Trauer- 
geläute anzunehmen:  ,,ihre  Seele  ist  dem  Teufel  verfallen,** 
sagte  er.  Das  Entsetzen  der  Söhne  der  Selbstmörderin  war 
groß;  und  ihre  Furcht  davor,  daß  die  teuflische  Mutter  keine 
Ruhe  im  Grabe  finden  und  daher  umherwandern  würde,  um 
der  Familie  und  dem  Dorfe  Schaden  zu  bringen,  steigerte  sich 
schließlich  derartig,  daß  sie  es  für  das  beste  hielten,  der  Leiche 
der  Mutter  den  Kopf  abzuhacken;  die  zerstückelte  Leiche 
scharrten  sie  dann  so  ein,  daß  der  Kopf  bei  den  Füßen  lag. 
Jetzt  waren  sie  sicher,  daß  die  Selbstmörderin  aus  dem  Grabe 
nicht  mehr  hervorkommen  könnte. 


1)  Löwenstimm,   .\berglaube  und  Strafrecht,  S.  105. 


449 


27-  Feuer^  Hunger  und  Pestilenz. 

Feuersbrunst  und  Zauberei  —  Brandplage  —  Hinrichtung  Glinskijs  wegen 
zauberischer  Brandstiftung  —  Gründung  eines  Schomsteinfegerkorps  —  Feuer- 
wächter —  Strafen  für  Brandstifter  —  Geschichte  der  Hungersnöte  —  Hunger 
und  Hexerei  —  Weiberleiber  als  Getreidespeicher  —  Hungertragödien  in  alten 
Zeiten  —  Ein  Ausspruch  des  Zaren  Boriß  —  Wohltat  ein  Übel  —  Verheim- 
lichung des  Elends  vor  Fremden  —  Nikolaj  I.  haßt  das  Wort  Hunger  —  Kanni- 
balismus in  Hungerzeiten  —  Beispiele  aus  Rußland  und  den  Ostseeprovinzen 
—  Iwan  der  Schreckliche  liebt  Verhungernde  zu  sehen  —  Gnade  für  Menschen- 
fresser, Strafe  für  Kalbfleischesser  —  Die  Hungersnot  der  Gegenwart  —  \'er- 
brechen  der  Regierung  —  Der  Aberglaube  als  Regierungsstütze  —  Geschichte 
der  Epidemien  —  Glaube  an  Pestdämone  —  Hexenmorde  —  Wasserweihe  — 
Die  Pest  in  Moskau   1654  und  1771  —  Die  jüngsten  Epidemien. 

Nur  der  fatalistische  Glaube  und  der  träge  Charakter  des 
Russen  können  es  erklären,  daß  in  diesem  Reiche  der  Selbst- 
mord nicht  eine  Volkskrankheit  geworden  ist.  Denn  die  Leiden 
Rußlands  seit  seinem  Bestände  sind  so  namenlos  und  so  un- 
unterbrochen,  daß  dort  das  Leben  kaum  mehr  lebenswert  er- 
scheint. Schon  die  Elemente  der  Natur  haben  alles  aufgeboten, 
um  den  Riesenstaat  zu  einer  Stätte  ewiger  Not  zu  machen. 
Feuer,  Hunger  und  Pest  gehören  zu  den  ständigen  Institutionen. 
In  früheren  Zeiten  hat  man  es  nicht  einmal  der  Mühe  wert- 
gehalten, diese  natürlichen  Plagen  zu  bekämpfen  oder  ihnen 
vorzubeugen.  Das  Schicksal  führte  sie  herbei  oder  die  Zau- 
berei verursachte  sie  —  Menschenmacht  konnte  sie  also  nicht 
verhindern,  noch  weniger  beendigen;  man  wartete  ergeben, 
bis  der   Kelch  vorüberging. 

Unter  Wladimir  Monomach  zerstörte  eine  große  Feuers- 
brunst Kijew;  gleichzeitig  trat  eine  vollständige  Sonnenfinster- 
nis ein,  man  sah  in  der  Mittagsstunde  Sterne  am  Himmel,  und 
schließlich  vernichteten  Erdbeben  und  Orkane  ganze  Land- 
striche, Menschenmassen  und  Viehherden  wurden  von  den 
empörten  Elementen  in  die  Flüsse  geschleudert.  1185  und 
II 90  wurde  die  Stadt  Wladimir  durch  ein  Feuer  vollständig 
verödet;  Schätze  an  Edelmetallen,  die  in  den  Kirchen  auf- 
gespeichert waren,  die  kostbarsten  Meßgewänder  und  seltene 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  RußlAiid.  29 


—    460    — 

Bücher  fielen  den  Flammen  zum  Opfer.  In  denselben  Jahren 
verwüsteten  Brände  die  Städte  Rostow,  Ladoga,  Russa  und 
Nowgorod;  in  letzterer  Stadt  brannten  an  einem  Tage  4300 
Häuser^  darunter  viele  steinerne,  nieder.  Von  1420  bis  1450 
wüteten,  namentlich  in  Moskau  und  Nowgorod,  furchtbare 
Feuersbrünste.  Auf  dem  flachen  Lande  herrschte  Trocken- 
heit. „Die  Erde  entzündete  sich  vor  Hitze,**  schreiben  die 
Annalisten,  „sodaß  die  Menschen  in  den  dicken  Rauchwolken 
einander  nicht  sehen  konnten;  nach  dieser  Zeit  sind,  wie  einst 
nach  der  Sündflut,  die  Lebensalter  kürzer  und  die  Menschen 
hinfälliger  imd  schwächer  geworden.**  Für  die  Feuersbrünste, 
die  1507  in  Nowgorod  allein  5314  Menschenleben  forderten 
und  im  selben  Jahre  Moskau  und  Pskow  verheerten,  machten 
die  Chronisten  die  Einführung  der  teuflischen  Pulvermühlen 
verantwortlich,  in  denen  man  geheime  Zauberkräfte  vermutete. 
Als  im  Jahre  1 547  in  Moskau  ein  Riesenbrand  die  halbe  Stadt 
verzehrte,  erhob  sich  niemand,  um  dem  Feuer  Einhalt  zu 
tun,  sondern  alles  forschte  nur  nach  den  Urhebern  der  Zau- 
berei, die  den  Brand  hervorgerufen  haben  mußte.  Die  Familie 
Glinskij,  die  für  den  jugendlichen  2^ren  Iwan  die  Regentschaft 
führte,  wurde  endlich  der  Zauberei  verdächtigt,  und  das  Haupt 
dieser  Familie  fiel  als  Opfer  des  Aberglaubens,  dessen  sich, 
wie  so  oft  in  Rußland,  die  Politik  bedient  hatte. 

Bis  zur  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  gab  es  nicht 
einmal  eine  Feuerwehr.  1736  verheerte  ein  neuer  großer  Brand 
Moskau;  2527  größere  und  9145  kleinere  Bauten,  mehr  als 
hundert  Kirchen  und  ein  Dutzend  Klöster  wurden  ein  Raub 
der  Flammen.  Nun  zum  ersten  Male  raffte  man  sich  auf, 
den  Feuersgefahren  systematisch  zu  begegnen.  1737  befahl 
die  Zarin  Anna  die  Gründung  eines  Schornsteinfegerkorps. 
Patrouillen  mußten  Tag  und  Nacht  die  Straßen  der  Haupt- 
stadt durchziehen,  um  das  Brandlegen  zu  verhüten  oder  aus- 
gebrochenes Feuer  im  Keime  zu  ersticken.  Man  begnügte  sich 
nicht  mehr  mit  der  Lynchjustiz  des  Aberglaubens,  sondern 
schuf  strenge  Gesetze,  um  die  Brandstifter  abzuschrecken.  Wer 
einen  Brand  legt,  befahl  die  Kaiserin,  soll  für  das  Feuer  im 
Feuer  büßen,  lebendig  verbrannt  werden.  Aber  wieder  echt 
russisch  ist  es,  daß  man  nicht  bloß  die  Verbrecher  bestraft, 


—     451     — 

sondern  auch  jene,  die  von  dem  Verbrechen  bloß  sprechen; 
daß  also  schon  für  die  Erwähnung  eines  stattgehabten  Brandes 
die  Knutenstrafe  droht! 

Nächst  dem  Feuer  ist  es  der  Hunger,  der  ununterbrochen 
Rußland  heimsucht.  Die  erste  große  Hungersnot  entstand 
neun  Jahre  ivach  dem  Tode  des  vielbesungenen  Fürsten  Wladi- 
mir, des  ersten  christlichen  Herrschers.  Die  Zauberer  erklärten 
das  Unheil  als  Folge  des  Verrats  an  den  alten  Göttern  und 
hetzten  das  Volk,  durch  Opferung  von  Christen  den  Hinmiel 
zu  versöhnen.  Wie  bei  den  furchtbaren  Bränden,  so  feiert  auch 
in  Zeiten  der  Hungersnot  der  Aberglaube  seine  Triumphe. 
Der  älteste  slawische  Chronist,  Nestor,  berichtet  über  die  Hun- 
gersnot des  Jahres  1070,  daß  damals  Zauberer  die  Wolga  ent- 
lang zogen  und  in  den  Dörfern  erklärten:  die  Weiber  hätten 
die  Hungersnot  verursacht  und  alles  Getreide  in  ihren  Leibern 
aufgespeichert.  Man  Ischleppte  die  Frauen  und  Töchter  zu  den 
Hexenmeistern,  welche  die  Weiber  massakrierten,  und  richtig 
kam  mit  dem  Blute  der  Opfer  Getreide  zum  Vorschein,  das 
die  Zauberer  geschickt  im  Momente  der  Opferung  verschüttet 
hatten.  Das  hungrige  Volk  stürzte  sich  auf  die  Frauen,  um 
sich  zu  sättigen.  Der  Vater  zerfleischte  die  Tochter,  der  Sohn 
die  Mutter,  und  die  Mörder  tranken  gierig  das  Blut  der  Weiber, 
in  dem  sie  Getreide,  Honig  und  Fische  zu  genießen  wähnten. 

Jahr  um  Jahr  herrscht  partielle  Hungersnot,  bald  in  diesem, 
bald  in  jenem  Landstrich.  Eine  allgemeine  Hungersnot  wütet 
im  Durchschnitt  in  jedem  Jahrzehnt  mindestens  einmal.  Am 
stärksten  geplagt  erscheint  das  Gebiet  von  Nowgorod.  121 5 
trat  hier  eine  Mißernte  ein  zur  Zeit,  da  die  Stadt  vom  Feinde 
belagert  wurde.  Die  Teuerung  war  so  erbarmungslos,  daß  die 
Bewohner  ihre  Kinder,  um  sie  nicht  ernähren  zu  müssen,  an 
die  Gosty  oder  Kaufleute  verschenkten.  Die  Leichen  der  Ver- 
hungerten lagen  in  den  Straßen  und  wurden  von  den  Hunden 
verzehrt.  Das  Elend  dauerte  fünfzehn  Jahre  und  zog  auch 
die  benachbarten  Provinzen  in  Mitleidenschaft.  Im  Jahre  1230 
erreichte  es  seinen  Höhepunkt.  Erdbeben  und  totale  Sonnen- 
finsternis steigerten  das  Entsetzen.  „Man  erwartete  das  Ende 
der  Welt,  man  umarmte  sich  und  nahm  Abschied  voneinander,** 
erzählen   die  Chronisten.     6530   „Hungergräber**  wurden  mit 

29* 


—     4Ö2     — 

den  Opfern  der  Not  gefüllt;  dann  gab  man  das  Begraben  auf, 
die  Leichen  blieben  unbestattet  auf  den  Straßen.   Endlich  fand 
sich  ein  Mann,  Namens  Stanil,  der  die  Toten  auf  den  Friedhof 
zu  führen  sich  bereit   erklärte.     Von   früh  morgens   bis  spät 
abends,   Tag  um  Tag  und  Woche  um  Woche  führte  Stanil 
Leichen  aus  Nowgorod  hinaus,  und  er  allein  bestattete  3000 
Menschen.    „Nowgorod  ist  im  Verscheiden,**  klagen  die  Chro- 
nisten der  Zeit;  „der  Vater  liebt  nicht  mehr  den  Sohn,  die 
Mutter  nicht  mehr  die  Tochter;  der  Nachbar  will  dem  Nachbar 
nicht  mehr  ein  Stückchen  Brod  abbrechen.    An  allen  Ecken 
und  Enden  sieht  man  von  den  verzweifelten  Eltern  ausgesetzte 
Kinder,  die  den  Hunden  zum  Fraß  fallen.**    Rettung  brachten 
endlich  deutsche  Kaufleute,  die  zur  See  Getreide  herbeiführten 
imd   der   Hungersnot   Einhalt   taten.   —    1419  herrschte  eine 
Hungersnot  in  ganz  Rußland;  sie  währte  bis  1422,  und  nur 
Pskow  blieb  frei  vom  Elend.    Am  3.  Januar  1446  aber  gab 
es  dafür  nach  den  Aussagen  der  Chronisten  von  Nowgorod 
auch  ein  freudiges   Wunder:   „Aus  schwarzen  Wolken  fielen 
Uchte  Roggengarben,  endlose  Massen  Gerste  und  Weizen  zur 
Erde,   bis  der  ganze  Raum  zwischen  den  Flüssen  Msta  und 
Wolchowez,   auf   fünfzehn   Werst    im   Umkreis,   mit   Getreide 
bedeckt   war.**     Das   Wunder   half  indessen   nicht  viel,   denn 
1448   herrschte  wieder  Hungersnot,   und  sie  dauerte  diesmal 
mit  kurzen  Unterbrechungen  zwanzig  Jahre  lang. 

Furchtbare  Hungerjahre  gab  es  zur  Zeit  der  Regierung 
Iwans  des  Schrecklichen.  „Hunger  und  Seuche,**  sagt  der 
russische  Historiker  Karamsin,  „halfen  dem  Tyrannen  bei  seiner 
Verwüstung  Rußlands.  Es  schien,  als  wenn  die  Erde  ihre 
Fruchtbarkeit  verloren  hätte:  man  Siäete  Getreide,  aber  man 
erntete  nichts;  sowohl  Kälte  als  Dürre  verdarben  die  Ernte.** 
Der  sogenannte  Usurpator  Boriß  Godunow  aber  sprach  bei 
seiner  Krönung  zum  Volke:  „Gott  ist  mein  Zeuge,  daß  es,  so- 
viel von  mir  abhängt,  keinen  Bettler  und  keine  Waise  in 
meinem  Reiche  geben  soll;  mein  letztes  Hemd  will  ich  den 
Darbenden  opfern.**  Und  als  wiederum  eine  entsetzliche  Hun- 
gersnot über  Rußland  hereinbrach,  da  errichtete  Boriß  Speise- 
hallen für  die  Armen,  öffnete  die  Fruchtkammem  der  Krone, 
kaufte  selbst  zu  höchsten  Preisen  alles  Getreide  auf  und  ver- 


—     453     — 

schenkte  es  an  das  hungernde  Volk.  Unter  der  Maske  dar- 
bender Leute  drängten  sich  jedoch  Wucherer  herzu,  die  sich 
der  Kronsvorräte  listig  bemächtigten  und  dann  das  angesam- 
melte Getreide  teuer  verkauften;  des  Zaren  Wohltat  wurde 
zum  Übel,  und  das  Elend  wuchs  gewaltiger  als  je  zuvor. 
Hunderttausende,  Millionen  Menschen  starben  den  Hungertod. 
Überall  lagen  Leichen  umher,  baten  Sterbende  um  Hilfe.  In 
Moskau  beförderten  die  vom  Zaren  angestellten  Beamten  im 
Laufe  des  Jahres  1604  nicht  weniger  als  127000  Leichen  von 
Menschen,  die  auf  den  Straßen  verhungert  waren,  aus  der 
Stadt  hinaus.  Aber  als  damals  der  Freiherr  von  der  Logau 
als  kaiserlich  römischer  Gesandter  nach  dem  Kremlj  kam,  ver 
anstaltete  man  trotzdem  glänzende  Feste.  „In  der  Tractation 
des  Herrn  Gesandten,**  berichtet  Bussow,  ,,wurd  an  allerley 
Sachen  viel  zugeführet,  und  gingen  die  Leute  der  Stadt  so 
prächtig,  daß  keine  Theuerung  auf  denen  Gassen  zu  sehen 
war,  sondern  nur  im  Hause  und  im  Herzen.  Es  durfte  auch 
wegen  des  Herrn  Gesandten  Leute  niemand  bey  Leibes  Strafe 
klagen,  daß  Theuerung  im  Lande  gewesen.** 

Von  1695  bis  1698  herrschte  eine  schreckliche  Hungers- 
not in  Estland.  Viele  Eltern  setzten  ihre  Kinder  aus,  um  sie 
nicht  vor  den  eigenen  Augen  des  kläglichsten  Todes  sterben 
zu  sehen.  Auf  allen  Straßen  lagen  die  Leichen  haufenweise. 
Man  warf  die  Toten  in  Massengräber;  gewöhnlich  wurden  25, 
manchmal  75  in  eine  Grube  gelegt i). 

Im  achtzehnten  Jahrhundert  gab  es  während  des  Regiments 
der  fünf  Frauen  auf  dem  Zarenthrone  33  Hungerjahre.  Katha- 
rina IL  glaubte  die  Hungersnot  durch  Witze  bekämpfen  zu 
•können.  Einen  Komwucherer  beschenkte  sie  mit  einem 
eisernen  Orden  von  einem  Pud  Gewicht,  den  der  Elende  bei 
seinem  Erscheinen  in  der  Öffentlichkeit  stets  tragen  mußte; 
aber  sie  selbst  vergeudete  Hunderte  Millionen  an  ihre  Günst- 
linge und  bestrafte  den  Publizisten  Nikolaj  Nowikow,  der  sich 
zum  Advokaten  des  gepeinigten  verhungernden  Volkes  machte. 
Die  Regierung  Alexanders  I.  brachte  eine  Ruhepause,  aber 
seither  hat  das  Elend  Jahr  um  Jahr  das  Reich  heimgesucht. 


1)  Vgl.  Petri,  Esthland  und  die  Esthen,  Gotha  1802,  I  157. 


—    454     — 

1832  verwüstete  eine  Mißernte  Südwestrußland,  1840  das  ganze 
Reich.  Unter  Nikolaj  I.  durfte  das  Wort  Hunger  nicht  er- 
wähnt werden.  Der  Kaiser  besuchte  i)  ein  Spital,  trat  zu  dem 
Bett  eines  Typhuskranken  und  fragte  den  Arzt,  wodurch  die 
Krankheit  entstanden  sein  könnte.  „Wohl  durch  Hunger/* 
entgegnete  der  Arzt.  Der  Kaiser  sah  den  Mann  grimmig  an 
und  ging  weiter.  Beim  Abschied  aber  trat  er  nochmals  auf 
den  Unglücksmenschen  zu  und  sagte:  „Du,  halte  die  Zunge 
besser  hinter  den  Zähnen.**  Und  am  nächsten  Tage  wurde  der 
Arzt  seines  Postens  enthoben.  2) 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Konstatierung,  daß  die 
Hungersnot  immer  nicht  bloß  Gelegenheit  zu  Aberglauben  und 
Ausschreitungen  gab,  sondern  die  Sittlichkeit  des  Volkes  unter- 
grub und  die  Brutalität  seiner  Gefühle  enthüllte.  Die  Historiker 
von  tausend  Jahren  berichten  beispielsweise  dieses  Schauer- 
liche aus  allen  Epochen  des  Elends :  daß  die  Hungernden  ihre 
Mitmenschen  schlachteten  und  verzehrten,  um  ihr  eigenes  Leben 
für  eine  kurze  Weile  fortzufristen.  Wir  haben  bereits  er- 
fahren, daß  bei  der  zweiten  historischen  Hungersnot  in  Ruß- 
land um  1070  die  Männer  die  Weiber  schlachteten.  1230 
nährten  sich  die  Notleidenden  in  Nowgorod  von  Moos,  Weiden- 
und  Ulmenblättem,  Hunden,  Katzen,  „und  selbst  von  Menschen- 
leichen, imd  es  wurden  Menschen  erschlagen,  um  ihre  Leiber 
zu  grauenvoller  Speise  zu  bereiten**.  Zwar  wurden  derartige 
Verbrechen  mit  dem  Tode  bestraft,  aber  man  konnte  sie  in- 
folge des  großen  Elends  nicht  verhüten.  Um  131 5  ereignete 
sich  Ähnliches  in  Estland  und  Livland  anläßlich  einer  großen 
Hungersnot  3):  „Die  Leute  haben  nicht  allein  ungewöhnliche 
und  wiederige  Thiere  gefressen,  sondern  es  trieb  sie  auch  der 
Himger  zu  anderen  abscheulichen  Thaten,  daß  die  Eltern  ihre 
eigenen  Kinder  zum  Theil  aus  Mitleiden  und  der  Qvaal  ein 
Ende  zu  machen,  umbbrachten,  theils  ihren  Hunger  damit  zu 
stillen,  geschlachtet  und  aufgefressen  haben.    Es  wurden  auch 


1)  Diese  Anekdote  erzählt  Viktor  Hehn  in  seinem  nachgelassenen  Buche 
,,De  moribus  Ruthenorum",  herausgegeben  von  Th.  Schiemann. 

2)  Ausführliche  Schilderung  der  russischen  Hungersnöte  vgl.   bei  Bern- 
hard Stern,   Zwischen  der  Ostsee  und  dem  Stillen   Ozean,   S.    139 — 196. 

3)  Hiärns  Geschichte,   147. 


—    455     — 

von  den  armen  Leuten  des  Nachts  die  Diebe  und  die  Ge- 
richteten von  den  Galgen  und  Rädern  abgestohlen  und  ver- 
zehret. Es  hat  sich  in  der  Zeit  in  einem  in  Jerwen  gelegenen 
Dorff,  Pugget  genennet,  zugetragen,  daß  ein  Knecht  seinen 
leiblichen  Vater  ermordet  und  auffressen  wollen,  ist  aber 
darüber  ergriffen  und  wegen  solcher  Uebelthat  mit  schwerer 
Pein  zu  Tode  gemartert  worden.**  Aus  dem  Jahre  1419  wird 
berichtet,  daß  sich  das  Volk  in  Rußland  während  der  all- 
gemeinen Hungersnot  nicht  bloß  vom  Fleisch  der  Pferde, 
Hunde,  Katzen  und  Mäuse,  sondern  auch  von  Maulwürfen 
und  Menschenleichen  nährte.  Iwan  der  Schreckliche  hatte  das 
wahnsinnige  Verlangen,  das  Schauspiel  einer  verhungernden 
Menschenmasse  zu  genießen;  gleichzeitig  machte  er  sich  das 
seltsame  Vergnügen,  seine  Untertanen  zum  Menschenfleisch- 
essen  zu  zwingen.  Petrus  Petrejus^)  erzählt  nach  Berichten 
seiner  Zeitgenossen:  „Als  Iwan  das  Hauß  Arol  erbawete  vnd 
emewerte  mit  Pasteyen  vnd  Pankering,  ließ  er  die  Arbeiter  vnd 
Bawlewte  von  Hunger  also  verschmachten,  daß  sie  Hungers 
halber  gezwungen  worden,  einen  vnter  sich,  der  am  feistesten 
war,  zu  schlachten,  vnd  erwehreten  sich  also  des  Hungers. 
Die  anderen,  die  Menschen  Fleisch  nicht  essen  mochten,  zwang 
der  Hunger,  daß  sie  ein  Kalb  abschlachteten.  Welches,  da 
es  der  Großfürst  erfuhr,  ließ  er  diejenigen,  die  Kalb  Fleisch 
gefressen,  lebendig  verbrennen  vnd  die  Asche  in's  Wasser 
werffen.  Die  anderen,  die  Menschen  Fleisch  gefressen  hatten, 
wurden  perdoniret  vnd  von  der  Straffe  erlediget.  Denn  bei 
den  Mußkowitem  ist  es  abschewlich  vnd  haltens  vor  größere 
Sünde,  Kalb  Fleisch  essen  als  Menschen.**  Die  Geschichte  jeder 
russischen  Hungersnot  ist  reich  an  Fällen  von  Kannibalismus. 
In  dem  Schreiben  eines  königlich  polnischen  Staatsbeamten,  das 
sich  im  Mecklenburg-Schwerinschen  Archiv  befindet,  heißt  es : 
„Moskaw,  24.  Juni  1570.  Der  Hunger  ist  allhier  in  der  Mos- 
kaw  so  groß,  als  nie  gehöret  oder  gesehen  worden,  daß  auch 
ein  Mensch  den  anderen  auffrießt,  wo  einer  den  anderen  über- 
weldigen  kan;  ja  eß  hauet  ein  Mensch  den  anderen  in  Tonnen 


1)  Historien  vnd  Bericht  vx>n  dem  GroBfürstenthumb  Mußkow.    Leipiig 
1620. 


