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Full text of "Geschichte der griechischen Philosophie; gemeinverständlich nach den Quellen .."

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Geschichte 

der 

griechischen  Philosophie. 

Gemeinverständlich  nach  den  Quellen. 


Von 


Dn  A.  Döring, 

OynuMSialdircktor  a.  D.  und  Universitittsprofessor. 


In  zwei  Bänden. 
Band  1. 


Leipzig, 

O.  R.  Reisland. 

1903. 


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122612 

SEP  Z  5  19ÜÖ 


Vorrede. 


Von  dem  Vielen,  das  ich  als  Geleitswort  dieser  Arbeit 
auf  dem  Herzen  hätte,  kann,  wenn  diese  Vorrede  sich  nicht 
zu  abschreckender  Länge  dehnen  soll,  nur  einiges  Wenige 
mehr  angedeutet  als  ausgeführt  werden. 

Die  Bezeichnung  „gemeinverständlich"'  auf  dem  Titel 
soll  nicht  etwa  die  Schrift  als  eine  Arbeit  zweiter  Hand, 
als  einen  verwässerten  Aufgufs  der  mafsgebenden  Arbeiten 
bezeichnen,  von  dem  die  Fachleute  keine  Notiz  zu  nehmen 
brauchen.  Schon  der  Zusatz  „nach  den  Quellen^  soll  sie 
als  durchaus  auf  eigenen  FQfsen  stehend,  auf  Original- 
forschung beruhend  charakterisieren. 

Es  sind  aber  auch  in  der  Auffassung  und  Gestaltung 
des  Stoffes  durchaus  neue  Bahnen  eingeschlagen  worden. 
Schon  in  der  Auffassung  der  einzelnen  Systeme  und  ihres 
Zusammenhanges  untereinander,  sowie  in  überaus  zahlreichen 
Einzelfragen  bringt  die  Arbeit  Neues  und  Eigentümliches. 
Insbesondere  aber  ist  auch  das  für  die  Vertreter  des  Faches 
wohl  nicht  ohne  Bedeutung,  dafs  hier  zum  ersten  Male  ver- 
sucht wird,  unter  voller  Ablehnung  der  gerade  in  der  Ge- 
schichte der  antiken  Philosophie  so  beliebten  Fachwerk- 
manier das  Ganze  als  eine  stetig  fortschreitende  Entwick- 
lung unter  sorgfältiger  Beachtung  der  erkennbaren  Beein- 
flussungen, und  zwar  speziell  als  eine  Entwicklung  unter 
dem  einheitlichen  Gesichtspunkte  der  Güterlehre  oder  axio- 
logischen  Ethik,  darzustellen. 

Wegen  dieser  streng  wissenschaftlichen  Haltung  meiner 
Arbeit  kann  ich  denn  auch  die  Berechtigung  zu  einer  in- 
haltlichen Kritik  nur  dem  mit  den  Quellen  und  dem  Stande 


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IV  Vorrede. 

der  Forschung  durchaus  Vertrauten  zugestehen.  Über  die 
formalen  Momente,  Verständlichkeit,  Folgerichtigkeit,  Ein- 
heitlichkeit der  Auffassung  und  Darstellung,  steht  jedem 
ein  Urteil  zu. 

Dafs  nun  eine  solche  durchaus  wissenschaftlich  gedachte 
und  das  Verdienst  mannigfacher  Fortschritte  der  Erkenntnis 
in  Anspruch  nehmende  Arbeit  zugleich  gemeinverständlich 
sein  will,  kann  befremdlich  erscheinen  und  ist  jedenfalls  ein 
Wagnis,  das  der  Rechtfertigung  bedarf. 

Diese  liegt  zunächst  generell  darin,  dafs  m.  E.  die 
wissenschaftliche  Arbeit  überhaupt  dem  Bedürfnisse  unserer 
Zeit  nach  allgemeiner  Zugänglichkeit  der  Wissenschaft,  dem 
stetig  sich  verbreiternden,  ganz  neue  Kreise  (Frauen,  Ar- 
beiter) ergreifenden  Streben  nach  Anteilnahme  an  ihr  ent- 
gegenzukommen hat.  Die  formlosen,  schwerverständlichen, 
mit  terminis  technicis  und  fremdsprachlichen  Belegstellen 
gespickten,  mit  unendlicher  Polemik,  mit  einem  Wüste  von 
Anmerkungen  überladenen  Produkte  des  Gelehrtenfleifses 
können  der  Natur  der  Sache  nach  nur  dem  Kreise  der  Ein- 
geweihten dienen.  Das  Gute  und  Bedeutende  mufs  aber  von 
Haus  aus  dem  weiteren  Kreise  zugänglich  gemacht  werden. 

Dies  Prinzip  aber  scheint  mir  ganz  besonders  auf  dem 
Gebiete  der  Philosophie  und  ihrer  Geschichte  Platz  greifen 
zu  müssen.  Eine  über  die  allerunmittelbarste  Gegenwart 
hinausschauende  Betrachtung  mufs  zu  der  Überzeugung 
führen,  dafs  das  zwanzigste  Jahrhundert  mehr  und  mehr 
ein  philosophisches  werden  wird,  ein  Jahrhundert,  in  dem 
die  Nachfrage  nach  der  Philosophie,  und  zwar  nach  der 
Philosophie  nicht  im  Sinne  haltloser  Spekulationen  zur  Be- 
friedigung müfsiger  intellektueller  Neugier,  sondern  als 
„Lehrerin  des  Lebens",  als  „Kunstlehre  der  Lebensführung* 
auf  der  Grundlage  des  Wirklichen,  immer  mehr  um  sich 
greifen  und  mehr  als  in  irgend  einem  früheren  Zeitalter 
sich  bis  zur  Universalität  steigern  mufs.  Das  ist  der  Glaube 
an  ein  philosophisches  Zeitalter  als  völlig  neue  Kulturform, 
in  der  die  Philosophie  nicht  nur  für  eine  geistige  Aristo- 
kratie, sondern  für  die  Gesamtheit  den  geistigen  und  sitt- 
lichen Lebensgrund  bildet 


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Vorrede.  V 

Die  beste  Einführung  in  die  Philosophie  —  vornehm- 
lich auch  als  Rettung  vor  dem  Dilettantismus,  der  längst 
Dagewesenes  als  neue  Einsicht  bewundert  —  ist  aber  ihre 
Geschichte. 

Und  da  hat  denn  wieder  die  abgeschlossen  vor  uns 
liegende  Geschichte  der  griechischen  Philosophie  besondere 
Vorzüge.  Alle  wesentlichen  Probleme  des  Denkens  sind  hier 
schon  in  naturfrischer  Unbefangenheit  erörtert  und  tiefsinnig 
durchdacht  worden.  Die  griechische  Philosophie  ist  unter 
allen  Umständen  ein  Kulturgut  von  unschätzbarem  Werte, 
zu  dem  der  Weg  um  so  entschiedener  geebnet  werden  mufs, 
je  verblendeter  sich  die  unmittelbare  Gegenwart  —  freilich 
in  unbewufster  Vollziehung  eines  Strafgerichts  über  die 
Sünden  des  alten  Gymnasiums  —  zum  mittelalterlichen 
„Graeca  sunt,  non  leguntur"  zurückzuschrauben  bemüht  ist. 
Insbesondere  aber  liegt  darin  eine  unvergängliche  Vor- 
bildlichkeit der  alten  Philosophie,  dafs  ihre  Entwicklung  in 
sicherem  Zuge  dem  grofsen  Zentralproblem,  der  Frage  nach 
den  höchsten  Lebenswerten  und  der  zur  Realisierung  der- 
selben erforderlichen  Lebensführung,  zulenkt  und  in  dieser 
Frage  ihren  Schwerpunkt  findet.  So  kann  die  künftige  Ge- 
staltung des  philosophischen  Denkens  über  die  Episode  der 
christlichen  Philosophie  hinweg  direkt  an  die  antike  an- 
knüpfen.   Die  antike  Philosophie  ist  hoch  aktuell. 

Die  Rechtfertigung  einer  gemeinverständlichen  Dar- 
stellung gerade  der  griechischen  Philosophie  liegt  also  darin, 
dafs  gerade  sie  dem  Bedürfnis  nach  philosophischer  Lebens- 
gestaltung entgegenkommt,  aber  auch  für  die  Erweckung 
dieses  Bedürfnisses  werbende  Kraft  besitzt. 

Entsprechend  nun  dem  Streben  nach  Gemeinverständlich- 
keit mufste  manches  von  der  Darstellung  ausgeschlossen 
werden.  Es  fehlt  die  ausdrückliche  Auseinandersetzung  mit 
den  Etappen,  Irrgängen  und  Streitfragen  der  Forschung. 
Es  fehlen  weitläufige  Literaturangaben.  Wer  deren  benötigt 
ist,  findet  seine  Rechnung  bei  Ueberweg.  Es  fehlen  die 
klappernden  termini  technici  bis  auf  das  absolut  Notwendige, 
das  zugleich  da,  wo  es  eingeführt  wird,  seine  Erläuterung 
findet.    Es  fehlen  die  fremdsprachlichen  Belegstellen.    Das 


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VI  Vorrede. 

Buch  hat  keine  einzige  Anmerkung;  es  kommt  in  ihm  kein 
einziger  griechischer  Buchstabe  vor.  Die  ab  und  zu  un- 
umgänglichen griechischen  Wörter  sind  in  lateinischen  Lettern 
gegeben.  Lehrpunkte  von  untergeordneter  Bedeutung  und 
Erscheinungen  von  untergeordnetem  Range  ohne  erkennbare 
Nachwirkung  sind  übergangen,  Anhäufung  blofser  Namen 
ist  vermieden.  Ja,  um  die  Arbeit  nicht  über  das  Mafs  des 
unbedingt  Erforderlichen  hinaus  zu  schwellen,  ist  sogar  auf 
die  zu  einem  absolut  vollständigen  Bilde  erforderliche  Aus- 
malung des  wechselnden  kulturgeschichtlichen  Hintergrundes 
verzichtet  worden.  Der  Geschichtskundige  wird  sich  das 
Notwendigste  leicht  selbst  ergänzen,  und  jedenfalls  mufs,  ehe 
man  sich  auf  tiefsinnige  Spekulationen  über  kulturgeschicht- 
liche Zusammenhänge  einläfst,  der  wirkliche  Tatbestand  der 
philosophischen  Lehren  und  ihrer  philosophiegeschichtlichen 
Zusammenhänge  selbst  unzweifelhaft  festgestellt  werden. 

Positiv  mufste  das  Streben  nach  Gemeinverständlichkeit 
zu  möglichster  Verständlichkeit  der  Darstellung,  zur  an- 
schaulichen Hervorkehrung  charakteristischer  Einzelzüge 
und  zu  sorgfältiger  Behandlung  des  Sprachlichen  im  Inter- 
esse der  Lesbarkeit  führen.  Vornehmlich  aber  kommt  auch 
in  dieser  Beziehung  das  Bestreben  in  Betracht,  auf  der 
Grundlage  der  überlieferten  Daten  im  Sinne  der  historischen 
Kunst  nach  Möglichkeit  abgerundete  und  lebendige  Bilder 
zu  schaffen  und  eine  zusammenhängende  Gesamtentwicklung 
herzustellen. 

Entsprechend  dem  wissenschaftlichen  Charakter  der 
Arbeit  durften  jedoch  Hinweise  auf  die  Quellen  und  die 
entscheidenden  Zeugnisse  an  keinem  erheblichen  Punkte 
fehlen.  Selbst  für  den  weiteren  Leserkreis  fallen  diese  Hin- 
weise als  eine  Art  von  moralischer  Garantie  ins  Gewicht ;  für 
die  Fachgenossen  ermöglichen  sie  an  jedem  Punkte  die  Nach- 
prüfung. Entsprechend  dem  gemeinverständlichen  Charakter 
der  Arbeit  aber  mufsten  diese  Hinweise  in  allerkürzester 
Fassung  gegeben  werden,  und  zwar  geschieht  das  ausnahms- 
los in  Klammem  im  Texte  selbst.  Der  Sachkundige  wird 
die  Abkürzungen  meist  ohne  weiteres  zu  deuten  wissen. 
Zur    Erläuterung    braucht    nur    folgendes    hinzugefügt    zu 


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Vorrede.  VII 

werden.  Unter  D.  L.  ist  Diogenes  Laertius,  unter 
D.  Diels' Doxographi  graeci,  unter  Z.  der  jedesmal  in 
Betracht  kommende  Band  des  „grossen  Zelle r"",  und 
zwar  in  der  neuesten  Auflage,  zu  verstehen.  Namentlich 
die  beiden  letztgenannten  Werke  machten  es  durch  die  Fülle 
des  in  ihnen  aufgespeicherten  Quellenmaterials  möglich,  den 
Hinweisen  die  gröfste  Kürze  zu  geben.  Die  Fragmente  des 
Xenophanes  und  Empodekles  sind  nach  der  Zählung  bei 
Karsten  aufgeführt.  Die  Fragmente  der  Vorsokratiker 
von  Diels  und  die  des  Chrysipp  von  v.  Arnim  konnten 
nicht  mehr,  die  Fragmenta  poetarum  philosophorum  von  Diels 
nur  noch  teilweise  benutzt  werden. 

Möchte  denn  die  Arbeit  sympathische  Leser  und  Be- 
urteiler finden,  die  ihre  Eigenart  auch  in  den  vielen  in 
diesen  Vorbemerkungen  nicht  ausdrücklich  gekennzeichneten 
Zügen  herauszufinden  und  anzuerkennen  geneigt  sind! 

Grofs -Lichter felde  bei  Berlin,  Pfingsten  1903. 

Der  Verfasser. 


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Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Vorrede III 

Inhaltsverzeichnis Vin 

Einleitung 1 

1.  Grundwesen  der  alten  Philosophie 1 

2.  Die  Perioden  der  alten  Philosophie 4 

Erste  Periode. 
Allgemein wissensohaftllclie  Vorbereltungrszeit 

(ea.  eOO  bis  nach  800  vor  Chr.) 7 

Einteilung 7 

Erster  Absehnitt.     Lebendiger  StolT  (Hylopsjctaismus).     Die 

Setanle  Ton  Milet  (ea.  600  bis  gegen  540  t.  Chr.) 9 

1.  Thaies •  9 

2.  Anaximander 28 

3.  Anaximenes 40 

Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsyotaismas.  Abstrakte 
Stoir lehre  ohne  ein  wirkendes  Prinzip;  Unmögliehkeit  der 

Welterklüning  (ca.  540  bis  nach  400) 48 

I.    Zwei  Vorläufer  der    unteritalischen    Philo- 
sophie (ca.  540—600) 49 

1    Pythagoras 50 

2.   Xenophanes 63 

IL    Der  kleinasiatische   Hylopsychist  Heraklit 

(um  500) 82 

IIL  Entwicklungsgang  der  unteritalischen 
Wissenschaft  im  Anschlufs  an  Pythagoras 
und  Xenophanes  (ca.  500  bis  nach  400)  ....    106 

1.  Das  älteste  System  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus    108 

2.  Die    eleatische   Theorie    in    gegensätzlicher   Haltung   zum 
ältesten  pythagoreischen  System.    Parmenides.    (Um  500)  .    119 

3.  und   4.    Die  unteritalische  Forschung  unter  dem  Eindruck 

der  Entdeckung  der  Planeten  (nach  500) 137 


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Inhaltsverzeichnis.  XX 

Seite 

3.  Das  Zweitälteste  System  des  wissenschaftlichen  Pythagoreis- 
mus  (nach  500) 138 

4.  Alkmaon  (nach  500) 144 

5.  Das  Hauptsystem   des   wissenschaftlichen  Pythagoreismus 
(um  480-470) '. 152 

Weiterbildungen  des  kosmischen  Systems ;  H  i  k  e  t  a  s , 
Ekphantos,  Heraklides  von  Pontos  168  — 
Aristarch  von  Samos,  Seleukos  von  Seleu- 
cia  170. 

6.  Die  Verteidigung    der   eleatischen  Theorie,    insbesondere 
auch  gegen  das  pythagoreische  Hauptsystem.    Zeno  von  Elea 
(um  470) 173 

7.  Der  letzte  Vertreter  des  Eleatismus  Melissos  (um  460)   .   .    180 

8.  Weiterer   Verlauf  des   wissenschaftlichen   Pythagoreismus 

(bis  gegen  320) 182 

Eurytos  183  —  Philolaos  183  —  Echekrates, 
Xenophilos,   Aristoxenos   189  —  Dikaiarchos 
190  —  Nochmals  Philolaos  191  —  Archytas  194. 
Dritter  Ab^ehnitt.    StolT  und  bewegendes  Prinzip  getrennt 
(primitiTer  Materialismus),  ca.  400  bis  gegen  800 196 

1.  Empedokles  (um  465) 197 

Sein  Gedicht  „Reinigungen''  211. 

2.  Anaxagoras 216 

3.  Leukippos  (um  450) 236 

4.  Die  letzten  Ausläufer  der  milesischen  Schule  (um  430)   .   .  247 

Diogenes  von  Apollonia  247  —  Hippon  250. 

5.  Demokrit  (um  420) 252 

6.  Die  Schule  Demokrits  in  Abdera  (ca.  400  bis  gegen  300)    .    290 

Metrodor  von  Chios  290  -—  Anaxarch  292  — 
Diotimos,  Apollodotus  von  Kyzikos,  Heka- 
täus  297  —  Nausiphanes  299. 

Zweite  Periode. 
Die    Übergrängre   zur    Philosophie    als    wissen- 
schaftlich begrründeter  Güterlehre  (ca.  460  bis 

nach  300  vor  Chr.) 304 

Einleitung 304 

Erste  Stvfe.    Die  Sophisten  und  8okrates  nebst  den  reinen 

Sokr«ttkern  (ea.  450  bis  Mitte  des  4.  Jahrhunderts).   ...  306 

A.    Die  Sophisten 306 

I.   Die  ältere  Sophistik 311 

1.  Protagoras 311 

2.  Prodikos  von  Keos 330 


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X  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

,8.   Hippias  von  Elis 336 

4.   Antiphon 840 

II.    Die  Ausartung  der  Sophistik 345 

1.  Aristophanes'  Wolken,  ein  Zerrbild  des  Sophistentreibens 

um  423 346 

2.  Plato  im  ersten  Jahrzehnt  des  4.  Jahrhunderts:  die  Sophistik 

als  falsche  Staatskunst.    Gorgias  und  seine  Schule  ....    349 
Menon  853   -    Polos  356  —  Kallikles  357  — 
Thrasymachos  358. 

3.  Plato  im  zweiten  Jahrzehnt  des  4.  Jahrhunderts:  die 
Sophistik  als  Afterbildung  im  Gegensatze  gegen  die  Philo- 
sophie   359 

Der  Euthydemos  360  —  Der  Sophistes  367. 

4.  Zeugnisse  des  Aristoteles  (um  830) 371 

B.    Sokrates  und  die  reinen  Sokratiker  .   .    .    372 

1.  Sokrates 372 

Äufsere  Daten  373  —  Lehre  384  —  Art  seines  Wirkens 
402  —  Erfolg  415  —  ProzePs  und  Tod  415. 

2.  Die  reinen  Sokratiker 427 

Xenophon  428  — Äschines  480  — Euklid  von 
Megara  und  Phädon  481. 

Zweite  Stufe.    Die  kleineren  sokratlsehen  8ehiilen  an4  PUto 

(S99  bis  nach  800) 432 

I.    Die  Kyniker 432 

1.  Antisthenes 432 

2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—323) 451 

3.  Krates  von  Theben,  Metrokies  und  Hipparchia 474 

4.  Menippos  und  Menedemos 481 

II.    Die  Kyrenaiker 483 

1.  Aristipp 484 

2.  Die  kyrenaische  H^uptschule 496 

Antipater   von   Kyrene   496  —    Der   jüngere 
Aristipp  496. 

8.  Die  Seitenzweige  der  kyrenaischen  Schule 500 

Theodoros  der  Gottesleugner  500  —  Annikereer 
503  —  Hegesias  504. 

III.   Die  megarische  nebst  der  elisch-eretrischen 

Schule 507 

1.  Euklid  von  Megara 507 

2.  Phädon 515 

3.  Die  Megariker » ,   .  .   .  517 


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Inhaltsverzeiclinis.  XI 

Seite 
Eubalides   517    —    Diodoros    Kronos   519  — 
Stilpon  521. 
4.   Die  elisch-eretrische  Schule.    Menedemos  von  Eretria    .   .    525 
Etesibios  528. 

IV.  Popularphilosophische     Erscheinungen     im 
Aüschlufs  an  diese  Schulen 529 

1.  Bion  von  Borysthenes  (ca.  330—260) 530 

2.  Teles  von  Megara 536 

V.  Plato 537 

1.  Plato  bis  zum  Tode  des  Sokrates  (399) 540 

2.  Plato  als  Moralforscher  (399—395) 543 

Der  Protagoras  545  —  Der  kleinere  Hippias 
549  —  Der  Laches  549  —  Der  Charmides  550  — 
Der  Lysis  551  —  Die  Resultate  hervortretend  in  Apo- 
logie, Kriton,  öorgias  551  —  Der  Menon  565  — 
Der  Euthyphron  557. 

3.  Plato  als  Bufsprediger  (394) 559 

Apologie  559  —  Kriton  560  —  Gorgias  561. 

4.  Hoffiaungsloser  Verzicht  auf  öflFentliches  Wirken.    Die  Er- 
kenntnisfrage.   Der  Theätet  (394/3) 563 

5.  Piatos  Reisen  (393) 568 

6.  Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2) 573 

Der  ürstaat  575  —  Die  Beziehungen  auf  Ägypten 
(Timäus,  Kritias)  585  —  Der  Timftus  586. 

7.  Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  durch  die 
Seelenlehre  des  Timäus.    Umarbeitung  des  ürstaats  (392)  .    595 

8.  Vertiefung  der  Erlösungslehre  des  Timäus.    Der  „Phädrus** 
(892/1) 609 

9.  Die  Lehrtätigkeit  in  der  Akademie  bis  zur  zweiten  sizilischen 
Reise  (ca.  390—367) 619 

Id  Auseinandersetzung  mit  abweichenden  Standpunkten.    Der 

Euthydemos  und  Sophistes  (nach  390) 621 

„Staatsmann"  und  Parmenides  627. 

11.  Ein  Schritt  zur  Lösung  der  Frage  nach  dem  Lebensziel. 
Das  „Gastmahl*  (ca.  385) 627 

12.  Der  Höhepunkt  des  platonischen  Denkens.    Der  „Phftdon** 
(um  oder  nach  380) 632 

13.  Die  zweite  Umarbeitung  des  Staats  und  die  zweite  und  dritte 
sixilische  Reise  (868—360) 642 

14.  Die  Alterslehre  Piatos  (360-347) 653 

Ideen  und  Zahlen  654  —  Die  „Gesetze*^  655  —  Der 
Philebos  657. 

15.  Der  SUat  der  Gesetze 657 


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Druckfehler. 


S.  169  Z.  19  von  oben  Gas.  praep.  er,  mufs  heifsen  Eus.  praep.  ev. 

S.  278  Z.  13     „       „     Geschmackssinn    „         „        Gesichtssinn. 

S.  306  Überschrift:  470  mufs  heifsen  450. 

S.  462  Z.  8  von  oben  Meli,  mufs  heifsen  Mull. 

S.  463  Z.  16   »       „         „        »  n  n 

S.  467  Z.  10   „       „      6;         „  „        bei. 

S.  549  Z.  11   .    unten  Lachos  mufs  heifsen  Lach  es. 


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Einleitung. 


1.    Qrimdwesen  der  alten  Philosophie. 

Es  ist  eine  grundfalsche  Vorstellung,  den  gesamten 
Verlauf  der  Philosophie  von  ihren  Anfängen  im  Altertum 
bis  zu  dem  heute  erreichten  Zustande  als  eine  einheitliche, 
in  gerader  Linie  stetig  fortschreitende  Entwicklung  zu  be- 
trachten. Vollends  hinfällig  wird  diese  Betrachtungsweise, 
wenn  man  in  ganz  äufserlicher  Weise  die  herkömmliche  Ein- 
teilung der  Weltgeschichte  in  Altertum,  Mittelalter  und 
Neuzeit  ohne  weiteres  auf  die  Philosophie  überträgt.  Der 
Entwicklungsgang  der  Philosophie  mufs  aus  ihrem  bereits 
in  der  Vorrede  festgestellten  Wesen  und  Begrifife  selbst,  aus 
dem  ihr  als  Sondergebiet  zukommenden  Gegenstande  des 
Denkens  und  Forschens  abgeleitet  werden.  Dies  war  aber 
kein  anderer  als  die  Güter-  und  Glückseligkeitslehre,  die 
Frage  des  Lebensziels  oder  höchsten  Gutes  und  die  daraus 
abgeleitete  Theorie  der  das  Lebensglück  verwirklichenden 
Lebensführung. 

Zu  dieser  Grundfrage  nun  nimmt  die  Philosophie  in 
ihrem  Entwicklungsgange  eine  zweifache,  scharf  gesonderte 
Stellung  ein,  eine  andere  in  der  antiken,  eine  andere  in 
der  christlichen  Philosophie.  Denn  diese  Zweiteilung 
ist  die  wahre  Einteilung  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Die  alten  Religionen  mit  ihrer  Mannigfaltigkeit  von 
Göttergestalten  und  der  verwirrenden  Vielheit  von  Hilfe- 
leistungen und  Gnadenerweisungen  für  allerlei  besondere 
Interessen  und  Lagen  des  Lebens,  die  man  durch  Gunst- 
bewerbung von  den  Göttern  zu  erlangen  hoffte,  konnten  zu 
tieferem  Nachdenken  über  das  Glückseligkeitsproblem  keine 
Anregung  geben.   Das  Glückseligkeitsstreben  auf  ihrer  Grund- 

DOring.    I.  1 


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2  Einleitung. 

läge  blieb  auf  der  Stufe  des  nicht  nach  wissenschaftlicher 
Prüfung  und  systematischer  Zusammenfassung  strebenden 
populären  Bewufstseins  stehen.  Tiefer  Denkende  wurden 
schon  wegen  ihrer  vielfachen  Abgeschmacktheiten  und  sitt- 
lichen Anstöfsigkeiten  früh  an  der  Volksreligion  irre.  Ins- 
besondere konnten  diese  so  Gearteten  in  ihr  keinen  Anhalt 
für  eine  befriedigende  Lösung  des  Glückseligkeitsproblems 
finden.  So  entstand  die  Philosophie  als  notwendige  Er- 
gänzung, ja  als  völliger  Ersatz  der  Religion.  Die  antike 
Philosophie  hat  in  ihren  bedeutsamsten  und  am  meisten 
charakteristischen  Erscheinungen  ein  direktes  und  un- 
mittelbares, ein  primäres  Verhältnis  zum  philosophischen 
Grundproblem.  Sie  ist  wesentlich  Güterlehre.  Es 
ist  durchaus  ungeschichtlich,  die  alte  Philosophie  durch  die 
Brille  der  christlichen  zu  betrachten  oder  gar  in  die  Schablone 
der  verschwommenen  modernen  Auffassung  der  Philosophie 
hineinzuzwängen,  nach  der  sie  die  alles  Wissen  umfassende 
Universalwissenschaft  ist.  Man  kommt  so  dahin,  sie^ nicht 
nach  ihrem  eigenartigen  Grundwesen,  sondern  in  modemer 
Beleuchtung  aufzufassen  und  lediglich  zu  fragen ,  was  die 
alten  Denker  über  die  Möglichkeit  des  Erkennens,  über  den 
Weltgrund,  über  die  Natur  der  Seele  u.  dgl.  gelehrt  haben. 
Das  treibende  Grundinteresse  der  alten  Philosophie,  ihr 
charakteristischer  Einheitspunkt  ist  das  Glückseligkeits- 
problem. 

Was  diese  Bezeichnung  besagen  will,  wird  noch  besonders 
deutlich,  wenn  man  die  christliche  Philosophie  als  Gegen- 
stück zur  Vergleichung  heranzieht.  Zwar  ist  auch  hier  der 
letzte  Zielpunkt  der  gleiche:  Glück,  Wohlsein,  Heil,  Selig- 
keit. In  dieser  Einheit  des  letzten  Zieles  liegt  ja  ihre  Zu- 
gehörigkeit zur  Philosophie  überhaupt,  wie  deren  Wesen 
bestimmt  worden  ist,  begründet.  Aber  die  Stellung  zu  der 
Grundfrage  ist  jetzt  eine  total  veränderte.  Von  dem  Mo- 
mente an,  wo  das  Christentum  als  neue,  selbständige  Religion 
auftritt,  erscheint  die  Grundfrage,  die  Frage  des  Seelenheils 
und  der  zu  dessen  Erlangung  dienenden  Lebensführung,  auf 
autoritativem  Wege  als  endgültig  gelöst.  An  Stelle  der 
Philosophenschule  tritt  die  Kirche.    Aber  die  hier  gebotene 


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1.  Grundwesen  der  alten  Philosophie.  3 

Lösung  hat  zu  ihrer  Voraussetzung  gewisse  theoretische 
Annahmen  über  unerkennbare  Dinge,  über  Weltgrund  und 
Weltleitung,  Wesen  der  Seele,  Schaffung  des  Heils.  Zwar 
sind  auch  diese  Voraussetzungen  für  die  Möglichkeit  der 
christlichen  Seligkeit  dem  Glauben  autoritativ  durch  Offen- 
barung gegeben,  aber  in  Bezug  auf  diese  Voraussetzungen 
und  Bedingungen  des  Heils  stellt  sich  nunmehr  die  Möglich- 
keit  und  das  Bedürfnis  der  wissenschaftlichen  Begründung 
ein.  Das  Verhältnis  der  christlichen  Philosophie  zur  Frage 
des  Lebenszieles  ist  ein  indirektes  und  abgeleitetes, 
ein  sekundäres.  Die  christliche  Philosophie  ist  wesent- 
lich Wissenschaft  von  den  unerkennbaren,  un- 
erfahrbaren,  jenseitigen  Dingen  (Metaphysik), 
nicht  von  diesen  an  sich  und  überhaupt,  sofern  sie  den  rein 
theoretischen  Erkenntnistrieb,  die  wissenschaftliche  Neugierde 
reizen  könnten,  sondern  in  dem  Mafse  und  der  Abgrenzung, 
in  dem  sie  Vorbedingungen  und  unumgängliche  Voraus- 
setzungen der  christlichen  Heilslehre  sind.  Die  christliche 
Metaphysik  hat  einen  bestimmten,  genau  umgrenzten  Kreis 
von  Fragen:  Gott,  Seele,  Freiheit  u.  d gl.  Selbstverständlich 
pafst  diese  Bestimmung  nicht  ausnahmslos  auf  jede  einzelne 
Erscheinung,  die  im  langen  Entwicklungsgange  der  christ- 
lichen Philosophie  hervortritt.  Es  ist  die  zentrale  und  wesent- 
liche Bezeichnung  ihrer  Eigenart,  der  sich  alle  für  sie  be- 
deutsamen und  charakteristischen  Erscheinungen  unterordnen, 
zu  der  aber  auch  das  Abweichende,  zum  Grundcharakter  in 
Gegensatz  Tretende  als  zu  dem  gemeinsamen  Zielpunkte  in 
Beziehung  steht.  So  wenig  wie  in  der  alten  Philosophie 
jede  einzelne  Erscheinung  ein  direkter  Ausdruck  des  Grund- 
wesens der  alten  Philosophie  ist,  so  wenig  geht  auch  in  der 
christlichen  Philosophie  jede  vorkommende  Erscheinung 
direkt  in  dem  gemeinsamen  Grundstreben  auf.  Es  gibt  Ab- 
sprünge und  Gegensätze,  die  teilweise  einer  neuen,  über  die 
christliche  Philosophie  hinausstrebenden  Entwicklungsstufe 
vorgreifen,  darum  aber  den  einheitlichen  und  gemeinsamen 
Grundcharakter:  metaphysischer  Unterbau  der 
Heilslehre,  nicht  aufheben. 

Man  könnte,  ausgehend  von  einer  tieferen  Auffassung 

1* 


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4  Einleitung. 

der  weltgeschichtlichen  Entwicklung  überhaupt,  zu  einer 
noch  viel  radikaleren  Auffassung  des  Gegensatzes  von  an- 
tiker und  christlicher  Philosophie  gelangen.  Wenn  die  alte 
Geschichte  überhaupt  nicht  das  blofse  Anfangsstück  einer 
geradlinig  fortlaufenden  Gesamtentwicklung  ist,  sondern  ein 
selbständiger,  zum  vollen  Abschlufs  gelangter  Entwicklungs- 
gang für  sich,  wenn  ferner  die  Geschichte  der  christlich- 
germanischen  Welt  derselbe  Entwicklungsgang  ist,  nur  in 
gröfserem  Mafsstabe,auf  einem  ausgedehnteren  Schauplatze  und 
mit  langsamerem  Fortschreiten,  unter  teilweise  verschiedenen 
Entwicklungsbedingungen  verlaufend  und  heute  noch  in  einem 
verhältnismäfsig  frühen  Stadium  befindlich:  so  ergibt  sich 
auch  für  die  bisherige  christliche  Philosophie  eine  völlig  ver- 
änderte Anschauung.  Auch  sie  erscheint  dann  nur  als  ein 
Anfangs-  und  Vorbereitungsstadium,  in  gewissem  Mafse 
parallel  den  frühesten  Stadien  der  antiken  Philosophie, 
wenngleich  ebenfalls  unter  andersartigen  Bedingungen  ver- 
laufend. Die  bedeutsameren  Stufen,  entsprechend  den  Höhe- 
punkten der  antiken  Philosophie,  hätten  wir  dann  noch 
vor  uns. 

Doch  sei  dem,  wie  ihm  wolle,  —  jedenfalls  liegt  die  alte 
Philosophie  als  abgeschlossenes  Ganzes  vor  uns,  und  es  wird 
die  Aufgabe  der  gegenwärtigen  Darstellung  sein,  die  vor- 
stehend angedeutete  Auffassung  von  ihrer  Grundeigentüm- 
lichkeit durch  die  Darstellung  selbst  zu  erweisen  und  zur 
Anschauung  zu  bringen. 

2,   Die  Perioden  der  alten  Philosophie. 

Ebenso  wie  die  Grundeigentümlichkeiten  der  alten 
Philosophie  müssen  auch  die  Hauptabschnitte  ihres  Verlaufs 
aus  der  Wesensbestimmung  der  Philosophie  abgeleitet  werden. 
Zeigte  sich  in  Bezug  auf  ersteren  Punkt,  dafs  in  der  alten 
Philosophie  eine  direkte  und  unmittelbare  Inangriffnahme 
des  Grundproblems,  ein  primäres  Verhältnis  zu  demselben 
stattfindet,  so  mufs  die  Einteilung  sich  ergeben  aus  den 
Stufen  und  Phasen,  die  das  Verhältnis  zu  ihm  durchläuft. 

Daraus  ergeben  sich  denn  der  Natur  der  Sache  nach 
zunächst  drei  Perioden:  eine  Periode  des  Werdens  und 


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2.    Die  Perioden  der  alten  Philosophie.  5 

Entstehens  der  eigentümlichen  Grundrichtung  der  alten  Philo- 
sophie, eine  Periode  ihrer  Vollendung  und  Herrschaft  und 
eine  Periode  ihrer  Abnahme,  Entkräftung,  Verneinung  und 
Auflösung.  Und  in  der  Tat  haben  wir  diese  drei  Perioden 
der  alten  Philosophie  zu  unterscheiden. 

Mit  dieser  Dreiteilung  aber  gelingt  es  noch  nicht,  den 
ganzen  Bestand  dessen  zu  umfassen,  was  herkömmlich,  aber 
auch  mit  gutem  Rechte  zur  Geschichte  der  alten  Philosophie 
gerechnet  wird.  Diese  beginnt  herkömmlich  mit  Thaies 
und  beschäftigt  sich  in  ihrem  ersten  Teile  mit  einer  Reihe 
von  Denkern,  bei  denen  sich  teils  noch  gar  keine,  teils  nur 
sehr  geringe  Spuren  von  Interesse  für  die  spezielle  Grund- 
frage der  alten  Philosophie  zeigen.  Es  sind  Denker,  deren 
Interesse  fast  ganz  theoretisch  der  Frage  der  Welt- 
erklärung zugewandt  ist,  die  daher  meist  eher  als  die  An- 
ftnger  der  Naturwissenschaft  denn  als  die  der  Philosophie 
betrachtet  werden  müssen. 

Dennoch  kann  auch  die  Geschichte  der  Philosophie  diese 
ältesten  Denker  nicht  umgehen  und  ausschliefsen.  Nicht 
etwa  deshalb,  weil  es  einmal  so  hergebracht  ist,  sondern 
ans  einem  dreifachen,  triftigen  und  zwingenden  Grunde. 

Erstens  ist  der  Entwicklungsgang  auch  der  nach- 
folgenden Philosophie  so  durchaus  durch  diese  Erscheinungen 
beeinflufst,  dafs  er  ohne  Kenntnis  derselben  völlig  unver- 
ständlich bleiben  würde.  In  dieser  schöpferischen  Periode 
des  wissenschaftlichen  Denkens  überhaupt  liegen  die  Wurzeln 
and  Voraussetzungen  auch  der  Philosophie  im  eigentlichen 
und  strengeren  Sinne. 

Zweitens  finden  sich  doch  auch  wenigstens  bei  einem 
Teile  dieser  ältesten  Denker  schon  Ansätze,  vorahnende 
Versuche  zu  Urteilen  über  den  Wert  des  Lebens,  durch  die 
sie  nicht  nur  Vorläufer  der  eigentlichen  Philosophie  geworden 
sind,  sondern  direkt  Anregung  zur  Entstehung  derselben  ge- 
geben haben. 

Drittens  endlich  haben  diese  Anfänger  der  Wissen- 
schaft auch  an  sich  ein  überaus  hohes  Interesse  als  Menschen 
und  als  Denker,  als  schöpferische  Geister,  auf  deren  Schultern 
die  ganze  weitere  Entwicklung  der  Wissenschaft  steht,  als 


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(J  Einleitung. 

unerschrockene  und  mit  grofser  Schärfe  des  Denkens  auf 
die  letzten  Ziele  aller  Erkenntnis  losgehende  Forscher,  deren 
Ringen  mit  den  höchsten  Problemen  noch  für  die  heutige 
Naturwissenschaft  etwas  Vorbildliches,  ja  geradezu  etwas 
Beschämendes  hat.  Der  Leser  hat  gewissermafsen  ein  Recht, 
mit  ihnen  bekanntgemacht  zu  werden.  An  sich  könnte  ja 
freilich  der  Geschichtschreiber  der  Philosophie  diese  Pflicht 
dem  Geschichtschreiber  der  Wissenschaft  oder  der  Kultur 
überhaupt  zuschieben.  Da  aber  sowohl  das  .Herkommen  als 
auch,  wie  bemerkt,  die  doppelte  enge  Verknüpfung  mit  der 
Entwicklung  der  Philosophie  sie  mit  der  Philosophiegeschichte 
in  Verbindung  setzt,  so  ist  es  durchaus  berechtigt,  sie  dieser 
als  Anfangsstadium  anzufügen. 

Wir  erhalten  auf  diese  Weise  folgende  vier  Perioden 
der  alten  Philosophie: 

I.  Allgemeinwissenschaftliche  Vorbereitungs- 
zeit (ca.  600  bis  gegen  300  vor  Chr.). 
II.  Übergänge    zur    eigentlichen    Philosophie 
als    wissenschaftlich    begründeter    Güter- 
lehre (ca.  450  bis  nach  300  vor  Chr.). 
IIL  Herrschaft   der   wissenschaftlich    begrün- 
deten Güterlehre  (ca.  300  vor  Chr.  bis  nach 
200  nach  Chr.). 
IV.  Auflösung  der  Philosophie  als  Güterlehre 
(ca.  100  vor  Chr.  bis  550  nach  Chr.). 
Dafs  hier  der  Anfang  der  folgenden  Periode  der  Zeit 
nach  durchweg  in  die  vorhergehende  zurückgreift,  darf  nicht 
befremden.    In  der  Geschichte  geistiger  Bewegungen  gehen 
die  Anfänge  des  Neuen  durchweg  heben  den  Ausläufern  des 
Alten  her,  und  die  Zusammengehörigkeit  beruht  nicht  auf 
der  äufseren  Gleichzeitigkeit,  sondern  auf  der  inneren  Gleich- 
artigkeit. 


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Erste  Periode. 

Allgemeinwissenschaftliche  Vorbereitungszeit 
(ca.  600  bis  nach  300  vor  Chr.). 


Blnteilimgr. 

Dieser  Zeitraum  ist  der  fruchtbare  Muttersphofs  der 
europäischen  Naturwissenschaft  im  weitesten  Sinne  des  Wortes. 
In  ihm  liegen  die  Keime  der  Gröfsenlehre ,  der  Sternkunde 
und  der  Erkenntnis  des  Weltbaues,  der  Erdkunde,  der  Er- 
klärung der  Erscheinungen  in  der  Atmosphäre,  der  Physik 
und  der  Forschung  nach  der  Entstehung  und  Beschaffenheit 
der  organischen  Wesen.  Mit  der  gröfsten  Kühnheit  aber 
wird  gleich  von  vornherein  vornehmlich  die  letzte  und  ent- 
scheidende Grundfrage,  die  Frage  nach  dem  Grundwesen 
alles  Seienden  überhaupt,  aufgeworfen  und  versucht,  von 
hier  aus  das  Zustandekommen,  die  Entstehung  der  Welt 
abzuleiten.  In  allen  diesen  Beziehungen  wird  in  diesem 
kurzen  Zeiträume  von  eigentlich  nur  zwei  Jahrhunderten  — 
die  blofsen  Nachzügler  nicht  gerechnet  —  eine  erstaunliche 
Fülle  von  Denkarbeit  geleistet;  ein  rapider  Wechsel  und  ein 
überraschendes  Fortschreiten  der  Theorien  zu  höherer  Voll- 
kommenheit findet  statt.  Ja,  auch  selbst  an  Versuchen,  dem 
eigentlichen  Problem  der  alten  Philosophie,  der  Frage  nach 
den  wahren  Ursachen  der  Glückseligkeit  und  der  ent- 
sprechenden Gestaltung  der  Lebensführung,  von  der  gewonnenen 
Weltanschauung  aus  vorahnend  nahezukommen,  fehlt  es 
nicht. 

Was  aber  bei  diesen  einander  ablösenden  Theorien  als 
das  für  die  einzelnen  am  meisten  Bezeichnende  vornehmlich 
in  die  Augen  fällt,  das  ist  die  Lehre  von  den  letzten 


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8       Erste  Periode.    Allgemeinwissenscliaftliclie  Yorbereitungszeit. 

Gründen  alles  Seienden.  Diese  Lehre  wird  sich  daher 
am  besten  eignen,  um  darauf  die  Einteilung  der  Periode  zu 
gründen.  Nach  diesem  Gesichtspunkte  aber  lassen  sich  deut- 
lich drei  aufeinanderfolgende  Entwicklungsstufen  unter- 
scheiden: 

1.  Das  Grundwesen  der  Dinge  wird  als  Stoff  mit 
seelischen  Eigenschaften,  als  lebendiger  Stoff 
gefafst,  dem  infolge  seiner  Lebendigkeit  nicht  nur  Eigen- 
bewegung, sondern  auch  die  unbegrenzte  Fähigkeit,  sich  in 
alle  möglichen  anderen  Stoffe  umzuwandeln,  zugeschrieben 
wird.  Wir  dürfen  uns  nicht  scheuen,  für  diese  für  den 
ganzen  weiteren  Verlauf  der  alten  Philosophie  bedeutsame 
Betrachtungsweise  eine  kurze  einheitliche  Bezeichnung  ein- 
zuführen. Es  ist  die  Theorie  des  Hylopsychismus,  d.h. 
diejenige  Theorie,  nach  der  der  Hyle,  d.  h.  der  Materie, 
psychische  d.  h.  seelische  Eigenschaften  und  Kräfte  anhaf- 
tend gedacht  werden. 

2.  Es  wird  mit  dieser  rohen  Vorstellung  vom  lebendigen 
Stoff  gebrochen  und  zu  einer  abstrakten  Vorstellung  vom 
Grundstoffe  übergegangen,  bei  der  es  aber  an  einem  wirk- 
lichen Prinzip  der  Bewegung  und  Veränderung  fehlt,  und  für 
die  demnach  eine  wirkliche  Welterklärung  zur  Unmöglich- 
keit wird. 

3.  Dieser  Mangel  wird  ausgeglichen  und  die  Möglich- 
keit, die  Welt  aus  den  angenommenen  Urprinzipien  abzu- 
leiten, wiederhergestellt,  indem  zwar  die  Urstoffe  als  un- 
lebendig und  der  Eigenbewegung  und  Umwandlungsfähigkeit 
entbehrend  gedacht,  dafür  aber  vom  Stoffe  gesonderte  Be- 
wegungskräfte angenommen  werden.  Diese  Kräfte  aber  be- 
wirken jetzt  nicht  eigentliche  Stoffveränderungen,  sondern 
die  Mannigfaltigkeit  des  Seienden  wird  jetzt  lediglich  durch 
mechanische  Stoffmischungen  in  verschiedenen  Verhältnissen 
erklärt.  Es  entsteht  ein  primitiver  Materialismus, — 
Materialismus,  sofern  er  das  gesamte  Seiende  aus  Stoff  und 
vom  Stoffe  unterschiedener  Kraft  erklärt,  primitiv,  sofern 
die  Leistung  der  Kraft  dabei  auf  die  rein  mechanische 
Mengung  der  Stoffe  eingeschränkt  wird. 

So  erhalten  wir  drei  Abschnitte: 


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Erster  Abschnitt.    Lebendiger  Stoff  (Hylopsycbismus).  9 

1.  Lebendiger  Stoff  (Hylopsychismus).  Schule 
von  Milet  (ca.  600  bis  gegen  540  vor  Chr.). 

2.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus.  Abstrakte 
Stofflehre  ohne  ein  wirkendes  Prinzip. 
Unmöglichkeit  der  Welterklärung  (ca.  540 
bis  nach  400  vor  Chr.). 

3.  Stoff  und  bewegendes  Prinzip  getrennt 
(primitiver  Materialismus;  ca.  460  bis  nach 
300  vor  Chr.). 


Erster  Abschnitt 

Lebendiger  Stoff  (Hylopsychismus).    Die  Schule  von  Milet 
(ca.  600  bis  gegen  540  v.  Chr.)- 

Hier  folgen  in  kurzem  Abstände  aufeinander  drei  hervor- 
ragende Denker,  sämtlich  der  kleinasiatisch-jonischen  Pflanz- 
stadt Milet  angehörig:  Thaies,  Anaximander  und 
Anaximenes.  Man  kann  diese  Schule  auch,  im  Gegen- 
satze gegen  den  im  folgenden^  Abschnitte  eintretenden  Über- 
gang der  wissenschaftlichen  Bewegung  nach  Unteritalien, 
die  kleinasiatische  nennen.  Im  Altertum  nannte  man 
diese  Denker  die  Physiologen,  wobei  jedoch  nicht  an  die 
moderne  Bedeutung  des  Wortes  „Physiologie"  als  Lehre  von 
den  organischen  Körpern  gedacht  werden  darf.  Physiologie 
im  buchstäblichen  Sinne  bedeutet  Naturforschung  oder  Natur- 
denken ohne  jede  Einschränkung. 

1.   Thaies. 

Thaies  von  Milet,  der  nach  der  wahrscheinlichsten 
Annahme  ungefähr  von  625 — 545  vor  Chr.  lebte,  steht  her- 
kömmlicherweise am  Anfang  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie. Aristoteles,  da,  wo  er  von  den  Anfängen  der  Ab- 
leitung des  Seienden  aus  den  ersten  Ursachen  spricht 
(Metaph.  I.  3),  erklärt  ihn  für  den  „Heerführer  dieser  Art 
von  Forschung",  und  da  Aristoteles  hier  für  Forschung  das 
auch  sonst  bei  ihm  noch  recht  vieldeutige  Wort  „Philosophie" 
gebraucht,  so  hat  er  Thaies  mit  dieser  Bemerkung  die  Ehre 


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10  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt    Hylopsychismus. 

verschafft,  an  der  Spitze  der  Philosophiegeschichte  zu  mar- 
schieren. Das  hätte  ja  nun  wohl  seine  volle  Berechtigung, 
wenn  Philosophie  nach  noch  immer  beliebter  Auffassung  „die 
Wissenschaft  von  allen  Dingen  und  noch  einigen  anderen** 
wäre.  Fafst  man  aber  das  Wesen  der  Philosophie  enger  und 
schärfer  als  diejenige  Wissenschaft,  die  es  mit  den  Problemen 
des  menschlichen  Lebens  und  der  Glückseligkeit  zu  tun  hat, 
so  kann  man  ihm  nur  den  Rang  eines  entfernten  Vorläufers 
der  Philosophie  einräumen.  Dagegen  wird  man  das  Eigen- 
tümliche dieser  genialen  Persönlichkeit  genau  treffen  und 
ihr  Wesen  urfd  Wirken  in  seiner  Totalität  zu  würdigen  im 
Stande  sein,  wenn  man  ihn  als  den  Stammvater  der 
europäischen  W^issenschaft  bezeichnet.  In  diesem 
Sinne  urteilte  auch  Theophrast,  der  gelehrte  Nachfolger 
des  Aristoteles,  in  seiner  Geschichte  der  Naturphilosophie 
(D.  475),  dafs  Thaies  als  der  Anfänger  der  Naturforschung 
gelte,  weil  die  Bedeutung  seiner  Leistungen  seine  Vorgänger 
verdunkelt  habe. 

Das  wissenschaftliche  Denken  kann  seiner  Eigenart  nach 
in  doppelter  Weise  bestimmt  werden,  nach  der  Seite  seines 
Verfahrens  und  nach  der  seiner  Ergebnisse.  In 
ersterem  Sinne  steht  es  im  Gegensatze  vornehmlich  gegen 
das  Phantasiedenken,  das  für  seine  Sätze  nur  die  feierliche 
Emphase  einer  starken  persönlichen  Überzeugung  in  die 
Wagschale  wirft.  Die  Wissenschaft  appelliert  au  den 
nachprüfenden  Verstand,  indem  sie  „klare  und  helle  Gründe** 
ins  Feld  führt;  sie  will  nicht  imponieren,  sondern  überzeugen. 
In  diesem  Sinne  ist  Wissenschaft  auch  da,  wo  haltbare  Er- 
gebnisse noch  nicht  gewonnen  werden.  Es  ist  die  neue 
Geisteshaltung,  in  der  das  epochemachende  Neue  seinen 
Ausdruck  findet.  Auch  wenn  das  Denken  inhaltlich  einen 
Irrweg  einschlägt  oder  seine  Sätze  unzulänglich  begründet, 
bleibt  ihm  immer  das  Verdienst  der  Problemstellung  und  des 
Versuchs.  Die  unzulängliche  Begründung  kann  vertieft  und 
erweitert  werden,  der  Irrweg  feuert  zu  neuen  Versuchen  und 
Anläufen  an,  bis  das  Ziel  erreicht  ist.  Es  kommt  darauf 
an,  dafs  der  erste  Schritt  getan  werde. 

Eine  besondere  Schicksalsgunst  ist  es,   wenn    dem  so 


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1.    Thaies.  H 

gearteten  Denken  auch  schon  haltbare  Resultate  in  den 
Schofs  fallen,  Erkenntnisse,  auf  denen  als  auf  einer  un- 
erschütterlichen Grundlage  der  ganze  weitere  Bau  fortgeführt 
werden  kann.  In  diesem  glücklichen  Falle  kann  man  von 
Wissenschaft  im  engeren  Sinne  reden. 

Ob  es  Wissenschaft  in  diesem  doppelten  Sinne  in  den 
von  imserer  Kulturentwicklung  abseits  liegenden  Kultur- 
gebieten, in  den  untergegangenen  Reichen  der  Neuen  Welt 
oder  im  fernen  Osten  Asiens,  gegeben  hat  oder  gibt,  kommt 
für  unser  gegenwärtiges  Thema  nicht  in  Betracht.  Es  handelt 
sich  für  uns  um  die  europäische  Wissenschaft,  die  ihre 
Vorstufen  bei  den  alten  Kulturvölkern  Babyloniens  und 
Ägyptens  hat,  deren  eigentlicher  Stammbaum  aber  in  lücken- 
losem Rückgange  auf  die  Griechen  der  kleinasiatischen  West- 
küste zurückführt. 

Dieser  sachlichen  Bestimmung  der  Wissenschaft  ent- 
spricht aber  ferner  auch  eine  persönliche.  Der  Mann 
der  Wissenschaft  ist  seiner  geistigen  Eigenart  nach  der  Mann 
des  weltfremden  Erkenntnisdurstes.  Der  Trieb 
des  Erkennens  ist  seine  einzige  Leidenschaft,  der  er  frönt 
ohne  Rücksicht  auf  platte  Nützlichkeit,  auf  greifbare  Ver- 
wendung des  Erkannten  im  Lebenskampfe,  gegen  deren  Be- 
friedigung er  alles  andere  für  nichts  achtet.  Er  ist  der 
Typus  einer  besonderen  Art  des  höheren  menschheitlichen 
Berufes,  des  Forscherberufes. 

Dieser  menschheitlichen  Berufsstellung  entspricht  sodann 
femer  auch  die  geistige  Veranlagung  des  Mannes  der 
Wissenschaft.  Er  ist  der  Mann  von  genialer  geistiger 
Regsamkeit,  der,  unbeirrt  vom  Herkömmlichen  ererbter 
Vorstellungsweisen,  alles,  was  ihm  unter  die  Augen  kommt, 
mit  innerer  Unabhängigkeit  vorurteilslos  ansieht  und  mit 
originaler  Auffassung  beurteilt.  Er  verwundert  sich,  wo 
niemand  vor  ihm  ein  Problem  gesehen  hat,  und  sucht  und 
findet  auf  neuen  Wegen  neue  Auskünfte  und  Lösungen. 

Wir  haben  also  vier  Merkmale,  zwei  sachliche 
und  zwei  persönliche.  Nur  das  erstmalige  Zusammen- 
treffen aller  dieser  Merkmale  in  Verbindung  mit  dem  zeugen- 
den Fortwirken  seiner  schöpferischen  Anregungen  macht  den 


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12  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

Stammvater  der  Wissenschaft.    Dafs  dies  alles  bei 
Thaies  zusammentrifft,  soll  jetzt  nachgewiesen  werden. 

Die  Griechen  hatten,  wie  alle  Berichte  zeigen,  eine  sehr 
hohe  Meinung  von  Thaies;  er  ist  von  einem  eigenartigen 
Nimbus  umflossen.  Dafs  sie  ein  vollkommen  deutliches  Be- 
wufstsein  von  seiner  ganz  eigenartigen  Stellung  hatten,  er- 
gibt sich  nicht,  wenngleich  Diogenes  Laertius,  der 
Geschichtschreiber  der  griechischen  Philosophie,  berichtet, 
er  habe  keinen  Lehrer  gehabt,  aufser  dafs  er  den  Verkehr 
mit  den  ägyptischen  Priestern  genossen  habe  (I.  22).  Dieser 
Mangel  der  antiken  Auffassung  erklärt  sich  einesteils  aus 
dem  unzulänglichen  geschichtlichen  Verständnis  ihres  eigenen 
Kulturlebens,  anderenteils  aus  dem  Umstände,  dafs  Thaies 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  noch  nicht  oder  doch  nur  in 
sehr  eingeschränktem  Mafse  (Di eis,  Poet,  philos.  fragm.) 
auf  den  Gedanken  verfallen  ist,  die  Resultate  seiner  For- 
schungen schriftlich  zu  fixieren.  Letzterer  Umstand  ist  auch 
die  Ursache,  dafs  wir  teilweise  nur  mit  legendarisch  aus- 
geschmückten oder  irreleitenden  Nachrichten  über  seine  Per- 
sönlichkeit und  seine  Leistungen  zu  tun  haben.  Dies  ist 
aber  kein  absolutes  Hindernis  für  unsere  Darlegung.  Manches 
ist  vielleicht  nur  gut  erfunden,  d.  h.  so,  dafs  die  Wahrheit 
sich  in  ihm  spiegelt;  das  Wesentliche  aber  läfst  sich  mit 
genügender  Sicherheit  feststellen. 

Beginnen  wir  mit  den  persönlichen  Merkmalen. 
Thaies  zeigt  den  Typus  des  weltvergessenden  For- 
schers, absorbiert  von  dem  einzigen  Interesse  der  Er- 
kenntnis. 

Plato  entwirft  im  24.  Kapitel  des  Theätet  ein  Bild  des 
idealen  Philosophen.  Dieser  befafst  sich  nicht  mit  den  öffent- 
lichen Angelegenheiten,  nicht  mit  Lustbarkeiten  und  Stadt- 
klatsch. Er  weilt  nur  mit  seinem  Körper  in  der  Stadt; 
seine  Seele  schweift  umher  und  mifst,  was  auf  der  Erde  und 
in  ihren  Tiefen  ist,  und  sucht  die  Gesetze  für  die  Sterne  des 
Himmels.  Ein  Beispiel  hierfür  bietet  ihm  ein  Zug  aus  dem 
Leben  des  Thaies.  Eines  Abends  stürzt  Thaies,  beim  Be- 
obachten der  Sterne  nur  nach  oben  schauend,  in  eine  offene 
Zisterne.    Eine  thrazische  Sklavin  verspottet  ihn  und  sagt, 


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1.    Thaies.  13 

in  seinem  Eifer,  den  Himmel  kennen  zu  lernen,  sehe  er  nicht, 
was  ihm  vor  den  Ftifsen  liege.  Es  ist  nicht  ohne  Interesse, 
dafs  sich  diese  Anekdote  in  ihrem  Fortleben,  obschon  frei 
weitergebildet,  gerade  an  die  Astronomen  geheftet  zu  haben 
scheint.  So  erzählt  Kant  in  den  „Träumen  eines  Geister- 
sehers" von  dem  dänischen  Astronomen  Tycho  de  Brahe, 
er  habe  einst  bei  einer  nächtlichen  Fahrt  dem  Kutscher  vor- 
geschlagen, den  Weg  querfeldein  zu  nehmen  und  sich  nach 
den  Sternen  zu  richten.  Der  Kutscher  aber  habe  erwidert : 
„Herr,  auf  die  Sterne  mögt  Ihr  Euch  verstehen,  aber  auf 
Erden  seid  Ihr  ein  Narr."  In  diesem  Sinne  nennt  auch 
Aristoteles  den  Thaies  weise,  aber  nicht  klug,  weil  er,  gleich- 
gültig gegen  den  eigenen  Vorteil,  nach  erhabenem,  aber  ftlr 
das  eigene  Fortkommen  unnützem  Wissen  strebe  (1141,  6,  3). 

Zu  diesem  Bilde  pafst  auch  eine  andere  Anekdote,  die 
Aristoteles  (Polit.  I.  11)  von  Thaies  berichtet.  Man  habe 
ihm  einst  wegen  seiner  Armut  die  Nutzlosigkeit  der  Philo- 
sophie (dies  Wort  immer,  wie  auch  in  der  Platostelle,  in 
dem  eingangs  erwähnten  weiteren  Sinne  der  rein  theoreti- 
schen Forschung)  vorgeworfen.  Da  habe  er,  aus  wissenschaft- 
lichen Anzeichen  ein  gutes  Olivenjahr  voraussehend,  noch  im 
Winter  alle  Ölpressen  von  Milet  und  Umgegend  zu  billigem 
Preise  gepachtet.  Seine  Berechnung  sei  zugetroffen,  und  nun 
habe  er  durch  hohe  Wiedervermietung  der  Pressen  grofse 
Summen  zusammengebracht.  Er  habe  so  den  Beweis  ge- 
liefert, dafs  es  den  Philosophen  ein  leichtes  sei,  reich  zu 
werden,  wenn  sie  wollten,  dafs  es  aber  das  nicht  sei,  wonach 
sie  strebten. 

So  wird  auch  berichtet,  er  habe,  als  ihm  die  Lösung 
eines  geometrischen  Problems  gelungen,  in  der  Freude  seines 
Herzens  den  Göttern  einen  Stier  geopfert  (Diog.  L.  I.  24). 
Es  ist  das  dieselbe  Geschichte,  die  bei  Pythagoras  wieder- 
kehrt, nur  dafs  dieser  nach  Auffindung  des  pythagoreischen 
Lehrsatzes  gleich  eine  ganze  Hekatombe  schlachtet.  An 
diese  Geschichte  knüpft  H.  Heine  die  geistvolle  Bemerkung, 
seitdem  gerieten  jedesmal  alle  Ochsen  in  Angst,  wenn  eine 
neue  Wahrheit  entdeckt  werde. 

Auch  die  Züge,  in  denen  sein  Privatleben  sich  in  der 


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1 4  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychisnms. 

Legende  widerspiegelt,  passen  zu  dieser  Eigenart.  Von  vor- 
nehmstem Geschlecht,  führte  er  ein  einsames  und  den  öffent- 
lichen Angelegenheiten  fernbleibendes  Leben.  Über  den  bei 
dieser  Sachlage  zu  erwartenden  Charakter  als  Hagestolz 
freilich  gehen  die  Nachrichten  auseinander.  Die  Frage  der 
Ratsamkeit  der  Verehelichung  für  den  „Weisen"  war  bei 
den  späteren  griechischen  Philosophenschulen  kontrovers,  und 
so  mögen  beide  Parteien  um  die  Wette  die  Autorität  des 
Thaies  für  sich  in  Anspruch  genommen  haben.  Jedenfalls 
wird  von  einer  Seite  berichtet,  er  habe  in  jüngeren  Jahren 
seiner  Mutter,  die  in  ihn  drang,  sich  zu  verheiraten,  ge- 
antwortet, es  sei  noch  nicht  an  der  Zeit,  und,  als  sie  in 
späteren  Jahren  ihr  Ansuchen  erneuerte,  es  sei  nicht  mehr 
an  der  Zeit  (D.  L.  L  25  f.). 

Auch  seine  «ägyptische  Forschungsreise  gehört  in  dies 
Kapitel.  Sie  wird  allerdings  trotz  vielfacher  Bezeugung  als 
nicht  streng  erwiesen  angesehen,  hat  aber  die  gröfste  äufsere 
und  innere  Wahrscheinlichkeit  für  sich.  Zwar  wurde  der 
den  Griechen  offene  Freihafen  Naukrätis,  in  dem  auch 
Milet  ein  Apolloheiligtum  besafs  (HerodotIL  181),  erst  unter 
Amäsis  (570—526)  um  550,  also  gegen  Ende  von  Thaies' 
Lebenszeit,  gegründet,  aber  schon  Psammetich  (663 — 609) 
hatte  durch  jonische  Söldner  die  Herrschaft  gewonnen  und 
den  Griechen  und  Phöniziern  Unterägypten  geöffnet;  Necho 
(609—594)  versuchte  die  Herstellung  des  Suezkanals  und 
liefs  durch  Phönizier  Afrika  umschiffen,  und  A pries  (588 
bis  570)  hatte  ein  griechisches  Söldnerheer,  das  sich  in 
Ägypten  ansässig  machte.  Wie  hätte  wohl  ein  Mann  vom 
Wissensdurste  des  Thaies  unter  solchen  Umständen  dem 
Drange  nach  dem  alten  Kultur-  und  Wunderlande  wider- 
stehen sollen,  das  sozusagen  vor  den  Toren  von  Milet  lag? 

Ebenso  aber  wie  für  seinen  Wissensdurst  zeugen  für 
seine  intellektuelle  Genialität  zahlreiche  Züge.  Jedes 
Vorkommnis  bietet  ihm  ein  Problem,  das  er  mit  geistvoller 
Originalität  in  Angriff  nimmt. 

Zunächst  galt  er  für  den  hervorragendsten  unter  den 
sieben  Weisen.  Ein  Zeugnis  dafür  bietet  die  Geschichte 
von  dem  in  dieser  Eigenschaft  ihm  gespendeten  kostbaren 


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1.   Thaies.  15 

Ehreogeschenk ,  die  mit  rührender,  freilich  bei  wichtigeren 
Nachrichten  erwünschterer  Gründlichkeit  Diogenes  Laer- 
tius  (I.  27  —  33)  in  allen  ihr  vom  fabulierenden  Griechen- 
geiste abgewonnenen  Variationen  voilrägt.  Bald  ist  es  ein 
Dreifufs,  bald  eine  Schale,  bald  ein  goldener  Pokal,  bald 
einfach  durch  ein  Fischernetz  emporgefördert,  bald  mit  ruhm- 
reicher Vergangenheit,  von  Hephästos  selbst  als  Hochzeits- 
geschenk für  Pelops  geschmiedet,  von  Paris  zugleich  mit 
Helena  geraubt,  von  Helena  ins  Meer  versenkt  und  bei  seiner 
Wiederaufßndung  ähnlich  jener  sagenberühmten  Frau  selbst 
Ursache  eines  langwierigen  Krieges  zwischen  Milet  und  einer 
■  anderen  Griechenstadt,  bis  das  Orakel  die  Übergabe  an  den 
Weisesten  anordnet;  bald  wieder  ein  durch  Schiffbruch  ver- 
sunkenes Geschenk  des  korinthischen  an  den  milesischen 
Tyrannen,  bald  die  Hinterlassenschaft  eines  reichen  Griechen, 
bald  eine  Spende  des  Krösus,  in  beiden  letzteren  Fällen  dem 
Weisesten  bestimmt.  Fast  in  allen  diesen  Versionen  empfängt 
Thaies  als  der  Weiseste  zuerst  das  Geschenk,  sendet  es  aber 
bescheiden  an  einen  anderen  der  Sieben  weiter  und  weiht  es, 
als  es  nach  dem  Rundgange  bei  allen  Sieben  zu  ihm  zurück- 
kehrt, dem  Apollo  als  dem  noch  Weiseren. 

Von  den  ihm  zugeschriebenen  Weisheitssprüchen  mögen 
wenigstens  einige  Proben  angeführt  werden,  wenngleich  sie 
nur  als  Zeugnis  für  die  ihm  beigelegte  geistige  Bedeutung 
dienen  können,  „Das  Älteste  von  allem  ist  die  Gottheit:  sie 
ist  ungeworden;  das  Schönste  die  Welt:  sie  ist  das  Werk 
der  Gottheit;  das  Gröfste  der  Raum:  er  umfafst  alles;  das 
Schnellste  der  Geist:  er  durcheilt  alles;  das  Stärkste  die 
Notwendigkeit :  sie  überwindet  alles ;  das  Weiseste  die  Zeit : 
sie  findet  alles  aus.**  —  „Beschwerlich  ist  es,  sich  selbst  zu 
erkennen,  angenehm,  andere  zurechtzuweisen.**  —  „Am 
besten  und  gerechtesten  leben  wir,  wenn  wir,  was  wir  an 
anderen  tadeln,  selbst  nicht  tun.**  —  „Was  du  deinen  Eltern 
Gutes  erwiesen  hast,  das  erwarte  wieder  von  deinen  Kindern.** 
Interessant  ist  auch  der  Ausspruch:  für  drei  Dinge  sei  er 
dem  Schicksal  dankbar:  erstlich  dafs  er  als  Mensch  und 
Dicht  als  Tier,  zweitens  dafs  er  als  Mann  und  nicht  als  Weib, 
und    drittens    dafs  er  als    Grieche   und  nicht   als    Barbar 


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16  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt    Hylopsycliismus. 

geboren  sei.  Auch  die  Glückseligkeitsfrage  wird  in  diesen 
Aussprüchen  berührt,  wenn  auch  die  ihm  beigelegte  Lösung 
nicht  unter  so  eindrucksvollen  Umständen  erfolgt  wie  bei 
der  berühmten  Auskunft  Solons  an  Krösus  (Herodot  I.  30  flf.). 
Thaies  setzt  die  Glückseligkeit  in  drei  Stücke:  gesunden 
Leib,  ausreichende  Glücksgtiter  und  gebildete  Seele  (D.  L. 
L  35  ff.).  An  anderer  Stelle  (Stob.  Flor.  L  172)  wird 
ihm  aufser  zahlreichen  anderen  Sprüchen  auch  das  Wort 
beigelegt:  „Verbürge  dich,  —  neben  dir  steht  die  Betörung." 

Ganz  besonders  aber  trägt  den  Stempel  geistvoller 
Originalität  die  Art  und  Weise,  wie  ihm  für  Probleme  der 
allerverschiedensten  Art  eine  überraschende  Lösung  beigelegt 
wird.  Die  ägyptischen  Priester  zerbrechen  sich  den  Kopf 
über  ein  Verfahren,  die  Höhe  der  Pyramiden  zu  messen. 
Thaies  läfst  sie  am  eigenen  Körper  beobachten,  zu  welcher 
Tageszeit  der  Schatten  mit  dem  Körper  gleich  lang  ist,  und 
mifst  dann  zur  gleichen  Stunde  den  Schatten  der  Pyramiden 
(D.  L.  I.  27;  Plin.  H.  N.  36,  82;  Plut.  Conv.  sept.  sap.  3). 
Worin  haben  die  periodischen  Nilüberschwemmungen  ihre 
Ursache  ?  Auch  das  wufsten  die  ägyptischen  Priester  nicht. 
Die  dem  Thaies  zugeschriebene  Auskunft,  die  Passatwinde 
stauten  das  Wasser  au/  (D.  384  ff.;  Herod.  IL  20),  ist 
wenigstens  eine  geistvolle  Hypothese.  König  Krösus  zieht 
zu  Felde  gegen  Cyrus.  Er  kann  mit  seinem  Heere  nicht 
über  den  reifsenden  Halys,  da  es  dort  keine  Brücken  gibt. 
Thaies  läfst  durch  einen  Kanal  den  Strom  hinter  dem  Rücken 
des  Heeres  herleiten,  und  so  befindet  sich  dasselbe,  ohne 
einen  Fufs  zu  rühren,  auf  dem  jenseitigen  Ufer  (Herodot 
L  75).    Auch  die  Geschichte  mit  den  Ölpressen  gehört  hierher. 

Dafs  ein  solcher  Mann,  auch  ohne  Berufspolitiker  zu 
sein  oder  auch  nur  sein  zu  wollen,  auch  in  öffentlichen  An- 
gelegenheiten einen  scharfen  Blick  bekundete,  ist  nicht  zu 
verwundern.  So  warnt  er  die  Milesier  mit  Rücksicht  auf 
die  aufsteigende  Macht  des  Cyrus  vor  einem  Bündnis  mit 
Krösus,  dessen  naehheriges  Unterliegen  seine  Auffassung 
bestätigte  (D.  L.  I.  25).  So  erteilt  er  den  jonischen  Städten 
Kleinasiens,  als  sie  machtlos  der  persischen  Übermacht 
gegenüberstehen,    den    Rat,    sich    zu    einem    Bundesstaate 


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1.    Thaies.  17 

zusammenzuschliefsen  (Herod.  I.  170).  Mögen  diese  Ge- 
schichtchen  auch  teilweise  ersonnen  sein,  sie  zeigen  doch, 
wessen  man  sich  von  Thaies  versah. 

Die  Gebiete  eigentlich  wissenschaftlicher  For- 
schung nun,  in  denen  dieser  hervorragende  Geist  als  Bahn- 
brecher auftritt,  sind  die  Geometrie,  die  Astronomie 
und  Kosmologie  und  das  Problem  des  Grund wesens 
alles  Seienden. 

Die  Geometrie.  Kant  sagt  in  der  Vorrede  zur 
zweiten  Auflage  der  Vernunftkritik,  die  Mathematik  sei  von 
den  frühesten  Zeiten  her  in  dem  bewundernswerten  Volke 
der  Griechen  den  sicheren  Weg  der  Wissenschaft  gegangen, 
d.  h.  sie  habe  eine  Bahn  eingeschlagen,  die  ihr  den  stetigen 
Fortgang  als  Wissenschaft  ermöglichte.  Das  habe  freilich 
nur  durch  eine  Revolution,  durch  den  glücklichen  Einfall 
eines  einzigen  Mannes  zu  stände  kommen  können.  Möge 
dieser  nun  Thaies  oder  wie  sonst  geheifsen  haben, 
es  müsse  ihm  ein  Licht  aufgegangen  sein,  dafs  nicht  die  zu- 
fällig vorliegende  Einzelfigur,  sondern  das  begrifflich  durch 
sie  Gedachte  das  eigentlich  in  Betracht  Kommende  sei.  In 
der  Tat  ist  ja  der  gezeichnete  Punkt  nicht  der  wirkliche 
geometrische  Punkt,  sondern  nur  das  Zeichen  desselben,  die 
gezeichnete  Linie  nicht  die  wirkliche  geometrische  Linie, 
sondern  nur  das  Zeichen  derselben.  Der  geometrische  Punkt 
ist  unausgedehnt,  dimensionslos,  die  geometrische  Linie  hat 
nur  eine  Dimension,  die  Länge  u.  s.  w. 

Die  Nachricht,  dafs  Thaies  gerade  die  Elemente  der 
Geometrie  aus  Ägypten  zu  den  Griechen  gebracht  und  da- 
durch zu  der  reichen  Entwicklung  dieser  Wissenschaft  bei 
diesem  Volke  die  Anregung  geboten  habe,  geht  durch  den 
Aristotelesschüler  £  u  d  em  u  s  anscheinend  bis  auf  jene  reiche 
und  universelle  Ansammlung  wissenschaftlicher  Materialien 
zurück,  die  durch  die  gemeinsame  Arbeit  des  Aristoteles 
und  seiner  Schüler  für  den  wissenschaftlichen  Gebrauch  der 
Schule  aufgespeichert  wurde  und  von  deren  Wert  wir  unlängst 
durch  die  Auffindung  der  „Staatsverfassung  der  Athener" 
einen  Begriff  bekommen  haben.  Auf  Eudemus  geht  nämlich 
ausdrücklich  die  Nachricht  zurück,  dafs  Thaies  den   Satz 

D«ring.     I.  2 


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18  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

von  der  Gleichheit  der  Scheitelwinkel,  sowie  einen  der  Kon- 
gruenzsätze gekannt  habe.  Mit  gröfster  Wahrscheinlichkeit 
geht  femer  auf  Eudemus  zurück  seine  Kenntnis  des  Satzes 
von  der  Gleichheit  der  Basiswinkel  im  gleichschenkligen 
Dreieck.  Dafs  er  die  Einschreibung  eines  rechtwinkligen 
Dreiecks  in  den  Kreis  gefunden  —  eben  die  Aufgabe,  an  die 
sich  die  Geschichte  von  dem  Stieropfer  anknüpft!  — ,  beruht 
auf  dem  Zeugnis  der  Mathematikerin  Pamphile  zur  Zeit 
Neros. 

Dafs  die  Ägypter  durch  die  ständigen  Nilüberschwem- 
mungen schon  früh  auf  eine  praktische  Landvermessung 
geführt  wurden,  bezeugt  Herodot  (II.  109),  und  wenn  Plato 
dem  mythischen  Erfinder  der  Schrift  in  Ägypten,  T  h  e  u  t  h , 
auch  die  Urheberschaft  der  Arithmetik,  Geometrie  und  Astro- 
nomie beilegt  (Phädr.  274),  so  wird  es  sich  auch  dabei  zu- 
nächst um  den  praktischen  Betrieb  handeln.  Dafs  aber 
bei  den  Ägyptern  nicht  nur  eine  praktische  Landvermessung, 
sondern  schon  eine  rein  theoretische  Geometrie  in  Betrieb 
gewesen,  scheint  schon  Aristoteles  anzunehmen,  wenn  er  aus- 
führt, die  Wissenschaften,  die  weder  dem  Nutzen  noch  dem 
Genüsse  dienten,  seien  erst  da  gefunden  worden,  wo  man 
Mufse  hatte,  und  als  Beispiel  dafür  die  Ausbildung  der 
Mathematik  durch  die  ägyptischen  Priester  anführt  (Metaph. 
I.  1).  Mag  es  jedoch  mit  diesen  rein  theoretischen  Leistungen 
der  Ägypter  in  der  Geometrie  sich  verhalten,  wie  es  wolle, 
jedenfalls  darf  Thaies  als  der  Einführer  der  reinen  Geometrie 
in  die  europäische  Wissenschaft  angesehen  werden.  Und 
zwar  ist  er  auf  diesem  Gebiete  der  Stammvater  der  Wissen- 
schaft nicht  nur  im  Sinne  der  Problemstellung  und  des  Ver- 
suchs, sondern  auch  in  dem  des  grundlegenden  und  bleibenden 
Resultats,  von  dem  aus  die  Geometrie  „den  sicheren  Weg 
der  Wissenschaft  gehen"  konnte. 

Auch  in  der  Astronomie  und  Kosmologie  erscheint 
Thaies  in  der  Überlieferung  als  der  grofse  Anfänger.  Hier- 
auf deutet  schon  die  Geschichte  von  der  Zisterne  hin,  und 
wenn  an  der  Geschichte  von  der  von  ihm  selbst  verfafsten 
Inschrift  auf  einem  ihm  gewidmeten  Standbilde  etwas  wäre, 


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1.    Thaies.  19 

80  müfste  er  selbst  gerade  seine  astronomischen  Leistungen 
vor  allem  hochgehalten  haben.    Die  Inschrift  lautet: 

Diesen  Thaies  preist  Miletos'  jonischer  Boden 

Als  den  Ersten  im  Werk  der  stemeskundigen  Weisheit.    (D.  L.  I.  34.) 

Diese  ausschliefsliche  Betonung  gerade  der  astronomischen 
Leistungen  erklärt  sich  dadurch,  dafs  diese  gerade  der  all- 
gemeinen Schätzung  am  zugänglichsten  waren,  weil  sie  eines- 
teils der  Schiffahrt,  anderenteils  einer  übereinstimmenden 
Regelung  der  Zeitmessung  zu  gute  kamen.  Jedenfalls  preist 
ihn  ein  erhaltener  Vers  des  sonst  so  schmähsüchtigen  und 
alle  Philosophen  herunterreifsenden  Skeptikers  Timon 
von  Phlius  aus  dem  dritten  vorchristlichen  Jahrhundert 
nicht  nur  als  den  „Weisen  unter  den  sieben  Weisen",  sondern 
auch  insbesondere  als  den  Sternkundigen. 

Unter  seinen  astronomischen  Leistungen  nun  steht  als 
besonders  sensationell  obenan  die  berühmte  Voraussagung 
einer  Sonnenfinsternis.  Nach  Herodot  (I,  74)  wurde  es 
während  einer  Schlacht  zwischen  den  Medern  und  Lydem 
plötzlich  mitten  am  Tage  Nacht.  Die  Schlacht  wurde  ab- 
gebrochen, und  das  aufserordentliche  Ereignis  trug  mit  zu 
dem  bald  darauf  erfolgten  Friedensschlüsse  bei.  Herodot 
.  fügt  hinzu ,  dafs  diese  totale  Sonnenfinsternis  von  Thaies 
unter  ausdrücklicher  Bezeichnung  des  Jahres,  in  dem  sie 
stattfinden  werde,  vorausgesagt  worden  sei.  Über  diese 
staunenswerte  Angabe  ist  viel  geforscht  worden.  In  welchem 
Jahre  fand  diese  Finsternis  statt?  Wenn  dies  ermittelt 
werden  kann,  so  ist  ein  unschätzbarer  Stützpunkt  für  die 
chronologische  Anordnung  der  Ereignisse  gewonnen  für  Zeiten, 
die  noch  jeder  einheitlich  geordneten  Zeitrechnung  entbehrten. 
Femer:  Wie  war  Thaies  im  stände,  eine  Sonnenfinsternis 
vorauszusagen  in  Zeiten,  wo  es  noch  an  den  elementarsten 
Einsichten  in  den  Zusammenhang  dieser  himmlischen  Vor- 
gänge fehlte?  Auf  die  erste  dieser  beiden  Fragen  ist  man 
übereinstimmend  zu  der  Annahme  gekommen,  dafs  es  sich 
um  die  totale  Finsternis  des  28.  März  585  v.  Chr.  handelt. 
Die  zweite  Frage  anlangend  mufs  zunächst  betont  werden, 
dafs  der  alte  Berichterstatter  keineswegs  eine  genaue  Voraus- 
berechnung auf  Tag,  Stunde,  Minute  und  Sekunde  behauptet, 

2* 


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20  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

wie  sie  die  heutige  Astronomie  liefert,  und  wie  wir  sie  in 
jedem  Kalender  im  voraus  verzeichnet  finden.  Herodot  be- 
hauptet nur,  das  Jahr  der  Verfinsterung  sei  von  Thaies 
vorausgesagt  worden.  Eine  Voraussagung  innerhalb  dieser 
Grenzen  durch  Thaies  aber  wird  für  möglich  gehalten,  wenn 
Thaies  im  Besitze  der  langjährigen  Aufzeichnungen  der 
Babylonier  über  Sonnen-  und  Mondfinstemisse  war,  aus 
denen  sich  eine  gewisse  Periodizität  dieser  Ereignisse  und 
somit  die  Möglichkeit  einer  Voraussagung  wenigstens  in  den 
Zeitgrenzen  eines  Jahreslaufes  ergab. 

Ist  diese  Erklärung  richtig,  so  haben  wir  hier  einen 
neuen  Beweisgrund  für  seinen  Zusammenhang  mit  der  ägyp- 
tischen Priesterweisheit,  durch  deren  Vermittlung  allein  ihm 
die  Tafeln  der  Babylonier  zugänglich  werden  konnten. 

Dafs  nun  das  Eintreffen  dieser  Voraussagung  trotz  der 
nach  unseren  Begriflfen  ihr  noch  anhaftenden  grofsen  Ui)- 
vollkommenheit  auf  seine  Zeitgenossen  den  Eindruck  einer 
staunenswerten,  fast  übernatürlichen  Weisheit  machen  mufste, 
ist  von  vornherein  anzunehmen.  Wir  besitzen  aber  auch 
noch  eine  Nachricht,  die  die  Tatsächlichkeit  dieses  Eindrucks 
zu  bezeugen  scheint.  Der  von  Aristoteles  gebildete  gelehrte 
Staatsmann  Demetrius  Phalereus  hatte  eine  Schrift 
über  die  Archen tenfol gen  Athens  verfafst,  nach  denen  die 
Athener  ebenso  die  Jahre  bestimmten  wie  die  Römer  nach 
ihren  Konsuln.  Darin  kam  (nach  D.  L.  I.  22)  die  Notiz  vor, 
Thaies  sei  zuerst  als  Weiser  bezeichnet  worden  zur  Zeit  des 
athenischen  Archonten  Damasios,  zu  dessen  Zeit  auch  die 
Sieben  überhaupt  den  Namen  der  Weisen  bekommen  hätten. 
Das  Archontat  des  Damasios  aber  fällt  eben  ins  Jahr  585. 
Dies  ist,  da  nach  der  wahrscheinlichsten  Annahme  Thaies 
um  625  geboren  war,  zugleich  das  Jahr,  in  das  nach  der 
herkömmlichen  Annahme  seine  Lebenshöhe  (seine  „Blüte**, 
akm6)  feilt,  sein  vierzigstes  Lebensjahr.  In  der  Tat  ein 
merkwürdiges  Zusammentreffen!  Besonders  seltsam  berührt 
die  Angabe  von  der  gleichzeitigen  Ernennung  der  übrigen 
Weisen,  gerade  als  ob  die  Kreierung  dieses  Titels  für  Thaies 
zugleich  den  Anstofs  zur  Verleihung  desselben  an  eine 
Anzahl  anderer  berechtigter  Anwärter  gegeben  hätte.     Mut- 


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1.    Thaies.  21 

mafslich  hatte  Demetrius  Phalereus  sich  über  diesen  Sach- 
verhalt genauer  verbreitet  und  namentlich  angegeben,  vro 
und  von  wem  diese  Ernennungen  vorgenommen  sein  sollten. 
Freilich  wissen  wir  schon  aus  dem  Zeugnis  des  Diogenes 
Laertius,  dem  wir  diese  Nachricht  verdanken,  wie  es  mit 
der  Siebenzahl  der  Weisen  stand,  und  dafs  es  eine  erheblich 
gröfsere  Zahl  von  Anwärtern  gab,  sowie  dafs  die  Siebenzahl 
zum  Teil  in  verschiedener  Weise  ausgefüllt  wurde.  Jeden- 
falls bleibt  als  sehr  wahrscheinlich  bestehen,  dafs  dieser 
Erfolg  seines  astronomischen  Wissens  im  Jahre  585  das  An- 
sehen des  Thaies  wie  mit  einem  Ruck  zu  unbegrenzter  Höhe 
emporgehoben  hat. 

Von  seinen  sonstigen  astronomischen  Leistungen  wird 
berichtet,  dafs  er  die  einzelnen  Sterne  des  kleinen  Bären 
bestimmt  habe.  Ist  dies  richtig,  so  wurde  dadurch  wohl 
auch  der  Polarstern  bestimmt  und  so  eine  genauere  Orien- 
tierung zur  See  ermöglicht.  Ferner  die  feste  Normierung 
des  Monats  auf  30  Tage  (wodurch  freilich  das  Zusammen- 
fallen mit  dem  Mondlaufe  preisgegeben  wurde),  die  Fest- 
setzung der  Jahresdauer  auf  365  Tage,  die  genauere  Fixierung 
der  gröfseren  Abschnitte  des  Jahres  und  damit  auch  der 
Jahreszeiten  durch  Bestimmung  der  Sonnenwenden  und  der 
Tag-  und  Nachtgieicheo. 

Als  Zeuge  für  diese  seine  astronomischen  Leistungen 
wird  nicht  nur  Eudemus,  der  Schüler  und  Mitarbeiter  des 
Aristoteles,  der  aufser  seiner  Geschichte  der  Geometrie  auch 
eine  solche  der  Astronomie  verfafst  hatte,  angeführt,  als 
Bewunderer  seiner  astronomischen  Erfolge  nennt  Diogenes 
Laertius  (L  23)  auch  die  viel  älteren  Renker  Heraklit 
und  Demokrit,  sowie  den  noch  älteren  philosophischen 
Rhapsoden  Xenophanes,  der,  geboren  um  570,  noch  Zeit- 
genosse des  Thaies  war. 

Weitere  Nachrichten  über  kosmologische  Lehren  des 
Tbales,  wie  die  Annahme,  dafs  der  Mond  sein  Licht  von  der 
Sonne  empfange«  dafs  die  Sonne  720  Mal  so  grofs  sei  wie 
der  Mond,  tragen  zu  sehr  den  Stempel  der  Erdichtung  an 
der  Stirn  oder  widersprechen,  wie  die  angeblich  schon  von 
ihm  gelehrte   Kugelgestalt  der  Erde,  zu  offenkundig  dem 


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22  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

sonst  bekauuten  Entwicklungsgänge  des  kosmologischen 
Wissens,  als  dafs  es  sich  lohnte,  sich  länger  bei  ihnen  auf- 
zuhalten. Es  ist  in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  dafs  hier 
die  Lehren  eines  Naturforschers  des  5.  Jahrhunderts,  Hip- 
pon,  auf  Thaies  übertragen  worden  sind.  Dieser  Hippon 
gab  sich,  wie  nachher  zu  zeigen,  für  einen  Anhänger  des 
Thaies  und  verfolgte  anscheinend  das  Interesse,  den  ganzen 
Bestand  seiner  Naturlehre  auf  Thaies  zurückzuführen  und 
durch  den  gefeierten  Namen  desselben  zu  Ansehen  zu  bringen. 
Erleichtert  wurde  diese  Fälschung  dadurch,  dafs  Thaies  selbst 
nichts  geschrieben  hatte  und  also  über  die  Einzelheiten 
seiner  Lehre  eine  gesicherte  Überlieferung  nicht  bestand.  Es 
ist  daher  auch  nicht  auszumachen,  wie  er  sich  Gestalt  und 
Einrichtung  des  Weltgebäudes  im  ganzen  und  einzelnen  vor- 
gestellt hat.  Nur  eine  einzige  einigermafsen  gesicherte 
Nachricht  in  Bezug  auf  diesen  Punkt  ist  auf  uns  gekommen. 
Aristoteles  berichtet  (294,28),  Thaies  erkläre,  wie  man 
sage,  das  Beharren  der  Erde  in  ihrer  Mittellage  in  der 
Welt  dadurch,  dafs  sie  als  flache  Scheibe  wie  ein  Holz  auf 
dem  Wasser  schwimme.  (So  auch  Theophrast  D.  475; 
Seneca  Nat.  Quaest.  IIL  14.)  Dazu  stimmt  die  spätere  An- 
gabe (D.  379  f.,  380),  er  habe  die  Erdbeben  durch  Be- 
wegungen des  Wassers  erklärt.  Wollen  wir  versuchen,  uns 
von  diesem  einzigen  einigermafsen  festen  Punkte  aus  ein 
Bild  seiner  Weltvorstellung  zu  entwerfen,  so  könnte  man 
auf  die  Vermutung  kommen,  er  habe  als  Umgrenzung  der 
Welt  eine  feste  Kugelhülle  angenommen.  Denn  um  nicht 
im  Räume  zu  zerfliefsen  und  die  auf  ihr  schwimmende  Erde 
tragen  zu  können,  mufste  dem  unter  der  Erde  befindlichen 
Wasser  doch  ein  Widerhalt  an  einer  /esten  Umhüllung  bei- 
gelegt werden,  in  der  es  wie  in  einem  Gefäfs  eingeschlossen 
wäre.  Wahrscheinlicher  jedoch  ist  nach  dem  ganzen  weiteren 
Entwicklungsgange,  dafs  er  sich  bei  dem  Gedanken  des 
Ruhens  der  Erde  auf  dem  Wasser  beruhigt  hat,  ohne  sich 
weiter  über  einen  etwaigen  Haltpunkt  des  Wassers  den  Kopf 
zu  zerbrechen.  Auch  die  alten  Zeugen  bleiben  bei  dem  G^- 
tragenwerden  durch  das  Wasser  stehen  (D.  475,  555,  653). 
Dagegen  läfst  sich  in  keiner  Weise  sagen,  wie  er  sich  z.  B. 


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1.    Thaies.  23 

die  Himmelskörper  dachte,  wie  er  ihre  tägliche  Rückkehr 
zum  Ausgangspunkte  ihrer  Bahn  erklärte,  u.  dgl. 

Soweit  wir  mit  einiger  Gewifsheit  urteilen  können,  be- 
stehen seine  astronomischen  Verdienste  vornehmlich  in  der 
Überführung  des  ägyptischen  Wissens  zu  den  Griechen  und 
in  der  ausdauernden,  das  Überkommene  nachprüfenden,  be- 
stätigenden und  vielleicht  auch  ergänzenden  und  erweiternden 
Beobachtung. 

Das  dritte  Gebiet  seiner  Forschung,  dasjenige, 
das  ihm,  wie  wir  gesehen  haben,  den  Ehrenplatz  an  der 
Spitze  der  Philosophie  verschaflFt  hat,  ist  seine  Beschäftigung 
mit  dem  Probleme  des  Prinzips  alles  Seienden.  An  dieser 
Stelle  mufs  konstatiert  werden,  dafs  dieselbe  Aussage  des 
Aristoteles  (Metaphys.  I.  3),  die  ihm  diese  im  strengen 
Sinne  nicht  zutreffende  Plazierung  verschaflFt  hat,  zugleich 
eine  noch  beute  nachwirkende  ungenaue  Angabe  über  seine 
Lösung  dieses  Problems  bietet.  Aristoteles  berichtet  an 
dieser  Stelle,  Thaies  habe  für  das  Prinzip  alles  Seienden 
das  Wasser  erklärt.  Er  selbst  aber  zieht  im  Verfolge  dieser 
Stelle  diese  Angabe  wieder  in  Zweifel,  indem  er  erklärt: 
„Man  sagt,  dafs  Thaies  in  dieser  Vi  eise  die  erste  Ursache 
bestimmt  habe.**  Ja  noch  mehr!  Aristoteles  selbst  deutet 
an  anderen  Stellen  das  Richtige  oder  doch  bei  weitem 
Wahrscheinlichere  an.  Er  führt  als  Ausspruch  des  Thaies 
an,  alles  sei  voll  Götter,  womit  er  woh]  habe  sagen  wollen, 
dafs  die  Seele  dem  All  beigemischt  sei.  Er  führt  als  Lehre 
des  Thaies  an,  dafs  die  Anziehungskraft  des  Magnets 
auf  einer  diesem  innewohnenden  Seele  beruhe  (411,  7; 
405,  19).  Diese  Zeugnisse  des  Aristoteles  werden  durch  die 
Angaben  anderer  bestätigt  und  ergänzt.  Auch  die  An- 
ziehungskraft des  geriebenen  Bernsteins  habe  er  in  derselben 
Weise  erklärt  wie  die  des  Magnets  (D.  L.  L  24,  unter  Be- 
rufung auf  Aristoteles  und  „Hippias"),  und  auch  den  Pflanzen 
habe  er  eine  Seele  zugeschrieben,  vermöge  deren  manche 
Pflanzen  willkürliche  Bewegungen,  z.  B.  Zurückweichen  ihrer 
Teile  bei  Berührung,  ausführten  (D.  438).  Auch  Theo- 
phrast  legte  ihm  als  Prinzip  des  Seienden  das  mit  Eigen- 


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24  Erste  Periode.    Purster  Absclinitt.    Hylopsychismus. 

bewegung,  also  mit  einer  seelischen  Eigenschaft  ausgestattete 
Wasser  bei  (D.  475). 

Offenbar  ist  die  Meinung  des  Thaies,  nicht  das  Wasser  an 
sich,  sondern  das  seelisch  belebte,  lebendige  Wasser  sei  das 
Grundelement  des  Seienden.  Erst  beide  Zeugnisse  zusammen 
ergeben  das  Richtige.  Wir  haben  hier  noch  die  uralte  Vor- 
stellung, dafs  jede  Bewegung,  jedes  Wirken  nach  Analogie 
des  unserer  Erfahrung  Zunächstliegenden  nur  von  einem 
seelischen  Prinzip  ausgehen  könne.  Thaies  ist  nicht,  wozu  ihn 
jener  erstgenannte  Bericht  des  Aristoteles  stempeln  würde, 
reiner  Materialist  im  buchstäblichen  Sinne,  der  alles  Natur- 
geschehen aus  dem  unorganischen  Stoffe  ausschliefslich  der 
an  diesem  haftenden  Kräfte  ableitet,  er  ist  Hylozoist,  d.  h. 
Vertreter  der  Lehre,  dafs  allem  Stoffe  ein  Lebensprinzip 
beiwohnt,  und  dafs  alle  Bewegung  und  Veränderung  von 
diesem  bewirkt  wird.  Noch  genauer:  er  ist  Hylopsychist, 
d.  h.  dies  alles  durchwaltende  Lebensprinzip  ist  ihm  nicht 
etwa  nur  die  später  so  vielfach  diskutierte  „Lebenskraft*, 
es  ist  von  eigentlich  seelischer  Natur.  Nur  darf  das 
Seelische  in  seinem  Sinne  noch  nicht  als  ein  vom  Stoffe  Ge- 
sondertes und  vollends  nicht  als  ein  Zweckwirkendes  gedacht 
werden.  Es  ist  ihm,  wie  schon  die  angeführten  Beispiele 
zeigen,  und  wie  Aristoteles  noch  überdies  ausdrücklich  be- 
zeugt, nur  ein  Prinzip  der  mechanischen  Bewegung.  Der 
Hylopsychismus  nimmt  überhaupt  nicht  zwei  Prinzipien,  den 
toten  Stoff  und  die  bewegende  Seele,  an;  er  sondert  nicht; 
das  eine  Existierende  ist  zugleich  Stoff  und  lebendig.  Es 
ist  daher  richtiger,  in  seinem  Sinne  von  lebendigem  Stoffe 
(bei  Thaies  von  lebendigem  Wasser)  als  von  beseeltem  Stoffe 
zu  reden.  Im  Grunde  ist  der  Hylopsychismus  eine  viel 
rohere,  primitivere  und  elementarere  Lehre  als  der  Materia- 
lismus, er  ersetzt  die  von  diesem  zur  Erklärung  des  ge- 
samten Naturgeschehens  für  ausreichend  erachteten  physischen 
Kräfte  durch  die  rohe  Vorstellung  eines  universellen  seeli- 
schen Bewegungsprinzips.  Zeuge  für  diese  Auffassung  der 
Lehre  des  Thaies  ist  auch  Theophrast,  der  ihn  (D.  475)  zu 
denen  rechnet,  die  ein  bewegtes  Prinzip  des  Seienden  an- 
genommen hätten. 


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1.    Thaies.  25 

• 

Wie  kam  denn  aber  wohl  Aristoteles  an  jener  so  in  die 
Augen  fallenden  Stelle,  im  Zusammenhange  einer  Übersicht 
über  die  älteren  Lehren  vom  Grundwesen  des  Seienden,  dazu, 
Thaies  die  kahle  Lehre  vom  Wasser  als  Prinzip  zuzu- 
schreiben, die  wegen  der  mangelnden  Unterscheidung  der 
Kraft  vom  Stofife  eigentlich  noch  nicht  einmal  als  Materialis- 
mus bezeichnet  werden  könnte?  Dafür  lassen  sich  mit 
grofser  Wahrscheinlichkeit  zwei  Gründe  aufweisen. 

Erstens  ist  er  an  dieser  Stelle  von  der  Tendenz  beherrscht, 
die  geschichtliche  Entwicklung  in  etwas  gewaltsamer  Weise 
einer  Konstruktion  zu  unterwerfen.  Er  meint,  man  müsse 
zuerst  darauf  verfallen  sein,  von  den  verschiedenen  Ursachen, 
durch  deren  Zusammenwirken  nach  seiner  eigenen  Theorie 
alles  Geschehen  stattfindet,  den  Stoff  allein  zur  Erklärung 
zu  verwenden,  und  erst  im  weiteren  Verlaufe  der  Entwick- 
lung sei  man  stufenweise  zur  Erkenntnis  der  übrigen  im 
Naturgeschehen  mitwirkenden  Ursachen,  z.  B.  der  bewegenden 
Ursache,  der  Zweckursache,  gelangt. 

Zweitens  aber  fand  er  höchstwahrscheinlich  die  irrige 
Umdeutung  des  Thaies  in  einen  abstrakten  Stoffphilosophen 
schon  vor  in  der  Darstellung  des  bereits  genannten  Natur- 
philosophen der  perikleischen  Zeit,  des  Hippon.  Dieser 
Hippon  vertrat  ein  Jahrhundert  nach  Thaies'  Tode  selbst 
diese  reine  Stoff  lehre.  Er  erklärte  im  strengsten  Sinne  das 
Wasser  für  das  Prinzip  aller  Dinge;  sogar  die  Seele,  die  er 
mit  dem  Gehirn  identifizierte,  war  ihm  Wasser.  Dieser  Mann 
hat,  wie  schon  bemerkt,  oflFenbar  die  Tendenz  verfolgt,  die 
gewichtige  Autorität  des  Thaies  für  sich  in  Anspruch  zu 
nehmen  und  die  Lehre  desselben  bis  zur  völligen  Identität 
an  die  seinige  heranzurücken. 

Besonders  bemerkenswert  sind  in  diesem  Zusammen- 
hange die  Beweisgründe  für  die  Wasserhypothese,  die  Aristo- 
teles dem  Thaies  in  den  Mund  legt.  Die  Nahrung  alles 
Organischen  sei  feucht ;  der  tierische  Same  sei  feucht ;  selbst 
das  Feurige  (die  Gestirne)  entstehe  aus  dem  Feuchten  und 
lebe  durch  dasselbe  Dieses  letzte  Argument  beruht  auf  der 
auch  sonst  von  den  alten  Naturphilosophen  übernommenen 
Volksvorstellung,  dafs  l>eim  sogenannten  Wasserziehen  der 


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2(j  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt    Hylopsychismus. 

Sonne  eine  Ernährung  des  Sonnenfeuers  durch  emporgezogenes 
Wasser,  also  eine  Umsetzung  des  letzteren  in  Feuer  statt- 
finde. Diese  Vorstellung  wird  hier  also  als  vermeintlicher 
Erfahrungsbeweis  für  die  Ableitung  auch  des  Feurigen  aus 
dem  Wasser  verwertet.  Dieselben  Gründe,  noch  erweitert 
durch  den  Hinweis  auf  das  Absterben  der  Pflanzen  beim 
.Mangel  der  Feuchtigkeit,  finden  sich  noch  bei  mehreren 
anderen  Berichterstattern  als  angeblich  von  Thaies  stammend 
angeführt  (D.  475,  276). 

Hier  ist  nun  zunächst  bemerkenswert,  dafs  Aristoteles 
überhaupt  eine  Stützung  seiner  Hypothese  durch  Gründe  bei 
Thaies  voraussetzt.  Dadurch  erkennt  er  ihm  den  Charakter 
eines  wissenschaftlich  verfahrenden  Naturforschers  zu.  Ferner 
aber,  dafs  er  die  Aufführung  dieser  Gründe  als  von  Thaies 
herstammend  mit  einem  „vielleicht"  einführt.  Er  kannte 
natürlich  die  etwa  wirklich  von  Thaies  angeführten  Gründe 
nicht,  da  ja  dieser  seine  Lehre  nicht  schriftlich  fixiert  hatte. 
Dafs  er  aber  selbst  diese  Gründe  im  Sinne  des  Thaies  er- 
sonnen haben  sollte,  ist  wenig  wahrscheinlich.  Dagegen 
finden  sich  Spuren,  dafs  Hippon  sich  gerade  dieser  Ar- 
gumente bedient  hat  (Aristot.  405  b,  3).  Also  hat  dieser, 
indem  er  seine  Lehre  für  die  des  Thaies  ausgab,  auch  den 
Schein  erweckt,  als  ob  seine  Beweisgründe  die  des  Thaies 
seien.  Auch  bei  Theophrast  (D.  475)  werden  diese  Beweis- 
gründe als  die  des  Thaies  aufgeführt.  Auf  seine  wirkliche 
Lehre  wird  Thaies  wohl  durch  ganz  andere  Erwägungen  ge- 
kommen sein.  Das  unermüdliche  Wallen  und  Wogen  des 
Meeres  selbst  bei  Windstille,  sein  Steigen  und  Sinken  in 
Ebbe  und  Flut,  für  das  ihm  die  uns  geläufige  Erklärung 
noch  fehlte,  mufste  ihm  den  Eindruck  eines  lebendigen 
Wesens  machen.  Aus  dieser  Lebendigkeit  erklärten  sich 
dann  ferner  die  vor  Augen  liegenden  Wirkungen  des  Wassers. 
Seine  stille  Bautätigkeit  am  festen  Lande,  die  ihm  nicht  nur 
am  Delta  Ägyptens,  sondern  auch  in  seiner  engeren  Heimat 
vor  Augen  lag,  mufste  der  primitiven  Beobachtung  als  ein 
Übergang  des  Wassers  ins  Feste  erscheinen.  Der  Übergang 
des  Wassers  in  Nebel  und  Gewölk  wurde  als  ein  Übergang 
in  Luft  gedeutet.     Das  Wasserziehen  der  Sonne  als  Beweis 


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1.    Thaies.  27 

für  den  Übergang  in  Feuer  könnte  schon  auf  ihn  zurück- 
gehen. Und  so  kam  er  schliefslich  dazu,  jede  Bewegung, 
jedes  Werden  und  jede  Veränderung  in  der  unorganischen 
wie  in  der  organischen  Welt  auf  die  bewegende  Kraft  der 
Wasserseele  zurückzuführen.  Der  Satz :  Alles  ist  voll  Götter, 
d.  h.  voll  seelischer  Potenzen,  wurde  in  Verbindung  mit  der 
Wasserhypothese  das  oberste  Prinzip  seiner  Erklärung  des 
Kat  urgeschehens. 

Einige  Proben  der  Art  und  Weise,  wie  er  von  diesem 
Prinzip  aus  die  Vorgänge  der  Natur  erklärte  (Magnet,  Bern- 
stein), haben  wir  schon  kennen  gelernt.  Es  ist  nun  ferner 
mit  grofser  Wahrscheinlichkeit  zu  vermuten,  dafs  er  von 
seiner  Grundannahme  aus  eine  Lehre  von  der  Weltentstehung 
und  Welteinrichtung  abgeleitet  hat.  Leider  aber  wissen  wir 
von  seiner  Kosmogonie  gar  nichts,  und  von  seiner  Kosmo- 
logie kennen  wir  eben  nur  den  einzigen  Zug  der  auf  dem 
Wasser  schwimmenden  Erdscheibe,  der  aber  nur  geeignet 
ist,  eine  Reihe  weiterer  vergeblicher  Fragen  hei-vorzutreiben. 
Wie  dachte  er  sich  das  Wasser  in  der  Welt  verteilt?  Hat 
er  darüber  nachgedacht,  wie  es  kommt,  dafs  das  Wasser 
nicht  im  Räume  zerfliefst?  Wie  stellte  er  sich  die  Himmels- 
körper vor?  Wie  ihre  Rückkehr  zum  Ausgangspunkte  ihrer 
Bahn?  Hat  er  versucht,  die  übrigen  Weltstoffe,  den  ge- 
samten Weltbau,  die  organischen  Wesen  und  schliefslich  die 
menschliche  Vernunfttätigkeit  aus  dem  lebendigen  Wasser 
abzuleiten,  oder  hat  er  sich  hier  mit  der  allgemeinen  Be- 
hauptung begnügt?  Nahm  er  aufser  dem  mehr  bildlich  als 
Gottheit  bezeichneten  allgemeinen  Bewegungsprinzip  noch 
wirkliche  Götter  an?  Die  Möglichkeit  dazu  ist  ja  nicht  aus- 
geschlossen; so  gut  wie  der  Mensch  und  andere  lebende 
Wesen  konnten  ja  auch  Götter  aus  dem  lebendigen  Wasser 
entstehen.  Aber  wir  wissen  von  dem  allem  nichts.  Doch 
finden  wir  in  seinem  Ausspruch,  alles  sei  voll  Götter,  den 
er  in  Bezug  auf  die  Lebendigkeit  des  Stoffes  anwendet,  den 
ersten  Ansatz  zu  dem  den  folgenden  Denkern  so  geläufigen 
Verfahren,  das  nach  ihrer  Ansicht  besonders  Mafsgebende  in 
der  Natur  als  das  Göttliche  zu  bezeichnen. 

Dafs  er  dagegen  schon  die  Unsterblichkeit  der  Seele 


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28  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt    Hylopsychismus. 

gelehrt  habe  (D.  L.  I.  24),  ist  wohl  nur  eine  Konsequenz- 
macherei  späterer  Anhänger  dieses  Glaubens,  die,  um  den 
erlauchten  Namen  für  sich  ins  Feld  führen  zu  können,  seine 
Aussprüche  in  diesem  Sinne  umdeuteten. 

Fragen  wir  schliefslich  nach  dem  wissenschaftlichen 
Wert  der  Grundannahme  des  Thaies,  so  stellt  sich  dieselbe 
als  eine  überaus  primitive  Hypothese  dar,  die  mit  Über- 
springung aller  Zwischenglieder  gleich  das  Endziel  zu  er- 
fliegen  versucht.  In  Wirklichkeit  ist  ja  dies  Endziel  ein 
solches,  das  mit  jedem  neuen  Versuche,  sich  ihm  anzunähern, 
weiter  zurückweicht.  Auch  die  heutige  Wissenschaft  hat  es 
noch  nicht  erreicht.  Das  Bewundernswerte  liegt  hier  nicht 
in  dem  Lösungsversuche,  sondern  in  der  Problemstellung, 
durch  die  der  gesamten  Naturforschung  im  weitesten  Sinne 
ihr  letztes  Endziel  gesteckt  wird.  Das  Programm  der  ge- 
samten Naturforschung  wird  entworfen,  und  zwar  entworfen 
als  Programm  einer  monistischen  Entwicklungslehre,  die 
alles  Seiende  als  Umgestaltung  eines  einheitlichen  Urprinzips 
begreifen  lehrt. 

Wenn  wir  so  bei  Thaies  auch  vieles  nur  durch  den 
Nebel  der  Zeitferne  und  einer  legendarischen  Überlieferung, 
ja  der  absichtlichen  oder  mifsverständlichen  Verfälschung, 
getrübt  und  verzerrt  erblicken,  so  fällt  doch  auch  für  unseren 
Standpunkt  noch  Licht  genug  auf  diese  Gestalt,  um  sie  mit 
Sicherheit  als  die  eines  Geisteshelden  ersten  Ranges  erkennen 
zu  können,  dessen  Wirken  aus  der  Kette  der  Kulturcntwick- 
lung  nicht  weggedacht  werden  kann,  ohne  diese  Kette  völlig 
zu  zerreifsen,  als  eines  Ebenbürtigen  der  Aristoteles» 
Galilei,  Kepler,  Newton,  Humboldt.  In  besonderem 
Mafse  erhöht  aber  wird  der  Glanz  dieser  Stellung  dadurch, 
dafs  er  der  eigentliche  Anfänger  ist,  der  den  ganzen  Prozefs 
der  Wissenschaft  in  Bewegung  ge&etzt  hat,  auf  dessen 
Schultern  alle  stehen:  der  Stammvater  der  euro- 
päischen Wissenschaft. 

2.    Anaximander. 

Der  jüngere  Genosse  des  Thaies  ist  Anaximander 
von  Milet.     Über  seine  Lel)enszeit  ist  aus  ApoUodor,  dem 


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2.    Anax  im  ander.  29 

um  140  vor  Chr.  lebenden  Ordner  der  griechischen  Zeit- 
rechnung, die  Angabe  erhalten,  er  sei  im  Jahre  547  64  Jahre 
alt  gewesen  und  bald  darauf  gestorben  (D.  L.  II.  2).  Er 
war  also  611  vor  Chr.  geboren.  Wenn  freilich  demselben 
Autor  die  Angabe  zugeschrieben  wird,  der  Höhepunkt  seines 
Lebens,  seine  „besten  Jahre"  seien  in  die  Zeit  des  Poly- 
krates  von  Samos  gefallen,  so  scheint  da  die  Regierungszeit 
dieses  Tyrannen,  die  schwerlich  vor  530  fiel,  zu  früh  an- 
gesetzt zu  sein. 

Es  läfst  sich  aber  aus  ersterer  Angabe,  wenigstens  ver- 
mutungsweise, noch  mehr  entnehmen.  Warum  wählte  ApoUo- 
dor  gerade  diese  auffallende  Bezeichnung  seiner  Lebens- 
zeit? Anaximander  ist  der  erste  unter  den  griechischen 
Naturforschem,  der  ein  Buch  geschrieben  hat,  vielleicht  der 
erste  griechische  Prosaiker  überhaupt.  Nun  wird  an  der- 
selben Stelle,  der  wir  die  obige  Notiz  verdanken,  berichtet, 
Apollodor  habe  dies  Buch  noch  vor  Augen  gehabt.  Wie, 
wenn  darin  das  64.  Lebensjahr  des  Autors  als  Abfassungs- 
zeit angegeben  war  und  zugleich  durch  Anspielungen  auf 
Zeitereignisse  die  Möglichkeit  gegeben  wurde,  das  64.  Lel)ens- 
jahr  gerade  ins  Jahr  547  zu  verlegen?  Ist  diese  Vermutung 
richtig,  so  haben  wir  aus  dieser  dürren  Notiz  zugleich  die 
Abfassungszeit  der  Schrift  Anaximanders  gewonnen.  Es  ist 
auch  sehr  wahrscheinlich,  dafs  der  gewaltige,  hier  zum  ersten 
Male  im  Hirne  eines  Griechen  auftauchende  Gedanke,  ein 
wissenschaftliches  Buch  zu  schreiben,  ihm  erst  in  vorgerückten 
Lebensjahren  gekommen  ist.  Sonst  ist  über  seine  persön- 
lichen Verhältnisse  nichts  bekannt,  aufser  etwa,  dafs  ihm 
eine  alte  Nachricht  (D.  L.  VIII.  70)  eine  besondere  Würde 
und  Feierlichkeit  des  Auftretens  zuzuschreiben  scheint. 

Auch  Anaximander  ist  ein  vielseitiger  Forscher.  Er 
soll  die  erste  Erdkarte  entworfen  haben.  Wie  diese  aus- 
gesehen haben  mag,  davon  können  wir  uns  nach  den  noch 
viel  später  herrschenden  Vorstellungen  über  die  Erdober- 
fläche wenigstens  im  allgemeinen  ein  Bild  machen.  Die 
Erde  ist  nach  diesen  Vorstellungen  eine  kreisförmige  Fläche, 
deren  Mitte  das  Mittelländische  Meer  einnahm.  Er  soll 
ferner   eine   Himmelskugel   konstruiert   haben,    d.    h.   eine 


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30  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

plastische  Darstellung  des  Weltganzen.  Wie  er  sich  dieses 
dachte,  wird  sich  aus  seiner  Weltentstehungslehre  ergeben. 
Er  ist  also  Geograph  und  Kosmograph.  Er  soll  endlich  den 
„Gnomon"  erfunden  und  Sonnenuhren  angefertigt  haben. 
Die  Sonnenuhr  ist  nichts  Neues.  Wir  finden  sie  im  Reiche 
Juda  schon  zur  Zeit  des  Propheten  Jesaja,  dem  das  unerhörte 
Wunder  zugeschrieben  wird,  dafs  er  den  Schatten  an  der 
Sonnenuhr  des  Königs  Ahas  um  10  Linien  habe  rückwärts 
gehen  lassen  (Jesaj.  38,  7  f.).  Nach  Herodot  (II,  109)  ist 
die  Sonnenuhr  von  den  Babyloniern  zu  den  Griechen  ge- 
kommen. Wir  haben  uns  diese  alten  Sonnenuhren  wohl  als 
senkrecht  stehende  Pfeiler  vorzustellen,  umgeben  von  einem 
Kreise,  in  den  die  Tageszeiten  eingezeichnet  waren.  Der 
von  Anaximander  erfundene  Gnomon  aber  soll  die  Sonnen- 
wenden und  die  Tag-  und  Nachtgleichen  bezeichnet  haben. 
Er  müfste  danach  eine  vervollkommnete  Sonnenuhr  gewesen 
sein,  auf  der  zugleich  durch  eine  Skala  der  Schattenlängen 
am  Mittag  die  hauptsächlichsten  Wandlungen  des  Standes 
der  Sonne  in  ihrem  Jahreslaufe  bezeichnet  waren,  so  dafs 
sie  zugleich  als  Kalender  dienen  konnte. 

Seine  Hauptleistung  aber  ist  seine  Theorie  der  Welt- 
entstehung. Was  wir  für  Thaies  nicht  wissen,  das  ergeben 
für  Anaximander  die  Nachrichten  aufs  deutlichste,  dafs  er 
nämlich  an  die  Aufstellung  eines  Stoffprinzips  der  Welt  die 
Ableitung  des  Weltbaues  aus  diesem  Prinzip,  also  eine  Welt- 
entstehungslehre anschlofs. 

Die  vorhandenen  Nachrichten  über  diese  wissenschaft- 
liche Tat  des  Anaximander  sind  dürftig  und  lückenhaft, 
zum  Teil  auch  durch  späteres  Mifsverständnis  entstellt. 
Einiges  verdanken  wir  hier  den  Schriften  des  Aristoteles; 
das  meiste  geht  auf  Theophrast,  den  gelehrten  Schüler 
desselben,  zurück,  ist  aber  teilweise  nur  in  einer  durch 
irrige  Annahmen  Späterer  entstellten  Fassung  überliefert. 
Doch  ist  es  möglich,  aus  diesem  Chaos  von  Nachrichten 
wenigstens  die  wesentlichen  Grundzüge  dieser  wunderbaren 
Konzeption  mit  ziemlicher  Sicherheit  zu  rekonstruieren. 

Für  die  Würdigung  seiner  Gesamtleistung  auf  diesem 
Gebiete  ist  zunächst  die  nicht  zu  bezweifelnde  Tätsache  von 


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2.    Anaximander.  31 

Bedeutung,  dafs  er  zuerst  seine  Lehre  schriftlich  fixiert  hat. 
Seine  Schrift  wird  aufgeführt  unter  dem  Titel  „Über  die 
Natur".  Damit  ist  zum  ersten  Male  ein  fester  Anfangspunkt 
für  eine  fortschreitende  wissenschaftliche  Arbeit  geschaifen 
worden. 

Weiter  wird  ihm  das  Verdienst  beigelegt,  den  Grund- 
begriff dieser  ganzen  Forschung,  den  Begriff  des  Prinzips 
alles  Seienden,  zuerst  terminologisch  festgelegt  zu  haben, 
indem  er  das  Wort  „arch6"  (eigentlich  Anfang)  dafür  ver- 
wandte (D.  476,  559).  Unser  „Prinzip"  ist  nur  die  Latini- 
sierung dieses  ersten  Terminus  der  europäischen  Wissenschaft. 

Sodann  aber  tut  er  in  der  Bestimmung  dieses  Prinzips 
einen  mächtigen  Schritt  über  Thaies  hinaus.  Es  ist  ihm 
zunächst  ein  Unendliches  der  Masse  und  ein  Ewiges  der 
Dauer  nach,  ein  Unendliches  in  Raum  und  Zeit.  Es  ist 
ihm  aber  ferner  auch  der  Qualität  nach,  wenngleich  immer 
noch  lebendiger  Stoflf,  doch  nicht  mehr  einer  der  sinnen- 
fälligen, in  der  Erfahrung  vorkommenden  Stoffe,  sondern  ein 
jenseits  aller  Erfahrung  liegender  unbestimmter  Stoflf. 

„Damit  das  Werden  in  keiner  Weise  ins  Stocken  gerate" 
(D.  277),  mufs  zunächst  die  Masse  des  in  die  Welt  ein- 
strömenden Weltstoflfs  unendlich  sein.  Der  Gedanke  eines 
Kreislaufs  des  Werdens,  einer  Rückbildung  des  Gewordenen 
in  den  Urstoflf,  der  Gedanke,  dafs  für  eine  endliche  Welt 
nur  ein  endliches  Stoflfquantum  erforderlich  ist,  scheint 
diesem  alten  Denker  noch  völlig  ferngelegen  zu  haben  (Arist. 
208,  8).  Mit  dieser  Unendlichkeit  der  Masse,  der  Unendlich- 
keit des  Wirklichen  hat  Anaximander  einen  grundfalschen 
Begriff  in  die  Wissenschaft  eingeführt  Er  selbst  hat  freilich 
wohl  den  Gedanken  der  Unendlichkeit  noch  nicht  in  seiner 
vollen  Bedeutung  erfafst;  das  Unendliche  ist  ihm  wohl  nur 
das  die  sinnliche  Wahrnehmbarkeit  Übersteigende,  das  Un- 
endliche des  populären  Sprachgebrauchs.  Ebenso  aber  wie 
eine  räumliche  hat  er  dem  Urstoflfe  auch  eine  zeitliche  Un- 
endlichkeit beigelegt.  Er  ist  „unsterblich  und  unvergäng- 
lich** (Aristot.  203b,  13),  „nicht  alternd",  d.  h.  zeitlich  ohne 
Anfang  and  Ende. 

Der  Weltstoflf  ist  aber  ferner  auch  der  Beschaffenheit 


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32  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

nach  unbestimmt;  er  ist  nicht  nur  ein  Infinitum,  sondern 
auch  ein  In d e finitum.  Das  Unendliche  (äpeiron)  ist,  wie 
wir  erkennen  werden,  gleich  dem  Wasser  des  Thaies  lebendiger 
StoflF,  aber  es  ist  keiner  der  uns  vor  Augen  liegenden  Stoflfe, 
es  ist  ein  im  Entwicklungsprozesse  jenseits  der  bekannten 
Steife,  allen  diesen  voranliegender  Stoff.  Aristoteles  hat  durch 
die  Art,  wie  er  über  diesen  Punkt  berichtet  (187,  22;  vgl. 
D.  476),  schon  bei  den  meisten  alten  Berichterstattern  das 
Mifsverständnis  veranlafst,  als  ob  Anaximander,  wie  später 
Empedokles  und  Anaxagoras,  unter  dieser  ursprünglichen 
Daseinsform  nur  eine  mechanische  Mischung,  ein  Gemenge, 
der  elementaren  StoflFe  verstehe.  Aber  Aristoteles  ist  an 
diesem  Mifsverständnis  nur  insofern  schuld,  als  er  den  Aus- 
druck „6kkrisis"  (Ausscheidung)  sowohl  für  den  Prozefs  der 
mechanischen  Entmischung  (bei  Empedokles  und  Anaxagoras) 
als  auch  für  den  der  qualitativen  Weitergestaltung  aus  dem 
Unbestimmten  ins  Bestimmte  (bei  Anaximander)  verwendet. 
Dagegen  zeigt  sich  deutlich,  dafs  er  die  Bezeichnung  „Ge- 
misch" nur  für  die  Fassung  des  Urzustandes  des  Stoffes  bei 
Empedokles  und  Anaxagoras  gebraucht  (187,  23  f.).  Auch  die 
von  Theophrast  herrührende  Anordnung  dieser  ältesten  Lehren 
über  den  Urstoff  (D.  475  f.)  zeigt  deutlich,  dafs  er  ihn  der 
Qualität  nach  unbestimmt  gefafst  hat. 

In  diesem  Urstoff  nun  waltet  die  „ewige  Bewegung" 
(D.  559,  133),  das  Prinzip  der  Lebendigkeit,  der  Trieb  zur 
Entwicklung  als  Differenzierung.  Aus  diesem  Triebe  ent- 
springt der  erste  Schritt  der  Weltbildung.  Das  Unbestimmte 
spaltet  sich  in  das  Kalte  und  das  Warme  oder  Feurige. 
Hier  ist  der  Punkt,  wo  auch  Anaximander  noch  der  mytho- 
logischen Vorstellung  des  Hylozoismus,  der  Ableitung  des 
Werdens  aus  der  dem  Urstoffe  beiwohnenden  lebendigen 
Triebkraft,  seinen  Tribut  bringt.  Und  zwar  nimmt  das 
„Kalte"  den  inneren  Raum  der  werdenden  Welt  ein,  während 
das  „Warme"  als  eine  noch  einheitliche,  noch  nicht  zerteilte 
Masse  die  äufsere  Umhüllung  bildet,  „wie  die  Rinde  einen 
Baum  umgibt"  (D.  579). 

Die  zweite  Stufe  des  Weltwerdens  besteht  sodann  darin, 
dafs  das  Kalte  dreifach  differenzirt  wird.    Aus  ihm  entspringt 


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2.   Anaximander.  33 

einesteils  das  Feste,  die  Erde,  anderenteils  die  Luft,  und  der 
verbleibende  Rückstand  ist  das  Wasser.  Hier  haben  wir 
schon  die  vier  Elemente  des  Empedokles,  aber  noch  nicht 
als  ursprüngliche,  unreduzierbare  Urstoife,  sondern  als  ge- 
wordene, sekundäre  Gebilde.  Das  „Kalte"  war  nicht  eine 
mechanische  Mischung  dieser  drei  Stoffe;  es  hat  sich  durch 
qualitative  Veränderung  in  sie  verwandelt,  es  ist  teilweise 
zu  Luft,  teilweise  zu  Festem  umgestaltet  worden. 

Hat  nun  Anaximander  auch  diese  doppelte  Umgestaltung 
aus  der  hylozoistischen  Triebkraft  abgeleitet?  Augenschein- 
lich nicht.  Wir  hören  in  den  Berichten,  dafs  der  Prozels 
der  Bildung  des  Festen  und  der  Luft  aus  dem  Flüssigen, 
das  ja  dem  ursprünglichen  Kalten  gleichgesetzt  wird,  durch 
Austrocknung  und  Verdunstung  auch  in  der  bestehenden 
Welt  seinen  Fortgang  nimmt  und  seinen  Fortgang  nehmen 
wird,  bis  das  Flüssige  ganz  aufgezehrt  sein  wird.  Austrock- 
nung und  Verdunstung  sind  aber  empirische  Vorgänge,  ver- 
anlafst  durch  die  Wärme.  Am  „Warmen**  aber  hatte  er  ja 
auch  für  den  ursprünglichen  Weltbildungsprozefs  bereits 
durch  die  erste  Differenzierung  das  verursachende  Prinzip 
für  diese  Wirkungen  gewonnen.  Er  konnte  also  schon  auf 
dieser  zweiten  Stufe  der  Weltbildung  die  „ewige  Bewegung**, 
die  hylozoistische  Triebkraft,  verabschieden.  Er  bedurfte 
ihrer  nicht  mehr.  Diese  Vorgänge  der  Weltbildung  ver- 
laufen bereits  als  natürliches  Geschehen  am  Faden  der  Natur- 
gesetze, wenngleich  dieser  letztere  Begriff  für  Anaximander 
nur  erst  in  aufdämmernder  Unbestimmtheit  vorhanden  war. 

Das  aber  mufs  hier  bestimmt  festgehalten  werden,  dafs 
unter  Verdunstung  von  unserem  alten  Denker  nicht  etwa 
blofs  die  Umsetzung  des  Flüssigen  in  den  gasförmigen  Zu- 
stand, sondern  die  Umwandlung  in  wirkliche  Luft  und  unter 
Aastrocknung  nicht  etwa  blofs  die  Niederschlagung  der  im 
Flüssigen  vorhandenen  festen  Stoffe,  sondern  die  Umwand- 
lung des  Flüssigen  selbst  in  Festes  verstanden  wird. 

Näher  entsteht  durch  diese  doppelte  Umwandlung  des 
.Kalten**  eine  regelmäfsige  Urgestalt  der  werdenden  Welt. 
Das  Feste  lagert  sich  in  der  Mitte  als  Erde,  der  er  die  Ge- 
stalt eines   aufrechtstehenden   Säulenstumpfes   beilegt.    Sie 

UbTiug.  i,  3 


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34  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt    Hylopsychismus. 

wird  nicht  von  irgend  etwas  anderem  getragen,  sondern 
verharrt  in  der  Mitte  wegen  des  gleichen  Ab^andes  nach 
allen  Seiten  (D.  559).  Da  kein  Grund  vorhanden  ist,  eine 
Fallrichtung  vor  der  anderen  zu  bevorzugen,  so  fällt  sie  über- 
haupt nicht,  sondern  verharrt  in  der  Schwebe  (Arist  295  b,  11). 
Die  Höhe  dieses  Sänlenstumpfes  beträgt  ein  Drittel  des 
Durchmessers  (D.  539);  die  obere  Fläche  ist  der  Schauplatz 
des  künftigeo  Lebens.  Wie  Anaximander  auf  diese  Form 
der  Erde  gekommen  ist,  wird  nicht  berichtet.  Es  liegt  darin 
eine  Vorstufe  der  Kugelgestalt,  was  sich  auch  darin  aus- 
spricht, dafs  er  sich  über  die  Vorstellung,  die  Erde  müsse 
auf  etwas  ruhen,  kühn  hinwegsetzt  Um  diesen  zunächst 
noch  nicht  völlig  vom  Flüssigen  geschiedenen,  noch  schlam- 
migen Kern  legt  sich  das  Wasser  als  ihn  allseitig  um- 
fassende kugelförmige  Hülle;  um  dieses  in  derselben Oestalt 
die  Luft.  Das  Warme  oder  Feurige  aber  hat  schon  bei  der 
ersten  Differenzierung,  ebenfalls  als  einheitliche  Kugelhülle, 
den  äufsersten  Raum  eingenommen. 

Dies  die  zweite  Stufe  der  Weltbildung.  Aber  die  am 
Werke  befindliche  Kraft  des  Warmen  ruht  auch  ferner 
nicht.  Die  nur  erst  halbwegs  vom  Wasser  geschiedene,  noch 
schlammige  Erde  wird  durch  fortschreitende  Austrocknung 
fest.  Die  umgebende  Wasserhülle  verliert  durch  fortschrei- 
tende Austrocknung  und  Verdunstung,  durch  fortschreitende 
Abgabe  ihres  Stoffes  an  das  Feste  und  die  Luft  ihren  Zu- 
sammenhalt und  schrumpft  zu  einem  nur  noch  die  tieferen 
Stellen  der  Erdoberfläche  ausfüllenden  Reste,  Meer  genannt, 
zusammen.  Auch  dieser  Rest  ist  in  beständigem  Schwinden 
begriffen. 

Vornehmlich  aber  erleidet  die  Lufthülle  eine  gewaltige 
Veränderung,  die  auch  die  verursachende  Feuerhülle  in  Mit- 
leidenschuft zieht  und  somit  einer  völligen  Umgestaltung  des 
Weltbaues,  einer  Weltrevolution  gleichkommt.  Die  Luft- 
hülle wird,  wie  es  scheint,  teils  durch  die  ausdehnende  Ein- 
wirkung der  Feuerhülle,  teils  durch  den  Zuwachs  infolge 
der  Verdunstung  des  Wassers,  in  einen  Zustand  äufserster 
Spannung  versetzt,  der  schliefslich  zur  Explosion  führt.  Ein- 
geklemmt  zwischen   Wasser-  und   Feuerhülle,  wie  sie  ist. 


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2.   Anazimander.  ;35 

Zersprengt  sie  schliefidick  die  Feuerhalle  in  ungeheure  rad- 
förmige  Streifen,  die  also  nunmehr  den  ganzen  Weltkreis 
umfangen.  Diese  feurigen  Streifen  werden  aber  ferner 
ihrem  ganzen  Umfange  nach  umhüllt  von  unsichtbaren,  aber 
undurchsichtigen  Teilen  der  ebenfalls  zersprengten  Lufthülle. 
Es  entstehen  auf  diese  Weise  um  die  Weltmitte  h^um  un- 
geheure, unsichtbare  Räder  mit  hohlem,  dem  ganzen  Um- 
fange nach  mit  Feuer  gefülltem  Radkranz.  Nur  an  je  einem 
Punkte  haben  diese  Radkränze  eine  Öfihung,  aus  der  das 
eingeschlossene  Feuer,  wie  die  Luft  aus  einem  Blasbalg,  un- 
gestllm  hervorsprtiht.  Diese  Öffnungen  sind  das,  was  wir 
Sonne,  Mond  und  Sterne  nennen.  Auch  der  Mond  hat  also 
eigenes  Licht  oder  vielmehr  eigenes  Feuer.  Ebenso  sämt- 
liche Sterne.  Der  Begriff  des  Planeten  ist  für  Anaximander 
noch  nicht  vorhanden.  Den  gröfsten  Durchmesser  und  also 
auch  den  gröfsten  Abstand  von  der  Weltmitte  hat  das 
Sonnenrad.  Danach  kommt  das  Mondrad ;  die  innersten  und 
kleinsten  dieser  Räder  sind  die  der  Sterne.  Den  Durch- 
messer des  Sonnenrades  bestimmt  er  im  Lichten  auf  27, 
den  des  Mondrades  auf  18  Durchmesser  der  Erdoberfläche. 
Die  Öffnung  des  Sonnenrades,  aus  der  das  Feuer  ausströmt, 
ist  so  grofs  wie  die  Erdoberfläche  (D.351,  355,  559  f.,  579). 

In  sehr  origineller  Weise  scheint  dieser  ingeniöse  Welt- 
konstrukteur die  Veränderungen  im  Laufe  der  Himmels- 
körper erklärt  zu  haben.  Ihren  täglichen  Auf-  und  Nieder- 
gang erklärte  er  natürlich  durch  den  Umschwung  der  Räder 
um  den  Mittelpunkt  der  Welt.  Auf  welche  Triebkraft  er 
diesen  Umschwung  zurückführte,  besagen  unsere  Berichte 
nicht.  Vielleicht  griff  er  hier  wieder  auf  das  ursprüngliche 
hyiozoistische  Erklärungsprinzip,  die  „ewige  Bewegung", 
zurück.  Wenigstens  berichtet  Cicero  (de  N.  D.  I.  25),  er 
habe  die  Welten  (d.  h.  die  Weltkörper)  für  Götter  erklärt, 
was,  wenn  es  richtig  ist,  darauf  hinweist,  dafs  er  ihnen 
Eigenleben  und  Eigenbewegung  beilegte.  Doch  hat  er  viel- 
leicht auch  für  diesen  täglichen  Umschwung  eine  natur- 
wissenschaftliche Erklärung  versucht  (Z.  223,  3). 

Dagegen  scheint  er  die  jährlichen  Veränderungen  im 
Sonnenlaufe,  die  wechselnde  Dauer  ihres  Tageslaufes  und 

3* 


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36  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

die  wechselnde  Höhe  ihres  Mittagsstandes  wieder  rein 
mechanisch  erklärt  zu  haben.  Durch  die  Wirkung  der 
Sonnenwärme  wird,  wenn  sie  am  stärksten  ist,  in  erhöhtem 
Mafse  Wasser  in  Luft  verwandelt.  Die  Expansion  der  Luft 
nimmt  zu,  was  sich  in  Luftströmungen  äufsert.  Durch  diese  wird 
dann  das  Sonnenrad  in  eine  andere  Lage  zur  Erdoberfläche 
gebracht.  Es  liegt  mehr  oder  minder  schräg  und  macht 
überhaupt  im  Jahreslauf  eine  oszillierende  Bewegung  durch. 
Es  ist  besonders  zu  beklagen,  dafs  über  diesen  Punkt  die 
Nachrichten  so  überaus  spärlich  fliefsen.  Aristoteles  hat 
nur  einige  unbestimmte  Hindeutungen  auf  diese  Lehre,  in 
denen  nicht  einmal  der  Name  des  Anaximander  genannt  ist 
(Meteor.  II.  1  u.  2).  Der  Ausleger  dieser  aristotelischen 
Schrift,  Alexander  von  Aphrodisias,  bezeugt  in  unzweifel- 
hafter Weise  die  Lehre,  ohne  aber  ins  einzelne  zu  gehen 
(D.  494).  Wie  es  scheint,  kam  durch  diese  Theorie  eine 
Art  Selbstregulierung  in  den  Lagen  des  Sonnenrades  zu 
Stande,  indem  die  erhöhte  Expansion  der  Luft  zurücktreibend 
auf  das  Sonnenrad  wirkte,  die  verminderte  infolge  der  ver- 
minderten Wärme  Wirkung  dann  den  Rückgang  in  die  ur- 
si)rüngliche  Lage  gestattete.  Doch  ist  es  nicht  möglich, 
ein  völlig  deutliches  Bild  von  dieser  Theorie  zu  gewinnen. 
Nach  Alexander  hat  er  auch  die  Wandlungen  des  Mondlaufs 
auf  diese  Weise  erklärt,  doch  ist  es  da  noch  viel  schwieriger, 
sich  das  Genauere  seiner  Erklärung  vorstellig  zu  machen. 

Sehr  einfach  war  seine  Erklärung  der  Sonnen-  und 
Mondfinstemisse,  sowie  der  Phasen  der  Mondes.  Diese  Er- 
scheinungen treten  sämtlich  dadurch  ein,  dafs  sich  die  das 
Feuer  auslassende  Öffnung  des  betreffenden  Rades  ganz  oder 
teilweise  verstopft  (D.  560). 

In  dieser  an  sich  lächerlichen  Theorie  zeigt  sich  so  recht 
die  echt  wissenschaftliche  Grundrichtung  und  die  un- 
erschrockene Denkerkühnheit  dieser  primitiven  Natur- 
forschung. In  dieser  Theorie  ist  zunächst  der  Gegensatz 
gegen  die  mythologische  Naturerklärung  der  Volksregion 
mit  Händen  zu  greifen.  Sie  bedeutet  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  als  den  völligen  Bruch  des  Forschers  mit  der  Ver- 
persönlichung  der  himmlischen  Vorgänge,  insbesondere   mit 


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2.    Anaximander.  37 

der  Ausdeutung  der  Finsternisse  als  Anzeichen  des  Götter- 
zoms.  Sie  gemahnt  in  dieser  Beziehung  an  den  Bericht 
über  die  Vorausverkündigung  der  Sonnenfinsternis.  Ent- 
sprechend dieser  rein  naturwissenschaftlichen  Grundrichtung 
seines  Denkens  hat  er  denn  auch  den  Götternamen  auf  die 
Himmelskörper  übertragen.  Er  bedurfte  keiner  übernatür- 
lichen Persönlichkeiten  (Cic.  N.  D.  I.  25;  D.  302). 

Wir  bemerken  aber  ferner  auch,  dafs  ihm  die  gegebenen 
Tatsachen  des  Weltbaues  zu  Problemen  werden,  für  die  er 
eine  naturwissenschaftliche  Erklärung  sucht.  Dafür  zwar, 
dafs  er  die  Erde  für  einen  Säulenstumpf  erklärte,  suchen 
wir  vergeblich  nach  einer  Begründung.  Zu  einem  Problem, 
für  das  er  eine  Lösung  suchte,  wurde  ihm  aber  ferner  die 
im  Raum  freischwebende  Erde.  Zu  einem  Problem  wurden 
ihm  der  Tageslauf  der  Sonne,  ihre  Rückkehr  nach  Osten 
am  Morgen,  ihr  verschiedener  Höhenstand  in  den  verschiedenen 
Jahreszeiten  und  ihre  Verfinsterungen.  Und  die  für  die 
Sonne  gefundene  Lösung  durch  das  ungeheure,  um  die  Erde 
schwingende  Rad  übertrug  er  dann  auch  auf  die  übrigen 
Himmelskörper.  Es  ist  der  erste,  in  seiner  Art  grofsartige 
Versuch,  den  Erscheinungen  gerecht  zu  werden. 

Dieser  radikale,  echt  wissenschaftliche  Bruch  mit  den 
mythologischen  Volksvorstellungen  liegt  aber,  wie  leicht  zu 
ersehen,  nicht  nur  diesem  einen  Zuge  der  anaximandrischen 
Katurerklärung  zu  Grunde.  Er  ist  durchweg  bemüht,  die 
Weltentstehung  und  das  Naturgeschehen  aus  bekannten  natür- 
lichen Ursachen  abzuleiten.  In  besonders  hervorstechender 
Weise  zeigt  sich  dieser  wissenschaftliche  Geist  auch  in  seiner 
Erklärung  der  Entstehung  der  Lebewesen.  Leider  sind  auch 
hier  die  Berichte  wieder  besonders  dürftig  und  unzureichend. 
Wir  hören,  dafs  er  „die  ersten  Lebewesen  im  Feuchten  sich 
erzeugen  lasse**  (D.  430).  Näher  wird  dieser  Prozefs  durch 
dasselbe  Wort  bezeichnet,  das  die  Umwandlung  des  Feuchten 
in  Luft  unter  dem  Einflüsse  des  Feurigen  ausdrückt  Es 
ist  eine  generatio  aequivoca,  eine  Belebung  des  Feuchten 
durch  die  Einwirkung  der  Wärme.  Selbst  der  Mensch  hat 
ursprünglich  in  fischartiger  Gestalt  existirt,  ist  also  im 
Wasser  entstanden  (D.  560).    Selbst. der  Gedanke  der  Uni- 


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38  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

Wandlung  des  Organismus  durch  Anpassung  an  veränderte 
Lebensbedingungen  klingt  schon  an.  Die  Tiere  sollen  wir- 
rend ihres  Aufenthalts  im  feuchten  Elemente  mit  stacheligen 
Binden  umgeben  gewesen  sein,  dann  aber,  beim  Übergaage 
auf  das  „Trocknere**,  diese  Binden  abgeworfen  haben  (D.  430). 
Diese  Angabe  versetzt  offenbar  den  Vorgang,  ttber  den  sie 
berichtet,  in  diejenige  Phase  der  Weltbildung,  als  sich  das 
Feuchte  in  das  Feste  verwandelte  und  dies  letztere  zunächst 
noch  in  einem  schlammartigen  Übergangszustande  existierte. 
Auch  für  den  Menschen  wird  die  schon  vorher  erwähnte 
Umwandlung  mit  seltsamer  Begründung  näher  ausgeführt. 
Der  Mensch  hätte  sich,  weil  im  Unterschiede  von  den  anderen 
Geschöpfen  einer  langdauernden  Pflege  bedürftig  (offenbar 
wird  hier  an  das  Eindesalter  gedacht),  nicht  erhalten  können, 
wenn  er  sofort  in  seiner  endgültigen  Gestalt  aufgetreten 
wäre.  Deshalb  müsse  angenommen  werden,  dafs  er  aus  einem 
andersartigen  Tiere  sich  entwickelt  habe  (D.  579).  Eine 
abenteuerliche,  auf  Mifsverstand  beruhende  Ausmalung  der 
Theorie  Anaximanders  ist  es  wohl  nur,  wenn  mehrere  Bericht- 
erstatter (Z.  228,  2)  ihn  lehren  lassen,  der  Mensch  sei  ur- 
si)rünglich  in  Fischleibern  entstanden  und  erst,  als  er  voll- 
entwickelt sich  selbst  habe  fortbringen  können,  aus  diesem 
Gewahrsam  herausgetreten.  Es  ist  kaum  möglich,  aus  diesen 
zerrissenen  Bruchstücken  mehr  als  die  Grundzüge  der  Meinung 
des  alten  Denkers  zu  gewinnen. 

Noch  mufs  versucht  werden,  für  eine  vielerörterte  Stelle 
den  richtigen  Sinn  zu  finden,  in  der  Simplicius,  der  aus 
Theophrast  schöpfende  gelehrte  Kommentator  des  6.  nach- 
christlichen Jahrhunderts,  eine  wörtliche  Anführung  aus  dem 
Buche  Anaximanders,  dieser  ältesten  Urkunde  der  Natur- 
wissenschaft, erhalten  hat.  Die  Stelle  lautet:  „Woraus  die 
Dinge  ihren  Ursprung  nehmen,  in  das  müsse  nach  der  Not- 
wendigkeit auch  ihr  Untergang  stattfinden.  Denn  Bufse 
und  Vergeltung  leisteten  sie  einander  für  das  Unrecht  nach 
der  Ordnung  der  Zeit."  Mit  Becht  fügt  Simplicius  hinzu, 
dafs  der  Autor  sich  hier  einer  dichterisch  gefärbten  Sprache 
bediene.  Diese  poetische  Färbung  liegt  vornehmlich  in  den 
menschlichem  Geschicke  entlehnten  Bildern  von  Schuld  und 


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2.    Anaximander.  3^ 

Strafe,  die  im  zweiten  —  vielleicht  allein  wörtlich  dem 
B«he  An&ximanders  entstammenden  —  Satze  hervortreten. 

Man  hat  ans  diesen  Sätzen,  deren  Zusammenhang  man 
nicht  mehr  kannte,  schon  im  Altertume  allerlei  als  angeb- 
liche Lehre  des  Anaximander  herausgesponnen.  Zunächst 
sollte  er  eine  unendliche  Aufeinanderfolge  von  Weltent- 
stehungen und  Weltuntergängen  gelehrt  haben.  Damit  nicht 
zufrieden,  legte  man  ihm  dann  in  völlig  freier  Erfindung 
sogar  ein  gleichzeitiges  Nebeneinanderbestehen  mehrerer 
Welten  bei,  für  deren  räumliche  Entfernung  voneinander  man 
sogar  Detailbestimmungen  anzuführen  wufste  (D.  327,  329). 

Schwerlich  hat  der  alte  Denker  schon  so  weit  über  die 
bestehende  Welt  hinausgeblickt.  Jedenfalls  bieten  die  Worte 
der  Stelle,  ruhig  betrachtet,  zu  solchen  Auslegungen  keine 
Handhabe.  Er  redet  nicht  von  der  Welt  als  Ganzem,  sondern 
deutlich  genug  von  den  Einzelstoflfen  der  Welt.  Die  Stelle 
spricht  nur  von  einer  dem  oben  geschilderten  Hervorgange 
der  Stoffe  auseinander  entgegengesetzten  Entwicklungs- 
richtung. Wie  das  Feste  und  die  Luft  aus  dem  Feuchten 
geworden  ist  und  wird,  so  gibt  es  auch  eine  Umwandlung  in 
entgegengesetzter  Richtung,  einen  Rückgang  ins  Feuchte. 
In  den  atmosphärischen  Niederschlägen  konnte  Anaximander 
nur  Rückverwandlungen  der  Luft  in  Wasser  erblicken.  Und 
auch  für  die  Rückverwandlung  des  Festen  in  Wasser  mochten 
ihm  Abschwemmungen  festen  Landes  Beispiele  zu  bieten 
scheinen.  Ein  Rückgängigwerden  der  ersten,  ursprünglichen 
Differenzierung  dagegen  als  Rückgang  in  die  unbestimmte 
Stoflform  wird  er  kaum  gelehrt  haben.  Der  Urstoff  in  seiner 
unendlichen  Fülle  bedurfte  keiner  Ergänzung.  Auch  das 
Feuer  blieb  Feuer. 

Es  wird  also  geraten  sein,  die  aus  unserem  Sätzchen 
herausgesponnenen  phantastischen  Weiterbildungen  der  Lehre 
mit  den  besonnenen  Forschem  beiseite  2U  lassen  und  den 
Sinn  desselben  auf  den  Kreislauf,  genauer  auf  die  rückläufige 
Bewegung,  innerhalb  der  genannten  drei  Stofl'e  zu  beschränken. 
Dafs  diese  in  pathetischer  Sprache  als  Sühne  und  Genug- 
tuung für   das  durch  das  Hervorgehen  begangene  Unrecht 


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40  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt    Hylopsychismus. 

bezeichnet  wird,  drückt  den  Gedanken  aus,  dafs  durch  die 
Umwandlung  die  Masse  und  der  Bereich  des  urspranglichen 
Steifes  verkürzt  und  beeinträchtigt  worden  sind,  und  entspricht 
zugleich  der  erst  mühsam  aus  der  dichterischen  Rede  sich 
losringenden  Prosa.  Gewifs  darf  man  aus  diesem  Satze  auch 
folgern,  dafs  Anaximander  nicht  daran  dachte,  der  mensch- 
lichen Seele,  die  er  gewifs,  wie  das  belebende  Prinzip  der 
lebendigen  Geschöpfe  überhaupt,  aus  dem  Feurigen  ableitete, 
eine  dauernde  Sonderexistenz  über  den  Tod  hinaus  zuzu- 
schreiben. 

Ein  dauernd  haltbares  Resultat,  eine  naturwissenschaft- 
liche Entdeckung  also  hat  unser  Naturforscher  noch  nicht 
geliefert.  Kaum  in  einzelnen  Zügen  seines  Gedankenkreises 
die  Grundlage  für  eine  sich  anschliefsende  Weiterführung 
dieser  naturwissenschaftlichen  Bestrebungen.  Es  gibt  auf 
dieser  phantastischen  Urstufe  der  Naturerklärung  noch  kein 
regelrechtes  Weiterbauen  auf  gesicherter  oder  doch  wenig- 
stens für  gesichert  gehaltener  Grundlage.  Der  Nachfolger 
geht,  fast  völlig  unbekümmert  um  die  Annahmen  seines 
Vorgängers,  fast  in  allen  Punkten  von  neuen  Voraussetzungen 
aus.  Dennoch  aber  müssen  wir  bei  diesem  ersten  wissen- 
schaftlichen Welterklärer  eine  Kühnheit,  Weite  und  Kraft 
des  Denkens  anerkennen,  die  auf  seine  Nachfolger  anfeuernd 
wirken  mufste,  und  die  ihren  Wirkungen  nach  unmöglich 
der  weiteren  Entwicklung  verloren  gewesen  sein  kann.  Es 
ist  unmöglich,  in  Anaximander  von  Milet  eine  komische  Figur 
zu  sehen.  Er  ist  ein  Geist  ersten  Ranges,  dessen  Gedanken- 
arbeit indirekt  in  unserer  wissenschaftlichen  Entwicklung 
noch  fortlebt,  ja,  dessen  mächtige  Schwungkraft  selbst  für 
die  heutige  Naturwissenschaft  vorbildlich  sein  kann.  Das 
Wertvolle  seiner  Leistung  liegt  nicht  in  seinen  Resultaten, 
sondern  in  der  grofsen  Intention  und  dem  grofsen  Stile 
seines  Denkens.  Er  fordert  Einheitlichkeit  und  Gesetzlich- 
keit des  gesamten  Weltgeschehens. 

3.    Anaxlmenes. 

Auch  Anaximenes  lebte  in  Milet  und  stand  zu  Anaxi- 
mander in  einer  Art  von  Schülerverhältnis,  über  dessen  nähere 


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3.    Anaximenes.  41 

Beschaffenheit  aber  ebensowenig  wie  bei  dem  des  Anaxi- 
mander  zu  Thaies  etwas  Zuverlässiges  bekannt  ist.  Über 
die  Zeit  seiner  Geburt  gehen  die  Nachrichten  auseinander, 
doch  ist  dieselbe  wahrscheinlich  um  586  vor  Chr.  anzusetzen 
(Z.  239;  D.  561).  Auch  er  hat  seine  Lehre  in  einer  Schrift 
,Über  die  Natur"  niedergelegt.  Wenn  die  Vermutung  richtig 
ist,  dars  die  Schrift  des  Anaximander  erst  um  547  abgefafst 
ist,  also  zu  einer  Zeit,  da  Anaximenes  bereits  ins  vierzigste 
Lebensjahr  eingetreten  war,  so  könnte  auch  die  Schrift  des 
letzteren  nicht  lange  nach  der  des  Anaximander,  im  An- 
schlösse an  diese,  geschrieben  sein.  Die  unerhörte  Tat  An- 
aximanders  erweckte  unmittelbar  den  Trieb  zu  rivalisierender 
und  berichtigender  Nacheiferung. 

Anaximenes  abemimmt  von  Anaximander  die  Vorstellung 
des  der  Masse  nach  unendlichen,  den  unendlichen  Raum 
aufserhalb  der  Welt  erfüllenden,  mit  ewiger  Bewegung  aus- 
gestatteten, d.  h.  lebendigen  Urstoffes  (D.  476,  560).  In 
allem  abrigen  setzt  seine  Welterklärung  völlig  neu  ein  UDd 
geht  durchaus  ihre  eigenen  Wege.  Das  einzige  aus  seiner 
Schrift  erhaltene  Bruchstack  gibt  über  das  Eigenartige  und 
Besondere  seines  Grundgedankens  erwünschten  Aufschlufs. 
Es  lautet:  „Gleichwie  unsere  Seele,  Luft  seiend, 
uns  zusammenhält  und  beherrscht,  so  umfängt 
auch  die  ganze  Welt  Hauch  und  Luft"  (D.  278). 

Ehe  wir  den  Sinn  dieser  Stelle  ins  Auge  fassen,  mufs 
zunächst  ein  auffälliger,  mit  anderen  Nachrichten  nicht  in 
Einklang  stehender  Ausdruck  in  derselben  in  Betracht  ge- 
zogen werden.  Im  Griechischen  steht  für  „Welt"  das  Wort 
Kosmos.  Kosmos  bedeutet  ursprünglich  Ordnung,  wohl- 
geordnete Einrichtung.  Das  lateinische  „mundus**,  ursprüng- 
lich »Schmuck",  ist  nur  eine  ungeschickte  Übersetzung  dieses 
philosophischen  Ausdrucks.  Nach  einer  wahrscheinlich  auf 
Theophrast  zurückgehenden  Nachricht  (D.  327)  soll  zuerst 
Pythagoras  diesen  Ausdruck  auf  das  Weltall  —  das  in  der 
Tat  sonst  bei  den  alten  Denkern  meist  durch  „Himmel"  be- 
zeichnet wird  —  angewandt  haben,  und  zwar  wegen  der  in 
demselben  herrschenden  Ordnung.  Ist  nun  unser  Bruchstück 
wörtlich   genau    überliefert,  so   hat  Pythagoras  in   diesem 


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42  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt    Hylopsychismus. 

Punkte  an  Anaximenes  einen  Vorläufer.  Unmöglieh  oder 
unwahrscheinlich  ist  dies  nicht.  Wie  wir  sehen  werden,  ist 
Pythagoras  Schüler  des  Anaximenes,  und  der  Ausdruck 
„Kosmos"  konnte  sich  diesem  gerade  von  dem  in  unserem 
Bruchstück  zu  Tage  tretenden  Ausgangspunkte  seines  Denkens, 
der  Vergleichung  der  Welt  mit  einem  lebenden  Organismus, 
am  ersten  darbieten.  Das  Wort  „Kosmos"  wäre  dann  sogar 
geradezu  eine  Bezeichnung  für  den  einheitlichen,  von  einer 
Kraft  gelenkten  Organismus,  in  dem  jedes  einzelnes  Glied 
und  Organ  aufs  engste  mit  dem  Leben  des  Ganzen  zu- 
sammenhängt. 

Was  sodann  den  Sinn  des  Satzes  selbst  anlangt,  so 
spricht  derselbe  zunächst  schon  im  Subjekt  des  Vordersatzes 
eine  bedeutsame  Gleichsetzung  aus.  Unsere  Seele,  die  uns 
beherrscht  und  zusammenhält,  ist  Luft.  Es  ist  aber  femer 
auch  der  Satz  als  Ganzes  eine  Gleichung  zwischen  dem  Welt- 
all und  dem  menschlichen  Organismus.  Hinsichtlich  beider 
wird  von  demselben  Subjekte,  der  Luft,  etwas  ausgesagt. 
Die  Form  des  Satzes  als  Gleichung  berechtigt  uns,  beide 
Prädikate  auf  das  Subjekt  in  jeder  der  beiden  Satzhälften 
zu  beziehen.  In  unserem  Körper  ist  die  Luft  (als  Seele) 
das  zusammenhaltende  und  beherrschende  Prinzip,  das  Lebens- 
prinzip des  Organismus.  Sie  ist  aber  auch  der  den  Körper 
umgebende,  von  aufsen  in  ihn  eindringende  und  einströmende 
Stoff. 

Was  aber  von  der  Luft  in  Bezug  auf  den  menschlichen 
Körper  gilt,  das  soll  nach  unserem  Satze  von  ihr  auch  in 
Bezug  auf  das  Ganze  der  Welt  gelten.  Die  Welt  ist  von 
„Hauch  und  Luft"  umfangen.  Diese  umgebende  Luft  strömt 
aber  auch  in  das  Weltall  ein  und  wirkt  in  demselben  als 
„zusammenhaltendem  und  beherrschendes"  Lebetsprinzip. 
Die  Welt  atmet,  wie  unser  Körper.  Anscheinend  aber  stellt 
sich  Anaximenes  dies  Atmen  nicht  als  eine  Funktion  des 
Körpers  und  der  Welt  vor,  sondern  als  ein  selbsttätiges 
Wirken  der  mit  ewiger  Bewegung  ausgestatteten,  lebendigen 
Luft. 

Das  Bruchstück  handelt  nicht  von  der  Weltentstehung, 
sondern   vom   gegenwärtigen   Bestände   der  Welt   und   des 


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3.    Anaximenes.  43 

menschlichen  Organismus.  Auch  in  Beziehung  hierauf  läfst 
es  die  meisten  Fragen  offen.  Insbesondere  mufs  es  auffallen, 
daCs  beim  Körper  die  andere  unumgängliche  Lebensbedingung 
neben  dem  Atmen,  die  eigentliche  Nahrungsaufnahme,  völlig 
aufser  acht  gelassen  zu  sein  scheint. 

Auch  die  sekundären  Quellen,  die  aufser  einigen  An- 
deutungen bei  Aristoteles  durchweg  auf  Theophrast  beruhen, 
ergeben  nur  ein  unvollständiges  Bild. 

Das  Grundwesen  alles  Seienden  ist  die  Luft.  Sie  ist  in 
ewiger  Bewegung  und  Umwandlung  begriffen.  Darin  tritt 
auch  bei  ihm  der  Hylopsychismus  zu  Tage.  Der  Grund- 
vorgang dieser  Umwandlung  ist  aber  jetzt  nicht  mehr,  wie 
beim  Unendlichen  Anaximanders,  das  Auseinandergehen  in 
zwei  entgegengesetzte  Beschaffenheiten,  das  Kalte  und 
Feurige,  sondern  selbsttätige  Veränderung  des  Dichtigkeits- 
zustandes, Verdichtung  und  Verdünnung.  Diese  bilden  neben 
dem  Einströmen  in  die  Welt  die  zweite  Betätigungsweise 
der  Lebendigkeit  des  ürstoffes.  Aber  diese  Volumenver- 
änderung bewirkt  nach  Anaximenes  zugleich  eine  Veränderung 
der  Qualität.  Die  verschiedenen  vorkommenden  Stoffe  sind 
nur  verschiedene  Dichtigkeitsgrade  der  Luft  Durch  Ver- 
dttnnnng  wird  die  Luft  zu  Feuer,  durch.  Verdichtung  in 
stufenweisem  Fortschreiten  zu  Wind,  Gewölk,  Wasser,  Erde, 
Steinen.  In  dieser  Weise  entsteht  die  ganze  Mannigfaltig- 
keit der  Dinge  (D.  476  f.,  560  f.;  Aristot.  187,  11  f.).  Es 
gibt  also  nach  der  Seite  der  Verdünnung  nur  eine  Stufe, 
das  Feuer,  nach  der  Seite  der  Verdichtung  dagegen  zwei 
Hauptstufen,  das  Flüssige  und  das  Feste,  mit  mehreren 
Zwischen-  und  Übergangsstufen. 

Dafs  mit  der  Verdünnung  der  Luft  Erwärmung  und  mit 
der  Verdichtung  Abkühlung  verbunden  sein  sollte,  scheint 
er  durch  ein  überaus  kindliciies  Experiment  bewiesen  zu 
haben.  Wenn  man  die  Luft  mit  offenem  Munde,  also  ohne 
Zusammenpressung,  ausatme,  sei  sie  warm.  Presse  man  da- 
gegen beim  Atmen  die  Lippen  zusammen,  so  erzeuge  die 
auAströmeode  Luft  an  den  Lippen  ein  Kältegefühl  (Plutarch 
de  pr.  fr.  7).  In  diesem  letzteren  Falle  findet  eine  Zusanmien- 
presming  statt,  also  eine  Verdichtung,  und  daraus  erklärte 


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44  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt.    Hylopsychismus. 

er  das  begleitende  Kältegefühl.  Ohne  diese  Zusammen- 
pressung dagegen  erschien  ihm  offenbar  das  Ausatmen  als 
Verdünnung,  und  daraus  erklärte  er  die  der  ausgeatmeten 
Luft  eigene  Wärme;  dagegen  mufste  ihm  das  Einatmen 
wieder  als  Verdichtung  und  Abkühlung  erscheinen.  So 
werden  ihm  Verdünnung,  Erwärmung,  Ausatmen  einerseits, 
Verdichtung.  Abkühlung,  Einatmen  andererseits  Wechsel- 
begriffe. 

Von  dieser  Theorie  fällt  auch  ein  Licht  auf  die  an- 
scheinende Nichtachtung  der  eigentlichen  Ernährung.  Wenn 
die  Luft  sich  in  der  Welt  in  der  angegebenen  Stufenfolge 
verdichtet,  so  mufs  auch  im  Körper  die  Bildung  der  flüssigen 
und  festen  Stoffe,  also  die  eigentliche  Ernährung,  durch  die 
einströmende  und  sich  verdichtende  Luft  stattfinden.  Doch 
ist  nicht  ausgeschlossen,  dafs  er  auch  aufserdem  durch  Auf- 
nahme von  bereits  durch  Verdichtung  entstandenen  flüssigen 
und  festen  Stoffen  in  den  Körper  die  Ernährung  vor  sich 
gehen  liefs. 

Anaximenes  scheint  mit  besonderem  Nachdruck  die 
lebendige  Luft  mit  dem  Göttlichen  in  eins  gesetzt  zu  haben. 
Schon  in  dem  Ausspruch  des  Thaies,  alles  sei  voll  Götter, 
fand  sich  diese  Ineinssetzung  des  Lebensprinzips  am  Stoffe 
mit  dem  Göttlichen.  Von  Anaximenes  lesen  wir,  dafs  er 
die  Luft  als  Gottheit  bezeichnet  habe,  einmal  mit  der  be- 
merkenswerten Erläuterung,  dafs  man  dabei  unter  Gottheit 
die  in  den  Elementen  und  Körpern  waltenden  Kräfte  (also 
das  Lebendige  und  Selbsttätige  darin)  verstehen  müsse 
(D.  302,  531;  Aristot.  203  b,  13). 

Das  ist  also  das  Neue  an  dem  Versuche  des  Anaximenes, 
dafs  er  die  Welt  nach  der  Analogie  des  atmenden  Orga- 
nismus erklärt,  wobei  nur  im  Auge  zu  halten  ist,  dafs  er 
die  Tätigkeit  dabei  nicht  dem  Organismus,  sondern  der  ein- 
strömenden Luft  beilegt. 

Vom  Prozesse  der  Weltbildung  im  einzelnen  bei  An- 
aximenes können  wir  uns  nach  den  vorhandenen  Nachrichten 
nur  ein  unvollkommenes  Bild  machen.  Nach  einigen  An- 
gaben (D.  339,  344,  623  f.)  soll  er  den  Himmel  als  eine  feste 
Umhüllung  der  Welt  gedacht  haben.    Er  habe  denselben  als 


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8.    Anaximenes.  45 

„den  von  der  Erde  am  weitesten  abstehenden  Umfang**  be- 
zeichnet. Die  Gestirne  (d.  h.  die  Fixsterne)  seien  wie  Nägel 
„in  das  Glasartige**  eingetrieben.  Danach  müfste  er  also 
auch  an  der  Peripherie  der  Welt  eine  Verdichtung  der  Luft, 
und  zwar  zu  einer  festen  Eugelhülle,  angenommen  haben. 
Doch  steht  diese  Vorstellung  mit  der  Lehre  vom  fortwähren- 
den Einströmen  der  umgebenden  Luft  in  die  Welt,  sowie 
mit  den  nachstehenden  Angaben  über  die  Gestalt  der  Himmels- 
körper im  Widerspruch,  so  dafs  die  Angabe  von  den  Nägeln 
stark  bezweifelt  werden  mufs. 

Durch  Verdichtung  der  Luft  entstehen  nämlich  nach 
ihm  die  in  der  Mitte  ruhende  Erde  und  die  beweglichen 
Himmelskörper  (D.  346),  Unter  letzteren  hat  er  schwerlich 
etwas  anderes  verstanden  als  Sonne  und  Mond.  Von  den 
Planeten  im  engeren  Sinne  findet  sich  auch  bei  Anaximenes 
noch  keine  Spur.  Auch  Sonne  und  Mond  sind  ihm,  wie 
die  Erde,  ihrem  Grundstoffe  nach  feste  Gebilde,  an  die  sich 
aber  von  der  Erde  stammende  Dünste  ansetzen,  die  sich  im 
Aufsteigen  verdünnen  und  zu  Feuer  werden.  Sonne  und 
Mond  haben  also  eine  Doppelnatur  (D.  342,  561).  Auch 
der  Mend  ist  nach  dieser  Voraussetzung  ein  selbstleuchtender 
Körper  (D.  356).  Ob  er  auch  bei  den  Fixsternen  das  Feuer 
aus  den  Dünsten  der  Erde  ableitete  oder  direkt  aus  der 
den  Weltraum  erfüllenden  Luft  entstehen  liefs,  ist  nicht  er- 
Fichtlich. 

Sowohl  die  Erde  als  diese  beiden  Körper  sind  Gebilde 
von  ganz  flacher  Form.  Er  vergleicht  die  Erde  mit  einer 
Tischplatte  (D.  377)  und  die  Sonne  mit  einem  Blatte  (D.  352). 
Was  ihn  auf  diese  Meinung  brachte,  wird  ausdrücklich  hervor- 
gehoben. Nur  bei  dieser  Form  konnte  er  sich  das  Getragen- 
werden dieser  Körper  von  der  den  ganzen  Weltraum  aus- 
füllenden Luft  voi-stellen  (D.  380,  561).  An  der  letzteren 
dieser  beiden  Stellen  wird  ihm  auch  für  „sämtliche  übrigen 
Gestirne**,  also  auch  für  die  Fixsterne,  im  vollen  Widerspruch 
zu  der  angeblichen  Befestigung  am  Firmamente,  diese  flache 
Form  und  das  Getragenwerden  von  der  Luft  zugeschrieben. 
För  die  Erde  insbesondere  erklärte  er  dies  Getragenwerden 
von   der    Luft    durch   das   Bild    eines    auf    einem    Gefäfse 


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46  Erste  Periode.    Erster  Abschnitt    Hylopsychismus. 

ruhenden  Deckels  (Aristot.  294  b,  13).  Dieses  Bild  des 
Deckels  ist  aber  nur  teilweise  zutreffend.  Der  Deckel  ruht 
auf  dem  Rande  des  Gefäfses,  die  Erde  aber  auf  der  unend- 
lichen Luft  selbst.  Denn  auch  hier  darf  die  Annahme  einer 
festen  Umhüllung  der  Welt  nicht  vorausgesetzt  werden. 

Eigenartig  ist  seine  Theorie  von  der  Bewegung  der 
Sonne  und  des  Mondes.  Sie  ist  eine  Kreisbewegung,  aber 
nicht  eine  solche,  die  von  Ost  nach  West  Ober  der  Erde 
und  dann  wieder  von  West  nach  Ost  unter  der  Erde  ver- 
läuft, wie  bei  den  Feuerrädem  des  Anaximander,  sondern 
sie  geht  in  fast  wagerechtem,  nur  wenig  schrägem  Bogen 
um  die  Erde  herum,  ähnlich  dem  unseres  Hutrandes,  wenn 
wir  den  unser  Haupt  bedeckenden  Hut  in  eine  drehende  Be- 
wegung setzen  würden  (D.  561).  Vielleicht  bezieht  sich  auf 
ihn  auch  die  Nachricht,  dafs  „einige"  der  Welt,  d.  h.  doch 
wohl  den  Himmelskörpern,  eine  mühlsteinartige  Bewegung 
zuschrieben  (D.  329  Anm.).  Die  Unsichtbarkeit  der  Sonne 
vor  dem  Aufgange  und  nach  dem  Niedergange  erklärte  er 
einesteils  durch  höhergelegene  Teile  der  Erdoberfläche, 
hinter  denen  die  Sonnenbahn  uns  entschwinde  (die  also  im 
Osten  und  Westen  liegen  müssen),  anderenteils  aus  der 
gröfseren  Entfernung,  in  die  sie  gerückt  werde  (D.  346,  561). 

Wodurch  er  den  Kreislauf  der  Sonne  und  des  Mondes 
bewirkt  werden  liefs,  ist  nicht  bekannt.  Die  Wandlungen 
in  ihrem  Laufe  erklärte  er  durch  den  Widerstand  der  ver- 
dichteten Luft,  die  die  Sonne  zurücktreibe  (D.  352,  626). 
Hier  zeigt  sich  eine  Ähnlichkeit  mit  Anaximander,  doch  ist 
nicht  zu  erkennen,  wie  er  sich  die  Verdichtung  der  Luft, 
z.  B.  beim  höchsten  Mittagsstande  der  Sonne  im  Sommer, 
erklärte,  da  ja  nach  seiner  Voraussetzung  Verdichtung  die 
Folge  der  Abkühlung  ist. 

Trotz  dieser  nur  unzulänglichen  und  lückenhaften  An- 
gaben über  die  Welterklärung  des  Anaximenes  erkennen  wir 
doch  auch  hier,  wie  bei  Anaximander,  den  rein  naturalisti- 
schen Grundzug  seiner  Welterklärung.  Sein  Ausgangspunkt 
ist  die  doppelte  Lebensäufserung  der  Luft,  Verdichtung  und 
Verdünnung,  die  er  mit  dem  Ein-  und  Ausatmen  in  Parallele 
stellte.    Ob  er,  wie  Anaximander,  auch  schon  die  erfahrungs- 


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B.    AnazineneB.  47 

mäfsig  gegebenen  Naturkräfte  zur  Erklärung  verwandte,  ist 
nicht  ersichtlich.  Deutlich  erkennbar  ist  aber  auch  bei  ihm, 
wie  bei  jenem,  das  Streben,  für  den  gegebenen  Weltbestand 
eine  natürliche  Erklärung  zu  suchen.  Auch  er  fragt,  warum 
die  Erde  nicht  fällt.  Die  Erklärung  Anaximanders  mufs 
ihm  wohl  nicht  genügt  haben.  Er  kehrt  zu  der  Auskunft 
des  Thaies  zurück.  Deren  Anwendung  aber  war  ihm  er- 
schwert, weil  ihm  zum  Tragen  der  Erde  nur  die  leichte  Luft 
zur  Verfttgung  stand.  So  verwandelt  er  die  Erde  und  ent- 
sprechend aueh  die  Himmelskörper  in  dünne  Platten. 
Ebenso  sucht  er  auch  für  die  übrigen  Probleme  Anaximan- 
ders, für  das  Leuchten  und  die  regelmäfsigen  Bewegungen 
der  Himmelskörper,  neue  Erklärungen. 

Durch  Verdichtung  und  Verdünnung  erklärte  er  aber 
ferner  auch  eine  Reihe  von  Erscheinungen  in  der  uns  um- 
gebenden Welt  Winde  entstehen,  wenn  verdichtete  Luft 
sich  vrieder  verdünnt  und  ausdehnt,  Wolken  und  Regen, 
Schnee  und  Hagel  durch  fortschreitende  Verdichtung  der 
Luft  (D.  561,  370,  631).  Er  hat  Erklärungen  gegeben  für 
den  BBtz,  das  Meeresleuchten  (D.  561,  368,  231,  373).  Ganz 
naturwissenschaftlich  gedacht  und  fast  modern  anmutend  ist 
seine  dureh  Aristoteles  (365  b,  6  ff.)  erhaltene  Theorie  der 
Erdbeben.  Wenn  die  Erde,  durch  Regen  befeuchtet,  wieder 
zusammentrocknet,  brechen  grofse  Stücke  der  Erdmasse  los 
und  stürzen  zusammen.  Offenbar  verlegte  er  diese  Vor- 
gänge ins  Erdinnere,  denn  es  wird  ausdrücklich  betont, 
dafs  dadurch  die  Erschütterungen  (der  Erdrinde)  bewirkt 
würden.  Erdbeben  träten  daher  ein  einesteils  bei  grofser 
Dürre,  anderenteils  bei  starken  Regengüssen.  Die  Dürre  be- 
fördere das  Zerreifsen,  die  übergrofse  Feuchtigkeit  das  Zu- 
sammenstürzen. Hiemach  scheint  seine  Theorie  folgender- 
mafsen  gelautet  zu  haben:  Erdbeben  entstehen,  wenn  nach 
grofser  Nässe  grofse  Dürre  eintritt  (vergl.  auch  D.  379,  561). 

Ob  er,  wie  auch  bei  ihm  angegeben  wird  (D.  337,  327), 
die  Vergänglichkeit  der  Welt  und  eine  Vielheit  aufeinander- 
folgender Welten  gelehrt  hat,  mufs  doch  aus  denselben 
Gründen  wie  bei  Anaximander  zweifelhaft  scheinen. 


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48    Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 


Zweiter  Abschnitt. 

Bruch  mit  dem  Hylopsychismus.    Abstrakte  Stofflehre  ohne 

ein    wiricendes    Prinzip;   Unmöglichlceit    der  Weltericiärung 

(ca.  540  bis  nach  400). 

In  diesem  Zeitraum  siedelt  die  Wissenschaft  aus  dem 
jonischen  Kleinasien  nach  Grofsgriechenland,  d.  h.  nach  der 
Welt  der  unteritalischen  Kolonien,  über.  Hier  nimmt  sie  in 
zwei  Systemen,  dem  eleatischen  und  dem  der  Pytha- 
goreer,  die  seltsam  verschrobenen  Vorstellungen  über  das 
Wesen  des  UrstoflFes  an,  die  eine  Welterklärung  unmöglich 
machen.  Beide  brechen  mit  dem  Hylopsychismus. 
Parmenides,  der  Gründer  der  eleatischen  Schule,  be- 
hauptet zwar  noch  einen  einheitlichen  realen  Urstoff,  leugnet 
aber  die  Bewegung,  das  Vorhandensein  irgend  welcher  um- 
gestaltenden Triebkräfte  in  jeder  Form.  Er  hat  jedoch  neben 
dieser  die  Natur  und  die  Welt  verneinenden  Theorie  eine 
zweite  entwickelt,  durch  die  er  der  Vorläufer  des  folgenden 
Abschnittes  wird.  Er  macht,  wenn  auch  nur  in  der  Form 
einer  Lehre  des  Scheines  und  Truges,  ein  Zugeständnis  an 
die  natürliche,  erfahrungsmäfsige  Weltansicht.  Das  Haupt- 
system des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus 
geht  noch  einen  Schritt  weiter,  indem  es  auch  das  Vor- 
handensein eines  wirklichen  Stoffes  leugnet  und  diesen  durch 
die  blofse  begrenzte  Raumausdehnung  ersetzt.  Dagegen  geht 
CS  in  der  Frage  der  Bewegung  nicht  so  weit  wie  Parmenides. 
Es  vermag  zwar  kein  wirkendes  Prinzip  der  Bewegung  und 
Veränderung  tatsächlich  aufzuweisen,  gebärdet  sich  aber, 
als  ob  ihm  ein  solches  zur  Verfügung  stände,  und  gelangt 
so,  etwas  anders  als  Parmenides,  aber  in  gleich  unberech- 
tigter Weise,  seinen  Prinzipien  zum  Trotz,  zu  einer  Ableitung 
der  wirklichen  Welt.  Es  ist  in  hohem  Grade  bezeichnend, 
dafs  Aristoteles  gerade  diese  beiden  Systeme,  das  eleatische 
und  das  pythagoreische,  und  nur  sie,  in  besonderem  Mafse 
mit  Hohn  und  Sarkasmus  behandelt  und  ihnen  die  Fähigkeit 
abspricht,  von  ihren  eigentlichen  und  wirklichen  Voraus- 
setzungen aus  zur  Erklärung  der  wirklichen  Welt  zu  gelangen. 


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I.    Zwei  Vorläufer  der  unteritalißchen  Philosophie  (ca.  540—500).    49 

Zu  diesen  extravaganten  Theorien  kommt  es  jedoch 
nicht  auf  einen  Schlag.  Beide  haben  ihre  ersten  Vorläufer 
an  zwei  Männern,  die  zugleich  die  Werkzeuge  der  Über- 
tragung der  wissenschaftlichen  Bewegung  vom  kleinasiatischen 
Jonien  nach  Unteritalien  sind :  in  Pythagoras  von  Samos 
und  Xenophanes  von  Kolophon.  Im  wissenschaft- 
lichen Pythagoreismus  femer  wird  der  vorbezeichnete  Stand- 
punkt nicht  sofort  erreicht,  sondern  erst  durch  mehrere 
Zwischenstufen,  die  sich  noch  nachweisen  lassen.  Aufserdem 
entsteht  durch  die  polemische  Wechselwirkung  der  beiden 
Richtungen  eine  Mannigfaltigkeit  von  Erscheinungen  und 
Beziehungen. 

Neben  diesen  in  Grofsgriechenland  verlaufenden  Ent- 
wicklungen zeitigt  sodann  in  Kleinasien  der  alte  Hylo- 
psychismus  um  500  in  Heraklit  von  Ephesos  eine  Er- 
scheinung von  ausdrucksvoller  Grofsartigkeit,  ein  System,  in 
dem  weniger  eine  theoretisch  befriedigende,  korrekte  Welt- 
erklärung, als  vielmehr  eine  das  Gemüt  befriedigende  und 
die  Ableitung  von  Grundsätzen  der  Lebensführung  ermög- 
lichende Weltansicht  erstrebt  wird:  eine  auf  dieser  frühen 
Vorstufe  der  Philosophie  durchaus  einzigartige  Erscheinung. 
Wir  erhalten  auf  dieser  Grundlage  folgende  Anordnung 
dieses  Abschnittes: 

I.  Zwei  Vorläufer  der  unteritalischen  Wissen- 
schaft   (Pythagoras    und    Xenophanes;    ca. 
540  —  500). 
II.  Der  kleinasiatische  Hylopsychist  Heraklit 

(um  500). 
III.  Der  Entwicklungsgang  der  unteritalischen 
Wissenschaft  im  Anschlufs  an  Pythagoras 
und  Xenophanes  (ca.  500  bis  nach  400). 

I.    Zwei  Vorläufer  der  unteritalischen  Philosophie 
(ca.  540—500). 

Schon  durch  die  völlige  Veränderung  des  leitenden  Inter- 
esses wird  sowohl  bei  Pythagoras  wie  bei  Xenophanes 
der  Übergang  zu  etwas  Neuem  bezeichnet.  Beide  sind  ihrer 
Grundrichtung   nach    nicht    Naturforscher.     Pythagoras 

Dftring.   I.  4 


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50    Erste  Periode.   Zweiter  Absebaitt    Bnicb  mit  dem  Hylopsycbismus. 

vertritt  eine  mythologische  Lehre  vom  Schicksal  der  Seele 
und  wird  nur  dadurch,  dafs  er  eine  Ordensgemeinschaft 
gründete,  die  sich  auch  der  Forschung  zuwandte,  der  Vor- 
läufer einer  neuen  Richtung.  Xenophanes  vertritt  zwar 
selbst  ein  wissenschaftliches  Interesse  und  wird  dadurch 
direkt  und  unmittelbar  der  Vorläufer  einer  neuen  Denk- 
richtung. Aber  dies  Grundinteresse  ist  bei  ihm  nicht  das 
naturwissenschaftliche,  sondern  das  theologische.  Er  ist 
Theologe  (Gottesforscher)  im  eigentlichen  und  buchstäblichen 
Sinne  des  Wortes,  d.  h.  er  sucht  im  Gegensatze  gegen  den 
Volksglauben  das  eigentliche  und  wirkliche  Wesen  der  Gott- 
heit zu  ergründen. 

1.    Pythagoras.    630. 

Pythagoras  ist  nur  in  sehr  bedingtem  und  abgeleitetem 
Mafse  ein  Mann  der  Wissenschaft.  Es  darf  ihm  kaum  ein 
neuer,  von  ihm  zuerst  ausgegangener  wissenschaftlicher  Ge- 
danke zugesehrieben  werden.  Er  ist  in  gewisser  Weise  ein 
Religionsstifter.  Seine  Lehre  gab  sich  als  eine  von  der  Gott- 
heit geoflfenbarte  Anleitung  zur  Verbesserung  des  Loses  der 
Seele  im  Jenseits  und  bei  den  ihr  bevorstehenden  künftigen 
neuen  Einkörperungen,  sowie  zur  endgültigen  Erlösung  der 
Seele  von  der  ihrer  Natur  widerstrebenden  und  leidvollen 
Verbindung  mit  dem  Leibe.  Das  zu  erstrebende  Ziel  des 
Lebens  ist  Herstellung  des  ursprünglichen  körperlosen  Lebens 
der  Seele.  In  die  Geschichte  der  Wissenschaft  gehört  Pytha- 
goras nur  wegen  der  sich  an  diese  Bestrebungen  im  Laufe 
der  Zeit  auschliefsenden  wissenschaftlichen  Theorien,  in  die 
Geschichte  der  Philosophie  im  engeren  Sinne  nur  deshalb, 
weü  durch  Plato  sowohl  seine  Lehre  vom  Schicksal  der 
Seele  als  auch  ein  Teil  jener  durch  ihn  mittelbar  angeregten 
wissenschaftlichen  Theorien  in  die  Philosophie  übergeführt 
worden  sind. 

Von  jeher  ist  es  ein  Bedürfnis  des  religiösen  Gefühls- 
überschwangs gewesen,  die  Propheten  und  Mittelsmänner  der 
übernatürlichen  Güter  selbst  ins  Ül)ernatürliche  und  Wunder- 
bare hinüberzurücken.  Dies  ist  auch  dem  Pythagoras  in 
überreichlichem  Malse  widerfahren.    Es  ist  nicht  Aufgal)e 


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1.   Pythagoras.    530.  51 

der  Geschichte  der  Philosophie,  in  der  er  nur  die  Nebenrolle 
eines  Vorläufers  und  Veranlassers  spielt,  diesen  Legenden- 
bildungen  über  ihn  im  einzelnen  nachzugehen,  so  merkwürdig 
dies  auch  sein  möchte.  Wir  haben  nur  die  Aufgabe,  ihn  im 
Lichte  der  Geschichte  zu  zeigen.  Da  jedoch  manche  der 
völlig  haltlosen  Berichte  des  späteren  Altertums  über  ihn 
auch  heute  noch  hier  und  da  als  geschichtlich  beglaubigte 
Tatsachen  aufgeführt  werden,  so  mufs  mit  dieser  Darstellung 
die  Mahnung  verbunden  werden,  nur  die  in  der  nachfolgenden 
Zeichnung  als  geschichtlich  aufgeführten  Angaben  für  glaub- 
würdig zu  halten. 

Pythagoras  war  geboren  auf  der  zu  den  kleinasiatisch-joni- 
schen Kolonien  gehörigen  Insel  Samos  spätestens  um 570 v.Chr. 
Der  im  kleinasiatisch-jonischen  Ephesus  um  540  geborene  Hera  - 
klit  spricht  ihm  in  zwei  erhaltenen  Bruchstücken,  deren  eins 
freilich  durch  das  Streben  der  späteren  Neupylhagoreer,  für 
die  Echtheit  der  Pythagoras  untergeschobenen  Schriften  ein 
altes  Zeugnis  zu  schaffen,  eine  Verfälschung  erlitten  hat, 
Viellemerei  zu,  und  der  ebenfalls  einer  der  jonisch  -  klein- 
asiatischen Städte  (Halikarnassos)  entstammende  Herodot 
(geboren  484,  seit  444  in  Thurii  in  Unteritalien  in  der  un- 
mittelbarsten Nähe  des  Hauptwirkungsfeldes  des  Pythagoras 
lebend)  nennt  ihn  einen  der  hervorragendsten  unter  den 
griechischen  Denkern  (IV.  95).  Wir  müssen  nach  diesen 
Zeugnissen  annehmen,  dafs  sich  Pythagoras  ein  nach  dem 
Mafse  seiner  Zeit  aufsergewöhnlich  vielseitiges  Wissen  an- 
geeignet hatte.  Und  da  es  damals  weder  höhere  Schulen, 
noch  —  mit  verschwindenden  Ausnahmen  —  wissenschaft- 
liche Bücher  gab,  so  konnte  er  sich  dieses  Wissen  nur  durch 
Reisen  und  durch  den  direkten  Verkehr  mit  den  Trägern 
desselben  aneignen. 

Dazu  boten  sich  ihm  vornehmlich  zwei  Wege.  Eines- 
teils mufste  ihn  die  soeben  in  dem  nahegelegenen  und  stamm- 
verwandten Milet  aufgeblühte  junge  Naturwissenschaft  locken. 
Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  wirkte  dort  noch  Anaxi- 
mander.  Ob  er  von  diesem  noch  beeinflufst  wurde,  läfst 
sich  nicht  nachweisen.  Dagegen  wird  es  nachher  wahrschein- 
lich gemacht  werden,  dafs  er   von  Anaximenes,   dessen 

4* 


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52    Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismue. 

Buch  Über  die  Natur,  wie  gezeigt,  wohl  bald  nach  547  ab- 
gefafst  wurde,  nachhaltige  Einwirkungen  erfahren  hat. 

Anderenteils  waren  damals  gerade  in  Griechenland  und 
Kleinasien  jene  schwärmerischen  Geheimlehren  in  grofser 
Verbreitung,  die  sich  mit  dem  Schicksal  der  Seele  als  einer 
im  Leibe  eingekerkerten,  mit  der  Wanderung  der  Seele 
durch  viele  Leiber  nacheinander  und  mit  den  Mitteln  der 
Erlösung  von  diesem  traurigen  Lose  beschäftigten.  Pytha- 
goras  wurde  in  diese  Bewegung  hineingerissen  und  bildet 
das  hauptsächlichste  Mittelglied  ihres  Überganges  in  die 
Philosophie  durch  Plato.  Dieser  Übergang  in  die  Philosophie 
ist  von  unermefslicher  Bedeutung  für  das  gesamte  Geistes- 
leben der  Kulturwelt  bis  zum  heutigen  Tage  geworden.  Es 
ist  daher  erforderlich,  über  den  Ursprung  und  das  Auftreten 
dieser  Bewegung  bei  den  Griechen  wenigstens  das  Wesent- 
lichste und  Notwendigste  beizubringen.  Wir  können  hierbei 
der  ausgezeichneten  Schrift  von  Erwin  Rohde,  „Psyche, 
Seelenkult  und  Unsterblichkeitsglaube  der  Griechen",  2.  Aufl. 
189(3,  folgen. 

Dafs  der  Seelenwanderungsglaube  von  den  Ägyptern 
(Herod.  IL  127)  oder  Indern  zu  den  Griechen  gekommen 
sei,  ist  eine  irrige  Vorstellung.  Bei  den  alten  Ägyptern 
findet  sich  überhaupt  nichts  nur  einigermafsen  Entsprechendes, 
und  auch  die  indische  Seelenwanderungslehre  hat  wenigstens 
ein  völlig  verschiedenes  Endziel,  das  Erlöschen  der  Seele  in 
der  Nirwana.  Bei  den  thrakischen  Völkerschaften  im  Norden 
der  Balkanhalbinsel  bestand  die  Verehrung  einer  Gottheit 
von  wilder,  ungestümer  Art,  die  mit  verschiedenen  Namen 
bezeichnet  und  durch  wilde,  lärmende  Tänze  verehrt  wurde, 
vermittelst  deren  man  sich  in  eine  Art  von  Raserei  versetzte. 
Man  glaubte  so  dem  Gotte  ähnlich  und  mit  ihm  in  Gemein- 
schaft versetzt  zu  werden.  In  diesen  Zuständen  des  bewufst- 
losen  Aufsersichseins  erscheint  die  Seele  als  vom  Körper 
getrennt,  und  so  verbindet  sich  mit  dieser  Religionsform  ein 
besonders  entschiedener  Glaube  an  die  Selbständigkeit  der 
Seele  und  ihre  Fortdauer  unabhängig  und  getrennt  vom 
Körper.  Die  wilden  Einbildungen  des  verzückten  Zustandes 
von  einem  Entrttcktseip  der  Seele  aus  dem  Leibe  zur  Gott- 


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1.    Pythagoras.    530.  53 

heit  erschienen  diesen  Gläubigen  als  tatsächliche  Erlebnisse. 
So  mufste  der  Leib  als  eine  Fessel  der  freien  Seele  und  ihr 
Leben  im  Leibe  als  eine  Herabwürdigung  derselben  er- 
scheinen (Herod.  V.  4).  Auch  der  Glaube  an  eine  Wiedei- 
kehr  der  Gestorbenen  in  das  leibliche  Leben  verband  sich 
schon  bei  den  thrakischen  Völkerschaften  mit  diesen  Vor- 
stellungen (Herod.  IV.  93-95). 

Von  den  Thrakern  ging  diese  Religionsform  der  Ver- 
zückung mit  allem,  was  sich  daran  anschlofs,  zu  den  Griechen 
über.  Schon  in  den  homerischen  Dichtungen  finden  sich 
Spuren  der  Bekanntschaft  damit  (Rohde  IL  5,  38).  Die 
eigentliche  Verbreitung  in  Griechenland  fällt  aber  erst  in 
die  nachhomerischen  Jahrhunderte.  Der  Name  des  Gottes, 
dem  diese  Dienste  gewidmet  waren,  ist  bei  den  Griechen 
Dionysos.  Auch  hier  entwickelte  sich  im  Zusammenhange 
mit  diesen  Verzückungen  der  Glaube  an  das  vom  Körper 
unabhängige  Bestehen  der  Seele.  Die  Seelen  begeisterter 
Seher,  wie  Hermotimos  und  Epimenides,  sollten  die 
Gabe  besessen  haben,  auf  längere  Zeit  aufserhalb  ihres 
Körpers  an  einem  anderen  Orte  zu  existieren  (R.  IL  94  ff.), 
und  Hermotimos  wird  noch  von  Aristoteles  (Met.  984  b,  19) 
als  Vorläufer  des  Anaxagoras  in  der  Lehre  von  der  Existenz 
einer  selbständigen  Vernunftseele  in  der  Welt  genannt.  Die 
Verbindung  mit  dem  Leibe  erscheint  als  eine  Befleckung  der 
Seele  (R.  II.  101  f.)  Insbesondere  galt  der  sagenhafte  thra- 
kische  Sänger  Orpheus  als  Begründer  einer  dem  Bacchos 
gewidmeten  Glaubensform  und  Weise  des  Gottesdienstes  in 
geschlossenen  Gemeinden,  die  sich  zu  diesem  ganzen  Vor- 
stellungskreis bekannten.  Diese  sektenartigen  Gemeinschaften, 
zu  deren  Mitgliedschaft  man  nur  durch  einen  besonderen 
Einweihungsakt  gelangen  konnten,  hiefsen  Orphiker.  Sie 
treten  nicht  vor  der  Mitte  des  6.  Jahrhunderts  auf  (R.  II, 
103  ff.),  waren  also  in  der  Bildungszeit  des  Pythagoras  etwas 
Neues.  In  Athen  legte  der  am  Hofe  der  Söhne  des  Tyrannen 
Pisistratus  (nach  550)  lebende  Onomakritos  ihre  Lehre 
in  Dichtungen  nieder.  Diese  Lehre  selbst  galt  als  göttliche 
Offenbarung  (E.  II.  106  ff.).  In  mythischer  Form  wird  hier 
der  Gedanke  vorgetragen,  dafs  es  Aufgabe  des  Menschen  sei, 


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54   Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

das  dionysische  Element  in  ihm  von  dem  titanischen  zu  be- 
freien. Daraus  entspringt  dann  die  Vorstellung,  dafs  die 
Seele  im  Leibe  wie  in  einem  Gefängnis  eingeschlossen  sei, 
um  Vergebungen  eines  früheren  Zustandes  zu  büfsen,  die 
von  Plato  (Kratyl.  400 C;  Phäd.  62 B)  ausdrücklich  als 
orphische  Lehre  bezeugt  wird.  Immer  wieder  mufs  die  Seele 
nach  dem  Tode  des  Körpers,  an  das  „Bad  des  Geschickes" 
gefesselt,  in  den  „Kreis  der  Geburten"  eintreten  (R.  IL  121  ff.). 
Erlösung  von  der  Einkörperung  war  aber  zu  erwarten  durch 
die  Religionsgebräuche  der  Orphiker  und  durch  die  „orphische 
Lebensführung",  zu  der  besonders  die  Enthaltung  von  Fleisch- 
nahrung gehörte  (R.  II.  125  f.).  Und  wenn  auch  nicht  gleich 
nach  dem  einmaligen  Sterben  die  endgültige  Erlösung  statt- 
findet, sondern  dazu  ein  öfter  wiederholtes  reines  Leben  in 
stufenweiser  Steigerung  erforderlich  ist,  so  erwartet  doch  in 
den  Zwischenpausen  zwischen  den  einzelnen  Einkörperungen 
im  Totenreiche  die  nach  Reinigung  vom  Körper  Strebenden 
ein  glücklicheres  Los  als  die  Unreinen.  Dieses  Los  wird 
durch  ein  Gericht  beim  Eintritt  ins  Totenreich  bestimmt 
(R.  IL  127).  Von  der  Läuterung  und  Besserung  der  Seele 
im  Hades  ist  auch  das  irdische  Los  bei  der  nächsten  Ein- 
körperung abhängig,  bis  endlich  die  Seele,  vom  Fluche  der 
Wiedergeburten  befreit,  aus  dem  Kreise  des  Werdens  zu 
ewigem  körperfreiem  Leben  ausscheidet  (R.  IL  129  f.).  Es 
mufs  schon  an  diestr  Stelle  auf  den  schroffen  Gegen- 
satz aufmerksam  gemacht  werden,  in  dem  diese  körper- 
feindliche Lehre  zu  der  christlichen  Vorstellung  von  der 
Fortdauer  der  Seele  in  Verbindung  mit  einem  verklärten 
Leibe  steht.  Dem  Apostel  Paulus  ist  nicht  der  Leib  der 
Sitz  und  Grund  der  Unvollkommenheit,  denn  er  denkt  sich 
(1.  Kor.  15)  den  künftigen  Zustand  als  Verbindung  der  Seele 
mit  einem  unvergänglichen  „seelischen"  Leibe,  und  das 
apostolische  Bekenntnis  lehrt  sogar  die  „Auferstehung  des 
Fleisches". 

Dafs  nun  Pythagoras  sich  diesen  Vorstellungskreis  in 
allem  Wesentlichen  mit  vollster  Überzeugung  angeeignet  hat, 
dafür  besitzen  wir  hinreichende  Zeugnisse.  Erhalten  ist  das 
Bruchstück  einer  Elegie  des  mit  Pythagoras  genau  gleich- 


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1.   Pythagoras.    530.  55 

altrigen  Xenophanes,  dahin  lautend,  dafs  einst  Pythagoras, 
als  ein  Hirnd  geprügelt  wurde,  hinzugetreten  sei  und  gebeten 
habe,  die  Züchtigung  einzustellen,  da  in  den  Lauten  des 
Hundes  ihm  die  Seele  eines  geliebten  Verstorbenen  vernehm- 
bar werde  (D.  L.  VIII.  36).  Mehrere  Zeugnisse  finden  sich 
bei  Herodot.  Dieser  nennt  (II.  81)  die  Orphiker,  Bac- 
chiker  und  Pytha goreer  als  verwandte  Erscheinungen,  deren 
mystische  Gebräuche  er  mit  dem  gemeinsamen  Namen  Orgien 
(d.  h.  nicht  ausschweifende  Gelage,  sondern  geheimnisvolle 
Gottesdienste)  bezeichnet.  Er  erwähnt  femer  an  der  schon 
angeführten  Stelle  IV.  93  —  96  ausführlich  eine  Erzählung, 
die  den  thrakischen  Gott  Zalmoxis  zu  einem  Sklaven  des 
Pythagoras  machte,  der  von  diesem  den  Glauben  an  Unsterb- 
lichkeit und  Seelenwanderung  angenommen  und  nach  seiner 
Freilassung  bei  seinen  Landsleuten  eingeführt  habe.  In  dieser 
—  im  übrigen  abgeschmackten  —  Erfindung  spiegelt  sich  die 
Tatsache,  dafs  der  Pythagoreismus  ebenso  wie  der  orphisch- 
bacchische  Glaube  mit  der  thrakischen  Religion  in  Zusammen- 
hang stand.  Ferner  erwähnt  Plato  (Rep.  600 B),  dafs 
Pythagoras  wegen  einer  von  ihm  eingeführten  Weise  der 
Lebensführung  Liebe  und  Anhänglichkeit  gefunden  habe, 
und  dafs  dessen  Anhänger  noch  zu  seiner  —  Piatos  —  Zeit 
an  dieser  Lebensführung,  die  sie  die  pytha gorische  nennten, 
eine  hervorstechende  Eigentümlichkeit  besäfsen.  Auch  die 
beiden  die  „Viellemerei"  des  Pythagoras  tadelnden  Aus- 
sprüche des  Heraklit  deuten  auf  ein  abenteuerliches,  von 
Heraklit  mifsbilligtes  Resultat  seiner  Bestrebungen  hin.  In 
dem  einen  heifst  es,  Pythagoras  sei  ein  Beispiel,  dafs  Viel- 
lernerei  das  Denken  nicht  fördere,  und  in  dem  anderen  heifst 
es  (nach  der  wahrscheinlich  ursprünglichen  Fassung  der 
Stelle),  Pythagoras  habe  am  meisten  von  allen  Menschen 
sich  des  Erkundens  beflissen  und  die  Ergebnisse  dieser  Er- 
kundung für  seine  eigene  Weisheit  ausgegeben,  die  aber  in 
Wahrheit  nichts  anderes  sei  als  Viellernerei  und  schlechte 
Kunst.  Ob  Pythagoras,  wie  berichtet  wird  (D.  L.  I.  13,  15 ; 
IV.  8  f. ;  VIII.  2,  40),  diese  seine  Weisheit  gerade  von  dem 
Orphiker  Pherekydes  von  Syros,  einer  der  kykladischen 
Inseln,  erbalten  hat,  ist  nicht  auszumachen  und  übrigens 


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56  Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

völlig  gleichgültig.  Jedenfalls  brauchte  er,  um  diese  Weis- 
heit zu  erlangen,  nicht,  wie  ebenfalls  im  Altertum  berichtet 
wurde,  nach  Ägypten  zu  reisen,  wo  dieselbe  ohnedies  nicht 
zu  finden  war,  und  noch  viel  entschiedener  müssen  die  späten 
Erzählungen  von  seinen  Reisen  in  den  fernen  Orient,  nach 
Babylon,  Indien,  Persien,  als  Fabeln  verworfen  werden. 

Wir  dürfen  aber  ferner  annehmen,  dafs  dieses  mystische 
Treiben  durch  Pythagoras  auf  eine  höhere  Stufe  erhoben 
worden  ist.  Blieb  auch  bei  ihm  das  Endziel,  die  Erlösung 
der  Seele  von  den  Banden  der  Leiblichkeit,  unverrückt  be- 
stehen, nahm  er  auch  keinen  Anstofs  an  der  rohen  Vor- 
stellung, dafs  eine  beliebige  Seele  in  einen  beliebigen  Körper, 
sogar  den  eines  Tieres,  fahren  kann  (Aristot.  407  b,  22),  so 
scheint  er  doch  in  den  Hilfsmitteln  der  Seelenreinigung  eine 
Vertiefung  und  Veredlung  eingeführt  zu  haben.  Nicht  nur 
geheimnisvolle  Götterdienste,  körperliche  Enthaltungen  und 
äufsere  Gebräuche  hielt  er  für  wirksam.  Auch  durch  Musik, 
nicht  durch  jene  wilde,  sinnverwirrende  Flöten-  und  Zymbel- 
musik  der  alten  Dionysosfeste,  sondern  durch  eine  ernste, 
weihevolle,  getragene  Musik  der  apollinischen  Lyra  sollte 
die  Seele  sich  loslösen  von  der  Umstrickung  des  Leibes. 
Ferner  hielt  er  Frömmigkeit,  Gerechtigkeit  und  Menschlich- 
keit für  geeignete  Mittel  der  Seelenbefreiung.  Insbesondere 
aber  dürfen  wir  wenigstens  vermuten,  dafs  der  Gedanke  der 
Reinigung  von  der  Befleckung  durch  den  Körper  auch  die 
Brücke  gebildet  hat  zu  den  ihm  beigelegten  naturwissen- 
schaftlichen Bestrebungen.  Auch  die  Wissenschaft  konnte 
als  Seelenreinigung  dienen,  wenn  diese  nicht  als  wilde  Ver- 
zückung, sondern  als  mafsvolle,  besonnene  und  gelassene 
Haltung  der  Seele  aufgefafst  wurde.  Nach  dem  Platoniker 
Heraklides  von  Pontus,  der  der  zweiten  Hälfte  des 
vierten  Jahrhunderts  angehört,  wurde  Pythagoras  einst  vom 
Tyrannen  von  Phlius  nach  seinem  Berufe  gefragt.  Er  er- 
klärt sich  für  einen  Philosophen,  d.  h.  für  einen  Erkenntnis- 
strebenden, und  erläutert  diesen  neuen  und  befremdlichen 
Ausdruck  durch  das  Bild  der  griechischen  Festspiele.  Wie 
auf  diesen  die  einen  erschienen,  um  als  Sieger  Ruhm,  die 
anderen,  um  als  Händler  Gewinn  zu  erlangen,  die  Edelsten 


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1.    Pythagoras.    ^30.  57 

und  Besten  aber  nur,  um  zu  schauen,  so  seien  auch  wir 
aus  einem  anderen  Leben,  einer  anderen  Welt 
in  dies  Leben  gekommen.  (Cic.  Tusc.  V.  8  f. ;  D.  L.  L12; 
VIIL  8.)  Ergänzen  wir  die  Vergleichung ,  so  ergibt  sich, 
dafs  das  Streben  der  Menschen  bestimmt  wird  durch  die 
aus  dem  Vorleben  der  Seele  ihr  überkommene  Beschaffen- 
heit, und  dafs  das  Erkenntnisstreben  das  edelste,  dem  Voll- 
endungszustand der  Seele  nächste  ist,  also  auch  als  Mittel 
der  Seelenreinigung,  ja  als  das  höchste  und  vollkommenste 
Mittel  derselben,  gelten  kann.  Nun  stammt  freilich  diese 
Erzählung  nicht  aus  einem  geschichtlichen  Bericht,  sondern 
aus  einem,  wie  so  oft  geschah,  irrtümlich  in  einen  geschicht- 
lichen Bericht  umgedeuteten  erdichteten  Dialog  in  der  Weise 
Piatos,  in  dem  auch  eher  platonische  als  pythagoreische  Ge- 
danken ausgesprochen  wurden  (D.  L.  L  12).  Aber  wir  be- 
sitzen doch  noch  ein  älteres  Zeugnis,  dafs  die  Pythagoreer 
schon  sehr  früh  sich  Philosophen  im  wörtlichen  Sinne  ge- 
nannt haben.  Nach  einer  alten  Nachricht  war  die  um  470 
verfafste  Hauptschrift  Zenos  von  Elea  oder  doch  ein  Teil 
derselben  unter  dem  Titel  „Wider  die  Philosophen"  bekannt. 
Auch  wenn  dieser  Titel  nicht  von  ihm  selbst  herrührte, 
80  mufs  er  doch  für  den  Inhalt  dieser  Schrift  oder  des  be- 
treflfenden  Abschnitts  derselben  besonders  charakteristisch 
gewesen  und  direkt  aus  ihrem  Inhalt  geflossen  sein.  Dafs 
aber  diese  Streitschrift  zum  Teil  gerade  gegen  die  wissen- 
schaftlichen Bestrebungen  der  Pythagoreer  gerichtet  war, 
wird  bei  Zeno  nachgewiesen  werden.  Wenn  also  auch  Pytha- 
goras selbst  das  Wort  „Philosoph"  noch  nicht  gebraucht  hat, 
80  umfs  es  doch  sehr  früh  in  der  Schule  entstanden  sein. 

Nun  zeigt  sich  aber  gerade  diese  älteste  Form  des 
wissenschaftlichen  Pythagoreismus,  wie  ebenfalls  später  ge- 
zeigt werden  wird,  als  eine  Umbildung  der  Lehre  des 
Anaximenes  von  der  beständig  in  die  Welt  einströmenden, 
den  unendlichen  Raum  aufser  der  Welt  erfüllenden  Luftmasse, 
und  auch  die  späteren  wissenschaftlichen  Pythagoreer  haben 
diesen  Gedanken  von  der  unendlichen  Luftmasse  aufserhalb 
der  Welt  lange  beibehalten  (Aristot.  213  b,  22;  D.  316  f.,  338). 
Diese  von  Anaximenes  stammende  Vorstellung  von  dem  uu- 


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58    Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismiis. 

endlichen  Luftraum,  von  dem  aus  die  Welt  ernährt  wird, 
ist  das  älteste  und  allgemeinste  Erbgut  des  wissenschaftlichen 
Pythagoreismus.  Wir  dürfen  also  annehmen,  dafs  es  Pytha- 
goras  selbst  von  Anaximenes  überkommen  hat,  und  dafs  er 
überhaupt  seinen  naturwissenschaftlichen  Überzeugungen 
nach  wesentlich  Schüler  des  Anaximenes  war. 

Zu  diesem  Zusammenhange  mit  Anaximenes  stimmt 
auch  die  Nachricht,  dafs  Pythagoras  zuerst  das  Wort  „Kosmos" 
für  Welt  gebraucht  habe.  Dafs  dies  wahrscheinlich  bereits 
von ' Anaximenes  geschehen  ist,  haben  wir  gesehen.  Pytha- 
goras aber  gab  diesem  Ausdruck  einen  etwas  veränderten  Sinn 
und  zugleich  eine  stärkere  Betonung,  indem  er  die  Welt  als 
ein  erbauliches  Vorbild  für  den  nach  Erlösung  vom  Leibe 
Strebenden  hinstellte  —  ein  neuer  Beweis  für  den  Zusammen- 
hang der  wissenschaftlichen  Tätigkeit  mit  dem  Reinigungs- 
streben. So  sagt  Plato  (Gorg.  508A),  die  „Weisen"  hätten 
das  All  Kosmos  genannt,  weil  in  ihm  Ordnung,  nicht  Un- 
ordnung und  Regellosigkeit  herrsche. 

Welches  Mafs  von  Bedeutung  nun  Pythagoras  selbst 
schon  der  wissenschaftlichen  Beschäftigung  für  die  Haupt- 
angelegenheit des  Lebens  beigelegt  hat  und  ob  er  auf  diesem 
Gebiete  ein  selbständiger  Forscher  war,  läfst  sich  nicht  aus- 
machen. Spätere  Berichte  übertragen  auf  ihn  persönlich  die 
verschiedenartigsten  und  unvereinbarsten  wissenschaftlichen 
Lehren,  die  ganz  offenbar  erst  der  späteren  Entwicklung 
des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus  oder  eher  noch  dem 
noch  weit  späteren  Neupythagoreismus  angehören.  Das 
Wahrscheinlichste  ist,  dafs  er  selbst  in  der  Naturforschung 
kaum  etwas  Neues  vorgebracht  hat.  Aber  indem  er  die 
wissenschaftliche  Beschäftigung  unter  die  Mittel  der  Seelen- 
reinigung aufnahm,  pflanzte  er  ein  Samenkorn,  das  in  der 
weiteren  Entwicklung  des  Ordens  reichlich  aufgegangen  ist. 
Der  pythagoreische  Orden  läfst  sich  in  dieser  Beziehung  mit 
dem  mittelalterlichen  Mönchsorden  der  Benediktiner 
vergleichen. 

Dafs  nun  dieser  ganze  Gedankenkreis  sich  mit  den  un- 
würdigen Vorstellungen  von  der  Gottheit  bei  Homer  und 
Hesiod    nicht    zusammenreimen    liefs,    ist    von    vornherein 


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1.    Pythagoras.    580.  59 

ersichtlich.  Ein  direktes  Urteil  des  Pythagoras  über  die 
Volksreligion  ist  zwar  nicht  erhalten,  indirekt  aber  läfst. 
sich  seine  Stellung  zu  derselben  aus  einer  schon  früh  zu 
seiner  Verherrlichung  ersonnenen  Legende  entnehmen.  Man 
schrieb  ihm  aufser  anderen  wunderbaren  Verrichtungen  auch 
eine  Hadesfahrt  zu.  Zurückgekommen,  habe  er  dann  über 
seine  Wahrnehmungen  in  der  Unterwelt  berichtet.  So  habe 
er  unter  anderem  die  Seelen  Homers  und  Hesiods  zur 
Strafe  für  das,  was  sie  über  die  Götter  gesagt, 
in  kläglicher  Lage  gefunden.  Die  Seele  Homers  hängt  an 
einem  Baume,  von  Schlangen  umringelt,  die  Hesiods  wim- 
mert unter  Qualen,  weil  an  eine  eherne  Säule  angeschnürt 
(D.  L.  Vin.  21). 

Im  vorstehenden  haben  wir  die  persönlichen  Über- 
zeugungen dargelegt,  die  Pythagoras  während  seiner  Lehr- 
und  Bildungszeit  sich  angeeignet  haben  mag.  Es  mufste 
sich  aber  aus  dieser  Lebensansicht  auch  ein  Streben  nach 
Einwirkung  auf  andere  entwickeln.  Die  Überzeugung  von 
der  überwältigenden  Wichtigkeit  der  Seelenrettung  führt  zu 
einer  Propaganda  der  Seelenrettung.  Schon  die  Bacchiker 
und  Orphiker  hatten  sich  überall  zu  Gemeinden  oder  Sekten 
zusammengeschlossen.  Auch  bei  Pythagoras  mufste  sich  von 
vornherein  der  Gedanke  einer  Sammlung  und  Anwerbung 
Gleichgesinnter,  wie  er  ihn  später  im  pythagoreischen  Orden 
verwirklicht  hat,  als  wesentlicher  Bestandteil  seiner  Be- 
strebungen einstellen. 

Aber  er  ging  in  seinen  Entwürfen  noch  weit  über  dies 
geheimtuerische  Konventikelwesen  hinaus.  War  das  künftige 
Los  der  Seele  vom  irdischen  Verhalten  abhängig,  so  mufste 
wo  möglich  für  alle  in  dieser  Richtung  etwas  geschehen; 
es  mufste  das  Staatsleben,  es  mufsten  die  Gesetze  und  öffent- 
lichen Einrichtungen  dem  grofsen  Zwecke  dienstbar  gemacht 
werden.  Ein  antiker  Calvin,  geht  Pythagoras  in  diesem 
Punkte  weit  über  seine  Vorgänger  hinaus.  Er  fafste  den 
Gedanken  eines  dem  jenseitigen  Heile  dienenden  Staats- 
wesens. 

Mit  dieser  Summe  von  Überzeugungen  wird  also  Pytha- 
goras in   gereifterem  Alter  von  seinen  Reisen  nach  Samos 


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60   Srste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

zurückgekehrt  sein.  Er  wird  auch  versucht  haben,  in  seiner 
Vaterstadt  für  seine  Überzeugungen  zu  wirken.  Mit  welchem 
Erfolge  und  wie  lange,  ist  unbekannt.  In  Sauios  hatte  sich 
damals,  etwa  um  532,  Polykrates  der  Alleinherrschaft 
bemächtigt.  Der  Tyrann  stützte  sich  auf  die  Massen  und 
hatte,  wie  Herodot  ausführlich  berichtet,  die  früher  herr- 
schenden Aristokraten  aus  dem  Staate  vertrieben.  Er  wufste 
seine  Popularität  durch  viel  diesseitigere  Mittel  zu  erhalten 
als  die  pythagoreische  Seelenrettung  (Herod.  III.  39, 54, 125), 
und  konnte  überdies  wohl  einen  sofehen,  die  Gemüter  auf- 
regenden Fanatismus  nicht  gebrauchen.  Pythagoras  verliefs 
um  530  seine  Heimat.  Zuverlässige  Nachrichten  über  die 
Ursachen  dieser  im  Altertum  ungewöhnlichen  Preisgebung 
der  Heimat  und  des  Heimatsrechts  sind  nicht  vorhanden 
(Z.  308,  5). 

Er  wandte  sich  nach  der  unteritalischen  Griechenstadt 
Kroton,  die  nach  der  Begründung  der  dorischen  Herrschaft 
im  Peloponnes  von  den  dort  unterdrückten  Achäem  unter 
dorischer  Führung  gegründet  worden  war  und  sich  unter  der 
Herrschaft  einer  Minderzahl  von  Adligen  und  Begüterten 
einer  grofsen  Blüte  erfreute.  Er  kam  als  Jonier  in  eine 
nach  Sprache  und  Sitte  dorische  Welt. 

Aber  er  fand  hier  eine  empfängliche  Stätte  für  ein 
Wirken  im  Sinne  seiner  Überzeugungen.  Vielleicht  hatte 
die  gerade  in  Unteritalien  sehr  verbreitete  orphische  Lehre 
(R.  II.  106)  den  Boden  bereitet.  Auch  waren  wohl  die  herr- 
schenden Klassen  für  Derartiges  eher  empfänglich  als  die 
unterdrückten  Massen,  und  andernteils  konnte  es  auch  im 
Interesse  der  Herrschenden  liegen,  wenn  der  Sinn  der  Be- 
herrschten von  den  bürgerlichen  Zuständen  auf  jenseitige 
Angelegenheiten  gelenkt  wurde.  In  Kroton  verwirklichte 
sich  ihm  zunächst  sein  Ideal  einer  Ordensgemeinschaft  mit 
einer  dem  Heil  der  Seele  dienenden  Lebensordnung.  Die 
einzelnen  Nachrichten  über  diese  Einrichtung  sind  sehr  un- 
sicher und  haben  auch  kein  genügendes  philosophisches 
Interesse,  um  bei  ihnen  ausführlich  zu  verweilen.  Wie  un- 
sicher diese  Nachrichten  sind,  beweist  schon  der  bereits  von 
Cicero  (N.  D.  III.  88)  hervorgehobene  Widerspruch,  dafs 


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1.    Pythagoras.    530.  61 

ihm  einesteils  die  Verwerfung  der  blutigen  Opfer,  andern- 
teils  aber  die  Darbringung  eines  Stieropfers  (oder  gar  einer 
ganzen  Hekatombe)  an  die  Musen  nach  Entdeckung  seiner 
geometrischen  Lehrsätze  beigelegt  wurde. 

Es  konnte  aber  ferner  nicht  ausbleiben,  dafs  eine 
so  fest  organisierte  Gemeinschaft,  die  sich  vornehmlich  aus 
den  herrschenden  Klassen  rekrutierte,  und  die  überdies 
ihre  Forderungen  mit  dem  ganzen  Gewicht  der  höchsten 
menschlichen  Angelegenheit  geltend  machte,  auch  auf  die 
öffentlichen  Verhältnisse  einen  mafsgebenden  Einflufs  gewann. 
Auch  das  Ideal  des  antiken  Calvin  fand  in  Kroton  seine 
Verwirklichung.  Ja,  der  Orden  fand  in  einer  ganzen  Zahl 
der  unteritalischen  Griechenstädte,  in  denen  ähnliche  Zu- 
stände, wie  in  Kroton,  seine  Aufnahme  begünstigten,  Aus- 
breitung und  eine  herrschende  Stellung.  Im  Mittelpunkte 
dieses  ausgedehnten  Kreises  steht  Pythagoras  als  imponierende 
Herrschergestalt  in  allen  Angelegenheiten  des  Ordens.  Hier 
gilt  das:  Er  selbst  hat  es  gesagt!  (Cicero  N.  D.  I.  10)  als 
letzte  Entscheidung  unbedingt.  Die  Ordenslehre  mufste 
notwendig  in  allen  wesentlichen  Punkten  stabil  sein.  Sie 
steht  und  fällt  mit  ihren  Voraussetzungen.  Indirekt  aber 
erstreckt  sich  diese  Herrschergewalt  auch  auf  die  politischen 
Zustände  der  Gemeinden,  in  denen  der  Orden  eine  ent- 
scheidende Macht  gewonnen  hatte.  Der  antike  Calvin  ist  in 
gewissem  Sinne  zu  einem  antiken  Crom  well  geworden. 
Geschrieben  hat  Pythagoras  nach  der  wahrscheinlichsten 
Nachricht,  der  freilich  allerlei  Versuche,  sogar  durch  Fäl- 
schung eines  Zeugnisses  des  Heraklit,  spätere  Unterschie- 
bungen als  echte  Schriften  von  ihm  erscheinen  zu  lassen, 
gegenüberstehen,  nichts  (D.  L.  VIIL  6  f.;  I.  16),  nicht  ein- 
mal im  Sinne  der  Ordenslehre,  geschweige  denn  in  dem  der 
sich  später  im  Orden  entwickelnden  wissenschaftlichen  For- 
schung. 

Die  Nachrichten  über  das  weitere  Schicksal  des  Pytha- 
goras und  seiner  Stiftung  sind  unsicher  und  gröfstenteils 
offenbar  völlig  ungeschichtlich.  Als  das  Wahrscheinlichste 
über  den  weiteren  Verlauf  der  Bewegung  hat  sich  für  die 


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Q2    ^rste  Periode.    Zweiter  Abschnitt    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

mühsamsten    und   sorgfältigsten  Forschungen  folgendes  er- 
geben. 

Um  510  führte  Kroton  einen  Krieg  gegen  die  übermächtige 
Nachbarstadt  Sybaris,  der,  wohl  infolge  der  inneren  Kräf- 
tigung Krotons  durch  den  Pythagoreismus,  mit  einem  glän- 
zenden Siege  endete.  Sybaris  wurde  völlig  zerstört;  sein 
Landbesitz  fiel  den  Krotoniaten  zu.  Aber  bei  der  Verteilung 
dieser  Ländereien  kam  es  nach  der  wahrscheinlichsten  An- 
gabe zu  Streitigkeiten  innerhalb  der  herrschenden 
Partei  selbst,  in  die  auch  Pythagoras  verwickelt  wurde, 
und  die  ihn  bewogen  oder  nötigten,  Kroton  zu  verlassen  und 
sich  nach  dem  benachbarten  Metapont  zu  begeben,  wo  er 
bald  darauf,  gegen  500,  starb.  Noch  zu  Ciceros  Zeit  wurde 
dort  sein  Haus  und  die  Stelle  gezeigt,  wo  er  gestorben 
(Fin.  V.  4).  Die  Nachrichten  über  diese  Vorgänge  sind  über- 
aus dürftig  und  unzuverlässig  (Z.  335) ;  insbesondere  ist  mit 
diesen  Vorgängen  vielfach  die  erst  viel  später,  um  440,  er- 
folgte blutige  Auflehnung  der  demokratischen  Partei  in  den 
unteritalischen  Städten  gegen  die  politische  Macht  des  Ordens, 
die  zu  dessen  Zersprengung  führte,  zusammengewirrt  worden. 
In  Wirklichkeit  hat  dieser  Zusammenbruch  des  von  Pytha- 
goras in  einer  Reihe  der  unteritalischen  Städte  begründeten 
Systems  erst  60  Jahre  nach  seinem  Tode  stattgefunden. 
Um  so  mehr  aber  liefert  sein  Endschicksal  einen  Beitrag  zu 
dem  traurigen  Kapitel  vom  Undank  der  die  Wohltaten 
eines  aufserordentlichen  Wirkens  Geniefsenden  selbst  gegen 
den  Wohltäter.  „Der  mein  Brot  isset,  tritt  mich  mit  Füfsen" 
(Z.  332  ff.). 

Die  nachherige  Zersprengung  der  Ordensgemeinschaft 
hatte  eine  Zerstreuung  der  Ordensglieder  und  vielleicht  eben 
dadurch  bei  den  wissenschaftlich  Gerichteten  ein  unabhängi- 
geres Walten  des  wissenschaftlichen  Geistes  zur  Folge. 
Davon  wird  an  späteren  Stellen  zu  handeln  sein.  Mit  noch 
gröfserer  Zähigkeit  aber  haben  sich  der  Ordensglaube  und  die 
pythagorische  Lebensführung  in  kleineren  Kreisen  erhalten, 
um  in  späterer  Zeit  wieder  emporzutauchen  und,  wie  eben- 
falls später  zu  berichten  sein  wird,  von  neuem  Einflufs  auf 
die  philosophische  Bewegung  zu  gewinnen. 


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2.   Xenophanes.  63 

2.  Xenophanes. 

Der  zweite  dieser  aus  dem  jonischen  Kleinasien  nach 
Unteritalien  übergesiedelten  Vorläufer  der  dort  zur  Ent- 
wicklung gelangenden  neuen  Denkrichtungen  ist  Xeno- 
phanes. Ihm  liegt  ein  religiös-politisches  Wirken  im  Sinne 
des  Pythagoras  fern;  er  ist  Dichter  und  Rhapsode,  aber 
auch  in  viel  höherem  Mafse  als  Pythagoras  Denker  über  das 
Wesen  der  Dinge.  Doch  tritt  er  darin  wieder  Pythagoras 
zur  Seite,  dafs  ein  religiöser  Gedanke  —  und  zwar  ist  dies 
bei  ihm  das  Wesen  der  Gottheit  -—  im  Mittelpunkte  seines 
Interesses  steht. 

Xenophanes  war  geboren  um  570  vor  Chr.  in  der 
kleinasiatisch-jonischen  Stadt  Kolophon.  Er  war  also  kaum 
jünger  als  Pythagoras.  Nach  dem  erhaltenen  Bruchstück 
einer  seiner  Elegien  (D.  L.  IX.  18)  blickte  er  zur  Zeit  der 
Abfassung  derselben  auf  ein  im  Alter  von  25  Jahren  be- 
gonnenes 67  jähriges  Wanderleben  durch  die  hellenischen 
Lande  zurück.  Diese  Elegie  fällt  also  ungefähr  ins  Jahr  478, 
und  er  war  zur  Zeit  ihrer  Abfassung  92  Jahre  alt.  Nach 
der  eben  angeführten  Stelle  des  Diogenes  Laertius  war  er 
aus  seiner  Vaterstadt  vertrieben  (oder  verbannt)  worden. 
Der  Zeit  nach  fftUt  der  Beginn  seiner  Heimatlosigkeit  mit 
der  Unterjochung  Joniens  durch  Cyrus  545  zusammen.  Es 
darf  also  vermutet  werden,  dafs  seine  Anhänglichkeit  an 
die  nationale  Unabhängigkeit  der  Grund  seiner  Vertreibung 
gewesen  ist.  Dazu  stimmt  auch,  dafs  er  in  höherem  Alter 
anscheinend  eine  neue  Heimat  im  unteritalischen  Elea  oder 
Velia  am  Golf  von  Neapel,  der  Gründung  der  durch  die 
gleiche  Freiheitsliebe  zur  Aufgabe  der  kleinasiatischen 
Heimat  getriebenen  Phokäer,  gefunden  hat.  Doch  davon 
später. 

Unter  seinen  Dichtungen  wird  ein  völlig  verschollenes 
Epos,  „Die  Gründung  Kolophons",  genannt  (D.  L.  IX.  20). 
Xtutmafslich  hatte  er  diese  Dichtung  noch  während  des 
Aufenthalts  in  der  Vaterstadt  verfafst.  Kolophon  wird  unter 
den  sieben  Städten,  die  sich  um  den  Ursprung  Homers 
stritten,  an  dritter  Stelle  genannt,  ein  Beweis,  dafs  es  ein 
alter  Sitz  der  epischen  Dichtung  war. 


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(54   Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Auch  für  seine  Elegiendichtung  konnte  er  Vorbild  und 
Anregung  noch  in  seiner  Vaterstadt  erhalten,  wo  um  600 
einer  der  hervorragendsten  Elegiker,  Mimnermus,  bltlhte. 
Doch  läfst  sich  unter  den  von  ihm  erhaltenen  Elegien  oder 
Elegienbruchstticken  nichts  mit  Sicnerheit  auf  die  Zeit  vor 
seiner  Auswanderung  zurückdatieren.  Zeitlich  nicht  allzu- 
fern von  der  Katastrophe  scheint  das  Bruchstück  zu  liegen, 
in  dem  er  schildert,  wie  in  der  letzten  Zeit  vor  der  Unter- 
jochung die  Bürger  Kolophons  den  Luxus  und  die  Weich- 
lichkeit der  Lyder  angenommen  hatten  und  nur  in  Purpur- 
gewändern, salbenduftend  und  mit  gekräuseltem  Haar  auf 
dem  Markte  erschienen  (Diels,  Poet,  philos.  fragm.,  Fr.  3). 

Damals  war  der  mündliche  Vortrag  der  Geisteswerke 
noch  die  normale  und  fast  ausschliefslich  übliche  Form  ihrer 
Veröffentlichung.  Gewifs  ist  er  schon  in  seiner  Vaterstadt 
bei  Götterfesten  im  musischen  Wettstreit  mit  seinen  Dich- 
tungen aufgetreten.  Nach  seiner  Vertreibung  trug  er  als 
wandernder  Rhapsode  seine  eigenen  Dichtungen  vor  (D.  L.  18), 
wohl  auch  als  Mittel,  seinen  Lebensunterhalt  zu  gewinnen. 

Die  beiden  uns  vollständig  erhaltenen  Elegien  (Diels, 
Fr.  1  u.  2)  zeigen  uns  Xenophanes  als  einen  Mann  von 
ernstem,  idealem,  das  Geistige  und  Sittliche  hochschätzendem 
Sinne.  Die  eine  schildert  die  Vorbereitungen  zu  einem 
reichen,  glänzenden  Gastmahle  zu  Ehren  eines  Gottes.  Er 
knüpft  daran  die  Mahnung,  beim  Gelage  mit  reinem  Sinne 
die  Götter  zu  ehren  und  um  gerechten  Sinn  anzuflehen, 
sowie  mäfsig  zu  geniefsen,  um  auch  ohne  Hilfe  des  Sklaven 
seine  Wohnung  erreichen  zu  können,  beim  Mahle  selbst  aber 
nicht  Streitigkeiten,  Possen  oder  erdichtete  Fabeln  von  den 
Kämpfen  der  Titanen,  Giganten  oder  Kentauren  vorzubringen, 
sondern  Tüchtiges  aus  eigenem  Erleben  oder  Gedanken  über 
die  Tugend.  Wir  werden  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  auch 
diese  noch  von  frommem  Glauben  an  die  Volksgötter  erfüllte 
Dichtung  noch  in  das  Jugendalter  des  Dichters  verlegen. 
Später  ändert  sich  diese  pietätvolle  Stimmung  gewaltig. 

Die  andere  Elegie  beklagt  die  übermäfsige  Schätzung 
und    Ehrung    der   Olympiasieger    seitens    ihrer   Mitbürger. 


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2.    Xenoplianes.  65 

Dadurch  werde  weder  die  materielle  Blttte,  noch  die  gute 
Zucht  gefördert,  und  die  Weisheit,  wie  er  sie  vortrage,  ent- 
hehre der  gebührenden  Würdigung. 

Von  Charakterfestigkeit  und  sittlichem  Ernst  zeugt  auch 
eine  Antwort,  die  er  dem  Musiker  Lasos  von  Hermione 
gegeben  haben  soll.  Als  dieser  ihn  der  Feigheit  beschuldigte, 
weil  er  nicht  mit  ihm  —  um  Geld  —  würfeln  wollte,  sagte 
er :  gerade  die  Einwilligung  zum  Verwerflichen  würde  Feig- 
heit sein  (Plut.  vit.  pud.  5). 

Ein  Mann  von  so  ernstem  und  auf  das  Geistige  ge- 
richtetem Sinne  nahm  selbstverständlich  die  auf  seinen 
Wanderzügen  sich  ihm  darbietenden  Bildungsgelegenheiten 
eifrig  wahr.  So  wird  er  auch  von  den  milesischen  Denkern 
einige  Kenntnis  genommen  haben.  Theophrast  hatte  ihn 
geradezu  als  Schüler  des  Anaximander  bezeichnet  (D.  L. 
IX,  21),  der  dort  mutmafslich  um  547  sein  Buch  „Über  die 
Natur"  veröfiFentlicht  hatte  und  bald  darauf  starb,  während 
Sotion,  der  alte  Historiker  der  Philosophenfolgen,  ihn  nur 
als  dessen  Zeitgenossen  bezeichnete.  Dagegen  hat  er  (nach 
D.  L.  IX,  19)  einen  Hauptlehrsatz  des  Anaximenes,  den 
Satz,  dafs  die  Welt  atme,  ausdrücklich  verworfen.  Ebenso 
hatte  er,  wie  wir  gesehen  haben,  ofiFenbar  während  seines 
Aufenthalts  in  Unteritalien  in  späteren  Jahren,  Kenntnis 
von  der  Seelen wanderungslehre  des  Pythagoras  ge- 
nommen. Als  Vertreter  eines  vielseitigen  Wissens  nennt 
Heraklit  bald  nach  500  den  Xenophanes  neben  Hesiod, 
Pythagoras  und  dem  vielgewanderten  Geschichtschreiber 
Hekatäus  von  Milet  zum  Belege  des  Satzes,  dafs  „Viellernerei 
die  Denkkraft  nicht  fördere"  (D.  L.  IX.  1). 

Vornehmlich  aber  müssen  auf  seinen  Wanderungen  die 
von  Stamm  zu  Stamm,  von  Stadt  zu  Stadt,  wechselnden 
religiösen  Vorstellungen  und  Gebräuche  sein  Nachdenken 
rege  gemacht  haben.  Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Gott- 
heit tritt  dauernd  in  den  Mittelpunkt  seines  Denkens.  Er 
ist  in  erster  Linie  nicht  Physiker,  wie  Thaies  und  seine 
Nachfolger,  sondern  „Theologe".  Die  Frage,  wie  man  die 
Gottheit  zu  denken  habe,  wird  das  sein  Interesse  ausschliefst 
lieh  beherrschende  Problem;  sie  bestimmt  auch   die  Weise, 

DÄrlig.   L  5 


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4>(j   Erste  Periode.    Zweiter  Abscluiitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

in  der  er  für  den  Fortgang  des  Denkens  fruchtbar  geworden 
ist,  uad  den  Platz,  den  er  in  der  Geschichte  der  Philosophie 
einzunehmen  hat.  Mit  Recht  hat  daher  auch  Theophrast 
in  seiaer  „Gaschichte  der  physischen  Lehren "^  unter  aus- 
drtlcklicher  Angabe  dieses  Grundes  ihn  als  eigentlich  nicht 
in  4a8  physische  Gebiet  gehörig  bezeichnet  (D.  480). 

Und  zwar  hat  er  hinsichtlich  dieses  ihn  fortan  durchs 
Leben  begleitenden  Problems  anscheinend  zwei  verschiedene 
Phasen  durchlaufen.  Die  ältere  ist  die  der  leidenschaftlichen 
Bekämpfung  der  herrschenden  Religionsvorstellungen,  die 
sich  zu  skeptischen  Klagen  über  die  Schwäche  des  mensch- 
lichen Erkenntnisvermögens  überhaupt  steigerte,  die  spätere 
die  einer  denkenden  Konstruktion  des  Göttlichen  nach  dem 
ihm  vorschwebenden  Ideal.  Wir  können  die  erstere  Phase, 
4ie  des  Ankämpfens  gegen  die  Volksmythologie  und  des 
Zweifels  am  menschlisehen  Erkenntnisvermögen  auf  diesem 
GeWete,  nach  den  Gedichten,  in  denen  sie  niedergelegt  war, 
auch  die  der  Sillen  nennen.  Die  andere,  die  des  positiven 
Konstruierens ,  ist  die  seines  grofsen  Lehrgedichtes, 
herkömmlieherweise,  aber  gewifs  nicht  von  ihm  selbst  „Über 
di«  Natur**  betitelt.  Es  ist  wahrscheinlich,  dafs  er  dieses 
Gedicht  erst  in  höherem  Alter  verfafst  hat,  als  er  in  Elea 
einen  Ruhesitz  gefunden  hatte.  Dafs  er  in  Elea  heimisch 
geworden,  beweist  aufser  der  Tatsache,  dafs  der  um  540  in 
Elea  geborene  Parmenides  sein  Schüler  war  (Aristot. 
986b,  22;  D.  L.  IX.  21;  D.  480),  die  Angabe,  dafs  er  auch 
die  Gründung  Eteas  in  einem  Epos,  und  zwar  in  2000  Hexa- 
metern, besungen  habe  (D.  L.  IX..  20).  Die  heldenmütige 
Freiheitstat  dir  Pbokäer,  die  angesichts  der  medischen 
Unterjochung  546  mit  Weib  und  Kind  ihre  Stadt  im  Stiche 
liefsen  und  zu  Schifie  eise  neue  Heimat  suchten,  die  sie 
nach  vielen  Nöten  und  Gefaliren  in  Elea  fanden  (Herodot 
I.  162—167),  war  ein  Thema,  das  eng  mit  seinen  eigenen 
schmerzlichen  Jugenderinnerungen  zusammenhing,  ein  ver- 
gröfsertes  Spiegelbild  seines  eigenen  Geschickes.  Gerade  in 
einer  solchen  Umgebung  mufste  er  sich  hdmisch  fühlen. 
Dafs  aber  überhaupt  seine  dichterische  Ader  bis  ins  höchste 
Greisenalter  nicht   versiegt  war,   zeigt  schon   das  eingangs 


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2.   Xenophanes.  (j7 

erwäluite  Elegiebruehstttck  des  ZweiundDeunzigjährigen,  das 
wohl  schon  jenseits  seines  siebzigjährigen  Diehterjubiläunis 
liegen  mochte.  Freilich  läfst  sich  die  Annahme  eines  Alters- 
wehnsitzes  in  Elea  mit  diesem  Zeugnis  tlber  ein  bis  478 
fortgesetztes  Wanderleben  nur  durch  die  Voraussetzung  ver- 
einigen, dafs  er  auch  yon  Elea  aus  seine  Wanderungen  als 
Rhapsode  ooch  fortsetzte. 

