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GESCHICHTE
DER
ÖFFENTLICHEN SITTLICHKEIT
IN
RUSSLAND
KULTUR, ABERGLAUBE, SITTEN UND GEBRÄUCHE
EIGENE ERMITTELUNGEN UND GESAMMELTE BERICHTE
VON
BERNHARD STERN
(VERFASSER VON »HEDIZInTaBERGLAUBK
UND GESCHLECHTSLEBEN IN DERTORKEI"!
ZWEI BÄNDE
MIT SO TEILS FARBIGEN ILLUSTRATIONEN
I.
KULTUR, ABERGLAUBE. KIRCHE. KLERUS,
SEKTEN, LASTER, VERGNÜGUNGEN, LEIDEN
BERLIN W. 30 • VERLAG VON HERMANN BARSDORF • 1907
K, Roland Holst, holländische Karikatur auf den modernen
russischen Absolutismus.
GESCHICHTE
DER
ÖFFENTLICHEN SITTLICHKEIT
IN
RUSSLAND
#
KULTUR. ABERGLAUBE. KIRCHE, KLERUS.
SEKTEN. LASTER. VERGNÜGUNGEN, LEIDEN
EIGENE ERMITTELUNGEN UND GESAMMELTE BERICHTE
VON
BERNHARD STERN
(VERFASSER VON „MEDIZtNrABERGLAUBE
UND GESCHLECHTSLEBEN IN DER TÜRKEI")
MIT 29 TEILS FARBIGEN ILLUSTRATIONEN
BERLIN W. 30 • VERLAG VON HERMANN BARSDORF . 1907
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
Inhalt
Sdte
Erstei Teil: Kultur und Aberglaube i — io8
1. Die russische Kultur 3
2. Der Barbier als Erzieher 13
3. Dekorative Bildung 3'
4. Aberglaube und Verbrechen 53
5. Geister, Zauberer und Hexen 76
6. Heidentum und Orthodoxie 91
Zweiter Teil: Kirche, Klerus und Sekten 109—256
7. Religion und Popentum iio
8. Unsitten im Mönchstum 130
9. Heiligenkult und Mystizismus 153
la Sektenwesen 168
11. Erotische Sekten und Flagellanten .... 193
12. Selbstverstümmler und Skqpnn 228
Dritter Teil: Russische Laster 257—332
13. Ehrbegriff, Duell und Verbrechen .... 259
14. Lügensucht 267
15. Diebstahl . . . ' 271
16. Korruption 285
17. Trunksucht 294
18. Bettelwesen 324
Vierter Teil: Russische Vergnügungen 333 — ^43^
19. Jagd und Hazardspiel 335
2a Kirchenfeste und Volksfeste 350
21. Hofnarren und Maskeraden 366
23. Tanz und Balle 380
23. Musik und Theater 397
24. Rauchen und Tabakbuden 421
25. Bäder 426
Fünfter Teil: Russische Leiden 439—502
26. Schicksalsglaube und Sdbstmoid . . . . 441
27. Feuer, Hunger und Pestilenz 449
28. Medizin und Aberglaube 464
29. Räuberwesen und Revolutionen 497
166600
• •
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ERSTER TEIL:
Kultur und Aberglaube
I. Die russische Kultur. — 2. Der Barbier
als Erzieher. — 3. Dekorative Bildung.
4. Aberglaube und Verbrechen. — 5. Geis-
ter, Zauberer und Hexen. — 6. Heidentum
und Orthodoxie.
I. Die russische Kultur.
Selbsterkenntnis im Sprichwort — Der Weg der Slawen — Slawen und Ger-
manen — Russische Selbstüberhebung — Europäische Urteile über Moskau
und die Moskowiter — Strenge Abgeschlossenheit des Zarenreiches — Aus-
landsreisen Hochverrat — Des aufgeklärten Alexej Angst vor Europas Kultur
— Moralisches Porträt des Kreml — Kontraste der Klassen — Gleichförmig-
keit der Menschen — Die Stufe der heutigen russischen Kultur — Europäische
Ansicht — Russische Urteile.
,,Wir sind ein Volk, das noch im Plnstern wandelt; nicht
wissen wir, was Sünde, und nicht wo die Erlösung zu fin-
den ist."
So charakterisieren sich die Russen in einem der ori-
ginellsten und tiefsinnigsten ihrer Sprichwörter; so zeichnen
sie selbst mit dem breiten Pinsel der eigentümlichen Melan-
cholie ihrer Erde ihr ganzes uns so schwer verständliches
Wesen, ihr Dahindämmern und fast lautloses Gleiten durch
das Leben, die rätselhafte Form ihres Staatswesens, die Un-
sicherheit ihrer Regierung, die Schwerfälligkeit ihrer Ent-
wickelung und die Resultatlosigkeit aller Revolutionen und
Reformen.
Anders als die anderen Völker der europäischen Welt sind
die Russen geworden. Kultur und Zivilisation sind ihnen wohl
nicht ganz im Äußerlichen, aber in ihrem wahren Begriffe
fremd geblieben trotz reger Berührung mit der überfeinen
Bildung des Westens. Einer der ehrlichsten Erforscher des
eigenartigen russischen Wesens sieht, und ich glaube mit
Recht, einen Hauptgrund für die russische Zurückgeblieben-
heit darin^ daß die Russen im Anfange jahrhundertelang keinen
Zusammenhang mit der abendländischen Zivilisation hatten
und einen Weg zurücklegen mußten, der verschieden war
von allen jenen Wegen, die die übrigen Völker Europas
— 4 —
gingen^): Die germanischen Völker, meint er, haben vor den
Slawen zur Gewinnung der Bildung große Vorteile und leich-
teren Weg vorausgehabt; sie fanden in der weströmischen
Welt, wo sie sich niederließen und mit den Ureinwohnern
zu neuen Volksbildungen amalgamierten, überall eine hohe
und alte Kultur, deren Sprache, die lateinische, nicht bloß
in allen diesen Ländern verbreitet war, sondern auch als
Kirchensprache mit dem Christentum in den eigentlichen ger-
manischen und skandinavischen Ländern Eingang gewann.
Dabei war durch den germanischen Ursprung, die germanische
Sprache, die germanischen Sitten ein innerer Zusanmienhang
unter allen diesen Völkern begründet. Diese Völker fanden
einen natürlichen, durch die Kirche begründeten Mittelpunkt
in Rom. Einigkeit und Disziplin hatte die orientalische Kirche
sich ebenfalls erhalten, aber es war mehr der Staat, das orien-
talische Kaisertum, wodurch diese Einigkeit aufrecht erhalten
wurde, während im Okzident nicht bloß Einigkeit, sondern
auch Einheit existierte. Die Kreuzzüge verbreiteten im staat-
lichen Leben der Völker Europas im Mittelalter das Ritter-
tum und Bürgertum. Die Kultur wurde im Okzident nicht
das Eigentum eines bevorzugten Volkes, sondern aller Völker.
Der slawische Stamm aber, der sich im jetzigen Rußland
niederließ, fand kein Kulturvolk vor, dem er sich hätte an-
passen, von dem er eine alte Kultur und Bildung hätte über-
nehmen können. Was er antraf, waren vielmehr nur spär-
liche Reste tschudischer Völker, die in Anlagen und Kultur
noch tief unter ihm standen. Dann erhielten die Russen das
Christentum von der orientalischen Kirche zu einer Zeit, als
sich diese Kirche bereits mit der okzidentalischen in eine feind-
selige Spannung hineingelebt hatte. Das griechische Kaiser-
tum hatte bei aller Fernhaltung vom Westen doch aus poli-
tischen Rücksichten den lateinischen Okzident zu sehr nötig,
um mit ihm völlig brechen zu können. Rußland aber schloß
sich gänzlich vor Europa ab und nahm selbst dem griechischen
Kaisertum gegenüber, obwohl es von dort seine Religion bc-
1) August Freiherr von Haxthausen. Studien über die inneren Zustande
Rußlands. Erster Band, S. 40.
- 5 —
zogen hatte, eine mehr feindliche als freundliche Stellung ein.
Die Religion knüpfte Rußland nicht allzufest an Konstanti-
nopel, es war kein inniges Band, nur die Person des jeweiligen
Patriarchen hielt die Verbindung aufrecht, und diese war
sicherlich lockerer als die der Völker des Westens mit Rom.
Denn wichtig ist es zu bemerken, daß Rußland mit der grie-
chischen Religion nicht den griechischen, sondern einen sla-
wonischen Kultus akzeptierte; mit der griechischen Religion
nicht die griechische Sprache übernahm und also fremd blieb
der altgriechischen und byzantinischen Kultur. War auch die
altslawische Sprache schön und reich, so hat sie doch nicht
die Fähigkeit gezeigt, eine Literatur zu schaffen, konnte also
keine Grundlage für eine Kultivierung sein, nicht Rußland
instand setzen, mit der Bildung in Europa Schritt zu halten.
Ihre Leistungen erschöpfen sich in einigen Heldenliedern in
der Zeit vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert und
in den Annalen des Kijewer Höhlenklostermönches Nestor.
Dabei blieb die russische Kultur stehen, und dieses Wenige
wurde von den Polowzern und Mongolen, die Rußland in
den nächsten Jahrhunderten bedrängten und unterjochten, ver-
weht wie Staub in der Steppe.
Und als sich Rußland wieder erhob zu selbständigem
Leben, ' zu einem unabhängigen Staatswesen, knüpfte man I
nicht an die einstigen Versuche zur Kultivierung an, sondern
hielt sich schon für vollkommen, weil man Kraft genug be-
wiesen hatte, das Mongolen joch abzuschütteln. Als unter dem
vierten Iwan einige fremde Kaufleute in Archangelsk er-
schienen, um von den Russen Getreide, Holz und Kaviar zu
erhandeln, glaubte man in Moskau schon: Rußland sei der
Stapelplatz und Speicher von Europa, und der ganze Westen
müßte ohne russisches Holz vor Kälte umkommen, ohne russi-
schen Kaviar verhimgern. Das glaubten dieselben Russen,
die noch kein anderes Geld kannten als Stücke von Fellen^),
^) Dieses Tauschmittel nannte man Kunen Die einzelnen Sorten be-
standen aus größeren oder kleineren, feineren oder gröberen Fellen, aus Ohren
von Mardern. Hälsen von Zobeln, Füßen von Füchsen und aus Htisschweifen.
Eine am Ufer der Oka gelegene Vorstadt von Nischny-Nowgorod heißt noch
heute Kunawino von den vielen Kunen, die hier als Zoll entrichtet wurden.
— 6 —
und nicht imstande waren zu zählen^ wenn sie nicht die auf
einer Schnur aufgezogenen Kugeln, also die primitivste aller
Rechenmaschinen, zur Hand hatten. Noch mehr, die Russen
hielten sich in ihrer Ignoranz, die dem Größenwahn häufig
verwandt ist, sogar für das höchstgebildete Volk der Welt,
obwohl sie nach den Geständnissen ihrer eigenen Historiker
im ganzen Reiche nur drei Priester hatten, die Griechisch ver-
standen ; obwohl sie die Astronomie, Anatomie und die meisten
anderen Wissenschaften für Künste des Teufels erklärten.
Es kann nicht wundernehmen, daß die Europäer, die
damals mit Rußland in Berührung zu kommen Gelegenheit
hatten, nicht tiefer in das Reich eindrangen und sich nicht
bemühten, ehrlich zu erforschen, wie das Volk wirklich be-
schaffen war. Nach den Erlebnissen an der Peripherie des
heiligen Rußland meinte man schon das Günstigste gesagt
zu haben, wenn man ein Urteil wie dieses fällte i): „Le Mos-
covite est prdcisement Thomme de Piaton, animal sans plumes,
auquel rien ne manque pour 6tre homme, si non la proprete
et le bon sens.**
In einem in meinem Besitze befindlichen außerordentlich
selten gewordenen Büchlein^) heißt es noch im Anfang der
Regierung Peters des Großen von den Russen: „Das gemeine
Volck in Russen ist in Wahrheit überaus dumm und abgöt-
tisch. Diejenigen, welche gegen Norden bey Archangel und
Cola wohnen / erkennen keinen andern Gott als den St. Nico-
las, den sie vor den Regierer der gantzen Welt halten. Sie
behaupten, daß er von Italien bis an einen Haven / der seinen
Namen führet / und nahe bey Archangel lieget / auf einem
An der Oberfuhr mußten die Kaufleute oft lange warten, bis sie ihre Waren
verzollen konnten; es wurden Hütten und Häuser gebaut, und so entstand
das Dorf Kunawino. Vgl. Bernhard Stern, An der Wolga. S. 5.
^) Aus dem Berichte Johann Gotthilf Vockerodts bei Herrmann, Zeit-
genössische Berichte zur Geschichte Rußlands. S. 2.
*) Reise nach Norden/Worinnen die Sitten/Lebens-Art und Aberglauben
derer Norwegen/Lappländer/Kiloppen, Borandier, Syberier, Moßcowiter/Samo-
jeden, Zemblaner und Ißländer accurat beschrieben werden. (Mit Kupfern.)
Zum andemmahl gedruckt und mit den annehmlichsten Nordischen Curiosi-
taten vermehret. Leipzig, Bey Gottfried Leschen. 1706. 12®. 511 Seiten.
Vgl. S. 214. 215 — 216.
— 7 —
Mühlsteine geschwummen kommen / und wann ein Russe
einigen Zweiffei in diese Historie stellet / so setzet er sein
Leben gantz gewiß in Gefahr . . . Die meisten Russen seyn
ungeschickte / tölpische imd unerbare Leute / ausgenommen
etliche / die durch die Handlung / so sie mit denen Frem-
den gehabt haben / civil worden sind / und den Polni-
schen Hoff durchwandert haben. Die Polen sind nicht so
barbarisch als sie: Es giebt derer / die ihnen den Verstand
durch das Studieren / und die Wissenschafften / die aus
Russen gantz verbannet seynd / zuwege bringen / und sie
haben die Freyheit zu reisen / die denen Russen benommen
ist."
Eines der wertvollsten Zeugnisse aus der Zeit am Ende
des sechzehnten Jahrhunderts hat der Engländer Fletcheri) ge-
liefert: „Die Zaren/* sagte er, „die im Handel ein Mittel
zur Bereicherung ihres Schatzes sehen und sich wenig um den
Wohlstand ihrer Kaufmannschaft bekümmern, begünstigen
auch die Volksbildung nicht. Sie lieben nichts Neues, ver-
anlassen keine Ausländer nach Rußland zu kommen, ausge-
nommen Solche, die sie zu ihren Diensten brauchen, und er-
lauben ihren Unterthanen nicht außer Landes zu gehen aus
Furcht vor der Aufklärung, deren die Russen bedeutend fähig
sind, da sie viel natürlichen Verstand haben, den man sogar
bei den Kindern bemerkt. Nur Gesandte und Landläufer sieht
man von den Russen dann und wann in Europa.*' Der be-
rühmte russische Historiker Karamsin, der eingestehen mußte,
daß Fletcher viel Wahres über den damaligen Zustand Ruß-
lands gesagt, konnte die von mir ausgewählten Bemerkungen
des Engländers nicht verwinden und kommentierte-) sie
i) Of the Russe Comraon-Wealth, or manner of govemement by the
Russe Emperour; commonly called the Emperour of Moscovia, with the man-
ners and fashions of the people of that countrey. At London printed by
T. D. for Thomas Charde, 1591. — Die Gesellschaft der Londoner Kaufleute,
die mit Rußland Handel trieben und den Zorn des Zaren fürchteten, bat
den Minister Cecil, Fletchers Buch zu verbieten.
2) Karamsin, Geschichte des Russischen Reiches. Nach der zweiten
Originalausgabe übersetzt. Neunter Band, Leipzig 1827. S. 293. (In der
französischen Übersetzung Bd. X. 340.)
— 8 —
folgendermaßen: „Wir reisten noch nicht, da es uns noch
an der einem gebildeten Geiste eigentümlichen Wißbegierde
mangelte ; den Kauf leuten war es nicht verboten, außer Landes
Handel zu treiben, und der eigenmächtige Johann schickte
junge Leute nach Europa auf Universitäten. Ausländer nahmen
wir in der That nur mit Auswahl und wohl überdacht bei uns
auf. Gelehrte wiesen wir nicht ab, sondern luden sie vielmehr
zu uns ein." Karamsins Polemik ist eine unglückliche, und
das Beispiel, das er für die Einladungen gibt, spricht klarer
noch als Fletcher. Wen berief der Zar? Den berühmten
Mathematiker Dee; aber nicht seiner mathematischen Gelehr-
samkeit wegen, sondern weil sein Ruf als Sterndeuter und
Alchemist in Moskau phantastische Hoffnungen erweckte. Dee
war übrigens klug genug, die Berufung abzulehnen.
Das Reisen ins Ausland war den Russen faktisch streng
untersagt. Man weiß, daß im Jahre 1075 der Großfürst Isäs-
law von Kijew in Mainz den Kaiser Heinrich den Vierten
besuchte; aber das Rußland des sechzehnten Jahrhunderts
war fanatischer und abgeschlossener als das des elften, und
seit Iwan dem Schrecklichen galt schon der bloße Wunsch
ins Ausland zu reisen als Hochverrat. Unter dem ersten Ro-
manowschen Zaren Michael Feodorowitsch war der Fürst
Chworostinin Gegenstand einer strengen Verfolgung, weil er
seinen Freunden gesagt hatte: „Ich möchte einmal eine Reise
nach Polen und Rom machen, um jemanden zu finden, mit
dem man sprechen könnte.*' Kurz darauf wagte es der Sohn
des meistgehörten Ratgebers des Zaren Alexej, Ordin-Natscho-
kin, heimlich die Grenze zu überschreiten, und es war davon
die Rede, den Hochverräter im Auslande töten zu lassen, i)
Und Zar Alexej Michajlowitsch galt bereits als aufgeklärt.
Er ließ seine Kinder in der Mathematik und Astronomie unter-
richten, so daß die Geistlichen weinten und jammerten ob der
Sünden des Herrschers 2), der , .Philosophen bei sich hielt, die
1) K. Waliszewski, Pierre le Grand. L'6ducation, rhomme, roeuvre.
D'aprös des documents nouveaux. 5dme Edition, Paris 1897. S. 81 (Nach
Ssolowjew, Bd. IX 461 und X 93).
2) Bernhard Stern, Zwischen der Ostsee und dem Stillen Ozean. Zu-
stände und Strömungen im alten und modernen Rußland. Breslau 1897. S. 10.
— 9 —
die Erscheinungen des Himmels und der Erde zu erklären
sich erkühnen und die Länge der Sternschweife mit einer
Elle messen.** Selbst dieser Zar hielt ein Überschreiten der
Grenze für todeswürdig. Damit fürchtete er eine Einschränkung
seiner Selbstherrlichkeit beginnen zu sehen. Wer über die
westliche Grenze ging, stellte sich außerhalb der zarischen
Macht, außerhalb des Schreckens, dieses einzigen Prinzips der
moskowitischen Regierung; der war ein flüchtiger Sklave, ein
Widerspenstiger; noch mehr: aus der heiligen Rußj ins heid-
nische Ausland gehen war eine wahre Sünde ; hieß : sich aus-
setzen einer Infektion durch die feindlichen Religionen, von
denen die russische Erde verderbendrohend umlauert war;
brachte die Gefahr einer unseligen Vermischung mit jenen
Ungläubigen, deren bloße Berührung einem Moskowiter damals
schon als eine Beschmutzung erschien. ^) Ich sage damit nicht
übertreibende Meinungen von Rußlandfeinden oder zeitge-
nössischen Nichtswissern nach, sondern stelle eine historisch
beglaubigte Tatsache aktenmäßig fest.
Der götzengleiche Souverän auf dem moskowitischen
Throne betrachtete den Kreml als Mittelpunkt der Erde, sich
selbst als den geheiligten Gebieter der Völker Asiens nicht
bloß, sondern auch Europas. Als Zar Feodor eine Gesandt-
schaft nach Paris schickte, weigerte sich dort der Gesandte
Patjomkin, vor dem König die Mütze abzunehmen; verlangte
jedoch, daß der französische Souverän sich bei jeder Nen-
nung des Zaren vom Throne erhebe und das Haupt ent-
blöße, i) Um den Kreml drehte sich das ganze russische
Leben. 2) Und was war des Wunderbaren in diesem dreifach
ummauerten Palästegewirr zu finden ? Da standen heilige und
profane Gebäude regellos durcheinander, Klöster und Käthe-
1) Histoire de Riissie et de Pierrf-le-Grand. Par M. le g6n6ral Comte
de S6gur. Paris 1829. S. 219. '
2) Bernhard Stern, Von der Ostsee zum Stillen Ozean. Russisch-fran-
zösiche Bündnisse und Händel. S. 74, yy — 78.
3) Man vergleiche für die Kenntnis des häuslichen Lebens der Zaren
und der Zarinnen die beiden schönen Werke von Sabelin: ÜBHirb 3a6tiJiHH'b,
nMaiuHbift 6biri. pyccKHX'h uaport btl XVI n XVII er. 3« ii3;;aHi(' Moch-BU 1895;
und ;loMaiiiiii.iri r)i>rn, pvcrKiixT. napHin». 3^ maji. MocicBa 1891.
— 10 —
dralen erstickten unter der Nachbarschaft der schwerfälligen
Amtsbauten und der unbehaglichen Wohnhäuser der Hofleute.
Eine schwere Luft wie in Gefängnissen drückte die Stim-
mung danieder; fast immer herrschte tiefe Stille, die nur
unterbrochen wurde durch das eintönige Gebimmel der russi-
schen Kirchenglocken, die näselnden Gesänge der Priester und
Mönche, seltener durch ein schwermütiges Lied aus den fest-
verschlossenen Terems, den Harems der moskowitischen
Großen, am häufigsten durch das Stöhnen der gefolterten
Gefangenen. Wer eins der Tore des Kremls durchschritten
hat, ist nicht mehr derselbe Mensch, der er früher gewesen.
Er verlernt im Augenblick das Reden, und seine Sprache
wandelt sich in ein demütiges Flüstern, sein Gang wird un-
sicher und schleppend und die Hand tastet bei hellichtem
Tage, als gebe es tausend Gefahren abzuwenden; ängst-
lich beobachtet man sich und forschend wird man beobachtet
von unzähligen Augen, obwohl man weit und breit oft keinen
Menschen sieht. In dem Innern der Paläste und Häuser gab
es einen unbeschreiblichen Luxus, eine Überfülle in Teppichen
und Juwelen. Aber die Pracht erlosch unter dem Staub und
Schmutz, die mit ihr kontrastierten. Diese furchtbaren
Kontraste waren nur ein Reflex der Gegensätze auf allen
Gebieten des administrativen und politischen, wirtschaft-
lichen und sozialen Lebens. Es existierte zwar ein Staats-
grundsatz, der hießi): ,»Der Zar hat*s befohlen, die Bo-
jaren haben's geraten !** Aber dieses Gesetz war nur eine
Formel, denn der Zar ließ sich niemals raten. Wie das Klima
physisch nur überaus starke oder überaus schwache Naturen
in Rußland duldet, so kannte auch die Regierung nur einen
Herrn und Sklaven, aber keine Ratgeber. Custine^) hat von
Rußland gesagt: „C'est la patrie des passions effren^es ou
des caract^res debiles, des rdvolt^s ou des automates, des
conspirateurs ou des machines. Ici point d'interm^diaire entre
le tyran et Tesclave, entre le fou et Tanimal; le juste milieu y
est inconnu.**
^) J. H. Schnitzler, Geheime Geschichte Rußlands unter den Kaisem
Alexander und Nikolaus. Grimma 1847. (Zwei Bände) I 10 — 11.
2) La Hussie en 1839. II ed. Paris 1843 (4 Bande) II lu^
— 11 —
In dem Einen aber gleichen sich Hoch und Niedrig, Arm
und Reich, Tyrann und Sklave : sie alle bauen auf den Zufall,
nicht auf ihre Willenskraft. Sie werden zwar geboren wie
andere Menschen, das allein haben sie gemein mit den Kultur-
völkern; aber sie leben und sterben, ohne den Zweck ihrer
Existenz verstanden, ja man kann sagen: ohne ihre Existenz
selbst bemerkt zu haben. ,, Weder Gutes noch Böses ist bei
ihnen wirklich.** Sie können lachen, aber nicht glücklich, und
können weinen, aber nicht unglücklich sein. Schon Leroy-
Beaulieu^) hat die merkwürdige Gleichförmigkeit hervorge-
hoben, die alles Russische auszeichnet. Die Städte haben über-
all dieselbe Physiognomie, die Bauern dasselbe Aussehen, die-
selben Sitten, dieselbe Lebensweise. In keinem anderen Lande
gleichen sich die Menschen mehr, in keinem gibt es so wenig
von der prinzipiellen Eigenart, so wenig von den Gegensätzen
im • Typus und Charakter. Die Nation hat sich in Ruß-
land nach dem Vorbilde der Natur gebildet, sie zeigt dieselbe
Einheitlichkeit, ja fast dieselbe Monotonie, wie die Ebenen,
die sie bewohnt.
Deshalb ist auch die russische Religion seit tausend Jahren
ein unfruchtbarer Formalismus, in dem jeder Aberglaube Platz
hat, und die russische Geistlichkeit ungebildet heute wie früher.
Peter hat das Reich reformiert, aber diese Eleganz ist ohne
Geschmack, eine Nachahmung ohne Gefühl, und statt eines
zivilisierten Volkes gebar das neue Rußland ein V^olk von
Parvenüs in allen Klassen. Äußerlicher Glanz, dekorative Bil-
dung, durch Zufall erworben, durch das Gesetz der Trägheit
erhalten. So dauert dort eigentlich das Mittelalter noch fort,
trotz Reformen und Revolutionen, trotz Buchdruckerkunst und
Elektrizität. Wie die Wasser des Don und des Dnjepr, der
Wolga und des Ural träge fließen im breiten Bette, so wälzt
sich auch die große russische Masse nur langsam, im Laufe
von Jahrhunderten kaum merkbar weiter. „Das russische Volk,*'
ruft einer seiner besten Freunde 2) in Europa aus, ,,ist im
fünfzehnten Jahrhundert stehen geblieben, um nicht zu sagen
1) Das Reich der Zaren und die Russen. Dtsch. v. Pezold. 2. Aufl.
Sondershausen 1887. (3. Bände.) I 81.
2) Lerov-Beaulieu, a. a. O. III 9 — k>.
- 12 -
im dreizehnten.** Das ist die Ansicht eines prätentiösen Fran-
zosen ! Jene Russen selbst, die ein klares Urteil haben, denken
bescheidener. Ein panslawistischer Patriot, Salkowski, er-
klärte: ,,In bezug auf Bildung, Erziehung, kurz alles das, was
den Begriff der Zivilisation begründet, steht das russische Volk
noch auf der Stufe des zwölften Jahrhunderts!** Die Stufe
des zwölften Jahrhunderts — was bedeutet dies? Raub ist
kein Vergehen, Meineid eine feste Institution, Kindermord eine
moralische Notwendigkeit, sexuelle unnatürliche Verbrechen
sind verzeihliche Schwächen ; Aberglaube ist Religion, Gewalt-
tätigkeit heißt Regierung, Grausamkeit gegen Andersgläubige :
Gottgefälligkeit und Staatsklugheit. Dann hat der Engländer
Lanin^) recht, wenn er in seinem harten Buche über Rußland
sagt: „Es gibt in den russischen zehn Geboten keine Sünde,
die nicht gesühnt werden könnte. Es gibt keine soziale Hölle.
Wie tief auch ein Mann oder eine Frau gefallen sei, sie werden
nicht für unerlösbar verloren gehalten.**
In der russischen Literatur der Gegenwart spiegelt sich
das russische Elend. Der Philosoph und Patriot Wladimir
Ssolowjew klagt : „Selbst die Poesie zeigt im zeitgenössischen
Rußland eine unerhörte Tendenz zur Verherrlichung roher
Gewalt und wollüstiger Grausamkeit.*' Und Graf Alexej Tolstoi
fügt diesem Schmerzensrufe die Erklärung hinzu: ,, Rußland
wird vollkommen ruiniert durch Trunksucht und Scham-
losigkeit.**
Rußland steht auf der Stufe des zwölften Jahrhunderts —
vergebens hat seit zwei Jahrhunderten der Barbier als Er-
zieher gewirkt, umsonst ward ein Patjomkinscher Bildungs-
bau auf dem russischen Steppenboden errichtet.
1) Russische Zustande. Aus dem Englischen von Dielitz. Leipzig 1892
und 1893 (2 Bände). I 41, I 98.
— 13
2. Der Barbier als Erzieher.
Auftreten Peters des Großen — Moral und Ehrgefühl der Großen — Mora-
lisches Porträt Peters — Kleiderreform — Parallele Anmerkung über Peter III.
und Paul — Der Kampf gegen den Langbart — Bartgesetz des Monomach
— Der Bart Gottes, des Vaters wie des Sohnes — Der Bart der Russen —
Anmerkung über den Bart der Karaiten — Der Bart als Wärmespender —
Anmerkung über Haare — Frühere Bartfeinde in Moskau — Peters XJkas —
Barbarische Zivilisationsmethode — Der Barbier als Erzieher — Barttaxe —
Bartrevolution in Astrachan — Peitschenstrafe für Bartfreunde — Reaktion
und Langbärte — Religiöse Bedeutung des Bartes — Parallele Anmerkung
über andere Länder und Völker — Die Geistlichkeit und ihre Schmähschriften
— Bartschneiden Ketzerei — Der Bart des Patriarchen — Rückkehr zum
Langbart — Die Barte der Geistlichen — Lomonossows Gedicht über den
bepißten Popenbart — Peter III. — Pugatschews Bartrevolution — Alexan-
ders I. Kampf gegen den Bart — Die Barte Alexanders IL und III.
Die Reformen Peters des Großen erweckten in Europa
große Hoffnungen. In einem zeitgenössischen großen Reise-
werke, wo die Manieren des damaligen Russenvolkes als noch
ganz barbarische geschildert werden, heißt es in einer An-
merkung i), daß sich bald alles ändern werde: „Surtout les
gens de condition commencent ä prendre un air de politesse
qu'ils n'avoient pas sous les Pr^decesseurs de ce Monarque.
11 y a bien d'esp^rer que les Ecoles publiques, et les Aca-
d^mies, qu'il commence ä etablir, ach^veront bien-tot de bannir
la barbarie et Tignorance, et changeront enti^rement la face
de ce vaste Empire." Die höchste Gesellschaft war noch
zu Zeiten Peters nicht besser als das verkommenste Raubge-
sindel. Als Beispiele hierfür werden folgende angeführt: Ein
Fürst Feodor Chotewowskij erhält wegen gemeinen Betruges
auf öffentlichem Platze in Moskau die Knute; der Edelmann
Subow wird wegen Diebstahls bestraft; der Wojwode Iwan
Bartenjevv entführt Frauen und Mädchen und legt sich einen
Harem an; der Fürst Iwan Schedjakow wird wegen Brigan-
dage und gemeinen Mordes verurteilt; zwei Richter, die sich
1) Voyages de Corneille Le Brujm par la Moscovie, en Perse, et aux
Indes Orientales. A la Haye 1732 (5 vol.) Bd. III, S. 112 — 114.
— 14 —
durch Schnaps und zwanzig Rubel bestechen ließen, werden
öffentlich gepeitscht.
Bei Hoch und Niedrig fehlt jedes moralische Ideal, der
Respekt für Ehre und Pflicht. Die freien Männer, sagt Korb
in seinem lateinischen Werke über das damalige Rußland,
achten ihre Freiheit für nichts und sind jederzeit bereit, sich
selbst als Sklaven zu verhandeln. Das Denunziantentum be-
herrscht alle Klassen, es ist das einzig blühende Geschäft.
Die Heerführer kennen auch nichts Höheres als ihre Bequem-
lichkeit. Als Fürst Scheremetjew im Jahre 1705 nach Astra-
chan geschickt wird, um dort eine gefährliche Bartrevolte
zu unterdrücken, bleibt er plötzlich in Kasan stehen und hat
keinen anderen Gedanken als den : nach Moskau zurückzu-
kehren, um dort die Osterfeiertage angenehm zuzubringen, i)
Ehre, Pflicht, Ambition, Mut — lauter neue Dinge, die Peter
erst unter seinen Soldaten nicht bloß, sondern auch unter seinen
Offizieren einbürgern muß; denn bisher galt allem zuvor die
Lehre des nationalen Sprüchwortes : „Fliehen ist gesund.** Und
wie reformiert Peter? Im Jahre 1703 läßt er unter den Mauern
von Noteburg eine ganze Kompagnie von Flüchtlingen und
FeigHngen aufhängen.
Mit Schrecken und in summarischer Weise bekämpft der
Zar-Reformator den Fanatismus und die Verstocktheit seiner
Russen. Peter ist nicht, wie man versöhnend behauptet hat,
ein Mann voller Widersprüche, zusammengesetzt aus Extre-
men von Gut und Böse ; nein, er ist in allen seinen Handlungen
ausnahmslos der nackte Barbar. Er schwärmt angeblich für
Leibnitz; aber als ihm der große Philosoph vorschlägt, in
Rußland magnetische Observatorien einzurichten, verliert er
die gute Meinung, die er von dem Manne bisher hatte.-)
Der Zar, der sein Volk bilden und kultivieren will, ist nicht
fähig, seine eigenen Roheiten zu meistern. Am ,Hofe Peters
befand sich ein Baron von Bülau, der mit dem Zaren einen
Kontrakt gemacht hatte, daß er auf eine Distanz von tausend
1) Waliszewski, Pierre le Grand. S. 454 — 455.
2) Baer, Peters Verdienste um die Erweiterung der geographischen
Kenntnisse. St. Petersburg 1868. S. 56.
— 16 —
Schritten ein Schiff anzünden und eine Kugel mit einer Kanone
über eine Werst hinausschießen wolle. Der Zar versprach
ihm für das Gelingen großmütig achtzigtausend Dukaten ; aber
als sich Bülau erlaubte, Peter in dieser Sache anzusprechen i),
„da spie ihm der Zar statt aller Antwort einfach ins Gesicht
und ging von ihm fort**. In Holland stieg der Zar in einem
Hotel ab. Er fand da einen seiner Bedienten auf einem Bären-
fell in einem Winkel liegend. Er jagte ihn mit Fußtritten
auf und sagte einfach: „Geh, ich will deinen Platz!** Bei
einem Feste, das dem Zaren in Berlin gegeben wird, macht
man ihn aufmerksam, daß er Handschuhe anziehen müsse;
aber in seinem Gepäck sind keine Handschuhe zu finden.
Beim Tanzen greifen der Zar und seine Begleiter den Tänzer-
innen an die Mieder; sie nehmen die Mieder für natürliche
Attribute und klagen laut über die steinerne Härte der Brüste
deutscher Frauen. Peter will sich für die ihm zuteil gewordene
Gastfreundschaft revanchieren und die Hofgesellschaft auch
seinerseits unterhalten. Er läßt einen seiner Hofnarren rufen;
da aber dessen Produktionen auf die Europäer abstoßend
wirken, so gibt der Zar dem Zwerge mit einem Fußtritt den
Laufpaß. Des Zaren un verhüllteste Roheit tritt bei Tische
zutage. Admiral Golowin, einer der Günstlinge des Zaren,
lehnt als Gast am Zarentische einen Salat ab, weil der Essig
ihm schädlich; da ergreift Peter selbst zornig die Schüssel
und stopft dem Admiral den ganzen Salat gewaltsam in den
Hals, bis der Unglückliche Erstickungsanfälle erleidet. 2) Berg-
holz erzählt aus dem Jahre 17213): „Über der Mahlzeit diver-
tierte sich der Zar mit der Zarin Küchenmeister, der das Essen
anordnete, und die Tische besorgte, nemlich, da er vor dem
Zaren eine Schüssel mit Essen niedersetzen wollte, so kriegte
er ihn bey dem Kopf, und machte ihm Hörner über dem
Kopf, weil er vormals eine Frau gehabt, die sehr liederlich
gewesen, welches er sich aber nicht sonderlich anfechten
lassen, daher er dann noch bis auf diese Stunde über seinem
^ ) Tagebuch von Friedrich Wilhelm von Bergholz. In Büschings Magazin
für die neue Historie und Geographie. Hamburg. 1767. XIX S. 55.
2) VValiszewski, Pierre le Grand. . S. 92, 98. 135. 451.
3) a. a. O. S. 87.
— 16 —
Thorwege ein Hirschgeweihe sitzen hat, welches ihn der Zar hat
dahin nageln lassen. So oft ihn der Zar zu sehen bekommt, so
macht er ihm mit zwey Fingern Hörner zu, und wenn er ihn zu
fassen kriegt, kann er ihn wohl eine Viertelstunde halten, und
ihn immer darmit scheeren ; er aber schlägt bisweilen dem Zaren
dermaßen auf die Hand^), daß er es wohl fühlet, denn eher be-
kommt er keinen Frieden. Da aber diesesmal der Iwan Michailo-
witsch^) ihn mit zu fassen kriegte, und die Dentschiken^)
ihn von hinten hielten, so hatte er eine Zeitlang seine Noth,
indessen fassete er den Zaren so stark bey den Fingern, daß
ich alle Augenblick meynete, er würde sie ihm abbrechen.**
Alle diese Züge aus Peters Leben waren seinen Zeitgenossen
wohlbekannt*), und es zeigt, wessen man sich von ihm ver-
sah, wenn der Minister Polens in Berlin, Manteuffel, den Zaren
also drastisch lobt: „Er hat sich selbst übertroffen. Er hat
bei Tische nicht aufgestoßen^), nicht gefurzt, sich nicht die
Zähne gestochert, wenigstens habe ich nichts gesehen und
nichts gehört;'* und um der Königin die Hand reichen zu
^) Der Herausgeber des Bergholzschen Tagebuches, Büsching. bemerkt
hierzu: .,In Dänemark wurde des Grafens Brand Vertheidigung gegen König
Christian VII. in einem ähnlichen Falle, als ein Verbrechen, durch welches
er die Hinrichtung verdienet habe, angegeben."
') Iwan Michailowitsch ist der russische Bacchus.
^) Zarische Hofbediente, besonders Kammerdiener.
^) Die Erzählungen in den Memoiren der Markgräfin von Bayreuth setze
ich als so verbreitet voraus, daß ich sie nicht weiter erwähne, wie ich es ja
als meine Aufgabe betrachte, bei Erinnerungen an die Vergangenheit alles
Bekannte zu vermeiden und nur das Wichtigste und wenig oder gar nicht
Bekannte hervorzukehren.
B) ,,Wenn vor diesem ein Russe schluckte oder aufstieß, nahm er seine
Mütze ehrfurchtsvoU ab, und kreutzete sich dreimal, denn er glaubte, das
Schlucken wäre ein sehnsuchtsvoller Wunsch der Seele mit Gott zu reden.
Hieraus ist leicht abzunehmen, wie oft durch Unmäßigkeit dergleichen Unter- '
haltungen mit der Gottheit veranlasset werden mußten. Das gemeine Volk,
welches allezeit hartnäckig den einmal gefaßten Vorurteilen nachhänget, hat
noch diesen frommen Glauben, wie auch die alte Gewohnheit, die Mütze ab-
zunehmen und sich dreimal zu kreutzen." Sammlung merkwürdiger Anek-
doten, das Russische Reich, die Gewohnheiten und Gebräuche wie auch die
Naturgeschichte betreffend, von einem Reisenden, welcher sich 13 Jahre in
diesem Reiche aufgehalten. Aus dem Französischen. Erster Theil. Greifs-
wald 1793. (Ein sehr seltenes Buch.) Vgl. S. 33 — 34.
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— 17 ~
können, „hat er sich sogar Handschuhe angezogen**, allerdings :
„il s*est gantö, d*un gant assez sale.** Wie es sonst am Tische
Peters zuging, erzählte der Staatsrat und Domherr zu Lüttich,
de Launage ^), der vom Zaren in Spaa zu einem Diner ein-
geladen wurde: „Der Zar saß oben an, in der Nachtmütze
und ohne Halsbinde. Zwei Soldaten trugen jeder eine große
Schüssel auf. Nun kam ein Kerl, der sechs Bouteillen Wein auf
die Tafel — nicht stellte, sondern gleich einer Handvoll Würfel
hinkollerte. Der Zar nahm eine davon und schenkte jedem
Gast ein Glas davon ein. Auf dem Tische sah es schön aus!
Fast aus allen Näpfen war Brühe auf das Tischtuch verschüttet ;
so auch der Wein, weil die Bouteillen nicht ordentlich zu-
gepfropft wurden. Als man von der Tafel aufstand, war das
Tischtuch über und über mit Fett und Wein getränkt. Nun
kam das zweite Essen. Dies zweite Gericht bestand aus zwei
Kälberkeulen und vier jungen Hühnern. Se. Majestät nahm
das größte davon mit der bloßen Hand aus der Schüssel, rieb
es sich prüfend unter die Nase, und nachdem er mir durch
einen Wink zu verstehen gegeben, daß er es köstlich finde,
war er so gnädig, es mir auf meinen Teller zu werfen. Nach
dem Dessert ging der Zar an ein Fenster. Hier fand er ein
Paar Lichtscheren, mit denen er, so voll Talg und angerostet
sie auch waren, sich die Nägel putzte.**
Dieser Zar reformierte nun Rußland nach seiner Art. Er,
der keine Handschuhe hatte, als er an einem europäischen
Hofje erschien, und mit der Nachtmütze zu Tische ging, er
sah die Herrlichkeit der Zivilisation in dem europäischen
Kostüm und dem rasierten Kinn. Die französische Tracht,
die er für Rußland wählte, sollte nicht bloß von den Vor-
nehmen, sondern von aller Welt angenommen werden. Sein
Kleider-Ukas ist vom 29. August 1699 datiert 2); in den
Straßen von Moskau wurden damals die neuesten franzö-
1) Gottschalck und Hoffmann, Anhaltisches Magazin 1827. Vgl. S. Sugen-
heim. Rußlands Einfluß auf und Beziehungen zu Deutschland vom Beginne
der AUeinregierung Peters I. bis zum Tode Nikolaus I. (1689 — 1855) nebst
einem einleitenden Rückblicke auf die frühere Zeit. Frankfurt a. M. 1856.
(Zwei Bände.) I S. 188—189.
2) Waliszewski, Pierre Ic Grand. S. 456.
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rufiland. 2
— 18 —
sischen Modcbilder affichiert. Die Reichen mußten die neuen
Kleider sofort anschaffen; die Armen erhielten eine bestinmite
Frist zugebilligt. Aber vom Jahre 1705 ab mußte alles bei
sonstiger schwerer Strafe die neue Tracht tragen.^) Die ge-
waltsame Weise der neuen Reform mußte namentlich in den
unteren Klassen eine berechtigte Opposition finden. Die Bo-
jaren waren gelehriger und willfähriger; sie hatten schon zur
Zeit des falschen Dmitry polnische Tracht angenommen ge-
habt, die französische mißfiel ihnen durchaus nicht, und schon
im März 1705 bemerkte Withworth unter den Vornehmen
keine einzige Person mehr in alter russischer Nationaltracht.
Für die Männer des Volkes bedeutete die Kleiderreform jedoch
eine ökonomische Kalamität. Das Klima zwang sie zu langen
schweren warmen Kleidern, die man trug, bis sie zerfielen;
nun galt es diese bequeme und warme Tracht zu vertauschen
gegen kurze und teuere Kleider der Fremden. Heftiger noch
war der Trotz des Volkes, als Peter seinen schwersten Schlag
gegen Altrußland führte, als er seine zarische Riesenschere
ergriff, um dem Volke den Bart abzuschneiden.
In den Gesetzen des Großfürsten Wladimir Wßewolodo-
witsch Monomach heißt es Kap. VII, § i : „Wer einem Anderen
den Bart so daß ein kahler Fleck entsteht ausgerauft, und
^) Bekanntlich reformierten auch Peter III. und Paul I. auf ähnliche
Art. Zar Paul verbot, runde Hüte zu tragen. Er gab Befehl allen, die dem
Verbote zuwiderhandelten, die runden Hüte vom Kopfe zu schlagen. Wer
sich dies nicht stumm gefallen ließ, wurde von den Polizeisoldaten geprügelt.
So erging es einem Engländer, aber der englische Gesandte machte Skandal,
darauf wurde das Prügeln der Träger runder Hüte auf der Straße verboten,
man mußte die Übeltäter zur Polizei bringen. Stellte sich hier heraus, daß
es Ausländer waren, so Ueß man sie wieder frei; ausgenommen waren Fran-
zosen, die der Zar dann als Jakobiner erklärte und verurteilte. Waren die
Verhafteten aber Russen, so steckte man sie unter die Soldaten. Der sardi-
nische Gesandte spottete über diese Panische Reform und sagte: ,, Solche
Kleinigkeiten haben in Italien oft Empörungen verursacht." Der Zar Ueß
ihm seine Pässe zusteUen, und er mußte in vierundzwanzig Stunden Peters-
burg verlassen. Vgl. M^moires secrets sur la Russie et particuUerement sur
la fin du Rdgne de Catherine II et le commencement de celui de Paul I"".
Formant un tableau des moeurs. Paris oder Amsterdam 1800 (2 Bände).
I 267. (Die deutsche Übersetzung dieses Massonschen Buches, in 4 Bänden,
ist seltener als das Original. Vgl. in der deutschen Ausgabe I 207).
— 19 —
zwar in Gegenwart einiger Personen, die es bezeugen können,
der bezahlt zwölf Griwnen Strafe, i) Kann der Kläger keine
Zeugen führen, so soll seiner Aussage kein Glaube geschenkt
und dem Beklagten keine Strafe auferlegt werden.** Die Strafe
wird illustriert, wenn ich hinzufüge, daß für die Ermordung
eines Knechtes oder einer Magd, die ein Handwerk erlernt,
in denselben Gesetzen ebenfalls 12 Griwnen Strafe, für die
Ermordung eines einfachen Bauers oder einer einfachen Magd
nur 5 und 6 Griwnen Strafe festgesetzt wurden!
In der „Reise nach Norden** heißt es 2): „Die russischen
Päbste^) schneiden ihre Haare*) nie, noch putzen sie sich
1) Die Gesetze des Großfürsten Wladimir Wßewolodowitsch Monomach
sind vollständig übersetzt in einer sehr seltenen Sammlung von Nachrichten
über Rußland und die Türkei: ..Constantinopel und St. Petersburg. Der
Orient und. der Norden. Eine Zeitschrift herausgegeben von H. von Reimers
und F. Murhard. St. Petersburg und Penig. iSojj — 1806." (Mein Exemplar
enthalt acht Bande.) Vgl. 1806, II. S. 308.
2) a. a. O. S. 121.
3) Der Verfasser versteht darunter ,,den Pfarr über ein Kirchspiel", also
einfach einen Popen.
^) Das Haarschneiden verdient in einer Sittengeschichte Rußlands auch
eine kurze Erwähnung. Karamsin (deutsche Übersetzung VII 174, franzö-
sische VII 272) erwähnt die Bemerkung von Paulus Jovius: ,,Die Männer
beschnitten ihre Haare". Der Chronist Nestor spricht mehrmals „von dem
alten Gebrauche der Russen, die Fürstensöhne im Alter von vier Jahren zu
bescheren" (Tonsur). Vgl. La Chronique de Nestor. Traduite en fran9ais
par Louis Paris. Accomp. de notes. Paris 1834. (2 Bände.) Bd. II Anhang
S. 191 u. 192. — Dieser Gebrauch der Haarebescherung, russisch: Postrigy ge-
nannt, scheint nach Karamsin (deutsch III 113, französisch III 162) der Rest
eines heidnischen Gebrauches gewesen zu sein. Man bezeichnete dadurch den
Eintritt der Kinder in das soziale Leben, in den Rang der Ritter. Durch den
Haarschnitt wurde eine geistige Verwandtschaft zwischen zwei FamiUen her
gestellt: die Mutter dessen, dem man die Haare geschnitten, galt fortan als
Schwester dessen, der die Operation vorgenommen. (Auch in anderen slawischen
Ländern war diese Tonsur üblich, so in Polen.) Ein Annalist von Susdal er-
zählt, daß bei dem Haarschnitt der Kinder Marias, Gattin Wßewolods, große
Feierlichkeiten stattfanden: nachdem man die Knaben rasiert hatte, setzte
man sie aufs Pferd in Anwesenheit des Bischofs, der Bojaren und der Bürger.
Wßewolod gab den alliierten Fürsten bei dieser Gelegenheit eine Mahlzeit und
beschenkte alle Gäste. Die russischen Fürsten unterzogen sich femer der Ton-
sur, wenn sie ernstlich erkrankten. Dann entsagten sie feierUch der Weltlich-
keit, nahmen das Mönchsgewand, ließen sich das Haupt rasieren und weihten
2*
— 20 —
den Bart.** Und bei Perryi): ,,Die Moskowiter trugen, nach
dem Beispiele der alten Patriarchen, bis zu Peter dem Großen
immer lange Barte, die ihnen bis zur Brust herabhingen; sie
pflegten sie sehr, gaben acht, kein Härchen zu verlieren; die
Schnurrbarthaare waren so lang, daß die Leute nicht trinken
konnten, ohne den Bart naßzumachen, so daß sie ihn fort-
während abwischen mußten. Die Haare aber trugen sie kurz
geschnitten, nur die Geistlichen hatten auch lange Haare.**
Der Bart war den Russen in mancher Beziehung eine natür-
liche Vervollständigung ihrer Kleidung, als Wärmespender im
kalten Klima ebenso notwendig wie der lange dicke Rock.^)
sich dem Dienste Gottes. So endeten viele rassische Herrscher. Der Klerus
ermutigte zu solchen Entschlüssen, die der Geistlichkeit Geld, Geschenke und
Gnaden einbrachten. — Im Gegensatze zu diesen russischen Sitten stehen
einige Gebräuche in Esthland. Hier galt das Haarabschneiden als eine emp-
findliche Strafe; wenn ein Leibeigener einen Diebstahl oder ein anderes Ver-
brechen begangen hatte, so ließ sein Herr ihm den Schädel ganz kahl rasieren,
und diese Strafe war mit vieler Schande verbunden. (Vgl. das seltene Werk
von J. Chr. Petri, Esthland und die Esthen. 3 Bände. Gotha 1802. II S. 9.)
In einer älteren Geschichte der baltischen Provinzen heißt es: ,,Die gewalt-
same Entführung der Frauen in Esthland führte zum Gebrauch, den Weibern
die Haare abzuscheren. Zum Zeichen, daß sie schon unter eines Mannes Ge-
walt gewesen, damit sie nicht entlauf fen noch Jemand sie als eine gekränckte,
weiter begehren möchte." (Th. Hiärns Ehst-, Lyf- und Lettländische Ge-
schichte, herausg. von Napiersky. Monumenta Livoniae antiquae. Bd. I.
Riga, Dorpat und Leipzig 1835. S. 40.)
^) Etat present de la Grande- Russie. Contenant une Relation de plus
remarquable. Description des moeurs. Trad. de l'Anglois. A la Haye 171 7.
S. 187—188.
2) Auch andere Völker in Rußland haben ihre spezifische Barttracht.
So erzählt J. G. Kohl in seinem Buche über Südrußland (II 262) von dem
Barte der Karaiten in der Krym: ,,Es läßt sich besonders bemerken, daß Alle
ihn auf der Lippe stehen lassen, ihn aber übrigens wegrasieren bis auf einen
ganz merkwürdigen, äußerst schmalen, langen Backenbarts-Streifen, der unten
vom Kinn über die Kinnladen hinweg und beim Ohre vorbei soweit hinauf
geht, als nur Haare wachsen. Auf dieser äußerst dünnen Linie dürfen aber
auch die Haare nicht wachsen, wie sie wollen, sondern werden gleich einer
Gartenhecke so stark unter der Schere gehalten, daß sie nur einem gemalten
Streifen gleichen. Diese streifige, über die Haut hinirrende Bartschattierung
findet sich auf der Wange aller Karaiten ganz auf dieselbe Weise und voll-
kommen in derselben Richtung. Nicht so bei den Tataren.'* Koch meint,
der Ursprung dieses sonderbaren, die Karaiten von den Tataren unterscheiden-
— 21 —
Schon vor Peter dem Großen hatte der Bart in Rußland
Anfechtungen zu erleiden. Margeret i) bemerkt mit besonderem
Nachdruck, daß der falsche Dmitry bartlos war; dieser Um-
stand hat vielleicht nicht wenig zu seiner Entthronung und
Ermordung beigetragen, da der Zar schon durch die Ein-
führung der polnischen Tracht das russische Nationalgefühl
verletzt hatte. Auch aus der Zeit des Zaren Alexej berichtet
die russische Geschichte einen interessanten Fall. Der Bojar
Scheremetjew, so wird erzählt, weigerte sich seinen Sohn zu
segnen, weil der junge Mann mit rasiertem Kinn vor ihm
erschien. Dieser scheint damals nicht der einzige Verbrecher der
Art gewesen zu sein, denn der Patriarch Joachim bedrohte
mit den Blitzen der Exkommunikation alle die Sünder, die
sich einfallen ließen, den Bart zu rasieren. Eine solche sum-
marische Drohung hatte nur Sinn, wenn die Rasierbewegung
schon weite Kreise ergriff. Und das war tatsächlich der Fall.
Der alten Kleidung und des Bartes Hauptstützen waren die Geist-
lichkeit und Religion. In der orthodoxen Iconographie sind
Gott Vater und Sohn lang bebartet und lang gekleidet. Ein
Ukas des Zaren Alexej schuf nun ein merkwürdiges Kompro-
miß, das dann durch einen Ukas seines Sohnes Feodor be-
kräftigt und erneuert wurde: Das Verlangen des Patriarchen
nach einem Verbot des Bartrasierens wurde für berechtigt er-
klärt und erfüllt; aber gleichzeitig schrieb man dem männ-
lichen Personal des Hofes und der Amter verkürzte Kleider vor.
An die göttliche Tracht hatte man sich also gewagt, den
göttlichen Bart ließ man unberührt.
Bald aber kam ein mächtigerer als der Patriarch Joachim ;
der Sohn des Zaren Alexej, der Antichrist Peter schloß mit
den Bartstreifens müsse einen eigenen Grund haben. Ich vermute nun, daß
die Käraiten zu dieser Barttracht als zu einem Unterscheidungszeichen von
den Moslems, mit denen sie sonst dieselbe Tracht hatten, gezwungen worden
sein mögen. Dieser Bartstreifen ist demnach bei den krymschen Juden eine
Erinnerung an Zeiten schmähUcher Intoleranz.
1) Estat de 1* Empire de Russie et du grand Dvch6 de Moscovie. Paris
1607. (Diese Originalausgabe ist eine Rarität ersten Ranges. Ich benütze
die Ausgabe Paris 1821, die dritte, die nur in 100 Exemplaren gedruckt und
daher auch bereits rar geworden ist.) S. 141.
— 22 —
der Geistlichkeit keine Kompromisse mehr und schnitt ohne
Furcht vor den BHtzen der Kirche dem russischen Barte den
Lebensfaden ab. Der Reformator hieh mit den von ihm durch-
gesetzten neuen Sitten und Trachten das Beibehahen des alt-
russischen Bartes für imvereinbar. In seiner nächsten Um-
gebung, bei seinen Mitarbeitern und Günstlingen fand er sofort
volles Verständnis. Bei seiner Rückkehr aus dem Ausland
bemerkte er, wie geneigt seine Hofleute und Minister waren,
seinen Wünschen entgegenzukommen. Nicht nur Mentschikow
und Golowin glänzten mit rasiertem Kinn; sondern alle, die in
der ersten Audienz nach Peters Heimkehr zur Bewillkommnung
erschienen, einige Alte und die Geistlichen ausgenonmien,
waren bartlos; „Petern gefiel dies ihm gebrachte Opfer so
sehr,** erzählt Korb^), „daß er sie mit außerordentlichen Zeichen
des Wohlwollens umarmte und so durch einen SonnenbHck
der Gunst die Verwüstungen des Messers vergütete.** Der
Zar überlegte sich jetzt nicht mehr lange, in seiner grandiosen
Reform fortzufahren. Um sie streng durchzuführen, wurden
Beamte angestellt, welche allen ohne Unterschied auf offener
Straße die Barte abschneiden mußten. Dies erschien den
Russen so fürchterlich, daß viele, die mit zärtlicher Liebe
an ihren Barten hingen, den Mitgliedern dieser hohen Kom-
mission große Summen für ein freundliches Übersehen boten. 2)
Aber die sonst so Bestechlichen waren in diesem Falle un-
bestechlich; auch hätte das wenig genützt; entschlüpfte man
einer Bartscherkommission, so rannte man bald einer anderen
in die bewaffneten Arme. An der Tafel des Zaren gehörte ein
Barbier fortan zu den ständigen Bedienern; wagte noch je-
mand hier mit dem Barte zu erscheinen, so war er sicher
die Zierde seiner Männlichkeit noch während der Essenszeit
zu verlieren. An allen Toren von Moskau waren Wachen auf-
gestellt, die den bebarteten Passanten auflauerten; Wider-
1) Bei Halem, Leben Peters des Großen. (3 Bände.) Münster und Leipzig
1803. I 141. — Über die Bartreform sind auch bei Brückner, Peter der Große
(in der Onckenschen Weltgeschichte) einige interessante Angaben zu finden,
so S. 220, 272, 276. 280, 287, 303 und 525.
2) Le Bruyn a. a. O. III 151.
— 23 —
spenstige mußten niederknien i) und wurden grausam ge-
schoren. Der Zar machte aus dieser Reform aber auch eine
Einnahmsquelle. Er gestattete das Barttragen gegen eine Taxe,
die von einem Kopeken bis hundert Rubel jährlich betrug;
als Zeugnis für die bezahlte Taxe mußten die Bartleute auf
der Brust eine Medaille tragen, mit einer Inschrift, welche
besagte: der Bart ist eine unnütze Last. Die Armen, die
die Taxe nicht bezahlen konnten und den Bart verloren, steckten
die abgeschnittenen Haare in ein Säckchen, das sie bis zum
Tode an der Brust trugen und das man ihnen mit in den
Sarg legte, „damit sie anständig vor dem heiligen Nikolaj**
erscheinen konnten. 2) Den heftigsten Widerstand fand die
Bartreform in den fernen Provinzen. Die Diener des Zaren
erlaubten sich hier die ärgsten Gewalttätigkeiten. Der Gou-
verneur von Astrachan ließ an den Toren der Kirchen Soldaten
aufstellen, die allen aus der Kirche kommenden Bebarteten
die Barte ausreißen mußten. 3) In Astrachan entstand infolge-
dessen ein furchtbarer Aufruhr, der erst nach Aufbietung von
zwanzigtausend Mann und nach hartem Kampfe bewältigt
wurde. Auch Peter selbst ging grausam genug vor. Als er
1704 in Moskau plötzlich sein Hofpersonal musterte, entdeckte
er, daß ein gewisser Iwan Naumow noch einen Bart trug;
der Ungehorsame wurde zur Strafe öffentlich gepeitscht.
Der Zar war dem Barte gegenüber unerbittlich. Er be-
trachtete den russischen Bart sozusagen als seinen persönlich-
sten Feind. Der Langbart symbolisierte in seinen Augen alle
jene Ideen, Traditionen und Vorurteile, die er bekämpfte.
In den Klagen, die er gegen seinen dem Tode ausgelieferten
Sohn Alexej erhob, machte er für des Unglücklichen Schick-
sal dieLangbärte^), diese Stützen der Reaktion, verantwortlich.
^) Sammlung merkwürdiger Anekdoten das Russische Reich betreffend.
S. 104.
2) Perry, a. a. O. 187.
3) Waliszewski, Pierre le Grand 456.
*) Acta des Inquisitions-Processes/So zu St. Petersburg wider den Czaaro-
witz, Herrn Alexium Petrowitz/Im Jahr 1718. angestellet. Nach dem zu Ham-
burg gedruckten Exemplar, Anno 171 8. S. 9. — Manifest wegen der Gericht-
lichen Inquisition über den Zarewitsch Alexium Petrowitsch. Franckfurt und
Leipzig 17 19. S. 8.
— 24 —
Wahrlich nicht aus ästhetischen und vielleicht nicht ein-
mal aus politischen Gründen konnten sich die gemeinen Russen
von ihren Barten nicht leichten Herzens trennen. Ihre Motive
waren vielmehr hauptsächlich sittlich-religiöse, i) „Fast die
^) Auch in anderen Ländern hat der Bart eine große nationale und
politische Rolle gespielt; aber religiöse Bedeutung wurde ihm nicht einmal
im Orient beigelegt. Bei den alten Hebräern wurde das Bartabschneiden als
Strafe angeordnet, bei den Osmanen galt ein abgeschnittener Bart als Zeichen
der Schmach, als Beraubung eines Teiles der Männlichkeit, und es wurde oft
im Kriege an den Besiegten eine derartige Entmännlichung vollzogen. Eine
Empörung infolge gewaltsamen Bartabschneidens gab es einmal im osmanischen
Reiche. (Vgl. Bernhard Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in
der Türkei. Band II 129.) — In Olmütz wurden kurzlich zwei nach Salonich
zuständige Mohammedaner Osman Ramadan und Demir Aga wegen Betruges
zu Kerkerstrafe verurteilt; nach der Hausordnung der dortigen Frohnfeste
muß jedem Sträfling, dessen Strafe die Dauer von drei Monaten überschreitet,
der Schnurrbart abgenommen werden. Dieses Schicksal sollte auch die beiden
Türken treffen. Als ihnen dies mitgeteilt wurde, fingen sie zu jammern an
und erklärten, daß in ihrer Heimat das Abnehmen des Schnurrbartes die
größte Schmach bedeute und daß sie sich lieber hängen, als dieser Zierde
berauben lassen wollten. Sie klagten femer, daß im Islam der Ehefrau das
Recht zustehe, den Mann sofort zu verlassen, wenn er seinen Schnurrbart ab-
rasieren lasse (eine Behauptung übrigens, die mir absolut unrichtig erscheint),
und diesem Grunde ließ das Gericht Rücksicht angedeihen, die beiden Türken
durften den Schnurrbart behalten. (Zeitungsnotiz.) — Als Zierde männlicher
Schönheit und der Männlichkeit im allgemeinen gilt der Bart fast überall.
Als man den Diogenes fragte, warum er einen Bart trage, antwortete er: ,, Da-
mit ich in Anschauung und Betastung desselben mich erinnere, daß ich ein
Mann sei." Professor Hieronymus Rhetus zu Basel erklärte: ,, Der Bart lehret
mich, daß ich keine Frau, sondern ein Mann bin, und daß ich mich männ-
licher Tugend mit standhafftem Gemüthe befleißigen solle." Im ,, Leibdiener
der Schönheit" (oder: Neuentdeckte Geheimnisse von der Schönheit der Frauen-
zimmer Leipzig und Bremen 1747. Seite 33) wird geklagt, ,,daß mit der jetzigeü
Zerstümmelung des lieben Bartes ein groß Theil unserer männUchen Dignität
und Respekt verlohren gehe." — Bei den Narrinyesen wird (wie Mantegazza
in ,, Geschlechts Verhältnisse des Menschen" S. 15 nach dem Berichte des Re-
verend Taplin erwähnt) der Jüngling, wenn sein Bart sich bis zu einem ge-
wissen Grade entwickelt und eine bestimmte Länge erreicht hat, unter feier-
lichen Zeremonien zum Manne erklärt. — Die alten Germanen hielten das
späte Erscheinen des Bartes als ein günstiges Zeichen, als einen Beweis von
Kraft, welche die Natur bisher auf wichtigere Funktionen verwendet hätte.
Über das Verhältnis des Bartes zu den Organen der Generation herrschen
widerspruchsvolle Ansichten. Alte Schriftsteller sprechen von Kindern, die
bärtig waren; in den Märchen von looi Nacht ist häufig die Rede von drei-
Aus dem russischen Volksleben.
(Aus .|ukow.sky. Sc^-m- iiojml.iiro Hiiv-t-.i
— 25 —
ganze Nation," heißt es in einem zeitgenössischen Berichte,
„ist von der vorigen Affection vor ihre Kleidung so vollkom-
men zurück gekommen, daß wofern sie auch dermaleinst das
Heft wieder in die Hände bekommen, und ihre alte Regierungs-
form retablieren sollten, sie dennoch ihre ehemalige Mod^n
ganz gewiß nicht wieder erwählen würden. — Der Bart aber
hat viel hartnäckige Defensores gefunden, insonderheit unter
dem gemeinen Mann, welche sich eingebildet, Gottes Eben-
bild werde geschändet, wann ein Mensch dieses Zierrathes
beraubet würde, weswegen dann viele von ihnen lieber ihre
Köpfe unter das Beil legen, als ihren Bart verlieren wollen.
Der Synodus hat zwar eine expresse Schrift publiciren lassen,
worinne sehr weitläufig deduciret wird, daß der Bart zum
Ebenbilde Gottes nicht gehöre. Nichtsdestoweniger finden sich
unter den Bürgern noch sehr viele, die diese Gründe bei sich
zehn- und vierzehnjährigen bebarteten Knaben, die auch schon heiraten. —
Bei einigen Völkern beginnt den Männern der Bart erst zu wachsen, nach-
dem sie schon längst mannbar geworden sind. £s gibt viele Beispiele von
Männern, die keinen Bart bekommen hatten, und doch fehlte ihnen sonst
kein Charakter der Männlichkeit. (Eros oder Wörterbuch über die Ph3^io-
logie und über die Natur- und Cultur- Geschichte des Menschen in Hinsicht
auf seine Sexualität. 1823. 2 Bände. Neudruck 1849). — »."Die Prediger der
Waldenser nannte man Barbcts, vermutUch, weil sie ihre Barte lang wachsen
lassen'^ (Compendieuses Kirchen- und Ketzerlexicon, Schneeberg 1734 S. 83).
,,Die Capuciner mußten früher ihre Barte wachsen lassen, 1733 wurde ihnen
durch ein Päbstisches Brevet erlaubt, ihre Barte abzuschneiden" (Kirchen-
und Ketzerlexicon S. 131). Über die Barte der Kapuziner gibt es ein ebenso
berühmtes als seltenes Buch: ,,La Guerre seraphique, ou Histoire des Perus
qu'a courus la Barbe des Capucins Par les violentes Attaques des Cordeliers.
A la Haye, chez Pierre de Hondt. 1740." Ich besitze auch die nicht weniger
seltene deutsche Übersetzung davon: ,, Wunderseltsame Geschichte der Barte
und der spitzen Kapuzen der Ehrw, P. P, Kapuziner usw. Mit Kupfern. Köln
am Rhein 1780." — Über die Rolle des Bartes in verschiedenen Ländern
Europas will ich hier nicht weiter sprechen und verweise nur kurz auf folgende
Quellen: Hellwald, ,, Ethnographische Rösselsprünge," S. 261 — 276 (Zur Ver-
breitung und Geschichte des Bartes; nichts über. Rußland). — ,,Das Buch
der Haare und Barte. Humoristische Abhandlungen für Jedermann und —
jede Frau." Leipzig 1844. Seite 6 — 9 einige historische und ethnographische
Notizen, aber ebenfalls nichts über Rußland. — Endlich notiere ich hier noch:
Dr. Iwan Bloch, Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis (2 Bde.).
Dresden 1902. I 49.
^»jf".
— 26 —
nicht gelten lassen wollen, und lieber alles erdulden, als ihren
Bart dem Scheermesser unterwerfen.** i) Die Moskowiter hegten
tatsächlich für den Bart einen religiösen Respekt, und die
Priester bestärkten sie in dieser seltsamen Anschauung. 2) Man
fand auf den Straßen offene und versiegelte Briefe an Peter,
in denen das Volk und die Geistlichen den Zaren des Bart-
raubes wegen als Tyrannen und Heiden verfluchten. „Ein
gemeiner Russe, Talitzkoi, der die Buchdruckerkunst in Mos-
kau erlernet, hatte auf dem Lande heimlich eine Druckerei
angelegt, und eine Brochure an das Licht gestellet, worinne
er beweisen wollen, daß Petrus der Antichrist sey, weil er
durch Abschneidung der Barte Gottes Ebenbild schändete,
die Menschen nach ihrem Tode aufschneiden und zergliedern
ließe, die Gesetze der Kirche unter die Füße träte, und was
dergleichen alberne Fratzen mehr sein mochten. Talitzkoi
wurde nun bald docouvriret und zu Belohnung seiner Mühe
zu Tode geschmauchet.** 3)
Schon Iwan der Schreckliche hatte im Jahre 1552 er-
klärt: „Von allen ketzerischen Gewohnheiten ist keine ver-
dammlicher als die sich den Bart zu rasieren. Diese. Sünde
könnte nicht durch alles Blut eines Märtyrers hinweggewischt
werden. Seinen Bart rasieren lassen um den Menschen zu
gefallen, heißt alle Gesetze übertreten und sich für einen Feind
Gottes erklären, der uns nach seinem Ebenbilde geschaffen
hat.** Peter der Große konnte noch im Anfange seiner Re-
gierung trotz aller Macht, die er aufwendete, bei der Geist-
lichkeit nicht die Ernennung des Metropoliten von Pskow zum
Patriarchen durchsetzen : „Marzell,** sagten die Kleriker, „kann
nicht Patriarch werden aus drei Gründen: weil er barbarische
Sprachen spricht^); weil er seinen Kutscher auf seinem Wagen
sitzen läßt^); und weil sein Bart nicht die notwendige Länge
hat.**
1) Vockerodt, a. a. O. S. 106.
*) Perry a. a. O. 188. — Chantreau, Voyage philosophique politiqitc et
litteraire, fait en Russie pendant Ics annöes 1788 et 1789. (2 Bände.) Patis
1794. I 295.
3) Vockerodt, a. a. O. S. 10.
*) Latein und Französisch.
^) Statt auf einem Vorreitpferde.
— 27 —
Die Rücksicht, die auf die Geistlichkeit genommen wurde,
hatte zum Resuhat, daß der Bart teilweise bestehen blieb und
viele Russen aus dem Volke ihn neuerdings wachsen ließen.
Die große Masse kehrte zu den alten Gebräuchen, Vorurteilen
und Trachten zurück, und hatte glücklich wieder die langen
Barte. 1) Und schon 1747 heißt es in einem Berichte 2): „Hof-
leute, Soldaten, Kronbediente und einige wenige Kaufleute
ausgenommen, sonst alle andere Bürger, Bauern und Priester,
lassen ihren Bart so schnell als möglich wachsen, wodurch
sie denn in der Geschwindigkeit die Hälfte ihres Gesichts
bedecken.**
Die Bartreformfrage hat für Rußland niemals zu bestehen
viufgehört, der Bart blieb also auch nach Peter dem Großen
was er früher gewesen : ein Kultur- und Sittenmesser für Ruß-
land, für die Stellung des russischen Volkes in der Zivili-
sation, für die Bildung und Schätzung namentlich der russischen
Geistlichkeit. Die Zarin Elisabeth gestattete in einem beson-
deren Ukase, die Geistlichen zu Leibesstrafen zu verurteilen;
man durfte sie gleich gewöhnlichen Sterblichen behandeln,
knuten, peitschen und an allen Körperteilen verletzen, aber
ihr Bart sollte geschont werden 3), denn ihr Bart war heilig.
Der große russische Dichter Lomonossow verspottete damals
mit großem Mute diese besondere Heiligkeit des Geistlichen-
bartes. Die Russen, hieß es in diesem Gedichte, werden im
Himmel keine Barte tragen dürfen, weil diese nicht mit ge-
tauft werden. Ein einziger aber ist ausgenommen, und das
ist der Pope. Der taufte bei der Wasserweihe ein Kind, und
da er es aus dem Wasser zog, hob er es so hoch über sich,
daß ihm das Kind in den Bart pißte. Glücklicher Bart, ruft
der Dichter aus, der du allein getauft und also auch allein
würdig bist, im Himmel zu erscheinen und als ein Stern erster
1) Breton, Rußland oder Sitten, Gebräuche und Trachten der sämtlichen
Provinzen dieses Kaiserthums. (6 Bändchen.) Pesth 18 16. I 15.
2) Abschnitte aus Peter von Havens Nachrichten von dem Russischen
Reich. Kopenhagen 1747. In Büschings Magazin X 356 — 357.
') Waliszewski, La demiöre des Romanov Elisabeth V^ 1741 — 1762.
Paris 1902. S. 217. (Nach einem Briefe von Breteuil au Choiseul vom i. Sept.
1760.)
— 28 —
Größe zu glänzen ! — Lomonossow hat sich durch diese Satire
den furchtbarsten Haß des Klerus zugezogen, seine Werke
wurden verpönt, und nur der Zarin Elisabeth i>ersönlichste
Intervention vermochte es durchzusetzen, daß der Dichter vor
den schwersten Strafen der Kirche gerettet wurde.
Peter dem Dritten wurde nachgesagt, daß er die Absicht
hatte, den Bart der Geistlichen zu beseitigen, wie Peter der
Erste den Bart des Edelmannes und des Bürgers, des Kauf-
mannes und des Bauers rasiert hatte. Aber seine kurze Re-
gierung ließ wie manche andere Reform auch diese nicht
zur Ausführung gelangen.^) Und die Geistlichen behielten
^) In einem zeitgenössischen Buche wird über die Barte der Priester und
über den angeblichen Plan Peters III. also philosophiert: ,,Wie ist es möglich,
daß der Kayser hat auf den Einfall gerathen können denen rußischen Pfaffen
in ihren Barten ein wesentliches Stück ihres äusserlichen Ansehens und ihrer
Verdienste zu rauben? Hätte er nicht wissen sollen^ aß. zumahl in der rußi-
schen Religion, wo man mehr als bey irgend einer anderen, auf das Ausser-
liche siehet. so mancher ansehnliche Archimandrit, nur blos seines langen und
weissen Bartes halber, ehrwürdig ist und daß ein dergleichen Priester öfters
eine sehr schlechte Figur machen würde, wenn man ihm dieser Zierde berauben
wollte? Den Priestern die Barte abzuschneiden! Welch eine kühne Unter-
nehmung! Heißt das nicht das Heiligthum der geistlichen Ehre entweihen,
und mit verwegener Faust den heiligen Vorhang zerreissen, worunter die Un-
wissenheit so vieler ehrwürdiger Männer verborgen ist ! Hatte Peter der Dritte
nicht das Beispiel seines Großvaters vor Augen, der soviel er auch durch seine
Klugheit, die er mit der unumschränktesten Gewalt zu unterstützen wußte,
bey seiner wilden Nation ausrichtete, so konnte er es doch in diesen Stücken
nicht einmal so weit bringen, daß alle Layen ihre Barte ablegten, vielweniger
würde er die Häupter der Gemeine dazu bewogen haben. Übrigens" — fährt
der Verfasser, der wenigstens im nachfolgenden als Humorist genommen werden
will — ,,hat Peter der Dritte niemals den Einfall gehabt der russischen Geist-
lichkeit ihre Barte zu rauben. Die ganze Historie hiervon kommt vielmehr
von einem rußischen Priester her. der sich schon seit einigen Jahren in Ham-
burg befindet und den Gottesdienst in dem Hause des daselbst befindlichen
rußischen Residenten verrichtet. Dieser Mann, bey dem die teutsche Luft
bereits die Würkung gethan, daß er sich nicht grämen würde, wenn ihn die
St. Petersburger Geistlichkeit zu ewigem Aufenthalte in Deutschland ver-
dammte, dieser Mann ist bereits so heidnisch geworden, daß er einen Bart
für ein sehr entbehrliches Stück des Priesteramtes hält . . . Die Kleidung der
jüdischen Rabbiner hat eine große Ähnlichkeit mit der Kleidung der rnßischen
Priester, und der Bart machte sogleich, daß man diesen rußischen Geistlichen
mehrentheils für einen Juden ansähe. Dieses hielt er für einen schrecklichen
— 29 —
ihre Barte und hatten für sie eine solche Affenliebe, daß die
Europäer es geradezu widerwärtig fanden: „Wenn man mit
dem gemeinen Popen spricht, so streicht er sich fast jeden
Augenblick den Bart, der oft bis auf den Nabel reicht, mit
einem solchen Wohlbehagen, daß es auf seiner Seite meist
eben so viel Stupidität voraussetzt, als es beim Zuschauer
unausstehliche Widrigkeit erweckt. Es verursacht gemeiniglich
die nämliche Empfindung als wenn man mit einem dickwansti-
gen dummen Menschen reden muß, der jeden Augenblick
mit innigem Wohlgefühl seinen fetten Schmerbauch streicht.**
So schrieb in allerdings etwas komischem Zorn der deutsche
Professor Bellermann in seinem interessanten, anonym erschie-
nenen Buche 1) über das Rußland Katharinas der Zweiten.
Die letztgenannte Fürstin hatte übrigens auch, gleich Peter
dem Großen, ihrem beliebten Vorbilde, einen schweren Bart-
Aufruhr zu bekämpfen. Die Empörung Pugatschews wurde
nämlich am kräftigsten gefördert durch die Jaik-Kosaken, die
man durch Abschneiden ihrer Barte zur Rebellion getrieben
hatte. Diese Kosaken ließ Katharina unter die Husaren ein-
reihen ; die Husaren durften aber keine Barte tragen, und da sich
die Kosaken dem Raseur gewaltsam widersetzten, ließ General
Traubenberg die neurekrutierten Kosaken auf den Marktplatz
schleppen und öffentlich enthärten. Darauf griffen alle Kosaken
der Gegend zu den Waffen, ermordeten den General Trauben-
berg und scharten sich um die Fahne Pugatschews 2) — Pu-
gatschew war längst tot, aber der Bartkrieg am Ural dauerte
Schimpf, und er schilderte diese Beleidigung dem Synod in Petersburg so leb-
haft daß man ihm die Erlaubniß ertheilte, seinen Bart in eine Schachtel zu
legen. Der Geistliche sagte dann, ein Ukas Peters III. habe den Geistlichen
befohlen: ihre Barte zu scheren xmd teutsch gekleidet zu gehen." (Rußische
Anecdoten oder Briefe eines teutschen Officiers an einen Liefländischen Edel-
mann, worinnen die vornehmsten Lebens-Umstände des Rußischen Kaysers
Peter III. nebst dem unglücklichen Ende dieses Monarchen enthalten sind.
Wandsbeck 1765. Seite 59.)
1) Bemerkungen über Rußland in Rücksicht auf Wissenschaft, Kunst,
Religion und andere merkwürdige Verhältnisse. (Zwei Teile.) Erfurt 1788.
II 159.
**) Catharina die Zweite, Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regie-
rung. 1797. Seite 107 — 108.
— 30 —
noch fort. Im Jahre 1817 begab sich Ajraktschajew nach Oren-
burg, um im Auftrage des Zaren Alexander 1) die Bauern
nach Peterschem Rezept zu zivilisieren : durch Uniformen. Am
13. Juni des genannten Jahres schrieb Araktschajew an den
Zaren: die Uniformierung gehe von statten, wer sich wider-
setze, werde geknutet und erhalte die Batogi; „die Haare
scheren und den Bart abschneiden will ich noch nicht, das
wird später von selbst kommen.** Aber es kam nicht von
selbst, und am 17. Juni wird dem Zaren von Araktschajew
berichtet: „Das Scheren und Bartschneiden hat begonnen!**
Die Reform ging mit solcher Gewalt vor sich, daß allgemeines
Entsetzen herrschte. Die Bauern, meist Altgläubige, petitio-
nierten an die Obrigkeit, daß man ihnen „die. abgeschnittenen
Barte wenigstens zur Aufbewahrung zurückgeben sollte, damit
sie bei der Auferstehung nicht fehlten.** • Die Barbiere willig-
ten ein und überlieferten die abgeschnittenen Barte den Bauern
gegen eine besondere Taxe. Später kam ein obrigkeitlicher
Befehl, daß die Barte unentgeltlich ausgefolgt werden sollten;
auch gestattete man den Greisen das Beibehalten des Bartes.
Einige der Altgläubigen trugen auf Anweisung ihrer Lehrer,
um Gottes Zorn wegen des geopferten Bartes von sich ab-
zuwenden, eiserne Ketten auf dem bloßen Leibe, also als eine
Art Selbstgeißelung. Bei einer Exekution kam dies zutage,
und das Kettentragen wurde bei Strafe verboten.^)
Wenn der Bart für Rußland wirklich das Symbol der
barbarischen Vergangenheit ist, wie Peter der Große gemeint,
dann hat der Barbier als Erzieher seine Rolle schlecht ge-
spielt, dann ist Rußland heute wieder da, wo es Peter vor-
gefunden hat.
1) Im europäischen Rußland scheinen damals die langen Bäxtekaum
mehr in Mode gewesen zu sein. Ich zitiere das Zeugnis des Arztes Wichel-
hausen (Züge zu einem Gemähide von Moskwa 1803): ,,Kein Edelmann trägt
mehr einen Bart. Auch die meisten angesehenen Kaufleute und die Bedienten
der Kaufleute haben in diesem Punkte die Gewissenskrupel überwunden"
Wichelhausen machte auch die Bemerkung, ,,dsiQ sich der Bart und die Mann-
barkeit in Moskwa früher entwickele als in Deutschland."
2) Vgl. Theodor Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Niko-
laus I. Band I: Kaiser Alexander I. und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit.
Berlin 1904. Seite 459 und ebenda Anmerkung 2.
— 31 —
Man zeigte 1) einem Raskolnik, der zum Militär eingerückt
war, den Kaiser Alexander den Zweiten: „Dies ist kein Zar,"
sagte der Rekrut, „er trägt nur einen Schnurrbart! Er hat
eine Uniform, einen Degen wie alle Offiziere; das ist ein
General so gut wie jeder andere.** Für diese Anbeter der Ver-
gangenheit, diese Anhänger des Zeremoniells ist der Zar ein
Mann mit langem Barte, in langem weiten Gewände, wie er
auf den alten Bildern abkonterfeit ist. Für sie war der wahre
Zar Alexander der Dritte, der seinen langen Bart pflegte, bei
Tische in der russischen Bluse und mit dem Gürtel erschien,
und nicht einmal im Schlafe davon träumte, die Bahn des
Fortschritts zu betreten.
3. Dekorative Bildung.
Buchdruckereien — Reformen des Zaren Boriß — Die ersten weltlichen Bücher
— Empfindlichkeit gegen auslandische Urteile — Korrumpierung der Mei-
nung Europas — Akademie und Elementarschule — Der Elefant als Krank-
heitsgeist — Die Zivilisation am Hofe der Zarinnen — Französier ung — Zu-
stände am Hofe Katharinas II. — Verhungernde Hofbedienstete — Bildung.
Luxus und Puder — Erziehung Rußlands durch Lakaien und Soldaten —
Keine Schulen, aber Universitäten — Aus den Anfängen der Hochschule —
Geistliche Aufsicht — Aufsicht der Regierung — Unsittlichkeit der Profes-
soren und Studenten — Schule und Familie — Letzte Statistik der Elementar-
schulen — Intelligenzproletariat.
„Alle Mühe, aller Kostenaufwand wird doch vergeblich
sein, in des Russen Kopf kommt keine Wissenschaft,** sagte
ein alter Bojar dem Zaren Peter 2); und wahrlich, diese Pro-
phezeiung ist bis heute noch nicht Lügen gestraft worden.
Die erste Buchdruckerei in Rußland wurde in Moskau
im Jahre 1553^) errichtet, unter der Regierung des Zaren
Iwan Wassiljewitsch und zur Zeit des berühmten Metropoliten
1) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren. III 341.
*) Halem, Leben Peters des Großen, I 154.
8) Oldekop, St. Petersburg. Ztschft. I 215, 220. — Strahl, Das gelehrte
Rußland 145. — Vgl. S. Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland. I 37.
Halem I 149 gibt falsch das Jahr 1563 oder 1564 an; der Irrtum mag daher
stammen, daß das erste russische Druckwerk 1564 erschien.
— 32 -
Makarij. Die erste Arbeit dieser Druckerei, eine Geschichte
der Apostel, dauerte elf Jahre. Ihr folgten Ausgaben des
neuen Testaments. Bei den Einfällen der Tartaren und Polen
ging die russische Buchdruckerei zugrunde, und sie wurde
selbst von dem frühesten moskowitischen Reformator, dem
Zaren Boriß Godunow, nicht wiederhergestellt. Der letzt-
erwähnte Fürst war im Wollen größer als im Können. . Wenn
Karamsin^) sagt: „in der Liebe zur Aufklärung übertraf Boriß
alle älteren Herrscher Rußlands,** so ist dies ein gar be-
scheidenes Lob, da wir wissen, daß vorher kein einziger Sou-
verän von Moskwa daran gedacht hatte, der Aufklärung eine
Gasse zu bahnen. Boriß hatte als Erster aller Zaren die löb-
liche Absicht, allgemeine Schulen und sogar Universitäten zu
stiften, um seine Russen in den europäischen Sprachen und
Wissenschaften unterrichten zu lassen. Im Jahre 1600 schickte
er den Deutschen Johann Kramer nach Deutschland mit dem
Auftrage „dort Professoren und Doktoren zu suchen und sie
nach Rußland zu bringen.** Die Nachricht hiervon erweckte
in Europa überschwängliche Erwartungen. Der Rechtslehrer
Tobias Luntzius oder Loncius schrieb an Boriß : „Euere Zarische
Majestät wollen ein wahrer Vater des Vaterlandes werden,
und sich dadurch bei aller Welt unsterblichen Ruhm erwerben.
Sic sind vom Himmel erkoren, ein großes für Rußland neues
Werk auszuführen, nach dem Beispiele Egyptens, Griechen-
lands, Roms und der berühmten europäischen Staaten, die
durch edle Künste und Wissenschaften blühen, den Geist auf-
zuklären und dadurch das Gemüth des Volkes zugleich mit der
Macht des Staates zu erhöhen.** Und ein Königsberger Ge-
lehrter verglich den Zaren Boriß mit Numa Pompilius.^) Aber
die Geistlichkeit in Rußland stellte dem Herrscher vor: daß
die heilige Rußj nur durch die Einheit des Glaubens und
der Sprache die Segnungen des Friedens genieße; daß Ver-
schiedenheil der Sprache der Kirche gefährlich werden müsse
durch Förderung von Meinungsverschiedenheiten und Aus-
lieferung des Jugendunterrichtes an Katholiken und Protestan-
1) Deutsche Ausgabe X 71 (franz. übers. XI 113).
-) Bernhard Stern, Von der Ostsee zum Stillen Ozean. S. 9.
— as-
ten. Auch zum Patriarchen Hiob stürmten die Patrioten und
klagten: „O Heiliger Vater, du siehst das Unheil und siehst
ihm ruhig zul O Heiliger Vater, warum schweigst du?** Der
Zar mußte bald seine kühnen Pläne fallen lassen und sich
damit begnügen, achtzehn junge Bojarensöhne nach London,
Lübeck und Frankreich zu Sprachenstudien abzusenden und
gleichzeitig junge Engländer und Franzosen nach Rußland
zur Erlernung der russischen Sprache einzuladen. Von den
achtzehn jungen Russen, die ins Ausland gegangen waren,
kam nur einer zurück, die anderen zerstreuten sich in Europa.
Boriß berief aus England, Holland und Deutschland Ärzte,
Künstler, Handwerker und Beamte; fünfunddreißig von den
Polen aus ihrer Heimat vertriebene livländische Edelleute nahm
er in Moskau gastfreundlich auf und lud sie gleich nach ihrer
Ankunft in seinen Palast ein; als sie sich ihrer schlechten
Kleidung wegen entschuldigten, sagte der Zar: „Ich will Men-
schen sehen, nicht Kleider!** — Das was hier erzählt, ist aber
auch alles, was Boriß, der so viel leisten wollte, leisten konnte.
Der erste Romanowsche Zar Michael Feodorowitsch er-
richtete wieder eine Buchdruckerei, die fleißig geistliche
Werke und nur ein einziges weltliches — das russische Land-
recht — herausgab. Unter der Regentschaft der Sophia, der
Schwester Peters des Großen, entstanden einige neue Drucke-
reien: in Moskwa, Kijew und Tschernigow, die sich selbst
mit europäischen messen konnten; in allen wurden nur geist-
liche Bücher hergestellt — für Künste und Wissenschaften
hatte noch niemand Verständnis und selbst die Jahrbücher
Nestors und anderer Chronisten schlummerten friedlich und
unberührt in den Klosterbibliotheken fort. Die große Um-
wälzung auf dem Gebiete der Buchdruckerei begann erst unter
Peter dem Großen, aber auch er richtete sein Augenmerk
nicht auf das Allgemeine, sondern bevorzugte das, wofür er
persönliche Neigung besaß. Auf seinen Befehl mußte sich der
Russe Elias Kopjewitsch nach Holland begeben, dort eine durch-
aus vollkommene Buchdruckerei anschaffen und sie dann nach
Rußland bringen, i) Die Werke, die jetzt gedruckt wurden.
1) Halem, Leben Peters des Großen. I 149.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rulkland.
— 34 —
waren folgende: Brinkens Schiffsbaukunst und eines anony-
men Holländers Erfahrener Steuermann; Peter hatte aus ihnen
seine Kenntnisse geschöpft, sie wurden nun ins Russische über-
setzt; die holländischen Kimstausdrücke behielt man bei und
sie blieben bis jetzt größtenteils in. der russischen Marine ge-
bräuchlich. Andere Bücher über Ingenieiu-- und Wasserbau-
kunst folgten. Historische wurden aus dem Deutschen und
Lateinischen übersetzt. Der Mönch Gabriel, dem die Aufgabe
zuteil geworden war, Pufendorfs Staatengeschichte zu über-
tragen, der also das erste Geschichtswerk in russischer Sprache
herausgab, war auch gleichzeitig der erste russische Ge-
schichtsfälscher : die für Rußland nicht schmeichelhaften Stellen
ließ er einfach fort. Peter korrigierte die Fälschung, befahl
auch die fortgelassenen Stellen zu drucken und erklärte : „Nicht
zur Schmach meiner Untertanen, zu ihrer Besserung will ich
dies gedruckt wissen. Meine Russen müssen erfahren, wie
man im Auslande bisher über sie geurteilt hat, damit sie er-
kennen, was sie waren, was sie durch meine Bemühung ge-
worden sind, imd wonach sie noch zu streben haben.** Peter
ordnete die Gründung von Zeitungen und die Ausgrabung und
Veröffentlichung der Handschriften an, die in den Klöstern
verstaubten imd vermoderten. Alles tat er jedoch weniger,
um wirkliche Kultur im Lande zu verbreiten, als um dem Aus-
lande als Zivilisator zu imponieren.
Das Urteil des Auslandes hatte schon früher die russischen
Fürsten gekränkt und beleidigt. In dem Buche des Freiherm
Augustin Mayerberg 1) lesen wir, wie heftig sich der Zar Alexej
beim König von Polen über einige Bücher beschwerte, die
in Polen gegen Rußland veröffentlicht worden waren. Ver-
gebens erklärten die Polen, daß die Autoren als freie Männer
eines freien Staates schreiben konnten, was sie wollten, und
daß man hierfür weder den König von Polen noch den pol-
nischen Senat verantwortlich machen durfte. Putzkin, der Ge-
1) Voyage en Moscovie d'un Ambassadeur, Envoy6 par TEmpereur Leo-
pold au Czar Alexis Mihalowics, Grand Duc de Moscovie, A Leide, chez FrÄ-
derik Harring i688. Seite I2. (Diese französ. Übersetzung vom Jahre i688
gehört zu den großen Raritäten. Ein Neudruck erschien 1858 in Paris in
zwei Bänden. Vgl. daselbst I S. 11.)
— 35 —
sandte des Zaren, war durch diese Erklärung nicht befriedigt
und verlangte als Genugtuung nicht weniger als die Rück-
gabe des von den Polen besetzten Smolensk und 50000 Taler,
ging dann allerdings mit seiner Forderung herunter und bat
zum Schlüsse bloß, daß man aus den beanstandeten Büchern
jene Blätter entfernte, die den Zaren und die Moskowiter be-
leidigten. Dies wurde endlich bewilligt, man riß aus den
Büchern die betreffenden Blätter aus und übergab sie dem
Feuer.
Nicht minder als sein Vater Alexej war Peter der Große
in bezug auf das Urteil des Auslandes empfindlich. Im Jahre
1705 schickte er den Baron von Huyssen nach Deutschland
mit dem Auftrage i), „die Leipziger Gelehrten zu überreden,
zum Vortheil Rußlands in der europäischen Fama, und in
den öffentlichen Zeitungen zu schreiben.** Derselbe Huyssen
hatte schon drei Jahre zuvor in Deutschland, Holland und
anderen Ländern 2) vergebliche Versuche gemacht, die Ge-
lehrten zu veranlassen, „auch etwas zu Rußlands Ruhme zu
schreiben, damit hierdurch dem Publico die schlechten Meinun-
gen benommen würden, die es von Rußland hatte.** Auch
in Leipzig hatte der zarische Korruptionsgesandte augenschein-
lich keinen großen Erfolg, denn just in der Europäischen
Fama vom Jahre 17052) erschien folgende Auslassung: „Die
Moscowitischen Avisen haben gemeiniglich die Eigenschafft
an sich, daß man ihnen entweder nicht glauben darff, oder
nicht glauben will, weil sie größtentheils aus solchen Orten
einlauffen, die extr^mement partheyisch sind, und dasjenige
was sie wünschen, auff eine solche Art erzehlen, als hätten sie
Alles durch ein Vergrösserungs-Glaß angesehen, das übrige
aber, was ihnen nicht recht in den Kram dienet, entweder aus-
lassen oder mit trefflich gekünstelten Expreßionen in Zweiffei
ziehen.**
1) Unterschiedene Abschnitte aus Peter von Haven neuen verbesserten
Nachrichten von dem russischen Reich, welche 1747 zu Kopenhagen gedruckt
wurden. In die deutsche Sprache übersetzt. Büschings Magazin für die neue
Historie und Geographie. Zehnter Theil (1776). S. 318 — 319.
s) Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland. I 59.
8) TheU XXIX S. 332.
3*
— 36 —
Um Europa zu blenden, wollte Peter die Akademie der
Wissenschaften gründen, während es noch keine Elementar-
schulen gab und von je zehntausend Russen kaum einer lesen
und schreiben konnte. Das schadete in Peters Augen nichts,
die Akademie mußte gegründet werden, und Katharina die
Erste führte den Plan ihres Gemahls aus. Es wurde also wieder
auf dem Wege der paradoxen Kontraste fortgeschritten, auf der
Bahn zwischen Luxus und Elend. Peter hatte auch eine Rechen-
schule gestiftet; sie existierte ein paar Jahre und verschwand
dann wegen Mangels an Schülern. Eine Gamisonsschule für
die Söhne aristokratischer Offiziere ging ein, weil der Staat
für sie keine Mittel zur Verfügung hatte, während Hunderte
von Millionen an die Günstlinge verschwendet wurden. Der
Senat hatte eine Schule für Zivilbeamte gestiftet, sie stand
leer. 1731 wurde für die Kadetten der Armee und 1750 für
die der Marine eine Schule eröffnet. In beiden Schulen gab es
je 350 Schüler, zusammen 700, aber nicht jährlich, sondern
während einer langen Reihe von Jahren.
Die Frauen, die Peter dem Großen während des ganzen
achtzehnten Jahrhunderts in der Herrschaft über Rußland
folgten, hatten sich um anderes als um die Schule zu kümmern.
Die Zarin Anna Iwanowna, die dem Reiche eine Konstitution
versprochen hatte, aber ihr Versprechen schon am Tage des
Regierungsantrittes zerriß, lebte nur ihrem Günstling Biron-
Bühren und ließ die wilden Sitten und abergläubischen Ge-
bräuche sorglos fortbestehen. Im Jahre 1737 entsteht in Mos-
kau eine Fieberepidemie. Das Volk behauptet, ein Elefant
sei die Ursache dieser Epidemie, und unzählbare Leute finden
sich, die gesehen haben wollen, wie der Krankheitsdämon in
Elefantengestalt Nachts in die Stadt sich eingeschlichen, i) Mit
Recht schreibt daher Locatelli in seinen zeitgenössischen Brie-
fen: „Stellen Sie sich die Einwohner dieser großen Stadt
vor wie eine neue Kolonie von Lappen, Samojeden und Ost-
jaken, die als die stupidesten Völker des ganzen Nordens
gelten. Aber glauben Sie nicht, daß dies in jeder Beziehung
1) Waliszewski, L'h6ritage de Pierre le Grand. Rdgne des femmes, goii-
vemement des favoris 1725 — 1741. Paris 1900. Seite 277.
— 37 ->
eine gerechte Parallele wäre; denn die Moskowiter stehen
vielfach unendlich tief unter diesen Völkern.** Unter den Seig-
neurs bei Hofe sieht man wieder jene Stolniki und Okolnit-
schije, die noch aus der Vor-Peterschen Reformzeit übrig-
geblieben sind; die niemals eingewilligt haben, ihren Bart zu
opfern und nach w.ie vor in alter asiatischer Weise in ihren
Dwori leben, in diesen dumpfen einstöckigen Häusern, die
ebenerdig eine Küche und eine Speisekammer und im ersten
Stocke nichts weiter haben als zwei Zimmer: rechts für den
Sommer, links für den Winter. Die weniger bemittelten Kon-
servativen begnügen sich gar mit einer Küche und einem ein-
zigen Wohnzimmer, das man für den Winter hermetisch vor
der Kälte abschließt, monatelang nicht lüftet und nicht reinigt.
Die jüngere Generation, die dem Zaren Peter gedient, seine
Maskeraden und seine Kriege mitgemacht hat, unterscheidet
sich zwar äußerlich von den Alten: die Jungen tragen fran-
zösische Kleidung, haben ein rasiertes Kinn, können zum Teile
schon lesen und schreiben; aber ihr Charakter, ihre Manieren
und Sitten sind noch immer roh und wild.
In allem zeigt es sich, daß die Reformen Peters ihren
Zweck verfehlt und eigentlich nichts als die Erschütterung
des Gleichgewichts erreicht haben. Zwischen einer bloß de-
korativen europäischen Kultur und Bildung und einer immer
neu hervorbrechenden Barbarei schwankt das Rußland des
achtzehnten Jahrhunderts hilflos hin und her. Ein Volk, das
ein halbes Jahrtausend hindurch in tiefster Verkommenheit
zugebracht hatte, ließ sich einfach nicht durch den Barbier
und den Schneider brüsk zu einem kultivierten umgestalten,
und umsoweniger, als der Despotismus oben, die Knechtschaft
unten nicht im mindesten geändert worden, die Gesetze der
barbarischen Zeiten noch dieselben geblieben waren. Im elften
Jahrhundert bestimmte die Russkaja Prawda, daß ein Schuld-
ner, der seine Schulden nicht bezahlen konnte, der Sklave
seines Gläubigers, daß ein Mensch, der sich nicht selbst zu
ernähren vermochte, der Sklave des erstbesten werden sollte.
Das achtzehnte Jahrhundert wagte daran nichts zu ändern,
und die Leibeigenschaft, statt in diesem Säkulum der Auf-
klärung milder zu werden, wurde durch die unerträglichsten
— 38 —
Neuordnungen verschärft. Für Bildung und Aufklärung ge-
schah auch weiter nichts. Iwan Iwanowitsch Schuwalow, der
Günstling der Zarin Elisabeth, gründete 1755 die Universität
Moskau und die mit ihr verbundenen Gymnasien, 1758 das
Gynmasium von Kasan, aber an Elementarschulen wurde nicht
gedacht, und so blieben die Gymnasien ohne Schüler, die
Universität existierte bloß dem Namen nach. Elisabeth glaubte
schon alles getan zu haben, da sie nach Rußland das fran-
zösische Element gebracht. Nach dem Staatsstreiche, der diese
Herrscherin auf den Thron ihres Vaters hob, gab es eine
neue Revolution, die der Moden, der Trachten, des Tanzes
und des Schauspiels. 1) „Peter schenkte seinem Reiche die
Wissenschaften, seine Tochter brachte den Geschmack,** sag^e
ein russischer Dichter der Zeit. D'Eon aber illustriert dieses
Lob stark mildernd, wenn er vom Hofe der Zarin sagt: „Nur
sieben oder zehn Personen können wirklich zivilisiert genannt
werden.** Im Koschelek, einer zeitgenössischen russischen Zeit-
schrift, heißt es: „Ohne das Französische wüßten wir nicht
wie man in einen Salon eintreten, wie man grüßen, einen Hut
abnehmen, sich parfümieren muß. Wovon unterhielten wir
uns früher, wenn wir in eine Damengesellschaft kamen? Von
Hühnern und Küchelchen. Frankreich lieferte uns wirkliche
Unterhaltungsstoffe.** Aber trotz dieser Französierung blieb
alles barbarisch. „A Petersbourg, ä Moscou, les ripailles ig-
nobles, les bouffonneries grossiferes de Pierre le Grand ^taient
encore trop prfes, laissaient dans l'atmosphfere un relent trop
vif de d^bauche barbare, pour que la persistance de certains
traits de moeurs locales n'y trouvät pas un aliment naturel.**^)
Das Charakteristikum der russischen Gesellschaft, der
Aristokratie und des Hofes blieb Jahrzehnte hindurch die fran-
zösische Tünche, diese trügerische Kulturschminke, die erst
Elisabeth, dann Katharina die Zweite auf die tartarische Bar-
barei strich. Die in Massen aus Frankreich flüchtenden Emi-
granten und Abenteuerer, die beim Anbruch der großen Re-
volution Europa heimsuchten, wandten sich zum großen Teile
1) Waliszewski, La demidre des Romanov. S. 50 — 51.
2) Waliszewski, La demidre des Romanov. 58.
— 39 —
nach Rußland und übernahmen hier willig die Aufgabe, in
ihrer Weise die Erziehung der heranwachsenden russischen
Generation zu leiten i), eine Aufgabe, welche ihnen Katha-
rina ohne weiteres übertrug.
Als Katharina nach Rußland reiste, glaubte sie noch in
Berlin, daß das Reich, dem sie ihre Zukunft anvertraute, als
ein Kulturstaat betrachtet werden mußte; und als sie an den
zarischen Hof kam, blendeten Gold und Brokat, Wohlleben und
Luxus ihr unerfahrenes Auge. „Aber bald,** sagt der russi-
sche Historiker Bilbassow^), „mußte sie erkennen, daß was
sie für Gold gehalten, eine Vergoldimg, und daß das Wohl-
leben Sittenverderbnis war.** Was sich ihr aufschloß, war eine
fremdartige barbarische Welt mit unverständlichen Gewohn-
heiten, lockeren Sitten, wilden Gefühlen; sie trat in einen
Kreis von Menschen^ die anders dachten, handelten, lebten,
selbst anders aßen als die Menschen in Europa. Und dabei
lernte sie natürlich in erster Linie die Verhältnisse am Hofe,
das Leben imd Treiben der Vornehmsten und Reichsten ken-
nen, die wenigstens im Äußerlichen Europa nachzuahmen
schienen. Die Unordnung und Unkultur, die in allen Zweigen
der Verwaltung herrschten, konnte sie erst nach langen Jahren
begreifen. Und wie der äußerlich glänzende Hof, der sich
mit dem von Versailles zu vergleichen wagte, in Wahrheit
beschaffen war, erfuhr sie, als sie Selbstherrscherin geworden
war und in ihrer Umgebung eine Entdeckung machte, die
sie zu diesem Brief an ihren Hofmarschall veranlaßte^) : „Ich
erfahre, daß meine Dienstboten vor Hunger sterben und drei
Tage nichts gegessen haben sollen I** Die Kaiserin mußte
einen Hofmarschall daran erinnern, daß auch die Dienstboten
bei Hofe Menschen sind und essen wollen, und mußte durch
besonderen Befehl anordnen, daß den Verhungernden aus der
Hofküche das Essen geschickt wurde I
In einer Liste, der im Jahre 1764 nach Rußland einge-
führten Waren*) finde ich, daß bei einem Import im Werte
1) Schiemann, Alexander der Erste a. a. O. S. 6.
2) Geschichte Katharinas der Zweiten. I 293.
3) Bilbassow, a.* a. O. II. Bd., I. Abt., S. 291.
^) Enthalten in Büschings Magazin. III 351.
— 40 —
von vielen Millionen nur 8353 Rubel für gedruckte Bücher
aufgezählt sind; an Papier werden 4331 Rieß, an Bleistiften
152460 Stück eingeführt. Handschuhe braucht Rußland nur
3751 Dutzend, Strümpfe 4908 Dutzend und Schnupftücher
1607 Dutzend. Dafür bezieht es Puder im Gewichte von
7187 Pud und an Seidenstoffen für 102131 Rubel.
Man sollte glauben, daß eine Herrscherin wie Katharina IL,
eine deutsche Fürstin, vor allem die Erziehung des Volkes
durch die Schule angestrebt hätte. Man lese nun den Bericht,
den Fabricius aus der Zeit gibt, da Katharinas Regierung
schon zu Ende geht, also ihre größten Errungenschaften hinter
sich hat^) : „Unter dem gemeinen Mann, oder unter den anderen
Ständen kann nicht die Rede von Wissenschaft seyn, da Ruß-
land weder in den Städten noch auf dem Lande Schulein-
richtungen hat. Die wenigen, welche wirkHch einige Erziehung
und einigen Unterricht wünschen, müssen solchen aus den
Pensionsanstalten, entweder öffentlich oder Privat, erhalten.
Zu den öffentlichen gehören die verschiedenen Kadettenhäuser,
das Fräuleinstift und vielleicht noch einige wenige andere.
Zu den Privateinrichtungen im Gegentheil gehören theils die
Klöster, in welchen die Jugend von Mönchen und Geistlichen
erzogen wird, theils einige Anstalten von Franzosen und Deut-
schen, die dergleichen Einrichtungen zur Erziehung der Jugend
angelegt haben. Alle diese sind nicht für den gemeinen Mann,
da sie zu kostbar, auch ist wohl der Unterricht in den eigent-
lichen Wissenschaften bei diesen Anstalten nicht der vorzüg-
lichste. Er ist dahero auf das elende Mittel in Ansehung des
Unterrichts seiner Kinder eingeschränkt, einem verabschiedeten
Soldaten einige Rubel zu geben, um sie auszulernen, wie sie
es nannten, oder ihnen zur Noth lesen und schreiben zu lehren.
Dieß ist auch die Ursache, daß keine christliche Nation so
wenig selbst von den ersten Grundsätzen ihrer Religion weis,
so selten lesen und schreiben kann als die Rußische.'*
Katharina die Zweite begründete eine Anzahl Schulen;
sie stiftete Internate und akademische Gymnasien, wo die
Kinder bis zu vollendeter Ausbildung bleiben mußten; diese
^) Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland. I 59.
— 41 —
Anstalten, die nur dem Adel offen standen, entsprachen auch
sonst nicht ihrer Aufgabe; die Bildung, die man hier erhielt,
war eine äußerst oberflächliche. Man hat von Katharina gesagt,
sie habe die gebildete Frau in Rußland eingeführt ; mit welchem
Rechte dies behauptet wurde, werden wir jetzt sehen. Einmal
faßte sie den Plan, den allgemeinen Unterricht einzuführen;
eine vierklassige höhere Probeschule für 400 Kinder blieb
aber so unbeachtet, daß man — um den Willen der Kaiserin
einigermaßen zu befriedigen — Schüler in Ketten in die Schule
schleppte und sie so an die Bildung fesselte. Im Jahre 1787
gab es 169 Schulen, aber auch nicht viel mehr Schüler, und
Katharina entsagte der Sache leichten Herzens. Denn ob die
Schulen wirkHch ihren Zweck erfüllten, war der Zarin gleich-
gültig. In erster Linie sollten sie dazu dienen, die fran-
zösischen Philosophen zufriedenzustellen, von denen gelobt zu
werden Katharinas höchster Ehrgeiz war. Der Gouverneur
von Moskau schrieb der Kaiserin, daß niemand seine Kinder
in die Schule schicken wollte, und Katharina antwortete dar-
auf i): „Mein lieber Fürst, beklagen Sie sich nicht deswegen,
daß die Russen nicht den Wunsch haben sich zu bilden.
Wenn ich Schulen errichte, so geschieht es nicht für uns,
sondern für Europa, wo wir unseren Rang in der öffentlichen
Meinung behalten müssen. An jenem Tage, da unsere Bauern
anfangen werden nach der Aufklärung zu verlangen, werden
weder Sic noch ich auf unseren Plätzen bleiben!'* Zynischer
und aufrichtiger konnte an höchster Stelle nicht gesagt werden,
daß alles, was die Herrscher und Herrscherinnen Rußlands
für die Aufklärung tun wollten, nichts weiter sein durfte als
eine dekorative Bildung, als eine Blendung der öffentlichen
Meinung Europas, die man glauben machen wollte, die Sar-
maten zivilisierten sich, während die Barbarei fortdauerte und
nur der Aberglaube und die Unsittlichkeit sich konsolidierten.
Neben den Obelisken und Triumphbogen zu Ehren eines Orlow,
Rumjäntzow, neben den Grabdenkmälern für ihre Lieblings-
1) Custine II 115. — Ich weiß nicht, ob dieses Schreiben, trotzdem
Custine die Echtheit verbürgte, authentisch genannt werden darf. Aber wenn
es erfunden ist, dann ist es gut erfunden und entspricht vollkommen den
wahren Ansichten der Zarin über die russische Volksbildung.
~ 42 —
hunde, neben dem Monument für Lanskoy, ihren geliebtesten
und schönsten Genossen im Lotterbette, neben diesen imver-
gänglichen Zeugen ihrer ruhmvollen Herrschaft wollte Katha-
rina auch einige Schulen als Erinnerimgen an ihre Epoche
hinterlassen. Aber Licht und Schatten mußten streng verteilt
werden: Dort der prächtigste Luxus, hier aller Flitter; dort
der Reichtum, hier das Elend; dort die Wahrheit, hier die
Lüge; dort die mit Gold und Juwelen geschmückte Wollust
der Großen imd die Schamlosigkeit des Hofes in Seide und
Samt, hier in härenem Gewände die barbarische Verkom-
menheit des Volkes. Der kühlste aller Historiker, der Ruß-
lands Geschichte mit imanfechtbarer Objektivität durchforscht
und geschildert hat, Theodor Schiemann, sagt von dem, was
Katharina für die Bildimg und Kultivierimg Rußlands ge-
leistet i): „Es hatte zur Folge die steigende Entsittlichung,
die am Hofe verkleidet, im Innern des Reiches in fast un-
verhüllter Nacktheit zu Tage trat, eine Erscheinung wie sie
durch das Zusammenstoßen der überfeinerten und innerlich
faulen französischen Kultur des ancien regime mit der bisher
nur wenig übertünchten Barbarei des altrussischen Wesens
ihre natürliche Erklärung findet, die aber die entsetzlichsten
Zustände zeitigte. Es ist dabei nicht zu übersehen, daß jene
Französierung auch den gesamten Kreis der höheren russischen
Verwaltungsbeamten sowie die Spitzen der Armee umfaßte
und umfassen mußte, solange Hofgunst über die -Besetzung
dieser Stellungen entschied. Zwischen dem Volke und diesen
zu fremder Umgangssprache, in fremden Sitten und zu einer
unrussischen Kultur erzogenen Spitzen der Nation konnte ein
Gefühl der Zusammengehörigkeit sich nur soweit behaupten, als
es durch das Verhältnis der Herren zu ihren Knechten bedingt
wurde. Und ebenso hatte die Regierung keine andere Fühlung
mit dem Volke als die, welche ihr durch die Verwaltungs-
beamten, durch das besondere Volk der Tschinowniki, ver-
mittelt wurde." Die Kaiserin persönlich trifft also die Haupt-
schuld an der steigenden Entsittlichung der Nation; Katharina
kokettierte mit der hyperfeinen Zivilisation des Westens, sie
1) Theodor Schiemann, Alexander der Erste. S. 6 — 7.
~ 43 —
schwärmte ehrlich oder erheuchelt für die Ideale der fran-
zösischen Aufklärungsliteratur, sie schrieb selbst Erziehungs-
programme; aber für die Bildung des Volkes interessierte sie
sich nur zum Scheine, aus Gründen der Eitelkeit; und für
die Erleichterung der Knechtschaft, der geistigen wie der
materiellen, in deren Ketten die Massen schmachteten, tat sie
nichts. Nach wie vor blieb das Volk moralisch dem Aber-
glauben und der Sittenlosigkeit, physisch der Willkür der Guts-
herren und der Tschinowniki ausgeliefert.
Die Erbschaft, welche Katharina die Aufgeklärte hinter-
ließ, lastete erdrückend auf den nachfolgenden Regierungen.^)
Von den Emigranten und den Abenteuerem, die während
der Revolution aus Frankreich ausgezogen waren, um Europa .
zu verseuchen, hatte Katharina die meistverdorbenen Elemente
in Rußland aufnehmen lassen, und von diesen hat das Zaren-
reich die sogenannte französische Kultur gelernt.^) Die deutsche
Kultur und Literatur jener Zeit vermochten selbst unter
Alexander dem Ersten keinen Einfluß in Rußland zu ge-
winnen, aber die antiquierten und anderwärts schon über-
wundenen geistigen Strömungen der französischen Zivilisation
konnten in Rußland in breitem Bette durch das Land fluten.
Der Jesuit Abbe Nicole lehrte die Söhne des russischen Adels
reden wie die Franzosen, tanzen wie Balletmeister, fechten,
deklamieren, Theaterspielen; aber von Arbeit war keine Rede,
die Bildung blieb oberflächlich, und die Lebensauffassung, wenn
man eine solche in dieser pädagogischen Jesuitenanstalt ge-
winnen konnte, hatte mit Rußland nichts gemein. Die Wenigen,
die wirklich lernen wollten, gingen ins Ausland, diese erreichten
jedoch alles nur für sich und nützten nicht der russischen
Kultur. Rußland mußte sich weiter fortfristen mit kläglich
^) Der kurzen Regierung Pauls kann flüchtig auch gedacht werden.
Diesem Kaiser war die Bildung so verhaßt, daß er alle Buchdruckereien in
seinem Reiche schließen ließ; nur drei durften bestehen bleiben für den Druck
der Ukase, der religiösen Schriften und solcher Bücher, die dreimal zensuriert
worden waren: von der Regierung, einem Mitgliede der Schulenverwaltung
und einem Vertreter der Kirche. Die Folge war, daß die unbedeutendsten
Bücher zu Raritäten wurden und die höchsten Preise erzielten, wenn sie heim-
lich ausgeboten werden konnten.
*) Schiemann, a. a. O. 394 — 395. 397 — 402.
— 44 —
geleiteten Gymnasien, Kadettenschulen, dem Lyceum zu Zars-
koje Sselo und dem Pagenkorps, wo nichts zu erlernen war
als eine oberflächhchste formal gesellschaftliche Bildung oder
vielmehr Dressur. „Und diese staatliche Erziehung, der bei
strengster Disziplin jede wahre Zucht fehlte, war doch noch
weit besser als die häusliche,** welche — wie Schiemann auf
Grund unzähliger Zeugnisse nachgewiesen hat — durchwegs
von unwissenden französischen oder deutschen Glücksrittern
niedrigsten Ranges erteilt wurde; von Leuten, die man auf
der Lehrerbörse im Zagradschen Gasthofe zu Moskau oder
an der Schmiedebrücke, am Kußnetzkymost, zu Petersburg
auffischte. Ein Leibeigener, der das Vertrauen seines Herrn
genoß, stellte sich zuweilen an der Tür der Kathedralkirche
auf und der erstbeste, der ihm als intelligent erschien, wurde
von ihm als Erzieher für die Kinder des Gutsherrn gedungen.
So wurden Lakaien, Handwerker, Gärtner, wandernde Klein-
händler : Lehrer und Erzieher des russischen Bürgers und Edel-
manns. Im Jahre 1822 bot in einem Inserat der Moskauer
Zeitung „ein Piqueur aus Deutschland** seine Dienste an als
„Piqueur oder Gouverneur". Namentlich um die Franzosen
dauerte der Wettbewerb der russischen Familienväter fort.
Graf Schuwalow hatte für das Pagenkorps sieben Lakaien aus
Paris kommen lassen; in Rußland angelangt, fanden es alle
Sieben vorteilhafter, statt Lakaien zu bleiben, als Gouverneure
in adeligen Häusern Dienste zu nehmen. Fürst Peter Andre-
jewitsch Wjäsemskij, Gehilfe des Ministers für Volksaufklärung
unter Alexander dem Zweiten, erzählt in seinen Jugenderinner-
ungen: „Die Wahl der Erzieher, Gouverneure und Lehrer,
die man mir gab, war höchst unglücklich. Am Gelde lag es
wahrlich nicht. Es waren viele Franzosen, Deutsche und Eng-
länder bei mir, aber keiner von ihnen war imstande, mich zur
Arbeit zu gewöhnen. An russische Erzieher war jedoch über-
haupt nicht zu denken. Die gab es nicht, und ich weiß nicht,
ob heute viele zu finden sind; so mußte man denn auf gut
Glück die Fremden einfangen.** Senator Ssacharow klagte in
ähnlicher Weise: „Die Bildung des Adels besorgten Gouver-
neure und Gouvernanten, Leute ohne jede wissenschaftliche
Bildung. Mit ihnen drangen in die Familien der Gutsbesitzer
— 45 —
Sittenlosigkeit, Frechheit, Mißachtung der Eltern, Verachtung
des Glaubens der Väter und schmähliche Freigeisterei." Wenn
die höchsten Adeligen in den beiden Hauptstädten des Reiches
für die Erziehung ihrer Kinder Lakaien als das möglichst
Erreichbare warben, so kann man sich ein Bild von dem
Material machen, das in den Provinzen für gut genug befunden
wurde. Hier kamen schon die Schüler jener Lehrer zu Ehren
oder man engagierte ungeschlachte Seminaristen, auf die man
das Wort des deutschen Dichters anwenden darf: ,,Was sie
gestern gelernt, wollen sie heute schon lehren.** Und wie arm-
selig war das, was ihr eigenes Wissen ausmachte; wie selt-
sam mögen die Elemente der Bildung gewesen sein, die sie
auf ihre Zöglinge übertrugen ! Wir haben uns bisher mit den
höchsten Kreisen befaßt, nur die Vornehmsten in den beiden
Residenzen imd die reichsten Häuser in den übrigen Städten
und auf dem Lande betrachtet. Aber wie erging es erst
dem unbemittelten Adel oder den Beamten I Die Lakaien
wurden von den Großen abgefangen, den Kleinen blieben
also nur die kriegsgefangenen französischen Soldaten, die sich
auch leicht in ihre neue feine Rolle fanden, sich in Rußland
niederließen und die Jugendbildner der russischen Mittelklasse
wurden. Der berühmte Chirurg Pirogow erzählt in seinen
Denkwürdigkeiten!) über die Bildung, die ihm zuteil gewor-
den: „Von Jugend auf lernte man die europäischen Sprachen
nur in den höchsten Schichten der Gesellschaft, und zwar nur
für sich, für seinen Kreis, für den Salon und im Interesse der
eigenen Karriere, denn die Kenntnis einer fremden Sprache
war das Aushängeschild der Bildung.** Russische Bücher gab
es nicht, man brauchte sie auch nicht. „Als nun die niederen
Schichten der Gesellschaft nach Bildung zu streben begannen,
gab es für sie nichts zu lesen. Eine wissenschaftliche und
klassische Literatur existierte in russischer Sprache nicht, weil
diese nicht standesgemäß war. Und so zerfiel denn der die
Kultur tragende Teil der Gesellschaft in zwei voneinander
geschiedene Schichten: eine obere, welche über alle Mittel
1) In deutscher Übersetzung von Schiemann in dessen Sammlung nis-
sischer Denkwürdigkeiten als dritter Band (Stuttgart 1894) herausgegeben.
— 46 —
der Bildung verfügte, aber ihrer Geburt, ihrer Stellung, ihren
Vorurteilen nach zu einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit
nicht berufen schien, und zweitens eine untere Schicht, die
sich fast ausschließlich aus dem Proletariat rekrutierte.**
Die beste Absicht, Volksschulen zu begründen, hatte
Alexander der Erste. Er wünschte, daß wenigstens in jedem
Kirchspiel eine Schule sein sollte. Aber die Regierung gab
dazu kein Geld her, die Gemeinden und Gutsbesitzer wollten
die Lasten nicht auf sich nehmen, und die Resultate entsprachen
diesem komischen Wettbewerbe im Nichtsleisten: 1806 wurden
im Gouvernement Nowgorod hundert Volksschulen errichtet,
nachdem man im Jahre 1804 im Gouvernement Olonez zwan-
zig und sogar im Gouvernement Archangelsk neun eröffnet
hatte. Man beeilte sich der Welt von dieser wunderbaren
Kultivierung Mitteilung zu machen, man erzählte jedoch nie-
mals, daß in Nowgorod nach zwei Jahren von den hundert
Schulen nur noch eine einzige bestand, und daß es 18 19 weder
im Gouvernement Archangelsk noch im Gouvernement Olonez
auch nur eine gab. Aber die Blendung Europas war wieder
gelungen, und Zar Alexander vervollständigte sein großes Zi-
vilisationswerk durch die Schaffimg eines Ministeriums der
Volksaufklärung, durch Neubelebung der Universitäten von
Wilna, Moskau und Dorpat und die Begründung der drei
neuen Universitäten von Charjkow, St. Petersburg und Kasanj.
Rußland hatte mm zwar keine Schulen, aber Universitäten!
und war ein Kulturstaat ersten Ranges.
Verweilen wir einen flüchtigen Augenblick bei diesen russi-
schen Universitäten. Der große russische Gelehrte Pypin
sagte 1): „Die Anfänge des wissenschaftlichen Lebens in Ruß-
land waren stets von Erscheinungen der Hohlheit und Will-
kür begleitet, weil man die abstrakten und sittlichen Forderun-
gen der Wissenschaften nicht begriff und nur eine Dekoration
der Wissenschaft herzustellen bestrebt war.** Das Volk war
noch für die Elementarschule nicht reif, da schuf man eine
Universität nach der anderen. Die Universitäten mußte man
1) Die geistigen Bewegungen in Rußland in der ersten Hälfte des
XIX. Jahrhunderts. Erster Band. Die russische Gesellschaft unter Alexan-
der I. Aus dem Russischen übertragen von Dr. Boris Minzes. Berlin 1894.
- 47 -
bevölkern; also befahl man in Charjkow den Seminaristen,
in Kasanj den Gymnasiasten: Studenten zu werden; und in
Petersburg wußte man sich schon gar nicht anders zu helfen
als damit, daß man den Leibeigenen, die sonst keine Rechte
hatten, das Recht des Universitätsstudiums verlieh.
Die Dorpater Universität wurde vor fast dreihundert Jahren
von Gustav Adolf gegründet, „damit das martialische Livland
zu Tugend und Sittsamkeit gebracht werde**. Peter der Große,
der die ausländische Bildung angeblich nach Rußland ver-
pflanzen wollte, vernichtete im Jahre 1710 die Universität Dor-
pat, und erst Alexander Pawlowitsch erweckte sie wieder zum
Leben. In ihrem ersten Jahre, 1802, zählte sie nur 47 Hörer,
und es dauerte lange, bis sie die Aufgabe erfüllen konnte,
die Zar Alexander ihr gestellt hat: ein Quell der mensch-
lichen Kenntnisse für das ganze Reich zu sein. Und als sie
diesem Zwecke endlich wirklich entsprach, brach das Russi-
fizierungsgewitter über sie herein und zerstörte von Grund aus,
was Generationen der Besten gebaut hatten.^)
Zwei Jahre nach der Neubegründung der Dorpater Uni-
versität entstand die von Kasanj, wo es schon seit 1755 ein
Gymnasium gab — allerdings ein Gymnasium sozusagen ohne
Schüler. Das war das kühnste Blendwerk, das Alexander der
Erste der europäischen Welt vorspiegeln ließ. Wie weit mußte
die Kultur in Rußland schon vorgeschritten sein, daß man
es wagen konnte, auf ehemals tatarischem Boden, im äußersten
Osten des europäischen Zartums, fern von den Residenzen
einen Tempel der Wissenschaft aufzurichten. Sehen wir näher
zul Der erste Rektor dieser Universität, zugleich ihr Haupt-
professor und auch Direktor des Gymnasiums war der ehe-
malige Volksschullehrer Ilja Feodorowitsch Jakowkin. Vier
Lehrer des Gymnasiums waren ihm als Professorsadjunk-
ten für verschiedene Wissenschaften beigegeben. Ein
Rechenlehrer war Professor der Mathematik, ein ehe-
^) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland. Berlin 1893: ,,Dorpat
und Jurjew," Seite 141 — 157. — Interessante Mitteilungen zur Geschichte
der Dorpater Universität enthalt das Buch von Professor Georg Friedrich
Bienemann: Der Dorpater Professor Georg Friedrich Parrot.und Kaiser
Alexander I. zum Säkulargedächtnis der alma mater Dorpatensis." Reval 1902.
- 48 -
maliger Feldscher brillierte als Professor der Medizin.
Jakowkin bevölkerte die Universität mit Studenten, die keine
Prüfungen abzulegen brauchten, sondern sich bloß bei ihrem
Rektor als Pensionäre einzumieten hatten, um ihres Studien-
erfolges sicher zu sein. Also kamen viele Jünglinge nach
Kasanj, um mit leichter Mühe Doktoren aller Wissenschaften
zu werden. Das imponierte der Regierung, und man ver-
schrieb nun für die blühende Universität wirkliche Gelehrte,
wie den Orientalisten Frehn^) und den Astronomen Littrow,
denen aber Jakowkin ein saueres Leben bereitete; er konnte
die frechen Gebildeten, wie er die Gelehrten nannte, nicht
leiden, und als die Deutschen sich weigerten, an dem Gottes-
dienste in der russischen Kirche teilzunehmen, ließ er sie
wegen Verhöhnung der rechtgläubigen Kirche vor Gericht
stellen. 2) Auch an der Petersburger- Universität sahen die
Rektoren und Kuratoren ihre wichtigste Aufgabe nicht in der
Förderung, sondern in der Hemmung des Fortschritts und
der Bildung. Sagte doch der Kurator Runitsch einem Pro-
fessor der Philosophie, diese Wissenschaft sei eine Satans-
lehre: „Sie sind ein Heide und lehren heidnische Irrlehren;
philosophische Argumente stellen Sie auf, die einen Christen
tötlich verletzen. Die lascive Philosophie gilt Ihnen mehr als
die jungfräuliche Gottesmutter!'* Und der Rektor ließ diesem
Satanslehrer als einem „Anstifter, Aufwiegler, Verräter, Mord-
brenner, Revolutionär und Gotteslästerer" den Prozeß machen.
Das war die Bildung Rußlands unter Alexander dem
Ersten, und auch dies erschien seinem Bruder und Nachfolger
Nikolaj zu viel, der gegen die Universität als gegen seine
Todfeindin wütete wie einst Peter der Große gegen den Lang-
bart. Und doch fand sich — nicht in Rußland, nein, in
Deutschland, im glorreichen Jahre 1848 — ein Held, der die
russische Schule unter Nikolaj dem Ersten als ein förmliches
Ideal der Bildung und des Fortschritts und der Freiheit zu
1) Diesem verdankte die Universität die wunderbare Sichtung ihrer einzig
dastehenden Bibliothek von chinesischen, mongolischen und tibetanischen
Manuskripten.
*) Bernhard Stern, Von der Ostsee zum Stillen Ozean. Breslau 1897.
S. 243 — 246 über die Kasanjer, S. 246 — 249 über die Petersburger Universität.
— 49 —
loben wagte 1): „So stark/* heißt es in einer in Weimar er-
schienenen Verteidigung der russischen Barbarei, „ist das Vor-
urtheil gegen die wissenschaftlichen Anstalten Rußlands, daß
man es am wenigsten erwarten wird, hier eine Parallele öster-
reichischen und russischen Unterrichtswesens zu lesen, die zu
Gunsten des letzteren ausfällt. In Rußland geht man bei dem
Jugendunterrichte allerdings auf Unterwerfung des Geistes aus,
aber man tritt seiner Entwickelung nicht so hemmend in den
Weg. Der Gebeugte kann sich erheben, und seine Rechte vin-
diciren, wenn er sich bevortheilt glaubt, er kann seine phy-
sische und moralische Kraft nach Willkür gebrauchen, wenn
die Fesseln gelöst sind. Denn die Schule steht nicht
unter der Vormundschaft der Geistlichkeit, sondern unter der
Aufsicht der Regierung, welche — wenn keine andere Wahl
bleibt — gewiß der pfäffischen Leitung vorzuziehen ist.**
Auch dieser Vorzug existiert längst nicht mehr. Von
den zehntausenden Schulen, die Alexander der Zweite begrün-
den wollte, sind nur Tausende ins Leben getreten. Die Minister
Alexanders des Dritten, Tolstoj und Pobjedonoßzew, haben
auch die Tausende dezimiert, und schließlich wurde durch
den Ukas vom i6. Mai 1891 fast das gesamte Schulwesen
der Geistlichkeit ausgeliefert, alles was noch übriggeblieben
war aus der Epoche Alexanders des Zweiten unter die Zucht-
rute des Heiligen Synod gestellt, der sich mit der Polizei
in die Aufgabe der Entsittlichung der Jugend teilt. Eine
neue Institution wurde in die russische Schule eingeführt : das
System der Kollegendenunziation. In jedem Gymnasium wurde
eine Anzahl Schüler ohne Schulgeld aufgenommen, und diese
Knaben im Alter von neun bis achtzehn Jahren haben die
Pflicht als Gegenleistung für die Freischule ihre Kameraden
auszuspionieren. Die offizielle Aufsicht der Regierung aber
macht sich 'in dieser Weise geltend: der Minister für Volks-
aufklärung versendet an die Generalgouvemeure und Gou-
verneure ein Rundschreiben mit der Anweisung, die Trunk-
1) Kaiser Nicolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von
Europa, zur Berichtigung unreifer Urtheile über russische Diplomatie und
Regierungspolitik. Audiatur et altera pars! Weimar 1848 (Druck und Ver-
lag von Bernhard Friedrich Voigt). Seite 106.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Ru&land. a
— 50 —
sucht und Unsittlichkeit der Studenten nicht zu bestrafen, da-
gegen mit eiserner Strenge freie Äußerungen 'gegen die Re-
gierung zu unterdrücken. 1) Dementsprechend werden das Pro-
fessorenmaterial und das Korps der Pedelle ausgewählt. Unter
Katharina II. und Alexander I. waren, wie wir wissen, Lakaien
und Soldaten die Erzieher der russischen Jugend, denn damals
brauchte man wenigstens dekorative Bildung; heute aber ver-
langt man Entsittlichung, nackte Verkommenheit, und so stellt
man als Lehrer vornehmlich liederliche Subjekte und als Uni-
versitätsdiener Kellner aus Schandlokalen, Kuppler und Bordell-
wirte an. Je schändlicher das Privatleben eines Professors
ist, je mehr Maitressen er sich hält, desto angesehener ist er
bei der Regierung; und als die besten akademischen Bürger
und Bürgerinnen in den Augen des Rektors und Kurators
erscheinen jene Studenten und Studentinnen, die schamlos
ein freies Leben führen und die ganze Gesellschaft zu Zeugen
ihrer öffentlichen Liederlichkeit machen. Nicht die Wissen-
schaft soll gepflegt werden, sondern die Lasterhaftigkeit, denn
diese und nicht jene gilt in Rußland als Begleiterin der Loyali-
tät und Untertanentreue. Der große russische Chirurg Piro-
gow sagte einmal: in Rußland sei die Hochschule das emp-
findsame Barometer, das den geistigen Zustand der gesamten
russischen Gesellschaft anzeige. Wenden wir diesen Satz auf
die geschilderten Verhältnisse an, dann erhalten wir ein ent-
setzenerregendes Spiegelbild der russischen Gesellschaft, und
leider ein getreues.
Es hat in Rußland selbst nicht an mutigen Männern ge-
fehlt, welche die Gebrechen der Schule offen dargelegt haben.
Da liegt vor mir ein merkwürdiges russisches Buch von Maß-
lowskij über die allgemeinbildende Schule.^) Es sind Gedan-
ken eines Familienvaters, der uns schildert, wie die Schule
es ist, die die Jugend entsittlicht, sie der Familie entfremdet;
wie eine förmliche Kluft zwischen der FamiHe und der Schule
entstanden ist. Unterricht und Erziehung in der Schule sind
bar der lebendigen Hingabe an die Wissenschaft; und dann
1) Lanin, Russische Zustande. I 22, 35, 38.
*) A. (b. MaccjiOBCKitt, PycoKaa o6iuco6pa30BaTe.ii>uafl iiiKo.ia. Mucjih oina
ccMCÜcTBa. C.-neTop()ypn>, 1900.
— 51 —
beschuldigt die Schule nicht sich selbst, sondern die Familie
der mangelhaften Resultate, die erzielt werden. Die Schule
untergräbt die Autorität der Familie, diese reagiert durch den
Widerstand gegen die Schule, und das Opfer ist die Jugend.
Die Schule hat nur die höheren Schichten der Gesellschaft im
Auge und kümmert sich nicht um die Bedürfnisse der Menge.
Deshalb kann nur ein beschämend kleiner Teil derjenigen,
die in die Mittelschule eintreten, sie bis zum Ende durch-
gehen und zum höheren Studium gelangen. Aber auch jene,
welche das Ziel erreichen, haben geringen Gewinn davon. Die
Kenntnisse sind trocken und oberflächlich, die Bildung unwahr,
Geist und Gemüt werden nicht entwickelt, sondern entsittlicht.
Das Mißtrauen gegen wahre Bildung i3t das Administrations-
prinzip, und beim Examen entscheiden nicht die Befähigung
und die Kenntnisse, sondern die Protektion und die sogenannte
Loyalität der Kandidaten. Die Schule regiert durch Furcht,
man will absolut nicht Männer erziehen, die fähig wären zur
Selbstbestimmung. Statt der Erzieher gibt es nur Reglements,
statt der Wissenschaften: Polizeiverordnungen.
Vor einigen Jahren hat das Ministerium der Volksauf-
klärung i) ein Werk über den Stand und die Fortschritte der
Elementarschulbildung in Rußland herausgegeben. Sehen wir
davon ab, daß ein großer Teil der dort mitgeteilten Daten
auch nur auf Blendung und dekorative Wirkung berechnet
ist, nehmen wir diese amthchen Mitteilungen für vollwertig.
Danach hat Rußland jetzt 79000 Elementarschulen mit vier
Millionen Schülern. Diese Schulen sind neun verschiedenen
Ministerien unterstellt, mehr als die Hälfte aber dem geistlichen
Ressort. Auf die Städte entfallen 7797 Schulen, die übrigen auf
das Land. Da die Stadtbevölkerung den achten Teil der Ge-
samtbevölkerung ausmacht, so sind die Städte ärmer an Schulen
als die Dörfer; dafür sind die städtischen Schulen stärker
besucht. An den 79000 Elementarschulen sind 150000 Lehr-
kräfte, davon 23566 in den Städten, 127094 in den Dörfern,
so daß auf eine Stadtschule durchschnittlich drei, auf eine
Dorfschule aber kaum zwei Lehrkräfte entfallen. Im ganzen
1) Im Jahre 1903, unter der Redaktion von W. S. Farmakowskij.
4»
— 52 —
Uralgebiei gibt es keine einzige Lehrerin an einer Elementar-
schule ; in 63 Gouvernements und Gebieten sind die Lehrerinnen
in der Minderheit gegenüber den Lehrern; in den Gouverne-
ments Orel und Ssamara und im Amurgebiet ist die Zahl der
männlichen Lehrkräfte dieselbe wie die der weiblichen; in 21
Gouvernements gibt es mehr Lehrerinnen als Lehrer, so nament-
lich im Gouvernement Petersburg und im Gouvernement
Wjatka. Von den Schulkindern sind drei Viertel Knaben, ein
Viertel Mädchen. Eine Elementarschule entfällt auf 243 Qua-
dratwerst oder 1676 Bewohner, und bei dieser Verteilung sind
ganze Gebiete ohne Schule. Nur in den Gouvernements Est-
land und Olonez steht die Anzahl der Schulen in dem normalen
Verhältnisse zur Kopfzahl der Bevölkerung, hier entfällt eine
Schule auf 650 Bewohner. Im Gouvernement Petersburg muß
eine Schule für 1405 Seelen, im Gouvernement Kowno für
4427 und in Zentralasien für 97526 Einwohner genügen. Von
den schulpflichtigen Kindern Rußlands besuchen nur 35 Pro-
zent die Schulen, 65 Prozent bleiben fern. Für den Unter-
halt der 79000 Elementarschulen werden 40 Millionen Rubel
jährlich verausgabt, was 32^10 Kopeken per Kopf der Ge-
samtbevölkerung ausmacht.
Wir kritisieren nicht weiter diese Daten, aber fragen bloß :
wozu diese zwecklose Ausgabe von 40 Millionen? Wozu Geld
für die Elementarschulen hinauswerfen, so lange man die Mittel-
schulen knechtet und die Hochschulen haßt als die Herde
des RadikaHsmus und der Revolution? Wozu Ideale hoffen
lassen, die das Leben nicht erfüllt; weshalb mit Wissenschaft
und Bildung prunken, die man unterdrücken will? Alexander
der Erste glaubte noch die Universität einen Quell mensch-
licher Kenntnisse für das ganze Reich nennen zu müssen.
Heute ist sie ein Quell von Schmutz, eine Flut der Unsitt-
lichkeit geworden, dank dem System der Reaktion, das Von
Jahr zu Jahr brutaler wird. Unsinnig ist es jährlich viele
Millionen für die Elementarschulen auszuwerfen, und anderer-
seits Lehrfreiheit und Lernfreiheit zu vernichten, weil die Schule
bei der Regierung im Verdachte des Liberalismus steht und
die Studentenschaft trotz Rute und Knute auf dem Märtyrer-
wege zur Freiheit sich drängt. Der Staat hat es verstanden.
— 53 -
aus den Studenten Leute zu machen, denen ihr Leben nichts
gilt; ihm genügt nicht das Elend des Volkes, er* schuf auch
einen Universitätspauperismus, wie Leroy-Beaulieu die russi-
sche Intelligenz nennt, ein Abiturientenproletariat, wie Bis-
marck in einer berühmten Reichstagsrede den Nihilismus be-
zeichnet hat. Man werde konsequent, schließe die Elementar-
schule, vernichte die Mittelschule, öffne niemals mehr die Uni-
versitäten und überlasse das Volk ganz dem Aberglauben und
der Unsittlichkeit, die ohnehin bis heute mächtiger geblieben
sind als Bildung und Wissenschaft.
4. Aberglaube und Verbrechen.
Gesetze betreffend Aberglauben — Stemdeuterei — List und Wollust eines
Bischofs — Abergläubische Anzeichen — Träume — Schlange — Taube —
Insekten als Herdgeister — Unverletzlichkeit der Läuse — Vogelflug — Böser
Blick — Kartenaufschlagen — Feuer — Das Jahr und seine Tage — Der
Tag des heiligen Wlaßj — Fasten — Wochentage — Der Freitag als Gauner
— Mißgeburten — Aberglaube und Verbrechen — Erinnerungen an Bauopfer
— Das Opfer der Müller — Verbrechen und Talisman — Die Zehe als Talis-
man — Der Zahn als Zaubermittel — Leichenteile als Heilmittel — Geschlechts-
teile als Zaubermittel — Der Tod im Aberglauben — Angst vor den Toten —
Scelenspeisung.
Nach den vorhergehenden drei Kapiteln, in denen wir
den Gang der russischen Kultur und ihren gegenwärtigen Zu-
stand kennen gelernt haben, wissen wir, daß Rußland noch
abgrundtief im Aberglauben untersinkt. Unter den kultivier-
testen Völkern unserer Zeit ist der Aberglaube noch nicht ganz
ausgerottet. Aber er ist bei ihnen nirgends mehr allgemein
und nimmt in den seltensten Fällen gefährliche Formen an.
In Rußland jedoch ist der Aberglaube die wahre geistige,
moralische und auch physische Geißel des gesamten Volkes;
er erscheint hier in einer Gestalt, die furchtbar ist; er be-
herrscht alle Schichten der Gesellschaft und ist begleitet von
Verbrechen, wie sie sonst nur noch bei den wildesten Völkern,
bei Kannibalen, vorzukommen pflegen. Die grausamsten Fol-
terungen, brutale Vergewaltigungen, Meineid, Mord und So-
domie als Folgeerscheinungen des Aberglaubens sind nicht
— 54 —
die Au: nahmen, sondern die Regel. In keinem Lande der Erde
sind die Gebiete des Aberglaubens und der öffentlichen Sitt-
lichkeit in so unauflösbarem Zusammenhange wie in Rußland.
Nicht nur die älteren Gesetzgeber, auch die der neuesten
Zeit haben diesen Umständen besonders Rechnung tragen
müssen. Ich erwähne hier zunächst die bedeutsamsten Para-
graphen aus dem Strafgesetzbuche vom Jahre 1845 ^^^ ^^^
Artikel der Allgemeinen Gesetzessammlung vom Jahre 1890.
In dem Strafgesetzbuche vom Jahre 1845 besagen die
Paragraphen 1 1 59 bis 1 164 : Wer aus Eigennutz, falscher Ruhm-
sucht oder irgend eines Vorteils willen Gerüchte von vor-
geblichen Wundern verbreitet oder eine durch ihn selbst ver-
anstaltete Erscheinung leichtgläubigen Leuten als ein Wunder
darstellt, wird für diesen aych in religiöser Beziehung straf-
baren Betrug nach Maßgabe seiner Schuld und des dadurch
gestifteten Ärgernisses auf sechs Monate bis zu einem Jahre
Besserungshaus verurteilt. Im Wiederholungsfalle erfolgt Ver-
lust der Rechte, eine Strafe bis zu zwei Jahren und Kirchenbuße.
Dieselben Strafen treffen denjenigen, der um irgend eines
unrechtlichen Vorteils willen die Leichtgläubigkeit anderer be-
nützt und sich für einen Wahrsager oder Zauberer ausgibt
und bei Ausübung dieser betrügerischen Kunst Gegenstände
mißbraucht, die dem christlichen Kultus geweiht sind. Wer
ohne einen dem christlichen Kultus geweihten Gegenstand
herabzuwürdigen sich für einen Wahrsager oder Zauberer aus-
gibt und angebliche Gesichte sehen läßt, angebliche Zauber-
tränke, Zaubermittel, sogenannte Talismane und andere be-
zauberte Dinge zubereitet, austeilt und verkauft, erhält beim
ersten Male sieben Tage bis drei Monate Arrest, beim zweiten
Male 6 Monate bis zu einem Jahre Besserungshaus. Wer auf
solche Weise Gegenstände austeilt, die der menschlichen Ge-
sundheit schädlich sind, geht auf ein bis zwei Jahre seiner
Rechte verloren. Stirbt ein Mensch durch den Gebrauch solcher
Gegenstände, so erhält der Schuldige, falls er Christ ist, eine
Kirchenbuße auferlegt. Diesen Strafen sind die bei einigen
heidnischen Völkerschaften vorkommenden Zauberer und
Geisterbeschwörer nicht unterworfen, wenn sie ihre Künste
den Gebräuchen dieser Völkerschaften gemäß und bloß für
— 55 —
ihre Glaubensgenossen üben. — Die angeblich besessenen
Weiber, die gegen andere Leute aussagen, als hätten diese
ihnen durch Zauberkünste geschadet, werden für solchen bos-
haften Betrug auf sechs Monate bis zu einem Jahre ins Bes-
serungshaus eingesperrt. Wer sich für eine mit übernatür-
lichen Kräften oder besonderer Heiligkeit begabte Person aus-
gibt und das so gewonnene Zutrauen der Menge anwendet,
um im Volke Unruhen oder Verwirrung zu erregen, es zur
Widersetzlichkeit gegen die Regierung anzureizen, verfällt in
die Strafe der Verbannung und der Ansiedelung in Sibirien
und erhält zwanzig bis dreißig Peitschenhiebe.
Im vierzehnten Bande der Allgemeinen Gesetzessammlung
vom Jahre 1890 handeln die Artikel 28 bis 35 vom Aberglauben.
Hier wird verboten: Der Gebrauch sich zur Weihnachtszeit
in Götzenkleider zu stecken, auf den Straßen zu tanzen und
verführerische Lieder zu singen; in der Osterwoche solche
Leute zu baden oder mit Wasser zu bespritzen, die nicht
bei der Frühmesse gewesen sind. Andere Artikel befassen
sich in ähnlicher Weise wie die Gesetze vom Jahre 1845 ^^
lügnerischen Weissagungen und Afterprophezeiungen und mit
den Personen, die sich für Zauberer und Hexen ausgeben.
Am 5. Oktober 1772 fürchtete die Regierung anläßlich der
Pestepidemie eine stärkere Verbreitung des alten Gebrauches,
in Zeiten der Seuchen die Gräber jener zu öffnen, die man
für Krankheitsgeister und Vampyre hält.^) Damals entstand
1) Dieser Aberglaube erhält sich hartnäckig. 1871 kam zum Geistlichen
des Fleckens Boguschewitschi im Gouvernement Minsk eine Witwe und bat,
man möge das Grab ihres verstorbenen Mannes öffnen, der Leiche den Kopf
abschlagen und zu Füßen des Toten legen, damit er nicht mehr aufstehe; er
komme noch allnächtlich in ''seine Hütte zurück, klagte die Witwe. Wird
eine Witwe schwanger, so redet sie sich leicht auf den toten Mann als Vampyr
ausl — Mangel an. Regen schreibt man dem Einflüsse plötzlich, also unbuß-
fertig Verstorbener zu; sie sind Vampyre, melken die Wolken und stehlen
den Tau. Man muß ihre Leichen in Schluchten, Seen oder Flüsse werfen.
Das Wasser vertreibt den Zauber. Als im Jahre 1889 große Dürre herrschte,
grub man im Dorfe Ssinokriwez im Kreise Cherson die Leiche eines Greises
aus, der im Leben als Vampyr gegolten hatte, viele wollten sogar einen Schwanz
auf seinem Rücken gesehen haben. Man begoß also die Leiche und glaubte
die Bosheiten des Vampyrs nicht mehr fürchten zu müssen. Aus dem gleichen
— 56 —
ein Gesetz, das für solche Verbrechen als Strafe Zwangsarbeit
und Verschickung zur Ansiedelung in Sibirien vorschrieb; die
neuere Gesetzgebung setzte für solche Fälle die Strafe auf
Gefängnis und Korrektionsanstalt herab. Weitere mit dem
Aberglauben zusammenhängende Gesetzartikel werde ich später
an verschiedenen Stellen erwähnen.
Braucht man es besonders hervorzuheben, daß alle diese
Gesetze nur illusorischen Wert haben und nicht geeignet sind,
den Aberglauben zu bekämpfen, wenn gleich hier gezeigt werden
wird, daß noch heutzutage die Herren Richter selbst in Ruß-
land dem Aberglauben huldigen? Am i6. März 1896 hatte
das Bauerngericht im Dorfe Ustj-Mulljänka im Permschen
Kreise des Kama- und Wolgagebietes über die Klage eines
Bauern zu entscheiden, der behauptete, im Dorfe wäre eine
Hexe, die seinen Stier bezaubert hätte. Er verlangte, daß
man, um die Hexe herauszufinden, alle Weiber des Dorfes
durch ein Kummet kriechen lassen sollte; diejenige, welche
nicht hindurch käme, sei die Hexe. Und das löbliche Dorf-
gericht entschied wirldich im Sinne des Klägers. Im Dorfe
Peressadowka, Gouvernement Cherson, schrieben die Bauern
die Regenlosigkeit der Zauberei der alten Weiber zu. Die
Gemeindeverwaltung berief drei verdächtige Weiber ins Ge-
richtshaus und befahl ihnen, dafür Sorge zu tragen, daß es
am 17. Juli regnen solle. ^) Dann wurde mit den Frauen die
Probe angestellt, man badete sie im Flusse, wodurch nach
altem, auch in anderen Ländern in früheren Zeiten angewen-
deten Gebrauche herausgefunden werden kann, wer eine Hexe
sei; eine solche geht nämlich dank ihrer Verbindung mit dem
Grunde grub man im Jahre 1868 im Dorf Tichij Chutovj im Kreise Taracb-
tschan des Kijewschen Gouvernements die Leiche eines Altgläubigen aus, der
als Vampyr gegolten. Man schlug der Leiche auf den Kopf und rief dabei:
Gib uns Regen. Dann begoß man den Toten durch ein Sieb und beerdigte
ihn wieder. Vgl. Aberglaube und Strafrecht von August Löwenstimm» Ge-
hilfe des Juriskonsults im Justizministerium zu St. Petersburg. Übersetzung
aus dem Russischen, mit Vorwort von Dr. J. Kohler. Berlin 1897. S. loi — 103.
1) Geschehen im Jahre 1883. — XaphKORCicin nliAoifocni M 185. —
CyMnoBi», KieBcicafl crapirna 1889, crp. 82. — Vgl. Lowcnstimm a. a. O. 41
und 83.
— 57 —
Teufel im Wasser nicht unter. i) Die Wasserprobe nützte nichts
und am 17. Juli gab es auch keinen Regen. Man zitierte
abermals die drei Weiber, diese aber erklärten jetzt in ihrem
Zorn, es werde auch in Zukunft nicht regnen. Tief erschrocken
zogen die Gemeindemitglieder andere Saiten auf und verlegten
sich aufs Bitten ; und die Frauen ließen sich erweichen, führten
die Gemeindeältesten und die Dorfpolizei in die Hütte der
einen von den Dreien und zeigten ihnen dort in der Ofen-
röhre zwei Feilen und ein verkittetes Schloß als die geheim-
nisvolle Zauberkraft. Der Bericht erzählt nicht, ob die drei
Hexen zum Danke für die aufgelöste Verzauberung zu Ehren-
bürgerinnen des Dorfes Peressadowka ernannt wurden. — Das
Gemeindegericht von Schetin ini Poschechonschen Kreise des
Gouvernements Jaroslaw verurteilte am 3. Oktober 1884 den
Bauer David Charitonow wegen zauberischer Zufügung eines
Bruchschadens zu zwanzig Rutenschlägen. 2) — Im Dezember
1887 verurteilte die Gemeindeverwaltung von Alexandrowo im
Kreise Choper einen Bauer zur Ansiedelung in Sibirien 3), „weil
er den Satan in die Leute treibt ; sobald er jemandem ein Glas
Wasser reicht, beginnt dieser zu schimpfen, seine Kleider zu
zerreißen, und der Teufel gibt ihm keine Ruhe.**
Wenn die Richter an Hexen und Zauberer glauben, können
sie natürlich auch selbst behext und bezaubert werden: Die
Dorfrichter im Kreise Tscherkaßk des Dongebietes verurteilten
im Mai 1880 eine Saldatenwitwe wegen Kuppelei zur Aus-
peitschung. Als der Übeltäterin auch mit der Verbannung
nach Sibirien gedroht wurde, verfiel die erschrockene Frau
auf den Gedanken sich durch Hexerei die Neigung der Richter
1) Löwenstimm a. a. O. 81 — 82 erwähnt diese Wasserprobe mehrmals.
Die Wasserprobe dient nicht bloß zur Erkennung der Hexe, sondern auch
zur Behebung der Dürre. Im Kaukasus wurden im Jahre 1870 dreizehn alte
Weiber aus dem Dorfe Nowo Alexandrowska der herrschenden Dürre wegen
ins Wasser- geworfen. Es ereignete sich ein solcher Fall auch im Slawjäno-
serbschen Kreise.
2) Mitgeteilt von den HpocaaBCK. r\C>. irlvioM. 1889, M 67. — Ccio
Ko3F»MO-;toMfiHCK'M», coMiiHcnio C. V. Jl,(»pyiioHa. — Vgl. Löwenstimm a. a. O.
S. 75.
») Mitgeteilt vom ir(»pH,ioK7, 1881, ,M 26. — Vgl. Löwenstimm a. a. O.
S. 74.
— 58 —
zu gewinnen.!) Sie versuchte also folgenden Liebeszauber:
sie wusch sich mit Wasser, schüttete dann das Waschwasser
in ein Fäßchen und trug dieses in die Gerichtsstube des Ge-
meindehauses. Die Richter tranken das verhexte Wasser aus,
erfuhren aber am nächsten Tage den Streich, der ihnen ge-
spielt worden. Die Hexe hatte offenbar den Zauber unvoll-
kommen ausgeübt, denn die Richter waren nicht in Liebe
zur Kupplerin entbrannt, sondern vollzogen an ihr eine neuer-
liche Auspeitschung. An dieser Bestrafung nahmen außer den
Richtern auch die angesehensten Bauern, im ganzen 26 Mann,
als Henker teil. Das Kreisgericht von Nowotscherkaßk unter-
suchte den Fall und stellte die Gemeinderichter und Bauern
von Tscherkaßk wegen ungesetzlicher Auspeitschung einer Frau
vor die Geschworenen. Die letzteren aber sprachen die An-
geklagten frei; denn obwohl das Gesetz befiehlt, daß Frauen
unter keiner Bedingung zu einer Leibesstrafe verurteilt werden
dürfen, meinten die braven Geschworenen im Falle einer Hexe
von den Wohltaten des Gesetzes absehen zu sollen.
Auch in den allerhöchsten Kreisen ist der Aberglaube
eine gewöhnliche Erscheinung, und die bedeutendsten histo-
rischen Ereignisse der russischen Geschichte sind mit ihm
verknüpft. Als natürlich kann man es hinnehmen, wenn der
russische Hof gleich den anderen Höfen früherer Zeiten bei
der Geburt der Fürstenkinder die Gestirne zu Rate zog. Aus
der russischen Hofgeschichte ist ein Fall ganz besonders
bemerkenswert, der mit der Geburt Peters des Großen zu-
sammenhängt. Am Hofe des Vaters Peters, des Zaren Alexej
Michajlowitsch, lebte der Polozker Gelehrte Jaromonach Si-
meon, der seines Zeichens Astrolog war, in hoher Gunst. Es
wird erzählt^), daß dieser weise Mann sogar die Stunde, da
Peter im Leibe seiner Mutter empfangen wurde, genau er-
kundete ; daß Simeon schon am Morgen nach diesem freudigen
nächtlichen Ereignisse dem Zaren die Nachricht davon brachte
und gleichzeitig damals aus der Erscheinung eines hellen Sterns
1) Mitteilung des JioiicKott raiurr,, M 78 vom Jahre 1880. — Wiederholt
in PyccKiH bI^aomoctii 1881, M 171. — Vgl. Löwenstimm a. a. O. 77 — 78.
*) Halem, Leben Peters des Großen. I 277.
— 59 —
neben dem Planeten Mars vorhersagte, das in letzter Nacht
entstandene Kind werde ein großer Held und Eroberer werden
und nach seinem Vater zur Regierung gelangen. Nach einer
andern Version bezog sich die Prophezeiung nicht auf die
Empfängnis Peters, sondern sie wurde erst bei der Geburt
des Prinzen ausgesprochen. Jedenfalls war die fragliche Pro-
phezeiung bei der Geburt Peters allgemein bekannt, und der
niederländische Gesandte Niklas Heinsius hielt es für wichtig
genug, die Ansichten des Sterndeuters nach Utrecht an Grä-
vius mitzuteilen, worauf letzterer folgendermaßen in einem,
seither in der Petersburger Akademie der Wissenschaften auf-
bewahrten Schreiben antwortete: „Ich pflege, wie Sie auch
zu thun scheinen, derartigen Sachen wenig Glauben beizu-
messen. Möchte nur Peter zu seiner Zeit ein guter Hirte der
Völker sein, damit er dereinst die scythische Barbarei, welche
besonders die nordischen, in Pelze gehüllten Völker bedeckt,
durch heilsame Gesetze überwinde.**
Gefährlicher war der Aberglaube, wenn er dazu benützt
wurde, gleichzeitig viehischen Gelüsten und staatsumwälzen-
den Plänen zu dienen. Um Peters Reformen zu hindern und
in einem die jungfräuliche Prinzessin Maria zu Falle zu brin-
gen, erdichtete der hochwürdigste Bischof von Rostow eine
Offenbarung des heiligen Dmitry.^) Dieser Heilige mußte also
dem Bischof von Rostow erscheinen und ihm auf Befehl Gottes
versichern: daß Peter der Antichrist und Kirchenfeind nicht
mehr als drei Monate zu leben hätte; daß Eudoxia, Peters
erste, im Kloster zu Ssusdal eingesperrte Gemahlin, und Maria,
Peters Schwester, nach Peters Tode auf den Thron kommen
und zugleich mit Alexej, dem Sohne der Eudoxia, regieren
würden. Eudoxia und Maria glaubten dieser Offenbarung, und
die zur Klosterhaft verurteilte Zarin warf die Nonnentracht
ab, ließ sich wieder als Majestät titulieren und behandeln,
in dem Kloster zu Ssusdal in dem Gebete für das Herrscher-
haus den Namen Katharinas streichen und durch ihren eigenen
1) Nachrichten von dem Zarewitsch Alexej Petrowitsch (nach Voltaire,
mit Anmerkungen von Büsching). Büschings Magazin für die neue Historie
und Geographie III 228 — 230.
— 60 -
ersetzen. In freudiger Hoffnung erwarteten Eudoxia und ihre
Tochter das Ende der drei Monate. Als aber diese ergebnis-
los verstrichen waren, berief Eudoxia den Bischof von Rostow
und sagte ihm vorwurfsvoll: „Die Zeit ist um, und der Zar
lebt!** Da entgegnete der Bischof: „Die Sünden meines Vaters
sind schuld daran; er ist im Fegefeuer und hat mir Nachricht
davon gegeben.** Worauf Eudoxia rasch tausend Seelenmessen
für den in der Hölle Bratenden lesen ließ. Nach einem Monat
erklärte der Bischof, daß die Messen Wunder gewirkt: ,JDie
neuesten Nachrichten, die mir aus der Hölle zugekommen
sind, besagen, daß der Kopf meines Vaters schon aus dem
Fegefeuer sei.** Wieder einen Monat später war der Bischofs-
vater nur noch bis zum Gürtel im Fegefeuer ; und dann endlich
stak der Alte nur noch mit den Füßen darin. „Sind aber
die Füße erst befreit, und dies ist das Allerschwerste, dann
wird Zar Peter sofort sterben!** Um das Allerschwerste zu
erreichen, mußte aber ein ganz besonderes Opfer gebracht
werden, und weder Mutter noch Tochter zögerten, auch dieses
Allerletzte für den Erfolg zu tun : Prinzessin Maria opferte
also ihre Jungfräulichkeit dem Bischof unter der Bedingung,
daß der Vater des Propheten unverzüglich aus dem Fegefeuer
entlassen und der Erfüllung der Prophezeiung von Peters Tode
kein Hindernis mehr bereitet würde. Und das Vertrauen
der beiden Frauen in die Weissagungen des listigen und
wollüstigen Bischofs wurde erst erschüttert, als Zar Peter trotz-
dem nicht nur am Leben blieb, sondern im Zorn über die
Verschwörung seiner Familie aus erster Ehe seinen Sohn Alexej
umbrachte und Eudoxia und Maria derartig einsperren ließ,
daß sie nie mehr dem Kerker entschlüpfen konnten.
Die Regentin Anna von Braunschweig, die nach dem Tode
der Zarin Anna Iwanowna den Thron der Romanows für das
Wickelkind Iwan behütete, ahnte, daß die Großfürstin Elisabeth
Petrowna ihr die Herrschaft entreißen würde, und zwar aus fol-
gendem Umstände^): ,,Als Sie zur Zeit ihrer Regentschaft bey
der Prinzeßin Elisabeth einen Besuch ablegte, fiel sie vor den
1) Gründlich untersuchte und entdeckte ITrsachen der Regierungsver-
änderungen in dem Hause Romanow. Biischings Magazin IS. 31.
— 61 —
Füssen derselben durch einen Fehltritt zur Erde. Das machte
einen solchen Eindruck auf ihr Gemüth, daß sie zu ihren
Hofdamen sagte, ich werde mich noch vor der Prinzeßin Elisa-
beth demüthigen müssen.**
Kaiser Nikolaj der Erste hatte sich dem Aberglauben,
namentlich Prophezeiungen, ganz ausgeliefert. Zu dem Kriege
mit den Westmächten trieb ihn eine Wahrsagung von dem
unausbleiblichen Ende der Türkei. Von dieser Prophezeiung
war schon im Jahre 1848 in einem Buche, auf Grund einer
angeblichen alten Sage die Rede^): „im Jahre 1270 der He-
gira, das ist 1853 soll die entscheidende Stunde des türkischen
Reiches eintreten.** Und daß der Untergang der Türkei nicht
anders enden konnte, als mit der Eroberung durch Rußland^
das hatte auch eine Prophezeiung schon längst verkündet.
Peter der Große verurteilte den Aberglauben 2), aber er
hatte trotzdem die Gewohnheit, seine Träume genau zu be-
achten, sie sorgfältig zu notieren, und aus ihnen Schlüsse
zu ziehen. Der russische Historiker Ssemewskij hat in einem
seiner Bücher über die Zeit Peters des Großen einen besonderen
Abschnitt den Träumen Peters einräumen können 3), und dabei
sind hier nur die Träume aus fünf Jahren aufgezählt. In
seinem Tagebuch verzeichnet Peter fast täglich, was ihm im
Traume erschien: bald berichtet er von einem Schiffe; bald
von einer Schlange, die mit einem Löwen kämpft ; oder von der
Sonne, welche die Wolken durchbricht. Diese Träume beun-
ruhigen auch die fremden Diplomaten. Der englische Gesandte
Whitworth findet sie für wichtig genug, um sich mit ihnen
in seinen Depeschen speziell zu beschäftigen. So meldet er
am 25. März 17 12 seiner Regierung, daß Peter in einem Traume
einem Tiger eine siegreiche Schlacht geliefert und daß dies
den Zaren in seinen kriegerischen Plänen bestärkt habe.^)
1) Nicolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von Europa.
Weimar 1848. S. 62.
*) Waliszewski, Pierre le Grand 153.
') M. IT. CeM(»BOKift, OicpKn 11 paacKaaw iiJi, pywKoft iicropiu XVIII b.
Cjiobo h .T.tjio! 1700 — 172s. C.-IIen^pöyprL 1884: Ilerph Be.inKift in» ero chhxi»
BT> 1714 — 1719 rr. CTp. 271 — 276.
*) Auch beim Zaren Paul haben die Träume eine große Rolle gespielt ;
— 62 —
Eine besondere Bedeutung im Aberglauben der Russen,
wie der i;iichtrussischen Völker in Rußland, muß dem Tier-
orakel und den Orakeltieren zugeschrieben werden i): Wie
bei anderen Völkern steht die Schlange 2) in erster Reihe unter
allen Tieren, welche hier in Betracht kommen. In Gestalt einer
Schlange erscheinen Geister, besonders Krankheitsdämonen.
Bekommt ein Pferd die Darmseuche, so hat es den Teufel
verschluckt, der sich als Schlange im Gras versteckte. Der
Hufschmied besitzt geheime magische Mittel zur Heilung des
vom Dämon geplagten Tieres. 3) Tauben werden vom Volke
nicht gegessen; sie sind heilig, weil sich der Heilige Geist in
dieser Gestalt offenbarte.^) Einer gewissen Heiligkeit, min-
destens einer besonderen Schonung erfreuen sich in vielen
russischen Häusern jene Insekten, die man dort Prussaki,
Preußen nennt, während sie in Preußen: Russen, anderwärts
auch Schwaben heißen. Diese Tierchen gelten als die guten
Geister des häuslichen Herdes. Werden diese Herdgeister aber
auch dem dickhäutigen Russen lästig, so tötet er sie nicht,
sondern setzt sie dem Frost aus, damit die Natur sie um-
bringe. Aus ähnlichen Gründen halten die Kalmücken das
Läusetöten für abscheulich, und sie gehen mit diesen Sechs-
füßlern äußerst zart um; wollen sie sie doch los werden, so
legen sie die von den Tieren bewohnten Kleidungsstücke in
die kalte Luft.
über einen Traum Pauls in der Nacht seiner Thronbesteigung berichtet Sanglen
in seinen Memoiren (in der Sammlung russischer Denkwürdigkeiten, Stutt-
gart) S. 31.
1) Über Tieraberglauben im Orient habe ich in meinem Werke ,, Medizin.
Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei" ein großes Kapitel abge-
handelt; dort sind ausführliche Parallelen aus anderen Ländern und von
anderen Völkern herangezogen, so daß ich hier auf tieferes Eingehen in den
Gegenstand verzichten kann.
*) BaÖ-kiuHT,, .lOMaiOHutt öutl ua})ett, crj). 702. — Über die Schlange
bei den Südslawen vgl. Dr. Friedrich S. Krauß, Sreca. Wien 1886, S. 21 — 34.
3) Von den Esthen und Letten erzählt Hiäm, Est-, Lyf- und Lettlän-
dische Geschichte, S. 37: ,,Das Werthhalten der Schlangen bey diesen Völckem
ist noch unverloschen, welche Schlangen bey ihnen offt so zahm sind, daß
auch die Kinder mit ihnen aus einem Milch-Geschirre speisen. Man sol selten
sehen, daß ein Ehst oder Lette eine Schlange töte."
^) Geheimnisse von Rußland I 316.
— 63 —
Aus dem Vogelfluge, namentlich dem Fluge der
Krähen, schließen die Russen auf Ereignisse der Zukunft. —
Dem bösen Blick, an den auch in zivilisierten Ländern ge-
glaubt wird, schreibt man natürlich in Rußland alles mögliche
übel zu: Erkrankungen einzelner Menschen, Epidemien, Un-
fälle. Teufelbeschwörungen und Gebete sind Mittel, die Folgen
des bösen Blickes zu bekämpfen. Wöchnerinnen und Neu-
geborene haben am meisten von ihm zu befürchten.^) Wenn
die Bauern zu bemerken glauben, daß die Farbe ihrer Tiere
nicht gleichmäßig leuchtet, so ist der böse Blick daran schuld,
die Tiere sind verhext und müssen sofort verkauft werden,
da sie sonst der ganzen Herde Unglück bringen. Den Prophe-
zeiungen der Kartenaufschlägerinnen legen Männer wie Frauen
aller Gesellschaftsklassen höchsten Wert bei. Zar Nikolaj I.
ließ sich in kritischen Situationen immer Karten aufschlagen.
Dem Feuer ist im Aberglauben ein hervorragender Platz ein-
geräumt. Man darf kein Licht an einem Wachsstock an-
zünden, sondern muß zuerst ein Stück Holz am Wachsstock
und dann mit dem brennenden Holze das Licht anzünden. 2)
Das Jahr und seine Tage im russischen Aberglauben würde
eine spezielle Studie verdienen. Von Neujahr bis Silvester
ist kein Festtag, an dem nicht etwas Besonderes zu befürchten
oder zu erwarten wäre 3): Am Weihnachtsabend können junge
Mädchen auf folgende Weise erfahren, ob sie bald einen Mann
bekommen werden. Sie machen aus Fruchtkörnern einen Kreis
und stellen in die Mitte desselben einen Hahn, der seit vier-
undzwanzig Stunden gefastet hat. Der Hahn stürzt auf die
Kömer zu; das Mädchen, das sich an der Stelle befindet,
zu welcher der Hahn zuerst läuft, die heiratet sicher im kom-
1) Dupr6 de St. Maure, L'Hermite en Russie, ou observations sur les
moears et usages nisses au commencement du XI X« sidcle. Paris 1829 (3 Bde.)
I 167.
2) Sammlung merkw. Anekdoten das Rußische Reich betr. 1793. I S. 105.
*) Ich erwähne nur einige wenige charakteristische Momente und ver-
weise im übrigen auf die nachfolgenden interessanten Quellenwerke: PyccKiü
Hapo;^>. Ero oÖUMaii, oöpfl^u, npcAani«, cyeBtpin 11 nqoai«. Cü6p. M. 3a6u[JiH-
HLDTL. MocKBa 1880. (Gr. 8®. 607 Seiten.) — PyccKie uapo^uuc aaroBopti,
nofflbpiH, cyestpifl n npe;Q)a3cyAKu. MocKBa 1901. (Gr. 8®. 63 Seiten.)
— 64 —
menden Jahre. Man kann aber noch mehr erfahren. Man
gibt dem Hahn, nachdem er gefressen hat, zu trinken; ver-
rät er auffallend großen Durst, so wird der Mann, der dem
Mädchen bestimmt ist, ein Trunkenbold sein. Die Donkosaken
zünden am Weihnachtsabend mit dem trockenen Dünger, der
dort das Heizmaterial bildet, auf ihren Höfen ein großes Feuer
an; damit verhüten sie, daß die Verstorbenen im Jenseits
unter der Kälte leiden.
Dem i6. Januar legen die Bauern im Gouvernement
Kostroma eine besondere Bedeutimg für das Winterfutter bei.^)
Der 19. Januar, der Tag des heiligen Makarij, entscheidet über
das zukünftige Wetter; ist dieser Tag klar und sonnig, so
gibt es einen frühen Lenz. Die Bauern im Gouvernement
Ssaratow sagen: wenn am 20. Januar von früh bis abends
Schneegestöber herrscht, so wird die Butterwoche verschneit
sein; wenn am 20. Januar bloß der halbe Tag verschneit
ist, der andere halbe Tag jedoch klaren Himmel zeigt, so
wird der Lenz früh ins Land kommen. 2) Am 24. Januar be-
trachten die Bauern sorgfältig die Spitzen des Getreides. Sind *
diese gerade aufstrebend, so ist man überzeugt, daß die Ernte
mager und das Brot teuer sein werde; neigen sich die Spitzen,
so gibt es eine fette Ernte. Auch sagt man vom 24. Januar:
„Wie dieser Tag des Akßinj ist, so wird das Frühjahr sein." 3)
Wichtige Tage sind ferner: Der 9. Februar, der 10. Februar
und namentlich der 11. Februar, der Tag des heiligen Wlaßj.*)
Am 1 1 . FebTuar soll die Winterkälte gebrochen werden. In
Tambow fürchten sich die Bauern an diesem Tage zu arbeiten,
da sie der heilige Wlaßj für die Verletzung seines Namens-
tages mit einer Viehseuche bestrafen würde. In Zeiten der
Viehseuche ruft man den heiligen Wlaßj mit diesen Worten
an : „Heiliger Wlaßj, gib Glück zu fetten Ochsen, dicken Bullen,
daß sie zum Tore hinaus gehen und spielen und auf dem
1) CapllTUBCKitt JIH^^BHHK'I. I9O4, As 12.
2) Auch bei Italienern und Deutschen wird dem 20. Januar eine ähn-
liche Bedeutung für das Frühjahrswetter beigelegt, besonders im Neapolita-
nischen (St. Sebastian^tag).
3) CapaToBCKift ;;hcbihik"i. 1904, As 19.
*) Blasius.
Russischer Sbitenver-
Latemenputzer. käufcr.
Milchweib.
— 65 —
Felde springen.** Der Glaube an den heiligen Wlaßj ist am
stärksten im schwarzerdigen Rußland. Hier findet man sein
Bild in allen Hütten und Buden. Wenn man am ersten Tag
das Vieh auf die Weide treibt, sowie in Zeiten von Epidemien
versäumt man nicht die Herden mit einem Bilde des Heiligen
zu segnen, um sie vor allen . Gefahren zu schützen. „Der
Wlaßjtag ist der Kühe Feiertag,** sagt ein Sprichwort; und
ein anderes lautet: „Wlaßj betrügt nicht, er behütet vor jeder
Gefahr.** Der heilige Wlaßj ist an die Stelle des alten sla-
wischen Heidengottes Weloß getreten, und daher haben alle
mit diesem Heiligen zusammenhängenden Gebräuche einen
stark heidnischen Einschlag.
An einem Fastentage soll man keinen Kohl pflanzen, sagen
die Donkosaken ; bei ihnen darf man auch am Gründonnerstag
kein Gemüse pflanzen, da sonst schädliche Insekten die Pflan-
zen vernichten. In der Butterwoche, während des russischen
Faschings, spinnen die Kosakenfrauen keine Wolle; sonst er-
krankt das Vieh und Käse und Butter werden voller Würmer.
Von den Tagen der Woche sind wenigstens drei von
großen Gefahren umlauert: der Montag, der Donnerstag und
der Freitag. Am Montag unternimmt man nichts Entschei-
dendes, tritt man namentlich keine Reise an. Die Donkosaken
heiligen den Montag in ihrer Weise, da sie an diesem Tage
niemals die Wäsche wechseln ; sie behaupten, daß sich Wunden
auf dem Leibe bilden müßten, wenn sie ihren Aberglauben
verletzten. Am Donnerstag salzt man kein Fett, es würde
durch Würmer verdorben werden. Am Freitag darf man be-
stimmte Arbeiten nicht verrichten, namentlich ist den Frauen
das Spinnen verboten. Gauner machten sich diesen Aber-
glauben einmal zunutze i): In einem Dorfe des Kreises Ssoßniz
im Kijewschen Gouvernement kümmerten sich mehrere Frauen
nicht um das Spinnverbot am Freitag. Da erschien in der
Abendstunde in Häusern, wo Frauen allein fleißig an der
Arbeit sich befanden, in phantastischem Gewände ein Schauer-
wesen, klagte, daß es der Freitag sei, daß man ihm keine Ruhe
1) Erzahlt vom lOaceiä Kpafl, 19. okt. 1883. — Vgl. LöwensHmin a. a. O.
S. 161.
Stern, Geschichte der öffentl Sittlichkeit in Rußland. r
— 60 —
an seinem Tage gönne, zeigte Blut auf seiner Brust aus den
Wunden seiner Schmerzen; und während den armen Frauen
vor Schrecken alle Sinne schwanden, plünderte ein Spießgeselle
des heiligen Freitag die Zimmer und Vorratskammern.
Große Angst empfindet man vor Mißgeburten. Sie werden
als Anzeichen schweren Unheils betrachtet. Unter den Wun-
dem, die die russischen Chronisten den Kriegen, Epidemien
und Thronumwälzungen vorausgehen lassen, werden immer
Mißgeburten erwähnt. i) Als unheilbringende Geschöpfe gelten
1) Karamsin, deutsche Übersetzung II 57 (französ. Übersetzung II 87):
Die Chronik vom Jahre 1064 erzahlt, daß der Himmel die Drangsale damals
durch schreckliche Wunderdinge vorhergesagt habe. Der Fluß Wolchow floß
fünf Tage lang aufwärts; ein blutiger Stern (nach Nestor im Jahre 1064; wahr-
scheinlich war es der Komet vom Jahre 1066, dessen die Com6tographie S. 373
erwähnt) glühte eine ganze Woche hindurch im Westen; die Sonne verlor
ihren Schein und ging ohne Strahlen wie der Mond auf; die Kijewschen Fischer
fingen in ihren Netzen eine tote, in den Dnjepr geworfene wunderbare Miß-
geburt. — Der Chronist Nestor fügte der Aufzählung dieser Wunder eine die
damaligen Zustände illustrierende Straf rede hinzu: ,,Der Himmel ist gerecht
und straft die Russen wegen ihrer Gottlosigkeit. Wir nennen uns Christen,
aber leben wie Heiden. Die Tempel sind leer, aber auf den Erlustigungsplätzen
drängt sich das Volk. In den Tempeln ist es still, aber in den Häusern, da
fehlt es nicht an Trompetern, Gusli und Possenreißern." — Auch im Jahre
1605 galten Epidemie, Hungersnot und Verwirrung als himmlische Strafen für
die Ehrlosigkeit der Russen, für ihre Unsittlichkeit, für die Verkommenheit
des Adels und die Liederlichkeit der Geistlichkeit. Gottes Zorn zeigte sich
in Wundem: Nicht selten, erzählen die Chronisten, sah man zwei und drei
Monde, zwei und drei Sonnen zugleich aufgehen. Feuersäulen brannten Nachts
am Firmament, in blitzendem Scheine eine Kriegsschlacht vorstellend und
blutigen Schein über die Erde werfend. Von Stürmen und Wirbelwinden
stürzten die Türme der Städte und Kirchen ein. Die Fische in den Flüssen
und das Wildpret in den Wäldern verschwanden. Die Speisen, die man genoß,
verloren allen Geschmack. Heißhungrige Hunde und Wölfe liefen herden-
weise herum, fraßen Menschen oder einander. Nie gesehene Tiere und Vögel
erschienen. Adler schwebten über Moskau. In den Straßen, bei dem Zaren-
palaste selbst fing man schwarze Füchse mit den Händen. Ein weiser Greis,
den Zar Boriß vor Kurzem aus Deutschland berufen hatte, prophezeite dem
Reiche große Gefahr. Die Anfj^t stieg, als im Sommer 1604 am hellen Mittag
ein Komet am Himmel erschien. (Nach Bär zeigte sich dieser Komet 1604
am zweiten Sonntag nach Pfingsten am hellen Tage. Andere sagen: er sei
am 3. Oktober erschienen. Vgl. Wagners Geschichte des russischen Reiches,
Buch 43, S. 71; und Karamsin, deutsche Ausgabe Band X, Anmerkung 91.)
— 67 —
dem Volke nicht bloß abscheulich verunstaltete krüppelhafte
Wesen, sondern auch Blinde, Stumme, selbst Schwerhörige.
Gegen solche Menschen verbindet sich der Aberglaube häufig
mit barbarischer Grausamkeit zu den schwersten Verbrechen,
und vergebens droht das Strafgesetzbuch i) an: „Wer in dem
Falle, daß von irgend einem Weibe ein Säugling von monströsem
Aussehen oder sogar von nicht menschlicher Gestalt geboren
wird, diese Mißgeburt, statt davon bei der zuständigen Obrig-
keit die Anzeige zu machen, des Lebens beraubt, wird für dieses
aus Unwissenheit oder Aberglauben verübte Attentat auf das
Leben eines Wesens, das von einem Menschen geboren ist
und folglich auch eine Seele hat, bestraft.** Das Volk sieht
die Verunstaltung eines Säuglings als ein Werk des Teufels
und als eine Strafe Gottes an.2) Rostow im Gouvernement
Jaroslaw war in früheren Zeiten eine Fabrikstadt für Miß-
geburten. Was die Natur nicht liefern wollte, machten die
Menschen selbst, indem sie zahllosen Kindern Verstümmelun-
gen beibrachten, um sie zu Scheusalen zu gestalten. Solche
Mißgestalten Rostowscher Arbeit 3) wurden nach dem ganzen
Reiche verschickt, namentlich nach Moskau, wo sie den Hexen
oder Zauberern als Werkzeuge dienten, um die abergläubi-
schen Leute zu narren.^) Die Leute, die das Unglück haben,
durch ihre Mißgestalt die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,
sind heute nicht minder als in der Vergangenheit den
schwersten Gefahren ausgesetzt, wenn sie vom Volke zufällig
Das größte Entsetzen erregte aber wieder ..eine Menge von Mißgeburten, die
von Weibern und Tieren" zur Welt gebracht wurden. Vgl. Karamsin, deutsche
Übersetzung X 99 — 100 (franz. Übers. XI 156).
1) y.iu/Keiiio ü uaKa3aHiflXT>. 1469.
2) Auch die Jakuten glauben, daß Mißgeburten Werke der unreinen
Kraft, wirkliche böse Geister oder Teufel sind, und man meint dies sowohl
von Menschen als von Tieren.
3) Wie früher Rostow genießt jetzt das Dorf Kljutschitschi im Wassil-
ssurschen Kreise Berühmtheit als Fabrikstadt von Zauberern und Wunder-
leuten. Die Zauberkunst ist hier erbhch. Man findet da alles, was das Herz
begehrt: Leute, die wahrsagen, Krämpfe heilen, zaubern, entzaubern, be-
sprechen, verderben und vergiften können. Vgl. Kölnische Zeitung 1900»
Nr. 1016.
*) 3a6i»i.iiiin>, Pyccidit Hapo;cB» crp. 399. >!• 14: ^apu mh Kawitirb.
5»
— 68 —
mit irgend einem beängstigenden Ereignisse in Verbindung
gebracht werden. Im Jahre 1878 herrschte im Kreise Ustj
Ssyssolj des Gouvernements Wologda eine Viehseuche, und
im Volke entstand das Gerücht, diese Seuche wäre durch
stumme Menschen mit Hilfe von geheimnisvollen Gewürzen
erzeugt worden. i) Kam da unglückseligerweise in das Dorf
Taratschewskaja ein armer Bettler, ein stummer Greis, mit
einem Säckchen über der Schulter. Die Bauern fielen sofort
über ihn her und erschlugen ihn mit Stangen unter den Rufen :
„Der Cholera auch einen Choleratod!"
Im letzterzählten Falle sahen wir, wie der Aberglaube zum
brutalsten Verbrechen wird und vor keinem Morde zurück-
schreckt. Das Furchtbarste und am schwersten Bedrückende
aber ist, daß diese Verbrechen nicht vereinzelt vorkommen,
sondern eine gewöhnliche Erscheinung bilden, und es ist nicht
übertrieben, wenn man annimmt, daß keine Woche vergeht,
da nicht in irgend einem Teile Rußlands ein solches Ver-
brechen aus abergläubischen Motiven begangen wird. Man
kann daher tatsächlich von einer Fortdauer der Menschen-
opferung in Rußland sprechen, über die wir aus früheren
Zeiten zahlreiche Berichte überliefert erhalten haben und von
der auch noch lebendige Traditionen erzählen. Während
meines Aufenthaltes in Nischny-Nowgorod hörte ich dort fol-
gende Sage 2) : „Als der Erbauer des Nischny-Nowgoroder
Schwengelturmes 3) den Grund zu diesem Bauwerke legen
wollte, ließ man vor allem eine Grube für das Bauopfer graben.
Wer aber sollte das Opfer sein? Die Arbeiter beschlossen:
das erste menschliche Wesen, das sich der Grube nähern
würde. Sie warteten und lauerten. Plötzlich kam ein liebliches
Mädchen daher, ein blutjunges Kind mit Wangen wie Kirschen
und einem Schwanenhals, und blond war ihr Haar und blau
waren ihre Augen. Auf der Schulter aber ruhte am Schwengel
1) BeccHHT>, OfeBepiiitt BlxrrHHKL 1892, 35 9. — VgL Löwenstimm a. a. O.
s. 53.
2) Diese Sage wird auch kurz erwähnt in: II.i.iiocTpHpoBaHHuii cnyTHHin»
no Bcirfe, CocraB. C. MoHacrupciciÄ, KasaHb 1884, crp. 41. — Bernhard Stern,
An der Wolga. Berlin 1897. S. 36 — 37.
*) KopoMURJioBan öiuimfl.
— 69 —
der Wassereimer. Lustig singend wanderte die Kleine zum
Brunnen. Da sah sie die aufgeschütteten Erdhaufen, sah sie
die Balken und Steine für den Turm, sah sie die Grube.
Ei, ei, was geschieht da? dachte sie in ihrem Sinn. Und die
böse weibliche Neugier trieb sie zu schauen — aber schon er-
griffen sie feste Hände, schon lag sie tief unten. Wohl bat
sie und flehte um Rettung und Gnade, aber ihre glockenhelle
Stimme erstarb bald im dumpfen Getöse der wuchtigen Erd-
schollen, die auf sie niederfielen. Die Arbeiter nannten den
Turm den Schwengelturm zur Erinnerung an das Opfer, das
den Schwengel trug.** — Bei den Esthen gab es ebenfalls
Menschenopferungen. Bei Thomas Hiäm^) lesen wir folgen-
des : „Von der Ehsten alten Religion findet man weiter nichts
beschrieben, als daß sie mancherley abscheuliche Abgötterey
geübet und getrieben haben, die Sonne, den Mond, Drachen,
Schlangen und andere unreine Tiere, ingleichen Bäume und
Hainen angebetet und heilig gehalten haben, denen sie, wie
Adamus Bremensis berichtet, Menschen geopfert haben, welche
sie von den Kauffleuten oder vielmehr See-Räubern dazu ge-
kaufft. Solche Menschen haben kein Mangel oder Gebrechen
an dem ganzen Leibe haben müssen. Der Zauberey und den
Wahrsagungen sind sie sehr zugethan gewesen.** — Im Po-
schechonschen Kreise im Gouvernement Jaroslaw hört man
noch heute die Erzählung, daß dort die Müller früherer Zeiten,
um den Wassergeist bei guter Laune zu erhalten, verspätete
Fußwanderer abfingen und im Mühlenteich ersäuften. 2) Ich
brauche wohl nicht ausführlicher davon zu reden, daß ähn-
liche Gebräuche auch in außerrussischen Ländern zu finden
waren, und erinnere bloß an die Einmauerung eines Säug-
lings in dem Brückenfundament im bayerischen Göllschtal oder
an die rührende Sage vom Thüringer Schlosse Liebcnstein.^)
1) Ehst-, Lyf- und Lettländische Geschichte. S. 27.
2) Löwenstimm a. a. O. S. 16.
*) Vgl. Andree, Ethnographische Parallelen S. 18 — 23. — Lippert,
Christentum, Volksglaube und Volksbrauch. Berlin 1882, 457 — 460. — Lieb-
recht, Zur Volkskunde. Heilbronn 1879, 284 — 296. — Lippert, Allgemeine
Geschichte des Priesterthums. BerUn 1883,. II 585, 589. — Lippert. Die ReU-
gionen der europäischen Kulturvölker, der Litauer, Slaven. Germanen, Griechen
— 70 —
Für Rußland aber hat das Thema leider noch immer nicht
die Aktualität verloren, und Mord zur Gewinnung eines Talis-
mans beschäftigt fortdauernd die russischen Gerichte. Wie
vieles aber kommt gar nicht zur Kenntnis der breiteren Öffent-
lichkeit in diesem ungeheueren, von Unordnung und Sitten-
losigkeit zerrissenen Reiche ! — Von Verbrechen, die mit Dieb-
stahlsaberglauben und dem Aberglauben in Zeiten von Epide-
mien zusammenhängen, werde ich in den entsprechenden
Kapiteln noch viele zu verzeichnen haben. Hier will ich nur
noch der verbrecherischen oder schamlosen Mittel Erwähnung
tun, die gebraucht werden, um wirkungsvolle Talismane herbei-
zuschaffen i) :
Im Dorfe Fokin im Wassiljssurschen Kreise des Gouver-
nements Nischny-Nowgorod wurde ein Bauer ergriffen, als
er einer schlafenden Frau eine Zehe abschnitt. Die Unter-
suchung brachte zutage, daß dieser Bauer sich durch diese
Zehe Zauberkraft verschaffen wollte, und man erfuhr, daß
im ganzen genannten Gouvernement unter den Bauern der
Glaube verbreitet ist: derjenige, der ein Zauberer werden will,
erreicht sein Ziel, wenn es ihm gelingt, von dem rechten Fuße
einer verheirateten Frau eine Zehe abzutrennen, dieser Talis-
man verleiht die gewünschte Zauberkraft. — Im Dorfe Wys-
sokopiz im Rajewschen Kreise des Gouvernements Warschau
und Römer, in ihrem geschichtlichen Ursprünge. Berlin 1881. S. 13 und 57.
— Über ,,das Bauopfer bei den Südslaven" hat Dr. Friedrich S. Krauß eine
überaus interessante Studie in den Mitt. der Anthropol. Gesellschaft in Wien
Bd. XVII 1887 veröffentUcht. (Als Separatabdruck Wien 1887 Holder.) —
Krauß, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslawen, Münster i. W. 1890.
S. 158.
^) Es gibt natürlich auch unschuldigere und harmlosere Mittel und
Methoden, die wir aber füglich übersehen können, weil sie sich kaum von
den in anderen Ländern üblichen unterscheiden. Vermerken will ich jedoch
den wilden Mohn, der ein Mittel zur Behexung ist und gleichzeitig ein Gegen-
mittel sein kann. Er tut besonders in letzterem Falle seine Schuldigkeit, wenn
es sich um Vampyre handelt. Stirbt ein Mensch, von dem man glaubt, daß
er ein Vampyr war, so legt man ihm unter den Kopf im Sarge ein Bündelchen
mit Mohn und streut beim Begräbnisse auf dem Wege vom Sterbehause bis
zum Grabe Mohnsamen aus, das verhindert sein Aufstehen aus dem Grabe
und seine Rückkehr ins Haus. — Schweift ein Verstorbener umher, so streut
man Mohn um das Haus, wo er gelebt hat. Vgl. Löwenstimm a. a. O. S. 76.
— 71 —
fand man einmal i) eine verstümmelte Frauenleiche mit heraus-
gerissenem Eingeweide. Drei Bauern wurden als die Leichen-
schänder eruiert. Sie gestanden ihre Tat ein und erklärten
sie folgendermaßen : Sie brauchten einen Zahn und eine Leber,
um verschiedene Zaubereien verüben zu können. Wenn man
nämlich eine Menschenleber auf dem Felde vergräbt, so kre-
pieren alle Herden, die über dieses Feld gehen; das ist also
ein prächtiges Mittel, sich an seinen Feinden zu rächen. Der
zu Staub zermalmte Zahn eines toten Menschen ist mit Tabak-
pulver vermischt und als Schnupftabak verwendet ein vor-
zügliches Vergiftungsmittel. Doch wirkt nur eines toten
Mannes Zahn bei dem Attentat gegen einen Mann, während
man für die Vergiftung einer Frau den Zahn einer Frau braucht.
— Stücke von Leichen sind nicht bloß Mittel zur Schädi-
gung, sondern auch unfehlbare Heilmittel: Im Dorfe Bobin-
skoje des Kreises von Wjätka sah man 2) das frische Grab eines
Kindes aufgewühlt. Man untersuchte das Grab, holte den
Sarg hervor und fand die Leiche des Kindes furchtbar ver-
stümmelt. Der Kirchen Wächter bekannte sich als Leichen-
schänder imd erklärte sein Verbrechen: er zerschnitt den Kör-
per, um aus der Leber und anderen Stücken das geronnene
Blut zu stehlen, das er dann mit Wein als ein Mittel gegen eine
Krankheit genoß. — Eine besondere Wirkung wird den Ge-
schlechtsteilen der Menschen, namentlich dem männlichen
Gliede zugeschrieben: Im Gouvernement Radom im Flecken
Janow entdeckte man einmal 3) eine abscheuliche Leichenschän-
dung. Die Leichen eines Mannes und einer Frau waren aus
ihren Gräbern herausgerissen und verstümmelt worden. Der
Frauenleiche fehlten Kopf, Hände, Füße und innere Teile,
der Mannesleiche aber waren die Hände, die Füße und die
Geschlechtsteile abgeschnitten. Vier Hirten hatten das Ver-
brechen gemeinsam ausgeführt. Die Leichenteile wurden ge-
kocht und die so gewonnene Brühe diente zur Besprengung
1) Im Jahre 1865.
2) Im April 1871.
3) Im Jahre 1862. — Die letztangeführten drei Beispiele bei Löwenstimm
a. a. O. S. 109 — III.
— 72 —
der Schafe; damit war deren gutes Gedeihen gesichert und
die Gefahr einer Ansteckung von ihnen verbannt.
Nur für den Tod ist kein Tahsman zu finden.^) Ihm
kann niemand entgehen. Zieht er, heißt es in einem Helden-
liede, seine scharfe Sichel hervor und schneidet dem Menschen
die Adern durch, so sinkt der tapferste Held in den Staub.
Er schenkt nicht eine Stunde, nicht eine Sekunde Frist.^)
Trotz ihrer fatalistischen Auffassung fürchten die Russen das
Ende; aber sie haben nicht bloß Angst vor dem Tode, son-
dern auch vor den Toten. Sie fürchten die Wiederkehr der
Verstorbenen und deren Bosheiten. Sie tun daher alles, um
die Seelen der Toten zufriedenzustellen. Nach der Beerdi-
gung findet eine Totenmahlzeit statt; die Knochen, die hier
übrig bleiben, überläßt man jedoch nicht den Hunden, sondern
ntian wirft sie ins Wasser des Flusses, damit die Fische sie
benagen und zum Danke des Toten gedenken. Das Brot, das
bei den Totenmahlzeiten verzehrt wird, darf nicht geschnitten
werden, das täte den Toten wehe. — Manche glauben auch,
daß die Seele des Toten wochenlang nach dem Tode noch
in der Wohnung, wo er gestorben ist, verbleibe.^) Die Trauer
tragenden Anverwandten werden gemieden wie Parias, nament-
lich auf Hochzeiten und Geburtstagsfestlichkeiten dürfen sie
sich nicht sehen lassen. Ein Mensch, der bei einer Leiche
oder bei einem Begräbnisse war, muß sich erst förmlich von
dem ihm anhaftenden Totengift ausräuchern oder auslüften,
1) Die Donkosaken versuchen aber wenigstens den Tod zu erschrecken.
An den Wänden der Viehställe befestigen sie Schädel von Ochsen. Kühen und
Schafen, sobald eine Viehseuche droht. Auf diese Weise glauben sie den Tod
abzuschrecken, er müsse sich vor den unheimlichen Schädeln fürchten und
weitergehen.
*) Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde. Altrussische Helden-
sagen. Berlin 1892. S. 70 — 72: Das Lied vom Tode des Helden Dobrynja.
*) Schon in früheren Zeiten von Reisenden erwähnter Glaube. So lesen
wir in den Memoires pour servir ä l'Histoire de T Empire Russien, sous le Regne
de Pierre le Grand. Par un Ministre etranger, 1725. Pag. 156: „Le pctit
peuple de Russie croit bonnement, que l'Ame d'un mort reste encore six se-
maines au m£me lieu, oü eile a quitt6 son Corps: c'est pour cette raison que
les Parens ont grand soin d'encenser le lit durant ce temps lä. et de faire dire
joumellement la Messe dans cet endroit."
— 73 —
ehe er daran denken darf, bei einem Russen einzutreten. Der
Zar besonders wird stets vor einer solchen Berührung als
vor etwas Unheiligem und gefährlich Zauberischem behütet.
So berichtet man aus der Zeit des Zaren Michael Feodoro-
witsch^): „Es ist der Gebrauch, daß keiner, der bey einer
todten Leiche gewesen, an Ihro Zar Maj. Hand, oder vor
dero klare Augen kommen mag, es muß eine längere Zeit
dazwischen kommen, damit die vom Todten Verunreinigten
auswittern möchten.**
Der Glaube, daß die Seelen der Verstorbenen in ihr ehe-
maliges Wohnhaus und zu ihrer Familie zu Besuche kommen, ist
voniehmlich bei den Weißrussen verbreitet, und hier herrscht,
da man annimmt, daß die Seelen bei diesen Besuchen auch der
Nahrung bedürfen, der Gebrauch der Seelenspeisung.^) Selbst
die Großeltern imd die Urahnen, glauben die Weißrussen,
kehren noch immer in das Haus zurück. Namentlich ge-
schieht dies am Tage der Totenfeier, am Dmitrow-Sonnabend
zu Ende Oktober. Manche Hausfrauen stellen, nachdem sie
den Tisch rein gedeckt haben, an diesem Tage volle Schüsseln
von allem hin, was sie für das Mahl bereitet, und man er-
wartet erst, andächtig um den Tisch herumstehend, bis die
Geister sich gesättigt haben, ehe man selbst zugreift. Es soll
Auserwähltc geben, die mit ihren eigenen Augen gesehen
haben, wie die Seelen ihrer verstorbenen Verwandten bei einem
solchen Mahle erschienen und sich den Lebenden gleich an
den Speisen ergötzten. Diese Auserwählten können ihren
Wunsch, die Verstorbenen zu sehen, auch selbst durch ge-
wissenhafte Vorbereitungen zur Erfüllung bringen: wenn es
Männer sind, die dieses seltenen Seherglückes teilhaftig werden
wollen, so müssen sie sich ein ganzes Jahr vorher des Lachens
1 ) Nachricht von Woldemar Christian Güldenlöwe Grafen von Schleßwig-
Holstein, Sohn des dänischen Königs Christian des Vierten, von der Christina
Munk. Reise nach Rußland, zur Vermählung mit des Zaren Michael Fedoro-
witsch Tochter Irene. In Büschings Magazin für die neue Historie und Geo-
graphie. X S. 233.
2) Am Ur-Quell, Monatschrift für Volkkunde. Herausgegeben von Fried-
rich S. Krauß. VI. Band. 1896. S. 25 — 27: Seelenspeisung bei den Weiß-
russen von Th. Volkow in Paris.
— 74 —
vollständig enthalten und dürfen während dieser Zeit nur das
Allernotwendigste sprechen; von den Frauen wird viel weniger
verlangt : sie dürfen bloß am Totenfeiertage von früh an nichts
sprechen imd erst dann den Mund öffnen, wenn sich die Seelen
wieder von der Mahlzeit entfernt haben. Man erzählt, daß
es tatsächlich eine Frau gegeben habe, die imstande war,
ein solches Gelübde abzulegen, und sie sprach den ganzen
Vormittag nicht und sah ihre Großeltern, die längst verstorben
waren, wie Lebende zur Tür hereinkommen. In diesem Augen-
blick aber schrie sie vor Freude auf, und im Nu verschwanden
die Gäste aus dem Jenseits. — Ein Mann wollte einmal alle
seine Alten erscheinen sehen und sprach ein ganzes Jahr lang
nur das Notwendigste und lachte nicht ein einziges Mal. Am
iVllerseelen-Sonnabend ließ er für die erwarteten Geister Schüs-
seln aufstellen, und richtig sah er sie alle durch den Rauchfang
herabsteigen, den Vater, den Großvater und Urgroßvater, und
am Tische Platz nehmen. Da blickte der Hausherr auf und sah
im Rauchfang verspätet auch noch den Onkel anrücken, der
aber stecken blieb, weil er eine Egge mit sich schleppte.
Die hatte der Onkel bei Lebzeiten gestohlen und zur Strafe
dafür, daß er die Sünde nicht dem Beichtvater eingestanden
hatte, in die andere Welt mitnehmen müssen. Als der gute
Bauer seinen Onkel in so peinlicher Lage im Rauchfang stecken
bleiben sah, lachte er auf, und im Nu verschwanden alle
Geister.
Der Gebrauch der Seelenspeisung kommt auch bei den
Großrussen vor. Bei den Kleinrussen und in der Ukraine feiert
man das Andenken an die Toten am Thomas-Sonnabend nach
Ostern, wobei man aber den Toten nichts zu essen gibt,
sondern nur für den eigenen Magen sorgt.
Über die Seelenspeisung bei den Littauem berichtete der
Reisende Johann Arnold Brandt i): „Dannenhero etliche unter
ihnen gar heimlich den 4. Jan. St. N. auf aller Seelentag einen
langen tisch mit ihren gewöhnlichen besten speisen versehen,
in einer verschlossenen stube anzurichten pflegen, sagend in
1) Reisen durch die Marck Brandenburg, Preußen, Churland. Wesel
1702. S. 81. Zitiert nach Volkow im XTrquell a. a. O.
— 75 —
ihren sprach : Wir speisen der Voreltern Seelen. Gehen darauf
hinauss, lassen die speise die nacht über stehen. Morgens
wird die thür wiederumb geöffnet, finden sie nun obgemeldete
speisen ohnverzehret, deuten sie es vor ein sonderbahres glück
und Segen ihren fruchten, viehs und dergleichen; wo nicht,
befürchten sie sich hefftig eines künftigen Unglücks, das ihr
vieh, äcker und dergleichen überfallen werde.**
Zum Schlüsse erwähne ich den Gebrauch in Estland und
Lettland, der also beschrieben wird^): „Weil sie zuvor die
Unsterblichkeit der Seelen etlicher maßen geglaubet, und dar-
nach die Catholischen ihnen die Seel-Messe eingebildet haben,
ist dieses noch bey ihnen im Schwange, daß sie auf aller
Seelen-Tage, die Seelen der Verstorbenen speisen. Dieses ge-
schieht noch bey etlichen sowohl in Ehst- als Lettland dieser
gestalt: Sie heitzen eine Stube oder Badstube an, kehren es
rein, und setzen Speise und Trank auf, der Wirth des Hauses
bleibet alsdann allein darinnen, und hält ihnen die Pergel
oder Höltzer, so sie anstat der Lichte gebrauchen, nöthiget
die verstorbenen Seelen seiner Eltern und Vor-Eltern, Ver-
wandten und Kinder, welche er bey Nahmen nennet, und der-
gestalt zu Gaste ladet, zum Essen und Trincken. Wenn er
nun nach etlicher Stunden Verlauff meinet, daß sie gnug
haben, hauet er mit einem Beil auf der Thür Schwelle die Pergel
cntzwey, und gebietet den Seelen, dieweil sie nun gegessen und
getruncken hätten, möchten sie ihres Weges auf der Straßen
und auf dem Wege, nicht aber über den Roggen-Acker gehen,
damit sie denselben nicht eintreten und verderben, zumahlen
sie sich einbilden, daß die Seelen, wo sie nicht vergnügt davon
scheiden, ihnen auf ihren Feldern Schaden zufügen und die
beseete Äcker verderben, daß ihnen daraus ein Misswachs ent-
stehe: sind auch bey dieser Meinung, daß so fern der Wirth
oder Feuer-Halter etwas siehet, daß sich die Seelen einstellen
oder erscheinen, so müsse er gewiß desselbigen Jahres sterben ;
siehet er aber nichts, so hoffet er noch das Jahr zu überleben.**
1) Thomae Hiäms Ehst-, Lyf- und Lettländische Geschichte. S. 37.
— 76 —
5- Geister^ Zauberer und Hexen.
Hausgeist. Domowoj — Der Geist des Ehebettes und der Potenz — Umzugs-
gebräuche — Hahn und Katze als Herd- und Hausgeister — Geister des Waldes.
Feldes und Wassers — Polnische Dämonologie — Der Teufel in Rußland —
2^uberer und Hexen — Russisches Bild einer Hexe — Der Zauberer- und
Hexenschwanz — Krankheitsanzauberung — Lynchjustiz an Hexen und
Zauberern — Mordliste — Beispiele europäischer Hexenprozesse neuester Zeit
— Zaubererblut als Heilmittel — Besessenheit.
,,Des Russen träge Phantasie," schrieb der Arzt Wichel-
hausen i), „wird am meisten noch durch das ÜbernatürUche
und Fabelhafte erschüttert. Leicht glaubt er deswegen an
das Daseyn unsichtbarer Mächte, deren Einflüsse ihm uralte
Sagen verkünden und die Furcht ihm mit neuen Farben aus-
mahh."
Dieser Glaube an unreine Kräfte, an gute und böse Geister,
an Dämonen, Hexen und Zauberer ist allgemein; auch die
Geistlichkeit huldigt ihm offenkundig.
Es gibt kaum einen Russen, der nicht aufrichtig an den
Domowoj glauben würde. Der Domowoj ist der Hausgeist,
der Familiengeist, der Geist des Ehebettes.^) Der Domowoj
ist bei den ehelichen Funktionen stets anwesend, er leitet
die Samentropfen, und nur jene Akte gedeihen, die er mit
seiner Protektion beglückt und fördert. In Moskau kam eine
Kaufmannsfrau zu einem Arzte und bat um ein Mittel zur
Versöhnung des Domowoj, der sie nicht schwanger werden
ließ, trotzdem sie vor jedem Beischlafe dem Hausgeist ihre
Reverenz gemacht und geräuchert hatte.^) — Bei den Vor-
nehmen hat der Domowoj die Oberaufsicht über das ganze
Haus, über Küche und Keller, bei den Bauern über Stall,
Hütte und Herd.
Wenn ein Haus gebaut werden soll, versäumt es der Bau-
meister nicht, in den vier Ecken des Fundaments Geldstücke
einzumauern als Schutzmittel gegen alle möglichen Unglücks-
1) Gemähide von Moskwa. 1803. S. 303.
2) Bei den Polen heißt der Hausgeist: Gospodartschek.
3) Wichelhausen, a. a. O. S. 304.
— 77 —
fälle, die das Haus während des Baues oder in der Zukunft
bedrohen könnten.^) Um den Einsturz des Hauses zu ver-
hüten, ist es notwendig, Salz unter die Türschwellen zu legen.2)
Im Gouvernement Jaroslaw besteht ein uralter Gebrauch, der
beim Umzug aus einem alten Hause in ein neues stattfindet 3):
Wenn das neue Haus im Baue beendet und im Innern ein-
gerichtet ist, so wird ein besonders mutiger Mann aus der
Verwandtschaft des Herrn oder aus dem Kreise der Knechte
ausgewählt. Dieser hat eine Nacht allein in dem neuen Hause
zuzubringen. Widerfährt ihm nichts Schlimmes und wird er
auch von keinem bösen Traume gequält, so kann das Haus
von dem Besitzer und seinen Leuten ohne Gefahr bezogen
werden. Am Tage, an dem das Hausgerät aus dem alten
Hause in den neuen Bau gebracht wird, trägt der Hausherr
zuerst das Heiligenbild hinc'u und hängt es in eine Ecke. Dar-
auf werden ein Hahn und eine Katze gebracht, die letztere
legt man auf den Herd. Nach dem Volksglauben vertreibt
der Hahn durch seine Wachsamkeit und sein Krähen die
bösen Geister, während die Katze zum Frieden und zum Be-
hagen beiträgt. Den Domowoj führt man aus dem alten Hause
in das neue Heim auf folgende Weise hinüber: Das älteste
weibliche Mitglied der Familie nimmt vom Herde des alten
Hauses einige noch glimmende Kohlen, legt sie in einen zu-
vor nie in Gebrauch gewesenen irdenen Topf und trägt diesen
mit den an den Hausgeist gerichteten Worten: „Bitte, Väter-
chen, folgen Sie uns in das neue Haus !** in die neue Wohnung,
schüttet dort die Kohlen auf den neuen Herd und zerschlägt
darauf den Topf. Nach also gänzlich beendetem Umzug findet
die Einweihungsfeier statt, und zwar durch einen christlichen
Gottesdienst, der sich somit unmittelbar an die heidnischen
Gebräuche anschließt. Stellt sich im Laufe der Zeit heraus,
daß im neuen Hause nachträglich noch eine Tür oder ein
1) Geheimnisse von Rußland. I 317.
*) Dupr6 de St. Maure, P6tersbourg, Moscou et les Provinces. Paris
1830. 1 167. — Auch die alten Lappen verehrten Geister, die unter der Schwelle
des 2^1tes ihren Wohnsitz hatten. Roskoff, Religionswesen der Naturvölker.
Leipzig 1880, S. 59.
») Globus, Bd. 86. Heft 3. S. 51.
— 78 —
Fenster ausgebrochen werden muß, so hat dies unter beson-
deren Vorsichtsmaßregeln zu geschehen, da eine am unrechten
Orte oder zu unrechter Zeit durchbrochene Tür viel Unheil
über das Haus bringen könnte. In Dörfern, die in der Nähe
von Wäldern liegen, kommt es häufig vor, daß Spechte in
den frischen Balken des neuen Hauses nach Insekten suchen;
hört man im Hause das Hämmern des Spechtes, so ist man
der festen Überzeugung, daß einem Hausbewohner der Tod
bevorstehe oder daß ein Hausbewohner in nächster Zeit das
Haus werde verlassen müssen.
Außer dem Hausgeiste, der vornehmlich gute Eigenschaf-
ten hat, gibt es im russischen Volksglauben zahlreiche böse
Geister und Unholde. Diese boshaften Geister und Dämone
haßt man, aber man fürchtet sie auch. Sie treiben an verschie-
denen Orten ihr Unwesen und führen je nach ihrem Charakter
und ihren Wohnplätzen ihre besonderen Bezeichnungen. In
den Wäldern hausen die Waldgeister, die Gestnize^), die den
Wanderer auf Irrwege führen ; auf den Feldern und Fluren
tummeln sich die Russalki^), und in den Gewässern die Wodc-
niki oder Wassergeister. Die Eltern schrecken ihre Kinder mit
dem Nachtgespenst Buka, das in den Höfen herumschleicht
und die kleinen Kinder frißt 3); dieser Dämon hat einen großen
Rachen und eine lange spitzige Zunge. In den Ammenmär-
chen spielen sowohl Riesen als Zwerge die Rolle der Dämonen ;
der Riese Polkan ist eine stehende Figur in diesen Märchen,
während die Zwerggeister Püschiki genannt werden. Es gibt
auch ein Riesengeschlecht, das Woloten heißt. Mit diesem
Namen benannten mehrere slawische Völker die alten Römer,
1) Borowy bei den Polen.
2) Bei den Polen sind die Russalki nicht bloß Nymphen im Gehölz,
sondern auch Wassernymphen, die mit Menschen Liebesverhältnisse anknüpfen,
um sie dann mit Zärtlichkeiten zu ersticken oder zu ersäufen.
3) Bei den Polen Babok und Kurze pluca geheißen. Auch die polnischen
Mamune, Boginki. Dschiwojone sind kinderfeindliche Dämone. Man nennt
sie auch die krasne kobjety, die schönen Frauen. Sie schleichen sich ans
Bett der Wöchnerinnen und vertauschen die neugeborenen Kinder mit Miß-
geburten. Um sich vor ihnen zu schützen, erwarten manche Frauen die Nieder-
kunft nicht in der eigenen, sondern in einer fremden Wohnung.
— 79 —
die sie sich wegen der großen Taten nicht anders als von un-
gewöhnlicher Größe denken konnten.
Etwas anders geartet sind einige Geister des polnischen
Volkes. 1) Die Wilen, die die Häuser bewohnen, sind furcht-
bar häßlich, hohen Wuchses, bebartet; sie erscheinen und
verschwinden ohne Ursache und ohne Anzeichen; wer ihnen
begegnet, erkrankt sofort. Die Wjeschtsche^) sind Dämone
von menschlicher Abkunft. Kinder, die mit Zähnen auf die
Welt kommen, werden nach dem Tode Wjeschtsche, steigen
allnächtlich aus dem Grabe, klettern auf die Kirchtürme, läuten
die Kirchenglocken und rufen die Namen aller jener, denen
sie den Tod wünschen; wer von diesen Verwünschten seinen
Namen rufen hört, muß sterben. Auch die Zwora-Dämonen
sind von menschlicher Abkunft; Kinder, die unregelrecht ge-
tauft und nach dem Tode Blutsauger wurden. Ihnen ver-
wandt sind die Upjur^) oder Vampyre, die aber weit grau-
samer sind, und den Menschen, über den sie herfallen, sofort
töten.
Der Teufel ist für die Russen und Polen nicht bloß ein
Wesen der Hölle, sondern wandelt auch sichtbar auf Erden.
Gauner machten sich diesen Glauben ihren Zwecken dienstbar
in ähnlicher Weise wie wir es im vorigen Kapitel bei der Er-
wähnung des Freitag gesehen haben. Ich erinnere mich,
daß in meiner Vaterstadt Riga ein als Teufel verkleideter
Räuber wochenlang die ganze Bevölkerung in Angst und
Schrecken versetzte und überall, wo er spät Abends plötzlich
erschien, erhielt was er verlangte. Ein zwölfjähriger Knabe
allein hatte den Mut, ein Gewehr seines Vaters zu ergreifen
und mit einem glücklichen Schusse den Teufel zu Boden zu
strecken; dem jugendlichen Teufelstöter, der nicht bloß einem
Räuber ein verdientes Ende bereitet, sondern auch einem feigen
Aberglauben den Todesstoß versetzt hatte, wurde vom Zaren
eine Tapferkeitsmedaille verliehen.
1) V. Begiel, La d^monologie du peuple polonais. Revue de l'histoire
des Rcligious. Paris 1902. Tome XLV >} 2, pag. 158 — 170. Vgl. diese Arbeit
auch bezüglich der früher erwähnten polnischen Dämonen-Namen.
2) Polnisch geschrieben: Wieszczy. .
3) Polnisch geschrieben: Upiör.
— 80 —
Ani liebsten versteckt sich der Teufel hinter Menschen,
die mit ihm ein Bündnis schließen und als Zauberer oder
Hexen seine Werke verrichten ; dafür dient er ihren materiellen
Wünschen. In Krynice im Gouvernement Lublin^) hatte ein
Bauer im Jahre 1890 dem Teufel seine Seele verschrieben;
zum Danke dafür wohnte der Satan beim Bauer in einem Bienen-
korbe, und ohne daß der Mann sich darum zu kümmern
brauchte, füllten sich für ihn zahllose Bienenkörbe, so daß er
zu großem Reichtum gelangte. In der Stadt Torshok im Gou-
vernement Twer hatte ein gewisser Nikifor Dorofejew vom
Teufel die Fähigkeit erhalten, Menschen durch seinen bloßen
Atem ganz nach seinem Belieben zu behexen oder zu heUen.
Daß die Russen schon in den frühesten Zeiten den Zaube-
rern und Hexen unbedingten Glauben schenkten, ist bekannt.
Großfürst Oleg hieß wegen seiner übernatürlich großen Siege
der Zauberer, und er starb den Tod, den ihm ein Zauberer
vorhergesagt hatte.^) Nicht bloß in den Märchen, sondern
auch in den Heldensagen wimmelt es von Hexen und Zaube-
rern. In den Bylinen, die vom Fürsten Wladimir und seiner
Tafelrunde erzählen 3), spielt eine große Rolle die Zauberin
Marinka, eine junge schöne Witwe, welche die üble Gewohn-
heit hatte, ihre Anbeter in Ochsen zu verwandeln. Auch dem
Helden Dobrynja Nikititsch erging es so, als er ihr Herz
stürmen wollte. Sie trat ihm zürnend entgegen, sprach die
geheimnisvollen Worte, und der Held verwandelte sich in einen
brüllenden Ochsen. Vom Himmel war es bestimmt, daß die
schöne Zauberin, die den Menschen verachtete, sich in den
Ochsen verlieben mußte. Aber Satan hatte ihr bloß die Kraft
gegeben, Zauber zu schaffen, nicht auch Zauber zu lösen.
Und verzweifelt flog die Zauberin als Rabe verwandelt auf
die grünen Kijewsfluren, um sich auf des geliebten Ochsen
Nacken zu setzen. Endlich entsagte sie ihren Satanskünsten,
verbrannte alle Kräuter, vernichtete alle Tränke, und im Augen-
blick wurde Dobrynja vom Ochsen wieder zum Menschen,
1) B6giel, La d6monologie du peuple polonais. a. a. O.
8) Chronique de Nestor. II 180.
3) Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde. S. 47.
— 81 —
die Rückkehr zum Gottesglauben brachte der Marinka den
geliebten Helden. — In den Heldenliedern erscheint auch schon
die Jaga Baba, eine Hexe, die in einem Mörser wohnt und
in ihm herumfährt. — In Kleinrußland stellt man sich heute
eine Hexe fast immer als eine alte Frau vor; auffallend Lang-
lebige sind verdächtig, weil die Kunst der Verlängervmg des
Lebens ein Hauptgeheimnis der Zauberei ist. Im Gouvernement
Wilna glaubt das Volk, daß eine Frau, welche am Vorabend des
Iwan Kupilo^) bei einem Nachbarn etwas erbitten will, eine
Hexe sein müsse; sicher ist dies der Fall, wenn die Frau
Zündhölzchen oder Feuer ausleihen will. 2) Das meistverbreitete
russische Bild, das man sich von einer Hexe macht, ist dieses :
Eine bejahrte Frau, hoch, mager, knöcherig, mit einem kleinen
Buckel, mit zerzausten unter dem Kopftuche hervordrängenden
Haaren, roten Augen, zornigem Blicke, breitem Munde, vor-
springendem Kinn. Nach kleinrussischer Ansicht hat die Hexe
immer einen kleinen Schweif und einen schwarzen Streifen
auf dem Rücken. Im Jahre 1875 wollten die Bauern des kau-
kasischen Dorfes Poljessje ihre Weiber prüfen, um zu erfahren,,
welche von ihnen Hexerei treibe. Sie baten den Gutsbesitzer
um die Erlaubnis, die Fralien im Flusse zu baden; diejenige»
die nicht untersinke, sei eine Hexe. Der Gutsbesitzer stimmte
jedoch nicht zu. Da riefen die Bauern eine Hebamme, die
alle Weiber untersuchen mußte, ob ihnen nicht ein Schwanz
vom Rücken herabhing. 3) Weniger zartfühlend als diese Bauern
mit ihren Weibern umgingen, indem sie das Amt der Unter-
suchung einer Hebamme anvertrauten, war im Jahre 1900
in einem Vororte von Kischenew ein Vater gegenüber seiner
Tochter. Die Letztere, ein zweiundzwanzigj ähriges Mädchen,
hatte das Unglück auffallend häßlich und dazu auch buck-
lig zu sein. Von einer Stiefmutter gequält, von den Nachbarn
^) Der russische Johannistag. Bekanntlich versammeln sich auf dem
Brockenberg die Hexen in der Nacht auf den Johannistag. Der Zusammen-
kunftsort der russischen Hexen ist der Kahlenberg, Lyssaja Gera bei Kijew.
2) Über das Ausleihen des Feuers und seine Bedeutung im Orient habe
ich in meinem Bache ,, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei"
einiges mitgeteilt.
3) Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 35 und 82.
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. 5
— 82 —
gemieden und verspottet, zieht sich das Mädchen ängstUch
von den Menschen zurück, versteckt sich tagsüber im Garten
oder Weinberg und kehrt erst Abends heim, wenn sie den
Vater schon zu Hause weiß. Und so schleicht sie häufig
erst spät Nachts durch den Ort, wenn alle schon schlafen,
und stiehlt sich heimlich in das Vaterhaus. Sie kommt in den
Ruf einer Hexe, alle Unglücksfälle werden ihren tückischen
Zauberkünsten zugeschrieben. Zwar trägt sie ein Kreuz am
Halse und geht fleißig in die Kirche, aber das ist Hexenschlau-
heit. Man muß der Sache auf den Grund kommen, und der
Vater vor allen will Gewißheit haben. Er beruft eines Tages
alle Einwohner zu einer Untersuchung, man entkleidet das
Mädchen bis auf die Haut, und jedermann hat durch volle
drei Stunden Gelegenheit an der Splitternackten den Hexen-
schwanz zu suchen.!) — jm Juli 1891. erschien in einem Kijewer
Hospital 2) ein Bauer beim Arzte mit der Bitte, durch ein
amtliches ärztliches Zeugnis zu bestätigen, daß der Bittsteller
„keinen Schwanz habe wie ihn die Zauberer zu haben pflegen ;
denn weil man ihn für einen Zauberer halte, zwinge man ihn
oft sich nackt auszuziehen und sich auf einen Zaubererschwanz s)
untersuchen zu lassen.**
Die Bosheiten der Zauberer und Hexen äußern sich an
den Behexten zumeist durch Krämpfe, epileptische Anfälle,
Zuckungen. Als Zar Iwan der Schreckliche einmal erkrankte,
gab man die Schuld daran einer Frau namens Maria; diese
Frau lebte tugendhaft und war angesehen bei Reich und Arm
in ganz Moskwa. Da entstand plötzlich das Gerücht, Maria
hasse den Zaren und trachte ihn durch Zauber aus dem Wege
zu räumen. Sie wurde ergriffen und hingerichtet; der Vor-
sicht halber tötete man auch ihre fünf Söhne.^) Kurz darauf
wütete in Moskau eine förmliche Zauberer- und Hexenmord-
1) Kölnische Zeitung 1900, Nr. 1016. „T>ie Macht der Finsternis in
Rußland." (Notizen aus russischen Zeitungen.)
^) He^lvin, II KU. 1891. — Auch mitgeteilt von Lanin, Russische Zu-
stande. I 33.
3) Man vergleiche die Mitteilungen über geschwänzte Menschen in meinem
Buche ,, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei'*.
*) Karamsin, deutsche Übersetzung VIII 16 (franz. Übers. IX 21).
— 83 —
epidemie. Niemand war sicher vor der fürchterlichen An-
schuldigung. Die vornehmsten Leute wurden als Zauberer
und Hexen abgeschlachtet, so der durch seine Kriegstaten
ausgezeichnete Okolnitschy, Daniel Adaschew mit seinem zwölf-
jährigen Sohne, drei Mitglieder der Familie Satin, ein Schisch-
kin mit Frau und Kindern. Das war vor dreiundeinhalb Jahr-
hunderten. Und heute? Man lese die nachfolgende, äußerst
unvollständige, nur aus zufälligen Notizen zusanmiengestellte
Liste über Ereignisse der neuesten Zeit!
Im Jahre 1878 entdeckte die Frau Chodschigan Natyrbow,
Gattin des Ältesten in einem kaukasischen Aül des Kreises
Jekaterinodar, daß ihr Mann sie nicht mehr liebe. Sie suchte
Hilfe bei der berühmten Zauberin Chakalo Chagutschew, imd
diese gab der Klientin ein Mittelchen, das unter die dem Manne
bestimmten Speisen getan werden sollte. Die Frau hatte aber
Gewissensbisse und entdeckte ihrem Manne, was sie vorgehabt.
Der Älteste war erschrocken und entsetzt, daß in seinem Aül
Hexen und Zauberer existierten und beschloß das Satanswerk
gründlich auszurotten. Berief also die angesehensten Leute
des Aül zu einer Beratung, trug die Angelegenheit vor und
beantragte, die Hexe einem strengen Gerichte zu imterwerfen.
Man begab sich in die Hütte der Chakalo Chagutschew und
forderte von der Hexe die Herausgabe ihres 2^uberkrautes.
Als sie dem Verlangen nicht nachkommen konnte, zerrte man
sie auf den Hof, fesselte sie mit Ketten an einen Pfahl und
folterte sie durch ein Feuer, welches neben ihr so angezündet
wurde, daß sie Brandwunden erleiden mußte. Das Mittel
nützte nichts, man schleppte daher die Unglückliche in einen
Keller und sperrte sie hier ein. Im Aül begannen dann massen-
hafte Verfolgungen aller jener, die durch irgend eine Tat in den
Verdacht geraten waren, Besitzer unreiner Kräfte zu sein. Diese
Zauberer und Hexen zwang man zur Feuerprobe, sie mußten
durch hoch aufflammende Scheiterhaufen schreiten. Dann
sperrte man sie in Keller imd nährte sie bloß mit den Lungen
von Himden, da man durch solche Speise die Zauberkraft
zu besiegen glaubte. Einem besonders übel Beleumundetien
ging man auch desto schärfer an den Leib. Man hängte ihn
so auf, daß er den Erdboden nur knapp mit den Fußspitzen
6»
— 84 —
berührte; dann geißelte man ihn mit Dornen, die im Aber-
glauben als zaubertötend gelten; hierauf band man den Ge-
folterten los und zwang ihn zwischen zwei Feuern zu tanzen.
Die Behörden machten erst nach längerer Zeit diesem Hexen-
spuk ein Ende.i) Einer der krassesten Fälle ereignete sich
am 4. Februar 1879 ™ Tichwinschen Kreise im Kaukasus.
In dem Dorfe Wratschewka lebte die Frau Katharina Ignatjew,
welche ihres hohen Alters und ihrer Kränklichkeit wegen als
Hexe betrachtet wurde. Diese Frau benützte den Schrecken,
den sie verbreitete, um auf fremde Kosten zu leben, und dies
sollte ihr zum Schlüsse übel bekommen. Es ereignete sich,
daß zufällig mehrere Frauen nacheinander Nervenkrämpfe er-
litten. Sofort wurde allgemein der alten Hexe die Schuld
an diesen Erkrankungen gegeben. Die Ältesten des Dorfes
zogen mit einer großen Schar der Bewohner vor die Hütte
der Hexe, man vernagelte hier alle Türen und Fenster mit
Brettern, legte Holz und Stroh um die ganze Behausung und
zündete das Dach an. An dem erhebenden Schauspiele be-
teiligten sich 17 der Ältesten als Gerichtsvollstrecker und
Henker, während mehr als dreihundert Menschen als Zuschauer
assistierten. Unter ihnen befand sich auch der Pope des Ortes.
Alle meinten, daß sie ein wahres Gotteswerk ausgeübt; und
als sie vor Gericht gestellt wurden, erfolgte die vollständige
Freisprechung der meisten, bloß drei wurden, sozusagen aus
formalen Gründen, zu einer gelinden Kirchenbuße verurteilt.^)
Im selben Jahre 1879 wurde auch in der Nähe der Stadt
Nikolajew im Gouvernement Ssamara ein Zauberer erschlagen.
Der des Mordes Angeklagte erklärte ganz ruhig: „Ja, ich
habe es getan; ich habe ihn ganz gerecht totgeschlagen, denn
er war ein Zauberer.*' Das Gouvernement Pensa zeichnete
*) Dieser Fall ist auch in der von Heppe neu bearbeiteten Soldanschen
Geschichte der Hexenprozesse (Stuttgart 1880) in Bd. II 338 — 339 berichtet
worden. Dieses große zweibändige Werk enthält aber über Rußlands furcht-
bar verbreitetes Hexenwesen nichts weiter als eben diese Erzählung und einen
kurzen höchst mangelhaften Hinweis auf das nachfolgende Ereignis in Wra-
tschewka.
2) Die russischen Quellen für dieses Beispiel und für die näclisten Angaben
von Hexentötungen findet man bei I^öwenstimm a. a. O. S. 44 ff.
— 86 —
sich damals durch Hexengerichte ganz besonders aus ; im Zeit-
räume eines einzigen Jahres gibt es dort fünf Ermordungen
von Hexen und Zauberern: 1879 wurde im Kerenschen Kreise
ein Zauberer erschlagen. 1880 ereignete sich in einem anderen
Kreise des Pensa-Gouvemements folgender Fall: Bei einem
Hochzeitsmahle schrie die Mutter des Hauswirts plötlich laut
auf; dies konnte nur die Wirkung einer ßezauberung sein,
und einer der Gäste, der im Verdachte der Zauberei steht,
wird von den anderen ergriffen und zu Tode geprügelt. Kurze
Zeit darauf wurden in verschiedenen Kreisen desselben Gou-
vernements auch drei Hexen ermordet. — 1888 wird im Ssmi-
jewschen Kreise des Charkowschen Gouvernements bei einer
Hochzeitsfeier die Braut von einem epileptischen Anfall heim-
gesucht ; der Anblick der Erkrankten verursacht auch bei einer
anderen Frau einen Nervenkrampf. Einer der Gäste gilt als
der Zauberer, dessen heimliche Verwünschung diese Erkrankun-
gen verursacht hat. Man fällt über ihn her und tötet ihn
auf der Stelle. Diese Fälle sind zahllos und in Ursache und
Wirkung durchaus typisch. 1895 wurden im Dörfchen Wladi-
mirsk im Kubangebiete auf einer Hochzeit zwei Frauen plötz-
lich ohnmächtig. Den anwesenden Gast Kusjma Dolschenkow
beschuldigt jemand dieser Zauberei, die aufgebrachten Leute
fallen über den Hexenmeister her und schlagen ihn tot. Auch
im Zentrum des Reiches, im Mittelpunkte der Residenzen, sind
solche Vorkommnisse niöglich. Am 25. September 1895 findet
in Moskau vor der Kapelle des Heiligen Panteleimon eine
Feier statt. Unter der Menge stehen eine Frau und ein Knabe,
daneben die Bäuerin Natalja Nowikow, welche mit dem Knaben
plaudert und ihm einen Apfel schenkt. Die Frau, die den
Knaben begleitet, erleidet einen hysterischen Anfall; und auch
der Knabe wird just, da er in den Apfel beißen will, von
Epilepsie ergriffen. Natürlich war der Apfel behext, die Menge
fällt über die Bäuerin her imd prügelt sie halbtot.^) Im Jahre
1900 wird im Dorfe Sinizewo im Gouvernement Ssaratow der
Bauer Denissow als der Zauberer gehalten, der dem Dorfe
alle möglichen Unfälle, den Bewohnern Krankheiten, nament-
1) Löwenstimm a. a. O. 57 ff.
— 86 —
lieh den Frauen und Kindern Krämpfe anzaubert. An einem
Feiertage findet der Polizeiwächter Suwajew den Denissow be-
trunken auf der Straße liegend. Er will den Betrunkenen
wegschleppen, erkennt den Zauberer, ergreift ein Brett und
schlägt dem Verfluchten mit solcher Wucht auf den Kopf,
daß ihm daraus der Teufel zugleich mit dem Leben entflieht.
Bemerkenswert ist ein auch im Jahre 1900 stattgefundener
Vorfall in der Stadt Wolsk, die gleichfalls im gesegneten Gou-
vernement Ssaratow liegt. Der neunjährige Sohn eines ge-
wissen Schuganow leidet an Krämpfen, denen kein Arzt ab-
zuhelfen vermag. Es kann daher die Krankheit nichts anderes
sein als eine Verzauberung. Vater Schuganow hält die Familie
Bjeloussow für die Urheber der Hexerei, eilt in ihre Wohnimg
und droht die ganze Zauberbande zusammenzuschießen. Vor
Gericht geschleppt erklärt Schuganow in seinem Rechte ge-
wesen zu seini), denn „die Bjeloussows lassen die Teufel wie
Tauben auseinanderschwirren, damit sie die Menschen nach
allen Seiten verderben und verzaubern.** Im Jahre 1904 gab
es am 10. Januar vor dem Petersburger Kreisgerichte ein^
Verhandlung wegen Ermordung einer Hexe.^) In einem Vor-
orte der Residenz galt die Bäuerin Ille als Besitzerin unreiner
Kräfte. Eines Tages traf die Ille einen Bauer namens Lawone
und ersuchte ihn, indem sie ihm einen Rubel gab, ihr Schnaps
zu kaufen. Der Bauer vollführte den Befehl der Hexe, brachte
ihr die Flasche mit Schnaps, wollte aber den Rest des Rubels
nicht herausgeben. Da rief ihm die Ille zornig zu : „Du, warte
nur! Ich bin eine Hexe! Ich werde dich verhexen!** Lawone
geriet in Entsetzen, ergriff ein Stück Holz und erschlug die
Hexe mit zwei wuchtigen Schlägen, um sich vor ihrem Be-
zauberungswerk zu retten.^)
1) Kölnische Zeitung 19CX). Nr. 10 16.
2) Nach Mitteilungen Petersburger Blätter und einer Korrespondenz im
CapaTOBCKift ,iiieBHHin> M 10, 1904.
3) Daß es auch im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts noch Fälle von
Hexenglauben gibt, brauche ich wohl nicht zu entdecken. Aber die Vorfälle
erreichen hier nicht die furchtbare Tragik wie in Rußland, sondern erhalten
fast immer eine mehr kuriose, um nicht zu sagen humoristische Form. Ich
erwähne drei Beispiele aus jüngster Zeit: In Sulingen in Preußen wurde vor
— 87 —
Auch weit harmlosere Anlässe genügen oft, um den im
Rufe der Zauberei Stehenden das Leben zu rauben. In der
Station Jumachanj-Jurta im kaukasischen Te rekgebiete betrank
dem Schöffengericht über folgenden Sachverhalt verhandelt. Der Kätner
F. K. in Lindem hatte ein krankes Kind. Eines Tages kommt eine Zigeunerin
ins Haus. Sie redet mit der Frau dies und das, sieht das kranke Kind and
merkt bald, daß hier ihr Weizen blüht. „Liebe Frau," sagt die Zigeunerin,
,,Ihr Kind ist behext, und das hat die Person getan, die nun zuerst hier ins
Haus kommt, etwas zu leihen." Nach einigen Tagen stirbt das Kind. Der
Nachbar, Schlächter L., muß, wie das ja Sitte ist, die ,, Leiche ansagen" im
Dorfe und bei den Verwandten. Er hat aber einen schlechten Handstock
und schickt deshalb seine Frau in das Sterbehaus, um einen besseren zu
leihen. Kaum hat die Frau L. ihren Wunsch ausgesprochen, da geht der Spek-
takel los, und es dauert nicht lange, so weiß das ganze Dorf Lindem, wer das
verstorbene Kind behext hat. Die Frau L. ist natürUch darüber empört, daß
sie für eine Hexe angesehen und als solche nun gefürchtet wird. Sie verklagt
die Frau K. wegen Beleidigung. Der Prozeß endete, nachdem der Amtsrichter
ein ernstes Wort gesprochen, mit einem Vergleich. Die Frau K. mußte öffent-
lich und feierlich vor Gericht erklären, daß die Frau L. keine Hexe sei. —
In der französischen Stadt Noissy-le-Sec wurde eine Frau als Hexe vor Ge-
richt gestellt. Man warf ihr zwar nicht vor, daß sie am Hexensabbath auf
einem Besen durch die Lüfte fUege, trotzdem aber bezeichnete man sie als
„den Schrecken des Landes", als eine Person, welche den ,, bösen Blick" werfe.
Auf Grund dieser Anschuldigungen hätte sich das Gericht allerdings mit Frau
Judin — dies ist der Name der ,, Zauberin" — nicht befaßt. Man konnte ihr
jedoch nachweisen, daß sie in einer Vermögensangelegenheit eine eigentüm-
liche Rolle gespielt. In Noissy-le-Sec lebte eine reiche Witwe Blanchet, zu
welcher ein Tierarzt nähere Beziehungen unterhielt. Der Einfluß des Mannes
genügte jedoch nicht, um Frau Blanchet hinsichtlich ihrer testamentarischen
Verfügungen, um die es Henry zu tun war, zu bestimmen. Da führte er die
Zauberin bei ihr ein. Diese gewann bald eine derartige Macht über die etwas
schwachsinnige Blanchet, daß letztere bUndlings alles glaubte und tat, was
Frau Judin genehm war. Es ist erwiesen, daß Frau Judin von Zeit zu 2^it
im Hause der Witwe wahre Hexenszenen aufführte, Geistererscheinungen
simulierte. So brachte sie die abergläubische Frau Blanchet endUch dahin,
ihr Testament, in welchem sie ihr ganzes Vermögen ihrer Schwester verschrie-
ben, als einen von Dämonen bewohnten Gegenstand ins Feuer zu werfen. Es
hielt dann nicht schwer, sie zum Verfassen eines neuen Testamentes zu be-
stimmen, durch welches Henry zum Universalerben eingesetzt wurde. Auf
die Klage der FamiUe der Frau Blanchet erklärte nun das Gericht das neue
Testament als erschlichen und daher ungiltig. Di^i ..Zauberin" kam jedoch
ohne Strafe davon. — Ein regelrechter Hexenprozeo faAd am 12. Januar
1903 vor dem Bezirksgericht in Fadd in Ungarn statt. Die Budapester Zei-
tungen vom 15. Januar berichteten hierüber in folgendem: Der wohlhabende
— 88 —
sich die Frau eines Atamans bis zur Bewußtlosigkeit und konnte
trotz aller Mittel nicht leicht wieder zur Besinnung gebracht
werden. An dieser Hartnäckigkeit der Besoffenheit konnte
Landwirt Andreas Schukkert kränkelte seit zwei Jahren unaufhörlich und an-
geblich hatten ihn bereits samtliche Pakser Ärzte behandelt, ohne jedoch im-
stande zu sein, eine Besserung bei ihm herbeizuführen. Während seiner langen
Krankheit hatte sich sowohl bei ihm, als auch bei seiner Frau der Gedanke
festgesetzt, daß ihn jemand ,, verwunschen" habe und daß dies niemand anderes
sein könne, als sein eigener Schwiegersohn, der Fleischhauermeister Stefan
Szalai. In dieser Bedrängnis ließ das Ehepaar den ,, Teufelsbeschwörer" von
Fadd holen, der auch bald erschien und, nachdem er verschiedene geheimnis-
volle Zeremonien veranstaltet hatte, in einer jeden Zweifel ausschließenden
Weise herausfand, daß Schukkert in der Tat ,, verwunschen" worden sei. Das
Erste, was das Ehepaar tat, war nun, daß es Szalai aus dem Hause jagte und
die Tochter zwang, ihren Gatten zu verlassen. Außerdem aber reichte das
Ehepaar auch eine Klage beim Kgl. Bezirksgerichte ein. Natürlich nahm der
Richter diese Anzeige nicht ernst, allein nun reichte auch Stefan Szalai eine
Klage wegen Verleumdung gegen seine Schwiegereltern ein, so daß sich das
Gericht mit der kuriosen Affaire beschäftigen mußte und der Unterrichter
Karl Khväcsy einen Rechtsspruch zu fällen genötigt war. Bei der Verhand-
lung klagte Schukkert dem Richter fast unter Tränen, was er leiden müsse
und daß die Ursache all dieser Leiden niemand anderes als Szalai sei, der
ihn durch seine teuflische Kabala verhext habe, um ihn zu verderben und
sich dann durch Erbschaft in den Besitz seines Vermögens zu setzen. — ,,Wie
können Sie so dummes 2^ug sprechen," sagte der Richter zu Schukkert,
,, wissen Sie denn nicht, daß es weder Hexen noch Zauber gibt?" Das Ehe-
paar Schukkert ließ sich aber dadurch in seinem Hexenglauben nicht er-
schüttern, sondern begann mit felsenfester Überzeugung die Details der ge-
schehenen ,, Verwünschung" zu schildern. ,,Als ich vor einiger Zeit in meinem
Bette lag," erzählte der alte Schukkert, ..ging plötzlich die Türe von selbst
auf und ein großer schwarzer Hund kam herein. Ich sprang aus dem Bette
und wollte ihm mit dem Besen einen Streich versetzen, da hatte sich aber der
Hund in Luft aufgelöst. Als ich dann in die Küche hinausging, fand ich ihn
dort wieder; ich wollte ihn auch von da vertreiben, da begann aber der Hund
ein schauerliches Gelächter auszustoßen. Ich hatte mich auch davon nicht
überzeugen lassen und begann auch bereits an die Sache zu vergessen, als plötz-
lich die an der Wand hängende Uhr mir in ihrem Tiktak zurief: ,,Du bist
verwunschen. Dein Schwiegersohn hat dich verzaubert". Jetzt erst wandte
ich mich an den Teufelsbeschwörer, der mir — mein Schwiegersohn befand
sich damals auf dem Markte — sagte, daß er Denjenigen, der mich verhext
habe, zitieren werde, und zwar wäre das die erste Person, die ins Zimmer
treten werde. Kaum hatte er jedoch erst die Beschwörung begonnen, als
mein Schwiegersohn hereintrat mit gesträubtem Haar, als ob ihn der Teufel
bei demselben herbeigeführt hätte." Und nun brachte Stefan Szalai seine
— 89 —
nur Zauberei schuld sein. Ein Greis, der zufällig dabei war,
wurde bloß wegen seines hohen Alters dieser Zauberei be-
schuldigt und sofort halbtot geprügelt. — Das Volk erwartet von
den Zauberern und Hexen nicht bloß übles, sondern verlangt
von ihnen auch Wunder imd Heilmittel in Krankheiten. Wehe,
wenn sie die an ihre Kraft geknüpften Erwartungen nicht
rechtfertigen! Im Jahre 1889 wurde im Mohilewschen Gou-
vernement ein Hexenmann erschlagen, weil er eine Frau von
einer Krankheit nicht zu befreien vermochte. In diesen Fällen
feiert auch ein Aberglaube Triumphe, daß ein behexter Mensch
gesund wird, wenn man den Zauberer oder die Hexe tötet
und mit dem Blute der Getöteten den Körper des Kranken
beschmiert. Ein solcher Fall ereignete sich im Jahre 1889
im Rauenburgischen Kreise i): Die kranke Frau eines Dorf-
ältesten beschuldigte ihre alte Tante der Hexerei. Die Hexe
wurde zur Kranken geschleppt und am Lager derselben mit
einem Zaunpfahl durchbohrt; dann schnitt man der gepfähl-
ten Hexe die Finger an und sammelte das Blut sorgfältig
in einem Gefäße, um die Kranke damit zu heilen.
Die russischen Historiker erzählen, daß Rußland nament-
lich im siebzehnten Jahrhundert von dem Übel der Besessen-
heit heimgesucht wurde. In der Stadt Schuja allein gab es
damals auf einmal siebzig Besessene. In jedem Orte nah und
fern ereigneten sich ununterbrochen Fälle von Besessenheit.
Die Klikuschy, wie die Besessenen russisch genannt werden,
litten an Konvulsionen und epileptischen Anfällen. Frauen
besonders gerieten in Verzweiflung, stürzten zu Boden und
jammerten, manchmal ohne besonderen Anlaß, gewöhnlich
Klage vor. Er sagte, daß man auf Schritt und Tritt diese Geschichte über
ihn verbreitet habe, daß die Leute ihn beschimpften und verfluchten, so, daß
er nicht mehr unter Menschen gehen und auch keine Arbelt bekommen könne.
Nach Vernehmung der Zeugen verurteilte der Richter Andreas Schukkert und
dessen Frau wegen Ehrenbeleidigung, weil er es durch die Zeugenaussagen
iür bewiesen fand, daß das Ehepaar Schukkert den angeblichen Hexenspuk
mehreren Personen mitgeteilt und dadurch den Kläger der allgemeinen Ver-
achtung preisgegeben habe. Der arme Schukkert bezahlte die ihm auferlegte
Geldstrafe und betrachtet auch dieses neue Mißgeschick als eine Folge der
Teufelskünste seines Schwiegersohnes, des Hexenmeisters.
1) Löwenstimm a. a. O. 58.
— 90 —
aber, wenn sie in die Nähe eines Heiligtums kamen, Kirchen-
gesang und Messe hörten. Es ist nachgewiesen, daß die Ur-
sache zu der historisch festgestellten förmlichen Epilepsie- uiid
Krämpfeepidemie von den abergläubischen Weibern selbst
durch das Zurückhalten der Menstruation hervorgerufen wurde.
Wen mm diese hysterischen Weiber als Urheber der Behexung
beschuldigten, der wurde den Folterknechten ausgeliefert. Peter
der Große suchte die besessenen Weiber nach seiner Art zu
kiu-ieren. Er ließ alle, deren man habhaft werden konnte,
nach Petersburg bringen und in Anstalten einsperren, wo sie
sich durch harte Arbeiten selbst schnell den Teufel austrieben.^)
Seit Peter dem Großen sind nun bis zum Jahre 1839 nicht
weniger als sieben Erlässe gegen die Besessenheit erschienen,
und doch hat das Übel nichts an seiner Verbreitung noch an
seiner Kraft eingebüßt. Außer den aufgezählten einzelnen
Fällen gab es noch in neuerer Zeit wahre Monstreprozesse in
Angelegenheiten von Besessenen vor allen Gerichten des
Reiches; so am 12. April 1861 in Jekaterinoslaw, am 28. Juli
1869 in Jaroslaw, am 31. Juli 1868 imd 22. Januar 1870 in
Moskau. 2) Wenn Rußland in bezug auf seine Kultur im all-
gemeinen nach den eigenen Geständnissen der russischen Intelli-
genz noch auf der Stufe des zwölften Jahrhunderts steht, so
darf man behaupten, daß es in Hinsicht auf den furchtbaren
Aberglauben imd die damit zusanunenhängenden tierischen
Verbrechen noch in seiner heidnischen Urzeit stecken ge-
blieben ist.
1) Halem, Leben Peters des Großen, III 136.
*) Löwenstimm a. a. O. 172.
— 91 —
6. Heidentum und Orthodoxie.
Einfluß der Naturvölker auf zivilisierte Europäer — Einfluß der Heiden auf
die Russen — Machtlosigkeit der Ethik in Rußland — Grausamkeit in der
Familie — Kraftlosigkeit des Christentums — Verwischung der Grenzen
zwischen Orthodoxie und (leidentum — Regierung und Kirche — Aberglaube
der nichtrussischen Völker in Rußland — Kalmücken — Kirgisen — Osseten
— Ainos — Kamtschadalen — Tscheremissen und Tschuwaschen — Letten
und Esthen — Wotjäken — Die tschudischen Zauberer — Orthodoxie und
Heidentum — Heidnische Christenfeste und Unsittlichkeit — Spaziergänge
der Jugend bei Russen und Wotjäken — Popen als Förderer des Heidentums
und Aberglaubens — Popen bei Tieropferungen — Popen bei Menschenopfe-
rungen — Popen gegen Vampyre — Nonnen als Hexen — Was ist Religion?
Was ist Sünde?
Die Kulturhistoriker und Anthropologen haben schon oft
die Bemerkung gemacht, daß selbst Europäer, die auf der
höchsten Stufe der Zivilisation stehen, von ihrer Umgebung
abhängen imd, sobald sie unter Naturvölkern leben, zu der
Stufe der Kultur dieser Naturvölker herabsinken. Dies gilt
namentlich dort, wo sich Europäer vereinzelt unter Natur-
völkern ansiedeln.!) Aber was bei den Europäern sich nur
dann ereignet, wenn sie vereinzelt unter eine Masse fremd-
artiger Umgebungen geraten, das geschieht bei den Russen,
auch wenn sie in ganzen Gruppen unter Fremdvölkem wohnen ;
ja sogar dort, wo die Russen die Herrschenden sind und die
Übermacht haben, ordnen sie sich bald und leicht der fremden
Kultur unter, die noch tiefer steht als ihre eigene. Der seit
tausend Jahren orthodox christliche Russe fühlt und denkt
noch so durchaus heidnisch, daß er sich in einem Kreise von
Heiden, wo sein abergläubischer Sinn und seine rohe Auf-
fassung der Sittlichkeit die leichteste Anpassung an gestattete
und offen geduldete Gebräuche finden, wieder glücklich als
ganzer Heide vorkommt. Leroy-Beaulieu^) sagte: „Wenn der rus-
sische Ackersbauer unter eine götzendienerische Bevölkerung
1) Dr. Heinrich Schurtz, Urgeschichte der Kultur. Leipzig und Wien
1900. S. 14.
«) Das Reich der Zaren. III 36.
— 92 —
•
versetzt wurde, adoptierte er außerordentlich leicht die aber-
gläubische Vorstellung seiner neuen Umgebung und bisweilen
sogar die heidnischen Riten." Wir haben aber bereits er-
fahren und werden es bis zum Schlüsse in diesem ganzen
Buche noch sehen, daß nicht nur der russische Ackerbauer,
sondern alle Schichten des russischen Volkes ohne Ausnahme
demselben Gesetze des Herabsinkens zu noch tieferen Kulturen,
zu einer noch laxeren Sittlichkeit unterliegen. Wir kennen
die tierische Verkommenheit, die zügellose Barbarei, die nicht
bloß in den Provinzen, sondern auch in den Zentren und
Residenzen des europäischen Rußland herrschen. Wir werden
noch mehr über diese Roheit der Geister, die wahrhafte
Impotenz der Ethik in Rußland erfahren müssen. Ein Jahr-
tausend seit der Einführung des Christentums hat sich ver-
flüchtigt wie der Steppenrauch und nichts ist geblieben als eine
dünne Schicht falscher Zivilisation, welche die überall durch-
brechende imzerstörbare Wildheit nicht zu decken vermag.
Es sind durchaus nicht zufällige vereinzelte Erscheinungen,
mit denen wir uns zu befassen haben, sondern Glieder einer
erdrückend schweren, einer endlos langen Kette, die in ihrem
Zusammenhange um das ganze Reich sich schlingt, das ganze
Volk in ihre Ringe schließt. Wenn wir mitteilen, daß ein
Bauer seine Tochter röstet, um sie zu einem Geständnis in
einer harmlosen Sache zu zwingen, so ist es nicht der eine
zufällig erwähnte Bauer, der unser Entsetzen hervorruft, son-
dern wir sehen einen Typus von Hunderten, von Tausenden
vor uns; einen einzigen Fall von endlos vielen der gleichen
Art. Wenn wir erzählen, wie Söhne ihre Mütter aus Aber-
glauben umbringen, wie Gatten ihre Gattinnen, Töchter ihre
Mütter und Mütter ihre Kinder als Hexen und Zauberer dem
Martertode ausliefern, so sind dies wieder nicht schauerliche
Ausgeburten einer finsteren Zeit, sondern ständige Vorkomm-
nisse der Gegenwart, die statistisch festzustellen sind wie Ge-
burten und Todesfälle und häufiger stattfinden als in anderen
Ländern Verbrechen; nein, nicht Verbrechen, sondern bloße
Vergehen. Die Lehren und Sittlichkeitsauffassungen des
Christentums sind an den Russen vollständig wirkungslos ab-
geprallt. Daher kommt es, daß die Russen im europäischen
— 93 —
Rußland zwar noch im Scheine des offiziellen Christentvuns
wandeln, sklavisch die Vorschriften der Kirche beobachten,
aber sofort ihr innerstes Heidentum hervorkehren, sobald sie
sich, endlich von den Fesseln der staatlichen Kirchenaufsicht
befreit, in den asiatischen Provinzen niederlassen. In Sibirien
schließen sich die Altgläubigen ganz offen den Religionsübun-
gen der Schamanen an und an den Ufern der Lena besuchen
auch die orthodoxen Russen, nicht vereinzelt sondern gemeinde-
weise, die buddhistischen Heiligtümer der Bur jäten, ihrer Nach-
barn, um dort zu beten und zu opfern, als wären sie in russi-
schen Tempeln.i) In der Gegend von Irkutsk, der Haupt-
stadt des ostsibirischen Generalgouvernements, der Residenz
eines orthodoxen Erzbischofs, findet man in den russischen
Isbas burjatische Götzen und in den Hütten der Burjäten die
Bildnisse des heiligen Nikolaj. Aber wir brauchen nicht so
weit zu reisen. Auch im europäischen Rußland, in den Ge-
bieten der Wolga-Gouvernements, unterliegen die Russen trotz
der Angst vor Kirchenstrafen und vor Verfolgungen der Re-
gierung immerfort dem Einflüsse der polytheistischen Tschu-
waschen und Tscheremissen und deren Fetischlehren. Die
Neigung zu Aberglauben, Zaubermitteln und grausamen wie
schamlosen Verbrechen wird durch die heidnischen Gebräuche
viel eher befriedigt und gerechtfertigt, als durch eine euro-
päische Zivilisation und eine edle Auffassung christlicher
Lehren, für deren Verbreitung in Rußland in tausend Jahren
sowohl der Staat als die Kirche bloß Oberflächliches getan
haben. Die Regierung hat nie ein aufrichtiges Interesse an
der Aufklärung gezeigt; sie verfolgte im Gegenteile stets das
Prinzip der Unterdrückung aller Kultur, der Steigenmg aller
Dununheit und Unsittlichkeit, aller Laster und schlechten In-
stinkte. Es gibt eigentlich nur ein einziges Buch, das zensur-
frei erscheinen darf imd daher am stärksten verbreitet ist;
das ist der Ssonnik, das Traumbuch, aber nicht einmal die
Bibel. Denn die selbstherrliche Regierung ließ vorsichtiger-
weise neben sich auch keinen gebildeten Klerus aufkommen,
und aus eigener Kraft hat sich die Geistlichkeit nie dazu
^) Leroy-Beaulien a. a. O.
— 94 —
aufraffen wollen, die Religion aus dem Sumpfe der Verkom-
menheit, in den sie immer tiefer versunken ist, emporzuheben
zu reiner Höhe und auf einen Gipfel, von wo sie Glanz und
Erleuchtung zugleich hätte ausströmen können. Es ist wahr-
lich schon des Staunens wert, daß Rußland bei alledem wenig-
stens dem Namen nach noch christlich geblieben ist, da das
Wesen der Religion mit dem Christentum nichts gemein hat
als die Reste, die sich aus dem Heidentum in einzelne christ-
liche Festgebräuche hinübergerettet haben.
Wenn wir nur einen flüchtigen Überblick über die aber-
gläubischen Sitten imd Gebräuche der nichtrussischen Völker
in Rußland werfen, müssen wir schon erkennen, daß die christ-
lichen Russen genau denselben Aberglauben, genau dieselben
Gebräuche besitzen wie die Heiden in Rußland; daß in dieser
Hinsicht nicht einmal ein Unterschied gemacht werden kann
zwischen Russen einerseits und Kalmücken, Kirgisen, Tungusen,
Burjäten, Wotjäken, Kamtschadalen, Osseten oder Tschu-
waschen andererseits. Es liegt nicht in meinem Plane, das
Thema des Aberglaubens in bezug auf alle nichtrussischen
Völker Rußlands zu erschöpfen. Ich will, wie es auch bei
der Schilderung des Aberglaubens der Russen geschehen ist,
und hier natürlich in noch mehr reduziertem Maße, nur einige
wenige charakteristische Momente aus dem Aberglauben
einiger weniger nichtrussischer Völker zum Vergleiche mit
dem Aberglauben der Russen hervorheben.
„An Aberglauben übertrifft der Kalmück alle bekannte
Völker. Jahrhunderte wären nöthig, um die Macht ihres Vor-
urtheils zu bezähmen**; also schrieb ein Livländer, der zwei
Jahre unter den Kalmücken gelebt hat, vor hundert Jahren.^)
Vergleichen wir nun die von diesem Schriftsteller angeführten
abergläubischen Gebräuche und Auffassungen der Kalmücken
mit den russischen — der Zeitunterschied von hundert Jahren
braucht nicht in Betracht gezogen zu werden, da sich bei
diesen Völkern in einem Säkulum nichts geändert hat — so
werden wir finden, daß die Kalmücken zwar ihren Aberglauben
1) Benjamin Bergmanns Nomadische Streif ereien unter den Kalmücken
in den Jahren 1802 und 1803. (Vier Teile.) Riga 1804. II. Tl. S. 258 und 261.
— 95 —
in ein System gebracht haben, aber daß alle diese Gebräuche
und Sitten großenteils harmloser Natur sind und nur selten
zu solchen wahnsinnigen Kapital- und Sittlichkeitsverbrechen
führen wie bei den Russen. Den bedeutendsten Platz im Aber-
glauben der Kalmücken nimmt wie bei den Russen die Be-
stimmung der glücklichen und unglücklichen Tage ein.^) Eine
eigene Klasse der kalmückischen Priester, die ihre besondere
Bezeichnung Dsurchaitschi führt, beschäftigt sich mit solcher
Bestimmung. Bei feierlichen Gelegenheiten zieht man die
Meinung dieser Gelehrten zu Rate. Die Liste der schwarzen
und der weißen Tage ist auf Monatstafeln verzeichnet, und der
Dsurchaitschi entscheidet mit einem Blicke auf seine zwölf
Monatstafeln schnell jede Anfrage. Ohne Befragimg des Dsur-
chaitschi wird keine Reise angetreten, keine Hochzeit voll-
zogen, keine Leiche bestattet. Den Kalmücken liegt sehr viel
daran, ob sie im Hundejahre, im Pferdejahre oder irgend einem
anderen Jahre geboren sind. Wer also in einem Hundejahre
geboren ist, darf nur in einem Hundejahre heiraten. Den
Tod vermag man natürlich nicht nach dem Jahre einzurichten ;
aber die Stunde der Beerdigung kann willkürlich festgesetzt
werden imd sie muß der Stunde der Geburt entsprechen.
Von dem nachteiligen Einflüsse der Mißgeburten, des Vogel-
fluges und der Tierstimmen auf die Schicksale der Menschen
handehi zahlreiche Bücher der kalmückischen Literatur. Die
Dsurchaitschi kennen genau diese Werke. Nicht alle Vögel
des europäischen und russischen Aberglaubens sind Gegen-
stand des kalmückischen, aber dafür sind im letzteren andere
Augurvögel vorhanden. Einer der heiligsten Vögel ist der
Kranich, dessen Erlegung ein schweres Verbrechen wäre ; denn
der Kopf des Kranichs stellt den beschorenen Schädel eines
Priesters vor. Verfolgt ist dagegen die weiße Bergeule; man
schießt sie, zerhackt sie in Stücke imd hängt die einzelnen
Teile in den Ställen auf, das bringt den Herden Gedeihen.
Wenn man auf einer Reise den weißen Mäusefalken von der
Linken zur Rechten fliegen sieht, so bedeutet dies guten Er-
folg; fliegt der Vogel von rechts nach links, so ist es am
1) Bergmann a. a. O. S. 261 ff.
— 96 —
klügsten, die Reise aufzugeben. Ein Unglücksvogel ist der
Flamingo. Die Taube hat nicht die Bedeutung wie bei den
Russen; wenn man sie unter dem Dache eines Hauses er-
wischt, tötet man sie durch einen Peitschenhieb. Im allge-
gemeinen gilt es als Unglückszeichen, wenn sich Vögel auf
das Dach einer Hütte setzen. Die Schlange genießt kein An-
sehen, sie ist ein Unglückstier. Es ist Sünde, sich auf die
Schwelle einer Tür hinzusetzen. Der Herd ist eine heilige
Stätte und das Feuer göttlich; man darf nicht auf den Herd
treten, die Füße nicht nahe ans Feuer geben, eine Feuer-
flanmie nicht schwenken. Wagt man im Herbst und Winter
zu pfeifen, so ruft man Stürme und Schnee herbei.^) Im Winter
und Herbst darf man keine Legenden von schrecklichen Göttern
lesen, sonst entsteht stürmisches Wetter. Wer seine Tabaks-
pfeife mit einem Papier anzündet, stirbt in Kurzem. Den Drei-
fuß darf man nicht schlagen. — Diese kalmückischen aber-
gläubischen Meinungen, sagt Benjamin Bergmann bei ihrer
Aufzählung^), sind allgemein verbreitet, Adel, Geistlichkeit hul-
digen ihnen noch mehr als das gemeine Volk. Sie sind gött-
liche Lehrsätze, deren Nichtachtung ein Verbrechen wäre, der
strengsten Ahndung in den künftigen Wanderungen würdig.
Bei den Kirgisen ist die Weissagung aus den Büchern eben-
falls Sache einer besonderen Klasse von Priestern, die Faltscha
heißen.^) Die Jauruntschi dagegen sind Priester oder Zauberer,
die aus dem Schulterblatte eines Schafes prophezeien. Wenn
sie das Schulterblatt auf ein Feuer legen, können sie aus den
Rissen und Spalten die Entfernung eines abwesenden Menschen
1) In Livland sagt man: Pfeift man am Abend, so ruft man den Teufel
zor Nacht herbei.
«) a. a. O. S. 265.
•) Ausführliches in den Reisen von Pallas, von denen ich die seltene
französische Ausgabe in fünf Bänden in 4® nebst einem Atlas besitze: ,,Voyages
de M. P. S. Pallas, en differentes provinces de 1' Empire de Russie, et dans
l'Asie septenthonale, traduits de Tallemand par M. Gauthier de la Peyronie.
Paris 1788." — Am häufigsten ist der deutsche Auszug in einem kleinen Oktav-
bändchen von 300 Seiten, auf den ich daher hier bezug nehme: , .Merkwürdig-
keiten der Morduanen, Kasaken, Kalmücken, Kirgisen, Baschkiren. Ein Aus-
zug aus Pallas Reisen. Frankfurt und Leipzig 1773." Über kirgisischen Aber-
glauben S. 282.
— 97 —
bestimmen. 1) Die Bakscha-Zauberer brauchen, um Propheten zu
werden, die Opferung eines Pferdes, Schafes oder Bockes,
und führen dann bei ihren Weissagungen mit Zaubertronunel
und Klapperringen einen Zaubertanz auf, werfen die bemalten
Knochen der geopferten Tiere gen Westen und verschütten
nach derselben Himmelsrichtung auch das Blut der Opfer.
Eine vierte Art Zauberer sind die Ramtscha, die Butter oder
Fett ins Feuer schütten und aus der Farbe der Flammen wahr-
sagen. Die Hexen, Dschaadugar, bezaubern die Gefangenen
und Sklaven, um sie an der Flucht zu hindern; die Be-
zauberung geschieht auf folgende Weise: man rauft dem zu
Bezaubernden ein paar Haare aus, fordert seinen Namen und
bringt den Mann dann auf den Feuerplatz; seine Fußstapfen
werden von der Hexe angespuckt, seine Zunge aber mit Asche
vom Feuerplatze bestreut.
Im Kaukasus hat jedes der dort lebenden Völker seine
abergläubischen Spezialitäten. Der Unterschied zwischen
Christen, Moslems und Heiden besteht gewöhnlich nur in Äußer-
lichkeiten. Bei den Osseten beispielsweise gelten diejenigen,
welche Schweinefleisch essen, als Christen; jene aber, welche
kein Schweinefleisch essen, sind die Moslems. Sowohl diese
sogenannten Moslems als diese sogenannten Christen opfern
nach alten heidnischen Gebräuchen in Höhlen und heiligen
Hainen, auf uralten Altären und Steinhaufen. Wenn jemand
vom Blitze erschlagen wird, so gilt er als heilig und wird
an der Stelle, wo er gefallen, unter allgemeinem Jubel be-
graben; das Grab wird zu einem Wallfahrtsorte. ™an glaubt,
daß der heilige Elias, der Herr der Felsgebirge, den durch
den Blitz Erschlagenen unmittelbar zu sich genommen habe.
Hunde, Katzen und Esel sind bei den Osseten zauberhafte
Tiere. Wenn man an jemanden eine Forderung hat oder von
jemandem beleidigt worden ist und nicht zu seinem Rechte
1) Wie sich diese Wahrsager durch zweideutige Orakelsprüche schlau
aus der Af faire zu ziehen wissen, wird erzählt in ..Des Herrn Kapitains Niko-
laus Rytschkow Tagebuch über seine Reise in die Kirgiskaisakische Steppe
im Jahre 1771 aus der russischen Ausgabe zu St. Petersburg vom Jahr 1772
übersetzt von Hase." In Büschings Magazin für die neue Historie und Geo-
graphie, Bd. VII, 417 — 474. Vgl. S. 458 — ^459.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Ru&land. 7
— 98 —
gelangen oder Genugtuung erhalten kann, so wendet man
folgendes Mittel an: man schlachtet auf dem Grabe der Vor-
fahren des Schuldners oder Beleidigers eine Katze, einen Hund
oder Esel. Dadurch geraten die Seelen der Verstorbenen in
Gefahr, zu Katzen, Hunden oder Eseln degradiert zu werden,
wenn nicht der Nachkomme schleunigst seine Schuld begleicht
oder dem Beleidigten Genugtuung gibt. Es kommt niemals
vor, daß dieses Mittel nicht helfen würde.^)
Das Feuer, das im russischen Aberglauben eine große
Rolle spielt, hat auch bei vielen Völkern im äußersten Nord-
osten eine besondere Bedeutung. Bei den Ainos auf Sachalin 2)
ist es verboten, das Feuer des Herdes aus dem Hause zu
tragen. Das Herdfeuer muß Winter wie Sonmier fortbrennen,
denn wenn das Feuer verlöscht, ist es der Hausgeist der stirbt.
Wenn man fortgehen oder schlafen muß, dann deckt man
das Feuer sorgfältig niit Asche zu, um bei der Rückkehr
oder beim Erwachen noch einige glimmende Reste zu finden.
Das Herdfeuer darf man nur mit dem Feuerstahl anzünden,
während man Zündhölzchen höchstens für das Anbrennen der
Tabakspfeifen verwenden soll. Man hüte sich, ein Zündhölz-
chen, eine brennende Zigarette oder sonst etwas Brennendes
ins Wasser fallen zu lassen; das wäre die schwerste Sünde:
Feuer wird dann durch Wasser, der hohe Feuergott durch
einen niedrigen Wassergeist besiegt. — Bei den Kamtscha-
dalen^) ist es Sünde, sich in heißem Wasser zu waschen,
heißes Wasser zu trinken oder sich Vulkanen zu nähern.
Besonderes Interesse gebührt den Gebräuchen der Tschere-
1) August Freiherr von Haxthausen, Transkaukasia. Andeutungen
über das Familien- und Gemeindeleben und die sozialen Verhältnisse einiger
Völker zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meere. Reiseerinnerungen
und gesammelte Notizen. Leipzig 1856 (2 Bände) II 17. — Man vgl. femer
über den Aberglauben der kaukasischen Völker die bekannten Werke von
Karl Koch, Roderich von Erckert, Schweiger-Lerchenfeld, Gustav Radde,
C. Hahn, Baron Thielemann, Bodenstedt und die älteren Arbeiten von Han-
way, Chardin, Klaproth, Güldenstädt, Reineggs, Eichwald, Wagner und Neu-
mann.
2) P. Labb6, Un bagne russe. L'ile de Sakhaline, Paris 1903. p. 193.
S) Histoire de Kamtschatka, des lies Kurilski et des contr6es voisines.
Publice en Langue Russienne, traduite par M. £♦♦♦. A Lyon 1767. II 169.
— 99 —
missen, Tschuwaschen und Wotjäken. Die Tscheremissen^)
arbeiten während der Kornblüte, etwa drei Wochen lang, gar
nicht. Arbeiten in dieser Zeit ist Sünde. Nur das Unkraut
darf man ausreuten. Nach den drei Wochen begibt man sich
— auch bei den christlichen Tscheremissen — in den Wald
nach den alten Opferplätzen und schlachtet dort Kühe, Schafe
und Hausgeflügel den Göttern zu Ehren. Die Opfertiere wer-
den auf Kosten der ganzen Gemeinde gekauft, beim Handel
darf nicht gedungen werden. Das Fest fällt um die Johannis-
zeit. Im Walde bezeichnet auf freier Stelle ein einsamer hoher
Baum den Opferplatz. Dort versammeln sich die Männer,
die Frauen haben keinen Zutritt. Drei Tage bleibt man vereint;
während dieser Zeit darf man nicht rauchen, schnupfen, Brannt-
wein oder Bier trinken. Dagegen ist Met zu trinken erlaubt,
er muß aber auf dem Opferplatze selbst bereitet worden sein.
Sieben Feuer werden in einer Linie angezündet von Nordwest
nach Südost und vor jedem Feuer breitet man ein Tuch aus.
Sechs Feuer sind Göttern geweiht, das siebente aber gilt der
Jumon Awa, der Gottesmutter. Die Zeremonie verläuft wie eine
christliche Messe. Und so wie sich Heidentum und Orthodoxie
hier mengen, so nehmen an dem Feste nicht bloß heidnische
und christliche Tscheremissen, sondern auch rechtgläubige
Russen teil. Das Gleiche ist bei den Gottesdiensten der Tschu-
waschen zu beobachten.
Von dem Aberglauben der alten Letten und Esthen lesen
wir bei Hiärn^): „Wenn bei den Letten jemand über See
verreist und lange ausgeblieben war, gössen sie zerschmoltze-
nen Wachs ins Wasser und nahmen ihre Deutung aus dem
Gestalt des Wachses, wie es umb den reisenden stünde.** —
„In Ehstland haben sie noch diesen abergläubischen Gebrauch,
daß sie alle neue Jahr einen Götzen von Stroh in Gestalt
eines Mannes machen, den sie Metziko nennen, und eignen
ihm zu die Krafft, daß er ihr Viehe vor den wilden Thieren
bewahren und ihre Grentze hütten solle. Diesen begleiten
sie alle aus dem Dorff, und setzen ihn an dero Grentzen
^) Haxthausen, Studien über die inneren Zustände Rußlands. I 446.
«) a. a. O., 30—33. 169.
7*
— 100 —
auf den nächsten Baum." — „Den neuen Mond grüßen noch
die Ehsten mit folgenden Worten: Terre Terre Kun sina wanax
mina norex Kun Kulda pelgex Rauta Rohwat terwex pidagex.
Den eigentlichen Verstand können sie selbst nicht wissen, son-
dern sagen, sie habens von ihren Vor-Eltern also gehöret und
gelernet. Meiner Meinung nach könnte mans also verteut-
schen: Sey gegrüßet, Mond, daß du alt werdest, und ich
jung bleibe. Dem Monde gedeye das Gold zu seiner Schönheit,
die Menschen aber mögen so gesund bleiben, wie das Eisen
fest und starck ist.** Diese altlettischen und estnischen Ge-
bräuche sind bei den Russen in getreuer Nachahmung an-
zutreffen.
Wir haben nun noch einiges von den Wotjäken zu sagen,
deren Aberglaube dem russischen am nächsten steht.
Bei den Wotjäken gibt es eine Unmenge abergläubischer
Anzeichen und Anempfehlungen. Wir erwähnen folgende^):
Wenn der Bär in des Dorfes Nähe seine Höhle gegraben hat,
wird das Jahr wildreich sein. Wenn der Rosse Mähnen sich
verwirren, wohnt die viehhütende Gottheit im Stalle. Wenn der
Hund heult, geschieht irgend ein Unheil. Wenn die Katze ihre
Ohren wäscht, wird schlechtes Wetter. Wenn das Schwein
grunzend Stroh zu seiner Schlafstelle trägt, wird kaltes Wetter.
Wenn du im Frühjahre das Schwein die gefrorene Erde auf-
wühlen siehst; oder wenn du den Schweinigel ausgestreckt
liegend siehst, wirst du im selben Jahre sterben. Wenn das
Eichhörnchen für den Winter viele Tannenzapfen sammelt,
wird der Winter kalt sein. Wenn du eine Ratte während einer
Hochzeit fängst und sie in den Bach wirfst, werden die übrigen
Ratten aus deinem Hause auswandern. Ißt du von Mäusen
angefressenes Brot, werden deine Zähne nie schmerzen. Die
Getreideart, welche die Mäuse besonders gefressen haben, wird
in dem Jahre nicht besonders gedeihen. Wenn im Frühjahr
die Vögel zeitig ankommen, wird der kommende Sommer warm
1) Dr. B. Munkdcsi, Votjäk nöpkölt6szeti hagyomänyok. Verfasser hat
im Auftrage der ungarischen Akademie der Wissenschaften 1885 eine Studien-
reise im Lande der Wotjäken und Wogulen unternommen und als Ergebnis
zitiertes Werk in ungarischer Sprache im Verlage der genannten Akademie
herausgegeben. — Auszüge aus diesem Buche in ,.Am Urquell'* IV 88 — 91.
— 101 —
sein. Wenn der Hahn mittags kräht, wird Krieg werden. Wenn
deine Henne wie ein Hahn kräht; oder wenn deine
Henne ein winziges Ei legt; oder wenn die Henne sich nicht
bis spät abends zum Schlafen setzt, so ist Unheil im Anzug.
Wenn sich eine Krähe aufs Hausdach setzt, wird in diesem
Hause bald ein toter Mensch sein. Wenn an deinem Hause
eine Mauerschwalbe oder Taube lebt, so wirst du glücklich
leben; wenn eine veCä-Schwalbe (hirundo rustica) lebt, so wirst
du verarmen. Wenn der Kuckuck auf deinem Drecke sitzend
seinen Ruf erschallen läßt und du ihn hörst, wirst du im
selben Jahre sterben. Wenn du im Frühling zuerst von allen
Vögeln die Wachtel hörst, werden das ganze Jahr hindurch
deine Pferde fett sein ; hörst du aber den Wachtelkönig, werden
deine Pferde mager, ausgehungert sein. Wenn sich die Schaf -
zacke in deinen Nacken einbeißt, wächst hoch dein Hanf.
Schwarze Ameisen im Hause bedeuten Glück, Borkenkäfer da-
gegen Unglück. Im Regen stehend wächst du groß. Beim
ersten Donner im Frühling leg dich auf die Erde. Wenn es
donnert, halte deinen Hund nicht in der Stube, neben ihm
geht Schajtan (Satan) einher. Wenn nach Inmars (des obersten
Gottes) Blitzschlag Feuer entsteht, so lösche es mit Bier oder
Kwaß oder Milch; mit Wasser kannst du es nicht auslöschen.
Das von Inmars Blitz getroffene Holz ist ein Material für
gutklingende Harfen. Wenn du nachts ein Irrlicht siehst,
sprich: Mein Herr! Dieses Irrlicht ist die Seele einer verstor-
benen Hexe, des Menschen Seele zu erhaschen schweift das
Irrlicht umher. Im Frühling darf man nicht Eier essen oder
viel schlafen, man bekommt davon die Gelbsucht. Wenn die
Sonne untergeht, schlafe nicht; dein Kopf wird dir schmerzen.
Mittwoch und Freitag beginne nicht zu arbeiten. Bei Neu-
mond beginne nicht das Düngen oder welche Arbeit immer.
Zu Neumond geborenes Kind wird ein schweres Leben haben.
Am 21. März lege man die Schlitten beiseite; an diesem Tage
feiern selbst die Tiere; da bellt weder ein Hund, noch baut
ein Vogel sein Nest. Wenn du im Traume ins Wasser fällst
und untersinkst, wirst du sterben. Wenn du im Traume vom
Hausdach herabfällst, wirst du wachsen. Wenn du im Träume
ein neues Haus siehst, so stirbst du selbst oder es wird in
— 102 —
deinem Hause ein Toter sein. Wenn du im Traume einen
Pfarrer siehst, wirst du in deinem Hause einen Toten haben.
Damit dein geträumter Traum nicht über dich komme, so
spucke wenn du deine Notdurft verrichtet hast auf deinen
Dreck.
Die Wotjäken ehren außerordenthch ihre Wahrsager, denn
diese erhahen ihre Ausbildung direkt von den Göttern und
Engebi. Der Priester Wasüjev^) erzähh: Die Götter lehren
den Wahrsager über einen Bach gehen und warnen ihn vor
dem Absturz; stürzt er, so schlagen ihn die Götter. Sie lassen
den Wahrsager über die Wipfel und Birken springen oder in
Schlangen schlüpfen, die Feuer atmen. Der Wahrsager legt
sich eine Silbermünze auf den Finger und sieht und erkennt
aus dieser Münze alles. Wer ein Wahrsager werden wird,
erkennt das Volk daran, daß der von den Göttern Bestimmte
sich oft vom Hause entfernt, um sich durch die Götter unter-
richten zu lassen. Niemand weiß, wohin der Wahrsager geht.
Der Auserwählte zeigt sich gewöhnlich närrisch, er schreit und
schlägt sich. Im Feuer verbrennt er nicht. Viele Wahrsager
machen verblüffende Kunststücke und gewinnen dadurch
Ansehen.
Zauberer, Hexen und Geister gibt es bei den Wotjäken
ohne Ende.2) Am Gründonnerstag verwandeln sie sich in
Schweine, Hunde, Katzen. Sie holen die Kinder noch vor
der Geburt aus dem Mutterleibe und verspeisen sie; statt des
Kindes legen sie der Mutter einen Feuersbrand unters Herz.
Wer ein Hexenmeister werden will, geht um Mitternacht mit
einem großen Brot in die Badstube, während dort kein Feuer
ist, setzt sich auf die Pritsche, tritt mit dem Fuße aufs Brot,
nimmt sein Kreuz vom Halse, legt es unter den anderen Fuß
und spricht: „Ich glaube nicht an GottP* Dann kommen
die Teufel und lehren ihn wie er die Menschen verderben
soll. Der Zauberer kehrt auch nach seinem Tode in sein
Haus zurück; man erkennt dies daran, daß in seinem Grabe
1) Priester Johann Wasiljev, Übersicht über die heidnischen Gebrauche,
Aberglauben und Religion der Wotjäken in den Gouvernements Wjatka und
Kasan. Helsingfors 1902. S. 14.
*) Wasiljev a. a. O. 21.
— 103 —
eine Öffnung sich befindet; man stößt dann hier einen Pfahl
aus Espenholz hinein, und der Tote kann nicht mehr umher-
schweifen.
Von dem sogenannten Schamanentum, dessen Reich sich
von Finnland bis zum äußersten Osten erstreckt und das auf
die Gebräuche und Sitten der Russen einen mächtigen Ein-
fluß ausgeübt hat, werden wir im nächsten Teile, wo von der
Religion, dem Klerus und Kultus der Russen die Rede sein
wird, zu sprechen Gelegenheit haben.
Alle abergläubischen Gebräuche, die in diesem Abschnitte
erwähnt wurden, sind uralt. Die Russen haben sie ohne Aus-
nahme übernommen, als sie selbst noch Heiden waren; sie
haben, seit sie Christen geworden sind, es niemals verstanden
und auch niemals gewollt, der heidnischen Völkersitten Unter-
drücker zu werden; sondern vielmehr ihr eigenes Denken
und Fühlen dem heidnischen angepaßt und untergeordnet.
Der gesamte Aberglaube des Nordens, der von der Ostsee
bis zum Stillen Ozean herrscht, stammt aus dem alten Finn-
land. Dieses Land, das Land der Tschuden, war schon in
den ältesten Zeiten berühmt wegen seiner Wahrsager und
Zauberer; man kam aus dem christlichen Rußland zu den
Tschuden, um deren Zauberer Orakel zu vernehmen oder be--
rief berühmte tschudische Wahrsager nach den russischen
Städten. Die tschudischen Zauberer fühlten sich stärker als
der Russen Christen-Gott und wagten die höchsten kirchlichen
Würdenträger der Russen zu verspotten. Nur einmal hatte
ein Russe den Mut, solchen Spott zu strafen, und die Chronisten
verzeichnen diesen einen Fall mit besonderer Genugtuung als
ein Zeichen höchster christlicher Glaubenskraft. So berichten
sie: Ein tschudischer Zauberer insultierte den Bischof von
Nowgorod, indem er sagte, er könne größere Wunder tun
als der Diener des russischen Gottes; er werde also den Fluß
Wolchow trockenen Fußes durchschreiten. Das Volk drängte
sich herzu, um Zeuge zu sein wie der Heide über den
Bischof triumphieren wollte, und überhäufte schon den
christlichen Hirten mit Hohnreden. Da kam Gljeb Fürst
von Nowgorod herbei und näherte sich dem Zauberer mit der
Frage: „Meister, was denkst du bald zu werden?** — „Ich
— 104 —
werde große Wunder tun/* entgegnete der Zauberer. — „Du
lügst/* sagte der Fürst und hieb ihm den Kopf ab. Das Volk
sah den unverwundbaren Wundermann fallen, aber der ver-
einzelte Streich hat dem Aberglauben der Russen nicht den
Garaus machen können. Das tschudische Zauberwesen hat
sich neben dem Christentum und stärker als dieses in Ruß-
land selbst behauptet. Es ist stärker als das Christentum,
stärker wenigstens als das Christentum, das sich Orthodoxie
nennt. Denn in seinem Ursprungslande Finnland und in Skan-
dinavien, wo der Protestantismus Wurzel gefaßt hat, ist der
Aberglaube, wenn nicht verdrängt, so doch nicht mehr die
finstere Kraft, welche die Völker widerstandslos macht. Für
seinen Heimatsboden ist das Zauberwesen der Tschuden histo-
rische Erinnerung geworden, lebt es nur noch fort in einer
Zauberliteratur, die ihresgleichen nicht hat, in magischen For-
meln und Beschwörungen, die in Epen und Lieder gebannt sind ;
und wirkt überzeugend bloß noch in den niedersten Schichten
der menschlichen Gesellschaft. Im großen Rußland aber hat
die Orthodoxie dem Aberglauben kein Hindernis entgegen-
gestellt; war sie vielmehr der Boden, der ihn liebend aufnahm
und dankbar festigte; und durch die Unwissenheit und Träg-
heit ihres Priestertums hat sie den tschudischen Aberglauben
zu einer P^eligion in ihrer Religion gemacht, zu einem Neben-
buhler des Christentums und meist auch zu einem Beherrscher
der russischen Kirche. In Zeiten der Not und des Janmiers,
wenn der Hunger, der in tausend Jahren hundertmal das russi-
sche Volk bedrückt und erschöpft, oder die Pest und die
Cholera ihre Geißel erbarmungslos schwingen, wenden sich die
Verzweifelten nicht zum Gotte der Orthodoxie, sondern zu jenen
Heiligen, die an die Stellen der alten Heidengötter getreten
sind; man vertraut nicht dem Glauben, sondern dem Aber-
glauben, und weniger dem Priester als dem Magier. In Zeiten
der Ruhe und des normalen Lebens sorgt man für schwere
Tage vor, indem man durch die Zauberer Vorsichtsmaßregeln
treffen läßt. Nicht heimlich, sondern öffentlich; nicht Ein-
zelne, sondern die Gemeinden holen bei Schamanen und
Schwarzkünstlern Rat ein, wie die Menschen vor Krankheiten,
die Tiere vor Seuchen zu behüten sind. Läßt der Bauer seinen
— 105 —
Acker durch den Priester einsegnen, so ruft er auch den
Hexenmeister zu nachträglicher Weihung i), die ihm sicherer
scheint als der Segen der Kirche. — Das Fest Semik, das am
Sonntag nach Christi Himmelfahrt gefeiert wird und die Wieder-
kehr der Fruchtbarkeit symbolisiert, ist die reine Kopie des
heidnischen Festes der Slawen, und wie vor tausend Jahren
schmückt man die Bäume mit Bändern und betet sie an.^)
In den Festliedem besingt man Tur, Did und Lada, die Götter
des Vergnügens imd der Liebe; die Alten berauschen sich
im Branntwein, und die Jugend, durch laszive Tänze erhitzt,
spaziert in die Büsche. Das russische Wort für spazieren, guljat,
bedeutet in ausgelassenem Sinne auch huren, und beim Feste
Semik gewinnt es diese zweite Bedeutung vollkommen, ohne
daß die orthodoxe Moral sich verletzt fühlen würde. So
machen es auch die heidnischen Wotjäken^): Jünglinge und
Mädchen ziehen am Vorabend der Feste von Haus zu Haus
und tanzen obszöne Tänze, singen obszöne Lieder und ver-
schwinden dann hinter Gebälk oder in Gärten, um der Wollust
zu frönen; auch bei ihnen heißt diese freie Sitte der Liebe
jumgan, der Spaziergang. Auch bei den Prostituierten ist dieses
Wort vom Spazierengehen zur eigentümlich präzisen Charakteri-
sierung ihrer Beschäftigung in häufigster Anwendung.^) So
sagt die Prostituierte in Petersburg, wenn sie sich auf den
Kundenfang vom Hause fortbegibt: „ryjiHio", ich bummele.
Und sie schildert gleichzeitig den Grad ihrer Abhängigkeit von
ihren Exploitatoren durch folgende Ausdrücke: „ryjiaio na
ceöa" oder „ryjiHio na xoaHÜKy**, nämlich : ich bummele für mich,
um mir selbst Geld zu erwerben; oder ich bummele für Rech-
nung der Wirtin, um für die Wirtin Geld zu verdienen.
Die Popen finden in den erwähnten Spaziergängen,
nichts Unsittliches und nichts Unchristliches; trinken selbst
1) Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaxen. III 38.
2) Chronique de Nestor II Anhang 173.
8) Munkäcsi, in „Am Urquell" IV 91.
*) Vgl. Die Prostitution. Ein Beitrag zur öffentlichen Sexualhygiene
und zur staatUchen Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. Eine sozial-
medizinische Studie von Dr. C. Ströhmberg, Stadtarzt und Oberarzt des
Stadthospitals in Jurjew (Dorpat). Stuttgart 1899. S. 35.
— 106 —
mit bei den Festen, beteiligen sich selbst an den Vergnügungen,
welche die alten Liebesgötter beschützen. Machen sie doch
auch die weniger amüsanten Überlieferungen des Heidentums
willig mit. Der gottesfürchtige Priester der orthodoxen Kirche
hält es mit dem Glauben vereinbar, sich über ein Feld hin-
ziehen zu lassen, um dem Bauer die Gewißheit zu verschaffen,
daß durch diesen magisch-religiösen Akt Gott sich bewegen
lassen werde, die Runkelrüben dicker und größer wachsen
zu lassen. Freudig legt der Pope sein Haupt in des Bauern
Schoß und läßt sich einige Haare ausrupfen, damit durch deren
Verbrennung bei entsprechender Beschwörungsformel das Ge-
deihen des Flachses gefördert werde. i) Wenn es gilt dem
Wüten der Rinderpest Einhalt zu tun 2); so sieht man selbst
im Mittelpunkte des Reiches, also in den Gouvernements um
Moskau herum, die ländliche Bevölkerung zu den Riten der
heidnischen Ahnen zurückkehren: Dann machen sich die
Weiber auf, um durch das Umpflügen die Seuche zu bannen.
Die Alten gehen halbnackt mit den Heiligenbildern voraus,
die Mädchen aber werden, so wie Gott sie erschaffen hat, vor
einen Pflug gespannt und ziehen mit ihm dreimal um das
Dorf herum eine Furche, einen Schutzgraben, über den die
Seuche nicht hinüber kann. Nützt das Werk der Weiber
nicht, dann wissen die Männer ein anderes Mittel : Sie machen
eine Strohpuppe als Identifizierung der Seuche, binden die
Puppe mit einer Katze oder einem Hunde zusammen, ziehen
in Prozession zum Flusse unter Voranschreiten des Popen, der
in seiner festlichen Tracht an der Ersäufung der Seuchenpuppe
und der Seuchentiere teilnimmt und die heilige Handlung des
Aberglaubens nach kirchlichem Ritus segnet.
Die Kirche der Orthodoxie duldet nicht bloß die Opferung
von Stieren und Böcken bei den Burjäten gelegentlich des
Festes am Tage des Propheten Elias (am 20. Juli), sondern
sie läßt diese Opferung auch in der Umzäunung der Kirche
vornehmen, und das gekochte Fleisch der Opfertiere wird zur
1) Lanin, Russische Zustande I 85.
s) Leroy-Beaulieu a. a. O. III 38. — Löwenstimm, Aberglaube und
Straf recht. (Aus dem Russischen.) S. 24.
— 107 —
Hälfte an die Bauern, zur anderen Hälfte aber an die Priester
und Kirchendiener verteilt. i)
Von der Opferung eines Tieres bis zur Opferung von
Menschen ist in diesem heidnisch-orthodoxen Rußland nur
ein einziger Schritt. Und wir sehen tatsächlich die Kirche
auch bei Menschenopferungen und Ermordungen von Zaube-
rern assistieren. In alten Zeiten wurden in Rußland Hexen
mit Vögeln, Katzen und Hunden zusammengebunden und
lebend in den Fluß geworfen oder in die Erde verscharrt.
Nicht immer wird heutzutage die Krankheitshexe durch eine
Strohpuppe ersetzt, wie wir es vorher gesehen haben. Allzu-
oft wird noch dieselbe Zeremonie mit lebenden Menschen und
Tieren wiederholt; vielleicht daß man eher mit den Tieren
Mitleid hat als mit den Menschen; und wenn der Pope mit
dem Kreuze erscheint, so geschieht dies nicht, um das Ver-
brechen zu verdammen, sondern die Handlung zu heiligen.
Glaubt das Volk, daß ein Vampyr im Dorfe umherschweife,
so zieht es mit dem Popen an der Spitze zum Grabe des Vam-
pyrs, holt die Leiche hervor und durchstößt sie mit dem
Eschenholzpfahle, nachdem der Pope seine Genehmigung und
seinen Segen dazu erteilt hat.
Und stehen nicht die Popen und Nonnen selbst den heid-
nischen Zauberern und Hexen näher als Priestern einer christ-
lichen Kirche? Vor zweihundert Jahren schrieb ein deutscher
Reisender 2): ^,Es werden selten / sonderlich unter vornehmen
Leuten Heyrathen vollzogen / wo nicht einige Zauberey mit
vorgehet / die man unter anderen denen Nonnen schuld
giebet / welche ihr vornehmstes Geschafft darmit treiben.**
Das ist heute nicht anders, nicht besser jedenfalls. Das Haupt-
geschäft der orthodoxen Priester und Nonnen ist der Handel
mit Aberglauben, Verbrechen und Unsittlichkeit.
Was ist hier Religion? Baron Herberstein erzählt, daß
Großfürst Iwan Danilowitsch deshalb Moskwa zu seiner stän-
digen Residenz machte, weil dort die Gebeine des heiligen
wundertätigen Alexej ruhten. Als Peter der Große seine Resi-
1) Löwenstimm a. a. O. lo.
2) Reise nach Norden. 1705. S. 130.
— 108 —
denz an die Newa verlegte, jammerte Rußland, das könne
nicht Glück bringen, weil in der neuen Hauptstadt keines
Heiligen Grab sich befand. Und Peter der Große, der das
Patriarchat abschaffte, die Zauberei bekämpfte, den Bart
rasierte, ließ eilig die Gebeine des heiligen Alexander Newsky
von Wolodimir nach Petersburg mit feierlichstem Pomp über-
führen, um das Gedeihen der neuen Hauptstadt zu sichern.
Was ist Sünde ? Nicht ehebrechen, huren, rauben, morden,
lügen. Aber Sünde ist es, wenn eine Frau, die ihre Men-
struation hat, ein Heiligenbild berührt ; und Sünde ist es, wenn
man in der Kirche freiwillig oder unabsichtlich einem Heiligen-
bilde den Rücken zukehrt.
ZWEITER TEIL:
Kirche, Klerus und Sekten
7. Religion und Popentum. — 8. Unsitten
im Mönchstum. — 9. Heiligenkult und
Mystizismus. — 10. Sektenwesen. —
II. Erotische Sekten und Flagellanten.
— 12. Selbstverstümmler und Skopzen.
7. Religion und Popentum.
Die Gläubigkeit des Russen — Russische Bekenntnisse — Falsches Christen-
tum — Religiosität im Aberglauben — Der Zar ist Gott — Religion und Auto-
kratie — Religion und Geschlechtsleben — Fasten und Coitus — Coitus und
Kirchenbesuch — Die Frömmigkeit der Prostituierten — Unsittlichkeit des
Taufens — Predigen ist verpönt — Das Kreuzschlagen — Feste und Fasten — •
Unzucht und Unordnungen in der Butterwoche — Erfolglosigkeit des Pro-
sel3rtismus — Bestrafung Abtrünniger — Niedrigkeit des Priestertums —
Prügelung von Priestern — Die Hauszucht der Bischöfe — Barbarei in den
Popenschulen — Unwissenheit des niederen Klerus — Urteil eines Bischofs über
das Popentum — Verkauf der Kirchenstellungen — Armut, Elend und Sitten-
losigkeit im Popentum — Die Beichte im Dienste der Polizei — Trunksucht
der Popen — Schacher mit Aberglaube und Religion — Der Pope ein un-
reines und zuchtloses Geschöpf — Schuld der Regierung und des hohen Klerus
an der Verkommenheit des Popentums — Martyrium der Popen.
Der Franzose Custine ^) schrieb einmal diesen Satz nieder :
„Le peuple russe est de nos jours le plus croyant des peuples
chr^tiens.** Es wäre falsch, wollte man dieses Urteil des
Westens in europäischem Sinne uneingeschränkt bestätigen.
Das russische Volk ist das gläubigste unter allen christlichen
Völkern, aber sein Glaube selbst verdient nicht den Namen
des Christentums und entspricht nicht den Begriffen, welche
die Völker des Westens vom Christentum haben. Russen sind
es, die uns am aufrichtigsten über diesen Punkt aufklären.
Wyrubow schrieb 2): „In Rußland gab es wohl Kirchen, aber
es hat dort niemals eine Religion gegeben, es sei denn die
primitivste Vielgötterei. Die Kirche hat nach und nach das
Heidentum aufgelöst, ohne daß es ihr gelungen wäre, etwas
Anderes an die Stelle zu setzen." Und noch deutlicher ist
1) a. a. O. III 115.
') Leroy-BeauUeu, Das Reich der Zaren III 26.
— 112 —
der Ausspruch des berühmten Kritikers Bjelinskij in einem
Briefe an den großen Dichter Gogolj : „Betrachten Sie das Volk
genau, und Sie werden die Wahrnehmung machen, daß es von
Grund aus gottlos ist. Es hat seinen Aberglauben, aber keine
Religion." Das russische Volk ist das gläubigste Volk, doch
sein Glaube erhebt es nicht über sich selbst zu Reinheit und
Vollkommenheit, sondern zieht es hinab zu den Anschau-
ungen der primitivsten Naturvölker. Der Russe ist fern davon,
die lichte Einheitlichkeit des Weltenschöpfers zu erkennen;
er stolpert noch im dunkeln und klammert sich an die ge-
heimnisvollen Mächte des Heils und des Unheils, an die Götter
der Vergangenheit, die man durch Beschwörungen und Opfer
versöhnte und günstig stimmte für die Pläne der Irdischen.
So dürfte man eigentlich nicht einfach sagen: der Russe ist
tief religiös, durchaus gläubig, sondern richtiger: er ist religiös
in seinem Aberglauben; er wäre der gläubigste Christ, wenn
seine Religion das Christentum genannt werden könnte. Die
despotischen Herrscher Rußlands haben alles aufgeboten, um
nicht das Christentum wirklich zur Religion werden zu
lassen, denn die Zaren selbst setzten sich im Glauben des
Volkes an die Stelle Gottes und wollten sich niemals von
diesem Platze verdrängen lassen. In einer älteren muster-
gültigen und noch heute nicht anfechtbaren Schilderung der
russischen Religion i) heißt es: „Die Moscowiter halten als
einen Glaubens-Articul / der Wille ihres Fürsten oder Czars
sey Gottes Wille; so daß sie / wenn sie in etwas zweiffein /
als ein Sprichwort sagen: GOtt und unser Czar weiß es. Sie
nennen auch den Czar / den Schlüssel-Träger und Kammer-
Diener unseres GOttes. In Sununa / sie glauben dieser Herr
sey derjenige / so das Wort und den Willen GOttes aus-
richte / und müsse man allem / was er in Glaubens-Sachen
billiget / und ihm gut düncket / als einer gerechten und
billigen Sache folgen.** Und anderthalb Jahrhunderte später
durfte sich ein Verteidiger des Absolutismus Nikolaj's I. dar-
auf berufen 2), daß für die Russen des Zaren Wille Gottes
*) Religion der Moscowiter / Anno 17 12. S. 38.
') Kaiser Nikolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von
Europa, Weimar 1848. S. 51.
— 113 —
Wille sei; „er mag Gutes oder Böses befehlen, so halten sie
es für den ruchlosesten Frevel sich zu widersetzen, da Gottes
und des Fürsten Wille einerlei sei, und sie von Gott stets
einen solchen Fürsten erhielten, wie sie ihn verdienten, bald
einen milden, bald einen harten. Die Russen glauben femer,
daß alle diejenigen, welche auf Befehl des Czars sterben,
sogleich selig werden, wie Märtyrer, die in und für den wahren
Glauben gestorben seien.** Der Verteidiger des russischen Ab-
solutismus schwingt sich auf Grund der Auffassung von der
Gottgleichheit der Zaren zu diesen Schlußfolgerungen auf:
„Mögen auch die Völker des Westens diesen kindlichen Glauben
belächeln und in ihm nur das brauchbarste Werkzeug des
Absolutismus erkennen ; doch sollten sie sich zugleich die Frage
stellen, ob eine solche Politik nicht zweckmäßiger ist, als das
sehr kostspielige Scheinkönigthum der Briten, welches wenn
das Volk ein in die Sinne fallendes Bild der Oberherrschaft
nicht entbehren zu können meint, durch eine kostbar gekleidete
Puppe ebensogut und zugleich weit billiger repräsentiert werden
könnte.** Die Stellung, die der Zar im Glauben der Russen
einninmit, zeigt „wie schlecht diejenigen über Rußland unter-
richtet sind, welche hoffen, daß eine politische Umwälzung
daselbst aus dem Volke selber hervorgehen könne ! Aus diesem*
Gesichtspunkte wird man es auch begreiflich finden, warum
Nicolaus seinen Unterthanen das Reisen ins Ausland erschwert,
die Communication mit demselben zu verhindern strebt, vor
Allem aber der seit Peter dem Großen unter dem Adel ein-
gerissenen Nachäffung des Auslands aus allen Kräften ent-
gegenzuwirken trachtet, damit nicht Rußland einst den Tod
der Türkei sterbe, deren letzte Lebenskräfte durch Reform-
projekte verzehrt werden.**
In dieser unfreiwillig freimütigen Darstellung des Selbst-
herrschertums spiegelt sich nicht bloß das Wesen der Auto-
kratie klar wieder, sondern wir finden darin auch die wahren
Gründe, warum in Rußland keine Religion existieren kann;
solange der Zar Gott auf Erden sein und bleiben will, darf
das Volk nur ein Christentum kennen, das sich in Äußer^
lichkeiten, Dogmen und Formeln erschöpft; darf es außer
an die Allmacht und Her/lichkeit des Zaren an nichts sonst
Stern, Geschichte der o£fentl. Sittlichkeit in Kufiland. g
V
— 114 —
glauben und die unter der Schwelle des Bewußtseins schlum-
mernden rehgiösen Bedürfnisse, wenn sie einmal erwachen,
nur durch solche Gebräuche befriedigen, die dem Ssamoder-
schez, dem Alleinherrschenden Gott-Zaren, niemals gefährlich
werden können.
In richtiger Schätzung der Sinnlichkeit als des bedeu-
tendsten Charakterzuges des russischen Volkes hat der Klerus
als gehorsamer Vollstrecker der zarisch-göttlichen Intentionen
die Religiosität der Russen vornehmlich in allen jenen Hand-
lungen sich" ausleben lassen, die mit dem Geschlechtlichen
in Zusammenhang sind. Die Fastenzeit ist die schwerste Prü-
fung, welcher der rechtgläubige Russe sich zu unterwerfen
hat ; denn man muß während der Fasten nicht bloß der Fleisch-
und Milchnahrung und dem Tabakschnupfen entsagen, sondern
fühlt die ernste Wirkung der Glaubensregel namentlich in dem
Verbote selbst des gesetzlichen Beischlafs. Die Neuvermählten
förderte der Priester früher auf, die ersten zwei Nächte ihres
Zusanmienlebens keusch und in Gebeten zu verbringen; die
erste Nacht, um die Dämone, die das Ehebett umlauem, zu
vertreiben; die zweite zu Ehren der Patriarchen. Ein frommes
russisches Ehepaar gibt sich dem ehelichen Vergnügen nicht
hin, ohne vorher gebetet zu haben ; auch nach Vollendung
des Geschlechtsaktes spricht man ein Gebet, aus Angst vor
Behexung. Der russische Gesandte Dmitry erzählte, als er
um 1 500 in Rom weilte, dem Paulus Jovius : „daß in Rußland
Eheleute nach dem Genüsse gesetzlicher Liebe nicht in das
Innere der Kirche treten dürfen, sondern die Messe in der
Vorhalle stehend hören; und daß junge unbescheidene Leute,
die sie da sehen, die Ursache erraten, und die Weiber durch
ihre Spöttereien schamrot machen.** Ist schon die gesetzliche,
von den Priestern geweihte Liebe solchen religiösen Skrupeln
ausgesetzt, so ist es natürlich, daß die Prostituierten für ihr
Gewerbe noch schlimmere Anfechtungen des Gewissens be-
fürchten; sie umgeben sich daher mit Talismanen und Re-
liquien. Kein Bordell ist ohne Heiligenbilder, jedes Mädchen
hat in ihrem Zimmer ihren Schutzpatron, an den es sich in-
brünstig vor Ausübung einer jeden Tat wendet, auf daß der
Akt nicht von bösen Folgen begleitet sei. Während der Zeit,
— 115 —
da nach dem Gebet zum Heiligen der Wollust geopfert wird,
bleibt das Bild des Heiligen zur Wand gedreht oder mit einem
Tuche verhängt. Nach Entfernung des Gastes wird das
Heiligenbild von dem Tuche befreit und empfängt von dem
Mädchen außer Dankesworten auch ein Geschenk in barem
Gelde oder eine neue Kerze.
Bei der Taufe von Proselvten müssen sich Männer wie
Frauen nackt ausziehen und vor der Versammlung gänzlich
in einer Wanne oder in einem Teiche untertauchen lassen.
Dieser Gebrauch, der von der Kirche als etwas Unabänder-
liches gefordert wird, ist gewiß nicht geeignet, das ohnehin
laxe Schamgefühl der Russen und Russinnen zu veredeln.
Allein Dogmen, Formeln und Tradition sind die Fundamente
der russischen Religion, die keine Ethik und keine Ästhetik
kennt, die nur eine mechanische Erfüllung der Gebräuche
und nicht Rücksicht auf die Sittlichkeit fordert.
,, Unter zehen wird kaum einer unter den Moscowitern
gefunden / der das Vater-Unser beten / und fast keiner /
der das Symbolum d6r Apostel hersagen könne. Hierüber
sagen sie / ein so heiliges Geheimniß müsse nicht so gemein
gemacht / noch so öffentlich hergesaget werden.**^) — Der
russische Gesandte Dmitry erklärte in Rom dem Paulus Jo-
vius^), „daß die Russen in ihren Kirchen keine Predigten
dulden, um da Gottes Wort allein, ohne Zusatz menschlicher,
mit der Einfachheit des Evangeliums nicht übereinstimmender
Spitzfindigkeiten zu hören.** Also keine Bildung, keine Predigt,
jedoch unermüdliches Kreuzschlagen und unaufhörliches An-
beten der Heiligenbilder. Morgens beim Aufstehen und Abends
beim Schlafengehen, beim Speisen, beim Beginn einer Arbeit,
beim Anblick einer Kirche, eines Klosters, einer Kapelle schlägt
man das Kreuz. Aber auch der Dieb, bevor er einen Raub
ausführt, und der Mörder, bevor er die Waffe zum todbringen-
den Schlage erhebt, auch sie bekreuzigen sich und beten zu
ihrem Schutzpatron um Gelingen des Werkes. „Vor einigen
1) Religion der Moscowiter S. 53.
2) Karamsin, Deutsche Ausgabe VII 174 (franz. Übersetzung VII 273).
8»
- 116 —
Jahren geschah es/* erzählte einst Peter von Haven^), ,,daß
als ein rußischer Soldat einer Missethat halber angeklagt ward,
dieser im Gericht aussagte : daß er diese That nicht als sündlich
angesehen, auch selbige niemahls begangen, ehe er nicht sich
mit dem Kreutze bezeichnet, und vor Gott auf die Erde nieder-
geworfen hätte.** Mord und Diebstahl, durch ein Kreuzschla-
gen eingeleitet und geweiht, sind im schlimmsten Falle harm-
lose Vergehen im Vergleiche zu dem Verbrechen, das man be-
geht, wenn man in der Fastenzeit seiner Frau beiwohnt, oder
Fleisch, Eier und Mehlspeisen genießt. Man halte nur streng
die Festtage und Fastenzeiten, und man ist der frömmste und
gläubigste aller Christen. Außer den 52 Sonntagen hat man
ebenso viele Festtage im Jahre ; die zarisch-göttliche Katharina II.
hatte außer den kirchlichen Festtagen dem Kultus ihrer Maje-
stät 25 Tage einräumen lassen: man mußte mit Gottesdienst
und Sabbatruhe nicht bloß alljährlich ihren Geburts-, Namens-,
Thronbesteigungs- und Krönungstag feiern, sondern auch den
Tag, an dem sie zum ersten Male geimpft worden war. Fest-
tage sind jetzt nicht nur die Geburts- und Namenstage des
Zarenpaares, sondern auch die des Thronfolgers, die des ver-
storbenen Vaters und Großvaters des Zaren, und der Er-
innerungstag an die Katastrophe bei Borki. Einen noch
größeren Teil des Jahres, von dem schon nach Abrechnung der
Festtage für das profane Leben nicht viel übrig bleibt, nehmen
die Fasten ein: Das große Fasten, dem katholischen ent-
sprechend, dauert 40 Tage. Ein zweites Fasten beginnt acht
Tage nach Pfingsten und endet am Peterpaulstage. Das dritte
Fasten vom i. August bis zum Tage Maria Himmelfahrt ge-
schieht zu Ehren der Mutter Gottes. Das vierte Fasten end-
lich beginnt am 12. November und schließt Weihnachten ab.
Außerdem fasten besonders Fromme alle Mittwoch und Freitag ;
den Sonnabend darf man nicht zum Fastentage machen.
Es wäre nach dem bisherigen kaum notwendig zu sagen,
daß die russische Religion keine werbende Kraft besitzt und
sich darauf beschränken muß, Proselyten durch Korruption
1) Abschnitte aus Peter von Haven Nachrichten aus Rußland. Bü-
schinf^ Magazin X 343.
— 117 —
zu gewinnen. So lesen wir in einem älteren Buche i): „Der
Gebrauch, den sie sonst hatten / die Fremden zu Annehmung
ihrer Religion zu erkauf fen / ist aufgehoben. Wann einer
der Seinigen absaget / es sey ein Catholic oder Reformirter
/ so muß er auch seiner ersten Tauffe renunciren / seinen
Vätern und seine Mutter verschweren / und dreymal über
seine Achsel speyen. Etliche alte Einwohner in Rußland
haben observiret / daß von 200. so wol Engelländer / als
Schott- und Holländer / welche die Russische Religion an-
genommen / fast nicht ein eintziger eines natürlichen Todes
gestorben sey.** Die von der Orthodoxie geforderte Ver-
fluchung der Eltern hat sicher manchen Proselyten im letzten
Augenblicke von dem entscheidenden Schritte zurückgehalten,
und dies umsomehr als die bloß auf das Äußerliche zugerich-
teten Gebräuche der russischen Kirche keine fühlende Seele
zu fesseln vermögen. Erst unter der Zarin Elisabeth Petrowna
begann der offizielle Zwang zum Übertritte Fremdgläubiger
in die russische Kirche und die schwere Bestrafung von Russen,
welche ihren Glauben verließen. Als zur Zeit der Herrschaft
dieser Zarin die Fürstin Irene Dolgorukij zum Katholizismus
übergetreten war, wurde der Gemahl der Abtrünnigen, „weil
er den Glauben seiner Frau nicht ^ genügend bewachte,** straf-
weise in ein Kloster gesperrt ; die französische Gouvernante der
Fürstin, Mademoiselle Beret, die im Verdachte stand, die Gram-
matik mit dem Katechismus vertauscht zu haben, mußte viele
Jahre als Gefangene des Heiligen Synod schwere Leiden er-
dulden.2) Nikolaj I. und Alexander III. verfolgten nicht bloß
die Altgläubigen, Sektierer und Abtrünnigen, sondern erneuer-
ten die Ukase alter Zeiten, in denen befohlen wird, jeden als
Rebellen zu behandeln, der sich der Ausbreitung der russischen
Religion widersetzen würde. Aber weder Gewalt noch Kor-
ruption vermochten viel zu erreichen, und dies ist begreiflich,
wenn man bedenkt, daß nicht nur die Religion keine werbende
Kraft besitzt, sondern auch das Priestertum, welches diese
Religion lehrt und vertritt, weder bei den Fremden noch bei
1) Reise nach Norden S. 122.
2) Waliszewski, La derni^re des Romanov, p. 47.
— 118 —
den eigenen Religionsgenossen sich die geringste Achtung zu
erwerben verstand. Diese Priester und Mönche der russischen
Kirche hahen alle anderen Religionen für verächtlich, sie fühlen
aber nicht den Beruf in sich, Bekehrer zur Rechtgläubigkeit
zu sein, und besitzen nicht die Kraft der Überzeugung, um
durch die Macht ihrer rechtgläubigen Religion die Irrenden
der übrigen Konfessionen auf den rechten Weg zu bringen.
So bleiben, wenn man Proselyten machen will, nur die Mittel
der Bestechung oder der Knute. Diese Mittel mögen uns
fremdartig und barbarisch erscheinen, in Rußland sind sie die
natürlichsten; werden doch dort auch die Popen der eigenen
Kirche nicht anders erzogen als durch die Knute. Seit alter
Zeit her bestand ein Gesetz, das die körperliche Züchtigung
der Popen und Diakone durch ihre Vorgesetzten gestattete.
In den Aufzeichnungen Rostislawows, Professors der Peters-
burger geistlichen Akademie i), wird eine solche Züchtigungs-
szene geschildert: „Was bist du für ein Schelm, Intrigant^
Taugenichts, rief der Bischof, ich will dich lehren! Bringt die
Peitschen*) her! — Sofort erschienen die Kutscher oder andere
Diener mit zweischwänzigen Riemen. — Entkleide dich und
strecke dich hin! befahl der Bischof. — Der zu Bestrafende
legte seine Oberkleidung ab und mußte sich auf den Boden
strecken. Dann traten zwei Diener des Bischofs mit Peitschen
herzu. Vier Geistliche knieten nieder und hielten die Füße
und die im Kreuze übereinandergelegten Hände des Delin-
quenten, der so lag, daß für die Zweischwänzigen räumlich
genügend entblößter Körper vorhanden war und für den
Bischof, der auf dem Divan saß, ein freier Ausblick blieb
zur Kontrolle, ob die Schläge alle gut trafen. Am häufigsten
prügelte man die Küster, dann die Diakone, aber es gab auch
für die Pfarrer keine Gnade, besonders wenn sie noch jung
waren. Man schlug grausam. So wurde häufig ein Priester,
der noch vor kurzem das unblutige Opfer^) gebracht hatte.
1) ;l. II. PcHTiiaiaBom., PycncaH orapiina 1880. — Vgl. Schiemann.
Alexander I. S. 405 und 407 Anmerkung.
2) Peitsche, Pletj.
3) Das Abendmahl.
— 119 —
selbst bis aufs Blut geschlagen. Mein Großvater, der mehr
als einen am Fuße oder an der Hand gehalten hat, pflegte
zu sagen: Hu! man wurde heiß dabei, und ein Zittern ging
durch den ganzen Körper.** — Im Jahre 1802 wurde vom
Zaren Alexander dem Ersten das Gesetz, das die Züchtigung
der Geistlichen gestattete, aufgehoben.^) Und doch mußte
genau himdert Jahre später, am i. April 1902, in einem offi-
ziellen Erlaß der Regierung die Angelegenheit ganz neu er-
wogen werden. Dieses merkwürdige Dokument, ein Statut
für die Kirchengemeindeschulen, besagt in seinen Paragraphen
7 und 1 1 : daß von den Körperstrafen zu befreien seien erstens :
die Zöglinge der Lehrerseminare sowohl während ihrer Schul-
zeit als auch nach Absolvierung des Kursus; und zweitens:
die Lehrer und Kuratoren der Kirchengemeindeschulen. —
Diese Lehrer sind fast durchwegs Geistliche und die Zöglinge
dieser Lehrerseminare werden Popen. Bemerkenswert ist, daß
infolge des Regierungserlasses und auf Veranlassung des Un-
terrichtsministeriums der Kurator des Moskauer Lehrbezirkes
sich im Oktober 19022) an die Lehranstalten wandte, um
deren Ansichten darüber einzuholen: ob auch dem Bauern-
stände angehörende Schüler mittlerer und unterer Lehranstal-
ten von der Körperstrafe zu befreien seien. —
Knute und Pletj als Erzieherinnen der Geistlichkeit haben
nicht viel gefruchtet, wohl auch deshalb nicht, weil sie nicht
einmal von einem einigermaßen geeigneten Unterricht unter-
stützt wurden. Bis vor einem Jahrhundert lehrte man in den
geistlichen Senünaren in lateinischer Sprache, seither auch
in russischer. Was man aber in diesen Schulen Philosophie,
Rhetorik und Theologie nannte, hatte mit keiner dieser Wissen-
schaften etwas gemein 3); man verlangte bloß eine unnütze
1) Schiemann a. a. O. S. 407.
2) Lodzer Zeitung Nr. 248 vom 16./29. Oktober 1902.
3) Es fand sich nichtsdestoweniger doch ein Verteidiger dieser Art Bil-
dung. In der Jen. Literaturzeitung 1843, S. 11 10, ließ sich Stephan Sabinin
also vernehmen: ..Die Kinder des Klerus werden, solange sie in den Dorf-
und Bezirksschulen sind, auf Kosten ihrer Eltern erzogen, aber in den Semi-
naren ohne Ausnahme auf Kosten der Krone mit* Wohnung und Unterhalt,
die Armen auch mit Bekleidung versehen. Nach beendetem Kursus fahren
— 120 —
furchtbare Anstrengung des Gedächtnisses, und wem dieses
versagte, der unterlag den härtesten körperlichen Strafen.^)
Und so wurden diese Popenschulen, durchwegs Internate, zu
wahren Marterinstituten, denen die Eltern ihre Kinder zu ent-
ziehen suchten, trotzdem es in Rußland Tradition ist, daß
Popensöhne wieder Popen werden müssen. Viele Seminaristen
entflohen, um der geistigen und materiellen Not, die sie in
den Internaten zu erdulden hatten, zu entgehen, und wurden
wieder Angehörige des simplen Bauernstandes, aus dem ihre
Ahnen hervorgegangen waren. Die Regierung ließ solche
Flüchtlinge einfangen und gewaltsam in die Schulen zurück-
schleppen. Auch war es keine Seltenheit, daß die Polizei
einen Popensohn, der von den Eltern versteckt gehalten imd
noch gar nicht dem Seminar ausgeliefert worden war, als
„Rekruten der Seminarbildung**, wie man diese jungen Leute
nannte, aus seinem Versteck hervorholte und gefesselt in
das Internat schleppte, damit er nolens volens Pope wurde!
So bereitete man diese durch Jahrhunderte einzigen Lehrer
des russischen Volkes auf ihren Beruf vor; die Resultate ent-
sprachen und entsprechen noch heute dem Ursprung. Wohl
ist seit einem Säkulum mehrmals versucht worden, die geist-
lichen Schulen auf ein höheres Niveau zu bringen, aber die
Reformen blieben stets in Anfängen stecken, und der Dorf-
geistliche 2) ist noch immer der Paria Rußlands. Die Urteile
aus Verschiedenen Jahrhunderten, von Ausländem über die
russische Geistlichkeit gefällt, sind immer die gleichen ge-
bheben; noch mehr: auch heute gelten sie, ohne daß irgend
eine günstigere Korrektur möglich wäre:
„Les prßtres, seuls instituteurs alors,** heißt es bei Sdgur
über die Priester zur Zeit Peters des Großen 3), ,,6taient trop
diejenigen, die keine Stelle gleich erhalten, in theologischen und philologischen
Studien fort, die Armen bleiben weiter in den Seminarien. Die russische
Geistlichkeit schreitet in der Bildung langsam aber sicher fort."
^) Schiemann a. a. O. S. 407.
*) Man lese die merkwürdigen Memoiren eines Dorf geistlichen in der
Schiemannschen Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten, Stuttgart 1894«
S) Histoire de Russie et de Pierre-le-Grand par le g6n^ral Comte de S6gur.
Paris 1829, pp. 215, 310. 312.
— 121 —
grossiers pour inspirer de la moralit^. — Les prfitres, grecs
de religion, ignoraient le grec, le latin, savaient ä peine lire,
et croupissaient dans une ivrognerie continuelle: une correc-
tion typographique faite aux grossiferes ^ditions de leur Bible
leur paraissait un horrible sacril^ge. — Les prötres, superstitieux
par 6tat, fanatiques par ignorance, par int^röt, par l'orgueil
de leur puissance sur Tesprit d*un peuple plus Ignorant qu*eux ;
ces prStres maudissent d'avance toute innovation, venant sur-
tout des pays oü rfegne une secte redout^e. Ce sont eux qui
ont brül(? la premifere imprimerie qu 'Alexis avait essay^ d*etablir.
Voilä comme ils repoussent toutes les ameliorations comme
d'abominables sacrilöges, soit fanatisme, soit instinct d*immu-
tabilit^, indispensable, en effet, ä Texistence de tout pouvoir
{ond6 sur Terreur et la superstition.** — „Die Unwissenheit
der Clerisei zu Anfang der Regierung Peters," schreibt der
Zeitgenosse Vockerodt^), „war weit gröber als sie in Europa
in den finstersten Seculis des Pabstthums gewesen sein kann.
Predigen war bei ihnen ganz und gar nicht Mode. Wer lesen
und schreiben konnte, und die Ceremonien der Kirche zu be-
obachten wußte, der hatte alle Requisiten, die man nicht nur
zu einem Priester, sondern auch zu einem Bischof erforderte.
Konnte er sixrh dabei in Reputation eines strengen Lebens
setzen, und war von Natur mit einem weitschichtigen Bart be-
gäbet, so passirte er vor einen ausnehmenden Geistlichen.**
— „Les Ministres de leurs Eglises,** sagt^) der ebenfalls zeit-
genössische Kapitän Perry über die Priester zu Anfang des acht-
zehnten Jahrhunderts, „ne prßchent jamais au Peuple; ils n'en
seroient pas capables : il n* y a qu*un fort petit nombre des Prin-
cipaux, qui prfichent quelquefois devant le Czar, et dans les
Eglises Cathddrales les jours des plus grandes Ffites. Le plus
haut point de Doctrine oü s*61eve le Bas Clergö, et ce qu'on
requiert effectivement de ceux qui se prdsentent aux Evfiques,
pour etre admis aux Ordres sacrez, est qu'ils sachent chanter
et lire distinctement TOffice; qu'ils ne soient pas en mau-
vaise r^putation parmi leurs voisins, qu*ils ayent la voix bonne
1) Vockerodt a. a. O. S. 14.
2) Jean Perry, Etat present de la.Grande-Russie, A la Haye 1717, p. 205.
— 122 -
et claire, et qu*ils puissent prononcer aussi ferme qu'il est
possible, douze ou quinze fois sans prendre haieine, Hospidi
Pomolio, Seigneur aye piti^ de nous. Ils ne se mettent pas
non plus en peine d'oü ils tirent leurs Prötres; car j*en ai
connu qui avoient 6t6 6\evez ä des Metiers Mechaniques.**
— „Man zehlet in der Resident z-Stadt Moscau 4000 Popen
ohne die Mönche/* sag^ ein ungenannter Autor i) im Jahre
17 12. „Diese Herren Popen haben keine andere Gelehrsamkeit
/ als daß sie fertig lesen / schreiben und singen können /
und es wurd auch nichts mehr von ihnen erfordert.**
Aus der Zeit der Regierungen der Zarinnen Elisabeth und
Katharina erwähne ich endlich nachfolgende Urteile von Zeit-
genossen: In einem Briefe des Baron de Breteuil au Choiseul
im Jahre 1760 sagt der französische Diplomat 2): „Rien
n'est plus m6pris6 ni m^prisable que le Clerg6 de Russie.**
— „Sie können sich gar nicht vorstellen,** schreibt ein
deutscher Offizier um das Jahr 1765, „wie groß die Un-
wissenheit der rußischen Geistlichkeit ist. Selbst die noth-
wendigsten und ersten Grundsätze der griechischen Religion
sind einer imzähligen Menge Pfaffen unbekannt; und man
kan fast behaupten, daß unter tausend gemeiner Popen gröste
Gelehrsamkeit nur bloß darinn besteht, daß sie vor den Al-
tären funfzigmal Gospodi pomilui, HErr, erbarme dich unser!
in einem Othem hersagen können.**^) — Und ein französischer
Offizier urteilt einige Jahre später in demselben Sinne wie
der deutsche: „Die allerverächtlichsten imd allerverachtetsten
Wesen in Rußland sind die Priester. Viele von ihnen können
nicht lesen; aber noch ärger als ihre Unwissenheit sind ihre
Sitten. Es giebt Seminarien zum Unterricht. Aber man braucht
sie nicht, um Priester werden zu können. Ein Vater tritt an
seinen Sohn seine Pfarre, seine Kirche und seine Heerde ab;
hiezu wird nichts weiter erfordert, als die Einwilligung des
Edelmanns, der alsdann die des Bischofs sehr leicht erhält.
1) Religion der Moscowiter S. 42.
2) Waliszewski, La dernidre des Romanov, p. 216.
3) Russische Anekdoten oder Briefe eines deutschen Offiziers, Wansbeck
im Jahr 1765, S. 68. — Geheime Nachrichten über Rußland (von Major Massen,
deutsche Ausgabe 1800) II 122. Französ. Orig.-Ausgabe II 91.
— 123 —
Kann dieser Sohn ein wenig das Slavonische lesen, kann er
femer die Messe lesen und die Vesper singen, so ist er so weitj
wie sein Vater; er ist Meister in seinem Handwerk, und darf
es nunmehr treiben. Nach seinen Dienstverrichtungen darf
er sich besaufen und mit seinen Pfarrkindem sich herumbalgen,
wie er will; wenn diese ihn tüchtig durchgeprügelt haben,
so küssen sie ihm nichts desto weniger wieder die Hand und
bitten um seinen Segen. An gewissen Tagen im Jahr gehen
die Popen in ihrer ganzen Pfarrei herum, und fordern von
Hütte zu Hütte Eier, Butter, Flachs, Hühner und dergleichen.
Wenn sie zurückkommen, so liegen sie gewöhnlich mitten unter
den erbettelten Vorräthen besoffen auf einem Karren. Es
ist nichts Seltenes, daß man in den Straßen zu Petersburg
und Moskau betrunkenen Priestern und Mönchen begegnet,
die taumeln, fluchen, singen, den Vorbeigehenden Grobheiten
zurufen, und Frauenspersonen durch unsittliche Berührungen
beleidigen.**
Die Zahl solcher Urteile über den russischen Klerus ließe
sich vervielfachen und man müßte für sie einen eigenen Band
bilden, aber alle würden dasselbe erzählen, das gleiche traurige
Lied von der Unwissenheit, Roheit und Unsittlichkeit des russi-
schen Pries tertums. Und dabei sind die ausländischen Urteile
noch milde im Vergleiche zu den russischen Selbstbekennt-
nissen in Betreff des Klerus vergangener Zeiten nicht bloß,
sondern auch desjenigen unserer Tage. Man kann mit Recht
behaupten 1), daß in der westlichen Literatur nichts geschrieben
worden ist, was dem Anklagematerial an Furchtbarkeit gleich-
käme, das von russischer Seite über die Popen des neunzehn-
ten und zwanzigsten Jahrhunderts in Rußland veröffentlicht
worden ist. Ein russischer Bischof sagte von den Popen*):
,,Sie sind eine von Armut gedrückte, habsüchtige, unwissende
und trunksüchtige Menschenklasse.** Nächst Unwissenheit
und Trunksucht sind Habgier und Korruption zwei Laster,
die sie seit den frühesten Zeiten mit sich schleppen. Zar
1) Schiemann a. a. O. S. 406. — Man vergleiche die erwähnten Denk-
würdigkeiten eines russischen Dorf geistlichen , sowie die Jugenderinnerungen
von Röstislawow in ,,PyccKafl crapHHa" 1880.
2) Lanin, Rusissche Zustande I 21.
— 124 —
Iwan III. sah sich genötigt, den berühmten Erzbischof Gennadij
zu entthronen und in das Tschudowkloster einzusperren, nicht
weil dieser Kirchenfürst die Kirchenstellungen nach einem fixen
Tarif verkaufte i), sondern deshalb, weil er diese allgemein
übliche Korruption in brutalster Weise betrieb. Unter der
Regierung der Zarin Elisabeth Petrowna nahmen Habgier und
Korruption der Geistlichkeit in allen Rängen der Hierarchie die
schrecklichsten Formen an.^) Auf öffentlichen Plätzen verhan-
delten die Priester ihre Dienste. Eine der Ursachen zu diesem
schamlosen Schacher war allerdings die beispiellose Armut
des niederen Klerus. Vom Lande, wo sie sich nicht ernähren
konnten, strömten die Popen bandenweise nach den Städten,
versammelten sich hier in den Vorhallen der Kirchen und
lauerten frommen Klienten auf. Wurde der Skandal zu arg,
so ließen die Bischöfe die hungrigen Popen zusammentreiben
und auspeitschen. Das Elend der Diener Gottes war aber
manchmal so groß, daß die Geprügelten nach empfangener
Züchtigung wieder zu ihren Standplätzen zurückeilten, um bei
Gefahr einer neuerlichen Auspeitschung von der Gläubigkeit
der Kirchenbesucher einen Kopeken für einen Bissen Brot
zu erpressen. Die Moralität und das Selbstbewußtsein des
Klerus konnten nicht dadurch gehoben werden, daß die Geist-
lichkeit von der Regierung zu Polizeizwecken ausgebeutet
wurde ; die Beichte blieb kein der Kirche anvertrautes Geheim-
nis, sondern mußte vom Priester sofort aufgezeichnet und
pünktlich der geheimen Kanzlei ausgeliefert werden.
Die Ehrerbietung, die man trotzdem solchen Geschöpfen
einer schamlosen gouvernementalen und ekklesiatischen Or-
ganisation notgedrungen entgegenbringen muß, kann nur eine
ganz oberflächliche und jeden wahren Begriffs entkleidete sein.
Begegnet man dem Popen, so grüßt man ihn, küßt ihm wohl
die Hand. Aber man prügelt den Diener Gottes im Wirtshause
auch ohne weiteres weidlich durch, wobei man ihm allerdings
vorher die Popenmütze vom Kopfe nimmt, die man als Zeichen
1) Karamsin. deutsche Ausgabe VI 286 (französische Übersetzung
VI 453).
2) Waliszewski, La demiöre des Romanov, p. 213.
— 125 —
des Standes mehr zu respektieren sich verpflichtet fühlt
als den Träger; denn^) „die gantze Würde ihrer Priesterschafft
bestehet nur in diesem Skuffia oder Mütze / und wird der-
jenige / welcher ihnen solche abschlaget / oder vom Kopffe
fallen machet / gar streng gestraffet. Unterdessen / weil
der meiste Theil solcher Popen Säuffer und liederliche Ge-
sellen sind / so traget man kein Bedencken sie braf abzu-
prügeln / wofern man ihnen die Mütze auf eine geschickte
Weise vom Kopffe abzunehmen weiß / und sie ihnen auf
gleiche Art / nachdem sie die Schläge bekommen haben /
wieder aufsetzet. Weil man auch nur die Mütze zu respectiren
hat / so werden sie offt in denen Cabbacken / oder Bier-
Meth- und Brandtwein-Häusem / welche dem Czar gehören
/ zum Spass und grosser Verwunderung der Frembden mit
Schlägen übel tractiret.** Wie könnte der Pope auch mehr
Achtung verlangen? Sittigenden Einfluß hat er niemals aus-
geübt.^) Er steht in den Augen des Bauern nicht als ein
besseres oder höheres Wesen da; er ist gleich jedem Trunken-
bold im Wirtshaus und am Spieltisch zu finden; erhebt sich
durch seine Bildung nicht über seine oft viehische Umgebung,
hängt wie der abergläubischeste Dörfler an den alten rohen
Unsitten, kennt wie dieser nur blinde Unterwerfung unter die
weltliche Macht. Der Bauer oder der gemeine Städter verlangt
vom Batjuschka, dem Väterchen, wie man den Popen in ge-
dankenloser Liebenswürdigkeit nennt, auch nichts Höheres und
Besseres; die Pfarrkinder sind zufrieden, wenn Batjuschka die
vorgeschriebenen Zeremonien ableiert und in Ausnahmsfällen
für ein paar Hühner oder ein Dutzend Eier einen besonderen
Dienst leistet, etwa eine Sonnenfinsternis oder eine Mondfinster-
nis beschwört oder durch Hokuspokus mit Totenknochen dem
Himmel einen fruchtbringenden Regen in dürrer Zeit abringt.
Durch seine Würde vermag der Pope die Bauern nicht zu
blenden. Er ist ebenso arm wie seine Herde, zuweilen noch
ärmer. Der niedere Klerus, die weiße Geistlichkeit genannt
1) Religion der Moscowiter Anno 17 12, S. 42.
2) Das gilt nicht bloß von den Popen in Rußland, sondern in allen sla-
wischen Ländern. V'gl. Hellwald, Die Welt der Slawen, • Berlin 1890, S. 347.
— 126 —
im Gegensatz zu den Mönchen, der schwarzen Geistlichkeit ^j,
ist verheiratet. Der Pope hat also eine Familie zu ernähren
von dem Ertrag eines winzigen Ackers, den er gleich dem
erstbesten Muschik selbst bearbeiten muß. Da sieht man den
Popen armselig und barfuß neben seinem wackligen Karren
und seinem abgemagerten Klepper einherhumpeln oder auf
dem Stückchen Feld, das er bebaut, die Furche mühsam mit
dem primitiven Ackergeräte ziehen. Sein Los kann niemals
besser werden, denn die höheren Stellungen in der Kirche
sind den Ehelosen, den Schwarzen vorbehalten, den Mönchen.
Der Pope bleibt ewig Pope, und diese Armut und dieses
Elend sind verer^lich durch alle Generationen: Popensöhne
werden wieder Popen; und konunt es auch vor, daß manche
in den Bauernstand zurückkehren, so ist es äußerst selten,
daß ein Popensohn etwas Besseres wird, sich der Misere der
väterlichen Scholle entreißt und aufwärts klimmt auf fremdem
Bildungsboden zu glänzenderem Berufe. In vieler Beziehung
ist der Pope noch schlimmer daran als der ärmste Muschik.
Hat der Seminarist nach einer Jugend voller Prügel und Ent-
behrungen die armselige Bildung des Internats erworben, so
muß er sich verheiraten, ehe er Pope werden und diesen
kärglichen Lohn seiner jahrelangen Leiden erhalten kann ; aber
die Wahl seiner Lebensgefährtin ist nicht seinem freien Willen
anheimgestellt, sondern der Bischof sucht ihm unter den Popen-
töchtern eine Gattin aus. Nach der Heirat erhält der Pope
die Weihen. Und die ihm vom Zufall geschenkte Gattin muß
er hegen wie seinen Augapfel, denn die Kirche, die nur dem
verheirateten Popen ein Amt gibt, entzieht es dem verwitweten
und zwingt den Witwer, da ein Priester sich nur einmal ver-
ehelichen darf, Laie zu werden oder ins Kloster zu gehen.^)
1) Die Mönche tragen stets «in langes schwarzes Gewand, die Popen da-
gegen nie ein schwarzes, sondern ein braunes oder anderes dunkelfarbiges Kleid.