—    456    — 

vnd  saltzel  ihn  ein,  vnd  frießet,  daß  ein  Grauen  zu  hören."  ^) 
Aus  der  Zeit  der  großen  Teuerung,  die  im  Jahre  1601  begann, 
berichtet  Bussow:  „Mit  Gott  und  der  Wahrheit  zu  bezeugen, 
habe  ich's  "mit  meinen  eigenen  Augen  gesehen,  daß  Menschen 
auf  der  Gasse  gelegen,  im  Sommer  Gras  und  im  Winter  Heu 
wie  das  Vieh  gefressen,  etliche  sind  todt  gewesen  imd  in  deren 
Mäulem  Heu  und  Koth  gestecket,  theils  auch  bona  venia 
Menschenkoth  und  Heu  verschlucket.  Unzählich  viel  Kinder 
sind  von  ihren  Eltern  und  die  Eltern  von  ihren  Kindern,  auch 
der  Gast  vom  Wirthe  und  der  Wirth  wiederum  vom  Gaste 
ertödtet,  geschlachtet,  gekochet,  das  Menschenfleisch  klein  ge- 
hacket, in  Pirogen,  das  sind  Pasteten,  verbacken,  auf  dem 
Marckt  für  ander  Thierfleisch  verkauffet  und  aufgefressen, 
daß  ein  Wandersmann  sich  zur  selbigen  Zeit  wohl  hatte  vor- 
zusehen, bei  wem  er  zur  Herberge  einkehrete.**  Dasselbe  er- 
zählt aus  dem  Hunger  jähr  1570  der  früher  erwähnte  Petrus 
Petrejus,  diesmal  als  Augenzeuge:  „Da  starben  etliche  viel 
tausend  Menschen  von  Hunger,  lagen  in  den  Städten  auff  den 
Gassen  vnd  im  Felde  auff  den  Wegen,  hatten  Häw  vnd  Stroh 
in  den  Mäulem ;  jhrer  viele  aßen  Pferde-Fleisch,  Hunde,  Katzen 
vnd  Ratzen,  Menschenkoth  vnd  dergleichen  vnbequemliche  Ma- 
terien. Etliche  lagen  auff  der  Erden  vnd  saugeten  in  sich  das 
Blut,  das  von  dem  geschlachteten  Viehe,  Schweinen  vnd  Schaf- 
fen außgelauff en  war,  etliche  aßen  sich  vnter  einander  selber : 
In  den  Häusern,  da  viel  Volcks  war,  schlachteten  sie  die  fet- 
testen vnd  fleischvollsten,  viel  Eltern  aßen  jhre  Kinder,  die 
Kinder  jhre  Eltern,  die  Eltern  verkaufften  die  Kinder,  vnd 
etliche  sich  selbst  vmb  ein  gering  Geld.  Ich  sähe  in  der  Stadt 
Mußkow,  daß  ein  armseliges  verschmachtet  Weib  kam  auff 
der  Gassen  gegangen,  vnd  hatte  ihr  leibliches  Kind  auff  dem 
Arme,  vnd  indem  sie  gieng,  fassete  sie  das  Kind  mit  den 
Fäusten,  vnd  vor  großen  Hunger  bieß  sie  ergrimmlich  zwey 
stück  von  des  Kindes  Arm,  aß  also  sitzend  auff  der  Gassen.** 


1)  Vgl.  auch:  Tradescant  der  Aeltere  161 8  in  Rußland,  von  Dr.  J.  Hamel, 
St.  Petersburg  1847,  Seite  149,  Anmerkung  i,  den  Bericht  des  Engländeis 
Jenkinson  vom  8.  August  1571:  .."Der  Hunger  zwang  die  Leute,  ihre  Zuflucht 
in  der  Verzweiflung  zu  Menschenfleisch  zu  nehmen". 


—    457    — 

Im  Buche  des  Franzosen  Margeret  lesen  wir^):  „Mesmes  j*ai 
vu  quatre  femmes  voisines  delaiss^es  par  leurs  maris  les  quelles 
ayant  complott^  ensemble  que  Tune  iroit  au  march^  pour 
achepter  une  voiture  de  bois ;  cela  fait,  eile  promettant  le  paye- 
ment  au  paysant  en  son  logis,  mais  apres  d^charg^  le  bois 
entra  dans  le  poisle  pour  recevoir  son  payement,  il  fut  estrangle 
par  ces  femmes,  et  mis  en  lieu  oü  par  le  gelde  il  se  pouivoit 
garder,  attendant  que  son  cheval  fut  premierement  par  elles 
mang^;  cela  d^couvert  confesserent  le  fait,  et  que  le  corps 
dudit  paysant  estoit  le  troisi^me.**  Damals  herrschte  auch  in 
Livland  und  Lettland  große  Hungersnot,  und  selbst  in  diesen, 
der  Zivilisation  näherstehenden  Provinzen  nährte  sich  das  Volk 
häufig  von  Menschenfleisch  2) :  „Man  stillte  den  Hunger  mit  toten 
Pferden,  Hunden,  Katzen  und  Ratzen,  und  dergleichen  unnatür- 
lichen Dingen.  Da  sie  einen  Hund  angetroffen,  so  an  einem  todten 
Menschen-Cörper  genaget,  haben  sie  selbigen  wiederum  ge- 
schlachtet und  aufgefressen,  und  daß  die  Uebelthäter,  sobald 
sie  gerichtet,  von  den  Galgen  oder  Räder  herabgerissen  wor- 
den, mit  deren  Fleisch  die  elenden  Leute  ihren  Hunger  zu 
stillen  gesuchet.  Man  hat  des  Winters  allenthalben  todte  Men- 
schen gefunden,  die,  an  roh  Fleisch  der  Aeser  nagend,  ge- 
storben waren,  und  solch  Fleisch  noch  im  Munde  behalten. 
Aber  das  allerabscheülichste  ist,  daß  ein  Mensch  den  andern, 
ja  die  Eltern  die  Kinder  gefressen,  welches  dermahlen  unter 
den  Bauern  nicht  ungemein  gewesen.  Unter  andern  hat  im 
Bersonschen  ein  Bauemmagdt  ihre  drey  Brüder  und  vier 
Schwestern,  so  alle  jünger,  als  sie  gewesen,  abgethan,  und  das 
Fleisch  in  Tonnen  verwahret,  damit  ihr  Leben  auf  längere  Zeil 
zu  erhalten;  wie  es  aber  offenbar  und  die  Magdt  ergriffen  wor- 
den, hat  sie  der  Hauptmann  zu  Berson  gefraget:  wie  sie  sich 
unterstehen  können,  Menschenfleisch  zu  fressen?  Darauf  sie 
zur  Antwort  gegeben :  daß,  wo  es  ihr  hinfüro  zugelassen  würde, 
wolte  sie  sich  kein  süßeres  Fleisch,  als  der  Menschen,  wünschen.'* 
Die  Herrschaft  der  Romanows  begann  mit  einer  furcht- 
baren Hungersnot.    Als  1615,  zwei  Jahre  nach  dem  Regierungs- 


1)  Estat  de  T  Empire  de  Rvssie  et  dv  grand  Dvch6  de  Moscovie,  Paris  1607. 
•)  Hiäms  Geschichte,  384. 


—    458    — 

antritt  Michaek^  der  holländische  Gesandte  Antonius  Goeteeris^i 
in  Rußland  war^  mußte  er  schauervolle  Bilder  des  Elends  mit 
ansehen.  Abermals  litt  Nowgorod  am  meisten.  Im  Winter  des 
genannten  Jahres  starben  hier  18000  Menschen  den  Hungertod. 

Wir  müssen  auf  diese  Berichte  aus  alten  Zeiten  Nachdruck 
legen,  weil  sich  heute  tagtäglich  dasselbe  wiederholt.  Die 
russische  Regierung  hat  seit  Witte  und  Kokowzew  von  euro- 
päischen Geldmännem  nicht  weniger  als  zwanzig  MiUiarden 
Francs  erhalten,  aber  nichts  ist  davon  verwendet  worden,  um 
die  vierzig  Millionen  Menschen,  die  seit  Jahren  hungern,  aus 
dem  Elend  zu  befreien.  Hunderte  Millionen  Rubel  werden 
aus  dem  Staatsschatze  zwar  für  die  Bekämpfung  der  Not  an- 
gewiesen, aber  keine  einzige  dieser  Millionen  wird  ihrem  Ziele 
zugeführt;  das  Stehlen  der  Hilfsgelder  beg^nt  schon  beim 
Minister,  und  was  hier  übrig  gelassen  wird,  bleibt  bei  den  Diebs- 
kreaturen niedrigeren  Ranges  hängen.  Ein  klassisches  Beispiel 
hierfür  ist  die  Affäre  des  Vizeministers  Gurko,  der  durch  Ver- 
mittlung der  Korsettenverkäuferin  Esther  mit  dem  Liferanten 
Lidwall  einen  Vertrag  abschließt,  um  wieviel  Millionen  Rubel 
Getreide  für  die  Hungergebiete  nicht  geliefert,  sondern  unter- 
schlagen werden  soll. 

Wie  zur  Zeit  des  Zaren  Boriß  oder  des  Kaisers  Nikolaj  I. 
ist  es  auch  heute  verboten,  das  Bestehen  einer  Hungersnot  zu- 
zugeben. Dem  französischen  Forscher  Alexander  Ular,  der 
die  russischen  Hungergebiete  bereisen  wollte,  erklärte  der  Fi- 
nanzminister Kokowzew 2):  „Die  Hungersnot  ist  ein  Mythus." 
Aber  in  einer  Denkschrift  von  Witte  heißt  es  wörtlich:  „Bei 
normaler  Ernte  bleibt  das  Ernährungsquantum  des  Bauern 
duchschnittlich  um  30  Prozent  unter  dem  zur  Aufrechterhal- 
tung der  Kräfte  eines  erwachsenen  Landarbeiters  physiolo- 
gisch notwendigen  Minimum."  Das  letzte  Jahr  blieb  hinter  der 
normalen  Ernte  noch  um  hundert  Millionen  Meterzentner  Ge- 
treide zurück,  und  trotzdem  wurden  um  hundert  Millionen  mehr 
ausgeführt.    Die  einfachste  Rechnung  ergibt  die  Notwendigkeit 


1)  Vgl.  dessen  „Journal  der  Legatie,  Jn's  Graven-Hage,   1619". 
•)  Vgl.  den  Bericht,  den  Alexander  Ular  über  seine  Erlebnisse  in  Rußland 
gab,  in  Nr.  1547  der  „Zeit"  (Wien,  13.  Januar  1907). 


—     459     — 

des  Verhungerns  von  40  Millionen  Untertanen  des  Zaren.  „Das 
Landvolk  an  der  Wolga  und  in  Zentralrußland  stirbt  aus,*' 
klagte  Fürst  Lwow  im  Winter  1906/07,  ,,das  Volk  vegetirt 
von  einem  Tag  zum  anderen,  ohne  Hoffnung,  den  Frühling 
zu  erleben.  Riesige  Landstriche  sind  ohne  alle  Lebensmittel 
für  Menschen  und  Vieh.  Vieh  verkauft  man  zu  Fellpreisen.  In 
manchen  Gegenden  nährt  sich  die  Bevölkerung  von  Gras  und 
Wurzeln  oder  sammelt  Eichenlaub  und  Eicheln  als  Nahrungs- 
mittel. Nicht  bloß  die  Bauern,  auch  die  mittleren  Gutsbesitzer 
haben  mehr  kein  lebendes  Inventar.  In  14  Dörfern  von  33 
im  Gouvernement  Ssamara  fand  ich,  daß  beim  Brodbacken  den 
gemahlenen  Eicheln  nicht  einmal  Roggenmehl  zugefügt  wurde. 
Eicheln  bilden  die  Hauptnahrung  für  Millionen  von  Bauern  seit 
September  1906.  Ist  es  da  ein  Wunder,  daß  die  Menschen, 
zernagt  von   Skorbut,  wie  Fliegen  dahinsterben?'* 

Und  wem  bürdet  die  Regierung  die  Verschuldung  dieses 
Zustandes  auf.  Dem  Volke!  Ein  offizieller  Bericht  aus  dem 
Gouvernement  Jaroßlaw  schildert  folgendermaßen  die  alles 
Übel  verursachende  „Indolenz  der  Bauern**^):  „Die  Bevölke- 
rung verhungert  auf  dem  besten  Weizenboden,  weil  ihr  der 
Wille  zu  ausdauernder  und  umsichtiger  Arbeit  und  zur  Aus- 
nützung der  landwirtschaftlich-technischen  Fortschritte  fehlt. 
So  klagen  die  Bauern  im  Bezirke  Ronianow-Borissoglewsk  nicht 
üb^  zu  wenig  Land,  sondern  über  die  geringen  Erträge,  die 
sie  dem  Boden  abzugewinnen  vermögen.  Daß  aber  nicht  etwa 
die  Beschaffenheit  dieses  Bodens,  sondern  die  Bauern  selbst 
daran  schuld  sind,  geht  daraus  hervor,  daß  ein  aus  einem  an- 
deren Gouvernement  zugezogener  Landwirt  9000  Pud  Heu  auf 
einem  Pachtgute  erntete,  auf  dem  der  frühere  Besitzer  nicht 
mehr  als  2000  Pud  gewann.  Wie  rückständig  die  Bauern  im 
Gouvernement  Jaroßlaw  sind,  erhellt  auch  daraus,  daß  auf 
ihren  Dörfern  Gemüsegärten  unbekannte  Dinge  sind.  Auf  be- 
stimmten Ackerflächen  zieht  man  so  gut  es  geht  verschiedene 
Getreidearten,  und  darin  erschöpft  sich  die  ganze  bäuerliche 
Wissenschaft.  Gemüse,  die  man  für  den  Haushalt  nötig  hat, 
selbst  den   unentbehrlichen  Kohl  kauft  man  von  den  Markt- 


1)  HoBoe  BpcMH.    11/24  III  1906. 


—     460     — 

gärtnern  der  kleinen  Städte.  Kein  Wunder,  daß  die  Not 
schrecklich  ist,  wenn  diese  Bauern  einmal  mit  dem  Getreide, 
das  sie  anbauen,  eine  schlechte  Ernte  haben.  Statt  sich  nach 
den  guten  Vorbildern  und  Lehrmeistern  zu  richten,  welche 
die  russische  Landbevölkerung  besonders  an  den  deutschen 
Gnmdbesitzern  und  Pächtern  hat,  verharrt  sie  im  allgemeinen 
in  einer  Indolenz,  die  jeder  Verbesserung  feindlich  gegenüber- 
steht.** Aber  wer  anders  fördert  diese  Indolenz  als  die  Regie- 
rung? Diese  Regierung,  die  den  Aberglauben  zu  Hilfe  ruft, 
um  das  Volk  in  seinem  Elend  zu  erhalten !  Vor  kurzem  ^) 
reisten  zwei  russische  Damen  auf  ihre  Güter  im  Gouverne- 
ment Tambow  ab,  um  dort  in  den  von  der  Hungersnot  heim- 
gesuchten Ortschaften  teils  aus  eigenen,  teils  aus  Mitteln,  die 
von  der  Ökonomischen  Gesellschaft  beigesteuert  wurden. 
Speisehallen  zu  errichten.  Vor  ihnen  jedoch  kam  beim  Gou- 
verneur folgende  Depesche  an:  ,,Zwei  Subjekte  von  jüdischem 
Typus  (beide  Damen  sind  blonde,  blauäugige  Vollblutrussin- 
nen) reisen  zu  widergesetzlichen  Zwecken  unter  dem  Vorwand 
der  Errichtung  von  Speisehallen  ins  Gouvernement;  diese  Pro- 
paganda ist  zu  unterdrücken.**  Man  wagte  nicht,  die  Damen 
arretieren  zu  lassen;  da  half  sich  der  Gouverneur,  indem  er 
an  das  abergläubische  Gewissen  der  Bauern  appellierte.  Als 
die  wohltätigen  Frauen  die  Namen  der  Notleidenden  aufzu- 
schreiben begannen,  schrien  die  Bauern,  wie  der  Pope  im 
Auftrag  des  Gouverneurs  sie  gelehrt  hatte :  „Ihr  seid  der  Anti- 
christ! Ihr  seid  vom  Teufel  geschickt,  um  uns  zu  notieren, 
damit  wir  in  die  Hölle  kommen.  Zehnmal  besser  ist  es,  vor 
Hunger  zu   sterben   und   in  den  Himmel  zu  gelangen.** 

Wie  bei  der  Hungersnot  ist  der  Aberglaube  auch  bei  den 
Epidemien  in  Rußland  eine  ständige  Begleiterscheinung.  Der 
mönchische  Chronist  Nestor  bezeichnet  im  elften  Jahrhundert 
über  den  Ursprung  einer  Epidemie :  eine  ungeheure  Schlange 
fiel  vom  Himmel  herab,  und  böse,  den  Sterblichen  unsichtbare 
Geister  ritten  Tag  und  Nacht  in  Polozk  umher  und  töteten 
die  Einwohner  hinterrücks.  Der  schwarze  Tod  hat  allerdings 
in  westlichen  Ländern  ebenfalls  genug  Anlaß  zu  abergläubi- 


1)  ülar  a.  a.  O. 


--     461     — 

sehen  Phantastereien  gegeben.  In  Rußland  wütete  die  Pest 
furchtbarer  als  irgendwo  sonst.  In  Smolensk  blieben  nach 
einer  Epidemie  im  Jahre  1387  nach  den  Berichten  der  zeit- 
genössischen Chronisten  ,,nur  drei  Menschen  übrig,  welche 
die  mit  Leichen  angefüllte  Heimat  schaudernd,  verließen  und 
die  Tore  der  ausgestorbenen  Stadt  verschlossen.**  Es  ist  be- 
greiflich, daß  Rußland  im  Mittelalter  nicht  aufgeklärter  sein 
konnte,  als  Europas  Länder.  Im  fünfzehnten  Jahrhundert 
folgte  ein  Pest  jähr  dem  anderen;  141 9  beschlossen  diePskower 
endlich,  um  die  Seuche  zu  bannen,  zwölf  Hexen  zu  schlach- 
ten. Aber  das  Mittel  half  nicht.  Es  erschienen  vielmehr  neue 
drohende  Zeichen:  der  Himmel  flammte  in  seltsamen  Farben, 
das  Wasser  "wandelte  sich  in  Blut,  die  Heiligenbilder  weinten, 
wilde  Tiere  änderten  ihre  Gestalt.  Der  Aberglaube  sah  noch 
entsetzlichere  Zeiten,  als  bisher  gewesen,  kommen,  und  die 
Tatsachen  bestätigten  die  Prophezeiungen  der  Wahrsager  und 
Priester:  Von  1462  bis  1465  starben  in  Pskow  und  Nowgorod 
allein  250652  Menschen.  Immer  und  immer  wieder  ist  es 
Nowgorod,  das  vom  Unglück  heimgesucht  wird.  1 506  herrschte 
dort  „eine  ansteckende  Krankheit  mit  Drüsengeschwülsten**, 
wahrscheinlich  die  Drüsenpest;  in  wenigen  Wochen  wurden 
15000  Menschen  von  dieser  Seuche  hingerafft.  1522  wütete 
in  Pskow  die  Pest.  Bei  dem  regen  Handelsverkehr  zwischen 
Pskow  und  Nowgorod  war  das  Eindringen  der  Epidemie  nach 
Nowgorod  unvermeidlich;  und  in  wenigen  Wochen  starben 
in  letzterer  Stadt  und  der  Umgegend  fast  alle  Menschen  aus, 
beinahe  500000.  Die  Krankheit  wich  „dank  einer  Wasser- 
weihe des  Metropoliten  Simeon  Tschornij,**  in  Wahrheit,  weil 
sie  keine  Opfer  mehr  fand.  Ebenfalls  500000  Menschen  star- 
ben in  Nowgorod  und  Pskow  1561  an  einer  unbekannten  Krank- 
heit.   Ein  gräßliches  Seuchenjahr  war   1654.^)   Die  Zarenresi- 


1)  In  den  Berichten  der  europäischen  Zeitgenossen  ist  von  diesem  Pest- 
jahre nur  wenig  die  Rede  gewesen.  Erst  Professor  Brückner  hat  vor  einigen 
Jahren  in  der  Zeitschrift  für  allgemeine  Geschichte  diese  entsetzliche  Epidemie- 
periode aufgeklärt.  Olearius  gedachte  in  seiner  „Reyßbeschreibung"  nur  ober- 
flächlich ..einer  in  Rußland  herrschenden  Krankheit",  um  sogleich  hinzu- 
zufügen: ..aber  sonst  ist  in  Rußland  von  pestilenzischen  Krankheiten  oder 
großen  Sterben  nicht  viel  zu  hören".     Ebenso  lobte  der  Venezianer  Alberto 


—    462    — 

denz  wurde  vollständig  entvölkert.  Fürst  Pronskij,  der  nach 
der  Flucht  der  Zarenfamilie  und  des  Patriarchen  Nikon  in  der 
sterbenden  Residenz  als  Wächter  zurückblieb^  sandte  im  Sep- 
tember 1654  ein  Schreiben  an  den  Herrscher,  das  wie  ein 
erschütterndes  Klagelied  klingt  mit  seinem  furchtbaren  Refrain : 
„Alle  gestorben** :  „O  Herr,  die  Pest  ist  von  Tag  zu  Tag  stärker 
geworden.  Nur  wenige  von  den  rechtgläubigen  Christen  sind 
noch  vorhanden,  und  in  sechs  Regimentern  sind  alle  Soldaten 
gestorben.  In  den  übrigen  Regimentern  liegen  viele  krank  dar- 
nieder, die  anderen  sind  gestorben.  Der  Chef  der  Streljzy  ist 
gestorben.  Die  meisten  Hundertmänner  sind  gestorben. 
Kathedralen  und  Kirchen  stehen  leer,  die  Priester  sind 
fast  alle  gestorben.  Nur  in  der  großen  Kathedrale  sind 
noch  drei  Priester  am  Leben  geblieben,  die  anderen  sind  ge- 
storben. Es  ist  kaum  jemand  da,  der  die  Toten  beerdigen 
könnte;  die  Fuhrleute  sind  alle  gestorben.  Alle  Ämter  sind 
geschlossen,  die  Beamten  und  Schreiber  sind  alle  gestorben. 
Und  auch  uns,  deinen  Sklaven,  droht  ein  schrecklicher  Tod.** 
Wenige  Stunden  nach  Abfertigimg  seines  Briefes  war  Fürst 
Pronskij  eine  Leiche;  sein  Nachfolger  Fürst  Chilkow  starb  am 
nächsten  Tage.  Im  Winter  hatte  die  Seuche  ein  Ende,  weil 
sie  keine  Opfer  mehr  fand;  Patriarch  Nikon  kehrte  zuerst 
zurück ;  er  ließ  alle  Hunde  totschlagen  und  die  Stadt  säubern ; 
dann  hielt  der  Zar  wieder  seinen  Einzug  in  die  Residenz,  ge- 
folgt von  den  übrigen  Flüchtlingen.  Von  den  200000  Men- 
schen, die  beim  Ausbruch  der  Seuche  in  Moskau  zurückge- 
blieben waren,  hatte  kaimi  einer  von  hundert  die  Zeit  der 
Not  überlebt.  Von  Moskau  hatte  sich  trotz  der  strengen  Ab- 
sperrungsmaßregeln die  Epidemie  durch  das  ganze  Reich  ver- 

Vimina,  der  1655  in  Rußland  war,  das  gesunde  Klima  des  Landes:  ,,Die  Russen 
sind  stark,  erreichen  ein  hohes  Alter,  und  von  Pestkrankheiten  unter  ihnen 
hört  man  nicht  viel".  Damals  war  übrigens  ganz  Europa  von  Epidemien  furcht- 
bar heimgesucht  (vgL  Haesers  Geschichte  der  epidemischen  Krankheiten).  Aber 
was  war  das  gegen  die  Verheerungen  der  Seuche  in  Rußland!  Für  je  1000, 
die  in  Europa  von  der  Pest  hingerafft  wurden,  fielen  ihr  in  Moskowien  zehn- 
tausend zum  Opfer.  Der  englische  Leibarzt  des  Zaren,  Samuel  CoUins  (vgl. 
dessen  „State  of  Russia",  London  1667,  45)  war  der  einzige,  der  die  Wahrheit 
kannte;  er  schätzte  die  Zahl  der  1654  in  Rußland  von  der  Seuche  Gemordeten 
auf  4  800  000. 