Hinsichtlich  dieser  beiden  Phasen  seiner  Stellung  zum 
theologischen  Problem  haben  wir  nun  das  Nähere  beizu- 
bringen. 

In  defi  Sillen  sowohl  wie  im  Lehrgedicht  eröffnet  Xeno- 
phaaes  der  Poesie  ein  neues  Gebiet.  Beide  sind  in  Hexa- 
metern abgefafst;  beide  übertragen  den  epischen  Vers  auf 
das  Lehrgedicht.  Die  Sonderung  beider  Phasen  aber,  die 
Verbindung  der  skeptischen  Aussprtlche  mit  dem  Tadel  der 
herkömmlichen  Göttervorstellungen  und  die  Zuweisung  beider 
an  seine  mittleren  Jahre  einerseits,  die  Verlegung  der  po- 
sitiven Lehre  über  das  Göttliche  in  sein  höheres  Alter 
andererseits  beruht  nicht  auf  blofser  Vermutung,  sondern 
aof  einem  positiven  Zeugnisse,  das  diese  Annahme  vollständig 
zu  begründen  scheint. 

Der  schon  erwähnte  Timon  von  Phlius,  der  geniale 
Aohftnger  und  „Prophet"  des  radikalen  Skeptikers  Pyrrhon 
von  Elis,  hat  ebenfalls  Sillen  verfafst.  Ein  Sillos  ist 
eigentlich  ein  s^eel  und  höhnisch  blickender  Mensch,  dann 
übertragen  ein  Spottgedicht.  In  den  drei  Büchern  dieser 
Sillen  nun,  deren  Ton  und  Plan  die  erhaltenen  Bruchstücke 
noch  erkennen  lassen,  in  denen  er  die  ganze  ältere  und  zeit- 
genössische Philosophie  als  dogmatisch  aufs  schärfste  angriff, 
hatte  er  unserem  Xenophanes  eine  hervorragende  Rolle  zu- 
geteilt. Sein  Angriff  war  in  die  höchst  geistvolle  Parodie 
der  Hadesfahrt  des  Odysseus  (Odyss.  XI)  eingekleidet.  Im 
ersten  Buche  schilderte  er  in  homerischen  Wendungen  einen 
gewaltigen  Redekampf  der  Philosophen  im  Hades.  Im  zweiten 
Buche  erschien  dann  der  Schatten  des  Xenophanes,  des 
von  den  Illusionen  des  Dogmatismus  fast  freien  ^Homer- 
zerstampfers",  der  die  Gottheit  fern  von  Menschenart  vor- 
gestellt   habe,     und    erklärte    dem    fragenden    Timon    die 


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68    Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

einzelnen  Gestalten  dieses  philosophischen  Schattenreichs  in 
beifsenden  Sarkasmen.  Dabei  nun  läfst  ihn  Timon  klagend 
auf  die  dogmatische  Wendung  seines  späteren  Denkens  hin- 
weisen. Er  läfst  ihn  sich  selbst  als  einen  „nach  zwei  Seiten 
Blickenden**  anschuldigen  und  in  die  Klage  ausbrechen, 
dafs  er  noch  in  hohem  Alter,  der  skeptischen  Vorsicht 
vergessend,  auf  Abwege  des  Denkens  geraten  sei  und  eine 
bestimmte  positive  Ansicht  über  das  Wesen  der  Gottheit 
aufgestellt  habe. 

Diese  bemerkenswerten  Verse  des  Timon  scheinen  uns 
zu  berechtigen,  sowohl  die  Bruchstücke  der  hexametrischen 
Dichtungen  des  Xenophanes,  in  denen  er  sich  zu  einem 
zweifelnden  Verhalten  bekennt,  als  auch  diejenigen,  in  denen 
er  die  herkömmlichen  Göttervorstellungen  angreift,  einer 
früheren  Zeit  und  den  Sillen  zuzuweisen,  seine  positive  Lehre 
über  das  Göttliche  dagegen  dem  höheren  Alter  und  dem 
Lehrgedicht. 

Kommen  wir  zunächst  auf  die  Phase  der  mittleren  Jahre ! 
Sein  Zweifel  an  der  herrschenden  Götterlehre  entspringt 
ganz  und  gar  seinem  sittlichen  Bewufsteein.  Am  verfeinerten 
sittlichen  Gefühl  einer  fortgeschrittenen  Bildungsstufe  ge- 
messen, können  die  überlieferten  Göttergestalten  nicht  be- 
stehen. Es  ist  ganz  derselbe  innerreligiöse  Prozefs, 
der  in  der  Sphäre  der  biblischen  Religion  bei  Ezechiel,  bei 
Jesus  zu  Tage  tritt,  nur  im  Falle  des  Xenophanes  in  der 
Negative  verharrend.  „Alles  haben  Homer  und  Hesiod  den 
Göttern  beigelegt,  was  bei  den  Menschen  schimpflich  und 
tadelnswert  ist,  Stehlen,  Ehebrechen,  einander  betrügen,  und 
fast  alle  ungesetzlichen  Werke  haben  sie  von  den  Göttern 
ausgesagt"  (Fr.  11),  Diese  anstöfsige  Erscheinung  hat  aber 
ihren  begreiflichen  Grund.  Die  Götter  sind  von  den  Menschen 
nach  dem  Bilde  ihres  eigenen  Wesens,  ihrer  eigenen  Gebrech- 
lichkeit und  Unvollkommenheit,  geschafifen.  „Die  Menschen 
wähnen,  die  Götter  würden  geboren  wie  sie  selbst;  sie  legen 
ihnen  das  eigene  Fühlen,  die  eigene  Gestalt  und  Stimme  bei. 
Würden  ja  auch  Rinder,  Löwen  oder  Pferde,  wenn  sie  Hände 
hätten  und  malen  könnten,  die  Gestalten  der  Götter  nach 
ihrem  eigenen  Bilde  formen.     So    stellen   auch  die  Neger 


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2.    Xenophanes.  09 

ihre  Götter  schwarz  und  plattnasig,  die  Thraker  die  ihrigen 
blond  und  blauäugig  dar"  (Fr.  14). 

Das  sind  die  dürftigen  Überreste,  die  von  den  Aus- 
führungen der  Sillen  über  die  Götterfrage  auf  uns  gekommen 
sind.  Aber  sie  genügen,  um  uns  zu  zeigen,  in  welchen 
Bahnen  das  Denken  unseres  Dichters  auf  dieser  Stufe  seiner 
Entwicklung  sich  bewegte,  dafs  wir  hier  nicht  mehr  und 
nicht  weniger  als  eine  Art  von  antikem  Feuer bach  vor 
uns  haben. 

Diese  Wahrnehmung  einer  völligen  Abhängigkeit  der 
Göttervorstellungen  vom  eigenen  Wesen  ihrer  Verehrer  aber 
hat  ihn  dann  offenbar  weiter  zu  jenen  allgemeinen  Aus- 
sprüchen über  die  Nichtigkeit  des  menschlichen  Erkennens 
überhaupt  geführt,  die  dem  Pyrrhoneer  Timon  so  zusagten, 
dafs  er  ihn  trotz  seines  späteren  Rückfalls  in  den  Dogma- 
tismus zum  Hadesführer  erwählte  und  damit  zugleich  zum 
Altmeister  und  Schutzpatron  der  Skepsis  proklamierte. 

„Es  ist  nie  ein  Mensch  gewesen  und  wird  nie  einer  sein, 
der  das  Gewisse  weifs  über  die  Götter  und  über  das,  was 
er  über  alle  Dinge  sagt.  Denn  wenn  es  ihm  auch  gelänge, 
das  Vollkommenste  (d.  h.  das  Richtigste)  zu  sagen,  so  weifs 
er  es  gleichwohl  nicht"  (d.  h.  auch  die  richtige  Aussage 
wäre  nur  ein  unkontrollierbarer  Zufall);  „Meinen  ist  aller 
Los"  (Fr.  34).  In  diesem  Zusammenhange  scheint  auch  der 
Ausspruch  vorgekommen  zu  sein:  Gott  weifs  die  Wahrheit 
(Stob.  Ecl.  II.  1).  Auch  Cicero  bezeugt  (Ac.  IL  74),  er 
schelte  diejenigen  als  anmafsend,  die  zu  behaupten  wagten, 
sie  wüfsten  etwas,  während  man  nichts  wissen  könne. 

Es  ist  eine  Äufserung  von  ihm  erhalten,  in  der  er  sieh 
zu  dieser  ablehnenden  Haltung  in  der  Erkenntnisfrage  ge- 
radezu in  Gegensatz  stellt,  die  wie  eine  bewufste  und  ab- 
sichtliche Revokation  derselben  klingt  und  die  daher  nach 
unseren  Voraussetzungen  selbstverständlich  dem  Lehrgedicht 
zugewiesen  werden  mufs.  „Keineswegs  haben  von  Anfang 
an  die  Götter  den  Sterblichen  alles  offenbart,  sondern  mit 
der  Zeit  stofsen  sie  forschend  auf  das  Bessere"  (Fr.  18). 
Klingt  das  nicht  gerade,  als  ob  er,  umgekehrt  wie  ilm 
Timon  ini  Jenseits  die  dogmatische  Verirrung  seines  Alters 


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70    Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

beklagen  läfst,  im  Alter  die  skeptische  Stimmung  seiner 
jüngeren  Tage  einschränken  wollte?  So  gefafst,  bilden  diese 
Verse  ein  neues  bedeutsames  Zeugnis  für  die  in  seinem 
Alter  eingetretene  Wandlung,  zu  der  wir  nunmehr  übergehen. 

Bei  diesem  positiven  Versuche  nun  ist  es  nicht  mehr 
der  sittliche  Gesichtspunkt,  der  ihn  leitet.  Dieser  würde  zur 
Erfassung  der  Gottheit  als  einer  sittlichen  Persönlichkeit 
geführt  haben  Es  ist  der  Mafsstab  der  absoluten  Erhaben- 
heit der  Gottheit  über  das  Endliche  überhaupt,  den  er  an- 
legt, und  der  ihn  zu  ziemlich  naturalistischen  Resultaten 
führt.  Wir  würden  aber  vergeblich  versuchen,  ein  irrtum- 
freies und  scharf  umrissenes  Bild  dieser  Resultate  zu  erlangen, 
wollten  wir  uns  auch  hier  ausschliefslich  oder  auch  nur  an 
erster  Stelle  an  seine  eigenen  Worte,  an  die  spärlichen  und 
abgerissenen  Überreste  seines  Lehrgedichtes  halten.  Wir 
müssen  uns,  um  ein  festes  Grundgerüst  zu  gewinnen,  zu- 
nächst an  die  sekundären  Quellen  wenden  und  uns  begnügen, 
die  an  die  betreffenden  Stellen  des  Zusammenhangs  passen- 
den Verse  des  Gedichts  an  den  geeigneten  Orten  bestätigend 
einzuschieben. 

Von  Plato  erfahren  wir  nur  (Soph.  242  D),  dafs  die 
eleatischen  Denker  überhaupt  und  Xenophanes  insbesondere 
das  All  als  ein  einheitliches  Wesen  aufgefafst  hätten. 

Auch  Aristoteles  bezeichnet  seinen  Standpunkt  nur 
an  einer  Stelle  (986b,  18).  Parmenides  habe  das  ein- 
heitliche. Wesen  der  Dinge  begrifflich  (oder  denkend)  und 
damit  zugleich  begrenzt  gefafst,  Melissus  fasse  es  stoff- 
uiäfsig  und  damit  zugleich  unbegrenzt  und  schrankenlos, 
Xenophanes  aber,  der  Lehrer  des  Parmenides,  habe  hinsicht- 
lich dieses  doppelten  Gegensatzes  noch  keine  deutliche 
Stellung  eingenommen,  sondern  bleibe  hinsichtlich  desselben 
bei  einer  unerkennbaren  Haltung  stehen,  indem  er,  auf  das 
Weltall  hinblickend,  das  Eine  für  die  Gottheit  erkläre  (d.  h. 
sich  auf  die  Behauptung  beschränke:  es  gibt  keinen  Gott, 
als  die  einheitliche  Welt).  Überdies  stehe  er  in  der  Aus- 
drucksform seiner  Gedanken  hinter  Parmenides  zurück ;  die- 
selbe sei  bäurisch  (d.  h.  ungeschult). 

Aristoteles  hat  aber  offenbar  die   noch  ungelenke  Dar- 


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2.   Xenophanes.  71 

stelluDg  des  Xenophanes  aus  verschiedenen  Ursachen,  die 
erst  nachher  klargestellt  werden  können,  in  ihrer  Eigenart 
nicht  erfafst.  Es  gibt  eine  ganze  Reihe  von  Zeugnissen,  die 
auf  der  Darstellung  Theophrasts  beruhen,  aus  denen 
hervorgeht,  dafs  Xenophanes  zu  den  beiden  von  Aristoteles 
bezeichneten  Gegensätzen  (begrenzt —  unbegrenzt;  denkend 
—  stoffmäfsig)  eine  ganz  bestimmte  Stellung  eingenommen 
und  diese  auch  durch  eine  deutlich  hervortretende  Beweis- 
führung begründet  hat.  Es  wird  genügen,  von  diesen  Zeug- 
nissen drei  anzuführen. 

Der  kürzeste  dieser  Berichte  ist  der  Plutarchs  (D.  580). 
Es  ist  ein  oberflächliches  Sammelsurium  von  Lehrsätzen  des 
Xenophanes,  das  aber  nach  allgemeinem  Zugeständnis  wenig- 
stens indirekt  auf  dem  grofsen  Werke  des  Theophrast  „Über 
die  naturphilosophischen  Lehrbestimmungen **  beruht. 

Trotz  der  dürftigen  Beschaffenheit  der  hier  vorliegenden 
Nachrichten  bieten  sie  doch  einige  deutliche  Spuren  einer 
von  Xenophanes  geübten  Beweisführung.  Er  hat  bewiesen, 
dafs  aus  dem  Nichtseienden  nichts  werden  kann.  Er  hat  ge- 
zeigt, dafs  im  Göttlichen  weder  ein  Herrschafts-  noch  ein 
Dienstbarkeitsverhältnis  angenommen  werden  dürfe,  weil  das 
Göttliche  nicht  als  bedürftig  gesetzt  werden  dürfe,  sowie 
dafs  in  ihm  nicht  eine  Verteilung  der  Wahrnehmungen 
(Hören,  Sehen)  an  gesonderte  Organe  anzunehmen  sei. 

Der  zweite  Bericht  ist  der  des  Simplicius  (D.  480). 
In  ihm  wird  zunächst  die  Bemerkung,  die  Theorie  des  Xeno- 
phanes gehöre  eigentlich  nicht  in  die  Geschichte  der  Physik, 
weil  er  das  Eins  und  Alles  ausdrücklich  mit  der  Gottheit 
identifiziere,  ausdrücklich  auf  Theophrasts  Geschichte  der 
physischen  Lehren  zurückgeführt.  Ob  sodann  die  bei  Sim- 
plicius sich  anschliefsenden  Angaben  über  die  Argumente 
des  Xenophanes  ebenfalls  aus  Theophrast  geschöpft  sind,  ist 
streitig.  Doch  wäre  es  immerhin  nicht  unwahrscheinlich, 
dafs  Theophrast  zur  Begründung  der  vorstehenden  Behaup- 
tung wenigstens  in  Kürze  das  Verfahren  des  Xenophanes 
gekennzeichnet  hätte.  Auch  scheint  nach  den  zahlreichen 
vorhandenen  Nachrichten  über  Einzelheiten  seiner  Naturlehre 
(von  denen  nachher)  doch  Theophrast,  auf  dessen  Schrift  die 


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72   Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Ilylopsychismus. 

derartigen  Angaben  durchweg  beruhen,  ihn  nicht  mit  der 
vorstehenden  Wendung  endgültig  beiseite  geschoben,  sondern 
eingehender  über  ihn  berichtet  zu  haben.  Einzelne  dieser 
Angaben  (z.  B.  D.  348)  werden  ausdrücklich  auf  Theophrast 
zurückgeführt. 

Die  bei  Simplicius  sich  anschliefsenden  Argumente  nun 
sind  folgende:  1.  Aus  der  der  Gottheit  zuzuschreibenden 
allem  überlegenen  Macht  folgt  ihre  Einheit.  2.  Um  ferner 
das  Nichtentstandensein,  also  die  Ewigkeit,  der  Gottheit  zu 
erweisen,  habe  er  dargetan,  dafs  sie  durch  nichts  hervor- 
gebracht werden  könne.  Nicht  durch  ein  Gleichwertiges, 
denn  gleich  Mächtiges  könne  sich  gegenseitig  nicht  affizieren, 
also  auch  nicht  hervorbringen.  Nicht  durch  ein  Ungleich- 
wertiges (nämlich :  Minderwertiges ;  der  andere  Fall  der  Un- 
gleichwertigkeit,  die  Minderwertigkeit  der  hervorgebrachten 
Gottheit,  wird  als  der  Voraussetzung  der  höchsten  Voll- 
kommenheit der  Gottheit  widersprechend,  stillschweigend  bei- 
seite gelassen),  denn  das  hiefse  die  Gottheit  aus  dem 
(partiellen)  Nichts  hervorgehen  lassen.  3.  Die  Gottheit  darf 
weder  als  unbegrenzt,  noch  als  begrenzt  gedacht  werden. 
Nicht  unbegrenzt,  denn  das  Unbegrenzte  wäre  das  Nicht- 
seiende,  denn  es  hat  weder  Anfang,  Mitte,  noch  Ende.  (Wir 
erkennen  hier  den  Gegensatz  gegen  die  Lehre  des  Anaxi- 
m  an  der  und  Anaximenes  von  der  Unendlichkeit  des 
Weltstoffs.  Das  Wirkliche  mufs  Anfang,  Mitte  und  Ende 
haben,  d.  h.  es  kann  nicht  unendlich  sein.)  Nicht  begrenzt, 
denn  das  setzte  ein  anderes,  Begrenzendes  voraus.  4.  Sie 
darf  aber  auch  weder  ruhend,  noch  bewegt  gedacht  werden. 
Nicht  ruhend,  denn  das  Unbewegte  sei  das  Nichtseiende, 
und  zwar  deshalb,  weil  es  weder  zu  etwas  anderem,  noch 
etwas  anderes  zu  ihm  komme  (ein  überaus  primitives  Argu- 
ment !  Obersatz :  Seiend  ist,  was  zu  einem  anderen  kommen 
oder  zu  dem  ein  anderes  kommen  kann).  Aber  auch  nicht 
bewegt,  denn  das  Bewegtwerden  als  ein  Erleiden  setze  ein 
anderes  Bewegendes  voraus. 

Die  Unbewegtheit  der  Gottheit  wird  auch  in  einer  er- 
haltenen Stelle  des  Gedichts  (Fr.  2G)  ausgesprochen,  aber 
nur  in  dem  Sinne,  dafs  das  Göttliche  immer  an  der  gleichen 


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2.   Xenophanes.  73 

Stelle  verharre  und  es  ihm  nicht  zieme,  den  Ort  zu  wechseln. 
Diese  Bemerkung  ist  also  nur  gegen  eine  vermenschlichende 
Vorstellung  von  der  Gottheit  gerichtet. 

Wir  haben  hier  unter  3  und  4  die  beiden  berühmten, 
dem  Xenophanes  zugeschriebenen  Antinomien  (einander  auf- 
hebende Sätze)  vor  uns,  bei  denen  die  Frage  entsteht :  Wenn 
die  Gottheit  weder  unbegrenzt,  noch  begrenzt,  weder  ruhend, 
noch  bewegt  ist,  was  ist  sie  denn  ?  Zur  Lösung  der  zweiten 
derselben  bringt  Simplicius  folgende  Bemerkung  bei: 
Wenn  der  Gottheit  Bewegungslosigkeit  zugeschrieben  werde, 
80  geschehe  dies  nicht  im  Sinne  der  der  Bewegung  ent- 
gegengesetzten Ruhe,  sondern  im  Sinne  eines  sowohl  der 
Bewegung  wie  der  Ruhe  entgegengesetzten  Verharrens.  Diese 
Bemerkung  ist  unzulänglich  und  wenig  verständlich.  Die 
hier  nur  schwach  angedeutete  Lösung  liegt  wohl  darin,  dafs 
die  dem  Göttlichen  abgesprochene  „Bewegung"  lediglich  das 
passive  Bewegtwerden  ist.  Durch  die  Verneinung  in  diesem 
Sinne  ist  aber  keineswegs  ausgeschlossen  das  aktive  Sich- 
selbstbewegen. 

Nach  der  Analogie  dieser  Lösung  würde  sich  denn  ferner 
auch  die  erste  der  beiden  Antinomien  erledigen.  Begrenzt 
im  i)as8iven  Sinne  (durch  ein  anderes)  darf  die  Gottheit  nicht 
gedacht  werden,  wohl  aber  sich  selbst  begrenzend  im  aktiven 
Sinne.  Wie  dies  gemeint,  wird  sich  weiterhin  noch  genauer 
ergeben. 

Diese  ganze  Art  zu  argumentieren  aber  zeugt  selbst  für 
ihre  Echtheit.  Eine  so  primitive  Argumentationsweise  konnte 
gar  nicht  ersonnen  werden,  sondern  trägt  den  unverkenn- 
baren Stempel  der  Echtheit  unmittelbar  an  sich. 

Durch  diesen  Gedankengang  erklärt  sich  aber  auch  schon 
teilweise  das  abschätzige  Urteil  und  die  ablehnende  Haltung 
des  Aristoteles.  Aristoteles  wufste  sich  den  Tiefsinn  in  den 
beiden,  überdies  wohl  auch  noch  unbehilflich  ausgedrückten 
Antinomien,  namentlich  der  ersteren  (weder  begrenzt,  noch 
unbegrenzt)  nicht  zu  deuten,  und  nahm  daher  an,  Xenophanes 
bleibe  hinsichtlich  der  dabei  zu  Grunde  liegenden  Alternative 
in  der  Schwebe  und  wisse  darin  noch  keine  Entscheidung 
zu  treffen.    Der  andere  Punkt,  hinsichtlich  dessen  er  ihm 


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74   Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

eine  unklare  und  unentschiedene  Haltung  vorwirft,  die  rein 
stoflFliche  oder  denkende  Beschaffenheit  des  All,  kann  erst 
an  späterer  Stelle  klargestellt  werden. 

Der  dritte  Bericht  findet  sich  in  der  kleinen  pseudo- 
aristotelischen Abhandlung  „Über  Xenophanes,  Zeno  und 
Gorgias**,  deren  richtiger  Titel  aber  erwiesenermafsen  lauten 
uiufs:  „Über  Melissos,  Xenophanes  und  Gorgias".  Hier  finden 
wir  in  wesentlicher  Übereinstimmung  mit  der  Darstellung 
des  Simplicius,  aber  etwas  eingehender  und  unter  Beifügung 
einiger  weiteren,  höchst  charakteristischen  Züge  die  gleiche 
Argumentation  über  die  Art,  wie  das  Göttliche  gedacht 
werden  müsse. 

Auch  hier  wird,  wie  bei  Theophrast,  gleich  zu  Anfang 
betont,  dafs  die  Beweisführung  des  Xenophanes  sich  (nicht 
auf  die  Natur,  sondern)  auf  das  Göttliche  richte.  Auch  hier 
wird  die  Einheit  und  die  Ewigkeit  mit  denselben  Gründen, 
wie  bei  Simplicius,  bewiesen.  Beim  Beweise  für  die  Ewig- 
keit findet  sich  jedoch  ein  sinnstörendes  Einschiebsel.  Bei 
der  Erwägung  des  Falles  nämlich,  dafs  das  Göttliche  aus 
einem  Ungleichwertigen  hervorgegangen  sein  sollte,  wird 
neben  dem  berechtigten  Unterfall,  dafs  das  Hervorbringende 
das  Minderwertige  wäre,  auch  der  unberechtigte  Unterfall 
gesetzt,  dafs  die  Gottheit  das  Minderwertige  wäre.  Dafs 
dieser  Fall  nach  den  Voraussetzungen  des  Xenophanes  über- 
haupt nicht  gesetzt  werden  kann,  ist  bereits  hervorgehoben 
worden.  Der  Satz  kann  nur  lauten :  Wenn  das  Vollkommenere 
(die  Gottheit)  aus  dem  minder  Vollkommeneren  würde,  so 
würde  das  Seiende  aus  dem  (partiell)  Nichtseienden. 

Auch  hier  finden  sich  femer  die  beiden  Antinomien  mit 
der  gleichen  Begründung  wie  bei  Simplicius. 

Neu  und  eigentümlich  ist  diesem  Bericht  ein  für  das 
Verständnis  des  Xenophanes  überaus  wichtiger  fünfter  Punkt. 
Aus  der  Einheit  wird  nämlich  gefolgert,  die  Gottheit  müsse 
ein  durchweg  gleichartiges  Wesen  sein,  welches 
das  Sehen,  Hören  und  alle  übrigen  Sinne  über- 
all habe.  Hier  ist  zweierlei  zu  unterscheiden:  die  Gleich- 
artigkeit und  die  Weise  des  Empfindens  unter  der  hier  plötz- 


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2.   Xenophanes.  75 

lieh  nen  hinzutretenden  Voraussetzung,  dafs  das  Göttliche 
auch  ein  empfindendes  Wesen  ist 

Den  ersten  Gedanken  anlangend,  so  würde  aus  der  Un- 
gleichartigkeit  folgen,  dafs  es  Teile  von  Gott  gebe,  von 
denen  einer  den  anderen  beherrsche  oder  von  anderen  be- 
herrscht werde,  was  unstatthaft  sei.  Dieser  Punkt  war  auch 
schon  im  Berichte  Plutarchs  angedeutet.  Daraus  wird  ge- 
folgert, dafs  der  Gott  kugelförmig  gedacht  werden  müsse, 
womit  zugleich  der  Anforderung  Genüge  geleistet  werde, 
dafs  Gott  weder  (durch  ein  Fremdes)  begrenzt  noch  unbegrenzt 
sein  dürfe. 

Bei  dieser  Kugelförmigkeit  könnte  man  zunächst  an  das 
die  Welt  als  feste  Kugelhülle  umspannende  Firmament  denken. 
Xenophanes  hat  jedoch  unzweifelhaft  nicht  an  einen  solchen, 
doch  immerhin  vielgliedrigen  Weltbau,  sondern  lediglich 
an  die  Erdkugel  gedacht.  Diese  ist  ihm  der  wesentliche 
Inbegriff  des  Seienden.    Doch  davon  nachher. 

Eine  Andeutung,  dafs  die  Gottheit  auch  empfindet, 
und  zwar  nicht  durch  gesonderte  Organe,  sondern  als 
Ganzes,  bot  ebenfalls  schon  der  dürftige  plutarchische  Be- 
richt. Eine  vollinhaltliche  Bestätigung  dieser  Lehre  bietet 
ein  erhaltener  Vers  des  Gedichtes:  „Ganz  sieht  er,  ganz 
denkt  er,  ganz  hört  er"  (Fr.  24).  Hier  tritt  sogar  zu 
dem  Empfinden  noch  das  Denken  hinzu.  Es  wird  hier  auch 
deutlich,  wie  Aristoteles  zu  der  anderen  Ausstellung  gegen 
Xenophanes  gekommen  sein  kann,  derselbe  verhalte  sich  zu 
dem  Gegensatze  eines  denkenden  oder  materiellen  Urwesens 
indifferent.  Aristoteles  hat  nicht  gesehen,  dafs  Xenophanes 
i^einen  Gott  sowohl  ausgedehnt  und  materiell,  als  auch 
denkend  und  empfindend  vorstellt.  Xenophanes  ist  in  diesem 
Grundgedanken  seiner  Lehre  noch  echter  Hylopsychist. 
Für  den  Hylopsychismus  aber  hat  Aristoteles,  wie  schon  bei 
Thaies  zutage  trat,  kaum  ein  Verständnis. 

Die  in  diesen  Berichten  zutage  tretende  Weltvorstellung 
nebst  Begründung  ist  so  eigenartig,  dafs  sie  von  den  Bericht- 
erstattern nicht  aus  den  Fingern  gesogen  worden  sein  kann. 
Sie  mufs  für  authentisch  gelten.  Ein  später  Zeuge  be- 
zeichnet diese  Gottes-  und  Weltvorstellung  kurz  in  der  Weise, 


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76    Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

er  lehre  ein  kugelförmiges,  durch  nichts  affiziertes,  un- 
veränderliches, vernünftiges  All  (S.  Emp.  Hyp.  L  225; 
IIL  218). 

Wie  stellte  sich  nun  Xenophanes  auf  dieser  Stufe  seines 
Denkens  zur  Frage  der  Vielheit  der  Götter? 

Ein  Fragment  lautet :  „E  i  n  Gott  ist,  der  gröfste  unter 
den  Göttern  und  Menschen,  weder  an  Gestalt,  noch  an  Sinn 
den  Sterblichen  vergleichbar"  (Fr.  23).  Hat  er  hier  den 
Göttern  des  Volksglaubens  einen  Platz  in  seinem  Weltsysteme 
eingeräumt?  Schlechterdings  abweisen  läfst  sich  diese  Be- 
hauptung nicht.  Wenigstens  in  der  Beschränkung,  dafs  er 
irgendwie  göttliche,  d.  h.  übermenschliche  Wesen,  angenommen 
habe.  Es  wären  dies  freilich  nicht  Götter  nach  dem  von  ihm 
entwickelten  strengen  Begriffe  des  Göttlichen,  sondeni  ge- 
wordene, begrenzte,  endliche  Wesen.  Beweiskräftig  dafür 
ist  freilich  die  Stelle  nicht,  denn  ebensogut  kann  es  sich  in 
der  Stelle  nur  um  eine  epische  Floskel  handeln.  Jedenfalls 
hat  Xenophanes  die  Göttlichkeit  im  strengen  Sinne 
nur  dem  ewigen  All  beigelegt.  Er  erklärte  es  für  gleich 
gottlos,  ein  Entstandensein  der  Götter  anzunehmen,  wie  ein 
Vergehen  derselben.  Denn  in  beiden  Fällen  gebe  es  eine 
Zeit,  in  der  keine  Götter  existierten.  In  demselben  Sinne 
ist  die  Antwort  zu  verstehen,  die  er  den  Leuten  von  Elea 
gegeben  haben  soll.  Dort  wurde  einer  gewissen  Gottheit 
geopfert  und  zugleich  ein  Klagefest  über  ihren  Untergang 
gehalten.  Xenophanes  entscheidet:  Ist  es  eine  Gottheit,  so 
halte  man  ihr  kein  Klagefest;  ist  sie  vergänglich,  so  opfere 
man  ihr  nicht  (Arist.  1399  b,  6;  1400  b,  5). 

Es  sind  nun  aber  ferner  von  Xenophanes  auch  Angaben 
über  die  Beschaffenheit  der  Welt  im  einzelnen,  Erklärungen 
von  Vorgängen  und  Dingen  in  der  Welt,  überliefert.  Auch 
diese  Lehren  über  die  Welt  lassen  sich  sehr  wohl  aus  seiner 
Gottesvorstellung  ableiten. 

Dafs  die  kugelförmige  Gottheit  stofflich  ist,  haben 
wir  gesehen.  Über  den  Stoff  der  Dinge  in  der  Welt  hören 
wir  nun  folgendes:  „Erde  und  Wasser  ist  alles,  was  wird 
und  sich  bildet«  (Fr.  29;  S.  Emp.  Hyp.  III.  30).  „Alle  sind 
wir  aus  Erde  und   Wasser  ins  Dasein  getreten"  (Fr.  33). 


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2.    Xenophanes.  77 

Wenn  es  dem  gegenüber  einmal  heifst:  „Aus  Erde  ist  das 
Ganze  und  in  Erde  endigt  das  Ganze"  (Fr.  27;  D.  284),  so 
mufs  angenommen  werden,  dafs  hier  der  Zusammenhang  die 
Nichterwähnung  des  Wassers  rechtfertigte.  Auch  in  einem 
Abschnitte  Galens  (D.  481)  wird  wenigstens  für  den  mensch- 
lichen Körper  unter  ausdrücklicher  Berufung  auf  die  Schrift 
Theophrasts  die  Behauptung  des  Bestehens  blofs  aus 
Erde  scharf  zurückgewiesen.  Diese  beiden  Grundstoffe  der 
Gottnatur  liegen  uns  femer  in  sichtbarer  Verteilung  über 
die  Welt  vor.  Die  Quelle  alles  Wassers,  aus  dem  auch  die 
Luft  entsteht,  ist  das  Meer  (Fr.  30).  Die  Erde  aber  „wurzelt* 
ihrem  unteren  Teile  nach  „im  Unendlichen"  (Fr.  28;  Aristot. 
294,  22;  D.  376).  Dies  kann  aber,  da  unserem  Denker  das 
Unendliche  das  Nichtseiende  ist,  nur  bedeuten :  sie  erstreckt 
sich  nach  unten  bis  an  die  Grenze  des  Seienden,  bis  an  die 
Peripherie  des  kugelförmigen  Gottes.  Die  obere  Fläche  ist 
dann,  soweit  nicht  von  Wasser  bedeckt,  der  Schauplatz  des 
Lebens  und  der  Menschengeschichte. 

Aus  diesen  beiden  Stoffen  seines  Gottes,  insbesondere 
aus  dem  Wasser,  nun  wird  alles  in  der  Welt  abgeleitet 
Zunächst  ist  die  Luft  weiter  nichts  als  verdunstetes  Wasser. 
Der  Salzgehalt  des  Meeres  erklärt  sich  dadurch,  dafs  bei 
dieser  Transformation  in  Luft  die  dem  Wasser  beigemengten 
erdigen  Bestandteile  zurückbleiben.  Die  Luft  wird  zu 
Wolken,  die  sich  einesteils  wieder  zu  Regen  verdichten, 
anderenteils  zu  Wi  n  de n  verflüchtigen.  Auch  die  Entstehung 
der  Flüsse  erklärt  sich  so  (Fr.  30;  D.  371). 

Aber  auch  alle  Licht-  und  Feuererscheinungen  über  der 
Erdfläche  werden  aus  den  Wolken,  also  indirekt  aus  dem 
Wasser,  abgeleitet.  Wie  sich  Xenophanes  dies  Feurigwerden 
gedacht  hat,  ist  nicht  überliefert  „Was  sie  Iris  (den 
Regenbogen)  nennen,  auch  das  ist  eine  Wolke,  purpurn  und 
rötlich  und  grünlich  anzuschauen"  (Fi*.  32).  Das  St  Elms- 
feuer besteht  aus  Wölkchen,  die  auf  Grund  einer  ge- 
wissen Bewegung  leuchtend  werden  (D.  347).  Auch 
die  Blitze  sind  ein  durch  Bewegung  Leuchtendwerden 
der  Wolken  (D.  3Ö8).    Auch  Planeten,  Sternschnuppen 


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78    Erste  Periode.   Zweiter  Absciklitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

u.  dergl.  sind  nur  durch  Bewegung  feurig  gewordene 
Wolken  (ib.  367). 

Ja  sogar  die  Gestirne  sind  weiter  nichts  als  leuchtende 
Wolken.  Sie  erlöschen  bei  Tage,  werden  aber  «ir  Nacht- 
zeit „wie  Kohlen^  (d.  h.  offenbar,  wie  man  langsam  fort- 
glimn^nde  Holzkohlen  mit  dem  Blasbalg  wieder  in  Glut 
bringt,  also  wohl  durch  Windströmungen)  wieder  angefacht. 
Was  uns  als  Aufgang  und  Untergang  erscheint,  ist  tatsäch- 
lich nur  AngefacÄtwerden  und  Erlöschen  (ib.  343). 

Selbst  die  Sonne  ist  nur  eine  Ansammlung  glühenier 
Wolken,  eine  Zusammenballung  feuriger  Teile,  die  aus  der 
feuchten  Ausdünstung  des  Wassers  entstehen.  Sie  ist  beim 
Aufgange  eine  andere  als  tags  zuvor;  jeder  Tag  hat  seine 
neue  Sonne,  die  weiter  nichts  ist,  als  eine  atmosphäriscbe 
Erscheinung.  Die  verschiedenen  Teile  der  Erdoberfläche 
haben  verschiedene  Sonnen.  Die  Kreisform  der  tägUcfaen 
Sonnenbahn  ist  eine  optische  Täuschung,  hervorgerufen  dufdi 
die  grofse  Entfernung  der  Endpunkte  der  Bahn  von  uaserem 
Standpunkte.  Tatsächlich  ist  die  Bewegung  der  Sonnen- 
wolke ein  Schweben  in  unbestimmter  Richtung.  Auch  die 
gewöhnlichen  Dunstwolken  scheinen  uns  ja  bei  ihrer  An- 
näherung am  Horizont  aitfzusteigen ,  bei  ihrer  Entfernung 
unter  den  Horizont  hinabzusinken.  Die  Finsternisse  entstehen 
durch  teilweises  oder  vollständiges  Erlöschen  der  Sonnen- 
wolke. Wenn  er  auf  Grund  vermeintlicher  Zeugnisse  be- 
hauptete, dafs  es  monatelange  Sonnenfinsternisse  gegeben 
habe,  so  ist  dies  ganz  folgerichtig.  Die  tägliche  Entstehung 
der  Sonne  wird  ihm,  wie  die  des  Regens  oder  der  Dürre, 
von  den  Launen  des  Wettergottes  abhängig.  Zu  gewissen 
Zeiten  gerät  auch  die  Sonnenwolke  gleichsam  auf  einen  Irr- 
weg, indem  sie  sich  nach  unbewohnten  Erdstrecken  entfernt. 
Auch  so  entstehen  Verfinsterungen.  Da  es  nicht  wahrschein- 
lich ist,  dafs  Xenophanes  eine  doppelte  Erklärung  der  Sonnen- 
finsternisse gegeben  hat,  so  liegt  hier  vielleicht  ein  Versuch 
vor,  den  tieferen  Stand  der  Sonne  im  Winter  und  die  ent- 
sprechende Licht-  und  Wärmeabnahme  zu  erklären  (D.  348, 
354,  355). 

Auch   der   Mond   ist   eine   leuchtende   Wolke.     Seine 


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2.    Xenophanes.  79 

Phasen  sind  weiter  uichts  als  periodische  Erlöschungen 
(ib.  356,  360).  Dies  ist  wohl  so  zu  verstehen,  dafs  er  dem 
Monde  nicht,  wie  der  Sonne,  eine  nur  eintägige  Dauer  zu- 
sehrieb, sondern  ihn  im  Laufe  eines  Monats  entstehen,  lang- 
sam anwachsen  und  ebenso  allmählich  wieder  erlöschen  (d.  h. 
sich  in  Wasser  zurückverwandeln)  liefs. 

Für  eine  Umbildung  des  Wassers  iu  Luft  scheint  er 
sehliefslich  auch  die  menschliche  Seele  erklärt  zu  haben. 
„Die  Seele  ist  Hauch"  (Pneuma,  D.  L.  IX,  19). 

So  wird  alles,  was  sich  auf  der  Erdoberfläche  und  im 
Räume  über  derselbe  begibt,  aus  dem  Wasser  abgeleitet. 
Daus  er  selbstverständlich  auch  dem  Erdelement  einen  Anteil 
an  den  Gebilden  auf  der  Erdfläche  zugewiesen  haben  wird, 
bedarf  keiner  Erinnerung.  An  dieser  Stelle  nun  mufs  die 
Annabnte,  dafs  Xenophanes  unter  dem  kugelförmigen  Gott 
tediglich  die  Erde  verstanden  hat,  fast  zur  Gewifsheit  werden. 

Zunächst  findet  sieb  von  der  Annahme  einer  kugel- 
fdnnigefl  Hülle  der  Welt,  eines  Firmaments,  und  von  eiaer 
Fixierung  der  Erde  im  Mittelpunkte  dieser  Hohlkugel  keine 
Spur.  Ferner:  was  sich  oberhalb  der  Erdfläche  durch  die 
Umgestaltungen  des  Wassers  abspielt,  ist  gleichsam  nur 
flüchtige  Projektion  des  irdischen  Geschehens  über  die  Grenze 
des  Gottes  hinaus  ins  Leere  und  Nichtseiende.  Durch  diese 
Projektionen  wird  der  Satz  nicht  aufgehoben,  dafs  der  Gott 
nirgends  durch  etwas  aufser  ihm  Seiendes  beschränkt  und 
bestimmt  wird,  da  ja  alle  diese  Vorgänge  in  voller  Ab- 
häaitgigkeit  von  seiner  eigenen  stofflichen  Grundlage  und 
durch  sein  eigenes  Wirken  stattfinden.  Vielmehr  erhalten 
gerade  durch  die  Identifikation  der  Gottheit  mit  der  Erde 
aUe  die  vorstehend  gegebenen  naturwissenschaftlichen  Einzel- 
erkl&rungen  ihren  Einbeitspunkt,  und  insbesondere  erklärt 
sich  durch  sie  aufs  beste  die  sonst  so  auffällige  Degradierung 
der  Gestirne  vom  Range  als  Himmelskörper  zu  dem  von 
flüc^Ktigen  atmosphärischen  Erscheinungen.  Weiter:  es  er- 
klärt sieh  so  au&  beste  die  sonst  so  auffällige  Angabe,  dafs 
die  Erde  nach  unten  ihre  Wurzeln  bis  zum  Endpunkte  des 
Seienden  hinab  erstreckt.  Sie  ist  eben  selbst  der  Inbegriff 
alles  Seienden.    Endlich:  eine  in  Teile  gegliederte  Welt 


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80  Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Würde  dem  strengen  Einheitspostulate  unseres  Denkers  noch 
weit  entschiedener  widersprechen,  als  die  doch  von  ihm  so 
bestimmt  abgelehnte  Annahme  von  Organen  des  Gottes. 
Wenn  ihm  zur  Verwirklichung  der  Einheitsforderung  nicht 
einmal  der  Organismus  genügt,  dann  noch  viel  weniger  der 
vielgliedrige  Bau  eines  Kosmos. 

Ist  aber  diese  Auffassung  richtig,  so  hat  nicht  erst,  wie 
nach  den  vorhandenen  Nachrichten  angenommen  werden 
müfste,  Parmenides  die  Kugelform  der  Erde  gelehrt, 
sondern  der  Vorrang  in  dieser  kühnen  Lehre  gebührt  unserem 
Xenophanes.  Der  Unterschied  ist  nur  der,  dafs  Parmenides 
der  Erde  als  einem  Einzelgliede  des  Weltbaues  die  Kugel- 
form beigelegt  hat,  Xenophanes  aber  die  Erde  zugleich  als 
das  Ganze  der  Welt  auffafst. 

Als  die  eigentlich  treibende  Kraft  dieser  Bewegungs- 
und Veränderungsvorgänge  in  der  Welt  aber  betrachtet  unser 
Denker  unzweifelhaft  die  dem  Gotte  innewohnende  geistige, 
intellektuelle  Qualität.  „Ohne  Ermüdung  setzt  er  durch  das 
Denken  seines  Sinnes  alles  in  Bewegung"  (Fr.  25).  Wenn 
er  nach  einer  späteren  Angabe  (D.  371)  die  Sonne  als  Ur- 
sache des  Übergangs  des  Wassers  in  Wolken  und  Winde 
bezeichnet  hat,  so  kann  sich  dies  nur  auf  einzelne  unter- 
geordnete Vorgänge  beziehen.  Ist  ja  doch  die  Sonne  selbst 
nur  ein  Erzeugnis  des  verdunsteten  Wassers! 

Diese  geistige  Triebkraft  äufsert  sich  aber  nicht  nur  in 
den  Einzelvorgängen  der  Welt,  wie  sie  gegenwärtig  ist,  sie 
umfafst  mit  ihrem  umgestaltenden  Wirken  auch  das  Ganze 
der  Welt,  d.  h.  die  Gottheit  selbst.  Diese  wird  durch  nichts 
aufser  ihr  bewegt,  aber  sie  bewegt  und  verändert  fort- 
während sich  selbst.  Xenophanes  bezeugt,  dafs  in  einem 
früheren  Zeitpunkt  Erde  und  Wasser  noch  nicht  gesondert 
waren,  sondern  eine  Schlammmasse  bildeten.  Nicht  als  ob 
sie  in  diesem  Zustande  der  Qualität  nach  noch  nicht  ge- 
schieden gewesen  wären.  Xenophanes  ist  im  Festhalten  an 
der  Stabilität  dieser  beiden  Grundstoffe  ein  Vorläufer  der 
empedokleischen  Lehre  von  den  Elementen.  Sie  waren  nicht 
stofflich  eins,  sondern  als  zwei  verschiedene  Stoffe  in  einem 
Zustande  völliger  Vermischung.    Der  kugelförmige  Gott  war 


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I.    2.    Xenophanes.  81 

einmal  ein  empfindender  und  denkender  Lehmklumpen.  Als 
Beweis  dafür  führte  er  an,  dafs  mitten  im  Festlande  und 
sogar  auf  Bergen  sich  versteinerte  Muscheln  und  in  den 
Steinbrüchen  von  Syrakus  Abdrücke  von  Fischen  und  See- 
tang (so  nach  einer  von  G  o  m  p  e  r  z  befürworteten  Emendation) 
gefunden  haben.  Ebenso  auf  Faros  und  Malta  im  Gestein 
die  Formen  der  verschiedensten  Seetiere.  Er  erklärt  dies 
ausdrücklich  aus  einem  früheren  Schlammzustande,  d.  h.  aus 
dem  Zustande  der  völligen  Durchdringung  der  beiden  Ele- 
mente Erde  und  Wasser.  Mit  dem  Schlamme  seien  dann 
später  die  Abdrücke  hart  geworden.  Er  schliefst  aus  diesen 
Erscheinungen,  dafs  auch  künftig  wieder  eine  solche  Durch- 
dringung der  beiden  Elemente,  verbunden  mit  einem  Unter- 
gänge des  Menschengeschlechts,  eintreten  werde,  worauf 
dann  wieder  eine  neue  Weltperiode  einsetzen  werde,  und 
so  fort  in  ewigem  Kreislaufe  (D.  566). 

Dafs  Xenophanes  vom  Standpunkte  dieser  Lehren  aus 
an  den  Systemen  der  milesischen  Naturphilosophen  vieles 
auszusetzen  hatte,  ist  selbstverständlich.  Er  soll  zwar  den 
Thaies  gelobt  haben  (D.  L.  L  23),  doch  wird  auch  ausdrück- 
lich bezeugt,  dafs  er  ihm  sowie  seinen  beiden  Nachfolgern 
widersprochen  habe  (ib.  IX.  18;  D.  580).  Zwar  hat  ja  auch 
sein  System  ein  echt  hylopsychistisches Gepräge.  Der  Stoff 
als  solcher  ist  auch  bei  ihm  lebendig.  Aber  was  die  älteren 
Hylopsychisten  noch  nicht  ausgesprochen  hatten,  er  ist  bei 
ihm  empfindend  und  sogar  denkend,  und  so  erhebt  sich  der 
Hylozoismus  bei  ihm  zu  einer  Art  von  primitivem  Pantheis- 
mus. Gewifs  hatte  Heraklit  recht,  wenn  er  unserem 
Denker  „Viellemerei",  d.  h.  einen  Reichtum  an  vielseitigem, 
durch  Erfahrung  und  Beobachtung  erworbenem  Wissen,  zu- 
sprach. Nicht  aber,  wenn  er  verkannte,  dafs  Xenophanes 
die  Mannigfaltigkeit  seiner  Einzelerfahrungen  mit  grofser 
Kraft  des  Denkens  zu  einem  einheitlichen  und  folgerichtigen 
System  verknüpft  hat. 

Wir  werden  sehen,  dafs  Heraklit  selbst  nicht  nur  in 
Einzelheiten  manches  von  Xenophanes  entlehnt  hat,  sondern 
dafs  auch  sein  System  als  Ganzes  im  wesentlichen  den 
gleichen  Grundcharakter  hat  wie  das  des  Xenophanes.     Als 

DftriBf.   I.  6 


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82    Krste  Periode.    Zweiter  Abaciautt   3Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

fcesonders  beBeidbnend  fftr  die  radikale  Folgerichtigkeit  und 
Furobtlofilgbeiit  seineB  Denkens  mufg  noch  hervorgehoben 
werrd^o),  daXs  ^r  tden  iganzen  Aberglauben,  der  «ich  an  Orakel, 
Vorzedtihen,  W<ahi-aagung  u.  dgl  fcnt^fte,  in  dessen  Schlepp- 
tau die  fiplitere  gmechisohe  PhiJosoiidiie  dauernd  goriet,  von 
Grund  auß  verworfen  hat.  Von  leinem  Gott,  wie  der  seinige, 
hoanlen  derartige  Wirkuagon  nicht  ausgehen  (Cic.  Div.  I.  5 ; 
D.  M5). 

II.    DBF  kleinasiatische  Hylopsychist  Ueraklit  (um  500). 

IDie  Albleitung  der  Welt  aus  einem  lebendigen  Urstoffe 
ist  noch  in  verschiedenen  anderen  Richtungen  versucht  worden. 
Aristoteles  erwähnt  z.  B.  öfter  (303  b,  10,  203  b,  J05,  25) 
die  Annahme  einer  Mittelstufe  ewischen  Luft  und  Wasser 
als  Urprinzip.  Von  dieser  Stufe  aus  gab  es  dann  nach  der 
Seite  der  Verdichtung  wie  nach  d^  der  Verdünnung  gleich- 
in&faig  je  jswei  Situfen  (Wasser,  Erde  —  Luft,  Feuer).  Auch 
feine  Zwischenstufe  zwischen  Luft  und  Feuer  wird  erwähnt 
f(Z.  209.  2). 

Über  diese  Versuche  a(ber  fdhlt  es  an  näheren  Kach- 
richten.  Irgend  welchen  Eiuflufs  auf  die  tweitere  Entwiok- 
flung  haben  sie  nicht  gewonnen. 

In  ganz  aufserordentlichiem  Mafse  und  in  den  ver- 
schiedensten Richtungen  dagegen  hat  auf  den  weiteren  Ent- 
wicklungegang He ra k  1  i  t  eingewirkt.  Er  ist  aufserdem  ein 
Denker  und  ßchriftstellor  von  überaus  scharf  ausgeprslgter 
Eigenart;  ziemlich  genaue  Nachrichten  über  seine  Lehre  und 
eine  Fülle  von  Bruchstücken  seiner  Schrift  sind  erhalten. 
Er  ist  überdies  ein  Deilker ,  bei  dem  das  rein  theoretische 
Interesse  der  Naturerklärung  im  einzelnen  gegen  die  all- 
gemeinen Grundzüge  der  Weltanschauung  und  eine  daraus 
■abzuleitende  Gemütsverfassung  und  Lebensführung  ganz  in 
den  Hintergrund  tritt,  derjenige  unter  den  Hylopsychisten 
und  der  erste  Denker  überhaupt,  der  als  Vorläufer  der 
Philosophie  im  eigentlidien  Sinne  zu  bezeichnen  ist.  Nach 
Sext.  Empiricus  (Dogm.  I.  7)  war  es  schon  im  Altertum 
streitig,  ob  er  nicht  aufeer  zu  den  Physikern  audi  zu  den 
(axiologischen)  Ethikern   zu  rechnen  sei.    Nicht  wegen  des, 


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n.   Heraklit.  ^3 

bei  ihm  nicht  vorhandenen,  Strebens  nach  Erweiterung  der 
Naturerkenntnis ,  fioodem  wegen  der  Originalität  seiner 
Gmndannähme  und  der  Folgerungen  für  die  Lebensführung, 
die  er  daraitö  ableitete,  stellt  er  den  Höhepunkt  des  hylo- 
psychi&tischen  Bedkens  dar.  Alles  dies  Grund  genug,  ihm 
eine  :be6«detre  Aufmerksamkeit  zu  widmen. 

Heraklit  war  geboren  um  oder  nach  540  und  soll  ein 
Alter   von   60   Jahren   erreicht  haben   (D.  L.  IX.  14).    Er 
stemmte  aus  einem  der  vomefamstei  Gesdileohter  der  klein- 
astatisch -joniscben   Kolonie  Ephesus.     In  seiner  Familie 
war  die  Königswttrde  erblich ,  wenngleich  dieselbe  zu  seiner 
Zeit,  wo  sogar  die  Patrizierberrschaft  bereits  in  die  Demo- 
kratie Oberzugehen  im  Begriffe  war,  zum  blofsen  Titel  und 
züT  Trägerin  einiger  religiöser  Gerimonien  herabgesunken 
war.    Das  Wenige,  was  über  sein  Leben  und  seine  geistige 
Entwicklung  berichtet  wird,  tiägt  mehr  den  Charakter  dreier 
Erdichtung,  am  ihn  auch  als  Persönlichkeit,  entsprechend 
den  Geiste  und  Tone  seiner  Schrift,  als  geniale,  aber  ab- 
sonderliche Profdietengestalt  erscheinen  zu  lassen,  als  den  einer 
beglaubigten  Geschichtserzählung.    Von  Jugend  an  wunderbar 
geartet,  habe  er  als  Jüngling  erklärt,  er  wisse  nichts  als 
ManB  dagegen,  er  wkse  alles.    Er  sei  niemandes  Schüler 
gewesen,  sondern  iiabe  alles  sich  selbst  verdankt.    Nur  der 
Drang,  alle  Phibsopfaen  fein  säuberlich  in  ein  geistiges  Ab- 
stanuBHngs Verhältnis  zu  bringen  (Sotion),  führte  dazu,  ihm 
Xenophanes  als  Lehrer  zu  geben  (D.  L.  5).    Die  ihm 
erUieh   zugefallene   Königswürde    habe   er  freiwillig  einem 
jüngeren  Bruder  überlassen  (ib.  6).    Den  Antrag,  als  Gesetz- 
geber seiner  Vaterstadt  aufzutreten  (d.  h.  nach  Lage  der 
Sache  das  Ansinnen  der  aristokratischen  Partei,  eine  ihren 
Interessen  entsprechende  Verfassung  au  entwerfen),  habe  er 
abgelehnt,  weil   die  Verfassung  der  Stadt  sich  schon  dem 
Sddechteren  zugewandt  habe,   und  statt  dessen  in  demon- 
strativer Weise  angefangen,  sich  an  den  Spielen  der  Knaben 
XU  beleiligen,   mit  der  Erklärung,  das  sei  doch  besser,  als 
sich  weiter  mit  den  öffentlichen  Angelegenheiten  zu  befassen 
(ib.  3).    Ein  tatsächliches  Zeugnis  des  Ingrimms,  mit  dem 
er  den  Übergang  zur  Demokratie  betrachtete,  hat  sich  in 

6* 


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^4    Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

einer  Stelle  aus  seiner  Schrift  erhalten.  In  dieser  erteilt 
er  den  Ephesiern,  nachdem  sie  (jedenfalls  in  Verbindung  mit 
diesen  Verfassungskftmpfen)  ihren  besten  Mann,  seinen  Freund 
Hermodoros,  verbannt  hatten,  weil  unter  ihnen  niemand 
der  Tüchtigste  sein  solle,  den  Rat,  sich  Mann  für  Mann  auf- 
zuhängen und  den  Unerwachsenen  den  Staat  zu  überlassen 
(Strabo  XIV.  25;  bei  Cic.  Tusc.  V.  105  und  D.  L.  IX.  2. 
etwas  milder  ausgedrückt).  Schliefslich  sei  er  zum  voll- 
ständigen Menschenhasser  geworden,  sei  in  die  Berge  ge- 
gangen und  habe  dort  von  Kräutern  gelebt.  Doch  habe  er 
sich  dadurch  eine  Wassersucht  zugezogen.  Er  sei  deshalb 
zur  Stadt  zurückgekehrt  und  habe  den  Ärzten  die  Frage 
vorgelegt,  ob  sie  den  Regen  in  Trockenheit  verwandeln 
könnten.  Da  diese  ihn  nicht  verstanden,  habe  er  eine  selbst- 
erfundene Kur  versucht,  darin  bestehend,  dafs  er  sich  in 
einem  Viehstall  mit  Dünger  zugedeckt  habe,  um  so  durch 
die  Wärme  das  Wasser  zu  vertreiben.  Die  Kur  sei  jedoch 
nicht  angeschlagen;  er  sei  gestorben  (D.  L.  3  f.).  So  hatte 
sich  in  der  Überlieferung  sein  Bild  zu  dem  eines  wunder- 
lichen Heiligen  gestaltet. 

Auf  ähnlichen  Voraussetzungen  über  seine  Lebensführung, 
wie  die  letzten  Angaben,  beruht  auch  die  hübsche  Anekdote, 
die  Aristoteles  (645,  17)  erzählt.  Fremde,  die  ihn  aufsuchen, 
sehen  ihn  erhitzt  am  Küchenherde  stehen  (also  offenbar  mit 
der  Zubereitung  einer  Speise  beschäftigt).  Als  sie  zaudern, 
einzutreten,  sagt  er:  Tretet  nur  ein,  denn  auch  hier  sind 
Götter!  Die  Erzählung  erinnert  direkt  an  den  hylopsychisti- 
schen  Ausspruch  des  Thaies,  dafs  alles  voll.  Götter  sei,  und 
niufs  unzweifelhaft  im  gleichen  Sinne  gedeutet  werden. 

Was  nun  seine  philosophische  Vorbildung  anbetriift,  so 
ist  er  auf  keinen  Fall  der  philosophische  Erdgeborene,  für 
den  die  vorstehenden  Notizen  ihn  ausgeben  möchten.  Was 
zunächst  sein  Verhältnis  zu  Xenophanes  betrifft,  so  kann 
natürlich  von  einer  eigentlichen  Schülerschaft  keine  Rede 
sein.  Doch  kann  er  immerhin  in  jüngeren  Jahren  zu  dem 
seit  545  umherwandernden  Rhapsoden  in  persönliche  Be- 
ziehungen getreten  sein.  Jedenfalls  beweist  schon  das  bereits 
mehrfach    erwähnte    Bruchstück,    dafs    er    die    Lehre    des 


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IL    Heraklit.  85 

Xenophxines  wie  die  des  Pythagoras  kennt.  Dasselbe  bezeugt 
aber  auch  seine  Bekanntschaft  mit  Hesiod  und  mit  dem 
jonischen  Geschichtschreiber  Hekatäus  von  Milet,  dem 
Vorläufer  des  Herodot,  gestorben  um  500.  Das  Fragment 
lautet :  „Viellernerei  belehrt  nicht  den  Verstand.  Sonst  hätte 
sie  den  Hesiod  belehrt  und  den  Pythagoras,  ferner  auch 
Xenophanes  und  Hekatäus."  Dafs  er  jedoch  von  Xenophanes 
auch  in  wesentlichen  Punkten  beeinflufst  worden  ist,  wird 
die  Darstellung  seiner  Lehre  zeigen. 

Vornehmlich  aber  mufs  eine  starke  Beeinflussung  durch 
die  Denker  des  benachbarten,  ebenfalls  jonischen  Milet  mit 
Entschiedenheit  angenommen  werden.  Zwar  liegt  ein  direktes 
Zeugnis  dafür  nicht  vor.  Dafs  jedoch  eine  solche  statt- 
gefunden, dafür  spricht  der  ganze  Charakter  seiner  Lehre. 
Hatten  ja  doch  Anaximander  und  Anaximenes  ihre 
Lehre  schriftlich  niedergelegt.  Und  dafs  er  Thaies  kannte 
und  beifällig  erwähnt  hat,  ist  bereits  angeführt. 

Der  Schrift,  in  der  Heraklit  seine  Weisheit  niederlegte, 
wurde  nur  nach  allgemeinem  Herkommen  und  in  wenig  zu- 
treffender Weise  der  Titel  „Über  die  Natur"  beigelegt 
(D.  L.  5).  Andere  gaben  ihr  den  Titel  „Die  Musen"  (ib.  12), 
was  aber  wohl  nur  auf  Mifsverständnis  einer  Platostelle  be- 
ruht (Soph.  242  D).  Dafs  sie  aus  drei  Teilen,  einem  kosmo- 
logischen,  einem  ethisch-politischen  und  einem  theologischen 
bestanden  habe  (D.  L.  5),  ist  wenig  glaubwürdig.  Nach  dem 
Urteil  solcher,  die  das  Buch  noch  gekannt  haben,  überwog 
darin  das  ethisch-politische  Interesse  weitaus  das  der  Natur- 
erklärung (ib.  12,  15;  vgl.  S.  Emp.  Dogm.  L  7),  und  das 
einzige  Zeugnis,  das  über  die  Stelle  einiger  der  erhalteneu 
Fragmente  in  dem  Buche  vorhanden  ist,  belehrt  uns,  dafs  er 
gleich  in  den  ersten  Sätzen  mit  den  ethischen  Konsequenzen 
seiner  Weltanschauung  herausplatzte.  Der  erste  Satz  besagte 
nämlich,  dafs  die  Menschen  im  allgemeinen  der  ewigen  Welt- 
vemunft,  wie  er  sie  verkündige,  verständnislos  gegenüber- 
ständen, und  dann  folgte  nach  einer  kurzen,  für  uns  ver- 
lorenen Ausführung  der  Gedanke,  es  sei  eine  Notwendigkeit, 
nach  dieser  gemeinsamen  einheitlichen  Weltvernunft  sein 
Leben  einzurichten,  wenngleich   die  Masse  lebe,   als  ob  sie 


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Qi)    Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

eine  Privateinsicht  besäfse  (S.  Emp.  D.  IL  132  f.;  Arist. 
1407b,  11).  Zufällig  sind  wir  gerade  über  die  Naturansicht 
Heraklits  genauer  unterrichtet,  und  dadurch  entsteht  der 
Schein,  als  ob  er  derselben  ein  besonderes  Interesse  gewidmet 
habe. 

Der  Form  nach  zeichnete  sich  diese  Schrift  durch  eine 
Fülle  höchst  eindrucksvoller  Wendungen,  durch  einen  echten 
Prophetenstil  aus.  Dies  hat  wesentlich  mit  dazu  beigetragen, 
dafs  so  viele  seiner  Aussprüche  bis  in  die  spätesten  Zeiten, 
zum  Teil  als  geflügelte  Worte,  angeführt  wurden  und  uns  so 
eine  ziemliche  Zahl  heraklitischer  Sätze  erhalten  sind. 
Andemteils  lag  in  dieser  altertümlich  ungefügen,  bilder- 
reichen, nicht  in  logischem  Gedankengange  und  in  über- 
sichtlich gebauten  Sätzen  einherschreitenden  Rede  schon  fllr 
die  Alten  ein  schweres  Hindernis  des  Verständnisses.  Von 
Sokrates  wird  erzählt  (D.  L.  II.  22;  IX.  11),  dafs  er  sie 
sich  einst  von  Euripides  geborgt  und  beim  Zurückgeben  ge- 
sagt habe,  was  er  verstanden,  sei  vortrefflich,  er  nehme 
daher  auch  von  dem,  was  er  nicht  verstanden  habe,  das 
gleiche  an;  sie  erfordere  aber  einen  dolischen  Taucher. 
Aristoteles  tadelt  (1407b,  11)  an  ihr,  dafs  man  oft  nicht 
wisse,  ob  ein  Wort  zum  vorhergehenden  oder  zum  folgenden 
zu  ziehen  sei,  und  Theophrast  urteilte,  er  spreche  aus 
Melancholie  manches  nur  halb  aus,  anderes  bald  so,  bald 
anders.  Auf  letzterem  beruhen  wohl  auch  die  Urteile,  die 
den  Berichten  über  seine  Naturlehre  bei  Diog.  Laert  (IX.  7 
und  8 — 11)  eingefügt  sind.  Hier  wird  einesteils  die  bis- 
weilen höchst  lichtvolle  und  erhebende,  an  Kürze  und  Gre- 
wichtigkeit  unvergleichliche  Darstellung  gerühmt,  andem- 
teils aber  mehrfach  betont,  dafs  wichtige  Punkte  im  Unklaren 
bleiben.  Der  Pyrrhoneer  Timon  hatte  ihn  im  Philosophen- 
kampfe in  der  Unterwelt  einesteils  als  den  „Kräher*  und 
„Pöbelschmäher'',  andemteils  aber  als  den  „Bätsler*  ein- 
geführt (D.  L.  IX.  6),  und  im  späteren  Altertum  war  für 
ihn  die  Bezeichnung  „der  Dunkle""  stehend  geworden.  Zahl- 
reiche Erläuterungsschriften  von  Philosophen  wie  von  Gram- 
matikern wurden  ihm  gewidmet  (D.  L.  15). 

In    welchen  Zeitpunkt   des  Lebens  Heraklits   die   Ab- 


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II.    Heraklit  8^7 

fassung  dieser  Schrift  fallt,  ist  nicht  bekunat.  Nach  einer 
alten  Nachricht  soll  der  Hermodoros,  dessen  Verbaoanng. 
iu  ihr  erwähnt  wird,  bei  der  Gesetzgebung  der  Decemvim 
in  Rom,  452,  hilfreiche  Hand  geleistet  haben.  Wäre  dies  ge- 
schichtlich, so  müfste  seine  Verbannung  aus  Ephesus  und 
also  auch  die  Abfassung  der  Schrift  möglichst  weit  herab- 
gertickt  werden.  Ja,  es  müfste  selbst  die  Lebensdauer 
Heraklits  anders  bestimmt  werden,  wenn  man  nicht  annehmen 
wollte,  dafs  sein  Freund  Hermodor  zur  Zeit  seines  Todes 
(480)  noch  in  ziemlich  jugendlichem  Alter  gestanden  hätte. 
Es  scheint  aber  die  Erzählung  von  dem  römischen  Wirken 
Hermodors  nicht  genügend  beglaubigt  zu  sein  und  so  kann 
über  die  Abfassungszeit  der  Schrift  nur  gesagt  werden,  dafs 
sie  mutmafslich  nach  500,  vielleicht  gegen  Ende  seines 
Lebens  um  480,  anzusetzen  ist. 

Die  erhaltenen  Fragmente  der  Schrift,  ungefähr  130  an 
der  Zahl,  sind  von  By water  (Oxford  1877)  unter  voll- 
ständiger Beifügung  des  Zusammenhanges,  in  dem  sie  vor- 
kommen, gesanmielt  worden.  Mehrfache  Erweiterungen  und 
Verbesserungen  in  dieser  Sammlung  bietet  die  sonst  knapper 
gehaltene  Schrift  von  H.  Di  eis,  Herakleitos  von  Ephesos 
(Berlin  1901),  die  auch  eine  deutsche  Übersetzung  und  eine 
Zusammenstellung  der  sonstigen  über  Heraklit  und  seine 
Lehre  erhaltenen  Nachrichten  gibt.  Nach  dieser  Schrift 
werden  im  Nachfolgenden  die  Fragmente  angeführt  werden. 
Die  grundlegende  Arbeit  für  die  Sammlung  der  Fragmente 
ist  von  Fr.  Schleiermacher  geleistet  worden;  ein  zwei- 
Mndiges  Werk  über  Heraklit  hat  der  bekannte  sozialistische 
Agitator  Ferdinand  Lassalie  verfafst. 

Die  erhaltenen  Fragmente  geben  zwar  über  die  hervor- 
ragendsten Punkte  in  der  Lehre  Heraklits,  nicht  aber  über 
den  Zusammenhang  seiner  Lehre  Aufschlufs.  Es  ist  auch 
unmöglich,  aus  ihnen  den  Gedankengang  des  Buches  zii  er- 
kennen. Manche  von  ihnen  bleiben  schon  deshalb  unverständ- 
lich, weil  der  Zusammenhang,  in  dem  sie  gestanden  haben, 
nicht  bekannt  ist.  Eine  zusammenhängende  Anschauung 
wenigstens  über  seine  Weltvorstellung,  beruhend  auf  dem 
grofsen   Geschichtswerke   Theophrasts,   in  etwa  aber  auch 


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88  Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Über  seine  sonstigen  Lehren,  geben  die  (bei  Diels  zu- 
sammengestellten) indirekten  Nachrichten  bei  Diogenes 
Laertius  und  anderen.  Es  wird  sich  empfehlen,  bei  der 
Darstellung  der  Lehre  diese  indirekten  Nachrichten  zu  Grunde 
zu  legen  und  dann  erst  die  Fragmente  für  die  betreffenden 
Lehrpunkte  reden  zu  lassen. 

1.  Der  auf  Theophrast  beruhende  Abrifs  seiner  Natur- 
lehre bei  Diogenes  Laertius  (IX.  8 — 11).  Der  Grundstoff 
aller  Dinge  ist  das  Feuer  (vgl.  Aristot.  984,  7).  Wie  bei 
Anaximenes  äufsert  sich  die  Lebendigkeit  des  Feuers,  soweit 
sie  als  Umwandlung  in  andere  Stoffe  zutage  tritt,  als  Ver- 
dichtung und  Verdünnung.  Diese  beiden  Vorgänge  haben 
aber  hier,  weil  das  Feuer,  der  dünnste  und  leichteste  Stoff, 
den  Ausgangspunkt  bildet,  eine  wesentlich  andere  Stellung 
als  in  dem  System  des  Anaximenes.  Bei  diesem  stellten  sich 
Verdichtung  und  Verdünnung  als  zwei  gleichzeitige,  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  eintretende  Umwandlungsrichtungen 
dar  (Luft  — Feuer;  Luft  —  Feuchtes  und  Festes).  BeiHera- 
klit  werden  daraus  zwei  successive  Reihen  der  Umwandlung, 
die  Reihe  der  Verdichtung,  von  Heräklit  der  Weg  abwärts 
genannt,  und  die  Reihe  der  Verdünnung,  von  ihm  der  Weg 
aufwärts  genannt,  beide  mit  den  beiden  Stufen  des  Feuchten 
oder  Flüssigen  und  des  Festen.  Die  Luft  als  Zwischenstufe 
liefs  er  völlig  ausfallen.  An  die  Stelle  derselben  trat  ihm 
die  Ausdünstung  (anathymlasis).  Diese  föUt  zusammen  mit 
der  Verdünnung  oder  dem  Wege. aufwärts  und  ist  von  dop- 
pelter Art.  Als  lichte  Ausdünstung  geht  sie  aus  vom 
Feuchten  und  bildet  den  Rückgang  vom  Feuchten  zum 
Feurigen.  Wir  haben  hier  offenbar  die  schon  bei  Thaies  er- 
wähnte kindliche  Vorstellung  von  der  Umwandlung  des 
Wassers  in  Feuer,  die  man  beim  sogenannten  Wasserziehen 
der  Sonne  vor  Augen  zu  haben  glaubte.  Als  dunkle  Aus- 
dünstung geht  sie  aus  von  der  Erde.  Diese  mufs  wegen 
der  zu  Grunde  liegenden  Stufenfolge  in  der  Umwandlung 
in  Wasser  enden.  Offenbar  betrachtete  er  hier  die  dunklere, 
trübere  Luft  als  Zwischenstufe,  entsprechend  der  Bildung 
der  Wolken  und  des  Wassers  in  der  Luft. 

Schon    im    Zusammenhange    mit     diesen    allgemeinen 


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II.   Heraklit.  89 

GrundzfigeD  des  Naturgeschehens  hatte  er,  nach  dieser  Dar- 
stellung zu  schliefsen,  drei  für  seine  Naturanschauung  be- 
sonders charakteristische  Begriffe  betont,  den  des  bestän- 
digen Fliefsens,  den  des  Übergehens  in  das 
Gegenteil  und  den  der  Naturnotwendigkeit.  Der 
vorstehend  geschilderte  ümwandlungsprozefs  ist  im  ganzen 
der  Welt  in  beständigem  Gange,  wie  bei  einem  fliefsenden 
Wasser  (S.  Emp.  Hyp.  III.  115);  diese  kontinuierliche  Um- 
wandlung ist  aber  zugleich  ein  Übergang  in  ein  Entgegen- 
gesetztes (Feuer  in  Wasser,  Flüssiges  in  Festes,  und  um- 
gekehrt (Plato  Soph.  242  D;  Symp.  187  A);  endlich  ist  das 
Ganze  dieser  Vorgänge  fest  geregelt  durch  ein  dem  Welt- 
geschehen innewohnendes  Gesetz ,  die  Naturnotwendigkeit 
(heimarmSne),  wie  sie  schon  Anaximander  gelehrt  hatte. 
Auf  ihr  beruht  es,  dafs  der  Weg  aufwärts  und  abwärts  für 
das  Ganze  der  Welt  in  ewigem  Wechsel  nach  bestimmten 
Zeiträumen  einander  ablösen.  Auf  eine  Weltperiode  der 
Umwandlung  des  Feuers  in  die  anderen  Stoffe  folgt  eine 
solche  der  Rückverwandlung  derselben  in  Feuer.  Erstere 
Richtung  des  Weltprozesses  habe  er  auch  Krieg  und  J^nt- 
zweiung,  letztere  (oder  eher  wohl  ihren  Endzustand)  Ein- 
tracht und  Friede  genannt. 

Von  dem  Bilde,  das  sich  Heraklit  von  der  auf  diese 
Weise  entstehenden  Welt  machte,  hatte  Theophrast  offenbar 
aus  seinem  Buche  nur  eine  unzureichende  Vorstellung  ge- 
winnen können.  Der  Auszug  betont  ausdrücklich,  dafs  über 
die  Beschaffenheit  der  das  Ganze  einschliefsenden  Welthülle 
sowie  über  die  Beschaffenheit  (und  Gestalt)  der  Erde  keine 
bestimmte  Aussage  vorliege.  Bei  ersterem  Punkt  müssen 
wir  uns  erinnern,  dafs  bei  Thaies  und  Anaximenes  die 
Annahme  einer  das  Ganze  umschliefsenden  Hohlkugel  min- 
destens unerweislich  war,  dafs  sie  bei  Anaximander  nur 
als  eine  vorübergehende,  nachher  wieder  zerplatzende,  in 
einer  Zwischenphase  der  Weltbildung  vorhanden  ist  und  dafs 
Xenophanes  sie  offenbar  gänzlich  beiseite  gelassen  hat. 
Heraklit  hat,  wie  sich  gleich  zeigen  wird,  dies  Bestandstück 
des  Weltalls  so  wenig  nötig  wie  Xenophanes.  Und  was  die 
Erde  betrifft,   so  hat  er  es  offenbar  nicht  der  Mühe  wert 


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90   Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

gehalten,  über  ihre  Gestalt  besonders  nachzudenken;  er  wird 
sich  wohl  bei  der  dem  Augenschein  entsprechenden  Scheiben- 
form beruhigt  haben. 

Den  Himmelskörpern  erkannte  er  so  wenig,  wie  Xeno- 
])hanes,  von  dem  er  in  diesem  Punkte  ganz  offenbar  ab- 
hängig ist,  eine  selbständige  und  dauernde  kosmische  Existenz 
zu.  Sie  sind  flüchtige,  von  Tage  zu  Tage  wechselnde  An- 
häufungen der  lichten  Ausdünstungen  des  Wassers  im  nächsten 
Umkreise  der  Erde  (vgl.  Plato  Rep.  498  B;  Aristot.  355, 14). 
Dies  ist  denn  auch  der  Grund,  dafs  die  Vorstellung  von  einer 
Kugelhülle  der  Welt,  an  der  etwa  die  Fixsterne  angeheftet 
wären,  ihm  so  wenig  wie  Xenophanes  in  den  Sinn  kam. 
Von  diesem  unterscheidet  er  sich  nur  durch  die  Annahme 
hohler  GefÄfse  mit  der  Erde  zugekehrter  Öffnung,  in  denen 
sich  die  betreffenden  feurigen  Dünste  ansammeln.  Er  kam 
auf  diese  interessante  Verbesserung  des  xenophanischen 
Weltbildes  wohl  einesteils  durch  die  Erwögung,  dafs  die 
Himmelskörper  doch  eine  scharf  umrissene  Kreisform  zeigen, 
anderenteils  durch  die  bequemere  Erklärungsmöglichkeit  der 
an  den  Himmelskörpern  vorkommenden  Veränderungen.  Hier- 
über erfahren  wir  nämlich  folgendes:  Die  Sterngefäfse  sind 
am  weitesten  von  der  Erde  entfernt;  so  erklärt  es  sich,  dafs 
der  in  ihnen  angesammelte  Feuerdunst  am  wenigsten  Licht 
und  Wärme  verbreitet.  Der  Mond  andererseits  ist  uns  am 
nächsten,  aber  seine  Licht-  und  Wärmewirkung  wird  durch 
die  gröfsere  Dichtigkeit  der  Erdausdünstung  (also  unsere 
Luft)  stark  beeinträchtigt.  Die  Sonne  dagegen  bewegt  sich 
in  dem  mittleren  Räume,  wo  die  dichte  Erdausdünstung 
fehlt.  So  kann  ihre  Licht-  und  Wärmewirkung  voll  zur 
Geltung  kommen,  ihre  Entfernung  von  uns  ist  dieser  ent- 
sprechend. Unerklärlich  bleibt  dabei  freilich,  dafs  diese 
nicht,  wie  beim  Monde,  durch  die  finstere  Erdausdünstung 
beeinträchtigt  wird.  Doch  das  ist  eine  Kleinigkeit  im  Ver- 
gleich mit  den  sonstigen  Schwierigkeiten,  über  die  sich  das 
um  diese  Dinge  wenig  bekümmerte  Denken  Heraklits  hinweg- 
setzt. Die  monatlichen  Wandlungen  des  Mondes  entstehen 
dadurch,  dafs  sich  das  Gefäfs  im  Laufe  eines  Monats  lang- 
sam, aber  stetig  um  seine  Achse  dreht,  die  Finsternisse  beider 


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II.    Heraklit.  91 

Himmelskörper  durch  ein  mehr  oder  minder  vollständiges, 
einmaliges  Umkippen  der  Gef&fse.  Bei  Nacht  füllt  sich  das 
Sonnengefäfs  mit  der  dunklen  Ausdünstung;  die  Licht-  und 
Wärmezunahme  im  Sommer  erklärt  sieh  durch  Zunahme  der 
lichten  Dünste,  das  Gegenteil  im  Winter  durch  stärkere  Bei- 
mischung der  dunklen  Ausdünstungen  (eine  staunenswerte 
Umkehrung  der  natürlichen  Aufeinanderfolge  von  Ursache 
und  Wirkung!).  Dafs  sich  Heraklit  über  die  Gefäfse,  d.  h. 
doch  wohl  über  den  Grund  ihi'er  regelmäfsigen  Bewegung, 
insbesondere  beim  Sonnengefäfs  über  den  Weg  der  nächt- 
lichen Rückbeförderung  zur  Aufgangsstelle,  nicht  näher  er- 
klärt habe,  betont  unser  Bericht  mit  Bedauern.  Aufserdem 
aber  steht  auch  das  Beharren  dieser  Gefäfse  in  seltsamem 
Widerspruche  zu  seiner  Lehre  vom  rastlosen  Wandel  aller 
Dinge. 

Dafs  er  auch  die  übrigen  Himmelserscheinungen,  Regen, 
Winde  u.  dgl ,  durch  seine  Ausdünstungstheorie  erklärt  habe, 
wird  nur  summarisch  hervorgehoben.  In  der  Tat  ist  es  nicht 
schwer,  sich  die  Umwandlung  der  Erdausdünstung  in  Wasser 
und  des  Wassers  in  feurige  Erscheinungen  (Gewitter  u.  dgl.) 
aus  den  Grundvoraussetzungen  Heraklits  zu  erklären.  Zum 
Überflufs  sind  darüber  bei  den  Doxographen  einige  ebenfalls 
auf  Theophrast  zurückgehende  Angaben  erhalten. 

2.  Einige  nicht  unwichtige  Ergänzungen  zu  diesem  Be- 
richt liefert  die  ganz  kurze  Notiz  über  die  Naturlehre  Hera- 
klits, die  jenem  vorangeht  (§  7)  und  ebenfalls  ihren  letzten 
Ursprung  in  Theophrast  hat.  Hier  erfahren  wir,  dafs  er 
das  Wort  des  von  ihm  ja  auch  sonst  belobten  Thaies  über- 
nommen hatte:  ,, Alles  sei  voll  Götter  und  Dämonen",  das  ja 
bei  ihm,  ebenso  wie  bei  jenem,  nur  ein  Bild  ist  für  die  un- 
endliche Lebensfülle,  die  in  der  Welt  und  in  ihrem  Grund- 
fetoff,  dem  Feuer,  waltet.  Wir  erfahren  femer  die  staunens- 
werte Tatsache,  dafs  er  die  Sonne  für  nicht  gröfser  erklärte, 
als  sie  uns  erscheint,  wofür  hier  gleich  die  Bestätigung  aus 
den  Fragmenten  angefügt  werden  mag,  die  Sonne  habe  einen 
Fufs  im  Durchmesser  (Fr.  3D).  Wir  ersehen  daraus,  wie 
nahe  der  Erde,  wie  ganz  innerhalb  des  nächsten  Umkreises 
der  Erde,  er  sich  die  Bahnen  der  Himmelskörper  vorstellte. 


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92   Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Wir  erhalten  hier  endlich  eine  wörtliche  Anführung  aus 
dem  Buche  selbst,  aus  der  sich  ergibt,  dafs  er  offenbar  in 
echt  hylopsychistischer  Auffassung  das  Urfeuer  geradezu  als 
Seele  bezeichnete.  „Der  Seele  Grenzen  kannst  du  nicht  auf- 
linden und  ob  du  jegliche  Strafse  abschrittest;  so  tiefen 
Grund  hat  sie"  (Fr.  45  D).  Aristoteles  (405,  25)  erklärt 
diese  Bezeichnung  des  Urprinzips  als  Seele  daraus,  dafs  er 
es  ja  als  völlig  körperlose  und  in  beständigem  Flusse  be- 
findliche „Ausdünstung"  fasse. 

3.  Ergänzende  Züge  zu  Heraklits  Weltlehre  erhalten 
wir  ferner  aus  den  sonstigen,  meist  von  Diels  zusammen- 
gestellten Zeugnissen  späterer  Schriftsteller,  die  fast  aus- 
schliefslich  ihre  letzte  Quelle  ebenfalls  in  Theophrast  haben. 
Diese  Angaben  sind  aber  teilweise  durch  Mifsverstand  und 
Sucht  nach  Übereinstimmung  mit  sonst  bekannten  Lehren 
entstellt.  Sie  verdienen  Erwähnung  nur  soweit  das  Neue 
mit  den  vorstehenden  Grundzügen  im  Einklang  steht. 

Aus  diesen  ergänzenden  Angaben  nun  entnehmen  wir 
zunächst  einen  sehr  wichtigen,  auf  dem  Zeugnis  Theophrasts 
beruhenden  Zug  seiner  Lehre,  durch  den  er  den  von  Anaxi- 
menes  beibehaltenen  Ungedanken  Anaximanders  von  der  Un- 
endlichkeit der  Masse  des  WeltstoflFs  berichtigte.  Heraklit 
hat  ausdrücklich  den  Feuerstoff  für  der  Masse 
nach  endlich  und  begrenzt  erklärt  (D.  p.  40,  (3). 
Auch  darin  hatte  er  Xenophanes  zum  Vorgänger.  Nach 
demselben  Bericht  bezeichnete  er  ferner  die  Weltentstehung 
als  ein  Erlöschen  desUrfeuers.  Nach  einer  anderen  An- 
gabe (Philo  Leg.  Alleg.  IIL  3)  nannte  er  sie  „Mangel",  den 
Feuerzustand  dagegen  „Sättigung".  Wir  erfahren  ferner, 
dafs  er  die  Dauer  einer  Weltjieriode  auf  10800  Jahre  be- 
stimmte. Auf  diese  Zahl  kam  er  in  folgender  Weise:  Das 
Menschenalter  oder  Geschlecht  bestimmte  er  als  denjenigen 
Zeitraum,  innerhalb  dessen  ein  jetzt  Geborener,  die  Zeugungs- 
fähigkeit auf  14  Jahre  angenommen,  möglicherweise  Grofs- 
vater  werden  könnte,  d.  h.  auf  30  Jahre.  Dieses  Menschen- 
alter nun  als  Welttag  angesetzt  und  mit  360,  der  von  ihm 
angenommenen  Tageszahl  des  Jahres,  multipliziert,  ergibt 
die  Zahl  10800  als  die  des  „Weltjahres"  oder  grofsen  Jahres. 


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II.   Heraklit.  93 

Man  sieht  also,  dafs  nicht  nach  irgendwelchen  Welt- 
vorgängen, sondern  in  ganz  willkürlicher  Anlehnung  an  das 
Menschenleben  die  Dauer  des  Weltjahres  bestimmt  wird 
(D.  p.  41  flf.,  13,  19).  Gemeint  ist  offenbar  der  ganze  Ver- 
lauf eines  einmaligen  Weltprozesses  vom  Beginn  der  Um- 
wandlung des  Feuers  bis  wieder  zum  vollendeten  Rückgang 
in  Feuer.  Es  mufs  dies  schon  deshalb  angenommen  werden, 
weil  Heraklit  offenbar  einen  bestimmten  Endpunkt  des  Weges 
abwärts,  wo  also  aller  Stoff  zum  Festen  erstarrt  sein  werde, 
nicht  angenommen,  sondern  sich  während  einer  Weltperiode 
den  Weg  abwärts  und  aufwärts  als  beständig  nebeneinander 
herlaufend  und  einander  fortwährend,  wenigstens  teilweise, 
aufhebend  und  ausgleichend  vorgestellt  hat.  Jedenfalls  hat 
er  solche  Weltperioden  angenommen  ( Arist.  319  b,  15).  Die 
Bezeichnung  des  Weges  abwärts  als  Streit  und  Entzweiung 
erhält  eine  Ergänzung  an  der  Angabe,  dafs  Heraklit  Homer 
wegen  des  Verses  „Möchte  doch  Entzweiung  von  den  Göttern 
und  Menschen  schwinden"  (Jl.  18,  107)  heftig  getadelt  habe; 
könne  doch  nur  auf  Grund  des  Hervortretens  der  Gegensätze 
Harmonie  entstehen!  (D.  43,  22).  Damit  hängt  zusammen 
das  Zeugnis,  dafs  er  dem  Streit  geradezu  den  Namen  des 
ol)ersten  Gottes,  des  Weltherrschers  Zeus,  beigelegt  hat 
(Philodem  bei  D.  Dox.  548). 

Weil  die  Umwandlung  in  das  Entgegengesetzte  nicht 
durch  ein  plötzliches  Umschlagen,  sondern  in  der  Form  des 
stetigen  Überganges  stattfindet,  ist  das  Entgegengesetzte 
zugleich  an  den  Dingen.  In  diesem  Sinne  behauptete 
Heraklit  (S.  Emp.  Hyp.  II.  63),  der  Honig  sei  zugleich  süfs 
und  bitter  (wie  er  ja  in  der  Tat  den  Kranken  bitter 
schmeckt). 

Wir  erfahren  ferner,  dafs  die  Seelen  der  belebten  Wesen 
auf  der  Erde,  einschliefslich  des  Menschen,  gleichartig  sind 
der  allgemeinen  Seele,  d.  h.  dem  Feuer,  wie  es  überall  und 
jederzeit  als  Ausdünstung  des  Feuchten  sich  bildet,  und  dafs 
die  Seele,  wenn  sie  im  Tode  den  Körper  verläfst,  mit  der 
allgemeinen  Feuerseele  des  All  verschmilzt  (D.  41,  15). 

In  einer  ausführlichen  Darlegung  berichtet  endlich 
Sextus  Empiricus,  der  Pyrrhoneer  um   200  nach  Chr. 


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94   Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

(Dogm.  II.  126—134;  D.  41,  16),  dafg  Heraklit  daß  Welt- 
fauer,  für  das  wir  bereits  die  Bezeichnimg  Seele  gefanden 
ha^en,  in  einer  über  die  alten  Milesier  weit  hiiumegehenden 
Weise  seigar  äIs  eine  einheitliche  Weltvernanft  ge- 
fafst  habe.  Hier  ist  der  eigentliche  Höhepunkt  des  Hylo- 
\psycliiamus  erreicht:  der  Weltstoff  ist  zugleich  und  an 
sidi  selbst  Bicht  nur  Weltseele,  sondern  Welt  Vernunft, 
vernünftige  Weltseele.  Dadurch  wird  also  auch  das  inne- 
wohnende Gesetz  der  unverbrüchlichen  Notwendigkeit,  nach 
dem  alles  in  der  Welt  geschieht,  ein  Veraunf tgesetz ;  das 
Weltgeschehen  ist  in  allen  seinen  Besonderbeiten  vernünftig. 

Es  wird  hier  ferner  näher  geschildert,  in  welcher  Weise 
die  menschliche  ßeele,  die  ja  von  den  Fliefsen,  der  be- 
ständige Umwandlung  aller  Dinge  in  ihr  Gegenteil,  nicht 
ausgeoommen  ist,  ihre  Feuematur,  die  also  zugleich  ihre 
Vernunftnatur  ist ,  aus  dem  überall  vorhandenen  Feuerstoff 
beständig  ergänzt.  Die  JKanftle,  durdi  die  dies  geschieht, 
sind  nicht  nur  die  Atmungsorgane,  sondern  anoh  die  Slnnes- 
werkzeuge.  Wenn  diese  im  Schlafe  geschlossen  sind  und 
nur  die  Einatmung  in  Tätigkeit  ist,  wird  das  Band,  das  die 
Seele  mit  dem  allgemeinen  Feuer-  und  Vernunftstofiie  ver- 
knüpft, erbeblich  gelockert.  Wie  Kohlen,  die  vom  Feuer 
entfernt  werden,  erlischt  das  Seelenfeuer;  wir  werden  fast 
vemunftlos.  Aus  demselben  Grunde  gelten  ihm  auch  die 
allgemein  und  bei  allen  auftretenden  Überzeugungen  als 
Offenbarungen  der  Weltvernunft,  die  Privatansichten  der 
einzelnen  aber  als  unzuverlässig  und  unwahr.  Noch  kürzer 
und  schärfer  drückt  ßext.  Empir.idiesen  Gedanken  Heraklits 
an  einer  anderen  Stelle  (Dogm.  II.  286)  folgendermafsen 
aus:  Der  Mensch  ist  nicht  vernünftig;  nur  der  allg^ateine 
Weltstoff  ist  der  Vernunft  teilhaftig.  Die  wahre  Erkenntnis 
^beruht  auf  der  Gleichartigkeit  der  Seele  mit  diesem.  „Das 
Bewegte  wird  durch  das  Bewegte  erkannt*  (Aristot.  405, 27). 

Mit  der  gröfsten  Wahrscheinlichkeit  haben  wir  auch  in 
dieser  Steigerung  der  seelischen  Natur  des  Weltstoffes  zur 
Vernünftigkeit  eine  Einwirkung  des  Xenophanes  su  er- 
kennen, bei  dem  ja  auch  der  kugelförmige  Gott  als  Ganzes 
denkend  ist. 


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II.    Heraklit.  '  95 

Dadurch,  dafe  Heraklit  die  Sinne  als  Kanäle  der  Nah- 
ruiigSEufuhr  für  das  Yernunftvermö^en  ansieht,  entsteht  eine 
gewisse  Unklarheit  in  Bezug  auf  die  eigentliche  Verrichtung 
der  Sinne,  die  Vermittlung  von  Eindrücken  der  Aufsenwelt. 
Es  läfst  sich  nicht  entscheiden,  ob  er  diese  beiden  Ver- 
richftnBgen  als  einerlei  oder  als  verschieden  angesehen  hat, 
ja,  ob  er  sie  überhaupt  in  seinem  Denken  unterschieden  hat. 
Jedenfalls  gehört  hierher  der  in  diesem  Zusammenhange  von 
Sext.  Empir.  erhaltene  Ausspruch  (Fr.  107  D):  „Üble  Zeugen 
-sind  den  Menschen  Augen  und  Ohren,  wenn  sie  Barbaren- 
seelen haben.**  Hier  wird  ofienhar  das  Zeugnis  der  Sinne 
nidit  an  sich  und  überhaupt  verworfen,  sondern  nur  die 
ricktige  Auffassung  und  Verwertung  desselben  von  der 
richtigen  Vernunftbeschaffenheit  der  Seele  abhängig  gemacht. 
Unter  den  Sinnen  als  Zeugen  gab  er  aber  femer  weitaus 
dem  Aage  den  Vorzug  in  Vergleichung  insbesondere  auch 
mit  dem  Ohr  (D.  42,  17),  was  wohl  auch  wieder  mit  der 
Vorstellung  von  d^  AufnaJime  der  lichten  Ausdünstungen 
duffch  die  Sinne  in  .Zusammenhaog  steht. 

Ihifs  er  die  Weltnotwendigkeit  (heinutm^ne),  die  das  All 
diurchwaltet  und  daseiende  durch  Umwandlung  in  die  Gegen- 
sätze ^staltet,  auch  geradeau  Vernunft  (l<^gos)  genannt 
habe,  bezeugen  auch  noch  zwei  andere  Stellen  (Stob.  I.  85 
und  .78;  D.  301,  322).  Nach  einem  anderen  Zeugnis  (D.  559) 
sdII  er  Gott  geradezu  ein  vernünftiges  Feuer  genannt  haben. 

Sehr  viel  weniger  indirekte  Zeugnisse  als  über  seine 
Naititrlehre  besitzen  wir  über  die  auf  das  Leben  gerichtete 
Seite  seines  Denkens.  Hier  ist  zunächst  von  grundlegender 
Bedestung  die  Angabe  (D.  43,  21),  er  habe  für  das  Lebens- 
ziel, für  den  Inbegriff  aller  Befriedigung  und  den  Ausgangs- 
punkt des  richtigen  praktischen  Verhaltens  das  „Wohlgefallen" 
(euar^stesis),  d.  h.  offenbar  die  freudige  Einstimmung  in  die 
Weltordnung  erklärt.  Dafs  es  ungeschichtlich  ist,  Heraklit 
schon  den  erst  viel  später  auftauchenden  Begriff  des  Lebens- 
ziels beizulegen,  bedarf  keines  Beweises.  Das  Richtige  in 
dieser  Angäbe  besteht  darin,  dafs  er,  wie  schon  im  Bisherigen 
hervorgetreten  ist  und  im  weiteren  Verlaufe  noch  bestimmter 
hervortreten  wird,  mit  grofser  Emphase  die  Vemünftigkeit 


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9()   Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

der  Weltordnung  pries,  sowie  dafs  er  in  der  Erkenntnis 
dieser  Vernünftigkeit  eine  hohe  Freudigkeit  und  Zufrieden- 
heit empfand  und  eine  volle  Anpassung  an  dieselbe  auch  im 
jiraktischeii  Verhalten  als  notwendig  Jforderte.  Es  ist  eine 
Art  religiöser  Grundstimmung  dem  Weltgrunde  und  der  Welt- 
einrichtung gegenüber,  aus  der  auch  die  entsprechende 
Lebenshaltung  hervorgeht.  Ja,  man  kann  sagen,  es  liegt  in 
dieser  Stimmung  dem  Weltgrunde  gegenüber  der  erste  Keim 
der  griechischen  Mystik,  wenn  man  unter  Mystik  im  weiteren 
Sinne  ein  religiöses  Verhalten  ohne  Gunstbewerbung  ver- 
steht. Dafs  er  auch  das  Wort  „Wohlgefallen"  selbst  schon 
gebraucht  hat,  ist  nicht  unwahrscheinlich;  jedenfalls  aber 
wird  durch  dasselbe  die  ihn  beherrschende  Grundstimmung, 
das  beherrschende  Glücksgefühl  aus  der  freudigen  Zustim- 
mung zur  Weltordnung  nicht  als  blofse  resignierte  Unter- 
werfung unter  das  Unabänderliche,  sondern  auf  Grund  der 
Erkenntnis  von  ihrer  Trefflichkeit  und  ihrer  Übereinstimmung 
mit  unseren  wahren  Bedürfnissen  treffend  bezeichnet. 

4.  Nachdem  wir  so  aus  den  indirekten  Zeugnissen  eine 
tJbersicht  über  die  Lehre  Heraklits  gewonnen  haben,  werden 
wir  mit  gröfserem  Erfolg  an  den  Wortlaut  der  erhaltenen 
Bruchstücke  herantreten  können,  die  allerdings  nur  für  einen 
Teil  der  angeführten  Lehren  eine  Bestätigung  liefern,  teil- 
weise aber  auch  wieder  eine  Erweiterung  und  Vervollständi- 
gung, die  aber  jedenfalls  geeignet  sind,  uns  mit  diesem  hoch- 
gemuten Geiste  in  unmittelbare  Berührung  zu  bringen. 

Die  Summe  seiner  theoretischen  Weltansicht  gibt  folgendes 
Bruchstück  (D.  30):  „Diese  Welt,  dieselbige  für  alle  Wesen" 
(d.h.  wohl,  es  gibt  nur  eine  Welt),  „hat  weder  der  Götter 
noch  der  Menschen  einer  gemacht,  sondern  sie  war  immer- 
dar und  ist  und  wird  sein  ewig  lebendiges  Feuer;  „sein  Er- 
glimmen und  sein  Verlöschen  sind  ihre  Mafse"  (d.  h.  die 
Perioden  und  Phasen  des  Weltgeschehens). 

Diese  „Mafse"  (d.  h.  der  Weg  abwärts  und  aufwärts) 
werden  dann,  wenngleich  unvollständig,  in  folgendem  Bruch- 
stück (D.  31)  genauer  angegeben:  „Feuers  Wandlungen: 
erstens  Meer,  die  Hälfte  davon  Erde,  die  andere  Glutwind". 
(Hier  wird  gleich  die  vom  Wasser  ausgehende  lichte  und 


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II.    Heraklit.  97 

feurige  Verdunstung,  die  zugleich  seine  ständig  verlaufende 
Rückkehr  ins  Urprinzip  ist,  mitbezeichnet.)  „Es  zerfliefst 
das  Meer  und  erhält  sein  Mafs  nach  demselben  Wort"  (un- 
verbrüchliche Vernunftordnung,  lögos),  „wie  es  vorher  war, 
ehe  denn  es  Erde  ward."  Hier  scheint,  freilich  nur  in 
halben  Andeutungen,  der  Weg  aufwärts  bezeichnet  zu  werden. 
Das  Feste  ist  wieder  zum  Flüssigen  geworden,  aber  auch 
dies  „zerfliefst"  wieder,  d.  h.  erhebt  sich  auf  dem  Wege  der 
feurigen  Verdunstung  wieder  zum  XJrstoff. 

In  eigenartiger  Weise  ist  der  Weg  aufwärts  und  abwärts 
in  folgendem  Bruchstück  bezeichnet  (D.  76),  das  aber  nur 
in  entstellter  Form  überliefert  ist  und  in  echt  heraklitischer 
Fassung  \ielleicht  folgen dermafsen  gelautet  hat :  „Feuer  lebt 
des  Wassers  Tod,  Wasser  lebt  der  Erde  Tod,  Erde  den  des 
Wassers."  Hier  fehlt  nach  echt  heraklitischer  Manier,  einen 
Teil  des  Gedankens  unausgesprochen  zu  lassen,  das  erste 
Glied  des  Weges  abwärts,  die  Wandlung  des  Feuers  in  Wasser. 
Dafs  er  den  Weg  abwärts  Mangel  und  den  Weg  aufwärts 
Sättigung  nannte,  beweist  das  Bruchstück  65 D.  Und  dafs 
er  den  Weg  abwärts  als  Krieg  bezeichnete ,  dazu  pafst  das 
Wort  (53  D):  „Krieg  ist  aller  Dinge  Vater,  aller  Dinge  König. 
Die  einen  macht  er  zu  Göttern,  die  andern  zu  Menschen, 
lue  einen  zu  Sklaven,  die  andern  zu  Freien."  Dagegen  heifst 
es  von  dem  Ende  des  Weges  aufwärts:  „Das  Feuer  wird 
alles  richten  und  verdammen"  (66 D). 

Die  Summe  dieser  Umwandlungen  als  zugleich  die  Ge- 
samtheit des  Weltgeschehens  in  sich  begreifend  fafst  zusammen 
Fr.  90  D;  „Gegen  Feuer  wird  umgetauscht  das  All  und 
Feuer  gegen  das  All,  wie  Waren  gegen  Gold  und  Gold  gegen 
Waren." 

Von  grofser  Bedeutung  ist  auch  der  Satz  (60  D) :  ;,Der 
Weg  auf  und  ab  ist  der  nämliche"  (d.  h.  in  beiden  Richtungen 
der  Umwandlung  wird  dieselbe  Stufenfolge  eingehalten). 

Dafs  dieser  Wandel  nun  als  ein  beständiges  Fliefsen  in 
der  Welt  fortwährend  im  Gange  ist,  bezeichnet  das  berühmte 
Bild  vom  Flusse.  Dasselbe  ist  am  bekanntesten  in  folgender 
Fassung  (Plato;  Kratyl.  402  A;  Fr.  91 D):  „Man  kann  nicht 
«weimal  in   denselben  Flufs  hinabsteigen."     Daneben  findet 

DdriBff.    I.  7 


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98    Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

sich  aber  auch  folgender  Wortlaut :  „Wer  in  dieselben  Fluten 
hinabsteigt,  dem  strömt  stets  anderes  Wasser  zu.  Auch  die 
Seelen  (d.  h.  das  Feurige)  dünsten  aus  dem  Feuchten  empor." 

Nach-diesem  letzten  Zusatz  bezog  sich  diese  Fassung  wohl 
speziell  auf  die  Wandlung  des  Wassers  durch  die  feurige 
Ausdünstung. 

Dieses  Fliefsen  ist  aber  zugleich  ein  Übergang  in  das 
Gegenteil.  Darum  werden  die  Gegensätze  schon  in  den  Welt- 
grund selbst  verlegt:  „Gott  ist  Tag  Nacht,  Winter  Sommer, 
Krieg  Frieden,  Sättigung  Hunger"  (67  D). 

Da  aber  dieser  Übergang  kein  plötzliches  Umschlagen 
ist,  so  ist  das  Entgegengesetzte  auch  wieder  zugleich  an 
den  Dingen.  Dies  ist  wohl  der  Sinn  von  Aussprüchen,  dafs 
Tag  und  Nacht  eins  ist  (57),  desgleichen  grad  und  krumm, 
wofür  die  Krempelmaschine  als  Beweis  dienen  mufs  (59), 
gut  und  übel,  was  aus  dem  den  Patienten  schmerzhaften  und 
doch  heilsamen  Tun  der  Ärzte  folgt  (58),  rein  und  unrein; 
das  Meerwasser  den  Fischen  trinkbar  und  gesund,  den 
Menschen  untrinkbar  und  tödlich  (61). 

Nur  auf  Grund  dieses  Zusammenseins  der  Gegensätze 
entsteht  der  kräftige  Zug,  die  Spannung  im  Leben  der  Welt. 
„Das  Auseinanderstrebende  stimmt  zusammen;  es  ist  eine 
Harmonie  des  Auseinanderstrebenden,  wie  beim  Bogen  und 
bei  der  Leier"  (51).  Dieses  Bild  ist  für  den  Bogen  ohne 
weiteres  verständlich:  seine  Brauchbarkeit  beruht  auf  dem 
kräftigen  Auseinanderstreben  seiner  beiden  Arme.  Weniger 
deutlich  ist  das  Bild  der  Leier.  Man  müfste  an  eine  Leier 
denken,  bei  der  die  Saiten  zwischen  den  beiden  elastisch 
auseinanderstrebenden  Armen  selbst  aufgespannt  sind  und 
dadurch  in  Spannung  erhalten  werden. 

Wegen  dieser  Lehre  vom  Zusammensein  des  Entgegen- 
gesetzten wurde,  wie  wir  aus  Aristoteles  (1005b,  23  u.  a.St.) 
erfahren,  schon  im  Altertum  gegen  Heraklit  der  Vorwurf  er- 
hoben, er  leugne  den  nicht  nur  für  unser  Denken,  sondern 
auch  für  das  Sein  unverbrüchlichen  Satz  des  Widerspruches, 
nach  dem  an  einem  und  demselben  Objekte  nicht  zugleich 
entgegengesetzte  Bestimmungen  stattfinden  können,  nach  dem 
überhaupt  dasselbe  niclit  zugleich  sein  und  nicht  sein  kann. 


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IL    Heraklit  99 

Selbstverständlich  hat  Heraklit  von  diesem  logischen  Grund- 
satze kein  Bewufstsein  gehabt.  Dafs  er  in  der  paradoxen 
Betonung  des  Zusammenseins  des  Entgegengesetzten  in  dem 
in  beständiger  Umbildung  begriffenen  Stoffe  seiner  Verneinung 
nahekommt,  läfst  sich  allerdings  nicht  leugnen.  Wie  sehr 
dies  Zugleichsein  des  Entgegengesetzten  als  ein  charak- 
teristischer Zug  seines  Denkens  galt,  geht  auch  daraus  hervor, 
dafs  Lucian  (2.  Jahrh.  nach  Chr.)  in  seiner  „Philosophen- 
versteigerung" ihm  den  Satz  in  den  Mund  legt:  Lust  und 
Unlust,  Verstand  und  Unverstand,  Grofses  und  Kleines  sei 
im  Grunde  dasselbe  (c.  14). 

Dafs  ein  unverbrüchliches  Gesetz  in  der  Welt  waltet, 
drückt  er  folgendermafsen  aus:  „Die  Sonne  wird  ihre  Mafse 
nicht  übei-schreiten ;  sonst  werden  die  Erinnyen,  der  Dike 
(des  Weltgesetzes)  Schergen,  sie  ausfindig  machen"  (94). 

Die  seelische  und  Vernunftnatur  des  Urfeuers  findet 
schon  darin  ihren  Ausdruck,  dafs  er  es  Gott  nennt  (67). 
Besonders  nachdrücklich  wird  sie  in  folgenden  Bruchstücken 
ausgesprochen:  „Unmündig  heifst  der  Mann  der  Gottheit, 
wie  der  Knabe  dem  Manne"  (79).  „Des  Menschen  Sinn  hat 
keine  Einsichten,  wohl  aber  der  göttliche"  (78).  „Der  weiseste 
Mensch  wird  gegen  Gott  wie  ein  Affe  erscheinen  an  Weis- 
heit, an  Schönheit  und  allem  anderen"  (83).  „Einsicht 
lenkt  alles  und  jedes"  (41).  Ob  er  diese  Weltvernunft  als 
eine  bewufste  dachte,  ist  nicht  ersichtlich,  doch  wahr- 
scheinlich. 

In  seltsamem  Widerspruch  mit  dieser  Auffassung  scheint 
er  dann  gelegentlich  auch  wieder  die  souveräne  Willkür  des 
Weltwaltens  betont  zu  haben:  „Die  Welt"  (der  Äon;  was 
er  mit  diesem  Ausdrucke  meint,  ist  nicht  sicher)  „ist  wie  ein 
spielendes  Kind  beim  Brettspiel;  eines  Kindes  ist  die  Herr- 
schaft" (52).  „Die  schönste  Welt  ist  wie  ein  aufs  Gerate- 
wohl hingeschütteter  Kehrichthaufen"  (124).  Vielleicht  wollte 
er  in  solchen  Aussprüchen  nur  den  Eindruck  des  Welt- 
geschehens auf  die  unzulängliche  menschliche  Erkenntnis 
bezeichnen,  wie  er  ein  anderes  Mal  sagt,  die  unsichtbare 
Harmonie  sei  besser  als  die  sichtbare  (54). 

Dafs  die  Sonne  täglich  neu  ist,  besagt  auch  Fr.  G. 


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100  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Dafs  er  die  Wandlungen  des  Feuers  auch  auf  den 
Spezialfall  der  menschlichen  Seele  bezieht,  zeigt  Fr.  35: 
„Für  die  Seelen  ist  es  Tod,  Wasser  zu  werden;  für  das 
Wasser  Tod,  Erde  zu  werden.  Aus  der  Erde  wird  Wasser, 
aus  Wasser  Seele."  Hier  ist  der  Weg  abwärts  und  aufwärts 
für  die  Seele  vollständig  angegeben.  Ebenso  spricht  er  vom 
Tode  als  einem  „Nafswerden  der  Seele"  (77).  Ja,  er  scheint 
nach  derselben  Stelle  schon  das  körperliche  Leben  in  seiner 
Unvollkommenheit  als  eine  Art  Tod  zu  bezeichnen,  wenn  er 
sagt:  „Wir  leben  der  Seelen  Tod  und  jene  leben  unsern 
Tod."  Auf  die  Feuernatur  der  Seele,  die  freilich  fort- 
währender Zufuhr  aus  den  feurigen  Ausdünstungen  in  der 
Welt  bedarf,  deutet  der  Ausspruch  hin:  „Trockne  Seele  die 
weiseste  und  beste"  (118).  Da  im  Schlafe  die  wichtigsten 
Kanäle  dieser  Zufuhr  verschlossen  sind,  so  haben  nur  „die 
Wachenden  eine  gemeinsame  Welt",  im  Schlafe  aber  jeder 
seine  eigene  (80).  Und  den  Vernunft-  und  hilflosen  Zustand 
des  Trunkenen  erklärt  er  sich  dadurch,  dafs  „seine  Seele 
nafs"  geworden  ist  (117).  Auf  dem  nur  unvollkommenen 
Feuerzustande  der  Seele  beruht  es  denn  auch  wohl,  dafs  die 
Menge  lebt,  als  hätte  sie  einen  Privatverstand  (2)  und  dafs 
viele  Menschen  „Barbarenseelen"  haben  (107),  sowie  über- 
haupt die  geistesaristokratische  Verachtung,  mit  der  dieser 
„Kräher"  und  „Pöbelschmäher"  auf  seine  Mitbürger  und  die 
Masse  der  Menschen  überhaupt  herabblickt.  Darauf  beruht 
wohl  auch  sein  Lob  des  weisen  Bias  von  Prione,  von 
dem  er  das  Wort  übernimmt:  Die  Menge  ist  schlecht,  wenige 
sind  die  Tüchtigen  (41,  104). 

Nach  diesen  Aussprüchen  über  die  Natur  der  Seele  und 
nach  dem  ganzen,  jedes  Beharren  ausschliefsenden  Charakter 
seiner  Weltanschauung  überhaupt  kann  die  Seele  nicht  als 
eine  im  Tode  beharrende  Substanz  gelten.  So  sagt  er  denn 
auch  (26;  die  Stelle  ist  verdorben  und  im  weiteren  Verlaufe 
unverständlich):  „Der  Mensch  zündet  sich  in  der  Nacht" 
(d.  h.  im  Leben)  „ein  Licht  an ;  wenn  er  gestorben ,  ist  er 
erloschen,"  und:  „Die  Toten  sind  wertloser  als  Dünger"  (96). 
Ob  er  —  etwa  für  heroische  Übermenschen  —  eine  Aus- 
nahme von  diesem  allgemeinen  Menschenlose  statuiert  hat 


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II.   Heraklit.  101 

(„Der  Menschen  wartet  nach  dem  Tode,  was  sie  nicht  er- 
warten noch  wähnen"  [27];  „Unsterbliche  sterblich,  Sterb- 
liche unsterblich :  sie  leben  gegenseitig  ihren  Tod  und  sterben 
ihr  Leben"  [62]  und  einige  noch  dunklere  Stellen),  läfst  sich 
beim  Fehlen  des  Zusammenhangs  dieser  Aussprüche  nicht 
ermitteln.  Vielleicht  denkt  er  auch  dabei  nur  an  den  Rück- 
gang in  den  allgemeinen  WeltstoflF.  Jedenfalls  würde  er  sich 
mit  der  Annahme  einer  individuellen  Fortdauer  der  Seele, 
die  ja  auch  nur  ein  Fliefsendes,  in  fortwährender  Umbildung 
Befindliches  ist,  in  den  schroffsten  Widerspruch  mit  seinen 
eigenen  Grundvoraussetzungen  verwickeln  (Rohde,  Psyche 
IL  146  ff.). 

Wie  gering  er  von  der  Sinneswahrnehmung  und  der  er- 
fahrungsmäfsigen  Erkenntnis  dachte,  das  bezeugen  die  ab- 
schätzigen Urteile  über  seine  gelehrten  Zeitgenossen.  Nicht 
die  ,Viellernerei"  belehrt  nach  seiner  Meinung  die  Vernunft; 
diese  ist  in  ihrer  Einheit  mit  dem  Weltfeuer  unmittelbare, 
selbstgenugsame  Erkenntnisquelle.  Nicht  ein  logisch-metho- 
disches Denken,  sondern  unmittelbare  Vemunftanschauung 
führt  zur  Wahrheit. 

Dafs  Heraklit  auch  ein  Gefühls  Verhältnis  und  zwar 
ein  positives,  freudig  bejahendes  zum  Weltgrunde  statuierte 
und  daraus  auch  eine  Regel  des  praktischen  Verhaltens  ab- 
leitete, dazu  bringen  die  Fragmente  ebenfalls  bedeutsame 
Bestätigungen. 

Zunächst  freilich  möchte  man  ihn  nach  den  Prädikaten, 
die  er  den  beiden  entgegengesetzten  Weltzuständen  gibt,  für 
eioen  ausgemachten  Pessimisten  und  sein  Werturteil  über 
die  Welt  für  ein  negatives  halten.  Der  reine  Feuerzustand 
ist  Eintracht,  Friede,  Sättigung,  der  Zustand  als  Welt  Streit, 
Entzweiung,  Mangel.  Darnach  müfste  ihm  der  vorhandene 
Weltzustand  im  Vergleich  mit  dem  Ausgangszustand  als  ein 
Abfall,  eine  Verschlechterung,  also  als  ein  Unglück  erschienen 
sein.  Dazu  scheint  auch  das  Prädikat  zu  stimmen,  mit  dem 
er  selbst  im  Gegensatz  gegen  Demokrit,  den  lachenden 
Philosophen,  als  der  weinende  Philosoph  auf  die  Nachwelt 
gekommen  ist.  Aber  diese  Prädikate  beziehen  sich,  wie  bei 
Demokrit    gezeigt   werden    soll,    doch    wohl    nur    auf    die 


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I(j2  Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Haltung,  die  beiden  der  Torheit  und  Verkehrtheit  der 
Menschen  gegenüber  beigelegt  wurde. 

Auch  ist  er  ganz  und  gar  nicht  gewillt,  obige  Kon- 
sequenz zu  ziehen.  Er  ist  durchaus  optimistisch  gestimmt. 
Die  Welt  ist  vernünftig  (41,  78);  die  unsichtbare  Harmonie 
ist  besser  als  die  sichtbare  (54).  „Der  Gottheit  ist  alles 
schön  und  gut  und  gerecht,  während  die  Menschen  einiges 
für  gerecht,  anderes  für  ungerecht  halten"  (102).  Für  den 
„Streit",  durch  den  die  Welt  entstanden  ist,  nahm  er  leb- 
haft Partei  gegenüber  dem  frommen  Wunsche  Homers.  Die 
schönste  Harmonie  entspringt  nur  aus  ihm  (8). 

Der  eigentlichste  Grund  aber  seines  Wohlgefallens  au 
dem  vorhandenen  Weltzustande  liegt  darin,  dafs  ihm  der 
Streit  mit  seinen  Wechselfällen  unterhaltender  und  er- 
frischender erscheint  als  das  Einerlei  eines  ewigen  Friedens- 
zustandes. „Krankheit  macht  die  Gesundheit  angenehm, 
Übel  das  Gute,  Hunger  die  Sättigung,  Mühsal  die  Ruhe" 
(111).  „Es  ist  nicht  gut,  wenn  den  Menschen  alle  ihre 
Wünsche  erfüllt  werden"  (110).  „Im  Wandel  liegt  eine  Er- 
holung; ermüdend  ist  es,  immer  denselben  zu  frönen  und 
zu  dienen"  (84).  „Auch  der  Mischtrank  zersetzt  sich,  wenn 
er  nicht  immer  umgerührt  wird"  (125).  Und  das  „Nafs- 
werden"  im  Tode  erscheint  ihm  als  eine  Lust  für  die  Seele 
(77).  Nach  solchen  Stellen  müssen  wir  annehmen,  dafs  er 
vornehmlich  in  dem,  worin  er  die  tiefste  Eigentümlichkeit 
der  Weltordnung  findet,  in  dem  ewigen  Wechsel  aller  Zu- 
stände, ihre  Vernünftigkeit,  ihre  Trefflichkeit,  ihren  Gefühls- 
wert als  zureichenden  Grund  menschlicher  Befriedigung  er- 
kennt. 

Aus  diesem  gleichsam  religiösen  Verhalten  zur  Welt- 
ordnung hat  aber  Heraklit  auch,  wenigstens  den  Grundzügen 
nach,  die  einzuschlagende  Richtung  des  Handelns  abgeleitet. 
„Eins  ist  das  Weise,  zu  erkennen  die  Einsicht,  die  alles  lenkt" 
(41).  „Torheit  ist  es,  dafs,  während  es  eine  einheitliche 
Vernunft  gibt,  die  Menge  lebt,  als  hätte  sie  einen  Privat- 
verstand" (2).  Nach  einem  anderen  Ausspruche,  der  freilich 
wegen  seines  starken  Anklingens  an  die  stoische  Lehre  etwas 
verdächtig  ist  (112),  ist  die  Besonnenheit  die  gröfste  Tugend, 


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II.    Heraklit.  103 

und  die  Weisheit  besteht  darin,  Wahres  zu  reden  und  zu 
tun,  aufhorchend  auf  die  Stimme  der  Natur,  wo  unter  Natur 
eben  die  vernünftige  Weltordnung  zu  verstehen  ist.  Wenig- 
stens bergen  sollten  die  Menschen  ihren  Unverstand  (95,  109). 

Und  da  diese  vernünftige  Weltordnung  sich  nach  Hera- 
klits  Ansicht  vornehmlich  auch  in  den  allgemeinen  Sitten 
und  Satzungen  der  menschlichen  Gesellschaft  und  im  Staats- 
gesetz oflFenbart,  so  folgt  aus  seinem  Prinzip  die  strengste 
konservative  Haltung  gegenüber  diesen  durch  das  Walten 
des  Weltgeistes  selbst  in  den  Seelen  der  Gesetzgeber  und 
Schöpfer  der  Lebensordnungen  geschaffenen  Normen.  „Das 
Volk  mufs  für  das  Gesetz  kämpfen  wie  für  die  Stadtmauer" 
(44).  „Man  mufs  den  Frevelmut  dämpfen  wie  eine  Feuers- 
brunst** (43).  Und  auch  der  Satz,  dafs  Götter  und  Menschen 
die  im  Kriege  Gefallenen  ehren  (24),  mag  in  diesen  Zu- 
sammenhang gehören.  Ebenso  entspringt  aus  ihm  wohl  vor- 
nehmlich die  herbe  und  schroffe  Haltung  gegen  die  Masse 
der  Menschen,  die,  statt  auf  das  einheitliche  Vernunftgesetz 
zu  hören,  der  Willkür  ihrer  subjektiven  Einfälle  folgen. 
Freilich  hätte  er  sich  folgerichtigerweise  dieser  sittlichen 
Entrüstung  entschlagen  müssen,  wenn  der  vielfach  deutbare 
und  gedeutete  Satz  „Das  Ethos  ist  dem  Menschen  der 
Dämon"  (119)  die  Bedeutung  hat,  die  nach  überwiegender 
Wahrscheinlichkeit  in  den  Worten  liegt:  die  natürliche,  an- 
geborene Sinnesart,  das  Naturell,  ist  für  den  Menschen  die 
hauptsächlichste  Schicksalsmacht.  Denn  wenn  das  Mafs, 
das  die  einzelnen  von  der  Feuernatur  des  All  abbekommen 
haben,  ein  für  allemal  durch  die  Weltordnung,  die  ja  vor- 
treflFlich  ist,  bestimmt  ist,  so  können  sie  ja  nicht  dafür,  dafs 
ihnen  nicht  ein  gröfserer  Anteil  zugefallen  ist.  Wozu  also 
der  Lärm? 

So  hat  also  Heraklit  sein  Prinzip  der  Vollbefriedigung 
und  seine  daraus  abgeleitete  Regel  der  Lebensführung.  Er 
ist  der  erste  Vorläufer  der  axiologischen  Ethik. 

Mit  dem  Volksglauben  und  den  religiösen  Gebräuchen 
seines  Volkes  hat  er,  wie  nicht  anders  zu  erwarten,  ent- 
schieden gebrochen.  In  der  energischen  Verurteilung  der 
homerischen  Dichtung  als  Religionsurkunde  zeigt  er  sich, 


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104  Krste  Periode.  Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

wie  in  mehreren  anderen  vorerwähnten  Stücken,  wieder  als 
Nachfolger  des  Xenophanes.  „Homer  verdiente  aus  den 
Preis  wettkämpfen"  (an  Götterfesten)  „verwiesen  und  mit  Ruten 
gestrichen  zu  werden  und  ebenso  Archilochos"  (42).  Und 
ebenso  in  Bezug  auf  den  Kultus:  „Reinigung  von  Blutschuld 
suchen  sie  vergeblich,  indem  sie  sich  mit  Blut  besudeln" 
(d.  h.  durch  Opfer),  „wie  wenn  einer,  der  in  Kot  getreten, 
sich  mit  Kot  abwaschen  wollte.  Für  wahnsinnig  würde  ihn 
doch  halten,  wer  etwa  ihn  bei  solchem  Treiben  bemerkte. 
Und  sie  beten  auch  zu  diesen  Götterbildern,  wie  wenn  einer 
mit  Gebäuden  Zwiesprache  halten  wollte.  Sie  kennen  eben 
die  Götter  und  Heroen"  (das  Göttliche)  „nicht  nach  ihrem 
wahren  Wesen."  — 

Die  Lehre  des  Heraklit  hat,  wie  wir  später  sehen  werden, 
in  verschiedenen  Richtungen  nachhaltig  und  bedeutsam  auf 
den  Entwicklungsgang  der  Philosophie  eingewirkt.  An  dieser 
Stelle  ist  nur  ein  kurzer  Blick  auf  seine  unmittelbare 
Anhängerschaft  zu  werfen. 

Zunächst  müssen  sich  in  dieser  Anhängerschaft  schon 
früh  im  Anschlufs  an  den  Gedanken  des  gleichzeitigen  Zu- 
sammenseins des  Entgegengesetzten  an  den  Dingen  sehr 
eigenartige  Theorien  über  die  Sinneswahmehmung  entwickelt 
haben.  Schon  der  seit  450  wirkende  Sophist  Protagoras 
zeigt  sich  von  diesen  Konsequenzen  der  Gegensatzlehre  aufs 
tiefste  beeinflufst. 

Wenn  das  Entgegengesetzte  zugleich  an  den  Dingen  ist, 
so  kann  es  nicht  überraschen,  dafs  auch  Entgegengesetztt^s 
an  demselben  Dinge  wahrgenommen  wird.  Je  nach  den  ver- 
schiedenen Zuständen  des  Organismus  überhaupt  und  der 
Sinnesorgane  insbesondere  ist  der  eine  für  diesen  Eindruck, 
der  andere  für  den  entgegengesetzten  empfänglich.  Ja  selbst 
für  dieselbe  Person  beim  Wechsel  ihrer  Zustände  trifft  dies 
zu.  Der  Honig  ist  dem  Gesunden  süfs,  dem  Kranken  bitter. 
An  sich  ist  er  beides;  nur  die  Fähigkeit  der  Wahrnehmung 
im  Subjekte  ist  eine  andere  geworden.  Jeder  von  beiden 
Wahrnehmungen  entspricht  etwas  Tatsächliches. 

Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  wurden  schon  bei  diesen 
alttn  Herakliteren  aus  dieser  Grundanschauung  die  weiteren 


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IL   Heraklit.  105 

skeptisch  klingenden  Sätze  abgeleitet,  die  wir  bei  Protagoras 
finden.  Es  gibt  (in  der  Wahrnehmung)  keinen  Irrtum, 
denn  jede  Aussage  beruht  auf  einem  wirklichen  Sinnes- 
eindruck ,  also  auf  etwas  an  den  Dingen  wenigstens  im  ge- 
gebenen Momente  tatsächlich  Vorhandenem.  Es  gibt  keinen 
Widerspruch  zwischen  zwei  entgegengesetzten  Aussagen. 
Um  sich  zu  widersprechen,  müfsten  beide  Aussagen  sich  auf 
dasselbe  beziehen.  Dies  ist  aber  nicht  der  Fall;  tatsächlich 
meinen  die  beiden  Aussagenden  gar  nicht  dasselbe  an  dem 
Dinge ;  jeder  meint  das,  was  gerade  ihn  affiziert  hat. 

Alle  diese  Sätze  sind,  soweit  sie  die  Sinneswahrnehmung 
betreffen,  durchaus  folgerichtig  aus  Heraklits  Lehre  über  das 
Wesen  des  Seienden  abgeleitet.  Der  Fehler  liegt  nach  dieser 
Anschauung  nicht  an  dem  Wahrnehmenden,,  sondern  am  Ob- 
jekte der  Wahrnehmung.  Es  war  nur  die  Gefahr  vorhanden, 
durch  Ausdehnung  dieser  Berechtigung  der  Subjel^tivität 
über  das  Gebiet  der  Sinneswahrnehmung  hinaus  auf  jede 
Art  von  Überzeugungen  in  einen  schrankenlosen  Subjektivis- 
mus zu  verfallen.  Dafs  die  heraklitische  Schule  wenigstens 
im  Laufe  ihrer  späteren  Entwicklung  dieser  Gefahr  zum 
Opfer  gefallen  ist,  wird  die  nachstehende  Schilderung  ihres 
Zustandes  um  400  durch  Plato  zeigen. 

Zuvor  aber  mufs  von  dem  etwas  älteren  Herakliteer 
Kratylos  gesprochen  werden.  Von  seinen  persönlichen 
Verhältnissen  ist  nur  bekannt,  dafs  er  der  erste  Lehrer  des 
um  427  geborenen  Plato  gewesen  ist  (Arist.  987,  32).  Er 
mufs  also  um  415—410  in  Athen  gelehrt  haben.  Ob  er  aus 
Ephesos  stammte  und  noch  persönlich  zu  Heraklit  in  Be- 
ziehung gestanden  hat,  ist  nicht  bekannt.  Doch  ist  letzteres 
schon  nach  dem  soeben  angegebenen  Datum  nicht  wahr- 
scheinlich ;  auch  erscheint  er  in  dem  nach  seinem  Namen  ge- 
nannten Dialoge  Piatos  (440  D)  jünger  als  der  470  geborene 
Sokrates.  Er  bekennt  sich  in  diesem  Dialog  zur  Lehre  vom 
Flufs  der  Dinge  (440 C f.).  Nach  Aristoteles  (1010,  10) 
trieb  er  diese  Lehre  sogar  in  der  Art  auf  die  Spitze,  dafs 
er  behauptete,  man  könne  auch  nicht  ein  einziges  Mal 
in  denselben  Flufs  hinabsteigen.  Nach  dem  platonischen 
Kratylos  (429  C)  ferner  mufs  auch  er  aus  dem  Zusammensein 


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106  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismiis. 

des  Entgegengesetzten  an  den  Dingen  die  Folgerung  gezogen 
haben,  dafs  falsche  Urteile  unmöglich  seien.  Er  kam  aber 
schliefslich  (Arist.  1010,  10),  oflFenbar  auf  Grund  der  wider- 
sprechenden Natur  der  Dinge,  zu  der  Ansicht,  dafs  man 
sich  jedes  Urteils  enthalten  müsse,  und  bewegte  nur  noch 
den  Finger,  wohl  um  das  allgemeine  Fliefsen  auszudrücken. 
In  Ephesos  selbst  erhielt  sich  eine  Art  von  Schule  Hera- 
klits  bis  lange  nach  dessen  Tode.  Von  der  wunderlichen 
Ausartung  dieser  Schule,  wie  sie  sich  etwa  um  400  gestaltet 
hatte,  entwirft  Plato  im  Theätet  (c.  27)  eine  höchst  ergötz- 
liche Schilderung.  Er  vergleicht  diese  Herakliteer  mit  Tieren, 
die  von  Bremsenstichen  wild  geworden  sind.  Nach  ihren 
Schriften  zu  urteilen,  müfsten  sie  selbst  stets  in  unsteter 
Bewegung  sein,  niemals  bei  der  Sache  bleiben  oder  in  Ruhe 
eine  bestimmte  Einzelfrage  untersuchen.  Werfe  man  eine 
Frage  auf,  so  zögen  sie  wie  Pfeile  aus  einem  Köcher  rätsel- 
hafte Sprüche  hervor  und  schössen  sie  auf  den  Gegner  ab. 
Verlange  man  eine  Erklärung  derselben,  so  würden  nur  neue 
Rätselsprüche  abgeschleudert.  Auch  untereinander  könnten 
sie  sich  nicht  verständigen  und  hüteten  sich  überhaupt,  feste 
ITberzeugungen  auszusprechen,  die  ja  etwas  Beharrendes 
sein  würden.  Keiner  unter  ihnen  sei  Schüler  eines  anderen  ; 
sie  wüchsen  von  selbst  hervor,  wie  gerade  einer  in  Begeisterung 
gerate,  und  jeder  erkläre  vom  anderen,  dafs  er  nichts  wisse. 
Spöttisch  nennt  er  sie  an  einer  anderen  Stelle  (Theätet  124  A) 
geradezu  „dieFliefsenden".  Einer  der  hier  hervorgehobeQen 
Züge,  die  Neigung  zu  unverständlichen,  orakelhaften  Aus- 
sprüchen, wird  auch  dem  Kratylos  in  dem  gleichnamigen 
Dialoge  (384  A;  427  D)  beigelegt. 

III.  Entwicklungsgang  der  unteritalischen  Wissenschaft 
im  Anschlufs  an  Pythagoras  und  Xenophanes  (ca.  500 
bis  nach  400). 
Erst  auf  dieser  Stufe  tritt  die  besondere  Eigentümlich- 
keit des  zweiten  Abschnittes,  die  Fassung  des  Grundwesens 
der  Dinge  in  einer  solchen  Weise,  dafs  eine  Ableitung  der 
wirklichen  Welt  daraus  zur  Unmöglichkeit  wird,  in  der 
Lehre   des   Parmenides  und   im  Hauptsysteme  des 


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m.   Entwicklungsgang  der  unteritalischen  Wissenschaft      107 

wissenschaftlichen  Pythagoreismus  vollständig  in 
die  Erscheinung.  Aber  auch  auf  dieser  Stufe  kommen  neben 
diesen  beiden  Systemen  noch  mehrere  andere  Erscheinungen 
in  Betracht.  Auf  pythagoreischer  Seite  kommt  die  welt- 
feindliche Eigenart  der  Forschung  nicht  mit  einem  Schlage 
zum  vollen  Ausdruck.  Die  Entwicklung  vollzieht  sich  hier 
in  mehreren  Vorstufen  mit  Nebenerscheinungen, 
die  ihrerseits  wieder  auf  die  nachfolgenden  Entwicklungen 
einen  Einflufs  gewinnen.  Es  mufs  endlich  auch  der  auf  die 
Höhepunkte  folgende  weitere  Gang  der  Entwicklung 
noch  zur  Darstellung  gebracht  werden.  Es  entsteht  so  ein 
ziemlich  komplizierter  Entwicklungsgang,  dessen  wesentliche 
Phasen  folgende  sind: 

1.  Das  älteste  System  des  wissenschaftlichen 
Pythagoreismus,  vielleicht  schon  vor  500. 

2.  Die  eleatische  Theorie  in  gegensätzlicher 
Haltung  zu  diesem.    Parmenides  (um  500). 

3  und  4.  Die  unteritalische  Forschung  unter 
dem  Eindruck  der  Entdeckung  der  Plane- 
ten (nach  500). 

3.  Das  Zweitälteste  System  des  wissenschaft- 
lichen Pythagoreismus  (nach  500). 

4.  Alkmäon  (nach  500). 

5.  Das  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen 
Pythagoreismus  (um  480  —  470). 

0.  Die  Verteidigung  der  eleatischen  Theorie, 
insbesondere  auch  gegen  das  pythagoreische 
Hauptsystem.    Zeno  von  Elea  (um  470). 

7.  Der  letzte  Vertreter  des  Eleatismus,  Me- 
lissos  (um  460). 

8.  Weiterer  Verlauf  des  wissenschaftlichen 
Pythagoreismus  (bis  gegen  320). 

Bei  der  grofsen  Spärlichkeit  der  Nachrichten  über  die 
meisten  der  hier  darzustellenden  Vorgänge  beruht  diese  Auf- 
fassung des  Entwicklungsganges  vielfach  nur  auf  begründeter 
Vermutung,  bei  der  Irrtum  nicht  ausgeschlossen  ist.  Für 
die  Gewinnung  einer  wirklichen  Erkenntnis  ist  es  aber  be- 
kanntlich stes  förderlicher,   es   auf  die  Gefahr  des  Irrens 


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108  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

hin  ZU  wagen,  als  alles  im  Zustande  vager,  chaotischer  Un- 
bestimmtheit zu  belassen. 

1.  Das  Alteste  System  des  wissenschaftlichen 
Pythagrorelsmus.   Um  600. 

Dafs  sich  an  die  Empfehlung  der  wissenschaftlichen 
Tätigkeit  durch  Pythagoras  innerhalb  des  Ordens  eine  ge- 
regelte Forschung  durch  eine  intellektuell  veranlagte  Minder- 
heit der  Ordensglieder  anschlofs,  liegt  in  der  Natur  der 
Sache.  Es  gab  im  Orden  eine  Gruppe  von  Gelehrten.  Noch 
Cicero  bezeugt  (Tusc.  L  38),  dafs  die  Pythagoreer  jahr- 
hundertelang das  gröfste  Ansehen  als  Gelehrte  genossen. 
Auf  diesem  Gegensatze  der  blofsen  Ordensmitglieder  und  der 
Gelehrten  des  Ordens  beruht  vielleicht  die  Nachricht  (D.  59(i), 
dafs  es  im  Orden  zwei  Grade,  Exoteriker  und  Esoteriker 
(Eingeweihte),  gegeben  habe.  Allerdings  scheint  dabei  auch 
eine  gewisse  Geheimtuerei  im  Spiele  zu  sein,  insofern  die 
Veröffentlichung  der  wissenschaftlichen  Theorien  in  Schriften 
bei  den  alten  Pythagoreern  anscheinend  nicht  üblich  war. 
Dadurch  mag  es  sich  auch  erklären,  dafs  für  mehrere  kosmo- 
logische  Lehren  (Kugelgestalt  der  Erde,  Identität  von  Morgen- 
und  Abendstem),  die  Theophrast  dem  Parmenides  zuschreibt, 
von  anderer  Seite  die  Priorität  der  Pythagoreer  behauptet 
wurde  (D.  L.  VIII.  48,  14).  Vielleicht  hatte  Parmenides, 
der,  wie  wir  sehen  werden,  von  den  Pythagoreern  beeintlufst 
war,  von  ihnen  manches  mündlich  überkommen.  Ob  sich 
Pythagoras  persönlich  an  diesen  Bestrebungen  beteiligte, 
läfst  sich  nicht  entscheiden.  Jedenfalls  spricht  Aristoteles, 
dem  wir  fast  allein  zuverlässige  Nachrichten  über  diese  Be- 
wegung verdanken,  in  Bezug  auf  wissenschaftliche  Leistungen 
nie  von  Pythagoras,  sondern  immer  nur  von  den  Pythagoreern. 

Aber  auch  Aristoteles  unterscheidet  niemals  die  ver- 
schiedenen aufeinanderfolgenden  Stufen,  in  denen  sich  diese 
pythagoreische  Forschung  entwickelt  hat.  Teils  kommt  er 
in  seinen  erhaltenen  Schriften  nie  in  zusammenhängender 
geschichtlicher  Darstellung  auf  diesen  Entwicklungsgang  zu 
sprechen.  Eine  unter  seinem  Namen  gehende,  aber  wahr- 
scheinlich nur  seiner  Schule  angehörige  Schrift  „Zusammeu- 


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III.    1.  Das  älteste  System  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  109 

Stellung  der  Lehren  der  Pythagoreer"  ist  bis  auf  wenige 
Trümmer  verloren  gegangen.  Teils  aber  wird  es  ihm  selbst, 
da  die  Pythagoreer  ihre  wissenschaftlichen  Lehren  nicht  in 
Schriften  veröffentlichten,  sondern  nur  mündlich  fortpflanzten, 
nicht  möglich  gewesen  sein,  die  verschiedenen  aufeinander- 
folgenden Entwicklungen  der  Zeitfolge  nach  zu  unterscheiden. 
Er  erklärt  sogar  in  Bezug  auf  einen  bestimmten  Punkt  aus- 
drücklich (986,  26),  die  Zeitfolge  nicht  zu  kennen. 

Wollen  wir  diese  Sonderung  dennoch  versuchen,  so  sind 
wir  dafür  fast  ausschliefslich  auf  innere  Merkmale  angewiesen. 
Fast  ausschliefslich,  aber  doch  nicht  ganz  ausschliefslich. 
Denn  Aristoteles  selbst  legt  doch  an  einigen  Stellen  Haupt- 
lehren der  Pythagoreer  ausdrücklich  nur  einem  Teile  der 
Schule  bei.  So  bemerkt  er  (300,  15):  dafs  die  yfelt  aus 
Zahlen  bestehe,  werde  von  einem  Teile  der  Pythagoreer  be- 
hauptet. Und  so  führt  er  denn  auch  seine  Angabe  über  die- 
jenige Form  der  Lehre,  die  aus  inneren  Gründen  für  die 
älteste  gehalten  werden  mufs  (986,  22  ff.),  mit  der  Be- 
merkung ein,  dafs  dieselbe  nur  von  einem  Teile  der  Pytha- 
goreer aufgestellt  worden  sei.  Dafs  diese  Lehre  die  ältere 
gewesen  sei,  sagt  er  nicht.  Die  Begründung  ihrer  zeitlichen 
Voranstellung  liegt  zunächst  darin,  dafs  sie  sich  nach  rück- 
wärts direkt  an  die  naturphilosophische  Grundansicht  des 
Pythagoras  anschliefst,  andernteils  aber  nach  vorwärts  für 
die  Polemik  des  Parmenides  die  Voraussetzung  bildet. 
Sie  liegt  aber  femer  auch  in  dem  gesamten,  noch  höchst 
primitiven  Charakter  dieses  Systems  selbst.  Ein  indirektes 
Zeugnis  für  das  hohe  Alter  dieser  Lehre  liegt  auch  darin, 
dafs  Aristoteles  in  Zweifel  ist,  ob  Alkmäon^,  den  er  als 
f  inen  jüngeren  Zeitgenossen  des  Pythagoras  selbst  bezeichnet, 
seine  ihr  ähnliche  Theorie  von  ihr  entlehnt  habe  oder  um- 
gekehrt. 

Nach  diesem  Berichte  nun  sollte  ein  Teil  der  Pythagoreer 
die  Prinzipien  des  Seienden  in  eine  Zehnzahl  von  Gegensatz- 
paaren  gesetzt  haben:  in  die  Grenze  und  das  Unbegrenzte, 
in  das  Ungerade  und  Gerade,  in  die  Einheit  und  Vielheit, 
in  das  Rechte  und  Linke,  das  Männliche  und  Weibliche, 
das  Ruhende  und  Bewegte,   das  Gerade  und  Krumme,  das 


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110  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Licht  und  die  Finsternis,  das  Gute  und  Böse,  das  Quadrat 
und  das  ungleichseitige  Rechteck.  Aristoteles  bezeugt  in 
Bezug  auf  die  Gesamtheit  dieser  Gegensätze,  dafs  das  Seiende 
aus  ihnen  als  aus  einem  Stoffe  zusammengesetzt  und  gebildet 
gedacht  werde  (986  b,  4). 

Der  an  der  Spitze  stehende  Gegensatz  der  Grenze  und 
des  Unbegrenzten  ist  hier  der  richtunggebende,  auf  dem 
auch  die  Bedeutung  der  neun  übrigen  beruht.  Die  eine 
Seite  desselben,  das  Unbegrenzte,  zeigt  den  Zusammenhang 
mit  der  von  Pythagoras  selbst  übernommenen  Lehre  des 
Anaximenes.  Das  Unbegrenzte  ist  der  aufserhalb  der 
Welt  befindliche,  in  sie  einströmende  unendliche  Weltstoff. 
Zu  diesem  Stoffprinzip  tritt  aber  hier  zum  ersten  Male  in 
dualistischem  (zweiteiligem)  Sinne  ein  gleich  ur- 
sprüngliches, entgegengesetztes  Prinzip  hinzu. 
Der  Hylopsychismus  war  trotz  der  seelischen  Prädikate  des 
Stoffes  streng  monistisch  (einteilig)  gewesen.  Auch  der 
Gegensatz  des  Warmen  und  Kalten,  durch  deren  Zusammen- 
wirken bei  Anaximander  der  Fortgang  der  Weltbildung 
vermittelt  wird,  war  kein  ursprünglicher,  sondern  ein  ei*st 
durch  Differenzierung  entstandener. 

Welches  ist  nun  aber  dieses  zweite  entgegengesetzte 
Prinzip?  Grenze  als  Gegenteil  des  Unbegrenzten  ist  offen- 
bar ein  verkürzter,  prägnanter  Ausdruck  für  das  Prinzip  der 
Begrenzung,  durch  dessen  Wirksamkeit  der  unendliche  Welt- 
stoff, mit  bestimmten  Umrissen  versehen,  in  eine  Form  ge- 
bracht wird.  Der  Gegensatz  des  Unbegrenzten  und  der 
Grenze  ist  der  des  Stoffes  und  der  Form.  Hier  wird 
also  zum  ersten  Male  im  griechischen  Denken  ein  vom 
Stoffe  verschiedenes,  nicht  ihm  anhaftendes  Prinzip  der  Ge- 
staltung unterschieden. 

Dieser  Gedanke  der  Begrenzung  oder  der  Form  kann 
ungezwungen  als  ein  sehr  naheliegender  aus  der  Ordenslehre 
abgeleitet  werden.  Er  ist  eine  Übertragung  des  für  die 
Lebensführung  Geltenden  auf  die  Weltgestaltung.  Wie  das 
Leben  durch  den  grofsen  Zweck  durchaus  geformt  und  be- 
stimmt sein  soll,  so  erscheint  jetzt  die  Welt  selbst  als  das 
durch  die  Form  Gebildete  und   Bestimmte.    Was  Aufgabe 


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IIL    1.   Das  älteste  System  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  Hl 

und  Regel  für  die  pythagoreische  Lebensführung  ist,  Be- 
grenzung und  Form  in  das  Leben  zu  bringen,  das  erscheint 
hier  vorbildlich  in  der  Welteinrichtung  verwirklicht.  Man 
könnte  vermuten,  dafs  schon  Pythagoras  selbst,  entsprechend 
seiner  ethischen  Sinnesrichtung,  die  Lehre  des  Anaximenes 
Von  dem  in  die  Welt  einströmenden  Unendlichen  in  diesem 
ethischen  Sinne  umgewandelt  haben  mag. 

Wir  dürfen  nun  aber  wohl  auch  noch  einige  andere 
Stellen,  bei  Aristoteles,  in  denen  von  diesem  Gegensatze  des 
Unbegrenzten  und  der  Grenze  die  Rede  ist,  zur  Erläuterung 
heranziehen.  Was  ist  das  Unbegrenzte?  Es  ist  eine 
„Wesenheit"  (203,  3;  204,  33).  Es  ist  der  Stoff  der 
Welt  (988,  23).  Genauer  wird  dieser  WeltstoflF  an  zwei 
Stellen  bestimmt.  Nach  der  einen  derselben  (213  b,  22  ff.) 
strömt  „aus  dem  unendlichen  Lufthauche"  durch 
Ausatmung  zugleich  das  Leere  in  die  Welt  ein  und  hat  hier 
die  wichtige  Verrichtung,  die  Dinge  als  gesonderte  aus- 
einanderzuhalten. In  dieser  merkwürdigen,  aber  auch  rätsel- 
haften Stelle  tritt  zunächst  deutlich  die  durch  Pythagoras 
selbst  vermittelte  Anlehnung  an  Anaximenes  hervor. 

Wie  bei  diesem  ist  auch  hier  das  Unendliche  Luft. 
Dafs  der  unendliche  Lufthauch  als  ausatmend  bezeichnet 
wird,  entspricht  ebenfalls  der  Vorstellung  vom  Atmen* bei 
Anaximenes.  Dafs  dieser  Lufthauch  nun  auch  selbst  als  der 
eigentliche  Weltstoff  in  die  Welt  einströmt,  wird  von  Aristo- 
teles nicht  ausdrücklich  gesagt,  scheint  sich  aber  doch  mit 
Notwendigkeit  aus  dem  Zusammenhange  zu  ergeben.  Auch 
mufs  doch  wohl  von  ihnen,  wie  von  Anaximenes,  dieser  Luft- 
hauch als  der  eigentliche  Weltstoff  betrachtet  worden  sein, 
nur  dafs  jetzt  wohl  nicht  mehr,  wie  bei  jenem,  durch  Ver- 
dichtung und  Verdünnung,  sondern  durch  Abgrenzung  die 
Mannigfaltigkeit  der  Dinge  erklärt  wurde.  Vom  Lufthauch 
unterschieden  sie  aber  offenbar  das  ebenfalls  in  die  Welt 
einströmende  Leere.  Dasselbe  ist  nicht  Stoff,  sondern  dient 
nur  der  Abgrenzung  des  Stoffes.  Auch  nach  Galen  (D.  (>1(>) 
nahmen  die  Pythagoreer  ein  Leeres  innerhalb  der  Welt 
an.  Wie  sie  sich  freilich  das  Einströmen  des  Leeren  in  die 
Welt  vorstellten,  das  gehört  zu  den  Unbegreiflichkeiten,  mit 


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112  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hyiopsychismus. 

denen  der  Pythagoreismus  auf  allen  seinen  Entwicklungs- 
stufen uns  überrascht. 

Die  andere  Stelle  (D.  316  f.)  stammt  aus  der  dem  Ari- 
stoteles beigelegten  verlorenen  Schrift  über  die  Pythagoreer 
und  besagt,  dafs  aus  dem  Unbegrenzten  in  die  Welt  ein- 
geführt werde  die  Zeit,  der  Hauch  und  das  Leere,  das 
die  Dinge  voneinander  sondere.  Hier  tritt  als  etwas  Neues 
die  Zeit  hinzu.  Vielleicht  wiesen  sie  dieser  eine  Ahnliche 
Rolle  zu  wie  dem  Leeren,  d.  h.  dem  Räume.  Wie  dieser 
das  Nebeneinander,  so  sondert  die  Zeit  das  Nacheinander. 
Dafs  auch  der  Zeit  ihre  ursprüngliche  Stelle  aufserhalb  der 
Welt  angewiesen  wurde,  zeigt  auch  der  Satz  (D.  318),  nach 
„Pythagoras"  sei  die  Zeit  „die  Sphäre  des"  (die  Welt)  „Um- 
gebenden". 

Eine  bemerkenswerte  Angabe  findet  sich  auch  noch  in 
den  kurzen,  aber  auf  Theophrast  zurückgehenden  An- 
gaben der  Doxographen  (D.  338) :  „Die  Pythagoreer  lehrten, 
dafs  aufserhalb  der  Welt  ein  Leeres  sei,  in  welches  die  Welt 
ausatme  und  aus  welchem."  Hier  mufs  wohl  ergänzt  werden : 
„eine  Ausatmung  in  die  Welt  stattfindet". 

Hier  wird  noch  ganz  in  der  alten  Weise  des 
Anaximenes  die  Einwirkung  des  umgebenden  Leeren  auf 
die  Welt  als  ein  Ausatmen  bezeichnet.  Es  wird  aber  femer 
auch,  abweichend  von  den  bisherigen  Zeugnissen,  ein  Zurück- 
strömen aus  der  Welt  in  das  Leere,  also  eine  Wechsel- 
wirkung, angenommen.  Es  liegt  also  auch  hier  die  Vor- 
stellung von  der  Luft  als  WeltstoflF  zu  Grunde.  Dagegen  ist 
vom  Eintritt  des  Leeren  und  der  Zeit  in  die  Welt  nicht 
die  Rede. 

Aber  auch  über  die  „Grenze"  finden  sich  noch  weitere 
Aussagen.  Zunächst  kommt  neben  „Grenze"  auch  der  Aus- 
druck „das  Begrenzte"  vor  (986,  17;  987,  15;  1106b,  29). 
Ein  ausdrücklicher  Unterschied  wird  nicht  gemacht;  auch 
indirekt  tritt  ein  solcher  nicht  hervor.  Doch  bezeichnet  viel- 
leicht „Grenze"  mehr  das  wirkende  Prinzip,  das  Begrenzte 
mehr  das  Resultat.  Dieses  Begrenzte  nun  müssen  sie  nach 
dem  Bisherigen  als  die  durch  die  Grenze  gesonderten  und 
durch   das   in   die   Welt   eindringende    Leere    auseinander- 


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II L    1.   Das  älteste  System  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  113 

gehaltenen  Teilchen  des  Lufthauchs  angesehen  haben.  Dazu 
stimmt  auch,  dafs»  selbst  noch  auf  der  höheren  Entwicklungs- 
stufe des  Pythagoreismus  den  Elementen  des  Seienden  „Gröfse", 
d.  h.  Ausdehnung  im  geometrischen  Sinne,  beigelegt  wurde 
(1080b,  19).  Es  sind  also,  da  der  Weltstoff  als  Lufthauch  ein 
sinnenfälliger  Stoff  ist,  auch  die  durch  das  Prinzip  der 
„Grenze"  abgegrenzten  Teilchen  desselben  ausgedehnte  Stoff- 
teile. Die  Vorstellung  des  Atmens  aber  zeigt,  dafs  hier 
noch  keineswegs  mit  dem  Hylopsychismus  gebrochen  worden  ist. 

Wie  in  diesem  Zusammenhange  näher  die  Weltbildung 
vorgestellt  wurde,  dafür  werden  sich  im  weiteren  Verlaufe 
wenigstens  noch  einige  Anhaltspunkte  ergeben.  Ehe  wir 
aber  die  folgenden  Gegensatzpaare  in  Betracht  ziehen,  mufs 
noch  auf  folgendes  aufmerksam  gemacht  werden.  Zunächst 
gilt  in  dieser  Doppelreihe  jedesmal  das  erstgenannte  Glied 
für  das  Vollkommnere ,  das  zweitgenannte  für  das  Unvoll- 
kommnere.  Dies  ergibt  sich  schon  aus  einer  oberflächlichen 
Betrachtung  eines  Teiles  der  Gegensatzpaare  von  selbst 
(rechts— links,  männlich — weiblich,  gerade— krumm,  Licht — 
Finsternis,  Gutes  — Böses).  Es  wird  aber  überdies  auch  noch 
ausdrücklich  bezeugt  (z.  B.  von  Simplic.  zu  de  coelo  172  b, 
44  f.;  von  Plutarch  de  Is.  et  Osir.  p.  370) 

Femer  aber  sind  die  nachfolgenden  Paare  so  zu  ver- 
stehen, dafs  sich  in  ihnen  der  an  der  Spitze  stehende  Gegen- 
satz von  Stoff  und  Form  in  einer  besonderen  Fassung  und 
Anwendung,  in  einem  Spezialfall,  widerspiegelt,  zugleich 
aber  so,  dafs  er  in  ihnen  nicht  in  voller  Ausschliefslichkeit 
und  Reinheit,  sondern  nur  im  Sinne  des  Überwiegens  der 
einen  oder  anderen  Seite  des  Grundgegensatzes  hervortritt. 

Das  zweite  Gegensatzpaar  ist  das  Ungerade  und  Ge- 
rade der  Zahl.  Es  ist  hier  zunächst  ersichtlich,  dafs  schon 
auf  dieser  frühen  Stufe  die  Pythagoreer  ihre  Aufmerksam- 
keit der  Zahl  zugewandt  hatten.  Auf  die  Zahl  scheinen  sie 
zuerst  durch  die  Musik  geführt  worden  zu  sein.  Jedenfalls 
bewegt  sich  hier  ihre  Zahlenspekulation  noch  in  sehr  be- 
scheidenen Grenzen.  Es  handelt  sich  um  die  Beobachtung, 
dafs  die  gerade  Zahl  der  Teilung  keine  Grenze  setzt,  während 
die  ungerade  in  der  bei  der  Teilung  als  Rest  verbleibenden 

Döring.    I.  8 


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114  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Eins  gleichsam  der  Teilung  durch  Aufrichtung  einer  Grenze 
einen  Widerstand  entgegensetzt.  Der  Aristotelesschüler 
Aristoxenos  aus  Tarent,  der  noch  die  letzten  wissenschaft- 
lichen Pythagoreer  gekannt  hatte  (D.  L.  VIII.  46),  drückt 
dies  so  aus:  die  ungerade  Zahl  habe  Anfang,  Mitte  und  Ende 
(Stob.  I.  20),  eine  Bezeichnung  für  das  Begrenzte,  die  wir 
schon  bei  Xenophanes  gefunden  haben.  In  dieser  einfachen 
Wahrnehmung  liegt  der  Vergleichungspunkt  zwischen  diesem 
Gegensatze  und  dem  des  Begrenzenden  und  Unbegrenzten: 
die  ungerade  Zahl  hat  das  Begrenzende  in  sich.  In  ihr  liegt 
auch  der  Grund  der  Höherschätzung  des  Ungeraden  im  Ver- 
gleich mit  dem  Geraden  (351,  2). 

Dieselbe  Verschiedenheit  der  Wertschätzung  wird  dann 
im  dritten  Paare  auf  den  Gegensatz  des  Einen  und  der 
Vielheit  übertragen.  Auf  dem  Gebiete  der  zählenden  Auf- 
fassung der  Dinge  ist  das  Eine  das  Begrenzte  im  strengsten 
und  vollkommensten  Sinne,  die  Vielheit  in  ihrer  Unein- 
geschränktheit und  Unbestimmtheit  das  Unbegrenzte.  In 
der  Eins  ist  das  Begrenzende  wirksam.  Eine  Anspielung 
auf  diesen  Gegensatz  scheint  bei  Aristoteles  in  einer  Stelle 
der  Nikomachischen  Ethik  (1096b,  5  f.)  vorzuliegen,  wo  er 
die  Pythagoreer  lobt,  dafs  sie  die  Eins  in  der  Reihe  der 
Güter  (d.  h.  auf  der  Vollkommenheitsseite  der  Gegensatz- 
reihe) aufgeführt  hätten. 

Es  folgt  viertens  der  Gegensatz  von  rechts  und  links. 
Hier  ist  offenbar  der  Ausgangspunkt  die  höhere  Kräftigkeit 
und  Geschicklichkeit,  also  der  höhere  Wert  der  rechten  Hand 
im  Vergleich  mit  der  linken  und  der  rechten  Seite  des 
menschlichen  Körpers  im  Vergleich  mit  der  linken  überhaupt. 
Im  Wertvolleren  und  Tüchtigeren  mufs  aber  nach  der  Grund- 
voraussetzung in  höherem  Mafse  das  Begrenzende  wirksam 
sein;  das  Minderwertige  zeigt  die  Minderwertigkeit  des  Un- 
begrenzten und  Ungeformten  nur  in  einer  besonderen  Aus- 
prägung (Siraplic.  zu  de  coelo  173,  5  ff.).  Dafs  übrigens 
wenigstens  die  späteren  Pythagoreer  den  Gegensatz  von 
rechts  und  links  auch  auf  die  Teile  der  Welt  übertrugen, 
wird  später  gezeigt  werden. 

Etwas  anders  verhält  es  sich  wohl  mit   dem   fünften 


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HI.     1.   Das  älteste  System  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  115 

Gegensatzpaare,  dem  Männlichen  und  Weiblichen.  Hier 
liegt  zunächst  nicht  eine  allgemeine  Abschätzung  des  Wertes 
der  beiden  Geschlechter  überhaupt  zu  Grunde,  wie  bei  rechts 
und  links.  Der  Gegensatz  beruht  auf  der  Bedeutung  der 
beiden  Geschlechter  für  die  Erzeugung.  Die  vermeintliche 
Rolle  derselben  bei  der  Fortpflanzung  knüpft  direkt  an  den 
Gegensatz  von  Form  und  Stoff  an.  Das  Männliche  ist  noch 
bei  Aristoteles  das  Formgebende,  das  Weibliche  das  den 
Stoff  Darbietende  (vgl.  auch  Zeller  357,  1).  Dafs  daraus 
auch  die  geringere  Einschätzung  des  weiblichen  Geschlechts 
folgt,  liegt  in  der  Konsequenz  der  Grundanschauungeu  vom 
Werte  der  beiden  Prinzipien. 

Auf  ein  sehr  umfangreiches  Gebiet  des  Seienden  führt 
uns  der  sechste  Gegensatz,  der  des  Ruhenden  und  Be- 
wegten. Das  Ruhende  ist  das  sowohl  an  sich  als  auch  für 
die  Wahrnehmung  in  festen  Formen  und  Umrissen  sich 
Darbietende,  während  das  Bewegte  in  beiden  Beziehungen 
das  in  unbestimmten  Konturen  Verflatternde  ist.  Im  Zu- 
sammenhange gerade  mit  diesem  Paare  steht  die  Beantwortung 
der  Frage,  welcher  Seite  des  ursprünglichen  Gegensatzes 
wohl  dies  System  die  aktive,  welchem  die  passive  Rolle  bei 
der  Weltbildung  zugewiesen  haben  möge.  Nach  einem  sehr 
bestimmten  Zeugnis  des  um  25  nach  Chr.  lebenden  Platonikers 
Eudoros  (bei  Simplic.  zu  Phys.  431,  8)  leiteten  die  Pytha- 
goreer  die  Bewegung  aus  dem  Uribegreüzten  ab.  Damit 
stimmt  auch  eine  Aristotelesstelle  (201b,  20  mit  der  Er- 
klärung des  Simplic.  428,  27,  430,  34)  überein,  nach  der  sie 
die  Bewegung  auf  die  Seite  des  Nichtseienden  (also  des  Un- 
begrenzten) gesetzt  hätten.  Das  stimmt  also  mit  unserer 
Stelle  überein.  Damit  scheint  aber  eine  andere  Stelle  des 
Aristoteles  (1091,  13)  in  Widerspruch  zu  stehen.  Nach  dieser 
lehrten  die  Pythagoreer,  dafs  beim  Beginne  der  Weltbildung 
das  Begrenzende  die  nächstliegenden  Teile  des  Unbegrenzten 
an  sich  gezogen  und  begrenzt,  d.  h.  geformt  habe.  Darnach 
wäre  also  das  Formgebende  das  aktive  und  bewegende  Prinzip. 
Aber  dieser  Widerspruch  ist  nur  ein  scheinbarer.  Beide 
Aussagen  zusammengenommen  verhelfen  uns  zu  einer  voll- 
ständigen Einsicht  in  ihre  Meinung.     Die  dem  Unbegrenzten 


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116  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismas. 

angehörige,  auf  der  Seite  des  Unvollkommenen  stehende  Be- 
wegung ist  die  regellose,  aus  der  sich  kein  Gebild  gestalten 
kann,  und  die  höchstens  als  Vorbedingung  für  das  Wirken 
des  Formprinzips  gelten  kann.  Die  eigentlich  gestaltende 
Kraft  geht  von  diesem  allein  aus.  Es  ist  aber  für  diese 
Ableitung  der  Welt  aus  dem  Zusammenwirken  zweier  ent- 
gegengesetzter Prinzipien  durchaus  folgerichtig,  jedem  von 
beiden  eine  gewisse  aktive  Rolle  bei  der  Weltbildung  zuzu- 
schreiben. Nachdem  einmal  mit  der  Zweiheit  der  Prinzipien 
über  Anaximenes  hinausgeschritten  worden  war,  mufste  die 
von  diesem  ausschliefslich  der  unendlichen  Luft  zugewiesene 
aktive  Rolle  entsprechend  eingeschränkt  werden. 

Der  siebente  Gegensatz  ist  der  des  Geraden  und 
Krummen.  An  der  einfachen,  eindeutigen,  klaren  und  festen 
Form  des  Geraden  schien  ihnen  offenbar  das  formende  Prin- 
zip einen  volleren  Anteil  zu  haben  als  an  den  in  den  mannig- 
faltigsten und  willkürlichsten  Variationen  auftretenden  Ge- 
staltungen des  Krummen. 

Bei  Licht  und  Finsternis  (achter  Gegensatz)  ist  wohl 
zunächst,  ähnlich  wie  bei  rechts  und  links,  die  Wertschätzung 
der  Grund  für  die  Einreihung  in  die  Tafel  der  Gegensätze. 
Aber  es  kommt  noch  ein  Weiteres  hinzu.  In  der  Finsternis 
verschwimmen  und  verschwinden  die  Formen,  sie  schleudert 
gleichsam  die  Welt  der  geformten  Dinge  in  das  alte  Chaos 
des  ungeformten,  unendlichen  Stoffes  zurück ,  während  das 
Licht,  indem  es  die  Formen  und  Umrisse  scharf  hervortreten 
läfst,  gleichsam  selbst  ein  formgebendes  und  formschaflfendes 
Prinzip  ist. 

Es  folgt  neuntens  der  Gegensatz  des  Guten  und  Bösen. 
An  sich  könnte  man  nach  dem  Wortlaut  st^tt  des  Bös'^n 
auch  das  Übel  setzen.  Dann  hätten  wir  keinen  sittlichen 
Gegensatz,  sondern  nur  den  Gegensatz  des  Wertvollen  und 
Minderwertigen  in  schärfster  Ausprägung.  Aber  dieser  Gegen- 
satz liegt  ja  schon  der  ganzen  Tafel  überhaupt  zu  Grunde. 
Aufserdem  aber  bezeugt  Aristoteles  in  einem  Zusammen- 
hange, in  dem  nur  von  dem  sittlichen  Gegensatz  die  Rede 
ist  (110(3  b,  29),  dafs  die  Pythagoreer  das  Böse  in  die  Sphäre 
des   Unbegrenzten,    das  Gute  aber  in   die  des  Begrenzten 


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m.     1.   Das  älteste  System  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  117 

gesetzt  hätten.  Ad  dieser  Stelle  gibt  auch  Aristoteles  schon 
die  Deutung  dieses  Gegensatzes.  Das  sittlich  Gute  ist  immer 
ein  Einheitliches,  Eindeutiges;  das  Böse  schliefst  in  jedem 
Falle  eine  Vielheit  von  Möglichkeiten  ein.  Man  könnte  in 
dieser  Deutung  noch  etwas  weiter  gehen  und  sagen:  das 
Böse  ist  das  vage,  haltlose,  willkürliche  Begehren,  das  Gute 
das  nach  einer  festen  Norm  geregelte  Wollen  und  Handeln. 
Wir  hätten  dann  eine  sehr  sinnvolle  Ableitung  des  sittlichen 
Gegensatzes  aus  dem  Grundgegensatze  des  Unbegrenzten  und 
Begrenzenden. 

Der  zehnte  Gegensatz  endlich,  der  des  Quadrats  und 
des  ungleichseitigen  Rechtecks,  führt  uns  auf  das  Gebiet  der 
Geometrie.  Wir  erkennen  zunächst,  dafs  auch  dies  Gebiet, 
wie  das  der  Zahlen,  schon  in  so  früher  Zeit  die  Aufmerk- 
samkeit der  Pythagoreer  auf  sich  gelenkt  hatte.  Doch  zeigt 
sich  in  unserem  Gegensatze,  ebenso  wie  bei  den  Zahlen,  nur 
erst  ein  sehr  primitiver  -Anfang  der  Kenntnisnahme.  Auch 
hier  ist  der  Gegensatz  des  Bestimmten  und  Eindeutigen  und 
der  unbestimmten  Mannigfaltigkeit  und  Variabilität  das 
Mafsgebende.  Das  Quadrat  ist  schon  durch  eine  Seiten- 
länge eindeutig  bestimmt;  beim  Rechteck  ist  auch  in  diesem 
Falle  durch  die  unendliche  Variabilität  der  anderen  Seiten- 
länge eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  Gestalt  und  Gröfse 
möglich.  Im  Quadrat  ist  also  das  Formprinzip  das  Über- 
wiegende, im  Rechteck  das  Prinzip  des  Unbegrenzten.* 

Eine  unbestimmtere  Hindeutung  auf  diese  Tafel  der 
Gegensätze  findet  sich  auch  noch  an  einer  anderen  Stelle 
des  Aristoteles  (1093b,  11).  Hier  heifst  es,  dafs  in  der  Reihe 
des  Trefflichen  das  Ungerade,  das  Geradlinige  und  „die 
Potenzen  einiger  Zahlen"  (das  Quadrat?)  vorkommen. 

Einer  besonderen  Erörterung  bedarf  noch  der  Umstand, dafs 
die  Tafel,  die  ja  an  sich,  weil  nicht  aus  einem  einheitlichen 
Prinzip  abgeleitet,  bis  ins  Unendliche  weitergeführt  werden 
könnte,  ausdrücklich  auf  die  Zehnzahl  beschränkt  wird. 
Aristoteles  betont  dies  im  Eingange  seines  Berichtes  aus- 
drücklich und  hebt  neben  anderen  Unterschieden  zwischen 
dieser  Lehre  und  der  Gegensatzlehre  des  Alkmäon  von 
Kroton  (von  der  später  besonders  gehandelt  werden   wird) 


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118  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

auch  den  hervor,  dafs  Alkmäon  die  Gegensätze  nicht  auf 
eine  bestimmte  Zahl  beschränkt  habe.  Auch  Simpli- 
cius  nennt  ausdrücklich  die  zehn  Gegensatzpaare,  die 
von  den  Pythagoreern  für  „die  gemeinsamen  Prinzipien 
von  allem"  erklärt  worden  seien,  und  betont,  dafs  sie  durch 
diese  Beschränkung  auf  die  Zehnzahl,  in  der  das  Ganze 
der  Zahl  enthalten  sei,  sinnbildlich  die  Vollständigkeit 
dieser  Tafel  hätten  ausdrücken  wollen  (zu  de  coelo  271b,  7  ff.; 
272  b,  44  ff.).  Es  kann  nun  allerdings  angezweifelt  werden, 
ob  diese  Anwendung  der  Zehnzahl,  sowie  die  sonstigen  Be- 
ziehungen auf  die  Zahl  und  die  Mathematik  in  der  Tafel 
der  Gegensätze  schon  der  ursprünglichen  Form  dieser  Lehre 
angehörte,  oder  ob  sie  vielleicht  erst  bei  der  Aufnahme 
dieses  Lehrstückes  in  die  spätere  Form  des  pythagoreischen 
Systems  in  die  Tafel  hineingetragen  worden  ist.  In  der  Tat 
macht  das  zehnte  der  Gegensatzpaare,  das  Quadrat  und 
Rechteck,  fast  den  Eindruck,  als  sei  es  erst  später  angeflickt 
worden,  um  die  Zehnzahl  vollzumachen.  Und  Eudoros, 
der  (Simpl.  zur  Phys.  431)  von  dem  Hauptsystem  der  Pytha- 
goreer  eine  andere  Lehrform  mit  zwei  obersten  Prinzipien 
unterscheidet,  die  mit  verschiedenen  Namen  benannt  würden, 
führt  nur  sieben  Gegensatzpaare  auf,  von  denen  nur  fünf 
mit  unserer  Tafel  übereinstimmen.  Auch  Plutarch  (de  Is. 
et  Osir.  p.  370)  zählt  von  den  zehn  Paaren  nur  acht  auf.  Es  fehlt 
bei  ihm  das  Männliche  und  Weibliche  und  das  Gute  und  Böse. 
Hiernach  ist  doch  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dafs 
die  Gegensatzlehre  ursprünglich  ohne  die  Zehnzahl  existierte, 
und  dafs  nur  Aristoteles  von  dieser  älteren  Form  keine 
Kunde  erhalten  hatte.  Jedenfalls  kommt  durch  die  Beziehung 
auf  das  Dezimalsystem  ein  neuer  Gedanke  in  das  System 
hinein,  und  es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dafs  die  Tafel  uns 
bei  Aristoteles  nur  in  einer  späteren  Bearbeitung  behufs 
Aufnahme  in  das  Hauptsystem  überliefert  ist.  Simplicius 
berichtet  sogar  (in  Phys.  26),  dafs  es  mehrere  derartige  De- 
kaden bei  den  Pythagoreern  gegeben  habe.  Sollte  jedoch 
trotzdem  die  Zehnzahl  ursprünglich  sein,  so  ergäbe  sich,  dafs 
auch  diese  ältesten  Pythagoreer  schon  ihre  Aufmerksamkeit 
der  Zahlenlehre  und  Geometrie  zugewandt  und  insbesondere 


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111.    2.    Die  eleatische  Theorie.    Parmenides.    (Um  500.)      119 

auch  schon  einen  Einblick  in  die  Bedeutung  der  Zehnzahl 
im  dekadischen  Systeme  gewonnen  hätten,  nach  dem  diese 
einen  Abschlufs  des  Zählens  bildet,  das  mit  der  Elf  wie  mit 
der  Eins  neu  beginnt.  Sie  machten  dann  hiervon  die  An- 
wendung, dafs  alles  Abschliefsende,  Vollständige,  Erschöpfende 
in  der  Zehnzahl  auftreten  müsse,  und  glaubten  somit  in  den 
zehn  Gegensatzpaaren  die  Zahl  der  möglichen  Gegensätze 
erschöpft  zu  haben. 

Der  Hauptgedanke  ist  jedenfalls,  dafs  zu  dem  regellos 
bewegten  Weltstoflfe,  der  auch  jetzt  noch  als  von  eigentlich 
stofflicher  Natur,  ja  wohl  noch  geradezu  als  Luft  im  Sinne 
des  Anaximenes  gedacht  wurde,  als  neues  ursprüngliches, 
dem  Stoffe  an  Wert  überlegenes  Prinzip  der  Weltbildung  die 
Form  hinzugefügt  wird,  und  dafs  nur  durch  das  Zusammen- 
wirken beider  Prinzipien  das  Zustandekommen  einer  Welt 
für  möglich  gehalten  wird.  Man  könnte  wegen  dieser  Gnmd- 
anschauung  die  Nachricht,  dafs  „Pythagoras"  zuerst  wegen 
der  im  Weltill  herrschenden  Ordnung  die  Welt  als  Kosmos 
bezeichnet  hätte,  gerade  auf  dieses  älteste  System  beziehen. 
Durch  das  Formprinzip  wird  dem  unbegrenzten  Stoffe  Ord- 
nung verliehen.  Freilich  ist  nicht  überliefert,  wie  sie  sich 
das  Weltganze  vorgestellt  haben.  Jedenfalls  verwandelt  sich 
bei  dieser  Annahme  die  Beziehung  von  Kosmos  auf  den 
Organismus  in  den  Hinweis  auf  die  Begrenztheit  und  Ge- 
schlossenheit gegenüber  dem  Unbegrenzten. 

2.  Die  eleatische  Theorie  in  gregrensfttzlioher 

Haltungr   zian    ältesten    pythagroreischen    System. 

Parmenides.   (Um  600.) 

Wie  Xenophanes  der  Vorläufer,  so  ist  Parmenides 
der  Begründer  der  eleatischen  Schule.  Wenn  die 
Eleaten,  weil  sie  nicht  nur,  wie  Xenophanes,  das  passive 
Bewegtwerden,  sondern  auch  das  aktive  Sichsei bstbe wegen 
des  All,  also  die  Bewegung  in  der  Welt  überhaupt  leugneten, 
von  Aristoteles  „Stillsteller  der  Welt"  (Stasioten)  und 
»Naturleugner**  (Aphysiker)  genannt  worden  sein  sollen 
(S.  Emp.  Dogm.  IV.  46;  vgl.   Arist.   184  b,  2(5;  tatsächlich 


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120  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt.   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

nennt  sie  schon  Pluto  Theaet.  181 A  die  Stillsteller  des  All), 
so  pafst  dies  erst  auf  Parmenides  vollständig. 

Seine  Geburt  in  Elea  fällt  nach  den  besten  Nachrichten 
(Z.  555)  etwa  um  540,  also  bald  nach  der  Gründung  der 
Stadt.  Gegen  diese  Zeitbestimmung  kann  die  Darstellung 
Pia  tos  in  dessen  Dialoge  Parmenides  (127  BC),  der  ihn  als 
Fünfundsechzigjährigen  in  Athen  mit  dem  noch  sehr  jugend- 
lichen Sokrates  sich  unterreden  läfst,  nicht  ins  Gewicht 
fallen.  Diese  Unterredung  könnte  als  historische,  da  Sokrates 
470  geboren  war,  nicht  vor  450  angesetzt  werden;  Par- 
menides' Geburt  mtifste  dann  also  ins  Jahr  515  hinabgerückt 
werden.  Aber  abgesehen  von  der  ganz  unmöglichen  An- 
nahme, dafs  Sokrates  als  Zwanzigjähriger  eine  solche  Philo- 
sophenrolle gespielt  haben  könnte,  ist  ja  dieser  Dialog  nur 
dichterische  Einkleidung  einer  Auseinandersetzung  mit  den 
zeitgenössischen  Nachfolgern  der  Eleaten,  den  Megarikern. 

Dafs  er  der  Schüler  des  Xenophanes  gewesen,  beruht 
auf  dem  Zeugnis  des  Aristoteles  (986  b,  22)  und  Theophrast 
(Z.  554,  1).  Der  Peripatetiker  Sotion  um  190  vor  Chr. 
(bei  D.  L.  IX.  21)  sucht  die  Abhängigkeit  von  Xenophanes 
erheblich  herabzudrücken,  indem  er  angibt,  Permanides  sei 
nicht  dem  Xenophanes  gefolgt,  auch  nicht  durch  diesen, 
sondern  durch  Ameinias,  einen  Eleer  von  edlem  Geschlecht, 
aber  arm,  einen  Pythagoriker,  d.  h.  einen  Anhänger  der 
pythagoreischen  Ordenslehre,  zu  einem  philosophischen  Leben 
angeregt  worden  (nach  der  berichtigten  Lesart;  Diels, 
Hermes  35)  und  habe  diesem  nach  seinem  Tode  ein  „Heroon", 
d.  h.  einen  kapellenartigen  Bau,  mit  Inschrift  errichtet. 
Diese  Angabe  beruht  wahrscheinlich  auf  dem  Vorhandensein 
eines  derartigen  Bauwerks  mit  Inschrift  in  Elea,  wobei  es 
jedoch  zweifelhaft  bleibt,  ob  dieser  Ameinias  wirklich  ein 
Pythagoriker  war,  ja  ob  der  Gründer  des  Heroon  mit 
unserem  Parmenides  identisch  ist.  Doch  hat  beides  aus 
inneren  Gründen  grofse  Wahrscheinlichkeit.  Wenn  jedoch 
Spätere  (Strabo  27,  1;  Cebes  Tab.  2)  ihn  geradezu  nach 
der  pythagoreischen  Ordensregel  leben  und  sogar  (Strabo 
a.  a.  0.)  in  diesem  Sinne  sich  als  Gesetzgeber  seiner  Vater- 
stadt an  der  Politik  beteiligen  lassen,  so  sind  das  zweifel- 


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III.    2.    Die  eleatische  Theorie.    Parmenides.    (Um  500.)      121 

hafte,  vielleicht  nur  aus  der  vorstehenden  Nachricht  heraus- 
gesponnene Angaben. 

Jedenfalls  hat  Parmenides  die  Grundrichtung  seines 
Denkens  von  Xenophanes  empfangen.  Schon  darin  folgte  er 
Xenophanes,  dafs  er  seine  Lehre  in  dichterischer  Form,  in 
Hexametern,  vortrug.  Von  diesem  Lehrgedicht  sind  erheb- 
liche Bruchstücke  erhalten,  die  wenigstens  für  den  Haupt- 
teil seiner  Lehre  als  Leitfaden  dienen  können.  (Die  Bruch- 
stücke herausgegeben,  übersetzt  und  erklärt  von  Diels^ 
Parmenides'  Lehrgedicht,  Berlin  1897;  die  Fragmente  nebst 
den  sonstigen  Nachrichten  über  Parmenides  auch  in  dessen 
Poet,  philos.  Fragm.)  Die  Einkleidung  ist  die,  dafs  der 
Lehrvortrag  einer  erhabenen  Gottheit  in  den  Mund  gelegt 
wird.  Auf  sausendem  Wagen,  dessen  Rosse  von  Sonnen- 
jungfrauen geführt  werden,  fährt  er  zum  Lichte  empor.  Ein 
gewaltiges  Tor  öflfnet  sich.  Die  Göttin  nimmt  ihn  huldreich 
auf  und  verheifst  ihm  hohe  Offenbarungen.  Er  soll  erfahren 
die  untrügliche  Wahrheit,  aber  auch  der  Menschen  trügerische 
Wahngedanken.  Das  Folgende  (1, 31  f.  D)  ist  nach  Lesung  und 
Deutung  zweifelhaft,  doch  scheint  die  Meinung  zu  sein,  dafs 
«luch  in  Bezug  auf  die  menschliche  Scheinerkenntnis  eine 
kritische  Aussonderung  des  relativ  Richtigeren  in  Aussicht 
gestellt  wird.  Jedenfalls  wird  eine  strenge  Zweiteilung  der 
in  Aussicht  gestellten  Belehrung  in  Lehre  der  Wahrheit  und 
Lehre  des  Scheins  ausgesprochen. 

Der  Weg  der  Wahrheit  ist  nicht  der  des  Herkömm- 
lichen und  der  sinnlichen  Erfahrung.  Es  iwSt  der  der  Ver- 
nunft, des  Denkens.  Nach  ihr  erscheint  das  Seiende  als  eine 
unzerspaltene  Einheit.  Dafs  die  Vernunft  das  wahre  Er- 
kenntnisprinzip ist,  wird  durch  die  zunächst  rätselhaft  klin- 
genden und  erst  an  späterer  Stelle  verständlich  werdenden 
Worte  begründet:  denn  Denken  und  Sein  ist  dasselbe. 

Aber  auch  für  die  Vernunfterkenntnis  gibt  es  noch  Wege 
des  Irrtums  neben  dem  der  Wahrheit.  Wegen  der  Identität 
nämlich  des  Seins  mit  dem  Denken  kann  nur  das  Sein,  das 
man  bejaht  und  aussagt,  existieren,  das  Nichts  aber  nicht. 
Demgegenüber  besteht  nun  der  nächste  Irrweg  darin,  zu  be- 
haupten, das  Sein  sei  mit  Notwendigkeit  nicht,  und  das  Nicht- 


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122  Krste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

sein  sei  (4;  6,  3).  Der  zweite  Irrweg  aber  besagt,  Sein 
und  Nichtsein  sei  dasselbe  und  auch  wieder  nicht  dasselbe, 
die  Annahme,  dafs  es  bei  allem  einen  Doppel  weg  gibt.  Er 
nennt  die  Vertreter  dieser  Ansicht  „nichts wissende  Sterb- 
liche, Doppelköpfe,  stumm  und  blind,  ratlos  schwankend, 
verwirrtes  und  urteilsloses  Volk".  Für  jenen  ersten  Irrweg 
nun  läfst  sich  schlechterdings  keine  Beziehung  auf  eine  tat- 
sächlich vorhandene  Lehre  ausfindig  machen.  Es  läfst  sich 
dabei  überhaupt  ganz  und  gar  nichts  denken  und  wir  müssen 
darauf  verzichten  anzugeben,  was  damit  gemeint  sein  könnte, 
ob  überhaupt  ein  wirklich  vertretener  Standpunkt  gemeint 
ist,  oder  ob  vielleicht  nur  ironisch  der  äufserste  Gegensatz 
gegen  die  richtige  Vernunftlehre  bezeichnet  werden  soll. 

Dagegen  wird  der  zweite  Irrweg,  dem  ein  so  leiden- 
schaftlicher Ausfall  gewidmet  wird ,  nach  der  herrschenden 
Ansicht  übereinstimmend  auf  Heraklit  gedeutet.  Die  Be- 
gründung dieser  Ansicht  wird  einesteils  auf  die  zum  Zu- 
gleichsein der  Gegensätze  gesteigerte  Flufslehre  Heraklits, 
andemteils  auf  den  Gebrauch  eines  einzelnen  Ausdrucks 
(Doppelweg,  angeblich  auch  bei  Heraklit  vorkommend)  ge- 
stützt. Dies  sind  aber  doch  nur  Nebenpunkte  des  herakliti- 
schen  Systems.  Müfste  man  nicht  eine  Polemik  gegen  den 
Grundgedanken  Heraklits,  das  lebendige,  im  Wege  abwärts 
und  aufwärts  rastlos  sich  verändernde  Feuer,  erwarten? 

Ferner  spricht  dagegen  auch  ein  chronologisch -geo- 
graphisches Bedenken.  Die  Göttin  redet  den  Herankommen- 
den als  „Jüngling"  an.  Darnach  könnte  ihm  zur  Zeit  der 
Abfassung  des  Gedichts  allerhöchstens  ein  Alter  von  40  Jahren 
beigelegt  werden.  Die  Anrede  würde  sonst  vollständig  der 
Lächerlichkeit  anheimfallen.  Es  mufs  somit  die  Abfassung 
des  Gedichts  spätestens  um  5()0  angesetzt  werden.  Dies 
war  aber  der  früheste  Termin,  in  dem  man  die  Abfassung 
der  Schrift  Heraklits  annehmen  konnte.  Wahrscheinlich 
fÄllt  sie  später.  Sie  wurde  überdies  von  ihrem  Urheber  gar 
nicht  zur  unmittelbaren  Verbreitung  bestimmt,  sondern  als 
der  Ertrag  seiner  Lebensarbeit  in  einem  Tempel  deponiert. 
Sie  müfste  sich  also  trotzdem  mit  einer  für  die  damaligen 
Verkehrsverhältnisse  und  die  örtliche  Isolierung  des  geistigen 


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III.    2.   Die  eleatisehe  Theorie.     Parmenides.    (Um  500.)       123 

Lebens  unheimlichen  Geschwindigkeit  von  Kleinasien  nach 
Unteritalien  verbreitet  haben.  Femer  pafst  auch  das  durch- 
aus nicht  auf  den  einsamen  Denker  von  Ephesos,  dafs  die 
„Doppelköpfe"  so  nachdrücklich  als  eine  Mehrheit,  eine 
zahlreiche  Gruppe,  bezeichnet  werden.  Schon  dies  führt  auf 
die  überdies  unserem  Denker  so  nahegerückte,  ihn  unmittel- 
bar berührende  Erscheinung  der  ältesten  wissenschaftlichen 
Pythagoreer. 

Dafs  aber  nur  diese  gemeint  sein  können,  ergibt  sich 
aufs  bestimmteste,  wenn  wir  feststellen,  was  Parmenides  mit 
dem  Seienden  und  dem  Nichtseienden  gemeint  haben  kann. 
Das  Nichtseiende  war  ihm  offenbar  der  unendliche  Raum 
aufserhalb  der  Welt,  der,  angefüllt  mit  einem  unendlichen 
Weltstoff,  von  jenen  ältesten  Pythagoreem  als  das  apeiron, 
das  Unbegrenzte,  bezeichnet  und  zur  „Grenze",  dem  Ge- 
formten innerhalb  derWelt,  in  Gegensatz  gestellt  wurde.  Diese 
„Grenze"  ist  ihm  das  Sein;  seine  Absage  ist  in  erster  Linie 
gegen  den  Dualismus  des  ursprünglichen  Gegensatzpaares 
gerichtet.  Möglicherweise  haben  jene  ältesten  Pythagoreer 
selbst  für  ihr  Unendliches  die  Bezeichnung  des  Nichtseienden 
gebraucht.  Zu  dieser  Deutung  seiner  Polemik  stimmt  auch 
in  auffälligem  Mafse  die  weitere  Äufserung,  dafs  es  für  diese 
Gegner  in  allem  einen  Doppelweg  gibt.  Damit 
scheint  doch  auf  die  Vielheit  der  Gegensatzpaare  hingedeutet 
zu  werden.  In  den  Worten  „Sein  und  Nichtsein"  sei  diesen 
Unglücklichen  dasselbe  und  auch  wieder  nicht  dasselbe,  liegt 
dann  freilich  eine  kleine  polemische  Übertreibung.  Nicht 
dasselbe  sind  sie  den  Gegneni  ja  natürlich,  sofern  sie  ja  von 
ihnen  bestimmt  unterschieden  und  auch  dem  Werte  nach 
ungleich  eingeschätzt  werden.  Als  dasselbe  aber  konnten  sie 
bezeichnet  werden,  sofern  beiden  Realität  beigelegt,  beide 
als  zum  Dasein  und  Entstehen  der  Welt  gleich  unentbehr- 
lich bezeichnet  wurden.  Das  Lehrgedicht  des  Parmenides 
ist  der  Protest  des  Monismus  gegen  den  altpythagoreischen 
Dualismus.  Ist  aber  diese  Beziehung  richtig,  so  haben  wir 
an  der  Polemik  des  Parmenides  eine  neue,  durchschlagende 
Bestätigung  für  das  Gegensatzsystem  als  das  älteste  System 
des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus. 


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124  Erste  Periode.    Zweiter  Abschnitt.    Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Was  versteht  nun  Parmenides  unter  diesem  seinem 
existierenden  Sein?  Hören  wir  ihn  darüber  zunächst  selbst. 
Das  Sein  ist  unentstanden  und  daher  auch  unvergänglich. 
Man  kann  von  ihm  nicht  sagen:  es  war  oder  wird  sein;  sein 
Verhältnis  zur  Zeit  kann  nur  als  ein  „Jetzt"  bezeichnet 
werden.  Wollte  man  es  als  ein  zeitlich  Gewordenes  be- 
zeichnen, so  mtifste  es  entweder  aus  einem  Seienden  oder 
einem  Nichtseienden  hervorgegangen  sein.  Ersteres  ist  nicht 
möglich,  da  ja  kein  anderes  Sein  vor  ihm  existiert;  letzteres 
deshalb  nicht,  weil  aus  Nichtseienden  eben  auch  nur  Nicht- 
seiendes  werden  könnte.  Und  welchen  Antrieb  könnte  es 
überhaupt  geben,  einmal  anfangend  aus  dem  Nichtsein  hervor- 
zugehen V  Es  mufs  unbedingt,  schlechthin  sein  oder  überhaupt 
nicht  sein.  Es  gibt  also  für  das  Seiende  als  solches  kein 
Entstehen  oder  Vergehen. 

Das  Seiende  ist  ferner  unteilbar,  und  zwar  aus  zwei 
Gründen.  Zunächst  weil  es  durchweg  gleichartig  ist.  Es  ist 
eine  ziemlich  starke  Probe  primitiver  Logik,  aus  dem  Fehlen 
einer  qualitativen  Mannigfaltigkeit  auf  die  Unmöglichkeit 
einer  quantitativen  Teilung  zu  schliefsen.  Bei  Xenophanes 
wurde  nur  die  durchweg  vorhandene  Gleichartigkeit  aus  der 
Vollkommenheit  des  göttlichen  Wesens,  die  bei  ihm  der 
höchste  Gesichtspunkt  ist,  gefolgert.  Gäbe  es  Teile,  so 
müfste  es  innerhalb  des  Göttlichen  (wie  in  einem  Organis- 
mus) Beherrschendes  und  Beherrschtwerdendes  geben. 

Origineller  und  treffender  ist  das  zweite  Argument,  das 
die  Unteilbarkeit  durch  die  Unmöglichkeit  des  räumlichen 
Sonderns  erklärt.  Die  Aufhebung  des  Zusammenhangs 
könnte  (da  das  Nichtseiende,  das  Leere,  nicht  existiert)  nur 
durch  ein  anderes  Seiendes  geschehen ;  ein  solches  aber  gibt 
es  nicht.  Die  polemische  Bezugnahme  auf  die  Pythagoreer, 
die  eine  Teilung  in  der  Welt  durch  das  Leere  behaupteten, 
ist  auch  hier  deutlich.  Auch  Aristoteles  bezeugt  (325,  2), 
dafs  nach  den  Eleaten  Vielheit  des  Seienden  (also  Teilbar- 
keit) nur  möglich  sei,  wenn  etwas  (nicht  das  Leere)  da- 
zwischentrete. Aus  dieser  Betrachtung  folgt  gleicherweise 
die  absolute  Dichtigkeit  des  Seienden  (kein  Leeres  und  kein 
fremdes  Sein   dazwischen)  und  die  Unteilbarkeit  (aus  dem 


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III.    2.   Die  eleatische  Theorie.    Parmenides.    (Um  500.)       125 

gleichen  Grunde).  Mit  diesem  Gedanken  der  völligen  Un- 
teilbarkeit und  mehr  noch  mit  dem  der  absoluten  Dichtig- 
keit scheint  Parmenides  schon  über  das  von  Xenophanes 
Gesagte  hinauszugehen,  zugleich  aber  auch  sich  von  der 
Welt  der  Erfahrung  zu  entfernen.  Es  wird  daher  auch  in 
dem  Angriff  des  Epikureers  Kolotes  (um  250  vor  Chr., 
auf  Parmenides,  dessen  Lehre  von  der  unteilbaren  Einheit 
des  Alls  als  Beweis  geltend  gemacht,  dafs  in  der  Welt  des 
Parmenides  das  Leben  unmöglich  sei  (Plut.  Kolot.  13). 

In  entscheidender  Weise  aber  ist  beides,  das  Hinaus- 
gehen über  Xenophanes  und  der  Bruch  mit  der  Erfahrung, 
der  Fa.ll,  wenn  nunmfehr  auch  die  absolute  Bewegungs- 
losigkeit behauptet  wird.  Dies  scheinen  schon  die  Worte 
zu  besagen:  „Als  Selbiges  im  Selbigen  verharrend  ruht  es  in 
sich  selbst  und  verharrt  standhaft  dortselbst"  (8,28  f.),  sowie 
ferner  die  Worte:  „Drum  ist  alles  leerer  Schall,  was  die 
Sterblichen  in  ihrer  Sprache  festgelegt  haben,  tiberzeugt, 
es  sei  wahr  —  Werden  und  Vergehen,  Sein  und  Nichtsein, 
Veränderung  des  Ortes  und  Wechsel  der  leuchtenden  Farbe" 
(8,  38  ff.).  Es  ist  wohl  kein  Zufall,  dafs  er  gerade  an  diesem 
entscheidenden  Punkte  seines  Gedankenganges  aufs  neue  sein 
erst  an  späterer  Stelle  verständlich  werdendes  Erkenntnis- 
prinzip einschärft :  Denken  nnd  des  Denkens  Gegenstand  ist 
dasselbe;  Sein  und  Denken  sind  nicht  zu  sondern  (8,  34 f.). 
Dieses  Satz  hat  hier  offenbar  die  besondere  Bedeutung,  dafs  das 
Sein  ebenso  unwandelbar  sein  mufs  wie  der  Gedanke.  Das 
ist  also  sein  Beweis  für  die  absolute  Leugnung  der  Be- 
wegung, welche  folgenschwere,  die  Erscheinungswelt  ver- 
nichtende Behauptung  im  übrigen  mit  staunenswerter  Kürze 
abgetan  wird.  Auf  diesen  Beweisgrund  scheint  auch 
Aristoteles  (9866,52)  hinzudeuten,  wenn  er  sagt,  Parme- 
nides bezeichne  das  Eine  deshalb  als  begrenzt,  weil  er  es 
mehr  in  der  Weise  des  Denkens  fasse;  nur  dafs  Grund 
und  Folge  hier  umgekehrt  sind.  Noch  bestimmter  deutet 
er  auf  diesen  Beweisgrund  gegen  die  Bewegung  hin,  wenn 
er  an  einer  anderen  Stelle  (325,  13)  von  den  Eleaten  über- 
haupt sagt,  sie  seien  zur  Leugnung  der  Bewegung  durch 
die  Meinung  gelangt,  man  müsse  unter  Beiseitelassung  der 


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126  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Sinneswahrnehmung  nur  dem  Denken  folgen,  welche  Leugnung 
er  dann  aber  freilich  für  eine  Art  Wahnsinn  erklärt.  Doch 
sollen  nach  ihm  die  Eleaten,  also  doch  wohl  schon  Parmenides 
selbst,  die  Unmöglichkeit  der  Bewegung  auch  aus  dem  Nicht- 
vorhandensein des  Leeren  gefolgert  haben  (325,  2). 

Er  leitet  aber  mitten  in  diesem  Zusammenhange  (8,32  f.) 
noch  eine  andere,  bedeutsame  Bestimmung  des  Seins  ab. 
Weil  ihm  nichts  fehlen  darf  (weil  es  als  selbstgenugsam  ge- 
dacht werden  mufs),  mufs  es  begrenzt  gedacht  werden. 
Denn  das  Unbegrenzte  wäre  ein  immer  und  immer  noch 
einer  Erweiterung  Bedürfendes,  nie  zum  Abschlufs  Kommendes. 
Es  ist  bemerkenswert,  dafs  hier  die  Begrenztheit  des  Wirk- 
lichen nicht  aus  der  Unvollziehbarkeit  des  Gedankens  eines 
unendlichen  Wirklichen,  sondern  aus  dem  Gedanken  abge- 
leitet wird,  dafs  das  Unbegrenzte  ein  unendlich  Bedürftiges 
sei.  Aus  der  Begrenztheit  aber  folgt  dann  weiter  (42flF.)- 
dafs  das  Seiende  „abgeschlossen  ist  nach  allen  Seiten  hin, 
vergleichbar  der  Masse  einer  wohl  gerundeten  Kugel"  mit 
völlig  gleichmäfsiger  Entfernung  aller  Teile  des  Umfanges 
vom  Mittelpunkte.  Aufserhalb  dieser  Kugel  ist  natürlich 
nichts ,  auch  nicht  das  Nichtsein ,  das  ja  dem  unbegrenzten 
Weltstoflf  der  Pythagoreer  entspricht. 

Da  haben  wir  also  die  Auskunft  des  Parmenides  über 
das  Wesen  des  Seienden!  Diesem  Fanatiker  des  Denkens 
ist  das  dem  Denken  analoge  Sein  eine  absolut  dichte, 
starre  (d.  h.  auch  jeder  inneren  Bewegung  und  Veränderung 
entbehrende)  kugelförmige  Substanz.  Allem  Augenschein 
zum  Trotz!  Von  welcher  Art  diese  Substanz  ist,  darüber 
sagt  er  nichts;  über  die  Bezeichnung  als  das  Seiende  geht 
er  nicht  hinaus.  Aristoteles  nun  sagt  an  der  schon 
mehrfach  angeführten  Stelle  (9866, 18),  Parmenides  scheine 
sich  der  begriflffichen,  also  immateriellen  Fassung  des  Einen 
zu  nähern,  während  Melissos  es  stofflich  fasse  und  Xenophanes 
hinsichtlich  dieses  Punktes  in  der  Schwebe  bleibe.  Dafs 
Aristoteles  hier  in  betreff  des  Xenophanes  im  Irrtum  ist, 
haben  wir  gesehen.  Die  Annäherung  an  die  begriffliche 
oder  immaterielle  Fassung  bei  Parmenides  fand  er  zunächst 
darin,  dafs  dieser  das  Seiende  für  begrenzt  erklärte.  Vielleicht 


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111.   2.   Die  eleatische  Theorie.    Parmenides.    (Um  500.)       127 

aber  wirkte  zur  Bildung  dieser  Ansicht  bei^  Arist.  auch  mit, 
dafs  jede  besondere  Angabe  über  die  Beschaffenheit  der  ein- 
heitlichen Substanz  fehlt  (bei  Xenophanes  bestand  sie  schliefslich 
aus  Erde  und  Wasser),  und  dafs  daran  die  Behauptung  ge- 
knüpft wurde,  Sein  und  Denken  sei  dasselbe,  welche  Be- 
hauptung aber,  wie  sich  zeigen  wird,  keineswegs  als 
Iinroaterialität  des  Seienden  gemeint  ist.  Dafs  überhaupt 
Parmenides  nicht,  wie  an  dieser  Stelle  Aristoteles  anzu- 
nehmen geneigt  ist,  metaphysischer  Idealist,  das  heist  Stoff- 
leugner und  Vertreter  der  ImmaterialitÄt  des  Seienden  ist, 
geht  schon  aus  den  reinstoftlichen  Prädikaten  hervor,  die 
er  dem  Seienden  beilegt,  insbesondere  auch  aus  der  Ver- 
gleichung  mit  einer  Kugel,  die  er  ja  von  Xenophanes  über- 
nommen hatte.  Und  so  hat  sich  denn  auch  Aristoteles  an 
anderen  Stellen  der  richtigen  Auffassung  nicht  entzogen.  So 
fafst  er  Parmenides  mit  Demokrit  und  Empedokles  unter 
der  Bemerkung  zusammen,  sie  hätten  nur  das  Sinnenfällige  für 
das  Seiende  gehalten  (1010,  1;  vgl.  2986,  21).  Das  Eigen- 
artige und  Bedeutsame  dieser  Lehre  besteht  nicht,  wie  Aristo- 
teles annimmt,  in  einem  Anlauf  zur  Behauptung  der  Un- 
stofflichkeit  des  Seienden,  sondern  darin,  dafs  er  gegenüber 
der  Sonderung  des  Gestaltungsprinzips  vom  Stoffprinzip  bei 
den  von  ihm  so  lebhaft  bekämpften  Pythagoreern  nicht  ein- 
fach zum  Hylopsychismus  zurückkehrt,  sondern  die  Be- 
wegung und  Gestaltung,  deren  Ursache  streitig  ist,  einfach 
streicht  und  aus  der  Welt  hinausweist.  So  wird  er  zu  dem 
Stillsteller  der  Welt,  „zu  dem  Naturleugner**,  als  den  ihn 
die  alten  Zeugnisse  bezeichnen;  so  setzt  er  an  Stelle  des 
konkreten,  das  Leben  einschliefsenden  Monismus  der 
Hylopsychisten  durch  einen  Gewaltstreich  des  Denkens  den 
abstrakten  Monismus  der  Bewegungslosigkeit. 

Jedenfalls  ist  mit  den  zuletzt  eröiterten  Ausführungen 
in  schroffster  und  unbegreiflicher  Weise  der  Bruch  mit  der 
Erscheinungswelt  vollzogen.  Um  so  überraschender  wirkt  es, 
dafs  die  Göttin  nunmehr,  nach  Beendigung  der  Wahrheitsrede, 
in  der  Darstellung  der  menschlichen  Wahngedanken  dazu 
übergeht,  ein  durchaus  originelles,  scharfsinnig  ausgedachtes 
und  die  bisherigen  Versuche  in  wesentlichen  Punkten  über- 


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128  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

holendes  System  der  Welt  und  ihrer  Entstehung  aufzustellen* 
Ehe  wir  dieses  Rätsel  zu  lösen  versuchen,  müssen  wir  zu- 
nächst diese  kosmologische  und  kosmogonische  Leistung  selbst 
kennen  lernen. 

Die  trügerische  Meinung  der  Menschen  nun  soll  zunächst 
darin  ihr  Eigentümliches  haben,  dafs  sie  zwei  Prinzipien  des 
Seienden  für  nötig  erachtet  (8,  53).  Wir  vermuten  an  dieser 
Stelle,  er  werde  auf  die  früher  so  scharf  verurteilte  Ansicht 
der  „Doppelköpfe",  dafs  auch  das  Nichtseiende  sei,  zurück- 
kommen und  von  dieser  aus  das  trügerische  Weltsystem  ent- 
wickeln. Dies  ist  aber  nicht  der  Fall.  Er  scheint  eher  eine 
Anleihe  bei  Anaximander  gemacht  zu  haben.  Der  Gegen- 
satz ist  der  des  Leichten,  Feurigen  und  des  Dichten,  Schweren, 
Finstern  (8,  55  ff.).  Der  Unterschied  von  Anaximander  be- 
steht nur  darin,  dafs  bei  diesem  der  Gegensatz  als  abgeleiteter, 
als  die  erste  Differenzierung  des  ursprünglichen  Einen,  bei. 
Parmenides  aber  als  ein  ursprünglich  vorhandener  erscheint. 
Gleich  am  Anfange  (60  f.)  wird  nochmals  betont,  dafs  die 
so  abzuleitende  Weltansicht  die  wirklich  dem  Erscheinenden 
entsprechende  sein  wird,  dafs  sie  daher  nicht  durch  sonstige 
menschliche  Meinungen  umgestofsen  werden  könne.  Es  gibt 
also  auch  noch  auf  dem  Gebiete  des  Scheines  eine  Rang- 
ordnung und  einen  Unterschied  zwischen  dem  relativ  Be- 
rechtigten und  dem  unbedingt  Unberechtigten. 

Von  der  Ausführung  dieses  Weltbildes  im  Gedichte  sind 
nun  leider  nur  sehr  dürftige  Trümmer  erhalten,  so  dafs  wir 
für  diesen  Teil  der  Lehre  vornehmlich  auf  die  Quellen  zweiter 
Hand  angewiesen  sind. 

Über  das  Verhältnis  der  beiden  Prinzipien  zur  urprting- 
lichen  Einheitslehre  besitzen  wir  nur  ein  Zeugnis,  aber  ein 
ausschlaggebendes.  Nach  Aristoteles  (987,  1;  vgl.  318  b,  6) 
hat  er  das  „Warme"  (d.  h.  das  Feurige)  dem  wahren  Seien- 
den, das  andere  Prinzip  aber  dem  Nichtseienden  gleichgesetzt. 
Auch  im  Gedicht  (8,  57)  wird  wenigstens  eine  Eigenschaft 
des  wahren  Seienden,  die  durchweg  gleiche  Beschaffenheit, 
auch  dem  Feuerprinzip  beigelegt. 

Parmenides  hat  nun  offenbar  von  dieser  Voraussetzung 
aus  nicht  nur  ein  Bild  der  vorhandenen  Welt  entworfen ;  er 


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ni.    2.    Die  eleatische  Theorie.    Parmenides.    (Um  500.)      129 

hat  auch  ihre  Entstehung  (Kosmogonie)  dargestellt.  Wenig- 
stens verheifst  die  Göttin  in  zwei  Fragmenten  (10  f.),  die 
ziemlich  am  Anfange  des  zweiten  Teils  gestanden  haben 
mQssen,  er  werde  jetzt  nicht  nur  die  Beschaffenheit  der  ein- 
Alnen  Teile  der  Welt  erfahren,  sondern  auch  die  Art,  wie 
sie  entstanden  und  entsprossen,  zur  Geburt  strebten,  und 
nach  einem  bei  Plato  (Sympos.  178  B)  und  Aristoteles 
(984  b,  25)  angefahrten  Verse  „ersann"  das  personifizierte 
Werden  (dies  Subjekt  nur  bei  Plato)  „zuerst  von  allen  Göttern 
den  Eros".  Auch  Fragm.  13,  das  von  einigen  anderen  Teilen 
des  Weltbaues  handelt,  hat  diese  erzählende  Form.  Dazu 
stimmt  auch,  dafs  er,  entgegen  der  „Wahrheitslehre"  von 
der  Anfangs-  und  Endlosigkeit  der  Welt,  in  diesem  Zu- 
sammenhange auch  einen  Weltuntergang  gelehrt  hat  (D.  564; 
Fr.  19).  Näheres  über  die  Art,  wie  er  sich  die  Weltbildung 
gedacht  hat,  ist  jedoch  nicht  erhalten. 

Dagegen  genügen  die  vorhandenen  Nachrichten,  um  uns 
ein  Bild  seiner  Vorstellung  vom  Weltgebäude  als  fertigem 
zu  machen.  Hier  mufs  nun  zunächst  ein  merkwürdiges 
Hinausschreiten  über  die  hylopsychistische  Vorstellung  von 
der  Lebendigkeit  und  Umwandlungsfähigkeit  der  Urstoffe 
konstatiert  werden. 

Die  Lebendigkeit  anlangend,  so  wird  zwar  eine  verschiedene 
Rolle  und  Funktion  der  beiden  Urstoffe  beim  Werden  der  Welt 
angenommen.  Das  Feurige  ist  das  aktive,  formende,  bewegende, 
das  Dunkle  das  passive,  stoffliche  Prinzip  der  Welt  (Cic.  Acad, 
n.  118;  D.  564;  D.  L.  IX.  22).  Daneben  aber  führt  er, 
jetzt  ganz  dualistisch,  die  Verbindung  der  beiden  Stoffe  auf 
ein  von  ihnen  verschiedenes,  bewegendes  Prinzip  zurück,  das 
er  mit  der  Triebkraft  der  geschlechtlichen  Vereinigung  iden- 
tifiziert. Es  wird  als  Aphrodite  bezeichnet  (Plut.  Amator.  18; 
fac  lun.  12),  als  Begierde  (Cic.  N.  D.  L  11),  als  Göttin,  die 
alles  Werden  verursacht  (Simplic.  ad  Phys.  8  a ;  and,  Stellen 
bei  Krische,  Forschungen,  S.  112).  Auch  der  zuerst  von 
allen  Göttern  entstandene  Eros  des  vorher  angeführten  Verses 
wird  wohl  nichts  anderes  sein  als  eine  verschiedene  Be- 
zeichnung derselben  Kraft.  Danach  liegt  also  in  den  beiden 
Urstoffen  nur  die  Fähigkeit    und  Disposition  zu  den  ent- 

Dirioff.    I.  9 

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130  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

gegengesetzten  FunktioDen ;  die  eigentliche  bewirkende  Kraft 
aber  ist  eine  von  ihnen  verschiedene  (Aristot.  984  b,  1). 
Ebenso  aber  hat  er  auch  mit  der  Verwandlung  der  Stoffe 
ineinander  gebrochen;  alle  Vereinigung  ist  nur  Verbindung, 
Mischung  in  verschiedenen  Mischungsverhältnissen  (Aristot. 
380  b,  15). 

Die  gewordeüe  Welt  sieht  nun  folgendermafsen  aus: 
Um  das  Ganze  wölbt  sich  eine  feste  Kugelhülle.  Sie  wird 
nicht  als  dicht  bezeichnet,  scheint  also  nicht  aus  dem  dichten, 
dunklen  Urstoffe  zu  bestehen.  Woraus  sie  besteht  und  wie 
sie  entstanden,  läfst  sich  aus  din  vorhandenen  Nachrichten 
nicht  entnehmen.  Wie  es  scheint,  wirkt  hier  die  Grundlehre 
vom  Seienden  als  einer  Kugel  nach.  Dafür  spricht  auch  die 
Angabe  (D.  303),  dafs  er  diese  feste  Schale  der  Welt  Gott 
genannt  habe.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  tritt  uns  hier 
zum  ersten  Male  die  von  jetzt  ab  herrschend  werdende  Vor- 
stellung von  dieser  festen  Welthülle,  dem  Firmament,  ent- 
gegen. Bei  Thaies  und  Anaximenes  und  den  von  diesem 
abhängigen  ältesten  Pythagoreern  ist  sie  mehr  als  zweifel- 
haft; bei  Anaximander,  Xenophanes  und  Heraklit  ist  sie 
jedenfalls  nicht  vorhanden. 

Innerhalb  dieser  Hohlkugel  sodann  sind  die  beiden  gegen- 
sätzlichen Elemente  so  angeordnet,  dafs  sie  in  ihrer  Rein- 
heit möglichst  weite  Abstände  voneinander  haben.  Unmittel- 
bar unter  der  Kugelhülle  erstreckt  sich  das  reine  Feuer  in 
der  Form  einer  Sphäre,  d.  h.  einer  Hohlkugel,  die  sich  aller- 
seits an  jene  anschliefst;  im  Mittelpunkte  des  Hohlraums 
lagert  die  Erde,  als  der  reine  Inbegriff  des  dichten  und 
dunklen  Stoffes.  Und  zwar  hat  er  nach  dem  unverwerflichen 
Zeugnis  Tlieophrasts  (D.  L.  VIII.  48;  IX.  21)  die  Kugelform 
der  Erde  gelehrt.  Nach  gröfster  Wahrscheinlichkeit  ist  ihm 
darin  Xenophanes  vorangegangen.  Aber  diesem  war  die 
Erde  das  Ganze  der  Welt;  die  Erde  als  Weltkörper  für 
eine  Kugel  erklärt  hat  zuerst  Parmenides.  Auf  diesen  Unter- 
schied scheint  auch  der  alte  Bericht  (D.  L.  IX.  21)  durch 
den  Zusatz  ausdrücklich  hinzudeuten,  dafs  die  Erde  in  der 
Mitte  der  Welt  lagere  (also  nicht  das  Ganze  der  Welt  aus- 
mache).   Wie  Anaximander  soll   er  das  Beharren  der  Erde 


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III.     2.    Die  eleatische  Theorie.    Parmenides.    (Um  500.)      131 

in   der  Weltmitte  durch  den  gleichmäfsigen   Abstand  nach 
allen  Seiten  erklärt  haben  (D.  380). 

Gleich  weit  abstehend  von  diesen  beiden  entgegengesetzten 
Elementen  lagert  eine  Mittelsphäre,  die  Sphäre  der  gleich- 
mäfsigsten  Mischung  der  beiden  Gegensätze,  in  der  das  die 
Gegensätze  zur  Verbindung  Treibende,  die  Aphrodite,  der 
Eros,  seinen  Sitz  hat.  Diese  Kraft  wird  (Fr.  12)  auch  als 
„die  Göttin  (Daimon),  die  alles  lenkt*',  in  anderen  Nach- 
richten auch  als  die  „Erzeugerin  aller  Bewegung  und  alles 
Werdens**  oder  als  die  „schlüsselhaltende  Gerechtigkeit  und 
Notwendigkeit"  bezeichnet  (D.  335).  Bemerkenswert  ist, 
dafs  auch  im  Eingange  des  Gedichts  (I.  14)  „Dike,  die  ge- 
waltige Rächerin",  die  Schlüssel  zur  Wohnstätte  der  offen- 
barenden Göttin  bewahrt.  Diese  Mittelsphäre  identifiziert  er 
übrigens  mit  der  Milchstrafse ,  worauf  er  wohl  durch  den 
matten,  Licht  und  Dunkel  gleichmäfsig  vermischt  zeigenden 
Schimmer  derselben  geführt  worden  ist.  Die  Milchstrafse  ist 
ihm  also  eine  Hohlkugel,  in  weitem  Abstände  um  die  Erde 
gelagert  und  ia  gleichem  Abstände  der  inneren  Fläche  der 
festen  Welthülle  parallel  laufend. 

Dieser  Mittelsphäre  nun  streben  von  beiden  Seiten,  dem 
Feuer  des  Umfanges  wie  der  Erde  im  Mittelpunkte,  her  die 
beiden  entgegengesetzten  Elemente  zu.  So  entsteht  eine 
Stufenfolge  von  Vermischungen.  Die  beiden  Extreme  büfsen 
in  dem  Mafse,  in  dem  sie  sich  der  Mittelsphäre  nähern,  von 
ihrer  Eigenart  ein.  Unterhalb  der  reinen  Feuersphäre  ist 
eine  Feuersphäre  von  geringerer  Reinheit,  in  der  schon  eine 
Beimischung  des  Dunkeln,  doch  mit  Überwiegen  des  Feurigen, 
eingetreten  ist.  Andernteils  dünstet  von  der  Erde  als  eine 
schon  durch  Beimischung  von  Feuerteilen  modifizierte  Form 
des  Dunklen  die  Lufthülle  aus.  Sogar  das  Wasser  hat  im 
Vergleich  zur  Erde  schon  eine  Beimischung  des  Feurigen 
(Aristot.  330  b,  14).  Zwischen  Luft  und  Mittelsphäre  liegt 
noch  eine  weitere  gemischte  Sphäre,  in  der  aber  noch 
das  dunkle  Element,  wenngleich  weniger  als  in  der  Luft, 
überwiegt. 

Die  gesamte  Reihenfolge  der  Sphären  ist  also,  von  der 
Erde  an  gerechnet,  folgende:   Lufthülle,  gemischte  Sphäre 

9* 


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132  Erste  Periode.  Zweiter  Absclinitt.   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

mit  noch  überwiegendem  Dunklen.  Mittelsphäre  der  gleich- 
mftfsigen  Mischung  (Milchstrafse),  gemischte  Sphäre  mit 
Überwiegen  des  Feurigen,  reine  Feuersphäre,  Firmament. 
Wir  dürfen  uns  jedoch  diese  Aufeinanderfolge  nicht  so  denken, 
als  ob  jede  dieser  Sphären  eine  in  sich  gleichmäfsige,  in 
allen  ihren  Teilen  das  gleiche  Mischungsverhältnis  dar- 
stellende und  von  den  Nachbarsphären  durch  einen  plötz- 
lichen Übergang  gesonderte  Einheit  bildete.  Vielmehr  mufs 
im  Sinne  des  Parmenides,  abgesehen  von  der  Erde,  der 
Übergang  vom  Überwiegen  des  Dunklen  zum  Gleichgewichts- 
zustand in  der  Mittelsphäre  und  weiter  bis  zur  reinen  Feuer- 
sphäre als  ein  stetig  iFortschreitender  gedacht  werden.  Die 
Sphären  sind  gewisseimafsen  nur  Fachwerke  für  das  über- 
wiegend Gleichartige.  Dafs  er  sich  die  Sache  so  vorgestellt 
hat,  beweist  die  Angabe  (D.  349),  dafs  er  sogar  in  der  Sphäre 
der  gleichmäfsigen  Mischung  eine  der  Erde  zugewandte 
dichtere  und  kältere  und  eine  dem  Weltumfnnge  zugewandte 
dünnere  und  wärmere  Schicht  angenommen  hat.  Fi*eilich 
könnte  diese  Angabe  auch  so  gedeutet  werden,  dafs  dabei 
die  beiden  zu  beiden  Seiten  an  die  Milchstrafsensphäre  an- 
grenzenden Sphären  mitverstanden  werden. 

Sehr  merkwürdig  ist  seine  Lehre  von  den  Gestirnen. 
Dieselben  sind  ihm  im  allgemeinen  Ausscheidungen  und 
Kristallisationspunkte  der  verschiedenen  Sphären,  deren 
Mischungsverhältnis  daher  auch  in  ihnen  in  die  Erscheinung 
tritt.  Von  der  Erde  ausgehend,  treffen  wir  zunächst  in  der 
Sphäre  oberhalb  der  Luft  den  Mond  an.  Er  hat  eigenes 
Licht,  aber  entsprechend  dem  Überwiegen  des  Dunklen  in 
seiner  Sphäre  überwiegt  auch  in  ihm  das  Dunkle  über  das 
Feurige.  Er  nannte  ihn  d  aber  in  seiner  dichterischen  Sprache 
„scheinleuchtend"  (pseudophanes)  und  erklärte  aus  der  tiber- 
wiegenden Beimischung  des  Dunklen  das  Gesicht  im  Monde 
(D.  361).  Doch  nahm  er  daneben  auch  eine  Erleuchtung 
durch  die  Sonne  an  (D.  357  f.  und  Fr.  15).  Der  Mittel- 
sphäre wies  er  sämtliche  übrige  Himmelskörper  mit  Aus- 
nahme der  Sonne  und  des  Morgensterns  zu  (D.  345).  Die 
Sonne  gehört  der  nächst  höheren  Sphäre  an,  in  der  das 
Feurige  überwiegt,  der  Morgenstern,  den  er,  wie  es  scheint, 


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III.    2.  Die  eleatische  Theorie.    Parinenides.    (Um  500.)      133 

als  der  erste  unter  den  griechischen  Forschem  mit  dem 
Äbendstem  für  einerlei  erklärte,  der  reinen  Feuersphäre 
(ib.  u.  D.  L.  IX.  23;  vgl.  VIII.  14  und  zur  richtigen  Lesung 
dieser  Stelle  D.  492).  Wir  haben  in  dieser  Anordnung  ein 
sehr  bemerkenswertes  Zeugnis,  dafs  auch  Parmenides  noch 
nicht,  so  wenig  wie  seine  Vorgänger,  die  Planeten  von  den 
Fixsternen  unterschieden  hat,  dafs  aber  der  erste  Ansatz  zu 
dieser  Unterscheidung  in  der  Absonderung  des  mit  dem 
Äbendstem  als  identisch  erkannten  Morgensterns  bei  ihm 
zu  Tage  tritt.  Sämtliche  Sterne^  aufser  Mond,  Sonne  und  Venus, 
werden  unterschiedslos  der  Mittelspbäre  zugewiesen. 

In  den  verschiedenen  erhaltenen  Zeugnissen  über  das 
Weltsystem  des  Parmenides  finden  sich  mannigfache  Schwierig- 
keiten und  Dunkelheiten,  deren  Behandlung  im  einzelnen 
hier  zu  weit  führen  würde.  Eine  Einhelligkeit  in  diesen 
Fragen  ist  noch  nicht  erzielt.  Für  die  genauere  Begründung 
der  im  vorstehenden  nur  summarisch  vorgetragenen  Auf- 
fassung verweise  ich  auf  „Zeitschrift  f.  Philosophie  104  u.  111". 
Nach  der  gegebenen  Auffassung  bezeichnet  diese  verächtlich 
als  Wahngebilde  gebrandmarkte  Weltvorstellung  einen  un- 
geheuren und  vielseitigen  Fortschritt  der  Wissenschaft  und 
bildet  die  Grundlage,  auf  der  fast  alle  Nachfolger  weiter- 
gebaut haben.  Die  Urstoflfe  sind  nicht  mehr  lebendig  und 
sich  beliebig  ineinander  verwandelnd;  sie  bleiben,  was  sie 
sind,  und  nur  durch  ihre  Mischung  in  verschiedenen  Ver- 
hältnissen entstehen  die  verschiedenen  Schattierungen  des 
Seienden;  die  Triebkraft  dieser  Mischung  wird  vom  Stoffe 
abgesondert.  Die  Welt  ist  von  einer  festen  Kugelhülle  um- 
geben ;  die  einzelnen  Teile  des  Weltbaues  sind  konzentrische 
Sphären;  mit  der  Identifikation  des  Morgen-  und  Abend- 
stems  und  der  Absonderung  dieses  Himmelskörpers  von  allen 
fibrig«'n  wird  der  erste  Ansatz  zur  Unterscheidung  der 
Planeten  von  den  Fixsternen  gemacht;  die  Erde  endlich  ist 
eine  Kugel.  Das  sind  lauter  Punkte,  die  von  den  Nach- 
folgern fast  ausnahmslos  als  Ausgangspunkt  respektiert  worden 
sind  und  von  denen  zwei,  die  Annahmen  über  die  Form  der 
Erde  und  über  den  Morgen-  und  Abendstern,  dauernd  gültige 
Entdeckungen    darstellen.     Und    in   der  Aufstellung    einer 


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134  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

besonderen  Triebkraft  der  Veränderungen  wird  er  geradezu 
der  Vorläufer  der  Systeme  des  folgenden  Abschnitts. 

Parmenides  hat  sich  aber  in  seiner  Scheinlehre  durchaus 
nicht  mit  dieser  Konstruktion  eines  Weltbildes  begnügt ;  er 
hat  zahlreiche  naturwissenschaftliche  Einzelbestimmungen, 
namentlich  über  den  Menschen  gegeben.  Von  diesen  Lehren 
sind  uns  nur  dürftige  Trümmer  erhalten.  Nur  einiges  be- 
sonders Bemerkenswerte  sei  hier  noch  angeführt.  Die  Tiere 
sind  aus  der  Erde  entstanden  und  haben  erst  allmählich,  wie 
es  scheint,  durch  eine  Art  von  natürlicher  Auslese,  lebens- 
fähige Gestalt  gewonnen  (D.  189:  die  Stelle  ist  arg  ver- 
derbt). Auch  der  Mensch  ist  aus  dem  Erdschlaram  ge- 
worden (D.  L.  IX.  22).  Er  übertrug  aber  die  Entstehung 
der  Welt  aus  den  beiden  Urstoffen  überhaupt  auf  alle 
einzelnen  Sonderexistenzen;  nur  die  Mischung  ist  verschieden. 
Dafs  er  auch  die  Entstehung  des  Menschen  erklärt  hat, 
bezeugt  auch  Plutarch  Kolot.  13.  Wenn  er  gesagt  hat, 
die  Seele  werde  von  der  Gottheit  bald  aus  dem  Sichtbaren 
ins  Unsichtbare  geführt,  bald  umgekehrt  (Simplic.  Phys. 
p.  39),  so  braucht  darin  kein,  von  seinen  Voraussetzungen 
aus  völlig  inkonsequentes,  Bekenntnis  zur  Seelen wanderungs- 
lehre  gefunden  zu  werden.  Er  will  wohl  nur  sagen,  der 
einheitliche  SeelenstoflF  (das  Feurige)  verteile  sich  abwechselnd 
an  die  Körper  und  kehre  wieder  zur  einheitlichen  Gesamt- 
masse zurück  (im  Tode). 

Hier  nun  erhält  sein  Prinzip,  dafs  Sein  nnd  Denken 
dasselbe  sei,  in  weitestem  Umfange  seine  Erläuterung.  Er 
schreibt  auch  in  der  Scheinlehre  allem  Existierenden  eine 
Art  von  Erkenntnis  zu.  Diese  ist  wesentlich  eine  Selbst- 
erkenntnis des  betreifenden  UrstoflFes.  Es  gibt  also  zwei 
Arten  der  Erkenntnis,  eine  des  Feurigen  und  eine  des 
Dunkeln.  Alles  Existierende  hat  irgend  eine  Art  von  Er- 
kenntnis, die  natürlich  dem  Mischungsgrade  entspricht. 
Er  sagt  daher  auch,  die  Seele  sei  aus  Erde  und  Feuer 
gemischt  (D.  213).  Seele  im  engeren  und  eigentlichen  Sinne 
ist  aber  nur  das  Feurige  (D.  388).  Daher  haben  auch  die 
Tiere ,  weil  eine  Seele ,  ein  gewisses  Mafs  von  Vernunft 
(D.  392,  500).    Andei-n teils  hat  der  Leichnam,  in  dem  nur 


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111.    2.  Die  eleatische  Theorie.    Parmenides.    (um  600.)      135 

dii8  Dunkle,  Erdige  übrig  geblieben,  noch  Erkenntnis  des 
Kalten  und  der  Stille  (D.  500).  Alles  Erkennen  ist  nur 
ein  Empfinden  des  dem  eigenen  Wesen  Gleichartigen 
(D.  166,  392,  499).  Nun  war  das  Feurige  gleich  dem 
Seienden,  das  Dunkle  gleich  dem  Nichtseienden  des  ersten 
Teiles.  So  wird  klar,  dafs  Sein  und  Denken  (d.  h.  Selbst- 
empfindung des  wahrhaft  Seienden)  dasselbe  ist.  In  diesem 
Sinne  sagt  er  (Fr.  16),  dafs  die  Vernunfttätigkeit  abhängig 
sei  von  der  Mischung  der  Urstoffe  im  Körper.  Die  Vernunft, 
die  das  wahrhaft  Seiende  erkennt,  ist  nur  der  reine  oder 
doch  erheblich  überwiegende  Feuerstoff  selbst  in  dem  vor- 
nehmlich der  Erkenntnis  dienenden  Körperteil,  oder,  was 
für  Parmenides  dasselbe  ist,  in  der  Seele.  Der  Gedanke  (der 
die  wahre  Erkenntnis  enthält)  beruht  auf  dem  Überwiegen 
des  FeuerstoflFes,  der  ja  eben  mit  dem  wahrhaft  Seienden 
identisch  ist.  Er  ist  also  nur  eine  im  Menschen  sich  voll- 
ziehende Selbsterkenntnis  des  Feurigen  oder  Seienden.  Die 
Darlegung  dieser  seltsamen  und  durch  das  Ineinanderspielen 
der  beiden  Theorien,  der  Wahrheits-  und  der  Scheinlehre, 
in  ihr  etwas  verwickelten  Theorie  ist  in  den  eigenen  Worten 
Theophrasts  erhalten  (D.  499  f.).  Es  ergibt  sich  das 
Überraschende,  dafs  das  Erkenntnisprinzip  seiner  Wahr- 
heitslehre im  Grunde  ganz  auf  seiner  Scheinlehre  beruht, 
und  dafs  seine  Den  krichtung  ihrem  eigentlichen  Kerne  nach 
durchaus  materialistisch  und  sensualistisch  ist  Er  bleibt 
in  dieser  Vorstellung  von  der  Selbstempfindung  der  beiden 
Prinzipien  im  Grunde  dem  Satze  des  Xenophanes  treu,  dafs 
der  Gott  ganz  sieht,  hört  und  denkt,  nur  dafs  bei  ihm 
diese  einheitliche  seelische  Tätigkeit  in  zwei  entgegen- 
gesetzte Richtungen  auseinandergeht. 

Dafs  er  den  Satz  von  der  Einheit  des  Seins  und 
Denkens  gerade  im  ersten  Teile  wiederholt  einschärft,  be- 
ruht darauf,  dafs  er  im  Grunde  von  der  Unveränderlichkeit 
des  Gedankens  auf  die  Unveränderlichkeit  des  Seins  ge- 
kommen ist.  Das  Sein  mufs  unveränderlich  sein,  weil  der 
Gedanke  Stabilität  unverrückbare  Notwendigkeit  besitzt. 
Im  Grunde  ist  der  Wunsch,  die   unbedingte  Sicherheit  des 


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136  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Denkens  festhalten   zu  können ,  das  treibende  Interesse  bei 
der  Stillstellung  der  Welt. 

Dies  führt  uns  denn  schliefslich  auf  die  vielerörterte 
Frage,  wie  es  denn  möglich  war,  dafs  sich  in  einem  und 
demselben  Kopfe  zwei  von  ihrem  eigenen  Urheber  so  strenge 
nach  Wesen  und  Wert  auseinander  gehaltene  Weltanschauungen 
zusammenfinden  konnten.  Welches  Bedürfnis  veranlafste 
Parmenides,  nach  der  „Wahrheitslehre"  auch  noch  die 
Scheinlehre,  und  zwar  diese  offenbar  in  gröfster  Ausführlich- 
keit und  mit  Aufbietung  beträchtlichen  Scharfsinns,  Unter- 
suchens  und  Nachdenkens  auszubilden? 

Aristoteles  spricht  sich  über  diese  eigentümliche 
Sachlage  folgen  der  mafsen  aus  (986,  28):  Während  er  be- 
haupte, es  gebe  nur  das  Seiende,  werde  er  doch  genötigt, 
dem  Erscheinenden  Rechnung  zu  tragen,  indem  er  nach  der 
Vernunft  das  eine,  nach  der  Sinneswahrnehmung  aber  eine 
Mehrheit  von  Prinzipien  behaupte  und  so  zu  einer  Er- 
klärung der  sinnlichen  Welt  gelange.  Theophrast  hat, 
soweit  seine  Ausführung  erhalten  ist,  nur  gesagt,  er  sei  da- 
durch zu  seiner  Weltbildungslehre  gelangt,  dafs  er  trotz 
seiner  Einheitslehre  der  Meinung  der  Menge  nicht  habe  ent- 
rinnen können. 

Diese  im  wesentlichen  gewifs  richtigen,  aber  etwas 
abstrakt  gehaltenen  Urteile  lassen  sich  wohl  noch  etwas 
bestimmter  und  konkreter  formulieren.  Das  Denken  des 
Parmenides  hatte  von  zwei  entgegengesetzten  Seiten  An- 
regungen erhalten.  Einesteils  von  der  Einheitslehre  des 
Xenophanes,  die  sich  bei  ihm,  wie  gezeigt,  zu  einer  aller 
erfahrungsmäfsigen  Wirklichkeit  ins  Angesicht  schlagenden 
philosophischen  Schwärmerei  steigerte.  Andemteils  von  der 
naturwissenschaftlichen  Richtung  her,  die  ihm  zunächst  in 
der  bei  den  alten  Pythagoreern  ausgeprägten  Form,  dann 
aber  wohl  auch  im  Systeme  Anaximanders  entgegentrat, 
und  die  ihn  schliefslich  zu  einer  selbständigen,  mit  bedeut- 
samen neuen  Zügen  ausgestatteten  Welterklärung  geführt 
hatten.  So  waren  zwei  unabhängig  voneinander  verlaufende 
Strömungen  in  seinem  Denken  entstanden,  und  da  er  sich 
durch  die  Leugnung  des  Werdens  auch  innerhalb  der  Welt 


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III.    3  und  4.    Die  unteritalische  Forschung.  137 

den  für  Xenophanes  noch  gangbaren  Weg  der  Vereinigung 
abgeschnitten  hatte,  blieb  ihm  nichts  anderes  übrig ,  als  die 
Resultate  seiner  Naturphilosophie  zu  einer  Verstellungs- 
gruppe niederer  Ordnung,  zu  einer  berichtigten  Wahnvor- 
stellung zu  degradieren.  In  seiner  Brust  wohnen  zwei 
Seelen,  die  er  in  keiner  anderen  Weise  zur  Verträglichkeit 
bringen  kann.  Freilich  fällt  er  durch  dies  sonderbare  Ver- 
fahren der  grausamen  Ironie  des  Schicksals  anheim,  dafs 
das  mit  so  grofsartiger  Emphase  den  Gegnern  zuge- 
schleuderte Scheltwort  „Doppelköpfe**  in  etwas  anderem 
Sinne,  aber  in  uneingeschränktem  Mafse  ihn  selbst  triflFt. 
Und  damit  können  wir  von  dieser  genialen  und  originalen 
Erscheinung  Abschied  nehmen.  Die  weitere  Ausbildung  der 
eleatischeu  Lehre  durch  Zeno  hat  wenigstens  in  einigen 
Punkten  die  nächstfolgenden  Entwicklungen  im  Pythagoreis- 
mus  zur  Voraussetzung,  die  daher  zunächst  dargestellt 
werden  müssen. 

S  und  4.  Die  unteritallscbe  Forschun^r  unter  dem 
Eindruck  der  Entdeckun^r  der  Planeten.  (Nach  500«) 

Parmenides  hatte  durch  die  Entdeckung  der  Einerlei- 
heit  des  Morgen-  und  Abendsterns  und  die  Verweisung  des- 
selben in  eine  besondere,  von  der  der  übrigen  Himmels- 
körper verschiedenen  Sphäre  den  ersten  Ansatz  zur  Ent- 
deckung der  Planeten  im  engeren  Sinne ,  d.  h.  der  be- 
weglichen Himmelskörper  aufser  Sonne  und  Mond,  gemacht. 
Die  vollständige  Entdeckung  nun  dieser  beweglichen  Himmels- 
körper in  der  den  Alten  überhaupt  nur  bekannten  Sieben- 
zahl (einschliefslich  Sonne  und  Mond)  bildet  die  Voraus- 
setzung der  beiden  folgenden  Denkrichtungen.  Es  ist  nicht 
bekannt,  wie  diese  Kunde  den  Griechen  aufgegangen  ist, 
ob  durch  Übertragung  aus  Ägypten  oder  Babylonien  oder 
durch  eigene  Beobachtung.  Mutmafslich  waren  die  Pytha- 
goreer  in  Kroton  die  ersten  Träger  und  Verkündiger  dieser 
neuen  Erkenntnis.  Auch  der  zweite  durch  sie  beeinflufste 
Denker,  Alkmäon,  hat  ja  seinen  Sitz  in  Kroton.  Jeden- 
falls aber  nehmen  wir  'in  beiden  jetzt  zu  besprechenden 
Theorien  deutlich   wahr,   wie  der  Reiz  des  Neuentdeckten 


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138  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

das  Denken  in  einer  bestimmten  Richtung  anregt  und   be- 
schwingt. 