2) Zu Zeiten Alexanders des Ersten erhielt jedoch Sambursky, Kapellan
der Großfürsten Nikolaj und Konstantin, ausnahmsweise die Erlaubnis nach
dem Tode seiner Gattin seine Pfarre zu behalten. Sambursky galt übrigens
bei den Geistlichen und strengen Orthodoxen als Ketzer, weil er sich anlaß-
lich einer Reise nach England den Bart abrasieren ließ und auch nach seiner
Rückkehr bartlos blieb.
— 127 ~
Mit der Frau, die ihm sein Bischof ausgesucht hat, hängt der
Pope also im Leben wie im Tode zusammen. Wie durch
frühzeitiges Sterben kann die Popenfrau auch durch ein un-
sittliches Leben ihrem Gatten seine Stellung verderben. Der
Pope selbst mag ein Trunkenbold, Wüstling, liederlich, un-
sauber sein, so schadet es ihm in seinem Amte wenig; lastet
aber auf der Popin nur der geringste Verdacht eines un-
reinen Lebenswandels, so ist es um seine Stellung geschehen.
Nicht der Pope, sondern die Popenfrau hält durch ihre eheliche
Treue die Würde des Priestertums aufrecht. So verkommen
und sittenlos oft der Pope ist, so selten ist der Fall einer sitten-
losen Popenfrau. Glaubt ein Pope Grund zu Besorgnissen
im Punkte der Treue seiner Gattin zu haben, so zeigt er bloß
auf seinen Bart und gibt durch ein Zeichen gleich einem
Scherenschnitt zu \^rstehen, daß die Verkürzung des Bartes
drohe 1) als Symbol der priesterlichen Unwürdigkeit, und die
Gattin kehrt sicher nicht mehr ab vom Wege der Tugend.
So schleicht des Popen Leben in einem ewigen Zittern um
den Verlust selbst dieser trostlos armseligen Existenz hin. Hat
der Pope zahlreiche Kinder, so wachsen die Sorgen ins End-
lose. Vergebens plagt sich dieser traurige Diener Gottes ab
mit seinen Händen in den freien Stunden, die der Kirchendienst
und das Wirtshaus ihm lassen, dem Acker der Pfarrei in
er^höpfendem Fronen einige Früchte abzugewinnen; der
Lohn selbst des härtesten Fleißes reicht nicht aus für die
vielen Hungernden in der kleinen Popenstube, und der Priester
wird von den nach Brot verlangenden Schreien seiner Kinder
getrieben, zu den Mitteln Zuflucht zu nehmen, welche seit
jeher üblich waren : Vergehen und Verbrechen zu absolvieren
für Brot und Schnaps, den Diebstahl im Namen Gottes für
einige Eier, und einen Todschlag für eine Anzahl Hühner
oder eine Kuh zu verzeihen. Gerne bringen die Schuldigen
solche Opfer, um ihr Gewissen zu erleichtern, und der Pope,
der zur Erkenntnis gelangt, wie bequem er leben könnte, wenn
er den Aberglauben und die Dummheit ausbeutet, scheut vor
keiner Gelegenheit zurück, die ihm Linderung seines Elends
1) Dupre de St. Maure, St. P6tersbourg, Moscou et les Provinces. I 107.
— 128 —
verheißt. Bald erfindet er dann selbst neue noch nie dage-
wesene Gelegenheiten und schließlich hat er für alle möglichen
Fälle einen Preistarif aufgestellt, dessen Höhe allerdings
Schwankungen unterliegt, je nach der lebhafteren oder
schwächeren Nachfrage. Das Priestertum wird zur Ökono-
mie, der Glaube zum Schacher, der Aberglaube ein Lebens-
mittel.
Nicht als ob er moralische Bedenken hätte, solchem geist-
lichen Hirten zu folgen, zeigt der Muschik eine offene Ver-
achtung des Popen, dem er zwar die Hand küßt, weil es so
Gebrauch ist, den er aber schlägt, wenn er mit ihm im Wirts-
haus trinkt. Die Ursache dieser Verachtung ist vielmehr darin
zu suchen, daß der Muschik im Popen nur dann, wenn er
ihn für seine dunklen Triebe als Heilarzt, für seine Betrügereien
als Fürbitter bei Gott und den geheimnisvollen Mächten der
abergläubischen Phantasie braucht, ein um ein Geringes höheres
Wesen erkennt als er selbst ist. Sind diese Gründe nicht
vorhanden, so erscheint der Pope dem Muschik nicht mehr
als eine höhere Menschenspezies, nicht einmal als ein dem
Bauern gleichgestelltes, sondern als ein noch tiefer stehendes,
geradezu als ein unreines Wesen. Man könnte fast sagen,
der Muschik sehe in seinem heidnischen Gemüte den Popen
wie einen Zauberer an, dem man auch sich vertrauensvoll
zuwendet, um seine Wunder zu Vorteilen zu genießen, den
man jedoch im übrigen als einem unreinen Geschöpf aus dem
Wege geht ; dem man in einem unbestimmbaren Schauer Ehr-
erbietung erzeigen, aber hinterdrein ein Kreuz zur Erleichterung
nachschlagen muß. Begegnet man im Augenblick, da man
eine Reise antritt, allzuerst einem Popen, so ist dies ein übles
Vorzeichen, man speit aus, um das drohende Unheil abzu-
wenden, und tut am klügsten, die Reise aufzugeben. Man
könnte vielleicht sagen, daß auch in anderen Ländern, wo der
Klerus gebildeter ist und Achtung- genießt, ein Zusammen-
treffen mit Geistlichen im Eisenbahnzuge oder auf dem Schiffe
dem Aberglauben als gefahrbringend erscheint und daß es sich
in Rußland um nichts anderes handeln dürfte, als um ein
Echo dieses allgemeinen Aberglaubens; aber zweifellos hat die
Scheu des Muschiks vor dem Popen einen tieferen und durch-
— 129 —
aus sozialen Grund: dies geht auch daraus hervor, daß eine
Bauemfamilie sich mit einer Popenfamilie nicht verschwägert;
selbst die leibeigenen Bauern in früheren Zeiten verschmähten
eine Ehe mit Popentöchtem oder weigerten sich ihre Töchter
Popensöhnen zu geben. Die Popenfamilien, aus dem Bauern-
stände hervorgegangen, gelten dem Muschik mithin nicht als
etwas besser, sondern als noch schlechter Gewordenes. In
den geheimen erotischen imd obszönen Erzählungen, Liedern
und Sprichwörtern am Schlüsse meines Buches i) werden wir
sehen, wie das Volk dem Popen die erbärmlichsten Streiche
in die Schuhe schiebt, ihn der größten Dununheiten zeiht
und ihm die Ausübung der furchtbarsten Unzucht zuschreibt.
Die Religion und die Regierung, und als Handlangerin
der letzteren die obere, die schwarze Geistlichkeit : sie tragen
die Schuld, daß der niedere Klerus, das Popentum, einer solchen
allgemeinen Verachtung des Volkes preisgegeben ist. Der
Muschik sieht seit tausend Jahren, daß der Pope von seinen
Vorgesetzten genau so rücksichtslos geknutet und gepeitscht
wird, wie der Bauer von dem Gutsherrn. Die Regierung will
den Popen nicht anders haben als er ist, überwacht das Popen-
tum ängstlich durch Spione, um jede Regung menschlicher
Gefühle zu unterdrücken, um jedes Verlangen nach Bildung
und Freiheit im Keime zu ersticken, und seit aus dem Popen-
stande trotz aller Fesselung gar in Gapon ein Revolutions-
führer hervorgegangen, ist dieses System der Knechtung noch
maßlos verschärft worden. Man hat in den letzten Jahren
der Wirren unter den Popen und Popensöhnen strenge Muste-
rung gehalten.
Katharina II. und Nikolaj I. haben, als sie im Popentum
einen widerspenstigen Geist wahrnahmen, der die Ketten der
Sklaverei zu sprengen drohte, aus den frommen Hirten der
Gemeinde Artillerie-Bataillone gebildet und diese den Feinden
als Kanonenfutter hingeworfen; Nikolajs des Zweiten fromm-
mystisches Gemüt aber duldet nicht den Gedanken, die Künder
des göttlichen Friedenswortes zu blutigem Kriegshandwerk zu
pressen; und so werden die verdächtigen Popen scharenweise
1) II. Band, 60. Kapitel.
Stern, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in RuftUnd.
— 130 -
bloß nach Sibirien geschleppt, um unter Burjäten und Ost-
jaken das Lob des Zaren und die Herrlichkeit des russischen
Christentums zu singen. Die Popen waren niemals Erzieher
ihres Volkes, nun werden sie unfreiwillige Märtyrer für seine
Freiheit.
8. Unsitten im Mönchstum.
Weißer und schwarzer Klerus — Kontraste — Reichtum der Kirchen und
Klöster — Konfiskation der Klöstergüter — Stellung des hohen Klerus im
Rußland vergangener Zeit — Die Metropoliten — Berühmte und gelehrte
Bischöfe und Mönche — Patriarch Nikon — Abschaffung des Patriarchats —
Der Heilige Synod — Die Stellung des Oberprokurators — Unordnungen im
Synod — Einflußlosigkeit auch des Mönchstums und des hohen Klerus auf
Bildung und Kultur — Die Bildung im kleinrussischen Klerus — Bedeutungs-
losigkeit des russischen Mönchstums — Urteile über die schwarze Geistlichkeit —
Die Ehelosigkeit der Klosterleute — Unzucht in Klöstern — Klagen des Zaren
Iwan im Stoglaw — Kebsweiber, halbe Priesterfrauen — Gemeinsames Baden
von Mönchen und Nonnen — Sodomie in Klöstern — Peters des Großen Kloster-
reformen — Ihre Resultatlosigkeit — Ein Kloster als Verbannungsort — Regeln
der Frauenklöster — Nichtachtung dieser Regeln — Schlechter Ruf der russi-
schen Nonnen — Nonnenklöster als Bordelle — Tingeltangel im Nonnen-
kloster — Elisabeth als Frömmlerin und Messalina — Orgien der Zarin Eli-
sabeth im Troitzkakloster — Sadismus an heiliger Stätte — Erotische Raserei
und FlagellationstoUheit im Mönchstum — Die Männertöterin Darja Saltykow
— Folgen der Demoralisation des Klems — Unzucht und Mord in Nonnen-
klöstern des neunzehnten Jahrhunderts — Allgemeinheit der sittlichen Ver-
kommenheit der Klosterleute — Parallele zwischen der Sittenlosigkeit im
russischen Mönchstum und im kalmückischen Priestertum.
Der Pope verhungert; die weiße Geistlichkeit, der ge-
samte niedere Klerus, stirbt in Elend und Verkommenheit;
die Kirche aber ist unermeßlich reich, und der schwarze Klerus,
das Mönchstum, erstickt in seinen Schätzen. Kein größerer
Kontrast ist denkbar als der zwischen dem armseligen Popen-
tum und dem prunkenden Mönchstum; zwischen dem Priester
auf der niedrigsten Stufe und dem Bischof oder Erzbischof;
zwischen der Bettelhaftigkeit des Dorf pfarrers und dem Glänze,
den eine Fülle von Gold, Silber und Juwelen in den Kirchen
ausströmt. Eine betäubende Pracht ist es, welche die schwarze
Geistlichkeit und die Kirche bei den geringsten Anlässen ent-
— 131 —
falten. Der Altar, ist eingetaucht in ein Meer von funkeln-
dem Edelmetall und blitzenden Edelsteinen ; und der die Messe
zelebrierende Bischof, Erzbischof oder Metropolit erscheint in
dem Übermaße des Luxus seiner Kirchentracht, mit seinen
Ketten und Kreuzen aus Diamanten und Perlen, der Mitra,
die unter der Last von Rubinen und Smaragden tief auf die
Stirne sinkt, und den unschätzbar kostbaren Kirchengefäßen,
die er in Händen hält, der berauschten Menge nicht wie ein
demütiger Knecht Gottes, sondern wie der stolze Träger einer
orientalischen Herrscherkrone. Die große Masse der Geist-
lichen hungert und dürstet, seufzt in Elend und Not ; die Kirche
und ihre Spitzen jedoch leuchten umso höher in ihrem fabel-
haften Reichtum, der nicht von heute oder gestern datiert,
vielmehr fast so alt ist wie die Kirche selbst. Iwan III. der
Fürchterliche 1) war der erste Herrscher, der einen schüchternen
Versuch machte, der Geistlichkeit diese toten Güter zu ent-
reißen. Aber die Versammlung der Kirchenoberhäupter warnte
den Zaren durch folgenden Briefe): „Seit dem apostelgleichen
Kaiser Konstantin bis auf die spätesten Zeiten haben die
Bischöfe und die Klöster überall Städte und Dörfer besessen.
Nie haben die Kirchenversammlungen der heiligen Väter dies
verboten. Sogar bei Deinen Vorfahren und bis auf unsere
Zeit hatten die Bischöfe und Klöster Städte und Landgüter,
Flecken und Dörfer, Gerechtigkeitspflege, kirchliche Abgaben
und Steuern. Haben Yiicht der heilige Wladimir und der große
Jaroslaw gesagt: wer von meinen Kindern oder Nachkommen
es übertritt; wer sich anmaßt das Eigentum der Kirche und
die Zehnten der Bischöfe, der sei verflucht für diese und
jene Ewigkeit ! ? Sogar die gottlosen Zaren der Horde schonten
aus Furcht vor dem Herrn das Eigentum der Klöster und
Bischöfe. Also wollen wir es nicht wagen und finden es nicht
1) Rußland hatte zwei Herrscher mit dem Beinamen eines Fürchter»
liehen oder Schrecklichen: Iwan Wassil je witsch III. war der Großvater des IV.
gleichen Namens und Beinamens. Dem dritten Iwan wurde dieser Beiname
aber mehr wegen seiner Erfolge gegen Rußlands Feinde gegeben (vgl. Petrus
Petreji, Mußkowitische Chronika S. 165), während der vierte Iwan seiner
grauenhaften Mordgier wegen der Schreckliche genannt wurde.
*) Karamsin (deutsche Ausgabe) VI 285.
9*
— 132 —
für gut, das kirchliche Eigentum zurückzugeben; denn es ist
Gottes und unantastbar." Der Fürst wagte nicht auf seinem
Plane zu bestehen. Im Jahre 7159^) wurde aber bei Abfassung
eines neuen Gesetzbuches verordnet, daß man seine Güter unter
keinem Vorwande an die Klöster oder Geistlichkeit schenken
oder verkaufen dürfe; den Geistlichen wurde verboten, Güter
durch Kauf oder auf eine andere Weise zu erwerben, bei
Androhimg, daß ihnen solche Güter gewaltsam wieder ab-
genonmien werden würden; im Besonderen wurde denen, die
ins Kloster gehen wollten, sowohl Männern als Frauen, den
Klöstern Güter zu schenken verboten. Peter der Große wagte
trotz der schroffen Stellung, die er gegenüber der Geistlich-
keit einnahm, auch nicht viel weiter zu gehen als das letzt-
erwähnte Gesetz. Erst Katharina II. hatte den Mut den Plan
Iwans des Fürchterlichen wieder aufzunehmen, die Ländereien
und Dörfer der Kirche mit dem Eigentum des Staates zu ver-
schmelzen und den Geistlichen Geldgehälter anzuweisen. Da-
mals bestand der Kirchen- und Klösterstaat Rußlands aus 479
Mönchsklöstern, 74 Frauenklöstern und 18 3 19 Kirchen^); von
letzterer Zahl waren in der Eparchie Moskau 3) 1850, in dem
Bischof stum Nowgorod 1657, im Gebiete von Rjäsan 1220,
von Kijew 1163, von Belgorod 1089, dagegen in der Eparchie
Petersburg nur 106. Die Zahl der Kirchenbediensteten betrug
insgesamt 67873. In den Mönchsklöstern gab es 7263, in
den Frauenklöstem 5264 Bewohner. Die Erzbischöfe, Bischöfe
und Klöster besaßen zu Ende der Regierung Elisabeths ein
Eigentum von 818575 Bauern; aber in Katharinas Verord-
nung vom Jahre 1764 wird die Zahl der dem Klerus Leib-
eigenen schon mit 910866 angegeben. Die Gesamtbevölkerung
Rußlands betrug im Jahre 1788 gemäß den Ergebnissen der
1) Nach unserer Zeitrechnung 1649. ^^ Rußland wurden bis zum Ende
des siebzehnten Jahrhunderts die Jahre seit Erschaffung der Welt gezählt.
Um 1500 war bestimmt worden, daß das neue Jahr stets am i. September
beginne.
2) Büschings Magazin I 43 — 106.
3) Olearius berichtete, daß es zur 2^it seines Besuches in Rußland in
Moskau 1500 Kirchen und Klöster gab; dies dürfte sich aber auf den ganzen
von dem Moskauer Metropoliten abhängigen Kreis bezogen haben.
— 133 —
vierten Revision i): 28 Millionen Seelen. Jeder dreißigste
Mensch in Rußland war also der Geistlichkeit leibeigen.
Die Zahl der Klöster und Kirchen ist seither nicht ge-
ringer geworden. Um 1800 gab es in der Stadt Moskau
allein wohlgezählte 943 Kirchen und Klöster, davon 150 inner-
halb des Kremls.*) Haxthausen erzählt 3), daß er bei seinem
Besuche der Stadt Arsamaß, um die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts, in diesem Orte 34 Kirchen und 2 Bethäuser,
2 Manns- und 2 Frauenklöster zählte; Arsamaß hatte damals
im ganzen 4390 männliche und 4602 weibliche Einwohner
in 78 steinernen und 1399 hölzernen Häusern. In den Klöstern
gab es HO Mönche und 650 Nonnen, an den Kirchen waren
weitere 70c Geistliche beschäftigt. Auf rund 40 Häuser oder
260 Einwohner kam eine Kirche, der sechste Teil der Be-
völkerung gehörte dem geistlichen Stande an.
Die von Katharina II. durchgeführte Konfiskation der
Kirchengüter verursachte nicht die geringste Aufregung im
Volke, und dies kann als Beweis dafür gelten, daß die Mönche
kein Ansehen und keine Liebe genossen. Allerdings hat die
Güterkonfiskation den Reichtum des Klerus nur um die Güter
vermindert, während die in Metallen, Edelsteinen und Stoffen
in den Kirchen und Klöstern aufgehäuften Schätze von der
Konfiskation verschont blieben. Demnach ist der schwarze
Klerus in Rußland noch immer unermeßlich reich und man
behauptet, daß schon das Troitzkakloster Schätze genug be-
sitzt, um damit Rußlands sämtliche Staatsschulden bezahlen
zu können. Dieses Kloster hatte im fünfzehnten Jahrhundert
bereits hunterttausend leibeigene Bauern; Katharina II. nahm
dem Kloster die Bauern fort, doch blieb ihm noch bis heute
aus seinem Barvermögen ein jährliches Einkommen von min-
1) In Rußland wurden früher als Grundlage für die Erhebung der Kopf-
steuer von Zeit zu Zeit Abschätzungen, sogenannte Revisionen vorgenommen.
Solcher Revisionen gab es zehn, die erste fand 1722, die letzte 1858 statt.
Die erste wirkliche Volkszählung in westeuropäischem Sinne geschah erst am
28. Januar 1897 russischen Stils. Vgl. Brockhaus' Konversationslexikon.
Neue revidierte Jubiläumsausgabe 1903. Band XIV, S. 71.
2) Konstantinopel und St. Petersburg, Der Orient und der Norden,
II. Jahrgang (1806), Band III, S. 30.
3) Studien über Rußland I 312.
— 134 —
destens hunderttausend Rubeln; von dem toten Kapital, das in
Gold und Juwelen angelegt ist, nicht zu reden. Schätze an
Gold und Juwelen hat auch die geringste Kirche, das kleinste
Kloster. In den großen Kathedralen aber findet man Reich-
tümer, deren Beschreibung orientalischen Märchen entnommen
zu sein scheint. Da gibt es Meßgewänder, die Vermögen ver-
schlungen haben, Heiligenbilder, deren Augen aus Riesen-
brillantei), deren Zähne aus den reinsten Perlen bestehen, Iko-
nostase i) aus purem Golde, Kronleuchter von ungeheuerlichem
Gewichte in purem Silber.
Im Strahlenglanze dieses Reichtums sonnen sich nur die
Mitglieder des schwarzen Klerus, die Mönche und die aus
der Klostergeistlichkeit hervorgegangenen hohen Würdenträger
der Kirche. Und doch hat der schwarze Klerus für Rußland
nur wenig mehr geleistet, als der weiße. Ein Kultureinfluß ist
auch von ihm nicht ausgegangen*), obwohl er eher die Mittel
hatte sich zu bilden und Bildner des Volkes zu sein. Aber
die gelehrten und zivilisierten Bischöfe Rußlands im Laufe
von zehn Jahrhunderten lassen sich an den zehn Fingern ab-
zählen. Bis um die Mitte des vierzehnten Säkulums hatte der
Patriarch von Konstantinopel noch Einfluß auf die Wahl der
hohen Geistlichkeit Rußlands. Die ersten Metropoliten der
Großfürstentümer waren sogar Griechen, ernannt vom griechi-
schen Kaiser und geweiht vom Konstantinopeler Patriarchen,
ohne Vor- und Mitwissen der russischen Großfürsten. Nach
der Eroberung Konstantinopels durch die Türken schwand
naturgemäß das Ansehen des griechischen Patriarchen in Ruß-
land, die russischen Großfürsten wählten selbst ihren Metropo-
liten und die russischen Bischöfe weihten ihn. Der Metro-
polit war die höchste Instanz, er sprach das Anathem über
Städte und Länder wie Großnowgorod, Nischny-Nowgorod
und Pskow aus ; er hatte den Vorsitz in dem von ihm gebildeten
Synod, er entschied über die Klagen der russischen Fürsten
gegen ihre Bischöfe, übte die weltliche Gerichtsbarkeit über
die zu den Metropolstühlen gehörenden Besitzungen aus,
salbte den Herrscher bei der Thronbesteigung und hatte in
1) Heiligensäulen.
2) Schiemann, Alexander I. a. a. O. 408. Anmerkung 2.
— 135 —
der Kirche und bei allen festlichen Gelegenheiten den Ehrensitz
neben dem Großfürsten oder Zaren. Bei Staatsangelegenheiten
wurde sein Rat eingeholt, und alle Befehle des Herrschers be-
gannen mit dem Satze : Nach Einholung des Segens und Rates
unseres Vaters des Metropoliten. Der Jesuit Antonius Posse-
vinus^) sagt, daß der Zar imd die übrigen Fürsten dem Metro-
politen bei dessen Einzug in die Residenz stets entgegengingen
und ihm die Hand küßten. Als später die zersplitterten russi-
schen Fürstentümer zu einem einzigen Reiche vereinigt ^rden,
trat an die Spitze der Geistlichkeit, als Chef der drei Metro-
politen, der Patriarch. In der Mongolenzeit wuchs der Ein-
fluß des Klerus an, weil dieser es war, der den Widerstand
gegen die Ungläubigen nährte. Ein Mönch trug 1380 zur
Befreiung Rußlands von. den Tartaren bei. Ein ob seiner
Weisheit und Tugend berühmter Kleriker war um dieselbe
Zeit Theognoß, Metropolit von Moskau, ein großer Gelehrter
der Metropolit von Kijew Gregor Samlawk, der bei seinem
Tode im Jahre 1419 zahlreiche geistliche Werke hinterließ.
Der Erzbischof Gennadij von Nowgorod unternahm gegen Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts eine Korrektur der Bibel, und
auf seine Aufforderung, ihm alle im Reiche vorhandenen Texte
der beiden Testamente einzusenden, lieferte Nowgorod allein
6000 Manuskripte. Ein Zeitgenosse und Mitarbeiter dieses
Erzbischofs war Sanin, Prediger in Wolokolamssk ; er schrieb
ein Werk unter dem Titel „Der Aufklärer**, enthaltend fünf-
zehn Dissertationen gegen die Sekte der Strigolniki, und eine
Geschichte dieser Sektierer. Der Grieche Maxim, vom Zaren
Wassilij 1506 nach Rußland berufen, wirkte als Bibliothekar.
Der im Jahre 1562 gestorbene Metropolit Makarij hatte als
der gelehrteste und arbeitsamste Mensch seiner Zeit gegolten;
zwölf Jahre widmete er der Niederschrift einer Geschichte der
von der russischen Kirche anerkannten und kanonisierten Heili-
gen, die Frucht dieser Arbeit waren zwölf enorme Foliobände,
Der Mönch Paiß Jaroslawow raffte sich zu einer historischen
Arbeit auf; er schrieb 1526 eine Geschichte der zweiten Ehe
^) Antonii Possevini Societatis Jesv, Moscovia, et, alia Opera de statv
hvjvs secvli. aduersus Catholicae Ecclesiae hostes. . 1597
— 136 —
des Zaren Iwan; Erzählungen aus der Geschichte von Kasan]
lieferte der Priester Iwan Glassatij; Annalen betreffend die
Invasion der Polen tinter Bathory verfaßte der Pskower Mönch
Serapion; eine Geschichte der Belagerung des Klosters des
heiligen Ssergej hinterließ der Mönch Abraham Palitzyn, eine
mythische Geschichte der Scythen der Priester Andreas Lys-
low; einen Abriß der Geschichte des Ursprungs der Slawen
imd der Regierung der Fürsten von Kijew schrieb Innocenz
Gisel, Archimandrit zu Kijew. Der Mönch Jonas verfaßte
sogar ein Reisewerk. 1588 gründeten die Mönche von Kijew
eine Schule, aus der später die geistliche Akademie hervor-
ging, die jahrhundertelang die einzige Bildungsstätte Rußlands
blieb. Peter Mogila rekonstruierte diese Lehranstalt des Klerus,
führte Kurse der Philosophie und Theologie, Sprachunterricht
im Lateinischen und Polnischen ein und berief Lehrer aus
Deutschland und Italien. Von dieser Schule gingen die so-
genannten „Bursaki** aus, die sich über die ganze Umgebung
verbreiteten und gegen ein Honorar von Eiern, Schinken oder
CJetreide als Lehrer wirkten. Aus der Kijewer Akademie
stammten die berühmten Simeon Polotzkoj, Theophan Proko-
powitsch, Slowinetz, Schaworskij, Lopatinskij. Einige Jahre
nach der Gründung der Kijewer geistlichen Schule entstand
auch in Moskau, vom Zaren Boriß Godunow angeregt, eine
Akademie, die vom Zaren Feodor Alexejewitsch „slawisch-
griechisch-lateinische Akademie** benannt wurde; aber sie
leistete nichts. Der Patriarch Job hinterließ eine Biographie
des Zaren Feodor Iwanowitsch, der Patriarch Hermogen, der
161 2 von den Polen zu Tode gemartert wurde, eine Menge heili-
ger Schriften. Stefan Jaworskij, Professor der Kijewer Aka-
demie, verfaßte ein großes Werk gegen die Dissidenten;
Gabriel Buschinskij, Bischof von Rjäsan, war berühmt als Red-
ner, wurde Erzpriester der ersten russischen Flotte, Direktor
aller Kirchenschulen und übersetzte Puffendorffs Geschichte
der europäischen Staaten ins Russische.^) Der Rostower Me-
tropolit Dmitrij schrieb nicht bloß eine Geschichte des Lebens
1) Gerebtzoff, Essai sur Thistoire de la civilisation en Russie. Paris 1858.
I 166, 421, 445. II 218, 572.
— 137 —
der Heiligen, ein Werk über die Raskolniki, sondern auch
Mysterien in Versen, die ersten russischen Theaterstücke.^)
Der berühmteste Kleriker Rußlands war der Patriarch Nikon.
Er führte in vier Partien des Kirchendienstes den Gesang ein,
gab dem schwarzen imd dem weißen Klerus neue Reglements,
schrieb eine Schilderung des Berges Athos und seiner Klöster,
sowie mehrere Werke geistlichen Inhalts; seine große Tat
aber ist die Korrektur der Bibel. Sein Ende war ein trauriges,
und mit ihm ist die Geschichte des Sektenwesens in Ruß-
land verknüpft.2) Er ist der letzte große Patriarch gewesen
und hat es gewagt, den Zaren Alexej zu exkommunizieren.
Und Alexejs Sohn Peter der Große schaffte das Patriarchat ab.
An die Stelle des Patriarchats trat der Heilige Synod.
„Nicht der Kirche,** sagte Stephan Sabinin^), „sondern nur den
Mißbräuchen in ihr trat Peter entgegen; nicht als ihr Ober-
haupt, sondern als ihr Schirmherr.** Mitglieder des Heiligen
Synod sind die vom Kaiser hierzu ernannten Erzbischöfe und
Bischöfe, der Beichtvater des Kaisers, die Chefgeistlichen der
Armee und der Flotte, femer die Metropoliten von Moskau,
Kijew und Petersburg-Nowgorod; der letztere ist stets Präsi-
dent des Synod. Unabhängig von der Geistlichkeit, nur Ver-
trauensmann der Krone, ist der Oberprokurator des Heiligen
Synod, von Peter dem Großen „des Kaisers Auge** beigenannt.
Der Synod überwacht alle Klöster, Kirchen, jetzt auch die
meisten Schulen des Reiches, hat das Recht bei Besetzungen von
Kirchenwürden Vorschläge zu machen, entscheidet in theolo-
gischen Fragen, hat die Verwaltung der Reliquienschätze, ur-
teilt in Eheangelegenheiten, namentlich in Ehescheidungen,
zieht die Priester wegen Unsittlichkeit zur Verantwortung, beauf-
sichtigt den Bau von Kirchen; kurz, der Synod ist die höchste
Kircheninstanz, aber seine Beschlüsse unterliegen der Zustim-
mung des Zaren, und so ist der Oberprokurator der eigent-
liche Chef dieser kirchlich-juridischen Organisation. Allerdings
hat es einen heftigen Kampf zwischen der Geistlichkeit und
1) Darüber wird noch im Kapitel, das Musik und Theater behandelt;
die Rede sein.
*) Vgl. das Kapitel, welches das Sekten wesen schildert.
3) Jen. Literaturzeitung 1843.
— 138 —
den Vertretern des Kaisers gegeben, bis dieses Resultat er-
zielt wurde. Peter der Große hatte die Macht des Patriar-
chen vernichtet und den Heiligen Synod an dessen Stelle ge-
setzt. Nach Peters Tode riß der Synod die Macht an sich,
die einst der Patriarch besessen hatte, und der zarische Ober-
prokurator blieb nur eine Schattenfigur. Zur Zeit der Zarin
Elisabeth sank die Bedeutung des Oberprokurators auf die
tiefste Stufe. Elisabeth ernannte zu ihrem Vertreter beim Synod
einen zum Polizisten gewordenen Exsoldaten namens Scha-
chowskoj, der keine Ahnung von seiner Aufgabe hatte. Aber
Schachowskoj wollte sich unterrichten und im Archiv Be-
lehrung finden. Auf seine Frage nach dem Archiv erhielt
er zur Antwort: Es gibt keinsl Er bittet, dann wenigstens
das Dossier der laufenden Angelegenheiten herbeizuschaffen.
Man versteht nicht einmal, was er damit meint. Die Mitglieder
des Synod pflegten alles nach Gutdünken zu erledigen, brauch-
ten keine Aktenstücke und Protokolle. Die Kirchengüter wur-
den seit Peter dem Großen vom Synod verwaltet; der Ober-
prokurator fordert die Unterbreitung des Standes der Ein-
nahmen und Ausgaben. Er wartet bis zum Ende seiner Amts-
zeit vergebens auf diese Unterbreitung. Schachowskojs Nach-
folger versteht seine Stellung besser. Er kümmert sich nicht
um solche Dinge und sammelt bloß fleißig die Trinkgelder,
mit denen man ihn freigebig überhäuft. Erst Alexander der
Erste vermochte die Macht, die der Heilige Synod und seine
klerikalen Mitglieder sich angemaßt hatten, zu brechen und
dem Oberprokurator die dominierende Stellung zu schaffen^),
die er seither einnimmt. Der Synod erhielt eine bureaukrati-
sche Organisation, die dann auf die ganze kirchliche Hierar-
chie übertragen wurde. Die Stellung des Synods glich jener
des Senats in Verwaltung und Justiz. Die Erzbischöfe ent-
sprachen den Generalgouvemeuren, die Bischöfe den Gou-
verneuren, die Konsistorien in den Eparchien den Gouverne-
mentsregierungen, die unteren geistlichen Verwaltungen den
Kreisgerichten und den Polizeiverwaltungen, die aus der weißen
Geistlichkeit hervorgegangenen Probste den Kommissaren für
1 ) Diese lehrreiche Wandlung erzählt ausführlich Schiemann a. a. O. 409.
— 139 —
Stadt und Land. Nikolaj der Erste ging noch weiter. Er
organisierte Synod und Klerus militärisch und setzte in seinem
Flügeladjutanten, einem Kavallerieobersten, den Klerikern
einen soldatischen Oberprokurator auf den Nacken; und
Custine durfte spotten, daß die russische Geistlichkeit nur eine
Miliz sei, in einer etwas anderen Uniform als sie die weltlichen
Truppen des Kaisers tragen. In den „Grenzboten** sagte da-
mals auch ein anderer Beobachter^): „Obgleich ein Metro-
polit den Rang eines Generals en chef, ein Erzbischof den
Rang eines Generallieutnants, ein Bischof den Rang eines
Generalmajors besitzt oder vielmehr eben deshalb erinnert die
Behandlung, die diese Kirchenfürsten vom Kaiser erfahren,
an die Kaserne.*' Der furchtbarste Oberprokurator, dem sich
der Heilige Synod je beugen mußte, entstand in unserem
Zeitalter: Konstantin Petrowitsch Pobjedonoßzew, der dem
Klerus die letzten Reste seiner einstigen Macht entrang und
ih^i herabdrückte zu einem völlig willenlosen Werkzeuge der
Staatsgewalt.
Zu bedauern ist diese Bedeutungslosigkeit des Klerus
gegenüber der Regierung deshalb nicht, weil wie die weiße
auch die schwarze Geistlichkeit, von den wenigen erwähnten
Ausnahmen abgesehen, sich niemals durch Bildung auszeich-
nete und niemals ernstlich danach strebte, zur Kultivierung
des Volkes ein wenn auch nur bescheidenes Maß beizutragen.
Wohl hatten die Schwarzen in Rußland schon von der frühesten
Zeit her, mit Ausschluß nicht bloß des Volkes, sondern selbst
der Amtsbrüder von der weißen Geistlichkeit, die Bildung
monopolisiert und ganz für sich allein in Anspruch genommen,
allein sie haben in den seltensten Fällen von diesem kultu-
rellen Monopol Gebrauch gemacht. Auch von den wenigen
Ausnahmen, die ich emsig hervorgesucht habe, um nach jeder
Richtung hin die Parteilosigkeit des Historikers zu dokumen-
tieren, muß man beklagenswerterweise konstatieren, daß ihre
Bildung stets einseitig und äußerst beschränkt war; auch sie
blieben in vollständiger Unkenntnis fast aller Wissenschaften
1) Vgl. Nikolaus der Erste gegenüber der öffentlichen Meinung von
Europa S. 48.
— 140 —
und kannten von den meisten selbst die Namen nicht, lernten
fast nie fremde Sprachen, haßten fremde Literaturen imd waren
unfähig mit fremden Gelehrten in Verkehr zu treten. Dieses
Urteil gilt für die Vergangenheit wie für die Gegenwart. Nur
in der Klerisei in der Ukraine fanden sich dank der Nachbar-
schaft Polens hier und da einige, die wenigstens den Schein
der Gelehrsamkeit hatten. Die Polen, die in der Ukraine
eine Zeitlang geherrscht hatten, gründeten in verschiedenen
Klöstern von Kijew und Tschemigow lateinische Schulen für
Theologie und Philosophie i), übrigens auch keine Pflanzstätten
höherer und wirklicher Bildung, sondern Akademien letzten
Ranges. Dennoch galten schon die kleinrussischen Mönche
als Ideale einer gebildeten Geistlichkeit, und die Zarin Elisa-
beth 2) ließ eiue Anzahl von ihnen nach Rußland berufen und
zu Bischöfen machen. Die Kleinrussen wurden jedoch von den
Großrussen als Halbfremde mit scheelen Augen angesehen und
förmlich boykottiert; sich selbst aber zur Bildung zu drängen
hatte der großrussische Klerus auch keine Lust, und so blieb
bis heute die Aufgabe, welche der schwarzen Geistlichkeit in
Rußland gestellt war, unerfüllt. Das einzige Lob, das dem
russischen Mönchstum ehrlich nachgesagt werden kann, ist
dieses : daß die Mönche in Rußland nur einen einzigen Orden
bilden imd insofern dem Staate weniger schaden, als es in
anderen Ländern geschieht, wo es viele Ordensregeln gibt
und aus der Vielfältigkeit Herrschsucht, Neid und Eitelkeit
entstehen.^) Es gibt kaum drei günstigere Urteile über das
russische Mönchstum. So sagt Haxthausen*) : Im Gegensatz
zur Weltgeistlichkeit müsse anerkannt werden, daß das
Leben der Klostergeistlichkeit im ganzen sittlicher, ihr Geist
gebildeter war. Aber Kontemplation und beschauliches Leben,
die Grundlagen dieser Richtung eines Mönchswesens, herrsch-
ten nur ausnahmsweise bei einzelnen Individuen unter ihnen.
— „Ich habe nirgends behaupten hören, daß in Rußland
Mönche und Nonnen in Wohlleben und Üppigkeit versunken
1) Vockerodt a. a. O. 15.
2) Waliszewski. La demiöre des Romanov.
3) Bemerkungen über Rußland (von Bellermann) II 144,
*) Studien I 322.
— 141 —
seien. Ob dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist, weiß
ich nicht." — Seit Katharina II. die Klostergüter für den
Staat einzog, seien alle Klosterleute auf eine so kärgliche Sub-
sistenz gestellt, daß jedes Wohlleben dadurch ausgeschlossen
scheine, ja sie könnten kaum existieren, wenn nicht Opfer
und Geschenke den Mönchen, Handarbeiten und Bettelei den
Nonnen den Unterhalt erleichtern würden; auf allen Straßen
finde man bettelnde Nonnen. Man erkennt aus diesem
Urteil das offenbare Bestreben, der Sache nicht auf den Grund
zu gehen, und wir werden später sehen, wieviele von den
mühsamen imd verklausierten günstigeren Zugeständnissen be-
stehen bleiben können. Hier will ich vorerst noch das Zeug-
nis des Johann Faber i) anführen, ein Zeugnis aus vergangener
Zeit: „Mönche und Nonnen, die alle denselben Regeln unter-
worfen sind, erfüllen so streng ihre religiösen Pflichten, daß
sie Respekt und Bewunderung verdienen. Die Gelübde werden
bei ihnen nicht so gering geachtet wie heutzutage bei uns.
Wer einmal in ein Kloster eingetreten ist, kann es unter keinem
Vorwande mehr verlassen. Das Gelübde wird so hoch ge-
schätzt, daß es von den Erzbischöfen und Bischöfen trotz
deren weitgehender Befugnisse nicht gelöst werden kann. Na-
türlich haben sie auch eine so hohe Idee von der Keusch-
heit, daß sie ihren Mönchen und Nonnen die Ehe verbieten.**
Faber stellt zum Schlüsse den russischen Klerus dem katho-
lischen als Muster vor. Die russische Kirchengeschichte selbst
weiß aber in ihrer Gesamtheit nicht soviel Ausgezeichnetes
vom schwarzen Klerus Rußlands zu sagen, als d6r Wiener
Prälat Faber, der niemals in Rußland war, sondern von zwei
durchreisenden Russen, noch dazu Laien, in Tübingen flüch-
tige Informationen erhielt und daraus schleunigst ein Büch-
lein machte.
In Wahrheit unterschied sich der schwarze Klerus von dem
weißen im ganzen nur durch den Reichtum, den er gesammelt,
und durch die Ehelosigkeit, die er sich auferlegt hatte. Den
Reichtum wandten die Schwarzen verständnisvoll zu ihrem
eigenen Besten an ; und wie sie es mit der Ehelosigkeit hielten,
1) De Riissorum, Moscovitarum et Tartarorum Religione. Spire anno
1582, pag. 170.
— 142 —
darüber klären unzählige zarische Verordnungen am besten
auf. Schon Olearius^) berichtete, daß Rußland überfüllt wäre
mit Mönchen und Nonnen und daß die Mönche trotz der
strengen Ordensregeln in großer Zügellosigkeit lebten. Die
Nonnen unterhielten öffentlich Liebhaber und erzogen ebenso
öffentlich ihre Kinder, die gewöhnlich wieder Nonnen und
Mönche wurden und in die Fußstapfen der Eltern traten.^)
Diese Angaben werden von zarischen Ukasen bestätigt. In
der Kirchenversammlung von 1503 wurde folgende Mahnung
des Zaren Iwan III. verlesen 3): „Die Furcht Gottes aus den
Augen setzend halten sich viele der Priester und Diakone
Kebsweiber, die halbe Priesterfrauen genannt werden.*) Fortan
erlauben wir ihnen nur, wenn sie ein untadelhaftes Leben
führen, auf dem Chore zu singen und vor dem Altare das
heilige Abendmahl zu empfangen. Die des Lasters der Wol-
lust überwiesen werden, mögen in der Welt leben und welt-
liche Kleidung tragen. — Noch bestimmen wir, daß Mönche
und Nonnen nie zusammen leben, sondern Manns- und Frauen-
klöster stets getrennt sein sollen." Aber schon fünfzig Jahre
später, am 12. April 1552, mußte Iwan IV. wieder den Un-
sitten des Klerus steuern und ein Laiengericht zur Über-
wachung der Priestermoralität einsetzen. Die aus hundert Ar-
tikeln bestehende Verordnung^) dieses Zaren ist das furcht-
barste Gemälde der Unwissenheit, des Aberglaubens und der
Sittenverderbtheit des Klerus und des Volkes in Rußland
während des sechzehnten Jahrhunderts.^) Da heißt es'') : „Nicht
1) In seiner moskawitischen Reisebeschreibung.
2) Die Möncherey oder geschichtliche Darstellung der Kloster- Welt (von
Weber). Stuttgart 1819, I 119.
3) Karamsin, deutsche Ausgabe VI 286 (französische Übersetzung VI 453).
*) Dieser Anfang der Mahnung bezieht sich auf den weißen Klerus, auf
verwitwete Popen, die nach dem Gesetze sich nicht wieder verheiraten dürfen,
aber eine wilde Ehe eingingen und dem Kanon zum Hohne durch Korruption
ihre Stellungen behielten.
*) CTor.iain..
ö) Vgl. Aug. Theiner, De l'Eglise ruth^nienne et de ses rapports avec Ic
Saint-Siöge. — Schiemann, Rußland. Livland und Polen (in Onckens Welt-
geschichte). — Marmier, Rußland, Finnland und Polen.
7) Im 4. und im 12. Artikel des Stoglaw. Der 12. Artikel entwirft auch
eine Schilderung des allgemeinen Aberglaubens, der allgemeinen Unwissenheit
— 143 —
das Heil seiner Seele sucht man in den Klöstern, sondern
Müssiggang, Vergnügungen und niedrigste Wollust. Die Ar-
chimandriten empfangen und bewirten auswärtige Gäste in
ihren Zellen. Die Mönche halten sich Diener und sind so
schamlos, daß sie Frauenzimmer in das Kloster bringen, um
in Saus und Braus die Güter des Klosters zu verprassen und der
gemeinsten Unzucht zu fröhnen. Es soll daher von nun an
in jedem Kloster bloß noch einen einzigen Tisch geben. Es
sollen die Mönche ihr junges Gesinde abdanken und keinen
Umgang mit Weibern pflegen, sie sollen auch weder Wein
noch Meth haben und nicht meht als Müssiggänger in den
Städten und Dörfern herumlaufen. — Männer und Weiber
gehen miteinander ins Bad, und sogar Mönche erröten nicht,
mit Nonnen dahin zu gehen. — Endlich — und dies ist das
Bejammernswerteste, das was über ein Volk den göttlichen
Zorn, Krieg, Hunger und Pestilenz bringt — man ergibt sich
der Sodomie.**
Aber nicht nur die Zaren früherer Zeiten, selbst Peter der
Große kämpfte vergebens gegen die Unordnung im Klerus.
Peter verbot am 31. Dezember 1703, neue Klöster anzulegen
und ließ einige alte sperren.^) Er befahl eine genaue Zählung
aller Mönche und Nonnen. Laien, die man bisher in den
und Unsittlichkeit. Der Zar fordert darin die Geistlichkeit auf, ,, darüber zu
wachen, daß gewisse schimpfliche und des Heidentums würdige Mißbrauche
ganz verschwinden. Wenn ein gerichtlicher Zweikampf stattfinden soll, geben
die Zauberer vor, in den Sternen lesen zu können, auf welcher Seite der Sieg sein
werde. Diese ungläubigen Leute haben alberne Aristotelische und astrologische
Bücher in den Händen, desgleichen Tierkreise, Almanache und andere Werke,
die voll von heidnischer Wissenschaft sind. Am Pfingstfest weinen sie, stoßen
ein Geschrei aus, stehen schluchzend, heulend und teuflische Lieder singend
in den Kirchengängen. Donnerstag morgens verbrennen sie Stroh und rufen
die Toten mit Namen auf; die Priester legen Salz auf den Altar und suchen
die Kranken damit zu heilen. Falsche Propheten laufen nackt, ohne Schuhe
und mit verwirrten Haaren von Dorf zu Dorf; sie zittern an ihrem ganzen
Leibe, wälzen sich auf der Erde und erzählen Erscheinungen vom heiligen
Anastasius und anderen. Truppen Besessener, die manchmal bis auf hundert
Personen anwachsen, fallen plötzlich in ein Dorf ein, leben auf Kosten der
Einwohner, besaufen sich und plündern die Reisenden. Die Bojarensöhne
liegen stets in der Schenke, wo sie all ihr Vermögen durchs Spiel verschwenden."
1) Halem, Leben Peters des Großen III 89.
— 144 —
Klöstern zu verschiedenen Verrichtungen, nicht zum wenigsten
aber als Werkzeuge der Unzucht verwendet hatte, mußten
entfernt werden. Die Mönche lehnten sich gegen diese Ver-
fügungen auf und versuchten in offenen Briefen den 2^ren als
Gottesfeind zu brandmarken; darauf ließ Peter den Klöstern
Papier und Dinte entziehen, imd die Mönche hatten keine Mög-
lichkeit mehr, auch nur eine Zeile zu schreiben. Weiter be-
fahl der Zar, daß in ein Kloster nicht eintreten durften : Männer
unter dem dreißigsten Lebensjahre; Militärs; Leibeigene oder
nicht Freigelassene; des Lebens und Schreibens Unkundige;
Ehemänner, deren Frauen noch am Leben; Staatsdiener; in
Schulden Geratene; endlich Solche, die der Justiz entflohen.
Die Zugelassenen mußten einen Erlaubnisschein vom Kaiser
oder vom heiligen Synod vorweisen und ein Noviziat von
drei Jahren absolvieren. Für die Frauenklöster wurden fol-
gende Regeln festgesetzt: Falls ein junges Mädchen den
Schleier nehmen will, soll es alle Umstände zuvor genau er-
wägen; beharrt die nach dem Kloster Verlangende auf ihrem
Willen, so stelle man sie im Kloster unter die Aufsicht einer
alten Klosterfrau und erteile ihr die Weihen erst nach ihrem
sechzigsten, in Ausnahmsfällen nach dem fünfzigsten Lebens-
jahre. Bis .zu diesem Zeitpunkte soll sie immer das Kloster
verlassen und in den Ehestand treten können.
Der Widerspruch in allen Handlungen Peters kommt auch
hier wieder zum Vorschein. Während der Zar die Zahl der
Klöster im Reiche zu vermindern trachtet, begründet er selbst
ein neues Kloster in seiner neuen Residenz an der Newa.
Während er die schärfsten Maßregeln trifft, um die russischen
Frauen davon abzuhalten, daß sie ihr Leben hinter Kloster-
mauern verbringen, verbannt er, um sich den Weg zu einer
Vermählung mit seiner Maitresse Katharina freizumachen, seine
eigene erste Gattin Jewdokia in ein Kloster zu ewigem Ge-
fängnis. Diese Inkonsequenz verhindert den Kaiser nicht, 1724
seine Verordnung vom Jahre 1703 durch einen neuen Ukas^)
zu erläutern, in dem er gegen Mönche und Nonnen also wettert :
„Das heutige Leben der Mönche ist nur ein Schein und wirkt
^) Büschings Magazin I 84.
i-^
Russischer Scliorn- Donischer '\
Schinicenhäiidler. sleinfeger. Kosal<,
I
I
i
— 145 —
nicht wenig Böses, weil der größte Teil von ihnefn nur Fau-
lenzerei treibt. Jedermann aber weiß, was für Aberglauben
und welche Empörungen aus Müssiggang entstanden sind. Da
die Mönche fast alle von gemeinem Stande sind, ist es klar,
daß sie nichts zu verlassen haben; daß sie keinem Luxus ent-
sagen, sich vielmehr durch das Mönchstum ein gutes und
bequemes Leben zu erwählen trachten. Denn zu Hause sind
sie auf dreifache Weise zinsbar: sie müssen ihre Familie er-
nähren, der Krone Steuern und ihren Erbherren Abgaben
entrichten. Gehen sie aber ins Kloster, so entfallen diese
drei Sorgen: die Mönche finden alles fertig was sie brauchen.
— Geben sie sich Mühe, die heiligen Schriften zu verstehen
oder Andere zu unterrichten? Keineswegs. — Wem nützen
sie? In Wahrheit weder Gott noch Menschen." Um die
Klöster zu nützlicheren Anstalten zu machen, befahl Peter „ab-
gedankte Soldaten, die nicht arbeiten können und andere wahre
Arme in die Klöster zu verteilen. Zu ihrer Bedienung sollen
Mönche bestellt werden. Ebenso sollen Nonnen die Armen
ihres Geschlechts bedienen.**
Für Mönche, die sich einer schlechten Aufführung schuldig
gemacht hatten, wurde später das Kloster Ssolowezk bei Archan-
gelsk als Strafaufenthaltsort bestimmt. Hier soll es um 1830
mehrere tausend verbannte Mönche gegeben haben.^)
Die Regeln für die russischen Frauenklöster besagen: Es
soll kein Unterschied des Standes und der Herkunft gelten.
Die Novize hat der Oberin ihre Papiere auszuliefern, ihre
Herkunft nachzuweisen, einen Erlaubnisschein ihrer Familie und
ein Attest ihrer Gemeinde vorzulegen. Im Kloster erhält sie
einen Klostemamen, und fortan darf sie keine kostbaren, son-
dern nur leinene oder wollene Kleider tragen. Die Probe-
zeit dauert einen Monat, ein Jahr oder noch länger, je nach
dem Kloster, das man wählt. Ein bindendes Gelübde, das
1) Dupr6 de St. Maure, P6tersbourg, Moscou et les provinces. Paris
1830, I icx>. — Diese Angabe scheint übertrieben zu sein, da die Zahl sämt-
licher russischer Mönche wohl nie mehr als zehntausend betragen hat. Da
das Kloster aber auch als Verbannungsort für politische imd selbst kriminelle
Verbrecher diente, wird sich die genannte Ziffer auf die Gesamtheit der Ver-
urteilten beziehen lassen.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. lo
— 146 —
den Rücktritt in die Welt verhindern würde, wird nicht ge-
geben und darf nicht verlangt werden. Es soll jedoch noch
nie vorgekommen sein, daß eine Jungfrau, die in ein Kloster
getreten, wenn sie ein Jahr darin verweilt, nach der Welt
zurückverlangt hätte. Dagegen geschieht es oft, daß ver-
heiratete Frauen, die ins Kloster eintreten, weil ihre Gatten
verschollen sind, in die Welt zurückkehren, wenn ihre Männer
wieder auftauchen. i) Trotz der schönen Klosterregeln führen
die Nonnen meist ein flottes Leben. Sie verfügen frei über
ihr Vermögen, entbehren wenn sie reich sind keinen Luxus,
und die, welche arbeiten, tun dies nicht des klösterlichen Be-
rufes, sondern des Erwerbes wegen. Man kennt nur wenige
Beispiele von unschuldsvollen, sittlichen, tugendhaften und
wahrhaft frommen Nonnen in Rußland. Im allgemeinen gal-
ten vielmehr die russischen Nonnenklöster seit jeher und bis
heute als Stätten der Zügellosigkeit, des Sittenverfalls, als förm-
liche Lasterhöhlen. Augustin Mayerberg 2), der Gesandte des
Kaisers Leopold an den Zaren Alexej Michailowitsch, berichtete
zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts: „Ce que je puis dire
particuli^rement des Religieuses, tant il y en avoit un grand
nombre r^pandu dans toutes les rues. II y a en Moscovie
plusieurs Monast^res de Religieuses; dont la moindre partie
est Celle des Filles, celle des Veuves est plus grande; mais
Celle des Femmes r^pudi^es par leurs maris, est en tres-grand
nombre; et dans ces Monastdres leurs sanctes Constitutions
sont tres-mal observ^es. Car contre Tordre on y void plusieurs
femmes marines, qui n*y sont pas tant enfermdes, par Tamour
de rhonnStet^, que par la force des grilles. Pour ce qui
est des Religieuses vierges; elles n'ont rien qui les retienne.
Ce qui fait que le s6xe curieux, qui a toute libert^, regoit
les visites des hommes, et qu'apr^s avoir assist6 le matin
ä Toffice, elles se prominent librement dans les villes. Et
comme elles n*ont nul Gardien de leur Pudicit6 qu'elles ap-
pr^hendent, se laissans empörter aux mouvemens d6r6gl6s de
leur cupidit^, elles se pr^cipitent dans Tabisme profond de
^) Haxthansen, Studien I 316.
*) Voyage en Moscovie d'un Ambassadeur. A Leide 1688, p. 103 (französ.
Neudruck I 99).
— 147 —
rinfamie, au grand scandale des gens de bien, et au deshon-
neur du Voile Sacr6 qu'elles ont regeu.** Die Frauenklöster
wurden manchmal offen in Bordelle verwandelt. Pseudo-
Dmitry ließ seine Braut, die Polin Marina, ins Kloster bringen,
damit sie hier das Kirchengesetz lernte und fastete, ehe sie
die Taufe empfing. Den ersten Tag fastete sie auch, aber
nur deshalb, weil ihr die russischen Speisen ein Greuel waren ;
dann schickte ihr der Bräutigam die Köche ihres Vaters, und
es ging gar nicht mehr klösterlich zu. Marina empfing im
Kloster nicht bloß den Besuch ihres leidenschaftlichen Bräuti-
gams, sondern brachte mit ihm allein manche Stunde zu, und
waren sie des Liebens überdrüssig, so vertrieben sie sich die
Zeit mit Gesang, doch nicht mit geistlichem, und mit Tanz
und Musik. Pseudo-Dmitry, ein aus der Kutte gesprungener
Mönch, brachte Possenreißer und Musiker ins Kloster, „gleich-
sam als geschehe dies,** klagt der Historiker i), „um mit der
Heiligkeit des Ortes und der Würde unbefleckter Nonnen
Scherz zu treiben; Moskau hörte davon mit Abscheu.** Man
könnte hier entschuldigend bemerken, daß die Übeltäter ein
entlaufener Mönch, der den Zarenthron usurpiert hatte, und
eine polnische Abenteurerin waren. Aber solche Vorfälle waren
nicht vereinzelt, fanden nicht bloß in jener wirren Epoche
statt, sondern sind typisch und wiederholen sich fortwährend.
Am häufigsten unter der Herrschaft der stockrussischen Zarin
Elisabeth, Tochter Peters des Großen, und die Hauptschuldige
ist diesmal die Kaiserin selbst 2), die sich gern als die frömmste
Frau ihrer Zeit aufspielte. Lange Stunden pflegte sie in den
Kirchen zuzubringen, in inbrünstigen Gebeten stehend oder
kniend, bis sie ohnmächtig zusammenbrach und in Starr-
krampf fiel. Als sie auf einer Schiffsfahrt von einem Sturm
überrascht wird, sucht sie ihre Zuflucht und Rettung im Gebete,
bleibt die ganze Nacht kniend und zu den Heiligen flehend,
deren Reliquien sie als unfehlbare Rettungsmittel nicht aus
den Händen läßt. 3) Eines Tages findet sie, daß auf einem
1) Karamsin, deutsche Ausgabe X 224, (französische Übers. XI 352).
2) Vgl. Waliszewski: L'h6ritage de Pierre le Grand 92; La demidre des
Romanov 45, 212; Le Roman d'une imp6ratrice, Catherine II, 344.
») M6moire3 de Catherine II. Londres 1859, p. 180.
lO*
— 148 —
Heiligenbilde die Engelein, die den heiligen Sergej umgeben,
zu sehr Amoretten ähneln; ihr keusches Gemüt ist tief be-
leidigt, und sie befiehlt dem Oberprokurator des heiligen Synod
das Ärgernis zu beseitigen und den Engeln ein heiligeres Aus-
sehen anstreichen zu lassen. Die wichtigste Person in Elisabeths
Hofstaate ist ihr Beichtvater Dubjanskij, der auch eine politische
Rolle an sich reißt und namentlich die Saporegerkosaken pro-
tegiert, weil sie ihm regelmäßig tonnenweise gesalzene Fische
senden. Nun die Kehrseite : der Beichtvater Dubjanskij ist auch
der Gelegenheitsmacher Elisabeths und namentlich der Ver-
traute bei dem Liebesverhältnisse des ehemaligen Kirchen-
sängers Rasumowsky mit der Zarin, die entsprechend ihrem
frommeii Sinne die Klöster zu ihren Absteigquartieren wählt
und besonders das Troitzkakloster mit ihren Orgien erfüllt.
Dorthin pilgert sie um zu beten, dort gibt sie ihren bevor-
zugtesten Liebhabern zärtliches Stelldichein; und fühlt sie ob
ihrer Ausschweifung an heiliger Stätte Skrupel, so tut sie gleich
an Ort und Stelle durch gütige Vermittelung des gefälligen
Beichtvaters Buße. Die Regierungsgeschichte Elisabeths ist
eine unaufhörliche Reihenfolge erotischer und pietistischer
Skandalosa, und dem von der frommen Zarin und ihrem Beicht-
vater gegebenen Beispiel folgt in einem Taumel von Ver-
zückung imd Zynismus der ganze Klerus. Der Historiker,
der es sich zur Aufgabe macht, diese religiösen und erotischen
Possen, die in toller Abwechselung einander den Schauplatz
überließen, genau zu schildern, erscheint als ein getreuer Ab-
schreiber der Werke eines Sade. Wie in den wahnsinnigsten
Szenen, die dieses teuflische Genie gemalt hat, sehen wir
im Rußland Elisabeths in den Klöstern die furchtbarsten und
blutigsten erotischen Dramen sich abspielen. Zu den Füßen
der Altäre werden Orgien gefeiert; mit den Heiligenbildern
in den Händen opfert man der raffiniertesten Unzucht. Völ-
lerei und Ausschweifung greifen gleich epidemischen Krank-
heiten im ganzen russischen Kirchen- und Klosterstaat um sich.
Ein Archimandrit vergewaltigt ein Mädchen auf offener Straße.
Er wird in der Ausübung seines Verbrechens von Bauern
überrascht und insultiert. Der Skandal kommt vor Gericht, und
man verurteilt nicht den Priester, der seine Würde geschändet
— 149 —
hat, sondern die Bauern, weil sie den Archimandrit insultierten !
Die Priester dürfen die wundertätigen Heiligenbilder aus den
Kirchen und Klöstern in Privathäuser schleppen, um Sauf-
gelage im Zeichen der Heiligen festlich zu gestalten. Der
höchsten Geistlichen bemächtigt sich eine erotische Raserei, die
sich in den gräßlichsten Flagellationstollheiten austobt. Der
Bischof von Wjatka, Warlam, peitscht eigenhändig die An-
gestellten seiner Kirche bis aufs Blut, wenn der sinnliche Koller
ihn in Aufruhr bringt; der Bischof von Archangelsk, Warso-
nofij, benützt den Umstand, daß in seiner Verwaltung ein
kleiner Mangel entdeckt wird, um seiner Lust zu Züchtigungen
freien Lauf zu lassen ; er beruft den ganzen ihm unterstehenden
Klerus vor die Pforte der Kirche und zwingt die Schuldigep?
mit nackten Füßen eine Stunde lang in tiefem Schnee zu
stehen; Warsonofij, ein Todfeind aller Bildimg und Kultur,
schlägt seine Priester bei jedem Anlaß und läßt sie wegen
des geringsten Vergehens an die Kette schmieden. Der Bar-
bar ist aber nicht unerbittlich grausam: ein Fäßchen Wein
oder Schnaps zähmt seine Wildheit, und die Klugen sichern
sich auf solche Art von vornherein vor der Wut des hochwürdig-
sten Vaters. 1) In einer solchen Zeit konnte die schauerliche
Männertöterin Gräfin Darja Saltykow ihr Wesen treiben, die,
was die Legende von einer mythischen Königin erzählt, in
Wahrheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollführte:
die Liebhaber, an denen sie sich gesättigt, ließ sie umbringen ;
und sie konnte Jahre hindurch ungestraft bleiben, weil der
Klerus nicht bloß sie schützte, sondern an ihren Mordtaten
und blutigen Orgien teilnahm. Erst mehrere Jahre nach dem
Tode der Zarin Elisabeth, unter Katharinas II. Regierung,
wagte man dieses blutdürstige Ungeheuer vor Gericht zu schlep-
pen und die Schandtaten des vertierten Weibes in breiter
Öffentlichkeit zu verhandeln. Der Prozeß dauerte lange Jahre;
man stellte die Zahl der Opfer mit 130 fest. Von wievielen
Verbrechen mag man nach so vielen Jahren aber nichts mehr
^) Diese Schandtaten sind nicht von Ausländem, sondern von Russen
erzählt, von Snamierski und Schachowskoj. Man vergleiche die Zeitschrift
„PyccKaa crapHHa 1878'*, S. 185 — 190.
— 150 —
erfahren haben. Unter den Opfern der Wollust und Grausam-
keit der Saltykow waren beide Geschlechter vertreten, und ne-
ben Männern und Frauen figurierten auch zwölfjährige Kinder.
Die Toten konnten nicht mehr gegen ihre Mörderin zeugen, aber
von Opfern, welche die von diesem Weibe erdachten Martern
überstanden hatten, erschienen noch fünfimdsiebzig vor Gericht
um die Saltykow anzuklagen. Die meisten Opfer hatte sie
sich aus ihrem Gesinde und aus ihren Leibeigenen geholt.
Und was war die Strafe, die sie jetzt ereilte ? Katharina dachte
gar nicht daran, vollständige Justiz zu üben — es war doch
eine Aristokratin, die die Verbrechen begangen hatte, und
nur Leibeigene waren die Opfer. Die Gräfin Saltykow wurde
also bloß zu ewigem Gefängnis verurteilt; sie zu züchtigen,
wie sie selbst gezüchtigt hatte, dazu konnte sich die Freundin
der französischen Philosophen und Enzyklopädisten nicht auf-
raffen. Aber die Helfershelfer des Ungeheuers waren nicht
Mitglieder einer bevorzugten Klasse, und ihnen durfte voller
Lohn zuteil werden: die Diener der Gräfin, die selbst unter
der Zuchtrute der Tyrannin stehend zitternd ihre Befehle voll-
führten und die Opfer zu Tode geißelten; und der Pope, der
den Erschlagenen ein kirchliches Begräbnis zukommen ließ
und an ihren Gräbern das Märtyrerkreuz aufpflanzte — diese
Übeltäter wurden auf offenem Platze in Moskau geknuteti —
Die Folgen solcher Demoralisation, einer so unglaublichen
Verwirrung aller sittlichen Begriffe sind noch heute zu spüren.
Man hat in Rußland, wo schon früher kein hohes Verständnis
für Moral und Recht vorhanden war, sich seither auf ein
einigermaßen sittliches Niveau nicht mehr hinaufzufinden ver-
mocht. Namentlich die Klöster, und im besonderen die Frauen-
klöster i), blieben seit dem Elisabethischen Zeitalter die Heim-
stätten wilder Sittenlosigkeit. Alle tiefen Kenner des Ruß-
land im neunzehnten Jahrhimdert bestätigen, daß bei der
Klostergeistlichkeit im verflossenen Säkulum die sinnlichen
1) Ist das nicht bloß für Rußland, sondern im allgemeinen gültig für die
Länder der orthodoxen Religion? In den Balkanländem stehen die Frauen-
klöster ebenfalls im schlechtesten Rufe, und von rumänischen Frauenklöstem
ist es den Reisenden bekannt, daß man dort eine Gastfreundschaft wie in
Bordellen genießen kann.
— 151 —
Ausschweifungen an der Tagesordnung waren i), daß dort die
gräulichste Sittenverwilderung herrscht. Der vielangefeindete,
aber als Zeuge in Sittenfragen durchaus nicht unverläßliche
Custine^) sagte bei Schilderung der russischen Klostersitten:
„Ces faits rappellent un peu notre litt^ratuire rdvolutionnaire
de 1793: vous vous croirez aux Visitandines de Feydeau."
Ich aber muß hier nochmals wiederholen: kein Ausländer hat
so furchtbares Material gegen die russische Geistlichkeit zu-
sammentragen können, als in den russischen Selbst anklagen
enthalten ist, welche wir sowohl in der russischen Kirchen-
geschichte, bei den Chronisten und Historikern von Nestor
bis Karamsin und Ssolowjew, als in den russischen Zeit-
schriften, namentlich in „Russkaja Starina**, die ßich die Er-
forschung der Vergangenheit zur Aufgabe macht, turmhoch
aufgehäuft finden. Wir meinen schon das Gräßlichste erfahren
zu haben, da wir den Fall der Gräfin Saltykow kennen lern-
ten; und dann wird uns Kenntnis davon, daß um ein Jahr-
hundert später, zu einer Zeit also, wo Rußland sich nicht
nur als europäisch betrachtete, sondern Europa förmlich zu
bedrohen und beherrschen begann, in einem russischen Frauen-
kloster solches sich ereignen kann: Ein junger Mann wird
einen Monat lang von den Nonnen festgehalten und in wilder
Gier durch Liebesdienste zu Tode erschöpft. Er wird zuletzt
so schwach, daß er nicht mehr imstande wäre, sich aus dem
Kloster fortzubewegen. Siecht er langsam in den Mauern des
gott geweihten Gebäudes dahin, so kann es zu einem Skandal
kommen. Da beschließen die frommen Schwestern dem Übel
vorzubeugen und vollenden das Werk, das der Tod zu lässig
betreibt. Der Ermordete wird dann in Stücke zerschnitten
und in einen Brunnen versenkt. — Ein Fall, wie ihn die
blutigste Phantasie eines hirnverbrannten Kolportageroman-
schreibers nicht schauerlicher ersinnen könnte. Und dieser
Fall ist der Wirklichkeit des russischen Lebens entnommen.
1) Measchen und Dinge in Rußland, Anschauungen und Studien, Gotha
1856. Der nicht genannte Verfasser ist F. Leizmann, er lebte lange Jahre im
Zarenreiche.
Ä) a, a. O. III 355.
— 152 —
und nicht einmal ein vereinzelter, sondern wieder nur einer
für viele. —
Wäre es da seltsam, wenn die heidnischen Völker in Ruß-
land nicht gesitteter wären als die herrschende Rasse? Bei
den Kalmücken zum Beispiel ist dem Klerus der Zölibat eben-
falls zur Pflicht gemacht; und auch bei diesem barbarischen
Volke sucht sich die ehelose Geistlichkeit durch Ausschweifun-
gen für die gesetzlich ihr aufgezwungene Enthaltsamkeit schad-
los zu halten. Doch wir sehen, daß nur die Mandschi und die
Gätzuln, also die niedersten Priester, der Versuchung zu er-
liegen pflegen, während die Obergeistlichen im allgemeinen
ihrem Stande keine Schande machen.^) Aber selbst für die
Sünder gibt es hier eine Entschuldigung. Denn die kalmücki-
schen Frauen sollen dem Umgang mit den Gcistlidien ays
einem gewissen religiösen Grunde geneigt sein, weil sie durch
solchen Geschlechtsverkehr einen Anteil an der Heiligkeit des
geistlichen Standes zu erlangen glauben. Es wird die Un-
sittlichkeit also zu einer Kulthandlung und sie darf nicht mit
dem Maße strenger Moral gemessen werden. Bei der russi-
schen Geistlichkeit fällt der Mantel der Scheinheiligkeit fort,
und die brutalste Sinnlichkeit und Unsittlichkeit stehen in
völliger Nacktheit vor unseren Augen. Die Russen haben
sich die Rolle der Zivilisatoren Asiens angemaßt, wir aber
erkennen, daß dort die Wilden noch immer die besseren
Menschen sind.
1) Bergmann, Nomadische Streifereien unter den Kalmücken II 288.
— 153 —
9- Heiligenkult und Mystizismus.
Russisches Christentum und Schamanismas — Geisterglaube und Heiligen-
verehrung — Pässe für den Himmel — Schaffung und Absetzung von Heiligen
durch Ukas — Die Heiligen — Ilja — Nikolaj, der Thronfolger Gottes —
Die Heiden und der heilige Nikolaj — Andreas — Georg — Alexander Newskij
— Leben und Wunder des heiligen Ssergej — Ikone — Wallfahrten und
Unzucht — Herrscher und Heiligenbilder — Bilderdienst und Mystizismus —
Ursachen des russischen Mystizismus — Klima und Natur — Mystizismus
des Muschik und der Städter — Der Mystizismus der Herrscher — Iwan der
Schreckliche — Peter der Große — Nikolaj I. und Alexander III. — Paul L
und Alexander I. — Alexander II. und Nikolaj II. — Die mystischen Dichter
— Tolstoj — Dobroljubow — Der Einzeilendichter Brjußqw.
"'vi
Lferoy-Beaulieu stellt in seinem großen Werke über Ruß-
land i) die Fragen: Ist das russische Volk tatsächlich religiös?
Ist es in Wahrheit christlich ? Verdient der unklare rohe Glaube
des Muschiks überhaupt den Namen Religion? Entstammen
seine verworrenen Lebens- und Weltanschauungen dem christ-
lichen Bekenntnisse?
Auf alle diese Fragen haben wir schon in den bisherigen
Abschnitten trostlos klare verneinende Antwort erhalten. Je
weiter wir fortschreiten in der Geschichte der öffentlichen
Sittlichkeit in Rußland, desto dichter die Finsternis, die uns
auf allen Seiten umgibt ; desto undurchdringlicher die Schatten,
die jedes Gebiet unseres Planes bedecken ; desto hoffnungsloser
die Sehnsucht nach einem einzigen Lichtblitz der Aufklärung,
nach einem noch so winzigen Ausblick in ein minder trauriges
Kapitel. Endlos wie die russische Steppe dehnt sich die Ge-
schichte der russischen Leiden imd Laster; und die Religion,
sonst die erhebende Trösterin im Jammer des Einzelnen wie
der Völker, ist in diesem unglückseligen Reiche, bei diesem
sittlich verkommenen Volke zugleich Grundlage und Krönung
aller Übel. Das russische Christentum muß nicht bloß als
ein primitives, sondern geradezu als ein Glaube bezeichnet
werden, der sich von dem alten slawischen Heidenglauben gering
unterscheidet; es ist ihm nichts anderes gelungen als den
1) III 26.
— 154 —
Namen zu wechseln, das Wesen der Gedanken und die Formen
des Kultus sind fast unverändert geblieben oder nur durch
Zusätze mongolischen Aberglaubens ergänzt worden. Bei den
Ainos im äußersten Osten, die von der Kultur noch kaum
berührt sind, ist das Schamanentum beinahe schon verschwun-
den; man kennt heute vielleicht nur drei oder vier Männer i),
welche dort diese uralte Kaste noch im zwanzigsten Jahrhundert
vertreten. Bei den Russen aber spielen die Priester alle nichts
anderes als Rollen von Schamanen, und die Zeremonien, die
sie üben, sind voller Anklänge und Anlehnungen an die scha-
manistischen Zauberkunststücke. Der Glaube der Schamanen-
völker ist ein Geisterglaube.^) Er beruht in der Meinung,
• daß die Seelen der Verstorbenen als Gespenster durch die
Lüfte und über die Schneefelder fliegen. Diese Geister hausen
in dunklen Tannenwäldern, Felsenklüften und Abgründen. Die
heftigen und verderblichen Naturerscheinungen, Mißwachs und
Seuchen, plötzliche Krankheiten, Epilepsie, Raserei einzelner
Individuen werden dem Einflüsse solcher Geister zugeschrieben.
Der russische Heiligenglaube ist kaum etwas anderes als der
Geisterglaube der Schamanenvölker. Man fürchtet sich vor
der Rache der Heiligen, bemüht sich um ihre Gunst, macht
das Christentum zu einem Fetischdienst ; versagt der angerufene
Heilige, so zürnt man ihm, entreißt, um ihn zu strafen, seinem
Bilde die Geschenke und spottet des trügerischen unverläß-
lichen Halbgottes mit dem Sprichwort 3): „Er taugt nicht dazu,
daß man ihn anbete; er taugt um Töpfe damit zuzudecken.**
Der größte Teil des russischen Volkes kennt nicht Gott,
1) Labb6, Un bagne russe, l'ile de Sakhaline. Paris 1903, page 196.
*) Stuhr, Die Religionssysteme der heidnischen Völker des Orients,
S. 250. Vgl. Julius Lippert, Allgemeine Geschichte des Priestertums (2 Bande),
Berlin 1883, I 250. — Lippert hat in seinem Werke ,,Die Religionen der euro-
päischen Kulturvölker", S. 91 — 109, auch eine interessante Darstellung der
altslawischen Religion. — Kurz und lichtvoll sind die Abhandlungen von Jo-
hannes Scherr, Geschichte der Religion, Leipzig 1857, I. Buch Seite 17, 38,
43, 47 und II 255. — Über den Schamanismus der Samojeden und Tungusen
sehe man die Stellen bei Le Bruyn a. a. O. III 31, 365 u. a. oder bei Pallas
a. a. O.; endlich M. 3a6buiiH'i>, pyccKitt HapojL, MocKBa 1880, 256 — 259.
') ,,He ri),';nTF.CH Bory MOJiirrhCH, ro,iiiTF.eH ropiuKn nonpuBaib". Leroy-
Beaulieu III 35, Note der Übersetzer.
— 155 —
sondern bloß die Heiligen; nicht die Religion, sondern die
Reliquien. Heilige und Reliquien sind ohne Zahl, vermehren
sich mit jedem neuen Jahre. Zur Schaffung eines neuen Heili-
gen bedarf die Geistlichkeit allerdings seit jeher der Bewilli-
gung des Herrschers 1) ; aber Fürsten und Großfürsten, Zaren
und Kaiser gaben stets ihre Zustimmung, sobald sie nicht
nur durch bloße Gerüchte und Erzählungen des Volkes, son-
dern „durch glaubwürdige Zeugnisse von der Wahrhaftigkeit
der Wunder überzeugt** worden waren ; dann erteilten sie auch
sofort den Befehl, den neuen Heiligen und die von ihm er-
fahrenen Wunder allgemein bekannt zu machen, die Glocken
zu läuten und Dankgebete zu singen; und die Siechen, die bei
den bisherigen Heiligen keine Rettung gefunden, strömten
hoffnungsvoll von allen Seiten zu den Gebeinen des neuen
Heiligen. So ließ Kaiser Paul durch die Petersburger Zeitung
vom 7. Dezember 1798 seinem Volke folgendes mitteilen 2):
„Im Jahre 1796 wurde in der Eparchie von Wologda, in dem
Kloster Ssumorin in der Stadt Trotma, ein Sarg entdeckt,
in dem sich ein Leichnam in Mönchskleidem befand; dieser
Mönch war im Jahre 1568 gestorben und begraben worden,
aber sowol seine Leiche wie seine Kleidung sah man völlig
unversehrt. An den Buchstaben, die in die Kleider ein-
gestickt waren, erkannte man in dem Leichnam den Körper
des hochgelobten Feodosius Ssumorin, Stifters und Superiors
des Klosters, der schon bei seinen Lebzeiten durch die Wun-
der, die er verrichtet, für einen Heiligen gehalten worden war.
Der heilige dirigirende Synod stattete über diesen Vorfall
Seiner Kaiserlichen Majestät allerunterthänigsten Bericht ab;
worauf folgender Ukas erlassen wurde: Wir sind durch einen
Spezialbericht des heiligen Synods benachrichtigt worden, daß
man in dem Kloster Spaßo-Ssumorin die wunderthätigen Ge-
beine des hochgelobten Feodosius Ssumorin entdeckt habe;
diese wunderthätigen Gebeine sind dadurch ausgezeichnet, daß
1) Karamsin, deutsche Ausgabe VII 175.
*) Zuerst reproduziert in den ,,Geh. Nachrichten über Rußland" (von
Masson), Paris 1800, II 143; wiederholt in den „Geheimnissen von Rußland",
1844, I 311 Anmerkung.
— 156 —
ein jeder Kranke, der sich ihnen mit vollem Vertrauen nähert,
sich der glücklichsten Genesimg zu erfreuen hat. Also können
Wir die Entdeckimg dieser heiligen Gebeine für nichts Anderes
halten, denn als sichtbares Zeichen dafür, daß Gott Unsere
Regierung mit gnädigen Blicken ansieht. Dafür steigt Unser
heißes Gebet der Dankbarkeit zu dem höchsten Gnadenspen-
der empor, und Wir tragen Unserem heiligen Synod auf,
Unserem ganzen Reiche diese höchst merkwürdige Entdeckung
bekannt zu machen, nach den Gebräuchen, die von der heiligen
Kirche und den heiligen Vätern dafür vorgeschrieben sind." —
Der Zar kann aber nicht bloß Heilige ernennen, sondern auch
absetzen : Beim öffnen der Gruft eines Metropoliten von Now-
gorod fand man den Leichnam unversehrt. Das Wunder wurde
vom heiligen S>Tiod dem Kaiser mitgeteilt, und dieser entschi^
daß der vom Himmel so sichtbar begnadet gewesene Prälat
auch bei den Irdischen den Heiligenschein verdiene.^) Man
packte die Glieder des Heiligen in ein Reliquienkästchen, aber
da zerfielen sie plötzlich in Staub. Darob große Bestürzung,
und der Kaiser befahl eine strenge Nachforschung betreffs
des Lebenswandels des Heiligen. Der neue Bericht stellte
fest, daß der Metropolit Zeit seines Leb^is ein lasterhaft»-
Mensch gewesen. Der erzürnte Kaiser begnügte sich nidit,
den Heiligen feierlich wieder abzusetzen, sondern verordnete
die Verbannung des Leichnams nach Sibirien!
Die Heiligen sind den Gläubigen so gütig gesinnt, daß
sie ihnen auch Pässe für die andere Welt zurück lassen, die
dann hunderttausendfältig kopien werden und in allen Zeiten
Gültigkeit behalten; die Popen imd Bischöfe verkaufen scrfdie
Pässe um ein Geringes. Ein deraniger Paß, dessen Original
vom Metroj>oliten von Kijew am 30. Juli 1541 geschrieben
wurde, und dessen in-undenätige Abschriften sich nodi heute
besonderer Nachfrage erfreuen, hat folgenden Wortlaut*) : , Jdi
bekenne und bezeusre. daß der Inhaber dieses Briefes
*^ Z-fT?: ü^iSTs^tr: vz. 'Br^zsiL *zit Ycctzz^ K<mew . Jahr iSj9w — V|
— 157 —
als wahrer Christ unter uns gelebt und die orthodoxe Religion
bekannt hat; obwohl er manchmal fehlte, erhielt er, nachdem
er seine Sünden gebeichtet, die Absolution, die Kommunion
und die Vergebung seiner Sünden. Er hat Gott und die
Heiligen verehrt, in den von der Kirche angeordneten Stunden
und Zeiten gefastet und gebetet und sich sehr gut mit mir,
seinem Beichtiger, vertragen, so daß ich keinen Anstand nahm
ihn von seinen Sünden loszusprechen und keinen Grund habe
mich über ihn zu beschweren. Demzufolge wurde dem In-
haber dieses Briefes gegenwärtiges Zeugnis ausgestellt, damit
der heilige Petrus, wenn er ihn sieht, ihm die himmlische
Thür öffne.**
Der jüngste russische Heilige ist Seraphim, ein 1833 ge-
storbener Mönch, der im Jahre 1903 vom Zaren Nikolaj IL
zum Heiligenrange erhoben wurde. Der heilige Seraphim, Be-
gründer des Diwejewklosters im jetzigen Wallfahrtsorte Ssa-
row bei Nischny-Nowgorod, hatte durch seine unversehrt
gebliebene Leiche sieben Jahrzehnte nach seinem Tode solche
Wunder zu wirken begonnen, daß Kaiser Nikolaj 1902 eine
Spezialkommission zur Untersuchung der merkwürdigen Vor-
fälle einsetzte. Diese Kommission stellte fest, daß der Leich-
nam bereits 94 Wundertaten vollführt hatte, die genügend
bezeugt werden konnten. Am 7. August 1902, am Geburts-
tage des Mönchs Seraphim, beendete die Kommission ihre
Forschungen. Auf den Bericht der Konmiission antwortete der
Kaiser mit dem an den Heiligen Synod gerichteten Wunsch,
daß Seraphim heilig gesprochen werden möge. Am 24. Januar
1903 überreichte der Synod dem Kaiser die Entscheidung,
daß Seraphim als Mitglied in die Gemeinschaft der Heiligen
aufgenommen wurde. Der Kaiser schrieb an den Rand dieser
Entscheidung: ,,Mit aufrichtiger Freude und tiefer Bewegung
gelesen"; und im „Regierungsanzeiger** erschien folgender
Kommentar : „Der Heilige macht die Lahmen gesund und heilt
die Blinden. Fünfzehn Krücken wurden am Ufer des Flüß-
chens Ssarowka von geheilten Gläubigen unter Dankesgebeten
verbrannt. Schwer aber weiß der Heilige die Ungläubigen
zu strafen. In Stepurino, einem Dorfe im Kreise Bogorodskij,
beschlossen die Bauern am Tage des heiligen Seraphim keine
— 158 —
Feldarbeit zu tun. Ein Raskolnik^) namens Ssitnow erklärte,
er werde seine Arbeit dem heiligen Seraphim zu liebe nicht
vernachlässigen. Kaum hatte der Frevler dies gesprochen,
als er zu schwanken begann und zur Erde stürzte. Als man
ihm näher trat, war er schon tot. Selbst die Ungläubigsten,
die Ssitnow bloß für betrunken hielten, wurden eines Besseren
belehrt; denn schon nach drei Stunden ging die Leiche in
Verwesung über. Dieses Ereignis machte auf alle Anwesenden
einen erschütternden Eindruck. Kaiser Nikolaj schenkte einen
kostbaren Reliquienschrein für die Gebeine des Heiligen, die
Zarin Alexandra stickte eigenhändig die Decken dazu und auf
kaiserliche Kosten wurde eine Verherrlichungsfeier in der Ssa-
row- Wüste veranstaltet. Als im Kriege mit Japan die Dinge
für Rußland eine schlimme Wendung nahmen, wallfahrtete
die ganze zarische Familie nach Ssarow, um die Hilfe des
Heiligen anzurufen. 2)
Die vornehmsten russischen Heiligen sind Nikolaj, Alexan-
der Newskij, Andreas, Georg, Ssergej, II ja, Michael, Wlaßj.^)
Sie teilen sich alle in die Erbschaft nach den alten Heiden-
göttern. Von Wlaßj als Nachfolger des heidnischen Herden-
gottes Woloß habe ich sction in dem Kapitel über Aberglauben
gesprochen. — Der alte Perun, der Gott des Blitzes und des
Donners, lebt fort im heiligen Ilja oder Elias ; wenn es donnert,
rollt nach Meinung des Muschik der Wagen des Propheten über
die Wolken; Ilja beherrscht Sturm und Hagel, und feiert man
ihn nicht genügend, so vernichtet er die Ernte. — Im Gegen-
satze zu diesem häufig zürnenden Ilja steht der gütige Nikolaj ;
das ist der wahre russische Nationalheilige. Er ist stets dienst-
fertig und hilfreich, behütet die Kinder, beschützt die Matrosen,
die Pilger, alle Notleidenden. Fast jeder Russe trägt das Bild
1) Sektierer.
2) Bernhard Stern, Die''Romanows,'^3. Auflage, Berlin 1906, II 281.
3) Vgl. die Werke (in russischer Sprache) von Kostomarow, Gemälde
des häuslichen Lebens und der Sitten des russischen Volkes im sechzehnten und
siebzeljnten Jahrhundert; Goltzew, Die Gesetzgebung und (^ie Sitten Ruß-
lands im achtzehnten Jahrhundert; Miljukow, Skizzen zur Geschichte der
russischen Literatur, Petersburg 1899. — Ferner: Leroy-Beaulieu a. a. O.
III 33; Geheimnisse von Rußland I 318; Marmier I 272, II 5.
— 159 —
Nikolajs bei sich. Der Soldat stellt sich unter den Schutz
dieses Heiligen, der Postknecht treibt nicht die Rosse an,
ehe er sich nicht dem heiligen Nikolaj empfohlen hat. Ist
jemand in seinen Unternehmungen vom Glücke begünstigt,
so verdankt er dies dem heiligen Nikolaj. Dann kommen
^ die Nachbarn herbeigelaufen und wollen sich von dem, der so
sichtbar in des Heiligen Gunst steht, das wundertätige Bild
ausleihen, er aber gibt es ungern her. In den Spielhöllen,
Wirtshäusern und Bordellen fehlt niemals ein Bild Nikolajs.
An den Toren des Kreml sind die Bilder dieses Schutzpatrons
sowie des Erlösers angebracht, und keiner geht vorüber, ohne
hier seine tiefste Ehrfurcht zu bezeugen; diese Bilder ver-
dienen besonderen Dank: Als im Jahre 1771 Moskau von
der Pest verheert wurde, strömte das Volk in Massen zum
Kremltore, um des Erlösers und des Heiligen Nikolaj Gnade
zu erflehen ; der Bischof, der in dem Zusammenströmen großer
Mengen in der Zeit der Epidemie eine Gefahr der Ansteckung
erblickte, wollte die Bilder entfernen lassen. Das erzürnte
Volk erschlug den Bischof auf der Stelle. Die Moskowiter
wurden dafür, daß sie die Bilder vor dem gottlosen Bischof
beschützt hatten, belohnt; denn bald nach diesem Vorfall er^
losch die Pest. Das Bild des Erlösers hatte schon früher Mos-
kwa von den Tartaren befreit; als die Barbaren in den Kreml
eindringen wollten, sah das Erlöserbild sie so furchtbar drohend
an, daß sie sofort die Flucht ergriffen und vor Schrecken
nicht einmal zurückzuschauen wagten. Die Franzosen gaben
sich im Jahre 1812 umsonst alle Mühe dieses Bild zu zer-
stören. Auch vom Bilde des heiligen Nikolaj, das sich am
Kremltore befindet, wird das Wunder berichtet, daß es bei
der großen Explosion im Jahre 181 2 samt seinem Glase un-
versehrt blieb, während das Arsenal in Trümmer sank und
die Wälle des Kremls barsten. Nach dem Volksglauben der
Russen wird Nikolaj dem lieben Gott, wenn dieser alt ge-
worden sein wird, im Regiment folgen. Die Heidenvölker
Sibiriens und die Mongolen sehen schon jetzt im heiligen
Nikolaj den eigentlichen Russengott und bekehren sich nicht
zu Christus, sondern zu Nikolaj, abgekürzt Kolla. Bei den
Sibiriern ist Nikolaj der Gott des Ackerbaues und des Bieres.
— 160 ~
Die finnisch-tartarischen und türkischen Stämme Rußlands,
die das Christentum angenommen haben, beten nur zu Nikolaj ;
die Tschuwaschen an der Wolga, welche von den Popen be-
kehrt wurden, beschränken ihr junges Christentum auf Pilger-
fahrten zu den Heiligentümem, welche Nikolaj geweiht sind.
Aber auch die Heiden, welche fast ganz in ihren alten Ge-
bräuchen verharren, wie die Wotjäken und Ostjaken, verehren
Nikolaj wie einen mächtigen Schutzgott. Die Mongolenstämme
schrieben das Anwachsen Rußlands der Macht des russischen
Spezialgottes zu, und da sie beobachteten, daß die Russen
am meisten den heiligen Nikolaj verehrten, so hielten sie ihn
für den Gott der Russen und führten, um desselben Glückes
wie letztere teilhaftig zu werden, den Nikolajkult ein. Ähn-
lich haben die Lappen i) Büder der christlichen Dreieinigkeit
unter ihre Zauberzeichen aufgenommen.«)
Vom heiligen Andreas erzählt die russische Kirchenge-
schichte, daß er sich zur Zeit, als sich die griechische Kirche
von der lateinischen trennte, in Rom auf einem Mühlstein
einschiffte und statt des Ruders ein Schilfrohr benützte, das
im Augenblicke, wo es der HeUige ergriff, zu Stein wurde.
Die Kleider und Kirchengewänder schwammen dem Mühlstein
nach. Diese merkwürdigen Transportstücke sind als Reliquien
in Nowgorod zu sehen.^) — Der heilige Georg ist neben dem
heiligen Wlaßj Beschützer der Herden; sein Fest am 23. April
ist das Frühlingsfest der Russen. — Alexander Newskij ist
der Heros unter den Heiligen ; er hat als ein furchtbarer Tyrann
in Nowgorod gewütet und gut namentlich als Schutzherr des
Heeres. — Eine besondere Erwähnung verdient schließlich
der heilige Ssergej, der Stifter des berühmtesten russischea
Klosters Troitzka bei Moskau. Er lebte im vierzehnten Jahr-
*) Gunner, Knud Leems Nachrichten von den Lappen, Leipzig 1771,
S. 233.
*) Und ganz so, sagt Lippert (Geschichte des Priestertums I 255), hatten
die Tahitier gehandelt als sie sich den stärkeren Gott von Bolabola holten.
') Man verwechselt manchmal die Erzählungen über Andreas und die
über Nikolaj und berichtet von letzterem die Fahrt auf dem Mühlstein. Vgl.
erstes Kapitel (,,Die russische Kultur") S. 6 das Zitat aus der „Reise nach
Norden".
— 161 —
hundert. Aus einer Rede des Metropoliten Philaret über das
Leben des heiligen Ssergej i) erfahren wir, daß dieser Heilige
schon im Mutterleibe alle Gebote der Kirche kannte. Während
ihrer Schwangerschaft ging seine Mutter in die Kirche; als
der Priester das Evangelium las, stieß das Kind im Mutter-
leibe einen so lauten Schrei aus, daß es die ganze Gemeinde
hörte; dies wiederholte sich nach der Kommunion. Als Säug-
ling weigerte sich Ssergej, an Fasttagen an der Brust seiner
Mutter zu trinken. Im schulpflichtigen Alter sandte man den
kleinen Heiligen zur Schule, aber er konnte die weltlichen
Wissenschaften nicht verstehen; vergebens züchtigten ihn die
Lehrer, er lernte weder lesen noch schreiben. Dann aber
gab ihm ein Mönchgreis ein Stück geweihtes Brot, und sofort
konnte Ssergej die Psalmen lesen und sich dem Studium der
heiligen Schrift widmen. Später zog er sich als Einsiedler in
einen Urwald zurück und baute zu Ehren der Troitza, der
Dreieinigkeit, eine schlichte Hütte an der Stelle, wo heute
das stolze Kloster steht. Durch seine Wunderwerke machte
Ssergej das Kloster früh zu einer Wallfahrtsstätte. Als der
Heilige einmal Durst hatte, segnete er ein paar Regentropfen,
und daraus entsprang der Bach, der noch jetzt hier fließt.
Der Heilige konnte nicht bloß Rasende zähmen, sondern auch
Tote erwecken. Und seine Wundertätigkeit dauerte nach
seinem vor fünf Jahrhunderten erfolgten Tode fort. Als man
1421 seine Leiche aus dem Sarge nahm, um sie in einem
Reliquienschrein aufzubewahren, war sie völlig unversehrt. Die
Feinde, ob Polen ob Tartaren, vermochten das Kloster nie
zu erstürmen; Pest und Cholera machten an den Toren dieses
Heiligtums Halt. Hinter seinen Mauern suchten viele Herr-
scher Schutz oder Ruhe; Peter der Große rettete sein Leben
vor den Dolchen der Streljzen durch die Flucht ins Troitzka-
kloster. —
Die Heiligenverehrung überschreitet in Rußland alles Maß
und wird zu einem wahren Polytheismus. Noch heidnischer
als die Anbetung der Heiligen selbst ist der Kult, der mit den
Heiligenbildern getrieben wird. Der von mir schon früher
1) MocKBa 1822. — Vgl. Maxmier II 6.
Stern, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in Rufiland. u
— 162 —
erwähnte Wiener Prälat Johann Faber zwar schrieb im ersten
Viertel des sechzehnten Jahrhunderts von dem russischen
Bilderdienste 1): „Die Heiligenbilder sind bei ihnen nicht so
wenig respektiert oder gar verachtet, wie man dies bei mis
sieht als Kontrast zu aller Pietät, als Folge der Streitigkeiten
imserer Zeit.** Dagegen lesen wir in dem Buche über die
Religion der Moscowiter von Anno 17 12*): „Sie rühmen sich /
daß sie das Bildniß Maria der Mutter Gottes vom heiligen
Apostel Luca gemahlet haben / und sie sagen / die heilige
Jungfrau habe befohlen / es solte in der Stadt Moscau
auffgehoben und verwahret werden. Basilides sag^e: So lang
als dieses Bild in imser Residentz-Stadt wird behalten werden
/ wird die Christenheit nicht verunruhiget werden. Dieses
Volck glaubet f estiglich / daß alles was man ihnen von diesem
Bilde öffentlich gesagt / unstreitig wahr sey / so daß nian
/ wenn einer das geringste darwider sagte / demselben die
Zimge ausreissen / und ihn hernach lebendig verbrennen
würde. Basilides hat die Ordnung der Bilder gestifftet / imd
denen Moscowitem die Weise gelehret / sie / nach der
Stelle / die sie haben sollen / zu setzen. Er setzet in die
erste Stelle das Bildniß unsers HErm Jesu Christi / in die
andere das Bild der Jungfrau der Mutter GOttes / und her-
nach den himmlischen Hauffen und alle Heiligen / welche
/ nach ihrer Meynimg / die Seeligkeit der Menschen zu wege
bringen / und ihnen zu Hülffe kommen. In der Stadt Mos-
cau sind diese Bilder an einem gewissen Orte / der Heiligen-
und Bilder-Marckt genandt / zu vertauschen / denn sie sagen
nicht / zu verkauffen. Die Moscowiter sagen / sie haben
die Verehrung der Bilder vom heiligen Damasceno gelemet;
1) Außer den schon früher erwähnten Bildern des Erlösers und des hei-
ligen Nikolaj sind besonders berühmt: Das Marienbild mit den drei Händen
(der Maler hatte nur zwei Hände gemalt, aber über Nacht war auf dem Bilde
eine dritte Hand aufgemalt worden, der Maler wischte die dritte Hand fort,
sie kam immer wieder, und endlich erschien Maria und sagte: sie wolle mit
drei Händen abgebildet sein, welchem Wunsche der Maler Folge leistete) und
das kasanjsche Marienbild (einem Frommen in Kasanj erschien Maria im
Traume, er erfaßte ihre Züge so lebhaft, daß er sie am andern Tage malte,
obwohl er bisher nie gemalt hatte).
*) Seite 55.
— 163 —
und wollen gar nicht gestehen / daß solche Verehrung eine
Abgötterey sey. Man findet hin imd wieder in gantz Mos-
cau viel solcher Art Heiligen; imd weil man sich einbildet /
sie haben die Krafft die Kranckheiten zu curiren / so gehet
alle Jahr ein grosser Hauffe Volcks Processionsweise nach
ihren Klöstern oder Kirchen / welches aber bey solchen an-
dächtigen Verrichtungen viele Ueppigkeiten und grosse Un-
ordnungen begehet / denn bey dergleichen Gelegenheiten
hängen die Moscowiter dem Fressen / Sauffen und Huren
sehr nach ; sie begehen auch Mordtaten und andere dergleichen
Laster.** — Peter der Große versuchte dem Unfug, der mit
Heiligenbildern getrieben wurde, zu steuern und namentlich
die Menge der Ikone zu vermindern. Als er in Asow ein
Schiff bestieg, bemerkte er, daß alle Kabinen vollgestopft waren
mit Heiligenbildern; jeder Mann hatte seinen Schutzpatron in
zahlreichen Exemplaren mitgenommen. Der Kaiser erklärte:
„Ein einziges Heiligenbild genügt für ein Schiff,** und ließ
alle anderen Bilder wieder ans Land schaffen.^) Peters Tochter
Kaiserin Elisabeth gab jedoch dem Bilderdienste neuen An-
stoß. Als Peter III. dem Beispiele Peters des Großen nicht
bloß folgen, sondern es noch übertreffen wollte und Heiligen-
bilder aus den Kirchen entfernen, den Erzbischof von Now-
gorod, der sich der kaiserlichen Verordnung widersetzte, ver-
bannen ließ, bereitete er sich damit selbst sein jähes tragisches
Ende. Katharina die Zweite, die einstige Protestantin, wußte
dem russischen Heiligenkult und Bilderdienste besser zu schmei-
cheln, sie warf sich vor den Ikonen nieder, nahm Staub von
dem geweihten Platze, auf dem die Heiligenbilder sich befanden,
und bestrich damit ihre Krondiamanten.
1) Perry a. a. O. 215. — In den Bemerkungen über Rußland. Erfurt 1788,
II 227 wird erzählt: ,,Im Jahr 1718 hatte ein russischer Geistlicher in Peters-
burg ein gewöhnlich Marienbild, das auf einmal Wunder zu tun anfing. Jeder,
der dem Bilde sein Anliegen klagte, mußte natürlich etwas opfern. Peter
schickte zum Geistlichen und sagte ihm, er möchte doch ein ihm beliebig Wunder
in seiner Gegenwart vom Bilde verrichten lassen. Da gestand der arme Teufel
den Betrug, daß er es des Gewinnstes halber getan habe. Zur eignen Beloh-
nung und zur Warnung anderer wurde er in die Festung gebracht, mit harter
Leibesstrafe belegt und seines Dienstes entsetzt."
— 164 —
In innigem Zusammenhange mit dem Heiligenglauben und
dem Bilderdienste steht der Mystizismus, der über Rußland liegt
wie Rauch und Nebel ; der alle Klassen der Gesellschaft erfaßt ;
vom Zarenhofe hemiedersteigt in die Niederungen des Volkes,
zu den Bürgern und Bauern, zu den Denkern und Dichtern,
zu den Kaufleuten und Soldaten. Niemand ist von ihm aus-
genommen, keiner kann sich ihm entwinden. Leroy-Beaulieu^)
bemerkt, daß der Mystizismus in Rußland mehr im Norden
als im Süden zu Hause sei und der Isba des Landmannes vor
dem Herrenschlosse den Vorzug gebe, weil der Muschik in-
timer mit der Natur in Berührung kommt und die . Natur
des JMordens geheimnisvoller und melancholischer ist als die
des Südens. Mit dem einen Teile dieser Bemerkung, soweit
sie die räumliche Beschränkung aufstellt, stimme ich »fast
überein. Der Hang der Russen zum Mystischen ist nicht,
wie andere meinten und beweisen wollten, ein einfaches Attri-
but der Rasse, des slawischen Blutes, sondern viel eher ent-
sprungen aus dem eigentümlichen Klima und Boden des Landes,
aus dem scharfen Kontraste der Jahreszeiten, die denselben
Mangel an Gleichgewicht aufweisen wie die Menschen dort,
und die wie diese nicht fähig sind Maß zu halten. Die endlos
langen Wintemächte in den Schneewüsten; die endlos langen
Sommertage auf den geheimnisvollen Steppen, über die man
tagelang ziehen kann, ohne einem menschlichen Wesfen zu
begegnen; die Abende im Dezember imd Januar, wenn am
schwarzen Himmel die Sterne in einem fast blendenden Glänze
funkeln ; und die Abende im Juni, wenn der Äther einen wunder-
bar durchsichtigen, phantastisch weitgedehnten Himmel sehen
läßt — das alles ist wohl geeignet, in der Seele des Schauen-
den und Erschauernden, des einsam ziellos Wandernden
mystische Regungen wachzurufen; und es erklärt gewiß das
geheimnisreiche Hindämmern des Russenvolkes, das willenlose
Verharren in geistiger Untätigkeit und kulturellem Zwielicht.
Aber dieser Mystizismus beschränkt sich nicht bloß auf die
Muschiks in den Isbas; man kann auch kaum sagen, daß er
bei ihnen häufiger zu finden sei als in den übrigen Klassen
1) a. a. O. III 23.
— 165 —
des russischen Volkes. Nur den einen Unterschied dürfte
man zugestehen : daß er bei dem Muschik unbewußt vorhanden
ist, bei dem Städter, im Herrenschlosse, im Zarenpalaste be-
wußt vorherrscht ; daß der Muschik sich ihm gedankenlos unter-
ordnet, daß ihn die anderen aber, wenn nicht zu bannen,
doch zu verleugnen trachten, sich seiner schämen und ihm
gern einen anderen Namen geben. Und diesen Mystizismus
der Städter, Edelleute, Hofleute und Herrscher, der Intelli-
genz imd der Geistlichkeit, ihn kann man nicht mehr mit dem
fatalistischen Achselzucken abtun, daß er das unabwend-
bare Wiegengeschenk des Klimas und der Natur sei. Nein,
dieser Mystizismus der Nicht-Muschiks ist die Folge der un-
ermeßlichen historischen Leiden und Laster Rußlands. Er
ist der schwarze Faden, der uns durch alle Irrgänge des Laby-
rinths führt, welches Geschichte Rußlands, und für uns im
besonderen die Geschichte seiner öffentlichen Sittlichkeit heißt.
Durch ihn irregeführt erhielten sich die Herrscher Rußlands
auf dem blutigen Throne des Absolutismus; und er ist es,
der die Sklaven die Ketten klaglos tragen hieß. Die einen
wie die anderen glaubten bis heute, daß es so und nicht
anders sein müsse und sein könne. Mit der Alleinherrschaft
steht und fällt der Mystizismus. Darum waren alle russischen
Zaren und Kaiser die ersten Mystiker in ihrem Reiche, und
darum die Dichter und Denker die größten Nihilisten. Bei
den Zaren der alten Zeit äußerte sich der Mystizismus, wie
bei Iwan dem Schrecklichen als typischem Beispiel, bald in
erotisch-neronischem Wahnsinn, bald in der Feigheit als Fröm-
migkeit. Als Iwan der Schreckliche zur Eroberung von Kasanj
auszog, wagte er nur Schritt um Schritt vorzudringen, hielt er
in jedem Kloster und in jeder Kirche Rast, nicht um den
Sieg des Heeres, sondern um den göttlichen Schutz für sein
zarisches Haupt zu erflehen. Während er, endlich vor Kasanj
angelangt, die Krieger in den Kampf schickte, blieb er angetan
mit dem Kriegskleide bei seiner geistlichen Garde zurück und
las zitternd Gebete. Als die Heerführer ihn baten, die ver-
zagenden Truppen zu befeuern, entgegnete er: ,, Kämpfet nur,
meine Helden, ich bete für euch! Lasset mich nur der Gnade
Christi teilhaftig werden, und ihr müßt siegen!** — Bei den
— 166 —
Romanows tauchen alle Herrscher, wie immer sie auch be-
gonnen haben mögen, in einem mystischen Dämmer unter.
Selbst Peter der Große, der Freigeist und Antichrist, endet als
krankhafter Traumdeuter. Nikolaj I. flüchtet sich trotz seines
sadistischen Zäsarenwahnsinns, trotzdem er sich als Gott fühlt,
in schwierigen Fällen zu Hexen, um ihren Ratschlägen zu
horchen* imd zu folgen ; und verfällt zum Schlüsse religiöser
Verfolgungswut. Der Mystizismus Alexanders III., der sich
anfänglich in einer Sehnsucht nach der Rückkehr zur Natur
äußert und den Zaren den Wunsch aussprechen läßt: „Ich
möchte der Bauernzar heißen und sein", wird endlich wie
bei Nikolaj I. religiöse Verfolgungswut. Der erste Romanow,
der fast gänzlich einem religiösen Mystizismus anheimfiel, war
Paul. Im Gatschinaer Schlosse zeigte man die Stellen, wo
der Kaiser in Gebet versunken und in Tränen aufgelöst zu
knien pflegte ; das Parkett war an diesen Stellen abgerieben.^)
Pauls Liebschaft mit Katharina Nelidow war eine platonisch-
mystische. Ein ähnliches platonisch-mystisch-religiöses Ver-
hältnis bestand zwischen Pauls Sohne Alexander I. und Frau
von Krüdener. Propheten und Wundermänner gehörten von
allem Anfang an zu den Vertrauten des Kaisers Alexander I.
Er ließ sich immer die Vorsehung künden und glaubte zeit-
weilig göttliche Eingebungen zu empfangen. Der Kirchen-
prediger Philaret wurde schnell Metropolit von Moskau, weil
er durch seine Lehre, das Reich Gottes liege in den Menschen,
in der mystischen Seele Alexanders I. eine mitklingende Saite
berührte.2) Der Kaiser trat zu dem Skopzengott Peter Feodo-
rowitsch in persönliche Beziehungen; die Kriegsjahre und die
Errettung Rußlands aus der napoleonischen Not steigerten
seine Hinneigung zum Mystizismus; die russische Bibelgesell-
schaft wurde begründet und Geistliche und Laien aller Kon-
fessionen, Mystiker, Freimaurer und Sektierer suchten deren
Mitgliedschaft. Frau von Krüdener übte auf den krankhaften
Herrscher einen solchen Einfluß, daß er nach Zwiegesprächen
1) 3anncKH CaÖJiyKOBa, PyccKitt Apxirari. 1869. 1877. — IIIyMHropCKift,
Mapifl GeoÄopoBHa, C.-IIeTep6ypn» 1892, I 357.
•) Schiemann, Alexander I. 413.
— 167 —
mit ihr zerknirscht zu ihren Füßen sank und erst durch ihre
Versicherung, daß ihm noch Hoffnung auf himmhsche Be-
gnadigung winke, wieder aufgerichtet werden konnte. Diese
Zwiegespräche dauerten häufig bis zwei Uhr Nachts. Dann
sah man den Kaiser mit verweinten Augen aus dem Zimmer
der Apostelin kommen.^) — Die Reihe der pietistischen Schwär-
mer im Hause Romanow-Holstein-Gottorp setzte sich fort in
dem weinerlichen Heiligenbildanbeter Alexander II. und endet
vorläufig in dem weichlichen Nikolaj II., der gleich Iwan dem
Schrecklichen es vorzog, statt an der Spitze der Armee durch
persönlichen Mut zu glänzen, durch Heiligenbilder und
mystische Opfer den Sieg vom Himmel zu erflehen; der statt
auf die brausenden Stimmen der Zeit zu hören, nur dem ge-
heimnisvollen Flüstern des wundertätigen Joan von Kronstadt,
den Ratschlägen von Zauberern und Wahrsagern lauscht.
Zu Zeiten Alexanders I. ging der Mystizismus vom Zaren
und seiner Umgebung aus und ergriff die ganze Gesellschaft.
Diesmal unter Nikolaj II. war es umgekehrt. Die Dichter des
neueren Rußland, von Gogolj bis Tolstoj, sie waren es, die
vor dem trostlosen Elend des russischen Lebens im Mystizismus
Zuflucht suchten und mit ihren Poesien und Traktätchen das
ganze Volk wie mit einem Nessusgewand umhüllten. Nikolaj II.
bekennt sich selbst als Verehrer und Schüler eines Leo Tolstoj,
der alle seine großen Dichtungen für nichts schätzt im Ver-
gleiche zu seinen religiös-mystischen Predigten, in denen er
die Rückkehr zum Urchristentum sucht und zur Überzeugung
kommt : Nur dort sei es gut, wo es keine Kultur gebe. An dem
heutigen Christentum übt Tolstoj die schärfste Kritik und sagt :
der Mensch habe die Aufgabe sein Glück in seinem Inneren
zu suchen; das Glück kann nur im einfältigen Gottesglauben
und in der Rückkehr zur Einfachheit des natürlichen Urzu-
standes gefunden werden, i) Ein großer Teil der modernen
russischen Dichter ist mystisch-symbolistisch. Berühmt und
berüchtigt zugleich wurde die Poetengruppe der sogenannten
1) Rußland was es war und was es ist. Eine bis auf die neueste Zeit
fortgesetzte Geschichte Rußlands, Pest 1855, 208.
*) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, Berlin 1893, 51.
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Moskauer Symbolisten ^), die einen eigenen Verlag „Skorpion"
für ihre Erzeugnisse gründeten. Der Götze dieser Gruppe
ist Alexander Dobroljubow, ein überaus origineller Geist, der
in den Mystizismus eine scharfgewürzte geschlechtliche Un-
moral mischt. Seine Anschauung, sein Denken und Fühlen
faßt sein Biograph Iwan Konewskoj in folgenden Satz zu-
sammen: „Er hat seine eigene Welt außerhalb der mensch-
lichen Gedanken, außerhalb des Körpers imd außerhalb des
Verstandes. Sein Schaffen ist von den gewöhnlichen Sinnes-
wahmehmungen und von der gewöhnlichen Logik mit ihren
Traditionen losgelöst.** Noch mystischer als dieser Meister
ist sein Schüler Walerij Brjußow, der nur ganz kurze Ge-
dichte, am liebsten einzeilige verfaßt wie etwa dieses: ,',0
umhülle deine bleichen Füße!'* Dann ein Gedankenstrich,
und sonst nichts weiter. Lächelnd darf man aber in Rußland
auch an solchen Erscheimmgen der Literatur nicht vorüber-
gehen, denn gewöhnlich werden sie, weil sie niemand versteht,
Stifter von erotischen und religiösen Sekten, deren Bildung eine
natürliche Folge des nebelhaften Mystizismus sein muß.
lo. Sektenwesen.
Geringe Kenntnis vom russischen Sektenwesen — Gründe dafür — Neuer
Gesichtspunkt — Sektenwesen und Erotik — Anzahl der Sektierer — Die
frühesten Ketzereien — Die Lehre des Bischofs Leon — Unmoral der hohen
Geistlichkeit — Die Bogumilen — Wie Sekten entstehen — Die Strigolniki —
Ertränkung eines Ketzers — Die jüdische Häresie — Ihre Gründer und Lehren —
Des heiligen Joseph Schrift gegen die Ketzerei — Die Beschneidung in Ruß-
land — Ein Ketzer Metropolit — Spaniens Autodaf6 als Muster für Rußland —
Bestrafung von Ketzern — Scheiterhaufen in Rußland — Fortsetzungen
der jüdischen Ketzerei — Der Jude Baruch und sein Schüler lebendig ver-
brannt — Die modernen Subotniki und ihr Apostel Iljin — Rothschild der
Satansrabbi — Verbrennung von Ketzern unter Peter dem Großen — Die
Mjrstiker Kuhlmann und Nordermann lebendig verbrannt — Tanzende
Ketzerinnen geknutet — Verbrennung von Ketzerleichen — Toleranz-Ukas
Alexanders I. — Ketzergesetze Nikolajs I. — Polizei und Gendarmen als
Wächter der Kirche — Klagen des Synod und der Mission gegen den Staat —
1) Vgl. die von A. Wolynskij geschriebene Geschichte der russischen
Poesie der Gegenwart (in russischer Sprache).
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Mafiregeln Nikolajs II. — Religion. Gesellschaft und Moral — Entstehong
des großen Raßkol — D^ Mönch Maxim — Reformen des Patriarchen Nikon —
Inkonsequenz der Konzile — Folgen davon — Peter als Antichrist — Peters
Sittenlosigkeit, Ursache des großen Raßkol — Der Trotz gegen die Kirche
wird zum Hasse gegen den Staat.
Eine Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Rußland
wäre nicht denkbar ohne eine Geschichte des russischen Sekten-
wesens. Schon Leroy-Beaulieu^) sagte : der Raßkol 2) mit seinen
verschiedenen Sektenbildungen sei vielleicht das charakteristi-
scheste Merkmal Rußlands, an dem man den moskowitischen
Orient von dem europäischen Okzident zu unterscheiden ver-
möge. Trotzdem ist gerade dieses Gebiet eines der inoch, dunkel-
sten des russischen Lebens geblieben. An Versuchen es auf-
zuhellen hat es nicht gefehlt, aber in diesem Falle begegnet
der Forscher oft unübersteiglichen Hindernissen, weil es sich
zum größten Teile darum handelt, die furchtbarsten Verbrechen
aufzudecken, die in tiefster Verborgenheit verübt werden; Ver-
brechen, bei denen nach den Geopferten auch die Henker,
mit den blutigen Fanatikern auch die Zeugen verschwinden.
Ich habe auf weiten Reisen durch Rußland, namenthch im Zen-
trum, in den Ostseeprovinzen, entlang der Wolga, in Kaukasien,
an den Küsten des Kaspi und Pontus Euxinus, also fast überall,
wo die Hauptsitze der Sektierer zu finden sind, viele per-
sönliche Beobachtimgen gesammelt 3) und diese unermüdlich
ergänzt durch Mitteilungen, die mir aus zahlreichen russischen
Quellen zufloßsen, sowie durch Notizen aus der gesamten vor-
handenen J-iteratur, sowohl aus den Schriften russischer als
aus jenen europäischer Forscher*); und so darf ich wohl sagen.
1) a. a. O. III 312.
*) PacKan», eigentlich Riß oder Spalte, bedeutet Sekte, Ketzerei,
Schisma. Dieses Hauptwort stammt vom Verbum pacKOJioTi. oder pacKaJiiBaTi»,
zerhauen, zerspalten oder trennen.
«) Vgl. Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, S. 91 ff.
*) Ich zitiere nachstehend die wichtigsten Quellen. Von russischen:
Murawjew, Geschichte der russischen Kirche, Karlsruhe 1857; Philaret, Die
Kirche Rußlands. Frankfurt a. M. 1872, zwei Bände; Basarew, Die russisch-
orthodoxe Kirche, Stuttgart 1873; di* nur in russischer Sprache erschienenen
Werke von Makarij, Schtschapow, Liwanow, Jusow, Golubinskij ; die Romane
von Pawel j Iwanowitsch Meljnikow (unter dem Pseudonym Andrej Petscheiskij).
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daß ich hier zum ersten Male ein möghchst erschöpfendes Bild
dieser eigentümlich nissischen Zustände und Sitten liefere;
erschöpfend mindestens nach der einen Richtung hin, die für
. unseren Zweck am wichtigsten ist : in Hinsicht auf die öffent-
liche Sittlichkeit. Dieser Hauptzweck veranlaßte mich auch,
das Sektenwesen von einem ganz neuen Gesichtspunkte zu
betrachten. Ich erkenne weder politische, noch religiöse, son-
dern nur Sittlichkeitsmomente an und glaube durch die Auf-
zählung der tatsächlichen Umstände, soweit sie unanfechtbar
nachgewiesen sind, überzeugend feststellen zu können, daß
es sich bei allen diesen Sekten fast durchgehends um sexuelle
Probleme handelt. Mackenzie Wallace teilt, die russischen Sek-
ten in vier Gruppen ein : in solche, welche die heilige Schrift
als Basis ihres Glaubens annehmen, aber die darin enthaltjenen
Lehren durch gelegentliche Inspiration oder innere Erleuchtung
ihrer leitenden Mitglieder auslegen oder vervollständigen;
zweitens in solche, welche die heilige Schrift wenig oder gar
nicht beachten und ihre Lehre aus der vermeintlichen Inspi-
ration ihrer Propheten entnehmen ; drittens in Sekten, welche an
die Wiedermenschwerdung Christi glauben; und viertens in
Sekten, welche Religion mit nervöser Erregung verwechseln
und mehr oder weniger erotischer Natur sind. Nach Leroy-
Beaulieu und Haxthausen zerfallen die russischen Sekten ein-
fach in priesterliche und priesterlose. Andere haben wieder
andere Einteilungen.
Alle diese Unterscheidungsmethoden sind verwirrend, und
ich finde es am richtigsten, derartige Abgrenzungen gar nicht
vorzunehmen. Tatsächlich zieht sich durch fast alle Sekten
derselbe Charakter roher Sinnlichkeit. Selbst jene Schismati-
Von Ausländem nenne ich den Engländer Mackenzie Wallace; den baltischen
Pastor Dalton (Die russische Kirche, Leipzig 1891); F. Knie, Die russische
schismatische Kirche (Graz 1893); Haxthausen, Studien über die inneren
Zustände Rußlands, I 337 ff.; Friedrich Meyer von Waldeck und Folticineano
in ihren populären Werken über Rußland; Nikolaus von Gerbel-Embach,
Russische Sektierer, Heilbronn 1883, 52.- Heft der Zeitfragen des christlichen
Volkslebens; Tsakni, La Russie sectaire, Paris 1888; Brissard, L'Eglise de
la Russie, Paris 1866 — 1867; und endlich Leroy-Beaulieu a. a. O. III 312 — 528,
wo auch russische Quellen zitiert sind. Einige andere bedeutendere Quellen-
schriften werden an den entsprechenden Stellen noch erwähnt werden.
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ker, die noch den Schein einer Religion wahren, ergeben sich
infolge ihres Gesetzes der Ehelosigkeit erotischen Ausschweifun-
gen, die bei den tiefer stehenden Arten den alleinigen wahren
Zweck ihres Daseins ausmachen. Unter mehreren hundert Sek-
ten gibt es kaum drei, die einem einigermaßen verständigen
und verständlichen System folgen. Unter vielen Millionen, die
von der orthodoxen Kirche abgefallen, sind kaum wenige
Hunderttausend, die in ihren aparten Zeremonien den Glauben
und die Wahrheit suchen. Wir haben es dabei mit einer
spezifisch russischen Originalität zu tun. Dies geht aus der
Art der Verbreitung der Sekten hervor. Jene Gruppen, die
den brutalen erotischen Charakter oder einen Zug ins Sadi-
stisch-Wahnsinnige aufweisen, gehören fast ausnahmslos dem
Großrussentum an, entstehen und gedeihen zumeist bei dem
großrussischen Muschik, in dem Zentrum von Moskau und
Groß-Nowgorod, am weißen Meere, an den Abhängen des
Ural, in Sibirien. Die Minderheit der Philosophierenden und
religiösen Schismatiker findet man dagegen bei den Bauern,
die aus den finnisch-tatarischen- Stämmen hervorgegangen sind,
bei den Kolonisten in Südrußland, Kaukasien und den Wolga-
gebieten, bei den Donkosaken und den Russen, die durch
die protestantischen Kolonisten beeinflußt sind.i) Von dieser
großen allgemeinen Regel werden sich nur wenige Ausnahmen
abtrennen lassen. So hat namentlich die wilde Sekte der
Springer, vielleicht auch ihren Ursprung, jedenfalls ihre größte
Verbreitung in Finnland und von dort aus im Umkreise von
Petersburg gefunden.
Vor zwei Jahrhunderten zählte der Bischof Dmitry von
Rostow in einer Schrift über das Schisma in der orthodoxen
Kirche mehr als zweihundert verschiedene Sekten auf. Viele
1) Vgl. Leroy-Beaulieu a. a. O. III 362 — 363. Entsprechend seiner
Auffassung von den zwei Zweigen des Schismas, dem priesterlichen und dem
priesteriosen, verteilt er beider Gebiete folgendermaßen: Die Priesterlichen
wie die Priesterlosen herrschen außer im Zentrum vornehmlich in den ab-
normen äußersten Zonen, in den Wäldern des Nordens und in den Steppen
des Südens. Die Popowzy oder Priesterlichen nehmen das Zentrum und den
Südosten ein, die Bespopowzy oder Priesterlosen aber hauptsächlich den
Norden, die Küsten am weißen Meere, das Uralgebiet und Sibirien.
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von diesen sind verschwunden, aber an ihre Stelle traten
immer neue, und jetzt ist die Zahl nicht mehr zu übersehen.
Ein Bericht des heiligen Synods im Jahre 1835 schätzte die
Zahl der Sektierer auf 480000. Im Jahre 1870 wurde sie
offiziell mit zwölf malhunderttausend festgestellt: 997600 im
europäischen und 173400 im asiatischen Rußland.^) Vor
zwanzig Jahren sprach Pobjedonoßzew schon von anderthalb
Millionen. Diese Ziffern müssen heute mindestens verzehnfacht
werden. Ein Raßkoljnik antwortete auf die Frage, wie zahl-
reich die Altgläubigen wohl sein mögen, lakonisch : „Wir sind
zahlreich, aber wir wissen nicht wie viele wir sind." Der
heilige Synod hätte jedoch ein ziemlich sicheres Mittel der
Feststellung, wenn er sich hach dem geistlichen Reglement
Peters des Großen richten würde; in diesem Reglement hieß
es: das Fembleiben vom heiligen Abendmahl ist das untrüg-
lichste Zeichen eines Raßkoljnik. Nun ergaben schon die im
Jahre 1860 verfaßten Osterbeicht- imd Osterkommunions-
tabellen ein Fehlen von rund zehn Millionen Seelen. 2)
Das Sektenwesen in Rußland ist fast so alt wie die russische
Kirche selbst. 3) Schon in der zweiten Hälfte des zwölften
Jahrhunderts, zur Zeit des Großfürsten Andrej Jurjewitsch mit
dem Beinamen Bogoljubowskij, der Gottesfürchtige, erhob sich
der wegen seiner Habsucht und Erpressungen verrufene Bischof
Leon von Rostow*) zu der ketzerischen Behauptung, es sei
1) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, S. 107.
2) Leroy-Beaulieu a. a. O. III 359 nach Sch6do-Ferroti, Toleranz und
religiöses Schisma in Rußland.
3) ,.£n Russie l'esprit sectaire est en quelque sorte contemporain des
premiöres pr^dications orthodoxes, du premier baptSme administr6 k nos
ancßtres par les missionaires grecs.*' Vgl. Le Raskol. Essai historique et
critique sur les Sectes religieuses en Russie. Paris, Berlin et Londres 1859,
pag. I — 2.
*) Die hohe Geistlichkeit scheint unter dem gottesfürchtigen Großfürsten
auch sonst nicht aus Tugendbolden bestanden zu haben. Der von Andrej
zum Nachfolger Leons erwählte Mönch Theodor verweigerte dem Metropoliten
den Gehorsam, maßte sich, ohne die Weihe des MetropoUten erhalten zu haben,
das Bischofsamt an, bedrängte — wie der Chronist erzählt — die Leute in der
Stadt und in den Dörfern, marterte um zu erpressen, ließ den Mönchen, Priestern
und Abten das Haar und den Bart scheren, schnitt ihnen auch die Zungen ans.
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Sünde an irgend einem Feiertage, besonders an Weihnachten
und am Dreikönigstage, wenn diese Feiertage auf einen Mitt-
woch oder Freitag fallen, Fleischspeise zu genießen. Leon
fand für seine Lehre eifrige Anhänger im Bischof Anton von
Tschernigow und im Metropoliten selbst, i) Aber der grie-
chische Kaiser Emanuel nahm den Ketzer, der sich zu ihm
geflüchtet hatte, gefangen und wollte ihn ertränken lassen^
worauf Leon augenscheinlich besseren Sinnes wurde, denn
von seiner Lehre wird nicht mehr gesprochen. Bald sollte
es jedoch zu ernsteren Zwischenfällen in der russischen Kirche
und zu tatsächlichen Ketzereien kommen, die sich nicht auf
einige wenige Geistliche beschränkten, sondern das Volk selbst
in größerem Maße ergriffen. Die frühesten Sekten entstan-
den nach allgemeiner Ansicht durch die Berührung der
Griechen mit den Slawen oder der Albigenser mit den orien-
talischen Mönchsorden, wie den bulgarischen Bogumilen.^) Ruß-
land war damals wie jetzt ein fruchtbares Feld für Mystik,
und die Häresien konnten sich ausbreiten und vervielfältigen,
ohne auf bedeutende Hindernisse zu stoßen. Die Regierung
kümmerte sich nicht darum, und von der Kultur oder den
blendete und kreuzigte, um fremdes Eigentum an sich zu reißen. Der Groß-
fürst duldete diesen Hirten, der seine eigene Herde mordete, bis ein Aufruhr
entstand, der Bischof-Mordbrenner gefangen und vom Metropoliten als Ketzer
gestraft wurde wie er gehandelt hatte : man schnitt ihm die Zunge aus, blendete
ihn und hieb ihm die rechte Hand ab.
1) Karamsins Geschichte (Deutsche Ausgabe) IH 25.
*) Leroy-Beaulieu III 315. — Als Rußland das Christentum annahm,
gab es unter den Südslawen, die gleichfalls den griechischen Glauben hatten,
schon eine Sekte, die Bogumilen, welche gewissermaßen den bosnischen Staat
gründeten und durch die er auch zu Grunde ging. Vgl. Hellwald, Die Welt
der Slawen, Berlin 1890, S. 353: ,,Die Entstehung dieser Bogumilen. die ihre
Religion die bosnische nannten und dem Propheten Johann von Leyden,
den Albigensern, Waidensem und Hussiten sehr nahe standen, fällt zeitlich
mit der Einführung des Christentums unter den Südslawen zusammen. Die
heidnischen Überlieferungen und apokryphen Bücher, welche die ältere heid-
nische Denkweise des Volkes in sich aufnahmen und widerspiegelten, diese
sogenannten Lo2nija knigi oder Lügenbücher, die sich besonders in Bulgarien
großer Behebtheit erfreuten, haben die Anlage zum Bogumilismus hervor-
gerufen; sie sind es aber auch nachgewiesenermaßen, auf deren Grundlage
die zahlreichen Sekten der russischen Kirche entstanden."
— 174 —
Sitten jener Zeit war ein Widerstand gegen Irrlehren nicht
zu erwarten. Die geringste Ursache, ja bloße Laune eines
Einzelnen schuf mit leichter Mühe eine Sekte. Ein unzu-
friedener Geistlicher oder ein simpler Mann aus dem Volke
brauchte bloß einige imruhige Geister um sich zu versanmieln,
ihnen die Dogmen der Kirche nach seiner Art zu erklären, seine
Zuhörer als seine Schüler zu bezeichnen, und eine Sekte war
geschaffen. So wird beispielsweise die Geschichte der Sekte
der Martinowzi^) erzählt, die im dreizehnten Jahrhundert ent-
stand, aber im vierzehnten wieder verschwand; und ähnlich
ist der Ursprung der Sekte der Strigolniki.2) Der Gründer
dieser Sekte, die berühmt geworden ist, weil sie die erste
größere Kirchenspaltimg in der russischen orthodoxen Kirche
verursachte, war ein Haarscherer 3), namens Karp, dem sich
ein Diakon Nikita anschloß. Die Sekte trat namentlich in
Pskow und Nowgorod auf und richtete sich gegen die Simonie
der Bischöfe; ihre Anhänger verwarfen alle Hierarchie und
erklärten die Darreichimg der Sakramente für unabhängig
von der Priesterweihe. Karp wurde vom Nowgoroder Pöbel
in den Wolchowfluß geworfen, seine. Lehre aber bestand noch
durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert fort, bis sie im Beginne
des sechzehnten Säkulums durch die Verfolgungen des Metro-
politen Photius ausgerottet wurde.
Im letzten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts entstand
die sogenannte jüdische Häresie^), die ebenfalls zuerst in Now-
gorod an den Tag trat. Ihr Gründer war ein Jude aus Kijew,
namens Sßcharias, der wahrscheinlich zum Christentum über-
getreten war. Die Lehre verwarf das Dogma von der heiligen
Dreifaltigkeit, die Verehrung der Heiligen und der Heiligen-
bilder und versicherte: das mosaische Gesetz sei das einzig
göttliche, die Erzählung von Christus erfunden, der Erlöser
1) Le Raskol, p. 2.
2) Leroy-Beaulieu III 405. — Hellwald, Die Welt der Slawen 353. —
Alexander von Reinhold t, Geschichte der russischen Literatur, Leipzig, S. 165.
3) Russisch Strigolnik, daher der Name der Sekte.
*) /KiuuBc^Kaji epech. — Vgl. Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland,
98. — Karamsins Geschichte, Deutsche Ausgabe VI 153. — Haxthaosen,
Studien I 347.
— 175 —
noch nicht geboren. Die Geschichte dieser Sekte ist vom
heiligen Joseph Ssanin, dem Gründer des Wolokolamschen
Klosters, in drastischer Weise geschrieben worden.^) In dieser
Schilderung heißt es: daß der genannte Jude, der dem Zaren
wohlbekannt war, im Jahre 6979, also 1471, nach Nowgorod
kam; dieser „Schwarzkünstler, Astronom, Astrolog, dieses Ge-
fäß des Satans** veranlaß te den Popen Denis zum Judentum
überzutreten. Denis wieder verführte den Popen Alexej. Her-
nach kamen nach Nowgorod noch andere Juden: Joseph
Schmoila, Skarey Moses und Chamusch. Denis und Alexej
wurden bald die Häupter der Ketzerei. Sie aßen nur bei
Juden tmd unterrichteten auch ihre Familien im mosaischen
Gesetze. Sie wollten sich sogar beschneiden lassen 2), aber
1) Eine Übersetzung der Einleitung dieser merkwürdigen mönchischen
Arbeit findet man in der Zeitschrift ,, Konstantinopel und St. Petersburg, Der
Orient und der Norden", II. Jahrgang, III. Band (1806) S. 147. Die Skizze
führt den Titel: ,, Kampf des Lichts mit der Finsternis, oder des sündigen
Mönchs Joseph Erzählung von der in Nowgorod im vorletzten Jahrzehend des
15. Jahrhunderts veranlaßten Ketzerei durch die Sektierer und Abtrünnigen,
den Protopop Alexej, Denis, Oßyp und Fedor Kurizin". Nach der Einleitung
voll derber Schimpfereien und zorniger Verfluchungen folgen im Original
15 Abhandlungen zur Widerlegung der ketzerischen Lehrpunkte. Josephs
Reden gegen die jüdische Ketzerei sind unter dem Gesamttitel: lIpocBtTirrejL
(Der Aufklärer) ein berühmtes Stück altrussischer Literatur. Vgl. S. 135.
2) Die weite Verbreitung, welche die jüdische Ketzerei fand, mag zu der
in Europa damals geäußerten Meinung Anlaß gegeben haben, daß in Moskowien
der Gebrauch der Beschneidung Religionsgesetz wäre. Der Dominikanermönch
Johann Faber nämlich, der im Jahre 1525 für den Erzherzog Ferdinand von
Österreich auf Grund von Mitteilungen zweier durch Tübingen reisender russi-
schen Diplomaten ein Memoire über die Religion der Moskowiter veröf f enthchte,
fragte seine Gewährsmänner, ob es wahr wäre, daß die Moskowiter die Be-
schneidung anwendeten. Worauf die beiden Moskowiter erwiderten: ,,Wir
sind weit davon entfernt. Wir betrachten die Beschneidung als einen Überrest
des alten Judentums und wir verabscheuen sie so sehr, daß ein Jude, auch
wenn er mehrere tausend Goldstücke hierfür bieten würde, nicht das Recht
erhält, sich in unserem Lande aufhalten zu dürfen". Das Fabersche, von mir
schon früher (auf Seite 141) erwähnte Buch wurde mehrmals neugedruckt und
ist auch in verschiedene Sammlungen von Reisewerken über das alte Moskwa
übergegangen. Eine französische Übersetzung erschien 1860 in Paris: La
Religion des Moscovites en 1525. Traduit du Latin de Jean Faber. Bibliothöque
russe, nouvelle s6rie (im III. Bande). Vgl. die Stelle betr. die Beschneidung S. 18.
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unterließen dies aus taktischen Gründen. Alexe] nannte sich
Abraham und seine Frau hieß fortan Sara. Äußerlich beobach-
teten die Nowgoroder Ketzer so vorsichtig den Anstand und alle
Pflichten frommer Orthodoxer, daß der Großfürst die beiden
Häupter der Ketzerei, Alexej und Denis, als ausgezeichnete
und verdienstvolle Priester nach Moskau nahm, dem Einen
die Stelle eines Protopopen an der Kirche der Himmelfahrt
Maria, dem Anderen eine Stelle an der Kirche des heiligen
Erzengels Michael verlieh. Von den Verführern wurden des
Großfürsten Schwiegertochter Jelena, des Großfürsten Lieb-
ling der Djak Fedor Kurizyn und viele andere betört. „Wer
kann ohne Tränen," klagt der heilige Joseph, „das große
und schreckbare Unheil, welches diese räudigen Hunde in
jener volkreichen Stadt angerichtet haben, erzählen? Da sie
öffentlich die Maske nicht abziehen durften, so verbargen sie
sich wie Schlangen in Steinklüften. Vor der Welt erschienen
sie als heilige, ruhige, gerechte und in den Grenzen der Mäßi-
gung sich haltende Lehrer. Insgeheim aber säeten sie den
Samen des Unkrauts aus und stürzten viele Seelen ins Ver-
derben. Manche ließen sich beschneiden wie Iwaschko Tscher-
noy und Ignaz Subow. Der Protopop Alexej und Fedor Kuri-
zyn gelangten durch ihre Frechheit so weit, daß sie sich bei
dem Monarchen in Ansehen setzten, denn sie gaben sich für
große Sterndeuter aus, lehrten viele die lügenhafte Astrologie,
Zauberei und schwarze Kunst und erwarben sich dadurch An-
hänger, die alle im Dreck der Abtrünnigkeit stecken blieben."
Der heilige Joseph berichtet auch, wie die Abtrünnigen vom
Himmel gestraft wurden : „Im Jahre 6997 traf den Djak Istoma,
den Gefährten des Teufels, den Höllenhund und Schüler des
Alexej, die strafende Hand Gottes. Sein unreines Herz, eine
Wohnung von sieben arglistigen Teufeln, und seine Eingeweide
gerieten in Fäulnis. Bald darauf starb auch das verruchte
Gefäß des Teufels, der Höllen-Eber, der Entweiher des Wein-
gartens Christi, der Protopop Alexej, imter den unsäglichsten
Schmerzen, vom Schwerte Gottes vertilgt. Seine Seele holte
der Teufel. Der Pop Denis endlich verfiel in eine schwere
Krankheit, während welcher er einen ganzen Monat lang wie
wilde und zahme Tiere, Vögel und Ungeziefer schrie; so spie
— 177 —
er seine unreine Seele aus/* Doch langsamer als die göttliche
Gerechtigkeit war die weltliche. Hing ihr vielleicht der Herr-
scher, beeinflußt durch seine Schwiegertochter, im Geheimen
selbst an ? Jedenfalls widerstand er lange allen Aufforderungen
zur Verfolgung der jüdischen Ketzerei; ja, er machte sogar
den Archimandriten Soßima, das neue Haupt der Häresie,
zum Erzbischof und später zum Metropoliten. „Das Kind Satans
sitzt auf dem Throne der heiligen Märtyrer Peter und Alexej,
der raubende Wolf trägt das Gewand des friedlichen Hirten,
das größte Gefäß des Übels, der größte Brand des Sodomiti-
schen Feuers, die himdertköpfige Schlange, die Höllenspeise,
der verruchte Soßima ist zur erzbischöflichen Würde gelangt 1**
also jammert der heilige Joseph und er erzählt: daß Soßima
öffentlich behauptete, Christus hätte sich eigenmächtig einen
Sohn Gottes genannt ; daß er femer die heilige Mutter Gottes
lästerte, das heilige Kreuz an unreine Orte setzte, die Heiligen-
bilder, die er Blöcke nannte, verbrannte und folgendes sprach :
„Was ist das himmlische Reich? Was das jüngste Gericht?
Was die Auferstehung der Toten ? Alles dies ist Fabelei I Wer
stirbt, der ist tot und hört auf zu sein T* Endlich wagte der Erz-
bischof Gennadij von Nowgorod gegen die Ketzer aufzutreten
und zu verlangen, daß sie verbrannt werden sollten. Er berief
sich dabei auf „Erzählungen des deutschen Gesandten, daß
auch der spanische König Ferdinand seine Länder durch Auto-
dafe von Ketzern reinige.** Gennadij und Joseph bestimmten
den Herrscher, eine Untersuchung anzubefehlen ; und der Fürst
betraute just den Metropoliten Soßima mit der Führung dieser
Untersuchung. Soßima konnte nicht verhindern, daß einige
der Angeklagten verurteilt wurden, setzte aber eine gelinde
Bestrafung durch: Vier der Verurteilten wurden rücklings i)
auf Pferde gesetzt, in Kleidern, die von innen nach außen ge-
kehrt waren, mit spitzigen birkenen Teufelshelmen, auf denen
Troddeln aus Stroh befestigt waren und die Inschrift prangte:
„Dies ist das Kriegsheer des Teufels.**. So führte man sie in
der Stadt herum; den ihnen Begegnenden befahl man, sie
1) ,, Damit sie nach Westen in die ihnen bereitete Hölle sehen sollten",
sagt der heilige Joseph,
Stern, Geschichte der offen tl. Sittlichkeit in Rufiland. 12
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anzuspeien und dabei auszurufen : „Dies sind die Feinde Gottes
und die Lästerer des Christentums.** Nachher verbrannte man
die Mützen. Trotz dieses warnenden Ereignisses wagte Soßima
die Ketzerei weiter zu verbreiten und Schüler um sich zu
versammeln. Mönche und Weltliche stritten öffentlich auf
den Marktplätzen über die Natur des Erlösers, die Dreieinig-
keit, die Heiligen und die Heiligenbilder. Soßima begnügte
sich aber nicht damit, sondern verfolgte nun seinerseits die
Gegner der Sekte, entsetzte eifervolle Priester ihrer Würden,
tat jene, welche die Ketzer schmähten, in den Kirchenbann und
ließ viele ins Gefängnis werfen. Zu der Unduldsamkeit traten
Habsucht und Plünderungen, und diese Handlungen waren es,
die den Sturz des Metropoliten herbeiführten. Der Großfürst
wollte nicht offen zugestehen, daß der höchste Geistliche des
Reiches als Ketzer entlarvt worden, und er verbannte Soßima
unter diesem Vorwande ins Kloster: „weil er den Wein liebt
und nicht für die Kirche taugt.** Nun hatten die Eiferer
freies Spiel und verlangten abermals Hinrichtung der Ketzer.
„Der Großfürst aber hieß den heiligen Joseph schweigen,"
denn die Todesstrafe sei dem Geiste des Christentums zuwider.
Schließlich jedoch mußte Iwan III. nachgeben, um nicht selbst
in den Verdacht der Ketzerei zu geraten, und vom Dezember
des Jahres 1503 an begannen endlich zur Freude und Er-
hebung der Frommen die Autodafd auch in Rußland aufzu-
flammen. Den bloß Verdächtigen schnitt man die Zunge aus,
die durch die Tortur Überführten aber verbrannte man in
Käfigen. Die jüdische Ketzerei galt durch diese Verfolgungen
in den Jahren 1503 und 1504 als vernichtet. Aber die Lust
zu Sonderbündeleien war nicht erstickt. Noch im sechzehnten
Jahrhundert fanden die Lehren des Matwej Baschkin und Fo-
dossij Kossoj, welche die Kirchendogmen von Jesus Christus
verwarfen, zahlreiche Anhänger. Und um die Mitte des acht-
zehnten Jahrhunderts tauchte gar die alte jüdische Ketzerei
urplötzlich und machtvoll wieder auf. Im Jahre 1738 wurde
nämlich der Kapitän Wosnitzin, den seine Frau beschuldigte,
daß er vom Juden Baruch zum Judentum bekehrt worden, samt
seinem Verführer lebendig verbrannt. Nikolaj I. erwähnt in
seinen Ukasen gegen das Sektentum mehrmals eine judai-
k
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sierende Ketzerei, und seit einem halben Jahrhundert kennt
man die weitverbreitete Sekte der Ssubotniki; man muß an-
nehmen, daß diese eine Fortsetzung der alten jüdischen Ketzerei
sei. Die Ssubotniki oder Sabbatleute i) nennen sich auch Jeho-
visten. Im Oktober 1901 wurden hunderte Mitglieder dieser
Sekte von den verschiedensten russischen Gouvemements-
gerichten zur Verantwortung gezogen. Nach den Berichten
russischer Blätter 2) ergaben die Gerichtsverhandlungen fol-
gende Aufklärungen: Die Sekte wurde vor etwa 45 Jahren
von einem Artillerieoffizier Iljin gegründet, der unter seinen
Untergebenen in naiver Weise europäisch-rationalistische Ideen,
gemischt mit heiligen Sprüchen, progagierte. Die dunklen
Predigten gefielen dem unwissenden und unterdrückten Volke,
so daß sie den Iljin bald mit der Aureole eines Propheten um-
gaben. Begeistert von seinen Erfolgen bildete sich der Offizier
in maniakalischer Weise ein, in der Tat ein Bote Gottes zu
sein. In einer seiner viel verbreiteten Hauptschriften, „Die all-
gemein menschliche Wahrheit** betitelt, erklärt er dement-
sprechend : „So verkündete vor mir der unsterblich ewige Jeho-
va siebenhundert Jahre vor seiner Menschwerdung wie folgt:
Den, der aus dem Osten kam, werde ich nach Norden rufen,
und er wird allen Völkern meinen Namen und die allgemein-
menschliche Wahrheit verkünden.*' Iljin wurde nach dem
SsolowezkijKloster am Ural, einem Verbannungsorte für Ver-
brecher gegen die Kirche, auf zwanzig Jahre verbannt. Hier
lernte er mehrere andere Sektierer kennen, die ihm erzählten,
daß nach einem alten Gerüchte von diesem Kloster aus Wunder-
taten verrichtet werden würden : es würde eine Hostie er-
scheinen, an der sich Theologen aller Religionen, und mit ihnen
die Lügner, Schwätzer und Betrüger aller Art verbluten müßten.
Iljin erklärte sofort selbst diese Hostie zu sein und predigte
mit Fanatismus seinen Genossen in der Verbannung seine neue
Religion. Der Behörde erklärte er: „Obwohl man mich mit
hundert Augen bewachte, konnte man doch nicht den Strahl
der Wahrheit während einer Zeit von sieben Jahren verlöschen ;
^) Vom russischen Cy6oTa, Sabbat.
2) Vgl. Allgemeine Zeitung, 6. Okt. 1901.
12'
— 180 —
denn Gott hat mit meiner Hand über 700 Bücher geschrieben
und sie durch seine heilige Kraft über die ganze Erde ver-
breitet.** Er gab an, manche dieser Schriften auch an Roth-
schild geschickt zu haben mit der Bitte, ihm zu helfen, die
Juden zu Jehova zurückzuleiten; allein der Satansrabbi Roth-
schild wollte davon nichts hören, denn er ist mit Millionen
von Goldketten an den Satan gebunden. Die Lehre Iljins er-
griff die Volksmassen der Uralgebiete und schuf, wie aus
den Prozessen hervorging, in wenigen Jahren eine geschickt
organisierte geheime Macht. Der Inhalt der Iljinschen Lehre
läßt sich einigermaßen also erklären: Bei der Schöpfung des
Sonnensystems gab es nur zwei Wesen: Jehova und Satan.
Dementsprechend teilen sich die Menschen in zwei Gruppen:
in die der Jchovisten und die der Satanisten. Wenn 120 siebzig-
jährige i) Perioden seit der Vertreibung Adams und Evas aus
dem Paradiese verflossen sein werden, wird Jehova den Satan
besiegen, ihn in Fesseln schlagen und eine freie glückliche
Welt mit einem einzigen Glauben unter seiner Alleinherrschaft
in Jerusalem oder in der Republik Israels auf tausend Jahre
gründen. Darauf wird Satan wieder frei werden und viele
Religionen verbreiten, aber Jehova wird ihn jetzt völlig ver-
nichten, und eine neue Erde ohne Ozeane und Meere schaffen,
die viel größer sein wird als die jetzige, und wird sich auf ihr
auf 28000 Jahre niederlassen. Von Zeit zu Zeit wird Jehova
Reparaturen an der Erde vornehmen und sie immer besser
machen, bis sie den Grad der höchsten, von dem menschlichen
Verstände kaum faßbaren Vollkommenheit erreicht haben wird.
Sobald dies eingetreten, werden die Menschen auf Erden ewig
leben. — Die Anhänger Iljins halten ihn für den Propheten
Elias, der vom Himmel auf die Erde gekommen ist. Als er
ins Kloster eingesperrt wurde, beteten sie: „Wir erflehen von
dir. Allmächtiger, die Erlösung des Elias aus dem Gefängnisse ;
zerschmettere den steinfesten Felsen, in dem die heilige Nachti-
gall eingekerkert ist T* Nachdem lljin zwanzig Jahre im Ssolo-
wezkijkloster zugebracht hatte, wurde er freigelassen, und seit-
1) In dem Berichte über die Gerichtsverhandlungen steht irrtümlich:
120 siebenjährige Perioden.
— 181 —
her blieb er in Mitau. Seine Einkerkerung erklärte er als
das Werk Satans, seine Freiwerdung als einen Sieg über Satan,
und als er das Gefängnis verließ, begrüßte er seine Anhänger
mit diesen Worten : „Ich grüße euch, Brüder, Schwestern und
Freunde, in euere Arme eile ich jetzt; mit uns ist der König
des Ruhmes, Jesus der Gott. Er zerstörte die Fesseln und
ließ mich das Wort der Offenbarung euch verkünden, das
Geheimnis der Schlacht erzählen, die listigen Absichten der
Feinde verraten.** Aus dem Mitgeteilten darf man mit ziem-
licher Sicherheit auf einen Zusammenhang mit der alten jüdi-
schen Ketzerei schließen, die sich also trotz der Scheiterhaufen
durch vier Jahrhunderte erhalten hat.
Die Scheiterhaufen waren während dieser Jahrhunderte
eine ständige Erscheinung in dem Kampfe gegen die Sektie-
rerei. Aber es war weniger die Geistlichkeit als die Regierung,
welche die Verfolgungen und Hinrichtungen veranlaßte. Die
Autokratie suchte sich unter dem Vorwande des religiösen
Eifers aller ihrer Gegner zu entledigen, durch die Vernichtung
der Unzufriedenen, durch die Massenmorde im Namen Christi,
der Dreieinigkeit und der Heüigen die unbeschränkte Herr-
schaft zu sichern. Nur in einem einzigen Falle noch könnte
man behaupten, daß die Religion die Urheberin eines Autodafe
war: Es geschah zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts, daß
der Mystiker Kuhlmann auf Befehl des Patriarchen Joachim auf
dem roten Platze in Moskau verbrannt wurde. Dieser Patriarch
war der letzte russische Kirchenfürst, der noch eine Autorität
ausübte. In seinem Testament forderte dieser Eiferer den
Zaren auf, in der Armee keinem Häretiker ein Kommando an-
zuvertrauen und die protestantischen Kirchen in der deutschen
Slobada zu Moskau zu zerstören.^) Die Verbrennung des Qui-
rinus Kuhlmann fällt schon in die Regierungszeit Peters des
Großen, und das Ereignis verfehlte nicht in Europa Aufsehen
zu machen. In dem zeitgenössischen Buche über die Religion
der Moskowiter 2) wird hierüber berichtet: Kuhlmann aus Schle-
sien hatte sich zuerst nach Holland begeben; er verteidigte
^) Waliszewski, Pierre le Grand 62.
2) Religion der Moskowiter S. 26.
— 182 —
in Leyden die Lehre des Schusters Böhme und wurde deshalb
ausgewiesen. In England erging es ihm ebenso, worauf ihn
sein Schicksal nach Moskau führte, wo er bei dem deutschen
Kaufmann Nordermann Aufnahme fand: „Dieser," heißt es
in dem erwähnten Berichte weiter, „hatte den Kopff allbereit
mit denen ungereimtesten Irrthümern angefüllet / und glaubete
unter andern / daß JEsus Christus unser Seeligmacher noch ein-
mahl als ein großer Prophet auff die Erd kommen / darauff viel
Wunder thun / alle Sünder bekehren /und sie hernach mit sich
in sein Himmelreich einführen solte. Je mehr man ihn warnete /
je hartnäckiger bestand er auff seinen närrischen Einbildun-
gen / biß er endlich ein kleines Buch / so er in Moscowiti-
scher Sprach geschrieben hatte / einem Buchdrucker brachte
/ er möchte sein Tractätlein drucken. Dieser brachte das
Manuscriptum dem Patriarchen / welcher / da ers gelesen
/ den Nordermann und Kuhlmann beym Kopff nehmen /
und ins Gefängniß setzen ließ. Weil sie mit Halsstarrigkeit
ihre Irrthümer behaupten wolten / wurden sie in einer Stube
/ welche die Moscowiter die schwartze Stube nennen /
lebendig verbrandt.** Peter der Große zog es im allgemeinen
vor, die Sektierer durch Verhöhnung zu bekämpfen; er zwang
den Altgläubigen, die den Bart nicht opfern wollten, eine
Barttaxe, und jenen, die ihre alte Tracht beibehielten, farbige
Lappen als Abzeichen ihrer Sektiererei auf; aber unter Um-
ständen machte es auch ihm Spaß, einen Ketzer brennen zu
sehen: Ein gewisser Toma betrat eines Tages in Moskau eine
Kirche, um öffentlich gegen die Verehrung der Heiligen zu
predigen. Als man ihn daran hindern wollte, verließ er die
Kirche, kehrte aber bald darauf mit einer Hacke zurück imd
zertrümmerte die Bilder der heiligen Jimgfrau und des heiligen
Alexej. Peter diktierte dem Bilderfeinde den Scheiterhaufen.
Toma vernahm sein Urteil mit Ruhe, streckte selbst seine
Hand ins Feuer und ließ sie verkohlen, während sein Mund
gegen die Popen und die Mißbräuche in der Kirche donnerte.^)
— Die Zarin Anna Iwanowna wütete mit Knute und Schwert
gegen Ketzer und Proselyten. In Moskau entdeckte man im
1) Chantrcau, Voyage en Russie, Paris 1794, pag. 179.
— 183 —
Jahre 1733 heimliche Versammlungen von Frauen, die einer
Sekte angehörten, welche ihren Kultus durch wilde Drehtänze
feierte. Wenn die Orgien den höchsten Punkt erreicht hatten,
verkündigten die Prophetinnen der Sekte die Ankunft des
heiligen Geistes. i) Auch andere seltsame Sekten verbreiteten
sich damals im Reiche. Der Minister Ostermann glaubte die
Sektiererei einzudämmen, indem er zwar einige strenge Maß-
regeln vorschlug, die sich aber im Rahmen der Menschlich-
keit bewegten : die Abtrünnigen sollten doppelte Taxen zahlen ;
die Kinder der Sektierer wurden zwangsweise getauft; den
Proselyten drohten Zwangsarbeiten ; und endlich sollte die Auf-
sicht der Kirche auch über Sibirien, wohin sich viele Sektierer
geflüchtet hatten, ausgedehnt werden.^) Aber der Heilige
Synod verlangte auf Vorschlag des berühmten Erzbischofs
Feofan Prokopowitsch vom Senate die Anordnung der Todes-
strafe für Ketzer und Proselyten ; er rief in Erinnerung, daß der
ekklesiastische Kodex 3) die Ketzer und Glaubensverräter leben-
dig zu verbrennen befahl. Der Eifer richtete sich auch gegen
Tote. Auf Wunsch desselben Feofan Prokopowitsch veranlaßte
der Senat die Ausgrabung der Leichen zweier Ketzer, Lupkin
und Ssußlow, die in einem Moskauer Kloster begraben waren,
und die Vernichtung der vorgefundenen Überreste dieser Ver-
fluchten, über deren Bedeutung für das Sektenwesen in Ruß-
land später an einigen Stellen noch die Rede sein wird. Erst
Alexander I. wagte Milde gegen die Sektierer zu üben. „Die
Vernunft und die Erfahrung,** erklärte er in einem Ukas,
„haben längst bewiesen, daß die geistigen Irrtümer eines Volkes
durch Wortstreit und angeordnete Ermahnungen nur noch
tiefer eingebohrt werden und allein durch Außerachtlassen,
gutes Beispiel und Duldsamkeit beseitigt werden können.**
Alexanders Bruder und Nachfolger Nikolaj I. verfolgte wieder
die Politik der Grausamkeit. Folgende sind die von Nikolaj
gegebenen Gesetze*) gegen die Sektiererei und Ketzerei: Wer
die ketzerischen und schismatischen Lehren derer verbreitet,
1) CoJiOBbeBTb, HcTopiH PocciÄ, XX 307.
2) Waliszewski, L'h6ritage de Pierre le Grand 217.
3) CoöopHoe y.iOHceHie.
*) Strafgesetzbuch 1845, {{ 206 — 207.
— 184 —
die von der rechtgläubigen Kirche abgefallen sind, oder eine
neue, der Religion schädliche Sekte stiftet, hat den Verlust
aller Standesrechte und Verbannung auf Ansiedelung zu ge-
wärtigen. Dieselben Strafen treffen den Sektierer, der sich
in fanatischer Verblendung unterfängt, die rechtgläubige Kirche
oder deren Geistlichkeit zu schmähen. — Statt der Ansiede-
lung kann die Strafe in Militärdienst bestehen; die Bestraften
können, so lange sie nicht zur rechtgläubigen Kirche zurück-
kehren, weder Abschied noch Urlaub erhalten (also Verur-
teilung zu ewigem Militärdienst in Reih und Glied I). — Wenn
ein Anhänger einer für schädlich erklärten Sekte (wie die
Duchoborzen, Ikonoborzen, Malakaner, Judaisierenden, Ver-
schnittenen) seinen Irrglauben anderen Personen initteUt: so
hat er den Verlust aller Standesrechte und Verbannung zu
gewärtigen; an dem Verbannungsort muß er sich, von den
anderen Kolonisten und Einwohnern der Gegend abgesondert
ansiedeln. Wenn Eltern oder Erzieher es zulassen, daß ihre
nünderjährigen christlichen Kinder oder Pflegebefohlenen reli-
giöse Handlungen nach jüdischem oder ketzerischem Ritual
verrichten oder an solchen Handlungen teilnehmen, so werden
sie ebenso, als hätten sie einen Volljährigen zum Schisma ver-
leitet, bestraft. Die Minderjährigen, welche solche Gebräuche
verrichten, werden wenn sie dazu tauglich sind, zum Militär-
dienst, falls sie dazu untauglich sind, an die Kronfabriken
abgeliefert. Wenn die Verbreitung einer Ketzerei und Sekte
von Gewalttätigkeiten und anderen erschwerenden Umständen
begleitet war: so trifft den Schuldigen die Strafe von 12 bis
15 Jahren Arbeit in den Bergwerken und 70 — 80 Peitschen-
hieben. Der Sektierer, der in fanatischer Verblendung, wenn-
gleich ohne Gewalt anzuwenden, einen anderen verschneidet,
erhält 4 — 6 Jahre Arbeit in Fabriken, 40—^50 Peitschenhiebe.
Wer sich selbst verschneidet, verliert die Standesrechte und
wird auf Ansiedelung verwiesen. Solche Sektierer, deren
Ketzerei mit einer wütigen, gegen das eigene oder fremde
Leben gerichteten Zerstörungssucht, oder mit unsittlichen
scheußlichen Gebräuchen verbunden ist, werden, auch wenn sie
keinen Rechtgläubigen verführt haben, verbannt. Wer auf
Antrieb eines solchen Fanatismus einen Menschen tötet, wird
DIMITRIVANOWICWI ELK I CA R.Z MOSKI ET SK 1
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Ipiüii pTjDniili/ir pTJiu'iriUl. IMV
Der falsche Dmitrij.
IcidiKLiliges [lolnischos Kliinblatt iu h
— 186 —
als Mörder bestraft (12 — 15 Jahre Zwangsarbeit, 70 — 80 Peit-
schenhiebe). Ein Ketzer oder Sektierer, der zur rechtgläubigen
Kirche zurückkehrt und demzufolge aus dem Verbannungsorte
entlassen worden ist, wird im Rückfalle zu ewiger Verbannung
in die entferntesten Gegenden Sibiriens verwiesen. Wer Ein-
siedeleien für Schismatiker anlegt, erhält i — 2 Jahre Gefäng-
nis. Wenn ein Jude aus einem Orte, wo die sogenannte jüdische
Ketzerei besteht, ausgewiesen worden ist und dahin eigen-
mächtig zurückkehrt, so erhält er 20 bis 40 Rutenstreiche und
wird unter das Militär abgegeben, um als Gemeiner ohne Aus-
sicht auf Beförderung noch Verabschiedung zu dienen, oder,
falls er dazu untauglich ist, zur Ansiedelung jenseits des Kau-
kasus verwiesen.
Unter Alexander IL 'siegte abermals die mildere Auf-
fassung; Alexander III. verfuhr wie Nikolaj I., und Nikolaj IL
übertrifft in der Strenge gegenüber den Sekten seinen Vater
und Urgroßvater, entsprechend dem Worte des nationalisti-
schen Fanatikers Akßakow: „Polizei und Gendarmen müssen
die Wächter russischer Seelenrettung sein.** Synod und Geist-
lichkeit sind allerdings mit Polizei und Gendarmen nicht zu-
frieden, und wir werden gleich sehen aus welchen Gründen:
Vor einigen Jahren fand in Kasanj ein orthodoxer Missions-
kongreß statt; auf Grund der dort gefaßten Beschlüsse stellte
der heilige Synod neue Regeln für die Methode der Bekämpfung
des Raßkol und des Sektentums auf. Die Veranlassung zu
diesen neuen Regeln sah der heilige Synod darin, daß die
Zivilgewalt noch zu milde vorgehe. Die Polizei erhält früher
als die Eparchialobrigkeit Kunde von dem Auftauchen der
Sekten, und „diese Praxis bringt mehr Schaden als Nutzen.**
Bei der Anstrengung von Prozessen gegen die Sektierer müsse
vorsichtiger zu Werke geschritten werden. „Es ist nämlich
nicht unbekannt,'* klagte das Organ des heiligen Synod, „daß
die vom geistlichen Ressort in den Gerichtsinstanzen an-
gestrengten Prozesse gegen Sektierer und Altgläubige von den
Untersuchungsrichtern niedergeschlagen und vom Senat kas-
siert werden, oder aber aus irgend einem Grunde mit der
Freisprechung der Angeklagten endigen. Ein solcher imer-
wünschter Ausgang der Sektiererprozesse hängt von verschie-
— 186 —
denen Gründen ab : von der unbestimmten Fassung der Gesetze,
von dem Charakter der Verbrechen, die sich schwer eruieren
und durch Zeugenaussagen selten feststellen lassen, von den
subjektiven Glaubensanschauungen und Glaubensbeziehungen
der Richter.** Weshalb sich „Missionerskoje Obosrenije**, das
Organ des Synod, zu einer derartigen Verdächtigung der Rich-
ter versteigt, ist verständlich : „Solch für die Sektierer und Alt-
gläubigen günstiger Ausgang der Prozesse wirkt sehr schlecht,
sehr aufreizend auf die Masse der Sektierer, die die Resultate
als einen Schutz auslegt, den ihnen die Zivilgewalt, ja das Gesetz
selbst gewährt. Statt der erwarteten Unterdrückung der Irr-
lehren ergeben sich erhöhte Gärung und Erbitterung gegen
die Geistlichkeit. Leider herrscht in dieser Beziehung auch
unter der Ortsgeistlichkeit in hohem Maße die Tendenz, vor
allem durch polizeiliche und richterliche Maßregeln auf die
Sektierer und Altgläubigen zu wirken, was dem Geiste unserer
Mission vollkommen widerspricht. Polizeimaßregeln sind nicht
unsere Maßregeln, so lautet der klassische Ausspruch des Metro-
politen Georgij."
Diese Furcht vor der Polizei hat ihre gute Ursache. Nicht
die Geistlichkeit, sondern Gericht und Polizei bestinunen, ob
eine Sekte in Rußland gemeingefährlich sei oder nicht. Diese
Bestimmung aber hängt ganz vom Rubel ab, der Willkür ist
freier Spielraum .gewährt, und wo Willkür herrscht, gedeiht
auch die Bestechlichkeit, das Gesetz wird zum schlaffen Seile :
die Großen können darüber hinwegspringen, die Kleinen unten
durchkriechen, und wen Polizei und Gericht entschlüpfen
lassen, dem läuft der eifernde Klerus vergebens nach. Man
beschränkt die bürgerlichen und religiösen Freiheiten der Sek-
tierer, man gibt ihnen keine Ämter in den Gemeinden und im
Staate, man entzieht ihnen das Recht, bei Gericht gegen Recht-
gläubige auszusagen, man verbietet ihnen das Reisen ins Aus-
land, man duldet keine corjiacie oder oömecTBO, keine Ver-
einigung oder Gesellschaft, man schließt jede cketT) oder
Ketzer-Einsiedelei. • Aber alle diese Maßregeln gelten nur, so
lange der Rubel nicht rollt. Das klingende Gold macht Tschi-
nownik und Urjadnik taub, sie hören nicht mehr den Ruf
nach Härte und Strenge und bekehren sich zum Satze Alexan-
— 187 —
ders I.; „Geziemt es einer Regierung die verirrten Kinder
der Kirche durch Heftigkeit und Grausamkeit in den Schoß
der Orthodoxie zurückzuzwingen ?**
Vergebens sind hunderte Gesetze gegen das Sektenwesen
geschaffen worden. Vergebens hat Nikolaj IL den zahllosen
alten Gesetzen neue eigener Erfindung hinzugefügt und be-
fohlen: daß die Altgläubigen keinen Gottesdienst abhalten
dürfen; daß ihre Missionäre nicht predigen sollen; daß ihre
Geistlichen sich nirgends öffentlich in ihrer Tracht sehen lassen ;
daß niemand die orthodoxe Kirche einer Kritik zu unterziehen
wage. Das Sekten wesen war nicht zerstörbar, so lange die
Autokratie unantastbar auf ihrem Götzenthrone saß; es wird
jetzt noch weniger als je ausgerottet werden können, da es,
ein Geschöpf des Chaos unter den ersten Romanows, heute
unerschöpfliche Nahrung im neuen Chaos unter dem vielleicht
letzten herrschenden Romanow findet. Geboren von der Ver-
wirrung, gesäugt und großgezogen von der wildesten Sitten-
losigkeit, die je in einem Reiche geherrscht hat, bleibt es im
Feuerregen der platzenden Bomben, in dem stürzenden Bau
des russischen Sodom allein aufrecht als das furchtbarste Denk-
mal dieser barbarischen Tyrannendynastie, dieses kulturlosen
Reiches, dieses sklavischen Volkes, dieser sittenlosen Kirche.
Wenn wir von den alten Häresien absehen, so erscheint das
ganze russische Sektenwesen seit mehr denn zweihundert Jahren
als die Folge der politisch-religiösen Wirren unter den ersten
Romanows; anfänglich nur von religiöser und politischer Be-
deutung, ist der Raßkol in seiner abschüssigen Entwicklung
eine rein soziale und sittliche Erscheinung geworden, ein
Spiegelbild aller bösen moralischen Instinkte des Reiches und
Volkes.
Die Entstehimg des großen Raßkol, der Sekte der Alt-
gläubigen, wird im allgemeinen den Meinungsverschiedenheiten
bei der Interpretation der Dogmen, der Revision der liturgi-
schen Bücher durch den Patriarchen Nikon zugeschrieben.