—    468    — 

breitet  und  jahrelang  fortgewütet.  Wie  Boriß  Godunow  1604 
dafür  Sorge  trug,  daß  Europa  nichts  von  der  damaligen 
Hungersnot  in  Rußland  erfahren  sollte,  so  befahl  jetzt  Zar 
Alexej,  vor  dem  venezianischen  Gesandten  Vimina  die  Ver- 
heerungen der  Pest  zu  verheimlichen;  und  Vimina  bemerkte 
wirklich  nichts  mehr;  „non  si  sente  il  saggio  di  morbo  pesti- 
lenziale,**  schrieb  er.i) 

Und  hundertundzwanzig  Jahre  später  wiederholt  sich  das- 
selbe entsetzliche  Schauspiel,  als  1771  die  Pest  Moskau  aber- 
mals verheert.2)  Die  Seuche  brach  im  Süden  aus  und  kam 
1770  nach  Kijew  durch  eine  Katze.  Die  Regierung,  statt  die 
Krankheit  zu  bekämpfen,  befahl  sie  zu  verschweigen :  die  Pest 
mußte  Fleckfieber  heißen.  Die  Ärzte  rapportierten  gehorsam 
über  ein  hitziges,  faulendes  Fleckfieber  mit  Geschwüren.  Gegen 
dieses  Fieber  traf  man  keine  Maßregeln,  es  grassierte  weiter. 
Einige  Tage  später  starben  bereits  Tausende  in  wenigen  Stun- 
den, und  für  Rettung  war  es  zu  spät.  Auch  in  Moskau  wurde 
die  Pest  zuerst  als  Fieber  deklariert. 

Die  Regierung  Alexanders  I.  war  wie  von  Hungersnot 
auch  von  Seuchen  fast  ganz  verschont.  Unter  der  Regierung 
Nikolajs  I.  erschien  die  Cholera,  um  fortan  in  Rußland  ihren 
Lieblingsaufenthalt  zu  nehmen,  dort  mit  kurzen  Unter- 
brechungen bis  auf  den  heutigen  Tag  fortzudauern,  und  von 
Zeit  zu  Zeit  dieselben  Verheerungen  in  einzelnen  Gegenden 
anzurichten  wie  in  früheren  Zeiten  die  Pest.  Letztere  trat 
zum  letzten  Male  in  furchtbarer  Weise  1878  in  Astrachan 
auf.  Man  gab  sie  nach  alter  Methode  für  eine  Typhusepidemie 
aus,  sperrte  die  Stadt  einfach  ab,  als  das  Übel  sich  verschlim- 
merte, imd  ließ  die  Bevölkerung  hilflos  aussterben.  Die  letzte 


^)  Vgl.  die  letzte  Anmerkung. 

2)  Diese  Epidemie  konnte  vor  Europa  nicht  mehr  verheimlicht  werden, 
und  Katharina  II.  war  daher  weise  genug,  aus  dem  Unglück  wenigstens  Reklame 
für  sich  und  ihren  Günstling  Orlow  zu  schlagen,  dem  sie,  weil  er  die  Pest  be- 
siegte, als  diese  sich  schon  gesättigt  hatte,  Triumphpforten  errichtete  und  Me- 
daillen prägte.  Die  Zeitgenössen  haben  dem  Pest  jähr  1771  ausführliche 
Berichte  gewidmet.  Vgl.  die  zusammenfassende  Schilderung  von  Prof.  Brückner, 
Russische  Revue,  Bd.  XXII.  Über  die  1771er  Pest  in  Kijew:  Büschings  Magazin 
VIT,  216 — 232  („Reise  von  Petersburg  nach  der  Moldau"). 


—    464    — 

große  Cholera-Epidemie  herrschte  1892;  sie  forderte  mehr  als 
400000  Menschenopfer. 

Die  Geschichte  des  Hungers  und  der  Pest  in  Rußland 
ist  eine  krasse  Illustration  des  Satzes,  daß  Rußland  sich  nicht 
ändere.  Durch  tausend  Jahre  zeigt  sich  immer  dasselbe  Bild 
des  Elends,  dieselbe  Niedertracht  der  Tschinowniki,  die  an- 
fangs verheimlichen,  um  ihre  Fehler  nicht  eingestehen  zu 
müssen,  und  dann  stehlen,  was  zur  Linderung  der  Not  dienen 
soll.  1891  konstatierte  Ssu worin,  der  Herausgeber  der  im 
Dienste  der  Regierung  stehenden  Nowoje  Wremjä,  daß  die 
Verspätung  der  Maßnahmen  eine  allgemeine  Erscheinung  war : 
„Diese  Verspätung  hat  die  Folgen  des  Notstandes  für  Men- 
schen und  Tiere  verschärft.  Niemals  noch  hatte  Rußland  in- 
folgedessen einen  solchen  Verlust  an  Pferden  zu  verzeichnen 
wie  in  diesem  unglücklichen  Jahre.  Ein  Jäger  hat  mir  erzählt, 
daß  er  jetzt  als  Fraß  für  seine  Hunde  Pferde  um  fünfzig  Ko- 
peken das  Stück  kauft.  Ja,  wenn  man  rechtzeitig  Maßregeln 
ergriffen  hätte  1**  Trotz  des  fruchtbaren  Bodens  bleibt  das 
Hungerelend  unausrottbar;  und  unausrottbar  trotz  der  Fort- 
schritte der  ärztlichen  Wissenschaft  sind  in  Rußland  die  Epi- 
demien. Denn  mächtiger  als  alle  Wissenschaft  ist  der  Aber- 
glaube. 

28.  Medizin  und  Aberglaube. 

Wissenschaft  als  gottlos  verpönt  —  Die  ersten  Arzte  in  Rußland  —  Ermordung 
der  Ärzte  durch  Fanatiker  —  Die  Hofärzte  Iwans  des  Schrecklichen  —  Das 
erste  russische  Medizinbuch  —  Begründung  von  Apotheken  —  Die  Arzte  des 
Zaren  Boriß  —  Seltsame  Prüfung  eines  Arztes  —  Stellung  der  Hofarzte  — 
Der  Arzt  und  die  Zarin  —  Verdächtigung  der  Arzte  —  Ermordung  der  Arzte 
unter  der  Regentin  Sofia  —  Die  Arzte  dürfen  nur  dem  Zaren  dienen  —  Apo- 
theken gehören  dem  Zaren  —  Verhalten  des  Volkes  gegen  die  Arzte  —  Peters 
Bezeichnung  für  Arzte  —  Wie  Peter  die  Treue  seines  Leibarztes  erprobt  — 
Peter  der  Große  als  Chirurg  —  Züchtung  von  Zwergen  und  Riesen  —  Das 
Kunstkabinett  —  Sammlung  von  Mißgeburten  und  Geschlechtsteilen  —  Peter 
benützt  nur  abergläubische  Heilmittel  —  Heiliges  Wasser  —  Der  Wundertäter 
Alexej  als  Augenarzt  —  Heiligenbilder  als  Heilmittel  —  Ermordung  des  Erz- 
bischofs Ambrosij  —  Menschenopfer  —  Ermordungen  von  Mädchen.  Kranken 
und  Greisen  —  Parallelen  aus  Sibirien  und  Albanien  —  Aus  der  germanisch- 
slawischen  Urzeit  —  Massenhaftigkeit  der  Menschenopfer  in  Rußland  —  Assistenz 


—    465    — 

der  Dorfverwaltungen  und  Dorfpolizei  —  Leichenschändungen  —  Dpr  GebfßMfih 

des  Umpflügens  —  Volksmedizin,  Grausamkeit  und  Aberglaube  ^-  Ans  der 

Volksmedizin  der  nichtrussischex;  Völker  in  Rußland. 

Nicht  Historiker,  sondern  Schmeichler  waren  es,  welche 
die  Behauptung  aufstellten,  daß  die  Medizin  als  Wissenschaft 
in  Rußland  schon  in  frühester  Zeit  Eingang  gefunden  hätte. 
Die  russischen  Chronisten  selbst  berichten  nur  darüber,  daß' 
die  Russen  in  Krankheitsfällen  die  Hülfe  von  Zaubererri  in 
Anspruch  nahmen  oder  sich  der  Heilkunst  erfahrener  Weiber 
anvertrauten.  In  Kijew  gab  es  zwar  zur  Zeit  des  Wladimir 
Monomach  einige  berühmte  armenische  Ärzte  i);  „einer  von 
ihnen  war  so  geschickt,  daß  er  schon  beim  ersten  Anblick 
eines  Kranken  sagte,  ob  die  Heilung  möglich  sei;  oder,  falls 
Letzteres  nicht  der  Fall  war,  prophezeite  er  genau  den  Tag 
des  Todes.**  Aber  außer  diesen  armenischen  Ärzten  hatte  die 
Medizin  in  Rußland  keine  Vertreter.  Die  Russen  selbst  lern- 
ten nichts,  Bildung  erschien  ihnen  als  Gottlosigkeit.  Ausländer 
galten  als  Heiden  oder  Ketzer.  Während  der  Mongolenherr- 
schaft war  keine  Rede  von  Ärzten  oder  Medizin. 2)  Der  mosko- 
witische  Großfürst  Iwan  III.  berief  gegen  Ende  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  piehrere  ausländische  Ärzte  nach  Moskau,  die 
nach  russischer  Sitte  in  den  Chroniken  nur  mit  ihren  Vor- 
namen erwähnt  werden.  Unter  ihnen  befanden  sich  Anton 
der  Deutsche  und  der  Jude  Leon,  den  ein  russischer  Gesandter, 
der  jiach  Rom  geschickt  war,  von  dort  mitgebracht  hatte. 
Beide  Ärzte  fielen  dem  Fanatismus  des  russischen  Volkes  zum 
Opfer;  die  gottlosen  Männer,  die  sich  vermaßen,  Menschen 
kiuieren  zu  wollen,  starben  eines  gewaltsamen  Todes. 3)  Als 
Nachfolger  dieser  ermordeten  Hofärzte  werden  von  zeitgenös- 
sischen Chroniken  genannt :  Theophil,  der  Grieche  Mark,  Niko- 
laj   Lujew*)   oder  Nikolaj   Buhle  ^),  beigenannt  der  Deutsche 


1)  Chronique  de  Nestor,  II  Anhang  172. 

s)  Vgl.  Richters  Geschichte  der  Medizin  in  Rußland.  —  Eine  vollständige 
Zusammenstellung  der  Zeugnisse  aus  russischen  Chroniken  findet  man  ber 
JI.  9.  SirfeeKB,  Btuioe  BpaneÖHott  Poccin,  C.-UeTepöyprB  1890. 

5)  Reinholdt,  Geschichte  der  russ.  Literatur,  211. 
^)  So  heißt  er  bei  Gerebtzoff,  Essai  I  426. 

6)  Reinholdt  a.  a.  O.  173. 

Stern,  Geschichte  der  Offentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.  30 


—    466    — 

(Nikolaj  Njemtschin) ;  endlich  auch  zwei  Russen,  die  Brüder 
Roleff.  Iwan  IV.  hatte  ab  Hofärzte:  Amolf  Lensey,  Elisej 
Bomelij^  Standich  i),  Johann^  Richard  Elms  und  den  Engländer 
Jacoby,  der  1581  mit  besonderen  Empfehlungen  der  Köni- 
gin Elisabeth  nach  Moskau  gekommen  war.  Auch  dem  Sohne 
Iwans,  dem  Zaren  Theodor,  schickte  Elisabeth  ihren  Leib- 
arzt Marc  Ridley,  der  fünf  Jahre  in  Moskau  blieb.  Neben 
dem  früheren  Hofarzt  Jacoby  und  dem  Engländer  Ridley  trat 
besonders  der  Milanese  Paolo  hervor.  Als  der  Letztgenannte 
in  seine  Heimat  zurückkehren  wollte,  erhielt  er  hierzu  nicht 
die  Erlaubnis,  und  König  Heinrich  IV.  von  Frankreich  mußte 
zu  seinen  Gunsten  beim  Zaren  Theodor  intervenieren,  indem 
er  sich  erbot,  als  Ersatz  für  Paolo  „einen  Mann  derselben 
Profession,  dessen  Lehren  und  Treue  den  Zaren  zufrieden- 
stellen würden**  zu  senden.^)  Unter  Theodor  Iwanowitsch  er- 
schien das  erste  russische  Medizinbuch  (als  Handschrift)  im 
Jahre  1588,  und  vier  Jahre  später  gab  es  zum  ersten  jÄaAe 
in  Rußland  eine  Quarantäne  in  Rjew  als  Maßregel  gegen  eine 
Epidemie.  Auch  der  Begründer  der  russischen  Apotheken, 
der  Engländer  Frenchham,  wurde  damals  von  Elisabeth  emp- 
fohlen und  arbeitete  in  Moskau  gleichzeitig  mit  dem  Holländer 
Klausen.3)  Nach  der  Thronbesteigung  des  Zaren  Boriß  Gctdu- 
now  kehrte  der  Engländer  Ridley  nach  London  zurück;  Elisa- 
beth schickte  statt  seiner  sofort  den  Doktor  Willis  nach  Moskau. 
Doktor  Willis  wurde  von  dem  Djak  (Hofsekretär)  Wassilij 
Schtschelkalow  einer  seltsamen  Prüfung  unterzogen:  „Hast  du 
Bücher  ujid  Arzneimittel  nütgebracht  ?  Welche  Grundsätze  be- 
folgst du  ?  Beziehst  du  dich  bei  deiner  Beurteilung  der  Krank- 
heiten auf  den  Puls  oder  auf  die  Beschaffenheit  der  Säfte  im 
Körper  ?**  Willis  entgegnete :  „Jch  habe  meine  Bücher  in  Lübeck 
gelassen  und  bin  als  Kaufmann  weitergereist,  weil  man  in 
Deutschland  und  anderen  Ländern  den  Ärzten,  die  nach  Ruß- 
land gehen,  nicht  günstig  gesinnt  ist.  Mein  bestes  Buch  habe 
ich  im  Kopfe.  Arzneimittel  werden  vom  Apotheker,  nicht  vom 

1)  Mehrere  dieser  Namen  sind  offenbar  verstümmelt. 

2)  Dieser  noch  vorhandene  Brief  des   Königs  Heinrich  ist  das  älteste 
Dokument  der  offiziellen  französisch-russischen  Beziehungen. 

•)  Karamsin,  IX  374,  Anmerkung  292. 


—     467     — 

Arzte  hergestellt.  Für  einen  erfahrenen  Beobachter  sind  der 
Pub  und  die  Beschaffenheit  der  Säfte  von  gleicher  Wichtig- 
keit.** Der  Djak  Schtschelkalow  erklärte  daraufhin  den  Leib- 
arzt der  Königin  Elisabeth  für  einen  Ignoranten;  und  nach  dein 
Bericht  seines  Vertrauensmannes  schickte  Zar  Boriß  den  Doktor 
Willis  wieder  fort.  Nunmehr  erhielt  der  zarische  Übersetzer 
Reinhold  Beckmann  den  Auftrags  nach  Deutschland  zu  reisen 
und  deutsche  Ärzte  für  den  Zarenhof  anzuwerben.  Beckmann 
brachte  mit  sich:  Christoph  Ritlengher  oder  Reitlinger  (an- 
geblich aus  Ungarn),  David  Vasmer,  Kaspar  Fiedler,  Johann 
Hilke  aus  Livland  und  Heinrich  Schroeder  aus  Lübeck.  Jeder 
dieser  Hofärzte  erhielt  200  Rubel  jährUch,  ein  Lehng^t,  Be- 
dienung, Kost  und  Pferde.  Zar  Boriß  verlieh  den  Hofärzten 
auch  zum  ersten  Male  das  Patent  der  russischen  Doktorwürde. 
Die  Hofärzte  hatten  keine  beneidenswerte  Stellung.  Zu 
einem  hohen  Patienten  gerufen,  mußten  sie  sich  streng  nach 
dem  Zeremoniell  verhalten,  und  ihre  Meinung  durften  sie  nicht 
frei  heraussagen.  Noch  peinlicher  war  die  Situation,  wenn 
gar  die  Zarin  des  ärztlichen  Rates  bedurfte.  Selbst  die  Ge- 
mahlin des  aufgeklärten  Alexej  duldete  anfangs  nicht,  daß 
der  Arzt  in  ihrem  Zimmer  erschien;  endlich  gab  sie  nach, 
aber  die  Fenster  wurden  so  verhängt,  daß  der  Arzt  die  Patien- 
tin nicht  sehen  konnte.  Die  Zarin  streckte  bloß  ihren  Arm 
hervor,  damit  der  Arzt  den  Puls  fühlte,  aber  vorsichtigerweise 
war  der  Arm  nüt  einem  Tuche  umhüllt,  um  die  Berührung 
eines  nackten  Körperteiles  der  heiligen  Zarin  durch  den  Arzt 
zu  verhüten. 1)  Die  Hofärzte  standen  unter  strenger  Bewachung : 
Als  Baron  Mayerberg,  der  Gesandte  des  Kaisers  Leopold,  in 
Moskau  erkrankte,  bat  er  den  italienischen  Leibarzt  des  Zaren 

1)  Mayerberg,  Voyage  1688,  304  (Neudruck  II  117).  —  Wie  in  Rußland  die 
alten  Gebräuche  fortdauern,  geht  aus  nachfolgendem  hervor :  Kaiserin  Alexandra, 
Gemahlin  Nikolajs  II.,  erkrankte  an  Bronchitis.  Der  Leibarzt  Botkin  woUte  die 
Zarin  auskultieren;  die  Patientin  aber  weigerte  sich,  ihre  Brust  zu  enthüllen, 
weil  eine  Zarin  sich  einem  fremden  Manne  nicht  entblößt  zeigen  durfte;  Botkin 
begab  sich  darauf  zum  2^en  und  erfuhr  hier,  daß  bisher  alle  Arzte  die  Zarin 
auskultiert  hatten,  während  sie  vollständig  angekleidet  geblieben.  Dem  ener- 
gischen Widerspruch  des  Leibarztes  gab  aber  der  Zar  nach,  und  die  seltsaiüe 
Tradition  wurde  gebrochen.  Vgl.  La  Chronique  m^dicale  und  Le  Petit  Temps, 
Nr.  160$,  29  janvier  1903. 