8.   Das  Zweitälteste  System  des  wissensohaf  tliehen 
Pythafiroreismus.   (Nach  600.) 

Wir  kennen  von  dieser  Entwicklungsstufe  des  Pytha- 
goreismus  fast  nur  den  einen  Zug  der  Beeinflussung  durch 
die  Kenntnis  der  Planeten.  Aber  dieser  Zug  reicht  voll- 
ständig hin,  um  diese  Stufe  einesteils  nach  rückwärts  als 
eine  der  Zeit  nach  Parmenides  angehörige,  andemteils 
aber  auch  nach  vorwärts  vom  pythagoreischen  Hauptsystem, 
dessen  Weltvorstellung  eine  total  verschiedene  ist,  abzu- 
sondern. 

Aristoteles  berichtet  (290b,  12  if.)  von  einer  Theorie 
über  die  Bewegung  der  Planeten ,  die  er  ausdrücklich  „den 
Pythagoreern**  beilegt  (291,  8).  Auch  auf  der  Erde  ent- 
stehen —  so  lautet  diese  Theorie  —  wenn  Körper  von  ver- 
schiedener Ausdehnung  und  mit  verschiedener  Geschwindig- 
keit sich  bewegen,  verschiedene  Töne.  Wenn  demnach  die 
Sonne  und  der  Mond  und  eine  Anzahl  von  diesen  der  Gröfse 
nach  verschiedene  Sterne  sich  schnell  bewegen ,  so  kann  es 
nicht  ausbleiben,  dafs  dadurch  Geräusche  von  ungeheurer 
Stärke  entstehen.  Man  mufs  nun  ferner  annehmen,  dafs 
„die  Geschwindigkeit  infolge  der  Abstände" 
das  Verhältnis  der  musikalischen  Intervallen  einer  Ton- 
leiter darstellen,  so  dafs  also  die  Töne  der  uraschwingen- 
den  Gestirne  eine  Tonleiter  bilden. 

In  diesem  Berichte  ist  infolge  der  grofsen  Kürze  manches 
unklar,  doch  ist  so  viel  deutlich,  dafs  hier,  weil  die  ältere 
griechische  Tonleiter  von  Grundton  bis  Oktave  aus  sieben 
Tönen  bestand,  die  Kenntnis  der  sieben  Planeten,  nämlich 
aufser  Sonne  und  Mond  Merkur,  Venus,  Mars,  Jupiter  und 
Saturn,  vorausgesetzt  wird. 

Eine  Erläuterung  dieser  aristotelischen  Stelle  gibt 
Simplicius  in  seinem  Kommentar  zu  der  betreffenden 
Schrift  des  Aristoteles.  Er  nimmt  an,  dafs  nach  dieser 
Theorie  sämtliche  sieben  Planeten  sich  in  24  Stunden 
um  die  Erde  bewegen  (209,  7).    Er  nimmt  ferner  an ,  dafs 


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III.    8.   Zweitältestes  System  des  Pythagoreismus.  139 

nach  ihr  zunächst  die  A b stft nde  von  der  Erde  den 
Zahlenverhältnissen  der  Tonleiter  entsprächen  (Z.  10  S.). 
Mit  diesen  Zahlenverhältnissen  können  nur  gemeint  sein  die 
angeblich  von  den  Pythagoreern  entdeckten  Saitenlängen 
für  die  verschiedenen  Töne  der  Tonleiter.  Danach  erfordert 
der  Grundton  im  Verhältnis  zur  Oktave  das  Doppelte,  im 
Verhältnis  zur  Quarte  IVs,  in  dem  zur  Quinte  das  Andert- 
halbfache an  Saitenlänge.  Die  übrigen  Intervallen  sollen 
die  älteren  Pythagoreer  noch  nicht  zahlenmäfsig  bestimmt 
haben ;  die  Terz  wurde  im  Altertum  überhaupt  als  musi- 
kalisch minderwertig  betrachtet.  Eine  vollständige  Durch- 
führung der  Parallele  zwischen  den  Zahlen  der  Tonleiter 
und  den  Abständen  der  Planeten  von  der  Erde  würde  aller- 
dings eine  vollständige  Kenntnis  der  ersteren  zur  Voraus- 
setzung haben.  Über  diese  angebliche  Entdeckung  der 
Pythagoreer  gab  es  wunderliche  Fabeln.  Nach  einem  Be- 
richt z.  B.  hätte  Pythagoras  aus  dem  Klange  dreier  Schmiede- 
hämmer die  Quarte,  Quinte  und  Oktave  herausgehört  und 
dann  aus  dem  Gewicht  der  Hämmer  das  Zahlenverhältnis 
ermittelt.  Das  Verhältnis  der  Saitenlängen  für  die  einzelnen 
Töne  kann  aber  unmöglich  als  eine  neue  Entdeckung  angesehen 
werden ;  das  mufste  jedem,  der  Saiteninstrumente  anfertigte, 
bekannt  sein.  Oder  sollten  die  alten  Instrumentenmacher 
nur  routinemäisig  nach  dem  Gehör  die  Saitenlängen  be- 
stimmt haben? 

Eine  Andeutung,  worin  des  Neue  bestand,  liegt  vielleicht 
in  den  Worten  D.  L.  VIII.  12,  dafs  Pythagoras,  dem  man 
alle  diese  Entdeckungen  der  Schule  zuschob,  „die  Regel  der 
einen  Saite"  entdeckt,  d.  h.  die  Verhältnisse  der  Saiten- 
längen an  einer  einzigen,  durch  einen  verschiebbaren  Steg 
in  verschiedener  Länge  gespannten  Saite,  einem  Monochord, 
nachgewiesen  habe.  Vielleicht  experimentierten  die  Pytha- 
goreer auch  mit  an  Schnüren  von  verschiedener  Länge  be- 
festigten Körpern,  die  sie  mit  verschiedener  Geschwindigkeit 
in  Umschwung  setzten. 

Simplicius  läfst  aber  den  Ton  der  einzelnen  Planeten 
nicht  allein  von  den  Abständen  von  der  Erde  abhängen. 
Nach   denselben    Zahlenverhältnissen    hätten    sie   auch   die 


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140  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Gröfse  und  die  Geschwindigkeit  berechnet.  Mit  der 
Gröfse  ist  wohl  nicht  die  Gröfse  der  Himmelskörper  selbst, 
sondern  die  der  Hohlkugeln  (Sphären)  gemeint,  an  denen 
die  Himmelskörper  befestigt  sind.  Dies  beweist  die  Be- 
merkung des  Simplicius,  dafs  das  Umfassende  stets  gröfser 
sei  als  das  Umfafste  (Z.  13  if.).  Auch  war  ja  diese  Theorie 
der  konzentrischen  Hohlkugeln  schon  durch  Parmenides 
eingeführt  worden.  Sie  bedurfte  freilich,  um  sie  der  neuen 
Lehre  von  den  sieben  Planeten  anzupassen,  einer  ent- 
sprechenden Umgestaltung.  Jeder  Planet  mufste  eine  be- 
sondere Hohlkugel  zugewiesen  erhalten.  Ist  aber  die  Angabe 
des  Simplicius  so  gemeint,  so  besagt  sie  nur  etwas  Selbst- 
verständliches, da  ja  der  Halbmesser  der  Hohlkugeln  mit 
dem  Abstand  ihres  Umfanges  von  der  Erde  zusammenfällt. 
Ebenso  selbstverständlich  ist  dann,  unter  der  Voraussetzung, 
dafs  sämtliche  Planeten  in  24  Stunden  die  Erde  umkreisen, 
die  Annahme,  dafs  auch  die  Geschwindigkeiten  durch  die- 
selben Zahlenverhältnisse  bestimmt  würden ,  dafs  also  z.  B. 
die  Saturnsphäre  bei  doppelter  Länge  ihres  Halbmessers  sich 
mit  der  doppelten  Geschwindigkeit  um  die  Erde  bewege 
wie  die  Mondsphäre,  und  auf  diese  Weise  die  Oktave  hervor- 
bringe. Jedenfalls  erhält  durch  diese  Erklärung  der 
schwierige  Ausdruck  bei  Aristoteles,  dafs  „die  Geschwindig- 
keiten infolge  der  Abstände"  im  Verhältnis  der  musikalischen 
Intervallen  ständen,  seine  volle  Verdeutlichung.  Das  allein 
Ausschlaggebende  sind  die  Abstände  von  der  Erde,  d.  h.  die 
Halbmesser  der  Sphären.  Nach  ihrer  Gröfse  richtet  sich, 
da  alle  ihren  Umschwung  in  der  gleichen  Zeit  vollenden, 
die  Geschwindigkeit  des  Umschwungs.  Ähnlich,  wenn  auch 
nicht  ganz  so  deutlich ,  wie  Simplicius ,  erklärt  auch 
Alexander  von  Aphrodisias  unter  Berufung  auf  die 
verlorene  Schrift  des  Aristoteles  über  die  Pythagoreer  die 
Sache  in  seinem  Kommentar  zur  Metaphysik  (zu  I.  5). 
Jedenfalls  ist  deutlich,  dafs  die  Pythagoreer  von  der  Hervor- 
bringung der  Tonleiter  durch  die  Planeten  als  vermeint- 
licher Tatsache  ausgingen  und  von  da  aus  unter  Voraus- 
setzung der  gleichen  Zeitdauer  der  Umschwünge  die  Abstände 
der  einzelnen  Sphären  von  der  Erde  berechneten. 


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III.    3.   Zweitältestes  System  des  Pythagoreismus.  141 

Im  Berichte  des  Aristoteles  folgt  noch  die  Erklärung  der 
Pythagoreer,  warum  wir  diese  Tonleiter  der  himmlischen 
Hohlkugeln,  die  Sphärenharmonie,  nicht  vernehmen.  Wir 
vernehmen  sie  von  Geburt  an  fortwährend,  aber  sie  kommt 
uns  nicht  zum  Bewufstsein,  weil  dazu  der  Gegensatz  der 
Stille,  ein  Wechsel  zwischen  Stille  und  Tönen,  erforderlich 
wäre.  Auch  der  Schmied  höre  infolge  der  Gewöhnung  das 
Geräusch  der  Hämmer  nicht  mehr. 

Fragen  wir  zunächst  in  Bezug  auf  diese  Gruppe  der 
Pythagoreer,  wie  sie  sich  im  übrigen  das  Weltsystem  vor- 
gestellt haben  müssen.  Selbstverständlich  ruht  die  Erde  im 
Mittelpunkte  der  Welt.  Die  Erde  als  Kugel  vorzustellen, 
dazu  lag  in  der  mitgeteilten  Theorie  keine  direkte  Veran- 
lassung. Wenn  sie  aber,  wie  gezeigt,  die  Theorie  des 
Parmenides  von  den  die  Erde  umgebenden  Hohlkugeln  über- 
nahmen, so  ist  es  wenigstens  sehr  wahrscheinlich,  dafs  sie 
dann  zugleich  auch  die  Kugelform  der  Erde  mit  über- 
nahmen. Vielleicht  hatte  sogar  Parmenides  diese  Lehre 
schon  von  den  Pythagoreern   übernommen    (D.  L.  VIII.  48). 

Einige  Angaben  ferner,  die  zu  dem  pythagoreischen 
Hauptsystem  in  offenem  Widerspruch  stehen,  mit  dem  hier 
vorliegenden  Weltsystem  aber  wohl  vereinbar  erscheinen, 
finden  sich  unter  den  Bruchstücken  des  sogenannten 
Philolaos.  Von  dieser  Schrift  kann  genauer  erst  weiter 
unten  gehandelt  werden.  Hier  nur  so  viel,  dafs  sie  ein  aus 
allerlei  nicht  zusammenstimmenden  Nachrichten  über  ältere 
pythagoreische  Lehren  unklar  zusammengestöppeltes  Mach- 
werk aus  dem  letzten  vorchristlichen  Jahrhundert  war. 
Findet  sich  nun  darin  ein  Stück,  das  mit  einem  anderweitig 
sicher  überlieferten  Lehrstück  folgerichtig  zusammenpafst, 
80  darf  es  wohl  als  dazu  gehörig  in  Anspruch  genommen 
werden.  Kun  findet  sich  in  einem  Bruchstück  dieses 
Philolaos  (D.  336  f.)  eine  widerspruchsvolle  Zusammen- 
schweifsung  mehrerer  pythagoreischer  Weltvorstellungen. 
Nach  der  einen  derselben  nannten  sie  den  obersten  und 
äafsersten  Teil  der  Welt  (ofl'enbar  den  Fixsternhimmel) 
Olymp,  den  Baum  unterhalb  desselben,  in  dem  die  fünf 
Planeten  nebst  Sonne  und  Mond  kreisen,  Kosmos,  den  Raum 


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142  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt   Bruch  mit  dem  Hylopsychismas. 

unter  dem  Monde  bis  zur  Erde  Uranos  (Himmel).  In 
schwülstigen  und  gesuchten  Wendungen  wird  angedeutet, 
dafs  diese  drei  Teile  der  Welt  eine  absteigende  Stufenfolge 
hinsichtlich  der  Vollkommenheit  bilden.  Im  Olymp  be- 
findet sich  „die  Reinheit  der  Elemente**,  im  Kosmos  waltet 
„die  Weisheit,  die  vollkommen  ist",  unter  dem  Monde  sind 
„die  Dinge  des  veränderungslieben  den  Werdens",  „das  Ge- 
wordene der  Unordnung";  hier  hat  die  Tugend  ihre  Stelle, 
die  unvollkommen  ist.  Zu  dieser  Vorstellung  pafst  auch  die 
in  einem  anderen  Bruchstück  (Stob.  I.  172)  angeführte 
Zweiteilung  der  Welt  in  einen  unveränderlichen  Teil,  der 
„von  dem  das  Ganze  umgebenden  Hauche  bis  zum  Monde" 
reicht,  und  einen  veränderlichen,  vom  Monde  bis  zur  Erde 
reichenden  Teil.  Diese  Angaben  scheinen  zu  der  Weltvor- 
stellung der  Sphärenharmonie  zu  passen.  Wenn  wir  be- 
denken, mit  welch  gehobenen  Gefühlen  diese  Pytha  goreer 
die  neugewonnene  Vorstellung  von  den  in  ewigem  Gleich- 
niars  des  Umschwunges  in  reinen  Tönen  zusammen- 
klingenden Sphären  betrachten  mufsten,  wenn  wir  damit 
die  Vorstellung  von  der  Erde  als  dem  Orte  der  Einkerkerung 
der  Seele  in  den  verhafsten  Körper  zusammennehmen,  so 
pafst  diese  Dreiteilung  und  Zweiteilung  vortrefflich  zu 
unserem  System.  Früher  aber  als  dieses  kann  sie  auch 
nicht  angesetzt  werden,  weil  sie  die  Unterscheidung  zwischen 
den  Fixsternen  und  Planeten,  deren  volle  Siebenzahl  er- 
scheint, zur  Voraussetzung  hat.  Die  ältere  Benennung  der 
Welt  als  Kosmos  wird  dann  hier  auf  die  in  unabänderlichem 
Gleichmafs  sich  bewegenden  Planeten  eingeschränkt. 

Weitere  Nachrichten  über  die  Weltvorstellung  dieser 
Pythagoreer  sind  nicht  vorhanden.  Wie  sie  die  sieben  Töne 
der  Tonleiter  an  die  einzelnen  Planeten  verteilten,  in  welcher 
Reihenfolge  sie  diese  demgemäfs  aufeinander  folgen  liefsen, 
ist  nicht  bekannt.  Ob  sie  den  Mond  und  die  übrigen  Planeten, 
wie  die  Sonne,  für  selbstleuchtende  Körper  hielten,  ist  nicht 
auszumachen,  wenngleich  vielleicht  auf  sie  die  Angabe 
(D.  358)  pafst,  dafs  „Pythagoras"  die  Erleuchtung  des 
Mondes  durch  die  Sonne  gelehrt  habe.  Auch  ob  sie  den 
„Olymp",  den  Fixsternhimmel,  als  ein  festes  Gewölbe  vor- 


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III.    3.  Zweitältestes  System  des  Pythagoreismus.  143 

gestellt  und  wie  sie  sich  demgemäfs  zu  der  alten  pythagoreischen 
Vorstellung  von  der  aus  dem  Unbegrenzten  aurser  der  Welt 
eindringenden  Luft,  sowie  zu  der  Umgestaltung  dieser  Lehre 
in  dem  Gegensatzsystem  gestellt  haben,  wird  nicht  berichtet. 
Ersteres  konnten  sie  von  Parmenides  übernehmen.  Es  ist 
aber  wegen  des  Widerspruches  gegen  die  alte,  von 
Anaximenes  übernommene  Vorstellung  von  der  unendlichen 
Luft  nicht  wahrscheinlich,  dafs  sie  dies  getan  haben.  Noch 
die  vorstehend  angeführte  Stelle  aus  „Philolaos"  von  dem 
„das  Ganze  umgebenden  Hauche**  scheint  das  Fortleben 
dieser  Lehre  im  Pythagoreismus  zu  bezeugen. 

Dagegen     kann    aus    den    Grundvoraussetzungen    der 
Sphftrenharmonie  ein  Rückschlufs  auf  ihren  Grundgedanken 
überhaupt  gemacht  werden.    Als  Ausgangspunkt  stellt  sich 
hier  dar   die   bekannte   eifrige  Pflege  der  Musik   bei  den 
Pythagoreern  als  Mittel   der  Seelenreinigung.    Im  Anschlufs 
daran  beschäftigten   sie  sich  natürlich  eifrig  mit  den  tech- 
nischen   Grundlagen   der    Saiteninstrumente.     Die   Zahlen- 
verhältnisse der  Saitenlängen   waren   ihnen   geläufig.    Und 
als  nun  als  neue  astronomische  Tatsache  die  Siebenzahl  der 
Planeten  bekannt  wurde,  da  lag  es  nahe,  diese  mit  den  sieben 
Tönen  der  Tonleiter  in  Beziehung  zu  bringen.    Als  Mittel- 
glied hierfür  bot  sich  dar  da&  Zahlenverhältnis  der  Saiten- 
längen.    Die   Fähigkeit,  die  Gröfse  der  Planeten   und  die 
Abstände  ihrer  Sphären  von  der  Erde  durch  Messung  exakt 
festzustellen,  besafs  man  nicht.    Die  Übereinstimmung  mit 
den  Saitenlängen  und  die  Erregung  von  Tönen   durch  die 
umschwingenden  Sphären   wird  einfach   vorausgesetzt.     So 
kam  die  phantastische  Vorstellung  von  der  Sphärenharmonie 
zu  Stande.    Ihre  Grundvoraussetzung  ist:  es  mufs  im  Welt- 
bau ein  durch  Zahlen  ausdrtickbares  harmonisches  Verhältnis 
bestehen,  das  denn  auch   in   den  entsprechenden  Tönen  der 
Himmelskörper  seinen  Ausdruck  findet. 

Hier  zeigt  sich  eine  Verwandtschaft  mit  dem  älteren 
System,  aber  zugleich  auch  ein  deutlicher  Fortschritt  über 
dasselbe  hinaus.  Jene  ältere  Lehre  übertrug  die  im  Orden 
geltende  Forderung,  das  eigene  Leben  aus  einem  regel-  und 
ziellosen     in   ein  fest  geregeltes   umzugestalten,    als   etwas 


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144  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

tatsächlich  Vorhandenes  auf  die  Welt  und  die  Dinge  der 
Welt  im  weitesten  Umfange.  Alles  Seiende  erschien  als  in 
einem  Prozesse  der  Bildung  und  des  Überganges  aus  dem 
Form-  und  Regellosen  ins  Geformte,  Begrenzte,  Geregelte 
begriffen.  Das  praktische  Interesse  der  Lebensregelung  wird 
zu  einem  Erkenntnisprinzip  für  die  Weltordnung.  Schon 
hierbei  spielte  die  Zahl  eine  Rolle. 

Jetzt  nun,  nach  der  Entdeckung  der  Siebenzahl  der 
Planeten,  wird  in  bestimmterer  Weise  die  Forderung  einer 
durch  die  Musik  harmonisch  geregelten  Gemütsverfassung 
zum  Erkenntnisprinzip  für  die  Welteinrichtung.  Auch  diese 
mufs  zahlenmäfsig  so  geregelt  sein,  dafs  ihre  Wohlordnung 
in  den  Tönen  der  Tonleiter  einen  sinnenfälligen  Ausdruck 
findet.  Die  Welt  ist  nicht  nur  eine  durch  ein  Formprinzip 
in  der  Formung  begriffene ,  sie  ist ,  wenigstens  in  ihren 
höheren  Sphären,  tatsächlich  nach  einem  arithmetisch- 
musikalischen  Prinzip  geformt  und  geregelt,  ein  Kosmos, 
in  dem  das  vom  Menschen  zu  Erstrebende  vorbildlich  ver- 
wirklicht ist.  So  erklärt  sich  auch  die  besondere  Hoch- 
schätzung der  Planetenwelt  im  Vergleich  mit  der  Sphäre 
unter  dem  Monde.  Die  Welt  als  erbauliches  Vorbild 
menschlichen  Strebens,  das  ist  das  gemeinsame  Prinzip 
dieser  beiden  ältesten  Systeme,  Anregungen  für  das  pytha- 
goreische Leben  zu  bieten  das  Ziel  des  wissenschaftlichen 
Sinnens  bei  beiden.  Dieser  gemeinsame  Zug  erscheint  jetzt, 
unter  dem  Einfiufs  der  neuen  Entdeckung  der  Siebenzahl 
der  Planeten,  auf  einer  neuen,  höheren,  eindrucksvolleren 
Stufe  der  Entfaltung. 

4.    AULmäon.    (Nach  600.) 

Nach  H  e  rodot  (IIL  131)  nahmen  zur  Zeit  der  ältesten 
Pythagoreer  die  krotonianischen  Ärzte  den  ersten 
Rang  unter  den  griechischen  Ärzten  ein.  Es  gab  also  in 
Kroton,  dem  Stammsitze  des  Py thagoreismus ,  damals  auch 
eine  berühmte  Ärzteschule.  Der  erste  schriftsteUerische 
Vertreter  derselben  scheint  Alkmäon  gewesen  zu  sein. 
Nach  Aristoteles  (986,  30)  bezog  sich  seine  Lehre  auf 
das    Menschliche,    auf    körperliche    Zustände,    und    nach 


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III.    4.   Alkmäon.  145 

D.  L.  VIII.  83  trug  er  vornehmlich  ärztliche  Lehren  vor 
und  kam  nur  gelegentlich  auf  die  Welteinrichtung  zu 
sprechen.  Auch  die  an  dieser  Stelle  überlieferten  Eingangs- 
worte seiner  Schrift  scheinen  auf  das  Medizinische  als  das 
Hauptthema  seiner  Schrift  hinzudeuten.  „Er  sagt:  „Über 
das  Unsichtbare  haben  nur  die  Götter  eine  deutliche  Er- 
kenntnis. Wenn  aber  Menschen  forschen  .  .  .  (oder:  „Wenn 
man  aber  nach  menschlicher  Weise  forscht . .  .").  Als  Nach- 
satz mufs  wohl  ergänzt  werden:  „kann  nur  über  Mensch- 
liches Gewifsheit  erlangt  werden".  Dazu  stimmt  endlich, 
dafs  die  grofse  Mehrzahl  der  von  ihm  überlieferten  Lehren 
sich  auf  physiologische  und  medizinische  Probleme  bezieht. 
Alkmäon  ist  in  erster  Linie  der  Vater  der  Anatomie  und 
Physiologie. 

Er  gehört  aber  auch  in  den  hier  darzustellenden  Zu- 
sammenhang. Und  zwar  aus  einem  doppelten  Grunde. 
Einesteils  bildet  er  ein  Seitenstück  zu  den  Vertretern  der 
Sphärenharmonie.  Auch  auf  ihn  hat  die  Unterscheidung  der 
Planeten  von  der  Fixsternwelt  mit  der  Gewalt  eines  neuen 
Gedankens  gewirkt ;  er  hat  sogar  eine  noch  viel  bedeutsamere 
Folgerung  daraus  gezogen  als  jene  Pythagoreer.  Andernteils 
hat  er  auch  mit  einem  Teile  seiner  medizinischen  Lehren 
nachhaltig  auf  die  philosophische  Entwicklung  gewirkt,  die 
ohne  ihn  nicht  vollständig  verständlich  sein  würde. 

Nach  einer  Angabe  bei  Aristoteles  (98(3,  28  f.),  die  aber 
von  manchen  für  untergeschoben  gehalten  wird,  wäre  er  ein 
jüngerer  Zeitgenosse  und  noch  persönlicher  Schüler  des  Pytha- 
goras  gewesen.  Nach  D.  L.  VIII.  81^  hatte  er  sein  Buch 
drei  Männern  gewidmet,  von  denen  wenigstens  einer,  Bron- 
tinos,  auch  im  Zusammenhange  mit  den  ältesten  Pytha- 
goreem  genannt  wird,  nämlich  entweder  als  Schwiegervater 
des  Pythagoras  oder  als  Gatte  einer  Schülerin  desselben 
(D.  L.  VIII.  42).  Ist  eine  von  diesen  Angaben  geschichtlich, 
und  ist  femer  dieser  Brontinos  mit  dem  Empfänger  der  Wid- 
mung dieselbe  Person,  so  läge  auch  darin  ein  Zeugnis  für 
die  Zeit  des  Wirkens  Alkmäons.  Jedenfalls  verlegt  ihn 
Aristoteles  in  diese  Frühzeit,  wenn  er  den  Zweifel  ausspricht, 
ob  Alkmäon  einen  Punkt  seiner  Lehre  von  der  pythagoreischen 

Dftrioff.   I.  10 


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146  ^rste  Periode.   Zweiter  Abschnitt   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Gegensatzlehre  überkommen  habe  oder  umgekehrt.  Dafs  er 
in  Kroton  wirkte  und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch 
dort  geboren  war,  wird  schon  dadurch  bewiesen,  dafs  er 
ständig  Alkmfton  von  Kroton  genannt  wird.  Die  vorhandenen 
Fragmente  sind  am  vollständigsten  von  Wach  tl er  (De  Alc- 
maeone  Crotoniata,  Leipzig  1896)  gesammelt  werden,  nach 
dessen  Zählung  sie  hier  angeführt  werden. 

Über  seine  astronomischen  Ansichten  nun  wird 
folgendes  berichtet.  Er  lehrte,  dafs  alle  die  göttlichen 
Körper,  die  Sonne,  der  Mond,  die  Gestirne  und  der  ganze 
Hinmiel,  sich  unablässig  bewegen  (Arist.  405,  29).  Deutlicher 
als  an  dieser  Stelle  tritt  die  Unterscheidung  der  Planeten 
von  den  Fixsternen  hervor,  wenn  ihm  die  Lehre  beigelegt 
wird,  die  Planeten  bewegten  sich  im  Gegensatze  gegen  den 
Fixstemhimmel  von  West  nach  Ost  (D.  345).  Ohne  erhelv 
liche  Bedeutung  ist  die  Angabe,  er  habe  die  Sonne  für  eine 
flache  Scheibe  und  den  Mond  (wie  Heraklit)  für  gefäfsartig 
gehalten,  um  so  die  Phasen  des  Mondes  erklären  zu  können. 
Natürlich  folgt  aus  letzterer  Vorstellung  nicht,  dafs  er  mit 
Heraklit  auch  die  tägliche  Erneuerung  annahm,  was  ja  zu 
seiner  Lehre  von  der  Göttlichkeit  und  Ewigkeit  der  Himmels- 
körper im  schroffsten  Widerspruche  gestanden  hätte. 

Der  Hauptpunkt  ist,  dafs  er  diesen  sich  ewig  gleich- 
mäfsig  bewegenden  Himmelskörpern,  den  Planeten  einschliefs- 
lich  von  Sonne  und  Mond  und  der  Fixstemsphäre,  eine  innere 
Quelle  der  Bewegung  zuschrieb,  dafs  er  sie  für  unsterbliche, 
göttliche  Wesen  erklärte.  Dafs  er  sie  als  „beseelt"  bezeichnet 
habe  (Clem.  Alex.  Admonit.  ad  Gent.  I.  57),  ist  dafür  wohl 
ein  ungenauer  Ausdruck.  Er  wird  wohl  an  der  alten  hylo- 
psychistischen  Vorstellung  festgehalten  haben,  nach  der  dem 
körperlichen  Stoffe  an  sich  selbst  die  seelischen  Eigenschaften 
beigelegt  wurden.  Und  von  diesem  Punkte,  also  von  der 
neuen  Erkenntnis  hinsichtlich  der  Planeten  als  einer  be- 
sonderen Gruppe  der  Himmelskörper,  aus  gelangte  er  dann 
durch  einen  kühnen  Analogieschlufs  zu  dem  ersten  Versuche 
einer  wissenschaftlichen  Begründung  der  Unsterblichkeits- 
lehre (Fr.  9  f.).  Diese  Lehre  wurde  vom  pythagoreischen 
Orden,  dem  Alkmäon  nahe  stand,  dogmatisch,  als  Glaubens- 


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III.    4  Alkmäon.  147 

artikel,  behauptet.  Alkmäon  ist  der  erste,  der  sie  wissen- 
schaftlich  zu  begründen  versuchte.  Wir  müssen  diesen  Ver- 
such im  Zusammenhange  seiner  Gesamtlehre  vom  seelischen 
Leben  betrachten. 

Alle  lebenden  Wesen  (die  Tiere)  haben  Empfindungen. 
Er  ging  die  einzelnen  Sinne  durch  und  suchte  in  primitiver 
Weise  das  Zustandekommen  der  Empfindungen  zu  erklären 
(Theophrast  D.  506 f.;  Fr.  3,  5—7).  Dies  ist  eine  der 
schwächsten  Partien  seiner  Theorie.  Über  den  Tastsinn 
hatte  er,  wie  Theoprast  ausdrücklich  bemerkt,  sich  über- 
haupt nicht  ausgelassen.  Alle  Empfindungen  ferner  haben 
ihren  Einheitspunkt  im  Gehirn.  Das  Gehirn  steht  durch 
Leitungsgänge  (Poren)  in  Verbindung  mit  den  Öffnungen, 
durch  die  die  Empfindungen  stattfinden.  Erleidet  das  Ge- 
hirn eine  Veränderung,  so  treten  Störungen  der  Em- 
pfindung ein  (Fr.  4;  D.  507).  Epochemachend  ist  hier  die 
Erkenntnis  des  Gehirns  als  Zentralorgan  (die  sogar  bei 
einem  Aristoteles  wieder  verloren  gehen  konnte)  und  die 
Hindeutung  auf  die  Leitungsbahnen  von  den  Sinnesorganen 
zum  Gehirn.  In  diesem  Zusammenhange  erscheint  die  An- 
gabe eines  Späteren  (Chalcidius  zu  PL  Tim.  b.  Mullach 
IL  233)  glaublich,  Alkmäon  habe  bereits  Sektionen  gemacht. 

Aus  der  Bedeutung,  die  er  dem  Gehirn  beilegt,  ent- 
springt auch  seine  Behauptung,  dafs  der  Same  aus  dem 
Hirn  stamme  (D.  414;  Fr.  12),  womit  wohl  wieder  die  An- 
nahme auch  eines  weiblichen  Samens  zusammenhängt  (Fr.  13), 
sowie  die  Angabe,  dafs  sich  von  den  Teilen  des  Fötus  zu- 
erst der  Kopf  als  der  wichtigste  Teil  ausbilde  (D.  427  f.  Fr.  17). 

Vom  Tiere  aber  unterscheidet  sich  der  Mensch  dadurch, 
dafs  er  nicht  nur  empfindet,  sondern  auch  denkt.  Es  ist 
ein  Unterschied  zwischen  der  allen  beseelten  Wesen  zu- 
kommenden, an  das  Organ  gebundenen  Funktion  der  Em- 
pfindung und  der  Verarbeitung  der  Empfindungen  im  Denken, 
zwischen  Seele  und  Geist  (D.  506;  Fr.  2). 

Offenbar  hat  aber  Alkmäon  das  Zustandekommen  des 
Denkens  und  Erkennens  aus  den  Empfindungen  weit  genauer 
verfolgt,  als  aus  dem  kurzen  Bericht  des  Theophrast  zu 
entnehmen   ist.    Plato  führt  einmal  (Phädon  96 B)  neben 

10* 


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148  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt.   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

anderen  Theorien  über  das  Denken  auch  die  folgende  an, 
deren  Urheber  er  nicht  nennt:  Das  Gehirn  bietet  die  Em- 
pfindungen dar.  Aus  diesen  entsteht  Erinnerung  und  Vor- 
stellung und,  wenn  diese  zur  Beharrlichkeit  gelangt,  die  Er- 
kenntnis. Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dafs  wir  hier  die  Lehre 
des  Alkmäon  vor  uns  haben.  Nach  den  Worten  Piatos  be- 
schränkte er  dann  die  Bedeutung  des  Gehirns,  das  ja  der 
Mensch  mit  dem  Tiere  gemeinsam  hat,  auf  die  „Darbietung'^ 
und  legte  die  höheren  Funktionen,  das  Festhalten  der  Er- 
innerung, die  Bildung  der  Allgemeinvorstellungen  und  die 
Erkenntnis,  welche  letztere  ja  den  Menschen  vom  Tiere 
unterscheidet ,  dem  denkenden  Geiste  bei ,  der  ja  ebenfalls 
dem  Menschen  allein  zukommt.  Diese  Begriffe  erkennen  wir 
auch  noch  bei  Aristoteles  als  feste  Grundlage  der  eigenen 
Lehre  desselben  vom  Zustandekommen  des  Denkens.  Alle  Tiere, 
sagt  er  (996,  24flF.),  haben  Empfindung.  Wo  diese  (durch 
das  Gedächtnis)  beharrt,  entsteht  als  Summe  dieses  Be- 
harrenden die  Erfahrung,  die  erste  Stufe  der  Erkenntnis. 
Wo  aber  die  Empfindungen  sich  nicht  erbalten,  kann  es 
zu  keiner  Art  von  Erkenntnis  kommen.  Ebenso  sagt  er  im 
I.Kapitel  der  Metaphysik :  „Alle  Tiere  haben  Empfindung. 
Aus  dieser  entsteht  bei  einigen  Erinnerung,  bei  anderen 
nicht,  und  darum  sind  jene  verständiger  und  gelehriger 
als  diejenigen,  die  sich  nicht  erinnern  können.  Zu  einer 
Erfahrung  kommt  es  auch  bei  den  höheren  Tieren  nur  in 
geringem  Mafse;  erst  beim  Menschen  entspringen  aus  ihr 
die  höheren  intellektuellen  Leistungen.  Aristoteles  ist  hier 
insofern  über  Alkmäon  hinausgegangen,  als  er  auch  den 
höheren  Tieren  einen  gewissen  Anteil  an  Gedächtnis  und 
Erfahrung  zuschreibt,  also  die  Grenzlinien  zwischen  Mensch 
und  Tier  etwas  anders  zieht.  Entsprechend  mufste  er  dann 
auch  die  Erfahrung  dem  körperlichen  Organ  zuschreiben 
und  konnte  nur  die  spezifisch  menschlichen  Denktätigkeiten 
der  unsterblichen  Seele  vorbehalten.  Deutlich  erkennbar 
aber  ist  auch  bei  ihm  die  Lehre  des  Alkmäon  als  Grund- 
lage und  Ausgangspunkte 

Die  Denktätigkeit  nun  ist  nach  Alkmäon,  wie  die  Be- 
wegung der  Himmelskörper,  eine  unablässige  Selbstbewegung. 


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III.    4.  Alkmäon.  149 

Es  gilt  also  auch  von  ihr,  was  von  diesen  gilt,  dafs  ihr 
TrÄger,  der  denkende  Geist,  die  Quelle  derselben  in  sich 
selbst  haben  mufs.  Also  ist  auch  der  denkende  Geist,  wie 
die  Gestirne,  unvergänglich.  Dafs  dies  das  Beweisverfahren 
Alkmäons  war,  geht  schon  aus  der  kurzen  Angabe  des 
Aristoteles  (405,  29)  hervor,  er  habe  die  (denkende)  Seele 
deshalb  für  unsterblich  erklärt,  weil  sie  den  unsterblichen 
Körpern  in  der  unablässigen  Bewegung  gleiche.  Noch  weiter 
geht  einer  der  Erklärer  dieser  Aristotelesstelle,  Philo- 
p  0  n  o  s  (Fr.  9),  nach  dem  er  die  denkende  Seele  wegen  dieser 
ewigen  Beweglichkeit,  aus  der,  wie  bei  den  Himmelskörpern, 
ihre  Unsterblichkeit  folge,  geradezu  von  „dem  himmlischen 
Körper"  abstammen  liefs.  Hier  ist  die  Einzahl  befremdlich, 
aber  auch  die  ganze  Angabe  ist,  wenn  auch  nicht  unmöglich, 
doch  nicht  genügend  beglaubigt.  Wäre  sie  richtig,  so  läge 
darin  zugleich  ein  Zeugnis,  dafs  Alkmäon  die  Denkseele 
trotz  ihrer  Unsterblichkeit  für  körperlich  gehalten  habe. 
Dies  ist  aber  auch  schon  ohnedies  das  Wahrscheinlichere. 
Nur  das  Körperliche  kann  sich  bewegen;  auch  wird  die 
Vorstellung  eines  unstoflFlichen  (immateriellen)  Wesens  wohl 
noch  nicht  in  den  Kopf  dieses  alten  Mediziners  gekommen 
sein.  Er  ist  wohl  auch  in  seiner  Lehre  vom  Geiste  noch 
HylopsycMst.  Die  Spuren  einer  Beeinflussung  durch  diesen 
eigentümlichen  Gedankengang  in  bezug  auf  die  Natur  des 
Denkens  und  die  Begründung  der  Unsterblichkeit  werden 
uns  bei  Plato  (Timäos,  Phädrus)  unverkennbar  entgegen- 
treten. Eine  Erläuterung  zu  diesem  ganzen  Gedanken- 
kreise bildet  schliefslich  auch  sein  geistvoller  Ausspruch 
(Arist.  916,  33),  der  Mensch  (nach  seiner  körperlichen  Natur) 
sei  deshalb  dem  Tode  verfallen,  weil  er  nicht  vermöge,  den 
Anfang  an  das  Ende  anzuküpfen.  Nur  die  kreisförmige 
Bewegung  nämlich  vermag  dies;  die  geradlinig  fort- 
schreitende Entwicklung  endet  notwendig  mit  dem  Verfall. 
Während  schon  durch  diesen  Unsterblichkeitsbeweis  eine 
freundliche  Stellung  Alkmäons  zur  pythagoreischen  Ordens- 
lehre bewiesen  wird  und  begründet  werden  mufste  —  viel- 
leicht sympathisierte  er  auch  mit  den  sittlich-politischen 
Zielen  des  Ordens  — ,   zeigt    sich   bei  ihm  keine  Spur  der 


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150  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Seelenwanderungslehre.  Ja,  eine  Anerkennung  derselben 
würde  geradezu  in  vollstem  Widerspruch  mit  der  scharfen 
Grenzlinie  stehen,  die  er  zwischen  der  tierischen  und  der 
menschlichen  Seele  zog.  Alkmäon  konnte  unmöglich  das 
Hineinfahren  gerade  der  unsterblichen,  d.  h.  der  denkenden 
Menschenseele  in  den  dazu  nicht  gearteten  tierischen  Orga- 
nismus gutheifsen.  Ebensowenig  ist  es  nach  seiner  ganzen 
geistigen  Eigenart  und  nach  dem  Protest  gegen  Be- 
stimmungen über  das  Unerkennbare,  mit  dem  er  seine 
Schrift  einleitete,  wahrscheinlich,  dafs  er  sich  zugleich  mit 
der  Erkenntnis  der  Planeten  auch  das  daraus  herausge- 
sponnene Phantasiestück  der  Sphärenharmonie  angeeignet 
haben  sollte. 

Ebenso  mufs  aber  auch  für  ein  zweites  Haupt- 
stück seiner  Lehre,  mit  dem  er  ebenfalls  eine  erkenn- 
bare Wirkung  auf  Spätere  geübt  hat,  volle  Selbständigkeit 
gegenüber  den  Pythagoreern  in  Anspruch  genommen 
werden. 

Nach  Aristoteles  (Met.  986,  30  ff.)  lehrte  er,  die  meisten 
der  Beschaffenheiten  des  menschlichen  Körpers  träten  in 
gegensätzlicher  Form  auf,  z.  B.  weifs  -  schwarz,  süfs— bitter, 
gut — schlimm  (wohl  von  den  normalen  oder  nicht  normalen 
Zuständen  zu  verstehen),  grofs— klein.  Im  Vergleich  mit 
jenen  Pythagoreern,  die  die  Tafel  der  10  Gegensätze  auf- 
stellten, hätte  er  diese  Gegensätze  nicht  in  fester  Abgrenzung 
gegeben,  sondern  willkürlich  und  ohne  Einschränkung  hin- 
geworfen. Wie  es  scheint,  ist  hier  Aristoteles  durch  die 
ganz  äufserliche  Ähnlichkeit  der  Aufstellung  von  Gegensatz- 
paaren zu  dieser  Zusammenstellung  verleitet  worden.  Sagt 
er  doch  selbst,  Alkmäon  habe  die  Gegensätze  nur  in  bezug 
auf  die  menschliche  Natur  aufgestellt,  und  tritt  doch  ferner 
bei  Alkmäon,  wie  wir  weiterhin  noch  deutlicher  sehen 
werden,  eine  Haupteigentümlichkeit  der  pythagoreischen 
Gegensatzlehre,  die  Minderwertigkeit  der  einen  Seite  der 
Gegensätze,  durchaus  nicht  hervor.  Es  ist  daher  wohl  ein 
entschiedener  Irrtum ,  wenn  er  weiterhin  (986,  61  S.)  sagt, 
bei  beiden  lasse  sich  so  viel  entnehmen,  dafs  ihnen  die 
Gegensätze  die  Prinzipien  des  Seienden  seien,  woraus 


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III.    4.   AlkmÄon.  151 

dann  bei  einem  späteren  Autor  (Ps.-Clem.  Rom.  D.  250)  die 
Einreihung  des  Alkmäon  unter  die  Vertreter  verschiedener 
Theorien  über  das  Wesen  des  Seienden  mit  dem  sinnlosen 
Schlagwort   „Gegensätze"   geworden   ist. 

Über  den  wirklichen  Sinn  seiner  Gegensatzlehre 
itcheint  die  folgende  Stelle,  die  zugleich  das  für  seine  Kach- 
wirkung auf  Nachfolgende  und  damit  für  das  Verständnis 
der  nachfolgenden  Entwicklung  Bedeutsame  enthält,  das 
Richtige  zu  bieten  (D.  442).  Nach  Alkmäon  ist  das  die 
Gesundheit  Erhaltende  das  Gleichgewicht  (die  Isonomie, 
d.  h.  eigentlich  die  staatliche  Gleichberechtigung)  der  Stoffe, 
des  Feuchten  und  Trocknen,  des  Kalten  und  Warmen,  des 
Bitteren  und  Süfsen  und  der  übrigen.  Die  Alleinherrschaft 
einer  derselben  verursache  Krankheit,  denn  verderblich  sei 
die  Alleinherrschaft  eines  von  den  Entgegengesetzten. 
Krankheit  entstehe  durch  Übermafs  oder  Mangel  von  Wärme 
oder  Kälte  (oder,  müssen  wir  hinzufügen,  eines  anderen  der 
Entgegengesetzten),  z.  B.  im  Blute,  im  Marke  oder  im  Ge- 
hirn. Sie  entstünden  aber  bisweilen  auch  aus  den  äufseren 
Ursachen :  Beschaffenheit  des  Wassers,  der  Landschaft  oder 
Örtlichkeit,  oder  aus  Zwang  oder  anderem  Ähnlichen.  Die 
Gesundheit  aber  sei  die  symmetrische  Wirkung  dieser  Be- 
schaffenheiten. 

Hier  erkennen  wir  Sinn  und  Zusammenhang,  in  dem 
die  Gegensatzlehre  bei  Alkmäon  auftrat;  hier  erst  lernen 
wir  die  wichtigsten  und  bezeichnendsten  seiner  Gegensatz- 
paare kennen;  hier  sehen  wir,  dafs  es  durchaus  nicht  seine 
Meinung  war,  das  eine  Glied  der  einzelnen  Gegensätze  gegen 
das  andere  im  Werte  zurückzusetzen.  Beide  sind  gleich- 
wertig; nur  auf  ihrem  Gleichgewichte  beruht  der  normale 
Zustand  des  Körpers.  Diese  Lehre  über  Gesundheit  und 
Krankheit,  sowie  manche  andere  physiologische  Lehren,  die 
hier  übergangen  werden  können,  bildeten  den  eigentlichen 
Kernpunkt  der  Lehre  Alkmäons,  des  hervorragenden  Mit- 
gliedes und  ersten  schriftstellerischen  Vertreters  der  hoch- 
gepriesenen krotonianischen  Ärzteschule.  Seine  allgemein- 
wissenschaftliche Bedeutung,  erkennbar  an  den  Nachwirkungen 
bei  späteren  Denkern,  beruht  auf  den  angeführten  Punkten. 


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152  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Sie  rechtfertigt  die  Aufführung  dieses  genialen  Physiologen 
und  Mediziners  auch  in  dem  Zusammenhange  der  allgemeinen 
wissenschaftlichen  Entwicklung. 

5.    Das  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen 
Pythagroreismus.    (Um  480 — 470.) 

Das  Hauptsystem  der  Pythagoreer  ist  dasjenige,  in  dem 
die  von  ihnen  betriebene  Zahlenforschung  den  mafsgebenden 
und  entscheidenden  Einflufs  auf  ihre  Welterklärung  ge- 
wonnen hat. 

Die  Zeit  seiner  Entstehung  läfst  sich  nur  ungefähr  aus 
den  nachfolgenden  Anhaltspunkten  bestimmen.  Zunächst 
beginnt  Aristoteles  seinen  eingehendsten  Bericht  über 
dies  System,  nachdem  er  vorher  von  Empedokles  und 
Leukipp  gesprochen  hat,  deren  Schriften  vor  die  Mitte 
des  5.  Jahrhunderts  fallen,  mit  den  Worten  „gleichzeitig 
mit  diesen  und  vor  diesen"  (985  b,  23).  Sodann  legt  er 
diesen  Pythagoreern  als  Vorstufe  und  Voraussetzung  für 
ihre  Welterklärung  eine  eingehende  und  erfolgreiche  Be- 
schäftigung mit  den  mathematischen  Wissenschaften  und 
insbesondere  mit  der  Zahlenlehre  bei.  Hier  wird  deutlich 
ein  Zusammenarbeiten  vieler  und  ein  allmähliches  Fort- 
schreiten vorausgesetzt.  Dies  versetzt  uns  in  eine  Zeit,  wo 
der  Orden  noch  in  ungetrübter  Ruhe  unangefochten  seine 
Ziele  verfolgen  konnte,  also  in  die  Zeit  vor  dem  Hervor- 
treten jener  Wirren,  die  um  440  zu  der  blutigen  Verfolgung 
des  Ordens  führten.  Endlich  hat,  wie  später  zu  zeigen, 
Zeno  von  Elea,  der  etwa  um  510  geborene  Schüler  des 
Parmenides,  sich  polemisch  gegen  einige  Grundannahmen 
dieses  Systems  gewandt  und  andernteils  Empedokles  (um 
450)  sehr  wahrscheinlich  einige  seiner  Lehren  von  ihnen 
übernommen.  Daraus  ergibt  sich  die  Zeit  um  480 — 470  als 
die  wahrscheinliche  Entstehungszeit. 

Dafs  nun  diese  Pythagoreer  von  der  Zahlenforschung 
zur  Welterklärung  übergingen  und  die  Resultate  jener  in 
dieser  zur  Anwendung  brachten,  sagt  Aristoteles  mit  grofsem 
Nachdruck.     „Sie  kamen   zu    der  Ansicht,   dafs  die  Prin- 


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IIL  5.  Hauptsy Stern  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.   153 

zipien  der  mathematischen  Wissenschaften  Prinzipien  alles 
Seienden  seien."  „Sie  glaubten  in  den  Zahlen  viele  Ähn- 
lichkeiten mit  dem  Seienden  und  Geschehenden  zu  erblicken, 
mehr  als  im  Feuer  und  in  der  Erde  und  im  Wasser." 
(985b,  25.)  Er  betont  sogar,  dafs  sie  anfangs  —  wie  es 
scheint,  in  mehr  spielender  Weise  —  nur  auf  einzelnes  die 
Zahl  als  Erklärungsprinzip  angewandt  hätten,  z.  B.  auf  „die 
rechte  Zeit",  die  Gerechtigkeit,  die  Ehe  (1078b,  21).  Wir 
erkennen  hier  noch  deutlich  das  allmähliche  Werden  dieser 
neuen  Art  von  Welterklärung. 

Näher  bewegte  sich  diese  Anwendung  der  Zahlen  als 
universelles  Prinzip  der  Welterklärung  nach  Aristoteles  in 
einer  doppelten  Richtung.  Einesteils  erklärten  sie  die  Zahlen 
geradezu  für  den  Stoff  des  Seienden,  andemteils  fanden  sie 
in  den  Zahlen  (und  Zahlenverhältnissen)  das  Prinzip  zur 
Erklärung  der  Eigenschaften  und  Zustände  der  Dinge 
(986,  15).  Diese  von  Aristoteles  aufgestellte  Zweiteilung 
der  Anwendung  der  Zahlen  zur  Welterklärung  ist  von  der 
gröfsten  Bedeutung  für  das  Verständnis  des  Systems.  Die 
erste  Richtung  betrifft  die  Frage  nach  dem  Grundwesen 
des  Seienden,  die  zweite  bezieht  sich  auf  eine  Mannigfaltig- 
keit von  Einzelanwendungen  der  Zahlen,  durch  die  in  meist 
willkürlicher  und  spielender  Weise  Dinge,  Vorgänge  und 
Zustände  auf  Zahlen  und  Zahlenverhältnisse  zurückgeführt 
wurden. 

Welcher  Art  die  mathematischen  und  insbesondere  arith- 
metischen Studien  und  Entdeckungen  waren,  die  den  Aus- 
gangspunkt und  die  Grundlage  dieser  Welterklärung  bildeten, 
darüber  fehlt  es  für  diese  ältesten  Forscher  fast  ganz  an 
sicheren  Nachrichten.  Soweit  sie  für  das  System  in  Betracht 
kommen,  zeigt  schon  dieses  selbst  die  arithmetischen  Ge- 
danken, die  ihnen  als  Ausgangspunkte  dienten. 

Von  den  beiden  Gesichtspunkten,  die  Aristoteles  auf- 
stellt, ist  eigentlich  der  erste  —  die  Zahlen  der  Stoff  des 
Seienden  —  befremdlicher  als  der  zweite.  Er  wird  jedoch 
verständlicher,  wenn  wir  von  der  Annahme  ausgehen,  dafs 
sie  in  dem  Streben,  ihre  Zahlenforschung  auf  die  Seinslehre 


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154  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychlsmus. 

anzuweDden,  die  schon  vorhandene  Gegensatzlehre  in  diesem 
Sinne  umbildeten. 

Den  ersten  Anhalt  für  diese  Umbildung  boten  ihnen 
die  beiden  ersten  Gegensatzpaare :  Unbegrenztes  —  Grenze ; 
Ungerades  —  Gerades.  Aristoteles  sagt  da,  wo  er  sich  an- 
schickt, die  Prinzipien  des  Seienden  für  dieses  System  an- 
zugeben (986,  13  flf.),  folgendes:  „Die  Elemente  der  Zahl 
sind  das  Gerade  und  das  Ungerade ;  von  diesen  ist  das  eine 
(das  Ungerade)  begrenzt  (nach  der  schon  früher  angegebenen 
Vorstellungsweise:  gehemmte  Teilung),  das  andere  (das 
Gerade)  unbegrenzt."  Hiernach  scheint  ihre  erste  Opera- 
tion an  der  Tafel  der  Gegensätze  die  Verschmelzung  der 
beiden  ersten  Gegensatzpaare  gewesen  zu  sein.  Das  Gerade 
und  Ungerade  rückte  so  aus  der  Stellung  einer  blofsen  An- 
wendung des  Grundgegensatzes  auf  die  Zahlen,  eines  blofsen 
Spezialfalles  in  die  des  allgemeinen  Grundgegensatzes  selbst 
ein.  Alles  Begrenzte  wurde  ein  Ungerades,  alles  Unbegrenzte 
ein  Gerades. 

Dabei  ist  aber  schon  die  Grundvoraussetzung  gemacht, 
dafs  die  Zahlen  das  Wesen  —  der  Stoff  —  der  Dinge  seien. 
Die  Zahlen  aber  stellen  sich  so  dar,  dafs  aus  einem 
,  Element,  der  Eins,  durch  fortgehende  Hinzufügung  die 
ganze  Zahlenreihe  entsteht.  Es  müfste  also  das  erste  Er- 
zeugnis des  Zusammenwirkens  der  Grenze  und  des  Un- 
begrenzten, des  Form-  und  Stoffprinzips  der  Welt,  das  erste 
Begrenzte,  so  gefafst  werden,  dafs  es  als  Eins  bezeichnet 
werden  konnte.  Aristoteles  fährt  an  obiger  Stelle  fort: 
„Die  Eins  aber  bestehe  aus  diesen  beiden,  denn  sie  sei 
gerade  und  ungerade."  Letzteres  kann  nun  von  der  Eins 
als  blofser  Zahlgröfse  unmöglich  gesagt  werden; 
höchstens  könnte,  man  ihr  eine  Ausnahmsstellung  jenseits 
des  Geraden  und  Ungeraden  zuweisen  und  sagen,  sie  sei 
weder  gerade  noch  ungerade.  Dieser  Satz  beweist  also, 
dafs  sie  ihr  schon  eine  über  das  blofse  Zahlensystem  hinaus- 
gehende Bedeutung  zugewiesen,  dafs  sie  sie  mit  dem 
ersten  Begrenzten  identifiziert  hatten.  Dies  war 
ja  nach  der  früheren  Lehre  ein  abgegrenztes  Stück  des 
unendlichen    Lufthauches    aufser   der  Welt.     Diesen  Luft- 


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III.  5.  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.   15^ 

hauch  nun  konnten  die  Zahlenphilosophen  nicht  mehr  ge- 
brauchen. Die  darauf  bezüglichen,  früher  angeführten 
Stellen  beruhen  entweder  auf  einer  Vermengung  der  ver- 
schiedenen pythagoreischen  Standpunkte,  oder  es  haben  die 
Zahlentheoretiker  ihn  in  inkonsequenter,  pietätvoll-konser- 
vativer Anlehnung  an  den  Bestand  der  Lehre  lediglich  als 
Inventarstück  weitergeführt.  Ihre  wirkliche  Meinung  aber 
gibt  folgender  Satz  des  Aristoteles:  „Sie  nehmen  von 
den  Einheiten  an,  dafs  sie  Gröfse  haben,"  d.  h. 
sie  legen  der  Eins  Ausdehnung  im  räumlichen,  geometrischen 
Sinne  bei.  Dafs  dies  der  Sinn  ist,  beweist  der  Zusatz  des 
Aristoteles:  „Wie  jedoch  die  erste  Eins  sich  zur  Gröfse 
gebildet  habe,  darauf  scheinen  sie  nicht  antworten  zu 
können"  (1080  b,  18).  Das  Wahrscheinlichste  ist  also,  dafs 
sie  das  begrenzte  Stück  Lufthauch  —  wenigstens  still- 
schweigend —  fallen  liefsen,  dagegen  die  „erste  Eins"  al& 
begrenztes  Stück  des  Leeren,  des  Raumes  fafsten. 
Also  eine  Ausleerung  des  körperlichen  Stoffes  zum  blofsen 
Räume  als  Weltsteff!  In  diesem  Sinne  hat  denn  auch  die 
Aussage  Sinn,  die  Eins  sei  gerade  und  ungerade,  d.  h.  un- 
begrenzt und  begrenzt.  Unbegrenzt,  sofern  sie  den  unend- 
lichen Raum  zum  Steif  hat,  begrenzt,  sofern  von  diesem 
Stoffe  in  ihr  nur  ein  begrenzter  Teil  vorhanden  ist. 

Für  diese  Fassung  der  Eins  als  Raumeinheit  bieten  sich 
noch  folgende  weitere  Zeugnisse.  „Die  Pythagoreer  setzen 
die  Zahlen  als  Gröfse  habend"  (1080  b,  32).  „Gesetzt,  man 
gäbe  ihnen  zu,  dafs  aus  den  Zahlen  die  Gröfse"  (d.  h.  hier 
nach  dem  Zusammenhang  die  räumliche  Ausdehnung  der 
Dinge)  „würde,  oder  dafs  dies  gezeigt  würde,  wie  könnten 
daraus  die  leichten  und  schweren  Körper  werden?"  (990, 
12).  „Die  Zahlen  sind  die  Dinge  selbst"  (987  b,  27).  „Daa 
Begrenzte,  das  Unbegrenzte  und  die  Eins  sind  nicht  blofse 
Attribute  an  den  sinnlichen  Stoffen,  sie  sind  die  Wesenheit 
selbst;  also  ist  die  Zahl  die  Wesenheit  von  allem"  (987, 
13  ff.).  Wiederholt  wird  betont,  dafs  die  Zahlen  ihnen  nicht 
etwa  ein  vom  Seienden  abgesondertes  Gebiet  besitzen,  in 
dem  sie  rein  für  sich  bestehen,  eine  Stufe  aufserhalb  der 
Sinnenwelt,  als  Musterbilder,  wie  die  platonischen  Ideen; 


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156  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt   Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

dafs  es  keine  andere  reale  Existenz  weise  der  „Zahl"  gibt 
als  die  in  den  Dingen  (1090,  20;  1080  b,  17;  1083  b,  11; 
987  b,  29;  990,  21;  203,  6).  Wiederholt  wird  hervorgehoben, 
dafs  sie  die  Ableitung  der  Welt  aus  diesem  Prinzip  gerade 
so  vornehmen,  wie  wenn  dies  ein  physisches  wäre  (989  b, 
35 ;  990,  15).  Hierbei  mufs  jedoch  festgehalten  werden,  dafs 
sie  trotz  dieser  gewaltsamen  Umdeutung  der  Zahl  ins  Räum- 
liche hartnäckig  an  dem  Streben  festhielten,  bei  ihrer  Welt- 
erklärung die  Zahl  selbst  im  ursprünglichen  und  eigent- 
lichen Sinne,  die  arithmetische  Zahl,  zu  Grunde  zu  legen 
(1080  b,  16,  30;  1083  b,  13). 

Über  diese  Ableitung  der  Welt,  der  Mannigfaltigkeit 
der  Stoffe  und  Dinge  nun  aus  dem  blofsen  Raumprinzip 
sind  nur  sehr  dürftige  Nachrichten  vorhanden.  „Aus  der 
Eins  entstehen  die  Zahlen*'  auch  in  der  Fassung  als  Raum- 
einheiten, —  „die  Zahlen  aber  sind  die  ganze  Welt"  (986, 
20).  Genauer  spricht  hierüber  folgende  Stelle:  „Offenkundig 
sagen  sie,  dafs,  nachdem  die  Eins  sich  gebildet  hatte,  .  .  . 
sofort  die  nächsten  Teile  des  Unbegrenzten  von  der  Grenze 
angezogen  und  begrenzt  wurden",  und  dafs  sie  eine  Welt- 
bildung geben  und  als  Physiker  reden  wollten  (1091,  14). 

Einzelheiten  über  diese  „Weltbildung",  über  die  Ab- 
leitung der  konkreten  Stofffe  und  ihrer  Eigenschaften  u.  s.  w. 
aus  dem  Raumprinzip  sind  nicht  bekannt.  Bemerkenswert 
ist  hier  nur  noch  die  Angabe,  das  Vollkommenste  sei  nicht 
am  Anfang,  wie  auch  bei  Pflanze  und  Tier  der  Anfang  zwar 
die  Ursache  sei,  der  Vollkommenheitszustand  aber  erst 
nachher  eintrete  (1072  b,  30).  Damit  haben  sich  die  Pytha- 
goreer  zu  einer  Entwicklungs-  oder  Evolutionslehre  bekannt. 
Ein  ganz  hervorragendes  Beispiel  für  die  Ableitung  der 
Dinge  aus  den  Zahlen  bildet  eine  Andeutung  über  die 
Seelenlehre  der  Pythagoreer.  Nach  Aristoteles  (404,  26)  er- 
klärte ein  Teil  der  Pythagoreer  die  Seele  für  einerlei  mit 
den  Sonnenstäubchen,  ein  anderer  Teil  für  das  diese  Be- 
wegende. In  dieser  Angabe  liegt  ein  starkes  Zeugnis  für 
die  Fassung  der  Eins  als  räumlich  ausgedehnt.  Die  Sonnen- 
stäubchen sind  kleinste  Stoffteilchen.  Dies  wird  noch  be- 
sonders dadurch  bestätigt,  dafs  diese  Lehre  für  einerlei  erklärt 


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III.  5.  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.   157 

wird  mit  der  Demokrits,  der  die  Seele  ebenfalls  aus 
Sonnenstäubchen  bestehen  liefs  und  in  diesen  feinste  Atome 
erkannte.  Dafs  aber  die  Sonnenstäubchen  für  Bestandteile 
gerade  der  Seele  gehalten  wurden,  hat  offenbar  seinen 
Grund  in  dem  Scheine  einer  den  Sonnenstäubchen  bei- 
wohnenden Eigenbewegung.  Diese  legten  dann  die  Pytha- 
goreer  teils  den  Sonnenstäubchen  selbst  bei,  als  eine  einem 
Teile  des  Begrenzten  anhaftende  Eigenschaft,  teils  unter- 
schieden sie  das  Bewegende  als  etwas  Besonderes  und 
nannten  dies  Seele.  Wie  es  unter  solchen  Voraussetzungen 
bei  ihnen  mit  dem  Ordensglauben  an  die  Unsterblichkeit 
stand,  erfahren  wir  nicht.  Es  wird  sich  an  späterer  Stelle 
Gelegenheit  bieten,  auf  diese  Frage  zurückzukommen. 

Im  übrigen  besteht  in  bezug  auf  die  Durchführung  und 
Anwendung  ihrer  Prinzipien  zur  Erklärung  der  Natur  eine 
empfindliche  Lücke  in  unseren  Nachrichten.  Wir  wissen 
nicht,  ob  und  eventuell  wie  sie  Feuer,  Wasser  u.  s.  w., 
überhaupt  alles  Konkrete  aus  den  Raumeinheiten  ableiteten. 

Lehrreich  und  vielfach  der  vorstehenden  Auffassung  als 
weitere  Bestätigung  dienend  sind  nun  aber  ferner  die  kri- 
tischen Bemerkungen,  die  Aristoteles  den  einzelnen  Punkten 
dieser  Welterklärung  widmet.  Dafs  sie  nach  ihm  die  Ge- 
staltung der  „ersten  Eins"  zur  Raumgröfse  nicht  haben  er- 
klären können  (1080  b,  13),  ist  schon  bemerkt.  Genauer 
sagt  er  über  diese  Bildung  der  Eins:  „mag  sie  aus  Flächen, 
oder  aus  der  Farbe ,  oder  aus  Samen ,  oder  aus  etwas ,  das 
sie  nicht  anzugeben  vermögen*,  versucht  werden  (1091,  15). 
Hier  bleibt  zweifelhaft,  ob  die  angegebenen  Erklärungs- 
versuche wirklich  von  den  Pythagoreem  stammen  oder 
ihnen  nur  von  Aristoteles  in  den  Mund  gelegt  werden; 
jedenfalls  sind  sie  uns  nicht  verständlich.  Weiter  erklärt 
er,  die  Zusammensetzung  der  Körper  aus  Zahlen  zu  be- 
haupten und  dann  doch  wieder  diese  Zahlen  als  die  Zahlen 
im  echten  und  eigentlichen  Sinne  nehmen  zu  wollen,  sei 
unmöglich  (1083  b,  12).  Sodann  rügt  er,  dafs  es  dieser 
Theorie  an  einer  bewegenden  Ursache,  an  einem  Prinzip 
des  Werdens  und  der  Gestaltung  fehle  (989  b,  31 ;  990,  8). 
In  der  Tat  bleibt  sie  in  einer  Art  von  unausgesprochenem 


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158  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Hylopsychismus  stecken,  und  zwar  so,  dafs  in  unklarer 
Weise  bald  nach  dem  älteren  System  die  Bewegung  von 
dem  in  die  Welt  einströmenden  Leeren  ausgeht,  bald  von 
der  das  Unbegrenzte  anziehenden  „Grenze".  Dafs  er  es 
femer  für  unmöglich  erklärt,  von  der  blofsen  räumlichen 
Ausdehnung  der  Eins  Schwere  und  Leichtigkeit  (also  über- 
haupt die  wirklichen  Eigenschaften  der  Körper)  abzuleiten 
(990,  14),  ist  schon  erwähnt.  An  anderer  Stelle  drückt  er 
dies  folgendermafsen  aus:  „Von  den  Naturkörpem  zeigt  es 
sich,  dafs  sie  Schwere  und  Leichtigkeit  haben,  von  den 
Einsen  hingegen  ist  es  weder  möglich,  dafs  sie  einen  Körper 
ausmachen,  noch  auch,  dafs  sie  Schwere  haben"  (300,  17). 
Und  indem  er  an  anderer  Stelle  (1090,  32)  nochmals  diesen 
Vorwurf  wiederholt,  kommt  er  zu  dem  spöttischen.  Gesamt- 
urteil über  die  ganze  Theorie:  „Sie  scheinen  von  einer 
anderen  Welt  und  von  anderen  Körpern  zu  reden  als  von 
den  sinnenfälligen." 

In  dieser  Kritik  sind  zwei  Punkte  von  einschneidender 
Bedeutung,  indem  sie  aufs  schärfste  die  Berechtigung  zeigen, 
diese  Pythagoreer,  wie  oben  geschehen,  dem  Welt-  und 
Naturleugner  Parmenides  an  die  Seite  zu  stellen:  1.  Sie 
haben  weder  ein  wirkliches  Stoffprinzip  noch  ein  Prinzip 
der  Bewegung,  können  also  in  Wirklichkeit  die  tatsächlich 
gegebene  Welt  nicht  erklären.  2.  Trotzdem  nehmen  sie 
diese  Aufgabe  in  Angriff  und  erheben  den  Anspruch,  die 
Welt  erklären  zu  können. 

Der  ungelöste  Zwiespalt  zwischen  dem  Ausgangspunkte 
und  der  realen  Aufgabe,  der  bei  Parmenides  völlig  unver- 
hüllt in  der  Doppelheit  seiner  Lehre  zutage  trat,  wird  hier 
verdeckt  durch  die  scheinbare  oder  vermeintliche  Einheit 
des  Systems,  hinter  der  sich  aber  derselbe  ungelöste  Zwie- 
spalt verbirgt.  Sie  vermögen  Anfang  und  Ende  nicht 
zusammenzubringen. 

Wir  kommen  zu  der  zweiten,  der  mehr  spielen- 
den Anwendung  der  Zahlen  auf  allerlei  Einzelver- 
hältnisse des  Seienden.  Nach  einer  bereits  früher  ange- 
führten Bemerkung  (1078  b,  21)  scheint  dies  sogar  die 
ursprüngliche  gewesen  zu  sein,  von  der  sie  erst  allmählich 


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III.  5.  HauptBystem  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.    159 

ZU  dem  kühnen  Unterfangen,  die  Zahl  für  den  Weltstoflf  zu 
erklären,  vordrangen.  Auf  diese  Einzelversuche  scheinen 
sich  einige  Ausdrücke  zu  beziehen,  die  Aristoteles  anwendet, 
um  ihre  Auffassung  des  Verhältnisses  der  Zahlen  zum 
Seienden  zu  bezeichnen.  Er  sagt,  sie  hätten  in  den  Zahlen 
„viele  Ähnlichkeiten  mit  dem  Seienden  und  Geschehen- 
den zu  erblicken  geglaubt";  sie  hätten  „Übereinstim- 
mungen in  den  Zahlen  und  Tonleitern  mit  den  Eigen- 
schaften und  Teilen  der  Welt"  aufzuzeigen  gewufst  (985  b, 
27  flf.).  Auch  das  scheint  hierher  zu  gehören,  dafs  nach 
den  Pythagoreem  das  Seiende  durch  Nachahmung  der 
Zahlen  bestehe  (987  b,  11).  Wenigstens  passen  alle  diese 
Ausdrücke  weniger  auf  die  vorstehende  Lehre  von  der 
Wesenseinheit  mit  den  Dingen  als  auf  solche  Einzelanwen- 
dungen. 

Das  Grundbeispiel  nun  für  diese  Denkrichtung  ist  die 
Tonleiter,  deren  einzelne  Intervalle  sich  ja,  wie  schon  bei 
der  Sphärenharmonie  ausgeführt,  auf  Zahlen  Verhältnisse 
zurückführen  lassen.  Bei  der  Tonleiter  war  das  Verhältnis 
zu  den  Zahlen  so  gesichert,  dafs  diese  selbst  geradezu  wieder 
als  Erklärungsprinzip  angewendet  werden  konnte,  wie 
Aristoteles  mehrfach  hervorhebt  (z.  B.  985  b ,  32  ff.),  und 
wie  das  Beispiel  der  Sphärenharmonie  zeigt. 

Als  fernere  Beispiele  führt  Aristoteles  an:  Gerechtig- 
keit, Seele,  Vernunft,  „rechte  Zeit",  Ehe  (985  b,  30;  1078  b, 
21).  Wie  sie  diese  Begriffe  auf  Zahlen  zurückführten,  sagt 
er  nicht.  Bei  einem  späteren  Erklärer  dieser  Stellen 
(Alexander  von  Aphrodisias  um  200  nach  Chr.) 
findet  sich  die  Angabe,  dafs  sie  die  Gerechtigkeit  durch 
eine  der  ersten  Quadratzahlen,  durch  die  Vier,  oder  noch 
lieber  durch  die  Neun,  weil  diese  das  Quadrat  der  ersten 
männlichen,  d.  h.  ungeraden,  also  bevorzugten  Zahl  der 
Drei,  sei,  ausgedrückt  hätten.  Dazu  dient  als  Erläuterung 
die  Angabe  bei  Aristoteles  selbst  (1132  b,  21  cf.  1194,  28), 
dafs  sie  unter  der  Gerechtigkeit  die  genaue  Wiedervergeltung, 
das  „Auge  um  Auge,  Zahn  um  Zahn**,  verstanden  hätten.  Sie 
fanden  also  diese  Ausgleichung  eines  Tuns  durch  das  Er- 
leiden   eines    genau  Gleichen  in   der   Multiplikation  einer 


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160  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Zahl  mit  sich  selbst  ausgedrückt.  Nach  demselben  Erklärer 
hätten  sie  die  Vernunft  durch  die  Eins,  die  Meinung  durch 
die  Zwei  ausgedrückt  (zu  Grunde  liegt  der  ungleiche  Wert 
des  Ungeraden  und  Geraden),  die  Ehe  durch  die  Fünf,  weil 
diese  *die  Verbindung  der  ersten  männlichen  Zahl  (3)  mit 
der  ersten  weiblichen  (2)  sei.  Weitere  Angaben  über  diese 
Art  des  Gebrauchs  der  Zahlen,  die  aber  vielleicht  erst  Er- 
findung der  späteren Neupythagoreer  sind,  bei  S  t o  bäus  1. 21. 

Das  Haupt-  und  Prachtstück  dieser  Art  der  Zahlen- 
erklärung aber  war  ihre  Lehre  vom  Weltgebäude,  die, 
gänzlich  verschieden  von  der  der  Sphärenharmonie,  ganz 
überwiegend  durch  die  Tendenz  beherrscht  war,  im  Welt- 
ganzen die  vollkommenste  Zahl,  die  Zehnzahl,  ausgedrückt 
zu  finden.  Als  Grund  für  diese  Vollkommenheit  der  Zehn- 
zahl gibt  Aristoteles  (986,  8)  nur  an,  sie  umfasse  „die  ganze 
Natur  der  Zahlen".  Dies  deutet  wohl  darauf  hin,  dafs  nach 
dem  Dezimalsystem,  das  also  den  Pythagoreern  bekannt 
war,  mit  der  Zehn  das  ganze  Zahlensystem  als  immer  neue 
Wiederholung  der  zehn  ersten  Zahlen  auf  einer  höheren 
Stufe  gegeben  sei.  Ob  auch  schon  die  alten  Pythagoreer 
aus  demselben  Grunde  die  Vierzahl  hochhielten,  weil  näm- 
lich Zehn  die  Summe  der  vier  ersten  Zahlen  ist,  ist  un- 
bekannt. In  einem  neupythagoreischen  Lehrgedicht  des 
letzten  vorchristlichen  Jahrhunderts ,  dem  sogenannten 
„Goldenen  Gedicht**,  findet  sich  sogar  der  Schwur  bei 
Pythagoras  als  demjenigen,  der  sie  die  Vierzahl  (die  tetrak- 
tys)  gelehrt  habe,  in  der  die  Quelle  und  Wurzel  der  ewigen 
Natur  liege. 

Über  diese  neue  Lehre  vom  Weltgebäude  sagt  nun 
Aristoteles  da,  wo  er  dieses  System  summarisch  charakteri- 
siert (986,  8  ff.),  nur,  sie  hätten,  weil  es  notwendig  zehn 
bewegliche  Himmelskörper  geben  müsse,  tatsächlich  aber 
deren  nur  neun  bekannt  seien,  als  zehnten  die  Gegenerde 
hinzugedichtet.  Er  findet  dies  also  in  Einklang  mit  ihrem 
allgemeinen  Verfahren  bei  diesen  Bestrebungen,  das  er 
einige  Zeilen  vorher  folgendermafsen  schildert:  „Wenn 
irgendwo  eine  Lücke  blieb,  so  erbettelten  sie  sich  noch 
etwas,  um  in  ihre  Untersuchung  Einklang  zu  bringen.** 


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m.  5.  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.   161 

Genauere  Angaben  über  dies  Weltsystem  macht  Aristo- 
teles in  der  Schrift  vom  Weltall  (293,  34  flf.).  In  die  Mitte 
der  Welt  setzten  sie  ein  Feuer.  Dies  ist  das  wichtigste 
und  wertvollste  Stück  des  gesamten  Weltbaues.  Es  mufs 
daher  auch  den  ausgezeichnetsten  und  gesichertsten  Platz 
in  der  Welt  einnehmen.  Diesen  Weltmittelpunkt  nannten 
sie  auch  „die  Wache  des  Zeus"  (d.  h.  offenbar  den  Punkt, 
wo  die  weltgestaltende  Macht  ihren  Hauptsitz  hat).  Mit 
dieser  Schätzung  der  Weltmitte  hängt  zusammen  die  An- 
nahme einer  rechten  und  linken  Seite  der  Welt  (284  b,  6), 
und  zwar  in  der  Weise,  dafs-  der  der  Weltmitte  zugewandte 
Teil  der  Welt  als  der  rechte  (d.  h.  der  bevorzugte)  galt 
(Simplic.  171  b,  7;  176  b,  31).  um  dieses  Zentralfeuer 
nun  liefsen  sie  zehn  Himmelskörper  oder  Sphären  kreisen: 
die  Gegenerde,  die  Erde  —  die  hier  im  Zusammenhange 
dieses  phantastischen  Denkens  zum  erstenmal  ihres  Platzes 
in  der  Mitte  der  Welt  beraubt  und  unter  die  Wandelsterne 
versetzt  wird  — ,  die  sieben  Planeten  einschliefslich  Sonne 
und  Mond  und  die  Fixsternsphäre.  Dafs  weder  dies  Zentral- 
feuer noch  die  Gegenerde  jemals  von  uns  gesehen  wird, 
dafür  gibt  Aristoteles  in  seiner  überaus  kurzen  Darstellung 
keinen  Grund  an.  Doch  erklärt  sich  dies  leicht  dadurch, 
dafs  sie  nur  den  von  der  Weltmitte  abgewandten  Teil  der 
Erde,  der  während  des  ganzen  Kreislaufs  dem  Weltumfange 
zugekehrt  bleibt,  für  bewohnt  hielten.  Diesen  Teil  der  Erde 
nannten  sie  nämlich  den  oberen  oder  den  rechten  (285  b,  25), 
letzteres  offenbar  deshalb,  weil  er  als  der  bewohnte  ihnen 
als  der  voUkommnere  und  bevorzugte  galt. 

Diese  fragmentarischen  Angaben  des  Aristoteles  finden 
einige  Ergänzungen  an  den  erhaltenen  Bruchstücken  des 
angeblichen  Philolaos,  deren  einige  offenbar  richtige  An- 
gaben über  dies  Weltsystem  enthalten.  Diese  sind  zwar  hier 
in  abgeschmackter  und  kopfloser  Weise  mit  Zügen  anderer 
Weltvorstellungen  zu  einem  unvorstellbaren  Chaos  ver- 
mengt, doch  ist  es  möglich,  nach  innerer  Zugehörigkeit  das 
Hierhergehörige  aus  diesem  ürbrei  auszuscheiden. 

Auch  „Philolaos"  bekennt  sich  zur  Lehre  vom  Zentral- 
feuer (D.  336  f. ;  377).    Er  nennt  die  Mitte  der  Welt  den 

DOriog.   I.  11 

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162  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

wichtigsten  Teil  derselben,  weil  sie  die  Ursprungsstatte  der 
Welt  sei  (Stob. I.  148),  und  sagt:  „Die  zuerst  gefügte  Eins 
in  der  Mitte  der  Welt  wird  Herd  genannt"  (Stob.  I.  -189). 
Hier  wird  sogar  dieser  „Weltherd"  mit  der  „ersten  Eins" 
als  einerlei  gesetzt,  was  schwerlich  der  Lehre  der  alten 
Pythagoreer  entspricht,  wenngleich  auch  diese  gewifs  das 
Zentralfeuer  als  den  zuerst  entstandenen  Teil  der  Welt  be- 
trachtet und  also  wohl  auch  die  „erste  Eins"  als  den  ersten 
Ansatz  zum  Zentralfeuer  angesehen  haben  mögen.  Der 
ungeheure  Sprung  von  der  stofFlosen  Ausdehnung  zum 
stoflFlichen  Feuer  darf  dabei  nach  dem  früher  Ausgeführten 
nicht  befremden. 

„Philolaos"  führt  femer  für  das  Zentralfeuer  eine  Anzahl 
Benennungen  an,  die  ebenfalls  möglicherweise  altpythago- 
reisch sind:  Herd  des  All,  Haus  des  Zeus,  Mutter  der 
Götter,  Altar,  Halt  und  Mafs  der  Natur  (D.  336  f.). 

Von  ganz  besonderer  Wichtigkeit  ist  aber  ein  Bruch- 
stück, in  dem  die  Beschaffenheit  der  Sonne  berichtet  wird 
(D.  349  f.).  Die  Sonne  ist  glasartig  und  wirkt  als  Spiegel, 
indem  sie  das  Licht  des  Zentralfeuers  uns  zuwirft.  Sie  ist 
im  Verhältnis  zu  dieser  uns  unsichtbaren  Zentralsonne  nur 
ein  in  erborgtem  Lichte  leuchtender  gröfserer  Mond.  Leider 
hat  der  Fälscher  hier,  wie  auch  schon  im  weiteren  Verlaufe 
des  vorigen  Bruchstückes,  die  Vorstellung  vom  Zentralfeuer 
als  der  einzigen  Licht-  und  Feuerquelle  der  Welt  mit  einer 
anderen  Vorstellung  stumpf  und  sinnlos  zusammengearbeitet, 
nach  der  es  auch  noch  im  äufseren  Umkreise  der  Welt  eine 
zweite  Licht-  und  Wärmequelle  gibt,  und  von  der  sich  auch 
schon  bei  Aristoteles  (293,  32)  eine  schwache  Spur  findet. 
Infolgedessen  bringt  er  in  unserem  Bruchstück  neben  solchen 
Wendungen,  nach  denen  die  Sonne  ein  Spiegel  ist,  der  das 
Licht  des  Zentralfeuers  der  ihr  zugewandten  bewohnten 
Seite  der  Erde  zuwirft,  solche  völlig  irreleitende  Ausdrücke, 
nach  denen  sie  wie  eine  Sammellinse  oder  ein  durchsichtiger 
Glaskörper  „das  Feuer  in  der  Welt"  der  Erde  zuwirft.  Be- 
stätigt wird  diese  Vorstellung  von  der  Sonne  als  einem 
Spiegel  auch  noch  durch  die  den  Pythagoreem  zugeschriebene 
—  übrigens  nicht  auf  Philolaos  zurückgeführte  —  Erklärung 


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nL  5.  Haaptsystem  des  wissenschi^lichen  Pythagoreismus.   163 

der  Müchstrafse  (D.  364  f.).  Die  Milchstrafse  ist  die  Wir- 
kuDg  des  von  der  Sonne  zurückgeworfenen  Lichtes,  das  auf 
den  die  Welt  umgebenden  Fixstemhimmel  fallt.  Dies  ist 
so  zu  verstehen,  dafs  wir  dann,  wwn  die  Erde  auf  ihrer 
Bahn  um  das  Zentralfeuer  von  der  Sonne  al^ekommen  ist, 
also  Nacht  hat,  wenigstens  den  Widerschein  des  von  der 
Sonne  zurückgeworfenen  Lichtes  an  dem  uns  zugewandten 
Teile  des  Fixsterngewölbes  wahrnehmen. 

Es  wird  nämlich  nach  dieser  Lehre  durch  die  Planeten- 
bahn der  Erde  der  Wechsel  von  Tag  und  Nacht  bewirkt 
Sie  haben  angenommen,  dafs  die  Erde  ihre  Bahn  in  24 
Stunden  vollendet,  während  die  Sonne  zu  der  ihrigen  ein 
volles  Jahr  gebraucht.  So  kommt  es,  dafs  die  Erde  in 
ihrem  Tageslaufe  immer  nur  einen  Teil  der  Zeit  auf  der- 
jenigen Seite  der  Welt  verweilt,  wo  sich  auf  ihrem  Um- 
schwünge gerade  die  Sonne  befindet.  Sie  mochten  von 
dieser  Voraussetzung  aus  sogar  im  stände  sein,  den  Wechsel 
der  Tageslänge  und  die  Jahreszeiten  zu  erklären. 

Dafs  auch  der  Mond  als  ein  das  Licht  des  Zentral- 
feuers zurückwerfender  Spiegel  betrachtet  wurde,  beweist 
das  —  vielleicht  sogar  auf  Theophrast  zurückgehende  — 
Zeugnis,  dafs  nach  „Pythagoras**  auch  der  Mond  spiegel- 
artig sei  (D.  357).  Sehr  viel  Aufschlufs  über  die  ganze 
Beschaffenheit  dieses  Weltbildes  gewährt  eine  andere,  aus 
»Philolaos"  stammende  Angabe  über  den  Mond  (D.  361). 
Nach  dieser  ist  der  Mond  erdähnlich  und  bewohnt,  wodurch 
sich  das  sogenannte  Gesicht  im  Monde  erklären  sollte.  Aber 
die  Tiere  und  Pflanzen  sind  dort  gröfser  und  schöner  als 
auf  der  Erde,  die  Tiere  fünfzehnmal  so  grofs  als  bei  uns. 
Der  Tag  dauert  fünfzehnmal  so  lange  als  bei  uns.  Diese 
letzte  Angabe  ist  sehr  lehrreich.  Offenbar  liefsen  sie  auch 
den  Mond,  wie  sämtliche  bewegliche  Himmelskörper,  um 
das  Zentralfeuer  kreisen,  und  zwar  diesen,  entsprechend 
seinen  in  29 Va  Tagen  sich  vollendenden  Wandlungen,  in 
30  Tagen.  Infolgedessen  hat  er  auf  seiner  der  Sonne  und 
dem  Umfange  der  Welt  zugewandten  Seite  fünfzehn  Tage 
Tag  und  fünfzehn  Tage  Nacht,  woraus  sie  dann  weiter  die 
entsprechende  Gröfse  und  Vollkommenheit  der  Organismen 

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164  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bnich  mit  dem  Hjlopsychismus. 

auf  ihm  folgerten.  Eine  gewisse  Unklarheit  liegt  nur  darin, 
dafs  sie  aus  dieser  Beschaffenheit  des  Mondes  auch  das 
Gesicht  im  Monde  ei:klären  wollten,  da  doch  dies  der  uns 
zugewandten,  beständig  vom  Zentralfeuer  beleuchteten,  nach 
der  Analogie  der  Erde  nicht  als  bewohnt  zu  denkenden  Seite 
des  Mondes  angehört.  Doch  ist  dies  wohl  nur  eine  Gedanken- 
losigkeit dieses  Schriftstellers.  Nach  einem  anderen  Bericht, 
der  zu  dieser  ganzen  Vorstellung  besser  pafst,  hätten  manche 
Pythagoreer  das  Gesicht  im  Monde  als  Widerspiegelung 
eines  Teils  der  Erdoberfläche  betrachtet  (D.  361).  Dagegen 
fehlt  ganz  eine  Angabe,  wie  sie  die  Mondphasen  erklärten, 
während  für  die  Mondfinstemisse  eine  sogar  auf  der  Schrift 
des  Aristoteles  über  die  Pythagoreer  und  auf  dem  Zeugnis 
des  Platoschülers  Philipp  von  Opus  beruhende  Nach- 
richt vorhanden  ist.  Nach  dieser  (D.  360)  erklärten  sie  die 
Verfinsterungen  des  Mondes  durch  das  Zwischentreten  teils 
der  Erde,  teils  der  Gegenerde  zwischen  Mond  und  Zentral- 
feuer. 

Nach  diesen  Angaben,  besonders  nach  denen  über  den 
Mond,  können  wir  uns  das  ganze  Weltsystem  dieser  Pytha- 
goreer, wenigstens  den  Hauptzügen  nach,  rekonstruieren. 
In  der  Mitte  der  Welt  befindet  sich  das  Zentralfeuer,  die 
Quelle  alles  Lichtes  und  aller  Wärme  in  der  Welt.  Diese 
Weltmitte  ist  jetzt  nicht  mehr,  wie  bei  der  Theorie  der 
Sphärenharmonie,  der  unvollkommenste  und  elendeste,  sie  ist 
der  wertvollste  und  vollkommenste,  der  „rechte"  Teil  der 
Welt.  Um  das  Zentralfeuer  kreist  mit  dem  geringsten 
Abstände  von  ihm  die  Gegenerde,  auf  ihrer  unteren,  dem 
Zentralfeuer  zugewandten  Seite  fortwährend  von  diesem 
bestrahlt,  auf  der  oberen,  dem  Weltumfang  zugewandten 
Seite  im  Verlaufe  seiner  Bahn  abwechselnd  von  der  unteren, 
mutmafslich  auch  spiegelartig  gedachten  Seite  der  Erde, 
vom  Monde,  der  Sonne,  den  Planeten  und  dem  Fixstem- 
himmel  beleuchtet.  Da  sie  ausdrücklich  als  Gegenstück  der 
Erde  bezeichnet  wird,  haben  sie  gewifs  auch  sie  als  auf 
ihrer  dem  Fixstemhimmel  zugekehrten  Seite  bewohnt  ge- 
dacht, vielleicht  auch  ähnlich  wie  beim  Monde  über  die 
Beschaifenheit    der   Organismen   auf  ihr   spekuliert.     Ent- 


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m.  5.  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.   165 

sprechend  der  Kürze  ihres  Abstandes  müssen  sie  auch  ihren 
Kreislauf  kürzer  dauernd  gedacht  haben  als  den  der  Erde. 
Soweit  also  Tag  und  Nacht  von  dem  der  Sonne  zurück- 
gestrahlten Lichte  abhängig  sind,  murste  beides  dort  erheblich 
kurzer  angenommen  werden  als  auf  der  Erde,  doch  mochten 
sie  dagegen  die  untere  Seite  der  Erde  als  leuchtenden 
Körper  für' die  Gegenerde  in  Anschlag  bringen. 

Die  Erde  ist  ebenfalls  auf  ihrer  unteren,  der  Weltmitte 
zugewandten  Seite  ewig  vom  Zentralfeuer  bestrahlt.  Ihre 
nach  aufsen  gewandte,  bewohnte  Seite  empfängt  ihr  Licht 
nach  Mafsgabe  des  24stündigen  Umlaufs  abwechselnd  vom 
Monde  nebst  Planeten  und  Fixsternen  und  der  Sonne.  Wes- 
halb wir  die  innere  Seite  der  Welt  niemals  zu  Gesichte  be- 
kommen, wird  von  „Philolaos"  (D.  377)  ausdrücklich  an- 
gemerkt. 

Der  Mond  vollendet  seine  Bahn  um  das  Zentralfeuer, 
entsprechend  seinem  gröfseren  Abstände,  in  30  Tagen.  Seine 
untere,  uns  zugekehrte  Seite  ist  ewig  vom  Zentralfeuer  be- 
strahlt. Wie  sie  dabei  die  Mondphasen  erklärten,  ist  un- 
bekannt. Sie  wird  zwar  als  spiegelartig  bezeichnet,  wurde 
aber,  entsprechend  dem  schwächeren  Lichte,  mehr  nach  Art 
der  Erde  nur  unvollkommen  spiegelnd  gedacht.  Verfinstert 
wird  sie  durch  das  Vortreten  teils  der  Erde,  teils  der 
Gegenerde.  Seine  dem  Weltumfang  zugekehrte,  von  uns 
abgewandte  Seite  hat,  gemäfs  dem  Wechsel  zwischen  An- 
näherung an  die  für  ihre  längere  Kreisbahn  einen  längeren 
Zeitraum  gebrauchende  Sonne  und  der  Abkehr  von  der- 
selben, 15  Tage  Tag  und  15  Tage  Nacht.  Damit  steht  im 
Einklang  die  Beschaffenheit  ihrer  Organismen. 

Die  Sonne  kreist  im  Laufe  eines  Jahres  um  das  Zentral- 
feuer. Ihre  der  Weltmitte  zugekehrte  Seite  ist  ein  glatter, 
polierter  Spiegel,  der  deshalb  Licht  und  Wärme  des  Zentral- 
feuers mit  gröfster Vollkommenheit  zurückstrahlt.  Sogar  in  der 
Nacht,  wenn  die  Erde  auf  ihrem  täglichen  Kreislaufe  sich  von 
ihr  entfernt  hat,  nehmen  wir  den  Reflex  dieser  bestrahlten 
Hälfte  der  Sonnenoberfläche  am  Fixsterngewölbe  als  Milch- 
strafse  wahr.  Die  Sonnenfinsternisse  erklärten  sie  nach  einer 
vielleicht  auf  Theophrast  zurückgehenden  Nachricht  (D.  354) 


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166  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  ßruch  mit  dem  Hylopsychismas. 

durch  das  Dazwischentreten  des  Mondes  zwischen  die  Sonne 
und  die  zentrale  Lichtquelle.  Freilich  hätten  sie  auch  bei 
der  Sonne  wie  beim  Monde  Verfinsterungen  durch  den  Vor- 
tritt der  Erde  und  Gegenerde  annehmen  mOssen.  Wie  sie 
sich  die  dem  Weltumkreis  zugewandte  Seite  der  Sonne  ge- 
dacht haben,  wird  nicht  tiberliefert.  Jedenfalls  konnte  die- 
selbe nur  das  reflektierte  Licht  der  vom  Zentralfeuer  noch 
weiter  abliegenden  Planeten  und  des  Fixsternhimmels  em- 
pfangen. Ob  sie  sich  daher  diese  Seite  der  Sonne  bewohnt 
gedacht  haben,  ist  zweifelhaft,  da  sie  hier  bei  der  gröfseren 
Entfernung  von  der  Weltmitte  und  dem  alleinigen  An- 
gewiesensein auf  die  Reflexe  der  vom  Zentralfeuer  ent- 
fernteren Planeten  nur  eine  kümmerliche  Licht-  und  Wärme- 
entwicklung annehmen  konnten.  Doch  gilt  vielleicht,  was- 
nachher  ttber  die  Planeten  zu  berichten  ist,  auch  für  die 
Sonne. 

Über  die  Umlaufszeiten  der  fttnf  übrigen  Planeten  wird 
nichts  berichtet,  doch  werden  sie  dieselben,  entsprechend 
den  stets  wachsenden  Abständen  vom  Zentralfeuer,  fort- 
schreitend länger  angesetzt  haben.  Die  Erde  braucht  24 
Stunden,  der  Mond  30  Tage,  die  Sonne  ein  Jahr,  und  so- 
werden  sie  weitergerechnet  haben.  Es  mufs  hier  noch  auf 
einen  weiteren  grofsen  Gegensatz  gegen  das  System  der 
Sphärenharmonie  aufmerksam  gemacht  werden.  Bei  dieser 
wurde  nach  dem  ausdrücklichen  Zeugnis  des  SimpUcius 
die  Umlaufszeit  sämtlicher  Planeten  um  die  Erde  =  24 
Stunden  gesetzt.  Dadurch  wurde  erreicht,  dafs  mit  dem 
Wachsen  der  Abstände  von  der  Erde  die  Geschwindigkeiten 
sehr  verschieden  angenommen  werden  konnten.  Es  mufsten 
eben  die  himmlischen  Körper  sehr  ungleiche  Bahnen  in  der 
gleichen  Zeitdauer  zurücklegen.  Diese  Verschiedenheit  der 
Geschwindigkeiten  war  für  dies  System  notwendig,  um  die 
Hervorbringung  der  verschiedenen  Töne  der  Tonleiter  glaub- 
lich zu  machen.  Jetzt  aber,  beim  Umlauf  um  das  Zentral- 
feuer, werden  auf  Grund  sicherer  Beobachtungen  wenigstens 
hinsichtlich  der  Erde,  des  Mondes  und  der  Sonne  die  Um- 
laufszeiten verschieden  gesetzt;  es  war  also  kein  Grund 
mehr  vorhanden,  auch  die  Geschwindigkeiten  verschieden  zu 


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m.  5.  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  167 

setzen.  Wie  es  scheint,  werden  jetzt  die  sehr  ungleichen 
Bahnen  bei  gleicher  Geschwindigkeit  in  sehr  ungleichen 
Umlaufszeiten  zurückgelegt. 

Über  die  sonstige  Beschaffenheit  dieser  Planeten  im 
engeren  Sinne  findet  sich  noch  eine  Angabe  (D.  343,  624). 
Der  Ausdruck  ist  nicht  ganz  klar,  doch  ist  der  Sinn  un- 
zweifelhaft der,  dafs  die  Pythagoreer  jedes  der  Gestirne  für 
eine  Welt  gleich  der  Erde,  umgeben  von  Luft,  gehalten 
h&tten.  Danach  hätten  sie  also  die  Analogie  des  Mondes 
mit  der  Erde  auch  auf  diese  fünf  Himmelskörper  erstreckt. 
Wollten  wir  diese  Analogie  ins  einzelne  verfolgen,  so  müfsten 
wir  annehmen,  dafs  auch  bei  diesen  Körpern  die  dem  Um- 
fang zugekehrte  Seite  bewohnt  gedacht  worden  sei,  er- 
leuchtet und  erwärmt  von  dem  Reflex  des  Zentralfeuers  auf 
der  unteren  Seite  der  nächstferneren  Körper.  Doch  ist  es 
beim  Fehlen  weiterer  Nachrichten  müfsig,  diese  Analogie 
weiter  zu  verfolgen.  Vielleicht  haben  sie  sich  diese  Ver- 
hältnisse ganz  anders,  vielleicht  überhaupt  nicht  im  einzelnen 
ausgemalt. 

Die  zehnte  Sphäre  ist  die  Fixsternsphäre,  deren  Körper 
natürlich  ihr  Licht  ebenfalls  vom  Zentralfeuer  empfangen. 
Ob  sie  auch  diese  bewegt  dachten,  ist  unbekannt.  Wenn 
dies  der  Fall  war,  mufsten  sie  ihr  bei  dem  grofsen  Abstände 
von  der  Weltmitte  auch  bei  gleicher  Geschwindigkeit  mit 
den  neun  übrigen  Körpern  oder  Sphären  eine  sehr  lang- 
dauernde  Umlaufszeit  zuschreiben.  Doch  lag  in  dem  ihre 
Weltvorstellung  beherrschenden  Prinzip,  der  Zehnzahl  der 
Sphären,  kein  Grund,  ihnen  allen  eine  Bewegung  beizu- 
legen. Es  kam  nur  darauf  an,  dafs  die  Zehnzahl  nach- 
gewiesen wurde. 

Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dafs  bei  diesem  neuen 
Weltsystem  das  Tönen  der  Himmelskörper  beibehalten  wurde. 
Dazu  ist  der  Unterschied  zu  einschneidend.  Zunächst  ist 
das  die  dichtende  Einbildungskraft  leitende  Interesse  ein 
ganz  anderes  geworden.  Es  handelt  sich  darum,  die  Zehn- 
zah]  als  die  »Zahl  der  Welt**  nachzuweisen,  sowie  um  den 
Gedanken  der  Weltmitte,  die  früher  als  die  Stätte  der  Un- 
vollkommenheit  gegolten  hatte,  als  des  bedeutsamsten  und 


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168  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

bevorzugtesten  Teils  der  Welt.  Ferner  hatte  sich  die  Zahl 
der  beweglichen  Himmelskörper  auf  mindestens  neun  ver- 
mehrt, und  es  hätte  folgerichtig  auch  der  Erde  und  Gegen- 
erde ein  Ton  beigelegt  werden  müssen.  Endlich  aber  war, 
wie  schon  bemerkt  —  und  das  ist  das  Entscheidende  — , 
der  eigentliche  Grund  für  die  Verschiedenheit  der  Töne,  die 
Verschiedenheit  der  Umlaufs  ge seh  windigkeiten,  in 
Wegfall  gekommen  und  durch  die  Verschiedenheit  der  Um- 
laufszeiten  ersetzt  worden.  In  der  Tat  findet  sich  auch 
aufser  der  Schrift  des  Aristoteles  vom  Himmel  und  deren 
Erklärer  Simplcius  nur  an  ganz  wenigen  Stellen  (Cic.  Samr. 
Scip.  Hippel.  D.  55)  die  Sphärenharmonie  erwähnt,  und 
selbst  in  den  erhaltenen  Bruchstücken  des  falschen  Philolaos, 
der  doch  sonst  ein  Meister  im  Zusammenarbeiten  des  Nicht- 
zusammenstimmenden  ist,  und  der  ausführlich  von  der  Ton- 
leiter und  dem  Bau  der  Welt  handelt,  zeigt  sich  keine  Spur 
derselben.  Erst  noch  Spätere  scheinen  diese  Lehre  wieder 
aufgefrischt  und  mit  den  veränderten  Weltvorstellungen  in 
Einklang  gebracht  zu  haben. 

Wohl  aber  haben  sie  mit  diesem  dekadischen  Weltbilde 
die  Bezeichnung  der  Begriffe  durch  Zahlen,  von  der  oben 
die  Rede  war,  in  Verbindung  gebracht.  Die  zehn  konzen- 
trischen Weltsphären  konnten  durch  die  Zahlen  von  eins 
bis  zehn  bezeichnet  worden,  und  da  lag  es  nahe,  diejenigen 
Begriffe,  die  durch  die  gleiche  Zahl  bezeichnet  wurden,  in 
die  entsprechende  Weltsphäre  zu  verlegen.  In  der  Tat  be- 
richtet denn  auch  Aristoteles,  dafs  sie  Meinung,  rechte  Zeit, 
Ungerechtigkeit,  Scheidung  und  Mischung  eben  wegen  dieser 
zahlenmäfsigen  Übereinstimmung  an  bestimmte  Teile  des 
Weltgebäudes  verlegt  hätten  (990,  23).  Nähere  Angaben 
macht  er  darüber  nicht.  Vermuten  läfst  sich,  dafs  z.  B. 
die  Meinung,  der  die  Zahl  2  entspricht,  der  Erdregion  zu- 
gewiesen wurde. 

Dieses  phantastische  Weltbild  des  Hauptsystems  hat  zu- 
erst den  kühnen  Gedanken  gefafst,  die  Erde  aus  ihrer  Ruhe- 
lage in  der  Mitte  der  Welt  zu  entfernen  und  als  Planeten 
in  Umlauf  zu  setzen.  Es  hat  femer  den  Ausgangspunkt 
gebildet   für   mehrere   sehr  merkwürdige  Verbesserungsver- 


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III.   5.  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  169 

suche.    Nach  einer  von  Cicero  (Aead.  II.  123)  unter  Be- 
rufung auf  Theophrast    überlieferten  Angabe    liefs   der 
Pythagoreer  Hiketas  von  Syrakus  sämtliche  Himmelskörper 
stillstehen  und  nur  die  Erde  sich  um  ihre  Achse  drehen. 
Wie    dadurch    die    Himmelserscheinungen    erklärt    werden 
konnten,  ist  schwer  zu  begreifen;  noch  unbegreiflicher  aber 
ist  die  Angabe,  er  habe  auch  die  Lehre  von  der  Gegenerde 
aufrechterhalten   (D.  376).     Andere   Nachrichten   schreiben 
die  Achsendrehung  der  Erde  dem  Pythagoreer  Ekphantos, 
ebenfalls  aus  Syrakus,  zu.    Derselbe  wird  auch   sonst  als 
Umgestalter  der  pythagoreischen  Naturlehre  angeführt.    An 
Stelle  der  begrenzten  Raumatome   soll  er  —  offenbar  unter 
dem  Einflüsse  des  leukippisch-demokritischen  Atomismus  — 
körperlich   ausgedehnte   Atome,    wirkliche   Körper    gesetzt 
haben.    Doch  habe  er  die  Entstehung  der  Welt  aus  den- 
selben nicht  dem  Zufall,  sondern  einer  in  der  Welt  wirk- 
samen   göttlichen   Zwecktätigkeit   zugeschrieben    und    dem- 
entsprechend statt  der  Vielheit  der  Welten  nur  eine  Welt 
behauptet  (D.  286,  566,  327,  330,  378;  Gas.  praep.  er.  XV. 
58).     Wesentlich   dieselben    Lehren    wie    dem   Ekphantos 
werden  auch  dem  Heraklides   aus  Pontes  beigelegt. 
Dieser   war  geboren  um  395  (Z.  IL  1 ,  842).    Er  war  ein 
Schüler  Piatos,  der  aber  vorher  mit  den  Pythagoreern   in 
Verbindung  gestanden  hatte  (D.  L.  V.  86;  Z.  843,  1).    Er 
war  ein  geistvoller,  aber  höchst  phantastischer  Denker,  dem 
unter  anderem  die  Behauptung  beigelegt  wird,  es  sei  einmal 
ein  Mensch  aus  dem  Monde  (den  er  also  bewohnt  dachte) 
herabgefallen  (D.  L.  VIII.   72).     Auch   er  soll  die  Atomen- 
lehre, und  zwar  wesentlich   mit   denselben  Veränderungen 
wie  Ekphantos,  vertreten  haben  (D.  252,  541).    Ebenso  die 
Achsendrehung  der  Erde  als  alleinige  Bewegung  unter  den 
Himmelskörpern  (D.  378;  Simpl.  zu  de  coelo  444,  519,  541). 
Es  besteht  die  Vermutung,  dafs  die  beiden  Pythagoreer  aus 
Syrakus,  Hiketas  und  Ekphantos,  über  deren  persönliche 
Verhältnisse  sonst  so  gar  nichts  verlautet,  weiter  nichts  waren 
als  Figuren  in  einem   Dialog  des  Heraklides,  in  dem  er 
zwei  Nuancen  einer  neuen  Weltauffassung  sich  auseinander- 
setzen liefs,  und  die  später  nur  mifsverständlich  als  geschicht- 


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170  Srste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsjchismas. 

liehe  Personen  gefafst  wurden.  In  diesem  Falle  hätte  er 
dann  den  Ekphantos  mutmafslich  zum  Träger  seiner  eigenen 
Ansicht  gemacht 

Noch  viel  merkwürdiger  ist  aber  eine  andere  Umge- 
staltung der  Zentralfeuerlehre,  die  freilich  erst  bedeutend 
später  auftrat.  Nach  D.  345  haben  „einige  der  Mathema- 
tiker" (d.  h.  der  Astronomen  von  Fach)  die  Sonne  in  den 
Mittelpunkt  der  Welt  gesetzt.  Nach  Plutarch  (fac.  lun.  6; 
Qu.  plat.  8;  D.  355)  war  der  erste  Vertreter  dieser  Lehre 
Aristarch  von  Samos  (um  280  vor  Chr.),  der  „Koper- 
nikus  des  Altertums",  der  die  Sonne  als  Fixstern  bezeichnete 
und  die  Erde  um  dieselbe  kreisen  liefs.  Mutmafslich  setzte 
Aristarch  die  Sonne  an  Stelle  des  Zentralfeuers.  Seine 
Lehre  wurde  später  (um  150  vor  Chr.)  durch  Seleukos 
von  Seleucia,  den  „Galilei  des  Altertums",  durch  wissen- 
schaftliche Gründe  gestützt  (Plut.  Qu.  plat.  8),  konnte  jedoch 
gegenüber  der  überwältigenden  Autorität  eines  Aristo- 
teles im  Altertum  nicht  durchdringen. 

Wie  nun  diese  Pythagoreer  bei  diesem  phantastischen, 
aber  doch  der  Grundrichtung  nach  ganz  naturwissenschaft- 
lich gedachten  Systeme  sich  zum  Götter-  und  Seelenglauben 
gestellt  haben,  darüber  fehlt  es  ganz  an  sicheren  Nach- 
richten. Die  hohlen  Tiraden  des  falschen  Philolaos,  der  dem 
Pythagoreismus  einen  weltbildenden  Gott  andichtet  und  in 
gespreizten  Phrasen  die  geheimen  Kräfte  der  Zahlen  ver- 
herrlicht, können  als  Zeugnis  hierfür  nicht  in  Betracht 
kommen.  Ein  merkwürdiges  Zeugnis  über  eine  angeblich 
von  ihnen  aufgestellte  Lehre  vom  höchsten  Gut,  aus  der 
sich  wenigstens  über  ihre  Stellung  zur  Lehre  von  der 
Seelen  Wanderung  und  Seelenerlösung  etwas  vermuten  läfst, 
findet  sich  in  einem  alten  Verzeichnis  der  „Lebensziele" 
verschiedener  Philosophen  und  Schulen  bei  Clemens  von 
Alexandria,  aus  dem  auch  die  betreffende  Nachricht 
über  Heraklit  stammt.  Wenn  wir  den  verdorbenen  Text 
dieser  Angabe  aus  Theodoret,  einem  Kirchenschriftsteller 
des  5.  Jahrhunderts,  der  aus  Clemens  geschöpft  hat,  be- 
richtigen, so  setzte  „Pythagoras"  das  „Lebensziel"  in  die 
„Erkenntnis   der   Vollkommenheit   der   Zahlen"    oder,    wie 


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lU.   5.  Hauptsystem  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.    171 

Theodore!  verflachend  angibt,  in  „die  vollkommenste  Er- 
kenntnis der  Zahlen".  Als  Gewährsmann  führt  Clemens 
Heraklides  Ponticus  an.  Vielleicht  kam  auch  diese 
Angabe,  wie  die  über  Pythagoras  als  den  Schöpfer  des  Aus- 
dmeks  „Philosoph"  in  dessen  Schrift  „Über  die  Scheintote" 
vor.  Doch  hatte  er  auch  eine  eigene  Schrift  über  die 
Pythagoreer  verfafst  (D.  L.  V.  88). 

Selbstverständlich  wird  hier  auch  diesen  alten  Denkern^ 
wie  dem  Heraklit,  in  durchaus  ungeschichtlieher  Weise  das 
Bestreben  beigelegt,  in  der  Kernfrage  der  späteren,  eigent- 
lichen Philosophie,  der  Frage  nach  dem  höchsten  Lebens- 
wert, eine  in  einer  festen  Formel  niedergelegte  Entscheidung 
zu  treffen.  Dieser  ganze  Gedankenkreis  lag  ihnen  unzweifel- 
haft noch  völlig  fem. 

Es  bleibt  aber  nach  Beseitigung  dieser  entstellenden 
Verhüllung  als  geschichtlicher  Kern  ein  bemerkenswertes 
Zeugnis  über  die  Gesinnung  und  Lebensauffassung  dieser 
inssenschaftlichen  Pythagoreer  übrig.  Es  mochten  sich 
mündliche  Äufserungen  ihrer  Überzeugung,  die  ihre  Lehr- 
tätigkeit durchzogen,  durch  Überlieferung  erhalten  haben 
und  vielleicht  später  auch  schriftlich  fixiert  worden  sein^ 
nach  denen  sie  in  der  begeisterten  Durchforschung  der  Welt 
an  der  Hand  ihres  Zahlenprinzips  persönlich  die  höchste 
Befriedigung,  eine  wahre  Seligkeit  empfanden.  Indem  ihnen 
alle  Erscheinungen  des  Natur-  und  des  Geisteslebens  immer 
neue  Bestätigungen  für  die  vermeintliche  Erkenntnis  lieferten^ 
dafs  in  der  Zahl  der  wahre  Schlüssel  für  alle  Geheimnisse 
der  Natur  und  der  sittlichen  Welt  in  die  Hand  gegeben  sei,, 
berauschten  sie  sich  in  dieser  ins  Endlose  fortschreitenden 
Erkenntnis  der  ,^ Vollkommenheit  der  Zahlen"  und  fanden 
in  diesem  Phantasiedenken  individuell  ihr  höchstes  Lebens- 
glfick. 

Ziehen  wir  nun  aber  weiterhin  das  Besondere  dieser 
Formulierung,  die  Bezugnahme  auf  die  Zahl,  von  ihr  ab, 
so  erübrigt  ein  Zeugnis  für  eine  Weise  der  höchsten  Lebens- 
befriedigung,  die  von  allgemeingültiger  Bedeutung  für  alle 
Zeiten  ist,  wenigstens  für  den  kleinen,  aber  in  der  Kultur- 
welt sich  immer  neu  rekrutierenden  Kreis  der  Forscher  und 


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172  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Denker  von  Gottes  Gnaden.  Ihnen  ist  das  schöpferische 
Forschen  und  Denken  selbst,  wie  es  von  Erfolg  zu  Erfolg, 
von  Einsicht  zu  Einsicht  fortschreitet,  wie  die  höchste 
Lebensbetätigung,  so  auch  die  höchste  Lebensbefriedigung. 
Was  diese  alten  Pythagoreer  für  sich  bezeugten,  das  hätte 
mutmafslich  auch  in  unserem  Jahrhundert  noch  ein  Alexander 
von  Humboldt  oder  Helmholtz  für  sich  bezeugen  können. 

Es  liegt  aber  femer  in  dieser  Formel  auch  noch  ein 
Zeugnis  für  die  Stellungnahme  dieser  wissenschaftlichen 
Pythagoreer  zu  dem  ursprünglichen  beherrschenden  Interesse 
der  pythagoreischen  Ordenslehre.  Die  Rettung  der  Seele 
aus  den  Banden  der  Körperlichkeit  war  offenbar  für  sie 
nicht  mehr  die  oberste,  beherrschende  Angelegenheit.  Viel- 
leicht blickten  sie  mit  einem  überlegenen  oder  mitleidigen 
Lächeln  von  der  Höhe  ihrer  wissenschaftlichen  Weltanschauung 
aus  auf  diesen  alten  Aberglauben  herab,  mit  dem  sie  längst 
gebrochen  hatten ,  der  sie  wenigstens  nicht  mehr  ängstigte ; 
vielleicht  liefsen  sie  diese  alten  Probleme  dies  Ordensfana- 
tismus achselzuckend  kühl  und  unbeachtet  im  Winkel  stehen. 
Wir  werden  bald  auf  ähnliche  Erscheinungen  aus  einer  nur 
wenig  jüngeren  Zeit  treffen;  danach  kann  dies  nicht  un- 
glaublich erscheinen.  Eine  gewisse  Bestätigung  erhält  sie 
dadurch,  dafs  der  Musikforscher  Aristoxenos,  wie  es 
scheint,  auf  das  ausdrückliche  Zeugnis  der  „letzten  Pytha- 
goreer" hin  (Gell.  N.  A.  IV.  11),  deren  Schüler  er  gewesen 
war,  sogar  Pythagoras  selbst  von  den  auf  der  Seelen- 
wanderung beruhenden  Speiseverboten  zu  entlasten  bemüht 
ist.  Er  habe  als  Nahrungsmittel  nur  den  Pflugstier  und 
den  Widder,  also  zwei  besonders  nützliche  Haustiere,  ver- 
boten (D.  L.  VIII.  20;  Athen.  X.  418),  habe  sich  durchaus 
nicht  der  Bohnen  enthalten,  im  Gegenteil  diese  als  ein  be- 
sonders gesundes  Gemüse  allen  anderen  vorgezogen,  habe 
Ferkel  und  junge  Böcklein  wohl  zu  schätzen  gewufst  (Gell, 
obige  Stelle).  Wir  erkennen  hier  deutlich  die  pythagoreischen 
Freidenker,  bei  denen  der  wissenschaftliche  Geist  und  das 
wissenschaftliche  Interesse  den  alten  Wust  längst  hinweg- 
gefegt haben,  und  die  nun  auch  auf  dem  alten  Meister  selbst 
derartige  Lächerlichkeiten   nicht  sitzen  lassen  wollen.     Es 


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in.   6.  Zeno  von  Elea.  173 

hängen  aber  diese  .Speiseverbote ,  wie  wir  gesehen  haben, 
aufs  engste  mit  der  Seelenwanderungslehre  zusammen.  Da- 
her ist  die  Freigeisterei  in  bezug  auf  jene  ein  deutlicher 
Beweis  der  freien  Stellung  auch  in  bezug  auf  diese.  War 
aber  einmal  das  leitende  Interesse  des  Ordens  geschwunden, 
so  ist  es  nicht  zu  verwundem,  dafs  in  diesen  Forscherkreisen 
eine  Lebensanschauung  wie  die  von  Clemens  bezeichnete 
Platz  griff.  Es  ist  unbedingt  berechtigt,  sie  den  „letzten 
Pythagoreem"  zuzusprechen;  vielleicht  aber  hatte  sie  auch 
schon  vorher  bei  den  Vertretern  des  pythagoreischen  Haupt- 
systems Platz  gegriflFen. 

6.   Die  Verteidlfirung:  der  eleatischen  Theorie,  ins- 
besondere auch  gegen  das  pythagroreische  Haupt- 
system.    Zeno  von  Elea.    (Um  470.) 

Zeno  von  Elea  ist  Schüler  des  Parmenides.  Er 
verteidigte  nach  dem  Zeugnisse  Pia  tos  in  seiner  Haupt- 
schrift die  Lehre  des  Parmenides  durch  ein  indirektes  Ver- 
fahren, indem  er  zeigte,  dafs  aus  der  gewöhnlichen  Ansicht 
der  Dinge  sich  noch  viel  ungereimtere  Folgerungen  ergäben 
als  aus  den  paradoxen  Behauptungen  seines  Lehrers  (Pannen. 
128  C).  Plato  läfst  ihn  gleichzeitig  mit  Parmenides  als 
Vierzigjährigen  mit  dem  jungen  Sokrates  zusammentreflFen 
(Pannen.  127  B  C).  Danach  müfste  er  nach  dem  bei  Par- 
menides Bemerkten  um  490  geboren  sein.  Es  gilt  aber  für 
diese  Angabe  dasselbe  wie  für  die  auf  Parmenides  bezüg- 
liche. Höchstens  kann  der  von  Plato  angegebene  Alters- 
unterschied von  25  Jahren  zwischen  beiden  als  ein  geschicht- 
liches Zeugnis  gelten.  Dann  müfste  Zeno  um  510  geboren 
sein,  was  auch  zu  den  sonstigen  Nachrichten  ziemlich  stimmt 
(Z.  585,  1).  Seltsam  mutet  an  dieser  Platostelle  die  Notiz 
an,  man  sage,  dafs  Zeno  (in  jüngeren  Jahren)  der  „Geliebte'' 
des  Parmenides  gewesen  sei.  Seltsam  insbesondere  auch 
deshalb,  weil  Plato  diese  Angabe  ohne  ein  Wort  des 
Zweifels  oder  der  Mifsbilligung  passieren  läfst  (vergl.  D.  L. 
IX.  25). 

Die  hier  in  Betracht  kommende  Hauptschrift  war,  wie 


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174  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

€S  scheint,  unter  verschiedenen  Titeln  bekannt  (Z.  587). 
Vielleicht  waren  einige  dieser  Titel  nur  Teiltitel  für  gröfsere 
Abschnitte  der  Schrift.  Der  merkwürdigste  darunter  ist: 
„Wider  die  Philosophen".  Vielleicht  bezog  sich  dieser  Titel 
nur  auf  diejenigen  Abschnitte,  die  —  wie  wir  sehen  werden 
—  gegen  die  Seinslehre  des  pythagoreischen  Hauptsystems 
gerichtet  waren.  Auch  wenn  Zeno  selbst  ihn  nicht  gebraucht 
hat,  mufs  doch  im  Inhalt  ein  Anlafs  zu  ihm  vorhanden  ge- 
wesen sein.  Nach  dem  bereits  bei  Pythagoras  darüber  Aus- 
geführten ist  schon  dieser  Titel  ein  Beweis  einesteils,  dafs 
sich  die  alten  Pythagoreer  Weisheitstrebende  nannten, 
andernteils,  dafs  seine  Polemik  sich  gegen   diese  richtete. 

Wenn  Plato  (Parmen.  128  D  E)  den  vierzigjährigen 
Zeno  sagen  läfst,  er  habe  sie  bereits  in  jüngeren  Jahren 
geschrieben  und  veröffentlicht,  so  wird  damit  wohl  nur  der 
Zweck  verfolgt,  die  tatsächlich  der  Zeit  des  erdichteten 
Zusammentreffens  voranliegende  Abfassung  mit  diesem  in 
Einklang  zu  bringen.  In  Wirklichkeit  knüpft  die  Schrift 
gewifs  auch  der  Zeit  nach  an  das  pythagoreische  Haupt- 
system an.  Sie  war  in  Prosa  geschrieben  und  zerfiel,  ent- 
sprechend den  verschiedenen  Beweisführungen,  in  eine  Anzahl 
von  Abschnitten  (Parmen.  127  E).  Ziemlich  genaue  Angaben 
über  den  Verlauf  der  Beweise  finden  sich  teils  bei  Aristo- 
teles, teils  bei  dessen  Erklärern,  besonders  bei  Sim- 
plicius. 

Von  den  acht  Beweisen  Zenos  richten  sich  die  ersten 
drei  gegen  die  Grundvoraussetzungen  der  Pythagoreer;  der 
vierte  nimmt  eine  Sonderstellung  ein;  in  den  vier  letzten 
wird  die  Leugnung  der  Bewegung  durch  Parmenides  indirekt 
gerechtfertigt. 

1.  Die  erste  Grundvoraussetzung  der  Pythagoreer  war 
der  unendlich  leere  Raum  aufserhalb  der  Welt. 
Zeno  soll  nun  folgendermafsen  argumentiert  haben  (die 
Zeugnisse  bei  Z.  596,  1) :  Wenn  der  Raum  etwas  Wirkliches 
ist,  mufs  er  wieder  in  einem  Räume  sein ;  desgleichen  wieder 
dieser,  und  so  fort  ins  Unendliche.  Dies  ist  absurd;  also 
gibt  es  keinen  Raum.  Diese  Argumentation  ist  von  der 
Annahme   der  Unendlichkeit  des  Raumes  aus  unzutreffend. 


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m.  6.  Zeno  von  Elea.  175 

Zeno  mufs  dabei  den  Satz  des  Parmenides  zu  Grunde  gelegt 
haben,  dafs  alles  Wirkliche  begrenzt  sei,  also  auch  der 
Raum,  wenn  wirklich.  Übrigens  ist  seine  Argumentation 
nicht  gegen  den  Raum  überhaupt,  die  Raumvorstellung  an 
sich  und  im  weitesten  Sinne,  auch  nicht  gegen  das  von  den 
Pythagoreem  angenommene  Leere  innerhalb  der  Welt,  son- 
dern lediglich  gegen  das  Leere  aufserhalb  der  Welt  ge- 
richtet. An  das  Rätsel  des  Raumes  überhaupt  rührt  er 
noch  nicht 

2.  Die  Eins  als  begrenzter  Raumteil.  Die 
Zeugnisse  über  den  hierhergehörigen  Beweis  (Z.  591  flf.) 
ergeben  zunächst,  dafs  die  Argumentation  ausdrücklich  gegen 
die  Eins  gerichtet  war  —  ein  Beweis,  dafs  er  das  pytha- 
goreische Hauptsystem  im  Auge  hat,  und  zwar  gegen  die 
Eins  als  räumlich  ausgedehnt,  ein  neuer  Beweis,  dafs  dies 
wirklich  die  Meinung  dieses  Systems  war.  Sein  Beweis 
selbst  besteht  in  folgendem :  Wenn  es  eine  solche  räumliche 
Eins  gibt,  so  murs  sie  entweder  als  unteilbar  oder  als 
teilbar  gedacht  werden.  Wenn  als  unteilbar,  so  kann  dies 
nur  geschehen,  indem  sie  als  unausgedehnt  gedacht  wird. 
Das  Unausgedehnte  ist  aber  punktuell,  d.  h.  als  Raurateil 
ist  es  gleich  dem  Nichts.  Aus  solchen  unausgedehnten 
Einsen  kann  keine  Raumgröfse  werden,  mögen  noch  so  viele 
zusammengehäuft  werden.  Zeno  drückte  dies  so  aus:  Was, 
zu  einem  anderen  hinzugefügt  oder  von  ihm  weggenommen, 
das  andere  weder  gröfser  noch  kleiner  macht,  gehört  nicht 
zu  dem  Seienden.  Wird  dagegen  die  räumliche  Eins  (wie 
tatsächlich  die  Pythagoreer  taten)  als  teilbar  (d.  h.  als  aus- 
gedehnt) angenommen,  so  ist  sie  zunächst  nicht  mehr  ein- 
heitlich, weil  sie  aus  einer  Mehrheit  von  Teilen  besteht, 
Ferner  aber  mufs  sie  alsdann  als  unendlich  grofs  gedacht 
werden.  Es  mufs  nämlich  jeder  Teil  wieder  eine  Gröfse 
haben  und  mufs  auch  von  den  anderen  Teilen  getrennt  sein. 
Dieses  Trennende  mufs  aber  ebenfalls  etwas  Seiendes  sein. 
Hier  liegt  wieder  stillschweigend  eine  parmenideische  Voraus- 
setzung zu  Grunde:  das  Leere  ist  das  Nichtseiende.  Als 
solches  kann  es  die  Teile  nicht  sondern.  Dazu  bedarf  es 
eines  Seienden.    Dieses  trennende  Seiende  mufs  aber  (eben 


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176  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

als  Seiendes)  ebenfalls  wieder  Gröfse  haben,  also  teilbar 
sein.  Dann  tritt  dieselbe  Argumentation  von  neuem  ein, 
und  so  fort  ins  Unendliche,  und  es  folgt,  dafs  die  räumlich 
ausgedehnte  Eins  unendlich  grofs  gedacht  werden  mufs. 
Das  ausgedehnt  gedachte  Raumatom  der  Pythagoreer  mufs 
als  unendlich  ausgedehnt  gedacht  werden. 

3.  Vielheit  solcher  Raumeinheiten.  Wird  eine 
Mehrheit  solcher  Raumatome  (die  Zahlen  als  Stoff  der  Welt 
nach  der  Lehre  der  Pythagoreer)  angenommen,  so  ergibt 
sich,  dafs  diese  Vielheit  ebensowohl  begrenzt  als  unbegrenzt, 
endlich  und  zugleich  unendlich  gedacht  werden  mufs.  Be- 
grenzt, denn  es  sind  dieser  Raumeinheiten  so  viele,  als  es 
sind.  Unbegrenzt:  denn  auch  hier  mufs  zwischen  je  zwei 
Einheiten  ein  Trennendes  sein.  Dies  kann  aber  auch  hier 
nicht  (wie  die  Pythagoreer  wollen)  das  Leere  sein ;  es  mufs 
etwas  Seiendes  sein.  Zwischen  diesem  Seienden  und  den 
beiden  ursprünglichen  Einheiten,  zwischen  denen  es  ein- 
geschoben ist,  mufs  aber  ebenso  wieder  behufs  Trennung 
ein  Seiendes  existieren.  Und  so  geht  es  fort  ins  Unendliche. 
Wenn  auch  nur  zwei  gesonderte  Einheiten  angenommen 
werden,  so  folgt,  dafs  die  Zahl  der  Einheiten  notwendig 
unendlich  grofs  gedacht  werden  mufs  (Z.  594,  1). 

Es  ergibt  sich  a,us  diesen  drei  ersten  Beweisen,  dafs 
Zeno  die  Grundvoraussetzungen  des  pythagoreischen  Systems, 
das  unendliche  Leere  und  die  Raumeinheiten,  nicht  eigent- 
lich auf  dessen  eigenem  Boden  widerlegt,  sondern  dafs  er 
eigensinnig  die  parmenideische  Anschauung  vom  Nichtsein 
des  Leeren,  von  der  Begrenztheit  des  Wirklichen  und  von 
der  nur  durch  ein  Seiendes  möglichen  Trennung  hinein- 
mengt. Nur  unter  dieser  Voraussetzung  sind  seine  Beweise 
gegen  den  Raum,  das  Raumatom  und  die  Vielheit  zutreffend. 
Nur  mit  den  Einwänden  gegen  die  Eins  hat  er  in  etwa 
den  wunden  Punkt  jeder  Atomtheorie  getroffen,  obwohl  er 
auch  hier  das  trennende  Seiende  einmengt;  die  Eins  als 
unausgedehnt  ist  =  nichts,  als  ausgedehnt  ist  sie  keine 
wahre  Einheit  und  bleibt  ins  Unendliche  teilbar. 

So  haben  wir  also  hier  das  ergötzliche  Schauspiel,  dafs 
die  beiden  Systeme  der  Welt-  und  Naturleugner  einander 


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III.  6.  Zeno  von  Elea.  177 

in  die  Haare  geraten  und  das  eine  von  den  unmöglichen 
Voraussetzungen  des  anderen  aus  vernichtet  wird. 

4.  Von  dem  nun  folgenden  Argument  (Z.  596,  2)  ist 
nicht  sicher,  ob  es  in  dem  Buche  Zenos  gestanden  hat. 
Auch  ist  nicht  recht  deutlich,  gegen  welche  Lehre  seine 
Spitze  sich  richtet.  Dagegen  ist  bei  ihm  die  ursprüngliche 
Form  der  Frage  und  Antwort  noch  ziemlich  erhalten.  Es 
wird  folgendermafsen  gelautet  haben:  Wenn  ein  Scheffel 
Hirse  ausgeschüttet  wird,  gibt  es  ein  Gerftusch?  —  Ja.  — 
Wenn  ein  einzelnes  Hirsenkorn  oder  gar  der  10000.  Teil 
eines  solchen  fällt,  gibt  es  ein  Geräusch?  —  Nein.  —  Gibt 
es  zwischen  dem  Scheffel  und  dem  einzelnen  Korn  oder 
seinem  10000.  Teile  ein  Gröfsenverhftltnis  ?  —  Ja.  —  Mufs 
diesem  nicht  auch  ein  Verhältnis  des  in  beiden  Fällen  hervor- 
gebrachten Geräusches  entsprechen?  Die  hier  unausweich- 
liche Folgerung,  dafs  der  10000.  Teil  eines  Hirsenkomes 
ein  Geräusch  hervorbringen  könne,  ist  nach  der  Meinung 
Zenos  eine  Absurdität;  tatsächlich  ist  sie  eine  ganz  unan- 
stöfsige  naturwissenschaftliche  Wahrheit. 

Wir  kommen  zu  den  vier  Beweisen  gegen  die 
Bewegung  (die  Zeugnisse  bei  Z.  597  ff.). 

1.  Die  Bewegung  kann  nicht  einmal  anfangen. 
Ein  Körper,  der  eine  bestimmte  Bahn  durchmessen  soll, 
mufs,  ehe  er  am  Ziel  ankommt,  die  Hälfte  der  Bahn  durch- 
messen. Ehe  er  in  der  Mitte  des  Weges  ankommt,  mufs  er 
die  Hälfte  der  Hälfte,  also  das  erste  Viertel  der  Bahn, 
zurücklegen.  Ehe  er  diesen  Punkt  erreicht,  mufs  er  die 
Hälfte  des  ersten  Viertels  durchmessen,  und  so  fort  ins  Un- 
endliche, da  die  Teilbarkeit  der  Bahn  keine  Grenze  hat. 
Der  bewegte  Körper  müfs,  um  vom  Anfangspunkte  der  Bahn 
zu  irgend  einem  Punkte  zu  gelangen,  unendlich  viele  Räume 
durchmessen.  Diese  Unendlichkeit  von  Raumteilen  läfst 
sich  aber  in  endlicher  Zeit  nicht  durchlaufen.  Also  kann 
die  Bewegung  nicht  einmal  anfangen;  sie  ist  unmöglich. 

Der  Trugschlufs  beruht  hier,  wie  schon  Aristoteles 
(233,  21  flf.)  bemerkt,  auf  einer  Verwechslung  der  Teilbarkeit 
mit  der  Längenausdehnung.  Aus  der  unendlichen  Teilbarkeit 
der  Bahn  wird  verstohlen  ihre  unendliche  Länge  abgeleitet. 

D«rlBf.  I.  12 

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178  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  HylopsychisDius. 

2.  Der  schnellfüfsige  Achilleus  kana  die 
langsame  Schildkröte;  wenn  diese  einen  Vorsprung 
hat,  nicht  einholen.  Denn  während  er  diesen  Vorspruug 
durchläuft,  hat  die  Schildkröte  einen  neuen  Vorsprung  ge- 
wonnen; derselbe  ist  zwar  um  so  viel  mal  kleiner,  als 
Achilleus  schneller  läuft.  Während  Achilleus  diesen  kleineren 
Vorsprung  durchmifst,  hat  die  Schildkröte  einen  neuen,  wenn- 
gleich abermals  entsprechend  kleineren,  gewonnen.  Und  so 
fort  ins  Unendliche.  Die  Annahme  der  Bewegung  führt 
also  zu  einer  Absurdität.  Tatsächlich  liegt  hier  dieselbe 
Verwechslung  vor  wie  unter  1. 

3.  Der  fliegende  Pfeil  ruht.  Da  auch  die  Zeit 
unendlich  teilbar  ist,  befindet  sich  der  Pfeil  in  einem  ge- 
gebenen unendlich  kleinen  Zeitteile  an  einer  bestimmten 
Stelle.  Was  aber  in  einem  gegebenen  Zeitteile  sich  in 
einem  und  demselben  Räume  befindet,  ruht.  Also  führt  die 
Annahme  der  Bewegung  zur  Absurdität.  Bei  diesem  Argu- 
mente ist  das  ebenmäfsige  Fortschreiten  (die  Kontinuität)  der 
Bewegung  aufser  acht  gelassen.  Zeno  scheint  diesen  Beweis 
auch  noch  in  einer  etwas  anderen  Form  vorgetragen  zu 
haben.  „Was  sich  bewegt,  bewegt  sich  weder  an  der  Stelle, 
wo  es  ist ,  noch  an  der ,  wo  es  nicht  ist"  (D.  L.  IX.  72). 
Der  Sinn  dieser  Beweisführung  wird  deutlich,  wenn  wir  sie 
uns  in  Frageform  vorgetragen  denken:  Findet  die  Bewegung 
an  der  Stelle  statt,  wo  der  Gegenstand  ist?  Unmöglich, 
denn  das  Sein  an  einer  Stelle  schliefst  die  Fortbewegung 
aus?  Oder  an  der  Stelle,  wo  er  nicht  ist?  Vollends  un- 
möglich, da  er  sich  nicht  bewegen  kann,  wo  er  nicht  ist. 
Aufser  diesen  beiden  Fällen  ist  aber  ein  dritter  nicht  mög- 
lich, also  gibt  es  keine  Bewegung. 

4.  Das  vierte  Argument  hat  in  der  überlieferten 
Form  die  Schwierigkeit,  dafs  es  auf  einer  gar  zu  handgreif- 
lichen Täuschung  beruht,  wie  man  sie  Zeno  kaum  zutrauen 
darf.  In  einer  Bahn  befinden  sich  drei  gleichlange  Reihen 
von  Gegenständen  so  aufgestellt,  dafs  die  zweite  von  der 
Mitte  der  ersten  ebenso  weit  nach  links  reicht  wie  die 
dritte  nach  rechts.  Nun  bewegt  sich  die  zweite  und  dritte 
Reihe   mit    gleicher   Geschwindigkeit   in   entgegengesetzter 


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III.   6.  Zeno  von  £lea.  179 

Richtung  so  lange,  bis  beide  genau  die  Lage  der  ersten 
Reihe  erreicht  haben.  Bei  dieser  Bewegung  sind  aber  in 
der  gleichen  Zeit  sämtliche  Teile  der  beiden  bewegten 
Reihen  aneinander  vorübergekommen,  in  der  sie  nur  an  der 
H&lfte  der  Teile  der  ersten  (ruhenden)  Reihe  vortlber- 
gekommen  sind.  Darin  soll  aber  eine  Absurdität  liegen. 
Diese  soll  darin  bestehen,  dafs  die  beiden  in  entgegengesetzter 
Richtung  bewegten  Reihen,  um  aneinander  vorbeizukommen, 
nur  die  Hälfte  der  Zeit  brauchen,  die  erforderlich  ist,  um 
an  der  ruhenden  Reihe  vorbeizukommen.  Da  man  ein  so 
kindliches  Argument  Zeno  kaum  zutrauen  kann,  ist  viel- 
leicht an  der  Berichterstattung  etwas  nicht  in  Ordnung. 

Nach  Diogenes  Laertius  (VIII.  57,  IX.  25;  S.  Emp. 
Dogm.  I.  6  f.)  soll  Aristoteles  Zeno  den  Erfinder  der  Dia- 
lektik genannt  haben.  Dieses  Wort  kommt  schon  im  Alter- 
tum in  sehr  verschiedener  Bedeutung  vor.  Da  aber  hier 
der  Dialektik  ausdrücklich  die  Rhetorik,  d.  h.  die  Kunst 
der  ununterbrochenen,  zusammenhängenden  Rede  eines  Ein- 
^nen,  oder  genauer  die  Theorie  dieser  Kunst  gegen- 
übergestellt wird,  so  ergibt  sich,  dafs  Dialektik  hier 
im  ursprünglichen,  wörtlichen  Sinne  als  die  Kunst  der 
wissenschaftlichen  Wechselrede  zwischen  mehreren  gemeint 
ist,  und  zwar  in  der  Form  der  Frage  und  Antwort,  so  dafs 
der  Antwortende  fortschreitend  zu  Zugeständnissen  gedrängt 
wird.  Dies  pafst  genau  auf  das  Verfahren,  das  Zeno  bei 
seinen  Argumenten  ohne  Zweifel  anwandte;  nur  darf  nicht, 
wie  bei  der  Rhetorik,  an  eine  Theorie  dieser  Unterredungs- 
kunst, sondern  nur  an  die  geschickte  Handhabung  gedacht 
werden. 

Wie  Parmenides,  so  scheint  auch  Zeno  schliefslich 
neben  der  Wahrheitslehre  auch  eine  Scheinlehre  aufgestellt 
zu  haben.  Aus  den  erhaltenen  dürftigen  und  entstellten 
Angaben  darüber  (D.  L.  IX.  29)  scheint  sich  zu  ergeben, 
dafs  er  darin  im  wesentlichen  Parmenides  folgte.  Zwar 
soll  er  nach  dieser  Angabe  statt  des  einfachen  Grundgegen- 
satzes des  letzteren  einen  doppelten  ursprünglichen  Gegen- 
satz, den  des  Warmen  und  Kalten  und  den  des  Trockenen 
raid   Feuchten,    angenommen  und  einen   Übergang   dieser 

12* 


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180  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Gegensätze  ineiDander  behauptet  haben.  Doch  läfst  sich 
darin  mit  Leichtigkeit  eine  Verunstaltung  der  parmenide- 
ischen  Lehre  durch  Einmengung  späterer  Ansichten  er- 
kennen. Auf  Parmenides  scheint  auch  der  folgende  Satz 
zu  beruhen,  der  Mensch  sei  aus  der  Erde  entstanden,  die 
Seele  sei  eine  Mischung  aus  den  vorgenannten  Gegensätzen 
ohne  Überwiegen  eines  derselben.  Wenn  endlich  an  der 
Spitze  die  beiden  Sätze  stehen,  es  gebe  Welten,  ein  Leeres 
aber  gebe  es  nicht,  so  kann  die  erste  dieser  beiden  Be- 
hauptungen auf  die  Mehrheit  der  parmenideischen  Welt- 
sphären bezogen  werden;  die  zweite  aber  besagt  entweder, 
dafs  auch  in  der  Welt  der  Meinung  durch  die  Sphären  der 
gesamte  Weltraum  ausgefüllt  ist,  oder  er  mengt  verständnis- 
los die  Grundannahme  des  Wahrheitssystems  ein,  dafs  ,,da8 
Nichtseiende"  nicht  sei. 

Noch  wird  berichtet  (Suidas),  dafs  Zeno  auch  eine 
„Erklärung  des  Empedokles'  geschrieben  habe.  Ist  dies 
richtig,  so  mufs  er  auch  in  die  neue  Entwicklungsphase  der 
Naturerklärung  noch  einmal  kritisch  eingegriffen  haben« 
Das  Lehrgedicht  des  Empedokles  „Über  die  Natur**  ist 
wahrscheinlich  schon  um  460  oder  früher  veröffentlicht 
worden.  Es  mufs  dann  freilich  angenommen  werden,  dafs 
diese  „Erklärung"  zugleich  ein  kritischer  Angriff  vom  elea- 
tischen  Standpunkte  aus  war.  Doch  fehlt  es  gänzlich  an 
weiteren  Nachrichten  über  diese  Schrift. 

7.  Der  letzte  Vertreter  des  Eleatismus  Melissos. 
(Um  460.) 

Melissos,  der  dritte  Vertreter  der  eleatischen  Lehre, 
gehört  dem  kleinasiatisch-jonischen  Samos  an.  Es  ist  zu- 
verlässig bezeugt,  dafs  er  um  442  als  Befehlshaber  der 
samischen  Flotte  einen  Seesieg  über  Perikles  gewann 
(Z.  906,  1).  Im  übrigen  ist  von  seinem  Leben  nichts  be- 
kannt, insbesondere  fehlen  alle  zuverlässigen  Nachrichten 
über  seinen  philosophischen  Bildungsgang,  und  wie  es  zu- 
ging, dafs  er,  dem  Osten  der  griechischen  Welt  angehörig, 
ein  Vertreter  der  im  fernen  Westen  hervorgetretenen  elea- 


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III.   7.  Der  letzte  Vertreter  des  Eleatismus  Melissos.         181 

tischeiit  Lehre  wurde.  Wenn  wir  seine  kriegerische  Leistung 
einem  vorgerückten  Alter  und  seine  philosophische  Schrift, 
in  der  er  die  eleatische  Lehre  vertrat,  einer  etwas  frtlheren 
Lebenszeit  zuweisen,  so  kommen  wir  vermutungsweise  für 
seine  Geburt  auf  die  Zeit  um  500  und  für  die  Abfassung 
seiner  Schrift  für  die  um  460.  Er  war  dann  ein  jüngerer 
Zeitgenosse  Zenos. 

Von  seiner  Schrift  sind  bei  Simplicius  ziemlich 
umfangreiche  Fragmente  erhalten ;  Aristoteles  beschäftigt 
sich  wiederholt  mit  seiner  Lehre,  und  die  schon  erwähnte, 
ftlschlich  Aristoteles  beigelegte  Schrift  „Über  Melissos,  Xeno- 
phanes  und  Gorgias*'  gibt  einen  kurzen,  mit  einer  Kritik 
versehenen  Abrifs  derselben. 

Sein  Beweisverfahren  entsprach  nicht  sowohl  dem  Zenos 
als  dem  des  Parmenides.  Das  Nichtsein  des  leeren  Raumes 
steht  ihm  fest.  Hinsichtlich  des  „Seienden"  bewies  er  zu- 
nächst dessen  Ewigkeit.  Hier  folgt  nun  seine  bedeutsamste 
Abweichung  von  Parmenides.  Er  setzt  das  Seiende  als  un- 
endlich der  räumlichen  Ausdehnung  nach.  Vornehmlich 
diese  Behauptung  hat  ihm  wohl  die  verächtliche  Beurteilung 
seitens  des  Aristoteles  zugezogen,  der  ihn  bäurisch  und 
plump  nennt  (980  b,  12,  26;  186,  10).  Für  diese  räumliche 
Unendlichkeit  bringt  er  zwei  Beweise  vor.  Erstens  glaubt 
er  aus  der  zeitlichen  Unendlichkeit  die  räumliche  folgern  zu 
können.  Dieser  Beweisgrund  ist  schon  im  Altertum  von 
Aristoteles  und  anderen  mit  Recht  als  unzutreffend  an- 
gegriffen worden  (Z.  608,  2;  Ps.  Arist.  975  b,  34  ff.).  Zweitens 
aber  könnte  eine  Begrenzung  des  Seienden  nur  durch  das 
Leere  stattfinden,  das  aber  als  Nichtseiendes  nicht  existiere 
(Z.  612,  2).  Aus  der  Unbegrenztheit  folgert  er  dann  weiter 
die  Einheit,  da  mehrere  räumlich  Unendliche  undenkbar 
sind  (Z.  612,  1).  Dieses  räumlich  Unendliche  wird  ferner 
auch  von  ihm  im  strengen  Sinne  des  Parmenides  für  be- 
wegungs-  und  veränderungslos  erklärt  (Z.  614  f.;  Cic.  Ac. 
n.  118).  Die  Unmöglichkeit  jeder  Art  von  Bewegung  und 
Veränderung  folgert  er  mit  grofsem  Nachdruck  aus  dem 
Nichtsein  des  leeren  Raumes,  ohne  den  keine  Art  der  Be- 
wegung möglich  sei.    Dieses  unendlich  ausgedehnte  Seiende 


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182  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

hat  er  endlich  unzweifelhaft,  wie  Parmenides,  in  irgend  einem 
Sinne  als  stofflicli  gedacht.  Wenn  er  aus  der  Einheit 
folgert,  es  k^nne  kein  Körper  sein  (Z.  611,  2),  so  ist  dies 
offenbar  nur  in  dem  Sinne  gemeint,  dafs  der  Körper  in  ge- 
sonderte Teile  zerfallen  würde,  die  ja  schon  Xenophanes 
seinem  Gott  abgesprochen  hatte.  Keinesfalls  aber  ergibt 
sich  daraus,  dafs  er,  tlber  Parmenides  hinausschreitend,  die 
UnStofflichkeit  (Immaterialität)  des  Seienden  behauptet  hätte» 
Dies  wäre  nicht  nur  ftlr  die  vorplatonische  Zeit  etwas  völlig^ 
Unerhörtes,  es  widerspricht  auch  dem  ausdrtlcklichen  Zeug- 
nis des  Aristoteles  (986b,  20). 

So  bewegte  sich  also  dieser  später  gegen  einen  Perikles 
erfolgreiche  Seeheld  in  seiner  philosophischen  Schrift  in  den 
völlig  unfruchtbaren  Bahnen  des  eleatischen  Denkens,  dessen 
Ungeheuerlichkeiten  er  noch  durch  die  unendliche  Aus- 
breitung des  starren  Stoffes  vermehrt  hat.  Von  einer  Aus- 
gleichung dieser  fanatischen  Weltleugnung  durch  die  An- 
nahme einer  Erscheinungswelt  bietet  sich  bei  ihm  keine 
Spur.  Sein  einziges  Verdienst  als  Denker  besteht  dann 
darin,  dafs  er  mit  Nachdruck  die  Unmöglichkeit  der  Be- 
wegung ohne  Annahme  des  leeren  Raumes  geltend  ge- 
macht hat. 

Weitere  Nachrichten  über  den  Bestand  der  eleatischen 
Schule  nach  Melissos  sind  nicht  vorhanden,  doch  ist  dadurch 
das  Nachwirken  ihrer  Lehre,  wie  wir  sehen  werden,  nicht 
ausgeschlossen. 

8.    TV  eiterer  Verlauf  des  wissenscliaftlichen 
PythafiTorelsmus  (bis  firefiren  320). 

Über  die  Schicksale  des  wissenschaftlichen  Pythagoreis- 
mus  seit  der  Aufstellung  des  Hauptsystems  und  namentlich 
auch  seit  den  Verfolgungen  des  Ordens  um  440  sind  zuver- 
lässige Nachrichten  nicht  vorhanden.  Die  folgenden  dürf- 
tigen Nachrichten  gehen  auf  Aristoxenos  von  Tarent 
zurück,  den  Schöpfer  der  griechischen  Musiktheorie,  der 
noch  mit  den  „letzten  Pythagoreem**  in  Zusammenhang 
stand.    Danach   waren  die  Lehrer  der  letzten  Pythagoreer 


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III.  8.  Weiterer  Verlauf  des  -wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  183 

Philolaos  und  Eurytos  in  Tarent.  Über  den  letzteren 
dieser  beiden  fehlt  es  durchaus  an  weiteren  Nachrichten 
(Z.  338,  5).  Möglicherweise  gehört  ihm  die  abgeschwächte 
Form  der  Seelen wanderungslehre  an,  die  in  PlatosPhädon 
(87)  dem  Thebaner  Kebes  in  den  Mund  gelegt  wird,  nach 
der  die  Seele  zwar  mehrere  Körper  überdauert,  schliefslich 
aber  doch  ebenfalls  kraftlos  wird  und  dahinstirbt.  Konnte 
doch  Plato  von  seiner  und  des  Philolaos  Lehre  Kenntnis 
erhalten  haben,  wenn  er  auf  seiner  bald  nach  dem  Tode 
des  Sokrates  (399)  unternommenen  unteritalischen  Reise 
beide  kennen  gelernt  hatte  (D.  L.  III.  6).  Dann  müfste  als 
die  Zeit  des  Zusammenseins  dieser  beiden  Männer  in  Tarent 
das  erste  Jahrzehnt  des  4.  Jahrhunderts  (400—390)  an- 
genommen werden.  Genaueres  als  über  Eurytos  läfst  sich 
über  Philolaos  feststellen. 

Mit  diesem  hat  es  eine  eigene  Bewandtnis.  Man  kannte 
seit  der  Mitte  des  letzten  vorchristlichen  Jahrhunderts  eine 
Schrift  unter  seinem  Namen  (Cic.  Rep.  I.  10 ;  D.  L.  VIII.  85). 
Aus  dieser  Schrift  sind  zahlreiche  Bruchstücke  auf  uns  ge- 
kommen, in  denen  ein  Vertreter  des  pythagoreischen  Systems 
zu  uns  redet.  Seit  der  grofse  Philologe  Böckh  (Philolaos,  1819) 
dafür  eingetreten  ist,  dafs  nicht  nur  diese  Bruchstücke  dieser 
schon  Cicero  bekannten  Schrift  entstammen,  was  nicht  zu  be- 
zweifeln ist,  sondern  dafs  auch  diese  Schrift  jenen  alten  Denker 
des  5.  Jahrhunderts  zum  Verfasser  habe,  ist  diese  Ansicht  bis 
heute  im  allgemeinen  in  Geltung  geblieben.  Schwerwiegende 
Gründe  sind  freilich  gegen  sie  ins  Feld  geführt  worden 
(Schaarschmidt,  Die  angebliche  Schriftstellerei  des  Philo- 
laos, 1864;  Rothenbücher,  Das  System  der  Pythagoreer, 
1807).  Aristoteles,  der  doch  so  oft  auf  das  Hauptsystem 
der  Pythagoreer  zu  sprechen  kommt,  kennt  keinen  Philo- 
laos; auch  Theophrast  mufs  ihn  nicht  gekannt  haben. 
Der  Verfasser  der  auf  uns  gekommenen  Bruchstücke  ist  ein 
unklarer,  verschwommener  Kopf,  der  in  manierierter  Sprache 
übel  zusammengeschweifste  und  mit  späteren  Theorien  ver- 
quickte Bruchstücke  des  alten  Pythagoreismus  vorträgt, 
einer  jener  Fälscher,  die  seit  dem  letzten  vorchristlichen 
Jahrhundert,  wie  wir  später  sehen  werden,  massenhaft  auf- 


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184  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismns. 

treten.  Man  kann  kühnlich  behaupten,  dafs  die  Fälschung 
dieses  verworrenen  Kopfes  bisher  das  Verständnis  des  Ent- 
wicklungsganges bei  den  Pythagoreem  hintangehalten  hat, 
und  dafs,  solange  diese  Schrift  für  echt  gilt,  die  (Jeschichte 
des  Pythagoreismus  nicht  geschrieben  werden  kann.  Die 
Unrichtigkeit  der  Böckhschen  Annahme  wird  am  kürzesten 
und  einfachsten  durch  Zusammenstellung  der  unzweifelhaften 
Tatsachen  über  den  wirklichen  Philolaos  bewiesen.  Diese 
Tatsachen  haben  in  der  allerjüngsten  Zeit  durch  die  Auf- 
findung des  Auszuges  aus  Menons  Jatrica  einen  Zuwachs 
von  solcher  Bedeutung  erhalten,  dafs  dadurch  die  ganze 
Frage  ein  völlig  verändertes  Ansehen  erhält.  Menon  war 
ein  Schüler  und  Mitarbeiter  des  Aristoteles,  und  seine 
Schrift  war  eine  Zusammenstellung  von  Daten  aus  der 
Geschichte  und  Theorie  der  Arzneikunde  für  den  Gebrauch 
der  Schule  (herausgegeben  von  Di  eis,  Supplementum 
Aristotel.  III.  1.  1893). 

In  Piatons  Phädou,  der  am  Todestage  des  Sokrates 
(399)  spielt,  wird  Philolaos  als  ein  Philosoph  erwähnt,  der 
vor  nicht  gar  langer  Zeit  in  Theben  geweilt  hat,  jetzt  aber 
nicht  mehr  dort  anwesend  ist.  Über  seine  Zugehörigkeit 
zu  einer  Schule  oder  Richtung  wird  nichts  gesagt.  Die 
beiden  sich  mit  Sokrates  unterredenden  Thebaner  Kebes 
und  Simmias,  die  auch  sonst  (Mem.  I.  2,  48;  III.  11,  17) 
als  Gefährten  des  Sokrates  erwähnt  werden,  sind  vorher  in 
Theben  seine  Schüler  gewesen.  Auf  die  Vermutung  des 
Sokrates,  dafs  sie  wohl  von  Philolaos  etwas  über  die  Ver- 
werflichkeit des  Selbstmordes  gehört  haben  werden,  erwidert 
Kebes,  dafs  dies  nichts  Bestimmtes  gewesen  (610  f.).  Die 
Unterredung  wendet  sich  dann  der  Unsterblichkeitsfrage  zu, 
und  nachdem  Sokrates  gegenüber  den  von  jenen  geltend 
gemachten  Ansichten  der  Menge  über  diese  Frage  mehrere 
Beweise  für  die  Unsterblichkeit  vorgebracht  hat,  rückt 
Simmias  (85  E)  mit  einer  philosophischen  Bestreitung  der 
Unsterblichkeit  heraus.  Es  ist  mindestens  sehr  wahrschein- 
lich, dafs  wir  hier  die  Lehre  des  Philolaos  vor  uns 
haben. 

Doch   ehe  auf  diese   Lehre  näher   eingegangen   wird. 


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III.  8.  Weiterer  Verlauf  des  wissenöchaftlichen  Pythag(oreismus.  185 

müssen  wir  die  sonstigen  sicheren  Nachrichten  über  Philo- 
laos  zusammenstellen. 

Nach  dem  Auszuge  aus  Menon  (Kap.  20)  war  er  ein 
Krotoniat.  Das  bedeutet  nicht  notwendig,  dafs  er  in 
Kroton  geboren  war;  es  bedeutet  nur  seine  Zugehörigkeit 
zur  krotoniatischen  Ärzteschule.  Doch  wird  er  auch  von 
Diogenes  Laertius  (VIII.  84)  als  Krotoniat  bezeichnet. 

Als  Mediziner  wird  er  denn  auch  durch  die  bei  Menon 
erhaltenen  Überreste  seiner  Lehre  charakterisiert.  Da  ist 
nichts  von  Zahlen  und  Zahlengeheimnissen.  Zunächst  eine 
Theorie  tlber  die  Entwicklung  des  Körpers  vor  und  nach 
.  der  Geburt,  die  deutlich  an  die  Gegensatzlehre  des  Alkmäon 
anklingt.  Wie  der  männliche  Same  und  die  Gebärmutter, 
so  ist  auch  das  Geborene  warm.  Aber  begierig  zieht  es 
sofort  die  äufsere  Luft,  die  kalt  ist,  ein.  Das  ganze  Luft- 
bedürfnis beruht  auf  dem  Bedürfnis,  das  Übermafs  der 
Wärme  zu  mindern.  „Darauf,**  nämlich  offenbar  auf  dem 
richtigen  Gleichgewicht  des  Warmen  und  Kalten,  „beruht 
der  Bestand  der  Körper.** 

Es  folgt  eine  Theorie  über  die  Entstehung  der  Krank- 
heiten, die  trotz  der  Dürftigkeit  des  Auszuges  doch 
noch  einige  Züge  der  alkmäonischen  Gleichgewichtstheorie 
durchblicken  läfst  Die  Krankheiten  entstehen  teils  durch 
zu  dickes  oder  zu  dünnes  Blut,  teils  von  der  Galle  (hier 
fehlt  die  nähere  Angabe),  teils  vom  Schleim,  den  er  für 
wann  hält  und  durch  dessen  Anhäufung  die  Entzündungen 
entstehen  sollen.  Aufserdem  gibt  es  Nebenursachen  der 
Krankheiten.  Dieselben  bestehen  in  Übermafs  oder  Mangel 
an  Erwärmung,  Abkühlung,  Nahrung  oder  Ähnlichem,  also 
ebenfalls  in  Gleichgewichtsstörungen. 

Hier  haben  wir  den  authentischen  Philolaos.  Wir  fragen 
die  Kenner  der  vermeintlichen  Philolaosbruchstücke,  ob 
zwischen  diesen  und  den  hier  vorliegenden  Angaben  eine 
geistige  Gemeinschaft,  eine  Übereinstimmung  der  Grund- 
anschauung denkbar  ist. 

Es  wird  femer  berichtet,  Demokrit,  der  Materialist 
und  Unsterblichkeitsleugner,  sei  sein  Schüler  gewesen  (D.  L. 
IX.  38).     Diese  Nachricht  beruht   auf  dem   Zeugnis  des 


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186  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt   Bruch  mit  dem  Hylopsychismos. 

Demokriteers  Apollodotos  von  Kyzikos,  der  wahr- 
scheinlich im  4.  Jahrhundert  lebte  (Clem.  AI.  Strom.  II. 
c.  21).  Da  Demokrit,  geboren  um  460,  wahrscheinlich  um 
430  in  Unteritalien  war,  so  mufs  Philolaos  um  diese  2Ieit 
irgendwo  in  Unteritalien  gelehrt  haben.  Nachher  war  er 
dann  eine  Zeitlang  in  Theben  und  nach  400  in  Tarent. 
Endlich  findet  sich  noch  in  der  Ethik  des  Aristotelesschülers 
Eudemos  (1225,  32)  der  Ausspruch  von  ihm,  es  gebe  Vor- 
stellungen, die  stärker  seien  als  wir  selbst.  Dem  Zusammen- 
hange nach  ist  hier  von  Vorstellungen  uns  bedrohender 
Übel  die  Rede,  die  gleichsam  zwangsweise  unser  Handeln 
bestimmen.  Dieser  Ausspruch  scheint  doch  mehr  einem 
nüchtern  erwägenden  Kopf  als  einem  schwärmerischen 
Enthusiasten  zu  entstammen. 

So  vorbereitet  können  wir  nun  an  die  vorstehend  als 
philolaisch  bezeichnete,  von  Simmias  im  Phädon  vorgetragene 
Theorie  über  das  Wesen  der  Seele  herantreten.  Das  Argu- 
ment, dafs  die  Seele  als  etwas  in  seinen  Äufserungen  Un- 
sichtbares und  Unkörperliches  nicht  vergehen  könne,  sagt 
Simmias,  lasse  sich  mit  demselben  Rechte  auch  auf  die 
Melodien  der  Leier  anwenden.  Man  müsse  nach  demselben 
Beweisverfahren  annehmen,  dafs,  wenn  die  Leier  und  die 
Saiten,  die  hier  das  Körperliche  darstellen,  zerbrochen  und 
zerrissen  seien,  dennoch  die  Tonfolgen  wie  etwas  selbständig 
für  sich  Bestehendes  noch  fortdauerten.  Was  bei  der  Leier 
die  bestimmte,  den  gewünschten  Tönen  angepafste  Spannung 
der  Saiten,  das  sei  beim  Körper  die  bestimmte,  im  rechten 
Mafse  gehaltene  harmonische  Mischung  des  Warmen  und 
Kalten,  Trockenen  und  Feuchten.  Aus  ihr  entspringe  die 
Seele  (d.  h.  die  seelischen  Erscheinungen),  wie  die  Tonfolgen 
aus  der  richtigen  Spannung  der  Saiten.  Wie  mit  der  Ver- 
nichtung dieser  letzteren  die  Tonfähigkeit  zu  Grunde  gebe, 
so  mit  der  Zerstörung  jenes  Gleichmafses  der  Mischung  im 
Körper  durch  Krankheit  die  Seele.  Wenn  infolge  der 
Störung  des  richtigen  Mischungsverhältnisses  im  Körper 
der  Tod  eintritt,  so  wird  zuerst  die  Seele  zu  nichte,  wäh- 
rend die  Reste  der  körperlichen  Mischung,  ähnlich  wie  das 
Holz  und  die  Saiten  der  Leier,  die  Vernichtung  der  harmo- 


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in.  8.  Weiterer  Verlauf  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  187 

nischen  Mischung,  auf  der  das  Leben  beruhte,  noch  eine 
Weile  überdauern  (85  E  ff.). 

Simmias  hat  die  ganze  Tragweite  dieser  Theorie  noch 
nicht  erfafst.  Wie  schon  vorher  (77  C)  bekennt  er  sich 
auch  nachher  wieder  (92  A)  zu  der  Ansicht ,  dafs  die  Seele 
dennoch  vor  dem  Körper  bestanden  haben  könne,  und  erst 
Sokrates,  der  Gegner,  mufs  ihm  die  Unvereinbarkeit  der- 
selben mit  der  Lehre  von  der  Seele  als  Erzeugnis  richtiger 
Mischung  im  Körper  klarmachen«  Es  sei  ja  das  Bestehen 
vor  dem  Körper  bei  dieser  Annahme  ebenso  undenkbar,  wie 
der  Bestand  der  Tonfolge  vor  oder  nach  dem  Vorhandensein 
der  Leier  (ib.). 

Diese  Seelentheorie  wird  auch  von  Aristoteles  mehr- 
fach erwähnt,  wenn  auch  ohne  Nennung  ihres  Urhebers.  In 
seiner  Staatslehre  sagt  er  (1340  b,  18),  viele  der  Weisen 
lehrten,  dafs  die  Seele  eine  Harmonie  sei,  andere,  sie  habe 
Harmonie.  Diese  letzte  Ansicht  ist  von  der  in  Rede  stehen- 
den total  verschieden.  Die  ganze  Stelle  beweist  aber,  dafö 
Philolaos  mit  seiner  Ansicht  schon  damals  nicht  allein  stand^ 
sowie  femer,  daft  der  Vergleich  der  seelischen  Erscheinungen 
mit  den  Tönen  in  verschiedener  Weise  zur  Anwendung  ge- 
bracht wurde.  An  einer  anderen  Stelle  aber  (407  b,  27)  er- 
wähnt Aristoteles  gerade  die  im  Phädon  vorgetragene  Lehre 
und  zwar  unter  deutlicher  Bezugnahme  auf  die  Erörterung 
darüber  im  Phädon.  Nach  dieser  Lehre  sei  die  Seele  „Har- 
monie*'.  Denn  wie  die  Harmonie  eine  Vereinigung  von 
Entgegengesetztem  sei,  so  bestehe  auch  der  Körper  aus 
Entgegengesetztem.  Auch  hier  sagt  er  von  dieser 
Lehre,  dafs  sie  viele  Anhänger  habe.  Auch  habe  sie  schon 
in  veröffentlichten  Schriften  gleichsam  Rechenschaft  abgelegt. 
Ist  dies,  wie  es  den  Anschein  hat,  eine  Hindeutung  auf  den 
Phädon,  so  kann  Philolaos  selbst  diese  Lehre  nicht  in  einer 
Schrift  vertreten  haben,  und  Plato  hatte  sie  durch  münd- 
lichen Verkehr  kennen  gelernt. 

Eine  entfernte  Hindeutung  auf  diese  Harmonielehre  des 
Philolaos  findet  sich  bei  Diog.  Laertios  (VIII.  85),  wo  ihm 
die  Lehre  beigelegt  wird,  alles  geschehe  durch  Harmonie 
und  Weltgesetze ,  und  wo  er  aufserdem  sogar  als  der  mut- 


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188  Erste  Periode.   Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

mafsliche  erste  Vertreter  der  sonst  dem  Heraklides  (oder 
Hiketas)  beigelegten  Lehre  von  der  Achsendrehung  der  Erde 
genannt  wird. 

Wir  haben  hier  eine  im  ganzen  Altertum  fast  einzig 
dastehende  Erklärung  der  seelischen  Erscheinungen  vor  uns. 
Mochte  die  Seele  mit  Plato  und  vielleicht  schon  mit  Pytha- 
goras  als  eine  unstofTliche  oder  mit  den  Materialisten 
gewöhnlichen  Schlages  in  mannigfaltigen  Variationen  als 
eine  besondere  Art  körperlichen  Stoffes  gefafst  werden, 
immer  ist  sie  eine  besondere,  vom  Körper  verschiedene 
Substanz.  Hier  zuerst  erscheint  das  Seelische  als  Funktion, 
als  Erzeugnis  des  körperlichen  Prozesses,  modern  ausgedrückt 
als  Kombinationsresultat  und  Summationsphänomen  der  den 
körperlichen  Stoffen  anhaftenden  und  in  allem  Körperlichen 
wirksamen  Spannkräfte.  Wie  unendlich  verschieden  von 
jeder  Substanztheorie  diese  Auffassung  ist,  das  kann  schon 
die  Vergleichung  mit  der  von  Kebes  vertretenen  Seelen- 
theorie lehren.  Nach  dieser  ist  die  Seele  nach  wie  vor 
eine  für  sich  bestehende  Substanz,  und  wenn  ihr  das  Altem 
und  Vergehen  nach  einer  Reihe  von  Einkörperungen  zu- 
geschrieben wird,  so  ist  sie  eben  eine  vergängliche  Substanz, 
wenn  auch  von  gröfserer  Beständigkeit  als  die  der  einzelnen 
Körper,  in  die  sie  fährt.  Dies  ist  nur  eine  Abschwächung 
des  pythagoreischen  Seelenglaubens,  eine  schwächliche,  un- 
klare, haltlose  Übergangs-  und  Kompromifstheorie. 

In  der  von  Simmias  vorgetragenen  Theorie  dagegen, 
insbesondere  in  der  Ableitung  der  seelischen  Erscheinungen 
aus  der  Spannung  der  körperlichen  Gegensätze,  erkennen 
wir  deutlich  den  Anhänger  der  Lehre  des  Alkmäon. 
Nur  ist  hier  die  von  Alkmäon  vertretene  Unterscheidung 
des  unsterblichen  Geistes,  der  nicht  an  das  körperliche 
Organ  gebunden  ist,  von  den  mit  dem  Organe  vergehenden 
seelischen  Erscheinungen  aufgegeben.  Alles  Seelische 
ist  körperliche  Funktion.  Wir  erhalten  ein  völlig  einheit- 
liches und  verständliches  Bild  des  wirklichen  Philolaos. 
Unzweifelhaft  gilt  die  Polemik  Piatos  gegen  die  Seelenlehre 
des  Simmias  in  Wirklichkeit  dem  Philolaos.  Der  im  Phädon 
ihr  gegebenen  Einkleidung  entkleidet,  bedeutet  sie  eine  Aus- 


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m.  8.  Weiterer  Verlauf  des  wissenschaftliclien  Pythagoreismus.  189 

einandersetzung  mit  der  Seelenlehre  des  Philolaos.  Ihn 
hatte  Plato  auf  seiner  ersten  italischen  Reise  um  393  noch 
persönlich  in  vorgerücktem  Greisenalter  in  Tarent  kennen 
gelernt  (D.  L.  III.  6). 

Plato  hat  wahrscheinlich  auch  noch  eine  andere  Lehre 
des  Philolaos  berücksichtigt.  Ehe  jedoch  davon  gesprochen 
wird,  soll  die  Geschichte  der  letzten  Pythagoreer  weiter- 
verfolgt werden.  Und  zwar  deshalb,  weil  das  Wenige,  was 
davon  bekannt  ist,  gerade  für  den  philolaischen  Ursprung 
der  in  Rede  stehenden  Seelentheorie  eine  weitere  glänzende 
Bestätigung  bildet. 

Schon  jetzt  aber  kann  als  annähernd  richtig  die  Geburt 
des  Philolaos  um  470  und  sein  Tod  (in  Tarent)  um  390 
angesetzt  werden.  Die  Angabe  dagegen  (D.  L.  VIII.  84), 
er  sei  wegen  Verdachts,  nach  der  Tyrannis  zu  streben,  ge- 
tötet worden,  ist  vielleicht  nur  ein  Nachhall  der  Nachrichten 
über  die  Verfolgungen,  denen  die  Pythagoreer  um  440  aus- 
gesetzt waren« 

Als  Schüler  des  Eurytos  und  Philolaos  werden  (D.  L. 
VIII.  46)  fünf  Männer  genannt,  die  „letzten  Pythagoreer", 
deren  Existenz  um  366  auch  anderweitig  bezeugt  wird 
(Diodor  XV.  76),  von  denen  jedoch  nur' zwei,  Echekrates 
und  Xenophilos,  weiter  bekannt  sind  und  unsere  Auf- 
merksamkeit verdienen. 

Echekrates  ist  offenbar  derselbe,  der  sich  im  Phädon 
die  letzte  Unterredung  des  Sokrates  erzählen  läfst,  und  der 
bei  der  Erwähnung  jener  philosophischen  Bestreitung  der 
Unsterblichkeit  den  Berichterstatter  mit  der  Bemerkung 
unterbricht,  dafs  diese  Theorie  ihm  schon  früher 
als  wahr  erschienen  sei  und  auch  jetzt  wieder  ihn 
lebhaft  anmute,  so  dafs  sein  Vertrauen  zum  Standpunkte 
des  Sokrates  erschüttert  werde  (88  D). 

Von  Xenophilos  dagegen  erfahren  wir  aus  einer 
alten  Nachricht  (Suidas)  und  aus  einigen  Resten  der  zahl- 
reichen Schriften  des  Aristoxenos,  des  Schöpfers  der 
griechischen  Musiktheorie  (Mahne,  De  Aristoxeno  §  57),  dafs 
er  ein  bedeutender  Musikforscher  und  der  Lehrer  eben 
dieses  Aristoxenos  gewesen  ist.    Auch  an  der  Diogenesstelle 


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190  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt  Bruch  mit  dem  Uylopsychismus. 

über  die  letzten  Pythagoreer  (VIII.  46)  wird  bezeugt ,  dafs 
Aristoxenos,  später  Schüler  des  Aristoteles,  der  erst  335 
Beine  Lehrtätigkeit  in  Athen  begann,  diese  letzten  Pytha- 
goreer „noch  gekannt""  habe.  Aristoxenos  stammte  aus 
Tarent,  dem  Schauplatz  dieser  letzten  wissenschaftlichen 
Betätigungen  des  Py thagoreismus ,  und  mufs  zwischen  380 
und  370  geboren  sein,  konnte  also  um  oder  vor  360  der 
Schüler  des  Xenophilos  sein. 

Bei  diesem  Aristoxenos  nun  findet  sich  genau  dieselbe 
einzigartige  Theorie  von  der  Seele  wie  bei  Philolaos.  Wie 
bei  der  Leier  die  Tonfolge,  so  entspringen  aus  der  Be- 
schaffenheit des  Körpers  die  mannigfaltigen  Regungen  der 
Seele  (Cic.  Tusc.  I.  19,  41  u.  51).  Hier  schliefst  sich  der 
Ring;  es  zeigt  sich  ein  deutlicher  Zusammenhang:  Aristo- 
xenos ist  in  seiner  Seelenlehre  der  geistige  Enkel  des 
Philolaos. 

Dieselbe  Theorie  findet  sich  aber  femer  bei  Dikai- 
archos  aus  der  sizilischen  Stadt  Messana,  der  als  Zeit- 
genosse und  Mitschüler  des  Aristoxenos  bezeichnet  wird 
(Cic.  Tusc.  I.  41).  Diese  Mitschülerschaft  mufs  sich  nicht 
nur  auf  das  Verhältnis  des  Aristoxenos  zu  Aristoteles,  son- 
dern auch  auf  das  zu  den  Pythagoreern  in  Tarent  erstreckt 
♦  haben.  Das  lehrt  schon  die  Seelenlehre  des  Dikaiarch. 
Dieser,  nach  Ciceros  Zeugnis  (Tusc.  I.  41,  77;  ad  Att.  II.  12) 
ein  gelehrter,  geistvoller  und  tüchtiger  Schriftsteller,  hatte 
in  zwei  Schriften  über  die  Seele  (Cic.  ad  Att.  13.  32,  Tusc. 
I.  21,  77)  die  Existenz  der  Seele  aufs  entschiedenste  be- 
stritten. Es  gebe  nur  den  Körper,  aus  dessen  Mischungs- 
verhältnissen die  Lebens- und  Bewufstseinserscheinungen  ihren 
Ursprung  hätten  (Tusc.  I.  21,  24,  41,  51;  Ac.  IL  124). 
Nach  späteren  Nachrichten  (D.387,  651;  Z.  IL  2,  890,  3)  hat 
er,  genau  wie  Philolaos,  die  seelischen  Erscheinungen  als 
Produkte  der  richtigen  Mischung  der  vier  Elemente,  näher 
des  Warmen  und  Kalten ,  Feuchten  und  Trockenen ,  be- 
zeichnet. Nach  Plutarch  (Kolot.  14)  und  D.  L.  III.  38 
hatte  er  dabei  besonders  auch  die  Lehre  Piatos  über  die 
Seele  bekämpft,  und  entsprechend  erklärte  er  auch  die  Ver- 
nunft für  etwas  Körperliches  (S.  Emp.  Dogm.  I.  349). 


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m.  8.  Weiterer  Verlauf  des  wissenschaftlichen  Pythagoreismus.  191 

Wir  haben  also  in  dieser  letzten  Phase  des  wissenschaft- 
lichen Pythagoreismus  drei  einander  ablösende  Generationen, 
sämtlich  in  Tarent  wirksam  oder  von  Tarent  ausgehend, 
sämtlich  sich  Spezial Wissenschaften,  der  ärztlichen  Wissen- 
schaft, der  Musiktheorie,  wohl  auch  der  Mathematik  und 
Physik,  zuwendend,  sämtlich  vom  Grunddogma  des  Ordens 
abgefallen : 

1.  Eurytos  und  Philolaos  in  Tarent  um  400— 390, 
letzterer  dort  wohl  nur  während  seiner  letzten  Lebensjahre 
weilend ; 

2.  deren  fünf  Schüler,  darunter  Echekrates  und 
Xenophilos,  bis  gegen  340.  Ersterer  anscheinend  später 
in  Griechenland,  letzterer  vielleicht  dauernd  in  Tarent  ver- 
blieben ; 

3.  Aristoxenos  vonTarent  und  Dikaiarch  von 
Messana,  von  Tarent  ausgehend,  nach  335  Schüler  des 
Aristoteles,  mindestens  bis  gegen  320. 

Nach  einer  Nachricht  bei  Diogenes  Laertius  (VIII. 
45)  soll  das  pythagoreische  System  sogar  neun  bis  zehn 
Menschenalter  nach  Pythagoras  bestanden  haben.  Als  Be- 
weis dafür  werden  eben  die  fünf  „letzten  Pythagoreer**  an- 
geführt. Doch  ist  diese  Rechnung  wohl  etwas  zu  reichlich 
ausgefallen.  Denn  selbst  wenn  vom  Beginn  der  Wirksamkeit 
des  Pythagoras  (um  540)  an  gerechnet  wird,  würden  neun 
Menschenalter,  zu  30  Jahren  gerechnet,  270  Jahre  aus- 
machen, also  bis  270  hinabführen.  Hier  liegt  also  irgend 
ein  für  uns  nicht  mehr  verständliches  Versehen  vor. 

Dieser  Verlauf  dient  zugleich  als  volle  Bestätigung  für 
die  Seelenlehre  des  Philolaos.  Plato  hat  sich  aber  wahr- 
scheinlich, trotz  seines  Gegensatzes  gegen  die  Leugnung  der 
Unsterblichkeit,  eine  andere  Lehre  des  Philolaos  angeeignet, 
die  er  im  Timäus  entwickelt. 

Es  ist  dies  die  höchst  eigenartige  Weiterbildung  der 
pythagoreischen  Lehre  vom  Grundstoffe  des  Seienden  als 
begrenztem  Räume  und  die  Ableitung  der  Elemente  aus 
dieser  Stofflehre.  Wir  haben  gesehen,  dafs  Aristoteles  dem 
pythagoreischen  Hauptsystem  den  Vorwurf  macht,  es  sei 
von  seinem  Urstoffe  aus  unmöglich,  den  Übergang  zu  den 


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192  Erste  Periode,  Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  Hylopsychismus. 

Elementen  und  den  wirklichen  Körpern  zu  finden.  Dieser 
Versuch  wird  aber  im  Timäus  gemacht  (48  E  flf.).    . 

Es  werden  nämlich  im  Timäus  in  ausführlicher  Dar- 
stellung als  die  ersten  Begrenzungen  des  gestaltlosen  Raumes 
Dreiecke  von  bestimmten  Formen  angenommen.  Indem 
diese  dann  wieder  in  rein  geometrischer  Weise  zu  körper- 
lichen Figuren  sich  zusammenschliefsen ,  entstehen  die  fünf 
regelmäfsigen  stereometrischen  Körper,  das  Tetraeder  (Vier- 
spitz), das  Oktaeder  (Sechsspitz),  das  Zwölfeck,  das  Zwanzig- 
eck  und  der  Würfel.  Diese  werden  dann  in  eigenartiger 
Weise  an  die  vier  Elemente  verteilt.  Die  Elemente  sind 
danach  ihren  Grundbestandteilen  nach  rein  mathematische 
Körper,  jeder  eigentlichen  Stofflichkeit  entbehrend.  Durch 
veränderte  Zusammenlegung  der  Dreiecke  gehen  sie  in- 
einander über. 

Unzweifelhaft  liegt  hier  eine  Weiterbildung  der  pytha- 
goreischen Stofflehre  vor.  Die  Frage  ist  nur,  ob  diese  dem 
Plato  als  Eigentum  gehört  oder  von  ihm  übernommen  ist. 
Für  letzteres  sprechen  folgende  Gründe: 

1.  Öie  Pythagoreer  werden  ihre  seltsame  Fassung  des 
Stoflproblems  mutmafslich  nicht  in  der  vagen  Unbestimmt- 
heit belassen  haben,  in  der  sie  uns  bei  Aristoteles  entgegen- 
trat. Sie  werden  sich  fortschreitend  bemüht  haben,  dieselbe 
in  der  Art  weiterzubilden,  dafs  daraus  die  Elemente  und 
die  wirkliche  Welt  abgeleitet  werden  konnten.  Findet  sich 
doch  auch  bei  Aristoteles  wenigstens  ein  Zeugnis  für  das 
Vorhandensein  solcher  Bemühungen,  in  dem  sogar  eine 
leise  Hindeutung  auf  die  obige  Theorie  vorkommt  Er 
spricht  da  von  Versuchen,  die  „erste  Eins**  „aus  Flächen, 
oder  aus  der  Farbe,  oder  aus  Samen,  oder  aus  etwas,  das 
sie  nicht  anzugeben  wissen**,  entstehen  zu  lassen  (1091,  15). 

2.  Plato  bezeichnet  diese  Lehre  durchaus  nicht  als  sein 
geistiges  Eigentum;  er  legt  den  Vortrag  derselben  einem 
unteritalischen  Weisen,  dem  Lokrer  Timäus,  in  den  Mund. 
Auch  f&llt  die  Abfassung  des  Timäus,  wie  später  zu  zeigen, 
keineswegs  in  das  Alter  Piatos,  sondern  schliefst  sich  un- 
mittelbar an  die  italische  Reise  an. 

3.  Wir  finden  schon  im  3.  Jahrhundert  mehrfach  die 


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m.  8.  Weiterer  Verlauf  des  wissenscliaftliclien  Pytiiagoreismus.  193 

Angabe,  dafs  der  Timäus  mit  Hilfe  einer  älteren  Schrift 
abgefafst  sei.  Neanthes  (um  240)  bezeichnet  Plato  als 
VeröflFentlicher  pythagoreischer  Lehren  (D.  L.  VIII.  55). 
Der  Pyrrhoneer  Tinton  (um  230)  behauptet  (Fr.  26),  Plato 
habe  für  vieles  Geld  ein  kleines  Buch  gekauft  und  danach 
den  Timäus  verfafst,  und  der  sehr  unzuverlässige  Her- 
mippos  (um  200)  macht  daraus  die  Angabe,  der  Timäus 
sei  nach  einer  Schrift  des  Philo laos,  die  Plato  von  dessen 
Angehörigen  erkauft  habe,  geschrieben  worden  (D.  L.  VIII. 
85).  Wenn  sich  Hermippos  dabei  auf  einen  älteren  Schrift- 
steller beruft,  so  meint  er  vielleicht  Timon.  In  diesem 
Falle  hätte  er  freilich  die  Beziehung  auf  Philolaos  aus 
seinen  eigenen  Mitteln  hinzugetan. 

Dafs  Philolaos  überhaupt  wohl  ein  Buch  geschrieben 
hat,  wird  durch  die  Aufzeichnungen  des  Menon  über  ihn 
wahrscheinlich.  Doch  müfste  dies  eine  medizinische  Schrift 
gewesen  sein.  Ob  er  darin  die  Lehre  Alkmäons  vom  Denken 
und  von  der  Unsterblichkeit  berührt  hat,  ist  fraglich.  Plato, 
der  beide  Lehren  kennt,  kann  dieselben  sehr  wohl  direkt 
aus  dem  Buche  des  Alkmäon  geschöpft  haben.  Zweifelhaft 
ist  auch,  ob  im  Buche  des  Philolaos  seine  eigene  Seelen- 
theorie vorkam.  Plato  konnte  dieselbe,  ebenso  wie  die  mut- 
mafslich  dem  Eurytos  zugehörige,  auf  mündlichem  Wege 
überkommen  haben.  Dasselbe  kann  auch  hinsichtlich  der 
Lehre  vom  StoflF  und  den  Elementen,  falls  diese  dem  Philo- 
laos angehört,  der  Fall  gewesen  sein.  Doch  ist  die  Möglich- 
keit nicht  ausgeschlossen,  dafs  er  aufserdem  auch  das  Buch 
des  Philolaos  gekannt  hat. 

Durch  diese  Gründe,  die  natürlich  wieder  auf  der 
Grundannahme  eines  persönlichen  Verkehrs  Piatos  mit  Philo- 
laos ruhen  (D.  L.  III.  6),  wird  allerdings  die  philolaische 
Herkunft  der  StoflFlehre  des  Timäus  nur  als  möglich  er- 
wiesen. Aber  auch  wenn  Plato  sie  von  einem  anderen 
Pythagoreer  seiner  Zeit  übernommen  hatte,  bleibt  sie  ein 
Zeugnis  für  den  damaligen  Stand  des  pythagoreischen  Denkens. 
Jectenfalls  ist  dieses  Lehrstück  des  platonischen  Timäus  mehr 
als  irgend  ein  anderes  geeignet,  für  eine  Entlehnung  aus 
dem  damaligen  wissenschaftlichen  Pythagoreismus  angesehen 

D«riBf.    I.  13 


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194  Erste  Periode.  Zweiter  Abschnitt.  Bruch  mit  dem  HylopsychismuB. 

ZU  werden.  Doch  möchten  sich  im  platonischen  Timäus 
wohl  noch  andere  Lehrstücke  finden,  die  als  Ertrag  des 
Verkehrs  mit  Philolaos  betrachtet  werden  könnten.  So  wird 
hier  gelehrt,  dafs  alle  Bewegung  auf  der  ungleichartigen 
(also  gegensätzlichen)  Beschaffenheit  der  Dinge  beruht  (57  E) ; 
die  Krankheiten  entstehen  durch  Überfülle  oder  Mangel- 
haftigkeit der  Stoffe  im  Körper  (82)  und  dergl.  Überhaupt 
kann  Plato  doch  die  ganze  abenteuerliche  Physiologie  seines 
Timäus,  dessen  Abfassungszeit  im  Anschlufs  an  die  unter- 
italische Reise  als  unzweifelhaft  erwiesen  werden  wird,  nicht 
aus  den  Fingern  gesogen  haben.  Hier  fallen  die  alten 
Nachrichten  über  das  von  Plato  in  Unteritalien  gekaufte 
Buch,  die  auch  in  der  Form  auftreten,  dafs  er  von  Philolaos 
selbst  drei  pythagoreische  Bücher  gekauft  habe  (Satyros  um 
180  vor  Chr.  bei  D.  L.  III.  9;  VIII.  15,  84),  schwer  ins 
Gewicht.  Vielleicht  ist  das  ganze  Lehrsystem  des  Timäus 
von  philolaischen  Gedanken,  die  nur  dem  damaligen  Stand- 
punkte Piatos  entsprechend  umgestaltet  sind,  durchzogen. 
Doch  möge  es  der  Kürze  halber  bei  dieser  schwierigen  Frage 
hier  mit  dieser  Andeutung  sein  Bewenden  haben. 

Nach  allem  diesem  kann  Philolaos  nur  in  sehr  bedingter 
Weise  als  Pythagoreer  angesehen  werden,  wenngleich  er 
(D.  L.  VIII.  84  f.) ,  vielleicht  schon  unter  dem  Einflufs  der 
gefälschten  Schrift,  als  solcher  bezeichnet  wird. 

Zur  Vervollständigung  dieses  Bildes  der  letzten  Pytha- 
goreer mufs  schliefslich  noch  das  Wenige  angeführt  werden, 
was  über  den  Taren t ine r  Archytas  zuverlässig  bekannt 
ist.  Seine  Lebenszeit  wird  dadurch  bestimmt,  dafs  auch  mit 
ihm  Plato  in  Berührung  gekommen  ist.  Wenn  dies  bereits 
auf  der  ersten  unteritalischen  Reise  Piatos  geschehen  ist 
(Cic.  Fin.  V.  87;  Rep.  I.  16;  Cato  III.  41),  so  mufs  Archytas 
doch  damals  noch  in  ganz  jugendlichem  Alter  gestanden 
haben.  Dagegen  scheint  die  Erzählung,  dafs  Plato  auf 
seiner  zweiten  sizilischen  Reise  367  eine  Annäherung 
zwischen  Archytas  nebst  seinen  anderen  Freunden  in  Tarent 
und  dem  jüngeren  Dionysius  von  Syrakus  herbeigeführt 
habe  (7.  piaton.  Brief  338  C)  und,  als  er  auf  seiner  dritten 
sizilischen   Reise   (361)   durch    die   Ungnade  des  jüngeren 


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HL  8.  Weiterer  Verlauf  des  wissenschaftliclien  Pythagoreismus.  195 

Dionys  ernstlich  gefährdet  war,  durch  die  Fürsprache  des 
Archytas  gerettet  worden  sei  (D.  L.  III.  23,  VIII.  79;  Z. 
III.  1.  424.  4)  geschichtlich  zu  sein.  Archytas  ist  sonach 
jttnger  als  die  „letzten  Pythagoreer".  Ob  er  selbst  noch 
in  irgend  einem  Sinne  Anhänger  der  pythagoreischen  Schule 
war,  ist  zweifelhaft.  Die  zahlreichen  Schriften,  die  ihm 
beigelegt  wurden,  und  von  denen  umfangreiche  Bruchstücke 
vorhanden  sind  (Mullach  I.  553  flF.,  IL  117  ff.),  sind  jeden- 
falls, soweit  sie  philosophischen  Inhalts  sind,  neupytha- 
goreische Fälschungen  aus  dem  letzten  vorchristlichen  Jahr- 
hundert. Auf  diesen  Fälschungen  beruht  wohl  auch  das 
Zeugnis  des  Horaz  in  der  Archytasode  (I.  38),  nach  dem 
er  sich  zur  Seelenwanderungslehre  bekannt  haben  sollte 
(V.  14).  Danach  müssen  denn  auch  die  Anspielungen 
dieser  Ode  auf  seine  Leistungen  als  Astronom  und  Natur- 
forscher (Messung  der  Oberfläche  des  Meeres  und  des  Fest- 
landes, Berechnung  der  Zahl  des  Sandes)  auf  denselben 
unzuverlässigen  Quellen  beruhen.  Aristoteles  erwähnt 
nur  zwei  naturwissenschaftliche  Begrifisbestimmungen  von 
ihm,  die  der  Windstille  und  der  Meerestille  (1043,  21). 
Von  dem  Aristotelesschüler  Ende  mos  ist  ein  Bericht  er- 
halten über  eine  scharfsinnige  Fragestellung  des  Archytas, 
durch  die  er  offenbar  die  Realität  des  unendlichen  Raumes 
beweisen  wollte.  „Kann  man  am  Ende  der  Welt  die 
Hand  oder  den  Stab  ausstrecken?"  (Simplic.  Phys.  467; 
Z.  436,  2). 

Entsprechend  werden  ihm  auch  in  den  Zeugnissen 
Späterer  (z.  B.  D.  L.  VIII.  83)  vornehmlich  geometrische, 
musiktheoretische  und  mechanische  Leistungen  zugeschrieben. 
Er  soll  z.  B.  einen  Automaten,  eine  fliegende  Taube,  kon- 
struiert haben  ((jell.  N.  A.  X.  12).  Aufserdem  hat  er  sich 
(nach  Aristoxenos,  D.  L.  VIII.  82)  als  Feldherr  aus- 
gezeichnet und  ist  niemals  besiegt  worden.  Und  als  er 
einmal  durch  die  Umtriebe  seiner  Neider  die  Feldherrn- 
würde verlor,  war  eine  Niederlage  die  Folge.  Und  nach 
einer  anderen  Nachricht  (ib.  79)  soll  er  siebenmal  hinter- 
einander auf  Jahresfrist  zum  Feldherm  gewählt  worden 
sein,  obwohl  das  Gesetz   eine  Wiederwahl  nicht  gestattete. 

13  ♦ 


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196  Erste  Periode.  Dritter  Absclin.  Stoflfu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

Ebenso  wird  er  als  ein  Muster  aller  Tugenden  gepriesen 
(ib.  und  Z.  341,  2). 


Dritter  Abschnitt. 

StofT  und  bewegendes  Prinzip  getrennt  (primitiver 
Materialismus),  ca.  460  bis  gegen  300. 

Die  Abenteuerlichkeiten  der  zweiten  Stufe,  ihr  Bruch 
mit  der  Wirklichkeit  konnten  den  auf  eine  naturwissen- 
schaftliche Erklärung  der  gegebenen  Welt  gerichteten  Geist 
nicht  befriedigen.  So  kehrt  die  Forschung  von  dem  durch 
Parmenides  und  die  Pythagoreer  eingeschlagenen  Irrweg  zum 
Streben  nach  einer  haltbaren  Erklärung  der  Erscheinungswelt 
zurück.  Die  von  den  Nachtretern  der  milesischen  Schule 
eingeschlagene  Richtung  reagiert  gegen  diese  unmöglichen 
Theorien.  Aber  es  konnte  nach  solchen  Zwischenfällen  nicht 
einfach  zu  den  Grundanschauungen  der  Milesier  zurück- 
gekehrt werden.  Als  dauernde  Nachwirkung  der  Leugnung 
der  Bewegung  und  Veränderung  im  eleatischen  Systeme 
bleibt  eine  gemeinsame  Eigentümlichkeit  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Systeme  zurück :  das  Fallenlassen  der  Lebendigkeit 
und  Um  Wandlungsfähigkeit  des  UrstoflFes.  Der  Hylopsychis- 
mus  wird  nicht  erneuert.  Der  UrstoflF  wird  in  allen  diesen 
Systemen  als  unveränderlich  gegeben  betrachtet.  Alle  Mannig- 
faltigkeit des  Seienden  entsteht  nur  durch  verschiedene 
Mischungsverhältnisse  des  UrstoflFes.  Und  zwar  ist  diese 
Mischung  eine  rein  mechanische,  ein  blofses  Nebeneinander- 
liegen der  StoflFteilchen.  Von  der  Entstehung  neuer  StoflFe 
durch  chemische  Verbindung  im  Unterschiede  von  einem 
mechanischen  Gemenge  hat  diese  alte  Naturwissenschaft 
noch  keine  Ahnung.  Um  aber  die  grofse  Mannigfaltigkeit 
des  in  der  Natur  Gegebenen  erklären  zu  können,  mufste 
eine  gewisse  Mannigfaltigkeit  der  BeschaflFenheit  schon  in 
den  ursprünglichen  Stoflf  verlegt  werden.  Und  um  die  Ent- 
stehung der  verschiedenen  Mischungsverhältnisse  in  dem  an 
sich  toten  und  bewegungsunfähigen  StoflFe  ableiten  zu  können, 
mufste  femer  als  zweites  Hauptprinzip  der  Welterklärung 


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1.   Empedokles  (um  465).  197 

eine  vom  StoflFe  gesonderte  bewegende  Kraft  angenommen 
werden.  Es  entstehen  so  Systeme,  die  mit  dem  modernen 
Materialismus,  der  alles  aus  dem  Stoffe  und  den  schon  in 
der  unorganischen  Natur  waltenden  Kräften  ableitet,  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  haben. 

Diese  Entwicklung  vollzieht  sich  annähernd  gleichzeitig 
in  drei  verschiedenen  Formen  durch  drei  verschiedene 
Männer  auf  verschiedenen  Schauplätzen,  durch  Empe- 
dokles in  Sizilien,  durch  Anaxagoras  in  Kleinasien  und 
Athen,  durch  Leukippos  wahrscheinlich  in  Unteritalien. 
Und  da  das  System  des  Leukippos  seine  Vollendung  und 
Weiterbildung  in  etwas  späterer  Zeit  durch  seinen  grofsen 
Schüler  Demokrit  erhält,  und  da  femer  in  dieser  Zeit 
auch  noch  einige  Nachzügler  der  hylopsychistischen  Rich- 
tung zu  nennen  sind,  so  erhalten  wir  folgende  fünf  Kapitel : 

1.  Empedokles  (um  465). 

2.  Anaxagoras  (um  460). 

3.  Leukippos  (um  450). 

4.  Die  letzten  Vertreter  des  alten  Hylopsy- 
chismus  (um  430). 

5.  Demokrit  (ca.  420). 

6.  Die  Schule  Demokrits  in   Abdera  (ca.  410 
bis  gegen  300). 

1.   Empedokles  (um  466). 

Empedokles  entstammte  der  reichen  und  blühenden 
Stadt  Agrigent  (Akragas)  im  Süden  Siziliens.  Eine  spätere 
Nachricht  weist  dieser  Stadt  die  für  antike  Verhältnisse 
fabelhafte  Zahl  von  800000  Einwohnern  zu  und  legt  Empe- 
dokles in  bezug  auf  seine  Landsleute  das  Witzwort  bei: 
„Sie  prassen,  als  ob  sie  morgen  sterben  würden,  und  bauen 
Häuser,  als  ob  sie  ewig  leben  würden"  (D.  L.  VIII.  63). 
Schon  sein  Grofsvater  war  dort  ein  reicher  und  angesehener 
Mann  und  huldigte  dem  nur  für  sehr  Begüterte  zugäng- 
lichen Rennsport  mit  dem  Viergespann.  Sein  Name  wurde 
in  den  Verzeichnissen  der  Olympiasieger  für  das  Jahr  496, 
also  kurz  vor  der  Geburt  seines  Enkels,  als  Sieger  mit  dem 


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198  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Viergespann  verewigt  (D.  L.  VIII.  51).  Empedokles  selbst 
ist  um  492  geboren.  Er  mufs  ein  frühreifer  Geist  gewesen 
sein.  Schon  bald  nach  470,  also  in  den  zwanziger  Jahren, 
trat  er  in  seiner  Vaterstadt  politisch  hervor.  Es  mufs  also 
seine  wissenschaftliche  Lehrzeit,  namentlich  soweit  sie  etwa 
mit  persönlichem  Aufenthalt  in  anderen  Städten  verbunden 
war,  vor  diesen  Zeitpunkt  fallen. 

Die  äufseren  Zeugnisse  über  seinen  philosophischen 
Bildungsgang  weisen  auf  Parmenides  und  die  Py t ha- 
ger eer  hin,  sind  aber  nur  teilweise  zuverlässig.  Nach 
Theophrast  war  er  Anhänger  oder  Nacheiferer  des  Par- 
menides und  Nachahmer  desselben  auch  in  der  dichterischen 
Form  seines  Lehrvortrags,  mehr  noch  aber  der  Pythagoreer 
(D.  L.  55 ;  D.  477).  Eine  persönliche  Schülerschaft  bei  Parme- 
nides behauptet  Alkidamas,  ein  Schüler  des  Gorgias,  der 
wieder  Schüler  des  Empedokles  war  (D.  L.  56).  Dies 
Zeugnis  des  Alkidamas  verliert  aber  alles  Ansehen,  wenn 
er  die  Schülerschaft  bei  Parmenides  in  dieselbe  Zeit  mit 
der  des  über  20  Jahre  älteren  Zeno  verlegt  und  ihn  femer 
auch  zum  Schüler  des  Anaxagoras  und  I^thagoras  macht. 
Nun  ist  zwar  eine  persönliche  Schülerschaft  bei  Parmenides 
der  Zeitfolge  nach  nicht  unmöglich,  da  dieser,  geboren  um 
540,  um  470  noch  gelebt  haben  kann;  andernteils  aber 
konnte  Empedokles  wie  die  poetische  Form,  so  auch  den 
Lehrinhalt  des  Gedichts  diesem  selbst  entnehmen.  In  einigen 
Angaben  wird  er  sogar  noch  zum  persönlichen  Schüler  des 
Xenophanes  gemacht,  dem  er  auch  die  dichterische  Form 
entlehnt  habe  (D.  L.  VIII.  56,  IX.  20).  Dies  ist  nun,  wenn- 
gleich Xenokrates  noch  um  478  gelebt  hat,  kaum  denkbar. 
Immerhin  aber  mag  der  jugendliche  Feuergeist,  wenn  er 
auszog,  um  Weisheit  zu  gewinnen,  seine  Schritte  zunächst 
nach  Elea  gerichtet  haben. 

Noch  weniger  haltbar  sind  in  den  Einzelheiten  die 
Zeugnisse  für  seine  Beziehungen  zu  den  Pythagoreem. 
Nach  Angabe  des  Geschichtschreibers  Tim  aus  um  280  vor 
Chr.  (D.  L.  54)  soll  er  Schüler  des  Pythagoras  selbst  ge- 
wesen sein.  Dies  ist  der  Zeitfolge  nach  unmöglich.  Und 
ebenso   hinfällig    ist    die    von   diesem   Autor   hinzugefügte 


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1.   Empedokles  (um  465).  199 

Geschichte,  er  sei  wegen  Aneignung  pythagoreischer  Lehren 
in  seinen  eigenen  Schriften  von  den  Vorträgen  des  Pytha- 
goras  ausgeschlossen  worden.  Neanthes  (um  240  vor  Chr.) 
(D.  L.  55)  macht  ihn  wenigstens  nicht  zum  Schüler  des 
Pythagoras  selbst,  sondern  nur  der  Pythagoreer,  berichtet 
aber  wenigstens  auch,  diese  hätten  nach  der  Veröflfent- 
Jichung  ihrer  Lehren  in  seinen  Gedichten  die  ^allgemeine 
Bestimmung  getroffen,  künftig  Dichter  nicht  mehr  zuzu- 
lassen. 

Nach  der  inneren  Beschaffenheit  seiner  Lehre  hat  er 
zur  Grundrichtung  seines  Denkens  den  Anstofs  durch  die 
eleatische  Lehre  erhalten  und  hat  femer  wesentliche  Einzel- 
züge seiner  Lehre  aus  dem  pythagoreischen  Hauptsystem 
übernommen.  Und  da  er  letzteres  nur  durch  mündliche 
Überlieferung  kennen  lernen  konnte,  so  wird  wohl  wenig- 
stens ein  zeitweiliger  Aufenthalt  in  Kroton  angenommen 
werden  müssen. 

Auf  diese  Lehrzeit  folgte  alsbald  die  selbständige  Aus- 
bildung seiner  eigenen  Ideen,  sowie  die  Ausbreitung  der- 
selben im  mündlichen  Verkehr  und  die  Abfassung  seines 
Lehrgedichtes  „Über  die  Natur".  Dafs  er  zur  Zeit  der 
Abfassung  dieser  Dichtung  Anhänger  hatte,  beweist  die  darin 
vorkommende  Anrede  an  einen  derselben,  namens  Pausa- 
nias,  der  auch  anderweitig  als  Lieblingsschüler  von  ihm 
erwähnt  wird  (D.  L.  60). 

Gehen  wir  zunächst  auf  den  Inhalt  dieses  Lehrgedichts 
ein.  Erhalten  sind  von  demselben  über  300  Verse,  mut- 
mafslich  ungefähr  der  sechste  Teil  (Diels,  Die  Gedichte 
des  Empedokles,  [Sitzungsber.  der  Berl.  Akad.,  1898).  Er- 
gänzt wird  unsere  Kenntnis  seiner  Naturlehre  durch  die 
Zeugnisse  Späterer,  namentlich  des  Aristoteles  und  Theo- 
phrast  (alles  auf  sein  Leben,  seine  Lehre  und  seine  Dich- 
tungen überhaupt  Bezügliche  bei  Diels,  Fragmenta  poet. 
philos.). 

Im  Eingange  des  Gedichts  (denn  dahin  wird  doch  wohl 
Fr.  111  gehören)  stellt  er  dem  Angeredeten  die  unerhör- 
testen Fähigkeiten  in  Aussicht,  die  er  durch  die  zu  ver- 
kündende Lehre  erlangen  wird.     Sie   wird   ihn   befähigen, 


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200  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Krankheiten  zu  heilen,  das  Alter  unschädlich  zu  machen, 
verderbliche  Winde,  die  die  Fluren  verwüsten,  zu  be- 
schwichtigen oder  auch  hervorzurufen,  Dürre  und  Regen  zu 
schaffen,  ja  Tote  aus  der  Unterwelt  zurückzurufen.  Wir 
sehen,  Empedokles  ist  nicht  der  Mann,  dem  es  blofs  um 
•theoretische  Erkenntnis  der  Natur  zu  tun  ist;  er  ist  ein 
antiker  B^co  von  Verulam,  der  ja  auch  verhiefs,  dafs 
eine  gesteigerte  Naturerkenntnis  den  Menschen  „handeln 
lehren  werde  wie  die  Natur".  Gewifs  hat  er  hier  den  Mund 
etwas  zu  voll  genommen  und  Dinge  verheifsen,  an  deren 
Verwirklichung  er  im  Ernst  selbst  nicht  glauben  konnte. 
Er  ist  eben  schon  in  dieser  rein  naturwissenschaftlichen 
Periode  eine  Mischung  von  Newton  und  Cagliostro,  wie 
Renan  von  ihm  gesagt  hat. 

Dennoch  scheint  diesen  prahlerischen  Verheifsungen  ein 
tatsächlicher  Kern  zu  Grunde  zu  liegen.  Nach  dem  alten 
Geschichtschreiber  Timäus  (um  260;  D.  L.  60)  soll  er 
durch  schlauchartig  hergerichtete  und  auf  den  Höhen  an- 
gebrachte Eselsfelle  die  versengenden  Passatwinde  (den 
Sirokko)  unschädlich  gemacht  und  sich  dadurch  den  Namen 
des  „Windab wehrers"  erworben  haben.  Vielleicht  liegt  in 
diesem  Bericht  in  der  Verwendung  von  Eselsfellen  und  in  der 
Schlauchform  eine  durch  abergläubische  Vorstellungen  und 
Erinnerungen  an  die  Odysseussage  herbeigeführte  Entstellung 
der  Überlieferung.  Der  Esel  war  den  unterirdischen  Göttern 
geweiht,  und  die  Schläuche  erinnern  an  die  in  Schläuche 
eingeschlossenen  Winde  der  Odyssee.  Vielleicht  ist  die  zu 
Grunde  liegende  Tatsache  die  Vermauerung  von  engen  Berg- 
schluchten oder  auch  die  Absperrung  derselben,  durch  die 
der  Sirokko  einbrach  (Plut.  Kolot.  32),  durch  ausgespannte 
Tierhäute.  Nach  einem  anderen  Bericht  (D.  L.  70)  soll  er 
in  Selinus  einen  die  Luft  verpestenden  und  die  Gesundheit 
der  Bewohner  schädigenden  Flufs  durch  Hineinleitung  ge- 
sunden Wassers  gereinigt  haben.  Ebenso  wird  die  Heilung 
einer  von  den  Ärzten  aufgegebenen  Frau  (D.  L.  69),  sowie 
die  Wiederbelebung  einer  Scheintoten  durch  ihn  erwähnt. 
Letzteren  Vorfall  hatte  Heraklides  von  Pontos  in  zwei 
verschiedenen  Schriften  behandelt  (D.  L.  63,  67).    Eine  der- 


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1.   Empedokles  (um  465).  201 

selben  führte  sogar  den  Titel  „Über  die  Scheintote".  In 
ihr  war  der  Vorfall  offenbar  romanhaft  ausgeschmückt;  der 
Scheintod,  der  nach  anderen  Angaben  (Plin.  H.  N.  VII.  52) 
nur  sieben  Tage  dauerte,  wird  hier  ein  30tägiger,  und 
Empedokles  benutzt  hier  den  Anlafs,  um  durch  unerklär- 
liches Verschwinden  unter  wunderbaren  Erscheinungen  den 
Glauben  an  seine  Entrückung  unter  die  Götter  hervorzu- 
rufen. Nach  den  einfacheren  Berichten  scheint  Empedokles 
an  dem  sonst  völlig  erstarrten  Körper  in  der  Gegend  des 
Herzens  noch  eine  Spur  von  Wärme  entdeckt  und  durch 
Beseitigung  einer  Abnormität  in  der  Lage  der  Gebärmutter 
(Plin.  a.  a.  0.)  die  Erstarrung  beseitigt  zu  haben.  Viel- 
leicht hatte  er  selbst  im  Gedichte  den  Vorgang  erwähnt 
(D.  L.  60),  und  zwar  in  dem  Zusammenhange,  wo  er  den 
Schlaf  als  partielle  und  den  Tod  als  totale  Abkühlung  des 
Blutes  erklärte  (l).  435,  437).  Dafs  er  durch  solche  Taten 
bei  den  Unkundigen  in  den  Ruf  eines  Zauberers  kommen 
mufste  (D.  L.  59),  ist  selbstverständlich. 

In  dem  Ausgangspunkte  seiner  Lehre  nun  stimmt  er 
bis  auf  den  Wortlaut  mit  Parmenides  überein.  Es  kann 
kein  absolutes  Werden,  kein  Werden  aus  dem  Nichts  und 
kein  absolutes  Vergehen  als  Vergehen  ins  Nichts  geben 
(Arist.  314  b,  7;  D.  320).  Aber  die  völlige  Leugnung  des 
Werdens  und  Vergehens  selbst  macht  er  darum  doch  nicht 
mit.  Es  gibt  ein  Werden  und  Vergehen  im  relativen  Sinne, 
nämlich  als  Mischung  und  Entmischung  vorhandener  un- 
veränderlicher StoflFe  von  verschiedener  BeschaflFenheit.  „Ein 
Werden  gibt  es  von  nichts,  noch  ein  Vergehen,  sondern  nur 
Mischung  und  Entmischung  des  Gemischten.  Werden  (Physis) 
aber  nennen  es  die  Menschen"  (Fr.  6;  vergl.  Fr.  114; 
Aristot.  314  b,  16;  D.  32(5).  Diese  Stoffe  sind  Erde,  Wasser, 
Luft  und  Feuer. 

Schon  bei  Anaximander  und  Anaximenes  waren 
diese  vier  angeblichen  Stoffe  vorgekommen,  wenngleich  nur 
als  ümwandlungsprodukte  des  einheitlichen  Urstoffes.  Be- 
ziehungen des  Empedokles  zu  Anaximander  werden  auch  in 
den  vorhandenen  Nachrichten  (D.  L.  VIII.  7)  noch  ange- 
deutet, wenngleich  nur  in  der  Weise,  dafs  er  als  dessen 


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202  Erste  Periode.  Dritter  Absclin.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Nachahmer  im  äufseren  Auftreten  bezeichnet  wird.  Aber 
auch  darin  blickt  eine  Abhängigkeit  von  Anaximander  noch 
durch,  dafs  er  nach  dem  Zeugnis  des  Aristoteles  (985, 
31;  330  b,  19)  das  Feuer  den  drei  übrigen  Stoffen  entgegen- 
setzte und  so  die  Vierzahl  auf  eine  Zweizahl  zurückführte. 
Übrigens  hatte  auch  Parmenides  aus  seiner  ursprüng- 
lichen Z  weih  ei  t  diese  Vierzahl  hervorgehen  lassen.  Tat- 
sächlich sind  drei  dieser  angeblichen  Elemente,  im  weiteren 
Sinne  gefafst,  Aggregatzustände;  das  vierte  ist  ein  chemi- 
scher Prozefs.  Indem  aber  Empedokles  diese  vier  Stoflfe  zu 
UrstolTen  verabsolutierte,  ist  er  der  Urheber  der  das  spätere 
Altertum  beheiTSchenden  und  bis  zur  Neuzeit  geltend 
gebliebenen  Lehre  von  den  vier  Elementen  geworden. 

Aus  diesen  vier  Stoffen  nun  bestehen  alle  Einzeldinge, 
wenngleich  nicht  in  jedem  alle  enthalten  sind.  Die  unend- 
liche Mannigfaltigkeit  der  Dinge  erklärt  sich  dadurch,  dafs 
das  Mischungsverhältnis  ein  unendlich  verschiedenes  ist 
(D.  43  flf.).  Die  Weise  der  Verbindung  ist  mechanische 
Mischung,  in  der  Art,  dafs  die  Teilchen  des  einen  Stoffes 
in  die  Zwischenräume  oder  Öffnungen  (Poren)  des  anderen 
eintreten  (Aristot.  325  b,  10).  Die  Theorie  der  mechanischen 
Mischung  hat  zur  Voraussetzung  die  Annahme  eines  Leeren 
in  irgend  einer  Form,  wenngleich  Empedokles  das  eigent- 
liche Leere  verneint  haben  soll  (Z.  768,  1).  Vielleicht  aber 
bezieht  sich  diese  Leugnung  des  Leeren  bei  ihm  nur  auf 
den  vorweltlichen  Zustand  der  völligen  Durchdringung  der 
Elemente,  von  dem  nachher  die  Rede  sein  wird.  Er  mufs 
doch  einen  vom  Stoffe  nicht  ausgefüllten  Raum  angenommen 
haben,  wenn  er  auch  denselben  vielleicht  mit  Parmenides 
als  das  Nichtseiende  bezeichnete  (Arist.  326  b,  8;  Theophr. 
de  sensu  13).  Die  Elemente  existieren  in  der  Form  sehr 
kleiner,  runder  Teilchen  (D.  312,  315,  320;  Arist.  305,  2; 
325  b,  5;  Fr.  96).  Der  Grundschwierigkeit  dieser  Lehre 
von  kleinsten  Stoffteilchen,  ferner  der  unendlichen  Teilbar- 
keit des  Stoffes  scheint  er  sich  dadurch  entzogen  zu  haben, 
dafs  er  sagte,  die  kleinsten  Teilchen  der  Elemente  seien 
zwar  an  sich  noch  weiter  teilbar,  teilten  sich  aber  nicht 
weiter  (Arist.  305,  1). 


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1.    Empedokles  (um  465).  20B 

Die  Grundstoffe  besitzen  nicht  nur  nicht  mehr  die 
Wandlungsfähigkeit,  wie  in  den  hylopsychistischen  Systemen, 
es  feHt  ihnen  auch  jede  Art  von  Eigenbewegung,  Die  ihre 
Mischung  und  Entmischung  bewirkenden  Kräfte  liegen  nicht 
in  ihnen  selbst.  Die  Triebkräfte  der  Bewegung  werden  jetzt 
vom  Stoffe  gesondert.  Es  sind  ihrer  zwei:  die  Liebe  als 
die  Kraft  der  Verbindung  des  Ungleichartigen  und  der  Streit 
als  die  Kraft  der  Trennung  des  Ungleichartigen,  also  in- 
direkt als  die  der  Zusammenführung  des  Gleichartigen.  Ein 
Einflufs  des  Parmeuides  zeigt  sich  hier  wenigstens  in 
der  Liebe,  die  auch  geradezu  als  Aphrodite  bezeichnet  wird 
(Plato,  Soph.  242 D).  Den  Streit  konnte  er  aus  Heraklit 
entnehmen.  Jedenfalls  nimmt  er  in  noch  ganz  mythologisch- 
poetischem Sinne  und  in  Ermangelung  physischer  Kräfte  zwei 
Triebkräfte  des  Menschenlebens  einfach  in  die  unorganische 
Natur  hinüber.  Doch  ist  diesem  primitiven  Denker  der 
Unterschied  von  Kraft  und  Stoff  noch  so  wenig  aufgegangen^ 
dafs  er  auch  von  diesen  beiden  Kräften  redet  wie  von 
körperlichen  Stoffen,  die  den  Dingen  beigemischt  sind  (Arist. 
314,  16;  1091b,  12). 

Empedokles   scheint  nun    im    Prinzip   wie    Heraklit 
einen  regelmäfsigen  Wechsel  von  Entstehen  und  Vergehen 
der  Welt  angenommen  zu  haben  (Arist.  187,  24;  250  b,  26; 
252,  5;    279b,  15;    187,  20;    Z.  778).    Dies   konnte   nach 
seinen  Voraussetzungen  nur  so  geschehen,   dafs  einmal  die 
Liehe  eine  vollständige,  gleichmäfsige  Mischung  der  Elemente 
unter  Aufhebung  aller  Mannigfaltigkeit  der  Mischungsver- 
hältnisse hervorgebracht  hatte,  aus  welchem  Zustande  dann 
durch  Wirksamwerden  des  Streites  eine  fortschreitende  Zu- 
sammenführung  des  Gleichartigen  hervorging  bis  zur  völligen 
Sonderung  der  Elemente.    Diesen  Zustand,  der  aber  wohl 
nur  ein  gedachter,  niemals  wirklich  werdender  ist,  nannte 
er  Chaos.     Sodann  aber  durch  Wiedereintreten  der  Liebe 
eine   fortschreitende  Vermischung    in    den   mannigfachsten 
Mischungsverhältnissen.    Es  gäbe  also  danach  zwei  entgegen- 
gesetzte naturlose  Zustände,  den  der  vollständigen  Durch- 
dringung  und   den  der  vollständigen  Sonderung  aller  Ele- 
mente, und  zwischen  diesen  beiden  Endpunkten  zwei  mögliche 


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204  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt« 

Arten  der  Weltentwicklung,  durch  Eintreten  des  Streits 
und  der  Liebe  (Fr.  17).  Dieser  Umschlag  im  Wirken  der 
beiden  Kräfte  ist  ja  freilich  ebensowenig  naturwissenschaft- 
lich; er  ist  noch  ebenso  mythologisch  wie  die  beiden  Kräfte 
selbst.  Er  ist  einfach  ein  nicht  weiter  zu  erklärendes,  als 
tatsächlich  hinzunehmendes  Weltgesetz.  Empedokles  ist 
jedoch  tatsächlich  auf  diese  doppelte  Möglichkeit  der  Ent- 
stehung des  Weltprozesses  nicht  eingegangen,  sondern  hat 
nur  von  dem  einen  Ausgangspunkte  aus,  der  alleinigen 
Herrschaft  der  Liebe,  seine  Welt  entstehen  lassen  (Aristot. 
301,  15;  334,  5). 

Den  Zustand,  von  dem  diese  Entwicklung  ausgeht, 
nennt  er  „Kugel"  (Sphairos).  Diese  Benennung  erinnert 
wieder  an  Parmenides.  Dessen  Lehre  konnte  ihn  auch 
veranlassen,  von  diesem  Zustande  der  Alldurchdringung  der 
Elemente  seinen  Ausgangspunkt  zu  nehmen.  In  dieser  Kugel 
wird  in  einem  gegebenen  Momente  der  Streit  wirksam,  der 
das  Ungleichartige  auseinanderführt  und  dadurch  das  Zu- 
sammentreten des  Gleichartigen  ermöglicht.  Eine  Ursache 
für  diesen  Beginn  des  Weltprozesses  gab  er  nicht  an.  Es 
war  ihm  ein  Weltgeschick,  das  einfach  als  Tatsache  hin- 
genommen werden  mufs  (Arist.  1000  b,  12). 

Durch  die  trennende  Wirkung  des  Streites  wird  nun 
zunächst  die  Luft  aus  der  Masse  ausgesondert  und  ergiefst 
sich  rings  um  den  Sphairos  (D.  334,  582).  Dann  sondert 
sich  das  Feuer  aus  und  ergiefst  sich  in  demselben  Räume 
wie  die  Luft.  Dieser  Beginn  der  Sonderung  mit  den  beiden 
leichtesten  Elementen  beweist,  dafs  er  sich  den  Streit  nicht 
als  mechanisch  sondernde  Zentrifugalkraft  gedacht  hat.  In 
diesem  Falle  hätte  sich  ja  zunächst  das  Schwerere  absondern 
müssen.  Durch  die  Wirkung  des  Feuers  verhärtet  sich  ein  Teil 
der  Lufthülle  zum  glasartigen  Himmelsgewölbe  (D.  339),  an 
dessen  innerer  Fläche  jetzt  das  Feuer  ausgebreitet  ist  (D.  582). 
Diese  feste  Begrenzung  der  Welt  stimmt  mit  der  „Trug- 
lehre" des  Parmenides  überein.  Eine  weitere  Scheidung 
vollzieht  sich  an  dem  im  Inneren  der  Kugel  verbleibenden 
Stoffe,  der  Mischung  von  Erde  und  Wasser,  die  sich,  ent- 
sprechend der  Ausscheidung  von  Luft  und  Feuer,   in  einen 


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1.   Empedokles  (um  465).  205 

engeren  Raum  zusammengezogen  hat  (D.  334),  Unter  Mit- 
wirkung einer  Wirbelbewegung  prefst  sich  das  Wasser  aus 
der  Erde  heraus  (D.  334),  während  zugleich  die  aus- 
trocknende Wirkung  der  Feuerhülle  die  Erde  fest  werden 
läfst.  Wohl  in  diesem  Zusammenhange  hat  Empedokles  das 
Meer  den  „Schweifs  der  Erde"  genannt  (Arist.  357,  24; 
D.  381),  was  natürlich  nicht  im  Sinne  einer  Umwandlung 
der  Erde  in  Wasser  verstanden  werden  darf.  Die  die  Erde 
umgebende  atmosphärische  Luft  ist  von  der  Luft  als  Element 
verschieden;  sie  entsteht  durch  Verdunstung  des  Wassers 
durch  Wirkung  der  Feuerhülle,  ist  also  eigentlich  Wasser 
(D.  334). 

Bis  dahin  hat  sich  also  folgender  Zustand  ergeben. 
Innerhalb  der  äufsersten  Kugelhülle,  des  Firmamentes  aus 
geschmolzener  Luft,  hat  sich  als  innere  Kugelhülle  das 
Feuer  ausgebreitet.  Im  Inneren  der  Kugel  befindet  sich, 
umgeben  vom  Wasser  und  der  aus  dem  Wasser  entstandenen 
atmosphärischen  Luft,  als  letzter  Rückstand  des  Sphairos 
die  Erde,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  mit  Parmenides 
als  kugelförmig  gedacht.  Das  Verharren  der  Erde  in  der 
Mitte  der  Welt  scheint  er  durch  die  Wirbelbewegung  der 
sie  umgebenden  Elemente  erklärt  zu  haben  (Plato  Phaed. 
99  B;  Arist.  295,  16). 

Der  weitere  Verlauf  der  Weltbildung  ist,  da  die  be- 
treffenden Teile  des  Gedichts  fast  völlig  verloren  sind  und 
die  abgeleiteten  Nachrichten  wegen  Kürze,  Unklarheit  und 
Verderbnis  des  Textes  teilweise  unverständlich  bleiben,  nicht 
mehr  vollständig  zu  ermitteln.  Vielleicht  liefs  er  die  Feuer- 
hülle mit  der  Sonne  und  die  dunkle,  aber  mit  den  Fix- 
sternen als  zurückgebliebenen  Teilen  der  ursprünglichen 
Feuerhülle  versehene  Lufthülle  (D.  341  f.,  582)  sich  in  zwei 
Hilften  einer  einheitlichen  Kugelschale  umwandeln  (D.  438), 
welche  letztere  nun  durch  ihren  Umschwung  um  die  Erde 
den  Wechsel  von  Tag  und  Nacht  hervorbringt  (Z.  787; 
D.  339,  582,  623).  Und  da  nach  einer  anderen  Stelle 
(D.  582)  die  Fixsterne  am  Himmelsgewölbe  befestigt  sein 
sollen,  müfste  er  auch  dies  an  diesem  Umschwünge  haben 
teihiehmen  lassen  (Arist.  295,  16;  284,  24). 


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206  Erste  Periode.  Dritter  Absclm.  StofF  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Zu  dieser  Annahme  stehen  aber  in  unlösbarem  Wider- 
spruche die  Angaben  über  die  Beschaffenheit  der  Sonne. 
Diese  ist  nur  das  am  Firmamente  entlang  wandernde  Spiegel- 
bild des  unter  der  Erde  befindlichen  Feuers.  Sie  wird  in 
diesem  Sinne  geradezu  mit  einer  Abspiegelung  im  Wasser 
verglichen  (D.  350  f.,  582,  626;  Plut.  de  orac.  c.  12).  Die 
eigentliche  Sonne  ist  entweder  die  unter  der  Erde  befind- 
liche Feuerhalbkugel  als  Ganzes  oder  ein  besonderer  Teil 
derselben  (D.  334,  350;  D.  L.  VIII.  77).  Danach  müfste 
er  angenommen  haben,  dafs  sich  die  Feuerhemisphäre  am 
Tage,  ja  vielleicht  dauernd ,  unterhalb  der  bewohnten  Seite 
der  Erde  befinde.  Dann  bleibt  aber  immer  noch  mehreres 
unverständlich.  Zunächst  die  kreisförmige  Gestalt  des 
Sonnenbildes.  Nach  einigen  Stellen  (D.  350  f )  scheint  es, 
als  ob  er  in  der  Sonne  ein  Spiegelbild  der  dem  Feuer  im 
Wege  stehenden  Erde  gesehen  hätte.  Er  hätte  sie  dann 
für  dunkel  gehalten  und  das  Tageslicht  aus  den  seitwärts 
von  der  Erde  nach  oben  dringenden  Strahlen  des  unteren 
Feuers  abgeleitet.  Dem  widerspricht  aber  ein  Vers  des 
Gedichts  (251  Motto),  nach  dem  durch  das  Dazwischentreten 
der  Erde  gerade  die  Nacht  bewirkt  werden  soll  (vergl.  Plut. 
-^^Plat.  p.  lOah)-  Zweitens  aber  auch  die  tägliche  Wan- 
derung dieses  Spiegelbildes  von  Ost  nach  West.  Und  end- 
lich der  Wechsel  von  Tag  und  Nacht.  Weder  wenn  die 
Feuerhemisphäre  nachts  nach  oben  kommt,  noch  wenn  sie 
unten  bleibt,  aber  dauernd  ihre  Strahlen  nach  oben  sendet, 
kann  es  Nacht  werden. 

Kurz,  es  ist  hier  eine  unausftillbare  Lücke  in  der  Bericht- 
erstattung (vergl.  Zeitschr.  für  Philos.  Band  104).  Nur  wenn 
wir  die  Vorstellung  von  den  beiden  Sonnen  als  eine  Empe- 
dokles  angedichtete  Fälschung  ansehen  wollten,  liefse  sich 
ein  einheitliches  und  verständliches  Weltbild  herstellen. 
Jedenfalls  aber  zeigt  diese  Vorstellung  von  der  Sonne  als 
blofsem  Spiegelbilde  eines  uns  verborgenen  Lichtes  auf  einer 
glasartigen  Fläche  eine  so  grofse  Verwandtschaft  mit  dem 
pythagoreischen  Hauptsystem,  dafs  im  Falle  ihrer  Richtig- 
keit eine  Entlehnung,   also   eine  Beeinflussung   durch  den 


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1.   Empedokles  (am  465).  207 

wisseDSchaftlichen  Pythagoreismus  unbedingt  angenommen 
werden  mufs. 

Der  Mond  ist  ein  vom  Firmament  abgesonderter  Teil 
des  orsprOnglichen  Schmelzungsprozesses  (D.  357),  also  glas- 
artig, von  scheibenförmiger  Gestalt  (D.  358;  D.  L.  VIII.  77). 
Er  ist  doppelt  so  weit  von  der  Sonne  (also  vom  Firmament) 
wie  von  der  Erde  entfernt  (D.  362).  Er  empfängt  sein  Licht 
von  der  Sonne ;  Empedokles  mufs  ihm  jedoch ,  da  in  ihm, 
ähnlich  wie  im  Firmament,  zurückgebliebene  Feuerteile  sind 
(D.  357),  auch  ein,  wenngleich  schwaches,  Eigenlicht  bei- 
gelegt haben.  Die  Planeten  werden  deutlich  von  den  Fix- 
sternen unterschieden  (D.  342),  doch  fehlen  nähere  Nach- 
richten über  die  sie  betreffende  Lehre. 

Zu  bemerken  ist  noch,  dafs  Empedokles  bei  dieser 
Weltbildung,  ähnlich  vrie  Anaximander,  aufser  der  my- 
thologischen Triebkraft  des  Streites  auch  die  erfahrungs- 
mäfsigen  Kräfte  und  Wirkungen  der  Elemente,  insbesondere 
des  Feuers  als  Schmelzung,  Austrocknung  und  Verdunstung, 
in  Tätigkeit  treten  läfst.  Er  läfst  in  naiver,  halb  unbe- 
wufster  Weise  im  geeigneten  Momente  diese  natürlichen 
Wirkungen  der  Tätigkeit  des  Streites  zur  Seite  treten,  ja 
diese  geradezu  ablösen.  Vielleicht  *  beruht  darauf  auch  die 
von  Aristoteles  bezeugte  Sonderstellung,  die  er  dem  Feuer 
im  Vergleich  mit  den  drei  übrigen  Elementen  anwies,  sowie 
die  Angabe,  er  lasse  die  Teilchen  der  Elemente  „durch 
Wärme,  Weichheit  und  Feuchtigkeit  wie  durch  einen  Leim" 
verbunden  sein  (Plut.  Kolot.  10).  Selbstverständlich  ist  in 
der  so  gewordenen  Welt  die  Entmischung  keine  vollständige. 
Ausdrücklich  wird  bezeugt,  dafs  in  der  Welt  die  Mischung 
der  Elemente  stets  vorhanden  ist  (D.  336).  Entsprechend 
mufs  also  in  ihr  auch  ein  partielles  Fortwirken  der  Liebe 
gedacht  werden.  Sie  zeigt  ein  ständiges  Wechselspiel  der 
beiden  Grundkräfte. 

Von  den  organischen  Wesen  sind  die  Pflanzen  vor  der 
Entstehung  des  gegenwärtigen  Weltzustandes,  in  dem  Tag 
und  Nacht  wechseln,  aus  der  Erde  entstanden  (D.  438). 
Sie  sind  beseelt,  was  aber  bei  Empedokles  kein  Hinausgehen 
über  die  Natur  der  Elemente  bedeutet,  da  auch  die  Seele 


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208  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

aus  den  Elementen  besteht  (Z.  792).  Von  den  animalischen 
Wesen  sind  zuerst  einzelne  Glieder  (z.  B.  Augen,  Arme, 
Häupter  ohne  Hälse;  Di  eis  Fr.  57)  aus  dem  Boden  her- 
vorgewachsen. Diese  wurden  dann  durch  Wirkung  der 
Liebe  —  die  hier  besonders  deutlich  als  blinde,  zwecklos 
waltende  Naturmacht  erscheint  —  zu  unförmlichen  Gestalten 
verbunden.  Es  entstehen  Wesen  mit  Doppelgesichtern  oder 
doppelter  Brust,  Stiere  mit  Menschenköpfen  und  Menschen 
mit  Stierköpfen,  Rinder  mit  Händen  u.  dgl.  (Fr.  61;  Arist. 
430,  28;  198  b,  31;  640,  19;  Plut.  Kolot.  27).  Diese  sind 
aber  weder  lebens-  noch  fortpflanzungsftlhig.  In  diesem 
Gedanken  liegt  wenigstens  ein  entfernter  Anklang  an 
Darwins  natürliche  Auslese,  weshalb  auch  Aristoteles 
(198b,  16)  bei  der  Erwägung  der  Möglichkeit  zweckmäfsiger 
Bildungen  ohne  natürliche  Zwecktätigkeit  diese  Lehre  des 
Empedokles  als  Beispiel  heranzieht.  Eine  Fortentwicklung 
durch  Anpassung  und  Vererbung  erworbener  Eigenschaften 
hat  er  jedenfalls  noch  nicht  gelehrt;  diese  wird  vielmehr 
ersetzt  durch  die  fortgehenden  npuen  Zusammenballungen, 
bis  lebensfähige  Organismen  —  aber  doch  auch  nur  durch 
Zufall !  —  entstehen  (D.  430). 

Eine  besondere  Seele  gibt  es  nicht;  die  Seelentätig- 
keiten vollziehen  sich  durch  die  Elemente.  Die  Sinnes- 
wahmehmungen  entstehen  durch  Berührung  des  Gleich- 
artigen in  dem  betreffenden  Sinnesorgan  mit  dem  Gleich- 
artigen im  Wahrgenommenen  (Fr.  109;  Aristot.  1009  b,  17: 
S.  Emp.  Gramm.  303).  Beim  Gesichtssinn  sind  dies  unsicht- 
bare Ausflüsse,  die  sich  fortwährend  von  den  Objekten  los- 
lösen und  mit  solchen  des  Auges  zusammentreflFen;  beim 
Gehör  ist  es  die  bewegte  Luft,  die  ins  Ohr  eindringt 
(Fr.  89;  Z.  800,  4  f.;  801,  2).  Wegen  der  von  ihm  (Fr.  2) 
behaupteten  Unzulänglichkeit  der  Sinneserkenntnis  wurde 
er  zu  den  Vorläufern  der  Skepsis  gerechnet  (Cic.  Acad.  II. 
74;  D.  L.  IX.  73).  Das  Denken  geschieht  durch  das  Blut 
in  der  Nähe  des  Herzens,  in  dem  die  Elemente  am  innigsten 
gemischt  sind,  wo  also  für  alles  von  aufsen  Eintretende  am 
ersten  ein  Gleichartiges  zur  Aufnahme  bereit  ist.  Es  ist 
also    tatsächlich    auch    nur    ein   inneres   Wahrnehmen    des 


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1.   Empedokles  (um  465).  209 

Gleichartigen  durch  das  Gleichartige  (Fr.  105;  Arist.  427, 
26;  1009b,  17).  Trifft  Ungleichartiges  dort  zusammen,  so 
entsteht  Nichtwissen.  Auf  dieselbe  Art  entstehen  auch  die 
Gefühle  (Fr.  107;  D.  502).  Wegen  dieses  kindlichen  Materia- 
lismus, der  das  eigentliche  Wesen  der  Schwierigkeit  noch 
gar  nicht  ahnt,  wird  denn  auch  Empedokles  vorgeworfen, 
dafs  er  nicht  zwischen  der  —  an  die  Organtätigkeit  ge- 
bundenen —  Seele  und  dem  —  unabhängig  von  den  Organen 
existierenden  —  Geiste  unterscheide  (D.  506).  Ganz  folge- 
richtig aber  behauptete  er,  dafs  seelische  Vorgänge  überall 
in  der  Natur  vorkommen,  wo  die  gleichen  Bedingungen  — 
Zusammentreffen  des  Gleichartigen  —  vorhanden  seien,  also 
z.  B.  bei  den  Pflanzen  (Z.  802,  1).  Im  übrigen  hat  seine 
Theorie  von  der  Sinneswahmehmung  wenigstens  das  Ver- 
dienst, dafs  er  hier  zuerst  ein  Problem  sah.  Und  wie 
schwer  es  auf  diesem  Gebiete  dem  Denken  wurde,  sich  den 
eigentlichen  Sachverhalt  klarzumachen,  das  geht  schon 
daraus  hervor,  dafs  die  hervorragendsten  Denker  des  Alter- 
tums sich  seine  Theorie  zu  eigen  gemacht  haben,  und  dafs 
sie  noch  viele  Jahrhunderte  nach  ihm  als  eine  der  möglichen 
Lösungen  Kurs  hatte. 

So  entsteht  in  diesem  System  alles  durch  mechanisch 
bewegte  Stoffe  von  einer  bestimmten  Beschaffenheit.  Von 
einer  unsterblichen  Seele  kann  da  so  wenig  die  Rede  sein 
wie  von  eigentlichen  Göttern;  es  ist  ausgesprochen  materia- 
listisch. Vielleicht  liefs  er  jedoch,  wenn  seine  Erwähnungen 
der  Götter  (Fr.  21,  23)  nicht  blofse  dichterische  Rede- 
wendungen sind,  auch  die  Götter  des  Volksglaubens  aus  der 
Verbindung  der  Elemente  hervorgehen.  Über  eine  waltende 
Tätigkeit  derselben  freilich  verlautet  nichts,  und  auch  des- 
halb ist  diese  Annahme  entstandener  Götter  nicht  wahr- 
scheinlich, weil  er  den  Göttemamen  auch  den  Elementen 
und  den  beiden  Weltkräften  beilegte  (Aristot.  333  b,  21; 
Cic.  N.  D.  I.  29).  Er  versteckte  also,  wie  durchweg  seine 
Vorgänger,  einen  tatsächlichen  Atheismus  unter  einer  mifs- 
bräuchlichen  Verwendung  des  Götternamens.  Doch  scheint 
er  daneben  auch  noch   eine  über  die  Welt  erhabene,  nicht 

Diriig.  I.  14 


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210  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoflfu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

nach  den  rohen  Vorstellungen  des  Volksglaubens  zu  fassende 
Grottheit  angenommen  zu  haben  (Z.  815  f.). 