Würde dies der einzige Grund sein, so hätte der Raßkol schon
viel früher sein Haupt erheben müssen. Denn bereits im Jahre
1470 berichten die russischen Chronisten das Entsetzliche: ,/daß
in dem Winter dieses Jahres einige Philosophen anfingen zu
— 188 —
sagen: „O Herr, erbarme dich unser!** statt: „Herr, erbarme
dich unser I** Um dem abscheulichen Greuel ein Ende zu
machen und die richtige Leseart des Ausrufs festzustellen,
berief der Zar einen gelehrten Mönch vom Berge Athos, den
Griechen Maxim i), und übertrug ihm die Aufgabe der Reini-
gung des Textes in den Manuskripten.^) Ein Schreiber, der die
korrigierten Texte zu kopieren hatte, notierte in seinen Denk-
würdigkeiten: „Als mir von dem Griechen der Befehl erteilt
wurde, die falschen Wendungen und Ausdrücke unserer alt-
ehrwürdigen Meß- und Gesangbücher zu tilgen, ergriff mich
ein heiliger Schauer, eine entsetzliche unerklärliche Furcht I**
Diese Furcht war verständlich. Für das rohe russische Volk,
das im Scheine des Christentums seine alten heidnischen Götter
ehrte, vom Wesen des Christentums nichts erfaßt hatte, war
nur das Äußere von wahrem Werte. In den altehrwürdigen
Wendimgen und Ausdrücken der Meß- und Gesangbücher sah
es gleichsam nur die uralten Beschwörungsformeln wieder;
und man weiß, daß der Aberglaube Zauberformeln nur dann
eine Wirkung zuschreibt, wenn sie selbst im Sinnlosesten einen
verborgenen Sinn vermuten lassen, und an den Ausdrücken
und Zeichen nicht im geringsten gerüttelt wird. Eine Korrektur
in der Reihenfolge der Worte, eine Abweichung in irgend
einer der Zeremonien: und der Zauber ist unwirksam. Die
Änderungen Maxims verursachten also natürliche Aufregung,
aber zu Aufruhr oder Kirchenspaltung kam es damals trotz-
dem nicht. Das Volk begnügte sich damit, daß man ihm
den kühnen Griechen zum Opfer brachte, den Verbesserer
als Verderber der Kirchentexte für Lebenszeit in ein klöster-
liches Gefängnis sperrte. Durch ein Jahrhundert wurden
mehrere neue schüchterne Versuche unternommen; und die,
welche den Reformen gegenüber Widerspenstigkeit bewiesen,
wurden mit dem Kirchenbann belegt und mit der Knute be-
arbeitet. Es fanden sich daher nur wenige, welche offen ihre
Unzufriedenheit zu äußern wagten. Im geheimen gärte in-
1) Kostomarow hat in seinen (nur in russischer Sprache vorhandenen)
„Biographieen" dem Mönch Maxim ein schönes Denkmal gesetzt.
•) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 102. — Leroy-Beaulieu
III 315 ff. — Le Raskol. — Hellwald a. a. O.
— 189 —
dessen ein furchtbarer Aufruhr der Gemüter, und es bedurfte
nur des zündenden Anlasses zum Aufflammen des Brandes.
Diesen Anlaß gab das energische Auftreten des Patriarchen
Nikon ^), der das Reformwerk unter dem Zaren Alexej zu
Ende führte. Aber sein Triumph war ein Pyrrhussieg ohne-
gleichen. 3eine Verbesserungen wurden vom Kirchenkonzil
angenommen, er selbst aber gestürzt und eingekerkert. Ein
Bild echt russischer Sitte und Moral! Während die Reform
triumphiert, verschmachtet der Reformator hinter Gefängnis-
mauern. Mit Nikon ging der hohe Klerus, gegen Nikon standen
der niedere Klerus und das Volk, aber auch die Beamten-
schaft und der Adel. Denn der Patriarch wollte nicht bloß
die Kirche, sondern auch die Verwaltung reinigen von den
Irrtümern und Fehlern, an Stelle der Raubsucht und der Will-
kür die Ehrlichkeit und die Gerechtigkeit setzen. Zwanzig
Jahre lang dauerte dieser Kampf zwischen Patriarchat und
Bojarentum; jede der beiden Parteien nannte sich die für
die Rechtgläubigkeit streitende, und endlich im Jahre 1666
ergab sich das merkwürdige Resultat, das wir schon erwähnt
haben: Nikons Reformen wurden gutgeheißen, Nikon selbst
aber dem Hasse des Adels und Volkes zum Opfer gebracht.
Dieses unsinnige und unmoralische System, welches das Recht
bestrafte und die Falschheit belohnte, mußte die Sittlichkeits-
begriffe des Volkes vollkommen verwirren. In dem Siege
der Nikonschen Reformen sah man den Triumph eines
römischen und protestantischen Machwerkes, in der Einkerke-
rung Nikons den Triumph des gerechten Gottes über den schon
1) Nicolas de Gerebtzoff, Essai sur Thistoire de la Civilisation en Russie, II.
— Leroy-Beaulieu a. a. O. III 318. — Aus den zahlreichen russischen Arbeiten
über Nikon erwähne ich das schöne Werk des Metropoliten Makarij, die Skizze
von Alexej Ssuworin in seinem Buche über hervorragende russische Männer,
die kulturhistorischen Novellen und einen Roman von D. L. Mordowzew, endlich
Schuscherins ältere Schrift, die 1788 in Riga auch in deutscher Übersetzung
erschien. — Vgl. Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 103. — Nikon
war zweifellos ein genialer Mann, und nicht an ihm, sondern an dem unglück-
seligen Charakter des Volkes und an den unveränderlichen eigentümlichen
Zuständen dieses Reiches lag es, daß er für Rußland nicht Schöpfer von Freiheit,
Fortschritt und Wohlfahrt wurde.
— 190 —
siegenden Antichrist. i) Als im Volke auf Grund dieser An-
schauung die konsequente Folgerung zur Geltung gelangte,
daß die Taten des Antichrist nicht befolgt werden dürften;
als sich in weiterer Folge eine große Kirchenspaltung ergab
— da brachte es die merkwürdige Logik der führenden Geister
dahin, folgenden Beschluß zu verkündigen: die Nikonsche
Reform ist verdammenswert, aber gültig; und verdammt als
Feinde der Rechtgläubigkeit sind jene, welche die Gültigkeit
der neuen Kirchenordnung nicht anerkennen. Bannstrahl und
Verfolgung aber vernichteten nicht das „Unkraut Satans**, das
winkende Martyrium schuf den Raßkol, der dem Volke im
Glänze eines Verteidigers der uralten Formen, Traditionen,
Sitten und Gebräuche erschien. Peters des Großen barbarische
Europäisierungsmethode war neue Nahrung für die Alt-
gläubigen. Zu den religiösen Motiven der Unzufriedenheit
traten politische, soziale imd sittliche Momente. Peter der
Große konnte dem rohen Russen als die wahre Inkarnation
•
des Antichrist gelten, als der Herr der Hölle, als der Voll-
strecker satanischer Gesetze.^) Sein ganzes Wesen und Leben
war geeignet, dem einfachen Volke als ein Spiegelbild der
Hölle zu erscheinen. Seine und seiner Umgebung Sittenlosig-
keit überschritt alles Maß. Man sah wie Peter brutal die
Moralgesetze verhöhnte, in den gemeinsten Ausschweifungen
^) Kabbalistische Klügelei sieht in der 2^hl 666 ein teufliches Zeichen,
und Nikon, im Jahre 1666 gestürzt, wurde auf mühsamem Umwege also zum
Antichrist gestempelt.
2) Auch hier ergab die Kabbala durch Herbeizwingung der Zahl 666 das
untrügliche Satanszeichen. Jeder Buchstabe hat im Slawomschen, wie auch
in verschiedenen anderen Sprachen, Bedeutung als Ziffer. Mit einigen kleinen
Änderungen ergibt Peter der Erste 666, die teuflische Zahl. Aus dem verhaßten
Titel ÜMneparopi, den Peter statt des IXapb-Titels annahm, war 666 herausge-
bracht; man brauchte nur das m fortzulassen, so erhielt man 666 (h ig, n 80,
e 5, p 100, a I, T 300. 0 70, p 100); M bedeutet 40, dies hätte einen Strich durch
die Rechnung gemacht und wurde deshalb geopfert, mit der Motivirung : der
Antichrist habe schlauer Weise diesen Buchstaben hineingeschmuggelt, um sich
nicht fangen zu lassen. Die Zahl 666 fanden die Sektierer später bei allen
sektenfeindlichen Herrschern und Herrscherinnen heraus: Katharina II.,
Paul I. und Nikolaj I. ergeben nach Sektiererberechnung 666, wogegen diese
Zahl bei den sektenfreundlichen Alexander I. und II. in keinem Falle soll
herausgebracht werden können.
~ 191 —
öffentlich schwelgte, wie er seine Gattin verstieß und allen
Gesetzen zum Trotze bei ihren Lebzeiten eine gemeine Hure
zur Kaiserin erhob, wie er selbst dieser Dirne zuliebe seinen
leiblichen Sohn Alexej ermordete. Auch war er vom Satan
gezeichnet, da er trotz seiner riesenhaften Gesundheit stets
krampfhaften Zuckungen erlag, die bei allen Abergläubischen
als Zeichen einer heimlichen Verbindung des Leidenden mit
dem Teufel gelten. Dieses Gefäß der Sünde, dieser grimmige
Werwolf war nicht der weiße Zar, sondern ein Usurpator;
war auch nicht ein Zarenkind, sondern ein Wechselbalg, er-
zeugt aus einem unreinen verbrecherischen Geschlechtsakte
des Antichrist Nikon mit einer Teufelin. Andere wollten wissen,
daß der wahre Zarensohn Peter Alexejewitsch bei einer Meer-
fahrt verunglückte imd daß der Teufel an Stelle des Er-
trunkenen einen Juden vom Stamme Dan untergeschoben habe,
der dann im Auftrage Satans die Zarin Jewdokia ins Kloster
verbannte, den Prinzen Alexej tötete, die deutsche Hure Ka-
tharina heiratete und Rußland unter das Joch von Ausländem
z;wang. Nur der Hülfe des Teufels konnte es ja Peter ver-
danken, daß ihn die schwersten Niederlagen nicht zerschmet-
terten, daß er bei Poltawa den Türken entrann, daß er zum
Schlüsse so unmögliche Siege erfocht. So entwickelte sich der
Widerstand gegen die kirchlichen formalen Neuerungen zu
einer Opposition auf allen Gebieten des russischen Lebens,
und die Altgläubigen klammerten sich nicht bloß an die alten
Riten, sondern auch an die alten sla wonischen Lettern i), an
1) Sie wurden deshalb die gewissenhaften Hüter der lyrischen und epischen
Schätze, die sorgsamen Bewahrer der Romanzen und Heldenlieder. Melj-
nikow-Petscherskij fand bei ihnen ein Lied zur Feier des Frühlingsfestes, das
deutlichen Anklang an altslawische Poesie verrät, und Rybnikow und Hilfer-
ding sammelten den größten Teil der von ihnen herausgegebenen Bylinen ekler
Heldenlieder bei den Rhapsoden der Raßkoljniki in den Gouvernements
Olonez und Tschemigow. Die Berichte dieser Literaturforscher sind auch für
die Sittengeschichte von großem Interesse. Bei der Bevölkerung, die dort
großenteils aus Altgläubigen besteht, haben sich die alten Trachten, Gebräuche,
Sagen, Lieder und Aberglauben ganz unverändert erhalten. Vgl. IltcHH
coöpaHHfaifl n. H. PuÖHHKOBUirb, 1861 — 1867. — OHoaccidfl ÖbUHHLi, saimeaHHiiifl
A;ieKcaH;q>oirb GeoAopoBHHoin> rHJu4>epAHHroin> jt^tomi» 1871 ro^a. C-üerep^ypTB
1873.
— 192 —
die alten Trachten, an den langen Bart^), an die unveränder-
lichen Gebräuche im Privatleben, und in Konsequenz alles
dessen verabscheut man alles neue nicht bloß in Religion,
sondern in jeder Beziehung bis hinab zu den Speisen und
Getränken.2) Indem nicht bloß die Kirche durch ihre Mittel
die Sektierer zur Orthodoxie zurückzuführen trachtete, sondern
auch die Regierung mit ihrem Drakonismus gegen die harm-
lose Anhänglichkeit der Raßkoljniki an den alten Sitten auf-
trat, wurde der trotzige Widerstand gegen die Kirche wie
gegen den Staat hervorgerufen, und der Raßkol zu einem
Feinde der Kirche wie des Staates gewaltsam erzogen. Die
religiösen Fragen und der kleinliche Streit um die Dogmen
wurden vermengt mit politischen, sozialen und sittlichen Wider-
setzlichkeiten; dem Antichrist, der jetzt also seit zweihundert
Jahren Rußland beherrscht, wird in allen Fällen der Gehorsam
verweigert, und der Tod in der Schlacht gegen Satan ist
ein ersehntes Martyrium. Die Orthodoxie wurde zur Religion
der Herrschenden und der Bedrücker, das Schisma die Zu-
flucht der Leibeigenen, der Mühseligen und Beladenen.
1) Der .Langbart namentlich ist das äußere Zeichen der Zusammen-
gehörigkeit aller Altrussen, das treu bewahrte und ängstliche Sinnbild der guten
alten Vorväterzeit. Man vgl. oben mein Kapitel über den Barbier als Er-
zieher, sowie Leroy-Beaulieu a. a. O. III 337.
*) Daher sind Tabak, Kaffee und Tee verpönt. Ein Sprichwort der Alt-
glaubigen sagt: Wer raucht, verscheucht den heiligen Geist; wer Kaffee trinkt,
wird vom Blitz getroffen; wer Tee trinkt, kann nicht selig werden. Vom Tee
heißt es auch sjrmbolisch: Ein Pfeil kam aus China nach Rußland geflogen
und durchbohrte das Herz des Volkes.
— 193 —
II. Erotische Sekten und Flagellanten.
Altgläubige und Gleichgläubige — Güterverteilung verlangt — Verfolgung
der Altgläubigen — Kleinliche Ursachen der Ketzerei — Die Malakanen oder
Milchesser — Abarten dieser Sekte — Weibergemeinschaft — Duchoborzen —
Ein Gouverneursbericht — Anständigkeit Grund zur Verfolgung — Abarten
der Duchoborzen — Eheliche Ungebundenheit — Strafe für zuchtlose Frauen
— Ermordung schwächlicher Kinder — Stundisten — Pobjedonoßzews Angst
vor Sozialpolitik — Katkow gegen die Stundisten — Neu-Stundisten und
Flagellanten — Das Sektenwesen in den baltischen Provinzen — Wie die
deutschen Orden Livland christianisierten — Salonstundismus oder Paschko-
^\'ismus — Verfolgung rationalistischer, Duldung erotischer Sekten — Die
Sselesnowzy — Der Bauemapostel Ssutajew und Graf Leo Tolstoi — Sekte
der Anhänger der ..Kreutzersonate" — Närrische Sekten — Spuckersekte —
Die Verneiner — Die Nichtbeter — Seufzende — Stumme — Parallele zwischen
russischen und katholischen Sekten — Roheit und Wildheit der russischen
Sekten — Peter III. als Sektengott — Napoleon als Erlöser — Anarchie —
Neue Heilande — Panow Christus — Christussucher — Selbstgötter — Chlysty
oder Gott menschen — Religion und Erotik — Gott Zebaoth Daniel Filipowitsch
— Iwan Timofejewitsch Christus — Parodie auf die Auferstehung — Christus
auf Erden — Ein Christus für jede Gemeinde und jede Generation — Neue
Gottesmütter — Die heilige Jungfrau Uljana Wassiljew — Der Sektenwall-
fahrtsort Staroje — Rolle der russischen Frau im Sektenwesen — Die vor-
nehme Gesellschaft unter erotischen Sektierern und Flagellanten — Tötung
der Sünde durch die Sünde — Unzucht in Sektenklöstem — Die Sekte im
Michaclspalast — Russische Adamiten — Tänzer — Springer und Hüpfer —
Vortrag bibüscher Obszönitäten — Die Sekte der Lichtauslöscher — Die
Skakuny als Kindermörder.
Der Raßkol in Rußland ist, wie wir gesehen haben, aus
ganz geringfügigen formalen Streitigkeiten und Textfragen
hervorgegangen und schien in seinem Beginne eine leicht zu
überbrückende Kirchenspaltung. Und doch gibt es in keiner
Religion ein ähnliches Beispiel dafür, daß ein Schisma von
so nichtigem Urspnmg solche Dauer und im Fortleben solche
wachsende Kraft gezeigt hätte. Den großen Stamm des Raßkol
bilden die Starowerzy^), die mit unausrottbarer Zähigkeit an
1) CiapoirfepuLi, wörtlich die Altgläubigen, auch c-rapoo6pflAHW, die Alt-
bräuchigen; vgl. die Skizze von II. /Kii.ikhht>, CTapooöpajmw na Bcirh, C.-lIor.
BtÄOMocTii, HHBap. 1904.
Stern, Geschichte der OfTentl. Sittlichkeit in RufiUnd. j^
— 194 —
dem Formalismus und Buchstabenkultus hängen. Die Alt-
gläubigen sind daher von Peter dem Großen als die Fort-
pflanzer der reaktionären Traditionen betrachtet worden, und
sie sind auch heute unter Nikolaj II. Elemente, die eine Re-
form in europäischem Sinne mit aller Gewalt verhindern
würden. Sie sind konservativ in ihren Grundprinzipien. Der
früh verstorbene älteste Sohn Alexanders IL, Großfürst Ni-
kolaj, fragte einmal einen Raßkoljniki): „Warum verwerft ihr
unsere Kirche?** und erhielt darauf zur Antwort: „Weil dies
unsere Väter und Vorväter gelehrt haben**. Und einem Richter
entgegnete ein anderer Altgläubiger: „Das sind die ehrwürdi-
gen Gebräuche unserer Väter, die wir befolgen. Man verbanne
uns wohin immer und lasse uns nur den alten Glauben!** 2)
Da in Rußland aber alles Lebende und Tote ewige Kontraste
aufweist, ist auch der Raßkol, sonst so konservativ und reak-
tionär, gleichzeitig revolutionär, ja anarchisch. Wie die Ortho-
doxie die Religion der Herren, ist der Raßkol der Glaube der
Sklaven. Die Entstehung des großen Schisma fällt fast zu-
sammen mit der Einführung der Leibeigenschaft. In der Ab-
trünnigkeit von der Kirche fanden die Geknechteten einen
Trost für ihre Leiden; den Unterdrückern sahen sie wohl
ihre Leiber ausgeliefert, ihre Seelen aber blieben frei in einem
Glauben, der dem der Herren entgegengesetzt war. Leroy-Beau-
lieu^) sieht im Raßkol nicht einzig und allein ein Krankheits-
symptom, ein Zeichen geistiger Schwäche, sondern auch einen
Beweis, wenn nicht für Verstand, so doch für Gewissenhaftig-
keit, Pflichttreue und Charakterstärke des Russen. Dies kann
nur im Großen und Ganzen und nur für Jene gelten, die sich
aus religiösen und moralischen Motiven von der orthodoxen
Kirche getrennt, aber in dem Schöße ihrer Gemeinden auch
den Armen und Bedrückten Zufluchtsstätten geboten haben;
reaktionär imd konservativ in allen Fragen der Religion, des
Staates und der Gesellschaft, nährten diese Altgläubigen doch
1) PacKaibniihT> heißt zwar jeder Sektierer; man bezeichnet aber damit
im allgemeinen den Altgläubigen.
2) (P. B. .liiBaHOBT>. PacKaiLHHKii I! ucTportnniai, I 28.
3) a. a. O. III 356.
— 195 —
immer die Hoffnung auf ein Rußland, in dem auch der Mu-
schik wird frei leben können ; drängten sie nach Erfüllung der
Forderung, die in einer Verteilung von Grund und Boden unter
die Bauern 1) das Prinzip der allgemeinen Gerechtigkeit auf-
stellt. Aber wie gering ist die Zahl der Logiker und Ver-
standcsketzer ; wie schwächlich diese große Gruppe der Sta-
rowerzy gegenüber den zahllosen kleinen Gruppen, die sich
auch religiöse Sektierer nennen und nichts anderes sind als
Nihilisten oder Sittensünder.
Zwischen den Altgläubigen und den orthodoxen Russen
bestehen tatsächlich nur formale Differenzen in betreff des
Kultus ; es konnte deshalb geschehen, daß die Regierung einem
Teil dieser Schismatiker, unter Einräumung von Konzessionen
von beiden Seiten, staatliche und kirchliche Anerkennung ge-
währte. Man nennt solche Halbbekehrte Jedinowerzy^); sie
dürfen ihren Kultus frei ausüben; sie haben zwar ihre eigenen
Priester, die jedoch von der orthodoxen Kirche bestätigt wer-
den; sie besitzen ihrq eigenen Männer- und Frauenklöster,
deren Regeln sich aber von den Klosterregeln der Orthodoxen
kaum unterscheiden. — Auch die noch im Schisma ver-
bliebenen Starowerzy sind bloß theoretische Abtrünnige. Sie
folgen zwar meist ihrem Spruche: „Wer Gott fürchtet, geht
nicht in die Kirche!** aber sonst geben sie keinen Anlaß zu
Verdrießlichkeiten, sind angesehene Handwerker, reiche Kauf-
leute, fleißige Bauern, die ihre Religion in Übung von Wohl-
taten, in Beachtung von Recht, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit,
und das Heil auf Erden in der Arbeit sehen. Die russische
Regierung hat nun gerade diese ruhigen Frommen zu Opfern
ihrer Verfolgungssucht gemacht 3), und so durch einen zweck-
^) Unter Alexander II. richtete der Raßkoljnik Adrian Puschkin, ein
Kaufmann aus Perm, Briefe an den Zaien und die Minister, worin er erklärte:
Die Zeit sei da, wo das Land, das Eigentum Gottes, unter alle verteilt werden
müsse. Er erhielt dafür fünfzehn Jahre Zwangsaufenthalt in dem Kloster
für kirchliche Verbrecher zu Ssolowezk am Weißen Meere. Puschkins Schüler,
der Arzt Korobow, entfloh beizeiten nach der Schweiz und gab in Genf ein
Blatt heraus, das Organ der „Kinder Gottes", wie sich die bald darauf ent-
standene Puschkinsche Gemeinde von Sektierern nannte.
2) I'^/vmoBtpeui}, der Gleichglaubige.
S) Die Verfolgten flüchteten aus den Zentren in die Verborgenheit der
13*
— 196 —
losen Druck einen Fanatismus erzeugt, der dem Ausgangs-
punkte des Schismas längst nicht mehr entspricht. Das win-
kende Martyrium verlockte Zahllose, sich durch stets gesteigerte
Wahnsinnslehren zu Prophetentum und Erlöserglorie hinauf-
zuschwingen.
Anfänglich kannte man neben den Starowerzy nur solche
Sekten, die aus dogmatischen Meinungsverschiedenheiten ent-
sprungen waren. So gab es einmal einen Streit über die Frage,
ob man nach dem dreifachen Gloria zwei- oder dreimal Halle-
luja singen müsse. Ein anderes Mal trennten sich viele von der
Kirche, weil sie den Namen des Heilands nicht mehr lissus,
dreisilbig, sondern Issus, zweisilbig, auszusprechen begannen.
Die Fragen, ob man beim Opfergange nach rechts oder links
schreiten, ob beim griechischen Kreuz der Hauptstab von zwei
oder drei Stäben durchschnitten sein, ob man sich mit zwei,
drei oder mehr Fingern bekreuzigen müsse, alle diese Fragen
führten zu Kirchenspaltungen.
Nur drei von den vielen Hunderten, Sekten sind es, die von
religiösem Standpunkte aus eine ernste Betrachtung verdienen
würden, weil sie tatsächlich auf Prinzipien begründet sind :
das sind die Sekten der Malakanen, Duchoborzen und Stun-
disten.i) Bei allen dreien erkennt man den Einfluß euro-
fernen Gouvernements, in die Wälder von Wjatka, Wologda, Kostroma, in
die Einöden Sibiriens oder über die Grenze nach Polen, Rumänien, Öster-
reich. Zahlreiche Altgläubige siedelten sich namentlich in den Regionen der
Wolga an, deren weite Landschaften mit ihrem Reichtum an Wäldern und
Wassern für ganze Völker überflüssigen Raum boten. Vgl. über diese An-
siedlungen die eingangs zitierte Skizze : VKiUKHin., CTajX)or)pn;iiiLi. Viele
Sektierer flüchteten auch in die nördlichen Regionen, nach Olonez und Ar-
changelsk; sie sind unter der allgemeinen Bezeichnung UoMopiUJ, die am
Meere Wohnenden, bekannt. Die ersten Mittelpunkte von Sektierern bildeten
c'KHTU oder Einsiedeleien, eine Art Klöster, die in Wäldern errichtet wurden;
rund herum ließen sich immer neue Anhänger nieder. Unter Nikolaj I. wurden
die berühmtesten ckhtm zerstört. Vgl. darüber Leroy-Beaulieu a. a. O. III
382. Trotzdem sind noch, im Norden und Osten besonders, solcher Einsiedeleien
zahllose übriggeblieben. Diese ckhtu wurden im Laufe der Zeit Zufluchts-
stätten von Verbrechern und Höhlen der Wollust und Sittenlosigkeit, da sie
den Behörden häufig unbekannt bleiben dank der großen Ausdehnung der
Wälder und der Verschwiegenheit der Sektierer.
1) Diesen drei Sekten habe ich schon in meinem Buche ,,Aus dem mo-
— 197 —
päischer, namentlich protestantischer Anschauungen. Als die
älteste von ihnen gilt die der Malakanen oder Milchesser ^),
welche so genannt werden, weil sie in der Fastenzeit im. Gegen-
satze zu den Orthodoxen Milch genießen. Die Malakanen
behaupten, daß ihr Schisma schon dem zehnten Jahrhundert
angehörte; es scheint jedoch, daß der Ursprung dieser Sekte
aus dem sechzehnten Jahrhundert datiert und von aus dem
Auslande gekommenen Protestanten hervorgerufen wurde.
Die erste offizielle Erwähnung der Malakanen enthält ein Akten-
stück aus der Zeit der zweiten Katharina. 2) Haxthausen fand
1847, daß die Milchesser damals wenig zahlreich waren; jetzt
übersteigt ihre Menge viele Hunderttausende. Ausgenommen
einige wenige Gemeinden, die in Tambow, dem augenschein-
lichen Ursprungsorte der Sekte, leben dürfen, sind die meisten
nach der Krim, dem Kaukasus und Sibirien verbannt worden,
wo sie blühende Kolonien gebildet haben. Mackenzie Wallace
meint, daß ihre Lehre der presbyterianischen ähnlich sei; sie
beruhe aber nur auf mündlicher Tradition; ihre Theologie
sei deshalb noch in einem halbflüssigen Zustande, und so
gebe es lokale und individuelle Meinungsverschiedenheiten
unter ihnen.^) Allgemein gilt bei ihnen folgendes : Die Heilige
Schrift ist die einzige Richtschnur für Glauben und Wandel des
Menschen; sie darf aber nur dem geistigen und nicht dem
wörtlichen Sinne nach ausgelegt werden. Auf Erden gibt
dernen Rußland" vor Jahren eine ausführliche Schilderung gewidmet. Auch
bei Mackenzie Wallace (über die Malakanen namentlich), bei Haxthausen
I 376 — 417 und bei Leroy-Beaulieu III 466 — 485 findet man genügend ein-
gehende Darstellungen. Der Vollständigkeit halber gehe ich hier über diese
drei Sekten nicht einfach hinweg, aber ich kann mich ganz kurz fassen und
brauche nur die wichtigsten und neuesten Momente hervorzuheben.
1) Sie selbst nennen sich wahrhaftige Christen, ncTHHUue xpiicriiHc.
2) Ob die Duchoborzen oder die Malakanen älter seien, ist eine alte,
noch unentschiedene Streitfrage. Die Malakanen nennen ihre Sekte die
Mutter der Duchoborzensekte. Haxthausen hält ebenfalls die der Malakanen
für die ältere (I 379). Die Ideen beider Sekten berühren sich wohl manchmal,
aber eine Verbindung ist kaum herzustellen, und zwischen den einen und den
anderen herrscht jedenfalls seit langer Zeit große Feindschaft.
8) So sagte auch schon Haxthausen (a. a. O. 380): „Sie sind selbst unter-
einander nicht völlig einig in ihren Lehren".
— 198 —
es keine Autorität, die über zweifelhafte Punkte entscheiden
könnte, und deshalb darf jeder sie nach seinem eigenen Ur-
teile auslegen. Haxthausen erhielt von Malakanen selbst eine
ausführliche Darstellung ihrer Auffassungen, woraus hervor-
geht, daß in ihre Anschauungen westeuropäische spiritua-
listische Ansichten und in ihre Vorschriften selbst ausgeprägte
protestantische Redewendungen eingedrungen sind.
Die Malakanen glauben an die Bibel als an das Wort
Gottes, an die Einheit Gottes in drei Personen. Bei der Aus-
legung der zehn Gebote bekennen sie, dem Zaren und jeder
Obrigkeit Gehorsam schuldig zu sein. Für einen Totschlag
zählen sie es auch, wenn jemand einen beleidigt, verfolgt imd
haßt; nach den Worten Johannis: jeder, der seinen Bruder
hasset, ist ein Mörder. Trunkenheit, Völlerei, böse Gesell-
schaft sind zu meiden; und Unzucht und „geistiger Ehebruch
ist: wenn jemandem diese Welt und ihre geschwind vorüber-
rauschende Lust zu teuer ist". Alle Leidenschaften müssen
bezähmt und unterdrückt werden; jede Gewalttätigkeit, List,
Betrügerei wird dem Diebstahl gleich geachtet. Nach diesen
Glaubensregeln kommen bei Bewertung der Sakramente die
spiritualistisch-protestantischen^) Ansichten zur Geltung. Vom
Sakrament der Taufe sagen sie, daß sie darunter die geistige
Reinigung von der Sünde im Glauben und die Tötung des
alten Menschen in uns verstehen; sie waschen wohl die Neu-
geborenen, aber sie nehmen dies nur als eine leibliche Reini-
gung, nicht als eine Taufe an. Priester, Bischof oder Hohe-
priester sind bloß in der Person Christi zu suchen; die Mala-
kanen kennen daher nur Alte, die aus ihrer Mitte ausgewählt
werden, um Gottes Worte vorzulesen und die geistigen An-
gelegenheiten zu leiten.^) Das Sakrament der Ehe endlich
wird durch die gegenseitige Einwilligung der Verlobten und
durch gemeinsames Gebet der Gemeindemitglieder ersetzt; die
^) Auch Leroy-Beaulieu meint, der Kultus der Malakanen sei indirekt
aus der Reformation Luthers und Calvins hervorgegangen, a. a. O. III 468.
*) Leroy-Beaulieu III 467: „Wir sind allesamt Priester", sagen die Molo-
kaner; der Älteste hat gar keine Gewalt über die Gemeinde und zeichnet sich
während des Gottesdienstes vor den übrigen Mitgliedern nicht einmal durch
ein besonderes Gewand aus.
— 199 —
so geschlossene Ehe ist unauflöslich. Den Begriff der Kirche
sieht man in dem Worte Christi: „Wo Zwei oder Drei ver-
sammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen*' ;
und man braucht keine steinernen oder hölzernen Tempel.
Eine Kirche, sagen die Malakanen, besteht nicht aus Balken,
sondern aus Rippen, des Menschen Brust ist der Tempel
Gottes. Natürlich verwerfen sie auch die Heiligenbilder. Bei
einer Prozession in Nikolajew, Gouvernement Ssaratow, sprang
ein Malakane in die Reihen der Orthodoxen, erfaßte ein Hei-
ligenbild, warf es zu Boden und trat es mit den Füßen. Der
Fanatiker wurde von den Orthodoxen auf der Stelle getötet.
Die Malakanen zählen zwar zu den friedlichen Sektierern, doch
fehlt es auch bei ihnen nicht an Verirrimgen ins Extreme, und
es gibt einige Malakanengemeinden, denen man nachsagt, daß
sie nicht bloß Asyle für Verbrecher seien, sondern auch selbst
die Verfertigung falscher Pässe und Falschmünzerei als von
der Religion erlaubte Dinge betreiben. Es gibt sogar Mala-
kanengruppen, die längst nicht mehr die Lehren der Mutter-
sekte beachten, die die Behörden und die Gesetze verhöhnen,
Eid und Militärpflicht verweigern, sich der Steuerzahlung wider-
setzen, die Gütergemeinschaft predigen (an der Spitze dieser
Gruppe befand sich der berühmte Popow, der von Nikolaj I.
an den Jenissej verbannt wurde) und die Weibergemeinschaft ^)
verlangen (der Prophet dieser Gruppe erstand erst während
der Regierung Alexanders II. in Ssamara).
^) Auch katholische und protestantische Sekten haben \iäufig die Poly-
gamie und die Weibergemeinschaft als religiöses Gesetz aufgestellt. Die Poly-
gamophili traten in Schriften und Handlungen für die Vielweiberei ein. Der
Italiener Ochinus predigte im i6. Jahrhundert in Zürich die Polygamie und
mußte deshalb nach Polen flüchten. Die Sekte der David Georgisten, «ben-
falls im i6. Jahrhundert, hatte die Vielweiberei statuiert. Berühmt wurde
die Lehre des Carpocrates von Alexandrien, der im zweiten Jahrhundert
lebte; er erklärte: Es gebe nichts Böses in der Natur, das Böse bestehe nur
in der Einbildung des Menschen. Der Mensch sei aber in diesem Leben unter
der Gewalt böser Engel, die man am besten durch schandliches Leben ver-
söhne. Daher solle man lasterhaft leben und namentlich die Weiber gemein-
schaftlich besitzen, so wie alle gemeinschaftlich das Licht der Sonne genießen
oder gemeinschaftliches Recht haben auf die zur Nahrung dienenden Mittel.
An die Münsterer und Mormonen brauche ich wohl nicht besonders zu erinnern.
— 200 —
Den ursprünglichen Malakanen verwandt sind die ur-
sprünglichen Duchoborzen^) oder Geisteskämpfer, die man die
Quäker Rußlands genannt hat, weil sie an die unmittelbare
Einwirkung des heiligen Geistes glauben.^) Sie besitzen eigen-
tümliche Vorstellungen von Seele, Verstand und Herz. Ihre
Lehren sind ebenfalls bloß in mündlichen Traditionen erhalten.
Im Jahre 1805 wurde dem Kaiser Alexander eine offizielle Dar-
stellung des Duchoborzentums geliefert. In diesem Dokument
heißt es, daß die Duchoborzen um die Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts auftauchten. Sie verwarfen alle Gebräuche und
Riten der orthodoxen Kirche, die Taufe und die Konmiunion.
Ihren Namen erhielten sie im Jahre 1785, wahrscheinlich vom
Erzbischof von Jekaterinoßlaw. Bis dahin nannte die Regie-
rung sie Ikonoklasty3), wörtlich Heiligenkastrierer, weil sie die
Verehrung der Heiligen verneinten, oder auch Ikonoborzy,
Bilderstürmer; sie selbst heißen sich Christen und nennen
die anderen : Laien. Als ihre Apostel bezeichnen sie drei Knaben
aus ältester Zeit : Hanani, Asaria und Misael, die den Martertod
erlitten, weil sie sich geweigert hatten, Nebukadnezars Bild an-
1) Von ayx'b, Geist, und öopeui», Ringer oder Kampfer. Jyxoöopoui.
kann Geist- oder Lichtbekämpfer (so meinen es die Orthodoxen) ebensogut
wie Geistes- oder Lichtkämpfer heißen (und den letzteren Sinn meinen die
Sektierer selbst).
*) Unter den wichtigeren Arbeiten über diese Sekte erwähne ich: Die
Studie (in russischer Sprache) des Kijewer Professors Nowizkij (1882); von
deutschen Berichten: Die Mitteilungen von Petzholdt, Karl Koch, Wagner,
Erckert, Thielemann in ihren kaukasischen Reiseschilderungen und eine überaus
interessante Skizze von einem ungenannten Offizier im XI. Bande der Bal-
tischen Monatsschrift. Haxthausen und Leroy-Beaulieu wurden bereits früher
zitiert. Die Verfolgungen, denen die Duchoborzen in jüngster Zeit in Ruß-
land'^usgesetzt waren und die zu ihrer teilweisen Auswanderung nach Kanada
führten, veranlaßten zahlreiche Artikel in russischen Zeitungen und nament-
lich Verteidigungsschriften des Grafen Leon Tolstoi. Einige der letzteren
wurden in fremde Sprachen übersetzt, so von J. W. Bienstock in seinem Buche
„Tolstoi et les Doukhobors, faits historiques, r6unis et traduits du russe",
Paris 1902. Unter der Redaktion von Bontsch-Brujewitsch planten die Russen
Tschertkow, Birukow und Tregubow die Herausgabe eines die Duchoborzen
betreffenden Aktenmaterials in 16 Riesenbänden.
*) Hkohi», Heiligenbild; RiacTi,, legen, bauen, hat auch den Sinn von
Wallachen, kastrieren.
— 201 —
zubeten^); und ebenso müssen sie selbst alle leiden für ihre
Verachtung der Ikone.
Wegen der Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren,
konnten sich die Duchoborzen anfangs nirgends in kompakten
Massen ansiedeln, sie mußten sich durch das ganze Reich zer-
streuen. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts fand man
sie zumeist in Archangelsk, Asow, Georgjewsk, Stawropol,
Kola, Irkutsk und Kamtschatka, also an den äußersten Grenzen
im Süden, Norden und Osten. Der früher erwähnte offizielle
Bericht sagt, daß man, wenn von der religiösen Frage ab-
gesehen werde, das soziale imd Familienleben der Duchoborzen
als ein musterhaftes bezeichnen müsse. 1792 schrieb der Gou-
verneur von Jekaterinoßlaw an den Oberprokurator des Sy-
nods, daß „diese Häretiker die Trunkenheit und den Müßig-
gang hassen und regelmäßig ihre Steuern zahlen*'. Aber sie
mußten doch verfolgt werden, „weil sie nicht in die Kirche
gehen, nicht die orthodoxen Fasten einhalten, die Heiligen-
bilder nicht ehren, beten ohne das Kreuz zu schlagen und
weder an den Vergnügungen noch an den Ausschweifungen
der Laien teilnehmen.** Solcher Verbrechen wegen wurden
die Sektierer zumeist nach Sibirien verbannt. Der genannte
Gouverneur von Jekaterinoßlaw versicherte: sie verdienten
trotz ihrer von ihm selbst hervorgehobenen Tugenden kein
Mitleid, ,,denn ihre Häresie wird nur noch gefährlicher durch
ihr anständiges Leben**. Der Gouverneur rief also nach dem
Scheiterhaufen, Katharina gewährte bloß die Deportation. Ale-
xander L bewies den Duchoborzen, wie allen Sektierern, To-
leranz und überließ ihnen Land im taurischen Gouvernement;
aber die Zeit der Ruhe dauerte nur kurze Zeit. Die heftigsten
Verfolgungen hatten diese Sektierer in unseren Tagen zu er-
leiden. Im Kaukasus überfielen 1895 Kosaken die Ducho-
borzendörfer, töteten die Männer und notzüchtigten die
Frauen 2), und seither wanderten viele von diesen Sektierern
1) Es ist dies die Geschichte vom feurigen Ofen, die der Prophet Daniel
erwähnt.
*) Über diese Grausamkeiten der Regierungsorgane bei der Verfolgung
der Duchoborzen vergleiche man die Berichte bei Bienstock, beispielsweise
auf Seite 49, 61, 77, 80, 87, 94, loi, 115, 176.
— 202 —
nach Amerika aus. In Rußland sind allerdings noch Hundert-
tausende zurückgeblieben; deren Häupter, wie der berühmte
Werigin, wurden jedoch für ewige Zeiten nach Sibirien ver-
bannt.
Die Sittenlehren 1) der Duchoborzen verdammen die
Leidenschaften, verachten die sinnlichen Freuden; selbst die
reinen Freuden der Natur, die Blumen der Erde, der Gesang
der Vögel lenken den Menschen ab vom Geistigen und fesseln
ihn, daß er sich nicht zu erheben vermag. Gesellschaftliche
Unterschiede kennen die Duchoborzen nicht, alle Menschen
sind gleich, weil alle gefallen und alle der Versuchung unter-
worfen sind. Weder Herren noch Knechte g^bt es. Als Grund-
lage für die Eingehung der Ehe ist bloß die Einwilligung der
Verlobten, als Grundlage für die Fortdauer die Liebe, die ihrem
Wesen nach göttlicher Natur ist, erforderlich; hört die Liebe
auf, muß die Ehe getrennt werden, weil sonst das göttliche
Band zu einer fleischlichen Sünde würde.
Wie bei den Malakanen entstanden auch bei den Ducho-
borzen Abzweigimgen, bei denen namentlich das Wesen der
reinen Sittlichkeit verschwunden ist; und wenn auch nicht,
wie bei einigen Malakanengemeinden, die Weibergemeinschaft
eingeführt wurde, so kennt man doch auch bei diesen Ducho-
borzenabarten kaum mehr den Begriff der Treue im Punkte
der Liebe. Solange eine Frau sündigt, ohne öffentliches Ärger-
nis zu erregen, bleibt sie straflos; nur wenn ihre Sittenlosig-
keit alles Maß überschreitet, wird der Mann, falls er selbst
noch immer schweigen wollte, von seinen Glaubensbrüdern
gezwungen, das zuchtlose Weib vor das Gemeindegericht zu
1) Die ausführliche amtliche Darstellung des Duchoborzenglaubens ent-
• hält das Buch von Bienstock, S. i6 — 36. Man vergleiche auch die symbolische
Schilderung in meinem Buche ,,Aus dem modernen Rußland" S. 127 ff. Die
Lehre der Duchoborzen bildet ein ganzes System, dessen genaue Wiedergabe
viele Kapitel erfordern würde. Aber als rein theologisch-mystisch-philosophische
Frage fällt sie aus dem Rahmen unseres Werkes und muß den Raum frei-
lassen für jene mit der Geschichte der Sittlichkeit inniger zusammenhängenden
Sekten. Haxthausen gab übrigens schon in seinen Studien über Rußland I
389 ff. Übersetzungen von Bekenntnissen der Duchoborzen selbst, die vielleicht
die beste Aufklärung verschaffen.
— 203 —
schleppen; die Strafe der für schuldig befundenen Frau be-
steht darin, daß man sie nackt durch die Straßen schleift und
mit Kot bewirft. Andere dieser Duchoborzengruppen sollen
den Kindermord als Glaubensartikel betrachten; sie sagen,
daß die Seele als Gottes Ebenbild nur in einem gesunden
Körper wohnen dürfe; und deshalb töten sie alle schwäch-
lichen und mißgestalteten Kinder. Als Nikolaj I. die Ducho-
borzen verfolgte, begründete er es damit, daß diese Sektierer
von einem Mordfanatismus beseelt wären; angeblich bestand
bei ihnen eine Art Inquisition, die jedes im Verdachte des
Unglaubens stehende Gemeindemitglied unbarmherzig ver-
urteilte und entweder durch das Schwert richtete oder leben-
dig begraben ließ.
Von den drei Sekten, die ursprünglich erhabenen Lehren
folgten, sahen wir also schon zwei im Laufe der Jahre, und
nicht zum wenigsten durch die Verfolgungen der Regierung,
in ihren Ausläufern völlig ausgeartet. Nun werden wir das
gleiche Resultat auch bei der letzten dieser drei rationalistischen
Sekten finden, bei den Stundisten.^) Deren Ursprung erscheint
als ein rein protestantischer. In einer reformierten Kolonisten-
gemeinde bei Odessa wurde von einem Pastor der altwürttem-
bergische Gebrauch des religiösen Stundenhaltens gepflegt.
Diesen Kolonisten gesellte sich vor etwa vierzig Jahren der
orthodoxe Muschik Michael Ratuschny aus Osanowa zu; die
protestantisch-deutschen Andachtsübungen gefielen ihm so, daß
er nach seiner Rückkehr in die Heimat Genossen um sich sam-
melte und mit ihnen die Gemeinschaft der Stundisten^) grün-
dete. Als Lehre gab sich die neue Sekte folgendes: Keine
Kirche, keine Heiligenbilder, keine Priester, keine Sakramente.
1 ) Kurz mögen hier auch die deutschen Chiliasten in Transkaukasien
erwähnt werden, die eine reine Pietistensekte sind und auf das russische Sekten-
wesen keinen Einfluß ausgeübt haben. Sie wurden ausführlich von Professor
Kolenati in seiner Schrift ,.Die Bereisung Hocharmeniens und Elisabethpols**
geschildert; Moritz Busch hat in seinem Buche ,,\Vunderiiche Heilige, Reli-
giöse und politische Geheimbünde und Sekten", Leipzig 1879, S. 121 — 139
einen Auszug aus Kolenati.
2) Das deutsche Wort Stunde wurde ins Russische übernommen:
lJlTyH.ia. daher IllTyiuiicn..
— 204 —
Branntwein, Tabak, Fluchen und gemeine Reden sind ver-
boten. Strenge Arbeit ist Pflicht, aber Ersparen verboten,
denn Überfluß führt zu Lastern. Alle Menschen sind gleich,
nicht einmal der Zar ist höher zu schätzen als jeder der Men-
schen, ein rechter Christ kennt nur Gott als Oberhaupt; doch
fügen sich die Stundisten den Staatsgesetzen, weil das wahre
Gottesreich auf Erden noch nicht gekommen ist. Die Ehe
beruht bloß auf freiem Übereinkommen und wird vor dem
Ältesten der Gemeinde geschlossen, eine Scheidung ist nicht
zulässig.
In einem aus dem Jahre 1898 stammenden Berichte des
Oberprokurators des Heiligen Synod^) wird das Gespräch eines
russischen Missionars mit Stundisten mitgeteilt; letztere sag-
ten : „Wir wünschen nicht euch nachzueifern, denn wir lieben
nicht eueren Christus; ihr habt mit euerem Christus die Men-
schen zu Hunden gemacht, wir aber wollen mit imserem Christus
freie Menschen bleiben. Haben wir uns vom Herrendienste
frei gemacht, werden wir auch den Popendienst los werden.**
Der Oberprokurator Pobjedonoßzew bemerkte zu diesem Be-
richte, man müsse dem Stundismus viel Gewicht beilegen, denn
aus den Gesprächen, welche diese Sektierer führten, ginge
hervor, daß sie sich für Sozialpolitik interessierten! Schon
früher als Pobjedonoßzew hatte der Panslawist und orthodoxe
Fanatiker Katkaw^) strenge Maßregeln gegen die Stundisten
gefordert, die von ihm als eine gefährliche Sekte geschildert
wurden. Die Gefahr, die von den Stundisten drohte, war aber
dieselbe, die jener Gouverneur von Jekaterinoßlaw genau hun-
dert Jahre zuvor mit den ersten Duchoborzen über Rußland
hereinbrechen sah : man mußte befürchten, daß die Stundisten
durch ihre Rechtschaffenheit, Mäßigkeit und Arbeitsliebe unter
den Russen ein böses Beispiel der Anständigkeit geben und
die Orthodoxen aus dem gedankenlosen Dahinleben in der
Verkommenheit erwecken würden zu höherem Streben. Das
mußte gründlich verhütet werden, und man bedrückte die
Stundisten ärger noch als die Malakany und Duchoborzy. Der
1) Vgl. St. Petersburger Herold. Juli 1898.
2) MOCK. Bt,lUM(XTII, 23. VI. 1892.
— 205 —
Erfolg war schließlich der gleiche wie bei den zwei letzt-
genannten Sekten. Die Quälereien, Marterungen und Ver-
bannungen trugen zwar nur dazu bei, den Stundismus in ra-
pider Weise zu verbreiten, aber gleichzeitig verlor er seinen
hohen geistigen Gehalt und zeitigte unter Rute, Knute und
Pletj den Neu-Stundismus, der nicht mehr die guten Ortho-
doxen zu edlerem Leben erziehen, sondern bloß zu willkom-
mener Sittenlosigkeit hinabzerren kann.
Die Neu-Stundisten nähern sich in ihren entsetzlichen Ge-
bräuchen den ärgsten der wilden Sekten, sehen nur mehr im
Flagellantismus das Ziel des Daseins, und geißeln sich zu
Tode, um den Himmel mit den Schandtaten der Menschen
zu versöhnen, die erbarmungslos Gottes wahre Anbeter ver-
folgen. Ihre Stunden sind nicht mehr feierliche Andachts-
übungen wie früher, sondern wilde Orgien, bei denen die Fana-
tiker nach furchtbaren Tänzen zusammenbrechen, um im
Krämpfe der Verzückung phantastische Gesichte zu haben.
Da sie ohnehin vor den Verfolgern nichts mehr retten können,
arbeiten die Neu-Stundisten nicht; sie denken nicht mehr an
die entsetzliche Sozialpolitik und leben nur ihrem fanatischen
Eifer, sich zu kasteien und zu züchtigen durch die Auflösung
aller verwandtschaftlichen und Verachtung aller ehelichen
Bande.
Hatten sich die ersten Stundisten hauptsächlich im Süden
verbreitet, so fanden die als Flagellanten auftretenden Neu-
Stundisten ihre Anhänger hauptsächlich in den baltischen Pro-
vinzen. „Die Gottesdienste dieser Sektierer," berichtete ein
russischer Geistlicher 1901 in einem Briefe^), ,, bringen der
Bevölkerung großen Schaden; sie bestehen in einer starken
nervösen Erregung, die sich bis zur Ekstase, bis zu Hallu-
zinationen steigert. Die Versammlungen dauern häufig die
ganze Nacht und finden in dumpfen Hütten statt. Die Teil-
nehmer gleichen gestörten Leuten. Besonders die Frauen sind
der religiösen Ekstase zugänglich. Die Zuschauer werden von
der nervösen Erregung angesteckt und unwillkürlich zu Teil-
1) In den HepKoHiiUH HiÄOMOCTii. Dieser Brief bezog sich besonders
auf Verhältnisse in Estland, denn der Schreiber bezeichnete sich als Priester
A. G — w aus Reval.
— 206 —
nehmem an den sektiererischen Gottesdiensten; aus diesen
resultieren nervöse Krankheiten, Hysterie, Melancholie und so-
gar Wahnsinn. Daher mehrt sich in der letzten Zeit die Zahl
der Geisteskranken. Die sektiererische Bewegung hat viele
Familien zerrüttet und viele Wirtschaften ruiniert. Frauen
haben ihre Häuser im Stich gelassen und sind seelisch und
physisch verkommen. Männer verkauften ihr Eigentum und
verwenden das Geld zum Unterhalte der Wanderprediger. i) An-
fangs leistete die weltliche Gewalt dieser Bewegung, welche die
lutherischen Pastoren unter ihren Schutz genommen hatten,
keinen Widerstand. Die Sektiererei begann sich aber in Stö-
rungen der öffentlichen Ordnung zu äußern, und die weltliche
Gewalt traf daher einschränkende Maßregeln in bezug auf
die nächtlichen Versanmilungen und das Vagabundieren der
Propheten. Nun sind die Sektierer zum Teil in die vom Ge-
setze gestattete Baptistengemeinde oder in den Bestand der
lutherischen Kirchspiele eingetreten und setzen ihre Hand-
lungen fort unter dem Schutze der lutherischen Pastoren, die
diese Bewegung für ein Werk des heiligen Geistes erklärten
und sie unter ihre Leitung nahmen. Auf diese Weise ver-
hindern die Sektierer die Einmischimg der Polizei, die nicht
das Recht hat, sich in die häuslichen Angelegenheiten der
lutherischen Gemeinden zu mengen, und alle schädlichen
Folgen der Sektiererei bleiben in ihrer ganzen Kraft bestehen.*'
Die russische Geistlichkeit war mit diesen schädlichen
Folgen imzufrieden ; die Polizei und die Regierung aber wollen
nichts anderes, denn je zerrütteter und verwilderter das Volk
ist, desto besser für die Autokratie. Regierung und Polizei
lassen sich also selbst durch die Verdächtigung der luthe-
rischen Pastoren 2) als der Störenfriede in der orthodoxen Herde
1) Der russische Ausdruck, der hier gebraucht wird: yqirre.Tn-iipono-
Ht,;iHHK]i heißt wörtlich Lehrer-Prediger, doch gibt der Ausdruck Wander-
prediger dem deutschen Leser den richtigeren Sinn wieder.
S) Diese Verdächtigung war selbstverständlich ungerechtfertigt. Es
geht dies schon daraus hervor, daß der wilden Sekte der Neu-Stundisten nicht
bloß orthodoxe Russen, sondern nicht minder lutherische Esten und Letten
sich anschlössen; diese Völker stehen ja auf nicht viel höherer Kulturstufe
als die Russen. Weder Katholizismus noch Protestantismus haben unter
den Unterdrückten in den baltischen Provinzen tiefer Wurzel schlagen können.
— 207 —
nicht zu einer energischen Verfolgung sittenloser und wahn-
sinniger Sekten treiben; solche mögen gedeihen, sagt die rus-
als die griechische Religion in Rußland. Den heidnischen Letten und Esten
wurde das Christentum durchaus nicht als Religion der Liebe beigebracht.
Bei Hiam a. a. O. 34 — 36 lesen wir: ,,Es hat Einhorn angemercket: Die
Teutschen Ordens-Leute haben sich, was (der Esten und Letten) Religion
betrifft, wenig bekümmert, und nicht groß danach gefraget, wie sie vor ihrer
Heidnischen Abgötterey und falschem Gottesdienst, zur Erkäntnis des wahren
Gottes gerathen und kommen möchten. Das hat man Alles nichts geachtet,
sondern die Pabstischen Priester sind im Lande herumbgezogen, und hie
und wieder Messe gehalten, im Christlichen Glauben aber sie gar wenig unter-
richtet, auch zu unterrichten nicht vermocht, indem sie die Sprache nicht
gekunt, dieselbe auch zu lernen keine Mittel oder Gelegenheit gehabt, weil
fast Niemand gewesen, der sich der Religion und des Gottesdienstes ange-
nommen, oder darumb bekümmert, sondern die Herrschaft nur darnach
getrachtet, wie sie die armen Leute zu ihren Diensten gebrauchen, und in
allerhand Üppigkeit und Wollust leben möchten. Wie denn solch ein un-
christliches, hoffertiges und üppiges Wesen, so im Lande getrieben, auch aus
ländischer Nation bekandt, welche mit Verwunderung davon zu sagen ge-
wust. Sonderlich wird dasselbe auch in dem Liede, so zu der Zeit gemachet, da
die Mußcawische Tyranney und Grausamkeit im Lande grassiret, herzlich be-
klaget mit diesen Worten:
Diß Land den Teutschen gegeben ist.
Schier für Vierhundert Jahren,
Daß sie dein Nahmen Herr Jesu Christ,
Die Heyden solten lahren.
Sie aber haben gesucht vielmehr
Ihr eigen Nutz und Lust und Ehr,
Und Deiner wenig geachtet.
Sie haben die armen Heydnischen und Barbarischen Völcker nicht mit Christ-
licher Bescheidenheit und Sanfftmuth gelehret und unterrichtet, sondern mit
Gewalt, Ungestüm und Tyrannischer Weise, ja mit Wehr und Waffen, zum
Glauben zwingen wollen. Anderer zu geschweigen, ist ein Bischoff hier im
Lande gewesen, einer von der Linden, derselbe wird gerühmet, daß er großen
Fleiß angewandt die Letten von ihrer heydnischen Abgötterey zum rechten
Gottesdienst zu bringen, hats aber also mit ihnen gehalten, daß der Stiffts-
Vogt und die Lands Knechte sie verhören müssen, ob sie auch beten könten,
welcher nun etwas gekont, den hat er tractiret und ihn etwas zu essen gegeben ;
welche aber nichts gelemet, die hat er mit Ruthen jämmerlich streichen
lassen". Ein so jämmerlich eingebläutes Christentum konnte natürhch keine
herzlichen Anhänger finden, und es blieben tatsächhch sowohl Letten als
Esten noch bis heute halbe Heiden, in ihren Gebräuchen herrscht die alte
Sittenlosigkeit ihrer heidnischen Feste, der ungenierte Geschlechtsverkehr als
Kulthandlung.
— 208 —
sische Regieningsmoral, der Bekämpfung wert sind bloß Ra-
tionalismus und Sozialismus, alle jene Vereinigungen, welche
Sittsamkeit und Fortschritt, Freiheit und Gerechtigkeit zu er-
reichen streben. Dies traf einigermaßen bei dem sogenannten
Salonstimdismus zu, der zu Ende der Regierung Alexanders IL
in der vornehmen Gesellschaft von Petersburg Verbreitung fand.
Der Laienprediger Lord Radstock — vom Fürsten Mesch-
tscherskij in seinem satirischen Roman „Der Lord- Apostel*'
gegeißelt — erschien eines Tages in der russischen Hauptstadt
und predigte den Vornehmen Buße und Einkehr ; Wassilij Ale-
xandrowitsch Paschkow, ein reicher Gutsbesitzer, ward von
diesen Reden so begeistert, daß er laut die Sünden seiner
Jugend bereute und die Sekte der Salonstundisten begrün-
dete, deren Mitglieder aus den vornehmsten Kreisen stamm-
ten und die hehrste Menschenliebe lehrten; die Sekte fiel der
Nihilistenfurcht zum Opfer und wurde schon nach wenigen
Monaten ausgerottet.
Ähnlich erging es einigen Sekten, die mit den mystischen
Lehren des Dichters Leon Tolstoi in Zusammenhang gebracht
werden müssen, so den Sselesnowzy und Ssutajewzy. Die erste-
ren, Bauern des Gouvernements Ssmolensk, namentlich aus
den Dörfern Tschalsk und Ssemjonowsk, vereinigten sich 1893
zur Zeit der großen Hungersnot als Wohltätigkeitsgesellschaft,
da ihr Hauptzweck die Unterstützung der Leidenden mit Brot
und Geld war; erst als die Regierung sie verfolgte, sagten sie
sich von der Kirche los, verjagten sie ihre Popen und schufen
sich eine bessere Religion als jene, die im Wohltun ein kirchen-
und regierungsfeindliches Verbrechen sieht. Sie verwerfen das
Priestertum, verehren weder die Heiligenbilder noch die Hei-
ligen, da sie die Sichtbarkeit in religiösen Dingen nicht zu-
geben, suchen den Fortschritt im sozialen und wirtschaftlichen
Leben und lehren und lernen horribile dictu lesen und schrei-
ben; die von Tolstoi herausgegebenen Volksschriften unter
dem gemeinsamen Titel „Der Vermittler** 2) zeigen ihnen den
Weg zur Aufklärung; die Vorgeschrittenen lesen aber selbst
Buckle, Spencer und Mill in russischer Übersetzung, und die
) IIoc{)e;iHiiirL.
— 209 —
Landwirte unter ihnen haben die primitiven Ackergeräte durch
englische Pflüge ersetzt.
Der Gründer der Ssutajewszy war ein Bauer, Basil Ssu-
tajew, der 1889 im Gouvernement Twer auftrat und die prak-
tische Nächstenliebe lehrte, die Ausübung der Gerechtigkeit
als die wahre Religion erklärte. Liebe und Gerechtigkeit,
diese göttlichen Elemente, müssen vor allen Dingen auch im
Leben von Mann und Frau zur Geltung gelangen; nicht die
lügnerische Ehe hat Raum für sie, sondern nur die freie ge-
schlechtliche Verbindung; und da in dieser die Liebe allein
walten soll, sind Zank und Prügeln als schwerste Sünden aus
ihr verbannt. Diese Lehren des Ssutajew klingen wie Tol-
stoische Sätze, man weiß aber nicht, ob der Muschik den
Dichter beeinflußt hat oder ob Ssutajew schon ein Schüler
Tolstois ist. Es ist seltsamerweise das Wahrscheinlichere, daß
der Bauemapostel Ssutajew der Lehrer, und der größte Poet
Rußlands sein Jünger war. Tolstoi hat seine Lehre bekannt-
lich in zahlreichen Schriften und Traktätchen selbst nieder-
gelegt: die Nächstenliebe ist ihre Grundlage, und sie predigt
unermüdlich die Rückkehr zur Natur und zum Urchristentum,
das Glück des Menschen kann nur im einfältigen Gottesglauben
bestehen. Die Wirkung der Tolstoischen Lehren war eine ge-
waltige; nicht bloß seine Volksschriften und religiösen Trak-
tate, sondern selbst seine Romane wurden Ursachen zu Sek-
tenbildungen ^) : nach den Grundsätzen der ,,Kreutzersonate**
1) Die Regierung Alexanders III. beabsichtigte infolgedessen zweimal,
1886 und 1892, den Grafen Tolstoi in ein Kloster zu sperren, führte aber den Plan
nicht aus, Klöster, namentlich das von Ssolowezk am Weißen Meere, waren
in Rußland seit jeher beliebte Verbannungsorte, in denen die Regierung nicht
bloß religiöse, sondern auch vornehme politische Unzufriedene, denen sie
ans Leben zu gehen nicht den Mut hatte, wenigstens für die Außenwelt auf
Lebenszeit abschloß. A. S. Prugawin hat in einem Buche ,,Die russischen
Klostergefängnissc" betitelt, das von Professor Reußner in Berlin auch ins
Deutsche übersetzt wurde, diese Verbannungsorte ergreifend schön geschildert.
Derselbe russische Schriftsteller veröffentlichte 1906 in Petersburg im Verlag
des „Possrednik" eine neue Auflage seines Buches, betitelt ..Die Kloster-
gefängnisse im Kampfe gegen das Sektenwesen", worin der geplant gewesenen
Einkerkerung Leo Tolstois im Klostergefängnisse von Susdalj ein besonderer
Abschnitt gewidmet ist. Hierüber ist unter den literarischen Anzeigen der
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. j^
— 210 —
entstand die Gemeinschaft der Perchowzy^), deren Mitglieder
hauptsächlich gebildete und vornehme Leute wurden ; die Per-
chowzy tragen Bauemkleidung wie Tolstoi, arbeiten wie Bauern
auf ihren Gütern, verdingen sich auch als Arbeiter; sie ver-
abscheuen die Ehe, denn es ist am besten, meinen sie, wenn
diese sündenreiche Menschheit aussterbe.^)
Vom Tragischen zum Lächerlichen ist im russischen
Sektenwesen der Weg so kurz wie nirgends sonst. Da gibt
es eine Reihe von (Gemeinschaften, die sich von der Kirche
losgesagt haben, aber das Popentum und die meisten äußer-
lichen Gebräuche behalten und nur in Absonderlichkeiten den
Unterschied zwischen ihrem Glauben und dem der Orthodoxen
kenntlich zu machen suchen. Zu ihnen gehören die Anhänger
des Mönchs Hiob, der 1667 unter den Donkosaken predigte,
und die Sektierer von Tschernobol; diese glauben, das Ende
der Welt sei nahe, man dürfe deshalb weder Eide ablegen
noch Pässe von den Behörden annehmen; sie verehren keine
Heiligenbilder, aber statt deren das Kreuz mit dem Gekreu-
zigten wie die Katholiken. Im Troitzakloster befindet sich ein
Bild des Erlösers, wie er vom Schmerze verklärt zum Himmel
emporfährt. Dieses Bild wurde zum Mittelpunkt des Kultus
einer Sekte, die alle anderen Bilder verbannt und zu ihm
v/allfahrtet man als dem einzigen verehrungswürdigen Symbol
des Christentums. Im Gouvernement Ssaratow entstand 1866 die
Sekte der Zähler 3), so genannt, weil sie andere Feiertagsrech-
nung einführten, sie zählen die Feiertage nicht wie die Russen ;
sondern so, daß Ostern auf einen Mittwoch und jeder Sonntag
auf einen Mittwoch fällt. Im übrigen suchen sie das Seelen-
heil durch die Sünde. Bei meinem Aufenthalte in Astrachan
„Neuen Freien Freie" von 30. Dezember 1906 (wohl von N. Golant) ein aus-
führliches interessantes Referat erschienen, auf das ich verweise.
*) IXepxoBUiJ = die sich Räuspernden.
*) Ähnlich war die Lehre der katholischen Sekte der Patareni im drei-
zehnten Jahrhundert. Diese erklarten auch, sie seien in die Welt gekommen,
um die Bedrängten zu trösten und ihnen zu helfen; ebenso vereinten sie damit
die Ansicht, daß der Ehestand ein Ehebruch sei, also verworfen werden müsse ;
JLucifer habe alle sichtbaren Dinge geschaffen, auch die Ehe sei Teufelswerk.
•) ^HCiiiTe.ir, = der Zähler.
— 211 —
hörte ich von einer dort existierenden Spuckersekte, bei deren
Andachtsübungen vor jeden Frommen eine Tasse Tee gestellt
wird: Der Prophet der Sekte geht von Tasse zu Tasse, spuckt
hinein, und der Trank ist geheiligt i); die Frauen der Sek-
tierer müssen zu diesen Versammlungen weißgekleidet er-
scheinen.
Auf noch seltsamere Dinge verfallen jene Sekten, die über-
haupt keine Geistlichen dulden. So behaupten die Anhänger
der Sekte der Verneiner 2), daß von Peter dem Großen mit dem
Patriarchat zugleich alles Heilige von der Erde vertrieben
wurde; es sei in den Hinmiel emporgestiegen. Diese Sektierer
verneinen deshalb die Kirche und den Kultus, die Heiligen
und Heiligenbilder, die Sakramente imd das Priestertum und
verkehren nur direkt mit dem Erlöser. Einen Schritt weiter
gehen die Nichtbetenden^), indem sie auch das Kreuz ver-
werfen. Ihr Apostel Zimin, ein Donkosak, lehrte, daß es vier
Weltjahreszeiten gebe : den Weltfrühling oder die vorgottväter-
liche Zeit von der Schöpf img bis Moses; den Weltsonmier, die
Zeit des Vaters Gott, von Moses bis Christus; den Weltherbst,
die Epoche des Sohnes Gott, von Christus bis 1666, dem Ein-
tritt des Schismas; und den Weltwinter, das Zeitalter des hei-
ligen Geistes, von dem Beginn des Schismas bis ans Ende
der Welt.*) In dem Zeitalter des heiligen Geistes aber sollen
1) Zu Zeiten des Kaisers Heinrichs V., um 1124, war in Antwerpen
ein Apostel Tandemus, auch Tachelinus genannt, erschienen, der viele Tausende
Anhanger fand. Das Wasser, worin er sich gebadet oder mit dem er sich ge-
waschen hatte, wurde von seinen Verehrern, wie die Chronisten berichten,
gierig getrunken. Die Frage bleibe offen, ob die Astrachaner oder die Ant
werpener Sekte das Appetitlichere wählte.
*) OTpeuaxe-Ti.Hiae.
3) HeMOHHim.
♦) Diese Jahreszeiten- Verteilung ist zweifellos keine russische Erfindung.
Schon die Valentinianer im 2. Jahrhundert kannten vier Weltalter, und auch
bei ihnen entwickelten sich infolge ihrer Lehren große Greuel und Laster.
Sie hielten es nicht für nötig, Gutes zu tun, sondern lebten nach ihrem Wohl-
gefallen, mißbrauchten skrupellos nicht bloß des anderen Weib, sondern
lebten auch mit ihren leiblichen Schwestern und hielten sich selbst für voll-
kommene Menschen, aber jene für einfältig, die nicht taten wie sie. Die Schüler
der Valentinianer, die Ptolemaei, fügten zu den vier Weltaltem vier andere
hinzu, und lehrten, Gott habe zwei Weiber gehabt, den Verstand und den
14*
— 212 —
sich Geburt, Ehe und Begräbnis ohne Zeremonien volkiehen.
Die Nichtbetenden taufen also nicht, vereinigen sich zu ge-
schlechtlichem Leben auf Gnmd bloßer Übereinstimmung, und
übergeben die Toten der Erde nicht auf geweihten Friedhöfen,
sondern wo immer es ihnen paßt. Nach Leroy-Beaulieu^) leug-
nen sie auch die Unsterblichkeit; nach dem Tode, sagen sie,
habe alles ein Ende. Ein Zweig der Nichtbetenden sind die
Seufzenden 2); sie haben die Weltaltereinteilung wie jene, ihr
Apostel, der Schuster Tichanow aus Kaluga, der zuerst 1871
auftrat, gestattet jedoch, das Gebet durch Seufzer zu markieren ;
die Seufzer des Herzens, sagte er, sind das wahre Gebet der
Christen.^) Eine andere Sekte verzichtet auch auf das Gebet,
Willen, und mit diesen andere Götter gezeugt. — Simon der Zauberer, der
Gründer der Simonianersekte, statuierte acht Zeitalter, gab seine Maitresse
für den menschgewordenen heiligen Geist aus und erklärte den Gläubigen:
,,wer sich auf sie verläßt, den mache ich selig, im übrigen aber lebe jeder wie
er wolle**. — Ums Jahr 1204 lehrte Almaricus zu Paris: Wenn Adam nicht
gesündigt hätte, gäbe es keine natürUche Fortpflanzung und keinen Unter-
schied der Geschlechter. Gottes des Vaters Macht habe nur bis zur Ankunft
Christi gewährt; Christi Lehre aber hörte nach Ausgießung des heiligen Geistes
auf, daher seien Taufe und Abendmahl nicht mehr nötig. Almaricus leugnete
die Auferstehung der Toten, Paradies und Hölle, und sagte: Die Liebe bringe
es zuwege, daß Sünde keine Sünde sei. — Im 14. Jahrhundert lehrte Dulcinus
in Italien: Gott der Vater habe von Anfang der Welt bis zur Ankunft Christi
regiert, Christus bloß bis zum Jahre 1300, jetzt werde Dulcinus das Reich
des heiligen Geistes aufrichten. Im Reiche des heiligen Geistes aber ist Un-
zucht keine Sünde, und so sammelte sich um Dulcinus binnen kurzem ein
Heer von 6000 Anhängern, Männern und Frauen. Auf Befehl des Papstes
Clemens IV. wurden aber der Apostel und sein Weib in Stücke zerrissen und
verbrannt. — Auch in England predigte die Fanatikerin Attawey die Variation
der uralten gnostischen Lehre: Unter dem Gesetze regiere der Vater und
unter dem Evangelio der Sohn. Vater und Sohn aber übergeben das Reich
dem heiligen Geist in der besten Zeit, da alle Gottlosigkeit vertrieben und
die wahre Heiügkeit und Gerechtigkeit, die vor dem Fall bestanden, her-
gestellt werden würden. Von sich selbst sagte die Attawey : sie würde nimmer
sterben, sondern zu Jerusalem lauter Jesuskinder zur Welt bringen, sich mit
Christo sichtbarlich vereinigen und in Ewigkeit mit ihm regieren.
1) a. a. O. III 427.
2) i^;ai.ixaHUU.
3) Ähnlich lehrte im 16. Jahrhundert Paulus von Krakau: Gott müsse
nicht mit dem Munde, sondern mit dem Herzen angerufen werden. Dieser
— 213 —
aber nicht auf das Abendmahl ; zu letzterem nimmt sie indessen
nur Rosinen, die von reinen Jungfrauen an die Gläubigen ver-
teilt werden müssen. i) Die Sekte der Gähnenden kennt einen
noch einfacheren Gebrauch des Abendmahls ; sie schreibt ihren
Anhängern vor, am Gründonnerstag den Mund offen zu halten
solange bis Engel ihnen zu trinken gegeben haben. Kon-
sequenterweise gibt es auch ganz schweigende oder stumme 2)
Sektierer, die angeblich den Glauben an Gott, Religion und
Schöpfung gänzlich leugnen. Positives ist von ihnen, trotz-
dem sie zu den ältesten Sekten gehören, nicht bekannt, da
sie ihrem Namen entsprechend über ihr Leben und Treiben
tiefstes Geheimnis verbreitet haben. Schon im achtzehnten
Jahrhundert fand man Mitglieder dieser seltsamen Gesellschaft
in Bessarabien, an der unteren Wolga imd in Sibirien. Zur
Zeit Katharinas II. wollte der sibirische Generalgouverneur
Pestel die Schweigenden zum Reden bringen; er ließ sie fol-
tern, unter den Fußsohlen kitzeln, tröpfelte ihnen brennendes
Siegellack auf den nackten Leib, aber er vermochte diesen
stummen Fanatikern nicht einmal einen Schmerzensseufzer zu
entreißen.^) Im Jahre 1855 entdeckte man an der Wolga
einen Zweig der Schweigenden. Diese Gruppe sah nicht bloß in
der Schweigsamkeit die erste Bedingung zur Seligkeit, son-
dern ihre Mitglieder glaubten auch unermüdlich über die Felder
und durch die Wälder rennen zu müssen, um das Heil ihrer
Seele zu suchen, das sich ihrer Ansicht nach immer auf der
Flucht vor ihnen befindet. Ähnlich treibt es die Sekte der
Wanderer oder Irrenden, von der später die Rede sein wird.
Es ist möglich, daß gleich den Wanderern auch die Stummen
in ihren Riten furchtbare Greueltaten begehen. Wie unter Katha-
Apostel meinte auch, es sei nicht Ehebruch, wenn man bei eines anderen
Weib liege.
1) Das ist jedenfalls nicht so schlimm wie bei jener abendländischen
Sekte der Catharisten, die unter das Mahl zum Abendmahlsbrote männlichen
Samen mischten und auf diese Erfindung so stolz waren, daß sie sich selbst
Purificati oder Purgatores nannten.
2) Man nennt sie bald Mai^iaHiiKii, Schweigende, bald Be;ic.iOB(»CHwe,
Sprachlose oder H'bMue, Stumme.
') Haxthausen I 346. — Leroy-Beaulieu III 426.
— 214 —
rina II. wurde unter Alexander IL im Jahre 1873 der Ver-
such gemacht, aus diesen geheinmisvollen Sektierern eine Er-
klärung ihres Verhaltens herauszubringen. Die vor die Ge-
richte geschleppten Schweigenden gaben aber auf keine Frage
eine Antwort und ließen sich kaltblütig zur Deportation nach
Sibirien verurteilen.
Und alle diese bisher erwähnten Sekten muß man als
harmlose Erscheinungen bezeichnen im Vergleiche zu jenen
Schöpfungen, welche religiöser und erotischer Wahnsinn, die
beide nirgends so innig Hand in Hand gehen wie hier, in
Rußland hervorgerufen haben. Russische und europäische For-
scher haben nach Erklärungen für diese entsetzliche Fruchtbar-
keit von Roheit, Mordlust, Wollust und Selbstgeißelungsgier
vergebens gesucht und sich zumeist mit der Vermutung ab-
gefunden, daß sich hier und da bei den russischen Sekten un-
verkennbare Spuren von gnostischen Beschauungen nach-
weisen lassen könnten, sei es, daß diese unnuttelbar vom Orient
und bereits im Mittelalter, sei es, daß sie vom Okzident und
erst seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts eingedrungen
wären. Sicher imterliegt es auch kaum einem Zweifel, daß
zwischen einigen russischen und einigen abendländischen oder
morgenländischen Ketzereien Parallelen herzustellen wären.
Einmal kann man die alten Gnostiker, ein andermal die Quäker
zu Vergleichen heranziehen. Bei einigen wenigen Sekten darf
man fast von einer Nachahmung sprechen, so daß der russische
Klerus in seinen Berichten die Sektierer je nach ihrer Lehre
mit den alten Namen katholischer Sektierer bezeichnet. Ich
habe mich bemüht, wo sich solche Ähnlichkeiten aufdrängen
oder solche Einflüsse tatsächlich nachweisen lassen, dies stets
in Anmerkungen zu notieren. i) Im allgemeinen aber erscheint
mir, wie ich wiederholt betont habe, das Sektenwesen in Ruß-
1) Mein Leitfaden ist für die älteren nichtrussischen Sekten das merk-
würdige, jetzt schon überaus selten gewordene Buch: ,,Compendieuses Kirchen-
und Ketzer-Lexicon, in welchem alle Ketzereyen, Ketzer, Secten. Sectirer,
geistliche Orden und viele zur Kirchen-Historie dienende Termini auffs Deut-
lichste erkläret, und insonderheit die Urheber und Stiffter jeder Secte ange-
zeiget werden. Denen angehenden Studiosis Theologiae zur Erleichterung
der Theolop^iae Polemicae, wie auch Ungelehrten zu einiger Bestärkung in
— 215 —
land als ein spezifisch russisches Gewächs. Zunächst ist es
origineller schon durch die Vermischung mit Heidnischem;
dann ist hervorzuheben, daß anderswo kaum jemals Ausbrüche
so roh sinnlichen Charakters und solche Massenmorde in ero-
tisch-religiösem Wahnsinn stattgefunden haben. Aber das be-
sonders Merkwürdige ist, daß sich diese Sekten immer stärker
erneuem, daß sich jede von ihnen zerteilt in zahlreiche Äste
und Zweige; kaum verschwindet eine von ihnen und schon
wachsen Dutzende anderer nach.
Dem Betrug und der Lüge, dem Müßiggang, der auf
Kosten der Leichtgläubigkeit fett wird, der Gesetzlosigkeit und
der Raubsucht stehen da natürlich alle Tore offen. Neben
den Fanatikern ist Raum für die Spitzbuben i), und wo Hei-
lande und Gottesmütter alljährlich massenhaft wie die Pilze
aus dem Boden schießen, da kann es auch der falschen Zaren
die Menge geben. Über die Persönlichkeiten der Dmitry,
Peter III.^), Konstantin haben sich Legenden gebildet, und die
Legenden schufen Sekten. Man erklärt den regierenden Herr-
der Erkändtniß der Wahrheit zur Gottseeligkeit herausgegeben von J. G.
H. Andere und verbesserte Auflage, Schneeberg, bey Fulden, 1734."
1) Lehrreich ist in dieser Beziehung eine interessante Schrift: 26 mo-
CKOBCKHXT, -THce-npopoKoin.. .T/Ke-IOl)o;^Hm,Ix•L, jtypT, n ;;ypaKOBT>, uj^anie H. BapROsa,
MocKBa, Tiinorpa(|)ifl CewiMia, 1865, worin eine Reihe moskauer Trugpropheten,
Schehne und Narren geschildert ist. Diese zwei Dutzend sind im Laufe ganz
kurzer Zeit aufgetaucht!
2) 1770 trat in Orel, Tambow und Tula ein gewisser Kondrati Seiiwanow
als Gottmensch und Peter III. auf, als Zar und Christus in einer Person. Katha-
rina verschickte ihn nach Sibirien, Paul rief ihn zurück. Aber als der Schwärmer
noch immer nicht aus der Rolle fiel und Paul als Sohn titulierte, ließ der Zar
ungnädig den Gott und Vater ins Irrenhaus sperren. Alexander I. gab dem
Kondrati abermals die Freiheit, doch neuerdings spielte der Konsequente
seine Rolle, nun als Großvater, weiter. Jetzt sperrte man ihn in ein Kloster,
wo er erst 1832, 112 Jahre alt, starb. — Auch in Napoleon sah eine Sekte einen
Gottmenschen, den wiedergekehrten Christus, der das Reich Satans ver-
nichtete, die Leibeigenschaft aufhob, und viele glauben, Napoleon lebe noch
heute als Christus am Baikalsee und werde nochmals nach Rußland kommen,
um es zu befreien von der satanischen Bedrückung. — Es fehlt nun noch,
daß eine Sekte entstehe, die im japanischen Marschall Oyama einen Gott-
menschen erkenne.
— 216 —
scher als Usurpator oder Antichrist, und hat den frömmsten
Vorwand zur Verweigerung aller gesetzlichen Pflichten, kann
seinen Glauben nicht mehr vereinigen mit dem Gehorsam
gegen die Behörden, man bezahlt also keine Steuern, entzieht
sich dem Militärdienst, hält Diebstahl, Raub und selbst Mord,
vor allem aber die furchtbarste Unzucht, sogar Sodomie, teils
für erlaubte, teils für lobenswerte Dinge. Satan Beelzebubo-
witsch sitzt auf dem Throne, sagen diese Weisen, und Unter-
werfung unter seine Befehle ist Vergehen gegen Gott. Andere
wieder meinen, daß Christus leibhaftig und sichtbarlich auf
Erden regiere, aber dann braucht man gewiß nicht Menschen
zu gehorchen. In dem einen wie dem anderen Falle hält man
sich befreit von seinen Bürgerpflichten und trotzt den staat-
lichen, gesellschaftlichen und Moralgesetzen. i) Die Emanzi-
pation der Leibeigenen hat in diesen Ideen keine merkliche
Veränderung hervorgerufen. Man muß vielmehr sagen, daß
die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen gewachsen
*
statt gefallen sei; der befreite Muschik begehrt auch Grund
und Boden. Während so einerseits das Verlangen nach einer
Verteilung der Güter inmier stärker wurde und in den jahre-
langen Wirren der letzten Zeit stets neue Nahrung fand,
konnte ddr Glaube an die Wiederkehr Christi und an die
Entstehung einer neuen freien Weltordnung Sekte um Sekte
ins Leben rufen.
Der gnostische Gedanke von der Aufrichtung eines
tausendjährigen Reiches bleibt für Rußland ein unvergäng-
licher 2) und nimmt hier eine originelle materielle Form an;
1) So machte es auch die Sekte der Beghardi in Deutschland zu Ende
des 13. Jahrhunderts, die namentlich in Köln auftrat. Sie lehrte: der Mensch
könne es in diesem Leben so weit bringen, daß alles, was er tue, keine Sünde
mehr sei. Er brauche dann nicht mehr zu fasten und nicht mehr der Obrig-
keit zu gehorchen, auch keine Tugenden mehr auszuüben und könne huren
nach Herzenslust, denn die Natur inkliniere zu fleischlicher Vermischung;
dagegen ward das Küssen, als eine nicht von der Natur vorgesehene Leiden-
schaft, als Todsünde verboten. — Die russischen Sektierer vereinigen gleich-
falls .ihre Sozialrevolutionären und agrarsozialistischen Tendenzen mit ge-
schlechtlicher Freiheit und Ungebundenheit.
2) Die Chiliasten behaupteten bekanntlich, daß nach der allgemeinen
Auferstehung ein sichtbares Reich Christi auf Erden sein und tausend Jahre
— 217 —
die Russen warten nicht erst auf den jüngsten Tag, sondern
lassen sich das tausendjährige Reich von zahllosen Propheten
schon jetzt zimmern. Es gibt fast kein Gouvernement im
Zarenreiche mehr, das nicht einen neuen Christus hätte er-
scheinen sehen, namentlich die Wolgaländer erweisen sich als
überaus fruchtbare Heilanderzeuger; auch das Gouvernement
Tambow, diese förmliche Sektenfabriksstätte, erfreut sich in
dieser Beziehung besonderer Bevorzugung. Im Jahre 1868 trat
hier ein gewisser Panow als Christus auf und lehrte, daß nur
jene rein seien, die ihm folgen; alle anderen aber unrein und
der Hölle verfallen. Häufig erfährt man, daß in irgend einem
Dorfe auf Veranlassung irgend eines Propheten die Muschiks
sich zusammentun und betend die Nächte durchwachen, um
auf das Erscheinen Christi und den Posaunenschall des jüng-
sten Gerichts zu hoffen. Läßt aber Christus zu lange auf sich
warten, so begibt man sich auf die Suche nach ihm; man
meint, er müsse schon auf Erden weilen, halte sich jedoch
irgendwo versteckt, und es sei nun die Aufgabe der Gläu-
bigen, ihn ausfindig zu machen. Zur Zeit des ersten Nikolaj
gab es in Sibirien eine Sekte mit diesem Programm; jeder, der
sich ihr anschloß, nannte sich einen Christussucher i) und eilte
ruhelos durch Wälder und Täler, durch Wüsten und über die
Berge, um den Erlöser aufzustöbern. Am klügsten stellten es
die Sektierer an, die im Jahre 1880 sich zu einer Gemeinde
vereinigten und erklärten : jeder von ihnen sei ein Selbst-
gott 2), ein Christus; sie verehren nur einer den anderen. Einen
ähnlichen Namen führen viele Sekten, die mit dem gemein-
samen Namen Chlysty^) vom Volke bezeichnet werden, weil
währen würde. Es gibt aber dreierlei Meinungen: nach einer soll das tausend-
jährige Reich noch vor dem jüngsten Tage geschaffen werden, nach der anderen
werde es nur ein geistliches, nach der dritten Ansicht aber ein fleischliches
Reich sein, worinnen alle Wollüste die Glücklichen umfangen. Die dritte
Gattung fand im Abendlande die meisten Anhänger, und sie ist auch in Ruß-
land die ersehnteste.
1) IIcKaxo.ih Xpiicra.
*) X.iiiicTbi, die Geißler, von Jüiecraii. oder xJiuciaxf.. peitschen. Die
wichtigste Flagellantensekte nennt sich auch Gottmenschen, »liojqi BoaidJt,
oder Gemeinde des Heilands, xpiicroBiUHHa, daraus machte das Volk x.iijICTO-
— 218 —
bei ihnen die Geißelung obligatorisch ist. Doch bestehen
zwischen diesen Sekten vielfach große Unterschiede.
Die berühmteste Flagellanten- oder Chlystysekte ist die
der Gottmenschen; sie soll angeblich schon zugleich mit der
Orthodoxie aus Bulgarien oder aus dem Orient nach Ruß-
land gekonunen sein. Andere Ansichten halten sie für ein
Produkt des siebzehnten Jahrhunderts und bringen sie mit
dem deutschen Schwärmer Kuhlmann in Verbindimg, von dem
ich schon im vorigen Kapitel erzählt habe. Die Gottmenschen
selbst behaupten folgendes in bezug auf ihren Ursprung: zur
Zeit Peters des Großen erschien Gott- Vater in einer feurigen
Wolke auf dem Gorodinberge im Gouvernement Wladimir,
nahm menschliche Gestalt an imd nannte sich Prophet Da-
niel Filipowitsch. Er brachte zwölf Gebote mit; deren erstes
lautet: „Ich bin der von den Propheten geweissagte Gott und
zum Heile der Menschheit zum zweiten Male auf die Erde
herabgestiegen; es gibt keinen Gott außer mir.** Einer der
ersten Befehle dieses Gottes war: seine Lehre nie aufzu-
schreiben, es sollte alles seiner und seiner Nachfolger Inspi-
ration überlassen bleiben; er warf selbst alle seine Schriften
in die Wolga. Bald nach seiner Menschwerdung vermählte
sich Daniel Filipowitsch Gott Zebaoth — dies sein voller Titel
— mit einer hundertjährigen Frau imd zeugte mit dieser Sarah
des achtzehnten Jahrhunderts einen Sohn, genannt Iwan Ti-
mofejewitsch Sußlow, der als Leibeigener der berühmten Adels-
familie Naryschkin angehörte. Bevor Daniel Filipowitsch
wieder in seinen Himmel zurückfuhr, ernannte er Iwan Ti-
mofejewitsch zum Heiland und bestimmte, daß beim Tode
BfUHua. Manchmal bezeichnet sich diese Sekte als Gesellschaft der Brüder
und Schwestern, das Volk nennt sie dann im Anklang an Francma9ons: <|)ap-
Ma30HULi. (Die Freimaurerei hat im eigentlichen Rußland wenig Anhänger
gefunden, sondern ist bloß zu Zeiten Katharinas II. und Alexanders I. haupt-
sächlich in den Ostseegouvemements verbreitet worden. Nikolaj I. verfolgte
die Freimaurer überall, wo er welche vermutete.) Der Klerus bezeichnet in
seinen Berichten die Chlysty am häufigsten als russische Quäker. Außer
der bisher zitierten Literatur sind speziell für die Gottmenschen nachstehende
Werke von Interesse: PsHUKÜt, JIruh BoHcift ii ckoiiuh, MocKBa 1872; ^{06^01-
H<^pcKirt. riMaii Bo5Kitt; A. nc'iei)CKift (= Me.Ti>HifKoirL), Bi, ix)pax7..
— 219 —
eines Heilands stets ein neuer bestellt werde, auf daß Christus
in Menschengestalt immerdar auf Erden wandele. Iwan Ti-
mofejewitsch, der erste Christus der Chlysty, wählte sich zwölf
Apostel und predigte an den Ufern der Oka die zwölf Gebote
seines Vaters Zebaoth Daniel Filipowitsch. Die das Evan-
gelium parodierende Legende erzählt weiter, daß Iwan ge-
fangen, gegeißelt, gefoltert und vor der Kremlpforte hinge-
richtet wurde. Am Freitag begrub man ihn, aber in der
Nacht von Sonnabend auf Sonntag ist er auferstanden. Man
nahm ihn abermals gefangen und kreuzigte ihn zum zweiten
Male ; um sein neues Auferstehen unmöglich zu machen, wurde
er geschunden. Ein Weib, das des Weges kam, warf ein
Leichentuch auf den geschundenen Leib und das Tuch ward
zu einer neuen Haut, und so konnte Iwan abermals auferstehen.
Er blieb dann lehrend unter seinen Anhängern, bis er in den
Himmel emporstieg; vorher hatte auch er einen Nachfolger
gezeugt. Denn obwohl die Gottmenschen die Ehe verdammen
als etwas Unreines, so ist es doch Pflicht des jeweiligen Christus,
sich zu vermählen, damit das Blut des Daniel Filipowitsch nicht
versiege und sein Same sich fortpflanze in alle Ewigkeit. Die
Erbschaft Daniels kann auch durch Adoption verpflanzt oder
auch auf eine weibliche Linie übertragen werden. Es hat
so jedes Mitglied der Sekte, ob Mann oder Frau, die Aus-
sicht auf die Heilandschaft, und deshalb betrachten sich die
Gottmenschen alle zugleich als Heilande in spe und zollen
sich gegenseitig Verehrung, wie die früher erwähnten Selbst-
götter. Wenn die Erbschaft Daniels einer Frau zufällt, so
wird letztere die Gottgebärerin genannt, Muttergottes, oder
auch Göttin. 1) Mit Vorliebe erhebt man hysterische Weiber
zu diesem Ehrenposten. Im Flecken Staroje bei Kostroma
lebte zu Ende der Regierung des ersten Nikolaj ein Mädchen
Uljana Wassiljew^), die von den Gottmenschen als letztes Glied
der Familie Daniels betrachtet und als heilige Jungfrau ver-
göttlicht wiurde. Der Kaiser ließ die Göttin in ein Kloster
einsperren, doch übertrugen die Gottmenschen nunmehr ihre
1) BoropoÄHiia oder Eomefl.
*) Leroy-Beaulieu a. a. O. III 435.
— 220 —
Verehrung auf das Dorf Staroje selbst und wallfahrten seit-
her dorthin, ebenso wie nach dem historischen Hause in Mos-
kau, in dem einst Daniel selbst gewohnt hat; in Staroje be-
findet sich ein Brunnen, aus dem zur Winterszeit nach allen
Richtungen das zu Eis gewordene Wasser verfrachtet wird,
das den Gottmenschen zur Bereitung des Abendmahlbrotes
zu dienen hat.
Die Rolle der russischen Frau im Sektentum ist eine be-
merkenswerte. Das Weib, im allgemeinen das Lasttier des
Muschik, die Sklavin des Sklaven, die man beim geringsten
Anlaß halb tot prügelt, tritt bei den Sekten als frei und
gleichberechtigt auf, als gewänne sie mit der von diesen Sekten
zumeist proklamierten Geschlechtsfreiheit auch die soziale Un-
abhängigkeit. Bei vielen priesterlosen Sekten können Frauen
die Siellungen der Ältesten erhalten, und dort, wo Taufe und
Beichte noch bestehen, taufen und die Beichte abnehmen.
Frauen sind auch Sektenstifterinnen, wie die Prophetin Marfa
Possadniza, die zur Zeit des Zaren Alexej im Gouvernement
Nowgorod eine Gemeinde von Flagellanten um sich versam-
melte, oder Xenia Iwanowna, die um 1880 unter den Don-
kosaken eine asketische Sekte gründete, deren Mitglieder sich
die Enthaltsamkeit vom Fleischgenusse und von fleischlichen
Genüssen gelobten. Ähnliche Prophetinnen gab es eine
Menge. 1) Hervorzuheben wäre' auch, daß die meisten ero-
1) Auch im katholischen Sektenwesen haben viele Frauen Prophetinnen-
rollen inne gehabt. Ich erwähnte schon früher, daß Simon der Zauberer seine
Konkubine Selene als den heiligen Geist ausgab. Agape, ,,ein erfahren aber
verführerisch Weib" aus Spanien, gründete im 4. Jahrhundert die Liebes-
sekte, deren Mitglieder nur Frauen waren und sich Bet- oder Liebesschwestem
nannten. Der Ketzer Apelles, welcher lehrte, daß dem höchsten Gott noch
ein feuriger Gott unterworfen sei und daß dieser Untergott es war, der dem
Moses im Busche erschien und den Israeliten das Gesetz gab, ließ seine Lelire
durch die Hure Philomena verbreiten, die er zur Prophetin erklärt hatte.
Ein Zweig der Montanisten nannte sich Pepuziani nach dem Orte Pepuza in
Phrygien, wo Montanus mit seinen beiden Maitressen und Prophetinnen
Quintilla und Priscilla sich oft aufgehalten; Pepuza hieß bei den Montanisten
das himmlische Jerusalem, weil hier Christus in Frauengestalt den beiden
Prophetinnen erscliienen war. Nach der Priscilla hieß eine montanistische
Sekte die Priscillianer und eine andere nannte sich nach der Quintilla die
— 221 —
tischen und Geißlersekten Rußlands im achtzehnten Jahr-
hundert entstanden, in jenem Säkulum, wo fast nur Frauen
herrschten.
Während sich den rationalistischen und idealistischen Sek-
ten zumeist Bauern tind Kaufleute anschlössen, rekrutieren sich
die Mitglieder der erotischen Geißlersekten auch aus den höhe-
ren Klassen. Historische Dokumente zählen unter den bei Verfol-
gungen der Regierungen aufgefangenen Geißlern Namen von
Bojaren, Fürsten, hohen Militärs, Staatsmännern und auffallend
vielen vornehmen Damen auf ; auch die Geistlichkeit der ortho-
doxen Kirche verließ in Massen heimlich ihre Klöster, um sich an
den religiös-sinnlichen Ausschweifungen der Geißlerbrüder und
Geißlerschwestern zu beteiligen. In Moskau war früher das
sogenannte Jungfernkonvikt ( AiBuniü o6nTe.iT>) berüchtigt
als ein Zentrum des Flagellantenwahnsinns. Im Jahre 1744
wohnte die Fürstin Darja Feodorowna Chowanskaja der Ver-
sammlung einer Flagellantensekte in der Nähe von Moskau
an 1) : Männer und Frauen befanden sich hier in buntem Durch-
einander. Plötzlich erhob sich aus ihrer Mitte ein Kaufmann,
der unter Zeichen lebhafter Erregung sich um sich selbst zu
drehen anfing \md dabei schrie: „Höret mich, der heilige
Geist spricht durch meinen Mund! Betet die Nacht hindurch.
Begehet keinen Ehebruch, geht weder zur Taufe, noch zur
Hochzeit, trinkt nicht Wein noch Bier!" Dann hielt er still,
verlangte Brot und Wasser, segnete es mit dem Zeichen des
Kreuzes und verteilte es an die Gemeindemitglieder. Endlich
begannen alle nach seinem Beispiel einen Drehtanz, fingen an
zu springen, sich mit Stöcken zu schlagen und selbst mit
Messern zu stechen. — Die Zarin Anna Iwanowna hatte, um
dem Unfug zu steuern, die Leichen einiger Flagellantenhei-
ligen, an deren Gräbern die exaltierten Pilger entsetzliche Or-
Quintillianer ; die letzteren administrierten das heilige Abendmahl mit Brot
und Käse und machten der Prophetin Quintilla zu Ehren ihre Weiber zu
Priestern und Bischöfen. Auch der französische Jesuit Labadie, der Stifter
der Labadistensekte, führte Huren als Prophetinnen mit sich. Bekannt ist,
welche große Rolle eine Bourgignon, Moritzin, Butler und Krüdener im Sekten-
wesen und Mystizismus des Abendlandes spielten.
1) Waliszewski, La demidre des Romanov, 210.
— 222 —
gien feierten, aus den Särgen reißen und durch den Henker
verbrennen lassen. Aber der Fanatismus der Flagellanten
wurde dadurch nur noch mehr angefacht; namentlich unter
der Geistlichkeit wuchs die Zahl der phantastischen Schwär-
mer: in den sieben Jahren von 1745 bis 1752 wurden nicht
weniger als 75 Priester, Diakonen, Mönche und Nonnen als
Flagellanten verfolgt.
Die Zahl dieser Art Sektierer ist heute ins Unüberseh-
bare gewachsen. Die Lehre der Geißler besteht darin, daß
man die Sünde durch die Sünde töte, und diesem Prinzipe haben
sich immerdar die Menschen willfährig gezeigt. i) Derartige
Ausschweifungen wurden besonders jenen Flagellantengruppen
nachgesagt, die sich aus den höheren Kreisen ihre Mitglieder
zusanunengesucht hatten. So waren das früher erwähnte Jung-
fernkloster in Moskau, femer das Iwanowskykloster bekannt
als Stätten, wo die CTapnq;bi und die BijiHi^Li, sowohl die
Alten, die Prophetinnen, die Nonnen, als die Weißen, die
Novizen, in wunderbarer ' Weise Religion und Erotik, Mystik
und Wollust zu vereinigen wußten; und deshalb wurden diese
Geißlerklöster besonders häufig von mystisch-erotischen
Schwärmern aufgesucht. Im Jahre 18 17 entdeckte man, daß
im kaiserlichen Michaelspalaste zu Petersburg, in der Woh-
^) Die Gnostiker und Manichäer lehrten die Kreuzigung des Fleisches,
der bösen Lüste durch die Sünde. Pelagius und sein Schüler Cölestus sagten,
daß Adam schon vor dem Falle sterblich gewesen und daß also nicht die Sünde
Ursache seines Todes war. Die Nicolaiten, femer die Anhänger der Epiphanias,
Augustinus, Aeneus Alexandrinus und Eusebius erklärten: fleischliche Lüste^
und Hurerei seien nicht Sünden. Die Antitacti hielten die Erbsünde für nach-
ahmungs- und belohnungswürdig ,,und wälzten sich, indem sie sich auf dieses
falsche Prinzipium gründeten, in allen Lastern sonderlich der Hurerey".
Die Borboritae, eine gnostische Sekte im zweiten Jahrhundert, deren An-
hänger sich mit Kot beschmierten, um zu zeigen, daß der Mensch ein Greuel
für Gott sei, führten das schändlichste Leben. Die Patemianisektierer nannte
man wegen ihrer unerhörten Ausschweifungen auch Venustiani. Aetius Athens
lehrte im 4. Jahrhundert, die gröbsten Laster seien entschuldbare Natur-
wirkungen ; Hurerei und fleischüche Werke, sagte er, sind keine Sünde. Marga-
retha Porreta, die anno 12 10 verbrannt wurde, hatte ein Buch geschrieben
des Inhalts, daß ein Mensch, der sich der Liebe des Schöpfers ganz ergeben
hätte, alles tun dürfte, wonach sein Herz gelüstete, ohne fürchten zu müssen,
daß Gott dadurch beleidigt werden könnte.
— 223 —
nung der Hauptmannswitwe Tartarinow, sich regelmäßig hohe
Offiziere und Beamte, Leute dienenden Standes, Frauen und
Mädchen aus den verschiedensten Gesellschaftskreisen versam-
melten und Bußübungen mit Geißelungen abhielten. Unter
den Teilnehmern an den Tänzen und Flagellationen befand
sich auch der Minister für Kultus und Volksaufklärung, Fürst
Galitzyn. Die Gedanken, die hier verbreitet wurden i), ent-
sprachen den mystischen Lehren der Madame Guyon und Jung-
Stillings, und die vorgetragenen Gesänge waren Nachbildungen
Derschawinscher Gedichte. Aber diese Schwärmereien blieben
nicht platonisch, sondern arteten in Orgien aus. Die Gesell-
schaft wurde aufgehoben und verboten; doch zwanzig Jahre
später überrumpelte man in einer Vorstadt von Petersburg
dieselbe Sekte mit fast denselben Mitgliedern. Sie bestand
auch noch 1849 und hatte damals den populären Namen Ada-
miten^j, der die Vorgänge bei den Versammlungen und Gottes-
diensten genügend bezeichnet. 1840 hatte man eine ähnliche
Gesellschaft auch am Wassertore in Moskau ausgehoben.
1) Leroy-Beaulieu III 443.
*) Der Begründer der Adamitensekte in der katholischen Kirche war
Prodicus, Schüler des Carpocrates ; er lehrte, daß sich beide Geschlechter öffent-
lich vermischen dürfen und forderte Weibergemeinschaft. Seine Anhänger,
deren Zahl schon bei der Begründung der Sekte im 2. Jahrhundert eine große
war, hießen Prodicianer oder Adamiten, letzteres deshalb, weil zu ihren Ver-
sammlungen Männer wie Frauen nackt erschienen. Dadurch sollten alle
bösen Lüste ertötet werden. Es geschah natürlich das Gegenteil. Trotz aller
Verfolgungen blieb diese Sekte bestehen. Im 12. Jahrhundert entdeckte
man sie in Antwerpen, im 16. in Amsterdam, im 14. und 15. in Frankreich.
Rabelais erwähnt in seinem Roman „Gargantua und Pantagniel" (aus dem
Französischen von Gottlob Regis, Privatdruck München 1906, 1. 7. Anmerkg. 3)
die Tirelupins, eine Sekte, deren Anhänger nackt im Lande umherzogen und
alles offen trieben was sonst der Anstand verbirgt. Gregor XI. belegte sie
mit dem Kirchenbann. Das Wort Tirelupin gewann später die Bedeutung
eines Possenreißers und wird von Rabelais auch in solchem Sinne angewendet.
Der Kirchenbann vertrieb diese Adamiten nicht aus Frankreich, denn im
15. Jahrhundert erschienen sie wieder zahlreich unter dem Namen Piccardier,
nach ihrem Oberhaupt Piccard aus der Piccardie; Piccard gab sich für Gottes
Sohn Adam aus, der auf die Erde gesandt worden war, um das Naturgesetz
einzuführen. Piccard hielt sich bei Huß in Böhmen auf; hier wurde er wegen
Plünderungen und Mordtaten mit seinen Anhängern zum Tode verurteilt.
— 224 —
Es gibt wohl einige Geißlersekten, die wirklich nur aus
frommem Wahnsinn sich kasteien und streng das Gesetz der
Keuschheit beobachten. So berichtet man von Männern und
Frauen, die sich bei ihren Versammlungen bis zum Gürtel ent-
kleiden und, barfuß auf scharfen Kieseln stehend, solange auf
ihren Rücken losschlagen, bis sie kraftlos zusammenbrechen. i)
Andere Chlysty tragen zur Abtötung des Fleisches alte Panzer-
hemden auf dem bloßen Leibe oder Hemden aus Pferdehaaren.
Haxthausen sah einen Geißler, der auf der Brust ein kleines
metallenes Kreuz und auf dem Rücken ein Bild trug; beide
Stücke hingen an einem ledernen Riemen um den Hals und
Die böhmischen Brüder hat man mit Unrecht mit den Piccardiern auf eine
Stufe gestellt. Eine berühmte Adamitensekte existierte auch in Wien ; sie hielt
ihre Versammlungen in den Katakomben zu St. Stefan. Von russischen Sekten
befolgen außer der erwähnten Petersburger Gruppe noch zahlreiche andere
neben ihren separaten Verrücktheiten die Lehre des Prodicus.
1) Die Sarabaitae im 4. Jahrhundert, die als Einsiedler in Felsenhöhlen
Ägyptens lebten, pflegten ähnlich mit nackten Füßen auf spitzen Steinen
stehend und unter Geißelungen ihren Gottesdienst zu verrichten. • Heilige,
die nackten Fußes durch die Welt wandern, galten immer als wirkliche Fromme.
Von einem solchen Heiligen berichtet Hiäm, nach Russow, in seiner mehr-
fach zitierten Geschichte der baltischen Provinzen S. 209: ,,Im Winter Anno
1557 ist ein seltsamer Mensch, namens Jürgen, auß Hoch-Teutschland in
Lyfland kommen. Ist gantz nackend, barfus gangen. Es hat dieses alle Leute
wunder genommen, daß ein Hoch-Teutscher, der der großen Lyfländischen
Kälte ungewohnt, so eine schwere Kälte gantz nackend vertragen könte.
Und wie wohl er keine Strümpfe und Schuhe angehabt, sind ihm doch seine
Füße so heiß gewesen, daß der Schnee unter seinen Fußsohlen, da er gestanden,
zerschmoltzen ist. Hat kein Geschenk angesehen und keine Speise nehmen
wollen. Er hätte sie denn erstlich mit Arbeit verdient. Hat allerhand Knech-
tische Arbeit verrichtet, und zwar an einem Tage so viel, als ihm sonsten
kein ander in viel Tagen nachthun können. Als er gefragt wurde, worum b
er in Lyiland gekommen wäre? gab er zur Antwort: Gott hätte ihn gesandt,
der Lyfländer Geitz, Hoffart und Müssiggang zu straffen; welche Laster er
auch allenthalben gestraffet hat. Ging daneben fleißig zur Kirche, hörete,
was gepredigt wurde: und als ihn die Priester umb etwas fragten, schalt
er sie vor Heuchler. Etliche hielten ihn vor einen Unsinnigen: Etliche vor
einen Phantasten: Etliche aber sprachen: Er wäre ein Wunder- Zeichen Gottes.
Alß er von Reval nach Narva reisete, hat er sich verlonren. Daher man sagen
wil: Er sey von den Russen umbgebracht worden." — In russischen Chroniken
und Geschichtsbüchern ist von diesem nackten Heiligen keine Erwähnung
gethan.
— 225 —
wurden gleichzeitig durch zwei kleine Ketten verbunden, die
unter den Armen durch die Haut gezogen waren. Die Zahl
wirklicher Asketen ist aber auffallend gering, während die
der erotischen Flagellanten Hunderttausende beträgt.
Das russische Volk ist entsprechend seinen Gefühlen und
seinem ganzen Charakter wie geschaffen für jenen Mystizis-
mus, der Religion mit Wollust verknüpft. Das Heidenchristen-
tum des Muschik sieht in der vollen geschlechtlichen Frei-
heit einen Lohn und Ersatz für tausendjähriges Leiden, und
für die Blasierten der oberen Zehntausend, die nicht mehr nach
Herzenslust die Sklaven peitschen können, ist die Selbstgeiße-
lung Mittel zu neuen Reizungen der Sinne. Aus diesen rohen
Gründen gibt es auch bei den Geißlersekten weniger Lehren
und mehr Zeremonien. Sie plagen sich nicht ab mit mysti-
schen Motivierungen und präsentieren gleich frank und frei
die grausamen imd sexuellen Genüsse, die sie zu bieten haben.
Mit Tänzen und G^ängen wie in einem gutgeleiteten Tingel-
tangel imd Bordell beginnen die reizvollen Übimgen. Ziuneist
bestehen die Tänze in Drehungen wie sie die tanzenden Der-
wische im Morgenlande ausführen : Die Tänzerinnen und Tänzer
bleiben auf den Plätzen, blicken hypnotisiert nach dem Bilde
einer weißen Taube, das an die Decke des Versanmüungs-
saales gemalt ist, und drehen sich mit ausgebreiteten Armen
unermüdlich um sich selbst herum, anfangs langsam, dann
inuner schneller, zum Schlüsse in rasendem Tempo, so daß
die weißen Röcke, die alle bei der Zeremonie anhaben, rad-
mäßig mitfliegen. Im Augenblicke der höchsten Ekstase be-
ginnt ein Schreien und Rufen; jener betet zum Gotte Daniel
Filipowitsch ; dieser fleht Iwan Timofejewitsch Christus an ; eine
Frau bricht verzückt zusamümen und stößt Laute hervor, die
ihr Gott eingibt. Einer nach dem anderen und eine nach der
anderen fallen aus den Reihen, bis Erschöpfung, Ohnmacht
und Starrkrampf für eine Weile die ganze Versanunlung um-
fangen. Aber die Wildheit ist nur für kurze Zeit erloschen
und wird wieder aufgestachelt durch Geißelungen mit Ruten
oder durch Berührungen nackter Körperteile mit den Flanmien
der Kerzen. Und von neuem begiimt das erregte Tanzen um
einen mit Wasser gefüllten Bottich, dem die Auserwählten
Stern, Geschiebte der Offentl. Sittlidikelt in Ruiland. 15
— 226 —
in ihren Halluzinationen Christus leibhaftig entsteigen sehen.
Nach vollendeter Zeremonie bleiben Männer und Frauen bis
zum Anbruch des Tages in wirrem Durcheinander liegen. i)
Die unter dem allgemeinen Namen Chlysty oder Geißler
zusammengefaßten Sekten bestehen eigentlich, wie schon früher
angedeutet wurde, aus vielen Gruppen von Sekten, die nur
das eine Prinzip der Verknüpfung von Religion imd Wollust
gemeinsam besitzen; im übrigen aber hat jede Gemeinde, die
sich als Kopa6jib, Schiff, bezeichnet, ihre separaten Zere-
monien, ihre eigenen Oberhäupter, ihren eigenen Christus und
ihre eigene Gottesmutter. Von den Lehren der Flagellanten
ist, wie bemerkt, nicht viel zu sagen, denn sie haben offenbar
keine, sondern beschränken sich auf die Wirkimg ihrer sinn-
lichen Zeremonien und finden dafür genug Teilnehmer. Die
brutalsten Abarten der Chlysty sind die als Skakuny und Pry-
guny2) bekannten Sektierer. Sie unterscheiden sich von den
Tanzenden dadiu-ch, daß sie springen oder hüpfen, wenn sie
sich in Erregung versetzen wollen ; während ferner die Chlysty
einzeln tanzen, springen imd hüpfen die Skakuny und Pr>^-
guny immer paarweise, je ein Mann mit einem Weibe. Bei
ihnen ist alle Mystik, alle idealistische Bemäntelung der Sinn-
lichkeit völlig entschwimden, der tierische Schrei nach rohe-
ster Geschlechtlichkeit hat das Gebet ersetzt, und die Sehn-
sucht nach dem Abendmahl ist verwandelt in heißen Genuß
leidenschaftlicher Liebe. Jene, die selbst bei den Chlysty noch
wohlwollend nach einer sympathischen Erklärung der Tollheiten
suchen, und niu: widerstrebendan die Ausschweifungen glauben
wollen, von denen man ihnen berichtet hat, sie müssen bei
den Skakimy und Pryguny alle Rechtfertigungsabsicht von
vornherein fallen lassen. Nicht einmal von einem theoretischen
Asketismus kann die Rede mehr sein, sondern die nackte Un-
zucht ist zur Gottheit erhoben, die Sünde an sich Gesetz und
^) Man muß hierbei an die Sekte denken, die in Deutschland um das
Jahr 1233 existierte und deren Mitglieder sich Condormientes, die Beisammen-
schlafenden, nannten. Junggesellen und Jungfrauen wurden abends zu-
sammen in ein Zimmer eingesperrt und erst in der Morgenfrühe wieder befreit.
■) CicaKyHT», der Springende, der Springer; Ilpuiym», der Hüpfer.
— 227 —
Zweck. Statt der wenigstens anscheinend andächtigen Ge-
sänge gibt es nur noch obszöne Lieder, die unverhüllt zu fleisch-
licher Vermischung auffordern, oder Vorträge solcher Bibel-
stellen, die sich auf die Geschichte Loths und seiner Töchter,
auf das Harem Salomos und andere Schlüpfrigkeiten be-
ziehen.i) In einer Skakunygemeinde zu Rjäsan forderte die
Muttergottes mit folgendem Liede die jungen Mädchen auf,
sich an der Liebe des Heilands zu ergötzen: „Nahet euch, ihr
Bräute, sehet, der Bräutigam konmit, euch liebend zu um-
fangen. Lasset euch nicht vom Schlafe übermannen, wachet,
ihr Töchter, und lasset euere Lampen brennen !** Ihre Haupt-
versammlungen halten diese Sektierer gewöhnlich zu Ostern
in der Nacht von zwölf Uhr angefangen. Charakteristisch ist,
daß bei allen Schiffen oder Gemeinden der Chlysty, Skakuny
oder Pryguny ein Wassergefäß in der Mitte des Saales auf-
gestellt wird. Ob dies eine besondere Bedeutung hat, oder
nur zur Erfrischung der Tanzenden, Hüpfenden und Springen-
den dienen soll, bleibt eine offene Frage. Nach dem Tanzen,
Hüpfen und Springen werden bei einigen Gruppen dieser Sek-
ten die Lichter verlöscht 2) und es beginnt das Sündigen im
1) ,,Sie verachten den Körper, den sie in ihrer manichäischen Denkungs-
art oft geradezu als Schöpfung des Teufels betrachten, so sehr, daß sie sich
als plumpe Mystiker leicht überreden, die von Gott nach seinem Ebenbilde
geschaffene Seele könne überhaupt durch keine noch so unreine Handlung
des Körpers befleckt werden." Leroy-Beaulieu III 444.
2) Jonas Hanway gibt nach Olearius und Otter in der ,, Beschreibung
seiner Reisen von London durch Rußland und Persien", Hamburg und Leipzig
1754, I 283 folgende Schilderung einer ähnlichen mohammedanischen Sekte,
welche Moum Seundurain oder Auslöscher der Lichter genannt wurden: ,, Diese
sind das Gegenteil von den römischen Matronen, die den geheimen Gottes-
dienst der Bona Dea verwalteten, welchen es für die größte Unheiligkeit an-
gesehen wurde, Mannspersonen in ihre Gegenwart zuzulassen. Zu den Ge-
bräuchen der Moum Seundurain sind beyde Geschlechter nothwendig. Diese
versammlen sich, essen und trinken tapfer, löschen unter tiefem Stillschweigen
und mit großer Feyerlichkeit ihre Lichter aus, verwechseln ihre Stellen durch
einander, und werfen alle Vorzüge vernünftiger Creaturen bey Seite. Ob-
gleich die mohammedanische Religion vor allen anderen Religionen in der
Welt ihren Bekennem den Venusdienst nachsieht: so ist doch diese Secte
mehr als einmal verfolget worden, und wird von den Mohammedanern gar
sehr verabscheuet."
IS«
— 228 —
Gedränge 1): jeder Mann sucht eine Frau zu ergreifen, um sich
mit ihr zusammenzuwälzen, wie sie sagen. Nach ihrer Mei-
nxmg ist auch die Blutschande keine Sünde. Man findet die
Springer imd die Hüpfer hauptsächlich in der Umgebung von
Petersburg und ist deshalb vielfach der Ansicht, daß ihre Ur-
heimat in Finnland sei. Eine positive Berechtigung zu sol-
cher Annahme ist von niemandem erwiesen worden. Die Ska-
kuny wurden zuerst unter Alexander I. erwähnt, der sie aufs
strengste verbot. Aber sie tauchten bald wieder massenhaft
auf. Im Jahre 1867 ließ ihnen Alexander II. neuerdings den
Prozeß machen, weil man entdeckt hatte^ daß sie nicht bloß
Unzucht trieben, sondern auch Kinder mordeten. Durch diese
Handlungen grenzen die Skakuny an jene furchtbaren Sekten,
die im nächsten Kapitel vorgeführt werden.
12. Selbstverstümmler und Skopzen.
Die Religion der Ehelosen — Das Weib vom Teufel geschaffen — Verwerfung
der Zeugung — Ausschweifungen gottgefällig — Die Sekte Seraphims —
Hurerei Religionsgesetz — Freie Liebe — Die Schaloputy oder närrischen
Käuze — Frau und Mann im Geiste — Bauer und Arbeiter in ihrer Stellung-
nahme zur Ehe — Lehre des Propheten Korilin, daß Sodomie gottgefällig —
Los der unehelichen Kinder — Kindermord — Die Skopzy oder Verschnittenen
— Origines — Die Valerianer — Die Gebern — Infibulation des Zeugungs-
gliedes — Legenden der Skopzy — Des Propheten Sseliwanow wahre Lebens-
geschichte — Die Gottesmutter Akulina Iwanowna — Die Lehren der Skopzy —
Kastration Religionsgesetz — Versammlungen der Skopzy — Arten ihres
Tanzes — Sadistische Orgien — Feuertaufe und Beschneidungstaufe — Grade
der Reinheit — Arten der Operation — Ersatz des ZeugungsgUedes — Ver-
stümmlungen der Brüste und der Geschlechtsteile der Frauen — Die Rekruten
der Skopzensekte — Die Zahl ihrer Anhänger — Vermehrung durch Propa-
ganda — Verheiratete Skopzen — Prostitution der Skopzenfrauen gestattet —
Gekaufte Kandidaten der Kastration — Kindermord als Kulthandlung — Das
blutige Abendmahl — Neue Märtyrer — Opferung der Muttergottesbrust —
Die Kindermörder — Die Feodosianer — Waisenhäuser für die Kinder der
Feodosianer — Die Totschläger — Die Würger — Die Lebendverstorbenen —
Die unter dem Boden Lebenden — Mördersekten — Die Kitzler — Selbst-
mördersekten — Filipon — Selbstverbrenner — Domitian — Schaposchnikow
1) Man hat hierfür den speziellen Ausdruck: cRajihHbift rpi^xi».
— 229 —
— Morelschtschiki — Juschkow Vater und Sohn — Der himmlische Tod
durch das Beil — Der selige Hungertod — Malewan und seine Anhanger —
Die wilde Sekte der Wanderer.
Wir sind auf der tiefsten Stufe des russischen Sektenwesens
angelangt; und stehen an dem unermeßlichen Abgrund
menschlicher Barbarei, vor den grausamsten Rätseln, die Wahn-
sinn und Unsittlichkeit in innigem Bunde jemals gezeugt haben.
Fast möchte man an Methode im Wahnsinn, an Konsequenz
in den sexuellen Verbrechen glauben. Denn folgerichtig ent-
wickelt sich eines aus dem anderen; an die Verachtung aller
moralischen und bürgerlichen Gesetze, an die Beseitigung der
Kirchenzeremonien, der Kirchen und des Priestertums reihen
sich die Abschaffung der Ehe, die Proklamienmg der zügel-
losen geschlechtlichen Freiheit; ztun Schlüsse gelangt man
zur Verneinung des geschlechtlichen Verkehrs überhaupt, zur
Verstümmelung der Geschlechtsteile, zur Vernichtung der Zeu-
gimgsfähigkeit, zu Kindermord, Mord und Selbstmord. Und
allen diesen Prinzipien gemeinsam ist das Erotisch-Sadistische.
Es g^bt Sekten, die jeden Verkehr zwischen Mann und Weib
verdanmien, die weder von einer ehelichen, noch von einer
außerehelichen Liebe etwas wissen wollen ; ihnen ist nicht bloß
die Ehe ein Greuel, sondern das Weib an sich ein unreines,
vom Teufel geschaffenes Wesen i), mit dem man keine wie
immer geartete Berührung haben soll. Aber auch diese as-
ketisch angehauchten Sektierer erliegen der fleischlichen Ver-
suchung, sobald sie an sie herantritt, und trösten sich dann
1) Ein alter Gedanke der Gnostiker und Manichäer. Schon die Ketzer-
propheten Andronicus und Severus im zweiten Jahrhundert verwarfen den
Ehestand unter dem Vorgeben, an einem Weibe sei nur der obere Teil bis
zum Nabel von Gott, der untere Teil aber vom Teufel geschaffen worden.
Die Patemiani oder Venustiani des fünften Jahrhunderts spannen den Ge-
danken weiter und erklärten: Die unteren Teile sowohl der Weiber wie der
Männer sind vom Teufel geschaffen; diese Sektierer folgerten daraus, daß
Geilheit und Ausschweifung nicht Sünde seien, und lebten so unzüchtig, dafi
man ihnen den Beinamen gab: Ethioproskoptae, Sittenverhöhner. Am wei-
testen ging der spanische Sektengründer Prisdllianus, der die ganze Welt als
vom Teufel geschaffen ansah, daher den Ehestand verwarf und die Unzucht
zum Gesetze erhob. Er wurde wegen furchtbarer sexueller Verbrechen, die er
als Gebote seiner Religion erklärte, hingerichtet.
— 230 —
leicht mit dem Gedanken, daß sie in solchem Falle das kleinere
von zwei Übeln gewählt haben: die gröbste Ausschweifung^^
sagen sie, ist noch immer verzeihlicher als die reinste und beste
Ehe; wer eine Ehe eingeht, ist unauflöslich an die Sünde ge-
fesselt, wer aber einer vorübergehenden noch so schlimmen
Ausschweifung sich ergibt, dem bleibt die Möglichkeit offen,
durch Einkehr und Buße die momentane Verirrung wieder
gut zu machen. Diese so seltsame Askese, diese strenge Lehre
der Verwerfung der Ehe bedeutet also nicht gleichzeitig ein
Gebot der Enthaltsamkeit, ein unbeugsames Gesetz emstei
Zucht und Sittsamkeit.
Aus dem Schisma entwickelt sich als letzte Wirkung der
religiösen Entartung der Kultus rohester Sinnlichkeit; das
Dogma der orthodoxen Kirche wird ersetzt durch ein System
von wilden Ausschweifimgen, worin kein Platz mehr ist für
fromme Zeremonien, sondern Platz nur für die Riten der Ob-
szönität. Wenn die Orthodoxen ihre Seligkeit im Nebel des
Weihrauchs zu sehen vermeinen, so finden die Sektierer, die
wir jetzt kennen lernen werden, ihr Glück im Dunste, den
der Wollustfanatismus erzeugt. Der Mystizismus beherrscht
die Kirche wie den Raßkol; in der Kirche verwirrt er aber
bloß die Seele oder die Phantasie; im Sektenwesen verwirrt
er das Herz, erzeugt er die Verderbnis des Fleisches. Mit der-
selben Innigkeit, Verzückung, Rauschigkeit, nüt welcher der
Orthodoxe vor dem Bilde der Muttergottes kniet, betet der
Sektierer zu der in Fleisch und Blut vor ihm stehenden hei-
ligen Jungfrau, die er sich selbst erkoren hat, und berauscht
sich an den Genüssen dieser Welt, indem er sich in seinem
systematischen Wahn dadurch die Seligkeit der anderen Welt
zu gewinnen glaubt. Man verwirft brutal die Ehe^) und hei-
^) Die Gnostiker und Manichäer betrachteten fast durchweg die Ver-
werfung des Ehestandes als das Hauptprinzip ihrer Lehren. So dachten die
Tatiani oder Encratitae und die sogenannten Abstinenten, spanische und
französische Ketzer des dritten Jahrhunderts. Die Aginnenser im siebenten
Jahrhundert leugneten, daß der Ehestand jemals von Gott eingesetzt worde n.
Die Engelsbrüder, eine Abart der Böhmisten, erklarten: ihrer Engelsnatur sei
der Ehestand zuwider. Basilides lehrte zur Zeit des Kaisers Hadrian, daß
man der Ehe jede unordentliche Vermischung vorziehen solle. Die Eusta-
— 231 —
ligt den unreinen Koitus, man predigt die Ehelosigkeit und
erhebt die Weibergemeinschaft zum Gemeindegesetz.
Völkern, die sich noch im Stadium der primitiven Kultur
befinden, erscheint die Zeugung häufig als eine gewissermaßen
religiöse Handlimg, als ein von der Natur festgestellter, von.
dem Himmel geheiligter Akt, der die Fortpflanzung der Men-
schen sichert. Aber ein solcher Satz könnte nicht auch auf
die russischen Sektierer, von denen wir jetzt sprechen, ange-
wendet werden. Denn diese Fanatiker der Wollust verwerfen
nicht bloß die Ehe, sondern verabscheuen auch die Zeugimg.
Sie wollen durch Verbrechen und Kindermord die Fortpflan-
zung der Menschheit verhindern. Der Geschlechtsakt ist ihnen
nur ungezügelter Genuß, keineswegs Kulthandlung. Im
Jahre 1872 wurde in Pskow von dem aus einem Kloster ent-
sprungenen angeblichen Mönch Seraphim i) eine Sekte mit
folgendem Progranun gegründet: Im Sündigen allein ist das
wahre Seelenheil zu finden, denn je mehr man sündigt, desto
ruhmvoller wird das Verdienst des Erlösers. Hier versucht
man nicht einmal mehr die Schamlosigkeit zu verhüllen. Das
Sektenwesen solcher Art hat nüt der Religion nichts mehr zu
schaffen. Das sind keine Schismatiker, die sich von der Kirche
aus theologischen Gründen getrennt haben, sondern Nihilisten,
thiani im vierten Jahrhundert wollten in Häusern, wo Eheleute wohnten,
nicht beten und sprachen niemals mit Verheirateten.
1) Leroy-Beaulieu III 487 berichtet von Seraphim, daß er sich mit
Vorliebe an junge Mädchen heranmachte und ihnen die Haare abschnitt,
angeblich um sie zu verkaufen; es dürfte sich aber wahrscheinlich um einen
Fall von Fetischismus gehandelt haben. Vermutlich von demselben Sera-
phim ist auch bei BapKOBi» die Rede (in dem schon erwähnten Buche:
26 ifocKOBcKHX'b JDice-npopoicoHB usw. usw. MocKBa 1865, crp. 150 — 154: OieuB
Cepa(|>HM'b). Hier wird erzählt, daß der Bauer Jermil Ssidorow aus dem
Dorfe Wesnowatka im Gouvernement Woronesch 1859 seine Frau und sein
Haus im Stich ließ und im Mönchsgewand unter dem Namen Vater Seraphim
als Lügenprophet von Ort zu Ort zu wandern begann. Er zeigte alle mög-
lichen Zauberkunststücke, konnte sich verwandeln, bezeichnete sich unver-
wundbar und fand viel glaubige Gemüter, die ihn als Heiligen ansahen. Nament-
lich von den Frauen wurde er stets gastfreundlich aufgenommen. Wegen ver-
schiedener Schwindeleien mußte er aus dem Gouvernement Woronesch flüchten ;
er scheint die Zeit bis 1872 in einem Kloster zugebracht zu haben. Seine
Karriere ist typisch für die der meisten russischen Sektengründer.
— 232 —
die keine Bande der Moral, keine Gesetze der Gesellschaft an-
erkennen. Diese Sektierer haben nicht bloß mit allen Dog-
men der Orthodoxie restlos aufgeräumt, nicht bloß die Kirchen,
die Priester und die Sakramente abgeschafft, sondern ver-
achten alles, was Menschen geschaffen und begfründet haben.
Sie kennen kein Vaterland und kein Familienheim; sie kennen
weder Eltempf lichten noch Kindesliebe; was gesetzlich ist,
gilt ihnen als Verbrechen ; die Sünde allein als das Erstrebens-
werte, als das Glück in dieser, als die Pforte zu der Herrlichkeit
der anderen Welt.^)
Alles ist zu Ende; es gibt keine Religion mehr, keine
Regierung, keine Obrigkeit, keine Steuern, keine Kirchen, keine
Beichte, keine Priester und keine Ehe, keine Familie. Aber
wo wäre etwas Russisches, das nicht Kontraste aufwiese? So
sehen wir auch bei einigen Sekten der Ehelosen ein plötzliches
Zurückweichen vor den letzten Konsequenzen, eine Milderung
der Allesverneinung durch einen seltsamen Kompromiß. Man
verwirft die Ehe, aber entschließt sich zu einer freien Ge-
meinschaft; Mann und Weib sind namentlich bei den Bauern
einander unentbehrlich, nicht bloß aus geschlechtlichen Grün-
den, sondern als ergänzende Teile bei der Haus- und Feld-
arbeit. Man verzichtet also auf das feste, aber nicht auf ein
loses Band. Man kümmert sich nicht um den kirchlichen
Segen, begnügt sich mit dem Segen der Eltern, der Ver-
wandten oder einiger Gemeindemitglieder. Die Übereinstim-
mung zwischen Mann imd Frau ist das Maßgebende, und das
Zusammenleben dauert so lange wie diese Übereinstimmung.
Die Ehe ist Menschenwerk, die Liebe aber von göttlicher
Natur; und nur die Liebe wird als die Grundlage einer wirk-
lichen Vereinigung von Mann und Frau angenommen; hört
die Liebe auf, so gilt auch die Vereinigung als von selbst
^) Die Sekte, die anno 1433 in Schwaben auftauchte, verfolgte dieselben
Prinzipien: .,Es ist erlaubt zu lügen; man braucht keinen Glauben zu halten,
keine Versprechungen einzulösen; man darf morden, auch Unschuldige und
selbst seine Eltern töten." Die Mitglieder der schwabischen Sekte hielten sich
für so vollkommen, daß sie erklarten, es könnte ihnen nichts als Sünde ange-
rechnet werden. Vor allem aber sahen sie in der Unzucht das höchste Glück,
die Hurerei öffnete ihnen die Pforte zum Paradiese.
— 233 —
rechtlich gelöst. Diesen Gemäßigten unter den Besbratschniki^)
ist nur das von der orthodoxen Kirche aufgestellte Dogma
von der Unlösbarkeit einer kirchlichen Ehe ein Greuel; sie
anerkennen jedoch einen Bund aus freier Liebe. Der Despo-
tismus, den Kirche und Staat in Beziehimg auf die Ehe aus-
üben, wird beseitigt durch die natürliche Folgerung, daß zwei
Menschen im Augenblicke, wo sie nicht mehr miteinander
harmonieren, nicht nur auseinandergehen können, sondern
müssen. Und wie die Vereinigung vor Zeugen geschlossen
wurde, so erfolgt auch die Scheidung in Gegenwart der Eltern,
Verwandten oder Gemeindemitglieder. Zu diesen Arten der
Ehelosen gehören die vom Volke so betitelten Schaloputy^)
oder närrischen Käuze, die sich selbst Genossenschaft wahr-
haft geistiger Christen oder Bruderschaft des geistigen Lebens
nennen. Ihr Gründer war um 1820 der Bauer Awakum Kopy-
low, der Vernunft und Gewissen als die Grundlagen der Re-
ligion erklärte, die Autorität der Bibel verwarf, Christus zwar
als einen genialen Menschen ehrte, aber ihn nicht als gött-
liches Wesen anerkannte, und die Wunder, die Jesus getan,
als Legenden bezeichnete. Der wahre Christus der Schalo-
puty ist niemals gestorben, sondern lebt als Mensch von Fleisch
und Blut ; in den Versanmilungen werden Christi Photographien
gezeigt, er ist ein alter Mann mit grauem Bart und mit Ketten
an den Händen. Während er in der Verbannimg seine Zeit
abwartet, vertreten ihn bei seinen Getreuen die Propheten imd
Gottesmütter. Vom heiligen Geiste sagen die Schaloputy, daß
er in jedem Menschen sei; die Gottestempel sollen nicht aus
Balken, sondern in den Herzen der Gläubigen errichtet sein.
Man schildert diese Sektierer als bescheiden und fleißig. Es
herrscht bei ihnen bis zu einem gewissen Grade Gütergemein-
schaft, denn sie bearbeiten gemeinsam die Felder und teilen
den gesamten Ertrag unter allen Gemeindemitgliedern auf.
Im Prinzip verwerfen sie das eheliche Bündnis und kennen nur
den freien Liebesbund. Da sie aber von den Gutsherren
häufig zu kirchlichen Ehen gezwungen werden, so haben sie
^) Be36pa4Hiiift, der Ehelose.
2) niajih = dumm, albern.
— 284 —
eine merkwürdige Methode erfunden, um einerseits dem Zwange
keinen Widerstand entgegensetzen zu müssen und andererseits
ihren Prinzipien Gehung zu verschaffen: Sie führen mit den
ihnen kirchlich angetrauten Frauen gemeinsamen Haushah,
leben aber mit ihnen nicht geschlechtlich^), sondern schließen
neben der legitimen Ehe mit anderen Frauen einen Bund
der Liebe. Im Gegensatze zu der wirklichen Frau, die niemals
Gattin w^ird, heißt die Konkubine die Frau im Geiste, Du-
chowniza. Die vernachlässigte Frau geht nicht leer ays, sie
wählt sich einen Mann im Geiste, dem sie körperlich näher
steht als dem ihr angetrauten Manne. Die merkwürdigen vier-
eckigen Ehen dauern zumeist lange und ungetrübt, weil jede
Partei völlige Freiheit in allen Handlungen des Geschlechts-
lebens behält.
Ähnlicher konzilianter Gemeinschaften unter den ehelosen
Sekten gibt es indessen nur wenige. Im allgemeinen entziehen
sich die Mitglieder dieser Sektierergruppen, wie sie nur können,
den Fesseln selbst einer platonischen Zwangsehe. In den
Städten ist dies natürlich noch leichter als auf dem Lande;
der Bauer und die Bäuerin im Dorfe sind gegenseitig auf ihre
Arbeit und Hilfe angewiesen, der Muschik braucht eine Gehilfin
in der Isba imd auf dem Felde; der Arbeiter in der Stadt
oder in der Fabrik aber ist in dieser Beziehung ein freier
Mann, und das Gesetz der Ehelosigkeit, das ihm in erster
Linie als ein religiöses gelten soll, wird für ihn auch zu einer
Existenznotwendigkeit: hat er keine Frau, keine Familie, so
braucht er sich nur um das Stückchen Brot für sich selbst
zu sorgen. Da wird der freie Geschlechtsverkehr zu einer
Institution der Leichtfertigkeit ohne Gleichen, die freie Liebe
führt zu Eintagsverbindungen, ein festes Band gibt es nicht
1) Man findet hierfür eine gewisse Parallele in der Sekte der Abelianer,
die in den frühesten Zeiten des Christentums in der afrikanischen Diözese
Hippon entstand. Die Abelianer behaupteten, daß Abel zwar im Ehestande
gelebt, aber keine Gemeinschaft mit seinem Weibe gehabt habe, weil keine
Meldung seiner Kinder geschieht. Deshalb nahmen die Abelianer gleich Abel
zwar Weiber, aber sie gebrauchten sie nicht zum Kinderzeugen und verdammten
aus Furcht vor der Erbsünde den ehelichen Beischlaf als teuflisches Werk;
um ihre Sekte zu erhalten, adoptierten sie fremde Kinder.
— 235 —
mehr, alle Moralbegriffe entschwinden oder verwirren sich,
heute lebt man mit diesem, morgen mit jenem Weibe, imd
von solchen Verhältnissen zur Weibergemeinschaft ist der
Weg wahrlich nicht weit; und noch einige Schritte tiefer auf
der abschüssigen Bahn gelangt man zu der Ansicht, daß Onanie,
Päderastie und Sodomie die natürlichsten, dem Himmel wohl-
gefälligsten Akte seien. 1) So lehrt der Sektenprophet Kori-
lin: „Es ist besser, mehrere Weiber heimlich zu besuchen,
als mit einer einzigen Frau öffentlich zu leben; besser als
mit dem hübschesten Mädchen zu schlafen ist es, geschlecht-
lichen Umgang selbst mit einem Tiere zu haben.** Wenn
die Welt vom Teufel geschaffen ist; wenn der Antichrist auf
Erden herrscht; wenn man jeden Augenblick aufhorcht, um
den Posaunenschall des jüngsten Gerichtes zu vernehmen: so
ist es widersinnig, nach veralteter menschlicher Auffassung
ein Weib zur Gattin zu nehmen oder mit einer einzigen Frau
im Konkubinat zu leben, Kinder zu zeugen und die Mensch-
heit fortzupflanzen. 2)
Was geschieht aber mit den Kindern, Früchten der freien
Liebe? Deren Los ist wahrlich kein fröhliches. Am besten
ist es noch, wenn man sie als erwünschten Arbeitemachwuchs
ansieht; es gibt Sekten auf dem Lande, bei denen die Väter
ihre Töchter zu schamlosen Ausschweifungen ermutigen, ihnen
alles erlauben, ausgenommen die Ehe, und wo die illegitimen
Kinder dann als Vermehrung des Arbeitspersonals der Familie
willkommen geheißen werden. 3) Bei anderen Sekten leben
die Männer nur so lange nüt ihren Frauen oder Geliebten,
als dem Bunde Töchter entsprießen; die Geburt eines Sohnes
macht der Vereinigung sofort ein Ende, weil diese Sektierer
nicht Rekruten für das Heer Satans zeugen wollen.*) Dies
1) Die gnostisch-manichäische Sekte der Origeniani im vierten Jahr-
hundert zog ebenfalls nicht bloß Konkubinat und Hurerei dem Ehestand vor,
oonclem erklarte auch Kinderzeugen als Sünde und begnügte sich daher zur
geschlechtlichen Befriedigung mit der Ausübung der Onanie.
■) Auch die Satumiani im zweiten Jahrhundert meinten, Kinderzeugung
sei ein Werk Satans und verwarfen deshalb den Ehestand.
•) Leroy-Beaulieu III 417.
♦) Hellwald, Die Welt der Slawen, 357.
— 236 —
alles ist noch harmlos; es gibt jedoch Sekten, bei denen
man die. Kinder einfach aus der Welt schafft und auf diese
Weise die Frage radikal zur Lösung bringt. Am berühmtesten
imd vielleicht am meisten verbreitet von allen diesen radikalen
Sekten ist die der Verschnittenen oder Skopzy^), welchen
zuerst der russische Schriftsteller Meljnikow-Petscherskij nach-
wies, daß bei ihnen in bestinmiten Fällen, von denen noch
die Rede sein wird, der Kindermord zu den religiösen Zere-
monien gehört.
Die Entmannung, die im allgemeinen als eine Schand-
strafe gilt^), hat sowohl in der Religion des Abendlandes wie des
Morgenlandes Anhänger unter fanatischen Asketen gefunden,
die es als das sicherste Mittel gegen die Unkeuschheit betrach-
ten, das Glied der Zeugimg imd der Sünde einfach wegzu-
rasieren. Als Origines, der berühmte Kirchenlehrer des dritten
Jahrhunderts, sich kastrierte, berief er sich auf die Worte
Matthäi XIX, 12: „Denn es sind etliche verschnitten, die sind
aus Mutterleibe also geboren; und sind etliche verschnitten,
die von Menschen verschnitten sind; und sind etliche ver-
schnitten um des Himmelreiches willen. Wer es fassen mag,
der fasse es!" Auch andere Stellen des Neuen Testaments
und der Bergpredigt sind zur Rechtfertigung der Kastration
herangezogen worden; so die folgenden. Matth. XVIII, 8
und 9: „So deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue
ihn ab, und wirf ihn von dir. Und so dich dein Auge ärgert,
reiß es aus, und wirf es von dir.** Matth. X, 28: „Und
fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die
1) CKonHTb, verschneiden, kastrieren; cKonem», der Verschnittene; cKonima,
die Verschnittene.
2) In Rußland selbst ist dies beispielsweise bei den halbwilden Kirgisen
der Fall. In ,,des Herrn Kapitains Rytschkow Tagebuch/' a. a. O. S. 431
heißt es: .«Einen Mann untüchtig zu machen oder zu entmannen, wird bey
ihnen für einen halben Totschlag gerechnet, und es muß daher dem verstüm-
melten die Büssung eines völUgen Mords gezahlt werden." Es ereignete sich
einmal, daß ein Kirgise das Harem des Chans entweihte und von den Chans-
dienem zur Strafe dafür entmannt wurde. Auch in diesem Falle, wo nach
orientalischer Auffassung der Entmannte nur den Lohn für seine Übeltat er-
halten haben sollte, mußte der Chan selbst die nach dem Rechte bestimmte
Buße bezahlen.
— 237 —
Seele nicht mögen töten.** Evang. Lucä XXIII, 29: „Denn
siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird:
Selig sind die Unfruchtbaren imd die Leiber, die nicht ge-
boren haben, imd die Brüste, die nicht gesäugt haben.** Ko-
losser III, 5 : „So tötet mm euere Glieder, die auf Erden sind,
Hurerei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust.** Auch
die Sekte der Valerianer, die den Ehestand und das Kinder-
zdugen verdanmite, lehrte die Kastrienmg als das einzig
sichere Mittel zur Bewahrung der Keuschheit. Die Valerianer
entmannten nicht mu: sich selbst, sondern verschnitten auch
Jene, die das Unglück hatten, in ihre Gewalt zu fallen. Von
den griechischen Mönchen ist bekannt, daß sie die Infibulation
ziu: Bewahrung der Keuschheit anwendeten.^) Je schwerer
der Ring am Gliede, desto größer der Stolz des Büßenden.
Manche trugen einen Ring von sechs Zoll im Umfang und einem
Viertelpfund an Gewicht.^)
Die russischen Skopzy beziehen sich auf keine Bibelstellen
zur Begründung der Kastration ; sie betrachten die ganze Bibel,
wie wir sie besitzen, als eine Fälschung. Das wahre Evan-
gelium, „das Buch der Taube**, befand sich nach Ansicht
der Skopzy einst in ihren Händen, bis Peter der Dritte, ihr
Oberhaupt und Christus, die göttliche Schrift in der Kuppel
der Andreaskirche auf Wassili j-Ostrow zu St. Petersburg ein-
mauerte. Das Datum der Entstehung der Skopzensekte läßt
sich ziemlich genau feststellen.^) Im Jahre 171 5 wurden im
Kreise Uglitsch im Gouvernement Jaroßlaw mehrere Ketzer
^) Die Geber in dem Kloster zu Ateschdjah bei Baku kasteien sich,
indem sie schwere Eisenstücke an das Glied hangen, das sie am meisten zur
Sünde gereizt hat. Durch derartige jahrelange Marter wird der Büßer in einen
Zustand versetzt, der sich von jenem des Eunuchen nur dadurch unterscheidet,
daß eine Operation als nicht mehr notwendig vermieden wird. Vgl. Bernhard
Stern, Zwischen Kaspi und Pontus 145 ; Reineggs, Beschreibung des Kaukasus,
1796, I 157; Eichwald, Reise in den Caucasus, 1834, I 178.
>) Man vergleiche über Infibulation die interessante Abhandlung in
„Zeichen und Werth der verletzten und unverletzten Jungfrauschaft nach
physiologischen moralischen und Nationalbegriffen". (Von C. G. Flittner.)
Zweite Ausgabe. Berlin 1795, bei Oehmigke dem Jüngern. S. 268 — 278.
*) Die russische Kirchengeschichte kennt zwar schon aus dem elften
Jahrhundert zwei berühmte Kastraten unter den hohen Geistlichen, die Metro-
— 238 —
entdeckt, die die Entmannung an sich vollzogen hatten. Im
Jahre 17 17 wurden in Moskau ein gewisser Prokop Lupkin
imd ein paar Dutzend Männer und Frauen verhaftet, die eine
Sekte von Eunuchen und verstünunelten Frauen bildeten; 1738
wiu'de auf Befehl der Zarin Anna Iwanowna die Leiche Lup-
kins, dessen Grabstätte zu einem Wallfahrtsorte für diese
Sekten geworden war, ausgegraben imd verbrannt.^) Trotz-
dem — oder richtiger: seit damals erst — vermehrte sich
die Zahl der Anhänger der Skopzensekte.^) Im Jahre 1771
wurde der Regierung bekannt, daß ein Bauer namens Andrej
Iwanow im Gouvernement Orlow dreizehn Bauern zur Kastra-
tion überredet hatte. Andrej Iwanow, der eigentlich Kon-
dratij Sseliwanow hieß, nannte sich auch Ssemen, Iwan, Foma.
Er gab sich gleichzeitig als Zar Peter III. aus; femer als
„Christus, der wahre Gott, geboren von der unbefleckten Jung-
frau, die als Kaiserin den Namen Elisabeth Petrowna führt.**
Diese Kaiserin-Gottesmutter starb nicht, wie die Geschichte
erzählt, im Jahre 1760, sondern zog sich unter dem Namen
Akulina Iwanowna zuerst zu den Skopzen des Gouvernements
(Drei, später nach Kursk zurück, wo man sie noch im Jahre
1865 hinter einem goldenen Gitter anbeten konnte. Peter III.-
Christus^) war mittlerweile aufgewachsen; als er von Katha-
politen Iwan und Jefrem von Kijew, die aus Griechenland nach Rußland ge-
kommen waren; aber diese beiden Prälaten gehörten keiner Sekte an, sondern
waren Eunuchen von Geburt.
1) Vgl. S. 183.
*) Vgl. Pelikan, Gerich tüch medizinische Untersuchungen über das
Skopzentum in Rußland nebst historischen Notizen ; übersetzt von Dr. Nikolaus
Iwanoff, Gießen 1876. — von Stein, Die Skopzensekte in Rußland in ihrer
Entstehung, Organisation und Lehre nach den zuverlässigsten Quellen dar-
gestellt, in der Zeitschrift für Ethnologie, Berlin 1875. — Peni^dÄ, JIioah
BosKitt II cKonubi. — Leroy-Beaulieu a. a. O. III 451 — 465. — Haxthausen,
Studien, 1 340. — Schiemann, Alexander I., 413. Hier sind auch mehrere
russische Quellen erwähnt. — Mantegazza, Die Geschlechtsverhältnisse des
Menschen, Jena, 3. Auflage, S. 145. — Dr. Richard Wrede, Die Körperstrafen
bei allen Völkern, Dresden 1898, S. 258 — 273. — Laurent und Nagour, Okkul-
tismus und Liebe, Studien zur Geschichte der sexuellen Verirrungen, Berlin,
Barsdorf, 1903, S. 79 — 80. — Caufeynon, L'Eunuchisme, Historie g6n6rale de
la Castration, Paris, -jy — 81. — Busch, Wunderliche Heilige, 140.
«) Vgl. S. 215.
— 239 —
rina einen Nachfolger erhalten hatte, entmannte er sich xind
kastrierte auch alle seine Anhänger.^) Seine Gemahlin Katha-
rina wollte ihn ermorden lassen, er aber entkam den Nach-
stellungen -der Meuchelmörder, hielt sich eine Zeitlang ver-
borgen und tauchte dann als Muschik Kondratij Sseliwanow
auf, verrichtete Wunder und verbreitete die Lehre der Kastra-
tion. In Tula wrurde er verhaftet, mit Knutenhieben bestraft und
hierauf nach Irkutsk verschickt. Paul ließ ihn zurückrufen,
wollte sich aber zum Glauben seines Vaters nicht bekehren
und sperrte ihn in ein Irrenhaus. Alexander ließ den Groß-
vater frei, und Sseliwanow lebte in einem Hause des reichen
Skopez Ssladownikow unbehelligt als Christus so lange, bis
ihn die zarischen Knechte wieder verfolgten und ins Kloster
von Ssusdal schleppten, wo er noch heute lebt in Stille und
Verborgenheit; imd eines Tages wird er wieder hervortreten,
und dann werden sich alle Kaiser und Fürsten der Erde in-
brünstig vor ihm neigen. Dieser Legende der Skopzen^) liegen
tatsächliche Momente zugnmde: Sseliwanow wurde 1775 in
Moskau ergriffen, am 15. September dieses Jahres geknutet
und nach Irkutsk verschickt; er entfloh, wurde 1797 neuerdings
in Moskau verhaftet und auf Befehl des Zaren Paul ins Irren-
haus gebracht, da er die Frechheit gehabt hatte, sich dem
Kaiser als Peter III. vorzustellen. Im Jahre 1802 wurde Sse-
liwanow auf Intervention einiger reichen Skopzen aus dem
Irrenhaus entlassen, zuerst in eine der Armenanstalten des
Smolnaklosters überführt und dann durch Vermittlung des
Staatsrates Alexej Michajlow Jelinsky, der selbst der Sekte an-
1) Nach einer Version wurde Peter schon in Holstein Skopze. — Das
geheime Erkennungszeichen der Skopzen untereinander ist gewöhnlich ein
Porträt Peters III., auf dem der Kaiser dargestellt ist, wie er ein rotes Tuch
auf dem rechten Knie hält und mit der rechten Hand das rote Tuch berührt.
Bei ihren Zusammenkünften oder wenn sie sich in unauffälliger Weise einander
als Sektenbrüder zu erkennen geben wollen, legen die Skopzy auf ihr rechtes
Knie ein rotes Tuch und schlagen mit der rechten Hand darauf.
2) Die Legende macht konsequenterweise auch den Fürsten Daschkow.
der ein Günstling Peters III. war, während die Fürstin Daschkow zu Katharina
hielt, zu einem Skopzen. Der Bauer Iwan Sufilow gab sich als Fürst Daschkow,
alias Johannes, Lieblingsjünger des Jesu-Sseliwanow aus. Er wurde erst in
Dünaburg, dann in Schlüsselburg eingesperrt und starb 1799.
— 240 —
gehörte, in dem Hause des Kaufmannes Nenastjew, eines
Skopzen^ fürstlich installiert. Er lebte mm lange Jahre als
angesehener Prophet imd Erlöser, und im Jahre 1805 pilgerte
sogar der mystisch veranlagfte Zar Alexander I. vor dem Auf-
bruch ins Hauptquartier zum Skopzengott.^) Drei Tage nachher
begab sich Lubjänowski, später Senator, ebenfalls zu Sseli-
wanow; Lubjänowski erzählt in seinen Memoiren: Der Pro-
phet richtete sich in seinem Bette auf und segnete den Gast;
dann fragte er: „Ist Aleksaschka abgereist?** Als die Frage
bejaht wurde, sag^e er bedauernd : „Was soll man da machen ?
Vorgestern habe ich ihn angefleht, nicht zu fahren und keinen
Krieg mit dem verfluchten Franzosen anzufangen. Gott be-
hüte ihn, ich sehe nichts Gutes kommen. Du wirst es ja sehen.**
— Alexander I. ließ widerstandslos die Ausbreitung der Sseli-
wanowschen Sekte zu; ihren Gottesdiensten durften die Be-
hörden nichts in den Weg legen. Erst im Jahre 1820 erkannte
man das Übel, das man gefördert hatte, und brachte Sseli-
wanow ins Kloster zu Ssusdal. Das geschah unter großen
Ehrenbezeigungen. Dem Propheten wurde auf kaiserlichen
Befehl vom Fürsten Galitzyn^) eine Staatsequipage zur Ver-
fügung gestellt. Im Kloster Ssusdal ist Sseliwanow gestorben,
nach einigen 1823, nach anderen 1832, doch scheint die letz-
tere Jahreszahl die richtigere zu sein. Auch die legendäre
Akulina Iwanowna gehört der Wirklichkeit an, doch fehlen
über sie genaue Nachrichten. Im Jahre 1844 wurde zu Mor-
schansk im Gouvernement Tambow eine himdertjährige Frau
von den Skopzen als heilige Jungfrau und Gottesgebärerin ver-
ehrt. Man nimmt an, daß sie die Akulina Iwanowna ge-
wesen sein dürfte, die mithin den Propheten um wenigstens
ein Jahrzehnt überlebt haben würde.
Die Lehre der Skopzy, die sich selbst weiße Tauben, die
^) Schiemann, Alexander I., S. 414.
2) Fürst Galitz3m, der erste Kultusminister Rußlands, gehörte einer
Geißlersekte an, die im Michaelspalais in der Wohnung der Offizierswitwe
Tartarinow ihre Orgien feierte; nach einem Berichte des Archimandriten
Photij sollen die Anhanger der Tartarinowschen Gruppe großenteils Skopzen
gewesen sein; ,,auch Frauen und Madchen sollen hier verschnitten werden,"
fügt der hohe geistliche Referent hinzu. VgL S. 323.
— 241 —
Reinen, die Gerechten, wahre Kinder Gottes nennen, besteht
ungefähr in folgendem: Als Gott den Menschen erschuf, ge-
schah dies für ein geschlechtsloses Leben. Aber Adam und
Eva sündigten. Die Erbsünde, das ist der Geschlechtsakt;
sie kann nur gesühnt werden durch Vertilgung der Fortpflan-
zungsfähigkeit, also durch Vernichtung der Geschlechtsteile
des Mannes und durch Zerstörung der Brüste und der Ge-
schlechtsteile der Frau. Aus der ersten Menschensünde wurden
immer neue geboren, und die Verderbnis der Welt wuchs ins
Chaotische. Da sandte Gott seinen Sohn Jesus auf die Erde
herab. Ihn erkennen die Skopzy mithin als Gottes Sohn an,
indessen nur als Vorläufer des zweiten und größeren Gottes-
sohnes Sseliwanow; nicht das Martyrium am Kreuze, sondern
das Martyrium, das man dem Zeugungsgliede auferlegt, kann
die Menschheit von dem Übel der Erbsünde erlösen. Übrigens
hat auch Jesus Christus die Skopzenlehre verbreiten wollen,
Beweise dafür sind die früher erwähnten Bibelstellen ; seine Ab-
sicht wurde nicht verstanden, und infolgedessen mußte Gott
seinen zweiten Sohn Sseliwanow auf die Erde senden, um
das große Sühnewerk der Kastration zu vollführen. Sseli-
wanow ging mit dem besten Beispiel voran, indem er sich der
Feuertaufe unterzog, das heißt : der Vernichtung des Zeugungs-
gliedes durch ein glühendes Eisen. Doch gestattete der Pro-
phet als Konzession an die menschliche Schwachheit die Vor-
nahme der Operation mit einem Rasiermesser oder Stemm-
eisen. Die Kastration ist das unerläßliche Opfer, das allein
von der Hölle retten kann. Im Augenblicke, da das sündige
Zeugungsglied des Mannes oder die Saugwarze der Frauen-
brust unter dem Messer fällt, öffnet sich den Seligen und
Frommen die Pforte des Paradieses. Wir sollen nicht mehr
sündigen, wie unsere Eltern gesündigt haben ; deshalb ist es
Pflicht der Proselyten vor ihrer Aufnahme in den heiligen
Skopzenbund das Andenken von Vater und Mutter ebenso zu
schmähen, wie den sündigen Staat und die Heiligen der Or-
thodoxie. Die russische Kirche ist das Reich des Antichrist,
die Popen und Bischöfe die Diener Satans. Die Skopzy kennen
keine Sonntagsfeier, sie glauben nicht an die Auferstehung der
Leiber Unverschnittener, sie verachten die Sakramente. Wenn
Stern, Geschichte der Afientl. Sittlichkeit in Rufiland. i6
— 242 —
sie trotzdem die russischen Kirchen besuchen, so tun sie es
unter dem Zwange der Behörden, um sich und die Ihrigen
nicht zu verraten, und weil sie meinen, damit etwas Gleich-
gültiges zu besorgen, das ihrem Seelenheil nicht schaden kann.
Über die Versanmilungen der Skopzen ist bisher folgen-
des in Erfahrung gebracht worden: Die Mitglieder der Sekte,
die zusammen eine Gruppe oder ein Schiff {Kopa»1jib) bilden
wie die Chlysty, erscheinen alle in weißen Hemden. Die Zere-
monien beginnen um zehn Uhr abends und dauern die Nacht
durch. Da den Skopzen tiefste Verschwiegenheit über ihre
Gebräuche und Handlxmgen auferlegt ist, gibt es keine ge-
schriebenen Liturgien oder Vorträge; die Lieder, die sie singen,
pflanzen sich durch mündliche Überlieferung fort, oder ent-
stehen in der Inspiration des Augenblickes. Haxthausen, der
einer Skopzenversammlung beiwohnte, hat ein Lied aufgezeich-
net: „Haltet zusammen, ihr Schiffsleute, lasset das Schiff im
Sturme nicht untergehen. Der heilige Geist ist bei uns, unser
Vater und Christus ist bei ims, seine Mutter Akulina Iwa-
nowna ist bei uns. Er wird konunen, er wird erscheinen; er
wird die große Glocke Uspenskij läuten ; er wird alles gläubige
Schiffsvolk zusammenrufen; er wird Masten setzen, die nicht
fallen, Segel spannen, die nicht reißen und ein Steuerruder
bauen, das sicher leitet!*' Der Gesang wird von den Männern
allein, die auf Stühlen oder Bänken sitzen und die Melodie
durch Aufschlagen der flachen Hände auf die Schenkel be-
gleiten, begonnen. Die Frauen sind zunächst bloße Zuhöre-
rinnen ; nach einer Weile hören die Männer auf imd die Frauen
stimmen ein Lied an. Die Gesänge enden mit Tanz wie bei
den Chlysty; und wie bei den Geißlern heißt auch bei den
Skopzen dieser Tanz: Radenije, Glut, Inbrunst, das Arbeiten
in Gott. Man kennt vier Arten des Radenije: Das Schiffchen,
das Wändchen, das Kreuzchen und Mann für Mann. Wird
ein Schiffchen gemacht, so bildet man einen Kreis und springt
herum; ein Wändchen entsteht, indem man, ebenfalls im
Kreise, Schulter an Schulter preßt; das Kreuz macht man,
indem man beim Tanzen imd Hüpfen Reihen in Kreuzesform
zu entwickeln sucht; das Tanzen Mann für Mann gleicht dem
Drehen der Derwische, da man auf dem Flecke bleibt und sich
— 243 —
um sich selbst dreht. Die Wirkung der Tänze ist bei den
Verschnittenen die gleiche wie bei den unverschnittenen Sek-
tierern: die Versammlimg fällt in Verzückung, gerät in einen
Taumel sinnlicher Erregung, die natürlich nur durch heilige
Küsse, wie Sseliwanow es befohlen hat, befriedigt werden
könnte. Diese Befriedigung ist imgenügend, und so ist die
Folge eine sadistische Orgie, die Vornahme von Operationen
an den Gliedern männlicher Proselyten und an Frauenbrüsten.
Die Verstümmelungen werden seltener an Kindern, ge-
wöhnlich an schon Erwachsenen vollzogen. Es gibt verschie-
dene Arten der Operation und mehrere Grade der Reinheit,
die durch sie erreicht werden können. Durch zahlreiche Pro-
zesse vor den russischen Gerichten wurde erwiesen, daß die
Feuertaufe oder Beschneidungstaufe^) in zwei Klassen zerfällt:
in die des kaiserlichen, des großen Siegels, der zweiten Rein-
heit; und in die des kleinen Siegels.^) Die niedrigere Klasse
erfordert nur die Entfernung der Hoden, die höhere die Ab-
schneidung des Gliedes. Die Operation wird von Spezialisten
vorgenommen, die in ihrer Kunst solche Meister sind, daß
Katastrophen selten eintreten, trotzdem die Operationsinstru-
mente die denkbar primitivsten: ein Rasiermesser, oft auch
ein gewöhnliches Messer, eine Blechschere, imd eine Serviette
genügen dem Operateur. Zum Blutstillen wendet . man ein
glühendes Eisen an. Bei einigen Gemeinden vollführen alte
Weiber die Operation. Es kommt vor, daß Fanatiker mit
einem Stück Glas, einem Messer oder einer Axt auch selbst
die Operation an sich vornehmen.^) In einer Statistik über
5444 Skopzen, die man 1866 entdeckt hat, wurde konstatiert,
daß sich von dieser Zahl 863 — darunter 160 Frauen —
selbst kastriert hatten. Nach einigen Berichten wird das kaiser-
^) In manchen Skopzengemeinden soll es auch eine Wassertaufe geben.
Busch, Wunderliche Heilige, S. 161, schildert eine solche Wassertaufe.
*) Andere Bezeichnungen sind: das erste Siegel, das erste Weißen, die
erste Reinheit, das Besteigen des scheckigen Pferdes; und für die höhere Klasse:
volle Taufe, zweites Weißen, Besteigen des weißen Pferdes.
*) Solches praktizieren auch häufig die Chinesen, die eine glänzende
Stellung als Eunuchen erringen wollen. "Man lese darüber bei Dr. 1. 1. Matignon,
Superstition, crime et mis^re en Chine, 4. 6d. Paris et Lyon 1902, p. 250.
i6»
— 244 —
liehe Siegel nicht immer auf eimnal, sondern manchmal in
zwei Sitzungen gemacht. Im ersten Falle werden Hodensack
und Glied zusammengebunden und mit einem einzigen Schnitt
oder Hieb abgetrennt ; im anderen Falle wird zuerst der Hoden-
sack und später das Glied abgeschnitten. Die Verstümmelten
erhalten, teils um den Abfluß des Urins zu erleichtern, teils
um die Verwachsung der Wunde zu verhindern, eine kleine
Röhre aus Zinn oder Blei als Ersatz des Gliedes.^)
Den Frauen ist angeblich die Verstümmelimg nicht Ge-
setz, es gibt aber kaum eine unverstümmelte Skopzin. Auch
bei den Frauen gibt es zwei Grade der Weihe : die erste und
die zweite Reinheit. Man zerstört durch Eisen oder Feuer
eine Warze oder beide; man schneidet eine Brust oder beide
ganz ab; oder man verunstaltet die Geschlechtsteile. Die Ope-
ration der Geschlechtsteile erfolgt durch Messer oder Schere.
Sie ist keineswegs immer so vollkommen, daß dadurch die
Wollust oder nur die Zeugungsfähigkeit der Frauen verhindert
werden könnte; es gibt unter den Skopzenweibern sogar viele,
die sich dem Prostitutionsgewerbe zuwenden.
Das Skopzentum rekrutiert sich nicht bloß aus dem Bauern-
stande, sondern hat Mitglieder aus allen Berufskreisen: man
findet unter ihnen Edelleute, Offiziere, Beamte, Geistliche,
Feldscher«r, Bürger, Kaufleute, Gewerbetreibende, Grund-
besitzer, Vagabunden, Arrestanten, Soldaten, Kolonisten und
selbst Angehörige der Intelligenz. Auffallend groß ist die
Zahl bejahrter Leute unter den Skopzen. Es gibt nicht bloß
viele Siebzigjährige und Achtzigjährige, sondern auch Männer
und Frauen, die ein Alter von iio bis 130 Jahren erreicht
haben. Zur Statistik der Verbreitung der Skopzen sind einige
interessante Zahlen festgestellt worden. Von 1805 bis 1839
zählte man offiziell 1665 männliche imd 357 weibliche Mit-
glieder der Sekte; von 1840 bis 1859: 1559 männliche und
1) Pelikan gab folgende Statistik von 1481 Fällen, die ihm bekannt
waren: 588 vollkommene Verschneidungen, 833 Entfernungen der Hoden,
18 Entfernungen bloß eines Hodens, 16 Entfernungen bloß des Gliedes, 6 Ent-
fernungen des Gliedes und eines Hoden, 22 Verschneidungen besonderer Art.
(Vgl. VVTrede, 263.)
— 245 —
825 weibliche; von 1860 bis 1871: 764 Männer und 283
Frauen. Im Jahre 1843 verzeichnete ein Regierungsbericht
1701 Skopzy und Skopizy. Die offiziellen Berichte bleiben
aber hinter der Wahrheit weit zurück. Schon Haxthausen
glaubte, daß man die Zahl der Skopzen mit wenigstens zwan-
zigtausend annehmen müsse; und seither hat sich die Menge
dieser Sektierer gewaltig vermehrt. Am meisten findet man
sie in den Gouvernements Orel und Petersburg, dann in Ko-
stroma, Rjäsan, Kaluga, Kursk, Taurien, Perm, Moskau, Ssa-
mara, Ssaratow, Bessarabien, Tambow, Tula. In geringerer
Anzahl treten sie in etwa zwanzig anderen Gouvernements
auf. Die russische Regierung hat die Skopzen vielfach blutig
verfolgt, und es gab besonders in den letzten Jahrzehnten
vor den Gerichten mehrere Monstreprozesse gegen die Ver-
schnittenen, wobei Hunderte Angeklagte erschienen. Infolge
der Urteilssprüche wurden viele Tausende dieser Sektierer nach
Sibirien verbannt ; andere flüchteten nach Galizien und nament-
lich nach Rumänien, wo ihre drei Hauptgemeinden in Bu-
karest, Galatz und Jassy mindestens zwanzigtausend Köpfe
zählen. Die Verfolgungen haben also nicht im geringsten ge-
nützt, und es werden die Skopzen, wenn sie sich in nächster
Zeit in gleichem Maße vermehren, bald am Ziele ihres Strebens
stehen : denn das tausendjährige Reich, sagen sie, muß an-
brechen, wenn die Zahl der Skopzen und,Skopizen auf 144000
gebracht sein wird. Wie bei allen russischen Sekten gibt es
auch unter den Skopzen verschiedene Abarten. So existiert
eine Gruppe, genannt die Perewertyschy, welche die Kastrie-
rung schon bei den Kindern durch einen Schnitt und die
Drehung des Samenstranges vornehmen. Eine andere Gruppe,
die Prokolyschy, zerdrückt den Hodensack mit einem Bande
und durchbohrt den Samenstrang mit Nadeln. In den letzten
Jahren erst ist im Distrikt von Belew eine neue Skopzenart
entstanden, deren Anhänger sich nach ihrem Propheten, einem
Unteroffizier namens Tombow, die Tombowisten nennen.
Da die Skopzen infolge der Zerstörung der Geschlechts-
teile ihre Sekte nicht direkt fortpflanzen können, haben sie
folgende Mittel zur Vermehrung ihrer Anhänger gefunden :
Sie lassen sich gewöhnlich erst dann verschneiden, wenn sie
— 246 —
mit ihren Frauen Kinder in die Welt gesetzt haben. Man ent-
faltet femer eine Propaganda, die durch den großen Reich-
tum der Skopzen .mächtig imterstützt wird. Die Skopzen sind
gewöhnlich überaus wohlhabende Kaufleute, Juweliere oder
Geldwechsler; die meisten verwenden ihre ganzen Reichtümer
für die Gewinnung neuer Sektenmitglieder. Wer sich ihnen
anschließt, der kann sich dem Messer ihrer Operateure nicht
entziehen. Ihre Organisation ist so gefürchtet, daß es nur
wenige Deserteure imd Verräter imter ihnen gegeben hat.