30* 


—    468    — 

zu  sich.  Erst  nach  zwei  Tagen  erhielt  er  die  Verständigung^ 
daß  der  Zar  die  Erlaubnis  erteilt  hätte;  statt  des  italienischen 
Leibarztes  kam  jedoch  der  englische.  Mayerberg  wollte  sich 
diesem  nicht  anvertrauen  und  ließ  ihn  fortschicken.  Kurz  darauf 
kam  ein  Abgesandter  des  Zaren  und  fragte  den  Gesandten^ 
ob  der  Italiener  schon  gekommen  wäre.  Mayerberg  erklärte, 
daß  der  Engländer  dagewesen ;  der  Russe  redete  ihm  nun  zu, 
den  Engländer  zu  akzeptieren,  der  Italiener  sei  verreist.  Erst 
später  erfuhr  Mayerberg  den  Grund  dieses  Komödienspiels : 
Unter  den  Kriegsgefangenen  in  Moskau  befand  sich  ein  litthau- 
ischer  Würdenträger;  der  Gefangene  erkrankte,  und  man 
schickte  ihm  den  italienischen  Arzt.  Der  Doktor  empfahl  dem 
Kranken  Crfime' de  Tartre.  Ein  Spion  hörte  die  Worte  und 
berichtete  dem  Zaren,  daß  der  Arzt  und  der  Gefangene  ein 
Komplott  mit  den  Krymtartaren,  mit  denen  Alexej  Krieg  führte, 
verabredet  hätten.  Der  Arzt  wurde  verhaftet  und  der  Inqui- 
sition ausgeliefert ;  er  klärte  zwar  das  Mißverständnis  auf,  blieb 
aber  verdächtig;  und  einen  solchen  verdächtigen  Menschen 
konnte  man  doch  nicht  mit  dem  Gesandten  des  Kaisers  Leo- 
pold stundenlang  allein  lassen  I 

Als  Zar  Fedor,  der  Sohn  Alexejs,  eines  frühen  Todes 
starb,  beschuldigte  Prinzessin  Sophie,  die  nach  der  Regent- 
schaft strebte,  den  holländischen  Arzt  Daniel  Vongad  (von 
Gaden),  daß  er  Fedor  im  Interesse  der  Famüie  Naryschkin 
und  des  Prinzen  Peter  vergiftet  hätte.  Die  Streljzen  drangen 
in  das  Haus  des  Arztes,  fanden  aber  nur  seinen  Sohn;  als 
dieser  den  Vater  nicht  verraten  wollte,  wurde  er  erwürgt.  Die 
Mörder  trafen  dann  einen  anderen  Arzt,  einen  Deutschen.  Sie 
hielten  ihn  an  und  sagten  ihm :  „Du  hast  zwar  unseren  Herrn 
nicht  vergiftet,  aber  du  bist  ein  Arzt,  und  so  hast  du  doch  andere 
vergiftet."  Und  sie  brachten  ihn  um.  Endlich  fanden  sie  auch 
den  Holländer.  Sie  schleppten  ihn  in  den  zarischen  Palast.  Die 
Schwestern  des  verstorbenen  Zaren  bezeugten  vergebens,  daß 
von  Gaden  den  Herrscher  bis  zum  Tode  aufopfernd  gepflegt 
hätte.  Die  Streljzen  erklärten:  „Er  ist  ein  Hexenmeister,  wir 
sahen  bei  ihm  eine  große  Kröte  und  eine  Schlangenhaut.** 
Und  sie  vollzogen  an  dem  Unglücklichen  die  von  den  Chine- 
sen übernommene  barbarische  Strafe  der  zehntausend  Stücke; 


—     469    — 

Kopf,  Füße  und  Hände  des  Zerstückelten  wurden  auf  eisernen 
Spitzen  zur  Schau  gestellt.^) 

Die  ersten  Ärzte  in  Rußland  wurden  nur  für  den  Zaren- 
dienst berufen;  die  Großen  nahmen  gleichfalls  die  fremden 
Doktoren  in  Anspruch,  weil  dies  Mode  zu  werden  begann, 
das  Volk  aber  blieb  nach  wie  vor  ohne  Hilfe  in  seinen  Krank- 
heiten. Vom  Jahre  1616  ab  wurde  auf  Befehl  des  Zaren  Michael 
den  militärischen  Kommandanten  eine  fixe  Summe  für  medi- 
zinische Ausgaben  angewiesen.  Auf  Veranlassung  des  Zaren 
Alexej  errichteten  die  Bojaren  J.  D.  Miloslawskij  und  A.  S. 
Matwejew  in  Moskau  zwei  Apotheken;  die  eine  war  nur  für 
den  Zarenhof  bestimmt  und  befand  sich  im  Kremlj,  ihr  Vor- 
steher war  ein  Deutscher,  namens  Guthbier.  Die  andere,  ge- 
leitet von  Christian  Eichler,  war  in  dem  von  Alexej  begrün- 
deten Kaufmannshause^)  und  dem  ganzen  Volke  zugänglich.^) 
Auch  die  Volksapotheke  gehörte  dem  Zaren ;  die  Medikamente 
waren  so  teuer,  daß  sie  einen  Gewinn  von  27 — 28000  RbL 
jährlich  abwarfen.  Der  Zar  schickte,  da  das  Geschäft  ein  loh- 
nendes zu  werden  versprach,  gleich  jenem,  das  der  Schatz 
mit  den  Schenken  machte,  den  Apotheker  Peter  Pontan  auch 
nach  anderen  Städten,  um  dort  Apotheken  einzurichten;  so 
nach  Wologda.  Die  Lobredner  Alexe js  rühmen  seine  ,, Barm- 
herzigkeit und  Menschenliebe  als  die  hervorstechendsten  Eigen- 
schaften seiner  zarischen  Seele"  und  führen  als  Beweis  dafür 
an,  daß  er  in  Kriegszeiten  bei  den  Regimentern  Apotheken 
errichten  und  jeder  einen  Spezialarzt  beiordnen  ließ.*)  Aber 
als  1654  in  Moskau  die  Pest  ausbrach,  erhielten  alle  Ärzte 
den  Auftrag,  sich  nur  um  die  Gesundheit  der  zarischen  Fa- 
milie zu  künmiem.  Der  Zar  blieb  bei  der  Armee  vor  Smo- 
lensk,  die  Zarin  zog  ins  Kloster  Koljäsin.  In  der  Residenz 
traf  man  wohl  einige  Maßregeln  gegen  die  Epidemie,  aber 
diese  bezweckten  auch  nur  den  Schutz  des  zarischen  Eigen- 
tums: um  die  verpestete  Luft  vom  Palast  fernzuhalten,  yoir- 


1)  Voltaire,  Historie  de  1' Empire  de  Russie  sous  Pierre  le  Grand,  frans, 
und  deutsche  Ausgabe,  Wien  181  o,  I  175. 

')  rocTHHofi  j^Bopi»,  Packhof,  ähnlich  dem  orientalischen  KarawanßeraL 
")  CjieHinrb,  XtapcTBOBame  i;apH  AseRdto  Mnxaft.iOBHHa,  II  14. 
^)  GjieHHHb  a.  a.  O.  xo. 


—     470    — 

den  die  Fenster  und  Türen  des  letzteren  vermauert.  Nach- 
dem dies  g^oße  Werk  vollbracht  war,  überließ  man  die  Be- 
völkerung, die  von  einem  Kordon  abgesperrt  wurde,  der  Seuche. 
Wenn  in  einem  Hause  die  Leute  endlich  ausgestorben  waren, 
zündete  man  das  Haus  an  und  ließ  die  Leichen  mit  verbrennen. 
Briefe,  die  dem  Zaren  aus  einem  verseuchten  Orte  zukamen, 
durften  dem  Herrscher  nicht  im  Original  vorgelegt  werden; 
man  schrieb  die  Briefe  ab,  räucherte  die  Abschriften^  und 
händigte   sie   dann   dem   Zaren  ein. 

Die  ärztliche  Wissenschaft  würde  wahrscheinlich  nicht  viel 
ausgerichtet  haben,  auch  wenn  man  alle  vorhandenen  Ärzte 
zum  Wohle  des  Volkes  aufgeboten  hätte.  Denn  nicht  bloß 
ist  die  Zahl  der  Ärzte  gering^),  sondern  das  Volk  will  von 
gelehrten  Heilkünstlern  nichts  wissen,  und  auch  die  erleuchteten 
Geister  stehen  ihnen  fremd  gegenüber.  Selbst  für  Peter  den 
Großen  sind  die  Ärzte,  wie  er  in  einem  Briefe  aus  einem  euro- 
päischen Kurorte  an  Katharina  schreibt,  nichts  anderes  als 
„Verbotsmenschen'*.*)  Sein  Vertrauen  zu  den  Ärzten  ist  kein 
großes,  und  sein  geringer  Glaube  an  ihre  Treue  wird  durch 
den  Ausfall  eines  Scherzes  gänzlich  erschüttert :  Auf  dem  Kriegs- 
marsche läßt  der  Zar  eine  Anzahl  Soldaten  als  Schweden 
verkleiden,  und  sich  von  den  falschen  Feinden,  während  er 
mit  dem  Beichtvater  und  seinem  griechischen  Leibarzt  tafelt, 
überraschen.  Der  falsche  Schweden-Anführer  schreit:  „Wer 
von  euch  ist  der  Zar?  Heraus  mit  der  Sprache,  oder  ich  töte 
euch  allel**  Der  Beichtvater  sagt:  „Der  Zar  ist  nicht  unter 
ims" ;  der  Arzt  aber  ruft  vor  Schrecken :  „Der  ist's,  der  lange 
Mann/'  und  zeigt  auf  Peter.  3) 

So  wenig  Peter  von  der  ärztlichen  Kunst  halten  mochte, 

^)  Die  Hofarzte  des  Zaren  Alexej  waren:  Rosenberg  Vater  und  Sohn; 
Gramann;  Blumentrost;  Daniel  Jeflöwitz  („dieser  wird  bey  Hofe  am  meisten 
gebrauchet,  ist  ein  Jude  von  Geburt,  wurde  hernach  Papistisch,  alsdann  Evan- 
gelisch, und  itzo  ist  er  griechischer  Religion").  Als  Chirurg  diente  der  Schleaier 
Sigmund  Sommer.  Vgl.  Kilburgers  Unterricht  von  dem  russischen  Hand^ 
In  Büschings  Magazin  III  337.  In  diesem  Bericht,  der  aus  dem  Jahre  1674 
stammt,  ist  der  Engländer  Samuel  CoUins,  der  1654  die  Pestepidemie  mit- 
erlebte, nicht  mehr  erwähnt. 

<)  Sadler,  Geistige  Hinterlassenschaft  Peters  des  Großen.  127. 

«)  Webers  Verändertes  Rußland  II  121;  und  Halem  III  139. 


—     471     — 

so  gern  spielte  er  den  Arzt,  namentlich  den  Chirurgen.  Des 
Zaren  Gegner  behaupteten,  er  wäre  gar  nicht  der  Sohn  Alestejs, 
sondern  eines  deutschen  Chirurgen  Kind  gewesen;  die  Zarin 
Nathalie  hätte  ein  Mädchen  geboren,  und  dieses  heimlich  gegen 
das  Chirurgenkind  vertauschen  lassen;  von  seinem  Vater  Chi- 
rurg sollte  Peter  die  Liebe  zu  chinurg^schen  Operationen  er* 
erbt  haben.  1)  In  Wahrheit  hatte  der  Zar  die  Chirurgie  von 
seinem  Günstling,  dem  Wundarzt  Tirmont,  erlernt.  In  Amster- 
dam erweiterte  er  nach  Möglichkeit  seine  Kenntnisse.  Er  tnag 
stets  ein  Besteck  mit  chirurgischen  Insrumenten  bei  sich.  Wenn 
in  einem  Hospital  eine  Operation  oder  eine  Sezierung  vor^ 
genommen  werden  sollte,  mußte  man  ihm  dies  anmelden,  und 
er  legte  selbst  mit  Hand  an.  2)  Zahnoperationen  machte  er  mit 
Vorliebe;  ein  Hofbeamter,  der  wegen  eines  Vergehens  be- 
straft werden  sollte,  fiel  vor  dem  Zaren  auf  die  Knie  und 
jammerte  plötzlich  über  Zahnschmerzen;  der  Kaiser  vergaß 
seinen  Zorn,  zog  die  Zange  aus  der  Tasche  imd  riß  dem 
Manne  zwei  Zähne  aus.  Eines  Tages  berichtete  man,  daß  die 
Frau  eines  holländischen  Kaufmanns  an  der  Wassersucht  dahin- 
siechte, sich  aber  der  Abzapfung,  dem  einzigen  Rettungs^ 
mittel,  widersetzte.  Peter  ging  sofort  hin,  beredete  die  Frau 
zur  Operation  und  vollführte  diese  selbst  auf  der  Stelle.  3) 
Große  Summen  opferte  Peter  für  die  Begründung  seines  so- 
genannten  Kunstkabinetts.  ^)     In    Amsterdam    kaufte    er   um 

1)  Vockerodt  bei  Herrmann,   io8. 

2)  Bergholz  bei  Büsching,  XXI  i86,  239.  —  Stählin,  Anekdoten,  14;  206, 
Anmerkung  61.  —  Halem  III  146. 

S)  Stählin  207;  Halem  III  229,  No.  61. 

*)  Eine  ausführliche  Beschreibung  desselben,  von  O.  Bjelajew,  mit  Kttpf€;r- 
stichen,  erschien  in  Petersburg  1800,  4°.  Die  erste  Abteilung  (215  Seiteji) 
beschreibt  die  Wachsfigur  Peters  und  aller  in  der  Kunstkammer  aufbewahrten 
Gegenstände,  die  dem  2^en  persönUch  gehört  haben;  die  dritte  Abteilung 
bringt  Beschreibungen  der  alten  russischen  und  ausländischen  Münzen  und 
Medaillen,  goldener  und  silberner  Antiquitäten,  der  Mineralien,  Gesträuche 
und  Ölgemälde;  die  zweite  Abteilung  (287  Seiten)  ist  die  interessanteste:  sie 
enthält  außer  der  historischen  Beschreibung  der  natürlichen  und  künstlichen 
Stücke  der  Kunstkammer  viele  kuriose  Anekdoten  zur  Geschichte  dieser  Gegen- 
stände. —  Eine  ausführliche  deutsche  Beschreibung  des  Naturalienkabinetts 
und  der  Kunstkammer  hatten  schon  früher  die  ,, Bemerkungen  über  Rußland" 
(von  Prof.  Bellermann),  Erfurt  1788,  I  94 — 155,  veröffentlicht. 


—    472     — 

30000  Gulden  die  Sammlung  des  Anatomen  Friedrich  Ruysch. 
1718  befahl  er,  jede  Mißgeburt  von  Menschen  oder  Tieren 
dem  Kabinett  gegen  einen  fixen  Tarif  abzuliefern:  für  ein 
lebendes  menschliches  Monstrum  zahlte  man  hundert,  für  ein 
totes  fünfzehn  Rubel.  Eine  Tiermißgeburt  wurde  mit  3,  7 
oder  IG  Rubel  gekauft,  je  nachdem,  ob  sie  tot,  lebend  oder 
selten  war.  Der  Zar  hatte  auch  die  Idee  gefaßt,  der  Natur 
nachzuhelfen  und  seltsame  Menschen  auf  Konunando  zeugen 
zu  lassen.  Er  verheiratete  verkrüppelte  Zwerge  miteinander, 
lun  für  das  Kunstkabinett  ein  Zwergengeschlecht  zu  erhalten. 
In  Calais  nahm  er  einen  imgeheueren  Riesen  in  seinen  Dienst ; 
diesen  Mann  verheiratete  er  in  Petersburg  mit  einer  Finnin, 
der  größten  Frau,  die  man  im  Reiche  hatte  auftreiben  können, 
um  ein  Geschlecht  von  Riesen  zu  begründen  i);  die  Hoch- 
zeit wurde  aber  erst  gefeiert,  nachdem  der  Riese  und  die 
Riesin  miteinander  mehrmals  geschlafen  hatten  und  das  Frauen- 
zimmer schwanger  geworden  war,  also  den  Beweis  geliefert 
hatte,  daß  sie  nicht  unfruchtbar  bleiben  würde.  Zum  großen 
Verdrusse  Peters  starb  der  Riese.  Der  Zar  ließ  mm  wenig- 
stens die  schönsten  Stücke  der  Leiche  für  das  Kabinett  prä- 
parieren. Des  Riesen  ungeheuerer  Magen  wurde  ausgestopft ; 
seine  getrockneten  Gedärme  hing  man  an  den  Wänden  auf, 
imd  auch  sein  imponierender  Penis  kam  unter  die  Raritäten. 
Besonders  reich  wurde  das  Kabinett  an  Embryonen;  iio  un- 
geborene Kinder  schmückten  die  Etageren  der  Kunstkanmier. 
Die  Sammlung  begann  mit  dem  Keim  im  Augenblick  der  Emp- 
fängnis, und  schloß  ab  mit  dem  Kinde,  das  zur  Geburt  reif 
gewesen.  Das  erste  Stück  wurde  dem  Leibe  einer  Frau  ent- 
nonmien,  die  in  der  Ausübimg  eines  Ehebruches  von  ihrem 
Manne  überrascht  und  erstochen  worden  war.  In  18  Schränken 
wiu^den  Präparate,  zumeist  von  Geschlechtsteilen,  angesam- 
melt. 2)    Das  ganze  Kunstkabinett  ist  für  Peter  schließlich  nur 


1)  Halem  II  376,  Anmerkung  61;  378.  —  Bergholz  bei  Büsching  XIX  40. 

•)  Vgl.  Bellermann  I  150:  Hastarum  et  vulvanim  magna  adest  collectio. 
Uterus  protrudens  infantem.  Vulva  quae  quoad  magnitudinem  iam  Petro  I. 
mira  videbatur.  Ausonius  ex  Virgilio  de  ea  est  vaticinatus.  —  Penis  falsi 
numorum  signatoris.  ob  crimen  interfecti.  superans  omnes  alios,  fortassis  et 
\'ulcani,  aequat  fere  equi  inguen.     Vir  quidam  praesens  iocose  adiiciebat: 


—     473     — 

eine  Spielerei  mit  Dingen,  welche  seinen  Grausamkeitstrieb 
oder  seine  Wollust  befriedigen.  Für  die  Medizin  als  Wissen- 
schaft fehlt  ihm  jedes  Verständnis.  Er  leidet  seit  seiner  Kind- 
heit an  Gesichtszuckungen  und  Nervenkrämpfen;  um  das  Übel 
zu  kurieren,  wendet  er  sich  nicht  an  gelehrte  Ärzte,  sondern 
er  gebraucht  inmier  nur  das  Mittel,  das  ihm  ein  altes  Weib 
angeraten  hat:  ein  aus  dem  Magen  und  den  Flügeln  einer 
Elster  hergestelltes  Pulver  1^) 

Soll  das  Volk,  das  bedrückte,  in  der  Finsternis  wandelnde*, 
klüger  sein  als  der  aufgeklärte  Zar?  Bei  der  Wasserweihe 
drängt  es  sich  herzu,  um  mit  dem  geweihten  Wasser  die 
Kranken  zu  besprengen.  Rettung  aus  der  Not  der  Epidemien 
oder  in  unheilbaren  Krankheiten  erwartet  es  nur  von  den 
Wundertätern.  Der  Großfürst  Dmitr  Joanno witsch  schikt  um 
1360  den  heiligen  Alexej,  den  Wundertäter,  ins  Land  der 
Agarjäner  (wahrscheinlich  nach  der  Krym  oder  der  Türkei), 
um  durch  seine  überirdische  Macht  die  blindgewordene  Zarin 
der  Agarjäner  sehend  zu  machen.  Als  im  Jahre  1654  in  Moskau 
die  Pest  ausbricht,  flüchtet  die  Zarin  Maria  Iljinitschna  und 
nimmt  alle  Ärzte  und  Arzneimittel  mit  sich;  der  Bevölkerung 
aber  schickt  sie  als  Heilmittel  das  Bild  der  heiligen  Mutter 
von  Kasanj  aus  dem  Troizkijkloster  und  versichert,  es  werde 
den  Zoni  Gottes  stillen  und  die  Pest  zum  Weichen  bringen. 
Während  der  Pestepidemie,  die  1771  Moskau  verheert,  er- 
zählt ein  gelähmter  Kaufmann  dem  Volke,  das  Marienbild 
der  Warwarapforte  sei  ihm  erschienen  und  habe  verkündet, 
es  werde  an  ihm  ein  Wimder  tun  und  auch  die  Pest  dämpfen. 
In  Prozessionen  strömt  das  Volk  zur  Warwarapforte  des  Kreml j, 
um   das   Wunder   zu  erwarten.     Der  Archimandrit   Ambrosij 


..Stolidus  numonim  adulterinorum  signator,  si  tua  bene  nosses,  majora  majori 
cum  voluptate  lucrari  potnisses:  vix  enim  crediderim,  tempora  in  Russia 
mutasse  et  unquam  mutata  iril  Talia  naturae  dona  animi  dotibus  praepo- 
nuntur."  —  Membrum  virile  aref actum,  et  sicut  pertica  herbae  nicotianae. 
quae  appellatur  Canaster.  consectum.  quo  omnes  cellulae  conspiciuntur.  — 
Multa  alia  naturalia.  Haec  et  quaedam  hisce  similia,  profanis  oculis  obscoena. 
in  scrinio,  cuius  ianua  vitrea  velo  serico  viridi  interne  recta  est,  conservantur, 
nee  unicuique  monstrantur. 

1)  Stahlins  Anekdoten;  Waliszewski.  Pierre  le  Grand.   114. 


—     474     — 

erkennt  die  verhundertfachte  Gefahr  der  Ansteckung  durch 
das  Zusanunenströmen  der  Menschenma$sen  und  will  das  -Ma- 
rienbild entfernen^  aber  das  Volk  in  seinem  Wahn  reißt  4en 
Priester  in  Stücke  und  wirft  die  Leichenteile  den  Hunden 
vor;  der  Pöbel  stürmt  die  Spitäler  und  mordet  die  Ärzte,  die 
in  seine  Hände  fallen.  Der  unglückliche  Erzbischof  Ambrosij 
und  die  Ärzte  gelten  den  Abergläubischen  als  böse  Zauberer, 
deren  unreine  Kräfte  die  Wunderwirkung  der  heiligen  Bilder 
verhüten.  1831  und  1892  dieselben  Szenen;  während  der 
Choleraepidemie  in  Petersburg  i)  im  Jahre  1831  demoliert  das 
Volk  das  Choleraspital;  ein  Mann,  der  dabei  als  ruhiger  Zu- 
schauer stehen  bleibt,  sich  am  Vernichtungswerk  nicht  be- 
teiligt, wird  von  jemandem  als  Werwolf  bezeichnet,  man  reißt 
ihn  zu  Boden  und  kleidet  ihn  nackt  aus,  um  seinen  Zauberer- 
schweif zu  suchen;  1892  werden  in  Astrachan  mehrere  Ärzte 
und  Apotheker,  die  das  Volk  für  Zauberer  hält,  ermordet  und 
verbrannt;  und  in  Chawalynsk  im  Gouvernement  Ssaratow 
behaupten  Leute,  daß  der  Ortsarzt  Moltschanow  der  Cholera 
einen  Passierschein  ausgestellt  habe,  damit  sie  in  die  Stadt 
eindringen  könne:   der  Alliierte  der  Cholera  wird  gesteinigt. 

Nächst  dem  Glauben  an  die  Wirkung  von  Heiligenbildern 
in  Krankheiten  und  Epidemien  ist  die  Meinung  weitverbreitet, 
daß  man  die  Seuche  durch  ein  Opfer,  am  sichersten  durch 
ein  Menschenopfer  zu  beschwören  vermag.^)  Es  existiert  eine 
"Überlieferung,  daß  in  alten  Zeiten  in  den  großrussischen  und 
kleinrussischen  Niederlassungen  zur  Beseitigung  der  Viehseuche 
ein  Weib,  das  böser  Anschläge  verdächtig  war,  dem  Tode  ge- 
weiht wurde.  Solche  Weiber  wurden  in  großrussischen  Dör- 
fern mit  einer  Katze  und  einem  Hahne  in  einen  Sack  gebunden 
und  lebendig  in  die  Erde  verscharrt.  Im  Gouvernement  Ar- 
changelsk wurden  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  dem  Wasser- 
geiste Menschenopfer  dargebracht.  1881  herrschte  auf  No- 
woje  Semljä  Skorbut  infolge  von  Hungersnot.  Der  Samojede 
Jefrem  Pyrerka,  dessen  Kinder  der  Krankheit  erlegen  waren. 


*)  Xojiepa  FL  llerepöyprii  m>  npe»aiie  roau.    lIcropHHecKa«  capaBKa.    Aok- 
T(»pa  Me^Hi^HHia  T.  H.  ApiaerejibCKaro.     C.-IIÖr.  1892. 

«)  Löwenstimm,  Aberglaube  und  Straf  recht,  8  ff.,  25. 