Einen  Angriff  auf  dieses  System  scheint  noch  Zeno 
von  Elea  in  einer  Schrift  unternommen  zu  haben,  die 
unter  dem  Titel  „Erklärung  des  Empedokles"  angeführt 
wird  (Suidas),  über  deren  Inhalt  aber  nichts  bekannt  ist. 

Gleichzeitig  mit  diesem  Wirken  als  Forscher  und  Lehrer, 
also  in  seinen  jüngeren  Jahren,  hat  Empedokles  auch  eine 
politische  Rolle  in  seiner  Vaterstadt  gespielt.  Wenn  wir 
versuchen,  die  zerstreuten  und  lückenhaften  Angaben  darüber 
in  einen  verständlichen  Zusammenhang  zu  bringen,  so  ergibt 
sich  folgendes.  In  Agrigent  wurde  um  470  ein  Tyrann  ge- 
stürzt und  eine  demokratische  Verfassung  eingeführt  (Diod. 
XI.  59).  Hierbei  scheint  (D.  L.  VIII.  72)  sein  Vater  Meton 
bedeutend  mitgewirkt  zu  haben.  Wenigstens  wird  erzählt, 
dafs  nach  dessen  Tode  neue  Bestrebungen  in  der  Richtung 
auf  die  Tyrannis  hervorgetreten  seien,  und  dafs  Empedokles 
diesen  gegenüber  wirksam  für  die  Eintracht  zwischen  den 
Parteien  und  ftir  bürgerliche  Rechtsgleichheit  eingetreten 
sei.  Als  Zeuge  für  seine  demokratische  Gesinnung  wird 
Aristoteles  angeführt  (D.  L.  63).  Trotzdem  mufs  die 
Demokratie  wieder  in  eine  Geschlechterherrschaft  über- 
gegangen sein.  Es  wird  berichtet,  dafs  er  einen  zur  Herr- 
schaft gelangten  Rat  von  tausend  Männern  nach  dreijährigem 
Bestände  gestürzt  und  die  Demokratie  wiederhergestellt 
habe  (D.  L.  66),  natürlich  unter  Vertreibung  der  Leiter 
dieser  Aristokratie.  In  die  Zeit  dieser  Geschlechterherrschaft 
fallen  wohl  die  Züge,  nach  denen  er  in  bestimmten  Einzel- 
fällen der  Anmafsung  und  Überhebung  der  Notablen  kräftig 
entgegentritt  (D.  L.  64  f.).  Hierzu  pafst  auch  die  Angabe, 
dafs  er  die  Vornehmen  ihrer  Gewalttaten  und  der  Ver- 
schleuderung des  Staatsvermögens  überwiesen  habe  (Plutarch. 
Kolot.  32),  und  das  Lob  einer  gewaltigen  Beredsamkeit,  das 
ihm  Timon  in  den  „Sillen"  (Fr.  26)  erteilt.  Aristoteles 
hat  ihn  geradezu  für  den  Erfinder  der  (durch  technische 
Regeln  geleiteten)  Redekunst  erklärt  (D.  L.  VIII.  57),  und 
in  der  Tat  entwickelte  sich  im  Anschlufs  an  ihn  diese  Kunst 
gerade  in  Sizilien  zu  rascher  Blüte.    Dagegen  mufs  in  die 


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1.  Empedokles  (um  465).  211 

nun  folgende  demokratische  Zeit  das  ihm  beigelegte  Haschen 
nach  Ansehen  beim  Volke  durch  auffallende  Handlungen  der 
Wohlt&tigkeit  und  durch  pomphaftes  Auftreten  in  Kleidung 
und  Gebaren  fallen  (D.  L.  73).  Ebenso  auch  als  Folge- 
erscheinung der  Popularität,  die  ihm  durch  seinen  Kampf 
gegen  die  Geschlechter  und  durch  dies  Auftreten  zugefallen 
war,  die  Anbietung  der  Königswürde,  d.  h.  der  Tyrannis 
(D'.  L.  63).  Den  Massen  müfste  natürlich  ein  volksfreund- 
licher Tyrann  erwünschter  sein  als  die  mutmafslich  doch 
immer  wieder  drohende  Geschlechterherrschaft  Denn  die 
vertriebenen  Häupter  der  Geschlechter  werden  unablässig 
im  Bunde  mit  ihren  zurückgebliebenen  Stammesgenossen 
gegen  die  Demokratie  Sturm  gelaufen  haben.  Empedokles 
schlägt  in  aufrichtiger  Anhänglichkeit  an  die  Demokratie 
die  angebotene  Alleinherrschaft  aus.  Aber  er  mufs  denn 
doch  dem  Ansturm  seiner  Feinde  erlegen  sein.  Vielleicht 
beschuldigte  man  ihn  trotz  der  Ablehnung  auf  Grund  seines 
Haschens  nach  der  Volksgunst  des  Strebens  nach  der 
Tyrannis.  Seine  Verbannung  wird  nicht  direkt  berichtet, 
sie  folgt  aber  aus  der  Angabe,  dafs  noch  weit  später  die 
Nachkommen  seiner  Feinde  die  von  ihm  erstrebte  Rückkehr 
hintertrieben  hätten  (D.  L.  67),  und  dafs  er  in  der  Fremde 
starb  (D.  L.  71). 

Das  war  ein  schwerer  Schlag,  der  ihn  in  den  besten 
Jahren,  vielleicht  um  460  oder  bald  nachher,  aus  einer  in 
jeder  Beziehung  glänzenden,  durch  hohe  Erfolge  seines 
wissenschaftlichen  Strebens,  durch  Reichtum  und  bürgerliche 
Ehren  geschmückten  Lage  hinauswarf  und  ihn,  seiner  Habe 
beraubt,  dem  Elend  und  der  Rechtlosigkeit  des  Verbannten 
preisgab.  Dieser  Schlag  mufste  ihn  bis  ins  Innerste  hinein 
erschüttern,  und  es  kann  nicht  wundernehmen,  wenn  wir 
Empedokles  jetzt,  in  der  zweiten  Hälfte  seines  Lebens,  als 
Vertreter  einer  völlig  anderen  Weltanschauung,  als  Ver- 
künder einer  seiner  bisherigen  diametral  entgegengesetzten 
Lehre  antreifen.  In  der  Tat  geriet  er  unter  den  Einflufs 
der  melancholischen  Orphik  in  ihrer  düstersten  und  welt- 
feindlichsten Gestalt.  Wie  dies  geschah,  darüber  ist  uns 
keine  Nachricht  erhalten.    Kunde  von  der  stattgefundenen 

14* 


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212  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

„Bekehrung"  aber  geben  uns  die  Reste  des  zweiten  der 
von  ihm  verfafsten  Lehrgedichte,  in  dessen  Titel  „Reini- 
gungen" (Kathannol)  schon  der  Gedanke  der  Erlösung  der 
Seele  von  ihrer  Verunreinigung  durch  die  Haft  im  Körper 
zum  Ausdruck  kommt. 

Den  Hauptinhalt  dieser  Dichtung  bildete  die  Ver- 
kündigung, dafs  der  Mensch  ein  gefallener  Gott  ist.  Die 
an  sich  göttlichen  Seelen  sind,  weil  sie  sich  durch  Mord 
oder  Meineid  befleckt  haben,  auf  lange  Zeit  (10000  oder 
gar  30000  Jahre)  in  irdische  Leiber  gebannt  und  müssen 
die  verschiedensten  Leiber  durchwandern  (Fr.  115, 124, 126  f.). 
Selbst  in  Pflanzen  können  sie  einkehren.  Er  selbst  weifs 
sich  als  einen  aus  dem  Himmel  Verbannten.  Er  verflucht 
den  Tag,  an  dem  er  frevelhafte  Speise  zu  sich  genommen 
hat.  Diese  Rede  ist  ebenso  verworren  wie  die  von  der 
Verschuldung  des  Mordes  und  Meineids  im  körperlosen 
Seelendasein.  Die  Erde  ist  ein  Jammertal,  eine  düstere 
Höhle,  voll  Not,  Elend  und  Verbrechen.  Er  selbst  war 
schon  ein  Jüngling,  ein  Mädchen,  ein  Strauch,  ein  Vogel 
und  ein  Fisch  (Fr.  117).  Aber  er  hat  bereits  die  letzte 
Stufe  der  Wanderung  durch  die  Leiblichkeit  erklommen, 
von  der  aus  sich  die  Aussicht  auf  baldige  Heimkehr  in  die 
Götterwelt  eröfl'net.  Es  ist  die  Stufe  der  Wahrsager,  Dichter, 
Ärzte  und  Fürsten  (Fr.  146). 

Wir  bemerken  schon  aus  diesen  Zügen,  dafs  Empedokles 
bereits  das  ihm  oflenbar  unentbehrliche  erhöhte  Selbstgefühl 
so  ziemlich  wiedergewonnen  hat.  Noch  deutlicher  tritt  dies 
in  den  an  die  Freunde  in  Agrigent  gerichteten  Eingangs- 
worten des  Gedichtes  hervor.  Er  überrascht  dieselben  durch 
die  Mitteilung,  dafs  er  ein  unsterblicher  Gott  sei,  nicht  ein 
sterblicher  Mensch,  und  dafs  er  als  solcher  umherziehe,  mit 
priesterlichen  Binden  und  Kränzen  geschmückt.  Wenn  er 
in  eine  Stadt  einziehe,  umdrängten  ihn  Unzählige  ehrfurchts- 
voll, Rat  begehrend  in  bezug  auf  äufseres  Gedeihen,  Orakel- 
sprüche und  Heilung  von  schmerzlicher  Krankheit.  Dies 
entspricht  ganz  der  von  ihm  erreichten  Stufe  eines  Wahr- 
sagers und  Wunderarztes,  der  für  alle  menschlichen  Nöte 
und  Gebrechen  Rat  weifs. 


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1.  Empedokles  (um  465).  213 

Aber  er  verband  oflFenbar  mit  dieser  Schilderung  seiner 
neuen  Herrlichkeit  einen  besonderen  Zweck.  Es  ist  die 
Rede  von  einem  Versuche,  seine  Rückkehr  nach  Agrigent 
zu  ermöglichen  (D.  L.  67).  Sehr  wahrscheinlich  wollte  er 
durch  die  „Reinigungen''  diese  Möglichkeit  anbahnen.  Dazu 
stimmen  auch  die  Lobpreisungen,  mit  denen  er  in  der  An- 
rede die  Freunde  verschwenderisch  überhäuft.  Er  preist  sie 
als  edel,  tugendhaft  und  gastfrei.  Dieser  Versuch  ist  denn 
freilich  mifslungen.  Die  Nachkommen  seiner  alten  Gegner 
hintertrieben  seine  Rückkehr,  und  wie  es  scheint,  wurde 
hierbei  auch  die  neue  Götterwürde,  in  der  er  sich  präsen- 
tierte, gegen  ihn  ins  Feld  geführt  (D.  L.  66  f.).  Gerade  die 
Göttlichkeit,  mit  der  er  sich  empfehlen  wollte,  mochte  von 
den  Feinden  gegen  ihn  geltend  gemacht  werden. 

Zu  den  Lebensregeln,  die  in  diesem  Gedichte  erteilt 
wurden,  ist  noch  folgendes  anzuführen.  Zunächst  folgt  aus 
der  Bedeutung  der  Tiere  in  der  Seelenwanderungslehre  der 
strengste  Vegetarianismus  (Z.  809,  1).  Tiere  zu  schlachten 
ist  Mord,  Fleischgenufs  der  Menschenfresserei  gleichzuachten. 
Entsprechend  wird  auch  von  Plato  (Gesetze  782  C)  der 
Vegetarianismus  als  Bestandteil  der  orphischen  Lebens- 
führung bezeichnet.  Aus  demselben  Grunde  waren  denn  in 
diesen  Kreisen  auch  die  blutigen  Tieropfer  verpönt.  Auch 
in  den  „Reinigungen"  (Fr.  128)  wurden  diese  verworfen. 
Und  entsprechend  wird  berichtet,  dafs  Empedokles  bei  einer 
auch  sonst  bezeugten  Anwesenheit  in  Olympia,  bei  der  er 
der  Gegenstand  allgemeiner  Aufmerksamkeit,  der  Löwe  des 
Tages  war  (D.  L.  66),  Nachbildungen  der  Opfertiere  aus 
Mehl  und  Honig  den  Göttern  dargebracht  habe  (D.  L.  53). 
Konsequent  hätte  er  freilich  auch  den  Genufs  der  Pflanzen 
verbieten  müssen.  Das  ging  aber  nicht  wohl  an.  Er  ver- 
bietet aber  die  Verletzung  des  Lorbeers  wegen  dessen 
religiöser  Bedeutung  und  den  Genufs  der  Bohnen  (Fr.  140  f.; 
letzteres  vielleicht  wegen  der  Ähnlichkeit  mit  den  mensch- 
lichen Geschlechtsteilen,  die  wieder  an  das  unheilvolle  Los 
der  Einkörperung  erinnern;  Gell.  N.  A.  4,  11,  9).  Auch 
die  Forderung  völliger  geschlechtlicher  Enthaltsamkeit,  die 
ja  auch  zum  Grunddogma  in  enger  Beziehung  steht,  wird 


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214  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

ihm  zugeschrieben  (Hippol.  p.  251).  Diese  Forderungen 
gehen  über  das  in  der  altpythagoreischen  Ordenslehre  Vor- 
geschriebene unzweifelhaft  weit  hinaus  und  weisen  ent- 
schieden auf  die  orphische  Herkunft  dieser  seiner  neuen 
Richtung  hin.  Diese  orphische  Denkweise  hat  er  auf  die 
äufserste  Spitze  getrieben. 

Dieses  Gedicht  wurde  bei  den  olympischen  Spielen  des 
Jahres  440  durch  einen  Rhapsoden  vorgetragen  (D.  L.  68; 
Dikaiarch  b.  Athen.  14,  620).  Es  wird  also  zu  diesem  Zeit- 
punkte wohl  etwas  Neues  gewesen  sein. 

Nach  alten  Zeugnissen  (Timäus  bei  D.  L.  67,  71 ;  Nean- 
thes  ib.  73)  ist  Empedokles  im  Peloponnes  oder  in  Megara 
gestorben,  und  zwar  nach  Aristoteles  und  Heraklides  (D.  L. 
52,  74)  im  Alter  von  60  Jahren,  also  um  432.  Nach  anderen 
Nachrichten,  die  aber  nicht  glaublich  sind,  hätte  er  ein 
Alter  von  109  Jahren  erreicht  (D.  L.  58,  74).  Über  die 
Art  seines  Todes  ist  Zuverlässiges  nicht  überliefert.  Die 
verschiedenen  Angaben  darüber  (D.  L.  VIII.  73,  74,  67  flF.) 
verlieren  zum  Teil  schon  dadurch  alle  Glaubwürdigkeit,  dafs 
sie  sein  Scheiden  aus  dem  Leben  mit  wunderbaren  Um- 
ständen oder  mit  der  angeblichen  Sucht  in  Verbindung 
bringen,  für  ein  überirdisches  Wesen  gehalten  zu  werden. 
So  wurde  eine  Entrückung  zu  den  Göttern  im  Anschlufs 
an  mehrere  seiner  aufserordentlichen  Taten,  die  Erweckung 
der  Scheintoten  und  die  Reinigung  eines  Flusses,  gefabelt 
Die  späteren  Erzähler  erklärten  dann  dies  Verschwinden 
natürlich,  indem  sie  angaben,  er  sei  auf  den  Ätna  gestiegen 
und  habe,  um  jede  Spur  seines  Erdendaseins  auszutilgen, 
sich  in  den  Krater  gestürzt  (D.  L.  67  flf.,  71  f.).  Eine  be- 
sonders gehässige  Wendung  erhielt  dann  dieser  Bericht 
durch  den  Zusatz  eines  Späteren,  der  Berg  habe  einen  der 
metallenen  Schuhe,  die  er  zu  tragen  pflegte,  wieder  aus- 
geworfen, und  so  sei  der  Betrug  an  den  Tag  gekommen 
(69  f.). 

Es  ist  im  vorstehenden  eine  bestinmite  Auffassung  über 
Lebensgang  und  Entwicklung  des  Empedokles  befolgt  worden. 
Darüber  noch  ein  Wort  der  Rechtfertigung.  Zunächst  be- 
darf  es    wohl    kaum    noch    einer    Begründung,    dafs    die 


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1.   Empedokles  (um  465).  215 

Gedankenkreise  der  beiden  Gedichte  nicht  als  gleichzeitig 
und  nebeneinander  in  seinem  Geiste  bestehend  angenommen 
worden  sind.  Die  materialistische  Naturlehre,  nach  der  die 
Seele  im  Stoffe  des  Blutes  besteht,  und  die  Erlösungs- 
botschaft, nach  der  sie  eine  gefallene  Gottheit  ist,  hatten 
nicht  zusammen  in  demselben  Bewufstsein  Raum.  Der 
Übergang  von  der  einen  zur  anderen  hat  zur  Voraussetzung 
einen  totalen  Umschwung  in  der  gesamten  Gesinnung  und 
Denkweise.  Die  Frage  ist  nur,  welche  von  beiden  Geistes- 
richtungen als  die  vorangehende,  welche  als  die  nachfolgende 
zu  betrachten  ist.  Die  Nachrichten  der  Alten  bieten  für  die 
Lösung  dieser  Frage  wie  über  die  Tatsache  der  beiden  ent- 
gegengesetzten Geistesrichtungen  überhaupt  keinen  Anhalt. 
Unter  den  neuesten  Forschern  sind  die  Ansichten  in  bezug 
auf  dieses  auch  psychologisch  merkwürdige  Problem  geteilt. 
Der  belgische  Forscher  Bidez  (La  biographie  d'Emp6docle, 
Gent  1894)  entscheidet  sich  für  das  Vorangehen  der  mysti- 
schen Periode,  Diels  (Über  die  Gedichte  des  Empedokles, 
Sitzungsber.  der  Berl.  Akad.  1898)  für  das  der  natur- 
wissenschaftlichen. 

Die  Gründe  für  den  Anschlufs  der  vorstehenden  Dar- 
stellung an  die  letztere  Ansicht  sind  hauptsächlich  folgende: 
1.  Das  Lehrgedicht  schliefst  sich  leichter  an  den  als  wahr- 
scheinlich befundenen  Bildungsgang  des  Empedokles  an.  In 
ihm  treten  die  Einwirkungen  des  Parmenides  und  der  wissen- 
schaftlichen Pythagoreer  unzweifelhaft  zu  Tage.  2.  Der 
Eingang  der  „Reinigungen"  deutet  auf  den  Versuch  hin, 
durch  dieses  Gedicht  für  seine  Rückberufung  in  die  Vater- 
stadt Stimmung  zu  machen  und  den  Anstofs  zu  geben. 
3.  Die  Vorlesung  derselben  in  Olympia  wird  durch  ein  zu- 
verlässiges Zeugnis  (Dikaiarch  bei  Athenäus)  ins  Jahr  440 
verlegt.  Die  Dichtung  konnte,  wenn  die  Vorlesung  einen 
Sinn  haben  sollte,  nicht  etwas  Altes,  vielen  schon  Bekanntes 
sein;  sie  mufste  den  Charakter  des  Neuen  und  Sensatio- 
nellen haben.  4.  Die  weltschmerzliche  Richtung  der  „Reini- 
gungen**  entspricht  besser  dem  schlimmen  Umschlage  seines 
Lebensschicksals  als  die  kühne  naturphilosophische  Welt- 
erklärung.     5.   Seine  Theorie  vom  Sehen   hat,  wie  sich  er- 


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216  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

geben  wird,  schon  Leukippos  (um  450)  übernommen. 
i).  Aristoteles  berichtet,  Anaxagoras  (geboren  um  500) 
sei  den  Jahren  nach  älter,  den  Werken  nach  (d.  h.  den 
beiderseitigen  naturphilosophischen  Veröffentlichungen  nach) 
jünger  als  Empedokles  (984,  11). 

In  diesem  neuen  Geisteszustände  des  geist-,  phantasie- 
und  gemütvollen  Mannes  tritt  ja  nun  auch  immer  noch 
etwas  von  der  alten  schwindelhaften  Grofssprecherei  hervor, 
seinem  innersten  Kerne  nach  aber  war  er  wohl  schwerlich 
etwas  Schwindelhaftes,  vielmehr  echte,  fanatische  Gläubigkeit. 


2.   Anaxagroras. 

Den  zweiten  Versuch,  von  der  Unveränderlichkeit  der 
Grundstoffe  aus  eine  Naturlehre  aufzubauen,  unternahm 
Anaxagoras. 

Er  war  geboren  in  der  kleinasiatisch -jonischen  Stadt 
Klazomenä  um  500.  Dafs  er  älter  war  als  Empedokles, 
aber  später  als  dieser  mit  seiner  Lehre  hervortrat,  bezeugt 
Aristoteles  (984,  10).  Einer  vornehmen  und  wohlhabenden 
Familie  angehörend  widmete  er  sich  mit  20  Jahren  unter 
Vernachlässigung  aller  niederen  Interessen  —  wovon  weiter 
unten  —  der  Forschung  (D.  L.  IL  7;  Z.  969).  Nach 
Theophrast  (D.  478)  schlofs  er  sich  der  Schule  des 
Anaximenes  an.  In  welcher  Weise  dies  geschah,  ist 
nicht  bekannt,  doch  ist  dies  Zeugnis  für  sein  Ausgehen  von 
Anaximenes  von  der  gröfsten  Bedeutung  für  das  Verständnis 
seiner  Lehre,  die  in  der  Tat  nur  eine  Umbildung  der  anaxi- 
menischen  auf  der  Grundlage  der  Unveränderlichkeit  der 
Stoffe  ist.  Selbstverständlich  kann  von  einer  persönlichen 
Schülerschaft  bei  Anaximenes,  der  lange  vor  500  gestorben 
ist,  nicht  die  Rede  sein.  Es  wird  überhaupt  nicht  berichtet, 
dafs  er  Studien  halber  seine  Vaterstadt  verlassen  habe. 
Den  Anstofs  zu  seiner  Umbildung  des  letzten  milesischen 
Systems  wird  er  übrigens  so  gut  wie  Empedokles  vom  elea- 
tischen  Systeme  aus  empfangen  haben.  Ob  wir  dabei  an 
seinen    Alters-    und    Stammesgenossen     Melissos     von 


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2.   Anaxagoras.  217 

Samos  denken  dürfen,  der  ja  wohl  auch  Anregungen  von 
Anaximenes  her  empfangen  hatte,  läfst  sich  nicht  ausmachen. 

Es  ist  eine  bemerkenswerte  Tatsache,  dafs  er  schon  in 
den  dreißiger  Jahren  seines  Lebens  den  Schauplatz  seiner 
Lehrtätigkeit  nach  dem  bis  dahin  von  der  Philosophie  völlig 
unberührten  Athen  verlegte.  Wenn  er  dort  dreifsig  Jahre 
gelehrt  hat  (D.  L.  IL  7)  und  seine  Vertreibung  aus  Athen 
um  434—2  f&llt,  so  mufs  seine  Übersiedelung  dorthin  um 
464 — 2,  also  im  vierten  Jahrzehnt  seines  Lebens,  statt- 
gefunden haben.  Von  einer  äufseren  Nötigung  zum  Ver- 
lassen seiner  Vaterstadt  wird  nichts  berichtet,  die  Über- 
siedelung mufs  also  wohl  das  Werk  eines  freien  Entschlusses 
gewesen  sein. 

In  Athen  genofs  er  den  Schutz  des  Per  i  kl  es,  der 
geradezu  sein  Schüler  genannt  wird  (D.  L.  IL  12;  Diodor 
XIL  38).  Plato  leitet  das  Hochsinnige  und  Erhabene  in 
der  Beredsamkeit  des  Perikles  geradezu  von  der  Beschäftigung 
mit  der  das  All  umfassenden  Gedankenwelt  des  Anaxagoras 
ab  (Phäd.  270  A).  Auch  Euripides  (geb.  480)  war  sein 
verehrungsvoller  Schüler;  schon  das  Altertum  fand  in  seinen 
Tragödien  vielfach  Anklänge  an  die  Lehren  des  Anaxagoras. 
Sein  Verhältnis  zu  Perikles  wurde  auch  der  Anlafs  zu  der 
kurz  vor  Ausbruch  des  Peloponnesischen  Krieges  gegen  ihn 
erhobenen  Anklage  wegen  religiöser  Irrlehren,  die  seinem 
athenischen  Aufenthalt  ein  Ende  bereitete.  Diese  Anklage 
ging  von  den  Feinden  des  Perikles  aus  und  bezweckte  die 
Erschütterung  der  Stellung  desselben  durch  den  Vorwurf 
der  Begünstigung  eines  so  gottlosen  Freidenkers  (D.  L.  IL 
12;  Diodor  XII.  38  f.).  Vielleicht  hatte  Anaxagoras  gerade 
um  diese  Zeit  seine  Schrift  „Über  die  Natur"  veröflFentlicht. 
Wenigstens  erklärt  es  sich  so  am  leichtesten,  dafs  gerade 
in  diesem  Zeitpunkte  die  Lehre  des  Anaxagoras  gegen 
Perikles  ausgebeutet  wurde.  Auch  das  bereits  angeführte 
Zeugnis  des  Aristoteles  (984,  10)  scheint  für  eine  verhältnis- 
mäfsig  späte  Veröffentlichung  seiner  Lehre  zu  sprechen. 

Ehe  wir  auf  diese  Anklage  und  sein  weiteres  Lebens- 
sehicksal  eingehen,  müssen  wir  uns  mit  dem  wesentlichen 
Inhalt  seiner   Lehre   bekannt   machen.    Hauptquelle   dafür 


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218  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

sind,  aufser  den  vielfachen  Zeugnissen  Späterer,  die  bei 
Simplicius  erhaltenen  erheblichen  Bruchstücke  seiner  in 
jonischer  Prosa  verfafsten  Schrift. 

Nach  Aristoteles  (187,  21)  hat  Anaxagoras  mit  Empe- 
dokles  gemein,  dafs  beide  die  Einzelstoffe  durch  Aus- 
scheidung aus  einem  Gemisch  entstehen  lassen,  unterscheidet 
sich  aber  von  ihm  dadurch,  dafs  jener  diesen  Vorgang  sich 
periodisch  wiederholen,  Anaxagoras  aber  ihn  (d.  h.  die 
Weltbildung)  nur  einmal  geschehen  läfst,  sowie  ferner  darin, 
dafs  jener  nur  die  vier  Elemente,  Anaxagoras  aber  un- 
begrenzt viele  Stoffe  annimmt.  Den  Punkt  der  Überein- 
stimmung anlangend,  so  spricht  sich  darüber  Anaxagoras 
selbst  folgendermafsen  aus :  „Vom  Entstehen  und  Vergehen 
reden  die  Hellenen  nicht  richtig.  Denn  kein  Ding  entsteht 
oder  vergeht,  sondern  aus  vorhandenen  Dingen  wird  es 
zusanmiengesetzt  und  wieder  getrennt.  Das  Richtige  wäre 
daher,  das  Entstehen  als  Zusammensetzung  und  das  Ver- 
gehen als  Trennung  zu  bezeichnen"  (Fr.  17  Mullach).  Hier 
ist  vollkommen  deutlich  nicht  nur  das  Werden  aus  Nichts, 
sondern  auch  die  Umwandlung  der  Stoffe  ineinander  aus- 
geschlossen. 

Für  die  den  Urstoffen  beigelegte  unbegrenzte  Mannig- 
faltigkeit der  Beschaffenheit  gebraucht  sowohl  Aristoteles 
als  auch  Anaxagoras  selbst  (Fr.  4,  6)  das  Wort,  das  eigent- 
lich „unendlich"  bedeutet  (äpeiros).  Er  hat  aber  dabei  schwer- 
lich an  eine  Unendlichkeit  im  strengen  Sinne  gedacht.  Die 
Behauptung,  dafs  keiner  der  „Samen"  (wie  er  die  Stoff- 
teilchen nennt)  dem  anderen  an  Beschaffenheit  gleich  sei 
(Fr.  4,  6),  findet  vielleicht  darin  ihre  Erklärung,  dafs  er 
auch  die  ihnen  zugeschriebene  Verschiedenheit  der  Gestalt 
(ebenso  wie  die  in  Farbe,  Geruch  und  Geschmack)  (Fr.  3; 
D.  312)  zur  Beschaffenheit  rechnet.  Aber  auch  wenn  in 
diesem  Sinne  eine  Verschiedenheit  jedes  einzelnen  StoflF- 
teilchens  von  jedem  anderen  angenommen  wird,  kommt  doch 
noch  lange  keine  Unendlichkeit  der  Beschaffenheit  im  ab- 
soluten Sinne  heraus.  Wir  werden  noch  sehen,  dafs  er  auch 
anderweitig  das  Wort  „unendlich"  in  mehr  populärem  Siime, 
im  Sinne  des  alltäglichen  Sprachgebrauchs  verwendet. 


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2.  Anaxagoras.  219 

Als  Beispiele  dieser  qualitativen  Verschiedenheit  der 
Urstoflfe  nennt  er  wiederholt  (Fr.  4,  8,  13)  das  Feuchte  und 
das  Trockene,  das  Warme  und  das  Kalte,  das  Helle  und 
das  Dunkle,  das  Dichte  und  das  Lockre.  Ob  er  die  vier 
Elemente  des  Empedokles  zu  den  Urstoffen  gerechnet  hat, 
ist  zweifelhaft.  Aristoteles  läfst  ihn  einmal  (984,  11)  Wasser 
und  Feuer  dazu  rechnen,  an  anderen  Stellen  aber  (314,  18; 
302,  28)  läfst  er  ihn  die  vier  Elemente  zu  den  Mischungen 
rechnen.  Vielleicht  gleicht  sich  dieser  Widerspruch  dadurch 
aus,  dafs  an  den  letzteren  Stellen  von  diesen  Stoffen  nach 
ihrem  tatsächlichen  Vorkommen  in  unserer  Welt  die  Rede 
ist.  Eine  vollständige  Entmischung  der  Urstoffe  zu  ab- 
soluter Reinheit  kommt  nämlich  nach  Anaxagoras  in  unserer 
Welt  nicht  vor.  Mit  Wasser  und  Brot  werden  alle  Organe 
des  Körpers  ernährt:  ein  Beweis,  dafs  im  Wasser  und  Brot 
noch  viele  andere  Stoffe  stecken  (D.  279).  Als  sonstige 
Beispiele  seiner  Urstoflfe  führt  Aristoteles  (314,  18; 
302,  28)  an:  Knochen,  Fleisch,  Mark;  eine  auf  Theophrast 
beruhende  Stelle  (D.  478):  Wasser,  Feuer  und  Gold. 
Lucrez  nennt  in  seinem  Lehrgedicht  „Über  die  Natur  der 
Dinge"  (I.  828  flf.)  unter  den  Urstoffen  des  Anaxagoras  aufser 
den  vier  Elementen  Knochen,  Eingeweide,  Blut. 

Diese  „Samen"  oder  „Dinge"  (wie  er  ebenfalls  die  Ur- 
stoffe nennt)  sind  aber  femer  der  Zahl  nach  von  „unend- 
licher" Vielheit  (Fr.  4),  der  Gröfse  nach  von  „unendlicher" 
Kleinheit  (Fr.  1).  Was  die  Unendlichkeit  der  Zahl  nach 
anbetrifft,  so  denkt  er  dabei  offenbar  nicht  an  die  räumlich 
beschränkte  Welt;  es  schwebt  ihm,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  der  unbegrenzte  Weltstoff  des  Anaximander  und 
Anaximenes  vor.  Doch  scheint  ihm  schon  der  Gedanke 
aufgedämmert  zu  sein,  dafs  das  Wirkliche  nicht  in  schlecht- 
hin unendlicher  Vielheit  gedacht  werden  kann.  Wenigstens 
sagt  er  (Fr.  14),  dafs  es  beim  Alles  kein  Mehr  noch  Weniger 
gebe;  das  Alles  sei  immer  gleich;  ein  Mehr  als  das  Alles 
sei  ein  unvollziehbarer  Gedanke. 

Ebenso  hat  er  bei  der  unendlichen  Kleinheit  schon  den  Ge- 
danken der  nie  zum  Ende  gelangenden  Teilbarkeit  des  Stoffes 
ins  Auge  gefafst.    Wenigstens  sagt  er  (Fr.  15),  dafs  es  kein 


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220  Erste  Periode.  Dritter  Ab  sehn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

unbedingt  Kleinstes  gebe,  sondern  immer  noch  ein  Kleineres 
gedacht  werden  könne.  Solange  etwas  ein  Seiendes  sei, 
sei  es  auch  teilbar;  nur  das  Nichtseiende  sei  nicht  teilbar. 
Ebensowenig  gebe  es  ein  absolut  Grofses;  das  Grofse  sei 
hinsichtlich  der  Gröfse  dem  Kleinen  gleichartig  (d.  h.  es 
bestehe  zwischen  ihnen  nur  ein  relativer  Unterschied). 
Diese  Feinheit  des  Denkens  kann  nach  den  Leistungen  eines 
Zeno  nicht  überraschen,  scheint  aber  allerdings  auch 
Kenntnis  dieser  Leistungen  vorauszusetzen.  Jedenfalls  ist 
>die  „unendliche"  Kleinheit  der  UrstoflFe  von  ihm  bewufst 
nur  im  populären  Sinne  behauptet  worden,  und  es  ist  daher 
ganz  in  seinem  Sinne,  wenn  von  Aristoteles  (314,  18) 
auf  diese  seine  UrstoflFe  der  Ausdruck  „Gleiditeilige" 
(Homöomerien) ,  d.  h.  aus  der  BeschaflTenheit  nach  völlig 
gleichen  Teilchen  Bestehende,  angewandt  worden  ist,  welcher 
Ausdruck  ja  eben  voraussetzt,  dafs  auch  diese  kleinsten 
Stoflfteilchen  noch  aus  Teilen  bestehen. 

Wenn  wir  nun  an  seine  Vorstellung  von  der  Weltbildung 
herantreten,  wird  sofort  sein  Ausgehen  von  Anaximenes  und 
die  Umbildung,  die  er  mit  der  Lehre  desselben  vornahm, 
deutlich. 

Die  Schrift  des  Anaxagoras  begann  mit  den  Worten: 
„Am  Anfange  (d.  h.  vor  der  Weltbildung)  waren  alle  ,Dinge' 
(d.  h.  UrstoflFe)  zusammen"  (d.  h.  sie  befanden  sich  im  Zu- 
stande völlig  gleich mäfsiger  Vermengung;  D.  L.  II.  7  u.  a. 
St.).  Dieser  Anfangssatz  war  sehr  bekannt.  Er  wird  häufig, 
z.  B.  bei  Plato  öfter  auch  in  scherzhafter  Anwendung,  fast 
wie  ein  geflügeltes  Wort  angeführt  (Z.  986,  1).  Infolge 
dieser  Vermengung  trat  keine  besondere  Farbe  oder  sonstige 
Eigenschaft  eines  der  StoflFe  hervor  (Fr.  4).  Wir  müssen 
uns  jedoch  hüten,  hierbei  an  irgend  ein  Analogen  einer 
chemischen  Verbindung  zu  denken.  Ein  derartiger  BegriflF 
ist  im  Gesichtskreise  des  Anaxagoras  so  wenig  wie  in  dem 
irgend  eines  anderen  alten  Denkers  jemals  aufgetaucht  Die 
Verbindung  ist  eine  mechanische  Vermengung,  bei  der  jeder 
StoflF  seine  Eigenart  völlig  bewahrt,  ein  Nebeneinander,  keine 
innere  Durchdringung  (D.  315). 

Dieses  Gemenge  aller  StoflFe  nennt  er  auch  —  offenbar 


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2.   Anaxagoras.  221 

schon  im  Hinblick  auf  die  nachher  im  Inneren  desselben 
sich  bildende  Welt  —  ,das  Umfassende"  und  sagt  von 
diesem  (ganz  wie  Anaximenes  von  seiner  Luft)  aus:  „Es  war 
unendlich  der  Menge  nach"  (Fr.  2).  Hier  erkennen  wir, 
dafs  die  quantitative  Unendlichkeit  des  Stoffes  sich  bei 
Anaxagoras  so  wenig  wie  bei  den  beiden  mehrgenannten 
Milesiem  auf  die  Welt,  sondern  auf  den  vor-  und  aufser- 
weltlichen  Zustand  bezieht.  Wir  erhalten  aber  auch  noch 
einige  nähere  Aufschlüsse  über  die  Beschaffenheit  dieses 
Gemenges.  „Alles  beschlofs  Luft  und  Äther  (d.  h.  Feuer; 
Aristot.  302b,  4;  270b,  24  u.  a.  St.)  in  sich;  beide  un- 
endlich; denn  diese  sind  das  Gröfste  in  dem  Gesamten  der 
Menge  nach."  Er  hat  also  offenbar  an  Stelle  der  unend- 
lichen Luft  des  Anaximenes  ein  Gemenge  von  Luft 
und  Feuer  gesetzt,  das  im  Urzustände  wie  ein  ver- 
bindender Teig  die  übrigen  Urstoffe  in  sich  fafste. 
Diese  Auffassung  wird  auch  durch  Aristoteles  bestätigt. 
Nach  diesem  verstand  Anaxagoras  unter  „Luft  und  Feuer" 
die  Mischung  sämtlicher  Urstoffe  (302  b,  1).  Und  an  einer 
anderen  Stelle  (989 ,  30  ff.)  führt  er  aus ,  dafs  Anaxagoras 
eigentlich  nur  zwei  Grundprinzipien  des  Seienden  habe, 
nämlich  aufser  dem  erst  nachher  zu  erwähnenden  bewegenden 
Prinzip  diese  einheitliche,  unbestimmte  Mischung  der  Stoffe 
(989  b,  15). 

Dieses  eigenartig  bestimmte,  unendlich  ausgedehnte  Ge- 
menge der  Stoffe  bildet  also  im  Urzustände  eine  starre, 
unbewegte  Masse.  In  ihm  selbst  ist  kein  Prinzip  der  Be- 
wegung oder  Gestaltung.  In  ihm  ist  auch  kein  Leeres 
(Arist.  213,  22;  Ps.-Arist.  Melissos  976  b,  20).  Wahrschein- 
lich hat  sich  Anaxagoras  diesen  Zustand  so  gedacht,  dafs 
an  jedem  beliebigen  Punkte  dieses  Unendlichen  die  Be- 
dingungen für  die  Entstehung  einer  Welt  vorhanden  waren, 
sobald  nur  ein  Prinzip  der  Entmischung  und  Gestaltung  in 
Wirksamkeit  trat 

Der  erste  Akt  der  Weltbildung  besteht  nun  darin,  dafs 
ein  kugelförmiges  Stück  dieser  unendlichen  Masse  in  Drehung 
um  seinen  Mittelpunkt  versetzt  wird.  Durch  diese  drehende 
Bewegung   wird  zunächst  nur  dies  Stück  Masse  von  dem 


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222  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  StoflFu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

unbeweglich  verbleibenden  Rest  abgesondert  und  dadurch 
zunächst  der  Ort  der  künftigen  Welt  bestimmt  (Fr.  7). 
Wahrscheinlich  wird  dieser  erste  Akt  der  Weltbildung  durch 
die  Worte  bezeichnet :  „Die  Luft  und  der  Äther"  (d.  h.  ein 
Stück  der  vorbeschriebenen  Masse,  beide  Stoffe  nebst  den 
in  ihnen  enthaltenen  sonstigen  Stoffen  nach  ungesondert) 
„wird  von  dem  umgebenden  Vielen  abgesondert"  (Fr.  2). 
Die  Art  dieser  Bewegung  wird  näher  als  eine  erst  langsame, 
aber  an  Geschwindigkeit  stetig  zunehmende  geschildert.  Dies 
ist  unzweifelhaft  der  Sinn  der  folgenden  Worte:  „Und  zu- 
erst begann  es  nur  wenig  umzuschwingen,  dann  schwang  es 
mehr  um,  und  es  wird  stetig  mehr  umschwingen"  (Fr.  6). 
Ja,  er  schildert  die  Schnelligkeit  dieser  Bewegung  als  eine 
jede  innerhalb  der  menschlichen  Erfahrung  vorkommende 
Geschwindigkeit  um  ein  Vielfaches  übersteigende  (Fr.  11). 
In  welcher  Richtung  er  sich  diese  Bewegung  dachte,  wird 
nicht  überliefert;  doch  ist  wegen  ihres  engen  Zusammen- 
hanges mit  der  Entstehung  und  der  Bahn  der  Himmels- 
körper —  wovon  nachher  —  wahrscheinlich,  dafs  er  sie  als 
um  eine  von  Nord  nach  Süd  sich  erstreckende  Achse  in 
ostwestlicher  Richtung  verlaufend  vorstellte.  Diese  Achse 
geht  durch  den  höchsten  und  tiefsten  Punkt  der  Weltkugel 
(Zenith  und  Nadir). 

Die  bewegende  Kraft  nun  dieses  Umschwungs  ist  die 
Vernunft  (der  nüs).  Sie  wird  ihrem  Wesen  nach  haupt- 
sächlich in  Fragm.  6  beschrieben.  Die  Vernunft  ist  das 
feinste  und  reinste  von  allen  „Dingen**,  d.  h.  Urstoffen. 
Diese  Bezeichnung  als  „Ding"  beweist,  dafs  Anaxagoras  sie 
noch  nicht  als  eine  von  den  übrigen  Stoffen  total  verschiedene, 
immaterielle  Substanz  dachte;  sie  ist  ein  körperlicher 
Stoff.  Aber  doch  ein  Stoff  von  ganz  besonderer  Art.  Wäh- 
rend die  anderen  Stoffe  niemals  ganz  rein  vorkommen,  son- 
dern sogar  von  jedem  anderen  Stoffe  eine,  wenn  auch  noch 
so  geringfügige,  Beimischung  beibehalten,  nimmt  umgekehrt 
die  Vernunft  niemals  irgend  eine  Beimischung  eines  anderen 
Stoffes  an.  Sie  bleibt  ganz  für  sich  und  nur  sich  selbst 
gleich.  In  der  ursprünglichen  Vermengung  der  Stoffe  ist  sie 
nicht  enthalten.    Vermöge  ihrer  grofsen  Stärke  hat  sie, 


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2.   Anaxagoras.  223 

wie  schon  gezeigt,  den  ersten  Anstofs  zur  Weltbildung 
gegeben.  Es  werden  ihr  aber  auch  intellektuelle  Eigen- 
schaften zugeschrieben.  Sie  besitzt  die  vollste  Erkenntnis 
von  allem,  von  den  Vorgängen  bei  der  Weltbildung,  von 
den  Vorgängen  des  gegenwärtigen  Weltzustandes,  z.  B.  vom 
Umschwünge  des  Äthers  und  der  Gestirne,  desgleichen  auch 
von  den  künftigen  Umgestaltungen  des  Weltzustandes.  Auch 
Aristoteles  bezeugt,  dafs  Anaxagoras  der  Weltvernunft 
Bewegungskraft  und  Erkenntnis  beilege,  und  findet  nur  in 
letzterer  Annahme  einen  Widerspruch  gegen  die  behauptete 
Unaffizierbarkeit  der  Vernunft.  Denn  Erkennen  beruht  auf 
einem  Affiziertwerden  durch  die  Dinge  (405,  13  b,  20  ff.). 

Es  ist  nun  die  Frage,  ob  Anaxagoras  diese  Erkenntnis 
und  diese  Stärke  als  völlig  gesondert  angesehen  hat,  oder 
ob  er  angenommen  hat,  dafs  die  an  sich  blofs  mechanisch 
wirkende  Kraft  durch  den  Einflufs  der  Erkenntnis  zu  einer 
plan-  und  zweckvoll  wirkenden  geworden  sei.  Die  Vernunft 
ist  einesteils  allwissend,  andernteils  allmächtig;  die  Frage  ist, 
ob  die  Allmacht  sich  nur  als  mechanische  Kraft  äufsert, 
oder  ob  sie  von  der  Allwissenheit  zu  zweckvollem  Walten 
bestimmt  wird. 

Plato  und  Aristoteles,  die  doch  die  Schrift  des 
Anaxagoras  noch  vollständig  vor  sich  hatten,  verneinen  das 
letztere.  Beide  sprechen  in  beredten  Worten  aus,  dafs  ihnen 
als  Vertretern  eines  Zweckprinzips  in  der  Welt  das  Buch 
des  Anaxagoras  eine  Enttäuschung  bereitet  habe.  Plato 
läfst  (Phäd.  970  flf.)  seinen  Sokrates  schildern ,  wie  er  er- 
wartet habe,  dafs  Anaxagoras  den  gesamten  Weltbau,  die 
Gestalt  und  Lage  der  Erde,  den  Lauf  der  Gestirne  u.  s.  w. 
aus  dem  Prinzip  der  Zweckmäfsigkeit  ableiten  würde.  Tat- 
sächlich aber  verfahre  dieser  so,  wie  wenn  er,  um  zu  er- 
klären, warum  er,  Sokrates,  hier  sitze  und  sich  unterrede, 
den  Bau  der  Glieder  und  der  Sprechwerkzeuge  auseinander- 
setzen wollte.  Er  führe  in  der  Erklärung  der  Welt,  was 
nur  notwendige  Vorbedingung  sei,  als  alleinige  Ursache 
auf  (ähnlich  Gesetze  967 Bf.).  Und  Aristoteles  erklärt 
zwar  (984  b,  15),  mit  seiner  Lehre  von  der  weltordnenden 
Vernunft  sei  Anaxagoras  unter  die  früheren  Denker  wie  ein 


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224  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

Nüchterner  unter  eine  Schar  verworren  Faselnder  getreten, 
versichert  dann  aber  (985,  18),  er  verwende  die  Vernunft 
bei  der  Weltbildung  nur  wie  den  Gott  auf  dem  Schwebe- 
gerüst, den  die  tragischen  Dichter,  wenn  sie  die  Gegensätze 
der  handelnden  Personen  nicht  von  innen  heraus  zum 
Ausgleich  zu  bringen  wüfsten,  herniederfahren  liefsen,  um 
den  Streit  zu  schlichten  (der  sprichwörtlich  gewordene  deus 
ex  machina,  der  Gott  auf  dem  Schwebegerüst).  So  ziehe 
auch  Anaxagoras  die  Vernunft  nur  heran,  wenn  er  mit  den 
mechanischen  Ursachen  nicht  weiterkönne  und  ins  Gedränge 
gerate. 

Diese  beiden  Beurteiler  haben  insoweit  recht,  als 
Anaxagoras  allerdings  nicht  ausdrücklich  den  ganzen 
Weltbau  aus  dem  Zweckmäfsigkeitsprinzip  ab- 
geleitet hat.  Insofern  aber  scheinen  sie  zu  irren,  als 
Anaxagoras  die  Vernunft  bei  der  Weltbildung  keineswegs 
blofs  als  mechanische  Bewegungskraft,  sondern  wenig- 
stens teilweise  auch  als  Prinzip  einer  zweck- 
vollen Ordnung  verwendet  hat.  Aristoteles  selbst 
mufs  anerkennen,  dafs  Anaxagoras  den  Geist  als  Ursache 
der  zweck  vollen  Gestaltung  der  Welt  bezeichne  (404  b,  1  f.)- 
Und  nach  seinen  eigenen  Worten  (Fr.  G)  erkannte  nicht 
nur  die  Vernunft  bei  der  Weltbildung  den  vorhandenen  und 
den  künftigen  Zustand,  sondern  sie  ordnete  auch  alles,  wie 
es  sein  sollte;  sie  verfuhr  also  planvoll.  Und  dies  scheinen 
auch  die  Angaben  über  die  weiteren  Akte  der  Weltbildung 
zu  bestätigen.  Allerdings  war  der  erste  Akt  der  Welt- 
bildung nur  die  Herstellung  einer  kreisförmigen  Bewegung, 
durch  die  zunächst  nur  ein  Stück  aus  dem  ruhenden  System 
ausgesondert  wird.  Es  findet  aber  ferner  infolge  dieser  ein- 
getretenen Bewegung  auch  die  Entmischung  der  StoflFe  statt 
(Br.  6,  7).  Und  zwar  erfolgt  die  Anordnung  dieser  Stoffe 
in  ganz  entgegengesetzter  Weise,  als  nach  der  blofs  mecha- 
nischen Wirkung  der  Umschwungsbewegung  erwartet  werden 
müfste.  Nach  dieser  müfste  das  Dichte  und  Schwere  in  den 
Umkreis  geführt  werden,  das  Dünne  und  Leichte  aber  im 
Innern  des  in  Bewegung  versetzten  Gemenges  verbleiben. 
Aber  gerade  das  Entgegengesetzte  geschieht.    Zunächst  tritt 


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2.  Anaxagoras.  225 

das  Dichte,  Feuchte,  Kalte  und  Dunkle,  d.  h.  die  Luft  nebst 
den  in  dem  ursprünglichen  Gemenge  enthaltenen  Teilchen 
der  übrigen  Stoffe,  nach  der  Mitte  zusammen,  „wo  jetzt  die 
Erde  ist";  der  Stoff  von  entgegengesetzter  Beschaffenheit 
dagegen,  der  Äther  oder  das  Feuer,  entweicht  rein  und  un- 
vermischt  in  den  Umkreis  der  sich  drehenden  Kugel  (Fr.  8). 
Das  ist  der  zweite  Akt  der  Weltbildung.  Darin  scheint 
doch  eine  planvolle  Leitung  zu  liegen!  Und  derselbe,  der 
mechanischen  Wirkung  entgegengesetzte  Vorgang  wiederholt 
sich  dann  nochmals  beim  dritten  Akte.  Die  Luft  mit  den 
dichteren  Stoffen,  die  sich  nach  der  Mitte  zu  gesammelt 
haben,  nennt  er  „die  Wolken".  Aus  diesen  sondert  sich 
jetzt  weiter  das  Wasser  ab,  aus  dem  Wasser  die  Erde,  und 
aus  der  Erde  bilden  sich  unter  Mitwirkung  des  Kalten  und 
des  Wassers  die  Steine  (Br.  9).  Auch  hier  geht  das  Feste 
nicht  nach  aufsen,  sondern  nach  innen!  Nebenbei  bemerkt 
liegt  auch  in  dieser  Reihenfolge  der  Bildungen  ein  deut- 
licher Anklang  an  Anaximenes,  nur  dafs  nicht  die  im  Stoffe 
selbst  liegende  Kraft  der  Verdichtung,  sondern  die  in  der 
Vernunft  liegende  Kraft  der  planvollen  Zusammenordnung 
des  sich  Ausscheidenden  das  Wirkende  ist. 

Und  ferner!  Die  Erde  gestaltet  sich  nicht,  wie  man 
nach  dem  Prinzip  des  Umschwungs  erwarten  sollte,  zur 
Kugel,  sondern  zu  einer  flachen  Scheibe,  die  ringsum  bis 
hart  an  die  Weltgrenze  reicht,  so  dafs  die  unter  der  Erd- 
scheibe befindliche  Luft  nicht  entweichen  kann  und  die  Erd- 
scheibe wie  ein  Deckel  von  dieser  Luft  getragen  wird 
(Aristot.  294  b,  13).  Hier  ist  einesteils  im  Gegensatz  gegen 
die  in  der  unteritalischen  Philosophie  seit  Parmenides  ein- 
gebürgerte Kugelform  der  Erde  wieder  ein  Einflufs  des 
Anaximenes  zu  erkennen,  andemteils  aber  zeigt  sich  auch 
hier  wieder  eine  Zweckwirkung.  Die  Erde  mufs  die  an- 
gegebene Gestalt  und  Lage  haben,  damit  sie  von  der  Luft 
getragen  werden  kann.  Mit  besonderem  Nachdruck  weist 
Aristoteles  an  der  angeführten  Stelle  auf  diesen  Grund  der 
Bückkehr  zur  älteren  Vorstellung  hin.  Da  aber  Anaxagoras 
einmal  eine  weltbildende  Vernunft  annahm,  so  mufste  er 
auch  diese,   durch  die  blofse  mechanische  Bewegung  uner- 

DöriBff.  I.  15 


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226  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

klärliche    Erdform    der    Zwecktätigkeit    der   Vernunft    zu- 
schreiben. 

Diese  Ruhelage  der  Erde  wird  nur  zuweilen  dadurch 
gestört,  dafs  Feuerteile  in  die  unter  der  Erde  befindliche 
Luft  eindringen  (wahrscheinlich  von  der  um  die  Welt 
schwingenden  Feuerhülle  aus).  Diese  verursachen  durch 
das  natürliche  Streben  des  Feuers  nach  oben  die  Erdbeben 
(Arist.  365,  17). 

Dagegen  scheint  nun  in  einem  weiteren  Hauptvorgange 
der  Weltbildung,  in  der  Entstehung  der  Himmelskörper,  die 
doch  von  so  wesentlicher  Bedeutung  für  die  Bewohnbarkeit 
der  Welt  sind,  Anaxagoras  ein  rein  mechanisches  Geschehen 
zu  erblicken.    Die  Himmelskörper  entstehen,  indem  durch 
den  Umschwung  der  feurigen  Welthülle  von  den  Rändern 
der  Erde  grofse  Steinmassen  losgerissen  und  mitfortgeführt 
werden.    Diese  geraten  dann   durch  den  feurigen  Zustand 
ihrer  Umgebung  in  Glut.    Sonne,  Mond  und  Stenie  sind 
glühende  Steinmassen,  von  der  Erde  stammend  und  durch 
den  Umschwung  des  Himmels    mitfortgeftihrt  (D.  L.  II.  8; 
D.  341,  345,  349,  35G,  562).    Hier  erkennen  wir,  dafs  er 
den  Umschwung   des  Himmels  als  von  Ost  nach  West  ge- 
richtet annahm,  da  dies  ja  der  Lauf  der  Himmelskörper  ist. 
Dafs  sie  gegenwärtig  nicht  mehr  senkrecht  über  der  Erde 
ihren  Lauf  nehmen,   wie   ursprünglich   der  Fall   gewesen, 
sondern  in  schräger  Richtung  zur  Erdfläche  stehen,  erklärte 
er  durch  eine  später   erfolgte    Senkung  des  Weltgebäudes 
(oder  der  ErdeV)  in  südlicher  Richtung.     Diese  sei  viel- 
leicht durch  ein  zweckvolles  Walten  herbeigeführt,  damit 
es  neben  unbewohnbaren  Teilen  der  Erde  auch  solche  gebe, 
in  denen  ein  zuträglicher  Wechsel  von  Abkühlung  und  Er- 
wärmung stattfinde  (D.  L.  IL  9;  D.  337).     Also  hier  wieder, 
wenn  auch  nur  mit  einem   „vielleicht",  eine  Wirkung  der 
zweckvoll  waltenden  Vernunft!  Und  zwar  hier  in  ausdrück- 
licher Bezeugung,  die  auf  seine  eigene  Darstellung  zurück- 
geht !   Dagegen  scheint  er  die  Sonnenwenden  wieder,  ähnlich 
wie  Anaximander,  mechanisch  erklärt  zu  haben  (D.  352). 

Die  Sonne  ist  gröfser  als  der  Peloponnes  (D.  L.  II.  8; 
D.  562),  nach  einem  anderen  Bericht  vielmal   so  grofs  als 


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2.  Anaxagoras.  227 

der  Peloi>onnes  (D,  351);  dagegen  soll  er  dem  Monde  die 
Gröfse  des  Peloponnes  zugeschrieben  haben  (Plut.  fac.  lun. 
19,  9).  Der  Mond  ist  zwar  auch  noch  ein  glühender  Körper, 
er  mufs  aber  wegen  seiner  geringeren  Entfernung  von  der 
Erde  von  Anaxagoras  als  in  einem  schon  weniger  heifsen 
Teile  der  Feuersphäre  treibend  gedacht  sein,  da  ihm  nicht 
nur  Berge  und  Täler,  sondern  auch  Bewohner  zugeschrieben 
werden  (Plato,  Apol.  26  D;  D.  356;  D.  L.  II.  8)  und  (nach 
Plato,  Kratyl.  409  A)  seine  Erleuchtung  durch  die  Sonne 
behauptet  wird,  welche  Lehre  (nach  dieser  Stelle)  sogar 
Anaxagoras  zuerst  aufgestellt  haben  soll.  Auch  ein  Bruch- 
8tQck  der  Schrift  (10),  in  dem  einem  anderen  Himmelskörper 
Zustände  ganz  wie  auf  der  Erde  beigelegt  werden,  scheint 
sich  auf  den  Mond  zu  beziehen. 

Dafs  er  auch  die  Sterne  in  ähnlicher  Weise  wie  Sonne 
und  Mond  entstanden  dachte,  geht  aus  der  Angabe  (D.  L. 
IL  12)  hervor,  nach  seiner  Ansicht  bestehe  der  ganze  Himmel 
aus  Steinen,  die  nur  durch  den  Umschwung  schwebend  er- 
halten würden,  und  die  herabfallen  würden,  wenn  der  Um- 
schwung aufhörte. 

Dies  führt  zugleich  auf  den  mutmafslichen  Entstehungs- 
grund dieser  eigenartigen  Theorie,  die  so  völlig  von  der 
seiner  Zeitgenossen  abweicht  und  entfernt  an  die  Kant- 
Laplacesche  Theorie  von  der  Entstehung  der  Planetein  aus 
dem  Zentralkörper  erinnert.  Es  ist  nämlich  in  den  jüngeren 
Jahren  des  Anaxagoras  (nach  Plinius  IL  58  im  Jahre  466, 
also  kurz  vor  seiner  Übersiedelung  nach  Athen)  bei  Aegos- 
potamos  am  Hellespont  ein  gewaltiger  Meteorstein  gefallen. 
Aristoteles  (344b,  31)  bringt  denselben  mit  einem  gleich- 
zeitig sichtbaren  grofsen  Kometen  in  Zusammenhang.  Und 
Plutarch  (Lys.  12)  berichtet  nach  einem  älteren  Schrift- 
steller, dafs  vor  dem  Falle  des  Steines  75  Tage  lang  eine 
feurige  Wolke  am  Himmel  sichtbar  gewesen  sei.  Anaxa- 
goras soll  die  Herkunft  des  Steines  aus  der  Sonne  behauptet 
und  seinen  Fall  vorhergesagt  haben  (D.  L.  IL  10;  Plut 
a.  a.  0.).  Letzteres  ist  wohl  eine  aus  der  von  ihm  ge- 
gebenen Erklärung  des  wunderbaren  Vorgangs  heraus- 
gesponnene  Sage.   Wahrscheinlicher  ist  das  Entgegengesetzte, 

15* 


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228  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

dafs  er  seine  ganze  Theorie  von  der  Herkunft  der  Himmels« 
körper  von  der  Erde  aus  diesem  wunderbaren  Vorkommnis 
abgeleitet  hat. 

Dafs  die  weltbildende  Tätigkeit  der  Vernunft  planvoll 
stattfinde,  wird  übrigens  auch  von  Anaxagoras  selbst  aus- 
drücklich ausgesprochen.  Er  läfst  sie  (Fr.  12)  geschehen 
auf  Grund  eines  Wissens  dessen,  was  ist  und  war  und  sein 
wird  in  dem  die  Welt  umgebenden  Gemenge  und  in  der 
sich  bildenden  Welt  selbst.  Und  nach  PI  a  t  o  (Kratyl.  413  D) 
hat  er  die  Vernunft  für  das  Gerechte  erklärt,  weil  sie,  un- 
beschränkt in  ihrer  Herrschaft  und  mit  nichts  gemischt,  alle 
Dinge  ordne  und  alle  durchdringe.  Hier  ist  offenbar  die 
Gerechtigkeit  nicht  ein  ethischer  Begriff,  sondern  dient  zur 
Bezeichnung  des  zweckvollen  Verfahrens  bei  der  Welt- 
bildung. 

Nach  allem  diesem  scheint  doch  Anaxagoras  der  Welt- 
vernunft schon  bei  der  Weltbildung  ein  gewisses  Mafs  von 
Zwecktätigkeit  zugeschrieben  zu  haben.  Die  von  den  alten 
Milesiern  dem  Stoffe  beigelegte  seelische  Kraft  hatte  sich 
schon  bei  Xenophanes  und  Heraklit  zur  Denktätigkeit 
gesteigert;  bei  Anaxagoras  bringt  sie,  was  sie  an  der  Fähig- 
keit zu  schrankenloser  Umbildung  der  StoflFe  verloren  hat, 
auf  dem  Gebiete  der  vernünftigen  Zwecktätigkeit  wieder  ein. 

Es  ist  aber  die  Weltbildung  keineswegs  das  einzige 
oder  auch  nur  das  augenfälligste  Gebiet,  auf  dem  sich  die 
Weltvernunft  betätigt.  Es  werden  auch  alle  seelischen  Er- 
scheinungen, alle  Formen  der  Beseelung  in  der  Welt  auf 
sie  zurückgeführt.  Nach  den  Fragmenten  (5,  6,  13)  ist  in 
allem  Beseelten  ein  gröfserer  oder  kleinerer  Teil  der  Ver- 
nunft wirksam.  Der  Unterschied  ist  nicht  ein  solcher  der 
Art,  sondern  nur  des  Mafses.  Und  Aristoteles  erhebt 
auf  Grund  dieser  Lehre  gegen  Anaxagoras  den  von  seinem, 
des  Aristoteles,  Standpunkt  aus  berechtigten  Vorwurf,  er 
mache  zwischen  Vernunft  und  Seele  keinen  deutlichen 
Unterschied,  sondern  schreibe  die  betreffenden  Wirkungen 
bald  der  Seele,  bald  der  Vernunft  zu  (404  b,  1  flF.;  403  b,  3). 
Und  da  er  nicht  nur  den  Tieren,  sondern  auch  den  Pflanzen 
Seele  beilegte  (Z.  1012,  1),   so  mufs   er    auch   schon   die 


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2.  Anaxagoras.  229 

niedrigeren  Lebenserscheinungen,  die  blofsen  Ernährungs- 
vorgänge, also  überhaupt  das  ganze  Gebiet  des  Organischen, 
auf  die  Weltvernunft  zurückgeführt  haben.  Er  rechnete 
die  Pflanzen  zu  den  lebenden  Wesen,  denen  Lust-  und 
ÜDlustgefühle  zukommen,  aber  er  schlofs  auf  diese  Be- 
schaffenheit aus  dem  Wachstum  und  dem  Abwerfen  der 
Blätter,  also  aus  den  blofsen  Vegetationserscheinungen 
(Aristot.  815,  15).  Modem  ausgedrückt  rechnete  er  schon 
die  „Lebenskraft"  zur  Weltvernunft. 

Den  Körper  der  Pflanzen  liefs  er,  wie  es  scheint,  aus 
dem  Zusammenwirken  von  Luft  und  Wasser,  den  der  Tiere 
aus  dem  Zusammenwirken  von  Äther  (Feuer),  Wasser  und 
Erde  entstehen,  letzteres,  indem  Funken  des  ätherischen 
Feuers  in  die  noch  schlammige  Erde  fallen  (Z.  1012,  2,  3). 
Er  scheint  schon  im  körperlichen  Bau  eine  Übereinstimmung 
zu  dem  Mafse  des  den  verschiedenen  Gattungen  der  leben- 
den Wesen  zufallenden  Geistes  angenommen  zu  haben.  Die 
Tiere  sind  uns  in  manchen  körperlichen  Eigenschaften  tiber- 
legen, der  Mensch  aber  ist  das  klügste  Tier,  weil  er  Hände 
hat  (Z.  1011,  1,  2).  Hier  kann  das  Händehaben  in  seinem 
Sinne  nicht  als  die  bewirkende  Ursache,  sondern  nur  als 
der  Erkenntnisgrund  der  höheren  geistigen  Begabung  an- 
gesehen werden. 

Ob -er  die  menschliche  Seele  ftir  unsterblich  gehalten 
hat,  darüber  sind  die  Angaben  unsicher  und  widersprechend 
(D.  392,  437).  Doch  kann  es  bei  seiner  Grundanschauung 
von  der  einheitlichen  Weltvernunft,  von  der,  wie  alle  Be- 
wegung, so  auch  alle  Beseelung  stammt,  nicht  im  geringsten 
zweifelhaft  sein,  dafs  er  eine  individuelle  Unsterblichkeit 
dem  Menschen  ebensowenig  wie  dem  Tiere  oder  der  Pflanze 
beilegen  konnte. 

In  bezug  auf  die  Sinnesempfindungen  lehrte  Anaxagoras, 
dafs  die  Wahrnehmung  nicht  durch  das  Gleiche  im  Organ, 
sondern  durch  das  Entgegengesetzte  stattfinde.  Das  Gleiche 
mache  auf  das  Gleiche  keinen  Eindruck.  Eine  Bestätigung 
dieser  Theorie  fand  er  in  der  Beobachtung,  dafs  jede  Em- 
pfindung in  gewissem  Sinne  und  Mafse  von  Unlust  begleitet 
sei,  besonders   bei  längerem  Verharren  oder  übermäfsiger 


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230  Jfirste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Stärke.  Er  versuchte,  diese  Theorie  auch  auf  die  einzelnen 
Sinne  anzuwenden.  Beim  Auge  ging  dies  an,  da  das  Innere 
des  Auges  dunkel  ist;  auch  bei  der  Temperaturempfindung 
konnte  er  mit  Recht  darauf  hinweisen,  dafs  wir  vornehmlich 
das  der  Körpertemperatur  Entgegengesetzte  empfinden.  Ab- 
surd wurde  die  Sache  schon  beim  Geschmack,  wo  wir  das 
Bittere  durch  das  Süfse  in  uns  und  das  Sttfse  durch  das 
Bittere  in  uns  empfinden  sollen.  Vollends  beim  Geruch 
und  beim  Gehör  scheint  er  nicht  einmal  einen  Versuch  zur 
Anwendung  dieser  Gegensatztheorie  gemacht  zu  haben 
(Theophr.  de  sens.  D.  507  f.).  Auch  D.  516  berichtet  Theo- 
phrast  nur,  dafs  der  Schall  eine  Bewegung  der  Luft  und 
die  Düfte  Ausströmungen  seien,  ohne  die  Gegensatztheorie 
zu  berühren. 

Die  Sinne  sind  aber  schon  in  ihrem  eigentlichen  Be- 
reiche, den  ihnen  an  sich  zugänglichen  Wahrnehmungen, 
schwach  und  unzulänglich.  Wenn  wir  eine  schwarz-  und 
eine  weifsgefärbte  Flüssigkeit  abwechselnd  tropfenweise  aus- 
giefsen,  so  vermag  das  Auge  die  Farben  nicht  zu  erkennen 
(Sext.  Emp.  Dogm.  I.  90).  Eine  ähnliche  Sinnestäuschung 
noch  gröberer  Art  nahm  er  beim  Schnee  an.  Er  behauptete» 
derselbe  sei  eigentlich  schwarz  (Cic.  Acad.  II.  72,  100)  und 
zwar  deshalb,  weil  das  Wasser  schwarz  sei  (S.  Emp.  Hyp. 
I.  33).  Vollends  also  ist  das  eigentliche  Wesen  der  Dinge, 
wie  es  seine  Lehre  offenbarte,  natürlich  den  Sinnen  unzu- 
gänglich. Sie  sind  dazu  viel  zu  grob.  Sie  vermögen  die 
nach  Zahl,  Gestalt  und  Beschaffenheit  unfafsbare  Mannig- 
faltigkeit der  Urstoffe  nicht  zu  erkennen.  Aus  der  Über- 
zeugung von  der  Richtigkeit  seiner  Theorie  ergibt  sich  ihm 
mit  Notwendigkeit  die  Annahme  der  Vernunft  als  des 
eigentlichen  Erkenntnisprinzips,  wenngleich  auf  der  Grund- 
lage der  Sinneswahrnehmungen  (Sext.  Emp.  Dogm.  I.  91» 
140).  Ob  er  eine  nähere  Begründung  dieser  Lehre  ge- 
geben hat,  darüber  fehlt  es  an  Nachrichten. 

Nach  einer  späteren  Angabe  (D.  331)  hätte  Anaxagoras 
zu  denen  gehört,  die  die  Welt  als  vergänglich  bezeichneten. 
Nun  ist  ja  freilich  alles,  was  entsteht,  nicht  nur  »wert,  dafs 
es  zu  Grunde  geht",  sondern  auch  fähig,  wieder  zu  Grunde 


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2.   Anaxagoras.  231 

zu  gehen.  Die  ihm  zugeschriebene  Vergänglichkeitslehre 
besagt  aber  etwas  mehr  als  diesen  Gemeinplatz;  sie  besagt, 
dafs  er  ein  bestimmtes  Endziel  der  Welt,  einen  periodischen 
Rückgang  in  den  ursprünglichen  Zustand  gelehrt  habe.  Zu 
einer  solchen  Lehre  liegt  aber  im  Ganzen  seiner  Theorie 
keine  Handhabe.  Die  Annahme  zweier  in  entgegengesetzten 
Richtungen  wirkenden  Kräfte,  wie  beiEmpedokles,  liegt 
ihm  fem.  Es  liegt  ja  eine  naive  Kindlichkeit  in  der  An- 
nahme, dafs  „eines  schönen  Morgens"  die  Weltvernunft  ihre 
weltbildende  Tätigkeit  begonnen  habe.  Aber  dieser  Naivität 
haben  sich  bis  heute  unzählige  Denker  schuldig  gemacht, 
und  es  ist  gerade  bei  der  Vernunft  als  weltbildendem  Prinzip 
sehr  unwahrscheinlich,  dafs  er  dem  Anfangen  ein  Aufhören 
ihrer  Tätigkeit  entgegengesetzt  haben  sollte.  Hat  er,  wie 
wir  angenommen  haben,  bei  der  Weltentstehung  eine  stetig 
zunehmende  Beschleunigung  der  Weltbewegung  gelehrt,  so 
würde  daraus  doch  nur  eine  immer  reinere  Gestaltung  der 
Urstoffe  sich  ergeben,  die  aber  nach  seinen  Voraussetzungen 
nicht  zum  Untergange  führen  könnte.  Und  speziell  auf  der 
Erde  liefs  er  diese  Beschleunigung  und  also  auch  den  Fort- 
schritt der  Entmischung  nicht  stattfinden.  Ja,  auch  für  den 
Himmel  bezieht  sich  die  behauptete  stetige  Beschleunigung 
des  Umschwungs  wohl  nur  auf  die  Periode  der  Welt- 
bildung. 

Bezeichnete  Empedokles  die  bewegenden  Kräfte  noch 
rein  mythisch,  so  hat  Anaxagoras  mit  seiner  Weltvernunft 
einen  entschiedenen  Irrweg  in  bezug  auf  diese  Frage  be- 
treten. Wir  müssen  ihn  wegen  dieser  Lehre  tadeln,  aber 
aus  dem  entgegengesetzten  Grunde  wie  Plato  und  Aristo- 
teles. Was  er  diesen  zu  wenig  tat,  tut  er  uns  zu  viel.  Es 
war  ein  verhängnisvoller  Irrtum,  das  Zweckprinzip  und 
einen  besonderen  Träger  desselben  in  die  Welterklärung 
einzuführen.  Sehen  wir  aber  von  diesem  für  seine  Zeit  er- 
klärlichen und  entschuldbaren  Fehler  ab,  vergegenwärtigen 
wir  uns  die  ganze  Summe  der  ganz  der  Naturerklärung  ge- 
widmeten Lebensarbeit  dieses  tiefernsten,  scharfsinnigen, 
genialen  Denkers,  vergegenwärtigen  wir  uns  die  strenge 
Folgerichtigkeit  seiner  Konstruktionen  und  die  Fülle  wahr- 


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232  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

haft  geistvoller  Zftge  darin,  wie  sie  sich  uns  ergeben  haben, 
so  dürfen  wir  ihm,  wenn  auch  mit  einer  Einschränkung 
liinsichtlich  des  Superlativs,  den  alten  Ehrennamen  des  „am 
meisten  Physischen"  (Sext.  Emp.  Dogm.  1.  90)  wohl  gönnen. 
Jedenfalls  kommt  ihm  derselbe  zu  hinsichtlich  der  aus- 
schliefslich  diesem  Gegenstande  zugewandten  Richtung  seines 
Interesses,  von  der  jetzt  schliefslich  im  Anschlüsse  an  seine 
Naturlehre  noch  gehandelt  werden  mufs. 

Änaxagoras  soll  nach  der  schon  mehrfach  erwähnten 
Aufzählung  des  Clemens  von  Alexandria  für  das 
höchste  Lebensgut  erklärt  haben  „die  Forschung  (theoria) 
und  die  daraus  entspringende  Freiheit".  Hier  ist  die  bei 
den  Pythagoreern  mit  Bezug  auf  ihre  besondere  Richtung 
spezieller  formulierte  gelehrte  Beschäftigung  in  ihrer  vollen 
Allgemeinheit  belassen,  dagegen  ein  Zug  hinzugefügt,  der 
dem  in  zahlreichen  Zügen  und  Anekdoten  zu  Tage 
tretenden  Charakterbilde  des  Änaxagoras  vortrefflich  an- 
gepafst  ist.  Die  Forschung  ist  an  sich  selbst  beseligend; 
sie  beglückt  aber  ferner  auch  dadurch,  dafs  sie  den  Forscher, 
den  sie  ganz  hinnimmt,  von  den  Sorgen  und  Kümmernissen 
um  die  niederen  Angelegenheiten  des  Lebens  befreit  und 
ihn  diesen  Dingen  gegenüber  mit  einem  grofsartigen  Gleich- 
mut, mit  der  allgemeinen  philosophischen  Grundstimmung 
wappnet.  Es  bedarf  *  keiner  Erinnerung,  dafs  wir  auch  in 
dieser  Angabe  keinen  geschichtlichen  Bericht  über  eine  von 
Änaxagoras  getroffene  wissenschaftliche  Lehrentscheidung  in 
der  Frage  des  höchsten  Gutes,  sondern  nur  eine  aus  dem 
tiberlieferten  Bilde  seiner  Persönlichkeit  und  aus  gelegent- 
lichen Äufserungen  ungeschichtlich  zurechtgemachte  Formel 
vor  uns  haben,  die  höchstens  angibt,  wie  er  diese  Frage 
beantwortet  haben  könnte,  wenn  er  zweihundert  Jahre  später 
gelebt  hätte. 

Dieses  ausschliefsliche  Interesse  für  die  Wissenschaft 
und  der  daraus  entspringende  Hochsinn  nun  spiegelt  sich 
teils  in  den  Berichten  über  sein  Verhalten  zu  den  Interessen 
des  äufseren  Lebens  und  über  gelegentliche  Aussprüche  von 
ihm,  teils  aber  auch  in  Äufserungen,  in  denen  er  ausdrück- 


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2.  Anaxagoras.  233 

lieh  die  Frage  der  Glückseligkeit  und  der  Lebenswerte  ins 
Auge  gefafst  haben  soll. 

In  ersterer  Beziehung  lesen  wir  schon  bei  Plato  (Hipp, 
mai.  283  A),  er  habe  das  reiche  ererbte  Vermögen  vernach- 
lässigt und  alles  eingebüfst.  Auch  Aristoteles  deutet  ein- 
mal auf  diesen  Charakterzug  des  Anaxagoras  hin  (1141b,  3). 
Wie  Thaies  sei  er  weise,  aber  nicht  klug,  weil  sie  über 
der  Erkenntnis  des  an  sich  nicht  Verwendbaren  das  Nütz- 
liche vernachlässigten.  Schon  die  Zusammenstellung  mit 
Thaies  zeigt  hier,  dafs  von  einer  wissenschaftlichen  Theorie 
über  das  höchste  Gut  bei  ihm  nicht  die  Rede  sein  kann. 
Auch  Cicero  (Tusc.  V.  115)  führt  ihn  als  Beweis  für  das 
Glück  der  wissenschaftlichen  Beschäftigung  an,  da  er  ja 
sonst  nicht  Landbesitz  und  Erbteil  im  Stiche  gelassen  und 
sich  ganz  dem  göttlichen  Genufs  des  Lernens  und  Forschens 
hingegeben  hätte.  Nach  Diog.  L.  (IL  6)  hatte  er  seinen 
ganzen  Reichtum  seinen  Verwandten  überlassen,  und  nach 
einer  anderen  Erzählung  antwortet  er  auf  den  Vorwurf,  er 
verwahrlose  seinen  Besitz:  „Nicht  wäre  ich  gerettet,  wenn 
nicht  diese  Dinge  zu  Grunde  gegangen  wären."  Eine  ähn- 
liche Gleichgültigkeit  wird  ihm  auch  in  anderen  Beziehungen 
beigelegt.  Eine  Bezugnahme  auf  Anaxagoras  fand  man  in 
einer  Stelle  einer  Tragödie  des  Euripides  (Theseus),  wo  der 
Held  erklärt,  von  einem  Weisen  gelernt  zu  haben,  dafs  man 
sich  alle  möglichen  Schicksalsschläge  stets  gegenwärtig 
halten  müsse,  um  durch  ihr  etwaiges  Eintreffen  nicht  über- 
rascht zu  werden  (Cic.  Tusc.  III.  29  f.;  Plut.  Cons.  Apol. 
p.  112.  An  ersterer  Stelle  wird  auf  Anaxagoras  auch  der 
Ausspruch  bei  der  Nachricht  vom  Tode  eines  Sohnes  zurück- 
geführt: „Ich  wufste,  dafs  ich  einen  Sterblichen  gezeugt 
habe").  Und  als  er  beim  Herannahen  des  Todes  in  Lamp- 
sakus  gefragt  wird,  ob  er  wünsche,  dafs  seine  Leiche  nach 
Klazomenä  gebracht  werde,  habe  er  geantwortet,  es  bedürfe 
dessen  nicht ;  der  Weg  zum  Totenreiche  sei  von  allen  Orten 
gleich  nahe  (Cic.  Tusc.  L  104;  D.  L.  II.  11).  Das  ihn  an 
Stelle  dieser  Dinge  beherrschende  Interesse  bezeichnen 
folgende  beide  Äufserungen.  Auf  die  Frage,  warum  man 
wünschen  raüfste,  lieber  geboren  als  nicht  geboren  zu  sein. 


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234  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

antwortet  er:  „Um  der  Betrachtung  des  Himmels  und  des 
gesamten  Weltalls  willen"  (Eth.  Eud.  1216,  10;  D.  L.  IL  10). 
Und  auf  den  Vorwurf,  er  vernachlässige  sein  Vaterland, 
erwidert  er,  auf  den  Himmel  (das  Weltall)  zeigend:  „Bei- 
leibe nrcht!  Gar  sehr  liegt  mir  mein  Vaterland  am  Herzen** 
(D.  L.  IL  7). 

Und  von  Äufserungen  mehr  allgemeingültiger  Bedeutung 
berichtet  schon  Aristoteles  (1179,  13),  er  habe  gesagt, 
die  Lehre,  dafs  nicht  Reichtum  und  Macht  glücklich  mache, 
müsse  der  Menge  seltsam  erscheinen.  Und  nach  der  ende- 
mischen Ethik  (1215b,  7)  antwortet  er  auf  die  Frage,  wer 
der  Glücklichste  sei:  „Keiner  von  denen,  die  du  dafür 
hältst.  Dir  würde  er  als  ein  Tor  erscheinen**,  wozu  der 
Autor  die  allerdings  eine  starke  Färbung  von  seiner  eigenen 
Weltanschauung  aus  an  sich  tragende  Erläuterung  gibt, 
dafs  er  wohl  an  ein  Leben  ohne  Schmerz  und  Fehl  für  das 
Gute,  mit  erhabener  Forschung  ausgefüllt,  gedacht  haben 
möge. 

So  zeigt  Anaxagoras  in  seiner  persönlichen  Lebens- 
auffassung die  deutliche  Prägung  des  in  seiner  Forscher- 
tätigkeit bewufst  vollbeseligten  Denkers  und  Gelehrten. 
Dazu  stimmt  auch  die  Angabe,  dafs  man  ihm  (mit  Rück- 
sicht auf  seine  Grundlehre)  den  Beinamen  „die  Vernunft** 
gegeben  habe,  der  sich  auch  noch  in  einem  erhaltenen  Verse 
aus  den  Sillen  des  Timon  von  Phlius  findet  (D.  L.  II.  6), 
und  dafs  Perikles  aus  dem  Verkehr  mit  ihm  den  erhabenen 
Ton  seiner  Beredsamkeit  angenommen  habe.  Dazu  stimmt 
auch  ein  erhaltenes  lyrisches  Bruchstück  des  Euripides, 
in  dem  er,  offenbar  mit  Beziehung  auf  Anaxagoras,  den 
Forscher  selig  preist,  der,  unbekümmert  um  die  Bestrebungen 
der  Menge,  ausschliefslich  im  Anschauen  und  Erforschen  der 
unvergänglichen  Welt  sein  Leben  hinbringt.  Eine  wissen- 
schaftliche Behandlung  jedoch  der  Frage  nach  dem  höchsten 
Gute  wird  ihm  mit  Unrecht  beigelegt. 

Nach  dieser  Übersicht  über  seine  Lehre  wird  die  weitere 
Gestaltung  seines  Schicksals  nach  Veröffentlichung  seines 
Buches  verständlicher  werden.  Erfolgte  diese  wirklich  erst 
um  434,  so  war  damit  den  Feinden  des  Perikles  eine  will- 


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2.  Anaxagoras.  235 

kommene  Handhabe  geboten,  um  dem  grofsen  Staatsmanne 
einen  Verdrufs  zu  bereiten  und  seine  Stellung  zu  erschüttern. 
Anaxagoras  wurde  nicht  einmal  auf  Grund  seiner  Gesamt- 
lehre, sondern,  ganz  nach  dem  Rezepte  der  christlichen 
Inquisitionsprozesse,  auf  Grund  einzelner  herausgerissener 
Sätze  wegen  „Unfrömmigkeit",  d.  h.  wegen  Widerspruchs 
gegen  die  herrschende  Mythologie,  auf  den  Tod  angeklagt. 
Er  hatte  gelehrt,  dafs  die  Sonne  nicht  eine  Gottheit,  son- 
dern ein  glühender  Steinklumpen  sei.  Diese  Lehre  war 
allerdings  besonders  auffilllig  und  geeignet,  Widerspruch 
hervorzurufen.  Auch  So  k  rat  es  hat  sie  gerade  in  seiner 
Weise  einer  eingehenden  Kritik  unterworfen  (Mem.  IV.  7,  6). 
Übrigens  wurde  die  theologische  Anklage  noch  verschärft 
durch  eine  politische,  indem  man  ihn  auch  der  Hinneigung 
zu  oder  gar  des  Einverständnisses  mit  den  Medem,  dem 
alten  Erbfeinde,  beschuldigte  (D.  L.  II.  12).  Der  Verlauf 
des  Prozesses  wird  verschieden  erzählt.  Offenbar  kannte 
man  im  späteren  Altertume  den  wirklichen  Hergang  nicht 
mehr;  jedenfalls  vermögen  wir  heute  aus  den  widersprechenden 
Angaben  nicht  mehr  die  etwa  darunter  befindliche  richtige 
herauszuerkennen.  Hohe  Geldstrafe  (5  Talente  =  22  500  M.» 
nach  dem  heutigen  Geldwert  das  Zehnfache)  und  Ausweisung, 
Freisprechung  auf  Grund  persönlicher  Anwaltschaft  des 
Perikles,  Flucht  aus  dem  Gefängnis  durch  Veranstaltung 
desselben,  das  sind  die  verschiedenen  Lesarten  (Z.  975,  4). 
Jedenfalls  fand  sich  Anaxagoras  bewogen,  nachdem  ihm  ein 
solcher  Lohn  dreifsigjährigen  Wirkens  in  Athen  geworden,^ 
trotz  seiner  mindestens  66  Jahre  den  Staub  des  athenischen 
Bodens  von  seinen  Füfsen  zu  schütteln. 

Er  kehrte  nicht  in  seine  Vaterstadt  zurück.  Er  fand 
für  den  Rest  seiner  Tage  eine  neue  Heimat  in  Lamp- 
sakus  am  Hellespont.  Er  mufs  auch  dort  noch  bis  zu 
seinem  428  im  Alter  von  72  Jahren  erfolgten  Tode  in  ehren- 
voller und  wirksamer  Weise  seine  Lehrtätigkeit  fortgesetzt 
haben.  Wenigstens  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  wie 
später  zu  zeigen,  der  40  Jahre  jüngere  Demokrit  in 
Lampsakus  sein  Schüler  gewesen,  und  auch  ein  Lampsakener 
wird  als  sein  Schüler  genannt  (Z.  1019,  4).     Auch  die  ihm 


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236  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

in  Lampsakus  erwiesenen  hohen  Ehren  gelten  wohl  nicht 
allein  der  Berühmtheit  seines  Namens  und  der  sympathischen 
Würde  seiner  Persönlichkeit.  Als  sein  Ende  naht,  erscheinen 
vor  ihm,  wie  schon  erwähnt,  die  Behörden  der  Stadt  und 
erkundigen  sich  nach  seinen  Wünschen  hinsichtlich  des 
Ortes  seiner  Bestattung.  Desgleichen  fordern  sie  ihn  auf, 
selbst  die  ihm  nach  seinem  Tode  zu  erweisenden  Ehren  zu 
bestimmen.  Er  fordert,  dafs  zu  seinem  Andenken  der 
Monat,  in  dem  er  sterben  würde,  für  die  Jugend  der  Stadt 
alljährlich  ein  Ferienmonat  sein  sollte,  und  dies  soll  noch 
nach  Jahrhunderten  beobachtet  worden  sein.  Aufserdem 
ehrte  man  ihn  durch  Begräbnis  auf  öffentliche  Kosten  und 
durch  Altäre,  die  der  „Vernunft"  und  der  „Wahrheit"  ge- 
widmet gewesen  sein  sollen  (Alkidamas,  Schüler  des  Gorgias 
bei  Aristot.  1398b,  16;  D.  L.  II.  14  f.;  Aelian.  V.  VIII.  19). 
Sein  Hauptschüler  war  Archelaos,  jedenfalls  in 
Athen,  der  nach  Theophrast  (D.  479)  „der  Lehrer  des 
Sokrates  gewesen  sein  soll",  und  der  die  Naturlehre  des 
Anaxagoras  durch  eine  Reihe  nicht  ganz  unbedeutender 
Abweichungen  im  einzelnen  modifizierte  (Z.  1033  ff.).  Man 
nannte  ihn  den  letzten  Physiker  (D.  L.  IL  16).  Daneben 
scheint  er  auch  schon  unter  dem  Einflüsse  der  Sophisten, 
der  neuen  Zeit  huldigend,  über  die  Entstehung  der  staat- 
lichen Einrichtungen  spekuliert  zu  haben  (D.  564;  D.  L. 
IL  16).  Auch  der  von  einem  Teile  der  Sophisten  vertretene 
Satz,  das  Gerechte  und  das  Schlechte  beruhe  nicht  auf 
Natur,  sondeiTi  auf  wechselnder  Sitte  und  willkürlicher 
Satzung,  wird  ihm  bereits  beigelegt  (D.  L.  ib.).  Was  es 
mit  der  angeblichen  Schülerschaft  des  —  ihm  gleichaltrigen ! 
—  Sokrates  auf  sich  hat,  wird  später  zu  erörtern  sein. 

3.   Leukippos  (um  460). 

Bei  dem  Begründer  des  scharfsinnigsten  und  folge- 
richtigsten dieser  drei  Parallelsysteme  kommt  zunächst  die 
Existenzfrage  in  Betracht.  Epikur  hat  behauptet,  es  habe 
gar  keinen  Leukippos  gegeben  (D.  L.  X.  13),  und  diese  Be- 
hauptung ist  noch  neuerdings  von  einem  geistvollen   und 


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3.   Leukippos  (um  450).  237 

gelehrten  deutschen  Philologen  (Erwin  Rohde,  Verhandl. 
der  34.  Philol.-Vers.,  1879)  wieder  aufgenommen  worden. 
Zur  Entkräftung  dieser  Behauptung  können  folgende  Tat- 
sachen genügen:  1.  In  der  der  aristotelischen  Schule  an- 
gehörigen  Schrift  über  Melissos,  Xenophanes  und  Gorgias 
kommt  in  dem  Bericht  über  eine  etwa  um  450  verfafste 
Jugendschrift  des  Gorgias  eine  Bezugnahme  auf  einen 
Sprachgebrauch  in  Schriften  des  Leukipp  vor  (980,  7).  Da 
diese  Bezugnahme  allem  Anscheine  nach  auf  der  Schrift  des 
Gorgias  selbst  beruht,  liegt  hier  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  ein  fast  der  Entstehungszeit  des  leukippischen  Systems 
gleichzeitiges  Zeugnis  eines  wenig  jüngeren  Zeitgenossen 
vor.  2.  Diogenes  von  Apoll  onia,  dessen  Lehre  bereits 
423  von  Aristophanes  verspottet  wurde,  hat  nach  dem 
Zeugnisse  Theophrasts  (D.  477)  wesentliche  Punkte  der- 
selben von  Leukipp  übernommen,  3.  Aristoteles  nennt 
nicht  nur  Leukipp  sehr  häufig  neben  Demokrit,  sondern 
zeigt  namentlich  an  einer  Stelle  (Entstehen  und  Vergehen 
L  8)  ausführlich,  wie  Leukippos  die  Grundgedanken  des 
Atomismus  im  Gegensatze  gegen  die  eleatische  Lehre  ent- 
wickelt habe.  4.  Theophrast  hat  ihn  für  den  Verfasser 
der  unter  den  Schriften  Demokrits  aufgeführten  „Grofsen 
Weltordnung**  und  wahrscheinlich  auch  für  den  Verfasser 
der  ebendort  aufgeführten  Schrift  „Über  die  Vernunft"  er- 
klärt (D.  L.  IX.  46 ;  D.  321)  und  wenigstens  die  Grundzüge 
des  Atomismus  ihm  ausdrücklich  beigelegt  (D.  483).  In 
dem  Umstände,  dafs  diese  Schriften  später  in  das  Gesamt- 
verzeichnis der  Hervorbringungen  der  atomistischen  Schule 
aufgenommen  wurden,  liegt  auch  die  Erklärung  der  Mög- 
lichkeit, das  Dasein  Leukipps  zu  leugnen.  Namentlich  seine 
Hauptschrift,  die  gewifs  ursprünglich  nur  den  Titel  „Die 
Weltordnung**  (Diakosmös)  führte,  wurde  nach  der  Aufnahme 
m  die  grofse  Sammlung  von  einer  gleichnamigen  Schrift 
Demokrits,  die  den  Titel  „Die  kleine  Weltordnung**  erhielt, 
als  „Die  grofse  Weltordnung**  unterschieden  und  galt  jetzt 
ebenfalls  für  ein  Werk  Demokrits.  Damit  wäre  die  Existenz- 
frage erledigt 

Da  er  nun  femer  jedenfalls  der  Lehrer  des  um  460 


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238  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

geborenen  Demokrit  war,  kann  seine  Geburt  mit  der 
gröfsten  Wahrscheinlichkeit  um  490  und  das  Hervortreten 
seiner  Lehre  um  460  angesetzt  werden.  Weiteres  ist  aber 
über  seine  Lebensverhältnisse  nicht  bekannt  Sogar  sein 
Geburtsort  war  schon  den  Alten  nicht  mehr  bekannt. 
Aristoteles  sagt  nur  einmal:  „Leukipp  und  der  Abderit 
Demokrit"  (303,  4),  läfst  also  die  Frage  nach  seiner  Her- 
kunft unbestimmt.  Theophrast  (D.  483)  gibt  an,  er  sei 
entweder  aus  Elea  oder  aus  Milet  gewesen,  denn  beide  An- 
gaben fänden  sich.  Aber  mutmafslich  beruhten  diese  An- 
gaben nur  auf  Vermutung;  es  spiegelt  sich  darin  nur  die 
Tatsache,  dafs  Leukipp  der  hauptsächlichste  Umgestalter 
der  alten  milesischen  Naturlehren  unter  dem  Einflüsse  des 
parmenideischen  Denkens  ist,  wie  denn  auch  Theophrast 
selbst  im  unmittelbaren  Anschlüsse  an  die  vorstehende  An- 
gabe berichtet,  er  sei,  von  der  Lehre  des  Parmenides  aus- 
gehend, über  dieselbe  hinausgeschritten.  Wenn  nun  eine 
spätere  Angabe  (D.  L.  IX.  30)  zu  diesen  beiden  mutmafs- 
lichen  Geburtsorten  als  dritten  gar  noch  Abdera  hinzufügt, 
so  ist  da  lediglich  die  spätere  Bezeichnung  der  atomistischen 
Schule  als  abderitische  (nach  ihrem  durch  die  Lehrtätigkeit 
Demokrits  begründeten  Sitze)  auf  den  Vorgänger  und  Lehrer 
Demokrits  übertragen.  Nur  mit  überwiegender  Wahrschein- 
lichkeit kann  hiernach  vermutet  werden,  dafs  Unteritalien 
und  speziell  Elea  die  Bildungsstätte  und  somit  möglicher- 
weise auch  die  Geburtsstätte  sowie  die  Stätte  des  Wirkens 
Leukipps  gewesen  ist.  Die  Nachrichten,  die  ihn  geradezu 
zum  Schüler  Zenos  machen  (D.  L.  L  15;  D.  564),  stimmen, 
wie  wir  sehen  werden,  mit  der  wirklichen  Entwicklung  seiner 
Lehre  völlig  überein  und  haben  daher  die  gröfste  Wahr- 
scheinlichkeit für  sich. 

Nach  den  vorhandenen  zuverlässigen  Nachrichten  läfst 
sich  eine  Anzahl  von  Grundlehren  des  atomistischen  Systems 
mit  vollster  Sicherheit  auf  Leukipp  zurückführen.  Aristo- 
teles (Entstehen  und  Vergehen  L  8)  führt,  ausgehend  von 
dem  Problem,  wie  eine  Einwirkung  eines  Stoffes  auf  einen 
anderen  möglich  sei,  aus,  dafs  die  am  meisten  methodische 
und  von  einem  Prinzip  ausgehende  Lösung   desselben   von 


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8.   Leukippos  (um  450).  239 

Leukipp  und  Demokrit  gegeben  worden  sei.  Sie  gingen 
von  der  Natur  aus,  wie  sie  wirklich  sei.  Ihren  Ausgangs- 
punkt hätten  sie  von  der  Leugnung  des  Leeren  bei  den 
Eleaten  genommen.  Daraus  hätten  die  Eleaten  die  Un- 
möglichkeit der  Bewegung  und  der  Vielheit  geschlossen. 
Denn  auch  Vielheit  sei  nur  möglich,  wenn  es  ein  dazwischen- 
tretendes Leeres  gebe.  So  seien  sie  in  rein  begrifflichem 
Raisonnement,  ohne  die  Erfahrungstatsachen  zu  Bäte  zu 
ziehen,  völlig  vom  sinnlich  Gegebenen  abgekommen  und  auf 
Behauptungen  geraten,  die  an  Unsinnigkeit  noch  über  die 
Vorstellungen  der  Wahnsinnigen  hinausgingen.  Diese  näm- 
lich irrten  zwar  in  Fragen  des  Sittliche^  und  Herkömm- 
lichen, würden  aber  niemals  Feuer  und  Eis  für  ein  und 
dasselbe  halten.  Diesen  gegenüber  habe  dann  Leukipp 
(hier,  an  entscheidender  Stelle,  wird  er  allein 
genannt  und  seine  Worte,  was  nur  bei  einer  noch  vor- 
handenen Schrift  Sinn  hatte,  mit  einem  „Er  sagt"  an- 
geführt) ein  Verfahren  eingeschlagen,  dessen  Ergebnisse  mit 
der  Sinneswahmehmung  in  Einklang  ständen.  Er  habe  zu- 
gestanden, dafs  es  ohne  ein  Leeres  keine  Bewegung  gebe, 
und  dafs  das  Leere  ein  Nichtseiendes  sei,  nichts  desto  weniger 
aber  behauptet,  dies  Nichtseiende  existiere  ebensosehr  wie 
das  Seiende.  An  dieser  entscheidenden  Stelle  (325,  28)  ist 
im  Texte  ein  Wort  ausgefallen;  die  Worte  „desto  weniger" 
sind  jedoch  eine  durch  den  Sinn  geforderte  Ergänzung. 
Hier  also  hat  sich  im  Gegensatz  gegen  die  eleatische  Lehre 
der  Gedanke  der  Realität  des  Raumes  zum  erstenmal  zu 
voller  Klarheit  emporgerungen.  Hier  bezeugt  Aristoteles 
schon  für  Leukipp,  allermindestens  dem  Sinne  nach,  an- 
scheinend aber  auch  schon  der  paradoxen  Formulierung  nach, 
die  sonst  Demokrit  zugeschrieben  wird,  die  Grundlehre  des 
Atomismus:  „Nicht  in  höherem  Mafse  existiert  das  Ichts 
als  das  Nichts"  (me  mällon  to  dfen  e  to  meden).  Beide 
Arten  des  Existierenden  aber,  läfst  Aristoteles  Leukipp  fort- 
fahren, ständen  im  schroffsten  Gegensatze  zueinander.  Das 
im  eigentlichen  Sinne  Seiende  sei  ein  durchaus  Volles  (d.  h. 
absolut  Dichtes,  wie  ja  auch  die  Eleaten  in  Konsequenz 
ihrer  Leugnung  des  Leeren  behaupteten),  aber  es  gebe  dessen 


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240  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

nicht  nur  ein  einziges,  sondern  —  was  ja  bei  der  Existenz 
des  Leeren  möglich  -—  unbegrenzt  vieles.  Jedes  Einzelne 
dieser  Vielheit  sei  wegen  seiner  Kleinheit  unsichtbar.  Durch 
die  Existenz  des  Leeren  werde  ihm  ferner  auch  die  Mög- 
lichkeit der  Bewegung  gewährleistet.  Die  Atome  bewegen 
sich  im  Leeren.  Diese  nicht  mehr  teilbaren  kleinsten  Massen* 
teilchen  (Atom  bedeutet  ein  Unteilbares)  seien  femer  nicht 
flftchenhaft,  sondern  körperhaft,  Sie  existieren  in  unbegrenzt 
vielen  Formen.  Aus  ihnen  entstehe  das  Zusammengesetzte 
einesteils  durch  das  Leere  (d.  h.  in  der  Form  lockerer  Zu- 
sammenfügung mit  Zwischenräumen),  andemteils  durch  Be- 
rührung (d.  h.  in, fester  Zusammenfügung  ohne  leere  Räume 
dazwischen)  (325  b,  29).  Auf  diesen  ZusammenfOgungen 
und  ihrem  Wechsel  beruhe  Entstehen  und  Vergehen  und 
die  Einwirkung  eines  Dinges  auf  ein  anderes  (325,  31). 

Aristoteles  erklärt  an  dieser  Stelle,  die  Betrachtung  über 
das  aus  diesen  Grundlagen  weiter  sich  Ergebende  abbrechen 
zu  wollen.  Er  hätte  also  wohl  noch  einiges  Weitere  zur 
Lehre  speziell  des  Leukipp  beibringen  können.  Eine  Stelle, 
an  der  er  diese  Fortsetzung  speziell  in  betreff  der  Grund- 
lehren des  Leukipp  geliefert  hätte,  findet  sich  in  seinen 
uns  erhaltenen  Schriften  nicht.  Woher  er  das  bis  dahin 
Beigebrachte  entnommen  hat,  ob  aus  einer  Schrift  Leukipps 
oder  aus  einer  abgeleiteten  Quelle,  sagt  er  nicht,  doch  ist 
bei  seiner  Art  zu  forschen  wohl  das  erstere  wahrscheinlicher. 
Jedenfalls  stehen  wir  einem  vollgültigen  und  unbezweifel- 
baren  Zeugnisse  über  Entstehung  und  Grundzüge  der  Lehre 
Leukipps  gegenüber.  Dieser  ist  ihm  geradezu  der  Erretter 
der  Wissenschaft  von  der  Welt-  und  Naturlosigkeit  der 
Eleaten. 

Auch  Theophrast  unternimmt  in  der  uns  überlieferten 
Auslassung  über  Leukipp  (D.  483),  die  Grundzüge  des  Ato- 
mismus speziell  im  Sinne  Leukipps  darzulegen.  Nach  dem 
bereits  angeführten  Zeugnisse,  nach  dem  er  die  „Grofse 
Weltordnung"  für  ein  Werk  Leukipps  hielt,  dürfen  wir  an- 
nehmen, dafs  seine  Darstellung  dieser  Schrift  entnommen 
ist.  Auch  er  läfst  Leukipp  seine  Lehre  im  Gegensatze 
gegen    die    der    Eleaten    entwickeln.     Während    diese    das 


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3.   Leukippos  (um  450).  241 

Seiende  für  einheitlich  und  der  Masse  nach  begrenzt  er- 
klärten, habe  er  ihm  unbegrenzte  Vielheit  beigelegt. 
Während  jene  es ,  das  Nichtseiende  leugnend ,  für  unbewegt 
ausgäben,  erkläre  er  die  Atome  (d.  h.  die  nicht  mehr  teil- 
baren Elemente  des  Seienden)  für  beständig  bewegt  (hier 
tritt  zuerst  die  an  der  Aristotelesstelle  noch  nicht  erwähnte 
ursprüngliche  Eigenbewegung  der  Atome  auf).  Die 
Möglichkeit  dieser  Bewegung  beruhe  darauf,  dafs  das 
Seiende  um  nichts  mehr  existent  sei  als  das  Nichtseiende 
(das  Leere).  Beide  seien  geradezu  die  Elemente  des  Werdens, 
daher  es  auch  heifse:  „Sie  (die  Atome)  bewegen  sich  in 
demLeeren.**  Die  Gestalt  der  Atome  sei  von  unbegrenzter 
Mannigfaltigkeit  bei  völliger  Gleichheit  der  stofflichen  Be- 
schaffenheit; sie  seien  absolut  voll  (hier  führt  Theophrast 
sogar  das  altertümliche,  jonische  Wort  nastös  für  „voll"  an, 
das  jedoch  möglicherweise  erst  von  Demokrit  gebraucht 
worden  ist  (D.  285,  311,  314). 

So  weit  bei  Theophrast  der  Bericht  über  Leukipp;  die 
weiter  folgenden  Angaben  beziehen  sich  auf  Demokrit  und 
seine  Schule. 

Die  hier  im  Gegensatze  gegen  die  eleatische  Einheits- 
lehre betonte  Vielheit  der  Stoffatome  konnte  er  aus 
der  pythagoreischen  Lehre  von  den  ßaumatomen  (der 
„Grenze")  entnehmen,  wie  überhaupt  ein  Einflufs  auch  des 
pythagoreischen  Hauptsystems  auf  sein  Denken  zwar  nicht 
äufserlich  bezeugt  wird,  aber  aus  inneren  Gründen  sehr 
wahrscheinlich  ist. 

Ob  schon  Leukipp  die  unbegrenzte  Mannigfaltigkeit  in 
der  Gestalt  der  Atome  näher  ins  einzelne  ausgeführt  hat, 
wird  nicht  berichtet,  ist  aber  nach  der  Darstellung  seiner 
Lehre  von  der  Weltentstehung  (D.  L.  IX.;  31  s.  u.)  wahr- 
scheinlich. Ebenso  steht  es  mit  der  Begründung  der  Un- 
teilbarkeit derselben  durch  die  absolute  Dichtigkeit. 
Auf  diese  Frage  mufste  schon  Leukipp  durch  seine  nahen 
Beziehungen  zu  den  Eleaten  geführt  werden.  Schon  Z  e  n  o 
hatte,  wenn  Teilbarkeit  angenommen  wurde,  die  unendliche 
Gröfse  des  einzelnen  Stoffteils  bewiesen,  undParmenides  hatte 
für  sein  kugelförmiges  Seiendes  die  Teillosigkeit  behauptet. 

DAring.  I.  16 

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242  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Dafs  schon  erGröfsen  unterschiede  der  Atome  angenommen 
hat,  wird  ebenfalls  in  dem  Bericht  über  seine  Weltbildungs- 
theorie (D.  L.  IX.  31)  vorausgesetzt.  Von  der  Verschieden- 
heit der  Gröfse  ist  aber,  da  die  Atome  bei  völlig  gleich- 
artiger Beschaffenheit  und  absoluter  Dichtigkeit  sämtlich 
von  gleicher  Schwere  (spezifischem  Gewicht)  sind,  auch  die 
Verschiedenheit  des  Gewichts  abhängig  (Arist.  326,  9). 
Aristoteles  legt  Unterschiede  der  Gestalt  sowohl  wie 
der  Gröfse  der  Atome  beiden,  dem  Leukipp  und  dem 
Demokrit,  gemeinsam  bei  (303,  13). 

Ein  wichtiges  Hilfsmittel  zur  Erklärung  der  Mannig- 
faltigkeit der  Dinge  ist  für  die  atomistische  Theorie,  da 
auch  ihr  der  Begriff  der  chemischen  Verbindung  gänzlich 
fehlte,  die  Anordnung  und  die  Stellung  oder  Lage 
der  Atome.  Aristoteles  verdeutlicht  die  Anordnung 
durch  das  Beispiel  der  beiden  Buchstaben  A  und  N,  die 
entweder  zu  der  Silbe  an  oder  zu  der  na  zusammentreten 
können.  Die  Stellung  erläuterter  durch  ein  griechisches 
Schriftzeichen,  das  senkrecht  gestellt  (N)  ein  N,  wagerecht 
gestellt  (Z)  ein  Z  bedeutet  (985  b,  18).  Selbstverständlich 
hat  der  letztere  Unterschied  nur  bei  Atomen  von  unregel- 
mäfsiger  Gestalt,  nicht  bei  runden  und  glatten,  Bedeutung. 
Dafs  nun  auch  dieser  Teil  der  Theorie  schon  bei  Leukipp 
vorkam,  wird  dadurch  wahrscheinlich,  dafs  Aristoteles  öfter, 
wo  er  seiner  erwähnt,  Leukipp  und  Demokrit  verbunden 
anführt  (985  b,  12;  300,  21;  314,  21;  315  b,  4  flf.).  Hier 
auch  die  verdeutlichende  Bemerkung  zur  Anordnung :  „Aus 
denselben  Buchstaben  entsteht  eine  Tragödie  und  eine 
Komödie-,"  vergl.  auch  D.  397. 

Von  entscheidender  Bedeutung  für  den  Atomismus  ist 
die  Frage,  wie  die  ursprüngliche  Bewegung  der  im  Leeren 
zerstreuten  Atome  gedacht  wurde.  Aus  welcher  Ursache 
wurde  dieselbe  abgeleitet?  Und  in  welcher  Richtung  ver- 
laufend wurde  sie  gedacht?  Nach  der  angeführten  Dar- 
stellung Theophrasts  hat  es  den  Anschein,  als  ob  schon 
Leukipp  eine  den  Atomen  ursprünglich  anhaftende  Eigen- 
bewegung angenommen  habe,  vermöge  deren  sie  in  den 
verschiedensten   Richtungen   im   Räume   umherfahren.     Sie 


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8.  Leukippos  (am  450).  243 

sind  ^beständig  bewegt**,  „bewegen  sich  im  Leeren".  ,Genau 
denselben  Ausdruck  gebraucht  Aristoteles  in  der  an 
die  Spitze  gestellten,  zusammenhängenden  Darlegung  Ober 
Leukipp  (325,  31;  vergl.  300  b,  9).  Eben  derselbe  legt 
wiederholt  'gerade  Leukipp  die  ewige  Bewegung 
bei  (1011b,  32;  1012,  6).  Durch  diese  Zeugnisse  scheint 
die  Annahme  einer  nicht  weiter  erklärbaren  Urbewegung 
der  Atome  schon  bei  Leukipp  genügend  bekräftigt  (vergl. 
D.  564). 

Man  sollte  nun  erwarten,  dafs  der  Atomismus  von  vorn- 
herein genauere  Bestimmungen  über  Richtung  und  Art 
dieser  Bewegung  (ob  in  vielerlei  Richtung?  ob  ausschliefs- 
lich  geradlinig?)  aufgestellt  hätte.  Dies  scheint  aber  nicht 
der  Fall  gewesen  zu  sein.  Wenigstens  sagt  Aristoteles  in 
bezug  auf  Leukipp  und  Demokrit  (985b,  19):  ^Die 
Frage  der  Bewegung,  aus  welcher  Ursache  oder  wie  sie 
bei  den  Urelementen  des  Seienden  stattfindet,  haben  auch 
sie,  ebenso  wie  die  andern  (ihre  Zeitgenossen),  leichtfertig 
beiseite  gelassen."  Ebenso  vermifst  er  an  einer  anderen 
Stelle  (300  b,  10)  bei  beiden  eine  Angabe  über  die  Art  und 
naturgemäfse  Richtung  der  Urbewegung,  und  ferner  rügt  er 
wiederholt  am  atomistischen  Systeme,  dafs  es  nur  den  leeren 
Raum  als  Ursache  der  Bewegung  anführe,  der  ja  freilich 
nur  eine  Bedingung  ihrer  Möglichkeit  ist  (265  b,  24;  214, 
24).  Leukipp  speziell  scheint  überhaupt  das  Prinzip  der 
mechanischen  Erklärung  alles  Geschehens  noch  nicht  mit 
voller  Deutlichkeit  zum  Ausdruck  gebracht  zu  haben. 
Wenigstens  wird  ihm  an  zwei  fast  bis  zum  Wortlaut  über- 
einstimmenden Stellen  (D.  L.  IX.  33;  D.  565),  die  wohl  ihre 
letzte  Quelle  an  Theophrast  haben,  der  Vorwurf  gemacht, 
er  berufe  sich  für  alles  Geschehen  in  der  Welt  auf  eine 
gewisse  Notwendigkeit,  über  deren  Natur  er  aber  nichts 
Deutliches  zu  sagen  wisse.  Doch  ist  dies  Urteil  vielleicht 
tendenziös  und  befangen,  weil  vom  Standpunkt  eines  in  der 
Welt  wirksamen  Zweckprinzips  aus  gefällt.  Wenigstens 
wird  er  anderweitig  nach  derselben  Quelle  zu  denen  ge- 
rechnet, die  mit  deutlichem  Bewufstsein  im  Gegensatz  gegen 
eine  Weltvemunft  ein  vernunftloses  Naturgesetz  annehmen 

16* 


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244  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

(D.  330),  und  die  einzige  Stelle,  die  eine  wörtliche  Anführung 
aus  einer  seiner  Schriften  („Über  die  Vernunft")  aufbewahrt 
hat  (D.  321),  lautet:  „Keine  Sache  geschieht  zufällig,  son- 
dern alles  nach  Gesetz  (lögos)  und  aus  Notwendigkeit." 
Nach  dieser  Stelle  scheint  er  doch  einen  genügend  deut- 
lichen Begrüf  von  der  Notwendigkeit  gehabt  zu  haben.  Er 
hat  geradezu  den  Begriff  des  Naturgesetzes. 

Die  Weltentstehung  anlangend  findet  sich  zunächst  in 
einigen  Berichten  eine  seltsame  Unterscheidung  zwischen 
dem  „Unendlichen"  und  dem  „grofsen  Leeren".  Der  erste 
Akt  der  Entstehung  einer  Welt  besteht  nach  diesen  Dar- 
stellungen darin,  dafs  die  Atome  aus  dem  Unendlichen  in 
das  grofse  Leere  stürzen  (D.  L.  IX.  30,  31 ;  D.  564).  Diese 
Unterscheidung  erklärt  sich  wohl  dadurch,  dafs  schon  Leu- 
kipp in  schroffem  Gegensatze  gegen  die  Eleaten  das  Leere 
geradezu  für  eine  stoffliche  Ursache  des  Seienden  er- 
klärte (Arist.  985  b,  8),  also  nicht  mit  dem  blofsen  Räume 
identifizierte.  Dies  liegt  denn  auch  schon  in  dem  Satze, 
dafs  das  Nichts  nicht  weniger  sei  als  das  Ichts.  Es  scheint 
fast,  als  ob  auch  hier  eine  Beeinflussung  durch  die  pytha- 
goreische (oder  anaximenische)  Weltentstehungslehre  vorläge. 
Mit  der  Weltentstehungslehre  hängt  femer  enge  zusammen 
die  Vorstellung  von  der  Entstehung  der  Elemente.  Aristo- 
teles (302,  12)  rügt  auch  hier  an  beiden  Atomikem,  dafs 
sie  nur  unzulänglich  angegeben  hätten,  aus  wie  beschaffenen 
und  gestalteten  Atomen  die  vier  Elemente  sich  zusammen- 
setzten. Sie  beschränkten  sich  darauf,  dem  Feuer  die 
kugelförmigen  Atome  zuzuweisen,  während  sie  bei  Luft, 
Wasser  und  Erde  nur  Gröfsenunterschiede  der  Atome  an- 
nähmen nnd  dabei  ein  Übergehen  dieser  drei  Elemente  in- 
einander behaupteten  (303,  14,  25).  Letzteres  scheint  auch 
sonst  bezeugt  zu  werden  (D.  L.  IX.  30).  Natürlich  konnte 
er  einen  solchen  Übergang  nur  durch  veränderte  Atomver- 
bindung vermittelt  denken. 

Über  Leukipps  Weltentstehungslehre  selbst  findet  sich 
ein  höchst  komplizierter  Bericht  bei  Diogenes  Laertius 
(IX.  31  ff.),  der  teilweise  dunkel  ist,  teilweise  aber  auch 
durch  andere  Zeugnisse  bestätigt  wird.    Durch  das  Zusammen- 


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3.  Leukippos  (um  450).  245 

prallen  der  Atome  entsteht  aus  den  vielen  unregelmäfsigen 
Bewegungen  eine  einheitliche  Wirbelbewegung,  Dabei  soll 
sich  das  Gleichartige  zusammenfinden.  Die  feinsten  Atome 
werden,  wie  beim  Durchsieben,  aus  der  Masse  wieder  heraus- 
gedrängt und  scheiden  aus  der  werdenden  Welt  aus.  Die 
übrigen  bilden  im  Umwirbein  ein  kugelförmiges  System. 
Um  dasselbe  bildet  sich  durch  Verfilzung  hakenförmiger 
Atome  (D.  336)  eine  Haut  oder  ein  Mantel  (offenbar  die 
feste  Welthülle,  das  Firmament).  Aus  denselben  Stoffen 
soll  dann  aber  auch  wieder  vermöge  eines  Zuges  zur  Mitte 
sich  die  Erde  bilden.  Diese  ist  nach  Leukipp,  ähnlich  wie 
beiAnaximander,  tamburinförmig  (D.  377 ;  D.  L.  IX. 30). 
Ebenso  entstehen  durch  allerlei  mit  dem  Wirbel  zusammen- 
hängende weitere  Vorgänge,  deren  Schilderung  infolge  der 
grofsen  Kürze  teilweise  unverständlich  ist,  innerhalb  der 
Hohlkugel  die  übrigen  Bestandteile  unserer  Welt:  zu  äufserst 
die  Sonne,  dann  die  übrigen  Gestirne,  dann  der  Mond.  Aus 
einer  nicht  recht  verständlich  überlieferten  Ursache  nahm 
auch  er  eine  nachträgliche  Senkung  der  Erde  nach  Süden 
an  (D.  377).  Diese  schräge  Lage  der  Erde  zur  Achse  der 
umlaufenden  Himmelskörper,  in  denen  die  ursprüngliche 
Wirbelbewegung  fortwirkt,  dient,  wie  bei  Anaxagoras,  zur 
Erklärung  der  Bahn  der  Sonne  am  südlichen  Horizont. 

Da  die  Bedingungen  der  Entstehung  einer  Welt  sich 
unbegrenzt  oft  wiederholen,  so  gibt  es  selbstverständlich 
unbegrenzt  viele  Welten,  die  sich  aber  auch  gelegentlich 
wieder  in  die  Urstoffe  auflösen  (D.  L.  IX.  30;  D.  327). 
Hiemach  ist  Leukipp  der  erste,  der  die  unbegrenzte  Viel- 
heit der  Weltsysteme  gelehrt  hat.  Es  ist  freilich  zwischen 
dieser  antiken  Auffassung  und  der  in  der  modernen  Welt 
auf  Grund  der  kopemikanischen  Theorie  zuerst  durch 
Giordano  Bruno  vertretenen  ein  himmelweiter  Unter- 
schied. Dort  jede  einzelne  Welt  durch  eine  feste  Kugelhülle 
von  allen  übrigen  und  von  der  Unendlichkeit  abgeschlossen, 
die  Himmelskörper  nur  Trabanten  der  Erde;  hier  diese 
unsere  Welt  von  unendlicher  Weite  und  Gröfse,  jeder  Fix- 
stern eine  Sonne,  von  Planeten  umgeben.  Nur  in  einem 
Punkte  ähneln  sich  beide  Anschauungen:    unsere  Welt  mit 


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246  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  StofFu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Sonne  und  Erde  ist  bei  beiden  nicht  mehr  die  Welt  schlecbt- 
bin,  deren  bebagliche  Enge  einen  geeigneten  Schauplatz  für 
ein  nach  Menschenart  gedachtes  Gdtterwalten  abgeben 
konnte. 

Nach  einem  ausdrücklichen  Zeugnis  des  Aristoteles 
(404,  5)  bat  Leukipp  schon  in  den  Sonnenstäubchen  einen 
Beweis  für  die  Erfüllung  des  Raumes  mit  Atomen  gesehen. 
Wie  es  nach  derselben  Stelle  (und  D.  388)  scheint,  hat 
auch  er  schon  die  Seele  für  feurig,  d.  h.  aus  kugelförmigen 
und  daher  äufserst  beweglichen  Atomen  bestehend,  gedacht 
(D.  214).  Selbstverständlich  war  dadurch  beim  Fehlen  der 
Einheitlichkeit  die  Fortdauer  nach  dem  Tode  ausgeschlossen. 
Auch  der  Grundgedanke  der  Erkenntnislehre  Demokrits, 
nach  dem  wir  mit  den  Sinnen  nicht  die  Wirklichkeit  des 
Seienden,  sondern  nur  durch  die  Natur  unseres  Auffassungs- 
vermögens veränderte  Eindrücke  desselben  erhalten,  wird 
schon  Leukipp  zugeschrieben  (D.  397).  In  der  Tat  lag  diese 
Folgerung  bei  der  Grundannahme  von  der  Verschiedenheit 
des  Wesens  des  Seienden  vom  Sinnenfälligen  so  nahe,  da(» 
Leukipp  so  gut  wie  Empedokles  oder  Anaxagoras  sie 
ziehen  konnte.  Ob  e  r  schon  die  präzise  Formulierung  dafür 
gefunden  hat,  dafs  die  sinnenfällige  Beschaffenheit  der  Dinge 
nicht  von  Natur  (physei),  sondern  nur  für  die  menschliche 
Auffassungsweise  (nömo)  vorhanden  sei,  ist  zweifelhaft. 
Doch  wird  auch  diese  schon  sowohl  ihm  als  dem  von  ihm 
beeinfiufsten  Diogenes  von  Apollonia  zugeschrieben 
(D.  397). 

Auch  die  Erklärung  des  Sehens  durch  von  den  Dingen 
sich  ablösende  „Bilder",  die  wir  bei  Empedokles  kennen 
gelernt  haben,  und  die  nachher  Demokrit  vertrat,  wird 
schon  ihm  zugeschrieben  (D.  403,  395;  Alex.  Aphr.  zu  de 
Sensu  S.  24  u.  56).  Da  Empedokles  der  Ältere  ist,  wird 
er  sie  zuerst  aufgestellt  haben.  Dadurch  aber  erhält  die 
Wahrscheinlichkeit,  dafs  Leukipp  in  Unteritalien  lebte,  einen 
neuen  Zuwachs.  In  strenger  Folgerichtigkeit  hat  endlich 
auch  er  schon  das  Denken,  ebensogut  wie  die  Sinnes- 
wahrnehmung, für  einen  rein  körperlichen  Vorgang  erklärt 
(D.  394). 


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4.  Die  letzten  Ausläufer  der  milesischen  Schule  (um  480).     247 

Möglicherweise  sind  auch  noch  andere  Lehren,  die  in 
den  auf  uns  gekommenen  Nachrichten  nur  für  Demokrit 
bezeugt  werden,  schon  von  liOukipp  aufgestellt  worden. 
Doch  genügt  das  Wenige,  was  erhalten  ist,  zum  Beweise, 
dafs  die  Grundzüge  des  atomistischen  Systems  ihm  an- 
gehören, und  dafs  er  der  eigentliche  Schöpfer  desselben  ist. 


4.    Die  letzten  Ausläufer  der  milesischen  Schule 

(um  430). 

In  der  zweiten  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts  treten  uns 
noch  zwei  Anhänger  der  alten  jonischen  Naturlehre  ent- 
gegen. Dieselben  gehören  nicht  nur  der  Zeit  nach  hierher, 
sondern  auch  deshalb,  weil  sie  in  den  Einzelheiten  ihrer 
Lehre  sich  von  den  fortgeschrittenen  Anschauungen  der  Zeit 
beeinflufst  zeigen.  Insbesondere  mufs  der  eine  derselben, 
Diogenes  v o n  A p o  1 1  o n i a ,  hier  eingeordnet  werden,  weil 
er  von  Anaxagoras  und  Leu  kipp  vieles  entlehnt  hatte. 
Dies  bezeugt  Theophrast  ausdrücklich  (D.  477),  und  es 
läfst  sich  auch  im  einzelnen  vielfach  nachweisen,  so  dafs  seine 
Lehre,  die  der  Demokrits  der  Zeit  nach  vorangeht,  in 
manchen  Fällen  als  Beweis  dienen  kann,  dafs  schon  Leukipp 
die  betreifende  Lehre  aufgestellt  hat.  An  den  zweiten  der- 
selben, Hippon,  knüpft  sich  kein  solches  Interesse,  doch 
ist  auch  er  der  Zeit  wegen  an  dieser  Stelle  einzuordnen. 

Bei  Diogenes  von  ApoUonia  fehlen  fast  alle 
direkten  Nachrichten  über  seine  persönlichen  Verhältnisse. 
Aus  einer  von  dem  Aristotelesschüler  Demetrius  von 
P  h  a  1  e  r  0  n  verfafsten  Verteidigungsschrift  des  Sokrates 
stammt  die  Angabe,  dafs  er  in  Athen  heftig  angefeindet 
und  beinahe  in  einen  Religionsprozefs  verwickelt  worden  sei 
(D.  L.  IX.  57).  Auf  einen  athenischen  Aufenthalt  etwa  im 
dritten  Viertel  des  5.  Jahrhunderts  deutet  auch  der  Um- 
stand, dafs  seine  Lehre  in  den  423  aufgeführten  „Wolken" 
des  Aristo phanes  (wovon  nachher)  und  in  den  „Troe- 
rinnen" des  Euripides  (884  ff.)  berücksichtigt  worden  ist. 
Auch    Theophrast  bezeugt  an   der   angeführten    Stelle, 


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248  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

dafs  er  so  ziemlich  der  jüngste  der  von  der  milesischen 
Schule  ausgegangenen  Physiker  gewesen  sei. 

Wo  seine  Vaterstadt  Apollonia  gelegen  hat,  ist  un- 
bekannt; als  Schriftsteller  bediente  er  sich,^  wie  die  erhaltenen 
Fragmente  seiner  Schrift  „Über  die  Natur"  zeigen,  des 
kleinasiatisch-jonischen  Dialekts.  Aufser  diesen  Fragmenten 
sind  noch  zahlreiche  indirekte  Nachrichten,  auf  Theophrast 
beruhend,  über  seine  Lehre  vorhanden. 

Bei  Diogenes  steigert  sich  wie  bei  Heraklit  die 
Lebendigkeit  des  Urstoffes  zur  höchsten  Vernünftigkeit. 
Abweichend  von  Heraklit  ist  sein  Interesse  nicht  der 
Gemütsbefriedigung  und  praktischen  Lebensführung,  sondern 
dem  Theoretischen,  der  Naturerklärung,  zugewandt.  In 
seiner  Darstellung  verfuhr  er  streng  methodisch.  In  dem 
erhaltenen  Anfangssatze  seiner  Schrift  (D.  L.  IX.  57;  VI. 
81)  spricht  er  aus,  dafs  man  bei  jeder  Darlegung  zunächst 
das  Prinzip  in  unanfechtbarer  Weise  feststellen  müsse.  Er 
betonte  im  weiteren  Verlaufe  zunächst,  dafs  für  alles  Seiende 
ein  einheitliches  Urprinzip  angenommen  werden  müsse,  weil 
nur  so  eine  verändernde  Einwirkung  der  Stoffe  aufeinander 
gedacht  werden  könne  (Arist.  322  b,  13).  Nur  das  dem 
Grundwesen  nach  Gleiche  kann  das  Gleiche  affizieren.  Er 
bewies  sodann,  dafs  dies  Urprinzip  einesteils  ein  Stoff  sein 
müsse,  aus  dem  alle  Stoffe  abgeleitet  werden  könnten, 
andemteils  aber  auch  ein  denkendes  Wesen,  befähigt,  alles 
zweckvoll  zu  ordnen  und  das  in  der  Welt  vorhandene  Leben 
und  Bewufstsein  hervorzubringen  (Z.  260),  Wir  erkennen 
hier  deutlich  die  Beeinflussung  durch  Anaxagoras,  nur 
dafs  er  die  durch  die  neue  Denkrichtung  aufgebrachte  Zwei- 
heit  der  Prinzipien  wieder  zur  Einheit  zurückführt.  Für 
dieses  einheitliche  Prinzip  erklärt  er  alsdann  die  als  Seele, 
als  lebendiges  und  denkendes  Wesen  gefafste  Luft  (Z.  260). 
Mit  Anaximenes  leitete  er  aus  dieser  durch  Verdichtung 
und  Verdünnung  als  ihre  ersten  Lebensäufserungen  die 
Mannigfaltigkeit  des  Seienden  ab  (D.  477;  Z.  264,  3),  aber 
er  fafste  die  Verdichtung  und  Verdünnung  offenbar  nicht, 
wie  jener,  als  zwei  entgegengesetzte  Entwicklungsrichtungen 
der  Luft,  sondern  stellte,  wie  Heraklit  das  Feuer,  so  die 


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4.   Die  letzten  Ausläufer  der  milesischen  Schule  (um  430).    249 

Luft  an  die  Spitze  und  liefs  von  ihr  die  Verdichtung  und 
Verdünnung  als  zwei  Richtungen  des  gleichen  Weges  (als 
Weg  aufwärts  und  abwärts)  ausgehen.  Dies  ergibt  sich  un- 
zweifelhaft daraus,  dafs  er  die  Luft  in  ihrer  Reinheit  für 
den  dünnsten  und  feinsten  und  damit  zugleich  für  den 
wärmsten  Stoff  erklärte  (Z.  264).  Verdichtung  ist  Ab- 
kühlung, Verdünnung  Erwärmung.  Schon  die  Luft  selbst 
zeigt  in  dieser  Beziehung  unendlich  viele  Abstufungen:  die 
obere  Luft  ist  dünner  und  wärmer  als  die  untere.  Auf 
den  weiteren  Stufen  der  Verdichtung  entsteht  das  Feuchte 
und  das  Feste. 

Andemteils  ist  aber  die  Luft  auch  das  Prinzip  alles 
Lebens  und  alles  Seelischen  einschliefslich  der  Vernunft 
(D.  510,  512).  Inwieweit  er  dies  in  der  Welteinrichtung 
nachwies,  ist  im  einzelnen  nicht  bekannt.  Doch  beruht  wohl 
hierauf,  dafs  er  mit  besonderem  Nachdruck  die  Luft  als 
Gottheit  oder  als  Zeus  bezeichnete  und  diesem  unter  Be- 
rufung auf  Homer  Allwissenheit  beilegte  (D.  536).  Direkt 
legte  er  auch  der  Luft  Erkenntnis  bei  (Arist.  405,  23). 

Insbesondere  beruht  alles  Seelische  bei  den  organischen 
Wesen  auf  der  Einatmung  der  Luft  (Simplic.  Phys.  152,  18; 
Hippokr.  de  flat.  3).  Die  Pflanzen  sind  unbeseelt,  weil  sie 
nicht  atmen  (D.  512).  Je  reiner  die  eingeatmete  Luft  ist, 
um  so  vollkommener  ist  das  seelische  Leben.  Die  Fische 
atmen  zwar  (Arist.  470b,  30),  aber  wegen  der  geringen 
Menge  der  dem  Wasser  beigemengten  Luft  können  sie  noch 
weniger  als  die  der  Erde  zugeneigten  und%  unreine  Luft 
atmenden  Landtiere  Intelligenz  entwickeln.  Die  Vögel 
atmen  zwar  eine  reinere  Luft,  aber  diese  durchdringt  nicht 
ihren  ganzen  Körper,  daher  sie  den  Fischen  an  Intelligenz 
nicht  überlegen  sind.  Die  Kinder  sind  unverständig,  weil 
sie  wegen  ihrer  niedrigen  Statur  in  einer  tieferen  Luftschicht 
atmen.  Ähnlich  erklärte  er  die  Unverständigkeit  der 
Schlafenden,  der  Trunkenen  und  mit  Speise  Überfüllten 
(D.  513  f.). 

Auf  diesen  mit  strenger  Folgerichtigkeit  aus  seinem 
Grundprinzip  abgeleiteten  Vorstellungen  beruht  denn  auch 
eine  äufserst   komische   Erfindung    in   den    „Wolken"    des 


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260  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Aristophanes.  Derselbe  hat  in  dieser  Komödie  allerlei  Aus- 
wüchse in  den  Ansichten  der  damals  in  Athen  bekannten 
Philosophen  auf  die  Gestalt  des  Sokrates  zusammengehäuft. 
Und  dazu  hat  denn  auch  Diogenes  von  Apollonia  einen  be- 
trächtlichen Anteil  beigesteuert.  Inbesondere  findet  der  bei 
Sokrates  in  die  Lehre  tretende  Strepsiades  den  Meister  in 
einem  Hängekorbe  hoch  oben  in  der  Luft  schwebend  und 
erhält  dafür  die  Erklärung,  dafs  die  denkende  Erkenntnis 
der  tiberirdischen  Dinge  nur  oben  in  der  reineren  Luft 
möglich  sei,  wo  die  Feuchtigkeit  der  Erde  nicht  störend 
auf  das  Denken  wirke  (219  ff.)- 

Die  von  Theophrast  behauptete  Abhängigkeit  von  Anaxa- 
goras  und  Leukipp  in  den  Einzelheiten  seiner  Lehre  läfst 
sich  heute  nur  noch  in  wenigen  Zügen  nachweisen.  In  bezug 
auf  Anaxagoras,  dessen  Lehre  ohnedies  genügend  bekannt 
ist,  hat  dies  auch  kein  weiteres  Interesse.  Ob  er  z.  B.  mit 
diesem  die  Gestirne  von  der  Erde  stammen  liefs,  ist  nicht 
ersichtlich.  Jedenfalls  dachte  auch  er  sie  als  glühende 
Steinmassen  und  erklärte  den  Stein  von  Aegospotamos  für 
einen  herabgefallenen  Stern  (D.  341,  342,  349,  356).  Mit 
L  e  u  k  i  p  p  soll  er  gemeinsam  gehabt  haben  die  Vielheit  der 
gleichzeitig  existierenden  Welten  (327),  welche  Angabe  je- 
doch zweifelhaft  ist,  vornehmlich  aber  den  Satz,  dafs  die 
Sinneswahmehmungen  nicht  die  wirkliche  Beschaffenheit  der 
Dinge  offenbaren,  sondern  nur  eine  Umgestaltung  der  Ein- 
drücke durch  die  besondere  Beschaffenheit  unserer  Organe 
(D.  397).  Dies  ist  also  zugleich  ein  Zeugnis  für  das  Vor- 
handensein dieser  Lehre  schon  bei  Leukipp.  Im  übrigen 
sind  die  überlieferten  Einzelheiten  seiner  Naturerklärung 
ohne  allgemeines  Interesse. 

In  völlig  entgegengesetzter  Richtung  als  Diogenes  von 
Apollonia  wird  die  jonische  Naturlehre  durch  Hippen 
weitergebildet.  Dieser  nimmt  dadurch  eine  Sonderstellung 
ein,  dafs  er  aus  dem  Stoffe  allein  ohne  anhaftende  seelische 
Eigenschaften  die  Welt  abzuleiten  versuchte.  Er  tritt  damit 
aus  dem  Bereiche  des  Hylopsychismus  heraus.  Und  da  er 
auch  nicht,  wie  Empedokles,  Anaxagoras  und  Leukipp,  ein 
vom  Stoffe  verschiedenes  Prinzip  der  Bewegung  annahm,  so 


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4.   Die  letzten  Aasläofer  der  milesischen  Schule  (um  480).     251 

Stellt  er  eine  ganz  eigenartige,  durch  ihn  allein  vertretene 
Denkrichtang  dar.  Er  ist  Materialist,  aber  nicht  Materialist 
im  Sinne  der  vorgenannten  drei  Denker,  auch  nicht  im 
heutigen  Sinne  des  Wortes,  sondern  Materialist  im  streng 
buchstäblichen  Sinne  des  Wortes.  Er  leitet  alles  aus  dem 
Stofifiß  allein  ohne  irgend  einen  Zusatz  ab.  Darauf  beruht 
es  denn  auch  wohl,  dafs  ihm  Aristoteles  Leichtfertigkeit 
und  Pöbelhaftigkeit  des  Denkens  vorwirft  (984,  4;  405  b,  2), 
und  dafs  er,  während  man  bei  den  Hylopsychisten  immer 
noch  die  Anerkennung  eines  wirkenden  Göttlichen  im 
weiteren  Sinne  fand,  ausdrücklich  als  Atheist  bezeichnet 
wird  (D.  475). 

Von  Hippon  war  schon  bei  Thaies  die  Bede.  Über 
seine  persönlichen  Verhältnisse  kann  mit  einiger  Sicherheit 
fast  nur  ausgesagt  werden,  dafs  er  der  Zeit  des  Perikles 
angehörte  (Z.  254,  4).  Aufserdem  wird  er  in  dem  mehr- 
erwähnten  Auszuge  aus  Menons  Geschichte  der  Arznei- 
kunst als  „Krotoniat"  bezeichnet,  womit  aber  nicht  seine 
Herkunft,  sondern  nur  seine  Zugehörigkeit  zu  der  bei 
Alkmäon  erwähnten  krotonianischen  Ärzteschule  bezeichnet 
wird.  Aber  auch  diese  Bezeichnung  hat  bei  ihm,  wie  die 
Grundzüge  seiner  Lehre  zeigen,  einen  ganz  anderen  Sinn 
als  bei  einem  Alkmäon. 

Er  erklärte  das  Wasser  rein  als  solches,  ohne  ihm  see- 
lische Eigenschaften  beizulegen,  für  den  Urstoflf  der  Dinge 
und  führte  dafür  die  Gründe  an,  die  wir  als  fälschlich  dem 
Thaies  beigelegte  kennen  gelernt  haben  (Aristot.  983  b,  23; 
D.  475).  Auch  die  Seele  ist  Wasser  (Aristot.  405  b,  1; 
D.  566,  212,  214,  388).  Dazu  stimmen  denn  auch  voll- 
ständig die  physiologischen  und  medizinischen  Lehren,  die 
ihm  in  dem  Auszuge  aus  Menon  beigelegt  werden.  Als  das 
Prinzip  des  Lebens  und  der  Wahrnehmung  (also  auch  der 
seelischen  Funktionen)  beim  Menschen  wie  bei  den  lebenden 
Wesen  überhaupt  hat  er  danach  die  im  Körper  vorhandene 
Feuchtigkeit  bezeichnet.  Befindet  sich  diese  in  normalem 
Zustande,  so  ist  das  Geschöpf  gesund;  trocknet  sie  ein,  sa 
verliert  es  die  Empfindung  und  stirbt.  Beim  Greise  ist  der 
Körper  trocken  und  daher  ohne  lebhaftere  Empfindungen» 


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252  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Durch  Hitze  oder  Kälte  verändert  sieb  der  Bestand  der 
Feuchtigkeit  im  Körper,  wird  zu  viel  oder  zu  wenig,  zu 
dick  oder  zu  dünn  oder  gerät  sonst  in  einen  abnormen 
Zustand.    Daraus  entstehen  alle  Krankheiten. 

Eine  andere  Quelle  für  das  Detail  seiner  Lehren,  näm- 
lich für  seine  Vorstellungen  vom  Weltgebäude,  bildet  un- 
zweifelhaft ein  Teil  der  Thaies  fälschlich  zugeschriebenen 
Sätze.  Wie  seine  Grundlehre,  so  hat  er  nämlich  auch 
manche  seiner  Speziallehren  Thaies  untergeschoben.  Man 
könnte  daher  aus  diesem  für  Thaies  Unmöglichen  eine  Reihe 
von  Zügen  aussondern,  die  mit  der  gröfsten  Wahrscheinlich- 
keit Hippo  beigelegt  werden  könnten.  Einiges  davon  ist 
bereits  bei  Thaies  angeführt  worden.  Wir  würden  so  ein 
Bild  von  seiner  Weltansicht  gewinnen,  wie  sie  sich  unter 
dem  Einflüsse  fortgeschrittener  Naturforschung  gestaltet 
hatte.  Es  kann  jedoch  auf  diese  Ausführungen  als  zu  wenig 
bedeutsam  hier  verzichtet  werden. 

6.  Demokrit  (ca.  420). 

Demokrit  gehört  unter  den  Erscheinungen,  mit  denen 
die  Geschichtschreibung  der  Philosophie  zu  tun  hat,  zu  den 
Geistern  allerersten  Ranges.  Seine  Bedeutung  beruht  nicht 
allein  darauf,  dafs  er  das  System  Leukipps  zur  Vollendung 
gebracht  und  eine  atomistische  Schule  begründet  hat,  die 
ungefähr  ein  Jahrhundert  bestanden  hat,  auch  nicht  allein 
auf  den  nachhaltigen  Wirkungen,  die  in  der  weiteren  Ent- 
wicklung der  antiken  Philosophie  von  ihm  ausgegangen  sind. 
Sie  beruht  in  erster  Linie  auf  seiner  überraschenden,  eigen- 
artigen Gröfse  und  Universalität  als  Denker  wie  als  Schrift- 
steller. In  ihm  hat  vornehmlich  schon  die  erste  Periode  der 
antiken  Philosophie  mehr  noch  als  in  Heraklit  einen 
Typus  der  auch  auf  das  persönliche  Leben  und  Wohlsein 
angewandten  Forschung  hervorgebracht.  Doch  unterscheidet 
er  sich  in  diesem  Punkte  dadurch  in  tiefgreifendster  Weise 
von  Heraklit,  dafs  nach  ihm  nicht  auf  die  Welteinrichtung, 
die  achtlos  am  Menschen  vorübergeht,  die  Befriedigung  ge- 
gründet werden  kann,   sondern  dafs  wir  die  Bedingungen 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  253 

der  Glückseligkeit  ausschliefslich  in  uns  selbst  zu  suchen 
haben.  Mit  dieser  Auffassung  wird  Demokrit  der  wahre 
Stammheros  der  wahren  Philosophie  im  engeren  Sinne. 

Leider  hat  für  uns  ein  ungünstiges  Geschick  die  Doku- 
mente seiner  hervorragenden  Bedeutung  als  Denker  und 
Schriftsteller  bis  auf  wenige  dürftige  Überbleibsel  und  Nach- 
richten zweiter  Hand  völlig  vernichtet.  Schon  in  seiner 
eigenen  Schule  mufs  es  an  geschichtlichem  Sinne  sehr  gefehlt 
haben.  Nur  wenige,  offenbar  lediglich  gelegentliche  Angaben 
über  sein  Wirken  gehen  auf  seine  Schüler  und  Nachfolger 
zurück.  Seine  Schriften  wurden  in  seiner  Schule  mit  denen 
Leukipps  und  seiner  Nachfolger  zu  einer  einheitlichen  Masse 
zusammengewirrt,  in  der  das  Echte  durch  einen  Wust  minder- 
wertiger Leistungen  der  Nachfolger  beeinträchtigt  wurde. 
Bald  mufs  auch  diese  Schule  durch  Mangel  an  bedeuten- 
deren Talenten  verkümmert  und  zu  Grunde  gegangen  sein. 
Sein  grofser  jüngerer  Zeitgenosse  Plato  scheint,  wenn- 
gleich die  von  Aristoxenos,  dem  Verleumder  des  Sokrates 
und  Plato,  ausgeheckte  Geschichte  von  dessen  fanatischem 
Hafs  gegen  die  Lehre  Demokrits,  die  ihn  zum  Aufkauf  der 
Schriften  desselben  mit  der  Absicht  der  Vernichtung  an- 
getrieben habe  (D.  L.  IX.  40;  Athen.  XL  15,  114  f.),  nur 
abgeschmackte  Erdichtung  ist,  fast  nur  gegen  Ende  seines 
Lebens  und  auch  dann  nur  indirekt,  durch  einen  Teil  seiner 
Gedankenwelt  beeinflufst  worden  zu  sein.  Es  haben  dann 
zwar  Aristoteles  und  Theophrast  sich  eingehend  mit 
dieser  beschäftigt  und  uns  wertvolle  und  zuverlässige  Nach- 
richten über  seine  Lehre  aufbewahrt,  aber  bald  versteht  es 
Epikur,  die  eigene  werte  Persönlichkeit  an  die  Stelle  des 
gröfseren  Vorgängers  zu  pflanzen  und  mit  den  von  ihm  er- 
borgten Gedanken  sein  eigenes,  Jahrhunderte  dauerndes 
System  zurechtzuzimmern,  so  dafs  in  seiner  ohnedies  nicht 
gerade  anf  Gelehrsamkeit  erpichten  Schule  eine  Mifsachtung 
des  eigentlichen  Urhebers  ihrer  Grundgedanken  Platz  griflF. 
Trotzdem  aber  hatten  die  Demokrit  beigelegten  Schriften 
sich  bis  ins  erste  nachchristliche  Jahrhundert  erhalten,  und 
Thrasylos,  der  gelehrte  Hofastrolog  des  Kaisers  Tiberius 
(14—37  nach  Chr.),  derselbe,  der  als  eifriger  Verehrer  Piatos 


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254  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

dessen  Schriften  in  einer  geordneten  Ausgabe  zusammen- 
stellte, hat  in  gleicher  Weise  auch  eine  umfassende  Zu- 
sammenstellung der  unter  Demokrits  Namen  erhaltenen 
Schriften  veranstaltet  und  mit  einer  orientierenden  Ein- 
leitung versehen  (D.  L.  IX.  41,  37,  45),  ein  schönes  Zeugnis 
objektiver  Wertschätzung  des  Gediegenen  auch  bei  eigener 
entgegengesetzter  Denkrichtung.  Aber  diese  verdienstvolle 
Bemühung  hat  nicht  den  Erfolg  gehabt,  den  man  erwarten 
sollte,  und  der  bei  Plato  eingetroflfen  ist,  die  Dokumente 
einer  genialen  Geistesarbeit  der  Nachwelt  zu  erhalten. 
Zwar  finden  sich  beim  Pyrrhoneer  Sextus  Empiricus 
um  180  nach  Chr.  noch  reichliche  Anführungen  aus  Demo- 
krit,  dieselben  sind  aber  wahrscheinlich  einem  älteren  Schrift- 
steller entlehnt,  und  im  übrigen  sind  wohl  diese  Schriften 
trotz  der  Bemühung  des  Thrasylos  bald  der  Gleichgültigkeit 
oder  wohl  eher  noch  dem  Hasse  ganz  entgegengesetzter 
Geistesrichtungen  sowohl  auf  heidnischem  wie  auf  christ- 
lichem Boden  zum  Opfer  gefallen.  So  ist  es  denn  heute 
kein  leichtes  Stück  Arbeit,  ein  dem  grofsen  Gegenstande 
einigermafsen  entsprechendes  Bild  von  der  Persönlichkeit 
und  Geistesarbeit  Demokrits  zu  entwerfen. 

Über  das  Leben  Demokrits  ist  nur  wenig  Beglaubigtes 
überliefert.  Die  meisten  der  erhaltenen  Züge  tragen  den 
Stempel  der  Erdichtung  an  der  Stirn;  Anekdoten,  die  den 
ihn  beherrschenden  gewaltigen  Forschertrieb  oder  den  ihm 
eigenen,  fast  übernatürlichen  Scharfsinn  ins  Licht  setzen 
sollen.  Demokrit  war  geboren  in  der  blühenden  und  wohl- 
habenden Stadt  Abdera  in  Thracien,  die  um  die  Mitte  des 
6.  Jahrhunderts  von  den  vor  der  persischen  Unterjochung 
flüchtenden  Bewohnern  des  kleinasiatisch-jonischen  Teos  ge- 
gründet worden  war  (Herod.  L  168).  Wie  die  Phokäer  nach 
Elea  im  fernen  Westen,  so  retteten  die  Teer  ihre  Freiheit 
nach  dem  hohen  Norden.  Dafs  Abdera  später  in  den  Geruch 
eines  antiken  Krähwinkel  oder  Schöppenstädt  kam,  davon  ist 
vielleicht,  wie  später  zu  zeigen,  sein  grofser  Sohn  die  un- 
schuldige Ursache  geworden.  Seine  Geburt  fällt  nach  einem 
auf  ihn  selbst  zurückgehenden  Zeugnis  und  nach  der  An- 
nahme  des  Chronologen   Apollodor  (D.  L.  IX.  41)    wahr- 


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5.  Demokrit  (ca.  420).  255 

scheiolich  um  460;  Thrasylos  setzt  sie  ein  Jahr  vor  die 
Geburt  des  Sokrates,  also  um  471.  Nach  seinem  eigenen 
Zeugnis  (ib.)  fällt  die  Abfassung  der  „Kleinen  Weltordnung", 
die  wahrscheinlich  seine  früheste  Schrift  war,  mutmafslich 
ums  Jahr  420,  Zwischen  diese  beide  Daten,  d.  h.  etwa  von 
435  an,  sind  seine  ausgedehnten  Bildungs-  und  Forschungs- 
reisen anzusetzen.  Auch  über  diese  ist  ein  Selbstzeugnis 
erhalten  (Clem.  AI.  Strom.  I.  15;  Euseb.  Praep.  ev.  X.  2). 
Nach  diesem  hat  er  von  allen  seinen  Zeitgenossen  die 
meisten  Länder  forschend  durchwandert  und  den  Sinn  der 
meisten  Menschen  kennen  gelernt,  und  ist  in  geometrischer 
Beweisführung  nicht  einmal  von  den  ägyptischen  Gelehrten 
überwunden  worden.  Diesen  ägyptischen  Aufenthalt  ein- 
gerechnet ist  er  im  ganzen  fünf  Jahre  in  der  Fremde  ge- 
wesen. 

Dafs  in  diese  Reisen  vornehmlich  seine  philosophische 
Ausbildung  verlegt  werden  mufs,  ist  im  höchsten  Grade 
wahrscheinlich.  Er  war  persönlicher  Schüler  des  Leukipp 
(Arist  985  b,  4;  Theophr.  D.  484;  der  Epikureer  Apollodor 
um  140  vor  Chr.  D.  L.  X.  13;  IX.  34).  Mutmafslich  hat 
dieses  für  seine  ganze  Denkrichtung  entscheidende  Zusammen- 
sein in  Elea  stattgefunden.  Denn  einen  Aufenthalt  in 
Unteritalien  bezeugen  auch  sonstige  zuverlässige  An- 
gaben. Nach  dem  unteritalischen  Geschichtschreiber  Glaukos 
von  Rhegium,  der  noch  sein  Zeitgenosse  war,  und  nach 
Thrasylos  war  er  persönlicher  Schüler  pythagoreischer 
Denker  (D.  L.  IX.  42).  In  welchem  Orte  dies  gewesen  sein 
kann,  läfst  sich,  da  um  440  die  blutige  Zersprengung  des 
pythagoreischen  Ordens  in  den  unteritalischen  Griechen- 
städten stattgefunden  hatte,  nicht  ausmachen.  Und  nach 
dem  Zeugnis  des  Demokriteers  Apollodotos  von  Kyzi- 
kos  (D.  L.  IX.  38),  das  als  auf  einer  Überlieferung  der 
Schule  beruhend  stark  ins  Gewicht  fällt,  hat  er  mit  Philo- 
laos  verkehrt.  Es  mufs  dies  vor  dem  thebanischen  Auf- 
enthalt des  Philolaos  gewesen  sein,  vielleicht  in  Kroton,  zu 
dessen  Ärzteschule  ja  Philolaos  von  Haus  aus  gehörte.  Dafs 
er  in  der  Geistesrichtung  desselben  manches  mit  der  des 
Leukipp  Verwandtes  finden  mufste,  braucht  hier  nicht  noch- 


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256  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stofifu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

mals  betont  zu  werden.  Dagegen  hat  er  sich  vielleicht  bei  den 
Pythagoreern  die  geometrischen  Kenntnisse  angeeignet,  mit 
denen  er  nachher  den  ägyptischen  Weisen  imponieren  konnte. 
FOr  einen  Aufenthalt  aber  auch  speziell  in  Elea  kann  ins 
Gewicht  fallen,  dafs  er  in  seinen  Schriften  die  Hauptlehren 
des  Parmenides  und  Zeno  erwähnt  hat  (D.  L.  IX.  42). 
Letzterer  kann  sogar  damals  noch  am  Leben  gewesen  sein. 

Dafs  er  auch  in  Ägypten  war,  ist  nach  seinem 
eigenen  Zeugnis  nicht  zu  bezweifeln.  Ägypten  lag  damals 
mehr  noch  als  zur  Zeit  des  Thaies  im  Gesichtskreise  der 
Griechen.  An  der  letzten  Erhebung  dieses  Landes  gegen 
die  persische  Herrschaft  in  dem  Dezennium  von  460—450 
hatten  bedeutende  Flotten  der  Athener,  d.  h.  des  grofsen 
Seebundes,  an  dessen  Spitze  Athen  stand,  aufs  nachdrück- 
lichste teilgenommen.  Der  athenische  Bund  führte  auf 
ägyptischem  Boden  den  Kampf  gegen  den  persischen  Erb- 
feind. Seit  449  war  die  persische  Herrschaft  über  Ägypten 
wieder  gesichert,  aber  die  Anziehungskraft  des  alten 
Wunderlandes  und  seiner  Weisheit  auf  einen  Mann  wie 
Demokrit  konnte  sich  trotzdem  geltend  machen.  Auch  be- 
stand zwischen  Griechen  und  Ägyptern  ohne  Zweifel  auf 
Grund  der  vorangegangenen  gemeinsamen  Kämpfe  eine 
freundliche  Stimmung.  Dafs  spätere  Zeugen  (D.  L.  IX.  35 ; 
D.  565)  seine  Reisen  nicht  nur  auf  Ägypten,  sondern  auch 
nach  Persien  zu  den  Chaldäern,  zum  Roten  Meere,  nach 
Äthiopien  und  selbst  zu  den  „nackten  Weisen**  Indiens 
ausdehnen,  kann  nicht  ins  Gewicht  fallen.  Ob  er  nach 
Babylon  zu  den  Chaldäern  gekommen  ist,  mufs  dahingestellt 
bleiben.  Immerhin  waren  durch  die  Perserkriege  die  Länder 
des  persischen  Reiches  dem  Interesse  der  Griechen  nahe- 
gerückt worden,  aber  auch  das  Zeugnis  des  Geographen 
Strabo  im  ersten  nachchristlichen  Jahrhundert,  dafs  Demo- 
krit einen  grofsen  Teil  Asiens  durchreist  habe  (XV.  p.  703), 
ist  hier  nicht  von  genügender  Beweiskraft.  Indien  aber  lag 
vor  dem  Zuge  Alexanders  noch  ganz  aufserhalb  ihres 
Gesichtskreises. 

Dafs  er  auch  in  Athen  gewesen  ist,  bezeugt  er  selbst 
in  den  mehrfach  angeführten  Worten:    „Ich  war  in  Athen, 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  257 

uBd  niemand  kannte  mich",  (Cic.  Tusc.  V.  104;  D.  L. 
IX,  36).  In  welchem  Zusammenhange  diese  Worte  vor- 
kamen, ist  nicht  bekannt ;  anscheinend  aber  besagen  sie  nur, 
dafs  er  mit  den  dortigen  Philosophen  keine  Beziehungen 
angeknüpft  habe,  sondern  inkognito  dort  geweilt  hat.  Der 
weiteren  Angabe,  dafs  er  dort  auch  Sokrates  gesehen 
habe,  jedoch  ohne  von  diesem  gekannt  zu  sein,  widersprach 
schon  Demetrius  von  Phaleron  in  seiner  Verteidigung 
des  Sokrates  (ib.  37);  und  es  ist  auch  an  sich  wenig  wahr- 
scheinlich, da  Sokrates  um  jene  Zeit  (vor  430)  noch  ziem- 
lich unbekannt  war  und  seine  Wirksamkeit  erst  eben 
begann. 

Höchstwahrscheinlich  hat  er  auf  dieser  Reise  auch  den 
seit  etwa  433  in  Lampsakos  weilenden  Anaxagoras 
aufgesucht.  Von  persönlichen  Beziehungen  zu  diesem  ist 
mehrfach  die  Bede  (D.  L.  II.  14;  IX.  34).  Dafs  diese  von 
persönlich  unfreundlicher  Natur  gewesen  seien,  wie  diese 
Stellen  berichten,  ist  wohl  nur  ein  aus  Demokrits  Polemik 
gegen  Anaxagoras  abgeleiteter  Klatsch.  Dafs  sie  in  Athen 
stattgefunden  haben  sollten,  ist  wegen  der  Entfernung  des 
Anaxagoras  aus  Athen  um  433  und  wegen  des  eigenen  Zeug- 
nisses Demokrits,  dafs  er  in  Athen  mit  niemand  verkehrt 
habe,  ausgeschlossen.  In  seinen  Schriften  hat  er  Anaxa- 
goras mehrfach,  teils  anerkennend  (S.  Emp.  Dogm.  I.  140), 
teils  ablehnend  (D,  L.  IX.  34  f.),  erwähnt.  Dafs  er  (nach 
letzterer  Stelle)  die  Lehre  des  Anaxagoras  von  der  Welt- 
vemunft  ablehnte,  ist  selbstverständlich ;  dafs  er  aber  dessen 
Lehre  von  Sonne  und  Mond  für  nicht  original,  sondern  ent- 
lehnt erklärt  haben  sollte,  pafst  weder  auf  des  Anaxagoras 
Lehre  von  der  Beschaffenheit  noch  von  der  Entstehung  der 
Himmelskörper  und  mufs  daher  wohl  auf  einem  Mifsver- 
ständnis  beruhen. 

Die  kindlichen  Erzählungen  von  einer  Erbteilung  mit 
seinen  beiden  Brüdern  vor  der  Reise,  bei  der  sich  Demokrit 
mit  einer  baren  Summe  von  100  Talenten  (=  450000  Mk.) 
begnügt  habe,  vom  vollständigen  Verbrauch  dieser  Summe 
auf  der  Reise  und  von  den  fürstlichen  Spenden,  die  ihm 
sodann  seine   Vaterstadt  nach  Vorlesung   seines  Erstlings- 

DftrUf.   I.  17 

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258  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

werks  hätte  zu  teil  werden  lassen  (Ael.  Var.  bist  IV.  20; 
D.  L.  IX.  35,  39)  brauchen  nicht  eingehend  behandelt  zu 
werden.  Letztere  steht  überdies  mit  den  ebenso  kindlichen 
Anekdoten,  nach  denen  er  von  seinen  Landsleuten  für  ver- 
rückt gehalten  und  erst  infolge  des  Urteils  des  Hippo- 
krates  zu  Ehren  gekommen  sei,  der  ihn  heilen  sollte  und 
dabei  seine  Geistesgröfse  entdeckt  habe  (Z.  845;  D.  L. 
IX.  24),  in  vollem  Widerspruch.  Auch  dafs  in  diesen  Be- 
richten die  „Grofse  Weltordnung**,  die  nach  Theophrast 
Leukipp  angehörte,  als  das  vorgelesene  Meisterwerk  figuriert, 
kennzeichnet  sie  als  Erdichtung. 

In  seine  Vaterstadt  zurückgekehrt,  beschäftigte  sich 
Demokrit  mit  dem  Vortrag  seiner  Lehre,  mit  umfangreichen 
Forschungen  auf  den  verschiedensten  Gebieten  und  mit  der 
Abfassung  seiner  Schriften.  In  bezug  auf  die  beiden  ersten 
dieser  Tätigkeiten  ist  Näheres  nicht  bekannt;  von  seiner 
Schule,  die  die  abderitische  genannt  wurde,  und  deren  Anhänger, 
auch  wenn  sie  nicht  aus  Abdera  gebürtig  waren,  als  Abde- 
riten  bezeichnet  werden,  wird  im  folgenden  Kapitel  die  Rede 
sein.  Von  seinen  Schriften  hat  sich  ein  Verzeichnis  in  der 
von  Thrasylos  ihnen  gegebenen  Anordnung,  wenngleich  in 
verderbtem  Zustande,  erhalten  (I).  L.  IX.  46).  Danach  hat 
dieser  sie  wie  die  platonischen  in  Tetralogien,  d.  h.  in 
Gruppen  von  je  vier  Schriften,  angeordnet  (ib.  45),  und  zwar 
scheint  er  dieser  Gruppen  15,  also  im  ganzen  60  Schriften, 
angenommen  zu  haben.  Diese  kleineren  Gruppen  sind  dann 
wieder,  gemäfs  dem  Ausspruche  des  Thrasylos,  Demokrit  sei 
ein  geistiger  Fünfkämpfer  gewesen  (D.  L.  IX.  37),  d.  h. 
entsprechend  den  fünf  Arten  der  körperlichen  Übungen: 
Sprung,  Schnelllauf,  Diskoswurf,  Sperwurf,  Ringen,  ein 
Virtuose  in  der  Naturforsehung,  der  Ethik,  der  Mathematik, 
den  Wissenschaften  der  allgemeinen  Bildung  und  den  Theo- 
rien der  nützlichen  Künste,  in  gröfsere  Abteilungen  zusammen- 
geordnet. Deren  sind  sechs:  moralische  Schriften  (2  Tetra- 
logien), physische  (4  Tetralogien),  mathematische  (3  Tetra- 
logien), musische,  d.  h.  Sprachen,  Poesie  und  Gesang 
betreflfende  (2  Tetralogien),  technische,  d.  h.  medizinische, 
den  Landbau,  die  Malerei  und  die  Kriegskunst  betreifende 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  259 

(2  Tetralogien).  Aufserdem  eine  sechste  Abteilung,  Schriften 
verschiedenen,  meist  naturwissenschaftlichen  Inhalts  in  zwei 
Tetralogien  enthaltend.  Nun  nennt  zwar  auch  Diogenes 
Laertius  (I.  16)  in  einem  Verzeichnis  solcher  Philosophen, 
die  zahlreiche  Schriften  verfafst  haben,  Demokrit  an  vierter 
Stelle,  gleich  nach  Aristoteles,  aber  dies  ist  kein  Beweis 
für  die  Echtheit  der  ganzen  thrasylischen  Schriftenmasse, 
da  dieses  Verzeichnis  einesteils  sehr  unvollständig  ist  und 
z.  B.  Plato  und  Theophrast,  sowie  einige  anderweitig  von 
ihm  als  Vielschreiber  Bezeichnete  (den  Epikureer  Apollodor, 
den  Karneadeer  Klitomachos)  übergeht,  andernteils  aber 
Demokrit  betreffend  offenbar  auf  der  Sammlung  des  Thra- 
sylos  beruht.  Dafs  aber  diese  Sammlung  vieles  Fremde 
Demokrit  aufbürdet,  ergibt  sich  schon  daraus,  dafs  sich 
unter  dieser  Schriftenmasse  auch  die  beiden  von  Theophrast 
Leukipp  beigelegten  Schriften  finden,  femer  aber  auch 
daraus,  dafs,  nach  diesen  60  Titeln  zu  schliefsen,  in  diesen 
Schriften  mehrfach  dieselben  Themata  und  Stoffe  wiederholt 
bearbeitet  waren.  Die  Sammlung  des  Thrasylos  charakteri- 
siert sich  hiernach  als  eine  Art  von  Inventar  der  gesamten 
geistigen  Arbeit  der  Schule.  Wir  haben  es  nur  mit  den 
naturwissenschaftlichen  und  ethischen  Lehren  Demokrits  zu 
tun.  Diese  bilden  auch  die  einzigen  Gebiete,  auf  denen  eine 
einigermafsen  ausgiebige  und  zuverlässige  Überlieferung 
seiner  Lehren  vorhanden  ist. 

Jedenfalls  wird  die  Vortreflfllchkeit  seiner  schriftstelle- 
rischen Darstellung  von  den  Alten  einmütig  gerühmt.  Schon 
der  Spötter  Timon  läfst  ihn  (D.  L.  IX.  40)  unter  den  in 
der  Unterwelt  sich  tummelnden  Helden  des  Gedankens  als 
„kundigen  Hirten  der  Rede"  unter  den  Ersten  sich  hervor- 
tun. Cicero  erteilt  seiner  Sprache  mehrfach  (Orator  67 ;  De 
Orat.  I.  49;  Div.  II.  133)  hohes  Lob  und  stellt  ihn  mit 
Plato  zusammen.  Plutarch  (Qu.  conviv.  V.  7,  6)  nennt  seine 
Rede  „dämonisch  und  prächtig",  und  Sextus  Empiricus 
(Dogm.  I.  265)  findet  sie  der  des  Zeus  ähnlich. 

Die  Angaben  über  die  Dauer  seines  Lebens  (Z.  848) 
sind  verschieden  und  stimmen  nur  darin  überein,  dafs  er 
ein  hohes  Alter  erreichte.    Sie  schwanken  zwischen  90  und 

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260  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

109  Jahren.  Auch  bei  der  niedrigsten  Annahme  ragt  er 
weit  in  die  folgende  Periode  hinein  und  hat  z.  B.,  wenn  er 
um  370  gestorben  ist,  Sokrates  um  annähernd  30  Jahre 
überlebt. 

Was  nun  zunächst  die  Naturlehre  Demokrits  an- 
betriflft,  so  gilt  von  ihr  im  allgemeinen  das  Urteil  Ciceros, 
er  stimme  mit  Leukipp  in  der  Annahme  der  beiden  Grund- 
prinzipien, des  Leeren  und  des  Vollen,  überein,  stelle  aber 
das  übrige  ausführlicher  dar  (Acad.  IL  118). 

In  diesem  Sinne  werden  dann  wohl  zunächst  die  beiden 
Beweise  für  die  Existenz  des  Leeren,  die  Aristoteles 
(213b,  4  ff.)  den  Atomikem  beilegt,  ihm  zuzuschreiben  sein: 
1.  Ohne  Leeres  keine  Ortsbewegung;  2.  ohne  leere  Zwischen- 
räume keine  Möglichkeit  der  Zusammenpressung  der  Körper. 
Es  ist  freilich  nicht  ausgeschlossen,  dafs  schon  Leukipp,  der 
das  Leere  gegen  die  Eleaten  behauptete  und  verteidigte, 
diese  Gründe  vorgebracht  hat. 

Übereinstimmende  Eigenschaften  sämtlicher  Atome  sind : 
1.  Die  völlige  Gleichheit  der  Qualität.  Es  gibt 
nur  eine  Art  von  Stoff  (Arist.  275b,  29).  Derselbe  hat 
z.  B.  an  sich  keine  Farbe.  Das,  was  von  uns  als  Farbe 
und  Farbenwechsel  empfunden  wird,  beruht  auf  der  An- 
ordnung der  Atome  in  einem  gröfseren  Ganzen  (Arist. 
316,  1).  Selbstverständlich  sind  die  Atome  auch  von  gleichem 
spezifischem  Gewicht  (Arist.  326,  9). 

2.  Die  absolute  Dichtigkeit.  Auf  dieser  beruhen 
die  Unteilbarkeit  (Cic.  Fin.  I.  17),  die  Unzerstörbarkeit  und 
Unveränderlichkeit  (Unaffizierbarkeit)  der  Atome.  Das  Atom 
ist  „apathisch**  (Aristot.  325,  52;  D.  308;  D.  L.  IX.  44; 
S.  Emp.  Dogm.  IV.  318),  d.  h.  es  kann  an  ihm  durch  keine 
Einwirkung  irgend  eine  Veränderung  hervorgebracht  werden, 
aufser  der  der  räumlichen  Lage.  So  sehr  war  er  von  dem 
ursächlichen  Zusammenhange  von  Dichtigkeit  und  Unteil- 
barkeit durchdrungen,  dafs  er  sich  zu  der  Paradoxie  ver- 
stieg, es  könne  ein  Atom  von  der  Gröfse  einer  Welt  geben 
(D.  311).  In  diesem  Ausspruch  tritt  noch  die  Herkunft  der 
Atomenlehre  von  dem  kugelförmigen,  absolut  dichten  Seienden 
des  Parmenides  deutlich  zu  Tage.    Die  Atome  sind  nur  Ver- 


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5.  Demokrit  (ca.  420).  261 

vielfältigungen  dieses  einen  Seienden  in  kleinem  Mafsstabe. 
Aber  auch  der  Gtedanke  selbst,  dafs  eine  Teilung  nur  mög- 
lich sei  bei  dazwischen  befindlichem  Leeren,  beruht  auf 
Zeno  und  gehört  daher  vielleicht  schon  Leukipp  an. 

Alle  Mannigfaltigkeit  in  der  Beschaffenheit  der  zusammen- 
gesetzten Dinge  beruht  nun  aber  auf  den  Verschieden- 
heiten, die  schon  an  den  Atomen  vorkommen. 
Diese  sind  teils  solche,  die  schon  den  einzelnen  Atomen  für 
sich  genommen  zukommen,  teils  solche,  die  auf  der  ver- 
schiedenen Art  ihrer  Zusammengruppierung  beruhen. 

Erstere  sind  Unterschiede  der  Gestalt  und  der 
Gröfse.  Der  Gestaltunterschiede  mufs  es  unendlich  viele 
geben,  weil  nur  so  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  der 
Dinge  erklärt  werden  kann  (Arist.  315  b,  9).  Offenbar  er- 
schienen Demokrit  die  Gestaltunterschiede  der  Atome  von 
hervorragendster  Bedeutung  für  die  Erklärung  des  Seienden, 
da  er  für  sie  aufser  der  von  der  Unteilbarkeit  entlehnten 
Benennung  „Atome"  auch  die  Bezeichnung  als  „Ideen"",  d.  h. 
Gestalten,  gebrauchte  (Plut.  Kolot.  8,  4;  D.  388).  Eine 
seiner  Schriften,  die  unter  dem  Titel  „Über  die  Ideen" 
angeführt  wird  (Sext.  Emp.  Dogm.  I.  137),  hat  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  von  den  Atomen  gehandelt. 

Beispiele,  wie  sich  Demokrit  die  Mannigfaltigkeit  der 
Gestalten  gedacht  hat,  gibt  Aristoteles  nur  an  einer 
Stelle  (188,  23).  Danach  sind  sie  unter  anderem  „winkelig, 
gerade  oder  kugelig".  Reichlichere  Beispiele  gibt  Theo- 
phrast  da,  wo  er  von  Demokrits  Erklärung  der  Sinnes- 
eindrücke handelt  (D.  516  ff.).  Davon  nachher.  Die  reich- 
haltigste Aufzählung  gibt  Cicero  (N.  D.  I.  66;  Acad.  IL 
121).  Danach  sind  die  Atome  teils  glatt,  teils  rauh;  sie 
sind  rund  oder  winklig,  gebogen,  gekrümmt  oder  mit  Haken 
versehen. 

Die  Gröfse  der  Atome  hat  ihre  obere  Grenze  an  ihrer 
Unsichtbarkeit;  innerhalb  dieser  Grenze  aber  gibt  es  immer 
noch  unzählige  Abstufungen  (D.  L.  IX.  44).  Von  der  Gröfse 
ist  natürlich,  da  das  spezifische  Gewicht  bei  allen  das 
gleiche  ist,  das  Gewicht  der  einzelnen  abhängig  (Theophr. 
D.  516,  61). 


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262  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Zwei  andere  Verschiedenheiten,  die  ebenfalls  für  die 
Erklärung  der  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  von  ausschlag- 
gebender Bedeutung  sind,  beruhen  auf  den  verschiedenen 
Möglichkeiten  im  Zusammentreffen  der  Atome.  Es  sind  die 
Anordnung  der  gleich  oder  verschieden  geformten  und 
gleich  oder  verschieden  grofsen,  die  ja  ebenfalls  in  unendlich 
verschiedenartiger  Weise  stattfinden  kann,  und  die  Lage, 
die  von  den  (unregelmäfsig  gestalteten)  Atomen  in  diesen 
Zusammenstellungen  angenommen  wird.  Diese  kann  z.  B. 
bei  einem  hakenförmigen,  gekrümmten  oder  zugespitzten 
Atome  ebenfalls  eine  unendlich  mannigfache  sein.  Aus  Ver- 
änderungen in  der  Anordnung  und  Lage  der  Atome  erklärte 
Demokrit  z.  B.  den  Übergang  aus  dem  festen  in  den 
flüssigen  Zustand  und  umgekehrt,  d.  h.  das  Schmelzen  und 
Erstarren  (Arist.  327,  18). 

Diese  vier  Verschiedenheiten  der  Atome  sind  für  die 
besondere  Eigenart  der  demokritischen  Lehre  von  charakteri- 
sierender Bedeutung.  Auf  ihnen  beruht  ganz  und  gar  die 
Möglichkeit  des  Versuchs,  aus  blofser  mechanischer  Ver- 
mischung dieser  eigenartigen  Urkörper  die  unendliche  Viel- 
artigkeit der  Dinge  abzuleiten.  Als  nächste  Mischungs- 
produkte, aus  denen  dann  weiter  in  der  Weise  des 
Empedokles  die  übrigen  Dinge  abgeleitet  werden  konnten, 
scheint  Demokrit  ausschliefslich  die  vier  Elemente  ange^^ehen 
zu  haben  (D.  L.  IX.  44).  Mit  ihnen  mündet  seine  Natur- 
erklärung wenigstens  teilweise  —  denn  es  ist  z.  B.  in  seiner 
Vorstellung  vom  Feuer  etwas  Eigenartiges,  beruhend  auf 
der  Art  seiner  Entstehung,  wovon  nachher  —  in  den  bereits 
gebahnten  Weg. 

Dieses  Eigenartige  nämlich  beruht  auf  seiner  Lehre  von 
der  Urbewegung  der  Atome,  ohne  die  überdies  kein 
Zusammentreten  zu  zusammengesetzten  Dingen,  keine  Welt- 
entstehung möglich  war.  Im  ursprünglichen  Zustande  der 
Vereinzelung  befinden  sich  sämtliche  Atome  in  lebhafter 
Bewegung.  Über  die  Richtung  und  den  Ursprung  dieser 
Bewegung  mufs  er  sich  wohl  nur  unzulänglich  ausgesprochen 
haben.  Wenigstens  erstreckt  Aristoteles  den  Tadel  eines 
fahrlässigen  Verhaltens  in  der  Beantwortung  beider  Fragen 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  263 

gleichmäfsig  auf  ihn  und  auf  Leukipp  (985  b,  19),  und  an 
einer  anderen  Stelle  (252,  35;  vergl.  742  b,  17)  meint  er,  hin- 
sichtlich des  Ursprungs  der  Bewegung  überhebe 
sich  Demokrit  der  Aufgabe,  far  ein  immer  Seiendes 
ein  Erklärungsprinzip  zu  suchen.  Auf  diese  fehlende  Ab- 
leitung der  Bewegung  aus  einem  weiter  zurückliegenden 
Ursächlichen  scheint  sich  denn  auch  der  Tadel  des  Aristo- 
teles zu  beziehen.  Dafs  Demokrit  den  Atomen  eine  inne- 
wohnende ursprüngliche  Bewegung  beilegte,  scheint  er  selbst 
zu  bezeugen  (409,  13). 

Was  nun  zunächst  die  Richtung  anlangt,  so  wird 
auch  jetzt  noch  behauptet,  Demokrit  habe  sie  als  senk- 
rechten Fall  gedacht,  d.  h.  er  habe  in  kindlichster  Naivetät 
das  Oben  und  Unten  auf  der  Erde  auf  das  unendliche  Leere 
übertragen.  Einer  solchen  Leistung  untergeordneten  Denk- 
vermögens war  ein  Epikur  fähig,  aber  kein  Demokrit. 
AuTserdem  gibt  Cicero  nach  griechischer  Quelle  (Fin.  I 
17;  vergl.  D.  L.  IX.  44)  die  betreffende  Lehre  Demokrits 
folgendermafsen  an:  „Die  Atome  bewegen  sich  in  dem  un- 
endlichen Leeren,  in  dem  es  weder  ein  Oben  noch 
Unten,  weder  eine  Mitte  noch  ein  Ende  gibt,  in 
der  Art,  dafs  sie  durch  Zusammenstöfse  in  einen  Zusammen- 
hang geraten,"  d.  h.  offenbar  in  verschiedenen,  aber  mut- 
mafslich  als  geradlinig  gedachten  Richtungen. 

Und  was  dann  femer  den  Ursprung  dieser  Bewegung 
anbetrifft,  so  bezeugt  Cicero  an  derselben  Stelle,  dafs  man 
nach  Demokrit  „diese  Bewegung  der  Atome  anfangslos  und 
von  ewiger  Zeit  her  bestehend  annehmen"  müsse,  und  an 
einer  anderen  Stelle  (Fat.  20)  sagt  er,  Demokrit  habe  lieber 
die  strenge  Notwendigkeit  alles  Geschehens  (als  unausweich- 
liche Konsequenz  dieser  Annahme)  in  den  Kauf  nehmen 
wollen,  als  die  natürliche  Bewegung  von  den 
Atomen  losreifsen.  Die  ewige  Bewegung  der  Atome 
im  Leeren  wird  auch  anderweitig  bezeugt  (z.  B.  D.  565; 
Plut  Kolot.  8). 

Diese  ewige  Bewegung  haftet  den  Atomen  teilweise 
auch  noch  nach  ihrem  Zusammentreten  an.  Das  Wenige, 
was  über  ihre  Bedeutung  für  den  Unterschied  der  Elemente 


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264  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

für  Leukipp  bezeugt  wird,  ist  schon  bei  diesem  angeführt 
worden.  Demokrit  hat  auch  diesen  Punkt  genauer  aus- 
geführt. Die  gröfseren  Atome  erleiden,  vornehmlich  wenn 
sie  sich  wegen  ihrer  unregelmäfsigen  Gestalt  mehr  oder 
weniger  ineinander  verfilzen,  eine  Hemmung  der  Ur- 
bewegung. 

Anders  das  Feuer,  das  aus  kleinen  und  runden  Atomen 
besteht.  Alle '  Eigenschaften  und  Wirkungen  des  Feuers, 
insbesondere  auch  seine  verletzende  Kraft,  beruhen  auf  der 
Fortdauer  der  rapiden  Bewegung  (307,  16). 

Hier  ist  nun  der  Punkt,  wo  das  fruchtbarste  Prinzip  der 
demokritischen  Naturlehre,  wo  eine  wirkliche  Vorahnung 
des  Galilei  sehen  Beharrungsgesetzes  zu  Tage  tritt.  Eine 
sich  nicht  aufzehrende  Bewegung,  die  keiner  neuen  Anstöfse 
bedarf,  schien  dem  ganzen  Altertume  und  Mittelalter  nur 
auf  dem  seelischen  Gebiete  möglich.  Wo  sie  vorhanden  ist, 
wie  z.  B.  bei  den  Gestirnen,  mufs  daher  Beseelung  als  Ur- 
sache angenommen  werden.  Demokrit  dagegen  läfst  die  den 
Atomen  anhaftende  Bewegung  sich  nicht  etwa  in  den  ersten 
Zusammenstöfsen  erschöpfen;  sie  bestimmt  auch  nachher, 
wie  wir  sehen  werden,  die  Natur  der  aus  den  Atomen  zu- 
sammengesetzten Elemente.  Ja,  das  Seelische  selbst  findet 
umgekehrt  aus  diesem  Beharren  der  anhaftenden  Bewegung 
seine  Erklärung.  Es  wurde  daher  vom  Standpunkte  des 
antiken  Denkens  aus  ganz  folgerichtig  gegen  ihn  der  Ein- 
wand gerichtet,  eine  mechanische  Bewegung  könne  nur  von 
kurzer  Dauer  sein  und  reiche  daher  nicht  aus,  die  Be- 
wegung in  der  Welt  zu  erklären  (S.  Emp.  Dogm.  IIL  113). 

Die  durch  den  Zusammenprall  der  Atome^an  einer  be- 
stimmten Stelle  entstehenden  zusammengesetzten  Bewegungen 
nun,  durch  die  sich  eine  Welt  bildet,  bezeichnete  Demokrit 
als  Wirbel.  Er  identifizierte  denselben,  wie  ausdrücklich 
bezeugt  wird  (D.  L.  IX.  45;  S.  Emp.  Dogm.  III.  113),  mit 
der  Notwendigkeit,  auf  die  Leukipp  alles  Geschehen  in  der 
Welt  zurückgeführt  hatte.  Hatte  aber  schon  Leukipp  diese 
Notwendigkeit  zugleich  als  Weltgesetz  bezeichnet  und  vom 
Zufall  gesondert,  so  ist  von  Demokrit  der  Ausspruch  über- 
liefert, der  allerdings  zunächst  auf  das  menschliche  Schicksal 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  265 

Bezug  nimmt,  die  Menschen  hätten  sich  das  Trugbild  des 
Zufalls  als  Vorwand  für  ihre  eigene  Unklugheit  ersonnen 
(Stob.  II.  156).  Jedes  Geschehen  steht  also  in  strengem 
ursächlichem  Zusammenhange,  der  in  letzter  Linie  auf  der 
eigenartigen  Verbindung  der  Atombewegungen  beruht.  Da- 
gegen ist  jede  Zwecktätigkeit  der  Natur  völlig  ausgeschlossen 
(Arist.  472,  1). 

Der  durch  den  Zusammenprall  der  Atome  erzeugte 
Wirbel  bewirkt  nun  nach  Demokrit  näher  ein  Zusammen- 
treten der  gleichartigen  Atome  (Theophrast  D.  484).  Bei 
der  Gleichartigkeit  ist  oifenbar  an  die  Gleichheit  der  Gestalt 
und  Gröfse  gedacht,  und  das  nächste  Erzeugnis  dieses  Zu- 
sammentretens  sind  offenbar  die  aus  solchen  je  gleichartigen 
Atomen  bestehenden  vier  Elemente.  Diese  Wirkungsweise 
des  Wirbels  wird  geradezu  als  ein  Naturgesetz  bezeichnet. 
Demokrit  hat  aber  noch  eine  genauere  Begründung  dieses 
Gesetzes  durch  zwei  analoge  Vorgänge  versucht.  Durch 
die  schwingende  Bewegung  des  Siebes  werden  die  ver- 
schiedenen Getreidearten  voneinander  gesondert,  und  das 
Gleichartige  findet  sich  zusammen:  Linse  zu  Linse,  Gerste 
zu  Gerste,  Weizen  zu  Weizen.  Ebenso  werden  durch  die 
Brandung  am  Meeresufer  die  länglichen  Steinchen  mit  den 
länglichen,  die  runden  mit  den  runden  zusammengeführt 
(S.  Emp.  Dogm.  I.  117).  Diese  Bilder  haben  nun  allerdings 
wenig  Beweiskraft,  und  es  ist  ihm  daher,  soweit  wir  urteilen 
können,  die  Begründung  des  vermeintlichen  Naturgesetzes, 
das  er  als  Mittelglied  zur  Ableitung  der  Elemente  aus  den 
Atomen  nicht  entbehren  konnte,  wenig  gelungen.  Beim 
Siebe  wirkt  aufser  der  rüttelnden  Bewegung  die  Weite  der 
Maschen  und  Öffnungen  zur  Zusammenführung  des  nach 
Gestalt  und  Gröfse  Gleichartigen  entscheidend  mit.  Oder 
es  müfste  an  ein  Sieb  mit  geschlossenem,  undurchlässigem 
Boden  gedacht  werden,  das  dann  aber  kein  Sieb  mehr  wäre, 
und  bei  dem  überdies  das  Eintreten  der  angenommenen 
Wirkung  durch  das  blofse  Rütteln  ebensowenig  erweisbar 
wäre  wie  bei  dem  zweiten  Bilde  das  Zusammentreten  der 
gleichgeformten   Steinchen    durch    die    blofse    mechanische 


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266  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Wirkung  der  BranduDgswelle.  Kurz,  es  steht  mit  diesem 
Teile  seiner  Naturlehre  nicht  gut. 

Wie  er  sich  die  Weltbildung  im  einzelnen  und 
die  Gestaltung  des  Weltgebäudes  gedacht  hat, 
darüber  sind  nur  spärliche  Angaben  überliefert,  die  im  all- 
gemeinen ohne  Schaden  übergangen  werden  können.  Er 
folgte  hier  in  allen  wesentlichen  Punkten  Leukipp  (D.  329, 
336).  Einige  Besonderheiten  hinsichtlich  der .  Natur  der 
Himmelskörper,  die  ihm  allein  beigelegt  werden,  und  in 
betreff  deren  die  Lehre  Leukipps  nicht  bekannt  ist,  deuten 
auf  Beeinflussung  durch  Anaxagoras  hin.  Wie  dieser 
erklärte  er  die  Gestirne  für  „Felsen"  (D.  341).  Wie  er  ihr 
Leuchten  erklärte,  wird  nicht  gesagt,  doch  hat  er  mutmafs- 
lich  mit  Anaxagoras  den  Himmel  für  feurig  gehalten  und 
also  die  Himmelskörper  für  glühende  Felsen.  Bei  der  Sonne 
(D.  349)  wird  dies  ausdrücklich  und  in  Worten ,  die  mit 
denen  des  Anaxagoras  übereinstimmen,  bezeugt.  Sie  ist  ein 
glühender  Steinklumpen  oder  Fels.  Beim  Monde  wird  er 
sogar  geradezu  mit  Anaxagoras  zusammengestellt.  Beide 
lehren  (D.  357),  derselbe  sei  „eine  glühende  Feste,  in  der 
es  Ebenen,  Berge  und  Schluchten  gibt".  Entsprechend  er- 
klärte er  auch  das  „Gesicht  im  Monde",  hierin  etwas  ab- 
weichend von  Anaxagoras,  durch  den  Schattenwurf  der 
höheren  Teile  des  Mondes  (D.  361).  Dies  deutet  wieder 
darauf  hin,  dafs  er  mit  Anaxagoras  den  Mond  neben  dem 
nur  schwachen  eigenen  Lichte  als  nur  mäfsig  glühender 
Körper  von  der  Sonne  erleuchtet  sein  liefs.  Die  Bewegung 
der  Sonne  und  also  wohl  auch  der  übrigen  Himmelskörper 
wird  durch  den  bei  der  Entstehung  der  Welt  erzeugten  und 
dauernd  bestehenden  Wirbel  bewirkt  (D.  353). 

Die  bedeutendste  Abweichung  von  Leukipp,  die  hin- 
sichtlich der  Gestalt  der  Erde,  zeigt  ebenfalls  eine  Beein- 
flussung durch  Anaxagoras.  Wie  dieser  fafste  er  die 
Erde,  abweichend  von  Leukipp,  als  eine  flache  Scheibe 
(D.  377).  Nach  dem  Zeugnis  des  Aristoteles  (294b,  13) 
übernahm  er  von  Anaxagoras  geradezu  die  Vergleichung 
mit  einem  Deckel  über  der  darunter  befindlichen  Luft  und 
die  Begründung  dieser  Annahme  durch  die  Notwendigkeit, 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  267 

fOr  das  Beharren  der  Erde  an  ihrer  Stelle  einen  genügenden 
Grund  zu  haben.  Diese  Begründung  war  bei  ihm  sogar 
noch  zutreffender  als  bei  Anaxagoras,  da  er  von  Leukipp 
die  feste  Welthülle,  die  „Haut  um  die  Welt"  übernommen 
hatte  (D.  336).  Er  schliefst  sich  also  in  bezug  auf  die 
Gestalt  der  Erde  mit  voller  Entschiedenheit  und  aus  wissen- 
schaftlichen Gründen,  die  für  den  damaligen  Stand  der 
Wissenschaft  berechtigt  waren,  an  die  alte  jonisch -ost- 
griechische Vorstellung  an.  Hiermit  hängt  auch  die  Angabe 
zusammen,  dafs  die  Erde  anfangs,  als  ihre  Ausbildung  noch 
nicht  vollendet  war,  geschwankt  habe  (D.  378),  sowie  seine 
Erklärung  der  Senkung  der  Erdscheibe  nach  Süden,  weil 
dort  die  Luft  weniger  tragfähig  sei  (D.  371).  Die  Herkunft 
der  Himmelskörper  von  der  Erde  scheint  er  nicht  von 
Anaxagoras  übernommen  zu  haben.  Bezeugt  wird  nur,  daf» 
er  die  Erde  früher  als  die  Gestirne  entstanden  sein  liefs 
(D.  565).  Dagegen  betrachtete  er  wenigstens  Sonne  und 
Mond  als  ursprünglich  selbständig  entstandene  Bildungen 
wie  die  Erde  (D.  581),  als  Welten  für  sich,  die  also  erst 
nachträglich  sich  mit  der  Erde  zu  einem  einheitlichen  Welt- 
systeme verbunden  haben.  Ebenso  scheint  er  bei  der  Sonne 
die  feurige  Natur  durch  nachträgliche  Aufnahme  von  Feuer- 
atomen an  ihrer  Oberfläche  erklärt  zu  haben  (ib.)- 

Eine  merkwürdig  zutreffende,  das  Richtige  vorahnende 
Erklärung  gibt  Demokrit  von  der  Milchstrafse.  Sie  ist  ihm 
nur  die  für  unser  Auge  zusammenfliefsende  Lichtwirkung 
zahlreicher  kleiner,  nahe  zusammenstehender  Sterne,  die 
nicht  mehr  einzeln  unterschieden  werden  (D.  365).  Selbst- 
verständlich rechnete  er  sie  zu  unserer  Welt,  in  deren 
Mitte  die  Erde  steht,  und  die  von  den  übrigen  Welten  durch 
ihre  feste  Hülle  völlig  geschieden  ist.  Aber  wie  grofs  hat 
er  sich  doch  schon  diese  unsere  Welt  vorgestellt ! 

Eine  farbenreiche  Ausführung  hat  bei  Demokrit  die 
Lehre  von  den  unbegrenzt  vielen,  gleichzeitig  be- 
stehenden und  fortwährend  entstehenden  und  vergehenden 
Welten  erhalten.  Da  die  Beschaffenheit  einer  ent- 
stehenden Welt  lediglich  von  der  Besonderheit  der  gerade 
hier    zusammenstofsenden    Atome    und    ihrer   Bewegungs- 


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268  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  StoflFu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

richtuDgen  abhängig  ist,  so  ist  zwar  der  Fall  nicht  aus- 
geschlossen, dafs  auch  die  eine  oder  die  andere  der  un- 
zähligen Welten  der  unserigen  in  der  ganzen  Zusammen- 
setzung und  demgemäfs  auch  im  Gesamtverlaufe  des 
Geschehens  in  ihr,  in  der  Beschaffenheit  der  in  ihr  auf- 
tretenden Personen  u.  s.  w.  völlig  gleich  ist.  Diese  Mög- 
lichkeit verwertet  Cicero  (Acad.  IL  55,  125)  als  Beispiel 
zu  der  erkenntnistheoretischen  Streitfrage,  ob  es  ein  völlig 
ununterscheidbares  Ähnliches  geben  könne.  Im  allgemeinen 
scheint  jedoch  Demokrit  überwiegend  die  Verschiedenheit 
der  so  unter  unendlich  wechselnden  Entstehungsbedingungen 
ins  Dasein  tretenden  Welten  betont  zu  haben.  Die  Welten 
sind  verschieden  an  Gröfse  und  verschieden  an  Entfernung 
voneinander.  In  einigen  wird  es  weder  Sonne  noch  Mond 
geben,  in  anderen  eine  Mehrzahl  dieser  Himmelskörper  oder 
doch  völlig  andere  Gröfsenverhältnisse  im  Vergleich  zu 
unserer  Welt.  Einige  dieser  Welten  mögen  auch  ohne 
Feuchtes  und  ohne  organisches  Leben  sein.  Unsere  Welt 
ist  also  nur  ein  unter  bestimmten  Bedingungen  zu  stände 
gekommener  Spezialfall  innerhalb  dieser  Mannigfaltigkeit. 
Im  Anschlufs  hieran  scheint  Demokrit  weiter  ausgeftihrt  zu 
haben,  dafs  diese  Weltbildungen  nicht  in  einem  einmaligen 
Werdeprozefs  zum  Abschlufs  kommen,  sondern  dafs  hier 
ein  ewiges  Werden  und  Vergehen  herrscht.  Eine  Welt  kann 
einer  Nachbarwelt  den  WeltstoflF  entziehen  und  auf  deren 
Kosten  ihre  Vergröfserung  bewirken.  Solange  dies  ge- 
schieht, ist  sie  eine  jugendlich  wachsende  Welt.  Sie  ver- 
harrt dann  in  einem  dem  erwachsenen  Körper  analogen 
Vollendungszustande,  bis  sie  in  die  Machtsphäre  einer  über- 
mächtigen Welt  gerät,  die  ihr  den  WeltstoflF  entzieht,  sie 
zu  einer  alternden,  dahinschwindenden  Welt  herabsetzt  und 
schliefslich  ganz  in  sich  aufsaugt  (D.  565).  Selbstverständ- 
lich hat  Demokrit  alle  diese  Vorgänge  als  rein  mechanisch 
verlaufend  gedacht.  Es  mufs  dabei  freilich  als  unbewufste 
Voraussetzung  die  Anziehungskraft  als  allgemeine  Eigen- 
schaft des  StoflFes  wirksam  gedacht  werden.  In  Kürze  wird 
dieser  Vorgang  auch  folgendermafsen  geschildert  (D.  331): 
^Demokrit  lehrt,  dafs  eine  Welt  vernichtet  werde,  wenn  die 


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5.  Demokrit  (ca.  420).  269 

grOfsere  die  kleinere  besiege."  Übrigens  werden  die  Grund- 
züge dieser  Lehre  schon  von  Leukipp  berichtet  (D.  L.  IX. 
33).  Nach  Philo  von  Alexandria  (Incorrupt.  m.  3)  soll 
Demokrit  auch  einen  Untergang  von  Welten  durch  Zu- 
sammenprallen gelehrt  haben.  Derselbe  würde  jedoch  eine 
Fortbewegung  der  Welten  im  Leeren  zur  Voraussetzung 
haben.  Ein  solcher  ist  aber,  nachdem  einmal  durch  den 
Zusammenstofs  der  Atome  ein  Wirbel  sich  gebildet  hat,  aus- 
geschlossen. Die  lineare  Fortbewegung  der  Atome  ist  in 
die  Wirbelbewegung  übergegangen. 

Über  Demokrits  Vorstellungen  von  der  Seele  gibt 
Aristoteles  ausführliche  Nachricht.  Die  Seele  besteht 
aus  denselben  kleinen  und  runden  Atomen  wie  das  Feuer. 
Wegen  ihrer  Kleinheit  und  Kugelform  vermögen  diese  überall 
einzudringen  und  die  ihnen  anhaftende  Bewegung  ihren  Um- 
gebungen mitzuteilen.  Schon  hier  liegt  die  Vorstellung  der 
Verbreitung  der  Seelenatome  durch  den  ganzen  Körper  zu 
Grunde.  Diese  wird  auch  sonst  bezeugt  (Lucrez  III.  342; 
S.  Emp.  Dogm.  I.  439).  Und  da  nun  durch  das  Eindringen 
der  umgebenden  Luft  in  den  Körper  (das  Einatmen)  die 
Gefahr  entsteht,  dafs  die  Seelenatome  aus  dem  Körper  aus- 
getrieben werden,  so  bedarf  es  zur  Fortdauer  des  Lebens 
einer  Gegenwirkung  gegen  diesen  Druck  von  aufsen.  Dieser 
erfolgt  durch  das  Ausatmen.  Zugleich  aber  werden  auch 
durch  das  Einatmen  neue  Seelenatome  aus  der  umgebenden 
Luft  dem  Körper  zugeführt.  Aus  beiden  Gründen  ist  das 
Atmen  die  Bedingung  des  Lebens  (404, 1;  405,  9;  471b,  30). 
Aristoteles  veranschaulicht  die  Erklärung  der  Bewegung 
durch  die  Seelenatome  bei  Demokrit  durch  die  scherzhafte 
Erfindung  eines  Komödiendichters.  Dieser  nämlich  hatte 
die  Sage,  Dädalos  habe  den  Gestalten  seiner  Kunst  Be- 
wegung verliehen,  in  der  Weise  gedeutet,  dafs  er  in  die 
hohlen  Gliedmafsen  Quecksilber  eingegossen  habe.  In  ganz 
ähnlicher  Weise  bewirkten  nach  Demokrit  die  im  Innern 
der  Glieder  sich  bewegenden  Seelenatome  die  Bewegung  der 
Körperteile  (406  b,  17). 

Die  Konsequenz  dieser  Seelenvorstellung  ist  die  Be- 
hauptung,  dafs  auch   im  toten  Körper  noch  Seelenatome 


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"270  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stofif  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

zurückbleiben  und  diesem  also  auch  noch  ein  gewisses  Mars 
von  Empfindung  (wovon  sogleich)  zukommt  (Cic.  Tusc.  I.  82), 
sowie  ferner,  dafs  überall,  wo  Wärme  und  Bewegung  ist, 
auch  Seele  vorhanden  ist  (D.  390,  398).  Letzteres  beruht 
Auf  der  Gleichsetzung  der  Seele  mit  den  Feueratomen.  Ins- 
besondere auch  den  Pflanzen  mufste  Demokrit  in  diesem 
Sinne  Seele  beilegen  (Ps.-Arist.  815  b,  16). 

Die  zweite  Hauptfunktion  der  Seele  ist  die  Er- 
kenntnis. Mit  ihr  hatte  sich  Demokrit  besonders  ein- 
gehend beschäftigt  und  in  diesem  Punkte  besonders  die 
Atomistische  Lehre  über  Leukipp  hinaus  weitergebildet.  Er 
hatte  ihr  besonders  zwei  Schriften  gewidmet:  die  Kanon  es 
{Erkenntnisprinzipien,  S.  Emp.  Dogm.  L  138),  die,  mut- 
mafslich  in  drei  Büchern  (D.  L.  IX.  47),  von  der  Sinnes- 
«rkenntnis,  der  Vernunfterkenntnis  und  vom  Gefühl  als  dem 
Prinzip  der  Werte  und  des  praktischen  Verhaltens  handelten 
<S.  Emp.  Dogm.  I.  140),  und  die  Kratynterien  (Be- 
kräftigungsmittel,  S.  Emp.  Dogm.  I.  136;  D.  L.  IX.  47),  in 
denen  er  anscheinend  den  Wert  der  Sinneserkenntnis  be- 
sonders untersucht  hatte.  Vornehmlich  in  dieser  nachdrück- 
licheren Behandlung  der  Erkenntnisfrage  zeigt  sich  Demokrit 
als  der  Mann  einer  schon  vorgeschrittenen  Zeit,  der  ein 
blofser  dogmatischer  Vortrag  der  Lehre  nicht  mehr  genügt, 
die  schon  nach  dem  Zustandekommen  der  Erkenntnis  fragt. 

Nicht  nur  die  bewegende  Wirkung  der  Seele,  sondern 
auch  die  Empfindung  und  Erkenntnis  vollzieht  sich  auf  rein 
mechanischem  Wege.  Es  gibt  keine  andere  Einwirkung 
von  Körper  auf  Körper  aufser  der  mechanischen  durch 
Berührung,  Druck  und  Stofs.  Dies  gilt  auch  in  bezug  auf 
die  Seele.  Zunächst  erfolgen  auf  diese  Weise  die  Sinnes- 
eindrücke. Für  das  Sehen  übernahm  er  die  Theorie  des 
Empedokles  von  den  von  der  Oberfläche  der  Dinge  beständig 
sich  ablösenden  und  durch  die  Luft  dahinschwebenden 
Bildern.  Die  Atomenlehre  kam  dieser  Theorie  entgegen, 
indem  sie  diese  Ablösung  durch  die  Feinheit  und  die  Ur- 
bewegung  der  Atome,  aus  denen  die  Bilder  bestehen,  ver- 
ständlich machte  (Theophr.  D.  513,  394,  403).  Die  Farben - 
empfindung  insbesondere  beruht,  wie  Demokrit  auch  in  bezug 


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5.  Demokrit  (ca.  420).  271 

auf  die  einzelnen  Farben  ausgeführt  hatte,  auf  den  Ver- 
schiedenheiten der  Gestalt,  Anordnung  und  Lage  der  Atome 
an  der  Oberfläche  der  Körper  und  in  den  von  dieser  sich 
loslösenden  Bildern  (Aristot.  316,  1 ;  D.  520,  522,  314). 

Das  Hören  wird  durch  die  Einwirkung  der  von  den 
Aufseren  Gegenständen  bewegten  Luft  auf  die  Seelenatome 
bewirkt  und  findet  zwar  vornehmlich  in  den  Ohren ,  aber 
auch  sonst  statt,  wo  die  bewegte  Luft  in  den  Körper  ein- 
dringt (D.  515,  408).  Der  Geschmack  beruht  auf  den  ver- 
schiedenen Gestalten  der  das  Organ  berührenden  Objekte 
(Theophr.  D.  517,  520;  De  causis  plant.  VL  2,  6).  Über 
den  Geruch  hat  sich  Demokrit  nur  unbestimmt  geäufsert. 
Er  läfst  die  Geruchsempfindungen,  ähnlich  wie  die  des 
Gesichts,  durch  Atomausflüsse  aus  den  Gegenständen  ent- 
stehen, versucht  aber  hier  nicht,  die  Arten  der  Empfindung 
im  einzelnen  zu  erklären  (D.  524). 

Beim  Tastsinn  beruhen  zunächst  die  verschiedenen 
Druckempfindungen  des  Leichten  und  Schweren  darauf,  dafs 
die  zusammengesetzten  Körper  teils  aus  gröberen  oder 
feineren  Atomen  bestehen,  teils  in  dichterer  oder  lockererer 
Weise,  mit  wenigen  und  kleineren  oder  mit  vielen  und 
gröfseren  leeren  Zwischenräumen  zusammengesetzt  sind. 
Auf  letzterem  Grunde  beruht  es,  dafs  das  Blei  schwerer  ist 
als  das  Eisen,  während  das  Eisen  infolge  der  Gestalt  seiner 
Atome  eine  festere  Fügung  hat  und  daher  härter  ist 
(D.  516  f.).  Im  übrigen  hat  er  sich  über  die  Tastempfin- 
dungen, obgleich  es  ihm  auch  da  ein  leichtes  sein  mufste, 
z.  B.  das  Rauhe  und  Glatte,  das  Harte  und  Weiche  u.  s.  w. 
aus  seinen  Grundunterschieden  abzuleiten,  nicht  näher  aus- 
gelassen. Theophrast  bemerkt  nur  einmal  (D.  515),  die 
Gehörempfindung  entstehe  ebenso  inwendig  wie  die  Tast- 
empfindung an  der  Aufsenseite  des  Körpers.  Diese  Ähn- 
lichkeit kann  aber  im  Sinne  Demokrits  nur  darin  bestehen, 
dafs  es  sich  in  beiden  Fällen  um  unmittelbare  Berührung 
handelt.  Dies  gilt  ja  tatsächlich  auch  von  den  übrigen 
Sinnen,  wie  denn  Aristoteles  (442,  29)  die  zutreffende 
Bemerkung  macht,  Demokrit  verwandle  im  Grunde  alle 
Empfindungen  in  Tastempfindungen. 


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272  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Dafs  nun  in  dieser  ganzen  Summe  von  Theorien  das 
eigentliche  Problem,  der  Übergang  einer  Bewegung  in  eine 
Empfindung,  auch  noch  nicht  einmal  geahnt,  geschweige 
denn  zu  lösen  versucht  ist,  bedarf  keiner  Ausführung.  Wird 
doch,  abgesehen  von  geringfügigen  Ansätzen,  sogar  der  Bau 
der  Sinnesorgane ,  dessen  Kenntnis  die  erste  Vorbedingung 
für  die  Erkenntnis  des  eigentlichen  Problems  bilden  würde, 
noch  völlig  beiseitegelassen.  Die  Übertragung  der  Be- 
wegung erscheint  als  ausreichender  Erklärungsgrund  für 
die  Entstehung  der  Empfindung. 

Trotz  dieser  Geringwertigkeit  der  Theorie  aber  mufste 
gerade  bei  Demokrit  auf  sie  etwas  im  einzelnen  eingegangen 
werden,  weil  sich  daran  seine  berühmten  Aussprüche  über 
die  nur  im  menschlichen  Bewufstsein  (nach  Her- 
kommen, wie  er  sagt),  nicht  aber  in  der  Natur  selbst 
vorhandenen  Sinnesqualitäten  anschliefsen.  Dies  besagt  das 
oft  angeführte  Wort :  „Nach  Herkommen  gibt  es  das  Süfse, 
nach  Herkommen  das  Bittere,  nach  Herkonmien  das  Warme, 
nach  Herkommen  das  Kalte,  nach  Herkommen  die  Farbe» 
in  Wirklichkeit  die  Atome  und  das  Leere"  (S.  Emp.  D.  I. 
135).  Hier  wird  also  den  Farben,  den  Geschmacksempfin- 
dungen und  einem  Teile  der  Tastempfindungen,  den  Tempe- 
raturempfindungen ein  realer  Gegenstand  abgesprochen. 
Entsprechend  stellt  auch  Theophrast  seine  Lehre  dar 
(D.  517).  Kalt  und  warm  seien  nur  Veränderungen  in 
unserem  Empfinden,  die  allerdings  auf  Veränderungen  in 
der  Atomgruppierung  beruhen.  Ähnlich  stehe  es  mit  den 
Geschmacksempfindungen.  Bei  diesen  wird  auch  ein  Er- 
fahrungsbeweis beigebracht.  Dieselben  Dinge  wirken  bei 
verschiedenen  Geschöpfen  und  auch  bei  uns  selbst  in  ver- 
schiedenen Körperzuständen  und  Lebensaltem  verschieden 
auf  den  Geschmackssinn.  Sie  schmecken  bald  süfs,  bald 
bitter,  bald  sauer.  Ein  deutlicher  Beweis,  dafs  die  Geschmacks- 
empfindung wesentlich  mit  von  der  BeschaflFenheit  des  Organs 
abhänge.  (Ähnlich  auch  S.  Emp.  Hyp.  L  213  f.;  IL  63, 
wo  Demokrit,  weil  der  Honig  dem  einen  süfs,  dem  anderen 
bitter  schmeckt,  den  Schlufs  zieht,  er  sei  an  sich  weder 
süfs  noch  bitter.)    Dies  behaupte  nun  Demokrit  ganz  all- 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  273 

gemein  von  den  Sinnesempfindungen ,  er  habe  es  jedoch  be- 
sonders in  bezug  auf  Geschmacks-  und  Farbenempfindungen 
und  unter  diesen  wieder  vornehmlich  in  bezug  auf  den 
Geschmackssinn  ausgeführt. 

Dies  Letzte  findet  seine  Bestätigung  in  einigen  Stellen 
der  Schrift  Theophrasts  über  die  Pflanzen,  auf  die  schon 
vorstehend  verwiesen  wurde.  Nach  diesen  Stellen  hat 
Demokrit  die  verschiedenen  Geschmacksempfindungen,  das 
Stlfse,  das  Bittere,  das  Saure,  das  Salzige  im  einzelnen  aus 
der  verschiedenen  Gestalt  und  Gröfse  der  Atome  in  den  die 
Empfindung  erzeugenden  Gegenständen  zurückgeführt.  Es 
gibt  daher  keine  Farben  an  sich  ohne  den  Geschmackssinn, 
keine  Geschmäcke  an  sich  ohne  den  Geschmackssinn  (Arist. 
426,  26). 

Wo  nun  ein  allgemeines  Urteil  über  die  Lehre  Demo- 
krits  von  den  Empfindungen  abgegeben  wird,  lautet  dies 
dahin,  er  habe  überhaupt  und  ohne  Einschränkung 
die  unseren  Sinnen  sich  darbietenden  Eigenschaften  für 
nicht  an  den  Dingen  vorhanden  erklärt.  So  sagt  Theo- 
phrast  (D.  516),  Demokrit  mache  .die  Empfindungen  zu 
blofsen  Veränderungen  der  Sinne,  und  SextusEmpiricus 
erläutert  den  angeführten  Ausspruch  Demokrits  vom  Her- 
kommen dahin,  dafs  den  Sinneseindrücken  nichts  in  den 
Dingen  zu  Grunde  liege  (Dogm.  IL  184;  I.  135).  Ander- 
weitig wird  dies  so  ausgedrückt,  er  leugne  die  Realität  der 
sinnenf&Uigen  Eigenschaften  (D.  L.  IX.  45,  72;  D.  394). 
Wenn  dagegen  Aristoteles  einmal  sagt,  nach  Leukipp 
und  Demokrit  liege  in  der  sinnlichen  Erscheinung  Wahrheit, 
so  hat  das  mit  der  hier  in  Rede  stehenden  Lehre  nichts  zu 
tun,  sondern  ist  nur  im  Gegensatze  gegen  die  völlige  Ver- 
leugnung der  Erscheinungswelt  bei  den  Floaten  gemeint 
(315  b,  9;  vergl.  325,  13). 

Und  auch  Demokrit  selbst  hatte  an  anderen  Stellen 
sich  über  die  Sinneseindrücke  im  gleichen  verneinenden 
Sinne  ausgesprochen.  So  in  den  „Kratynterien" :  „Wir  er- 
kennen (durch  die  Sinne)  nichts  Gewisses,  sondern  nur 
etwas  gemäfs  der  Beschaffenheit  des  Körpers  sich  Ver- 
änderndes,^   und:    „Wie  beschaffen  ein  Jegliches  ist  oder 

D«riig.   L  18 


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274  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stofifu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

nicht  ist,  nehmen  wir  der  Wirklichkeit  nach  nicht  wahr." 
Und  in  der  Schrift  von  den  „Ideen" :  „Der  Mensch  ist  nach 
dieser  Richtschnur  (der  Sinneserkenntnis)  von  der  Wirklich- 
keit getrennt."  „Diese  Rede  macht  klar,  dafs  wir  in  Wirk- 
lichkeit (durch  die  Sinne)  nichts  über  irgend  etwas  wissen, 
sondern  nur  die  Meinung  bei  allen  verbreitet  ist."  „Es 
wird  klar  sein,  dafs,  zu  erkennen,  wie  ein  Jegliches  in 
Wirklichkeit  ist,  unmöglich  ist"  (S.  Emp.  Dogm.  I.  136  f.). 
In  dieser  Beziehung  auf  die  Sinneseindrücke,  nicht  auf  das 
wirkliche  Wesen  der  Dinge,  konnte  Demokrit  auch  sagen, 
jedes  Ding  sei  ebensowohl  so  als  anders  (Plut.  Eolot.  4), 
wenn  nämlich  das  Sein  in  der  Erscheinung  dem  Sein  an 
sich  entgegengesetzt  wird. 

Die  uneingeschränkte  Verwerfung  der  Sinneserkenntnis 
war  ja  auch  die  notwendige  Konsequenz  seiner  Lehre.  Denn 
wenn  er  auch  einzelnen  Sinneseindrttcken ,  wie  denen  von 
der  Schwere  oder  Härte  der  zusammengesetzten  Körper, 
Wahrheit,  d.  h.  Übereinstimmung  mit  der  Wirklichkeit,  zu- 
erkennen konnte,  so  waren  doch  auch  diese  Eindrücke  noch 
weit  entfernt,  das  eigentliche  Wesen  des  Seienden,  um  das 
es  der  Erkenntnis  zu  tun  ist,  die  Atome  und  das  Leere,  zu 
offenbaren.  Was  Demokrit  eigentlich  an  den  Sinnen  auszu- 
setzen hat,  ist  genau  dasselbe,  was  Empedokles  und 
Anaxagoras  ihnen  vorwerfen,  dafs  sie  nämlich  das  nicht 
kundgeben,  was  der  betreffende  Denker  als  das  Grundwesen 
der  Natur  ergrtibelt  hat.  Die  Kritik  der  Sinne  ist  keine 
der  Forschung  vorangehende,  erkenntnistheoretische,  sondern 
eine  ihr  nachfolgende,  aus  metaphysischer  Ungehaltenheit 
über  ihre  Nichtübereinstimmung  mit  den  betreffenden  Sätzen 
über  das  Grundwesen  der  Dinge  entspringende. 

Diese  Ungehaltenheit  über  die  Sinne  äufserte  sich  bei 
diesen  Männern  dann  auch  in  erweitertem  Umfange  in 
Klagen  über  die  Unzulänglichkeit  des  menschlichen  Er- 
kenntnisvermögens überhaupt,  so  dafs  sie  in  den  Geruch 
von  Skeptikern  kamen,  wie  dies  bei  Empedokles  und  Anaxa- 
goras bereits  gezeigt  worden  ist.  In  besonders  ausgeprägtem 
Mafse  zeigt  sich  dies  bei  Demokrit.  So  hat  er  nach 
Aristoteles  (1009b,  11)  gesagt,   entweder  sei  überhaupt 


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6.   Demokrit  (ca.  420).  275 

nichts  wahr,  oder  doch  uns  unerkennbar.  Nach  anderen 
(D.  L.  IX.  72;  Cic.  Acad.  II.  32):  „Der  Wirklichkeit  nach 
wissen  wir  nichts;  denn  in  der  Tiefe  ist  die  Wahrheit." 

Tatsächlich  aber  ist  dies  nicht  seine  wirkliche  Meinung. 
Beruht  ja  doch  auch  die  Sinneswahmehmung  bei  ihm  auf 
einer  tatsächlichen  Affektion  durch  die  Dinge  und  ihre  Be- 
schaffenheit, wenn  wir  auch  diese  Affektionen  nach  unserer 
Weise,  d.  h.  falsch,  auslegen.  Insbesondere  aber  wird  er 
als  Vertreter  der  V  e  r  n  u  n  f  t  als  der  zulänglichen  Erkenntnis- 
quelle wiederholt  geradezu  mit  Plato  zusammengestellt 
(S.  Emp.  Dogm.  IL  6,  56),  und  nach  einer  ausführlichen 
Darlegung  dieses  Punktes  stellte  er  der  unechten,  nicht 
ebenbürtigen  Bastarderkenntnis  durch  die  Sinne  die  echte, 
vollbürtige  durch  die  Vernunft  gegenüber  (S.  Emp.  Dogm. 
I.  139).  Dies  mufs  bei  einem  so  ausgesprochenen  Materia- 
listen in  hohem  Mafse  befremden.  Ist  das  nur  eine  in- 
konsequente, parteiische  Auskunft,  um  nur  eine  Stütze  für 
seine  Lieblingsüberzeugungen  zu  gewinnen,  auch  wenn  er 
dabei  im  übrigen  gänzlich  aus  der  Rolle  fällt?  Keineswegs! 
Glücklicherweise  ist  uns  ein  zuverlässiges  Zeugnis  erhalten, 
wie  er  die  hohe  Schätzung  der  Vemunfterkenntnis  mit 
seinen  materialistisch-mechanischen  Voraussetzungen  in  Ein- 
klang zu  bringen  wufste.  Nicht  nur  die  Empfindung,  son- 
dern auch  der  Gedanke  entsteht  durch  direkte  Einwirkung 
der  äufseren  Dinge  (D.  394,  395).  Offenbar  hat  er  an- 
genommen, dafs  es  aufser  der  durch  die  Sinne  vermittelten 
auch  eine  direkte,  unter  Ausschaltung  der  Sinnesorgane 
stattfindende  Einwirkung  der  Dinge  auf  die  Seelenatome 
gebe  und  dafs  bei  dieser  die  bei  den  Sinnen  sich  ein- 
schleichenden trügerischen  Zutaten  ausgeschlossen  seien. 
Die  Seelenatome  stellen,  direkt  affiziert,  eine  höhere  und 
vollkommenere  Art  von  Sinnestätigkeit  dar,  bei  der  das 
wirkliche  Wesen  der  Dinge  sich  offenbart.  Das  Denken  ist 
nur  eine  vollkommenere  Art  der  Empfindung.  Diese  Auf- 
fassung findet  denn  auch  ihre  Bestätigung  durch  eine  An- 
gabe Theophrasts  (D.  515),  nach  der  Demokrit  das 
Denken  von  einem  normalen  Zustande  der  Seele,  d.  h.  von 
der  richtigen  Verteilung  der  Feueratome,  abhängen  läfst. 

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276  Erste  Periode.  Dritter  Absclin.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

Bei  einem  Übermafs  oder  einem  zu  geringen  Mafse  des 
Feurigen  werde  es  beeinträchtigt.  Mit  Recht  hätten  deshalb 
die  Alten  in  diesem  Falle,  nämlich  im  Falle  der  Bewufstseins- 
störungen,  von  einem  „Andersdenken"  gesprochen.  Hier 
wird  nun  zwar  die  Gleichsetznng  von  Denken  und  Empfinden 
der  Gattung  nach  nicht  direkt  bezeugt.  Es  scheint  jedoch, 
dafs  das  Fehlende  durch  ein  Zeugnis  des  Aristoteles 
ergänzt  wird.  Dieser  bringt  nämlich  zunächst  (404,  27)  die 
Hindeutung  auf  den  Sprachgebrauch  der  Alten  vom  „Anders- 
denken" genauer.  Es  handelt  sich  um  eine  Homerstelle, 
die  wir  freilich  in  unserer  heutigen  Ilias  nicht  mehr  lesen. 
Nach  dieser  lag  der  vom  Gegner  getroflFene  Hektor  da 
„anders  denkend",  d.  h.  bewufstlos  oder  im  Sinne  Demokrits 
mit  einer  Störung  im  Bestände  seiner  Seelenatome  behaftet. 
Hierzu  fügt  aber  Aristoteles  weiter  die  freilich  wegen  ihrer 
Kürze  kaum  verständliche  Erläuterung  hinzu,  Demokrit 
kenne  keine  von  der  (körperlichen)  Seele  gesonderte  (un- 
körperliche) Vernunft;  denn  das  Wahre  sei  ihm  das  (der 
Seele)  Erscheinende.  Das  heifst  mit  anderen  Worten:  das 
Denken  war  ihm  nicht  Funktion  einer  unkörperlichen  Ver- 
nunft, sondern  eine  nach  Art  der  Sinne  in  der  Weise  der 
Empfindung,  als  Seelenempfindung,  stattfindende  Beein- 
flussung der  Seele  durch  die  Dinge. 

Es  sind  schliefslich  zu  dieser  Erkenntnislehre  Demokrits 
(von  der  praktischen  Richtschnur  kann  erst  nachher  ge- 
handelt werden)  noch  zwei  Punkte  hervorzuheben.  Zunächst 
stellte  er  sich  mit  seiner  Lehre  von  der  Sinneserkenntnis  in 
diametralen  Gegensatz  zu  der  Theorie,  die  von  der  herakli- 
tischen  Lehre  aus  entwickelt  wurde.  Nach  letzterer  waren 
alle  die  entgegengesetzten  Wahrnehmungsmöglichkeiten  tat- 
sächlich in  den  Dingen  vorhanden.  Der  Honig  war  sowohl 
süfs  als  bitter.  Demokrit  dagegen  sagte,  wie  schon  be- 
merkt: der  Honig  ist  an  sich  weder  süfs,  noch  bitter. 
Beides  sind  nur  Sinnesqualitäten,  die  dem  Honig  als  einer 
besonderen  Atomverbindung  an  sich  nicht  zukommen  können. 
Die  Lehre  der  Herakliteer  war  in  besonderer  Richtung  durch 
den  älteren  Landsmann  Demokrits,  Protagoras  von 
Abdera,  von  dem  aber  erst  in  der  folgenden  Periode  ge- 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  277 

handelt  werden  kann,  ausgebildet  worden.  So  ist  es  also 
ganz  selbstverständlich,  dafs  Demokrit  dieser  Lehre  seines 
Landsmannes  widersprach.  Und  in  der  Tat  wird  uns  denn 
auch  berichtet  (S.  Emp.  Dogm.  L  389),  dafs  er  der  Lehre 
des  Protagoras ,  jeder  Sinneseiudruck  sei  wahr  (d.  h.  im 
Gegenstande  begründet),  widersprochen  habe.  Ja,  wir  hören 
(Plut.  Kolot.  4),  dafs  er  der  Behauptung  des  Protagoras, 
jedes  Ding  besitze  an  sich  die  entgegengesetzten  Eigen- 
schaften, eine  eigene  gründliche  Gegenschrift  gewidmet 
habe. 

Der  andere  Punkt  ist  folgender.  Eine  rätselhafte  An- 
gabe (D.  399)  besagt,  Demokrit  lege  den  unvernünftigen 
Tieren  eine  gröfsere  Zahl  von  Sinnesempfindungen  bei,  als 
(im  Text  steht  „und",  was  aber  keinen  Sinn  gibt)  den 
Weisen  und  den  Göttern.  Dies  ist  ganz  folgerichtig.  Bei 
den  höher  Organisierten  tritt  die  wertlosere  Erkenntnisweise 
durch  das  Mittelglied  der  Sinne  infolge  der  stärkeren  Ent- 
wicklung det  Seelenatome  gegen  die  „echte",  direkte,  die 
Seelenempfindung,  zurück.  Bei  intellektuell  niedriger  stehen- 
den Wesen  dagegen  überwiegt  die  indirekte  Empfindung 
durch  die  Sinne  die  direkte  durch  die  Seele.  So  verstanden 
bildet  auch  diese  Stelle  einen  neuen  Beweis,  dafs  er  Sinnes- 
und  Vernunfterkenntnis  unter  einen  einheitlichen  Gesichts- 
punkt zusammengefafst  hatte.  Beide  sind  Empfindungs- 
weisen. 

Dafs  nun  die  Seele,  aus  Atomen  bestehend,  die  durch 
den  ganzen  Körper  zerstreut  sind,  keinen  Fortbestand  nach 
dem  Tode  hat,  ist  selbstverständliche  Konsequenz  der 
Theorie.  Die  durch  kein  Einheitsband  verknüpften  Feuer- 
atome zerstieben  nach  dem  Untergange  des  Köi*pers,  wie 
alle  übrigen  Bestandteile  desselben,  in  alle  Winde  (D.  398; 
Stob.  I.  384). 

Ziemlich  ausführliche  Nachrichten  sind  über  die  Stellung 
Demokrits  zum  GOtterglauben  vorhanden.  Hier  mufs 
unterschieden  werden  zwischen  der  Stellung,  die  er  zu  den 
Vorstellungen  des  Volksglaubens  einnahm  und  dem,  was  er 
selbst  nach  seiner  eigensten  Überzeugung  das  Göttliche 
nannte. 


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278  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.bewegeBdes  Prinzip  getrennt 

Die  Vorstellungen  des  Volksglaubens  sind  auf  ver- 
schiedene Weise  entstanden.  Einesteils  aus  dem  Eindruck 
ungewöhnlicher  Naturerscheinungen.  Donner  und  Blitz. 
Kometen,  Sonnen-  und  Mondfinsternisse  wurden  göttlichem 
Wirken  zugeschrieben  (S.  Emp.  Dogm.  III.  24).  Andem- 
teils  aber  durch  wirklich  vorhandene,  aber  riesengrofse 
Gestalten  in  der  Luft,  die  sich  nach  denselben  Gesetzen 
bilden  wie  alles  Zusammengesetzte  und  durch  dieselben 
Feueratome  beseelt  werden  wie  alles  Beseelte.  Sie  werden 
dem  Gehör  wahrnehmbar,  da  sie  stimmbegabt  sind,  und 
dem  Gesichtssinn,  wie  alles  Sichtbare,  durch  die  von  ihnen 
ausströmenden  Bilder.  Sie  sind  so  wenig  unvergänglich 
wie  irgend  ein  Zusammengesetztes,  aber  von  sehr  langer 
Lebensdauer.  Sie  sind  teils  wohlwollend  und  gütig,  teils 
übelwollend  und  können  daher  nützen  und  schaden.  Ina- 
besondere vermögen  sie  auch  den  Menschen  die  Zukunft  zu 
offenbaren  (S.  Emp.  Dogm.  III.  19,  42;  Cic.  N.  D.  I.  10, 
29,  120;  Zell.  937,  3;  Diel s,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.  VII). 

Durch  diese  Lehre  stellt  sich  Demokrit  selbst  in  ge- 
wissem Mafse  innerhalb  des  Volksglaubens.  Er  erklärt  aus 
ihr  die  Göttererscheinungen  des  Volksglaubens  als  etwas 
Mögliches  und  Tatsächliches  und  schreibt  diesen  Wesen 
eine  Einwirkung  auf  die  menschlichen  Geschicke  zu.  Es 
wird  ihm  der  Wunsch  zugeschrieben ,  glückliche  „Bilder* 
(Gestalten,  Idole)  zu  haben  (bei  irgend  welchen  Unter- 
nehmungen von  dieser  Seite  nicht  Hemmung,  sondern 
Förderung  zu  erfahren,  S.  Emp.  Dogm.  III.  19).  Er  glaubt 
an  die  Herkunft  von  Traumbildern  (denen  er  überhaupt, 
wie  den  Vorstellungen  im  Wachen,  eine  von  aufsen  kommende 
stoflFliche  Ursache  zuschreibt,  Cic.  Div.  II.  120)  von  diesen 
Wesen;  dies  ist  wohl  die  Weise,  in  der  er  hauptsächlich 
die  Zukunftsoflfenbarungen  von  ihnen  ausgehend  denkt  (Zell. 
940,  2).  Und  da  Demokrit  überdies  auch  die  Erforschung 
der  Zukunft  aus  den  Eingeweiden  der  Opfertiere  in  gewissen 
Grenzen  einer  natürlichen  Erklärung  für  zugänglich  hielt 
(so  in  bezug  auf  das  Bevorstehen  von  Seuchen  oder  Un- 
fruchtbarkeit, Cic.  Div.  I.  131),  so  ist  es  wohl  glaublich, 
dafs    die    Demokriteer    an    den    herkömmlichen    Religions- 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  279 

gebrauchen  festhielten  (Orig.  c.  Geis.  VII.  66).  Ob  Demokrit 
auch  eine  Beeinflussung  dieser  dämonischen  Wesen  durch 
menschliche  Gunstbewerbung  annahm,  worin  doch  das  eigent- 
liche Wesen  der  Volksreligionen  besteht,  wird  nicht  be- 
richtet. 

Seiner  allereigensten  Meinung  nach  aber  fand  er  das 
Göttliche  in  den  Feueratomen  und  der  in  ihnen  vermöge 
ihrer  Beweglichkeit  vorhandenen  seelischen  Kräfte  (D.  302). 
Cicero  sagt  weniger  klar  und  vollständig,  er  nenne  Götter 
„die  Vernunftprinzipien  in  der  Welt",  oder  gar  „unsere 
Erkenntnis  und  Einsicht"  (N.  D.  I.  120,  29).  Es  ist  leicht 
ersichtlich,  dafs  er  von  der  Ableitung  auch  der  Vernunft- 
tätigkeit aus  den  beweglichen  Feueratomen,  wenn  er  wollte, 
geradezu  zu  einer  zwar  materiellen  und  vergänglichen,  aber 
vernünftigen  Weltseele  gelangen  konnte.  Ja,  er  hätte  dieser 
sogar,  wenn  er  diese  Denkrichtung  noch  weiter  verfolgte, 
Zwecksetzung  und  Zwecktätigkeit  zuschreiben  können  und 
wäre  so  für  das  Geschehen  innerhalb  der  Welt  zu 
einem  völlig  entgegengesetzten  Prinzip  gelangt,  wie  für 
dasjenige,  durch  das  er  das  Werden  der  Welt  erklärte. 
Es  ist  Dicht  bekannt,  wie  weit  er  auf  diesem  Wege  vor- 
geschritten ist.  Dafs  er  aber  die  eben  angedeuteten  Kon- 
sequenzen gezogen  haben  sollte,  ist  nicht  wahrscheinlich. 

Von  der  vielseitigen  Forschertätigkeit  Demokrits  auf 
den  Gebieten  mehrerer  Einzelwissenschaften  ist  nur  weniges 
bekannt.  Ein  Eingehen  auf  diese  Gebiete  liegt  aufserhalb 
unserer  Aufgabe.  Jedenfalls  hat  diese  gewaltige  Vielseitig- 
keit der  Forschung  und  die  sich  in  ihr  offenbarende  Geistes- 
gröfse  vornehmlich  die  sagenbildende  Tätigkeit,  die  sich  an 
ihn  heftete  und  von  der  wir  schon  einige  Proben  kennen 
gelernt  haben,  in  Bewegung  gesetzt.  Von  diesem  sein  Haupt 
umrankenden  Sagenkranze  an  dieser  Stelle,  ehe  wir  zu 
seinen  ethischen  Lehren  übergehen,  nur  noch  einige  Proben. 
Selbstverständlich  traute  man  einem  solchen  Geiste  das 
ÄuTserste  von  Scharfsinn  und  Scharfblick  zu.  So  über- 
rascht er  den  Hippokrates  bei  dessen  Anwesenheit  in  Abdera 
durch  die  Erkenntnis,  dafs  eine  Schale  Ziegenmilch,  die  er 
vor  sich  sieht,  von  einer  schwarzen  Ziege  stamme,  die  zum 


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280  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getreiint 

erstenmal  geboren  habe  und  die  denselben  begleitende  Tochter 
begrüfst  er  am  ersten  Morgen  als  Jungfrau,  am  folgenden 
Morgen  aber,  nachdem  sie  in  der  Tat  in  der  vorhergehenden 
Nacht  ihre  Jungfrauschaft  verloren  hatte,  als  Weib  (D.  L. 
IX.  42).  Ja,  man  legte  ihm  geradezu  übernatfirliches  Wissen 
bei;  man  machte  ihn  zu  einem  Magier  und  Weissager,  zu 
einem  antiken  Doktor  Faust  (Z.  846).  Ebenso  selbstver- 
ständlich mufste  ein  solcher  Geist  ein  weitabgewandtes 
Leben  führen,  ganz  in  seine  Forschung  und  Gedankenwelt 
versunken.  Er  haust  in  einem  abgelegenen  Gartenhäuschen 
und  merkt  nicht,  dafs  sein  Vater,  der  hier  noch  am  Leben 
ist,  einen  Ochsen  zu  einem  Opferfest  an  seiner  Tür  an- 
gebunden hat  (D.  L.  IX.  36).  Wie  Anaxagoras  vernach- 
lässigt er  seine  Habe  und  schenkt  sein  Vermögen  dem 
Staate;  [die  bei  Thaies  berichtete  Geschichte  von  den  Öl- 
pressen ist  auch  ihm  aufgeheftet  worden  (Z.  844).  Ja,  er 
soll,  um  unbeirrt  durch  die  Erscheinungswelt  seinen  Ge- 
danken nachgehen  zu  können,  sich  selbst  geblendet  haben 
(Z.  ib.)  und  dergleichen  mehr. 

Wir  kommen  zu  seinen  ethischen  Lehren. 

Wie  durch  seine  ausgebildete  Lehre  vom  Werte  der 
Wahrnehmung  und  des  Denkens,  geht  Demokrit  auch  durch 
die  eingehende  Behandlung  der  Bedingungen  und  Hinder- 
nisse wahrer  Glückseligkeit  über  Leukipp  hinaus.  Er  ist 
der  erste,  der  dieser  Frage  mindestens  eine  eigene  Schrift 
gewidmet  hat.  In  dem  Schriftenverzeichnis  des  Thrasylos 
finden  sich  sogar  acht  „ethische",  d.  h.  der  richtigen  Lebens- 
führung gewidmete  Schriften.  Es  ist  aber  nicht  mehr  aus- 
zumachen, wie  viel  davon  ihm  selbst,  wie  viel  der  Schule 
angehört,  in  der  diese  Fragen  eifrig  behandelt  wurden. 
Noch  viel  weniger,  in  welchem  Mafse  die  in  sehr  grofser 
Zahl  erhaltenen  ethischen  Aussprüche  der  einen  oder  anderen 
dieser  Schriften  und  damit  Demokrit  selbst  angehören.  Als 
unzweifelhaft  echt  ist  jedenfalls  die  Schrift  „Über  die  Freudig- 
keit" anzusehen,  die  auch  unter  dem  Titel  „Über  das  Wohl- 
befinden" oder  „Über  das  Lebensziel"  (höchste  Gut)  an- 
geführt wird.  Diese  war  noch  in  den  ersten  Jahrhunderten 
nach  Christi  Geburt  bekannt   und   ist  noch  von   Seneca 


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5.  Demokrit  (ca.  420).  281 

und  Plutarch  bei  der  Abfassung  ihrer  gleichbetitelten 
Schriften  benutzt  worden.  Wir  sind  im  stände,  aus  den 
erhaltenen  Bruchstücken  und  den  Nachrichten  über  seine 
Lehre  alle  wesentlichen  Punkte  seiner  Glückseligkeitslehre 
aufzuzeigen.  (Die  Bruchstücke  werden  nach  der  Zählung 
bei  Natorp,  Die  Ethika  des  Demokrit,  Marburg  1893, 
angeführt  werden.) 