Und wer ihnen auch entflieht, wird früher oder später, wo
immer im Inlande oder Auslande er sich aufhalten mag, von
ihrer Rache ereilt. Auch wer unfreiwillig in die Hände der
Fanatiker fällt, oder wer sich aus Neugier ihren Versanmi-
lungen beizuwohnen verleiten läßt, kann seiner Mannheit Lebe-
wohl sagen; er wird ergriffen, auf ein Kreuz gebunden, ge-
knebelt und gewaltsam zum Eunuchen gemacht. Man kennt
viele Hunderte gewaltsamer Verschneidungen. Im Jahre 1866
allein wurden 470 Fälle bekannt. Der Skopze, dem es ge-
lungen ist, der Sekte zwölf Mitglieder zuzuführen, erhält die
Würde eines Apostels. Manche Skopzen schließen noch im
späten Alter Ehen^) und gestatten ihren Frauen loyal den ge-
schlechtlichen Verkehr mit fremden Männern ; aber die Kinder,
welche solche Frauen dann zur Welt bringen, gehören von
vornherein der Sekte. Man besoldet schließlich eine ganze
Armee von Agepten, die durch die Lande ziehen, um unter
den Armen und Soldaten für Geld Proselyten zu werben und
Kinder für die heilige Kastration aufzukaufen.
Schon früher ist bemerkt worden, daß die an den Ge-
schlechtsteilen der Frauen vorgenonmienen Verstümmelungen
nicht immer die Zeugungsfähigkeit vernichten; tritt nun der
Fall ein, daß eine Skopiza, welche die Rolle der heiligen Jung-
frau spielen soll, einen Knaben gebärt, so gilt dieser als ein
Sohn Gottes und muß für die Sünden der Menschheit wie
Christus den Martertod erleiden. Am achten Tage nach seiner
Geburt durchsticht man dem heiligen Kinde die linke Seite
und durchbohrt ihm das Herz ; das warme Blut dient der Kom-
^) Dies hat auch den Zweck, die Behörden zu täuschen.
— 247 —
munion. Der Körper wird getrocknet, zu Pulver zerrieben und
zu Brötchen verarbeitet, die man am ersten Ostertage den
Gläubigen nebst einem Schluck Wasser als Abendmahl dar- "
reicht. Dieses blutige Abendmahl hat eine gräßliche Ver-
breitung gefunden. Die Symbolik des Abendmahls entspricht
dem heidnisch gebliebenen Volke nicht vollkommen, es will
wirkliches Blut und wirklichen Leib Christi haben, wie dies
nur bei Völkern auf der primitivsten Kulturstufe denkbar wäre,
bei denen das Blut das heiligste Reinigungsmittel bedeutet,
ein lebendes Opfer allein die finsteren Mächte versöhnen kann.
Fälle von Abschlachtung neugeborener Kinder sind nicht nur
bei den Skopzy und Chlysty, sondern noch bei vielen anderen
Sekten zu finden.^) Gewöhnlich wird bei diesen Barbaren die
Jungfrau, die man als Bogorodiza oder Gottesmutter erklärt,
schon bei ihrer Installation mit diesen Worten begrüßt: „Ge-
benedeit seiest du unter den Weibern, du wirst einen Heiland
gebären!*' Dann entkleidet man sie, leg^ sie auf einen Altar
und treibt einen schändlichen Kultus mit ihrem nackten Leibe ;
die Fanatiker drängen sich herzu, um ihn an allen Stellen ab-
zuküssen. Man betet, der heilige Geist möge der heiligen
Jungfrau ein Christuslein machen, auf daß es den Frommen
übers Jahr vergönnt wäre, von diesem heiligen Leibe zu kom-
munizieren. Wird die Bogorodiza während der nun folgenden
Orgie geschwängert, so wird übers Jahr nüt dem Neugeborenen
wie erzählt verfahren. Bei anderen Sektengruppen ist die Bo-
gorodiza selbst das Opfer. Unter wilden Tänzen und Ge-
^) Die Gnostiker wurden der gleichen Verbrechen beschuldigt. Sie sollen
die in ihren nächtlichen Zusammenkünften gezeugten Kinder gleich nach der
Geburt zu Brei zerstampft, den Brei mit wohlriechendem Gewürz vermischt
und den Glaubigen zum Abendmahl vorgesetzt haben. Das gleiche wird nach-
gesagt den Sekten der Barbeliotae, Borboriani, Coddiani, Naasini. Socratitae,
Stratiotici, Zachaei. Die lombardischen Fratricelli des dreizehnten Jahrhunderts,
welche die Weibergemeinschaft eingeführt hatten, warfen die aus ihrer Hurerei
erzeugten Kinder bei ihren Versammlungen so lange von einer Hand in die
andere im Kreise herum, bis die armen Würmer starben. Derjenige, in dessen
Hand ein solches Kind gerade verendete, wurde zum Hohepriester erklärt.
Das gleiche wie von den Fratricelli wird auch von den Messaliani berichtet.
Es waren aber beide Sekten vielleicht nur eine einzige unter verschiedenen
Namen.
— 248 —
sängen schneidet man ihr die linke Brust ab und verteilt
Stücke davon an die Gläubigen.^)
Es ist die richtige Entwickelung, daß sich an die Selbst-
verstümmelung die Opferung anschließt, daß auf die Kastra-
tion der Kindesmord, Frauenmord und Männermord, der Selbst-
mord des einzelnen und der Massenselbstmord folgen. Im
Jahre 1879 hatte das Gericht in Odessa auf einmal vier Fälle
dieser Art zu verhandeln: eine Selbstgeißelung, eine gewalt-
same Kastrierung, einen Fall von Selbstverbrennung und einen
Fall von Kreuzigung. Eine Sekte heißt geradezu: Kinder-
mörder; sie betrachtet es als heiligste Pflicht, die Neugebore-
nen in den Himmel zu senden, um ihnen die Leiden des ir-
dischen, vom Teufel regierten Reiches zu ersparen. Bei der
Sekte der Feodosianer, welche lehren : „Der Jüngling soll sich
kein Mädchen nahe kommen lassen, der Ehemann seiner Gattin
nicht beiwohnen, die Jungfrau soll keinen Mann erhören, die
Ehefrau keine Kinder zeugen,*' bei diesen Fanatikern werden
Eheleute, die Kinder bekommen, aus der Gemeinde ausge-
stoßen, falls sie es nicht vorziehen, die Neugeborenen sofort
umzubringen oder zur Sühne für ihre Sünden lebendig zu
begraben. Die menschliche Seele, sagen die Feodosianer,
kommt bei dem Zeugungsakt nicht von Gott, sondern vom
Teufel. In neuester Zeit hat eine Gruppe dieser Sektierer
in Moskau und Riga Waisenhäuser errichtet, wohin sie ihre
Kinder abgeben, die dann erzogen werden, ohne jemals zu
erfahren, wer ihr Vater und ihre Mutter sind. Von den Feo-
dosianem haben sich noch andere Dissidenten abgezweigt :
solche, welche die Ehe wieder eingeführt haben ; andere, welche
ein Konkubinat gestatten und die Kinder, die sie zeugen, weder
töten noch in die Waisenhäuser verbannen. Die radikalen
^) Nach Haxthausens Bericht ist die heilige Jungfrau meist ein halbes
Kind, fünfzehn bis sechzehn Jahre alt. Man setzt sie nackt in eine mit
warmem Wasser gefüllte Wanne. Die Operation wird von alten Weibern vor-
genommen. Um dem Mädchen den Schmerz zu lindem, hält man ihm. ein
Bildnis des heiligen Geistes vor Augen. Nach vollzogener Operation hebt
man das nackte Mädchen auf einen Thron, und alle Anwesenden tanzen her-
um und singen: „Tanzen wir, springen wir den Zionsberg hinan." Plötzlich
verlöschen die Lichter, und es beginnt im Dunkel eine wilde Orgie.
— 249 —
Feodosianer wollen von allen diesen Abtrünnigen nichts wissen ;
sie verharren starr bei der Ehelosigkeit und beim Kindermord.
Andere Sekten nehmen, um die Prüfungszeit auf dieser
höllischen Erde zu beenden und beschleunigt ins Paradies
zu gelangen, Zuflucht zu dem einfachsten Mittel des Totschlags.
„Auf dieser Welt/' heißt es in dem Gesang einer solchen Sekte,
„ist kein Heil zu finden. Nur die Heuchelei beherrscht diese
Welt. Der Tod allein kann uns erretten. Gott hat die Welt
verlassen, lasset ims zu ihm zurückkehren.** Es gibt zweierlei
Arten von Totschlagfanatikem : Mörder und Selbstmörder. Da
sind zunächst jene, die im Volksmunde einfach die Totschläger
heißen; sie behaupten, das Himmelreich verschließe sich nur
jenen, die eines gewaltsamen Todes sterben. Die Würger
sind des gleichen Glaubens. Die Lebend verstorbenen betrach-
ten das Leben auf Erden als eine Strafe und die Geburt eines
Kindes als ein Unglück. Im Jahre 1894 entstand eine neue
Sekte, deren Anhänger sich „Die unter dem Boden Leben-
den** nannten.^) Sie sind vorzüglich organisiert, werden von
Ältesten geleitet und haben zahllose unterirdische Schlupf-
winkel, in denen sie ihre Versanmilungen abhalten und Vaga-
bunden und entlaufenen Rekruten Zuflucht gewähren. Haupt-
sächlich aber nehmen sie Schwerkranke auf. Diese werden
getauft, erhalten einen neuen Vornamen und den Beinamen :
Knecht Gottes, werden dann in die Höhlen gesperrt und dem
Hungertode preisgegeben. Ebenfalls jüngsten Datums ist die
Sekte der Kitzler, bei deren Versammlungen die Männer die
Frauen so lange kitzeln, bis diese ohnmächtig werden; man
entdeckte die Sekte in Charjkow, als ein junges Mädchen in-
folge des Lachkrampfes verschied.
Zu den ältesten Sekten gehören jene, welche den Selbst-
mord predigen. 2) Diese Sektierer fand man hauptsächlich
^) IIo;inaibHUKU. — Die abendländische Sekte der Lothardi, die im vier-
zehnten Jahrhundert bekannt war, darf wohl als eine dieser russischen Sekte
verwandte bezeichnet werden. Die Lothardi erklärten, Gott bekümmere sich
nicht darum, was drei Ellen tief unter der Erde geschehe; sie hielten deshalb
an unterirdischen Stellen ihre Versammlungen und verübten hier die furcht-
barsten Schandtaten, Geißelungen, Ausschweifungen, Mord und Selbstmord.
«) Der Ketzer Montanus, der sich um 170 für den von Christus vcr-
— 250 —
unter den Pomorzy^), jenen Raßkoljniki, die sich vor den Ver-
folgungen der Behörden an die nördlichen Meeresküsten ge-
flüchtet hatten. Zur Zeit der Zarin Elisabeth Petrowna machte
sich besonders die Sekte der Filiponen, genannt nach ihrem
Stifter Filipon, durch ihre Ausschreitungen berüchtigt. Fili-
pon lehrte, es gebe keinen anderen Zaren als den Zaren des
Himmels und keine andere Hierarchie als die der Engel. Die
Regierung ergriff gegen diese Sektierer zunächst Maßregeln
nach Peters Art; man legte ihnen doppelte Steuern auf, und
der Staatsschatz stand sich gut dabei, man konnte durch Ver-
dächtigung unfreiwillige Sektierer schaffen und die Staats-
einnahmen nach Belieben in die Höhe schrauben. Die Ver-
folgten und Bedrohten verließen massenhaft ihre Heimstätten
und flüchteten in die Wälder, in verlassene Gegenden, zumeist
an die Ufer des Eismeeres. Aber die zarische Gewalt reichte
auch dorthin, man hetzte die Flüchtlinge wie wilde Tiere; so
wurde der religiöse Wahnsinn erzeugt, man sah nur im Selbst-
mord die Rettung, und fühlte, daß Filipon recht hatte, wenn
er predigte: „Das Ende der Welt ist nahe, der Antichrist
herrscht auf Erden, betet nicht mehr in den Kirchen, ge-
horchet nicht der Zarin. Die uns verfolgen, sind die Vorläufer
imd Diener des Antichrist, wir aber die Diener Gottes.** Und
man gehorchte ihm freudig, als er erklärte: „Nur die Selbst-
entleibung ist der Weg zur Seligkeit. Nur das Feuer kann
die Seelen von den Flecken dieser dem Antichrist verfallenen
Welt reinigen.** Ein Vater schloß sich, von Filipons Worten
begeistert, mit seiner Frau und seinen Kindern in einer Holz-
hütte ein, und der Prophet selbst legte Stroh und Reisig rund-
um und zündete es an. Bald darauf brach eine wahre Selbst-
verbrennungsepidemie aus, in unzähligen Orten triumphierten
die Selbstverb renner 2) über ihre Verfolger. Nahten sich die
sprochenen heiligen Geist ausgab, endete durch Selbstmord; zwei seiner Mai-
tressen und Prophetinnen, Priscilla und Maximilla, folgten seinem Beispiel.
Die Lehre der Patriciani im vierten Jahrhundert hieß: Nicht Gott, sondern
Satan habe die Welt und das menschliche Fleisch geschaffen; es sei daher
wohl gestattet, sich selbst umzubringen, um sich von solchem Fleisch zu befreien.
^) lIoMopie, Gegend an der Küste.
') CaHO»CHraTeJ[b, Selbstverbrenner, nannte man jeden Raßkoljnik. der
sich auf diese Weise vor den Schergen der Zarin rettete.
— 251 —
Soldaten der Zarin irgend einer Zufluchtsstätte der Sektierer,
so schlössen sich diese schnell in ihren Häusern ein, die sie
zuvor reichlich mit brennbaren Stoffen angefüllt hatten, und
legten Feuer an. Vom Weißen Meere bis zum Ural und in
die Schneewüsten Sibiriens hinein flanmiten die riesigen
Scheiterhaufen auf. In der Umgebung von Kargopol ver-
brannten sich auf einmal 240, an einem anderen Orte 400,
in der Umgebung von Nischny-Nowgorod 600, im Distrikt
von Olonez gar 3000 Sektierer. Zuletzt vereinigte Filipon selbst
einige Dutzend seiner Intimsten, schloß sich mit ihnen in einer
Hütte am Ufer eines Flusses ein und fand gleich seinen An-
hängern den seligen Feuertod.
Ein Nachfolger Filipons war Domitian, der sich mit seiner
ganzen Gemeinde von 1700 Personen verbrannte. Dem Do-
nütian folgte Schaposchnikow, der sich mit seinen Anhängern
in der Nähe von Tobolsk durch den Feuertod das Paradies
erschloß. Selbstverbrenner sind auch die Morelschtschiki, über
deren Lehren man nichts weiß, da man von ihnen nur durch
ihre Katastrophen hört. Seit hundert Jahren ereignet es sich
fast alljährlich, daß bald im Norden, bald in Sibirien oder an
der Wolga eine Gruppe dieser Sekte sich in einer unterirdischen
Höhle einschließt, alle Zugänge durch Holz, Stroh und Reisig
verstopft, das Brennmaterial entzündet und unter wilden Ge-
sängen den Flammentod erwartet. Schon die Reisenden Pallas,
Gmelin und Georgi haben davon zu Ende des achtzehnten
Jahrhunderts erzählt, und seither gehören derartige Berichte
aus jeder neueren Epoche der russischen Sittengeschichte zu
den ständigen, im Wesen immer unveränderten, nur mit an-
deren Namen und Ziffern versehenen Wiederholungen. Selten
sind die Fälle, daß unter den Selbstverbrennem Reue ent-
steht. Eines Abends versanunelten sich achtzig Selbstmord-
kandidaten in einem unterirdischen Räume, um die Seligkeit
im Feuertode zu finden. Da wurde eine Frau wankelmütig und
entfloh. Sie verständigte die Behörde. Aber als die Morelsch-
tschiki die Polizei kommen sahen, setzten sie beschleunigt den
Holzstoß in Flanunen und riefen : „Der Antichrist kommt, laßt
uns sterben, damit wir nicht lebend in die Gewalt des Feindes
fallen 1"
— 252 —
Andere Selbstmordsekten halten den Tod durch den
Hunger oder das Beil für seliger als den Feuertod. Im
Jahre 1802 lehrte ein gewisser Alexej Juschkin, wie einst Fi-
lipon, den Tod durch Selbstverbrennung. Er wurde von der
Behörde unschädlich gemacht. Fünfundzwanzig Jahre später
erhob sich sein Sohn als Prophet, der das Heil im Selbstmord
durch das Beil lehrte. Für einen bestinunten Tag wurde das
Blutfest angesetzt. Zuerst brachten die Männer ihre Weiber
und Kinder um. Dann begaben sie sich einer nach dem anderen
zu dem Propheten Juschkin, legten einer nach dem anderen
das Haupt auf einen Block und empfingen jubelnd den Todes-
streich.i) Haxthausen erzählte, daß um 1840 auf dem Gute
des Edelmannes Gurjew am linken Wolgaufer die Bauern eines
Tages einander aus religiösem Wahnsinn abschlachteten. Nur
eine junge Frau entfloh und rief Hilfe herbei. Als diese kam,
war es zu spät. 47 Leichen lagen da, bloß zwei Menschen
lebten noch. Diese zwei wurden mit der Knute bestraft, aber
bei jedem Schlage frohlockten und dankten sie, denn sie hatten
jetzt das Martyrium erlang^.
Den Hungertod als gottgefällig lehrte der Prophet Schod-
kin unter der Regierung Alexanders II. im Gouvernement
Perm. Schodkin predigte, daß der Weltuntergang bevorstehe
und der Antichrist auf Erden herrsche. Es gebe nur eine
Rettung: sich in einer Höhle in einem Walde zu vergraben
und den Hungertod zu erwarten. In Sterbekleidern zogen der
Prophet und seine Anhänger mit ihren Familien in eine Höhle,
hier schworen sie den Satan ab, bestreuten ihr Haupt mit Erde
und verschlossen den Eingang. Plötzlich bemerkte man, daß
zwei Weiber entflohen waren. Da beschloß der Prophet aus
Furcht vor Verrat das Ende der Frommen gewaltsam zu be-
schleunigen, ehe die Schergen des Antichrist das Werk Gottes
stören würden. ,,Die Stunde des Todes ist gekommen,'* rief
er, „seid ihr bereit?** — „Wir sind bereit,** lautete die Ant-
wort. Da ergriff man zunächst die Kinder und erschlug sie.
Dann tötete man die Weiber, hierauf begann man die Männer
1) Löwenstimm, Der Fanatismus als Quelle des Verbrechens, Berlin 1899.
— Hans Rau, Die Verirrungen in der Religion, Leipzig, S. 419.
— 253 —
abzuschlachten. In diesem Augenblick kam die Polizei; sie
konnte nur mehr den Propheten selbst und drei junge Männer
retten.
Vor einigen Jahren begründete der Bauer Malewan im
Städtchen Taraschtschi des Kijewschen Gouvernements eine
Sekte. Malewan^) lehrte: „Das Weltende ist nahe und es
wird eine andere Welt entstehen, in der Gleichheit und Brüder-
lichkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit, eine Seligkeit ohne Tod
und ohne Verwesung herrschen werden. Es wird keine Sünden,
keine Gerichte, keine Behörden, keine Arbeit und keine Sorgen
mehr geben.*' In dieser Erwartung des Weltenwechsels halten
es die Malewanzy für unnötig, sich jetzt noch weiter zu plagen.
Sie verachten jeden festen Besitz, verkaufen, was sie haben und
ziehen ruhelos von Ort zu Ort, um das Heil der Zukunft zu
suchen. Diese neue Sekte ist zweifellos eine Abart der alten
Wanderer-), deren Prophet zu Ende des achtzehnten Jahr-
hunderts der Soldat Jefim war, welcher desertierte und in einer
Einsiedelei der Feodosianer Zuflucht fand. Er lehrte gleich
vielen seiner Konkurrenten, daß nicht das Reich Gottes, sondern
das Reich Satans auf Erden sei. Deshalb soll man der Obrig-
keit und dem Zaren allen Gehorsam verweigern. Die Wan-
derer befinden sich ewig auf der Flucht vor dem Antichrist
und seinen Schergen, leben in Höhlen oder Wäldern, haben
weder Haus noch Familie. Heimatlos sein ist ihnen heiligstes
Gesetz, darin liegt ihre Seligkeit. Sie vernichten alle ihre Iden-
titätsnachweise, wollen nichts von Pässen wissen, denn nur
der, von dem man nicht sagen kann, wer und woher er sei,
ist ein wahrer Christ. Als im Jahre 1897 in Rußland eine
allgemeine Volkszählung stattfand, brachten sich im Kreise
Teraspol des Chersonschen Gouvernements mehrere Dutzend
Wanderer lieber um, ehe sie sich in die Volkszählungslisten
hätten aufnehmen lassen, auf denen das Siegel des Antichrist
prangte. Sie gruben sich Gräber, stiegen ergeben hinab, legten
sich nieder und ließen sich bei lebendigem Leibe verschütten.
^) Er wurde kurz darauf von der Regierung ins Irrenhaus von Kasanj
gesperrt und befindet sich gegenwärtig noch dort.
2) OrpaHHHKH, Wanderer, Pilger, Fremdlinge. Man nennt sie auch
Flüchtlinge oder Lauflinge, Ö'bn'Hhi.
— 254 —
Die Wanderer gehören zu den grauenvollsten unter den
russischen Sektierern. Sie zeigen wie in einem Kaleidoskop
die schlechtesten Charaktereigenschaften des russischen Volkes :
den Zug des Nomaden, welcher sich nirgends heimisch fühlt;
die Wildheit in den Neigimgen zum weiblichen Geschlecht;
die Verachtung aller Begriffe von Ehrlichkeit. Sie verwerfen
die Ehe, aber führen auf ihren rastlosen Wanderzügen förm-
liche Harems mit sich. Sie halten den Diebstahl für gestattet,
weil die Welt ohnehin dem Teufel verfallen sei. Sie kennen
wohl die Taufe, aber sie gebrauchen nur Wasser, das vom
Hinunel kommt> also Regenwasser ; denn die Flüsse und Bäche
hat der Antichrist verunreinigt. Sie haben auch Heiligen-
büder, hängen diese aber nur an Bäimien in abgelegenen
Hainen auf. Das sind Beweise, wie tief das Heidentum im
russischen Volke noch wurzelt, es' ist der unveränderte Baiun-
kultus. Die Organisation der Stranniki oder Wanderer ist eine
glänzende. Sie besitzen in allen Städten des Reiches sogenannte
Gastfreunde, die um die Behörden zu täuschen als brave Bür-
ger leben, ihre Geschäfte betreiben, ihre Steuern pünktlich
zahlen und selbst die Kirchen besuchen. Diese Helfershelfer
sind unentbehrlich, um den Wanderern im Notfalle einen Zu-
fluchtsort und bei ihren Zügen durch die Städte eine Herberge
zu sichern, da die Pilger bei Profanen weder wohnen noch
essen dürfen. Erkrankt ein Wanderer, so wird er in Sterbe-
gewänder gehüllt und auf ein Bett geleg^. Ein anderes Mit-
glied der Gemeinde erscheint, mit einem roten Hemde angetan,
legt dem Patienten ein Kissen in rotem Überzug auf das
Gesicht, setzt sich darauf und bleibt so lange, bis der Kranke
erstickt ist. Im Volksmunde nennt man dies den roten Tod.
Es sei daran erinnert, daß auch bei den Skopzy ein rotes Tuch
eine Rolle als Erkennungszeichen spielt.
Die Sekte der Wanderer rekrutiert sich namentlich in
Zeiten der Wirren aus Deserteuren und entlaufenen Sträf-
lingen. Unter Nikolaj I., wo der Militärdienst gewöhnlich
fünfundzwanzig Jahre dauerte und den bürgerlichen Tod be-
deutete, flüchteten sich Tausende zu den Stranniki, die in
ihren Schlupfwinkeln in den Wäldern von Jaroßlaw, Perm
und namentlich in den nordöstlichen Gouvernements den Deser-
— 255 —
teuren unauffindbare Verstecke boten. Unter Alexander II.
war ein Deserteur namens Nikonow das Oberhaupt der Sekte.
Man verhaftete ihn mehrmals, er entfloh immer wieder. Die
Revolutionsepoche imter Nikolaj II. hat besonders der Sekte
der Stranniki unzählbare Tausende Anhänger zugeführt, ganze
Scharen von Räuberbanden haben sich unter dem Deckmantel
des religiösen Fanatismus ausgebreitet, hausen in den Wäldern,
sanmieln sich in unzugänglichen Verstecken und brechen dann
über die Dörfer herein, morden, rauben, vergewaltigen Frauen
und schänden Kinder. Jede Untat, die man begeht, ist ein
heiliges Werk zu größerer Ehre Gottes, denn man bekämpft
und schädigt das Reich des Antichrist, die Macht des Teufels.
In der beispiellosen Verwirrung, welche di^ Regierungen Jahr-
hunderte hindurch systematisch vorbereitet haben, feiert nun
der groteske Wahnsinn der russischen Sektierer seine größten
Triiunphe. In Strömen fließt das Blut, das dem tierischen
Wollüstling prickelnden Reiz verschafft, und aus der rauchen-
den Erde steigen immerfort neue phantastische Gebilde her-
vor, um das Chaos zu vervollständigen. Was die Sekten in
ihrem Irrwahn erstrebten, das hat die zarische Regierung selbst
vollbracht: alle Bande der Ordnung sind gelöst, es gibt keine
Gesetze, keine Autorität, keine Pflichten und keine Rechte
mehr.
13- Ehrbegriff, Duell und Verbrechen.
Das russische Wort für Ehre — Traditionelle Untugenden der Russen — All-
gemeinheit des Diebstahls — Der Großfürst als Millionendieb — Korruption
in der Armee — Duldung von Ehrenbeleidigungen — Einschätzung der
Bürgerehre — Satisfaktion für Beleidigung Vornehmer — Leibesstrafen und
Geldstrafen für Schläge und Beschimpfungen — Die Genugtuung für Männer
und für Frauen — Anmerkung über kalmückische Ehrbegriffe und Strafen
für Beleidigungen — Ehrenkodex Katharinas II. — Ein Pauschale für Be-
schimpfungen — Das Geschäft mit der Ehre — Zehn Moralgebote — Duell-
wesen — Duell auf Peitschen — Moderne Standesehre — Puschkins Duell
— Verbrechen in Rußland — Seltsame Statistik — Lügenhaftigkeit der
Regierung — Ursachen der Verbrechen.
Der Ehrbegriff ist dem Russen etwas durchaus Fremdes.
Bis zum achtzehnten Jahrhundert hatte die russische Sprache
nicht einmal ein Wort für Ehre.^) Seither findet man im
Wörterbuch das Wort ^ecTb als Notbehelf. Peter der Große
mußte selbst seinen Feldherren den soldatischen Ehrbegriff
erst klannachen.2) Bei Hoch und Niedrig fehlte jedes Ver-
ständnis für die Schändlichkeit der Lüge, des Stehlens, des
Rauhens und sogar des Mordens. Noch jetzt kann man be-
haupten, daß von zehn Russen wenigstens fünf zwischen Mein
und Dein keinen Unterschied machen und den Falscheid als
kein Verbrechen ansehen. Wie einst ist auch heute derjenige
am meisten geachtet, der am geschicktesten zu betrügen weiß.
Die Minister und Ministergehilfen stehlen und betrügen ebenso
schamlos und öffentlich wie der letzte Tschinownik; der Groß-
fürst Nikolaj Nikolajewitsch der Ältere ließ im letzten Türken-
kriege ungezählte Millionen, die der Verpflegung der Armee
1) ,,Ils ont si peu de connoissance de l'Honneur pris dans son v6ritable
sens. qu'il n'y a dans leur langue aucun mot qui le puisse exprimer." Capi-
taine Jean Perry, Etat present de la Grande-Russie, 171 7. S. 208.
2) Vgl. Seite 14.
17*
— 260 —
dienen sollten, in seinen Taschen verschwinden; und ebenso
machten es im letzten Kriege mit Japan die meisten Feld-
herren und Admirale. „Ein ehrlicher Mann/* heißt es im
Sprichwort, „ein dummer Mann**. Ein bestrafter Mann gilt
nicht als entehrt. General, Priester, Hofmann oder Kaufmann,
für sie alle ist das Gefängnis eine Station, an der zu halten
sie alltäglich bereit sind. Nach verbüßter Strafe kehrt man
auf seinen Posten oder in seine Ehrenstellungen zurück, und
in der Schätzung seiner Mitbürger hat man nichts verloren.
Früher wurden selbst die höchsten Persönlichkeiten, wenn sie
sich die Ungnade des Herrschers zugezogen, mit dem Knut
oder der Peitsche gezüchtigt. Diese Züchtigung entehrte sie
keineswegs; sie verschmerzten die Tracht Prügel und blieben
auch nach der Bestrafung dieselben hohen und angesehenen
Herrschaften, die sie vorher gewesen.
Das, was wir Ehrenbeleidigung nennen, läßt den richtigen
Moskowiter kalt. Wenn man von jemandem beleidigt wird,
steckt man die Beleidigung ein ohne daraus eine Affäre zu
machen. Wurde man in früheren Zeiten von jemandem ge-
schlagen, so durfte man nicht zurückschlagen, sondern mußte,
wenn man auf Genugtuung Anspruch machte, die Sache vor
Gericht bringen. Die Reparierung einer Bürgerehre erfolgte
gewöhnlich durch eine Geldstrafe, die höchstens zwei Rubel
betrug. In einem von mir schon häufig erwähnten Buche,
das die Religion der Moskowiter behandelt, aber auch vor-
trefflich die Sitten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhun-
derts schildert, heißt es: „Die Scheit- und Schmach- Worte
lassen sie ungestrafft / dergestalt / daß nichts gemeiners
ist / als zu sehen / wie sie sich mit dem Maul herum
beissen. Das gemeine Volck thut es hierinnen den alten Weibern
nach / und kommt also selten zu den Schlägen.** i) Den
Vornehmen bot die Justiz allerdings eine größere Genugtuung
und zwar nach einem bestimmten Tarif in barem Gelde oder
in einer körperlichen Züchtigung des Beleidigers; die Wahl
hatte der Beleidigte.^) Die Körperstrafe bestand in Stock-
1) Religion der Moscowiter, 17 12. Seite 86.
*) Capitaine Margeret, Estat de 1' Empire deRvssie, 1669= 1821, S. 118.
— 261 —
schlagen^) auf den nackten Rücken und den nackten Hintern.
Die Exekution vollzog der Henker in Gegenwart des Richters,
des Beleidigten und aller jener, die bei der Beleidigung an-
wesend waren. Die Zahl der Schläge bestimmte der Richter;
erst wenn dieser: genug I rief, hörte der Henker auf. Die
Geldstrafe war folgendermaßen festgesetzt: Der Beleidiger
mußte dem Beleidigten so viel zahlen, als dieser jährlichen Gehalt
vom Zaren hatte. War der Beleidigte verheiratet, so mußte
der Beleidiger das Doppelte entrichten. Wenn die Beleidigung
eine besonders schwere war, so mußte der Beleidiger sowohl
die Batogen- als die Geldstrafe erdulden. In einigen Fällen
wurde der Verurteilte sogar durch die Stadt gepeitscht und
dann verbannt.
Einen sinnigen Strafkodex für Ehrenbeleidigungen schuf
die große Katharina; sie befahl 2): Derjenige, der einen Bürger
mündlich oder schriftlich beleidigt, muß die Summe bezahlen,
die der Beleidigte alljährlich an die Stadt und den Staats-
schatz als Steuern entrichtet. Derjenige, der einen Bürger
mit der bloßen Hand, ohne Waffen, schlägt: zahlt als Strafe
das Doppelte von dem, was der Beleidigte an jährlichen Steuern
leistet. Derjenige, der die Frau eines Bürgers beleidigt, muß
ihr das Doppelte von dem zahlen, was ihr Mann jährlich
an Steuern abliefert. Wenn die beleidigte Frau auch selbst
Steuern entrichtet, muß ihr der Beleidiger das Doppelte von
dem geben, was sie und ihr Mann jährlich dem Staate und
der Stadt zahlen. Derjenige, der die Tochter eines Bürgers
beleidigt, muß viermal soviel zahlen, als die jährlichen Steuern
des Vaters und der Mutter betragen. Derjenige, der die er-
wachsenen Kinder eines Bürgers beleidigt, muß die Hälfte
der jährlichen Steuern, welche die Eltern der Kinder entrichten,
als Strafe zahlen. Derjenige, der den erwachsenen Sohn eines
Bürgers beleidigt, bezahlt die Summe, die den jährlichen
Steuern des Vaters des Beleidigten entspricht. — Am schlimm-
sten war man also daran, wenn man die Tochter eines Bür-
gers beleidigte. Die Kaiserin begnügte sich aber nicht mit
1) Das war die berüchtigte Strafe der Batogen, von 6aTorL, Stockschlag.
*) Geheimnisse von Rußland» Regensburg 1844. I 234.
— 262 —
diesem Tarif, sondern suchte aus den Ehrenbeleidigungen auch
einen Profit für ihre Liebhngsanstalt, das Findelhaus, heraus-
zuschlagen. Sie erließ demnach eine Verordnung, daß ein
Bürger, der dem Findelhaus eine Summe von 25 — 1000 Rubel
zuwende, das Recht erhalte, für jede Beleidigung dieselbe
Sunune, die er dem Findelhaus geschenkt, für jeden Schlag
aber das Doppelte dieser Summe von dem Beleidiger zu for-
dern. Durch diese Verordnung wurde eine merkwürdige Moral
gezüchtet. Man versicherte sich mit irgend einer Summe beim
Findelhaus und trachtete dann, soviel als möglich beleidigt
zu werden. Je höher die Taxe, die man dem Findelhaus ent-
richtete, desto glänzender das Geschäft, das man mit dem Be-
leidigtwerden machen konnte. i) Richtiger vermag man den
traurigen Zustand der russischen Sitte und Sittlichkeit nicht
zu illustrieren als durch diesen Tarif Katharinas, durch diesen
seltsamen Ehrenkodex der Kaiserin, die sich anmaßte, die
Freundin der aufgeklärtesten Geister des achtzehnten Jahr-
himderts genannt zu werden. Dieselbe Katharina inspirierte
die satirische Zeitschrift „Buntes Allerlei**, in der die Mängel
und Laster der Gesellschaft verspottet und der russischen Ver-
waltung die folgenden neuen zehn Moralgebote gepredigt wur-
den: Du sollst nicht Handsalben nehmen; du sollst eine An-
gelegenheit, die von dir abhängt, nicht verschleppen; du sollst
keine Ränke schmieden; du sollst mit den Leuten nicht grob
^} Selbst die halbwilden Kalmücken haben mehr Ehrgefühl als die
Russen. Bei ihnen ist für Schläge, je nach dem Range der beleidigten Per-
sonen und der Heftigkeit der verübten Gewalttätigkeiten, die Strafe so ge-
nau bestimmt, daß man sogar festgesetzt hat, wieviel für einen Zahn, ein
Ohr und einen jeden Finger an der linken oder rechten Hand gutgetan
werden soll. Eltern oder Schwieger, die ihre Kinder ohne Ursache schlagen,
sind ebenfalls straffällig. Femer gibt es Strafen für folgende Beschimpfungen :
wenn man einen Mann am Haare oder Barte zerrt, ihm die Quaste von der
Mütze reißt, ihm Sand oder Speichel ins Gesicht wirft; oder wenn man eine
Frau an den Zöpfen zerrt, oder nach ihren Brüsten greift; im letzteren
Falle sind die Strafen geringer, je älter die Frau ist. Die Ehre ist bei den
Kalmücken sogar höher eingeschätzt als das Leben. Die Bestrafungen für
Beleidigungen sind empfindlicher als die Strafen für Todschlag ; selbst Eltern -
mord zieht weder Lebens- noch Leibesstrafen nach sich. Vgl. Merkwürdig-
keiten aus Pallas Reisen. 1773. Seite 205.
— 263 —
sein; vertröste die Bittsteller nicht auf morgen; mache aus
den Akten und Gesetzen keine unberechtigten Auszüge; gib
dich nicht mit Ohrenbläserei ab ; betrinke dich nicht ; du sollst
dich jeden Tag kämmen und rein halten; wirf die Feigheit
den einen und die Frechheit den anderen gegenüber ab. Ka-
tharina erkannte und verspottete also selbst die alten traditio-
nellen Untugenden des russischen Volkes. Aber sie tat nichts,
um sie zu bekämpfen. Ihr ausgesprochenes Prinzip war : Leben
und leben lassen! und eine andere satirische Zeitschrift von
damals, „Trutenj"^), warf der Kaiserin berechtigterweise mit
kühner Offenheit moralischen Indifferentismus vor 2); denn es
herrschte tatsächlich unter der Regierung der aufgeklärten
Katharina eine grenzenlose Verwirrung aller Sitten und Ehr-
begriffe.
Die französierende Kultur jener Zeit hatte noch nicht ein
einziges Übel der alten Zeiten, die sich imter der schützenden
Decke der trägen Tradition fortgefressen hatten, ausgerottet
oder selbst anzutasten gewagt; und trotzdem ließ Katharina
in das Volk und die Gesellschaft die Schlagworte der vor-
geschrittensten Zivilisation werfen, die natürlich niemand ver-
stand. Der Russe wußte noch immer nicht, was Ehre sei
oder was er mit der Ehre, die man ihm aufdrängte, anfangen
sollte; und da predigte man ihm eindringlich die Lehre von
der höheren Standesehre, sagte man dem Edelmanne, der
Bürger könne sich die Beleidigung seiner Ehre nüt Geld be-
zahlen lassen, der Aristokrat aber müsse Blut fordern, müsse
sich duellieren. Die alten Russen kannten den Zweikampf
auf dem Schlachtfelde, aber das Duell als Mittel zur Repa-
rierung einer beleidigten Ehre war ihnen etwas Unbegreif-
liches geblieben. Wollte man einmal an einem Beleidiger schär-
fere Rache nehmen, als sie die erwähnten Gesetze gewährten,
so räumte man den Gegner durch Verrat oder Meuchelmord
einfach aus dem Wege. Die Vornehmsten kannten zwar
eine Art Duell als Selbstjustiz, jedoch nicht ein Duell auf
1) TpyreHh, die Drohne.
s) Geschichte der russischen Literatur von Alexander von Reinhold t.
Leipzig (1886). S. 419 — 420.
— 264 —
Säbel oder Pistolen, sondern auf Peitschen. „Die Knesen
und andere große Herren schlagen sich offt zu Pferde mit
Peitschen / und zerfetzen sich auff eine grausame Weise /
alsdenn kommen sie bey dem Czar, wenn ers erfährt / in Un-
gnaden." i) Bei Margeret 2) heißt es: „II faut noter qu'il n'y
a nuls duels entre-eux, ils ne portent nuUes armes sinon ä la
guerre ou en quelque voyage.** Nur zwischen Ausländern
fanden zuweilen Duelle statt; wurde einer von den Duellanten
verwundet, so bestrafte man sowohl den Herausforderer als
den Geforderten so, als wenn sie einen Mord begangen hätten,
und da gab es keine Entschuldigimg. Den Einheimischen
aber fiel es gar nicht ein, sich um der Ehre willen solchen
Gefahren auszusetzen. Noch aus der Zeit Peters des Großen
erzählt der preußische L^gationssekretär Johann Gotthilf
Vockerodt^): „Überhaupt konunt denen Russen unter allen
ausländischen Erfindungen nichts lächerlicher vor, als wenn
man ihnen vom point d'honneur spricht, und sie dadurch
bewegen will, etwas zu t\in oder zu lassen. Daher hat auch
Petrus I. bei keinem seiner Befehle von seinen Russen willigerem
Gehorsam gefunden, als da er die Duelle verboten hat, und
noch bis auf den heutigen Tag wird kein russischer Offizier,,
wenn er von seines gleichen geschimpfet wird, sich in den
Sinn kommen lassen^ Satisfaction zu fordern, sondern sich
stricte nach der Vorschrift des Duellmandats achten, welches
verordnet, daß solchenfalls der beleidigte Theil klagen, und dar-
auf der Inquirant ihm öffentliche Abbitte und Reparation d'hon-
neur tun solle; darf auch nicht besorgen, daß ihm desfalls
von einem seiner Landsleute ein Vorwurf geschehe.** Erst
die kulturelle Epoche Katharinas IL, da man krampfhaft Eu>
ropa gleichzukommen sich bemühte, aber nur die Untugenden
Europas anzimehmen verstand, brachte das Duellwesen nach
Rußland. Das berühmteste und traurigste Duell in Rußland
wurde ein halbes Jahrhundert später jenes vom 27. Januar
1837, in dem Alexander Puschkin, der größte Dichter Ruß-
^) Religion der Moscowiter, 17 12. S. 87.
S) a. a. O. S. 118.
S) In Ernst Herrmanns Zeitgenöss. Berichten zur Geschichte Rußlands
(Rußland unter Peter dem Großen). Leipzig 1872. S. 112.
Schornsteinfeger im Restaurant.
{Aiisjuk.iwiliy, Sctnes po|uil^iir<;s K„5^„.)
-- 265 —
lands, von der Kugel des französischen Barons Dant^s-Heeckeren
fiel. Die Ursache zu diesem tragischen Duell lag in der Ver-
kommenheit der höchsten Gesellschaft, in welcher Ehebruch
imd Ausschweifung gleichsam zum guten Ton gehörten. So-
wohl Puschkin als sein Gegner gehörten zu den berüch-
tigtsten Frauenverführern der vornehmen Kreise; oft genug
gingen sie Arm in Arm auf Eroberungen aus. Nun mußte
es der Dichter erleben, daß man seine eigene Frau im Ver-
dacht hatte, seinem Lastergenossen zum Opfer gefallen zu
sein. In früheren Zeiten setzte man. sich über solchen Ver-
dacht leichtmütig hinweg; jetzt war es indessen schon Gesell-
schaftsgesetz geworden, die beleidigte Familienehre durch ein
Duell zu rehabilitieren. Und wie gewöhnlich wurde der un-
glückliche Ehemann selbst die Sühne für die Verletzung der
Ehre.
Der blutige Ehrenkodex existiert aber nur für die Ari-
stokratie. Der Bürger und gemeine Mann künmiert sich da-
gegen auch heute nicht um seine sogenannte Ehre. Ihn kann
nichts beleidigen, denn Denunziantentum und Verleumdung
sind keine schändlichen Gewerbe; und Diebstahl oder Raub,
selbst Mord, ist ein Geschäft wie jedes andere, das einen Ver-
dienst gibt, wenn man geschickt ist, und Verdrießlichkeiten
einbringt, wenn man Pech hat. Kaiser Nikolaj I. selbst sah
namentlich den Diebstahl für ein solches Vergehen an, das
die Moral nicht berührte; und er bestrafte die Diebe einfach
in der Weise, daß er sie unter die Soldaten stecken ließ. Man
kann sich eine Vorstellung davon machen, welche Moral in
seiner Armee herrschen mußte.
Eine Statistik der Verbrechen in Rußland gehört vorläufig
zu den unlösbaren Aufgaben. Die offiziellen Angaben sind
vom Anfang bis zum Ende erlogen. Die Regierung gibt bei-
spielsweise einmal bekannt, daß im Laufe -eines Jahres im
ganzen Reiche etwa 2000 Verbrechen gegen das Eigentum
und 3000 gegen das Leben vorgekommen sind und daß die nie-
drigeren Vergehen die Zahl 7000 erreicht haben. Vergleicht
man diese offizielle Regierungsangabe mit den ebenfalls offi-
ziellen Mitteilungen der einzelnen Gouvemementsverwaltungen
aus demselben Jahre, so erfährt man ungefähr folgendes: in
— 266 —
den Gefängnissen der Ostseeprovinzen befanden sich 170CX)
Personen, von denen mindestens die Hälfte zu schweren Kri-
minalstrafen verurteilt wurden. Berichte aus einigen anderen
Gouvernements ergeben weitere 300000 Verbrechen, die mit
Verbannung und Zwangsarbeit bestraft wurden. Von den leich-
teren Vergehen nehmen wir nicht Notiz. Und dabei haben wir
etwa dreißig Gouvernements, aus denen uns keine Berichte
vorliegen, und die zwei größten Verbrecherbezirke Moskau und
Petersburg gar nicht berücksichtigt. In einem anderen Jahre
erzählt die Übersicht der Regierung, daß sich in sämtlichen
Staatsgefängnissen des Reiches etwa 40000 Personen be-
fanden; und dann erfährt man aus den Gouvemementszei-
tungen ganz zufällig, daß sich in jenem Jahre in den Gefäng-
nissen von Moskau allein 20000, in jenen von Petersburg
35000, in jenen von vierzig anderen Gouvernements rund
300000 Individuen befanden. Für diesen kleinen statistischen
Scherz sind nicht einmal die letzten Jahre gewählt worden, wo
infolge der allgemeinen Anarchie das Verbrechen schranken-
los regiert, sondern zwei der friedlichsten Jahre des neueren
Rußland. Die Lüge, die alles Russische verhüllt, verhindert
auch einen klaren Einblick in das Kapitel der Verbrechen in
Rußland. Es ist daher begreiflich, wenn selbst die schärfsten
Kritiker der russischen Zustände im Tone aufrichtiger Wahrheit
und voller Überzeugung die Behauptung aufstellen, daß in
Rußland grobe und blutige Verbrechen selten vorkommen;
daß man im allgemeinen von Mord, Straßenraub und Ein-
bruch nicht häufig höre. Dies ist in der Natur jener Publi-
zität begründet, welche die russische Regierung gestattet. Die
Berichte der Regierung sind Lügen; die Berichte der Gou-
vernements aber, aus denen man sich durch Vergleiche und
Addierungen ein einigermaßen richtiges Bild machen könnte,
sind nicht jedem leicht zugänglich. In den populären Zei-
tungen endlich findet man nur hier und da die krassesten Fälle
verzeichnet. Diese schwersten Verbrechen erwecken ein be-
sonderes Interesse, weil sie gleichzeitig ein blutiges Streiflicht
auf das kulturelle und sittliche Niveau des Volkes werfen.
Der träge Russe rafft sich zu einer Mordtat gewöhnlich nur
dann auf, wenn ihn der Rausch mutig macht oder der Zorn ver-
— 267 —
wirrt, wenn ihn der Teufel seines Aberglaubens jagt oder der in
ihm schlummernde sadistische Trieb erwacht und seine Wol-
lust wild aufpeitscht. Typische Morde aus Aberglauben und
Wollust sind in den früheren Kapiteln schon geschildert wor-
den; wir werden den Verbrechen aus solchen Motiven noch
öfter in den späteren Kapiteln begegnen. Wenn man in Ruß-
land von alledem trotz des häufigen Vorkommens nicht viel
hört, so liegt dies auch daran, daß man dort überhaupt nicht
laut von etwas spricht, das irgendwie in Zusammenhang mit
der Staatsverwaltung gebracht werden könnte. Man entschließt
sich schwer dazu, was man erfahren hat, weiter zu berichten oder
zu veröffentlichen; man will nicht mit der Polizei zu tun be-
kommen, die zur Beruhigung der oberen Behörden wenigstens
die unschuldigen Anzeiger ins Gefängnis wirft, wenn es ihr
nicht gelingt, der wirklichen Täter habhaft zu werden.
14. Lügensucht.
Die Lügen der Regierenden — Pobjedonoßzews Lehrmethoden — Baron
Mayerberg über die Lügensucht der Russen — Allgemeinheit der Lügen-
haftigkeit — Meineid alltäglich — Meineid und Aberglaube — Das Geschäft
mit dem falschen Eid — Bureau für falsche Zeugen — Tarif für Mein-
eide — Religion und Lüge — Die Taufe des Dichters Bogrow — Die Lüge
in der Ehe — Die Sittengeschichte Kotoschichins — Graf Leon Tolstoj —
Gogolj — Äußerungen Schtschedrins und Nikitenkos — Sprichwörter über
Lüge und Wahrheit — Ausländische Urteile über die russische Lügensucht.
Alles ist auf Lüge aufgebaut und auf Täuschung berech-
net. Der Zar täuscht das Volk, und die Minister und Be-
hörden betrügen einander und den Herrscher. Der Kaiser
schenkt dem Reiche eine Verfassung und ein Parlament, und
denkt nur daran, wie er die Verfassung vernichten und die
Volksvertreter verderben könnte. Konstantin Pobjedonoßzew
schrieb ein Buch über russisches Zivilrecht und unterschlug
darin alle Rechtsreformen Alexanders IL, weil sie seinen An-
sichten widersprachen; und in seinem Lehrbuch des Zivil-
rechtes für Studenten behandelte derselbe Pobjedonoßzew noch
— 268 —
die Leibeigenschaft, die vor vierzig Jahren abgeschafft worden
ist, wie eine fortbestehende Institution.
„Die Moskowiter/* schrieb vor mehr als zweihundert Jahren
der Diplomat Mayerberg i), „sind von der Wiege an doppel-
züngig; in ihren Worten findet man niemals Aufrichtigkeit.
Lügen halten sie durch neue Lügen mit solcher Unverschämt-
heit aufrecht, daß man ihnen gegenüber an der eigenen Wahr-
haftigkeit zu zweifeln beginnen muß. Überführt man sie der
Lüge, so erröten sie nicht, sondern lächeln bloß."
Die Lüge ist das Gewöhnliche; das Überraschende nur,
wenn jemand einmal die Wahrheit sagt oder gar die Lüge zu
tadeln wagt. Die Zahl solcher Helden ist verschwindend, nie-
mand hat Lust, sich mit der Allgemeinheit in Widerspruch
zu setzen. Die Lüge herrscht nicht stärker in dieser oder jener
Provinz, in dieser oder jener Gesellschaftsklasse, sondern über-
all gleich; sie ist nicht exklusiv, sie ist die wahre National-
untugend, die nivellierende Erbsünde. Man lügt nicht um
eines Vorteils willen, sondern um zu lügen. Man verspricht
nur, um das Versprechen nicht zu halten; man sagt: ja, und
denkt sofort: nein.
Der Meineid ist kein Verbrechen. „Sie glauben nicht /
daß es eine Sünde sey / einen falschen Eyd zum Nachtheil
ihres Feindes / und absonderlich eines Römisch-Catholischen /
zu thun.**2) Das angeborene Laster wird vom Aberglauben
unterstützt : muß man vor Gericht einen Eid ablegen, so steckt
man ein Haar zwischen die Finger, das macht den Eid un-
gültig. Der Meineid ist eine Institution, das Handeln mit fal-
schen Zeugnissen und falschen Zeugen ein Geschäft wie jedes
andere. In einer chauvinistisch-russischen Zeitschrift') wurde
berichtet, daß sich in Lodz eine öffentliche Anstalt für falsche
Zeugnisse befinde; ein fester Tarif regelt die Ware: jede
Angelegenheit hat ihren Preis, das billigste Zeugnis kostet
drei, das teuerste fünfzig Rubel. Aber nicht Lodz allein, jede
Stadt hat ihre eigene Institution für Meineid. Ist man in
1) Voyage en Moscovie, 1688. Seite 124 und 161.
*) Religion der Moscowiter. S. 64.
8) CBt>Ti., 5. (|x^Bp. 1889.
— 269 —
Verlegenheit, so kann man offen darüber mit seinem Advo-
katen reden, und will dieser nichts davon wissen, so verhilft
die Polizei selbst zu einem zuverlässigen falschen Zeugen : „Für
ein wenig Wodka kann man soviel Zeugen haben als man
braucht," sagt Fürst Meschtscherski^), „man rufe sie, wohin
man wolle, und sie kommen; man sage ihnen, was sie be-
schwören sollen, tmd sie beschwören es.**
Ist nicht die Orthodoxie selbst eine große Lüge? Viele
Millionen, welche die Kirchen besuchen, sind dem rechten
Glauben längst untreu geworden und zurückgekehrt in den
Schoß des Heidentums oder Anhänger barbarischer Sekten ge-
worden. Alljährlich treten Zehntausende Juden, Katholiken,
Protestanten zur Orthodoxie über; unter ihnen ist kein ein-
ziger Proselyt aus Überzeugung, jeder von den Bekehrten hat
nichts anderes im Sinne als sich mit Hilfe dieser großen reli-
giösen Lüge vor Verfolgungen zu retten oder Karriere zu
machen. Der Dichter Bogrow trat vom Judentiun zur Ortho-
doxie über, um das Recht des Aufenthaltes in Petersburg zu
erwerben, das ihm Pobjedonoßzew um diesen Preis zugesagt
hatte; am Tage nach der Taufe aber wurde Bogrow aus der
Hauptstadt ausgewiesen, weil die Orthodoxie ihm eine fünf-
jährige Probezeit vorschrieb, während der er seine aufrichtige
Rechtgläubigkeit erweisen sollte.
Der Lüge in der Religion ist die Lüge in der Ehe würdig.
Kotoschichin hat die sexuelle Lüge des siebzehnten Jahrhun-
derts in seiner eigenartigen Schrift ,,Über Rußland unter der
Regierung des Zaren Alexe j Michailo witsch** in naiver ein-
facher Weise beschrieben; ein Sohn des alten Rußland, hat
er die innere Fäulnis im russischen Leben und Staat der vor-
peterschen Epoche, die furchtbare Gewalt der Lüge, die da-
mals alle Stände verwüstete und alle Lebenslagen umlauerte,
geschildert 2); und zweihundert Jahre später hat der große
Leon Tolstoj dasselbe Thema angeschlagen und gezeigt, daß
Rußland sich nicht ändert. Und wie haben Gogolj in seinem
„Revisor** oder in den „Toten Seelen** und der moderne Sa-
^) Im rpa»^naHHHi>, 15. anp. 1889.
^) Alexander von Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur. S. 227.
— 270 —
tiriker Saltykow-Schtschedrin in seinen „Gouvernements-Skiz-
zen**^), in seinen „Zeichen der Zeit und Briefen aus der Pro-
vinz** die russische Lügensucht gegeißeh; keine Literatur der
Welt kennt eine solche Lügengestalt wie den Schtschedrinschen
Porf irij Petrowitsch, und kein Schriftsteller der alten oder neuen
Zeit, der alten oder neuen Welt hat in bezug auf die eigene
Nation das furchtbare Geständnis gemacht wie derselbe
Schtschedrin : „Seit undenklichen Zeiten,** schrieb er, „hat man
beobachtet, daß der echte Russe stets zu einer Lüge bereit
ist. Es ist historisch erwiesen, daß schon in alten Zeiten
die von einem Russen gemachten Angaben niemals ernst ge-
nommen wurden.** Ähnlich klagte Professor Nikitenko^): „Die
Lüge ist der Götze unserer Gesellschaft; die russische Gesell-
schaft lügt in jeder Minute ihres Daseins, in Wort und Tat,
bewußt und unbewußt.**
Und die russischen Sprichwörter endlich sagen : Das Lügen
begann mit der Welt und wird erst mit der Welt sterben. Die
Wahrheit ist heilig, aber wir sind sündig. Die heilige Wahr-
heit ist gut, aber nicht für sterbliche Menschen. Die Wahr-
heit taugt nicht für die Praxis, man soll sie in einen gläsernen
Heiligenschrein stellen und anbeten. Trauere nicht um die
Wahrheit, sondern suche dich gut zu stellen mit der Falsch-
heit. Von der Falschheit lebt der Mensch. Die Falschheit ist
nicht das Kraut, woran man stirbt. Lügen ist nicht wie Teig
kauen, man erstickt nicht daran. Eine schmackhafte Lüge ist
besser als eine bittere Wahrheit. Der Roggen schmückt das
Feld, die Lüge die Sprache.
Nicht anders als die Russen selbst denken die Ausländer.
„In der Handlung,** sagte ein Reisender vor zweihundert
Jahren 3), „machen sich die Moscowiter kein Gewissen grau-
same Schwüre zu thun / jemehr sie aber schwören / je
weniger glauben ihnen die Teutschen.** Der Engländer Perry*)
klagte ununterbrochen über die Perfidie der Russen. Als
Peter der Große Europa von der Kultivierung Rußlands über-
1) Deutsch unter dem Titel „Aus dem Volksleben Rußlands".
2) „PyccKan crapiraa", 1890.
8) Religion der Moscowiter, anno 17 12. S. 65.
*) Etat present de la Grande-Russie, 17 17.
— 271 —
zeugen wollte, -erklärte „Die europäische Fama**, daß man
„den moscowitischen Avisen nicht glauben darff.**^) Custine
schrieb 2): „Les Russes sont encore persuad^s de Tefficacit^
du mensonge.** Und der Engländer Lanin endlich fällte das
folgende Urteil 3): „Der Wahrheitsliebe sind die Russen hoff-
nungslos bar. Sie thun es, man kann das ohne Übertreibung
sagen, den alten Kretensem in dieser Beziehung zuvor und
beschämen die heutigen Perser.**
15. Diebstahl.
Vergleich zwischen Lügensucht und Stehlsucht — Die Freiheit des Wortes — •
Der Diebstahl im Sprichwort — Ein Ausspruch Alexanders II. über die Stehl-
sucht der Russen — Mentschikows Gaunereien und Ansichten — Katharinas
Günstling Soritsch als Banknotenfälscher — Kanzler Bestuschew als Wechsel-
fälscher — Hoch- und höchstgeborene Diebe — Der Grundsatz der Poüzei —
Allgemeinheit des Stehlens — Vergleich der Russen mit den Spartanern —
Stehlsucht und Treue des gemeinen Russen — Gesetze gegen den Diebstahl —
Todesstrafen — Leibesstrafen — Peters ABC der zehn Gebote — Die Gebote
des Chlystygottes Daniel Filipowitsch — Das Märchen vom Recht und Unrecht
— Der Diebstahl bei den Tscherkessen und Osseten — Bei den Kalmücken und
Kamtschadalen — Was die Russen am liebsten stehlen — Angst vor Versiegel-
tem — Diebstahl und Aberglaube — Den Dieben günstige Nächte — Diebstahl,
Aberglaube und Verbrechen — Die Totenhand als Diebstalisman — Menschen-
fett für Diebslichter — Mordtaten zur Gewinnung von Menschenfett — Ent-
deckung der Diebe durch Hexerei.
Wenn man von den Russen gesagt hat*): sie seien sich
beim Lügen keines Unrechts bewußt, denn sie leiden an völ-
hger Anästhesie in bezug auf jenes sittliche Gefühl, das andere
Völker so empfindlich gegen die Lüge macht — so kann man
diesen Anspruch nicht auch auf ihren Hang zum Stehlen
anwenden. Die Lügensucht ist bei ihnen Naturanlage, die
durch Erziehung und das Beispiel der Regierenden verstärkt
1) Vgl. Seite 3$,
«) a. a. O. II 320.
') Russische Zustände I 48.
^) Lai^in, a. a. O. I 54.
— 272 —
wurde. Das Wort ist das Einzige, worüber der Russe frei ver-
fügen darf; es ist sein persönliches Eigentum, er kann damit
den Gebrauch machen, der ihm beliebt; der Sklave, der für
jede seiner Handlungen nicht nach Recht und Gerechtigkeit,
sondern nach Laune und Willkür des Herrn verantwortlich ist,
hat die Freiheit zu lügen, und für Lüge keine Strafe zu befürch-
ten. Das Stehlen aber ist strafbar. Jedermann weiß, daß er
durch Diebstahl mit den Behörden in Konflikt geraten kann;
diese Naturanlage wird vom Staate nicht geduldet, unzählige
Gesetze beweisen es. Dies gilt jedoch nur in der Theorie, in
der Praxis herrscht auch in bezug auf das Stehlen die laxe
Moral; wo alles lügt, muß alles stehlen.
Ein russisches Sprichwort sagt: „Unser Christus selbst
würde stehlen, wenn er nicht durchstochene Hände hätte.**
Und Kaiser Alexander der Erste meinte^): „Wenn meine Rus-
sen nur wüßten, wo sie sie verstecken sollten, sie würden
meine Linienschiffe stehlen 2); könnten sie mir meine Zähne
im Schlafe ausziehen ohne mich zu wecken, sie würden es thun.**
Mentschikow, der vom Bäckerjungen zum Fürstenrange gelangt
war, verwendete seine genialen Anlagen vor allem zu seiner
eigenen Bereicherung durch schamlosen Diebstahl. Im Jahre
17 14 trieb er es so arg, daß Peter der Große den Anklagen
gegen ihn Gehör schenken mußte. Mentschikow aber zog sich
aus der Schlinge, indem er nachwies, daß der Staat ihm mehr
schulde, als er je gestohlen; und er verlangte mit kühlster
Unverfrorenheit, daß man ihm nunmehr die Differenz bezahle.
Vier Jahre später häuften sich die Anklagen gegen den Günst-
1) J. H. Schnitzler, Geh. Gesch. Rußlands unter Alexander und Nikolaus,
Grimma 1847, I 276.
*) Auch dies bringen sie schon fertig. Man braucht nur an die Diebstahle
im türkischen und japanischen Kriege zu denken. — Aster, Die Kriegsereignisse
rwischen Peterswalde und Pirna im August 18 13 (Dresden 1845, Seite 212) er-
zählt, daß die Russen nach der Schlacht bei Kulm die durch den Siegesrausch
hervorgerufene Verwirrung dazu benützten, um preußische Kanonen zu stehlen
und sie dann für erbeutete französische auszugeben; ,,die russischen Kürassiere
plünderten die verwundeten österreichischen und preußischen Offiziere mit
Gewalt aus, zu Hunderten drängten sie sich zu diesem Zwecke in die Häuser",
heißt es in demselben Buche.
— 273 —
ling abermals so sehr, daß Peter seinem Zorne freien Lauf
ließ. Mentschikow stellte seine Diebstähle gar nicht in Abrede,
sondern entgegnete dem zürnenden Zaren: „Jawol, ich habe
die hunderttausend Rubel gestohlen, von denen Njeganowsky
spricht; ich habe noch mehr gestohlen, ich wüßte selbst nicht
zu sagen: wieviel. Nach der Schlacht von Poltawa fand ich
im schwedischen Lager große Summen ; ich legte davon einige
zwanzigtausend Thaler bei Seite. Ich nahm aus Ihrer Kasse
für mich zu verschiedenen Malen größere oder kleinere Sum-
men : in Lübeck fünftausend Dukaten, in Hamburg zehntausend,
in Mecklenburg zwölftausend Thaler, in Dantzig zwanzigtau-
send. Die Anderen in Ihrer Umgebung nehmen im Kleinen;
ich nahm für mich größere Rechte in Anspruch Dank der
absoluten Autorität, die Sie mir eingeräumt haben. Wenn ich
unrecht that, so hätte man es mir früher sagen sollen.** Der
Zar mußte schweigen und bekennen, daß er selbst den Diebstahl
an seinem Hofe legalisiert, weil er ihn solange geduldet hatte.
Aber nicht so leicht kam Mentschikow ein anderes Mal davon,
als er einige tausend Rubel unterschlug, die für den Ankauf von
Kriegsmaterial bestimmt gewesen waren ; man stellte den Günst-
ling vor ein Kriegsgericht und verurteilte ihn zum Verlust
aller Ämter und Würden. Und wenige Tage später war
Mentschikow wieder oben auf, die Verurteilung entehrte ihn
nicht, er spielte die alte Rolle weiter. Häufig drohte Peter
ihm, ihn wegen seiner unverbesserlichen Stehlsucht in das
Nichts zurückzuschleudern, aus dem er gekommen, oder ihn
köpfen zu lassen; aber mit einem guten Witz entwaffnete der
geniale Dieb stets den Zorn des Zaren. Als Mentschikow unter
Peter dem Zweiten gestürzt wurde, fand man allein in seinem
Petersburger Hause für 200000 Rubel Tafelsilber, für 3 Mil-
lionen Edelsteine und Kostbarkeiten, 8 Millionen Dukaten in
Gold und 30 Millionen Rubel in SUber; in einem geheimen
Versteck entdeckte man siebzig Pud SUber; in Amsterdamer
und Londoner Banken hatte er neun Millionen Rubel deponiert;
der Wert seiner unbeweglichen Güter und seiner Leibeigenen
konnte gar nicht abgeschätzt werden. Wie Mentschikow unter
Peter stahl Patjomkin unter Katharina; ein anderer Günstling
Katharinas, Soritsch, beschäftigte sich, als er aus dem Liebes-
Stern, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in Ruftiand. iS
— 274 —
dienste bei Hofe entlassen war^ in seinem Schlosse Schklow mit
der Fabrikation falscher Banknoten. Der Reichskanzler der
Zarin Elisabeth, Bestuschew, wurde vom französischen Ge-
sandten Marquis de la Chetardie eines ähnlichen Verbrechens,
der Wechselfälschung beschuldigt. Alexander III. machte mit
seinen intimsten Freunden, denen er die höchsten Staatsstel-
lungen anvertraute: General Krischanowsky und Walujew, ge-
nau dieselben Erfahrungen, wie Alexander II. mit dem Grafen
Adlerberg, der nach Mentschikowschem Prinzip die Kasse des
Zaren stets als seine eigene betrachtete. Alexander II. mußte
seinen eigenen Bruder Nikolaj Nikolajewitsch und dessen Sohn
Nikolaj Nikolajewitsch, der jetzt als Diktator Rußland regiert,
wegen unerhörter Diebstähle aus Rußland verjagen, einen an-
deren Großfürsten, Nikolaj Konstantinowitsch, als unverbesser-
lichen Kleptomanen ins Irrenfiaus sperren. Niemals jedoch ist in
Rußland so viel gestohlen worden wie jetzt, seit die politischen
Wirren und die permanente Hungersnot imzählige Millionen
ins Rollen bringen, aber auch eine strengere Kontrolle darüber,
in wessen Taschen sie gerollt sind, unmöglich machen.
Wie die Großen so die Kleinen. Die Polizei huldigt dem
Satze: Jeder will leben; und wenn es die Diebe nicht gar zu
geräuschvoll treiben, so läßt man sie nach Herzenslust arbeiten.
Ein Revolutionär ist wichtiger als tausend Diebe. Auch den
Bestohlenen fällt es nicht ein, bei der Polizei Hilfe zu verlangen ;
dies würde Geld, Zeit und wieder Geld kosten, und das Ge-
stohlene käme doch nicht zustande. Man muß schon eine ganz
bedeutende Persönlichkeit sein, auf daß die Polizei sich in
Bewegung setze, aus purem Pflichtgefühl und ohne Spesen-
vorschuß. So ist Rußland das wahre Dorado für Diebe. Im
Hotel werden einem die Kleider und Stiefel gestohlen ; läßt man
in einer Poststation seinen eigenen Wagen stehen, so kann
man sicher sein, am nächsten Morgen nichts zu finden als das
nackte Gestell.
Der Russe setzt seinen Stolz darein, geschickt zu stehlen, i)
1) Es wäre ungerecht nicht daran zu erinnern, daß auch die alten Ägypter
große Diebe vor dem Herrn waren. — ,,Die Lacedämonier," sagt femer Michael
Montaigne (Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände, ins Deutsche
übersetzt, Berlin 1794, IV 62 und 112), ,, hatten über nichts mehr Schimpf und
— 276 —
Bei den Hofbällen stiehlt man wie auf dem Jahrmarkt. Der
Minister muß sich vor seinem Gehilfen, der General vor seinem
Adjutanten hüten; aber auch umgekehrt. Vom Höchsten bis
zum Niedrigsten huldigt jeder diesem Laster. Wird man er-
tappt, so hat dies keine Entehrung im Gefolge: „Ich habe
gefehlt, Herr,** sagt man; und die Sache ist abgetan. Diebe
sind keine Gauner, keine schlechten Kerle. Sie haben das
heiterste Wesen und das freundlichste Gesicht. Namentlich
die Leute aus dem Volke sind trotz ihres Hanges zum Stehlen
gleichzeitig Modelle einer sogenannten ehrlichen Haut. Man
hat einen Diener, der mit größter Gemütsruhe alles stiehlt,
was man in der Vergeßlichkeit liegen läßt ; und derselbe Mensch
legt sich abends vor die Tür, um mit seinem Leben das Haus
des Herrn vor Einbrechern zu schützen. „Es ist die Ehrlichkeit
des Hundes, vermischt mit der Stehllust des Raben,** sagte
einmal ein deutscher Forscher, i)
Gegen die Stehlsucht der Russen haben die Gesetze seit
tausend Jahren umsonst gekämpft. Als die Byzantiner mit
Oleg von Kijew einen Handelsvertrag abschlössen, mußte vor
allem ein Diebstahlsparagraph verfaßt werden. Wenn ein
Russe einen Griechen bestiehlt, hieß es darin, oder ein
Grieche einen Russen, und der Dieb in flagranti ertappt
wird, aber Widerstand leistet, hat der Eigentümer des gestoh-
lenen Gegenstandes das Recht den Dieb zu töten und das
Schande zu besorgen, als wenn sie sich über einem Diebstahl ertappen ließen.
Das Stehlen war erlaubt, man durfte nur nicht erwischt werden. Lykurgus zog
beim Stehlen die Lebhaftigkeit, Behendigkeit, Dreistigkeit und Geschicklichkeit,
die erfordert werden, seinem Nächsten etwas zu entwenden, sowie den Nutzen
in Erwägung, der dem gemeinen Menschen daraus entwachsen müsse, wenn
jedermann sorgfältig auf die Erhaltung dessen bedacht seyn müßte, was sein
gehört; und hielt dafür, diese doppelte Vorschrift des Angriiia und der Ver-
teidigung würde der militärischen Disziplin zu großem Nutzen gereichen,
welcher wichtiger wäre als die Unordnung und die Ungerechtigkeit, die darinn
liegt, sich des Eigenthums eines anderen zu bemächtigen." Die Russen haben
allerdings solche Gründe wie diejenigen des Lykurgus niemab für sich ange-
führt. Bei ihnen ist der Diebstahl einfach Sitte; „le vol y a pass6 dans les
moeurs," sagte Custine (a. a. O. IV 31).
1) Aurelio Buddeus, St. Petersburg im kranken Leben. Stuttgart, 1846,
II 147-
i8*
— 276 —
Gestohlene selbst an sich zu nehmen.^) Zai Alexej Michajlo-
witsch setzte folgende Strafen fest^): Wenn ein Dieb zum
ersten Male ertappt wurde, so sollte man ihn foltern, um zu
erfahren, ob er nicht auch andere Verbrechen begangen. Ge-
stand er nichts, so wurde er mit der Knute gestraft, man
schnitt ihm das linke Ohr ab und sperrte ihn für zwei Jahre
ins Gefängnis, wo er, stets gefesselt, Arbeiten für den Zaren
verrichten mußte; nach der Entlassung aus dem Gefängnisse
wurde er nach der Ukraine verschickt. Wurde jemand ziun
zweiten Male des Diebstahls überführt, so folterte und knutete
man ihn wie das erste Mal, schnitt ihm auch das rechte Ohr
ab und diktierte ihm vier Jahre Gefängnis. Wenn einer zum
dritten Male als Dieb ergriffen wurde, so wurde er am Leben
gestraft. Kirchendiebe wurden schon bei der ersten Tat zum
Tode verurteilt. Diese strengen Strafen win-den von Alexejs
Söhnen gemildert. So erzählt der Verfasser der Religion der
Moskowiter 3): „Die Diebe werden in Moscau nicht gehencket
/ sie mögen so viel gestohlen haben / als sie wollen. Wenn
es ein kleiner Diebstahl ist / als zum Exempel / zwey Thaler
werth / so wird der Verbrecher zu einer Straffe / welche sie
Batokki nennen / verdammt. Wenn er nun offtmahls einen
solchen kleinen Diebstahl begangen hat / so g^ebt man ihm
die Batokki mit solcher Hefftigkeit / daß er im Bette liegen
muß / ohne sich bewegen zu können. Wenn der Diebstahl
groß ist / und der Dieb zum ersten Mahl ertappet wird / und
nicht erstatten kan / was er gestohlen hat / so straffet man
ihn mit der Knut-Peitsche auff eine erschreckUche Weise;
der Scharf frichter schneidet ihm das rechte Ohr ab ; man setzet
ihn darnach ins Gefängniß / worinnen er zwey Jahre mit Was-
1) Etudes historiques sur la l^gislation nisse ancienne et moderne par
Spyridion G. Z^zas, Paris 1862, p. 15.
2) Allgemeines Russisches Land-Recht Wie solches Auf Befehl Ihr.
Czaar. Majest. Alexei Michailowicz zusammengetragen worden damit allen
Standen des Moscowitischen Reichs vom Höchsten bis zum Niedrigsten gleich-
mäßiges Recht und Gerechtigkeit in allen Dingen wiederfahren möge. Aus
dem Rußischen ins Teutsche übersetzt nebst einer Vorrede Burcard Gotthelff
Struvens. Dantzig 1723, Seite 205 ff.
8) Anno 1712, S. 105.
— 277 —
•ser und Brodt unterhalten / und am Ende desselben wieder
losgelassen wird.** Die späteren Herrscher haben in ihren
Gesetzbüchern endlose Kapitel mit Paragraphen, welche den
Diebstahl mit allen möglichen Strafen bedrohen, angefüllt,
aber mit den Gesetzen ist man dem Laster nicht beigekommen.
Peter der Große versuchte in populärer Weise sein Volk auf-
zuklären, indem er in einer besonderen Schrift die zehn Ge-
bote erklären ließ.^) Klarer, kürzer imd wirksamer als alle
diese offiziellen Androhungen ist eines der zwölf Gebote des
Chlysty Gottes Daniel Filipowitsch, die vom Gottessohne und
Propheten Iwan Sußlow verkündet wurden ; dieses Gebot lautet :
,,Ihr sollt nicht stehlen. Wer nur einen einzigen Kopeken ent-
wendet hat, dem wird man beim jüngsten Gericht diesen Ko-
peken auf den Kopf legen, und seine Sünde wird ihm erst
vergeben werden, wenn dieser Kopek im Feuer zerschmolzen
sein wird.** Stockschläge, Peitsche, Knut, das alles rührt den
Russen nicht, das schreckt ihn nicht, daran ist er gewöhnt;
aber das Bild dessen, der am Tage des jüngsten Gerichts
mit dem brennenden Kopeken auf dem Scheitel seine Sünde
büßen muß, ergreift ihn bis ins Innerste. Leider kennen nicht
alle Russen die Gebote des Gottes Daniel Filipowitsch, und so
wird weiter gestohlen im heiligen Rußland bis zum jüngsten
Gericht.
Der Unterschied zwischen Gut und Böse, Recht und Un-
recht ist dem russischen Volke noch nicht klar geworden,
obwohl eines der schönsten russischen Märchen sich gerade
dieses Thema gewählt hat^): Zwei Bauern, erzählt dieses Mär-
chen, stritten einmal darüber, wer besser durch die Welt
komme, jener, der Recht, oder jener, der Unrecht tue. Beide
begeben sich auf die Reise, aber wo immer sie fragen, wer
1) Vgl. Erste Unterweisung der Jugend, Enthaltend ein ABC-Büchlein,
-wie auch eine kortze Erklärung der zehen Gebote etc. Auf Befehl Petri des
Ersten. Bei Stnive. Russ. Landrecht, als Anhang. Seite 23 — 28: über DiebstahL
*) CKa3Ka 0 iipaBi^ h kphb;^ Das Märchen ist alt, aber vielfach um-
gearbeitet; die Idee hat ein christliches Kolorit und im sechzehnten oder
siebzehnten Jahrhundert ihre letzte Umgestaltung erhalten, indem die Sitten
jener Zeit mit hineingezeichnet wurden. VgL Reinholdts Geschichte der russi-
schen Literatur S. 41.
— 278 —
von ihnen die Wahrheit behauptet habe^ stets triuniphiert der
Bauer, der Unrecht tut. „Was willst du mit dem Recht?**
heißt es überall, „mit dem Recht kommt man nach Sibirien.**
Während der Schwindler sich bei jedem einschmeichelt und
immer satt ist, kommt der ehrliche Bauer fast vor Hunger um.
Er muß endlich den Gefährten um einen Bissen Brot bitten,
bekommt ihn aber nur um den Preis eines Auges. Sie wan-
dern weiter, und stets dasselbe Schicksal: Glück dem Unge-
rechten, dem Falschen, dem Diebe, Unglück dem Gerechten,
Ehrlichen. Diesem kostet ein zweites Stück Brot das zweite
Auge, und er bleibt hilflos am Wege liegen, während der
andere heiter weiterzieht. Jetzt endlich wendet sich das Blatt.
Ein heißes Gebet des Erblindeten verschafft ihm ein Lebens-
. wasser, er erhält die Sehkraft wieder, belauscht die Geheim-
nisse der bösen Geister, heilt eine Prinzessin und führt sie
als Braut heim. Als der andere erfährt, auf welche Weise
sein Gefährte ein solches Glück gemacht, eilt er auch schnell
dorthin, wo jener die bösen Geister belauschte, aber er wird
von den Teufeln bemerkt und zerrissen. Dieses Märchen ist
weitverbreitet, doch niemand kümmert sich um die schöne
Moral, jeder hält sich nur an den einen Satz daraus: mit dem
Recht kommt man nach Sibirien oder man verhungert, das
Unrecht macht satt.
Wie die Russen denken auch einige der nichtrussischen
Völker in Rußland. Bei den Tscherkessen beispielsweise gilt
das Stehlen nicht als schimpflich, sondern als ein Zeichen von
Gewandtheit, so daß eine Braut ihren Bräutigam am härtesten
mit dem Vorwurf kränkt, er habe noch keine Kuh gestohlen.^)
Es g^bt zwar auch gesetzliche Strafen für Diebstahl; schon
wer zum ersten Male erwischt wird, soll den siebenfachen Wert
des Gestohlenen, überdies neun Stück Rindvieh als Sühne
für die beleidigte Ehre des Besitzers zahlen. Aber diese Strafe
ist illusorisch, weil sich selten ein Tscherkesse erwischen läßt.
Blutsbande, Gastfreundschaft und Verbrüderung schützen vor
Diebstahl, und man beraubt nur seine Feinde, geht also mit
Vorsicht zu Werke. Bei den Osseten in Kaukasien muß ein
1) Neumann, Rußland und die Tscherkessen, S. 102.
— 279 —
Dieb das Fünffache des Entwendeten bezahlen^ wenn er es
in heimlicher hstiger Weise gestohlen hat; das gewaltsam Ge-
raubte braucht er aber nur einfach zu ersetzen i); Schwäche
wird verachtet, der Gewalt kann man sich erwehren, vor List
aber nicht hüten.
Bei den Kalmücken dagegen wurde der Diebstahl überaus
streng bestraft. Der Dieb mußte das Gestohlene nicht nur
zurückerstatten und eine Bußezahlung leisten ; sondern in jedem
einzelnen Falle, auch wenn es sich um Kleinigkeiten handelte,
wurde dem Verbrecher ein Finger abgehauen, falls er sich nicht
mit fünf Stück Vieh loskaufen konnte. Selbst auf die Entwen-
dung von Nadeln und Nähgarn waren schwere Strafen gesetzt.
Aufseher' über hundert Zelter hafteten für die Diebstähle ihrer
Untergebenen; wenn sie aus Furcht vor Strafe die Diebstähle
ihrer Untergebenen verheimlichten, wurden sie zum Verluste
einer Hand verurteilt. 2) Pferdediebe mußten das Gestohlene er-
setzen und ihr Vergehen durch Geißelhiebe auf den nackten
Rücken büßen; nach vollzogener Strafe wurden sie vom Jar-
gatschi, dem Gerichtsdiener, mit einem glühenden Stahl auf
der Wange gezeichnet. 3) Auch in Kamtschatka prägte man
den Dieben Brandmerkmale auf.*)
Man ersieht aus diesen Beispielen, um wieviel höher die
Moral der halbwilden unterjochten Völker Rußlands steht als
jene der großrussischen Herren. Der Russe sieht im Diebstahl
ein Unrecht nur im Stile des schönen Märchens, aber nicht
in der Praxis des Lebens. Wenn sonst das Laster zum Ver-
brechen entartet, so ist hier das Verbrechen des Diebstahls
nichts als ein Laster, eine Nationalimtugend. Das Stehlen na-
mentlich kleiner, scheinbar wertloser Gegenstände ist so all-
gemein, daß man sich gar nicht wundert, wenn man in der
besten Gesellschaft solche Dinge verschwinden sieht. Wert-
volle voluminöse Stücke nimmt nur der Dieb von Profession
mit, der nicht bloß stiehlt aus Lust am Stehlen, sondern um
1) J. G. Kohl, Reisen in Südrußland, I 309.
s) Merkwürdigkeiten aus Pallas Reisen, 206.
3) Bergmanns nomadische Streifereien, II 41^
^) Histoire de Kamtschatica, trad. du russe, A Lyon 1767, II 106.
— 280 —
des Gewinnes willen. Auf dem Lande raubt man häufig Pferde,
die man bei der Einsamkeit der Gegenden schnell unbemerkt
und mühelos fortschaffen kann. Im allgemeinen heißt es im
Volke: Alles was unverschlossen ist, kann nehmen wer will.
Man hütet sich jedoch Versiegeltes zu stehlen, der inhaltreichste
Geldbrief bleibt unversehrt; dies geschieht nicht aus Respekt
vor dem kaiserlichen Siegel, das die Post ^en Wertsendungen
aufdrückt, sondern aus Aberglauben.
Der Aberglaube hat jedoch nur in diesem einen Falle eine
gute Wirkung. Viel häufiger ist er die Ursache zur Förderung
des Diebstahls 1) : Allgemein ist in Rußland der Aberglaube,
daß Geld, von den Reliquien geraubt, Segen bringt und die
Wirtschaft aufbessert. Ebenso verbreitet ist die Meinung, daß
ein Dieb in der Nacht auf Maria Verkündigung irgend etwas
stehlen solle; gelingt ein noch so geringfügiger Diebstahl, so
hat man das ganze Jahr Glück im Stehlen; im Gouvernement
Pensa sichern sich die Bauern auf diese Weise für ein ganzes
Jahr vor Strafe wegen der Holzdiebstähle. Fast jedes Gou-
vernement hat seinen speziellen Diebsaberglauben. Im Wjäsem-
schen Kreise im Gouvernement Ssmolensk ist den Dieben nicht
bloß die Nacht auf Maria Verkündigung günstig, sondern
auch die Nacht des Heiligen Boriß und jene des Heiligen
Gljeb; in den letzterwähnten zwei Nächten sollen namentlich
die Pferdediebe ihr Glück auf die Probe stellen. Alles Ge-
stohlene bringt Gedeihen. Im Kreise Onega des Archangels-
kischen Gouvernements sagt man : ein Pferd wird schöner und
gesünder, wenn es mit gestohlenem Hafer gefüttert wird; die
Onegaer gehen auch auf den Dorschfang am liebsten mit
gestohlenen Angelhaken aus. Ähnliche Gründe veranlassen die
Bewohner des Kreises Rostow im Gouvernement Jaroßlaw zum
Diebstahl von Blxunen.
Auch zu Verbrechen führt der Diebsaberglaube, zu Lei-
chenschändung und Mord. Ein Sprichwort sagt: „Die Leute
schliefen, als wäre eine Totenhand um sie gefahren.** Dieses
Sprichwort ist aus der düsteren Realistik des Diebstreibens
1) Löwenstimm, Aberglaube und Straü-echt, 114 ff., 149 ff. Hier findet
man S. 121 ff. auch Parallelen aus Deutschland und anderen Ländern.
— 281 —
entstanden. Man öffnet die Gräber, um eine Totenhand zu
entwenden; wird die Totenhand in ein Fenster des Hauses
gelegt, wo man einbricht, so schlafen die Bestohlenen so fest,
daß der Dieb ruhig arbeiten kann. Dieser Aberglaube, der
hauptsächlich bei Pferdediebstählen zur Geltung kommt, ist
besonders im Gouvernement Kijew verbreitet. Im Jahre 1872
wurde im Kreise Kanew des Kijewschen Gouvernements aus
solchem Grunde das Grab eines Mädchens geschändet; im
Jahre 1900 fand man im Dorfe Paschkowskoje im Kijewschen
Kreise auf dem Friedhofe das Grab der Bäuerin Germanowa
ganz aufgewühlt und entdeckte, daß der Leiche eine Hand ab-
gehackt war.i) Ein Diebstahl, der bald darauf im Dorfe statt-
fand, gab der Obrigkeit Anlaß bei einem verdächtigen Bauern
eine Untersuchung vorzunehmen; man fand ein Stück von
dem Ärmel des Leichenhemdes der Germanowa. Der Bauer
bekannte sowohl den Diebstahl als auch die Leichenschändung ;
er hatte die Totenhand nötig, um den Diebstahl erfolgreich
auszuführen. Er erzählte selbst, wie er das Verbrechen voll-
führte : er trank ein Gläschen Schnaps, um Mut und Kraft zur
Arbeit zu haben; dann ging er auf den Friedhof, grub das
Grab auf, hieb mit dem Beil eine Öffnung in den Sargdeckel,
sprach ein Entsühnungsgebet und hackte der Leiche die Hand
ab. Zu Hause schnitt er von der Hand das Fleisch ab und
warf dieses den Hunden vor, den Knochen aber bewahrte er
sorgfältig als Talisman auf. Gleiche Vorfälle ereigneten sich
im genannten Jahre auch im Gouvernement Woronesch und
im Orte Faleschtuj im Gouvernement Bessarabien.
Nächst einer Totenhand ist den Dieben ein Zauberlicht
von großer Wichtigkeit. Man stehle aus den Gräbern die
Wachskreuze, die den Leichen in den Sarg mitgegeben wer-
den, und mache daraus Kerzen; bei deren Licht kann man
gefahrlos stehlen. Noch besser ist ein Licht aus Menschen-
fett, der Schein dieses Lichtes versetzt die zu Bestehlenden
in tiefsten Schlaf. In der Nacht auf den 27. Februar 1873
raubten auf dem Kirchhofe des Dorfes Scheljesnjäki im Kreise
Grodno Soldaten der Leiche eines Kollegen die Eingeweide, um
1) Kölnische Zeitung 1900. Nummer 1016.
— 282 —
aus dem Fette ein Diebslicht zu fabrizieren. Im Jahre 1884
überraschte man auf dem Friedhofe der Stadt Perejaslawl im
Gouvernement Poltawa drei Burschen bei der Zerstückelung
einer dicken Männerleiche; sie brauchten Menschenfett für
ein Diebslicht.
Hat man nicht den Mut zur Grabschändung^ so zögert man
nicht, einen Mord zu begehen. Am 19. April 1869 fand man
im Wiükowitschwalde des Kreises Wladimir-Wolynsk die gräß-
lich verstünmielte Leiche eines Bauemknaben; die Haut am
Bauche war rund aufgeschnitten und abgezogen worden. Der
Bauer Kyrill Dschuß hatte den Knaben in den Wald gelockt
und ermordet, tun aus dem Fette des Getöteten ein Diebslicht
zu machen, nüt dem man ungestraft stehlen könnte. Am 24.
April 1881 verhandelte das Kreisgericht in Pensa einen Mord-
prozeß gegen zwei junge Burschen, die im Tschembarschen
Kreise einen Mann ermordet hatten, tun aus seinem Bauche die
Netzhaut mit den Eingeweiden als Material für ein Diebslicht
herauszureißen. Am 15. November 1896 hatte das Kreisgericht
von Korotojak im Gouvernement Woronesch genau den glei-
chen Fall zu verhandeln. Zwei Bauern hatten einen zwölf-
jährigen Knaben erdrosselt, der Leiche dann den Bauch nach
drei Richtungen aufgeschnitten und die Netzhaut mit den Ein-
geweiden herausgenommen, um aus dem Fett ein Diebslicht
herzustellen. Der berühmteste FaU dieser Art in den letzten
zwei Dezennien ist aber die am 3. Oktober 1887 stattgehabte Er-
mordung eines Mädchens im I>orfe Nikitskoje des Kreises Bjel-
gorod im Kurskschen Gouvernement. Das Charakteristische an
diesem Falle war die Hartnäckigkeit, mit der die Mörder ihr
Ziel verfolgten, um xmbeding^ in den Besitz von Menschenfett
für ein Diebslicht zu gelangen. Die Bauern Tolmatschew und
zwei Brüder Semljänin wollten zuerst eine Leiche schänden,
beschlossen aber, sich das Fett lieber von einem frischen Toten
zu verschaffen, und machten sich gemeinsam zur Ermordimg
eines Menschen auf. Sie lauerten zuerst einem Knaben in
einem Walde auf, das Opfer entkam ihnen aber durch einen
Zufall. Dann begegneten sie einem ihrer Nachbarn, sie ver-
loren jedoch den Mut, weil sie sejne riesige Stärke kannten.
Hierauf machten sie sich an einen feisten Geistlichen heran
— 283 —
und führten ihn unter irgend einem Verwände in den Wald;
den Popen aber quälte eine beängstigende Vorahnung, und
er rief zu seinem Glücke einen Arbeiter herbei, daß er ihn
begleite. Endlich gelang den finsteren Gesellen doch ihr Plan.
Ein Mädchen kam daher, das ein entlaufenes Pferd suchte. Die
drei Männer lockten die Suchende in den Wald, erwürgten
sie, schnitten der Leiche das Fleisch ab und schmolzen das
Fett aus. Es reichte für ein ganz großes Licht, und die Mörder
gingen mit diesem Talisman auf Diebstähle aus. Der Zauber
wirkte vortrefflich, ein halbes Jahr lang gelangen alle Unter-
nehmungen nicht bloß, sondern der Mord selbst wurde auch
nicht entdeckt. Erst bei einem zufälligen Besuche der Polizei
im Hause des Semljänin fand man ein Bündel mit gekochtem
Fleisch, und da man in dem Tuche das Eigentum der ver-
schwundenen Magd erkannte, kam das Verbrechen zutage.
Die merkwürdigen Begleitumstände dieser Tat machten den
Prozeß zu einem sensationellen, und alle Ethnographen und
Juristen Rußlands begannen nach dem Ursprung des fürchter-
lichen Aberglaubens zu forschen. In einer interessanten Ab-
handlung in einer Zeitung i) sprach ein ungenannter Autor die
Meinung aus, daß der Diebslichtaberglaube ein Überbleibsel
des Kannibalismus sei, dessen Spuren man noch in folgendem
russischen Volksliede erkenne: „Ich backe ein Gebäck aus
den Händen, aus den Füssen; aus dem tollen Kopfe schmiede
ich ein Trinkgefäß; aus seinen Augen gieße ich Trinkgläser;
aus seinem Blute braue ich berauschendes Bier ; und aus seinem
Fette gieße ich Licht.**
Wie der Dieb sich durch einen Talisman vor Entdeckung
sichert, so ist der Aberglaube auch dem Bestohlenen zur Er-
forschung des Diebes durch zauberhafte Mittel behilflich.
Wenn in einem Hause ein Diebstahl bemerkt wird, aber der
Schuldige nicht entdeckt werden kann, man auch nicht genau
weiß, wen man anklagen soll, so beruft man einen Hexenmeister
oder eine Wahrsagerin, und diese „beobachten den Leib der
Verdächtigen.** Sabylin, der diesen Brauch erwähnt, weiß aber
selbst nicht, wie diese Beobachtung erfolgte, und bemerkte nur.
1) PyccioH Biv^oMocTH 1888, 359.
— 284 —
daß von diesem Gebrauche das Sprichwort herstamme : ILioxo
nesHTT» — 6pK)xo öcjuttb; wer schlecht liegt, dem tut der Leib
weh.i) Tereschtschenko kennt noch ein anderes russisches Mit-
tel-): Die Wahrsagerin ninunt einen Psalter, schlägt mit einem
Messer auf die Mitte einer Seite und sagt : „Da ist er, und da
ist noch ein anderer. Er ist hier und hat sich versteckt!"
Wen sie dann nennt, der ist der Dieb. Gesteht er das Ver-
brechen nicht ein, so muß er seine Unschuld vor dem Bilde
des Heiligen Iwan des Kriegers beeidigen. Wenn ein Haus-
diebstahl stattgefunden hat, so ruft die Hausfrau das ganze
Gesinde zusanmien; und eine Babuschka, die Wahrsagerin,
deren Hilfe in Anspruch genonmien wird, macht so viele Brot-
kügelchen als Leute da sind, stellt ein Gefäß mit Wasser vor
sich hin, wirft eine Kugel nach der anderen hinein und sagt
stets einen der Namen der Verdächtigen nebst der Beschwö-
nmg. „Bist du schuldig, so fällt diese Kugel auf den Grund
wie deine Seele in die Hölle.** Die Kugeln der Unschuldigen
aber, behauptet sie, bleiben oben schwimmen. 3) Vor dieser
Methode haben die gemeinen Russen eine furchtbare Angst, und
der Schuldige bekennt, so wie die Sache ernst wird, freiwillig
den Diebstahl, um nicht seine Seele der Hölle anheimfallen
zu lassen.
Auch die nichtrussischen Völker in Rußland versuchen es
mit der Zauberei, um die Diebe zu entdecken.
Wenn dem Osseten etwas gestohlen worden ist, so ruft
er einen Kurismezok oder Zauberer. Dieser geht, mit einer
Katze unter dem Arm, in Begleitung des Bestohlenen zu den
Häusern jener, die im Verdachte des Diebstahls stehen, und
ruft überall laut aus: „Wenn du es genommen hast und dem
Eigentümer nicht wiedergiebst, so möge diese Katze die Seelen
deiner Vorfahren peinigen.** Man kann überzeuget sein, daß
der Schuldige sofort das Gestohlene zurückerstattet, da nichts
mehr gefürchtet wird als die angedrohte Strafe.*) Die Kam-
*) M. 3a6ijjmin>, PyccKÜt Hapo;i:b, MocKBa 1880, crp. 406, 3^ 29: Oru-
cKauie BopoBi».
*) TepeiueoKo, Burb pyccnaro uapo^a. Vgl. Löwenstimm a. a. O. 88.
3) Haxthausen, Studien I 312.
^) Haxthausen, Transkaukasia, II 20.
— 285 —
tschadalen^) glauben einen Dieb ausfindig zu machen, indem
sie unter großen Zeremonien die Sehnen eines wilden Bockes
verbrennen; wie sich die Sehnen im Feuer zusammenziehen,
so verliert der heimliche Dieb den Gebrauch seiner Glieder,
imd wenn man in der Gemeinde also einen Gelähmten ent-
deckt, so ist dies der Verbrecher.
i6. Korruption.
Zarisches System alter Zeiten — Die Verwaltung — Eine Anekdote des Jehan
Sauvage aus Dieppe — Strafen für Bestechlichkeit — Einfache Methode Iwans
des Schrecklichen — Der Richterstand — Die Gerichtsdiener — Das Trinkgeld
im Osterei — Das Heiligenbild als Vermittler — Strafgericht Peters I. — Hin-
richtungen — Cato Nesterow und sein Ende — Die Ansichten des Cato Tatisch-
tschew — Eriaubte und unerlaubte Korruption — Ausspruch des Günstlings
Jaguschinskij — Die Geschenke für den Zaren — Katharina II. gegen das
Licholmstwo oder Geschenkfressen — Korruption unter Nikolaj II. — Die
Zollbeamten — Medizinalinspektoren und Rekruten — Prügelgesellen in den
Schulen — Richter und Recht im Sprichwort — Das Rechtsmärchen Kaulbars
Bortig — Das Urteil des Schemjaka — Satiren Ssumarokows und Gogoljs —
Unausrottbarkeit der Korruption.
Wollte ein Zar im alten Rußland einen Bojaren für be-
sondere Dienste belohnen oder einem Günstling große Gnade
erweisen, so schenkte er ihm eine Provinzvcrwaltung mit fol-
genden Worten: „Ziehe hin, lebe daselbst und iß dich satt!**
Und jeder tat nach den Worten des Zaren. War die Provinz
dem Begnadigten zu fem, so hatte er das Recht, das Gouverne-
ment einem anderen zu verkaufen, und dieser mußte nun dop-
pelt fleißig stehlen und plündern, um den riesigen Kaufpreis
hereinzubringen und sich nebenbei selbst sattzuessen.
Ein solches von dem Zaren statuiertes System mußte natur-
gemäß die Korruption in der ganzen Verwaltung einbürgern.
Plündern imd Rauben wurden die Grundgesetze der Admini-
stration; es gab gar keine Möglichkeit, auf normale ehrliche
Weise das Fortkommen zu finden. Der Gouverneur mußte
1) Histoire de Kamtschatka, II 107.
— 286 —
stehlen, um sich sattzuessen, die höheren und die niederen
Beamten suchten durch Diebstahl und Trinkgelder ihr Leben
zu fristen.
Das erste, was der Fremde sieht, der nach Rußland kommt,
ist die offene Hand des Zollbeamten; und bei jedem weiteren
Schritte muß man, um unangefochten zu bleiben, nach rechts
und nach links dem Moloch der Korruption opfern. Das
früheste französische Memoire über Rußland, von dem Ma-
trosen Jehan Sauvage aus Dieppe verfaßt, erzählt wie der
Kommandant des Hafens von Archangelsk die Franzosen nicht
landen lassen wollte, „weil er noch niemals zuvor Franzosen
gesehen hatte.** Da half aber ein Mittel: „environ 250 dalles,**
und die Franzosen wurden sofort willkommen geheißen.^)
Zuweilen rafften sich die Zaren zu einer Bestrafung der
korrupten Beamten auf, aber sie griffen nicht das System an,
sondern begnügten sich mit der Praktizierung einzelner Bei-
spiele. Iwan der Schreckliche erfuhr einmal, daß einer seiner
Wojwoden sich durch eine mit Dukaten gefüllte Gans hatte
bestechen lassen. Er verheimlichte seinen Zorn, aber als er
bald darauf mit diesem Wojwoden über d^n Platz ging, wo die
Exekutionen stattzuhaben pflegten, ließ er den Beschuldigten
plötzlich vom Henker ergreifen und ihm die Arme und Beine
ab hacken 2); und bei jedem Hiebe fragte der Zar spöttisch:
„Na, Batuschka, wie schmeckt das Gansfleisch?**
Sporadische Züchtigungen dieser Art konnten das Übel
nicht hemmen. Man fand leicht Mittel und Wege, das Gesetz
zu umgehen. Am traurigsten und verkommensten blieb der
Richterstand. Schon der Gerichtsdiener stellte den Parteien
Klagen und Vorladungen nicht zu, wenn er nicht dafür extra
bezahlt wurde; Zar Alexej mußte in seinem Gesetzbuche einen
besonderen Paragraphen den Gerichtsdienern widmen und
ihnen androhen, daß sie beim ersten Male der Pflichtverletzung
mit den Batogy, beim zweiten Male mit der Knute gestraft
1) Das interessante Manuskript des Jehan Sau vage wurde von Louis
Paris entdeckt und der französischen Übersetzung der Nestorschen Chronik
angefügt.
2) Reise nach Norden, anno 1706. S. 167.
— 287 —
werden würden. i) Aber es nützte nichts; und konnte auch
nicht helfen, da die Richter selbst nicht nach Recht und Ge-
rechtigkeit, sondern nach der Bezahlung von seiten der splen-
dideren Partei urteilten. Das Gesetz zwar bestimmte, daß ein
bestechlicher Richter zum Bettler gemacht und verbannt wer-
den sollte; vorher aber wurde er mit Ruten durch die Stadt
gepeitscht und während der Exekution mußte er am Halse
einen Sack tragen, worin das Bestechungsmittel sich befand;
ganz gleich ob dieses Gold, Pelzwerk, gesalzene Fische, Schnaps
oder etwas anderes gewesen war. Doch wer konnte leichter
das Gesetz ausspielen als der Richter? Er nahm also ein Ge-
schenk nur an, wenn es ihm mit einem Osterei am Oster-
sonntag, wenn in Rußland sich alles küßt und umarmt, in
die Hand gedrückt wurde; noch harmloser war es, wenn der
Verführer im Hause des Richters erschien, sich wie üblich
zuerst zum Heiligen wandte, um zu beten, und dann in from-
mer Andacht sein Geschenk vor dem Hausaltare nieder-
legte. 2)
Peter der Große kämpfte bis zu seinem Lebensende
gegen die Korruption. Er verminderte die Zahl der Gou-
vernements, gab den Gouverneuren und Beamten fixe Ge-
hälter, forderte aber dafür die Abschaffung der Trink-
gelder. Er verfügte: wer in einer Sache, sie sei gerecht
oder ungerecht, Geschenke annehme und gebe, es sei vor oder
nach der Entscheidung, der erleide dafür die Strafe am Galgen.
Der Generalfiskal t<Iesterow überreichte dem Kaiser ein Memo-
randum, worin zahlreiche Malversationen von Senatoren und
Würdenträgern aufgedeckt wurden. Es erfolgt ein furchtbares
Strafgericht: Zwei meineidigen Senatoren zieht der Henker ein
glühendes Eisen über die Zunge; dann werden die also grau-
sam Gestraften noch gepeitscht und schließlich nach Sibirien
verbannt. Den Vizegouvemeur von Petersburg klopft der Hen-
ker mit dem Knut öffentUch; einen Admiralitätsherm und den
Intendanten der Gebäude züchtigt man bloß mit dem Kam-
merknut, nämlich in einem geschlossenen Räume. Der Günst-
1 ) Russisches Landrecht des Czaren Alexei, von Stnive, S. 6 1 , Nummer 145.
2) Margeret, 4.2 und 67,
— 288 —
ling Schafirow, der Vizekanzler des Reiches, wird zur Ent-
hauptung verurteilt und erst auf dem Schafott begnadigt. Am
Galgen baumeln der Gouverneur von Sibirien, Knjäs Gagarin,
und der Kommandant von Bachmut, Knjäs Masolskoj. Zum
Finale entpuppt sich der Cato, der Generalfiskal Nesterow
selbst, als korrupt : ein Geschenk von zweitausend Rubeln hat
den Ankläger verführt und zum Angeklagten degradiert; er
wird bei lebendigem Leibe gerädert.^)
Noch ein anderer Cato lebt am Hofe Peters: der Staats-
rat Wassilij Nikititsch Tatischtschew. Er hinterließ eine Reihe
von Satiren imd ein Testament an seinen Sohn, 2) worin er
geistreich über das Sportelnehmen spottet und die Korruption
der Verwaltung geißelt. Auch dieser Cato wird eines Tages
wegen Bestechlichkeit vor Gericht gestellt und hält hier dem
Zaren folgenden Vortrag : „Es gibt zweierlei Arten des Sportel-
nehmens, eine unstatthafte und eine statthafte. Falls ein Rich-
ter bei Führung einer gerechten Sache über die offiziellen
Stunden hinaus arbeitet; falls dem Prozeßführenden ein Vor-
teil daraus erwächst, wenn der Richter seine ganze Muße
der Angelegenheit widmet : dann ist, und zwar nach Erledigung
der Sache, eine Belohnung statthaft, wohlverdient und nicht
entehrend." Peter entgegnete darauf: „Dich selbst halte ich
zwar für gewissenhaft. Aber es gibt auch gewissenlose Richter,
und in jedem Falle ist ein Beispiel, das durch die Annahme
von Geschenken gegeben wird, zu mißbilligen. Tue stets das
aus Antrieb der Pflicht, wozu dich die Belohnung ermuntert."
Tatischtschew erreichte so viel, daß er straflos ausging.
Die Folge war, daß die Korruption noch ärger wurde als
sie zuvor gewesen. Man sah, daß der Zar Unterschiede zu
machen wußte und nur jene dem Henker überlieferte, auf die
er schon aus anderen Gründen erzürnt war; daß er nur die
kleinen Diebe köpfte, die großen aber, wie Mentschikow und
Apraxin, ruhig weiterwirtschaften ließ. Erst im letzten Jahre
1) Handschriftliche Berichte des preußischen Legationssekretärs Vocke-
rodt, bei Herrmann a. a. O. Seite 31.
*) Gedruckt wurden seine Schriften erst zur Zeit Katharinas II. Vgl.
über Tatischtschew: Reinholdt, Geschichte der russ. Litt. 287.
— 289 —
seines Lebens raffte sich Peter noch einmal zu voller Strenge
auf.i) Er setzte eine Untersuchungskommission aus unerbitt-
lich grausamen Männern ein, und der neue Generalfiskal Mä-
kinin mußte neben dem Schlafzimmer des Zaren amtieren,
damit zu jeder Stunde, bei Tag und bei Nacht, ein Urteil
gefällt werden konnte. Auf die Frage Mäkinins: „Soll ich
nur die Zweige abkappen oder die Axt an die Wurzel legen?**
entgegnete Peter lakonisch: „Alles mit Stumpf und Stiel aus-
rotten!** Selbst auf die geringste Bestechlichkeit wurde die
Todesstrafe gesetzt. Der Günstling Jaguschinskij erklärte
darauf: „Wir alle stehlen, die Einen mehr oder plumper, die
Anderen weniger und gewandter. Wollen Ew. Majestät allein
im Reiche übrig bleiben?** Und zum Schlüsse mußte Peter
aus dem Munde des Generalleutnants Buturlin folgende An-
klage vernehmen: „Umsonst gibst du Verordnungen gegen
Jene, die Geschenke nehmen; umsonst verfolgst du die Über-
treter deiner Gesetze mit Strafen; denn du selbst erzwingst
Geschenke, und dein eigenes Beispiel ist wirksamer als Ge-
setz und Ahndung. Als ich durch Twer reiste, speiste ich bei
einer Kaufmannsfrau ; da kam ein Abgeordneter des Magistrats
imd forderte hundert Rubel als Beisteuer zu dem Geschenk,
das die Stadt dir geben mußte, und als die Frau wegen Mangel
an barem Gelde nur um einen kurzen Aufschub bat, da drohte
man ihr mit dem Gefängnis, so daß ich schnell das Geld für
sie erlegte. So freiwillig sind die Geschenke, die man dir
gibt.** Da legte Peter entmutigt die Axt aus der Hand, gab
den Kampf nüt der unausrottbaren Korruption auf und erwar-
tete resigniert das Ende seiner Herrschaft.
„Das Lichoimstwo, das Geschenkfressen 2), die Beste-
chungen und Erpressungen sind die Grundübel des Reiches,**
klagte Katharina die Zweite vierzig Jahre später in ihrem
berühmten Ukas vom i8. Juli 1762. „Man findet kaum einen
Richter, der bei Ausübung der Gerechtigkeit nicht von dieser
Seuche angesteckt wäre. Sucht jemand eine Stellung, so muß
er zahlen; will sich jemand vor Verleumdungen schützen, muß
1) Halem, III 122.
>) JIhxohhctbo, wörtlich: der Wacher.
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rufiland. 19
— 290 —
er dies mit Geld erkaufen; will jemand einen anderen ver-
leumden, so unterstützt er seine Ränke durch Bestechungen.
Die Richter verwandeln den heiligen Ort, wo sie Recht spre-
chen sollen, in einen Marktplatz. Das Amt des Richters ist
eine Rente, nicht ein Dienst für Gott, Herrscher und Vater-
land. Bloße Verleumdungen verwandeln die Richter gegen
Lohn in gerechte Angebungen. Solche Richter dienen nur
ihren Bäuchen, indem sie ihre Habsucht mit Geschenken sät-
tigen. Wie in den vornehmsten Gerichten der großen Städte,
so plagen in den entferntesten Orten die kleinsten Richter und
Beamten das Volk mit Erpressungen und Schikanen unter
dem Scheine des Gesetzes.**
Dasselbe Lied kann noch heute gesungen werden, und es ist
nur verwunderlich, daß eine so kleinliche Affäre Skandal
macht, wie die des Minister-Stellvertreters Gurko, der um Geld
und Frauengunst einem mittellosen Getreidehändler Millionen-
aufträge zuschanzt, im sicheren Bewußtsein, daß der Beauftragte
nur die Millionen erhalten, aber nichts liefern werde. Dieser
Gurko, der auf einem Ministerposten nicht anders denken kann,
als der erstbeste Richter auf dem Stuhle, auf dem er Gerechtig-
keit sprechen soll; dieser Gouverneur Baron Fredericks, der
die Kasse des Staates als seine eigene betrachtet, wie es alle
Gouverneure vor ihm getan haben ; dieser Alexandrowskij, der
als Leiter des Roten Kreuzes Unsununen verschwinden ließ
und zur Strafe dafür mit dem Gouvernement Pensa belehnt
wurde, danüt er sich endlich ganz satt esse, und der hier
in der Zeit der allgemeinen Hungersnot wirklich die schönste
Gelegenheit zum Rauben findet, bis ihn endlich im Februar 1907
die rächenden Kugeln der Revolutionäre treffen : — sie alle sind
ja keine charakteristischen Typen, die zu besonderer Betrach-
tung anregen würden, sondern bloß ein Abklatsch uralter
Schablonen. Es verdient auch kein besonderes Erstaunen,
wenn vor dem Petrikauer Bezirksgericht eines Tages hundert
höhere Eisenbahnbeamte erscheinen, um sich wegen systema-
tischer Fälschung von Eisenbahnfrachtscheinen zu verant-
worten i); oder wenn bei der Verhandlung vor einem Peters-
1) Lodzer Zeitung, 14/27. März 1906 (Monstre-Prozeß).
— 291 —
burger Gericht, das über die Bestechungsaffäre des Friedens-
richters Patalajew urteilt, ein Zeuge dem Richter über den
Richter ins Gesicht sagt, daß er vor dem Beginn der Verhand-
lung den Versuch gemacht hätte, den Zeugen zu bestechen^);
oder wenn in Pemau^) der Volksschulinspektor Proschljakow
die Stellen an der Schule nach einem fixen Tarife verschachert
und schließlich von den unzählbaren Opfern seiner Erpressung
vor Gericht geschleppt wird.
Das sind nicht vereinzelte Fälle, nicht Ausnahmen, son-
dern sie bilden die Regel; die Immoralität ist allgemein, die
Korruption eine selbstverständliche Ergänzung der Ehrlosigkeit,
Lügensucht und Stehlsucht. Wir sehen, wie die Erpresser
bestraft werden, indem man sie mit Gouvernements belehnt.
Für die Bestechlichkeit sind förmlich Prämien ausgesetzt, die
Wege des Lasters von der Regierung selbst nüt Gold gepflastert.
An der Grenze sind die Zollbeamten durch regelrechte Ge-
schäftsverträge mit den Schmugglern verbunden ; Gogolj fand
für seinen Sittenroman „Tote Seelen** keinen passenderen Hel-
den, um Rußlands Entsittlichung zu zeichnen, als jenen Tschi-
tschikow, der ehemals Chef der Douane und gleichzeitig Hehler
einer großartigen Schmugglerbande war. Die Gutsherren muß-
ten früher eine gewisse Anzahl ihrer Leibeigenen an die Armee
abliefern; es war nun die Haupteinnahmsquelle der Medizinal-
inspektoren, daß sie bei der Aushebung der Rekruten den Guts-
herren durch ein ärztliches Gutachten nur die kranken und
schlechten Leibeigenen als für das Heer tauglich abnahmen, die
gesunden aber übersahen. Früher gab es in den Gymnasien
eigens angestellte Prügelgesellen, die den schlechten Schülern
die Liebe zum Fleiß einbläuea mußten ; diese Prügler bezogen
von den Eltern der Schüler ein jährliches Pauschalsümmchen,
wofür sie vorkommenden Falles die Rutenstreiche bloß mar-
kierten. Die Medizinalinspektoren sind um ihr Brot gekommen,
seit es keine Leibeigenen mehr gibt ; die Schuldiener aber haben
glücklicherweise noch immer ihre Einnahme: sie sind Spione
der Polizei und beziehen deshalb von den Schülern Schweige-
^) HoBoe BpeMfl, 24. II. 1906.
«) „Pärwalehi", 20. III. 1906.
19*
— 292 —
gelder. In einigen Zweigen der Verwaltung hat also wenigstens
die Form der Korruption gewechselt.
Äußerlich wie innerlich unverändert blieb die Korruption
des Richtertums. Da gelten noch immer die uralten Sprich-
wörter des Volkes: Ein Richter ist wie ein Zimmermann: was
er will, das haut er heraus. Fürchte nicht das Gericht, fürchte
nur den Richter. Was gehen mich die Gesetze an? Ich bin
gut Freimd mit dem Richter.
Die Verkommenheit des Richterstandes wurde in der Lite-
ratur des Volkes und in der Kunstdichtung oft als Thema
dankbarer Satiren gewählt. So erzählt das Tiermärchen von
Kaulbars Bortig, das in der Nachahmung der offizielen Rechts-
sprache und des Kanzleistils des sechzehnten Jahrhunderts an
Rabelais erinnert, mit bitterem Humor von der Bestechlich-
keit der russischen Richter; „ihr Herren Richter,** ruft Kaul-
bars am Schlüsse der Geschichte aus, „ihr habt nicht nach
euerer Überzeugung geurteilt, ihr seid bestochen." Spie den
Richtern in die Augen, und hui! sprang er ins Strauchwerk
auf Nimmerwiedersehen. — Das klassische und berühmteste
russische Märchen, das die Bestechlichkeit des Richters geißelt,
ist die Erzählung vom Urteil des Schemjaka: Ein armer Kerl
leiht von seinem Bruder ein Pferd ; da passiert ihm das Malheiu*,
daß er dem Tier aus Versehen den Schweif abreißt. Er wird
von seinem hartherzigen Bruder zum Gericht geschleppt. Auf
dem Wege in die Stadt müssen sie nachts in einer Herberge
übernachten. Da fällt der Pechvogel von der Pritsche und
erdrückt ein Kind, das in der Wiege liegt ; der Vater des Kindes
geht mit zu Gericht. Als man eine Brücke passiert, beschließt
der Pechvogel, sich in den Fluß zu werfen, um alle seine
Leiden los zu werden. Aber er fällt nicht ins Wasser, sondern
auf ein Boot und tötet einen Greis, der im Boote sitzt. Der
Sohn des Greises schließt sich den zwei Klägern an. Als
die drei Kläger und der Übeltäter vor dem Richter Schemjaka
erscheinen, wickelt der Angeklagte einen Stein in sein Taschen-
tuch und winkt dem Richter, das Paket zu betrachten. Schem-
jaka hat seine eigenen Gedanken darüber und fällt ein gün-
stiges Urteil; damit aber die Absichtlichkeit nicht gemerkt
werde, gibt er dem Urteile den Schein salomonischer Gerech-
— 298 —
tigkeit. Er ordnet also an: Der Geklagte ist schuldig. Der
Bruder soll ihm daher das Pferd lassen, bis diesem ein neuer
Schweif gewachsen ist; der Mann, dessen Kind getötet wurde,
soll seine Frau dem Mörder geben, damit er ihr ein neues
Kind mache; der Sohn des Greises endlich soll sich von der-
selben Brücke in derselben Weise in das Boot stürzen, wie
es der Angeklagte getan hat, während sich dieser darin in
derselben Lage befinden muß, wie der Greis vor seiner Tötung.
Die Kläger halten es für klüger, sich mit dem Angeklagten
auszugleichen und geben ihm Geschenke, damit er von der
Ausführung der richterlichen Befehle abstehe. So kommt der
Pechvogel schnell zu großem Wohlstand. Da erscheint der
Richter und fordert die versprochene Handsalbe, seinen Lohn.
Er erhält aber zur Antwort: „Der Stein bedeutete nicht eine
Handsalbe, sondern: daß ich dich totgeschlagen hätte, wenn
dein Urteil für mich ungünstig ausgefallen wäre." Und der
betrogene Richter muß seufzen: „Dem Himmel sei gedankt,
daß ich das Urteil zu seinen Gunsten gefällt habe.**
Einer der frühesten und bedeutendsten Kunstdichter Ruß-
lands, Ssumarokow, schrieb zur Zeit der Kaiserin Katharina IL
mit dem Pathos ehrlicher sittlicher Entrüstung zahlreiche Sa-
tiren gegen die Bestechlichkeit. Seine Erzählung „Von den
schlechten Richtern**, seine ,, Epistel über eine gewisse anstek-
kende Krankheit** und seine „Klage der bedrückten Wahrheit
vor Jupiter**, zeichnen sich durch eine seltene Kühnheit und
Rücksichtslosigkeit aus. In der letztgenannten Satire bittet die
Wahrheit Jupiter, er möge das widerliche Nesselgezücht der
sportelnehmenden Beamten ausrotten; Jupiter schleudert seine
Blitze, die Beamten fallen um, und das Volk jubelt. Aber o
wehe! nur die kleinen Gauner sind getroffen worden, die
großen Spitzbuben unversehrt geblieben. Die Wahrheit stellt
Jupiter zur Rede, und dieser entschuldigt sich beschämt: „Ich
hielt die Unversehrten für die Blüte der Aristokratie und wagte
gar nicht daran zu denken — **.
Im Jahre 1836 gab Kaiser Nikolaj die Erlaubnis zur Auf-
führung eines Lustspiels: „Der Revisor** von Gogolj. Der Zar
selbst wohnte der Prenüere bei und lachte aus vollem Halse. Er
begriff gar nicht, daß dieses Lustspiel just das nikolaitische
— 294 —
korrupte Regierungssystem mit ungeheuerer Frechheit und
tötendem Witz verspottete; und ahnte nicht, daß es der Aus-
gangspimkt aller modernen russischen Revolutionen, der An-
fang des Kampfes, nicht der Regierung, sondern des Volkes,
gegen den Drachen der Korruption werden sollte. Konsequenter
als Iwan der Schreckliche, Peter I. und Katharina IL, führt das
Volk diesen Kampf, aber das Resultat ist nach sieben blutigen
Jahrzehnten das gleiche wie früher: das Lichoimstwo ist un-
besiegt, dauert und ißt sich satt.
17. Trunksucht.
Aberglaube und Trunksucht — Trunkenbolde werden Vampire — Satan und
die Trunksucht — Russische Weinlegenden — Der Weinstock als Baum der
Erkenntnis — Das Märchen vom Elend — Das Lied von Iwan dem Kauf-
mannssohn — Die Heldensagen von Wassilij dem Saufbold und dem Helden-
trinker Ilja von Murom — Ausländische Urteile über die russische Trunksucht
— Benehmen eines russischen Gesandten am Hofe des Schah Abbas — Alter
der Trunksucht in Rußland — Orgien Iwans des Schrecklichen — Wie Iwan
Klatschweiber zu bestrafen pflegte — Iwans Strafen für Trunkenbolde —
Einführung des zarischen Branntweinmonopols — Gelöbnis der Schenkwirte —
Tottrinken zu Ehren des Zaren — Heimlicher Privathandel mit Branntwein —
Boriß Godunows Maßregeln gegen die Trunksucht — Ein Vorfall an der
Tafel des Zaren Michael — Gesetze des Zaren Alexej zum Schutze des zarischen
Monopols — Die Namen des Bacchus bei den Russen — Peters Lehrer Lefort
als Trinkmeister — Orgien im Hause Leforts — Exzesse Peters des Großen
in der Trunkenheit — Trunksucht und Grausamkeit — Das Saufen am Hofe
Peters — Saufwut der Popen und Geistlichen — Saufzwang an der 2^en-
tafel — Scherze Peters des Großen — Der Bär als Kellner — Teilnahme der
Frauen an den Saufgelagen — Trunksucht der Zarin Katharina I. und ihrer
Töchter — Trinkfreiheit am Thronbesteigungstage Katharinas II. — Sta-
tistisches — Verbreitung der Trunksucht nach Volksstämmen — Das Treiben
in den Schenken — Saufwut des Volkes und der Intelligenz — Förderung
der Trunksucht Regierungsprinzip — Die Komödie vom Temperenz-Komitee
— Trunksucht und Hurerei — Die Sitte des Impotent-Trinkens in der Hoch-
zeitsnacht — Eines jungen Ehemanns Glanzleistung — Eines anderen jungen
Ehemanns Todestrunk — Geschichte des Weines in Rußland — Einführung
des Champagners — Orgien am Hofe der Zarin Anna — Odeure als Schnäpse.
Im Januar 1907 starb im Dorfe Jegorowka im Gouverne-
ment Tula ein junger Mensch, ein Trunkenbold. Man begrub
ihn, aber in der Nacht hörten Bauern, die an dem frischen
— 295 —
Grabe vorübergingen, ein dumpfes Geschrei aus der Erde her-
vordringen. Statt das Natürliche anzunehmen: daß hier ein
Scheintoter begraben worden und der Hilfe bedürfe, er-
griffen die Bauern einen Pfahl aus Eichenholz und stießen ihn
in das Grab bis durch den Sarg, um den unruhigen Toten
anzunageln. Die Polizei, die davon erfuhr, beeilte sich den
Sarg auszugraben. Man fand die Leiche in einem entsetzlichen
Zustand. Der Scheintote hatte unter der Erde einen furcht-
baren Kampf gekämpft, um sich von der erstickenden Last
zu befreien; seine Hände waren ihn dabei zerbrochen und
seine Haare ergraut. Sein Kampf war vergeblich gewesen, er
wurde das Opfer des Vampirglaubens.
Im russischen Volke ist man allgemein der Ansicht, daß
ein Trunkenbold nach seinem Tode ein Vampir werde, aus
seinem Grabe steige und Unheil, namentlich Regenlosigkeit
oder Seuchen verursache. Im Jahre 1860 gruben die Bauern
des Dorfes Tschuwaschkij Kalmajur im Kreise Stawropol des
Gouvernements Ssamara die Leiche eines Muschik aus, der an
Trunkenheit zugrunde gegangen war, und nun als Vampir
als Urheber der herrschenden Dürre galt. Man durchbohrte
die Leiche mit einem Eichenpfahl, um den Vampir unschädlich
zu machen. 1889 zerrten die Bauern des Dorfes Jelischenki
im Ssaratowschen Kreise die Leiche eines an der Trunksucht
gestorbenen Mannes aus, durchbohrten sie und warfen sie
in den Fluß.^)
Die Vorstellung von der Verwandlung der Seele eines
Trunkenboldes in eine Teufelsseele kennen auch die alten
russischen Legenden und Märchen. Eine „Geschichte vom
Ursprung des Weintranks oder das Märchen vom hochweisen
Hopfen** schildert 2), gleich der talmudischen Tradition, den
Weinstock als den verhängnisvollen Baum der Erkenntnis im
Paradiese. Da die Rebe eine Teufelspflanze ist, verfallen die
Trunkenbolde ewigen Qualen; so lange sie auf Erden wan-
deln, sind sie den bösen Streichen Satans willenlos ausgeliefert.
1) Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, loi.
*) Vgl. „Altslavische Kreuz- und Rebensagen", Russische Revue XIII;
und Alexander von Reinholdt. Geschichte der russischen Literatur, 240.
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werden sie von ihm auf Abwege geführt und in Sümpfe ge-
lockt; nach dem Tode aber kommen sie in die Hölle tmd
müssen den Teufeln als Lasttiere dienen. In einem geist-
lichen Liede von Wassilij und der heiligen Jungfrau wird
die Trunksucht als Haupt- und Todsünde verdammt.
Eines der bedeutendsten poetischen Erzeugnisse des sieb-
zehnten Jahrhimderts, das „Märchen vom Elend, das einen
braven Jüngling unter die Mönchskutte gebracht**, ist ebenfalls
gegen die Tnmksucht gerichtet. Hier heißt es zu Beginn der
Erzählung: „Im Eden gab Gott sein heilig Gebot: Sie sollten
nicht kosten von der Rebenfrucht.** Aber das Gebot ward
übertreten und alle Trübsal ist Folge davon. Traurig ergeht
es daher dem braven Jüngling. Vater und Mutter belehren
ihn, wie er ehrsam leben solle, warnen ihn vor Gastmählern,
Trinkgelage und Spiel. Aber den unvernünftigen Jüngling ver-
drießen diese Lehren, er lebt nach seinem Gefallen. Bald hat
er fünfzig Rubel beisammen und wankt in Gesellschaft eines
Verführers von Schenke zu Schenke. „Trinke,** sagt ihm der
Freund, „trinke dir zur Freude, zur Lust, zur Gesundheit.
Und wenn du, Bruder, dich betrinkst, lege dich schlafen da wo
du stehst, verlaß dich auf mich.** So ergeht es ihm auch, er
betrinkt sich bis zur Bewußtlosigkeit; und als er am anderen
Morgen erwacht, findet er sich vom Freunde verlassen imd
beraubt. Er schämt sich nach Hause zurückzukehren und wan-
dert in die Welt hinaus. Die harte Lehre hat ihn kuriert,
er lebt verständig, konunt vorwärts und gewinnt eine reiche
Braut. J)b. tritt ihm in den Weg das Elend, das von sich sagt :
„Mich wird man auch mit Stockschlägen nicht los; mein Nest
und mein Erbgut die Schlemmer sind.** Das Elend warnt den
Jüngling vor der Heirat. Die Frau würde ihn vergiften. Er
soll lieber in die Schenke gehen und alles vertrinken: „Be-
neidenswert ist nur das Leben der Nackten und Barfüßigen,
niemand quält sie, niemand tut ihnen ein Leid an.** Der Jüng-
ling folgt dem Rat, verläßt die Braut, vertrinkt sein Geld und
wandert wieder als Bettler und Säufer durch die Welt. Er
kommt an einen Fluß und hat kein Geld, den Fährmann zu
bezahlen. Vor Verzweiflung will er sich in den Fluß stürzen,
da springt das Elend hervor und sagt ihm: unterwirf dich
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mir gänzlich, so setze ich dich hinüber. Er stimmt ein Lied
an, gedenkt der glücklichen Jugend, und endet dann mit der
Klage: „Kein Scharlach wird ohne den Meister gemacht, kein
Kind getröstet ohne die Mutterlieb, kein Trunkenbold wird
jemals reich und in gutem Leumund kein Würfler steht." Die
Klage rührt den Fährmann und er setzt den Jüngling über den
Fluß. Nun will der Reuige heimkehren ins Elternhaus zu
ehrlicher Arbeit, aber er kann sich vom Elend nicht losmachen
und flüchtet in ein Kloster, auf den sichersten Weg des Heils :
„vor dem heiligen Tor hält das Elend still.**
Trauriger noch ist das Schicksal des Trunkenboldes Iwan
des Kauf mannssohnes i) : Ein verständiger Vater und eine ver-
ständige Mutter hatten ein unverständiges Kind, mit Namen
Iwan der Kaufmannssohn. Der Vater starb und die Mutter
Afimja Alexandrowna schickt ihren Sohn mit Waren übers Meer
und spricht warnend zu ihm: „Gehe nicht, o mein geliebtes
Kind, in die Schenken des Zaren und trinke nicht den grünen
Wein und suche keine Gemeinschaft mit Saufbolden und hänge
dich nicht an die feilen Weiber!** Iwan vergißt die mütterlichen
Lehren. In die Schenken des Zaren geht er, übermäßig trinkt er
den grünen Wein, schließt Freimdschaft mit Saufbolden und
mit feilen Weibern. Da ist bald sein väterliches Erbteil, da
sind bald die Waren der Mutter verschleudert; selbst seine
Schiffe muß Iwan schließlich versetzen. Die Mutter erhält die
böse Kunde, eilt über das Meer in die fremde Stadt, geht in
den Straßen umher und klagt: „Habt ihr nicht mein Kind
gesehen?** Aber kein anständiger Mensch weiß von ihrem
Sohne. Da geht sie unter den Saufbolden in den Schenken um-
her und findet auf einem Ofen den berauschten zerlumpten
Iwan. Sie schleppt ihn an den Haaren zu den babylonischen
Kaufleuten und bittet: „Kauft mir den da ab um fünfhundert
Rubel.** Fragen die babylonischen Kaufleute : „Aber sage, ehr-
bare Witwe Afimja Alexandrowna, verkaufst du uns da keinen
Dieb oder Wegelagerer?** Sagt Afimja: „Nicht einen Dieb
oder Wegelagerer, sondern meinen eigenen einzigen Sohn Iwan,
mein großes Herzeleid, verkaufe ich euch.** Spricht Iwan: „Ach
*) Vgl. Bernhard Stern, Fürst Wladimirs Tafelrunde.
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ihr lieben babylonischen Kaufleute, bin ich wirklich nur fünf-
hundert Rubel wert? Zahlet doch tausend Rubel für michl"
Und weinend fährt er fort: „Und du lebewohl, lebewohl, du
meine leibliche Mutter, du ehrwürdige Witwe Afimja Alexan-
drowna! Dem Gesetze nach warst du meine leibliche Mutter,
deinem Handeln nach aber eine grimmige Schlange!** Nun
nimmt die Mutter Abschied: „O ihr rechtgläubigen Leute
wundert euch nicht, daß ich mein eigenes liebes Kind verkaufe.
Denn kein Erhalter war er der leiblichen Mutter, sondern ein
Verschwender, ein liederlicher Trunkenbold 1**
Unter den russischen Heldensagen, den Bylinen, gibt es
aber auch mehrere Lieder zur Verherrlichung der Trinker,
so das Lied von Wassilij dem Saufbold: Der Tartarenchan
Batyga belagert die Kijewstadt und fordert den Fürsten Wladi-
mir auf, einen Helden zum Zweikampf zu schicken. Tief be-
trübt ist der leutselige Fürst Wladimir, denn kein Held ist
in Kijew. Da tritt ein Schenkwirt zum Fürsten: „Unser Heil
und unsere Hoffnung, rote Sonne, Fürst Wladimir! In der
Kijewstadt treibt sich seit zwölf Jahren ein Degen herum,
der all seine Habe versoffen hat. Nichts gibt es, womit er
sich nüchtern trinken kann, von dem Sichnüchterntrinken tut
der Kopf ihm weh, und von den Wehen des Trunkes ist das
Herz ihm beklommen. Aber er ist ein wackerer Held und
kann mit Batyga sich messen.*' Der Fürst geht in den Schen-
ken umher und sucht den Saufbold. Endlich findet er den
Wassilij Iwanowitsch schwer besoffen auf einem Ofen, ohne
Hosen, weil er sie vertrunken hat, und im dünnen Hemde. Als
der Saufbold den Fürsten bemerkt, kriecht er vom Ofen henm-
ter, verneigt sich tief und spricht: „Du unsere Sonne, Fürst
Wladimir! Du kennst nicht meine große Trübsal. Du hast
große Bekümmernis, aber mein Leid und meine Trauer sind
noch größer. Vor Schmerz birst mir das Haupt, es zittern
mir die Sehnen der Knie, denn ich habe nichts zu trinken,
die verfluchten Wirte pumpen mir keinen Tropfen mehr.
Stärke mich, o edler Fürst, mit einer stärkenden Schale, dann
werde ich stark und kann mit Batyga mich messen.*' Der Fürst
läßt dem Saufbold ein Faß Meth bringen und ein Faß Bier
und ein Faß Wein; ein jedes Faß wiegt anderthalb Pud. Was-
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silij aber hebt alle drei Fässer mit einer Hand auf und trinkt
eins nach dem anderen in einem Zuge aus. Darauf spannt
er dreimal den Bogen, schießt drei Pfeile ab und tötet Batygas
Sohn, Schwiegersohn und Pfaffen. Batyga fordert wutentbrannt
den Mörder. Wladimir zittert, aber Wassilij sagt: „O unsere
rote Sonne, Wladimir! Nicht kann ich jetzt zu Batyga gehen.
Nach dem Trünke schmerzt mein Haupt. Gib mir eine be-
lauschende Schale voll grünen Weines, eine zweite voll be-
täubenden Bieres, eine dritte voll süßen Methes; dann kann
ich mit Batyga mich messen." Der Fürst wiederholt sein
früheres Geschenk. Nun ist Waßjka wieder in Ordnung und
jubelt: „Dank dir, du Zar Batyga, daß du zu unserer Stadt
gezogen kamst.** Dann nimmt er ein Roß und reitet zu
Batyga, beklagt sich dort, daß der undankbare Wladimir ihn
aufknüpfen lassen wollte, und schwört dem Fürsten Rache.
Batyga läßt sich überlisten, gibt dem Saufbold zu trinken und
vertraut ihm das Heer an, um es heimlich nach Kijew zu
führen. In einem Walde aber reißt Wassilij, durch einen kräf-
tigen Trunk gestärkt, einen Baum aus der Erde und erschlägt
das ganze Heer Batygas. Jubelnd empfangen die Kijewer den
Helden und wollen ihn mit Ehren und Schätzen überhäufen.
Er dagegen erbittet dieses : daß jedes Haus in Kijew ihm ein
Faß Wein, ein Faß Bier und ein Faß Meth spende; vom Für-
sten aber verlangt er einen Geleitsbrief mit Siegel und eigen-
händiger Unterschrift für alle zarischen Schenken: daß Was-
silij der Saufbold überall auf des Fürsten Rechnung trinken
dürfe bis an sein seliges Ende.
Auch der Hauptheld des Kijewschen Sagenkreises, Ilja
Muromez, ist ein gewaltiger Trinker. In einem Liede wird er-
zählt, wie Ilja in armseligem Pilgergewande in den Straßen
von Kijew umherwandert. Den Helden plagt ein furchtbarer
Durst, und in der Tasche hat er nicht einen Kopek. Da denkt
er: Mache kurzen Prozeß; gehe in einen Zarewkabak^), in eine
Kronsschenke; da müssen sie dir schon einen Heldentrunk
pumpen, hast lange Jahre selbstlos dem Fürsten gedient! Ilja
1) Kabak, KaöniCB, ist die Krons - Schnapsschenke . während Traktir.
TpaicrupT», das Wirtshaus überhaupt bezeichnet.
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kommt in die Schenke und schreit: „Heda, Brüderchen Wirt,
pumpe mir für zweitausend Rubel grünen Wein!** Der Wirt
schaut sich den armsehgen Pilger an und sagt : „Ei, du törichter
Trunkenbold, mach daß du fortkommst.** Ilja appelliert an
das gute Herz der zweimal vierzig Kellner; dieselbe Antwort.
Da weckt Ilja die Zechbrüder i), die auf den Bänken und
Öfen herumliegen, und schreit: „Ach Brüder Trunkenbolde,
ich verschmachte schier vor Durst, schenkt mir einen Tropfen
grünen Weines.** Und die armen Trunkenbolde legen ihr letztes
Geld zusammen und kaufen dem Ilja anderthalb Eimer grünen
Weines. Zum Dank verspricht ihnen Ilja, sie am nächsten Tage
zu bewirten. Am anderen Morgen erscheint Ilja nicht als Pilger,
sondern als Held. Mit einem Fußstoße sprengt er das Tor
des Zarewkabak, drei riesige Fässer schleppt er heraus und
bewirtet die Spender von gestern. Brüderchen Wirt und Brü-
der Kellner platzen vor Wut, aber Ilja kümmert sich nicht
um sie, legt sich nach der Orgie auf den Ofen und schläft
drei Tage und drei Nächte seinen gewaltigen Rausch aus.
Der russische Trinkerruhm erfüllte schon früh die Welt.
Die europäischen Reisenden, die aus Rußland zurückkehrten,
berichteten in Worten starren Staunens über die moskowitische
Trunksucht. Contarini schreibt 2) lun 1500, „daß sich die Mosko-
witer vom Morgen bis zum Mittag auf den Märkten und Plätzen
herumtreiben und den Tag in Trinkhäusern beschließen.** —
Mayerberg erzählt 3): Branntwein beginne und ende die Mahl-
zeiten. Der Rausch allein setze der russischen Art des Trin-
kens ein Ziel. Man trinke nicht tropfenweise, sondern schütte
die Schale*) auf einen Zug in die Kehle aus. Einen Festsaal
verlasse der Moskowiter nicht freiwillig, man müsse ihn hinaus-
schleppen. Während der Mahlzeit höre man die besten Herr-
schaften fortwährend aufstoßen, rülpsen und andere Laute
von sich geben; sie seien deswegen nicht ängstlich, und auch
1) FoJiutt KaÖaniit, wörtlich: der arme Zecher.
2) Karamsin, deutsche Ausgabe VII 168, französische VII 263.
3) Voyage en Moscovie, 1688. 61 — 63, 78, Sj, 138, 141, und noch an
vielen Stellen.
*) Die alten Russen tranken den Branntwein aus Schalen. Vgl. darüber
auch Margeret a. a. O. 100.
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peinliche Gerüche verursachen keinen Verdruß. Vor der Mahl-
zeit erscheine die Hausfrau mit einer Schale Branntwein; sie
nippe daran, reiche dem vornehmsten Gaste den Ehrentrunk
und ziehe sich dann wieder zurück. — Le Bruyn berichtet i)
aus dem Jahre 1 703 : An den Festtagen saufen die Russen so
wütig, daß man sie in Massen berauscht auf den Straßen liegen
sehe, namentlich vor den Schenken. In die Lokale selbst
dürfen sie nicht hineingehen ; an der Tür der Kabaken befinde
sich eine Bank, auf die sie das Geld legen müssen, dann
folge man ihnen die bezahlte Quantität aus. In jedem Zarew-
kabak seien zwei Bediente : einer nehme das Geld in Empfang,
der andere schöpfe mit einem großen Holzlöffel den Schnaps
aus einem mächtigen Kessel. Die Frauen drängen sich wie
die Männer zum Saufen. — Endlich erwähne ich hier die
Mitteilungen des dänischen Reisenden Peter von Haven^) : „Die
vornehmste Neigung des ganzen Volkes bestehet darinn, Essen
und Trinken in Überfluß zu genießen und sich vornehmlich
allerley Arten vom starken Getränk ohne Ordnung und Maaß
zu bedienen. Ungeachtet sie mm öfters Schiffbruch am Ver-
stände leiden, so scheinet es doch, als wenn es ihren Körpern
keinen grossen Schaden thäte. Es ist soweit entfernt, daß der
gemeine Mann sich seiner Trunkenheit schämen sollte, daß
er sich vielmehr derselben rühmet, seine Lieder in den Schen-
ken herschreyet, und taumelnd auf der Strasse gehet; zu-
weilen begegnet man wohl auch Bauern von beyderley Ge-
schlecht, die öffentlich herumgehen, sich einander unter die
Arme gefaßt halten, und die in ihrer Trunkenheit singen imd
schreven.**
Die wenigen Russen, die als Diplomaten ins Ausland ge-
schickt wurden, schleppten ihr Laster mit sich. Von Chardin^)
erfahren wir, daß die russischen Gesandten, vom Schach Abbas
zu einem Feste geladen, sich an der Tafel des persischen Königs
derart mit Schiraswein betranken, „daß sie allzu deutliche
Beweise von Unfläthigkeit von sich gaben; so daß derKönig
1) Voyages, III 250.
*) Büschings Magazin X 351.
*) Chardin, Reise in Persien.
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die Tafel aufhob mit dem Bemerken: Die Russen seien wie
die Usbeken, welche das schmutzigste tatarische Volk."
Obwohl die friiher angeführten Nationallieder die Meinimg
erwecken, daß das Nationallaster mit der Begründung des
Reiches begonnen habe, kann doch behauptet werden, daß
die furchtbare Ausartung der Trunksucht in Rußland erst
aus dem sechzehnten Jahrhundert datiert. Soweit historisch
festgestellt ist, war der weiberliebende schreckliche Iwan der
erste Zar, der den Sapoj^) am russischen Hofe einbürgerte.
Zur Aufpeitschung seiner durch ein Hurenleben erschlafften
Sinne braucht der Tyrann die erhitzenden Kräfte des Weines.
Im Zarenpalaste gibt es endlose Schmausereien und Trink-
gelage, bei denen man einander mit Hymnen auf den Wein,
der des Menschen Herz erfreue, zu Ausschweifungen anfeuert,
während der alte Gebrauch der Mäßigkäeit verhöhnt und das
Fasten als Heuchelei erklärt wird.^) Der Palast ist bald zu
eng für die rauschenden Festversammlungen; man überführt
die jungen Prinzen in besondere Häuser, um Platz zu schaffen
für die Zecher. Täglich werden neue Vergnügungen ersonnen,
bei denen Nüchternheit und Wohlanständigkeit als unschick-
lich verpönt sind. Mancher Bojar kann der guten alten Zeit
der Mäßigung nicht vergessen, sitzt an der unter der Weinlast
seufzenden zarischen Tafel mit trübem Blicke und stummem
Munde; man verlacht oder verachtet ihn, gießt ihm Wein auf
das nachdenklich gesenkte Haupt, setzt ihm ein nacktes Dirn-
lein auf die vor Angst schlotternden Knie. Mönche erscheinen
unter den Zechern, um durch nachsichtige Lehren das schüch-
terne Gewissen des Zaren gänzlich zum Schweigen zu bringen
und durch ihre Gegenwart und eigene Anteilnahme die Zügel-
losigkeit vor dem murrenden Volke zu heiligen. Der Archi-
mandrit von Tschudow selbst erweist sich als der ärgste
Schlemmer, und Hof und Klerus taumeln Arm in Arm von
einer Orgie zur anderen. In einem älteren deutschen Reise-
werke 3) wird erzählt, auf welche Weise Iwan der Schreckliche
seinen Säufer-„Himeur** zu beweisen pflegte : „Nachdem fremde
1) 3anoft, Saufwut, eigentlich: anhaltendes Trinken.
2) Karamsin, deutsche Ausgabe VIII 15, französische IX 18.
3) Reise nach Norden / anno 1706, S. 168.
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Eng- und Schottländische Weiber sich über ihn lustig gemacht
hatten / ließ er sie holen / volltruncken machen / dann selbige
gantz nacket ausziehen / und in diesen Zustande eine nach
der anderen 5. oder 6. Scheffel Erbsen / die er in sein Zimmer
hatte streuen lassen / wieder auflesen i) und schickte sie darauf f
wieder fort mit der Warnung / sich über ihn ein andermal
nicht zu kützeln."
Dieser Tyrann, der sich und seinen Günstlingen kein be-
schränkendes Maß vorschreiben ließ, verfolgte grausam die
Trunkenbolde unter dem Volke. Die gemeinen Sterblichen durf-
ten bloß an Feiertagen trinken, an Werktagen war es ihnen ver-
boten. Nur die ausländischen Krieger, die dem Zaren für
Geld dienten, konnten sich nach ihrem Belieben berauschen 2);
deswegen hieß auch die Vorstadt jenseits des Moskwaflusses,
wo sie wohnten: Naleika. Von dem russischen Worte najin-
BaÄ, schenk voll ein! Die russischen Trunkenbolde aber,
die dem zarischen Befehle zuwiderhandelten, brachte man beim
ersten Male in den Säuferturm, wo sie bei Brot und Wasser
eingesperrt blieben, bis sie Besserung bekundeten; beim zwei-
ten Male wurde ihnen das Gesetz der Nüchternheit mit Knuten-
hieben eingebläut.
Während der Zar im Widerspruch zu seinem eigenen
schamlosen Treiben Mäßigkeitsgesetze gab, schuf er gar einen
Widerspruch mit dem Widerspruch, indem er das zarische
Schnapsmonopol ins Leben rief, die zarische Kabakwirtschaft
begründete, die Trunksucht als Staatsnotwendigkeit statuierte.
Nach dem Muster der Chans-Schenken, die er in dem von
ihm eroberten Kasanj kennen gelernt hatte, organisierte Iwan
die Zarew-Kabaki. Der Branntwein wurde eine Hauptein-
nahmsquelle des zarischen Schatzes. Der Zar allein durfte
fortan mit Branntwein handeln. Im ganzen Reiche wurden
im Namen des Zaren Branntweinbrennereien errichtet. Zu-
gleich mit dem Befehle an die Statthalter, die Trunksucht zu
bekämpfen, ging der andere Befehl : überall Kronsschenken zu
1) Ich erinnere an den ähnlichen Vorfall, den sich Dorat und Gr6court
sn poetischer Bearbeitung erwählt haben, und an die deutsche Bearbeitung
der ,, Kirschen" von Heinse.
*) Jovius und Herberstein, Die Moscouitische Chronica. 1576.
— 304 —
öffnen. Die Vertreter des Zarenschatzes, denen die Verwaltung
der Schnapsfilialen anvertraut wurde, mußten beim Kreuze
schwören, eine hinreichende Menge auszuschenken; wenn sie
nach einer bestimmten Zeit das vorgeschriebene Quantum
nicht verkauft hatten, machte man sie für das Defizit ver-
antwortlich. Wie glänzend sie ihre Aufgabe lösten, beweist
ein Gesuch des Schenkwirtes Andrej Obrasow, der zur Unter-
stützung seiner Bitte anführte : er hätte das Interesse des Zaren
stets so sehr gewahrt, daß sich in seiner Schenke sogar viele
Leute zu Tode getrunken. Anfangs waren die Priester Gegner
des Branntweins, später fanden sie an ihm ebenso Geschmack
wie das Volk. Der Zar bereicherte sich durch das Laster des
Volkes, und gleichzeitig triumphierte die zarische Politik, welche
die Aufrechterhaltung der Autokratie nie anders zu sichern
wußte als durch systematische Verdummung und Entsittlichung
der Massen.
Die Trunksucht breitete sich aus gleich der Pest. Zur
Zeit des Zaren Fedor Iwanowitsch gab es schon in allen Städten
Kronstrinkhäuser. Trotz des zarischen Monopols handelten
auch viele Privatleute heimlich mit Schnaps.^) Boriß Godunow
ergriff gegen diesen Privathandel strenge Maßregeln; ein ern-
ster Freund der Mäßigkeit 2) verurteilte er die Schenkwirtschaft
auch im allgemeinen und erklärte: er würde eher einen Dieb
oder Räuber als einen Schenkwirt begnadigen; er forderte
die Schnapshändler auf, sich ehrlicher Arbeit zu widmen, und
versprach ihnen in diesem Falle Ländereien. Dieses Lockmittel
half nicht; half umso weniger, als der Zar nicht den Mut
hatte, mit der Aufhebung der Kronsschenken den Anfang
zu machen.
1) Karamsin, deutsch X 71, französisch XI 112.
2) Als Boriß Godunow Uvländische Flüchtlinge zu einem Mahle bei sich
empfing, wollten die Bojaren die Gäste betrunken machen. Diese waren
auf ihrer Hut, weil sie wußten, daß der Zar ein Freund der Nüchternheit
war. Der Zar bemerkte ihre Enthaltsamkeit und fragte: „Warum trinkt
ihr nicht, wie es bei euch der Gebrauch ist?" Sie antworteten, in Gegenwart
des enthaltsamen Zaren wollten sie auch nicht unmäßig sein. Da sagte Boriß:
„Ich nötige euch als Wirt zum Trinken, macht euch getrost lustig, trinkt
in die Runde auf meine Gesundheit." Vgl. Bär, Muscowitische Chronik.
— 305 -
So wurde die Trunksucht bereits unausrottbar, und gras-
sierte weiter, nicht bloß im Volke, sondern auch am Hofe.
Als Graf Woldemar Christian Güldenlöwe von Schleswig-Hol-
stein an der Tafel des Zaren Michael Romanow als Gast er-
schien, wagte der Bojar Boriß Iwanowitsch Morosow in trun-
kener Laune den Protestanten aufzufordern, er möge zur Ortho-
doxie übertreten ; um der peinlichen Szene ein Ende zu machen,
befahl der Zar dem Morosow, sich sofort zu entfernen; „dieser
aber verweigerte sich aus Trunkenheit dessen,** so daß der
Thronfolger Alexej den Besoffenen an der Brust packen und
höchsteigenhändig an die Luft setzen mußte, i) Auf Alexej
hatte dieser Vorfall einen tiefen Eindruck gemacht, und als
er bald darauf Zar geworden war imd ein Gesetzbuch zusammen-
stellen ließ, befahl er, ein eigenes Kapitel den Bestrafungen
der Schenkwirte und Trunkenbolde zu widmen. Das Kapitel
kam auch zustande; es enthält ein Dutzend Strafparagraphen:
Da wird Schenkwirten und Trunkenbolden gedroht mit harten
Geldbußen, Gefängnishaft bis zu vielen Monaten, Verbannung
nach Sibirien, furchtbaren Züchtigungen, Knuten, Batogy und
Folterungen.^) Aber alle diese Beängstigungen sind nur den
Schlimmen bestimmt, die privat mit Schnaps handeln oder
nichtzarischen Schnaps trinken, wogegen der Vertierung des
Volkes durch zarischen Schnaps keine Grenze gesetzt wird;
die strengen Maßregeln sollen um Gottes willen nicht etwa
dazu dienen, die Trunksucht auszurotten, sondern dafür Sorge
tragen, daß man sich bloß am zarischen Schnaps berausche,
bloß den zarischen Schatz bereichere.
Alles ist prächtig präpariert, um den Einzug des Bacchus
am Hofe Peters des Großen glänzend zu gestalten und dem
Gotte des Weines und des Branntweins seine schönsten
Triumphe zu bereiten. Peter gibt dem russischen Weingott erst
die russischen Namen. Im allgemeinen und in der großen
Öffentlichkeit tituliert er ihn feierlich: Chmjelnizkij. Das war
der Name jenes Kosakenhetmanns, der einige Jahre zuvor dem
1) Nachricht von Woldemar Christian Güldenlöwe Grafen von Schleswig-
Holstein Reise nach Rußland zur Vermählung mit des Czaren Michael Feodoro-
witsch Tochter Irene. In Büschings Magazin X 234.
>) Russisches Land-Recht S. 338, Kap. XXV i— 11.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. 20
— 306 —
Zaren Alexej beigestanden hatte, die Polen zu bekämpfen, und
der deshalb bei den Russen Popularität erwarb ; in den Liedern
wird er als großer Säufer gefeiert gleich dem altrussischen
Helden Ilja von Murom, und die Bilder, die von ihm erhalten
sind, zeigen uns auch das Antlitz eines unverkennbar kräftigen
Trinkers. 1) Für Peter entscheidend ist die sprachliche Be-
deutung dieses Namens; denn XÄrkib heißt: Hopfen, XM'kiB-
Huä: berauscht. In intimem Kreise nennt Peter den Gott
der Trinker: Iwan Michajlowitsch oder kurzweg Iwaschka;
mit demselben Namen bezeichnet er seine Lieblingsschöpfung,
die Flotte.
Peter der Große hat eine vortreffliche Trinkerschule durch-
gemacht. Sein Lehrer und Meister, der Genfer Lefort, ist auch
der Organisator seiner Vergnügungen, der guten wie der
schlechten. Er lehrt ihn nicht bloß Schiffe bauen. Schlachten
schlagen, Reiche regieren, sondern auch trinken und huren.
In allen Arten Ausschweifungen ist Lefort ein unverwüstlicher
Heros.2) Auf der Reise durch Europa, auf der er den jugendlichen
Herrscher begleitet, setzt er durch seine klassische Trinkerkraft
selbst die trinkfesten Deutschen und Holländer in Erstaunen.
Und wie er gelebt, so stirbt er. Im Jahre 1699 gibt er ein
großes Gelage. Es ist Februar und furchtbar kalt. Da schlägt
Lefort vor, die Orgie im Freien fortzusetzen. Es bekommt
ihm schlecht, er erkrankt auf den Tod. Der Pastor wird ge-
rufen, um ihm die letzte Tröstung zu spenden, Lefort aber
schickt den geistlichen Herrn lachend fort, verlangt nach Wein,
Weibern und Musik, und trinkend und singend haucht er sei-
nen Atem aus. Das war ein flottes Haus gewesen, das Haus
Leforts in der Sloboda^) zu Moskau. Da gab es bei Tag und
bei Nacht heitere Gesellschaft. Da war man frei von der
russischen Melancholie, wenn der Becher in die Runde ging.
Auch durch den Wechsel der Sitten mußten alle berauscht
1) Ein Porträt Chmjelnizkijs findet man in Spamers illustrierter Welt-
geschichte 1894, VI, S. 654.
2) Lefort trinkt wie ein Heros, sagte Leibnitz. Vgl. Guerrier, Leibnitz in
seinen Beziehungen zu Rußland, S. 1 2 ; und K. Waliszewski, Pierre le Grand, p. 60.
3) CJioÖOAa, Vorstadt; man verstand damals darunter das Quartier der
Auslander, speziell der Deutschen, in Moskau.
— 307 —
werden: bisher gewohnt, die Frauen nur hinter den Gittern
der Teremsi) oder gehülh in der Fatas^), die keinen Zug des
Gesichts erkennen heßen, zu sehen, tritt man plötzlich in einen
Kreis, wo die schönsten Schottländerinnen, Holländerinnen und
Deutschen ungezwungen von Mann zu Mann hüpfen, fröhlich
lachen, plaudern, küssen, tanzen.
Als Trinker übertraf Peter schnell seinen Meister. Er sauft
ununterbrochen. Im Jahre 1707 ist beim Beginne des Krieges
mit Karl XII. die Verteidigung Rußlands vernachlässigt, weil
der Zar sich ganz dem Saufen hingegeben hat. Vergebens
sendet Mentschikow einen Boten um den andern nach Moskau,
um den Zaren aufzurütteln : der junge Herrscher will von nichts
anderem wissen als von seinen Amüsements mit Wein und
Weibern. Man rühmt Peter dem Großen nach, daß er viel ver-
tragen konnte ; doch wissen wir auch, daß er häufig genug im
Rausche die gräßlichsten Exzesse beging. Friedrich der Große
erzählte Voltaire, daß Peter vom preußischen Gesandten Baron
von Printzen dabei angetroffen wurde, wie er bei seiner Mahl-
zeit im Zorne des Rausches zwanzig Streljzen enthaupten ließ;
während die Exekutionen vor seinen Augen vollzogen wur-
den, aß der Zar nicht bloß ruhig weiter, sondern machte sich
den Spaß, bei jedem Streiche des Henkers, wenn ein Kopf zur
Erde rollte, ein Gläschen auf die Gesundheit des Hingerichteten
zu leeren; er lud den preußischen Gesandten lachend ein, an
seinem Vergnügen teilzunehmen. Auf seiner Reise in Europa
trank Peter als wäre er daheim. In Königsberg wollte er
in der Trunkenheit Lefort erstechen. In Dresden gesellte er sich
2U Lakaien im Hofe eines Hauses und trank mit ihnen. In
Berlin hielt er die Hoftafel vier Stunden lang hin, da er fort
und fon Gesundheiten ausbringen wollte, um maßlos trinken
zu können. „Es vergeht kein Tag, wo er sich nicht volltrinkt,"
sagt Baron PöUnitz.^) Die Kurfürstin Sophie von Hannover
aber war enttäuscht, nachdem sie so viel von des Zaren Saufe-
^) Tepeirb, wörtlich Dachkammer, Bezeichnung für das Franengemach,
das bei den alten Russen von der Wohnung der Männer so streng geschieden
^i^ar, wie der Harem der Moslems.
>) ^aia, Seidenschleier.
S) M6moires, II 66.
20*
— 308 —
reien gehört hatte; „er hat vor uns gar nicht gesoffen," schrieb
sie in ihren Erinnerungen^); „aber seine Leute abscheulich.
Sie wußten nichts von sich selbst, so voll waren sie."
Nach der Rückkehr Peters aus Europa und nach der Be-
gründung von Petersburg beginnt am 2^enhofe die Hochflut
des Saufens. Die Gelage dauern ununterbrochen an, oft tage-
lang, ja wochenlang Tag und Nacht hindurch. Wann inuner
man bei Hofe erscheint, stets gibt es dort ein Braschnitschanje. ^)
Die Altrussen tadeln die Sauferei als eine nichtrussische Sitte 5);
sie behaupten, der Zar habe sie aus der bösen Fremde mit-
gebracht, aus den deutschen Schenken imd Tingeltangels nach
der heiligen Rußj verpflanzt. Dies gerade ist es, was Peter
veranlaßt, die skandalöse Sitte noch forcierter einzuführen.
Er gründet am Hofe den Rat der Alltrinker*), als Gegenstück
zum Kirchenrat, zum größten Ärger des Klerus und der Nation^
die in dieser Verhöhnung allen Anstandes eine Tat des wirk-
lichen Antichrist sehen.
Es ist ein furchtbarer Spelimkengestank, der einem beim
Betreten des Zarenpalastes entgegenschlägt, atembeklemmend
und betäubend wie der Dunst aus der niedrigsten Schenke. Die
Zeitgenossen erzählen schier unglaubliche Dinge: Wenn man
in den zarischen Schloßgarten kam, begegnete man zunächst
Grenadieren, die eine große Kufe voll allergemeinsten Kom-
branntweins trugen. Wer sie sah, schlich sich fort, als wäre
er den Teufel gewahr worden. Aber Spione waren überall
aufgestellt, um die Flüchtlinge einzufangen. Dem Diplomaten
Bergholz ö) passierte es, daß er einem solchen Spion in die
Arme lief; er weigerte sich, den Schnaps anzunehmen, und
erklärte, er habe schon getrunken. Da verlangte der Spion,
1) Vgl. Pelz. Peter der Große, 128.
2) BpaHCHinaHbe, Sauigelag.
«) Vgl. Comte F6dor Golovkine, La Cour et le rdgne de Paul I, Paris
1905, p. 9; Erinnerungen des Enkels des Großkanzlers Golowkin, der am Hofe
Peters eine: große Roll« spielte.
4) BoeiibflHMiiiiä eo6opi>. Co6oprb bedeutet namentlich die Kirchenver-
Sammlung. Der Zar verhöhnte damit gleichzeitig den Klerus. Vgl. CeMeBCidfi^
O'iepini, II. Cjiobo h ;^tjioI crp. 282.
*) Vgl. sein Tagebuch bei Büsching XIX 45.
mmmmmmmm^mtm
— 309 —
Bergholz solle den Mund aufmachen und seinen Atem riechen
lassen. Es half weder Bitten noch Flehen, man mußte trinken.
Den Grenadieren, welche den Branntwein trugen, folgten Offi-
ziere, die die Aufgabe hatten, Gewalt anzuwenden, wenn man
sich nicht gutwillig ergeben wollte. An Festtagen gab es
Freischnaps für die Truppen; der Zar selbst ging dann die
Reihen entlang imd überreichte den Soldaten den Trunk in
einer Schale, in die das Maß eines großen Bierglases hinein-
ging. Vor dem Zarenschlosse konnte man an Feiertagen die
Betrunkenen haufenweise herumliegen sehen. Es war ein lieb-
liches Durcheinander von Würdenträgem, Volk und Geist-
lichen. „Ein Pope stand noch aufrecht,** erzählt Bergholz, „aber
er war so voll, daß er hätte platzen mögen, ein anderer gab
Lunge und Leber von sich, andere rülpsten.**
Am schärfsten ging es an des Zaren eigener Tafel her.
Der Herzog von Holstein, vom Zaren eingeladen, brachte
sich vorsichtigerweise seine Weine mit, „rotes und weißes
Brotwasser,** imd vertauschte sie heimlich mit den zarischen
Getränken. Peter bemerkte dies, nahm dem Herzog das Glas
weg und sagte: „De Win dogt nit, de Win is mehr schädlich
als min Win,** und gab ihm ein Glas bitteren Ungarwein.
Des Herzogs Begleiter, Geheimer Rat Bassewitz, kam zu spät
zur Tafel; Peter sagte ihm: „Straf I Straf I** und zwang ihn,
vier mächtige Gläser Wein auf einmal auszutrinken. Der Zar
erfuhr, daß die Minister an ihrem Tische enthaltsam waren;
er diktierte ihnen sofort riesige Strafgläser Branntwein. Man
stelle sich solch ein Bild vor: Alle sind betrunken, und doch
verlangen sie inuner mehr. Der Großadmiral Apraxin ist
so voll, daß er weint wie ein Kind. Fürst Mentschikow stürzt
besinnungslos zur Erde; man muß seine Familie holen, damit
sie ihn nach Hause schleppe imd ins Leben zurückrufe. Der
Fürst der Walachei gerät mit dem Oberpolizeimeister in Streit,
während nebenan zwei Todfeinde Bruderschaft trinken imd
einander ewige Treue geloben. Einige, die noch nüchtern sind,
stellen sich trunken, um nicht mehr trinken zu müssen, i) Die
Türen werden geschlossen, niemand hat die Erlaubnis fortzu-
1) Bergholz bei Büsching XIX 94.
— 310 —
gehen, bevor der Zar das Zeichen dazu gibt. Bei den Sauf-
gelagen durften alle den Zaren duzen. Wer aber in der Ver-
traulichkeit auch frech wurde, erhielt zur Strafe eine Riesen-
portion gemeinsten Fusels, die den Sünder sofort unter den
Tisch beförderte und ihn also von der Teilnahme an den
weiteren Vergnügungen ausschloß. Zu den beliebten Gasten
gehörten die Geistlichen. Peter machte sich gern den Scherz,
die obszönsten Reden durch fromme Sprüche und theologische
Abhandlungen würzen zu lassen.
Einmal gab Peter einem deutschen Gesandten zu Ehren ein
Gastmahl im Schlosse Peterhof. Den Gästen wurde mit Tökajer-
wein so scharf zugesetzt, daß endlich keiner mehr auf den
Füßen stehen konnte; und dennoch mußte jeder noch ein
Quartier Branntwein von der Hand der Zarin annehmen, wo-
durch alle den Rest bekamen. In diesem Zustand ließ der Zar
seine Gäste in den Garten, in den Wald und in verschiedene
Zimmer tragen, damit sie ihren Rausch ausschliefen. Um vier
Uhr nachmittags schleppte man die kaum Ernüchterten in einen
jungen Wald und befahl ihnen. Bäume umzuhauen; der Zar
selbst ging mit dem Beispiel voran. Zur Belohnung für die
schwere Arbeit gab es beim Abendessen wieder eine solche La-
dung, daß man ohne Vemimft zu Bett kam. Sogleich wurden
die Erschöpften erbarmungslos aus den Federn gerissen und
zu neuen Orgien geschleppt; um acht Uhr morgens rief man
sie zum Kaffee, dieser aber bestand in einer Schale Brannt-
wein. Hierauf mußte man auf ungesattelten Kleppern einen
Berg hinanreiten. Mittlerweile war wieder Mittag geworden;
man mußte sich neuerdings volltrinken und endlich bei sturm-
bewegter See nach Kronschiott fahren.
Der Zar liebte es zuweilen, während alle seine Gäste stark
trinken miißten, selbst gar nichts zu nehmen. Er blieb aber
nicht etwa enthaltsam aus plötzlich erwachter Neigung zur
Mäßigkeit, sondern aus Berechnung, um seine Leute auszu-
spionieren. Was der Nüchterne im Herzen verbirgt, das hat
der Betrunkene auf der Zunge, sagt ein russisches Sprich-
wort.^)
1) 4to y ui>}iHaro Ha fl3biKi^, to y xpesBaro na yirli. Vgl. CcMeBCKÜt^
O'icpKH II, CiüBO H ;gj^o, C-Üerepö. 1884, crp. 5.
— 311 —
Ein deutscher Diplomat i) behauptete: „Peter trinkt viel,
aber ich habe ihn nie der Vernunft beraubt gesehen. Ob-
wohl er selbst viel vertragen kann, ist er doch ein erklärter
Antagonist aller Trunkenbolde.** Dieses Urteil kann nur in
bezug auf die letzten Lebensjahre des Zaren Geltung haben.
Auf Verlangen seiner Ärzte entsagt Peter zeitweilig dem
Weine; er trinkt nur Kißlijeschtschi, Säuerliches, Kwaß.-)
Diese Zeit der Mäßigkeit verschafft ihm die flüchtige Repu-
tation der Nüchternheit. Die Periode seiner Enthaltsamkeit
ist aber nur eine ganz kurze ; der Zar kehrt in den letzten Mo-
naten seines Lebens zu den früheren Ausschweifungen zurück,
und der französische Diplomat Campredon muß dasselbe er-
zählen, was wir schon von dem Deutschen Bergholz gehört
haben. „L'on.but beaucoup,** damit schließt jeder Bericht des
Franzosen über ein Fest am Zarenhofe 3); die Kufe mit Schnaps,
von Grenadieren getragen, erscheint wieder; man muß sich
wie früher auf Befehl berauschen und um dem Zaren zu ge-
fallen sich den Tod in den Hals trinken. Der sächsische Ge-
sandte sucht am 22. August 1724 um eine Audienz nach;
aber er erhält zur Antwort, daß der Zar seit sechs Tagen in-
folge der Orgien, die anläßlich der Einweihung einer Kirche
stattfanden — man vertrank 3000 Flaschen Wein — das Bett
hüten müsse. 1/^25 werden die Verhandlungen wegen des
Abschlusses der ersten französisch-russischen Allianz geführt;
plötzlich tritt eine Stockung auf russischer Seite ein. Camp-
redon ist beunruhigt und urgiert die Entscheidung; nach
langem Zögern gesteht endlich Ostermann: Der Zar amüsiert
sich; begleitet von zweihundert Personen wandert er von Haus
1) Vgl. die Zeitschrift ,, Konstantinopel und St. Petersburg", II. Jahr-
gang, II. Band, 1806, S. 36.