—    476    — 

erdrosselte  das  bei   ihm  bedienstete  Mädchen  Ssawanei,  um 

—  wie  er  später  vor  dem  Archangelsker  Gerichtshof  erklärte 

—  aus  Angst  vor  dem  Hunger  dem  Teufel  ein  Opfer  zu 
bringen ;  nach  diesem  Opfer  war  er  sicher,  daß  ihm  der  Teufel 
Nahrung  verschaffen  würde,  und  in  der  Tat  kam  schon  in  der 
ersten  Nacht  nach  dem  Morde  ein  junger  Bär  vor  das  Zelt 
Jefrems,  der  das  Tier  erlegte;  kurz  darauf  erbeutete  Jefrem 
noch  sechs  Renntiere.  Der  Samojede  machte  dem  Götzen, 
der  sein  Opfer  so  reich  belohnte,  aus  Holz  ein  Götzenbild,  und 
um  sich  des  Götzen  Gnade  noch  weiter  zu  erhalten,  beschloß 
er  nimmehr^  seinen  Zeltgenossen  Andrej  Tabarej  ebenfalls  zu 
opfern.  Tabarej  aber  entkam  dem  Anschlag,  zeigte  den  Jefrem 
an,  und  dieser  gestand  sein  Verbrechen  ohne  weiteres.  Im 
Nowog^uder  Kreise  des  Minsker  Gouvernements  bringt  man 
beim  Ausbruch  einer  Seuche  zunächst  Tiere  —  einen  schwar- 
zen Kater,  einen  schwarzen  Hahn  oder  einen  jungen  Hund  — 
zum  Opfer:  einem  Bauer  aus  dem  Dorfe  Kamenka  starb  1872 
ein  Sohn  an  der  Cholera;  um  den  Cholerageist  zu  versöhnen, 
begrub  man  mit  der  Leiche  des  Bauernsohnes  acht  lebendige 
Kater.  Verbreitet  sich  die  Seuche  trotz  der  Tieropfer  stärker, 
so  muß  man  Menschen  opfern.  1861  beschloß  im  Turuchan- 
schen  Gebiete  ein  Bauer,  um  sich  und  seine  Familie  vor  der 
Epidemie  zu  retten,  ein  Mädchen  als  lebendes  Opfer  dem  Krank- 
heitsdämon darzubringen.  Häufiger  aber  opfert  man  alte  und 
kranke^Leute;  dies  geschah  während  der  Choleraepidemie  des 
Jahres  1831.  Im  Jahre  1855  lockten  die  Bauern  des  Dorfes 
Okopowitschi  im  Nowogruder  Kreise  auf  den  Rat  des  Feld- 
schers Kosakowitsch  die  Greisin  Lucia  Manjkow  auf  den  Fried- 
hof, stießen  sie  in  ein  offenes  Grab,  in  das  man  die  Leichname 
der  an  der  Seuche  Verstorbenen  gelegt  hatte,  und  schaufelten 
das  Grab  schnell  zu.    Im  August  1871  ereigneten  sich  im  Dorfe 

l'orkatschi,  ebenfalls  im  Kreise  Nowogrud,  mehrere  solcher 
Fälle;  imter  anderen  wurde  ein  junges  Mädchen,  das  krank 
und  seinem  Ende  nahe  war,  lebendig  begraben.  Der  Umstand, 
daß  in  erster  Linie  kranke  oder  alte  Leute,  deren  Tage  ohnehin 
gezählt  sind,  geopfert  werden,  gibt  zu  denken.  In  Rußland 
werden  auffallend  viele  Leute  sehr  alt.  In  früheren  Zeiten 
führten  die  vornehmen  Russen  ein  üppiges  Leben.    Die  Tafel 


—     476     — 

war  reichhaltig,  und  nach  dem  Mittagsessen  war  ein  langer 
Schlaf  ebenso  obligat,  als  jede  Bewegung  verpönt  war.  Die 
vornehmen  und  reichen  Leute  waren  durchwegs  dick.  Ein 
wohlbeleibter  Mensch  sein,  hieß :  Anspruch  auf  Hochachtung 
machen^).  Trotzdem  wurden  sehr  viele  hundert  Jahre  alt  und 
mehr*).  Auch  jetzt  findet  man  nicht  bloß  in  größeren  Städten 
oder  Dörfern,  sondern  in  jedem,  selbst  dem  kleinsten  Orte 
viele  Hundertjährige.  Aber  man  betrachtet  die  Alten  mehr 
mit  Scheu  als  mit  Ehrfurcht.  Bei  einigen  sibirischen  Völkern 
ist  Langlebigkeit  geradezu  todeswürdig.  In  einem  älteren  Buche 
wird  erzählt  3) :  „Wer  in  Sibirien  70  Jahre  alt  ist,  wird  von  seinen 
nächsten  Verwandten  in  einen  Wald  gebracht,  wo  sie  ihm  eine 
Hütte  bauen,  ihm  für  drei  Tage  Nahnmg  geben,  und  dann 
Abschied  nehmen.  Hat  der  Greis  die  Nahrung  verzehrt,  so 
stirbt  er  Hungers.**  Die  neueren  Reisenden  bestätigen  es,  und 
George  Kennan*)  beispielsweise,  der  über  den  Gebrauch  der 
Korjaken,  die  Alten  und  Kranken  zu  ermorden,  berichtet,  meint 
den  Grund  dieses  Gebrauches  im  Wanderleben  zu  finden: 
Das  Umherziehen  lasse  Krankheit  und  Altersschwäche  sowohl 
für  den  davon  Betroffenen  als  für  seine  Umgebung  außer- 
ordentUch  lästig  erscheinen,  so  daß  der  Mord  eine  von  der 
Klugheit  und  dem  Mitleid  diktierte  Maßregel  werde.  Man 
findet  Ähnliches  in  Albanien;  in  Elbassan  nennt  man  Männer 
und  Frauen,  die  über  hundert  Jahre  alt  sind,  Schtrighea  oder 
Schtriku:  Wesen,  welche  böse  Zauberkünste  treiben;  man 
glaubt,  daß  diese  Alten  imstande  sind,  durch  ihren  Hauch 
Menschen  zu  töten;  in  Zeiten  der  Epidemien  gab  man  ihnen 
die  Schuld  am  Unheil  imd  verurteUte  sie  ziun  Feuertodc^). 
Die  germanisch-slawische  Urzeit  kannte  schon  den  Gebrauch 


1)  Karamsin,  deutsche  Ausgabe  IX  309,  französische  X  367. 
«)  Margeret.  Estat  de  1' Empire  de  Rvssie.  53.  hebt  die  Langlebigkeit  der 
Russen  als  besonders  bemerkenswert  hervor. 

S)  Sammlung  merkwürdiger  Anekdoten,  das  Russische  Reich  betreffend, 

1793.  S.  5. 

*)  Zeltleben  in  Sibirien  und  Abenteuer  unter  den  Korjaken  und  anderen 
Stämmen  in   Kamtschatka,  deutsch  von  E,   Kirchner,   Berlin   1891,  S.    179. 

*)  Bernhard   Stern.    Medizin,    Aberglaube   und   Geschlechtsleben   in   der 
Täricei.  I  277. 


—    477     — 

der  Tötung  von  Greisen  und  Kranken.^)  Aber  der  Greis  selbst 
mußte  den  Tod  wünschen.  In  Zeiten  der  Nahrungsnot  wurden 
Volksbeschlüsse  inbetreff  der  Tötung  der  Greise  und  Kinder 
gefaßt.  Zu  Saxo  Grammaticus  kam  die  Sage  eines  solchen 
Beschlusses  der  Dänen.  Die  Olafs  Tryggvasonar  saga  be- 
richtet, daß  auf  Island  ebenfalls  eine  öffentliche  Volksversamm- 
lung zur  Zeit  strenger  Kälte  und  Hungersnot  beschlossen  habe, 
alle  Greise,  Lahmen  und  Siechen  verhungern  zu  lassen.  Der- 
selbe  Zug  wiederholt  sich  aus  dem  gleichen  Anlasse  in  der 
Viga  Skutus  saga.  Procopius  berichtet  als  tatsächlich,  daß 
die  Heruler  ihre  Greise  und  Kranken  töteten.  In  der  von 
Saxo  erzählten  Sage  von  Gauti  erscheint  es  als  gemeine  Sitte, 
daß  die  Kinder  ihre  alten  Eltern  auf  die  Stammklippe  begleiten 
und  die  Eltern  sich  von  da  herabstürzen,  um  froh  und  heiter 
den  Tod  zu  finden.  Von  den  Nordslawen  erzählt  Zeiller :  „Es 
ist  ein  ehrlicher  Brauch  im  Wagrerlande  gleichwie  in  anderen 
Wendlanden  gewesen,  daß  die  Kinder  ihre  altbetagten  Eltern, 
Blutfreunde  und  andere  Verwandten,  auch  die  so  nicht  mehr 
zum  Kriege  oder  Arbeit  dienlich,  ertödteten,  danach  gekocht 
und  gegessen,  oder  lebendig  begraben;  daher  sie  ihre  Freunde 
nicht  haben  alt  werden  lassen,  auch  die  Alten  selbst  lieber 
sterben  wollen,  als  daß  sie  in  schwerem,  betrübtem  Alter  länger 
leben  sollten.  Dieser  Brauch  ist  lange  Zeit  bei  etlichen  Wenden 
geblieben,  insonderheit  im  Lüneburger  Lande.**  Ganz  das 
gleiche  bekundet  Notker  von  dem  Slawenvolke  der  Wilzen 
oder  Liuticen  an  der  Ostsee,  und  Praetorius  von  den  Alt- 
preußen. Cranz  erzählt  aus  dem  Jahre  1309  eine  Geschichte 
von  einem  wendischen  Greise,  den  sein  Sohn  unbedenklich 
lebendig  vergraben  wollte,  und  Kreyßler  weiß  einen  ähnlichen 
Fall  aus  der  Mark  vom  Jahre  1220.2)  Von  dem  Selbstmord 
bei  den  Tschuktschen  in  Zeiten  von  Krankheiten  ist  in  einem 
früheren  Kapitel  die  Rede  gewesen.  3)  Die  angeführten  Pa- 
rallelen, welche  beweisen,  daß  auch  bei  anderen  Völkern  Un- 
menschlichkeiten stattgefunden  haben,  sprechen  aber  gleich- 

1)  Julius  Lippert.  Die  Religionen  der  europäischen  Culturvölker,  Berlin 
iSSi,  S.  38. 

*)  Lippert  a.  a.  O.  39 — ^40. 
«)  Vgl.  S.  445. 


—     478     — 

zeitig  eine  furchtbare  Sprache  gegen  die  russische  Kultur  und 
Sittlichkeit.  Was  anderwärts  Selbstmord  war^  ist  in  Rußland 
Verbrechen;  und  was  anderwärts  in  den  finstersten,  längstver- 
gangenen Jahrhunderten  und  in  vereinzelten  Fällen  geschehen 
ist,  das  ereignet  sich  in  Rußland  unter  dem  Himmel  des  zwan- 
zigsten Jahrhunderts  und  tritt  nicht  als  Einzelerscheinung,  son- 
dern massenhaft  auf.  In  dem  Berichte  einer  russischen  Wochen- 
schrift i)  über  diese  Barbareien  des  russischen  Volksaberglau- 
bens ist  festgestellt  worden,  daß  für  die  Beerdigungen  solcher 
Menschenopfer  sogar  Ausweispapiere  von  der  Gemeindever- 
waltung ausgegeben  wurden;  der  Dorfälteste  und  die  ganze 
Dorfobrigkeit  teilten  die  Überzeugung,  daß  die  Cholera  durch 
die  Opferung  eines  lebenden  Menschen  versöhnt  werden  müsse. 
Die  unter  solchem  Patronat  vollzogenen  Verbrechen  können 
vor  der  großen  Öffentlichkeit  in  einem  Lande  wie  Rußland, 
wo  ganze  Provinzen  ohne  Zeitungen  sind  und  die  wenigen 
Blätter  in  den  übrigen  Gouvernements  unter  der  Zuchtrute 
der  Zensur  stehen,  leicht  verheimlicht  werden.  Die  Gerichte 
erhalten  Anzeigen  tiur  von  der  Polizei ;  da  die  Dorf polizei  selbst 
im  Banne  des  Aberglaubens  steht,  ist  niemand  vorhanden,  der 
die  Macht  der  Finsternis  auch  nur  anzutasten  wagt. 

Im  Vergleich  zu  diesen  Menschenopferungen  sind  andere 
Verbrechen  aus  medizinischem  Aberglauben  zwar  an  sich 
schrecklich  genug,  doch  harmlos,  weil  es  sich  bloß  um  Leichen- 
schändungen handelt.  Als  im  Jahre  185 1  im  Dorfe  Possady 
des  Kreises  Berditschew  im  Gouvernement  Kijew  die  Cholera 
ausbrach,  verbreitete  sich  das  Gerücht:  der  frühere  Kirchen- 
diener und  seine  Frau  seien  Vampire  gewesen  und  schuld  an 
der  Epidemie.  Man  grub  ihre  Leichen  aus,  hackte  ihnen  die 
Köpfe  ab  und  verbrannte  diese;  die  Leiber  wurden  ins  Grab 
zurückgelegt,  aber  vorsichtigerweise  mit  Eschenpfählen  durch- 
stochen und  an  die  Erde  geheftet.  Als  am  30.  Juli  1893  im 
Dorfe  Taschtamakowa  im  Sterlitamakschen  Kreise  des  Gou- 
vernements Pensa  eine  epidemische  Krankheit  ausbrach,  be- 
schloß eine  Dorfversammlung  das  Grab  einer  Bäuerin,  die 
bei  Lebzeiten  als  Hexe  gegolten  hatte,  zu  öffnen  und  die  Leiche 


1)  HeAtiJiH  1872,  No.  2. 


—    479    — 

mit.  einem  Eschenpfahl  an  die  Erde  zu  nageln;  Anlaß  -zvt 
diesem  Beschlüsse  gab  die  Erklärung  einiger  Dorfbewohner, 
die  bezeugten:  sie  hätten  gesehen,  wie  aus  dem  Grabe  der 
Hexe  eine  feurige  Kugel  aufgeflogen  und  in  Feuerzungen  zer- 
platzend die  Krankheit  in  alle  Hütten  geschleudert.  Zuweilen 
ist  es  der  mit  dem  Aberglauben  verbundene  Hang  zu  Grau- 
samkeit und  Wollust,  der  abscheuliche  Vorgänge  verursacht. 
Auch  bei  den  Südslawen  geht  der  Vampirglaube  zum  Teil 
auf  Nekrophilie  zurück.  Man  fand  öfter  die  Leichen  jung 
verschiedener  Frauen  und  Mädchen  ausgescharrt  vor.  Der 
Leichenschänder  hatte  seine  Lust  an  ihnen  befriedigt,  zum 
Überfluß  aber  ihnen  die  Brüste  verstümmelt  und  die  Einge- 
weide herausgerissen  1).  Auch  im  nachfolgenden  russischen 
Falle  handelt  es  sich  offenbar  um  eine  sadistische  Leichen- 
schändung. Im  August  1848  gruben  die  Bauern  von  Weliko- 
Schuchowiz  im  Nowogruder  Kreise  des  Minsker  Gouverne- 
ments die  Leiche  eines  Bauernmädchens  aus,  das  als  erstes" 
Opfer  der  Cholera  anheimgefallen  war.  Der  Feldscher  des 
Ortes  hatte  behauptet,  daß  diese  Bäuerin  eine  liederliche  Person 
gewesen;  und  weil  sie  als  Liederliche  in  schwangerem  Zu- 
stande gestorben,  hätte  sie  die  Cholera  hervorgerufen.  Auf 
den  Rat  des  Feldschers  beschloß  man,  das  Grab  zu  öffnen  und 
an  der  Leiche  die  Operation  des  Kaiserschnitts  zu  machen, 
um  die  Lage  des  Kindes  zu  erforschen.  Man  fand  im  Leibe 
der  Leiche  zwar  kein  Kind,  sondern  das  Kind  lag  als  Leiche 
neben  der  Mutter;  aber  der  Feldscher  kam  nicht  in  Verlegen- 
heit und  zeigte  den  Anwesenden,  daß  die  Leiche  der  Mutter 
den  Mimd  offen  hatte,  was  ein  Zeichen  des  Hexentums.  Darauf- 
hin waren  alle  überzeugt,  daß  der  Feldscher  recht  gehabt,  und 
man  nagelte  die  Hexe  und  Cholerabringerin  mit  einem  Eschen- 
pfahl an  die  Erde.  2) 

Ein  weitverbreitetes  Mittel  zur  Bekämpfung  der  Epide- 
nuen  ist  das  Umpflügen  des  verseuchten  Dorfes,  das  soge- 
nannte Opachiwanije^),  auch  Korowaja  Ssmertj,   Kuhtod,  ge- 

1)  Vgl.  Krauß,  Anthropoph)rteia  II  390. 
')  Löwenstimm,  97  ff. 

*)  OnaxHBamef  die  Umhüllung,  das  Pflügen  rund  herum.  —  Ldwen- 
stimm,  19  ff. 


—     480    — 

heißen.  Bei  dejn  Umpflügen  oder  Umackern  müssen  die  han- 
delnden-Personen  nackt  oder  höchstens  im  Hemde  erscheinen. 
Man  kennt  den  Gebrauch  auch  in  den  slawischen  Balkanländern 
und  in  Dalmatien:  Es  müssen  zwölf  splitternackte  Jünglinge 
und  Jimg^rauen  von  tadellosem  Lebenswandel  am  Vorabend  des 
Sonntags  nach  Neumond  um  Mittemacht  einen  Pflug  nehmen, 
sich  in  das  Joch  spannen  und  still,  ohne  zu  sprechen,  ohne 
einander  lüstern  anzusehen  oder  zu  berühren,  siebenmal  in 
derselben  Furche  das  Dorf  umackern.  Bricht  in  einem  bul- 
garischen Dorfe  eine  Seuche  aus,  so  löscht  man  auf  allen 
Feuerstätten  das  Feuer  aus,  und  ganz  nackte  junge  Leute 
erzeugen  stillschweigend  ein  neues  Feuer  durch  Holzquirlung. 
Mit  Hilfe  dieses  Feuers  zündet  man  in  jeder  Heimstatt  ein 
neues  Feuer  auf  dem  Herde  an.  Durch  Entblößung  der  Schäm- 
teile oder  des  Hintern  drückt  der  Südslawe  jemandem  seine 
Verachtung  aus.  Um  die  Krankheitsgeister  zu  vertreiben,  legt 
man  die  Kleider  ab.  Weim  man  nachts  einem  Gespenste  be- 
gegnet, fasse  man  sich  am  Penis  an  und  rufe:  U  Kuracl  In 
den  Penis  hinein  I  Frauen,  die  sich  vor  Geistern  fürchten, 
ziehen,  wenn  sie  nachts  übers  Feld  gehen,  Hemd  oder  Kittel 
über  den  Kopf,  so  daß  sie  den  Geistern  den  nackten  Hintern 
zeigen.  1)  Wenn  der  christliche  Wotjäke  vor  Gericht  gerufen 
wird,  um  zu  schwören,  so  entblößt  er  zwischen  der  Vorführung 
und  dem  Eide  heimlich  sein  Glied,  berührt  das  entblößte  Glied 
mit  der  rechten  Hand  und  ist  überzeugt,  daß  sein  Eid  im- 
gültig.2)  Aus  dem  Jahre  1738  hat  sich  in  dem  Berichte  über 
die  damalige  Pestepidemie  im  podolischen  Dorfe  Gummenez 
die  Erzählung  über  eine  Prozession  erhalten,  die  von  den 
nackten  Dorfweibern  zu  nächtlicher  Stunde  rund  um  das  Dorf 
und  durch  die  Felder  veranstaltet  wurde,  lun  die  Pest  abzu- 
wehren. Der  Edelmann  Michael  Matkowsky,  der  mit  einem 
Zaum  in  der  Hand  ein  verlorenes  Pferd  auf  den  Feldern  suchte, 
wurde  von  den  Teilnehmern  der  Prozession  als  die  leibhaftige 
Pest  angesehen,  gefangen  genommen  und  unter  den  schreck- 

1)  Krauß  Anthropophyteia  I  i.  —  Krauß,  Südslawische  Pestsagen, 
Wien  1883,  26.  —  Stern,  Medizin,  Aberglaube  und  Geschlechtsleben  Tn  der 
Tiirßei  I  269. 

*)  Löwenstimm,  Aberglaube  und  Strafrecht,   133. 


—     481     — 

liebsten   Martern  lebendig  verbrannt.     1871   fanden  in  Ruß- 
land  während  der  Cholera   häufig  Umackerungen  statt.     In 
der  jüngsten  Zeit  wurde  das  Umpflügen  bei  Epidemien  und 
Viehseuchen  in  den  Gouvernements  Orel,  Tambow,  Jaroßlaw 
und  Wologda  beobachtet.    Aus  dem  Gouvernement  Jaroßlaw 
berichtete  der  Geistliche  Orlow,  daß  man  im  Romano-Borißo- 
gljebschen  Kreise  nach  Vollendung  der  Prozession  eine  schwarze 
Katze,  einen  jungen  Himd  oder  einen  Hahn  verscharrte;  in 
einigen  Dörfern  des  Grjäsowezschen  Kreises  begrub  man  einen 
lebenden  Hund  imd  eine  lebende  Katze.     Im  Gouvernement 
Wologda  nehmen   die   Bauern   zunächst   unter  Assistenz  der 
( Geistlichkeit  eine  Prozession  bei  Tage  vor,  wobei  man  unter  das 
Heiligenbild  eine  Eintagsleinewand  legt,  nämlich  ein  Stück  neuer 
ungebleichter  Leinewand,  das  am  Vorabend  des  Prozessions- 
tages gesponnen  und  gewebt  worden,  ist.   In  der  Nacht,  zwischen 
Mittemacht  imd  Frühmesse,  umpflügen  die  Weiber  das  Dorf : 
Um   Mittemacht   tritt   die   alte  Dorfwahrsagerin   in  die   Um- 
friedung des  Dorfes  hinaus  und  schlägt  auf  eine  Pfanne.    Nun 
kommen    die    Weiber   mit   Bratpfannen,   Feuerhaken,    Ofen- 
gabeln,  Sensen   und  Knütteln  gelaufen.    Das  Vieh  wird  ein- 
gesperrt, und  die  Männer  dürfen  die  Häuser  nicht  verlassen. 
Die   Prozession   beginnt,    indem   die  Wahrsagerin   sich    ihres 
Rockes  entledigt  und  den  Tod  verflucht.    Die  Weiber  ziehen 
einen  Pflug  herbei  und  spannen  an  denselben  nackte,  unbe- 
fleckte Jungfrauen  oder  eine  mißgewachsene  Frau.    Dann  um- 
pflügt  man   das   Dorf   dreimal,   man   zieht   dreimal   eine   ge- 
schlossene Linie  nmd  herum ;  imd  zwar  also :  Voran  trägt  man 
das   Bild   des   heiligen   Wlaßj,   des   Beschützers   der   Herden, 
falls   eine   Rinderpest   herrscht,   oder  die  Bilder  der  heiligen 
Flor   und   Lawr,    falls   eine   Pferdeseuche    ausgebrochen    ist. 
Hinter  den  Heiligenbildern  reitet  die  Wahrsagerin  auf  einem 
Besen;  sie  ist  nur  mit  dem  Hemde  bekleidet,  und  ihre  Haare 
sind  aufgelöst.    Dann  kommen  die  nackten  Mädchen  mit  dem 
Pflug,  und  hinterdrein  bewegt  sich  die  Menge  der  lärmenden 
Weiber.    Die  Zeremonie  ist  als  gelungen  zu  betrachten,  wenn 
die  Prozession   bei    dem   dreimaligen   Umpflügen   niemandem 
begegnet.     „Gott   behüte   Jeden   davor,   dieser   Prozession  in 
den  Weg  zu  geraten,**  sagt  der  Geistliche  Orlow.     Ein  Tier 

Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Ru&land.  31 


—    482    — 

wird  sofort  totgeschlagen,  ein  Mensch  geprügelt,  bis  er  be- 
wußtlos bleibt  oder  tot  zur  Erde  sinkt.  Das  ist  unerläßlich. 
Denn  wer  der  Prozession  begegnet,  ist  sicher  der  Tod,  der  in 
Gestalt  eines  Werwolfs  erscheint,  um  durch  die  Durchkreiizimg 
der  Umpflüg^ungslinien  den  heilsamen  Kreis  des  Pfluges  zu 
zerstören.  Der  gleiche  Gebrauch  besteht,  mit  einigen  kleinen 
Abweichimgen,  in  verschiedenen  Kreisen  der  Gouvernements 
I^nschny-Nowgorod,  Woronesch  imd  Tula.  Am  stärksten  ver- 
breitet ist  er  allem  Anschein  nach  in  Mittelrußland.  Es  ist 
außer  allem  Zweifel,  daß  man  es  mit  einer  alten  heidnischen 
Sitte  zu  tun  hat,  die  von  der  Orthodoxie  nicht  nur  geduldet, 
sondern  unterstützt  wird,  denn  das  Umpflügen  wird  durch 
die  vorhergehende  kirchliche  Prozession  geweiht;  und  man 
tötet  die  Menschen,  die  den  heiligen  Kreis  stören,  unter  dem 
Zeichen  des  Kreuzes  und  mit  Gutheißung  der  Geistlichkeit. 
Zu  erwähnen  ist  noch,  daß  beim  Umpflügen  auch  Fälle  von 
Selbstopferung  vorkommen;  man  wirft  das  Los,  imd  wen  es 
trifft,  der  wird  mit  einem  Hahne  oder  einer  schwarzen  Katze 
lebendig  begraben. 