An  die  Spitze  stellt  Demokrit  den  bedeutsamen,  wie 
ein  Refrain  von  ihm  häufig  wiederholten  Satz,  dafs  Freude 
und  ünfreude  die  entscheidende  Norm  des  Glückszustandes 
oder  des  menschlichen  Verhaltens  sei  (Br.  1,  die  Lesart 
nicht  sicher,  doch  der  Sinn  unzweifelhaft;  Br.  2;  Sext. 
Emp.  Dogm.  I.  140).  An  der  zuletzt  angeführten  Stelle 
bezeugt  der  Demokriteer  Diotimos,  dafs  Demokrit  (wahr- 
scheinlich im  dritten  Buche  seines  „Kanon",  der  die  Normen 
der  Entscheidung  auf  dem  Gebiete  des  Erkennens  und 
Handelns  aufstellte),  für  das  Erstreben  und  Meiden  die 
Gef  üh  1  e  als  Richtmafs  aufgestellt  habe.  Damit  ist  zweierlei 
mit  der  gröfsten  Bestimmtheit  ausgesprochen.  Zunächst  die 
prinzipielle  Loslösung  des  Einzelnen  von  der  Gemeinschaft, 
die  Konstituierung  des  unabhängigen  Individuums  als 
Voraussetzung  und  Ausgangspunkt.  Wenn  der  Mensch  sich 
in  der  Regelung  seines  Verhaltens  nur  nach  dem  zu  richten 
hat,  was  ihn  glücklich  macht,  so  ist  damit  die  Verselb- 
ständigung des  Einzelmenschen,  die  Loslösung  und  Selbst- 
berechtigung des  Individuums  gegenüber  der  Gesellschaft 
deutlich  vorausgesetzt.  Diese  Loslösung  hat  schon  Hera- 
klit  für  sich  vollzogen;  ebenso  entschieden  tut  es  Demokrit. 
Sodann  aber  liegt  in  diesen  Worten  auch  schon  der  Ein- 
spruch gegen  die  gedankenlose  Betrachtungsweise  des  naiven 
Bewufstseins ,  nach  der  das  Glück  in  den  äufseren  Dingen 
und  Zuständen  unmittelbar  gegeben  sein  soll.  Mit  völliger 
Entschiedenheit  wendet  sich  gegen  diese  kindliche  Vor- 
stellungsweise Demokrit,  deutlicher  noch  als  im  vorstehenden 
Ausspruche  in  dem  Satze :  „Die  Eudaimonie  wohnt  nicht  in 
Herden,  noch  im  Golde;  die  Seele  ist  die  Wohnstätte  des 
Dämon''  (Br.  9 — 11).  Es  mufste  hier  der  griechische  Aus- 
druck für  Glückseligkeit,  der  eigentlich  Göttergunst,  Gunst 


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282  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

des  Daimon  bedeutet,  beibehalten  werden,  um  den  Anklang 
an  das  nachfolgende  „Dämon**  erkennbar  zu  machen.  Wir 
erkennen  deutlich  ^  dafs  Demokrit  noch  das  volle  Bewufst- 
sein  der  wörtlichen  und  ursprünglichen  Bedeutung  von 
Eudaimonie  hat.  Möglicherweise  liegt  in  diesem  Ausspruch 
auch  eine  Erinnerung  an  das  Wort  Heraklits,  das  Ethos 
sei  dem  Menschen  der  Daimon,  d.  h.  die  Schicksalsmacht. 

Vielleicht  hatte  schon  im  Zusammenhange  mit  diesem 
Gedanken  Demokrit  jene  Kritik  an  seinen  Mitbürgern  geübt, 
die  der  guten  Stadt  Abdera  unverdientermafsen  den  Ruf 
des  antiken  Schildbürgertums  und  ihm  selbst  den  Beinamen 
des  lachenden  Philosophen  eingetragen  hat.  Schon  Sotion 
(um  190  vor  Chr*;  Stob.  III.  20,  53)  hatte  gesagt,  dafs 
Heraklit,  über  die  Torheiten  der  Menge  sich  entrüstend, 
darüber  geweint,  Demokrit  aber  gelacht  habe,  und 
Seneca  erwähnt,  dafs  Heraklit,  so  oft  er  unter  Menschen 
gegangen  war,  weinte,  Demokrit  im  gleichen  Falle  lachte 
(Tranqu.  15;  Ira  II.  10;  andere  Stellen  Zell.  845).  Mut- 
mafslich  hatte  Demokrit  gleich  im  Eingange  seiner  Schrift 
das  gewöhnliche  Verhalten  der  Menschen,  ihr  Glück  in  be- 
stimmten äufseren  Dingen  zu  finden  und  diese  gierig  zu  er- 
streben ,  als  lächerlich  gegeifselt  und  dies  an  dem  jederzeit 
in  der  Öflfentlichkeit  zu  beobachtenden  Verhalten  seiner 
Mitbürger  veranschaulicht.  So  kamen  denn  die  Abderiten, 
indem  man  diese  kritisch -satirischen  Ausführungen  dahin 
mifsverstand ,  als  habe  Demokrit  diesen  ein  besonders 
reiches  Mafs  von  Torheit  zusprechen  wollen,  in  den  Ruf 
einer  den  menschlichen  Durchschnitt  weit  übersteigenden 
Abgeschmacktheit  (Cic.  N.  D.  I.  120). 

Wir  erfahren  nun  ferner,  dafs  Demokrit  die  Frage  der 
Glückseligkeit  nicht  nur  für  sich  persönlich,  für  seine 
individuelle  Veranlagung,  zu  lösen  suchte,  sondern  dafs  er 
sie,  ganz  ebenso  wie  die  Erkenntnisfrage,  durchaus  wissen- 
schaftlich für  alle  Menschen ,  für  den  Menschen  überhaupt, 
auf  Grund  der  erfahrungsmäfsig  gegebenen  Eigentümlichkeit 
der  menschlichen  Natur  stellte.  „Allen  Menschen  ist  eines 
und  dasselbe  das  Gute  (d.  h.  das  wahrhaft  Beglückende) 
und  das  Wahre"  (Br.  6;  vergl.  7,  15,  17  f.,  52),   und  als 


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5.  Demokrit  (ca.  420).  283^ 

zweiten  beachtenswerten  Punkt,  dafs  er  nicht  für  einzelne 
Momente  oder  Abschnitte  des  Lebens,  sondern  für  das 
Leben  als  Ganzes,  ftlr  das  Gesamtleben,  die  Rechnung  auf- 
zumachen gewillt  war.  „Das  Beste  für  den  Menschen  ist, 
sein  Leben  so  durchzuführen,  dafs  er  möglichst  viel  Freudig- 
keit und  möglichst  wenig  Kümmernis  hat"  (Br.  7). 

Aus  jedem  dieser  beiden  Prinzipien  aber  ergibt  sich 
die  weitere  Folgerung,  dafs  die  Sinnenlust  kein  geeigneter 
Weg  zur  Glückseligkeit  ist.  Sie  hat  keine  menschliche 
Allgemeingültigkeit,  sondern  wechselt  bei  den  Verschiedenen, 
wie  auf  dem  Gebiete  der  Erkenntnis  die  Sinneswahrnehmung 
nach  verschiedenen  Gesichtspunkten  eine  verschiedene  war. 
Daher  fügt  Br.  6  hinzu:  „Das  sinnlich  Angenehme  ist  für 
Verschiedene  verschieden."  Sie  kann  auch  nicht  einen 
sicheren  Überschufs  für  das  Gesamtleben  abwerfen,  weil  sie 
von  viel  zu  kurzer  Dauer  ist  (Br.  53)  und,  wie  ebenfalls 
schon  bei  der  Sinneswahmehmung  hervorgehoben  wurde, 
bald  in  ihr  Gegenteil,  die  sinnliche  Unlust,  den  Widerwillen, 
umschlägt  (Br.  54  f.).  Hierher  gehört  sein  verächtliches 
Urteil  über  die  Geschlechtslust.  Den  Geschlechtsakt  nannte 
er  „eine  kleine  Epilepsie"  (Clem.  AI.  Paed.  IL  10;  Galen. 
Comm.  in  Hipp,  de  epid.  Gell.  N.  A.  XIX.  2)  oder  nach 
einer  anderen  Fassung  „einen  kleinen  Schlagfiufs,  bei  dem 
der  Mensch  von  Sinnen  gerate"  (Stob.  Flor.  VI.  57).  Daher 
fügt  auch  Br.  7  hinzu,  dafs  der  Überschufs  nur  erreicht 
werden  kann,  „wenn  einer  nicht  im  Sterblichen  (Vergäng- 
lichen, Körperlichen)  seine  Lust  sucht".  Und  auch  Diog» 
Laert.  (IX.  45)  bemerkt,  dafs  das  höchste  Gut  Demokrits 
mit  der  Sinneulust  nicht  einerlei  sei. 

Aus  dem  zweiten  Prinzip  aber  ergibt  sich  weiter,  dafs 
das  Erstrebte  ein  einheitlicher  Gesamtzustand  sein  mufs» 
Dies  hat  Demokrit  dadurch  ausgedrückt,  dafs  er  ihn  als 
„Wohlsein"  oder  „Wohlbefinden"  bezeichnete  (D.  L.  IX.  45; 
Stob.  II.  52;  Clem.  AI.  IL  21).  Vielleicht  wählte  er  diesen 
Ausdruck,  um  dem  Doppelsinn  des  Wortes  Lust,  das  gar 
zu  leicht  immer  nur  auf  die  Sinnenlust  bezogen  wird,  aus 
dem  Wege  zu  gehen.«  Ausdrücklich  wird  bezeugt,  dafs  die 
„Freudigkeit"    im   Sinne   Demokrits  nicht,    wie  einige  es 


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284  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

mifsverständlich  aafgefafst  hätten,  mit  der  „Lust**  einerlei 
sei  (D.  L.  IX.  45).  Dieses  Wohlsein  oder  Wohlbefinden 
aber  kann  ferner,  da  vom  Körper  eine  solche  Stetigkeit 
nicht  zu  erwarten  ist,  da  der  Daimon  in  der  Seele  wohnt, 
nur  als  ^in  Zustand  der  Seele  betrachtet  werden.  So  sind 
wir  bei  seiner  Bestimmung  des  höchsten  Gutes  angelangt. 
Seine  eigentliche  Bezeichnung  dafür  ist,  wie  auch  schon 
der  Titel  der  Hauptschrift  zeigt,  „Freudigkeit".  (Obige 
Stellen;  Cic.  fin.  V.  87.) 

Diese  Freudigkeit  als  dauernder  Zustand  der  Seele 
kann  aber  nur  entspringen  aus  einer  vernünftigen,  zweck- 
bewufsten  Gestaltung  der  gesamten  Lebensführung.  Das 
Lebensziel  kann  nur  erreicht  werden  durch  richtige  Ab- 
wägung, Beurteilung,  Unterscheidung  der  ver- 
schiedenen Lustwerte  (Stob.  IL  52).  Demokrit  bezeichnet 
daher  geradezu  „die  Unwissenheit  des  Besseren*  (Heil- 
sameren) als  die  Ursache  des  Verfehlens  (Br.  28).  Er  klagt 
die  Menschen  an,  dafs  sie  sich  „das  Trugbild  des  Schicksals 
ersonnen  haben  zur  Entschuldigung  für  ihre  eigene  Un- 
wissenheit" (Br.  29),  und  geifselt  z.  B.  die  Torheit,  von  den 
Göttern  Gesundheit  zu  erflehen,  während  sie  doch,  ohne  es 
2U  wissen,  die  Fähigkeit,  sich  gesund  zu  erhalten,  in  sich 
selbst  besäfsen  und  nur  durch  Unmäfsigkeit  und  Lüste  zu 
Verrätern  ihrer  Gesundheit  würden  (Br.  21;  vergl.  auch 
24 — 26).  Er  fordert  Lebensführung  durch  zweckbewufste 
Vernunft.  Der  Zweck  ist  eine  möglichst  günstige  Lust- 
bilanz. Von  diesem  Punkte  erklären  sich  zwei  andere  ihm 
zugeschriebene  Bezeichnungen  des  höchsten  Gutes,  nämlich 
als  Symmetrie  oder  Harmonie  (Stob.  IL  5,  2).  Es  ist 
nämlich,  da  Demokrit  im  Prinzip  keine  Art  der  Lust  von 
der  Mitwirkung  zur  Glückseligkeit  ausschliefst  und  nur  jede 
nach  ihrem  verhältnismäfsigen  Werte  zur  Geltung  kommen 
lassen  will,  Aufgabe  der  Vernunft,  jeder  Lustart  den  ihr 
nach  ihrer  Bedeutung  für  die  Glückseligkeit  zukommenden 
Platz  und  Spielraum  zuzuweisen.  Das  ist  aber  das  Wesen 
der  Symmetrie  und  Harmonie,  dafs  jeder  Teil  und  Bestand- 
teil den  ihm  nach  seiner  Bedeutung  für  das  Ganze  zu- 
kommenden Raum  und  Anteil  hat.    Aufgabe  der  Vernunft 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  28& 

ist,  das  Gaoze  der  Lebensführung  als  ein  harmonisches  und 
symmetrisches  Gefüge  von  möglichst  hohem  Gesamtlustwert 
zu  gestalten. 

Ganz  allgemein  genommen  besteht  die  „Symmetrie"  in 
einem  gewissen  Mittelmafs  zwischen  dem  Zuviel  und  Zuwenig, 
Die  beiden  letzteren  sind  ihrer  Natur  nach  unbeständig 
und  neigen  dazu,  in  ihr  Gegenteil  umzuschlagen,  wodurch 
der  Seele  Erschütterungen  und  Leiden  bereitet  werden 
(Br.  52). 

Es  werden  ihm  aber  noch  einige  andere  Ausdrücke  zu- 
geschrieben, die  er  angeblich  unterschiedslos  mit  den  bereits 
angeführten  als  Bezeichnungen  des  Lebenszieles  verwandt 
haben  soll  (D.  L.  IX.  45;  Cic.  Fin.  V.  87),  die  aber  tat- 
sächlich  besondere  Seiten  und  Gruppen  dieses  symmetrischen 
Aufbaues  der  Glückseligkeit  bezeichnen.  Die  Berichte  sind 
in  diesem  Punkte  ungenau  und  haben  aus  Unachtsamkeit 
die  in  den  einzelnen  Ausdrücken  liegenden  feinen  Unter- 
schiede verwischt.  Wir  hören  zunächst,  dafs  er  das  Wohl- 
befinden mit  der  Meeresstille  und  dem  Gleich- 
gewichte der  Wogen  verglichen  habe  (D.  L.  IX.  45). 
Offenbar  ist  damit  die  negative  Seite  des  Wohl- 
befindens, die  Freiheit  von  gewaltsamen  und  unnatür- 
lichen imd  daher  schmerzlichen  Erregungen,  bezeichnet. 

Und  zwar  hat  er  dies  Bild  zunächst  auf  körperliche 
Zustände  angewandt.  Töricht  sei  es,  die  in  allerlei  Er- 
regungen und  Schwankungen  der  körperlichen  Zustände  zu 
Tage  tretenden  Vorzeichen  von  Stürmen  im  Körper  un- 
beachtet zu  lassen  und  nicht  auf  Grund  solcher  Anzeichen 
herannahender  Stürme  beizeiten  vorzubeugen  (Br.  23).  Ganz 
offenbar  liegt  hier  die  Vergleichung  der  Gesundheit  mit  der 
Meeresstille  und  der  Krankheit  mit  den  Meeresstürmen  zu 
Grunde. 

In  viel  nachdrücklicherer  Weise  aber  hat  er  die  Meeres- 
stille der  Seele,  die  Freiheit  von  stürmischen  Erregungen 
in  ihr,  als  Bedingung  des  Wohlbefindens  gefordert.  Wenn 
wir  lesen,  dafs  er  die  „Freudigkeit"  vornehmlich  darin  ge- 
fanden habe,  dafs  die  Seele  nicht  von  Furcht  oder  aber- 
gläubischer Götterangst  (Deisidaimonie)  oder  sonstigen  Er- 


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286  Erste  Periode.  Dritter  AbschiL  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

regungen  erschüttert  werde  (D.  L.  IX.  45),  so  erkennen 
wir,  dafs  er  der  seelischen  Meeresstille  einen  ganz  be- 
sonderen Wert  für  die  Glückseligkeit  beigemessen  hat.  Wir 
erkennen  aber  auch,  welches  ihm  die  hauptsächlichsten 
Gegensätze  der  seelischen  Meeresstille  sind.  Zunächst  Furcht 
und  Sorge  überhaupt,  wie  sie  aus  übermäfsiger  Schätzung 
der  äufseren  Güter  entspringen,  dann  vornehmlich  die  Angst 
vor  dem  Walten  der  Götter  in  unserem  diesseitigen  und 
jenseitigen  Schicksal.  „Einige  Menschen,  unkundig  der  Auf- 
lösung der  sterblichen  Natur,  im  Bewufstsein  aber  der  ver- 
übten Missetaten,  bringen  ihre  Lebenszeit  hin  in  jammer- 
voller Erschütterung  und  Angst,  indem  sie  sich  trügerische 
Fabeln  in  bezug  auf  den  Zustand  nach  dem  Tode  ersinnen** 
(Br.  92 ;  vergl.  96).  Auf  das  Gesamtgebiet  der  Ängste  und 
Sorgen  bezieht  sich  der  Ausdruck  „Angst  fr  eiheit**,  der 
geradezu  in  der  Reihe  der  von  Demokrit  zur  Bezeichnung 
des  höchsten  Gutes  angewandten  Ausdrücke  aufgeführt  wird 
(Cic.  Fin.  V.  87 ;  Clem.  AI.  IL  21).  Endlich  alle  möglichen 
anderen  Erregungen.  Hierher  würde  z.  B.  Habsucht,  Hafs, 
Neid,  Ehrgeiz  gehören.  „Der  Habsüchtige  hat  das  Los 
der  Biene;  er  arbeitet,  als  ob  er  ewig  leben  würde" 
(Br.  80). 

Von  hier  aus  erhält  auch  schon  die  Gerechtigkeit  als 
Verhaltungsweise  des  Einzelnen  ihre  Sanktion.  „Der  Buhm 
der  Gerechtigkeit  besteht  in  Zuversicht  und  Angstfreiheit; 
die  Furcht  des  Ungerechten  ist  die  Vollendung  der  Un- 
seligkeit**  (Br.  46).  „Wer  freudig  gerechte  und  gesetzliche 
Taten  vollbringt,  der  ist  im  Wachen  und  im  Schlafe  froh 
und  fühlt  sich  stark  und  ohne  Kümmernis.  Wer  der 
Gerechtigkeit  mifsachtet  und  seine  Pflicht  nicht  tut,  dem 
werden  alle  Freuden  verbittert,  wenn  er  seines  Verhaltens 
gedenkt;  er  macht  sich  selbst  unglücklich"  (Br.  47).  „Der 
Schädigende  ist  unglücklicher  als  der  Geschädigte"  (Br.  48). 

Zur  Meidung  der  wahren  Übel  mufs  aber  die 
Sicherung  der  wahren  Güter  ergänzend  hinzutreten. 
Das  Leben  ist  reich  an  positiv  Beglückendem.  Auch  hier 
läfst  sich  wieder  die  Unterscheidung  zwischen  leiblichen  und 
seelischen  Gütern  erkennen,  so  dafs  sich  nach  der  doppelten 


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5.  Demokrit  (ca.  420).  287 

Zweiteilung:  negativ -positiv,  leiblich -seelisch,  im  ganzen 
eine  Vierteilung  der  Lebensgüter  ergibt. 

Wenn  nämlich  Demokrit  die  Sinnenlust  als  das  Ganze 
des  Lebenszieles  für  völlig  unzulänglich  erachtet,  so  ist  es 
darum  doch  nicht  seine  Meinung,  der  Befriedigung  der 
körperlichen  Bedürfnisse  und  selbst  der  körperlichen 
Lust  den  ihnen  gebührenden  Anteil  an  der  Gesamtsumme 
der  Lebensgüter  zu  versagen.  „Unverstand  ist  es,  dem  zum 
Leben  Notwendigen  nicht  Raum  zu  geben"  (Br.  91). 

Aber  nicht  nur  als  Bedürfnisbefriedigung,  auch  als  Lust 
hat  das  Körperliche  seine  Berechtigung.  „Der  Tor  lebt, 
ohne  sich  des  Lebens  zu  freuen"  (Br.  93).  Er  sehnt  sich 
nach  der  Jugend  zurück  und  freut  sich  doch  nicht  der 
Jugend"  (Br.  94).  Nur  mufs  hier  die  Besonnenheit. regelnd 
und  mäfsigend  eintreten.  „Die  Besonnenheit  vermehrt  das 
Angenehme  und  vergröfsert  die  Lust"  (Br.  56).  „Wenn 
einer  das  Mafs  überschreitet,  so  wird  das  Freudvolle  zum 
Leidvollen"  (Br.  55). 

Weit  über  die  leiblichen  Güter  aber  ragen  an  Wert  die 
seelischen  hervor.  „Wer  die  Güter  der  Seele  erwählt, 
erwählt  das  Göttlichere,  wer  aber  die  des  Leibes  (wörtlich: 
des  Zeltes,  der  Hütte  der  Seele,  ein  bei  Demokrit  öfter 
vorkommender,  bei  ihm  fast  befremdlicher  und  mehr  der 
pythagoreischen  Vorstellungsweise  entsprechender  Ausdruck), 
das  Menschliche"  (Br.  9).  Hier  bietet  sich  erst  recht  eine 
aufserordentliche  Mannigfaltigkeit  von  Gütern  dar.  Ein 
hohes  Gut  ist  die  Freundschaft.  „Wer  auch  nicht 
einen  wackeren  Freund  hat,  dessen  Leben  ist  nicht  lebens- 
wert" (Br.  209).  Zahlreiche  Ratschläge  in  bezug  auf  die 
Wahl  echter  Freunde  und  das  richtige  Verhalten  in  der 
Freundschaft,  sowie  im  Verkehr  mit  Menschen  überhaupt 
schliefsen  sich  hier  an  (Br.  208,  210—230).  Ein  Gut  ist 
femer  ein  geordnetes,  einträchtiges  Staatsleben. 
„Ein  wohlgeleiteter  Staat  ist  der  beste  Zustand.  In  ihm 
ist  alles;  wird  er  erhalten,  so  wird  alles  erhalten;  geht  er 
zu  Grunde,  so  geht  alles  zu  Grunde"  (Br.  134).  „ÖfFent- 
liehe  Not  ist  schwerer  als  die  des  Einzelnen,  denn  es  bleibt 
keine  Hoffnung  auf  Hilfe"  (Br.  135).     „Die  Feindschaft  der 


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288  Erste  Periode.  Dritter  Absclm.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

Volksgenossen  ist  sehr  viel  schlimmer  als  die  der  Fremden" 
(Br.  137).  „Aus  der  Eintracht  entspringen  dem  Staate  die 
grofsen  Taten  und  die  Möglichkeit,  der  Feinde  Herr  zu 
werden;  auf  andere  Weise  nicht"  (Br.  137).  „Das  Gesetz 
ist  der  Wohltäter  des  menschlichen  Lebens"  (Br.  139;  vergl. 
auch  138,  140  ff.).  Er  hat  daher  die  Beschäftigung  mit  der 
Politik  als  der  höchsten  der  Wissenschaften,  die  den  Men- 
schen grofse  und  herrliche  Vorteile  bringe,  aufs  wärmste 
empfohlen  (Plut.  Kolot.  32)  und  selbst  die  Freundschaft  der 
Fürsten  als  vom  höchsten  Vorteil  für  das  menschliche  Leben 
bezeichnet  (Plut.  Non  posse  19). 

Vor  allem  aber  schätzt  Demokrit  unter  den  positiven 
Gütern  der  Seele  das  Denken  und  Erkennen.  Ein  von 
ihm  hochgepriesenes  Gut  ist  die  Bildung  (Br.  183 — 198). 
Im  Preise  der  Seligkeit  des  Naturerkennens  wetteifert 
Demokrit  mit  Anaxagoras.  „Die  grofsen  Freuden  ent- 
springen aus  dem  Anschauen  der  herrlichen  Werke"  (Br.  36). 
Er  soll  öfter  gesagt  haben,  er  wolle  lieber  eine  einzige 
Beweisführung  gefunden  haben  als  den  Besitz  der  per- 
sischen Königswürde  (Eus.  Pr.  ev.  XIV.  27).  Und  Cicero 
berichtet,  Demokrit  habe  in  die  Erforschung  und  Erkenntnis 
der  Natur  geradezu  das  Ganze  der  Glückseligkeit  gesetzt 
und  um  ihretwillen  seine  Habe  verwahrlost  und  vernach- 
lässigt, ja,  wie  ein  abgeschmacktes  Märchen  berichtete,  sich 
der  Augen  beraubt,  um  ungestört  seinen  Gedanken  leben 
zu  können  (Fin.  V.  87),  und  stellt  ihn  in  dieser  Beziehung 
ausdrücklich  mit  Anaxagoras  zusammen  (ib.  115).  Es  wird 
ihm  eine  eigene  Schrift  zugeschrieben  unter  dem  Titel 
Tritogeneia  (eigentlich  „die  am  Flusse  Triton  Geborene", 
Beiname  der  Athene,  von  ihm  aber  wohl  im  Sinne  von 
„Dreiwert"  gebraucht),  in  der  er  nämlich  ausgeführt  haben 
soll,  dafs  aus  der  Verständigkeit  —  deren  Vertreterin  ja 
auch  wieder  Athene  ist  —  dreierlei  Wertvolles  entspringe, 
richtig  zu  überlegen,  das  Gedachte  gut  auszusprechen  und 
es  richtig  in  Tat  umzusetzen  (D.  L.  IX.  46  und  Natorp 
S.  3). 

Es  liefse  sich  noch  manches  Einzelne  beibringen,  aber 
das  Überlieferte  ist  in  manchen  Punkten  zu  unsicher  und 


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5.   Demokrit  (ca.  420).  289 

noch  zu  wenig  verarbeitet.  Auch  wird  das  Angeführte  ge- 
nügen,  um  zu  zeigen,  dafs  Demokrit,  wenn  auch  vielleicht 
noch  nicht  in  systematisch -geschlossener  Form  (Cic.  Fin. 
V.  87  f.),  aber  doch  inhaltlich  eine  wohlgeordnete  Lösung  der 
ßlQckseligkeitsfrage  in  Übereinstimmung  mit  seinen  theore- 
tischen Lehren  gegeben  hat.  Entsprechend  seiner  Natur- 
lehre sucht  er  den  Grund  des  Glückes  nicht  in  der  welt- 
leitenden Macht,  sondern  in  der  gegebenen  Einrichtung  der 
menschlichen  Natur  und  ihrer  Bedürfnisse,  deren  universelle 
Befriedigung  in  richtiger  Abstufung  der  Werte  ihm  das 
Glück  bedeutet.  Entsprechend  den  Unterschieden  der  beiden 
Erkenntnisarten,  der  körperlichen  und  der  seelischen, 
richtet  er  Wertunterschiede  zwischen  den  Gütern  des  Körpers 
und  denen  der  Seele  auf. 

Es  zeugt  von  völliger  Unkenntnis  und  Verkennung,  wenn 
Cicero  (Fin.  V.  23)  einem  griechischen  Vorgänger  —  übrigens 
in  vollem  Widerspruch  mit  seinen  eigenen  Angaben  an  der 
soeben  angeführten  Stelle  —  das  Urteil  nachschreibt,  Demokrit 
gebe  wohl  an,  worin  die  Glückseligkeit  bestehe,  aber  nicht, 
woraus  (d.  h.  durch  welche  Güter)  sie  uns  zu  teil  werde.  Ein 
verkehrteres  Urteil  über  Demokrit,  den  bedeutendsten  Vor- 
läufer der  axiologischen  Ethik,  der  im  Punkte  der  Bezeichnung 
der  Lust  als  des  eigentlichsten  Lebenswertes  geradezu  bahn- 
brechend und  endgültig  vorbildlich  ist,  wenn  er  auch  das 
wahre  Prinzip  für  die  Wertunterschiede  der  Lustgefühle 
noch  nicht  gefunden  hat,  konnte  wohl  kaum  gefällt  werden. 
Noch  sei  hier  eine  sinnige  Erzählung  wiedergegeben, 
die  Kaiser  Julian  der  Abtrünnige  (Brief  37)  an  De- 
mokrit anknüpft.  Der  König  Darius  hat  die  schönste  seiner 
Frauen  durch  den  Tod  verloren  und  ist  untröstlich.  Demo- 
krit erbietet  sich,  die  Gestorbene  ins  Leben  zurückzurufen, 
wenn  der  König  ihm  das  dazu  Erforderliche  beschaffen  wolle. 
Hier  liegt  nun  freilich,  wenn  wir  an  den  durch  den  Beginn 
der  Kriege  gegen  Griechenland  bekannten  Darius  L  (521  bis 
485)  denken,  ein  den  Eindruck  der  Anekdote  von  vornherein 
vernichtender  Anachronismus  vor.  Aber  es  gab  auch  noch 
einen  Darius  IL  Nothos,  der  von  429—5  regierte,  also  ein 
genauer  Zeitgenosse  Demokrits  war.    Als  das  unentbehrliche 

Döring.  I.  19 


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290  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

Hilfsmittel  zur  Erweckung  der  toten  Königin  nun  fordert 
Demokrit,  dafs  an  ihr  Grabmal  die  Namen  dreier  Menschen 
angeschrieben  würden,  die  nie  in  ihrem  Leben  ein  Leid  er- 
fahren hätten.  Der  König  schickt  seine  Leute  auf  die 
Suche  nach  den  drei  ungetrübt  Glücklichen,  aber  sie  werden 
nicht  gefunden.  Da  lacht  Demokrit  nach  seiner  Gewohnheit 
und  schilt  den  König  einen  Toren,  dafs  er  in  seinem  mafs- 
losen  Schmerze  verlange,  allein  vom  allgemeinen  Mfenschen- 
lose  eine  Ausnahme  bilden  zu  wollen.  — 

Wie  die  gewaltige  Geistesarbeit  dieses  Geistesriesen  auf 
die  Nachwelt  weitergewirkt  hat,  läfst  sich  für  uns  nur  noch 
teilweise  nachweisen.  Manches  die  antike  Entwicklung  An- 
gehende kann  erst  an  weit  späterer  Stelle  zur  Sprache 
kommen.  Dafs  Demokrit  in  erster  Linie  bei  der  Entwick- 
lung der  modernen  Naturwissenschaft  durch  Galilei  und 
seine  Zeitgenossen  Gevatter  gestanden  hat,  ist  eine  un- 
zweifelhafte Tatsache.  Für  jetzt  haben  wir  nur  noch  in 
Kürze  das  Notwendigste  über  seine  unmittelbare  Schule  in 
Abdera  beizubringen. 

6.  Die  Solitae  Demokrits  in  Abdera  (oa.  400 
bis  gegen  300). 

Wie  die  Schule  Demokrits  in  Abdera  organisiert  war, 
darüber  erfahren  wir  gar  nichts;  dafs  in  ihr  die  ganze 
Mannigfaltigkeit  der  von  ihm  behandelten  Wissenschaften 
weitergepflegt  wurde,  läfst  sich  nach  vereinzelten  Nach- 
richten wohl  annehmen.  Besonders  aber  wurde  der  von  ihm 
betonte  Zweifel  an  der  Möglichkeit  einer  sicheren  Erkenntnis 
schärfer  ausgebildet,  und  ferner  wandten  sich,  wie  es  scheint, 
die  meisten  seiner  Anhänger  überwiegend  der  Glückselig- 
keitsfrage zu  und  entwickelten  hier  mancherlei  Nuancierungen 
der  Lehre  des  Meisters.  Vielleicht  hängt  dies  Überwiegen 
des  praktischen  Interesses  teilweise  gerade  mit  dem  Zweifel 
an  der  Möglichkeit  sicheren  Erkennens  auf  dem  Gebiete 
des  Seienden  zusammen. 

Der  bedeutendste  unter  den  Nachfolgern  Demokrits  war 
MetrodorvonChios.    Er  wird  bald  für  einen  unmittel- 


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6.  Die  Schule  Demokrits  in  Abdera  (ca.  400  bis  gegen  300).  291 

baren  Schüler  Demokrits  ausgegeben,  bald  für  den  Schüler 
eines  der  Schüler  desselben  (D.  L.  IX.  56;  Z.  460,  3).  Da 
Demokrit  wahrscheinlich  bis  gegen  370  gelebt  hat,  und  da 
Nausiphanes  von  Teos,  der  Schüler  Metrodors,  allem 
Anschein  nach  um  oder  bald  nach  330  sich  in  Abdera  die 
atomistische  Lehre  aneignete,  so  ist  es  durchaus  nicht  un* 
wahrscheinlich,  dafs  Metrodor  noch  Demokrit  selbst  zum 
Lehrer  gehabt  hat. 

Dafs  Metrodor  in  bezug  auf  die  naturwissenschaftlichen 
Grundprinzipien  Demokrit  folgte,  in  der  Einzelforschung 
aber  seine  eigenen  Wege  ging,  ist  nach  dem  Zeugnis  Theo- 
phrasts  (D.  484)  nicht  zu  bezweifeln.  Manche  seiner  be- 
sonderen Ansichten  über  naturwissenschaftliche  Einzelfragen 
werden  angeführt  (D.  345  flf.,  365  flF.,  582) ,  haben  aber  kein 
allgemeineres  Interesse.  Für  das  Dasein  unendlich  vieler 
Welten  berief  er  sich  auf  die  Unendlichkeit  des  Weltstoffes 
und  meinte,  eine  einzige  Welt  im  unendlichen  Leeren  würde 
ebenso  lächerlich  sein  wie  eine  einzige  Ähre  auf  einem 
grofsen  Felde  (D.  292).  Im  Zweifel  an  dem  menschlichen 
Erkenntnisvermögen  ging  er  weit  über  Demokrit  hinaus. 
Nicht  nur  erklärte  er  ohne  Einschränkung  die  Sinne  für 
trügerisch  und  „umnachtet"  (D.  396;  Cic.  Ac.  II.  73;  Z. 
963,  1),  er  leugnete  überhaupt  das  Vorhandensein  eines 
Erkenntnismittels  und  verstieg  sich  bis  zu  dem  Satze,  wir 
wüfsten  nicht  einmal  das,  dafs  wir  nichts  wüfsten  (S.  Emp. 
Dogm.  L  48,  88;  D.  L.  IX.  5*8).  Vollständiger  führt  diesen 
Ausspruch  Cicero  als  Anfang  seiner  Schrift  „Über  die 
Natur"  in  folgender  Fassung  an  (Ac.  II.  73):  „Ich  leugne, 
dafs  wir  wissen,  ob  wir  etwas  oder  nichts  wissen.  Ich  be- 
haupte, dafs  wir  nicht  einmal  wissen,  ob  wir  eben  das 
(unser  Wissen  oder  Nichtwissen)  nicht  wissen  oder  wissen, 
und  überhaupt  (dafs  wir  nicht  wissen),  ob  etwas  sei  oder 
nichts  sei.*  In  dieser  Behauptung  des  Nichtwissens  auch 
hinsichtlich  unseres  Wissens  oder  Nichtwissens  liegt  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  später  zu  behandelnden  Pyr- 
rhonismus,  aber  doch  auch  zugleich  wieder  ein  bedeut- 
samer Unterschied  vom  Pyrrhonismus,  der  auch  hinsichtlich 
dieser  Frage  bei  der  ürteilsenthaltung  stehen  blieb.    Der 

19* 


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292  Erste  Periode.  Dritter  Abscliii.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

Standpunkt  Metrodors  ist  nicht  der  der  pyrrhonischen 
Skepsis,  sondern  negativer  Dogmatismus.  Trotz  dieser  radi- 
kalen Leugnung  der  Möglichkeit  des  Wissens  aber  mufs  er 
doch  eine  Form  gefunden  haben,  in  der  er  positive  Lehren 
vortrug,  denn  er  hat  offenbar  sein  Buch  „Über  die  Natur" 
nach  diesem  kraftvollen  Anfangssatz  nicht  abgebrochen,  son- 
dern weitergeschrieben,  und  die  erhaltenen  Reste  zeigen, 
dafs  er  ein  umfassendes  naturwissenschaftliches  Lehrgebäude 
aufgeführt  hat. 

Ob  Metrodor  auch  in  der  Axiologie  und  Ethik  den  Spuren 
des  Meisters  gefolgt  ist,  darüber  fehlt  es  gänzlich  an  Nach- 
richten. Dagegen  ist  von  fünf  anderen  Demokriteern  teils 
ausschliefslich ,  teils  neben  einigen  sonstigen  Notizen  ihre 
Bezeichnung  des  höchsten  Gutes  überliefert. 

Da  ist  zunächst  Anaxarchos  der  Abderite,  Schüler 
Metrodors  oder  eines  anderen  Demokriteers ,  geboren  bald 
nach  380  (D.  L.  IX.  58)  zu  nennen.  Er  ist  schon  wegen 
des  bestimmenden  Einflusses,  den  er  auf  Pyrrhon,  den 
Begründer  der  skeptischen  Schule,  übte,  aber  auch  an  sich 
als  Persönlichkeit  von  besonderer  Bedeutung.  Ob  er  ein 
geborener  Abderite  war  oder  nur  als  Anhänger  der  Schule 
diesen  Namen  führt,  ist  nicht  auszumachen. 

Von  seinem  äufseren  Lebensgange  ist  nur  bekannt,  dafs 
er  den  Zug  Alexanders  des  Grofsen  (seit  334)  mitmachte 
und  bald  nach  Alexanders  Tode  (323)  ein  schreckliches  Ende 
fand.  In  welcher  Eigenschaft  er  sich  am  Alexanderzuge 
beteiligte,  ist  nicht  bekannt,  doch  scheint  es,  dafs  er  weder 
als  forschender  Gelehrter  noch  als  Soldat  sich  anschlofs, 
sondern  als  Hofmann  und  Gesellschafter  in  freierer  Stellung 
dem  Gefolge  des  Königs  angehörte.  Über  seinen  Tod 
nachher. 

Über  seine  philosophischen  Ansichten  im  einzelnen  ist 
nur  wenig  bekannt.  Nach  einer  sehr  kindlichen  Anekdote 
(Plut.  Euthym.  4)  hat  er  einst  dem  König  die  Lehre  von 
der  unendlichen  Zahl  der  Welten  auseinandergesetzt,  worauf 
dieser  zu  weinen  anfängt,  weil  er  noch  nicht  einmal  eine 
einzige  dieser  Welten  unter  seine  Herrschaft  gebracht  habe. 
Hier  wird  die  Glaubwürdigkeit  der  ganzen  Erzählung  durch 


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6.   Die  Schale  Demokrits  in  Abdera  (ca.  400  bis  gegen  800).    293 

die  Lächerlichkeit  des  erhaben  sein  sollenden  Verhaltens  des 
Königs  beeinträchtigt.  Immerhin  aber  wird  der  Demokri- 
tismns  als  Überzeugung  Anaxarchs  vorausgesetzt.  Aufser- 
dem  wird  bezeugt,  dafs  er  die  skeptische  Haltung  Metrodors 
teilte,  und  dafs  er  ihr  eine  Wendung  gab,  die  zu  einer  un- 
mittelbaren Anwendung  auf  die  Lebensführung  hindrängte. 
Er  erklärte  nämlich,  das  Leben  sei  nichts  als  ein  Bühnen- 
spiel, ein  Traum  oder  die  Wahnvorstellung  eines  Irrsinnigen 
(S.  Emp.  Dogm.  I.  88,  48). 

Dafs  er  trotzdem  darauf  bedacht  war,  als  echter  Demo- 
kriteer  das  Leben  möglichst  unlustfrei  und  lustvoll  zu  ge- 
stalten, beweist  der  ihm  ständig  erteilte  Beiname  des 
Eudaimonikers  (D.  L.  IX.  60;  Z.  964,  3).  Es  gab  nämlich 
unter  den  Demokriteem  eine  Richtung  unter  diesem  Namen 
{D.  L.  I.  17;  Z.  a.  a.  0.).  Es  werden  das  wohl  diejenigen 
Demokriteer  gewesen  sein,  die  weniger  in  der  gelehrten 
Forschung  als  in  der  praktischen  Lebensweisheit  dem  Meister 
nacheiferten  und  von  einer  bestimmten  Überzeugung  über 
die  wertvollsten  Lebensgüter  aus  die  Glückseligkeit  zu  ver- 
wirklichen strebten.  Innerhalb  dieser  Gruppe  waren  natür- 
lich wieder  verschiedene  Ansichten  über  das  am  meisten 
zu  Erstrebende  möglich.  Wir  werden  unter  den  noch  zu 
nennenden  Demokriteem,  die  vielleicht  sämtlich  Eudaimoniker 
waren,  Beispiele  solcher  Verschiedenheit  kennen  lernen. 
Anaxarch  seinerseits  setzte  das  entscheidende  Hilfsmittel  zu 
einer  glückseligen  Lebensführung  in  eine  vollständige  Un- 
angefochtenheit des  Gefühls  durch  die  Wechselfälle  des 
Lebens  (Apathie)  und  in  die  daraus  entspringende  gleich- 
mfifsige  Heiterkeit  der  Stimmung  (D.  L.  IX.  60).  Diese 
ihm  eigene  Lösung  des  Glückseligkeitsproblems  entspringt 
nun  offenbar  ganz  folgerichtig  aus  der  Grundanschauung 
von  der  Unerkennbarkeit  des  Grundwesens  der  Dinge  und 
von  der  blofsen  Scheinhaftigkeit  alles  dessen,  was  uns  im 
Leben  aufstöfst.  Aus  dieser  Grundanschauung  entspringt 
die  Besonderheit  der  Richtung,  die  er  unter  den  Eudaimo- 
nikem  vertritt. 

Wie  er  nun  diese  Lebensauffassung  in  seiner  Lebens- 
führung zur  Durchführung  brachte,    davon  sind   nur  ver- 


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294  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt. 

einzelte  Züge  erhalten,  die  überdies  meist  aus  in  mehrfacher 
Fassung  überlieferten  Anekdoten  bestehen,  aus  denen  nur 
zu  entnehmen  ist,  wie  er  im  Gedächtnis  der  Nachwelt  fort- 
lebte. Eine  besondere  Trübung  scheint  dies  Bild  teilweise 
auch  noch  dadurch  erhalten  zu  haben,  dafs  er,  weil  von 
Alexander  dem  Neffen  des  Aristoteles,  Eallisthenes, 
vorgezogen,  bei  den  Peripatetikem  verhafst  war. 

In  diesem  Sinne  ist  vielleicht  die  Beschuldigung  zu 
nehmen,  dafs  er  seiner  zur  Sinnenlust  und  Genufssucht 
neigenden  Naturanlage  nicht  widerstrebt  habe  (Timon  Phl. 
Fr.  9;  Z.  965,  5),  wenngleich  ein  solches  Verhalten  an  sich 
mit  dem  Grundsatz  der  vollkommenen  Gleichgültigkeit  gegen 
die  Wechselfälle  des  Lebens  nicht  in  Widerspruch  steht. 
In  demselben  Sinne  liegt  möglicherweise  auch  eine  Ent- 
stellung vor,  wenn  ihm  in  einem  bedeutsamen  Falle  ein 
verderblicher  Einflufs  auf  die  Entwicklung  Alexanders  durch 
zu  nachsichtige,  ja  geradezu  frivol -schmeichlerische  Be- 
urteilung seines  Verhaltens  schuld  gegeben  wird.  Als 
Alexander  im  Jähzorn  seinen  Freund  Klitus  erschlagen  hat 
und  in  höchste  Verzweiflung  geraten  ist,  tröstet  ihn  Anaxarch 
in  folgender  Weise:  „Dike  und  Themis  sind  die  Beisitze- 
rinnen am  Throne  des  Zeus.  Das  bedeutet,  dafs  alles,  was 
Zeus  tut,  recht  und  gerecht  ist.  Dasselbe  mufs  aber  auch 
von  dem  irdischen  Herrscher  gelten  (Arrian.  Anab.  IV.  9; 
Plut.  Alex.  52)."  Dafs  die  Berichterstatter  hier  aus  einer 
dem  Anaxarch  mifsgünstigen  Quelle  geschöpft  haben,  geht 
schon  daraus  'hervor*,  dafs  beide  übereinstimmend  hinzu- 
fügen, diese  Tröstung  habe  auf  den  Charakter  des  Königs 
eine  dauernd  verderbliche  Wirkung  geübt.  Aber  auch  die 
Richtigkeit  der  Erzählung  vorausgesetzt  mufs  bei  der  Be- 
urteilung zweierlei  unterschieden  werden:  der  moralische 
Wert  und  die  sittliche  Wirkung  der  Tröstung  einerseits  und 
die  Frage  andererseits,  ob  das  Verhalten  Anaxarchs  blofse 
gesinnungslose  Schmeichelei  war,  oder  ob  es  folgerichtig  aus 
seiner  Lebensauffassung  hervorging.  In  ersterer  Beziehung 
kann  über  die  Verwerflichkeit  kein  Zweifel  sein.  In  letzterer 
aber  kann  ein  solches  Verhalten  sehr  wohl  als  Ausflufs  jener 
skeptischen  Betrachtungsweise  des  Lebens  und  der  Wirklich- 


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6.  Die  Schule  Demokrita  in  Abdera  (ca.  400  bis  gegen  800).     295 

keit  angesehen  werden,  die  das  Leben  als  ein  Spiel  nimmt, 
mit  dem  man  sich  so  gut  wie  möglich  abfinden  mufs.  Das 
Geschehene  ist  nicht  ungeschehen  zu  machen,  also  mufs 
man  auf  diese  oder  jene  Weise  darüber  hinwegzukommen 
suchen.  Dafs  aus  der  Lebensauffassung  Anaxarchs  sich 
kein  sittliches  Heldentum  ergibt,  ist  leicht  zu  ersehen ;  aber 
zwischen  folgerichtigem  Verhalten  und  Gesinnungslosigkeit 
ist  immer  noch  eine  recht  weite  Kluft. 

Eine  Bestätigung  dieser  Auffassung  liegt  darin,  dafs 
der  eine  der  beiden  Geschichtschreiber,  die  obige  Erzählung 
bringen,  Plutarch,  gerade  im  Zusammenhange  derselben 
hervorhebt,  dafs  Anaxarch  in  der  Philosophie  seinen  eigenen 
Weg  gegangen  sei  und  auf  die  Vertreter  der  anderen  Rich- 
tungen mit  Geringschätzung  hinabgesehen  habe.  Er  be- 
schuldigt ihn  also  keineswegs  der  Gesinnungslosigkeit,  son- 
dern sucht  den  Fehler  in  den  Prinzipien  seiner  Denkweise. 
Allerdings  war  der  Schein  gegen  ihn,  und  so  mufs  er  sich 
(nach  Antigenes  von  Knystos,  einem  zuverlässigen 
Berichterstatter,  D.  L.  IX.  63)  einst  von  einem  jener 
„nackten  Weisen"  (Gymnosophisten)  Indiens  die  Zurecht- 
weisung gefallen  lassen,  er  sei  nicht  befähigt,  andere  etwas 
Gutes  zu  lehren,  da  er  selbst  das  Leben  eines  Höflings 
führe. 

Dafs  er  im  übrigen  in  seinem  Verhältnis  zu  Alexander 
sich  zwar  klug  und  gewandt,  aber  keineswegs  gesinnungslos 
benahm,  dafür  zeugen  folgende  Züge.  Er  stand  bei  Alexander 
in  besonderer  Gunst  und  wurde  von  ihm  als  Freund  be- 
handelt (Plut  Alex.  8;  Alex.  virt.  10;  Bernays,  Abh.  I. 
126).  Er  hatte  eine  Schrift  „Über  das  Königtum"  verfafst 
(Clem.  AI.  Strom.  I.  6),  die  offenbar  für  Alexander  bestimmt 
war.  Über  die  Gesamtrichtung  dieser  Schrift  ist  nichts 
bekannt,  doch  ist  daraus  (a.  a.  0.)  ein  Fragment  erhalten, 
aus  dem  sich  ergibt,  dafs  er  darin  auch  von  dem  richtigen 
Verhalten  gegenüber  den  Grofsen  der  Erde  gehandelt  hatte. 
Das  Auskramen  von  Gelehrsamkeit  zur  Unzeit,  am  unrechten 
Orte  und  vor  ungeeigneten  Hörern  wird  hier  als  eine  dem 
Redenden  selbst  schädliche  Torheit,  das  richtige  Verhalten 
in  dieser  Beziehung  aber  als  eine  ihm  selbst  heilsame  Kunst 


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296  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoff  u.  bewegendes  Prinzip  f^etrennt 

bezeichnet  (Bernays ,  Abh.  I.  123  flF.).  Wir  erkennen  hier 
den  Mann  von  Wissen,  von  dem  gelegentlich  Mitteilungen 
aus  dem  Schatze  seiner  Gelehrsamkeit  zur  Würze  des  Mahles 
oder  müfsiger  Stunden  am  Hofe  und  im  Lager  erwartet 
werden,  der  aber  genau  weifs,  in  welcher  Form  und  in 
welchem  Mafse  er  diese  zu  bringen  hat,  um  nicht  als 
Pedant  lästig  zu  werden. 

Aber  er  ist  nicht  nur  der  kluge  Hofmann,  er  weifs 
auch  seine  persönliche  Würde  und  die  Unabhängigkeit  seiner 
Überzeugung  zu  wahren.  Die  Voraussetzung  zum  Ver- 
ständnis der  hierher  gehör]  gen  Züge  ist,  dafs  Alexander  als 
Gott  gelten  wollte  und  sich  als  Gott  behandeln  liefs. 

So  ^irft  Alexander  einst  beim  Mahle  in  übermütiger 
Laune  mit  Äpfeln  nach  ihm.  In  Anaxarch  regt  sich  der 
Unmut,  aber  er  fafst  sich  schnell  und  trinkt  dem  König  mit 
folgendem  Zitat  aus  einer  euripideischen  Tragödie  (Orestes 
265)  zu :  „Darf  auch  ein  Gott  von  sterblicher  Hand  getroffen 
werden?"  (So  nach  dem  ältesten  und  besten  Berichterstatter 
Philodem  in  Vol.  Herc.  coli.  alt.  c.  5.)  Der  Sinn  ist  wohl 
eine  feine  Hindeutung  auf  das  Unpassende  solcher  Vertrau- 
lichkeiten, die  er  in  seiner  Stellung  doch  nicht  erwidern 
dürfe.  Einen  direkten  Spott  über  die  Göttlichkeit  des 
Königs  bei  Gelegenheiten,  wo  die  schwache  Menschlichkeit 
unverhüllt  zu  Tage  tritt  (Krankheit,  Verwundung),  legt  ihm 
eine  Anekdote  bei,  die  in  verschiedenen  Abwandlungen  vor- 
kommt. Die  geschickteste  Zuspitzung  zeigt  sie  in  folgender 
Form :  Alexander  ist  verwundet  worden.  Da  sagt  Anaxarch, 
auf  das  herabrinnende  Blut  deutend:  das  ist  Menschenblut, 
nicht  Götterblut  (Anspielung  auf  Ilias  V.  340,  wo  ein  be- 
sonderes Wort  für  das  Blut  der  Götter  gebraucht  wird; 
D.  L.  IX.  60;  vergl.  Z.  965,  3). 

Ein  direktes  Hervortreten  der  gleichgültigen  Stimmung, 
in  die  Anaxarch  die  Lösung  des  Glückseligkeitsproblems 
setzte,  zeigen  folgende  Züge.  Er  ist  auf  dem  Alexander- 
zuge in  einen  Sumpf  geraten*  Der  junge  Pyrrhon,  der 
sich  als  hingebender  Schüler  an  ihn  angeschlossen  hat, 
macht  nicht  die  geringste  Anstalt,  ihn  aus  dieser  gefähr- 
lichen Lage   zu  befreien.     Andere  Hinzukommende   tadeln 


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6.   Die  Schale  Demokrits  in  Abdera  (ca.  400  bis  gegen  800).    297 

diesen,  Anaxarch  aber  lobt  ihn  wegen  der  bewiesenen  Gleich- 
gQltigkeit  und  Leidenschaftslosigkeit  (D.  L.  IX.  63). 

Diese  Gleichgültigkeit  beweist  er  denn  auch  selbst  in 
seinem  vielgepriesetien  Verhalten  in  seinem  schrecklichen 
Tode.  Er  ist  verfeindet  mit  einem  der  Begleiter  Alexanders, 
namens  Nikokreon.  Ein  Fall,  bei  dem  er  angeblich  diese 
Feindschaft  in  besonders  schroffer  Weise  habe  hervortreten 
lassen,  indem  er  bei  einem  Prunkmahle  zur  Vervollständigung 
der  Herrlichkeit  desselben  das  Auftragen  eines  Satrapen- 
kopfes gewünscht  habe,  wird  so  verschieden  erzählt  und 
entspricht  auch  so  wenig  seiner  sonst  zu  Tage  tretenden  Art, 
dafs  darauf  wenig  zu  geben  ist  (Gomperz,  Commentat.  in 
hon.  Mommsenii  1893).  Als  er  dann  nach  dem  Tode  des 
Königs  (323)  zu  Schiffe  in  die  Heimat  zurückkehrt,  wird  er 
an  die  Küste  von  Cypern  verschlagen,  wo  inzwischen  Niko- 
kreon Statthalter  geworden  ist  und  gerät  in  dessen  Hände. 
Nikokreon  befiehlt,  ihn  in  einem  jener  grofsen  Mörser,  die 
zum  Zerkleinem  des  Getreides  dienten,  mit  eisernen  Keulen 
zu  zerstampfen.  Hierauf  sagt  Anaxarch:  „Zerstampfe  den 
Sack,  in  dem  Anaxarch  steckt,  den  Anaxarch  triffst  du 
nicht!*  Und  als  jener  nunmehr  befiehlt,  ihm  die  Zunge 
auszuschneiden,  beifst  er  die  Zunge  ab  und  speit  sie  dem 
Satrapen  ins  Gesicht  (D.  L.  IX.  59  f.).  Hier  ist  die  erste 
Antwort  als  Äufserung  der  vollsten  Gleichgültigkeit  gegen 
das  eigene  (Jeschick  noch  allenfalls  begreiflich;  die  zweite 
Handlung  aber  steht  dazu  als  Ausflufs  einer  leidenschaft- 
liehen Exaltation  in  fühlbarem  Gegensatz  und  charakterisiert 
sieh  als  Erzeugnis  der  weiterspinnenden  Dichtung,  zumal 
auch  von  Pythagoreem  und  vom  Eleaten  Zeno  das  Gleiche 
berichtet  wird. 

Von  einigen  anderen  Demokriteern  erfahren  wir  fast 
nur  die  Weise,  in  der  sie,  mehr  oder  minder  selbständig 
und  abweichend  von  Demokrit,  das  Lebensziel  bestimmt 
hätten  (Clem.  AI.  Strom.  II.  21).  Nicht  einmal  die  Lebens- 
zeit wird  bei  den  meisten  angegeben,  doch  werden  sie  sämt- 
lieh  dem  vierten  Jahrhundert  angehören. 

D  i  0 1  i  m  0  8  ist  bereits  dafür  als  Zeuge  angeführt  worden, 
dafs   Demokrit  in  seinem   „Kanon"   Lust  und  Unlust  als 


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298  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffa.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

Wertmarsstab  aufgestellt  habe  (S.  Emp.  Dogm.  I.  140). 
Nach  derselben  Stelle  bekannte  er  sich  auch  selbst  zu  diesem 
Wertmafsstab,  und  dazu  stimmt  denn  genau,  dars  er  (nach 
Clemens),  ebenso  wie  Demokrit,  das  „Wohlbefinden"  in  den 
„Vollbesitz  der  Güter"  gesetzt  habe,  wobei  freilich  die  Frage 
offen  bleibt,  ob  er  auch  die  feine  Wertgliederung  der  GQter, 
die  wir  bei  Demokrit  angetroffen  haben,  von  diesem  mit- 
übernommen hatte.  Aurser  diesen  Nachrichten  ist  über  ihn 
nur  eine  unbedeutende  Angabe  über  astronomische  Ansichten 
vorhanden  (D.  346). 

Apollodotus  von  Eyzikos  ist  bereits  mit  einer 
wichtigen  Angabe  zum  Bildungsgange  Demokrits  vorge- 
kommen (D.  L.  IX.  38).  Als  Lebensziel  stellte  er  auf  „das 
die  Seele  Erregende"  (die  Psychogogie) ,  d.  h,  doch  wohl 
das  Interessierende,  das  nicht  sinnlich,  sondern  seelisch 
Fesselnde,  die  Aufmerksamkeit  in  lustvoller  Weise  in  An- 
spruch Nehmende.  Damit  hätte  er  dann  freilich  im  Ver- 
gleich mit  Demokrit  das  Wertvolle  auf  eine  der  von 
diesem  angenommenen  vier  Gütergruppen,  allerdings  auf 
die  auch  von  Demokrit  selbst  am  stärksten  betonte,  ein- 
geschränkt. 

Der  dritte  dieser  Männer,  Hekatäus,  stammte  nach 
dem  Zeugnis  des  Geographen  Strabo  (XIV.  644)  aus  der 
kleinasiatisch-jonischen  Stadt  Teos.  Wenn  er  aufserdem  ein 
Abderite  genannt  wird  (Plut.  Is.  et  Os.  354;  D.  L.  IX.  69), 
so  haben  wir  darin  nur  ein  weiteres  Zeugnis  für  seine  auch 
von  Clemens  bezeugte  Zugehörigkeit  zur  Schule  Demokrits 
zu  erkennen.  Dafs  er  als  Teer  zu  seiner  Ausbildung  nach 
Abdera  ging,  beruht,  wie  bei  seinem  sogleich  zu  nennenden 
Landsmanne  Nausiphanes,  ohne  Zweifel  auf  den  noch  nicht 
erloschenen  Beziehungen  zwischen  der  Mutterstadt  Teos  und 
der  Tochterstadt  Abdera  (Herod.  I.  168).  Auch  darin 
stimmte  er  mit  Nausiphanes  überein,  dafs  er  auch  den  etwa 
seit  323  in  seine  Vaterstadt  Elis  zurückgekehrten  Pyrrhon 
aufsuchte,  so  dafs  er  geradezu  als  Pyrrhoneer  bezeichnet 
wird  (D.  L.  IX.  69).  Dies  wird  aber  bei  ihm  wohl  nur  in 
dem  gleichen  eingeschränkten  Sinne  zutreffen   wie  bei  Nau- 


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6.    Die  Schule  Demokrits  in  Abdera  (ca.  400  bis  gegen  300>    299 

siphanes.  Als  Lebensziel  stellte  er  die  Selbstgenügsamkeit 
(Autarkie),  d.  h.  die  möglichste  Freiheit  von  Bedürfnissen 
und  LebensansprOchen ,  auf.  Er  entfernt  sich  damit  am 
weitesten  von  der  vielseitig  ausgebildeten  Güterlehre  Demo- 
krits. Vielleicht  fand  er  es  klug,  die  Ansprüche  ans  Leben 
möglichst  einzuschränken;  hätte  er  in  dieser  Freiheit  selbst 
geradezu  das  erstrebenswerteste  Gut  gefunden,  so  wäre  er 
damit  geradezu  zum  Eynismus  (von  dem  später)  hinüber- 
getreten. Mit  seinem  ethischen  Prinzip  der  Genügsamkeit 
steht  es  in  Einklang,  dafs  er  in  mehreren  in  der  Weise  der 
Staatsromane  gehaltenen  Schriften,  einer  tendenziös  gefärbten 
Geschichte  Ägyptens  und  einer  Schi-ift  „Über  die  Hyper- 
boreer", das  sagenhafte  glückselige  Volk  im  hohen  Norden, 
seinen  Zeitgenossen  einen  Spiegel  vorzuhalten  bemüht  war. 
In  der  ersteren  dieser  beiden  Schriften  hatte  er  auch  eine 
XJmdeutung  der  Hauptgötter  auf  die  Elemente  vorgenommen 
(Susemihl,  Alexandrinerzeit  L  310). 

Der  vierte  dieser  Männer  ist  N  a  u  s  i  p  h  a  n  e  s.  Er  nimmt 
ein  besonderes  Interesse  in  Anspruch,  einesteils  weil  über 
ihn  mehr  bekannt  ist,  sodann  aber  vornehmlich,  weil  er  das 
Mittelglied  zwischen  der  Schule  Demokrits  und  Epikur 
bildet.  Wie  Hekatäus  stammte  er  aus  Teos  (D.  L.  IX. 
69),  und  sein  Bildungsgang  ist  der  gleiche  wie  bei  diesem. 
Dafs  er  sich  zunächst  an  die  Schule  in  Abdera  anschlofs, 
folgt  schon  daraus,  dafs  er  „Abderit^  und  Demokriteer  ge- 
nannt wird  (Clem.  AI.  Strom.  IL  21;  Cic.  N.  D.  L  72; 
Suid.  V.  Epic).  Dafs  er  vielleicht  Schüler  Metrodors  war, 
wird  dadurch  wahrscheinlich,  dafs  auch  Metrodor  als  Lehrer 
Epikurs  genannt  wird  (Stob.  I.  199),  welcher  Irrtum  sich 
bei  dieser  Annahme  am  leichtesten  erklärt.  Auch  wird  von 
ihm  der  an  Metrodor  anklingende  Ausspruch  angeführt,  dafs 
das  Erscheinende  ebensowenig  sei,  wie  nicht  sei  (Senec.  ep. 
88).  Wie  Hekatäus  begab  er  sich  dann  nach  Elis  zu 
Pyrrhon  (D.  L.  IX.  64,  69,  102).  Da  er  zur  Zeit  seiner 
Anwesenheit  bei  diesem,  die  nicht  vor  323  stattgefunden 
haben  kann,  als  noch  junger  Mann  bezeichnet  wird  (D.  L. 
64),  80  kann  er  frühestens  um  350  geboren  sein.    Er  nahm 


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300  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoflf  u.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

jedoch  die  Lehre  Pyrrhons  nicht  an,  sondern  betrachtete 
nur  die  Seelenstimmung  und  den  Wandel  derselben  als  vor- 
bildlich, wovon  er  auch  dem  jungen  Epikur  häufig  erzählen 
mufste  (D.  L.  64).  Vielleicht  hat  er  auch  in  diesem  Sinne 
über  Pyrrhon  geschrieben  (D.  L.  102).  Da  nun  Epikur  sein 
Schüler  war  und  dieser  seine  Ausbildung  etwa  von  321  an 
in  Teos  genossen  hat  (Strabo  XIV.  638;  Zeitschr.  f.  Philos. 
119),  so  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dafs  er  bereits  um  diese 
Zeit  eine  Lehrtätigkeit  in  dieser  seiner  Heimatstadt  er- 
«fiiiet  hatte.  Wie  lange  diese  nach  diesem  Zeitpunkt  noch 
gedauert  hat,  wie  lange  er  überhaupt  gelebt  hat,  ist  nicht 
bekannt.  Epikur  stiefs  später  die  gröbsten  Schmähungen 
über  seinen  Charakter  und  Lebenswandel  wie  über  seine 
Fähigkeiten  und  Lehrtätigkeit  aus  (S.  Emp.  Math.  I.  2; 
D.  L.  X.  8).  Er  nannte  ihn  einen  schlechten,  unzüchtigen 
Menschen,  ein  MoUusk,  einen  Betrüger,  einen  unwissenden 
und  unfähigen  Lehrer  und  bezeichnete  es  als  eine  Geistes- 
verwirrung und  Lästerung,  dafs  Nausiphanes  es  wage,  sich 
seinen  Lehrer  zu  nennen.  Nach  Cicero  (N.  D.  I.  73,  93) 
hätte  er  zwar  das  äufsere  Schülerverhältnis  nicht  ab- 
geleugnet, aber  erklärt,  er  habe  bei  Nausiphanes  nichts 
gelernt.  Demgegenüber  bezeugt  SextusEmpiricus  an 
der  angeführten  Stelle,  dieser  habe  viele  junge  Leute  sorg- 
fältig in  den  Wissenschaften,  besonders  auch  in  der  Rhe- 
torik, unterrichtet,  und  auch  hinsichtlich  Epikurs  wird  be- 
zeugt, dafs  derselbe  den  gröfsten  Teil  seiner  Lehre  von  ihm 
überkommen  und  ihn  teilweise  ausgeschrieben  habe  (D.  L. 
X.  7,  14). 

Seine  Lehre  anlangend,  so  hatte  er  zunächst  eine 
erkenntnistheoretische  Schrift  unter  dem  Titel  „Der 
Dreifufs"  verfafst.  Dieser  Titel  schon  erinnert  an  die 
Dreiteilung  der  Erkenntnisprinzipien  bei  Demokrit  (Sinne, 
Vernunft  und  für  das  Praktische  die  Gefühle),  die  bei  diesem 
in  der  Dreiteilung  seines  „Kanon"  ihren  Ausdruck  gefunden 
hatte.  Dafs  er  diese  Dreiteilung  übernommen  hatte,  beweist 
auch  der  Umstand,  dafs  sie  in  dem  von  dieser  Schrift  be- 
einflufsten  ^Kanon"  Epikurs  (D.  L.  X.  14)  wieder  zu  Tage 
trat.    Welche  Stellung  er  aber  zu  den  beiden  theoretischen 


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ß.   Die  Schule  Demokrits  in  Abdera  (ca.  400  bis  gegen  300).    301 

Erkenntnisprinzipien  einnahm  —  denn  dafs  er  in  bezug  auf 
Lust  und  Unlust  auf  dem  demokritischen  Boden  stand,  kann 
nicht  bezweifelt  werden  — ,  darüber  fehlen  alle  Nachrichten. 
In  der  Physik  ferner  war  er  im  wesentlichen  Demokriteer. 
Dies  ergibt  sich  aus  dem  Zeugnis  (D.  L.  X.  7),  dafs  Epikur 
in  seiner  wesentlich  demokritischen  Physik  zwar  mehrfach 
gegen  ihn  polemisiert,  in  Wirklichkeit  aber  meist  dasselbe 
gesagt  habe  wie  er.  Einzelheiten  Über  seine  Physik  sind 
nicht  bekannt ;  dafs  er  jedoch  dies  Gebiet  nicht  vernach- 
Iftssigte,  folgt  aufser  der  Abhängigkeit  Epikurs  von  ihm 
auch  daraus,  dafs  er  in  einer  von  ihm  verfafsten  Schrift 
über  die  Rhetorik  die  Anschauung  vertrat,  die  Physik  sei 
die  beste  Vorbereitung  für  die  staatsmännische  Tätigkeit, 
die  er  dem  Philosophen  anempfahl,  und  zwar  deshalb  die 
begte,  weil  sie  von  Wahnvorstellungen  befreie  (Philodem  in 
Vol.  Herc.  cf.  Sudhaus,  Rh.  Mus.  48;  Philolog.  54;  Philodems 
Rhet.  II.,  1896).  Er  wird  also  schon  von  diesem  Gesichts- 
punkte aus  der  Physik  seine  Kräfte  gewidmet  haben.  Gegen 
diese  Auffassung  der  Naturwissenschaft  als  geeigneter 
Vorbildung  für  den  Staatsredner  polemisierte  noch  Me- 
trodor  von  Lampsakos,  der  Schüler  Epikurs,  um  300 
in  einer  eigenen  Schrift  (Usener,  Epicurea  412). 

Seine  Lehre  vom  Lebensziel  betont,  ähnlich  wie  die  des 
Hekatäus  und  Anaxarch,  ausschliefslich  die  negative  Seite 
der  GOterlehre  Demokrits,  doch  in  einer  anderen  Richtung 
als  die  jenes.  Er  bezeichnete  als  das  höchste  Gut  „Be- 
stürzungsfreiheit* (Akataplexie).  Es  sei  dasselbe,  was 
Demokrit  „Angstfreiheit"  (Athambla)  genannt  habe  (Clem. 
AI.  StroDQ.  IL  21).  Schon  diese  Bemerkung  zeigt,  dafs  er 
nur  ein  Stück  der  demokritischen  Güterlehre  übernommen 
hatte,  und  zwar  dasjenige  Stück,  bei  dem  vornehmlich  die 
Freiheit  vom  Aberglauben  in  bezug  auf  das  Walten  der 
Götter  und  das  Jenseits  in  Betracht  kam.  Hierzu  stimmt 
denn  auch  genau,  dafs  er  die  Freiheit  von  Wahnvor- 
stellungen für  ein  wichtiges  Erfordernis  zur  staatsmänni- 
schen Tätigkeit  erklärte.  Dafs  er  seine  Lehre  vom  höchsten 
Gute  auf  diesen  negativen  Teil  der  demokritischen  Güter- 
tafel einschränkte,  ist  vielleicht  dem  Einflüsse  Pyrrhons  zu- 


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302  Erste  Periode.  Dritter  Abschn.  Stoffu.  bewegendes  Prinzip  getrennt 

zuschreiben,    dessen    skeptisch    begfttndeten    Gleichmut   er 
bewunderte  (D.  L.  IX.  64).  — 

So  reicht  mit  diesen  Ausläufern  der  Schule  Demokrits 
die  erste  Periode  der  antiken  Philosophie  bis  fast  an  das 
Jahr  300  hinab.  Es  hatten  inzwischen  tiefgreifende  Um- 
gestaltungen des  Denkens  stattgefunden,  und  es  konnte 
nicht  fehlen,  dafs  diese  späten  Bekenner  des  Demokritismus, 
wie  teilweise  schon  Demokrit  selbst,  von  diesen  neuen 
Denkrichtungen  stark  beeinflufst  wurden.  Es  würde  sich 
dies  auch  direkt  nachweisen  lassen,  wenn  damit  nicht  ein 
unbequemes  Vorwegnehmen  des  erst  Darzustellenden  ver- 
bunden wäre.  Bei  der  Dürftigkeit  unserer  Kenntnis  von 
diesen  weit  hinabreichenden  Nachwirkungen  war  es  das 
zweckmäfsigste,  sie  hier  gleich  anzuschliefsen.  Und  damit 
ist  denn  das  Ende  dieser  ersten,  vorbereitenden  Periode 
erreicht.  Wir  haben  gesehen,  dafs  dieselbe  nicht  nur 
grundlegend  für  die  auch  in  der  eigentlichen  Philosophie 
bedeutsame  und  oft  ausschlaggebende  Weltauffassung  und 
Welterklärung  ist,  dafs  vielmehr  auch  in  dieser  Periode 
schon  die  hervorragendsten  Geister  nach  dem  Rechte  der 
freien  Persönlichkeit  sich  unabhängig  der  Welt  gegenüber- 
stellen und  fragen,  in  welchem  Mafse  und  durch  welche 
Mittel  ihnen  der  unverjährbare  Anspruch  auf  Glückseligkeit 
gewährleistet  werden  könne.  Beruhen  die  hierauf  bezüg- 
lichen Angaben  bei  Clemens  Alexandr.  auch  hinsichtlich 
der  Pythagoreer  und  des  Anaxagoras  auf  einer  un- 
geschichtlichen Hineintragung  späterer  Denkweisen ,  war 
ihre  Stellung  zu  diesem  Problem  in  Wirklichkeit  eine  rein 
individuelle,  subjektive,  in  gelegentlichen  Äufserungen  zu 
Tage  tretende,  so  mufste  doch  wenigstens  bei  Heraklit 
und  Demokrit  eine  scharf  ausgeprägte  Stellungnahme 
zur  Glückseligkeitsfrage  nicht  nur  für  den  persönlichen 
Bedarf,  sondern  in  allgemeingültigem  Sinne  angenommen 
werden.  Der  weinende  und  der  lachende  Philosoph  bilden 
auch  in  dieser  Beziehung  einen  Gegensatz.  Es  sind  zwei 
charakteristische  Grundtypen  der  Axiologie,  die  sich  in 
der  nachfolgenden  Entwicklung  wiederholen.  Dort  das 
freudige  Bewufstsein  von  der  dem  menschlichen  Bedürfnis 


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6.  Die  Schale  Demokrits  in  Abdera  (ca.  400  bis  gegen  800).    303 

entgegenkommenden  Güte  der  Welteinrichtung,  hier  eine 
Welteinrichtung,  die  auf  solche  Ansprüche  keine  Rück- 
sicht nimmt,  und  der  Mensch,  der  aus  sich  selbst  heraus, 
aus  den  Bedürfhissen  seiner  Natur  die  Bedingungen  seines 
Wohlseins  feststellt. 


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Zweite  Periode. 

Die  Übergänge  zur  PMlosopMe  als  wissen- 

scliaftlieli  begründeter  Gttterlebre  (ea.  450  bis 

nach  300  vor  Chr.). 


Binleitungr. 

Die  neue  Periode  sondert  sich  scharf  von  der  ersten, 
der  allgemein  wissenschaftlichen  Vorbereitungszeit.  Das  Inter- 
esse wendet  sich  fast  völlig  von  der  Erforschung  und  Er- 
klärung der  Natur  und  der  Welt  ab  und  dem  Menschen  und 
seinen  Wohlseinsbedingungen  zu.  Als  eine  aufserordentlich 
treffende  Bezeichnung  dieser  bedeutsamen  Wendung  über- 
haupt kann  das  Wort  Ciceros  (Tusc.  V.  10;  Acad.  I.  15) 
gelten,  mit  dem  er  allerdings  zunächst  nur  auf  Sokrates 
abzielt.  Dieser  habe  die  Philosophie  vom  Himmel  (d.  h. 
von  der  Betrachtung  des  Weltalls  und  der  Natur)  abberufen 
und  ihr  in  den  Staaten  ihren  Platz  angewiesen  und  sogar 
in  die  Hausverwaltungen  sie  eingeführt;  er  habe  sie  ge- 
nötigt, über  das  Leben  und  die  Sitten,  über  die  Güter  und 
Übel  Untersuchungen  anzustellen.  Dafs  mit  dieser  Hin- 
wendung auf  die  menschlichen  Angelegenheiten  ein 
Schritt  in  der  Richtung  auf  die  Philosophie  im  eigentlichen 
und  engeren  Sinne  geschieht,  bedarf  keines  Beweises. 

Um  so  schwieriger  aber  ist  es,  gegen  die  folgende 
Periode,  in  der  diese  eigentliche  Philosophie  rein  und  un- 
verhüllt hervortritt,  eine  scharfe  Scheidelinie  zu  ziehen. 

Schon  innerhalb  des  Jahrhunderts,  das  wir  der  zweiten 
Periode  zugewiesen  haben,  treten  uns  Erscheinungen  ent- 


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Einleitung.  305 

gegen,  die  bei  weniger  scharfer  Betrachtung  ganz  und  gar 
die  Merkmale  der  dritten  Periode,  die  Beschränkung  der 
wesentlichen  Aufgabe  der  Philosophie  auf  die  Festsetzung 
eines  höchsten  Gutes  als  Prinzip  der  Lebensführung,  an  sich 
tragen.  Gewifs  liegt  hier  eine  grofse  Schwierigkeit  vor,  und 
es  mufs  eingeräumt  werden,  dafs  sich  die  vielgestaltige  und 
durch  so  vielerlei  Umstände  bestimmte  Entwicklung  des 
Wirklichen  nicht  in  allen  Punkten  restlos  in  das  Schema 
der  Periodeneinteilung  einzwängen  läfst.  Dennoch  mufs  die 
Scheidung  als  vollberechtigt  aufrechterhalten  werden.  Diese 
Berechtigung  kann  jedoch  erst  durch  die  Darstellung  im 
einzelnen  vollständig  dargetan  werden.  An  dieser  Stelle 
mufs  es  gentigen,  auf  das  scharf  hervortretende  Streben 
nach  einer  methodisch-wissenschaftlichen  Begrün- 
dung der  verschiedenen  Fassungen  des  höchsten  Gutes,  wo- 
durch nebeneinander  eine  Reihe  von  Schulen  ins  Dasein 
traten,  als  auf  das  Neue  und  Epochemachende  der  dritten 
Periode,  das  diese  scharf  von  der  zweiten  sondert,  vor- 
läufig hinzuweisen. 

Innerhalb  dieser  zweiten  Periode  nun  begegnet  uns  in 
der  aufserordentlichen  Vielgestaltigkeit  der  in  ihr  hervor- 
tretenden Erscheinungen  eine  neue  Schwierigkeit.  Es  handelt 
sich  um  die  richtige  innere  Gliederung  der  Periode.  Eine 
Übergangsperiode  mufs  in  ihren  Übergängen  einen  Fort- 
schritt auf  das  künftige  Neue  hin  darstellen,  einen  Stufen- 
gang der  Entwicklung.  Nun  zeigen  sich  in  der  Tat  inner- 
halb dieses  Zeitraums  zwei  einander  ablösende  Stufen.  Die 
philosophische  Bewegung  wendet  sich  zunächst  noch  nicht 
den  Bedürfnissen  des  isolierten  Einzelmenschen,  sondern  der 
gedeihlichen  Entwicklung  des  Gemeinschaftslebens  zu.  Es 
wird  noch  ganz  überwiegend  an  dem  Zusammenhange  des 
einzelnen  mit  der  Gemeinschaft  festgehalten  und  nur  ver- 
sucht, den  erhöhten  Anforderungen  des  Gemeinschaftslebens 
in  Haas  und  Staat  an  die  geistige  Ausbildung  der  leitenden 
il&nner  gerecht  zu  werden.  Die  Philosophie  wird  Vor- 
bildung der  herrschenden  Klassen  in  der  Re- 
gierungskunst (Sophisten  und  Sokrates  nebst 
dessen  reinen  und  ausschliefslichen  Anhängern). 

Dftriog.   I.  20 

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306     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Auf  4er  zweiten  Stufe  tritt  sodann  das  Interesse  des 
Einzelmenschen  neben  dem  der  Gesamtheit  mehr  und  mehr 
hervor.  Es  entsteht  ein  Nebeneinander  oder  Ineinander  des 
Interesses  am  Wohlsein  der  Gesamtheit  und  an  der  Lösung 
des  Glückseligkeitsproblems  für  den  einzelnen.  Ja,  es  werden 
schon  ganz  im  Sinne  der  folgenden  Periode,  nur  noch  nicht 
mit  der  dieser  eigentümlichen  wissenschaftlichen  Begründung, 
Lehren  über  das  höchste  Gut  aufgestellt,  je  nach  der  Eigen- 
art der  verschiedenen  Denker.  Die  öflFentlichen  Einrich- 
tungen sollen  sich  dann  diesen  Bedürfnissen  und  Anforde- 
rungen anbequemen  und  dienstbar  machen.  In  diesem  Sinne 
werden  Staatsideale  aufgestellt.  Teilweise  schreitet  die 
Hervorkehrung  der  persönlichen  Überzeugungen  über  das 
Glück  und  den  Wert  der  Lebensgüter  bis  zum  völligen  Ver- 
zicht auf  die  Beihilfe  der  Gesellschaft  fort  So  gelangt  auf 
dieser  zweiten  Stufe  die  Entwicklung  bis  hart  an  die  Grenze 
der  neuen  Periode.  Sie  gelangt  bis  zur  Loslösung  des 
Individuums  in  der  Bestimmung  seiner  Glückseligkeits- 
bedingungen, aber  noch  nicht  zur  methodisch -wissenschaft- 
lichen Begründung  der  letzteren  (die  kleineren  sokra- 
tischen  Schulen  und  Plato). 


Erste  Stufe. 

Die  Sophisten  und  Sokrates  nebst  den  reinen  Sokratikern 
(ca.  470  bis  zur  Mitte  des  4.  Jahrhunderts). 

A.    Die  Sophisten. 

Um  die  Mitte  des  füjiften  vorchristlichen  Jahrhunderts 
trat  in  Griechenland  eine  grofse  Umwandlung  des  gesamten 
geistigen  Lebens  ein.  Die  wissenschaftlichen  Bestrebungen 
der  ersten  Periode  hatten  sich  —  auch  der  Pythagoreismus 
bildet  in  dieser  Beziehung  keine  Ausnahme  —  ganz  auf  die 
engen  Kreise  der  von  Natur  für  derartige  Studien  und 
Interessen  Veranlagten  beschränkt.  Die  mit  der  Verwaltung 
grofser  Haushaltungen  mit  zahlreichem  Sklavenbestande 
betrauten   und  an   der  Leitung   der  Staaten  vorzugsweise 


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A.   Die  Sophisten.  307 

beteiligten  herrschenden  Klassen,  die  Notabein  oder  Hono- 
ratioren (kalor  kagathol,  wörtlich  die  „Schönen  und  Guten"), 
erhielten  die  Ausbildung  zu  diesen  höheren  Verrichtungen 
auf  praktischem  Wege,  durch  Hineinarbeitung  unter  der 
Leitung  Kundiger.  Es  machte  in  dieser  Beziehung  wohl 
kaum  einen  Unterschied,  ob  diese  Notabein,  wie  in  den 
Aristokratien,  dem  Geburtsadel  oder,  wie  in  den  Oligarchien, 
dem  besitzenden  Btlrgerstande  angehörten,  oder  ob  sie  sich, 
wie  in  den  Demokratien,  als  Berufspolitiker  mehr  oder 
weniger  aus  allen  Klassen  rekrutierten. 

Jetzt  nun  erforderten  die  erhöhten  Anforderungen  an 
die  Leitung  von  Haus  und  Staat,  die  komplizierter  und 
schwieriger  werdenden  Zustände,  für  die  leitenden  Kreise 
Kenntnisse,  Fähigkeiten  und  Fertigkeiten,  die  nicht  durch 
blofse  Routine,  sondern  nur  durch  ausdrückliche  Schulung 
erworben  werden  konnten.  Es  entsteht  zum  erstenmal  das 
Bedürfnis  der  theoretischen  Vorbildung  für  den  praktischen 
Lebensberuf,  zunächst  noch  nicht  im  Hinblick  auf  eine 
Mannigfaltigkeit  dieser  Berufe,  sondern  mit  Bezug  auf  den 
allen  Mitgliedern  der  herrschenden  Stände  gemeinsamen 
Beruf,  die  Leitung  von  Haus  und  Staat.  Es  kommt  die 
2ieit,  wo  in  den  Begriff  des  „Schönen  und  Guten"  aufser 
edler  Geburt  und  Wohlhabenheit  nebst  praktischer  Tüchtig- 
keit, persönlicher  Respektabilität ,  Ansehen  und  Einflufs 
auch  eine  gewisse  höhere  Geistesbildung  als  unumgängliches 
Merkmal  aufgenommen  wird  (vergl.  Walter,  Geschichte 
der  Ästhetik  im  Altertum,  Leipzig  1893,  S.  121  if.,  und 
meine  Schrift  „Die  Lehre  des  Sokrates",  München  1895, 
S.  398  ff.). 

Diesem  neuen  Bedürfnis  nun  kamen  die  Sophisten 
entgegen,  eine  Gruppe  von  wissenschaftlich  gebildeten 
Männern,  die  sich  die  Befriedigung  desselben  zum  Lebens- 
berufe machten  und,  von  Stadt  zu  Stadt  umherziehend,  teils 
durch  Einzelvorträge,  hauptsächlich  aber  durch  gröfsere 
zusammenhängende  XJnterrichtskurse  vornehmlich  der  er- 
wachsenen Jugend  der  herrschenden  Klassen,  der  „Hono- 
ratioren", gegen  Entgelt  die  zur  Leitung  von  Haus  und 
Staat  erforderliche  Geistesbildung  beibrachten. 

20* 

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308     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Es  entspricht  also  hier  dem  Bedürfnis  die  Befriedigung, 
der  Nachfrage  das  Angebot.  Das  schliefst  aber  nicht  aus, 
dafs  vielfach  auch  umgekehrt  die  dargebotene  Befriedigung 
das  Bedürfnis,  das  Angebot  die  Nachfrage  erst  wachgerufen 
haben  mag. 

In  dem  hier  bezeichneten  Sinne  hat  das  Wort  „Sophist* 
noch  keine  Spur  von  der  verfänglichen  Bedeutung,  die  es 
erst  auf  Grund  der  späteren  Ausartung  dieser  Berufs- 
tätigkeit angenommen  hat.  Andemteils  hat  es  aber  auch 
die  ältere,  ganz  unbestimmte  Bedeutung  schon  völlig  ab- 
gestreift, nach  der  es  einen  gelehrten  Forscher  oder  auch 
einen  tüchtigen  Künstler  oder  Techniker  überhaupt  ohne 
jede  Nebenbedeutung  bezeichnete.  Nach  Piatos  Darstellung 
(Protag.  316 D  ff.)  hat  schon  Protagoras  das  Wort  mit 
vollem  Bewufstsein  genau  in  dem  vorstehend  umgrenzten 
neuen  Sinne  von  sich  und  seiner  Lehrtätigkeit  gebraucht. 
Dort  bezeichnet  er  als  diejenige  Tüchtigkeit,  in  der  durch 
das  Zusammensein  mit  ihm  seine  Schüler  von  Tage  zu  Tage 
Fortschritte  machen,  die  Wohlberatenheit  oder  Fähigkeit  zu 
klugem  Handeln  in  den  eigenen  Angelegenheiten,  der  Ver- 
waltung des  eigenen  Hauswesens,  und  in  den  Angelegen- 
heiten des  Staates,  dem  Eingreifen  in  dieselben  durch  Tat 
und  Rede,  und  erklärt  sich  vollkommen  einverstanden,  als 
Sokrates  dies  als  einen  Unterricht  in  der  Regierungskunst 
und  als  Ausbildung  tüchtiger  Bürger  bezeichnet.  Ganz 
ebenso  spricht  sich  Plato  selbst  aus  (Rep.  600  C  f.).  Nach 
dieser  Stelle  pflegten  Protagoras,  Prodikos  und  sehr  viele 
andere  ihren  Schülern  die  Überzeugung  beizubringen,  sie 
seien,  wenn  nicht  gerade  von  ihnen,  dem  jeweiligen  Lehrer, 
ausgebildet,  weder  ihr  Hauswesen  noch  ihren  Staat  zu  ver- 
walten im  Stande.  Und  Plato  fügt  hinzu,  diese  Lehrer 
würden  wegen  der  in  dieser  Richtung  den  Zöglingen  bei- 
gebrachten Weisheit  von  diesen  so  leidenschaftlich  geliebt, 
dafs  die  Schüler  sie  fast  auf  den  Köpfen  umhertrügen. 

Die  Sophisten  sind  die  Begründer  des  höheren  Unter- 
richtswesens in  der  europäischen  Welt.  In  ihrer  Tätigkeit 
liegen  die  ersten  Keime  unseres  Mittelschul-  und  Universitäts- 
wesens,  damit  aber  zugleich  auch  die  Anfänge  der  Erscheinung, 


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A.  Die  Sophisten.  309 

dafs  sich  der  Gegensatz  der  Notabeln  und  der  Massen  zu 
dem  der  Gebildeten  und  Ungebildeten  verschärft. 

Welches   waren    denn    aber    die    Gegenstände    dieser 
Schulung?    Und  welche   Lehrmethoden   befolgten   die  So- 
phisten?   Bei    der    grofsen    Dürftigkeit    der    vorhandenen 
Nachrichten  läfst  sich  über  beide  Punkte  nicht  viel  sagen. 
Zunächst  war  unzweifelhaft  beides   bei   den   verschiedenen 
Sophisten  verschieden.    Im  platonischen  Protagoras  (318  E) 
macht   dieser   Sophist   in    bezug   auf  die   Lehrstoffe    einen 
grofsen  Unterschied  zwischen  sich  und  dem  ebenfalls   an- 
wesenden Hippias,  auf  den  er  einen  verächtlichen  Seitenblick 
wirft.    Während  man  nämlich  bei  diesem  mehr  das  Schul- 
mäfsige  lerne:  Rechnen,  Sternkunde  (zur  Orientierung  auf 
Reisen),  Landvermessung,  Literatur  und  Musik,  ziele  bei 
ihm  alles  direkt  auf  den  bereits  angeführten  Zweck,  die 
Regierungskunst.    Ferner  aber  wechseln  in  den  verschiedenen 
Entwicklungsphasen  der  Sophistik  die  Lehrstoffe  und  damit 
auch   die  Verfahrungsweisen.    Es  gehört  daher  das  meiste 
in  die  Einzeldarstellung.    Doch   ist  z.  B.  ein  allen  gemein- 
samer Zug  die  Ausbildung  in  der  Redefertigkeit  bis  hinauf 
zu    einer    kunstvollen    Beredsamkeit,    und   wenigstens    die 
älteren  Sophisten   betrachteten  als  eine  Hauptaufgabe  auch 
die  sittliche  Erziehung  sowohl  der  künftigen  Staatsmänner 
selbst  als  auch  die  Entwicklung  der  Fähigkeit  in  denselben, 
auch  in  den  Massen  die  sittliche  Gesinnung  als  unumgäng- 
liche   Bedingung   eines   gesunden   Staatslebens   zu   pflegen. 
Sie   traten   als  Moral  lehr  er  auf.     Die  Sophistik   ist   in 
ihrer  besseren  Zeit  Moral ismus,  d.  h.  ihr  ist  die  ethische 
Tugend  ebenso  wie  die  Tüchtigkeit  im  allgemeinen  Mittel 
zum  Zweck,  etwas  im  Interesse  der  allgemeinen  Wohlfahrt 
und  des  Gedeihens  aller  durch  das  Gedeihen  der  Allgemein- 
heit,   durch    richtige   Leitung  Kotwendiges.     Dies   ist   ein 
charakteristisches  Anzeichen   dafür,   dafs  wir  uns  in  einer 
Periode    der  Aufklärung  befinden.    Die  über  die  engen 
Grenzen    des    eigenen    Staatsgebiets   hinausblickende    Auf- 
klärung hat  die  Erkenntnis  gezeitigt,  dafs  die  im  einzelnen 
Staate     geltenden    Staatseinrichtungen ,     Gesetze ,     Sitten, 
Religionsvorstellungen  und  Religionsbräuche  nicht,  wie  der 


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310     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

naive  Sinn  der  Altvordern  annahm,  ewige,  unverbrüchliche 
Natur  Ordnungen  sind,  die  nicht  anders  gedacht  werden 
können,  sondern  mehr  oder  minder  willkürliche  Satzungen, 
gewordene,  herkömmliche  Einrichtungen  und  Vorstellungs- 
weisen, bei  denen  man  nach  dem  Rechts-  und  Vemunftgrunde 
zu  fragen  berechtigt  ist.  Es  gibt  für  sie  keinen  Punkt  in 
den  herkömmlichen  Gesellschaftsordnungen  und  Glaubens- 
vorstellungen,  der  auf  Geltung  Anspruch  machen  könnte, 
ehe  er  die  Prüfung  der  Vernunft  passiert  hat.  Insbesondere 
kann  für  die  Anerkennung  der  sittlichen  Verpflichtung  nicht 
mehr  auf  das  blofse  Herkommen  und  den  religiösen  Glauben 
als  Stütze  gerechnet  werden.  Mau  mufs  sich  nach  neuen, 
rein  aus  der  menschlichen  Natur  selbst  entlehnten  Stützen 
des  Sittlichen  umsehen.  So  bildet  ein  hervorragendes  Stück 
der  älteren  sophistischen  Erziehung  eine  neue,  rein  mensch- 
liche Moralbegründung.  Endlich  schliefsen  sich  einesteils 
an  die  Erziehung  zur  Regierungskunst,  andernteils  aber 
auch  an  das  Vorherrschen  dieses  rationalistischen,  auf- 
klärerischen Geistes  Betrachtungen  über  Wesen  und  Zweck 
des  Staates  an.  Man  fragt,  wie  der  wahre  Staat  beschaffen 
sein  müsse;  man  fragt  nach  dem  „besten  Staate**. 

Die  Sophisten  führten  aber  ferner  die  bis  dahin  uner- 
hörte Neuerung  ein,  dafs  sie  sich  für  ihren  Unterricht  be- 
zahlen liefsen.  Er  war  dies  eine  natürliche  Konsequenz  des 
Umstandes,  dafs  sie  von  Ort  zu  Ort  zogen  und  die  Lehr- 
tätigkeit zum  ausschliefslichen  Lebensberuf  machten.  Über 
das  nach  den  älteren  Begriffen  Schimpfliche  und  Ent- 
würdigende dieser  Honorarforderung  wird  an  späterer  Stelle 
noch  zu  reden  sein.  Dafs  darin,  auch  abgesehen  von  diesem 
Gesichtspunkte,  ein  Keim  der  Entartung  liegt,  ist  leicht  er- 
sichtlich. Durch  das  Erwerbsinteresse  wird  der  Produzent 
fast  immer  abhängig  von  der  Geschmacksrichtung  oder  Auf- 
nahmefähigkeit des  Abnehmers,  sei  dies  nun  der  Staat  oder 
die  Gemeinde  oder  der  einzelne. 

Es  ist  schon  angedeutet  worden,  dafs  die  Sophistik 
mehrere  Entwicklungsphasen  durchlaufen  hat.  Genauer  sind 
dies  zwei  Phasen,  eine  ältere,  würdigere,  in  der  das  Inter- 
esse des  einzelnen  noch  als  mit  dem  Gedeihen  des  Ganzen 


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A.    I.    1.   Protagoras.  311 

Hand  in  Hand  gehend  betrachtet  wird,  in  der  die  Hingabe 
an  das  Wohl  des  Ganzen  noch  als  Pflicht  und  zugleich  als 
die  beste  Klugheit  betrachtet  wird,  in  der  daher  auch  die 
Moralbegründung  als  die  wichtigste  Aufgabe  erscheint,  und 
eine  jüngere,  eine  Phase  der  Entartung,  in  der  für  die 
übermächtige,  gewalttätige  Selbstsucht  des  einzelnen  der 
Staat  nur  noch  als  Ausbeutungsobjekt  erscheint,  in  der  daher 
die  sittliche  Erziehung  als  überflüssig  in  Wegfall  kommt 
und  die  Redekunst  als  wichtigstes  Machtmittel,  als  das 
wirksame  Hilfsmittel,  um  die  blinden  Massen  zu  betören 
und  nach  dem  eigenen  Vorteil  zu  leiten,  ausschliefslich 
Pflege  findet. 

Der  Zeitpunkt,  in  dem  diese  Wendung  zum  Schlechteren 
mit  Entschiedenheit  einsetzt,  fftllt  ziemlich  genau  mit  dem 
Jahre  427  zusammen,  in  dem  Gorgias  von  Leontini 
in  Sizilien  in  Athen  erschien  und  seine  Tätigkeit  als  Wander- 
lehrer im  eigentlichen  Griechenland  begann.  Es  sind  also 
zunächst  zu  betrachten  die  älteren  Sophisten  und  so- 
dann die  Ausartung  der  Sophistik  seit  427.  Selbst- 
verständlich scheiden  sich  diese  beiden  Phasen  nicht  in  der 
VF  eise,  dafs  nicht  die  ältere  zugleich  in  die  jüngere  hin- 
überreichte und  auch  die  jüngere  in  der  älteren  ihre  Vor- 
bereitung fände. 

I.  Die  altere  Sophistik. 
1.   I^otafiroras. 

Protagoras  war  geboren  zu  Abdera  um  480.  Er 
war  also  ein  um  etwa  20  Jahre  älterer  Landsmann  des 
Demokrit.  Er  soll  in  jüngeren  Jahren  Lastträger  ge- 
wesen sein  und  als  solcher  ein  beim  Tragen  von  Lasten 
unterzulegendes  Polster  erfunden  haben  (Z.  1053,  3).  Über 
seinen  Bildungsgang  sind  sichere  Nachrichten  nicht  vor- 
handen, doch  ergibt  sich,  wie  nachher  zu  zeigen,  aus  der 
Beschaffenheit  seiner  Lehre  ganz  unzweifelhaft,  dafs  er 
durchaus  nicht  Zögling  einer  etwa  in  Abdera  bestehenden 
Schule  des  Leukipp  gewesen  sein  kann,  dafs  er  vielmehr 
seine    wissenschaftlichen   Anregungen   aus   der   Schule   des 


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312     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Heraklit  empfangen  haben  mufs.  Ob  dies  in  Ephesus 
geschehen  oder  in  seiner  Vaterstadt  durch  persönliche  Ein- 
wirkung eines  Herakliteers  oder  auch  durch  blofses  Studium 
von  Schriften,  was  ja  alles  möglich  wäre,  läfst  sich  nicht 
ausmachen. 

Von  seinem  dreifsigsten  Jahre  an  durchzog  er  vierzig 
Jahre  lang  die  griechischen  Städte  als  Wanderlehrer  mit 
grofsem  Erfolge,  auch  hinsichtlich  des  materiellen  Ertrages 
seiner  Lehrtätigkeit  (Plato  Menon  91 D  f. ;  D.  L.  IX.  52). 
Nach  ersterer  Stelle  hätte  ihm  seine  Kunst  mehr  eingetragen 
als  Phidias  und  zehn  anderen  Bildhauern  die  ihrige;  nach 
der  zweiten  soll  er  für  einen  Lehrkursus  7500  Mk.,  also 
nach  dem  heutigen  Geldwerte  ein  bedeutend  Mehrfaches 
dieser  Summe,  ein  kleines  Vermögen,  gefordert  haben.  Doch 
ist  diese  Angabe  jedenfalls  ungeheuer  übertrieben  (Z.  1083,  2). 
Auf  eine  solide  Geschäftsgebarung  weist  es  hin,  dafs  er 
Zahlung  des  geforderten  Honorars  erst  nach  Vollendung  des 
Kursus  verlangte  und  es  dabei  der  gewissenhaften  Erwägung 
der  Schüler  anheimstellte,  ob  sie  den  Wert  des  empfangenen 
Unterrichts  nicht  etwa  unter  der  geforderten  Summe  ein- 
schätzten (Plato  Prot.  328  B;  Arist.  Eth.  N.  1164,  24).  Wie 
er  anscheinend  der  erste  Wanderlehrer  war,  so  soll  er  auch 
zuerst  Honorar  gefordert  haben  (D.  L.  IX.  52).  Dieses  Ver- 
fahren wurde  von  Sokrates  (Mem.  L  6,  13)  und  Plato  als 
schimpflich  gebrandmarkt.  Nach  der  älteren  Vorstellungs- 
weise  sollte  der  einzige  Lohn  des  Ausbildenden  in  der 
lebenslangen,  treuen  Anhänglichkeit  und  Hingabe  des 
Schülers  bestehen.  Doch  scheint  diese  Hingabe  in  der 
älteren  Zeit  oft  in  einer  körperlichen  Preisgebung  bestanden 
zu  haben,  die  weit  schimpflicher  war  als  die  Zahlung  in 
Geld. 

Eine  blofse  Schnurre  ist  die  Erzählung  von  dem  „Prozefs 
um  das  Honorar",  die  sogar  in  einer  dem  Protagoras  unter- 
geschobenen Schrift  behandelt  worden  ist.  Einer  seiner 
Schüler  hatte  ausbedungen,  dafs  das  Honorar  fällig  sein 
sollte,  wenn  er  seinen  ersten  Prozefs  gewonnen  haben  würde. 
Er  liefs  sich  nun  von  Protagoras  auf  Zahlung  des  Honorars 
verklagen  und  bewies  im  Prozesse,  dafs  er  in  keinem  Falle 


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A.    I.    1.  Protagoras.  313 

zur  Zahlung  verpflichtet  sei.  Werde  er  zur  Zahlung  ver- 
urteilt, so  habe  er  den  Prozefs  verloren;  werde  er  frei- 
gesprochen, so  sei  er  kraft  des  Richterspruches  nicht  ver- 
pflichtet. Protagoras  dagegen  beweist,  dafs  er  in  jedem 
Falle  zahlen  müsse.  Wenn  verurteilt,  kraft  des  Richter- 
spruches, wenn  freigesprochen,  wegen  des  gewonnenen  Pro- 
zesses (D.  L.  IX.  55  f.). 

Protagoras  hat  sich  auf  seinen  Wanderungen,  die  sich 
auch  auf  Unteritalien,  Sizilien  und  wohl  auch  auf  das 
griechische  Kyrene  in  Afrika  ausdehnten  (Z.  1052),  min- 
destens dreimal  auch  in  Athen  aufgehalten.  Der  zweite 
Aufenthalt  dort  fällt  in  die  dreifsiger  Jahre,  kurz  vor  Aus- 
bruch des  Peloponnesischen  Krieges  (Z.  1052,  4);  der  letzte, 
um  411 ,  wurde  für  ihn  verhängnisvoll.  Doch  davon  erst 
nach  Darstellung  seiner  Lehre. 

Bei  dem  zweiten  dieser  Besuche  fand  er  noch  von  Seiten 
des  Perikles  Beachtung  (Plut.  Perikl.  36);  beim  dritten  mufs 
der  damals  etwa  16jährige  Plato  (geb.  427)  ihn  noch 
persönlich  und  in  seiner  Lehrtätigkeit  kennen  gelernt  haben. 
Plato  hat  noch  mehr  als  12  Jahre  nach  seinem  Tode  vor- 
nehmlich in  dreien  seiner  Schriften,  die  sämtlich  dem  ersten 
Jahrzehnt  des  4.  Jahrhunderts  angehören,  dem  Protagoras, 
dem  Theätet  und  dem  Menon,  Urteile  über  ihn  abgegeben, 
und  in  den  beiden  erstgenannten  derselben  sich  eingehend 
mit  seiner  Lehre  auseinandergesetzt.  In  seiner  Staatslehre 
scheint  er  sogar,  wie  wir  sehen  werden,  direkt  von  ihm 
beeinflufst  zu  sein.  Plato  ist  daher,  da  die  Schriften  des 
Protagoras  bis  auf  wenige  Sätze  für  uns  verloren  sind,  der 
wichtigste  Zeuge  für  dessen  Lehre.  An  dieser  Stelle  ist 
zunächst  nur  zu  betonen,  dafs  er  ihn  in  sämtlichen  drei 
Schriften  überwiegend  als  bedeutende  und  achtungswerte 
Persönlichkeit  behandelt,  auch  trotz  des  Honoramehmens. 
Im  Protagoras  wird  sein  würdevolles  Auftreten  und  sein 
gesteigertes  Selbstgefühl  mit  einer  gewissen  Ironie  behandelt ; 
dennoch  aber  kommt  seine  geistige  Bedeutung  durchaus  zur 
Geltung.  Im  Theätet  wird  er  gegen  eine  einseitige  und 
unbillige  Kritik  nachdrücklich  in  Schutz  genommen,  und 
im  Menon  (91)  stammt  das  Urteil,  er  habe  40  Jahre  hindurch, 


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314     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

ohne  dafs  man  es  gemerkt  habe,  seine  Schüler  verderbter 
entlassen,  als  er  sie  empfangen  habe,  von  einem  abgesagten 
Feinde  dieser  ganzen  neuen  Bildungsweise  und  Anhänger 
der  altväterlichen  Weise,  dem  Hauptankläger  auch  des 
Sokrates,  Anytos  her,  während  das  dem  Sokrates  in  den 
Mund  gelegte  Urteil  über  seine  Lehrweise  viel  freundlicher 
lautet. 

In  seiner  Lehrtätigkeit  verwirklichte  Protagoras, 
soweit  uns  bekannt  ist,  am  vollkommensten  das  Bild  der 
älteren  Sophistik,  wie  sie  vorstehend  dargestellt  worden  ist. 
Seine  Lehre  ist  nicht  ein  allumfassendes  System,  sondern 
nur  die  Summe  der  bei  seiner  praktischen  Lehrtätigkeit  zur 
Anwendung  gelangenden  und  für  dieselbe  mafsgebenden 
Überzeugungen.  Seine  Schriften,  soweit  wir  von  deren  Inhalt 
sichere  Kunde  haben,  werden  im  Zusammenhange  seiner 
Lehre  zur  Erwähnung  kommen.  Ein  vorhandenes  Verzeichnis 
derselben  (D.  L.  IX.  55)  ist  unvollständig  und  hinsichtlich 
der  Echtheit  des  Aufgeführten  unsicher. 

Zunächst  handelt  es  sich  um  seine  Erkenntnis- 
theorie. Hier  ist  nun  gerade  bei  Protagoras  mit  be- 
sonderer Vorliebe  ein  geradezu  inquisitorisches  Verfahren 
angewandt  worden,  um  aus  den  vorhandenen  Nachrichten 
über  seine  Lehre  die  vermeintliche  Grundverderbnis  der 
Sophistik  von  Anfang  an  herauszuverhören  und  auf  Grund 
des  so  ermittelten  Tatbestandes  das  vernichtende  Urteil  der 
Gesinnungslosigkeit  zu  fällen. 

Nun  ist  uns  seine  Erkenntnistheorie,  ebenso  wie  auch 
seine  ethischen  Lehren,  nur  aus  dem  Munde  seiner  Bestreitet 
und  Kritiker  bekannt.  Plato  will  sie  (im  Theätet)  in  allen 
Punkten  widerlegen;  Aristoteles  und  Sextus  Empi- 
rie u  s  berücksichtigen  sie  ebenfalls  nur,  um  in  verschiedener 
Richtung  Ausstellungen  an  ihr  zu  machen.  Glücklicherweise 
haben  jedoch  diese  Kritiker  so  viel  Tatsächliches  über  diesen 
Teil  seiner  Lehre  beigebracht,  dafs  es  möglich  ist,  die 
Grundzüge  desselben  mit  Sicherheit  zu  rekonstruieren. 

Protagoras  hatte  seine  philosophischen  Anregungen  von 
der  Schule  Heraklits  empfangen.  Mit  dieser  nahm  er  das 
beständige  Fliefsen   alles   Seienden   und    das   gleichzeitige 


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A.    I.    1.   Protagoras.  315 

Vorhandensein  des  Entgegengesetzten  an  den  Dingen  an» 
Der  damus  abgeleiteten  Leugnung  der  Möglichkeit  alles 
Erkennens  aber  stellt  er  eine  neue  Theorie  entgegen.  Die 
Schrift,  in  der  dies  geschah,  wird  unter  verschiedenen  Be- 
zeichnungen aufgeführt.  Nach  Plato  (The&t.  162  A  und 
öfter;  Erat. 386 C)  scheint  sie  unter  dem  Titel  „Die  Wahr-, 
heit*'  bekannt  gewesen  zu  sein ;  anderwärts  (S.  Emp.  Dogm. 
I.  60)  wird  sie  unter  dem  Titel  „Die  niederwerfenden  Be- 
weise" und  bei  D.  L.  (IX.  55),  wie  es  scheint,  unter  dem 
Titel  „Widerreden"  angeführt.  Man  möchte  vermuten,  dafs 
der  gemeinsame  Sinn  aller  dieser  Benennungen  der  Ein- 
spruch gegen  die  Aufhebung  der  Erkenntnis  bei  den  Hera- 
kliteem  ist,  also  keineswegs  auf  eine  „frivole  „Sophistik" 
hindeutet,  vielmehr  auf  das  Bestreben ,  einen  festen  Boden 
der  Erkenntnis  zu  gewinnen. 

Nun  lautete  aber  nach  der  zweiten  der  vorstehenden 
Stellen  der  erste  Satz  dieser  Schrift:  „Aller  Dinge 
Mafs  ist  der  Mensch,  der  seienden,  dafs  sie 
sind,  der  nicht  seienden,  dafs  sie  nicht  sind." 
Und  in  engster  Verbindung  mit  diesem  ersten  Satze  er- 
scheint in  mehreren  Berichten  stets  ein  zweiter:  „Wie  die 
Dinge  mir  erscheinen,  so  sind  sie  mir;  wie  sie 
dir  erscheinen,  so  sind  sie  dir"  (PI.  Theät.  152A; 
Erat  385 E  ff.;  auch  Arist.  1062b,  13  u.  S.  Emp.  Hyp.  L 
216  ff.;  Dogm.  I.  60).  Da  haben  wir  ja,  so  lautet  die 
gewöhnliche  Rede,  den  echten  „Sophisten";  was  bedürfen 
wir  weiter  Zeugnis?  Alle  Wahrheit  löst  sich  in  das  Belieben 
der  einzelnen  auf.  Dasselbe  scheint  der  ihm  ebenfalls  zu- 
geschriebene Satz:  „Alles  ist  wahr"  (D.  L.  IX.  51)  in 
kürzester  Formulierung  auszudrücken.  Auch  der  Satz,  dafs 
zwei  über  denselben  Gegenstand  Entgegengesetztes  Aus- 
sagende einander  nicht  widersprechen,  scheint  ihm  anzu- 
gehören. Daher  denn  auch  Aristoteles  den  gegen  Hera- 
klit  erhobenen  Einwand ,  er  hebe  das  Widerspruchsgesetz 
auf,  auch  auf  Protagoras  ausdehnt  (1009,  5).  Aber  ganz 
das  Entgegengesetzte  ist  seine  Meinung.  Alle  diese  Sätze 
bilden  nur  die  Einleitung  zu  dem  Versuch,  die  Sinnes- 
wahrnehmung gegen  die  von  den  Herakliteern  erhobenen 


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316     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Einwände  zu  verteidigen  und  sie  dabei  mit  ihren  eigenen 
Wa£fen  zu  schlagen.  Er  stellt  sich  mit  ihnen  auf  denselben 
Boden,  um  von  da  aus  über  sie  hinauszukommen.  Nach 
den  Herakliteem  kann  es,  weil  es  kein  beharrendes  Sein 
gibt,  auch  keine  Erkenntnis  eines  Seienden  geben.  Beweis 
dessen  ist  die  Erfahrung,  dafs  den  Verschiedenen  die  Dinge 
verschieden  erscheinen,  dem  Erwachsenen  anders  als  dem 
Kinde,  dem  Kranken  oder  Wahnsinnigen  anders  als  dem 
Gesunden,  dem  Schlafenden  anders  als  dem  Wachenden,  dem 
Menschen  anders  als  dem  Tiere  u.  s.  w. 

Diese  Theorie  übernimmt  nun  zunächst  Protagoras  voll- 
ständig. Das  von  irgend  jemand  Wahrgenommene  mufs 
existieren.  Es  gibt  keine  Wirkung  ohne  Ursache.  Jeder 
Sinnesvorstellung  entspricht  etwas  in  den  Dingen  wirklich 
Vorhandenes  (S.  Emp.  Dogm.  L  388).  Dies  ist  denn  auch 
der  Sinn  seiner  beiden  ersten  Sätze.  Der  erste  besagt,  dafs 
der  Mensch,  d.  h.  nicht  der  Mensch  im  allgemeinen  oder 
seiner  Idee  nach  gefafst,  sondern  der  einzelne,  jeder 
Mensch,  er  mag  beschaffen  sein,  wie  er  will  (Theät.  152 A, 
160  C,  183  B),  in  seinen  Sinnesvorstellungen  Zeugnis  von  der 
Existenz  des  Vorgestellten  ablegt.  Diese  Behauptung 
wird  dann  im  zweiten  Satze  dahin  erweitert,  dafs  auch  die 
das  Wie,  die  besondere  Beschaffenheit  der  Dinge  be- 
treffenden Sinnesvorstellungen  des  einzelnen  ihre  Ursache 
und  ihren  Berechtigungsgrurid  in  der  Wirklichkeit  der  Dinge 
haben. 

Dafs  sich  nämlich  die  beiden  Sätze  in  erster  Linie  auf 
die  Sinneswahrnehmung  beziehen,  deutet  schon  Plato 
(Theät.  152 A,  160 D)  an,  indem  er  dieselben  mit  der  Be- 
hauptung für  einerlei  erklärt,  dafs  die  Erkenntnis  in  der 
Wahrnehmung  bestehe.  Und  ebenso  Aristoteles,  wenn  er 
sagt,  der  Grund  der  Behauptung,  das  Widersprechende  sei 
wahr,  liege  in  der  Ansicht;  nur  das  Sinnenfällige  sei  ein 
Seiendes  (1010,  1 ;  vergl.  1062  b,  12  ff.).  Bei  S  e  x  t  u  s  E  m  p  i  - 
ricus  (Dogm.  I.  369,  388)  wird  seine  Lehre  dahin  for- 
muliert, jede  Sinnes  Wahrnehmung  sei  wahr,  und  auch 
der  Kirchenschriftsteller  Hermias  in  seiner  „Verspottung 
der   heidnischen    Philosophen"    hat   diesen    Sinn   der    S&tze 


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A.    L    1.   Protagoras.  317 

richtig  erfafst,  wenn  er  Protagoras  folgende  Lehre  beilegt: 
Norm  und  Entscheidungsgrund  für  das  Tatsächliche  ist 
der  Mensch,  und  das  unter  die  Sinneswah  rnehmungen 
Fallende  ist  tatsächlich ;  das  nicht  darunter  Fallende  gehört 
nicht  zu  den  Arten  des  Seienden  (D.  653).  Eben  weil  die 
Dinge  fliefsen,  wie  er  mit  den  Herakliteem  lehrt  (S.  Emp. 
Hyp.  I.  217,  219),  sind  in  ihnen  die  mannigfaltigsten  und 
entgegengesetztesten  Eigenschaften  tatsächlich  und  gleich- 
zeitig vertreten.  Die  Entstehungsursachen  aller  Sinnes- 
eindrücke liegen  im  Stoffe  vor;  der  Stoflf  ist  nach  seiner 
wirkliehen  Beschaffenheit  alles  das,  als  was  er  den  Ver- 
schiedenen erscheint  (S.  Emp.  Hyp.  I.  218).  Der  Kranke 
ist  wegen  seiner  Meinung,  der  Wein  sei  bitter,  nicht  für 
unwissend  zu  erklären.  Von  Nichtseiendem  aus  kann  kein 
Vorstellen  entstehen  (Theät.  166  E). 

Nun  aber  folgt  die  Wendung,  vermöge  deren  Protagoras 
von  dieser  Grundlage  aus  nun  doch  wieder  eine  normale 
und  allgemeingültige  Sinneswahrnehmung  zu  gewinnen  sucht. 
Der  Grund,  weshalb  die  Verschiedenen  Verschiedenes  an  den 
Dingen  wahrnehmen,  liegt  zwar  einesteils  in  den  an  den 
Dingen  gleichzeitig  vorhandenen  entgegengesetzten  Eigen- 
schaften, andernteils  aber  auch  in  der  Verschiedenheit  in 
den  Zuständen  und  der  Empfänglichkeit  der  Sinnesorgane. 
Diese  ist  eine  andere  beim  Menschen  als  beim  Tiere,  beim 
Kranken  und  Wahnsinnigen  als  beim  Gesunden,  beim  Er- 
wachsenen als  beim  Kinde  oder  dem  kindischen  Greise,  beim 
Wachenden  als  beim  Schlafenden  (S.  Emp.  Dogm.  I.  61; 
Hyp.  I.  217;  Theät.  153 E).  Hier  ist  nun  der  Punkt,  wo 
Protagoras  den  Hebel  ansetzt.  Unter  den  verschiedenen  auf 
diese  Weise  zu  stände  kommenden  Auffassungsweisen  ist 
eine  die  dem  normalen,  naturgemäfsen  Zustande 
entsprechende;  die  anderen  sind  abnorm  und  naturwidrig 
(Hyp.  I.  218).  Nicht  als  ob  man  z.  B.  der  Auffassung  des 
Kranken  als  einer  falschen  die  wahre  entgegenstellen  dürfe. 
Da  vom  Nichtseienden  aus  keine  Vorstellungen  entstehen 
können,  so  sind  auch  die  des  Kranken  wahr  (d.  h.  von  den 
Gegenständen  stammend).  Nur  sind  seine  Organe  abnorm, 
80  dafs  er  die  weniger  gute  (nicht  die  weniger  wahre)  Vor- 


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318     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Stellung  bildet.  Es  ist  Sache  des  Arztes,  seinen  Körper 
so  zu  behandeln,  dafs  derselbe  in  den  besseren  (normalen) 
Zustand  übergeführt  wird  und  demgemäfs  auch  die  besseren 
(normalen)  Eindrücke  von  den  Dingen  erh&lt  (Theät. 
166  D  fr.). 

Diese  Theorie  von  der  Sinneswahrnehmung  ist  durch- 
aus folgerichtig  aus  der  heraklitischen  Voraussetzung  ent- 
wickelt. Sie  steht  und  fällt  mit  der  metaphysischen  Theorie, 
aus  der  sie  abgeleitet  ist.  Freilich  gelingt  ihr  die  Über- 
windung der  heraklitischen  Skepsis  nur  unzureichend.  Nur 
die  gröfsere  Zahl  der  Urteilenden  ergibt  hier  das  Normale. 
Angenommen,  sagt  Aristoteles  (1009b,  2),  alle  wären 
krank  oder  verrückt  und  nur  zwei  oder  drei  gesund  oder 
bei  Verstände,  so  würden  diese  letzteren  als  die  Kranken 
oder  Verrückten  gelten.  Es  entsteht  daher  hier  die  Frage: 
Bei  wem  liegt  die  Entscheidung,  auf  welcher  Seite  die 
normale  Vorstellungsweise  stattfindet?  Wer  entscheidet  über 
den  Gesunden?  (1011,  8). 

Protagoras  hat  nun  ferner  diese  Theorie  unberechtigter- 
weise auch  auf  die  nicht  direkt  aus  den  Sinnen  stammen- 
den,   sondern   der   Seele   angehörigen   Meinungen    der 
Menschen  ausgedehnt  (Theät.  158  D;  166  D  IBF.;  171  A;  172  A; 
S.  Emp.  Dogm.  I.    60).     Die  Beurteiler    erschweren    hier 
das  Verständnis,  weil  sie  beide  Gebiete,  das  der  Sinne  und 
das  seelische,  nicht  auseinanderhalten.    Es  handelt  sich  z.  B. 
um  Meinungen   über   das   sittlich  Gute  oder  Verwerfliche. 
Auch  hier  wendet  er  ganz  dieselbe  Betrachtungsweise  an 
wie  bei  den  Sinnen.    Keine  Meinung  ist  unbedingt  verkehrt ; 
jede  mufs  in  irgend  etwas  Tatsächlichem  ihren  Grund  haben. 
Dennoch  gibt  es  auch   hier  den  Unterschied  des  Normalen 
und  des  Nichtnormalen.    Wie  dort  der  kranke  Körper,  so 
ist  hier  die  im  abnormen  Zustande  befindliche  Seele   die 
Ursache  der  weniger  billigenswerten  Auffassung.    Und  wie 
dort  der  Arzt  den  Körper  bessern  mufs,  so  mufs  hier  die 
Seele  in  den  normalen  Zustand   übergeführt  werden.    Die 
kranke  Seele  fafst  wegen  ihres   verkehrten  Zustandes  alles 
so  verkehrt  auf,  wie  sie  selbst  ist.    Derjenige  nun,  der  hier 
dem  Arzte  entspricht,  ist  einesteils  der  Erzieher,  vor- 


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A.    I.    1.   Protagoras.  319 

nehmlich  aber  der  Sophist  (Theät.  166 D;  ProtÄg.  322 B), 
und  was  dort  die  Arzneien  bewirken  sollten,  das  bewirkt 
hier  die  Belehrung  (Theät.  166DJBF.). 

Ja,  er  geht  in  dieser  Analogie  noch  einen  Schritt  weiter. 
Er  überträgt  sie  auf  ganze  Staatsgemeinschaften. 
Auch  hier  gibt  es  verschiedene  Meinungen  über  das  Gute 
und  Gerechte,  die  in  den  Gesetzen  und  Staatseinrichtungen 
ihren  Ausdruck  gefunden  haben.  Auch  diese  haben  sämt- 
lich ihre  Richtigkeit  für  diejenigen,  die  sie  für  richtig  halten, 
und  solange  dies  der  Fall  ist.  Aber  auch  hier  gibt  es  ein 
Besseres,  ein  Normales.  Und  auch  hier  gibt  es  solche,  die 
es  verstehen,  die  kranken  Seelenzustände  einer  solchen 
Gesamtheit,  auf  denen  die  minder  guten  Einrichtungen  be- 
ruhen, in  den  normalen  Zustand  überzuführen.  Das  sind 
„die  weisen  und  guten  Redner"  (Theät.  167  C;  172  A; 
177CflF.). 

Diese  Erweiterung  der  ursprünglichen  Theorie  auf 
Meinungen  jeder  Art  und  selbst  auf  Staatseinrichtungen 
hat  ja  nun  freilich  noch  weit  weniger  Grund  als  die 
ursprüngliche  Theorie  selbst  Es  liegt  aber  doch  auch  kein 
Grund  vor,  sie  für  den  Ausflufs  einer  frivolen  Gesinnungs- 
losigkeit zu  halten.  Der  von  Staat  zu  Staat  Wandernde 
wird  offenbar  von  seiner  heraklitischen  Sinnestheorie  aus 
unter  dem  Einflüsse  einer  klugen  Anpassungsfähigkeit  oder, 
wenn  man  will,  unter  dem  einer  berechtigten  Milde,  eines 
abgeklärten,  welterfahrenen  Geistes  auf  diese  erweiternde 
Übertragung  geführt.  Auch  hier  gibt  es  ja  überall  ein 
Berechtigteres  und  Besseres;  nur  soll  dasselbe  nicht  durch 
schroffe  Verurteilung  der  vorhandenen  Ansichten  und  auf 
dem  staatlichen  Gebiete  durch  jähen  Umsturz,  sondern  auf 
beiden  Gebieten  durch  ruhige  Umbildung  verbessert  werden. 

Dieser  Erkenntnistheorie  des  Protagoras  ist  schon  sein 
jüngerer  Landsmann  Demokrit  in  einer  eigenen  Schrift 
entgegengetreten.  Über  diese  Schrift  ist  nur  bekannt,  dafs 
er  darin  sowohl  die  heraklitische  Voraussetzung  des  gleich- 
zeitigen Vorhandenseins  entgegengesetzter  Eigenschaften  in 
den  Dingen,  als  auch  die  daraus  abgeleitete  Folgerung  des 


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320     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Protagoras,  alle  Sinneseindrücke  seien  wahr,  bestritten  hat 
(Plut.  Kolot.  4;  S.  Emp.  Dogm.  I.  389;  D.  L.  IX.  42).  Er 
scheint  also  vornehmlich  die  Theorie  von  der  Sinneserkenntnis 
ins  Auge  gefafst  zu  haben,  die  natürlich  zu  seinen  eigenen 
metaphysischen  Voraussetzungen  und  den  daraus  gezogenen 
Folgerungen  in  bezug  auf  den  Wert  der  Sinneswahmehmungen 
im  vollsten  Gegensatze  stand. 

Nun  werden  aber  noch  einige  andere  Aussprüche  von 
ihm  angeführt,  die  doch  wieder  Grund  zu  geben  scheinen, 
ihn  als  frivolen  „Sophisten"  zu  brandmarken.  Nach  D.  L. 
(IX.  51)  hat  er  gesagt,  es  gebe  für  jeden  Gegenstand  zwei 
entgegengesetzte  Betrachtungsweisen,  und  nach  Aristoteles 
(Rhet.  1402 ,  23 ;  andere  Erwähnungen  dieses  Satzes  bei 
Z.  1140,  1)  wurde  er  hart  getadelt,  weil  er  der  Redekunst 
die  Aufgabe  zuweise,  die  schwächere  Betrachtungsweise  zur 
stärkeren  zu  machen.  Bei  dem  ersten  dieser  beiden  Sätze 
wissen  wir  nicht,  in  welchem  Zusammenhange  er  vorgekommen 
ist.  Doch  scheint  er  nach  dem  Vorstehenden  nicht  zu  seiner 
Erkenntnislehre  gehört  zu  haben.  Nach  dieser  gibt  es  keines- 
wegs über  jeden  Gegenstand  gerade  zwei  einander  wider- 
sprechende Betrachtungsweisen,  sondern  die  Gegenstände 
selbst  sind  von  vielfacher  Beschaffenheit,  und  je  nach  dem 
Zustande  des  Wahrnehmenden  wird  die  eine  oder  die  andere 
dieser  Beschaffenheiten  wahrgenommen,  die  dabei  durchaus 
nicht  gerade  einen  Gegensatz  zu  bilden  brauchen.  Der 
Gegensatz  der  Betrachtungsweisen  kann  nur  entstehen  aus 
dem  Gegensatz  der  Interessen ,  die  sich  an  den  Gegenstand 
knüpfen.  Es  scheint  sich  also  bei  diesem  Ausspruch  um 
Rechtsstreitigkeiten  oder  Ähnliches  zu  handeln.  Der  Satz 
gehört  wahrscheinlich  in  den  Zusammenhang  einer  Be- 
lehrung über  die  rechtliche  und  rednerische  Wahrnehmung 
und  Vertretung  der  eigenen  Interessen  und  hat  in  diesem 
Zusammenhange  nichts  Verfängliches  oder  Anstöfsiges.  OflFen- 
kundig  bezieht  sich  auf  das  Gebiet  der  praktischen  Inter- 
essen und  der  Redekunst  der  zweite  Satz.  Und  da  zeigt 
sich  denn  allerdings,  wenn  Protagoras  seine  Geltung  nicht 
eingeschränkt  hat,  ein  starkes  Zugeständnis  an  das  durch 
sittliche    Bedenken     nicht    behinderte    Advokatentum     im 


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A.    I.    1.   Protagoras.  321 

schlechten  Sinne  des  Wortes  und  ein  Anklang  an  die  spätere 
Ausartung  der  Sophistik. 

Die  erkenntnistheoretischen  Sätze  führen  schon  auf  die 
eigentliche  Lehrtätigkeit  des  Protagoras  hinüber.  Eine 
vollständige  Übersicht  dessen,  was  er  für  den  oben  ange- 
gebenen Bildungszweck  für  erforderlich  hielt,  ist  nicht  über- 
liefert. Dafs  er  auch  für  die  körperliche  Ausbildung  Rat- 
schläge und  Anregungen  gab,  könnte  daraus  geschlossen 
werden,  dafs  als  Gegenstand  einer  seiner  Schriften  die 
Ringkunst  angeführt  wird  (Plato  Soph.  232  E;  D.  L.  IX.  55). 

Einen  Einblick  in  seine  Verfahrungsweise  überhaupt 
gewinnen  wir  durch  Piatos  Protagoras.  Plato  hatte,  wie 
schon  bemerkt,  bei  der  letzten  Anwesenheit  des  Sophisten 
in  Athen  (um  411)  die  ganze  Art  desselben  persönlich 
beobachten  können.  Sein  spätestens  wohl  im  Alter  von 
30  Jahren  geschriebener  Protagoras  gibt  unzweifelhaft  diese 
Jugendeindrücke  in  aufserordentlich  lebensfrischer  Weise 
wieder.  Wie  hier  Protagoras  das  Ziel  seines  Unterrichts 
auf  die  Fragen  des  Sokrates  im  allgemeinen  bestimmt,  ist 
schon  oben  angegeben  worden.  Sokrates  bezweifelt  nun,  dafs 
die  Regierungskunst  lehrbar  sei.  Unvermerkt  geht  aber 
dieser  Begriff  im  Verlaufe  der  Erörterung  in  den  der  sitt- 
lichen Tüchtigkeit  über,  und  die  Diskussion  spitzt  sich  auf 
die  Frage  zu,  ob  die  Tugend  lehrbar  sei  (320  B).  Es  mufs 
also  auch  wohl  für  Protagoras  diese  als  ein  wesentliches 
Hauptstück  der  Regierungskunst  gegolten  haben. 

Den  Beweis  nun,  dafs  die  Tugend  lehrbar  sei,  führt 
Protagoras  durch  den  Vortrag  einer  Art  von  ausgeführter 
Fabel  (320  C  flf.).  Nachdem  die  Tiere  gebildet  worden  waren, 
wurden  sie  mit  den  zu  ihrer  Erhaltung  notwendigen  Organen, 
Kräften  und  Fähigkeiten  ausgestattet.  Der  schwache,  hilf- 
lose Mensch  erhielt  zu  demselben  Zwecke  von  Prometheus 
den  Kunstverstand  und  das  Feuer.  Diese  Gaben  boten  ihm 
nun  zwar  zu  seiner  Ernährung  hinreichende  Hilfe,  zum 
Kampf  gegen  die  Tiere  aber  waren  sie  unzulänglich,  da  die 
Menschen  vereinzelt  lebten.  Die  Versuche,  sich  zu  Staaten 
zusammenzuschliefsen,  schlugen  fehl,  weil  sie  in  Ermangelung 
der  staatsbildenden  Einsicht  (oder  Kunst,  321 D,  322  B)  sich 

DArUg.   1.  21 


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322     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

gegenseitig  unrecht  taten.  Da  liefs  ihnen  Zeus  durch 
Hermes  die  Scham  (d.  h.  wohl  einesteils  das  Ehrbedürfnis 
als  die  Scheu  vor  dem  Urteile  der  anderen  und  andemteils 
das  Ehrgefühl  als  die  Scheu  vor  dem  eigenen  besseren 
Selbst)  und  das  Rechtsgefühl  einpflanzen,  und  zwar  nicht 
in  der  Weise  der  Kunstanlagen,  die  zu  gegenseitiger  Aus* 
hilfe  durch  Teilung  der  Arbeit  an  Verschiedene  verschieden 
ausgeteilt  waren,  sondern  so,  dafs  alle  daran  Anteil  haben 
sollten.  Denn  ohne  das  könnten  keine  Staaten  bestehen, 
und  wer  an  ihnen  keinen  Anteil  habe,  müsse  als  ein 
Krankheitsstoflf  der  Staatsgemeinschaft  getötet  werden.  Die 
staatsbildende  Tugend  wird  dann  auch  noch  mit  den  Namen 
Gerechtigkeit  und  Besonnenheit  (Sophrosyne)  bezeichnet 
(323  A). 

Diese  Naturgrundlage  aber  genügt  noch  nicht;  sie  mufs 
erst  durch  Sorgfalt,  Übung  und  Unterricht  ausgebildet 
werden.  Dafs  dies  möglich  ist,  beweisen  schon  der  Tadel 
und  die  Strafe,  wovon  nach  allgemeinem  Brauche  nicht  die 
mit  unentrinnbaren  Naturmängeln  Behafteten,  wohl  aber  die 
der  bürgerlichen  Tugend  Ermangelnden  betroffen  werden. 
Die  Strafe  ist  ein  Mittel  der  Abschreckung  und  Erziehung« 
Den  vollen  Beweis  für  die  Ausbildungsmöglichkeit  der  sitt- 
lichen Anlagen  aber  glaubt  Protagoras  dadurch  zu  erbringen, 
dafs  er  auf  die  vom  zartesten  Alter  an  im  Gange  befindliche 
Gewöhnung  zum  Rechten  und  Belehrung  über  Recht  und 
Unrecht  hinweist,  wobei  auch  Drohungen  und  Schläge  nicht 
gespart  werden.  In  der  Schule  setzt  sich  dann  diese  Ge- 
wöhnung fort  durch  Aneignung  von  Sittensprüchen  der 
Dichter  und  Hinweis  auf  rühmliche  Vorbilder  edler  Taten. 
Auch  die  Leibesübungen  dienen  diesem  Zwecke,  indem  sie 
den  Körper  geschickt  machen,  der  richtig  gestimmten  Seele 
als  gefügiges  Werkzeug  zu  dienen.  Und  nach  der  Schule 
nimmt  der  Staat  den  Jüngling  direkt  in  Zucht  Er  mufs 
sich  mit  den  Gesetzen  bekannt  machen  und  gewöhnen,  ihnen 
nachzuleben.  Auch  hier  tritt  die  Strafe  als  ergänzendes 
Hilfsmittel  der  Gewöhnung  ein. 

Protagoras  drückt  seine  Gesamtmeinung  auch  so  aus: 
„Jedem  von  uns  nützt  die  Gerechtigkeit  und  Tugend   der 


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A.    I.    1.  Protagoras.  323 

anderen;  deshalb  lehrt  jeder  so  gern  den  anderen  das 
Gerechte  und  Gesetzmäfsige**  (327  B).  Und  selbst  die  nach 
unseren  Begriffen  Allerungerechtesten,  die  innerhalb  eines 
geordneten  Gemeinwesens  die  gewöhnende  Macht  der  Er- 
ziehung und  Gerechtigkeitspfiege  erfahren  haben,  stehen 
turmhoch  über  dem  solcher  Einflüsse  völlig  entbehrenden 
Wilden.  Allerdings  gibt  es  ganz  besonders  befähigte  und 
wirksame  Bildner  zur  Tugend,  und  unter  diesen  glaubt 
Protagoras  selbst  in  allererster  Reihe  zu  stehen. 

In  dieser  Ausführung,  die  wir  allen  Grund  haben  für 
der  wirklichen  Meinung  des  Protagoras  entsprechend  zu 
halten,  sind  vornehmlich  drei  Punkte  bemerkenswert. 

1.  Als  das  Haupterfordemis  für  das  Gedeihen  des 
menschlichen  Gemeinschaftslebens,  also  als  die  Hauptaufgabe 
der  „Regierungskunst"  in  Haus  und  Staat  erscheint  ihm 
die  möglichst  weitgehende  Ausbildung  der  sittlichen  Ge- 
sinnung bei  allen,  vornehmlich  bei  den  leitenden  Peraönlich- 
keiten.  Er  hat  unzweifelhaft  auch  andere  für  den  Regie- 
renden unumgängliche  Gegenstände  gelehrt.  So  hält  er  es 
(Protag.  338  E  f.)  für  ein  sehr  wichtiges  Stück  der  Bildung, 
Dichteraussprüche  richtig  erklären  und  nach  ihrem  Wahr- 
heitsgehalt beurteilen  zu  können.  So  hat  er  gewifs  die 
Redekunst  gelehrt  und  ist  in  diesem  Zusammenhang  dazu 
gekommen,  einige  Grundbegriffe  der  damals  noch  gar  nicht 
existierenden  Grammatik  festzustellen,  wie  die  vier  Arten 
des  einfachen  Satzes:  Aussage,  Frage,  Wunsch,  Befehl 
(D.  L.  IX.  53  f.),  und  über  den  richtigen,  sinngemäfsen  Ge- 
brauch der  Wörter  Bestimmungen  zu  treffen  (PL  Phädr. 
267  C).  Er  ist  auch  selbst  ein  Meister  und  Vorbild  der 
Redegewandtheit.  Denn  er  versteht  nicht  nur  in  zusammen- 
hängendem Vertrage  seine  Gedanken  zu  entwickeln,  sondern 
ist  auch  gewandt,  in  knapper  Kürze  zu  fragen  und  zu  ant- 
worten (Protag.  329  A  B).  Nach  seinem  eigenen  Zeugnis  aber 
ist  er  vornehmlich  und  an  allererster  Stelle  Moralist, 
d.  h.  er  strebt  vor  allem  nach  möglichster  Beförderung  der 
Moralität  als  der  unumgänglichsten  Vorbedingung  für  ein 
gedeihliches,  geordnetes  und  glückliches  Gemeinschaftsleben 
der  Menseben.    Wenn  er,  wie  nach  den  vorhandenen  Nach- 

21* 

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324    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

richten  (D.  L.  IX.  55;  III.  52,  57)  nicht  zu  bezweifeln, 
auch  eine  Schrift  über  den  Staat  verfafst  und  darin  das 
Bild  eines  möglichst  vollkommenen  Staatswesens  entworfen 
hat,  so  mufs  auch  darin  die  Pflege  der  Sittlichkeit,  besonders 
bei  den  herrschenden  Klassen,  stark  in  den  Vordergrund 
getreten  sein. 

2.  Als  Hilfsmittel  zur  Beförderung  des  Sittlichen  läfst 
er  die  Religion  als  Furcht  vor  der  strafenden  Gewalt  der 
Götter  im  Diesseits  und  Jenseits  völlig  beiseite,  sucht  viel- 
mehr die  Begründung  des  Sittlichen  ganz  auf  menschlich- 
natürlichem Boden.  Er  ist  nicht  religiöser,  sondern  mensch- 
lich-natürlicher (anthropologischer)  Moralist. 

Den  ersten  Punkt  anlangend,  so  beobachtet  in  dieser 
Beziehung  seine  vorstehende  Ausführung  ein  beredtes,  viel- 
sagendes Schweigen.  Mit  keinem  Worte  wird  auf  die  Gott- 
heit als  den  Hort  des  Rechts  hingewiesen,  kein  religiöser 
Gedanke  als  Stütze  des  Sittlichen  angerufen.  Eine  be- 
merkenswerte Ergänzung  zu  diesem  Stillschweigen  bietet 
die  Nachricht,  dafs  er  ein  Buch  „Über  die  Götter"  verfafst 
hatte,  das  mit  den  Worten  anfing:  „Über  die  Götter  bin 
ich  nicht  im  stände  zu  wissen,  ob  sie  sind  oder  nicht  sind. 
Denn  vielerlei  verhindert  dies  Wissen,  die  Unerkennbarkeit 
des  Gegenstandes  und  die  Kürze  des  menschlichen  Lebens.^ 
Hier  haben  wir  also  in  der  Tat  eine  beim  Nichtwissen 
stehenbleibende  Skepsis,  in  voller  Übereinstimmung  mit 
seiner  ausschliefslich  auf  der  Wahrnehmung  und  Erfahrung 
beruhenden  Erkenntnislehre.  Was  jenseits  aller  Erfahrung 
liegt,  kann  nicht  Gegenstand  der  Erkenntnis  werden.  Wir 
hören  ferner,  dafs  er  bei  seiner  letzten  Anwesenheit  in 
Athen  (um  411),  also  eben  zu  der  Zeit,  als  der  junge  Plato 
von  seiner  Person  und  Lehre  Kenntnis  genommen  haben 
wird,  dies  Buch  in  einem  engeren  Kreise  von  Gebildeteren 
vorlesen  liefs,  und  dafs  diese  Vorlesung  zu  jener  Anklage 
führte,  die,  wie  wir  sehen  werden,  die  indirekte  Ursache 
seines  Todes  wurde  (D.  L.  IX.  51  f.,  54;  S.  Emp.  Dogm. 
III.  55 ;  D.  535.  Eine  Anspielung  auf  den  Inhalt  der  Schrift 
schon  Theät.  162  D). 

In  voller  Ehrlichkeit,  aber  ohne  jeden  leidenschaftlichen. 


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A.    I.    1.  Protagoras.  325 

polternden  Zelotismus  der  Verneinung,  läfst  er  daher  bei 
seiner  Moralbegründung  den  Götterglauben  völlig,  aber 
stillschweigend  aus  dem  Spiele,  wenn  er  auch,  als  Sokrates 
im  weiteren  Verlaufe  des  platonischen  Dialogs  unter  den 
Tugenden  auch  die  Frömmigkeit  aufführt,  dies  still- 
schweigend geschehen  läfst,  ja  sogar  äufserlich  zustimmt 
(Protag.  329 C,  330 BD,  331,  349 B). 

Und  so  ist  er  denn  drittens  genötigt,  andere,  für  den 
Bestand    des    menschlichen    Gemeinschaftslebens    genügend 
ergiebige   Quellen   des  Sittlichen   nachzuweisen.    Er  kennt 
deren  zwei.    Das  Sittliche  beruht  einesteils  auf  einer  Natur- 
ausstattung,  andernteils  auf  der  Ausbildung  derselben 
durch   vielfache  Mittel  der  Gewöhnung.    Die  Naturaus- 
stattung ist  ihm  wieder  eine  doppelte.    Sie  ist  das  natür- 
liche Bedürfnis  nach  Ehre,  Billigung  und  Anerkennung,  das 
sich   als  Scheu  vor  dem  allgemein  Gemifsbilligten  äufsert, 
vielleicht  auch  die  Scheu  vor  dem  Urteil  des  besseren  Selbst. 
Sie  ist  femer  ein  angeborener  Respekt  vor  den  Rechten  des 
anderen,  ein  natürliches  Rechts-  und  Billigkeitsgefühl.    In 
beiden  Begriffen  zusammengenommen,   der  Scham  und  dem 
Rechtsgefühl,    liegt   bereits   eine   Vorahnung   dessen,    was 
später   im    BegrilBFe   des   Gewissens    in   einem   einheitlichen 
Ausdrucke    zusaramengefafst    worden    ist.    Die    Ausbildung 
dieser    Anlage   durch    Erziehung    geschieht    dadurch,    dafs 
einesteils  von  Kind  an  dem  einzelnen  der  Inhalt  der  sitt- 
lichen Forderung,  wie  ihn  das  allgemeine  Urteil,  die  öffent- 
liche Meinung,  die  herrschende  Sitte  und  das  Staatsgesetz 
feststellten,  durch  beständige  Erinnerung  nahegebracht,  andern- 
teils diese  Forderung  eingeschärft  wird,   indem  durch  Er- 
mahnung, Zurechtweisung,  Drohung,  Strafe,  durch  Vorbilder 
und    durch   die   Autorität   des   bürgerlichen   Gesetzes   eine 
Gewöhnung  zur  Befolgung  oder  doch  wenigstens  zur  An- 
erkennung als  Norm  des  Handelns  begründet  wird. 

Ob  Protagoras  diese  Lehre  durch  Bestimmungen  über 
die  Natur  und  die  Eigenschaften  der  Seele,  etwa  im  Sinne 
Heraklits,  gestützt  hat,  ob  er  zur  Frage  der  Unsterblichkeit 
Stellung  genommen,  oder  ob  er  auch  diese  Fragen  ebenso 
wie   die   nach  der  Existenz  der  Götter  durch  den  Hinweis 


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326    Zweite  Periode.     Erste  ^tufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

auf  die  ünerfafsbarkeit  des  Gegenstandes  beiseitegeschoben . 
hat,  darüber  fehlen  uns  fast  alle  Nachrichten.  Wenig  klar 
und  genau  ist  die  Angabe  (D.  L.  IX.  51),  er  habe  gelehrt, 
die  Seele  sei  nichts  aufser  den  Sinneswahmehmungen.  Ob 
ferner  eine  ihm  beigelegte  Schrift  „Über  die  Dinge  im 
Hades"  (D.  L.  IX.  55)  wirklich  von  ihm  stammte,  und  was 
der  Inhalt  derselben  war,  ist  nicht  bekannt.  Jedenfalls  ist 
er  der  erste  Ethiker,  der  in  der  Form  einer  wissenschaft- 
lichen Theorie  die  Verwirklichung  des  Sittlichen  ausschliefs- 
lich  auf  Natur  und  Gewöhnung  gegründet  hat. 

Von  Demokrit  unterscheidet  er  sich  in  der  ganzen 
Anlage  seiner  Sittenlehre  durchaus.  Beide  lassen  allerdings 
die  Götter  völlig  aus  dem  Spiel.  Im  übrigen  ist  Demokrit 
ein  Vorläufer  der  philosophischen  Güterlehre,  der  das  richtige 
Verhalten  des  einzelnen  ganz  aus  der  Erkenntnis  des  zu 
seinem  eigenen  wahren  Glücke  Dienenden,  also  ganz  aus 
Vemunfttätigkeit  ableitet.  Bei  ihm  zeigt  sich  zuerst  in 
deutlicherer  Ausprägung  die  axiologische  Ethik.  Auf 
diesem  Standpunkte  ist  die  aus  der  Bestimmung  des  höch- 
sten Gutes  fliefsende  Regel  der  Lebensführung  unzweifelhaft 
und  ohne  Einschränkung  lehrbar.  Protagoras  geht  vom 
Interesse  des  Gemeinschaftslebens  aus  und  leitet  daraus  die 
Notwendigkeit  des  Sittlichen  ab.  Er  ist  der  erste  nach- 
drückliche Vertreter  des  Moralismus.  Es  ist  ein  merk- 
würdiges Spiel  des  Zufalls,  dafs  die  beiden  diametral  ent- 
gegengesetzten Richtungen  der  Ethik  innerhalb  einer  kurzen 
Zeitspanne  völlig  unabhängig  voneinander  ihren  Ursprung 
aus  Abdera  nehmen  und  Abdera  so  den  Ruhm  hat,  in 
doppeltem  Sinne  die  Geburtsstätte  der  Ethik 
zu  sein.  Es  mufs  doch  mit  den  Abderiten  nicht  so  gans 
schlimm  gestanden  haben! 

Nur  in  geringerem  Mafse  kommt  bei  der  Richtung  des 
Protagoras  die  Vernunfttätigkeit  des  einzelnen  neben  der 
Naturanlage  und  Gewöhnung  in  Betracht.  Wenn  nach  der 
Darstellung  Piatos  Protagoras  dennoch  die  Lehrbarkeit  der 
Tugend  behauptete,  so  ist  dies  glaublich,  da  er  ja  sich 
selbst  als  einen  der  wirksamsten  Tugendlehrer  anpries.  Doch 
müssen  sich  dann  seine  eigentlichen  Beweisführungen   atif 


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A.    I.    1.  Protagoras.  327 

den  Nachweis  der  Notwendigkeit  des  Zusammenlebens  der 
Menschen  und  der  Notwendigkeit  des  Sittlichen  für  dieses 
Zusammenleben,  sowie  auf  die  Ableitung  der  sittlichen  und 
Gesetzesvorschriften  aus  den  Bedingungen  des  Gemeinschafts- 
lebens beschränkt  haben.  Im  übrigen  aber  mufs  er  mehr 
durch  Vorführung  von  Beispielen  des  Guten,  durch  Dichter- 
stellen u.  dgl.  auf  die  Entwicklung  der  sittlichen  Natur- 
anlage zu  wirken  gesucht  haben. 

So  ergibt  sich  äenn  auch  im  platonischen  Protagoras 
das  Resultat,  dafs  er  die  von  ihm  behauptete  Lehrbarkeit 
der  Tugend,  d.  h.  eine  Begründung  des  sittlichen  Verhaltens 
lediglich  durch  den  Beweis  des  mit  dem  Sittlichen  ver- 
bundenen eigenen  Vorteils,  im  strengen  Sinne  nicht  aufrecht- 
erhalten kann  (Protag.  341).  Und  damit  hängt  noch  ein 
anderer  Punkt  zusammen.  Wer,  wie  Protagoras,  das  Sitt- 
liche fiberwiegend  aus  Naturanlage  und  Gewöhnung  ableitete, 
hatte  nicht  das  Bedürfnis,  dasselbe  auf  einen  einheitlichen 
Begriff  zurückzuführen  und  alle  einzelnen  sittlichen  Willens- 
richtungen aus  einer  einheitlichen  Urquelle  abzuleiten.  Bei 
seinem  Verfahren  war  es  möglich,  die  verschiedenen  löb- 
lichen Eigenschaften  einzeln  ins  Auge  zu  fassen  und  durch 
die  angedeuteten  Erziehungsmittel  zu  stärken  und  zu  ent- 
wickeln. Anders,  wenn  die  Lehrbarkeit  der  Tugend  im 
strengen  Sinne  behauptet  und  das  Sittliche  durch  eine 
Beweisführung  als  dem  eigenen  Vorteil  entsprechend  nach- 
gewiesen werden  sollte.  In  diesem  Falle  war  es  für  die 
Wirksamkeit  der  Beweisführung  unbedingt  geboten,  zunächst 
die  Gesamtheit  der  sittlichen  Vorschriften  auf  ein  einheit- 
liches Prinzip  zurückzuführen,  um  sodann  für  dies  den 
Beweis  der  Notwendigkeit  für  das  eigene  Wohlsein  antreten 
zu  können.  Und  so  finden  wir  denn  in  der  Tat  auch  in 
diesem  Punkte  in  der  platonischen  Schrift  einen  Gegensatz 
zwischen  Protagoras  und  seinem  Sokrates.  Protagoras  will 
auf  die  Frage  nach  der  Einheit  der  Tugend  nur  eine  ge- 
wisse Ähnlichkeit  der  Tugenden,  wie  schliefslich  alle  Dinge 
in  irgend  einem  Mafse  einander  ähnlich  seien,  zugestehen 
oder  ein  Zusammengehören,  wie  die  Teile  des  Gesichts, 
Auge,  Ohr,  Nase  u.  s.  w.,  organisch  verbunden  seien  (Protag. 


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328  Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

329  C  flf.).  Inwieweit  er  in  den  ihm  beigelegten  ethischen 
Schriften  (D.  L.  IX.  55)  auf  diese  Frage  eingegangen  war, 
ist  nicht  bekannt. 

Schliefslich  scheint  sich  Protagoras  auch  schon  mit  der 
Frage  der  zweckmäfsigsten  Staatseinrichtung ,  des  voll- 
kommensten Staats  beschäftigt  zu  haben.  Er  hatte  an- 
scheinend eine  Schrift  „Über  den  Staat"  verfafst  (D.  L. 
IX.  55).  Auch  befand  sich  unter  den  Dialogen,  die  dem 
Sokratiker  Kriton  untergeschoben  worden  waren,  einer  unter 
dem  Titel  „Protagoras  oder  Unterredung  über  den  Staat" 
(D.  L.  II.  121),  was  doch  eine  Staatslehre  bei  ihm  voraus- 
setzt. Vornehmlich  aber  wird  berichtet,  Plato  habe  das 
Wesentliche  seiner  Schrift  vom  Staate  aus  des  Protagoras 
„Widerreden"  entlehnt  (D.  L.  IIL  37,  57).  Wenn  dies 
richtig  ist,  müfste  auch  diese  Schrift  des  Protagoras  sich 
mit  dem  vollkommenen  Staate  beschäftigt  haben.  Und  zwar 
müfsten  wir  dann  annehmen,  dafs  Plato  die  ursprtüigliche, 
von  ihm  selbst  nachher  mehrfach  umgestaltete  und  er- 
weiterte Form  seines  Idealstaats  (wovon  später)  den  Grund- 
zügen nach  von  Protagoras  entlehnt  hätte.  Diese  älteste 
Form  des  platonischen  Staats  gehört  mutmafslich  dem  Jahre 
393  an.  Selbt  wenn  eine  direkte  Entlehnung  von  seiten 
Piatos  nicht  stattgefunden  hat,  läfst  doch  die  aufgekommene 
Meinung  einer  Entlehnung  eine  Ähnlichkeit  in  wesentlichen 
Punkten  vermuten.  Wenn  wir  aber  von  Piatos  Staat  in 
seiner  Urform  auf  das  Staatsideal  des  Protagoras  schliefsen 
dürften,  so  müfste  schon  er  den  Bruch  mit  der  demokra- 
tischen Volkssouveränetät  vollzogen  und  die  Staatsgewalt 
ganz  in  die  Hände  einer  kastenartig  geschlossenen,  durch 
Naturanlage  und  Erziehung  dazu  befähigten,  vielleicht  auch 
durch  Ausschlufs  vom  Privateigentum  und  Familienleben 
den  selbstischen  Interessen  entrückten  Minderheit  gelegt 
haben.  Er  wäre  der  Urheber  des  Gedankens,  die  Demokratie 
durch  eine  starke,  auf  WaflFengewalt  sich  stützende  Regierung 
zu  ersetzen.  Dafs  eine  solche  Vorstellung  von  der  voll- 
kommensten und  dem  allgemeinen  W^ohlsein  dienlichsten 
Form  des  menschlichen  Gemeinschaftslebens  von  den  Grund- 
anschauungen    des   Protagoras  und   von   seinen  vielseitigen 


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A.    I.    1.  Protagoras.  329 

und  langjährigen  Einblicken  in  die  schweren  Übelstände  in 
den  damaligen  Staatsgemeinschaften  aus  gewonnen  werden 
konnte,  wird  der  nicht  bestreiten  können,  der  sich  die  vor- 
stehend dargestellten  Grundzüge  seiner  Denkweise  vergegen- 
wärtigt. Insbesondere  konnte  ihm  von  der  Bedeutung  aus, 
die  er  der  sophistischen  Vorbildung  für  die  Fähigkeit  zu 
herrschen  beilegte,  die  Demokratie  leicht  als  schweres 
Hindernis  für  die  Betätigung  der  Herrscherkunst  erscheinen. 
Geschichtliche  Gewifsheit  kann  freilich  in  bezug  auf  diesen 
Punkt  nicht  erlangt  werden. 

Der  Tod  des  Protagoras  steht  in  enger  Verbindung 
mit  der  über  ihn,  wie  etwa  22  Jahre  früher  über  Anaxa- 
goras,  in  Athen  verhängten  Anklage  wegen  Religions- 
verletzung. In  Athen  bestand  zur  Zeit  seines  letzten 
Aufenthalts  daselbst,  um  411,  kurze  Zeit  unter  völliger  Auf- 
hebung der  demokratischen  Freiheit  die  Herrschaft  eines 
Rates  von  400  Aristokraten.  Von  einem  Mitgliede  dieses 
Rates  ging  die  Anklage  gegen  den  Siebzigjährigen  aus,  ver- 
anlafst  durch  die  bereits  mitgeteilten  Anfangsworte  seiner 
Schrift  über  die  Götter  (D.  L.  IX.  54). 

Er  mufste  Athen  verlassen,  wir  wissen  nicht,  ob  als 
Flüchtling  oder  als  zur  Ausweisung  Verurteilter  (Timon 
Phl.  Fr.  48;  D.  L.  IX.  52;  Cic.  N.  D.  I.  63).  Nach  einer 
anderen  Nachricht  (S.  Emp.  Dogm.  III.  56)  wurde  er  zum 
Tode  verurteilt,  rettete  sich  aber  durch  die  Flucht.  Femer 
erging  an  alle,  die  Schriften  von  ihm  besafsen,  durch  den 
öffentlichen  Ausrufer  der  Befehl,  diese  auszuliefern,  und  das 
Ausgelieferte  wurde  auf  dem  Marktplatze  den  Flammen 
überliefert,  das  älteste  bekannte  Beispiel  dieser  später  in 
der  Christenheit  so  beliebt  gewordenen  Weise  des  Wütens 
gegen  den  Geist  mit  Mitteln  roher  Gewalt  (D.  L.  IX.  52; 
Cic.  a.  a.  O.)-  Er  schiffte  sich  nach  Sizilien  ein  und  starb 
auf  dieser  Reise,  ob  durch  Schiffbruch  oder  an  einer  Krank- 
heit auf  der  Überfahrt,  darüber  gehen  die  Nachrichten  aus- 
einander (D.  L.  IX.  55;  Z.  1053,  2),  in  jedem  von  beiden 
Fällen  doch  wohl  wenigstens  indirekt  das  Opfer  der  über 
ihn  verhängten  Verfolgung.  Und  während  diese  bei  Anaxa- 
goras   überwiegend    das  Werk   persönlichen   Hasses  gegen 


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330     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Perikles  war,   scheint  hier  der  Akt   eines  wirklichen  und 
unverfälschten  altgläubigen  Fanatismus  vorzuliegen. 


2.   Prodlkos  von  Keos. 

Neben  Protagoras  vertritt  am  vollständigsten  das  Streben 
der  älteren  Sophisten  Prodikos  von  Keos.  In  der  bereits 
angeführten  Stelle  aus  Plato  über  die  hohe  Schätzung  der 
Sophisten  (Rep.  600  C)  wird  neben  Protagoras  sein  Name 
ausdrücklich  genannt.  Er  gehört  jedoch  bereits  einer  etwas 
jüngeren  Generation  an  (PI.  Protag.  317  C);  seine  Geburt 
fällt  frühestens  um  465.  Er  scheint  sich  mehr  noch  als 
Protagoras  in  Athen  aufgehalten  zu  haben  (Plato  Hipp, 
maj.  282  C).  Auch  er  liefs  sich  für  seine  Vorträge  bezahlen 
(Z.  1061, 5).  Sokrates  hat  nach  Piatos  scherzhafter  Darstellung 
bei  ihm  über  den  richtigen  Gebrauch  der  Wörter  „die 
Fünfzigdrachmenrede"  (ca.  37  jMk.),  als  für  ihn  zu  kost- 
spielig, nicht  gehört,  sondern  nur  die  „Eindrachmenrede" 
(Krat.  384  B),  und  nach  dem  unter  Piatos  Schriften  stehen- 
den Axiochos  trägt  er  niemals  umsonst  vor,  hat  aber  Vor- 
träge zu  einer  halben  Drachme,  zu  zwei  und  vier  Drachmen 
(366  C).  Zur  Zeit  des  Todes  des  Sokrates  (399)  war  er 
noch  am  Leben  (PL  Apol.  19  E). 

Seine  äufsere  Erscheinung  wird  in  Piatos  Protagoras 
ins  Lächerliche  gezogen.  Sokrates  bedient  sich  dort  in  der 
Schilderung  seiner  Wahrnehmungen  beim  Eintritt  in  das 
vornehme  Haus,  in  dem  die  berühmten  Sophisten  Einkehr 
gehalten  haben ,  der  Wendungen ,  in  denen  in  der  Odyssee 
Odysseus  seine  Beobachtungen  beim  Eintritte  in  das  Toten- 
reich erzählt.  In  bezug  auf  Prodikos  heifst  es  hier  (315  C  f.) : 
„Auch  den  Tantalos  sah  ich."  In  einem  besonderen  Zimmer 
sitzt  er,  eingehüllt  in  Decken  und  Felle,  umgeben  von  einem 
Kreise  von  Bewunderern,  zu  denen  er  mit  dumpfer  Stinune 
spricht.  Offenbar  war  er  kränklich  und  von  ernstem,  feier- 
lichem, düsterem  Wesen.  Dazu  stimmt  denn  auch  die 
düstere  Schilderung  von  den  Leiden  und  Beschwerden  des 
Menschenlebens,  die  ihm  im  „Axiochos"  in  den  Mund  gelegt 
wird  (366  D  flf.).    Weinend  tritt  der  Mensch  ins  Leben   ein, 


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A.    I.    2.   Prodikos  von  Keos.  331 

und  kein  Lebensalter  von  der  Wiege  bis  zum  Grabe  ist 
frei  von  Leiden;  wen  die  Götter  lieben,  den  nehmen  sie 
früh  hinweg;  jeder  Beruf  ist  mit  den  gröfsten  Beschwerden 
verbunden. 

Auch  er  leitete  seine  Zöglinge  zu  erhöhter  Redefertig- 
keit und  Redegewandtheit  an  (Plato  Phädr.  267  B).  Ihn 
selbst  läfst  Plato  (Protag.  337)  in  zierlich  abgezirkelten 
Sätzen  sprechen.  Einen  ganz  besonders  hervorstechenden 
Teil  dieses  Unterrichts  mufs  die  Anleitung  zum  genauen, 
sinngemäfsen  Gebrauche  der  Wörter  gebildet  haben  (PL 
Euthyd.  277  E;  Charm.  163  D;  Lach.  197  D;  Schol,  zu  Phädr. 
267  B;  Aristot.  112  b,  22).  Plato  zieht  im  Protagoras  auch 
diese  Eigentümlichkeit  ins  Lächerliche,  indem  er  ihn  auch 
in  der  Unterhaltung  mit  Erwachsenen  fortwährend  zur  Zeit 
und  zur  Unzeit  pedantische,  für  den  Sinn  bedeutungslose, 
ja  teilweise  ganz  willkürliche  und  aus  der  Luft  gegriffene 
Wortunterscheidungen  anbringen  läfst  (337,  339 E,  340 B, 
341,  358  ABE).  An  der  letzten  dieser  Stellen  erbittet 
Sokrates  sein  Urteil  über  eine  sachliche  Frage,  verbittet 
sich  aber  zugleich  unter  allgemeinem  Gelächter,  in  das  sogar 
Prodikos  selbst  einstimmen  mufs,  jede  Wortunterscheidung. 
Aber  auch  nach  den  sonstigen  Angaben  über  diese  Unter- 
scheidungen scheinen  sie  meist  nicht  besonders  zutreffend 
gewesen  zu  sein,  und  er  scheint  sich  in  ihrer  Durchführung 
nicht  einmal  gleich  geblieben  zu  sein.  Und  auch  in  einer 
anderen  Beziehung  wird  ihm  in  dem  unter  Piatos  Schriften 
stehenden  „Eryxias"  (397  C  ff.)  eine  lächerliche  Rolle  zu- 
geteilt, indem  er  bei  der  Verteidigung  eines  Satzes  von 
einem  aufgeweckten  und  schlagfertigen  Knaben  in  die  Enge 
getrieben  wird.  Mochte  jedoch  dieses  Treiben  oberflächlich 
und  lächerlich  sein,  so  zeugt  es  doch  von  dem  Bestreben, 
nicht  in  angeblich  sophistischer  Weise  die  Begriffe  zu  ver- 
wirren, sondern  im  Gegenteil  sie  in  möglichst  genauer  und 
scharfer  Form  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

In  sehr  nachdrücklicher  Weise  sucht  aber  auch  Pro- 
dikos femer  bei  den  Jünglingen  der  leitenden  Kreise  eine 
sittliche  Gesinnung  zu  befördern.  Und  zwar  verzichtet  auch 
er  dabei  auf  den  Götterglauben  der  Volksreligion.    Er  lehrte. 


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332     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

dafs  die  von  den  Menschen  herkömmlich  angenommenen 
Götter  nicht  existierten.  Dieselben  seien  nur  Vermensch- 
lichungen der  Elemente  und  der  Himmelskörper.  Femer 
hätten  die  Alten  der  Frucht  des  Feldes  und  des  Weinstocks, 
überhaupt  den  dem  Menschen  nützlichen  Naturkräften  und 
Naturerzeugnissen  göttliche  Verehrung  beigelegt  (D.  544, 
59;  Cic.  N.  D.  I.  118;  S.  Emp.  Dogm.  III.  18).  Er  wird 
wegen  dieser  radikal -aufklärerischen  Theorie  geradezu  zu 
den  Götterleugnem  gerechnet  (S.  Emp.  Dogm.  III.  51). 
Ebenso  entschieden  hat  er,  wenn  die  Darstellung  im 
^Axiochos"  (369  B)  geschichtlich  ist,  ein  Fortleben  nach  dem 
Tode  verneint.  Denn  das  setzt  der  dort  ihm  beigelegte 
Ausspruch  voraus,  der  Tod  habe  (eben  als  Übergang  zum 
Nichtsein)  weder  für  die  Lebenden  noch  für  die  Gestorbenen 
eine  Bedeutung.  Jedenfalls  sucht  auch  er  die  Sittlichkeit  durch 
rein  menschlich-natürliche  Gründe  zu  stützen.  Auch  er  ist 
anthropologischer  Moralist.  Erhalten  ist  uns  nur  ein  Bei- 
spiel seiner  moralischen  Lehrweise,  das  sich  freilich  nur  auf 
die  Vermeidung  der  sinnlichen  Ausschweifungen  bezieht. 
In  Xenophons  Denkwürdigkeiten  (II.  1,  21—34)  wiederholt 
Sokrates  aus  dem  Gedächtnis  den  von  Prodikos  häufig  ge- 
haltenen Vortrag  über  „Herakles  am  Scheidewege".  In 
dieser  allegorischen  Erzählung  erscheint  Herakles  in  keinem 
Zuge  als  der  Halbgott  der  griechischen  Volksreligion,  son- 
dern einfach  als  der  Vertreter  des  schon  durch  seine  Geburt 
zur  Herrschaft  berufenen  Nachwuchses  der  Geburtsaristo- 
kratie. Der  Sophist  verfolgt  nur  das  Absehen,  die  in  der 
Basse  liegenden  tüchtigen  Eigenschaften  in  die  richtige 
Bahn  zu  lenken  (§  33,  27).  Wir  sehen,  dafs  er  darauf  aus- 
ging, die  Söhne  der  „Schönen  und  Guten"  —  dies  sind  aber 
in  seinem  Sinne  die  durch  Geburt  zur  Herrschaft  berufenen 
Adligen  —  zu  einer  für  sie  selbst  und  für  das  Ganze  heil- 
samen Führung  der  Herrschaft  anzuleiten.  Dazu  bedarf  es 
aufser  anderen  Eigenschaften  vornehmlich  der  sittlichen 
Tüchtigkeit.  Die  uns  allein  erhaHene  Probe  seines  Ver- 
fahrens, der  Herakles  am  Scheidewege,  bezieht  sich,  wie 
gesagt,  ausschliefslich  auf  die  Empfehlung  der  Enthaltsamkeit 
gegenüber  der  Sinnenlust. 


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A.    I.    2.  Prodikos  von  Keos.  333 

Als  Herakles  in  das  Jünglingsalter  eintritt,  in  dem  der 
Mensch  genötigt  ist,  die  Richtung  seines  Handeies  selbst  zu 
bestimmen,  zieht  er  sich,  ungewifs,  welchen  Weg  er  wählen 
soll,  in  die  Einsamkeit  zurück.    Da  nähern  sich  ihm  zwei 
stattliche  Frauengestalten,  die  eine  von  edlem  und  züchtigem 
Wesen,  natürlicher  Gesichtsfarbe,  schamhaftem  Blick,  ehr- 
barer Haltung,  in  weifsem  Gewände,  die  andere  üppig  und 
fleischig,  geschminkt,  von  hochaufgerichteter  Haltung,  die 
Augen  weit  geöf&iet,  die  Kleidung  so,  dafs  der  üppige  Leib 
möglichst  sichtbar  wird.    Sie  besichtigt  häufig  sich  selbst  und 
ihren  Schatten  und  achtet  darauf,  ob  sie  auch  von  anderen 
bemerkt  wird.    Indem  beide  sich  nähern,  behält  die  erstere 
ihren  ruhigen  Schritt  bei ;  die  andere  beschleunigt  denselben 
zum  Laufe  und  kommt  jener  zuvor.    Sie  bietet  sich  Herakles 
als  Freundin  und  Führerin  auf  dem  Lebenswege  an.    Sie 
will   ihn   den  angenehmsten   und   leichtesten  Weg   führen; 
nichts  Lustvolles  wird  er  ungekostet  lassen;  alles  Schwere 
soll  ihm  fürs  ganze  Leben  erspart  bleiben.    Über  Kriege 
und  Staatsgeschäfte  wird  er  nicht  nachdenken;  nur  um  die 
erlesensten   Genüsse  sämtlicher  fünf  Sinne,    um  möglichst 
genufsreichen  Verkehr  mit  schönen  Knaben,  um  möglichst 
erquicklichen  Schlaf  und  möglichst  mühelose  Erlangung  aller 
dieser    Annehmlichkeiten    ii?ird    er    sich    kümmern.      Auch 
braucht   ihn  nicht  die  Sorge  um  die  Mittel  zu  diesen  Ge- 
nüssen  zu   Anstrengung  und  Mühsal   des  Leibes   und   der 
Seele  zu  treiben.    Von   der  Arbeit  anderer  wird  er  seinen 
Unterhalt  bestreiten:  vor  nichts  Gewinnbringendem  braucht 
er  zurückzuschrecken ;  ihre  Nachfolger  haben  die  Vollmacht, 
jeden  Nutzen  auszubeuten.    Sie  selbst  nennt  sich  die  Glück- 
seligkeit; ihre  Feinde  nennen  sie  das  Laster. 

Inzwischen  ist  auch  die  andere  Frauengestalt  heran- 
gekommen. Sie  kennt  seine  Eltern  und  seine  Natur,  wie 
sie  sich  während  der  Erziehung  gezeigt  hat.  Nach  beidem 
hofil  sie,  dafs  er,  wenn  er  den  zu  ihr  führenden  Weg  ein- 
sehlagen wird,  ein  tüchtiger  Vollbringer  edler  und  würdiger 
Taten  werden  wird.  Sie  will  ihn  nicht  durch  Verheifsungen 
von  Lust  täuschen;  nichts  wahrhaft  Gutes  verleihen  die 
Götter  ohne  Anstrengung  und  eigene  Mühe  den  Menschen. 


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334     Zweite  Periode.     £rste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Als  solche  Güter  zÄhlt  sie  auf:  die  Gnade  der  Götter,  die 
Liebe  der  Freunde,  öflfentliche  Ehren,  Ruhm  bei  der  ge- 
samten Nation,  Macht  und  Erfolg  im  Kriege,  körperliche 
Tüchtigkeit. 

Hier  erhebt  die  andere  den  Vorwurf,  das  sei  ein  schwerer 
und  langer  Weg  zum  Wohlsein;  der  ihrige  zur  Glückselig- 
keit sei  leicht  und  kurz.  Die  Tugend  erwidert,  dafs  jene 
überhaupt  kein  wirkliches  Gut  zu  verleihen  habe.  Die  Über- 
füllung mit  Genüssen  erzeuge  bald  Ekel  und  erfordere  nun 
die  künstlichsten  Reizmittel,  um  den  Genufs  noch  zu  er- 
zwingen. Herabwürdigung  der  Menschennatur  im  Genüsse, 
Verabsäumung  der  eigenen  Interessen,  Verachtung,  Mifs- 
trauen,  Freundlosigkeit  sind  die  Wirkungen.  Ihre  Genossen 
sind  in  der  Jugend  leiblich  unfähig,  im  Alter  blöden  Geistes, 
elend  und  gebrochen,  mühsam  das  ihnen  Obliegende  voll- 
bringend. Die  Lust  haben  sie  in  der  Jugend  durchgekostet, 
das  Schwere  dem  Alter  aufgespart.  In  ihrem  Kreise  wird 
der  stifseste  Klang,  der  des  gespendeten  Lobes,  niemals 
gehört,  der  lieblichste  Anblick,  der  eines  eigenen  heilsamen 
Werkes,  niemals  geschaut. 

Anders  auf  der  Bahn  der  Tugend.  Hier  gibt  es  wahre 
Ehre,  wahren  Erfolg,  wahre  Freundschaft,  Unabhängigkeit 
von  den  Naturbedürfnissen  bei  der  Führung  der  notwendigen 
Geschäfte  und  wahren  Genufs  in  der  Befriedigung  derselben, 
weil  eben  das  Bedürfnis  abgewartet  wird.  Im  Alter  werden 
ihre  Genossen  geehrt  von  der  Jugend ;  mit  Freude  gedenken 
sie  ihrer  früheren  Taten,  tüchtig  und  mit  Lust  vollbringen 
sie  das  ihnen  noch  Obliegende.  Sie  sind  Freunde  der  Götter, 
geliebt  von  den  Freunden,  geehrt  vom  Vaterlande,  nach 
dem  Tode  nicht  vergessen,  sondern  für  alle  Zeiten  in  ehren- 
dem Gedächtnis  gehalten.  Kurz,  es  wird  ihnen  die  „be- 
seligendste Glückseligkeit"  zu  teil. 

Auch  hier  wird,  wie  bei  Protagoras,  zunächst  eine  zu 
Grunde  liegende  Naturanlage  betont.  Aber  diese  wird  nicht, 
wie  bei  jenem,  ausdrücklich  gerade  als  eine  sittliche  be- 
zeichnet. Auch  wird  nicht  ihre  Allgemeinheit  als  Bestand- 
teil der  menschlichen  Natur  überhaupt  betont,  vielmehr  sie 
ausdrücklich  zum  Attribut  und  Erbteil  der  adligen  Geburt 


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A.    I.    2.  Prodikos  von  Keos.  335 

gemacht.  Vornehmlich  aber  weicht  Prodikos  in  der  Art, 
wie  er  die  Naturanlage  zur  Entfaltung  bringen  will,  von 
Protagoras  ab.  Lei  letzterem  ist  die  Tugend  nur  in  dem 
vagen  und  unbestimmten  Sinne  lehrbar,  dafs  die  gewöhnende 
Erziehung  unter  den  Begriflf  der  Lehre  gebracht  wird.  Bei 
Prodikos  aber  handelt  es  sich  um  wirkliche  Lehre,  um  In- 
anspruchnahme der  Erkenntnistätigkeit.  Die  Entscheidung 
soll  herbeigeführt  werden  durch  Eröffnung  der  Einsicht  in 
den  eigenen  wahren  Vorteil.  Dies  drückt  schon  das  Thema 
«Herakles  am  Scheidewege"  aus,  und  die  Lage,  in  die  der 
Jüngling  beim  Beginn  seiner  selbständigen  Lebensführung 
gebracht  wird,  ist  die,  dafs  er  sich  zwischen  der  Üppigkeit 
und  der  Enthaltsamkeit  aus  deutlich  erkannten  Gründen  der 
eigenen  Glückseligkeit,  des  eigenen  wahren  Vorteils,  durch 
einen  die  ganze  ihm  bevorstehende  Lebensführung  be- 
stimmenden Entschlufs  entscheiden  soll.  Diese  Gründe 
werden  ihm  vorgeführt.  Sie  sind  von  mannigfacher  Art; 
alle  wahrhaft  schätzbaren  und  dauernden  Lebensgüter 
sprechen  für  die  ernstere  Lebensgestaltung.  Es  handelt  sich 
um  einen  die  gesamte  Lebensführung  bestimmenden  Ent- 
schlufs. 

Eine  Schrift  des  Prodikos  über  Herakles  wird  auch 
sonst  angeführt  (Plato  Sympos.  177  B).  Und  ebenso  bezeugt 
Plato  (Protag.  340  B  f.) ,  dafs  er  die  Tugend  für  schwierig 
erklärte  und  das  Wort  Hesiods,  vor  die  Tugend  hätten 
die  Götter  den  Schweifs  gesetzt,  mit  Vorliebe  anführte. 

So  vermögen  wir  also  hier,  trotz  der  so  dürftigen  und 
unzureichenden  Nachrichten  über  das  Wirken  des  Prodikos, 
einesteils  die  volle  Übereinstimmung  mit  Protagoras  in  einem 
wichtigen  Punkte  der  sophistischen  Bildungsarbeit,  andem- 
teils  aber  auch  eine  wesentlich  von  der  jenes  verschiedene 
Verfahrungsweise  zu  erkennen.  Das  Ziel  ist  das  gleiche, 
der  Weg  ein  verschiedener.  Auch  bei  Prodikos  ist  die 
Moralbegründung  durchaus  eine  menschlich-natürliche ,  aber 
sie  geht  nicht  auf  Gewöhnung,  sondern  auf  Überzeugung 
vom  eigenen  wahren  Vorteil;  sie  ist  intellektualistisch. 

Zu  betonen  ist  noch,  dafs  Sokrates  in  dem  Gespräche, 
in  dem  diese  Rede  des  Prodikos  erhalten  ist,  ihn  in  durch- 


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386     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

aus  ernstgemeinter  Weise  als  Helfer  in  der  von  ihm  selbst 
vertretenen  Sache  heranzieht.  Er  nennt  ihn  den  weisen 
Prodikos  und  hebt  hervor,  dafs  die  Rede  selbst  in  viel 
stattlichere  Worte  gekleidet  sei,  als  er  es  wiederzugeben 
vermöge  (34),  wenngleich  auch  noch  in  der  Wiedergabe  bei 
Xenophon  die  höchst  sorgfältige  Stilisierung  überall  durch- 
blickt. 

Und  da  selbst  Aristophanes,  der  Verächter  der 
ganzen  sophistischen  Richtung,  dem  Prodikos  im  Ernste 
„Weisheit  und  Einsicht"  zuzuerkennen  scheint  (Wolken  360), 
so  liegt  kein  Grund  vor,  sein  Wirken  anders  als  ernst, 
wohlgesinnt  und  heilsam  anzusehen,  gegen  welches  Urteil 
es  durchaus  keinen  Gegengrund  bildet,  dafs  er  sich  mit  der 
herrschenden  Zeitrichtung  rückhaltlos  auf  den  Boden  der 
religiösen  Aufklärung  stellte. 

3,    Hlppias  von  EUs. 

Die  Lebenszeit  des  Hippias  fällt  nach  denselben  Beweis- 
stellen (PI.  Protag.  317  C;  cf.  Hipp.  maj.  282 E;  Apol.  19E) 
annähernd  mit  der  des  Prodikos  zusammen,  also  von  un- 
gefähr 465  bis  nach  399.  Auch  er  führt  das  Wanderleben 
der  Sophisten  und  rühmt  sich  in  dem  Dialog  „Der  gröfsere 
Hippias",  dessen  platonischer  Ursprung  zweifelhaft  ist,  allein 
in  Sizilien  in  kurzer  Zeit,  und  zwar  während  dort  gleich- 
zeitig Protagoras  als  gefährlicher  Konkurrent  wirkte,  mehr 
als  11000  Mk.  verdient  und  überhaupt  mehr  als  jede  be- 
liebigen zwei  anderen  Sophisten  zusammengenommen  mit 
seiner  Lehrtätigkeit  erworben  zu  haben  (282  E). 

Für  einen  hervorstechenden  Zug  seiner  Geistesrichtung, 
wie  für  die  Art,  wie  er  seinen  Ruf  als  Lehrer  ausbreitete 
und  Kundschaft  gewann,  ist  sein  Geburts-  und  Wohnort 
Elis  von  ausschlaggebender  Bedeutung. 

Hippias  nämlich  erscheint  stets  als  der  Mann  von  un- 
glaublich ausgebreitetem  Wissen  und  Können,  und  auch  in 
seiner  Lehrtätigkeit  beschränkt  er  sich  durchaus  nicht  auf 
die  für  die  Regierungskunst  unbedingt  erforderlichen  Kennt- 
nisse.   Er  versteht  sich  auf  Astronomie  und  Naturkunde, 


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A.    L    3.  Hippias  von  Elis.  337 

auf  Geometrie  und  Reehnen ,  auf  Grammatik ,  Metrik  und 
Musik,  auf  Geschichte  und  Altertumskunde  (worüber  er  auch 
dse  Schrift  verfafst  hatte;  Z.  1066,  2,  1067,  1),  auf  die 
Ged&chtniskunst,  vermöge  deren  er  z.  B.  50  Namen  nach 
einmaligem  Hören  behalten  kann.  Er  verfafst  epische  Ge- 
dichte, Tragödien,  Dithyramben  und  Prosavorträge;  ja,  er 
versteht  sich  auf  eine  Anzahl  von  Handwerken.  In  Olympia 
ist  er  einmal  aufgetreten,  ausgerüstet  mit  folgenden,  sämt- 
lich von  ihm  selbst  angefertigten  Gegenständen :  einem  Ringe 
mit  geschnittenem  Steine,  einem  Siegelring,  einem  Bade- 
striegel,  einer  metallenen  Ölflasche,  einem  Paar  Schuhe, 
Mantel  und  Unterkleid  (Hipp.  maj.  285 C  ff.;  Xen.  Symp.  62; 
Hipp.  min.  368  B  if.).  Entsprechend  hatte  auch  sein  Unter- 
richt diese  Richtung  auf  das  Universelle.  Von  dem  mife- 
gfinstigen  Seitenblicke,  den  Protagoras  im  gleichnamigen 
platonischen  Dialoge  (318  E)  hinsichtlich  der  Belästigung 
der  jungen  Leute  mit  seinen  Schulkünsten  auf  ihn  wirft, 
war  schon  die  Rede. 

Diese  universelle  Richtung  aber  konnte  ihm  gerade  in 
seiner  Vaterstadt  zu  eigen  werden.  Im  Gelnete  derselben 
lag  Olympia,  wo  alle  vier  Jahre  nicht  nur  die  körperlichen 
Wettkämpfe  stattfanden,  sondern  auch  Dichter,  Musiker, 
Gelehrte  und  Künstler  aller  Art  die  Gelegenheit  benutzten, 
ihre  Leistungen  der  versammelten  Menge  aus  allen  griechischen 
Landen  zur  Kenntnis  zu  bringen.  Ein  regelmäfsiger  Besuch 
dieser  Festspiele  von  Jugend  auf  mufste  ihn  also  mit  allen 
neuesten  Bestrebungen  im  Geistesleben  seines  Volkes  be- 
kannt machen. 

Ebenso  war  ihm  auch  dort  die  beste  Gelegenheit  ge- 
boten, als  Erwachsener  seine  eigenen  Leistungen  zur  Schau 
zu  stellen,  den  Versammelten  etwas  zum  besten  zu  geben 
und  dadurch  Beziehungen  anzuknüpfen  und  Einladungen 
zur  Lehrtätigkeit  nach  allen  Gegenden  Griechenlands  ent- 
gegMizunehmen  (Hipp.  min.  363  G  f.). 

Aus  diesem  Umstände  in  Verbindung  mit  ^er  be- 
häbige SelbstgefiUligkeit  des  Naturells  erklärt  sich  denn 
auch  wohl  das  Reklamesüchtige  in  seinem  Auftreten,  das 
ihm  bei  Plato  regelmäfsig  in  einem  lächerlichen  Lichte  er- 

D#riaf.  I.  22 

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388     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

scheinen  läfst.  Im  Protagoras  wird  er,  ähnlich  wie  Prodikos, 
mit  einem  Zitat  aus  der  Hadesfahrt  des  Odysseus  eingeführt 
und  dargestellt,  wie  er  in  einem  besonderen  Räume,  auf 
einem  hohen  Sessel  sitzend,  den  auf  den  Stufen  gelagerten 
Hörern  sein  Wissen  mitteilt  (315 B)  und  nachher,  zur  Ab- 
gabe seines  Urteils  in  einer  Streitfrage  aufgerufen,  mit 
einem  ganz  unverhältnismäfsigen  Aufwände  von  Worten 
gleich  den  Kernpunkt  seiner  ganzen  Weisheit  zum  besten 
gibt  (337  C).  Und  ebenso  erscheint  er  in  den  beiden  nach 
ihm  benannten  Dialogen  durchweg  bei  fast  unglaublicher 
Oberflächlichkeit  und  Unfähigkeit  zu  schärferem  Denken 
selbstgefällig-sicher,  prahlerisch  und  herablassend. 

Diese  Universalität  des  Wissens  und  der  Lehrtätigkeit 
ist  aber  nur  die  eine  Seite  am  Wesen  des  Hippias.  Es  sind 
Spuren  genug  vorhanden,  dafs  er  in  dem  Hauptpunkte  der 
sophistischen  Lehrtätigkeit,  der  Begründung  des  Sittlichen, 
der  allgemeinen  Richtung  der  älteren  Sophistik  folgte. 

Ob  auch  er  sich  dabei  zum  Glauben  an  die  Götter  und 
das  Jenseits  kritisch  verhielt,  darüber  ist  nichts  überliefert. 
Doch  zeigt  sich  auch  bei  ihm  das  Bestreben,  das  Sittliche 
ausschliefslich  auf  natürlichem  Wege  zu  begründen. 

Am  bezeichnendsten  ist  in  dieser  Beziehung  die  eben 
berührte  Stelle  des  Protagoras  (337  C).  Um  zu  entscheiden, 
wie  es  in  dem  Gedankenaustausch  zwischen  Sokrates  und 
Protagoras  gehalten  werden  soll,  beruft  er  sich  auf  die  Be- 
schaffenheit der  Menschennatur,  aus  der  alle  Ordnungen  des 
Zusammenlebens  der  Menschen  abzuleiten  seien.  Das  positive 
Gesetz  der  Staaten  ist  ein  Tyrann  der  Menschen  und  er- 
zwingt vieles  gegen  die  Natur.  Von  Natur  ist  das  Gleiche 
dem  Gleichen  stammverwandt;  von  Natur,  nicht  durch  Gesetz, 
sind  alle  die  Anwesenden  Verwandte,  Hausgenossen  und  Mit- 
bürger. Deshalb  können  und  sollen  sie  sich  vertragen  und 
einer  dem  anderen  nachgeben.  Hier  tritt  deutlich  der  auf- 
klärerische Gegensatz  zwischen  der  an  sich  noch  nicht  be- 
rechtigten hergebrachten  Satzung  und  dem  durch  die  Natur 
selbst  Sanktionierten  hervor.  Es  kommt  aber  femer  der- 
selbe Grundgedanke  einer  Naturausstattung  zum  Sittlichen 
zum    Ausdruck    wie  bei   Protagoras,    nur  in  einer   etwas 


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A.    I.    3.  Hippias  von  Elia.  339 

anderen  Formulierung.  Offenbar  ist  ihm  das  Mitgefühl  des 
Gleichen  mit  dem  Gleichen,  des  Menschen  mit  dem  Menschen 
die  Grundlage  des  sittlichen  Lebens. 

Nicht  ganz  so  deutlich  treten  die  gleichen  Grundzüge 
in  einem  Gespräche  mit  Sokrates  hervor,  das  Xenophon 
(Memorab.  IV.  4)  berichtet.  Dasselbe  ist  den  Grundzügen 
nach  gewifs  geschichtlich  und  mufs  ungefähr  in  dieselbe 
Zeit  fallen,  in  der  der  junge  Plato  seine  vornehmlich  im 
Protagoras  niedergelegten  Beobachtungen  über  die  Sophisten 
machte  (um  411).  Auch  hier  verhält  er  sich  ablehnend 
gegen  den  Wert  der  positiven  Gesetze,  die  ja  oft  genug  von 
eben  denselben,  die  sie  gegeben,  wieder  abgeschafft  oder 
geändert  werden  (§  14).  Dagegen  ist  ihm  der  von  Sokrates 
vorgebrachte  Gedanke,  dafs  es  ungeschriebene,  von  allen 
Menschen  anerkannte  Gesetze  gebe,  die  in  der  Natur  ihren 
Grund  haben,  sympathisch  (§  18).  Auch  hier  beschäftigt  er 
sich  mit  ethischen  Fragen.  Getreu  seinem  Grundsatze,  über 
dieselben  Fragen  jedesmal  Neues  vorzubringen,  hat  er  soeben 
eine  neue  Bestimmung  der  Gerechtigkeit  gefunden,  der 
niemand  wird  widersprechen  können,  deren  Inhalt  uns  aber 
leider  vorenthalten  wird.  Auch  im  „kleineren  Hippias"  hat 
er  soeben  in  einem  Vortrage  bewiesen,  dafs  die  Ilias  wegen 
der  Wahrhaftigkeit  ihres  Haupthelden  Achilleus  der  Odyssee 
vorzuziehen  sei,  die  den  trügerischen  Odysseus  verherrliche 
(353  B  ff.).  Auch  hier  scheint  er  das  Naturell  für  den  Ur- 
sitz  des  Sittlichen  zu  halten,  doch  so,  dafs  er  auch  wieder, 
wie  Protagoras,  versucht,  durch  die  Aufstellung  von  Vor- 
bildern und  durch  Mahnreden  sittlich  bildend  zu  wirken. 
Auch  im  „gröfseren  Hippias"  (286  A  f.)  rühmt  er  sich  einer 
Rede,  in  der  nach  der  Einnahme  Trojas  auf  die  Bitte  des 
jungen  Neoptolemos  Nestor  diesem  Ratschläge  erteilt,  durch 
welches  Verhalten  er  zu  Ehre  und  Ansehen  gelangen  könne, 
in  der  in  vorzüglicher  Weise  das  Thema  behandelt  werde, 
welchen  Bestrebungen  ein  junger  Mann  sich  widmen  müsse. 
Auch  bei  ihm  also  tritt,  wie  bei  Protagoras,  zur  Natur- 
anlage die  sittliche  Gewöhnung  hinzu.  Dagegen  zeigt  er 
sich  im  „kleineren  Hippias*'  für  den  Gedanken,  dafs  die 
Tugend  auf  einer  Erkenntnistätigkeit  beruhe,  und  dafs 

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340     Zweite  Periode.    Erste  Stafe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

daher  der  bewufst  und  absichtlich  schlecht  Handelnde  dem 
nur  gewohnheitsmäfsig  gut  Handelnden  vorzuziehen  sei, 
völlig  verständnislos  und  unzugänglich.  Er  kann  sich  zu 
der  Höhe  dieser  aus  der  Begründung  des  Sittlichen  durch 
Vemunftgründe  entspringenden  Paradoxie  nicht  erheben  und 
zeigt  sich  überhaupt  in  der  herkömmlichen  Verfahrungsweise 
der  Förderung  des  Sittlichen  durch  Gewöhnung  und  Mahn- 
reden  völlig  befangen. 

Genaueres  über  sein  Lehrverfahren  auf  dem  ethischen 
Gebiete  ist  nicht  bekannt,  doch  zeigen  schon  die  wenigen 
angeführten  Züge  und  die  freundschaftliche  Art,  wie  Sokrates 
in  dem  angeführten  Kapitel  der  xenophontischen  Denk- 
würdigkeiten mit  ihm  verkehrt,  dafs  er  ein  vielseitig  glän- 
zend begabter  Mann  war  und  als  Moralist,  wenn  auch  dem 
strengen  ethischen  Intellektualismus  wegen  mangelnder 
Schärfe  des  Denkens  unzugänglich,  eine  ernste  und  wohl- 
meinende Richtung  und  Wirksamkeit  verfolgte. 

4.   Antiphon. 

Aufser  den  drei  Genannten  mufs  zu  dem  älteren  Ge- 
schlecht der  Sophisten  auch  noch  Antiphon  gezählt  werden. 
Er  darf  nicht  übergangen  werden,  weil  gerade  von  ihm 
neuerdings  Züge  bekannt  geworden  sind,  die  das  Lehr- 
verfahren der  älteren  Sophisten  überhaupt  in  ein  helleres 
Licht  setzen. 

Zunächst  zwar  erscheint  er  in  einem  überaus  wider- 
wärtigen Lichte  durch  seine  von  Xenophon  (Mem.  I.  6)  be- 
richteten wiederholten  Bemühungen,  Sokrates  das  Vertrau^i 
seiner  Schüler  zu  entziehen  und  diese  aus  Habsucht  zu  sich 
selbst  hinüberzulocken.  So  sagt  er  einmal  in  Gegenwart 
der  Schüler  zu  Sokrates,  die  Philosophie,  d.  h.  die  höhere 
Bildung,  verfolge  doch  als  letzten  Zweck  den,  die  Glück- 
seligkeit der  Zöglinge  zu  fördern.  Dies  treffe  aber  bei 
Sokrates  nicht  zu.  Auf  jeden  Entgelt  für  seinen  Unterrieht 
verzichtend,  verzichte  er  auf  die  Mittel  zu  einer  anständigen 
und  angenehmen  Lebensweise  und  begnüge  sich  mit  einer 
Kleidung  und  Kost,  bei  der  kein  Sklave  bei  seinem  Herrn 


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A.    I.    4.  Antiphon.  341 

aushalten  würde.  Wenn  er  seine  Jünger  zu  einer  solchen 
Lebensführung  anhalte,  so  könne  er  nur  als  ein  Lehrer  der 
Unseligkeit  bezeichnet  werden.  Direkt  gegen  die  Unent- 
geltlichkeit der  Lehre  des  Sokrates  richtet  sich  sein  zweiter 
Angriff.  Sokrates  zeige  sich  dadurch  zwar  als  gerecht,  da 
er  nichts  zu  bieten  habe  und  ein  Betrüger  wäre,  wenn  er 
Honorar  forderte.  Darin  liege  aber  zugleich  das  Zu- 
geständnis, dafs  er  keine  Weisheit  besitze.  Ein  drittes  Mal 
wirft  er  ihm  vor,  dafs  er  doch  aufser  stände  sei,  seinen 
Genossen  eine  politische  Ausbildung  zu  geben  (worauf  es 
doch  nach  dem  gemeinsamen  Grundzuge  des  sophistischen 
Unterrichts  allein  ankomme).  Dafs  Sokrates  von  politischen 
Dingen  nichts  verstehe,  schliefst  er  daraus,  dafs  er  sich 
selbst  an  den  öffentlichen  Angelegenheiten  nicht  beteilige. 

Wir  entnehmen  aus  diesem  Berichte  Xenophons  zunächst, 
dafs  Antiphon,  über  dessen  Lebenszeit  sonst  Genaueres  nicht 
bekannt  ist,  jedenfalls  in  der  Zeit  von  etwa  410 — 400  — 
auf  diese  Zeit  beziehen  sich  die  Berichte  Xenophons  — 
sieh,  wenn  auch  nicht  dauernd,  in  Athen  aufgehalten  hat. 
In  welchem  Lebensalter  er  damals  stand,  lälst  sich  nicht 
entnehmen.  Wenn  Xenophon  diese  Angriffe  lediglich  aus 
sophistischer  Habsucht  ableitete,  so  beruht  das  vielleicht 
auf  parteiischer  Abneigung;  vielleicht  hielt  Antiphon  die 
Art,  wie  Sokrates  auf  seine  Schüler  wirkte,  wirklich  für 
verkehrt  und  zweckwidrig.  Seine  feindselige  Haltung  gegen 
diesen  wird  auch  bei  Diogenes  Laertius  (IL  46),  und  zwar 
unter  Berufung  auf  eine  —  für  uns  verlorene  —  Schrift 
des  Aristoteles,  bezeugt.  Von  seiner  eigenen  Lehrweise 
l&fst  sich  einigermafsen  ein  Bild  gewinnen  aus  den  er- 
haltenen Bruchstücken  seiner  Schriften.  Eine  seiner  Schriften 
war  betitelt  „Wahrheit",  eine  andere  „Über  die  Eintracht" ; 
eine  dritte  enthielt  eine  Staatslehre. 

Die  Schrift  über  die  Wahrheit  bestand  aus  zwei  Büchern. 
Im  ersten  derselben  behandelte  er  die  Erkenntnisfrage.  In 
welchem  Sinne,  ist  nicht  genügend  erkennbar.  Wenn  er 
hier  z.  B.  ausführte,  dafs  man  durch  die  Sinne  zwar  lange 
Gegenstände,  niemals  aber  die  Länge  selbst  wahrnehme,  so 
sebeint  damit  gegenüber  der  Theorie  des  Protagoras   auf 


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342     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

das  die  Allgemeinvorstellungen  bildende  Denken  als  das  die 
Wahrnehmung  ergänzende  Erkenntnismittel  hingewiesen  zu 
werden  (Sauppe,  De  Antiphon te  sophista  S.  10).  Jeden- 
falls findet  sich  auch  hier  keine  Spur  von  der  vermeintlichen 
Sucht  der  Sophisten  nach  Verdrehung  und  Irreleitung.  Das 
zweite  Buch  der  „Wahrheit"^  gab  eine  Naturlehre  und  handelte 
insbesondere  auch  von  der  menschlichen  Natur.  Einige 
seiner  hierhergehörigen  Lehren  sind  erhalten  (Z.  1108,  2; 
Arist.  172,  7;  185,  17),  es  hat  aber  kein  Interesse,  darauf 
einzugehen.  Wir  entnehmen  daraus  nur,  dafs  er  auch  ein 
gewisses  Mafs  naturwissenschaftlicher  Kenntnisse  für  die 
leitenden  Männer  für  erforderlich  hielt.  Dafs  er  diesen 
Belehrungen  eine  dem  Handeln  dienliche  Richtung  gab,  geht 
auch  daraus  hervor,  dafs  er  vielfach  als  Vorzeichen-  und 
Traumdeuter  bezeichnet  wird  (D.  L.  IL  46;  Z.  1071).  Ob 
er  die  äufseren  Vorkommnisse  und  die  Träume,  in  denen 
er  ein  Hilfsmittel  fand,  den  Ausgang  geplanter  Unter- 
nehmungen vorauszusehen,  für  göttliche  Veranstaltungen 
angesehen  und  also  überhaupt  ein  göttliches  Walten  an- 
genommen hat,  oder  ob  er  als  Rationalist  den  betreffenden 
Volksglauben  natürlich  zu  begründen  versuchte,  ist  nicht 
bekannt.  Doch  ist  das  letztere  das  wahrscheinlichere,  da 
er  den  Vorsehungsglauben  verwarf  (Orig.  c.  Cels.  IV.  25; 
Blafs,  De  Antiph.  soph.  Fr.  98,  32,  133).  Daraufhin 
könnte  man  vermuten,  dafs  der  Beiname  des  Vorzeichen- 
deuters (D.  L.  IL  46)  ihm  mehr  in  spöttischem  Sinne,  als 
eine  Art  Spitzname,  beigelegt  worden  sei. 

Seine  Schrift  über  die  Eintracht  scheint  den  Zweck 
verfolgt  zu  haben,  ein  gesetzliches  und  gemeinnütziges  Ver- 
halten durch  Klugheitsgründe  zu  empfehlen.  Das  Glück  des 
Menschen  liegt  zum  Teil  in  der  Hand  des  Geschickes,  vor- 
nehmlich aber  steht  es  in  der  Macht  des  Menschen  selbst, 
sich  durch  eifriges  Bemühen  tüchtige  Eigenschaften  zu  er- 
werben. Wer  Ansehen  und  Ruhm  bei  den  Menschen  er- 
langen will,  mufs  von  Jugend  auf  sich  immer  in  gleich- 
mäfsiger  Richtung  tüchtig  zeigen.  So  gewöhnt  er  die 
anderen  an  ein  günstiges  Urteil  über  sich,  entgeht  dem 
Neide,    dem    die    plötzlich    hervortretende    Überlegenheit 


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A.    I.    4.   Antiphon.  343 

anheimfällt,  und  erwirbt  sich  unwandelbares  Vertrauen,  das 
nur  durch  die  Länge  der  Zeit  erwachsen  kann.  —  Wer 
nach  der  höchsten  Tüchtigkeit  strebt,  mufs  erwägen,  in 
welcher  Weise  er  durch  Rede  oder  Tat  das  Beste  leisten 
kann;  denn  so  wird  er  sich  den  meisten  nützlich  machen 
können.  —  Besser  und  dauernder  als  durch  Geldspenden 
wird  einer  seinen  Mitmenschen  Gutes  erweisen,  wenn  er 
die  Gesetze  hochhält  und  der  Gerechtigkeit  dient,  denn  das 
verbindet  und  hält  zusammen  die  Staaten  und  die  Menschen. 
—  Der  wahrhaft  tüchtige  Mann  strebt  nicht  durch  äufseren, 
erborgten  Glanz  —  z.  B.  Reichtum  —  nach  Ehre,  sondern 
durch  die  eigene  Tüchtigkeit.  —  Die  feige  Liebe  zum  Leben 
wäre  berechtigt,  wenn  nur  äufsere  Gewalt  uns  desselben 
berauben  könnte  und  wir  sonst  unsterblich  wären.  Besser 
als  ein  elendes  Greisenalter  und  ein  Tod  in  Unehre  ist  der 
ewige  Nachruhm,  der  dem  Opfer  des  Lebens  folgt.  —  Der 
Mensch  ist  von  Natur  unfähig,  vereinzelt  zu  leben;  die  Not- 
wendigkeit hat  die  Gemeinschaft  begründet.  Wäre  einer 
unverwundbar  und  unnahbar  für  Krankheit  und  Leid,  über- 
natürlich und  stählern  an  Leib  und  Seele,  so  könnte  ihm 
vielleicht  der  Gedanke  kommen,  dafs  er  ungestraft  Gewalt 
üben  dürfte.  Aber  auch  ein  solcher  könnte  nicht  ohne  Recht 
und  Gesetz  leben;  die  Gesamtheit  der  übrigen  würde  sich 
gegen  ihn  erheben  und  ihn  mit  Gewalt  oder  List  über- 
wältigen. —  Aus  der  Gesetzlichkeit  entspringt  der  höchste 
Gewinn  für  den  einzelnen  wie  für  die  Gesamtheit.  Aus  ihr 
entsteht  das  Vertrauen,  das  den  Umlauf  der  Güter  und 
damit  das  Ausreichen  auch  mäfsigen  Gutes  für  alle  schafft. 
Sie  schafft  dem  Beglückten  sicheren  Genufs,  verleiht  Eifer 
zu  öffentlichen  und  Privatgeschäften,  ermöglicht  sorglosen 
Schlummer  und  macht  selbst  den  Krieg  weniger  gefährlich. 
Die  Ungesetzlichkeit  erzeugt  inneren  Streit  und  Hader  und 
alle  jenen  Vorteilen  entgegengesetzten  Übel.  —  Die  Tyrannis 
entsteht  aus  Ungesetzlichkeit  und  Begierde,  wenn  allgemeine 
Verderbnis  eingerissen  ist.  Ohne  Recht  und  Gesetz  können 
die  Menschen  nicht  leben.  Sind  diese  von  der  Menge  ge- 
wichen, so  geht  ihre  Pflege  auf  einen  über,  aber  nur  durch 
Umsturz  des  allgemeinen  Gesetzes.    Der  Räuber  des  Rechtes 


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344     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

aber  müTste  selbst  nicht  von  Fleisch  und  Bein,  wie  die 
anderen,  sondern  von  Stahl  sein  (Blafs,  De  Antiphonte 
sophista  Jamblichi  auctore,  1880). 

So  liefern  diese  Bruchstücke  ein  besonders  deutliches 
Zeugnis  für  das  Streben  der  älteren  Sophisten  nach  Be- 
gründung sittlichen  und  gesetzlichen  Sinnes  bei  den  leitenden 
Männern.  Sie  lassen  uns  einen  Blick  tun  auch  in  die  Unter- 
richtsweise dieser  Männer.  Näher  erinnert  der  Hinweis  auf 
die  Hilflosigkeit  des  Menschen  in  der  Vereinzelung  an  Prota- 
goras;  die  durchgängige  Begründung  des  gesetzlichen  Ver- 
haltens durch  den  Hinweis  auf  den  eigenen  Vorteil,  auf 
Sicherheit  des  Lebens,  Ehre  und  Ansehen,  überhaupt  durch 
Klugheitserwägungen  aber  stellt  Antiphon  als  Moralisten 
ganz  auf  die  Seite  des  Prodikos.  Der  Titel  der  Schrift 
fafst  alle  diese  Gedanken  in  einem  einheitlichen  Begriffe  zu- 
sammen. Auch  in  der  Anpreisung  der  Gesetzlichkeit  als 
des  elementarsten  Stückes  der  Gerechtigkeit  durch  Sokrates 
(Mem.  IV.  4,  12—18)  finden  sich  grofsenteils  die  gleichen 
Gedanken  wieder,  und  insbesondere  wird  auch  hier  darauf 
verwiesen,  dafs  zur  Eintracht  überall  in  den  Staaten  ermahnt 
wird  und  überall  in  den  griechischen  Staaten  der  Bürgereid 
ein  Gelöbnis  der  Eintracht  enthält,  der  Eintracht  nicht  in 
gleichgültigen  Dingen,  z.  B.  in  den  Ansichten  über  die 
Leistungen  von  Chören,  Flötenspielern  oder  Dichtem,  son- 
dern als  Gehorsam  gegen  die  Gesetze  ({5  16). 

Über  den  Grundgedanken  der  dritten  Schrift  des  Anti- 
phon „Über  den  Staat''  lälst  sich  aus  dem  wenigen  daraus 
Erhaltenen  nichts  Bestimmtes  entnehmen.  Doch  wird  auch 
er,  wie  Protagoras  in  der  gleichbetitelten  Schrift,  darin 
seine  Meinung  über  die  beste,  d.  h.  dem  allgemeinen  Wohl- 
sein am  meisten  dienende  Verfassung  ausgesprochen  haben. 
Dafs  dies  nach  seiner  Meinung  die  Republik  war,  zeigen 
schon  die  vorstehend  mitgeteilten  Äufserungen.  Welche 
Form  der  Republik,  ob  die  aristokratische  oder  demokra- 
tische, ist  nicht  zu  ersehen.  Übrigens  hat  er  in  dieser 
Schrift  auch  von  der  Ehe,  vom  Hauswesen  und  dergL  ge- 
handelt. 


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A.    II.   Die  Ausartung  der  Sophistik.  345 

II.    Die  Ausartung  der  Sophistik. 

Über  die  entartende  und  entartete  Sophistik  besitzen 
wir  noch  weniger  zuverlässige  und  unparteiische  Nach- 
richten als  über  die  ursprüngliche  Gestalt.  Wir  müssen 
ihr  Bild  aus  den  gefärbten  Darstellungen  von  Gegnern  ent- 
nehmen. 

Der  geniale  Komödiendichter  Aristophanes  ist  ein 
geschworener  Feind  der  die  strenge  Denkart  und  Lebens- 
haltung der  Väter  zersetzenden  Aufklärung.  Sie  erscheint 
ihm  absurd  und  möralwidrig.  Plato  fühlt  sich  in  dem 
Mafse,  in  dem  seine  eigene  Weltanschauung  sich  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  ausbildet,  mit  zunehmender  Stärke 
von  der  Sophistik  abgestofsen.  Auch  die  ältere  Sophistik 
war  ihm  nicht  sympathisch  gewesen;  mit  der  Erstarkung 
seines  eigenen  Denkens  erweitert  sich  die  Kluft  zusehends. 
Dazu  kommt  endlich,  dafs  offenbar  bei  beiden  in  das  Bild 
der  Sophistik  auch  noch  Züge  von  anderen,  nach  der  An- 
sicht der  beiden  Darsteller  verwandten  Geistesrichtungen 
hineingeflossen  sind.  Das  sind  aber  unsere  beiden  Haupt- 
zeugen. 

Angesichts  dieser  Sachlage  läfst  sich  nichts  tun,  als 
die  Grundzüge  dieser  Schilderungen  wiederzugeben  unter 
dem  ausdrücklichen  Vorbehalt,  dafs  für  das  Mafs  ihrer 
Geschichtlichkeit  eine  Bürgschaft  nicht  übernommen  werden 
kann. 

Diese  Zeugnisse  sind  überdies  durch  menschenalterlange 
Zeiträume  voneinander  getrennt,  in  denen  selbstverständlich 
die  Entwicklung  nicht  stillstand.  Wenn  wir  auch  noch 
Aristotelesals  Zeugen  heranziehen,  so  breiten  sie  sich 
annähernd  über  ein  volles  Jahrhundert  aus,  müssen  also 
mit  Notwendigkeit  verschiedene  Entwicklungsstufen  der 
Sophistik  betreffen. 

Die  uns  erhaltenen  Zeugnisse  gruppieren  sich  folgender- 
JuaTsen: 

1.    Aristophanes'  „Wolken":  ein  Zerrbild  des 
Sophistentreibens  um  423. 


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346     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

2.  Plato  im  ersten  Jahrzehnt  des  4.  Jahr- 
hunderts: die  Sophistik  als  falsche  Staats- 
kunst; Gorgias  und  seine  Schule. 

3.  Plato  im  zweiten  Jahrzehnt  des  4.  Jahr- 
hunderts: die  Sophistik  als  Afterbildung 
im  Gegensatze  gegen  die  Philosophie. 

4.  Zeugnisse  des  Aristoteles  um  330. 

1.   Aristophaiies'  „W^olken":  ein  Zerrbild  des 
Sophistentreibens  um  423. 

Ein  sehr  lebendiges  Bild,  wie  sich  ums  Jahr  423  das 
Treiben  der  Sophisten  dem  Kreise  der  Femerstehenden  dar- 
stellte, gewährt  uns  die  in  diesem  Jahre  aufgeführte  Komödie 
des  Aristophanes  „Die  Wolken".  Wir  besitzen  diese  Komödie 
nur  in  der  Umarbeitung  des  Jahres  420,  die  aber,  wie  es 
scheint,  nicht  zur  Aufführung  gelangte.  Dieses  Bild  ist 
nicht  nur,  entsprechend  der  fehlenden  Neigung  des  Zeichners 
zu  tieferem  Eingehen  in  den  wirklichen  Tatbestand  und 
seine  Zusammenhänge,  ein  ungenaues,  auf  nur  oberfläch- 
licher Information  beruhendes,  es  ist,  entsprechend  dem 
Zwecke  und  der  Art  dieser  alten  Form  der  Komödie,  geradezu 
ein  absichtlich  verzerrtes,  ins  Grobe  und  Ungeheuerliche 
gemaltes.  Dazu  kommt,  dafs  in  ihm  die  Züge  der  aus- 
klingenden Naturphilosophie,  wie  sie  sich  damals  in  Athen 
darstellte,  in  mutmafslich  unhistorischer  Weise  mit  denen 
der  Sophistik  zusammengeflossen  sind.  So  entsteht  ein  Zerr- 
bild des  damaligen  Sophistentreibens  in  Athen,  wie  es  sich 
im  Kopfe  des  Aristophanes  spiegelte.  Bei  allen  Übertreibungen 
dürfen  wir  darin  aber  doch  wohl  manche  lebenswahre  Züge 
der  damaligen  Gestalt  der  Sophistik  erkennen. 

Strepsiades,  ein  Athener  alten  Schlages,  ist  durch  die 
UnWirtschaftlichkeit  seiner  vornehmen  Gattin  und  die  noblen 
Passionen  seines  Sohnes  in  drückende  Schulden  geraten. 
Er  vermag  die  hohen  Monatszinsen  nicht  zu  beschaffen  und 
versucht  daher  zunächst,  den  Sohn  zu  bereden,  in  die  Lehr- 
anstalt des  Sokrates  einzutreten,  wo  man  gegen  Bezahlung 
aufser  allerlei  naturwissenschaftlichen  Kenntnissen  auch  die 


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A.  IL  1.  Arißtoph.  „Wolken":  ein  Zerrbild  des  Sophistentreibens.  347 

Kunst  beigebracht  bekommt,  sich  durch  Rednerkttnste  recht- 
lichen Verpflichtungen  zu  entziehen,  Unrecht  in  Recht  zu 
verwandeln.  Er  soll  dort  die  „schwächere",  d.  h.  der 
schwächeren  Sache  dienende  oder,  wie  er  sie  auch  nennt,  die 
ungerechte  Rede  erlernen,  vermöge  deren  man  auch  die 
allerungerechteste  Sache  gewinnen  und  die  Gläubiger  um 
die  ganze  Schuld  bringen  kann.  Ironisch  überträgt  er  auf 
diese  modernen  Helden  die  alte  Bezeichnung  der  „Schönen 
und  Guten"  (V.  101),  die  sie  ja  selbst  in  veränderter  Be- 
deutung für  sich  in  Anspruch  nahmen. 

Dafs  hier  durch  einen  beklagenswerten  Irrtum  des 
übermütigen  Dichters  die  ehrwürdige  Gestalt  des  Sokrates 
zum  typischen  Vertreter  dieses  Treibens  gemacht  wird, 
kommt  für  den  gegenwärtigen  Zweck  nicht  in  Betracht  und 
hat  uns  erst  in  dem  von  Sokrates  handelnden  Kapitel  zu 
beschäftigen. 

Da  der  Sohn  sich  weigert,  meldet  sich  Strepsiades 
selbst  als  Schüler  an.  Er  findet  die  Forscher  mit  natur- 
wissenschaftlichen Problemen  beschäftigt,  z.  B.  wie  weit  ein 
Floh  springt,  nach  seinen  eigenen  Füfsen  gemessen,  und  er- 
sieht daraus  hoflFnungsfreudig  die  zu  erwartende  Verstandes- 
verfeinerung, vermöge  deren  er  kinderleicht  den  Gläubigern 
wird  entgehen  können.  Auch  das  macht  ihn  in  seiner  Be- 
geisterung nicht  irre,  dafs,  wie  ihm  berichtet  wird,  der 
Meister  tags  zuvor  einem  augenblicklichen  Mangel  an  Sub- 
sistenzmitteln  durch  einen  ganz  gemeinen  Kleiderdiebstahl 
abgeholfen  hat.  Im  übrigen  zeigen  sich  ihm  Schüler  und 
Meister  überwiegend  mit  naturphilosophischen  Spekulationen 
beschäftigt.  Wie  namentlich  der  letztere,  entsprechend  der 
Lehre  des  Diogenes  von  Apollonia,  im  Hängekorb 
durch  die  reinere  Luftschicht  der  höheren  Region  sein  Denk- 
vermögen steigert,  ist  schon  früher  erwähnt  worden.  Es  ist 
deutlich,  dafs  der  Dichter  auch  die  damals  in  Athen  ihr 
Wesen  treibenden  Nachzügler  der  Naturphilosophie  in  sein 
buntes  Bild  des  Sophistentreibens  hineingezogen  hat.  Augen- 
scheinlich dienen  sie  ihm  zur  Begründung  des  religiösen 
Radikalismus  der  Sophistik,  von  dem  wir  alsbald  eine  Probe 
erhalten.     Denn  als  Strepsiades  sein  Anliegen  vorbringt,  die 


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348    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Redekunst,  die  sich  der  Schuldenzahlung  zu  entziehen  weifs, 
gelehrt  zu  bekommen,  und  bei  den  Göttern  schwört,  das  ge- 
forderte Honorar  zahlen  zu  wollen ,  verweist  ihm  Sokrates 
dies  veraltete  Gebaren  und  verspricht  Einführung  in  die 
Erkenntnis  der  Wolken  als  der  wahren  Götter,  die  denn 
auch  alsbald  als  der  Chor  der  Komödie  heranschweben  und 
sich  als  die  eigentlichen  Weltregentinnen  kundgeben.  Sie 
sind,  wie  Sokrates  ihn  belehrt,  auch  die  eigentlichen 
Spenderinnen  der  trügerischen  Redekunst,  wohl  in  dem- 
selben Sinne,  wie  nach  Diogenes  von  Apollonia  die  Luft, 
deren  Umbildung  der  Wolkendunst  ist,  den  Verstand  nährt 
und  verfeinert.  Das  Chaos  (der  leere  Raum!),  die  Wolken 
und  die  Zunge,  das  ist  die  Dreiheit  der  fortan  zu  glaubenden 
Götter  (V.  422  f.).  Aufserdem  wird  auch  noch  der  Wirbel, 
durch  den  die  Welt  geworden,  als  Gott  proklamiert.  Er 
empfängt  die  Verheifsung,  der  Gläubigemot  geschickt  ent- 
gehen zu  lernen;  auf  eine  politische  Rolle  ist  sein  Ehrgeiz 
nicht  gerichtet. 

Leider  aber  zeigt  sich  sein  hausbackener  Sinn,  der 
einzig  auf  die  ungerechte  Rede  erpicht  ist,  für  die  sonstigen, 
ihm  zugemuteten  Lehren  aus  Metrik,  Rhythmik,  Grammatik 
völlig  verständnislos,  und  er  empfängt  schliefslich  wegen 
völliger  Unfähigkeit  den  Rat,  den  Sohn  statt  seiner  herzu- 
senden. Mantel  und  Schuhe,  beim  Beginn  des  Studiums  ab- 
gelegt, erhält  er  nicht  zurück.  Vor  dem  nunmehr  der  Lehr- 
anstalt zugeführten  Sohne  treten  sodann  die  beiden  „Reden*', 
die  gerechte  und  die  ungerechte,  persönlich  im  Wortgefechte 
einander  entgegen,  der  gerechte  Redner  zugleich  als  Lob- 
redner der  guten  alten  Zeit  mit  ihrer  Schlichtheit,  Einfalt 
und  Sittenstrenge,  der  ungerechte  als  Verteidiger  der 
modernen  Unsitten  und  der  modernen  Schamlosigkeiten, 
Da  dieser  neue  Geist  der  herrschende  geworden,  mufs  sich 
schliefslich   der  Redner  der  Gerechtigkeit  besiegt  erklären. 

Bald  empfängt  Strepsiades  den  Sohn  als  angeblich  aus- 
gelernten Rabulisten  und  Rechtsverdreher  zurück.  Er  selbst 
fertigt  auf  ergötzliche  Weise  einige  Gläubiger  ab,  mufs  aber 
bald  die  Folgen  der  neuen  Bildung  des  Sohnes  am  eigenen 
Leibe  erfahren.    Der  Sohn  prügelt  ihn  durch  und  Ix^.weist 


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A.    IL    2.   Gorgias  and  seine  Schale.  349 

ihm,  dafs  dies  aus  derselben  Liebe,  also  mit  demselben 
Rechte  geschieht,  mit  dem  einst  der  Vater  ihn  geprttgelt 
hat,  da  ja  der  Alte  doppelt  Kind  geworden.  Die  alten 
Sitten  sind  nur  entstandene  Satzung  von  zeitweiser  Geltung ; 
man  kann  sie  jederzeit  durch  neue  ersetzen. 

Der  Alte  erkennt  seinen  Irrweg,  kehrt  zu  den  alten 
Göttern  zurück  und  wendet  sich  mit  Axt  und  Fackel  gegen 
die  Sophistenschule,  um  sie  zu  vernichten. 

2.   Plato  Im  ersten  Jahrzehnt  des  4.  Jahrhunderts : 

die  Sophlstik  als  flalsche  Staatskunst.    Gorgrias  und 

seine  Schule. 

Die  Wirksamkeit  des  Gorgias  im  eigentlichen  Griechen- 
land begann  bereits  im  Jahre  427.  Die  platonischen  Zeug- 
nisse im  „Menon^  und  „Gorgias**  gehören  ungefähr  den 
Jahren  395  oder  394  an.  Sie  zeigen  also,  wie  sich  um  diese 
Zeit  das  Bild  des  gorgianischen  Wirkens  im  Geiste  Piatos 
darstellte.  Ehe  wir  aber  auf  diese  Schilderungen  eingehen, 
mufs  angegeben  werden,  was  über  das  Leben  und  Wirken 
des  Gorgias  bis  zu  diesem  Zeitpunkte  bekannt  ist. 

Im  Jahre  427  erschien  der  bis  dahin  im  eigentlichen 
Griechenland  wenig  bekannte  Gorgias  als  Gesandter  seiner 
Vaterstadt  Leontini  in  Sizilien  in  Athen  und  machte  durch 
die  dort  bisher  unbekannte  kunstvolle  Art  seiner  Bered- 
samkeit einen  tiefen  Eindruck.  An  dieses  Auftreten  schlofs 
sich  eine  dauernde  Tätigkeit  als  hochbezahlter  Wanderlehrer 
(Plat.  Hipp.  maj.  282  B).  Mit  diesem  Wirken  des  Gorgias 
beginnt  die  Ausartimg  der  Sophistik  nach  der  einen  Rich- 
tung, dafs  nicht  mehr  das  Wohl  der  Gesamtheit  als  Ziel 
der  Ausbildung  erscheint,  sondern  der  eigene  Vorteil  der 
höhergebildeten  leitenden  Männer,  die  Ausbeutung  des 
Staates  für  ihre  eigenen  Interessen,  wenn  auch  zunächst 
nicht  durch  offene  Gewalt,  sondern  durch  die  Macht  einer 
kunstvollen  Beredsamkeit.  Die  sittliche  Seite  der  Erziehung 
kommt  in  Wegfall;  die  „Tugend",  zu  der  angeleitet  wird, 
hat  mit  sittlichen  Eigenschaften  und  Zwecken  nichts  mehr 


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350     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

ZU  tun,  sondern  ist  nur  noch  Geschicklichkeit,  die  Menschen 
zu  leiten  und  nach  den  eigenen  Zwecken  zu  bestimmen. 

Gorgias  war  zur  Zeit  jenes  Auftretens  in  Athen  viel- 
leicht schon  55  Jahre  alt  und  hatte  verschiedene  Wand- 
lungen durchgemacht.  Geboren  etwa  482,  war  er  ungefähr 
gleichaltrig  mit  Protagoras  und  erheblich  älter  als  Prodikos 
und  Hippias,  auch  als  Sokrates.  Aber  sein  einschneidendes 
Wirken  beginnt  erst  seit  427. 

Ursprünglich  Anhänger  des  naturwissenschaftlichen 
Systems  des  Empedokles  (D.  L.  VIII.  58),  das  vielleicht 
schon  vor  460  in  Sizilien  hervorgetreten  war,  scheint  er 
auch  noch  im  Alter  als  sophistischer  Wanderlehrer  gelegent- 
lich von  den  Lehren  dieses  Systems  Gebrauch  gemacht  zu 
haben  (Fiat.  Men.  78  C).  Als  ein  beweglicher  Geist  scheint 
er  dann  aber  unter  den  Einflufs  der  Dialektik  Zenos  ge- 
raten zu  sein.  Vielleicht  lenkte  zuerst  die  von  Zeno  in 
späterem  Lebensalter  gegen  das  Natursystem  des  Empedokles 
gerichtete  Kritik  seine  Aufmerksamkeit  auf  diese  Richtung. 
Diese  auf  Widerlegung  der  natürlich  -  menschlichen  Be- 
trachtungsweise gerichtete  Beweisart  mufs  seinen  Scharfsinn 
gereizt  haben,  und  er  lieferte  in  seiner  Schrift  „Über  die 
Natur  oder  über  das  Nichtseiende"  (S.  Emp.  Dogm.  I.  65) 
eine  Argumentation,  die  das  von  jenem  in  der  Widerlegung 
der  herkömmlichen  Betrachtungsweise  Geleistete  weit  über- 
bot, zugleich  aber  ins  Fratzenhafte  und  Abgeschmackte  ver- 
zerrte. Er  bewies  in  dieser  Schrift  drei  Sätze:  1.  Es  ist 
nichts.  2.  Wenn  etwas  wäre,  könnten  wir  es  nicht  er- 
kennen. 3.  Wenn  etwas  wäre  und  wir  es  erkennen  könnten, 
könnten  wir  diese  Erkenntnis  nicht  mitteilen.  Über  sein 
Beweisverfahren  sind  uns  nur  lückenhafte  und  nicht  ganz 
zuverlässige  Berichte  erhalten  (Ps.-Arist.  MXG.  979  f. ;  S. 
Emp.  Dogm.  I.  65  flF.) ,  die  aber  ausreichen ,  um  uns  eine 
Vorstellung  von  dieser  seltsamen  Argumentationsweise  zu 
geben. 

Den  ersten  Satz  bewies  er  teils  direkt,  teils  indirekt. 
Der  direkte  Beweis  bestand,  auf  die  einfachste  Form  ge- 
bracht, in  folgender  Schlufskette.  Nichtsein  ist  Nichtsein. 
Also:  Nichtsein  ist  (Verwechslung  von  „ist**  als  Kopula  und 


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A.    IL    2.   Gorgias  und  seine  Schule.  351 

als  Aussage  über  Existenz).  Hieraus  folgt  entweder,  wenn 
das  Sein  als  das  Gegenteil  des  Nichtseins  angenommen  wird, 
dafs  das  Sein  nicht  ist.  Oder  es  folgt,  wenn  das  Sein  als 
dasselbe  wie  das  Nichtsein  angenommen  wird,  ebenfalls,  dafs 
das  Sein  nicht  ist.  Beide  Folgerungen  stehen  freilich  im 
vollen  Widerspruch  mit  dem  zweiten  Satze,  nach  dem  das 
Nichtsein  ist.  Trotzdem  glaubte  er  auf  diese  Weise  bewiesen 
zu  haben,  dafs  nichts  ist.  (Dieser  direkte  Beweis  nach 
MXG.  979 ,  23  flF.  wird  hier  ausdrücklich  als  seine  eigene 
Erfindung  bezeichnet;  weniger  deutlich  S.  Emp.  Dogm. 
I.  06  f.) 

Der  indirekte  Beweis  geht  von  der  Annahme  aus,  dafs 
etwas  sei.  Dann  müfste  es  entweder  geworden  oder  un- 
geworden  sein.  Beides  wird  mit  törichten  Verrenkungen, 
deren  Einzelheiten  wir  uns  ersparen  können,  als  unmöglich 
erwiesen.  Also  ist  auch  die  gemachte  Voraussetzung  un- 
möglich. Ferner  müfste,  wenn  etwas  wäre,  dies  entweder 
ein  Einheitliches  oder  ein  Vielfaches  sein.  Beides  wird  als 
unmöglich  erwiesen.  Gleiches  Resultat:  es  ist  nichts.  Er 
scheint  auch  noch  einen  dritten  indirekten  Beweisgrund  bei- 
gebracht zu  haben.  Wenn  etwas  wäre,  müfste  es  sich  ent- 
weder bewegen  oder  bewegt  werden  (entweder  bewegen  oder 
ruhen?).  Auch  hier  das  gleiche  Resultat  (dies  nur  MXG. 
980,  3  flF.,  doch  wohl  nur  lückenhaft  erhalten).  Bei  diesen 
indirekten  Beweisen  konnte  er  sich,  wie  auch  ausdrücklich 
hervorgehoben  wird  (MXG.  979,  22  f.;  6,  22,  25),  teilweise 
der  Vorarbeit  des  Zeno  bedienen,  von  dem  wenigstens  für 
die  eine  Seite  der  aufgestellten  Gegensätze,  für  das  Nicht- 
gewordensein ,  gegen  die  Vielheit  und  Bewegung,  schon  die 
Beweise  geliefert  worden  waren. 

Aber  auch  wenn  etwas  wäre,  könnte  es  nicht  erkannt 
werden.  Er  bewies  dies  gesondert  für  die  beiden  vermeint- 
lichen Mittel  der  Erkenntnis,  das  Denken  und  die  Wahr- 
nehmung (S.  Emp.  Hyp.  II.  64),  doch  ist  auch  hier  seine 
Beweisführung  nur  unvollständig  erhalten.  Wenn  das  Ge- 
dachte gleich  dem  Seienden  wäre,  so  müfste  alles,  was  wir 
denken,  auch  sein,  und  umgekehrt  müfste  etwas  Nicht- 
seiendes   nicht    gedacht  werden   können.     Es   müfste   also 


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352     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

fliegende  Menschen  oder  ein  Wagenrennen  auf  dem  Meere 
geben,  da  wir  solches  denken  (d.  h.  phantasiemäfsig  vor- 
stellen!) können.  Oder  aber  wir  müfsten  aufser  stände 
sein,  NichtSeiendes,  z.  B.  eine  Scylla  oder  eine  Chimaira 
und  dergl.,  vorzustellen.  Oder:  wenn  unsere  Gedanken 
wahr  sein  sollten,  müfsten  sie  entweder  die  Dinge  selbst 
oder  doch  den  Dingen  völlig  gleich  sein,  z.  B.  weifs,  wenn 
wir  etwas  Weifses  denken  (S.  Emp.  77  f.).  Seine  Beweis- 
führung gegen  die  Sinneswahrnehmung  ist  nicht  erhalten. 

Und  endlich:  wenn  etwas  w&re  und  erkannt  werden 
könnte,  so  könnte  diese  Erkenntnis  doch  nicht  mitgeteilt 
werden.  Die  Mitteilung  müfste  durch  Worte  geschehen. 
Die  Worte  bewirken  eine  bestimmte  Art  von  Sinneswahr- 
nehmungen, die  aber  nichts  gemein  haben  z.  B.  mit  den 
Wahrnehmungen  der  anderen  Sinne,  die  durch  das  Wort 
übermittelt  werden  sollen,  z.  B.  mit  der  Vorstellung  eines 
Geschmacks,  Geruchs,  einer  Farbe.  So  wenig  ein  Geruch 
eine  Gesichtsvorstellung  übermitteln  kann,  so  wenig  ist  der 
Gehörseindruck  des  gesprochenen  Wortes  dazu  im  stände. 
Ebenso  ist  aber  auch  der  in  mir  vorhandene  Gedanke  vom 
Laute  des  Wortes  durchaus  verschieden  und  kann  daher 
durch  den  Laut  nicht  übermittelt  werden.  Dazu  kommt  in 
beiden  Fällen,  beim  Wahrgenommenen  wie  beim  Gedachten, 
dafs  die  Vorstellung,  die  beim  anderen  auf  Grund  der  Rede 
entsteht,  unzweifelhaft  etwas  anderes  und  nicht  einerlei  ist 
mit  der  Vorstellung  in  der  Seele  des  Mitteilenden.  Dies  ist 
in  dem  Sinne  zu  verstehen,  dafs  doch  nicht  dieselbe,  iden- 
tische Vorstellung  den  Redenden  verlassen  hat  und  zum 
Hörenden  hinübergewandert  ist. 

Diese  kindlichen,  aber  auf  ein  noch  ungeschultes  Denken 
verblüffend  wirkenden  Begriffsspielereien  konnten  für  Gorgias 
selbst  nur  die  Bedeutung  haben,  seine  Überzeugung  von 
einer  unbedingt  gewissen  Wahrheit  zu  erschüttern.  Ernst- 
lich glauben  konnte  er,  wenn  auch  damals  der  Gedanke, 
dafs  doch  wenigstens  das  BewuCstsein  seiner  selbst  als  des 
in  dieser  Weise  Argumentierenden  und  Zweifelnden  als  etwas 
unbedingt  Gewisses  ihm  gegeben  sei,  noch  aufserhalb  des 
allgemeinen  Vorstellungskreises  lag,  an  derartige  unerhörte 


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A.    II.    2.  Gorgias  und  seine  Schule.  353 

Besultate  des  spintisierenden  Scharfsinns  nicht.  Doch  mochte 
immerhin  die  Möglichkeit,  durch  ein  solches  Raisonnement 
alles  in  Schein  aufzulösen  und  in  der  Verneinung  jeder 
sicheren  Erkenntnis  viel  weiter  zu  gehen  als  Protagoras, 
bei  ihm  mit  zu  dem  Entschlufs  beitragen,  sich  ganz  auf  die 
praktische  Seite  zuwerfen  und  der  Kunst  der  Menschen- 
leitung durch  die  Rede  sich  zuzuwenden,  die  es  fertig 
bringt,  durch  die  Kraft  des  eigenen  Geistes  dem  für  das 
eigene  Interesse  förderlichen  Schein  in  der  Überzeugung 
der  Menge  Wirklichkeit  zu  leihen.  Die  Anregung  zur  Aus- 
bildung der  Redekunst  zu  einer  durch  lehrbare  Regeln  be- 
stimmten Fertigkeit  soll  schon  von  Empedokles  gegeben 
worden  sein  (D.  L.  VIII.  58).  Jedenfalls  hat  die  Rhetorik 
sich  in  Sizilien  seit  etwa  450  entwickelt.  Die  drei  Rich- 
tungen, denen  er  nacheinander  gehuldigt  hat,  die  Natur- 
forschung, die  Dialektik  und  die  Rhetorik,  werden  auch  in 
der  einen  der  beiden  erhaltenen  Gorgias  zugeschriebenen 
Musterreden,  de  r  Helena,  unterschieden  (§  13). 

Die  Zeugnisse  für  diese  letzte  Wendung  in  der  Wirk- 
samkeit des  Gorgias  findet  sich  bei  Plato,  und  zwar  vor- 
nehmlich in  den  Dialogen  Menon  und  Gorgias,  die  beide 
erst  dem  ersten  Jahrzehnt  des  4.  Jahrhunderts  angehören. 
Es  kann  aber  nicht  bezweifelt  werden^  dafs  Gorgias  schon, 
als  er  427  seine  Wandertätigkeit  im  eigentlichen  Griechen- 
land begann,  diese  Wendung  vollzogen  hatte. 

Die  charakteristischen  Züge  dieses  Wirkens  sind  folgende: 
1.  Zweck  der  leitenden  Tätigkeit  im  Staate  ist  nicht  das 
Gesamtwohl,  sondern  der  eigene  Vorteil;  die  Regierungs- 
kunst ist  auf  Ausbeutung  des  Gemeinwesens  gerichtet.  Der 
Leitende  bedarf  daher  keiner  sittlichen  Ausbildung.  2.  Dieser 
Zweck  soll  aber  nicht  durch  Gewalt  verwirklicht  werden, 
sondern  scheinbar  freiwillig  sollen  alle  dem  Interesse  des 
leitenden  Mannes  dienen.  Dies  wird  erreicht  durch  das 
Mittel  der  Redekunst  (Phileb.  58  B). 

Folgen  wir  zunächst  den  Zeugnissen  im  „Menon^.  Der 
junge  Menon  erscheint  ganz  und  gar  als  Schüler  des 
Gorgias  und  spiegelt  dessen  Denkweise  genau  wieder  (Menon 
7 IC,  73 B,  79 E,  95 C,  96 D).    Da  ist  denn  zwar,  wo  Menon 

Döring.   I.  28 


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354     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

das  von  Gorgias  Überkommene  wiedergibt,  wohl  noch  von 
„Tugenden"  die  Rede,  aber  er  versteht  darunter  nur  Fertig- 
keiten und  Geschicklichkeiten,  deren  man  sich  zum  eigenen 
Vorteil  bedient.  Die  „Tugend"  des  Mannes  besteht  darin, 
die  Angelegenheiten  des  Staates  so  zu  verwalten,  dafs  ihm 
und  seinen  Genossen  daraus  Vorteil,  seinen  Feinden  aber 
Nachteil  erwächst.  Die  dem  herrschenden  Manne  Dienst- 
baren haben  nicht  ihr  eigenes  Interesse  zu  verfolgen,  son- 
dern dasselbe  als  gehorsame  Werkzeuge  dem  des  Gebietenden 
unterzuordnen.  Die  Tugend  der  Frau  besteht  darin,  dem 
Manne  die  Sorge  für  das  Hauswesen  abzunehmen,  dabei 
aber  ihm  untertänig  und  gehorsam  zu  sein.  Ähnlich  wohl 
wird  es  mit  der  „Tugend"  der  Kinder  und  Sklaven  stehen, 
obwohl  darüber  Näheres  nicht  angegeben  wird  (Men.  71 D  f.). 

Sokrates  findet  auf  diese  Auskunft  über  das  Wesen  der 
Tugend,  das  sei  ja  nichts  Einheitliches,  sondern  ein  ganzer 
Bienenschwarm  von  Tugenden  (72 A).  Auch  Aristoteles 
(1260,  26)  bezeugt  (freilich  vielleicht  nur  auf  Grund  dieser 
platonischen  Darstellung),  dafs  Gorgias  die  Tugenden  nur 
aufgezählt  habe. 