2) KBacn,, ein leicht gegorenes Roggen wasser ; bekanntlich ein russisches
Nationalgetränk wie mot», Meth, oder natt, Tee. Diese Nationalgetränke
haben aber keine Beziehung zur Sittlichkeit, wie der Branntwein. Vom Tee
meinen die Russen, er paralysiere die Trunkenheit durch Schnaps; man nimmt
ihn vor dem Saufen als Vorbeugungsmittel, oder nachher, um die Dünste
des Rausches zu zerteilen. Vgl. J. Ph. Kilburgers Unterricht von dem russi-
schen Handel, in Büschings Magazin III 271.
*) Louis XV et Elisabeth de Russie, 6tude sur les relations de la France
et de la Russie, par Albert Vandal. 3*n»c 6d. Paris 1896, p. 47.
— 312 —
zu Haus; es gibt Musik und Gesang, Essen und Trinken; aber
für Regierungsarbeit hat der Zar keine Zeit. Die Diplomaten
müssen mithalten und beklagen sich deswegen, denn es geht
ans Leben. Der englische Gesandte Withworth hat den Mut,
die Teilnahme an den Saufgelagen abzulehnen, und seither
wird auf die Gesellschaft der ausländischen Regierungsvertreter
nicht mehr reflektiert.
Der Zar vergißt auch seine lieben Matrosen nicht. Wenn
ein Schiff abgeht, erhält es von Peter tausend Rubel für
Weine. Das Beispiel des Zaren müssen die Großen befolgen;
Romadanowskij läßt die bei ihm als Gäste Erscheinenden am
Eingang des Hauses mit einer Riesenschale Branntwein will-
kommen heißen, die ein gezähmter Bär grinsend präsentiert.
Das Sittenbild, das hier gezeichnet ist, übt noch eine be-
sondere Wirkung durch das starke Hervortreten des weib-
lichen Elementes bei den Trinkgelagen. Es ist schon früher
angedeutet worden, daß sich zu den zarischen Kronsschenken
die Weiber aus dem Volke nicht weniger drängen als die
Männer. Aber die Trunksucht der Frauen findet man auch
in den vornehmsten Kreisen der Gesellschaft. Als Woldemar
Christian Güldenlöwe Graf von Schleswig-Holstein, der nach
Moskau gekommen ist, um vom Zaren Michael die Hand der
Prinzessin Irene zu erbitten, auffallend lange zögert, Ernst zu
machen, fragt ihn eines Tages ein Würdenträger des Zaren:
„Ist Ihro Gräfl. Gnaden vielleicht zu Ohren gekommen, daß
die Prinzessin nicht schön wäre? Zudem möchten Ihro Gräfl.
Gnaden sich auch nicht die Gedanken machen, daß die Prin-
zessin sich nach moskowitischer Art den anderen Weibern
gleich ofte voll und truncken söffe, gar nicht: Sie lebt mäßig
und ist ihre Lebenstage nicht mehr denn nur einmal truncken
gewesen.** 1)
Am Hofe Peters des Großen, des Enkels des Zaren Michael,
ist man nicht mehr so ängstlich um den guten Ruf der rus-
sischen Frau besorgt. Beim Zwangsaufen gelegentlich der Feste
im Zarenschlosse werden, wie Bergholz berichtet 2), „nicht ein-
1) Nachricht von des Grafen von Schleswig-Holstein Reise nach Ruß-
land, in Büschings Magazin X 225.
«) Bei Büsching XIX 45.
— 313 —
mal die allerzartesten Damen dispensiret, weil die Zarin es bis-
weilen selbst mit thut.** An Galatagen trinken die Frauen
in separaten Gemächern, zu denen kein Mann, der Zar aus-
genommen, Zutritt hat. Bei intimen Gelagen aber gibt es
keine Trennung der Geschlechter; da müssen sich die Frauen
mit den Männern an dieselbe Tafel setzen und dürfen im
Trinken nicht hinter dem starken Geschlecht zurückbleiben.
Die Tochter des Vizekanzlers Schaf irow wagt eine Tscharka^)
Branntwein auszuschlagen; der Zar schreit sie an: „Du ver-
dammte hebräische Kreatur 2), ich werde dich gehorchen
lehren!" und versetzte ihr zwei Ohrfeigen. Und sie muß
trinken, bis sie umfällt.
Da liegen oft dreißig oder vierzig der vornehmsten Da-
men berauscht und erbrechend unter den besoffenen Männern.
Ist das hehre Ziel glücklich erreicht, so packt man die Weiber
in Wagen und schickt sie ihren Familien zurück. Die Frau,
die eine Einladung zu einem zarischen Trinkfeste erhält, darf
sie unter keinem Vorwande ablehnen. Die Frau des Mar-
schalls Olfusjew läßt sich entschuldigen; sie könne nicht kom-
men, weil sie einem freudigen Ereignis entgegensehe. Der
Zar schickt nochmals um sie; die Entschuldigung ist ihm
nicht genügend. Verzweifelt wendet sich die Frau an die
Zarin und bittet sie unter Tränen, vom Trinken wegbleiben zu
dürfen; die Zarin geht zum Kaiser, umsonst: Die Unglück-
liche muß kommen ; ihr Fembleiben, meint Peter, könnte böses
Blut machen, weil sie als eine geborene Ausländerin vor rus-
sischen Frauen einen Vorzug für sich in Anspruch nehmen
wolle. Nach der Rückkehr von diesem Feste erleidet Frau
Olfusjew eine Fehlgeburt; sie legt das Embryo in Spiritus
und schickt das Glas dem Zaren. 3)
Jede Gelegenheit wird benutzt, um Damen zum Trinken
einzuladen; namentlich am Geburtstag und Namenstag der
Zarin fließt in den Frauengemächem der Branntwein in Strö-
1) Hapa, MapKa oder Mapo'iKa, Schale oder Schälchen.
>) Schafirow, ein getaufter Jude, gehörte zu den bedeutendsten Günst-
lingen Peters.
S) Bergholz bei Büsching XIX 157.
— 314 —
men, gewöhnlich ein ganz ordinärer Kombranntwein. Am
S.Dezember 1721 berichtet Campredon^): „Das letzte Fest zum
Namenstag der Zarin war großartig nach Landessitte: die
Damen tranken viel.** Katharina I. selbst ist eine Trinkerin
erster Klasse, wie Bassewitz konstatiert; und sie dankt diesem
Talent nicht zum wenigsten die Ausdauer in der Gunst des
sonst so flatterhaften Gemahls. Einmal sitzt sie an fröhlicher
Tafel und beginnt plötzlich zu weinen; ein Töchterchen ist
ihr vor einigen Tagen früh verstorben, und die Erinnenmg
an das geliebte Wesen bedrückt ihr Herz. Die Rührseligkeit der
Zarin droht die Stinmiung zu verderben. Da reicht Graf
Sapieha der Kaiserin ein Glas Wein und ruft ihr einen Trink-
spruch zu; top, sagt sie, wischt die Tränen fort und leert
das Glas auf einen Zug.
Selbst Zarin geworden, setzt Katharina die Tradition und
Sitten Peters fort. Campredon meldet am 14. Oktober 1725:
„Die Herrscherin überläßt sich den Vergnügungen bis zur
Zerstönmg ihrer Gesundheit,** und am 22. Dezember desselben
Jahres: „Die Zarin ist krank infolge einer Orgie am Andreas-
tage.** 2) Und das geht so fort die ganzen zwei Jahre ihrer
Alleinherrschaft. Der dänische Gesandte Westphal berechnete,
daß der zarische Hof während dieser zwei Jahre für Ungar-
weine und Danziger Schnäpse eine Million Rubel verausgabte;
die gesamten Revenuen des Staates betrugen damals zehn Mil-
lionen Rubel jährlich. 3) Auch Elisabeth die jüngere Tochter
Peters und Katharinas, die später Zarin wurde, soll als Prin-
zessin Unsummen für Spirituosen verbraucht haben. Nach Eini-
gen ist sie auch als Zarin eine starke Trinkerin gewesen. Sie hat
sich, so behauptet man, durch ihre maßlose Trunksucht die
Krankheiten zugezogen, an denen sie schließlich in abscheu-
licher Weise zugrunde ging. *) Einige andere Zeitgenossen loben
indessen gerade ihre Nüchternheit. So sagte Mardefeld 1742:
„Gleich ihrer Mutter Katharina versagt sie sich nichts, den
1) Waliszewski, Pierre le Grand, 462.
*) Waliszewski, L'h6ritage de Pierre le Grand, 15.
8) Korsakow, Thronbesteigung der Zarin Anna, 1880. Anhang S. 75.
*) Sugenheim, Rußlands Beziehungen zu Deutschland, I 279.
-r 315 —
Bacchus ausgenommen;" und Marquis de THöpital schrieb
1758: „Elle mange peu, eile boit ä son ordinaire de la petite
•
bifere et du vin de Hongrie. En tout eile est sobre.**
Der Verkommenheit des Hofes entsprachen die Sitten der
Gesellschaft und des Volkes. Katharina II. traf das rich-
tigste, als sie den Truppen zu saufen gab, um sie für sich
zu gewinnen. 1) Am Tage ihrer Thronbesteigung standen alle
Schenken, Weinkeller und Wirtshäuser den Soldaten offen.
Die Soldaten und Soldatenfrauen trugen eimerweise Wein,
Branntwein, Bier, Meth und Champagner nach Hause imd
gössen alles durcheinander in Zuber und Fässer, die sich ge-
rade vorfanden. Die Bauern standen den Soldaten nicht nach.
Die Trinkgelage waren allgemein und die Straßen bedeckt mit
Betrunkenen, die sich nicht mehr begnügten, die Getränke
aus den Kronsniederlagen zu holen, sondern auch die Privat-
schenken und Herbergen stürmten und plünderten; die Händ-
ler wagten nicht Widerstand zu leisten und gaben alle ihre
Vorräte freiwillig her. Die Soldaten soffen zur Selbstbelohnung
der Dienste, die sie dem Vaterlande durch die Entthronung
Peters III. geleistet zu haben glaubten, das Volk trank auf
das Wohl der neuen Kaiserin, die so freigebig war. Die Polizei
selbst wurde von der Sauferei mitgerissen, kümmerte sich
nicht mehr um die Ordnung in der Stadt; ihre Organe lagen
berauscht neben den Popen, Soldaten, Bauern und Weibern
in den Straßenrinnen. Der Festtag wurde zu einem Tage
beispiellosen Unfugs. Am späten Abend jagten betrunkene
Husaren durch Petersburg nach der Ismailowschen Sloboda
und riefen das Ismailowsche Regiment, welches am meisten
soff, zur Rettung der Zarin auf. „Die verfluchten Preußen,"
schrien sie, „wollen un3 unsere Mutter entführen.** Die be-
trunkenen Ismailowzen verlangten die Kaiserin zu sehen und
drohten mit Krawallen, wenn sie sich nicht zeige. Vergebens
stellte man ihnen vor, die Kaiserin schlafe längst. „Kapitän
Passeck,** erzählt Katharina selbst, „trat um Mitternacht in
mein Schlafzimmer und weckte mich, erzählend, daß das Ismai-
1) B. von Bilbassoff, Geschichte Katharina II. Deutsch von P. v. R,
des russischen Originals Band II, erste Abteilung. Berlin 1893. S. 105.
— 316 —
lowsche Regiment, schwer betrunken, nach mir verlange. Ich
mußte aufstehen und zu den Soldaten fahren. Aber als ich
mich ihnen gezeigt und gesagt hatte : „Nun gut, ich danke euch,
jetzt geht schlafen,** gingen sie ruhig wie die Lämmer aus-
einander.**
Katharina II. selbst war keine Saufheldin. Desto trauriger
war es um ihre Umgebung bestellt. Patjomkin beging die
furchtbarsten Exzesse. Als Orlow von der Zarin seiner Stel-
lung als Liebhaber enthoben wurde, rächte er sich dadiu"ch,
daß er sich in allen Schenken mit Huren der niedrigsten Sorte
herumwälzte und das Vermögen, das er von Katharina erwor-
ben hatte, versoff. 1) Friedrichs Gesandter, Solms, schrieb über
den Kanzler Bestuschew^): „Der alte Schwätzer ertränkt den
letzten Rest seines Verstandes in starkem Liqueur.** Der Dich-
ter Lomonossow untergrub seine Schaffenskraft und seine Ge-
sundheit durch seine Leidenschaft für geistige Getränke. 3)
Die historische Entwickelung der Trunksucht und ihre
systematische Züchtung durch die Regierung lassen es be-
greiflich erscheinen, daß sich dieses Laster im russischen Volke
so verbreiten konnte. Wenn man der Statistik glauben will,
so ist es in Rußland allerdings weniger schlimm als in anderen
Ländern. So verbraucht Deutschland jährlich rund drei Mil-
liarden Mark für geistige Getränke. Auf den Kopf kommen in
Deutschland 125 Liter Bier, 6^/3 Liter Wein und 4Y2 Liter
Spirituosen. In England kommt auf den Kopf ein Konsum von
142 Liter Bier, 2 Liter Wein und 5 Liter Spirituosen. Frank-
reich hat einen geringeren Bierkonsum, braucht dagegen 1 1 Yg
Liter Wein und fast 5 Liter Spirituosen per Kopf. In der
Schweiz rechnet man auf den Kopf 67 Liter Wein, 70 Liter
Bier und mehr als 6 Liter Spirituosen. Belgien hat einen ge-
ringen Weinkonsum, aber einen Bedarf von 219 Liter Bier und
92/g Liter Spirituosen. In Italien verbraucht man 88 Liter
Wein, fast gar kein Bier und nur i Liter Schnaps. In öster-
1) Waliszewski, Autour d'un trone 91.
2) Ebenda, 35.
3) Reinhold t, Geschichte der russischen Literatur, 308.
— 317 —
reich-Ungarn kommen auf den Kopf 15 Liter Wein, 46 Liter
Bier und 1 1 Liter Spirituosen. In Schweden, Norwegen, Däne-
mark braucht man wenig Wein und Bier, aber viel Spirituosen,
so in Dänemark 16 Liter für jeden Einwohner. Für Rußland
hat man nur 4 Liter Bier und bloß 2V2 Liter Spirituosen per
Kopf festgestellt. Niemals hat aber die Statistik so getäuscht
wie in diesem Falle. Petersburg allein verkauft jährlich für
300 Millionen Rubel geistiger Getränke. Mehr als 200000 Be-
trunkene werden in dieser Stadt in einem Jahre polizeilich ein-
gezogen; davon sind ein Fünftel Frauen. Es gibt Tage, an
denen mehrere tausend Personen wegen Volltrunkenheit arre-
tiert werden müssen. In den Petersburger Krankenhäusern
sind jährlich 2500 Alkoholiker imtergebracht. Man zählt fer-
ner im Reiche jährlich wenigstens zweitausend plötzliche
Todesfälle infolge allzu nachdrücklichen Trinkens. Die Ein-
nahmen des Staates aus der Branntweinsteuer betragen jähr-
lich zweihundert Millionen Rubel, sie decken ein Fünftel des
gesamten Budgets. Fast die gleiche Summe verdienen die
Zwischenhändler, so daß das russische Volk jährlich eine halbe
Milliarde für Schnaps aufbringen muß.
Die früher angeführte Statistik entspricht ziffermäßig mög-
licherweise der Wahrheit, aber dann bedarf sie nachfolgender
Erklärung : in Rußland wird nicht zu allen Zeiten gleichmäßig
getrunken. Der Muschik enthält sich wochenlang des Trin-
kens, spart jeden Kopek und wartet einen Feiertag ab, an
diesem aber trinkt er bis zur Bewußtlosigkeit. Für Ostern
besonders rüstet sich alles schon lange vorher; dann wandert
man mit Weib und Kindern zur Schenke und macht sich einen
guten Tag. Auch wird nicht in allen Gegenden des Reiches
gleich stark getrunken. So heißt es von den Bewohnern der
Ukraine 1): „Die Ukraine ist das Land der Fressereien. Die
Einwohner lieben Essen, Trinken, Wollust. Sie sind fleißig,
studieren, strengen sich sehr an, und werden am Ende gemeinig-
lich stumpf im Hirne, oder überlassen sich dem Trünke.** Die
Kleinrussen trinken beständig, aber mäßig. Als die ärgsten
^) Taurische Reise der Kaiserin von Rußland Katharina II. Aus dem
Englischen übersetzt. Koblenz 1799. S. 49.
— 318 —
Säufer gelten die Weißrussen; sie sind ganz entnervt i); sie
trinken am meisten und immerfort, an Feiertagen, gewöhn-
lichen Sonntagen, und an Werktagen. Der Großrusse endlich
trinkt nicht beständig, nicht täglich. Beginnt er aber, so hört
er nicht bald auf, trinkt tagelang, selbst wochenlang fort, bis
er das Letzte versoffen hat und buchstäblich nackt aus der
Schenke hinausbefördert und auf die Straße geworfen wird.
Es ist zwar den Schenkwirten verboten, Pfänder anzunehmen,
aber niemand kümmert sich um das Verbot. Und damit ist
der größten Verderbnis die Bahn freigegeben. Der Schenkwirt
nimmt statt Geld was man ihm bringt: Naturalien, Korn,
Talg, Brot, Flachs, Pelz, Kleidungsstücke, selbst die Mützen
oder Stiefel; ist die Ware noch so schlecht, ein Glas Schnaps
kann sie doch bezahlt machen. Der Preis muß stets im Vor-
hinein erlegt werden. Da sieht man, wie ein Besoffener herein-
wankt, sein letztes Kleidungsstück auf den Schanktisch wirft
und das Maß Schnaps dafür eintauscht.
Der Reisende kann nur mit Schaudern an einem Kabak
vorübergehen, wenn er einmal in seinem Leben einen Blick
in eine solche Lasterhöhle geworfen hat. In den Dörfern ist
der Kabak gewöhnlich das letzte und elendeste Haus, der Wirt
der gemeinste Kerl der ganzen Gegend. In den letzten Jahren
sind in den Schenken ganz neue sonderbare Typen aufgetaucht.
Da erscheinen langhaarige Studenten, die dem besoffenen
Volke gegen Bezahlung von einem Kopeken per Zuhörer, die
neuesten Nachrichten aus den Zeitungen, Strafgesetze, Ge-
schichten und Märchen vorlesen; zuweilen wagt sich auch ein
Revolutionär hinein, um die trägen Massen aufzurütteln.
So traurig die Szene sein mag, so sehr dieses Laster maß-
loser Trunksucht auch die Ursache zu Verbrechen und Unsitt-
lichkeit ist, so muß doch anerkannt werden, daß es im Kabak
selbst niemals zu Schlägereien kommt. Wenn der Russe be-
soffen ist, wird er zärtlich, umarmt seinen schlimmsten Tod-
feind. Er sucht im Rausche die Glückseligkeit, die ihm das
Leben versagt, und findet sie. „Unser Volk," sagt Koschelew,
„trank stets und trinkt jetzt unter dem Drange, im Branntwein
1) Haxthausen, Studien II 512.
— 319 —
Vergessen seiner wirklichen Lage zu finden. *'i) Der Bauer trinkt,
um zu vergessen, daß Frau und Kinder hungern; der Hand-
werker und Fabriksarbeiter tragen den kargen Arbeitslohn,
der nicht ausreicht für die schmälste Kost einer Woche, am
Sonnabend Abend in die Schenke, um wenigstens eine einzige
glückliche Nacht zu haben; es ist ihnen dann gleichgültig,
daß sie in der konmienden Woche noch mehr hungern müssen.
Man schleppt die Kinder, namentlich wenn sie in den Fabriken
arbeiten, in die Kabaki mit; Ha^oßHO noÄKp'bnjiaTbCfl, man
muß sich frühzeitig stärken, sagt man. Beide Geschlechter
huldigen dieser Stärkungsmethode. Wie die Bauern und Hand-
werker denken auch die Polizisten und Soldaten, die Beamten,
die Offiziere, bis zu den Höchsten hinauf. Auf dem Kriegs-
marsch bleibt man plötzlich stehen und muß einen unfrei-
willigen Halteplatz wählen, weil die Hälfte der Soldaten vor
Trunkenheit umfällt. Admiral Roschdestwenskij sieht in seiner
Trunkenheit im englischen Kanal harmlose Fischerboote für
japanische Torpedoboote an und provoziert einen gefährlichen
Zwischenfall; Admiral Nebogatow erwacht bei Tschusima aus
seinem Rausch erst, als alles schon vorüber ist. Bei Gericht
erscheint ein Polizist, um eine wichtige Zeugenschaft abzu-
legen, und sinkt dem Richter taumelnd in die Arme; auf
der Bühne stürzt ein berühmter Schauspieler im unrichtigen
Moment zur Erde, weil er in dem Zwischenakt statt eines Glases
Wasser ein Glas Schnaps geleert hat. „Der Muschik kann
nicht zu Gott beten, bevor er sich betrunken hat,** sagt der
Russe Leskow. Aber so will es ja die Regierung haben: Ein
Student, der nicht trinkt, ist verdächtig als Nihilist. Eine Dorf-
gemeinde, in welcher Nüchternheit herrscht, ist eine auf-
rührerische Gesellschaft und muß unter Belagerungszustand
gestellt werden. Eine Sekte, welche die Trunkenheit verab-
scheut, verdient die Ausrottung mit Feuer und Schwert.
Das russische Volk hat sich dem Regierungsprinzip nur
zu willig angepaßt. Das schlimmste bei alledem ist, daß man
^) Dasselbe, wie dieser Russe, schrieb schon der Franzose Custine vor
vi^en Jahrzehnten: „Le plus grand des plaisirs de ce peuple, c'est Tivresse,
antrement dit, ronbli." Custine III 309.
— 320 —
den Trinkern seit neuester Zeit, um sie desto schneller zu
ruinieren, den allerschlechtesten Stoff verabreicht. Man ninunt
keinen Komspiritus als Urstoff, sondern zieht den Branntwein
aus Kartoffeln. Und diesen Schnaps verfälschen die Wieder-
verkäufer noch mehr durch scharfstoffige und ätzende Mit-
tel, wie Schwefelsäure.^)
Alexander III. berief bekanntlich ein Mäßigkeitsparlament,
um der Trunksucht entgegenzuarbeiten. Unter Nikolaj II. hat
dann Witte im Jahre 1900 ein ständiges Temperenzkomitee
begründet. Jede russische Stadt erhielt eine Filiale dieses
Komitees. Witte stellte als Grundsatz auf, daß in Rußland
Mangel an guter Nahrung und vernünftigen Vergnügungen die
Ursachen des Übels seien. In Moskau und Petersburg zunächst
schuf man deshalb Volkshäuser, wo die Arbeiter für 25 Kopeken
Wohnung und ganze Kost für einen Tag, für 5 Kopeken ein
Nachtlogis erhielten. Ein Volkshaus in Moskau war zugleich
Restaurant, Arbeiterklub und Bibliothek. Im Petersburger
Volkshaus gab es sogar einen Konzertsaal und ein Theater
für 2000 Personen. Konzert und Theater sollten gratis sein.
Im ersten Jahre spendete Witte vier Millionen Rubel für das
gute Werk, und er sagte für die Zukunft mehr zu, aber nur
entsprechend den Erträgnissen des Branntweinmonopols I Eine
wahrhaft russische Methode: eine Prämie auf die Steigerung
des Schnapskonsums zu gunsten der Mäßigkeitsvereine. Es
war übrigens alles nur eine Komödie, von der kaum eine Er-
innerung mehr vorhanden ist. Die paar Millionen sind irgendwo
kleben geblieben, und das Prinzip der Regierung ist mehr als
je zuvor: die Trunksucht allein rettet die Autokratie vor dem
Untergang; ein entsittlichtes Volk macht keine Revolution.
Das Volk soll trinken und huren. So unzuverlässig und
unsicher sonst die russische Statistik sein mag, in dieser Be-
ziehung wird sie lehrreich. Sie zeigt uns, daß in den Monaten,
wo die Trunksucht am stärksten grassiert, also in den Monaten
Dezember, Januar, April und Mai, in denen die wichtigsten
russischen Feiertage vorkommen, die Polizei die meisten Scheine
für Prostituierte auszufolgen hat ; in diesen Monaten gibt es auch
1) Buddeus, St. Petersburg im kranken Leben, I 56.
— 321 —
die meisten venerischen Erkrankungen; und schließlich sind
die meisten außerehelichen Geburten ebenfalls auf die Epoche
der stärksten Saufwut zurückzuführen.
Seit jeher hat man in Rußland den Geschlechtsakt mit
der Saufwut zu verbinden sich bemüht. In den Hochzeitsnächten
gab es Orgien ohnegleichen. Es war eine alte löbliche Sitte,
den Bräutigam so volltrunken zu machen, daß ihm die Kraft
fehlte, in der ersten Nacht seine junge Gattenpflicht zu er-
füllen. Peter der Große veranstaltete solche Trinkgelage mit
besonderer Vorliebe. Als der Sohn seines Günstlings Schafirow
sich vermählte, ließ er dem Bräutigam so heftig zusetzen, daß
man ihn schon dem Tode verfallen glaubte. Nachdem man
ihn mit Mühe und Not wieder zum Leben zurückgerufen hatte,
legte man ihn zur Braut und entfernte sich mit dem freudigen
Bewußtsein, „daß die junge Frau für die erste Nacht wohl
wenig Gutes von ihm zu erwarten hätte. Am folgenden Mor-
gen,** erzählt Bergholz in seinem Tagebuch i), „sagten ihm
seine Freunde, alle hätten die Braut sehr beklagt, weil sie
ebensosehr würde von ihm aufgestanden sein, wie sie sich
bei ihm niedergelegt.** Der junge Schafirow aber erwiderte:
„Ey, ey, ihr Narren, ich habe sie elfmal geküsset und umge-
wendet.** Man erzählte dies dem Zaren, der es nicht glauben
wollte, und er ging, wie unser Gewährsmann berichtet, „die
junge Frau selbst auszuholen; glaubte es endlich, als diese die
Versicherung des jungen Ehemannes bestätigte.**
Nicht so gut wie dem jungen Schafirow erging es um
dieselbe Zeit dem Herzog von Kurland, der sich mit Peters
Nichte, der späteren Zarin Anna Iwanowna vermählte ; er trank
in der Hochzeitsnacht so viel, daß man der Braut eine Leiche
ins Hochzeitsbett legen mußte. Die Erinnerung an dieses Ereig-
nis wirkte so nachhaltig auf die Witwe, die niemals Gattin
gewesen, daß sie als Kaiserin an ihrem Hofe keinen Brannt-
wein duldete. Bei ihren Festen ließ sie nur französische Weine
aufstellen. So wurde jener tragische Vorfall gewissermaßen
Anlaß zur Verfeinerung wenigstens des höfischen Trinker-
geschmackes.
1) Bei Büsching XIX 66.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. 21
— 322 —
Im alten Rußland war die Auswahl der Weine gering ge-
wesen. Aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts gibt es
eine authentische Liste der in Rußland gebrauchten Wein-
sorten. Im Jahre 1597 schickte nämlich der Zar aus dem Hof-
keller ein Geschenk für den neu angekommenen österreichi-
schen Gesandten, bestehend in: Romanze, Rheinwein, Muska-
teller, weißem Franzwein, Baster, Alikante, Malvasier, Meth,
Kirschmeth, Johannisbeerwein, Wacholderwein, Schlehenwein,
Himbeerwein, Bojarenwein imd Fürstenwein.^) Romanze war
Burgunderwein, von deutschen Kaufleuten eingeführt; Baster,
deutsch Bastardwein genannt, ein Kanarienwein. Peter der
Große bewirtete seine Gäste bloß mit Prostaja wodka, ordi-
närem Branntwein, Kornbranntwein ^) und Ungarweinen, na-
mentlich Tokajer ; französische und Rheinweine liebte er nicht.*)
Als die Ärzte ihm die starken Spirituosen verboten, bequemte
er sich indessen dazu, in den Kombranntwein etwas Medoc
und Gabors zu mischen.*) Auch an den Tafeln der russischen
Großen brachte man früher die Toaste nur mit Ungarwein
aus. Erst unter Anna Iwanowna änderte sich dies. Franzö-
sische Weine wurden obligat, Burgunder und Champagner
kamen in Massen nach Rußland. Den Champagner hat der
französische Gesandte Marquis de la Chetardie in eigener Per-
son importiert ; er brachte in seiner diplomatischen Bagage nicht
weniger als 16800 Flaschen mit.^)
Es zeigt sich glücklicherweise, daß man auch mit fran-
zösischen Weinen Orgien feiern kann. Bei einem Feste, das
am Jahrestage der Thronbesteigung Annas im Moskauer Zaren-
palaste gegeben wird, geht es zu wie in den g^ten alten Zeiten
der Herrschaft des Branntweins am Hofe Peters: die höchsten
Würdenträger, Militärs, Geistlichen und die vornehmsten
Damen betrinken sich bis zur Bewußtlosigkeit; „es wäre herr-
lich gewesen,** berichtet Ssaltykow als Teilnehmer, „wenn nicht
ein General sich geweigert hätte mitzutrinken;** dieser bringt
1) Karamsin, deutsch IX 309, französisch X 365.
2) Waliszewski, L'h6ritage de Pierre le Grand, 273.
3) Bergholz bei Büsching XIX 94.
*) Waüszewski, Pierre le Grand, 209.
*) Waliszewski, Autour d'un tröne, 34.
— 323 —
eine Störung in das harmonische Bild, der Gk)uverneur ver-
sucht vergebens ihn zu überreden durch den Hinweis, daß es
Pflicht eines patriotischen Russen sei, auf die Gesundheit der
Zarin zu trinken; es bleibt nichts übrig, als den einzigen Nüch-
ternen aus der Gesellschaft hinauszuwerfen.
Die russischen Frauen jener Epoche, welche den Brannt-
wein zeitweilig wenigstens von den Tafeln der Vornehmen
verbannen mußten, gaben ihm ein Asyl in ihren Toiletten.
Sie wuschen sich zur Verschönerung des Teints mit einer
Lösung von Kampescheholz in Branntwein und tranken heim-
lich, was nach der Operation übrig blieb.^) Von den vornehmen
Frauen nahmen die Weiber des Volkes den Modus an, Koket-
terie und Trunksucht zu vereinigen ; und es war nichts Seltenes,
daß man auf den Straßen von Mädchen und Frauen um „ein
paar Kopeken für Schönheitswasser** angebettelt wurde. Odeure
und andere mit Spiritus bereitete duftende Essenzen treten
auch heute, besonders im ostasiatischen Rußland, wenn dort
die Getränkevorräte zur Neige gehen, an die Stelle von Schnäp-
sen. In Ochotsk war im Winter 1902 der Schnaps ausgegangen;
da stellten die Wirte in den Restaurants englische Odeure, das
Fläschchen zu vier Rubel, auf die Speisekarte. Und so tief und
unbezähmbar nistet die Trunksucht im Russen, daß eine der
Intelligenz angehörige Person selbst von diesem Surrogat zwei-
undzwanzig Flacons austrank, infolgedessen erkrankte und
starb. 2)
^) Vgl. die Mitteilungen des dänischen Reisenden Peter von Haven,
bei Büsching X 281.
*) „Jlojihn. BtcTHHKB", 1902. — Vgl. Lodzer Zeitung vom 29. XI. =3 12.
XII. 1902, Korrespondenz aus Ochotsk.
21
— 324
i8. Das Bettelwesen.
Bettler im alten Rußland — Maßregeln Peters des Großen gegen Bettler und
Almosenspender — Wohltätigkeitsakte der Zarin Katharina I. — Gläubiger
und Schuldner — Die Sklaverei der Insolventen — Regieningsmethode billiger
Ernährung der Gefangenen — Charakter der russischen Bettler — Ihre Be-
scheidenheit — Ihr Sprüchlein — Moderne Bettlerorganisation — Sammler
von frommen Spenden — Die Kubraki von Mstislaw — Die Lodyry oder
Labory — Entstehung von Bettlerzünften — Die Abbrändler — Schuvraliki
und Sachodnizi — Gusljaki — Krüppel — Krüppelfabriksorte — Rostow und
Sudogda — Hauptziele der Bettler — Bettelwesen und Unsittlichkeit —
Schamlosigkeit in den Asylen — Lasterhöhlen in Charjkow und Riga — Sta-
tistisches — Freiwillige und unfreiwillige Bettler.
Eine selbstverständliche Folge der Ehrlosigkeit, Lügen-
sucht, Stehlsucht, des Sportelnehmens, der Korruption und der
Trunksucht ist das Bettelwesen. Betteln ist^ keine Schande,
sagt man in Rußland. Es ist dabei keine Rede von denen,
die aus Not betteln, sondern von jenen Organisierten, die den
Müßiggang zu einer lobenswerten Tugend erheben, auf die
Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen spekulieren und aus der
Mildtätigkeit der anderen Kapital für sich schlagen. Als Bett-
ler ziehen sie durch die Lande; als Reiche kehren sie heim,
um zu verprassen, was sie erobert haben. Das Bettelwesen,
das hier geschildert wird, ist nicht aus dem Elend entsprungen,
nicht eine Begleiterscheinung der ewigen Hungersnot, welche
Rußland seit der Begründung des Reiches fast alljährlich,
bald in diesem, bald in jenem Gouvernement heimsucht; son-
dern ein Laster, das auf diesem Boden der Lüge und Fäulnis
noch besser in den Jahren der Fülle und des Reichtums ge-
deiht, als in den mageren Zeiten.
Der Engländer Fletcher berichtete, daß schon im sech-
zehnten Jahrhundert die Bettler in Rußland eine wahre Land-
plage waren. 1) In Moskau wurde man auf Schritt und Tritt
von Landstreichern um Almosen angefleht. Die des Tages
bettelten, gingen nachts auf Raub und Diebstahl aus. Zu Zeiten
1) Fletcher, Of the Russe Common- Wealth, London 1591. — Karam-
sin, deutsch IX 315, französisch X 375.
— 325 —
Peters des Großen wimmelte es in Moskau ebenfalls von sol-
chem Gesindel. Der Zar verbot nicht bloß das öffentliche
Betteln, sondern bestrafte auch jeden, der einem Bettler auf
der Straße ein Almosen verabreichte; wer nur einen Kopeken
gab und von der Polizei dabei ergriffen wurde, mußte fünf
Rubel Strafe zahlen. Da dieses Mittel wohl die Wohltätigkeit
einschränkte, die Zudringlichkeit der Bettler jedoch nicht im
geringsten mäßigte, befahl Peter: alle Bettler, die man auf
den Straßen aufgriff, in die Spitäler zu schleppen. Diese
Bettlerasyle müssen einen gar üblen Ruf gehabt haben, denn
es wird erzählt, daß viele Faulenzer sich schleunigst eine ehr-
liche Arbeit suchten aus Furcht, in die Spitäler gesteckt zu
werden. 1) Die Strenge Peters des Großen gegen die Bettler
wurde gemildert durch das Wohlwollen, welches seine Ge-
mahlin Katharina allen Almosenjägem entgegenbrachte. Das
Vorzimmer im Appartement der Kaiserin war stets von so
vielen Bettlern erfüllt, daß man gewöhnlich Mühe hatte, sich
durch sie hindurchzuwinden. 2) In dem Ausgabenbuch der Zarin,
das in dem Staatsarchiv aufbewahrt ist, findet man namentlich
aus der ersten Zeit ihrer Alleinherrschaft zahlreiche Wohl-
tätigkeitsakte verzeichnet: bald gibt sie einen Dukaten einem
Mädchen, das plötzlich seine Eltern verlor ; zwei Dukaten einem
Muschik, der seine Kopfsteuer nicht bezahlen kann; einen
Dukaten einem angeblichen Abbrändler. Diese Humanitäts-
anwandlungen erscheinen in einem wesentlich schwächeren
Lichte, wenn man in dem Ausgabenbüchlein der Kaiserin
gleichzeitig folgende famose Posten entdeckt: zehn Dukaten
einem Bauer, der eine Stange herauf kletterte ; einmal zehn,
einmal fünfzehn, einmal gar zwanzig Dukaten der Fürstin
Anastasia Galitzyna, weil sie zwei Glas Bier oder zwei Glas
Wein oder eine mächtige Portion Branntwein auf einmal aus-
trank.
Wie alle anderen Laster des russischen Volkes hat die Re-
gierung auch die Bettelei gern gefördert. Bis zu den Zeiten der
Zarin Anna Iwanowna gestattete das Gesetz dem Gläubiger,
1) Le Bruyn, Voyages, III 152.
«) Waliszewski. L'h^ritage de Pierre le Grand, 13.
— 326 —
seinen zahlungsunfähigen Schuldner als Sklaven zu verkaufen;
diese Sklaven sperrte ma» in ein Depot, aber man kümmerte
sich nicht darum, ob sie dort auch zu essen bekamen, so daß
viele imter Lebensgefahr entflohen und als Bettler und Land-
streicher die Gegend unsicher machten. Die Regierung selbst
gab den Sklavenhaltern das seltsamste Beispiel. Um die
Kost für die Gefangenen zu ersparen, wurden die letzteren,
an Händen imd Füßen gefesselt, von ihren Wächtern in den
Straßen umhergeführt, damit sie sich ihr Brot erbettelten i);
wen ihre hohlen Wangen nicht rührten, der wurde durch
den Anblick der blutigen Peitschen- und Knutenfurchen auf den
Rücken der Unglücklichen, die halb nackt in der bittersten
Kälte umherzogen, gewiß zur Mildtätigkeit angespornt; und
die Regierung brauchte sich lun die Verproviantierung der
Gefängnisse nicht mehr zu sorgen.
Das Charakteristische an den russischen Bettlern ist die
Bescheidenheit ihrer Ansprüche. Sie sind mit der geringsten
Gabe zufrieden, im Falle der Verweigerung nur betrübt, aber
nicht grob. 2) Der russische Bettler, er mag noch so hungrig,
noch so zudringlich sein, wird selbst dort, wo er durch Schrek-
ken wirken könnte^ nie zu einer Drohung Zuflucht nehmen ;
er wag^ iliemals den Ausruf: „Dein Geld oder dein Leben,"
sondern entsprechend der passiven Natur des Volkes ist sein
letztes Wort seit jeher^): „Gib mir etwas oder schlag' mich tot I**
' • Obgleich das Laster der Bettelei ein Jahrhunderte altes und
traditionelles ist, so muß man doch feststellen, daß es in
früheren Zeiten kein so organisiertes gewaltiges Bettlerheer
gegebrä hat wie im modernen Rußland. Ganze Dörfer, Städte,
Bezirke sind nur von Leuten bewohnt, die das Betteln als
Beruf betreiben und zu bestimmten Zeiten aus ihrer Heimat
nach den verschiedensten Richtungen ausschwärmen.*) In allen
diesen Bettelstammbezirken erbt sich das Bettlerhandwerk von
einer Generation auf die andere fort. Ein Handwerk ist es,
1) Waliszewski, L'h6ritage, 198.
*) J. G. Kohl, Südrußland, II 28, erzählt ein Beispiel davon.
•) Schon Giles Fletcher zitierte dieses Wort. Vgl. Karamsin a. a. O.
^) Roskoschny, Das arme Rußland, Leipzig 1889, S. 176 — 190, hat eine
so ausführliche und interessante Beschreibung hierüber geliefert, daß füglich
.— 327 —
da es große Übung erfordert; aber es ist auch eine Kunst,
welche die feinsten Kniffe aufweist; ein Studium, das immer
ergänzt werden muß durch die Erfahrungen und Bedürfnisse
der Epoche.
Da ist der Ort Mstislaw in Weißrußland, die Heimat der
sogenannten Kubraki, die im Frühjahr ausziehen, um Spen-
den zur Stärkung der Orthodoxie und zum Baue von russischen
Kirchen in den katholischen Provinzen zu sammeln. Ein Ku-
brak braucht ein Betriebskapital, ein paar hundert Rubel: für
den Paß, ein Pferd, eine Telega^), sowie für eine Anzahlung
an die Gehilfen auf ihr künftiges Honorar. Der Kubrak selbst
ist bloß der Chef, der die oberste Aufsicht führt, während die
Bettelsummen durch die Gehilfen eingebracht werden müssen.
Der Kubrak und seine Leute suchen zumeist die beiden Haupt-
städte des Reiches heim, Moskau und St. Petersburg. Das
Geschäft ist ein glänzendes; der Kubrak kehrt heim in elegan-
tem Wagen, hat jetzt statt des einen armseligen Gaules ein
feuriges Zweigespann oder gar Dreigespann und einen wohl-
gefüllten Geldsack; einen Teil des Erbettelten liefert er groß-
mütig wirklich dem Konsistorium ab, den Hauptanteil aber
behält er für sich. Er verlebt einige Monate in Saus und
Braus, in der Schenke und im Bordell, und tritt dann einen
neuen Raubzug an. War er in den Ferien vorsichtig, so hat
er so viel übrig behalten, um die Reise jetzt statt in der im-
bequemen Telega im Eisenbahnwaggon zurücklegen zu können.
Wie die Kubraki sind auch die sogenannten Labory oder
Lodyry Sammler von frommen Spenden; pilgern aber die
Bettler von Mstislaw nach der Newa und der Moskwa, so
plündern die Lodyry, die im Dorfe Motol und im Städtchen
Janow im Kreise Kobrinsk des Grodnoschen Gouvernements zu
Hause sind, nur die Landbevölkerung. Die Kubraki ziehen
im Frühjahr aus, um in den Feiertagswochen ihre Ernte zu
halten, und bleiben auch über den Sommer fort; die Lodyry
können im Sommer nichts machen, denn da arbeitet der
nur das Hervorheben des Wichtigsten, besonders jener Momente, die mit dem
Sittlichen in näherer Beziehung stehen, nötig ist und im übrigen auf Ros
koschny selbst verwiesen werden kann.
^) Terbra, der landesübliche, schwerfällige Wagen.
— 328 —
Muschik auf dem Felde und hat selber nichts Überflüssiges;
erst wenn die Erntezeit vorüber ist, da können die Lodyry
ihren Schnitt machen, und sie stürzen sich dann haufenweise
auf die Landbevölkerung. Diese Bettler spekulieren auch auf
den Aberglauben imd treten, wenn es nötig ist, als Hexen-
meister und Medizinmänner auf. Was etwa die Wohltätigkeit
ihnen vorenthalten sollte, wird ihnen reichlich ersetzt durch
den Erfolg ihrer schamanistischen Kunststücke.
Eine ganz andere Art von Bettlern sind die berüchtigten
Jammergestalten, welche die Städte Witebsk, Twer und Pskow
alljährlich im Frühjahr ausspeien und nach den beiden Haupt-
Städten werfen. Die Witebsker, Pskower und Twerer ziehen
nicht in einzelnen kleinen Gruppen, sondern massenweise, alle
mit ihren Familien, nach Moskau und Petersburg ; in den Resi-
denzen haben sie ihre speziellen Absteigequartiere, Asyle er-
bärmlichster Art. Die Herbergen genügen aber vollkommen
den Ansprüchen dieser Bettler, die für sich und ihre Fanülie
höchstens einen Rubel monatlich zahlen. Sittlichkeitsmomente
kommen nicht in Betracht; man schläft in gemeinsamen Räu-
men. Oft liegen Mann und Frau und ein erwachsenes Kind
auf einer einzigen Pritsche; und wenn die Lust sie anwandelt^
tun sich die Eltern selbst in ihren intimsten Verrichtimgen
keinen Zwang an.
Das Dorf Kiepen im Kreise Sytschowka im Moskauer
Gouvernement ist ein Beispiel für die Art der Entstehung rus-
sischer Bettlerzünfte: bis vor himdert Jahren kannte man hier
keine Bettler; in der Zeit der napoleonischen Drangsal muß-
ten sich die Klepener aus ihrem Dorfe flüchten und in der
Umgegend durch Betteleien erhalten; daran fanden sie Ge-
fallen, und die Kinder setzten das Metier der Eltern fort, so
daß jetzt Kiepen ein Dorf von Bettlern ist. Ähnlich ist die
Geschichte des Bettlerdorfes Spaß-Djominski im Gouvernement
Kaluga.
Zu den meistberüchtigten Bettlern gehören die Schuwaliki
aus dem gleichnamigen Dorfe im Norden des Gouvernements
Kaluga; man fürchtet sie als Säufer und Diebe. In Moskau
sind sie schon so bekannt, daß sie seit Jahren nur noch nach
Süden ausschwärmen. Sie sind immer in größeren Truppen
— 329 —
anzutreffen, als sogenannte Abbrändler; sie fahren in Wagen,
die alle Zeichen des Feuerschadens aufweisen, und schleppen
das angeblich gerettete Hausgerät mit sich. Da ihre Fahrten
weitgedehnt sind und lange dauern, haben sie unterwegs in
größeren Städten, wie Tula, ihre ständigen Herbergen und
Hehlereien. Gleichfalls verrufene Abbrändler sind die Sacho-
dnizi aus Bogorodok, während die sogenannten Gusljaki aus
demselben Orte als nüchterne Altgläubige umherwandern, die
nicht betteln, sondern bloß gelungen gefälschte alte Heiligen-
bilder unter den Raßkoljniki verteilen und dafür großmütig
Geschenke in Naturalien oder Leinwand und, wenn man es
ihnen absolut aufdrängen will, in Geld annehmen. Die Waren
werden auf dem erstbesten Markte verkauft, und man zieht
dann wieder als armer Kerl weiter.
Natürlich fehlt es auch nicht an Krüppeln, echten imd
falschen. In früheren Zeiten war die Stadt Rostow im Gou-
vernement Jaroßlaw als Fabriksstadt für Mißgestalten be-
kannt; man verschickte von dort verstümmelte Kinder nach
dem ganzen Reiche, namentlich auf dem Fußgängerwege von
Moskau nach dem Kloster des heiligen Ssergej begegnete man
bei jedem Schritte Blinden und Krüppeln Rostowscher Arbeit.
Die Fabrikanten von Rostow hatten ihren fixen Tarif für das
Ausstechen von Augen, das Abhacken von Füßen und Händen
oder andere widerwärtige Verstümmelungen, durch die man
auf die Tränendrüsen der Passanten unfehlbar wirken muß.i)
Heute genießt einen ähnlichen Ruf, wie Rostow ihn einst hatte,
der Kreis Sudogda. Die Bewohner von Sudogda gehen nur
mit Krüppeln auf Bettelei aus. Sie sind zwar Meister in der
Ausstaffierung falscher Krüppel, ziehen jedoch wirkliche Miß-
gestalten vor, um vor jeder Entlarvung gesichert zu sein.
Das Dorf Marinin ist außerordentlich reich an echten Krüp-
peln; diese wandern alle nach Sudogda und werden hier an-
geworben. Reicht die Zahl der Rekruten für das Bettlerheer
von Sudogda nicht aus, so mietet oder kauft man Kinder und
venmstaltet sie gewaltsam. Nach Moskau dürfen sich die Bett-
*) M. 3a6ujraHi>, pyccidä Hapojn», MocKRa 1880, crp. 399, 3i 14, n npHMlv-
name. — Vgl. auch in meinem Kapitel ,, Aberglaube und Verbrechen", S. 67.
— 330 —
lermeister von Sudogda mit ihrem Gefolge nicht mehr wagen^
denn man erkennt sie dort trotz ihrer gelungenen Entstellimgen.
sofort an ihrer eigentümlichen Aussprache; sie ziehen deshalb
nach Süden, nach Norden .oder ostwärts nach Nischny Now-
gorod. Ihr Zug ist nur in den Feiertagswochen lohnend. Nach
den großen Fasten kehrt man immer reichbeladen heim; die
Krüppel, besonders die Kinder, aber läßt man, nachdem sie
ihre Schuldigkeit getan haben, erbarmungslos auf dem Wege
liegen. Der große Erfolg, der den Bettlern von Sudogda blüht,
hat zu vieler Nachahmung gereizt und eine maßlose Konkur-
renz gezeitigt. Aus dem Kreise Makarjew im Gouvernement
Kostroma und aus dem Kreise Ssaransk im Gouvernement
Pensa ziehen die sogenannten Kaluni oder Sammler ebenfalls mit
Krüppeln auf Bettelei aus; die Ssaransker haben ihre Vorbilder,
die Sudogdaer, schon übertroffen und können es als die einzigen
unter allen Bettlern wagen, sogar dreimal jährlich auszuziehen.
Neben den großen Städten und besonders beliebten Flek-
ken in den verschiedenen Gouvernements sind die Wallfahrts-
orte die Hauptziele der Bettler. Das Troitzkakloster und das
Höhlenkloster in Kijew sind ständig von Bettlern aus fast allen
bisher erwähnten Bettelei-Ursprungsorten umlagert. Andere
Scharen gehen bis zum Ural und selbst nach Sibirien; letz-
teres aber in seltenen Fällen, denn in diesen Gegenden wim-
melt es ohnehin von Bettlern, die wirklich aus Not die Mild-
tätigkeit anrufen müssen, wie die zwangsweise Angesiedelten
oder flüchtige Verbannte. Die bettelnden Mönchs- und Npn-
nenscharen sind bei alledem ganz außer acht gelassen worden.
Den verderblichen Einfluß des Bettelwesens auf die Mo-
ralität des Volkes brauche ich wohl nicht erst nachzuweisen. Es
ist schon gesagt worden, wie die Bettler in ihren temporären
Quartieren in schamloser Weise zusammenwohnen. Das Ge-
fühl für Anstand und Sitte ist ihnen vollständig verloren
gegangen, und es hat niemand daran etwas auszusetzen, daß
Geschlechtsakte unter Zeugenschaft von Fremden vor sich
gehen. Da ist es denn nicht einer speziellen Verwunderung
wert, daß es neben den Heeren von Bettlern auch Heere von
Bettlerinnen gibt. Im Kreise Wessjegonsk im Gouvernement
Twer verlassen zu bestimmten Zeiten nur die Frauen und
— 331 —
Mädchen ihre Dörfer und ziehen, beladen mit armseliger Habe
und gefolgt von zerlumpten Kindern, in kleineren und größe-
ren Gruppen als Abbrändlerinnen, Witwen und Waisen in
die Fremde. Bekannt im ganzen Reiche sind auch die soge-
nannten Kasanjschen Waisen. Sie betteln und huren sich
durch alle Provinzen und bringen dann den reichen Schand-
lohn ihren Vätern und Gatten. In Charjkower Vorstädten
befinden sich zahlreiche Erdhöhlen, in denen nachts die scham-
loseste Prostitution Orgien feiert. Hier sind auf der Durch-
reise befindliche Bettlerinnen stets willkommen. Ähnliche
Lasterhöhlen gibt es in Riga, in der Moskauer Vorstadt. Wan-
dernde Bettlerinnen schlagen in Gruben am sogenannten Apfel-
markt ihr Lager auf und „gewähren", wie der Ausdruck lautet,
jedem Passanten um den Preis von fünf bis zehn Kopeken oder
für irgend ein Entgelt in Naturalien und Waren, oder wenn
es nicht anders sein kann: für einen Schluck Schnaps, den
ein betrunkener Nachtwandler aus seiner Flasche anbietet.
Der Tiefstand der durch das Bettelwesen herabgedrückten
russischen Sittlichkeit wird klar, wenn man. erfährt, daß sich
die Zahl der freiwilligen russischen Bettler und Bettlerinnen
auf mindestens eine Million veranschlagen läßt. In den Dör-
fern der Kreise Jusur und Ssaransk verlassen von 3500 Ein-
wohnern nicht weniger als 3000 Männer als Kaluni zur Bettler-
zeit die Heimat, um im Namen Christi die Mildtätigkeit der,
Mitmenschen zu täuschen. In Akschenaß, einenl Dbrfe von
120 Höfen, bleiben, wenn der Bettelzug begonnen hat, nur
vier Familien als Hüter des Ortes zurück. Im Kirchdorfe Golizyn
sind von dreihundert Hofbesitzern zweihundert Wanderbettler.i)
In solchen Orten sind die Ältesten natürlich auch Bettler, und
so wird es erklärt, daß diese Landstreicher in dem paß-
strengen Rußland stets reichlich mit den nötigen Dokumentea.
ausgestattet sind, um in ihrer Freizügigkeit keine Behinderung
fürchten zu müssen.
Zu den' freiwilligen Bettlern kommen nun noch die Hun-
derttausende Unfreiwilliger. Alexander III., der ein Mäßig-
^) Roskoschny a. a. O. Er zählt noch zwölf Dörfer auf, in denen alle
Einwohner ohne Ausnahme in der bestimmten Zeit auf Bettelei ausgehen.
— 332 —
keitsparlament zur Bekämpfung der Trunksucht einberief, er-
nannte auch eine „Regierungskommission aus Vertretern sämt-
Hcher Ministerien zur Lösung der Frage von der Versorgung
von Bettlern in Dorf- und Stadtgemeinden**. Die Kommission
mit dem langen Titel erzielte ebensowenig praktische Resul-
tate wie jenes Temi>erenzkomitee, von dem ich im vorigen
Kapitel erzählt habe. Man kümmerte sich nämlich nur nebenbei
um das Grundübel, um die organisierte Bettelei, und beobach-
tete bloß die wirklichen Bettler, die nicht in die Fremde ziehen,
um Wohltätigkeitsspenden zu erschwindeln, vielmehr an der
Scholle kleben und den Heimatgemeinden zur Last fallen.
Man vermag sich einen Begriff von der^ unbeschreiblichen
Entsittlichung und Verarmung des Volkes zu machen, wenn
der offizielle Bericht damals folgende Ziffern feststellte i): für
die Stadt Moskau 26000 Bettler, für das Gouvernement Mos-
kau 15000, Livland 16000, Kurland 15000, Warschau 14000,
Nischny-Nowgorod und Wjatka je 10 000; zusammen zählte man
293445, davon lebten etwa 200000 vom Bettel allein, die
übrigen erhielten auch ständige Unterstützungen; adlige Bett-
ler gab es 3235, Bettler geistlichen Standes 3491, Kaufleute
20, Kleinbürger 43434, Bauern 181 932, Reservisten und ehe-
malige Soldaten 11345, aus verschiedenen Ständen 35039.
Wie müßten diese Ziffern, wenn sie der Wahrheit von
heute entsprechen sollten, vervielfacht werden! Welch furcht-
bare Quelle des Elends, der Verkommenheit, der Unsittlichkeit
wird aus diesem Zahlenmeer unerschöpflich gespeist!
1) Vgl. die vom Fürsten Meschtschersky herausgegebene Zeitschrift
«.FpasH^aHMHi»** ceHTaöpb 1889. Die angeführten Zifiem beziehen sich nur auf
zusammen 71 Beobachtungsfelder: 54 Gouvernements, neun Gebiete und acht
Städte. Alle Ziffern sind gewiß eher zu niedrig als zu hoch angesetzt. Es er-
scheint beispielsweise unmöglich, daß, wie dort angegeben wurde, die Stadt
Ssebastopol keinen einzigen Bettler habe; auch die Behörden des Gouver-
nements Esthland gaben an, daß in ihrer ganzen Provinz kein einziger Bettler
konstatiert wurde. Neun Gouvernements und fünf Gebiete erteilten keine
Auskunft. Einige andere Gouvernements wurden als zu sehr entlegen in die
Beobachtung überhaupt nicht einbezogen.
VIERTER TEIL:
Russische Vergnügungen
19. Jagd und Hasardspiel. — 20. Kirchen-
feste und Volksfeste. — 21. Hofnarren und
Maskeraden. — 22. Tanz und Bftlle. —
23. Musik und Theater. — 24. Rauchen
und Tabakbuden. — 25. Bäder.
ig. Jagd und Hazardspiel.
Die ersten russischen Jäger — Hetzjagd mit Hunden — Jagden des Groß-
fürsten Wassilij — Belustigungen Iwans des Schrecklichen — Kämpfe mit
Bären — Zar Alexe j, Verfasser von Jagdregeln — Peter der Große ein Feind
der Jagd — Ein zarischer Scherz — Peter II. als Jäger — Elisabeth Pe-
trowna — Jagd und Sittenlosigkeit — Moderne Jagden — Bärenjagd —
Der Bär im Heidenglauben — Südrussische Windhunde — Die Jagden des
Herrn Skarzinski — Wolfsjagden in den Steppen — Kosakenmethode —
Jagd und Kartenspiel — Zur Geschichte der Spielkarten in Rußland —
Kartensteuer — Peter der Große gegen das Kartenspiel — Kartenpartien
Katharinas II. — Die Partner der Zarin — Der gute Ton am Hofe Katha-
rinas — Brillanten als Spielmarken — Berüchtigte Spieler — Aus den
Memoiren des Baron Löwenstem — Frauen beim Spiel — Verspielte Seelen
— Petersburger Klubs — Ein Vorfall im Petrowskij Jachtklub — Frauen
in Klubs — Privatspielhöllen — Spiel und Ehebruch — Gefährliche Familien-
abende — Die Spielsalons der Balleteusen — Turf — Läusespiel — Merk-
würdige Polizeiordnung.
Den Zusammenhang von Jagd und Hazardspiel mit Grau-
samkeit und Wollust braucht man nicht erst zu entdecken.
Fließendes Blut und gespannte Nerven sind unfehlbare Aphro-
disiaka. Die angeborene Roheit und barbarische Sinnlichkeit
des Russen mußten an beiden Mitteln Geschmack finden.
Schon die ersten russischen Fürsten, wie Wßewolod und Mono-
mach, waren leidenschaftliche Jäger, i) Die Hetzjagd mit Hun-
den wurde erst im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts vom
Großfürsten Wassilij von Moskau eingeführt; früher war der
Hund als ein so unreines Tier verabscheut, daß man jeder
Berührung mit ihm auswich. Wassilij vermehrte auch die
Würden seines Hofes durch die Ernennung eines Jägermei-
sters. 2) Parforce- und Falkenjagden waren die Vergnügungen
^) M. 3a6iiiJiHirb, FyccKÜt Hapo;^», crp. 567: sstpHafl n imra>H oxora vb
PoociH.
S) Karamsin, deutsch VII 145, französisch VII 227.
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der großen wie der kleinen Herren.^) Der Zar lud zu seinen
Unterhaltungen auch die fremden Diplomaten ein. Herber-
stein erzählt, daß der Herrscher in der Umgebung von Mos-
kau ein großes Jagdgebiet hatte, dessen Betreten den Unter-
tanen streng verboten war. Wenn der Großfürst den Wunsch
zu jagen kundgegeben hatte, so brachte man alle Hasen, deren
man habhaft werden konnte, nach diesem Jagdgebiet. In der
Regel pflegte Wassilij Iwanowitsch sich nur bis zur Mittagstafel
mit Staatsgeschäften zu plagen, gleich nach Tische aber mit
großem Gefolge auf die Hetzjagd nach Moschaisk und Woloko-
lamßk aufzubrechen. Die eingeladenen fremden Gesandten
wurden von einem Bojaren abgeholt und nach dem Jagdplatz
geleitet. Sie mußten in einer gewissen Entfernung vom Zaren
aus den Satteln springen und sich dem Göttlichen zu Fuße
nähern. Der Zar trug stets ein kostbares Jagdgewand; seine
hohe Mütze war mit Edelsteinen besetzt, und goldene Federn
zeigten den Jägersmann von weitem an. An der Hüfte hingen
ein Dolch und zwei Messer, rückwärts unter dem Gürtel eine
Schleuder. Ständige Begleiter des russischen Herrschers waren
der getaufte Zar von Kasanj, welcher Pfeil und Bogen führte,
und zwei jugendliche Fürsten, die mit Axt und Keule hantierten.
Der Sohn des Wassilij, Zar Iwan der Schreckliche, liebte
vor allem die Jagd auf Vögel. Er hatte dreihundert Falkoniere
zu seiner Verfügung; aus Sibirien ließ er die besten Geier-
falken kommen, mit denen er auf wilde Enten jagte. 2) Ein
besonderes Vergnügen bereitete es seiner grausamen Natur,
blutige Bärenkämpfe veranstalten zu lassen, bei denen bloß
andere sich den Gefahren aussetzten, während er selbst in
sicherer Entfernung Zuschauer blieb. Man sperrte wilde Bären
in Käfige und ließ sie an bestimmten Tagen in eine Arena
bringen, wo ein Jäger des Zaren mit einem Jagdspieße seinen
Gegner erwartete. Gelang es dem Gladiator nicht, mit einem
einzigen Stoß den Bären zu Boden zu rennen, so war er
verloren. 3) Hatte er aber gesiegt, so belohnte ihn der Zar
1) Gerebtzoff, Essai I 374.
2) Reise nach Norden, 179.
*) Der englische Reisende Fletcher beschrieb einen solchen Bäxenkampf
als Augenzeuge. Vgl. Karamsin, deutsch IX 313, französisch X 373. —
Tierhetze in Moskau im hölzernen Amphitheater
vor dem Twerschen Tore.
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oft damit, daß er ihn mit einem zweiten Bären das Stück
wiederholen ließ. Das Volk dagegen führte den Bärentöter
nach dem Ende des Schauspiels in die Schenke und bewirtete
ihn nach Landessitte freigebig mit Branntwein. Von seinem
Vater Iwan hatte auch der jugendliche Zar Theodor die grau-
same Lust an solchen Schauspielen ererbt.
Unter den Romanows gab es fast gar keine großen Jäger :
Zar Alexej Michajlowitsch, Peter IL und Elisabeth Petrowna
sind die Ausnahmen. Alexej war ein Freund von Falken-
jagden; er schrieb eigenhändig ein Jagdreglement mit dem
Motto: „Möge die Zeit der Arbeit gewidmet sein; aber eine
Stunde bleibe für das Vergnügen." — Peter der Große war
niemals Jäger, i) Schon im Jahre 1690 war daher das Jagd-
schlößchen Sokolniki, der Rendezvousplatz seiner Vorfahren
bei ihren Jagden, in Trümmer zerfallen. Als Peter bei seinem
Besuche bei der Markgräfin von Brandenburg gefragt wurde,
ob er die Jagd liebe, zeigte er seine schwieligen Arbeiterhände
und sagte: „Ich habe keine Zeit zum Jagen.** Einmal gelang
es jedoch seiner Umgebung, den Zaren zu einer Hasenjagd zu
verlocken. Peter rächte sich dafür. Er machte die Jagd nur
unter der Bedingung mit, daß man die Rüdenknechte und die
Hundetreiber zurückließ. Der Streich gelang. Die Hunde,
von ihren Führern verlassen, warfen sich zwischen die Beine
der Pferde, machten die Tiere wild, und in wenigen Minuten
war die Strecke besät mit abgeworfenen Reitern. Eine allge-
meine Verwirrung entstand, und man mußte die Jagd auf-
geben. Am anderen Tage machte sich Peter den Spaß, nun
seinerseits eine Einladung zur Jagd ergehen zu lassen, aber
man hütete sich, Folge zu leisten, die meisten der Teilnehmer
vom vorigen Tage lagen mit zerbrochenen Gliedern zu Bette.
Peters Günstlinge waren dagegen zumeist eifrige Jagd-
liebhaber. Fürst Romadanowskij, den Peter spaßeshalber zum
Vizekaiser ernannt hatte, zog auf die Jagd mit dem Luxus
Kostomarow schildert in seinem Roman ,,Kadejar" (deutsch von Kuptsche)
im vierten Kapitel, wie Iwan der Schreckliche die Tapferkeit eines Helden
dorch einen Zweikampf mit Bären auf die Probe stellt.
^) Halem III 119. — Waliszewski, Pierre le Grand, an, 233.
Stern, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in Ruftland. 22
— 338 —
eines wahren asiatischen Monarchen und einem Gefolge von
fünfhundert Personen. Auch Peters Tochter Elisabeth und
sein Enkel Peter II. huldigten dem Jagdsport mit großer Lust;
Zur Zeit der Herrschaft Peters II. ritten Tante und Neffe stets
mitsammen aus. Der jugendliche Zar war in sexueller Be-
ziehung überaus früh entwickelt. Als er die Regierung antrat,
stand er noch im Knabenalter. Sein ganzes Sinnen und Trach-
ten aber galt schon der Befriedigung des Geschlechtstriebes.
Ihn lockte in Wahrheit nicht das Wild im Walde, sondern das
einsame Rendezvous mit der üppigen sinnlichen rothaarigen
Tante. Ihr war der Knabe gleichgültig, sie streifte lieber mit
einem robusten Soldaten durch die Gebüsche und überließ
den schwärmerischen Neffen seinen Seufzern und seinen Ver-
sen. Doch fand der jugendliche Zar gute Freunde, die ihn
aufklärten und ihm Hilfe schafften. Sobald Peter durch die
Nähe der Tante und die Hitze der Jagd exaltiert heimgekehrt
war, führte ihn sein Kamerad Iwan Dolgoruckij im Dunkel
der Nacht in ein Bordell, wo der junge Kaiser leicht die Genüsse
fand, die ihm sein Roman verweigerte. An diesem Leben
fand der zarische Knabe bald solches Gefallen, daß seine ganze
Regierungszeit zwischen Jagd und Bordell verfloß; zum
Schlüsse hielt er sich fast gänzlich von der Hauptstadt fem
und lebte nur im Jagdzelte mit seiner Braut Katharina Dol-
goruckij, die ihrem zukünftigen Gatten das nicht zu versagen
wagte, was sie auch Femstehenden nicht vorenthielt.
Das Jagdleben übte auf die gesamte Hofgesellschaft einen
demoralisierenden Einfluß aus. Da man sich auf lange Zeit
von dem heimatlichen Herde entfernt hielt, traf man stets
Vorsorge, sich mit allem zu versehen, was das Leben verlangt.
Im Gefolge des jungen Zaren zogen Scharen von liederlichen
Frauenzimmern mit, und auf die Tage der Jagd folgten nächt-
liche Orgien, die kaum ihresgleichen haben. Wenn der Zar
einen Jagdzug antrat, mußten ihn die ganze Generalität imd
die Mitglieder des höchsten Rates begleiten. Den fünfhundert
Herrschaftsequipagen folgten unzählige Wagen mit Dienern,
Weibern und Proviant, und zum Schlüsse kam eine Armee
von Handelsleuten, die an jedem Halteplatz förmliche Basare
errichteten, alles nur Erdenkliche feilboten, den liebeshungrigen
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Bojaren Schmuck für ihre Maitressen und im Notfalle auch
bares Geld gegen gute Zinsen zur Verfügung stellten.
Man jagt den Wolf, den Fuchs und den Hasen mit eng-
lischen Hunden, die wilden Enten mit Falken und abgerichteten
Sperbern. Man hetzt zuweilen den Bären, aber dem Beispiel
der früheren Zaren folgend hält sich in solchem Falle auch
Peter IL abseits von der Gefahr. Ist die Tagesarbeit getan,
so schlägt man ein Lager auf, veranstaltet ein Trinkgelage nach
altmoskowitischem Geschmack, zur großen Freude der Fa-
milie Dolgoruckij, die dem Zaren zuredet, Moskau wieder zur
alleinigen Residenz des Reiches zu erheben. Die Orgien dul-
den keine Unterbrechung: Des Zaren Schwester Anna Pe-
trowna stirbt; Peter befiehlt, die Leiche nach Petersburg zu
schaffen, denkt aber nicht daran, sie selbst zu geleiten, sondern
läßt unbekünunert den für den Tag schon angesetzten Ball
abhalten. Schweden und die Türkei verbünden sich und be-
drohen Kleinrußland, die Gesandten von Österreich und Spanien
drängen in den Kanzler Ostermann, daß er den Zaren nach
Petersburg berufe; Peter indessen verläßt um keinen Preis
sein Nomadenzelt im Walde von Gorenki. Ostermann ver-
sucht den Zaren durch ein Manöver bei Moskau für das Kriegs-
spiel zu interessieren; Peter jedoch ergreift die Flucht und
zieht nach Rostow, um dort zu jagen und Orgien zu feiern.
— Monatelang gibt es gar keine Regierung mehr, der Zar und
alle seine Räte weilen fern vom Mittelpunkte der Verwaltung,
kümmern sich nicht um die Politik, nicht um das Wohl und
Wehe des Reiches, schwelgen und schmausen, jagen und huren.
Eine einzige Jagdperiode dauert einmal achtMonate.^) Der Trubel
nimmt erst ein Ende, da der Zar der schönen Katharina Dol-
goruckij überdrüssig wird. Nach einem aufregenden Jagdtage
gibt es abends ein Pfänderspiel; aber als Peter gewinnt und
zum Lohne wieder nichts anderes erhält als die Erlaubnis,
die Prinzessin Katharina küssen zu dürfen, da erhebt er sich
brüsk, verläßt die Gesellschaft, und mit einem jähen Ruck
steht alles still. Der Jubel ist zu Ende, katzenjämmerlich kehrt
man heim nach Moskau; hier erkrankt der junge, von Aus-
1) Waliszewski. L'h6ritage de Pierre le Grand. 75, 91.
22'
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Schweifungen erschöpfte Zar an den schwarzen Blattern und
stirbt nach wenigen Tagen.
Die Jagd war damak ein Privilegium des Hofes und der
vornehmsten Günstlinge gewesen. Gewöhnliche Sterbliche
mußten sich speziellen Regeln unterwerfen. Ein Gesetz be-
stimmte sogar, wieviel Jagdhunde ein jeder Edelmann seinem
Range entsprechend besitzen durfte, i) Gegenwärtig ist die
Jagd allen freigestellt. Beliebt ist die Bärenjagd, namentlich in
Großrußland. Man muß bei der Bärenjagd, um seines Er-
folges sicher zu sein, sorgfältige Maßnahmen treffen. So ist
vor allem das Rauchen untersagt. Die Jäger tragen dicke
Stoffüberzüge über den Schuhen, um beim Gehen jeden Lärm
zu vermeiden. Der Bär wird umringt und aufgehetzt. Er er-
schrickt aber nicht, sieht sich kaltblütig um, wie er der Gefahr
entrinnen könnte, und wählt eine Stelle, wo nach seiner Be-
rechnung zwei der Jäger von einander entfernter stehen als
an den übrigen Stellen. Hier versucht er klug durchzubrechen,
aber schnell springt ihm ein Jäger, der zum Schutze vor den
Tatzen des Bären nur eine Lederhaube und Panzerhandschuhe
trägt und als Waffe bloß einen Dolch gebraucht, in den Weg.
Der Bär stürzt sich verzweifelt auf den Verfolger, aber der Kampf
ist in einem Nu zu Ende; denn die geübten Bärentöter kennen
so genau die Stelle, die sie treffen müssen, daß das Tier beim
ersten Stoße zusammenbricht. Der besiegte Feind wird mit
einem Eichenzweig geschmückt.
Das russische Wort für Bär bedeutet: Honigkenner. 2) Des
Bären Liebe für den Honig benützen die sibirischen Völker, um
Meister Petz zu überlisten. Sie füllen eine Kugel mit Honig,
bedecken sie mit Eisenstacheln und legen das Lockmittel an
den Rand einer Grube. Wenn der Bär zugegriffen hat, gerät
er in die Falle. Auf eine besondere Art wird der Bär in der
Provinz Jenisseisk überrumpelt. An einem Baume wird ein
Brett so hoch befestigt, daß Petz sich auf die Hintertatzen
stellen muß, um hinaufzureichen. Auf dem Brette winkt ein
Stück prächtigen Fleisches ; verborgen aber sind die tückischen
1) Le Bruyn, Voyages III 113.
2) Me;^Blv]:b, auch Me^B'i^eii^, von Me;n>> Honig, und Biflß^b, Kenner.
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Eisenspitzen. Petz sieht nur den fetten Bissen, nicht den listigen
Todbringer. Er hebt heiter eine Vordertatze empor, um das
Fleisch zu holen, und haut sie auf eine Eisenspitze. Er hebt
die andere Vordertatze um sich zu befreien, und hängt nun
sicher angenagelt, den Verfolgern preisgegeben. Bei einigen
Völkern Asiens ist der Bär ein heiliges Tier; so verehren die
Wogulen eine Bärentatze als Hausgott und gebrauchen eine
Bärenschnauze als Zaubermittel, i)
Eine südrussische Eigentümlichkeit sind die Windhunde,
mit denen dort gejagt wird. Diese Hunde vermögen das Wild
nicht aufzuspüren, sondern jagen nur die Tiere, die sich ihren
Blicken zeigen, üir Geruch ist nicht fein, aber ihr Auge desto
schärfer und ihre Schnelligkeit größer. Für die Steppe sind
ihre Eigenschaften die besten. Wenn sie das Wild erfaßt haben,
beißen sie es zu Tode, und halten bei dem Getöteten Wache.
Die Jäger folgen der Meute zu Pferde und müssen genau auf
den Weg achten, den die Hunde nehmen; denn diese würden
sich zu ihren Herren nicht allein zurückfinden. Ein berühmter
südrussischer Steppenjäger war um die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts der Gutsbesitzer Skarzinskij ; er veranstaltete all-
jährlich von seinem Schlosse Trikrati bei Wosneßensk aus mit
seinen Gästen großartige Jagden auf Wölfe, Hasen, Füchse und
Trappen; 25 Kamele mußten die Zelte, Küchengerätschaften
und Viktualien mitführen; das Gefolge der Jäger bestand aus
Hunderten von Dienern. Man wanderte wochenlang von Do-
mäne zu Domäne, tötete tagsüber, was von Tieren in den Weg
kam, und praßte die Nächte hindurch mit Weibern und beim
Kartenspiel; Champagner floß in Strömen; eine Kapelle von
dreißig Musikern, die dem Zug überallhin folgte, sorgte für die
Begleitung bei Tanz und Gesang. 2) In den russischen Step-
1) Vgl. W. Mannhart, Zauberglaube und Geheimwissen, 3. Auflage (Ver-
lag H. Barsdorf) S. ig. — Der Aberglaube der Jäger ist in Rußland nicht
anders als in anderen Landern. Charakteristisch sind nur die Zaubersprüche
und weitläufigen Beschwörungen, durch die man sich einen glücklichen Er-
folg sichern und vor Gefahren schützen will. Bei 3a()U.iHin>, P^ccKÜi HapoAT>,
sind ein Dutzend solcher Beschwörungen und Gebete wörtlich angeführt (Crp.
334 — 34 1> OxoTUHUide aaroBopti h moüihtbu).
«) J. G. Kohl, SüdruBland, I 22 — 23.
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pen jagt man hauptsächlich auf Wölfe. Man geht dabei brutal
zu Werke. Ein Gebüsch, in dem Wölfe vermutet werden, um-
stellt man mit Netzen, vor diesen lauern die Jäger mit Flinten,
während hinter den Jägern Bauern mit Spießen und hölzernen
Gabeln stehen. Die Treiber jagen mit wildem Geschrei die
Wölfe den Netzen zu; entkommen die Tiere den Flinten der
Jäger so bleiben sie in den Netzen hängen; dann stürzen
die Bauern über sie her, heften sie mit den Gabeln über dem
Nacken an den Boden fest und machen ihnen mit Spießen ge-
mächlich den Garaus. Ein echter Steppenkosak verschmäht
diese rohe Herrenmethode der Wolfsjagd; der Kosak braucht
weder Flinte noch Gabel,* sondern reitet an die.Wölfe heran, und
wenn sie fliehen, so zieht er dem Wirbelwinde gleich neben
ihnen her und haut mit seiner Nagaika einen nach dem anderen
zu Boden.
Für den russischen Landbewohner gibt es kein größeres
Vergnügen als die Jagd. Der reiche Gutsbesitzer lädt seine
minder begüterten Nachbarn ein, auf seinem Gebiete zu jagen,
und sorgt freigebig für die Gäste, ihre Diener, Pferde und
Hunde während der ganzen Zeit der Feste. Man läßt aus den
Städten Sängerinnen, Tänzerinnen und Spaßmacher kommen
und jubelt wochenlang ohne Unterbrechung. Die Jagd be-
reitet dem Steppenbewohner und Landedelmann das aufregende
Vergnügen, das der russische Städter im Kartenspiel findet.
Das Datum der Einführung des Kartenspiels in Rußland ist
unbekannt. Nach einer russischen Handschrift aus dem Jahre
1623I) kann man nur so viel feststellen, daß man damals für
die Erlaubnis, ein Spielhaus halten zu dürfen, eine Steuer von
2 Rubel 3 Altyn und 2 Denjgi erlegen mußte. Ein Befehl des
Zaren Alexej Michajlowitsch an die Stadt Turinsk, der die Aus-
rottung der Spielkarten und des Würfelspiels vorschrieb, nannte
als Städte, in denen Spielhäuser existierten : Tobolsk, Wercho-
turjka und Ssurguta. Alexej ordnete sogar an, daß die Ein-
nahme aus der Steuer der Spielhäuser ein für alle Mal aus
dem Budget gestrichen werde. 2) Aber die Maßregeln kamen
*) JlfiwacKoti .TfetoiiHceirb, bt» XVIII xoirfe JlpcBHett PoccüIckoä BHBJiioe.
*) H. C.iÖHHirb, HapcTBOBanie Uapa A-ieiccbfl MiixaftjiOBina, CaHrnerepöypn»,
1831. HacTi. BTopaH, crp. 17: HcTiMJÖJienie aepnoBUX'b j^omobi h Kapn».
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nicht zur Geltung, weil Krieg herrschte und die Abgaben der
Spielhäuser an den Staatsschatz so bedeutend waren, daß man
sie in solchen Zeiten nicht entbehren konnte.
Peter der Große, ein Mann, dem die Natur großmütig
die höchste geschlechtUche Potenz gewährt hatte, entbehrte
leicht aller künstlichen Reizungen. Er mußte kein Freund der
Jagd sein und konnte auch auf die Erregungen des Hazard-
spiels verzichten. , »Entweder,** pflegte er zu sagen i), „haben
die Spieler keinen Geschmack an nützlicher Unterhaltung, oder
es ist Eigennutz, der ihnen die Karten in die Hand drückt;
beides ist verächtlich.** Ein zarischer Ukas vom 28. Juni 17 18
verbot das Kartenspiel bei Knutenstrafe. 2) Ein solides Spiel-
chen durfte allerdings gewagt werden; in der Armee und
der Marine beispielsweise war es gestattet, einen Rubel an
einem Abend zu verlieren 3); nur was darüber ging, wurde als
Hazardspiel bestraft. In den Assembleen bei Hofe war ein
eigenes Zimmer für Schachspieler reserviert; aber Kartcn-
spieler wurden nicht geduldet, schon der bloße Wunsch nach
einem Hazardspiel galt als Verbrechen.
Ganz anders dagegen ging es am Hofe und zur Zeit
Katharinas II. zu. Da gab es im Kabinett der Zarin regel-
mäßig am Abend eine Kartenpartie. Die Kaiserin war eine
eifrige Spielerin. Sie spielte zumeist Whist, Rocambole, Pikett
oder Boston. Ihre gewöhnlichen Partner waren Graf Rasu-
mowskij, Feldmarschall Graf Tschernischow, Feldmarschall
Fürst Galitzyn, Graf Bruce, Graf Stroganow, Fürst Orlow, Fürst
Wjäsemskij.*) Auch fremde Diplomaten wurden der Ehre
teilhaftig, mit der Kaiserin Karten spielen zu dürfen. Am
liebsten spielte Katharina mit Rasumowskij und Tschernischow,
weil sie vorsichtig waren und niemals den Versuch machten, die
Souveränin aus bloßer Galanterie gewinnen zu lassen. Sie
selbst nahm durchaus keine persönlichen Rücksichten. Der
Kammerherr Tschertkow, den sie manchmal zum Mitspielen
einlud, geriet immer in Zorn, wenn er stark verlor, warf der
1) Halem, Leben Peters des Großen, III 119.
*) Waliszewski, Pierre le Grand, 460.
3) Ebenda 212.
♦) Waliszewski, Le Roman d'une imp^ratrice, 503.
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Kaiserin ihr schonungsloses Spiel vor, schleuderte ihr die Kar-
ten vor die Nase. Aber sie zeigte sich nicht beleidigt, ver-
teidigte sich so gut sie konnte, und rief zu ihrer Rechtfertigung
die Zuschauer an. Einmal forderte sie zwei anwesende fran-
zösische Emigranten auf, zwischen Tschertkow und ihr zu ent-
scheiden. „Schöne Schiedsrichter," schrie Tschertkow wütend,
„sie haben ihren eigenen König betrogen.** Das war doch zu
stark, Tschertkow wurde aus dem kaiserlichen Spielzirkel aus-
geschlossen. Katharina hatte genug zu tun, um an ihrem
Hofe den guten Ton festzuhalten. Das Kartenspiel trug gewiß
nicht dazu bei, diese Aufgabe zu erleichtem, Moral und An-
stand zu heben. Graf Stroganow verlor einmal eine große
Summe an die Kaiserin. Da geriet er aus der Fassung, ver-
gaß, daß er seiner Souveränin gegenüberstand, warf wütend
die Karten auf den Tisch und schrie davoneilend: „All mein
Geld wird da noch verschwinden. Ihnen macht es nichts,
aber mirl** Ein Mitspieler wollte Stroganow beruhigen, doch
Katharina sagte : „Lassen sie das. So ist er schon seit fünfzig
Jahren. Sie werden nichts daran ändern, noch weniger ich.**
Gewöhnlich wurde um wenig Geld gespielt, und um zehn Uhr
abends pflegte sich die Kaiserin zurückzuziehen. Aber manch-
mal ging es auch lebhafter zu. Zuweilen kam es sogar vor,
daß man am grünen Tisch der Kaiserin um Brillanten spielte.
Diese kostbaren Spielmarken lagen in kleinen goldenen Käst-
chen und wurden mit goldenen Löffelchen ausgeteilt.^) Solche
Abendpartien kosteten der Kaiserin Unsummen, denn die Mit-
spielenden durften die Spielmarken nach dem Ende des Spieles
mitnehmen. Auch beim großen Günstling der Zarin Katha-
rina, bei dem Fürsten Patjomkin, spielte man häufig statt um
Geld : um Edelsteine. Hier dauerten die Kartenpartien, die sich
an die feenhaften Bälle anschlössen, die ganze Nacht hindurch ;
1) Sugenheim, Rußlands Einfluß auf Deutschland II ii. — Die Frei-
gebigkeit der Zarin wird aber in ein merkwürdiges Licht gestellt, wenn man
aus der „Minerva" von Archenholtz, 1798, III 3 — 6 erfährt, daß im Jahre
1791 bei einem Hofballe in Peterhof auf der Haupttreppe der Ersparnis
halber kein Licht brennen durfte; oder daß die 71 Pagen der Herrscherin
erst 1792, im dreißigsten Jahre der Regierung Katharinas, neue Livreen
erhielten.
Mai im Falkenwalde bei Moskau.
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während des Spiels durfte nichts gesprochen werden, es
herrschte oft stundenlang lautlose Stille, i)
Einer der verrufensten Kartenspieler jener Epoche war
der Kanzler Bestuschew. „Er trinkt die Tage und spielt die
Nächte hindurch," klagte seine Frau. In einer Woche verlor
er zehntausend Rubel, in anderen unglücklichen Nächten Ver-
mögen um Vermögen. Um Geld für das Kartenspiel herbeizu-
schaffen, bestahl er den Staat, machte er falsche Wechsel,
nahm er schließlich Bestechungsgelder von fremden Staaten,
besonders englisches Gold. Einst war er den ausländischen
Diplomaten als ein arroganter und ewig drohender Staatsmann
entgegengetreten und hatte ihnen Respekt einzuflößen ver-
standen. Seine Leidenschaft für Spiel, Schnaps und Weiber
aber hatte ihn schnell heruntergebracht; um Geld zur Befrie-
digung seiner Laster war er schließlich für alles zu habe;n;
seine Geldnot war so furchtbar, daß er oft in verzweifelte
Situationen geriet ; um der Zarin nach Moskau folgen zu können,
mußte der Kanzler schleunigst den Schmuck und selbst die
Kleider seiner Frau versetzen. 2)
Dieses Porträt der Verkonunenheit der Großen wieder-
holt sich hundertfach. Von Besborodko heißt es: er ist ein
zügelloser Spieler 3); von Panin: er liebt nur die Tafel, die
Weiber und das Spiel.*) Interessant sind die Bekenntnisse des
Generalmajors Löwenstern ^), der erzählt, wie er als junger
Offizier in wenigen Tagen sein immenses Vermögen verspielte.
Einmal spielte er mit dem Grafen Bobrinskij, einem natürlichen
Sohne Katharinas II. und Orlows, und der Gräfin Bulgarin eine
Partie Boston zu kleinen Einsätzen ; und gewann doch mehrere
tausend Rubel. Am anderen Morgen erschien Bobrinskij bei
Löwenstem und verlangte Revanche; Bobrinskij verlor wieder
und immer wieder, schließlich 70000 Rubel, und dies bei
1) Potemkin. Ein interessanter Beitrag zur Regierungsgeschichte Katha-
rinas der Zweiten. Halle und Leipzig 1804.
*) Waliszewski, La derni^re des Romanov, 115.
*) Waliszewski, Autour d'un tröne, 22.
^) Laveaux, M6moires.
*) M6moires du g6n6ral-major russe Baron de Löwenstem 1776 — 1858,
publi^s par M.-H. Weil, Paris 1903. I 156 — 164.
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niedrigem Spiel. Löwenstem erkrankte, mußte vierzehn Tage
das Bett hüten; das Spiel wurde am Krankenbette fortgesetzt,
ununterbrochen wochenlang. Plötzlich drehte sich das Blatt,
Bobrinskijs Beharrlichkeit wurde belohnt, er gewann sein Geld
zurück und dazu noch 400000 Rubel; dann ließ er sich nicht
mehr blicken. Der junge Baron Löwenstern war ruiniert, aber
er tröstet sich in seinem Tagebuche damit, daß durch seinen
riesigen Verlust sein Ruf rehabilitiert worden sei; ,, früher;
konnte man behaupten,** schreibt er, „daß ich das Glück korri-
gierte, weil ich fortwährend gewann; jetzt sieht man, daß es
Zufall war.** Ein anderes Mal erzählt Löwenstem : ,,Ich war bei
Alexis Orlow eingeladen. Alle waghalsigen Spieler waren dort
\'iersammelt. Nach dem exquisiten Diner begann sofort das
Spiel. Ich gewann von Herrn Dickow, einem Spieler von
Profession, dreißigtausend Rubel.** Am anderen Tag lud Dickow
den jungen Löwenstem zum Tee, nahm ihm in einem kleinen
Spielchen nicht nur die dreißigtausend Rubel wieder ab, son-
dern raubte den Gast vollständig aus.
Kein Kartenspiel ohne Damen. Die vornehmsten Frauen
geben sich dazu her, ihren Gatten oder Freunden als Schlep-
perinnen zu dienen, um immer neue Opfer ins Netz zu locken.
Die früher erwähnte Gräfin Bulgarin gehörte zur höchsten
Gesellschaft; sie machte aber ganz ungeniert ein Kompanie-
geschäft mit dem Grafen Bobrinskij, und niemand nahm daran
Anstoß, nicht einmal die Gattin Bobrinskijs oder der Gatte der
Bulgarin. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt: der Vater
machte sich nichts daraus, seine Töchter zu verspielen. Jefim-
jew, ein dramatischer Dichter aus der Zeit Katharinas, geißelte
diese familienschänderische Spielleidenschaft in seinem Stücke
,,Der Verbrecher aus Kartenspiel oder die vom Bruder verkaufte
Schwester.** Der Mensch ist in Rußland nichts als Ware. Wie
oft kam es vor, daß Spieler, die all ihr Bargeld und ihre Wert-
sachen verloren hatten, nun um Seelen zu spielen begannen;
Graf Schuwalow verspielte in einer einzigen Nacht fünfhundert
Leibeigene, und er schickte sie am nächsten Tage dem glück-
lichen Gewinner zu, wie man einem ein paar hundert Säcke
übermittelt. Mancher kommt in prunkender Troika als Gast
in einen fürstlichen Hof gefahren und muß am anderen Mor-
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gen, da er Geld, Schmuck, Wagen, Pferde und Kutscher ver-
spielt hat, zu Fuß heimwärts taumeln. Zu den leidenschaftlich-
sten Spielern gehören die Geistlichen; ein Pope verlor bei
seinem Gutsherrn den letzten Rubel, der Patron war aber
großmütig genug, dem Väterchen einen Wagen zur Verfügung
zu stellen, damit der geistliche Herr noch rechtzeitig zur
Messe ins Dorf zurückkehren k<5nnte.
In den großen Städten wird in allen Klubs rasend gespielt.
Im Gegensatze zu den vornehmen Kasinos in Europa ist man
in Petersburg und Moskau bei der Aufnahme von Mitgliedern
nicht allzu streng, und so findet man unter diesen oft notorische
Professionsspieler und Schwindler. Im Winter 1906 verur-
sachte ein Vorfall im Petrowskij Jachtklub einen großen Skan-
dal im Petersburger Highlife. An dem Spieltisch des soge-
nannten besten Kreises ging es eines Abends hoch her. Gold
und Banknoten häuften sich pyramidal. Aber binnen kurzem
floß alles in den Hafen des glücklichen Bankhalters. Alle
Spieler verloren, nur der Bankier gewann. Plötzlich trat einer
der Kibitze an den Spieltisch heran und bat einen der Mit-
spieler, sich an dem Einsatz beteiligen zu dürfen. Nun machte
der neue Gast von seinem Rechte als Mitspieler Gebrauch und
verlangte, daß der Bankhalter ein frisches Kartenspiel erhal-
ten sollte. Großes Erstaunen, man forderte eine Erklärung,
und sie wurde sofort erteilt. Der Skeptiker nahm dem Bankier
die Karten aus der Hand und zeigte, daß alle Neuner an der
Längsseite, alle Bilder an der Breitseite mit Fett gezeichnet
waren. Der entlarvte Falschspieler wurde sofort entfernt. Und
mm kommt das Russische an der Geschichte. Einer der Herren
des Klubkomitees führte den Entlarver in eine Ecke. Die Aus-
sprache war ebenso kurz als originell : es wurde dem Stören-
fried bedeutet, daß durch solche Szenen die Reputation des
Klubs geschädigt würde ; er möchte daher die Güte haben, die
Räume der Gesellschaft sofort auf Nimmerwiederkehr zu ver-
lassen. Am nächsten Tage ging allen vornehmen Klubs von
Petersburg ein Rundschreiben des Petrowskij Jachtklub zu,
welches die Ausschließung — nicht des Schwindlers, sondern
des Entlarvers — offiziell bekanntgab.
Früher hatten auch die Frauen in allen Klubs Zutritt zum
— 348 —
g^nen Tisch. Die russischen Frauen spielen noch leidenschaft-
Hcher als die Männer, und werfen, wenn Geld und Schmuck
verloren sind, ihre Ehre leichtmütig als Einsatz hin. So wur-
den die Säle der Klubs in Bordelle verwandelt, während sich
im Erdgeschosse der Paläste maskierte Versatzämter etablier-
ten. Ein angeblicher Goldschmied mietete einen Laden im
Klubhause, und der fleißige Mann saß die ganze Nacht hin-
durch an seinem Werktischlein. Wenn die Damen oben ihren
letzten Rubel verloren hatten, eilten sie zum gefälligen Gold-
schmied himmter, der ihnen um einen Spottpreis ihre Bril-
lanten abnahm. Das Ärgernis, das der Ruin der besten Fami-
lien durch Spiel imd Sittenlosigkeit selbst in der lasciven Pe-
tersburger Gesellschaft hervorrief, führte endlich zum Ver-
bot der Teilnahme von Frauen an den Hazardspielen in den
Klubs.
Wäre das Spiel nur auf die Klubs beschränkt, so hätte es
als Wertmesser für die russische Sittlichkeit keine Bedeutung.
Das Charakteristische des Hazardspiels in Rußland ist jedoch
seine allgemeine Verbreitung. Jedermann spielt, vom Groß-
fürsten bis herab zum letzten Muschik, vom General bis zum
Soldaten, vom Großkaufmann bis zum ärmsten Schuster und
Schneider. In den Familien gibt es keinen Ball, der nicht mit
einem Spiele enden würde. Die jungen schönen Frauen fliegen
aus den Armen der Tänzer an den Spieltisch, aus einer Er-
regung in die andere, und untergraben ihre Gesundheit durch
die furchtbarsten Leidenschaften. Am Kartentisch spielen die
traurigsten Romane, wird am meisten die Ehe gebrochen.
Deshalb verblüht die russische Frau so schnell, deshalb muß
die Russin früher als die Frau aller anderen Nationen Zuflucht
nehmen zu Perücken, Schminken und Schönheitsmitteln, um
die Spuren zu verwischen, welche zahllose durchwachte Nächte
an ihr zurückgelassen. Bis zum dämmernden Morgen fiebert
man am grünen Tisch, und dann muß man nach einigen
wenigen Stunden der Ruhe zum Rendezvous mit dem Manne
eilen, an den man das Geld verloren hat, um für den Preis
eines Ehebruchs das Verspielte wieder zurückzuerobern.
In den besten und anscheinend solidesten Familien wird
hazardiert. Man erhält eine harmlose Einladung zum Tee
— 349 —
oder Souper, aber kaum ist man angelangt, so setzt man
sich schon zu einem Spielchen nieder. Musik und Tanz, Essen
und Trinken werden nebensächlich, man hat nur noch Interesse
für Gewinn und Verlust. Da gibt es große vornehme Häuser,
die einen unbeschreiblichen Luxus entfalten, wo an jedem
Abend der Champagner in Strömen fließt, wo die Frau und
die Töchter in den kostbarsten Roben erscheinen. Alles das
müßte im Nu verschwinden, wenn nicht die Hausfreunde all-
abendlich neue Opfer herbeischleppen würden, die man in
graziöser Weise auszuplündern versteht. Ein junger Millionär
wird in einem hocharistokratischen Hause eingeführt und rech-
net es sich zur Ehre an, mit der Fürstin und den Töchtern
ein kleines Spielchen zu spielen ; wenn er endlich aufsteht, ist er
um hunderttausend Rubel ärmer.
Eine Spezialität sind die Spielsalons der Balletteusen der
kaiserlichen Hofoper. Nach Theaterschluß erscheinen hier
Großfürsten, hohe Würdenträger, Kaufleute und Professoren,
und in bunter Reihe setzt man sich an den Spieltisch. In der
vierten oder fünften Morgenstimde schleichen blasse müde
unglückliche Menschen heim; diese Spielhöllen sind alle der
Polizei gut bekannt, aber sie erfreuen sich solcher Protektion,
daß man noch niemals an ein Einschreiten der Behörden auch
nur zu denken gewagt hat.
Nur gegen das Spiel am Turf hat man Maßregeln ergrif-
fen, wenigstens solche, welche die ärmere Bevölkerung vor dem
Spielteufel schützen sollen. Man ordnete nämlich an, daß der
geringste Einsatz zehn Rubel sein müsse. Aber es machen
eben zehn arme Leute gemeinsame Sache, und so verspielt man
trotz der behördlichen Vorsorge seinen kargen Verdienst rubel-
weise. An der Spitze des Rennklubs von Zarskoje Sselo steht
der Großfürst Dmitrij Konstantinowitsch ; vor zwei Jahren
war dieser Großfürst in dieser Eigenschaft der Mittelpunkt eines
Skandals : man erfuhr, daß das Publikum von dem hohen Herrn
einfach betrogen wurde, daß nur die Pferde ans Ziel kamen,
welche der Großfürst ans Ziel kommen lassen wollte. Aber
der Skandal ist vorübergegangen, der Großfürst blieb Klub-
präsident, imd Arm und Reich verspielt nach wie vor hoff-
nungslos das Geld auf dem Turfplatz.
— 350 —
Die Lust am Spiel ist so groß, daß man mit allem und um
alles spielt. Berühmt ist das russische Läusespiel. Zwei Rus-
sen setzen sich zusammen, zeichnen auf einen Tisch oder eine
Bank einen Kreis und legen in den Mittelpunkt des Kreises —
ländlich sittlich — jeder eine Laus. Wessen Tierchen zuerst
die Kreislinie erreicht, der hat gewonnen.
Obwohl sich in bezug auf das Spiel kein Mensch um die
Polizeiordnung bekümmert, ist es doch Pflicht, der Vollständig-
keit halber ihrer zu gedenken. Sie besagt: Alle Klagen und
Forderungen in betreff der Spielschulden sind von vornherein
nichtig. Die Polizei hat von Fall zu Fall zu entscheiden, welches
Spiel erlaubt ist und welches nicht. Im allgemeinen sind nur
solche Spiele gestattet, die sich auf erlaubten Zufall und auf
Geschicklichkeit, oder auf Stärke und Gewandtheit gründen. —
Diese Polizeiordnung scheint in Wahrheit gar nicht für die
Russen, sondern nur für die Kalmücken gemacht zu sein ; denn
im ganzen russischen Reiche gibt es bloß bei den Kalmücken
regelmäßige Ringerspiele.
20. Kirchenfeste und Volksfeste.
Heidnische Reminiszenzen — Weihnachten und Koljada — Erotischer
Charakter der Festgebräuche — Rothügelfest — Chorowody oder Reigen-
tänze — Der Georgstag — Der Koitus auf dem Ackerfelde — Südslawische
Parallele — Gebrauch der ukrainischen Jugend auf dem Saatacker — Ssemik
— Russalki und Pfingsten — Das russische Johannisfest — Iwan Kupalo
und Jarilo — Das Springen durchs Feuer — Das Aufeinanderwälzen —
Aberglaube in der Johannisnacht — Erotische Johannisfestgebräuche in
Estland — in Livland — Das Beilager der Mooner — Altestnische Ge-
bräuche — Die russischen Petrowkigebräuche — Wirtschaftliche Bedeutung
des Peterpaulstages — GeschlechtUche Freiheit der Frauen am Petrowkifest —
Der Teufel und die Schaukel — Begleiten des Frühlings in Ssaratow — Nächt-
liche Spaziergänge zum Quell des Kupalo — Die weiblichen Heihgen Mitt-
woch und Freitag — Geschlechtliche Freiheit der Frauen am Charfreitag
— Parallelen aus südslawischen Ländern — Heidnisches Frühlingsfest und
russische Butterwoche — Die Orgien der Maßljäniza — Verloren gegangene
Feierlichkeiten: Versuchung des Bischofs; Einzug Christi in Jerusalem —
Die großen Fasten und das Osterfest im alten Moskau.
Die griechische Kirche vermochte, das wissen wir bereits,
den heidnischen Aberglauben aus deJm russischen Volkstum nicht
— 351 —
zu verdrängen. Im Kampfe zwischen Heidentum und Ortho-
doxie unterlag schließlich die letztere ; und sie gab den Versuch
auf, die vorgefundenen Riten und Sitten nach ihren soge-
nannten christlichen Prinzipien umzuwandeln, sondern begnügte
sich damit, ihre neuen Gebräuche möglichst den alten anzu-
passen, da sie sonst der Gefahr ausgesetzt gewesen wäre, das
Feld räumen und das mühsam eroberte Reich im Stich lassen
zu müssen. Die orthodoxen Kirchenfeste fallen demnach mit
ihrem Datum und teilweise auch mit ihren Gebräuchen mit
den alten heidnischen Festen zusammen. Nur hat sich, und auch
nicht immer, der Name geändert, das Wesen ist dasselbe ge-
blieben. An Stelle der Heidengötter ruft man Gott, Christus
und die Heihgen an; aber in Wahrheit verehrt man noch
Daschbog, Woloß und Perun; feiert man die Feste Koljada,
Russalki und Kupalo, wenn man Weihnachten, Pfingsten oder
das Johannisfest begeht. Die Lieder, die das Volk an den
christlichen Festen singt, beziehen sich auf die heidnischen
Zeremonien und erwähnen die unvertilgbaren Namen der alten
Götter. 1) Diese Feste sind reich an merkwürdigen Gebräuchen,
Rätseln, Weissagungen und Spielen. Fast jedes Gouvernement
hat seine speziellen Zeremonien. In vielen Gegenden nennt
man den heiligen Abend Koljada; in anderen Bezirken, be-
sonders im südlichen und westlichen Rußland, kennt man zwei
Abende dieses Namens : BacHJibeBCKaflKOJiHAa oder den Silvester-
abend, und KpemencKaa nonaj^a oder den Vorabend der Wasser-
weihe. Die erste Koljada bezeichnet man auch als die reiche,
ßoraTaa, die andere als die arme oder strenge, ßtAHafl oder
nocTHaa. Das Volk begeht diese Feste mit Liedern, Umzügen,
Maskenspielen. In Weiß- und Kleinrußland zieht die ganze
Dorf Jugend in Verkleidungen von Haus zu Haus und bringt
den Bewohnern Ständchen. In der Umgebung von Moskau
fährt man mit den Mädchen im Schlitten weit hinaus in die
Wälder. 2)
Durch alle Gebräuche geht ein stark erotischer Zug. In
1) Vgl. die Lieder mythischen Ursprungs, die sich auf die alten slawisch-
russischen Feste beziehen, bei Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur,
Seite 19.
') 3a6iiUiiBi>, Pyocidft Hapo;n>* CBanoi: crp. 3 — 34.
— 362 —
der Thomaswoche nach Ostern feiert das Volk das soge-
nannte Rothügelfest, Kpacnaa ropKa; dann begmnen dieChoro-
wodyi), diese charakteristischen Gesangstänze der Slawen, die
unstreitig heidnisch piythischen Ursprungs und ein Symbol
der Sonnenbewegung sind. Auf den mythischen Ursprung der
Lieder, welche diese Tänze begleiten, deutet der im Refrain
vorkonmiende Name der Gottheit Did-Lado, Urvater-Licht, hin :
wahrscheinlich war danmter der Lichtgott Daschbog verstan-
den. 2) Bei den Tänzen kommt es zu Obszönitäten und ge-
schlechtlichen Ausschweifungen. Es ist aber daran zu erinnern,
daß nicht nur bei allen slawischen, sondern auch bei vielen,
anderen Völkern ähnliche Sitten und Bräuche herrschen. Wäh-
rend indessen bei den Südslawen und den anderen Völkern
hauptsächlich die Perioden Frühjahr und Herbst, die Zeit des
Erwachens der Natur und die Zeit des Schwelgens im Über-
flusse, Veranlassung zu sexuellen Ausschweifungen geben, sind
bei den Russen alle Feste im ganzen Jahre Ursachen zu ero-
tischer Ausgelassenheit.
Am Georgstage, dem 23. April, wird das Vieh nach dem
Winter zum ersten Male aufs Feld getrieben, und zugleich
trifft man die Vorbereitungen zu den Feldarbeiten; an Stelle
der früheren Opfer ist die kirchliche Einsegnung getreten,
aber die heidnischen Geschlechtsbräuche sind dieselben ge-
blieben: Der Muschik muß auf dem Felde, das vom Winter
befreit ist, vor allem sein Weib beschlafen; tut er es nicht,
so kann ihm auf diesem Felde kein Segen erblühen und das
Futter dem Vieh nicht Gedeihen bringen. 3) In der Ukraine
*) XopoBojb. Reigen.
8) Reinholdt, 24.
*) Ähnlich bei den Südslawen. Vgl. Dr. Friedrich S. Krauß: Anthropo-
phyteia, Jahrbücher für folkloristische Erhebungen und Forschungen zur
Entwicklungsgeschichte der geschlechtUchen Moral (Privatdruck nur für Ge-
lehrte und nicht für den Buchhandel bestimmt), Leipzig 1906, III. Band,
Seite 30, XII: ,,Am Georgstage, wenn der Landmann Kukuruz auf dem
Acker aussät, da umfriedet er die Stelle, an der das Pferd zum ersten Male
mit dem Fuße scharrt, indem er Kukuruzkömer um den Pferdeschatten hin-
wirft. Dann besteigt er das Pferd auf dieser Stelle. Auf dieser selben Stelle
besteigt er auch sein Weib. Nachdem er das Weib koitirt hat, zündet er auf
dieser Stelle ein großes Feuer an und in dieses Feuer legt er sieben Kukuruz-
Lustbarkeit bei den Tschuktschen im nördlichen
Sibirien.
— 353 —
^ieht am Georgstage nach beendigtem Gottesdienste der Geist-
liche in vollem Ornat mit seinen Kirchendienern und der gan-
zen Gemeinde auf die ausgesäten und bereits grünenden Felder
des Dorfes, um sie nach griechischem Ritus einzusegnen. Den
ganzen folgenden Nachmittag bis in die sinkende Nacht bringt
darauf der Bauer auf den Feldern zu. Man geht von einem
Feld zum anderen, begrüßt die Nachbarn und genießt beson-
ders für diesen Tag zubereitete kalte Speisen unter dem ge-
hörigen Zusatz von Branntwein. Die alten Leute mit den Kin-
dern bleiben in der Nähe der Feldwege; die jungen Leute
aber entfernen sich über die Felder, bis sie den Alten in einer
Vertiefung aus dem Gesichte verschwinden. Hier stecken sie
eine Stange mit einem angebundenen Tuche oder einer Flagge
auf, angeblich um den Platz zu bezeichnen, auf dem sie sich
vergnügen, und ziun Zeichen, daß hier die Alten nichts zu
suchen haben. Alle legen sich auf die Felder, und wer eine
Frau hat, wälzt sich einigemal mit ihr auf dem Saatacker um.
Man sagt, darnach werde Getreidesegen zum Vorschein
kommen, i)
Vom Ssemik^), dem Feste am siebenten Donnerstag nach
Ostern, ist schon kurz im ersten Teile dieses Buches die Rede
gewesen. 3) Ssemik ist ein Fest der Kränze, und speziell ein Fest
zu Ehren der Verstorbenen, der Russalki. Die Alten pflegen
die Gräber der Angehörigen zu besuchen und dort Pfann-
kuchen oder andere Speisen für die Toten niederzulegen. Die
Jugend aber belustigt sich, indem sie Kränze windet, die Bäume
mit Bändern schmückt. Kränze und Zweige in den Fluß wirft
und das Schicksal um die Zukunft befragt: schwimmt das
Hineingeworfene fort, so bedeutet es Gutes; sinkt es unter,
dann hat man Schlimmes zu erwarten. Hierauf tanzt und singt
körner zum Verbrennen, die er sieben Heiligen zugedacht, und nachdem dies
alles verbrannt ist und sich in Asche verwandelt hat, alsdann klaubt er diese
Asche auf und zerstreut sie über den ganzen Acker. So machen es manche Leute
auf jedem Ackerfeld." (Zu beziehen durch H. Barsdorf Verlag, Berlin W. 30.)
1) Krauß, Anthropophyteia, III, Seite 26 — 27. Daselbst interessante
Parallelen.
') CeMHiTb. von ceMh, sieben.
3) Vgl. Seite 105 (dort heißt es irrtümlich Soimtag statt Donnerstag).
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. . 23
— 354 —
man, und schließlich, wenn die Alten dem Branntwein hul-
digen, frönen die Jungen der Wollust. Auf diese Weise feiern
die Russen Pfingsten, das Fest der Wiederkehr der Frucht-
barkeit.
Die Erotik ist femer der Mittelpunkt jener Feste, bei denen
der Gebrauch herrscht, daß die jungen Leute durch das Feuer
springen. Das ist in einigen Gegenden auch am ersten Oster-
tage, allgemein aber am Vorabend des Festes Johannis des
Täufers, am Abend des 23. Juni, der Fall. Das Johannisfest
fällt zusammen mit dem heidnisch-slawischen Feste des Ku-
palo^), dem infolgedessen auch der Vorname Iwan beigegeben
wiu-de. In Weißrußland wird eine Strohpuppe auf einea
Scheiterhaufen gelegt und verbrannt. In Kleinrußland badeu
die jungen Leute beiderlei Geschlechts am Nachmittag vor
Kupalo gemeinsam im Flusse; bei Sonnenimtergang zündet
man auf den Weiden, den Feldern, in den Gärten und in den
Höfen ein Feuer an, und die jungen Leute hüpfen, paarweise
je ein Mädchen mit einem Burschen, durch das Feuer. ^) So-
bald das Feuer verlöscht, schlägt man sich in die Büsche, um
sich aufeinanderzuwälzen, wie der Ausdruck lautet. Ähnliche
Gebräuche herrschen in Wolhynien und Podolien. In den Gou-
vernements Jaroßlaw, Twer und Nischnij-Nowgorod heißt das
Johannisfest: Jarilo. Bis zum sechzehnten Jahrhundert fanden
hier zu Ehren des Jarilo Feste statt, bei denen volle geschlecht-
liche Freiheit herrschte. Regierung und Kirche versuchten den
Festen diesen Charakter zu nehmen, allein die alten Gebräuche
erneuem sich inuner wieder. Im Aberglauben ist die Jarilo-
oder Kupalonacht eine Art Walpurgisnacht. Man nimmt an,,
daß sich tun diese Zeit die russischen Hexen auf dem Kahlen-
berg3) versammeln. Ferner heißt es: in der Kupalonacht blüht
ein Famkraut*), das wie Feuer leuchtet; bei dem Glänze dieses
1) Vgl. S. 81 (daselbst heißt es falsch: Kupilo). — Kupalo war der Gott
der Feldfrüchte.
*) 3a6ujiHHi>, PyecKÜt Hapo;n>, crp. 66 — 80: HBaui> Kynaao h Arpa(t>eRa
KynajiMiHua (Kupalo ist am 24., Ag^rafena Kupaljniza am 23. Juni).
^) JIucaH ropa. Vgl 3a6ujiHH'L tj.
*•) rianopoTB oder nanoporiiHin», mia?e KaHe;(U3KHHKT>. SaöbLSHHi», 78 (Hsa^
HOBi. Hutn»). Die Hexenmeister suchen in dieser Nacht auch nach „paapuBK
— 355 —
Krautes kann man verborgene Schätze entdecken, über die
Bedeutung und Abstammung des Wortes Kupalo können sich
die russischen Gelehrten nicht einigen; manche von ihnen
haben sich zu den merkwürdigsten Vermutungen verstiegen.
Die einen behaupten, Kynajio stanmie von der Wurzel KynaTJb,
baden, weil man von diesem Tage an in offenem Wasser zu
baden beginnt ; andere leiten Kynajio vom lateinischen copula
oder dem deutschen Worte Kuppelei her. Kyna, auch Kyna,
bedeutet lexikalisch einen Haufen, kann also bezogen werden
auf das Zusammenwerfen des Reisigs für das Feuer.
In Esthland war es noch zu Ende des achtzehnten Jahr-
hunderts Brauch, sich am Abend vor dem Johannistag um eine
alte Kirchenruine zu scharen und Feuer anzuzünden; sterile
Frauen tanzten nackt herum, um fruchtbar zu werden, junge
Mädchen aber eilten mit den Burschen in den Wald, um nach
Lust miteinander zu verkehren. In meiner Knabenzeit sah ich
im livländischen Badeorte Dubbeln alljährlich, wie die Bauers-
leute auf den Höfen um die Johannisfeuer sprangen, aber
nicht mehr nackt, sondern bloß barfüßig, und dann in
Gärten oder in Heuschobern sich aufeinanderwälzten ; kein,
Vorübergehender nahm an solcher Sitte an diesem Abend An-
stoß, i) Bei den Esthen auf der Insel Moon ist das Beilager
der Johannispaare ein alter Brauch. Am 23. Juni, oder auch
am I. Juli, dem Vorabend des Heu-Marientages, zündet man
dort große Feuer an. An diesem heiligen Abend, sagt man,
muß der Mooner eine Beischläferin haben. Während die Wei-
ber und Mädchen den Rundtanz um das Ledotulli, das Fest-
feuer ausführen, gehen die jungen Männer um den Kreis
herum, beobachten die Mädchen und entfernen sich dann in
den Wald. Bald gibt dieser und jener einem Trupp kleinerer
Jungen den Auftrag, die Auserkorene zu holen. Ein Junge ruft
die Bezeichnete unter irgend einem Vorwand aus dem Ring
der Tänzerinnen heraus. Die übrigen Knaben, etwa zehn an
der Zahl, umringen das Mädchen und schleppen es mit Gewalt,
TpaBy", der Springwurzel der Deutschen, welche die Eigenschaft hat, die
festesten Schlösser zu öffnen.
1) Parallelen aus dem Orient: Mein Buch über Medizin, Aberglaube und
Geschlechtsleben in der Türkei. II 176. (Verlag H. Barsdorf, Berlin W. 30.)
23*
— 366 ~
ziehend und stoßend, über- Stock und Stein, über Zäune und
Gräben, bis der Zug nach mehrmaligem Fallen und wiederholtem
Ringen bei dem Harrenden angelangt ist. Der Bursche wirft
das Mädchen nieder, legt sich neben seine Auserkorene und
schlägt ein Bein über sie; diese Zeremonie muß er durchaus
beobachten, wenn sie ihn nicht für einen Stümper halten soll.
Ohne sie weiter zu berühren, liegt er bis zum Morgen neben
ihr. Die Mädchen, denen solches widerfährt, freuen sich dessen
nicht wenig, selbst wenn man ihnen auf dem Transporte das
Hemd zerrissen hat; die Moonschen Weiber und Mädchen
tragen nämlich bloß ein Hemd am Leibe, nur wenn sie zur
Taufe oder Hochzeit gehen, ziehen sie darüber einen Rock. Die
Mädchen, die nicht gewählt werden, können ihren Neid und
Mißmut nicht bezwingen, die Mütter der Bevorzugten aber
erzählen mit Wonne den Ruhm ihrer Töchter.^)
Ein russisches Sommerfest sind die sogenannter ITeTpoBKH,
1) Verhandlungen der Esthnlschen Gesellschaft, Band XII, 2. Dorpat 1872.
S. 64 — 65. Zitiert bei Mannhardt. Antike Wald- und Fcldkulte aus nordeuro-
päischer Überlieferung, Berün 1877. S. 284 ff. und in Anthropophyteia III:
Beischlafsausübung als Kulthandlung. S. 25. — Nach den Verhandlungen der
Esthnischen Gesellschaft zu Dorpat, 1850, Band II, 3. Seite 46 ff. erwähnen
Mannhardt und Krauß noch folgenden Brauch der alten Esthen: Zur Zeit
des Frühlingsfestes zu Ehren des Donnergottes Ukko Paudel, mußten sich
unfruchtbare Weiber beim Ukkowak einsperren lassen und sich daselbst einer
geheimen Zeremonie unterziehen. Nachdem der Hausherr frühmorgens nüchtern
die Grenzen seines Ackers umwandelt, begann ein Bacchanal, bei dem nament-
lich die Weiber viel trinken mußten. — In Hiäms Ehst-, Lyf- und Lettlaen-
discher Geschichte, S. 28 findet man folgende auf den Gott Ukko bezügliche
finnische Verse des Sigfridi Aronis:
Ja quin Kelwe Kylwo Kylwätin
sillon Uckon Mallia jotin
Sieben hantin Uckon wacka
nin jopuj Pica ette acka
Syte palio Häpie siele techtin
quin seke cuultin ette nechtin
quin Raunj Uckon Naini härsky
jalosti Ukoj pohiasti pärsky.
Aus diesen Versen geht hervor, ,,daß Ucko und sein Weib Rauni über das
Wetter zu gebieten hatten; wenn die Frühlingssaat sollte gesät werden, so
trank man dem Gotte zu Fähren, und Weiber und Mädchen soffen sich voll
und verübten schändliche Dinge."
Volksbelustigungen der Russen
— 357 —
die airi Vorabend des 29. Juni, des Peterpaultages, als ein
wirkliches Volksfest gefeiert werden. Mit den Petrowki beginnt
das Düngen der Felder, der Schnitt des Getreides, die Zeit
der Hitze, neTpoBciuH acapu. In vielen Städten Rußlands ist
an diesem Tage großer Jahrmarkt. In alten Zeiten war der
Peterstag der wichtigste Gerichtstag, die Zölle wurden dann
eingehoben, es war der Termin für die Abgaben und Steuern.
Bei den Bauern ist der Peterstag noch heute der Zahltag der
Steuern. Am Petrowki Vorabend gab man sich allen möglichen
Belustigungen hin. Die Frauen, die sonst so streng abgeschlos-
sen waren, durften am Petrowkifeste ihre Kerker verlassen und
frei umherstreifen, auf den Jahrmärkten sich unterhalten, die
Reigentänze imitmachen und sich auf den öffentlichen Schaukeln
wiegen lassen. Im Stoglaw, dem Buche der hundert Kapitel von
den russischen Lastern, die Zar Iwan zusammenstellen ließ,
heißt es: daß ganz Moskau am Montag des Petrowkifastens
auf Völlerei ausgehe. Man nennt dies ryjiHHbo na HajiHBKax'B,
spazieren auf die Sauferei. Ein älterer russischer Schriftsteller
klagt: ,,Am Feiertage der Apostel Pjotr und Pawel legt der
Teufel seine Schlingen und Netze über die Katscheli^) und
schaukelt die Bösen in Tod und Verderben.** Der gute Alte
hat umsonst gepredigt und gewarnt. Die Petrowki, der Vor-
abend wie der Peterpaulstag selbst, gehören noch immer zu
den ausgelassensten Festen der Russen. Im Ssaratowschen
Gouvernement ergötzt man sich am Vorabend des 29. Juni in
folgender Weise, den Frühling zu begleiten 2), wenn er von
dannen zieht. Männer und Frauen fahren in ihren Telegen im
Gänsemarsch von einem Ende des Dorfes bis zum anderen,
treiben freche Spaße und beschließen die Nacht mit Reigen-
tänzen imd Aufeinanderwälzen. Im Gouvernement Twer be-
ginnen am ersten Sonntagnachmittag nach dem Peterpaulstage
die sogenannten nächtlichen Spaziergänge. 3) In Kaschina spa-
ziert man zum Klobukowkloster, wo eine wunderwirkende
1) Ka«i«'.if>, die Schaukel, bildet auf den Volksfesten seit jeher das Haupt-
vergnügen der niederen Volksklassen, namentlich der Frauen.
■) üpOBOÄbl BecHH.
*) Ho'iHHifl r^'.TflUKH. Über die Doppelbedeutung von r\Mflni,e, Spazier-
gang und Hurerei, ist bereits S. 105 gesprochen worden.
— 358 —
Quelle fließt. Der Tradition zufolge stand einst an dieser
Quelle die Bildsäule des Kupalo. An der vom heidnischen
Gefühl geheiligten Stelle finden die ausgelassensten Maskeraden
statt, bei denen die Burschen ihr Gesicht mit Tüchern ver-
hüllen, um nicht von den Mädchen, mit denen sie der Wollust
frönen, erkannt zu werden. Es spielen sich in voller Öffentlich-
keit die seltsamsten Szenen ab, man stolpert fortwährend über
aufeinandergewälzte Liebespaare, und es kommt zu Skandalen,
Eifersuchtsszenen, Handgemenge und Totschlag, i)
Eigentümlich erotische Gebräuche sind auch jene, die
sich an die Feier des Mittwochs und Freitags der Karwoche
anlehnen. Mittwoch und Freitag, Ssereda und Pjatniza, sind
in der anthropomorphischen Vorstellung des Volkes die Personi-
fikationen der weiblichen Heiligen Ssereda und Praßkowja.
Ursprünglich sollte dieser Kultus die Marterwoche Christi ehren ;
die Roheit und die Sinnlichkeit des Volkes fanden aber keine
Befriedigung in einem rein religiösen Kultus, und Aberglaube
und Unzucht verdrängten die Zeremonien der Kirche. Der
Unfug wurde so furchtbar, daß die orthodoxe Geistlichkeit im
sechzehnten Jahrhundert die Ssereda- und Pjatnizafeier unter
Androhung der schwersten Strafen gänzlich untersagen mußte.^)
Die Sseredafeste sind seither auch verschwunden, dagegen ist
der Freitagskult bis auf den heutigen Tag in ganz Rußland un-
beeinträchtigt aufrecht geblieben. 3) Man müßte das Andenken
der heiligen Großmärtyrerin Praßkowja am 28. Oktober feiern,
dem eigentlichen Praßkowia-Freitag*), obwohl der Namenstag
der Heiligen natürlich nicht immer auf einen Freitag fällt.
Die Russen haben aber diese Heilige so sehr mit dem Freitag
identifiziert, daß in vielen Gegenden die Frauen an keinem'
Freitag arbeiten dürfen, um diesen heiligen Tag nicht zu ent-
weihen. Praßkowja ist die Spezialheilige der Weiber, die zu
ihr in allen schlimmen Lagen des Lebens beten. 5) Der Freitag
der Karwoche besonders wurde den Frauen ein Tag der Frei-
*) SaÖHWHin,, crp. 83 — 88; TTcrpoBKn.
2) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, S. 121.
8) Vgl. über den Freitag bei den Russen auch Seite 65.
*) üpacKOBKH-IIflTnHua.
^) S'dOhuuwf^y pyccidft napojub, 100 — 101.
— 369 —
heit, an denen sie sich in früheren Zeiten der Fesseln des
Hauses und des strengen Gatten entledigen und zu ihrer Be-
schützerin flüchten durften. Unter den Fittigen der Heiligen
rächten sie sich für die langen Leiden und die schlechte Be-
handlung durch Ausgelassenheit und Unzucht. Die Verehrung
der Praßkowja wurde eine Art Venuskultus ; es hat auch schon
der russische Volksforscher Afanaßjew die Verehrung der Praß-
kowja-Pjatniza mit dem Kultus der Freya und der Venus in
Zusammenhang zu bringen versucht, i)
Wir sehen also, wie Kirchenfeste zu Volksfesten geworden
sind, bei denen das erotische Element das Charakteristische
ist. Natürlich muß es noch viel bunter und gänzlich zügellos
bei jenen Gelegenheiten zugehen, die mit der Kirche und
^) Es ist selbstverständlich, daß die Herbstfeste denselben erotischen
Charakter aufweisen, den die Frühlings- und Sommerfeste zeigen. Die Zeit
der Einheimsung der Feldfrüchte ist ebenso eine Epoche der Liebe und der
geschlechtlichen Ausschweifung wie die Periode des Frühlings, wenn die Nator
«rwacht und die Feldarbeit beginnt. Der Engländer Havelock Ellis (Geschlechts-
trieb und Schamgefühl, Würzburg 1901), hat alles zusammengestellt, um zu
beweisen, daß es Wechsel im menschlichen Organismus gibt, die sich jahres-
.zeitlich regeln und besonders mit den Geschlechtsfunktionen in Verbindung
istehen, und daß Frühjahr und Herbst in der ganzen Welt Perioden erotischer
Feste sind. Die interessantesten Parallelen zu den russischen Bräuchen sind
natürlich die aus den südslawischen Ländern: In Gomja Tuzla in Bosnien
inrälzen sich beim Erntefest die Schnitter mit den Schnitterinnen über eine
schiefe Ebene hinab. In Serbien fallen die eigentlichen geschlechtlichen Aus-
schreitungen hauptsächlich in die erste Herbstzeit. Dann geberden sich die
jungen Leute wie liebestoll. Fest folgt auf Fest. Man stampft ganze Nächte
hindurch den Reigen bis zur Erschöpfung und singt bis zum Heiserwerden
die obszönsten Lieder. Die sinnlich aufregende Macht dieser Kolotänze ist
verwirrend und der Ansturm des Geschlechtstriebes entwurzelt allen An-
stand. — Die südslawischen Gebräuche zuerst gesammelt zu haben, wird ein
unvergängliches Verdienst des unermüdlichen Meisters der folkloristischen
Wissenschaft, Dr. Friedrich S. Krauß, bleiben. Man sehe die überwältigende
Fülle seiner Arbeit und den Reichtum seiner Erfolge in seinem grundlegenden
Werke ..Volksglaube und religiöser Brauch der Südslawen", in den hunderten
Liedern. Sprüchen, Erzählungen, die er im Originaltext und mit Übersetzungen
im V., VI. und VII. Band der Privatdrucke der Kryptadia. sowie in den bis-
herigen drei Bänden seiner Anthropophyteia veröf fentücht hat. Solche Leistung
steht auf dem Gebiete der folkloristischen Wissenschaft ohne Beispiel da und
wird kaum jemals übertroffen werden können.
— 360 —
dem Glauben gar nichts oder wenig zu tun haben. Die heid-
nischen Slawen feierten ein Frühlingsfest, das nach Einführung^
des Christentums nicht wie die übrigen heidnischen Feste einen
Platz imter den neuen Riten und Zeremonien erhielt, sondern
in selbständiger Form bestehen blieb, jedoch verschoben
wurde; das slawische Frühlingsfest wurde zur Butterwoche,
ziu- Maßljänitza^), liegt zwischen Weihnachten und dem Großen
Fasten und ist der russische Karneval; ein Teil der alten
Frühlingsfestgebräuche wurde auch an den Ostersonntag abge-
geben. Der russische Karneval ist zweifellos origineller und
lebhafter geblieben als der westeuropäische.
Die Fasten sind ein streng beobachteter Bestandteil der
Religion, imd um sich für die auferlegte Enthaltsamkeit im
Vorhinein zu entschädigen, hat man in der den großen Fasten
vorausgehenden Butterwoche reichlich Gelegenheit. Man heißt
diese Woche Butterwoche, weil das Fleischessen schon aufhört,,
die Butterspeisen aber noch erlaubt sind. In der Butterwoche
feiern die Wollust und die Völlerei ihre schlimmsten Orgien.
So wie gegenwärtig noch, war auch früher diese Zeit eine Reihe
von schrecklichen Tagen. In dem Buche über die Religion
der Moskowiter 2) lesen wir: „Tn dieser Zeit / welche billig
zur Busse / und zu einer Vorbereitung zum Fasten solte ange-
wandt werden / scheinet es / als wenn die elenden Leute ihnen
vorgesetzt hätten / dem Teuf fei ihre Seelen zum Opffer zu
bringen / so gar sehr begeben sie sich in allerhand Liederlich-
keiten : Sie bringen Tag und Nacht in der greulichsten Schwel-
gerey zu / wobey sie auch mit Weibsbildern ein sehr unzüch-
tiges Leben führen; Sie erwürgen sich einer den andern / und
verüben solche grausame Und entsetzliche Boßheiten / daß man
sie ohne Schrecken nicht kan erzehlen hören. Sie haben die
Gewohnheit / daß sie eine Menge Pasteten / Gebackenes und
Kuchen mit Butter imd Eyer backen / womit sie einander be-
wirthen / und trincken eine unbeschreibliche Menge Honig-
*) MacjMiumia; cwpHafl He;;t.iH. 3a6ujniHT>, PycoKifl Hapo;n>, crp. 34 — 48.
In neuerer Zeit schreibt man auch MacjieHHi^a. Der Ausdruck KapiieBajL
ist ebenfalls in die russische Sprache übergegangen. Schließlich übersetzt man
einfach das Wort Fastnacht: HaHCiopio Bojincani iioria.
2) S. 126.
Russisches Vergnügen in der Osterwoche.
[. ÜMul 20, K.ipilcl. Kirchenftstc, Volksfesle
MHCJiHHHua. (Mnc'Kiin ISfilr Butterwoche.
(Russisch« I.LtliOBr,4.hie.)
^^
— 361 —
Wein / Bier und Brandtwein darauff / daher sie sich / wann
ihnen diese Getränke zu Kopffe steigen / schrecklicher* Weise
herumschlagen / und als die unvernünfftige Thiere einander
umbringen : Man höret auch alsdann von nichts anders reden /
als von Leuten / so umgebracht / oder ins Wasser geworffen
worden. Zu der Zeit / als ich in Moscau war / zehlete man
einige hundert Menschen / so in diesen 8 Tagen des Masla-
nizc umkommen waren / welche acht Tage man wol die Teuf-
fels-Woche nennen kan / wegen der ungezäumten Freyheit und
Unordnung / darin die Moscowiter alsdann leben. Weil die
Stadt Moscau sehr groß / so ist ein eigener Platz dazu be-
stimmt / daß man die Cörper derjenigen / so auff den Gassen
todt gefunden worden / dahin lege : man bringet sie des Mor-
gens dahin / und wer Jetnand von seinen Angehörigen ver-
lohren hat / muß ihn an solchem Orte suchen. Diejenigen
Cörper / welche nicht erkannt noch wiedergefodert werden /
wirfft man in eine mit ungelöschten Kalck angefüllete Grube /
darin sie gar bald verzehret werden. Die Wachen versehen
zur Zeit des Maslanize ihren Dienst nicht / sondern sauffen
sich voll / und leben unordentlich / eben wie die andern.**
An dieser alten Schilderung ist kaum etwas zu ändern. Die
Butterwoche ist auch heute noch der Gipfel aller russischen
Vergnügungen und Unterhaltungen, an denen sich Reich und
Arm, Vornehm und Gering, Alt und Jung in ausgelassenster und
ausschweifendster Weise beteiligen.
Die Lust zu Verkleidungen und Maskeraden ist den Russen
angeboren. Wir werden im nächsten Kapitel einige Beispiele
aus der Hofgeschichte und der vornehmen Welt erhalten. Hier
erwähne ich nur einige, seit Jahrhunderten gänzlich verloren
gegangene Volksgebräuchc. So erzählte der Verfasser der
„Nachricht von Güldenlöwe Reise nach Rußland'* i) von einer
seltsamen Art der Versuchung, welcher die Bischöfe vor ihrer
Weihe vom Volke ausgesetzt wurden: ,,Der Bischof ward auf
einen Schlitten gesetzet, von zwey Pferden in der Stadt Moscau
herumgeschleppet, und von vielen Pfaffenknechten, deren
etliche in leichtfertiger Teufelskleidung verkleidet waren, also
1) In Büschings Magazin für die neue Historie, X 240.
— 362 —
begleitet, daß sie um ihn her, auch bald auf, bald vom Schütten
gesprungen, und nach bestem Vermögen ihre hohen Künste
versucht, ob sie den Vater durch ihre leichtfertige Worte und
Geberden zu etwa einem Lachen bewegen, und also sträflich
und der bischöflichen Ehre verlustig machen könnten, oder ob
er dergestalt untadelhaft und geschickt mußte befunden wer-
den.** Von einem ebenfalls jetzt nicht mehr bekannten mosko-
witischen Gebrauch am Palmsonntag berichteten ältere aus-
ländische Beobachter 1): Am Palmsonntag versammelte sich
das Volk von Moskau vor der Messe im Kreml. Aus der
Kathedrale zur Himmelfahrt Maria ward ein großer, mit aller-
hand Früchten, Rosinen und Äpfeln behängter Baum heraus-
getragen. Man machte ihn auf zwei Schlitten fest, die von
sechs Pferden langsam gezogen wurden. Unter den Zweigen
des Baumes standen fünf Knaben in weißer Kleidung und
sangen laut das „Hosianna dem Sohne Davids, gesegnet der da
kommt im Nam^n des Herrn.** Hinter den Schlitten kam zahl-
reiche Jugend, mit Wachskerzen und einer ungeheuren Laterne ;
darauf folgten Männer, die zwei Kirchenfahnen, sechs Rauch-
fässer und sechs Heiligenbilder trugen, ferner mehr als hundert
Priester in Prunkgewändern, die Scharen der Bojaren und vor-
nehmen Staatsbeamten in Gala, endlich der Patriarch und der
Zar. Der Patriarch ritt quer nach Damenart auf einem mit
weißem Zeuge bekleideten Esel oder auf einem Pferde, dem
man dann lange Ohren aus Leinwand aufgesetzt hatte, um
ihn einem Esel ähnlich zu machen. Mit der Linken hielt der
Patriarch das mit Gold beschlagene Evangelium auf seinem
Schöße fest, mit der Rechten teilte er dem Volke den Segen
aus. Den Esel führte ein Bojar, der Zar aber, der nebenher
1) Hakluyt bei Karamsin, deutsch IX 85, französisch IX 594, erwähnte
ihn zuerst ; er lernte ihn im Moskau Iwans des Schrecklichen kennen. Spater be-
richtete dasselbe Margeret, Estat de 1' Empire de Rvssie, 29: ,,Le iour de Pas-
ques fleuries Ton monte le Patriarche sur un asne, lequel s'assied en femme.
et au d6faut d'un asne Ton prend un cheval que Ton couvre d'un Unge blanc,
tellement que Ton n'en voit rien que les yeux. L'on luy fait de grandes oreüles
et l'Empereur le conduit par la bride jusques dans une Eglise hors du Chasteau.
II y a gens ordonnez ce jour-lä, qui d^poüillans leurs robbes les estendent sur
le chemin suivans en la Procession les Prestres et autres Ecclesiastiques de la
Ville."
— 363 —
ging, berührte mit einer Hand einen Zügel, um zu tun, als ob
er den Patriarchen führte, während er mit der anderen Hand
eine Osterpalme schwenkte. Dieser Aufzug sollte den Einzug
Christi in Jerusalem symbolisieren.
Was von den alten Kirchengebräuchen existiert, das kann
man hauptsächlich in Moskau beobachten. Matuschka Mos-
kwa i) ist nach wie vor der Mittelpunkt der Orthodoxie und
der Kirchlichkeit, obwohl seit der Verlegung des zarischen
Hofes a,n die Newa auch hier nichts mehr im alten Glänze
leuchtet. Der Zar hatte einst durch seine Teilnahme nament-
lich den Großen Fasten und dem Osterfeste in Moskau eine
besondere Feierlichkeit verliehen. 2) Wenn sich die Großen
Fasten näherten, trug der Zar persönlich dafür Sorge, daß die
Ruhe in den heiligen Wochen nicht durch kirchenwidrige Er-
scheinungen gestört wurde. Am letzten Tage der Butterwoche
erteilte er einem Dumnij Djak oder Ratssekretär den Befehl,
in der ersten und der letzten Woche der Fasten sämtliche
Schenken zu schließen und die auf den Straßen aufgegriffenen
Betrunkenen der strengsten Strafe zuzuführen. Am letzten Tage
der Butterwoche erging auch der zarische Befehl, für die Zeit
der Großen Fasten den Lebensmittelhandel auf Kalatsch^),
Kwaß und vegetabilische Nahrungsmittel zu beschränken. Wer
Fische verkaufte, verfiel strenger Strafe. Manche Zaren führten
selbst die Fasten mit größter Genauigkeit durch. Vom Zaren
Alexej erzählen die ausländischen Reisenden, daß er während
der Großen Fasten nur dreimal in der Woche, am Donnerstag,
Sonnabend und Sonntag zu Mittag speiste, an den übrigeh
Tagen aber sich mit einem Stücke Schwarzbrot, einer Salzgurke
und einem Glase Halbbier begnügte. Fisch nahm er nur
zweimal während der ganzen Fastenzeit zu sich. Die zarische
Familie und der Hofstaat befolgten des Herrschers Beispiel ; die
Kinder jedoch durften eine Ausnahme machen. Vom Patriar-
1) M.iTyunca Mockbu, Mütterchen Moskau nennt der Russe die alte Zaren-
residenz, wie er auch vom Wolgafluß als von MaiymKa Baira spricht.
*) Vgl. Fpnropitt FeoprbeBCKitt, BejiiiKofi iiocrb h nacxa fb Mockb^, PyccKitt
BtcTHHK'L 1900. — SaÖHJiHirL, PyccKÜt HapoaT», 48 — 49; Bop^Ha« ne;?^fejiH;
49 — 51: BeJTHKift 'lexBeprL; $1 — 54: Ilacxa.
*) KaJiant, eine Art Semmeln.
— 364 —
chen bis zum Lastträger fastete alles im alten Moskau. Wer
das Speise verbot brach, verlor sein Amt. Alexe j nahm aii
allen Gottesdiensten teil, und die Kirche bot ihm zu Ehren den
größten Pnmk auf. Am Sonntag vor der Butterwoche sagte
man feierlich dem Fleisch Valet, Carne vale. An diesem Tag
pflegte Zar Alexej frühmorgens um drei Uhr heimlich den
Kreml zu verlassen, um die Gefängnisse und Armenhäuser
aufzusuchen, Geld zu verteilen und Gefangenen persönlich die
Freiheit zu schenken. Nach der Frühmesse fand unter Voran-
tritt des Patriarchen eine Kirchenprozession nach dem Iwan-
platze statt, wo ein allgemeines Gebet vor dem Bilde des jüng-
sten Gerichts veranstaltet wurde. Nach dem Hochamt gab es
im zarischen Dwor Freitisch für die Bettler der Stadt ; der Zar
speiste mit ihnen und bewirtete sie als seine teueren Gäste;
und zur selben Zeit wurden in den Gefängnissen auch die Ge-
fangenen auf Kosten des Zaren gespeist. An einem der Abende
der Butterwoche hielt man in der Uspenskijkathedrale die feier-
liche Zeremonie der Versöhnung ab. Dann begannen die
Fasten. Am Sonntag in der ersten Fastenwoche erschien bei
der Feier der Orthodoxie i) der Zar, um mitzubeten für das
ewige Gedächtnis der für die Orthodoxie gefallenen Männer.
Besondere Feierlichkeiten gab es in der Fastenzeit noch in
der vierten Woche, sowie am Donnerstag und Sonnabend der
fünften Woche. Alle Feierlichkeiten und alle Tage haben ihre
speziellen Namen. 2) Die Fasten schlössen mit mehreren Gottes-
diensten der stillen Woche 3) ab. Am feierlichsten war der
Gottesdienst am Mittwoch dieser Woche, welcher Tag auch
der große Mittwoch*) heißt. Der Zar kam mit seinen Bojaren
ohne jegliches Gepränge in die Kathedrale, und Zar, Beamte,
Patriarch und Volk baten einander um Vergebung. Am Don-
nerstag, der ebenfalls der große ^) genannt wird, verließ der
Zar um die erste Morgenstunde die inneren Gemächer, um
in den Siechenhäusem und Gefängnissen abermals Almosen
*) TopacecTBO npanoc.iabin.
*) KpecTonoiuioHHafi Ho,^tKiJi; Ahjqk'obo crojiiiie; und IToxbiuh Boropo;;Hut.
^) CxpatTHaH ncA'fe.iH.
*) Bo.imuMi c«»pe,ia.
^) Be.iiiiart 'loiHepn*.
— 365 —
zu verteilen. Unter den Ostcrbräuchen war die bemerkens-
werteste die am frühen Ostersonntagsmorgen stattgefundene
Kniebeugung im Angesicht des Zaren, i) Alle höheren Beamten
wurden zugelassen, um vor dem Zaren einen Fußfall zu tun
und ihm in die klaren Augen zu schauen. 2) Das galt als
besondere Belohnung für treuen Dienst. Niedere Beamte wur-
den nur nach Auswahl dieser hohen Gnade teilhaftig. Nach
dieser Zeremonie begab sich der Zar in einem von Edelsteinen
schweren Gewände, in Begleitung seines ganzen Hofstaates, zur
Frühmesse in die Uspenskijkathedrale. Hier hatten nur die
Beamten vom goldenen Kaftan^) Zutritt. Nach der Frühmesse
folgte der Osterkuß. Der Patriarch küßte zuerst den Zaren
auf den Mund, darauf küßte der Zar die Heiligenbilder und die
Erzbischöfc; mit den übrigen Geistlichen und den Bojaren
tauschte der Herrscher bloß einen Händedruck aus. Streng
nach der durch den Tschin bestimmten Reihenfolge traten alle
vor den Fürsten, der jedem, je nach seiner Dienststellung,
ein, zwei oder drei prächtig gemalte Eier überreichte. Von
der Uspenskij-Kathedrale zog der Zar nach den wichtigsten
Kirchen und Klöstern, und überall wiederholte er dieselbe
Zeremonie. Zum Schlüsse besuchte er die Gefängnisse und
begrüßte die Verbrecher gnädig mit den Worten: ,, Christus
ist auch für euch erstanden!** --
Von dieser Tyrannengemütlichkeit ist nichts übrig geblie-
ben. Sie ist ebenso verloren gegangen wie fast alles, was an
rein kirchlichen Zeremonien und eingebildeter Gläubigkeit im
alten Moskau früher vorhanden gewesen sein mag. Nur jene
Gebräuche vermochten sich dauernd zu erhalten, welche die
Kirche den heidnischen Empfindungen des Volkes angepaßt
hat, oder in denen erotische Elemente die Sinne zur Teilnahme
anregen.
1) HapcKoe .iimoapt.iiir, wörtlich der zarische Anbhck. Diese Zeremonie
ist zweifellos asiatischen Ursprungs, denn sie gleicht fast genau der Zeremonie
am Bairamsfeste im Sultanspalast.
') y^apiiTF» ncioMT» UapK) h nirjito» r<x">MapH np^'cnf.T.ihiH o'ni.
*) Eine ebenfalls asiatische Rangabstufung. Der Vergleich mit den
chinesischen Mandarinen drängt sich von selbst auf.
— 366 —
21. Hofnarren und Maskeraden.
Vergnügungen der vornehmen Gesellschaft im alten Rußland — Die Frauen
im Terem — Die Männer unter sich — Saufwut — Leibeigene als Leibnarren
der Aristokraten — Die Aristokraten als Leibnarren der Zaren — Lohn und
Strafe der Narren — Adelung eines Narren — Ermordung des Narren Fürst
Gwosdew durch den Zaren Iwan den Schrecklichen — Die Narrenwelt am Hofe
Peters des Großen — Uschakow erhält die Narrenkappe statt des Galgen-
stricks — Der portugiesische Jude Dacosta — Der König der Samojeden —
Die Eskadron der Zwerge — Der Narr Turgenjew als Kombattant — Neujahrs-
spiel — Feuerwerk — Assembleen — Der Narrenorden — Verspottung des
Klerus durch Maskeraden — Der Papstnarr — Heirat des Papstes — öffent-
liches Beilager — Narren und Würdenträger — Zwerge — Am Hofe Annas —
Der Narr Fürst Wolkonskij — Apraxin — Fürst Gaützyn als Henne — Bala-
kirew — Pedrillo — Die Wöchnerin Ziege — Heirat Galitzyns mit einer
Kalmückin im Eispalast — Fußsohlenkitzlerinnen — Tschulkow, Oberauf-
seher der Fußsohlenkitzlerinnen — Die Kitzlerinnen Elisabeth Schuwalow
und Frau Woronzow — Frau Schepelew — Das Klapsweib Golowin — Der
letzte offizielle Hofnarr Aksakow und sein Ende — Spaßmacher Katharinas IL
— Naryschkin — Die Plaudertasche Matrona Danilowna — Beginn der euro-
päischen Vergnügungen, Tänze und Bälle.
Die Unterhaltungen der Vornehmen im alten Rußland
waren ganz eigener Art. Die Frauen der Aristokraten ver-
ließen nur selten die vergitterten Tore des Terem, lebten
abgeschlossen von der Außenwelt und vertrieben sich die
Langeweile durch Amüsements mit ihren Sklavinnen, die
obszöne Geschichten erzählen, Tänze aufführen oder den Her-
rinnen, um ihre Wollust zu reizen, die Sohlen kitzeln mußten.
Gemischte Gesellschaften, an denen die Frauen mit den Män-
nern hätten teilnehmen dürfen, gab es nicht. Wenn der Haus-
herr ein Fest veranstaltete, so geschah dies nur für männliche
Gäste. Die Hausfrau erschien zwar für einen Augenblick, um
dem vornehmsten der Gäste den Ehrentrunk zu bringen, aber
dann verschwand sie sofort wieder. Das Hauptvergnügen bei
solchen Festlichkeiten der Männer unter sich war das Saufen.
Der Wirt setzte seinen Stolz darein, seine Gäste volltrunken
zu machen; und jede Einladung zu einer Gesellschaft schloß
mit dem Refrain: „Gib mir die Ehre, dich bei mir zu be-
trinken.** So schrieb zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
— 367 —
noch Mentschikow in einer Einladung, die er an Peter den
Großen richtete. Für den Humor der Gäste sorgten Erzähler
von Legenden und Märchen, Guitarrenspieler, Jongleure und
namentlich Narren mit ihren obszönen Spaßen imd Sprüngen
und mit frechen Reden, in denen dem Wirt imd den Gästen
unverblümt die Wahrheit gesagt werden durfte, da man der
Meinung war, ein Narrenwort, vom Augenblick geboren imd
vertilgt, könne nicht den Respekt des Sklaven vor dem Herrn
schädigen.
Denselben Wert, den der Leibeigene in den Augen des
Bojaren hatte, besaß der Vornehmste in der Schätzung des
Zaren; und so geschah es, daß jener, der sich in seinem Hause
an den Qualen seiner Narren ergötzte, am Zarenhofe häufig
selber die Rolle des Hofnarren spielen mußte. Dieses Amt
war so gut und so schlecht wie jedes andere ; Verdienste in der
Pflichterfüllung wurden belohnt, Nachlässigkeiten bestraft. Zar
Fedor Alexejewitsch war mit seinem Hofnarren, dem simplen
Bürgersmann Andrejew Jirowoj-Zaßjekin so zufrieden, daß er
dem braven Spaßmacher für seine Bemühungen um die Er-
heiterung des zarischen Gemüts den erblichen Adelstand ver-
lieh, i) Iwan der Schreckliche liebte wahnwitzige und rasende
Narren, und um solche zu erhalten, ließ er die von ihm für
würdig befundenen Hofbeamten oder Edelleute, besonders ganz
alte Männer, mit Hunden, Katzen, Eidechsen und Menschen-
fleisch bewirten, damit sie vor Ekel verrückt würden. Iwans
Lieblingsnarr war Fürst Gwosdew, der mit dem Herrscher an
derselben Tafel speisen durfte. Eines Tages gefielen dem Zaren
des Narren Spaße nicht mehr; da bestrafte er ihn auf folgende
Weise: Der Fürst mußte niederknien und der Zar goß eigen-
händig dem Knienden heiße Brühe zwischen Hemd und Haut.
Als der Narr darob, statt lustig zu werden, jämmerlich schrie
und um Gnade bat, stieß Iwan ihm ein Messer in die Kehle
und sagte: „Laßt den Hund hinfahren, weil er selber nicht
hat leben wollen.**^) Er fand an den Marterqualen des Ster-
1) Rovinskijs Lexikon der gravierten Porträts (nissisch), 1889, IV 510;
und Waliszewski, L'h6ritage de Pierre le Grand. 266.
«) Webers verändertes Rußland, zweyter Theil, S. 37.
— 368 ~
benden das Vergnügen, das der Lebende ihm vorenthalten
hatte. Dieser Tyrann war zweifellos selbst auch ein Narr, ein
wahrer CaMOÄypi>, ein exzentrischer Teufel. Die wichtigsten
Männer Rußlands, von Iwan und Peter dem Großen bis hinab
zu Paul und Alexander I., Nikolaj I. und Alexander III., dann
die Mentschikow, Patjomkin, Ssuworow, endlich die Gogolj,
Puschkin, Dostojewskij, Tolstoj — sie alle sind Ssamoduri,
exzentrisch in schlechtem oder gutem Sinne gewesen.
Peter der Große pflegte den Adligen, die sein Mißfallen
erregt hatten, einfach zu befehlen, daß sie fortan Narren sein
sollten. Von diesem Augenblick an muß der Unglückliche,
den die Verwandlung von des Zaren Gnaden betroffen hat,
allen Hofleuten zum Spotte dienen. Er mag noch so klug
und edel denken und handeln : er hat aufgehört Mensch zu sein
und ist und bleibt nichts als ein Gegenstand der Verhöhnung.
Er hat zwar damit das Recht erlangt, jedem die Wahrheit frei
heraus zu sagen, aber es braucht niemand seine Frechheit ernst-
nehmen, und es ist jedem anheimgestellt, den Narren zu schla-
gen und zu peitschen; dieser darf sich dagegen nicht auf-
lehnen i), darf sich nicht verteidigen, denn er ist kein Mensch;
er muß vielmehr zu allen Schlägen, die ihm zuteil werden,
Scherze machen, lustig sein, lachen und die anderen zum Lachen
bringen, denn er ist ein Narr.
Bei seinem Aufenthalt in Amsterdam sieht Peter den be-
rühmten Spaßmacher Testje-Roen auf offener Straße vor dem
jubelnden Volke seinen Ulk treiben; der Zar will sofort diesen
Meister aller Narren als Hofnarren nach Rußland mitnehmen;
aber der Narr hat Verstand genug, um den verlockenden
Antrag glattweg abzulehnen. Peter braucht deshalb nicht un-
tröstlich zu sein, denn er hat der Hofnarren gerade genug.
Sie sind so viele, wenigstens hundert an Zahl, daß sie einen
Hofstaat für sich bilden und in Klassen abgeteilt werden
können. 2} Da sind erstens jene, denen die Vernunft von der
1) Memoiren der Fürstin Daschkoff, zur Geschichte der Kaiserin Katha-
rina II. Nebst Einleitung von Alexander Herzen. Hamburg 1857. I 125.
2) Vgl. ausführlicheres bei Weber a. a. O. — Jakob von Stahlin, Original-
anekdoten von Peter dem Großen, 270 und 320. — Bergholz' Tagebuch bei
Büsching XIX 123 und 131. — Waliszewski, Pierre le Grand, 167 und 460. —
Trois tStes dans un bonnet ou le triumvirat des fous.
(Sellciic K::iiik.iliir ;>ul ,lii- Foimlü X.ipulwiiii-,
— 369 —
Natur versagt wurde. Peter läßt sie auf seine Kosten verpflegen
und bei Gelegenheit seinen Russen vorführen, um diesen den
Unterschied zwischen Vernünftigen und Unvernünftigen klar-
zumachen. Die zweite Klasse besteht aus Leuten, die sich
durch eine Dummheit im Dienste unsterblich blamiert haben;
sie müssen eine Narrenjacke, einen Narrenkolben und Schellen
tragen, ob sie auch die Vornehmsten im Reiche sein mögen;
ihr Los soll die anderen lehren, von der Vernunft den richtigen
Gebrauch zu machen. Die dritte Klasse besteht aus freiwilligen
Narren, nämlich aus Männern, denen eine Strafe drohte und
die sich närrisch stellten, um dem Unheil zu entgehen. Die
letzte Klasse bilden die jungen Leute, die Peter zu ihrer Aus-
bildung nach Europa geschickt hatte, die aber nichts lernen
wollten und so dumm blieben als zuvor; zur Strafe wurden
sie Hofnarren.
Die berühmtesten Hofnarren Peters des Großen sind : Tur-
genjew, Schanskoj, Lenin, Schachowskoj, Kirsantjowitsch, Da
Costa, Uschakow, Tarakanow, Sotow, Witaschij, Romadanows-
kij, Strechnjew, Golowin, Buturlin.
Uschakow war früher Offizier. Er erhielt einmal den Be-
fehl, Briefschaften des Generals von Smolensk an den kom-
mandierenden General von Kijew zu überbringen. Er ritt
in rasendem Galopp Tag und Nacht und kam endlich nachts
an sein Ziel. Die Wache zögerte, ihn einzulassen; da kehrte
er beleidigt um und ritt nach Smolensk zurück, um sich bei
seinem General über den Kijewer Wachtposten zu beschweren.
Das Kriegsgericht verurteilte Uschakow zum Tode. Aber Peter
fand seine Handlungsweise so dumm, daß er ihn zum Wirk-
lichen Hofnarren begnadigte.
Da Costa war ein getaufter portugiesischer Jude. Peter
gefielen seine Kommentare zur Bibel, er ernannte ihn daher zum
theologischen Hofnarren und verlieh ihm als Zeichen dieser
Floegels Geschichte des Grotesk Komischen, bearbeitet von Ebeling, 5. Auflage,
Leipzig 1888 (Barsdorf), S. 299. — Herrmann bei Vockerodt, 18. — Halem
I5i8;lli55. 269, 334; III 86. — Sadler, geistige Hinterlassenschaft Peters, iii.
Nestesoranoi, M^moires sor Catherine, 61 . — Custine II 342 ; III 329. — Manstein»
M6moires 338. — Vandal, Louis XV et Elisabeth de Russie, 76, — Breton»
RnBland, IV 38. — Bernhard Stern, Die Romanows I, erstes Kapitel.
Stern, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in Rufiland. 24
— 370 —
Würde den Titel eines Herrn von Samoröe, einer unbewohnten
Sandinsel im Finnischen Meerbusen, die eigens für Da Costa
zu einer Grafschaft erhoben wurde. Da Costa hatte bei Tafel
darauf zu achten, daß fleißig auf die Gesundheit des Iwan
Michajlowitsch, das heißt: der russischen Flotte, getrunken
wurde. Für jede Vernachlässigung seiner Pflicht drohte ihm
eine Tausendrubelstrafe.
Ein anderer Hofnarr führte den) Titel König der Samo jeden,
und zu seiner Krönung wurden 24 Renntiere und 24 Samojeden
nach Petersburg gebracht. Zuweilen spielen die Hofnarren
auch ernste Rollen. Ein Scherz ist es noch, wenn 1692 bei den
Manövern unter der Kavallerie eine Eskadron von Zwergen
dahergeritten konmit; aber 1694 erscheint auf dem Schlacht-
felde während des Kampfes eine Kompagnie von Kirchen-
sängem imter dem Konunando des Hofnarren Turgenjew als
Hilfstruppe. Peter der Große liebt eine derartige Verquickung
von Ernst imd Narreteien. Das neue Jahr hatte in Rußland
früher mit detti i. September begoimen, Peter führte die
europäische Rechnung ein. Darob Entsetzen im Volke. Am
I. Januar, sagten die einen, gab es ja keine Äpfel, mit denen
Eva den Adam hätte verführen können; und wie sollte der
I. Januar der erste Tag des Jahres gewesen sein, da vor Er-
schaffimg des Menschen alles zur Ernte reif gewesen sein
mußte. Die Fronmien, die in Peter den Antichrist sehen, halten
diese Zeitänderung für ein richtiges Teufelswerk. Aber der Zar
läßt sich nicht einschüchtern und veranstaltet justament am
I . Januar 1 700 im ganzen Reiche mythologische Festspiele zur
Feier der Jahrhundertwende, um das Volk mit einem Schlage
in die neue Ordnung hineinzubringen. Eine ähnliche Methode
verfolgt Peter, um seine Russen an den Geruch des Pulvers
und den Lärm der Kanonen zu gewöhnen : er läßt jeden Augen-
bUck ein kolossales Feuerwerk abbrennen, und wenn dabei
hier und da Menschen verunglücken, so macht dies nichts
aus, denn im wirklichen Krieg kommen auch nicht alle aus
dem Getümmel mit geraden Gliedern davon, i)
1) Die Russen haben sich trotzdem mit dem Effekt eines Feuerwerks
lange nicht befreimden können. Bei einem Feste, das die Zarin Anna Iwanowna
■i
— 371 —
Mit aller Gewalt reformiert Peter sein Volk. Durch ein
Gesetz ist man gezwungen, ein Gesellschaftsmensch zu werden.
Es ist gewiß einzig in der Weltgeschichte, daß man durch
kaiserlichen Befehl zu einer bestimmten Stunde in ein bestimm-
tes Haus zu Gaste geladen wird und dort erscheinen muß,
wenn man sich nicht einer Strafe aussetzen will. Eine Strafe
trifft auch den Hausherrn, der seinen Gästen entgegengeht;
denn des Zaren Lehre vom guten Ton hat ein für alle Mal
festgesetzt, daß jeder Gastgeber seine Gäste an der Tür des
Salons empfangen müsse. Persönliche Einladungen werden
nicht ausgeschickt. Die Etikette setzt fest, welche Rangklassen
an diesen oder jenen Assembleen teilzunehmen haben, imd
Tag imd Ort dieser oder jener Reunion werden in Petersburg
vom Polizeimeister, in Moskau vom Militärkommandanten durch
Affichen an den Straßenecken bekarmtgegeben.
Der Zar führt einen harten Kampf mit dem Klerus und
hat den Mut, nicht bloß das Patriarchat einfach abzuschaffen,
sondern die Geistlichkeit obendrein zu verhöhnen. Er ernennt
den Hofnarren Sotow zum Phantasie-Erzbischof von Preßburg^i),
zum Patriarchen, schließlich zum Papst ; er betitelt ihn : Heiliger
Vater, läßt ihn feieriich krönen und setzt ihm eine Mitra,
auf der ein obszöner Bacchus als Schmuck prangt, auf das
greise Haupt. Eine Truppe Bacchanten führt den Zug an,
mit dem der gekrönte Papst das Konklave, eine Gesellschaft
von Trunkenbolden, die bei der Papstwahl als Kardinäle figu-
rierten, verläßt. Kurz zuvor ist zum Schrecken der Fronunen
das Tabakrauchen gestattet worden. Um die zürnenden Ortho-
doxen zu verhöhnen, tragen einige Narren bei einer Maskerade
auf ihren Hüten Pakete rauchenden Tabaks; und aus dem
im Februar 1740 veranstaltete, gab es infolge eines Feuerwerks eine furcht-
bare Panik unter dem zuschauenden Volke. Die offiziöse Petersburger Zeitung
brachte über diesen Vorfall folgenden gemütvollen Bericht: ,,Ein blinder
Schrecken ergriff die Menge, als das Feuerwerk losprasselte. Man sah sie in
Verzweiflung nach allen Richtungen flüchten, was die Freude und das Amüse-
ment der hohen Persönlichkeiten des Hofes Ihrer Majestät, die als Zeugen dieses
Schauspiels auf dem Balkon des Palastes standen, außerordentlich erhöhte."
^) So hieß die kleine Festung, die Peter als Knabe in der Umgebung
Moskaus für seine Kriegsspielereien hatte errichten lassen.
24*
— 372 —
feierlichen Anlaß der Hinrichtung von 150 Streljzen erscheint
der Pseudopapst Sotow unter einer Festversammlung bei Hofe
und segnet die Anwesenden mit der Tabakspfeife wie mit einem
Kreuze.
Die von dem Augenblick und der Laune geschaffenen
Narrenwürden bleiben dauernde Einrichtungen. Die Maske-
raden wiederholen sich alljährlich. In der Butterwoche des
Jahres 1724 spielt sich auf offener Straße eine besonders furcht-
bare Orgie ab. Der Zar erscheint mit einem Cortfege der ärg-
sten Trunkenbolde, welche die von ihm ernannte Narr- und
Saufbrüderschaft 1) bilden, und mit einer Schar trunkener
Frauen. Der Narr Golowin, ein achtzigjähriger Greis aus vor-
nehmer Familie, erhält vom Zaren den Befehl, im Zuge als
Teufel zu figurieren. Der Alte will nicht ; da bemächtigt man
sich seiner, zieht ihn vollständig aus und stülpt dem Nackten
bloß eine Teufelsmütze auf den Kopf. Im Adamskostüm muß
der Alte eine Stunde lang auf dem Newaeise stehen; er bricht
endlich zusammen und stirbt.
Eines Tags wird der Papst Sotow verheiratet und seine
Hochzeit mit großem Gepränge gefeiert; es erscheinen zum
Feste nicht bloß Dutzende Pseudo-Geistliche, sondern auch
Pseudo-Äbtissinnen und Pseudo-Nonnen. Nach dem Tode So-
tows wird der Narr Buturlin zum neuen Papste gewählt; er
muß sich aber gleichzeitig mit des alten Papstes Witwe ver-
mählen. Er und sie befinden sich schon längst im Greisenalter ;
um so lustiger. Im Inneren der Pyramide, die sich vor dem
Senatspalast erhebt, wird das Brautbett aufgestellt. Bei der
Hochzeitsfeier wird aus Gläsern getrunken, deren Formen ge-
treu den Penis und die Vulva wiedergeben. Zum Schluß legt
man die beiden betrunkenen Alten entkleidet in das Bett,
und durch ein Fenster an der Pyramide ist es der Menge er-
laubt, dem köstlichen Augenblick beizuwohnen, wo der Papst
seine ihm soeben angetraute Gattin beschläft. 2)
*) „CyMac6po;xirfeÄniitt, Bc/^myTtfiiiiitt h BcenbaHlittiuitt coßojyt" : der allerver-
rückteste, allerdümmste und allerversoff enste Rat. Vgl. CeMeBcidtt, 04epKH II,
280 H npoH.
•) Der Papstnarr ist keine russische Erfindung. In Amiens gab es im
sechzehnten Jahrhundet einen von den dortigen Geistlichen gewählten Papst
— 373 —
Diese Phantasiekönige, Fürsten, Päpste, diese Narren und
Komiker haben neben ihren Faschingsämtern zuweilen ganz
wichtige staatliche Stellungen inne : Der Narr Golowin ist Chef
der Admiralität. Von Turgenjew haben wir schon früher ver-
nommen, daß er im Kriege seinen Mann stellen muß. Der
Papst-Narr Sotow ist Großsiegelbewahrer. Fürst Romadanows-
kij, Vizekaiser und König von Preßburg aus dem Stegreif,
dessen Titel und Faschingswürden sich ordnungsmäßig auf
seinen Sohn vererben, hat die Aufgabe, wenn der Zar ab-
wesend ist, alle auszuspionieren und dem Herrscher allergeheim-
sten und allergetreulichsten Bericht zu erstatten.
Eine Unterabteilung der Hofnarren sind die Zwerge, die
seit jeher und noch heute den Gegenstand der Amüsements
der russischen Großen bilden. Mentschikovv gibt 1710
aus Anlaß der Vermählung der Prinzessin Anna Iwanowna,
Nichte Peters des Großen, mit dem Herzog von Kurland ein
Festmahl, bei dem zwei riesige Pasteten aufgetragen werden.
Aus den Pasteten steigen zwei Zwerge hervor, und sie tanzen
in der Mitte der Tafel ein Menuett. Im selben Jahre findet
in Petersburg, ebenfalls zu Ehren der Prinzessin Anna, eine
Zwergenhochzeit statt, an der sechsunddreißig Zwergenpaare
teilnehmen. Drei Jahre später veranstaltet Prinzessin Nathalie,
Peters Schwester, die Hochzeitsfeier zweier ihrer Lieblings-
zwerge; 93 Zwerge aus allen Teilen des Reiches werden zu
dem Feste als Gäste herbeigeschafft, i) Im Januar 1715 stirbt
ein Zwerg, den Peter besonders geliebt hat. Man veranstaltet
ein feierliches Begräbnis. Vier Popen und dreißig Kirchen-
sänger gehen vor dem Sarge her, der auf einem von sechs
der Narren; 1548 wurde der Spaß verboten. In Chartres wurden bis zum An-
fang des sechzehnten Jahrhunderts in den ersten Tagen eines jeden Jahres
von den Kantoren ein {Papi-fol. ein Papst der Narren, und Kardinäle gleicher
Art gewählt. Die Mönche von I^on ernannten einen aus ihrer Mitte zum
Patriarchen der Narren. Man sehe weitere Parallelen bei Dinaux und Brunet,
Les soci6t6s badines. bachiques. Iitt6raires et chantantes, leur histoire et leurs
travaux, Paris 1867, I 334. — Floegel, 1. c. S. 299 ff.
^) Diese seltsamen Feste sind schon so oft geschildert worden, daß ich sie
hier nicht ausführlicher zu erzählen brauche. Man vgl. Bernhard Stern, Die
Romanows I, erstes Kapitel; und Flögel, Geschichte der Hofnarren, 524 — 529.
— 374 —
winzigen Rappen gezogenen Wurstschlitten ruht. Hinter dem
Schlitten kommen alle Zwerge, die man hat auftreiben können,
in schwarzen Kleidern; zum Schlüsse der Zar mit seinen Mi-
nistern und Offizieren. 1)
Die Zarin Anna Iwanowna, bei deren Hochzeitsfeier die
Zwerge en masse aufmarschieren mußten, ist eine besondere
Freundin von Narren, Zwergen und Mißgeburten aller Art.
An ihrem Hofe wimmelt es von Krüppeln; die Besnogije und
Gorbuschy2) sind die wichtigsten Persönlichkeiten. Wenn ein
Gouverneur sich die Gunst der Zarin sichern will, schenkt er
ihr einen ekelhaften Neger, eine bucklige Tscheremissin oder
einen häßlichen Kalmücken. Besonderen Spaß macht der
Kaiserin folgendes oft wiederkehrendes Spiel: Ein Teil der
Narren muß sich mit dem Gesichte zur Wand aufstellen, dann
tritt eine andere Gruppe heran und schlägt im Takt mit den
Fußsohlen auf die Hinterbacken der Vordermänner. In Nach-
ahmung des Trinker- und Narrenkonseils Peters des Großen
will auch Zarin Anna einen Narrenorden vom heiligen Benno
als Karikatur des Alexander-Newskijordens gründen. Sie hat
aber doch nicht den Mut des Oheims und läßt den Plan aus
Angst vor dem Zorn der Kirche fallen.