Der  entsetzliche  blutige  Aberglaube  herrscht  aber  nicht 
bloß  in  Zeiten  der  Epidemien,  wo  man  durch  solche  Taten 
sowohl  sich  als  die  ganze  Gemeinde  zu  retten  glaubt,  sondern 
auch  in  ganz  gewöhnlichen  Krankheitsfällen. 

Die  Zahl  der  abergläubischen  Heilmittel  für  gewöhnliche 
Krankheiten  ist  endlos.  Besonders  beliebt  sind  Beschwö- 
rungen^). Die  Heilmethoden  sind  zumeist  grausam  imd  brutal 
imd  führen  häufig  den  Tod  des  Kranken  herbei.  Mord,  Not- 
zucht und  Sodonue  werden  vom  Wunderdoktor  oder  der  Wahr- 
sagerin ohne  viel  Bedenken  empfohlen,  selbst  wenn  es  sich 
darum  handelt,  ein  ganz  gerinfüg^ges  Übel  zu  kurieren.  Epi- 
lepsie heilt  der  Snaxapt ,  der  weise  Mann,  durch  warmes  Men- 
schenblut. Im  Gouvernement  Kasan j  ist  dieses  Mittel  all- 
gemein bekannt.  Im  selben  Gouvernement  existiert  noch  ein 
anderer  furchtbarer  Aberglaube,  worauf  ein  Vorfall  vom  3.  Juli 

^)  Eine  Reihe  solcher  Beschwörungen  und  Besprechungen  teilt  Ssi6iiunmhy 
PvccKÜt  Hapo;i:B  mit:  crp,  259 — 282,  353 — 386,  417 — 426  (napojiHaa  MeÄHmiHa). 
—  Vgl.  femer:  CyMuoBT^  KyjibTypHbiH  nepexcHBamfl ;  CöopHinci»  xapbR.  Hcrop. 
(f>iwojior.  oßiuecTBa  III — V;  Wisla  1891,  No.  III. 


—    483    — 

/  1891  hinweist:  im  Dorfe  Stary-Ssalman  des  Spaßschen  Kreises 

wurde  einem  sechsjährigen  Mädchen  die  Kehle  durchschnitten 
und  Brust  und  Magenhöhle  geöffnet;  dann  nahm  man  das 
Herz  heraus  und  gab  dieses  als  Heilmittel  einem  Manne  zu 
essen,  der  nach  einem  Schlaganfall  einen  zitternden  Kopf  be- 
halten hattet).  Aber  die  Heilmethoden  sind  auch  für  die 
Patienten  selbst  mit  großer  Gefahr  verbimden  und  führen  in 
den  meisten  Fällen  den  Tod  herbei.  Trotzdem  sucht  nicht  bloß 
das  gemeine  Volk  die  Wunderdoktoren  auf,  sondern  auch 
die  Mitglieder  der  höheren  Gesellschaftskreise  und  der  intelli- 
genten Klassen  strömen  massenhaft  zum  Snacharj  oder  zur 
Wahrsagerin,  imd  jedes  Gouvernement,  jede  größere  Stadt 
hat  einen  berühmten  Kurpfuscher,  mit  dessen  Beliebtheit  sich 
kein  gelehrter  Arzt  messen  kann.  In  den  1880  er  Jahren  war 
im  Busulukschen  Kreise  des  Gouvernements  Ssamara  der 
Snacharj  Kusmitsch  vielgesucht;  täglich  kamen  150  Patienten 
aus  der  ganzen  Wolgagegend  herbei,  um  seinen  Rat  einzu- 
holen. 2)  Diese  Wunderdoktoren  wenden  selbst  in  den  harm- 
losesten Krankheiten  geradezu  lebensgefährliche.  Methoden  an. 
Am  schlimmsten  ergeht  es  da  der  Wöchnerin  imd  dem  Säug- 
ling. Allgemein  ist  es  in  der  russischen  Volksmedizin  Gebrauch, 
die  Gebärende  auf  eine  Holzschaufel  zu  legen  und  sie  von 
einigen  Anwesenden  in  die  Höhe  werfen  zu  lassen,  während 
andere  sie  an  den  Haaren  halten  und  herunterziehen;  dabei 
ruft  man:  „Schaufelchen,  wirf  es  heraus,  wie  c.  Brod  her- 

auswirfst.** Das  Spiel  endet  nicht  selten  mit  dem  Tode  der 
Gebärenden.  Hat  der  Säugling  einen  Bruch,  so  bindet  man 
ihm  im  Lukojanowkreise  des  Gouvernements  Nischny  Now- 
gorod eine  Maus  mit  einem  Faden  an  den  Fuß  an  und  legt 
dann  das  Tier  auf  den  Bauch  des  Säuglings :  zernagt  die 
Maus  den  Nabel  des  Kindes,  so  wird  dieses  gesund  werden; 
sonst  muß  es  sterben.  Leidet  das  Kind  an  Abzehrung,  so 
wird  es  nach  einer  Heilmethode,  die  ebenfalls  im  Lukojanow- 
kreise üblich  ist  imd  auch  ^n  Wilna  beobachtet  wurde,  in 
Lappen  gewickelt  und  mit  ungesäuertem  Teig  aus  Roggenmehl, 


1)  Löwenstimm  114. 
«)  Löwenstimm  138  ff. 

31* 


—    484    — 

das  vorher  in  der  Länge  des  Kindes  aufgerollt  wurde,  umhüllt ; 
dann  bindet  man  das  Paket  an  eine  Küchenschaufel  fest  und 
schiebt  es  dreimal  in  den  Backofen,  während  ein  Weib  drei- 
mal vom  Ofen  bis  zur  Türschwelle  läuft  und  schreit:  „Backe 
das  Hunde-Alter,  backe  tüchtig/'  Diese  Krankheit  bezeichnet 
man  nämlich  als  Hundealter.  Es  geschieht,  daß  das  Kind 
während  das  Backens  stirbt,  dann  war  das  arme  Wesen  un- 
heilbar, die  Methode  aber  ist  nicht  diskreditiert.  Für  dieselbe 
Krankheit  gibt  es  in  anderen  Gegenden  auch  folgendes  Mittel : 
Man  trägt  das  Kind  in  den  Wald  und  legt  es  auf  ein  paar 
Tage  in  einen  gespaltenen  Baum.  Dann  nimmt  man  es  heraus 
imd  trägt  es  dreimal  neun  Male  rund  um  den  Baum.  Hierauf 
bringt  man  es  nach  Hause  und  badet  es  in  Wasser,  das  aus 
sieben  Flüssen  oder  Brunnen  geschöpft  ist,  überschüttet  es 
mit  Asche  aus  sieben  Ofen  und  legt  es  auf  den  Ofen.  Schläft 
es  still  ein,  so  wird  es  geheilt  werden;  schreit  es  aber,  so  muß 
es  sterben.  Leidet  ein  Kind  oder  ein  Erwachsener  an  Leib- 
schneiden mit  Erbrechen,  so  verlangt  der  Doktor  eine  Suppen- 
schüssel mit  Wasser,  Hanf  und  einen  Krug.  Die  Schüssel 
wird  dem  Kranken  auf  den  Bauch  gestellt,  der  Hanf  ange- 
zündet und  ganz  nahe  um  den  Kranken  geschwenkt;  hierauf 
der  Rest  des  Hanfes  in  den  Krug  gelegt  und  dieser  in  die 
Schüssel  gestellt.  Während  der  Arzt  seine  Beschwörungen 
hersagt,  gibt  man  dem  Kranken  das  Wasser  aus  der  Schüssel 
zu  trinken.  Schreit  der  Patient,  so  heißt  es,  daß  die  Krank- 
heit gerade  entweicht.  Hat  der  Kranke  früher  vom  brennen- 
den Hanf  Brandwunden  erlitten,  so  sind  das  die  5ieichen  der 
entflohenen  Krankheit.  Selbstverständlich  kann  der  Wunder- 
doktor nicht  bloß  Krankheiten  bannen,  sondern  er  steht  Leuten, 
die  sich  rächen  wollen,  auch  zur  Verfügung,  wenn  sie  ihren 
Feinden  eine  Krankheit  anwünschen.  So  zaubert  der  Doktor 
wem  immer  Rheumatismus  an,  indem  er  Erde  aus  einem 
frischen  Grabe  nimmt,  die  Erde  mit  Asche  aus  sieben  Öfen 
und  Salz  aus  sieben  Hütten  vermischt.  Das  Päckchen  muß 
man  in  die  Strümpfe  oder  Fußlappen  des  Verwünschten  hinein- 
praktizieren, und  wenn  dessen  Fußschweiß  dazukommt,  hat 
der  Mann  gleich  seinen  Rheumatismus.  Leute,  die  sich  dem 
Militär  entziehen   wollen,   halten   es  für  das  sicherste  Mittel, 


—    486    — 

sich  vom  Snacharj  eine  passende  Krankheit  anzaubern  zu 
lassen^). 

Will  jemand  nicht  einmal  die  Hilfe  des  Zauberers  oder 
eines  alten  erfahrenen  Weibes  in  Anspruch  nehmen^  so  bedient 
er  sich  des  russischen  Allheilmittels,  das  schon  im  alten  Ruß- 
land gebraucht  wurde  2):  er  ninunt  Branntwein  mit  Schieß- 
pulver, Zwiebeln  oder  Knoblauch  und  darauf  ein  Schwitzbad. 
Vor  Pillen  und  noch  mehr  vor  Klistieren  hat  der  Russe  eine 
abergläubische  Furcht;  die  schlimmste  Gefahr  ist  nicht  im- 
stande, die  Scheu  vor  dem  Klistier  zu  überwinden.  Die  Ko- 
saken trinken,  wenn  sie  vom  Fieber  gepackt  sind,  eine  Riesen- 
schale Branntwein  mit  einer  tüchtigen  Portion  Kanonenpulver, 
legen  sich  darauf  nieder  und  stehen  am  anderen  Morgen  frisch 
und  munter  auf.^) 

Die  Regierung  kümmert  sich  um  die  hygienischen  Zu- 
stände wenig.  Ganze  Landstriche,  größer  als  Königreiche, 
haben  nicht  einmal  eine  einzige  Apotheke.  Katharina  II.  be- 
fahl in  einer  geheimen  Instruktion,  daß  es  in  einem  Gouverne- 
ment wenigstens  zwei  Ärzte  geben  solle.*)  Jetzt  hat  jeder  Kreis 
in  seiner  Hauptstadt  wenigstens  einen  Arzt,  aber  nicht  überall 
eine  Apotheke.  Zumeist  muß  die  Hausapotheke  des  Kreis- 
arztes genügen.  Die  gesetzgebende  Versanunlung,  die  auf 
Grund  der  von  Katharina  II.  gegebenen  Wahlordnung  1767 
imd  1768  in  Moskau  \md  Petersburg  zusanmientrat,  beschloß 
die  obligatorische  Schutzpockenimpfung,  imd  die  Kaiserin  ließ 
sich  xmd  den  Großfürsten-Thronfolger  Paul  zuerst  impfen,  um 
dem  Volke  mit  gutem  Beispiel  voranzugehen.   Anderthalb  Jahr- 


1)  Ober  Syphilis  ist  im  II.  Bande  ein  besonderer  Abschnitt.  Hier  be- 
gnüge ich  mich  mit  den  angeführten  Beispielen  zur  Illustriening  des  Kultnr- 
and  Sittlichkeitsgrades  der  russischen  Volksmedizin.  Man  vgl.  ferner  R.  Krebel, 
Volksmedizin  und  Volksmittel  verschiedener  Völkerstämme  Rußlands,  Leipzig 
1858;  und  Aurelio  Buddeus,  St.  Petersburg  im  kranken  Leben,  Band  I,  worin 
die  Gesundheitsverhältnisse  und  Heilanstalten  speziell  der  Residenz  eingehend 
beschrieben  sind. 

8)  Karamsin,  deutsche  Ausgabe.  IX  311. 

')  Description  de  rUkrainie.  par  le  Chevalier  de  Beauplan,  nonvelle 
Edition  par  le  prince  Galitzin,  Paris  1861,  p.   135. 

*)  Blum.  Ein  russischer  Staatsmann.  J.  J.  Sievers.  Leipzig  und  Heidel- 
berg 1857,  I  181. 


—     486    — 

hunderte  sind  verflossen,  und  das  russische  Volk  hat  seinen 
Widerstand  gegen  die  Blatternimpfung  noch  nicht  aufgegeben. 
Die  Pocken  wüten  deshalb  in  Rußland  noch  mit  ungebrochener 
Kraft.  Namentlich  in  den  fernen  Provinzen  und  unter  den 
Nomadenvölkem  ist  diese  Krankheit  eine  fast  unausrottbare. 
Wemi  bei  den  Kirghisen  jemand  an  den  Pocken,  die  Tschit- 
schak  genannt  werden,  erkrankt,  so  wird  er  sofort  von  allen, 
selbst  von  seinen  nächsten  Verwandten  verlassen.  Man  sperrt 
ihn  in  ein  Zelt  ein  und  setzt  ihm  von  fem  Lebensmittel  imd 
Getränke  aus.  Gewöhnlich  brechen  die  anderen  Kirghisen 
ihre  Zelte  ab  und  ziehen  weiter,  den  Erkrankten  seinem  Schick- 
sal überlassend.  Nähert  sich  ein  Pockenkranker  den  Woh- 
nimgen  der  Kirghisen,  so  wird  er  unbarmherzig  nieder- 
geschossen i).  Auch  die  Kalmücken  empfinden  vor  den  Pocken 
eine  abergläubische  Angst,  doch  sind  sie  gegen  die  Erkrankten 
menschlicher  als  die  Kirghisen.  Zwar  ziehen  sie  ebenfalls, 
sobald  einer  von  ihnen  von  den  Pocken  ergriffen  wird,  sogleich 
fort  imd  lassen  den  Patienten  in  einer  Hütte  zurück;  aber  der 
Kranke  bleibt  nicht  hUflos,  sondern  unter  dem  Schutze  eines 
Stammesgenossen,  der  die  Krankheit  schon  durchgemacht  hat, 
also  immun  ist. 

Bei  den  Kalmücken  ist  es  besonders  bemerkenswert,  daß 
hier  das  gemeine  Volk  die  europäischen  Ärzte  ebenso  gern 
zurate  zieht  wie  die  kalmückischen  Heilkünstler,  während  die 
Vornehmen  nur  'zu  den  einheimischen  Meistern  Zutrauen  haben. 
Die  Kalmücken  halten,  im  Gegensatze  zu  den  alten  Russen, 
denen  die  Heilkunde  als  etwas  Gottloses  erschien,  die  Medizin 
für  eine  göttliche  Wissenschaft;  sie  besitzen  einen  Spezialgott 
der  Medizin,  den  Ototschi  Burchan,  der  auch  im  Bilde  dar- 
gestellt wird.  Eine  Klasse  der  Ärzte  heißt  Ototschi,  diese  heilen 
aber  nur  Knochenbrüche  und  Tierkrankheiten;  die  angesehen- 
sten Ärzte,  Doctores  medicinae  universalis,  sind  die  Aemtschi, 
welches  Wort  auch  Arznei  heißt.  Die  Aemtschi  gehören  dem 
Priesterstande  an  imd  schöpfen  ihre  Kenntnisse  aus  Büchern. 
Der  kalmückische  Arzt  legt  den  größten  Wert  auf  die  Diät. 
Dem   Kranken   erlaubt   er   eine  lange   Zeit  nur   eine  magere 


1)  Pallas  Merkwürdigkeiten  295. 


—    487    — 

Fleischbrühe^  einen  dünnen  Mehlbrei,  Tee  ohne  Milch.  An- 
dere Kranke  dürfen  nur  wenig  Milch,  wieder  andere  müssen 
viel  MUch  zu  sich  nehmen.  Hämorrhoiden  heilt  man,  indem 
man  dem  Kranken  mehrere  Tage  hindurch  nichts  anderes  gibt 
als  eine  Schale  frischer  Kamelmilch  morgens  und  eine  Schale 
abends.  Natürlich  fehlt  es  auch  nicht  an  den  beliebten  orien- 
talischen Medikamenten,  wie  Rhabarber  und  Magnesia,  und 
noch  weniger  an  den  Heilmitteln  des  Aberglaubens:  so  wird 
nicht  bloß  der  Galle  von  Tieren,  sondern  auch  der  Galle  von 
Menschen  eine  große  Heilwirkung  zugeschrieben.  Die  wich- 
tigsten aller  Mittel  aber  sind  Amulette,  Beschwörungszere- 
monien und  als  letztes  imd  teuerstes:  feierliche  Gebete.  Der 
kalmückische  Arzt  ist  immer  geschäftig,  fühlt  bald  den  Puls 
der  linken,  bald  jenen  der  rechten  Hand,  dann  beider  Hände 
Pulse  auf  einmal,  läßt  sich  den  Urin  des  Kranken  geben,  klopft 
den  Urin  mit  dem  Stab,  und  wenn  die  Krankheit  gefährlich  oder 
der  Patient  vornehm  ist,  macht  sich  der  Doktor  kaltblütig 
daran,  den  Urin  zu  kosten.  Kommt  der  gemeine  Kalmücke 
zu  einem  europäischen  Arzte,  so  bietet  er  die  merkwürdigsten 
Honorare  an,  und  es  ist  nicht  selten,  daß  er  seine  Tochter  als 
Pfand  für  die  Bezahlung,  die  er  gewöhnlich  nicht  vor  voll- 
endeter Kur  leisten  will,  offeriert. i) 

29.  Räuberwesen  und  Revolutionen. 

Raubwirtschaft  als  Folge  von  Hunger  und  Pest  —  Organisation  der  Räuber  — 
Die  Sjetsch  der  Kosaken  —  Die  Räuber  und  der  Zar  —  Stenjka  Rasin  — 
Räuberlieder  —  Grausamkeit  Rasins  —  Ermordung  der  Adeligen  und  Priester 
—  Aasschweifungen  —  Rasins  Nachfolger  —  Brigandage  unter  Peter  dem 
Großen  —  Räuber  und  Revolutionäre  —  Hinrichtung  der  Strjeljzen  —  Der 
Richtplatz  in  Moskau  —  Die  Pugatschewsche  Rebellion  —  Ihre  Folgen  — 
Die  französische  Revolution  und  Rußland  —  Radischtschew  der  Freigeist  — 
Die  Freimaurer  in  Rußland  —  Nihilismus  —  Das  Erwachen  des  Muschiks  — 

Bankerott  der  Autokratie. 

Tausend  Jahre  lang  hat  das  russische  Volk  die  Tyrannei 
der  Herrschenden,  die  Willkür  des  Tschin,  die  Knuten  der 
Polizei  geduldig  und  fast  widerspruchslos  ertragen ;  aber  gegen 

*)  Bergmann,  Nomadische  Streif ereien  II  326.   —  Pallas  a.  a.  O.  295. 


—    488    — 

die  Leiden  des  Hungers  und  der  Pest  hat  es  sich  aufgelehnt. 
Üie  von  Menschen  verhängten  Plagen  verursachten  nur  selten 
Empörungen;  doch  gegen  die  Plagen,  die  die  Natur  erzeugfte, 
murrte  das  Volk.  Hungersnot  und  Pest  hatten  in  ihrem  Ge- 
folge stets  Unordnungen,  und  wo  das  Elend  herrschte,  bildeten 
sich  sofort  Räuberbanden.  In  den  alten  Chroniken  und  An- 
nalen  wird  oft  über  die  Leiden  geklagt,  die  im  heiligen  Ruß- 
land durch  die  unvertilgbare  Raubwirtschaft  entstehen.  Als 
1 230  Nowgorod  von  furchtbarer  Hungersnot  heimgesucht  wird, 
durchziehen  jene,  die  nicht  apathisch  den  Untergang  erwarten 
wollen,  raubend  vnd  sengend  d!e  Stadt  und  plündern  die  Kost- 
barkeiten in  den  Häusern  der  Reichen.  1299  zerstört  eine 
Feuersbrunst  Nowgorod,  und  die  dadurch  hervorgerufene  Ver- 
wirrung benützen  wilde  Banden  zur  Ausraubung  der  Paläste 
und  Kirchen.  13 14  werden  in  Pskow  50  Hauptanführer  von 
Räuberbanden,  die  die  Stadt  während  einer  Hungersnot  be- 
imruhigen,  aufgehängt.  Seit  dem  vierzehnten  Jahrhundert,  mit 
dem  Beginne  der  Tartarenherrschaft,  nimmt  das  russische 
Räuberwesen  kolossale  Dimensionen  an.  Aber  nachdem  die 
fremden  Bedrücker  von  den  moskowitischen  Zaren  endlich  ver- 
trieben worden,  wird  es  durchaus  nicht  besser.  Das  Volk,  so- 
weit es  überhaupt  fähig  ist,  unter  dem  Elend  noch  das  Gefühl 
des  Leidens  zu  empfinden,  verfällt  der  Trunksucht  oder  flüchtet 
sich  in  die  Wälder,  um  vom  Raube  zu  leben. 

Die  Epoche  Iwans  des  Schrecklichen  schafft  ganze  Ar- 
meen von  Verzweifelten;  und  als  unter  Boriß  Godunow  um 
1600  die  entsetzlichste  aller  russischen  Hungerzeiten  anbricht, 
ergibt  sich  alles,  was  dem  Hunger  entrinnen  kann,  dem  Straßen- 
raub. Aus  der  Ukraine  brechen  Scharen  nach  Inner-Rußland 
ein,  um  zu  morden  und  zu  plündern.  In  abgelegenen  Gegenden 
errichten  die  Räuber  förmliche  Standquartiere,  wo  man  die 
Streifzüge  berät  und  von  wo  aus  man  bis  unter  die  Tore  von 
Moskau  zieht.  Einer  der  verwegensten  Räuberhauptleute  der 
Zeit  ist  Chlopko,  mit  dem  Beinamen  Koßolap,  der  Krunun- 
pfotige;  der  Zar  muß  ihm  ein  ganzes  Heer  entgegenschicken, 
aber  erst  nach  hartem  Kampfe  wird  Chlopko  gefangen  und 
unter  gräßlichen  Marterungen  getötet;  auch  alle  seine  Unter- 
anführer werden  auf  die  Folter  gespannt  und  hingerichtet,  ob- 


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Bestrafung  von  Räubern  an  der  Wolga. 