Aber  auch,  als  nun  Menon  im  Dialoge  sich  bemüht,  aus 
eigenen  Mitteln  einen  einheitlichen  Begriff  der  Tugend  auf- 
zustellen, kommt  er  über  diesen  Gedanken  einer  dem  eigenen 
Vorteil  dienenden  Fähigkeit  nicht  hinaus.  Er  bestimmt  diese 
einheitliche  Tugend  als  die  Fähigkeit  zu  herrschen  (78  C), 
oder  sich  das  Gute,  d.  h.  Güter,  gute  Dinge  (780),  zu  ver- 
schaffen und  dergl.  Ja,  er  gesteht  offen,  das  am  Gorgias 
vornehmlich  zu  schätzen,  dafs  er  nie  sich  anheischig  mache, 
sittliche  Tugend  zu  lehren,  vielmehr  über  die  anderen 
Sophisten,  die  solches  in  Aussicht  stellten,  nur  lache,  selbst 
aber  die  Ausbildung  tüchtiger  Redner  Yür  sein  einziges  Ziel 
erkläre  (95  C). 

Auch  in  einer  anderen  Beziehung  noch  ist  dieser 
Gorgiasschüler  lehrreich.  Gegenüber  dem  Bemühen,  den 
Begriff  der  Tugend  zu  finden,  bringt  er  den  Satz  vor,  wenn 
man  nicht  schon  wisse,  was  etwas  sei,  könne  man  es  nicht 
suchen  und  selbst,  wenn  man  es  durch  Zufall  fände,  könne 
man  nicht  wissen ,  dafs  man  es  gefunden  habe ,  da  man  es 


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A.    II.    2.   Gorgias  und  seine  Schule.  355 

ja  nicht  kenne.  Ein  Satz,  der  dann  sofort  dahin  erweitert 
wird,  man  könne  weder,  was  man  wisse,  noch  was  man 
nicht  wisse,  erforschen.  Wisse  man  etwas,  so  bedürfe  es 
der  Erforschung  nicht;  wisse  man  es  nicht,  so  sei  die  Mög- 
lichkeit, es  zu  suchen,  ausgeschlossen  (80  E).  Hier,  scheint 
es,  hat  sich  noch  ein  Rest  jener  alten  Dialektik  in  der 
späteren  Lehrtätigkeit  des  Gorgias  erhalten. 

Die  ausführlichste  Auskunft  aber  über  diese  endgültige 
Wendung  in  den  Bestrebungen  des  Gorgias  gibt  der  nach 
ihm  benannte  Dialog  Piatons.  Hier  bekennt  er  sich  selbst 
als  Lehrer  der  Redekunst.  Die  Redekunst  verhilft  dem 
Menschen  zum  gröfsten  und  besten  Gewinn,  den  ein  Mensch 
erlangen  kann  (451 D),  und  dieser  gröfste  Gewinn  besteht 
darin,  dafs  er  in  dem  Staatsverbande,  zu  dem  er  gehört, 
sich  selbst  frei  bewegt  und  andere  beherrscht.  Er  bestimmt 
durch  seine  Rede  die  Geschworenen  im  Gericht,  die  Rats- 
herrn im  Rate,  die  Bürger  in  den  Volksversammlungen 
nach  seinem  Willen  (452 D  f.).  Gorgias  gibt  zwar  zu,  dafs 
es  sich  bei  solchen  Unterredungen  um  Recht  und  Unrecht 
handelt,  aber  nicht  um  eine  sachliche  Ermittelung  von  Recht 
und  Unrecht,  sondern  um  ein  blofses  Meinen  darüber  und 
zwar,  wie  er  weiter  ausführt,  um  ein  Meinen  zu  Gunsten 
des  Redenden  selbst,  also  um  eine  Auslegung  des  Rechtes 
im  Sinne  des  eigenen  Vorteils  (454  B  flF.).  Er  macht  jedoch 
scBliefslich  Sokrates  das  Zugeständnis,  dafs  der  Redner  von 
der  in  seiner  Kunst  liegenden  Gewalt  über  die  Menschen 
einen  gerechten  Gebrauch  machen  soll  (457  B),  und  dafs 
der  Lehrer  der  Redekunst  seinen  Jüngern  auch  die  Kenntnis 
der  Gerechtigkeit  beibringen  müsse,  ja,  dafs  der  Redner 
immer  den  Willen  haben  müsse,  gerecht  zu  handeln  (459  D  flF.). 
Er  hat  sich  damit,  da  er  von  der  Durchsetzung  der  selbst- 
süchtigen Absichten  des  Redners  als  dem  eigentlich  Wert- 
vollen in  der  Redekunst  ausging,  in  einen  Widerspruch 
verwickelt,  der  zwar  der  Anständigkeit  seiner  Gesinnung, 
nicht  aber  der  Klarheit  sines  Denkens  Ehre  machte 
(461  B  f.). 

Der  Fortgang  des  Gesprächs  zeigt,  wie  im  weiteren 
Verlaufe  dieser  Entwicklung  der  schlimme  Grundgedanke 

28* 

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356     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

die  ursprünglich  noch  vorhandene  Hemmung  überwältigt. 
Wir  haben  es  aber  für  jetzt  nur  mit  Gorgias  selbst  zu  tun. 
Es  sind  daher  nun  auch  die  äufseren  Data  über  den  Ver- 
lauf seines  Wirkens  beizubringen. 

Gorgias  betrieb  sein  Geschäft  als  Lehrer  der  Redekunst 
von  jenem  Zeitpunkte  seines  ersten  Auftretens  in  Athen  an 
noch  über  40  Jahre  lang  mit  dem  gröfsten  Erfolge  an  Ehre 
und  Geld.  Er  soll  in  voller  Geistesfrische  ein  Alter  von 
109  Jahren  erreicht  haben.  Bildsäulen  wurden  ihm  gesetzt. 
Seine  Honorarforderung  wird,  wie  bei  Protagoras,  auf 
7500  Mk.  angegeben,  gewifs  mit  derselben  Übertreibung  wie 
bei  Protagoras.  Über  sein  Lehrverfahren  berichtet  Cicero 
(Ein.  IL  1),  er  habe  seine  Zuhörer  aufgefordert,  ein  ihnen 
erwünschtes  Thema  zu  nennen  und  darüber  dann  sofort  un- 
vorbereitet in  zusammenhängender  Rede  gesprochen.  Im 
höheren  Alter  scheint  er  das  Wanderleben  aufgegeben  und 
sich  in  Larissa,  wo  die  Jugend  des  thessalischen  Adels  ihm 
zuströmte,  einem  mehr  sefshaften  Betriebe  seines  Unterrichts 
gewidmet  zu  haben.  Dort  ist  auch  der  junge  Menon  sein 
Schüler  gewesen.  Da  dieser  sich  bei  Plato  noch  mit  dem 
399  gestorbenen  Sokrates  unterredet  und  400  am  Feldzuge 
des  jüngeren  Cyrus  teilnahm,  so  müfste  Gorgias  schon  vor 
diesem  Zeitpunkte  den  Wohnsitz  in  Larissa  gewählt  haben. 
Genaueres  ist  jedoch  über  diese  lange  Zeit  seines  Wirkens 
und  über  seinen  Tod  nicht  bekannt.  ' 

Im  platonischen  Gorgias  nun  tritt  an  Stelle  des  Gorgias 
als  zweiter  Unterredner  dessen  jugendlicher  Schüler  Polos, 
ebenfalls  als  Lehrer  der  Redekunst  bekannt  (Z.  1069,  1). 
Er  preist  die  Redekunst,  weil  sie  die  Macht  verleiht  zu 
töten,  Vermögen  einzuziehen,  zu  verbannen  nach  Gutdünken 
wie  ein  Tyrann  (466  B),  um  des  eigenen  Vorteils  willen 
(468  D).  Sein  eigentliches  Ideal  ist  die  Gewaltherrschaft. 
Er  hält  den  tyrannischen  Herrscher  von  Macedonien  und 
den  Perserkönig  wegen  ihrer  unumschränkten  Macht  für 
glücklich  (470  D  f.).  Die  Beredsamkeit  ist  also  eigentlich 
nur  ein  schwächerer  Notbehelf,  um  annähernd  zum  gleichen 
Ziele  zu  kommen«  Jedenfalls  erklärt  er  den  erfolgreich 
Ungerechten  für  glücklich,   wenn  es  ihm  gelingt,  sich  der 


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A.    II.    2,   Gorgias  und  seine  Schule.  357 

verdienten  Strafe  zu  entziehen  (472  E).  Auch  Polos  aber 
zeigt  noch  eine  gewisse  Gutartigkeit  und  Scheu  vor  den 
letzten  Konsequenzen,  indem  er  schliefslich  zugibt,  dafs 
Unrechttun  für  den  Täter  schädlich  sei  (475  C  f.).  Ja ,  er 
macht,  wenn  auch  mit  Widerstreben,  das  Zugeständnis,  dafs 
die  sittliche  Schlechtigkeit  Krankheit  der  Seele  und  die 
strafende  Gerechtigkeit  die  Heilkunst  dafür  sei,  und  dafs 
der  selbstische  ßedekünstler  sich  nur  selbst  der  wahren 
Wohltat  solcher  Heilung  entziehe,  wie  beim  Leibe  die  Kunst, 
sich  zu  putzen,  die  körperlichen  Schäden  versteckt,  statt 
Heilung  zu  suchen  (bis  481 B). 

Als  entschiedenster  Verfechter  der  Konsequenzen  dieser 
Ausartung  der  Sophistik  tritt  sodann  Kallikles  auf.  Von 
ihm  ist  sonst  nichts  bekannt.  Es  ist  zweifelhaft,  ob  er 
eine  geschichtliche  Person  ist  (Z.  1071,  1),  doch  wird  er 
im  Dialog  wie  eine  wirklich  in  Athen  lebende  Persönlichkeit 
behandelt  (487  C,  495  D).  Vielleicht  wird  hier  eine  in  Athen 
bekannte  Persönlichkeit  nur  unter  verändertem  Namen  auf- 
geführt. Er  steht  auf  dem  Standpunkte,  dafs  das  vorstehend 
Zugegebene  nur  im  Sinne  der  Satzung  gilt,  während  die 
Stimme  der  Natur  in  allem  für  das  diametral  Entgegen- 
gesetzte eintritt.  Die  Satzung  ist  der  Schutz,  den  die 
Schwachen  sich  gegen  die  Übermacht  der  Starken  schaffen. 
Die  Natur  wie  die  Geschichte  zeigt  tiberall  nur  den  Kampf 
ums  Dasein.  Philosophie  ist  eine  Kinderei,  gut  genug  für 
das  Erziehungsalter,  dem  wirklichen  Leben  fremd  (482  E  flf.). 
Das  Recht  des  Stärkeren  ist  die  Gerechtigkeit  der  Natur 
(488  B;  490  A).  Die  Überlegenheit  der  Natur  besteht  in 
Mannhaftigkeit  und  Herrschertüchtigkeit  (491 C  f.).  Starke 
Begehrlichkeit  ist  das  Gute  und  Gerechte  nach  der  Natur, 
die  wahre  Tugend,  Besonnenheit  und  Selbstbeherrschung 
Narrheit  (ib.  E  flF.).  Das  Gute  ist  die  Lust  (495  A).  Dafs 
Kallikles  diese  Anschauungen  im  Laufe  der  Unterredung 
mit  Sokrates  aufgebe,  tritt  nicht  hervor. 

Auch  Kallikles  wird  von  Plato  als  ein  anhänglicher  und 
verehrungsvoller  Schüler  des  Gorgias  bezeichnet  (497  C, 
501 C).  Unzweifelhaft  hat  daher  Plato  durch  die  Aufeinander- 
folge der  drei  Unterredner,  des  Gorgias  und  seiner  beiden 


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I 


358     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophistea  und  Sokrates  etc. 

Schüler,  die  Fortentwicklung  der  von  Gorgias  eingeführten 
Weise  der  Ausbildung  bis  zur  völligen  Verneinung  der  sitt- 
lichen Verpflichtung  darstellen  wollen.  — 

.  Im  Anschlurs  an  diese  Darstellung  mufs  noch  eine 
Gestalt  Erwähnung  finden,  die  von  Plato  zwar  nicht  in 
direkten  Zusammenhang  mit  Gorgias  gebracht  wird,  die 
aber  das,  was  bei  Gorgias  und  seinen  Schülern  nur  als  letzte 
Konsequenz  hervortritt,  die  offene  Gewalttat  im  Dienste 
selbstischer  Ausbeutung  des  Staates,  als  das  eigentliche 
Wesen  und  ausschliefsliche  Ziel  der  Herrscherkunst  vertritt. 
Das  ist  der  Thrasy machos  in  dem  um  390  verfafsten 
ersten  Buche  des  platonischen  Dialogs  vom  Staate.  Bei  ihm 
handelt  es  sich  nicht  um  die  unmerklich,  unter  dem  Scheine 
der  Freiwilligkeit  überführende  Redekunst,  sondern  die 
Kunst  des  Herrschens  ist  ihm  offene  Gewalttat,  ungeschminkte 
Anwendung  des  Rechtes  des  Stärkeren. 

Thrasymachos  ist  eine  geschichtliche  Persönlichkeit,  doch 
ist  über  den  Bildungsgang  und  die  Geistesrichtung  des 
geschichtlichen  Thrasymachos  so  gut  wie  nichts  bekannt. 
Nach  Cicero  (De  orat.  III.  128)  hat  er  vieles  über  die 
Natur  geschrieben;  in  welchem  Sinne,  erfahren  wir  aber 
nicht.  Nach  zwei  Erwähnungen  bei  Plato  femer  (Phädr. 
2610,  266  C)  stammte  er  aus  Ghalcedon  und  hatte  Regeln 
der  Redekunst  veröffentlicht,  besafs  auch  selbst  in  hervor- 
ragendem Mafse  die  Geschicklichkeit,  durch  die  Rede  die 
Gefühle  der  Zuhörer  anzustacheln  oder  zu  beschwichtigen. 
Auch  Aristoteles  (183b,  32)  kennt  ihn  als  Theoretiker 
der  Redekunst. 

Dieser  nun  greift  im  platonischen  Dialoge  in  leiden- 
schaftlicher Weise  in  eine  Unterredung  über  das  Wesen  der 
Gerechtigkeit  ein.  Wie  ein  zum  Sprunge  ausholendes  Raub- 
tier fährt  er  dazwischen,  macht  gebieterisch  Vorschriften, 
wie  die  Unterredung  geführt  werden  soll,  und  verlangt  von 
Sokrates  für  die  Belehrung,  die  er  ihm  erteilen  wird,  Geld 
(336  B  flf.,  337  D).  Er  versteht  unter  Gerechtigkeit  im  Staats- 
leben das  den  Stärkeren,  den  die  Staatsgewalt  in  Händen 
Haltenden,  Zuträgliche  (338 C,  339 A).  Diese  beuten  die 
Schwäche  und  Einfalt  der  Volksgenossen  zu  ihrem  eigenen 


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A.    IL    8.  Die  Sophistik  als  Afterbildung.  359 

Vorteil  aus,  indem  sie  das  ihnen  selbst  Vorteilhafte  als 
Gesetz  aufstellen  und  den  Übertreter  als  Widerspenstigen 
und  Ungerechten  bestrafen.  Nicht  kleinliche  Beutelschneiderei, 
sondern  Gewalttat  im  grofsen  Stile,  die  nicht  nur  das  Privat- 
eigentum,  sondern  auch  den  Besitz  des  Staates  an  sich  reifst 
und  auch  vor  dem  in  Tempeln  unter  Götterschutz  Nieder- 
gelegten nicht  zurückweicht,  steht  dem  Mächtigen  zu.  Die 
Tyrannis  ist  sein  Ideal,  der  seiner  Unersättlichkeit  Genüge 
tuende  Ungerechte  ist  der  Glücklichste,  der  Gerechte  der 
Unglücklichste.  Die  Gerechtigkeit  (im  herkömmlichen  Sinne) 
ist  i,fremdes  Gut**,  d.  h.  sie  fördert  einen  anderen,  den 
Starken  und  Herrschenden,  während  sie  dem  einfältigen 
Gerechten,  der  gehorcht  und  dient,  nur  zum  Schaden  ge- 
reicht (3430,  344,  348  D).  Die  Gerechtigkeit  ist  eine  brave 
Gutmütigkeit,  die  Ungerechtigkeit  Klugheit  und  Tüchtigkeit. 
Auch  für  Völker  und  Staaten  untereinander  soll  dies  Recht 
des  Stärkeren  gelten  (348  C  f.).  Die  Herrscherkunst  unter- 
scheidet sich  also  nach  Thrasymachus  dadurch  von  allen 
übrigen  Künsten,  wie  der  des  Arztes  oder  Steuermannes, 
dafs  sie  nicht  zum  Besten  derjenigen  geübt  wird,  an  denen 
sie  sich  betätigt,  sondern  zum  Besten  der  Ausübenden,  und 
in  diesem  Sinne  verwendet  er  das  Bild  des  Hirten ,  der  ja 
auch  seine  Herden  nur  für  eigenen  Genufs  oder  um  des 
Gelderwerbs  willen  weidet  und  pflegt  (341 C  flf.,  343  A  f., 
3450  flf.). 

8.  Plato  im  zweiten  Jahrzehnt  des  4.  Jahrhunderts: 

die  Sophistik  als  Afterbildune:  im  Oegrensatze  gegen 

die  Philosophie. 

Im  Geiste  Piatos  hat  sich,  nachdem  er  sein  eigenes 
System  gefunden  hat,  die  Philosophie  mehr  und  mehr  als 
eine  Führerin  nicht  sowohl  für  die  Betätigung  im  öffent- 
lichen Leben  als  vielmehr  für  eine  wahrhaft  befriedigende 
Gestaltung  des  eigenen  Lebens,  als  Bildung  im  höchsten 
Sinne  des  Wortes,  herausgestellt.  Mit  diesem  Mafsstabe 
gemessen  erscheint  ihm  denn  nun,  was  die  Sophisten  als 
Geistesbildung  anbieten,  unsäglich  minderwertig  und  ver- 
ächtlich.   Er  empfindet  das  Bedürfnis,  diese  Minderwertigkeit, 


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360    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

diesen  Kontrast  gegen  sein  eigenes  Lebensideal,  in  der 
stärksten  Weise  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Dies  geschieht 
in  den  beiden  Dialogen  „Euthydemos"  und  „Sophistes", 
beide  etwa  um  388  oder  wenig  später  verfafst. 

Im  „Euthydemos"  hat  Plato  einen  bestimmten  Anlafs, 
die  währe  Philosophie  der  falschen  gegenüberzustellen,  I so- 
krates (geb.  um  435  oder  433)  war  um  390  in  seiner 
,, Sophistenrede"  für  die  rednerische  Bildung  im  Gegensatze 
zur  philosophischen  als  das  wahre  Bildungsideal  aufgetreten. 
Um  dies  zu  erweisen,  scheint  er  aufser  dem  Kyniker 
Antisthenes  vornehmlich  die  zur  Zeit  sich  breitmachenden 
Sophisten,  die  er  verächtlich  beurteilt,  als  die  wahren  Ver- 
treter der  Philosophie  der  Zeit  hingestellt  zu  haben.  In- 
folge dieser  Vereinerleiung  fiel  mit  der  Sophistik  auch  die 
Philosophie.  Da  die  Rede  nur  unvollständig  erhalten  ist, 
läfst  sich  nicht  beurteilen,  in  welcher  Weise  er  den  Angriff 
auf  die  Sophistik  zugleich  als  einen  Angriff  auf  die  Philo- 
sophie überhaupt  durchführte.  Doch  wird  er  auch  im 
„Euthydemos"  als  ein  solcher  bezeichnet,  der  die  verächt- 
lichsten Sophisten  als  die  gefeiertsten  Vertreter  der  Zeit- 
philosophie bezeichnete  und  damit  die  Philosophie  selbst  als 
gerichtet  betrachtete  (304  D  ff.). 

Gegen  diese  Vereinerleiung  tritt  daher  Plato  im  Euthy- 
4emos  auf,  indem  er  in  einem  Gemälde  von  höchster  drama- 
tischer Kraft  und  Spannung  die  angesehensten  unter  den 
damaligen  Sophisten,  das  Bruderpaar  Euthydemos  und 
Dionysodoros  (304 E  f.),  sich  in  ihrer  ganzen  bodenlosen 
Nichtigkeit  darstellen  läfst  und  ihnen  in  der  Gestalt  des 
Sokrates  die  von  Isokrates  verkannte  wahre  Philosophie 
gegenüberstellt.  Wir  haben  es  an  dieser  Stelle  nur  mit  der 
Schilderung  des  Treibens  der  beiden  Sophisten  zu  tun;  das 
Gegenbild  der  wahren  Philosophie  gehört  in  den  Entwick- 
lungsgang Piatos. 

Nach  unserem  Dialog  stammten  die  beiden  Brüder  aus 
Chios  und  waren  nach  Athen  gekommen,  nachdem  sie  in 
der  unteritalischen  Stadt  Thurii  ausgewiesen  worden  waren 
(271 C,  288  A).  Bis  vor  kurzem  waren  sie  als  Lehrer  des 
Kampfes  in  voller  Rüstung  und  der  Kriegskunst  überhaupt 


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A.    IL    d.   Die  Sophistik  als  Afterbildung.  361 

aufgetreten  (273  C,  E).  In  letzterer  Eigenschaft  erscheint 
Dionysodor  auch  in  den  Denkwürdigkeiten  Xenophons  (III.  1), 
also  etwa  um  410 — 400.  Neuerdings  sind  sie  als  Lehrer 
der  Gerichtsrede,  also  der  Hilfsmittel  bei  Verteidigung  und 
Anklage,  aufgetreten  (272  A,  C).  Sie  geben  sich  aber  auch 
für  Tugendlehrer  aus  (273 E)  und  rühmen  sich,  von  allen 
jetzt  lebenden  Menschen  am  besten  sich  auf  Erweckung  des 
Strebens  nach  Tugend  zu  verstehen  (274  E).  Dafs  sie  aber 
unter  Tugend  nicht  sittliche  Tüchtigkeit,  sondern  nur  eine 
gewisse  Gewandtheit  und  Geschicklichkeit  verstehen,  sich 
unter  allen  Umständen  aus  der  Aifaire  zu  ziehen  und  den 
Gegner  zu  verblüffen,  wird  die  Schilderung  Piatos  lehren. 
Tugend  ist  ihnen  danach  nur  der  weitere  Begriff  dessen, 
von  dem  ein  besonderes  Teilstück  die  Prozefskünste  bilden, 
die  durch  unerwartete  Wendungen  den  Gegner  aus  der 
Fassung  bringen  und  die  Geschworenen  verwirren. 

Nach  einem  anderen  Zeugnis  Piatos  (Kratyl.  386  C)  ver- 
trat Ethydemos  den  Satz,  dafs  allen  Dingen  alles  auf 
gleiche  Weise  zugleich  und  immer  zukomme. 
Dieser  Satz  ist  offenbar,  wie  die  Erkenntnislehre  des  Prot- 
agoras,  aus  der  heraklitischen  Seinslehre  abgeleitet. 
Doch  fehlt  hier  das  gesinnungsvolle  Streben  des  Protagoras, 
von  diesen  Voraussetzungen  aus  zu  einer  normalen  und 
allgemeingültigen  Erkenntnis  zu  gelangen.  Der  obige  Satz 
bleibt  bei  der  den  Herakliteem  eigenen  rückhaltlosen 
Leugnung  des  Widerspruchsgesetzes,  bei  der  Behauptung, 
dafs  das  Widersprechende  zugleich  den  Dingen  zukommen 
könne,  stehen,  vermutlich,  weil  daraus  die  gesinnungslosen 
Künste  der  Verdrehung  von  Tatsachen  und  Rechtsbegriffen 
am  leichtesten  abgeleitet  werden  konnten.  Entsprechend 
berichtet  auch  Sextus  Empiricus(Dogm.  I.  48),  Dionyso- 
dor habe  kein  Wahrheitsmerkmal  anerkannt,  wozu  jedoch 
nicht  recht  stimmt,  wenn  derselbe  Autor  (ib.  64)  beiden 
Brüdern  ein  relativ  gültiges  Wahrheitsmerkmal  beilegt  und 
sie  in  dieser  Beziehung  an  Protagoras  anschliefst.  Die  An- 
gaben des  Sextus  scheinen  hier  nicht  auf  besonders  genauen 
und  zuverlässigen  Quellen  zu  beruhen. 

Wenn  wir  dagegen  der  Schilderung  Piatos  im  Euthy- 


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362    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

demos  folgen,  so  haben  die  beiden  Brüder  sich  absolut  nicht 
um  folgerichtige  Ableitung  ihres  Verfahrens  aus  einer  Seins- 
lehre oder  einem  Erkenntnisprinzip  gekümmert.  Nirgends 
tritt  ein  solcher  Rückgang  hervor.  Ihr  Haupthilfsmittel  ist 
sprachliche  Verdrehung,  und  als  ihnen  vorgehalten  wird, 
dafs  ihre  Behauptungen  mit  ihren  kurz  vorher  abgegebenen 
Erklärungen  im  offenen  Widerspruch  stehen,  finden  sie  es 
höchst  altvaterisch,  ihnen  das  vorher  Gesagte  ins  Gedächtnis 
zurückzurufen  (287  B). 

Der  Verlauf  der  platonischen  Schilderung  ist  nun  im 
wesentlichen  folgender.  Da  die  beiden  sich  für  wirksame 
Tugendlehrer  ausgeben,  veranlafst  Sokrates  sie,  ein  Probe- 
stück ihrer  Lehrkunst  abzulegen,  indem  sie  mit  Kleinias, 
einem  schönen  und  aufgeweckten  Knaben,  einen  einleitenden 
oder  vorbereitenden  (protreptischen)  Kursus  abhalten,  dahin- 
zielend,  dafs  derselbe  zur  nachhaltigen  Empfänglichkeit  für 
das  Tugendstreben  angeregt  werde. 

Diesen  Kursus  beginnt  Euthydemos  mit  der  Frage,  ob 
die  Verständigen  oder  die  Unwissenden  lernen.  Dionysodor 
flüstert  Sokrates  mit  breitem  Lachen  zu,  der  Knabe  werde 
in  jedem  Falle  hereingelegt  werden,  möge  er  antworten,  wie 
er  wolle.  Als  Kleinias  antwortet,  die  Verständigen  lernten, 
zeigt  ihm  Euthydemos,  dafs  dies  vielmehr  von  den  Un- 
wissenden gelte,  während  dann  sofort  Dionysodor  mit  dem 
Beweise  einspringt,  dafs  es  vielmehr  die  Verständigen  unter 
den  Schülern  seien.  Beider  Leistung  wird  von  dem  sie  be- 
gleitenden Chor  von  Schülern  wie  von  einer  wohlgeschulten 
Glaque  mit  Lachen  und  Beifallsgetöse  gefeiert. 

Sofort  fragt  nun  Euthydemos,  ob  man  lerne,  was  man 
wisse,  oder  was  man  nicht  wisse,  und  Dionysodor  versichert 
abermals  triumphierend  Sokrates,  das  sei  wieder,  wie  alle 
ihre  Fragen,  eine  unentrinnbare  Schlinge.  Der  Antwort  des 
Knaben,  man  lerne,  was  man  nicht  wisse,  hält  Euthydemos 
entgegen,  alles  zu  Lernende  bestehe  doch  aus  Buchstaben, 
die  doch  jeder  kenne,  worauf  aber  sofort  Dionysodor  ihn 
wie  einen  Fangball  greift  und  ihm  beweist,  man  lerne,  was 
man  nicht  wisse. 

Sokrates  erbarmt  sich  nun  des  ganz  verwirrt  werdenden 


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A.    IL    3.   Die  Sophistik  als  Afterbildung.  363 

Knaben:  das  seien  nur  vorbereitende  Scherze.  Er  erklärt 
ihm  den  Doppelsinn  der  Fragen  und  bittet  die  beiden,  nun- 
mehr mit  ihrer  Probe  Ernst  zu  machen.  Er  gibt  auch  selbst 
aus  dem  Stegreif  eine  kleine  Probe,  wie  er  sich  den  vor- 
bereitenden Kursus  zur  Tugendlehre  beginnend  denkt,  wobei 
freilich  klar  wird,  dafs,  was  er  unter  Tugend  versteht, 
himmelweit  von  dem  Tugendbegriff  der  beiden  Sophisten 
verschieden  ist.  Es  ist  ein  kleines  Lehrstack  der  echten 
Philosophie  im  Sinne  Piatos,  das  hier  der  Afterphilosophie 
der  Sophisten  kontrastierend  entgegengesetzt  wird. 

Aufgefordert,  nun  in  diesem  Sinne  den  protreptischen 
Kurs  im  Ernste  weiterzuführen,  beweisen  die  Sophisten, 
wer  wünsche,  dafs  Kleinias  weise  werde,  wünsche  seine 
Vernichtung,  denn  er  wünsche,  dafs  er  nicht  mehr  sei,  was 
er  jetzt  sei.  Das  ist  denn  dem  Hauptanbeter  des  schönen 
Knaben,  dem  Ktesippos,  doch  zu  viel.  Erregt  über  den 
Gedanken  der  Vernichtung  des  angeschwärmten  Idols,  wirft 
er  den  Sophisten  lügenhafte  Kunststücke  vor.  Aber  er  er- 
reicht dadurch  nur,  dafs  ihm  selbst  jetzt  bewiesen  wird, 
man  könne  nicht  lügen,  weil  man  doch  immer  von  etwas 
spreche,  dies  Etwas  aber  doch  ein  Seiendes,  also  ein  Wahres 
sein  müsse.  Schon  hier  wird  klar,  dafs  ihnen  —  selbst  nach 
der  platonischen  Darstellung  —  der  heraklitische  Hintergrund 
dieser  Argumentation  nicht  ganz  fehlt,  dafs  sie  nicht  nur 
mit  Wortkünsten  und  Wortverdrehungen  operieren.  Ganz  in 
demselben  Sinne  wird  dann  auch  der  Einwand  des  Ktesippos 
entkräftet,  der  Lügende  rede  aber  doch  nicht  so  von  dem 
Seienden,  wie  es  sich  verhalte.  Dem  wird  nämlich  entgegen- 
gehalten, das  sei  eine  absurde  Forderung,  denn  dann  müsse 
man  vom  Schlechten  schlecht,  von  grofsen  Leuten  grofs  und 
von  Hitzigen  hitzig  sprechen. 

Da  nun  Ktesippos  anfängt,  ungemütlich  zu  werden,  legt 
Sokrates  dem  Argument  vom  Vernichten  des  Kleinias  den 
berechtigten  Sinn  des  Umschaffens  zu  einem  Besseren  unter 
und  veranlafst  dadurch  Ktesippos  zu  der  Erklärung,  dafs 
er  nicht  schimpfe,  sondern  nur  widerspreche.  Dadurch  hat 
er  aber  nur  das  Stichwort  zu  einer  neuen  rabulistischen 
Leistung  geliefert.    Es  gibt  kein  Widersprechen,  so  wenig 


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364     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

wie  ein  Lügen,  da  jede  Aussage  sich  ja  auf  ein  Seiendes 
bezieht  und  die  widersprechenden  Aussagen  also  gar  nicht 
das  gleiche  Etwas  betreffen.  Hier  kommt  die  Argumen- 
tation den  heraklitischen  Voraussetzungen  ganz  nahe,  daher 
denn  auch  hier  Sokrates  auf  Protagoras  und  seine  Schüler 
„und  noch  Ältere"  (offenbar  die  Herakliteer)  als  Vertreter 
dieses  Satzes  verweist  (286  C).  Aber  Protagoras  hatte  ein 
Mittel  gefunden,  den  absurden  Konsequenzen  dieses  Satzes 
zu  entgehen,  während  die  beiden  Sophisten  in  ihrer  extremen 
und  dabei  ganz  äufserlichen  und  nur  auf  Verblüfifimg  ab- 
zielenden Handhabung  dieser  ganzen  Argumentationsweise 
nunmehr  rettungslos  in  die  absurdesten  Konsequenzen  der- 
selben hineingeritten  werden.  Es  gibt  nach  dieser  Voraus- 
setzung auch  kein  falsches  Vorstellen,  kein  Widerlegen,  also 
auch  kein  Fehlgreifen  im  Handeln,  also  auch  keine  An- 
leitung zum  richtigen  Verhalten,  die  zu  erteilen  sie  doch 
selbst  in  Aussicht  gestellt  haben.  Da  in  diesem  Gesprächs- 
gange Sokrates  einmal  die  Wendung  gebraucht:  „Was  meint 
dieser  Ausdruck?"  (287 C),  wird  ihm  entgegengehalten,  dafs 
doch  nur  beseelte  Wesen  etwas  meinen  können. 

Sokrates  hält  es  an  diesem  Punkte  der  Unterredung 
nochmals  für  angezeigt,  seinerseits  eine  Probe  zu  geben,  wie 
er  sich  die  Belehrung  des  jungen  Kleinias  denkt.  Er  nimmt 
den  vorhin  fallen  gelassenen  Faden  seines  Gedankenganges 
mit  Kleinias  wieder  auf  und  führt  ihn  in  ernsthafter  Unter- 
suchung ein  Stück  weiter  (288  B  fif.).  Er  sagt  dabei  dem 
Knaben,  wie  den  Proteus,  *der  sich  sträubt  zu  weissagen, 
müsse  man  diese  Männer  festhalten,  bis  sie  Ernst  machen. 
Als  er  schliefslich  mit  Kleinias  auf  die  schwere  Frage  ge- 
kommen ist,  welche  Art  von  Erkenntnis  das  Hilfsmittel  zur 
wahren  Glückseligkeit  sei,  springt  dann  Euthydemos  wieder 
ein  und  hilft  aus  der  Verlegenheit  mit  dem  Beweise,  dafs, 
wer  etwas  weifs,  alles  weifs.  Denn  wer  etwas  weifs,  ist 
kundig.  Wüfste  er  etwas  nicht,  so  wäre  er  nicht  kundig. 
Beides  zugleich,  wissend  und  nichtwissend,  kann  man  nicht 
sein,  also  weifs  jeder  alles.  Ja,  jeder  hat  immer  alles 
gewufst,  schon  bei  seiner  Geburt,  ja,  ehe  Himmel  und  Erde 
entstanden   waren.     Und  ebenso   in    der   fernsten   Zukunft 


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A.    n.    3.    Die  Sophistik  als  Afterbildung.  365 

(294  E,  296  C).  Er  weifs  sogar,  dafs  die  Tugend  ungerecht 
ist,  also  das  durch  den  offenen  Widerspruch  Unmögliche. 
Der  Beweis  dieser  erstaunlichen  Behauptung  wird  lediglich 
durch  ein  absurdes  Wortkunststtick  geleistet.  Sokrates  mufs 
bejahen,  dafs  er  immer  alles  „vermöge  etwas"  weifs.  Dieser 
Zusatz:  vermöge  etwas  dient  nur  zu  einer  vorübergehenden 
Verrichtung.  Er  soll  den  Antwortenden  zur  Bejahung  der, 
wie  er  denkt,  nur  in  eingeschränktem  Sinne  gemeinten 
Frage  verlocken.  Nachdem  dann  die  Bejahung  erfolgt  ist, 
wird  das  „vermöge  etwas"  ausgeschieden  und  gefolgert: 
also  weifst  du  immer  alles.  Höchst  humoristisch  ist  die 
Schilderung,  wie  Sokrates,  ehe  er  den  vorstehenden  Satz 
bejaht,  in  vorgeblicher  Tölpelhaftigkeit,  in  Wirklichkeit  aber 
in  Erkenntnis  der  plumpen  Falle,  in  die  er  gelockt  werden 
soll,  in  seinen  Antworten  allerlei  Zusätze  macht,  durch  die 
das  beabsichtigte  Manöver  unmöglich  gemacht  wird. 

Nachdem  dies  Ungeheuerliche  geleistet  ist,  öffnen  sich 
die  Schleusen  dieser  „Philosophie"  ungescheut  zu  den 
läppischsten  Kunststücken.  Wer  Vater  ist,  ist  Vater  schlecht- 
hin, Vater  überhaupt,  also  von  allem,  auch  von  den  Tieren. 
Der  Hund  des  Ktesippos,  der  Vater  und  sein  ist,  ist  also 
sein  (des  Ktesippos)  Vater,  er  prügelt  also  seinen  Vater. 
Wenn  es  jemand  gut  ist,  Arznei  zu  nehmen,  dann  auch  in 
möglichst  grofsen  Quantitäten,  also  einen  ganzen  Wagen 
voll.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  den  Waffen  im  Kriege. 
Wenn  es  gut  ist,  Geld  zu  haben,  dann  auch  immer  und 
überall  in  möglichst  grofser  Menge,  also  z.  B.  drei  Talente 
im  Bauche  und  ein  paar  Goldstücke  in  den  Augen. 

Ktesippos  hat  nach  diesen  Proben  bereits  die  Pointe 
dieser  Weisheit  erfafst.  Er  versucht  sich  in  völlig  eben- 
bürtiger Weise  auf,  diesem  Felde  und  zeigt,  dafs  die 
Scythen,  wenn  sie  in  den  ihnen  zugehörigen  Schädeln  er- 
schlagener Feinde  ihr  Gold  aufbewahren  oder  daraus  trinken, 
dies  mit  ihren  eigenen  Schädeln  vornehmen.  Es  folgt  dann 
nach  einigen  rein  grammatischen  Scherzen,  die  im  Deutschen 
schwer  wiederzugeben,  eine  bedeutsamere  Wendung,  die 
zerrbildliche  Verhöhnung  einer  Art  von  plumpen  Angriffen, 
die,  wie  auch  sonst  bekannt,  auf  die  platonische  Ideenlehre 


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366    Zweite  Periode.    Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

gemacht  wurden.  Die  Darlegung  derselben  mufs  aber  einer 
späteren  Stelle  vorbehalten  werden.  Es  wird  dann  noch 
bewiesen,  dafs,  weil  dem  Schmiede  das  Schmieden  und  dem 
Koch  das  Zerkleinem  des  Fleisches  zukommt,  der  Schmied 
mit  Hämmern  bearbeitet  und  der  Koch  in  Stücke  geschnitten 
werden  mufs,  und  dafs,  weil  man  mit  seinem  lebenden  Eigen- 
tum machen  kann,  was  man  will,  man  über  seine  Familien- 
und  persönlichen  Schutzgötter  ebenso  verfügen  kann  wie 
über  sein  Vieh. 

Die  Wirkung  dieser  Schaustellung  auf  die  Gesamtheit 
der  Zuhörer  ist  überwältigend.  Der  Jubel  und  das  Hände- 
klatschen wird  bis  zur  Entkräftung  getrieben;  nach  dem 
Bericht  des  Sokrates,  der  immer  noch  die  ironische  Rolle 
des  Bewunderers  festhält,  fehlte  wenig,  dafs  selbst  die 
Säulen  der  Lykeionshalle,  wohin  die  Szene  verlegt  wird,  in 
den  allgemeinen  Jubel  eingestimmt  hätten.  Der  Hohn  Piatos 
gipfelt  in  dem  scheinbar  in  voller  Verehrung  ihnen  erteilten 
Rate  des  Sokrates,  bei  dem  grofsen  Vorzuge  ihrer  Lehre, 
dafs  sie  so  leicht  angeeignet  werden  könne,  dafs,  wie  sie 
selbst  rühmen.  Alte  und  Unbegabte  von  ihrer  Belehrung 
nicht  ausgeschlossen  sind  und  jeder  daneben  auch  noch 
seinen  gewohnten  Geschäften  nachgehen  kann  (304  C),  doch 
ja  mit  ihren  Schaustellungen  vorsichtig  zu  Werke  zu  gehen 
und  sie  nicht  vor  grofsen  Massen  zum  besten  zu  geben. 

Wir  haben  in  dieser  überaus  geistvollen  Satire  die 
Antwort  Piatos  auf  die  Verunglimpfung  der  Philosophie 
durch  Gleichsetzung  mit  der  Sophistik.  Natürlich  mufste 
er,  um  seinen  polemischen  Zweck  zu  erreichen,  den  Gegen- 
satz recht  krafs  und  scharf  machen,  und  so  wird  dieser 
Schilderung  wohl  ein  Stück  Übertreibung  anhaften.  Aber 
ganz  aus  der  Luft  gegriffen,  ganz  frei  erfunden  kann  sie 
doch  nicht  sein,  dann  würde  sie  wieder  ihren  Kampfzweck 
verfehlt  haben  und  dem  Einwand  der  böswilligen  Ver- 
kleinerung und  Entstellung  ausgesetzt  gewesen  sein.  Ein 
wesentliches  Stück  Wahrheit  muls  diese  Schilderung  einer 
Richtung  der  Sophistik  um  390  enthalten.  Sie  zeigt  uns, 
was  von  diesen  Leuten  als  „Tugend"  erstrebt  wurde,  und  mit 
welchen  Mitteln  sie  diese  Tugend  zu  verbreiten  bemüht  waren. 


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A.    II.    8.   Die  Sophistik  als  Afterbildung.  367 

Wie  im  „Euthydemos"  handelt  es  sich  auch  im  „So- 
phistes**  um  eine  polemische  EeuDzeichnung  der  Sophisten 
als  Afterphilosophen  und  Verbreiter  einer  falschen  Bildung 
im  Gegensatze  gegen  die  echte  Philosophie.  Wie  dort  der 
Begriff  der  Tugend  als  höherer  Lebenstüchtigkeit  im  weite- 
sten Sinne  an  die  Stelle  der  ursprünglichen  Herrscher- 
tüchtigkeit gerückt  ist,  so  hier  der  Begriff  der  Bildung. 
Der  „Sophistes*'  enthält  eine  längere  Episode,  in  der  sich 
Plato  mit  anderen,  der  seinigen  entgegengesetzten  Richtungen 
auseinandersetzt,  und  bildet  infolgedessen  ein  wichtiges 
Dokument  für  das  System  Piatos.  In  dieser  Beziehung  mufs 
an  späterer  Stelle  auf  ihn  zurückgekommen  werden.  Die 
Hauptrichtung  des  Dialogs  aber  verfolgt  von  Anfang  bis  zu 
Ende  den  Zweck,  das  Wesen  des  Sophisten  in  seinem  Unter- 
schiede vom  Staatsmann  und  Philosophen  zu  bestimmen 
(217  A  ff.).  Und  zwar  geschieht  dies  in  der  Form  eines  mit 
reichlicher  Komik,  Satire  und  Ironie  durchtränkten  logischen 
Exerzitiums.  Ausgehend  vom  Allgemeinbegriffe  der  Kunst, 
unter  den  jedenfalls  die  Sophistik  fallen  mufs,  wird  dieser 
durch  fortschreitende  Hinzufügung  von  Sondermerkmalen 
so  lange  zweiteilig  gespalten,  bis  die  sophistische  Kunst 
zum  Vorschein  kommt.  Und  zwar  wird  dies  Verfahren 
nicht  nur  einmal  zu  einer  Bestimmung  des  Wesens  der 
Sophistik  angewandt,  sondern  sechsmal.  Denn  die  Sophistik 
ist,  wie  wiederholt  versichert  wird,  eine  sehr  vielseitige 
Kunst,  die  daher  auch  in  mannigfacher  Weise  bestimmt 
werden  kann  und  mufs.  Die  ersten  fünf  Bestimmungen 
gehen  vom  Begriff  der  erwerbenden  Kunst  aus,  d.  h.  sie 
zielen  fast  ganz  ausschliefslich  auf  die  in  ihrer  Ausartung 
ganz  besonders  anstöfsige  Neuerung  der  Sophisten,  sich  für 
ihre  Lehrtätigkeit  honorieren  zu  lassen.  Dies  Erwerbs- 
streben wird  hier  in  satirischer  Schärfe  als  das  einzige  und 
entscheidende  Merkmal  der  Sophistik  behandelt.  Erst  die 
sechste  Begriffsbestimmung  kommt  von  einem  anderen  All- 
gemeinbegriffe aus  zu  einer  eingehenderen  Kennzeichnung 
•der  Lehrtätigkeit  der  Sophisten.  Im  einzelnen  gestaltet 
sich  hiemach  der  Gedankengang  des  Dialogs  im  wesentlichen 
folgendermafsen. 


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368     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Die  erwerbenden  Künste  vollziehen  sich  teils  durch 
gütliches  Übereinkommen  der  beiden  in  Betracht  kommenden 
Teile  als  Tausch,  teils  durch  Vergewaltigung  des 
einen  Teils  durch  den  anderen.  Die  Vergewaltigung  ge- 
schieht teils  durch  offene  Gewaltanwendung,  teils  durch  List. 
Letztere  führt  auf  den  Begriff  der  Jagd  auf  Geschöpfe,  die 
auf  dem  Lande  leben.  Diese  sind  teils  solche,  die  sich  zur 
Wehre  setzen,  teils  solche,  die  wehrlos  erjagt  werden.  Zum 
letzteren  Falle  gehört  der  Mensch,  sofern  er  durdi  Über- 
redung gewonnen  wird.  Die  Überredung  kann  teils  an  den 
Massen  geübt  werden,  teils  an  einzelnen.  Wird  sie  im 
letzteren  Falle  um  Lohn  oder  sonstiger  Vorteile  willen 
geübt,  so  entsteht  teils  der  Schmeichler  und  Schmarotzer, 
teils  der  Sophist.  Die  Sophistik  in  diesem  Sinne  wird  als 
eine  als  Geldgeschäft  betriebene  Scheinerziehungskunst  oder 
als  Jagd  auf  reiche  und  vornehme  Jünglinge  bestimmt 
(223  B). 

Die  Sophistik  fällt  aber  femer  auch  unter  den  Begrifft 
der  Kunst  des  freiwilligen  Austausches.  Der  Händler  bietet 
entweder  selbsterzeugte  Waren  oder  die  Erzeugnisse  anderer 
feil.  Im  letzteren  Falle  kann  dies  geschehen  im  weiteren 
Umfange,  indem  man  von  Ort  zu  Ort  zieht,  oder  im  engeren 
Kreise,  indem  man  sich  sefshaft  auf  die  eigene  Stadt  be- 
schränkt. Entsprechend  der  Gepflogenheit  der  meisten 
Sophisten  wird  hier  zunächst  der  erstere  Fall  berücksichtigt 
Die  feilgebotenen  Waren  femer  können  entweder  Bedürfnisse 
des  Leibes  oder  der  Seele  sein.  Im  letzteren  Falle  kann 
es  sich  entweder  um  unterhaltende  Schaustellungen  der 
mannigfachsten  Art  oder  um  Darbietung  von  Wissen  handeln. 
Das  Wissen  wiederum  zerfällt  einesteils  in  die  unbestimmte 
Vielheit  der  Wissenschaften  und  Kunstlehren,  andemteils  in 
die  Tugendlehre.  Der  Sophist  ist  ein  umherziehender 
Händler  mit  derjenigen  besonderen  Art  von  Geisteswaren, 
die  sich  auf  Tugend  beziehen  (224  D).  Dieses  Bild  des 
umherziehenden  Händlers  mit  Nahrungsmitteln  der  Seele, 
nämlich  mit  Kenntnissen,  hatte  Plato  auch  schon  im  „Prot- 
agoras"  (313  C  f.)  von  den  Sophisten  gebraucht  und  dort 
sogar  schon   die   Bemerkung  hinzugefügt,    dafs,   wie  alle 


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A.    U.    3.  Die  Sophistik  als  Afterbildung.  369 

Händler,  so  auch  diese  ihre  Ware  anpreisen,  wenn  sie  auch 
nicht  wissen,  ob  dieselbe  für  die  Seele  heilsam  oder  schäd- 
lich ist. 

Er  kann  aber  drittens  und  viertens  auch  unter 
den  Begriff  des  sefshaften  Krämers  mit  dieser  Art  von  Ware 
gebracht  werden,  und  zwar  mit  der  weiteren  Unterscheidung, 
dafs  er  als  solcher  teils  nur  fremde  Erzeugnisse  feilhält, 
teils  aber  Produzent  und  Selbstverkäufer  in  einer  Person 
ist  (224  E,  231 E).  Offenbar  wird  in  der  zweiten  bis  vierten 
Definition  nicht  die  Sophistik  als  Ganzes  bezeichnet,  son- 
dern es  werden  verschiedene  Nuancierungen  des  Betriebes 
unterschieden.  Zuerst  der  Sophist  als  Wanderlehrer  und 
der  sefshafte  und  sodann  der  Sophist,  der  lediglich  fremde, 
erlernte  Weisheit  zu  Markte  bringt,  und  derjenige,  der  selbst 
produktiv  und  original  ist.  Es  ist  deutlich,  dafs  letztere 
Unterscheidung  nicht  nur  auf  den  Sefshaften,  sondern  ebenso- 
gut auch  auf  den  Umherziehenden  angewandt  werden  kann, 
so  dafs  wir  eigentlich  vier  Gruppen  erhalten  mtifsten: 
1.  Wandernde,  a)  Originaldenker,  b)  fremde  Weisheit  ver- 
breitend; 2.  Sefshafte,  a)  Originaldenker,  b)  Angelerntes 
lehrend. 

Behufs  einer  fünften  Bestimmung  der  Sophistik  als 
erwerbender  Kunst  wird  nunmehr  auf  den  Erwerb  durch 
Vergewaltigung  zurückgegriffen*  Diese  konnte  statt- 
finden als  offene  Gewalt  oder  als  List.  An  der  früheren 
Stelle  war  der  Sophist  in  der  Linie  der  listigen  Ver- 
gewaltigung aufgesucht  worden.  Jetzt  wird  er  in  der  Rubrik 
der  offenen  Gewalt  verfolgt.  Diese  kann  als  körperlicher 
Kampf  Leib  gegen  Leib  oder  als  ein  auf  die  Seele  geübter 
Zwang  stattfinden.  Letzterer  findet  wieder  entweder  in 
zusammenhängenden  Reden  in  der  Kunst  der  gerichtlichen 
Beredsamkeit  statt  oder  im  Privatverkehr  in  kurzer  Rede 
und  Gegenrede  in  der  Disputierkunst.  Wird  letztere  sodann 
kunstmäfsig  als  Erwerb  gelehrt,  so  ergibt  sich  die  sophistische 
Streitkunst  oder  Eristik  (225  E  f.).  Diese  Wesensbestimmung 
des  Sophisten  geht  schon  auf  eine  ganz  bestimmte  Eigenheit 
der  ausartenden  Sophistik.  Die  Tüchtigkeit  des  Menschen 
besteht  nach  ihr  in  der  Fertigkeit,  durch  verblüffende  Kunst- 

DOriDf.    I.  24 


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370     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sopfeistem  und  Sokrates  etc. 

Stacke  alles  dem  eigenen  Vorteil  Dienende  zu  beweisen, 
jeoer  Kunst,  deren  Iftcherliche  Veraemmg  Rato  bereits  im 
Euthydemos  geschildert  hatte.  Diese  Bestimmung  bildet 
also  sch<m  den  Übergang  zu  der  mehr  innerlichen  Be- 
zeichnung der  Eigenart  der  Sophistik,  die  nunmehr  in  der 
sechsten  Definition  gegeben  wird. 

Eme  besondere  Art  von  Künsten  bilden  die  des  Son- 
derns  und  Scheidens.  Wenn  dabei  das  Schlechtere  vom 
Besseren  ausgeschieden  wird,  sind  sie  Künste  der  Reinigung. 
Diese  können  an  leblosen  Stoffen  oder  auch  am  menschlichen 
Körper  vorgenommen  werden.  Andernteils  an  der  mensch- 
lichen Seele.  Hier  ist  das  Schlechte  einesteils  die  Untugend, 
andernteils  der  Irrtum.  Den  Irrtum  beseitigt  die  Lehrkunst. 
Diese  wird  teils  in  bezug  auf  die  besonderen  Fachwissen- 
schaften geübt,  teils  in  einem  mehr  allgemeinen  Sinne  behufs 
Herstellung  der  Bildung  (229  D).  Die  negative  Vor- 
bedingung der  letzteren  ist  die  Überführung  des  zu  Bildea- 
den von  der  eigenen  Unwissenheit.  Diese  Tätigkeit  geht 
leicht  Hand  in  Hand  mit  der  Erweckung  der  Vorstellung 
eines  universellen  Wissens  auf  selten  des  Lehrenden.  Dies 
kann  aber  nur  ein  Scheinwissen  sein,  weil  es  unmöglich 
ist,  auf  allen  Gebieten  Sachverständiger  zu  sein.  Der 
Sophist  befindet  sich  nicht  im  Besitze  der  Wahrheit  (233  C). 
Seine  Kunst  gehört  unter  die  nachbildenden  Künste, 
und  zwar  nicht  unter  diejenige  Gruppe  derselben,  die  wirk- 
liche Kopien,  Vervielfältigungen  der  betreffenden  Gegen- 
stände hervorbringt,  sondern  derjenigen,  die,  wie  die  bildeoh 
den  Künste,  nur  Scheinbflder  der  Gegenstände  liefert 
(235  E  ff.).  Das  Scheinbild  ist  Nachahmung  im  engeren  und 
besonderen  Sinne  (267  A).  Diese  kann  nun  wieder  auf 
Kenntnis  des  nachgeahmten  Gegenstandes  beruhen  oder  ohne 
genügende  Kenntnis  desselben  unternommen  werden.  Im 
letzteren  Falle  entsteht  eine  auf  blofser  Meinung  beruhende 
Nachahmung  (267  D).  Bei  dieser  kann  wieder  beim  Nach- 
ahmenden der  gute  Glaube  vorhanden  sein,  er  kenne  den 
im  Scheinbilde  nachzuahmenden  Gegenstand,  oder  es  wird 
von  ihm  nur  in  bewufstem  Truge  die  Meinung  erweckt,  als 
kenne  er  denselben.   Wird  nun  diese  mit  bewuföt  trügerischer 


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A.    II.    4.   Zeugnisse  des  Aristoteles  (um  330).  371 

Vorspregelung  des  Wissens  geübte  Herstellung  von  S^hein- 
bildern  des  Wirklichen  in  der  Form  der  privaten  Wechsel- 
rede  geübt,  so  ist  das  Wesen  des  Sophisten  getroffen  (268  B  f.). 
Der  Sophist  ist  also  im  Sinne  Piatos  ein  bewufst  schwindel- 
hafter und  betrügerischer  Vermittler  eines  Scheinbildes  der 
Wahrheit,  dessen  Urbild  ihm  unbekannt  ist.  Mit  dieser 
denkbar  schroffsten  Absage  an  die  Sophistik  dieses  Zeit- 
punktes schliefst  der  Dialog.  Plato  ist  seitdem  Ifaum  wieder 
auf  die  Sophistik  zurückgekommen;  sie  war  für  ihn  abgetan. 
Nur  in  einem  gelegentlichen  Ausfalle  schildert  er  in  dem 
spätesten,  gegen  367  verfafsten  Teile  seines  „Staates"  (493  A) 
den  Sophisten  als  den  erwerbsüchtigen  Lehrer  der  Kunst, 
der  Masse  als  einer  grofsen  und  starken  Bestie  zu  schmeicheln 
und  sie  nach  Belieben  zu  lenken.  Jedes  sittlichen  Urteils 
bar,  gebrauchen  sie  die  Bezeichnungen  gerecht  und  un- 
gerecht nur  nach  den  Trieben  und  jeweiligen  Launen  der 
grofsen  Bestie.  Diese  haben  sie  andauernd  und  mit  vielem 
Zeitaufwande  studiert  und  die  Resultate  dieser  Studien,  als 
Kunst  der  Volksleitung  nach  Regeln  zusammengestellt, 
nennen  sie  Weisheit  und  machen  sie  zum  Gegenstande  ihrer 
bezahlten  Lehrtätigkeit.  Hier  erscheint  also  der  Sophist 
wieder,  wie  im  Gorgias,  als  Lehrer  der  Regierungskunst 
durch  Volksrede,  aber  freilich  auf  einer  sehr  viel  tieferen 
Stufe  als  dort.  Dort  war  die  Masse  die  durch  selbstherr- 
liche Naturen  im  Grunde  tyrannisch  geleitete,  hier  handelt 
es  sich  um  die  armselige  Kunst,  lediglich  durch  Hätsche- 
lung  der  Masseninstinkte,  die  also  das  eigentlich  Herrschende 
sind,  obenaufzukommen. 

4.    Zeugrnlsse  des  Aristoteles  (um  330). 

In  durchaus  verächtlichem  Lichte  erscheint  die  spätere 
Sophistik  auch  bei  Aristoteles.  Im  Gegensatze  gegen 
das  durchaus  reelle  Verfahren  des  Protagoras  in  der  Ab- 
messung des  Honorars  ist  der  gewöhnliche  Sophist  ein 
Schwindler.  Notgedrungen  läfst  er  sich  im  voraus  bezahlen, 
denn  hinterher  würde  ihm  niemand  für  sein  wertloses  Wissen 
Geld  geben  (1064,  22  ff.).    Auf  die  durch  Gorgias  vertretene 

24* 


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372    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Richtung  bezieht  sich  seine  Bemerkung,  sie  gäben  sich  für 
Lehrer  der  Regierungskunst  aus,  kannten  aber  deren  wahres 
Wesen  gar  nicht,  sondern  verwechselten  sie  mit  der  Rhe- 
torik (1181,  14).  Dagegen  hat  er  in  seiner  Schrift  „Über 
das  sophistische  Beweisverfahren"  die  andere  Ausartung  im 
Auge,  durch  die  eben  das  Wort  „Sophistik"  die  noch  heute 
übliche  schlimme  Bedeutung  bekommen  hat.  Er  bestimmt 
hier  die  Sophistik  ganz  wie  Plato  als  „eine  scheinbare, 
nicht  wirkliche  Weisheit"  und  den  Sophisten  als  „einen 
Geschäftsmann,  der  aus  der  scheinbaren,  nicht  wirklichen 
Weisheit  Erwerb  zieht"  (165,  21).  Er  klassifiziert  in  dieser 
Schrift  die  ganze  Masse  jener  Spiegelfechtereien,  von  denen 
Plato  im  Euthydemos  ein  humoristisches  Bild  gibt,  in  voll- 
kommen ernsthafter  und  streng  wissenschaftlicher  Weise 
nach  der  Art  der  dabei  zur  Anwendung  kommenden  Kunst- 
griffe und  Blendwerke  und  gibt  damit  zugleich  die  Hilfs- 
mittel zur  Unschädlichmachung  des  Truges  an  die  Hand. 
Indem  so  die  verschiedenen  Verfahrungsweisen  bei  diesem 
trügerischen  Spiele  zum  wissenschaftlichen  Bewufstsein  er- 
hoben werden,  sind  sie  zugleich  ein  für  allemal  in  ihrer 
ganzen  Nichtigkeit  aufgedeckt;  ja,  die  Beschäftigung  mit 
ihnen  erscheint  ihm  unter  dieser  Voraussetzung  geradezu 
als  logisch  bildend  und  das  Verständnis  der  Sprache  und 
der  Denk  Vorgänge  fördernd. 

B.     Sokrates   und   die  reinen   Sokratiker. 
1.    Sokrates  (469—399). 

Sokrates  stimmt  im  Grundzuge  seiner  Bestrebungen 
ganz  und  gar  mit  den  älteren  Sophisten  tiberein.  Wie  bei 
diesen  steht  im  Mittelpunkte  seines  Wirkens  die  Erziehung 
zur  wahren  Herrschertüchtigkeit  und  wie  diese  setzt  er  das 
Wesen  derselben  einesteils  in  den  Besitz  der  erforderlichen 
Kenntnisse  und  Fähigkeiten,  andemteils  aber  auch  in  die 
zu  jedem  gemeinnützigen  Wirken  unentbehrliche  sittliche 
Gesinnung. 

Neben  dieser  wesentlichen  Übereinstimmung  zeigen  sich 


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B.    1.   Sokrates  (469-899),  373 

aber  auch  tiefeinschneidende  Unterschiede.  Diese  beruhen 
zum  Teil  schon  auf  dem  Umstände,  dafs  er  nicht  als  umher- 
ziehender Wanderlehrer  wirkte,  sondern  als  sefshafter  Bürger 
seine  Tätigkeit  auf  seine  Vaterstadt  beschränkte.  Schon 
damit  hängt  es  teilweise  zusammen,  dafs  er  nicht  um  Lohn 
lehrte,  sondern  sein  Erzieherwirken  nach  altem  Brauche 
unentgeltlich  als  eine  patriotische  Ehrenpflicht  übte.  Damit 
hängt  es  femer  zusammen,  dafs  er  sich  nicht  in  Anbequemung 
an  die  in  den  verschiedenen  Staaten  bestehenden  Zustände 
an  die  Söhne  der  Mächtigen  und  Einflufsreichen  wandte, 
also  bald  an  den  Adel,  bald  an  die  Begüterten,  sondern  in 
radikaler  Weise  nur  die  innere  Befähigung  der  zu  Bildenden 
in  Betracht  zog,  und  dafs  er  auch  in  der  Beurteilung  der 
bestehenden  Staatsformen  nicht  einer  bunten  Mannigfaltigkeit 
Rechnung  zu  tragen  brauchte,  sondern  einer  einheitlichen 
und  sich   gleichbleibenden   Aufgabe  gegenübergestellt  war. 

Ein  anderer  Teil  dieser  Unterschiede  beruht  auf  seinem 
Bildungsgange  und  seiner  persönlichen  Eigenart.  Ent- 
schiedener als  die  Sophisten  lejint  er  die  naturphilosophischen 
Theorien  ab  und  hält,  insbesondere  auch  in  der  Moral- 
begrtindung,  am  überlieferten  Götterglauben  in  gereinigter 
und  veredelter  Gestalt  fest.  Scharf  und  planvoll  führt  er 
bei  aller  scheinbaren  Ungebundenheit  und  Berechnungs- 
losigkeit  die  Grundzüge  seiner  Erziehertätigkeit  durch,  unter- 
stützt durch  die  Fähigkeit  zu  scharfem  begrifflichem  und 
auf  das  Verhältnis  von  Zwecken  und  Mitteln  gerichtetem 
Denken.  Zu  allem  dem  kommt  dann  aber  der  wunderbare 
Reiz  einer  ganz  sittlichen,  aber  auch  stets  geistig  bewegten 
Persönlichkeit,  die  ausschliefslich  durch  den  mündlichen 
Verkehr  die  nachhaltigsten  und  fast  den  ganzen  weiteren 
Verlauf  der  alten  Philosophie  bestimmenden  Anregungen  zu 
geben  vermochte.  Cicero  folgt  nur  einem  zu  seiner  Zeit 
in  den  herrschenden  Schulen  geltenden  Urteil,  wenn  er  ihn 
den  Vater  der  Ethik,  ja,  den  Vater  der  Philosophie  über- 
haupt nennt  (Tusc.  III.  8;  Ein.  II.  1). 

Den  ersten  Spuren  einer  Wirksamkeit  des  Sokrates  in 
diesem  Sinne  begegnen  wir  etwa  ums  Jahr  432,  also  zu 
einer  Zeit,   wo  er  etwa  37  Jahre  alt  war.    Über  seinen 


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374     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Lebens-  und  Bildungsgang  bis  zu  diesem  Zeitpunkte  sind 
nur  die  dürftigsten  Nachrichten  vorhanden.  Sein  Vater 
Sophroniskos  war  ein  kleiner,  offenbar  wenig  begüterter 
Bildhauer,  der  auch  den  Sohn  zunächst  in  der  eigenen 
Kunst  anlernte.  Noch  in  späterer  Zeit  wurden  auf  der 
Akropolis  bekleidete  Charitinnen  als  sein  Werk  gezeigt 
(D.  L.  IL  18  f.;  Pausan.  L  22,  IX.  85),  und  Timon  von 
Phlius  nennt  ihn  (Fr.  50)  den  „Steinbildner"  (läxöos),  in 
welchem  Worte  jedoch  durch  einen  Doppelsinn  auch  der 
Begriff  des  Volksbildners  zu  liegen  scheint.  Ein  ehr^volles 
Zeugnis  für  Sophroniskos  als  einen  tüchtigen  und  achtungs- 
werten Bürger  findet  sich  bei  Plato  (Laches  180  E  f.).  Der 
ehemalige  Bildhauer  in  Sokrates  blickt  noch  durch  in  seiner 
Unterredung  mit  dem  Bildhauer  Klei  ton  (Mem.  III.  10, 
(5  ff.),  dem  er  zum  Bewufstsein  bringt,  dars  ein  Hauptreiz 
der  bildenden  Kunst  in  der  Wiedergabe  des  seelischen  Aus- 
drucks und  der  Gemütsbewegungen  der  dargestellten  Per- 
sonen bestehe.  Seine  Mutter  Phainarete  war  eine  Hebamme 
(Plat.  Theät  149  A).  Er  hatte  einen  Stiefbruder  mütter- 
licherseits, so  date  also  sein  Vater  entweder  die  Phainarete 
als  Witwe  geheiratet  hatte  oder  nach  dessen  frühem  Tode 
diese  eine  zweite  Ehe  eingegangen  ist  (Plato,  Euthyd.  297  E). 
Den  Bildhauerberuf  kann  er,  da  in  den  auf  sein  späteres 
Leben  bezüglichen  Zeugnissen  jede  Anspielung  auf  solche 
Tätigkeit  fehlt,  nicht  lange  betrieben  haben.  Über  seine 
Lebensverhältnisse  in  seiner  Bildungs-  und  Entwicklungszeit, 
sowie  über  die  Einflüsse,  unter  denen  er  das  wurde,  als 
was  er  uns  nachher  entgegentritt,  fehlt  jede  befriedi^nde 
und  zuverlässige  Nachricht  Wovon  lebte  und  was  trieb  e^ 
während  der  zwei  Jahrzehnte  von  seinem  Jünglingsalter  bis 
432,  wo  wir  ihn  zuerst  wirkend  finden?  Unter  welchen 
Einwirkungen  fand  insbesondere  seine  geistige  Entwicklung 
statt?  In  letzterer  Beziehung  wird  er  gelegentlich  als 
Schüler  desAnaxagoras  bezeichnet  (D.  L.  IL  19,  45),  der 
ja  von  etwa  463—33  in  Athen  weilte,  und  mit  dessen  Ansicht 
von  der  Sonne  er  sich  bei  Xenophon  vertraut  zeigt  (Mem. 
IV.  7,  6).  Noch  häufiger  und  nachdrücklicher  wird  Arche- 
laos,   der  Schüler  des    Anaxagoras,   als  sein  Lehrer  be- 


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B.    1.   Sokrates  (469—899).  375 

zeidinet  (D.  L.  ib.,  I.  14;  X.  12;  D-  479,  564,  567,  599). 
Dieser  kann  jedoch ,  wenn  er  nicht  als  fast  Oleichaltriger 
gleich  heim  ersten  Auftreten  des  Anaxagoras  in  Athen  (um 
464)  sich  an  diesen  anschlofs,  kaum  erheblich  älter  als 
Sokrates  gewesen  sein.  Auch  begegnen  wir  in  dem  späteren 
Gedankenkreise  des  Sokrates  keiner  einzigen  Spur,  die  mit 
irgend  welcher  Sicherheit  auf  eine  Einwirkung  dieses  Denkers 
zurückgeführt  werden  k<)nnte,  und  die  ganze  Angabe  scheint 
lediglich  auf  der  Sucht  Späterer  zu  beruhen  ,x  den  Entwick- 
lungsgang der  Philosophie  in  die  Form  persönlicher  Ab- 
hängigkeit von  Schüler  und  Lehrer  zu  zwängen.  Mit  Anaxa- 
goras hielt  die  Philosophie  ihren  Einzug  in  Athen,  Arche- 
laos ist  Athener  (D.  280,  479,  568,  590,  599),  Sokrates 
ebenfalls,  also  mufs  er  der  Schüler  des  Archelaos  gewesen 
sein. 

Für  die  Beurteilung  der  geistigen  Entwicklung  des 
Sokrates  sind  zunächst  zwei  Züge  bedeutsam.  Der  eine  ist 
sein  Daimonion,  seine  Götterstimme,  jener  seltsame  starke 
innere  Drang,  der  sich  nach  zahlreichen  Zeugnissen  Xeno- 
phons  und  Piatos  sehr  häufig  abmahnend  in  ihm  regte, 
wenn  er  —  in  grofsen  und  folgenreichen  oder  auch  in 
kleinen  und  unwichtigen  Angelegenheiten  —  eine  Ent- 
scheidung zu  treffen  im  Begriff  war.  So  mächtig  und  eigen- 
artig macht  sich  in  solchen  Zweifelsfällen  diese  abmahnende 
Stimme  vernehmbar,  dafs  Sokrates  selbst  zu  der  Über- 
zeugung gelangte,  in  ihr  nicht  ein  Erzeugnis  seines  eigenen 
Innern,  sondern  eine  übernatürliche  Wirkung  höherer  Mächte, 
ein  Orakel,  zu  erblicken,  und  sich  gewöhnt  hatte,  ihr  un- 
bedingt Folge  zu  leisten.  Nun  bezeugt  Plato  ausdrücklich 
(Apol.  31 D),  dafs  dies  Götterzeichen  schon  von  Kind  an 
ihm  zu  teil  geworden  sei.  In  diesem  eigentümlichen  Zuge 
seiner  Geistesanlage  haben  wir  wohl  eine  rein  gefühlsmäfsig 
auftretende,  nicht  durch  bewufst  erfafste  Gründe  gestützte, 
aber  mit  elementarer  Gewalt  sich  geltend  machende,  ahnende 
Erkenntnis  des  Zweckmäfsigen,  im  gegebenen  Falle  Richtigen 
zu  sehen.  Auch  im  bewufsten  Geistesleben  des  Sokrates 
spielt  das  Zweckgemäfse  eine  hervorstechende  Rolle.  In  dieser 
triebmäfsigen  Betätigung  dieser  Geistesrichtung  aber  liegt 


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376     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

ein  fast  weiblicher  Zug  in  der  sonst  so  männlichen  Gemüts- 
art des  Sokrates.  Mit  dieser  Wirksamkeit  eines  unbewufsten 
Innenlebens  aber  steht  in  vollem  Einklang  eine  andere  Be- 
tätigungsform einer  ahnungsvollen,  dem  bewufsten  Verstandes- 
leben,  dem  reflektierenden  Denken  entrückten  Innerlichkeit 
seines  Seelenlebens,  von  der  uns  ein  merkwürdiges  Beispiel 
bei  Plato  (Sympos.  174  D  flf.)  berichtet  wird.  Sokrates  be- 
findet sich  432  in  Erfüllung  seiner  Dienstpflicht  im  Feldlager 
vor  der  macedonischen  Stadt  Potidäa.  Eines  Morgens  denkt 
er,  aufserhalb  des  Lagers  stehend,  über  etwas  nach.  Er 
vertieft  sich  in  seinen  Gegenstand.  Es  wird  Mitlag;  er 
steht,  ganz  in  sich  versunken,  an  derselben  Stelle.  Der 
seltsame  Vorgang  wird  ruchtbar  im  Lager;  man  beobachtet 
ihn  von  weitem.  Es  wird  Abend;  ein  Teil  der  Soldaten 
trägt  seine  Schlafdecken  aufserhalb  des  Lagers  in  seine 
Nähe,  um  ihn  zu  beobachten.  Er  steht,  seiner  Umgebung 
entrückt,  nachdenkend  die  ganze  Nacht  auf  derselben  Stelle. 
Als  die  Sonne  aufgeht,  verrichtet  er  ihr  seine  Andacht  und 
geht  fort.  Beide  Züge  beruhen  auf  einer  ganz  ungewöhn- 
lichen Stärke  des  unbewufsten  Geisteslebens,  auf  einer 
Organisation ,  die  Verknüpfungen  vollzieht ,  ohne  sie  ins 
Licht  des  Bewufstseins  zu  erheben.  Bei  einer  solchen 
Organisation  ist  aber  in  allen  Beziehungen  die  Lenkung 
und  Gestaltung  von  innen  heraus  übermächtig ;  die  Fähigkeit, 
von  aufsen  entscheidend  beeinflufst  zu  werden,  ist  auf  einen 
Tiefpunkt  herabgedrückt. 

Und  damit  hängt  dann  weiter  der  zweite  Zug  zusammen. 
Wir  finden  in  den  Darstellungen  der  geistigen  Eigenart  des 
Sokrates,  wie  sie  Plato  so  meisterhaft  im  wesentlichen  un- 
zweifelhaft naturgetreu  entwirft,  den  ständig  wiederkehrenden 
Zug,  dafs  Sokrates  den  Gedanken  eines  Schülerverhältnisses 
seinerseits  stets  nur  in  ironischem  Sinne  zum  Ausdruck 
bringt.  So  nennt  er  sich  wiederholt  einen  Schüler  des 
Prodikos  (Protag.  341 A;  Menon  96  E;  Krat.  384  B),  der 
übrigens  4—5  Jahre  jünger  war  als  er  selbst,  stets  aber 
nur  mit  ironischem  Anfluge,  und  selbst  da,  wo  er  in 
Xenophons  Denkwürdigkeiten  die  Rede  von  Herakles  am 
Scheidewege  mit  Beifall  vorträgt,    fehlt  ein  leiser  Hauch 


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B.    1.   Sokrates  (469-399).  377 

Yon  Ironie  nicht.  Viel  stärker  tritt  diese  humoristische 
Behandlung  des  Schülerverhältnisses  im  „Euthydemos"  her- 
vor ,  wo  er  wiederholt  erklärt ,  sich  noch  in  seinem  vor- 
gerückten Alter  bei  den  beiden  Sophisten  in  die  Lehre 
geben  zu  wollen,  und  den  alten,  biederen  Freund  Kr i ton 
auffordert,  das  Gleiche  zu  tun,  auch  sich  zeitweise  schon 
ganz  als  Schüler  gebärdet  und  von  der  Unzufriedenheit 
seines  Musiklehrers  mit  dem  alten,  ungeschickten  Schüler 
berichtet.  In  dieser  humoristisch-ironischen  Behandlung  des 
Schülerverhältnisses  kommt  die  innere  Selbstherrlichkeit 
zum  Ausdruck,  die  Plato  als  wesentlichen  Charakterzug 
seines  Meisters  ansieht.  Er  kann  sich  den  Sokrates  offenbar 
nicht  als  jemandes  Schüler  denken. 

Dieser  selbständige  Gang  seines  Geisteslebens  schliefst 
natürlich  nicht  aus,  dafs  er  in  seiner  Entwicklungszeit  von 
den  verschiedensten  Seiten  Anregungen  empfangen  und 
Bildungselemente  in  sich  aufgenommen  hat.  Er  kennt  die 
klassischen  Dichter,  vorab  Homer  (Mem.  I.  2,  56,  58 ;  3,  37), 
und  liest  mit  seinen  Schülern  „die  Schriften  der  alten 
Weisen"  (Mem.  I.  6,  9).  Er  versteht  sich  gründlich  auf 
Geometrie  und  Astronomie  (Mem.  IV.  7,  3,  5)  und  dergl. 
Selbstverständlich  wird  er  von  den  in  Athen  auftretenden 
Philosophen,  einem  Anaxagoras,  Archelaos,  Dio- 
genes.von  Apollonia,  ebenfalls  Kenntnis  genommen 
und  sich  in  seinem  Denken  mit  ihnen  auseinandergesetzt 
haben,  wie. nicht  minder  mit  manchen  der  älteren  Denker, 
deren  Theorien  ihm  durch  mündliche  Berichte  oder  auch 
durch  eigene  Lektüre  ihrer  Schriften  zugänglich  werden 
konnten.  Von  seinem  Studium  des  herakliti sehen  Buches 
und  dem  über  dasselbe  gefällten  Urteil  ist  schon  früher 
die  Rede  gewesen.  Sein  Gesamturteil  über  die  Natur- 
philosophie, von  dessen  Richtung  bei  der  Lehre  zu  handeln 
sein  wird,  ist  ein  auf  umfassender  Kenntnisnahme  beruhendes 
und  allseitig  erwogenes.  Weit  mehr  noch  aber  als  diese 
ältere  Denkrichtung  mufste  das  Wirken  der  älteren  Sophisten 
in  Athen  seine  Aufmerksamkeit  und  sein  Nachdenken  in 
Anspruch  nehmen.  Protagoras  wird  schon  bald  nach 
dem  Jahre  450,   also  in  der  bildsamsten  Zeit  des  Sokrates, 


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378     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

zuerst  in  Athen  aufgetreten  sein,  und  vielleicht  ist  dessen 
Erziehertätigkeit  geradezu  ausschlaggebend  für  das  von  ihm 
selbst  gewählte  Lebensziel  gewesen.  Prodi  kos  und  Hip- 
pias  sind  etwas  jüngere  Altersgenossen  des  Sokrates,  aber 
vielleicht  waren  sie  früher  auf  dem  Plan  als  er,  so  dafs  auch 
deren  Art  sein  Nachdenken  befruchten  und  auf  eine  in 
manchen  Beziehungen  verwandte  Art  des  Wirkens  hinlenken 
konnte. 

Aber  allen  diesen  Anregungen  gegenüber  geht  er  doch 
auch  wieder  in  allem  Wesentlichen  seinen  eigenen  Weg,  und 
es  ist  eine  überaus  treffende  Bezeichnung,  wenn  er  in 
Xenophons  Gastmahl  (1.  5)  in  ausdrücklichem  Gegensatz 
gegen  diejenigen,  die  von  den  Sophisten  lernen,  sich  selbst 
als  Originaldenker  (autürgös  tes  philosophfas)  bezeichnet. 

Wann  und  wie  das  Bewufstsein  dieser  seiner  Eigenart 
sich  in  ihm  entwickelt  hat,  wissen  wir  nicht.  Die  ersten 
Nachrichten  über  sein  Wirken  in  der  Bahn,  die  er  sich  vor- 
gezeichnet hatte,  datieren,  wie  bemerkt,  ungefähr  aus  der 
Zeit  um  432.  In  diesem  Jahre  war  Sokrates  am  Feldzuge 
gegen  Potidäa  beteiligt.  Schon  vor  diesem  aber  hatte,  so 
berichtet  Plato  im  „Gastmahl"  (217  A,  218 D,  219 E),  der 
jugendliche  Alkibiades  (geboren  um  450)  in  der  Über- 
zeugung, dafs  keiner  ihn  besser  zur  höchsten  Tüchtigkeit 
bilden  könne,  sich  mit  glühender  Begeisterung  anjhn  an- 
geschlossen, und  Sokrates  hat  gegenüber  der  Hingabe  des 
schönen  Jünglings  eine  glänzende  Probe  von  Enthaltsamkeit 
in  bezug  auf  Sinnengeuufs  abgelegt  Derselbe  ist  sodann 
auch  während  des  Feldzuges  sein  Tischgenosse  und  bezeugt, 
dafs  schon  damals  Sokrates  durch  seine  aufserordentlichste 
Fähigkeit,  Entbehrungen  und  Strapazen  zu  ertragen,  die 
höchste  Bewunderung  erregte.  Beim  stärksten  Frost  genügt 
ihm  seine  gewöhnliche  Kleidung,  und  barfüfsig  schreitet  er 
über  das  Eis  hin  (219  E  ff.).  Und  als  bei  einem  Gefecht 
während  dieser  Belagerung  Alkibiades  verwundet  worden  ist, 
hat  Sokrates  ihn  mit  samt  seinen  Waffen  aus  dem  Kampfe 
gerettet  und  sodann  die  Erteilung  eines  Tapferkeitspreises, 
den  Alkibiades  für  Sokrates  forderte,  an  Alkibiades  befür- 
wortet (220 D).    Der  letzte  Punkt   wird  auch  durch  Anti- 


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B.    1.    Sokrates  (469—399).  379 

sthenes  bezeugt^  doch  für  eine  ins  Jahr  424  fallende 
Schlacht  (Mulla<di,  Fragm.  63).  Plato  legt  diesen  Bericht 
dem  trunkenen  Alkibiades  in  einem  späteren  Zeitpunkte 
seines  Lebens  in  der  Form  einer  begeisterten  Schilderung 
in  den  Mund.  Hier  tritt  uns  also  schon  der  echte  Sokrates 
entgegen.  Ebenso  wie  Alkibiades  hat  sich  aber  nach  Plato 
auch  der  mit  diesem  ungefähr  gleichaltrige  Kritias  schon 
y<Mr  dem  Zuge  nach  Potidäa  an  ihn  angeschlossen  (Gharmid. 
156  A,  153  A). 

Dafs  diese  beiden  in  jüngeren  Jahren  Sokrates  zum 
Führer  nahmen,  bezeugt  auch  Xenophon,  freilich  in  sehr 
viel  nüchternerer  Weise  (Mem.  I.  2,  23 — 48).  Dieses  Schüler- 
verhältnis  zweier  später  unheilvoll  wirkender  Staatsmänner 
war  offenbar  zur  Zeit  des  Todes  des  Sokrates  in  Vergessen- 
heit geraten  und  daher  von  seinen  Anklägern  nicht  gegen 
ihn  geltend  gemacht  worden.  Erst  einige  Jahre  nach  seiner 
Hinrichtung  wurde  es  in  einer  nachträglichen  Rechtfertigung 
der  Anklage  durch  einen  gewissen  Polykrates  gegen  ihn 
ausgebeutet,  und  das  hat  Xenophon  Anlafs  gegeben ,  über 
diese  weit  zurückliegenden  Vorgänge  Erkundigungen  einzu- 
ziehen. Seine  Darstellung  des  Verhältnisses  der  beiden  zu 
Sokrates  ist  weit  weniger  ideal,  als  es  wenigstens  hinsicht- 
lich des  Alkibiades  die  des  platonischen  „Gastmahls^  ist.  Er 
stellt  beide  als  Jünglinge  von  brennendem  Ehrgeiz  dar,  die 
bei  Sokrates  nur,  wie  andere  bei  den  Sophisten,  die  Aus- 
bildung in  den  zu  einem  Politiker  gewöhnlichen  Schlages 
erforderlichen  Fähigkeiten  suchten,  aber  keineswegs  ge- 
sonnen waren,  auf  die  von  jenem  angestrebte  Veredlung  des 
staatsmännischen  Wirkens  einzugehen,  und  denen  es  nament- 
lich nicht  eingefallen  sei,  die  von  ihm  für  den  wahren 
Herrscher  geforderte  Enthaltsamkeit,  Abhärtung  und  Be- 
dürfnislosigkeit zu  üben.  Nur  zeitweilig  seien  sie  durch 
die  Macht  seines  Vorbildes  und  seiner  Lehre  auch  für  diesen 
Punkt  gewonnen  worden.  Kritias  sei  sogar  mit  dauerndem 
Groll  wegen  einer  erhaltenen  derben  Zurechtweisung,  den 
er  später  als  Haupt  der  30  Tyrannen  (404)  in  unedler  Weise 
betätigt  habe,  von  seinem  Lehrer  geschieden.  Als  sie  er- 
reicht hätten,  was  sie  wünschten,   seien  sie  von  Sokrates 


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380     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

ferngeblieben.  Von  Bedeutung  ist,  dafs  auch  Xenophon  in 
diesem  Bericht  die  ganze  Eigenart  des  sokratischen  Wirkens 
schon  in  diesen  frühen  Zeitpunkt  verlegt. 

Auf  diesen  hellerleuchteten  Punkt  im  Wirken  des 
Sokrates,  wo  eine  durch  das  nachherige  Verhalten  der  Zög- 
linge zwar  getrübte,  aber  nicht  ausgelöschte  Einwirkung 
seiner  Erziehertätigkeit  auf  das  Staatsleben  zu  Tage  tritt, 
folgt  ein  über  20 jähriger  Zeitraum,  der  für  uns  in  bezug 
auf  sein  Lehrwirken  so  gut  wie  völlig  ertraglos  ist,  und  aus 
dem  nur  einige  wenige  sein  sonstiges  Leben  betreffende 
Züge  überliefert  sind. 

Ln  Jahre  424  nahm  er  an  der  für  die  Athener  unglück- 
lichen Schlacht  bei  Delion  in  Böotien  teil.  Sein  uner- 
schrockenes und  umsichtiges  Verhalten  auf  dem  Rückzuge 
läfst  Plato  sowohl  durch  den  späteren  Feldherrn  Laches 
(Lach.  181 B,  189  B)  als  auch  durch  Alkibiades,  diesmal 
nicht  mehr  als  unmittelbaren  Genossen  des  Sokrates  (Gast- 
mahl 221  A) ,  von  beiden  aber  als  Augenzeugen ,  in  den 
höchsten  Tönen  preisen.  Seine  Teilnahme  an  der  ebenfalls 
unglücklichen  Schlacht  bei  Amphipolis  in  Macedonien 
422  wird  nur  eben  erwähnt,  ohne  nähere  Angaben  (Apol.  28  E). 

Zwischen  diese  beiden  kriegerischen  Ereignisse,  ins  Jahr 
423,  fällt  jene  unglückliche  und  unbillige  Verunglimpfung 
durch  Aristophanes  in  den  „Wolken",  die  nach  Plato 
(Apol.  18)  vornehmlich  dazu  beigetragen  hat,  das  öffentliche 
Urteil  über  Sokrates  irrezuleiten,  ja  geradezu  in  gefähr- 
licher Weise  zu  vergiften.  Die  „Wolken"  sind  uns  nur  in 
einer  niemals  aufgeführten  Umarbeitung  durch  den  Dichter 
•  erhalten.  Es  ist  nicht  bekannt ,  ob  diese  Umarbeitung  die 
gehässigen  Züge  des  aufgeführten  Stückes  gemildert,  ver- 
schärft oder  in  ihrer  ursprünglichen  Fassung  erhalten  hat; 
jedenfalls  ist  in  dem  uns  erhaltenen  Text  die  völlig  mifs- 
greifende  Verzeichnung  bösartig  genug.  Die  Komödie  ist  auf 
die  gesamten  dem  Dichter  mifsfälligen  philosophischen  Zeit- 
richtungen gemünzt,  und  als  Konzentrationspunkt  für  sein 
Zerrbild  hat  er  in  völlig  ungerechtfertigter  Weise  die  schon 
äufserlich  auffällige  und  komisch  wirkende  Gestalt  des 
Sokrates  gewählt.    Wir  können  aus  dieser  Wahl  nur  ent- 


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B.    1.    Sokrates  (469—399).  381 

nehmen,  dafs  Sokrates  damals  ziemlich  stadtbekannt  war, 
dafs  aber  selbst  in  gebildeten  Kreisen  über  die  Art  seines 
Wirkens  nur  ganz  vage  Vorstellungen  verbreitet  waren. 

Als  engverbundener  Genosse  des  Sokrates  erscheint  in 
diesem  Stücke  (105,  145,  157,  496  f.)  Chairephon,  wegen 
seiner  Hagerkeit  und  Blässe  spöttisch  als  „halbentseelter 
Geist"  bezeichnet.  Diesem  Chairephon  wird  in  Piatos  Apo- 
logie eine  angeblich  für  das  Wirken  des  Sokrates  überaus 
folgenreiche  Handlung  zugeschrieben.  Von  exzentrischer 
Gemütsart  und  von  Jugend  auf  leidenschaftlicher  Anhänger 
des  Sokrates  (beides  wird  ihm  auch  im  „Charmides"  153 B 
beigelegt,  dessen  Handlung  ins  Jahr  432  gelegt  ist),  hatte 
er  angeblich  einst  das  delphische  Orakel  befragt,  ob  jemand 
weiser  sei  als  Sokrates,  und  die  Antwort  erhalten,  niemand 
sei  weiser.  Dies  habe  dann  Sokrates,  da  er  sich  der  ihm 
zugesprochenen  Auszeichnung  nicht  bewufst  gewesen,  ver- 
anlafst,  Menschen  aller  Stände,  Berufe  und  Beschäftigungen 
hinsichtlich  ihres  Verständnisses  für  die  Gründe  ihres  beruf- 
lichen Handelns  auszuforschen.  Er  habe  aber  überall  bei 
zuversichtlichstem  Glauben  an  die  eigene  Einsicht  nur 
völlige  Unklarheit  gefunden  und  sei  so  zu  der  Einsicht 
gelangt,  dafs  seine  eigene,  vom  Gotte  beglaubigte  Einsicht 
nur  in  dem  einen  Punkte  bestehen  könne,  dafs  er  zwar 
auch  nichts  wisse,  aber  wenigstens  von  diesem  seinem  Nichts- 
wissen ein  Bewufstsein  habe.  Diese  pflichtmäfsige  Auf- 
deckung der  Unwissenheit  so  zahlreicher  Menschen  aber 
habe  ihm  in  den  weitesten  Kreisen  Feindschaft  zugezogen 
(Apol.  21  ff.).  Diese  berühmte  Ausführung  Piatos  schliefst, 
genauer  betrachtet,  eine  grofse  Un Wahrscheinlichkeit  in 
sich.  Einesteils  soll  das  Orakel  schon  Kenntnis  von  der 
aufserordentlichen  Weisheit  des  Sokrates  erlangt  haben,  und 
andemteils  erwirbt  er  selbst  sich  erst  aus  Anlafs  des  Orakel- 
spruchs ein  Verständnis  —  und  zwar  ein  recht  seltsames !  — 
von  der  Natur  seiner  Weisheit.  Auch  müfste  das  Orakel 
von  den  religiösen  und  priesterlichen  Interessen  aus,  die  es 
doch  vertrat,  einen  Antrieb  gehabt  haben,  Sokrates  eine  so 
aufserordentliche  Stellung  anzuweisen.  Noch  seltsamer  aber 
ist  die  Art,  wie  Plato  diese  zunächst  rein  persönliche  An- 


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382     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

gelegeoheit  weiterhin  zu  einer  Pflicht  gegen  den  orakel- 
spendenden  Gott,  die  unablässige  Aufdeckung  der  Verständniß- 
losigkeit  der  anderen  zu  einem  unter  Hintansetzung  aller 
persönlichen  Interessen  dem  Gotte  zu  leistenden  Dienst 
aufbauscht.  Schliefslich  wird  dann  aus  dieser  Pflicht  des 
Kampfes  gegen  den  Wissensdünkel  sogar  die  Pflicht  der  an 
jeden  seiner  Mitbürger  zu  richtenden  Ermahnung,  für  die 
Gesundheit  seiner  Seele  zu  sorgen. 

Über  diesen  Orakelspruch  wird  auch  noch  in  der  unter 
Xenophons  Schriften  stehenden  Verteidigungsrede  des 
Sokrates  berichtet,  die  aber  schwerlich  mit  seiner  wirklichen 
Verteidigungsrede  zusammenfällt.  Hier  wird  die  Frage  des 
Chairephon  nur  unbestimmt  bezeichnet;  er  habe  in  betreif 
des  Sokrates  angefragt.  Die  Antwort  des  Orakels  lautet, 
kein  Mensch  sei  anständiger,  gerechter  und  besonnener  als 
Sokrates  (§  14).  Es  ist  nicht  sehr  wahrscheinlich,  dafs 
dieser  Orakelspruch  überhaupt  stattgefunden  hat.  Er  soll 
einerseits  für  das  Lehrwirken  des  Sokrates  richtunggebend 
gewesen  sein  und  setzt  doch  anderseits  schon  ein  be- 
deutendes Hervortreten  in  bestimmter  Richtung  voraus. 
Wenn  er  geschichtlich  ist,  lassen  sich  weder  der  Zeitpunkt 
noch  die  näheren  Umstände  des  Vorganges  und  der  genauere 
Inhalt  des  Spruches  bestimmen.  Auf  keinen  Fall  aber  hat 
er  für  das  Wirken  des  Sokrates  die  Bedeutung  gehabt,  die 
ihm  in  der  platonischen  Darstellung  in  lehrhafter  Absicht 
beigelegt  wird. 

Anscheinend  fällt  in  diesen  Zeitraum,  vielleicht  gegen 
420,  also  etwa  in  das  50.  Lebensjahr  des  Sokrates,  seine 
Verheiratung  mit  Xanthippe.  Dies  ist  daraus  zu  schliefsen, 
dafs  ein  in  Xenophons  Denkwürdigkeiten  (II.  2)  berichtetes 
Gespräch  mit  seinem  ältesten  Sohne,  der  darin  als  etwa 
14— 15 jährig  erscheint  (§  7),  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
in  das  letzte  Jahrzehnt  seines  Lebens  zu  setzen  ist.  Auch 
nach  Piatos  Phädon  (116  B,  60  A)  hatte  er  zur  Zeit  seines 
Todes  noch  zwei  ganz  kleine  Kinder.  Die  Frau  eines 
Sokrates,  der  trotz  seiner  Besitzlosigkeit  keiner  gewinn- 
bringenden Beschäftigung  nachging,  und  dem  auch  der  ideale 
Lebensberuf  wohl   nur  gelegentliche  Geschenke  und  Unter- 


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B.    1.   Sokrates  (469-399).  383 

sttttzungen  seiner  Freunde  eintrug,  hätte,  um  ihre  Stellung 
an  der  Seite  eines  solchen  Gatten  im  Verständnis  seiner 
Gröfse  würdig  ausfüllen  zu  können,  ein  sehr  einsichts-  und 
charaktervolles  Weib  sein  müssen.  An  Einsicht  und  Bildung 
Aber  fehlte  es  Xanthippe  ganz,  und  dabei  war  sie  auch  noch 
von  einer  krankhaften  Heftigkeit  und  Leidenschaftlichkeit 
<ies  Temperaments.  Die  intimsten  und  dabei  am  meisten 
ernst  gehaltenen  und  am  meisten  geschichtlichen  Angaben 
ober  sie  bietet  die  erwähnte  Unterredung  bei  Xenophon. 
Hier  beschwert  sich  der  Sohn  über  die  unerträgliche  Übel- 
launigkeit der  Mutter,  die  in  ihren  Scheltreden  schlimmer 
sei  als  ein  wütendes  Tier.  Dafs  es  sich  hierbei  um  ein 
völlig  ungezügeltes  Temperament,  um  erbliche  Belastung  im 
Sinne  der  Hysterie  handelt,  beweist  gerade  die  begütigende 
Vorstellung  des  Vaters,  der  darauf  hinweist,  sie  sei  doch  in 
ihren  Handlungen  eine  sorgsame  Mutter,  sie  meine  es  nicht 
80,  und  der  dem  Sohne  rät,  ihre  leidenschaftlichen  Reden 
nicht  anders  anzusehen  wie  die  der  Schauspieler  auf  der 
Bühne.  Dafs  sie  diese  Übellaunigkeit  aber  auch  gegen  den 
Gatten  nicht  zurückhielt,  bezeugen  die  verschiedenen  ihr 
anhängenden  Anekdoten,  unter  denen  die  bekannteste  die 
ist,  daft  sie  nach  einer  kräftigen  Schmährede  ihn  in  der 
Wut  mit  Wasser  begiefst,  worauf  Sokrates:  „Sagte  ich  es 
nicht,  dafs  bei  Xanthippe  auf  ein  Donnerwetter  auch 
Regen  folgt  ?•  (D.  L.  II.  36).  In  Xenophons  Gastmahl 
(4,  10)  gibt  Sokrates  dieser  unglücklich  ausgefallenen  Wahl 
seiner  Lebensgefährtin  eine  humoristische  Wendung,  indem 
€r  auf  die  Frage,  warum  er  mit  einem  Weibe  lebe,  das  von 
allen,  die  es  je  gegeben  habe  oder  noch  geben  werde,  das 
widerspenstigste  sei,  antwortet,  auch  wer  sich  zum  Pferde- 
b&BfligeT  ausbilde,  beschäftige  sich  nicht  mit  den  frömmsten, 
sondern  mit  den  wildesten  Rossen,  und  so  habe  auch  er  es 
in  bezug  auf  den  Umgang  mit  Menschen  gehalten.  Tat- 
s&chKch  ist  diese  vorgängige  Erwägung  schwerlich  von  ihm 
angestellt  worden,  und  nur  jm  Scherze  stellt  er  die  im  Ver- 
kehr mit  dieser  Frau  tatsächlich  gewonnene  Übung  in  der 
Gelassenheit  als  von  Haus  aus  bezweckte  dar.  In  Wirk- 
lichkeit liegt  OTie  Feblwahl  und  eine  Enttäuschung  vor :  die 


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384    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

warnende  Stimme  des  Daimonion  mufs  bei  dieser  Angelegen- 
heit geschwiegen  haben. 

Schliefslich  aus  diesem  Zeitraum  noch  eine  unfreund- 
liche Äufserung  in  des  Aristophanes  „Vögeln",  aufgeführt 
414,  dahinlautend,  dafs  Sokrates  „ungewaschen*'  seine  Kunst 
der  Seelenführung  übe  (V.  1554).  Dieselbe  bezeugt  wenig- 
stens, dafs  er  auch  um  diese  Zeit  der  gewohnten  Beschäftigung 
oblag. 

Erst  im  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens  fällt  wieder 
ein  helleres  Licht  auf  sein  Wirken.  Wir  finden  ihn  da 
umgeben  von  einer  Anzahl  ausgezeichneter  Jünglinge,  die 
zwar  nur  in  beschränktem  Mafse  für  das  eigentliche  Ziel 
seines  Wirkens  gewonnen  wurden,  dafür  aber  fruchtbare 
Anregungen  für  die  Weiterentwicklung  der  Philosophie  in 
den  verschiedensten  Richtungen  von  ihm  empfingen.  In 
diesen  Zeitraum  fällt  die  Schülerschaft  Xenophons,  ge- 
boren etwa  426,  femer  des  Antisthenes,  des  Aristipp 
und  des  Euklides  von  Megara,  sämtlich  wohl  vor  430 
geboren,  endlich  und  vor  allen  die  Piatos,  geboren  427. 
Über  sein  Wirken  in  diesem  Zeitraum  sind  wir  denn  auch 
durch  die  erhaltenen  Schriften  mehrerer  der  Genannten 
genauer  unterrichtet.  Mit  der  Berücksichtigung  dieser 
Schriften  zur  Ermittlung  des  Gedankenkreises,  der  Lehre 
des  Sokrates  tritt  denn  aber  auch  die  Notwendigkeit  der 
Entscheidung  über  die  als  eigentlich  geschichtlich  zu  be- 
trachtende Quelle  an  uns  heran. 

Bald  nach  dem  Tode  des  Sokrates  haben  zahlreiche 
seiner  Jünger  einen  neuen  Literaturzweig,  das  „Sokrates- 
gespräch",  angebaut.  Angeregt  durch  das  von  dem  Meister 
mündlich  mit  genialer  Geschicklichkeit  geübte  Lehrgespräch 
bildeten  sie  dies  schriftstellerisch  nach,  indem  sie  ihre  mehr 
oder  minder  sokratischen  Gedanken  in  Gesprächsform  mit 
Sokrates  als  Führer  der  Unterredung  schriftlich  darstellten. 
Die  meisten  dieser  Sokratesdialoge  sind  bis  auf  kümmer- 
liche Reste  untergegangen.  Der  hervorragendste  Vertreter 
dieser  Literaturgattung  ist  Plato.  Er  behält  fast  in  allen 
seinen  Dialogen,  auch  dann,  als  sich  seine  Denkweise  schon 
völlig  von  der  des  Meisters  entfernt  hatte,  die  Gepflogenheit 


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B.    1.   Sokrates  (469— d99>  385 

bei,  Sokrates  zum  Führer  des  Gespräches  zu  machen.  Das 
spätere  Altertum  hat  diese  Dialoge  vielfach  dahin  mifsver- 
standen,  dafs  sie  Berichte  über  den  Gedankenkreis  des  wirk- 
lichen Sokrates  gäben,  und  so  hat  dieser  Akt  pietätvoller 
Verehrung  in  hohem  Mafse  die  Wirkung  gehabt,  das  Bild 
des  historischen  Sokrates  völlig  zu  verwirren  und  seinen 
Gedankenkreis  mit  dem  Piatonismus  zu  verschmelzen.  Von 
diesem  Mifsverständnis  ist  man  im  allgemeinen  zurück- 
gekommen. Niemand  hält  mehr  z.  B.  die  Unsterblichkeits- 
beweise des  „Phädon"  für  sokratisch.  Nur  für  einige  der 
platonischen  Schriften  glauben  manche  auch  heute  noch  den 
Charakter  geschichtlicher  Berichterstattung  in  Anspruch 
nehmen  zu  können.  Die  „Apologie"  soll  die  wirkliche  Ver- 
teidigungsrede des  Sokrates  wiedergeben,  der  „Eriton"  die 
Gründe  des  wirklichen  Sokrates  für  die  Verweigerung  der 
Flucht  aus  dem  Gefängnis.  Aber  auch  diesen  letzten  Resten 
des  Mifsverständnisses,  Plato  für  einen  geschichtlichen  Bericht- 
erstatter über  die  Gedankenwelt  des  Sokrates  zu  halten, 
mufs  auf  das  entschiedenste  entgegengetreten  werden.  Wenn 
Plato  sich  nicht  gescheut  hat,  im  Phädon  die  schmerzlichste 
Situation  im  Leben  des  Meisters,  seinen  Todestag,  als  wirk- 
samen Bahmen  für  die  Darlegung  eigener,  gar  nicht  auf 
sokratischem  Boden  entsprossener  Gedanken  zu  benutzen,  so 
wird  er  sich  wohl  auch  nicht  gescheut  haben,  die  gericht- 
liche Verteidigung  des  Sokrates  und  die  Situation  der  von 
seinen  Freunden  vorbereiteten  Flucht  aus  dem  Gefängnisse 
dem  gleichen  Zwecke  dienstbar  zu  machen.  Dafs  alle  diese 
Schriften  nicht  sokratische,  sondern  platonische  Gedanken 
entwickeln,  kann  natürlich  erst  bei  Plato  gezeigt  werden. 
Hier  handelt  es  sich  nur  um  das  Prinzip,  dafs  Plato,  ein  so 
ausgezeichneter  Schilderer  der  persönlichen  Eigenart  des 
Sokrates,  des  Sokrates  als  Charakterfigur,  er  in  seinen  Dia- 
logen ist,  als  Zeuge  für  die  Lehre  des  Sokrates  nicht  in 
Betracht  kommen  kann.  Ist  ja  doch  selbst  diese  Charakter- 
figur bei  aller  Naturtreue  auch  wieder  eine  Schöpfung  der 
Plato  in  so  reichem  Mafse  verliehenen  dichterischen 
Gestaltungskraft,  bei  der  er  es  nicht  vermieden  hat,  zu 
idealisieren  und    selbst   Züge   seines   eigenen   Wesens  auf 

Döring.   I.  25 


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386    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Sokrates  zu  übertragen.  Insbesondere  gilt  das  letztere  un- 
zweifelhaft von  den  Zügen  sinnlich-ästhetischer  Begeisterung 
für  rein  körperliche  Schönheit  heranwachsender  Jünglinge 
in  den  Dialogen  aus  den  jüngeren  Jahren  Piatos.  Plato 
selbst  ist  in  der  empfänglichen  Lebenszeit  der  vergeistigende 
Romantiker  der  Knabenliebe  und  überträgt  diesen  Zug  un- 
berechtigterweise (wie  das  Zeugnis  Xenophons  beweist)  auf 
seinen  Sokrates. 

Ganz  und  gar  anders  dagegen  verhält  es  sich  mit  den 
„Denkwürdigkeiten"  (Memorabilien)  oder  „Erinnerungen  an 
Sokrates",  dieXenophon  verfafst  hat.  Diese  Schrift  trägt 
ihren  Titel  mit  Unrecht;  sie  ist  tatsächlich  ihrer  ganzen 
Anlage  nach  eine  nachträgliche  Verteidigung  des  Sokrates 
gegen  die  Anklagepunkte,  die  zur  Verurteilung  geführt 
hatten.  Xenophon  war  zur  Zeit  des  Prozesses  nicht  in 
Athen  und  kam  auch  nachher  nicht  dorthin  zurück.  Er 
kann  daher,  wie  er  ausdrücklich  erklärt,  nur  vermuten, 
durch  welche  angebliche  Tatsachen  die  Anklage  gestützt 
wurde  (Mem.  I.  1,  1).  Er  entkräftet  daher  nur  kurz  diese 
vermutete  Begründung  und  führt  dann  aus  dem  ganzen 
Wirken  des  Sokrates  den  Beweis,  dafs  dies  nicht  ein  ver- 
derbliches, sondern  ein  heilsames,  des  höchsten  Lobes  wür- 
diges gewesen  sei.  Xenophon  hat  dabei,  dem  Zwecke  der 
Verteidigung  gemäfs,  wohl  absichtlich  einige  Punkte  im 
Wirken  des  Sokrates  mehr  im  Dunkel  gelassen;  in  anderen 
Beziehungen  zeigt  er,  dafs  sein  Verständnis  der  ganzen  Art 
des  Sokrates  nur  ein  unvollkommenes  und  beschränktes  war. 
Ein  Widersinn  dagegen  ist  es,  eine  Schrift,  die  sich  einen 
solchen  Zweck  setzt  und  sich  überall  auf  die  eigene  Augen- 
und  Ohrenzeugenschaft  beruft,  für  eine  blofse  Lehrschrift 
Xenophons  zu  halten,  der  den  Verteidigungszweck  nur  als 
schriftstellerische  Einkleidung  benutze,  um  seine  eigenen 
Gedanken  zu  Markte  zu  bringen.  Hier,  wenn  irgendwo, 
haben  wir  den  wirklichen  und  wahrhaften  Sokrates  vor  uns. 
Xenophon  mufs  sich  während  seines  Verkehrs  mit  Sokrates, 
der  etwa  von  410  oder  etwas  später  bis  400  währte,  Auf- 
zeichnungen gemacht  haben,  nach  denen  er  in  dieser  Schrift 
berichtet.    Bei  richtigem  Gebrauche  genügt  diese  Schrift, 


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B.    1.   Sokrates  (469—899).  387 

um  uns  ein  Bild  vom  Gedankenkreise  des  geschichtlichen 
Sokrates  zu  machen. 

Weniger  zuverlässig  ist  Xenophons  „Gastmahr,  in  dem 
er  mehr  in  freier  Schilderung  die  Weise  des  Sokrates  im 
zwanglosen  Verkehr  schildert.  Aber  auch  hier  hat  er  gewifs 
zum  Teil  geschichtliche  Züge,  wirkliche  Erinnerungen, 
wenngleich  in  freier  Anordnung,  zusammengetragen.  Doch 
ist  hier  der  Ertrag  für  die  Lehre  nur  gering.  Noch  sehr 
viel  weniger  aber  läfst  sich  aus  den  spärlichen*  Angaben  des 
Aristoteles  entnehmen,  die  überdies  sich  teilweise  nur  auf 
Sokrates  als  Gesprächsfigur  bei  Plato  oder  als  Vorbedingung 
für  die  Entstehung  einiger  Lehren  Piatos  beziehen. 

Um  also  den  für  sein  gesamtes  Wirken  mafsgebenden 
Gedankenkreis  des  Sokrates  kennen  zu  lernen,  haben  wir 
uns  an  die  Schrift  Xenophons  zu  halten.  Aus  ihr  läfst 
sich,  wenn  auch  mit  einiger  Mühe,  die  Summe  der  seinem 
Wirken  zu  Grunde  liegenden  Überzeugungen  als  ein  wohl- 
gegliedertes Ganzes,  als  ein  einheitliches  System  heraus- 
schälen. 

Der  erste  hier  hervortretende  Zug  ist,  dafs  Sokrates 
viel  entschiedener  als  die  meisten  der  Sophisten  jede  Be- 
schäftigung mit  der  Naturphilosophie  ablehnte.  Von  weit 
gröfserer  Wichtigkeit  sind  für  den  Menschen  die  mensch- 
lichen Angelegenheiten.  Ferner  haben  die  bisherigen  Be- 
mühungen auf  diesem  Gebiete  bewiesen,  dafs  es  unmöglich 
ist,  da  zu  gesicherten  Resultaten  zu  gelangen.  Die  in  ihren 
Ansichten  einander  aufs  schroffste  widersprechenden  Natur- 
philosophen gewähren  ein  ähnliches  Bild  wie  eine  Gesell- 
schaft von  Wahnsinnigen,  die  mit  den  widersprechendsten 
fixen  Ideen  behaftet  sind.  Und  endlich:  selbst  wenn  man 
theoretisch  die  Natur  erforschen  könnte,  gäbe  es  doch  keine 
Möglichkeit,  nach  diesen  Erkenntnissen  die  Naturordnung 
zu  ändern  und  den  Zwecken  der  Menschen  dienstbar  zu 
machen.  So  verzichtet  er  bewufst  und  vollständig  auf  diese 
Richtung  der  Forschung  (I.  1,  11 — 17). 

Die  positive  Ergänzung  dieser  Ablehnung  ist,  dafs  das 
letzte  Merkziel  seines  Denkens  in  der  Erhöhung  der  öffent- 
lichen Wohlfahrt  besteht. 

25* 


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388     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

In  der  Naturordnung  sind  dem  Menschen  vielfache 
Grundbedingungen  der  Glückseligkeit  gewährt.  Die  Welt- 
einrichtung ist  das  Werk  eines  weisen  und  gegen  die  leben- 
den Geschöpfe  gütig  gesinnten  Urhebers  (I.  4,  7;  IV.  3,  6  f.). 
Der  Mensch  insbesondere  ist  mit  solchen  Vorzügen  aus- 
gestattet, dafs  er  glückseliger  ist  als  die  Tiere  (I.  4,  11—14). 
Das  Leben  ist  ein  Gut  vom  höchsten  Werte  (II.  2,  3).  Der 
glückliche  Ausgang  unserer  Bestrebungen  ist  vielfach  vom 
Walten  der  ^hicksalsmächte  abhängig  und  der  menschlichen 
Einsicht  verborgen,  aber  die  Bewerbung  um  die  Gunst  der 
Götter  kann  sowohl  den  günstigen  Verlauf  der  Geschicke 
als  auch,  durch  Vorzeichen  und  Orakel,  die  richtige  Er- 
kenntnis in  bezug  auf  den  Ausfall  geplanter  Unternehmungen 
gewährleisten  (I.  1,  8  f.;  I.  3,  3). 

In  hohem  Mafse  ist  aber  die  Glückseligkeit  der  einzelnen 
vornehmlich  von  dem  wohlgeordneten  Zustande  des  Hauses  und 
Staates  abhängig  (IIL  4,  9;  II.  7,  12;  IV.  1,  2,  4,  17).  Im 
normalen  Hauswesen  —  man  denke  an  die  besonders  in- 
folge der  Sklavenwirtschaft  oft  sehr  ausgedehnten  hauswirt- 
schaftlichen Betriebe  der  Alten  —  herrscht  Eintracht,  all- 
gemeine Zufriedenheit  und  wirtschaftliches  Gedeihen.  Das 
Gedeihen  des  eigenen  Staates  aber  ist  nach  antiker  An- 
schauung schon  an  sich  selbst  eine  Quelle  der  Erhebung 
für  den  einzelnen;  mehr  noch  aber  macht  sich  der  normale 
oder  abnorme  öflfentliche  Zustand  durch  direkte  Rück- 
wirkungen auf  sein  Wohl  oder  Wehe  ihm  empfindlich  fühl- 
bar (III.  6,  24). 

Die  in  Athen  vorhandenen  Zustände  in  Haus  und  Staat 
kranken  an  schweren  Übelständen  und  sind  vielfach  reform- 
bedürftig. Die  alte  Tüchtigkeit  des  Staatswesens  ist  im 
Niedergange  begriflfen;  eine  Kriegsgefahr  von  einem  sonst 
geringgeschätzten  Gegner,  wie  den  Böotiem,  erweckt  die 
ernstesten  Besorgnisse  (III.  5,  13,  1). 

Sokrates  glaubt  aber  nicht,  dafs  die  Ursache  der  vor- 
handenen Übelstände  in  dem  Zustande  des  Volks  im  all- 
gemeinen oder  in  der  demokratischen  Regierungsform  an 
sich  liege.  Für  die  tüchtigen  Eigenschaften  des  athenischen 
Volks  hat  er  Worte  der  wärmsten  Anerkennung  (III.  5,  2  f.. 


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B.    1.   Sokrates  (469—399).  389 

3,  12  flF.).  Und  was  die  Demokratie  anlangt,  so  weifs  er  ja 
recht  wohl,  dafs  die  politische  Einsicht  nicht  bei  der  Masse 
der  die  Volksversammlung  zusammensetzenden  Bürger  zu 
suchen  ist.  Diese  besteht  aus  Walkern  und  Sattlern,  Zimmer- 
leuten, Schmieden,  Bauern,  Kleinhändlern  und  dergl.,  die 
genötigt  sind,  ihr  Denken  und  Trachten  überwiegend  auf 
die  materielle  Seite  des  Lebens,  auf  den  Erwerb  zu  richten 
(III.  7,  4  flf.).  Aber  die  Demokratie  ist  ja  auch  nur  eine 
durchsichtige  Form;  die  eigentlich  Leitenden  sind  die  Ver- 
trauensmänner des  Volkes,  die  Politiker  von  Profession,  die 
durch  gute  oder  schlechte  Mittel  die  Leitung  der  Massen 
in  die  Hände  zu  bekommen  wissen.  Die  Volksherrschaft 
ist  in  Wirklichkeit  eine  Herrschaft  der  Volksführer,  der 
Demagogen.  Die  Kritik  des  Sokrates  wendet  sich  noch  nicht 
gegen  diesen  Zustand  an  sich  (I.  2,  10  f.).  Nur  in  einem 
Punkte  will  er  die  Staatseinrichtungen  selbst  geändert 
wissen.  Das  ist  die  ungeheuerliche  Einrichtung  der 
Archontenwahl  durchs  Los  aus  einer  gröfseren,  durch  die 
verschiedenen  Körperschaften  präsentierten  Zahl  von  An- 
wärtern. Hier  ist  von  vornherein  eine  Angelegenheit,  die 
man  in  allen  übrigen  Lebensverhältnissen  durch  Urteil  ent- 
scheidet, die  Auswahl  der  für  eine  Verrichtung  Geeignetsten, 
dem  blinden  Zufall  anheimgestellt  (I.  2,  9). 

Im  übrigen  will  er  zwar  auch,  dafs  die  Massen  vor 
Ausartung  bewahrt  und  zu  tüchtiger  Lebensführung  an- 
gehalten werden  (III.  5,  8—14);  insbesondere  ist  in  dieser 
Beziehung  sein  Augenmerk  darauf  gerichtet,  der  nützlichen 
Arbeit  die  in  einer  sklavenhaltenden  Gesellschaft  ihr  leicht 
abhanden  kommende  Ehre  zu  erhalten.  Mit  Vorliebe  beruft 
er  sich  auf  den  Vers  des  Hesiod :  „Arbeit  ist  niemals  Schande ; 
der  Mülsiggang  nur  ist  Schande"  (I.  2,  57),  und  entscheidet 
in  seinen  Ratschlägen  an  Freunde,  die  in  Bedrängnis  ge- 
raten sind,  durchweg  in  diesem  Sinne  (II.  7 — 10).  Den 
eigentlichen  Grundschaden  aber  findet  er  in  der  unzuläng- 
lichen Beschafifenheit  der  tatsächlich  zur  Leitung  Gelangen- 
den. Dies  gilt  gleichermafsen  für  das  Haus  wie  für  den 
Staat.  Bei  den  Leitenden  fehlt  es  teils  an  dem  richtigen 
Können  und  Verstehen;   sie  sind  Dilettanten  in  den 


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390    Zweite  Periode.    Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Geschäften  und  Verrichtungen,  die  ihnen  obliegen,  oder  zu 
denen  sie  in  übel  angebrachtem  Ehrgeiz  im  Staate  sich 
herandrängen  (I.  7;  III.  5,  21).  Teils  aber  und  vornehmlich 
fehlt  es  da  an  dem  rechten  Wollen,  an  den  richtigen 
sittlichen  Eigenschaften.  An  deren  Stelle  tritt 
gewalttätige^  Eigensucht ,  egoistische  Ausbeutung  und  Aus- 
nutzung (IL  6,  24)  aus  Ehrgeiz  oder  Gewinn-  und  Genufs- 
sucht  Wer  leiten  will,  mufs  nicht  nur  zu  überreden 
verstehen,  er  mufs  das  Vertrauen  der  Massen  zu  gewinnen 
wissen,  was  am  besten  durch  wirkliche  Befähigung  und  auf 
das  Gemeinwohl  gerichtete  Gesinnung  geschieht.  Vollends 
wer  gut  leiten  will,  bedarf  dieser  letzteren  beiden  Eigen- 
schaften im  ausgedehntesten  Mafse. 

Es  sind  drei  Bezeichnungen,  in  denen  Sokrates  die 
Gesamtheit  der  für  die  wahrhaft  heilsame  Leitung  in  Haus 
und  Staat  erforderlichen  Eigenschaften  zusammenfafst.  Die 
Befähigung  dazu  ist  „d i e  königliche  Kunst"  (IV.  2,  11; 
IL  1,  17).  Er  nennt  sie  ferner  „die  schönste  und  herr- 
lichste Tugend",  durch  die  Staaten  und  Häuser  gut  ver- 
waltet werden  (I.  2,  64).  Tugend  ist  hier  ebensowenig  im 
blofs  sittlichen  Sinne  gebraucht,  wie  wenn  sie  (I.  7,  1)  der 
dilettantischen  Scheintüchtigkeit  entgegengesetzt  wird.  Er 
bezeichnet  endlich  den,  der  die  Gesamtheit  dieser  Eigen- 
schaften besitzt,  als  den  wahrhaft  „Schönen  und  Guten". 
Sokrates  gibt  diesem  Ausdruck  einen  neuen  Sinn,  indem  er 
bei  ihm  völlig  von  der  auf  Geburt  und  Reichtum  beruhenden 
gesellschaftlichen  Stellung  absieht  und  das  ausschliefsliche 
Gewicht  auf  die  persönlichen  Eigenschaften  legt  (III.  8,  5; 
I.  2,  59).  Ist  ja  doch  Sokrates  selbst,  arm  und  von  niederer 
Herkunft,  wie  er  war,  nach  Xenophons  Urteil  ein  Muster- 
bild eines  „Schönen  und  Guten"  (I.  2,  18),  und  verurteilt 
er  doch  aufs  entschiedenste  den  Dünkel  derjenigen,  die  da 
meinen,  schon  durch  ihren  Reichtum  oder  ihre  gesellschaft- 
liche Stellung  zur  Leitung  des  Staates  berechtigt  und  be- 
fähigt zu  sein  (IV.  1,  5;  I.  2,  59).  Sokrates  hat  den  Begriff 
des  „Schönen  und  Guten",  d.  h.  des  Notabein,  völlig  demo- 
kratisiert, d.  h.  aller  Standesvorzüge  entkleidet  und  aus- 
schliefslich  auf  persönliche  Tüchtigkeit  zurückgeführt.    Er 


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B.    1.   Sokrates  (469-399>  391 

bedeutet  ihm  genau  dasselbe  wie  der  Besitzer  der  Tugend 
im  weitesten  Sinne  (I.  2,  18;  IV.  8,  11)  und  der  Inhaber 
der  königlichen  Kunst.  In  dieser  Verwerfung  der  Reste 
von  Standesbevorzugungen  in  der  athenischen  Demokratie 
ist  derselbe  Sokrates,  der  den  demokratischen  Mifsbrauch 
des  Loses  so  entschieden  verwirft,  demokratischer  als  das 
herrschende  System. 

Es  sind  aber  zwei  Gruppen  von  Eigenschaften,  die  das 
Wesen  dieser  segensreichen  Herrschernatur  ausmachen.  Sie 
murs  zunächst  die  Fähigkeiten  zum  Herrschen  über- 
haupt besitzen.  Diese  fassen  sich  unter  der  Voraussetzung 
eines  demokratischen  Gemeinwesens  in  den  drei  Begriffen 
der  Tatkraft,  der  Redefertigkeit  und  der  Geschicklichkeit, 
d.  h.  der  Ausrüstung  mit  allen  für  eine  leitende  Stellung 
überhaupt  erforderlichen  Kenntnissen  und  Fertigkeiten,  zu- 
sammen. Diese  Eigenschaften  aber  sind  auch  dem  zwar 
erfolgreichen,  aber  schlechten,  d.  h.  eigensüchtigen  und  ver- 
derblichen Herrscher  eigen.  Zum  heilsamen  Herrscher 
wird  der  Leitende  nur  dadurch,  dafs  ihm  auch  Sophrosyne 
zukommt.  Dieses  Wort  bedeutet  eigentlich  geistige  Gesund- 
heit und  wird  daher  auch  geradezu  in  Gegensatz  zur  Ver- 
rücktheit gesetzt  (I.  1 ,  16) ;  im  Sinne  des  Sokrates  bedeutet 
es  aber  geradezu  den  Inbegriff  der  sittlichen  Eigenschaften. 
Diese  machen  die  wahre  geistige  Gesundheit  aus  und  bilden 
zugleich  das  vernehmlichste  Erfordernis  des  dem  gemeinen 
Besten  dienenden  Leiters  (IV.  3,  1). 

Die  Sophrosyne  ist  also  dasselbe  wie  die  Tugend  im 
engeren  ethischen  Sinne  (III.  9,  5;  I.  2,  1;  II.  6,  22).  Die 
besonderen  unter  ihr  zusammengefafsten  Eigenschaften  werden 
von  Sokrates  einzeln  aus  der  Aufgabe  des  wahren  Herrschers 
abgeleitet.  Dieser  Eigenschaften  sind  vier,  gesondert  nach 
den  verschiedenen  Gebieten ,  auf  denen  sich  die  Sophrosyne 
zu  betätigen  hat.  Bezieht  sie  sich  auf  die  Götter,  heifst  sie 
Frömmigkeit  (L  1,  20;  IV.  3,  2),  im  Verhältnis  zu  den 
Menschen  Gerechtigkeit  (IV.  4,  1),  in  bezug  auf  Ge- 
fahren Tapferkeit  (IV.  6,  10);  in  bezug  auf  die  sinnlichen 
Lustgefühle  Enthaltsamkeit  (IV.  5,  9),  zu  der  auch  die 


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392    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Abhärtung  und  Bedürfnislosigkeit  gerechnet  wird.  Dies 
sind  die  sokratischen  Kardinaltugenden. 

Ganz  folgerichtig  leitete  Sokrates  diese  Tugenden  so- 
wohl ihrem  Wesen  und  Umfange  als  ihrer  Notwendigkeit 
nach  aus  den  Erfordernissen  der  wahren  Herrschertätigkeit 
ab.  Es  lag  ihm  fern,  eine  allgemein-menschliche  Sittenlehre 
zu  entwerfen;  es  ist  ihm  nur  darum  zu  tun,  seine  Zöglinge 
auch  mit  den  dem  wahren  HeiTScher  notwendigen  sittlichen 
Eigenschaften  auszustatten. 

Wahre  Frömmigkeit  ist  einesteils  als  Gottesfurcht 
eine  notwendige  Vorbedingung  für  das  Zustandekommen 
auch  der  übrigen  Tugenden  (I.  1,  18  f.;  4,  19;  IV.  3,  18), 
andernteils  als  das  Hilfsmittel  zur  Erlangung  der  Gnade 
der  Götter,  die  sich  besonders  in  der  Erteilung  von  Orakeln 
zeigt,  unentbehrlich  für  ein  erfolgreiches  Wirken  in  Haus 
und  Staat  (I.  1,  7  «F.;  IV.  7,  10;  II.  2,  13).  In  beiden  Be- 
ziehungen also  ist  sie  ein  unumgängliches  Erfordernis  des 
guten  Herrschers.  Sokrates  vertritt  nicht  etwa  als  Alt- 
gläubiger, sondern  in  ebenso  wissenschaftlicher  Weise,  wie 
man  im  18.  Jahrhundert  das  „Dasein  Gottes**  philosophisch 
erwiesen  zu  haben  glaubte,  das  persönliche  Walten  der 
Gottheit  in  der  Welt.  Seine  Beweisart  (I.  4;  IV.  3)  ist 
überwiegend  diejenige,  die  später  als  die  physiko-theologische 
bezeichnet  worden  ist,  und  die  von  der  offenbaren  Verwirk- 
lichung von  Zwecken  in  der  Welt  ihren  Ausgangspunkt 
nimmt.  Sie  ist  in  ihrer  geistvollen  und  scharfsinnigen 
Durchführung  ein  Ausflufs  des  ihm  eigenen,  überaus  starken 
Sinnes  für  das  Zweckvolle.  Dafs  er  dabei  nicht  bis  zur 
entschiedenen  Betonung  der  Einheit  der  göttlichen  Persön- 
lichkeit fortschreitet  (wenigstens  nach  Xenophon),  ist  viel- 
leicht nur  eine  Anbequemung  an  den  herrschenden  Götter- 
glauben. Um  die  Gnade  der  Götter  zu  erlangen,  bedarf  es 
der  Betätigung  der  gottesfürchtigen  Gesinnung  durch  Gebet 
und  Opfer,  sowie  durch  das  richtige  ethische  Verhalten 
(I.  1,  9;  IL  2,  14;  III.  9,  15).  In  bezug  auf  die  beiden 
zuerst  genannten  Eultushandlungen  gilt  ihm  die  Regel,  dafs 
die  Götter  ihre  Ehre  auch  durch  äufsere  Betätigung  der 
frommen  Gesinnung   verlangen.     Sie   wollen   gebeten  sein; 


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B.    1.   Sokrates  (469—899).  393 

nur  soll  man  ihnen  nicht  vorschreiben,  was  sie  geben  sollen. 
Man  soll  sie  nur  um  das  Gute,  uns  Heilsame  bitten;  worin 
dies  besteht,  wissen  sie  selbst  am  besten  (I.  3,  2).  Man 
soll  auch  opfern,  aber  nicht  auf  die  Massenhaftigkeit  des 
Geopferten  an  sich  kommt  es  an,  sondern  auf  das  richtige 
Verhältnis  desselben  zum  Vermögensstande  des  Opfernden 
(I.  3,  3;  IV.  3,  17).  Im  allgemeinen  liegt  der  Gottheit  nicht 
so  sehr  daran,  dafs  bestimmte  gottesdienstliche  Gebräuche 
peinlich  innegehalten  werden,  sondern  nur  daran,  dafs  sich 
überhaupt  die  fromme  Gesinnung  in  solchen  betätige.  Daher 
er  auch  die  Weisung  des  delphischen  Orakels  guthiefs,  nach 
dem  Herkommen  der  eigenen  Stadt  die  Götter  zu  verehren 
(I.  3,  1;  IV.  3,  16). 

Sokrates  vertritt  hier  gegenüber  dem  Radikalismus 
eines  Protagoras  und  Prodikos  eine  gemäfsigte  reli- 
giöse Aufklärung.  DieGottheit  verlangt  Gunst- 
bewerbung. Nur  durch  diese  ist  ihre  Gnade  zu  erlangen. 
Diese  Gunstbewerbung  ist  einesteils  eine  kultische,  durch 
Gebet,  Opfer  und  Kultushandlungen  überhaupt,  wobei  es 
aber  nicht  auf  das  Äufserliche,  sondern  nur  auf  Betätigung 
der  religiösen  Gesinnung  ankonmit.  Andernteils  besteht  sie 
in  der  Beobachtung  der  sittlichen  Vorschriften.  Auf  ein  Jen- 
seits bezügliche  Wirkungen  der  Göttergunst  werden  nicht  in 
Betracht  gezogen.  Diese  aufgeklärte  Religiosität,  die  in 
gewissem  Mafse  an  die  Vemunftreligion  des  18.  Jahrhunderts 
erinnert,  ist  ihm  neben  dem  rein  menschlich  begründeten 
Moralismus  eine  unentbehrliche  Stütze  des  Gesellschaftslebens. 

Die  Gerechtigkeit  ist  nicht  nur  loyale  Unterwerfung 
unter  das  Staatsgesetz,  sondern  auch  die  Gewissenhaftigkeit 
in  der  Beobachtung  eingegangener  Verbindlichkeiten,  aus- 
gesprochener oder  stillschweigender,  in  allen  Lebensverhält- 
nissen, selbst  dem  Sklaven  und  Landesfeinde  gegenüber 
(IV.  4,  12  flf.).  In  diesem  Sinne  gehört  auch  die  Dankbarkeit, 
selbst  dem  Feinde  gegenüber,  zur  Gerechtigkeit  (IL  2,  1  flf.). 
Es  gibt  ferner  „ungeschriebene  Gesetze",  wie  das  Verbot 
der  Blutschande,  denen  man  gehorchen  mufs  (IV.  4,  19). 
Aber  nicht  nur  das  Unterlassen  des  im  weitesten  Sinne 
Ungesetzlichen,  auch  die  positive  Ausübung  alles  Gemein- 


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394    Zweite  Periode.     £rste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

nützigen  rechnet  Sokrates  zur  Gerechtigkeit  (IV.  8,  11; 
II.  6,  24  f.;  III.  3,  9  f.,  5,  25;  7,  9).  Die  Gerechtigkeit 
umfafst  bei  ihm  auch  die  Bewufsttreue  und  Güte;  sie  ist 
die  soziale  Tugend  im  weitesten  Umfange.  In  diesem  Sinne 
ist  es  auch  verständlich  und  gerechtfertigt,  dafs  Sokrates 
unter  Umständen  Unwahrhaftigkeit  (der  Feldherr,  der  dem 
entmutigten  Heere  gegenüber  das  Herannahen  von  Ver- 
stärkungen vorgibt),  Trug  (dem  kranken  Kinde,  das  die 
Arznei  nicht  nehmen  will,  wird  diese  unter  die  Speise  ge- 
mischt) und  gewaltsame  Eigentumsberaubung  (dem  in 
Melancholie  Verfallenen,  von  dem  zu  befürchten  steht,  dafs 
er  sich  ein  Leids  antun  wird,  wird  die  Waffe  weggenommen) 
zur  Gerechtigkeit  rechnet  (IV.  2,  17  flf.). 

Und  dafs  Sokrates  auch  die  Gerechtigkeit  in  erster 
Linie  als  notwendige  Eigenschaft  des  Leitenden  in  Betracht 
zieht,  ergibt  sich  daraus,  dafs  er  sie  ausdrücklich  als  Be- 
standteil der  „königlichen  Kunst**  und  als  Bedingung  des 
zu  einem  umfassenden  Wirken  erforderlichen  allgemeinen 
Vertrauens  bezeichnet  (IV.  2,  11;  4,  15  flf.)- 

Die  Tapferkeit  ist  das  mannhafte  Verhalten  gegen- 
über der  Gefahr,  dem  Übel  überhaupt  (IV.  6,  10).  Eine 
genauere  Bestimmung  dessen,  was  als  Gefahr  und  Übel  zu 
erachten  ist,  wird  hier  nicht  gegeben.  Ausgeschlossen  wird 
nur  der  vom  Begriff  des  Tapferen,  der  das  Vorhandensein 
einer  Gefahr  nicht  erkennt.  Ebenso  fehlt  es  bei  dieser 
Tugend  an  dem  Nachweis  ihrer  Unentbehrlichkeit  für  den 
wahren  Leiter.  Es  ist  fraglich,  wieweit  Sokrates  sich  bei 
dieser  Tugend  ins  einzelne  eingelassen  hat  und  in  die  Breite 
und  Tiefe  gegangen  ist.  Jedenfalls  konnte  es  ihm  nicht 
schwer  fallen,  auch  diese  Tugend  als  ein  notwendiges  Er- 
fordernis des  leitenden  Mannes  zu  erweisen. 

Dafs  Sokrates  auch  die  Enthaltsamkeit  (einschliefs- 
lieh  der  Abhärtung  und  Bedürfnislosigkeit)  nicht  nur  als 
Hilfsmittel  bei  der  Pflege  der  eigentlichen,  dem  Gemeinwohl 
dienenden  Tugenden  betrachtete,  sondern  direkt  zum  Sitt- 
lichen rechnete  (III.  9,  4flF.;  IV.  5,  7;  I.  2,  8),  erklärt  sich 
ebenfalls  daraus,  dafs  er  seine  ganze  Tugendlehre  aus  den 
Erfordernissen  des  idealen  Herrschers  ableitete.  Diese  Strenge 


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B.    1.   Sokrates  (469—399).  395 

der  LebensführuDg  ist  nämlich  zunächst  direkt  und  un- 
mittelbar für  die  Erledigung  bedeutender  Geschäfte  der 
mannigfachsten  Art  unentbehrlich  (IL  1,  1—7;  I.  6,  9). 
Sie  ist  aber  femer  auch  von  der  gröfsten  Bedeutung  für 
das  Vertrauen  der  Geleiteten,  ohne  das  eine  einflufsreiche 
Stellung  undenkbar  ist  (I.  5).  Sie  ist  endlich  von  wesent- 
lichstem Werte  für  die  Abschliefsung  und  dauernde  Er- 
haltung von  Freundschaftsbündnissen,  die  allein  es  ermög- 
lichen, die  herrschende  Stellung  der  wahrhaft  Tüchtigen 
und  Gemeinnützigen  im  Staate  zu  gewinnen  und  aufrecht- 
zuerhalten. Denn  nur  der  enthaltsam  Lebende  ist  in  diesem 
Sinne  ein  wertvoller  Freund  (L  5,  4;  6,  9;  IL  6,  21  flf.). 

Aber  nicht  nur  als  direkter  Bestandteil  der  Sophrosyne, 
auch  als  Hilfsmittel  zur  Übung  der  übrigen  Tugenden  ist 
die  mafsvolle  Lebensführung  dem  leitenden  Manne  unent- 
behrlich. Sie  ist  frei  von  den  Versuchungen  zur  Un- 
gerechtigkeit, denen  der  Schwelger  erliegt  (I.  2,  5;  IL  6, 
24;  1,  25).  Sie  ist  frei  von  den  das  Handeln  beein- 
trächtigenden körperlichen  Zerrüttungen,  die  im  Gefolge 
der  Unenthaltsamkeit  auftreten  (IL  1,  20).  Sie  gewährt 
endlich  die  zur  Erkenntnis  des  Richtigen  und  Guten  not- 
wendige Klarheit  des  Denkens  (IV.  5,  6— 8,  11).  In  diesem 
indirekten  Sinne  wird  die  Enthaltsamkeit  der  Grundstein 
der  Tugend  genannt  (I.  5,  4  f.).  Ebenso  wie  zur  Tugend 
ist  sie  aber  auch  für  ein  tatkräftiges  Handeln  überhaupt 
die  wesentliche  Vorbedingung  (IV.  5). 

Die  Enthaltsamkeit  ist  überhaupt  diejenige  Tugend,  die 
Sokrates  von  allen  am  wärmsten  schätzt  und  am  nachdrück- 
lichsten empfiehlt.  So  kann  es  denn  nicht  wundernehmen, 
dafs  er  ihr  auch,  abgesehen  von  ihrer  Bedeutung  für  die 
leitenden  Stellungen,  noch  weitere  Empfehlungsgründe  mit 
auf  den  Weg  gibt;  deren  sind  zwei.  Zunächst  gewährt  die 
mafsvolle  Befriedigung  der  körperlichen  Bedürfnisse,  bei 
der  eben  das  wirkliche  Bedürfnis  abgewartet  und  nur  dies 
befriedigt  wird,  in  müheloser  Weise  einen  mindestens  ebenso 
grofsen  Lustertrag,  wie  ihn  der  Schwelger  durch  die  mühe- 
vollsten, sein  ganzes  Dichten  und  Trachten  in  Anspruch 
nehmenden  Veranstaltungen  erzielen  kann.    Sie  ist  also  nicht 


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396     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

einmal  mit  einer  Einbufse  an  Lustgefühlen  verbunden  (I.  3, 
6,  15;  6,  5;  IV.  5,  9;  III.  11,  13  f.;  II.  1,  30,  33).  Sie  ist 
andernteils  als  Freiheit  von  den  knechtenden  Bedürfnissen, 
als  Selbstgenügsamkeit  ein  stolzer  Zustand  der  Gottähn- 
lichkeit. Was  der  Gottheit  von  selbst  zufällt,  weil  sie  alles 
hat  und  ihr  nichts  fehlt,  das  erreicht  der  Enthaltsame 
gleichsam  auf  einem  Umwege,  indem  er  seine  Bedürfnisse 
nach  Möglichkeit  einschränkt.  „Nichts  bedürfen  ist  gött- 
lich; so  wenig  als  möglich  bedürfen  kommt  dem  Göttlichen 
am  nächsten;  das  Göttliche  ist  aber  das  Vollkommene,  das 
dem  Göttlichen  Nächste  das  dem  Vollkommenen  Nächste" 
(I.  6,  10). 

Es  ist  sehr  wohl  möglich,  dafs  Sokrates  ursprünglich 
in  rein  persönlicher  Weise  auf  sein  Enthaltsamkeitsprinzip 
geführt  worden  ist.  Nur  so  war  es  ihm  möglich,  ohne  Be- 
zahlung sich  seiner  idealen  Reformarbeit  ganz  zu  widmen. 
In  seinem  vollendeten  Gedankensystem  aber  nimmt  dann  die 
Enthaltsamkeit  die  vorbezeichnete  Stelle  ein. 

Der  wahre  Besitz  dieser  sittlichen  Eigenschaften  kann 
nun  aber  nicht  in  einem  unklaren  Tasten  nach  dem  Richtigen 
bestehen.  Das  Gebiet  des  Sittlichen  mufs  in  jeder  Beziehung 
gegen  die  angrenzenden  Gebiete  des  sittlich  Verkehrten  ab- 
gegrenzt werden.  Es  bedarf  zum  sittlichen  Handeln  der 
sittlichen  Einsicht,  der  Weisheit  im  Sinne  eines 
deutlichen  Wissens,  was  das  Gute  ist.  Hier  ist 
nun  die  eine  der  beiden  Stellen,  an  denen  die  auch  von 
Aristoteles  dem  Sokrates  als  erfolgreichste  Leistung  nach- 
gerühmte BegriflFsbestimmung  zur  Geltung  kommt.  Zwar 
hat  er  auf  dem  sittlichen  Gebiete  nicht  eigentlich  Defini- 
tionen, Inhaltsbestimmungen,  durch  Aufzählung  der  Merk- 
male gegeben.  Als  Hauptaufgabe  betrachtete  er  hier  die 
Umschreibung  des  Gebietes,  die  Umfangsabgrenzung.  Nur 
wer  das  Geziemende  weifs,  ist  im  stände,  es  zu  vollbringen, 
ohne  fehlzugreifen  (IIL  9,  4  f. :  I.  2,  50).  Er  war  daher  in 
seiner  Lehrtätigkeit  beständig  damit  beschäftigt,  zu  unter- 
suchen, was  fromm,  was  unfromm,  was  gerecht,  was  un- 
gerecht, was  Tapferkeit,  was  Feigheit  u.  s.  w.  sei  (I.  1,  16), 
und  legte  auf  das  Sondern  der  entgegengesetzten  Richtungen 


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B.    1.   Sokrates  (469—399).  397 

des  Handelns  ein  so  grorses  Gewicht,  dafs  Xenophon  sogar 
den  Namen  seiner  Dialektik  (eigentlich  Unterredungskunst) 
von  diesem  Sondern  (dial6gein)  ableitet  (IV.  5,  11  f.).  Er 
besafs  in  dieser  Richtung,  wie  Xenophon  betont  (IV.  8,  4, 11), 
eine  untrügliche  Sicherheit,  und  Proben  dieser  seiner  Weis- 
heit werden  mehrfach  angeführt  (IV.  2,  12  ff.;  6,  2  -6,  10  f.). 

Aufser  den  sittlichen  Eigenschaften  bedarf  der  leitende 
Mann  aber  auch  gewisser  Kenntnisse  und  Fertig- 
keiten. In  dieser  Beziehung  wird  er  als  „mechanikös" 
bezeichnet  (IV.  3,  1).  Er  mufs  sich  auf  die  Geometrie  nicht 
als  abstrakte  Wissenschaft,  sondern  im  buchstäblichen  Sinne 
als  die  Kunst  der  Landvermessung  verstehen.  In  demselben 
Sinne  mufs  er  mit  der  Sternkunde  so  weit  vertraut  sein, 
dafs  er  bei  Nacht  die  Zeit  bestimmen  und  sich  orientieren 
kann.  In  der  gleichen  praktischen  Richtung  mufs  er  sich 
aufs  Rechnen  verstehen.  Die  Sorge  für  seine  Gesundheit 
wird  ihm  in  einfachster  Weise  durch  eine  verständige  Selbst- 
beobachtung ermöglicht.  Ohne  den  Rat  des  Arztes  auszu- 
schliefsen ,  ist  Sokrates  der  Ansicht ,  dafs  beständige 
Beobachtung  der  Wirkungen  von  Speise,  Trank  und 
sonstigem  Verhalten  auf  die  Gesundheit  besser  als  der 
beste  Arzt  das  dem  eigenen  Körper  Heilsame  herausfinden 
könne.  Endlich  verlangt  er  in  dieser  Beziehung,  ent- 
sprechend seiner  hohen  Meinung  von  den  Götterzeichen, 
die  Kenntnis  der  Kunst,  diese  Vorzeichen  zu  deuten  (IV.  7). 

Dies  Verzeichnis  der  erforderlichen  Kenntnisse  macht 
auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  (IV.  7,  2).  Daneben 
wird  als  unentbehrlicher  Bestandteil  der  Herrschertüchtigkeit 
die  Fähigkeit,  zu  reden  (d.  h.  zu  überreden  und  zu  über- 
zeugen, die  bei  den  demokratischen  Grundvoraussetzungen 
dieses  ganzen  Herrschertums  an  die  Stelle  des  Zwanges  und 
der  Disziplin  tritt)  und  zu  handeln,  häufig  nachdrücklich 
betont  (IV.  3,  1;  I.  2,  15;  IL  6,  14;  9,  4;  IIL  6,  16; 
IV.  2,  1). 

Dafs  Sokrates  bei  der  Redefertigkeit  nicht,  wie 
etwa  Gorgias,  eine  künstlich  abgezirkelte  Redekunst  im 
Dienste  eigensüchtiger  Zwecke  im  Auge  hatte,  sondern  nur 
die  Geschicklichkeit,  das  an  sich  Richtige  und  Heilsame  auf 


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398     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

gütlichem  Wege  den  Beteiligten  einleuchtend  zu  machen, 
ist  klar.  Bei  Xenophon  schiebt  sich  da,  wo  er  von  dieser 
Seite  des  sokratischen  Wirkens  reden  will  (IV.  6),  der 
Redekunst  ohne  weiteres  die  Kunst  der  Wechselrede,  die 
Dialektik,  unter,  und  er  handelt  hier,  freilich  in  recht 
verständnisloser  Weise,  auch  von  der  in  der  Tat  durch 
Sokrates  aufgebrachten  Kunst  der  Begrififsbestimmungen 
(Definitionen).  Hier  ist  die  Stelle,  wo  diese  recht  eigentlich 
in  Betracht  kommen.  Jede  überzeugende  Rede  mufs  mit 
deutlichen,  scharf  umrissenen  Begriffen  operieren.  So  be- 
zeugt denn  auch  Xenophon  (IV.  6,  1),  Sokrates  sei  der 
Überzeugung  gewesen,  wer  da  wisse,  was  ein  jegliches 
sei  (Definition),  der  allein  sei  auch  im  stände,  andere  zu 
belehren,  und  habe  deshalb  mit  den  Seinigen  unablässig 
solche  Begrififsbestimmungen  erörtert.  Xenophon  bemüht 
sich  auch,  freilich  mit  völligem  Mifserfolg,  eine  Vorstellung 
von  dieser  so  hochbedeutsamen  Seite  am  Verfahren  des 
Sokrates  zu  geben.  Es  ist  indes  anderweitig  genugsam  be- 
kannt und  wird  noch  bei  Plato  zur  Sprache  kommen,  welche 
hohe  Bedeutung  diesen  ersten  Ansätzen  zur  Kunst  der 
logischen  Begrififsbildung  für  die  weitere  Geistesentwicklung 
zukommt,  und  daher  in  hohem  Mafse  zu  bedauern,  dafs  sich 
Xenophon  hier  als  Berichterstatter  über  das  Verfahren  des 
Sokrates  so  unzulänglich  zeigt.  Dafs  Sokrates  mit  seiner 
Begriffsbildung  tiefgreifend  auf  Plato  gewirkt  hat,  dafs  ihm 
aber  die  Begriffe  nicht  zugleich  für  sich  seiende  Wesen- 
heiten, sondern  nur  Gebilde  unseres  Verstandes  gewesen 
sind,  bezeugt  Aristoteles  aufs  nachdrücklichste  an  einer 
Reihe  von  Stellen  (987b,  1;  1078b,  17,  30;  1086b,  2; 
642,  28).  Aufser  diesem  wichtigen  Punkte  hebt  Xenophon 
noch  folgende  Grundzüge  seiner  schlichten  Überredungskunst 
hervor.  Man  stellt  die  Grundfrage,  um  die  es  sich  handelt, 
einfach  und  klar  hin.  Man  bedient  sich,  um  die  zu 
empfehlende  Auffassung  einleuchtend  zu  machen,  der  all- 
gemein anerkanntesten  Wahrheiten  als  der  am  sichersten 
wirkenden  Überzeugungsgründe  (IV.  6,  13  ff.).  Hierher  ge- 
hört dann  wohl  vornehmlich  das  von  ihm  selbst  mit  so 
grofser  Geschicklichkeit  angewandte  Verfahren  der  Heran- 


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B.    1.   Sokrates  (469-399).  399 

ziehuDg  verwandter  (analoger)  Fälle.  So  beweist  er,  dafs 
man  in  jeder  Sache  dem  Sachverständigen  am  liebsten  ge- 
horche, durch  das  Beispiel  des  Steuermanns  und  des  Land- 
wirts (III.  3,  9);  so,  dafs  der  sicherste  Weg,  um  in  Staats- 
sachen für  tüchtig  gehalten  zu  werden,  der  sei,  es  zu  sein, 
durch  das  des  Flötenbläsers  und  des  Feldherm  (I.  7  cf.  III. 
6,  38).  Diese  schlichte  Art  der  Redeführung  liefs  sich, 
wenn  es  nicht  auf  Trug  und  Irreleitung,  sondern  nur  auf 
Einleuchtendmachung  des  Richtigen  ankam,  ebensogut  in 
der  zusammenhängenden  Volksrede  wie  in  der  Wechselrede 
mit  einzelnen  anwenden. 

Auch  bei  der  Tüchtigkeit  zum  Handeln,  der 
Energie,  schweift  Xenophon  teilweise  auf  ein  anderes  Gebiet 
über  (IV.  5).  Doch  ist  ersichtlich,  dafs  Sokrates,  wie  schon 
bemerkt,  auch  in  dieser  Beziehung  von  der  Unabhängigkeit 
von  körperlichen  Bedürfnissen  und  Genüssen  das  Höchste 
erwartete.  Als  wichtiges  Hilfsmittel  zur  Gewinnung  dieser 
Eigenschaft  erscheint  ihm  femer  offenbar  die  Gymnastik, 
da  es  keine  menschliche  Tätigkeit  gebe,  bei  der  der  Körper 
nicht  beteiligt  sei  (III.  12,  5  f.). 

Diesen  allgemeingültigen  Anforderungen  an  den  tüch- 
tigen Leiter  in  Haus  und  Staat  schliefsen  sich  sodann  noch 
besondere  Erfordernisse  für  die  verschiedenen  be- 
sonderen Verrichtungen  vornehmlich  im  Staatsleben  an.  Im 
Staatsleben  bedarf  es  der  Feldherren,  der  Richter  (Ge- 
schworenen) und  der  eigentlichen  Politiker,  die  in  der  Volks- 
versammlung tätig  sind  und  der  inneren  Verwaltung  und 
der  diplomatischen  Vertretung  nach  aufsen  vorstehen  (IL  6, 
38).  Aber  auch  der  grofse  Hauswirt  hat  aufser  seinen 
direkten  Verrichtungen  (III.  4)  mit  mancherlei  beson- 
deren Angelegenheiten,  wie  Rechtsstreitigkeiten  (II.  9), 
Staatsleistungen  (III.  4,  3  flf.)  zu  tun.  Auf  allen  diesen 
Sondergebieten  müssen  zu  den  für  alle  geltenden  sittlichen 
und  technischen  Anforderungen  noch  besondere  Fähigkeiten, 
Kenntnisse  und  Fertigkeiten  hinzutreten,  die  Sokrates  viel- 
fach im  einzelnen  erörtert  (III.  1 — 7;  IV.  6,  14). 

Wenn  nun  die  in  diesem  Sinne  sittlich  und  technisch 
Tüchtigen  an  der  Spitze  der  grofsen  Hauswirtschaften  stehen, 


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400    Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

SO  mufs  dies  notwendig  eine  Quelle  des  Wohlseins  für  alle 
Beteiligten  werden,  und  vielem  menschlichen  Elend  wird 
vorgebeugt.  Vornehmlich  aber  wird  im  Staatsleben,  wenn 
solche  Männer  in  genügender  Zahl  und  in  einhelligem 
Wirken  als  ein  festgeschlossener  Freundeskreis  an  die  öffent- 
lichen Aufgaben  herantreten  und  die  verderblichen  Elemente 
aus  dem  öffentlichen  Leben  verdrängen,  ein  neuer  gesegneter 
Zustand  eintreten. 

Es  entsteht  aber  hier  die  Frage:  Was  soll  die  Höher- 
gearteten bewegen  und  veranlassen,  sich  solcher  Reform- 
arbeit zu  unterziehen  und  sich  dafür  auszubilden?  Der  be- 
herrschende Grundtrieb  der  menschlichen  Natur  ist  der 
egoistische.  „Alle  entscheiden  sich  unter  den  mög- 
lichen Handlungsweisen  für  diejenige,  die  sie 
für  die  ihnen  selbst  zuträglichste  halten"  (III. 
9,  4).  Auch  in  zahlreichen  Einzelwendungen  (z.  B.  IV.  1,  2; 
II.  6,  25;  IV.  2,  11;  III.  3,  15;  5,  28;  7,  9)  setzt  Sokrates 
auch  beim  gemeinnützlichen  und  sittlichen  Tun  die  selbstische 
Grundtriebfeder  voraus.  Der  einzelne  ist  im  letzten  Grunde 
seiner  Interessen  und  seines  Handelns  auf  sich  selbst  ge- 
stellt. 

Sokrates  hat  nun  unzweifelhaft  unter  den  selbstischen 
Beweggründen  des  gemeinnützigen  Handelns  auch  die  heil- 
samen Wirkungen  der  Frömmigkeit,  die  Erweisungen  der 
Göttergunst  in  Anschlag  gebracht.  Wem  die  Götter  gnädig 
sind,  dem  erteilen  sie  Orakel  (I.  1,  9)  und  dergl.  Er  ver- 
fehlt aber  nicht,  auch  die  rein  menschlichen  Triebfedern 
aufzuzeigen.  Das  selbstische  Interesse  der  wahrhaft  Tüch- 
tigen an  der  herrschenden  Stellung  liegt  aber  darin,  dafs 
sie  sich  nur  durch  diese  vor  den  Schäden  bewahren  können, 
die  ihnen  aus  der  Herrschaft  Unwürdiger  unvermeidlich  zu 
teil  werden.  In  der  Ausübung  der  „königlichen  Kunst" 
liegt  ihr  eigenes,  wohlverstandenes  Interesse,  ihre  Glück- 
seligkeit (II.  1,  14—17;  6,  25;  IV.  2,  11).  Wenn  sie  nicht 
Ambofs  sein  wollen,  müssen  sie  Hammer  sein  (II.  1,  19 ;  IV. 
5,  10).  Etwas  anderer  Art  ist  wohl  der  eigene  Glückselig- 
keitsgewinn bei  der  normalen  Hauswirtschaft.  Jedenfalls 
aber  wird  auch  diese  nachdrücklich   als   etwas  dem  Aus- 


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B.    1.   Sokrates  (469—399).  401 

übenden  selbst  Heilsames  bezeichnet  (IV.  6,  10;  IL  1,  17  ff.). 
Deshalb  gelten  ihm  auch  alle  die  Dinge,  die  zur  Ausübung 
der  wahren  Herrschertätigkeit  erforderlich  sind,  als  höchst 
schätzenswerte  Güter.  So  die  sittlichen  Eigenschaften  (III. 
8,  5;  I.  5,  4;  IV.  5,  7;  2,  11),  so  die  Weisheit  als  Fähig- 
keit, zwischen  dem  Guten  und  Bösen  zu  unterscheiden  (IV. 
5,  11;  1,  5;  5,  6).  So  das  Fortschreiten  in  der  Tugend  und 
die  Wahrnehmung  desselben  (I.  6,  8  f. ;  IV.  8,  6).  So  körper- 
liche und  seelische  Tüchtigkeit  (IV.  5,  10;  IL  1,  19  f.),  so- 
wie Ansehen  und  Anerkennung  seitens  der  anderen  (IL  1, 
19;  7,  2,  17).  So  haben  ferner  die  häufigen  Lobpreisungen 
des  Besitzes  tüchtiger  Freunde  als  eines  hohen  Gutes  (L  6, 
14;  2,  8;  IL  1,  17)  oflFenbar  ihren  letzten  Grund  in  der 
Unentbehrlichkeit  der  Freundschaft  für  die  gemeinsame 
Erringung  und  die  gemeinsame  Behauptung  der  leitenden 
Stellung  im  Staate,  und  in  diesem  Sinne  erscheint  denn 
auch  die  fortschreitende  Tüchtigkeit  der  Freunde  und  sogar 
die  eigene  Fähigkeit,  die  Freunde  durch  die  Dienste  an 
sich  zu  fesseln,  als  Gegenstand  der  Freude  (I.  6,  9;  IV.  5, 
10;  IL  1,  19). 

Auch  diese  richtige  Abschätzung  des  vom  wohlverstan- 
denen eigenen  Interesse  aus  zu  Erstrebenden  ist  ein  Werk 
der  Weisheit.  War  diese  im  ersten  Sinne  sittliche 
Einsicht,  so  ist  sie  im  zweiten  Sinne  die  Fähigkeit,  das 
dem  eigenen  Besten  wahrhaft  Dienliche  zu  erkennen  (IV. 
5,  6;  IIL  9,  4  f.).  Läfst  sich  mit  der  Weisheit  im  ersteren 
Sinne  die  Untugend  vereinigen,  so  ist  das  Zusammensein  der- 
selben mit  ihr  im  zweiten  Sinne  ein  undenkbarer  Fall.  In  ihr 
liegt  ja  die  Vemunftbegründung  des  richtigen  Verhaltens 
überhaupt  als  des  dem  eigenen  Besten  allein  Dienlichen. 

Auf  die  Vemunfttätigkeit  aber  gründet  Sokrates  ganz 
überwiegend,  ja  fast  ausschliefslich  das  richtige  Verhalten. 
Er  fafst  den  Menschen  in  abstrakter  Weise  überwiegend 
als  Vemunftwesen.  Gegen  das  als  zweckmäfsig  und  heilsam 
Erkannte  kommen  Triebe  und  Begierden  kaum  in  Betracht. 
Die  Tugend  ist  lehrbar,  indem  sie  als  dem  eigenen  Inter- 
esse entsprechend  erwiesen  wird.  Die  Tugenden  sind,  wie 
Aristoteles  (1144b,  17),  allerdings  stark  übertreibend, 

Döring.   I.  26 

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402     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

die  Lehre  des  Sokrates  formuliert,    Vernunftbetätigungen 
(phroneseis). 

Nur  in  zwei  Punkten  scheint  Sokrates  über  diese 
Schätzung  der  Güter  nach  ihrer  Bedeutung  für  die  zu  er- 
strebende Herrscherstellung  hinauszugehen  und  den  Wert 
anders  zu  begründen.  Einige  Male  streift  erden  ganz  modernen 
Gedanken,  dafs  das  tüchtige  Wirken  Freude  an  sich  selbst, 
Anerkennung  und  Wertschätzung  seiner  selbst  nach  sich 
ziehe  (II.  1,  19,  31,  33),  und  andemteils  erscheint  er  als 
Vorläufer  der  kynischen  und  epikureischen  Lehre,  indem  er 
speziell  an  der  Enthaltsamkeit  die  göttergleiche  Selbst- 
genügsamkeit oder  die  Erhöhung  des  sinnlichen  Genusses 
durch  die  mafsvoUe  Befriedigung  preist  (I.  6,  10;  3,  15; 
IV.  5,  9).  Aber  dies  sind  bei  ihm  nur  gelegentliche  Neben- 
gedanken. 

Diese  Beweggründe  recht  verstandener  Selbstliebe  nimmt 
nun  Sokrates  auch  für  seine  eigene  Stellung  als  Anbahner 
und  Verwirklicher  der  grofsen  von  ihm  betriebenen  Reform 
der  öflFentlichen  Zustände  durch  Veredlung  der  leitenden 
Männer  in  Anspruch.  Er  verzichtet  auf  die  bei  den  Sophisten 
vornehmlich  wirksame  Triebfeder  des  Gelderwerbs  und  bleibt 
in  dieser  Beziehung  dem  alten  Herkommen  der  unentgelt- 
lichen Ausbildung  angehender  Staatsmänner  durch  die  im 
Dienste  der  ÖflFentlichkeit  Stehenden  treu  (I.  6,  13;  2,  60). 
Ja,  er  setzt  die  Ausbietung  der  eigenen  Weisheit  um  Geld 
seitens  der  Sophisten  (I.  6,  13)  geradezu  der  Prostitution 
gleich.  Auch  für  sich  selbst  veranschlagt  er  die  Göttergunst 
als  ein  wertvolles  Besitztum.  Offenbar  erblickte  er  in  seinem 
Daimonion  einen  Erfahrungsbeweis  dafür,  dafs  die  Gottheit 
das  ihr  wohlgefällige  Streben  nicht  ohne  Lohn  läfst.  Er  ist 
aber  ferner  bei  seinem  grofsen  reformatorischen  Lebensplan 
von  dem  persönlichen  Bedürfnis  geleitet,  in  besseren,  ge- 
ordneteren, erquicklicheren  und  gesicherteren  öffentlichen 
Zuständen  zu  leben.  Das  Motiv,  das  er  für  die  zu  idealen 
Leitern  Auszubildenden  in  Bereitschaft  hat,  gilt  ihm  auch 
für  sein  eigenes  Lebenswerk.  Auf  den  Erfolgen  dieses 
seines  Wirkens  beruht  seine  Glückseligkeit  (IV.  8,  69;  9, 
11;  I.  6,  14;  2,  8;  IL  6,  28).    Eine  bedeutsame  Ergänzung 


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B.    1.   Sokrates  (469-399).  403 

freilich  erhielt  diese  Triebfeder  seines  Wirkens  offenbar 
durch  den  im  Altertum  ganz  singulftr  dastehenden  Gedanken 
der  Freude  am  eigenen  Wert  neben  der  Anerkennung  der 
Besten  (II  1,  19),  sowie  teilweise  auch  (für  die  Enthalt- 
samkeit) an  dem  mannhaften  Freiheitsbedürfnis  und  in  etwa 
-auch  an  der  Erkenntnis  des  Lustertrages  der  Mftfsigkeit. 

Der  Grundzug  in  der  geistigen  Physiognomie  des  Sokrates, 
aus  dem  dieses  ganze  Gedankensystem  entspringt,  ist  ein 
ganz  aufsergewöhnlich  stark  entwickelter  Sinn  für  das 
Zweckmftfsige.  In  ihm  wurzelt  die  Beziehung  alles  Tuns 
auf  das  Eigenwohl  und  die  davon  nicht  zu  trennende  rein 
intellektuelle  Leitung  alles  Handelns;  in  ihm  auch  der 
streng  systematische  Aufbau  der  Zwecke,  die  alle  in  einem 
letzten  Endzweck  gipfeln  und  sich  zu  ihm  wieder  als  Mittel 
verhalten.  Aus  ihm  entspringt  auch  der  fast  komisch 
wirkende  Eifer,  mit  dem  er,  ganz  abseits  von  seinem  eigent- 
lichen Grundstreben,  dem  Maler,  dem  Bildhauer,  dem 
Panzerschmied  und  selbst  der  Hetäre  aus  dem  Zwecke  ihrer 
Berufstätigkeit  Regeln  für  die  Ausübung  derselben  an- 
demonstriert (III.  10  f.).  Sokrates  entwickelt  in  den  erst- 
genannten Gesprächen  ein  tiefgehendes  Verständnis  für 
Zweck  und  Wirkung  der  Kunst  und  zeigt  sich  so  ganz 
nebenher  als  Vorläufer  der  platonisch-aristotelischen  Ästhetik, 
ja  geradezu  als  der  erste  Ästhetiker.  Ja,  selbst  der  mystische 
Zug  in  seinem  Wesen,  die  „Götterstimme",  ist,  richtig  be- 
trachtet, nur  eine  mit  elementarer  Gewalt  auftretende  un- 
bewufste  Äufserungsform  dieser  praktischen  Verständigkeit. 

Wie  gestaltete  sich  nun  auf  Grund  solcher  Über- 
zeugungen das  Wirken  des  Sokrates?  Daeselbe  ver- 
lief zunächst  ganz  und  gar  in  der  Öffentlichkeit.  Schon  in 
der  Morgenfrühe  begab  er  sich  nach  den  zum  Lustwandeln 
bestimmten  Säulenhallen  und  den  Stätten  der  Gymnastik; 
um  die  Mitte  des  Vormittags,  wenn  der  Markt  sich  füllte, 
war  er  dort  anzutreffen;  während  der  übrigen  Zeit  des 
Tages  war  er  stets  da,  wo  die  gröfste  Ansammlung  von 
Menschen  stattfand.  Und  meist  war  er  an  diesen  Orten 
mit  Reden  beschäftigt  (I.  1,  10):  In  dieser  Öffentlichkeit 
wird  er  sich  mit  seinen  älteren  Freunden,  einem  Kriton  und 

26* 


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404     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

anderen,  getroffen  haben.  In  ihr  verlaufen  femer  die  Unter- 
redungen mit  Femerstehenden  tlber  die  mannigfachsten 
Themata,  bei  denen  dann  gewifs  häufig  genug  jene  zer- 
setzende Fragekunst  zur  Anwendung  kam,  die  er  dem 
Wissensdünkel  gegenüber  als  Mittel  der  Züchtigung  und 
Zurechtweisung  anzuwenden  pflegte  (I.  4,  1).  Hier  traf  er 
endlich  mit  den  ständigen  jugendlichen  Begleitern  zusammen, 
die  als  Lernende  und  sich  Bildende  den  eigentlichen  Gegen- 
stand seines  Wirkens  bildeten.  Gewifs  waren  diese  auch 
teilnahmsvolle  Zeugen  jener  öffentlichen  Unterredungen,  aber 
ebenso  gewifs  gab  es  auch  eine  ganz  scharfe  Scheidelinie 
zwischen  den  Aufsenstehenden  und  dem  zu  seiner  eigentlich 
bildenden  Tätigkeit  zugelassenen  Jüngerkreise.  Mit  beson- 
derem Nachdruck  erklärt  Xenophon  (I.  4,  1),  dafs  man  nur 
in  diesem  engeren  Kreise  den  eigentlichen  Sokrates  kennen 
lernen  konnte,  und  dafs  er  in  seinem  Berichte  gegenüber 
den  vagen  Vorstellungen,  die  ausschliefslich  auf  seinem 
Verhalten  den  Fernerstehenden  gegenüber  beruhten,  von 
diesem  eigentlichen  Wirken  den  Schleier  fortziehen  will. 
Nicht  als  Lehrer  wollte  Sokrates  gelten  (L  2,  3,  8),  wohl 
um  nicht  mit  den  Sophisten  verwechselt  zu  werden.  Dennoch 
beherrschte  ihn  das  redlichste  und  wirksamste  Bemühen,  die 
eigenen  Überzeugungen  in  einleuchtendster  Weise  zu  über- 
mitteln und  verständlich  zu  machen  (IIL  8,  1;  IV.  2,  40). 
Nicht  jeder  hatte  Zutritt  zu  diesem  Kreise.  Die  Unentgelt- 
lichkeit seines  Wirkens  ermöglichte  es  ihm.  Unbefähigte 
und  Ungeeignete  fernzuhalten  (L  2,  6;  5,  6).  Denn  wenn 
auch  dieser  Verkehr  mit  der  zur  wahren  Herrschertüchtigkeit 
zu  bildenden  Jugend  gewifs  nicht  in  geschlossenen  Schul- 
räumen, sondern  ebenfalls  an  jenen,  der  allgemeinen  Be- 
nutzung freistehenden  Orten,  den  Turnplätzen  und  Säulen- 
hallen, stattfand,  so  besafs  Sokrates  doch  die  wirksamsten 
Mittel,  ungeeignete  Elemente  fernzuhalten,  wie  er  anderseits 
sich  keine  Mühe  verdriefsen  liefs,  verheifsungsvoUe  jugend- 
liche Kräfte  in  den  Bann  seines  Einflusses  zu  ziehen. 

Mit  leidenschaftlichem  Eifer  nämlich  suchte  er  Jüng- 
linge von  höherer  Begabung  an  sich  heranzuziehen.  Er 
kleidete  diesen  Eifer,  wie  Xenophon  ausdrücklich  betont,  in 


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B.    1.  Sokrates  (469-399).  405 

scherzhafter  Weise,  also  mit  einer  gewissen  Ironie,  in  die 
Formen  der  im  damaligen  Athen  in  widerwärtiger  Weise 
grassierenden  und  z.  B.  in  den  Jugendschriften  Piatos  in 
für  uns  abstofsenden  Formen  zu  Tage  tretenden  päderastischen 
Galanterie.  Dafs  aber  Sokrates  in  Wirklichkeit  von  dieser 
alle  Unbefangenheit  im  Verkehr  mit  schönen  Knaben  auf- 
hebenden Verirrung  völlig  frei  war,  bezeugt  Xenophon  in 
den  Worten,  dafs  seine  Begierde  offenkundig  nicht  auf  den 
Reiz  der  körperlichen  Jugendblüte,  sondern  auf  die  gute 
Naturveranlagung  zur  Tugend  gerichtet  gewesen  sei  (IV. 
1,  2  cf.  II.  6,  28  ff.).  Nur  an  einer  einzigen  Stelle,  die 
aber  nicht  einmal  als  unzweifelhaft  geschichtliche  Schilderung 
gelten  kann  (Gastmahl  4,  27  f.),  zeigt  Xenophon  seinen 
Sokrates  als  von  dieser  bedauernswerten  Zeitverirrung  wenig- 
stens in  etwa  berührt. 

Genauer  wird  die  Begabung,  auf  die  sich  sein  Liebes- 
werben  richtete,  bezeichnet  als  schnelles  Erfassen,  dauerndes 
Festhalten  und  eine  Anlage  zu  gemeinnütziger  Gesinnung 
(IV.  1,  2).  Ein  Fall,  wie  er  einen  solchen  Begabten,  trotz- 
dem derselbe  in  dünkelhafter  Aufgeblasenheit  schon  über 
die  Lemzeit  hinaus  zu  sein  glaubt,  in  unverdrossenem  Eifer 
in  seinen  Bereich  zu  ziehen  versteht  (IV.  2),  wird  sogleich 
zur  Darstellung  kommen. 

Diese  Begabten  nämlich  mufsten  zunächst  durch  eine 
geeignete  Behandlungsweise  auch  empfänglich  gemacht 
werden.  Manche  glaubten,  schon  an  ihrer  Naturbegabung 
eine  ausreichende  Ausstattung  zu  erfolgreichem  Wirken  zu 
besitzen.  Diesen  hielt  er  vor,  dafs  die  Tüchtigsten  am 
meisten  der  Ausbildung  bedürften  und  im  anderen  Falle 
wie  Rassepferde  oder  Rassehunde  gerade  in  die  ärgsten 
Verkehrtheiten  gerieten  (IV.  1,  3  f.).  Andere  glaubten, 
durch  ihren  Reichtum  alles  durchsetzen  und  zu  Ansehen 
gelangen  zu  können.  Diese  verwies  er  auf  das  ihnen 
mangelnde  Unterscheidungsvermögen  zwischen  dem  Heil- 
samen und  Schädlichen,  ohne  dafs  kein  zu  wirklichem  An- 
sehen führendes  Wirken  möglich  sei  (IV.  1,  5).  Der  dritte 
Fall  ist  der  eben  jenes  Wissensdünkels  (IV.  2).  Der  Be- 
treffende besitzt  noch  nicht  das  gesetzliche  Alter  für  die 


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406     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Volksversammlung,  treibt  aber  schon  Politik  und  sucht  von 
einer  Sattlerwerkstatt  in  der  Nähe  des  Marktplatzes  aus 
auf  die  Beschlüsse  einzuwirken.  Sokrates  begibt  sich  dort- 
hin und  setzt  in  Hörweite  jenes  den  Seinigen  auseinander, 
dafs  in  der  schwierigsten  aller  Etlnste,  der  der  Staatsleitung, 
die  Einsicht  nicht  von  selbst  kommen  könne.  Ein  andermal 
persifliert  er  vor  seinen  Jüngern  in  Anwesenheit  des  Be- 
treffenden direkt  dessen  Dilettantismus.  Dieser  Jüngling 
wird,  wenn  er  dereinst  das  Alter  zum  Besuche  der  Volks- 
versammlungen erreicht  haben  wird,  im  Eingang  seiner 
Volksreden  stets  emphatisch  versichern,  dafs  er  es  stets 
peinlich  vermieden  habe,  von  Kundigen  zu  lernen  oder 
auch  nur  den  Schein  solcher  Abhängigkeit  zu  erwecken. 
Er  zieht  dies  noch  besonders  dadurch  ins  Lächerliche,  dafs 
er  eine  ähnliche  Versicherung  einem  angehenden  Arzte  in 
den  Mund  legt  Bei  einem  dritten  Annäherungsversuche  in 
der  Sattlerwerkstätte  spitzt  jener  schon  die  Ohren  auf  die 
an  die  Freunde  gerichteten,  aber  auf  ihn  gemünzten  Reden. 
Das  nächste  Mal  geht  dann  Sokrates  allein  hin  und  er- 
reicht nun  durch  geschicktes  Auftreten  ein  bereitwilliges 
Eingehen  des  jungen  Mannes  auf  seine  Prozedur,  durch  die 
er  das  vermeintliche  Wissen  desselben  in  den  wichtigsten 
auf  das  öffentliche  Wohl  bezüglichen  Fragen  in  der  nach- 
haltigsten Weise  wie  eine  Seifenblase  zerplatzen  macht 
Das  Endergebnis  ist,  dafs  der  junge  Mann  es  für  das  Beste 
hält,  ganz  zu  schweigen,  da  er  offenbar  einfach  gar  nichts 
wisse.  Ganz  zerknirscht,  an  sich  selbst  verzagend,  geht  er 
ab,  überzeugt  von  seiner  sklavenmäfsigen  Verständnis- 
losigkeit. 

Viele  nun  der  durch  solche  vorbereitende  Behandlung 
in  diesen  Zustand  Versetzten,  fährt  Xenophon  fort,  liefsen 
sich  nicht  wieder  bei  Sokrates  sehen.  Das  galt  diesem  als 
ausreichender  Beweis,  dafs  es  ihnen  an  der  wirklichen  Be- 
fähigung zu  dem  fehlte,  wozu  er  sie  heranbilden  wollte. 
Er  liefs  sie  gehen.  Im  eben  geschilderten  Falle  aber  (viel- 
leicht ist  es  der  Xenophons  selbst)  ist  die  Kur  angeschlagen. 
Der  junge  Mann  kommt  wieder  und  weicht  nun  nicht  mehr 


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B.     1.   Sokrates  (469—399).  407 

von  Sokrates  Seite,  und  dieser  schlägt  nun  ihm  gegenüber 
den  Ton  echter,  milder  Belehrung  an  (IV.  2). 

Eine  ähnliche  Prozedur,  die  Sokrates  mit  dem  jungen 
Glaukon,  dem  Bruder  Piatos,  vornahm  (IIL  6),  endigt  in 
die  herzliche  Ermahnung,  sich  doch  vor  allem  die  zu  einer 
leitenden  Stellung  erforderlichen  Einsichten  zu  verschaffen. 

Das  Wirken  des  Sokrates  auf  seine  Jünger  vollzieht 
sich  nun  zunächst  durch  sein  Vorbild.  In  seiner  Lebens- 
führung zeigt  er  die  geforderten  Eigenschaften  verwirklicht 
und  erweckt  so  bei  den  Nacheifernden  Mut  und  Hoffnung 
auf  Erfolg  (I.  3,  2).  Er  war  der  vorbildliche  „Schöne  und 
Gute"  in  seinem  Sinne  (I.  2,  18).  Er  war  im  Vollbesitz 
der  Einzeltugenden  und  der  Weisheit,  die  das  Gute  und 
Böse  zu  scheiden  versteht  (IV.  8,  11;  I.  4,  15;  IV.  3,  12'; 
4,  1—4;  8,  4;  4,  11;  IL  1  f.,  8).  Dafs  er  ein  Muster  der 
Frömmigkeit  im  Sinne  seiner  Lehre  war,  wird  von 
Xenophon  mehrfach  betont  (z.  B.  I.  1,  2).  Seine  strenge 
Gesetzlichkeit  auf  dem  Grunde  der  Gottesfurcht  hatte 
er  in  einem  allgemein  bekannten  Falle  an  den  Tag  gelegt,» 
als  im  Jahre  406  nach  der  Schlacht  bei  den  Arginusen  die  ^ 
Feldherm  in  Anklagezustand  versetzt  wurden,  weil  sie  nicht 
für  Beerdigung  der  Gefallenen  gesorgt  hatten.  Sokrates 
hatte  in  der  darüber  aburteilenden  Volksversammlung  den 
Vorsitz  und  widerstand  der  tobenden  Volksmenge,  die 
gegen  das  Gesetz  in  einer  Abstimmung  über  sämtliche 
Feldherm  die  Todesstrafe  verhängen  wollte  (I.  1,  17  f.; 
IV.  4,  2).  Ebenso  leistete  er  zur  Zeit  der  30  Tyrannen 
(404)  mehreren  ungesetzlichen  Befehlen  dieser  Machthaber 
mit  äufserster  Gefahr  für  sein  Leben  Widerstand  (I.  2,  31  ff.; 
IV.  4,  3).  Noch  Horaz  schweben  in  seiner  Lobpreisung 
des  charakterfesten  Gerechten,  den  weder  die  Schmähliches 
fordernde  Bürgerwut,  noch  das  Antlitz  des  dräuenden 
Tyrannen  erschüttert  (Oden  IJL  3),  diese  glänzenden  Er- 
weisungen seiner  charaktervollen  Tugend  vor.  Wie  er 
schliefslich  noch  in  seinem  Prozesse  und  in  seinem  Tode 
Gerechtigkeit  und  Tapferkeit  übt,  wird  noch  zur  Sprache 
kommen. 

Vor    allem    aber    ist    er    in    der    Enthaltsamkeit, 


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408     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Abhärtung  und  Bedürfnislosigkeit  einleuchtendes 
und  für  die  ganze  Folgezeit  eindrucksvolles  Vorbild.  Er 
kam  mit  seinem  überaus  geringen  Einkommen  sehr  leicht 
aus  (I.  2,  1).  Ein  so  geringes  Mafs  von  Arbeit  erscheint 
Xenophon  nicht  denkbar,  dafs  dessen  Ertrag  nicht  aus- 
gereicht hatte,  um  seine  Bedürftiisse  zu  bestreiten  (I.  3,  5), 
und  Antiphon  meint,  bei  der  Kost  des  Sokrates  würde  jeder 
Sklave  seinem  Herrn  entlaufen  (I.  6,  2).  Hunger  und  Durst 
waren  die  Würze  bei  den  geringwertigen  Speisen  und  Ge- 
tränken, mit  denen  er  für  gewöhnlich  seinen  Lebensunterhalt 
bestritt  (I.  3,  5;  6,  5).  Schuhe  trägt  er  nicht  und  statt 
der  aufser  dem  Hause  üblichen  drei  Kleidungsstücke  be- 
gnügt er  sich  mit  dem  auf  blofsem  Leibe  getragenen  Unter- 
chiton und  einem  schäbigen  Mantel  (L  6,  2).  Auch  hält  er 
es  für  überflüssig,  diese  überaus  einfache  Kleidung  dem 
Wechsel  der  Temperatur  anzupassen,  für  den  er  eben 
unempfindlich  ist  (L  6,  6 ;  2,  5).  Bei  Gastmählern  vermeidet 
er  jedes  Übermafs  in  Speise  und  Trank  (I.  3,  6);  gegen 
den  Geschlechtsgenufs  ist  er  vollständig  gefeit  (I.  3,  14). 
Alle  diese  Entsagungen  übt  er  aber  nicht  im  Sinne  einer 
trübseligen  Askese,  die  darauf  ausgeht,  den  Körper  mög- 
lichst herunterzubringen.  Er  verfolgt  diese  Lebensweise  als 
die  gesundeste  und  zuträglichste  (I.  6,  5)  und  unterläfst  es 
nicht,  sich  die  zur  Verarbeitung  der  Speisen  erforderliche 
Bewegung  zu  machen  (L  2,  4).  Ja,  in  Xenophons  Gastmahl 
(2,  16  flf.)  bekennt  er  sich  dazu ,  dafs  er  sich  zu  Hause  der 
Tanzbewegungen  als  der  für  die  gleichmäfsige  Inanspruch- 
nahme aller  Körperteile  zweckmäfsigsten  Form  der  Leibes- 
übung zu  diesem  Zwecke  bedient,  und  einer  seiner  Freunde 
bestätigt,  dafs  er  ihn  einst  beim  einsamen  Tanzen  angetroffen 
hat.  Er  hat  anfangs  geglaubt,  Sokrates  sei  von  Sinnen 
gekommen,  hat  dann  aber,  von  diesem  belehrt,  selbst  an- 
gefangen, sich  wenigstens  der  „Freiübungen*'  zum  gleichen 
Zwecke  zu  bedienen. 

Ebenso  versteht  er  sich  aber  auch  in  vorbildlicher  Weise 
auf  die  dem  leitenden  Manne  notwendigen  Kenntnisse  und 
Fertigkeiten  (IV.  7),  und  seine  immer  rege  Spannkraft  und 
Tatkraft  hat   ihre  Quelle   in    seiner  mäfsigen  Lebensweise 


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B.    1.  Sokrates  (469—399).  409 

(IV.  5,  1).  Seine  Kunst  in  der  Führung  der  überzeugenden 
Rede  ferner  ist  über  alles  Lob  erhaben  (IV.  6,  13-15). 

Sokrates  betätigte  nun  diese  vorbildlichen  Eigenschaften 
nicht  in  eigener  politischer  Tätigkeit.  Noch  weniger  ist  er 
darüber  aus,  als  Hauswirt  ein  Vorbild  zu  geben  oder  auf 
den  Sondergebieten  öffentlichen  Wirkens  (als  Feldherr, 
Richter  oder  Politiker  im  engeren  Sinne)  vorbildlich  zu 
wirken.  Das  hatte  aber  seinen  guten  Grund  in  der  be- 
sonderen Lebensaufgabe,  die  er  sich  vorgesetzt  hatte.  Hoch- 
bedeutsam ist  in  dieser  Beziehung  die  Antwort,  die  er  auf 
den  Vorwurf  Antiphons  erteilt,  er  müsse  sich  doch  wohl 
nicht  auf  die  Staatsgeschäfte  verstehen,  da  er  sich  nie  daran 
beteilige ;  er  könne  also  auch  in  dieser  Beziehung  unmöglich 
bildend  wirken.  Sokrates  antwortet  mit  der  Gegenfrage, 
ob  er  nicht  die  Staatsgeschäfte  besser  betreibe,  wenn  er 
recht  viele  dazu  tüchtig  mache,  als  wenn  er  selbst  als 
einzelner  daran  teilnehme  (I.  6,  15). 

Mit  dem  Vorbilde  aber  verbindet  sich  sodann  das  direkte 
und  eigentliche  Erzieherwerk. 

In  bezug  auf  die  Reihenfolge  der  durch  dasselbe  zu 
erweckenden  Eigenschaften  hatte  Sokrates  in  der  ersten 
Zeit  seines  Wirkens  mit  Alcibiades  und  Kritias  üble  Er- 
fahrungen gemacht.  Diese  beiden  jungen  Männer,  von 
brennendem  Ehrgeiz  nach  einer  hervorragenden  Rolle  im 
Staate,  wie  er  eben  war,  erfüllt,  suchten  sich  vornehmlich 
die  allgemein  bildende  Einwirkung  des  sokrätischen  Verkehrs 
zu  nutze  zu  machen,  während  die  sittliche  Seite  seines 
Erziehungsplanes  ihnen  überflüssig  und  sogar  lästig  erschien, 
und  Sokrates  war  damals  dieser  Art  der  Ausnutzung  nicht 
entschieden  genug  entgegengetreten  (I.  2,  17).  Und  so  war 
an  diesen  beiden  hochbegabten  Zöglingen  sein  Erziehungs- 
werk im  wesentlichen  gescheitert.  Sokrates  liefs  sich  das 
zur  Lehre  dienen.  Im  späteren  Verlaufe  seiner  Erziehungs- 
tätigkeit stellte  er  die  Ausbildung  der  sittlichen  Eigen- 
schaften voran  und  ging  nicht  eher  zu  den  Kenntnissen 
und  Fertigkeiten,  zur  Tüchtigkeit  im  Reden  und  Handeln 
über,  als  bis  jener  für  sein  Vorhaben  ausschlaggebender 
Punkt  gesichert  war  (IV.  3,  1). 


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410     Zweite  Periode.    £rste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Seine  sittliche  Erziehung  aber  besteht  nicht  in  einem 
blofsen  Ermahnen  und  Predigen.  Das  richtige  Verhalten 
soll  bei  seinen  Zöglingen  durchaus  aus  deutlicher  Erkenntnis 
entspringen;  die  Tugend  soll,  wie  auch  das  sonstige  zweck- 
gemäfse  Verhalten,  intellektualistisch  begründet  sein.  Er 
will  zu  einer  philosophisch  begründeten  Tugend  anleiten. 

Dieses  Wissen  ist  nun  in  erster  Linie  ein  Wissen  um 
den  Inhalt  des  Geforderten.  Dies  ist  die  erste  Vorbedingung 
des  richtigen  Verhaltens  (III.  9,  5;  IV.  6).  Ja,  er  zeigt, 
dafs  derjenige  auf  einer  höheren  Stufe  steht,  der  mit  voller 
Erkenntnis  des  Richtigen  unsittlich  handelt,  als  wer  dies 
ohne  solches  Wissen  tut  (IV.  2,  19  flF.).  Der  zweite  Punkt 
dieser  Erkenntnis  ist  sodann,  dafs  ein  solches  Verhalten  für 
eine  wahrhaft  erfolgreiche  Ausübung  der  Herrschertätigkeit 
unumgänglich  ist.  Weise  im  vollen  Sinne  ist  nicht  der- 
jenige, der  nur  das  sittlich  Richtige  kennt,  sondern  der  es 
auch  ausübt,  nachdem  er  erkannt  hat,  dafs  er  so  allein  seine 
Zwecke  fördern  kann  (III.  9,  4). 

In  diesem  Sinne  nun  leitete  Sokrates  zunächst  zur 
Gottesfurcht  an.  Es  sind  zwei  seiner  auf  diesen  Punkt 
gerichteten  Lehrgänge  erhalten  (I.  4  und  IV.  3).  Beide 
Beweisführungen  gehen  aus  von  der  zweckvollen  Einrichtung 
der  Welt  vornehmlich  im  Interesse  des  Menschen,  die  auf 
einen  weisen  und  menschenliebenden  Urheber  schliefsen  läfst. 
Das  Verhältnis  der  Einheit  des  Göttlichen  zur  Vielheit  der 
Götter  des  Volksglaubens  bleibt  hierbei  in  einer  gewissen 
Schwebe,  obgleich  doch  der  Einheitsgedanke  überwiegt. 
Dann  wird  der  Übergang  zur  speziellen  Vorsehung  gemacht, 
zu  denjenigen  Gunsterweisungen ,  die  man  sich  nur  durch 
der  Gottheit  geleistete  Dienste  sichern  kann.  Zwar  ist  die 
Gottheit  bedürfnislos,  aber  sie  verlangt  doch  als  Bedingung 
solcher  Gnadenerweisungen  nicht  nur  die  Gesinnung,  sondern 
auch  die  äufsere  Handlung,  wenngleich  sie  hierin  nicht 
peinlich  auf  bestimmten  Kultushandlungen  besteht.  Der 
Mensch  erlangt  aber  nicht  allein  durch  solche  Kultus- 
handlungen die  Gnade  der  Götter.  Da  die  Götter  das  Gute 
billigen  und  das  Böse  mifsbilligen  und  da  nicht  nur  unsere 
Reden   und  Handlungen,  sondern  auch  unsere  heimlichsten 


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B.    1.  Sokrates  (469—399).  4H 

Gedanken  in  den  Bereich  ihres  Wissens  fallen  (I.  1,  19),  so 
ist  die  Grottesfurcht  auch  ein  wirksames  Hilfsmittel  zur 
Förderung  der  übrigen  sittlichen  Tugenden  und  umgekehrt 
das  sittliche  Verhalten  eine  Form  des  Gottesdienstes,  durch 
die  wir  uns  die  Gnade  der  Götter  erwerben. 

So  zeigt  Sokrates  die  wahre  Frömmigkeit  als  das 
richtige  Verhalten  gegen  die  Gottheit  und  ebenso  be- 
handelt er  die  Gerechtigkeit  und  Tapferkeit  als  das 
richtige  Verhalten  gegen  die  Menschen  und  gegen  Gefahren 
(IV.  6,  2—6,  10  f.).  Auch  vor  seinen  Schtllem  wird  er  die 
wahre  Inhaltsbestimmung  dieser  Tugenden  aus  den  Erforder- 
nissen der  wahren  Herrscherkunst  abgeleitet  haben.  Und 
nicht  anders  verfährt  er  auch  bei  der  Enthaltsamkeit 
(IL  1,  1 — 5).  Diese  freilich  hat  eine  mehrfache  Bedeutung 
für  die  wahre  Herrschematur.  Nicht  nur  direkt  und  un- 
mittelbar als  Sicherstellung  der  gemeinnützigen  Richtung 
seines  Wirkens  und  des  Vertrauens  der  Geleiteten  bedarf 
er  ihrer,  sondern  auch  indirekt  für  die  untergeordneten 
Eigenschaften  der  Spannkraft  des  Wirkens,  sowie  zum  Er- 
werb und  zur  Betätigung  aller  der  Fähigkeiten,  die  den 
tüchtigen  Mann  ausmachen  (I.  5,  4  f. ;  IV.  5)  und  nicht 
minder  zur  Herstellung  des  Freundschaftsbandes,  ohne  das 
dies  ganze  ideale  Wirken  nicht  zu  denken  ist  (I.  5,  4;  6, 
9;  IL  6). 

Ganz  ebenso  verfährt  Sokrates  seinen  jungen  Freunden 
gegenüber  hinsichtlich  der  ganzen  zweiten  Gruppe  der 
Erfordernisse,  der  Kenntnisse  und  Fertigkeiten,  der 
Spannkraft  und  Bedefertigkeit.  Er  zeigt  ihnen,  dafs  Mafs 
und  Art  des  Könnens  auch  hier  vollständig  von  dem  zur 
wahren  Herrscherkunst  Erforderlichen  abhängig  ist;  diese 
bildet  auch  hier  den  letzten  Bichtpunkt  in  seinem  ganzen 
Bildungssystem  (IV.  7 ;  III.  3,  10  f.).  Auch  die  Kenntnisse 
und  Fertigkeiten  lehrt  er  teilweise  selbst;  soweit  jedoch 
nötig,  überweist  er  seine  Zöglinge  an  andere  geeignete 
Lehrer  (IV.  7,  1).  Und  ebenso  verfährt  er  hinsichtlich 
der  zu  den  besonderen  öffentlichen  Diensten 
(Feldherr  u.  s.  w.)  erforderlichen  Vorkenntnisse  (IIL  1). 

Wie  die  richtige  Abgrenzung  des  Erforderlichen  gegen 


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412     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

das  Überflüssige  sich  aus  dem  Blick  auf  die  Herrscher- 
tüchtigkeit ergibt,  so  folgt  aus  dieser  einheitlichen  Bezug- 
nahme auch  die  Unentbehrlichkeit  aller  dieser  Eigenschaften 
für  den»  der  den  letzten  Zweck,  die  Tüchtigkeit  im  Dienste 
eines  gröfseren  Ganzen,  will.  Wie  Sokrates  aber  diesen 
Willen  selbst  zu  gemeinnützigem  Dienste  eines  gröfseren 
Ganzen  begründete,  das  haben  wif  gesehen,  und  nicht  anders 
wird  er  auch  bei  seinem  Erzieherwerk  hinsichtlich  dieses 
Punktes  verfahren  sein. 

Er  hat  aber  offenbar  diese  ganze  Summe  von  Einzel- 
belehrungen, wenn  auch  äufserlich  nicht  in  der  systema- 
tischen Geschlossenheit  eines  Lehrkursus ,  sondern  in  der 
zwanglosen  Weise  des  an  Anlässe  und  Gelegenheiten  an- 
knüpfenden freundschaftlichen  Zwiegesprächs,  inhaltlich  und 
dem  Wesen  nach  stets  in  einem  grofsen,  zweckbewufsten 
Zusammenhange  gedacht  und  gehandhabt.  Die  Befähigung 
Xenophons  reicht  nicht  aus,  um  uns  diesen  Zusammenhang 
mit  voller  Deutlichkeit  vor  Augen  zu  führen.  Vielleicht 
hat  er  auch,  gemäfs  dem  auf  Leser  von  engem  Gesichts- 
kreise berechneten  Verteidigungszwecke  seiner  Schrift, 
manches  absichtlich  verschwiegen.  Dennoch  finden  wir  bei 
ihm  an  einer  Stelle  (I.  1,  16)  eine  umfassende  Aufzählung 
der  ständigen  Themata  des  Sokrates,  die  uns  einen  tieferen 
Blick  in  diesen  grofsen  Zusammenhang  seiner  Belehrungen 
eröffnen.  Es  handelt  sich  da  um  die  Summe  der  Einsichten, 
die  den  „Schönen  und  Guten"  im  Sinne  des  Sokrates  aus- 
machen, durch  die  er  sich  von  dem  in  schmählicher  Un- 
wissenheit und  Gedankenlosigkeit  verharrenden  „Sklaven- 
mäfsigen"  unterscheidet.  Xenophon  erklärt  selbst  sein  Ver- 
zeichnis für  unvollständig.  Trotzdem  aber  wird  hier  erkennbar, 
dafs  die  Belehrungen  des  Sokrates  in  einem  gröfseren  Zu- 
sammenhange gedacht  waren,  als  sonst  bei  Xenophon  er- 
kennbar. 

Im  Gegensatze  gegen  die  Forschungen  der  Naturphilo- 
sophen werden  hier  die  bei  Sokrates  in  Betracht  kommenden 
Erkenntnisse  zusammenfassend  als  die  „das  Menschenleben 
betreffenden",  d.  h.  doch  wohl  di^e  für  das  menschliche 
Gemeinschaftsleben  bedeutsamen,  bezeichnet  (so  auch  1. 2, 18). 


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B.    1.   Sokrates  (469—399).  413 

Sie  zerfallen  in  drei  Gruppen,  von  denen  wir  die  dritte  als 
die  umfassendste  voranstellen  müssen.  Sokrates  legte  dar, 
„was  Herrschaft  über  Menschen,  was  ein  zur  Herrschaft 
über  Menschen  Befähigter"  ist.  Hier  ist  der  doppelte  Fall 
der  Leitung  im  Hauswesen  und  im  Staate  zur  Einheit  zu- 
sammen gefaf  st.  Wenn  Sokrates  über  Herrschaft  redete,  so 
verstand  er  darunter  natürlich  die  wahre  Herrschaft.  Die 
wahre  Herrschaft  bezweckt  ausschliefslich  das  Wohlbefinden 
der  Geleiteten.  Erklärt  doch  Sokrates  sogar  beim  Feldherm 
die  Glückseligkeit  der  angeführten  Truppe  für  das  Gesamt- 
ziel seines  Wirkens  (III.  2).  Aufser  dem  wahren  Zwecke 
der  Herrschaft  wird  er  bei  diesem  Begriffe  auch  von  den 
wahren  Hilfsmitteln  zur  Erreichung  desselben  gehandelt 
haben.  Die  gewaltsamen  Mittel  des  erleuchteten  Despotis- 
mus sind  nach  Lage  der  Sache  für  ihn  ausgeschlossen.  Die 
zu  Gebote  stehenden  Mittel  sind  der  durch  Vertrauen  und 
Überredung  erzeugte  freiwillige  Gehorsam  der  Untergebenen. 
Dies  führt  dann  auf  die  notwendigen  Eigenschaften  des 
wahrhaft  „zur  Herrschaft  Befähigten":  das  Wollen  des 
Heilsamen,  die  sittlichen  Eigenschaften,  natürliche  Tüchtig- 
keit und  erworbener  Besitz  der  erforderlichen  Fähigkeiten 
einschliefslich  der  Tatkraft  und  Redefertigkeit,  kurz  die 
Summe  der  Eigenschaften,  die  zur  idealen  leitenden  Tätig- 
keit erforderlich  sind  und  den  „Schönen  und  Guten"  im 
sokratischen  Sinne  ausmachen. 

Die  zweite  Gruppe  dieser  ständigen  Themata  wird 
durch  die  Worte  bezeichnet :  was  ein  Staat,  was  ein  Staats- 
mann sei.  Hier  also  die  Anwendung  auf  das  wichtigere  der 
beiden  Gebiete  der  Herrschertätigkeit.  Der  Staat  ist  der 
wahre  Staat,  derjenige,  in  dem  die  Ausübung  der  wahren 
Herrschaft  möglich  ist.  Sokrates  hat  offenbar  die  ver- 
schiedenen Staatsformen  nach  den  ihnen  gegebenen  Möglich- 
keiten wahren  Herrsch  er  wirkens  gegeneinander  abgewogen. 
Wir  hören  (IV.  6,  12),  dafs  er  die  verschiedenen  Staats- 
formen scharf  definierte.  Königtum  ist  die  Herrschaft  eines 
einzigen,  die  auf  freiwilligem  Gehorsam  der  Bürger  beruht 
und  sich  an  Gesetze  bindet;  Tyrannis  dasselbe  ohne  diese 
beiden  Merkmale;  Aristokratie  ist  diejenige  Verfassung,  bei 


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414     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

der  die  Staatsleiter  ausschliefslich  aus  einer  engeren  Gruppe 
der  Staatsangehörigen  entnommen  werden,  aus  denen,  die 
den  vollen  Anteil  an  den  Staatslasten  und  Staatsleistungen 
zu  tragen  haben;  Plutokratie  diejenige,  wo  dies  Vorrecht 
nur  der  höchsten  Yermögensklasse  zukommt;  Demokratie 
diejenige,  in  der  eine  solche  Schranke  nicht  existiert.  £s 
kann  schon  nach  den  früher  beigebrachten  Äufserungen  des 
Sokrates  gegen  die  Anmafsung  der  Reichen  und  Mächtigen 
und  nach  seiner  ganz  von  der  äufseren  Stellung  absehenden 
Bestimmung  des  „Schönen  und  Guten"  wohl  nicht  zweifel- 
haft sein,  dafs  er  sich  unter  diesen  Yerfassungsformen  fQr 
die  Demokratie  als  die  seinen  Beformgedanken  am  meisten 
entsprechende  entschieden  hat.  Er  ist  kein  Bevolutionär ; 
seine  Beformpläne  sind  den  Zuständen  der  Vaterstadt  an- 
gepafst.  Nur  da,  wo  die  leitenden  Stellen  allen  zugänglich 
sind,  ist  die  Möglichkeit,  die  Besten  und  Würdigsten  an  die 
Spitze  zu  bringen,  in  uneingeschränktem  Mafse  vorhanden. 
Jede  vorab  eintretende  Einschränkung  der  Berechtigung  zu 
den  leitenden  Stellungen  nach  äufseren  Gesichtspunkten 
schränkt  diese  Möglichkeit  rn  unheilvoller  Weise  ein.  Ver- 
werflich erscheint  ihm  in  der  Demokratie  nur  die  Besetzung 
der  leitenden  Stellen  durch  den  Zufall  des  Loses. 

Die  dritte  Gruppe  dieser  Themata  umfafst  die  dem 
leitenden  Manne  unentbehrlichen  sittlichen  Eigenschaften 
und  ihre  Gegensätze  insbesondere.  Der  Sophrosyne  als  der 
Gesamttugend  wird. hier,  gemäfs  dem  buchstäblichen  Sinne 
von  Sophrosyne,  die  Verrücktheit  entgegengesetzt,  ein  Beweis, 
dafs  er  mit  der  begriflFlichen  Feststellung  der  Tugenden  zu- 
gleich den  Nachweis  ihres  Glückseligkeitswertes  und  ihrer 
Unentbehrlichkeit  verband.  Es  schliefsen  sich  an  die  Spezial- 
tugenden:  Frömmigkeit,  Gerechtigkeit  und  Tapferkeit  nebst 
ihren  Gegenteilen.  Unter  dem  ferner  hier  aufgeführten 
Gegensatz  des  „Schönen"  und  „Häfslichen"  steckt  vielleicht 
die  Enthaltsamkeit  und  ihr  Gegenteil.  Die  sonstigen  Herrscher- 
eigenschaften werden  hier  nicht  berührt;  eine  Hindeutung 
auf  sie  liegt  jedoch  unzweifelhaft  in  den  „anderen  Dingen", 
auf  die  sich  aufserdem  der  „Schöne  und  Gute"  verstehen 
müsse. 


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B.    1.  Sokrates  (469-^99).  415 

So  gerichtet  war  das  Wirken  des  Sokrates.  Einen 
durchschlagenden  Erfolg  für  Reform  der  athenischen  Zu- 
stände in  seinem  Sinne  hat  er  nicht  erreicht.  Die  wenigen 
Mustersokratiker,  die  Xenophon  (I.  2,  48)  aufzählt,  und 
denen  er  das  Zeugnis  gibt,  dafs  sie  in  Haus,  Staat  und 
Freundschaft  seinen  Forderungen  nachstrebten,  waren  nicht 
bedeutend  genug,  um  die  von  ihm  erstrebte  Reform  durch- 
ffUiren  zu  können.  Die  bedeutenderen  Schüler  aus  dem 
letzten  Jahrzehnt  seines  Wirkens,  ein  Aristipp,  Anti- 
sthenes,  Xenophon,  gingen  ihre  eigenen  Wege,  Eu- 
klides  von  Megara  war  nicht  Athener ;  Plato  hat,  wie 
wir  sehen  werden,  eine  Zeitlang  vergeblich  versucht,  das 
Reform  Aerk  des  Sokrates  fortzuführen.  Höchst  ungünstig 
für  seine  Absichten  mufsten  die  Aufregungen  und  der  für 
Athen  sich  immer  ungünstiger  gestaltende  Verlauf  des 
peloponnesischen  Krieges  wirken.  Dazu  kam,  dafs  schon 
um  412  einmal  längere  Zeit  die  demokratische  Verfassung 
durch  die  Herrschaft  des  Rates  der  400  ersetzt  worden  war 
und  dafs  nach  der  völligen  Niederwerfung  Athens  404  die 
Herrschaft  der  30  Tyrannen  eingesetzt  wurde.  Eine  be- 
sondere Ironie  des  Schicksals  aber  liegt  darin,  dafs  nicht, 
wie  zu  befürchten  stand,  die  feindselige  Haltung  der 
Häupter  dieser  Machthaber  seinen  Untergang  herbeiführte, 
sondern  dafs  die  403  wiederhergestellte  Demokratie  ihm  das 
Verderben  bereitete.  An  sich  hätte  diese  ja  auf  den  Ge- 
danken kommen  können,  es  in  dem  damals,  wie  stets  nach 
einem  unglücklichen  Kriege,  vorhandenen  Streben  nach  Er- 
neuerung und  Gesundung  der  öffentlichen  Zustände  einmal 
mit  dem  Systeme  des  Sokrates  zu  versuchen.  Unglück- 
licherweise aber  fehlte  es  den  Führern  der  Bewegung  gegen 
die  Tyrannen  an  dieser  Weite  des  Blickes.  Sie  strebten 
nach  Erneuerung  der  altväterlichen  Zustände  aus  der  glor- 
reichen Zeit  der  Marathonkämpfer  und  glaubten,  die  ganze 
inzwischen  stattgefundene  Bewegung  der  Geister  ignorieren 
und  ausstreichen  zu  können.  Die  neue  Demokratie  von  403 
war  wesentlich  reaktionär. 

Über  die  besonderen  Umstände,  durch  die  diese  Geistes- 
richtung  für   Sokrates  sogar   direkt  verderblich  geworden 


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416     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

ist,  fehlt  es  ganz  an  Nachrichten.  Derjenige  Vertreter  dieser 
Bichtung,  von  dem  die  Anklage  gegen  Sokrates  im  Jahre 
399  ausgegangen  ist,  war  der  reiche  Besitzer  einer  (mit 
Sklaven  betriebenen)  Gerberei,  An y tos.  Von  den  beiden 
anderen  Anklägern  des  Sokrates  nämlich:  Meletos,  einem 
unbedeutenden  Tragödiendichter  (Schol.  zu  Plat.  Apol.  183 
und  23 E),  und  Lykon,  einem  Bhetor  (Plat  Apol.  23 E), 
tritt  der  letztere  in  dem  Prozesse  gar  nicht  hervor  und  ist 
auch  sonst  unbekannt,  der  erstere  aber  war  offenbar  nur 
der  Wortführer  der  Anklage  und  das  Werkzeug  des  Anytos, 
der  ihn  für  seine  Dienstleistung  bezahlte  (Schol.  zu  Apol. 
18 B).  Über  diesen  Anytos  nun  ist  bekannt,  dafs  er  in 
hervorragendem  Mafse  an  dem  Werke  Thrasybuls,  der 
Vertreibung  der  30  Tyrannen,  mitgewirkt  und  in  der  er- 
neuerten Demokratie  in  grofsem  Ansehen  gestanden  und 
bedeutende  Staatsämter  bekleidet  hat  (Z.  192,  6).  Seine 
Stellung  zu  der  Frage  der  Ausbildung  der  leitenden  Per- 
sönlichkeiten wird  in  Piatos  Menon  (verfafst  395)  in  einer 
unzweifelhaft  dem  wirklichen  Sachverhalt  entsprechenden 
Weise  scharf  beleuchtet.  Hier  richtet  Sokrates  an  ihn  die 
Frage,  welchen  Lehrern  man  wohl  den  jungen  Menon  zu- 
weisen könne,  der  sich  in  derjenigen  Weisheit  und  Tugend 
auszubilden  wünsche,  vermöge  deren  man  seine  häuslichen 
und  staatlichen  Angelegenheiten  gut  verwalten  könne. 
Gegenüber  diesem  unverkennbaren  Hinweis  auf  die  modernen 
Bestrebungen  erklärt  Anytos,  er  dulde  bei  keinem  seiner 
Angehörigen,  Verwandten  oder  Freunde  den  Verkehr  mit 
den  Sophisten ,  die  die  offenbaren  Verderber  der  mit  ihnen 
Umgehenden  seien.  Sokrates  weist  demgegenüber  auf  die 
40jährige  erfolgreiche  Tätigkeit  des  Protagoras  hin,  bei 
dem  doch  in  einem  so  langen  Zeitraum  etwaige  unheilvolle 
Wirkungen  seines  Tuns  deutlich  zu  Tage  getreten  sein 
müfsten.  Anytos  aber  bleibt  bei  seiner  Überzeugung.  Seiner 
Ansicht  nach  müfsten  derartige  Lehrer,  einerlei  ob  Fremde 
oder  Bürger,  von  Staats  wegen  ausgewiesen  werden.  Die 
einzig  richtige  Ausbildung  zu  einer  leitenden  Stellung  sei 
die,  die  man  nach  altvaterischer  Weise  von  Seiten  der 
„schönen  und  guten"  Bürger  empfange,  d.  h.  jene  Über- 


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B.    1.  Sokrates  (469-399).  417 

lieferung  der  Regierungskunst  durch  das  Beispiel  und  Vor- 
bild der  regierenden  Männer  selbst  an  das  heranwachsende 
Geschlecht.  Und  als  nun  Sokrates  gegen  diese  Methode 
aus  der  guten  alten  Zeit  geltend  macht,  dafs  doch  ein 
Themistokles ,  Aristides,  Perikles  und  andere  nicht  einmal 
ihre  eigenen  Söhne,  obgleich  um  ihre  Ausbildung  eifrig 
besorgt,  zu  tüchtigen  Staatsmännern  hätten  heranbilden 
können,  da  beschuldigt  er  diesen  der  üblen  Nachrede  gegen 
diese  Männer  und  knüpft  daran  die  drohende  Andeutung, 
dafs  es  in  Athen  nicht  schwer  sei,  jemanden  zu  verderben 
(91—94).  Hier  ist  deutlich,  dafs  Plato  die  Denkweise  des 
Anytos,  die  zu  seinem  Vorgehen  gegen  Sokrates  geführt 
hatte,  noch  nachträglich  hat  kennzeichnen  wollen,  und  dafs 
diese  Denkweise  in  einer  völlig  altväterlichen  fanatischen, 
Verwerfung  dessen  besteht,  was  Sokrates  mit  den  älteren 
Sophisten  gemeinsam  war.  Zum  Überflufs  läfst  er  noch 
nachträglich  Sokrates  die  Verstimmung  des  Anytos  durch 
die  Herabwürdigung  jener  Mustermänner  der  guten  alten 
demokratischen  Zeit  erklären,  durch  die  er  sich  selbst 
mit  getroffen  fühle  (95 A).  Und  sehr  bezeichnend  für 
Anytos  als  den  Urheber  der  Anklage  gegen  Sokrates  ist 
der  fernere  Zusatz,  er  werde  auch  schon  selbst  noch  er- 
fahren, was  —  direkt  und  wirklich,  nicht  in  einer  so  ab- 
geschwächten Form,  wie  er  sie  Sokrates  verüble  —  üble 
Nachrede  sei.  Wenn  spätere  Quellen  (D.  L.  IL  38;  Schol. 
zu  PL  Apol.  18  B)  von  einem  persönlichen  Hafs  des  Anytos 
gegen  Sokrates  reden,  weil  dieser  ihn  wegen  seines  Gewerbes 
verspottet  habe,  so  ist  das  ein  überflüssiger  Erklärungs- 
grund. Auch  weifs  davon  Plato  nichts.  Völlig  haltlos 
vollends  ist  die  Erzählung  in  der  angeblich  xenophontischen 
„Verteidigung  des  Sokrates"  (29  ff.) ,  dieser  habe  unmittel- 
bar nach  seiner  Verurteilung  den  tödlichen  Hafs  des  Anytos 
darauf  zurückgeführt,  dafs  Sokrates  Anytos  getadelt  habe, 
weil  er  seinen  begabten  Sohn  zwinge,  beim  Gewerbe  des 
Vaters  zu  bleiben.  Der  wirkliche  Gegensatz  ist  gar  nicht 
Handwerk  oder  Wissenschaft,  sondern  Vorbildung  für  die 
staatsmännische  Tätigkeit  in  der  hergebrachten  rein  prak- 
tischen Weise  oder  durch  Philosophie.    Vollends  absurd  ist 

Döring.   I.  27 


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418     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

es,  wenn  dieser  Bericht  den  Sokrates  im  Angesichte  des 
Todes  weissagen  läfst,  der  Sohn  werde  wegen  dieser  Ver- 
gewaltigung einem  schimpflichen  Laster  zum  Opfer  fallen, 
was  sich  dann  in  der  Weise  bewahrheitet  habe,  dafs  jener 
ein  Trunkenbold  geworden. 

Die  Anklage,  die  ausdrücklich  als  von  Meletos  ein- 
gereicht bezeichnet  wird  (so  auch  Mem.  IV.  4,  4;  8,  3), 
lautete  dahin,  Sokrates  verwerfe  die  staatlich  anerkannten 
Götter  und  führe  andere,  neue  Götterwesen  ein.  Femer 
verderbe  er  die  Jugend.  Strafantrag:  der  Tod  (D.  L.  IL 
40;  Xen.  Mem.  L  1,  1).  In  welcher  Weise  der  erste 
Anklagepunkt  begründet  wurde,  ist  völlig  unbekannt.  Nur 
vermutungsweise  nimmt  Xenophon  an,  mit  den  „neuen 
Götterwesen"  (daimönia)  sei  die  durch  ein  vages  Gerücht 
zu  einer  besonderen  Gottheit  aufgebauschte  Götterstimme 
des  Sokrates,  sein  Daimonion,  gemeint.  Da  Sokrates  sich 
nach  Xenophons  nachdrücklichem  Zeugnis  in  bezug  auf  alle 
gottesdienstlichen  Gebräuche  völlig  korrekt  verhielt,  so  mag 
Xenophon  mit  seiner  Vermutung  wohl  das  Rechte  getroffen 
haben.  Doch  könnte  möglicherweise  auch  ein  Nachhall  der 
Verquickung  mit  den  Naturphilosophen  oder  selbst  eine 
Bezugnahme  auf  die  wirklichen  religiösen  Ansichten  des 
Sokrates  vorliegen.  Auch  in  bezug  auf  den  Jugendverderb 
kennt  Xenophon  zunächst  die  Begründung  nicht,  und  erst 
nachträglich  führt  er  fünf  Punkte  an,  die  zur  Begründung 
dieser  Anklage  vorgebracht  worden  seien.  Es  ist  nun 
nachgewiesen,  dafs  diese  aus  einer  nachträglichen,  frühe- 
stens 393  veröffentlichten  Rechtfertigungsschrift  der  Anklage 
entnommen  sind,  die  auf  Veranlassung  des  Anytos  ein 
Sophist,  namens  Polykrates,  verfafste,  und  in  der  Anytos 
als  der  Redende  eingeführt  wurde  (D.  L.  IL  38  f.).  Von 
den  fünf  in  dieser  Schrift  vorkommenden  Begründungen 
wurde  nun  die  Erziehung  des  Alcibiades  und  Kritias  durch 
Sokrates,  nach  sicheren  Zeugnissen  (Isokrat.  Bus.  c.  2; 
Liban.  Apol.  Sokr.)  erst  von  Polykrates  vorgebracht.  Zur 
Zeit  der  wirklichen  Anklage  waren  diese  um  ein  Menschen- 
alter zurückliegenden  Vorgänge  unberührt  geblieben.  Die 
übrigen  vier  Gründe  aber  können  möglicherweise  auch  schon 


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B.    1.   Sokrates  (469—399).  419 

bei  der  wirklichen  Anklage  vorgebracht  worden  sein  und 
verdienen  daher,  angeführt  zu  werden.  1.  Durch  seine 
Kritik  der  Archontenauswahl  durchs  Los  verleite  er  seine 
Schüler  zur  Verachtung  der  bestehenden  Gesetze  und  flöfse 
ihnen  Neigung  zu  gewalttätigem  Vorgehen  im  Staate  ein. 
Xenophon  vermag  diesen  Punkt  nicht  unbedingt  zu  ent- 
kräften (I.  2,  9—11).  2.  Er  bringe  ihnen  die  Meinung  bei, 
dafs  sie  durch  ihn  einsichtsvoller  würden  als  ihre  Väter. 
Und  da  nun  nach  Sokrates'  Lehre  der  Törichte  ein  Ver- 
rückter sei,  der  Verrückte  aber  durch  den  geistig  Normalen 
gefesselt  werden  dürfe,  so  müfsten  nach  seinen  Voraus- 
setzungen die  von  ihm  unterrichteten  Söhne  auch  das  Recht 
haben,  ihre  Väter  zu  fesseln.  Es  wird  bei  diesem  Punkte 
nicht  klar,  wie  weit  hier  die  wirkliche  Argumentation  des 
Sokrates  reicht,  und  wie  weit  es  sich  um  übelwollende 
Konsequenzmacherei  handelt.  Xenophon  entkräftet  diesen 
Punkt  dadurch ,  dafs  Sokrates  die  Berechtigung  zur  Fesse- 
lung ausdrücklich  auf  die  eigentlichen  Wahnsinnigen  ein- 
geschränkt habe  (L  2,  49  f.).  3.  Er  verleite  zur  Gering- 
schätzung von  Verwandten  und  guten  Freunden,  weil  die 
blofse  wohlwollende  Gesinnung  an  sich,  d.  h.  ohne  die  Be- 
fähigung zu  wirklich  erspriefslicher  Hilfleistung,  ohne  Wert 
sei.  Xenophon  hält  dem  entgegen ,  Sokrates  habe  durch 
derartige  Ausführungen  nur  bezweckt,  in  seinen  Schülern 
selbst  das  Streben  nach  wertvollen  Eigenschaften  und  Fähig- 
keiten wachzurufen  (L  2,  51—55).  4.  Endlich  habe  Sokrates 
verwerfliche  Gesinnungen  durch  Berufung  auf  Dichterworte 
gerechtfertigt.  So  habe  er  einen  Vers  Hesiods  „Kein  Tun, 
nur  Untätigkeit  bringt  Schande**  zur  Rechtfertigung  auch 
des  unsittlichen  Verhaltens  gebraucht,  wenn  es  nur  Gewinn 
bringe.  Desgleichen  habe  er  das  Verhalten  des  Odysseus 
bei  einer  vor  Troja  ausgebrochenen  Panik,  der  die  Edlen 
mit  sanften  Worten  ermahnt,  die  Geringen  aber  mit  Schelt- 
worten und  Schlägen  zum  Stehen  bringt  (IL  2,  188  If.),  bei- 
fällig erwähnt  und  dadurch  eine  tyrannische  und  undemo- 
kratische Gesinnung  an  den  Tag  gelegt.  In  bezug  auf  die 
erste  der  beiden  Stellen  konnte  die  Entkräftung  nicht  schwer 
fallen;    bei    der    Homerstelle    nimmt    Xenophon    an,    dafs 

27* 


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420     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Sokrates  durch  das  Zitat  nur  den  Gegensatz  zwischen  dem 
innerlich  Tüchtigen  und  dem  wertvoller  Eigenschaften  Ent- 
behrenden habe  veranschaulichen  wollen  (I.  2,  56—61). 

Dies  wenige  über  die  Anklage  Bekannte  oder  zu  Ver- 
mutende macht  denn  doch  den  Eindruck,  dafs  es  sich  dabei 
vornehmlich  um  ein  Material  für  den  Geschworenenpöbel 
handelte,  dem  der  eigentliche  Gegensatz  nicht  mit  dem  ge- 
wünschten Erfolge  zum  Verständnis  zu  bringen  war.  Es 
sind  boshaft  für  die  Unmündigen  zurechtgestutzte  Lappalien, 
um  „einen  Mann  zu  verderben".  Der  eigentliche  Beweg- 
grund war,  dafs  die  ganze  neuere,  auf  eine  höhere  intellek- 
tuelle Entwicklung  abzielende  Bewegung  tödlich  getroffen 
werden  sollte.  Die  ganze  Richtung  pafste  diesen  Roman- 
tikem der  Demokratie  nicht. 

Sehr  bemerkenswerte  Nachrichten  hat  uns  Xenophon 
(IV.  8,  4 — 10)  über  das  Verhalten  des  Sokrates  in  der  Vor- 
bereitung seiner  Verteidigung  aus  dem  Munde  des  treuen 
Anhängers  Hermogenes  erhalten.  Da  Sokrates  an- 
scheinend gar  nicht  an  seine  Verteidigung  denkt,  mahnt  ihn 
jener,  darauf  Bedacht  zu  nehmen.  Sokrates:  Sein  ganzes 
Leben  sei  in  der  sorgfältigen  Festsetzung  des  Gerechten 
und  in  entsprechendem  Handeln  eine  Vorbereitung  seiner 
Verteidigung.  Hermogenes:  Dieser  ideale  Standpunkt  sei 
gegenüber  athenischen  Richtern,  die  notorisch  durch  Reden 
zu  ungerechten  Sprüchen  verleitet  zu  werden  pflegten,  übel 
angebracht.  Jetzt  kommt  Sokrates  mit  dem  wahren  und 
eigentlichen  Grunde  heraus:  Das  Daimonion  halte  ihn  von 
der  Vorbereitung  auf  die  Verteidigung  ab.  Hier  ist  nun 
ein  besonders  deutliches  Beispiel,  um  das  Wesen  dieser 
„Götterstimrae*'  zu  erkennen.  Zunächst  in  betreff  derjenigen 
Punkte,  über  die  sie  Auskunft  erteilt.  Um  die  Notwendig- 
keit einer  nachdrücklichen  Verteidigung  als  des  geeigneten 
Mittels  zum  Zwecke  der  Freisprechung  zu  erkennen,  be- 
dürfte es  keiner  höheren  Offenbarung.  Die  Entbehrlichkeit 
der  Orakel  zur  Erkenntnis  der  zweck gemäfsen  Mittel  pflegte 
Sokrates  auch  sonst  zu  betonen  (I.  1,  9).  Gewarnt  wird 
hier  vielmehr,  wie  auch  sonst  (I.  1,  8),  vor  der  Verfolgung 
des  Zweckes  selbst.    Die  Freisprechung  aber  bedeutete  das 


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B.    1.  Sokrates  (469—399).  421 

Weiterleben.  Davor  algo  warnt  die  Götterstimme,  d.  h.  der 
Zweckinstinkt.  „Du  wunderst  dich,  dars  es  dem  Gotte  (der 
Götterstimme)  besser  scheint,  wenn  ich  jetzt  mein  Leben 
endige."  Weiter  aber  zeigt  unser  Bericht,  dafs  Sokrates 
bemüht  war,  die  Richtigkeit  der  vermeintlich  übernatür- 
lichen Entscheidung  auch  durch  das  natürliche  Erkennen 
zu  bewahrheiten.  Bis  zum  gegenwärtigen  Zeitpunkte  näm- 
lich ist  ihm  die  Verfolgung  seines  nächsten  Lebensziels,  die 
Erlangung  einer  vorbildlichen  Tüchtigkeit  und  die  An- 
ziehungskraft, die  er  dadurch  auf  Gleichstrebende  übte,  in 
erwünschter  Weise  von  statten  gegangen.  Bei  längerem 
Leben  aber  würde  er  dem  Alter  seinen  Tribut  zu  zahlen 
haben.  Die  Schärfe  der  Sinne  und  der  geistigen  Fähig- 
keiten wird  abnehmen.  Selbst  wenn  sich  dieser  Rückgang 
der  eigenen  Wahrnehmung  entzöge,  würde  das  Leben  auf- 
hören, noch  lebenswert  zu  sein.  Vollends  aber,  wenn  auch 
noch  das  Bewufstsein  der  abnehmenden  Wirkungsfähigkeit 
hinzuträte.  Auch  dafs  im  vorliegenden  Falle  das  wünschens- 
werte Ziel  durch  einen  nach  landläufiger  Meinung  schimpf- 
lichen Vorgang,  die  Verurteilung,  erreicht  wird,  macht  ihn 
nicht  irre.  Er  glaubt  in  dieser  Beziehung  seine  Sache  ge- 
trost dem  Urteil  der  Nachwelt  anheimstellen  zu  können. 
Also  freiwilliger  Verzicht  auf  eine  wirksame  Verteidigung 
im  Interesse  des  Wunsches,  einer  wertlosen  Lebensphase 
tiberhoben  zu  sein!  Noch  viel  schärfer  als  in  den  „Denk- 
würdigkeiten" ist  diese  Auffassung  seines  Verhaltens  beim 
Prozesse  durchgeführt  in  der  schwerlich  von  Xenophon  ver- 
fafsten,  aber  grofsenteils  auf  seinen  Nachrichten  beruhenden 
kleinen  Schrift  „Die  Verteidigung  des  Sokrates". 

Über  die  gerichtliche  Verhandlung  selbst  besitzen  wir 
nur  ganz  wenige  authentische  Angaben.  Die  Zahl  der  Ge- 
schworenen (Heliasten)  betrug  wahrscheinlich  501  und  war 
entnommen  den  6000  durchs  Los  aus  der  Gesamtzahl  der 
über  30  Jahre  alten  Bürger  ausgewählten  Richtern.  Auch 
diese  Bildung  des  jedesmaligen  Gerichtshofes  für  den  ein- 
zelnen Fall  erfolgte  durchs  Los.  Es  war  also  ein  ganz  zu- 
fällig zusammengesetzter  Ausschufs  des  athenischen  Durch- 
■schnittsspiefsbürgertums ,  der  über  die  Sache  des  Sokrates 


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422     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.    Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

abzuurteilen  hatte.  Jeder  mitwirkende  Geschworene  erhielt 
einen  Tagelohn  von  drei  Obolen  oder  einer  halben  Drachme 
(nicht  ganz  40  Pfennige).  Die  erste  Verhandlung  betraf  die 
Schuldfrage,  die  zweite  das  Strafmafs.  In  der  ersten  Ver- 
handlung war  es  üblich,  nicht  nur  die  Anklage  zu  ent- 
kräften, sondern  auch  alles  Günstige  vorzubringen,  was  man 
sonst  irgend  für  sich  anführen  konnte.  Aufserdem  war  es 
herkömmlich,  wenn  auch,  nach  Xenophons  ausdrücklichem 
Zeugnis  (IV.  4,  4)  gesetzlich  verboten,  durch  Schmeicheleien 
und  andere  das  Selbstgefühl  kitzelnde  Mittel,  sowie  durch 
flehentliche  Anrufung  ihres  Mitleids  auf  die  Stimmung 
der  Richter  einzuwirken,  und  gerade  durch  dieses  Mittel 
wurde  häufig  ein  günstiger  Richterspruch  erzielt,  ein 
Beweis,  dafs  hier  nicht  nach  objektivem  Recht,  sondern  nach 
sehr  subjektiven  Stimmungen  entschieden  wurde.  Wir  er- 
fahren nun  über  die  Anklagerede  des  Meletos  nichts,  über 
die  Verteidigungsrede  des  Sokrates  als  Ganzes  nur,  dafs  nie 
ein  Mensch  sich  wahrhafter,  anständiger  und  ge- 
rechter verteidigt  habe  (IV.  8,  1).  Nehmen  wir  hierzu 
noch  die  weitere  Angabe  hinzu,  dafs  Sokrates  die  Gemüts- 
beeinflussung der  Geschworenen  völlig  unterliefs,  obgleich 
er  selbst  durch  nur  mäfsige  Anwendung  derselben  ein  frei- 
sprechendes Urteil  erzielt  haben  würde  (IV.  4,  4;  vergl. 
PI.  Apol.  38 D),  so  ergibt  sich,  dafs  in  obigem  Satze  durch 
die  Wahrhaftigkeit  seiner  Verteidigung  wohl  die  streng 
bei  der  Wahrheit  bleibende  Behandlung  der  Anklagepunkte 
und  seines  gesamten  Wirkens  bezeichnet  wird,  dafs  dagegen 
durch  die  Anständigkeit  und  Gerechtigkeit  wohl 
auf  die  Verschmähung  des  schmeichlerischen  und  kläglichen 
Gebarens  vor  den  Richtern  hingewiesen  wird.  Dieses  er- 
scheint Xenophon  einesteils  als  eine  eines  anständigen 
Mannes  unwürdige  Selbsterniedrigung,  andernteils  als 
Verstofs  gegen  das  Gesetz. 

Die  beiden  Angaben  über  das  Stimmenverhältnis  bei  der 
Abstimmung  über  die  Schuldfrage  (Plato  Apol.  36  A;  D.  L. 
II.  41)  sind  beide  in  der  Lesart  unsicher.  Nur  vermutungs- 
weise läfst  sich  danach  annehmen;  dafs  281  Stimmen  für 
schuldig,  220  für  unschuldig  abgegeben  wurden. 


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B.    I.   Sokrates  (469—399).  423 

Im  zweiten  Akte  des  Prozesses  hat  nunmehr  Sokrates 
dem  Strafantrag  des  Klägers  den  seinigen  gegenüberzustellen. 
Nach  Piatos  Apologie  hätte  er  in  erster  Linie  als  das  ihm 
eigentlich  Gebührende  die  Speisung  im  Prytaneion  beantragt, 
wo  die  diensttuenden  Mitglieder  des  Rats,  sowie  fremde 
Gesandte  und  andere  Gäste  des  Staats,  ferner  aber  auch 
besonders  verdiente  Bürger  beköstigt  wurden.  Es  sei  dies 
insbesondere  für  ihn ,  als  einen  unvermögenden  Mann,  von 
Wert,  da  ihm  dadurch  volle  Mufse  für  sein  Lebenswerk 
gewährt  werde.  Bei  dieser  Darstellung  stimmt  nun  freilich 
die  nähere  Begründung  dieses  ungewöhnlichen  Strafantrags, 
die  Plato  ihm  in  den  Mund  legt,  nicht  zu  dem  geschicht- 
lichen Sokrates,  sondern  zu  dem  von  Plato  in  dieser  Schrift 
in  lehrhafter  Absicht  umgemodelten  Bilde  desselben.  Er 
beansprucht  die  Vergünstigung  als  der  Universalseelsorger 
der  Athener,  als  den  ihn  Plato  im  ersten  Teile  der  Rede 
dargestellt  hat  (Apol.  36).  Sicherlich  konnte  auch  der 
geschichtliche  Sok  rates  ähnlich  über  den  Wert  seines  Wirkens 
denken ,  und  auch  Xenophon  urteilt ,  dafs  Sokrates  durch 
dasselbe  nicht  den  Tod,  sondern  hohe  Ehre  von  Seiten  des 
Staats  verdient  habe  (L  2,  64).  Ob  aber  Sokrates  wirklich 
in  diesem  entscheidenden  Augenblicke  ausdrücklich  diesen 
paradoxen  Strafantrag  gestellt  hat,  läfst  sich  nach  den  vor- 
handenen Zeugnissen  nicht  entscheiden. 

Da  er  aber  nun  doch  einen  Strafantrag  stellen  soll, 
so  beantragt  er  nach  Plato,  da  Geldverlust  kein  Schaden 
sei,  also  darin  keine  Anerkennung  der  Straffälligkeit  liege, 
eine  Geldstrafe  von  einer  Mine  (=  100  Drachmen  oder 
75  Mk.).  Dies  sei  alles,  was  er  besitze.  Da  ihm  aber 
soeben  seine  anwesenden  Freunde,  Kriton,  Plato  und  einige 
andere,  erklärten,  bis  zum  Betrage  von  30  Minen  (V2  Talent 
=  2250  Mk.)  für  ihn  bürgen  zu  wollen,  so  sei  er  auch  in 
der  Lage,  diesen  letzteren  Betrag  zu  beantragen  (38 AB; 
etwas  anders  D.  L.  IL  41). 

Diesen  Strafantrag  nehmen  die  Richter  mit  Lärm  ent- 
gegen (D.  L.  II.  42),  und  das  Resultat  ist,  dafs  noch  80 
von  denen,  die  ursprünglich  für  unschuldig  gestimmt  hatten, 
jetzt  für  die  Todesstrafe  eintraten.    Man  hätte  an  sich  eher 


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424     Zweite  Periode.    Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

das  Gegenteil  erwarten  sollen,  da  doch  gewifs  mancher,  der 
das  Schuldig  gesprochen,  nicht  gerade  für  die  Todesstrafe 
eintreten  mochte.  Ein  Mittelweg  war  nämlich  ausgeschlossen ; 
die  Geschworenen  hatten  lediglich  zwischen  den  beiden 
Strafanträgen  zu  wählen.  Diese  achtzig  bestraften  also, 
wie  im  Grunde  unzweifelhaft  schon  die  überwiegende  Mehr- 
zahl jener  281  bei  der  ersten  Abstimmung,  nicht  sowohl  die 
angeblichen  Verbrechen  der  Anklage  als  vielmehr  die  respekt- 
widrige Mifsachtung  ihrer  eigenen  werten  Personen  als  der 
Vertreter  des  souveränen  Volks  von  Athen  mit  dem  Tode. 
Eine  Appellation  aber  gab  es  von  diesem  hohen  Gerichtshof 
nicht;  er  war  erste  und  letzte  Instanz. 

Plato  läfst  Sokrates  noch  ein  Schlufswort  an  das 
Kollegium  der  Geschworenen  richten,  das  sich  aber  eben- 
falls als  im  Sinne  der  ganzen  Schrift  komponiert  heraus- 
stellt (z.  B.  39  C  D).  Der  einzige  Zug  in  diesem  Schlufswort, 
der  vielleicht  in  bezug  auf  den  historischen  Sokrates  eine 
Bedeutung  hat,  ist  der  ihm  beigelegte  Zweifel,  ob  es  ein 
Fortleben  der  Seele  nach  dem  Tode  gibt  (40  C).  Auch  schon 
in  der  ersten,  der  eigentlichen  Verteidigungsrede  läfst  Plato 
ihn  sich  zu  der  gleichen  Unwissenheit  bekennen  (29).  Diese 
Äufserungen  sind  deshalb  von  besonderem  Interesse,  weil 
kein  direktes  Zeugnis  über  die  Stellung  des  historischeu 
Sokrates  zum  Unsterblichkeitsglauben  vorliegt.  Selbstver- 
ständlich drücken  die  beiden  Stellen  nur  die  Ansicht  des 
damaligen  Plato  aus.  Aber  dieser  stand  damals  noch  dem 
Standpunkte  des  Meisters  nahe,  und  so  ist  wenigstens  einige 
Wahrscheinlichkeit  vorhanden,  dafs  hier  auch  die  Stellung 
des  historischen  Sokrates  zu  der  Frage  zum  Ausdruck  ge- 
langt. Wäre  diese  eine  entschieden  bejahende  gewesen,  so 
würde  dies  wohl  der  unsterblichkeitsgläubige  Xenophon 
(Kyrup.  VIII.  7,  19)  da,  wo  er  Äufserungen  des  Sokrates 
über  die  menschliche  Seele  anführt  (Mem.  L  4,  13;  IV. 
3,  14)  sich  nicht  haben  entgehen  lassen. 

In  Piatos  „Kriton"  hat  dieser  alte,  treue  Freund  des 
Sokrates  diesem  nach  der  Verurteilung  durch  Bestechung 
der  Gefängniswärter  die  Möglichkeit  der  Flucht  bereitet. 
Sokrates  aber  lehnt  es,  vornehmlich  aus  sittlichen  Gründen, 


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B.    1.   Sokrates  (469—399).  425 

ab,  sich  in  dieser  Weise  seinem  Schicksal  zu  entziehen 
(ähnlich  auch  Phädon  99  A).  Von  einem  ähnlichen  Vorgange 
weifs  auch  Diogenes  Laertios  (IL  60),  legt  aber  den  Be- 
freiungsplan dem  Sokratiker  Ä  seh  ine  s  bei.  Die  ganze 
Sache  ist  nicht  genügend  beglaubigt;  bei  Plato  dient  die 
Situation  nur  dazu,  um  seine  eigene  damalige  Moral- 
begründung dem  Sokrates  in  den  Mund  zu  legen.  Xenophon 
berichtet  über  die  Zwischenzeit  zwischen  Verurteilung  und 
Tod  nur ,  dafs  sie  30  Tage  betrug ,  weil  bis  zur  Rückkehr 
des  Staatsschiffes  von  der  Apollofeier  auf  Dolos  keine  Hin- 
richtung stattfinden  durfte  (vergl.  auch  Phädon  58),  femer, 
dafs  Sokrates  seine  Verurteilung  mit  der  gröfsten  Gelassen- 
heit und  Mannhaftigkeit  hingenommen,  und  dafs  in  der  ge- 
priesenen Heiterkeit  seiner  Seelenstimmung  und  in  seinem 
ganzen  Verhalten  in  dieser  Zwischenzeit  auch  nicht  die 
geringste  Veränderung  eingetreten  sei  (IV.  8,  2).  Freilich 
konnte  Xenophon  ja  glauben,  den  Befreiungsplan,  wenn 
dieser  existierte  und  ihm  bekannt  geworden  war,  mit  Rück- 
sicht auf  die  noch  lebenden  Anstifter  verschweigen  zu 
müssen. 