Die Narren und Närrinnen genießen Redefreiheit gegen-
über den höchsten Personen, nur der Kaiserin dürfen sie nicht
nahetreten. Wir finden am Hofe Annas manchen alten Bekann-
ten wieder : Vor allen Da Costa, den portugiesischen Juden, den
der russische Resident in Hamburg einst Peter dem Großen
mitgebracht hat; imd noch andere. Neben den alten aber viele
neue originelle Käuze. Wie Iwan der Schreckliche und Peter
der Große liebt auch Anna Mitglieder der höchsten Aristokratie
zu Hofnarren zu machen. Die vornehmsten Familien des
Reiches, die Apraxin, Wolkonskij und Galitzyn müssen der
Spaßwut der Kaiserin einen Tribut, eine wahre Blutsteuer ent-
richten : Fürst Nikita Fedorowitsch Wolkonskij steht im Rufe,
daß er auf seinem Landgute wie ein Sonderling lebe ; die Zarin
1) Memoires pour servir ä. l'histoire de Tempire russien sous Pierre le
Grand par un Ministre etranger, 1725, p. 114.
*) Be3Horitt, ein Mensch ohne Füße; ropöyiiia, eine Bucklige.
- 375 —
befiehlt ihm, bei Hofe zu erscheinen, und macht ihn zum Hof-
narren. Ähnlich ergeht es dem Grafen Alexe j Petro witsch
Apraxin, der mit einer Prinzessin Galitzyn verheiratet ist. Auf
eine merkwürdige Weise gelangt auch der Schwiegervater
Apraxins zu der Würde eines Hofnarren: Fürst Galitzyn reist
nach dem Tode seiner Frau nach Italien, tritt dort zum Katholi-
zismus über und heiratet ein einfaches Mädchen aus dem
Volke. Dann kehrt er nach Moskau zurück und lebt hier in
aller Stille, sowohl seine zweite Frau aus Eifersucht, als seine
Konversion aus Furcht vor Strafe geheimhaltend. Aber das
Geheimnis wird enthüllt und die Kaiserin erfährt davon; sie
befiehlt, den Fürsten und seine Frau vorzuführen. Beim An-
blick des zitternden Paares bricht sie in ein schallendes Ge-
lächter aus und jubelt: diesem Manne gebühre der Vorrang
vor allen Narren der Welt. Dem Grafen Ssaltykow, dem sie
die Bekanntschaft mit Galitzyn verdankt, schreibt sie: „Der
hat mit seiner Dummheit alle geschlagen; wenn Sie noch
seinesgleichen finden, will ich sofort davon verständigt sein.**
Die Zarin erklärt Galitzyns zweite Ehe und seine Konversion
für ungültig; seine Italienerin wird einfach dem Elend ausge-
liefert, so daß sie eines Tages, weil sie nicht drei Rubel für
ihr Logis bezahlen kann, auf die Straße hinausfliegt und unter-
geht; der Fürst selbst aber wird zum Hofnarren und Knjäs-
Kwaßnik, zum Obermundschenk für den Kwaß, ernannt. Die
Kaiserin ist mit ihrer Erwerbung außerordentlich zufrieden,
und zum Zeichen dessen befiehlt sie dem Fürsten, fortan kein
Mensch, sondern eine Henne zu sein! Von diesem Augen-
blicke an muß Fürst Galitzyn im Gemache der Zarin stets
in einem mit Eiern gefüllten Korbe wie eine Henne sitzen
und gackern; bei Todesstrafe ist es ihm verboten, menschliche
Laute auszustoßen. 1) Wenn die Kaiserin zur Kirche fährt,
muß Galitzyn sich rückwärts auf den Wagen hocken und auf
dem ganzen Wege zum Gaudium der Zarin und des Volkes wie
eine Henne gackern.
Seltsam ist auch die Karriere des Hofnarren Balakirew.
Er war zur Zeit Peters des Großen Schreiber in einem Kloster,
^) Memoiren der Fürstin Daschkow I 125.
— 376 —
später Studiosus der Ingenieurwissenschaft und schließlich im
Hofstaate der Kaiserin Katharina angestellt gewesen. In seiner
letzten Eigenschaft verwickelte er sich in die Affäre der Kaiserin
mit ihrem Liebhaber Mons, und als diesen des Kaisers Rache
traf, wurde auch Balakirew der Inquisition ausgeliefert, ge-
peitscht und zu lebenslänglichem Bagno verurteilt. Katharina I.
aber vergaß ihn dort nicht; kaum war sie zur Selbstherrschaft
gelangt, als sie Balakirew die Freiheit gab. Anna übernahm
ihn in ihren Hofstaat und machte ihn zum Hofnarren.
Ein anderer Hofnarr, Pedrillo, ein Neapolitaner, der eigent-
lich Pietro Mira hieß, war als Sänger-Bouffon und erster Violi-
nist an die italienische Oper in Petersburg engagiert worden.
Eines Tages zerschlug er sich mit dem Orchesterchef, und es
blieb ihm nichts anderes übrig, als unter die Hofnarren zu
gehen. Er mußte gewöhnlich beim Kartenspiel für die Kaiserin
Bank halten, und das Sprichwort wurde wahr: der Narr hatte
Glück und gewann ein Vermögen. Seine Frau war von außer-
ordentlicher Häßlichkeit ; als Anna ihn fragte : „Hast du wirklich
eine Ziege geheiratet?** entgegnete er: „Tatsächlich; und sie
wird nächstens gebären. Ich hoffe, daß Ew. Majestät sie be-
suchen und nicht die üblichen Geschenke vergessen werden.**
Die Zarin ging auch richtig mit dem ganzen Hofstaat hin, und
man fand Pedrillo im Bette, an seiner Seite eine große, mit
Bändern und Spitzen geschmückte Ziege als Wöchnerin. Die-
ser Narr verstand das Geschäft. Die Kaiserin schickte ihn
mehrmals ins Ausland, um Sänger und Sängerinnen zu enga-
gieren, Schmuck und Möbel einzukaufen, und er wußte dabei
seinen Vorteil wahrzunehmen. Die Schwatzfreiheit, die ihm
als einem Narren am Zarenhofe gestattet war, glaubte er aus
dem sicheren Hinterhalte an der Newa heraus auch gegenüber
fremden Fürstlichkeiten mißbrauchen zu dürfen. Als 1735 ^i^
Spanier Toscana besetzten, schrieb Pedrillo an Gaston de Medi-
cis einen Brief, worin er ihm im Namen der Zarin 15000 Ko-
saken Hilfstruppen versprach „für eine konvenable Quantität
Danziger Schnaps von jener Sorte, an der Ew. Hoheit sich
in Böhmen zu betrinken pflegten.** i)
1) Waliszewski, L'h^ritage de Pierre le Grand, 267.
— 377 —
Neben den offiziellen Narren gibt es freiwillige, die sich
durch ihre sogenannten Spaße in die zarische Gunst einschmei-
cheln wollen; zu ihnen zählt der alte Generalleutnant Ssalty-
kow, der durch seine unübertrefflichen Gliederverrenkungen
der Kaiserin stets ein unstillbares Lachen verursacht.
Die Spezialität des Hofes der Kaiserin Anna sind die När-
rinnen. Aus Kurland hat sich die Kaiserin als ihre Haupt-
favoritin die Frau Anna Iwanowna Juschkow mitgebracht, deren
wichtiges Geschäft es ist, der Zarin die Fußnägel zu schneiden.
Anna ißt leidenschaftlich Schweinebraten mit Essig und Zwie-
bel; eine Kalmückin von abscheulicher Häßlichkeit versteht
diese Leibspeise der Herrscherin am besten zuzubereiten, und
da die Köchin beim Präsentieren des Bratens die entsetzlichsten
Grimassen schneidet, erhöht sie der Herrin den Genuß und
erwirbt sich den Rang einer Hofnärrin. Diese Närrin, Anna
Iwanowna geheißen wie die Zarin selbst, wird nun auf Befehl
der Kaiserin mit dem Narren Galitzyn vermählt, und ihre
Heirat gibt im Winter 1740 Veranlassung zu dem berühmtesten
russischen Narrenstück, tu der Errichtung des Palastes aus
Eis 1), der nach allen Regeln der Architektur aus mächtigen Eis-
quadem hergestellt wurde und wie aus einem einzigen Stücke
gemacht schien. Vor dem Gebäude standen sechs Kanonen
aus Eis auf Lafetten von Eis; es wurde aus diesen Kanonen
mehrmals mit eisernen Kugeln geschossen. Am Eingang des
Eispalastes befanden sich zwei Delphine aus Eis, aus deren
Rachen des Abends brennende Naphta floß. Im Hause selbst
gab es Treppen, zahlreiche Zimmer, Galerien aus Eis. Die
Fenster waren aus dünngeschabtem Eise gemacht. Bei Nacht
wurde das Haus illuminiert. Auf den Tischen aus Eis standen
Uhren, Spielkarten, Spielmarken, Geschirre — alles aus Eis.
In diesem Eispalaste feierte Galitzyn seine Hochzeit mit der
Kalmückin, und in der Hochzeitsnacht mußte er mit seiner
jungen Gemahlin in einem Bette aus Eis schlafen.
1) Wahrhaffte und Umständliche Beschreibung und Abbildung des im
Monath Januarius 1740. in St. Petersburg aufgerichteten merckwürdigen
Hauses von Biß, mit dem in demselben befindlich gewesenen Haußgeräthe;
den Liebhabern der Natur-Geschichte mitgetheilt von Georg Wolffgang Krafft.
1741. 4*.
— 378 —
Eine bemerkenswerte Truppe am Hofe der russischen
Zarinnen des achtzehnten Jahrhunderts bilden die zahlreichen
offiziellen Fußsohlenkitzlerinnen. Die russischen Frauen hatten
seit jeher in ihrem Terem Sklavinnen, deren einzige Pflicht es
war, der Herrin die Fußsohlen zu kitzeln, um ihr Wollust zu
bereiten. Anna Iwanowna erhob dieses Amt zuerst zu einer
offiziellen Hofwürde. Die Regentin Anna Leopoldowna, die
Braunschweigerin, die nach dem Tode der Zarin Anna Iwa-
nowna für das Wickelkind Iwan die Herrschaft führte, hatte
in ihrem Alkoven nicht weniger als sechs offizielle Fußsohlen-
kitzlerinnen, die der Fürstin um die Wette Vergnügen zu be-
reiten trachteten. Während diese Frauen die Sohlen kitzelten,
erzählten sie auch schlüpfrige Geschichten und sangen obszöne
Lieder. Bei der Zarin Elisabeth bilden die Kitzlerinnen ein
großes Korps, das unter Aufsicht eines besonderen Beamten,
des ehemaligen Ofenheizers und späteren Generalleutnants Was-
silij Iwanowitsch Tschulkow steht; Tschulkow hat am Hofe
Elisabeths die Stellung eines Kanmierherrn ; seine spezielle
Pflicht ist es, allabendlich seine Matratze vor dem Bette Elisa-
beths auszubreiten und zu ihren Füßen zu schlafen, ganz gleich,
ob die Zarin in ihrem Bette allein liegt oder Gesellschaft hat.
Die Kitzlerinnen besitzen nicht geringeren Einfluß als die Günst-
linge; ja oft muß ein Liebhaber, um sich dauernd in der Gunst
der kaiserlichen Maitresse zu erhalten, die Hilfe einer Kitzlerin
in Anspruch nehmen. Der Günstling Schuwalow bringt seine
eigene Schwester Elisabeth Iwanowna auf einen dieser wich-
tigen Posten, damit er in ihren Schwätzereien jederzeit eine
Stütze finde. Elisabeth Iwanowna weiß ihre Stellung so vor-
trefflich auszunützen, daß ein Zeitgenosse sie den eigentlichen
Minister des Äußeren nennt. Später erhält sie eine scharfe
Konkurrentin in der Person der Frau Woronzow, der leibhaf-
tigen Gemahlin des durchlauchtigsten Großkanzlers. Diese
kitzelt der wollüstigen Zarin die Sohlen und erfreut sie noch in
manch anderer Weise, um dann von der in Verzückung schwel-
genden Frau nicht bloß Gnaden für den Gatten zu erbitten,
sondern auch Vorteile für den englischen Gesandten zu er-
haschen, der durch seine Freigebigkeit den mit ihm kon-
kurrierenden französischen Gesandten Marquis de THöpital leicht
— 379 —
besiegt. Auch die übrigen Kitzlerinnen entstammen größten-
teils der vornehmsten Gesellschaft: so Mawra Jegorowna
Schepelejew und Maria Bogdanowna Golowin, die Witwe des
Admirals Peters des Großen. Die Golowin führt auch den
besonderen Titel: XjioirB-6a6a, Klapsweib, weil sie hauptsäch-
lich die durch Ausschweifungen erschöpfte Zarin durch Klap-
sen auf den kaiserlichen Hintern zu erfrischen hat.^)
Der letzte russische Hofnarr, der diesen Titel offiziell
führte, war Aksakow; er nahm ein böses Ende. Er erlaubte
sich einmal mit der Kaiserin Elisabeth einen Scherz zu machen,
indem er aus seinem Hute ein Stachelschweinchen herausfallen
ließ. Die Kaiserin hielt das Tier für eine Maus und flüchtete
schreiend; Aksakow wurde der Geheimen Kanzlei überliefert
und zur Strafe der Tortur verurteilt, „weil er Ihre Majestät er-
schreckte." 2) Katharma II. schaffte die Institution der Hof-
narren ab; aber sie hatte doch, wenn auch mehr keine offi-
ziellen Titulare dieser Würde, einen Lustigmacher in der
Person des Leo Naryschkin, der ihr in seinen Taschen stets
allerlei Kleinigkeiten, Süßigkeiten, Spielereien nütbringen
mußte; und eine alte Plaudertasche, Matrona Danilowna, die
das Recht hatte, den Höflingen die größten Frechheiten ins
Gesicht zu sagen. Nicht-offizielle Hofnarren und Hofnärrinnen
finden wir am Zarenhofe noch bis in die jüngste Zeit.^) Aber
sie spielen nicht mehr die wichtige Rolle, wie namentlich im
1) Des Vergleiches halber lese man folgende Stelle aus Flögeis Geschichte
der Hofnarren, Liegnitz und Leipzig 1789, S. 120 (Von den Lustigmachem
bei den Griechen und Römern) : ,,£s haben nicht allein Männer ihre Schmarotzer,
sondern auch Frauen ihre Parasitinnen gehabt, als die Königinnen in Syrien
und Cypem, welche Leitern genannt worden, weil sie ihren Frauen den Rücken
darbothen, daß sie sich deßelben als einer Leiter oder Stiege bedienten, wenn
sie auf den Wagen steigen wollten. In Macedonien wurden sie zu schandlichen
Verrichtungen gebraucht (Totßadeg), Andere Frauenzimmer bedienten sich,
in Ermangelung menschlicher Spaßmacher, gewisser Thiere, womit sie sich die
Zeit vertrieben."
«) Catherine II, M6moires, Londres 1859. 115.
*) Der Großfürst Konstantin Pawlowitsch, der Diktator Polens, hatte
einen Affen als Spaßmacher. Einmal ergriff der Affe eine Flinte und schoß
auf den Großfürsten, der nur durch eine schnelle Bewegung der Kugel entging.
Vgl. Harring, Memoiren über Polen, Deutschland 183 1. S. 61.
— 380 —
Laufe des achtzehnten Jahrhunderts. Die Französierung Ruß-
lands machte unter Elisabeth schon, dann aber unter Katha-
rina II. solche Fortschritte, daß die Gesellschaft sich der alten
moskowitischen Narrensitten und Maskeraden zu schämen und
europäisch zugeschnittene Unterhaltungen und Tänze, elegante
Bälle imd vornehme, wenn auch langweilige Komödien zu be-
suchen begann.
22. Tanz und Bälle.
Tanzen Ketzerei — Ein geplanter Ball als Zarenstürzer — Peters Reformwerk —
Polizisten müssen Tänzerinnen bringen — Peter der Große als Tanzmeister —
2^emonialtänze — Am Hofe der Zarin Anna — Rasumowskijs Tanzstunden —
Toilettenluxus der Kaiserin Elisabeth — Aus den Erinnerungen der Kaiserin
Katharina — Maskenbälle — Am Hofe Katharinas — Stolz der Adeligen —
Geschichte des russischen Klubwesens — Paul verbietet Tanzen und Klubs —
Neues Leben unter Alexander I. — Ball und Politik — Der Herzog zu Vicenzia
und Frau Wladek — Kaiser Alexander und Narjrschkin — Sittenlosigkeit
auf den Bällen der Vornehmen — Nikolajs I. Sittenstrenge — Etikette —
Der Bart des Orchesterdirektors — Tanzwut der Kaiserin Alexandra — Katha-
rina Dolgoruckij auf den Hofbällen — Volkstänze — Volksspiele — Der Tauben-
tanz — Sexueller Charakter der Nationaltänze — Schumki oder Tanzbrauser
der Kosaken — Obszöne und erotische Tanzlieder aus der Ukraine — Der
Text der Kamarinskaja — Der Kranichtanz — Der Chaliandratanz — Pol-
nischer Nationaltanz — Tänze der Wotjäken und Kalmücken — Tartarische
und tscherkessische Tänze.
Der Tanz im alten Rußland konnte infolge der strengen
Trennung der Geschlechter nur eine Unterhaltung der niede-
ren Volksklassen sein. Der Kirche und den Orthodoxen war
Wissenschaft Ketzerei, Kunst ein Verbrechen, Musik und Tanz
eine Entheiligung des Glaubens. Die Polin Marina, die Ge-
mahlin des Pseudo-Dmitrij, beschleunigte selbst den Sturz und
die Ermordung des falschen Zarei) dadurch, daß sie im ehr-
würdigen Kremlpalaste einen polnischen Ball veranstalten
wollte. 1) Erst Peter der Große sah auch in der Einführung der
Bälle nach europäischer Art ein kulturelles Reformwerk. Er
zerriß mit rauher Hand die Traditionen und zwang die Ehe-
1) Karamsin. deutsche Ausgabe X 238.
- 381 -
männer, ihre Frauen aus dem Terem zu befreien, in die
Gesellschaft zu schicken und in den Armen fremder Männer
herumdrehen zu lassen. Die Frauen folgten zumeist willig
und freudig dem zarischen Befehle. Aber es gab auch manche,
die aus Furcht vor dem eifersüchtigen Gatten, aus Angst vor
der Strafe des Himmels oder aus bloßer Trägheit mit den
alten Gewohnheiten der Abgeschlossenheit hinter vier Mauern
und der Scheu vor fremden Männern nicht brechen wollte.
Diese Ängstlichen und Zögernden wurden von der Polizei ab-
geholt und gewaltsam in den Tanzsaal geschleppt.
Lefort, der Lehrer und maltre de plaisir des jungen Zaren,
hatte in seinem Palaste in der Sloboda zu Moskau einen Ball-
saal einrichten lassen, der 1500 Personen fassen konnte. Die
ersten Bälle müssen gar kurios gewesen sein. Die Bojaren und
ihre Frauen hatten sich von ihren Leibeigenen und Sklavinnen
zwar oft etwas vortanzen lassen, aber selbst nicht getanzt, i) Zur
Not könnten sie nun wohl einen Nationaltanz nach dem Muster
ihres Gesindes nachhopsen, aber Peter verlangt von ihnen
gleich europäische Zeremonialtänze nach allen Regeln der
Kunst. Da bleibt schließlich dem Zaren nichts anderes übrig, als
selbst den Tanzmeister zu machen und seine Russen tanzen zu
lehren. Noch lange nach der Gründung von Petersburg sieht man
Peter den Großen als Tanzmeister Bälle eröffnen, der Gesellschaft
vortanzen, und alles macht im Takte die Bewegungen und Ver-
renkungen des hohen Herrn nach. Während man aber beim
Tanzen selbst die Regeln streng beobachten muß, darf mau
die Etikettefragen ganz außer acht lassen. Der Kaiser ergreift
die erstbeste Frau, die ihm gefällt, und dreht sich mit ihr, bis
er genug hat; so steht es auch jedem der Gäste frei, die
Kaiserin ohne weiteres zu einem Tänzchen aufzufordern. 2) Nur
für die Hochzeitsfeste der Vornehmen hat der Zar genau fest-
gestellt, in welcher Reihenfolge und was für Tänze man tanzen
müsse: Sobald die Tafel aufgehoben ist, so befahl die kaiser-
1) Reise nach Norden /anno 1706. S. 155: ..Die Russen können nicht
tantzen / und halten dafür / der Tantz komme ihrer Gravität nicht zu / doch
geschiehet es zu weilen / daß sie mitten in einer Debauche ihre Tartarische
und Polnische Sclaven tantzen lassen".
>) Bergholz bei Büsching XIX 135. 154 und 170.
- 382 -
liehe Instruktion, tanzt zuerst der Hochzeitsmarschall mit der
Braut, während die zwei ältesten Schaffer die Brautmutter und
Brautschwester engagieren. Diese drei Paare tanzen polnisch,
nachdem sie vorher einige Touren mit langsamen Schritten
gemacht und im Vorbeitändeln der Gesellschaft ihre Reverenz
erwiesen haben. Dann tanzt der Marschall, der seinen Mar-
schallstab in der Linken hält, noch einmal mit der Braut,
während die Brautmutter und Brautschwester von zwei anderen
Schaffern engagiert werden. Hierauf tanzt der Bräutigam mit
der Braut, der Bräutigamsvater mit der Brautmutter, der Braut-
bruder mit der Bräutigamsschwester. Dann tanzen wieder
Bräutigam und Braut, ferner die Bräutigamsmutter mit dem
Brautvater, und die Brautschwester mit dem Bräutigamsbruder.
Schließlich tanzt der Vorschneider mit jeder Brautjungfer. Bei
allen diesen Tänzen muß der Marschall mit dem Marschall-
stabe allein voraushüpfen. Nachdem die Zeremonialtänze be-
endet sind, herrscht Tanzfreiheit.
Trotz des Eifers, den Peter persönlich auf diesem Zivili-
sationsgebiete entfaltet hat, können sich die Russen nur schwer
an die Bälle nach europäischer Art gewöhnen. Am Hofe der
Kaiserin Anna Iwanowna herrscht bei Bällen die größte Ver-
wirrung. Die Zarin hat zwar den französischen Ballettmeister
Landet eigens dafür engagiert, daß er die Hof balle arrangiere i),
aber der gute Mann kann nicht verhindern, daß mitten im
zierlichsten Menuett ein Unteroffizier der Garde mit seiner
Gattin, einem Kosakenweibchen aus der Ukraine, einen feurigen
Schurawlj, einen schmachtenden Golubez oder einen phalli-
schen Zigeunertanz aufführt. Selbst die Kaiserin Elisabeth
Petrowna, der es gelungen ist, ihren Tartarenhof mit einer
brutal dicken französischen Schminke zu übermalen, muß
ihren heimlichen Gemahl, den ehemaligen Kirchensänger Ra-
sumowskij, in den Schäferstunden im Tanzen unterrichten und
ihm schließlich, da ihre Mühe umsonst ist, einen Franzosen,
der für den Zarenhof Ballette komponiert, als ständigen Lehrer
der Tanzkunst beigesellen. 2) Im übrigen geht es bei Elisabeths
*) IlBiiu'L 3aöiximrh, iicropimecKie 3TK)äw, II 447.
*) Waliszewski, La demidre des Romanov, 51, 65; 40 — 42.
— 383 —
Hoffesten schon prunkvoll genug zu. Die Zarin treibt einen
unerhörten Toilettenluxus. Als Großfürstin war sie knapp ge-
halten gewesen, nun höh sie alles fieberhaft hastig nach. Sie
braucht viel, denn sie ist sehr dick, schwitzt furchtbar und
muß während eines Balles wenigstens dreimal die Wäsche und
die Kleider wechseln. Femer zieht sie dasselbe Kleid nicht
gern viele Male an. So häufen sich in ihren Garderobeschrän-
ken ganze Magazine auf. Im Jahre 1753 verbrennen beim
Ausbruch eines Feuers in ihrem Moskauer Palais viertausend
Roben. In ihrem Petersburger Palais findet man nach ihrem
Tode 15000 Kleider, zwei Koffer voUgepropft mit Seiden-
strümpfen, tausende Taschentücher und hundert Stück noch
nicht angeschnittener Stoffe. Eigens dazu angestellte Hof-
beamte müssen auf die im Hafen ankommenden Schiffe auf-
passen und im Namen Elisabeths Hand auf die Nouveaut^s
legen, ehe andere Frauen sie zu Gesicht bekommen. Der rus-
sische Gesandte, der 1760 in Paris weilt, um die Beziehungen
beider Länder, die unterbrochen waren, wieder anzuknüpfen,
verwendet seine meiste Zeit dazu, um Seidenstoffe mit den
neuesten Mustern aufzutreiben. Der englische Gesandte in
Petersburg, Lord Hyndford, beschäftigt sich tagelang nüt Mode-
blättern, um für die Zarin Stoffe aus England bestellen zu
können. Eine Merkwürdigkeit in der Garderobe Elisabeths
sind die zahllosen Männerkleider. Zweimal wöchentlich gibt die
Kaiserin in der Ballsaison Maskeraden ; sie hat von ihrem Vater
den Geschmack an Verkleidungen ererbt und liebt es, bei Hofe
in Männertracht zu erscheinen, einmal als französischer Mus-
ketier, ein andermal als holländischer Matrose, ein drittesmal
als Kosakenataman. Sie hat schöne Beine, und in Hosen
kann sie ihre Pracht zur Geltung bringen. Sie ist der Meinung,
daß die Männertracht nur sie allein gut kleide, ihre Rivalinnen
aber nicht begünstige. Sie befiehlt deshalb, daß bei den Maske-
raden die Frauen alle in französischer Herrentracht, die Män-
ner in Frauenkleidem erscheinen. ^) Auch sieht sie sehr streng
darauf, daß die Modelle jener Kleider und Koiffüren, die sie
adoptiert hat, vollständig für sie reserviert bleiben, solange sie
^) M6moires de Catherine II, 148.
— 384 —
ihr gefallen; erst dann darf man sie nachmachen, wenn die
Kaiserin sie aufgegeben hat. Wehe der Unglückseligen, die
es wagt, mit Elisabeth zu konkurrieren, ihr den . Preis der
ersten Schönheit im Reiche oder den Rang der geschmack-
vollsten Frau am Hofe streitig zu machen; die arme Frau
Lopuchin zieht sich aus solchem Anlaß den Zorn der Zarin zu
und wird dem Henker überliefert, der nüt der Knute ihre
Schönheit in Fetzen reißt.
Eine glänzende Ballsaison ist der Winter 1745/46. Ruß-
land führt Krieg, aber am Hofe Elisabeths amüsiert man sich.
Die Vornehmen sind gehalten abwechselnd bald in diesem,
bald in jenem Palaste Maskenbälle zu veranstalten. Es vergeht
kein Abend ohne Fest. Tagsüber gibt es ein wUdes Treiben
von Schneiderinnen, Modistinnen und Friseurinnen, und der
Tanzmeister fliegt von Palast zu Palast, um die Schönen die
neuesten Pas zu lehren. Abends via sechs beginnt die Reunion
mit einem Tanz für die Jugend und einem Kartenspielchen für
die Älteren. Um zehn Uhr geht man zum Büfett. An einem Tische
speisen nur die Kaiserin, ihr Neffe Peter, dessen Gemahlin
Katharina und einige Privilegierte; die übrigen Gäste nehmen
das Souper stehend ein. Nach dem Essen wird wieder ge-
tanzt bis zum frühen Morgen. Eine höfische Etikette wird
bei diesen Bällen nicht beobachtet. Die Hausherren und
Hausfrauen brauchen niemandem beim Eintritt entgegenzu-
gehen, niemanden beim Fortgehen hinauszubegleiten, selbst die
Kaiserin macht keine Ausnahme. Ja, es ist geradezu untersagt,
sich von den Plätzen zu erheben, wenn die Kaiserin plötzlich
in einen Ballsaal konunt, was häufig geschieht ; Elisabeth pflegt
sich bald bei einem Aristokraten, bald bei einem fremden Ge-
sandten selbst zum Ball oder Souper einzuladen.
Auch um die Weihnachtszeit 1750 geht es lustig her;
Katharina II. erzählt in ihren Memoiren i), daß bei Hofe Bälle
und Maskeraden miteinander abwechselten und des Tanzens
kein Ende war: „Um jene Zeit tanzte ich gem. Auf großen
Bällen mußte ich mich dreimal umkleiden. Mein Anzug war
immer sehr gewählt. Wenn auf einem Maskenball mein Kostüm
1) Seite 155.
Bestrafung der Frau Lopuchin.
Elisabeth Alexiewna, Gemahlin Alexanders I.
— 386 —
allgemein gefallen hatte^ so zog ich es natürlich nie mehr an;
denn was einmal Effekt hervorgebracht, darf zürn zweiten
Male nicht mehr auf Wirkung rechnen. Auf Maskenbällen, wo
die Damen in Herrenkleidem und die Herren in Frauenkleidem
erschienen, trug ich prachtvolle, auf allen Nähten gestickte
Kostüme, und die Kaiserin machte mir keine Vorwürfe darüber.
Ich muß bekennen, daß die Koketterie damals bei Hofe ganz
gebräuchlich war, imd jede die andere durch Eleganz zu über-
treffen suchte. Ich erinnere mich, daß zu einem Maskenballe
sich alle Leute neue schöne Kleider machen ließen, imd ich
verzweifelte daran, sie übertreffen zu können/*
Als Kaiserin ist Katharina durchaus nicht mehr so tanz-
lustig. Und namentlich, seit sie älter geworden ist, zieht sie
den Kartentisch dem Ballsaal vor und veranstaltet in ihrem
Palaste lieber Gesellschaftsspiele als Tanzunterhaltungen. In
der Intimität ihrer Ermitage macht man lustige Verse, spielt
man Theater und treibt allerlei Ulk. Wer beim Pfänderspiel
verliert, muß zur Strafe ein Glas Wasser a\if einen Zug hin-
untertrinken oder gar horribile dictu eine Passage aus Tred-
jakowskijs Telemach deklamieren ohne zu gähnen. Es gibt
selbstverständlich auch große Bälle, Galafeste, denn man ist
ja ein eturopäischer Hof geworden; aber da herrscht die kühle
Zeremonie; die Zeit der Tanzwut bei Hofe ist vorbei. Wie
der Hof ist auch die Gesellschaft fein liniiert und genau ge-
messen geworden. Die Adeligen in Moskau haben an jedem
Donnerstag einen Ball des Adels, bei dem ein Bürgerlicher
nicht erscheinen darf; sein Eindringen wäre eine förmliche
Revolution, müßte einen Kampf auf Leben und Tod hervor-
rufen. Diese Adeligen verachten das Bürgert irni, das Volk,
nüthin auch alles Nationale, tanzen nur Quadrille, Polonaise,
Anglaise imd Menuett.
So bleibt das Bürgertum darauf angewiesen, sich selbst zu
sammeln. 1770 entsteht in Petersburg der erste Klub, der
englische genannt, weil er zumeist von englischen und aus-
ländischen Kaufleuten der Hauptstadt begründet wurde. ^) 1772
^) Kaostantmqpel und St. Petersburg, eine Zeilachxift. Jahrgang 1805,
4. Heft, S. 528.
Stern, Geschichte der OffentL Sittlichkeit in Roftland. 2$
— 386 —
folgt die Eröffnung des ersten musikalischen Klubs, 1776 die
Begrüudm^ des Bürgerklubs; 1783 konstituiert sich der Khib
der vereinigten Gesellschaft, gewöhnlich der amerikanische ge-
nannt; endlich kommen dazu 1785 der ältere Tanzkhib und
1790 die neue bürgerliche Tanzgesellschaft. Außerdem gibt es
eine Menge englische und deutsche Ballgesellschaften. 1781
wird auch ein gelehrter Klub eröffnet, aber den paar Gründern
geseilt sich kein einziges Mitglied, und die Pforten dieses Klubs
bleiben ewig geschlossen. Der verrückte Paul haßt alles, was
• anderen gefällt. Vor allem wird der Walzertanz als staats-
gefährlich verboten, dann fällt man über die Klubs her, schon
das Wo^ Klub hat in den Ohren des wahnsinnigen Monarchen
einen aufrührerischen Klang; kein Klub darf fortan bestehen,
es gibt nur noch simple musikalische Gesellschaften mit be-
hördlich konzessionierten Programmen und vorsichtig zensu-
rierten Musikstücken. Erst Zar Alexander Pawlowitsch ge-
stattet neuerdings die Eröffnimg von Klubs, läßt sich sogar in
diesem und jenem als Mitglied einschreiben imd erscheint bei
den Bällen der Bürger mit der Kaiserin imd den Großfürsten
zu Gaste.
In der Gesellschaft imd bei Hofe gibt es wieder Festlich-
keiten, aber es ist nicht mehr die ungetrübte und zügellose
Fröhlichkeit von einst, die Politik singt oft ihr garstig Lied
zur Begleitung: 181 1 veranstaltet der französische Botschafter
Herzog zu Vicenzia einen Maskenball. Den Gästen ist vorge-
schrieben im Kostüm venezianischer Edelleute zu erscheinen.
Das diplomatische Korps und die Ausländer befolgen die An-
ordnung; die russischen Gäste aber kommen alle unmaskiert
auf den Maskenball und in möglichst einfachen Kleidern, oder
gar in russischen Nationaltrachten; das ist eine Demonstration
gegen Napoleon, ein Ärgern ganz eigener Art. Auch die Gegen-
partei demonstriert. Die Vertreter jener Staaten, die Napoleon
unterworfen hat oder die mit ihm verbündet sind, erscheinen
in Prachtkostümen. Der Herzog wütet gegen die Russen, muß
ab^r schweigen, kann doch die Einheimischen nicht einfach
hinaüsweisen. Frau Wladek, die Gattin eines Kammerherrn
des Zaren, ist die einzige Russin, die in einem glänzenden
venezianischen Kostüm auftritt. Der Botschafter bemächtigt
— 387 —
sich sofort dieser einzigen Venezianerin iinter den Russen und
Russinnen^ unterhäk sich den ganzen Abend nur mit ihr und
vernachlässigt die übrigen russischen Damen demonstrativ.
Aber dahinter stecken nicht bloß politische Gründe; Frau
Wladek ist die Maitresse des Botschafters, und nicht aus Ver-
achtung der nationalen Motive, sondern aus Liebe hat sie das
venezianische Kostüm angezogen. Darum verurteilt auch nie-
mand die unpatriotische Handlimgsweise der Dame. Der Liebe
wird alles verziehen. Daß diese Liebe ein Ehebruch ist, das
tut nichts. Diese ganze Gesellschaft denkt exzessiv liberal in
solcher Hinsicht; der Kaiser selbst gibt das Beispiel, lebt öffent-
lich mit der Frau seines intimsten Jugendfreundes^ der schönen
Maria Antonowna Naryschkin, und ernennt in einem humor-
vollen Augenblick den betrogenen Gatten zum Oberstjäger-
meister mit den Worten: „Dem ich Hörner aufgesetzt habe,
der soll auch in Harmonie mit den Hirschen leben/' Die Bälle
sind die beliebtesten Rendezvousplätze, wo sich alle Liebhaber
mit ihren Geliebten treffen; und jener, der noch keine Mai-
tresse hat, kann sicher sein, auf den Bällen der Vornehmen
sofort eine zu finden. „Ich erinnere mich,** schreibt der General
Löwenstem in seinen Memoiren^), „daß ich beim Verlassen
eines Balles eine Frau von vornehmstem Range mit mir führte,
die bei mir über Nacht blieb.** Kaiser Nikolaj I. räumt mit
solchen Sitten auf. Sich selbst erlaubt er zwar alles, dem ge-
wöhnlichen Sterblichen gegenüber aber läßt er unerbittliche
Strenge walten. Junge Mädchen dürfen nur bei ausgesproche-
nen Familienstücken im Theater erscheinen. Ehebruch wird
unnachsichtlich bestraft, der Ehebrecher verliert seine Stellung.
Liebesabenteuer bei Hofe sind Kapitalverbrechen. Im Anitsch-
kowpalais, in Gatschina, im Winterpalais sind die Bälle kalte
Spiegelbilder des absoluten Willens des Alleinherrschers. Jede
Rang^lasse hat ihre genau vorgeschriebenen Kostüme zu tra-
gen, niemand darf sich auch nur durch ein Bändchen oder
ein Knöpfchen eleganter machen, als seiner vom Zaren f^t-
gesetzten Stellung entspricht. Man muß den Anstand wahren
bis ziu: Selbstverleugnung; und für den, der die Etikette ver-
1) a. a. O. I i68 — 170.
25*
— 388 —
letzt, ist Sibirien eine gelinde Strafe. Zur Zeit der Manöver in
Wosnetschensk gibt der Handelsstand der Stadt Odessa der
kaiserlichen t^^aniilie zu Ehren einen Ball. Aber die das Fest
arrangieren imd bezahlen, dürfen nicht dabei erscheinen. Der
Hof; die Minister imd Offiziere werden doch nicht mit den
Handelsleuten tanzen. Es ist also wirklich nichts vom Plebs
zu sehen. Da erblickt plötzlich die Kaiserin als Direktor des
Orchesters einen Mann mit langem Barte. Nur Leibeigene und
Bauern tragen solche lange Barte. Die Kaiserin ruft entsetzt
d^n Zeremonienmeister nmd befiehlt ihm, sie von dem Ärgernis
zu befreien. Der Zeremonienmeister ruft den Orchestermeister
ein wenig zur Seite, schneidet ihm einfach den Bart ab, und der
Zwischenfall ist beseitigt i), der Zeremonienmeister hat durch
seine Geistesgegenwart seine Stellung gerettet. Und just diese
Kaiserin Alexandra, die Tochter der König^ Luise von
Preußen, kennt nur ein einziges Vergnügen : das Tanzen. Sie
walzt, wie ein Zeitgenosse schreibt, mit Wut und Tollheit;
sie tanzt mit Leidenschaft imd endlos; es ist das einzige Ge-
schäft ihres Lebens. Sie gibt manchmal Morgenbälle, die bis
in den nächsten Tag währen und bei denen sie nicht vom Platze
weicht. Auf ihrem verwüsteten Gesicht kann man die Zahl der
durchtanzten Nächte ablesen ; aber die hohe Frau versteht der
Terpsichore die strenge Etikette anzuhängen und ihre Leiden-
schaft nur in den Armen der Vornehmsten des Reiches auszu-
leben.
Seit jener Zeit ist das Tanzen bei Hofe nicht wieder gemüt-
lich geworden. Selbst als Alexander II. seine Geliebte Katha-
rina Dolgoruckij sich schon hat morganatisch antrauen lassen,
also eine imebenbürtige Zaren-Gattin den Winterpalast be-
herrscht, kann das Zeremoniell bei den Hofbällen nicht durch-
brochen werden. 'Keine Hoffest lichkeit vergeht, ohne daß die
schöne Dolgoruckij einen Strom von Tränen ob der ihr zuge-
fügten Zurücksetzimg vergießen würde. Aber eines Tages end-
lich ist der Augenblick der Genugtuung gekommen. Auf einem
Hofball postiert sich ein junger Offizier mit einer Dame von
nicht tadellosem Rufe bei der Quadrille keck in die Reihe der
1) Bernhard Stern, Die Romanows, II 50.
— 389 —
Großfürsten und Großfürstinnen. Eine Prinzessin beklag^ sich
beim Kaiser. Alexander II. ruft den jungen Offizier und sag^
ihm: „Wähle deine Tänzerin nach Belieben, aber nicht mit
jeder darfst du in die Reihe der Großfürstinnen treten.** Der
junge Offizier verbeugt sich, engagiert die Fürstin Dolgoruckij
und begiebt sich abermals in die Reihe der Großfürstinnen.
Diese sind wütend, wagen aber jetzt nichts zu reden, und der
Kaiser lacht über den vortrefflichen Witz.
Bei Hofe und in der Gesellschaft werden nur fremde Tänze ge-
tanzt, die nationalen kennt bloß das Volk. Für Ball hat die rus-
sische Sprache das französische Wort übernehmen müssen : 6ajrB.
Für Tanz aber hat sie neben dem Fremdwort Tanei^ noch das
alte russische njiflCKa. Das Volk liebt den Tanz und gibt sich
ihm bei jeder Gelegenheit im Hause, in der Isba, auf dem Dorf-
platz, auf dem Jahrmarkt und bei den Volksfesten mit Leiden-
schaft hin. Man imterhält sich auch mit verschiedenen Spielen.
Am beliebtesten von diesen sind die folgenden: Das Ringen,
öopoTB, wo die halbentblößten Athleten einander zu Boden zu
werfen suchen. Der Faustkampf, Kyna^iHiifi 6oä, ähnlich dem
englischen Boxen; die Kämpfer tragen dabei dicke Hand-
schuhe. CsafiKa oder CBae^Ka ist ein eiserner Bolzen mit einem
Knopfe, den man geschickt in einen am Boden befestigten Ring;
hineinzuwerfen trachtet ; wer einen Fehlwiirf tut, muß so lange
beim Ziele stehen und das Instrument aufheben, bis einem an-
deren ein Fehlwurf passiert. Ma^'b oder mä^bbcb ist ein schwe-
rer Lederball, nüt dem die russische Jugend schon seit Jahrhun-
derten Football spielt. Eine echt russische Unterhaltimg ist das
Stockschlagen, ropoAKs: in einem Kreise, den man mit Kreide
zieht, stellt man vier Kegel nebeneinander imd einen fünften
obenauf ; dann zielt man aus einer bestinunten Entfemimg mit
einem langen Stock; wer alle fünf Kegel auf einen Hieb umwirft
und am weitesten hinwegschleudert, der hat gewonnen. Diese
Spiele haben die Nichtrussen von den Russen gelernt. Ein
wotjäkisches Lied sagt: „Auf euerem Hofe ist grüner Rasen,
so wollen wir spielen, Ringe werfen.** Ebenso verbreitet ist
bei den Wot jäken das Stockspiel. Doch spielen die wotjäkischen
Knaben auch ein bei den Russen nicht bekanntes Ballspiel,
welches die Badstube heißt: auf der Erde zeichnet man einen
— 390 —
Kreis, in diesen tritt einer der Spieler, und die anderen zielen
mit einem Ball nach ihm ; er muß so lange aushalten, schwitzen
' — daher der Name des Spiels -^ bis er einmal durch gewandtes
Springen einem Wurf entgeht, dann ist er befreit, imd jener,
dessen Ball ihn nicht getroffen hat, muß statt seiner schwitzen.^)
Das Hauptvergnügen der Frauen und Mädchen bei allen Völ-
kern Rußlands ist das Schaukeln. Aber ob man sich zu
diesem oder jenem Spiele begiebt, immer ist die Sehnsucht
nach dem anderen Geschlecht das Leitmotiv. So heißt es in
einem wotjäkischen Liede: „Wenn ein feiner Regen geht,
so (H-dnet die Taube ihre Federn ; wenn die Mädchen zum Spiele
gehen, so kämmen sie die Haare und salben sie mit öl." Wem
anders zuliebe tim sie es, als lun dem Manne zu gefallen?
Des Ringens und des Spielens oder des Schaukeins wird
man endlich überdrüssig ; dann beginnt das Singen imd Tanzen,
und davon hat man nie genug. Man tanzt nicht bloß im
Sommer, sondern auch im Winter auf offener Straße ganze
Nächte hindurch bis zur Erschöpfung. Der alte Nationaltanz
der Russen bestand darin, „die Muskeln zu pressen, die Arme
zu rühren, mit den Händen zu fächeln; man drehte sich immer
auf demselben Platz herum, hockte sich nieder, stampfte mit
den Füßen.** Mit Tänzen feierten die Slawen die geheiligten
Zeremonien zu Ehren ihrer Götter, die Wahl und die Hochzeit
des Fürsten, die Geburt eines Kindes. 2) Der russische National-
tanz weist die Züge des uralten slawischen Charakters auf.
Er hat seine Originalität bis heute behalten, imd dieses Ori-
ginelle ist das starke Hervorschlagen der sexuellen Leiden-
schaft in den sanften wie in den wilden Takten. Es gibt kein
Volk, das durch die Pantomimen beim Tanze so wie die Russen
die verschiedenen Gefühle der Sinnlichkeit ausdrücken könntet
Die Liebeserklänmg eröffnet den Tanz, die Gewährung oder
Versagung schließt ihn.^) Immer tanzen zwei Personen mit-
1) Max Buch, Die Wotjäken, Helsingfors 1882, S. 76.
2) Chronique de Nestor, II. Anhang S. 69. — Karamsin, deutsch I 57,
französisch I 86. '
•) Bellermann, Bemerkungen über Rußland, I 359. — Wichelhausen,
Gemähide von Moskwa, S. 301 : ,,Der russische Nationaltanz, bedeutender als
— '391 —
einander. Das Hauptpas besteht aus zwei Schritten und einem
Sprung; es ist ähnlich dem Masurischen oder Hanakischen,
aber ungleich mannigfaltiger imd veränderlicher. Die Stel-
lung der Füße ist überaus künstlich; steht der eine auf dem
Absatz, so ruht der andere auf den Zehen ; Kopf, Augen, Schul-
tern, Arme, Leib, alles ist mit beschäftig^. Zwei Personen treten
ganz nahe aneinander heran. Der Mann macht seiner Dame
eine stumme Liebeserklärung, sie verhält sich passiv, hebt und
senkt bloß die Schultern, wie eine Puppe, und neigt er sich
rechts zu ihr, so beugt sie sich links von ihm. Das wechselt
einige Male. Da wird er eindringlicher, und sie entflieht scheu,
aber zögernd. Er folg^ ihr, imd sie flieht wieder. Da wird er
traurig, nun kommt sie ihm tröstend entgegen, schließlich ver-
ständigen sie sich und drehen sich jubelnd im Kreise. Dieser
Tanz ist der berühmte Golubez, Tonyöeniy, der Taubentanz der
Großrussen.
Noch deutlicher als der großrussische Tanz sind die Tänze
der Kosaken, des Volkes in der Ukraine. Die Großrussen haben
keine eigenen Tanzlieder, der Golubez mit seinen gemäßigten
geistvollen Bewegungen kann auf jedes Lied hin getanzt wer-
den, am liebsten zum Lied vom roten Sarafan. Die Kosaken
aber haben zu ihren wildbewegten Tänzen ihre eigenen
Schiunki^), die Schäumer, Tanzbrauser, Brauselieder, voll hei-
ßer Glut und vernichtender, alles hinwegreißender Leiden-
schaft 2) :
Ente fliegt auf starkem Fittich,
Rauschet mit dem schweren.
Hast mir gute Nacht gewünschet,
Mögst sie auch gewähren.
Im Sturm des Tanzes zersplittert die eheliche Treue, lösen
sich alle Bande:
die meisten Tänze anderer Nationen, *^ drückt unverkennbar den Gang der
menschlichen Leidenschaft aus."
*) Von lüyM'feTh, brausen.
«> Wilhelm von Waldbrühl, Slawische Balalaika. Leipzig 1843, S. 329 — 339,
gibt 2$ solcher Tanzlieder in wortgetreuer Übersetzung, wovon zwei hier als
Proben.
— 392 —
Hai das rauscht und das braust,
Regen läßt sich spüren I
Sag, wer wird wohl mich, die Jimge,
Heut nach Hause führen?
Der Kosak zecht und zecht,
Seine Augen flimmern.
Ich führ dich, o Schwarzbebraute,
Lasse dichs nicht kümmern!
Führ mich nicht, trautes Herz,
Führ mich nicht, ich bitte I
Sonst wird mich mein Mann zerprügeln,
Ungeschlacht an Sitte.
Teufel auch! laß ihn nur!
Burschen, weicht hinüber!
Wenn dein Mann mich nur erschauet.
Rüttelt ihn das Fieber.
Wie im Wind Halme sich
Regen, mags ihn rütteln.
Aber ich will mich, ich Junge,
Noch im Tanze schütteln.
Ha! das rauscht, ha! das braust,
Geig und Baß sich rühren!
Alle Wissens: der Kosake
Wird nach Haus sie führen.
Das sind noch ganz solide Aussprachen, die man auch
in der besten Gesellschaft anhören kann. Aber häufiger als
an solchen lyrischen Produkten begeistern sich die Tanzwütigen
imd Liebestollen an Liedern, die von Unflätigkeiten strotzen.
Da ist beispielsweise gleich der primitive Originaltext der be-
rühmten Kamarinskaja ein Sammelsurium gereimter und un-
gereimter Gemeinheiten 1):
^) Kgvnrddia. Recaeil de docoments pour servir 4 l'ötude des tradi-
tions popolaires (tir6 4 175 exemplaires). Paris, Welter. VII. Chansons nisses.
Pag. 67.
Marie Antonowna Naryschkin,
Geliebte Alexanders I.
— 393 —
AX'I>I TM, CyKHH'B CKHT>, KaMapHHCIciä MyÄHKb!
ubHHHH 6e3i> inTaHOB'b no yjnmi 6'bmwirh:
a My^HMH OHTb no^epPHBaeTb.
„O du, Hiindesohn, Kamarinscher Bauer,
besoffen, ohne Hosen, läuft er durch die Gasse,
läuft, läuft, furzt immerfort,
und wackelt mit dem Hodensack.'*
Ein anderes Tanzliedchen sing^: „Oh, wie der Pope die
Stute besteigt I ^) Die Popin hält die Mähne, der Diakon hält
von der Seite, dirigiert in den After.**^) — Mit der Sodomie
bringen die obszönen Volkslieder fast unmer den Popen in
Verbindung.
Humorvoll ist die Moral, welche die Mutter der Tochter
in einem Liedchen 3) predigt: „Die Tochter stand am Thor und
bohrte sich die Faust in die Pisda. Die Mutter bemerkte sie
und begann sie auszuzanken: Ei du Hure, ei du Hure!*) ich
coitire durch und durch deine Mutter 1 5) Verkaufe deinen Zopf,
kaufe einen Penis, mit der Faust aber bohre nicht in der Pisda
hertmi. Der Zopf dient dir nicht ewig, aber der Penis ist ein
guter Kerl.**
Der Kosak befeuert sich selbst mit dem jubelnden Reim :
PyccidÄ WLTUKb H pyccKifi xyü —
ABa poAHBie 6paTa:
OHH H3'B ÖijSfil BHBOAHTb
pyccKaro coÄ^aTa.
„Das^) russische Bajonett und der russische Penis — zwei
^) Im Original das ordinäre russische Wort: 0! KaKb noirr» eOerb Ko6uay!
•) HaQpaBJifleT& (den Penis des Popen) npHMo bt, sKony.
') Beginnend: Y Bopon» ;i:i^Ka croana,
KyjiaKOBTL iiH3Ay coBa.ia.
^) Das Original braucht zwei verschiedene Ausdrücke: KypBa und 6juiAi>-
Kurwa ist das ordinäre Wort» Bljadj bedeutet auch Herumstreicherin, Strich*
monsch«
*) Dieses Schimpfwort (pacnpoe(h» tboiü uaTb) ist so allgemein gebräuch-
lich. daB die Sprechende sich ungeniert selbst befleckt.
*) Im Russischen ist das Bajonett männlichen Geschlechts.
- 394 ~
leibliche Brüder: aus der Not führen sie den russischen Sol-
daten.** - .
Und der Soldatenpenis hat den Ruhm besonderer Größe :
He noMo»ceTB KpHirb tboS öji^aciöS,
Kor^a BCTaneTB xyä cojiÄaTCKÜt
6ojiBinoä.'
„Nicht hilft dein Hurenschreien dir, erhebt sich das Sol-
datenghed das große."
An solchen Texten nimmt niemand Anstoß ; ja bei beson-
deren Gelegenheiteq bemühen sich die jungen Burschen, einan-
der dxwch Improvisationen derartiger Strophen zu übertreffen,
und wem es am besten gelingt, der ist ein MOJioAei^T>, ein wackerer
Junge. 1) Selbst Frauen und Mädchen schrecken nicht davor
zurück, einem klingenden Reim zuliebe einen gewagten Witz
zu machen.
Bei den Hochzeitsfesten in der Ukraine sind die Tanzlieder
durchwegs obszön, und die Tänze haben einen vollständig phal-
lischen Charakter, Nach dem Schmause beginnt die sogenannte
Pereswa. HepeaBa bedeutet soviel wie Hochzeitsgesellschaft, im
übertragenen Sinne ist es der Abschied vom Hochzeitsfeste,
das Ende der zeremoniellen Feierlichkeiten und der Anfang
der brausenden Unterhaltimg, der obszönen Reden und Ge-
sänge, der Tanzschäume. Diese Tänze sind nichts anderes als
öffentliche Onanie; mit eindeutigen erotischen Gesten bewegt
man sich so, als wollte man sich an den Geschlechtsteilen zu
tun machen. Man nennt diesen Tanz Kranichtanz: JKypaBJib.
Auf ihn folgt zumeist noch der Zigeunertanz Chaliandra-) :
Die Tanzenden halten sich mit einer Hand am Ohre und legen
^ 1) Wie bei den Südslawen ; vgl. die angeführten Arbeiten von Dr. Friedrich
S. Krausz. — Ferner bei Karl Rhamm, Der Verkehr der Geschlechter unter
den Slaven in seinen gegensätzUchen Erscheinungen. Globus, Band S2, Nr. 7,
Seite 105, Spalte links: ,,In Slavonien gibt es keine anderen Gesänge als Tanz-
Ueder zur Begleitung des Reigens (Kolo). Bei den größten Festlichkeiten und
nationalen Manifestationen wetteifern sozusagen die Kinder, denen die Milch
noch aus den Zähnen seiht, in diesen Zoten. Je mehr ein solches Geschöpf
mit Sauereien um sich wirft, um so braver (öestitij) ist es".
2) Vielleicht vom. Worte . xa.Ti» oder xart.m, das einen frechen Menschen
bedeutet; xiuxia, ein freches Weib.
- 396 —
die andere auf die Geschlechtsteile. Man springt wütend auf
und nieder und schlägt mit den Fußsohlen an die Arschbacken.
Im Distrikt von Berditschew tanzen die Frauen einen Rundtanz,
bei dem sie zwischen den Beinen einen Küchenlöffel halten oder
sonst ein langes Ding, worauf sie während des Tanzens einen
Trinkbecher stecken. Die Lieder, die man bei solchen Tänzen
singt, entsprechen den Gesten :
Oft, rpaftTe, MySHKu,
B Mene i^Hii^bKii bojibku !
B Mene i^halkh TpflcyTbca
3 Meiie xjioni^i CMiiOTLca.^)
„O, spielet, Musikanten, meine Zitzen 2) sind groß, meine
Zitzen schütteln sich, die Burschen lachen über mich.**
Dabei genießen die Kleinrussen unter allen Volksstämmen
des Zarenreiches in sittlicher Beziehung den besten Ruf. So
seltsam ist die Verschiedenheit der Auffassung von dem, was
ländlich sittlich ist.
Von den Tänzen der nichtrussischen Völker in Rußland
sind zunächst die polnischen Nationaltänze zu erwähnen, die
teilweise ebenfalls eine Versinnbildlichung der Wollust dar-
stellen. Die heidnischen oder bis vor kurzem noch heidnischen
Völker haben die russischen Tänze adoptiert. Bei den Wotjäken
in den Gouvernements Wjatka und Kasanj gibt es aber zwei
Originaltänze, die gewöhnlich öffentlich nur von den Frauen
getanzt werden. 3) Bei dem einen Tanz stellen sich drei Mädchen
oder Frauen nebeneinander auf und beginnen sich bei den
Klängen des zitherähnlichen Krödz im Takt umeinander zu
drehen, trippelnd, nicht hüpfend. Die erste Tänzerin dreht sich
mit der zweiten herum und tauscht mit ihr den Platz ; dasselbe
Spiel zwischen der ersten und der dritten Tänzerin, bis alle in
umgekehrter Reihenfolge stehen; dann wieder in die alte Ord-
nung zurück. Der andere Tanz wird von vier Frauenzimmern
ausgeführt und ist lebhafter. Die vier stellen sich gleichfalls
1) Aus dem Distrikt Uschitzja, Gouvernement Podolien. Vgl. H^yÖnn-
cidÄ, TpYÄU DKCiiejpiiyii, C.-IIÖr. 1877. IV. .V) 1571. — Kovnxd^iu V. Folklore
de rUkraine, p. 91. Nr. 66,
>) Im Russischen das gleichlautende Wort: uinu>Kn.
Ä) Buch, Die Wotjäken, S. 82.
— 396 —
zunächst nebeneinander auf. Die zwei mittleren Tänzerinnen
fassen sich an den Händen und gehen in raschem Takt einige
Schritte vorwärts, drehen sich umeinander, wechseln die Plätze,
und begannen dasselbe Spiel von neuem. Währenddem be-
schreiben die beiden seitlich befindlichen Tänzerinnen Achter-
touren um das mittlere Paar und winden sich zwischendurch.
Und so viel Temperament entwickelt man auch bloß dann, wenn
man ein paar Gläschen kumyschka oder Branntwein im Leibe
hat. Der russische Nationaltanz, einfach pyccKaÄ njiÄCKa, russi-
scher Tanz genannt, wird ebenfalls von den Wotjäkinnen ge-
tanzt, aber nicht mit solchem Feuer wie von den russischen
Frauen und Mädchen. Man hat Tänze bei den Wotjäken,
bisher nur von Weibern tanzen gesehen; es ist wahrschein-
lich, daß auch die Männer tanzen, aber vermutlich tanzt jedes
Geschlecht für sich allein. Ein wotjäkisches Sprichwort zwar
sagt: „Der Henne Gackern ist nichts wert, wenn nicht der
Hahn zugleich mit kollert.** Doch scheint es trotzdem nicht zu
großen Intimitäten zwischen beiden Geschlechtem, wenigstens
nicht in der Öffentlichkeit zu kommen.
Die Kalmücken sind besondere Liebhaber von athletischen
Spielen und die berühmtesten Ringer in Rußland. Bei ihrem
Uerrüßfest gibt es ein großes Schauringen. Getanzt wird haupt-
sächlich im Monat des Zogaanfestes und an den Winterabenden.
Beim kalmückischen Nationaltanz rühren sich die Tänzer oder
Tänzerinnen nicht von ihrem Standpunkt fort, sondern drehen
sich bei dem Takte des eintönigen Domburr bloß um ihre
eigene Achse; beide Arme werden immer zugleich bewegt,
bald in gleichen Winkeln vom Kopfe entfernt, bald in gleichen
Krünunungen über die Brust gebogen. Die Tänze sind inamer
sehr kurz und sehr ernsthaft, die Musik langsam und feierlich.
Jedes Geschlecht tanzt für sich, die kalmückische Wohlanstän-
digkeit gestattet nicht das gemeinsame Tanzen von Männern
nüt Frauen. Gewöhnlich tanzen sogar die Kalmücken einzeln,
immer ein Mann oder eine Frau. Wenn aber zwei Männer oder
zwei Frauen zugleich tanzen, dann ist es lebhafter, wird es zu-
weilen sogar wild.^)
1) Bergmann, Nomadische Streifereien, II 198.
— 397 —
Bei den moslemischen Tartaren geht es natürlich nicht viel
stürmischer zu als bei den Kalmücken. Ahnlich wie bei diesen
drehen sich die Männer mit ausgebreiteten Armen einzeln um
sich selbst herum. Das Tanzen der Mädchen ist nichts als ein
schüchternes Hin- und Hergehen und nach einigen Schritten
zu Ende.i)
Am leidenschaftlichsten imter allen nichtrussischen Völ-
kern Rußlands tanzt man bei den Tscherkessen ; namentlich
die Weiber sind hier so tanzwütig, daß man schon vor Jahr-
hunderten von ihnen sagte 2): „Sie saufen sich voll und tragen
eine so gewaltige Begierde zum Tantzen, daß sie keine Manns-
Person nicht achten, wenn er nicht eine Geige bei sich hat.**
23. Musik und Theater.
Gesang — Anmerkung über die Nationalinstrumente — Weltliche Musik ver-
pönt — Musikalische Ketzer — Peter der Große und die Musik — Franzö-
sische und italienische Musik — Patjomkin und Mozart — Geschichte der
russischen Jagdmusik — Kunstmusik — Komponisten — Ursprung des
Theaters in Rußland — Europäisches Theater in russischer Schilderung —
Aufführungen von Mysterien — Typen der russischen Urbühne — Das erste
Theater in Moskau — Der deutsche Pastor Gregorij erster russischer Theater-
direktor — Die erste Aufführung eines Dramas am Zarenhofe — Der Palast
der Ergötzlichkeiten — Sold der Schauspieler — Das erste Ballet — Dauer
der Vorstellungen — Erstes Drama in russischer Sprache — Bischof Simeon
von Polozk als Dramatiker — Männer spielen die Frauenrollen — Amateur-
vorstellungen der Aristokraten — Prinzessin Soüa Alexejewna als Dramen-
dichterin und Schauspielerin — Bischof Dmitry Rostowskij — Feofan Proko-
powitsch — Prinzessin Nathalie Romanow — Der deutsche Direktor Kunst
— Erstes öfFentliches Theater in Moskau — Aprilscherz Kunsts — Direktor
Fürst — Obszönitäten auf der Bühne — Übersiedlung des Theaters nach
Petersburg — Direktor Mann — Italienische Truppe am Hofe der Zarin
Anna — Caroline Neuber in Petersburg — Französische Triumphe — Kadetten
als Balletteusen — Elisabeth und die Kadetten — Das Nationaltheater —
Volksschauspielc — Die heilige Jungfrau auf der Bühne — Begründung des
^) Der Tanz bei den Astrachaner Tartaren ist ausführlicher geschildert
worden von Samuel Gottlieb Gmelin, Reise durch Rußland zur Untersuchung
der drey Natur-Reiche, St. Petersburg 1774. II S. 138.
*) Reise nach Norden / anno 1706. S. 156.
— 398 —
Nationaitheaters durch Wolkow — Katharina II. — Ein Volkstheater von
der Polizei dirigiert — Bedeutung des russischen Theaters für die Geschichte
der Sittlichkeit.
„Wo eine Slawin ist,** sagt Schaffarik, der Verfasser
der ersten Geschichte der slawischen Literatur i), „da ist
auch Gesang. Die Slawin erfüllt Haus und Hof, Berg
und Thal, Wiesen und Felder, Gärten und Weingärten mit
dem Schall ihrer Lieder.** Dies gilt bei den Russen für die
Frauen ebenso wie für die Männer. Der Russe singt fast immer,
bei der Arbeit und in der Pause, auf dem Felde und im Kabak.
Der Muschik singt, wenn er mit dem Pfluge die Furchen durch
den Acker zieht; der Soldat auf dem Marsche, oder auf dem
Schlachtfelde, wenn er der tödlichen Kugel entgegenschreitet ;
der Matrose auf dem schwankenden Schiffe, wenn der brau-
sende Sturm ihn umdroht; der Arbeiter an der Düna, wenn
er seine schwere Last über den Kai schleppt; der Burlak^) an
der Wolga, wenn er mit wuchtiger Kraft sein Floß zimmert;
der Iswoschtschik^) sing^, wenn er mit seinem Gaste einen
weiten Weg durch einsame Gegenden fährt; und der Postillon
stimmt, sobald er sich bekreuzigt hat *und die Pferde antreibt,
sein Liedchen an. Die Melodie ist ziuneist einförmig und
schwermütig, der Inhalt: die Liebe, die Steppe, die Wolga,
der Don. Dieselben Volkslieder singt man im ganzen Reiche,
von der Ostsee bis zum Stillen Ozean und von dem Weißen
bis zum Schwarzen Meer. Wie die Großrussen sind auch die
Kleinrussen und die Kosaken sangesfreudig, ihre Lieder jedoch
heiterer imd lebhafter. Im Süden liebt man nicht bloß das
Volkslied, sondern man läßt ihm auch künstlerische Pflege
angedeihen, verbreitet es in den Familien und den Schulen,
und die Studenten veranstalten öffentliche Volksliederkonzerte.
Ein deutscher Arzt und Forscher*), der als das Charakteristische
1) Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mund-
arten von Paul Joseph Schaffarik. Ofen 1826.
*) Byp.iaKi> heißen speziell die Arbeiter, die auf den Barken der Wolga
beschäftigt sind. Es sind durchwegs rohe ungeschlachte Kerle. Daher nennt
man in ganz Rußland einen brutalen Menschen: Burlak.
*) Il3B0uuiKT>, der Fuhrmann.
*) Wichelhausen, Gemähide von Moskwa, 299.
— 39» —
am Muschik dessen roheste Sinnlichkeit konstatiert^ sieht in
dem unverkennbaren Hang der Russen zu Gesang und Musik
den Beweis, daß dieses Volk von der Natur auch zu feineren
sinnlichen Vorgängen aufgelegt sei.
Schon von den Bewohnern des ältesten Rußland wird be-
richtet, daß Musik die vorzüglichste Erheiterung ihres Lebens
war, und daß sie auf den Kriegszügen ihre Lieblingsmusikinstru-
mente mitführten; singend und spielend zogen sie in den
Kampf. ^) Es zeugt für die tiefe Empfänglichkeit der Russen
für Harmonie imd Melodie, daß noch jetzt unter ihnen die
uralten Lieder leben, in denen die heidnischen Gottheiten und
die Donau, an deren Ufern die Vorfahren der Russen vor
zwölf Jahrhunderten gekämpft haben, besungen werden.-)
Als Rußland moskowitisch geworden war, begannen
die Regierung, die die Trunksucht und die Korruption zu
1) Karamsin, deutsch I 56, franzosisch I 83. — Vgl. femer: von Arnold,
Die Tonkunst in Rußland bis zur Einführung des abendländischen Noten-
Systems. Leipzig 1867.
>) Die alten nationalen Musikinstrumente, fast durchwegs noch heute
in Gebrauch, sind folgende: Dudka (^yAKa), eine einfache Hirtenpfeife, die
man besonders in Kleinrußland findet, wo sie den speziellen Namen Ssopelka
(con'kQca) führt. Roschok (po»OKi>), ebenfalls ein Hirteninstrument, aber in
Form eines Roms, also ein Kuhhorn. Schilejka oder Ssipowka (HcnjicftKa
HJH cHOOBKa), eine Schalmei. Sswirelj (cBiipikib), eines der ältesten musika-
lischen Instrumente der Russen, eine Rohrpfeife, die jetzt meist bei den.
Hirten in Kleinmßland anzutreffen ist und noch viel bei den Reigentänzen
zur Geltung gelangt. Auch der Dudelsack, Wolynka (uo-iUHKa), gehört zu den
ältesten Stücken; unter den slawischen Altertümern fand man die Abbildung
eines Kriegsgottes, der den Dudelsack spielt. Bei allen großen Festen und
auf den Jahrmarktsunterhaltungen kommt der alte Dudelsack zu hohen Ehren.
Gudok (ryAOKB) ist eine Violine mit drei Saiten, von denen nur die oberste
gegriffen wird ; ein kurzer Bogen bestreicht alle drei Saiten. Der Spieler
des Gudok heißt Gudilo (ry,iiLio, auch ry,ie.ibmnina> und ryÄonmiiun.). Diese
russischen Bauemgeiger findet man nicht häufig. Oft und überall dagegen
trifft man die Balalajschtschiki, die Spieler der Balalajka (Biuiaiu^Ka), einer
Harfe mit zwei, seltener drei Saiten. Dieses Instrument ist äußerst einfach
und so leicht zu spielen, daß Jedermann imstande ist, wenigstens ein Volks-
lied oder die Begleitung zu einem Tanze zu klimpern. Die Balalajka ist
das Lieblingsinstrument der nogajschen Tartaren. Die Balalajki, die man
zvL den Reigen und den Hochzeitstänzen mitbringt, zeichnen sich von den
gewöhnlichen dadurch aus, daß sie mit frivolen und selbst eindeutig obszönen
~ 400 —
Fundamenten der Selbstherrschaft, und der' Klerus, der die
Duminheit und die Verlogenheit zu Stützen der Orthodoxie
gemacht, in der Musik ein der schärfsten Verfolgung würdiges
Übel zu sehen. In der ersten Hälfte des siebzehnten Jahr-
hunderts belegt der Patriarch die Ausübung der Instrumental-
musik mit schweren Strafen. Aber im Zarenhause selbst erhebt
sich der erste Ketzer und Verächter des heiligen Verbots: der
Bojar Nikita Iwanowitsch Romanow, der Oheim des Zaren
Michael. Er ist der erste, der ausländische Kleidung zu tragen
wagt. Der Patriarch verbrennt eigenhändig das heidnische
Gewand imd zwingt den Bojaren, sich durch Weihwasser rei-
nigen zu lassen. Nikita ist dadurch nicht orthodoxer gewor-
den, der Abtrünnige begeht noch schlimmere Schandtaten:
er hält m seinem Hause weltliche Musikanten, und diese Musi-
kanten sind Ausländer. Das böse Beispiel scheint verhängnis-
volle Nachahmung zu finden. Der Holländer Konrad von
Figuren geschmückt sind. Loschki (.kt/Kku). wörtlich Löffelchen, sind zwei
Instrumente ans alter Zeit; ihre Form entspricht ihrem Namen. Sie sind
mit Schellen und Glöckchen behängt und dienen hauptsächlich als Begleitung
zu anderen Instrumenten. Gusli (rycjiu), Harfen mit drei Saiten, ähnlich
dem Psalterium, werden mit den Fingern gerissen. Die GusU waren früher
namentlich in Kleinru Bland stark verbreitet, in neuerer Zeit kommen sie
immer mehr aus der Mode, man findet sie nur noch hier und da bei Soldaten.
Trompeten (TpyÖiii) werden in Rußland schon in einer Chronik des zwölften
Jahrhunderts gelegentlich der Belagerung Kijews im Jahre 1151 erwähnt.
Aus dem Jahre 12 16 wird berichtet, daß die Nowgoroder bei ihren Truppen
60, die Wladimirzen 40 Trompeter hatten. Aus jener Zeit besitzt man die
frühesten Angaben über Trommeln, Bubny (CyCnu) oder Nakry (Haspu);
Sturmtrommeln, Nabatny (Ha6aTHu) oderBarabany (6apa6aHu); Flöten, Flejty
(((».lettTH) ; Pauken, Litawry (.inraBpu) ; und die zwei schon früher erwähnten
Schalmeien-Arten, Ssopelki (contaai) und Ssipowki (ennoBKn). Auch die Maul-*
trommel, Wargan (ßapran'b), und Zimbeln (nnMbÖaJiu oder khhbsjuii), kannte
man seit jeher in Rußland. Ein speziell kleinrussisches Instrument ist die
Bandura (Caiiiiypa), auch Kobsa (Ko63a) genannt, eine Art Harfe mit 12, zu-
weilen mit 28 metallenen Saiten. Die Bettler und Greise tragen sie an einem
Strick um den Hals gehängt und wandern musizierend von Dorf zu Dorf.
Die Edelleute hielten früher Kapellen von Banduristen, die beim Mittagstisch
und abends bei den Festlichkeiten den Herren anspielten. Von der russischen
Hömermusik wird im Texte die Rede sein. M. SaÖujnnn,, pyccKÜt Hapo;i>,
527. — Bemerkungen über Rußland, 1788 (von Bellermann) I 362. — Breton,
Rußland IV 39.
Russische Bauern. Der Quass- und Bra
— 401 —
Klenck, der nach Rußland kommt, bemerkt, „daß man bei
vielen russischen Großen, Liebhabern der Musik, polnische
Musikanten findet, die auf verschiedenen Instrumenten spielen.**
Und ein russischer Würdenträger, der seinen Sohn nach Holland
geschickt hat, schreibt dem Jungen: ,, Treibe allerlei Kavalier-
künste, gehe in den Mußestunden in Gesellschaften, besuche
das Theater, lerne fechten, schießen und reiten.** Alle diese
Kavalicrkünste aber sind vom Domostroj, dem Haus- und Hof-
gesetzbuch der Russen, als Todsünden verdammt. Solcher
Ungehorsam einiger Vornehmer ruft neue strenge Maßregeln
des Patriarchats hervor, die wirksamer sind als die früheren,
so daß man bald nur noch den Dudelsack und den Gudok, und
auch nur heimlich zu spielen wagt. Bloß Bettler sind jetzt noch
Musikanten. Und ein Russe, der um diese Zeit wieder nach
Holland als Gesandter kommt, kann sein Erstaunen nicht ver-
bergen, daß man ihm zu Ehren ein Konzert veranstaltet; „bei
uns zu Hause,** sagt er, „verdienen die Bettler auf solche Weise
ihr Almosen.** 1)
Peter der Große hört in seiner Jugend nur die rauheste
Musik von Tronuneln und Pfeifen, seltener die Balalajka und
das Kuhhom; in besonders eleganten Häusern wohl auch die
Bandura. Er ist deshalb ganz begeistert, als bei seiner An-
kimft in Riga und Danzig der Chor der Stadtmusikanten ihm
von den Kirchtürmen herab mit Zinken und Posaunen den
Morgengruß entgegenschmettert; dies erscheint ihm als der
höchste künstlerische Genuß, und sofort engagiert er in Riga
fünf solcher Meister, die seine Tafelmusik zu besorgen haben
und von den Russen mit Bewunderung und Staunen angehört
werden. Auf seiner Weiterreise durch Deutschland lernt Peter
die Regimentsmusik, Hoboisten, Fagottisten und Waldhomisten
kennen; sie gefallen ihm noch besser als die Posaunenbläser.
Später imponieren ihm mehr die Querpfeifer, Trommler und
Trompeter. Nacheinander wechseln sie in des Zaren Gunst,
der die Trompeter besonders für die Flotte bevorzugt. In
Holland, in Amsterdam hört der Reformator Rußlands vor der
Börse zum ersten Male das Glockenspiel; in Petersburg läßt
1) Reise nach Norden, 154.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rufiland. 26
— 402 —
er daher auf dem Turm der Festungskathedrale und auf jenem
der Isaakskirche Glockenspiele anbringen. Alles Bisherige wird
schließlich verdrängt von der Bockpfeife, deren Bekanntschaft
Peter in Polen gemacht hat. Der Zar erlernt selbst dieses
Instrument und stellt für seine Tafelmusik einen Bockpfeifer-
chor zusammen. 1) Wenn die Musik nicht klappt, so vertauscht
der Kapellmeister den Taktstock mit den Batog^^) und haut
dabei nicht immer pianissimo drein.
Die französische und italienische Musik konnte Peter der
Große nicht leiden. Elisabeth und Katharina II. berufen da-
gegen oft Tonkünstler aus Frankreich und Italien nach Ruß-
land. Der Günstling Katharinas, Patjomkin, betrachtet sein
Privatorchester als seinen Schatz, den er überallhin mit sich
führt. Ins Hauptquartier von Bender nimmt Patjomkin nicht
weniger als zweihundert Musiker, ein Ballettkorps und eine
Schauspielertruppe mit. Als leidenschaftlicher Musikliebhaber
steht er lange Zeit mit dem in Wien befindlichen Grafen Andrej
Rasumowskij in Unterhandlimgen bezüglich des Engagements
eines tüchtigen Kapellmeisters. Rasiunowskij empfiehlt eifrig
„einen exzellenten Klavierspieler und einen der besten Kompo-
nisten Deutschlands," einen gewissen Mozart, als Orchester-
chef für die Patjomkinsche Truppe. Mozarts Tod macht den
eingeleiteten Verhandlungen ein jähes Ende, und Patjomkin
engagiert den Italiener Sarti.^)
Ein historisches Ereignis auf dem Gebiete der Musik voll-
zieht sich zur Zeit Katharinas durch die vom Oberjägermeister
Naryschkin veranlaßte Reform der Jagdmusik.*) Die russi-
schen Jäger und Rüdenknechte führten seit alten Zeiten Hörner.
Da auf Harmonie keine Rücksicht genommen wurde, war diese
Jagdmusik eine entsetzliche. Naryschkin stellte nun ein merk-
würdiges System fest: Fünfzig oder sechzig Musiker haben
1) Stahlin, Originalanekdoten von Peter dem Großen, 298. — Halem,
Leben Peters des Großen, III 220.
2) Methode schwerer Züchtigung mit Stöcken.
8) Waliszewski, Autour d'nn tröne, 131.
*) Waliszewski a. a. O. 132. — (Bellermann) Bemerkungen über Ruß-
land I 367. — (Masson) Geheime Nachrichten über Rußland, deutsch II 82,
(französisch II 61). — Dupr6 de St. Maure, L'hermite en Russie, I 263.
— 403 —
durchwegs an Größe und in der Stufenreihe verschiedene
Hörner. Jedes Hörn gibt nur einen Ton von sich und jeder
Musikant hat nur eine Note vor Augen. Durch die Verschieden-
heit der Größe der Instrumente und die Gesamtheit der Töne
entsteht das Konzert, das als russische Hömermusik (porosafl
MysHKa) eine berühmte Spezialität des Zarenreiches geworden
ist. Die Marine besitzt ein vortreffliches Ensemble, und die
großen Herren halten sich ein Hornistenkorps, das namentlich
auf die Jagd mitzieht und bei den Unterhaltimgen in den Pau-
sen vielbewunderte Konzerte veranstaltet. Die Möglichkeit der
Durchführung dieser Reform der Jagdmusik und die Dauer
dieser Institution bis heute kann man mit Recht als Zeichen
des sklavischen Charakters des russischen Volkes betrachten.
Nirgends in der Welt sonst, sagte schon Major Masson, der
Zeitgenosse dieser seltsamen Reform, hätte Naryschkin fünfzig
Menschen für ein solches Werk auftreiben können. Alle diese
Musikanten müssen sich entschließen, ihr ganzes Leben hin-
durch ein und dieselbe Note auf einem und demselben Hom
zu blasen; stundenlang haben sie nichts anderes zu tun, als
die Pausen zu zählen, um den Moment abzuwarten, wo sie
an der Reihe sind. Die Arie, die sie spielen, kennen sie nicht.
Für die Kirnst haben sie kein Interesse und kein Gefühl. Sie
sind Automaten, Sklaven, auf die der Stock des Kapellmeisters
niedersaust, wenn sie ihren Augenblick verpassen.
Die Epoche Katharinas II. sah auch den Beginn der russi-
schen Kunstmusik. Die Namen der ersten russischen Kompo-
nisten sind fast vergessen, obwohl an manche von ihnen glän-
zende Triumphe sich hefteten. So hatte Fomina am Theater
Katharinas lärmende Erfolge, während gleichzeitig Bortnjanskij
die vom Patriarchen Nikon in Angriff genommene, aber durch
den Sturz dieses Reformators jäh unterbrochene Verbesserung
der Kirchenmusik fortsetzte und prächtige Motetten und Psal-
men komponierte. 1805 machte Titow zuerst den Versuch,
eine nationale Oper zu gründen. Aber erst Michael Glinka
gelang es 1836, mit seiner Oper ,,Das Leben für den Zaren**
ein Werk zu schaffen, das einen dauernden Wert behalten hat.
Glinkas Erben waren Serow und Dargomijskij. Der übrigen
Großen sind nicht viele. Man hat nur die berühmten Fünf
26*
— 404 —
zu erwähnen: Borodin, Mussorgski j, Balakirew, Cäsar Kuj,
Rimskij-Korsakow; femer den Jünger dieser fünf: Alexander
Glasunow ; die erbitterten Widersacher der fünf : Anton Rubin-
stein und Tschaikowskij ; und schließlich etwa noch: Ssolow-
jew, Iwanow, Arenskij, Ljadow, Skrjabin, Juferow, Koptjajew
und Kalinnikow.^)
Interessanter als die Entwickelung der modernen russi-
schen Musik ist für die Sittengeschichte der Ursprung des
Theaters in Rußland. Aus dem fünfzehnten Jahrhundert be-
sitzen wir die erste russische Schilderung eines europäischen
Theaters. Sie stammt aus der Feder des Bischofs Abraham
von Susdal, der mit einigen Russen nach Italien ging und dort
der Aufführung von Mysterien beiwohnte. Zwei Jahrhunderte
später sah der Russe Lichatschew am Hofe zu Florenz eine
Theatervorstellung, die er in seinem Gesandtschaftsbericht fol-
gendermaßen zu beschreiben versucht 2): „Es war ein Meer,
darin hat es schwimmende Fische gegeben, auf diesen ritten
Menschen. Ebenso sind oben am Himmel Menschen gesessen.
Die Menschen, die auf den Fischen waren, sind auch gen
Himmel gefahren. Dann erschienen : ein alter Mann in einem
Wagen und ein Fräulein in einem anderen Wagen, die Pferde
an beiden Wagen waren wirkliche Pferde und zappelten nüt
den Beinen; \md der Großherzog hat gesagt imd erklärt: der
Mann imd das Fräulein wären Sonne und Mond. In anderen
Szenen kamen vor: ein Feld mit menschlichen Gebeinen, die
von Raubvögeln benagt wurden; ein Meer, bedeckt nüt Schif-
fen; eine Menge Ritter, die nüteinander kämpften, so daß
einige derselben scheinbar getötet wurden. Dann tanzte man
auf der Bühne. Dann kam ein hungriger Mann und bat um
Speise; und man gab ihm viele Weißbrote, ohne ihn sättigen
zu können.**
Der Russe verstand augenscheinlich nichts von den Vor-
gängen. Das Schauspiel war ihm völlig neu. Nur an zwei
Orten Rußlands gab es damals sogenannte Mysterien-Auffüh-
1) VgL über die moderne russische Musik den neunten Band der von
Richard Strauß herausgegebenen Sammlung «,Die Musik" (Essay von Alfred
Bruneau, übertragen von Max Graf). Berlin 1904.
s) VgL Brückner. Kulturhistorische Studien.
— 405 —
rungen. In Nowgorod im Norden, und in Kijew im Süden
existierte seit dem zehnten Jahrhxmdert der Gebrauch, zu Weih-
nachten, in der tollen Woche, der Butterwoche, sowie am Tage
des Iwan Kupalo, öffentliche Vorstellungen zu veranstalten,
in denen die heidnische Vergangenheit mit ihren Göttern imd
Sitten wieder auflebte, i) Durch die Wiederholungen bildeten
sich Typen: der Gevatter-Lustigmacher, die Gevatterin, der
Zar Rote-Sonne, der Hexenmeister, die Baba-Jaga, der Haus-
geist Domowoj, der Waldteufel (.Tfemefi), der Wassergeist (Bo-
.üeHoö). Zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts begannen die
Kijewer Studenten, die imter dem Einfluß der polnischen Kultur
standen, auf den öffentlichen Plätzen heilige Szenen darzu-
stellen. Statt der heidnischen Götter und Geister wurden jetzt
die Apostel, die Propheten, die heilige Jungfrau und Jesus Christus
selbst als Puppen vorgeführt. Das Repertoire dieser tragbaren
Bühne, die man Wertep (BepTen'b)oder Höhle nannte, bestand
in einem einzigen Stück: Schilderung der Leiden Christi. Wäh-
rend einer der Studenten für die Puppen sprach, ein anderer
replizierte, sangen die übrigen im Chore fromme Lieder.
*) Die Quellen zur Geschichte des russischen Theaters sind folgende:
Russisches Theater, vollständige Sammlung aller russischen Theaterstücke,
43 Bände, St. Petersburg 1786 (russisch). Karabanow, Die Anfänge des
russischen Theaters, 1849 (russisch). — P. Arapow, Chronik des russischen
Theaters, St. Petersburg 1861, Tiblen & Comp. — Pekarskij, im Februarheft
des „Zeitgenossen" 1858 (CoBpsMeHHHirb). — Derselbe, Wissenschaft und Lite-
ratur unter Peter dem Großen, Band I (russisch). — Tichonrawow, Ursprung
des russischen Theaters, Annalen der russischen Literatur und Altertümer,
Bd. III, 1861 (russisch). — Alexej Wesselowskij, Das alte Theater in Europa,
Moskwa 1870 (russisch). — Derselbe, Deutsche Einflüsse auf das alte russische
Theater, Prag 1876 (deutsch). — II. H. HoHiepjiiioiri.. ii.i.iiocTpiipoijaiinafl iKTOpi«
pvccicaro leaipa XIX. bIikb, C. ncT<*pCypn.. 1903. — Von der Direktion der kaiser-
lichen Theater wurde mir durch Vermittlung des deutschen Theaterdirektors
Paul Bock vor einigen Jahren ein nur als Privatdruck in wenigen nume-
rierten Exemplaren gedruckter Folioband (von über 1500 Seiten) übersendet,
worin sämtliche amthche Aktenstücke zur Geschichte des russischen Theaters
veröffentlicht wurden: Ai)xnB7. iinpoKuiii iiMiiepaTopciaixi. Teaxpoin». Bbiiiycin» I
1746 — 1801. C. neTt'j)6ypn. 1892. — Femer vgl. man: Le Th^dtre de la
Moscovie par le R. P. Boussingault (BibUoth. russe et pol. vol. V). — Pierre
de Corvin (Pierre Newsky), Le Th6atre en Russie, depuis ses origines jusqu'ä
nos jours. Paris 1890. — Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur. —
Bernhard Stern, Zwischen der Ostsee und dem Stillen Ozean.
— 406 —
In Moskau fehlten bis zum siebzehnten Jahrhundert auch
diese primitiven Anklänge ans Theatralische. Es gab bloß
in den Zeremonien der Kirchenfeste manches, was einem dra-
matischen Symbolismus gleichkam. Von zweien dieser Ge-
bräuche, die den Einzug Christi in Jerusalem und eine Allegorie
des jüngsten Gerichts darstellten, ist schon in einem früheren
Kapitel die Rede gewesen, i) Eine dritte Szene beobachtete
der Engländer Fletcher^) : „Ein Engel stieg von einem Kirchen-
dach in einen Ofen herab zu drei Jünglingen ; im Ofen loderten
Flammen, welche die Chaldäer, wie man die Akteure nannte,
mit Hilfe von Pulver anfachten. Diese Akteure waren bekleidet
mit weiten farbigen Überröcken, imd auf den Köpfen trugen sie
spitzige, vergoldete Hüte.**
Das erste wirkliche Theater lernten die Russen in Ruß-
land erst zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts kennen. Im
Hause des Bojaren Artamon Ssergejewitsch Matwejew fanden
sich zur Zeit der Regierung des Zaren Alexej Michajlowitsch die
wenigen Russen zusammen, die europäischen Sitten huldigten.
Hier verkehrte der Zar selbst, und hier ward ihm die Anregung
zur Gründung des ersten russischen Theaters. Am 15. Mai
1672 befahl Alexej dem Oberst Nikolaus von Staden, der nach
Kurland reiste, um Bergleute anzuwerben, „auch Trompeter
und Komödianten, die Komödien darzustellen verstehen,** mit-
zubringen. Auf Stadens verlockende Anträge wollte aber fast
niemand eingehen, und der Bote brachte bloß einen Trompeter
und vier Musiker nach Moskau. Als Staden mit ihnen in
der Kremlstadt anlangte, fand er hier zu seiner Überraschung
schon ein Theater vor. Der Zar hatte nämlich erfahren, „daß
der Magister Jogan (Johann) Gregory, Pastor an der lutheri-
schen Kirche in der deutschen Sloboda, Komödien darzustellen
verstehe.** Alexej holte die Zustinmiung seines Beichtvaters
ein und wagte dann den kühnen Wurf. Er befahl am 4. Juni
1672 dem Pastor Gregory, eine Komödie zu veranstalten, den
Stoff dazu aus dem Buche Esther zu nehmen und im Dorfe
Preobraschensk ein Komödienlokal einzurichten, „mit allem
1) Vgl. s. 361 ff.
*) Corvin bezeichnet (pag. 14) Fletcher irrtümlich als Deutschen.
— 407 —
Schmuck und Putz, das für ein solches Lokal vonnöten ist."
Gregory griü sofort zur Feder \md dichtete in wenigen Wochen
ein biblisches Stück: Die Tragikomödie von Esther oder die
Artaxerxes'sche Handlung. Gregory, sein Freund Doktor Lau-
rentius Rinhuber und der russische Lehrer Jurij Michajlowitsch
richteten 64 Schüler der deutschen Schule als Komödianten ab,
während ein gewisser Peter Inglis, „der perspektivischen Zeich-
nimg Meister,** die Kulissen malte. Die Hauptrolle des Stückes
wurde dem Sohne des Doktor Blumentrost, des zarischen Leib-
arztes, übertragen. Eine Schwierigkeit machte die Frage der
musikalischen Begleitung, nicht der Musiker wegen, sondern
weil der Zar, der das Schauspiel begründete, gegen die Ein-
führung der weltlichen Musik als gegen eine gottlose Tat Be-
denken hatte. Erst als Gregory vorstellte, daß der Chor ohne
Musik ebensowenig singen könnte, wie die Tänzer ohne Füße
zu tanzen vermöchten, gab Alexej nach und beauftragte Mat-
wejew, eine Kapelle aus Geigern und Flötisten zu schaffen.
Und Matwejew ließ eine Anzahl seiner Leibeigenen in wenigen
Monaten zu Musikern ausbilden. Am 17. Oktober 1672 fand
die erste Vorstellung statt, i) Aus dem ganzen Reiche waren
Gäste „zu dieser bisher nie gekannten Unterhaltung** einge-
laden worden. Der Zar war mit seinem ganzen Hofe anwesend.
Für die Frauen und die Kinder hatte man eine große vergitterte .
Loge hinter dem Sitze des Zaren eingerichtet. Die Sprache
der Schauspieler war natürlich die deutsche. Neben dem Zaren
stand daher ein Dolmetsch, der Satz um Satz übersetzte und
gleichzeitig den Gang der Handlung erklärte. Die Aufführung
dauerte nicht weniger als zehn Stunden ohne Unterbrechung.
Der Herrscher war entzückt und gewährte dem Pastor Gregory
die Erlaubnis, eine Gnade zu erbitten: Dieser bat um die
Tolerierung der protestantischen Kirche in Moskau und um
den Bau einer Kapelle; und der Zar entgegnete: „Ein Mann,
^) So Brückner am zuverlässigsten, nach den maßgebenden Forschungen
von Tichonrawow und Morosow. Corvin glaubt, daß Gregory erst im Herbst
1672 nach Moskau kam, und bezeichnet den 2. November 1673 als das
historische Datum. Vgl. Corvin Seite 17 und 19. — L. Rinhuber, Relation
du voyage en Russie, Publice d'aprds les manuscrits originaux. Berlin 1883
(niir in 350 Exemplaren gedruckt).
— 408 —
der so tugendhafte Stücke zu spielen weiß, kann gewiß nur
Gutes lehren,** und bewilligte die Bitte. Das Stück Gregorys
machte zweifellos auch tiefe Wirkung durch die unabsichtliche
Aktualität, die es in bezug auf die Zustände am Hofe besaß.
In der Königin Esther sahen die Zuschauer die Zarin Natalia
Naryschkin, die als Waise im Hause Matwejews erzogen worden
war imd durch ihre Schönheit und Klugheit ihr Glück ge-
macht hatte; Haman aber war niemand anderer als der ehe-
malige Günstling Hitrowo, der gleich dem biblischen Böse-
wicht zur Strafe für seine Intrigen gehängt worden war.
Das Theater blieb eine dauernde Einrichtung. Der Tragi-
komödie Esther folgte die Tragödie von Holofernes und Judith,
worin in einer Szene, da die Heroine dem Scheusal den Kopf
abschneiden will, eine andere Aktrice ausrief : „O armer Kerl.
Beim Erwachen wird er erstaunt sein, daß ihm der Kopf fehlt.**
Für die theatralischen Unterhaltungen wurde ein spezielles
Haus im Kreml adaptiert, das den Namen führte : IToT'feuiHwS
ABopei^T^, Palast der Ergötzlichkeiten ; dieser Palast existiert noch
imd dient jetzt als Amtswohnung des Platzkommandanten.
Der Bojar Matwejew wurde zum Direktor der Vergnügungen
des Zaren ernannt, Johann Gregory erhielt den Titel eines
Regisseurs. Der Zar befahl ferner, die Manuskripte Gregorys
in Saffian zu binden und in der zarischen Bibliothek zu hinter-
legen; endlich sollte man aus dem Ressort der auswärtigen
Angelegenheiten 40 Zobelfelle im Werte von 100 Rubel und
ein Paar im Werte von 8 Rubel ;iehmen und diese 42 Zobel-
felle dem Magister Gregory als Geschenk des Zaren über-
reichen. Dagegen vergaß Alexej ganz daran, den armen Komö-
dianten, die Gregory nuiunehr aus russischen jungen Leuten
auswählen muß, die Mittel zum Leben anzuweisen, so daß
diese den Zaren selbst an ihr Elend erinnern : „O mitleidiger, o
barmherziger Herr, o Vater deines Volkes!'* schreiben sie in
ihrem Bittgesuche, „man hat uns, deine Sklaven, zum Meister
Jogan Gottfried Gregory gesandt, damit wir die Kunst der
Komödie erlernen sollen ; aber man hat nicht für unsere Nah-
nmg gesorgt. Da wir alle Tage zum Meister wandern, rui-
nieren wir unsere Kleider und unsere Schuhe, und wir haben
nichts zu essen und sterben vor Hunger. O barmherziger Herr,
— 409 —
befiehl, daß man uns täglich zu essen gebe, damit wir nicht
Hunger leiden, wenn wir Komödie spielen lernen.** Und der
barmherzige Zar befiehlt sofort, für jeden Eleven einen Gro-
schen per Tag für das Essen anzuweisen; die Ausfolgung
dieses Gehalts aber darf jedesmal erst dann erfolgen, wenn
der Meister die Fortschritte und den unermüdlichen Fleiß
der Aspiranten durch ein Attest bekräftigt hat I
Im Jahre 1675 erschien auf der zarischen Bühne das erste
Ballett, betitelt „Orpheus**. Da man lange Vorstellungen liebte,
gab man nach einer Tragödie gewöhnlich noch ein Ballett.
Solch ein Theaterabend begann, wie das Dokument über eine
Vorstellung vom 21. Februar 1675 beweist, um fünf Uhr nach-
mittags und dauerte bis drei Uhr morgens.
Das erste Stück in russischer Sprache verfaßte der Bischof
Simeon von Polozk. Es hieß : Alexej, der Gottesmensch. Die
russischen Schüler Gregorys führten es auf. Simeon verfaßte
noch mehrere andere Dramen. In einem seiner Stücke, be-
titel „Der verlorene Sohn**, wird Moral gepredigt, indem
die landesüblichen Laster — Tnmksucht und Wollust — in
ihren bösen Folgen dargestellt werden; den ganzen zweiten
und dritten Akt hindurch tut der Titelheld nichts anderes als
saufen. Die Dramen Simeons hatten zumeist bloß sechs Akte;
um den Theaterabend nicht zu kurz zu halten, füllte der Autor
die Pausen nüt kleineren Stücken aus, die mit dem Drama selbst
in gar keinem Zusammenhang standen, aber den Zweck er-
reichten, die Unterhaltung bis über Nacht auszudehnen. Zu
bemerken ist noch, daß die weiblichen Rollen von Männern
gespielt werden mußten.
Nach dem Tode des Zaren Alexej trat ein jäher Rück-
schlag ein. Die Reaktionären setzten es beim jugendlichen
und kränklichen Fedor Alexejewitsch durch, daß Gregory ver-
trieben, Matwejew verbannt und der Palast der Vergnügungen
geschlossen wurde. Die Kunst, vom Hofe vertrieben, fand
indessen Zuflucht in den Häusern einiger Fortschrittsfreunde,
bei den Dolgorukij, Scheremetjew, Galitzyn. Diese Bojaren
waren gleichzeitig die Dichter und die Schauspieler. Aber
das Wunderbarste war, daß sich diesen Männern auch eine
Frau aus dem Zarenhause zugesellte, Prinzessin Sofia, die Toch-
— 410 —
ter Alexe js. Sie trat kühn aus dem Terem hinaus, geradewegs
auf die Bühne des Scheins und auf die Bühne des Seins.
Einige Jahre später spielte sie als Regentin eine weltgeschicht-
liche Rolle; vorher aber erschien sie auf einer Privatbühne
in ihrem eigenen Palaste als dramatische Dichterin und Schau-
spielerin. Das russische Drama „Die heilige Katharina" trägt
unter seinem Titel als Automamen: Sofia Alexejewna Ro-
manow. Und während vor wenigen Jahren der Vorstand der
Apothekerbehörde Golosow und der junge Bojar Ordin-Na-
tschokin den Orthodoxen als des ewigen Höllenfeuers würdige
Ketzer erschienen waren, weil sie lateinisch sprachen; während
noch zu Zeiten Alexejs die Frauen nicht offen, sondern nur
hinter Gittern den theatralischen Vorstellungen im Zarenpalaste
anwohnen durften : übersetzte jetzt die Prinzessin Sofia Moliöres
„Le Mddecin malgr6 lui** aus dem Französischen ins Russische,
führte das Stück auf und spielte selbst darin eine Rolle; ihre
Partner waren die Fürsten Dolgorukij, Galitzyn, Odjewsky,
Tscherkassow, Koslowsky, Scherbatow, Oberst Gribojedow, die
Prinzessinnen Howanska und Bariatinskij und die Gräfin Sche-
remetjew.
Dies ereignete sich in Moskau. Mittlerweile begann auch
im Süden das theatralische Leben zu pulsieren. Dmitry Tuptalo,
Bischof von Rostow, dichtete sechs biblische Dramen und
führte sie in einem Betzimmer seiner Amtswohnung mit Hilfe
von Seminaristen der Kijewer geistlichen Akademie auf. Noch
am Hofe der Zarin Elisabeth, sechzig Jahre später, spielte man
Dmitrys Dramen.
Unter Peter dem Großen war es ebenfalls ein Geistlicher,
der berühmte Feofan Prokopowitsch, der Dramen, sogar die
ersten weltlichen in russischer Sprache schrieb. Neben den
Dramen von Feofan führte man auch Stücke der Prinzessin
Natalia Alexejewna, einer Schwester der Sofia und Peters, auf.
Die Stoffe für ihre Stücke entnahm Natalia wie Feofan ebenfalls
zum Teil 3chon weltlichen Chroniken. Ein Zeitgenosse er-
zählt i): „Des Czars Vergnügen sind besonders Musiccomödien.
Die Slawonische, Moscowitische, auch Lateinische und Teutsche
1) Des großen Herms Czar Peter Alexowicz Leben und Thaten von
J. H. von L. Franckfurt 17 lo, S. 97.
— 411 —
Comödie werden den Winter durch und sonsten öffter auf
öffentlichen Theatris mit Vocal- und Instrumental-Music nach
der auswärtigen Art ziemlich gut gespielet, damit dadurch
die Aktores sowohl als die Zuschauer sich in Reden und Ma-
nieren üben, absonderlich den Lastern durch lächerliche und
absurde Vorstellung ihrer Scheußlichkeit möge abgeholffen
werden.** 1701 beauftragte Peter den Kapitän Johann Splawskij,
einen Ungarn von Geburt, der ein ehemaliger Schauspieler
gewesen sein soll, sich nach dem Ausland zu begeben und
eine Komödiantentruppe zu rekrutieren. Splawskij engagierte
in Danzig einen gewissen Johann Kunst als Direktor der Hof-
komödianten der Zarischen Majestät. Am 25. Dezember 1702
wurde das erste öffentliche Theater in Moskau auf dem Roten
Platze (KpacHaH njioma Ab) mit einem Stücke von Kunst eröffnet.
Die meisten Stücke, die hier gegeben wurden, waren dem
Geschmacke Peters entsprechend frivol und zynisch. Der Zar
wies dem Direktor 3000 Rubel jährlich für die Schauspieler,
für jeden der zwölf Musiker des Orchesters extra 150 Rubel
an. Schauspieler und Musiker waren durchwegs Russen, Söhne
von Edelleuten, Offizieren und Würdenträgem. Der Direktor
hatte aber mit ihnen seine Plage. Sie betranken sich alle
Tage bis zur Bewußtlosigkeit, wollten nicht zu den Proben
kommen, machten Skandale und wurden dann mit der Peitsche
gestraft. Kunst klagte über ihre Unreinlichkeit und weigerte
sich, ihnen seine Theaterkostüme zu leihen. Schließlich nahm
die Herrlichkeit des Direktors Kunst ein jähes Ende. Er kün-
digte für den i. April 1705 eine Gala- Vorstellung an, und
ganz Moskau, mit dem Zaren an der Spitze, strömte herbei.
Aber als nach der Ouvertüre der Vorhang in die Höhe ging,
sahen die Zuschauer nichts als eine Tafel mit der Aufschrift:
„Heute ist der erste April !** Weder der Zar noch seine Russen
verstanden den Witz und warteten geduldig; Kunst erschien
endlich und erklärte, daß er sich einen Aprilscherz erlaubt
hätte. Der Zar sagte zornig : „Das ist eine wirkliche Komödian-
tenfrechheit I** und Kunst hatte für immer ausgespielt; er ver-
schwand aus Moskau, und an seine Stelle trat ein anderer
deutscher Direktor, Otto Fürst, der mit einer deutschen Truppe
nach Moskau gekonmien war.
- — 414 —
aber er braucht sich deswegen keine großen Sorgen zu machen,
denn „die Vornehmen des Hofes beschenken die Schauspieler
mit manch schönem und kaum einmal getragenem Kleide."
Auch der Italiener Locatelli verdient ein Vermögen mit leich-
ter Mühe, namentlich da er die Kxmst durch das Handwerk
unterstützt und in die Opemvorstellungen Feuerwerk einführt.
Elisabeth liebt Musik imd Theater. Noch als Prinzessin, da
ihre Mittel äußerst beschränkte waren, hatte sie in ihrem Hof-
staate neun Musiker imd zwölf Sänger i), unter letzteren Ra-
sumowskij, der sich zum heimlich angetrauten Gatten Elisabeths
hinaufsang. Als Zarin läßt Elisabeth die weiblichen Rollen zu-
nächst noch immer durch Kadetten darstellen. Ihrer perversen
Natur, die sie treibt, sich bei Maskeraden in Männerkleider
zu werfen, um ihre schönen Beine zu zeigen, gefallen Männer
in Frauenkleidem ; den hübschen Kadetten Sswistunow kleidet
sie am liebsten selbst an, und an dem Kadetten Beketow ent-
deckt sie, als sie ihn ebenfalls auskleidet, um ihn umzukleiden,
solche Vorzüge, daß sie ihn von seiner Theatergaderobe hin-
weg direkt in ihr Schlafzimmer führt.
Das Interesse für das russische Nationaltheater ist unter-
dessen fast ganz verloren gegangen. Das russische Volk ergötzt
sich in der Butterwoche wie früher bloß an den rohen Vor-
stellungen geistlicher Dramen oder an Hanswurstiaden. Für
diese Komödien hat man nirgends ein bestimmtes Gebäude. Die
Schauspieler wandern von Platz zu Platz, schlagen für einen
Tag hier, für einen andern dort ihr Heim auf, legen eine Matte
auf den Boden, dekorieren die Wände mit buntem Papier, und
Bühne und Zuschauerraum sind fertig. Zuweilen mietet die
Gesellschaft einen Stall; dann hängt man abends eine Laterne
vor die Tür, und der Ton eines Waldhorns verkündet, daß
hier ein Schauspiel (Hrpnme) stattfinden soll. Der vornehmste
Platz kostet vier Kopeken. Der Inhalt der Stücke ist einfach
blöd. Man führt die alten Mysterien auf, aber die Zensur
ist eine strenge geworden. Früher kam es vor, daß in dem
Stücke, welches die Verkündigung Maria feierte, die heilige
Jungfrau dem Engel, der ihr die Geburt Christi prophezeite,
1) Waliszewski, La demiöre des Romanow, 39.
-- 415 —
zornig zurief : „Hältst du mich für eine Hure, da du mir vom
Schwangerwerden vorplauderst ? Packe dich fort oder ich werde
dich wegfegen!** Elisabeth, die fromme und keusche, verbot
derartige Profanierungen der Gottesmutter und befahl, daß
man die Personifikation der heiligen Jungfrau durch ein Hei-
ligenbild ersetzte; jedesmal, wenn an Maria die Reihe kommt,
zu erscheinen, bringt man ein Ikon auf die Bühne.i)
Und doch dichteten damals schon die großen russischen
Dramatiker Lomonossow und Ssumarokow. In Petersburg ver-
einigten sich die drei Kadetten Melessino, Sswistunow und
Osterwald sogar zur Darstellung eines Dramas von Ssumaro-
kow. Die Zarin erfuhr davon und räumte den drei Jünglingen
einen Saal ein, worin sie Stücke der beiden genannten russi-
schen Dichter vor geladenem Publikum aufführten. Zur selben
Zeit, 1750, wurde in Jaroßlawl das erste öffentliche russische
Nationaltheater von dem ersten russischen Schauspieler Fedor
Wolkow begründet.*) Wolkow war im Hause seines reichen
Stiefvaters Poluschkin europäisch erzogen und von einem deut-
schen Pastor, dem Prediger des nach Jaroßlawl verbannten
Herzogs Biron von Kurland, mit Liebe zur Schauspielkunst
erfüllt worden. Er studierte in Moskau und Petersburg, be-
suchte hier eifrig Theatervorstellungen, befreundete sich mit
deutschen und italienischen Künstlern xmd machte sich mit
dem theatralischen Mechanismus bekannt ; dann kehrte er nach
Jaroßlawl zurück, organisierte hier aus Freunden eine Truppe,
1) F. W. Barthold, Ausgang des Joanschen Zweiges der Romanow und
seiner Freunde. Raumers bist. Taschenbuch VIII, S. 70.
S) Gelegentlich der 150. Jahreswende dieses Ereignisses fanden an allen
Theatern Rußlands große Feierlichkeiten statt, und dem Andenken Wolkows
wurden Bücher, Festschriften und Festartikel nicht bloß in Rußland, sondern
auch im Ausland gewidmet; unter letzeren erwähne ich das schöne Feuilleton
von N. Golant (,,Der Begründer des russischen Theaters") im Literaturblatt
der Neuen Freien Presse vom 12. Juli 1900. Seither hat man die Verdienste
Wolkows auf Grund neuerer Forschungen vielfach herabgesetzt. So wider-
legte namentlich P. Morosow im E;Kcr<>;uiiTix'i> iiMin'paTopfKnxb TeaipoirL 1 899/1900
manche der Legenden, die sich um die Erscheinung des ersten russischen
Schauspielers gebildet haben. Es ist aber das Eine jedenfalls nicht anzu-
fechten, daß Wolkow der Bahnbrecher und Pfadfinder der nationalrussischen
Schauspielkunst war. Wolkow starb im Alter von nur 34 Jahren.
— 416 —
erbaute auf eigene Kosten ein Theater und eröffnete es am
12. Juli 1750 mit dem Drama „Esther** und der Schäferidylle
„Emwon und Versa**, zu der er selbst die Musik komponiert
hatte. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Man sprach in
ganz Rußland von dem Ereignis, und Elisabeth befahl, „die
Truppe Wolkows mit aller Eile nach Petersburg zu bringen.**
Die Zarin war von der ersten Vorstellimg, welche die Wol-
kowsche Truppe an ihrem Hofe gab, entzückt und ordnete die
Gründung eines öffentlichen russischen Theaters an. i) Wolkow
wurde zum ersten Hofschauspieler, der Dichter Ssumarokow
^um Direktor mit einem Gehalt von 1000 Rubel ernannt; für
die Schauspielergagen waren 5000 Rubel jährlich angewiesen
worden.
Katharina II. erklärte: „Das Theater ist die Schule der
Nation ; sie muß absolut unter meiner Aufsicht stehen, ich bin
der erste Lehrer dieser Schule, denn meine erhabenste Pflicht
ist vor Gott für die Sitten meines Volkes verantwortüch zu sein.**
Diese Verantwortlichkeit hat die große Zarin wirklich in merk-
würdiger Weise erfüllt, der liebe Gott hat wenig Freude an ihr
erlebt. Als erster Lehrer der theatralischen Nationalschule
verlieh Katharina zunächst dem Meister Wolkow den Andreas-
orden und den Adel; gleichzeitig trug sie ihm, nicht mehr
und nicht weniger, einen Ministerposten an! Wolkow wollte
aber nichts als Schauspieler sein, und bekümmerte sich bloß
lun die Vorbereitung der Festvorstellungen an den bevor-
stehenden Krönungsfeierlichkeiten. Mitten in dieser Tätigkeit
ereilte ihn der frühe Tod. Seine Lebensarbeit war aber trotz
ihrer kurzen Dauer keine verlorene gewesen, das russische
Theater war erschaffen und blieb bestehen. Katharina selbst
schrieb — zumeist mit der Feder ihres Sekretärs Derschawin —
eine ganze Reihe von Theaterstücken^), die sowohl auf der
1) Das historische Dokument ist abgedruckt im ApxHBrb imnepaTopcKBrB
TearpoHb, 'arjj^jrb II: ÄOKVMeHTH, crp. 54, Jß 55 (0(rt yHpe3^y^eHiH PyccKaro Tearpa).
8) Die verschiedenen Ausgaben der Theaterstücke Katharinas findet man
verzeichnet bei B. von Bilbassofi, Katharina II. im Urteile der Weltliteratur,
autorisierte Übers, aus dem Russischen, mit einem Vorwort von Dr. Theodor
Schiemann, Berlin 1897 (2 Bände). — Man vergl. femer Th6dtre de l'Her-
mitage de Catherine II, imp6ratrice de Russie, compos6 par cette princesse.
— 417 —
öffentlichen Bühne als auf der kaiserlichen Privatbühne, dem
Th^atre de TH^nnitage, wie die Kaiserin ihr intimes Bühnen-
haus nannte, zur Aufführung kamen. Im Ermitage-Theater
spielten gewöhnlich Dilettanten, intime Freunde der Kaiserin,
ihre Gelegenheitsmacher, Günstlinge und Freundinnen. Unter
letzteren war die Gräfin Bruce besonders beliebt; aber eines
Tages entdeckte Katharina, daß ihr Liebhaber Korsakow seine
Gunst heimlich der schönen Gräfin zugewendet hatte, und
die Bruce mußte sofort aus Petersburg verschwinden. Auch
sonst spielten sich bei diesen intimen Vorstellungen pikante
Szenen im allerhöchsten Zuschauerräume ab. Baron de Bre-
teuil erzählte, wie er einst an der Seite der Zarin der Auf-
führung einer Tragödie beiwohnte, in welcher Gregor Orlow,
der Günstling Katharinas auftrat. Er spielt seine Rolle linkisch,
aber Katharina schreit immerfort Bravo! und fragt ununter-
brochen rechts und Unks um die Ansichten der Zuschauer. Sie
selbst findet ihn entzückend, lobt seine Noblesse, preist seine
Schönheit. 1) Sobald aber ihre Person aus dem Spiele kommt,
hat diese große Sittenlehrerin kein Interesse mehr für ihre
Schule, das Theater. Um Europa zu blenden, wirft sie Millionen
hinaus für das Engagement von Sternen; sie beruft Madame
Toldi, bewilligt jede Summe, welche die Künstlerin verlangt,
aber muß sich nachher erst darüber informieren lassen, wer
die Toldi eigentUch sei, und was sie leiste. Musik liebt die
Kaiserin nicht, die Komödie langweilt sie, die Tragödie miß-
fällt ihr — und so zieht sie sich endlich, nachdem sie genug
getan hat, um Europas Staunen ob ihres Kunstverständnisses
zu erwecken, mit den alten Herren an den Kartentisch oder
mit den jungen Günstlingen in ihren Alkoven zurück.
Dem gemeinen Volke waren die Hoftheater nicht zugäng-
lich. Auf Befehl der Regierung wurde auf einem Platze an
der Mojka eine offene Bühne für den Petersburger Plebs er-
par plusieurs personnages de sa soci6t6 intime et par quelques ministres
6trangers (publ. par F. Castöra). 2 vols. Paris 1799. Enthalt die Stücke, die
1787 und 1788 auf Katharinas intimer Bühne von französischen Schauspielern
aufgeführt wurden.
1) Wiüisxewski, Autour d'un tröne, page 8a — Derselbe, Le Roman
d'une imp6ratrice> 227, 441.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in RuAland. 37
— 418 —
richtet, wo eine von der Polizei dirigierte und besoldete Truppe
die Moral durch die Kunst lehrte! Die Schauspieler erhielten
für jede Vorstellung sofort ihr Honorar — fünfzig Kopeken
per Person — vom Vertreter des Polizeichefs ausbezahlt.
Dies waren die Anfänge des russischen Theaters, das be-
rufen gewesen wäre, in der Geschichte der SittUchkeit einer der
wichtigsten Faktoren zu sein, das aber seine hohe moralische
Aufgabe nicht erfüllt hat. Wieviel Gutes hätte es gerade für
die Veredlimg der Sitten in Rußland leisten können I Trotz der
allgemeinen Knechtung des Gedankens und des Wortes hat
die Bühne sich einer merkwürdigen Freiheit erfreut. Auf jedem
anderen Gebiete der Literatur war die Wahrheit Verbrechen,
aber auf der Bühne durfte sie sich frei und kühn aussprechen.
Der Publizist Radischtschew wird von Katharina vor Gericht
geschleppt und nach Sibirien verbannt, weil er in seiner „Reise
von Petersburg nach Moskau** eine ziemlich harmlose Kritik
der sozialen Zustände zu veröffentlichen gewagt hat; aber die-
selbe Zarin überschüttet den Lustspieldichter Von-Wisin, der
in seinen Stücken erbarmungslos den Hof und die Gesellschaft
geißelt, mit einer Überfülle von Ehren; und Patjomkin, selbst
durch die Satire schwer verwundet, drückt dem Dichter die
Hand und sag^ ihm: „Jetzt stirb, oder dichte nicht mehr!**
Ssumarokow, der erste ernste russische Dramatiker, darf mit
Stolz den Beinamen eines Beschützers der Wahrheit und Geiß-
lers der Laster führen. Über Lomonossow wird die Knuten-
strafe wegen Beleidigung hoher Beamten verhängt, aber des
Dichters Verdienste als Dramatiker erwirken ihm Begnadigung.
Knjäschnin und Ssudowtschikow dürfen in Dramen das Sportel-
nehmen und die Unehrlichkeit des Beamtentums verspotten.
Kaiser Alexander I. sperrt den Menschenfreund Karasin, den
Begründer der Universität von Charjkow, in das furchtbare Ver-
ließ der Schlüsselburger Festung, weil dieser Mann es gewagt
hat, dem Zaren in einem Buche das Elend des Reiches zu
zeigen; doch der Dichter Gribojedow, der: Wehe dem Ge-
scheiten ! schrieb und in diesem Lustspiel die vornehmste rus-
sische Gesellschaft so furchtbar an den Pranger stellt, daß es
anfänglich nur im Geheimen gegeben werden konnte, wird
von demselben Zaren ausgezeichnet, als das Stück endlich
— 419 —
in die Öffentlichkeit dringt und die Verurteilung der knech-
tischen und faulen Bureaukratie jubelnden Beifall findet. Niko-
laj I. läßt den Satiriker Ssaltykow-Schtschedrin nach Wjätka
verbannen, weil er das verrottete System des Tschin ange-
griffen ; aber wir wissen auch, daß derselbe Nikolaj dem Dich-
ter Gogolj nicht bloß die Aufführung des Lustspiels „Der
Revisor** ermöglicht, sondern der Premiere dieses Stückes, das
die Willkür und Korruption der Tschinowniki bloßstellt, mit
seiner Gegenwart einen besonderen Glanz verleiht. Auch unter
Alexander II. darf Ostrowskij in seinem Lustspiel „Eine ein-
trägliche Stelle** ungestraft die heilige Bureaukratie angreifen.
Die russischen Dramatiker haben aber nicht immer der
Freiheit und der Gerechtigkeit gedient, sondern häufig genug
auch den schlechten Instinkten geschmeichelt und namentlich
der Wollust und der Grausamkeit weiten Spielraum auf der
Bühne verschafft. Im Herbst 1889 wurde im Abramowtheater
zu Moskau ein Stück aufgeführt, worin eine der handelnden
Personen bestimmte weibliche Mitglieder des Zirkus Sala-
monskij bezeichnete, die ihre Gunst willig verschenkten. Woh-
nung und Tarif der Damen wurden genau angegeben. Außer-
dem empfahl man in diesem Stücke Hurenhotels und Ver-
gnügungslokale niedrigster Sorte. ^) Pissemskij zeigte in seiner
Volkstragödie „Bitteres Los**, wie der Bauer Ananij das von
seinem Weibe aus einem Liebesverhältnis mit dem Gutsherrn
geborene Kind in einem Anfall eifersüchtiger Raserei an einer
Tischecke zerschmettert. Leon Tolstoj hat in der „Macht der
Finsternis** die schauerlichsten Tiefen aufgewühlt, wie Maxim
Gorkij in seinen Szenen „Das Nachtasyl**. Am weitesten in
der Brutalität aber gehen jene modernsten Dramatiker, die,
von der Regierung in den Dienst der Reaktion gestellt, in
ihren Stücken zeigen müssen, wie man Juden und Fortschritts-
männer erschlägt; dies geschieht beispielsweise in dem Stück
„Die Söhne Israels**, das seit 1901 aufgeführt wird und von
allem Anfang an zu fanatischen Demonstrationen der Liberalen
wie der Reaktionären Veranlassung gab.
Was bedeutet das Theater in Rußland für die Geschichte
^) HoBoe BpeMfl, 30. okt. 1889.
27'
— 420 —
der öffentlichen Sittlichkeit ? Die Herrscher und Herrscherinnen
des Zarenreiches haben es nur als ein AGttel ihres ^oistischen
Vergnügens betrachtet. Die Zarinnen des achtzehnten Jahr-
hunderts unterstützten es, weü sie im Schauspielerpersonal eine
neue Gattung von Liebhabern fanden, gleichwie im neunzehnten
Jahrhundert der sittenstrenge Nikolaj I. sich seine Maitressen
vom General Gideonow, dem Chef der kaiserlichen Theater,
aus dem Ballettkorps auswählen ließ. Nikolaj IL, der ein glück-
liches Familienleben führt, stellt an das Theater keine derartigen
Ansprüche: aber da es mm besteht, so werde es eine Stätte
der Propaganda für die zarische Autokratie, predige es die
Ausrottung der Feinde des Selbstherrschers durch Mord und
Feuer.
Ein Nationalverg^ügen im guten Sinn des Wortes konnte
das Theater schon deshalb nicht werden, weU man das Volk
von ihm fast immer femgehalten hat. Im Hoftheater Nikolajs I.
gab es weder Balkone, noch Logen, sondern nur ein Parterre,
einen einzigen Raum für die Allervomehmsten, für die Uni-
formierten ; Zivilisten durften nicht erscheinen. Die sogenannten
Volkstheater, die im Laufe der zwei Jahrhunderte gegründet
wurden, hatten keinen Bestand, weU man aus ihnen Schulen
machte, in denen nach autokratischer Lehre mit der Peitsche
des Polizisten unterrichtet wurde. Die Zuschauer schleppte
man durch Kosaken in diese Theater. So zog es der ge-
meine Russe vor, bei seinem Hanswurst der Butterwoche zu
beharren, der nüt seinen obszönen Gesten und zynischen
Reden die Sprache spricht, die das Volk versteht, die dem
Volke gefällt und die das Volk nicht verlernen wird, so lange
die Selbstherrschaft dauert und das Prinzip der Entsittlichung
der Massen regiert. Nikolaj II. eröffnete vor einigen Jahren
im Alexanderpark zu Petersburg wieder einmal ein Volks-
theater und ließ stolz verkünden: „Dies soll eine Stätte sein
für die Entwickelung der Kultur, ein Geschenk Rußlands an
das zwanzigste Jahrhundert.** Die Geschichte aber läßt sich
nicht durch Worte verblüffen und urteilt unbeugsam nur nach
den Ergebnissen.
..I. g-
— 421 —
24. Rauchen und Tabakbuden.
Tabak ein Höllenkraut — Legende vom Tabak — Bibelworte gegen das Rauchen
— Todesstrafe, Folter und Verstümmelung für Raucher — Über die Raucher-
leiden in der Türkei — Peter der Große Urheber'der Rauchfreiheit — Monopole
des Marquis Caermarthen und des Grafen Schuwalow — Rauchen auf den
Straßen — Ukas Nikolajs I. zugunsten eines Rauchers — Raßkoljniki und Geist-
lichkeit gegen das Rauchen — Rauchen ein Nationalvergnügen — Nogaier —
Soldaten — Tabaksalons — Tabakbude und Bordell.
Das Rauchen ist dem Russen gleicherweise Vergnügen wie
Lebensbedürfnis. Merkwürdig aber, daß just in Rußland und
in der Türkei, also in jenen Staaten, die gegenwärtig als die
eigentlichen Raucherländer gelten, der Tabak i) im Anfang
verpönt war als das Kraut der Hölle. Die russische Literatur
des siebzehnten Jahrhunderts besitzt sogar eine „Legende vom
Ursprung des Tabaks" 2)^ worin alle Schrecken ausgemalt sind,
die dem Seelenheil des Tabakfreundes drohen. Besonders die
Mönche verabscheuten den Tabak. Ein Abt aus einem Kloster
in der Ukraine sagte dem preußischen Legationssekretär Vocke-
rodt^): „Gk)tt habe das Tabakrauchen ausdrücklich verboten;
es heißt in der Bibel : Was zum Munde hineingeht, verunreinigt
den Menschen nicht; aber was zum Munde herausgeht, ver-
unreinigt den Menschen. Deshalb sei eher Bier oder Brannt-
wein erlaubt als Tabakrauchen.** Zar Michael Feodorowitsch,
der erste Romanow, verbot in einem Gesetze „sowohl den
Russen als den Ausländem, Tabak bei sich zu haben, Tabak
zu trinken oder damit zu handeln.** Käufer und Verkäufer
sollten festgenonmien amd sogleich mit dem Tode gestraft
1) Dr. Gustav Klemm (Das Feuer, die Nahrung, Getränke, Narkotica.
Leipzig 1855, S. 366) meint, daß'^die* Russen'][den Tabak durch die Engländer
kennen lernten. Nach England aber kam Tabak erst um 1583, während nach
Olearius, Orient. Reise S. 126, schon im Jahre 1542 der Tabak in Rußland
verboten wurde. Es wird daher angenommen, daß die Russen wie den Tee
auch den Tabak aus China erhielten. Vgl. Nicotiana, oder: Taschenbuch ffir
Tabakliebhaber, Berlin 1801, S. 35 und 44.
s) VgL A. V. Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, S. 240.
S) Bei Herrmann, Zeitgenöss. Berichte, S. 15, Abschnitt 22. '
— 422 —
werden; ihre Häuser und Güter verfielen der Konfiskation,
das einfließende Geld erhielt die zarische Kasse. Zar Alexej
Michajlowitsch der Aufgeklärte i) bestätigte nicht bloß das Ge-
setz des Vaters, sondern verschärfte es noch durch die An-
ordnimg, daß der Todesstrafe die Folterung vorausgehen sollte.
Wenn jemand beteuerte, daß er den Tabak nicht gekauft, son-
dern zufällig auf der Straße gefunden, so wurde er auf die
Folter gespannt ; bestand er in der Folter bei seinen Angaben,
so nahm man diese als wahr an. War der Beschuldigte ein
Bojar, so ließ man ihn jetzt frei; „ein Streljze, ein Ausländer,
ein Herrenknecht, ein Bauer oder ein Spaziergänger** aber
wurden, bevor man sie freiließ, „über dem Bock nüt der
Knute" geschlagen. Wenn ein Streljze zum zweiten Male im
Besitze von Tabak gefimden wurde, so folterte man ihn —
falls er angab, den Tabak wieder nur gefunden zu haben —
diesmal wiederholt, tun die Wahrheit zu erfahren. Bestand er
auf seinen Angaben, so ließ man ihm das Leben, verbannte
ihn jedoch in ferne Provinzen oder nach Sibirien imd gab ihm
einen Denkzettel, indem man ihm die Nase abschnitt oder
wenigstens die Nasenlöcher aufschlitzte^).
Peter der Große, der seine Russen rasierte und nach euro-
päischer Art kleidete, steckte ihnen auch die Tabakspfeife in
den Mund. Schon vor seiner Reise ins Ausland, im Jahre
1697, hob er das Verbot des Tabakrauchens auf. In England
schloß er mit dem Marquis von Caermarthen einen Vertrag
betreffe eines Tabakshandelmonopols für Rußland. Er selbst
raucht und schnupft; bei den Assembleen müssen auf allen
Tischen Tabaksäckchen und Pfeifen aufliegen s), und die
Russen, in neuen eleganten französischen Kleidern herum-
sj)azierend, dampfen auf zarischen Befehl aus den plumpen
1) Vgl. die §§ 10 — 21 des Kap. XXV in Struvens Allg. Russ. Land- Recht,
Dantzig 1723, S. 241 ff.
*) In der Türkei waren die gleichen Strafen in Gebrauch. Dem Raucher
wurde die Nase durchbohrt und der also bestrafte Rauchlüstling als abschi'ecken*
dte Beispiel 2ur Schau herumgeführt. Murad IV. ließ 1638, zur selben Zeit
wie Zar Michael, die Raucher in seinem Heere köpfen, hängen, vierteilen und
die Leichen solcher Verbrecher vor die Zelte werfen.
») Waliszewski» Pierre le Grand, pp. 60, 212, 458.
— 428 —
holländischen Matrosenpfeifen. Die Anhänger der alten Ge-
bräuche sahen in der Erlaubnis des Tabakrauchens eine Ent-
heiligung des Glaubens; um diese Fanatiker zu ärgern, ver-
anstaltete Peter, wie bereits in einem früheren Kapitel erzählt
wurde 1), eine Maskerade, bei der die Teilnehmer Päckchen
brennenden Tabaks auf den Hüten trugen, während der After-
papst Sotow das Volk mit einer Tabakspfeife wie mit einem
Kreuze segnete.
Die Russen gewöhnten sich schnell an das Höllenkraut,
und bald wurde im ganzen Lande so stark geraucht, daß der
Marquis von Caermarthen ein glänzendes Geschäft machte;
er allein hatte das Recht des Tabakhandels in ganz Rußland,
die Ukraine und Livland ausgenommen, und wer sein Monopol
verletzte, verfiel der Knutenstrafe 2). Zarin Elisabeth überließ
ihrem Günstling Generalfeldmarschall Grafen Schuwalow und
dessen Erben im Jahre 1759 die Tabakpacht für zwanzig Jahre
gegen eine Summe von 70000 Rubel. Ein Ukas Katharinas 11.
hob 1762 diesen Vertrag auf und gab den Tabakhandel im
ganzen Reiche frei 3). Nur das alte Verbot des Rauchens auf
den Straßen blieb unverändert bestehen. Noch unter Nikolaj I.
wurden Personen, die auf der Straße mit brennenden Zigarren
angetroffen wur,den, von den Polizisten arretiert und auf der
Polizeiwachstube mit 25 Stockschlägen bestraft. Ausländische
Matrosen, die sich mit Unkenntnis der Gesetze entschuldigen
konnten, zahlten beim ersten Male bloß 5 Rubel Strafe. Eine
Ausnahme ließ Kaiser Nikolaj nur für den Chefarzt des Ge-
neralstabs der Marine gelten; dieser war ein so leidenschaft-
Ucher Raucher, daß er seine Zigarre fast niemals aus dem
Munde nahm. Der Zar gestattete ihm durch einen speziellen
Ukas das Rauchen auf der Straße*).
1) Vgl. Seite 372.
2) Memoires pour servir ä. l'histoire de 1' Empire Russien par un Ministre
etranger, ä, la Haye 1725, p. 102.
S) Büschings Magazin für die neue Historie und Geographie, III 284. -^
Man vgl. auch den Ukas Katharinas vom 1 1 . Februar 1 763 über die Tabaks-
plantagen in Kleinrußland, bei Haigold, Neuverändertes Rußland, II. Bd.,
S. IV und 141 — 152.
*) Vgl. FjMor Wemirot, Rußland im Licht und Rußland im Schatten.
S. 416.
— 424 —
Die Raßkoljniki oder Altgläubigen sind unerbittliche
Gegner des Tabaks^). Das im Eingang dieses Kapitels er-
wähnte Bibelwort dient ihnen als Beweis dafür, daß das Rauchen
ein Höllenwerk sei 2). Wenn ein Fremder, der bei einem Alt-
gläubigen zu Besuche ist, in Unkenntnis des Absehens der
Raßkoljniki vor dem Tabak ahnungslos seine Zigarette raucht,
so sagt ihm der Wirt kein Wort. Aber kaum ist der Gast
fort, so beginnt die Reparierung des Verbrechens. Alle Fenster
werden geöffnet, Türen und Tische gewaschen und gescheuert,
das ganze Haus gereinigt imd vor allem die Plätze, auf denen
der Fremde gesessen, einer gründlichen Säuberimg unter-
zogen 5).
Gleich den Russen sind auch die nichtrussischen Völker
in Rußland, namentlich die im Süden lebenden, leidenschaft-
liche Raucher; der Nogaier beispielsweise könnte alles ent-
behren, nur den Tabak nicht*). Für die Soldaten ist die Zi-
garette der Inbegriff des Süßesten und Kostbarsten. Ich er-
innere mich, daß wir als Knaben den in den türkischen Krieg
ziehenden Soldaten alle möglichen Geschenke, Eßwaren und
Wertsachen brachten; sie wiesen alles zurück und baten nur
um Tabak xmd Papiroß^). Die Tabakbude, Ta6aHHaa jiaBKa,
ist für den echten Russen ein Ort der Unterhaltung, eine Art
Kaffeehaus, wo er, namentlich in den großen, fast durchwegs
von krymschen Juden, den Karaiten, gehaltenen Geschäften,
1) Ähnlich sind auch die Wahabiten, die man die Altgläubigen unter den
moslemischen Sekten nennen kann. Gegner des Tabakrauchens.
*) Einst sagte ein Pfarrer in Basel: ,,Wenn ich Männer sehe, die Tabak
rauchen, so ist mir als sähe ich lauter Kamine der Hölle". Der Glaubensprediger
Scriver schrieb in seinem ,, Seelenschatze" (17. Jahrhundert): ,, Damit man
immer mehr saufen könne, macht man den Hals zur Feuermauer und zündet
dem Teufel ein Rauch werk an". Kanzler Jäger (in der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts) rief von der Kanzel herab: ..Sie saufen, fressen, huren, buben,
ja sie rauchen sogar Tabak". Der Klerus ist überall derselbe. Bei den Indianern
aber ist das Rauchen eine religiöse Handlung. Vgl. V. Strebel, Die Rauchhexe,
Stuttgart 1857, S. 40, 71.
*) Sammlung merkwürdiger Anekdoten das Russische Reich betreffend.
Greif swald 1793, S. 33.
**) Haxthausen, Studien über die inneren Zustände Rußlands, II 371.
*) Ilaniipori,. das russische Wort für Zigarette.
Prostituierte in einem Bad in Batutn.
■•»
— 426 —
jeden nur erdenklichen Luxus antrifft. Da gibt es prächtige
Hallen mit Diwanen; Zeitungen liegen auf; und ist man stän-
dige Kundschaft, so erhält man auch sein Glas Tschaj. Man
kann an Ort und Stelle die besten Rauchsorten erproben, er-
zählt währenddem Geschichten, hört auch einem von Tabak-
bude zu Tabakbude wandernden Sskwernoßlow ^) zu. Diese
Tabatschnije Lawki sind außerordentlich sauber gehalten
und die Waren appetithch aufgestapelt, wie in einem Delika-
tessengeschäft 2). Im Süden Rußlands, beispielsweise Odessa,
sind die kleineren Tabakbuden aber auch Stätten der Prosti-
tution. Hier steht am Verkaufstische statt eines Mannes stets
eine Frau, die dem Käufer durch einige Worte zu verstehen
gibt, sie müsse selbst bedienen, weil sie frische Mädchen be-
kommen habe, die das GescTiäft noch nicht verstehen. „Frische
Mädchen, hübsche Mädchen,** fügt sie hinzu, und öffnet die
Tür eines Nebenzimmers, worin man zwei oder drei halbnackte
oder auch völlig nackte Frauenzirmner erblickt. Der Tarif
beträgt für Fremde einen Rubel, für Einheimische oder Be-
karmte die Hälfte. In manchen Straßen Odessas reiht sich
eine derartige Tabakbude an die andere, und der Fremde, der
den eigentlichen Zweck der Geschäfte nicht kennt, staunt nicht
wenig ob der scheinbar unvernünftigen Häufigkeit und un-
sinnigen Konkurrenz: er erhält aber einen geradezu imponie-
renden Eindruck von der russischen Rauchwut, beobachtet
er dann gar die lebhafte Frequenz dieser Tabakbuden, die
trotz des großen Wetteifers glänzend nebeneinander bestehen.
^) CKB(^pnofJii>KT>. Zotenreißer.
^) Vgl. J. G. Kohl, Südrußland. II 85.
— 426 —
25- Bäder.
Vorgänger des nissischen Schwitzbades — Das Bad der Sk)rthen — Das finnische
Dampfbad — Russisches Schwitzbad — Flagellation im Bade — Das Badblatt
im Sprichwort — Arten des Badens — Nacktheit — Bad als Heilmittel —
Der heilige Andreas über die Bader von Nowgorod — Gemeinsames Baden von
Männern und Weibern — Klagen des Stoglaw — Bericht Fletchers — Olearius
über die Schamlosigkeit der Russinnen — Abb6 Chappe d'Auteroche und
Katharina II. — Katharina verbietet das gemeinsame Baden — Maler und
Ärzte haben freien Zutritt zum Frauenbad — Weitere Berichte — Major Masson
— Erlebnisse eines deutschen Offiziers — Erzählung des Grafen de la Garde
— Trennung der Geschlechter in den stadtischen Bädern — Unzucht in Bade-
anstalten — Frotteurinnen im Wannenbad — Päderastie in den Bädern von
Tiflis — Anmerkung über Unzucht in abendländischen Bädern — Bad und
Reinlichkeit — Der Geruch der Russen — Bad und Aberglaube — Der Samstag
und das Baden — Coitus und Bäder.
Das berühmte Schwitzbad der Russen hat berühmte Vor-
gänger. Herodot erzählt, daß man bei den Skythen ein Dampf-
bad bereitete, indem man Hanfsamen auf glühende Steine
warf. Den Hauptreiz dieses Bades sucht man wohl nicht mit
Unrecht in seiner narkotischen Wirkung i). Unter den nord-
europäischen Völkern besitzen die Finnen die ältesten Dampf-
bäder. Den Finnen ist das Badehaus nicht bloß unentbehrlich,
sondern ein wahres Heiligtum. Jeder, selbst der Ärmste, hat
sein eigenes, wenn auch noch so kleines Badehaus. Hierher
flüchtet er sich, um Heilung zu finden, wenn eine Krankheit
ihn befällt; dann läßt er sich massieren und schwitzt tüchtig.
Die Schwangere begibt sich, wenn sie ihre schwere Stunde
kommen fühlt, ins Badehaus, um hier ihre Niederkunft abzu-
warten. Das finnische Badehaus ist ein aus Balken errichteter
kleiner viereckiger Bau nüt einem aus Feldsteinen zusammen-
gefügten, großen Ofen. An den Wänden entlang läuft oben
eine hängende Galerie, die Schwitzbank. Nur zwei oder drei
Luken sind dazu bestimmt, dem Rauch und Dampf Abzug zu
1) Vgl. Die Geschichte des Badewesens von Dr. Eduard Bäumer, Breslau
1903, S. 58 — 60: Das Badewesen der Finnen. — Bader und Badewesen in
Vergangenheit und Gegenwart. Eine kulturhistorische Studie von Dr. med.
Julian Marcuse. Stuttgart 1903, S. 86 — 89.
— 427 —
lassen; sonst hat der Raum keine Öffnungen. Der Dampf
wird dadurch erzeugt, daß man Wasser eimerweise auf die
heißen Ofensteine schüttet; die Temperatur erreicht die Höhe
von 70 bis 75 Grad Celsius. Man badet im Sonmier zur
Erntezeit gewöhnlich jeden Abend, sonst zwei- oder dreimal
wöchentlich. Männer, Frauen und Kinder sind im Baderaume
in buntem Durcheinander und tummeln sich ungeniert nackt
herum, peitschen sich selbst oder einander mit Birkenreisern
und übergießen sich mit kaltem Wasser. Oft läuft man, selbst
im Winter, aus dem Badehaus ins Freie und stürzt sich in
einen Fluß oder wälzt sich nackt im Schnee.
Die Russen haben zweifellos das Dampfbad von den Finnen
übernommen. In den russischen Dörfern wird das Schwitz-
bad noch heute so bereitet, wie es bei den Finnen Brauch ist,
indem man auf den glühenden Ofen kaltes Wasser schüttet.
In den Städten sind die Bäder eleganter und räumlicher und
bestehen aus wenigstens drei Stuben: einem Auskleide- und
Ankleidezimmer, einer Kammer, in der man sich auf Bänke
legt, um sich von dem Banschtschik (öaHmHicB) einseifen 7u
lassen, und aus dem eigentlichen Schwitzraum, wo in der
Mitte sich ein eingemauerter Kessel voll siedenden Wassers
befindet, während in einer Ecke Haufen von Birkenruten liegen.
Man nimmt einen starken Besen, läßt sich tüchtig flagellieren
und steigt dann die Treppe zur Schwitzbank hinauf, auf der
man ausgestreckt so lange bleibt als man es aushalten kann.
Ehe man das Schwitzbad verläßt, überschüttet man sich tüchtig
mit kaltem Wasser. Dies geschieht nicht bloß der Abkühlung
wegen, sondern auch um die Birkenblätter, welche sich überall
am Körper festsetzen, wieder wegzuspülen, was keine leichte
Arbeit ist. Daher stammt das russische Sprichwort zur Be-
zeichnung eines zudringlichen Menschen: „Er ist anhänglich
wie ein Badblatt am After" (üpHCTajrb KaKB 6aHHHÄ jihctb
KB jKOwh), Ein anderes Sprichwort warnt daher: „Badest
du viel, so sproßt dir die Weide im After'* (Bjjiemh ^raoro
KynaTBCfl — Bep6a BTb aconi EHpocTerB). Von einem ängst-
lichen Menschen heißt es : „Er schriunpfte zusammen, wie die
Vorhaut nach dem Bade** (CMopmajica, Kain> aajiyna nocn-fe
6aHH.)
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— 42« —
Vor zwei Jahrhunderten beschrieb ein Diplomat folgende
vier Arten des Badens, die damals in Petersburg üblich waren i) :
Man setzt sich nackt in ein Boot und rudert rührig, bis
man in Schweiß gerät, dann springt man in den Fluß und
schwimmt umher, hierauf klettert man in das Boot zurück und
trocknet sich mit dem Hemd ab oder läßt sich von der
Sonne trocknen. • Oder man badet im Flusse und begibt sich
dann zu einem am Ufer angemachten großen Feuer, bestreicht
den Körper mit öl oder Fett und geht, als wollte man sich
rösten lassen, so lange nackt um das Feuer herum, bis die
Haut die Fettigkeit ganz eingesogen hat.
Eine dritte Art des Badens war die in dem finnischen
Vorort gebräuchliche. Hier waren in einem großen Holzbau
am Ufer eines Flüßchens nebeneinander dreißig Bäder errichtet.
Beide Geschlechter badeten zwar getrennt, aber man entkleidete
sich ungeniert draußen und lief nackt hinein, und wenn man
drinnen genug geschwitzt hatte, kühlte man sich durch kaltes
Wasser ab, lief zurück ins Freie und trocknete sich an der
Sonne. Oft kamen vierzig oder fünfzig Männer und Frauen
nackt aus ihren Abteilungen heraus, liefen ungeniert hin und
her und lachten die Passanten aus. Diese Bäder in der fin-
nischen Sloboda gehörten dem Zaren ; für die Benützung zahlte
jede Person einen Kopeken. Das vierte Bad, das unser Ge-
währsmann schildert, ist das eigentliche russische Schwitzbad.
„Nach dem Bad,** heißt es zum Schlüsse, „werfen sie sich in
kaltes Wasser oder itn Winter in den Schnee und vergraben
sich in ihm so tief, daß nur Nase imd Augen frei bleiben ; und
so liegen sie oft zwei Stunden lang. Das betrachten sie als
ein Universalmittel in den verschiedensten Krankheiten**.
Vom heiligen Andreas wird berichtet, daß er bei seiner
Ankunft in Nowgorod dort das Schwitzbad in derselben Art
kennen lernte, in der es noch jetzt gebräuchlich ist 2). Nach
Rom zurückgekehrt, soll der Heilige seinen staunenden Zu-
hörern das Schwitzbad als eine der Merkwürdigkeiten des rus-
1) Memoires pour servir ä Thistoire de 1' Empire russien par un niinistre
etranger, ä la Haye 1725, p. 39.
2) Chronique de Nestor I 7.
Russisches Dampfbad.
- 429 —
sischen Landes geschildert haben i): „Ich besuchte die Bad-
stuben. Sie sind aus Holz gebaut. Die Slawen heizen soviel
als möglich, dann werfen sie ihre Kleider ab und tauchen sich
in Seifenwasser ein. Sie haben Ruten und flagellieren sich
stumm bis sie schwitzen. Darauf tauchen sie in kaltem Wasser
imter. Diesen Gebrauch üben sie mehrmals täglich. Geschützt
vor der Tyrannei 2), quälen die Slawen auf diese Weise sich
selbst und machen aus dem Bad statt eines Vergnügens eine
wahre Strafe."
Ob nun wirlUich der heilige Andreas selbst diese Worte
gesprochen hat oder nicht, wahr ist diese Schilderung jeden-
falls, und sie paßt noch für heute ganz gut. Nur eines ist
in dem altert Berichte nicht ausdrücklich erwähnt : Das ge-
meinsame Baden beider Geschlechter. Es ist möglich, daß
diese Sitte erst später entstanden ist, denn im „Stoglaw** Iwans
des Schrecklichen wird es als trauriges Charakteristikum ge-
rade jener Zeit hingestellt, daß Männer und Frauen, sogar
Mönche und Nonnen miteinander baden 3). Der Engländer
Giles Fletcher*), der damals Moskau besuchte, wundert sich
über die Leidenschaft der Russen für die Schwitzbäder und
über ihre Unempfindlichkeit gegen Hitze und Kälte, erwähnt
aber nur nebenbei, daß sie ganz nackt aus der Badstube ins
Freie laufen und sich ungeniert herumtummeln. Deutlicher
ist der Reisende Olearius: „Die Frauenspersonen sind sehr
unverschämt und ausgelassen. Es ist in Rußland nichts Sel-
tenes, daß junge Weiber, wenn sie baden wollen, sich unter
freiem Himmel ausziehen und aus dem Bade wieder nackt
herauslaufen. Vierzig, fünfzig und mehr Frauen und Mäd-
chen tanzen und springen ohne Scham und Ehrbarkeit, so
wie Gott sie erschaffen hat, herum und scheuen sich auch nicht
vor den Fremden, die vorübergehen.** Baron Mayerberg be-
tont, daß die Bäder zwar getrennte Abteilungen für Männer
1) Ebenda, II. Anhang 76.
2) Nowgorod war eine Republik. Die russische Autokratie beginnt erst
mit der Hegemonie von Moskau und erreicht ihre eigentliche Gewalt mit der
Romanowschen caMOAepscaBCTBO oder Alleinherrschaft.
») Vgl. S. 143.
^) Karamsin, deutsche Ausgabe IX 314. französische X 374.
— 430 —
und für Frauen besitzen, aber er fügt hinzu, daß die Frauen
ganz nackt aus ihrer Abteilung herauskommen und zur Tür
der Männerabteilung gehen „und schamlos mit ihren männ-
lichen Bekannten sprechen; wenn ihr Blut durch die Flagel-
lation erhitzt worden, werfen sie sich vor den Augen der
Männer oder zusanmien mit ihnen in kaltes Wasser" i).
Trotz der Verdammung durch den Stoglaw Iwans des
Schrecklichen blieb diese Sitte durch die Jahrhunderte fort-
bestehen. Alle Werke des achtzehnten Jahrhunderts, die Ruß-
land schildern, tun des gemeinsamen Baden« nicht bloß, son-
dern auch der schamlosen Nacktheit der Russen und Rus-
sinnen außerhalb der Badeanstalt Erwähnung. Berühmt wurden
die Mitteilungen des Franzosen Chappe d'Auteroche^) dadurch,
daß Katharina II. sich veranlaßt sah, sie anzufechten. Der
Franzose erzählt fast wörtlich dasselbe, was Baron Mayerberg
um ein Jahrhundert früher berichtet hatte: „Die Abteilung
der Männer ist von jener der Frauen durch einen Holzverschlag
getrennt, aber Männer und Frauen kommen aus ihren Ab-
teilungen nackt heraus und unterhalten sich, werfen sich auch
mitsammen in den Schnee. In den Volksbädern ist selbst
das Bad gemeinsam für beide Geschlechter. In den Salzwerken
von Solikamskaja sah ich nackte Männer an die Tür des
Frauenbades kommen und mit den Weibern sprechen." Katha-
rina II. suchte mit großem Eifer und noch größerer ermüdender
Ausführlichkeit die Schilderung des Franzosen als freche Lüge
hinzustellen 3). Aber man darf nicht einmal von Übertreibung
sprechen. Oder man müßte die anderen hier erwähnten älteren
1) Mayerberg, Voyage i688, 150 (Neudruck I 141).
2) Voyage en Sib^rie fait en 1761, contenant les moeurs et les usages des
Russes et l'^tat actuel de cette puissance, Paris 1768, I 16. Unsere schöne
Illustration ,,Les Bains publics de Russie" von Le Prince haben wir diesem
seltenen Buche entnommen.
3) In ihrer satyrisch sein sollenden Schrift: L' Antidote, ou Examen du
mauvais livre superbement imprim6, intitul6 Voyage en Sib6rie par M. l'abb^
Chappe d'Auteroche, 1770. Das zweibändige Buch der Kaiserin ist überaus
selten. Eine englische Übersetzung mit langem Titel (The Antidote etc.)
erschien London 1772. Ein unvollständiger und veränderter Abdruck des fran-
zösischen Originals ist Lausanne . 1 799 datiert.
- 431 —
Berichte, die russischen inbegriffen, allesamt als unglaubwürdig
verwerfen und die Erzählungen der neueren Reisenden als
bloße Plagiate an den früheren Behauptungen hinstellen. Es
gibt kaum ein Werk über Rußland, das nicht als charakte-
ristisch das gemeinsame Baden beider Geschlechter hervor-
heben würde. Ich führe noch einige Beispiele an.
Chantreau erzählt i): „Das ordinäre Dampfbad besteht aus
einer einzigen Stube nüt hermetisch verschlossenen Fenstern.
Darin waltet eine alte Frau, die Wasser auf heiße Steine
schüttet, um Dampf zu erzeugen; auch seift sie die Leute
ein, frottiert sie und schlägt sie mit Ruten. Reiche Leute haben
ihre eigenen Bäder. Aus dem Bade tritt man nackt ins Freie,
stürzt sich in den Fluß oder in den Schnee; auch die Frauen
und Mädchen tun dies, ohne deswegen ängstlich zu sein, daß
man sie in naturalibus erblicke.**
Major Masson^) sah im Juni einen Haufen Weiber nackt an
den Ufern eines Flusses herumlaufen, ehe sie sich zum Baden
entschlossen. Überrascht von dieser seltsamen Ungeniertheit,
blieb er stehen, aber seine Aufmerksamkeit führte keine Unter-
brechung des Spiels herbei. Eine Alte schwamm mit einem
jungen Manne um die Wette und gewann. Als sie aus dem
Wasser gekommen waren, ergriff die Frau den Besiegten am
Barte und am Penis und warf ihn ziu* Strafe für seine Nieder-
lage unter allgemeinem Hohngelächter wieder ins Wasser.
Katharina II. befahl durch einen Ukas den Besitzern der
öffentlichen Badeanstalten in den Städten, für beide Ge-
schlechter getrennte Bäder anzulegen; „besonders sollen in
jene, welche für die Frauen bestimmt sind, keine anderen
Männer hineingelassen werden als die zum Dienste durchaus
erforderlich sind, und außerdem noch Maler und Ärzte, die
ihre Kunst darin studieren wollen**. Es geschah daraufhin, daß
sich viele den Titel eines Arztes oder Malers willkürlich bei-
legten, um die Frauenbäder besuchen zu dürfen. In Peters-
1) Voyage philosophique, politique et litt^raire fait en Russie 1788 et
1789. Trad. du Hollandais. Hambourg 1794, I 296.
2) Geheitne Nachrichten über Rußland, II 174 und 199, französische Origi-
nalausgabe II 131 und 149.
— 432 —
bürg gibt es seitdem nur Bäder, in denen die Abteilungen für
Frauen und Männer streng voneinander geschieden sind. Auf
dem Lande ist aber das gemeinsame Baden beider Geschlechter
noch heute üblich.
Major Masson bemerkte, daß das gemeinsame Baden in
Rußland nicht von Ausschweifimgen begleitet sei, weil man
von Kindheit an alles sehe imd kennen lerne. Zu anderer An-
sicht aber gelangt ein deutscher Off izier in seiner Schilderung^) :
„Als ich zum ersten Male diese öffentlichen Bäder gesehen,
glaubte ich in Amerika imter den Wilden zu seyn. Ich sähe
eine Menge Männer und Weiber, Mädchen und Jünglinge,
Kinder imd Greise nackend und ohne alle Scham für meinen
Augen herumlaufen; einige wuschen sich im Flusse; andere
schwammen ; noch andere saßen an der Anhöhe des Flusses
und wärmten sich in der Sonne. Es hatte das Ansehen, als
wenn alle diese Leute noch im Stande der Unschuld lebten, und
durch den Anblick verborgener Schönheiten zu keinen un-
ordentlichen und ausschweifenden Begierden gereizt würden.
Am mehresten wunderte ich mich darüber, daß Alte und Junge
von beyden Geschlechtem, ohne die geringsten Zeichen der
Scham, untereinander vermischt waren, und daß die Mutter
sich den unverschämten Blicken des Sohnes und der Vater
den neugierigen Augen seiner Tochter darstelleten. Der An-
blick war neu für mich, und mein Freund, mit dem ich einen
Spaziergang gethan, und der meine Furchtsamkeit, mich diesem
Orte zu nähern, merkte, führte mich bis an die Badstuben selbst :
Ich glaubte hier unseren Erzvater Adam mit seiner ersten
Familie zu sehen. Ich habe gefunden," schließt der Bericht,
„daß diese unverschämte Entblösung vor den Augen der ganzen
Welt die Ursache ist, daß sie schon von Jugend auf eine
Gewohnheit erhalten, sich ihren viehischen Begierden unein-
geschränkt zu überlassen.**
Der Verfasser der „Geheimnisse von Rußland** sagt ge-
radezu, daß in den Bädern auf dem Lande die gemeinsam Ba-
denden Handlungen der Wollust begehen. Man läßt sich die
1) Rußische Anecdoten oder Briefe eines teutschen OificierB an einen
Liefländischen Edelmann. Wansbeck 1765, S. 95.
— 433 —
Haut mit den Fingernägeln kratzen, um die Sinnlichkeit noch
mehr zu reizen i).
Endlich finden wir im Tagebuche des Grafen de la Garde ^'j
folgende Mitteilung über ein Erlebnis in Wassilkow, auf dem
Wege von Kijew nach Berditschew : „Junge Burschen und
Mädchen baden sich gemeinschaftlich in einem großen See,
nahe bei der Stadt; sie schwimmen um die Wette, tauchen
unter und jagen sich einander, ohne eine andere Hülle, als
die der durchsichtigen Wogen. Das mag hie und da Folgen
haben, welche eins oder das andere dieser schönen Kinder
verhindern könnten, als Rosenmädchen von Salency gekrönt
zu werden; oder welche sie des rothen, wollenen Bandes be-
rauben, das die Jungfrauen hier zu Lande bis zum Hochzeits-
tage im Haare tragen; allein die Gewohnheit macht Alles,
und der Mißbrauch ist hier wahrscheinlich selten/'
Gegenwärtig ist man strenger in Keuschheitsfragen und
in der Auffassung des Schamgefühls. Das gemeinsame Baden
beider Geschlechter ist in keiner russischen Stadt mehr ge-
stattet. Im Seebad Dubbeln am jrigaschen Meerbusen existierte
eine Zeitlang die Erlaubnis für ein gemeinsames Baden in Ko-
stümen; aber diese Einführung fand keinen Anklang. Der
Tag blieb daher in bestimmte Stunden für das Baden der
Männer und Frauen eingeteilt. Polizisten wachen auf den
Sandhügeln am Strande darüber, daß sich Männer und Frauen
nicht einmal in Sehweite in jenen Stunden nähern, die dem
anderen Geschlecht eingeräumt sind. In den städtischen Dampf-
bädern existiert zwischen den Abteilungen des Männerbades
und des Frauenbades keine Kommunikation mehr, wie sie in
alten Zeiten bestanden hat und auf dem Lande zumeist noch
besteht. Dagegen ist es erlaubt, daß Mann und Frau gemein-
sam ein Kabinett mit Wannenbad mieten, wo sie unter sich
bleiben können, ohne das Schamgefühl anderer zu verletzen.
In Polen, Südrußland, Odessa und Kaukasien ist es Sitte, daß
der Badewirt einem männlichen Gaste unaufgefordert ins Bade-
1) Geheimnisse von Rußland, I 250. — Clarke, Travels in Russia, Tartary
and Turkey, Hartford 181 7, I 185.
>) Reise von Moskau nach Wien, Heidelberg 1825, 16. Brief, S. 35.
Stern. Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Ruftland. 2g
— 434 —
kabinett mehrere Mädchen bringt, von denen man sich eine
als Frotteurin auswählen kann. Hierfür ist ein besonderer Preis
zu entrichten, der ausgehandeh werden muß. Je nach dem
Aussehen des Gastes verlangt der Wirt fünfzig Kopeken bis
fünfzehn Rubel. Betreffs des Bades selbst kann man ebenfalls
handeln. Werden drei Rubel gefordert, so ist es wahrschein-
lich, daß man bei einiger Energie nur 40 Kopeken zu zahlen
haben wird. In den Bädern von Batum und Tiflis werden
den Besuchern auch Knaben als Werkzeuge der Päderastie
angeboten. 1)
Das Bad ist dem Russen nicht Reinigungsbedürfnis in
erster Linie, sondern Vergnügen. Wäre es anders, so hätte der
Franzose Veuillot nicht vor etwa fünfzig Jahren den Satz
aufstellen dürfen, daß die Moskowiter Aussicht haben die
Weltherrschaft zu erringen, weil die Herrschaft über die Welt
den schmutzigen Völkern gehöre: „Gott hat die menschlichen
Körper aus Schmutz gebildet, und sie befinden sich am wohl-
sten in inniger Berührung mit ihren IJrstoffen; die Reinlich-
1) Der sittenverderbende Einfluß des Badelebens war auch im Abendlande
nicht selten zu verspüren. Es bedurfte, wie Marcuse (a. a. O. 64) sagt, nicht erst
des äußeren Umstandes, daß die Kreuzfahrer, nachdem sie im Orient die
Üppigkeit der morgenländischen Bäder kennen gelernt hatten, diese Ausschwei-
fungen in die Heimat übertrugen ; schon in dem Charakter der abendländischen
Badestuben, in der totalen Mischung der Geschlechter lag genügend Unter-
grund für Sittenlosigkeit. In Frankreich waren die Bäder lange Zeit Rendez-
vousplätze der Galanterie und Ausschweifung. Der König St. Louis mußte
dagegen Maßregeln ergreifen, obgleich der physische Geschlechtsgenuß damals
nicht so geheim gehalten wurde. ,, Meine Damen", fragte der Prediger Maillard
seine Zuhörerinnen einmal, ,, gehen Sie denn nicht in die Badstuben nur um
dort das zu tun — Sie wissen schon, was ich meine?" Von den Germanen
erzählt Cäsar: ,,Und doch macht man aus der Geschlechts Verschiedenheit kein
Geheimnis, denn beide Geschlechter baden sich gemeinschaftlich in Flüssen."
Im ganzen Mittelalter herrschte in Deutschland die Sitte des gemeinsamen
Badens von Männern und Frauen. Eine Synode im Jahre 745 ordnete an,
daß die Männer nicht mit den Frauen vereint baden sollten, der Kirche galt
dies als eine Sünde. Aber trotzdem blieb die Sitte bis in die Neuzeit bestehen.
In Basel badete man gemeinschaftlich bis 1431. Die Bedienung im Badehause
besorgten bis zum 16. Jahrhundert in beiden Abteilungen Frauen. Die An-
gehörigen der unteren Volksklassen entkleideten sich zu Hause fast völlig und
verfügten sich dann über die Gasse nach der Badestube. Guarinonius klagt
zu Beginn des 17. Jahrhunderts, daß nicht bloß ,, Mannes- und Weibspersonen
— 435 —
keit aber erschlafft und tötet. Die Moskowiter schmeicheln
sich, die Weltherrschaft zu erringen, und ich wäre keineswegs
erstaunt, wenn es ihnen gelänge. Ihr Triumph hängt nicht
von ihren Fortschritten in der Zivihsation ab, sondern von der
Kraft und Dauer ihrer Vorliebe für den Kerzentalg. Die
Männer, die Bart und Haupthaar mit Unschlitt und ranzigem
Öl salben, das sind die großen Überwinder der Welt.**i) Alle
älteren Reisenden erzählen von der beängstigenden Unreinlich-
keit der Russen, und von dem dadurch entstandenen spezifisch
russischen Geruch. Auch moderne Schriftsteller haben viel-
fach diesem russischen Geruch Bemerkungen gewidmet. Der
Franzose Custine entsetzte sich bei dem Gedanken, daß er am
Neujahrsfeste in Peterhof mehrere Tausend Russen auf ein-
mal antreffen sollte. Die Russen, sagte er 2), tragen im allge-
meinen einen unangenehmen Geruch mit sich, den man schon
von fem spürt: „Les gens du monde sentent le musc, et les
gens du peuple le chou aigre, mel6 d*une exhalaison d'oignons
et de vieux cuirs gras parfum6s.** Der Deutsche Kohl 3) teilt
in offenen Bädern ganz unverschambt baden", sondern auch, daß sie ,, nackend
über die öffentlichen Gassen bis zum Badehaus gehen". Vgl. Johannes Scherr,
Geschichte der deutschen Frauenwelt, II. Auflage, Leipzig 1865, I 276; Max
Bauer, das Geschlechtsleben in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1902,
216; Wilhelm Rudeck, Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland,
Berlin (Barsdorf) 1902, S. 5.
1) Louis Veuillot, M^langes r6ügieux, historiques, politiques et litt6raires,
Paris 1857.
2) La Russie en 1839, Paris 1843, II ^^3-
') Reisen im Inneren von Rußland und Polen. Man vergleiche mit diesen
Bemerkungen den Artikel von A. Bastian, AUeriei aus Volks- und Menschen-
kunde, Berlin (2 Bände) I 384 ff. : ,,Über gute und schlechte Gerüche"; und
die wertvolle Arbeit von Dr. Albert Hagen, Die sexuelle Osphresiologie, Die
Beziehungen des Geruchssinnes zur menschlichen Geschlechtstätigkeit, Berlin
(Barsdorf) 1906. Besonders beachtenswert der Abschnitt: Ethnologie der
sexuellen Gerüche, S. 166 — 190, wo auch Kohls Mitteilungen über Rußland
zitiert sind. — Wenig bekannt und erst jüngst durch ein Buch von Louis
Batiffol (La vie intime d'une reine de France au XVI le sidcle, Paris 1906,
p. 82) ausführlicher dargelegt ist, daß die Vorliebe der Königin Maria von Medicis
für Parfüms keinen Luxus, sondern eine Notwendigkeit befriedigte, weil Hein-
rich IV. einen üblen Geruch um sich verbreitete. Des Königs geliebteste Maitresse,
Henriette d'Entraigues, erklärt offen, Heinrich stinke wie ein Aas. In einem
seltenen Buche von Theodore Agrippa d'Aubign6 (Les avantures du Baron
28*
- 436 —
sogar jedem Volke in Rußland seinen besonderen Geruch zu:
„Es herrscht in diesem Gerüche oft eine Sache vor, mit der
die Nation vielfach in Berührung kommt ; so bei den Litthauern
der Hering, bei den Polen der Branntwein, bei den Großrussen
das Juchtenleder, bei den Kleinrussen der Knoblauch, bei
den Juden ihr eigentümlich spezifischer Hautgeruch/*
Die Unreinlichkeit der Russen hat übrigens ihre guten
Gründe. Das Volk ist durch das rauhe Klima gezwungen,
den größten Teil des Jahres dicke Kleidung zu tragen, und
viele haben sich daran so gewöhnt, daß sie sich auch im
Sommer ihres Pelzes nicht entledigen. Der Bauer schläft sogar
in seinem Tulup.\) Nach dem Bade zieht man wieder die
schmutzigen, vom Ungeziefer nie gesäuberten Kleider an ;
Wäsche wechselt man selten, sofern man solch zweckloses
Zeug überhaupt trägt.
Also nicht aus purer Reinlichkeitsliebe geht man ins Bad,
sondern weil dieses teils ein Nationalvergnügen ist, teils gleich-
sam zu den religiösen Vorschriften gehört. ,, Nachdem Gott
die Welt erschaffen hatte, ging er am sechsten Tage ins Bad/*
lehrt ein Sprichwort 2) die Russen. Ein anderes Sprichwort
kennt sogar drei wichtige Sonnabendpflichten 3) : „Den Sonn-
abend feiert man dreifach: man muß die Bliny^) backen, das
Bad besuchen und das Weibchen begatten.**
Schließlich ist auch der Zusammenhang des Aberglaubens
mit dem Baden zu erwähnen. In offenem Wasser soll man
nicht vor Iwan Kupalo, dem 24 Juni, und nicht nach dem
Eliastage, dem 20. August, baden. Wer Letzteres trotzdem
tut, den warnt man mit den Worten: „Elias hat ins Wasser
geschissen** (Hjiba b'i> BOAy Hacpajit).
Die Neugeborenen, namentlich aber die Erstgeborenen,
de Foeneste, 1729, A Cologne chez les Heritiers de Pierre Marteau (fingierter
Verlag!) fand ich die merkwürdige Bemerkung, daß man zur Zeit Heinrichs
die Edelleute am Geruch erkannte. Der König als erster Gentilhomme seines
Reiches stank am ärgsten.
1) Ty.TyiTL, Schlaf pelz.
^) Bon», C03AaBinH Mipi», Ha luecroft :\eub noiuejn> bt. 6aHio.
*j Bt> cy66oTy Tpii npaajuniKa: 6.1HHU neKyn., wb öaiuo häytl h öaÖr» eöyn.!
*) EjDOfb, Art Pfannenkuchen.
437 —
trägt man sobald als möglich ins Schwitzbad und brüht sie
mit heißem Wasser ab, um sie von allem zu reinigen, was
etwa vom Teufel an ihnen sein könnte.
Beim Geschlechtsakt hat Satan immer seine Hand im
Spiel. Vor der Hochzeit geht die Braut ins Bad, um sich
von dem Unreinen, Unheiligen zu befreien, und nach der
Brautnacht badet sie nochmals, um des Teufels List zu ent-
gehen.i) Dieser Gebrauch war seit jeher im Hause des Zaren
wie des Bojaren und ebenso in der Tsbä des Muschik einge-
führt und ist noch heute allgemein. 2) Auch späterhin muß
die Frau jedesmal ein Bad nehmen, wenn sie mit ihrem Manne
den Geschlechtsakt ausgeübt hat. 3) Tut sie das nicht, dann
kann der Teufel Gewalt über sie gewinnen und als Frucht des
Geschlechtsverkehrs leicht ein Wechselbalg entstehen. Rein-
lichkeitsliebe spielt bei diesen Bädern gewiß keine Rolle. Denn
wie die Russen über die Reinlichkeit beim Geschlechtsakt und
über die Sauberkeit der Geschlechtsteile denken^), erfährt man
deutlich genug aus ihrem Sprichwort*'*): ,,Für einen guten
Hurer existiert keine dreckige Pisda."
1) Über die Unreinigkeit des Geschlechtsaktes nach der Auffassung des
Orients und über die Notwendigkeit des Badens nach dem Coitus vgl. Bernhard
Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei, II 193; über
Bäder und Waschungen nach dem Beischlaf im Gebrauche der alten Völker:
J. Rosenbaum, Geschichte der Lustseuche, 7. Aufl., Berlin, Barsdorf (II. Ab-
schnitt).
*) ^iafi-kiiim^ pyccKift Hapo;n., 119: IIbluh, M-fexa 11 nutiMa n|»a4n<»i"i ho'ih:
525: BaHH.