(Nach  einer  AbbiUlung  in  J,  ILinway's  Reise beschreiliuiiK.   r754.) 


I 


' 


—    489    — 

wohl  Zar  Boriß  bei  seinem  Regierungsantritt  gelobt  hat,  keinen 
Menschen  mit  dem  Tode  zu  bestrafen,  i)  Aber  dieses  Gericht 
schreckt  niemanden  ab,  und  1609  wagt  es  der  Räuberhaupt- 
roann  Salkow,  ein  chatunskischer  Bauer^  Moskau  zu  umzingeln 
und  alle  Getreidetransporte  aufzuhalten,  so  daß  in  der  Haupt- 
stadt Hungersnot  herrscht.  *) 

Die  Räuberbanden  ziehen  zuweilen  gleich  mächtigen 
Heeren  durch  die  Provinzen  und  behandeln  das  Vaterland  wie 
eroberte  Reiche;  sie  lagern  nicht  bloß  auf  den  Landstraßen 
xmd  in  den  Wäldern,  um  von  den  Wanderern  und  den  Kauf- 
leuten Abgaben  und  Steuern  zu  erheben,  sondern  brandschatzen 
auch  Städte  und  nehmen  Festungen  in  Besitz.  Die  Oinb 
(Sjetsch^),  die  Niederlassung  der  Saporeger  Kosaken,  ist  das 
Zentnun  aller  Räuberbanden.  Flüchtige  Leibeigene,  Diebe  und 
Mörder,  die  dem  Henker  entkamen,  Abenteurer  aller  Art,  un- 
schuldig Verfolgte,  mit  einem  Worte  alle,  die  unter  einem 
Regime  der  Ordnung  oder  unter  der  Herrschaft  der  Willkür 
nichts  Gutes  zu  erhoffen  haben,  suchen  das  Asyl  in  der  Sjetsch 
auf.  Gogolj  hat  von  diesen  Glücksrittern  imd  Verfehmten  in 
seinem  Roman  Taraß  Buljba  ein  krasses  Bild  entworfen.  Aus 
der  Sjetsch  strömen  von  Zeit  zu  Zeit  und  Jahrhunderte  hin- 
durch die  Scharen  der  Freibeuter,  die  namentlich  die  Bo- 
jaren und  den  niederen  Adel  drangsalieren  und  fast  überall 
auf  die  Sympathien,  wenn  nicht  gar  Anteilnahme  des  be- 
drückten Muschik  und  des  geknechteten  Volkes  rechnen  kön- 
nen. Wenn  die  Räuber  die  Bojaren  und  Gutsherren  ausplün- 
dern imd  ermorden,  so  erscheinen  sie  nicht  als  Diebe  und 
Mörder,  sondern  als  Rächer  des  namenlos  leidenden  Volkes, 
als  Geißel  für  die  Herren  und  Befreier  der  Leibeigenen. 

Die  Macht  des  Räubertums  vermag  diese  kolossalen  Dimen- 
sionen anzunehmen,  weU  sich  die  Bewegung  niemals  gegen  den 
Zaren  richtet.  Wie  dem  einfachsten  Muschik,  bleibt  auch  dem 
zügellosen  Räuber  der  Zar  noch  immer  der  Inbegriff  alles 
HeUigen  auf  Erden.     Ja,  der  Räuber  ist  geradezu  ein  Mann 

1)  Karamsin,  deutsche  Ausgabe  X  97,  französische  XI  153. 
*)  Ebenda»  deutsche  Ausgabe  XI  145. 

•)  Dieses  Wort  ist  altrussisch,  gleichwie  cfeiein»,  der  Krieger,  und  c^^hho, 
die  Axt.     In  der  modernen  Sprache  heißt  d^ia  oder  (Hkqr»:  das  Blutbad. 


—    490    — 

des  Zaren.  Der  Zar  ist  gut  und  edel ;  aber  der  Bojar^  der  Adel, 
der  Tschin,  die  Beamten,  sie  stehen  zwischen  dem  Zaren  und 
seinem  Volke;  sie  sind  es,  die  den  Zaren  ebenso  verraten,  wie 
sie  das  Volk  bedrücken.  Das  ist  die  Meinung,  die  sich  das 
Volk  bildet  imd  der  es  in  seinen  Liedern  hundertfältigen  Aus- 
druck gibt.  In  diesen  Liedern  i)  erscheinen  die  Räuberbanden 
als  wahrhafte  Stützen  des  Zaren;  Mord  oder  Raub,  an  dem 
Adel  und  dem  Beamtentum  verübt,  wird  im  VolksUede  als 
kühne  Tat  gefeiert,  als  das  Werk  von  Befreiern  aus  Not  imd 
Elend;  die  Räuber,  die  tapferen  Helden,  ziehen  heran,  lun  die 
gemeinsamen  Feinde  des  Zaren  und  des  Volkes  zu  strafen. 
Dies  erzählt  am  besten  die  Geschichte  der  beiden  bedeutendsten 
russischen  Räuber:  des  Stenjka  Rasin  und  des  Pugatschew, 
von  denen  der  erstere,  der  nichts  gegen  den  göttlichen  Zaren 
zu  unternehmen  wagt,  vom  Volke  verherrlicht  wird,  während 
der  andere,  der  sich  fälschlich  für  Peter  IIL  ausgibt  und  den 
Thron  anstrebt,  beim  Volke  nur  durch  Schrecken  Zustimmung 
erzwingt,  in  den  Liedern  aber  verflucht  wird.  Stenjka  Rasin, 
der  als  der  Retter  der  Leibeigenen  und  der  Vergewaltigten  auf- 
zutreten liebt,  ohne  sich  direkt  gegen  den  Zaren  zu  wenden, 
ninmit  in  den  Liedern  des  Volkes  die  Stellung  eines  Helden 
ein,  gleich  jener,  die  die  alten  Byhnen  oder  Heldenlieder  dem 
Ilja  von  Murom  einräumen.  Diese  Räuberlieder  malen  ihren 
Helden  in  den  schönsten  Farben,  schmücken  ihn  mit  den  vor- 
nehmsten Tugenden,  schreiben  ihm  die  wunderbarsten  Dinge 
zu.  In  einem  Liede  wird  erzählt,  wie  der  besiegte  Rasin  in 
seinem  Kerker  auf  die  Wand  ein  Boot  malt,  das  sich  durch 
Zauberkraft  in  ein  wirkliches  Schifflein  verwandelt  und  den 
Gefangenen  in  die  Freiheit  entführt.  Die  Gefährten  Rasins 
werden  also  charakterisiert: 

Wir  sind  keine  Räuber  ohne  Ehr, 

Wir  sind  nur  des  Rasin  Arbeiter, 

Des  Unterhetmanns  Gehilfen  hehr. 

Nur  ein  Ruderschlag  —  und  ein  Schiff  liegt  brach; 

Mit  dem  Riem  ein  Schlag  --  Karawane  wach! 

Mit  der  Hand  ein  Schlag  —  uns  laufen  die  Mädchen  nach. 

1)  Reinholdt,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  89 — 92. 


—    491     — 

In  einem  Liede,  das  von  Rasin  selbst  herrühren  soll,  schil- 
dert der  Hauptmann  den  Abschied  von  seinen  Gefährten.  „Be- 
grabet mich,"  bittet  er,  „am  Scheidewege,  wo  sich  die  drei 
Straßen  kreuzen:  nach  Moskau,  nach  Astrachan,  nach  Kijew*': 

Mir  zu  Häupten  legt  ein  wundertätig'  Kreuz, 

« 

Mir  zu  Füßen  leg^  einen  Säbel  scharf. 

Wer  vorübergeht,   der  soll  bleiben  stehn; 

Sei  es,  daß  er  bete  zu  dem  wundertätigen  Kreuz, 

Sei  es,  daß  ihn  ängstige  mein  Säbel  scharf: 

Mag  er  wissen,  daß  hier  liegt  der  Räuber  böse  — 

Stenjka  Rasin,  Sohn  des  Timofej. 

Dieser  böse  Räuber  Stenjka  Rasin  ist  einer  der  grausam- 
sten und  wollüstigsten  Menschen  aller  Zeiten  und  Zonen.  Aber 
seine  Grausamkeit  richtet  sich  nur  gegen  den  Adel,  die  Kirche 
und  die  Beamten,  und  deshalb  ist  er  dem  Andenken  des  Volkes 
ein  teuerer  Held.  Rasin  beginnt  seine  Räubereien  um  1667 
in  seiner  Heimat  am  Don^)  und  zieht  dann,  als  er  schnell 
große  Scharen  von  Mordlustigen  um  sich  gesammelt  hat,  zur 
Wolga.  Die  Behörden  schicken  den  Ssotnik  der  Moskauer 
Strjeljzen  Nikita  Siwzow  zum  Räuberhauptmann,  um  einen 
Friedensvorschlag  zu  machen.  Aber  Rasin  läßt  den  Boten  der 
verhaßten  Behörden  totschlagen  und  die  Leiche  ins  Wasser 
werfen.  Andere  Gesandte  erleiden  dasselbe  Schicksal.  In  kür- 
zester Frist  fällt  Astrachan  in  die  Hände  des  Räubers.  Der 
Befehlshaber  von  Astrachan,  Fürst  Prossorowskoj,  wird  von 
der  Bastei  hinabgeworfen;  alle  Beamten,  die  nicht  sofort  dem 
Sieger  Gehorsam  geloben  und  leisten,  werden  zu  Tode  ge- 
martert, und  ihre  Leichen  wirft  man  ins  Wasser.  Einen  furcht- 
baren Haß  hegt  Rasin  gegen  den  Klerus.  Der  Räuberhaupt- 
mann verbietet  das  kirchliche  Begräbnis;  die  Priester  dürfen 
nicht  mehr  amtieren;  die  Mönche  und  Nonnen  werden  aus 
den  Klöstern  geschleppt,  entkleidet  und  dem  Volke  auf  offenem 


1)  Nachricht  von  dem  Aufruhr  und  den  Frevel  taten  des  donischen 
Kosaken  Stenka  Rasin,  aus  einem  russischen  Chronikenschreiber  damaliger 
Zeit  gezogen  und  übersetzt  von  M.  Christian  Heinrich  Hase.  Büschings  Maga- 
zin IX  79  ff.  —  Memoires  du  Regne  de  Pierre  le  Grand  par  Nestesuranoi, 
Amsterdam  1728,  I  391 — 433. 


—    492    — 

Platze  zur  Verhöhnung  ausgeUefert.  Alles,  was  zu  den  Vor- 
nehmen gehört,  ist  dem  Tode  geweiht.  Die  Kinder  des  er- 
mordeten Fürsten  Prossorowskoj  werden  aus  ihren  Verstecken 
hervorgeholt  und  an  den  Füßen  über  der  Stadtmauer  auf- 
gehängt. Die  Beamten,  welche  das  Volk  bedrückt  haben,  läßt 
Stenjka  Rasin  an  den  Rippen  aufhängen  und  dem  Tode  durch 
Verschmachten  aussetzen  i);  die  Weiber  und  Töchter  der  er- 
mordeten Edelleute  und  Strjeljzen,  Schreiber  und  Kaufleute, 
überliefert  er  der  Armee  zur  Schändtmg.  Er  zwingt  die  Priester, 
die  vornehmsten  Frauen  und  Töchter  mit  den  wilden  Gesellen 
zu  trauen.  Da  aber  die  Räuber  die  Orthodoxie  verspotten  und 
das  Sakrament  der  Ehe  verachten,  so  dürfen  die  Priester  bei 
Todesstrafe  keine  kirchliche  Zeremonie  vornehmen,  sondern 
müssen  sich  an  Stelle  des  himmlischen  Segens  mit  dem  Siegel 
Rasins  begnügen.  Wenn  ein  Priester  sich  weigert,  dem  Be- 
fehle des  Räuberhauptmanns  Folge  zu  leisten,  wird  er  ohne 
weiteres  ins  Wasser  geworfen. 

Mit  dem  Räuberwesen  vereinigt  sich  immer  die  zügellose 
Unzucht.  Rasins  Befehl:  Erschlaget  die  vornehmen  Männer 
und  schändet  die  Frauen  und  Mädchen  I  findet  bei  dem  Volke, 
das  nicht  bloß  von  der  Knute  der  Männer,  sondern  auch  von 
der  Peitsche  der  Weiber  gezüchtigt  wird,  volles  Verständnis 
und  jubelnden  Beifall.  Diesen  Befehl  schickt  Rasin  nach  der 
Erobenmg  Astrachans  durch  Boten  die  Wolga  aufwärts.  Seine 
Briefe  verkünden,  daß  er  für  die  Vertreibung  der  Bojaren  und 
der  Gouverneure  kämpfe  und  dem  bedrückten  Volke  die  Frei- 
heit geben  werde ;  er  verspricht :  überall,  wo  er  nur  erscheinen 


1)  Es  ist  dies  dieselbe  Todesstrafe,  welche  die  Behörden  über  die  Räuber 
an  der  Wolga  verhängten  und  die  wir  auch  im  Bilde  zeigen.  Vgl.  J.  Hanways 
Beschreibung  seiner  Reise,  i  75:  „Es  wird  eine  Art  Floßschiff  erbaut,  dessen 
Größe  nach  Anzahl  der  Verbrecher  eingerichtet  wird.  Auf  dasselbe  setzet  man 
einen  Galgen,  der  eine  zureichende  Anzahl  eiserner  Haken  hat,  an  welchen  sie 
lebendig  bey  den  Rippen  gehenket  werden.  Das  Floßholz  wird  in  den  Strom 
hinein  gelassen,  nachdem  man  zuvor  ein  Stück  Pergament  über  ihre  Köpfe 
fest  gemacht  hat,  wohnnen  ihre  Verbrechen  angezeiget  werden.  Hierauf  wird 
allen  Städten  und  Dörfern  an  dem  Ufer  des  Flusses  bey  Lebensstraffe  verbothen, 
keinen  von  diesen  Bösewichten!  Hülfe  wiederfahren  zu  lassen,  sondern  das 
Floßholz  abzustoßen,  wenn  es  bei  ihnen  sich  dem  Lande  nähern  sollte.  Diese 
Uebeltäter  leben  bisweilen  drey,  vier,  ja  wohl  gar  fünf  Tage  an  solchen  Haken." 


-    493    — 

könne,   die   Bojaren,   Staats-   und  Kanzleibediente,   Edelleute, 
Strjeljzen  und  Soldaten  zu  erschlagen  und  ihre  Frauen  und 
Töchter  dem  Volke  als  Beute  zu  überlassen.    „Wir  ziehen  aus/* 
heißt  es  wörtlich  in  einem  Aufruf  von  Rasin  an  die  Bauern, 
„imd   wollen   die   Bojaren   totschlagen,   euch  aber  gute   Zeit 
und  viele  gute  Jahre  verschaffen."    Vergebens  suchen  die  Be- 
drohten Rettung  in  den  Wäldern,  das  Volk  spürt  die  Flücht- 
Unge  auf   und   schleppt   sie  Hunderte   von  Werst   weit   dem 
Räuberhauptmann   entgegen,   um  sie   von  diesem   richten  zu 
lassen.    Alle  Landschaften  an  der  Wolga  geraten  in  Aufruhr, 
die  Bauern  erheben  sich  in  Massen.     Und  so    wie  Rasin  es 
verlang^   und   verkündet   hat,   geschieht  es:   wo  er  erscheint, 
werden  Reihen  von  Galgen  errichtet  imd  die  verfehmten  Vor- 
nehmen bis  herab  zu  den  Schreibern  und  Soldaten  aufgeknüpft. 
Erst   nach   vier  Jahren   gelingt  es   dank  einem   Wunder  des 
von  den  Rebellen  mit  Vorliebe  geschmähten    wundertätigen 
Ssergej  und  durch  Aufgebot  einer  mächtigen  Armee  die  Räuber- 
bande Rasins  zu  besiegen.     Nun  erfolgt  blutige  Rache.    Man 
errichtet  zahllose  Galgen  imd  hängt  die  Räuber  zu  30  bis  50 
an  einem  Balken  auf,  doch  so,  daß  sie  eines  langsamen  Todes 
und  unter  furchtbaren  Martern  sterben.    In  kurzer  Zeit  werden 
auf  diese   Weise   12000  Räuber  hingerichtet.     Stenjka  Rasin 
wird  bei  lebendigem  Leibe  gevierteilt,  sein  Bruder  Frolko  ent- 
hauptet.   Unter  den  Gefangenen,  welche  die  Truppen  in  Arsa- 
maß  machen,  entpuppt  sich  ein  Hauptmann,  der  7000  Rebellen 
konmiandiert  hat,  als  eine  verkleidete  Nonne ;  das  Hochgericht 
verurteilt  die  Nonne  zur  Verbrennung  bei  lebendigem  Leibe. 
Aber  die  dezimierten  Räuber  sammeln  sich  \mter  einem 
neuen  Hauptmann,  namens  Baska  Us,  und  dessen  erste  Tat 
ist  eine  Revanche  für  die  Hinrichtung  Rasins:  Baska  Us  be- 
setzt abermals  Astrachan,  martert  den  Kommandanten  Fürsten 
Semen  Lwow,  röstet  ihn  bei  lebendigem  Leibe  und  läßt  ihn 
schließlich  köpfen;  dem  Erzbischof  Joseph,  Metropoliten  von 
Astrachan,  werden  die  Kleider  vom  Leibe  gerissen,  Haare  und 
Bart  versengt;  dann  martert  man  den  Priester  zu  Tode,  und 
die  Leiche  wirft  man   von  der  Bastei  hinunter,  den  Hunden 
zum  Fräße.     Baska  Us  bleibt  unbesiegbar;  erst  ein  Wunder 
muß  Rußland  von  diesem  Räuber  befreien:  „Endlich  ergriff 


—    494    — 

ihn  Gottes  Gericht/*  erzählt  der  Chronist,  ,,Baska  Us  wurde 
lebendigen  Leibes  von  Würmern  zerfressen  und  stieß  seine 
Seele  aus."  An  die  Stelle  des  Us  tritt  sofort  ein  neuer  Haupt- 
maim,  Fedko  Scholdjak;  auch  ihn  zu  vernichten  bedarf  es 
eines  Wunders;  imd  das  Wunder  erscheint:  „Am  neimten 
des  Monats  September  des  Jahres  7179  (1671)  gab  der  Mond 
in  der  Stunde  der  Nacht  ein  Zeichen;  er  verfinsterte  sich  von 
der  Morgenseite  her  und  verwandelte  sich  in  Dunkelheit,  fing 
aber  in  der  sechsten  Stunde  wieder  zu  leuchten  an." 

Zar  Alexej  verfügt  die  strengsten  Maßnahmen  gegen  das 
Räuberwesen;  doch  die  furchtbarsten  Marterungen  und  grau- 
samsten Todesstrafen  1)  sind  umsonst.  Selbst  Peter  der  Große 
vermag  die  Brigandage  nicht  zu  unterdrücken.  17 10  muß 
die  Armee  ausrücken,  um  die  Hauptstadt  vor  Räuberbanden 
zu  schützen:  17 19  führen  Briganten  in  den  Bezirken  von  Mo- 
schajsk  und  Nowgorod  einen  förmlichen  Guerillakrieg  mit  den 
Reg^erungstruppen ;  imd  1723  berichtet  der  sächsische  Resi- 
dent Lefort,  daß  in  Petersburg  eine  Bande  von  9000  Dieben 
und  Räubern  die  Admiralität  verbrennen  und  die  Fremden 
massakrieren  wolle.  Diese  Räuberbande,  9000  Mann  stark, 
inmitten  der  neuen  Hauptstadt,  macht  ganz  den  Eindruck 
einer  revolutionären  Truppe,  einer  Armee  von  nationalen  Fa- 
natikern, die  mit  Raub  und  Plünderung,  Morden  und  Brennen 
gegen  die  Neuerungen  demonstrieren. 

Zwischen  Räubertum  und  Revolution  ist  in  Rußland  seit 
jeher  nur  schwer  eine  Unterscheidung  zu  machen.  Als  Pseudo- 
Dmitrij  den  Zarenthron  usurpierte,  ward  das  Land  eine  Beute 
von  Räuberbanden,  die  aber  nicht  bloß  mordeten  und  plün- 
derten aus  Lust  zum  Handwerk,  sondern  damit  eine  patrio- 
tische Tat  vollführen,  den  Haß  gegen  den  Usurpator,  den 
Widerstand  gegen  seine  Regierung  bezeigen  wollten.  Ein  ein- 
ziges Mal  in  früheren  Zeiten  wagten  die  Moskowiter  sich  zu 
erheben  und  Revolution  zu  machen:  Das  war  im  Jahre  1648, 
als  die  Willkür  des  Zarengünstlings  Morosow  selbst  den  Gleich- 
mut des  russischen  Volkes   erschütterte.     Aber  auch  damals 


^)  Alexejs  Gesetze  gegen  Straßenräuber  bei  Struve,   Kussisches  Land- 
Recht,  XXI  Cap.  S.  205  ff. 


—     495    — 

verwandelten  sich  die  Empörer  aus  Revolutionären  schnell 
in  Räuber  und  diskreditierten  ihr  eigenes  Unternehmen,  das 
in  anderem  Falle  Rußland  vielleicht  noch  um  zwei  Jahr- 
hunderte früher  als  die  Länder  Europas  vom  Absolutismus  be- 
freit hätte. 