Eine  ergreifende  Schilderung  vom  Todestage  des  Sokrates 
gibt  Plato  im  „Phädon".  Abgesehen  von  der  philosophischen 
Erörterung  über  die  Unsterblichkeitsfrage,  die- ganz  sein 
Eigentum  ist,  liegen  hier  wohl  im  wesentlichen  geschicht- 
liche Züge  vor.  Die  Freunde,  die  während  dieser  Zwischen- 
zeit sich  täglich  im  Gefängnis  eingefunden  haben,  sind  an 
diesem  Tage,  da  bereits  tags  zuvor  das  Staatsschiff  zurück- 
gekehrt ist,  früher  als  sonst  zur  Stelle.  Sokrates  philo- 
sophiert über  die  Annehmlichkeit  aus  der  Beseitigung  des 
Druckes  der  soeben  ihm  abgenommenen  Fesseln  und  be- 
richtet, dafs  er  im  Gehorsam  gegen  eine  Traum  Weisung  im 
Gefängnis  Verse  gemacht  hat.  Nun  erst  kommt  die  Rede 
auf  seinen  noch  heute  bevorstehenden  Tod,  von  wo  dann 
der  Übergang  zum  philosophischen  Thema  des  Dialogs  ge- 
macht wird.  Nach  Beendigung  des  Gesprächs  nimmt  er  ein 
Bad,  um  den  Frauen  nicht  mit  der  Waschung  des  Leichnams 
Mühe  zu  machen,  und  verabschiedet  sich  von  seinen  An- 
gehörigen.   Gegen  Sonnenuntergang  kommt  der  Gefangen- 


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426     Zweite  Periode.    £r8te  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

Wärter,  der  ihn  wegen  seines  edlen  und  gelassenen  Ver- 
haltens liebgewonnen  hat,  und  kündigt  ihm  weinend  an,  dafs 
er  jetzt  den  Giftbecher  trinken  mufs  (116  c).  Sokrates  will 
nicht  „geizen,  wo  nichts  mehr  vorhanden  ist",  indem  er  die 
ihm  rechtlich  noch  zustehende  Spanne  Zeit  bis  zum  wirklich 
eingetretenen  Sonnenuntergänge  noch  beansprucht.  Das  Gift 
wird  gebracht,  und  Sokrates  erkundigt  sich,  wie  er  sich  zu 
verhalten  habe.  Nach  dem  Trinken  umhergehen,  bis  er 
Schwere  in  den  Beinen  fühlt,  dann  sich  niederlegen.  Ob 
er  auch  —  wie  sonst  beim  Trinken  üblich  —  eine  Libation 
für  die  Götter  ausgiefsen  dürfe?  —  Es  sei  in  dem  Becher 
nur  genau  das  erforderliche  Quantum  vorhanden.  Nachdem 
er  getrunken,  brechen  die  Freunde  in  Klagen  und  Jammern 
aus.  Sokrates  verweist  es  ihnen;  darum  ja  habe  er  die 
Frauen  fortgeschickt.  Er  verfährt  nach  der  erhaltenen 
Weisung.  Im  Liegen  stellt  der  Diener  die  von  den  Fttfsen 
aufwärts  fortschreitende  Kälte,  Starre  und  Gefühllosigkeit 
fest  und  erklärt,  dafs,  wenn  diese  Lähmung  bis  zum  Herzen 
fortgeschritten  sein  würde,  der  Tod  einträte.  Sein  Haupt 
ist  verhüllt.  Als  die  Kälte  bis  zum  Unterleib  gelangt  ist, 
schlägt  er  noch  einmal  die  Hülle  zurück  und  sagt:  „Kriton, 
wir  schulden  dem  Asklepios  einen  Hahn""  (das  übliche  Opfer 
der  Genesenden  an  den  Heilgott);  „versäume  es  ja  nicht!" 
Das  waren  seine  letzten  Worte.  Bald  darauf  ein  Zucken; 
der  Diener  deckt  ihn  auf;  das  Auge  ist  gebrochen.  Kriton 
drückt  ihm  Mund  und  Augen  zu. 

In  diesen  letzten  Vorgängen  des  Lebens  des  Sokrates 
liegt  eine  gewaltige  Tragik.  Aber  nicht  in  dem  gewalt- 
samen Tode  als  solchem,  den  er  ja,  wie  auch  Xenophon 
(IV.  8,  3)  bezeugt,  auf  das  ruhmwürdigste  bestand,  und  dem 
zu  entgehen  er  sich  nicht  bemüht  hatte,  sondern  in  dem 
herben  Geschick,  dafs  sein  grofser,  mit  Preisgabe  aller 
anderen  Lebensinteressen  von  ihm  ein  Menschenalter  hin- 
durch verfolgter  Reformgedanke  an  der  Ungunst  der  Zeiten 
und  der  Unfähigkeit  seiner  Umgebungen  gescheitert  war, 
dafs  er  an  der  Schwelle  des  nicht  mehr  wirkungsf&higen 
Alters  sich  im  stillen  gestehen  mufste,  er  habe  das  mit 
Einsetzung  aller  seiner  Kräfte  lebenslang  verfolgte  einzige 


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B.    2.   Die  reiuen  Sokratiker.  427 

Ziel  nicht  erreicht.  In  diesen  Gedanken,  die  keiner  der 
Berichterstatter  zum  Ausdruck  gebracht  hat  —  Xenophon 
preist  sogar  seinen  Tod  als  den  denkbar  glücklichsten  und 
gottbegnadetsten  — ,  die  er  vielleicht  selbst  niemals  gegen 
irgend  jemand  ausgesprochen  hat,  liegt  die  Tragik  des 
sokratischen  Lebens.  Aber  diese  wahre  und  eigentliche 
Tragödie  des  Sokrates  ist  noch  nicht  geschrieben  worden. 

2.    Die  reinen  Sokratiker. 

Das  nächste  praktische  Ziel  des  Sokrates,  die  Beform 
der  öffentlichen  Zustände,  wurde  nach  seinem  Tode  zunächst 
aufgegeben.  Eine  Gruppe  seiner  namhafteren  Schüler  hielt 
es  sogar  für  geraten,  Athen  zeitweilig  zu  verlassen  und 
sich  zu  Euklides  nach  Megara  in  Sicherheit  zu  bringen. 

Die  bedeutenderen  unter  den  Schülern  des  Sokrates 
wurden  im  Laufe  ihrer  weiteren  Entwicklung  von  den  bei 
ihm  empfangenen  Anregungen  aus  zu  neuen,  selbständigen 
Standpunkten  weitergeführt.  Mit  ihnen  hat  es  der  folgende 
Abschnitt  zu  tun.  Gegenwärtig  handelt  es  sich  um  die- 
jenigen seiner  Schüler,  die  ausschliefslich  auf  dem  Boden 
der  sokratischen  Lehre  stehen  blieben. 

Es  hat  keinen  Wert,  die  Namen  derer  aufzuzählen,  die 
als  mehr  oder  minder  treue  Anhänger  des  Sokrates  genannt 
werden,  aber  sich  niemals  in  irgend  einer  Weise  hervor- 
taten (Z.  233,  1).  Von  einer  anderen,  zahlreichen  Gruppe 
der  Sokratesschüler  kannte  das  Altertum  schriftlich  auf- 
gezeichnete Dialoge  im  Sinne  und  Stile  des  Sokrates.  Im 
Anschlufs  an  die  mündlich  mit  so  glänzender  Fertigkeit 
geübte  Unterredungskunst  des  Sokrates  entstand  eine  neue 
Literaturgattung,  das  „Sokratesgespräch".  Diese  neue 
Literaturgattung  ist  ein  sprechender  Beweis  von  dem  nach- 
haltigen Eindruck,  den  die  Begabung  des  Sokrates  für  diese 
Form  der  Gedankenentwicklung  hinterlassen  hatte.  Die 
meisten  der  in  diesem  Sinne  verfafsten  Dialoge  aber  waren 
den  Sokratesschülem,  deren  Namen  sie  trugen,  nur  unter- 
geschoben. Uns  ist  überdies  davon  nur  ganz  weniges  und 
dabei  völlig  Unbedeutendes  erhalten.    Auch  über  diese  un- 


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428    Zweite  Periode.     Erete  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

echten  und  dazu  meist  verlorenen  „Sokratesgesprftche" 
können  wir  stillschweigend  hinweggehen. 

In  Kürze  zu  berücksichtigen  bleiben  nur  vier  Namen 
aus  dieser  Gruppe,  über  deren  im  Sinne  des  Sokrates  ver- 
fafste  Dialoge  sich  etwas  sagen  läfst :  Xenophon,  Äschines, 
Euklid  und  Phädon.  Von  Interesse  ist  bei  diesen  vor- 
nehmlich die  Frage,  inwieweit  sie  den  Geist  des  sokratischen 
Wirkens  erfafst  hatten  und  seinen  Gedanken  einer  Ver- 
besserung der  öffentlichen  Zustände  durch  richtige  Aus- 
bildung der  leitenden  Männer  aufrechterhielten  und  fort- 
führten. 

Für  uns  steht  hier,  schon  wegen  der  Zahl  und  Be- 
deutung seiner  erhaltenen  Schriften,  Xenophon  an  der 
Spitze.  Anscheinend  aber  hat  er,  auch  abgesehen  von 
diesem  Umstände  der  Erhaltung,  von  allen  den  hier  in  Be- 
tracht Kommenden  am  meisten  sich  mit  der  Gesamtheit  der 
Zwecke  des  Sokrates  erfüllt  Und  doch  bietet  auch  er  nur 
ein  verkümmertes  Abbild  dessen,  was  Sokrates  gewollt  hat. 

Xenophon,  in  Athen  geboren ,  lebte  ungefihr  von 
426—354.  Er  gehörte  zur  Jüngerschaft  des  Sokrates  im 
letzten  Jahrzehnt  des  Lebens  desselben.  Über  die  Art,  wie 
Sokrates  ihn  als  Schüler  geworben,  wird  eine  unbeglaubigte 
Anekdote  erzählt.  Sokrates  begegnet  dem  auffallend  schönen 
Jüngling  in  einer  engen  Strafse,  versperrt  ihm  mit  seinem 
Stabe  den  Weg  und  richtet  eine  Reihe  von  Fragen  an  ihn, 
wo  man  diese  und  jene  Lebensbedürfnisse  kaufen  könne. 
Xenophon  gibt  darauf  Bescheid.  Darauf  fragt  Sokrates: 
Wo  aber  kann  man  zum  „schönen  und  guten"  Manne 
werden?  Jener  weifs  keine  Antwort  zu  geben.  Darauf 
Sokrates :  So  folge  und  lerne  (D.  L.  IL  48).  Vielleicht  ist 
diese  Anekdote  ein  Nachhall  der  Erzählung  (Mem.  IV.  1), 
wie  Sokrates  den  jungen,  schönen  und  bildungseifrigen, 
schon  vor  dem  gesetzlichen  Lebensalter  um  die  öffentlichen 
Angelegenheiten  sich  kümmernden,  aber  eingebildeten  Euthy- 
demos  als  Schüler  gewinnt,  und  vielleicht  ist  dieser  Euthy- 
demos  Xenophon  selbst 

Im  Jahre  400  ging  Xenophon  nach  Kleinasien,  um  im 
Gefolge  des  jüngeren  Cyrus  dessen  Kriegszug  gegen  seinen 


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B.    2.   Die  reinen  Sokratiker.  429 

Bruder,  den  Perserkönig ,  mitzumachen,  um  diesen  vom 
Throne  zu  stürzen.  Cyrus  wird  in  der  Schlacht  bei  Kunaxa 
besiegt  und  fällt ;  Xenophon  beteiligt  sich  in  hervorragender 
Stellung  an  dem  berühmten  Rückzuge  der  10000  griechischen 
Söldner  quer  durch  Kleinasien  zum  Schwarzen  Meere,  den 
er  in  seiner  „Anabasis"  beschrieben  hat.  Er  führte  dann 
einen  Teil  jener  Truppe  den  Spartanern  zu  und  kämpfte  in 
der  Schlacht  bei  Koronea  394  gegen  seine  Vaterstadt.  Wahr- 
scheinlich wegen  dieser  Stellungnahme  wurde  er  seines 
athenischen  Bürgerrechts  verlustig  erklärt  (Anabas.  V.  3, 
6  f.).  Er  lebte  später  längere  Zeit  auf  einem  ihm  von  den 
Spartanern  geschenkten  Landgute  im  Peloponnes  und  endete 
seine  Tage,  durch  Kriegsunruhen  von  dort  vertrieben,  wahr- 
scheinlich in  Korinth. 

Xenophon  hat  sich  die  Lehre  des  Sokrates  von  den 
Eigenschaften,  die  zu  einer  leitenden  Stellung  erforderlich 
sind,  als  treuer  Schüler  zu  eigen  gemacht.  Wie  er  in  seiner 
eigenen  Lebensführung  nach  einem  alten  Zeugnisse  (D.  L. 
IL  56)  die  des  Sokrates  genau  nachzubilden  suchte  (wobei 
er  aber  freilich  in  wesentlichen  Stücken,  wie  in  der  Neigung 
zum  Landbau,  zur  Jagd  und  Reitkunst  und  zum  Kriegs- 
wesen, von  Sokrates  abwich  und  in  einer  altväterlichen 
Frömmigkeit  mit  Vergröberung  der  sokratischen  Vorstellungen 
von  (jebet  und  Opfer  diesen  weit  überbot),  so  bewegt  sich  auch 
in  denjenigen  seiner  philosophischen  Schriften,  in  denen  er  im 
eigenen  Namen  spricht,  alles  um  den  Begriff  der  Herrscher- 
tüchtigkeit. Diese  Schriften  leiden  jedoch  an  zwei  Haupt- 
mängeln. Einesteils  fehlt  ihnen  die  Schärfe  in  der  Fest- 
stellung und  Unterscheidung  der  Begriffe,  andernteils  tritt 
an  Stelle  des  sokratischen  Gedankens,  dafs  der  leitende 
Mann,  indem  er  seinem  eigenen  Wohle  dient,  doch  zunächst 
und  vor  allem  das  Wohl  des  Staates  oder  der  ihm  Anver- 
trauten fördert,  ein  starkes  Überwiegen  des  selbstischen 
Interesses.  Bei  ihm  stehen  die  von  Sokrates  geforderten 
Herrschereigenschaften  ganz  im  Dienste  des  eigenen  Vorteils 
und  Erfolges;  das  letzte  Ziel  ist  Ausnutzung  der  Unter- 
gebenen für  die  eigenen  Zwecke.  Zur  Begründung  dieser 
Sätze  wird   es  genügen,   einen   Blick   auf  die   beiden   am 


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430     Zweite  Periode.     Erste  Stufe.     Die  Sophisten  und  Sokrates  etc. 

meisten  charakteristischen  Schriften  zu  werfen,  in  denen  er 
das  Ideal  eines  Herrschers  im  Staate  und  eines  Haushalters 
entwirft,  die  „Erziehung  des  Cyrus"  und  die  „Haushaltungs- 
kunst". 

In  letzterer  Schrift  wollte  Xenophon  offenbar  das  von 
Sokrates  weniger  berücksichtigte  Walten  des  „Schönen  und 
Guten"  (6,  12)  in  einem  grofsen  Haushalt  vorführen.  Er 
entwirft  das  Idealbild  eines  klugen  Haushalters,  der  mit 
klug  berechnetem  Wohlwollen  alle  an  der  Leitung  Be- 
teiligten im  Interesse  des  Gedeihens  des  Ganzen,  aber  schliefs- 
lieh  doch  nur  im  Interesse  des  eigenen  Vorteils  auszunutzen 
versteht.  Die  „Erziehung  des  Cyrus"  handelt  keineswegs 
nur  von  der  Ausbildung  dieses  Herrschers,  des  älteren  Cyrus 
nämlich,  sondern  gibt  ein  nach  sokratischen  Gesichtspunkten 
umgemodeltes  romanhaftes  Bild  von  der  Bewährung  der  er- 
langten Eigenschaften  in  einer  langjährigen  Herrscher- 
tätigkeit. Die  durch  die  Erziehung  entwickelte  Herrscher- 
tüchtigkeit desselben  beruht  auf  Naturanlage,  aber  diese  ist, 
abweichend  von  Sokrates,  vornehmlich  durch  seine  aristokra- 
tische Herkunft  gewährleistet.  Im  übrigen  wimmelt  diese 
Schrift  förmlich  von  Gedankenparallelen  zu  den  „Denk- 
würdigkeiten". Dagegen  zeigt  sich  deutlich,  dafs  Xenophon 
die  systematische  Zusammenfassung  und  Ableitung  der  sitt- 
lichen Tugenden  bei  Sokrates  selbst  nicht  verstanden  und  sich 
zu  eigen  gemacht  hat.  So  werden  die  verschiedenen  Tugen- 
den ohne  inneres  Band  und  einheitliche  Ableitung  aus  einem 
gemeinsamen  Zwecke  einfach  nebeneinandergestellt.  So  ist 
die  Sophrosyne  nicht,  wie  bei  Sokrates,  der  Gesamtbegriff 
der  Herrschertugenden,  sondern  eine  Tugend  neben  den 
übrigen,  die  noch  überdies  ganz  in  der  schwankenden  Be- 
deutung des  populären  Sprachgebrauchs  bald  dies,  bald 
jenes  bedeutet  (z.  B.  I.  2,  6  ff.;  III.  1,  16  ff.;  VIII.  1,  23  ff.). 
Ebenso  ist  auch  hier  das  eigene  Interesse  nicht  nur  die 
letzte  Triebfeder,  sondern  auch  der  letzte  Zielpunkt  alles 
Handelns. 

Von  Ä  seh  in  es  gab  es  sieben  Dialoge,  darunter  einen 
„Alkibiades",  die  aber  teilweise  schon  im  Altertum  für  un- 


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B.    2.   Die  reinen  Sokratiker.  431 

echt  erklärt  worden  sind  (D.  L.  IL  61  ff.).  Inwieweit  sich 
dieser  Sokratiker  das  Ganze  des  sokratischen  Gedanken- 
kreises angeeignet  hat,  lärst  sich  aus  den  geringfügigen 
erhaltenen  Resten  nicht  erkennen. 

Euklid  von  Megara  und  Phädon  von  Elis 
schlugen  später  selbständige,  von  Sokrates  sehr  weit  ab- 
führende Bahnen  ein  und  gehören  daher  ihrer  eigentlichen 
Bedeutung  nach  in  den  zweiten  Hauptabschnitt  dieser 
Periode,  zu  den  „kleineren  sokratischen  Schulen".  Doch 
müssen  beide  ursprünglich  in  ihren  Dialogen  als  reine 
Sokratiker  aufgetreten  sein.  Die  sechs  dem  Euklid  und  die 
zwei  dem  Phädon  beigelegten  sokratischen  Dialoge  (D.  L. 
II.  108,  105)  wurden  freilich  schon  im  Altertum  hinsichtlich 
ihrer  Echtheit  angezweifelt  (D.  L.  IL  64).  Über  den  Inhalt 
der  euklidischen  Dialoge  ist  nichts  bekannt.  An  den  beiden 
dem  Phädon  beigelegten  zeigt  sich  so  recht  deutlich,  wie 
im  späteren  Altertum  die  erdichteten  Situationen  dieser 
Schriften  mifsverständlich  für  Geschichtserzählung  genommen 
wurden.  In  dem  einen,  „Zopyros",  war  ausgeführt,  wie  ein 
Physiognomiker  dieses  Namens  an  Sokrates  alle  erdenklichen 
verkehrten  Naturanlagen  entdeckt,  worauf  dann  Sokrates 
die  Richtigkeit  dieser  Beurteilung  anerkennt,  aber  zeigt, 
wie  er  diese  Anlagen  durch  Selbstzucht  gebändigt  und  aus- 
gerottet habe.  Diese  Erfindung  Phädons  wurde  dann  später, 
wie  z.  B.  die  Erwähnung  bei  Cicero  (Fat.  c.  5)  zeigt,  als 
ein  tatsächlich  geschehener  Vorgang  verstanden  und  weiter- 
erzählt. In  dem  anderen  Dialog  hatte  Phädon  Sokrates 
sich  mit  einem  Schuster,  namens  Simon,  in  dessen  Werk- 
stätte unterreden  lassen.  Dieser  erdichtete  Simon  wurde 
dann  später  zum  Range  einer  wirklichen  Persönlichkeit 
erhoben,  der  man  die  Aufzeichnung  von  33  angeblich  von 
Sokrates  mit  ihm  gehaltenen  Unterredungen  unterschob 
(D.  L.  IL  122  f.). 


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432  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Zweite  Stufe. 

Die  kleineren  sokratischen  Schulen  und  Plato  (399  bis 
nach  300). 

Die  Erscheinungen  dieser  Stufe  nehmen,  wie  die  reinen 
Sokratiker,  ihren  Ausgang  von  Sokrates,  unterliegen  aber 
durchweg  aufserdem  auch  noch  anderen  Einflüssen.  Bei 
ihnen  kommt  an  Stelle  einer  Reform  der  öffentlichen  Zu- 
stände oder  doch  neben  derselben  mehr  und  mehr  die  Los- 
lösung des  einzelnen  Denkers  von  der  Gemeinschaft  im 
Streben  nach  individueller  Befriedigung  zum  Durchbruch. 
Die  Frage  nach  dem  wahren  Lebensziel  des  Einzelmenschen 
taucht  auf  und  wird  in  verschiedener  Weise,  wenn  auch  noch 
nicht  methodisch  und  mit  wissenschaftlicher  Begründung 
beantwortet.  Doch  wird  daneben  noch  inmier  die  Frage 
nach  dem  wahren  und  vollkommenen,  dem  „besten''  Staate 
behandelt.  Auf  dieser  Stufe  vollzieht  sich  der  eigent- 
liche Übergang  zu  dem  endgültigen  Problem  der  antiken 
Philosophie. 

Die  kleineren  sokratischen  Schulen  sind  diekynische, 
die  kyrenaische  und  die  megarische  nebst  der 
elisch-eretrischen,  an  die  sich  noch  einige  populär- 
philosophische  Erscheinungen  gegen  Ende  des  Zeit- 
raums anschliefsen.  Dann  folgt  Plato.  Es  ergibt  sich 
also  folgende  Anordnung: 

1.  Die  Kyniker. 

2.  Die  Kyrenaiker. 

3.  Die    megarische    nebst    der    elisch-eretri- 
schen Schule. 

4.  Popularphilosophische  Erscheinungen  im 
Anschlufs  an  diese  Schulen. 

5.  Plato. 

I.  Die  Kyniker. 
1.    Antisthenes. 

Der  Begründer  der  kynischen  Schule  zeigt  in  seiner 
Geistesrichtung   noch   nicht  diejenige   volle   Einheitlichkeit 


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I.    1.   Antisthenes.  433 

• 
aus  einem  Gufs,  die  seine  Nachfolger  auszeichnet.    Er  ist 

durch  verschiedene  Einflüsse  hindurchgegangen,  die  ihre 
Spuren  bei  ihm  zurückgelassen  haben,  und  wir  müssen  daher, 
um  sein  Wesen  richtig  zu  erfassen,  dieser  Entwicklung,  so- 
weit es  noch  möglich  ist,  nachzugehen  versuchen. 

Antisthenes  lebte  ungefähr  von  435—370  (Z.  281,  1). 
Er  galt  für  den  Sohn  eines  athenischen  Bürgers  und  einer 
thrazischen  Sklavin  und  „soll"  demgemäfs  kein  vollbürtiger 
und  vollberechtigter  athenischer  Bürger  gewesen  sein.  Die 
Anekdoten,  die  im  Anschlufs  an  diese  angebliche  Halb- 
bürtigkeit auftreten  (D.  L.  VI.  1,  4;  II.  31),  können  ihr 
natürlich  nicht  zum  Range  einer  geschichtlichen  Tatsache 
verhelfen.  Er  war  ursprünglich  Schüler  des  Gorgias  in 
der  Redekunst  (D.  L.  VI.  1).  Dafs  er  auch  selbst  Unter- 
richt in  der  Beredsamkeit  erteilt  habe,  kann  nur  daraus 
geschlossen  werden,  dafs  er,  nachdem  er  Sokrates  kennen 
gelernt,  seine  Schüler  aufgefordert  haben  soll,  seine  Mit- 
schüler bei  diesem  zu  werden  (D.  L.  VI.  2).  Dagegen  wird 
ausdrücklich  betont,  dafs  diese  jugendliche  Beschäftigung 
seinen  Schriften  ein  rhetorisches  Gepräge  gegeben  habe, 
das  namentlich  in  einzelnen  derselben  stark  hervorgetreten 
sei  (D.  L.  a.  a.  0.).  Noch  Cicero  liest  ihn  gern,  obgleich 
er  ihn  mehr  für  einen  scharfsinnigen  als  für  einen  gelehrten 
Autor  hält  (ad  Att.  12,  38). 

Gleichzeitig  mufser  auch  von  den  älteren  Sophisten 
beeinflufst  worden  sein.  Noch  zur  Zeit  seines  Verkehrs  mit 
Sokrates  läfst  ihn  Xenophon  im  „Gastmahl"  (4,  62  f.)  mit 
Prodikos,  Hippias  und  anderen  Sophisten  in  Verbindung 
stehen.  Dafs  er  auch  von  Protagoras  beeinflufst  worden 
sei,  könnte  daraus  gefolgert  werden,  dafs  auch  er  (nach 
Aristoteles)  behauptete,  es  sei  keine  falsche  Aussage 
und  kein  Widersprechen  möglich  (1024  b,  33;  1046,  20). 
Doch  scheint  bei  ihm  diese  Behauptung  aus  anderen,  mit 
der  sokratischen  BegriflFslehre  zusammenhängenden  Voraus- 
setzungen abgeleitet  worden  zu  sein;  wovon  nachher. 

Mit  höchster  Begeisterung  schlofs  er  sich  sodann  in 
schon  etwas  vorgerückten  Jahren  an  Sokrates  an,  so  dafs 
auch  sein  Zusammensein  mit  diesem  in  das  letzte  Jahrzehnt 

Döring.  I.  28 

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434  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

des  Wirkens  desselben  filllt.  In  Xenophons  „Denkwürdig- 
keiten" (III.  11,  17)  nennt  ihn  Sokrates  als  einen  der- 
jenigen, die  nie  von  seiner  Seite  weichen,  und  unterredet 
sich  mit  ihm  über  den  Wert  tüchtiger  Freunde,  auch  wenn 
sie  arm  sind,  in  der  Absicht,  auf  diese  Weise  indirekt  einem 
der  Gefährten,  der  einen  armen  Freund  verachtete,  eine 
Lektion  zu  erteilen  (IL  5).  Anscheinend  wird  dadurch  auch 
Antisthenes  als  arm  bezeichnet. 

Ein  sehr  viel  vollständigeres  Charakterbild  des  Anti- 
sthenes aus  der  Zeit  des  gemeinsamen  Verkehrs  mit  Sokrates 
zeichnet  Xenophon  in  seinem  „Gastmahl".  Auch  hier  tritt 
zunächst  seine  leidenschaftliche  Anhänglichkeit  an  Sokrates 
hervor.  Als  jeder  der  Anwesenden  angeben  soll,  in  welchem 
Sinne  er  zur  Gemeinde  des  Liebesgottes  gehöre,  erklärt 
Antisthenes,  aufs  heftigste  in  Sokrates  verliebt  zu  sein, 
woran  sich  dann  ein  Austausch  von  Scherzreden  über  die 
angebliche  Sprödigkeit  des  Sokrates  anschliefst  (6,  4 — 6). 
Hier  erscheint  er  ferner  als  der  immer  schlagfertige  Dis- 
putierer, der  durch  häufiges  Eingreifen  Leben  und  neue 
Wendungen  in  die  Unterhaltung  bringt  (2,  13;  3,  4;  4,  2, 
6;  6,  5).  Er  gerät  dabei  gelegentlich  auch  ins  Derbe  und 
Unfeine  hinein  und  mufs  sich  von  Sokrates,  weil  er  das 
Kapitel  Xanthippe  zur  Sprache  bringt,  eine  leichte  Zurecht- 
weisung gefallen  lassen  (2,  10).  Insbesondere  treten  hier 
auch  schon  einige  charakteristische  Züge  seiner  späteren 
Denkrichtung  hervor.  So  die  in  seiner  schriftstellerischen 
Tätigkeit  und  gewifs  auch  in  seiner  mündlichen  Lehre  so 
umfassend  hervortretende  Neigung  zu  einer  moralisierenden 
Auslegung  der  homerischen  Gedichte.  Er  bezeichnet  die 
Rhapsoden,  die  den  ganzen  Homer  auswendig  wissen,  als 
höchst  einfältige  Menschen.  Es  ist  sehr  bezeichnend,  dafs 
ihm  Sokrates  mit  der  Bemerkung  beitritt,  jene  verständen 
von  dem  tieferen  Unter-  und  Hintersinn  der  home- 
rischen Dichtungen  nichts.  Mit  dieser  Bemerkung  erscheint 
Sokrates  selbst  geradezu  als  der  Urheber  der  lange  Zeit  so 
beliebten  moralisch-allegorischen  Auslegung  des  Homer  und 
das  umfassende  Vorgehen  des  Antisthenes  in  dieser  Richtung 
als   eine  der   von   Sokrates  empfangenen   Anregungen.    In 


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I.    1.  Antisthenes,  435 

diesem  Sinne  legte  z.  B.  Sokrates  die  Verwandlung  der 
Gefährten  des  Odysseus  in  Schweine  durch  Circe  auf  Ver- 
leitung zur  Unmäfsigkeit  in  Speise  und  Trank  aus  (Mem.  I. 
3,  7).  Auch  die  verschiedene  Behandlung  der  Edlen  und 
des  Volkes  durch  Odysseus  bei  einer  ausgebrochenen  Panik 
deutete  er,  wie  schon  erwähnt,  auf  Unterschiede  des  inneren 
Wertes.  Auch  die  gemeinsame  Lektüre  der  „alten  Weisen" 
mit  den  Gefährten  (Mem.  I.  6,  14),  wobei,  wenn  sie  „etwas 
Gutes**  antreffen,  dies  zur  Nutzanwendung  herausgegrüffen 
und  angeeignet  wird,  deutet  auf  den  Ursprung  dieser  Rich- 
tung von  Sokrates  hin. 

Noch  weit  charakteristischer  für  den  späteren  Anti- 
sthenes  ist  die  ihm  hier  beigelegte  Stellung  zum  Reichtum. 
Als  jeder  dasjenige  namhaft  machen  soll,  worauf  er  sich 
am  meisten  zu  gute  tut,  nennt  Antisthenes  seinen  Reichtum 
(3,  8)  und  erläutert  dies  (4,  34—44)  in  folgender  Weise. 
Er  hat  so  wenig,  dafs  er  es  kaum  zu  finden  weifs.  Gleich- 
wohl genügt  dies  zur  Deckung  seiner  wirklichen  Bedürfnisse 
vollständig.  Er  kann  sich  sättigen,  hat  ein  Obdach  und 
eine  Lagerstätte,  auf  der  er  sich  des  vortrefiflichsten  Schlafes 
erfreut.  Sein  geschlechtliches  Bedürfnis  befriedigt  er  bei 
solchen,  mit  denen  sich  sonst  niemand  einlassen  will,  und  die 
daher  über  die  Mafsen  zärtlich  gegen  ihn  sind  (vergl.  D.  L. 
VL  3).  Bei  allen  diesen  Bedürfnisbefriedigungen  hat  er 
überdies  mehr  Genufs  als  zuträglich.  Will  er  sich  einmal 
etwas  Besonderes  zu  gute  tun,  so  holt  er  sich  die  Lecker- 
bissen nicht  vom  Markte,  sondern  aus  der  Vorratskammer 
des  Appetites,  d.  h.  er  wartet  noch  besonders  das  stärkere 
Hervortreten  des  Bedürfnisses  ab.  Sollte  er  einmal  sein 
bifschen  Habe  verlieren,  so  gibt  es  keine  so  unergiebige 
Arbeit,  die  ihm  nicht  leicht  den  für  ihn  ausreichenden 
Unterhalt  gewähren  würde.  Aber  auch  zu  den  besten 
Tugenden  gewährt  ihm  dieser  „Reichtum**  den  Antrieb.  Zu 
ungerechten  Handlungen  gegen  andere  fehlt  ihm  jede  Ver- 
suchung. Er  macht  ihn  aber  auch  freigebig.  Denn  er  er- 
möglicht es  ihm,  an  den  Reichtümern  der  Seele,  von  denen 
er  bei  Sokrates  ohne  Entgelt  erworben  hat,  soviel  er  tragen 
konnte,  jedem,   der  Lust  hat,  ohne  Opfer  jeden  beliebigen 

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436  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Antißil  zu  gewähren.  Das  köstlichste  Gut  aber,  das  er 
seinem  Keichtum  verdankt,  ist  die  unbegrenzte  Mufse,  die 
es  ihm  ermöglicht,  den  ganzen  Tag  mit  Sokrates  zusammen 
zu  sein. 

Hier  erkennen  wir  bis  auf  den  einzelnen  Wortlaut  den 
gelehrigen  Schüler  des  Sokrates  in  dessen  zentraler  Schätzung 
der  Enthaltsamkeit  und  Bedürfnislosigkeit. 

Inwieweit  einige  bei  späteren  Schriftstellern  überlieferte 
Anekdoten  aus  dieser  Lehrzeit  bei  Sokrates  geschichtlichen 
Wert  haben,  läfst  sich  nicht  ausmachen.  So,  dafs  das  ihm 
zugehörige  Häuschen  im  Piräus  gelegen  und  er  täglich  die 
Meile  Weges  nach  Athen  hin  und  her  zurückgelegt  habe, 
um  mit  Sokrates  zusammen  zu  sein  (D.  L.  VI.  2).  So  der 
Zug,  dafs  er  die  Risse  seines  Mantels  mit  einer  gewissen 
Ostentation  und  Effekthascherei  nach  aufsen  gekehrt  habe, 
was  Sokrates  einst  zu  der  Bemerkung  veranlafst  habe :  „Ich 
sehe  aus  den  Löchern  deines  Mantels  die  Eitelkeit  heraus- 
schauen" (VI.  8;  II.  36).  Dafs  er  beim  Tode  des  Sokrates 
gegenwärtig  war,  bezeugt  Plato  im  Phädon  (59  B). 

Nach  dem  Tode  des  Sokrates  eröffnete  er  selbst  eine 
Schule  in  dem  aufserhalb  der  Stadtmauern  gelegenen  Gym- 
nasium Kynosarges  (D.  L.  VI.  13).  Ob  diese  Anstalt  noch 
zu  seiner  Zeit,  wie  ursprünglich,  für  die  Leibesübungen  der 
nicht  VoUbürtigen  bestimmt  war,  ist  zweifelhaft  (Bernays, 
Apollon.  V.  Th.  p.  91).  Dagegen  stammt  von  dieser  Örtlich- 
keit wohl  ursprünglich  der  Name  „Kyniker"  (D.  L.  VI.  13  und 
Menag.  z.  d.  St.),  der  erst  später  die  Nebenbedeutung  der 
die  Gesetze  der  Sitte  und  des  Anstandes  Verletzenden 
(Kyniker  =  die  Hündischen)  angenommen  hat.  Dafs  er 
sich  für  seinen  Unterricht  hätte  bezahlen  lassen,  könnte 
man  aus  der  Anekdote  schliefsen,  nach  der  er  auf  die  Frage, 
warum  er  so  wenig  Schüler  habe,  geantwortet  hätte :  „Weil 
ich  sie  mit  einem  silbernen  Stabe  austreibe"  (VI.  4).  Doch 
ist  der  Sinn  dieser  Äufserung  zweifelhaft.  Auch  die 
Anekdote,  nach  der  ein  Hörer  von  auswärts  ihm  eine  Spende 
in  Aussicht  stellt,  wenn  sein  Schiff  mit  Lebensmitteln  an- 
gekommen sein  würde,  worauf  Antisthenes  beim  Krämer 
sich  seinen  Sack  mit  Mehl  füllt  und  diesen  ebenfalls  auf 


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I.    1.   Antisthenes.  437 

die  Ankunft  jenes  Schiffes  vertröstet  (VI.  9),  setzt  nicht 
eigentliche  Bezahlung  voraus.  Jedenfalls  stünde  diese  in 
direktem  Widerspruche  mit  der  Rede  über  seinen  Reichtum 
in  Xenophons  „Gastmahl".  Nur  gelegentliche  Beisteuern 
zu  seinem  Lebensunterhalt,  vornehmlich  in  Naturalien, 
scheint  er  nicht  verschmäht  zu  haben,  während  er  im  übrigen 
durch  ein  kleines  Besitztum  und  durch  seine  Bedürfnis- 
losigkeit gegen  Mangel  geschützt  war. 

Mehrere  spätere  Schriftsteller  (D.  L.  VI.  13)  berichten, 
Antisthenes  habe  schon  die  vollständige  kynische  Bettler- 
tracht angelegt:  den  doppelgeschlagenen  Mantel  aus  grobem 
Stoffe  als  einziges  Kleidungsstück,  Ranzen  und  Stab,  wild- 
wachsenden Bart.  Dies  ist  jedoch  aus  manchen  Gründen 
wenig  wahrscheinlich.  Seine  umfassende  schriftstellerische 
Tätigkeit  und  der  Gegensatz,  in  den  sich  sein  Schüler 
Diogenes  in  bezug  auf  die  Lebensführung  zu  ihm  stellt, 
sprechen  wenigstens  gegen  die  Obdachlosigkeit.  Zum  Über- 
flufs  besitzen  wir  auch  ein  ausdrückliches  Zeugnis  eines 
älteren  Schriftstellers  (Neanthes  von  Kyzikos  um  240  vor 
Chr.  bei  D.  L.  a.  a.  0.).  Danach  reduzierte  er  die  zwei 
von  Sokrates  noch  beibehaltenen  Kleidungsstücke  auf  eins, 
den  Mantel,  trug  diesen  aber  zum  Schutze  gegen  die  Kälte 
doppelt  geschlagen,  während  er  die  übrigen  Abzeichen  des 
umherschweifenden  Bettlertums,  den  Stab  und  den  Ranzen 
für  die  einzusammelnden  Nahrungsmittel,  noch  nicht  an- 
nahm. Dazu  stimmt  der  Rat,  den  er  dem  Diogenes  erteilte, 
als  dieser  —  natürlich  noch  in  seiner  Schülerzeit  —  um 
ein  Unterkleid  bettelte,  er  möge  den  Mantel  doppelt  schlagen 
(ib.  6). 

Dafs  er  Diogenes  nicht  radikal  und  konsequent  genug 
war,  geht  daraus  hervor,  dafs  dieser  ihn  einmal  mit  einer 
Trompete  verglichen  haben  soll,  die  zwar  andere  anfeuere, 
selbst  aber  ihren  eigenen  Ton  nicht  höre  (Stob.  Flor.  13,  19; 
Dio  Chrys.  VIII.  275).  Dazu  stimmt  auch  die  Anekdote, 
dafs  ihm  Diogenes  in  seiner  letzten  Krankheit  mit  der 
Frage,  ob  er  nicht  eines  Freundes  bedürfe,  einen  Dolch  an- 
bietet, der  ihn  von  seinen  Leiden  erlösen  könne ;  Antisthenes 
aber  antwortet,  er  wünsche  von  den  Leiden,  nicht  aber  vom 


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438  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

Leben  erlöst  zu  sein  (D.  L.  VI.  19).  Hier  haben  wir  noch 
den  echten  Schüler  des  Sokrates,  dem  auch  noch  das  Leben 
an  sich  ein  Gut  war.  Es  ist  daher  auch  wenig  glaublich, 
dafs  man  schon  ihn  den  „Hund  schlechthin",  den  Hund  par 
excellence  genannt  habe  (ib.  13).  Der  Name  „Hund"  soll 
nach  einem  anderen,  sehr  glaubwtlrdigen  Zeugnis  (Suid.) 
sogar  dem  Diogenes  zuerst  beigelegt  worden  sein. 

Von  einem  rauhen  Verhalten  gegen  seine  Schüler  ist 
nur  einmal  die  Rede,  wo  er  dies  zugleich  durch  den  Ver- 
gleich mit  dem  Verhalten  des  Arztes  den  Kranken  gegen- 
über rechtfertigt  (ib.  4).  Im  übrigen  wird  mehrfach  sein 
gelassenes  und  liebenswürdiges  Wesen  im  Verkehr  gerühmt, 
durch  das  er  jeden  gewinne,  und  das  auch  in  seinen  Schriften 
hervortrete  (ib.  14  f.),  und  ausdrücklich  betont,  dafs  er 
Sokrates  nicht  nur  in  der  Abhärtung,  sondern  auch  im 
Gleichmut  nacheifere  (ib.  2).  Also  auch  darin  noch  der 
echte  Sokratiker! 

Bemerkenswert  ist  die  grofse  Zahl  und  die  mannig- 
faltigen Themata  seiner  Schriften.  Es  gab  von  denselben 
eine  sachlich  geordnete  Gesamtausgabe  in  zehn  Bänden, 
deren  Inhaltsverzeichnis  Diogenes  Laertius  (a.  a.  0.  15  flF.) 
mitteilt.  Die  Zahl  der  hier  aufgeführten  Titel  ist  ungefähr 
63.  Der  erste  Band  enthielt  Reden  und  rhetorische  Schriften; 
darunter  werden  auch  die  beiden  unter  seinem  Namen  er- 
haltenen Vorträge  „Aias"  und  „Odysseus"  aufgeführt,  die 
aber  so,  wie  sie  vorliegen,  der  gröfsten  Wahrscheinlichkeit 
nach  untergeschoben  sind.  Es  folgten  dann  einige  physio- 
logische Abhandlungen,  an  die  sich  aber  sofort  bis  Ende 
des  fünften  Bandes  Ethisch-Politisches  anschlofs.  Band  VI 
und  VII  enthielten  logisch -erkenntnistheoretische  Schriften, 
doch  mit  einigen  fremdartigen  Einschiebseln  anderen  Inhalts. 
Band  VIII  und  IX  Schriften  zur  Literatur,  besonders  zu 
Homer,  den  er  mit  seiner  moralisierenden  Auslegung  aufs 
reichlichste  bedacht  hat.  In  Band  X  war  Verschieden- 
artiges zusammengestellt,  dessen  Echtheit  anscheinend  be- 
zweifelt wurde,  wie  denn  in  der  Tat  schon  der  ungefähr 
ein  Jahrhundert  nach  ihm  lebende  Stoiker  P  e  r  s  a  i  o  s  mehrere 
der  hier  aufgeführten  Schriften  als  unecht  verwarf  (D.L.  II.  61). 


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I.    1.   Antisthenes.  439 

Das  wenige,  was  aus  den  einzelnen  Schriften  unter 
Beifügung  des  Titels  angeführt  wird,  ist  ganz  ohne  Be- 
deutung und  gibt  keinen  Aufschlufs  über  Inhalt  und 
Gedankengang  derselben.  In  die  Gedankenwelt  des  Anti- 
sthenes können  wir  nur  aus  den  vereinzelten  aus  seinen 
Schriften  überhaupt  erhaltenen  Sätzen  und  aus  den  ihm 
zugeschriebenen  Sentenzen  einigermafsen  einen  Einblick  ge- 
winnen. 

Diese  Gedankenwelt  nun  scheint  nicht  ein  systematisches 
Ganzes  aus  einem  Gufs  gebildet  zu  haben.  Die  meisten 
seiner  Lehren  sind  Weiterbildungen  ganz  bestimmter  Ge- 
danken des  Sokrates ,  die  anregend  auf  ihn  gewirkt  haben. 
Inwieweit  dabei  aufserdem  noch  andere  Einflüsse  mitgewirkt 
haben,  lafst  sich  bei  der  Mangelhaftigkeit  der  Nachrichten 
kaum  bestimmen. 

Zunächst  scheint  ihn  die  sokratische  Begriffs- 
lehre lebhaft  angezogen  zu  haben.  Er  begnügte  sich  aber 
nicht  damit,  wie  Sokrates  den  Begriff  als  dasjenige  zu  be- 
zeichnen, was  ein  jedes  Ding  ist;  er  nannte  ihn  „das,  was 
ein  Ding  ist  und  war"  (D.  L.  VI.  3).  Vielleicht  wollte  er 
dadurch  ausdrücken ,  dafs  der  Begriff  das  dauernde  Wesen 
der  Dinge  bezeichne.  Auf  dem  Boden  der  Begriffslehre  nun 
scheint  er  später  schon  dadurch  in  einen  Gegensatz  zu  Plato 
gekommen  zu  sein,  dafs  er  die  bei  diesem  später  auftretende 
Verdinglichung  der  Begriffe  als  immaterielle  Substanzen 
(Ideen)  verwarf  und  bei  den  Begriffen  als  blofsen  Gebilden 
unseres  Denkens  stehen  blieb.  Diretete  Zeugnisse  für  diesen 
Streit  sind  freilich  nur  aus  sehr  später  Zeit  vorhanden 
(Z.  295,  2).  Nach  diesen  hätte  Antisthenes  gesagt,  er  sehe 
wohl  das  Pferd,  aber  nicht  die  „Pferdheit".  Worauf  Plato, 
das  sei  natürlich,  da  ihm  das  Auge  fehle,  mit  dem  man  die 
Pferdheit  sehe.  Hat  dieser  Konflikt  wirklich  stattgefunden, 
so  ist  es  sehr  möglich,  dafs  die  plumpe  Verspottung  der 
Ideenlehre,  die  Plato  im  „Euthydemos"  (301  ff.)  den  beiden 
Sophisten  in  den  Mund  legt,  tatsächlich  zur  Kennzeichnung 
der  Polemik  des  Antisthenes  dienen  sollte.  Dieser  Spott 
ist  gegen  die  platonische  Lehre  von  der  „Gegenwärtigkeit" 
(Parusie)  der  Ideen  in  den  Einzeldingen  gerichtet.    Es  wird 


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440  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

daraus  gefolgert :  „Wenn  bei  dir  ein  Ochse  gegenwärtig  ist, 
so  bist  du  ein  Ochse,  wenn  Dionysodor,  so  bist  du  Diony- 
sodor." 

Für  Antisthenes  ist  bei  dieser  Ablehnung  der  Ideen- 
lehre wie  für  Sokrates  der  Begriff  nur  die  denkende  Zu- 
sammenfassung des  durch  die  Erfahrung  und  den  gesunden 
Menschenverstand  Gegebenen.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich, 
dafs  wir  in  der  in  Piatos  „Theätet"  aufgeführten  Formel, 
Wissen  sei  die  richtige  Meinung  mit  Definition  (201CflF.X 
seinen  erkenntnistheoretischen  Standpunkt  in  seiner  ganzen 
Vollständigkeit  vor  uns  haben.  Er  fordert  also  eine  begriff- 
liche Fixierung  des  dem  natürlichen  Erkennen  Gegebenen, 
die  Aussagen  des  gesunden  Menschenverstandes  auf  deut- 
liche Begriffe  gebracht.  Sicher  ist  freilich  diese  Auslegung 
nicht,  doch  scheint  er  auch  sonst  mit  Eifer  auf  die  Ver- 
deutlichung der  Vorstellungen  gedrungen  zu  haben.  „Der 
Anfang  der  Bildung  ist  die  Untersuchung  der  Benennungen," 
d.  h.  der  die  Vorstellungen  bezeichnenden  Wörter  (Epiktet 
Diss.  I.  17).  Eine  seiner  Schriften  führte  daher  den  Titel 
„Über  Bildung  oder  über  die  Benennungen"  (D.  L.  VI.  17). 

Er  mufö  aber  von  der  BegriflFslehre  aus  zu  allerlei 
abstrusen  und  seltsamen  Folgerungen  gekommen  sein,  die 
ihm  von  selten  des  Aristoteles  den  Vorwurf  der  „Ungebildet- 
heit" und  „Albernheit"  zuziehen  (1043b,  24;  1024b,  32). 
Aristoteles  aber  bezeichnet  diese  Irrwege  seines  logischen 
Denkens  nur  sehr  unbestimmt,  und  in  den  Stellen  bei  Plato, 
die  man  auf  diesen  Teil  seiner  Lehre  zu  beziehen  pflegt, 
wird  er  nicht  ausdrücklich  genannt.  Es  ist  daher  zwar  wohl 
möglich,  dafs  er  zu  einer  Zeit,  wo  es  noch  keine  Logik  gab, 
von  seiner  Begriffslehre  aus  in  allerlei  Irrtümer  geriet.  Da 
aber  die  vorhandenen  Nachrichten  nicht  ausreichen,  uns  von 
diesen  Irrtümern  ein  deutliches  Bild  zu  machen,  da  femer 
diese  FehlgriflFe  mehr  in  die  Vorgeschichte  der  Logik  als  in 
die  Geschichte  der  Philosophie  gehören,  und  da  dieselben 
endlich  auf  seine  eigentlichen  Lehren  keinen  Einflufs  geübt 
zu  haben  scheinen,  so  können  wir  die  Einzelheiten  dieser 
Nachrichten  auf  sich  beruhen  lassen.  Nur  das  sei  angeführt, 
dafs  er  angeblich  von  seiner  Begriffslehre  aus   — 


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I.    1.   Antisthenes.  441 

wie,  ist  nicht  recht  begreiflich  —  zu  der  Annahme  gelangte, 
man  könne  von  jedem  Dinge  nur  es  selbst  aussagen  (z.  B. 
Mensch  ist  Mensch:  identische  Urteile),  wodurch  geradezu 
die  Möglichkeit  der  Definition  als  Angabe  einer  Mehrheit 
von  Merkmalen  wieder  aufgehoben  worden  wäre.  Vielleicht 
behauptete  er  die  ausschliefsliche  Möglichkeit  der  identischen 
Urteile  nur  für  die  einfachsten  Vorstellungen,  die  keine 
Mehrheit  von  Merkmalen  enthalten  (Aristot.  1043  b,  28). 
Noch  unbegreiflicher  ist  es  von  seinen  Voraussetzungen  aus, 
dafs  er  auch  die  bekannten  Behauptungen  aufgestellt  haben 
soll,  es  gebe  keine  widersprechenden  und  keine  falschen 
Aussagen  (Arist.  1024  b,  32;  104  b,  20;  D.  L.  IX.  53).  Diese 
paradoxen  Behauptungen  sollen  dann  den  Hauptzusammen- 
stofs  mit  Plato  herbeigeführt  haben.  Er  soll  zur  Ver- 
lesung einer  Abhandlung,  in  der  er  die  Unmöglichkeit  des 
WiderSprechens  bewiesen  hatte,  Plato  eingeladen  haben.  Als 
er  diesem  sein  Thema  mitteilte,  suchte  derselbe  ihn  seines 
Irrtums  zu  überführen,  und  das  habe  ihn  zur  Abfassung 
seiner  Schrift  „Sathon  oder  über  das  Widersprechen"  ver- 
anlafst  (D.  L.  III.  35).  Dafs  diese,  wie  der  Bericht  hinzu- 
fügt, zu  einer  dauernden  Entfremdung  zwischen  beiden 
führte,  ist  schon  nach  dem  Titel  glaublich,  da  das  Wort 
„Sathon"  eine  schmähliche  Verhunzung  des  Namens  Piatos 
darstellt  (sathe  bedeutet  das  männliche  Glied).  Es  ist  daher 
auch  sehr  wohl  möglich,  dafs  auch  die  Verspottung  der 
beiden  obigen  Sätze  im  „Euthydemos"  vornehmlich  gegen 
Antisthenes  gerichtet  ist.  Übrigens  war  das  Verhältnis  der 
beiden  wohl  auch  schon  vor  diesem  Bruche  kein  besonders 
sympathisches,  wenigstens  wenn  auf  die  darüber  überlieferten 
Anekdoten  etwas  zu  geben  ist.  Bei  einem  festlichen  Auf- 
zuge mit  prächtigen  Reitpferden  sagt  Antisthenes  zu  Plato, 
er  sei  auch  ein  solches  sich  brüstendes  Prunkrofs,  und  als 
er  einst  den  erkrankten  Plato  besucht  und  ein  Gefäfs  mit 
ausgebrochener  Galle  stehen  sieht,  sagt  er:  „Die  Galle  sehe 
ich  da,  aber  den  Dünkel  nicht"  (D.  L.  VI.  7). 

Ein  anderer  von  Sokrates  übernommener  und  noch 
schärfer  ausgebildeter  Punkt  ist  dessen  Neigung  zu  einem 
rein   geistigen   und   einheitlichen   Gottesbegriff.    Folgender 


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442  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Ausspruch  über  die  Gottheit,  vielleicht  aus  seiner  Schrift 
über  die  Natur,  wird  angeführt:  „Aus  einem  Bilde  wird  er 
nicht  erkannt,  mit  den  Augen  wird  er  nicht  gesehen,  keinem 
gleicht  er.  Deshalb  kann  ihn  niemand  aus  einem  Bilde 
kennen  lernen"  (Theodoret,  Gr.  äff.  cur.  I.  cf.  Clem.  AI. 
Protrept.  VI.  71).  Und  ausdrücklich  aus  derselben  Schrift 
wird  das  Wort  angeführt,  nach  der  Satzung  gebe  es  viele 
Götter,  nach  der  Natur  aber  nur  einen  (Philodem  D.  538). 

Zu  dieser  Lehre  steht  es  denn  freilich  in  einem  selt- 
samen Widei-spruch ,  wenn  eine  bei  Plato  öfter  erwähnte 
materialistische  Lehre,  nach  der  nicht  nur  die  sinnenfälligen 
Dinge,  sondein  alles  Existierende  überhaupt  rein  stofiflich 
und  auch  die  Seele  ein  stoflfliches  Ding  sei,  mit  einer  ge- 
wissen Wahrscheinlichkeit  auf  Antisthenes  bezogen  wird 
(Z.  297  flF.).  Plato  nennt  zwar  an  den  betreflFenden  Stellen 
den  Vertreter  dieser  Lehre  nicht,  und  so  fehlt  es  an  der 
vollen  Gewifsheit,  ob  Antisthenes  gemeint  ist.  Vielleicht 
betonte  er  nur  im  Gegensatze  gegen  die  abstrakte  Ideen- 
lehre des  Euklid,  der  die  Dinge  der  Erscheinungswelt  für 
blofsen  Schein  erklärte,  die  Realität  der  Einzeldinge^und 
des  Stoffes.  Jedenfalls  können  wir  auch  diesen  Punkt  hier 
auf  sich  beruhen  lassen,  da  auch  ihm  eine  entscheidende 
Bedeutung  für  das  wichtigste  und  einzig  nachdrücklich  fort- 
wirkende Lehrgebiet  des  Antisthenes,  das  ethische,  nicht 
zukommt.  Zur  Glückseligkeit  bedarf  es  nach  seiner  Über- 
zeugung allein  der  Tugend.  Diese  ist  Sache  des  Handelns 
und  bedarf  nicht  vieler  Beweisführungen  oder  wissenschaft- 
licher Kenntnisse  (D.  L.  VL  11).  Soll  doch  Antisthenes  die 
zur  Tugend  Gelangten  z.  B.  vom  Studium  der  Sprache  und 
Literatur  als  von  etwas  Fremdartigem  und  Ablenkendem 
abgemahnt  haben  (ib.  103). 

Das  ganze  Schwergewicht  fällt  bei  ihm,  wie  bei  Sokrates, 
auf  die  Fragen  des  praktischen  Lebens.  Hier  aber  zeigt 
sich  der  ganze  Gegensatz  gegen  seinen  Meister.  Es  handelt 
sich  nicht  mehr  darum,  die  Leiter  in  Staat  und  Hauswesen 
für  ihren  Beruf  in  der  Gemeinschaft  vorzubilden.  Schon 
die  gesellschaftliche  Stellung,  die  er  einnahm,  mufste  ihn 
gegen   diese   Aufgaben   gleichgültig  machen   und   ihm   den 


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I.    1.   Antisthenes.  443 

epochemachendeu  Übergang  zur  Isolierung  als  Einzelmensch 
erleichtern.  Dazu  kam  noch,  dafs  er  nicht  nur  das  Lebens- 
werk des  Sokrates  so  schrecklich  hatte  scheitern  sehen, 
sondern  dafs  die  Verderbnis  der  öffentlichen  Zustände  in- 
zwischen ins  Hoffnungslose  fortgeschritten  war.  Antisthenes 
hat  daher  für  sie  fast  nur  noch  hoffnungslose  Verurteilung 
und  beifsenden  Sarkasmus.  Zwar,  wenn  er  sagt,  man  müsse 
sich  zum  Staate  verhalten  wie  zum  Feuer,  komme  man  zu 
nahe,  so  verbrenne  man  sich,  bleibe  man  zu  fem,  so  friere 
man  (Stob.  Flor.  45,  28),  so  liegt  darin  noch  eine  gewisse 
Anerkennung  des  Wertes  der  staatlichen  Ordnung  auch  in 
ihrer  Entartung.  Anders  lauten  folgende  Aussprüche.  „Dann 
gehen  die  Staaten  zu  Grunde,  wenn  sie  nicht  mehr  im  stände 
sind,  die  Schlechten  von  den  Tüchtigen  zu  unterscheiden." 
„Unsinnig  ist  es,  aus  dem  Weizen  den  Lolch  auszulesen  und 
im  Kriege  die  Untauglichen  fernzuhalten,  im  Staatsleben 
dagegen  die  Schlechten  nicht  zurückzuweisen."  In  derselben 
steten  Bezugnahme  auf  den  Grundgedanken  des  sokratischen 
Wirkens  rftt  er  den  Athenern,  durch  Volksl)eschlufs  ihre 
Esel  zu  Pferden  zu  ernennen,  da  sie  ja  auch  durch  blofse 
Abstimmung  Leute,  die  nichts  verstünden,  zu  Feldherrn 
machten  (D.  L.  VL  5,  6,  8).  Und  in  einer  Schrift,  betitelt 
„Der  Staatsmann",  unterwarf  er  die  athenischen  Demagogen 
der  Reihe  nach  einer  scharfen  Kritik  (Athenäus  V.  p.  220  D). 
So  entspringt  die  Tendenz,  sich  als  einzelner  aus  dem 
allgemeinen  Schiffbruch  zu  retten.  Höchst  charakteristisch 
für  diese  völlig  veränderte  Stellung  zum  öffentlichen  Leben 
ist  die  neue  Umformung  des  Begriffes  des  „Schönen  und 
Guten",  die  ihm  beigelegt  witd.  Der  Schöne  und  Gute  ist 
jetzt  derjenige,  der  von  den  Wissenden  lernt,  dafs  die  Übel, 
mit  denen  man  behaftet  ist,  entrinnbar  sind  (ib.  8).  Hier 
ist  dieser  alte  Grundbegriff  des  Staatslebens  ganz  ins  Indivi- 
dualistische umgeschlagen.  Das  eigene  Wohlsein,  das  bei 
Sokrates  überwiegend  als  Triebfeder  zur  Begründung  des 
dem  gemeinen  Besten  dienenden  Verhaltens  gegolten  hatte^ 
wird  jetzt  das  oberste  und  beherrschende  Prinzip.  Die 
Frage  nach  der  eigenen  Glückseligkeit,  dem  vollkommenen 
Leben ^  dem  höchsten  Gut  tritt  an  die  Spitze,  wenngleich 


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444  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

noch  nicht  in  wissenschaftlicher  Begründung.  Der  Moralis- 
mus  schlägt  in  die  Lehre  vom  Lebensziel  um,  die  Philo- 
sophie kommt  zu  sich  selbst,  zu  ihrer  eigentlichen  und 
wahren  Aufgabe. 

In  der  Bestimmung  dieses  letzten  Zieles  nun  zeigt  sich 
bei  Antisthenes  die  bedeutsamste  Beeinflussung  durch 
Sokrates,  freilich  nicht  durch  das  Ganze  der  sokratischen 
Lehre,  sondern  durch  zwei  bedeutsame  Einzelpunkte  der- 
selben. 

Der  eine  Punkt  ist  die  ausschliefsliche  Leitung  des 
Handelns  durch  die  Vernunft,  d.  h.  durch  eine  auf  den 
letzten  Endzweck  gerichtete  Erkenntnistätigkeit.  Sokrates 
hatte  in  der  deutlichen  Erkenntnis  des  Zweckmäfsigen  das 
weit  überwiegende  Hilfsmittel  zum  richtigen  Handeln  ge- 
funden. Daran  hält  Antisthenes  fest.  „Man  mufs  Vernunft 
besitzen  oder  einen  Strick"  (Plut.  Sto.  rep.  14).  Und  auf 
die  Frage  eines  neueintretenden  Schülers  nach  den  erforder- 
lichen Utensilien  antwortet  er:  „Ein  neues  Schreibheft, 
einen  neuen  GriflFel  und  eine  neue  Wachstafel,"  wobei  das 
dreimalige  „neu"  durch  ein  Wortspiel  zugleich  bedeutet  „und 
Vernunft"  (D.  L.  VL  3).  Ganz  wie  bei  jeder  axiologischen 
Ethik  ist  ihm  daher  das  zur  wahren  Glückseligkeit  führende 
Verhalten,  die  Tugend,  lehrbar,  und  wenn  einmal  vollkommen 
deutlich  in  seinem  ursächlichen  Zusammenhange  mit  dem 
wahren  Wohlsein  erkannt,  auch  ein  unverlierbarer  Besitz 
(ib.  10,  12,  105).  Auch  die  Bedenken,  die  Xenophon 
einmal  gegen  die  ausschliefslich  intellektuelle  Begründung 
des  Handelns  äufsert  (Mem.  I.  2,  14 — 23),  sind  wahrschein- 
lich auf  Antisthenes  gemünzt.  Trotz  dieses  überwiegenden 
Intellektualismus  im  Handeln  aber  forderte  er  doch  auch 
noch  „sokratische  Kraft",  d.  h.  eine  der  richtigen  Erkenntnis 
zur  Seite  stehende  und  sie  in  Tat  umsetzende  Willensenergie 
(D.  L.  VI.  11). 

Der  zweite  Punkt  ist  der,  dafs  er  das  Lebensziel  aus- 
schliefslich au6  der  sokratischen  Empfehlung  der  Bedürfnis- 
losigkeit entnahm.  Sokrates  hatte  gefunden,  dafs  die  Be- 
dttrfnislosigkeit  nicht  nur  eine  sehr  wichtige  Vorbedingung 
der  Leistungsfähigkeit  ist,  sondern  dafs  sie  auch   an  sich 


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I.    1.   Antisthenes.  445 

ein  Gut  ist.  Sie  macht  den  Göttern  ähnlich,  die  nichts  be- 
dürfen, weil  sie  alles  haben.  Sie  gewährt  femer  auch  in 
der  einfachsten  Weise  das  höchste  Mafs  des  erreichbaren 
Sinnengenusses.  Dieser  götterähnliche  Zustand  der  Selbst- 
genügsamkeit durch  Verzicht  auf  die  Fülle  der  hemmenden 
und  fesselnden  Bedürfnisse  wird  von  Antisthenes  zum  aus- 
schliefslichen  Lebensideal  erhoben  (ib.  11).  Die  höchste  und 
eigentlichste  Befriedigung  liegt  in  der  Freiheit  des 
Nichtbedürfens.  Das  Hauptmittel  aber  femer,  um  zu 
dieser  Freiheit  zu  gelangen,  ist  die  Erkenntnis  des  Trüge- 
rischen der  vermeintlichen  Bedürfnisse,  die  Erkenntnis,  dafs 
dieselben  auf  Wahnvorstellungen  bemhen.  So  kommt  es, 
dafs  dieses  wichtigste  Hilfsmittel  der  Freiheit  geradezu 
selbst  als  das  höchste  Gut  bezeichnet  wird. 

Nach  dem  überaus  wertvollen  Zeugnisse  des  Clemens 
von  Alexandria  (Strom.  II.  §  130)  setzte  Antisthenes  das 
höchste  Gut  in  die  „Illusionslosigkeit"  (atyphfa). 
Alle  die  Dinge,  die  die  Menschen  für  Bedürfnisse  und 
Güter,  deren  Fehlen  sie  für  Entbehrungen  und  Übel  halten, 
durch  die  sie  den  Stöfsen  und  Schlägen  des  Geschicks 
tausend  verwundbare  Stellen  bieten,  sind  nicht  das,  wofür 
sie  gelten.  Die  wahre  Erkenntnis  enthüllt  alle  diese 
vermeintlichen  Güter  und  Übel,  die  uns  unsere  Freiheit  und 
Unabhängigkeit  rauben,  als  Illusionen.  Die  vermeintlichen 
Güter  und  Übel  sind  in  Wahrheit  für  das  Werturteil  Mittel- 
dinge (Adiaphora  im  Sinne  des  Werturteils).  Für  sie  alle 
gilt  das  weder  —  noch,  weder  Güter  noch  Übel.  In  dieser 
Erkenntnis  liegt  aber  auch  schon  das  Prinzip  der  rechten 
Lebensgestaltung,  nämlich  des  freiwilligen  Verzichts  auf 
alle  diese  vermeintlichen  Güter;  sie  führt  zur  Bedürfnis- 
losigkeit und  damit  zur  wahren  Glückseligkeit.  Wenn  unter 
ausdrücklicher  Berufung  auf  eine  Schrift  des  Antisthenes 
ihm  die  Lehre  beigelegt  wird,  das  höchste  Gut  sei  „das 
Leben  nach  der  Tugend"  (D.  L.  VI.  104),  so  ist  das  doch 
erst  eine  abgeleitete  Bestimmung,  denn  erstens  ist  Tugend 
an  sich  ein  sehr  vieldeutiger  Begriff,  der  seinen  Inhalt  erst 
von  der  Werterkenntnis  aus  erhalten  kann.  Tugend  ist  das 
Streben  nach  den  wahren  Glückseligkeitswerten.    Diese  be- 


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446  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

stehen  bei  ihm  im  Nichtbedürfen  und  Nichtentbehren.  Also 
ist  Tugend  das  Streben  nach  der  göttergleichen  Selbst- 
genügsamkeit durch  Bedürfnislosigkeit.  Zweitens  aber 
ist  auch  die  so  mit  einem  bestimmten  Inhalt  erfüllte  Tugend 
nicht  das  eigentliche  höchste  Gut  selbst,  sondern  nur  etwas 
aus  ihm  Entspringendes.  Das  höchste  Gut  selbst  ist  eben 
das  Durchschauen  aller  Illusionen. 

Vom  Ausgangspunkte  der  „Illusionslosigkeit"  aus  ergibt 
sich  für  Antisthenes  eine  „Umwertung  aller  Werte",  zunächst 
in  dem  Sinne,  dafs  alles  das,  was  nach  den  Wahnvor- 
stellungen der  Menschen  als  ein  Gut,  dessen  Gegenteil  als 
ein  Übel  erscheint,  für  etwas  Gleichgültiges  und  Entbehr- 
liches erklärt  wird,  das  man  haben  oder  nicht  haben  kann, 
ohne  dafs  dadurch  der  eigentliche  Glücksstand  geändert 
wird.  Sinnengenufs ,  Reichtum,  edle  Geburt,  Schönheit, 
Macht,  Ehre,  Freundschaft  und  Gemeinschaft,  Familienglück, 
bürgerliche  Freiheit  auch  im  Gegensatze  gegen  den  Sklaven- 
stand, Vaterland,  Götterschutz  und  Götterhilfe  sind  keine 
Güter,  und  alle  die  mühseligen  Veranstaltungen,  die  man 
dieser  Dinge  wegen  in  Bewegung  setzt,  alle  die  Opfer,  die 
man  ihnen  bringt,  sind  verloren.  Das  einzige  wirkliche 
Gut  ist  die  Unabhängigkeit  von  allem,  was  das  Schicksal 
rauben  kann.  „Dem  Schicksal  nichts  anheimstellen",  d.  h. 
von  seinen  Launen  das  eigene  Glück  nicht  abhängig  machen 
(D.  L.  VI.  105),  das  ist  in  dieser  Beziehung  der  oberste 
Grundsatz.  Dem  Verkehrsbedürfnis  z.  B.  stellt  er  den  Satz 
entgegen,  die  Philosophie  habe  ihm  die  Fähigkeit  verliehen, 
mit  sich  selbst  Umgang  zu  pflegen  (D.  L.  VI.  6);  der  edlen 
Geburt  den,  dafs  nur  der  Tugendhafte  von  Adel  sei  (ib.  10); 
dem  Familienbande  den,  dafs  der  Gerechte  höher  zu  schätzen 
sei  als  der  Verwandte  (ib.  12).  Ohne  Bedeutung  für  die 
wahre  Glückseligkeit  ist  auch  der  Unterschied  des  natür- 
lichen Geschlechts:  „Des  Mannes  und  des  Weibes  Tugend 
ist  die  gleiche"  (ib.). 

Aber  diese  Umwertung  nimmt  noch  eine  viel  zu- 
gespitztere  Gestalt  an.  Da  die  vermeintlichen  Güter  sich 
der  Unabhängigkeit  und  Selbstgenügsamkeit  des  Weisen 
geradezu  hinderlich  und   schädlich   und  die  vermeintlichen 


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I.    1.   Antisthenes.  447 

Übel  sich  ihr  heilsam  und  förderlich  erweisen,  so  werden 
die  Güter  direkt  zu  Übeln  und  die  Übel  zu  Gütern. 

Für  diese  Umkehrung  liefert  schon  die  Rede  des  Anti- 
sthenes in  Xenophons  Gastmahl  über  den  Keichtum  ein 
charakteristisches  Beispiel.  Der  Begüterte  ist  allen  mög- 
lichen Plackereien  ausgesetzt  und  begehrt  unersättlich  nach 
mehr  und  wird  dadurch  unfrei,  ja,  er  wird  in  Verbrechen 
oder  gar,  wie  so  manche  Tyrannen,  in  die  abscheulichsten 
Schandtaten  verstrickt.  Er,  der  völlig  Arme  dagegen,  der 
eidlich  beteuert  keinen  Obolus  zu  besitzen  und  an  Grund 
und  Boden  nicht  so  viel,  dafs  sich  ein  Ringer  davon  mit 
Staub  bestreuen  könnte,  ist  aus  den  schon  angegebenen 
Gründen  der  wahrhaft  Reiche  (4,  34  flf.). 

Im  Sinne  dieser  Umkehrung  ist  femer  der  Sinnengenufs 
geradezu  ein  Übel.  Beständig  führt  er  das  Wort  im  Munde : 
„Ich  möchte  lieber  verrückt  sein  als  geniefsen"  (D.  L.  VI.  3; 
S.  Emp.  Hyp.  III.  181;  Dogm.  V.  73).  Als  jemand  ein 
üppiges  Genufsleben  preist,  sagt  er:  »Die  Kinder  meiner 
Feinde  sollen  schwelgen"  (D.  L.  VI.  8).  Insbesondere  gilt 
dies  vom  Geschlechtsgenufs.  „Wenn  ich  die  Aphrodite  an- 
träfe, würde  ich  sie  erschiefsen."  Sein  Prinzip,  das  geschlecht- 
liche Bedürfnis  nur  bei  solchen  Frauen  zu  befriedigen,  die 
es  ihm  „Dank  wissen"  (D.  L.  VI.  3;  Xen.  Gastm.  IV.  38), 
beruht  einesteils  auf  dem  Bestreben,  sich  um  ein  so  unter- 
geordnetes Körperbedürfnis  möglichst  wenig  Ungelegenheiten 
zu  bereiten  (in  welchem  Sinne  er  dem  verfolgten  Ehebrecher 
zuruft:  „0  du  Unglücklicher,  welcher  Gefahr  hättest  du 
für  einen  Obolus  entgehen  können"  (D.  L.  VI.  4),  andern- 
teils  aber  auch  auf  dem  Interesse,  die  vom  Ziele  ablenkende 
Leidenschaft  zu  vermeiden. 

Dagegen  heifst  er  Mühsal,  Schmerz  und  Schande  als 
Hilfsmittel  der  Übung  in  der  Verachtung  der  Scheingüter 
geradezu  willkommen.  Die  Anerkennung  der  Menschen  er- 
scheint ihm  als  eine  Gefahr.  Er  will  lieber  unter  die  Raben 
als  unter  die  Schmeichler  geraten  (körakes  —  kölakes, 
D.  L.  VI.  4),  denn  jene  fressen  die  Toten,  diese  die  Leben- 
digen. Wenn  ihn  die  Menge  oder  ein  Schlechter  lobt, 
gerät  er  in  Besorgnis,  dafs  er  etwas  Schlimmes  begangen 


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448  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

haben  möchte  (D.  L.  VI.  5,  8).  Dagegen  mufs  man  die 
Feinde  als  ein  Gut  schätzen,  denn  sie  merken  zuerst  unsere 
Fehler  und  sind  also  unsere  besten  Bundesgenossen  (ib.  12; 
Plut.  cap.  ex  host.  util.  Cic.  De  amic.  90). 

Die  allumfassende  Tugend  ist  bei  dieser  Lebensauffassung 
die  Einsicht,  die  das  Leben  im  Sinne  der  Illusionslosig- 
keit  regelt.  Er  preist  sie  daher  als  die  sicherste  Mauer, 
die  weder  durchbrochen  noch  durch  Verrat  eingenommen 
werden  kann.  Sie  ist  ein  „uneinnehmbarer  Gedankenbau" 
(ib.  13).  Die  Enthaltsamkeit  und  die  Tapferkeit 
im  Kampfe  mit  den  Begierden  und  den  Anfechtungen  des 
Schicksals  sind  auf  diesem  Standpunkte  nur  selbstverständ- 
liche Modifikationen  der  Einsicht.  Die  Gerechtigkeit 
im  engeren  Sinne,  die  niemand  unrecht  tut,  ergibt  sich  aus 
der  Bedürfnislosigkeit  von  selbst,  da  das  Begehren  nach 
den  Gütern  und  Vorzügen  der  anderen  selbstverständlich 
wegfällt  (Xenoph.  Gastm.  4,  42).  In  diesem  Sinne  vergleicht 
Antisthenes  den  Neid  mit  dem  Rost.  „Wie  dieser  das  Eisen, 
so  zerfrifst  der  Neid  den  Charakter"  (D.  L.  VL  5).  Aber 
auch  noch  in  einem  höheren  Sinne  fühlt  er  sich  gedrungen, 
Gerechtigkeit  zu  üben,  nämlich  im  Sinne  der  wahren  Wohl- 
tat. Er  ist  freigebig  mit  seinem  geistigen  Besitz,  der  Ein- 
sicht, die  von  allen  Übeln  des  Lebens  erlöst  (Xenoph.  Gastm. 
4,  43).  In  diesem  Sinne  vergleicht  er  sich  mit  dem  Arzte, 
und  rechtfertigt  dadurch  sein  oft  hartes  und  rauhes  Ver- 
halten gegen  seine  Schüler  und  seinen  Verkehr  mit  den 
Gesunkenen  (D.  L.  VI.  4,  6).  Auch  der  in  den  Titeln  seiner 
Schriften  zweimal  vorkommende  Ausdruck  „Aufseher**  (D.  L. 
VI.  17  f.)  scheint  darauf  hinzudeuten,  dafs  er  dem  Weisen 
gleichsam  das  Amt  eines  Wächters  und  Mahners  unter  den 
Menschen  beilegte.  Dieser  seelsorgerische  Drang  läfst  sich 
aus  der  ganz  auf  sich  selbst  gestellten  Lebensführung  des 
Kynikers  nicht  folgerichtig  ableiten.  Welchen  Grund  sollte 
er  haben,  sich  um  das  Wohlsein  der  anderen  zu  kümmern? 
Er  scheint  ein  unwillkürlich  nachwirkendes  Erbteil  des 
sokratischen  Geistes  zu  sein. 

Besonderer  Erweisungen  der  Frömmigkeit  bedarf  es 
nicht.    Der  selbstgenugsame  Weise  verlangt  nichts  von  der 


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I.    1.  Antisthenes.  449 

Gottheit;  auch  ist  es  Aberglaube,  dafs  man  dieser  durch 
Opfer,  Gebete  u.  dergl.  etwas  zu  gute  tun  könne  und  dafür 
besondere  Gnadenerweisungen  von  ihr  erwarten  dürfe.  Er 
weist  daher  die  kollektierenden  Bettelpriester  der  „Götter- 
mutter** ab;  für  die  Erhaltung  ihrer  Mutter  müfsten  die 
Götter  selbst  sorgen  (Clem.  AI.  Protrept.  p.  64).  Der  eine 
Gott  verlangt  keinen  anderen  Dienst  als  das  wahrhaft  ver- 
nünftige Leben.  Ganz  vereinzelt  steht  ein  ihm  zugeschriebener 
Ausspruch :  „Wer  unsterblich  sein  will,  mufs  fromm  und  ge- 
recht leben**  (D.  L.  VI.  5).  Dazu  steht  in  einem  gewissen  Wider- 
spruch die  Erzählung,  dafs  er  sich  zwar  in  die  orphischen 
Mysterien  einweihen  liefs,  dabei  aber  an  den  Weihepriester, 
der  die  grofsen  Vorzüge  der  Gerechten  im  Hades  rühmte,  die 
Frage  richtete:  Warum  stirbst  du  denn  nicht?  (D.  L.  VI.  4). 
Manche  Titel  seiner  Schriften  lassen  vermuten,  dafs  er 
gegenüber  der  verweichlichenden  und  durch  künstliche  Be- 
dürfnisse elend  machenden  Kultur  nicht  müde  wurde,  auf 
das  Glück  des  einfachen  Naturzustandes  hinzuweisen.  So 
stellte  er  vielleicht  in  der  Schrift  „Der  Kyklop  oder  über 
Odysseus**  den  einfachen  Naturmenschen  dem  verschlagenen 
Kulturmenschen  gegenüber.  Freilich  scheint  er,  wenn  es 
mit  dem  dreifachen  Titel  einer  seiner  Schriften  „Über  den 
Gebrauch  des  Weines**,  „Über  die  Trunkenheit**,  „Über  den 
Kyklopen**  seine  Richtigkeit  hat  (D.  L.  VI.  18),  dann  auch 
wieder  dieselbe  Sagengestalt  der  Odyssee  als  warnendes 
Beispiel  der  Unmäfsigkeit  verwendet  zu  haben.  Eine  andere 
Schrift  handelte  „Über  die  Natur  der  Tiere**.  Da  ein  blofs 
naturwissenschaftliches  Interesse  ihm  völlig  fem  lag,  so 
läfst  sich  vermuten,  dafs  hier  das  Tier  als  Vorbild  der 
Bedürfnislosigkeit  aufgestellt  wurde.  Auch  „Über  den 
Hund**  hat  er  geschrieben,  ein  Thema,  das  wegen  des  Spott- 
namens seiner  Richtung  ihm  besonders  nahe  lag,  bei  dem 
er  aber  vielleicht  Anlafs  nehmen  konnte,  diesen  Spottnamen 
im  Sinne  der  Vorbildlichkeit  des  Hundes  in  einen  Ehren- 
namen zu  verwandeln.  Noch  bei  Sextus  Empiricus  (Hyp. 
I.  72)  heifst  es,  dafs  die  Kyniker  wegen  der  Klugheit  und 
der  guten  Eigenschaften  des  Hundes  sich  den  Namen  des- 
selben als  Ehrennamen  beigelegt  hätten. 

DftriBff.   I.  29 


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450  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

Unter  den  Gestalten  der  griechischen  Heldensage  aber 
ist  ihm  vor  allen  Herakles,  der  unermüdlich  den  Mühsalen 
des  Lebens  Trotzbietende,  der  eigentliche  Schutzpatron. 
Dazu  mochte  den  nächsten  äufseren  Anlafs  der  Umstand 
bieten,  dafs  das  Gymnasium  Kynosarges  dem  Herakles  ge- 
weiht war.  Doch  wurde  dann  diesem  zufälligen  Umstände 
eine  tiefere  Bedeutung  beigelegt.  Wie  er  femer  den 
Kyklopen  dem  Odysseus  gegenüberstellte,  so  wohl  auch 
Penelope  der  Helena.  Abschreckende  Beispiele  lieferten 
ihm  vielleicht  Aias  und  Kirke  und  die  beiden  Kulturförderer 
Prometheus  und  Palamedes,  wobei  es  an  gewaltsamen  alle- 
gorischen Umdeutungen  der  Züge  der  Sage  nicht  gefehlt 
zu  haben  scheint. 

In  einem  seltsamen  Gegensatz  nun  gegen  diese  Selbst- 
genügsamkeit des  Weisen,  gegen  diese  völlige  Loslösung 
von  der  menschlichen  Gesellschaft  steht  die  Tatsache,  dafs 
Antisthenes  in  seinen  Schriften  sich  vielfach  mit  Haus  und 
Staat  beschäftigt  hatte.  Er  hatte  eine  „Haushaltungskunst", 
eine  „Staatslehre",  einen  Dialog  über  das  Herrschen  und 
zwei  Schriften  über  das  Königtum  verfafst  (D.  L.  VL  15  ff.). 
Wir  sehen  daraus,  dafs  er  auch  in  diesem  Punkte,  trotz  der 
Einseitigkeit,  in  der  er  die  Lehre  des  Sokrates  fortführte, 
den  Anregungen  seines  Meisters  gefolgt  war.  Vielleicht  ist 
hier  eine  gewisse,  auch  sonst  bei  ihm  zu  Tage  tretende 
Schreibseligkeit  im  Spiel.  Doch  darf  man  ihm  eine  voll- 
ständige Zusammenhangslosigkeit  seiner  verschiedenen  Ge- 
dankengruppen nicht  aufbürden.  Wie  kam  er  dazu,  auch 
diesen  Gedankenkreis  zu  pflegen,  und  wie  dachte  er  sich 
das  wünschenswerte  Gemeinschaftsleben?  Dafs  er,  wie 
Sokrates,  an  eine  Verbesserung  der  vorhandenen  öffentlichen 
Zustände  geglaubt  und  gedacht  hätte,  ist  nach  dem  bisher 
Aufgeführten  nicht  wahrscheinlich.  Er  wird  also  wohl  ein 
Staatsideal,  eine  Utopie  im  Sinne  des  Kynismus,  aufgestellt 
haben.  Welche  Gestalt  aber  hatte  dies  Staatsideal?  Den 
einzigen  Anhaltspunkt  hierfür  bietet  folgender,  als  seine 
Lehre  überlieferter  Satz:  „Der  Weise  wird  nicht  nach  den 
aufgestellten  Gesetzen  den  Staat  leiten,  sondern  nach  dem 
Gesetz  der  Tugend"   (D.   L.  VI.  11).    Hieraus  ergibt  sich 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—323).  451 

zunächst,  dafs  er  sich  in  seinem  Idealstaate  den  kynischen 
Weisen  als  unumschränkten,  nicht  an  Gesetze  gebundenen 
Staatslenker  dachte.  Ferner  aber  auch,  da  das  „Gesetz  der 
Tugend",  natürlich  der  kynischen,  dabei  die  einzige  Richtschnur 
sein  soll,  und  da,  wie  wir  wissen,  der  Weise  schon  in  seiner 
privaten  Lebensstellung  die  Masse  der  Menschen  als  unglück- 
liche Kranke,  sich  selbst  aber  als  den  berufenen  Seelenarzt 
ansieht,  dafs  diese  Herrschaft  offenbar  in  dem  Sinne  geübt 
werden  sollte,  um  die  Menschen  möglichst  von  ihren  Wahn- 
vorstellungen hinsichtlich  der  Glückseligkeitsbedingungen  zu 
heilen  und  dem  wahren  Glückszustande  zuzuführen.  Wir 
werden  also  wohl  vermuten  dürfen,  dafs  dieser  kynische 
Staat  den  Zweck  verfolgte,  die  Gesamtheit  der  Menschen 
mit  allen  zulässigen  Mitteln  der  kynischen  Lebensführung 
möglichst  nahezubringen,  vielleicht  auch  dadurch,  dafs 
ihnen  die  Möglichkeit  des  Trachtens  nach  den  verderblichen 
Scheingütem  nach  Kräften  entzogen  wurde.  Über  diese 
allgemeine  Vermutung  hinauszugehen  und  uns  dies  Staats- 
ideal in  seinen  einzelnen  Zügen  auszumalen,  verbietet  sich 
beim  Fehlen  aller  Nachrichten  von  selbst.  Auch  ist  bei 
Diogenes,  über  dessen  Staatsideal  wenigstens  einige  Nach- 
richten vorliegen,  auf  die  Frage  zurückzukommen.  Jeden- 
falls sehen  wir,  dafs  Antisthenes  die  Vereinzelung  des  Weisen 
nur  als  einen  vorläufigen  Zustand  betrachtete,  und  dafs  er, 
trotz  dieser  völligen  Loslösung  des  einzelnen,  dem  Gedanken 
an  eine  Reform  des  Gemeinschaftslebens  doch  noch  nicht 
völlig  entsagt  hatte. 

2.   Diogrenes  von  Sinope  (ca.  410 — ^323). 

Der  einzige  bedeutende  Schüler  des  Antisthenes  und 
der  eigentliche  Begründer  der  kynischen  Lebensweise  ist 
Diogenes  von  Sinope,  nächst  Sokrates  auch  heute  noch 
die  populärste  Gestalt  unter  den  alten  Philosophen.  Sein 
Geburtsjahr  kann  nur  annähernd  nach  der  Angabe  bestimmt 
werden,  dafs  er  323  gestorben  (Plut.  qu.  conv.  VIIL  1,  4; 
D.  L.  VL  79)  und  mindestens  81,  vielleicht  gegen  90  Jahre 
alt   geworden   sei   (Gens.  Di.  nat.   15,  2;    D.  L.  VL  76). 

29* 


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452  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Seine  Vaterstadt  Sinope  war  eine  griechische  Kolonie  an 
der  Sodküste  des  Schwarzen  Meeres.  Als  Anlafs  seiner 
Übersiedelung  nach  Athen  wird  in  den  mannigfaltigsten 
Variationen  (D.  L.  VI.  20  f.)  erzählt,  er  sei  wegen  Falsch- 
münzerei entweder  geflohen  oder  verbannt  worden.  Diese 
Geschichte  ist  in  hohem  Grade  charakteristisch  für  die  Be- 
schaffenheit der  Quellen  über  Lehre  und  Leben  des  Diogenes. 
Seine  eigenen  Schriften,  wenn  nicht  auch  diese  nur  unter- 
geschoben waren,  müssen  früh  verloren  gegangen  sein.  Da- 
gegen hat  sich  schon  früh  und  dauernd  durch  die  Jahr- 
hunderte die  Lehrdichtung,  die  Anekdoten-  und  Sentenzen- 
jagerei seiner  bemächtigt  und  ihn  mit  einem  solchen  Wüste 
von  erdichteten  Zügen  aller  Art  umsponnen,  dafs  es  völlig 
unmöglich  scheint,  zum  Kerne  der  wirklichen  Persönlichkeit 
durchzudringen. 

Bei  der  Falschmünzereigeschichte  nun  scheint  eine 
Herausschälung  des  geschichtlichen  Kerns  ausnahmsweise 
doch  möglich.  Unter  seinen  wahrscheinlich  echten  Dialogen 
(D.  L.  VL  80)  befand  sich  einer  unter  dem  Titel  „Der 
Parder.  Es  läfst  sich  nicht  einmal  ahnen,  welche  Gegen- 
stände er  unter  diesem  seltsamen  Titel  behandelt  haben 
mag.  In  dieser  Schrift  nun  kam  der  Satz  vor,  er  habe  das 
„Nomisma"  umgeprägt  (D.  L.  20).  In  welchem  Sinne  und 
Zusammenhange  dieser  Ausspruch  stand,  das  wufste  offen- 
bar auch  unser  Berichterstatter  nicht  mehr.  Beim  Fehlen 
eines  festen  örtlichen  Mittelpunktes  der  Schule  und  bei  der 
Lebensweise  der  Kyniker  ist  es  nicht  zu  verwundem,  dafs 
diese  Schriften  früh  untergegangen  sind.  Buchstäblich  ge- 
nommen konnte  unter  dem  „Nomisma"  die  Münze  seiner 
Vaterstadt  und  unter  der  Umprägung  die  betrügerische 
Aufprägung  eines  neuen  Stempels  verstanden  werden,  wo- 
durch ihr  Wert  erhöht  wurde.  Dafs  aber  Diogenes  das 
Wort  in  einem  bildlichen  Sinne  nahm,  ergibt  sich  aus  einer 
verständnisvollen  Darlegung  seiner  Lehre,  die  wahrscheinlich 
dem  kurz  nach  Christi  Geburt  lebenden  Diokles  von 
Magnesia  angehört,  von  der  uns  aber  leider  nur  das 
Schlufsstück  erhalten  ist  (D.  L.  70  f.).  Dies  schliefst  mit 
der  zusammenfassenden  Formel,  so  habe  denn  in  der  Tat 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—328).  453 

Diogenes  sich  in  Wort  und  Tat  als  ein  Umpräger  des 
„Nomisma"  erwiesen,  indem  er  nichts  auf  das  der  Satzung 
(nömos)  Gemftfse,  alles  auf  das  der  Natur  Gemäfse  gegeben 
habe,  indem  er  erklärte,  dasselbe  Gepräge  der  Lebens- 
führung zu  verwirklichen  wie  Herakles,  die  Freiheit 
allem  vorziehend.  Dieser  Berichterstatter  also  hat  offenbar 
noch  den  wirklichen  Sinn  des  Ausspruchs  im  „Pardel"  er- 
fafst:  „Umwertung  aller  Werte"  vom  Prinzip  der  Freiheit 
als  dem  Naturgemäfsen  aus,  im  Gegensatz  gegen  die  Tyrannei 
der  Sitte  und  der  Vorurteile;  Vorbild  Herakles  (An- 
spielungen hierauf  auch  bei  Plutarch  de  virt,  Alex.  IL 
332  cf.  VII.  312). 

Eine  gewisse  Bestätigung  erhält  diese  Auffassung  durch 
die  Erzählung,  er  habe  vom  delphischen  Orakel  oder  von 
einem  Apolloorakel  in  seiner  Vaterstadt  auf  die  Frage,  wie 
er  die  höchste  Ehre  erwerben  könne,  die  Weisung  erhalten, 
das  „Nomisma""  umzuprägen.  Dies  scheint  nämlich  nach 
dem  verworrenen  Bericht  (D.  L.  20  f.)  die  ursprüngliche 
Fassung  des  angeblichen  Orakels  gewesen  zu  sein.  Des 
angeblichen  Orakels,  denn  diese  ganze  Orakelgeschichte 
wird  wohl  nichts  anderes  sein  als  eine  Erfindung  der  Schule 
in  Nachahmung  des  angeblich  über  Sokrates  erteilten  Orakels, 
das  diesen  nach  Piatos  Apologie  zu  seinem  ganzen  Wirken 
angefeuert  haben  soll.  Diogenes,  der  wahre  und  eigentliche 
Stammheros  der  Kyniker,  sollte  dadurch  im  Range  neben 
Sokrates  gestellt  werden.  In  Wirklichkeit  lag  den  höchst 
konservativen  Apolloorakeln  nichts  ferner,  als  zu  einer  Um- 
prägung der  herrschenden  Satzungen  aufzufordern.  Es 
braucht  hierfür  nur  an  die  von  Sokrates  her  bekannte  Ant- 
wort der  Pythia  auf  die  Frage  nach  den  richtigen  Formen 
der  Götterverehrung  erinnert  zu  werden :  „Nach  der  Satzung 
(nömos)  der  Stadt. **  In  phantastischer  Ausschmückung,  aber 
mit  richtigem  Verständnis  des  Sinnes  der  Worte  findet  sich 
diese  Orakel  geschieh  te  auch  noch  bei  dem  orakelgläubigen 
Kaiser  Julian  dem  Abtrünnigen  (Orat.  VI  in  Gyn.). 

War  aber  einmal  dieser  Weg  der  Schullegende  beschritten, 
so  hatte  es  gewifs  gerade  für  die  Kyniker  einen  pikanten 
Reiz,  ihren   Meister  sich  zunächst  durch  Mifsverstand  des 


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454  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

doppelsinnigen  Orakels  in  ein  Münzverbrechen  verstricken 
zu  lassen.  So  würde  sich  der  Bericht  erklären  (D.  L.  20; 
Suidas  s.  V),  Diogenes  habe  anfangs  das  Orakel  mifsver- 
standen  und  sich  auf  die  Falschmünzerei  geworfen.  Für 
diese  Auffassung  des  ursprünglichen  Mifsverständnisses  als 
eines  Bestandteils  der  Schullegende  scheinen  auch  die  beiden 
recht  geistvollen  Antworten  zu  sprechen,  die  man  ihm  zur 
Abwehr  des  Vorwurfs,  er  sei  einst  ein  Falschmünzer  ge- 
wesen, in  den  Mund  legte  (D.  L.  56).  „Es  gab  einst  eine 
Zeit,  wo  ich  ein  solcher  war,  wie  du  jetzt  bist;  ein  solcher 
aber,  wie  ich  jetzt  bin,  wirst  du  niemals  werden."  Und: 
„Es  gab  auch  eine  Zeit,  wo  ich  meine  Kleider  näfste;  das 
geschieht  aber  jetzt  nicht  mehr."  Selbstverständlich  bewirkte 
die  verfängliche  Wendung  der  Legende  gehässige  Angriffe 
von  Seiten  der  Gegner,  wie  sie  sich  auch  noch  in  dem  Wüste 
der  erhaltenen  Nachrichten  widerspiegeln,  und  gegen  diese 
wurden  dann  wieder  diese  Formen  der  Abwehr  erdichtet. 

Was  in  Wirklichkeit  Diogenes  zur  Übersiedelung  nach 
Athen  veranlafste,  ist  unbekannt.  Diog.  Laert.  VI.  49  ist 
zweimal  von  einer  Verbannung  aus  seiner  Vaterstadt  (ohne 
Erwähnung  des  Münzverbrechens)  die  Rede.  Diese  konnte 
auch  aus  politischen  Gründen  über  ihn  verhängt  sein.  Viel- 
leicht aber  war  es  der  Zug,  sei  es  zur  Philosophie  über- 
haupt, sei  es  zu  der  besonderen  Form  der  philosophischen 
Lebensführung,  die  man  an  die  Gestalt  des  Sokrates  an- 
knüpfte, und  die,  wie  man  annahm;  in  Antisthenes  ihre 
Verkörperung  gefunden  hatte.  Auch  die  Zeit  seiner  Über- 
siedelung nach  Athen  ist  unbekannt,  kann  aber  vermutungs- 
weise um  380,  also  in  die  spätere  Lebenszeit  des  Anti- 
sthenes (gestorben  um  470),  gesetzt  werden. 

Dafs  er  schon  mit  einem  Zuge  zu  Antisthenes  als  dem 
echten  Sokratiker  nach  Athen  kam,  und  dafs  dies  in  der 
letzten  Zeit  des  Wirkens  desselben  geschah,  scheint  durch 
die  Erzählung  von  den  seltsamen  Umständen  seiner  Auf- 
nahme als  Schüler  bei  diesem  seine  Bestätigung  zu  finden. 
Antisthenes  hatte  seine  Lehrtätigkeit  ganz  aufgegeben,  weil 
von  den  vielen,  die  ihn  hörten,  keiner  sich  zur  vollen  Nach- 
folge entschlofs.    So  wies  er  denn  auch  Diogenes  wiederholt 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—828).  455 

ab  und  drohte  ihm  schliefslich  mit  Stockschlägen,  und  als 
auch  dies  nicht  half,  führte  er  einen  tüchtigen  Schlag  mit 
dem  Stocke  gegen  seinen  Kopf.  Diogenes  aber  sagt: 
„Schlage  nur  weiter;  einen  so  harten  Knüttel  wirst  du 
nicht  finden,  dafs  du  mich  damit  von  deiner  Belehrung  fort- 
treiben kannst."  Darauf  denn  Aufnahme  und  engste  Gemein- 
schaft (Ael.  Var.  H.  X.  16;  D.  L.  21). 

Dafs  Antisthenes  von  der  Annahme  der  vollständigen 
kynischen  Lebensform  noch  weit  entfernt  war,  ist  schon 
hervorgehoben  worden.  Wir  besitzen  nun  aber  mehrere 
Zeugnisse  über  die  ganz  allmähliche  Entstehung  der  kyni- 
schen Lebensweise  bei  Diogenes.  Diese  gehen  grofsenteils 
auf  einen  Zeugen  ersten  Ranges  zurück,  nämlich  auf  eine 
Schrift  Theophrasts,  der,  geboren  um  370,  vielleicht 
schon  vor  350  bis  zu  Piatos  Tode  (347)  und  nachher  wieder 
wahrscheinlich  von  336  an  dauernd  in  Athen  lebte. 

Zunächst  nimmt  er  die  vereinfachte  Tracht  des  Anti- 
sthenes, das  doppeltgeschlagene  Obergewand,  an  (D.  L.  6; 
S.  Emp.  Hyp.  I.  153).  Sodann  (D.  L.  22)  erhielt  er  in 
bedrängten  Verhältnissen  einen  Fingerzeig  zur  weiteren 
Vereinfachung  seiner  Lebensweise  durch  die  Beobachtung 
einer  umherlaufenden  Maus,  die  weder  eine  Lagerstätte  auf- 
suchte noch  die  Finsternis  scheute,  noch  nach  Genüssen 
trachtete.  Dies  habe  ihn  veranlafst,  den  groben  Bettler- 
mantel (trlbön)  anzulegen,  in  dem  er  denn  auch  (in  Er- 
mangelung eines  Obdaches  und  Bettes)  schlief.  Anscheinend 
geht  auch  die  weitere  Schilderung  auf  Theophrast  zurück. 
Er  legt  sich  einen  Ranzen  für  Lebensmittel  zu  und  vollzieht 
fortan  alle  Lebensverrichtungen,  Essen,  Schlafen  u.  s.  w., 
in  der  Öffentlichkeit,  so  dafs  er  in  der  Folge  rühmen  konnte, 
welches  herrliche  Obdach  ihm  die  Athener  in  der  Säulen- 
halle des  Zeustempels  und  des  Parthenon  errichtet  hätten 
(D.  L.  22;  Teles  bei  Stob.  Flor.  5,  67).  Den  Stab  habe  er 
anfangs  nur  in  Krankheitsfällen  oder  auf  Wanderungen  be- 
nutzt, später  dauernd.  Hier  beruft  sich  Diog.  Laertios 
auch  auf  das  Zeugnis  eines  athenischen  Staatsbeamten, 
namens  Olympiodor,  ungewifs,  aus  welcher  Zeit,  und  eines 
Redners  Polyeuktes,  der  an  anderer  Stelle  (II.  38)  im  Zu- 


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456  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

sammenhange  mit  dem  Prozefs  des  Sokrates  genannt  wird. 
Auch  gebettelt  haben  soll  er  anfangs  nur  aus  Not  (D.  L.  49 
vergl.  21). 

Die  Mausegesefaichte  wird  auch  sonst  in  mehrfachen 
Variationen  erzfthlt.  Die  Athener  feiern  mit  üppigen  Gaste- 
reien ein  Götterfest.  Diogenes ,  arm  und  unbekannt ,  wird 
nirgends  eingeladen  und  kann  auch  selbst  niemand  einladen. 
Er  drückt  sich  betrübt  in  eine  dunkle  Ecke  und  verzehrt 
ein  Stück  Brot.  Da  tröstet  ihn  der  Anblick  einer  Maus, 
die  auch  nichts  von  den  üppigen  Mahlen  der  Athener  be- 
gehrt, sondern  zufrieden  die  ihm  entfallenden  Brotkrumen 
verspeist  (Plut.  Prof.  in  virt.  Ael.  V.  bist.  XIII.  25).  Nach 
einer  noch  feineren  Zuspitzung  (D.  L.  40)  sagt  er:  „Sieh 
da,  sogar  Diogenes  hat  noch  Schmarotzer!"  In  diese  Über- 
gangszeit gehört  auch  die  Anekdote  von  dem  Sklaven  Manes, 
den  er  aus  Sinope  mitgebracht  hat,  und  der  ihm  davonläuft, 
weil  ihm  die  dürftige  Lebensweise  nicht  behagt.  Man  fordert 
ihn  auf,  Schritte  zur  Wiedererlangung  zu  tun.  Diogenes 
aber  sagt:  „Wenn  Manes  den  Diogenes  entbehren  kann, 
sollte  nicht  Diogenes  den  Manes  entbehren  können?"  (Ael. 
V.  H.  XIII.  27;  D.  L.  VI.  55;  Stob.  Flor.  62,  47).  Eine 
Anspielung  auf  diese  Erzählung  fand  sich  schon  um  240  bei 
dem  Philosophen  Teles  (Stob.  Flor.  97,  31). 

So  gelangt  er  denn,  anscheinend  anfangs  unter  dem 
Drucke  der  Not,  dahin,  die  Theorie  des  Antisthenes  von 
der  Freiheit  durch  Illusionslosigkeit  als  dem  wahren  Wege 
zur  Glückseligkeit  in  die  schärfste  und  konsequenteste 
Praxis  umzusetzen.  Er  lebt  von  den  einfachen  Nahrungs- 
mitteln, die  er  nicht  erbettelte,  sondern  als  rechtmäfsigen 
Entgelt  für  sein  Lehren  und  Mahnen  von  den  Freunden 
„einforderte"  (D.  L.  46).  Seine  Mahlzeiten  hält  er  öflfent- 
lich  und  rechtfertigt  dies  das  eine  Mal  dadurch,*  dafs  der 
Hunger  sich  auch  in  der  Öffentlichkeit  einstelle,  das  andere 
Mal  dadurch ,  dafs ,  wenn  Frühstücken  überhaupt  nicht  un- 
schicklich sei ,  es  auch  auf  dem  Markte  nicht  unschicklich 
sein  könne  (D.  L.  58,  69).  Dafs  er  sich  auch  des  Geschlechts- 
bedürfnisses auf  öffentlichem  Markte  durch  Onanie  ent- 
ledigte und  dabei  nur  bedauerte,  dafs  man  den  Magen  nicht 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—323).  457 

in  gleich  einfacher  Weise  befriedigen  könne,  beruht  auf  dem 
Zeugnis  des  Stoikers  Chrysippos,  der  209  starb  (Plut. 
rep.  Sto.  21 ;  vergl.  D.  L.  46,  69).  Die  Öffentlichkeit  solcher 
anstöfsiger  Handlungen  beruht  auf  dem  Grundsatze,  dafs, 
was  der  Natur  gemäfs  ist,  auch  nicht  aus  der  Öffentlichkeit 
verbannt  zu  werden  braucht.  So  wird  denn  auch  berichtet, 
dafs  er  alle  Verrichtungen  der  Demeter  (alles,  was  mit  der 
Ernährung  und  Verdauung  zusammenhängt)  und  der  Aphro- 
dite öffentlich  vollzogen  habe  (D.  L.  69).  Dies  ist  denn 
auch  wohl  der  Hauptgrund,  weshalb  ihm  der  Beiname  des 
Hundes  zu  teil  wurde.  Wenigstens  wird  er  einmal  wegen 
öffentlichen  Frtihstückens  Hund  geschimpft,  worauf  er  er- 
widert, sie,  die  Zuschauer,  seien  vielmehr  die  Hunde  (ib.  61). 
Andernteils  aber  verband  er  mit  der  Öffentlichkeit  solcher 
Handlungen  wohl  auch  einen  direkten  Lehrzweck :  sie  sollten 
propagandistisch  wirken.  Gegen  Hitze  und  Kälte  härtet  er 
sich  ab,  indem  er  sich  in  dem  von  der  Sonne  erhitzten 
Sande  wälzt  oder  bei  strenger  Kälte  beschneite  Standbilder 
umarmt  (D.  L.  23)  oder  mit  blofsen  Füfsen  über  Schnee 
geht  (ib.  34).  Um  den  Gebrauch  des  Feuers  zur  Zubereitung 
der  Speisen  tiberflüssig  zu  machen,  versucht  er  sich  im  Ver- 
zehren rohen  Fleisches,  was  ihm  aber  nicht  gelingt  (ib.). 
Seinen  hölzernen  Becher  wirft  er  fort,  als  er  einen  Knaben 
aus  der  hohlen  Hand  trinken  sieht,  und  seine  Efsschüssel, 
als  einer  Linsen  aus  einem  gehöhlten  Stücke  Brot  afs  (ib. 
37).  Obdach  und  Schlafstelle  findet  er  in  den  Säulenhallen 
der  Tempel.  Die  so  höchst  populäre  Fafsgeschichte  dagegen 
beruht  mindestens  auf  einer  gewaltigen  Übertreibung.  Zu- 
nächst ist  dabei  in  keinem  Falle  an  ein  Fafs  in  unserem 
^Sinne  mit  Dauben  und  Reifen  zu  denken,  sondern  an  jene 
riesigen  Tongef&fse  zur  Aufbewahrung  von  Getreide,  Wein 
oder  Öl,  die  noch  heute  vielfach  unter  den  Resten  des 
Altertums  gefunden  werden.  Sodann  findet  sich  die  an- 
scheinend älteste  Erwähnung  des  Fasses  in  einem  angeb- 
lichen Briefe  des  Diogenes  an  einen  Freund,  den  er  ersucht 
hat,  ein  Häuschen  für  ihn  zu  beschaffen,  und  dem  er  meldet, 
er  bedürfe  dessen  nicht  mehr,  da  er  das  Fafs  beim  Metroon 
(dem  Tempel   der  Göttermutter)  bezogen  habe  (D.  L.  23). 


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458  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Diese  Briefe  waren  aber  wohl  sämtlich  untergeschoben.  In 
den  späteren  Berichten  wird  dann  das  Wohnen  im  Fasse  zu 
einer  ständigen  Gewohnheit  verallgemeinert  (Juvenal  Sat. 
14,  309;  Orig.  c.  Gels.  IL  7,  3;  Diogenian  IV.  38).  Diog. 
Laörtios  (VI.  43)  berichtet  als  einen  besonderen  Beweis 
seiner  Beliebtheit  bei  den  Athenern,  dafs,  als  ein  böser 
Bube  sein  Fafs  zerschlagen  habe,  diesem  eine  Tracht  Prügel 
verabreicht,  Diogenes  aber  von  Staats  wegen  mit  einem 
neuen  Fasse  versehen  worden  sei,  und  Lucian  weifs  sogar 
zu  berichten,  dafs  er,  um  sich  Bewegung  zu  machen,  das 
Fafs  öfter  hin  und  her  gerollt  habe.  In  Wahrheit  mag  er 
vielleicht  einmal  zeitweilig  in  einem  Fasse  Obdach  gesucht 
haben,  obwohl  selbst  dies  leicht  von  einem  beliebigen  obdach- 
losen Bettler  auf  ihn  übertragen  werden  konnte.  Das, 
worauf  es  bei  der  ganzen  Frage  eigentlich  ankommt,  ist  der 
Verzicht  auf  ein  eigenes  Obdach. 

Gemäfs  der  schon  bei  Antisthenes  auftretenden  Vor- 
stellung vom  Berufe  des  Kynikers  ist  er  nun  ferner  Arzt 
und  Heiland,  ein  Hund,  der  die  Freunde  beifst,  um  sie  zu 
retten  (Stob.  Flor.  13,  25,  27).  Der  anscheinend  schon  bei 
Antisthenes  vorkommende  Gedanke,  dafs  der  Kyniker  ein 
göttlicher  Bote  und  Mahner  zum  wahren  Heile  ist,  kommt 
bei  Diogenes  nur  indirekt  dadurch  zum  Ausdruck,  dafs  er 
die  Freimütigkeit  das  Schönste  am  Menschen  nennt  (D.  L. 
69)  und  demgemäfs  mit  grofser  Derbheit  namentlich  den 
Luxus  und  die  Sinnenlust  als  die  Quelle  eingebildeter  Be- 
dürfnisse geifselt.  So  sagt  er  zu  dem  Reichen,  der  sich 
von  seinem  Sklaven  die  Schuhe  anziehen  läfst,  er  werde 
nicht  glücklich  sein,  wenn  er  sich  nicht  auch  noch  vom 
Sklaven  schneuzen  lasse  (D.  L.  44).  In  demselben  Sinne 
verfolgt  er  mit  scharfem  Tadel  alles,  was  der  Prostitution 
dient,  der  männlichen  sowohl  wie  der  weiblichen  (D.  L.  46, 
53  f.,  59,  68,  60  f.).  Er  sagt  auch,  er  nehme,  wie  ein  guter 
Chorlehrer,  den  Ton  etwas  höher,  als  die  Sänger  einzu- 
setzen hätten  (ib.  49). 

Diese  Freimütigkeit  ist  denn  offenbar  der  Anlafs  ge- 
worden, dafs  die  Überlieferung  aus  ihm  eine  Art  antiken 
Eulenspiegels  gemacht  und  alle  möglichen,  mit  seinem  Prinzip 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—323).  45^ 

durchaus  nicht  zusammenhängenden  Witze  und  Derbheiten 
auf  sein  Konto  gesetzt  hat.  Eine  blofse  Eulenspiegelei  ist 
z.  B.  eine  Anekdote,  die  schon  in  den  „Chrien"  seine» 
Enkelschülers  Metrokies  (um  300)  gestanden  hat.  Unter 
„Chrien**  verstand  man  bezeichnende  Handlungen  bekannter 
Personen,  meist  mit  hinzutretender  pointierter  Äufserung. 
Auch  in  einer  Chriensammlung  des  Stoikers  Hekaton 
(um  100  vor  Chr.)  kam  Diogenes  vor  (D.  L.  32).  In  den 
späteren  Rhetorenschulen  wurde  diese  Art  von  Anekdoten 
mit  Vorliebe  als  Themata  für  Stilübungen  benutzt.  Metrokies 
also  berichtete,  Diogenes  sei  einst  halbrasiert  in  ein  Trink- 
gelage junger  Leute  eingetreten  und  dort  jämmerlich  durch- 
geprügelt worden.  Hierfür  habe  er  sich  in  der  Weise  ge- 
rächt, dafs  er  die  Namen  der  Schläger  auf  eine  grofse 
weifse  Tafel  schrieb  und  diese  umhertrug  (D.  L.  23).  Ähn- 
licher Art  ist,  dafs  er  sich  statt  des  Haupthaares  die  Füfse 
salbt,  damit  der  Duft  nicht  unnütz  verfliege,  sondern  in  die 
Nase  gelange  (ib.  39).  Ein  Beispiel  der  zahlreichen  blofsen 
Witze,  die  sich  an  ihn  hefteten:  Einer,  der  einen  Balken 
trägt,  stöfst  ihn  damit  und  sagt  nachher:  Achtung!  Dio- 
genes fragt  hierauf  nach  der  einen  Version:  „Willst  du 
mich  noch  einmal  stofsenV"  Nach  der  anderen  schlägt  er 
ihn  mit  dem  Stocke  und  ruft  dann  ebenfalls  nachträglich: 
„Achtung!"  (D.  L.  41,  66).  Ein  paar  Beispiele  der  ihm  nach- 
erzählten Derbheiten:  Er  bittet  einen  mürrischen  Menschen 
um  etwas.  Dieser  sagt:  „Wenn  du  mich  überreden  kannst." 
Diogenes :  „Wenn  ich  dich  überreden  könnte,  hätte  ich  dich 
längst  überredet,  dich  aufzuhängen"  (ib.  59).  Bei  einem 
Gastmahl  werden  ihm  wie  einem  Hunde  die  Knochen  zu- 
geworfen. Diogenes  acceptiert  die  Auffassung  als  Hund^ 
indem  er  die  Gewohnheiten  des  Hundes  hinsichtlich  des 
Urinlassens  an  den  Kleidern  jener  nachahmt  (ib.  46). 

Wenn  wir  uns  nun  von  diesen  Auswüchsen  der  Diogenes- 
legende seiner  eigentlichen  Gedankenwelt  zuwenden,  so  tritt 
zunächst  hervor,  dafs  Diogenes  seiner  eigenen  Auffassung 
nach  durchaus  Philosoph  ist  und  die  Lebensauffassung,  die 
er  selbst  vertritt,  und  für  die  er  andere  gewinnen  will,  als 
Philosophie  betrachtet   (D.  L.  63,   64,   65).    Er  mufs   ein 


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460  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

2usaiiimenhängeDdes  Gedankensystem  besessen  haben,  das, 
«ei  es  von  ihm  selbst,  sei  es  von  einem  seiner  Anhänger, 
auch  in  Schriften  niedergelegt  worden  ist.  Zwar  vergleicht 
•er  Schriften  geringschätzig  mit  gemalten  Feigen  (D.  L.  48), 
aber  es  sind  inmitten  des  Anekdotenwustes  bei  Diogenes 
Laertios  wenigstens  einige  Bruchstücke  einer  zusammen- 
hängenden Darstellung  seiner  Lehre  erhalten  (70  f. ,  38,  44, 
24),  die  auf  wohldurchdachten  Überzeugungen  beruhen  und 
aus  Schriften  geschöpft  sein  müssen. 

Von  Schriften  nun  wurden  ihm  beigelegt;  13  Dialoge 
und  7  Tragödien,  aufserdem  Chrien  und  Briefe  (D.  L.  80). 
Die  unter  seinem  Namen  erhaltenen  Briefe  sind,  wie  bemerkt, 
offenbar  gefälscht.  Dafs  Diogenes  selbst  Chrien  aufgezeichnet 
haben  sollte,  ist  widersinnig.  Die  Tragödien  werden  teils 
seinem  Schüler  Philiskos,  teils  dem  gewerbsmäfsigen  Erz- 
fälscher Pasiphon  beigelegt,  der  den  Sammeleifer  der  alexan- 
drinischen  Bibliothek  durch  Unterschiebung  von  Schriften 
für  seinen  Geldbeutel  nutzbar  zu  machen  suchte  (ib.  73,  80). 
Über  die  Dialoge  läfst  sich  nichts  sagen,  doch  scheint  es, 
dafs  wenigstens  in  einem  Teile  derselben  seine  wirklichen 
Gedanken  wiedergegeben  waren.  Für  die  Echtheit  eines 
Dialogs  über  den  Staat  liegt  das  Zeugnis  des  Stoikers 
Kleanthes  um  270  vor  Chr.  vor  (Vol.  Herc.  VIII.  13); 
von  den  Tragödien  wurden  mehrere  von  dem  Epikureer 
Philodem  um  50  vor  Chr.  für  echt  gehalten  (Gomperz, 
Ztschr.  f.  öst.  Gymn.  1878). 

Ablehnend  verhält  sich  Diogenes  gegen  die  übrigen 
Philosophenschulen  in  Athen.  Den  Unterricht  Pia  tos 
nennt  er  in  einem  boshaften  Wortspiel  ein  Zu-Grunde- 
richten  (D.  L.  24),  und  der  schon  bei  Antisthenes  berichtete 
Gegensatz  in  bezug  auf  die  Ideenlehre  wiederholt  sich  hier 
in  der  Form,  dafs  Diogenes  erklärt,  zwar  Tische  und  Becher, 
aber  keine  Tischheit  und  Becherheit  zu  sehen,  worauf  Plato 
auch  hier  erwidert,  dafs  ihm  das  dazu  erforderliche  intellek- 
tuelle Sehvermögen  fehle  (ib.  53).  Im  übrigen  bewegen  sich 
<lie  Konflikte  mit  Plato  durchaus  auf  dem  praktischen  Ge- 
biete. Plato  hat  zum  Empfange  auswärtiger  Gäste  sein 
Haus  mit  prächtigen  Teppichen  belegt.    „Ich  trete  auf  den 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—823).  461 

Dünkel  Piatos,"  sagt  Diogenes.  „Mit  einer  anderen  Art 
von  Dünkel,"  erwidert  Plato  (ib.  26).  Plato  bezeichnet  ihn 
in  höchst  treffender  und  lehrreicher  Weise  als  einen  rasend 
gewordenen  Sokrates  (ib.  54;  Ael.  V.  H.  VIV.  33)  und 
deutet  gewifs  zutreffend  auf  die  in  seinem  Verhalten  liegende 
Ostentation  hin,  wenn  er  die  Leute,  die  den  im  strömenden 
Regen  dastehenden  Diogenes  bemitleiden,  auffordert,  dies 
wenigstens  nicht  vor  jenes  Ohren  zu  tun  (D.  L.  41).  Andern- 
teils  spöttelt  Diogenes  über  den  Besuch  Piatos  am  üppigen 
Hofe  von  Syrakus  (D.  L.  25;  Ael.  V.  H.  XIV.  33). 

Die  Schule  Euklids  vonMegara  erscheint  ihm  nicht 
als  eine  Schule  (scholl),  sondern  als  eine  Galle  (chol6).  A1& 
einer  dieser  Dialektiker  beweist,  es  gebe  keine  Bewegung, 
steht  er  auf  und  geht  umher,  und  als  einer  derselben  an 
ihm  den  Beweis  probiert,  dafs  er  Homer  habe  (wovon 
später) ,  fafst  er  sich  an  die  Stirn  und  erklärt ,  er  bemerke 
da  nichts  (D.  L.  38  f.). 

Auch  mit  Aristoteles,  der  von  366— 347  und  später 
wieder  von  335  an  in  Athen  weilte,  wird  wenigstens  eine 
Begegnung  berichtet.  Diogenes  überreicht  Aristoteles  eine 
Feige.  Dieser  merkt,  dafs  Diogenes  die  Nichtannahme  er- 
wartet und  sich  für  diesen  Fall  eine  beifsende  Antwort 
(eine.Chrie)  ausgesonnen  hat,  nimmt  die  Feige  und  sagt: 
„Du  hast  deine  Feige  und  deine  Chrie  verloren"  (D.  L.  V,  18). 

Die  Geometrie,  die  Astronomie  und  die  Musikwissenschaft 
verachtete  er  als  nutzlos  (D.  L,  73).  Die  Astronomen  sehen 
nach  Sonne  und  Mond  und  übersehen  das  Nächstliegende 
(ib.  27).  Der  Zuversichtlichkeit,  mit  der  ein  Astronom  seine 
Theorien  vorträgt,  setzt  er  die  Frage  entgegen:  „Seit  wann 
bist  zu  vom  Himmel  zurückgekommen?"  (ib.  39).  Der 
Musiker  weifs  die  Saiten  der  Leier  harmonisch  zu  spannen, 
die  Regungen  •der  eigenen  Seele  aber  nicht  in  Harmonie  zu 
bringen  (27).  Und  gegen  die  Musiker  parodiert  er  eine 
Stelle  des  Euripides: 

Durch  Einsicht  hält  man  Haus  und  Staat  in  gutem  Stand, 
Nicht  durch  das  Zirpen  und  GeträUer  eurer  Melodien 
(ib.  104). 


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462  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleinereu  sokratisch.  Schulen  etc. 

Als  ihm  einer  eine  Uhr  vorzeigt  (mutmafslich  eine 
Wasseruhr),  findet  er  das  Ding  vortrefflich,  um  die  Stunde 
des  Mittagessens  nicht  zu  verpassen  (ib.  104). 

Dennoch  ist  Diogenes  Freund  der  Bildung.  Er  preist 
sie  als  die  Tugend  der  Jungen,  den  Trost  der  Alten,  den 
Reichtum  der  Armen  und  den  Schmuck  der  Reichen  (ib.  68) 
und  erklärt  den  Ungebildeten  für  die  gröfste  Last  der  Erde 
(Meli.  Fr.  60).  Aber  die  Bildung  bezieht  sich  bei  ihm,  wie 
bei  den  Kynikern  überhaupt  (ib.  103),  nur  auf  die  richtige 
Regelung  des  Lebens,  auf  das  Ethische.  In  Beziehung  auf 
die  Lebensregelung  aber  ist  auch  er  zunächst  strenger 
Intellektualist.  Das  Wort  „Vernunft  oder  einen  Strick" 
führte  er  beständig  im  Munde  (ib.  24).  Nur  die  Philosophie 
kann  zu  einem  glücklichen  Leben  führen  (ib.  65).  Die  Ver- 
wirklichung desselben  ist  möglich.  Nicht  das  Leben  an  sich 
ist  ein  Übel,  sondern  das  verkehrte  Leben  (ib.  55).  Er  soll 
oft  laut  ausgerufen  haben:  „Die  Götter  haben  den  Menschen 
ein  leichtes  Leben  verliehen,  diese  Einsicht  aber  ist  für  sie 
verloren,  da  sie  nach  Leckerbissen,  Salben  u.  dgl.  trachten" 
(ib.  44). 

Das  letzte  zu  Erstrebende  ist,  wie  wir  schon  gehört 
haben,  die  Freiheit.  Von  ihr  aus  ergibt  sich  die  Umprägung 
der  Lebensführung  mit  dem  Stempel  der  Natur  statt  des 
Herkommens.  Vorbild  ist  Herakles  (ib.  71).  Die  drei 
Feinde  der  Glückseligkeit  sind  das  Schicksal,  das  Her- 
kommen und  die  eigenen  Affekte  und  Begehrungen.  Dem 
Schicksal  mufs  man  Mut  entgegensetzen,  dem  Herkommen 
die  Natur,  den  Gemütsbewegungen  die  Vernunft  (ib.  38). 
Aber  der  Mut  gegenüber  dem  Schicksal  entspringt  nicht 
aus  blofser  animalischer  Kraft,  sondern  aus  dem  Denken. 
Auf  die  Frage,  was  ihm  die  Philosophie  genützt  habe,  ant- 
wortet er:  Wenn  nichts  anderes,  so  wenigstens  das,  jedem 
Schicksal  gewachsen  zu  sein  (ib.  63).  So  ist  ihm  die  Armut 
kein  Übel,  weil  sie  kein  Verbrechen  ist  (Stob.  Flor.  95,  12), 
der  Tod  nicht,  weil  man  ihn  nicht  fühlt  (D.  L.  68).  Er 
legt  dem  Schicksal  die  Worte  in  den  Mund:  „Diesem 
wütenden  Hunde  kann  ich  nichts  anhaben"  (Stob.  Ecl.  IL 
348;  Anspielung  auf  einen  Homervers  II.  8,  299).    Er  geht 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—323).  463 

aber,  wie  Antisthenes,  über  die  blofse  Standhaftigkeit  dem 
Schicksal  gegenüber  weit  hinaus.  Auch  hier  übt  er  das 
Geschäft  der  Umprägung;  das  Mifsgeschick  ist  ein  Segen. 
Als  ihn  etwas  Schlimmes  betrifft,  sagt  er;  „Bravo,  Schicksal, 
dafs  du  mir  so  mannhaft  zur  Seite  stehst!"  (Stob.  Flor. 
108,  71).  Armut  ist  eine  in  der  Torm  der  Selbstbelehrung 
(autodidaktisch)  wirkende  Hilfe  zur  „Philosophie" ;  was  diese 
durch  Worte  zu  bewirken  sucht,  das  bringt  die  Armut 
durch  Werke  fertig  (Stob.  Flor.  95,  11,  99).  Und  um- 
gekehrt sind  edle  Geburt,  Ruhm  u.  dergl.  vermeintliche 
Güter  nicht  nur  wertlos,  sondern  geradezu  verderblich  (D. 
L.  72).  Der  Schmeichler  ist  ihm  von  den  zahmen  Tieren 
das  schädlichste  (D.  L.  51).  Auch  er  betont  den  Wert  der 
Feinde  (Plut.,  Nutzen  der  Feinde  p.  332).  Die  Herab- 
würdigung ist  „ein  fremdes  Gut",  d.  h.  ein  Gut,  das  dem 
Herabgewürdigten  zu  gute  kommt  (Meli.  Fr.  32  f.).  So 
kann  er  die  ihn  treffenden  Unannehmlichkeiten  des  Lebens 
mit  dem  überlegenen  Humor  behandeln,  der  in  zahlreichen 
Anekdoten  seinen  Ausdruck  findet. 

Ähnlich  ist  es  mit  den  Begierden.  Die  Geldgier  ist 
„die  Mutterstadt  aller  Übel"  (D.  L.  50).  Liebe  ist  eine 
Beschäftigung  für  Mtifsige  (ib.  51),  ja,  ein  um  der  Lust 
willen  erstrebtes  Unheil  (ib.  67).  Die  Ehe  verwirft  er.  Die 
Jungen  sollen  niemals  heiraten,  die  Alten  nie  und  nimmer 
(ib.  54).  Als  dezidierten  Weiberfeind  zeigt  ihn  die  Anek- 
dote, nach  der  er  beim  Anblick  einiger  an  einem  Baume 
erhängter  Weiber  sagt:  „Möchten  doch  alle  Bäume  solche 
Früchte  tragen!"  (ib.  54).  Generell  wird  auch  ihm,  wie 
dem  Antisthenes,  die  affektlose  Gelassenheit  nachgerühmt 
(D.  L.  15). 

Wie  Antisthenes  scheint  auch  Diogenes  eine  Art  Gottes- 
glauben festgehalten  zu  haben,  der  jedoch  bei  der  dem 
Kyniker  fehlenden  Hilfsbedürftigkeit  kein  eigentlich  religiöses 
Leben  auslöst  und  mit  Gleichgültigkeit  gegen  die  Volkskulte 
gepaart  ist.  Zwar  geht  er  der  direkten  Antwort  eines  un- 
berufenen Fragers,  ob  er  an  Götter  glaube,  durch  die  Grob- 
heit aus  dem  Wege:  „Natürlich,  da  ich  dich  als  einen 
Gottverhafsten  betrachte"  (D.  L.  43).    Die  Bemerkung  „Alles 


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4G4  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

ist  voll  von  der  Gottheit"  (ib.  37)  steht  in  einem  Zusammen- 
hange, nach  dem  sie  nicht  besonders  ernstlich  genommen 
werden  kann.  Er  verweist  nämlich  damit  einer  Frau  die 
anstöfsige  Art,  wie  sie  sich  vor  einem  Götterbilde  nieder- 
geworfen hat.  Die  Gottheit  sei  auch  hinter  ihr.  Gegen 
eine  waltende  Vorsehung  soll  er  das  Treiben  der  Tyrannen 
und  überhaupt  das  Gedeihen  der  Bösen  geltend  gemacht 
haben  (Cic.  N.  D.  III.  83,  88).  Mit  dem  schärfsten  Hohne 
verfolgt  er  die  anmafsende  Lehre  der  eleusinischen  Orakel- 
priester, dafs  der  erste  beste  Eingeweihte  auf  den  Inseln 
der  Seligen  wohnen,  ein  Epaminondas  oder  Agesilaos  da- 
gegen im  Hades  im  Kote  liegen  wird  (D.  L.  34).  Wenn 
er  Steuerleute,  Ärzte  und  Philosophen  sieht,  hält  er  den 
Menschen  für  das  gescheiteste  von  allen  Geschöpfen,  wenn 
aber  Traumdeuter  und  Seher  und  ihren  Anhang  oder  Leute, 
die  sich  auf  Ehre  und  Reichtum  etwas  einbilden,  für  das 
törichteste  (ib.  24).  Träume  sind  weiter  nichts  als  Phantasie- 
gebilde des  Schlafes;  viel  wichtiger  ist  es,  sich  um  das  zu 
kümmern,  was  man  wachend  treibt  (ib.  43). 

Einen  genaueren  Bericht  als  über  seine  Lehre  von  der 
Regelung  des  Lebens  durch  Vernunft  besitzen  wir  über  den 
Teil  seiner  Lebensphilosophie,  der  von  der  Übung  handelt. 
Auf  diese  scheint  er  ein  besonderes  Gewicht  gelegt  zu  haben. 
Nichts  kann  ohne  Übung  zu  stände  gebracht  werden;  diese 
aber  überwindet  alle  Schwierigkeiten.  Beim  Handwerker, 
beim  Athleten,  beim  Flötenbläser  hängt  alles  von  dem  auf- 
gewandten Mafse  von  Übung  ab.  So  auch  bei  der  wahren 
Lebensführung.  Es  gibt  eine  leibliche  und  eine  seelische 
Übung.  Letztere  besteht  in  der  Befestigung  und  Geläufig- 
machung  der  einschlagenden  Vorstellungen.  Beide  Arten 
der  Übung  müssen  Hand  in  Hand  gehen.  Die  Verachtung 
der  Sinnenlust  wird  durch  Gewöhnung  geradezu  selbst  zu 
einem  höchst  angenehmen  Zustande,  den  zu  entbehren 
schliefslich  ein  ebenso  grofses  Opfer  ist  wie  für  den  Diener 
der  Lüste  die  Entbehrung  der  gewohnten  Genüsse  (D.L.70f.). 

Auch  bei  Diogenes  finden  sich  noch  einige  Spuren,  dafs 
er  für  die  dem  kynischen  Ideal  Entsprechenden  die  Be- 
zeichnung  als    „Schöne   und    Gute"    beibehielt   (D.  L.  27; 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca,  410—823).  465 

Stob.  Flor.  IV.  112;  Mull.  Fr.  261).  Vornehmlich  aber  sind 
ihm  diese,  wie  sich  in  zahlreichen  Wendungen  wider- 
spiegelt, die  wahren  Menschen.  Dies  ist  der  Sinn  der 
allbekannten  symbolischen  Handlung,  dafs  er  bei  hellem 
Tage  mit  der  Laterne  Menschen  sucht  (D.  L.  41).  In  dem- 
selben Sinne  ruft  er  einst  Menschen  herbei,  fährt  dann 
aber,  als  viele  zusammenströmen,  mit  dem  Stocke  dazwischen 
und  ruft:  „Menschen  habe  ich  gerufen,  nicht  Kehricht!" 
(ib.  33).  Er  will  es  daher  nicht  gelten  lassen,  dafs  die 
Sieger  in  den  gymnastischen  Spielen  sich  rühmen,  Men- 
schen besiegt  zu  haben.  Sklaven  haben  sie  besiegt  (ib. 
43,  33).  Die  beim  Austritt  aus  einem  Bade  oder  bei  der 
Rückkehr  aus  Olympia  an  ihn  gerichtete  Frage,  ob  er  dort 
viele  Menschen  angetroffen  habe,  verneint  er,  und  erst 
auf  die  Frage,  ob  viel  Volks  dort  sei,  erteilt  er  eine  be- 
jahende Antwort  (ib.  40,  60).  Ein  Dialektiker  appliziert 
ihm  folgenden  läppischen  Fangschlufs:  „Was  ich  bin,  bist 
du  nicht.  Ich  bin  ein  Mensch,  also  bist  du  keiner,"  Dio- 
genes aber  sagt:  „Falsch!  Bei  mir  mufst  du  anfangen. 
Ich  bin  ein  Mensch,  also  bist  du  keiner  (Gell.  N.  A.  18, 
13  f.).  In  etwa  hiermit  verwandt  sind  auch  seine  Urteile 
über  Sparta.  Männer  hat  er  nirgends  gesehen,  Knaben 
aber  in  Lakedaimon  (D.  L.  27).  Und  von  Sparta  nach 
Athen  zurückkehrend  sagt  er,  er  komme  aus  dem  Männer- 
gemach ins  Frauengemach  (ib.  59).  Eben  deshalb  ist  ihm 
selbst  ein  Sokrates  noch  ein  üppiger  Schwelger,  weil  er  ein 
Häuschen  und  ein  Bett  hat  und  bisweilen  Schuhe  anzieht 
(Ael.  V.  H.  4,  11),  und  er  erklärt  ihn  —  offenbar  wegen 
dieser  mangelnden  Entschiedenheit  —  geradezu  für  verrückt 
(D.  L.  54). 

In  seltsamer  Weise  scheinen  in  einigen  der  ihm  bei- 
gelegten Tragödien,  sowie  vielleicht  auch  in  einem  der  ihm 
zugeschriebenen  Dialoge  zur  Sittenlehre  einige  ethische 
Fragen  behandelt  worden  zu  sein.  Unter  ausdrücklicher 
Berufung  auf  die  Tragödie  „Thyestes"  wird  ihm  die  Recht- 
fertigung des  Genusses  von  Menschenfleisch  beigelegt.  Dieser 
komme  bei  manchen  Völkern  vor ;  in  den  Speisen,  mit  denen 
wir  unseren  Körper  nähren,   seien  ja   schon   die  gleichen 

Döring.  I.  80 


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466  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

Bestandteile  enthalten  wie  im  Menschenfleisch  (D.  L.  73; 
Philodem,  s.  Gomperz,  Ztschr.  f.  öst.  Gymn.  1878).  Nun 
wird  in  der  Sage  dem  Thyestes  von  seinem  Bruder  Altreus 
das  Fleisch  seiner  eigenen  Kinder  zum  Mahle  vorgesetzt. 
Offenbar  wurden  also  in  dieser  Tragödie  im  Anschlufs  an 
die  von  der  Sage  dargebotene  Situation  diese  Recht- 
fertigungsgründe vorgetragen.  Und  in  ähnlicher  Weise  war 
vielleicht  in  der  Tragödie  „Ödipus"  der  geschlechtliche 
Verkehr  mit  der  eigenen  Mutter  als  etwas  nicht  der  Natur 
Widerstreitendes  verteidigt  worden  (Dio  Chrys.  X.  p.  305). 
Eine  ethisch  -  lehrhafte  Tendenz  scheint  auch  die  Tragödie 
„Medea"*  gehabt  zu  haben.  Anknüpfend  an  den  Zug  der 
Sage,  dafs  Medea  sich  die  Kunst  beilegt,  Alte  zu  verjüngen, 
wurde  sie  in  dieser  Dichtung  als  Vertreterin  der  wahren 
Weisheit  dargestellt,  die  durch  eine  abhärtende  Lebensweise 
die  durch  Üppigkeit  Entnervten  stählt  und  verjüngt  (Stob. 
Flor.  29,  92).  Ähnliche  moralisierende  Tendenzen  werden 
wohl  auch  die  übrigen  „Tragödien"  verfolgt  haben,  doch 
fehlt  es  darüber  gänzlich  an  Nachrichten.  Endlich  soll  er 
auch  die  Aneignung  von  Tempelgut  als  nicht  verwerflich 
vertreten  haben.  Es  ist  nicht  bekannt,  in  welchem  Zusammen- 
hange und  mit  welchen  Einschränkungen  diese  radikalen 
Lehren  in  diesen  Schriften  verteidigt  wurden.  Vielleicht 
handelte  es  sich  dabei  nur  um  einen  Angriff  auf  das  nicht 
von  der  Natur,  sondern  nur  durch  das  Herkommen  Geheiligte 
in  paradoxer  Zuspitzung. 

Neben  dieser  Isolierung  des  sich  selbst  genügenden 
Individuums  scheint  aber  Diogenes  ebenso  wie  Antisthenes 
doch  auch  wieder  das  Ideal  eines  Staates  in  seinem  Sinne 
entworfen  zu  haben.  Unter  den  ihm  zugeschriebenen  Dia- 
logen befand  sich  einer,  betitelt  „Der  Staat",  und  auch  ein 
Teil  der  ihm  beigelegten  Tragödien  mufs  die  gleichen 
Probleme  behandelt  haben  (D.  L.  73).  Der  ihm  vor- 
schwebende Staat  ist  ein  Weltstaat,  ein  Menschheitsstaat 
(D.  L.  72),  und  er  selbst  ist  als  Weltbürger  (Kosmopolit) 
ein  prophetischer  Bürger  dieser  besseren  Zukunft  (ib.  63). 
In  diesem  Weltstaat  ist  der  Zwang  der  Ehe  aufgehoben; 
die  Kinder  gehören  der  Gesamtheit  an  (ib.  72;  VII.  131). 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—323).  467 

Weiteres  erfahren  wir  über  die  Einrichtungen  dieses  Welt- 
staats nicht.  Bezeichnend  aber  ist  es,  dafs,  noch  ehe 
Alexander  darangeht,  praktisch  die  engen  Grenzen  der 
griechischen  Stadtstaaten  und  selbst  der  Nationalität  zu 
durchbrechen  und  den  christlichen  Menschheitsgedanken 
vorzubereiten,  dieser  vorurteilsfreie  Denker,  dem  auch  das 
Vaterland  kein  unentbehrliches  Gut  war,  theoretisch  den 
gleichen  Gedanken  zur  Geltung  gebracht  hat.  Im  Zusammen- 
hange mit  seinem  Staatsideal  steht  wohl  der  Vorschlag  einer 
Münze  aus  Knöcheln  (Athen.  4,  159;  Philodem  6;  Gomperz 
a.  a.  0.),  durch  den  er  wohl  der  unheimlichen  Macht  des 
Geldes  über  die  Gemüter  der  Menschen  entgegentreten 
wollte.  Freilich  ohne  die  entfernteste  Ahnung  von  der 
volkswirtschaftlichen  Bedeutung  des  Geldes,  denn  diese 
Mafsregel,  die  in  einem  gegen  die  ganze  übrige  Welt  ab- 
gesperrten beschränkten  Staatsgebilde  einen  Sinn  gehabt 
hätte,  pafste  zum  Weltstaat  wie  die  Faust  aufs  Auge.  Für 
den  Staat,  wie  er  ist,  scheint  er  jedenfalls  Gesetze  für  not- 
wendig zu  halten  (D.  L.  72). 

Mit  dem  Gedanken  des  Weltstaates  hängt  auch  noch 
ein  merkwürdiger  Ausspruch  über  die  Sklaverei  zusammen. 
Das  griechische  Wort  für  Sklave  (andräpodon)  legt  er  so 
aus,  es  sei  ein  Wesen,  das  menschliche  Füfse  (ändrön  pödas), 
aber  auch  eine  menschliche  Seele  habe  (D.  L.  67).  Also 
auch  der  Sklaverei  gegenüber  ist  er  vorurteilsfrei! 

Diogenes  Laertios  rühmt  unserem  Kyniker  eine  ganz 
unwiderstehliche  Gabe  zu  überzeugen  nach  und  führt  als 
Beweis  dafür  folgende  Geschichte  an.  In  Ägina  lebte 
Onesikritos.  Dieser  sendet  einen  seiner  Söhne  nach 
Athen.  Dieser  hört  Diogenes  und  kann  sich  nicht  mehr 
von  ihm  trennen.  Jener  sendet  seinen  älteren  Sohn  Phi- 
liskos,  um  den  Bruder  zurückzuholen.  Aber  auch  dieser 
wird  gefesselt.  Nun  geht  er  selbst,  wird  aber  ebenfalls  von 
Diogenes  gewonnen  (D.  L.  75).  Hier  ist  nun  freilich  eine 
Schwierigkeit  in  der  Zeitrechnung.  Onesikritos  wird  an 
anderer  Stelle  als  Verfasser  von  Schriften  über  Alexanders 
Erziehung  und  Taten  und  als  Teilnehmer  am  Alexanderzuge 
genannt  (D.  L.   84).     Nach   Lucian    (Peregr.  Pr.   c.   25) 

30* 


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468  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

diente  er  unter  Alexander  als  Schiifskapitän  und  hat  in 
seiner  Schrift  unter  anderem  über  die  Selbstverbrennung 
eines  Brahmanen  in  Indien  berichtet  (vergl.  Strabo  15,  716). 
Sein  Zusammensein  mit  Diogenes  in  Athen  mttfste  danach 
vor  dem  Alexanderzuge  stattgefunden  haben,  zumal  Diogenes 
beim  Beginne  desselben,  wie  sogleich  zu  zeigen,  wahrschein- 
lich in  Korinth  lebte,  und  es  müfste  femer  wegen  der  Teil- 
nahme an  dem  Eriegszuge  angenommen  werden,  dafs  seine 
Annäherung  an  Diogenes  nur  vorübergehend  war.  Philiskos 
dagegen  mufs  sich  dauernd  an  Diogenes  angeschlossen  haben, 
da  ihm  sogar  die  Abfassung  der  sieben  Tragödien  zuge- 
schrieben wurde  (D.  L.  73,  80).  Auch  sonst  wird  er  als 
Dichter  erwähnt  (Plut.  Timol.  15). 

Die  Schicksale  seiner  letzten  Lebensjahr- 
zehnte werden  uns  geradezu  in  der  Einkleidung  eines 
spannenden  Bomans  dargeboten.  Zwei  Männer,  der  Kyniker 
Menippos,  Urenkelschüler  des  Diogenes,  und  ein  gewisser, 
sonst  nicht  bekannter  Eubulos,  hatten  beide  einen  „Ver- 
kauf des  Diogenes"  geschrieben  (D.  L.  29  f.).  Mutmafslich 
war  in  diesen  beiden  Schriften  die  ganze  letzte  Lebenszeit 
des  Diogenes  in  phantastischer  Ausschmückung  dargestellt. 
Wir  können  uns  die  Hauptstücke  dieser  Dichtung  aus  ver- 
schiedenen Quellen  wieder  zusammenlesen.  Diese  geben 
allerdings  nur  teilweise  an,  was  der  Erfindungsgabe  des 
einen  und  des  anderen  dieser  beiden  Schriftsteller  zu  ver- 
danken ist. 

Auf  einer  Fahrt  nach  Ägina  wird  er  mit  den  sämtlichen 
Passagieren  von  Seeräubern  gefangen  genommen  und  nach 
Kreta  auf  den  Sklavenmarkt  gebracht  (D.  L.  74).  Unter- 
wegs beredet  er  die  Seeräuber,  die  ihre  Gefangenen  sehr 
schlecht  verköstigen,  durch  die  Vorstellung,  dafs  .man  doch 
auch  das  Vieh  vor  dem  Verkauf  ordentlich  füttere,  ihm 
bessere  Kost  zukommen  zu  lassen.  Er  gibt  seinen  Unglücks- 
gefährten davon  ab  und  bestimmt  einen  besonders  Betrübten 
noch  überdies  durch  die  Worte  Nestors  an  die  „betränte 
Hekuba",  dafs  auch  Niobe  in  ihrem  Leid  des  Essens  nicht 
vergessen  habe  (II.  24,  602),  zum  Zulangen  (Philo  Jud. 
Omnem  lib.  prob.  p.  883).    Beim  Verkauf  soll  er  stehen;  er 


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I.    2.   Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—328).  469 

meint  aber,  die  Fische  fänden  doch  auch  ihren  Käufer,  ob- 
schon  sie  liegen.  Er  findet  es  lächerlich,  dafs  man  Ton- 
gefäfse  vor  dem  Ankauf  durch  Betasten  und  Anschlagen 
prüfe,  beim  Menschen  sich  aber  mit  dem  blofsen  Anblick 
begnüge  (D.  L.  29  nach  Menippos).  Auf  die  Frage,  was  er 
verstände,  sagt  er,  über  Menschen  zu  herrschen,  und  fordert 
den  Ausrufer  auf,  auszurufen,  ob  sich  vielleicht  jemand  einen 
Herrn  kaufen  wolle  (ib.  u.  Stob.  Flor.  3,  63).  Einen  weich- 
lich aussehenden  Käufer  verscheucht  er  durch  die  Auf- 
forderung, er  möge  ihn  kaufen,  er  scheine  ihm  einen  Mann 
nötig  zu  haben,  durch  welche  Keckheit  denn  auch  die  anderen 
abgeschreckt  werden  (Philo  a.  a.  0.).  Nach  der  Parallel- 
erzählung ist  der  Weichling,  den  er  wie  vorstehend  anredet, 
der  Korinther  Xeniades,  der  ihn  hier  jedoch  kauft  und  nach 
Korinth  bringt  (D.  L.  74).  Diesem  macht  er  nun  be- 
greiflich, dafs  er  ihm  gehorchen  müsse.  Der  Fall  liege 
ebenso,  wie  wenn  er  sich  einen  Arzt  gekauft  hätte  (ib.  36). 
Xeniades  überträgt  ihm  das  ganze  Hauswesen  und  macht 
ihn  zum  Erzieher  seiner  Söhne.  Er  findet  bald,  dafs  ein 
guter  Dämon  in  sein  Haus  eingezogen  sei  (ib.  74).  Nach 
dem  Bericht  des  Kynikers  Kleomenes,  eines  Zeitgenossen 
und  Mitschülers  des  Menippos  (D.  L.  95),  verweigert  Diogenes 
den  von  seinen  Anhängern  ihm  angebotenen  Loskauf.  Auch 
die  Löwen  seien  nicht  Sklaven  ihrer  Ernährer,  sondern  um- 
gekehrt (D.  L.  75).  Die  Erziehung  der  Knaben  nimmt  er 
ganz  allein  in  die  Hand.  In  kynischer  Tracht,  barfufs,  bei 
einfachster  Kost  und  Wasser  zieht  er  sie  auf  und  härtet 
sie  durch  Leibesübungen  ab.  Zu  bescheidener  Haltung  in 
der  Öffentlichkeit,  ohne  vorlautes  Wesen,  gewöhnt  er  sie. 
Die  erforderlichen  Kenntnisse  bringt  er  ihnen  in  kürzester 
und  behältlichster  Formulierung  bei;  Stellen  aus  Dichtern 
und  Schriftstellern,  auch  aus  seinen  eigenen  Schriften,  läfst 
er  sie  auswendig  lernen.  Die  Knaben  sind  ihm  anhängliche 
und  dankbare  Zöglinge  und  seine  besten  Fürsprecher  bei 
den  Eltern.  Er  bleibt  bis  zum  Tode  im  Hause  des  Xeniades ; 
die  Söhne  bereiten  ihm  die  Bestattung  (D.  L.  30  f.  nach 
Eubulos).  Die  Bedeutung,  die  er  der  Erziehung  beilegt, 
tritt  auch  in  der  Anekdote  hervor,  dafs  er  wegen  des  un- 


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470  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

gezogenen  Verhaltens  eines  Knaben  dessen  Erzieher  prügelt 
(Meli.  Fr.  255). 

An  diese  Xeniadesgeschichte  schliefst  sich  auch  die  Be- 
kehrung des  Moni  mos  zum  Kynismus  an,  wie  sie  von 
einem  gewissen  Sosikrates  um  100  vor  Chr.  berichtet 
wurde  (D.  L.  82).  Monimos  aus  Syrakus  ist  nach  dieser 
Erzählung  Sklave  eines  Freundes  des  Xeniades.  Er  hört 
letzteren  häufig  im  Hause  seines  Herrn  die  Vorzüge  des 
Diogenes  rühmen.  Er  stellt  sich  wahnsinnig,  so  dafs  sein 
Herr  ihn  wegjagt  und  er  nun  mit  Diogenes  in  Verkehr 
treten  kann.  So  wird  dieser  ehemalige  Sklave  ein  wegen 
seines  Ernstes  und  seiner  lauteren  Wahrheitsliebe  hoch- 
angesehener Kyniker  (D.  L.  82  f.).  Mehrere  Schriften, 
darunter  auch  eine  humoristische,  werden  von  ihm  erwähnt 
(ib.).  Der  geistvolle  und  philosophisch  gebildete  Komiker 
Menander  (um  300)  schildert  in  einer  erhaltenen  Stelle 
(ib.)  seine  kynische  Tracht  und  Lebensweise  und  legt  ihm 
den  Satz  bei,  alle  unsere  Vorstellungen  seien  Hlusionen 
(typhos).  Es  kann  wohl  kaum  zweifelhaft  sein,  dafs  hier 
lediglich  die  Vorstellungen  vom  Werte  der  Scheingüter  für 
unsere  Glückseligkeit  gemeint  sind,  und  dafs  uns  hier 
Monimos  als  Vertreter  der  schon  bei  Antisthenes  besprochenen 
Illusionslosigkeit  (atyphfa)  bezeugt  wird.  Es  ist  daher  offen- 
bar nur  ein  Mifsverständnis ,  wenn  ihm  bei  Sextus  Em- 
pirie us  (Dogm.  I.  48,  88;  II.  5)  in  theoretischem  Sinne 
die  Lehre  beigelegt  wird,  alle  unsere  Vorstellungen  seien 
nur  Illusionen,  das  ganze  Leben  ein  Bühnenspiel,  ein  Traum, 
eine  Wahnvorstellung. 

Historisch  ist  hier  vielleicht  der  Aufenthalt  in  Korinth 
in  der  letzten  Lebenszeit,  doch  wäre  es  müfsig,  über  Zeit 
und  wirkliche  Veranlassung  der  Übersiedelung  dorthin  etwas 
feststellen  zu  wollen.  Neben  den  Sklavendienst  im  Hause 
des  Xeniades  tritt  nun  für  den  korinthischen  Aufenthalt 
eine  ganz  andere  Version,  nach  der  er  auch  in  Korinth  die 
gewohnte  obdachlose  Lebensweise  an  öffentlichen  Orten  fort- 
setzt. An  diese  Version  schliefst  sich  dann  weiter  die  be- 
rühmte Begegnung  mit  Alexander  an,  die  schon  von  Cicero 
(Tusc.  V.  92)   kurz  erwähnt  wird.    Plutarch   im  „Leben 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—828).  471 

Alexanders**  (c.  14)  erzählt  sie  folgeodermarsen.  Der  junge, 
21jährige  Alexander  ist  zu  einer  grofsen  Versammlung  der 
Hellenen  auf  dem  Isthmus  im  Jahre  335,  die  den  Krieg 
gegen  Persien  unter  seiner  Führung  beschliefst,  persönlich 
erschienen.  Alles  drängt  sich  an  ihn  heran,  auch  Philo- 
sophen der  verschiedensten  Richtungen.  Nur  der  im  nahen 
Korinth  weilende  Diogenes  bleibt  entgegen  der  Erwartung 
und  dem  Wunsche  Alexanders  aus.  Dieser  sucht  ihn  daher 
in  seinem  Standquartiere  in  einem  Gymnasien  in  dem  vor 
den  Toren  der  Stadt  gelegenen  Cypressenhain  Kraneion 
(Pausan.  II.  2,  4;  D.  L.  77)  persönlich  auf.  Diogenes,  der 
sich  gerade  sonnt,  antwortet  auf  die  Frage  des  Königs,  ob 
er  einen  Wunsch  habe,  er  möge  ihm  etwas  aus  der  Sonne 
gehen.  Das  Gefolge  Alexanders  findet  diese  Antwort  höchst 
lächerlich,  Alexander  aber,  voll  Staunen  über  diese  Seelen- 
gröfse,  sagt:  Wenn  ich  nicht  Alexander  wäre,  möchte  ich 
Diogenes  sein.  In  seiner  Rede  über  Alexanders  Glück 
kommt  Plutarch  auf  diese  Geschichte  zurück  und  fügt  noch 
hinzu,  der  erschütternde  Eindruck  dieser  Begegnung  sei  bei 
Alexander  ein  nachhaltiger  gewesen,  so  dafs  er  noch  oft  des 
Diogenes  gedacht  und  den  vorstehenden  Wunsch  wiederholt 
habe  (c.  10,  vergl.  D.  L.  32  u.  38). 

Dieses  Gegenübertreten  des  Welteroberers  und  Welt- 
überwinders  hat  auch  noch  verschiedene  andere,  recht  ab- 
surde Anekdoten  hervorgetrieben  (D.  L.  60,  68).  Vielleicht 
ist  aus  dem  Reiz  dieses  Kontrastes  auch  die  Angabe  ent- 
sprungen, dafs  beide  auf  einen  Tag  gestorben  seien.  Diese 
Angabe  findet  sich  zuerst  bei  Demetrios  von  Magnesia  um 
Christi  Geburt  (D.  L.  79) ;  auch  Plutarch  erwähnt  sie  (Symp. 
VIII.  4). 

Ein  Seitenstück  zu  dieser  Begegnung  mit  Alexander 
ist  die  mit  Dionysios  dem  Jüngeren,  dem  Tyrannen 
von  Syrakus,  der  seit  seiner  Vertreibung  (343)  in  Korinth 
lebte.  Diogenes  sagt  zu  ihm:  Wie  unverdient  ist  dein  Ge- 
schick! Dionysios  dankt  ihm  für  seine  Teilnahme,  Diogenes 
aber  sagt,  so  sei  es  nicht  gemeint;  unverdient  sei  sein 
Glück,  dafs  er,  anstatt  das  Mifsgeschick  des  Tyrannentums, 
in  Wahrheit  ein  Sklave,  bis  zu  seinem  Ende  erdulden  zu 


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472  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

müssen,  in  Korinth  in  behaglicher  Sicherheit  seine  Tage 
hinbringe  (Plut.  Timol.  15;  num.  seni.  c.  1). 

Auch  um  den  Tod  des  Diogenes  schlingt  sich  wieder 
ein  üppiger  Kranz  teils  pietätvoller  Legenden,  teils  auf 
Herabwürdigung  zielender  Erdichtungen.  Diese  Gruppe  von 
Zügen  beginnt  mit  seinen  angeblichen  Antworten  auf  die 
Frage,  wie  er  bestattet  sein  wolle.  Wenn  wir  dabei  von 
einer  ziemlich  törichten  Erfindung  absehen,  die  dem  „Ver- 
kauf" des  Eubulos  angehört  (D.  L.  31  f.),  finden  sich  hier 
zwei  recht  sinnige  Versionen,  die  den  fortgesetzten  Aufenthalt 
an  öffentlichen  Orten  zur  Voraussetzung  haben.  Nach  der 
einen  sagt  er,  man  solle  seinen  Leichnam  unbeerdigt  hin- 
werfen. Also  den  Raubvögeln  und  wilden  Tieren  zur  Beute? 
Durchaus  nicht!  Legt  einen  Stock  neben  mich,  damit  ich 
sie  verscheuchen  kann.  —  Das  kannst  du  ja  nicht ,  da  du 
es  als  Toter  nicht  merkst!  —  Nun,  dann  kann  mir  auch 
der  Bifs  der  Tiere  nicht  mehr  schaden  (Cic.  Tusc.  I.  104). 
Nach  der  anderen  sollte  man  ihn  so  hinwerfen,  dafs  er 
„seinen  Brüdern"  noch  nützen  könne  (D.  L.  79;  Ael.  V.  H. 
8,  14).  Offenbar  versteht  er  unter  „seinen  Brüdern"  die 
Hunde. 

Ebenso  rankt  sich  dann  um  den  Tod  selbst  eine  Mannig- 
faltigkeit teils  gehässiger,  teils  pietätvoller  Versionen  (D. 
L.  76  f.).  Es  wird  genügen,  die  einfachste  und  wahrschein- 
lichste mitzuteilen.  Eines  Morgens  finden  den  annähernd 
Neunzigjährigen  seine  Nachfolger,  als  sie  ihn,  ihrer  Gewohn- 
heit gemäfs,  in  seinem  Standquartier  im  Kraneion  aufsuchen, 
in  seinen  Tribon  eingehüllt  daliegen.  Als  sie  ihn  aufdecken, 
ist  er  tot.  Nach  den  Versen,  die  der  Dichter  Kerkidas, 
ein  jüngerer  Zeitgenosse,  ihm  widmete,  und  in  denen  er  ihn 
einen  wahrhaften  Diogenes,  d.  h.  einen  Sohn  des  Zeus,  und 
einen  himmlischen  Hund  nannte  (D.  L.  76  f.) ,  war  er  frei- 
willig durch  Anhalten  des  Atems  gestorben.  Diese  Selbst- 
tötung in  so  vorgerückten  Jahren  stimmt  zu  der  bei  Anti- 
sthenes  berichteten  Dolchgeschichte.  Nach  einer  anderen 
Erzählung  hatte  er  bei  schwerem  körperlichem  Leiden,  das 
aber  die  Fähigkeit,  zu  reden  und  zu  handeln  (auch 
hier  wieder  ein  Anklang  an  den  „Schönen  und  Guten"  des 


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I.    2.  Diogenes  von  Sinope  (ca.  410—323).  473 

Sokrates!),  nicht  aufhob,  den  Selbstmord  verweigert.  Dieser 
zieme  nur  dem,  der  diese  Fähigkeiten  nicht  besitze  (Ael.  V. 
H.  X.  11).  Zu  dieser  feineren  und  echt  sokratischen  Auf- 
fassung des  Selbstmordes  steht  eine  Anekdote  aus  seiner 
athenischen  Zeit  in  Widerspruch.  Diogenes  begegnet  dem 
gelähmten  und  auf  einer  Bahre  getragenen  Speusippos, 
dem  Nachfolger  Piatos  (347—339).  Speusippos  grüfst  ihn 
mit  dem  herkömmlichen  „Freue  dich!"  Diogenes  erwidert: 
„Aber  nicht  du,  der  du  es  erträgst,  in  solchem  Zustande 
weiterzuleben!"  Worauf  Speusippos:  „Wir  leben  nicht  mit 
den  Beinen,  sondern  mit  der  Vernunft"  (D.  L.  IV.  3;  Stob. 
Flor.  116,  19).  Auf  seinem  Grabe  wurde  ein  Denkstein  mit 
einem  Hunde  aus  parischem  Marmor  errichtet  (D.  L.  78), 
den  noch  um  150  nach  Chr.  Pausanias  sah  (II.  2,  4),  und 
in  Sinope  setzte  man  ihm  ein  ehernes  Standbild  mit  einer 
poetischen  Inschrift,  die  ihm  wegen  des  leichten  Lebens- 
pfades durch  Selbstgenügsamkeit,  den  er  gewiesen,  ewigen 
Nachruhm  voraussagt  (D.  L.  78).  — 

Das  vorstehend  entworfene  Bild  macht  keineswegs  den 
Anspruch  auf  geschichtliche  Zuverlässigkeit.  Nach  der  Be- 
schaffenheit der  Berichte  ist  es  unmöglich,  ein  geschichtlich 
treues  oder  auch  nur  ein  einheitliches  und  widerspruchs- 
freies Bild  von  dieser  bedeutenden  Gestalt  der  griechischen 
Welt  zu  entwerfen.  Mit  einer  unerschöpflichen  Erfindungs- 
gabe wurden  die  Jahrhunderte  hindurch  die  widersprechend- 
sten Ztlge  auf  ihn  gehäuft,  von  denen  ein  gutes  Teil  gewifs 
zum  „Treppenwitz  der  Geschichte"  gehört.  In  den  nach- 
christlichen Jahrhunderten,  der  Zeit  der  höchsten  Verderbnis 
der  griechisch-römischen  Welt,  taucht  er  bei  dem  Juden 
Philo,  bei  Epiktet  und  Dio  Chrysostomos  als  eine  leuchtende 
Idealgestalt  auf,  und  noch  der  Kaiser  Julian  der  Abtrünnige 
widmet  ihm  den  Zoll  höchster  Bewunderung.  Ganz  un- 
berechenbar ist  die  Nachwirkung  seiner  entschlossenen  Welt- 
entsagung bis  weit  in  die  christliche  Welt  hinein,  ja  bis  zur 
lebendigen  Gegenwart.  Leider  nur  ist  von  Seiten  der 
Geschichtsforschung  noch  viel  zu  wenig  geschehen,  um  für 
diese  so  folgenreich  nachwirkende  Erscheinung  den  geschicht- 
lichen Kern  aus  den  verunreinigenden  Schlacken  der  Über- 


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474  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

lieferung  herauszuschälen  oder  auch  nur  die  Wandlungen 
dieser  Überlieferung  nach  allen  ihren  aufeinanderfolgenden 
Gestalten  vollständig  klarzustellen. 

8.   Krates  von  Theben,  Metrokies  und  Hlpparchia. 

Der  bedeutendste  unter  den  Schülern  des  Diogenes  ist 
Krates  von  Theben.  Ihm  kommt  schon  dadurch  eine  be- 
deutende Stellung  in  der  Entwicklung  des  Kynismus  zu, 
dafs  er  den  namentlich  von  Diogenes  im  mündlichen  Ver- 
kehr ausgebildeten  Witz  und  Humor,  besonders  auch  dessen 
Art,  Dichterstellen  geistreich  anzuwenden  und  zu  paro- 
dieren, in  die  Literatur  einführte.  Eine  noch  bedeutendere 
Nachwirkung  aber  hat  er  dadurch  geübt,  dafs  Zeno,  der 
Stifter  der  stoischen  Schule,  ursprünglich  sein  Schüler  war. 

Krates  mufs  ungefähr  um  366  geboren  sein  (D.  L. 
VI.  87)  und  bis  in  das  folgende  Jahrhundert  hinein  gelebt 
haben.  Er  war  von  Haus  aus  vermögend  (D.  L.  ib.),  aber 
häfslich  und  von  solcher  Leibesbeschaffenheit,  dafs  er  im 
Gymnasien  über  seinen  Eifer  in  den  Leibesübungen  verlacht 
wurde.  Er  habe  aber  dem  Trotz  geboten  und  um  der 
Gesundheit  willen  sich  selbst  zum  Ausharren  in  der  leib- 
lichen Ausbildung  ermuntert.  Die  Spötter  würden  ihre 
eigene  Lässigkeit  später  bereuen  und  ihn  für  seinen  Eifer 
glücklich  preisen  (D.  L.  91).  In  anderen  Stellen  wird  sein 
körperliches  Gebrechen  in  der  Weise  bezeichnet,  dafs  er 
verwachsen  und  lahm  war  (D.  L.  92;  Julian  Orat.  VI). 

Seine  Umwandlung  soll  durch  eine  Szene  der  —  nicht 
erhaltenen  —  euripideischen  Tragödie  Telephos  bewirkt 
worden  sein.  Telephos,  ein  Sohn  des  Herakles  und  König 
von  Mysien,  wird  durch  den  Speer  des  Achilleus  verwundet. 
Diese  Wunde  kann  nur  durch  diesen  Speer  selbst  geheilt 
werden.  Um  dieser  Heilung  teilhaft  zu  werden,  nähert  er 
sich  in  Bettlertracht  dem  Lager  vor  Troja.  Diese  Szene: 
Telephos  in  elendem  Aufzuge,  mit  einem  Korbe  am  Arme, 
wirkt  auf  den  vielleicht  schon  durch  kynische  Vorstellungen 
vorbereiteten  Krates  so  verlockend,  dafs  er  sich  seiner  Habe 
entledigt  und  das  kynische  Bettlerleben  beginnt  (D.  L.  87). 


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I.    8.  Krates  von  Theben,  Metrokies  und  Hipparchia.        475. 

Über  die  Art,  wie  er  sich  seines  Vermögens  entäufserte^ 
sind  verschiedene  Versionen  vorhanden  (D.  L.  87  f.).  Er 
habe  sein  Geld  ins  Meer  geworfen.  Aber  Theben  liegt  nicht 
am  Meere.  Oder  er  habe  es  mit  der  Bestimmung  deponiert, 
dafs,  wenn  seine  Kinder  Philosophen  —  im  kynischen  Sinne 
—  werden  würden ,  es  der  Bürgerschaft  zufallen  solle,  weil 
sie  es  dann  nicht  nötig  hätten;  andernfalls  sollte  es  den 
Kindern  verbleiben.  Aber  seine  Heirat  fällt  erst  später 
und  konnte  von  ihm  als  angehendem  Kyniker  nicht  einmal 
in  Aussicht  genommen  sein. 

Bei  der  Weggabe  seines  Vermögens  soll  er  den  Vers 
gebraucht  haben:. 
Krates  beraubt  den  Krates  alles  seines  Guts  (Simpl.  zu 

Epikt.  c.  10),  oder: 
Krates  aus  Theben  hat  den  Krates   freigemacht  (Suid.). 

Über  seinen  Auschlufs  an  Diogenes  wird  Genaueres 
nicht  berichtet  (D.  L.  85),  doch  finden  wir  ihn  später  in 
Athen  (ib.  90),  und  seine  Lebensführung  ist  die  einea 
Kynikers  strengster  Observanz.  Nach  der  erhaltenen  Stelle 
eines  Komödiendichters  (ib.  87)  müfste  er  sogar  im  Sommer 
einen  recht  dicken  und  im  Winter  einen  zerlumpten  Mantel 
getragen  haben.  Und  nach  den  „Chrien''  seines  Schülers 
Zeno  machte  er  sich  nichts  daraus,  seinen  Tribon  mit  einem 
Stück  Fell  zu  flicken  (ib.  91).  Diese  „Chrien"  waren  viel- 
leicht dieselbe  Schrift,  die  auch  als  „Erinnemngen  an 
Krates"  bezeichnet  werden  (VII.  4).  Als  Demetrio» 
Phalereus,  der  von  317  bis  307  makedonischer  Statthalter 
in  Athen  war,  ihm  Brote  und  Wein  übersandte,  soll  er  sehr 
ungehalten  gewesen  sein  und  gesagt  haben:  „Möchten  doch 
die  Brunnen  auch  Brot  geben!"  (ib.  90;  Athen.  X.  422). 
Dies  ist  eine  Überbietung  des  Ausspruches  des  Diogenes 
vom  Magen  und  zugleich  ein  Zeugnis,  dafs  er,  auch  hierin 
den  Diogenes  überbietend  (der  den  Wein  nicht  verschmähte» 
ib.  54),  zu  den  nur  Wasser  trinkenden  Kynikern  gehörte 
(ib.  105).  Ob  er  es  diesen  auch  in  der  völligen  Ablehnung 
der  Fleischkost  gleichtat,  wird  nicht  gesagt.  Jedenfalls 
scheint  ihm  mit  Recht  gerade  die  Enthaltsamkeit  als  Haupt- 
tugend beigelegt  zu  werden  (ib.  14). 


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476  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Auch  andere  Verhaltungsweisen,  die  Diogenes  beigelegt 
werden,  treibt  er  auf  die  Spitze.  Diogenes  läfst  seine 
Schüler  einen  eingesalzenen  Fisch  oder  eine  Partie  Schaf- 
käse über  die  Strafse  tragen,  infolge  welcher  Zumutung 
einige  ihm  abtrtlnnig  werden  (ib.  36).  Erates  gibt  dem 
jungen  Zeno  einen  Topf  mit  gekochten  Linsen  zu  tragen, 
und  als  dieser  den  Topf  unter  dem  Mantel  verbirgt,  schlägt 
er  ihn  mit  seinem  Stock  entzwei  (D.  L.  VII.  3).  Diogenes 
bettelt  eine  Bildsäule  an,  um  sich  im  Ertragen  der  Erfolg- 
losigkeit seiner  Bitten  zu  üben  (VI.  49).  Krates  schimpft 
Strafsendirnen ,  um  sich  im  Ertragen  von  Schmähungen  zu 
üben  (ib.  90).  Auch  die  Händel  und  Beibungen  mit  den 
zeitgenössischen  Philosophen  kehren  bei  ihm  wieder.  So  mit 
Xenokrates,  dem  Vorsteher  der  Akademie  von  339  —314, 
worüber  aber  Näheres  nicht  bekannt  (Mark  Aurel  VI.  13). 
Nach  den  „  Erinnerungen  **  Zenos  las  er  einem  Schuhmacher 
in  dessen  Werkstätte  eine  Mahnung  zur  Beschäftigung  mit 
der  Philosophie  vor,  die  von  Aristoteles  an  einen  König 
von  Cypern  gerichtet  war.  Darin  waren  Reichtum  und 
Ruhm  als  Vorbedingungen  dieser  Beschäftigung  gepriesen. 
Krates  aber  meint,  er  wolle  eine  solche  Mahnschrift  für  den 
Schuhmacher  abfassen,  den  er  in  allen  Stücken  für  besser 
vorbereitet  zur  Philosophie  halte  als  jenen  König  von  Cypern 
(Teles  bei  Stob.  95,  26).  So  mehrfach  mit  dem  Dialektiker 
Stilpon  (D.  L.  II.  117  f.;  VII.  24),  dem  er  unter  anderem 
auf  eine  wissenschaftliche  Frage  mit  einer  Blähung  ant- 
wortet, worauf  Stilpon :  „Ich  wufste,  dafs  du  alles  eher  von 
dir  geben  würdest,  als  was  am  Platze  ist."  So  mit  Mene- 
demos  von  Eretria,  den  er  wegen  eines  vermeintlich 
unzüchtigen  Verhältnisses  zu  einem  Freunde  und  wegen 
seiner  politischen  Tätigkeit  schmäht  (VI.  91;  II.  131).  Ein 
bemerkenswertes  Zeugnis  für  seinen  Anschlufs  auch  an  das 
Staatsideal  des  Diogenes  liegt  in  der  Anekdote,  er  habe, 
als  Alexander  ihm  angeboten,  er  wolle  ihm  zu  Ehren  das 
von  ihm  zerstörte  Theben  wieder  aufbauen,  unter  anderem 
geantwortet,  er  sei  ein  Bürger  des  Staates  des  Diogenes 
(D.  L.  VI.  93).  Was  er  von  den  bestehenden  öffentlichen 
Zuständen  hielt,  gc^ht  aus  dem  Ausspruch  hervor,  man  müsse 


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I.    3.   Erates  von  Theben,  Metrokies  und  Hipparchia.       477 

SO  lange  philosophieren,  bis  man  die  Feldherren  für  Esels- 
treiber halte  (ib.  92). 

In  besonders  ausgeprägter  Weise  tritt  bei  ihm  der 
kynische  Drang  zum  Rügen  menschlicher  Verkehrtheiten, 
der  Missions-  und  Seelenretterdrang  hervor.  Er  erwarb 
sich  den  Beinamen  des  „Türöflfhers",  weil  er  sich  nicht 
damit  begnügte,  anstöfsige  Vorkommnisse  in  der  Öffentlich- 
keit zu  rügen,  sondern  als  Mahner  in  die  Häuser  eindrang 
(D.  L.  VI.  86).  Es  ist  wohl  nur  eine  Idealisieying ,  wenn 
Spätere,  darunter  Plutarch  und  Kaiser  Julian,  dieses  Vor- 
gehen als  ein  sanftes  Friedenstiften  und  mildes  Zurecht- 
weisen in  befreundeten  Familien  schildern  (Meli.  Fr.  34, 
41,  43). 

Bemerkenswert  ist  folgendes  Beispiel  dieser  Seelsorger- 
tätigkeit,  das  Teles  (um  250  vor  Chr.)  erwähnt,  und  das 
für  sein  eigenes  Lebensschicksal  bedeutsam  wurde.  Me- 
trokles  aus  Maroneia,  einer  griechischen  Kolonie  an  der 
thrakischen  Küste  (D.  L.  94),  hielt  sich  in  Athen  als  Schüler 
des  Theophrast  (seit  323  Nachfolger  des  Aristoteles)  und 
Xenokrates  auf.  Die  Geschichte  mufs  also  zwischen  323 
und  314  passiert  sein.  Geraäfs  den  in  diesen  Kreisen  herr- 
schenden Vorstellungen  von  anständiger  Lebensweise  ist  er 
genötigt,  einen  bedeutenden  Aufwand  zu  machen:  eine  ge- 
räumige Wohnung  mit  den  zugehörigen  Sklaven,  feine 
Kleidung,  Luxus  in  den  Mahlzeiten.  Obwohl  er  daher  von 
Hause  reichlich  mit  Geld  versorgt  wird,  überfällt  ihn  die 
hypochondrische  Sorge,  dafs  sein  Vermögen  daraufgehen,  er 
in  Dürftigkeit  geraten  und  schliefslich  Hungers  sterben 
werde.  Er  geht  daher  zu  Krates  über  und  kann  nun  auch 
ohne  Zuschüsse  von  Hause  leicht  sein  Leben  bestreiten, 
denn  er  schläft  im  Sommer  in  Tempelhallen,  im  Winter  in 
Bädern,  begnügt  sich  mit  dem  doppelt  geschlagenen  Mantel, 
salbt  sich  mit  den  Ölresten,  die  die  Badenden  von  ihrer 
Haut  abstriegeln  und  nährt  sich  von  Brot,  Kohl  und  gering- 
wertigen Fischen,  die  er  selbst  an  den  Feuern  der  Schmiede 
brät.  So  weit  Teles.  Die  eigentliche  Krisis  erzählt  Diogenes 
Laertios  ergänzend  folgendermafsen  (VI.  94).  Infolge  der 
üppigen  Lebensweise  sei  er  beim  Studieren  von  Blähungen 


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478  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

heimgesucht  worden  und  habe  infolgedessen  in  hypochon- 
drischer Stimmung  beschlossen,  nicht  mehr  auszugehen  und 
durch  freiwilligen  Hungertod  seinem  Leben  ein  Ende  zu 
machen.  Krates  habe  davon  gehört  und  ihn  aufgesucht, 
nachdem  er  vorher  eine  reichliche  Mahlzeit  Lupinen  zu  sich 
genommen.  Er  habe  ihn  zunächst  mit  Worten  über  das 
ihn  bedrückende  Vorkommnis  getröstet,  dann  aber  ihm  als 
Wirkung  der  Lupinen  den  Tatbeweis  geführt,  dafs  derartige 
Begleiterscheinungen  der  Verdauung  auch  bei  anderen  vor- 
kommen.   Und  so  habe  er  ihn  für  den  Kynismus  gewonnen. 

Er  mufs  dann  später  den  Metrokies  bei  einem  Besuch 
in  seiner  Heimat  Maroneia  begleitet  haben.  Dort  nämlich 
wird  Hipparchia,  die  schöne  und  vielumworbene  Schwester 
des  Metrokies,  von  einer  heftigen  Leidenschaft  für  Krates 
und  seine  Lebensweise  ergriffen.  Sie  erklärt  den  Eltern,  sie 
werde  sich  töten,  wenn  sie  nicht  die  Seine  werden  dürfe. 
Krates  erfüllt  die  Bitte  der  Eltern,  sie  von  ihrer  Leiden- 
schaft abzubringen,  in  loyalster  Weise.  Er  stellt  sich  selbst 
unbekleidet  in  seiner  ganzen  Mifsgeschaffenheit  vor  sie  und 
daneben  die  Requisiten  seines  Bettlerlebens  und  sagt:  Das 
ist  dein  Geliebter,  und  das  ist  seine  Habe ;  du  kannst  nicht 
die  Meine  werden,  wenn  du  nicht  meine  Lebensweise  mit 
mir  teilen  willst.  Hipparchia  ist  sofort  entschlossen  und 
folgt  ihm  fortan  getreulich  in  der  gleichen  Tracht  und  in 
allen  seinen  Bettlergewohnheiten  (D.  L.  96  f.). 

An  diesen  einzig  dastehenden  Fall  einer  Kynikerehe 
knüpfen  sich  die  läppischen  Nachreden,  die  beiden  hätten 
auch  den  Geschlechtsakt  öffentlich  vollzogen  (D.  L.  97;  S. 
Emp.  Hyp.  L  153;  IIL  200;  Clem.  AI.  Strom.  IV.  523  u. 
a.  St.).  Dabei  liegt  offenbar  nur  zu  Grunde,  dafs  beim 
Verzicht  auf  eigene  Häuslichkeit  auch  ihr  Geschlechtsverkehr 
an  denjenigen  Stellen  stattfand,  wo  sie  zu  nächtigen  pflegten, 
worin  aber  durchaus  nicht  liegt,  dafs  sie  sich  damit  in 
schamloser  Weise  in  die  Öffentlichkeit  drängten. 

Dafs  er  aber  trotz  dieser  Eheschliefsung  im  Prinzip  an  der 
kynischen  Verwerfung  der  Ehe  festhielt,  würden  folgende 
Züge  beweisen,  wenn  sie  als  geschichtlich  gelten  dürfen. 
Seinen  Sohn  führte  er,  als  er  ins  Jünglingsalter  eingetreten 


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I.    3.   Krates  von  Theben,  Metrokies  und  Hipparchia.        479 

war,  einer  öffentlichen  Dirne  zu  mit  den  Worten:  das  ist 
die  Ehe  deines  Vaters  (ib.  88),  und  seine  Töchter  gab  er 
nach  einer  erhaltenen  Stelle  aus  einer  Komödie  des  Menander 
auf  dreifsigtägige  Probe  aus  (ib.  93). 

Von  seinen  Schriften  ist  am  meisten  charakteristisch 
ein  humoristisch  -  satirisches  Lehrgedicht  in  parodierten 
Homerversen,  von  dem  freilich  nur  einige  dürftige  Trümmer 
erhalten  sind,  die  nur  einen  unsicheren  Schlufs  auf  die  An- 
lage des  Ganzen  gestatten.  Danach  hat  er  vielleicht  zu- 
nächst in  Anlehnung  an  die  Erzählung  des  Odysseus  über 
seinen  Besuch  im  Totenreiche  (Odyss.  11)  die  Vertreter  der 
herrschenden  Richtungen  der  Philosophie  verspottet.  Einiger- 
mafsen  deutlich  erkennbar  ist  hier  fast  nur  der  Angriff  gegen 
Stilpon,  den  er  als  von  mafslosem  Dünkel  erfüllt  dar- 
stellt (D.  L.  II.  118;  Diels,  Poet.  phil.  fragm.  217).  Zu 
diesen  boshaften  Angriffen  auf  andere  Schulen  hat  er  dann 
möglicherweise  in  Gegensatz  gestellt  eine  idealisierende 
Schilderung  des  kynischen  Lebens.  Hierher  würde  denn 
vornehmlich  die  Stelle  gehören,  in  der  er  in  Anlehnung  an 
eine  Schilderung  Kretas  bei  Homer  (Odyss.  19,  172)  eine 
glückliche  Stadt  „Ranzen"  preist,  zu  der  keine  Schmarotzer 
und  Lüstlinge  sich  verirren,  wo  es  nur  Thymian,  Knoblauch, 
Feigen  und  Brot  gibt,  keinen  Streit  um  Gold  und  Ehre 
(D.  L.  85). 

Parodien  sind  auch  eine  Anrufung  der  Musen  nach 
einem  Gedicht  Solons,  in  der  er  aber  diese  Göttinnen 
nur  um  das  zur  Lebenserhaltung  notwendige  Mafs  von 
Gütern  und  um  den  bedürfnislosen  Sinn  anruft,  aus  dem 
alles  Gute  fliefst  (Julian.  Orat.  VL  199;  VII.  213),  sowie 
eine  Variation  einer  „Grabschrift  des  Sardanapal",  die  an- 
fing: „Das  habe  ich,  was  ich  gegessen  habe,"  wofür  Krates 
sagt:  „Das  habe  ich,  was  ich  gelernt  habe;  alle  übrigen 
Herrlichkeiten  sind  mit  dem  Dunste  (dem  typhos,  der  Ein- 
bildung) dahingeschwunden"  (D.  L.  86).  In  einem  anderen 
Gedicht  preist  er  in  Anlehnung  an  die  Form  der  Götter- 
hymnen die  Gottheit  Bedürfnislosigkeit,  die  Tochter  der 
Besonnenheit  (Julian  Or.  VI.  199). 

Andere  Fragmente  haben  einen  epigrammartigen  Cha- 


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480  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

rakter,  könnten  jedoch  möglicherweise  auch  aus  seinen 
„Tragödien**  stammen  (Diels  a.  a.  0.  221).  So  die  Verse: 
„Die  Liebe  vertreibt  der  Hunger;  wenn  nicht  dieser,  die 
Zeit,  und  wenn  auch  diese  nicht  die  Glut  zu  löschen  ver- 
mag, so  bleibt  als  letztes  Heilkraut  dir  der  Strick"  (D.  L. 
86).  So  das  Gedicht  mit  der  Überschrift  „Haushaltungs- 
buch", wo  ein  reicher  Schwelger  dem  Koch  zehn  Minen 
(750  Mk.),  dem  Arzte  eine  Drachme,  dem  Schmeichler  fünf 
Talente,  dem  Rechtsfreund  einen  Dunst,  der  Buhlerin  ein 
Talent,  dem  Philosophen  drei  Obolen  aussetzt  (ib.). 

Ungewifs,  aus  welchem  Zusammenhange  stammend, 
finden  sich  die  Verse:  „Weifst  du  nicht,  was  für  eine  Macht 
der  Ranzen  hat  und  ein  Mafs  Lupinen  und  der  unbesorgte 
Sinn"  (Teles  bei  Stob.  Flor.  97,  31;  D.  L.  86). 

Ausdrücklich  einer  der  von  ihm  verfafsten  Tragödien 
wird  eine  Stelle  zugeteilt,  die  ein  schwungvolles  Bekenntnis 
der  Zugehörigkeit  zum  Weltstaat  darstellt  (D.  L.  98).  Viel- 
leicht war  diese  Tragödie  ein  „Herakles"  (Plut.  Exil.  5; 
Diels  222). 

Endlich  ist  noch  eine  Stelle  aus  einem  Gedichte  er- 
halten, in  der  er  sich  selbst  im  Angesicht  des  nahenden 
Todes  anredet :  „So  gehst  du  denn  dahin,  liebes  Buckel chen, 
und  schreitest  zum  Hause  des  Hades,  gekrümmt  vom  Altei:^" 
(D.  L.  92).  Diese  dient  zugleich  als  Beweis,  dafs  er  in 
vorgerückten  Jahren  gestorben  ist,  und  zwar  eines  natür- 
lichen Todes. 

Aufser  diesen  Dichtungen  hatte  er  auch  philosophische 
Briefe  verfafst,  die  in  der  Sprache  Plato  sehr  nahe  gekommen 
sein  sollen  (D.  L.  98).  Die  unter  seinem  Namen  erhaltenen 
Briefe  sind  jedenfalls  unecht. 

Über  Metrokies  erfahren  wir  nur  wenig.  Er  hatte 
zahlreiche  Schüler,  auch  von  aufserhalb  Athens  (Alexandria, 
Ephesos),  durch  die  sich  der  Kynismus  vielleicht  auch  nach 
anderen  Teilen  der  hellenistischen  Welt  ausgebreitet  hat 
(D.  L.  95).  Seine  „Chrien"  sind  früher  erwähnt  worden 
(ib.  33).  Auch  die  früher  erwähnte  Stelle  aus  Teles,  in  der 
sein  bedürfnisloses  Leben  nach  der  Bekehrung  zu  Krates 
geschildert  wird,  beruht  vielleicht  auf  einer  Schrift  von  ihm 


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I.    4.  Menippos  und  Menedemos.  481 

selbst.  Wenigstens  läfst  ihn  auch  Plutarch  (An  vitio- 
sitas  etc.  II.  494)  in  ähnlichen  Wendungen  das  Glück  der 
Unabhängigkeit  vom  Schicksal  preisen.  Nach  eingetretener 
Altersschwäche  soll  auch  er  durch  Unterdrückung  des 
Atmens  freiwillig  aus  dem  Leben  geschieden  sein  (D.  L.  95). 
Von  Hipparchia  wird  nur  noch  eine  Begegnung  mit 
Theodoros,  dem  berühmten  Vertreter  der  Lehre  Aristipps, 
am  Hofe  des  Lysimachos  in  Thrazien,  eines  der  Nachfolger 
Alexanders  (f  281),  berichtet.  Entgegen  der  griechischen 
Sitte  nimmt  sie  dort  an  einem  Gastmahl  teil  und  fordert 
dabei  den  kecken  Theodoros  auch  noch  durch  einen  ziem- 
lich kindischen  Trugschlufs  heraus,  indem  sie  folgert,  wenn 
es  für  ihn  kein  Unrecht  sei,  sich  selbst  zu  schlagen,  dürfe 
auch  sie,  Hipparchia,  ihn  schlagen.  Theodoros  versucht,  sie 
in  recht  brutaler  Weise  an  ihre  Weiblichkeit  zu  erinnern, 
indem  er  ihr  das  Bettlergewand  in  die  Höhe  hebt  und  dabei 
einen  Vers  aus  Euripides  (Baichen  1233)  zitiert,  der  das 
Weib  an  den  Webstuhl  verweist.  Sie  fühlt  sich  aber  durch 
diese  schnöde  Behandlung  nicht  im  mindesten  eingeschüehtert, 
sondern  meint,  es  sei  doch  wohl  eine  gute  Fürsorge  für  sich 
selbst  gewesen,  dafs  sie,  anstatt  ihre  Zeit  am  Webstuhl  hin- 
zubringen, nach  Bildung  gestrebt  habe.  Ähnlicher  Anekdoten 
soll  es  noch  viele  von  ihr  gegeben  haben,  von  denen  wir 
aber  nichts  weiter  erfahren  (D.  L.  97  f.). 

4.    Menippos  und  Menedemos. 

Menippos  war  ursprünglich  ein  phönizischcr  Sklave 
in  Sinope,  der  Vaterstadt  des  Diogenes.  Des  Erwerbs  wegen 
siedelt  sein  Herr  nach  Theben  über  (D.  L.  99).  Menippos 
wird  dann  unter  den  Schülern  des  Metrokies  genannt  (ib. 
95).  Wie  sich  dieser  Wandel  seiner  Lebenslage  vollzogen 
hat,  wird  nicht  berichtet.  Er  soll  es  mit  dem  Leben  eines 
Kynikers  nicht  für  unvereinbar  gehalten  haben,  durch 
Wuchergeschäfte  ein  grofses  Vermögen  zusammenzubringen 
(ib.  99),  und  auch  dadurch  seinen  Mangel  an  der  echten 
kynischen  Gesinnung  bewiesen  haben,  dafs  er,  nachdem  er 
durch  Betrug  alles  wieder  verloren,  sich  erhängte  (ib.  100). 

Döring.   I.  31 


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482  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc 

Jedenfalls  liegt  seine  Bedeutung  nicht  in  seiner  Lebens- 
führung, sondern  in  seiner  schriftstellerischen  Tätigkeit.  In 
einer  grofsen  Zahl  satirischer  Schriften  in  der  zwanglosen 
Manier  der  Kyniker  —  Prosa  und  Verse  gemischt,  witzig 
angebrachte  oder  parodierte  Verse  der  klassischen  Dichter 
u.  dergl.  —  verhöhnte  er  die  bereits  verstorbenen  Philo- 
sophen, indem  er  die  Szene  in  das  Totenreich  verlegte,  des- 
gleichen aber  auch  die  lebenden,  sowie  die  Vertreter  der 
übrigen  Wissenschaften.  Es  werden  nicht  weniger  als  15 
verschiedene  Titel  derartiger  Schriften  von  ihm  aufgeführt 
(D.  L.  101;  Athen.  14,  664c).  Der  römische  Schriftsteller 
Varro  hat  diese  Dichtungen  bald  nach  100  vor  Chr.  in 
seinen  „Menippischen  Satiren"  nachgeahmt  Seine  roman- 
hafte Verherrlichung  des  Diogenes  in  seinem  „Verkauf  des 
Diogenes"  ist  schon  früher  erwähnt.  Entsprechend  läfst 
denn  auch  Lucian  (um  150  nach  Chr.)  in  seinen  „Toten- 
gesprächen" den  in  der  Unterwelt  weilenden  Diogenes  ihn 
als  guten  Freund  und  Gesinnungsgenossen  auffordern,  die 
Erde  zu  verlassen  und  ins  Schattenreich  herabzukommen, 
wo  ihm  für  seine  Satire  reichlicher  noch  als  dort  oben 
Stoff  geboten  werde,  und  schildert  ihn  im  übrigen  nach 
Tracht  und  Lebensweise  als  echten  Kyniker. 

Diese  verschiedenartigen  Züge  lassen  sich  schlecht  zur 
Einheit  zusammenfassen;  und  vielleicht  haben  wir  in  der 
Wuchergeschichte  nur  eine  gehässige  Nachrede  zu  erkennen, 
durch  die  sich  die  in  seinen  Schriften  Verhöhnten  und  An- 
gegriffenen an  ihm  rächten.  Wie  sollte  auch  ein  Mann, 
dessen  ganzes  Interesse  auf  wucherischen  Erwerb  gerichtet 
ist,  dazu  kommen  und  dazu  im  stände  sein,  vom  Standpunkte 
des  Kynikers  eine  schriftstellerische  Polemik  gegen  das 
ganze  wissenschaftliche  Treiben  seiner  Zeit  zu  eröffiien,  eine 
Polemik  von  solcher  Kraft  und  Schneidigkeit,  dafs  ihre 
Nachwirkungen  noch  nach  mehr  als  zwei  Jahrhunderten  zu 
spüren  sind  ?  Denn  seine  Lebenszeit  fällt  in  die  erste  Hälfte 
des  dritten  vorchristlichen  Jahrhunderts. 

Ein  wunderlicher  Heiliger  mufs  der  Kyniker  Mene- 
demos  gewesen  sein,  mit  dem  um  die  Mitte  des  dritten 
vorchristlichen  Jahrhunderts  der  alte  Kynismus  zu  Grabe 


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II.    Die  Kyrenaiker.  4g3 

gegangen  zu  sein  scheint.  Wo  er  eigentlich  lebte,  ist  un- 
bekannt Er  soll  ursprünglich  Schaler  eines  Epikureers, 
des  Epikur  recht  nahe  stehenden  Kolotes,  gewesen  sein 
(D.  L.  102).  Ja,  es  wird  sogar  ein  Kjrenaiker  als  sein 
ursprünglicher  Lehrer  genannt  (v.  Arnim,  Dia  von  Prusa  29). 
Später  murs  dann  ein  Umschlag  bei  ihm  eingetreten  sein. 
Er  wurde  ein  fanatischer  Kyniker,  der  insbesondere  den 
Drang,  als  Bufsprediger  gegen  die  Verkehrtheiten  der  Men- 
schen aufzutreten^  in  die  denkbar  groteskeste  Form  gebracht 
hat.  Bekleidet  mit  einem  grauen,  bis  auf  die  Erde  reichen- 
den Gewände,  mit  purpurrotem  Gürtel,  auf  dem  Kopf  eine 
seltsam  geformte  Mütze,  auf  der  die  zwölf  Zeichen  des 
Tierkreises  eingewebt  waren,  mit  ungeheurem  Bart,  einen 
Stab  in  der  Hand,  an  den  Füfsen  den  hochsohligen  Kothurn 
der  Tragödie,  der  ihm  übermenschliche  Gröfse  verlieh,  trat 
er  einher  und  erklärte,  er  sei  von  den  Göttern  der  Unter- 
welt als  Kundschafter  auf  die  Erde  gesandt,  um  dort  unten 
über  die  Vergehungen  der  Menschen  zu  berichten.  Das  ist 
das  letzte,  was  wir  von  den  Lebensäufserungen  des  alten 
Kynismus  hören.  Ein  absurdes,  aber  mit  dem  Anfang  in 
engem  Zusammenhange  stehendes  Ende! 

II.   Die  Kyrenaiker. 

Die  kyrenaische  Schule  hat  ihren  Namen  von  der 
Heimat  Aristipps,  der  griechischen  Kolonie  Kyrene  an 
der  Nordküste  von  Afrika  im  heutigen  Tripolis,  wo  auch 
der  Sitz  der  Schule  war.  Auch  in  ihr  löst  sich,  wie  bei 
Antisthenes,  der  einzelne  im  Prinzip  von  allen  Beziehungen 
auf  das  Gemeinschaftsleben  los,  stellt  sich  auf  sich  selbst 
und  regelt  sein  Leben  lediglich  nach  seinen  eigenen  Bedürf- 
nissen und  Interessen.  Noch  entschiedener  als  die  Kyniker 
sind  auch  die  Kyrenaiker  praktische  Individualisten. 
Während  aber  bei  Antisthenes  dieser  Individualismus  zu- 
nächst von  der  hoffnungslosen  Verderbtheit  der  öffentlichen 
Zustände  seinen  Ausgangspunkt  nimmt,  scheint  er  bei 
Aristipp  aus  einer  stark  entwickelten  selbstischen  Genufs- 
tendenz  an  sich  hervorzugehen.    Diese  Richtung  auf  eine 

31» 


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484  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

bestimmte  Art  der  Lebensführung  hat  sich  aber  in  dieser 
Schule  und  schon  bei  Aristipp  selbst,  wie  wir  sehen  werden, 
mehr,  als  in  den  anderen  Schulen  dieser  Übergangszeit  der 
Fall  war,  um  einß  theoretisch  -  wissenschaftliche  Unterlage 
und  Rechtfertigung  bemüht. 


1.    Aristipp, 

Über  die  Lebenszeit  des  Aristipp  ist  direkt  nichts  über- 
liefert, doch  kann  dieselbe  annähernd  von  430—360  an- 
genommen werden.  Er  stammte  aus  der  reichen  Handels- 
stadt Kyrene,  war  anscheinend  von  wohlhabender  Familie 
und  hatte  vielleicht  (Z.  337,  4)  schon  in  seiner  Vaterstadt 
den  Unterricht  des  Protagoras  genossen.  Der  Ruf  des 
Sokrates  lockte  ihn  nach  Athen  (D.  L.  IL  65;  Plut. 
curios.  2),  und  er  war  im  letzten  Jahrzehnt  des  Lebens  des- 
selben sein  Schüler.  Seit  wann,  ist  nicht  bekannt,  doch 
gehörte  er  noch  zur  Zeit  des  Todes  des  Sokrates  dem 
Schülerkreise  an  (PL  Phaed.  59  C). 

Xenophon  führt  in  seinen  Aufzeichnungen  über  Sokrates 
mehrere  Unterredungen  desselben  mit  Aristipp  auf.  Aus 
denselben  geht  hervor,  dafs  Aristipp  nicht  mehr  der  ganz 
jugendliche,  bescheidene  und  fügsame  Schüler  ist,  sondern 
schon  mit  einer  gewissen  Gereiftheit  und  Selbständigkeit 
jenem  gegenübertritt,  ja,  dafs  sogar  schon  die  Grundzüge 
seiner  eigenen  Lehre  zu  dieser  Zeit  hervortreten.  Um 
einen  der  Weichlichkeit  und  dem  Sinnengenufs  ergebenen 
Schüler  indirekt  zurechtzuweisen,  zeigt  Sokrates  (Mem.  IL  1) 
dem  Aristipp,  dafs  der  zum  Herrschen  Tüchtige  enthaltsam 
und  abgehärtet  sein  mufs.  Aristipp  aber  lehnt  diese  Herrscher- 
rolle ganz  von  sich  ab:  er  will  sich  überhaupt  nicht  als 
Bürger  „in  einen  Staat  einschliefsen",  sondern  überall  als 
Fremder  leben.  So  sieht  sich  denn  Sokrates  genötigt,  die 
Vorteile  der  Enthaltsamkeit  auch  abgesehen  von  jenem 
ursprünglichen  Gesichtspunkte  ins  Licht  zu  stellen.  Er 
schliefst  mit  dem  Vortrage  der  allegorischen  Erzählung  des 
Prodikos    von    Herakles    am    Scheidewege    und    mit   einer 


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II.     1.    Aristipp.  485 

Mahnung  an  Aristipp,  bei  seiner  Lebensführung  auch  den 
späteren  Teil  seines  Lebens  im  Auge  zu  behalten. 

Aristipp  ist  für  den  Augenblick  zum  Schweigen  ge- 
bracht; dafs  er  aber  die  Worte  des  Sokrates  nicht  als  eine 
heilsame  Belehrung,  sondern  als  eine  erlittene  Niederlage 
empfindet,  zeigt  er  bald  darauf,  als  er  glaubt,  durch  Hin- 
weis auf  einen  schwachen  Punkt  im  sokratischen  Gedanken- 
system nun  seinerseits  Sokrates  eine  Schlappe  beibringen 
zu  können  (Mem.  III.  8).  Der  von  Aristipp  in  Frage  ge- 
stellte Punkt  hängt  eng  mit  der  früher  erhaltenen  Lektion, 
aber  auch  mit  der  Wendung  zusammen,  die  bei  Aristipp 
wie  bei  Antistheneß  das  Denken  nehmen  wird,  der  Stellung 
des  einzelnen  ganz  auf  sich  selbst  in  den  Fragen  der  Lebens- 
führung. Sokrates  will  den  tüchtigen  Herrscher  und  als 
hauptsächlich  erforderliche  Eigenschaft  desselben  Moralität. 
Um  diese  zu  begründen,  weist  er  auf  die  mannigfachen  mit 
einer  sittlichen  Lebensführung  verbundenen  Vorteile  hin. 
Sittlichkeit  ist  die  beste  Lebensweisheit  In  dieser  Weise 
war  er  auch  in  dem  früheren  Gespräche  hinsichtlich  der 
Enthaltsamkeit  verfahren.  Dies  hat  offenbar  Aristipp  zun(i 
weiteren  Nachdenken  über  die  angepriesenen  Güter  geführt, 
und  er  hat  gefunden,  dafs  jedes  im  Sinne  der  gewöhnlichen 
Denkweise  als  Gut  Geltende  nur  zu  etwas  gut  ist  und 
unter  Umständen  auch  ein  Übel  sein  kann.  Er  fragt  daher 
jetzt  Sokrates,  ob  er  irgend  ein  Gut  kenne,  bereit,  ihm  die 
Unzulänglichkeit  der  zu  nennenden  Güter  nachzuweisen. 
Offenbar  befindet  er  sich  hier  schon  auf  dem  direkten  Wege 
zu  der  neuen  Problemstellung,  die  das  Verhältnis  von  Lebens- 
führung und  Güterlehre  umkehrt,  nicht,  wie  Sokrates,  die 
Lebensführung  vorangehen  läfst,  sondern  aus  dem  zu  er- 
strebenden, unbedingt  wertvollen  Gute  die  Lebensführung 
ableitet.  Sokrates  läfst  sich  nicht  fangen.  Er  kennt  kein 
Gut  an  sich,  sondern  nur  Dinge,  die  je  nach  den  sich  ver- 
ändernden Umständen  des  Falles  als  Güter  zu  erstreben 
sind.  Aristipp  aber  ist  in  der  Frage  nach  einem  unbedingt 
zu  bevorzugenden  Gute  auf  dem  direkten  Wege  zu  seinem 
neuen  Standpunkte. 

Aristipp  war  beim  Tode  des  Sokrates  nicht  zugißgen. 


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486  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Er  war,  wie  Piaton  (Phaed.  59  C)  mit  einer  für  uns  nieht 
mehr  verständlichen  Kürze,  vielleicht  schonend,  berichtet, 
„in  Ägina**.  So  nahe  bei  Athen  und  doch  nicht  herbei- 
eilend! Es  mufs  doch  schon  eine  starke  Scheidewand 
zwischen  ihm  und  Sokrates  aufgerichtet  gewesen  sein,  dafs 
sie  selbst  dieser  weltgeschichtlichen  Tragik  Trotz  bot!  Die 
späteren  Berichterstatter  haben  diesen  Aufenthalt  in  Ägina 
im  Sinne  einer  leichtfertigen  Genufssucht  ausgeschmückt. 
Wir  wissen  nicht,  wie  es  sich  damit  verhalten  hat.  Jeden- 
falls werden  aus  seinem  späteren  Leben  Aussprüche  von 
ihm  angeführt,  die  seine  dankbare  Anerkennung  für  die 
von  Sokrates  empfangenen  Anregungen  bezeugen  (D.  L.  IL 
71,  76,  78,  80). 

Bald  nach  dem  Tode  des  Sokrates  begann  er  nach  dem 
Muster  der  Sophisten  eine  Tätigkeit  als  Wanderlehrer  gegen 
Bezahlung.  Xenophon  berichtet  in  einem  Abschnitt  seiner 
Denkwürdigkeiten  (L  2,  60),  der  frühestens  um  390  verfafst 
sein  kann,  mit  unzweifelhafter  Beziehung  auf  Aristipp,  ein 
Beweis,  dafs  die  Unterweisung  des  Sokrates  nicht  wertlos 
gewesen  sei,  liege  darin,  dafs  es  Schüler  von  ihm  gebe,  die 
kleine  Teile  des  von  ihm  umsonst  Empfangenen  nur  gegen 
hohes  Honorar  wieder  mitteilten.  Von  Aristoteles  (996,  32) 
wird  er,  wahrscheinlich  dieses  Umstandes  wegen,  geradezu 
als  Sophist  bezeichnet.  Auch  die  im  übrigen  unmögliche 
Angabe,  er  habe  vom  Ertrag  seines  Unterrichts  bedeutende 
Summen  an  Sokrates  gesandt  (D.  L.  IL  63),  hat  das 
Honoramehmen  zur  Voraussetzung. 

Auf  seinen  Wanderfahrten  scheint  er  sich  längere  Zeit 
bei  Dionysios  dem  Älteren,  dem  Tyrannen  von  Syrakus 
(406—367),  aufgehalten  zu  haben,  dessen  Gunst  er  sich 
durch  seine  weltmännische  Gewandtheit  und  Anbequemungs- 
fähigkeit  zu  erwerben  wufste  (D.  L.  IL  66).  Wie  weit 
diese  Anpassungsfähigkeit  gehen  mochte,  kann  folgende 
Anekdote  erläutern,  deren  Geschichtlichkeit  natürlich  nicht 
verbürgt  ist.  Einst  spuckte  ihn  Dionysios  an.  Jemand 
tadelt  ihn,  dafs  er  sich  das  gefallen  lasse.  Er  sagt:  Die 
Fischer  lassen  es  sich  gefallen,  dafs  das  Meer  sie  bespritzt, 
um   köstliche  Fische   zu   erjagen;   warum   sollte   ich   mich 


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II.    1.  Aristipp.  487 

nicht  um  desselben  Zweckes  willen  mit  Speichel  bespritzen 
lassen?  (Ebendas.  67.)  Nach  einer  anderen  Anekdote  tut 
er  vor  Dionysios,  um  die  Erhörung  einer  Bitte  zu  erlangen, 
einen  Fufsfall  und  rechtfertigt  dies  dadurch,  er  könne  nicht 
dafür,  dafs  der  Tyrann  die  Ohren  an  den  Füfsen  habe 
(desgl.  79).  Ja,  er  tanzt  vor  ihm  auf  sein  Verlangen  in 
einem  langen  weiblichen  Purpurkleide  (78;  S.  Emp.  Hyp. 
III.  204).  Es  wird  ihm  daher  auch  die  Lehre  beigelegt,  es 
sei  etwas  sittlich  Gleichgültiges,  Weiberkleider  anzulegen 
(S.  Emp.  Hyp.  L  155). 

Über  die  sonstigen  Stationen  seines  Wanderlebens  ist 
nichts  Erhebliches  bekannt.  Nach  Plutarch  (Dion.  19)  wäre 
er  auch  zur  Zeit  der  letzten  Reise  Piatos  nach  Syrakus 
(361),  also  in  hohem  Alter,  am  Hofe  des  jüngeren  Dionysios 
(seit  367)  anwesend  gewesen.  Auch  von  dieser  gleichzeitigen 
Anwesenheit  beider  Philosophen  dort  werden  verschiedene 
Anekdoten  erzählt;  doch  ist  die  ganze  Sache  zweifelhaft. 
Jedenfalls  mufs  Aristipp  zwischendurch  längere  Zeit  in  seiner 
Vaterstadt  Kyrene  gelebt  haben,  da  er  dort  eine  Schule 
hinterliefs  und  seine  Tochter  Arete  zur  Philosophin  und 
Nachfolgerin  in  seiner  Lehrtätigkeit  ausbildete  (D.  L.  IL 
72,  84,  86). 

Über  die  Echtheit  der  Aristipp  beigelegten,  sehr  zahl- 
reichen Schriften  waren  schon  im  Altertum  die  Ansichten 
geteilt,  und  es  ist  darüber  nichts  Sicheres  auszumachen 
(D.  L.  IL  83  «F.,  64;  VIIL  27;  Z.  344  f.).  Jedenfalls  be- 
sitzen wir  nur  indirekte  Nachrichten  über  seine  Lehre,  und 
es  ist  sogar  sehr  wahrscheinlich,  dafs  er  selbst  dieselbe 
noch  nicht  systematisch  ausgebildet,  sondern  nur  in  den 
Grundzügen  festgestellt  hatte  (Euseb.  pr.  ev.  XIV.  31  f.; 
Z.  a.  a.  0.).  Dafs  er  zusammenhängende  Vorträge  gehalten 
habe,  wird  bezeugt  (Athen.  11,  50c).  Es  gab  auch  auf- 
gezeichnete Vorträge  dieser  Art  unter  seinem  Namen,  die 
aber  schon  im  Altertum  für  unecht  gehalten  wurden  (D.  L. 
IL  84). 

Einige  bezeichnende  Grundzüge  seiner  Weltanschauung 
lassen  sich  schon  aus  den  zahlreichen  Anekdoten  und  Aus- 
sprüchen entnehmen,  die  Diogenes  Laertius  von  ihm  anführt. 


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488  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Danach  legte  er  zunächst  der  Bildung  überhaupt  den 
höchsten  Wert  bei.  Der  Gebildete  unterscheidet  sich  vom 
Ungebildeten  wie  ein  geschultes  Rofs  von  einem  ungebän- 
digten.  Der  Ungebildete  bedarf  der  Vermenschlichung 
(anthropismös) ,  der  Gebildete  besitzt  also  Menschlichkeit, 
Humanität,  —  ein  Begriflf,  der  in  der  ganzen  griechischen 
Literatur  hier  allein  vorkommt  (II.  69  f.).  Das  Wesen  der 
Bildung  nun  scheint  er  zunächst  im  weiteren  und  unbestimm- 
terien  Sinne  gefafst  zu  haben.  Jemand  fragt,  in  welcher 
Beziehung  sein  Sohn  besser  sein  würde,  wenn  er  ihn  bilden 
liefse.  Aristipp :  Wenn  in  keiner  anderen,  dann  doch  darin, 
dafs  er  nicht  im  Theater  als  ein  Stein  auf  dem  Steine  sitzt 
(72).  Der  Wert  der  Bildung,  meint  er  femer,  werde  zu 
Tage  kommen ,  wenn  man  einen  Gebildeten  und  einen  Un- 
gebildeten von  allem  eütblöfst  zu  wildfremden  Menschen 
schicke  (73).  Näher  ist  der  Gebildete  einesteils  der  Lebens- 
gewandte, der  sich  mit  Geistesgegenwart  in  jeder  Lage 
zurechtzuhelfen  weifs ,  andernteils  geht  der  Begriff  schon 
über  in  den  des  Einsichtsvollen,  der  seine  Lebensführung 
zweckbewufst  nach  festen  Überzeugungen  zu  ordnen  ver- 
steht. In  ersterer  Beziehung  aus  den  vielfachen  Proben, 
die  er  selbst  geliefert  hat,  nur  eine.  Er  fährt  mit  einer 
bedeutenden  Geldsumme  zu  Schiflfe.  Er  merkt,  dafs  er  auf 
ein  Seeräuberschiflf  geraten  ist,  und  dafs  man  ihn  um  des 
Geldes  willen  umbringen  wird.  Er  holt  sein  Geld  aufs  Ver- 
deck und  fängt  an,  es  zu  zählen,  läfst  aber  dabei,  wie  aus 
Versehen ,  die  ganze  Summe  über  Bord  fallen ,  denn  er  sei 
besser,  dafs  diese  durch  ihn,  als  dafs  er  um  ihrer  willen  zu 
Grunde  gehe.  Die  Schififsmannlschaft  aber  täuscht  er  da- 
durch, dafs  er  mit  lautem  Wehklagen  seinen  Verlust  be- 
jammert (77).  Die  andere  Seite  tritt  in  folgenden  beiden 
Zügen  zu  Tage.  Ein  Vater  findet  die  von  ihm  für  die 
Ausbildung  seines  Sohnes  geforderte  Summe  (375  Mk.)  zu 
hoch ;  dafür  könne  er  schon  einen  Sklaven  kaufen.  Aristipp 
erwidert :  Tue  das,  dann  hast  du  zwei  (72).  Ein  Verwalter 
des  syrakusischen  Tyrannen,  der  eigentlich  ein  phrygischer 
Sklave  und  ein  schlechter  Mensch  war,  zeigt  ihm  prahlerisch 
sein  prächtig  eingerichtetes  Haus  mit  kostbaren  Fufsböden. 


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II.    1.   Aristipp.  489 

Aristipp  spuckt  ihm  eine  volle  Ladung  Speichel  ins  Gesicht. 
Als  jener  unwillig  wird ,  sagt  er :  Ich  konnte  gerade  keine 
passendere  Stelle  dafür  finden  (75). 

Dies  Können  und  diese  Einsicht  aber  sollen  sich  nicht 
auf  unnütze  und  unwesentliche  Dinge  richten.  Damit  ge- 
winnen wir  den  Übergang  zur  Philosophie.  Einer  rühmt 
sich  seiner  Schwimm-  und  Taucherkunst.  Ob  er  sich  nicht 
schäme,  meint  Aristipp,  sich  einer  Sache  zu  rühmen,  die 
ein  Delphin  viel  besser  verstünde  (73)?  Ein  anderer  will 
ihm  ein  Rätsel  zu  lösen  geben.  „Warum  soll  ich  es  lösen, 
da  es  schon  gebunden  uns  zu  schaffen  macht?**  (70.)  Er 
sagt:  Die  Vielesser,  die  dann  durch  Leibesübungen  der 
Verdauung  nachhelfen,  sind  nicht  gesünder  wie  diejenigen, 
die  nur  das  Erforderliche  zu  sich  nehmen.  So  sind  auch 
nicht  die  Vielwisser,  sondern  diejenigen  die  Tüchtigen,  die 
das  Erforderliche  lernen  (71).  Er  vergleicht  die  mit  der 
Vielheit  der  Wissenschaften  sich  Abgebenden,  die  Philo- 
sophie aber  Vernachlässigenden  mit  den  Freiern  der  Pene- 
lope,  die  in  Ermangelung  dieser  sich  mit  ihren  Mägden  be- 
gnügen, oder  mit  Odysseus,  der  im  Hades  alle  Toten 
besichtigt,  die  Herrscherin  des  Totenreiches  selbst  aber 
nicht  zu  Gesichte  bekommt  (79  f.). 

Mit  diesen  Aussprüchen  kommen  wir  denn  zur  Philo- 
sophie. Dafs  diese  ihm,  genau  wie  dem  Antisthenes,  die 
Wissenschaft  des  wahrhaft  Wertvollen,  der  durch  Einsicht 
geregelten  Lebensführung  ist,  zeigt  schon  seine  Antwort  auf 
die  Frage,  was  die  Philosophen  voraushaben.  „Wenn  alle 
Gesetze  aufgehoben  würden,  würden  wir  gerade  so  leben 
wie  jetzt.**  (68.)  Der  Philosoph  bestimmt  seine  Lebensführung 
mit  Freiheit,  von  innen  heraus.  Er  findet  es  seltsam,  dafs 
man  beim  Ankauf  einer  Vase  diese  aufs  sorgfältigste  prüft, 
die  verschiedenen  Lebensführungen  aber  nur  leichtfertig 
gegeneinander  abschätzt  (78).  Auch  er  vergleicht,  wie  Anti- 
sthenes, die  Philosophen  mit  den  Ärzten  (70). 

Auch  bei  Aristipp  wie  bei  Antisthenes  steht  der  Philo- 
soph frei  und  losgelöst  von  allen  Rücksichten,  nur  auf  sich 
selbst  und  seine  eigene  Glückseligkeit  sehend,  vor  der  Wahl 
der  wertvollsten  Lebensgüter,  um  von  dieser  aus  sein  Leben 


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490  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

als  ein  freies  Werk  der  Einsicht  und  praktischen  Vernunft 
zu  gestalten.  Diese  Wahl  aber,  dieses  Werturteil  fällt  bei 
Aristipp  in  völlig  entgegengesetztem  Sinne  aus  wie  bei 
Antisthenes. 

Nach  Diog.  L.  (86)  erklärte  er  für  das  höchste  Gut 
„die  sanfte  Bewegung,  die  in  Empfindung  übergeht".  Um 
diese  Formel  vollständig  zu  verstehen ,  bedarf  es  einer  Er- 
läuterung der  in  ihr  schon  mitangedeuteten  theoretischen 
Grundlage,  auf  der  diese  Bestimmung  des  höchsten  Gutes 
ruht.  Diese  Grundlage  lernen  wir  aus  einer  platonischen 
Stelle  kennen.  Plato  hat  (im  Theätet)  eben  die  Lehre  des 
Protagoras  auseinandergesetzt,  nach  der  auch  den  einander 
entgegengesetzten  Empfindungen  Verschiedener  eine  reale 
Beschaffenheit  in  dem  verursachenden  Gegenstande  zu  Grunde 
liegen  müsse.  Es  soll  sodann  (Theaet.  155D)  „der  verborgene 
wahre  Sinn  dieser  Lehre  des  Protagoras  oder  vielmehr  nam- 
hafter Männer**  auseinandergesetzt  werden.  Diese  „nam- 
haften Männer"  werden  dann  weiter  (156  A)  als  besonders 
elegante  und  zierliche  Denker  bezeichnet.  Nach  dieser 
offenbar  noch  über  Heraklit  und  Protagoras  hinausgehenden 
Lehre  gibt  es  überhaupt  keine  Dinge  oder  Stoffe  und  also 
auch  keine  Beschaffenheiten  an  sich  (156  E).  Das  All  ist 
weiter  nichts  als  Bewegung  (A).  Diese  Bewegung  ist  eines- 
teils eine  affizierbare  (ein  sehr  unklarer  Ausdruck ;  gemeint 
sind  die  Sinneswerkzeuge  mit  ihrer  Fähigkeit,  affiziert  zu 
werden),  andernteils  eine  affizierende,  und  durch  das  Zu- 
sammenwirken, durch  eine  Art  von  Reibung  beider  entsteht 
zwillingsartig  einesteils  die  Wahrnehmung,  andernteils  das 
Wahrgenommene,  das  dem  Sinneseindruck  als  sein  sach- 
liches Gegenstück  Entsprechende.  Auch  dies  letztere  ist 
also  kein  an  sich  und  dauernd  Seiendes;  es  entsteht  jedes- 
mal erst  im  Akte  der  Wahrnehmung  und  hat  zur  Bedingung 
seines  Entstehens  das  Zusammenwirken  der  beiden  Arten 
der  Bewegung.  Dennoch  wird  diesem  Wahrgenommenen 
eine  von  dem  Sinneseindruck  unterschiedene  Daseinsweise 
an  sich,  wenigstens  im  Akte  der  Wahrnehmung,  zugeschrieben. 
Und  zwar  werden  nicht  nur  die  eigentlichen  Sinneseindrücke, 
die  Empfindungen  des  Gesichts,  Gehörs,  Geruchs,  des  Tast- 


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IL    1.   Aristipp.  491 

und  TemperatuFsinnes,  sondern  aueh  Lust  und  Unlust,  Be* 
gierde  und  Furcht  auf  diese  Weise  erklärt  (156  B  ff.)«  Wieder 
ein  sehr  unklarer  Gedanke.  Diese  Lehre  wird  von  Plato 
als  eine  Art  von  Geheimlehre  solcher  bezeichnet,  die  von 
Protagoras  ausgehen,  aber,  wie  es  scheint,  auch  wieder  über 
Protagoras  hinausgehen  (152  C,  156  A). 

Dafs  hier  die  Lehre  Aristipps  vorliegt,  wird  durch 
andere  Nachrichten  ttber  dieselbe  wenigstens  sehr  wahr- 
scheinlich. Sextus  Empiricus  sagt  über  die  Lehre  zwar 
nicht  des  Aristipp  selbst,  aber  seiner  Schule  folgendes: 
„Es  existieren  nur  die  Affektionen,  nichts  anderes.  Der 
Laut  z.  B.  ist  keine  Affektion,  sondern  etwas  eine  Affektion 
Bewirkendes,  gehört  aber  nicht  zum  Existierenden."  (Mus. 
53.)  Diese  kurze  und  etwas  unklare,  ja  widerspruchsvolle 
Formulierung  scheint  doch  genau  der  vorstehend  nach  Plato 
dargelegten  Lehre  zu  entsprechen.  Genauer  wird  die  Lehre 
dieser  Schule  von  demselben  Schriftsteller  (Dogm.  I.  190  ff.) 
folgendermafsen  dargestellt.  Nur  die  Sinnesaffektionen 
werden  wahrgenommen.  Das  sie  Bewirkende  ist  unerkenn- 
bar. Dafs  wir  die  Empfindung  weifs  oder  süfs  haben,  ist 
eine  unzweifelhafte  und  unwiderlegbare  Tatsache ;  dafs  aber 
das  diese  Eindrücke  Bewirkende  weifs  oder  süfs  wäre,  ist 
unbeweisbar.  Auch  von  einem  an  sich  nicht  Weifsen  oder 
nicht  Süfsen  können  diese  Eindrücke  hervorgebracht  werden. 
Der  Schwindliche  oder  Gelbsüditige  sieht  alles  gelb,  der 
Augenkranke  alles  rot,  der  die  Augen  Verschiebende  oder 
Wahnsinnige  alles  doppelt.  Die  Empfindung  zeigt  uns  nur 
sich  selbst ;  das  sie  Bewirkende  existiert  vielleicht,  erscheint 
uns  aber  nicht.  Daher  ist  auch  die  den  Menschen  gemein- 
same Wahrnehmung  kein  Mafsstab  (wie  Protagoras  annahm), 
denn  jeder  empfindet  nur  seine  eigene  Empfindung,  nicht 
die  des  anderen.  Eine  Übertragung  ist  unmöglich.  Wie 
die  Gelbsüchtigen  und  Augenkranken  von  denselben  Ob- 
jekten widersprechende  Farbeneindrücke  empfangen,  so  ist 
es  vielleicht  auch  mit  den  Normalsichtigen.  Wir  legen  den 
Dingen  gemeinsame  Namen  bei,  die  Eindrücke  aber  gehören 
nur  dem  einzelnen  an  (weitere  Zeugnisse  Z.  348,  1). 

Diese  Theorie,  fährt  Sextus  fort  (199  f.),  mufste  denn 


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492  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

auch  auf  ihre  Gttterlehre  bestimmend  wirken.  Denn  die 
Eindrücke  sind  teils  lustvoü,  teils  unlustvoll,  teils  keins 
von  beiden.  Die  unlustvollen  nennen  sie  Übel,  die  lust- 
vollen Güter,  die  in  der  Mitte  liegenden  aber  weder  Güter 
noch  Übel.  So  sind  die  Sinneseindrücke  auch  in  dieser  Be- 
ziehung der  Mafsstab,  und  wir  richten  uns  in  unserer 
Lebensführung,  sagen  sie,  nach  ihnen,  indem  wir  das  Lust- 
volle bevorzugen.  Eine  kürzere,  aber  auch  wieder  inhalt- 
reichere und  die  Betrachtung  auf  jene  zuerst  angeführte 
Formel  des  Aristipp  zurücklenkende  Formulierung  gibt 
Sextus  an  anderer  Stelle  (Hjrp.  L  215):  „Die  Sinnenlust 
und  die  sanfte  Bewegung  des  Fleisches  (d.  h.  in  den  Or- 
ganen der  Sinnesempfindung)  ist  das  höchste  Gut."  Hier 
wird  die  lustvolle  Aifektion  mit  der  „sanften  Bewegung" 
in  eins  gesetzt.  Es  wird  also  angenommen,  dafs  die  heftigeren 
AflFektiohen  der  Empfindungsorgane,  als  der  Natur  unseres 
Körpers  nicht  gemäfs,  unlustvoll  wirken,  die  sanfteren  Affek- 
tionen dagegen,  als  unserer  Organisation  gemä&,  lustvoll. 

Dafs  diese  Lehre  nicht  erst  von  den  Nachfolgern  des 
Aristipp  ausgebildet  worden  ist,  sondern  schon  ihm  selbst 
angehört,  wird  durch  die  obigen  Angaben  Piatos  mindestens 
wahrscheinlich.  Auch  im  Philebus  (43  B)  wird  eine  Lehre 
erwähnt,  nach  der  die  Entstehung  von  Lust  und  Unlust 
ausdrücklich  an  die  von  Heraklit  gelehrte  Bewegung  auf- 
wärts und  abwärts  angeknüpft  wird  und  ferner  drei  Arten 
von  Zuständen  unterschieden  werden,  lustvolle  und  unlust- 
volle aus  stärkeren  Bewegungen,  mittlere  dagegen  aus  ge- 
ringen, nicht  merkbaren  Bewegungen.  In  dieser  Stelle  scheint 
eine  neue  Bestätigung  dafür  zu  liegen,  dafs  diese  ganze 
Lehre  schon  von  Aristipp  selbst  herstammt  (vergl.  auch 
Z.  352,  1).  Ebenso  müssen  dann  aber  auch  schon  die  Haupt- 
züge der  aus  diesen  Grundbestimmungen  unweigerlich  fol- 
genden Lustlehre  ihm  selbst  angehören.  Wenn  erstens  die 
Lust  das  naturgemäfs  Erstrebte  und  Erstrebenswerte  ist, 
wenn  zweitens  nicht  die  Dinge  selbst  und  ihre  Zusammen- 
hänge, ein  einheitliches  Weltgeschehen,  erkennbar  sind,  son- 
dern nur  die  in  jedem  Moment  uns  treffenden  Lust-  und 
Unlusteindrücke,  so  können  wir,  falls  wir  durch  Einsicht 


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II.     1.   Aristipp.  493 

und  Vernunft  unser  Leben  möglichst  lustvoll  gestalten 
wollen,  nicht  einen  einheitlichen  Lebensplan  entwerfen,  son- 
dern nur  von  Moment  zu  Moment,  von  Fall  zu  Fall  das 
möglichst  Lustvolle  erkennen  und  uns  zu  eigen  machen. 
Nur  der  Augenblick  ist  unser;  die  auf  die  möglichst  lust- 
volle Gestaltung  des  Lebens  zielende  Einsicht  ist  ein  Augen- 
blicksdenken,  ein  Augenblicksentschliefsen ,  nicht  eine  das 
gesamte  Leben  nach  einem  einheitlichen  Plane  regelnde 
intellektuelle  Tätigkeit  (Ael.  V.  H.  14,  6).  Auch  Diog. 
Laert.  biezeugt  (66),  Aristipp  habe  immer  nur  den  gegen- 
wärtigen Genufs  erstrebt,  nicht  aber  mit  einem  Opfer  von 
Unlust  künftigen  Genufs  erkaufen  wollen. 

Wir  kehren  nun  zu  den  Anekdoten  und  Aussprüchen 
bei  Diogenes  Laertius  zurück.  Diese  liefern  zahlreiche  Be- 
stätigungen für  die  eben  entwickelte  Lehre  Aristipps  vom 
höchsten  Gute.  Zunächst  ist  nach  diesen  Berichten  sein 
ganzes  Streben  überhaupt  auf  Sinnengenufs ,  auf  Gaumen- 
kitzel, Wohlgerüche,  Geschlechtsgenufs  gerichtet  (IL  69, 
75,  76).  Zu  Sokrates  ist  er  gegangen,  als  er  der  Bildung 
begehrte,  zum  Tyrannen,  da  er  des  Genusses  begehrt  (80; 
im  Griechischen  ein  Wortspiel  paidefa  und  paidiä).  Offenbar 
nur  in  diesem  Sinne  des  gröfseren  Reichtums  an  Sinnen- 
genüssen legt  Aristipp  (71),  als  er  wegen  seiner  Todesangst 
bei  einem  schweren  Sturme  auf  See  getadelt  wird,  dem 
Leben  des  Philosophen  einen  höheren  Wert  bei  als  dem 
des  Nichtphilosophen.  Zum  Geniefsen  aber  braucht  man 
Geld.  So  nimmt  er  die  Weise  der  Sophisten  an  und  erklärt 
dem  Tyrannen  unverhohlen,  dafs  er  ihm  geben  will,  was  er 
besitzt,  und  von  ihm  empfangen,  was  er  nicht  besitzt  (77). 
Er  fordert  geradezu  Geld  von  ihm  (82)  und  fügt  sich,  wie 
wir  bereits  gesehen,  um  dieses  Zweckes  willen  in  schimpf- 
licher Weise  in  seine  eigenwilligen  Launen. 

Es  ist  aber  femer  nicht  der  rohe,  massenhafte  Genufs, 
der  nur  heftige  und  also  unlustvolle  Erregungen  erzeugen 
kann,  dem  er  nachgeht.  Als  einer  sich  vor  ihm  rühmt, 
dafs  er  sehr  viel  Wein  vertragen  könne,  ohne  trunken  zu 
werden,  sagt  er:  das  kann  auch  ein  Maulesel  (73). 

Es  ist  der  feinere  Genufs,  auf  den  es  ihm  ankommt.    Der 


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494  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

Genufs  soll  ihn  nicht  fesseln,  unterjochen,  ihn  mit  den 
Unlustgefahlen  heftigen,  leidenschaftliehen  Begehrens  er- 
fallen.  In  bezug  auf  sein  Verhältnis  zur  schönen  Buhlerin 
Lais  sagt  er:  „Ich  besitze,  aber  werde  nicht  besessen," 
oder:  „Ich  habe,  aber  es  hat  mich  nicht,"  (74  f.)  und  in 
bezug  auf  seine  £inkehr  in  einem  Freudenhause:  „Nicht 
das  Hineingehen  ist  verwerflich,  sondern  das  Nichtheraus- 
gehenkönnen."  (69).  Nicht  die  Enthaltung  vom  Genüsse, 
sondern  der  Gebrauch,  ohne  hingerissen  zu  werden,  zeigt 
die  Herrschaft  (75;  Stob.  Flor.  17,  18).  Eben  deshalb  aber 
ist  er  auch  nicht  wählerisch  und  wird  nicht  durch  Neben- 
gedanken des  Widerwärtigen  vom  Genüsse  abgehalten,  wenn 
nur  der  Zweck  des  Augenblicksgenusses  sichergestellt  wird. 
So  rechtfertigt  er  den  Verkehr  mit  öflfentlichen  Dirnen  durdi 
den  Vergleich  mit  einem  Schiffe  oder  einem  Hause,  von 
deren  Benutzung  man  sich  auch  nicht  durch  die  Erwägung 
abhalten  lasse,  dafs  sich  auch  zahlreiche  andere  derselben 
bedienten  (74). 

Durch  dieses  Prinzip  des  nur  auf  den  Augenblicksgenufs 
gestellten  Begehrens  erklärt  sich  seine  Gleichgültigkeit 
gegen  übergrofsen  Besitz.  Er  tröstet  sich  leicht  tlber  den 
Verlust  eines  Landgutes,  da  ihm  noch  drei  übriggeblieben 
sind,  und  findet,  dafs  der  gröfsere  Besitz  ebensowenig  der 
wertvollere  ist  wie  der  gröfsere  Schuh  (Ael;  V.  H.  7,  3; 
Stob.  Flor.  95,  32).  Aus  ihm  erklären  sich  auch  die  Züge 
einer  vollständig  sinnlosen  Verschwendung,  die  an  sich  frei- 
lich zu  dem  Streben  nach  Erwerb  des  unumgänglichen  Hilfs- 
mittels des  Genusses,  des  Geldes;  in  Gegensatz  treten.  Er 
kauft  ein  Rebhuhn  für  37,50  Mk. ,  das  er  auch  für  einen 
Obolos  (12 Va  Pfg.),  also  den  300sten  Teil  dieser  Summe, 
kaufen  könnte,  mit  der  Begründung,  dafs  ihm  jener  gröfsere 
Betrag  nicht  mehr  wert  sei  als  der  Obolos  (66).  Offenbar 
ist  hier  die  erstrebte  Augenblickslust  der  einzige  Wert- 
mafsstab,  g^en  den  der  Gedanke  an  die  dem  Gelde  dauernd 
anhaftende  Fähigkeit  zur  Beschaffung  ähnlicher  Genüsse 
momentan  zurücktritt. 

Dafs  eine  solche  Lebensanschauung  folgerichtigerweise 
nicht  nur  zur  Vermeidung  lästiger  Konflikte   mit  anderen 


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II.    1.   Aristipp.  495 

und  mit  den  Gesetzen,  also  zu  einer  Art  von  Gerechtigkeit, 
sondern  selbst  zu  vereinzelten  Handlungen  der  Gttte  führen 
kann,  ist  leicht  zu  sehen.  Letzteres  nämlich  durch  Ver- 
mittlung des  natürlichen  Mitgefühls,  das  die  Unlust  der 
anderen  als  eigene  Unlust  mitempfindet.  So  tut  er  zur 
Versöhnung  mit  dem  befreundeten  Äschines,  mit  dem  er 
sich  erzürnt  hatte,  obwohl  der  Ältere,  den  ersten  Schritt 
(82  f.).  So  heifst  er  auf  einer  Reise  den  begleitenden  Sklaven, 
der  unter  der  Last  eines  schweren  Geldsacks  stöhnt,  so  viel 
von  dem  Gelde  wegwerfen,  dafs  er  das  Verbleibende  bequem 
tragen  könne  (77),  —  eine  Erzählung,  bei  der  auch  wieder  die 
nur  an  den  Augenblick  denkende  Nichtachtung  des  Geldes 
zum  Ausdruck  kommt.  Diese  Erzählung  beruht  auf  dem 
Zeugnis  des  Bion  von  Borysthenes,  des  Schülers  eines  Haupt- 
vertreters der  kyrenaischen  Schule.  Sie  wird  auch  dadurch 
etwas  weniger  unglaubwürdig,  dafs  (nach  Horaz  Sat.  IL 
3,  99)  die  Szene  in  eine  afrikanische  Wüste  verlegt  wird, 
in  der  ein  verzögerter  Aufenthalt  unratsam  war.  Auch  der 
Ausspruch  (68),  dafs  ihm  aus  der  Philosophie  der  Vorteil 
erwachse,  mit  allen  furchtlos  verkehren  zu  können  (der 
einen  gewissen  Gegensatz  zum  Selbstverkehr  des  Antisthenes 
bildet),  gehört  in  diesen  Zusammenhang.  Ebenso  der  bereits 
angeführte,  dafs  der  Philosoph  seine  Lebensführung  nicht 
verändern  würde,  wenn  alle  Gesetze  aufgehoben  würden. 
Von  einem  Bestimmtwerden  durch  religiöse  Überzeugungen, 
das  ja  auch  schon  durch  seine  Erkenntnislehre  ausgeschlossen 
war,  findet  sich  in  dem  über  Aristipp  Überlieferten  nicht 
die  geringste  Spur.    Er  ist  vollständiger  Freigeist. 

Nach  diesen  Darlegungen  läfst  sich  nun  auch  ermessen, 
mit  welchem  Rechte  Aristipp  sich  einen  Schüler  des  Sokrates 
nennen  konnte.  Der  eigentliche  Grundgedanke  des  Sokrates 
ist  bei  ihm  noch  sehr  viel  entschiedener  als  bei  Antisthenes 
in  den  Hintergrund  getreten.  Von  einer  Richtung  seines 
Denkens  auf  eine  vollkommene,  d.  h.  der  allgemeinen  Glück- 
seligkeit gemäfse  Staatseinrichtung  findet  sich  auch  nicht 
die  leiseste  Spur,  und  das  kann  auch  nicht  anders  erwaitet 
werden,  da  er  ja  jede  allgemeine,  das  Gesamtleben  auch 
nur  des  einzelnen  umfassende  Veranstaltung  verwirft.    Da- 


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496  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

gegen  fand,  ähnlich  wie  die  Freiheitslehre  des  Antisthenes, 
so  seine  Lustlehre  einen  Anhaltspunkt  an  einem  der 
Empfehlungsgründe,  die  Sokrates  für  die  Enthaltsamkeit 
ins  Feld  führte.  Die  Enthaltsamkeit  sollte  nach  Sokrates 
ein  gröfseres  Quantum  sinnlichen  Genusses  gewährleisten, 
weil  sie  das  Genufsvermögen  nicht  abstumpfe.  Hier  ist  der 
Wert  und  die  Berechtijgung  des  Sinnengenusses  als  Voraus- 
setzung anerkannt.  Aus  diesem  winzigen  Nebenpunkt  der 
sokratischen  Lehre  hat  Aristipp  unter  Zuhilfenahme  der 
weitergebildeten  Theorie  des  Protagoras  und  unter  dem  Ein- 
flüsse seiner  ursprünglichen  Wohlhabenheit  und  seiner  schon 
in  der  Heimat  erworbenen  Lebensgewohnheiten  sein  ganzes 
Genufssystem  herausgesponnen.  Aufserdem  hat  er,  wie 
Antisthenes,  von  Sokrates  auch  noch  die  Einsicht  als  die 
das  praktische  Verhalten  nach  den  letzten  Zwecken  regelnde 
Tugend  übernommen.  Freilich  kann  diese  Tugend  bei  ihm 
nur  ein  beschränktes  Wirkungsgebiet  in  Anspruch  nehmen, 
da  sie  nicht  die  gesamte  Lebensführung  nach  einheitlichem 
Plane  zu  regeln,  sondern  nur  die  Augenblicksentschlüsse  zu 
bestimmen  hat. 