3) Sammlung merkwürdiger Anekdoten, das Russische Reich betreffend.
Aus dem Französischen, Greifswald 1793, I 105.
*) Alinliches sagt Krauß, Anthropophyteia I 247, Anmerkung, von den
Südslawen: Die Bäuerinnen pflegen sich absichtlich ihre Gesclilechtsteilc nicht
zu \vaschen, weil sie glauben, die angesammelte Unreinlichkeit erhölie den
Liebesgenuß. Auch der Mann bewahrt sorgsam den käsigen Schmutz, der sich
hinter seiner Zumpthaut ansammelt.
*) ;Uh xopoiuaio «M'ma uf»Ti> 3a('piiHH<»ft iin:j,u»i.
FÜNFTER TEIL:
Russische Leiden
26. Schicksalsglaube und Selbstmord.
— 27. Feuer, Hunger und Pestilenz.
— 28. Medizin und Aberglaube. —
29. Räuberwesen und Revolutionen.
• 1.
^ —'/ • - j'
26. Schicksalsglaube und Selbstmord.
Fatalismus des russischen Volkes — Sprichwörter — Totenklagen — Die Vor-
stellung vom Jenseits — Selbstmörder als Dämone — Polnischer Aberglaube
in betreff der Selbstmörder — Aberglaube der Jakuten und Mongolen — Der
Selbstmord bei den Tschuktschen — Selbstaufopferung als Mittel gegen Seuchen
— Russische Gesetze gegen den Selbstmord — Begräbnis der Selbstmörder an
einem ehrlosen Orte — Der Selbstmord im russischen Aberglauben — Selbst-
mörder werden Vampyre und Krankheitsgeister — Leichenschändungen.
Widerspruchslose und widerstandslose Ergebung in die
traurigen, für unabänderlich gehaltenen Verhältnisse ist eine
charakteristische Eigentümlichkeit der slawischen Völker, so-
wohl der südlichen als jener im Norden.^) Im russischen Natio-
nalcharakter ist der Schicksalsglaube einer der prägnantesten
Züge. Er ist nicht bloß allgemein bei den Bauern anzutreffen,
sondern dringt häufig genug in die höheren und intelligen-
testen Klassen der Gesellschaft ein. Kr ist mit der russischen
Denkweise verwachsen. Man findet bei dem Russen Spuren
von Fatalismus ebenso in den Momenten todesverachtender
Tapferkeit wie in Stunden völliger Resignation, bei der Auf-
lehnung wie bei der Unterwerfung, in der Tollkühnheit
nicht weniger als in der Entmutigung, in den Anwandlungen
fieberhafter Tätigkeit gleichermaßen wie bei der größten Ab-
spannung, im Verneinen wie im Glauben, in allen Neigungen
und Vergnügungen. 2) Man kann so weit gehen, diesen Charak-
terzug über alle anderen Züge des russischen Charakters zu
stellen. Der Glaube an V^orsehung und Schicksal ist im russi-
> ) Vgl. Dr. Friedrich S. Krausz. Sreca, Glück und Schicksal im \'olksglauben
der Südslaven. Separatabdruck aus den Mitteilungen der Anthropologischen
Gesellschaft in Wien. 1886.
2) Leroy-Beaulieu. Das Reich der Zaren und die Russen. 111 23.
442 -
sehen Volke so tief eingewurzelt, daß er manchem in der Tat
als der einzige wirkliche Glaube erscheint, der die Seele
dieses Volkes durchdringt ; er hat jenen eigentümlichen Geistes-
zustand ausgebildet, der die außerordentliche Wankelmütig-
keit des russischen Volkes verständlich macht und die Laxheit
in der Moral als eine unvermeidliche Notwendigkeit erschei-
nen läßt.i)
Das unabwendbare Fatum, vom Christentum in das Gericht
Gottes verwandelt, wird durch zahlreiche Sprichwörter gelehrt :
Was einmal bestimmt ist, kann nicht vermieden werden. Jedem
Menschen geschieht, was ihm bei der Geburt bestimmt worden
ist. Was geschehen soll, wird geschehen. Dem Schicksal wirst
du nicht entrinnen, auch nicht zu Pferde. Sünde und Sorge
überholen alle Menschen gleichmäßig. Wenn ein Hund ge-
schlagen werden soll, fehlt es nicht an Stöcken. Ein Narr
schießt, aber Gott lenkt die Kugel. Der Wolf packt die Schafe,
die ihm bestimmt sind. Magst dich fürchten oder nicht, dem
Geschick entgehst du nicht. — Im Igorlied und bei Daniel
dem Verbannten, einem Dichter des zwölften Jahrhunderts,
endlich heißt es : Weder die Schlauen noch die Kühnen werden
Gottes Gericht entrinnen.
In den Totenklagen 2) wird erzählt, wie der Mensch ver-
geblich dem Tode auszuweichen sucht. Weder Gewalt noch
List können das Leben verlängern; umsonst bemühen sich
auch die Verwandten, den Tod durch Geschenke zu besänf-
tigen, um ihm eine kurze Frist abzugewinnen; der Tod bleibt
unerbittlich, er duldet keinen Aufschub, wenn er kommt und
das Leben fordert, muß man unverweilt den langen unbe-
kannten Weg antreten. Diese Volkslieder sind vom kirch-
lichen Einfluß freigeblieben, man findet in ihnen keine Er-
wähnung des Paradieses oder der Hölle. Das Jenseits wird
mannigfach, meist unbestimmt, aber immer phantastisch und
mit einer Menge heidnischer Bilder geschildert. Entweder
nimmt den Toten die feuchte Mutter Erde auf, oder er fliegt
empor zu den Planeten, wohin weder Winde noch lebendige
1) Lanin, Russische Zustände. I 95.
2) Reinholdt, Geschichte der russ. Literatur, 30.
— 443 —
Wesen dringen, oder* endlich: er kommt auf die mythische
Insel Bujan, die in ewiger Blüte prangt; dort wohnen die
Verstorbenen in ihren Häusern. Ebenso ist die Schicksals-
idee zu einer halb märchenhaften, halb allegorischen Gestalt
verkörpert werden, welche in den Totenklagen, in den Volks-
märchen und den volkstümlichen Erzählungen in heidnischem
Gewände auftritt; und man wird beispielsweise in einer Er-
zählung vom Ursprung des bösen Geschickes in der Welt
lebhaft an den Mythus der Pandora und im Einzelnen an
Thors Fischfang erinnert, i)
Alles, was sich ereignet, und alles, was nicht eintritt, ist
also Fatum. Es ist töricht, etwas zu unternehmen, um sich
selbst zu helfen. Man vegetiert dahin, ohne sich zu rühren.
Man liegt tatlos auf dem Ofen und sieht zu, wie das Fatum
sich gestaltet. Bei dieser fatalistischen Auffassung vom Guten
und Bösen, das einem während des Lebens auf Erden begegnet,
muß der Selbstmord in Rußland eine Seltenheit sein. Die
trostlosen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhält-
nisse haben zwar einige Sekten erzeugt 2), die nicht mehr träge
das Schicksal an sich heranschleichen lassen, sondern dem
unabänderlichen Tod zuvorkommen und durch freiwillige Ver-
nichtung ihres Lebens den Qualen ein vorzeitiges Ende be-
reiten. Das Volk im großen und ganzen aber begreift den
Selbstmord eines Menschen nicht, und sieht im Selbstmörder
ein unreines Wesen. Dieses Volk ist so sehr an das Dulden
gewöhnt, erträgt alle Leiden so gleichmütig, daß es sich nicht
vorstellen kann, wie ein. Mensch es wagt, sich der Peitsche
seines Herrn, dem Kummer, den das Schicksal ihm auferlegt
hat, trotzig zu entziehen.
Nicht bloß bei den Russen selbst-^), auch bei fast allen
i) Reinholdt a. a. O. t^i.
2) Vgl. S. 248—255.
3) Ich will nicht ermangeln, hier einige seltene Schriften zu notieren, die
mir bei der Aufsuchung der Quellen zur Geschichte des Selbstmordes unter-
gekommen sind. Namentlich zur Geschichte des Selbstmordes aus Fanatismus
enthalten diese Werke interessante Angaben: Christliche Vermahnung vnd
Tröstung / Aus Heiliger Schrifft / wider die schwere anfechtung der Entleibung
seiner selbst / so offt aus verzweiffelung geschieht / Durch Egidium Mecheler
444 —
in Rußland lebenden Völkern, ja selbst bei vielen heidnischen,
betrachtet man den Selbstmörder als einen vom Teufel Be-
sessenen, der nach seinem Tode keine Ruhe findet und in der
Welt umherschweift, um den Menschen zu schaden: Die pol-
nische Dämonologie sieht in jedem, der sich erhängt oder er-
tränkt hat, einen bösen Geist, einen unversöhnlichen Feind
der Menschheit. Wehe dem, der nachts in die Nähe der Leiche
eines Selbstmörders gerät. Die Leiche erwacht und stürzt sich
über den ahnungslosen Passanten und erwürgt ihn. Es hilft
nichts, wenn man einen Selbstmörder begräbt. Die Leiche
steigt um Mittemacht aus dem Grabe, wandert Schrecken
säend umher, und kehrt erst beim dritten Hahnenschrei in
die Erde zurück. In Polen begräbt man die Selbstmörder
am Rande eines Waldes. Die Hirten hüten sich, mit ihren
Herden nachts ihr Lager in der Nähe eines Waldes aufzu-
schlagen. Tun sie dies doch, so steigt um Mittemacht einer
der am Waldrand begrabenen Selbstmörder hervor und ver-
jagt die Hirten: wer nicht sofort flieht, der kann sich nicht
retten, der Dämon reißt ihm den Kopf ab. Dann setzt sich
der Geist selbst ans Feuer, um sich zu wärmen, und erst beim
dritten Hahnenschrei kehrt er in sein Grab zurück. Auch am
l-fer eines Flusses soll man sich nachts nicht aufhalten. Die
Geister jener, die sich im Flusse ertränkt haben, steigen her-
vor und ziehen den unvorsichtigen Wanderer ins Wellengrab
hinunter. Die Selbstmörder werden nach dem Tode auch \'am-
pyre: während aber die gewöhnlichen Vampyre die Menschen
einem gnten freunde zugeschrielien Anno 1541. Sampt etlichen Brief fen
D. Lutheri wieder solchen Fall nützlich zu lesen / mit einer Vorrede. M. Georgij
Süberschlags Pfarren; der Christlichen Gemeine zum Predigern in Erffurd t
Jetzt auffe newe auffgelegt vnd gedruckt ,' Durch Joachim Mecheler ' Im
Jahr 1600. — Traite du suicide ou de meurtre volontaire de soi-meme. Par
Jean Pumas. A Amsterdam chez D. J. Changuion. 1773. — Meine Lieblings-
stunden in Brieten den besten Menschen bestimmt. Von dem Verfasser der
Gallerie der Teufel. Berlin 1781. bey Christian Ludewig Stahlbaum. Erster
Band 70 — \o2: Von der Epidemie des Selbstmordes. — Der Selbstmord,
psychologisch erklärt und moralisch gewürdigt, ein Beitrag zur Warnung vor
Trübsinn und Verzweiflung und zur Empfehlung der ächten Lebenskunst :
teüs nachdem Französischen, teils eigentümlich bearl>eitet von Aucust v. ^iiin>
röder. Weimar 1837. Zwei Teile.
44o
iiach und nach entkräften und töten, sind die aus Selbstmör-
dern rekrutierten so furchtbar, daß sie sc hon bei ihrem ersten
Besuche dem Menschen alles Blut aussaugen und ihn auf der
Stelle umbringen. 1)
Bei den Jakuten werden die Selbstmörder Yours, eben-
falls den Menschen feindliche Dämone. Die Mongolen glau-
ben, daß die Seelen der Selbstmörder als Boks umherirren,
als Geister, die namentlich jenen Übles zufügen, die ihnen im
Leben nahegestanden. Die Kamtschadalen betrachten den
Selbstmord als eine ziemlich gleichgültige Sache. Wenn sich
jemand in einen Fluß stürzt, um sich zu ertränken, leistet ihm
ein Kamtschadale niemals Hilfe; denn in Kamtschatka sagt
man : Es sei Sünde, einen, der sich ertränken wolle, zu retten :
wer das trotzdem unternehme, werde sich zur Strafe dafür
früher oder später selbst ertränken.^)
Bei den Tschuktschen dagegen herrscht der Selbstmord als
ein Gebrauch, erzeugt aus religiösem Fanatismus, aus dem Glau-
ben an das jenseitige Leben imd dem Wunsche, die ver-
storbenen Verwandten schneller wiederzusehen. Die Seelen
der \'erstorbenen werden von den Überlebenden als Beschützer
der Familie angesehen. Gibt es Unglücksfälle oder Krank-
heiten in der Familie, so sind daran nicht l^loß die bösen
Geister, sondern auch die Seelen der Verstorbenen schuld,
denen man Ursache zur Unzufriedenheit gegeben hat ; um die
Erzürnten zu versöhnen, opfert ein Familienmitglied sein eige-
nes Leben. Der Selbstmord vollzieht sich in aller Öffentlich-
keit 3): Der Selbstmörder in spe macht allen Nachbarn Mit-
teilung von seinem Entschluß. Man versucht pro forma, ihn
von dem Vorhaben abzubringen, oder ihn wenigstens zu einem
Aufschub der Ausführung zu bereden. Er bleibt jedoch fest,
bezieht sich auf die Toten, die ihn quälen, auf Teufel und
1) V. Begiel, La d^monologie du peuple polonais. Revue de l'histoire
des Religions. Paris 1902. Tome XLV No. 2. p. 158 — 170.
2) Histoire de Kamtschatka II 169.
8) Vgl. die Schilderung dieser Zeremonie von dem Missionär Adolf Skrzyncki
aus St. Louis in der Zeitschrift ,,Am Urquell", V 267 — 268. Skrzyncki bemerkt,
daß dieser von alters her erhaltene Brauch noch heute mit derselben Genauig-
keit befolgt wird, wie er dort vor der Einführung des Christentums geschah.
-- 446 —
verstorbene Verwandte, die ihm fortwährend im Traume er-
scheinen und ihn zu sich rufen. Man beginnt also die Vor-
bereitungen zum Selbstmord nach dem üblichen Ritual. Der
zukünftige Selbstmörder erhält eine neue Kleidung aus weißen
Renntierfellen, dann stellt man einen neuen Schlitten her und
kauft neue Geschirre für die Renntiere, mit denen das frei-
willige Opfer die Reise ins Jenseits antreten wird. In zehn
bis fünfzehn Tagen sind die Vorbereitungen beendet. Am
feierlichen Tage versanmieln sich die Verwandten und Nach-
barn. In ihrer Gegenwart zieht sich der Fanatiker die neue
Kleidung an und setzt sich in die Ecke der Jurte. Sein näch-
ster Verwandter hält das Werkzeug des Todes, entweder einen
Speer, ein Messer oder einen Riemen. Der Todeslustige kann
zwischen diesen drei Dingen wählen. Will er mit dem Messer
seinem Leben ein Ende machen, so halten zwei Verwandte
ihn an den Händen fest, während ein dritter ihm von der
Gurgel bis zum Herzen einen tiefen Schnitt macht und die
Spitze des Messers zum Schluß in sein Herz stößt. Will er
mit dem Speer erstochen werden, so steckt man diesen durch
eine Öffnung in der Wand hindurch. Der Fanatiker stellt
sich so, daß die Spitze direkt sein Herz treffen muß und ruft
dann laut, daß man zustoße. Die Erdrosselung vollführt man,
indem zwei Verwandte den Riemen um den Hals des Mannes
drehen und dann die Enden so lange nach entgegengesetz-
ten Richtungen ziehen, bis der Zweck erreicht ist. Die Leiche
trägt man in den neuen Schlitten und setzt sie hier halb auf.
Dann fährt man hinaus an den Ort der Toten. Hier werden
die Renntiere, die den Geopferten hergebracht, erstochen. Dem
Toten zieht man die Kleidung aus und zerschneidet sie in
kleine Stücke, die man wegwirft. Die Teilnehmer der Zere-
monie beschmieren ihre Hände und ihr Antlitz mit dem Blute
des Opfers, bitten den Toten, ihrer nicht zu vergessen, und
verbrennen die Leiche auf einem Scheiterhaufen.
Das russische Gesetz hat namentlich unter Nikolaj I. merk-
würdige Bestimmungen bezüglich der Selbstmörder festge-
legt^): „Wer sich selbst vorsätzlich (nicht etwa im Wahn-
1) Vgl. Strafgesetzbuch des Russischen Reichs, promulgiert im Jahr 1845;
deutsche Ausgabe, Carlsruhe und Baden 1847, S. 367. §§ 1943 — 1947.
447
sinn oder bei vorübergehender Geistesstörung) tötet, wird als
eine Person betrachtet, die nicht befugt war, Verfügungen für
den Todesfall zu treffen. Demnach bleibt das Testament des
Selbstmörders, als nichtig, ohne Vollziehung; ebenso jede
andere, von ihm für den Fall seines Ablebens gemachte An-
ordnung, sie betreffe seine Kmder, Pflegebefohlenen, Diener,
sein Vermögen oder sonst irgend einen Gegenstand. Dem
Selbstmörder ist die christliche Bestattung versagt. Wer bei
gesundem Verstände einen Selbstmord versucht, und daran
nur durch äußere Umstände verhindert wird, muß sich, falls
er den christlichen Glauben bekennt, einer Kirchenbuße unter-
ziehen. Diese Bestimmungen finden keine Anwendung auf
den, der sich aus Vaterlandsliebe oder Pflichttreue einer Lebens-
gefahr aussetzt oder dem Tode opfert; ebensowenig gegen
die weibliche Person, die sich tötet oder zu töten versucht,
um ihre Keuschheit und Ehre gegen einen nicht anders ab-
zuwehrenden Angriff zu schützen. Wer einen andern zum Selbst-
morde beredet, ihm dazu Mittel verschafft oder dazu sonst
auf irgend eine Weise mitwirkt, wird als Begünstiger eines
mit Vorbedacht verübten Mordes bestraft. Eltern, Vormün-
der und andere Vorgesetzte, welche durch grausamen Miß-
brauch ihrer Gewalt eine ihnen untergebene Person zum Selbst-
morde verleiten, werden mit Entziehung der Ehren- und Stan-
desrechte auf ein bis zwei Jahre Besserungshaus verurteilt
• und müssen sich, falls sie den christlichen Glauben bekennen,
einer Kirchenbuße unterziehen.** Bis in die neueste Zeit be-
stand der Artikel, der dem Selbstmörder das christliche Be-
gräbnis versagte; dieser Artikel wurde in den Entwurf des
neuen Strafgesetzbuches, das sich in Vorbereitung befindet,
nicht aufgenommen, aber in der Verordnung für die Ärzte
aus dem Jahre 1892 ist stehen geblieben: daß der Körper
eines vorsätzlichen Selbstmörders vom Schinder an einen ehr-
losen Ort zu schleppen und dort zu verscharren sei.
Solche Bestimmungen, ob sie nun befolgt werden oder
nicht, lassen dem Volke den Selbstmord nicht nur als etwas
Schändliches und Ehrloses erscheinen, sondern haben auch
den Aberglauben bestärkt, der seit jeher und fast überall mit
dem Selbstmord im Zusammenhang steht. Die an einem ehr-
448 —
losen Orte verscharrten Leichen können nach russischem Glau-
ben keine Ruhe finden, schweifen als Geister und Vampyre
umher, sind schuld an Dürre, Hungersnot und Seuche i): Im
Jahre 1887 erhängte sich im Dorfe Iwanowka im Alexandrij-
schen Kreise des Gouvernements Cherson ein Bauer. Kurz
darauf entstand anhaltende Trockenheit. Natürlich war der
Selbstmörder schuld. Die Bauern pilgerten zu seinem Grabe,
gruben die Leiche aus, besprengten sie mit Wasser und
sprachen: „Ich besprenge, ich besprenge; Gott gebe einen
Platzregen; führ' ein Regenchen herbei und befreie uns vom
Unglück." Als dies Mittel nicht geholfen hatte, wurde die
Leiche abermals ausgegraben und möglichst weit weg vom
Dorfe entfernt, damit der Verstorbene den Weg nicht zurück-
finde. 1872 wurde aus ähnlichen Gründen im Kamenezschen
Kreise des Gouvernements Podolien die Leiche eines Mannes,
der sich erhängt hatte, ausgegraben und in den Teich ge-
worfen; 1883 im Dorfe Begitowskij, im Gouvernement Stawro-
pol, die Leiche eines Mannes, der im Wahnsinn einen Selbst-
mord begangen hatte, aus dem Grabe gerissen und verbrannt.
Das Merkwürdigste ereignete sich 1892 im Dorfe Ssomenitschki
des Kreises Ponewjesch im Gouvernement Kowno: Eine
Bäuerin hatte sich im Walde erhängt. Sie war Katholikin.
Der katholische Geistliche weigerte sich, die Selbstmörderin
beerdigen zu lassen, und lehnte es ab, Geld für ein Trauer-
geläute anzunehmen: ,,ihre Seele ist dem Teufel verfallen,**
sagte er. Das Entsetzen der Söhne der Selbstmörderin war
groß; und ihre Furcht davor, daß die teuflische Mutter keine
Ruhe im Grabe finden und daher umherwandern würde, um
der Familie und dem Dorfe Schaden zu bringen, steigerte sich
schließlich derartig, daß sie es für das beste hielten, der Leiche
der Mutter den Kopf abzuhacken; die zerstückelte Leiche
scharrten sie dann so ein, daß der Kopf bei den Füßen lag.
Jetzt waren sie sicher, daß die Selbstmörderin aus dem Grabe
nicht mehr hervorkommen könnte.
1) Löwenstimm, .\berglaube und Strafrecht, S. 105.
449
27- Feuer^ Hunger und Pestilenz.
Feuersbrunst und Zauberei — Brandplage — Hinrichtung Glinskijs wegen
zauberischer Brandstiftung — Gründung eines Schomsteinfegerkorps — Feuer-
wächter — Strafen für Brandstifter — Geschichte der Hungersnöte — Hunger
und Hexerei — Weiberleiber als Getreidespeicher — Hungertragödien in alten
Zeiten — Ein Ausspruch des Zaren Boriß — Wohltat ein Übel — Verheim-
lichung des Elends vor Fremden — Nikolaj I. haßt das Wort Hunger — Kanni-
balismus in Hungerzeiten — Beispiele aus Rußland und den Ostseeprovinzen
— Iwan der Schreckliche liebt Verhungernde zu sehen — Gnade für Menschen-
fresser, Strafe für Kalbfleischesser — Die Hungersnot der Gegenwart — \'er-
brechen der Regierung — Der Aberglaube als Regierungsstütze — Geschichte
der Epidemien — Glaube an Pestdämone — Hexenmorde — Wasserweihe —
Die Pest in Moskau 1654 und 1771 — Die jüngsten Epidemien.
Nur der fatalistische Glaube und der träge Charakter des
Russen können es erklären, daß in diesem Reiche der Selbst-
mord nicht eine Volkskrankheit geworden ist. Denn die Leiden
Rußlands seit seinem Bestände sind so namenlos und so un-
unterbrochen, daß dort das Leben kaum mehr lebenswert er-
scheint. Schon die Elemente der Natur haben alles aufgeboten,
um den Riesenstaat zu einer Stätte ewiger Not zu machen.
Feuer, Hunger und Pest gehören zu den ständigen Institutionen.
In früheren Zeiten hat man es nicht einmal der Mühe wert-
gehalten, diese natürlichen Plagen zu bekämpfen oder ihnen
vorzubeugen. Das Schicksal führte sie herbei oder die Zau-
berei verursachte sie — Menschenmacht konnte sie also nicht
verhindern, noch weniger beendigen; man wartete ergeben,
bis der Kelch vorüberging.
Unter Wladimir Monomach zerstörte eine große Feuers-
brunst Kijew; gleichzeitig trat eine vollständige Sonnenfinster-
nis ein, man sah in der Mittagsstunde Sterne am Himmel, und
schließlich vernichteten Erdbeben und Orkane ganze Land-
striche, Menschenmassen und Viehherden wurden von den
empörten Elementen in die Flüsse geschleudert. 1185 und
II 90 wurde die Stadt Wladimir durch ein Feuer vollständig
verödet; Schätze an Edelmetallen, die in den Kirchen auf-
gespeichert waren, die kostbarsten Meßgewänder und seltene
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in RußlAiid. 29
— 460 —
Bücher fielen den Flammen zum Opfer. In denselben Jahren
verwüsteten Brände die Städte Rostow, Ladoga, Russa und
Nowgorod; in letzterer Stadt brannten an einem Tage 4300
Häuser^ darunter viele steinerne, nieder. Von 1420 bis 1450
wüteten, namentlich in Moskau und Nowgorod, furchtbare
Feuersbrünste. Auf dem flachen Lande herrschte Trocken-
heit. „Die Erde entzündete sich vor Hitze,** schreiben die
Annalisten, „sodaß die Menschen in den dicken Rauchwolken
einander nicht sehen konnten; nach dieser Zeit sind, wie einst
nach der Sündflut, die Lebensalter kürzer und die Menschen
hinfälliger imd schwächer geworden.** Für die Feuersbrünste,
die 1507 in Nowgorod allein 5314 Menschenleben forderten
und im selben Jahre Moskau und Pskow verheerten, machten
die Chronisten die Einführung der teuflischen Pulvermühlen
verantwortlich, in denen man geheime Zauberkräfte vermutete.
Als im Jahre 1 547 in Moskau ein Riesenbrand die halbe Stadt
verzehrte, erhob sich niemand, um dem Feuer Einhalt zu
tun, sondern alles forschte nur nach den Urhebern der Zau-
berei, die den Brand hervorgerufen haben mußte. Die Familie
Glinskij, die für den jugendlichen 2^ren Iwan die Regentschaft
führte, wurde endlich der Zauberei verdächtigt, und das Haupt
dieser Familie fiel als Opfer des Aberglaubens, dessen sich,
wie so oft in Rußland, die Politik bedient hatte.
Bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gab es nicht
einmal eine Feuerwehr. 1736 verheerte ein neuer großer Brand
Moskau; 2527 größere und 9145 kleinere Bauten, mehr als
hundert Kirchen und ein Dutzend Klöster wurden ein Raub
der Flammen. Nun zum ersten Male raffte man sich auf,
den Feuersgefahren systematisch zu begegnen. 1737 befahl
die Zarin Anna die Gründung eines Schornsteinfegerkorps.
Patrouillen mußten Tag und Nacht die Straßen der Haupt-
stadt durchziehen, um das Brandlegen zu verhüten oder aus-
gebrochenes Feuer im Keime zu ersticken. Man begnügte sich
nicht mehr mit der Lynchjustiz des Aberglaubens, sondern
schuf strenge Gesetze, um die Brandstifter abzuschrecken. Wer
einen Brand legt, befahl die Kaiserin, soll für das Feuer im
Feuer büßen, lebendig verbrannt werden. Aber wieder echt
russisch ist es, daß man nicht bloß die Verbrecher bestraft,
— 451 —
sondern auch jene, die von dem Verbrechen bloß sprechen;
daß also schon für die Erwähnung eines stattgehabten Brandes
die Knutenstrafe droht!
Nächst dem Feuer ist es der Hunger, der ununterbrochen
Rußland heimsucht. Die erste große Hungersnot entstand
neun Jahre ivach dem Tode des vielbesungenen Fürsten Wladi-
mir, des ersten christlichen Herrschers. Die Zauberer erklärten
das Unheil als Folge des Verrats an den alten Göttern und
hetzten das Volk, durch Opferung von Christen den Hinmiel
zu versöhnen. Wie bei den furchtbaren Bränden, so feiert auch
in Zeiten der Hungersnot der Aberglaube seine Triumphe.
Der älteste slawische Chronist, Nestor, berichtet über die Hun-
gersnot des Jahres 1070, daß damals Zauberer die Wolga ent-
lang zogen und in den Dörfern erklärten: die Weiber hätten
die Hungersnot verursacht und alles Getreide in ihren Leibern
aufgespeichert. Man Ischleppte die Frauen und Töchter zu den
Hexenmeistern, welche die Weiber massakrierten, und richtig
kam mit dem Blute der Opfer Getreide zum Vorschein, das
die Zauberer geschickt im Momente der Opferung verschüttet
hatten. Das hungrige Volk stürzte sich auf die Frauen, um
sich zu sättigen. Der Vater zerfleischte die Tochter, der Sohn
die Mutter, und die Mörder tranken gierig das Blut der Weiber,
in dem sie Getreide, Honig und Fische zu genießen wähnten.
Jahr um Jahr herrscht partielle Hungersnot, bald in diesem,
bald in jenem Landstrich. Eine allgemeine Hungersnot wütet
im Durchschnitt in jedem Jahrzehnt mindestens einmal. Am
stärksten geplagt erscheint das Gebiet von Nowgorod. 121 5
trat hier eine Mißernte ein zur Zeit, da die Stadt vom Feinde
belagert wurde. Die Teuerung war so erbarmungslos, daß die
Bewohner ihre Kinder, um sie nicht ernähren zu müssen, an
die Gosty oder Kaufleute verschenkten. Die Leichen der Ver-
hungerten lagen in den Straßen und wurden von den Hunden
verzehrt. Das Elend dauerte fünfzehn Jahre und zog auch
die benachbarten Provinzen in Mitleidenschaft. Im Jahre 1230
erreichte es seinen Höhepunkt. Erdbeben und totale Sonnen-
finsternis steigerten das Entsetzen. „Man erwartete das Ende
der Welt, man umarmte sich und nahm Abschied voneinander,**
erzählen die Chronisten. 6530 „Hungergräber** wurden mit
29*
— 4Ö2 —
den Opfern der Not gefüllt; dann gab man das Begraben auf,
die Leichen blieben unbestattet auf den Straßen. Endlich fand
sich ein Mann, Namens Stanil, der die Toten auf den Friedhof
zu führen sich bereit erklärte. Von früh morgens bis spät
abends, Tag um Tag und Woche um Woche führte Stanil
Leichen aus Nowgorod hinaus, und er allein bestattete 3000
Menschen. „Nowgorod ist im Verscheiden,** klagen die Chro-
nisten der Zeit; „der Vater liebt nicht mehr den Sohn, die
Mutter nicht mehr die Tochter; der Nachbar will dem Nachbar
nicht mehr ein Stückchen Brod abbrechen. An allen Ecken
und Enden sieht man von den verzweifelten Eltern ausgesetzte
Kinder, die den Hunden zum Fraß fallen.** Rettung brachten
endlich deutsche Kaufleute, die zur See Getreide herbeiführten
imd der Hungersnot Einhalt taten. — 1419 herrschte eine
Hungersnot in ganz Rußland; sie währte bis 1422, und nur
Pskow blieb frei vom Elend. Am 3. Januar 1446 aber gab
es dafür nach den Aussagen der Chronisten von Nowgorod
auch ein freudiges Wunder: „Aus schwarzen Wolken fielen
Uchte Roggengarben, endlose Massen Gerste und Weizen zur
Erde, bis der ganze Raum zwischen den Flüssen Msta und
Wolchowez, auf fünfzehn Werst im Umkreis, mit Getreide
bedeckt war.** Das Wunder half indessen nicht viel, denn
1448 herrschte wieder Hungersnot, und sie dauerte diesmal
mit kurzen Unterbrechungen zwanzig Jahre lang.
Furchtbare Hungerjahre gab es zur Zeit der Regierung
Iwans des Schrecklichen. „Hunger und Seuche,** sagt der
russische Historiker Karamsin, „halfen dem Tyrannen bei seiner
Verwüstung Rußlands. Es schien, als wenn die Erde ihre
Fruchtbarkeit verloren hätte: man Siäete Getreide, aber man
erntete nichts; sowohl Kälte als Dürre verdarben die Ernte.**
Der sogenannte Usurpator Boriß Godunow aber sprach bei
seiner Krönung zum Volke: „Gott ist mein Zeuge, daß es, so-
viel von mir abhängt, keinen Bettler und keine Waise in
meinem Reiche geben soll; mein letztes Hemd will ich den
Darbenden opfern.** Und als wiederum eine entsetzliche Hun-
gersnot über Rußland hereinbrach, da errichtete Boriß Speise-
hallen für die Armen, öffnete die Fruchtkammem der Krone,
kaufte selbst zu höchsten Preisen alles Getreide auf und ver-
— 453 —
schenkte es an das hungernde Volk. Unter der Maske dar-
bender Leute drängten sich jedoch Wucherer herzu, die sich
der Kronsvorräte listig bemächtigten und dann das angesam-
melte Getreide teuer verkauften; des Zaren Wohltat wurde
zum Übel, und das Elend wuchs gewaltiger als je zuvor.
Hunderttausende, Millionen Menschen starben den Hungertod.
Überall lagen Leichen umher, baten Sterbende um Hilfe. In
Moskau beförderten die vom Zaren angestellten Beamten im
Laufe des Jahres 1604 nicht weniger als 127000 Leichen von
Menschen, die auf den Straßen verhungert waren, aus der
Stadt hinaus. Aber als damals der Freiherr von der Logau
als kaiserlich römischer Gesandter nach dem Kremlj kam, ver
anstaltete man trotzdem glänzende Feste. „In der Tractation
des Herrn Gesandten,** berichtet Bussow, ,,wurd an allerley
Sachen viel zugeführet, und gingen die Leute der Stadt so
prächtig, daß keine Theuerung auf denen Gassen zu sehen
war, sondern nur im Hause und im Herzen. Es durfte auch
wegen des Herrn Gesandten Leute niemand bey Leibes Strafe
klagen, daß Theuerung im Lande gewesen.**
Von 1695 bis 1698 herrschte eine schreckliche Hungers-
not in Estland. Viele Eltern setzten ihre Kinder aus, um sie
nicht vor den eigenen Augen des kläglichsten Todes sterben
zu sehen. Auf allen Straßen lagen die Leichen haufenweise.
Man warf die Toten in Massengräber; gewöhnlich wurden 25,
manchmal 75 in eine Grube gelegt i).
Im achtzehnten Jahrhundert gab es während des Regiments
der fünf Frauen auf dem Zarenthrone 33 Hungerjahre. Katha-
rina IL glaubte die Hungersnot durch Witze bekämpfen zu
•können. Einen Komwucherer beschenkte sie mit einem
eisernen Orden von einem Pud Gewicht, den der Elende bei
seinem Erscheinen in der Öffentlichkeit stets tragen mußte;
aber sie selbst vergeudete Hunderte Millionen an ihre Günst-
linge und bestrafte den Publizisten Nikolaj Nowikow, der sich
zum Advokaten des gepeinigten verhungernden Volkes machte.
Die Regierung Alexanders I. brachte eine Ruhepause, aber
seither hat das Elend Jahr um Jahr das Reich heimgesucht.
1) Vgl. Petri, Esthland und die Esthen, Gotha 1802, I 157.
— 454 —
1832 verwüstete eine Mißernte Südwestrußland, 1840 das ganze
Reich. Unter Nikolaj I. durfte das Wort Hunger nicht er-
wähnt werden. Der Kaiser besuchte i) ein Spital, trat zu dem
Bett eines Typhuskranken und fragte den Arzt, wodurch die
Krankheit entstanden sein könnte. „Wohl durch Hunger/*
entgegnete der Arzt. Der Kaiser sah den Mann grimmig an
und ging weiter. Beim Abschied aber trat er nochmals auf
den Unglücksmenschen zu und sagte: „Du, halte die Zunge
besser hinter den Zähnen.** Und am nächsten Tage wurde der
Arzt seines Postens enthoben. 2)
Von besonderem Interesse ist die Konstatierung, daß die
Hungersnot immer nicht bloß Gelegenheit zu Aberglauben und
Ausschreitungen gab, sondern die Sittlichkeit des Volkes unter-
grub und die Brutalität seiner Gefühle enthüllte. Die Historiker
von tausend Jahren berichten beispielsweise dieses Schauer-
liche aus allen Epochen des Elends : daß die Hungernden ihre
Mitmenschen schlachteten und verzehrten, um ihr eigenes Leben
für eine kurze Weile fortzufristen. Wir haben bereits er-
fahren, daß bei der zweiten historischen Hungersnot in Ruß-
land um 1070 die Männer die Weiber schlachteten. 1230
nährten sich die Notleidenden in Nowgorod von Moos, Weiden-
und Ulmenblättem, Hunden, Katzen, „und selbst von Menschen-
leichen, imd es wurden Menschen erschlagen, um ihre Leiber
zu grauenvoller Speise zu bereiten**. Zwar wurden derartige
Verbrechen mit dem Tode bestraft, aber man konnte sie in-
folge des großen Elends nicht verhüten. Um 131 5 ereignete
sich Ähnliches in Estland und Livland anläßlich einer großen
Hungersnot 3): „Die Leute haben nicht allein ungewöhnliche
und wiederige Thiere gefressen, sondern es trieb sie auch der
Himger zu anderen abscheulichen Thaten, daß die Eltern ihre
eigenen Kinder zum Theil aus Mitleiden und der Qvaal ein
Ende zu machen, umbbrachten, theils ihren Hunger damit zu
stillen, geschlachtet und aufgefressen haben. Es wurden auch
1) Diese Anekdote erzählt Viktor Hehn in seinem nachgelassenen Buche
,,De moribus Ruthenorum", herausgegeben von Th. Schiemann.
2) Ausführliche Schilderung der russischen Hungersnöte vgl. bei Bern-
hard Stern, Zwischen der Ostsee und dem Stillen Ozean, S. 139 — 196.
3) Hiärns Geschichte, 147.
— 455 —
von den armen Leuten des Nachts die Diebe und die Ge-
richteten von den Galgen und Rädern abgestohlen und ver-
zehret. Es hat sich in der Zeit in einem in Jerwen gelegenen
Dorff, Pugget genennet, zugetragen, daß ein Knecht seinen
leiblichen Vater ermordet und auffressen wollen, ist aber
darüber ergriffen und wegen solcher Uebelthat mit schwerer
Pein zu Tode gemartert worden.** Aus dem Jahre 1419 wird
berichtet, daß sich das Volk in Rußland während der all-
gemeinen Hungersnot nicht bloß vom Fleisch der Pferde,
Hunde, Katzen und Mäuse, sondern auch von Maulwürfen
und Menschenleichen nährte. Iwan der Schreckliche hatte das
wahnsinnige Verlangen, das Schauspiel einer verhungernden
Menschenmasse zu genießen; gleichzeitig machte er sich das
seltsame Vergnügen, seine Untertanen zum Menschenfleisch-
essen zu zwingen. Petrus Petrejus^) erzählt nach Berichten
seiner Zeitgenossen: „Als Iwan das Hauß Arol erbawete vnd
emewerte mit Pasteyen vnd Pankering, ließ er die Arbeiter vnd
Bawlewte von Hunger also verschmachten, daß sie Hungers
halber gezwungen worden, einen vnter sich, der am feistesten
war, zu schlachten, vnd erwehreten sich also des Hungers.
Die anderen, die Menschen Fleisch nicht essen mochten, zwang
der Hunger, daß sie ein Kalb abschlachteten. Welches, da
es der Großfürst erfuhr, ließ er diejenigen, die Kalb Fleisch
gefressen, lebendig verbrennen vnd die Asche in's Wasser
werffen. Die anderen, die Menschen Fleisch gefressen hatten,
wurden perdoniret vnd von der Straffe erlediget. Denn bei
den Mußkowitem ist es abschewlich vnd haltens vor größere
Sünde, Kalb Fleisch essen als Menschen.** Die Geschichte jeder
russischen Hungersnot ist reich an Fällen von Kannibalismus.
In dem Schreiben eines königlich polnischen Staatsbeamten, das
sich im Mecklenburg-Schwerinschen Archiv befindet, heißt es :
„Moskaw, 24. Juni 1570. Der Hunger ist allhier in der Mos-
kaw so groß, als nie gehöret oder gesehen worden, daß auch
ein Mensch den anderen auffrießt, wo einer den anderen über-
weldigen kan; ja eß hauet ein Mensch den anderen in Tonnen
1) Historien vnd Bericht vx>n dem GroBfürstenthumb Mußkow. Leipiig
1620.
— 456 —
vnd saltzel ihn ein, vnd frießet, daß ein Grauen zu hören." ^)
Aus der Zeit der großen Teuerung, die im Jahre 1601 begann,
berichtet Bussow: „Mit Gott und der Wahrheit zu bezeugen,
habe ich's "mit meinen eigenen Augen gesehen, daß Menschen
auf der Gasse gelegen, im Sommer Gras und im Winter Heu
wie das Vieh gefressen, etliche sind todt gewesen imd in deren
Mäulem Heu und Koth gestecket, theils auch bona venia
Menschenkoth und Heu verschlucket. Unzählich viel Kinder
sind von ihren Eltern und die Eltern von ihren Kindern, auch
der Gast vom Wirthe und der Wirth wiederum vom Gaste
ertödtet, geschlachtet, gekochet, das Menschenfleisch klein ge-
hacket, in Pirogen, das sind Pasteten, verbacken, auf dem
Marckt für ander Thierfleisch verkauffet und aufgefressen,
daß ein Wandersmann sich zur selbigen Zeit wohl hatte vor-
zusehen, bei wem er zur Herberge einkehrete.** Dasselbe er-
zählt aus dem Hunger jähr 1570 der früher erwähnte Petrus
Petrejus, diesmal als Augenzeuge: „Da starben etliche viel
tausend Menschen von Hunger, lagen in den Städten auff den
Gassen vnd im Felde auff den Wegen, hatten Häw vnd Stroh
in den Mäulem ; jhrer viele aßen Pferde-Fleisch, Hunde, Katzen
vnd Ratzen, Menschenkoth vnd dergleichen vnbequemliche Ma-
terien. Etliche lagen auff der Erden vnd saugeten in sich das
Blut, das von dem geschlachteten Viehe, Schweinen vnd Schaf-
fen außgelauff en war, etliche aßen sich vnter einander selber :
In den Häusern, da viel Volcks war, schlachteten sie die fet-
testen vnd fleischvollsten, viel Eltern aßen jhre Kinder, die
Kinder jhre Eltern, die Eltern verkaufften die Kinder, vnd
etliche sich selbst vmb ein gering Geld. Ich sähe in der Stadt
Mußkow, daß ein armseliges verschmachtet Weib kam auff
der Gassen gegangen, vnd hatte ihr leibliches Kind auff dem
Arme, vnd indem sie gieng, fassete sie das Kind mit den
Fäusten, vnd vor großen Hunger bieß sie ergrimmlich zwey
stück von des Kindes Arm, aß also sitzend auff der Gassen.**
1) Vgl. auch: Tradescant der Aeltere 161 8 in Rußland, von Dr. J. Hamel,
St. Petersburg 1847, Seite 149, Anmerkung i, den Bericht des Engländeis
Jenkinson vom 8. August 1571: .."Der Hunger zwang die Leute, ihre Zuflucht
in der Verzweiflung zu Menschenfleisch zu nehmen".
— 457 —
Im Buche des Franzosen Margeret lesen wir^): „Mesmes j*ai
vu quatre femmes voisines delaiss^es par leurs maris les quelles
ayant complott^ ensemble que Tune iroit au march^ pour
achepter une voiture de bois ; cela fait, eile promettant le paye-
ment au paysant en son logis, mais apres d^charg^ le bois
entra dans le poisle pour recevoir son payement, il fut estrangle
par ces femmes, et mis en lieu oü par le gelde il se pouivoit
garder, attendant que son cheval fut premierement par elles
mang^; cela d^couvert confesserent le fait, et que le corps
dudit paysant estoit le troisi^me.** Damals herrschte auch in
Livland und Lettland große Hungersnot, und selbst in diesen,
der Zivilisation näherstehenden Provinzen nährte sich das Volk
häufig von Menschenfleisch 2) : „Man stillte den Hunger mit toten
Pferden, Hunden, Katzen und Ratzen, und dergleichen unnatür-
lichen Dingen. Da sie einen Hund angetroffen, so an einem todten
Menschen-Cörper genaget, haben sie selbigen wiederum ge-
schlachtet und aufgefressen, und daß die Uebelthäter, sobald
sie gerichtet, von den Galgen oder Räder herabgerissen wor-
den, mit deren Fleisch die elenden Leute ihren Hunger zu
stillen gesuchet. Man hat des Winters allenthalben todte Men-
schen gefunden, die, an roh Fleisch der Aeser nagend, ge-
storben waren, und solch Fleisch noch im Munde behalten.
Aber das allerabscheülichste ist, daß ein Mensch den andern,
ja die Eltern die Kinder gefressen, welches dermahlen unter
den Bauern nicht ungemein gewesen. Unter andern hat im
Bersonschen ein Bauemmagdt ihre drey Brüder und vier
Schwestern, so alle jünger, als sie gewesen, abgethan, und das
Fleisch in Tonnen verwahret, damit ihr Leben auf längere Zeil
zu erhalten; wie es aber offenbar und die Magdt ergriffen wor-
den, hat sie der Hauptmann zu Berson gefraget: wie sie sich
unterstehen können, Menschenfleisch zu fressen? Darauf sie
zur Antwort gegeben : daß, wo es ihr hinfüro zugelassen würde,
wolte sie sich kein süßeres Fleisch, als der Menschen, wünschen.'*
Die Herrschaft der Romanows begann mit einer furcht-
baren Hungersnot. Als 1615, zwei Jahre nach dem Regierungs-
1) Estat de T Empire de Rvssie et dv grand Dvch6 de Moscovie, Paris 1607.
•) Hiäms Geschichte, 384.
— 458 —
antritt Michaek^ der holländische Gesandte Antonius Goeteeris^i
in Rußland war^ mußte er schauervolle Bilder des Elends mit
ansehen. Abermals litt Nowgorod am meisten. Im Winter des
genannten Jahres starben hier 18000 Menschen den Hungertod.
Wir müssen auf diese Berichte aus alten Zeiten Nachdruck
legen, weil sich heute tagtäglich dasselbe wiederholt. Die
russische Regierung hat seit Witte und Kokowzew von euro-
päischen Geldmännem nicht weniger als zwanzig MiUiarden
Francs erhalten, aber nichts ist davon verwendet worden, um
die vierzig Millionen Menschen, die seit Jahren hungern, aus
dem Elend zu befreien. Hunderte Millionen Rubel werden
aus dem Staatsschatze zwar für die Bekämpfung der Not an-
gewiesen, aber keine einzige dieser Millionen wird ihrem Ziele
zugeführt; das Stehlen der Hilfsgelder beg^nt schon beim
Minister, und was hier übrig gelassen wird, bleibt bei den Diebs-
kreaturen niedrigeren Ranges hängen. Ein klassisches Beispiel
hierfür ist die Affäre des Vizeministers Gurko, der durch Ver-
mittlung der Korsettenverkäuferin Esther mit dem Liferanten
Lidwall einen Vertrag abschließt, um wieviel Millionen Rubel
Getreide für die Hungergebiete nicht geliefert, sondern unter-
schlagen werden soll.
Wie zur Zeit des Zaren Boriß oder des Kaisers Nikolaj I.
ist es auch heute verboten, das Bestehen einer Hungersnot zu-
zugeben. Dem französischen Forscher Alexander Ular, der
die russischen Hungergebiete bereisen wollte, erklärte der Fi-
nanzminister Kokowzew 2): „Die Hungersnot ist ein Mythus."
Aber in einer Denkschrift von Witte heißt es wörtlich: „Bei
normaler Ernte bleibt das Ernährungsquantum des Bauern
duchschnittlich um 30 Prozent unter dem zur Aufrechterhal-
tung der Kräfte eines erwachsenen Landarbeiters physiolo-
gisch notwendigen Minimum." Das letzte Jahr blieb hinter der
normalen Ernte noch um hundert Millionen Meterzentner Ge-
treide zurück, und trotzdem wurden um hundert Millionen mehr
ausgeführt. Die einfachste Rechnung ergibt die Notwendigkeit
1) Vgl. dessen „Journal der Legatie, Jn's Graven-Hage, 1619".
•) Vgl. den Bericht, den Alexander Ular über seine Erlebnisse in Rußland
gab, in Nr. 1547 der „Zeit" (Wien, 13. Januar 1907).
— 459 —
des Verhungerns von 40 Millionen Untertanen des Zaren. „Das
Landvolk an der Wolga und in Zentralrußland stirbt aus,*'
klagte Fürst Lwow im Winter 1906/07, ,,das Volk vegetirt
von einem Tag zum anderen, ohne Hoffnung, den Frühling
zu erleben. Riesige Landstriche sind ohne alle Lebensmittel
für Menschen und Vieh. Vieh verkauft man zu Fellpreisen. In
manchen Gegenden nährt sich die Bevölkerung von Gras und
Wurzeln oder sammelt Eichenlaub und Eicheln als Nahrungs-
mittel. Nicht bloß die Bauern, auch die mittleren Gutsbesitzer
haben mehr kein lebendes Inventar. In 14 Dörfern von 33
im Gouvernement Ssamara fand ich, daß beim Brodbacken den
gemahlenen Eicheln nicht einmal Roggenmehl zugefügt wurde.
Eicheln bilden die Hauptnahrung für Millionen von Bauern seit
September 1906. Ist es da ein Wunder, daß die Menschen,
zernagt von Skorbut, wie Fliegen dahinsterben?'*
Und wem bürdet die Regierung die Verschuldung dieses
Zustandes auf. Dem Volke! Ein offizieller Bericht aus dem
Gouvernement Jaroßlaw schildert folgendermaßen die alles
Übel verursachende „Indolenz der Bauern**^): „Die Bevölke-
rung verhungert auf dem besten Weizenboden, weil ihr der
Wille zu ausdauernder und umsichtiger Arbeit und zur Aus-
nützung der landwirtschaftlich-technischen Fortschritte fehlt.
So klagen die Bauern im Bezirke Ronianow-Borissoglewsk nicht
üb^ zu wenig Land, sondern über die geringen Erträge, die
sie dem Boden abzugewinnen vermögen. Daß aber nicht etwa
die Beschaffenheit dieses Bodens, sondern die Bauern selbst
daran schuld sind, geht daraus hervor, daß ein aus einem an-
deren Gouvernement zugezogener Landwirt 9000 Pud Heu auf
einem Pachtgute erntete, auf dem der frühere Besitzer nicht
mehr als 2000 Pud gewann. Wie rückständig die Bauern im
Gouvernement Jaroßlaw sind, erhellt auch daraus, daß auf
ihren Dörfern Gemüsegärten unbekannte Dinge sind. Auf be-
stimmten Ackerflächen zieht man so gut es geht verschiedene
Getreidearten, und darin erschöpft sich die ganze bäuerliche
Wissenschaft. Gemüse, die man für den Haushalt nötig hat,
selbst den unentbehrlichen Kohl kauft man von den Markt-
1) HoBoe BpcMH. 11/24 III 1906.
— 460 —
gärtnern der kleinen Städte. Kein Wunder, daß die Not
schrecklich ist, wenn diese Bauern einmal mit dem Getreide,
das sie anbauen, eine schlechte Ernte haben. Statt sich nach
den guten Vorbildern und Lehrmeistern zu richten, welche
die russische Landbevölkerung besonders an den deutschen
Gnmdbesitzern und Pächtern hat, verharrt sie im allgemeinen
in einer Indolenz, die jeder Verbesserung feindlich gegenüber-
steht.** Aber wer anders fördert diese Indolenz als die Regie-
rung? Diese Regierung, die den Aberglauben zu Hilfe ruft,
um das Volk in seinem Elend zu erhalten ! Vor kurzem ^)
reisten zwei russische Damen auf ihre Güter im Gouverne-
ment Tambow ab, um dort in den von der Hungersnot heim-
gesuchten Ortschaften teils aus eigenen, teils aus Mitteln, die
von der Ökonomischen Gesellschaft beigesteuert wurden.
Speisehallen zu errichten. Vor ihnen jedoch kam beim Gou-
verneur folgende Depesche an: ,,Zwei Subjekte von jüdischem
Typus (beide Damen sind blonde, blauäugige Vollblutrussin-
nen) reisen zu widergesetzlichen Zwecken unter dem Vorwand
der Errichtung von Speisehallen ins Gouvernement; diese Pro-
paganda ist zu unterdrücken.** Man wagte nicht, die Damen
arretieren zu lassen; da half sich der Gouverneur, indem er
an das abergläubische Gewissen der Bauern appellierte. Als
die wohltätigen Frauen die Namen der Notleidenden aufzu-
schreiben begannen, schrien die Bauern, wie der Pope im
Auftrag des Gouverneurs sie gelehrt hatte : „Ihr seid der Anti-
christ! Ihr seid vom Teufel geschickt, um uns zu notieren,
damit wir in die Hölle kommen. Zehnmal besser ist es, vor
Hunger zu sterben und in den Himmel zu gelangen.**
Wie bei der Hungersnot ist der Aberglaube auch bei den
Epidemien in Rußland eine ständige Begleiterscheinung. Der
mönchische Chronist Nestor bezeichnet im elften Jahrhundert
über den Ursprung einer Epidemie : eine ungeheure Schlange
fiel vom Himmel herab, und böse, den Sterblichen unsichtbare
Geister ritten Tag und Nacht in Polozk umher und töteten
die Einwohner hinterrücks. Der schwarze Tod hat allerdings
in westlichen Ländern ebenfalls genug Anlaß zu abergläubi-
1) ülar a. a. O.
-- 461 —
sehen Phantastereien gegeben. In Rußland wütete die Pest
furchtbarer als irgendwo sonst. In Smolensk blieben nach
einer Epidemie im Jahre 1387 nach den Berichten der zeit-
genössischen Chronisten ,,nur drei Menschen übrig, welche
die mit Leichen angefüllte Heimat schaudernd, verließen und
die Tore der ausgestorbenen Stadt verschlossen.** Es ist be-
greiflich, daß Rußland im Mittelalter nicht aufgeklärter sein
konnte, als Europas Länder. Im fünfzehnten Jahrhundert
folgte ein Pest jähr dem anderen; 141 9 beschlossen diePskower
endlich, um die Seuche zu bannen, zwölf Hexen zu schlach-
ten. Aber das Mittel half nicht. Es erschienen vielmehr neue
drohende Zeichen: der Himmel flammte in seltsamen Farben,
das Wasser "wandelte sich in Blut, die Heiligenbilder weinten,
wilde Tiere änderten ihre Gestalt. Der Aberglaube sah noch
entsetzlichere Zeiten, als bisher gewesen, kommen, und die
Tatsachen bestätigten die Prophezeiungen der Wahrsager und
Priester: Von 1462 bis 1465 starben in Pskow und Nowgorod
allein 250652 Menschen. Immer und immer wieder ist es
Nowgorod, das vom Unglück heimgesucht wird. 1 506 herrschte
dort „eine ansteckende Krankheit mit Drüsengeschwülsten**,
wahrscheinlich die Drüsenpest; in wenigen Wochen wurden
15000 Menschen von dieser Seuche hingerafft. 1522 wütete
in Pskow die Pest. Bei dem regen Handelsverkehr zwischen
Pskow und Nowgorod war das Eindringen der Epidemie nach
Nowgorod unvermeidlich; und in wenigen Wochen starben
in letzterer Stadt und der Umgegend fast alle Menschen aus,
beinahe 500000. Die Krankheit wich „dank einer Wasser-
weihe des Metropoliten Simeon Tschornij,** in Wahrheit, weil
sie keine Opfer mehr fand. Ebenfalls 500000 Menschen star-
ben in Nowgorod und Pskow 1561 an einer unbekannten Krank-
heit. Ein gräßliches Seuchenjahr war 1654.^) Die Zarenresi-
1) In den Berichten der europäischen Zeitgenossen ist von diesem Pest-
jahre nur wenig die Rede gewesen. Erst Professor Brückner hat vor einigen
Jahren in der Zeitschrift für allgemeine Geschichte diese entsetzliche Epidemie-
periode aufgeklärt. Olearius gedachte in seiner „Reyßbeschreibung" nur ober-
flächlich ..einer in Rußland herrschenden Krankheit", um sogleich hinzu-
zufügen: ..aber sonst ist in Rußland von pestilenzischen Krankheiten oder
großen Sterben nicht viel zu hören". Ebenso lobte der Venezianer Alberto
— 462 —
denz wurde vollständig entvölkert. Fürst Pronskij, der nach
der Flucht der Zarenfamilie und des Patriarchen Nikon in der
sterbenden Residenz als Wächter zurückblieb^ sandte im Sep-
tember 1654 ein Schreiben an den Herrscher, das wie ein
erschütterndes Klagelied klingt mit seinem furchtbaren Refrain :
„Alle gestorben** : „O Herr, die Pest ist von Tag zu Tag stärker
geworden. Nur wenige von den rechtgläubigen Christen sind
noch vorhanden, und in sechs Regimentern sind alle Soldaten
gestorben. In den übrigen Regimentern liegen viele krank dar-
nieder, die anderen sind gestorben. Der Chef der Streljzy ist
gestorben. Die meisten Hundertmänner sind gestorben.
Kathedralen und Kirchen stehen leer, die Priester sind
fast alle gestorben. Nur in der großen Kathedrale sind
noch drei Priester am Leben geblieben, die anderen sind ge-
storben. Es ist kaum jemand da, der die Toten beerdigen
könnte; die Fuhrleute sind alle gestorben. Alle Ämter sind
geschlossen, die Beamten und Schreiber sind alle gestorben.
Und auch uns, deinen Sklaven, droht ein schrecklicher Tod.**
Wenige Stunden nach Abfertigimg seines Briefes war Fürst
Pronskij eine Leiche; sein Nachfolger Fürst Chilkow starb am
nächsten Tage. Im Winter hatte die Seuche ein Ende, weil
sie keine Opfer mehr fand; Patriarch Nikon kehrte zuerst
zurück ; er ließ alle Hunde totschlagen und die Stadt säubern ;
dann hielt der Zar wieder seinen Einzug in die Residenz, ge-
folgt von den übrigen Flüchtlingen. Von den 200000 Men-
schen, die beim Ausbruch der Seuche in Moskau zurückge-
blieben waren, hatte kaimi einer von hundert die Zeit der
Not überlebt. Von Moskau hatte sich trotz der strengen Ab-
sperrungsmaßregeln die Epidemie durch das ganze Reich ver-
Vimina, der 1655 in Rußland war, das gesunde Klima des Landes: ,,Die Russen
sind stark, erreichen ein hohes Alter, und von Pestkrankheiten unter ihnen
hört man nicht viel". Damals war übrigens ganz Europa von Epidemien furcht-
bar heimgesucht (vgL Haesers Geschichte der epidemischen Krankheiten). Aber
was war das gegen die Verheerungen der Seuche in Rußland! Für je 1000,
die in Europa von der Pest hingerafft wurden, fielen ihr in Moskowien zehn-
tausend zum Opfer. Der englische Leibarzt des Zaren, Samuel CoUins (vgl.
dessen „State of Russia", London 1667, 45) war der einzige, der die Wahrheit
kannte; er schätzte die Zahl der 1654 in Rußland von der Seuche Gemordeten
auf 4 800 000.
— 468 —
breitet und jahrelang fortgewütet. Wie Boriß Godunow 1604
dafür Sorge trug, daß Europa nichts von der damaligen
Hungersnot in Rußland erfahren sollte, so befahl jetzt Zar
Alexej, vor dem venezianischen Gesandten Vimina die Ver-
heerungen der Pest zu verheimlichen; und Vimina bemerkte
wirklich nichts mehr; „non si sente il saggio di morbo pesti-
lenziale,** schrieb er.i)
Und hundertundzwanzig Jahre später wiederholt sich das-
selbe entsetzliche Schauspiel, als 1771 die Pest Moskau aber-
mals verheert.2) Die Seuche brach im Süden aus und kam
1770 nach Kijew durch eine Katze. Die Regierung, statt die
Krankheit zu bekämpfen, befahl sie zu verschweigen : die Pest
mußte Fleckfieber heißen. Die Ärzte rapportierten gehorsam
über ein hitziges, faulendes Fleckfieber mit Geschwüren. Gegen
dieses Fieber traf man keine Maßregeln, es grassierte weiter.
Einige Tage später starben bereits Tausende in wenigen Stun-
den, und für Rettung war es zu spät. Auch in Moskau wurde
die Pest zuerst als Fieber deklariert.
Die Regierung Alexanders I. war wie von Hungersnot
auch von Seuchen fast ganz verschont. Unter der Regierung
Nikolajs I. erschien die Cholera, um fortan in Rußland ihren
Lieblingsaufenthalt zu nehmen, dort mit kurzen Unter-
brechungen bis auf den heutigen Tag fortzudauern, und von
Zeit zu Zeit dieselben Verheerungen in einzelnen Gegenden
anzurichten wie in früheren Zeiten die Pest. Letztere trat
zum letzten Male in furchtbarer Weise 1878 in Astrachan
auf. Man gab sie nach alter Methode für eine Typhusepidemie
aus, sperrte die Stadt einfach ab, als das Übel sich verschlim-
merte, imd ließ die Bevölkerung hilflos aussterben. Die letzte
^) Vgl. die letzte Anmerkung.
2) Diese Epidemie konnte vor Europa nicht mehr verheimlicht werden,
und Katharina II. war daher weise genug, aus dem Unglück wenigstens Reklame
für sich und ihren Günstling Orlow zu schlagen, dem sie, weil er die Pest be-
siegte, als diese sich schon gesättigt hatte, Triumphpforten errichtete und Me-
daillen prägte. Die Zeitgenössen haben dem Pest jähr 1771 ausführliche
Berichte gewidmet. Vgl. die zusammenfassende Schilderung von Prof. Brückner,
Russische Revue, Bd. XXII. Über die 1771er Pest in Kijew: Büschings Magazin
VIT, 216 — 232 („Reise von Petersburg nach der Moldau").
— 464 —
große Cholera-Epidemie herrschte 1892; sie forderte mehr als
400000 Menschenopfer.
Die Geschichte des Hungers und der Pest in Rußland
ist eine krasse Illustration des Satzes, daß Rußland sich nicht
ändere. Durch tausend Jahre zeigt sich immer dasselbe Bild
des Elends, dieselbe Niedertracht der Tschinowniki, die an-
fangs verheimlichen, um ihre Fehler nicht eingestehen zu
müssen, und dann stehlen, was zur Linderung der Not dienen
soll. 1891 konstatierte Ssu worin, der Herausgeber der im
Dienste der Regierung stehenden Nowoje Wremjä, daß die
Verspätung der Maßnahmen eine allgemeine Erscheinung war :
„Diese Verspätung hat die Folgen des Notstandes für Men-
schen und Tiere verschärft. Niemals noch hatte Rußland in-
folgedessen einen solchen Verlust an Pferden zu verzeichnen
wie in diesem unglücklichen Jahre. Ein Jäger hat mir erzählt,
daß er jetzt als Fraß für seine Hunde Pferde um fünfzig Ko-
peken das Stück kauft. Ja, wenn man rechtzeitig Maßregeln
ergriffen hätte 1** Trotz des fruchtbaren Bodens bleibt das
Hungerelend unausrottbar; und unausrottbar trotz der Fort-
schritte der ärztlichen Wissenschaft sind in Rußland die Epi-
demien. Denn mächtiger als alle Wissenschaft ist der Aber-
glaube.
28. Medizin und Aberglaube.
Wissenschaft als gottlos verpönt — Die ersten Arzte in Rußland — Ermordung
der Ärzte durch Fanatiker — Die Hofärzte Iwans des Schrecklichen — Das
erste russische Medizinbuch — Begründung von Apotheken — Die Arzte des
Zaren Boriß — Seltsame Prüfung eines Arztes — Stellung der Hofarzte —
Der Arzt und die Zarin — Verdächtigung der Arzte — Ermordung der Arzte
unter der Regentin Sofia — Die Arzte dürfen nur dem Zaren dienen — Apo-
theken gehören dem Zaren — Verhalten des Volkes gegen die Arzte — Peters
Bezeichnung für Arzte — Wie Peter die Treue seines Leibarztes erprobt —
Peter der Große als Chirurg — Züchtung von Zwergen und Riesen — Das
Kunstkabinett — Sammlung von Mißgeburten und Geschlechtsteilen — Peter
benützt nur abergläubische Heilmittel — Heiliges Wasser — Der Wundertäter
Alexej als Augenarzt — Heiligenbilder als Heilmittel — Ermordung des Erz-
bischofs Ambrosij — Menschenopfer — Ermordungen von Mädchen. Kranken
und Greisen — Parallelen aus Sibirien und Albanien — Aus der germanisch-
slawischen Urzeit — Massenhaftigkeit der Menschenopfer in Rußland — Assistenz
— 465 —
der Dorfverwaltungen und Dorfpolizei — Leichenschändungen — Dpr GebfßMfih
des Umpflügens — Volksmedizin, Grausamkeit und Aberglaube ^- Ans der
Volksmedizin der nichtrussischex; Völker in Rußland.
Nicht Historiker, sondern Schmeichler waren es, welche
die Behauptung aufstellten, daß die Medizin als Wissenschaft
in Rußland schon in frühester Zeit Eingang gefunden hätte.
Die russischen Chronisten selbst berichten nur darüber, daß'
die Russen in Krankheitsfällen die Hülfe von Zaubererri in
Anspruch nahmen oder sich der Heilkunst erfahrener Weiber
anvertrauten. In Kijew gab es zwar zur Zeit des Wladimir
Monomach einige berühmte armenische Ärzte i); „einer von
ihnen war so geschickt, daß er schon beim ersten Anblick
eines Kranken sagte, ob die Heilung möglich sei; oder, falls
Letzteres nicht der Fall war, prophezeite er genau den Tag
des Todes.** Aber außer diesen armenischen Ärzten hatte die
Medizin in Rußland keine Vertreter. Die Russen selbst lern-
ten nichts, Bildung erschien ihnen als Gottlosigkeit. Ausländer
galten als Heiden oder Ketzer. Während der Mongolenherr-
schaft war keine Rede von Ärzten oder Medizin. 2) Der mosko-
witische Großfürst Iwan III. berief gegen Ende des fünfzehnten
Jahrhunderts piehrere ausländische Ärzte nach Moskau, die
nach russischer Sitte in den Chroniken nur mit ihren Vor-
namen erwähnt werden. Unter ihnen befanden sich Anton
der Deutsche und der Jude Leon, den ein russischer Gesandter,
der jiach Rom geschickt war, von dort mitgebracht hatte.
Beide Ärzte fielen dem Fanatismus des russischen Volkes zum
Opfer; die gottlosen Männer, die sich vermaßen, Menschen
kiuieren zu wollen, starben eines gewaltsamen Todes. 3) Als
Nachfolger dieser ermordeten Hofärzte werden von zeitgenös-
sischen Chroniken genannt : Theophil, der Grieche Mark, Niko-
laj Lujew*) oder Nikolaj Buhle ^), beigenannt der Deutsche
1) Chronique de Nestor, II Anhang 172.
s) Vgl. Richters Geschichte der Medizin in Rußland. — Eine vollständige
Zusammenstellung der Zeugnisse aus russischen Chroniken findet man ber
JI. 9. SirfeeKB, Btuioe BpaneÖHott Poccin, C.-UeTepöyprB 1890.
5) Reinholdt, Geschichte der russ. Literatur, 211.
^) So heißt er bei Gerebtzoff, Essai I 426.
6) Reinholdt a. a. O. 173.
Stern, Geschichte der Offentl. Sittlichkeit in Rußland. 30
— 466 —
(Nikolaj Njemtschin) ; endlich auch zwei Russen, die Brüder
Roleff. Iwan IV. hatte ab Hofärzte: Amolf Lensey, Elisej
Bomelij^ Standich i), Johann^ Richard Elms und den Engländer
Jacoby, der 1581 mit besonderen Empfehlungen der Köni-
gin Elisabeth nach Moskau gekommen war. Auch dem Sohne
Iwans, dem Zaren Theodor, schickte Elisabeth ihren Leib-
arzt Marc Ridley, der fünf Jahre in Moskau blieb. Neben
dem früheren Hofarzt Jacoby und dem Engländer Ridley trat
besonders der Milanese Paolo hervor. Als der Letztgenannte
in seine Heimat zurückkehren wollte, erhielt er hierzu nicht
die Erlaubnis, und König Heinrich IV. von Frankreich mußte
zu seinen Gunsten beim Zaren Theodor intervenieren, indem
er sich erbot, als Ersatz für Paolo „einen Mann derselben
Profession, dessen Lehren und Treue den Zaren zufrieden-
stellen würden** zu senden.^) Unter Theodor Iwanowitsch er-
schien das erste russische Medizinbuch (als Handschrift) im
Jahre 1588, und vier Jahre später gab es zum ersten jÄaAe
in Rußland eine Quarantäne in Rjew als Maßregel gegen eine
Epidemie. Auch der Begründer der russischen Apotheken,
der Engländer Frenchham, wurde damals von Elisabeth emp-
fohlen und arbeitete in Moskau gleichzeitig mit dem Holländer
Klausen.3) Nach der Thronbesteigung des Zaren Boriß Gctdu-
now kehrte der Engländer Ridley nach London zurück; Elisa-
beth schickte statt seiner sofort den Doktor Willis nach Moskau.
Doktor Willis wurde von dem Djak (Hofsekretär) Wassilij
Schtschelkalow einer seltsamen Prüfung unterzogen: „Hast du
Bücher ujid Arzneimittel nütgebracht ? Welche Grundsätze be-
folgst du ? Beziehst du dich bei deiner Beurteilung der Krank-
heiten auf den Puls oder auf die Beschaffenheit der Säfte im
Körper ?** Willis entgegnete : „Jch habe meine Bücher in Lübeck
gelassen und bin als Kaufmann weitergereist, weil man in
Deutschland und anderen Ländern den Ärzten, die nach Ruß-
land gehen, nicht günstig gesinnt ist. Mein bestes Buch habe
ich im Kopfe. Arzneimittel werden vom Apotheker, nicht vom
1) Mehrere dieser Namen sind offenbar verstümmelt.
2) Dieser noch vorhandene Brief des Königs Heinrich ist das älteste
Dokument der offiziellen französisch-russischen Beziehungen.
•) Karamsin, IX 374, Anmerkung 292.
— 467 —
Arzte hergestellt. Für einen erfahrenen Beobachter sind der
Pub und die Beschaffenheit der Säfte von gleicher Wichtig-
keit.** Der Djak Schtschelkalow erklärte daraufhin den Leib-
arzt der Königin Elisabeth für einen Ignoranten; und nach dein
Bericht seines Vertrauensmannes schickte Zar Boriß den Doktor
Willis wieder fort. Nunmehr erhielt der zarische Übersetzer
Reinhold Beckmann den Auftrags nach Deutschland zu reisen
und deutsche Ärzte für den Zarenhof anzuwerben. Beckmann
brachte mit sich: Christoph Ritlengher oder Reitlinger (an-
geblich aus Ungarn), David Vasmer, Kaspar Fiedler, Johann
Hilke aus Livland und Heinrich Schroeder aus Lübeck. Jeder
dieser Hofärzte erhielt 200 Rubel jährUch, ein Lehng^t, Be-
dienung, Kost und Pferde. Zar Boriß verlieh den Hofärzten
auch zum ersten Male das Patent der russischen Doktorwürde.
Die Hofärzte hatten keine beneidenswerte Stellung. Zu
einem hohen Patienten gerufen, mußten sie sich streng nach
dem Zeremoniell verhalten, und ihre Meinung durften sie nicht
frei heraussagen. Noch peinlicher war die Situation, wenn
gar die Zarin des ärztlichen Rates bedurfte. Selbst die Ge-
mahlin des aufgeklärten Alexej duldete anfangs nicht, daß
der Arzt in ihrem Zimmer erschien; endlich gab sie nach,
aber die Fenster wurden so verhängt, daß der Arzt die Patien-
tin nicht sehen konnte. Die Zarin streckte bloß ihren Arm
hervor, damit der Arzt den Puls fühlte, aber vorsichtigerweise
war der Arm nüt einem Tuche umhüllt, um die Berührung
eines nackten Körperteiles der heiligen Zarin durch den Arzt
zu verhüten. 1) Die Hofärzte standen unter strenger Bewachung :
Als Baron Mayerberg, der Gesandte des Kaisers Leopold, in
Moskau erkrankte, bat er den italienischen Leibarzt des Zaren
1) Mayerberg, Voyage 1688, 304 (Neudruck II 117). — Wie in Rußland die
alten Gebräuche fortdauern, geht aus nachfolgendem hervor : Kaiserin Alexandra,
Gemahlin Nikolajs II., erkrankte an Bronchitis. Der Leibarzt Botkin woUte die
Zarin auskultieren; die Patientin aber weigerte sich, ihre Brust zu enthüllen,
weil eine Zarin sich einem fremden Manne nicht entblößt zeigen durfte; Botkin
begab sich darauf zum 2^en und erfuhr hier, daß bisher alle Arzte die Zarin
auskultiert hatten, während sie vollständig angekleidet geblieben. Dem ener-
gischen Widerspruch des Leibarztes gab aber der Zar nach, und die seltsaiüe
Tradition wurde gebrochen. Vgl. La Chronique m^dicale und Le Petit Temps,
Nr. 160$, 29 janvier 1903.
30*
— 468 —
zu sich. Erst nach zwei Tagen erhielt er die Verständigung^
daß der Zar die Erlaubnis erteilt hätte; statt des italienischen
Leibarztes kam jedoch der englische. Mayerberg wollte sich
diesem nicht anvertrauen und ließ ihn fortschicken. Kurz darauf
kam ein Abgesandter des Zaren und fragte den Gesandten^
ob der Italiener schon gekommen wäre. Mayerberg erklärte,
daß der Engländer dagewesen ; der Russe redete ihm nun zu,
den Engländer zu akzeptieren, der Italiener sei verreist. Erst
später erfuhr Mayerberg den Grund dieses Komödienspiels :
Unter den Kriegsgefangenen in Moskau befand sich ein litthau-
ischer Würdenträger; der Gefangene erkrankte, und man
schickte ihm den italienischen Arzt. Der Doktor empfahl dem
Kranken Crfime' de Tartre. Ein Spion hörte die Worte und
berichtete dem Zaren, daß der Arzt und der Gefangene ein
Komplott mit den Krymtartaren, mit denen Alexej Krieg führte,
verabredet hätten. Der Arzt wurde verhaftet und der Inqui-
sition ausgeliefert ; er klärte zwar das Mißverständnis auf, blieb
aber verdächtig; und einen solchen verdächtigen Menschen
konnte man doch nicht mit dem Gesandten des Kaisers Leo-
pold stundenlang allein lassen I
Als Zar Fedor, der Sohn Alexejs, eines frühen Todes
starb, beschuldigte Prinzessin Sophie, die nach der Regent-
schaft strebte, den holländischen Arzt Daniel Vongad (von
Gaden), daß er Fedor im Interesse der Famüie Naryschkin
und des Prinzen Peter vergiftet hätte. Die Streljzen drangen
in das Haus des Arztes, fanden aber nur seinen Sohn; als
dieser den Vater nicht verraten wollte, wurde er erwürgt. Die
Mörder trafen dann einen anderen Arzt, einen Deutschen. Sie
hielten ihn an und sagten ihm : „Du hast zwar unseren Herrn
nicht vergiftet, aber du bist ein Arzt, und so hast du doch andere
vergiftet." Und sie brachten ihn um. Endlich fanden sie auch
den Holländer. Sie schleppten ihn in den zarischen Palast. Die
Schwestern des verstorbenen Zaren bezeugten vergebens, daß
von Gaden den Herrscher bis zum Tode aufopfernd gepflegt
hätte. Die Streljzen erklärten: „Er ist ein Hexenmeister, wir
sahen bei ihm eine große Kröte und eine Schlangenhaut.**
Und sie vollzogen an dem Unglücklichen die von den Chine-
sen übernommene barbarische Strafe der zehntausend Stücke;
— 469 —
Kopf, Füße und Hände des Zerstückelten wurden auf eisernen
Spitzen zur Schau gestellt.^)
Die ersten Ärzte in Rußland wurden nur für den Zaren-
dienst berufen; die Großen nahmen gleichfalls die fremden
Doktoren in Anspruch, weil dies Mode zu werden begann,
das Volk aber blieb nach wie vor ohne Hilfe in seinen Krank-
heiten. Vom Jahre 1616 ab wurde auf Befehl des Zaren Michael
den militärischen Kommandanten eine fixe Summe für medi-
zinische Ausgaben angewiesen. Auf Veranlassung des Zaren
Alexej errichteten die Bojaren J. D. Miloslawskij und A. S.
Matwejew in Moskau zwei Apotheken; die eine war nur für
den Zarenhof bestimmt und befand sich im Kremlj, ihr Vor-
steher war ein Deutscher, namens Guthbier. Die andere, ge-
leitet von Christian Eichler, war in dem von Alexej begrün-
deten Kaufmannshause^) und dem ganzen Volke zugänglich.^)
Auch die Volksapotheke gehörte dem Zaren ; die Medikamente
waren so teuer, daß sie einen Gewinn von 27 — 28000 RbL
jährlich abwarfen. Der Zar schickte, da das Geschäft ein loh-
nendes zu werden versprach, gleich jenem, das der Schatz
mit den Schenken machte, den Apotheker Peter Pontan auch
nach anderen Städten, um dort Apotheken einzurichten; so
nach Wologda. Die Lobredner Alexe js rühmen seine ,, Barm-
herzigkeit und Menschenliebe als die hervorstechendsten Eigen-
schaften seiner zarischen Seele" und führen als Beweis dafür
an, daß er in Kriegszeiten bei den Regimentern Apotheken
errichten und jeder einen Spezialarzt beiordnen ließ.*) Aber
als 1654 in Moskau die Pest ausbrach, erhielten alle Ärzte
den Auftrag, sich nur um die Gesundheit der zarischen Fa-
milie zu künmiem. Der Zar blieb bei der Armee vor Smo-
lensk, die Zarin zog ins Kloster Koljäsin. In der Residenz
traf man wohl einige Maßregeln gegen die Epidemie, aber
diese bezweckten auch nur den Schutz des zarischen Eigen-
tums: um die verpestete Luft vom Palast fernzuhalten, yoir-
1) Voltaire, Historie de 1' Empire de Russie sous Pierre le Grand, frans,
und deutsche Ausgabe, Wien 181 o, I 175.
') rocTHHofi j^Bopi», Packhof, ähnlich dem orientalischen KarawanßeraL
") CjieHinrb, XtapcTBOBame i;apH AseRdto Mnxaft.iOBHHa, II 14.
^) GjieHHHb a. a. O. xo.
— 470 —
den die Fenster und Türen des letzteren vermauert. Nach-
dem dies g^oße Werk vollbracht war, überließ man die Be-
völkerung, die von einem Kordon abgesperrt wurde, der Seuche.
Wenn in einem Hause die Leute endlich ausgestorben waren,
zündete man das Haus an und ließ die Leichen mit verbrennen.
Briefe, die dem Zaren aus einem verseuchten Orte zukamen,
durften dem Herrscher nicht im Original vorgelegt werden;
man schrieb die Briefe ab, räucherte die Abschriften^ und
händigte sie dann dem Zaren ein.
Die ärztliche Wissenschaft würde wahrscheinlich nicht viel
ausgerichtet haben, auch wenn man alle vorhandenen Ärzte
zum Wohle des Volkes aufgeboten hätte. Denn nicht bloß
ist die Zahl der Ärzte gering^), sondern das Volk will von
gelehrten Heilkünstlern nichts wissen, und auch die erleuchteten
Geister stehen ihnen fremd gegenüber. Selbst für Peter den
Großen sind die Ärzte, wie er in einem Briefe aus einem euro-
päischen Kurorte an Katharina schreibt, nichts anderes als
„Verbotsmenschen'*.*) Sein Vertrauen zu den Ärzten ist kein
großes, und sein geringer Glaube an ihre Treue wird durch
den Ausfall eines Scherzes gänzlich erschüttert : Auf dem Kriegs-
marsche läßt der Zar eine Anzahl Soldaten als Schweden
verkleiden, und sich von den falschen Feinden, während er
mit dem Beichtvater und seinem griechischen Leibarzt tafelt,
überraschen. Der falsche Schweden-Anführer schreit: „Wer
von euch ist der Zar? Heraus mit der Sprache, oder ich töte
euch allel** Der Beichtvater sagt: „Der Zar ist nicht unter
ims" ; der Arzt aber ruft vor Schrecken : „Der ist's, der lange
Mann/' und zeigt auf Peter. 3)
So wenig Peter von der ärztlichen Kunst halten mochte,
^) Die Hofarzte des Zaren Alexej waren: Rosenberg Vater und Sohn;
Gramann; Blumentrost; Daniel Jeflöwitz („dieser wird bey Hofe am meisten
gebrauchet, ist ein Jude von Geburt, wurde hernach Papistisch, alsdann Evan-
gelisch, und itzo ist er griechischer Religion"). Als Chirurg diente der Schleaier
Sigmund Sommer. Vgl. Kilburgers Unterricht von dem russischen Hand^
In Büschings Magazin III 337. In diesem Bericht, der aus dem Jahre 1674
stammt, ist der Engländer Samuel CoUins, der 1654 die Pestepidemie mit-
erlebte, nicht mehr erwähnt.
<) Sadler, Geistige Hinterlassenschaft Peters des Großen. 127.
«) Webers Verändertes Rußland II 121; und Halem III 139.
— 471 —
so gern spielte er den Arzt, namentlich den Chirurgen. Des
Zaren Gegner behaupteten, er wäre gar nicht der Sohn Alestejs,
sondern eines deutschen Chirurgen Kind gewesen; die Zarin
Nathalie hätte ein Mädchen geboren, und dieses heimlich gegen
das Chirurgenkind vertauschen lassen; von seinem Vater Chi-
rurg sollte Peter die Liebe zu chinurg^schen Operationen er*
erbt haben. 1) In Wahrheit hatte der Zar die Chirurgie von
seinem Günstling, dem Wundarzt Tirmont, erlernt. In Amster-
dam erweiterte er nach Möglichkeit seine Kenntnisse. Er tnag
stets ein Besteck mit chirurgischen Insrumenten bei sich. Wenn
in einem Hospital eine Operation oder eine Sezierung vor^
genommen werden sollte, mußte man ihm dies anmelden, und
er legte selbst mit Hand an. 2) Zahnoperationen machte er mit
Vorliebe; ein Hofbeamter, der wegen eines Vergehens be-
straft werden sollte, fiel vor dem Zaren auf die Knie und
jammerte plötzlich über Zahnschmerzen; der Kaiser vergaß
seinen Zorn, zog die Zange aus der Tasche imd riß dem
Manne zwei Zähne aus. Eines Tages berichtete man, daß die
Frau eines holländischen Kaufmanns an der Wassersucht dahin-
siechte, sich aber der Abzapfung, dem einzigen Rettungs^
mittel, widersetzte. Peter ging sofort hin, beredete die Frau
zur Operation und vollführte diese selbst auf der Stelle. 3)
Große Summen opferte Peter für die Begründung seines so-
genannten Kunstkabinetts. ^) In Amsterdam kaufte er um
1) Vockerodt bei Herrmann, io8.
2) Bergholz bei Büsching, XXI i86, 239. — Stählin, Anekdoten, 14; 206,
Anmerkung 61. — Halem III 146.
S) Stählin 207; Halem III 229, No. 61.
*) Eine ausführliche Beschreibung desselben, von O. Bjelajew, mit Kttpf€;r-
stichen, erschien in Petersburg 1800, 4°. Die erste Abteilung (215 Seiteji)
beschreibt die Wachsfigur Peters und aller in der Kunstkammer aufbewahrten
Gegenstände, die dem 2^en persönUch gehört haben; die dritte Abteilung
bringt Beschreibungen der alten russischen und ausländischen Münzen und
Medaillen, goldener und silberner Antiquitäten, der Mineralien, Gesträuche
und Ölgemälde; die zweite Abteilung (287 Seiten) ist die interessanteste: sie
enthält außer der historischen Beschreibung der natürlichen und künstlichen
Stücke der Kunstkammer viele kuriose Anekdoten zur Geschichte dieser Gegen-
stände. — Eine ausführliche deutsche Beschreibung des Naturalienkabinetts
und der Kunstkammer hatten schon früher die ,, Bemerkungen über Rußland"
(von Prof. Bellermann), Erfurt 1788, I 94 — 155, veröffentlicht.
— 472 —
30000 Gulden die Sammlung des Anatomen Friedrich Ruysch.
1718 befahl er, jede Mißgeburt von Menschen oder Tieren
dem Kabinett gegen einen fixen Tarif abzuliefern: für ein
lebendes menschliches Monstrum zahlte man hundert, für ein
totes fünfzehn Rubel. Eine Tiermißgeburt wurde mit 3, 7
oder IG Rubel gekauft, je nachdem, ob sie tot, lebend oder
selten war. Der Zar hatte auch die Idee gefaßt, der Natur
nachzuhelfen und seltsame Menschen auf Konunando zeugen
zu lassen. Er verheiratete verkrüppelte Zwerge miteinander,
lun für das Kunstkabinett ein Zwergengeschlecht zu erhalten.
In Calais nahm er einen imgeheueren Riesen in seinen Dienst ;
diesen Mann verheiratete er in Petersburg mit einer Finnin,
der größten Frau, die man im Reiche hatte auftreiben können,
um ein Geschlecht von Riesen zu begründen i); die Hoch-
zeit wurde aber erst gefeiert, nachdem der Riese und die
Riesin miteinander mehrmals geschlafen hatten und das Frauen-
zimmer schwanger geworden war, also den Beweis geliefert
hatte, daß sie nicht unfruchtbar bleiben würde. Zum großen
Verdrusse Peters starb der Riese. Der Zar ließ mm wenig-
stens die schönsten Stücke der Leiche für das Kabinett prä-
parieren. Des Riesen ungeheuerer Magen wurde ausgestopft ;
seine getrockneten Gedärme hing man an den Wänden auf,
imd auch sein imponierender Penis kam unter die Raritäten.
Besonders reich wurde das Kabinett an Embryonen; iio un-
geborene Kinder schmückten die Etageren der Kunstkanmier.
Die Sammlung begann mit dem Keim im Augenblick der Emp-
fängnis, und schloß ab mit dem Kinde, das zur Geburt reif
gewesen. Das erste Stück wurde dem Leibe einer Frau ent-
nonmien, die in der Ausübimg eines Ehebruches von ihrem
Manne überrascht und erstochen worden war. In 18 Schränken
wiu^den Präparate, zumeist von Geschlechtsteilen, angesam-
melt. 2) Das ganze Kunstkabinett ist für Peter schließlich nur
1) Halem II 376, Anmerkung 61; 378. — Bergholz bei Büsching XIX 40.
•) Vgl. Bellermann I 150: Hastarum et vulvanim magna adest collectio.
Uterus protrudens infantem. Vulva quae quoad magnitudinem iam Petro I.
mira videbatur. Ausonius ex Virgilio de ea est vaticinatus. — Penis falsi
numorum signatoris. ob crimen interfecti. superans omnes alios, fortassis et
\'ulcani, aequat fere equi inguen. Vir quidam praesens iocose adiiciebat:
— 473 —
eine Spielerei mit Dingen, welche seinen Grausamkeitstrieb
oder seine Wollust befriedigen. Für die Medizin als Wissen-
schaft fehlt ihm jedes Verständnis. Er leidet seit seiner Kind-
heit an Gesichtszuckungen und Nervenkrämpfen; um das Übel
zu kurieren, wendet er sich nicht an gelehrte Ärzte, sondern
er gebraucht inmier nur das Mittel, das ihm ein altes Weib
angeraten hat: ein aus dem Magen und den Flügeln einer
Elster hergestelltes Pulver 1^)
Soll das Volk, das bedrückte, in der Finsternis wandelnde*,
klüger sein als der aufgeklärte Zar? Bei der Wasserweihe
drängt es sich herzu, um mit dem geweihten Wasser die
Kranken zu besprengen. Rettung aus der Not der Epidemien
oder in unheilbaren Krankheiten erwartet es nur von den
Wundertätern. Der Großfürst Dmitr Joanno witsch schikt um
1360 den heiligen Alexej, den Wundertäter, ins Land der
Agarjäner (wahrscheinlich nach der Krym oder der Türkei),
um durch seine überirdische Macht die blindgewordene Zarin
der Agarjäner sehend zu machen. Als im Jahre 1654 in Moskau
die Pest ausbricht, flüchtet die Zarin Maria Iljinitschna und
nimmt alle Ärzte und Arzneimittel mit sich; der Bevölkerung
aber schickt sie als Heilmittel das Bild der heiligen Mutter
von Kasanj aus dem Troizkijkloster und versichert, es werde
den Zoni Gottes stillen und die Pest zum Weichen bringen.
Während der Pestepidemie, die 1771 Moskau verheert, er-
zählt ein gelähmter Kaufmann dem Volke, das Marienbild
der Warwarapforte sei ihm erschienen und habe verkündet,
es werde an ihm ein Wimder tun und auch die Pest dämpfen.
In Prozessionen strömt das Volk zur Warwarapforte des Kreml j,
um das Wunder zu erwarten. Der Archimandrit Ambrosij
..Stolidus numonim adulterinorum signator, si tua bene nosses, majora majori
cum voluptate lucrari potnisses: vix enim crediderim, tempora in Russia
mutasse et unquam mutata iril Talia naturae dona animi dotibus praepo-
nuntur." — Membrum virile aref actum, et sicut pertica herbae nicotianae.
quae appellatur Canaster. consectum. quo omnes cellulae conspiciuntur. —
Multa alia naturalia. Haec et quaedam hisce similia, profanis oculis obscoena.
in scrinio, cuius ianua vitrea velo serico viridi interne recta est, conservantur,
nee unicuique monstrantur.
1) Stahlins Anekdoten; Waliszewski. Pierre le Grand. 114.
— 474 —
erkennt die verhundertfachte Gefahr der Ansteckung durch
das Zusanunenströmen der Menschenma$sen und will das -Ma-
rienbild entfernen^ aber das Volk in seinem Wahn reißt 4en
Priester in Stücke und wirft die Leichenteile den Hunden
vor; der Pöbel stürmt die Spitäler und mordet die Ärzte, die
in seine Hände fallen. Der unglückliche Erzbischof Ambrosij
und die Ärzte gelten den Abergläubischen als böse Zauberer,
deren unreine Kräfte die Wunderwirkung der heiligen Bilder
verhüten. 1831 und 1892 dieselben Szenen; während der
Choleraepidemie in Petersburg i) im Jahre 1831 demoliert das
Volk das Choleraspital; ein Mann, der dabei als ruhiger Zu-
schauer stehen bleibt, sich am Vernichtungswerk nicht be-
teiligt, wird von jemandem als Werwolf bezeichnet, man reißt
ihn zu Boden und kleidet ihn nackt aus, um seinen Zauberer-
schweif zu suchen; 1892 werden in Astrachan mehrere Ärzte
und Apotheker, die das Volk für Zauberer hält, ermordet und
verbrannt; und in Chawalynsk im Gouvernement Ssaratow
behaupten Leute, daß der Ortsarzt Moltschanow der Cholera
einen Passierschein ausgestellt habe, damit sie in die Stadt
eindringen könne: der Alliierte der Cholera wird gesteinigt.
Nächst dem Glauben an die Wirkung von Heiligenbildern
in Krankheiten und Epidemien ist die Meinung weitverbreitet,
daß man die Seuche durch ein Opfer, am sichersten durch
ein Menschenopfer zu beschwören vermag.^) Es existiert eine
"Überlieferung, daß in alten Zeiten in den großrussischen und
kleinrussischen Niederlassungen zur Beseitigung der Viehseuche
ein Weib, das böser Anschläge verdächtig war, dem Tode ge-
weiht wurde. Solche Weiber wurden in großrussischen Dör-
fern mit einer Katze und einem Hahne in einen Sack gebunden
und lebendig in die Erde verscharrt. Im Gouvernement Ar-
changelsk wurden noch vor wenigen Jahrzehnten dem Wasser-
geiste Menschenopfer dargebracht. 1881 herrschte auf No-
woje Semljä Skorbut infolge von Hungersnot. Der Samojede
Jefrem Pyrerka, dessen Kinder der Krankheit erlegen waren.
*) Xojiepa FL llerepöyprii m> npe»aiie roau. lIcropHHecKa« capaBKa. Aok-
T(»pa Me^Hi^HHia T. H. ApiaerejibCKaro. C.-IIÖr. 1892.
«) Löwenstimm, Aberglaube und Straf recht, 8 ff., 25.
— 476 —
erdrosselte das bei ihm bedienstete Mädchen Ssawanei, um
— wie er später vor dem Archangelsker Gerichtshof erklärte
— aus Angst vor dem Hunger dem Teufel ein Opfer zu
bringen ; nach diesem Opfer war er sicher, daß ihm der Teufel
Nahrung verschaffen würde, und in der Tat kam schon in der
ersten Nacht nach dem Morde ein junger Bär vor das Zelt
Jefrems, der das Tier erlegte; kurz darauf erbeutete Jefrem
noch sechs Renntiere. Der Samojede machte dem Götzen,
der sein Opfer so reich belohnte, aus Holz ein Götzenbild, und
um sich des Götzen Gnade noch weiter zu erhalten, beschloß
er nimmehr^ seinen Zeltgenossen Andrej Tabarej ebenfalls zu
opfern. Tabarej aber entkam dem Anschlag, zeigte den Jefrem
an, und dieser gestand sein Verbrechen ohne weiteres. Im
Nowog^uder Kreise des Minsker Gouvernements bringt man
beim Ausbruch einer Seuche zunächst Tiere — einen schwar-
zen Kater, einen schwarzen Hahn oder einen jungen Hund —
zum Opfer: einem Bauer aus dem Dorfe Kamenka starb 1872
ein Sohn an der Cholera; um den Cholerageist zu versöhnen,
begrub man mit der Leiche des Bauernsohnes acht lebendige
Kater. Verbreitet sich die Seuche trotz der Tieropfer stärker,
so muß man Menschen opfern. 1861 beschloß im Turuchan-
schen Gebiete ein Bauer, um sich und seine Familie vor der
Epidemie zu retten, ein Mädchen als lebendes Opfer dem Krank-
heitsdämon darzubringen. Häufiger aber opfert man alte und
kranke^Leute; dies geschah während der Choleraepidemie des
Jahres 1831. Im Jahre 1855 lockten die Bauern des Dorfes
Okopowitschi im Nowogruder Kreise auf den Rat des Feld-
schers Kosakowitsch die Greisin Lucia Manjkow auf den Fried-
hof, stießen sie in ein offenes Grab, in das man die Leichname
der an der Seuche Verstorbenen gelegt hatte, und schaufelten
das Grab schnell zu. Im August 1871 ereigneten sich im Dorfe
l'orkatschi, ebenfalls im Kreise Nowogrud, mehrere solcher
Fälle; imter anderen wurde ein junges Mädchen, das krank
und seinem Ende nahe war, lebendig begraben. Der Umstand,
daß in erster Linie kranke oder alte Leute, deren Tage ohnehin
gezählt sind, geopfert werden, gibt zu denken. In Rußland
werden auffallend viele Leute sehr alt. In früheren Zeiten
führten die vornehmen Russen ein üppiges Leben. Die Tafel
— 476 —
war reichhaltig, und nach dem Mittagsessen war ein langer
Schlaf ebenso obligat, als jede Bewegung verpönt war. Die
vornehmen und reichen Leute waren durchwegs dick. Ein
wohlbeleibter Mensch sein, hieß : Anspruch auf Hochachtung
machen^). Trotzdem wurden sehr viele hundert Jahre alt und
mehr*). Auch jetzt findet man nicht bloß in größeren Städten
oder Dörfern, sondern in jedem, selbst dem kleinsten Orte
viele Hundertjährige. Aber man betrachtet die Alten mehr
mit Scheu als mit Ehrfurcht. Bei einigen sibirischen Völkern
ist Langlebigkeit geradezu todeswürdig. In einem älteren Buche
wird erzählt 3) : „Wer in Sibirien 70 Jahre alt ist, wird von seinen
nächsten Verwandten in einen Wald gebracht, wo sie ihm eine
Hütte bauen, ihm für drei Tage Nahnmg geben, und dann
Abschied nehmen. Hat der Greis die Nahrung verzehrt, so
stirbt er Hungers.** Die neueren Reisenden bestätigen es, und
George Kennan*) beispielsweise, der über den Gebrauch der
Korjaken, die Alten und Kranken zu ermorden, berichtet, meint
den Grund dieses Gebrauches im Wanderleben zu finden:
Das Umherziehen lasse Krankheit und Altersschwäche sowohl
für den davon Betroffenen als für seine Umgebung außer-
ordentUch lästig erscheinen, so daß der Mord eine von der
Klugheit und dem Mitleid diktierte Maßregel werde. Man
findet Ähnliches in Albanien; in Elbassan nennt man Männer
und Frauen, die über hundert Jahre alt sind, Schtrighea oder
Schtriku: Wesen, welche böse Zauberkünste treiben; man
glaubt, daß diese Alten imstande sind, durch ihren Hauch
Menschen zu töten; in Zeiten der Epidemien gab man ihnen
die Schuld am Unheil imd verurteUte sie ziun Feuertodc^).
Die germanisch-slawische Urzeit kannte schon den Gebrauch
1) Karamsin, deutsche Ausgabe IX 309, französische X 367.
«) Margeret. Estat de 1' Empire de Rvssie. 53. hebt die Langlebigkeit der
Russen als besonders bemerkenswert hervor.
S) Sammlung merkwürdiger Anekdoten, das Russische Reich betreffend,
1793. S. 5.
*) Zeltleben in Sibirien und Abenteuer unter den Korjaken und anderen
Stämmen in Kamtschatka, deutsch von E, Kirchner, Berlin 1891, S. 179.
*) Bernhard Stern. Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der
Täricei. I 277.
— 477 —
der Tötung von Greisen und Kranken.^) Aber der Greis selbst
mußte den Tod wünschen. In Zeiten der Nahrungsnot wurden
Volksbeschlüsse inbetreff der Tötung der Greise und Kinder
gefaßt. Zu Saxo Grammaticus kam die Sage eines solchen
Beschlusses der Dänen. Die Olafs Tryggvasonar saga be-
richtet, daß auf Island ebenfalls eine öffentliche Volksversamm-
lung zur Zeit strenger Kälte und Hungersnot beschlossen habe,
alle Greise, Lahmen und Siechen verhungern zu lassen. Der-
selbe Zug wiederholt sich aus dem gleichen Anlasse in der
Viga Skutus saga. Procopius berichtet als tatsächlich, daß
die Heruler ihre Greise und Kranken töteten. In der von
Saxo erzählten Sage von Gauti erscheint es als gemeine Sitte,
daß die Kinder ihre alten Eltern auf die Stammklippe begleiten
und die Eltern sich von da herabstürzen, um froh und heiter
den Tod zu finden. Von den Nordslawen erzählt Zeiller : „Es
ist ein ehrlicher Brauch im Wagrerlande gleichwie in anderen
Wendlanden gewesen, daß die Kinder ihre altbetagten Eltern,
Blutfreunde und andere Verwandten, auch die so nicht mehr
zum Kriege oder Arbeit dienlich, ertödteten, danach gekocht
und gegessen, oder lebendig begraben; daher sie ihre Freunde
nicht haben alt werden lassen, auch die Alten selbst lieber
sterben wollen, als daß sie in schwerem, betrübtem Alter länger
leben sollten. Dieser Brauch ist lange Zeit bei etlichen Wenden
geblieben, insonderheit im Lüneburger Lande.** Ganz das
gleiche bekundet Notker von dem Slawenvolke der Wilzen
oder Liuticen an der Ostsee, und Praetorius von den Alt-
preußen. Cranz erzählt aus dem Jahre 1309 eine Geschichte
von einem wendischen Greise, den sein Sohn unbedenklich
lebendig vergraben wollte, und Kreyßler weiß einen ähnlichen
Fall aus der Mark vom Jahre 1220.2) Von dem Selbstmord
bei den Tschuktschen in Zeiten von Krankheiten ist in einem
früheren Kapitel die Rede gewesen. 3) Die angeführten Pa-
rallelen, welche beweisen, daß auch bei anderen Völkern Un-
menschlichkeiten stattgefunden haben, sprechen aber gleich-
1) Julius Lippert. Die Religionen der europäischen Culturvölker, Berlin
iSSi, S. 38.
*) Lippert a. a. O. 39 — ^40.
«) Vgl. S. 445.
— 478 —
zeitig eine furchtbare Sprache gegen die russische Kultur und
Sittlichkeit. Was anderwärts Selbstmord war^ ist in Rußland
Verbrechen; und was anderwärts in den finstersten, längstver-
gangenen Jahrhunderten und in vereinzelten Fällen geschehen
ist, das ereignet sich in Rußland unter dem Himmel des zwan-
zigsten Jahrhunderts und tritt nicht als Einzelerscheinung, son-
dern massenhaft auf. In dem Berichte einer russischen Wochen-
schrift i) über diese Barbareien des russischen Volksaberglau-
bens ist festgestellt worden, daß für die Beerdigungen solcher
Menschenopfer sogar Ausweispapiere von der Gemeindever-
waltung ausgegeben wurden; der Dorfälteste und die ganze
Dorfobrigkeit teilten die Überzeugung, daß die Cholera durch
die Opferung eines lebenden Menschen versöhnt werden müsse.
Die unter solchem Patronat vollzogenen Verbrechen können
vor der großen Öffentlichkeit in einem Lande wie Rußland,
wo ganze Provinzen ohne Zeitungen sind und die wenigen
Blätter in den übrigen Gouvernements unter der Zuchtrute
der Zensur stehen, leicht verheimlicht werden. Die Gerichte
erhalten Anzeigen tiur von der Polizei ; da die Dorf polizei selbst
im Banne des Aberglaubens steht, ist niemand vorhanden, der
die Macht der Finsternis auch nur anzutasten wagt.
Im Vergleich zu diesen Menschenopferungen sind andere
Verbrechen aus medizinischem Aberglauben zwar an sich
schrecklich genug, doch harmlos, weil es sich bloß um Leichen-
schändungen handelt. Als im Jahre 185 1 im Dorfe Possady
des Kreises Berditschew im Gouvernement Kijew die Cholera
ausbrach, verbreitete sich das Gerücht: der frühere Kirchen-
diener und seine Frau seien Vampire gewesen und schuld an
der Epidemie. Man grub ihre Leichen aus, hackte ihnen die
Köpfe ab und verbrannte diese; die Leiber wurden ins Grab
zurückgelegt, aber vorsichtigerweise mit Eschenpfählen durch-
stochen und an die Erde geheftet. Als am 30. Juli 1893 im
Dorfe Taschtamakowa im Sterlitamakschen Kreise des Gou-
vernements Pensa eine epidemische Krankheit ausbrach, be-
schloß eine Dorfversammlung das Grab einer Bäuerin, die
bei Lebzeiten als Hexe gegolten hatte, zu öffnen und die Leiche
1) HeAtiJiH 1872, No. 2.
— 479 —
mit. einem Eschenpfahl an die Erde zu nageln; Anlaß -zvt
diesem Beschlüsse gab die Erklärung einiger Dorfbewohner,
die bezeugten: sie hätten gesehen, wie aus dem Grabe der
Hexe eine feurige Kugel aufgeflogen und in Feuerzungen zer-
platzend die Krankheit in alle Hütten geschleudert. Zuweilen
ist es der mit dem Aberglauben verbundene Hang zu Grau-
samkeit und Wollust, der abscheuliche Vorgänge verursacht.
Auch bei den Südslawen geht der Vampirglaube zum Teil
auf Nekrophilie zurück. Man fand öfter die Leichen jung
verschiedener Frauen und Mädchen ausgescharrt vor. Der
Leichenschänder hatte seine Lust an ihnen befriedigt, zum
Überfluß aber ihnen die Brüste verstümmelt und die Einge-
weide herausgerissen 1). Auch im nachfolgenden russischen
Falle handelt es sich offenbar um eine sadistische Leichen-
schändung. Im August 1848 gruben die Bauern von Weliko-
Schuchowiz im Nowogruder Kreise des Minsker Gouverne-
ments die Leiche eines Bauernmädchens aus, das als erstes"
Opfer der Cholera anheimgefallen war. Der Feldscher des
Ortes hatte behauptet, daß diese Bäuerin eine liederliche Person
gewesen; und weil sie als Liederliche in schwangerem Zu-
stande gestorben, hätte sie die Cholera hervorgerufen. Auf
den Rat des Feldschers beschloß man, das Grab zu öffnen und
an der Leiche die Operation des Kaiserschnitts zu machen,
um die Lage des Kindes zu erforschen. Man fand im Leibe
der Leiche zwar kein Kind, sondern das Kind lag als Leiche
neben der Mutter; aber der Feldscher kam nicht in Verlegen-
heit und zeigte den Anwesenden, daß die Leiche der Mutter
den Mimd offen hatte, was ein Zeichen des Hexentums. Darauf-
hin waren alle überzeugt, daß der Feldscher recht gehabt, und
man nagelte die Hexe und Cholerabringerin mit einem Eschen-
pfahl an die Erde. 2)
Ein weitverbreitetes Mittel zur Bekämpfung der Epide-
nuen ist das Umpflügen des verseuchten Dorfes, das soge-
nannte Opachiwanije^), auch Korowaja Ssmertj, Kuhtod, ge-
1) Vgl. Krauß, Anthropoph)rteia II 390.
') Löwenstimm, 97 ff.
*) OnaxHBamef die Umhüllung, das Pflügen rund herum. — Ldwen-
stimm, 19 ff.
— 480 —
heißen. Bei dejn Umpflügen oder Umackern müssen die han-
delnden-Personen nackt oder höchstens im Hemde erscheinen.
Man kennt den Gebrauch auch in den slawischen Balkanländern
und in Dalmatien: Es müssen zwölf splitternackte Jünglinge
und Jimg^rauen von tadellosem Lebenswandel am Vorabend des
Sonntags nach Neumond um Mittemacht einen Pflug nehmen,
sich in das Joch spannen und still, ohne zu sprechen, ohne
einander lüstern anzusehen oder zu berühren, siebenmal in
derselben Furche das Dorf umackern. Bricht in einem bul-
garischen Dorfe eine Seuche aus, so löscht man auf allen
Feuerstätten das Feuer aus, und ganz nackte junge Leute
erzeugen stillschweigend ein neues Feuer durch Holzquirlung.
Mit Hilfe dieses Feuers zündet man in jeder Heimstatt ein
neues Feuer auf dem Herde an. Durch Entblößung der Schäm-
teile oder des Hintern drückt der Südslawe jemandem seine
Verachtung aus. Um die Krankheitsgeister zu vertreiben, legt
man die Kleider ab. Weim man nachts einem Gespenste be-
gegnet, fasse man sich am Penis an und rufe: U Kuracl In
den Penis hinein I Frauen, die sich vor Geistern fürchten,
ziehen, wenn sie nachts übers Feld gehen, Hemd oder Kittel
über den Kopf, so daß sie den Geistern den nackten Hintern
zeigen. 1) Wenn der christliche Wotjäke vor Gericht gerufen
wird, um zu schwören, so entblößt er zwischen der Vorführung
und dem Eide heimlich sein Glied, berührt das entblößte Glied
mit der rechten Hand und ist überzeugt, daß sein Eid im-
gültig.2) Aus dem Jahre 1738 hat sich in dem Berichte über
die damalige Pestepidemie im podolischen Dorfe Gummenez
die Erzählung über eine Prozession erhalten, die von den
nackten Dorfweibern zu nächtlicher Stunde rund um das Dorf
und durch die Felder veranstaltet wurde, lun die Pest abzu-
wehren. Der Edelmann Michael Matkowsky, der mit einem
Zaum in der Hand ein verlorenes Pferd auf den Feldern suchte,
wurde von den Teilnehmern der Prozession als die leibhaftige
Pest angesehen, gefangen genommen und unter den schreck-
1) Krauß Anthropophyteia I i. — Krauß, Südslawische Pestsagen,
Wien 1883, 26. — Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben Tn der
Tiirßei I 269.
*) Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, 133.
— 481 —
liebsten Martern lebendig verbrannt. 1871 fanden in Ruß-
land während der Cholera häufig Umackerungen statt. In
der jüngsten Zeit wurde das Umpflügen bei Epidemien und
Viehseuchen in den Gouvernements Orel, Tambow, Jaroßlaw
und Wologda beobachtet. Aus dem Gouvernement Jaroßlaw
berichtete der Geistliche Orlow, daß man im Romano-Borißo-
gljebschen Kreise nach Vollendung der Prozession eine schwarze
Katze, einen jungen Himd oder einen Hahn verscharrte; in
einigen Dörfern des Grjäsowezschen Kreises begrub man einen
lebenden Hund imd eine lebende Katze. Im Gouvernement
Wologda nehmen die Bauern zunächst unter Assistenz der
( Geistlichkeit eine Prozession bei Tage vor, wobei man unter das
Heiligenbild eine Eintagsleinewand legt, nämlich ein Stück neuer
ungebleichter Leinewand, das am Vorabend des Prozessions-
tages gesponnen und gewebt worden, ist. In der Nacht, zwischen
Mittemacht imd Frühmesse, umpflügen die Weiber das Dorf :
Um Mittemacht tritt die alte Dorfwahrsagerin in die Um-
friedung des Dorfes hinaus und schlägt auf eine Pfanne. Nun
kommen die Weiber mit Bratpfannen, Feuerhaken, Ofen-
gabeln, Sensen und Knütteln gelaufen. Das Vieh wird ein-
gesperrt, und die Männer dürfen die Häuser nicht verlassen.
Die Prozession beginnt, indem die Wahrsagerin sich ihres
Rockes entledigt und den Tod verflucht. Die Weiber ziehen
einen Pflug herbei und spannen an denselben nackte, unbe-
fleckte Jungfrauen oder eine mißgewachsene Frau. Dann um-
pflügt man das Dorf dreimal, man zieht dreimal eine ge-
schlossene Linie nmd herum ; imd zwar also : Voran trägt man
das Bild des heiligen Wlaßj, des Beschützers der Herden,
falls eine Rinderpest herrscht, oder die Bilder der heiligen
Flor und Lawr, falls eine Pferdeseuche ausgebrochen ist.
Hinter den Heiligenbildern reitet die Wahrsagerin auf einem
Besen; sie ist nur mit dem Hemde bekleidet, und ihre Haare
sind aufgelöst. Dann kommen die nackten Mädchen mit dem
Pflug, und hinterdrein bewegt sich die Menge der lärmenden
Weiber. Die Zeremonie ist als gelungen zu betrachten, wenn
die Prozession bei dem dreimaligen Umpflügen niemandem
begegnet. „Gott behüte Jeden davor, dieser Prozession in
den Weg zu geraten,** sagt der Geistliche Orlow. Ein Tier
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Ru&land. 31
— 482 —
wird sofort totgeschlagen, ein Mensch geprügelt, bis er be-
wußtlos bleibt oder tot zur Erde sinkt. Das ist unerläßlich.
Denn wer der Prozession begegnet, ist sicher der Tod, der in
Gestalt eines Werwolfs erscheint, um durch die Durchkreiizimg
der Umpflüg^ungslinien den heilsamen Kreis des Pfluges zu
zerstören. Der gleiche Gebrauch besteht, mit einigen kleinen
Abweichimgen, in verschiedenen Kreisen der Gouvernements
I^nschny-Nowgorod, Woronesch imd Tula. Am stärksten ver-
breitet ist er allem Anschein nach in Mittelrußland. Es ist
außer allem Zweifel, daß man es mit einer alten heidnischen
Sitte zu tun hat, die von der Orthodoxie nicht nur geduldet,
sondern unterstützt wird, denn das Umpflügen wird durch
die vorhergehende kirchliche Prozession geweiht; und man
tötet die Menschen, die den heiligen Kreis stören, unter dem
Zeichen des Kreuzes und mit Gutheißung der Geistlichkeit.
Zu erwähnen ist noch, daß beim Umpflügen auch Fälle von
Selbstopferung vorkommen; man wirft das Los, imd wen es
trifft, der wird mit einem Hahne oder einer schwarzen Katze
lebendig begraben.
Der entsetzliche blutige Aberglaube herrscht aber nicht
bloß in Zeiten der Epidemien, wo man durch solche Taten
sowohl sich als die ganze Gemeinde zu retten glaubt, sondern
auch in ganz gewöhnlichen Krankheitsfällen.
Die Zahl der abergläubischen Heilmittel für gewöhnliche
Krankheiten ist endlos. Besonders beliebt sind Beschwö-
rungen^). Die Heilmethoden sind zumeist grausam imd brutal
imd führen häufig den Tod des Kranken herbei. Mord, Not-
zucht und Sodonue werden vom Wunderdoktor oder der Wahr-
sagerin ohne viel Bedenken empfohlen, selbst wenn es sich
darum handelt, ein ganz gerinfüg^ges Übel zu kurieren. Epi-
lepsie heilt der Snaxapt , der weise Mann, durch warmes Men-
schenblut. Im Gouvernement Kasan j ist dieses Mittel all-
gemein bekannt. Im selben Gouvernement existiert noch ein
anderer furchtbarer Aberglaube, worauf ein Vorfall vom 3. Juli
^) Eine Reihe solcher Beschwörungen und Besprechungen teilt Ssi6iiunmhy
PvccKÜt Hapo;i:B mit: crp, 259 — 282, 353 — 386, 417 — 426 (napojiHaa MeÄHmiHa).
— Vgl. femer: CyMuoBT^ KyjibTypHbiH nepexcHBamfl ; CöopHinci» xapbR. Hcrop.
(f>iwojior. oßiuecTBa III — V; Wisla 1891, No. III.
— 483 —
/ 1891 hinweist: im Dorfe Stary-Ssalman des Spaßschen Kreises
wurde einem sechsjährigen Mädchen die Kehle durchschnitten
und Brust und Magenhöhle geöffnet; dann nahm man das
Herz heraus und gab dieses als Heilmittel einem Manne zu
essen, der nach einem Schlaganfall einen zitternden Kopf be-
halten hattet). Aber die Heilmethoden sind auch für die
Patienten selbst mit großer Gefahr verbimden und führen in
den meisten Fällen den Tod herbei. Trotzdem sucht nicht bloß
das gemeine Volk die Wunderdoktoren auf, sondern auch
die Mitglieder der höheren Gesellschaftskreise und der intelli-
genten Klassen strömen massenhaft zum Snacharj oder zur
Wahrsagerin, imd jedes Gouvernement, jede größere Stadt
hat einen berühmten Kurpfuscher, mit dessen Beliebtheit sich
kein gelehrter Arzt messen kann. In den 1880 er Jahren war
im Busulukschen Kreise des Gouvernements Ssamara der
Snacharj Kusmitsch vielgesucht; täglich kamen 150 Patienten
aus der ganzen Wolgagegend herbei, um seinen Rat einzu-
holen. 2) Diese Wunderdoktoren wenden selbst in den harm-
losesten Krankheiten geradezu lebensgefährliche. Methoden an.
Am schlimmsten ergeht es da der Wöchnerin imd dem Säug-
ling. Allgemein ist es in der russischen Volksmedizin Gebrauch,
die Gebärende auf eine Holzschaufel zu legen und sie von
einigen Anwesenden in die Höhe werfen zu lassen, während
andere sie an den Haaren halten und herunterziehen; dabei
ruft man: „Schaufelchen, wirf es heraus, wie c. Brod her-
auswirfst.** Das Spiel endet nicht selten mit dem Tode der
Gebärenden. Hat der Säugling einen Bruch, so bindet man
ihm im Lukojanowkreise des Gouvernements Nischny Now-
gorod eine Maus mit einem Faden an den Fuß an und legt
dann das Tier auf den Bauch des Säuglings : zernagt die
Maus den Nabel des Kindes, so wird dieses gesund werden;
sonst muß es sterben. Leidet das Kind an Abzehrung, so
wird es nach einer Heilmethode, die ebenfalls im Lukojanow-
kreise üblich ist imd auch ^n Wilna beobachtet wurde, in
Lappen gewickelt und mit ungesäuertem Teig aus Roggenmehl,
1) Löwenstimm 114.
«) Löwenstimm 138 ff.
31*
— 484 —
das vorher in der Länge des Kindes aufgerollt wurde, umhüllt ;
dann bindet man das Paket an eine Küchenschaufel fest und
schiebt es dreimal in den Backofen, während ein Weib drei-
mal vom Ofen bis zur Türschwelle läuft und schreit: „Backe
das Hunde-Alter, backe tüchtig/' Diese Krankheit bezeichnet
man nämlich als Hundealter. Es geschieht, daß das Kind
während das Backens stirbt, dann war das arme Wesen un-
heilbar, die Methode aber ist nicht diskreditiert. Für dieselbe
Krankheit gibt es in anderen Gegenden auch folgendes Mittel :
Man trägt das Kind in den Wald und legt es auf ein paar
Tage in einen gespaltenen Baum. Dann nimmt man es heraus
imd trägt es dreimal neun Male rund um den Baum. Hierauf
bringt man es nach Hause und badet es in Wasser, das aus
sieben Flüssen oder Brunnen geschöpft ist, überschüttet es
mit Asche aus sieben Ofen und legt es auf den Ofen. Schläft
es still ein, so wird es geheilt werden; schreit es aber, so muß
es sterben. Leidet ein Kind oder ein Erwachsener an Leib-
schneiden mit Erbrechen, so verlangt der Doktor eine Suppen-
schüssel mit Wasser, Hanf und einen Krug. Die Schüssel
wird dem Kranken auf den Bauch gestellt, der Hanf ange-
zündet und ganz nahe um den Kranken geschwenkt; hierauf
der Rest des Hanfes in den Krug gelegt und dieser in die
Schüssel gestellt. Während der Arzt seine Beschwörungen
hersagt, gibt man dem Kranken das Wasser aus der Schüssel
zu trinken. Schreit der Patient, so heißt es, daß die Krank-
heit gerade entweicht. Hat der Kranke früher vom brennen-
den Hanf Brandwunden erlitten, so sind das die 5ieichen der
entflohenen Krankheit. Selbstverständlich kann der Wunder-
doktor nicht bloß Krankheiten bannen, sondern er steht Leuten,
die sich rächen wollen, auch zur Verfügung, wenn sie ihren
Feinden eine Krankheit anwünschen. So zaubert der Doktor
wem immer Rheumatismus an, indem er Erde aus einem
frischen Grabe nimmt, die Erde mit Asche aus sieben Öfen
und Salz aus sieben Hütten vermischt. Das Päckchen muß
man in die Strümpfe oder Fußlappen des Verwünschten hinein-
praktizieren, und wenn dessen Fußschweiß dazukommt, hat
der Mann gleich seinen Rheumatismus. Leute, die sich dem
Militär entziehen wollen, halten es für das sicherste Mittel,
— 486 —
sich vom Snacharj eine passende Krankheit anzaubern zu
lassen^).
Will jemand nicht einmal die Hilfe des Zauberers oder
eines alten erfahrenen Weibes in Anspruch nehmen^ so bedient
er sich des russischen Allheilmittels, das schon im alten Ruß-
land gebraucht wurde 2): er ninunt Branntwein mit Schieß-
pulver, Zwiebeln oder Knoblauch und darauf ein Schwitzbad.
Vor Pillen und noch mehr vor Klistieren hat der Russe eine
abergläubische Furcht; die schlimmste Gefahr ist nicht im-
stande, die Scheu vor dem Klistier zu überwinden. Die Ko-
saken trinken, wenn sie vom Fieber gepackt sind, eine Riesen-
schale Branntwein mit einer tüchtigen Portion Kanonenpulver,
legen sich darauf nieder und stehen am anderen Morgen frisch
und munter auf.^)
Die Regierung kümmert sich um die hygienischen Zu-
stände wenig. Ganze Landstriche, größer als Königreiche,
haben nicht einmal eine einzige Apotheke. Katharina II. be-
fahl in einer geheimen Instruktion, daß es in einem Gouverne-
ment wenigstens zwei Ärzte geben solle.*) Jetzt hat jeder Kreis
in seiner Hauptstadt wenigstens einen Arzt, aber nicht überall
eine Apotheke. Zumeist muß die Hausapotheke des Kreis-
arztes genügen. Die gesetzgebende Versanunlung, die auf
Grund der von Katharina II. gegebenen Wahlordnung 1767
imd 1768 in Moskau \md Petersburg zusanmientrat, beschloß
die obligatorische Schutzpockenimpfung, imd die Kaiserin ließ
sich xmd den Großfürsten-Thronfolger Paul zuerst impfen, um
dem Volke mit gutem Beispiel voranzugehen. Anderthalb Jahr-
1) Ober Syphilis ist im II. Bande ein besonderer Abschnitt. Hier be-
gnüge ich mich mit den angeführten Beispielen zur Illustriening des Kultnr-
and Sittlichkeitsgrades der russischen Volksmedizin. Man vgl. ferner R. Krebel,
Volksmedizin und Volksmittel verschiedener Völkerstämme Rußlands, Leipzig
1858; und Aurelio Buddeus, St. Petersburg im kranken Leben, Band I, worin
die Gesundheitsverhältnisse und Heilanstalten speziell der Residenz eingehend
beschrieben sind.
8) Karamsin, deutsche Ausgabe. IX 311.
') Description de rUkrainie. par le Chevalier de Beauplan, nonvelle
Edition par le prince Galitzin, Paris 1861, p. 135.
*) Blum. Ein russischer Staatsmann. J. J. Sievers. Leipzig und Heidel-
berg 1857, I 181.
— 486 —
hunderte sind verflossen, und das russische Volk hat seinen
Widerstand gegen die Blatternimpfung noch nicht aufgegeben.
Die Pocken wüten deshalb in Rußland noch mit ungebrochener
Kraft. Namentlich in den fernen Provinzen und unter den
Nomadenvölkem ist diese Krankheit eine fast unausrottbare.
Wemi bei den Kirghisen jemand an den Pocken, die Tschit-
schak genannt werden, erkrankt, so wird er sofort von allen,
selbst von seinen nächsten Verwandten verlassen. Man sperrt
ihn in ein Zelt ein und setzt ihm von fem Lebensmittel imd
Getränke aus. Gewöhnlich brechen die anderen Kirghisen
ihre Zelte ab und ziehen weiter, den Erkrankten seinem Schick-
sal überlassend. Nähert sich ein Pockenkranker den Woh-
nimgen der Kirghisen, so wird er unbarmherzig nieder-
geschossen i). Auch die Kalmücken empfinden vor den Pocken
eine abergläubische Angst, doch sind sie gegen die Erkrankten
menschlicher als die Kirghisen. Zwar ziehen sie ebenfalls,
sobald einer von ihnen von den Pocken ergriffen wird, sogleich
fort imd lassen den Patienten in einer Hütte zurück; aber der
Kranke bleibt nicht hUflos, sondern unter dem Schutze eines
Stammesgenossen, der die Krankheit schon durchgemacht hat,
also immun ist.
Bei den Kalmücken ist es besonders bemerkenswert, daß
hier das gemeine Volk die europäischen Ärzte ebenso gern
zurate zieht wie die kalmückischen Heilkünstler, während die
Vornehmen nur 'zu den einheimischen Meistern Zutrauen haben.
Die Kalmücken halten, im Gegensatze zu den alten Russen,
denen die Heilkunde als etwas Gottloses erschien, die Medizin
für eine göttliche Wissenschaft; sie besitzen einen Spezialgott
der Medizin, den Ototschi Burchan, der auch im Bilde dar-
gestellt wird. Eine Klasse der Ärzte heißt Ototschi, diese heilen
aber nur Knochenbrüche und Tierkrankheiten; die angesehen-
sten Ärzte, Doctores medicinae universalis, sind die Aemtschi,
welches Wort auch Arznei heißt. Die Aemtschi gehören dem
Priesterstande an imd schöpfen ihre Kenntnisse aus Büchern.
Der kalmückische Arzt legt den größten Wert auf die Diät.
Dem Kranken erlaubt er eine lange Zeit nur eine magere
1) Pallas Merkwürdigkeiten 295.
— 487 —
Fleischbrühe^ einen dünnen Mehlbrei, Tee ohne Milch. An-
dere Kranke dürfen nur wenig Milch, wieder andere müssen
viel MUch zu sich nehmen. Hämorrhoiden heilt man, indem
man dem Kranken mehrere Tage hindurch nichts anderes gibt
als eine Schale frischer Kamelmilch morgens und eine Schale
abends. Natürlich fehlt es auch nicht an den beliebten orien-
talischen Medikamenten, wie Rhabarber und Magnesia, und
noch weniger an den Heilmitteln des Aberglaubens: so wird
nicht bloß der Galle von Tieren, sondern auch der Galle von
Menschen eine große Heilwirkung zugeschrieben. Die wich-
tigsten aller Mittel aber sind Amulette, Beschwörungszere-
monien und als letztes imd teuerstes: feierliche Gebete. Der
kalmückische Arzt ist immer geschäftig, fühlt bald den Puls
der linken, bald jenen der rechten Hand, dann beider Hände
Pulse auf einmal, läßt sich den Urin des Kranken geben, klopft
den Urin mit dem Stab, und wenn die Krankheit gefährlich oder
der Patient vornehm ist, macht sich der Doktor kaltblütig
daran, den Urin zu kosten. Kommt der gemeine Kalmücke
zu einem europäischen Arzte, so bietet er die merkwürdigsten
Honorare an, und es ist nicht selten, daß er seine Tochter als
Pfand für die Bezahlung, die er gewöhnlich nicht vor voll-
endeter Kur leisten will, offeriert. i)
29. Räuberwesen und Revolutionen.
Raubwirtschaft als Folge von Hunger und Pest — Organisation der Räuber —
Die Sjetsch der Kosaken — Die Räuber und der Zar — Stenjka Rasin —
Räuberlieder — Grausamkeit Rasins — Ermordung der Adeligen und Priester
— Aasschweifungen — Rasins Nachfolger — Brigandage unter Peter dem
Großen — Räuber und Revolutionäre — Hinrichtung der Strjeljzen — Der
Richtplatz in Moskau — Die Pugatschewsche Rebellion — Ihre Folgen —
Die französische Revolution und Rußland — Radischtschew der Freigeist —
Die Freimaurer in Rußland — Nihilismus — Das Erwachen des Muschiks —
Bankerott der Autokratie.
Tausend Jahre lang hat das russische Volk die Tyrannei
der Herrschenden, die Willkür des Tschin, die Knuten der
Polizei geduldig und fast widerspruchslos ertragen ; aber gegen
*) Bergmann, Nomadische Streif ereien II 326. — Pallas a. a. O. 295.
— 488 —
die Leiden des Hungers und der Pest hat es sich aufgelehnt.
Üie von Menschen verhängten Plagen verursachten nur selten
Empörungen; doch gegen die Plagen, die die Natur erzeugfte,
murrte das Volk. Hungersnot und Pest hatten in ihrem Ge-
folge stets Unordnungen, und wo das Elend herrschte, bildeten
sich sofort Räuberbanden. In den alten Chroniken und An-
nalen wird oft über die Leiden geklagt, die im heiligen Ruß-
land durch die unvertilgbare Raubwirtschaft entstehen. Als
1 230 Nowgorod von furchtbarer Hungersnot heimgesucht wird,
durchziehen jene, die nicht apathisch den Untergang erwarten
wollen, raubend vnd sengend d!e Stadt und plündern die Kost-
barkeiten in den Häusern der Reichen. 1299 zerstört eine
Feuersbrunst Nowgorod, und die dadurch hervorgerufene Ver-
wirrung benützen wilde Banden zur Ausraubung der Paläste
und Kirchen. 13 14 werden in Pskow 50 Hauptanführer von
Räuberbanden, die die Stadt während einer Hungersnot be-
imruhigen, aufgehängt. Seit dem vierzehnten Jahrhundert, mit
dem Beginne der Tartarenherrschaft, nimmt das russische
Räuberwesen kolossale Dimensionen an. Aber nachdem die
fremden Bedrücker von den moskowitischen Zaren endlich ver-
trieben worden, wird es durchaus nicht besser. Das Volk, so-
weit es überhaupt fähig ist, unter dem Elend noch das Gefühl
des Leidens zu empfinden, verfällt der Trunksucht oder flüchtet
sich in die Wälder, um vom Raube zu leben.
Die Epoche Iwans des Schrecklichen schafft ganze Ar-
meen von Verzweifelten; und als unter Boriß Godunow um
1600 die entsetzlichste aller russischen Hungerzeiten anbricht,
ergibt sich alles, was dem Hunger entrinnen kann, dem Straßen-
raub. Aus der Ukraine brechen Scharen nach Inner-Rußland
ein, um zu morden und zu plündern. In abgelegenen Gegenden
errichten die Räuber förmliche Standquartiere, wo man die
Streifzüge berät und von wo aus man bis unter die Tore von
Moskau zieht. Einer der verwegensten Räuberhauptleute der
Zeit ist Chlopko, mit dem Beinamen Koßolap, der Krunun-
pfotige; der Zar muß ihm ein ganzes Heer entgegenschicken,
aber erst nach hartem Kampfe wird Chlopko gefangen und
unter gräßlichen Marterungen getötet; auch alle seine Unter-
anführer werden auf die Folter gespannt und hingerichtet, ob-
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Bestrafung von Räubern an der Wolga.
(Nach einer AbbiUlung in J, ILinway's Reise beschreiliuiiK. r754.)
I
'
— 489 —
wohl Zar Boriß bei seinem Regierungsantritt gelobt hat, keinen
Menschen mit dem Tode zu bestrafen, i) Aber dieses Gericht
schreckt niemanden ab, und 1609 wagt es der Räuberhaupt-
roann Salkow, ein chatunskischer Bauer^ Moskau zu umzingeln
und alle Getreidetransporte aufzuhalten, so daß in der Haupt-
stadt Hungersnot herrscht. *)
Die Räuberbanden ziehen zuweilen gleich mächtigen
Heeren durch die Provinzen und behandeln das Vaterland wie
eroberte Reiche; sie lagern nicht bloß auf den Landstraßen
xmd in den Wäldern, um von den Wanderern und den Kauf-
leuten Abgaben und Steuern zu erheben, sondern brandschatzen
auch Städte und nehmen Festungen in Besitz. Die Oinb
(Sjetsch^), die Niederlassung der Saporeger Kosaken, ist das
Zentnun aller Räuberbanden. Flüchtige Leibeigene, Diebe und
Mörder, die dem Henker entkamen, Abenteurer aller Art, un-
schuldig Verfolgte, mit einem Worte alle, die unter einem
Regime der Ordnung oder unter der Herrschaft der Willkür
nichts Gutes zu erhoffen haben, suchen das Asyl in der Sjetsch
auf. Gogolj hat von diesen Glücksrittern imd Verfehmten in
seinem Roman Taraß Buljba ein krasses Bild entworfen. Aus
der Sjetsch strömen von Zeit zu Zeit und Jahrhunderte hin-
durch die Scharen der Freibeuter, die namentlich die Bo-
jaren und den niederen Adel drangsalieren und fast überall
auf die Sympathien, wenn nicht gar Anteilnahme des be-
drückten Muschik und des geknechteten Volkes rechnen kön-
nen. Wenn die Räuber die Bojaren und Gutsherren ausplün-
dern imd ermorden, so erscheinen sie nicht als Diebe und
Mörder, sondern als Rächer des namenlos leidenden Volkes,
als Geißel für die Herren und Befreier der Leibeigenen.
Die Macht des Räubertums vermag diese kolossalen Dimen-
sionen anzunehmen, weU sich die Bewegung niemals gegen den
Zaren richtet. Wie dem einfachsten Muschik, bleibt auch dem
zügellosen Räuber der Zar noch immer der Inbegriff alles
HeUigen auf Erden. Ja, der Räuber ist geradezu ein Mann
1) Karamsin, deutsche Ausgabe X 97, französische XI 153.
*) Ebenda» deutsche Ausgabe XI 145.
•) Dieses Wort ist altrussisch, gleichwie cfeiein», der Krieger, und c^^hho,
die Axt. In der modernen Sprache heißt d^ia oder (Hkqr»: das Blutbad.
— 490 —
des Zaren. Der Zar ist gut und edel ; aber der Bojar^ der Adel,
der Tschin, die Beamten, sie stehen zwischen dem Zaren und
seinem Volke; sie sind es, die den Zaren ebenso verraten, wie
sie das Volk bedrücken. Das ist die Meinung, die sich das
Volk bildet imd der es in seinen Liedern hundertfältigen Aus-
druck gibt. In diesen Liedern i) erscheinen die Räuberbanden
als wahrhafte Stützen des Zaren; Mord oder Raub, an dem
Adel und dem Beamtentum verübt, wird im VolksUede als
kühne Tat gefeiert, als das Werk von Befreiern aus Not imd
Elend; die Räuber, die tapferen Helden, ziehen heran, lun die
gemeinsamen Feinde des Zaren und des Volkes zu strafen.
Dies erzählt am besten die Geschichte der beiden bedeutendsten
russischen Räuber: des Stenjka Rasin und des Pugatschew,
von denen der erstere, der nichts gegen den göttlichen Zaren
zu unternehmen wagt, vom Volke verherrlicht wird, während
der andere, der sich fälschlich für Peter IIL ausgibt und den
Thron anstrebt, beim Volke nur durch Schrecken Zustimmung
erzwingt, in den Liedern aber verflucht wird. Stenjka Rasin,
der als der Retter der Leibeigenen und der Vergewaltigten auf-
zutreten liebt, ohne sich direkt gegen den Zaren zu wenden,
ninmit in den Liedern des Volkes die Stellung eines Helden
ein, gleich jener, die die alten Byhnen oder Heldenlieder dem
Ilja von Murom einräumen. Diese Räuberlieder malen ihren
Helden in den schönsten Farben, schmücken ihn mit den vor-
nehmsten Tugenden, schreiben ihm die wunderbarsten Dinge
zu. In einem Liede wird erzählt, wie der besiegte Rasin in
seinem Kerker auf die Wand ein Boot malt, das sich durch
Zauberkraft in ein wirkliches Schifflein verwandelt und den
Gefangenen in die Freiheit entführt. Die Gefährten Rasins
werden also charakterisiert:
Wir sind keine Räuber ohne Ehr,
Wir sind nur des Rasin Arbeiter,
Des Unterhetmanns Gehilfen hehr.
Nur ein Ruderschlag — und ein Schiff liegt brach;
Mit dem Riem ein Schlag -- Karawane wach!
Mit der Hand ein Schlag — uns laufen die Mädchen nach.
1) Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, 89 — 92.
— 491 —
In einem Liede, das von Rasin selbst herrühren soll, schil-
dert der Hauptmann den Abschied von seinen Gefährten. „Be-
grabet mich," bittet er, „am Scheidewege, wo sich die drei
Straßen kreuzen: nach Moskau, nach Astrachan, nach Kijew*':
Mir zu Häupten legt ein wundertätig' Kreuz,
«
Mir zu Füßen leg^ einen Säbel scharf.
Wer vorübergeht, der soll bleiben stehn;
Sei es, daß er bete zu dem wundertätigen Kreuz,
Sei es, daß ihn ängstige mein Säbel scharf:
Mag er wissen, daß hier liegt der Räuber böse —
Stenjka Rasin, Sohn des Timofej.
Dieser böse Räuber Stenjka Rasin ist einer der grausam-
sten und wollüstigsten Menschen aller Zeiten und Zonen. Aber
seine Grausamkeit richtet sich nur gegen den Adel, die Kirche
und die Beamten, und deshalb ist er dem Andenken des Volkes
ein teuerer Held. Rasin beginnt seine Räubereien um 1667
in seiner Heimat am Don^) und zieht dann, als er schnell
große Scharen von Mordlustigen um sich gesammelt hat, zur
Wolga. Die Behörden schicken den Ssotnik der Moskauer
Strjeljzen Nikita Siwzow zum Räuberhauptmann, um einen
Friedensvorschlag zu machen. Aber Rasin läßt den Boten der
verhaßten Behörden totschlagen und die Leiche ins Wasser
werfen. Andere Gesandte erleiden dasselbe Schicksal. In kür-
zester Frist fällt Astrachan in die Hände des Räubers. Der
Befehlshaber von Astrachan, Fürst Prossorowskoj, wird von
der Bastei hinabgeworfen; alle Beamten, die nicht sofort dem
Sieger Gehorsam geloben und leisten, werden zu Tode ge-
martert, und ihre Leichen wirft man ins Wasser. Einen furcht-
baren Haß hegt Rasin gegen den Klerus. Der Räuberhaupt-
mann verbietet das kirchliche Begräbnis; die Priester dürfen
nicht mehr amtieren; die Mönche und Nonnen werden aus
den Klöstern geschleppt, entkleidet und dem Volke auf offenem
1) Nachricht von dem Aufruhr und den Frevel taten des donischen
Kosaken Stenka Rasin, aus einem russischen Chronikenschreiber damaliger
Zeit gezogen und übersetzt von M. Christian Heinrich Hase. Büschings Maga-
zin IX 79 ff. — Memoires du Regne de Pierre le Grand par Nestesuranoi,
Amsterdam 1728, I 391 — 433.
— 492 —
Platze zur Verhöhnung ausgeUefert. Alles, was zu den Vor-
nehmen gehört, ist dem Tode geweiht. Die Kinder des er-
mordeten Fürsten Prossorowskoj werden aus ihren Verstecken
hervorgeholt und an den Füßen über der Stadtmauer auf-
gehängt. Die Beamten, welche das Volk bedrückt haben, läßt
Stenjka Rasin an den Rippen aufhängen und dem Tode durch
Verschmachten aussetzen i); die Weiber und Töchter der er-
mordeten Edelleute und Strjeljzen, Schreiber und Kaufleute,
überliefert er der Armee zur Schändtmg. Er zwingt die Priester,
die vornehmsten Frauen und Töchter mit den wilden Gesellen
zu trauen. Da aber die Räuber die Orthodoxie verspotten und
das Sakrament der Ehe verachten, so dürfen die Priester bei
Todesstrafe keine kirchliche Zeremonie vornehmen, sondern
müssen sich an Stelle des himmlischen Segens mit dem Siegel
Rasins begnügen. Wenn ein Priester sich weigert, dem Be-
fehle des Räuberhauptmanns Folge zu leisten, wird er ohne
weiteres ins Wasser geworfen.
Mit dem Räuberwesen vereinigt sich immer die zügellose
Unzucht. Rasins Befehl: Erschlaget die vornehmen Männer
und schändet die Frauen und Mädchen I findet bei dem Volke,
das nicht bloß von der Knute der Männer, sondern auch von
der Peitsche der Weiber gezüchtigt wird, volles Verständnis
und jubelnden Beifall. Diesen Befehl schickt Rasin nach der
Erobenmg Astrachans durch Boten die Wolga aufwärts. Seine
Briefe verkünden, daß er für die Vertreibung der Bojaren und
der Gouverneure kämpfe und dem bedrückten Volke die Frei-
heit geben werde ; er verspricht : überall, wo er nur erscheinen
1) Es ist dies dieselbe Todesstrafe, welche die Behörden über die Räuber
an der Wolga verhängten und die wir auch im Bilde zeigen. Vgl. J. Hanways
Beschreibung seiner Reise, i 75: „Es wird eine Art Floßschiff erbaut, dessen
Größe nach Anzahl der Verbrecher eingerichtet wird. Auf dasselbe setzet man
einen Galgen, der eine zureichende Anzahl eiserner Haken hat, an welchen sie
lebendig bey den Rippen gehenket werden. Das Floßholz wird in den Strom
hinein gelassen, nachdem man zuvor ein Stück Pergament über ihre Köpfe
fest gemacht hat, wohnnen ihre Verbrechen angezeiget werden. Hierauf wird
allen Städten und Dörfern an dem Ufer des Flusses bey Lebensstraffe verbothen,
keinen von diesen Bösewichten! Hülfe wiederfahren zu lassen, sondern das
Floßholz abzustoßen, wenn es bei ihnen sich dem Lande nähern sollte. Diese
Uebeltäter leben bisweilen drey, vier, ja wohl gar fünf Tage an solchen Haken."
- 493 —
könne, die Bojaren, Staats- und Kanzleibediente, Edelleute,
Strjeljzen und Soldaten zu erschlagen und ihre Frauen und
Töchter dem Volke als Beute zu überlassen. „Wir ziehen aus/*
heißt es wörtlich in einem Aufruf von Rasin an die Bauern,
„imd wollen die Bojaren totschlagen, euch aber gute Zeit
und viele gute Jahre verschaffen." Vergebens suchen die Be-
drohten Rettung in den Wäldern, das Volk spürt die Flücht-
Unge auf und schleppt sie Hunderte von Werst weit dem
Räuberhauptmann entgegen, um sie von diesem richten zu
lassen. Alle Landschaften an der Wolga geraten in Aufruhr,
die Bauern erheben sich in Massen. Und so wie Rasin es
verlang^ und verkündet hat, geschieht es: wo er erscheint,
werden Reihen von Galgen errichtet imd die verfehmten Vor-
nehmen bis herab zu den Schreibern und Soldaten aufgeknüpft.
Erst nach vier Jahren gelingt es dank einem Wunder des
von den Rebellen mit Vorliebe geschmähten wundertätigen
Ssergej und durch Aufgebot einer mächtigen Armee die Räuber-
bande Rasins zu besiegen. Nun erfolgt blutige Rache. Man
errichtet zahllose Galgen imd hängt die Räuber zu 30 bis 50
an einem Balken auf, doch so, daß sie eines langsamen Todes
und unter furchtbaren Martern sterben. In kurzer Zeit werden
auf diese Weise 12000 Räuber hingerichtet. Stenjka Rasin
wird bei lebendigem Leibe gevierteilt, sein Bruder Frolko ent-
hauptet. Unter den Gefangenen, welche die Truppen in Arsa-
maß machen, entpuppt sich ein Hauptmann, der 7000 Rebellen
konmiandiert hat, als eine verkleidete Nonne ; das Hochgericht
verurteilt die Nonne zur Verbrennung bei lebendigem Leibe.
Aber die dezimierten Räuber sammeln sich \mter einem
neuen Hauptmann, namens Baska Us, und dessen erste Tat
ist eine Revanche für die Hinrichtung Rasins: Baska Us be-
setzt abermals Astrachan, martert den Kommandanten Fürsten
Semen Lwow, röstet ihn bei lebendigem Leibe und läßt ihn
schließlich köpfen; dem Erzbischof Joseph, Metropoliten von
Astrachan, werden die Kleider vom Leibe gerissen, Haare und
Bart versengt; dann martert man den Priester zu Tode, und
die Leiche wirft man von der Bastei hinunter, den Hunden
zum Fräße. Baska Us bleibt unbesiegbar; erst ein Wunder
muß Rußland von diesem Räuber befreien: „Endlich ergriff
— 494 —
ihn Gottes Gericht/* erzählt der Chronist, ,,Baska Us wurde
lebendigen Leibes von Würmern zerfressen und stieß seine
Seele aus." An die Stelle des Us tritt sofort ein neuer Haupt-
maim, Fedko Scholdjak; auch ihn zu vernichten bedarf es
eines Wunders; imd das Wunder erscheint: „Am neimten
des Monats September des Jahres 7179 (1671) gab der Mond
in der Stunde der Nacht ein Zeichen; er verfinsterte sich von
der Morgenseite her und verwandelte sich in Dunkelheit, fing
aber in der sechsten Stunde wieder zu leuchten an."
Zar Alexej verfügt die strengsten Maßnahmen gegen das
Räuberwesen; doch die furchtbarsten Marterungen und grau-
samsten Todesstrafen 1) sind umsonst. Selbst Peter der Große
vermag die Brigandage nicht zu unterdrücken. 17 10 muß
die Armee ausrücken, um die Hauptstadt vor Räuberbanden
zu schützen: 17 19 führen Briganten in den Bezirken von Mo-
schajsk und Nowgorod einen förmlichen Guerillakrieg mit den
Reg^erungstruppen ; imd 1723 berichtet der sächsische Resi-
dent Lefort, daß in Petersburg eine Bande von 9000 Dieben
und Räubern die Admiralität verbrennen und die Fremden
massakrieren wolle. Diese Räuberbande, 9000 Mann stark,
inmitten der neuen Hauptstadt, macht ganz den Eindruck
einer revolutionären Truppe, einer Armee von nationalen Fa-
natikern, die mit Raub und Plünderung, Morden und Brennen
gegen die Neuerungen demonstrieren.
Zwischen Räubertum und Revolution ist in Rußland seit
jeher nur schwer eine Unterscheidung zu machen. Als Pseudo-
Dmitrij den Zarenthron usurpierte, ward das Land eine Beute
von Räuberbanden, die aber nicht bloß mordeten und plün-
derten aus Lust zum Handwerk, sondern damit eine patrio-
tische Tat vollführen, den Haß gegen den Usurpator, den
Widerstand gegen seine Regierung bezeigen wollten. Ein ein-
ziges Mal in früheren Zeiten wagten die Moskowiter sich zu
erheben und Revolution zu machen: Das war im Jahre 1648,
als die Willkür des Zarengünstlings Morosow selbst den Gleich-
mut des russischen Volkes erschütterte. Aber auch damals
^) Alexejs Gesetze gegen Straßenräuber bei Struve, Kussisches Land-
Recht, XXI Cap. S. 205 ff.
— 495 —
verwandelten sich die Empörer aus Revolutionären schnell
in Räuber und diskreditierten ihr eigenes Unternehmen, das
in anderem Falle Rußland vielleicht noch um zwei Jahr-
hunderte früher als die Länder Europas vom Absolutismus be-
freit hätte.
Die Grausamkeit, mit der die Räuber und Revolutionäre
einerseits imd die Behörden andererseits gegeneinander vor-
zugehen pflegten, spottet aller Beschreibung. Man kann sich
aber einen Begriff von dieser Grausamkeit machen, wenn man
die authentischen Berichte über die Vernichtung der Strjeljzen
durch Peter den Großen vernimmt. Ganz Moskau wird in
einen Henkerplatz verwandelt. Aus allen Schießscharten der
drei Mauern, welche die Stadt umgeben, werden Balken her-
ausgesteckt, an denen man je drei bis vier Strjeljzen auf-
hängt. Auf dem großen Marktplatz legt man Verurteilte reihen-
weise hin, um ihnen die Köpfe abzuschlagen. Der Zar selbst
fimgiert als Henker und wird nicht müde, diese Blutorgie zu
feiern. Er fordert auch seine Bojaren auf, am Morden teilzu-
nehmen ; Mentschikow und Romadanowskij bleiben hinter dem
Herrn nicht zurück; Galitzyn aber ist ungeschickt und muß
stets mehrmals das Beü erheben, bis er sein Opfer zu Tode
trifft. Jovial lädt der Zar selbst die Fremden, die an seinem
Hofe weilen, zu der Ergötzlichkeit ein, aber Lefort und Blom-
berg lehnen dankend ab, die Henker zu spielen, und auch
der preußische Diplomat Printzen, der den ZsLTtn bei der Arbeit
des Kopfabschlagens antrifft, hat keine Lust, es Peter gleich-
zutim. Das furchtbare Schauspiel wird nicht in wenigen Tagen
beendet, sondern dauert wochenlang, ja monatelang. Am
II. Oktober 1698 beginnen die Exekutionen auf dem Roten
Platze: 144 Mann werden hingerichtet; am 12. Oktober: 205,
am 13. bloß 141, am 17. nur 109, am 18. gar nur 65, am 19.
wieder 106. Im Januar 1699 reinigt man die Plätze und schleppt
die verfaulten Leichen fort, um neuen Opfern Raum zu geben,
deren abgeschlagene Köpfe auf Pfählen aufgepflanzt werden
und bis zum Jahre 1727, also durch mehr als ein Vierteljahr-
hundert, zur Schau und Warnung ausgestellt bleiben. Ein
furchtbarer Platz, kaum irgendwo in der Welt gibt es seines-
gleichen. Richtplati JioÖHoe MicTO heißt er im Russischen.
— 496 —
Iwan der Schreckliche beichtet auf diesem Lobnoje Mjesto
seine Verbrechen vor dem Volke; auf dem Richtplatze richtet
er sich selbst moralisch und erfleht für seine Sünden des
Volkes Verzeihung. Auf dem Lobnoje Mjesto publiziert Pseudo-
Dmitrij sein Thronbesteigimgsf est ; und hier wird wenige Mo-
nate später sein von den Mördern zerfleischter Leichnam zur
Schau gestellt^ nachdem man das Antlitz mit einer Maske be-
deckt und an die rechte Hand einen Dudelsack befestigt hat. ^)
Seit den Strjeljzenhinrichtungen aber hat der Richtplatz nur
noch eine Rolle im kirchlichen Leben gespielt. Denn Lobnoje
Mjesto^ dieser Ort des Blutes, ist auch ein heiliger Platz. Die
Legende erzählt, daß hier Adams Haupt begraben sei. Auf
diesem Platze werden zuerst die nach Moskau gebrachten Re-
liquien und Heiligenbilder niedergelegt. Hier erteilte der Pa-
triarch öffentlich den Segen der Kirche, hier werden noch
heute die wichtigen Ukase verlesen, und auf dieser Stelle
macht ein öffentlicher Ausrufer dem Volke von Moskau Mit-
teilung von einem Regierungswechsel.
Die Grausamkeit Peters des Großen gegen Räuber imd
Empörer hat Rußland weder von der Räuberplage gerettet
noch von Revolutionen freigehalten. Aber diese Revolutionen
sind nicht im üblichen Sinne zu nehmen. Als Pugatschew
gegen Katharina II. eine Revolution hervorrief, konnte er nur
dadurch Gefolgschaft gewinnen, daß er sich für Peter III.
ausgab. Pugatschews Kampf gegen den Adel und den Tschin
findet nur Anklang, weil gleich Stenjka Rasin auch Pugatschew
seine Anhänger damit an sich fesselt, daß er ihnen alle Zügel-
losigkeiten gestattet und die Grausamkeit und Wollust der
Russen und Kosaken für seine Zwecke ausbeutet. 2) Mit einer
furchtbaren Greueltat beginnt Pugatschew seine Laufbahn. Bei
1) Waliszewski, Pierre le Grand 439. — CoJiOBbeBis Horopin XIV 286.
— Vockerodt bei Herrmann 29. — Brückner, Peter der Große.
2) Zuverlässige Nachricht von dem Aufruhrer Jemeljan Pugatschew und
der von demselben angestifteten Empörung. In Büschings Magazin XVIII. —
Catharina die Zweite, Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regierung und
Anekdoten von ihr und einigen Personen, die um sie waren. 1797. (Seltene
Schrift, wahrscheinlich aus dem Verlag von Hammrich in Altona).
— 497 —
der Eroberung von Nischnaja Osernaja fällt der Befehlshaber
der Festung, Major Scharlow, verwundet in die Hände Pu-
gatschews. Die junge Frau des Majors bittet verzweifelt um
das Leben ihres Gatten. „Er soll vor deinen Augen gehängt
werden,*' ist Pugatschews Antwort, und der Befehl wird auf
der Stelle vollführt. Währenddem wird die unglückliche Frau
von den Kosaken festgehalten und von Pugatschew vergewal-
tigt. Zwei Monate schleppt Pugatschew die Witwe Scharlows
als seine Konkubine mit sich herum; dann ist er ihrer über-
drüssig und gibt sie seinen Kosaken preis, welche einer nach
dem anderen die Frau notzüchtigen, und die förmlich Zer-
fleischte schließlich auf die Landstraße werfen. Bei der Er-
oberung von Orenburg feiern die trunkenen Scharen entsetz-
liche Orgien. Alle gefangenen Offiziere und alle alten Wei-
ber werden in die Brunnen geworfen, die jungen Frauen und
Mädchen aber öffentlich geschändet. Den Empörern mangelt
es an Pflaster für die Verwundeten ; da befiehlt Pugatschew, die
fettesten unter den Gefangenen zu schinden, ihr Fett zu sam-
meln und als Pflaster zu verwenden. Nach der Eroberung
von Kasanj läßt der Pseudokaiser seine Rotten gegen die
wehrlose Bevölkerung los. Ein grauenhaftes Morden, Rau-
ben, Brennen, Schwelgen beginnt. Die Kosaken schonen weder
die Kirchen, noch die Armenhäuser oder Krankenhäuser, schän-
den die Frauen vor den Augen ihrer Männer und töten die
Kinder in den Armen ihrer Mütter. Schließlich zünden sie
die Stadt an allen Ecken an und ergötzen sich an dem Schau-
spiel des Verbrennens von tausenden lebenden Menschen. Wie
Stenjka Rasin wütet auch Pugatschew vor allem gegen den
Adel und gegen die Kirche. Er und seine Leute gehen be-
waffnet und bedeckten Hauptes in die Kirchen, zerschlagen
die Kirchengefäße, durchstechen die Heiligenbilder und zer-
reißen die Meßgewänder. Die Leibeigenen erheben sich, wo
Pugatschew erscheint, und schleppen ihre Herren und ihre
Priester jubelnd auf die Schlachtbank als Huldigungsopfer für
den Pseudokaiser. In Alatyr bei Kasanj gelingt es den Ade-
ligen, sich in die Wälder zu verkriechen. Sie werden axtt-
S^i^S^y vor Pugatschew geschleppt und zu Tode gemartert.
In Ssaransk bringen die eigenen Diener des Generals Ssip-
Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland. 32
— 498 —
jägin ihren Herrn vor Pugatschew, der den Befehl gibt, dem
General eine Stange durch den Hals zu schlagen. Der
Schrecken, der schon im Klange seines Namens liegt (nyraxB-
schrecken), läßt große Festungen widerstandslos in die Hände
des Rebellen fallen, der in einem Jahre mit seinem Korps
achttausend Werst erobernd zurücklegt und sich siegreich
Moskau nähert, nachdem er seinen Weg mit hunderttausend
Leichen besät hat. Aber knapp vor seinem Ziele ereilt Um
das Schicksal, und nicht als triumphierender Kaiser, sondern
in einem eisernen Käfig, aus dem man den ständigen Be-
wohner, einen Tiger, entfernt hat, um Pugatschew Platz zu
schaffen, hält er seinen Einzug in den Kreml j. Das Urteil
über seine Verbrechen fordert seine Vierteilung bei lebendigem
Leibe : es sollen ihm erst die rechte Hand und der linke Fuß,
dann die linke Hand und der rechte Fuß, und zum Schlüsse
der Kopf abgeschlagen werden. Durch ein Versehen beginnt
der Henker sein Werk mit dem Kopfe.
Die Pugatschewsche Rebellion war ebenso wie die Rasin-
sche nur eine Räuberei, keine eigentliche Revolution. Aber
ihre Wirkung ist doch eine tief ergehende ; sie enthüllt die
Ohnmacht des Zarismus gegenüber einem entschlossenen Geg-
ner und zeigt zum ersten Male dem Volke, daß es sich befreien
könne vom Druck der Tyrannei, wenn es sich befreien wolle.
Unmittelbar auf die Pugatschewsche Rebellion in Rußland
folg^ die g^oße Revolution in Frankreich. Die Vorbedingungen
für eine große Revolution sind in Rußland ebenso vorhan-
den wie in Frankreich; aber im Zarenreich verhindern geo-
graphische und ethnographische Verschiedenheiten und der
unpolitische passive Charakter des russischen Volkes den jähen
Ausbruch. Eine Revolution findet endlich auch in Rußland
statt, jedoch nur auf dem Papier, und die Volksmassen bleiben
unbeteiligt. Die aus Frankreich kommenden Ideen dringen
in die Salons ein, werden eine Modesache. Aber sie erschüt-
tern nur das Trommelfell, nicht die Seelen. Die vornehmen
Männer und Frauen, welche Beifall klatschen, wenn sie eine
Hymne von Knjaschnin oder Von-Wisin auf Freiheit, Gleich-
heit und Brüderlichkeit vernommen haben, entschädigen sich
für die Rührung, von der sie sich übermannen ließen, durch
- 499 —
um so größere Strenge gegen ihre Sklaven. In den Salons
beten sie die Freiheit und Gerechtigkeit an^ auf ihren Gütern
peitschen sie eigenhändig die Leibeigenen zu Tode; in den
Salons verspotten sie als zügellose Freigeister die Kirche, die
Religion, verneinen sie kühn selbst die Existenz Gottes; aber
im Volke erhalten sie nach wie vor den krassen Aberglauben,
und sie geraten in Wut und Empörung, wenn auch nur die
Rede von der Förderung allgemeiner Bildung ist. Ein Einzi-
ger imter allen, der die Wahrheit sucht, findet und verkün-
det: Radischtschew. In seiner „Reise von Petersburg nach
Moskau** ruft er der Gesellschaft zu : „Besinnet euch, ihr Ver-
irrten, lasset euch erweichen, ihr Hartherzigen, zerschlaget die
Fesseln euerer Mitbrüder, öffnet den Kerker der Sklaverei!"
Und Katharina IL, die mit den französischen Freigeistern
kokettiert, kritisiert dieses Buch Radischtschews folgender-
maßen: „Zerstörende Absichten, Sympathien für die Revo-
lution, freche Sprache gegen die oberste Staatsgewalt." Der
kaiserlichen Kritik folg^ das Urteil des Gerichts auf dem Fuße :
ein Todesurteil, das knapp vor der Vollstreckung umgewan-
delt wird in Deportation nach Sibirien. Alexander I. ruft den
Verbannten zurück und beauftragt ihn, ein Justizreformprojekt
auszuarbeiten; aber als Radischtschew für sein Projekt das
Schwurgericht als Basis aufstellt, erklärt der Präsident der
legislativen Kommission: „Radischtschew ist durch Sibirien
nicht gebessert worden". Da verzweifelt Radischtschew imd
vergiftet sich.
Zur selben Zeit wie die Freigeisterei Radischtschews blüht
auch das kurze Freimaurer tum Nowikows. Der erste russi-
sche Freimaurer soll Peter der Große selbst gewesen sein.
Historisch festgestellt ist, daß 1731 die Freimauerei von Eng-
land eingeführt wurde. Mitglieder der russischen Logen waren
zunächst nur Ausländer. Unter Katharina IL wurde der Russe
Jelagin Provinzial-Großmeister des Ordens in Rußland. Die
Kaiserin ließ den Orden eine Zeitlang gewähren, aber als
die Freimaurer unter Nowikows Wirksamkeit Bildung zu ver-
breiten, Wohltätigkeit zu üben begannen, da machten sie sich
der Zarin verdächtig, imd als man einen Brief auffing, aus
dem hervorgfing, daß der Großfürst-Thronfolger Paul dem
32*
— 600 —
Orden geneigt war, wurde kurzer Prozeß befohlen. Man ver-
haftete Nowikow, begrub ihn in dem Verließ zu Schlüssel-
burg und verfolgte unbarmherzig die Fr-eimaurer, die es ge-
wagt hatten, Schulen für Arme und Waisen zu stiften.
.Hart ist der Weg, den das russische Volk zurückzulegen
hat, imi sich dem Ziele zu nähern, wo Freiheit und Menschen-
rechte es erwarten. Unter Alexander II. begann abjfermals
die enthüllende Literatur die Geister aufzurütteln, aber als die
Tendeuzromane, welche Gewissensfreiheit, Gleichberechtigung
der Geschlechter, empirische Wissenschaft, Sozialismus in 4er
Agrärtheorie verkündeten, mit den Agrarunruhen und det Be-
.wog^ung an den Universitäten zusammenfielen, da erschrak
die Gesellschaft vor dem Gespenst des Nihilismus und ließ die
NihUisten den Kampf nüt der Autokratie allein ausfechten.
Viele Jahrzehnte hat es gebraucht, bis endlich das Volk selbst
erwacht ist und mitgerissen wird in die grausamste und lang-
wierigste aller Revolutionen, die je auf dem Erdball ein Reich
erschüttert haben. Träge wie die ganze Entwicklung des rus.-
sischen Reiches ist auch noch diese Revolution, die wir mit-
erleben. Aber der systemlose Nihilismus des neunzehnten Jahr-
hunderts, der sich auf dem Grunde. der Intelligenz erhob,
hat einer Propaganda der Tat Platz gemacht, die systematisch
alle Häupter der Autokratie zu zerschmettern sucht ; und gleich-
zeitig ist die schwere Masse der Muschiks in Bewegun;g ge-
raten. Es ist nicht mehr der Geist der simplen Verneintmg
des Bestehenden, nicht mehr der Geist eines naiven Radikalis-
mus, der im Zarenreich »umgeht; es gärt nicht mehr in ein-
zelnen Klassen, sondern die großen Massen stehen auf. Nicht
einzelne Fanatiker opfern zwecklos Gut und Blut für eine pa-
pierene Revolution, sondern das Volk ist es, das die Freiheit
begehrt. Was der Nihilismus lange Jahrzehnte hindurch . vor-
gearbeitet hat, soll nicht unterschätzt werden. Er hat zuerst
an traditionellen Ideen gerüttelt, religiöse Dogmen und .politi-
sche Vorurteile angegriffen ; zuerst die russische Seele erfüllt
mit dem Gedanken, daß der Zustand, in dem das russische
Reich dahindämmerte seit tausend Jahren, nicht ein ewiger
und unabänderlicher sein müsse. Aber alles, was er tat, ge-
schah mit naiven Mitteln. Selbst als er mit VerschA^i^örjung
— 501 —
und Mord agierte, war. er mehr auf den theatralischen Effelft
als auf nachhahige praktische Wirkung bedacht, galt ihm das
Krasse imd Schreckhafte . seiner Handlung mehr als Zw^ck
und Erfolg. Die Welt sah Menschen mit verschrobenen Ideen,
mit abstoßenden Äußerlichkeiten, die sich Nihilisten nannten
und Barbaren blieben. Jetzt endlich hat die russische Intelli-
genz, die nach Freiheit ringt, auch den Weg zum Volke ge-
funden. Die Revolution, die seit Jahren tobt, bald in Kijew,
bald in Kasan] die Geister ergreift, bald in Petersburg oder
Moskau die Volksmassen in Raserei versetzt, sie ist nicht mehr
eine literarische. Die papierenen Helden der krankhaften Phan-
tasie eines Gogolj oder Dostojewski], eines Tolstoj oder Gorkij
sind nicht mehr die Ideale der heutigen Freiheitskämpfer. Man
predigt dem Volke nicht mehr bloß blinden Haß gegen das
Bestehende, sondern zeigt ihm auch die Wege, auf denen man
zu einer neuen gesunden Einrichtung des Staates gelangen
kann. Und damit hat man das Volk aus seiner Lethargie auf-
gerüttelt. Früher wurden nur die Straßen der Städte getränkt
mit dem Blute von Märtyrern und Idealisten, die aus den
Kreisen der Intelligenz stammten; jetzt trägt auch das Bauern-
volk in den Steppen der sarmatischen Ebene sein Teil bei
zu dem kostbaren Kitt, mit dem das neue Rußland befestigt
werden soll.
Ehe dieses Werk vollendet wird, erheben sich noch ein-
mal die Mächte der Reaktion, des Aberglaubens und der Grau-
samkeit, um alle Schrecken auszuspeien, mit denen sie Ruß-
land durch tausend Jahre heimgesucht haben. Kein mongo-
lischer oder tartarischer Eroberer hat in Rußland so furcht-
bar gewütet, wie jetzt Autokratie und Volk gegeneinander.
Wie in den düstersten Jahrhunderten ist das Reich eine Beute
von Räuberbanden, und wie ein Bericht aus den Zeiten Iwans
des Schrecklichen klingt es, wenn im offiziellen Regierungs-
blatt der Gouverneur Muratow von Tambow einen Plan zur
Dezimierung des Volkes veröffentlicht, der vorschlägt : die Auto-
kratie soll dem Volke Geißeln entnehmen, und für jeden von
den Revolutionären ermordeten Soldaten oder Polizisten zwei,
für einen Polizei-Offizier drei, für einen Generalgouvemeur
fünfzehn, für einen Minister zwanzig Mann aus dem Volke,
— 502 —
die das Los zu bestimmen, hätte^ hinrichten lassen. Nichts
anderes wissen die Retter des Zarismus der Revolution ent-
gegenzustellen als den brutalsten Mord. In diesem Programm,
das die Sittlichkeit der noch herrschenden Männer in Ruß-
land auf dem tiefsten Niveau erscheinen läßt, lieget das un-
umwundene Bekenntnis des Bankerotts der Autokratie.
Spamersche Buchdruckerei in Leipzifi-R.
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( •
GESCHICHTE nnnnnnnnnnnn
DER nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn
ÖFFENTLICHEN — °
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X^ nnnnnnnnnnnnnnnnannannannnQnnnnnnn
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Von BERNH. STERN nnnnnnnn
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MIT 29 ILLUSTRATIONEN.