Die  Grausamkeit,  mit  der  die  Räuber  und  Revolutionäre 
einerseits  imd  die  Behörden  andererseits  gegeneinander  vor- 
zugehen pflegten,  spottet  aller  Beschreibung.  Man  kann  sich 
aber  einen  Begriff  von  dieser  Grausamkeit  machen,  wenn  man 
die  authentischen  Berichte  über  die  Vernichtung  der  Strjeljzen 
durch  Peter  den  Großen  vernimmt.  Ganz  Moskau  wird  in 
einen  Henkerplatz  verwandelt.  Aus  allen  Schießscharten  der 
drei  Mauern,  welche  die  Stadt  umgeben,  werden  Balken  her- 
ausgesteckt, an  denen  man  je  drei  bis  vier  Strjeljzen  auf- 
hängt. Auf  dem  großen  Marktplatz  legt  man  Verurteilte  reihen- 
weise hin,  um  ihnen  die  Köpfe  abzuschlagen.  Der  Zar  selbst 
fimgiert  als  Henker  und  wird  nicht  müde,  diese  Blutorgie  zu 
feiern.  Er  fordert  auch  seine  Bojaren  auf,  am  Morden  teilzu- 
nehmen ;  Mentschikow  und  Romadanowskij  bleiben  hinter  dem 
Herrn  nicht  zurück;  Galitzyn  aber  ist  ungeschickt  und  muß 
stets  mehrmals  das  Beü  erheben,  bis  er  sein  Opfer  zu  Tode 
trifft.  Jovial  lädt  der  Zar  selbst  die  Fremden,  die  an  seinem 
Hofe  weilen,  zu  der  Ergötzlichkeit  ein,  aber  Lefort  und  Blom- 
berg  lehnen  dankend  ab,  die  Henker  zu  spielen,  und  auch 
der  preußische  Diplomat  Printzen,  der  den  ZsLTtn  bei  der  Arbeit 
des  Kopfabschlagens  antrifft,  hat  keine  Lust,  es  Peter  gleich- 
zutim.  Das  furchtbare  Schauspiel  wird  nicht  in  wenigen  Tagen 
beendet,  sondern  dauert  wochenlang,  ja  monatelang.  Am 
II.  Oktober  1698  beginnen  die  Exekutionen  auf  dem  Roten 
Platze:  144  Mann  werden  hingerichtet;  am  12.  Oktober:  205, 
am  13.  bloß  141,  am  17.  nur  109,  am  18.  gar  nur  65,  am  19. 
wieder  106.  Im  Januar  1699  reinigt  man  die  Plätze  und  schleppt 
die  verfaulten  Leichen  fort,  um  neuen  Opfern  Raum  zu  geben, 
deren  abgeschlagene  Köpfe  auf  Pfählen  aufgepflanzt  werden 
und  bis  zum  Jahre  1727,  also  durch  mehr  als  ein  Vierteljahr- 
hundert, zur  Schau  und  Warnung  ausgestellt  bleiben.  Ein 
furchtbarer  Platz,  kaum  irgendwo  in  der  Welt  gibt  es  seines- 
gleichen.   Richtplati   JioÖHoe  MicTO  heißt   er   im    Russischen. 


—    496    — 

Iwan  der  Schreckliche  beichtet  auf  diesem  Lobnoje  Mjesto 
seine  Verbrechen  vor  dem  Volke;  auf  dem  Richtplatze  richtet 
er  sich  selbst  moralisch  und  erfleht  für  seine  Sünden  des 
Volkes  Verzeihung.  Auf  dem  Lobnoje  Mjesto  publiziert  Pseudo- 
Dmitrij  sein  Thronbesteigimgsf est ;  und  hier  wird  wenige  Mo- 
nate später  sein  von  den  Mördern  zerfleischter  Leichnam  zur 
Schau  gestellt^  nachdem  man  das  Antlitz  mit  einer  Maske  be- 
deckt und  an  die  rechte  Hand  einen  Dudelsack  befestigt  hat.  ^) 
Seit  den  Strjeljzenhinrichtungen  aber  hat  der  Richtplatz  nur 
noch  eine  Rolle  im  kirchlichen  Leben  gespielt.  Denn  Lobnoje 
Mjesto^  dieser  Ort  des  Blutes,  ist  auch  ein  heiliger  Platz.  Die 
Legende  erzählt,  daß  hier  Adams  Haupt  begraben  sei.  Auf 
diesem  Platze  werden  zuerst  die  nach  Moskau  gebrachten  Re- 
liquien und  Heiligenbilder  niedergelegt.  Hier  erteilte  der  Pa- 
triarch öffentlich  den  Segen  der  Kirche,  hier  werden  noch 
heute  die  wichtigen  Ukase  verlesen,  und  auf  dieser  Stelle 
macht  ein  öffentlicher  Ausrufer  dem  Volke  von  Moskau  Mit- 
teilung von  einem  Regierungswechsel. 

Die  Grausamkeit  Peters  des  Großen  gegen  Räuber  imd 
Empörer  hat  Rußland  weder  von  der  Räuberplage  gerettet 
noch  von  Revolutionen  freigehalten.  Aber  diese  Revolutionen 
sind  nicht  im  üblichen  Sinne  zu  nehmen.  Als  Pugatschew 
gegen  Katharina  II.  eine  Revolution  hervorrief,  konnte  er  nur 
dadurch  Gefolgschaft  gewinnen,  daß  er  sich  für  Peter  III. 
ausgab.  Pugatschews  Kampf  gegen  den  Adel  und  den  Tschin 
findet  nur  Anklang,  weil  gleich  Stenjka  Rasin  auch  Pugatschew 
seine  Anhänger  damit  an  sich  fesselt,  daß  er  ihnen  alle  Zügel- 
losigkeiten  gestattet  und  die  Grausamkeit  und  Wollust  der 
Russen  und  Kosaken  für  seine  Zwecke  ausbeutet.  2)  Mit  einer 
furchtbaren  Greueltat  beginnt  Pugatschew  seine  Laufbahn.  Bei 


1)  Waliszewski,  Pierre  le  Grand  439.  —  CoJiOBbeBis  Horopin  XIV  286. 
—  Vockerodt  bei  Herrmann  29.  —  Brückner,  Peter  der  Große. 

2)  Zuverlässige  Nachricht  von  dem  Aufruhrer  Jemeljan  Pugatschew  und 
der  von  demselben  angestifteten  Empörung.  In  Büschings  Magazin  XVIII.  — 
Catharina  die  Zweite,  Darstellungen  aus  der  Geschichte  ihrer  Regierung  und 
Anekdoten  von  ihr  und  einigen  Personen,  die  um  sie  waren.  1797.  (Seltene 
Schrift,  wahrscheinlich  aus  dem  Verlag  von  Hammrich  in  Altona). 


—    497    — 

der  Eroberung  von  Nischnaja  Osernaja  fällt  der  Befehlshaber 
der  Festung,  Major  Scharlow,  verwundet  in  die  Hände  Pu- 
gatschews.  Die  junge  Frau  des  Majors  bittet  verzweifelt  um 
das  Leben  ihres  Gatten.  „Er  soll  vor  deinen  Augen  gehängt 
werden,*'  ist  Pugatschews  Antwort,  und  der  Befehl  wird  auf 
der  Stelle  vollführt.  Währenddem  wird  die  unglückliche  Frau 
von  den  Kosaken  festgehalten  und  von  Pugatschew  vergewal- 
tigt. Zwei  Monate  schleppt  Pugatschew  die  Witwe  Scharlows 
als  seine  Konkubine  mit  sich  herum;  dann  ist  er  ihrer  über- 
drüssig und  gibt  sie  seinen  Kosaken  preis,  welche  einer  nach 
dem  anderen  die  Frau  notzüchtigen,  und  die  förmlich  Zer- 
fleischte schließlich  auf  die  Landstraße  werfen.  Bei  der  Er- 
oberung von  Orenburg  feiern  die  trunkenen  Scharen  entsetz- 
liche Orgien.  Alle  gefangenen  Offiziere  und  alle  alten  Wei- 
ber werden  in  die  Brunnen  geworfen,  die  jungen  Frauen  und 
Mädchen  aber  öffentlich  geschändet.  Den  Empörern  mangelt 
es  an  Pflaster  für  die  Verwundeten ;  da  befiehlt  Pugatschew,  die 
fettesten  unter  den  Gefangenen  zu  schinden,  ihr  Fett  zu  sam- 
meln und  als  Pflaster  zu  verwenden.  Nach  der  Eroberung 
von  Kasanj  läßt  der  Pseudokaiser  seine  Rotten  gegen  die 
wehrlose  Bevölkerung  los.  Ein  grauenhaftes  Morden,  Rau- 
ben, Brennen,  Schwelgen  beginnt.  Die  Kosaken  schonen  weder 
die  Kirchen,  noch  die  Armenhäuser  oder  Krankenhäuser,  schän- 
den die  Frauen  vor  den  Augen  ihrer  Männer  und  töten  die 
Kinder  in  den  Armen  ihrer  Mütter.  Schließlich  zünden  sie 
die  Stadt  an  allen  Ecken  an  und  ergötzen  sich  an  dem  Schau- 
spiel des  Verbrennens  von  tausenden  lebenden  Menschen.  Wie 
Stenjka  Rasin  wütet  auch  Pugatschew  vor  allem  gegen  den 
Adel  und  gegen  die  Kirche.  Er  und  seine  Leute  gehen  be- 
waffnet und  bedeckten  Hauptes  in  die  Kirchen,  zerschlagen 
die  Kirchengefäße,  durchstechen  die  Heiligenbilder  und  zer- 
reißen die  Meßgewänder.  Die  Leibeigenen  erheben  sich,  wo 
Pugatschew  erscheint,  und  schleppen  ihre  Herren  und  ihre 
Priester  jubelnd  auf  die  Schlachtbank  als  Huldigungsopfer  für 
den  Pseudokaiser.  In  Alatyr  bei  Kasanj  gelingt  es  den  Ade- 
ligen, sich  in  die  Wälder  zu  verkriechen.  Sie  werden  axtt- 
S^i^S^y  vor  Pugatschew  geschleppt  und  zu  Tode  gemartert. 
In  Ssaransk   bringen   die   eigenen  Diener  des  Generals  Ssip- 

Stern,  Geschichte  der  öffentl.  Sittlichkeit  in  Rußland.  32 


—     498    — 

jägin  ihren  Herrn  vor  Pugatschew,  der  den  Befehl  gibt,  dem 
General  eine  Stange  durch  den  Hals  zu  schlagen.  Der 
Schrecken,  der  schon  im  Klange  seines  Namens  liegt  (nyraxB- 
schrecken),  läßt  große  Festungen  widerstandslos  in  die  Hände 
des  Rebellen  fallen,  der  in  einem  Jahre  mit  seinem  Korps 
achttausend  Werst  erobernd  zurücklegt  und  sich  siegreich 
Moskau  nähert,  nachdem  er  seinen  Weg  mit  hunderttausend 
Leichen  besät  hat.  Aber  knapp  vor  seinem  Ziele  ereilt  Um 
das  Schicksal,  und  nicht  als  triumphierender  Kaiser,  sondern 
in  einem  eisernen  Käfig,  aus  dem  man  den  ständigen  Be- 
wohner, einen  Tiger,  entfernt  hat,  um  Pugatschew  Platz  zu 
schaffen,  hält  er  seinen  Einzug  in  den  Kreml j.  Das  Urteil 
über  seine  Verbrechen  fordert  seine  Vierteilung  bei  lebendigem 
Leibe :  es  sollen  ihm  erst  die  rechte  Hand  und  der  linke  Fuß, 
dann  die  linke  Hand  und  der  rechte  Fuß,  und  zum  Schlüsse 
der  Kopf  abgeschlagen  werden.  Durch  ein  Versehen  beginnt 
der  Henker  sein  Werk  mit  dem  Kopfe. 

Die  Pugatschewsche  Rebellion  war  ebenso  wie  die  Rasin- 
sche  nur  eine  Räuberei,  keine  eigentliche  Revolution.  Aber 
ihre  Wirkung  ist  doch  eine  tief  ergehende ;  sie  enthüllt  die 
Ohnmacht  des  Zarismus  gegenüber  einem  entschlossenen  Geg- 
ner und  zeigt  zum  ersten  Male  dem  Volke,  daß  es  sich  befreien 
könne  vom  Druck  der  Tyrannei,  wenn  es  sich  befreien  wolle. 
Unmittelbar  auf  die  Pugatschewsche  Rebellion  in  Rußland 
folg^  die  g^oße  Revolution  in  Frankreich.  Die  Vorbedingungen 
für  eine  große  Revolution  sind  in  Rußland  ebenso  vorhan- 
den wie  in  Frankreich;  aber  im  Zarenreich  verhindern  geo- 
graphische und  ethnographische  Verschiedenheiten  und  der 
unpolitische  passive  Charakter  des  russischen  Volkes  den  jähen 
Ausbruch.  Eine  Revolution  findet  endlich  auch  in  Rußland 
statt,  jedoch  nur  auf  dem  Papier,  und  die  Volksmassen  bleiben 
unbeteiligt.  Die  aus  Frankreich  kommenden  Ideen  dringen 
in  die  Salons  ein,  werden  eine  Modesache.  Aber  sie  erschüt- 
tern nur  das  Trommelfell,  nicht  die  Seelen.  Die  vornehmen 
Männer  und  Frauen,  welche  Beifall  klatschen,  wenn  sie  eine 
Hymne  von  Knjaschnin  oder  Von-Wisin  auf  Freiheit,  Gleich- 
heit und  Brüderlichkeit  vernommen  haben,  entschädigen  sich 
für  die  Rührung,  von  der  sie  sich  übermannen  ließen,  durch 


-       499    — 

um  so  größere  Strenge  gegen  ihre  Sklaven.  In  den  Salons 
beten  sie  die  Freiheit  und  Gerechtigkeit  an^  auf  ihren  Gütern 
peitschen  sie  eigenhändig  die  Leibeigenen  zu  Tode;  in  den 
Salons  verspotten  sie  als  zügellose  Freigeister  die  Kirche,  die 
Religion,  verneinen  sie  kühn  selbst  die  Existenz  Gottes;  aber 
im  Volke  erhalten  sie  nach  wie  vor  den  krassen  Aberglauben, 
und  sie  geraten  in  Wut  und  Empörung,  wenn  auch  nur  die 
Rede  von  der  Förderung  allgemeiner  Bildung  ist.  Ein  Einzi- 
ger imter  allen,  der  die  Wahrheit  sucht,  findet  und  verkün- 
det: Radischtschew.  In  seiner  „Reise  von  Petersburg  nach 
Moskau**  ruft  er  der  Gesellschaft  zu :  „Besinnet  euch,  ihr  Ver- 
irrten, lasset  euch  erweichen,  ihr  Hartherzigen,  zerschlaget  die 
Fesseln  euerer  Mitbrüder,  öffnet  den  Kerker  der  Sklaverei!" 
Und  Katharina  IL,  die  mit  den  französischen  Freigeistern 
kokettiert,  kritisiert  dieses  Buch  Radischtschews  folgender- 
maßen: „Zerstörende  Absichten,  Sympathien  für  die  Revo- 
lution, freche  Sprache  gegen  die  oberste  Staatsgewalt."  Der 
kaiserlichen  Kritik  folg^  das  Urteil  des  Gerichts  auf  dem  Fuße : 
ein  Todesurteil,  das  knapp  vor  der  Vollstreckung  umgewan- 
delt wird  in  Deportation  nach  Sibirien.  Alexander  I.  ruft  den 
Verbannten  zurück  und  beauftragt  ihn,  ein  Justizreformprojekt 
auszuarbeiten;  aber  als  Radischtschew  für  sein  Projekt  das 
Schwurgericht  als  Basis  aufstellt,  erklärt  der  Präsident  der 
legislativen  Kommission:  „Radischtschew  ist  durch  Sibirien 
nicht  gebessert  worden".  Da  verzweifelt  Radischtschew  imd 
vergiftet  sich. 

Zur  selben  Zeit  wie  die  Freigeisterei  Radischtschews  blüht 
auch  das  kurze  Freimaurer  tum  Nowikows.  Der  erste  russi- 
sche Freimaurer  soll  Peter  der  Große  selbst  gewesen  sein. 
Historisch  festgestellt  ist,  daß  1731  die  Freimauerei  von  Eng- 
land eingeführt  wurde.  Mitglieder  der  russischen  Logen  waren 
zunächst  nur  Ausländer.  Unter  Katharina  IL  wurde  der  Russe 
Jelagin  Provinzial-Großmeister  des  Ordens  in  Rußland.  Die 
Kaiserin  ließ  den  Orden  eine  Zeitlang  gewähren,  aber  als 
die  Freimaurer  unter  Nowikows  Wirksamkeit  Bildung  zu  ver- 
breiten, Wohltätigkeit  zu  üben  begannen,  da  machten  sie  sich 
der  Zarin  verdächtig,  imd  als  man  einen  Brief  auffing,  aus 
dem  hervorgfing,    daß   der   Großfürst-Thronfolger  Paul    dem 

32* 


—    600    — 

Orden  geneigt  war,  wurde  kurzer  Prozeß  befohlen.  Man  ver- 
haftete Nowikow,  begrub  ihn  in  dem  Verließ  zu  Schlüssel- 
burg und  verfolgte  unbarmherzig  die  Fr-eimaurer,  die  es  ge- 
wagt hatten,  Schulen  für  Arme  und  Waisen  zu  stiften. 

.Hart  ist  der  Weg,  den  das  russische  Volk  zurückzulegen 
hat,  imi  sich  dem  Ziele  zu  nähern,  wo  Freiheit  und  Menschen- 
rechte es  erwarten.  Unter  Alexander  II.  begann  abjfermals 
die  enthüllende  Literatur  die  Geister  aufzurütteln,  aber  als  die 
Tendeuzromane,  welche  Gewissensfreiheit,  Gleichberechtigung 
der  Geschlechter,  empirische  Wissenschaft,  Sozialismus  in  4er 
Agrärtheorie  verkündeten,  mit  den  Agrarunruhen  und  det  Be- 
.wog^ung  an  den  Universitäten  zusammenfielen,  da  erschrak 
die  Gesellschaft  vor  dem  Gespenst  des  Nihilismus  und  ließ  die 
NihUisten  den  Kampf  nüt  der  Autokratie  allein  ausfechten. 
Viele  Jahrzehnte  hat  es  gebraucht,  bis  endlich  das  Volk  selbst 
erwacht  ist  und  mitgerissen  wird  in  die  grausamste  und  lang- 
wierigste aller  Revolutionen,  die  je  auf  dem  Erdball  ein  Reich 
erschüttert  haben.  Träge  wie  die  ganze  Entwicklung  des  rus.- 
sischen  Reiches  ist  auch  noch  diese  Revolution,  die  wir  mit- 
erleben. Aber  der  systemlose  Nihilismus  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts, der  sich  auf  dem  Grunde. der  Intelligenz  erhob, 
hat  einer  Propaganda  der  Tat  Platz  gemacht,  die  systematisch 
alle  Häupter  der  Autokratie  zu  zerschmettern  sucht ;  und  gleich- 
zeitig ist  die  schwere  Masse  der  Muschiks  in  Bewegun;g  ge- 
raten. Es  ist  nicht  mehr  der  Geist  der  simplen  Verneintmg 
des  Bestehenden,  nicht  mehr  der  Geist  eines  naiven  Radikalis- 
mus, der  im  Zarenreich  »umgeht;  es  gärt  nicht  mehr  in  ein- 
zelnen Klassen,  sondern  die  großen  Massen  stehen  auf.  Nicht 
einzelne  Fanatiker  opfern  zwecklos  Gut  und  Blut  für  eine  pa- 
pierene Revolution,  sondern  das  Volk  ist  es,  das  die  Freiheit 
begehrt.  Was  der  Nihilismus  lange  Jahrzehnte  hindurch .  vor- 
gearbeitet hat,  soll  nicht  unterschätzt  werden.  Er  hat  zuerst 
an  traditionellen  Ideen  gerüttelt,  religiöse  Dogmen  und  .politi- 
sche Vorurteile  angegriffen ;  zuerst  die  russische  Seele  erfüllt 
mit  dem  Gedanken,  daß  der  Zustand,  in  dem  das  russische 
Reich  dahindämmerte  seit  tausend  Jahren,  nicht  ein  ewiger 
und  unabänderlicher  sein  müsse.  Aber  alles,  was  er  tat,  ge- 
schah mit   naiven   Mitteln.    Selbst  als   er  mit   VerschA^i^örjung 


—    501     — 

und  Mord  agierte,  war.  er  mehr  auf  den  theatralischen  Effelft 
als  auf  nachhahige  praktische  Wirkung  bedacht,  galt  ihm  das 
Krasse  imd  Schreckhafte  .  seiner  Handlung  mehr  als  Zw^ck 
und  Erfolg.  Die  Welt  sah  Menschen  mit  verschrobenen  Ideen, 
mit  abstoßenden  Äußerlichkeiten,  die  sich  Nihilisten  nannten 
und  Barbaren  blieben.  Jetzt  endlich  hat  die  russische  Intelli- 
genz,  die  nach  Freiheit  ringt,  auch  den  Weg  zum  Volke  ge- 
funden. Die  Revolution,  die  seit  Jahren  tobt,  bald  in  Kijew, 
bald  in  Kasan]  die  Geister  ergreift,  bald  in  Petersburg  oder 
Moskau  die  Volksmassen  in  Raserei  versetzt,  sie  ist  nicht  mehr 
eine  literarische.  Die  papierenen  Helden  der  krankhaften  Phan- 
tasie eines  Gogolj  oder  Dostojewski],  eines  Tolstoj  oder  Gorkij 
sind  nicht  mehr  die  Ideale  der  heutigen  Freiheitskämpfer.  Man 
predigt  dem  Volke  nicht  mehr  bloß  blinden  Haß  gegen  das 
Bestehende,  sondern  zeigt  ihm  auch  die  Wege,  auf  denen  man 
zu  einer  neuen  gesunden  Einrichtung  des  Staates  gelangen 
kann.  Und  damit  hat  man  das  Volk  aus  seiner  Lethargie  auf- 
gerüttelt. Früher  wurden  nur  die  Straßen  der  Städte  getränkt 
mit  dem  Blute  von  Märtyrern  und  Idealisten,  die  aus  den 
Kreisen  der  Intelligenz  stammten;  jetzt  trägt  auch  das  Bauern- 
volk in  den  Steppen  der  sarmatischen  Ebene  sein  Teil  bei 
zu  dem  kostbaren  Kitt,  mit  dem  das  neue  Rußland  befestigt 
werden  soll. 

Ehe  dieses  Werk  vollendet  wird,  erheben  sich  noch  ein- 
mal die  Mächte  der  Reaktion,  des  Aberglaubens  und  der  Grau- 
samkeit, um  alle  Schrecken  auszuspeien,  mit  denen  sie  Ruß- 
land durch  tausend  Jahre  heimgesucht  haben.  Kein  mongo- 
lischer oder  tartarischer  Eroberer  hat  in  Rußland  so  furcht- 
bar gewütet,  wie  jetzt  Autokratie  und  Volk  gegeneinander. 
Wie  in  den  düstersten  Jahrhunderten  ist  das  Reich  eine  Beute 
von  Räuberbanden,  und  wie  ein  Bericht  aus  den  Zeiten  Iwans 
des  Schrecklichen  klingt  es,  wenn  im  offiziellen  Regierungs- 
blatt der  Gouverneur  Muratow  von  Tambow  einen  Plan  zur 
Dezimierung  des  Volkes  veröffentlicht,  der  vorschlägt :  die  Auto- 
kratie soll  dem  Volke  Geißeln  entnehmen,  und  für  jeden  von 
den  Revolutionären  ermordeten  Soldaten  oder  Polizisten  zwei, 
für  einen  Polizei-Offizier  drei,  für  einen  Generalgouvemeur 
fünfzehn,   für  einen  Minister  zwanzig  Mann  aus  dem  Volke, 


—    502    — 

die  das  Los  zu  bestimmen,  hätte^  hinrichten  lassen.  Nichts 
anderes  wissen  die  Retter  des  Zarismus  der  Revolution  ent- 
gegenzustellen als  den  brutalsten  Mord.  In  diesem  Programm, 
das  die  Sittlichkeit  der  noch  herrschenden  Männer  in  Ruß- 
land auf  dem  tiefsten  Niveau  erscheinen  läßt,  lieget  das  un- 
umwundene Bekenntnis  des  Bankerotts  der  Autokratie. 


Spamersche  Buchdruckerei  in  Leipzifi-R. 


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GESCHICHTE    nnnnnnnnnnnn 

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Von   BERNH.  STERN  nnnnnnnn 


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MIT  29  ILLUSTRATIONEN.