2.    Die  kyrenalsche  Hauptschule. 

Die  Schule  spaltete  sich  sofort  in  zwei  Richtungen,  von 
denen  die  eine  durch  Antipater  von  Kyrene,  die  andere 
durch  Aristipps  Tochter  Arete  vertreten  war.  Von  Anti- 
pater ist  nur  die  Anekdote  bekannt,  dafs  er,  erblindet,  zu 
den  ihn  bemitleidenden  Frauen  sagt,  es  gebe  ja  doch  auch 
nächtliche  Sinnengenüsse,  von  denen  also  auch  der  Blinde 
nicht  ausgeschlossen  sei  (Cic.  Tusc.  V.  102).  Seine  Schule 
hat  sich  später  wieder  in  zwei  Richtungen  verzweigt,  von 
denen  nachher.  Die  eigentliche  kyrenaische  Schule  geht 
von  Arete  aus. 

Diese  soll  von  ihrem  Vater  sorgfältig  erzogen  und 
namentlich  zur  Geringschätzung  übermäfsigen  Besitzes  an- 
gehalten worden  sein  (D.  L.  II.  72).  Sie  bildet  dann  wieder 
ihren  Sohn,  den  jüngeren  Aristipp,  zum  Philosophen, 
den   man   daher   „den  von  der  Mutter  Belehrten"    nannte 


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IL    2.   Die  kyrenaische  Hauptschule.  497 

(ib.  86).  So  entsteht  die  eigentliche  kyrenaische  Schule,  die 
an  der  in  den  Grundzügen  vom  Stifter  aufgestellten  Lehre 
festhielt.  Ein  Abrifs  ihres  Systems  ist  uns  erhalten  (ib. 
86—93),  freilich  in  einer  Form,  die  es  erst  im  Laufe  des 
dritten  Jahrhunderts  erhalten  haben  kann.  Über  die  Gliede- 
rung dieses  Systems  sind  auch  sonst  Nachrichten  erhalten 
(Sen.  Ep.  89;  S.  Emp.  Dogm.  LH,  15). 

Das  Wesen  der  Dinge  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  er- 
kennen. Mit  Sicherheit  wahrnehmbar  sind  nur  die  AflFek- 
tionen,  die  wir  innerlich  erfahren,  die  Zustände  unseres 
Bewufstseins.  Die  genauere  Darlegung  dieser  Erkenntnis- 
lehre, wie  sie  sich  bei  Sextus  Empiricus  (Dogm.  L 
190  ff.  und  andere  Stellen)  findet,  ist  schon  bei  Aristipp 
selbst  angeftlhrt  worden.  Indem  hier  das  "wirklich  Erfahr- 
bare mit  grofser  Konsequenz  auf  das  innerlich,  im  Bewufst- 
sein  des  Subjekts  Vorgehende  eingeschränkt  wird,  wird  die 
Erfahrungslehre  (der  Empirismus)  mit  Notwendigkeit  skep- 
tisch in  bezug  auf  alles  nicht  unmittelbar  im  Bewufstsein  Ge- 
gebene. Ob  den  Dingen  an  sich  Farbe,  Ton  u.  s.  w.  zukommt, 
ist  unbekannt.  Um  diese  reine  Subjektivität  der  Empfindung 
recht  nachdrücklich  zum  Ausdruck  zu  bringen,  sagten  sie, 
der  Empfindende  selbst  werde  süfs,  bitter,  hell,  dunkel,  er 
werde  zum  Pferde,  zur  Mauer  u.  dergl.  (Plut.  Kolot.  24  f. ; 
vergl.  Cic.  Ac.  II.  76,  142).  Eine  Wissenschaft  von  der 
Natur  ist  daher  unmöglich.  Sie  ist  aber  auch  entbehrlich, 
da  die  Fieiheit  von  abergläubischer  Götterfurcht  und  von 
der  Furcht  in  bezug  auf  ein  Leben  nach  dem  Tode  auch 
ohne  Naturwissenschaft  erreicht  werden  kann. 

Unter  den  in  unserem  Bewufstsein  auftretenden  Er- 
scheinungen sind  zwei  Arten  von  besonderer  Bedeutung  für 
unser  Wohlsein,  die  sinnliche,  d.  h.  direkt  vom  Körper  her 
ohne  Vermittlung  eines  Vorstellens  verursachte  Lust  und 
Unlust.  Jene  entspringt  aus  einer  sanften,  diese  aus  einer 
rauhen  Bewegung.  Alle  lebenden  Wesen  erstreben  diese 
Lust  und  meiden  diese  Unlust.  Auch  der  Mensch  macht 
davon  keine  Ausnahme.  Während  des  Genusses  sinnlicher 
Lust  ist  er  befriedigt  und  strebt  nach  nichts  weiter.  Diese 
Lust  ist   also   das  erstrebenswerteste   Gut.     Aber  nur  sie 

Döring.   I.  32 


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498  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc 

selbst  eben  als  Bewegung,  nicht  als  blofs  vorgestellte  in  der 
Rtickerinnerung  oder  Zukunftserwartung,  wo  das  Merkmal 
der  Bewegung  fehlt.  Wegen  dieser  Ausschliefsung  der  Er- 
innerung und  Hoffnung  kann  denn  auch  nicht  von  Glück- 
seligkeit im  Sinne  eines  das  Gesamtleben  umfassenden  Zu- 
standes  die  Rede  sein;  nur  in  bezug  auf  die  einzelnen  von 
Sinnenlust  erfüllten  Lebensmomente  wollen  sie  den  Ausdruck 
gelten  lassen. 

Der  Beschaffenheit  nach  ist  diese  Lust  immer  die  gleiche, 
gleichviel,  wie  sie  verursacht  ist.  Ja,  auch  hinsichtlich  des 
Stärkegrades  (Intensität,  Quantität)  mufs  ihren  einzelnen 
Akten  eine  wesentliche  Gleichartigkeit  zuerkannt  werden. 
Diese  letztere  Angabe  hat  auf  den  ersten  Anblick  etwas 
Auffallendes,  ist  aber  doch  folgerichtig  aus  der  Grundvoraus- 
setzung abgeleitet.  Die  sanfte  Bewegung  hat  zwei  Grenz- 
gebiete, eins,  wo  sie  sich  dem  nicht  mehr  Merkbaren  nähert, 
ein  anderes,  wo  durch  Steigerung  der  Lebhaftigkeit  eine 
Annäherung  an  die  rauhe,  also  unlustvolle  Bewegung  statt- 
findet. Das  in  der  Mitte  zwischen  diesen  beiden  Grenz- 
gebieten Liegende  ist  also  auch  hinsichtlich  des  Stärke- 
grades von  wesentlich  gleichartigem  Charakter. 

Die  blofse  Abwesenheit  von  Unlust  gehört  so  wenig  zur 
Lust],  wie  die  blofse  Abwesenheit  der  Lust  als  Unlust  ge- 
rechnet werden  kann.  Da  beide  Gefühle  aus  Bewegung 
entspringen ,  kann  der  Zustand  der  reinen  Bewegungslosig- 
keit, den  sie  mit  dem  eines  Schlafenden  verglichen,  weder 
nach  der  einen  noch  nach  der  anderen  Seite  in  Anschlag 
gebracht  werden. 

Unter  den  einzelnen  Sinnen  sprechen  sie  dem  Gesichts- 
und Gehörssinn,  diese  rein  für  sich  genommen,  ohne  Zu- 
sammenhang mit  den  anderen  Sinnen,  die  Fähigkeit  zu 
echter  Lustwirkung  ab.  Durch  diese  beiden  Sinne  entstehen 
nicht  sowohl  jene  Bewegungen,  als  vielmehr  Vorstellungen. 
Vorstellungen  aber  sind,  auch  wenn  sie  Unlustzustände  zum 
Gegenstande  haben,  eher  lustvoll  als  unlustvoll.  Das  be- 
weist die  tragische  Kunst,  die  ja  Lustwirkungen  hervorbringt, 
obschon  sie  Unlustzustände  darstellt. 

Gleich  starke  Lust-  und  Unlustzustände  können  hin- 
sichtlich des  Lustwertes  doch  nicht  ohne  weiteres  gegen- 


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IL    2.   Die  kyrenaische  Hauptschule.  499 

einander  gerechnet  werden.  Wegen  des  natürlichen  Lust- 
bedürfnisses sind  die  Lustzustände  selbstverständlicher  und 
also  von  verhältnismäfsig  schvrächerer  Wirkung,  die  Unlust- 
zustände naturwidriger  und  also  von  verhältnismäfsig  stärkerer 
Wirkung.  Die  Erkauf  ung  von  Lust  durch  Unlust  mufs  daher 
möglichst  vermieden  werden. 

Innerhalb  gewisser  Grenzen  gestanden  sie  auch  eine 
nicht  aus  dem  Körper  entspringende,  sondern  auf  Vor- 
stellungen in  der  Seele  beruhende  Lust  zu,  z.  B.  aus  der 
Vorstellung  eines  vorhandenen  glücklichen  Zustandes  des 
Vaterlandes.  Wie  sie  dies  mit  ihren  Grundprinzipien  in 
Einklang  brachten,  nur  die  vom  Körper  aus  durch  sanfte 
Bewegung  erzeugte  (sinnliche)  Lust  als  Lust  anzuerkennen, 
wird  nicht  berichtet.  Immerhin  ist  ihnen  die  körperliche 
Lust  wertvoller  als  die  seelische  und  die  körperliche  Un- 
lust schlimmer  als  die  seelische  (90).  Auch  wird  in  diesem 
Zusammenhange  nochmals  eingeschärft,  dafs  weder  die  Er- 
innerung an  genossene  noch  die  Erwartung  zukünftiger  Lust 
zur  Lust  gerechnet  werden  könne.  Bei  beiden  fehle  das 
Merkmal  der  Bewegung;  im  Falle  der  Erinnerung  ist  die 
früher  vorhanden  gewesene  durch  die  Zeit  aufgehoben,  in 
dem  der  Erwartung  ist  sie  überhaupt  noch  gar  nicht  vor- 
handen. 

Wer  nach  diesen  Sätzen  lebt,  ist  der  wahre  Weise. 
Die  Eigenschaft,  durch  die  er  sein  Handeln  gestaltet,  ist  die 
Einsicht.  Sittliche  Grundsätze  sind  hierbei  im  Prinzip 
ebensowenig  mafsgebend  wie  religiöse  Glaubenssätze.  Letztere 
—  einschliefslich  der  über  das  Jenseits  —  sind  Wahn- 
vorstellungen. Erstere  beruhen  nicht  auf  Natur,  sondern 
auf  Satzung  und  Herkommen.  Ebenso  bildet  die  Un- 
anständigkeit der  Handlungen,  aus  denen  Lust  entspringt, 
kein  Hindernis  ihres  Vollzuges  (93,  88).  Doch  wird  der 
Weise  nichts  tun,  das  gesetzliche  Strafen  nach  sich  zieht 
oder  Schande  bringt.  Hier  findet  das  Luststreben  an  dem 
Grundsatz ,  die  Lust  nicht  durch  Unlust  zu  erkaufen ,  seine 
Grenze. 

Heftige  Erregungen,  wie  Neid  oder  leidenschaftliche 
Liebe,  vermeidet  der  Weise  nach  Möglichkeit ;  freilich  vermag 

32» 


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500  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  ßokratisch.  Schulen  etc. 

er  z.  B.  der  Trauer  oder  Furcht,  die  in  der  Natur  be- 
gründet sind,  nicht  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Tugend  ist 
dasjenige  Verhalten,  das  Sinnenlust  bewirkt,  natürlich  unter 
Ausschlufs  sonstiger  übler  Folgen  (Cic.  Off.  IIL  116).  Freund- 
schaft oder  Leibesübungen  empfehlen  sich  durch  den  aus 
ihnen  entspringenden  Nutzen.  Besitz  ist  nur  insoweit  zu 
erstreben,  als  er  ein  Hilfsmittel  zur  Beschaffung  von  Sinnen- 
genüssen ist. 

Da  das  zu  Erstrebende  nur  in  den  vereinzelten  Sinnen- 
genüssen besteht,  so  kann  durchaus  nicht  erwartet  werden, 
dafs  der  „Weise"  durchaus  glücklich,  der  Tor  durchaus  un- 
glücklich ist.  Es  kann  sich  bei  jenem  nur  um  ein  Über- 
wiegen des  Lustvollen  handeln.  Dies  darf  für  den  Weisen 
erwartet  werden,  da  er  ja  seine  ganze  Lebensführung  hierauf 
anlegt.  Der  Weise  ist  in  bezug  auf  die  Erreichung  des 
Lebensziels  jedenfalls  vor  dem  Toren  im  Vorteil,  und  das 
genügt,  um  das  Streben  nach  Weisheit  als  das  bessere  Teil 
zu  empfehlen  (91). 

Wir  haben  hier  offenbar  ein  mit  der  gröfsten  Schärfe 
und  Folgerichtigkeit  durchgeführtes  System  des  sinn- 
lichen Hedonismus  vor  uns.  Beider  grofsen  Kürze  des 
Abrisses  treten  freilich  besonders  die  Folgerungen  für  die 
Lebensgestaltung  nicht  mit  genügender  Deutlichkeit  und 
Vollständigkeit  zu  Tage,  und  an  einer  Stelle,  bei  der  Zu- 
lassung der  Lust  über  das  Gedeihen  des  Vaterlandes,  scheint 
eine  patriotische  Inkonsequenz  die  Logik  des  Systems  durch- 
brochen zu  haben.  Wer  dem  System  dies  Gepräge  gegeben 
hat  und  in  welchen  Schriften  es  niedergelegt  war,  ist  nicht 
bekannt. 

3.   Die  Seitenzweige  der  kyrenaisohen  Soliule. 

A.  Theodorus  der  Gottesleugner  soll  noch  ein 
unmittelbarer  Schüler  des  Aristipp  gewesen  sein  (D.  L. 
II.  86),  wich  aber  in  wesentlichen  Punkten  von  der  Lehre 
der  Hauptschule  ab.  Es  gab  eine  nach  ihm  benannte 
Schule  derTheodoreer  (ib.  97).  Seinen  Beinamen  erhielt 
er  davon,  dafs    er  in  einem  Buche  „Über  die  Götter"  die 


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II.     8.  Die  Seitenzweige  der  kyrenaischen  Schule.  501 

Existenz  eines  Göttlichen  in  jedem  Sinne  leugnete  (ib.).  Er 
mufs  dies,  während  die  Hauptschule  sich  mit  der  Leugnung 
einer  Vorsehung  und  eines  persönlichen  Waltens  begnügte, 
in  der  schroffsten  und  rückhaltlosesten  Weise  ausgesprochen 
haben.  Aufser  ihm  werden  nur  ganz  wenige  unter  den 
alten  Denkern  als  eigentliche  Gottesleugner  bezeichnet  (Cic. 
N.  D.  I.  2,  63,  117;  S.  Emp.  Hyp.  III.  218;  Dogm.  III. 
51,  55),  obwohl  ja,  wie  mehrfach  hervorgehoben  worden  ist, 
namentlich  die  Naturphilosophen  das  Göttliche  in  einem  von 
der  Volksreligion  unendlich  weit  abliegenden  Sinne  fafsten. 
Er  wurde  wegen  seiner  Stellung  zur  Religion  aus  Kyrene 
verbannt  (ib.  103)  und  hielt  sich  darauf  eine  Zeitlang  in 
Athen  auf,  wo  er  gegen  Bezahlung  Unterricht  erteilte 
oder  auch  populäre  Vorträge  in  der  Weise  der  Sophisten 
späterer  Jahrhunderte  hielt  (D.  L.  IV.  52 ;  IL  102).  Dieser 
athenische  Aufenthalt  mufs  in  die  Jahre  316—306  fallen,  in 
denen  Demetrius  Phalereus  dort  Statthalter  war. 
Dieser  nämlich  bewahrte  ihn  vor  einer  Verurteilung  durch 
den  Areopag  wegen  Gottesleugnung  (D.  L.  IL  101;  vergl. 
116).  Er  mufste  jedoch  schliefslich  Athen  verlassen  (ib.  102). 
Eine  Zeitlang  hielt  er  sich  bei  Ptolemäus  Lagi  (323 — 283)  in 
Ägypten  auf  und  ging  als  dessen  Gesandter  zu  Lysimachös 
in  Thracien  (t  281),  an  dessen  Hofe  die  früher  erzählte  Be- 
gegnung mit  Hipparchia  stattfand.  Auch  Lysimachös  scheint 
ihn  aber  wegen  seiner  Gottesleugnung  von  seinem  Hofe  ver- 
wiesen zu  haben  (102).  Zuletzt  lebte  er  wieder  in  Kyrene 
(103). 

In  seiner  Lehre  tritt  ebenso  wie  in  seinem  persönlichen 
Verhalten  eine  gewisse  brutale  Rücksichtslosigkeit  hervor, 
die  ihm  auch  ausdrücklich  beigelegt  wird  (IV.  52).  Diese 
zeigt  sich  aufser  in  der  Gottesleugnung  auch  sonst  in  der 
rückhaltlosen  Weise,  in  der  er  die  Konsequenzen  der  Lust- 
lehre aussprach.  Es  gibt  nichts  von  Natur  Verwerfliches; 
die  sittlichen  Satzungen  dienen  nur  dazu,  die  Toren  im 
Zaume  zu  halten.  Während  daher  die  Hauptschule  das 
durch  Gesetz  und  Sitte  Verpönte  praktisch  unter  allen  Um- 
ständen meiden  hiefs,  erklärte  er,  der  Weise  werde  sich  des 
Diebstahls,  Ehebruchs,  Tempelraubs  oder   des  öffentlichen 


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5  02  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Geschlechtsverkehrs  unter  Umständen  nicht  enthalten  (II.  99). 
Der  Freundschaft  bedarf  der  Weise  nicht,  da  er  sich  selbst 
genügt,  und  beim  Toren  kann  wahre  Freundschaft  nicht 
stattfinden,  da  dieser  nur  des  Nutzens  wegen  Freunde  sucht 
Wenn  der  Weise  sich  ftir  das  Vaterland  aufopfere,  so  hiefse 
das,  ein  mit  Einsicht  ausgestattetes  Leben  zum  Vorteil  der 
Toren  preisgeben.  Überdies  sei  die  ganze  Welt  das  Vater- 
land des  Weisen  (98). 

Nach  einer  anderen  Richtung  weicht  er  dadurch  von  der 
Hauptlehre  ab,  dafs  er  das  höchste  Gut  und  Übel  nicht  in 
die  sinnliche  Lust  und  Unlust  selbst  und  an  sich  setzte, 
sondern  in  die  dabei  empfundene  Freude  oder  BetrQbnis. 
Er  unterschied  also  zwischen  dem  körperlichen  Vorgange 
und  der  seelischen  Wirkung  desselben.  Offenbar  wollte  er 
durch  diese  Unterscheidung  das  Wohl-  oder  Übelbefinden 
mehr  von  dem  äufseren  Reiz  unabhängig  machen  und  in  die 
Gewalt  des  Weisen  bringen.  Namentlich  der  sinnlichen  Un- 
lust gegenüber  wurde  es  dadurch  der  freien  Entscheidung 
des  Weisen  anheimgegeben,  ob  er  sie  als  ein  Übel  ansehen 
wolle  oder  nicht  Er  kann,  wenn  er  will,  ihr  trotzen,  sich 
geistig  über  sie  erheben.  Diesen  trotzigen  Sinn  legt  ihm 
die  Anekdote  bei,  nach  der  er  dem  König  Lysimachos  auf 
die  Drohung  mit  Hinrichtung  ohne  Begräbnis  erwidert,  er 
hänge  nicht  am  Leben,  und  was  das  Begräbnis  betreffe,  so 
sei  es  ihm  einerlei,  ob  er  in  der  Erde  oder  in  der  Luft 
verfaule  (Sen.  Tranqu.  14;  Cic.  Tusc.  I.  102;  vergl.  V.  117). 
In  diesem  Sinne  erklärt  er  die  sinnliche  Lust  und  Unlust 
an  sich  sogar  für  gleichgültige  Mitteldinge;  die  Einsicht 
hat  zu  entscheiden,  ob  sie  sie  als  Güter  oder  Übel  an- 
nehmen will.  So  wird  diese,  die  Einsicht,  zum  eigentlichen 
Gut,  zur  letzten  Instanz  des  Werturteils.  Von  diesem  Prinzip 
aus  gewinnt  er  sogar  den  in  den  früher  angeführten  Sätzen 
aufgegebenen  sittlichen  Standpunkt  wieder.  Da  die  Einsicht 
erkennt,  dafs  die  Verletzung  der  Gerechtigkeit  durchweg 
üble  Folgen  hat,  erscheint  ihm  die  Gerechtigkeit  geradezu 
neben  der  Einsicht  als  Gut  (D.  L.  98). 

Anscheinend  etwas  später,  nämlich  nach  dem  zweiten 
Nachfolger  des  Antipater,  spaltet  sich  die  von  diesem  aus- 


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IL    3.   Die  Seitenzweige  der  kyrenaischen  Schale.  503 

gehende  Richtung,  über  deren  ursprünglichen  Charakter 
nichts  bekannt  ist,  in  zwei  Zweige,  die  Anhänger  des  Anni- 
keris  und  des  Hegesias. 

Über  die  Lehre  der  Annikereer  gibt  es  aufser  dem 
Bericht  bei  Diog.  Laert.  (96  f.)  noch  einen  solchen  bei  Clemens 
von  Alexandria  (Strom.  II.  417).  Nach  beiden  stimmten  sie 
in  den  Grundzügen  mit  dem  Hauptsystem  überein,  namentlich 
darin,  dafs  sie  ein  einheitliches  Ziel  für  das  Gesamtleben 
verwarfen  und  nur  für  die  einzelnen  Lebensmomente  ein 
solches  anerkannten,  und  dafs  sie  der  blofsen  Unlustfreiheit 
als  dem  Zustande  eines  Toten  gleichkommend  keinen  Wert 
beilegten. 

Dagegen  finden  sich  zwei  tiefgreifende  Abweichungen 
Erstens  fanden  sie  aufser  in  der  Sinnenlust  auch  in  gewissen 
Handlungen  der  Aufopferung  eine  Quelle  der  Freude  und 
des  Genusses.  Einen  schwachen  Ansatz  zu  dieser  Lehre, 
aber  ohne  Klarheit  und  Folgerichtigkeit,  zeigte  auch  das 
Hauptsystem  in  der  Freude  am  Gedeihen  des  Vaterlandes. 
Kach  den  Annikereern  entspringt  Lust  auch  aus  Handlungen 
der  Freundschaft,  der  Dankbarkeit,  der  Pietät  gegen  die 
Eltern  und  der  tätigen  Teilnahme  am  Vaterlande.  Solche 
Handlungen  sind  auch  dann  beglückend,  wenn  sie  mit  Mühe, 
Opfern  und  Einbufse  an  Sinnengenüssen  verbunden  sind. 
Die  Triebfeder  bleibt  aber  auch  bei  ihnen  durchaus  die 
selbstische.  Das  Glück  des  Freundes  z.  B.  könnte  nach 
ihrer  Lehre  für  den  andern  nur  dann  direkt  einen  Gegen- 
stand des  Strebens  bilden,  wenn  er  dasselbe  unmittelbar 
(nicht  blofs  durch  das  Mitgefühl)  als  das  seinige  empfinden 
könnte  (D.  L.  96).  Dafür  aber  erkannten  sie  gerade  in  der 
Freundschaft  einen  unmittelbaren  Zug  und  Drang  des  Wohl- 
wollens an,  der  auch  dann  noch  wirksam  sei,  wenn  |der 
Freund  keinen  Nutzen  bringt  und  wenn  um  seinetwillen 
Unlustzustände  übernommen  werden  müssen.  Doch  ist  auch 
dieser  Drang  zu  Opfern  immer  noch  selbstischer  Natur 
(ib.  97)."  Clemens  drückt  diese  selbstische  Ableitung  so  aus : 
„Freude  entspringt  nicht  nur  aus  Sinnengenüssen,  sondern 
auch  aus  der  Hingabe  in  Verhältnissen  zu  anderen  und  aus 
edlen  Handlungen."     Auch  hier  wird  die  erwartete  Freude 


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504  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

deutlich  als  Triebfeder  des  gesamten  Tuns  bezeichnet.  Ob 
sie  die  Entstehung  dieser  beglückenden  Gefühle  aus  selbst- 
losen Handlungen  noch  weiter  zu  erklären  versucht  haben 
oder  sich  dafür  lediglich  auf  das  Zeugnis  der  unmittelbaren 
Erfahrung,  des  Gefühls  berufen  haben,  wird  nicht  berichtet. 
Jedenfalls  erweitert  sich  hier  der  sinnliche  Hedonismus 
der  Hauptschule  zu  einem  universellen  Hedonismus,  der 
auch  sittliche  Aufopferung  einschliefst. 

Der  zweite  Differenzpunkt  ist  folgender.  Es  gibt  in  der 
menschlichen  Natur  einen  überwiegenden  Hang  zum  Schlechten 
(d.  h.  zum  roh  und  gemein  Selbstischen).  Dieser  kann  nicht 
durch  die  blofse  Vernunftüberzeugung  von  den  aus  edleren 
Handlungen  entspringenden  Lustgefühlen  überwunden  werden. 
Der  Intellektualismus  ist  als  Triebkraft  zur  Gewinnung 
dieser  edleren  Glücksgefühle  nicht  ausreichend.  Um  die 
rechte  Spannkraft  zu  solchen  edleren  Betätigungen  gegen- 
über der  in  der  Masse  herrschenden  niederen  Selbstsucht  zu 
gewinnen,  bedarf  es  aufser  der  Vernunfttätigkeit  auch  einer 
Gewöhnung  zu  der  edleren  Verhaltungsweise  (D.  L.  90). 
Diese  mufs,  um  uns  zu  den  mit  Opfern  verbundenen  Hand- 
lungen zu  befähigen,  der  Vemunftüberzeugung  als  Hilfskraft 
zur  Seite  stehen. 

H  e  g  e  s  i  a  s  verhielt  sich  zunächst  zu  der  Annahme 
einer  idealeren  Leistungsfähigkeit  der  Selbstsucht  bei  den 
Annikereem  ablehnend.  Dankbarkeit,  Freundschaft,  Wohltat 
seien  nur  denkbar,  wo  ein  eigener  Nutzen  im  engeren  und 
eigentlichsten  Sinne  in  Betracht  komme  (D.  L.  93).  Ins- 
besondere sei  die  Leistung  des  Weisen  (durch  Belehrung) 
den  anderen  gegenüber  eine  so  unverhältnismäfsig  über- 
legene, dafs  von  einer  Ausgleichung  derselben  durch  die  ihm 
zu  teil  werdenden  Gegenleistungen  nicht  die  Rede  sein  könne 
(95).  Danach  kann  also  folgerichtig  beim  Weisen  ein  An- 
trieb zum  aufopfernden  Wirken  für  andere  nicht  entstehen. 

Seine  Hauptabweichung  aber  besteht  darin,  dafs  er  von 
einer  veränderten  Fassung  der  Lustlehre  und  von  Erwägungen 
über  die  Ungunst  der  menschlichen  Schicksalslage  aus  dazu 
kam,  die  Möglichkeit  der  Glückseligkeit  über- 
haupt zu  leugnen.   Ein  im  H  auptsystem  schon  angelegter 


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II.    8.   Die  Seitenzweige  der  kyrenaischen  Schule.  505 

Zug,  nämlich  die  Lehre  vom  gröfseren  Schwergewicht  der 
Unlustgefühle  im  Vergleich  mit  der  Natürlichkeit  und  Selbst- 
verständlichkeit der  Lust,  wächst  sich  bei  ihm  zu  be- 
herrschender Bedeutung  aus.  Der  sinnliche  Hedonis- 
mus  schlägt  bei  ihm  in  einen  regelrechten  Pessi- 
mismus um. 

Die  Begründung  ist  eine  doppelte.  Einesteils  erklärt 
er,  die  Entstehung  von  Lust  und  Unlust  sei  nicht  ohne 
weiteres  in  gleichartiger  und  gesetzmäfsiger  Weise  in  der 
Menschennatur  angelegt.  Die  Gefühlswirkungen  sind  nicht 
in  eindeutiger  Weise  von  dem  einwirkenden  Objekt  ab- 
hängig. Ihr  Eintreten  oder  Nichteintreten  ist  ganz  über- 
wiegend durch  begleitende  Nebenumstände  bedingt.  Ist 
Sättigung  mit  Lustgefühlen  (überhaupt  oder  von  einer  be- 
stimmten Art)  vorhanden,  so  ist  kein  Boden  mehr  für  neue 
starke  Lustwirkungen.  Die  eigentliche  Vorbedingung  für. 
deren  Eintreten  ist  die  Seltenheit  und  Neuheit,  das  Fehlen 
der  Gewöhnung  und  Verwöhnung.  Was  für  den  Armen  ein 
besonderer  Genufs  sei,  falle  für  den  Reichen  als  solcher 
weg.  Ebenso  verhalte  es  sich  mit  der  Freiheit,  der  höheren 
gesellschaftlichen  Stellung,  dem  Ruhme.  Nur  wo  diese 
Güter  den  Reiz  der  Neuheit  hätten,  wie  bei  dem  frei- 
gewordenen Sklaven,  dem  aus  Niedrigkeit  und  Unberühmt- 
heit  Auftauchenden,  könnte  von  ihnen  noch  eine  Lust- 
wirkung ausgehen  (D.  L.  94).  Vielleicht  gehört  in  diesen 
Zusammenhang  auch  die  Lehre,  die  Cicero  (Tusc.  III.  28, 
52,  59,  76)  den  Kyrenaikern  überhaupt  beilegt,  dafs  nur 
das  unerwartet  eintreffende  Übel  als  Übel  empfunden  werde. 

Andemteils  ist  die  menschliche  Schicksalslage  überhaupt 
eine  viefach  ungünstige.  Die  Seele  ist  völlig  abhängig  vom 
Körper  und  wird  fortwährend  in  den  Strudel  der  wechseln- 
den Zustände  desselben  hineingezogen  und  durch  dieselben 
in  beständiger  Unruhe  erhalten.  Ein  unberechenbares  Ge- 
schick vereitelt  fortwährend  unsere  Hoffnungen  (94).  Dazu 
kommt,  dafs  unsere  ganze  Erkenntnis  der  Dinge,  nach  der 
wir  doch  unser  Handeln  einrichten  müssen,  durch  die  Empfin- 
dungen vermittelt  ist,  diese  aber  ungenau  und  trüglich  sind, 


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506  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

SO  dafs  wir  nur  nach  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit 
unser  Handeln  einrichten  können  (95). 

So  kommt  er  zu  folgenden  Sätzen:  Glückseligkeit  ist 
etwas  nicht  zu  Erlangendes.  Leben  und  Tod  ist  gleich- 
wertig (also  doch  das  Nichtsein  nicht  unbedingt  und  unter 
allen  Umständen  vorzuziehen).  Dem  Toren  (der  die  wirk- 
liche Sachlage  nicht  durchschaut)  mag  das  Leben  erspriefslich 
sein;  für  den  Weisen  ist  es  etwas  Gleichgültiges.  Er  wird 
sein  Bestreben  nicht  sowohl  auf  die  Erlangung  von  Gütern, 
als  auf  die  Vermeidung  der  Übel  richten  (94  f.).  Als  höchstes 
Ziel  setzt  er  sich  die  Freiheit  von  körperlichen  Beschwerden 
und  seelischer  Unlust.  Dies  wird  er  aber  am  besten  erreichen, 
wenn  er  sich  gegen  die  Hilfsmittel  des  sinnlichen  Genusses 
gleichgültig  verhält  (96). 

Ganz  weltschmerzlich  klingt  es  auch,  wenn  das  Unrecht, 
das  uns  die  Menschen  antun,  nicht  aus  ihrem  freien  Willen, 
sondern  aus  der  Herrschaft  der  sie  bedrängenden  Affekte 
abgeleitet  wird.  Daher  ziemt  sich  nicht  Hafs,  sondern  Ver- 
zeihung und  Unterweisung  zum  Richtigen. 

Dieser  Hegesias  hatte  sich,  gewifs  nicht  auf  Grund  der 
Absichten,  die  er  mit  seiner  Lehre  verfolgte,  sondern  auf 
Grund  der  unbeabsichtigten  Wirkungen,  die  von  derselben 
ausgingen,  den  Beinamen  des  „zum  Tode  Überredenden" 
(peisithänatos)  erworben  (86).  Er  hatte  einen  Dialog  unter 
dem  Titel:  „Der  sich  zu  Tode  Hungernde"  (apokarterön) 
geschrieben,  dessen  Situation  die  war,  dafs  einen  in  frei- 
williger Aushungerung  Begriffenen  die  Freunde  aufsuchen, 
um  ihn  von  seinem  Vorhaben  abzubringen,  er  aber  in  seinen 
Gegenreden  durch  Darlegung  der  Übel  des  Lebens  seinen 
Entschlufs  rechtfertigt.  So  beweglich  soll  auch  Hegesias 
selbst  in  seinen  Vorträgen  die  Leiden  des  Lebens  geschildert 
haben,  dafs  viele  seiner  Zuhörer  dadurch  zum  Entschlufs 
des  Selbstmords  gebracht  wurden  und  König  Ptolemäus  von 
Ägypten,  zu  dessen  Reiche  Kyrene  gehörte,  ihm  schliefslich 
derartige  Vorträge  verboten  habe  (Cic  Tusc  L  83  f. ;  Z. 
341,  3). 

So  ist  aus  dem  Wirken  des  Aristipp  auf  einem  ab- 
gelegenen Schauplatze  des  griechischen  Lebens  eine  mannig- 


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III.    1.   Euklid  von  Megara.  507 

faltige  und  nicht  unfruchtbare  Erörterung  bedeutsamer  philo- 
sophischer Probleme  erwachsen.  Wie  lange  diese  Schulen 
ihr  Dasein  gefristet  haben,  ist  nicht  bekannt,  doch  haben  sie 
unzweifelhaft  über  ein  Jahrhundert  nach  Aristipps  Tode,  bis 
gegen  die  Mitte  des  3.  Jahrhunderts,  bestanden. 


III.   Die  megarische  nebst  der  elisch-eretrischen 
Schule. 

1.   Buklid  von  Megrara. 

Euklid  von  Megara,  nicht  zu  verwechseln  mit  dem 
über  hundert  Jahre  später  in  Alexandria  lebenden  Mathe- 
matiker dieses  Namens,  mufs  annähernd  um  430  geboren 
sein.  Er  gehörte  in  der  letzten  Lebenszeit  des  Sokrates  dem 
engeren  Schülerkreise  desselben  an.  Nach  einer  alten  Er- 
zählung (Gell.  N.  A.  6,  10)  wurden,  nachdem  er  schon  eine 
Zeitlang  mit  Sokrates  verkehrt  hatte,  die  Megarenser  mit 
dem  Tode  bedroht,  wenn  sie  sich  in  Athen  betreffen  liefsen. 
Er  soll  darauf  öfter  zur  Nachtzeit  in  Weiberkleidem  den 
30  Kilometer  betragenden  Weg  nach  Athen  hin  und  zurück 
zu  Fufse  zurückgelegt  haben,  um  einige  Nachtstunden  mit 
Sokrates  Zusammensein  zu  können.  In  Xenophons  Denk- 
würdigkeiten wird  er  nicht  erwähnt.  Beim  Tode  des  Sokrates 
war  er  gegenwärtig  (Plat.  Phaed.  59  C)  und  gewährte  nach 
demselben  Plato  und  anderen  Sokratikem,  die  befürchten 
mufsten,  dafs  der  Hafs  der  herrschenden  Partei  sich  auch 
gegen  sie  richten  möchte,  in  Megara  eine  zeitweilige  Zu- 
fluchtsstätte (D.  L.  II.  106;  III.  6  nach  dem  Platoschüler 
Hermodor).  Der  arme  und  einflufslose  Antisthenes  und  der 
Ausländer  Aristipp  scheinen  sich  jedoch  nicht  unter  diesen 
befunden  zu  haben. 

Die  megarische  Schule  gehört  zu  den  zahlreichen  grie- 
chischen Philosophenschulen,  deren  Dokumente  völlig  unter- 
gegangen sind.  Nur  spärliche  und  unsichere  Nachrichten 
sind  über  sie  vorhanden.  So  läfst  sich  denn  auch  die  eigen- 
artige philosophische  Entwicklung  Euklids,  vermöge  deren  er 
durch  seine  Einwirkung   auf  Plato   ein  überaus   wichtiges 


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508  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Mittelglied  im  Entwicklungsgange  der  alten  Philosophie 
überhaupt  geworden  ist,  nur  vermutungsweise  bestimmen. 

Von  der  ursprünglichen,  anscheinend  rein  sokratischen 
Schriftstellerei  Euklids  war  schon  bei  den  „reinen  Sokra- 
tikem"  die  Rede.  Wenn  die  ihm  zugeschriebenen  sechs 
Dialoge  echt  waren,  so  beweisen  schon  die  harmlosen  Titel 
derselben  (Äschines,  Kriton,  Alkibiades,  Von  der  Liebe 
u.  dgl.),  dafs  darin  die  spätere  Lehre  Euklids  noch  nicht 
vorgetragen  wurde.  Sie  waren  dann  wohl  Schriften,  in  denen 
Euklid  im  Zusammenhange  mit  Plato  und  Phädon  in  Megara 
und  im  Wetteifer  mit  diesen  durch  Wiedergabe  eng  an 
Sokrates  sich  anschliefsender  Gedankengänge  das  Andenken 
des  dahingeschiedenen  Meisters  pflegte. 

Aber  bald  nahm  die  geistige  Entwicklung  Euklids  eine 
durchaus  veränderte  Richtung  an.  Es  wird  bezeugt,  dafs 
er  sich  mit  der  Lehre  des  P  arme  nid  es  befafste  (D.  L. 
n.  106).  Dafs  diese  Beschäftigung  bei  ihm  schon  um  394 
vorhanden  war,  beweist  der  um  diese  Zeit  verfafste  „Theätet" 
Piatos.  Dieser  Dialog  weist  schon  durch  ein  äufseres 
Merkmal  darauf  hin,  dafs  zur  Zeit  seiner  Abfassung  eine 
engere  geistige  Gemeinschaft  seines  Verfassers  mit  Euklid 
bestand.  Es  wird  nämlich  in  der  Einleitung  der  ganze 
Dialog  als  ein  von  Euklid  aus  dem  Munde  des  Sokrates 
aufgezeichneter  eingeführt.  Selbstverständlich  ist  dies  nur 
eine  Form  der  Einkleidung,  durch  die  aber  Plato  eine  nahe 
Beziehung  der  darin  entwickelten  Gedanken  zu  Euklid  aus- 
drücken will. 

Dieser  Dialog  handelt  von  dem  Wesen  des  Wissens,  der 
Erkenntnis.  Er  verläuft  ohne  ein  positives  Resultat  und 
ist  auch  in  den  einzelnen  Wendungen  der  Untersuchung 
unklar  und  schwerverständlich.  Wir  dürfen  also  von  ihm 
von  vornherein  auch  über  den  damaligen  Standpunkt  Euklids 
keinen  deutlichen  Aufschlufs  erwarten.  Folgendes  ist  aber 
deutlich  erkennbar.  Gefordert  wird  eine  unbedingt  sichere 
und  gültige  (apodiktische)  Erkenntnis.  Die  verschiedenen 
Theorien,  die  das  Erkennen  mit  dem  Wahrnehmen  gleich- 
setzten und  sich  dabei  auf  die  Lehre  Heraklits  stützten, 
dafs  das  Wesen  der  Dinge  ein  beständig  sich  Veränderndes, 


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in.    1.  Euklid  von  Megara.  509 

immer  nur  Werdendes  sei  (Protagoras,  Aristipp),  können 
dieser  Anforderung  nicht  genügen.  Dem  gegenüber  wird 
mit  besonderem  Nachdruck  wiederholt  auf  die  alle  Bewegung 
und  Veränderung  vom  Seienden  ausschliefsende  Lehre  der 
Eleaten  hingewiesen  (180  E  ff.,  183  E).  Plato  selbst  ver- 
meidet es  an  dieser  Stelle  noch  ausdrücklich,  zu  diesem  radi- 
kalen Gegensatz  in  betreff  des  Wesens  der  Dinge  Stellung  zu 
nehmen  (181  B).  Vollends  also  sind  Aufschlüsse  über  die  da- 
malige Stellung  Euklids  hier  nicht  zu  erwarten.  Nur  das  kann 
vermutungsweise  aus  diesem  Dialog  herausgelesen  werden,  dafs 
im  Gegensatz  gegen  den  Heraklitismus  die  Bewegungsleugung 
des  Parmenides  schon  damals  in  seinen  Gesichtskreis  ge- 
treten war  und  dafs  er  schon  damals  gegenüber  der  ver- 
änderlichen Erscheinungswelt  als  den  einzig  wahren  Gegen- 
stand wirklicher  Erkenntnis  ein  beharrendes  Sein  im  Sinne 
des  Parmenides  annahm,  das  durch  Denken  erfafst  wird. 
„Nur  durch  die  Seele  kann  das  beharrende  Sein  (usla)  er- 
fafst werden"  (186  A).  „Wahrnehmen  ist  kein  Wissen" 
(186  E). 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dafs  sich  aus  diesen  An- 
fängen zuerst  bei  Euklid  die  Fassung  der  sokratischen  Be- 
griffe als  immaterieller,  aller  Veränderung  entrückter  Wesen- 
heiten, d.  h.  Ideen,  entwickelt  hat.  Aristoteles  beschreibt 
diese  Entwicklung  folgendermafsen ,  allerdings  ohne  dabei 
Euklid  ausdrücklich  als  ihren  Urheber  zu  bezeichnen  (1078  b, 
9  ff.).  „Die  ersten  Vertreter  der  Ideenlehre"  kamen  zu  ihrer 
Ansicht  durch  die  Überzeugung  von  der  Wahrheit  der  hera- 
klitischen  Lehre ,  dafs  alles  Sinnenfällige  in  beständigem 
Flusse  sei.  Von  diesem  Fliefsenden  könne  es  kein  Wissen 
geben.  Sollte  ein  solches  möglich  sein,  so  müsse  es  aufser 
dem  Sinnenfälligen  von  diesem  verschiedene  beharrende  Ob- 
jekte (eigentlich  „Naturen")  geben.  Nun  habe  Sokrates 
zuerst  Begriffe  gebildet,  jedoch  ohne  denselben  eine  Sonder- 
existenz zuzuschreiben.  (Er  betrachtete  sie  lediglich  als 
Gebilde  unseres  Denkens.)  Die  Vertreter  der  Ideenlehre 
aber  hätten  —  eben  um  einen  Gegenstand  wahren  Wissens 
zu  erlangen  —  diesen  sokratischen  Begriffen  eine  reale 
Sonderexistenz    beigelegt   und    sie    Ideen   genannt.     Dazu 


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510  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

eigneten  sich  die  Begriffe  wegen  ihrer  Festigkeit  und  Un- 
veränderlichkeit. 

Dafs  bei  dieser  Umwandlung  der  Begriffe  in  meta- 
physische Substanzen  Parmenides  Gevatter  gestanden  hat, 
hebt  Aristoteles  nicht  hervor.  Und  doch  hatte  schon 
Parmenides  den  Rückschlufs  von  der  Unveränderlichkeit  des 
Gedankens  auf  die  Bewegungslosigkeit  des  wahren  Seienden 
gemacht.  Es  brauchten  nur  an  Stelle  des  parmenideischen 
Gedankens  die  sokratischen  Begriffe  eingesetzt  zu  werden, 
und  die  Ideenlehre  in  ihrer  ursprünglichen  Form  ^ar  fertig. 
Wie  sehr  auch  noch  später  die  Schule  Euklids  den  Anschlufs 
an  die  Floaten  suchte  und  diese  für  ihre  Vorläufer  ausgab, 
geht  schon  daraus  hervor,  dafs  noch  Cicero  (Ac.  II.  129) 
sogar  Xenophanes  geradezu  für  den  Urheber  der  mega- 
rischen  Schule  erklärte. 

Dafs  nun  diese  Umwandlung  zuerst  von  Euklid  vor- 
genommen wurde,  scheint  aus  dem  um  388  verfafsten 
„Sophistes"  Piatos  hervorzugehen.  In  diesem  Dialog  werden 
als  die  beiden  zur  Zeit  einander  gegenüberstehenden  und 
sich  lebhaft  bekämpfenden  Ansichten  über  die  Natur  des 
Seienden  einesteils  die  materialistische,  andernteils  eine 
solche  aufgeführt,  die  das  wahrhaft  Seiende  in  eine  unsicht- 
bare Welt  versetzt,  es  für  Gedankendinge  und  unkörperliche 
Gestalten  erklärt  (245  A -246  B).  Die  Vertreter  dieser  letz- 
teren Ansicht  werden  auch  als  die  „Ideenfreunde**  be- 
zeichnet (248  A).  Dieses  wahrhaft  Seiende  kann  nach  dieser 
Lehre  nichts  wirken  oder  leiden  und  hat  am  Werden  und 
der  Veränderung  keinen  Anteil.  Bewegung,  Leben,  Seele, 
Einsicht,  Vernunft  wird  ihm  abgesprochen.  Unwandelbar 
verharrt  es  in  ehrwürdiger  Ruhe.  Nur  durch  Denken  kann 
es  erkannt  werden  (248  B—E).  Es  ist  also  eine  Welt  der 
Musterbilder.  Dem  Körper  nach  haben  wir  durch  die 
Sinneswahrnehmung  am  Werdenden,  d.  h.  an  der  veränder- 
lichen Erscheinungswelt,  Anteil,  der  Seele  nach  durch  das 
Denken  am  wahrhaft  Seienden  (248  A). 

In  dieser  in  starrer  Ruhe  verharrenden  Ideenwelt 
konnte  natürlich  auch  kein  Wechsel  der  einem  Begriffe  zu- 
kommenden Merkmale  und  Prädikate   vorkommen.    Es  ist 


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UI.    1.  Euklid  von  Megara.  511 

daher  eher  von  Euklid  als  von  Antisthenes  verständlich, 
dafs  er  aus  dieser  Lehre  die  Konsequenz  zog,  man  dürfe 
einem  Subjekt  überhaupt  kein  anderes  Prädikat  beilegen 
als  es  selbst,  und  z.  B.  vom  Menschen  nichts  anderes  aus- 
sagen als  dafs  er  Mensch ,  vom  Guten  nichts  anderes  als 
dafs  es  gut  sei.  Wenn  daher  als  Vertreter  dieser  Lehre 
Junge  und  „spätlemende  Greise"  genannt  werden  (251  B), 
so  ist  es  wahrscheinlich,  dafs  der  letztere  Ausdruck  ein 
spöttischer  Seitenhieb  auf  Euklid  war,  der  ja  um  388  jeden- 
falls schon  die  Vierzig  überschritten  hatte  und  sich  viel- 
leicht schon  den  Fünfzigen  näherte  und  der  offenbar  erst 
kurz  vor  der  Abfassung  des  „Sophistes"  zur  vollen  Aus- 
bildung seiner  abstrakten  Ideenlehre  gelangt  war.  Aller- 
dings wird  bei  Aristoteles  auch  Antisthenes  diese  absurde 
Konsequenz  der  Begriffslehre  beigelegt,  und  auch  er  könnte 
daher  möglicherweise  unter  den  „spätlemenden  Greisen" 
mitverstanden  sein.  Doch  ist  bei  ihm,  der  ja  im  Prinzip  bei 
der  sokratischen  Begriffslehre  stehen  blieb,  das  Neugelemte 
nicht  so  umfassend  und  tiefgreifend  wie  bei  Euklid.  Auch 
wird  er  mit  seinen  Ansichten  damals  schon  längere  Zeit  auf 
dem  Reinen  gewesen  sein.  Sachlich  betrachtet,  entbehrte 
selbstverständlich  dies  absurde  Verbot  der  Prädizierung  für 
beide  Standpunkte  der  Folgerichtigkeit.  Für  den  Erfahrungs- 
standpunkt des  Antisthenes  war  gar  kein  Anlafs  vorhanden, 
die  Prädizierung  aufzuheben,  und  aus  der  abstrakten  Ideen- 
lehre Euklids  konnte  nur  gefolgert  werden,  dafs  in  dieser 
jenseitigen  Welt  der  Ideen  ein  Wechsel  der  Merkmale 
und  Eigenschaften  nicht  stattfinde,  nicht  aber,  dafs  über- 
haupt den  Ideen  keine  Mannigfaltigkeit  von  Eigenschaften 
anhafte. 

Da  Plato  von  den  „Ideenfreunden"  in  der  Mehrheit 
spricht,  so  scheint  Euklid,  wenn  anders  er  gemeint  ist,  für 
die  damalige  Form  seiner  Lehre  eine  Anhängerschaft  gehabt 
zu  haben.  Wenn  aber  anderen  Nachrichten  zu  glauben  ist, 
30  hatte  er  selbst  damals  noch  nicht  ausgelernt,  und  die  im 
„Sophistes"  gekennzeichnete  Form  seiner  Lehre  war  noch 
nicht  die  endgültige.  Diogenes  Laertios  schreibt  ihm 
folgende  Lehre  zu  (II.  106).     Das    Gute    sei   einheitlich, 


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512  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

werde  aber  mit  vielen  Namen  benannt.  Man  nenne  es  Ein- 
sicht, Gott,  Vernunft  und  noch  anders.  Das  dem  Guten 
Entgegengesetzte  sei  nicht  seiend.  Wenn  diese  Angabe 
richtig  ist,  war  er  in  einer  letzten  Phase  seiner  Entwicklung 
vollends  zur  Einheitslehre  des  Parmenides  übergegangen, 
wobei  er  natürlich  das  „Eine**  des  Parmenides  nicht  als  eine 
„wohlgerundete  Kugel",  sondern  im  Sinne  seiner  früheren 
Ideenlehre  völlig  immateriell  gefafst  haben  mufs.  Er 
hatte  ferner  auch  in  dieser  Phase  diese  Einheitslehre  mit 
einem  sokratischen  Begriffe,  dem  Begriffe  des  Guten,  ver- 
quickt. Das  Gute  war  bei  Sokrates  das  dem  Handelnden 
selbst  Heilsame,  das  eben  als  solches  auch  für  sein  gemein- 
nütziges Handeln  den  Beweggrund  bildete.  Sokrates  hatte 
dies  Gute  für  das  praktische  Verhalten  ausdrücklich  für 
ein  unbegrenzt  Mannigfaltiges  erklärt,  das  nur  in  dem  an 
sich  inhaltleeren  Begriff  der  Glückseligkeit  seinen  Einheits- 
pimkt  finde.  Euklid  aber  hat  diesen  praktischen,  auf  die 
Glückseligkeit  des  einzelnen  bezüglichen  Begriff  ins  Meta- 
physische hinübergerückt  und  ihn  mit  dem  unveränderlichen 
und  unbeweglichen  Einen  der  Eleaten  in  eins  gesetzt.  Auch 
Cicero  bezeugt,  dafs  Euklid  für  das  einzig  Gute  „das  Eine, 
das  sich  selbst  Gleiche  und  immer  dasselbe"  erklärt  habe 
(Ac.  II.  129).  Dafs  er  aber  zugleich  das  „Eine"  der  ihm 
bei  Parmenides  noch  anklebenden  stofflichen  Beschaffenheit 
vollständig  entkleidet  hat,  das  beweisen  die  Prädikate,  mit 
denen  es  bezeichnet  wird.  Es  ist  Einsicht,  Gott,  Vernunft. 
War  das  Eine  bei  Xenophanes  und  Parmenides,  obgleich 
stofflich,  doch  zugleich  denkend,  vernünftig,  so  ist  es  jetzt 
seinem  ganzen  Wesen  nach  nichts  anderes  als  Einsicht  und 
Vernunft. 

Ist  das  „Eine"  des  Parmenides  zum  „Guten"  geworden, 
so  der  Gegensatz  des  Einen,  das  wesenlose,  veränderliche 
Viele  der  trügerischen  Erscheinungswelt  zum  Gegensatz  des 
Guten.  Ganz  wie  bei  Parmenides  wird  dieses  dem  vermeint- 
lich einzig  wahrhaft  Wirklichen,  dem  als  geistige  Substanz 
gesetzten  Gebilde  des  Denkens  Entgegengesetzte  für  nicht 
seiend  erklärt.  Das  Bedürfnis  eines  unbedingt  sicheren 
Erkennens  hat  zur  Leugnung  der  Erscheinungswelt  geführt. 


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III.    1.   Euklid  von  Megara.  513 

Wahrscheinlich  ist  der  platonische  „Parmenides",  wie 
schon  früher  bemerkt,  eine  Auseinandersetzung  mit  diesem 
endgültigen  Standpunkte  Euklids.  Es  ist  aber  dieser  Dialog 
nach  Sinn  und  Gedankengang  so  schwerverständlich,  dafs  es 
kaum  möglich  ist,  aus  ihm  weitere  Aufschlüsse  Über  diese 
letzte  Phase  seiner  Lehre  zu  gewinnen.  Vielleicht  hängt 
die  Vereinheitlichung  der  metaphysischen  Wesenheiten  mit 
dem  früheren  Standpunkt  noch  in  der  Weise  zusammen, 
dafs  in  dem  „Einen"  und  „Guten"  nur  die  Vielheit  der 
Ideen  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  zusammengefafst  wurde. 

Wenn  nun  nur  dies  unveränderliche  Eine  wahrhaft 
existiert,  alles  Endliche  aber  Trug  und  Schein  ist,  so  kann 
es  nur  noch  eine  Lebensaufgabe  für  den  Menschen  geben: 
die  Erkenntnis  dieses  wahrhaft  Seienden.  Auch  schon  in 
der  Sophistesstelle  ist  von  dieser  Erkenntnis  eingehend  die 
Rede.  Vielleicht  liegt  in  der  Bezeichnung  des  Einen  als 
des  Guten  eine  Hindeutung  darauf,  dafs  seine  Erfassung  im 
Erkennen  als  das  einzig  erstrebenswerte  Ziel  hingestellt 
werden  sollte.  Ganz  deutlich  tritt  diese  Auffassung  in  der 
vorstehend  angeführten  Stelle  Ciceros  hervor,  wo  das 
„Gute"  durchaus  im  Sinne  des  höchsten  Gutes  des  Menschen 
gemeint  ist. 

Eine  Hauptaufgabe  dieses  Standpunktes  mufste  not- 
wendig in  der  Widerlegung  der  gegnerischen  Behauptungen 
und  der  natürlichen  Weltansicht  bestehen.  So  erneuert  sich 
schon  bei  Euklid  selbst  jene  spitzfindige  Dialektik  der  alten 
Eleaten,  die  darauf  gerichtet  war,  die  natürliche  Ansicht 
der  Dinge  als  widerspruchsvoll  zu  erweisen.  Das  Vorhanden- 
sein dieser  Richtung  schon  bei  Euklid  beweist  eine  Stelle 
aus  den  Sillen  Timons  (D.  L.  IL  107),  in  der  er  ein  Zänker 
genannt  wird,  der  den  Megarensem  die  Disputierwut  ein- 
geimpft habe.  Dies  Verfahren  mufste,  wenn  es  auch  nicht 
wie  bei  der  ausartenden  Sophistik  im  Dienste  unlauterer 
Interessen  geübt  wurde,  tatsächlich  auf  ganz  ähnliche  Kunst- 
stücke hinauslaufen,  wie  sie  bei  jenen  im  Schwange  waren. 
Es  ist  daher  nicht  zu  verwundern,  wenn  die  Anhänger  des 
Euklid  als  „Sophisten,  die  ihre  Zuflucht  zu  den  Ideen 
genommen  haben",  oder  geradezu  als  Sophisten  schlechthin 

Döring.   I.  83 


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514  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

bezeichnet  wurden  (Eudemus  b.  Simplic.  zur  Phys.  98.  1; 
Aristokles  bei  Eus.  pr.  ev.  15.  2).  Über  die  Art,  wie 
Euklid  selbst  diese  Dialektik  geübt  hat,  besitzen  wir  nur 
dürftige  Andeutungen.  Plato  sagt  schon  im  Sophistes 
(246  B)  mit  Beziehung  auf  ihn,  er  zerschlage  die  Körper  in 
kleine  Stücke  und  nenne  sie  nicht  Sein,  sondern  ein  sich 
bewegendes  Werden.  Hier  scheint  doch  das  Zerschlagen  in 
kleine  Stücke  auf  Argumentationen  hinzudeuten  ähnlich 
jenen,  durch  die  Zeno  von  Elea  bewies,  dafs  bei  der  An- 
nahme einer  Mehrheit  im  Körperlichen  ein  unendlich  Vieles 
herauskomme  und  bei  dem  einzelnen  Körperlichen  sowohl 
unendliche  Kleinheit  bis  zum  Nichtsein  als  auch  unendliche 
Gröfse  bewiesen  werden  könne.  Ausdrücklich  hebt  Plato  an 
dieser  Stelle  hervor,  dafs  es  sich  hierbei  um  einen  Kampf 
gegen  die  entgegengesetzte,  den  Stoff  bejahende  Ansicht 
handle.  Ebenso  berichtet  auch  Diog.  Laertios  (IL  107),  dafs 
Euklid  nicht  die  Voraussetzungen,  sondern  die  Resultate  der 
Gegner  angegriffen  habe,  d.  h.  dafs  er  diese  als  widerspruchs- 
voll und  unhaltbar  zu  erweisen  versucht  habe.  Hinsichtlich 
der  Voraussetzungen  habe  er  das  Verfahren  des  Sokrates 
verworfen,  durch  Anführung  von  Analogien  zu  allgemeinen 
Urteilen  zu  gelangen  (z.  B.  dafs  überall  der  Sachkundige 
die  Leitung  haben  müsse).  Seien  die  Analogien  dem  in  Rede 
stehenden  Gegenstande  gleichartig,  so  fasse  man  besser  diesen 
selbst  direkt  ins  Auge ;  seien  sie  ihm  ungleichartig,  so  seien 
sie  nicht  beweiskräftig. 

Als  Hilfsmittel  ferner,  um  diesem  weitabgewandten 
Erkenntnisstreben  sich  ungestört  hingeben  zu  können,  mufste 
er  möglichste  Gleichgültigkeit  und  Empfindungslosigkeit 
gegen  die  Wechselfälle  des  wirklichen  Lebens  oder  auch  eine 
von  solchen  störenden  Wechselfällen  möglichst  freie  Lebens- 
lage verlangen.  So  wird  für  seine  Schule  bezeugt,  dafs  sie 
die  Freiheit  von  Belästigungen  (aochles(a)  für  das  erste  Er- 
strebenswerte erklärt  hätten  (Alex.  v.  Aphr.  de  an.  II.  150). 
Von  diesem  Gesichtspunkte  konnte  auch  hier,  wie  bei  Anti- 
sthenes  und  Aristipp,  eine  Theorie  der  Lebensführung  ab- 
geleitet werden,  eine  solche  nämlich,  die  alles  das,  was  die 
reine  Erkenntnistätigkeit  förderte,  für  löblich  und  Tugend, 


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IIL    2.   Phädon.  515, 

alles  aber,  was  sie  hemmte  und  hinderte,  für  verwerflich 
und  Untugend  erklärte.  Doch  fehlen  alle  Nachrichten,  ob 
Euklid  sein  System  in  dieser  Richtung  auf  das  den  einzigen 
Lebenszweck  Fördernde  ausgebaut  hat. 

Jedenfalls  hat  sich  hier  der  Sokratismus  von  der  un- 
billigen Forderung  einer  unbedingt  gewissen  Erkenntnis  aus 
und  unter  dem  verderblichen  Einflufs  des  weltfeindlichen 
und  wirklichkeitsflüchtigen  Eleatismus  von  seinem  ursprüng- 
lichen Ausgangspunkt  himmelweit  entfernt  und  in  sein 
schnurgerades  Gegenteil  verkehrt,  in  einen  von  allem  Interesse 
am  Wirklichen  abgewandten,  den  Blick  ausschliefslich  auf 
eine  erträumte  Scheinwelt  richtenden,  dem  Leben  abgestor- 
benen Quietismus.  Ob  Euklid  mit  seinen  Grundlehren  irgend 
welche  Annahmen  über  ein  Fortleben  und  jenseitiges  Schicksal 
der  Seele  verband,  woraus  seine  Richtung  auf  Erkenntnis 
des  Seienden  noch  eine  weitere  Verstärkung  hätte  gewinnen 
können,  ist  unbekannt. 

2.   Phädon. 

Phädon  vonElis  ist  der  jüngste  der  direkten  Sokrates- 
schüler.  Einem  edlen  Geschlecht  seiner  Vaterstadt  ent- 
stammend und  von  grofser  Schönheit,  kam  er  in  jungen 
Jahren ,  vielleicht  achtzehnjährig ,  wahrscheinlich  erst  400, 
ein  Jahr  vor  dem  Tode  des  Sokrates,  als  Kriegsgefangener 
nach  Athen,  wurde  dort  als  Sklave  verkauft  und  verfiel 
dem  schrecklichen  Lose,  als  Objekt  widernatürlicher  Un- 
zucht in  einem  öflFentlichen  Hause  prostituiert  zu  werden. 
Er  wurde  aber  auf  Fürsprache  des  Sokrates  von  dessen 
Gefährten  losgekauft  und  kam  so  in  den  sokratischen  Kreis 
(D.  L.  II.  105,  31 ;  Z.  275, 1).  Er  war  beim  Tode  des  Sokrates 
gegenwärtig  und  Plato  hat  ihm  in  dem  nach  ihm  benannten 
Dialoge,  einem  seiner  bedeutendsten  und  berühmtesten  und 
einem  der  gröfsten  Werke  der  Weltliteratur,  der  dem 
Sokrates  an  seinem  Todestage  in  den  Mund  gelegten  Be- 
weisführung für  die  Unsterblichkeit,  ein  unvergängliches 
Ehrendenkmal  gesetzt,  obwohl  er  in  diesem  Dialoge  selbst 
nicht    als  Unterredner   hervortritt,    sondern    ihm   nur   die 

33* 


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516  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Berichterstattung  über  dies  angeblich  von  Sokrates  an  seinem 
Todestage  geführte  Lehrgespräch  zugewiesen  wird.  Da  der 
„Phädon"  wohl  erst  ein  Viertel  Jahrhundert  oder  länger  nach 
dem  Tode  des  Sokrates  verfafst  ist,  so  liegt  hierin  ein 
Zeugnis  für  die  auch  später  unwandelbar  fortdauernde 
Hochschätzung  Piatos  gegen  den  jugendlichen  Genossen. 
Diese  Übertragung  der  Berichterstattung  an  Phädon  ist 
eine  Art  Widmung  der  Schrift  an  ihn  und  hat  zur  Voraus- 
setzung die  Annahme  einer  gewissen  Übereinstimmung  des- 
selben mit  den  darin  vorgetragenen  Lehren.  Diese  Hoch- 
schätzung spricht  sich  auch  in  verschiedenen  Einzelzügen 
der  Schrift  aus.  Als  Phädon  zum  Berichte  aufgefordert 
wird,  läfst  ihn  Plato  sagen,  er  komme  dieser  Aufforderung 
sehr  gern  nach,  da  das  Andenken  an  Sokrates  für  ihn  stets 
die  höchste  Freude  sei  (58  D),  und  in  überaus  inniger 
Weise  läfst  er  ihn  seinen  wehmütigen  Gefühlszustand  an 
jenem  Schmerzenstage  schildern  (58  E  f.).  Im  weiteren  Ver- 
lauf des  Gesprächs  (88  E)  läfst  er  ihn  seine  Hingerissenheit 
von  der  weihevollen  Milde  betonen,  mit  der  Sokrates  die 
Bedenken  seiner  Mitunterredner  entgegennahm,  und  läfst 
ihn  schildern,  wie  Sokrates  gemäfs  seiner  Gewohnheit  auch 
an  diesem  Tage,  während  er  zu  dessen  Füfsen  auf  einem 
Schemel  sitzt,  beim  Sprechen  mit  seinen  schönen  langen  Haaren 
spielt,  ihm  über  den  Kopf  streicht  und  ihn  ermahnt,  sich 
nicht  etwa  morgen  aus  Trauer  diese  schönen  Haare  ab- 
schneiden zu  lassen  (89  A  f.). 

Sehr  viel  weniger  als  durch  diese  rührenden  Züge  des 
platonischen  Meisterwerks  ist  Phädon  durch  seine  eigenen 
philosophischen  Leistungen  unsterblich  geworden.  Er  wird 
zwar  als  einer  der  namhaftesten  Sokratesschüler  und  als 
Gründer  der  elischen  Schule  genannt  (D.  L.  IL  47;  I.  19), 
dem  entspricht  aber  nicht,  was  über  seine  Leistungen  bekannt 
ist.  Nach  dem  Tode  des  Sokrates  hat  er  sich  wahrscheinlich 
derjenigen  Gruppe  der  Sokratiker  angeschlossen,  die  zu 
Euklid  nach  Megara  übersiedelte.  Wenigstens  wird  er  in 
dem  schon  angeführten  Bruchstück  aus  Timon  (D.  L.  IL  107) 
als  dem  Euklid  ähnlich  neben  diesem  genannt,  ohne  dafs 
jedoch  zu  ersehen  ist,  worin  diese  Ähnlichkeit  bestanden  hat. 


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III.    3.   Die  Megariker.  517 

Dafs  er  zunächst  wie  Euklid  in  der  Form  des  Sokrates- 
gesprächs  schriftstellerisch  auftrat,  ist  schon  erwähnt.  In- 
wieweit er  dann  die  spätere  Entwicklung  des  Euklid  mit- 
gemacht hat ,  ist  nicht  bekannt.  Er  begründete  dann  ia 
seiner  Vaterstadt  Elis  eine  der  megarischen  verwandte 
Schule  (D.  L.  I.  19;  II.  105).  Was  er  aber  eigentlich  in 
dieser  Schule  gelehrt  hat,  ist  ebenfalls  nicht  bekannt. 

Von  der  weiteren  Entwicklung  dieser  Schule  später. 

3.    Die  Megrariker. 

Die  Schule  Euklids  erhielt  sich  bis  ins  dritte  Jahr- 
hundert. Ihre  Vertreter  wurden  auch  Eristiker  (d.  h. 
Streitphilosophen)  oder  Dialektiker  genannt  (D,  L.  II.  106; 
II.  17),  letzteres  nach  dem  ursprünglichen  Sinne  dieses 
Wortes,  weil  sie  ihre  Beweisführungen  in  die  Form  von 
Fragen  einkleideten,  auf  die  nur  Ja  oder  Nein  geantwortet 
werden  durfte.  Man  nannte  dies  geradezu  „eine  Beweis- 
führung abfragen"  und  sprach  vpn  „megarischen  Fragen" 
(Z.  264,  1).  Das  Streben,  durch  solche  Beweisführungen 
die  gewöhnliche  Weltansicht  als  unmöglich  zu  erweisen, 
geht  aber  teilweise  in  eine  zwecklose ,  nur  auf  VerblüflFung 
des  Gefragten  abzielende  sophistische  Spielerei  über. 

Ein  bedeutender  Vertreter  dieser  Richtung  ist  Eubu- 
lides  von  Milet.  Ob  er  ein  direkter  Schüler  Euklids  war, 
ist  nicht  sicher.  Seinen  Unterricht  genofs  Demosthenes 
(geb.  um  383,  also  etwa  365;  D.  L.  II.  108;  Z.  247,  1). 
Doch  mufs  er  noch  bedeutend  später  in  Wirksamkeit  ge- 
wesen sein,  da  er  eine  heftige  und  verleumderische  Streitschrift 
gegen  Aristoteles  gerichtet  hat  (D.  L.  IL  109;  Z.  246,  7), 
der  seine  Lehrtätigkeit  erst  335  antrat.  Jedenfalls  lehrte 
wohl  schon  Eubulides  in  Athen.  Er  erfand  viele  solche 
„dialektische"  Fangschlüsse,  von  denen  sieben  bekannt  sind. 

Von  diesen  können  zwei  wenigstens  noch  in  einen  ge- 
wissen Zusammenhang  mit  der  euklidischen  Bestreitung  des 
Vielen  gebracht  werden,  der  „Haufenschlufs"  (sorltes)  und 
der  „Kahlkopf".  In  ersterem  wird  gefragt,  ob  ein  Korn, 
zwei,  drei,  vier  u.  s.  w.  Körner  einen  Haufen  jiusmachen, 
wobei  dann  schliefslich  die  Nötigung  entsteht,  durch  Hinzu- 


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518  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

fügung  eines  einzigen  Korns  das  Entstehen  eines  Haufens 
zuzugestehen.  Im  „Kahlkopf"  wurde  gefragt,  ob  durch 
Ausreifsung  eines  einzigen  Haares,  zweier,  dreier  u.  s.  w. 
Haare  jemand  kahlköpfig  werde,  wo  dann  ebenfalls  schliefs- 
lich  ein  einziges  Haar  den  Ausschlag  gibt.  Dieser  Beweis 
wurde  später  noch  in  verschiedenen  anderen  Formen  vor- 
getragen, z.  B.  wo  das  Wenige  aufhört  und  das  Viele  an- 
fängt (D.  L.  VII.  82),  wo  sich  Armut  und  Reichtum,  Be- 
rühmtheit und  Unberühmtheit,  lang  und  kurz,  breit  und 
schmal  scheiden  (Cic.  Acad.  IL  49,  92).  Noch  der  Stoiker 
Chrysippos  um  230  verfafste  darüber  eine  Schrift.  Ge- 
folgert wurde  daraus,  dafs  die  Annahme  eines  Vielen  und 
Mannigfaltigen  zu  Ungereimtheiten  führe. 

Schon  ins  Gebiet  der  kindischen  Spielerei  gehen  über 
„der  Versteckte**,  „der  Verhüllte",  „Elektra".  Kennst  du 
den  Verhüllten  oder  Versteckten?  (Es  ist  aber  nach  der 
zu  machenden  Voraussetzung  der  Vater  des  Gefragten.)  — 
Nein.  —  Also  kennst  du  deinen  eigenen  Vater  nicht.  — 
Kannte  Elektra  (die  Tochter  Agamemnons)  den  vor  ihr 
Stehenden  ?  (Es  war  aber  ihr  Bruder  0  restes,  durch  lange 
Abwesenheit  in  der  Fremde  von  Kind  an  ihr  entfremdet.) 
—  Nein.  —  Also  kannte  sie  ihren  eigenen  Bruder  nicht. 
Im  Bejahungsfalle  aber  wurde  bei  allen  drei  Fragen  auf  die 
Unmöglichkeit  des  Kennens  hingewiesen. 

Im  „Lügner"  wird  gefragt:  Wenn  jemand  sagt,  er  lüge 
eben  jetzt,  lügt  er  dann?  Lautet  die  Antwort:  ja,  so  wird 
gefolgert:  Also  ist  seine  Behauptung,  jetzt  zu  lügen,  un wahrt 
also  sagt  er  die  Wahrheit,  also  lügt  er  jetzt,  also  ist  auch 
seine  Behauptung,  jetzt  zu  lügen,  eine  Unwahrheit ,  und  sa 
fort  bis  ins  Unendliche.  Lautet  die  Antwort:  nein,  so 
wird  gefolgert:  Also  ist  seine  Behauptung,  jetzt  zu  lügen, 
wahr;  also  mufs  auch  diese  Behauptung  eine  Lüge  sein; 
also  sagt  er  die  Wahrheit  u.  s.  w.  Gegen  diesen  Fang- 
schlufs  hat  Chrysippos  sogar  mehrere  Bücher  geschrieben 
(D.  L.  VII.  19G),  ohne  eine  befriedigende  Lösung  zu  finden 
(Cic.  Acad.  III.  95  f.;  de  Div.  IL  c.  4),  und  auch  der  scharf- 
sinnige Aristoteliker  Theophrast  hat  ihm  eine  aus  drei 
Büchern  bestehende  Schrift  gewidmet  (D.  L.  V.  49).    Noch 


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III.    3.   Die  Megariker.  519 

der  skeptische  Akademiker  Karneades  benutzte  ihn  als 
Beweis,  dafs  man  durch  Denken  keine  Erkenntnis  gewinnen 
könne  (Cic.  Ac.  II.  95  f.,  98).  Man  brachte  ihn  auch  in  die 
Form,  dafs  er  an  einen  angeblich  von  Epimenides  herrühren- 
den Vers  angeknüpft  wurde :  ^die  Kreter  sind  immer  Lügner** 
(angeführt  im  Neuen  Testament,  Brief  an  Titus  I.  12),  wo 
dann,  da  Epimenides  als  Kreter  selbst  in  seinem  Urteil  ein- 
begriflFen  war,  dieselbe  Schwierigkeit  sich  ergab  wie  in  der 
ursprünglichen  Fassung. 

Über  alle  Mafsen  kindlich  ist  der  letzte  Fangschlufs, 
„der  Gehörnte"  genannt.  „Hast  du  deine  Hörner  verloren?" 
Wenn  „Nein":  „Also  hast  du  sie  noch."  Wenn  „Ja":  „Also 
hast  du  welche  gehabt."  Er  kommt  auch  in  der  Form  vor: 
Hast  du  aufgehört,  deinen  Vater  zu  schlagen?  wo  ebenfalls, 
mochte  die  Antwort  ja  oder  nein  lauten ,  das  Schlagen  des 
Vaters,  sei  es  als  noch  gegenwärtig,  sei  es  als  wenigstens 
in  der  Vergangenheit  stattgefunden,  gefolgert  wurde.  (Vgl. 
zu  diesen  Schlüssen  überhaupt  auch  Z.  2(54,  2.) 

Es  ist  schwer  zu  erkennen,  wie  diese  Spielereien  mit 
der  abstrusen  Einheitslehre  noch  zusammenhingen.  Deut- 
licher tritt  dieser  Zusammenhang  bei  den  Leistungen  zweier 
etwas  später  ziemlich  gleichzeitig  auftretender  Megariker 
hervor,  des  Diodoros  Kronos  und  desStilpon.  Beide 
müssen  wenigstens  zeitweise  in  Athen  gelehrt  haben,  da  der 
dort  sich  ausbildende  spätere  Gründer  der  Stoa,  Zeno  von 
Kition,  ihr  Schüler  war  (D.  L.  II.  112,  120;  VIL  16,  25). 
Doch  mufs  wenigstens  Stilpon  seinen  eigentlichen  Wohnsitz 
in  Megara  gehabt  haben  (D.  L.  II.  115;  IX.  109).  Beide 
lebten  bis  gegen  300. 

Diodoros  Kronos  war  Schüler  des  Eubulides.  Er 
richtete  seine  Argumente  in  der  Weise  Zenos  gegen  die 
Möglichkeit  der  Bewegung.  Ein  sich  fortbewegender  Gegen- 
stand müfste  sich  entweder  an  dem  Orte  bewegen,  wo  er 
ist  oder  wo  er  nicht  ist.  Beides  ist  unmöglich.  Also  gibt 
es  keine  Fortbewegung  (Sext.  Emp.  Hyp.  III.  71  If.;  Dogm. 
IV.  143;  Gram.  311).  Er  wollte  deshalb  nicht  sagen:  der 
Körper  bewegt  sich,  sondern  nur:  er  hat  sich  bewegt,  wobei 
also  die  Tatsache  selbst,  aber  gleichsam  als  etwas  Unbegreif- 


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520   Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

liches  und  Unerklärliches ,  zugegeben ,  also  doch  der  Zu- 
sammenhang mit  der  natürlichen  Weltansicht  festgehalten 
wird  (S.  Emp.  Dogm.  IV.  48,  85  f.,  102).  Freilich  wich  er 
damit  von  der  Lehre  Zenos  und  Euklids  ab ,  die  auch  eine 
vollendete  Bewegung  nicht  zugaben,  sondern  die  Bewegung 
in  jedem  Sinne  leugneten.^ 

Bewegung  ist  aber  ferner  auch  die  Veränderung,  das 
Werden  und  Vergehen.  So  bewies  er  denn  auch  nach  dem 
gleichen  Schema,  dafs  man  nicht  sterben  könne.  Man  könne 
weder  in  der  Zeit,  in  der  man  lebe,  noch  in  der  man  nicht 
lebe,  also  überhaupt  nicht  sterben  (S.  Emp.  Dogm.  1.  310 
bis  312).  So  wurde,  wenn  auch  nicht  von  Diodoros  selbst, 
bewiesen,  dafs  Sokrates  nicht  gestorben  sei.  Er  selbst 
brachte  folgendes  Stücklein  vor.  Wenn  eine  Mauer  zerstört 
ist,  so  mufs  dies  geschehen  sein  entweder  zur  Zeit  als  die 
Steine  noch  zusammenhingen  oder  als  sie  sich  getrennt 
hatten.  Beides  ist  unmöglich  (S.  Emp.  Dogm.  IV.  346  f.). 
lin  Anschlufs  au  diese  Bewegungsargumente  wird  folgende 
Anekdote  erzählt.  Diodoros  hatte  sich  einst  eine  Schulter 
ausgerenkt.  Er  nimmt  die  Hilfe  des  Arztes  Herophilos, 
des  Begründers  der  rein  auf  die  Erfahrung  sich  gründenden 
lirztlichen  Schule  (S.  Emp.  Dogm.  1. 188,  220),  in  Anspruch. 
Da  sagt  dieser:  „Entweder  ist  die  Schulter  an  dem  Orte 
au^tgefallen ,  wo  sie  war,  oder  an  dem,  wo  sie  nicht  war. 
Beides  ist  unmöglich.  Also  ist  die  Schulter  nicht  ausgefallen.*^ 
Erst  durch  Diodors  inständiges  Bitten  liefs  sich  der  Arzt 
bewegen,  die  Schulter  wieder  einzurenken  (S.  Emp.  Hyp. 
II    245). 

Mit  der  Leugnung  der  Veränderung  hängt  auch  der  von 
Diodor  erfundene  Beweis  gegen  die  Möglichkeit  zusammen, 
den  man  mit  dem  stolzen  Namen  „der  Obsiegende"  (kyrieüön) 
bezeichnete  und  der  noch  nach  Jahrhunderten  als  dialek- 
tisches Meisterstück  bewundert  wurde  (Z.  269,  5).  Wenn 
es  keine  Veränderung  gibt,  so  gibt  es  nur  unveränderliche 
Wirklichkeit.  Es  darf  keinen  Übergang  eines  Möglichen  in 
ein  Wirkliches  geben.  Es  wurde  also  der  natürlichen  Welt- 
ansicht, die  diesen  Übergang  fortwährend  statuiert,  eine 
Stütze  entzogen,  wenn  man  den  Begriff  der  Möglichkeit  als 


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III.    8.   Die  Megariker.  521 

unstatthaft  erwies.  Dies  sollte  in  diesem  Beweise  in  folgen- 
der Weise  geleistet  werden.  Etwas  Mögliches  kann  nicht 
zu  etwas  Unmöglichem  werden.  Dies  müfste  aber  geschehen, 
wenn  von  zwei  entgegengesetzten  Möglichkeiten  die  eine  zur 
Wirklichkeit  würde.  Denn  damit  würde  zugleich  die  ent- 
gegengesetzte Möglichkeit  zur  Unmöglichkeit.  Also  kann 
es  keine  Möglichkeit  geben  (Z.  270).  Dieser  Beweisführung 
hat  schon  Aristoteles  (um  330)  eine  ausführliche  und 
sorgfältige  Widerlegung  gewidmet.  Er  bezeichnet  sie  als 
eine  den  Megarikern  eigentümliche,  ohne  einen  bestimmten 
Namen  zu  nennen  (1046  b,  29  ff.). 

Stilpon  von  Megara  war  nach  dem  Tode  des 
Aristoteles  (322)  die  gröfste  philosophische  Berühmtheit 
Oriechenlands.  Zahlreiche  Schüler  anderer  Philosophen 
verliefsen  diese  und  gingen  zu  Stilpon  über.  Selbst  Theo- 
phrast,  der  ausgezeichnete  Nachfolger  des  Aristoteles,  ent- 
ging, trotz  seiner  glänzenden  Beredsamkeit,  diesem  Lose 
nicht.  Fast  ganz  Griechenland  (d.  h.  der  philosophisch 
interessierte  Teil  der  Griechen)  wandte  sich  unter  seinem 
Einflüsse  der  megarischen  Schule  zu  (D.  L.  II.  113  f.).  Ja, 
selbst  die  Laien  weit  nahm  von  ihm,  als  dem  grofsen  Mode- 
philosophen, eifrig  Notiz.  Ptolemäus  I  (Lagi  oder  Soter) 
von  Ägypten  ehrte  ihn,  als  er  307  Megara  in  Besitz  nahm, 
durch  ein  grofses  Geldgeschenk  und  wollte  ihn  mit  sich 
nach  Ägypten  nehmen.  Er  nahm  aber  nur  einen  Teil  des 
Geldes  an  und  wich  der  Übersiedelung  nach  Ägypten  aus, 
indem  er  sich  bis  zum  Abzüge  des  Königs  in  Ägina  aufhielt 
Und  Demetrios  der  Städtezerstörer,  der  im  darauf- 
folgenden Jahre  Megara  eroberte,  fragte  den  Philosophen, 
ob  ihm  durch  Plünderung  etwas  abhanden  gekommen  sei. 
Stilpon  aber  soll  erwidert  haben,  er  habe  niemand  die 
Wissenschaft  forttragen  sehen  (Plut.  Demetr.  9;  D.  L.  IL  115). 
Und  wie  die  Grofsen  so  auch  das  Volk.  Als  er  einst  nach 
Athen  kam,  liefen  die  Handwerker  aus  ihren  Werkstätten 
zusammen,  um  ihn  zu  sehen.  Dabei  soll  er,  als  jemand 
liemerkte,  man  bewundere  ihn  wie  ein  fremdes  Tier,  er- 
widert haben:  „Nein,  wie  einen  wahrhaften  Menschen" 
(D.  L.  II.  119).    Nur  mit  dem  athenischen  Gerichtshof  in 


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522  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Religionsangelegenheiten,  dem  Areopag,  hatte  auch  er  kein 
Glück.  Wegen  einer  Bemerkung,  das  Athenebild  des 
Phidias  sei  nicht  die  Tochter  des  Zeus,  also  keine  Gottheit, 
wurde  er  vorgefordert  und  trotz  der  Ausrede,  es  sei  kein 
Gott  (im  Griechischen  dasselbe  Wort  wie  Gottheit),  aber 
eine  Göttin,  mit  Ausweisung  bestraft  (das.  116). 

Nach  einer  Angabe  (D.  L.  I.  16)  soll  er  nichts  ge- 
schrieben haben.  Anderseits  werden  ihm  einige  Dialoge 
beigelegt,  über  deren  Inhalt  aber  nichts  bekannt  ist  (D.  L. 
II.  120).  Aus  dem  Wenigen,  was  über  seine  Lehre  berichtet 
wird,  scheint  hervorzugehen,  dafs  er,  ähnlich  wie  die 
„Ideenfreunde"  des  platonischen  Sophistes,  nur  den  als  un- 
körperliche Wesenheiten  gedachten  Begriffen  Wirklichkeit 
zugestand,  die  einzelnen  sinnenfälligen  Exemplare  aber  für 
wesenlosen  Schein  erklärte.  Er  bewies  z.  B. ,  dafs  der  mit 
ihm  redende  Mensch  niemand  sei,  denn  er  sei  nicht  in 
höherem  Mafse  dieser  als  ein  anderer.  Dies  erklärt  sich 
nur,  wenn  er  als  wesenhafte  Wirklichkeit  nur  den  in  den 
einzelnen  Exemplaren  scheinhaft  zu  Tage  tretenden  Gattungs- 
begriff ansah,  die  Vermannigfaltigung  desselben  in  einer 
Vielheit  von  körperlichen  Exemplaren  aber  für  blofsen 
Schein  erklärte.  Dieselbe  Vorstellungsweise  tritt  in  dem 
zweiten  überlieferten  Beispiel  hervor.  Es  wird  ein  Kohl- 
kopf vorgezeigt.  Stilpon  erklärt:  dies  ist  nicht  der  Kohl. 
Der  Kohl  war  vor  unzähligen  Jahren.  Also  ist  dies  nicht 
Kohl  (D.  L.  II.  119).  Wir  sehen  aus  diesen  Beispielen, 
dafs  die  Schule  sich  in  dem  entscheidenden  Punkte  stets 
gleichgeblieben  ist,  wenngleich  die  Einheitslehre  hier 
nicht  zum  Ausdruck  kommt.  So  wird  denn  auch  ihm  noch 
die  widersinnige  Behauptung  zugeschrieben,  man  dürfe  von 
einem  Subjekte  nur  es  selbst  aussagen,  also  nur  identische 
Urteile  fällen  (Plut.  Kolot.  22), 

Deutlicher  als  bei  Euklid  treten  bei  Stilpon  auch  die 
praktischen  Konsequenzen  dieser  Lehre  hervor.  Wenn  nur 
die  in  starrer  Unveränderlichkeit  dastehenden  ewigen  Ideen 
Wesenheiten  sind,  so  gibt  es  für  den  Menschen  als  denkendes 
Wesen  nichts  wahrhaft  Begehrenswertes  als  die  denkende 
Erfassung  dieser  ewigen  Wesenheiten.    Dazu  stimmt  genau 


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III.    3.   Die  Megariker.  523 

der  Ausspruch  Stilpons  bei  der  Eroberung  von  Megara/ 
Und  wenn  die  uns  umgebende  Welt  des  Mannigfaltigen  nur 
eine  Scheinwelt  ist,  so  ist  ihr  und  den  in  ihr  uns  be- 
treflFenden  Vorkommnissen  gegenüber  das  einzig  richtige 
Verhalten  die  Gleichgültigkeit,  Afifektlosigkeit,  Unerschütter- 
lichkeit. In  der  Tat  legt  Seneca  (Ep.  9,  1)  Stilpon  die 
Affektlosigköit  als  höchstes  Gut  bei.  Da^u  stimmt  wieder 
das  Verhalten  bei  der  Eroberung  von  Megara,  das  von 
Seneca  (Unerschütterlichkeit  des  Weisen  c.  5)  dahin  näher 
ausgemalt  wird,  er  habe  in  Wirklichkeit  dabei  sein  ganzes 
Vermögen  verloren,  und  seine  Töchter  seien  gefangen  fort- 
geführt worden.  Ebenso  die  auch  sonst  ihm  beigelegten 
Züge  von  Gleichmut  (mit  dem  er  z.  B.  die  ausschweifende 
Lebensweise  seiner  Töchter  ertragen  haben  soll,  Plut.  Tranqu. 
6;  D.  L.  IL  114)  und  das  allgemeine  Zeugnis  über  die 
Schlichtheit  und  Unverkünsteltheit  seines  Verhaltens  (D.  L. 
IL  114,  117).  Vielleicht  verband  er  mit  dieser  negativen 
und  ablehnenden  Haltung  gegen  die  herkömmlichen  Wert- 
urteile noch  die  positive  Aufgabe,  die  Idee  des  Menschen 
in  sich  selbst  zur  möglichst  vollständigen  Verwirklichung 
zu  bringen.  Wenigstens  könnte  darauf  seine  Äufserung  über 
den  „wahrhaften  Menschen"  gedeutet  werden.  Doch  erinnert 
dies  Wort  auch  an  Diogenes,  dessen  Nachfolger  Stilpon 
auch  zeitweilig  gewesen  sein  soll  (D.  L.  VI.  76). 

Dafs  er  nicht  göttergläubig  war,  wenngleich  er  vor- 
sichtig seine  Freigeisterei  nicht  an  die  grofse  Glocke  hing, 
zeigt  aufser  dem  schon  erwähnten  Konflikt  mit  dem  Areopag 
auch  die  Antwort,  die  er  Krates  auf  die  Frage  erteilt  haben 
soll,  ob  die  Götter  über  die  ihnen  gewidmete  Verehrung 
Wohlgefallen  empfänden,  er  möge  derartige  Fragen  nicht 
öffentlich,  sondern  unter  vier  Augen  stellen  (D.  L.  IL  117). 
Auch  von  einem  Glauben  an  ein  jenseitiges  Fortleben  findet 
sich  bei  ihm  keine  Spur.  Es  scheint  also  allein  die  Über- 
zeugung, dafs  Erkenntnis  des  Unveränderlichen  das  höchste 
Lebensziel  sei  und  daher  alles,  was  diese  störe,  aus  dem 
Wege  geräumt  werden  müsse,  ihn  zu  einem  nachdrücklichen 
Vollkommenheitsstreben  begeistert  zu  haben.  So  wird  be- 
richtet, er  sei  von  Natur  zum  Trünke  und  zu  geschlecht- 


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524  Zweite  Periode.  Zweite  Stnfe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

liehen  Ausschweifungen  geneigt  gewesen,  habe  aber  diesen 
Hang  so  vollständig  bezähmt,  dafs  niemals  einer  ihn  be- 
trunken gesehen  oder  eine  Spur  wollüstiger  Neigungen  an 
ihm  bemerkt  habe  (Cic.  Fat.  10).  Und  Plutarch  (Kolot. 
22)  rühmt  seine  Seelengröfse ,  Sanftmut  und  Selbstbeherr- 
schung, durch  die  er  seinem  Yaterlande,  seinen  Freunden 
und  den  ihn  auszeichnenden  Fürsten  Ehre  gemacht  habe. 
So  führt  ihn  insbesondere  als  Mahner  zu  gleichmütiger 
Ertragung  aller  Wechselfälle  des  Schicksals  schon  Tel  es 
an,  der  sein  Landsmann  und  fast  noch  sein  Zeitgenosse 
war  (Stob.  Flor.  40,  8;  108,  83). 

Dafs  diese  Fassung  der  Lebensaufgabe  in  der  Wirkung 
vielfach  mit  dem  kynischen  Freiheitsstreben  übereinkam,  ist 
leicht  ersichtlich.  Daraus  darf  aber  nicht  geschlossen  werden, 
Stilpon  habe  sich  der  kynischen  Lehre  angenähert.  Der 
Ausgangspunkt  ist  ein  völlig  verschiedener,  bei  den  Eynikem 
direkt  und  unmittelbar  die  negative  Schätzung  der  Lebens- 
güter selbst  unter  voller  Anerkennung  ihrer  Wirklichkeit 
und  ohne  die  Vorstellung  eines  jenseits  der  Erscheinungs- 
welt Liegenden.  Bei  Stilpon  in  erster  Linie  die  erkennende 
Richtung  auf  das  einzig  Wirkliche  und  erst  abgeleitet  imd 
als  Folgerung  daraus  die  Geringschätzung  der  Scheinwelt. 
So  ist  denn  auch  das  praktische  Verhalten  selbst  bei  aller 
Ähnlichkeit  doch  ein  wesentlich  anderes.  Bei  den  Eynikem 
auch  äufserlich  freiwillige  Entbehrung,  bei  Stilpon  nur 
innere  Unabhängigkeit,  ein  philosophischer  Humor,  ein 
Standpunkt,  der  sich  in  gewissem  Mafse  sogar  dem  des 
Aristipp  annähert.  Dies  zeigt  eine  Anekdote.  Stilpon  unter- 
bricht eine  philosophische  Unterredung  mit  dem  Kyniker 
Erat  es,  indem  er  eilig  dem  Markte  zuläuft,  um  beim  Ver- 
kauf der  soeben  eingetroffenen  Fische  (im  damaligen  Athen 
ein  Gegenstand  luxuriösen  Genusses)  den  richtigen  Zeit- 
punkt nicht  zu  versäumen,  und  entschuldigt  sich  dem  ihm 
nacheilenden  Erates  gegenüber  mit  den  Worten:  „Die 
Unterredung  läuft  uns  nicht  davon,  aber  die  Fische  werden 
ausverkauft  sein"  (D.  L.  IL  119). 

Auch  sonst  tritt  der  zwischen  ihm  und  Erates  bestehende 
Gegensatz  deutlicher  hervor.    So  sagt  er  zu  diesem,  als  er 


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in.    4.  Die  elisch-eretrische  Schule.    Menedemos  von  Eretria.  525 

ihn  im  Winter  in  seinem  zerlumpten  Mantel  frieren  sah : 
„Erates,  du  hast  einen  neuen  Mantel  nötig.^  (Hier  dasselbe 
Wortspiel,  das  wir  schon  bei  Antisthenes  fanden.  Das  Wort 
„neu"  bedeutet  zugleich  „und  Vernunft".)  So  soll  er,  als 
der  junge  Zeno  von  Kition  von  Krates  zu  ihm  über- 
ging und  Krates  diesen  am  Mantel  zu  sich  zurückziehen 
wollte,  gesagt  haben,  die  richtige  Handhabe  des  Philosophen 
seien  die  Ohren;  man  ziehe  ihn  zu  sich,  indem  man  ihn 
überzeuge  (D.  L.  VII.  24).  Krates  seinerseits  revanchiert 
sich  durch  das  recht  unflätige  Benehmen,  das  schon  be- 
richtet wurde,  und  durch  die  spöttischen  Verse  in  den 
„Sillen**,  in  denen  er  ihn  des  Hochmuts  bezichtigt. 

4.   Die  elisch-eretrische  Schule.    Menedemos 
von  Eretria. 

Über  die  nächsten  Nachfolger  Phädons  in  der  Schule 
zu  Elis  sind  nur  ganz  dürftige  Nachrichten  vorhanden 
(D.  L.  II.  105,  126).  Annähernd  um  320—315  trat  dort  in 
der  Person  des  Menedemos  von  Eretria  ein  neues 
Element  ein.  Zwar  ist  auch  bei  diesem  über  seinen  philo- 
sophischen Standpunkt  so  gut  wie  nichts  bekannt,  doch  tritt 
er  uns  in  den  erhaltenen  Nachrichten  wenigstens  als  lebendige 
Persönlichkeit  entgegen.  Dies  ist  den  Bruchstücken  einer 
Schrift  des  Bildhauers  Antigenes  von  Karystos  zu 
verdanken,  die  hauptsächlich  bei  Diogenes  Laertios  erhalten 
sind. 

Dieser  Antigenes  stammte  aus  dem  Landstädtchen 
Karystos  im  Süden  von  Euböa  und  war  ungefähr  um  290 
geboren.  Er  kam  um  275 — 270  nach  Eretria,  um  sich  zu 
bilden,  und  war  dort  vielleicht  auch  der  Schüler  des  Mene- 
demos. Er  erlernte  sodann  in  Athen  die  Bildhauerkunst, 
versäumte  aber  nicht,  sich  zugleich  mit  den  philosophischen 
Berühmtheiten  Athens  und  teilweise  auch  des  übrigen 
Griechenlands  bekannt  zu  machen.  Später  wurde  er  von 
Attalos  von  Pergamos  (241—197)  nach  Pergamos  berufen, 
wo  er  bis  gegen  220  lebte.  Dort  legte  er  in  einer  seiner 
Schriften  seine  Erinnerungen  an  die  geistigen  Gröfsen,  die 


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526  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

er  persöDÜch  kennen  gelernt  hatte,  als  eine  Art  von 
Memoiren  oder  literarischer  Porträts  nieder.  Er  berück- 
sichtigte aber  dabei  als  Nichtfachmann  in  der  Philosophie 
die  Systeme  nicht,  sondern  begnügte  sich  damit,  Lebens- 
umstände, Gharakterzüge  und  geistvolle  Aussprüche  zu  be- 
richten. Wir  werden  im  weiteren  Verlaufe  auch  noch  bei 
anderen  Philosophen  die  aus  dieser  Schrift  stammenden 
Kachrichten  benutzen  können. 

Menedemos  nun  war  etwa  um  340  geboren.  Zusammen 
mit  seinem  Freunde  Asklepiades  von  Phlius,  dem  er 
für  Lebenszeit  verbunden  blieb  (D.  L.  IL  105,  126,  137  f.; 
die  gehässige  Ausdeutung  dieses  Verhältnisses  durch  Krater 
ist  früher  erwähnt  worden),  kam  er  als  Soldat  nach  Megara. 
Dort  erwacht  sein  Interesse  für  Philosophie,  und  er  gibt  die 
kriegerische  Laufbahn  auf  (ib.  131).  Ob  er  sich  zunächst 
nach  Athen  zur  Schule  Piatos  wandte  (ib.),  ist  zweifelhaft; 
keinesfalls  kann  er,  wie  dort  behauptet  wird,  Plato  selbst, 
der  347  gestorben  war,  noch  gehört  haben.  Hauptsächlich 
mufs  er  in  Megara  Schüler  Stilpons  gewesen  sein,  den 
er  auch  wegen  seines  edlen  Charakters  hochschätzte  (D.  L. 
105,  126,  134).  Dann  begaben  sich  die  beiden  Freunde 
nach  Elis,  wo  Menedemos  der  zweite  Nachfolger  Phädons 
geworden  sein  soll.  Infolgedessen  soll  die  Schule  den  Namen 
der  eretrischen  erhalten  haben  (D.  L.  105,  126).  Doch 
wird  dies  wohl  darauf  beruhen,  dafs  Menedemos  bald  nach 
seiner  Vaterstadt  Eretria  zurückkehrte  und  dort  seine 
Lehrtätigkeit  fortsetzte  (130).  Er  wurde  anfangs  von  seinen 
Landsleuten,  denen  die  Philosophie  wohl  noch  etwas  Un- 
bekanntes war,  verachtet  und  mit  Ehrentiteln,  wie  „Hund", 
„Schwätzer**  belegt.  Später  aber  machte  diese  Gering- 
schätzung der  höchsten  Anerkennung  Platz:  er  wurde  an 
die  Spitze  des  kleinen  Freistaats  berufen  und  mit  Gesandt- 
schaften an  die  Machthaber  der  Zeit,  die  Herrscher  der 
verschiedenen  aus  dem  Reiche  Alexanders  hervorgegangenen 
Staaten,  betraut  und  erledigte  alle  diese  Geschäfte  In  ehren- 
voller und  für  seine  Vaterstadt  nutzbringender  Weise  (D.  L. 
140).  Auch  bei  Antigenes  Gonatas,  dem  der  griechi- 
schen Bildung  zugeneigten  Könige  von  Macedonien  (276  bis 


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III.   4.   Die  elisch-eretrische  Schule.    Menedemos  von  Eretria.  527 

240),  stand  er  in  besonderer  Gunst,  so  dafs  dieser  sich 
seinen  Schüler  nannte.  Dieser  König,  geboren  um  320, 
hatte  sich  in  der  Tat  seit  292  längere  Zeit  in  Griechenland 
aufgehalten,  war  aber  allerdings  von  den  griechischen  Philo- 
sophen wohl  Zeno  von  Kition  noch  näher  getreten  als 
unserem  Menedemos.  Auch  diesem  König  gegenüber  soll 
Menedemos  mannhaft  für  die  Unabhängigkeit  seiner  Vaterstadt 
eingetreten  sein  und,  als  er  den  König  in  seiner  Herrschsucht 
unnachgiebig  fand,  im  Schmerz  über  die  Eretria  drohende 
Unterjochung  eines  freiwilligen  Hungertodes  gestorben  sein. 
So  berichtet  über  sein  Lebensende  unter  anderen  Antigonos 
von  Karystos.  Nach  einer  anderen  Version  mufste  er  den 
Intriguen  seiner  heimischen  Widersacher  weichen  und  starb 
aus  Gram  darüber  in  der  Fremde.  Nach  dieser  Darstellung 
sollte  er  gerade  bei  Antigonos  Gonatas  seine  letzte  Zuflucht- 
stätte gefunden  haben  (D.  L.  141  ff.).  Jedenfalls  fällt  sein 
Tod  ungefähr  ins  Jahr  270. 

Er  wird*  geschildert  als  ein  Mann  von  ernster  und 
edler  Lebenshaltung.  Der  Gymnastik  eifrig  ergeben,  machte 
er  noch  als  Greis  mit  seinem  muskulösen  Körper  und  seinem 
sonnverbrannten  Gesicht  den  Eindruck  eines  Athleten;  ein 
ihm  in  Eretria  gesetztes  Standbild  zeigte  daher  absichtlich 
den  gröfsten  Teil  des  Körpers  entblöfst  (ib.  132).  Er  lebte 
mäfsig  und  zeigte  gegenüber  den  geschlechtlichen  Aus- 
artungen der  Zeit  ein  strenges  Urteil  (ib.  126  f.).  Seine 
ernste  sittliche  Gesinnung  zeigt  sich  auch  darin,  dafs  er 
gegenüber  der  Behauptung,  das  Wünschenswerteste  sei,  alles 
zu  erlangen,  was  man  begehre,  erklärte,  etwas  viel  Wert- 
volleres sei,  nur  zu  begehren,  was  sich  zieme  (ib.  136). 

Über  seinen  philosophischen  Standpunkt  er- 
fahren wir  sehr  wenig.  Schriften  scheint  er  nicht  hinter- 
lassen zu  haben  (D.  L.  I.  16;  II.  136).  In  religiöser  Be- 
ziehung scheint-  er  völlig  freigeistig  gewesen  zu  sein.  Wenig- 
stens bezeichnet  er  eine  Polemik  gegen  die  Vorzeichen-  und 
Orakel  Wirtschaft  als  ein  Totschlagen  von  Toten  (D.  L.  134). 
Den  kindischen  Ausartungen  der  megarischen  Dialektik 
trat  er  energisch  entgegen.  Als  ein  Vertreter  dieser  Schule, 
der  auch  sonst  vielfach  genannte  Dialektiker  Alexinos, 


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528  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  6tc. 

an  ihm  den  Fangschlufs:  „Hast  du  aufgehört,  deinen  Vater 
zu  schlagen?**  probieren  will,  sagt  er:  „Ich  habe  ihn  nicht 
geschlagen  und  habe  auch  nicht  damit  aufgehört,**  und  als 
jener  nun  verlangt,  er  solle  nach  der  Regel  der  Schule  nur 
mit  Ja  und  Nein  antworten,  erklärt  er,  diese  lächerliche 
Regel  müsse  man  an  der  Schwelle  abweisen  (135).  Andem- 
teils  wird  ihm  doch  auch  wieder  eine  leidenschaftliche 
Disputiersucht  und  eine  gewisse  Neigung  zu  den  dialek- 
tischen Spitzfindigkeiten  der  Megariker  .beigelegt.  So  be- 
weist er,  dafs  das  Gute,  weil  vom  Nützlichen  verschieden^ 
nicht  nützlich  sei.  Doch  überträgt  er  diese  Wortkämpfe 
nicht  auf  das  Verhältnis  von  Mensch  zu  Mensch  und  erweist 
demselben  Alexinos,  dem  er  in  scharfem  Spotte  gegenüber- 
tritt, in  menschenfreundlichster  Weise  die  wesentlichsten 
Dienste  (136,  134). 

An  dem  praktischen  Grundgedanken  der  megarischen 
Schule,  dafs  wahre  Erkenntnis  das  höchste  Gut  sei,  scheint 
er  festgehalten  zu  haben  (Cic.  Ac.  IL  129;  D.  L.  IL  134). 
Damit  müfste  er  auch  die  Voraussetzung  dieses  Lebensziels, 
das  Bestehen  unveränderlicher  jenseitiger  Wesenheiten  neben 
der  Scheinwelt,  vertreten  haben.  Doch  sind  die  Nachrichten 
in  dieser  Beziehung  so  dürftig  und  widersprechend,  dafs 
darüber  nichts  Bestimmtes  ausgemacht  werden  kann  (D.  L. 
134,  135;  Simplic.  Schol.  in  Arist.  Kateg.  68a,  34).  Manche 
der  hier  einschlagenden  Punkte  scheint  er  als  offene  Fragen 
behandelt  zu  haben  (D.  L.  136). 

Alles  in  allem  macht  er  mehr  den  Eindruck  eines 
Mannes,  der  auf  der  euklidischen  Grundlage  sich  eine  philo- 
sophische Gesinnung  und  Lebensansicht  im  allgemeinen  an- 
geeignet hat,  als  den  eines  mit  den  einzelnen  Lehr-  und 
Streitpunkten  sich  befassenden  Fach-  und  Schulphilosophen. 

Nur  ein  einziger  Schüler  des  Menedemos  wird  noch 
genannt,  Ktesibios,  der  aber  mehr  die  Karikatur  eines 
Philosophen  als  ein  Philosoph  gewesen  zu  sein  scheint,  und 
mit  dem  die  elisch-eretrische  Schule  eine  traurige  Endschaft 
erreichte.  Er  war  arm  (D.  L.  IV.  37);  die  geistige  Be- 
weglichkeit, die  das  dialektische  Verfahren  zu  Wege  brachte, 
scheint  von  ihm  vorwiegend  ausgenutzt  worden  zu  sein,  nm 


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IV.    PopularphilosophAche  Erscheinungen  etc.  529 

in  der  Gesellschaft  als  geistreicher,  aber  gesinnungsloser 
Spafsmacher  und  durch  überraschende  Paradoxien  zu 
glänzen,  so  dars  er  als  guter  Gesellschafter  geschätzt  und 
häufig  zu  Gastereien  geladen  wurde.  Er  soll  daher  auf  die 
Frage,  was  ihm  die  Philosophie  eingetragen  habe,  ge- 
antwortet haben:  „Den  Vorteil,  kostenlos  zu  dinieren." 
Auch  soll  er  ein  gewandter  Ballspieler  gewesen  sein  (Athen. 
IV.  162  e).  Timon  von  Phllus  widmete  ihm  in  seinen  „Sillen" 
folgenden,  eine  bekannte  Homerstelle  (II.  I.  225)  parodieren- 
den Vers  (Fr.  30): 

„Gastmahlswütig,  mit  dreistem  Gemüt  und  dem  Auge  des 
Hirschkalbs." 

IV.  Popularphilosophische  Erscheinungen  im  Anschlufs 
an  diese  Schulen. 

Zwischen  dem  kynischen  Freiheitsgedanken  und  dem 
aristippischen :  „Ich  besitze,  aber  ich  werde  nicht  besessen," 
besteht  eine  gewisse  Verwandtschaft.  Beide  Richtungen 
führen  zur  Unabhängigkeit  von  den  engen  Bestrebungen 
und  kleinlichen  Sorgen  des  Alltagsmenschen;  sie  treffen  in 
einer  gewissen  allgemein  philosophischen  Gesinnung  zu- 
sammen. Und  dafs  vollends  die  ausschliefsliche  Richtung 
auf  Erkenntnis  eines  Beharrenden  jenseits  der  Erscheinungs- 
welt bei  den  Megarikern  eine  gleiche  Lebensansicht  förderte, 
das  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  und  dafür  zeugt  auch 
das  Beispiel  eines  Stilpon  und  Menedemos.  Letzterer 
ist  schon  geradezu  mehr  ein  Mann  des  praktischen  Lebens 
mit  philosophischer  Gesinnung  als  ein  Fachphilosoph. 

So  kann  es  nicht  wundernehmen,  wenn  im  Anschlufs 
an  die  geschilderten  eindrucksvollen  Erscheinungen  des 
4.  Jahrhunderts  um  300  sich  eine  mehr  allgemein  philo- 
sophische Richtung  entwickelte,  die  nicht  strenge  einer 
Schul  Überlieferung  anhing,  aber  eine  allgemeine  philo- 
sophische Lebensanschauung  vertrat,  eine  Richtung,  die, 
gleichgültig  gegen  die  Scheingüter  wie  gegen  die  kleinen 
Nöte  des  Lebens,  diesen  mit  innerer,  nicht  notwendig  auch 
äufserlich  prahlerisch  zur  Schau  getragener  Unabhängigkeit 
gegenüberstand,  eine  Popularphilosophie ,  die  sich  den  er- 

D(»ring.   I.  34 


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530  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Bie  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

habenen  Gleichmut  eines  Sokrates,  Antisthenes ,  Diogenes 
und  Krates,  aber  auch  eines  Stilpon  und  selbst  eines 
Aristipp  zum  Vorbild  nahm. 

Bekannt  sind  zwei  Vertreter  dieser  Richtung:  Bion 
von  Borysthenes  und  sein  kleinerer  Nachtreter  Teles 
von  Megara. 

1.  Bion  von  Borysthenes  (ea.  330 — 260). 

Der  mazedonische  König  Antigenes  Gonatos  war 
seit  seiner  Thronbesteigung  (276)  bemüht,  seinen  Hof  in 
einen  Musenhof  zu  verwandeln.  Dichter  und  Gelehrte,  vor- 
nehmlich auch  Philosophen  der  verschiedensten  Richtungen 
fanden  dort  gastliche  Aufnahme. 

Dort  finden  wir  etwa  um  270  auch  Bion  von  Bory- 
sthenes. Zwei  junge  Stoiker,  Persans  und  Philonidas, 
suchten  den  einer  abgetanen  Richtung  angehörigen  und 
wissenschaftlich  nicht  gerade  hochstehenden  älteren  Mann 
beim  König  herabzusetzen  und  auch  seine  Herkunft  zu  ver- 
dächtigen. Bion  hat  das  den  Fragen  des  Königs  angemerkt, 
und  so  gibt  er  denn,  anscheinend  in  einem  Briefe  an  den 
König  im  Rahmen  der  herkömmlichen  homerischen  Fragen: 

„Wer?  Woher  der  Männer?  Wo  ist  Vaterstadt  dir  und 
Erzeuger?"   und  in  parodierender  Anwendung  des  Verses: 

„Solchem  Geschlechte  und  Blut  zu  entstammen  kann 
ich  mich  rühmen" 
folgende  freimütige  Erklärung  ab:  „Mein  Vater  war  ein 
Freigelassener,  der  sich  mit  dem  Ärmel  die  Nase  abwischte." 
Dies  bedeutet  nicht  etwa  das  Fehlen  eines  Taschentuchs, 
das  die  Alten  überhaupt  nicht  kannten ,,  sondern  die  durch 
sein  Geschäft  als  Händler  mit  eingesalzenen  Fischen  be- 
dingte Unmöglichkeit,  sich  mit  den  von  der  Salzlake  feuchten 
Fingern  zu  schneuzen  (Menag.  zu  d.  St.).  Diese  Wendung 
wurde  ein  geflügeltes  Wort,  und  noch  Horaz  wurde  von 
seinen  Gegnern  wörtlich  der  gleiche  Schimpf  angehängt 
(Suet.  Vit.  Horat).  Dieser  Vater  habe  in  Borysthenes  gelebt 
(griechische  Kolonie  am  Einflufs  des  Dniepr  ins  Schwarze 
Meer,  auch  Olbia  genannt).  Er  habe  kein  Gesicht  gehabt, 
sondern  statt  dessen  ein  Denkzeichen  der  Brutalität  seines 
ehemaligen    Herrn.     Entsprechend    diesem   seinem    Stande 


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IV.    1.  Bion  von  Borysthenes  (ca,  330—260).  531 

habe  er  seine  Lebensgefährtin  aus  einem  öffentlichen  Hause 
genommen.  Nachher  sei  er  wegen  Zollhinterziehung  mit 
seiner  ganzen  Familie  als  Sklave  verkauft  worden.  Er 
selbst  sei  bei  dieser  Gelegenheit  als  anmutiger  Knabe  von 
einem  Lehrer  der  Beredsamkeit  gekauft  worden,  der  ihn 
bei  seinem  nicht  lange  darauf  ei^olgten  Tode  zum  Erben 
seiner  ganzen  Habe  eingesetzt  habe.  Hier  scheint  doch 
zwischen  den  Zeilen  zu  lesen,  dafs  er  diesem  alternden, 
offenbar  ehelosen  Rhetor  wohl  recht  anrüchige  Dienste  zu 
leisten  hatte.  Er  verbrennt  darauf  dessen  Skripturen,  macht 
alles  Geldwerte  zu  Gelde  und  begibt  sich  nach  Athen,  um 
sich  zum  Philosophen  zu  bilden  (D.  L.  IV.  46). 

In  demselben  Briefe  scheint  er  ferner  dem  König  zu 
Gemtite  geführt  zu  haben,  er  möge  es  doch  mit  seinen 
Freunden  halten  wie  mit  seinen  Bogenschützen,  d.  h.  nicht 
fragen,  woher  sie  stammen,  sondern  wie  tüchtig  sie  sind 
(Stob.  Flor.  86.  13).  Jedenfalls  konnte  er  „sich  rühmen", 
wenn  auch  nicht  gerade  seiner  Herkunft  selbst,  aber  doch 
dessen,  was  er  bei  solcher  Herkunft  durch  eigene  Kraft 
aus  sich  gemacht  hatte. 

In  Athen  nun  geriet  er  zunächst  in  die  Akademie,  die 
Schule  Pia  tos,  wahrscheinlich  noch  zur  Zeit,  als  ihr  X  e  n  o  - 
krates  vorstand  (339—314).  Doch  kann  die  Akademie, 
wenngleich  sie  auch  später  noch  diese  Berühmtheit  sich  als 
einen  der  Ihrigen  nicht  wollte  entgehen  lassen  (IV.  23),  ihn 
nicht  lange  gefesselt  haben.  Er  scheint  sogar  später  sich 
über  den  alternden  Xenokrates  lustig  gemacht  zu  haben  (ib. 
10).  Er  geht  zum  Kyniker  Krates  und  nimmt  Mantel, 
Ranzen  und  Stab  an.  Die  Verwechselung  des  Kyniker  Krates 
mit  dem  um  30  Jahre  späteren  Akademiker  gleichen  Namens 
als  seines  Lehrers  (ib.  52)  ist  vielleicht  von  der  späteren 
Akademie  geflissentlich  herbeigeführt  worden,  um  ihn  als 
Zögling  der  Akademie  erweisen  zu  können.  Bei  Krates  nun 
hat  er  offenbar  sowohl  hinsichtlich  der  Lebensauffassung  als 
iiuch  hinsichtlich  der  derben  und  wirksamen  Art  der  sprach- 
lichen Einkleidung  recht  viel  gelernt.  Doch  hielt  es  ihn 
auch  hier  nicht  dauernd.  In  seinen  Gesichtskreis  tritt  der 
derbe  und  originelle  Kyrenaiker  Theodoros,  der  Gottes- 

B4* 


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532  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

leugne r,  der  zwischen  316 — 306  längere  Zeit  in  Athen  lehrte. 
Diese  Zeitbestimmung  ist  auch  für  die  Chronologie  des  Lebens 
Bions  der  Hauptanhaltspunkt.  Auch  von  Theodoros  hat  er 
sich  unzweifelhaft  nach  Inhalt  und  Form  manches  angeeignet. 
Inhaltlich  jedenfalls  die  radikale  Freigeisterei,  in  bezug  auf 
die  Form  die  schlagende  und  überraschende  Ausdrucksweise. 
Ebenso  aber  auch  hinsichtlich  der  eigenen  Lebensführung. 
Wenn  wir  hören,  dafs  Bion  später  in  prächtigem  Aufzuge 
von  Stadt  zu  Stadt  zog  und  in  zusammenhängender  Rede 
gegen  Honorar  fesselnde  Vorträge  (Diatriben,  D.  L.  IL  77) 
hielt  (D.  L.  53),  so  wird  er  wohl  schon  bei  seinem  Über- 
tritt zu  Theodoros  Ranzen  und  Stab  bald  den  Abschied  ge- 
geben haben  und  auch  hinsichtlich  der  Form  seiner  Rede 
wird  er  die  Hauptanregung  von  Theodoros  erhalten  haben. 
Dafs  er  aufserdem  während  seiner  athenischen  Bildungszeit 
auch  Theophrast,  den  geistvollen  und  sprachgewaltigen 
Nachfolger  des  Aristoteles  (322-297),  hörte  (D.  L.  52),  er- 
klärt sich  schon  aus  seinem  Streben  nach  sprachlicher  Aus- 
bildung und  nach  philosophischer  Beurteilung  des  Treibens 
der  Menschen  (denn  auch  darin  war  Theophrast  grofs);  die 
metaphysischen  Spekulationen  des  peripatetischen  Systems 
hat  er  gewifs  auf  sich  beruhen  lassen. 

So  wird  er  ein  „Sophist"  (D.  L.  47;  Fr.  4  Meli.),  und 
zwar  in  dem  doppelten  Sinne,  in  dem  auch  schon  von  Theo- 
doros diese  Bezeichnung  gebraucht  wird:  in  dem  älteren 
Sinne  als  ein  umherziehender  Lehrer,  der  seine  Weisheit 
für  Geld  zu  Markte  bringt,  und  in  dem  neu  sich  entwickeln- 
den der  stark  gewürzten,  auf  das  grofse  Publikum  berech- 
neten Vorträge.  In  ersterer  Beziehung  scheint  er  in  humo- 
ristischer Weise  den  alten  Spruch:  „Den  Freunden  ist  alles 
gemein,"  verwandt  zu  haben,  um  die  Geldbeutel  derer,  die 
sich  an  ihn  anschlössen,  zu  seinen  Gunsten  zu  beeinflussen 
(D.  L.  53).  Auch  soll  er  seine  Schüler  in  drei  Klassen  ge- 
teilt haben:  goldene,  die  zahlen  und  lernen,  silberne,  die 
zahlen  und  nicht  lernen,  und  eherne,  die  nicht  zahlen,  aber 
lernen  (Stob.  Ecl.  IL  218).  Auch  verschmähte  er  in  diesem 
Sinne  nicht  recht  schwindelhafte  Kunststückchen.  So  soll 
er  in  Rhodos,  um  von  vornherein  den  Schein  eines  gewal- 


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IV.    1.  Bion  von  Borysthenes  (ca.  830—260).  533 

tigen  Zulaufs  zu  erwecken,  eine  Anzahl  Schiiferknechte  in 
Schülerkleidung  gesteckt  und  gedungen  haben,  ihm  zu  folgen 
(D.  L.  53).  In  der  zweiten  Beziehung  werden  seine  Vor- 
träge als  mit  allen  Mitteln  auf  starke  Wirkungen  hin- 
arbeitend geschildert.  Er  personifizierte  die  Begriffe  und 
liefs  sie  in  lebhafter  Wechselrede  gegeneinander  auftreten; 
er  würzte  seinen  Vortrag  mit  Parodien  bekannter  Dichter- 
stellen, mit  Anekdoten  aus  dem  Leben  der  gefeierten  Philo- 
sophen, mit  witzigen  und  sprachlich  überraschenden,  feuille- 
tonistischen  Wendungen,  kurz,  er  tat  alles,  was  beim  gröfseren 
Publikum  eine  durchschlagende  Wirkung  erzielen  konnte. 
Man  sagte  daher  von  ihm,  er  habe  der  Philosophie  ein 
„blumiges"  Gewand  angezogen  (D.  L.  47,  52).  Offenbar 
sind  die  zahlreichen  Aufsätze,  die  er  hinterliefs  (D.  L.  47), 
und  die  auf  Jahrhunderte  hin  als  Fundgrube  für  Pointen 
und  effektvolle  Züge  nachgewirkt  haben,  nur  Aufzeichnungen 
nach  den  mündlich  gehaltenen  Vorträgen,  und  die  aus  jenen 
erhaltenen  Proben  können  uns  deshalb  ein  Bild  seiner  Weise 
auch  in  diesen  geben.  So  sagt  er  von  einem  Verschwender : 
Den  Amphiaraos  hat  die  Erde  (das  Land)  verschlungen,  du 
aber  das  Land.  Die  Schönheit  nennt  er  ein  fremdes  (an- 
deren zugute  kommendes)  Gut,  den  Reichtum  den  Nerv  der 
Geschäfte  (nervus  rerum).  Den  Neidischen,  der  ein  betrübtes 
Gesicht  macht,  fragt  er,  ob  ihm  selbst  etwas  Übles,  oder 
einem  anderen  etwas  Gutes  zugestofsen  sei  (D.  L.  47  f.). 
Den  auf  Schmeichler  Hörenden  vergleicht  er  mit  einem  zwei- 
henkligen Kruge,  den  man  an  seinen  Henkeln  leicht 
transportiert  (Plut.  vit.  pud.  c.  18).  Um  der  Menge  zu  ge- 
fallen, mufs  man  ein  Kuchen  oder  thasischer  Wein  sein  (Dio. 
Chrys.  66).  Agamemnon,  der  sich  (II.  10,  14)  im  Schmerze 
die  Haare  ausrauft,  verfihrt  so,  als  ob  die  Kahlheit  den 
Kummer  beseitigte  (Cic.  Tusc.  III.  162)  u.  s.  w. 

Wir  verstehen  nach  diesen  Proben,  wie  Horaz  (Epist. 
II.  2,  60  und  Akro  zu  d.  St.),  der  ihm  auch  manches  ent- 
lehnt hat,  von  dem  „boshaften  Salz''  der  bioneischen  Reden 
sprechen  konnte. 

Sein  Gedankenkreis  war  offenbar  eine  Mischung  von 
Kynisch^m  und  Kyrenaischem.    Das  Wenige,  was  wir  über 


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534  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

seine  Lehre  wissen,  läfst  sich  nur  teilweise  der  einen  oder 
anderen  Richtung  zuweisen.  Gewifs  ist  er  seiner  eigenen 
Lebensauffassung  und  LebensfOhrung  nach  kein  Eyniker, 
aber  wenigstens  überwiegend  kynisch  ist  die  Geringschätzung, 
mit  der  er  den  SpezialWissenschaften  entgegenkommt  (D. 
L.  53).  Was  nutzt  es,  über  die  Irrfahrten  des  Odysseus  zu 
forschen,  unsere  eigenen  aber  aufser  acht  zu  lassen!  (Stob. 
Flor.  4,  54.)  Die  Astronomen  kennen  die  „Fische"  am 
Himmel,  aber  die  in  ihrem  Bereiche  schwimmenden  sehen 
sie  nicht  (ib.  80,  3).  Das  Wort  von  den  Freiem  der  Pene- 
lope,  das  auch  ihm  zugeschrieben  wird  (Ps.-Plut.  lib.  educ.  10), 
kam  schon  bei  Aristipp  vor,  ein  deutlicher  Beweis,  wie  hier 
die  Credankenkreise  ineinanderfliefsen. 

Echt  kynisch  ist  die  von  Teles  ihm  entlehnte  Selbst- 
rechtfertigung der  Armut  (Stob.  Flos.  5,  67).  Sie  schliefst 
von  keiner  Tugend  aus.  Sie  gewährt  das  zum  Leben  Not- 
wendige: die  Brunnen  sind  voll  Wasser;  Kohl  wird  an  allen 
Strafsen  gebaut;  die  ganze  Erdoberfläche  ist  als  Lagerstatt 
benutzbar,  und  Laub  zum  Zudecken  gibt  es  genug.  Auch 
Sinnengentisse  versagt  sie  nicht.  An  verliebten  Weibern  in 
vorgerückten  Jahren  fehlt  es  nicht,  und  als  Gaumenkitzel 
dient  Hunger  und  Durst.  Niemand  hungert  nach  Kuchen 
und  durstet  nach  Eiswasser.  Obdach  gewähren  im  Winter 
die  Bäder,  im  Sommer  die  Tempelhallen. 

Ähnlich  steht  es  mit  der  Herabsetzung  der  Schmeichelei 
und  des  Lobes.  Nicht  der  Acker  trägt  Frucht,  den  man 
lobt,  sondern  den  man  umgräbt  und  baut  (Plut.  de  adul.  23), 
Auf  gutem  Wege  ist  nur.  der,  der  Schmähungen  ebenso  gern 
hört  wie  die  einschmeichelnden  Willkommensgrüfse  (Plut. 
de  prof.  in  virt.)  Ebenso  die  Vergleichung  der  Habsucht 
mit  der  Wassersucht.  Der  Versuch,  den  mit  dieser  ver- 
bundenen krankhaften  Durst  zu  stillen,  mufs  notwendig  fehl- 
schlagen und  kann  das  Übel  nur  verschlimmem.  Der  Kranke 
wird  eher  zerplatzen  als  sein  Gelüst  befriedigen  (Teles  bei 
Stob.  Fl.  97,  31).  Dahin  gehört  endlich  das  freiwillige 
Scheiden  aus  dem  Leben,  wenn  dasselbe  nicht  mehr  lebens^ 
wert  ist.  Wenn  ein  Mieter  die  Miete  schuldig  bleibt,  so 
nimmt  der  Hausherr  die  Tür  und  das  Dach  weg  und  ver- 


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IV.    1.  ßion  von  Borysthenes  (ca.  330—260).  535 

schliefst  den  BruDneD,  um  den  Mieter  zum  Auszug  zu  zwingen. 
So  hat  uns  auch  die  Natur  diesen  Körper  in  Pacht  gegeben, 
und  wenn  sie  uns  heraushaben  will,  macht  sie  Augen,  Ohren, 
Füfse  und  Hände  unbrauchbar.  Dann  warte  ich  nicht  länger, 
sondern  gehe  ohne  Murren  von  dannen,  dem  Kahne  des 
Totenschiffers  zu  (Teles,  Stob.  Flor.  5,  67).  Dagegen  kann 
der  Gedanke,  das  Tun  der  Menschen  gleiche  einer  Komödie, 
und  ihr  Treiben  müsse  nicht  ernster  genommen  werden  wie 
blofse  Bilder  der  Einbildungskraft  (Sen.  Tranqu.  15),  eben- 
sowohl auf  kyrenaischem  wie  auf  kynischem  Boden  gewachsen 
sein.  Ähnlich  vergleicht  er  auch  die  eigene  Lebenslage  mit 
einer  vom  Schicksal  übertragenen  Rolle,  mit  der  man  zu- 
frieden sein  mufs,  wenn  es  auch  keine  erste  Heldenrolle 
ist  (Teles  bei  Stob.  Flor.  5,  67). 

Dafs  er  speziell  von  Theodorus  die  Polemik  gegen  reli- 
giöse Vorstellungen  übernahm,  wird  ausdrücklich  bezeugt 
(D.  L.  54).  So  sagt  er  denn  auch  in  bezug  auf  den  Glauben, 
dafs  die  Sünden  der  Väter  an  den  Nachkommen  gestraft 
werden,  das  sei  lächerlicher,  als  wenn  man  für  die  Krank- 
heit des  Grofsvaters  oder  Vaters  dem  Enkel  oder  Sohne 
Arznei  eingeben  wollte  (Plut.  de  sera  num.  vind.  19).  Oder 
er  fragt  mit  Bezug  auf  einen  Homervers,  in  dem  die  „Bitten" 
(die  Abbitte)  als  lahm,  runzlig  und  schielend  und  zugleich 
als  Kinder  des  Zeus  geschildert  werden  (II.  9,  502),  wie 
man  eine  Gottheit  um  tüchtige  Kinder  anflehen  könne,  die 
sich  solche  nicht  einmal  selbst  gewähren  könne  (dem.  AI. 
Admon.  ad  gent.  37).  Er  weist  es  jedoch,  vorsichtiger  als 
Theodoros,  mit  einem  witzigen  Dichterzitat  zurück,  die  Frage, 
ob  es  Götter  gibt,  in  der  Öffentlichkeit  zu  erörtern  (D.  L. 
IL  117).  Dagegen  scheint  er  seinem  Widerwillen  gegen 
das  Orakelwesen,  den  ja  auch  die  Kyniker  teilten,  ungescheut 
Ausdruck  gegeben  zu  haben  (ib.  135). 

Gegen  seinen  Lebenswandel  werden  aufser  dem  schon 
vorgekommenen  manche  Anklagen  erhoben.  Namentlich 
wird  er  der  schnödesten  Päderastie  bezichtigt  (D.  L.  IV. 
53  f.;  vergl.  48  f.).  Dafs  er  nicht  das  Leben  eines  Diogenes 
führte,  ist  unzweifelhaft,  aber  es  scheint  doch  hierbei  teil- 
weise gehässige  Nachrede  vorzuliegen.    Dies  gilt  auch  von 


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536  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc 

dem,  was  über  sein  Lebensende  berichtet  wird.  In  schwei-es 
Siechtum  verfallen,  soll  es  ihm  nach  dem  einen  Bericht  an 
der  nötigen  Pflege  gefehlt  haben,  bis  König  Antigonos  ihm 
zwei  Diener  sandte,  und  er  habe  sich  dann  in  einer  Sänfte 
hinter  dem  König  hertragen  lassen.  Während  er  sich  hier 
bis  zuletzt  in  der  Umgebung  des  Königs  befindet,  verlegt 
eine  andere  Erzählung  sein  Lebensende  nach  Chalcis  auf 
Euböa,  und  da  habe  er  denn  in  seinen  Leiden  seine  Frei- 
geisterei völlig  verleugnet,  Bufse  getan  und  durch  Amulette 
Linderung  gesucht  (D.  L.  54  f.). 

Hier  haben  wir  den  Popularphilosophen,  den  philosophi- 
schen Feuilletonisten,  dem  es  vornehmlich  darauf  ankommt, 
die  schon  geläufig  gewordenen  Gedanken  durch  neuen  Auf- 
putz zu  erhöhter  Wirksamkeit  zu  bringen. 

2.   Teles  von  Megrara. 

Wegen  der  zahlreichen  Züge,  besonders  von  den  Ky- 
nikem  und  von  Bion,  die  Teles  anführt,  ist  im  vorigen 
schon  häufig  auf  ihn  Bezug  genommen  worden.  Er  ist  ein 
schwächerer  Nachtreter  Bions  und  lebt  hauptsächlich  von 
den  Brosamen,  die  von  dessen  Tische  fallen.  Dafs  er  aus 
Megara  stammte  und  die  Vorträge,  von  denen  sieben  im 
Auszuge  erhalten  sind  (sämtlich  im  Florilegium  des  Stobäus), 
um  250  oder  240  in  seiner  Vaterstadt  vor  bildungsbedürf- 
tigen Jünglingen  gehalten  hat,  läfst  sich  mit  einiger  Wahr- 
scheinlichkeit aus  dem  Inhalt  entnehmen  (Hense,  Teletis 
reliquiae,  1889).  Sonstige  Nachrichten  über  seine  Persönlich- 
keit sind  nicht  vorhanden.  In  reichlichen  Beispielen  führt 
er  die  heroischen  Aussprüche  der  grofsen  philosophischen 
Charaktere  der  jüngsten  Vergangenheit  vor;  „Über  Scheinen 
und  Sein",  „Über  Selbstgenügsamkeit",  „Über  Verbannung" 
(Verlust  der  Heimat  kein  Unglück),  „Über  Reichtum  und 
Armut",  „Über  den  Unwert  der  Sinnenlust",  „Über  die 
Schicksalslage"  und  „Über  Gleichmut"  das  sind  die  The- 
mata der  im  Auszuge  erhaltenen  Vorträge.  Was  er  selbst 
hinzutut,  ist  recht  hausbacken.  Er  will  überhaupt  nur 
zeigen,  was  in  philosophischer  Charaktergröfse  und  Erhaben- 
heit über   das  Schicksal  geleistet  worden  ist  und  geleistet 


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V.  Plato.  537 

Verden  kann.  An  sich  selbst  und  seine  Zuhörer  stellt  er 
so  hohe  Anforderungen  nicht;  er  unterscheidet  sehr  wohl 
zwischen  dem,  was  man  sich  zumuten  könnte,  und  dem,  was 
er  gewillt  ist,  sich  selbst  zuzumuten.  So  konimt  ein  hohles 
Pathos,  ein  kindisches  Renommieren  mit  einer  möglichen 
Erhabenheit  der  Gesinnung  und  GrÖfse  des  Charakters  heraus, 
die  er  doch  selbst  zu  besitzen  nicht  einmal  beansprucht. 
Es  sind  schulmeisterliche  Deklamationen,  um  den  zuhören- 
den Knaben  ein  gewisses  moralisches  Gruseln  beizubringen 
und  ihnen  einen  Weg  zu  zeigen,  den  sie  vielleicht  einmal 
einschlagen  könnten,  wenn  Not  an  Mann  geht.  Einstweilen 
genügt  ihm  die  philosophische  Grundstimmung,  die  den  Tand 
der  Welt  theoretisch  verachtet. 

V.  Plato. 

Plato  ist  der  erste  griechische  Denker,  diössen* eigene 
Schriften  in  reicher  Fülle  erhalten  sind.  Er  steht  unter  den 
Bannerträgern  der  Weltliteratur  in  allererster  Reihe ,  und 
der  Einflufe,  den  seine  Schriften  auf  die  gesamte  Kultur- 
entwicklung  geübt  haben,  ist  geradezu  unberechenbar.  Der 
Oang  der  Kultur  ist  ohne  Kenntnis  dieser  Schriften  uu- 
verständlich.  Schon  aus  diesem  Grunde  ist  es  erforderlich, 
über  diese  Erscheinung  nicht  mit  kahlen  Allgemeinheiten 
hinwegzugehen.  Aufserdem  aber  ist  die  Verlockung  zu  Mit- 
teilungen aus  dieser  unerschöpflichen  Fundgrube  um  so 
gröfser,  je  spärlicher  sich  Reste  der  ihm  vorangelienden 
Denker  erhalten  haben. 

Bei  Plato  mufs  zwei  falschen  Vorstellungen  von  vorn- 
herein mit  aller  Entschiedenheit  entgegengetreten  werden. 
Erstens  der  Vorstellung ,  als  ob  er  im  Gegensatz  gegen  die 
„kleinen  sokratischen  Schulen"  der  eigentliche  Vollender  des 
Sokratismus  gewesen  sei.  Wie  wir  den  Gedankenkreis  des  wirk- 
lichen Sokrates  kennen  gelernt  haben,  stand  dieser  im  Dienste 
eines  auf  die  öffentlichen  Zustände  Athens  zu  seiner  Zeit 
gerichteten  Reformstrebens.  Plato  knüpft  zunächst  allerdings 
an  diese  Bestrebungen  an ;  er  übernimmt  auch  sonst  mancher- 
lei lebenskräftige  Keime  aus  der  Gedankenwelt  seines  Meisters. 
Aber  in  der  Weiterentwicklung  seines  eigenen  Denkens  über- 


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538  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

nimmt  er  von  anderen  Seiten  her  so  mancherlei  Antriebe 
und  gestaltet  das  Übernommene  in  so  neuer  und  eigenartiger 
Weise,  dafs  er  sich  im  Verlaufe  dieser  Entwicklung  von 
seinem  sokratischen  Ausgangspunkte  himmelweit  entfernt. 

Zweitens  die  Vorstellung,  als  ob  er  in  der  überwiegen- 
den Mehrheit  seiner  Schriften  ein  einheitliches,  in  sich  über- 
einstimmendes Gedankensystem  zum  Ausdruck  bringe.  Ganz 
im  Gegensatze  zu  dieser  Vorstellung  ist  Plato  von  seinen 
ersten  bis  zu  seinen  letzten  Schriften  in  einer  beständigen 
Entwicklung  und  Umgestaltung  seiner  Gedankenwelt  be- 
griffen. Er  gehört  zu  den  Phantasiedenkem,  die  sich  nicht 
in  einem  einheitlichen  Gedankenkreise  fest  und  dauernd  an- 
siedeln, sondern  sich  fortwahrend  veränderten  Interessen 
liebevoll  hingeben.  Es  gibt  allerdings  in  dem  mittleren 
Teile  seiner  schriftstellerischen  Tätigkeit  eine  Gruppe  von 
Schriften,  die  man  als  die  Urkunden  des  eigentlichen  Plato- 
nismus  im  engeren  Sinne,  des  klassischen  oder  mustergültigen 
Piatonismus,  bezeichnen  kann.  Für  diese  Gruppe  trifft  es 
auch  am  meisten  zu,  dafs  auch  Plato  noch  auf  der  Über- 
gangsstufe zur  axiologischen  Ethik  stehen  bleibt.  Um  aber 
Plato  ganz  würdigen  und  auch  diese  mittlere  Gruppe  recht 
verstehen  zu  können,  darf  man  sich  in  der  Darstellung  nicht 
auf  sie  beschränken,  sondern  mufs  das  Ganze  dieses  grofsen, 
ein  halbes  Jahrhundert  umfassenden  Entwicklungsprozesses 
nach  allen  seinen  Stufen  und  Phasen  in  Betracht  ziehen. 
Plato  kann  nicht  als  Systematiker  begriffen  und  darf  nicht 
als  Systematiker  dargestellt  werden.  Die  Darstellung  der 
fortwährenden  Umgestaltungen  seines  Denkens  ist  zugleich 
seine  eigentliche  und  wahre  Lebensbeschreibung. 

Dies  Verfahren  hat  aber  freilich  mit  einer  ganz  aurser- 
ordentlichen  Schwierigkeit  zu  kämpfen.  Es  gibt  keine 
äufseren  Zeugnisse  für  die  Abfassungszeit  und  Zeitfolge  der 
platonischen  Schriften.  Nur  in  ganz  wenigen  Fällen  bilden 
Anspielungen  auf  Zeitereignisse,  die  auch  uns  noch  bekannt 
sind,  einen  äufseren  Anhalt  für  die  Bestimmung  der  Ab- 
fassungszeit. Die  gelehrte  Forschung  hat  die  aufserordent- 
lichsten  Anstrengungen  gemacht,  um  mit  den  verschieden- 
artigsten  Mitteln    unzweifelhafte  Resultate    in    bezug    auf 


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V.   Plato.  539 

diesen  Punkt  zu  erlangen.  Die  Abfassungszeit  und  Zeit- 
folge der  platonischen  Schriften  bildet  noch  heute  den 
wesentlichen  Inhalt  der  sogenannten  „platonischen  Frage". 
Unser  exaktes  Zeitalter  hat  zur  Lösung  derselben  neben  den 
bisherigen  Versuchen  noch  ein  neues,  vermeintlich  der  Willkür 
der  subjektiven  Meinungen  und  Vorurteile  entrücktes,  ganz 
objektives  Hilfsmittel  aufgebracht.  Das  ist  die  Sprach- 
statistik. Ausgehend  von  der  Annahme,  dafs  ein  Schrift- 
steller in  gewissen  häufig  wiederkehrenden  Wörtern  und 
Wendungen  in  der  gleichen  Zeit  seines  Lebens  eine  gewisse 
Gleichförmigkeit  beobachten  werde,  hat  man  mit  einem  un- 
geheuren Aufwand  von  Fleifs  über  das  Auftreten  solcher 
häufig  wiederkehrender  Sprachelemente  in  den  verschiedenen 
Schriften  statistische  Zusammenstellungen  gemacht.  Ähn- 
lichkeit oder  Wechsel  des  Gebrauchs  sollte  über  die  zeit- 
liche Zusammengehörigkeit  oder  Nichtzusammeügehörigkeit 
der  Schriften  entscheiden.  Aber  auch  dies  scheinbar  un- 
trügliche Hilfsmittel  hat  nicht  zu  entscheidenden  Resultaten 
geführt.  Es  scheint  doch,  dafs  die  Voraussetzung  für  die  An- 
wendbarkeit dieser  Methode,  die  Gleichheit  des  Gebrauchs 
solcher  Sprachelemente  in  einer  bestimmten  Lebenszeit,  nicht 
zutreflfend  ist.  "Wenigstens  hat  die  probeweise  Anwendung 
des  Verfahrens  auf  einen  neueren  Schriftsteller,  bei  dem 
die  Abfassungszeit  der  Schriften  genau  bekannt  ist,  ein 
diese  Voraussetzung  völlig  vernichtendes  Resultat  geliefert 
(Zellers  Versuch  mit  David  Straufs,  Arch.  f.  Gesch.  der 
Philos.  11, 1Ö98).  So  bleibt  also  die  auch  an  sich  des  Gegen- 
standes allein  würdige  Lösung  der  Frage  au8  dem  Inhalt 
der  Schriften  selbst  zugleich  die  einzig  mögliche.  Wenn 
eine  bestimmte  zeitliche  Anordnung  der  Schriften  ein  inner- 
lich überzeugendes  und  zugleich  den  bekannten  äufseren 
Lebensverhältnissen  Piatos  entsprechendes  Bild  seiner  Ent^ 
Wicklung  ergibt,  so  darf  diese  Anordnung  mit  der  gröfsten 
erreichbaren  Wahrscheinlichkeit  als  die  richtige  angesehen 
werden. 

Nach  diesem  Verfahren  nun  ergeben  sich  für  die  Dar- 
stellung Piatos  folgende  Kapitel: 
1.   Plato  bis  zum  Tode  des  Sokrates  (399). 


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540  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

2.  Plato  als  Moralforscher  (399—395). 

3.  Plato  als  Bufsprediger  (394). 

4.  Hoffnungsloser  Verzicht  auf  öffentliches  Wirken.  Die 
Erkenntnisfrage.    Der  „Theätet"  (394/3). 

5.  Piatos  Reisen  (393). 

0.   Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2). 

7.  Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  durch 
die  Seelenlehre  des  Timäus.  Umarbeitung  des  ür- 
staats  (392). 

8.  Vertiefung  der  Erlösungslehre  des  Timäus.  Der  „Phä- 
drus"  (392/1). 

9.  Die  Lehrtätigkeit  in  der  Akademie  bis  zur  zweiten 
sizilischen  Reise  (ca.  390—367). 

10.  Auseinandersetzung    mit   abweichenden   Standpunkten. 
Der  „Euthydemos"  und  der  „Sophistes"  (nach  390). 

11.  Ein  Schritt  zur  Lösung  der  Frage  nach  dem  Lebens- 
ziel.   Das  „Gastmahl"  (ca.  385). 

12.  Der  Höhepunkt  des  platonischen  Denkens.    Der  „Phä- 
don"  (um  oder  nach  380). 

13.  Die   zweite  Umarbeitung   des  Staats   und  die  zweite 
und  dritte  sizilische  Reise  (368—60). 

14.  Die  Alterslehre  Piatos  (360-^47). 

15.  Der  Staat  der  Gesetze. 

1.   Plato  bis  zum  Tode  des  Sokrates  (399). 

Piatos  Lebenszeit  fällt  nach  den  wahrscheinlichsten  An- 
nahmen von  427—347.  Einem  altadligen  und  begüterten 
Hause  entsprossen,  genofs  er  in  seiner  Erziehung  alle  die 
Vorteile,  die  das  damalige  Athen  bieten  konnte,  und  alle  die 
Anregungen,  die  auch  dem  Heranwachsenden  schon  die 
Stellung  seiner  Familie  auf  den  Höhen  der  athenischen  Ge- 
sellschaft bieten  konnte.  Dafs  diese  Anregungen  sich  auch 
auf  das  philosophische  Gebiet  erstreckten,  ist  nach  dem  da- 
maligen Zustande  des  athenischen  Geisteslebens  von  vorn- 
herein anzunehmen  und  wird  z.  B.  durch  die  in  seinem 
^Protagoras"  vorliegende  lebhafte  Schilderung  des  Auftretens 
und  Gebarens  der  drei  älteren  Sophisten,  des  Prot ago res, 
Hippias  und  Prodikos,  im  Hause  des  reichen  K a  1 1  i a s , 


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V.    1.  Plato  bis  zum  Tode  Sokrates  (399).  541 

„der  für  die  Sophisten  mehr  Geld  aufgewandt  hatte  als  alle 
übrigen  (Athener)  zusammengenommen"  (Apol.  20  A),  deutlich 
erwiesen.  Da  die  Vertreibung  des  Protagoras  aus  Athen 
ins  Jahr  411  fällt,  so  müssen  diese  Schilderungen  auf 
Eindrücken  des  Fünfzehn-  bis  Sechzehnjährigen  beruhen. 
Als  eigentlichen  Lehrer  in  der  Philosophie  aber  hatte  er  in 
seiner  Erziehungszeit  nach  dem  Zeugnisse  des  Aristoteles 
(Met.  1.  6  Anf.)  den  extremen  Herakliteer  Kratylos,  dessen 
Bestreitung  jeder  Erkenntnismöglichkeit  durch  Erfahrung 
auf  Grund  der  beständigen  Wandlung  alles  Sinnenfälligen, 
wie  Aristoteles  andeutet,  einen  dauernd  wirksamen  Gärungs- 
stoff in  seine  Seele  warf. 

Fürs  erste  jedoch  glaubte  sich  Plato  zum  Dichter  be- 
rufen. Er  soll  bis  zum  Alter  von  zwanzig  Jahren,  in  welchen 
Zeitpunkt  nach  dem  Zeugnis  seines  persönlichen  Schülers 
Hermodor  (D.  L.  III.  6)  seine  Bekanntschaft  mit  Sokrates 
fällt,  zahlreiche  Dichtungen  verschiedener  Gattung,  Dithy- 
ramben, Lieder,  Tragödien,  verfafst  haben.  Eine  tragische 
Tetralogie  von  ihm  soll  sich  schon  in  der  Vorbereitung  zur 
Aufführung  befunden  haben,  als  das  Eintreten  der  Gestalt 
des  Sokrates  in  sein  Leben  allen  diesen  Bemühungen  ein 
Ziel  setzte.  Angeblich  soll  Plato,  nachdem  er  Schüler  des 
Sokrates  geworden,  seine  sämtlichen  Dichtungen  den  Flammen 
überliefert  und  dabei  einen  Vers  der  Ilias,  mit  dem  Thetis 
sich  bei  Hephästos  einführt,  um  die  neue  Waifenrüstung  des 
Achill  anfertigen  zu  lassen  (Ilias  18,  392),  in  folgender 
Weise  umgestaltet  haben: 

Tritt,  Hephästos,  herfür,  Piaton  ist  deiner  bedürftig! 
(D.  L.  III.  5;  Älian  V.  H.  IL  30.)    Jedenfalls  ist  uns  von 
seinen  Dichtungen  nichts  mit  Sicherheit  für  echt  zu  Halten- 
des erhalten. 

Der  Verkehr  mit  Sokrates  dauerte  acht  Jahre,  von 
407  bis  zu  dessen  Tode.  Nach  der  Apologie  müfste  er  bei 
der  Verurteilung  des  Meisters  gegenwärtig  gewesen  sein. 
Bei  der  Aufzählung  der  am  Todestage  des  Sokrates  an- 
wesenden Jünger  im  Phädon  (59  B)  heifst  es:  „Plato  war 
krank."  Ob  vor  Schmerz  und  Kummer?  Jedenfalls  war, 
auch  abgesehen  von  dem  Einflüsse  des  Sokrates  auf  seine 


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542  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

philosophische  Entwicklung,  die  persönliche  Anhänglichkeit 
an  diesen,  der  Zauber,  den  die  Persönlichkeit  des  Weisen 
auf  ihn  übte,  ein  überaus  mächtiger.  Das  beweist  vor  allem 
der  einzigartige  Akt  der  Huldigung,  dafs  Plato  in  fast  allen 
seinen  Dialogen  seine  eigenen  Gedanken  dem  Sokrates  in 
den  Mund  gelegt  und  dabei  mit  wahrhaft  dichterischer  Kraft 
ein  verklärtes  Bild  des  Charakters,  des  Naturells  und  der 
unnachahmlichen  Denkerweise  des  wunderbaren  Mannes  ge- 
schaffen hat,  das  diesen  in  seiner  ganzen  Eigenart  lebendig 
vor  unserem  Geiste  erstehen  läfst.  Ist  der  Gedankeninhalt 
der  platonischen  Schriften  ausnahmslos  sein  persönliches 
Eigentum,  eine  Reihe  von  Dokumenten •  seiner  stetig  fort- 
schreitenden Denkerarbeit,  so  ist  die  Einkleidung,  das 
poetische  Beiwerk  der  Dialoge  ein  immer  neuer,  sich  nie  ge- 
nugtuender Versuch,  mit  aller  ihm  zur  Verfügung  stehen- 
den dichterischen  Gestaltungskraft  die  geistvolle  und  liebens- 
würdige Denkerpersönlichkeit  des  Meisters  lebendig  vor  Augen 
zu  stellen,  Diese  Einwirkung  der  Persönlichkeit  bildet  zu- 
gleich den  ersten  Punkt  der  dauernden  Beeinflussung  Piatos 
durch  den  Verkehr  mit  Sokrates.  Er  stellt  gewissermafsen 
die  f 0  rmale  Seite  des  von  Sokrates  ihm  Überkonmienen  dar. 
Die  staunenswerte  Geschicklichkeit  des  Sokrates  in  der 
Führung  wissenschaftlicher  Untersuchungen  in  Gesprächs- 
form hat  ihm  —  ebenso  wie  den  andern  Sokratikern  —  den 
Anstofs  gegeben,  dies  Verfahren  in  der  Methode  des  eigenen 
Denkens  nachzubilden  und  in  dem  sogenannten  „Sokrates- 
gespräch"  schriftstellerisch  zu  entwickeln  und  in  die  Litera- 
tur einzuführen.  Plato  ist  der  glänzendste  Vertreter  des 
„  Sokratesgesprächs". 

Aufserdem  hat  aber  Plato  auch  den  ganzen  wesent- 
lichen Inhalt  der  Lehre  des  Sokrates  als  lebenskräftiges 
Element  seiner  philosophischen  Entwicklung  in  sich  auf- 
genommen. 

Und  zwar  hat  Sokrates  in  inhaltlicher  Beziehung  vor- 
nehmlich in  dreifacher  Richtung  dauernd  bei  ihm  nach- 
gewirkt : 

1.  Aus  der  sokratischen  Kunst  der  Begriifsbildung  er- 
wuchs ihm  im  späteren  Verlaufe  seiner  Entwicklung  seine 


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V.    2.  Plato  als  Moralforscher  (399—895).  543 

eigenartige  Lehre  vom  wahrhaft  Seienden.  Fürs  erste  jedoch 
diente  sie  ihm,  wie  bei  Sokrates  selbst,  als  logisches  Hilfs- 
mittel für  vornehmlich  ethische  Untersuchungen; 

2.  übernahm  er  den  Grundzug  der  sokratischen  Be- 
strebungen, die  Richtung  auf  Verbesserung  der  öffentlichen 
Zustände,  wenngleich  dieses  Streben  bei  ihm  von  vornherein 
neue,  von  den  sokratischen  verschiedene  Bahnen  einschlägt; 

3.  bleibt  er,  wo  es  sich  um  Gestaltung  der  eigenen 
Lebensführung  handelt,  dem  überwiegenden  Intellektualis- 
mus des  Meisters  treu,  d.  h.  der  Überzeugung ,  dafs  unser 
Tun  weit  tiberwiegend  durch  unsere  Vorstellungen  von  dem 
uns  selbst  Heilsamen  gestaltet  werden  kann  und  soll. 

2.  Plato  als  Moralforsoher  (399 — 395). 

Wie  schon  bemerkt,  begab  sich  ein  Teil  der  Schüler 
des  Sokrates,  unter  ihnen  Plato,  nach  dem  Tode  des  Meisters, 
weil  sie  sich  selbst  bedroht  glaubten,  zu  Euklid  nach  Me- 
gara.  Wie  lange  dieser  Aufenthalt  gedauert  hat,  ist  nicht 
bekannt.  Gewifs  aber  werden  sie  in  diesem  engeren  Zu- 
sammenleben sich  gemeinsam  in  Erinnerungen  an  den  Dahin- 
geschiedenen vertieft  und  den  Gedanken  des  Meisters  nach- 
gegangen sein.  So  entstanden  jene  rein  sokratischen  Dia- 
loge, wie  sie  nach  einer  wahrscheinlichen  Annahme  für  die 
Frühzeit  eines  Euklid  und  Phädon  bezeichnend  sind. 
So  entstanden  auch  bei  Plato  jene  Schriften,  die  man  als 
die  „kleinen  sokratischen  Dialoge""  zu  bezeichnen  pflegt,  und 
von  denen  für  uns  der  Protagoras,  der  kleinere 
Hippias,  derLaches,  der  Charmides  und  der  Lysis 
in  Betracht  kommen.  Ob  die  ersten  Ansätze  und  Versuche 
zu  dieser  Schriftstellerei  bei  ihm  nicht  vielleicht  schon  in 
die  Lebenszeit  des  Sokrates  fallen  ist  nicht  sicher  bekannt. 
Die  Anekdote,  dafs  Plato  seinen  Lysis  in  Gegenwart  des 
Sokrates  vorgelesen  habe  und  dieser  dann  seine  Verwunde- 
rung geäufsert  habe,  was  der  junge  Mann  alles  über  ihn 
erdichte  (D.  L.  III.  35),  ist  hierfür  nicht  beweisend.  Doch 
ist  allerdings  schwer  zu  glauben,  dafs  bei  einem  Geiste  wie 
Plato,  nachdem  er  schon  vor  dem  20.  Jahre  als  Dichter  viel- 
fach schöpferisch  aufgetreten  war,   diese   schaffende  Kraft 


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544  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

während  eines  achtjährigen  Zeitraums  bis  zu  seinem  28.  Jahre 
völlig  brachgelegen  haben  sollte.  Andernteils  katin  aber 
auch  nicht  behauptet  werden,  dafs  diese  ganze  Schriften- 
gruppe gerade  in  Megara  und  nicht  vielmehr  auch  teilweise 
nach  erfolgter  Rückkehr  nach  Athen  verfafst  worden  sei. 

Jedenfalls  ist  Plato  in  diesen  Dialogen  nicht  einfacher 
Nachtreter  des  Sokrates.  Ausgehend  von  dem  sokratischen 
Gedanken,  dafs  das  Heil  des  Staates  auf  der  Tüchtigkeit 
der  leitenden  Persönlichkeiten  beruht,  fafst  er  ganz  aus- 
schliefslich  die  eine  Seite  dieser  Tüchtigkeit,  die  sittlichen 
Eigenschaften,  ins  Auge.  Er  wird  Moralist.  Sokrates  nun 
hatte  femer  diese  sittlichen  Eigenschaften  aus  ihrer  Not- 
wendigkeit für  die  echte  Regierungskunst  abgeleitet  und 
auch  den  Antrieb  zu  ihrer  Betätigung  aus  dem  Bedürfnis 
der  wahrhaft  Tüchtigen,  selbst  an  der  Spitze  zu  stehen,  ent- 
wickelt. Plato  übernimmt  den  Gedanken,  dafs  man  die 
Tugenden  nicht  blofs  in  herkömmlicher  Weise  nebeneinander- 
stellen dürfe,  sondern  dafs  hier  eine  Ableitung  aus  einem 
einheitlichen  Prinzip  stattfinden  müsse,  sowie  auch  den  Ge- 
danken, dafs  das  wahre  eigene  Interesse  zu  ihrer  Ausübung 
führen  müsse.  Aber  er  löst  beide  Gedanken  aus  der  engen 
Bezugnahme  zum  Staatsleben;  er  will  das  Sittliche  aus  der 
Abhängigkeit,  in  der  es  bei  Sokrates  noch  stand,  loslösen, 
es  verselbständigen  und  ganz  auf  sich  selbst  stellen.  Es 
handelt  sich  auch  bei  ihm  um  eine  Ethik  für  Staatslenker, 
aber  es  soll  zum  ersten  Male  eine  Ethik  sein,  die  ganz  auf 
eigenen  Füfsen  steht.  Diesen  beiden  Forderungen  wäre  ent- 
sprochen, wenn  ein  einheitliches  Gut  von  überragendem 
Werte  nachgewiesen  werden  könnte,  dessen  Verwirklichung 
durch  die  ebenfalls  einheitliche  Tugend  einträte.  Liefse  sich 
ein  solches  Gut  nachweisen,  so  wären  damit  die  beiden 
Probleme,  das  Problem  der  intellektuellen  Triebfeder  zur 
Tugend  und  das  der  Einheit  der  Tugend,  in  einem  gelöst 
und  zugleich  die  Yerselbständigung  der  Ethik  zu  Stande 
gebracht.  Die  „kleinen  sokratischen  Dialoge"  stellen  die 
noch  erfolglosen  Versuche  Piatos  an  diesem  Probleme,  gleich- 
sam seine  noch  vergeblichen  Entdeckungsreisen  nach  einer 
wissenschaftlichen  Ethik  dar.    Als  Jugendwerke  charakteri- 


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V.    2.  Plato  als  Moralforscher  (399—895).  545 

sieren  sie  sich  durch  diese  Erfolglosigkeit,  die  durchaus 
nicht,  wie  vielfach  angenommen  wird,  eine  blofs  gemachte, 
scheinbare,  die  wirklich  gewonnenen  Resultate  künstlich 
wieder  versteckende,  sondern  eine  ganz  echte  und  natur- 
wüchsige ist.  Neue  philosophische  Gedanken  kommen  immer 
nur  unter  schweren  Geburtswehen,  in  langsamer  Entwick- 
lung und  meist  zunächst  in  verkümmerter  Ausdrucksform 
zutage.  Ferner  aber  auch  durch  eine  noch  vielfach  her- 
vortretende Ungelenkigkeit  in  der  Gedankenführung.  An- 
demteils  aber  tritt  in  ihnen  in  der  reichen  dramatischen, 
manchmal  fast  novellenhaften  Szenerie,  der  den  Gedanken- 
kem  fast  überwuchernden  szenischen  Einkleidung  der  Dichter 
Plato  zutage,  der  uns  reizvolle  Genrebilder  aus  dem  Leben 
und  Treiben  des  sokratischen  Kreises  vor  die  Seele  zaubert. 

Das  vollständige  Programm  für  diese  Untersuchungen 
bietet  der  „Protagoras".  Dieser  Dialog  nimmt  seinen 
Ausgangspunkt  ausdrücklich  von  dem  Verlangen  eines  Jüng- 
lings aus  guter  Familie,  zu  Staatsgeschäften  tüchtig  zu 
werden  (316  C),  und  auch  der  Sophist  bezeichnet  die  Tüchtig- 
machung  in  der  Staatskunst  als  das  Ziel  seines  Unterrichts 
(318  E  f.).  Es  wird  aber  von  diesem  allgemeineren  Gebiet 
—  und  das  ist  für  die  Denkrichtung  des  jungen  Plato  cha- 
rakteristisch —  ohne  besondere  Begründung  auf  das  engere 
Teilgebiet  der  sittlichen  Tugend  übergegangen  (320  B)  und 
die  Frage  aufgeworfen,  ob  diese  überhaupt  durch  Unterricht 
beigebracht  werden  könne,  ob  die  Tugend  lehrbar  sei.  Prot- 
agoras  glaubt  dies  durch  die  früher  schon  wiedergegebene 
Fabel  vom  Menschengeschlecht  erweisen  zu  können.  Auf 
Grund  einer  sittlichen  Naturausstattung  und  der  Ausbildung 
derselben  durch  Gewöhnung  von  Jugend  auf  wird  der  Mensch 
zu  den  sittlichen  Eigenschaften  herangebildet  (320  D  if.). 
Die  hervorragendsten  Meister  in  dieser  Kunst  der  sittlichen 
Ausbildung  sind  die  Sophisten  (328  B). 

Diese  vage  Fassung  der  Lehrbarkeit  der  Tugend  ent- 
spricht aber  nicht  der  Meinung  Piatos.  Ihm  ist  die  Tugend 
nur  dann  lehrbar,  wenn  bei  ihrem  Zustandekommen  die 
Vernunfttätigkeit,  die  Erkenntnis  ihres  unbedingten  Wertes 
für  uns  selbst,  das  ausschlaggebende  ist.    Nur  dann  kann 

Döring.    I.  35 

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546  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Tugend  im  eigentlichen  Sinne  gelehrt,  d.  h.  Verstandes- 
mäfsig  andemonstriert  werden,  wenn  ihr  Wert  für  den  Be- 
sitzer dem  Zögling  vollkommen  deutlich  und  einleuchtend 
gemacht  werden  kann.  Damit  dies  aber  möglich,  mufs  sie 
etwas  Einheitliches  sein.  Wäre  sie  nur  ein  Gattungsbegriff 
für  eine  Mannigfaltigkeit  verschiedener  Eigenschaften,  so 
könnte  ein  einheitlicher  Beweis  für  den  Wert  der  Tugend 
nicht  geführt  werden.  Der  Beweis  würde  in  eine  gröfsere 
Zahl  verschiedener  Beweisgänge  für  die  einzelnen  Sonder- 
tugenden auseinanderfallen.  Die  Lehrbarkeit  der  Tugend 
als  solcher  steht  und  fällt  mit  der  Ableitbarkeit  der  Einzel- 
tugenden aus  einem  einheitlichen  Prinzip.  Die  beiden  Plato 
beschäftigenden  Probleme  fallen  ihm  in  eins  zusammen.  Des- 
halb läfst  er  seinen  Sokrates,  um  zur  wahrhaften  Lehr- 
barkeit der  Tugend  vorzudringen,  den  Umweg  über  die 
Frage  der  Einheit  wählen,  und  er  läfst  Protagoras  im  rich- 
tigen Gefühl  für  den  Zusammenhang  der  beiden  Fragen  sich 
in  jeder  möglichen  Weise  gegen  das  Zugeständnis  der  Ein- 
heit sträuben. 

Plato  hat  jedoch  nur  durch  dies  Sichsträuben  den  Zu- 
sammenhang der  Einheitlichkeit  der  Tugenden  mit  der  Ver- 
nunftbegründung markiert.  Eine  deutliche  Begründung 
dieses  Zusammenhanges  gibt  er  nicht.  In  dieser  das  Ver- 
ständnis erschwerenden  Unzulänglichkeit  der  Darstellung 
zeigt  sich  der  Anfänger.  Endlich  gibt  Protagoras  zu,  dafs 
von  den  fünf  von  Sokrates  aufgezählten  Haupttugenden: 
Weisheit,  Besonnenheit,  Tapferkeit,  Gerechtigkeit,  Frömmig- 
keit, vier  in  einem  nahen  Verwandtschaftsverhältnis  ständen ; 
für  die  Tapferkeit  aber  glaubt  er  noch  eine  Sonderstellung 
retten  zu  können,  da  sie  als  Temperamentstugend  sehr  wohl 
auch  ohne  die  übrigen  Tugenden  vorkommen  könne  (349  B  ff.). 

Es  fällt  hier  zunächst  auf,  dafs  die  aufgezählte  Tugend- 
reihe mit  dem  sokratischen  Tugendsystem  nur  teilweise 
zusammenstimmt.  Bei  Sokrates  nehmen  Besonnenheit  (So- 
phrosyne)  und  Weisheit  eine  Sonderstellung  ein.  Diese 
tritt  hier  nicht  hervor.  Und  von  den  sokratischen  Spezial- 
tugenden  ist  die  Enthaltsamkeit  unerwähnt  geblieben.  In 
welcher  Art  sich  ferner  Plato  den  inneren  Zusammenhang 


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V.    2.   Plato  als  Moralforscher  (399—395).  547 

dieser  fünf  Tugenden  denkt,  und  in  welchem  Sinne  er  von 
Protagoras  für  die  vier  mit  Ausnahme  der  Tapferkeit  zu- 
gegeben wird,  kommt  nicht  zum  Ausdruck.  Doch  zeigt  sich 
auch  hier  wieder  an  der  Beflissenheit,  mit  der  Protagoras 
wenigstens  für  die  Tapferkeit  eine  Sonderstellung  in  An- 
spruch nimmt,  dafs  er  den  Zusammenhang  der  Getrenntheit 
der  Tugenden  mit  dem,  was  e  r  unter  Lehrbarkeit  versteht, 
und  den  Zusammenhang  der  Einheitlichkeit  mit  der  eigent- 
lichen und  wahren  Lehrbarkeit  bestimmt  durchfühlt.  Er 
gibt  tatsächlich  für  die  vier  Tugenden  schon  hier  zu,  dafs 
sie  in  Erkenntnis  der  mit  ihrer  Ausübung  verbundenen  Vor- 
teile bestehen. 

Es  wird  nun  der  Beweis  versucht,  dafs  auch  die  Tapfer- 
keit eine  ebensolche  Erkenntnis  ist.  Und  zwar  in  folgender 
Weise.  Es  wird  mit  dem  gröfsten  Nachdruck  betont,  dafs 
der  stärkste,  entscheidende  Beweggrund  für  unser  Tun  und 
Lassen  die  Erkenntnis  des  eigenen  Vorteils  ist.  Diese  Er- 
kenntnis ist  nicht  ein  Sklave,  den  man  nach  Belieben  so 
oder  so  leiten  kann.  Sie  ist  unbezwingbar  (352  B).  Prot- 
agoras selbst  gibt  zu,  dafs  es  schmählich  wäre,  zu  behaupten, 
die  Erkenntnis  wäre  nicht  das  Stärkste  in  der  Welt.  Unter 
dieser  Voraussetzung  wird  nun  auch  für  die  Tapferkeit  der 
Beweis  angetreten,  dafs  sie  intellektuell,  ein  Erkenntnis- 
produkt ist. 

Der  letzte  Vorteil  ist  die  Lust,  der  letzte  Nachteil  die 
Unlust,  beides  natürlich  nicht  im  Sinne  der  Sinnenlust, 
sondern  in  der  umfassenden  Bedeutung  dieser  beiden  Ge- 
fühlszustände  überhaupt.  Lust  und  Unlust  sind  das  letzte 
Gut  und  Übel  (355  A).  Unter  Lust  darf  aber  nicht  die 
blofs  augenblickliche  Lust  verstanden  werden,  auch  wenn 
sie  in  ihren  Folgen  gröfsere  Unlust  bewirkt  oder  gröfsere 
Lust  raubt.  Ebenso  unter  Unlust  nicht  die  augenblickliche 
Unlust,  auch  wenn  sie  in  ihren  Folgen  uns  gröfsere  Lust 
bereitet  oder  uns  von  gröfserer  Unlust  befreit.  Es  wird 
hier  nicht  nur  für  jede  der  beiden  Gefühlsarten,  für  sich, 
sondern  auch  für  beide  gemeinsam  ein  einheitlicher  Mafs- 
stab  verausgesetzt.  Die  hier  in  Betracht  kommende  Er- 
kenntnis wird  als  ein  Messen  und  Zählen  geradezu  den  mathe- 

35* 


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548  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

matischen  Wissenschaften  gleichgesetzt.  Der  Gewinn  des 
gröfstmöglichen  Lustertrags  wird  geradezu  als  das  Ziel 
alles  Strebens  hingestellt.  Es  bereitet  sich  hier  geradezu 
schon  der  Sprachgebrauch  der  späteren  Philosophie  in  der 
Anwendung  des  Ausdrucks  „Lebensziel"  (t61os)  vor  (354  C  flF.). 
Dieser  Ausdruck  tritt  uns  hier  zum  ersten  Male  als  un- 
zweifelhaft von  dem  betreifenden  Denker  selbst  gebraucht 
entgegen. 

Folgt  nun  jemand  unter  Nichtbeachtung  der  später  sich 
einstellenden  Nachteile  der  Augenblickslust ,  so  ist  dies  Un- 
wissenheit (357  D),  Mangel  an  Erkenntnis.  Diese  Unwissen- 
heit besteht  darin,  dafs  ihm  das  zeitlich  Fernere  kleiner  er- 
scheint. 

Nun  folgt  die  Anwendung  auf  die  Tapferkeit.  Liegt 
das  Übel  in  der  Zukunft,  so  wird  es  gefürchtet.  Mit  diesem 
erst  drohenden  Übel  hat  es  die  Tapferheit  zu  tun.  Tapfer- 
keit ist  die  richtige  Erkenntnis,  ob  etwas  zu  fürchten  oder 
nicht  zu  fürchten  ist,  Feigheit  die  Unwissenheit  in  beiderlei 
Beziehungen.  So  ist  also  die  Tapferkeit  ebenso  wie  die 
übrigen  vier  Tugenden  eine  Erkenntnisart  (361  B). 

Der  Beweis  ist  unvollständig.  Zur  Tapferkeit  wird 
z.  B.  ausdrücklich  die  Preisgebung  des  eigenen  Lebens  ge- 
rechnet (359  E).  Es  fehlt  aber  durchaus  der  Nachweis,  dafs 
damit  die  höchste  und  dauerndste  Lustwirkung  verbunden 
ist.  Und  vollends  fehlt  für  die  übrigen  Tugenden  dieser 
Nachweis  vollständig.  Es  wird  ohne  Beweis  das  dem 
eigenen  Vorteil  zuwiderlaufende  Handeln  mit  der  sittlichen 
Verkehrtheit  gleichgesetzt  und  umgekehrt  (358  D).  Erwiesen 
ist  nur,  dafs,  wenn  bei  einer  durch  Erkenntnis  geleiteten 
Lebensführung  das  sittliche  Verhalten  sich  als  das  den 
gröfsten  Lustertrag  bringende  herausstellt,  die  Entschei- 
dung zu  seinen  Gunsten  ausfallen  wird.  Hier  zeigt  sich 
die  im  Denken  Piatos  noch  vorhandene  Lücke:  er  hat  den 
Begriflf  noch  nicht  gefunden,  der  zugleich  den  Einheitspunkt 
der  sittlichen  Tugenden  und  den  Bestimmungsgrund  zur 
Entscheidung  für  dieselben  ausdrückt.  Die  Tugend  ist  nur 
bedingt  als  lehrbar  erwiesen,  wenn  sie  nämlich  in  der 
Tat,  was  hier  nur  behauptet  wird,  den  höchsten  Lustertrag 


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V.    2/  Plato  als  Moralforscher  (899—395).  549 

gewährt.  Jedenfalls  aber  stellt  sich  Plato  im  Protagoras 
der  Intention  nach  in  ganz  ausschliefslicher  Weise  auf 
den  Boden  des  sokratischen  Intellektualismus.  Er  vertritt 
viel  entschiedener  und  ausschliefslicher  als  Sokrates  selbst 
das  Prinzip  der  Lehrbarkeit  der  Tugend* 

Der  ^kleinere  Hippias"  (so  genannt,  weil  es  unter 
den  Plato  beigelegten  Schriften  auch  einen  gröfseren  Hippias 
gibt,  dessen  platonischer  Ursprung  aber  zweifelhaft  ist)  be- 
handelt die  auf  dem  Standpunkt  der  Vernunftleitung  des 
Handelns  entspringende  absonderliche  Konsequenz,  die  Para- 
doxie  des  ethischen  Intellektualismus.  Diese  besteht  darin, 
dafs  der  bei  voller  Erkenntnis  des  Richtigen  (dem  eigenen 
Vorteil  Entsprechenden)  absichtlich  verkehrt  Handelnde  höher 
steht  als  der  beim  Fehlen  dieser  Erkenntnis  unabsichtlich,  aus 
Unwissenheit,  verkehrt  Handelnde.  Dies  ist  in  Wirklichkeit 
auf  diesem  Standpunkt  gar  kein  Problem,  da  es  nach  den  schon 
im  Protagoras  gemachten  Voraussetzungen  unmöglich  ist, 
der  klaren  Erkenntnis  des  eigenen  Vorteils  zuwiderzuhandeln. 
In  der  Tat  wird  denn  auch,  wenngleich  in  ganz. versteckter 
Weise,  in  zwei  Worten  am  Ende  angedeutet,  dafs  die  ganze 
Frage  nach  den  eigenen  Voraussetzungen  Piatos  jeder  prak- 
tischen Bedeutung  entbehrt.  Es  heifst  da,  der  absichtlich 
schlecht  Handelnde,  wenn  es  einen  solchen  gebe,  sei 
der  Bessere  (376  B).  Nur  dadurch  wird  die  Paradoxie  über- 
haupt möglich,  dafs  bei  der  Betonung  der  Erkenntnis  ver- 
schwiegen wird,  dafs  damit  die  Erkenntnis  des  eigenen  Nutzens 
gemeint  ist. 

Der  „Lachos"  beschäftigt  sich  noch  eingehender  als 
der  Protagoras  mit  dem  Begriif  der  Tapferkeit.  Auch  hier 
wird  diese  Tugend  in  die  Erkenntnis  gesetzt,  ob  das  im 
äufseren  Leben  oder  auch  in  unseren  eigenen  Begehrungen 
(191  E)  uns  bedrohlich  Entgegentretende  unser  wahres 
Wohlsein  bedroht  und  also  ein  w  i  r  k  1  i  c  h  e  s  Übel  ist  (198  B). 
Wo  dies  nicht  zutriift,  da  ist  nichts  zu  fürchten,  da  hat  die 
Tapferkeit  ihren  Platz.  Es  wird  dann  die  Tugend  überhaupt 
auch  hier  in  die  Erkenntnis  des  durch  das  betrefifende 
Handeln  zu  erwerbenden  Gutes  oder  zu  vermeidenden  Übels 
gesetzt  (198  D  f.).    So  geht  auch  hier  mit  dem  Intellektua- 


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550  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

li^mus  des  Handelns  das  Streben  nach  Vereinheitlichung 
der  Tugend  Hand  in  Hand  (199  E).  Es  bedarf  nicht  einer 
besonderen  Sophrosyne ,  Gerechtigkeit  oder  Frömmigkeit, 
denn  Tugend  ist  das  Wissen  von  den  wahren  Gütern  und 
Übeln  (199  D).  Freilich  weifs  auch  hier  Plato  die  Haupt- 
sache noch  nicht  anzugeben,  worin  nämlich  das  wahrhaft 
Gute  und  Üble  besteht,  und  deshalb  erklärt  sich  auch  sein 
Sokrates  einstweilen  noch  für  untauglich  zum  Lehren;  er 
mufs  erst  selbst  noch  lernen  (200  E).  Dieser  Sokrates  ist 
niemand  anders  als  Plato  selbst.  Er  hat  den  Einheits* 
punkt  der  sittlichen  Eigenschaften,  in  dem  zugleich  der  B&- 
Stimmungsgrund  des  Strebens  nach  ihnen  liegt,  noch  nicht 
entdeckt.  Direkt  irreleitend  aber  ist  es,  wenn  die  Tapfer- 
keit geradezu  zur  Tugend  überhaupt  erweitert  wird,  indem 
der  Unterschied  in  der  Zeitlage  der  Güter  und  Übel,  ob 
sie  in  Vergangenheit  und  Gegenwart  schon  wirklich  ge- 
worden oder  als  erst  bevorstehend  der  Zukunft  angehören, 
für  gleichgültig  erklärt  wird  (199  C). 

Im  „Charmides**,  dessen  platonischer  Ursprung 
übrigens  bestritten  ist,  wird  die  gleiche  Vorstellungsweise 
auf  die  Tugend  der  Sophrosyne  angewandt.  Nebenher  be- 
merkt, ist  hier,  wie  im  Laches,  der  sokratische  BegriflF  der 
Sophrosyne  als  der  allgemeinen  sittlichen  Willensrichtung, 
einerlei,  ob  sie  aus  Erkenntnis  entspringt,  aufgegeben.  Dieses 
schwankende  und  unbestimmte  Wort  scheint  hier,  wie  im 
Laches,  eine  der  Spezialtugenden  zu  bezeichnen. 

Auch  hier  nun  wird  als  das  für  die  menschliche  Glück- 
seligkeit Entscheidende  die  Erkenntnis  der  wahren  Güter 
und  Übel  bezeichnet  (173  D  if.).  Ob  die  Sophrosyne  mit 
dieser  Erkenntnis  einerlei  sei,  wird  in  Zweifel  gelassen. 
Jedenfalls  müsse  sie  als  ein  wertvolles  Gut  betrachtet  werden. 
Auch  hier  betont  Plato  durch  den  Mund  seines  Sokrates  die 
Unzulänglichkeit  seines  eigenen  Denkens  (175  E).  Und  in 
der  Tat  findet  auch  hier  nicht  nur  die  Frage  nach  dem 
Wesen  der  Sophrosyne  und  ihrem  Verhältnis  zu  den  übrigen 
Tugenden  keine  Lösung,  sondern  auch  auf  die  Frage  der 
Fragen,  die  Frage,  worin  denn  eigentlich  die  wahren  Güter 


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V.    2.   Plato  als  Moralforscher  (399—395).  551 

und  Übel  bestehen,  wird  eine  Antwort  zu  geben  noch  nicht 
einmal  versucht  (174  D). 

Einen  ganz  kleinen  Schritt  in  der  Richtung  auf  Beant- 
wortung dieser  Grundfrage  tut  der  „Lysis**.  Freilich  bildet 
hier  nicht  die  Wesensbestimmung  der  Tugenden  oder  die 
Frage  nach  ihrem  Zustandekommen  den  Ausgangspunkt. 
Es  handelt  sich  um  das  Wesen  der  Freundschaft.  Diese 
wird  begehrt  auf  Grund  eines  eigenen  Mangels  und  Bedürf- 
nisses. Das  Streben  nach  Freundschaft  ist  nur  ein  Sonder- 
fall des  auf  das  »Gute*,  d.  h.  auf  die  zu  unserem  Wohlsein 
erforderlichen  Güter,  gerichteten  Begehrens  (218).  Diese 
Güter  aber  bilden  eine  Stufenfolge.  Manche  sind  nur  Güter 
um  eines  anderen  Begehrenswerten  willen,  zu  dessen  Er- 
reichung sie  als  Hilfsmittel  dienen  (219).  Es  mufs  ein 
wesentlich  Begehrenswertes  geben,  das  nicht  um  eines  andern 
willen  begehrt  wird  (220  A  B).  Dies  wird  dann  als  das 
der  Natur  Angemessene  (oikelon)  bezeichnet  (221  E  f.). 
Welches  aber  dieses  der  Natur  angemessene  Gut  sei,  wird 
nicht  zu  bestimmen  versucht,  und  so  verläuft  denn  auch  die 
Frage  nach  dem  Wesen  der  Freundschaft  mit  dem  diesen 
Dialogen  eigentümlichen  Eingeständnis  des  eigenen  Un- 
vermögens (223  B)  im  Sande. 

Plato  ist  schliefslich  über  die  Frage  des  begehrens- 
wertesten Gutes,  aus  dessen  Verfolgung  die  Tugend  ent- 
springt, ins  klare  gekommen.  Die  von  ihm  gewonnene  Ein- 
sicht über  diesen  Punkt  bildet  einen  der  wichtigsten  Aus- 
gangspunkte seiner  weiteren  philosophischen  Entwicklung. 
Er  hat  aber  die  Art,  wie  er  zu  dieser  neuen  Erkenntnis 
gelangt  ist,  nicht  in  einer  besonderen  Schrift  dargelegt.  Nur 
der  neugewonnene  Gedanke  selbst  tritt  uns  in  denjenigen 
Schriften  entgegen,  in  denen  er  ihn  missionierend  ver- 
wertet, als  Moralprediger  zum  Heile  des  Staates,  in  dem 
Sinne,  in  dem  er  das  Werk  des  Sokrates  fortzuführen  be- 
müht war.  Aus  den  hierhergehörigen  Schriften,  der  Apo- 
logie, dem  Kriton  und  dem  Gorgias,  müssen  wir  das  schliefs- 
lich gewonnene  Resultat  seiner  Moralforschung  entnehmen. 

In  der  Apologie  nun  wird  als  das  über  alles  zu  Er- 
strebende die  normale  Beschaffenheit  der  Seele  be- 


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552  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sok ratisch.  Schulen  et<r. 

zeichnet  (29  E,  30  B).  Und  in  welchem  Sinne  dies  gemeint, 
das  zeigt  schon  die  kurz  darauf  folgende  Bemerkung,  dafs 
die  Ungerechtigkeit  das  gröfste  Übel  ist  (300). 

Und  im  „Kriton"  entscheidet  sich  Sokrates  wider  die 
Flucht  aus  dem  Gefängnis,  weil  durch  Ungerechtigkeit  die 
Seele  zerrüttet,  durch  Gerechtigkeit  ihr  Gedeihen  ge- 
bracht wird.  Wenn  schon  mit  einem  zerrütteten  Körper 
das  Leben  nicht  lebenswert  ist,  wie  viel  weniger  mit  einer 
zerrütteten  Seele!  (47  E.) 

In  sehr  viel  nachdrücklicherer  und  entschiedenerer  Weise 
aber  kommt  die  neue  Erkenntnis  im  „Gorgias**  zum  Aus- 
druck. Hier  ist  die  neue  Überzeugung  zu  ihrer  vollen  Be- 
deutung für  die  Moralbegründung  emporgewachsen.  Hier 
wird  der  Ungerechte  in  jedem  Falle  für  unselig  erklärt,  un- 
seliger, wenn  er  ungestraft  bleibt.  Denn  die  Strafe  ist  das 
Heilmittel  der  Ungerechtigkeit,  die  eine  schlimme  seelische 
Krankheit  ist,  schlimmer  als  Armut  oder  körperliches  Leiden. 
Die  Laster  sind  die  Übel  der  Seele.  Der  Verderb  der  Seele 
ist  das  schlimmste  der  Übel.  Da  durch  die  Strafe  der  Zu- 
stand der  Seele  gebessert  wird,  so  sollte  man,  wenn  man 
unrecht  getan  hat,  sich  so  schnell  als  möglich  dies  Heil- 
mittel beschaffen,  wie  man  bei  körperlichen  Leiden  eiligst 
zum  Arzte  geht.  Wenn  es  nicht  ungerecht  wäre,  auch  dem 
Feinde  unrecht  zu  tun,  so  müfste  man  dem  Feinde  zur 
Straffreiheit  behilflich  sein  (472—81).  Unrecht  tun  ist  ein 
schlimmeres  Übel  als  Unrecht  leiden  (580  D).  Nicht  nur  der 
flüchtige  Sinnengenufs,  sondern  auch  das  dauernd  dem  leib- 
lichen Leben  Nützliche  ist  ohne  Bedeutung  im  Vergleich 
mit  dem  hohen  Gute  eines  normalen  Seelenzustandes.  Das 
Leben  des  an  der  Seele  Kranken  ist  ein  elendes ;  ihm  wäre 
es  besser,  nicht  zu  leben  (512).  Die  Normalität  der  Seele 
besteht  in  einem  geordneten  Zustande,  in  der  Sophrosyne, 
die  hier  wie  bei  Sokrates  als  der  Inbegriff  der  Tugend  er- 
scheint. Unbesonnenheit  und  Zügellosigkeit,  das  Gegenteil 
der  Sophrosyne,  ist  Abnormität  der  Seele.  Die  Sophrosyne 
besteht  in  dem  gebührenden  Verhalten  gegen  Götter  und 
Menschen,  in  Frömmigkeit  und  Gerechtigkeit.  Femer  aber 
auch  in  dem  richtigen  Verhalten  zu  dem,  was  man  erstreben 


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V.    2.  Plato  als  Moralforscher  (399-395).  553 

und  meiden  mufs,  zu  Lust  und  Schmerz.  Das  ist  aber  Sache 
der  Tapferkeit  (507).  Hier  steckt  in  der  Tapferkeit  auch 
die  vierte  der  sokratischen  Spezialtugenden,  die  Enthaltsam- 
keit, und  so  wird  aus  der  Sophrosyne  als  der  Normalität 
der  Seele  das  ganze  sokratische  Tugendsystem  abgeleitet. 
Deshalb  ist  auch  von  den  „Weisen"  (den  Pythagoreern)  das 
All  ein  Kosmos  genannt  worden,  ein  Geordnetes,  in  dem 
nicht  Unordnung  und  Zügellosigkeit  herrscht  (508  A).  Wir 
befinden  uns  hier  im  Mittelpunkte  des  vollausgestalteten 
platonischen  Moralismus,  der  in  der  Apologie  und  im  Kriton 
nur  erst  in  einzelnen  Andeutungen  zutage  trat.  Jetzt 
erst  erscheint  daher  der  aus  dem  reinen  Intellektualismus 
folgende  Satz,  dafs  niemand  absichtlich  unrecht  tut,  sondern 
nur  aus  Unwissenheit  und  Irrtum,  mit  stichhaltiger  Be- 
gründung. An  der  Seelenvollkommenheit  als  dem  höchsten 
Gute  hat  er  diese  jetzt  gefunden.  Das  Böse  ist  Unkenntnis 
des  wahren  Heiles  (509  C  ff.). 

Mit  dieser  Lösung  nun  hat  der  griechische  Moralismus 
und  die  antike  Ethik  überhaupt  eine  Richtung  eingeschlagen, 
die  von  da  ab  die  eigentümliche  Einseitigkeit  der  antiken 
Sittenlehre  ausmacht.  Das  Sittliche  wird  nicht  angesehen 
als  das  der  Gesamtheit  zu  gute  Kommende,  als  eine  An- 
gelegenheit des  Staats  und  der  Gesellschaft,  wie  es  doch 
bei  einem  Protagoras  und  Sokrates  der  Fall  war, 
sondern  als  die  Vervollkommnung  des  eigenen  Wesens,  als 
Vollendung  der  Persönlichkeit,  als  höchste  Entwicklung  des 
Individuums  selbst. 

Eine  gewaltige  Wertverstärkung  erhält  aber  ferner  im 
Gorgias  das  Gut  der  Seelenvollkommenheit  durch  die  Folgen, 
die  sich  im  Jenseits  daran  anknüpfen.  In  der  Apologie  und 
im  Kriton  herrschte  in  dieser  Beziehung  teils  Anschlufs  an 
die  Volksvorstellungen  vom  Jenseits,  teils  Zweifel,  ob  es  über- 
haupt ein  Fortleben  gebe.  Im  Gorgias  aber  finden  sich 
schon  an  früherer  Stelle  Anklänge  an  einen  andersartigen 
Jenseitsglauben.  Ein  Vers  des  Euripides  wird  zitiert,  nach 
dem  vielleicht  das  Leben  in  Wahrheit  Tod  und  der  Tod  das 
wahre  Leben  ist,  und  von  einem  „weisen  Mann"  hat  Sokrates 
gehört,  dafs  wir  jetzt  tot  sind  und  unsere  Leiber  Gräber 


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554  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe,  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

(Anspielung  auf  die  auch  von  Pythagoras  übernommene 
Lehre  der  Orphiker  vom  körperlichen  Leben  als  einem  Fall 
der  Seele.  Die  Zusammenstellung  von  Leib  [söma]  und 
Grab  [seraa]  bildet  im  Griechischen  ein  Wortspiel).  Und 
so  noch  Ähnliches  (492  E  f.).  lu  nachdrücklichster  Verbin- 
dung mit  der  Seelengesundheit  aber  tritt  diese  Jenseitslehre 
am  Schlüsse  auf.  Nach  uraltem  Rechte  kommt  der  Fronmie 
und  Gerechte  nach  den  Inseln  der  Seligen,  der  Gottlose 
und  Ungerechte  in  den  Tartarus.  Nach  einer  alten  Sage 
fielen  jedoch  in  älterer  Zeit  die  Urteile  der  Totenrichter  oft 
unrichtig  aus,  denn  die  Richtenden  erschienen  vor  ihnen 
noch  bekleidet  mit  dem  Leibe  und  begünstigt  durch  Gebart 
und  Reichtum,  sowie  durch  Zeugen,  die  zu  ihren  Gunsten 
aussagten.  Auch  die  Richter  selbst  waren  im  Leibe  und 
daher  der  Täuschung  durch  den  Sinnenschein  unterworfen. 
Dies  wurde  dann  später  abgestellt.  Seele  gegen  Seele  sollte 
das  Gericht  stattfinden.  Da  fallen  dann  alle  diese  Schein- 
vorzüge weg.  Der  Richter  weifs  nicht,  mit  wem  er  es  zu 
tun  hat,  ob  vielleicht  mit  dem  Perserkönig  oder  sonst  einem 
mächtigen  Herrscher.  Er  sieht  nur  die  Mi fsg estalt  der 
Seele,  in  die  jedes  frevelhafte  Tun  in  Striemen  und  Narben 
seine  Spuren  eingezeichnet  hat.  Jetzt  ist  es  möglich,  die 
Unverbesserlichen  als  warnendes  Exempel  ewiger  Qual  zu 
überweisen,  die  Verbesserlichen  aber  der  nachträglichen, 
heilenden  Strafe,  die  nur  zeitlich  ist.  Den  Inseln  der  Seligen 
aber  werden  jetzt  nur  die  wahrhaft  normalen  Seelen  zu- 
gewiesen. Nur  selten  kommt  vor  die  Totenrichter  eine 
Seele,  die  fromm  und  wahrhaft  gelebt  hat,  die  Seele  eines 
schlichten  Mannes  ohne  Macht  im  Staate,  häufiger  die  Seele 
eines  Philosophen,  der  der  wahren  Lebensaufgabe  nach- 
gegangen ist.  Solchen  Seelen  wird  dann  der  glückliche 
Wohnsitz  angewiesen.  Sokrates  versichert,  er  sei  von  der 
Wahrheit  dieser  Sagen  überzeugt  und  strebe  darnach,  der- 
einst seine  Seele  so  gesund  als  möglich  zu  zeigen  (522  E  ff.). 
Diese  Jenseitslehre  ist  mit  einer  Anzahl  von  Einzel- 
zügen ausgestattet,  die  sie  als  Bestandteil  eines  gröfseren 
Ganzen,  einer  Art  von  antiker  „göttlicher  Komödie"  kenn- 
zeichnen, deren  Gesamtplan  sich  erst  in  einigen   späteren 


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V.    2.  Plato  als  Moralforscher  (899—395).  555 

Dialogen  Piatos,  im  Phädrus,  im  Phädon  und  im  Staate  ent- 
hüllt. Erst  dort  kann  dieses  merkwürdige  Gebilde  als 
Ganzes  erfafst  und  gewürdigt  werden.  Hier  nur  vorläufig 
so  viel,  dafs  wir  es  unzweifelhaft  mit  der  Lehre  der  or- 
phischen  Sekte  zu  tun  haben,  von  der  schon  bei  Pytha- 
goras  die  Rede  war.  Von  Sokrates  hatte  er  diese  Lehre 
nicht.  Xenophon,  der  treue  Sokratiker,  läfst  in  der  Kyru- 
pädie  (VIIL  7,  17  ff.)  den  sterbenden  Kyros  zwar  dem  Un- 
sterblichkeitsglauben zuneigen,  aber  doch  in  Zweifel  bleiben, 
und  auch  Plato  läfst  in  der  Apologie  Sokrates  sich  völlig 
unentschieden  über  die  Frage  aussprechen.  Wie  sich  jedoch 
vorstehend  gezeigt  hat,  modelt  Plato  die  übernommene  or- 
phische  Lehre  in  freier  Weise  nach  seinem  Gedanken  der 
Seelengesundheit  um. 

Dies  Bekenntnis  Piatos  zur  Lehre  der  Orphiker  er- 
möglicht es  denn  auch,  einen  Anhaltspunkt  für  die  Ab- 
fassungszeit des  „Gorgias"  und  indirekt  auch  der  ihm  ver- 
wandten beiden  Schriften,  der  Apologie  und  des  Kriton,  zu 
gewinnen.  Die  erste,  noch  unbestimmte  Bezugnahme  auf 
die  orphische  Lehre  findet  sich  nämlich  im  „Menon**.  Sie 
tritt  hier  aber  nur  ganz  gelegentlich  auf  zur  Beseitigung 
eines  Einwandes  g^en  die  Möglichkeit  des  Erkennens.  Was 
man  schon  weifs,  braucht  man  nicht  zu  erforschen;  bei  dem 
aber,  was  man  noch  nicht  weifs,  ist  die  Erforschung  un- 
möglich, da  man  ja  gar  nicht  weifs,  was  man  erforschen 
soll :  so  lautet  dieser  Einwand.  Demgegenüber  sagt  Sokrates, 
er  habe  von  Männern  und  Frauen,  von  Priestern  und 
Priesterinnen,  auch  von  Pindar  und  anderen  ihm 
an  erhabener  Anschauung  ähnlichen  Dichtern  gelernt,  dafs 
die  Seele  unsterblich  sei  und  nicht  nur  einmal,  sondern  in 
häufiger  Wiederkehr  in  die  Körperwelt  eingehe.  Wie  ein 
hier  angeführter  Vers  Pindars  lehrt,  ist  nach  dieser  An- 
schauung das  Seelenlos  im  künftigen  Erdenleben  vom  Ver- 
halten im  vorhergehenden  abhängig,  daher  ein  durchaus 
frommes  Leben  geboten  ist  Bei  diesem  endlosen  und 
zwischen  verschiedenen  Daseinsweisen  wechselnden  Leben 
der  Seele  hat  sie  denn  auch  schon  früher  von  allen  Dingen 
auf  Erden   und   im  Jenseits  Erfahrungen   erlangt,  und   es 


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556  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

gibt  nichts,  wovon  sie  nicht  Kenntnis  hätte.  Bei  dem  all- 
gemeinen Zusammenhang,  in  dem  alles  in  der  Welt  steht, 
bedarf  es  nur  der  Erinnerung  an  eins,  um  auch  das  übrige 
damit  im  Zusammenhang  Stehende  ins  Bewufstsein  zurück- 
zurufen. Was  man  Forschen  und  Lernen  nennt,  ist  nichts 
als  Wiedererinnerung.  Die  mystische  Lehre  dient  hier  ledig- 
lich als  schwache  Verlegenheitsauskunft,  um  jenem  sophisti- 
schen Einwurf  zu  entgehen.  Sie  tritt  hier  aber  auch  in 
einer  so  einfachen  Gestalt  auf,  dafs  im  Vergleich  mit  der 
Erwähnung  im  „Gorgias"  der  Eindruck  einer  erst  beginnen- 
den Beschäftigung  mit  ihr  hervorgebracht  wird  (80  E  ff.). 
Der  hier  mehrfach  genannte  Pindar  (geboren  um  520),  der 
offenbar  hier  Plato  beeinflufst  hat,  vertrat  in  seinen  Dich- 
tungen neben  den  herkömmlichen  Vorstellungen  die  orphische 
Theologie,  diese  jedoch  als  seine  persönliche  Überzeugung, 
wenngleich  in  dichterisch  freier  Behandlung  (Rohde, 
Psyche  IL  204  ff.).  Merkwürdig  ist  der  im  Menon  versuchte 
experimentelle  Beweis  für  die  Wiedererinnerung.  Dei-selbe 
besteht  darin,  dafs  einem  jungen  Sklaven  die  Lösung  der 
geometrischen  Aufgabe  abgefragt  wird,  den  Inhalt  eines  ge- 
gebenen Quadrats  zu  verdoppeln  (82).  Die  Wiedererinne- 
rungslehre  selbst  ist  ein  erster  primitiver  Versuch,  die  An- 
nahme einer  angeborenen  Erkenntniserbschaft  begreiflich 
und  glaubhaft  zu  machen.  Sie  hat  eine  entfernte  Ähnlich- 
keit mit  der  Theorie  Herbert  Spencers,  nach  der  die 
angeborenen  Denkgewohnheiten  auf  vererbten  Gewöhnungen 
der  Gattung  beruhen,  nur  dafs  die  zu  Grunde  liegende  Er- 
fahrung bei  Spencer  die  vererbte  der  Gattung,  bei  Plato 
aber  die  des  präexistenten  Individuums  ist.  Auch  besteht 
bei  Plato  das  Angeborene  in  den  in  der  Seele  aufgespeicher- 
ten Erinnerungen,  bei  Spencer  in  der  fortschreitenden  Ver- 
vollkommnung des  körperlichen  Organs. 

Aber  auch  der  Hauptinhalt  des  „Menon"  steht  auf  einer 
früheren  Stufe  als  der  des  „Gorgias".  Die  Lehrbarkeit  der 
Tugend  wird  hier,  wie  in  den  Jugenddialogen  nur  ganz  un- 
bestimmt an  die  Bedingung  geknüpft,  dafs  aus  der  Tugend 
ein  unbedingt  wertvolles  Gut  entspringe.  Welches  dies  sei, 
wird  nicht  gesagt.    Der  doch  in  der  Apologie  und  im  Kriton 


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V.    2.   Plato  als  Moralforscher  (399—395).  557 

schon  so  deutlich  betonte  Gedanke  der  Seelengesundheit 
kommt  nicht  vor.  Auch  das  Wesen  der  Tugend  wird  nur 
unbestimmt  bezeichnet,  als  die  Fähigkeit,  die  häuslichen  und 
staatlichen  Angelegenheiten  recht  zu  verwalten,  die  Eltern 
zu  versorgen  und  mit  Bürgern  und  Fremden  in  einer  eines 
rechtschaffenen  Mannes  würdigen  Weise  zu  verkehren  (91  A). 
In  diesem  Sinne  wird  sie  (in  vollem  Gegensatz  gegen  den 
Gorgias)  den  gefeierten  Staatsmännern  Athens  zuerkannt, 
wenngleich  nicht  als  aus  Erkenntnis  entsprungen,  sondern 
auf  Grund  unklarer  und  wandelbarer  Vorstellungen,  wie 
durch  eine  glückliche  Schicksalsfügung.  Daher  sie  auch 
ihre  Tugend  nicht  haben  lehren ,  ja,  nicht  einmal  auf  ihre 
eigenen  Söhne  übertragen  können  (93  ff.). 

Diese  schwankenden  ethischen  Anschauungen  scheinen 
nicht  nur  dem  Gorgias,  sondern  auch  der  Apologie  und  dem 
Kriton  voran  zu  liegen.  Ja,  sie  lassen  sich  überhaupt  nicht 
recht  in  den  Entwicklungsgang  Piatos  einreihen.  Nun  findet 
sich  aber  im  Menon  (90  A;  Z.  489,  2)  eine  Anspielung  auf 
ein  Ereignis  des  Jahres  395  als  unlängst  geschehen.  Hiemach 
könnten  die  drei  genannten  Schriften  erst  nach  diesem  Zeit- 
punkte, etwa  394,  verfafst  sein,  Andemteils  freilich  neigt 
der  Menon  schon  der  orphischen  Lehre  zu,  die  Plato  in  der 
Apologie  seinem  Sokrates  noch  nicht  in  den  Mund  zu  legen 
wagt.  Aber  dies  erklärt  sich  daraus,  dafs  er  damals  wohl 
selbst  über  diesen  Punkt  noch  schwankte,  und  dafs  er  in 
bezug  auf  Sokrates  nicht  gar  zu  sehr  gegen  die  geschicht- 
liche Wahrheit  verstofsen  durfte. 

Im  Anschlufs  an  diese  Forschung  über  die  sittlichen 
Fragen  kann  schon  hier  auch  noch  der  „Euthyphron** 
erwähnt  werden,  obwohl  er  anscheinend  einer  etwas  späteren 
Zeit  angehört.  Die  Bedeutung  dieses  Dialogs  besteht  näm- 
lich, wie  es  scheint,  darin,  dafs  in  ihm  die  Frömmigkeit  als 
eine  besondere  Tugend  aus  dem  von  Sokrates  überkommenen 
Tugendsystem  gestrichen  wird.  In  der  Tat  hat  Plato  später 
diese  Tugend  nicht  mehr  in  seiner  Tugendreihe  mitauf- 
geführt. Da  sie  im  Gorgias  noch  nachdrücklich  mitgezählt 
wird,  müfste  der  Euthyphron  mindestens  etwas  später  fallen 
als  der  Gorgias.    Euthyphron  ist  ein  strenger  Anhänger  der 


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558  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Volksreligion.  Plato  läfst  ihn  mit  Sokrates  vor  dem  Ge- 
richtsgebäude  zusammentreffen,  als  dieser  im  Begriff  ist, 
sich  auf  die  doppelte  gegen  ihn  ergangene  Anklage  zu  ver- 
antworten. Sokrates  will  sich  von  ihm  über  das  Wesen  der 
wahren  Frömmigkeit  belehren  lassen ,  die  ihm  ja  durch  die 
Anklage  abgesprochen  worden  ist.  Es  kommt  aber  zu  keinem 
befriedigenden  Resultat  Die  Erklärung,  das  Fromme  sei 
das  Gottgefällige,  scheitert  an  der  Vielköpfigkeit  der  volks- 
tümlichen Götterwelt.  Die  Ansichten  und  Forderungen  sind 
widersprechend,  so  dafs  dasselbe  zugleich  fromm  und  un- 
fromm  sein  kann  (6  E  ff.).  Damit  ist  die  Unmöglichkeit 
einer  philosophisch  stichhaltigen  Begriffsbestimmung  der 
Frömmigkeit  auf  dem  Boden  der  Volksreligion  erwiesen. 

Die  zuletzt  versuchte  Erklärung  als  Wissenschaft  des 
Opfems  und  Betens  hat  das  wider  sich,  dafs  sie  auf  ein 
Handelsgeschäft  hinausläuft.  Der  Opfernde  gibt,  um  zu 
empfangen,  was  er  betend  heischt.  Eine  besondere  Schwierig- 
keit ist  dabei  noch,  dafs  der  Gottheit  überhaupt  nichts  ge- 
boten werden  kann ,  da  sie  nichts  bedarf  (14  B  ff.).  Damit 
scheint  für  Plato  die  Frage  der  Frömmigkeit  als  einer  be- 
sonderen Tugend  für  jeden  Standpunkt,  nicht  nur  für  den 
der  Volksreligion,  abgetan  zu  sein,  wenngleich  dieses  Resultat 
nicht  ausdrücklich  formuliert  wird. 

Es  zeugt  von  der  aufserordentlich  niedrigen  Stufe,  auf 
der  das  Verständnis  Piatos  selbst  bei  hochgelehrten  Forschem 
noch  steht,  wenn  auch  heute  noch  behauptet  wird,  der  Euthy- 
phron  sei  zur  Verteidigung  des  Sokrates  —  vielleicht  in  der 
Zeit  zwischen  der  erhobenen  Anklage  und  der  Prozefs- 
verhandlung  —  verfafst  worden.  Eine  solche  Zweckwidrig- 
keit sollte  man  billigerweise  Plato  nicht  zutrauen.  Eine 
Schrift,  die  die  vernichtendsten  Angriffe  gegen  die  Volks- 
religion enthält  und  schliefslich  nicht  nur  das  Wesen,  sondern 
auch  die  Möglichkeit  der  Frömmigkeit  als  ein  ungelöstes 
Rätsel  im  Dunklen  läfst,  konnte  unmöglich  verfafst  werden, 
um  den  Meister  gegen  die  Anklage  zu  verteidigen,  er  hebe 
die  vom  Staate  sanktionierten  Götter  auf.  Das  hiefse  Öl 
ins  Feuer  giefsen  und  den  Anklägern  eine  willkommene 
Handhabe  bieten. 


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V.    3.  Plato  als  Bufsprediger  (394).  559 

3.   Plato  als  Bufspredlsrer  (894). 

Nachdem  Plato  die  Vernunftbegründung  des  Sittlichen 
gefunden  hat,  geht  er  mit  Feuereifer  daran,  tias  von  Sokrates 
unvollendet  gelassene  Reformwerk  in  Angriff  zu  nehmen. 
Er  beschränkt  aber  die  Reform  auf  die  srittiiche  Wieder- 
geburt der  leitenden  Kreise  vermittelst  der  neugewonnenen 
Einsicht.  Und  nicht  durch  mündliche  Rede,  sondern  durch 
eben  jene  drei  Schriften  (Apologie,  Kriton,  Gorgias) 
will  er  das  Reformwerk  vollbringen. 

Im  Schlufswort  der  Apologie  läfst  Plato  seinen  Sokrates 
die  Richter,  die  ihn  verurteilt  haben,  also  anreden:  Ihre 
Meinung,  durch  seinen  Tod  einen  lästigen  Mahner  und  Pre- 
diger loszuwerden,  sei  ein  trügerischer  Wahn.  Neue  Mahner 
in  vermehrter  Zahl  werden  aus  dem  Kreise  seiner  Jünger 
erstehen,  und  um  so  dringlicher  wird  ihre  Mahnrede  sein, 
je  jugendlicher  sie  sind  (39  C). 

Hier  bezeichnet  Plato  mit  vollkommener  Deutlichkeit 
das  Werk,  das  er  in  Angriff  genommen  hat.  Der  Sokrates 
der  Apologie  ist  Bufsprediger.  Die  Fortsetzung  seines 
Werkes  bedeutet  Inangriffnahme  der  Bufspredigt.  Aber  nicht 
in  direkter  Anrede,  etwa  in  der  Form  einer  Flugschrift,  be- 
treibt er  dies  Werk,  sondern  in  künstlerischer  Einkleidung, 
wie  es  etwa  ein  Moderner  in  der  Form  eines  Romans  oder 
auch  eines  Dramas  versuchen  würde.  Zum  Träger  seines 
Mahnrufs  macht  er  Sokrates,  aber  nicht  den  geschichtlichen, 
sondern  den  nach  Bedarf  seines  Vorhabens  umgemodelten 
Sokrates.  Hatte  dieser  ihm  ja  doch  auch  schon  als  Träger 
der  im  vorigen  Abschnitt  geschilderten  Bestrebungen  dienen 
müssen.  Die  Apologie  ist  in  keinem  Sinne  eine  Wieder- 
gabe der  Verteidigungsrede,  wie  sie  der  wirkliche  Sokrates 
gehalten  hat.  Er  ist  nur  der  Verkttnder  der  Botschaft,  die 
Plato  an  das  Volk  von  Athen  gerichtet  hat.  Die  Verteidi- 
gungsrede ist  nur  Einkleidung.  An  jeden  einzelnen  Bürger 
des  gepriesenen  Athens  ergeht  der  Ruf,  sich  nicht  um  Geld 
und  Ehre,  sondern  um  das  Heil  seiner  Seele  durch  Tugend 
zu  kümmern.  Junge  und  Alte  sollen  unablässig  gemahnt 
werden,  zum  Heile  der  Stadt  nicht  für  das  leibliche  Wohl, 


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560  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

sondern  für  das  Gedeihen  der  Seele  zu  sorgen.  Nicht 
Tüchtigkeit  aus  Reichtum,  sondern  Reichtum  und  alle  Güter 
durch  Tüchtigkeit!  (29  E  ff.).  Die  Bürgerschaft  ist  wie  ein 
starkes  und  edles  Rofs,  das  aber  etwas  träge  ist  und  des 
Sporns  bedarf.  Der  ideale  Sokrates,  den  Plato  hier  für 
sich  reden  läfst,  ist  der  Sporner  des  Rosses,  der  über  dieser 
grofsen  Angelegenheit  alles  andere  hintansetzt;  er  ist  der 
Seelsorger  der  athenischen  Bürgerschaft  (30  E  ff.). 

Auch  der  Kriton  kann  nicht  anders  angesehen  werden 
denn  als  ein  solcher  Ruf  zum  Heile  durch  sittliche  Wieder- 
geburt. Ob  der  Plan,  Sokrates  aus  dem  Kerker  zu  befreien, 
bestanden  hat  oder  nicht,  und  mit  welcher  Begründung  sich 
dieser  dazu  ablehnend  verhalten  haben  mag  (was  wir  alles 
nicht  wissen),  darauf  kommt  es  hier  nicht  an.  Das  Ver- 
halten des  zu  Unrecht  verurteilten  Sokrates  im  Kerker,  wie 
es  Plato  schildert,  die  Ablehnung  der  mit  gewichtigen 
Gründen  ihm  angetragenen  Flucht  um  des  Gedeihens  seiner 
Seele  durch  Gerechtigkeit  willen  ist  hier  weiter  nichts  als 
eine  eindringliche  Predigt  von  der  Kraft  des  Gedankens  der 
Seelengesundheit,  auch  in  der  schwersten  Versuchung  zu 
scheinbar  gerechtfertigter  Ungesetzlichkeit  die  Gerechtigkeit 
das  Feld  behaupten  zu  lassen.  Die  Gerechtigkeit  ist  aber 
hier  die  Unterwerfung  unter  die  geheiligten,  das  Gesamt- 
wohl verbürgenden  Ordnungen  des  Staatslebens,  auch  dann, 
wenn  durch  den  schreiendsten  Mifsbrauch  derselben  das 
eigene  Wohl  in  vernichtender  Weise  geschädigt  wird.  Aus 
dem  Prinzip  der  Seelengesundheit  folgt,  dafs  man  unter 
keinen  Umständen  Unrecht  tun,  auch  nicht  Unrecht  mit 
Unrecht  vergelten  darf  (49).  Darum  läfst  er  die  Gesetze, 
die  Staatsordnungen  selbst  das  Wort  ergreifen  und  an  die 
Wohltaten  erinnern,  die  er  vom  ersten  Lebenshauche  an 
von  ihnen  erfahren  hat;  er  läfst  sie  ausführen,  dafs  es  jedem 
freisteht,  den  Staat  zu  verlassen,  dafs  aber,  wer  bleibt, 
eben  damit  die  Verpflichtung  übernimmt,  unter  allen  Um- 
ständen sich  ihnen  zu  unterwerfen.  Wer  sich  an  einem 
Punkte  gegen  die  Staatsordnung  auflehnt,  der  vernichtet  an 
seinem  Teile,  soviel  an  ihm  ist,  im  Prinzip  das  Gesetz  und 
den  Staat  selbst  (50  f.). 


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V.    3.  Plato  als  Bufsprediger  (394).  561 

Mit  der  äufsersten  Schärfe  aber  tritt  diese  Bufspredigt 
im  Gorgias  auf.  Hier  wird  von  dem  Prinzip  der  Seelen- 
gesundheit aus  eine  überschwengliche  Lehre  vom  Zwecke 
des  Staates  und  der  Staatsleitung  aufgestellt.  Der  Staat 
ist  seinem  wahren  Wesen  nach  eine  Heilsanstalt;  seine  Leiter 
haben  an  den  Bürgern  die  höchste  Form  menschlicher  Glück- 
seligkeit, die  Seelengesundheit,  zu  verwirklichen.  Die  Staats- 
kunst zerfällt  in  die  Kunst  der  Gesetzgebung  und  der  Rechts- 
pflege* Beide  müssen  diesem  letzten  Ziele  dienstbar  ge- 
macht werden.  Es  wird  hier  eine  grofsartige  Verdeutlichung 
vom  Gebiete  der  Körperpflege  her  vorgenommen.  Diese  ver- 
folgt einen  doppelten  Zweck:  Gesundheit  und  Schönheit. 
Jedem  dieser  beiden  Zwecke  dient  eine  wahre  Kunst  und 
eine  Afterkunst.  Bei  der  Gesundheit  ist  dies  die  Heilkunst 
und  die  Kochkunst,  bei  der  Schönheit  die  Gymnastik  und 
die  Putz-  oder  Toilettenkunst.  Dieselben  Zwecke  aber  hat 
der  Staat  für  die  Sefele  zu  verwirklichen.  Doch  wird  hier 
nicht  so  strenge  zwischen  Gesundheit  und  Schönheit  ge- 
schieden und  nur  die  Gleichung  zwischen  den  beiden  wahren 
und  den  beiden  Afterkünsten  durchgeführt.  Der  Heilkunst 
entspricht  die  wahre  Gesetzgebungskunst,  der  Kochkunst 
die  Sophistik.  Diese  wird  hier  in  einem  engeren  und  be- 
sonderen Sinne  als  falsche,  vom  wahren  Staatszwecke  ab- 
lenkende Gestaltung  der  Staatseinrichtungen  gedacht.  Es 
ist  die  triviale  Auffassung  des  Staatszweckes,  die  ihn  ge- 
mäfs  der  landläufigen  Auffassung  in  äufseren  Glanz,  in  die 
Beschaffung  von  allerlei  Angenehmem  und  Nützlichem  für 
die  Bürger  setzt  (520  B).  Der  Gymnastik  entspricht  die 
wahre  Redekunst ,  der  Putzkunst  die  falsche  (517  f.).  Dafs 
Plato  hier  speziell  die  gerichtliche  Beredsamkeit  im  Auge 
hat,  ergibt  der  ganze  Zusammenhang.  Was  er  aber  unter 
dieser  wahren  Beredsamkeit  in  folgerichtigem  Zusammen- 
hange mit  seinem  letzten  Prinzip  versteht,  das  hat  er  an 
einer  anderen  Stelle  gesagt.  Die  wahre  Redekunst  geht 
darauf  aus,  dem  Schuldigen  die  Wohltat  der  Strafe  zu  ver- 
schaffen. Ihre  wahre  Verrichtung  ist  die  Anklage  des  Un- 
gerechten, erst  recht,  wenn  dies  der  Freund,  der  eigene 
Sohn  oder  der  Ankläger  selbst  ist  (508  B).    Im  Vergleich 

D6ri>f.   I.  36 


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562  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

damit  ist  die  landläufige  Gerichtsberedsamkeit,  die  auf  Ver- 
meidung der  Strafe  und  Erstreitung  äufserlicher  Vorteile 
um  jeden  Preis  gerichtet  ist,  nur  ein  Zerrbild. 

An  diesem  Ideale  gemessen  ist  Sokrates  (d.  h.  der  ideale 
Sokrates  Piatos)  der  einzige  Vertreter  der  wahren  Staats- 
kunst. Aber  er  wird  verurteilt  werden,  wie  vor  Kindern 
der  Arzt,  wenn  der  Koch  ihn  anklagt  (521  D  f.).  Dagegen 
verfällt  das  bestehende  Staatswesen  einem  vernichtenden 
Urteile.  Es  ist  weiter  nichts  als  ein  Zerrbild.  Die  gefeierten 
Staatsmänner  Athens,  ein  Perikles,  Kimon,  Miltiades  und 
Themistokles,  haben  nur  äufsere  Erfolge  erzielt;  dafs  sie 
die  Bürger  nicht  besser,  sondern  schlechter  gemacht  haben, 
das  mufsten  sie  an  ihrem  eigenen  Leibe  durch  die  gegen 
sie  ausbrechende  Feindschaft  erfahren.  Wenn  Esel,  Pferde 
oder  Ochsen  unter  der  Leitung  eines  Wärters  bissig,  stöfsig 
oder  zu  Schlägern  werden,  so  genügt  das  als  Beweis,  dafs 
der  Wärter  seiner  Aufgabe  nicht  gewachsen  war  (515  f.). 
Nichts  charakterisiert  schärfer  den  Gegensatz  gegen  alles 
Bestehende  als  diese  Verurteilung  der  gefeierten  Staats- 
männer, die  Athen  grofs  gemacht  hatten.  Es  ist  genau  so, 
wie  wenn  heute  jemand  über  einen  Bismarck  rückhaltlos 
den  Stab  brechen  wollte.  Noch  unendlich  viel  weiter  aber 
als  diese  Bemühungen  der  älteren  Staatsmänner  liegt  das 
selbstisch-ausbeuterische  Treiben  der  gorgianischen  Gefolg- 
schaft von  der  Verwirklichung  der  wahren  Staatszwecke  ab. 
Hier  schlägt  das  Zerrbild  in  das  volle  Gegenteil  der  Wahr- 
heit um.  Wie  diese  Richtung  hier  von  Plato  gekennzeichnet 
wird,  das  ist  bei  ihrer  Schilderung  an  der  früheren  Stelle 
ausgeführt  worden  und  braucht  hier  nicht  wiederholt  zu 
werden.  Dieser  völligen  Verkehrung  gegenüber  wird  dann 
auch  als  letzter  Trumpf  die  Wirkung  des  Seelenzustandes 
auf  das  jenseitige  Schicksal  ausgespielt.  Hier  ergibt  sich, 
dafs  das  Ringen  nach  Seelengesundheit  viel  wichtiger  ist 
als  alles  Ringen  um  irdische  Dinge.  Denn  im  Jenseits  gibt 
es  kein  Entrinnen  mehr.  Da  wird  der  jetzt  Ungläubige  ent- 
setzt das  Maul  aufsperren  und  vom  Schwindel  befallen 
werden.  Angesichts  der  Bedeutung  dieses  jenseitigen  Schick- 
sals kann  es  gar  nicht  ins  Gewicht  fallen^  ob  man  jetzt  von 


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y.    4.  Hoffiiungsloser  Verzicht  auf  öffentliches  Wirken  etc.    563 

Kurzsichtigen  als  Tor  verlacht  oder  selbst  mifshandelt  wird 
(522  E  ff.). 

In  bewegter  Schlufsrede  (527)  werden  dann  alle  diese 
Mahnungen  nochmals  zusammengefafst.  Das  beste  Gut  ist 
Gerecht  sein,  das  nächstbeste  die  Züchtigung  als  Mittel 
zum  Gerechtwerden.  So  wird  das  wahre  Glück  im  Leben 
und  nach  dem  Tode  erlangt.  Nur  wer  in  diesem  höheren 
Zustand  sich  befestigt  hat,  ist  in  Wahrheit  befähigt  und 
berechtigt,  in  den  öffentlichen  Angelegenheiten  als  Ratgeber 
aufzutreten.  — 

So  tritt  Plato  in  diesen  drei  etwa  dem  Jahre  394  an- 
gehörigen  Schriften  im  Glauben  an  die  Kraft  des  grofsen, 
neuen  Gedankens  der  Seelengesundheit  mit  hinreifsender 
Wärme  und  steigender  Inbrunst  als  missionierender  Ethiker 
auf,  mit  dem  Ziele  und  in  der  Hoffnung,  für  den  ihm  vor- 
schwebenden idealen  Zustand  des  Ganzen  zunächst  ein  neues 
Geschlecht  von  Staatslenkem  zu  werben,  ganz  so,  wenn 
auch  mit  veränderten  Zielen  und  Mitteln,  wie  vordem  in 
seiner  Weise  es  Sokrates  versucht  hatte,  ähnlich,  wie  im 
ersten  Jahrzehnt  des  19.  Jahrhunderts  in  seinen  verschiedenen 
Redegängen  Fichte  erstrebt  hat. 

4,  Hoffilimsrsloser  Verzicht  auf  öfiTentUches  W^lpken. 
Die  Erkenntnlsfragre.    Der  „Theätet"  (394/3). 

Schon  im  Gorgias  klang  die  Bufspredigt  düster  und  hoff- 
nungslos genug.  Ein  völliges  Aufgeben  dieser  Bemühungen 
spricht  aus  einer  längeren  Ausführung  im  „Theätet",  der 
auch  aus  äufseren  Gründen  (Z.  406,  1)  in  die  Zeit  von 
394—391  gesetzt  werden  mufs.  Nach  dem  ganzen  weiteren 
Verlaufe  der  Entwicklung  Piatos  aber  müssen  wir  ihn  noch 
ins  Jahr  394  oder  spätestens  Anfang  393  setzen. 

Der  Hauptpunkt  ist  in  diesem  Dialoge  die  Auseinander- 
setzung mit  den  verschiedenen  vorhandenen  Richtungen  der 
Erkenntnislehre  aus  Anlafs  einer  von  Euklid  empfangenen 
Anregung.  Der  Theätet  ist  Piatos  Erkenntniskritik,  freilich 
eine  solche,  die  über  die  Negation  noch  nicht  hinauskommt. 
Vor  Betrachtung  dieser  neuen  Seite  in  seinem  Denken  aber 
richten  wir  unseren  Blick  auf  das  merkwürdige  Einschiebsel, 

36  • 


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564  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

das  sich  offenbar  zji  den  im  vorigen  Abschnitt  geschilderten 
Bemühungen  als  entschiedene,  düstere,  hoffnungslose  Absage 
verhält  (172  C-177  C). 

Die  Bemerkung,  dafs  man  zu  den  immer  verwickelter 
werdenden  Fragen  der  eigentlichen  Untersuchung  ja  volle 
Mufse  habe,  führt  mitten  im  Dialog  zu  einer  schroffen  Gegen- 
überstellung der  philosophischen  Beschäftigung  gegen  die 
Tätigkeiten  im  Staatsleben,  die  weder  nach  ihrer  Aus- 
dehnung noch  nach  der  Art  der  darin  ausgesprochenen  Ge- 
danken im  Zusammenhange  begründet  ist,  sondern  als  be- 
absichtigte Aussprache  auffällt.  Zunächst  wird  nur  darauf 
hingewiesen,  dafs  die  Gerichtsredner  in  ihren  Ausführungen 
eingeengt  sind  durch  die  nach  der  Wasseruhr  ihnen  zu- 
gewiesene Zeit  und  durch  die  Nötigung,  sich  auf  das  streng 
zur  Sache  Gehörige  zu  beschränken.  Sie  sind  aber  auch 
in  anderer  Beziehung  wie  Sklaven  eingeschränkt.  G^ 
nötigt,  mit  allen  Mitteln  um  den  Beifall  der  Geschworenen 
zu  buhlen,  müssen  sie  notwendig  an  Einsicht  und  sittlicher 
Gesinnung  verkümmern.  Der  Philosoph  dagegen  hat  die 
vollste  Bewegungsfreiheit.  Er  würde  freilich  an  den  Ge- 
richtshöfen eine  lächerliche  Rolle  spielen.  Aber  dahin  geht 
auch  nicht  sein  Interesse.  Er  kennt  kaum  den  Weg  zu  den 
öffentlichen  Gebäuden,  weifs  nicht,  was  Rechtens  ist,  be- 
wirbt sich  nicht  um  Ämter.  Der  Stadtklatsch  in  jeder  Form 
ist  ihm  unbekannt  Er  ist  nur  mit  dem  Körper  in  der 
Stadt;  seine  Seele  verkehrt  mit  den  ewigen  Gesetzen  des 
Seienden.  Es  geht  ihm  wie  Thaies,  der  die  Sterne  be- 
obachtete und  das  vor  den  Füfsen  Liegende  aufser  acht 
liefs.  Ihn  verlacht  die  thrazische  Sklavin,  der  Philosoph 
aber  lacht,  wenn  mit  wichtiger  Miene  Reichtum,  Macht,  Er- 
folg, ein  mächtiger  Tyrann  oder  ein  spartanischer  König  ge- 
priesen wird,  der  durch  25  Ahnen  seinen  Stammbaum  auf 
Herakles  zurückführt.  Der  Philosoph  ist  unbehilflich  in 
den  alltäglichen  Verrichtungen  des  Lebens,  aber  er  kennt 
das  wahrhafte  Leben,  er  weifs,  worin  Recht  und  Unrecht, 
Glück  und  Elend  an  sich  bestehen.  Auf  dem  irdischen 
Schauplatz  und  in  der  sterblichen  Sphäre  sind  diese  Klein- 
lichkeiten  unumgänglich.     Das  Gegenteil  des  Guten  mufs 


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V.    4.  Hofihungsloser  Verzicht  auf  öffentliches  Wirken  etc.    565 

auch  sein;  bei  den  Göttern  aber  kann  es  seinen  Sitz  nicht 
aufschlagen.  Dorthin,  zum  Wohnsitz  der  Götter,  sobald  als 
möglich  zu  flüchten,  murs  man  bedacht  sein.  Diese  Flucht 
wird  bewerkstelligt  durch  möglichste  Verähnlichung  mit 
der  Gottheit.  Diese  Verähnlichung  besteht  in  Gerechtig- 
keit und  Frömmigkeit  mit  Einsicht,  d.  h.  nicht  in  der 
Scheintugend  der  herkömmlichen  Moral,  die  das  Schlechte 
meidet  und  dem  Guten  nachstrebt,  soweit  es  erforderlich 
ist,  um  vor  den  Menschen  als  gut  zu  gelten.  Die  Gott- 
heit ist  im  Grunde  ihres  Wesens  gerecht;  alle  und  jede  Un- 
gerechtigkeit ist  ihr  fremd.  Darin  aber  liegt  der  alleinige 
Mafsstab  für  wirkliche  Tüchtigkeit,  nicht  in  den  groben  und 
platten  Künsten  der  Staatslenkung  und  Lebensgeschicklich- 
keit, die  man  herkömmlich  als  Tüchtigkeit  und  Weisheit 
anpreist.  Man  soll  diesen  Leuten  das  Lob  nicht  zugestehen, 
dafs  sie  zur  Erhaltung  des  Staates  notwendig  sind;  man 
mufs  ihnen  vielmehr  die  Wahrheit  sagen.  Nach  dieser  gibt 
es  zwei  Formen  des  jenseitigen  Schicksals,  die  mit  innerer 
Notwendigkeit  aus  dem  folgen,  was  der  Mensch  ist,  denen 
daher  niemand  entgehen  kann,  die  göttliche  der  gröfsten 
Glückseligkeit  an  jenem  von  den  Übeln  ^freien  Sitz  der 
Götter,  und  die  ungöttliche  eines  neuen,  dem  gegenwärtigen 
Ahnlichen  Erdenlebens  in  Gemeinschaft  mit  den  Schlechten. 
Sie  werden  freilich  in  ihrer  Überklugheit  solche  Verkündi- 
gung verachten.  Nur  wenn  man  sie  einzeln  zur  Rechen- 
schaft zieht,  kann  man  sie  trotz  allen  Widerstrebens  schliefs- 
lich  dahin  bringen,  dafs  ihnen  selbst  ihre  Reden  nicht  mehr 
gefallen  und  ihre  Beredsamkeit  zusammenschrumpft. 

Hier  ist  zunächst  deutlich,  dafs  die  Länge  und  das  Ge- 
wicht dieser  Auslassung  ganz  aufser  Verhältnis  steht  zu  dem 
Anlafs,  an  den  sie  angeknüpft  wird.  Durch  diesen  wäre 
nur  eine  kurze,  nebenhergehende  Bemerkung  gerechtfertigt 
gewesen.  Die  wuchtigen  Gedanken,  die  hier  ausgesprochen 
werden ,  sind  um  ihrer  selbst  willen  da ,  und  es  ist  leicht 
erkennbar,  was  diese  Episode  besagen  will.  Die  Grund- 
gedanken sind  die  gleichen  wie  im  Gorgias.  Die  Gottähn- 
Hchkeit,  die  nicht  in  einer  Scheintugend  vor  den  Menschen, 
sondern  in  einer  tugendhaften  Richtung  der   Seele   selbst 


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566  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokraiVsch.  Schulen  etc. 

besteht,  ist  nur  ein  vertiefter  Ausdruck  für  die  Seelen- 
gesundheit. Von  dieser  ist  aber  hier  wie  dort  das  Schick- 
sal nach  dem  Tode  unmittelbar  und  direkt  abhängig.  Ja, 
auch  in  diesem  Punkte  liegt  hier  eine  Verfeinerung  und 
Vertiefung  vor.  Es  bedarf  keiner  Totenrichter  mehr;  das 
Geschick  der  Seele  nach  den  beiden  Richtungen  hin  voll- 
zieht sich  von  selbst  nach  ihrer  inneren  Beschaffenheit,  ohne 
fremdes  Zutun.  Vielleicht  ist  dies  auch  die  eigentliche  Mei- 
nung im  Gorgias,  und  vielleicht  zielte  Plato  auch  dort  nur 
auf  diesen  tieferen  Sinn  der  orphischen  Lehre  von  den  Toten- 
richtem,  wenn  er  seinen  Sokrates  erklären  läfst,  er  halte 
diese  nicht  für  einen  Mythus,  sondern  für  Wahrheit. 

Auf  dieser  gemeinsamen  Grundlage  aber  hat  sich  jetzt  im 
Vergleich  zum  Gorgias  die  Stellung  des  Philosophen  zum 
öffentlichen  Leben  völlig  verändert.  Dort  noch  Kampf  für 
die  Geltendmachung  seines  Ideals  im  Staatsleben,  hier  hoff- 
nungslose Abkehr,  Verzicht,  Absage,  Flucht  in  die  Einsam- 
keit, ins  Jenseits.  Die  Episode  des  Bufspredigertums  ist 
beendigt;  die  öffentlichen  Zustände  sind  nicht  zu  retten.  — 

Der  Hauptinhalt  des  Theätet,  die  Auseinander- 
setzung mit  mehreren  erkenntnistheoretischen  Standpunkten 
aus  Anlafs  einer  Einwirkung  Euklids,  ist  schon  bei  den  ein- 
zelnen in  Betracht  kommenden  Standpunkten,  bei  Prota- 
goras,  Aristipp,  Antisthenes  und  Euklid,  als  ge- 
schichtliches Zeugnis  verwertet  worden.  Das  dort  Gesagte 
braucht  hier  nicht  im  einzelnen  wiederholt  zu  werden. 

Mit  Euklid  hat  Plato  offenbar  gemeinsam  die  —  freilieb 
unausgesprochene  —  Forderung  einer  unbedingt  gewissen 
(apodiktischen)  Erkenntnisweise.  Zunächst  erscheint  die 
Theorie  des  Protagoras,  nach  der  auch  den  vom  Normalen 
abweichenden  Vorstellungen  eine  relative  Richtigkeit  zu- 
erkannt wird,  als  unzulänglich.  Protagoras  kann  seinen 
Satz  nicht  aufrechterhalten,  dafs  der  Mensch  das  Mafs  aller 
Dinge  sei;  seine  „Wahrheit"  ist  weder  für  andere  noch  für 
ihn  selbst  wahr  (171  C).  Mufs  er  doch  selbst  den  seine 
Lehre  für  unwahr  erklärenden  Behauptungen  Wahrheit  zu- 
erkennen! (171  A,  179  B.)  Aber  auch  die  Sinneswahr- 
nehmung selbst  ergibt  keine  volle  Erkenntnis.   Zu  ihr  mufs 


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V.    4  Hoffnungsloser  Verzicht  auf  öffentliches  Wirken  etc.    567 

eine  Tätigkeit  der  Seele  ergänzend  hinzutreten.  Sein  und 
Nichtsein,  Identität  und  Unterschied,  Ähnlichkeit  und  Un- 
ähnlichkeit,  Gerade  und  Ungerade,  das  Wesen  der  sinn- 
lichen Eigenschaften  an  sich  können  nur  durch  die  Seele 
erfafst  werden  (185  C  flf.)-  Wissen  ist  nicht  Wahrnehmen 
(186  E). 

An  diese  Betonung  einer  Tätigkeit  der  Seele  im  Er- 
kennen schliefst  sich  der  Vorschlag  an,  das  Wissen  als 
„wahre  Meinung^  zu  bestimmen.  Dieser  ganz  unzulängliche 
Einfall  wird  jedoch  kurzerhand  durch  die  Erwägung  ab- 
gewiesen, dafs  es  ja  beim  blofsen  Meinen  kein  Mittel  gibt, 
das  richtige  vom  falschen  Meinen  zu  unterscheiden.  Theätet 
selbst  erklärt,  dafs  er  bei  der  Aufstellung  dieser  Erklärung 
etwas  vergessen  habe.  Sie  laute  vollständig:  „die  wahre 
Meinung  mit  dem  Logos"  (201  C).  Das  ist  denn  die  dritte 
Definition,  mit  der  sich  Plato  kritisch  auseinandersetzt.  Es 
ist  schon  früher  dargelegt  worden,  dafs  dies  die  Definition  des 
Antisthenes  war.  Dafs  er  unter  dem  „Logos"  die  hinzu- 
gefügte Definition  verstand,  konnte  nur  vermutet  werden, 
da  sich  Plato  darüber  nicht  deutlich  ausspricht  (206  C  ff.). 
Jedenfalls  wird  diese  Erkenntnislehre  dadurch  widerlegt, 
dafs  nach  ihr  das  Ganze  (das  in  der  Definition  Zusammen- 
gefafste?)  ein  Wissen  darstellen  soll,  während  doch  die  ein- 
zelnen Bestandteile  und  Elemente  der  Zusammenfassung 
nur  Gegenstand  der  Meinung  (der  sinnlichen  Erfahrung)  sind. 

Bei  der  Zurückweisung  aller  drei  Versuche,  besonders 
des  zweiten  und  dritten,  tritt  im  Grunde  die  Forderung  der 
unbedingten  Gewifsheit  (der  Apodiktizität)  als  Bedingung 
des  Wissens  hervor.  Für  Euklid  wurde  diese  Forderung, 
wie  wir  gesehen  haben,  der  Antrieb,  der  ihn  der  parmeni- 
deischen  Lehre  vom  Bewegungslosen  als  dem  allein  wirklich 
Seienden  zuführte.  Das  Erscheinende  ist  Schein.  Plato 
macht  diese  Wendung  nicht  mit.  Wiederholt  werden  die 
Eleaten  in  unserem  Dialog  erwähnt;  mit  besonderer  Hoch- 
achtung Parmenides,  aber  die  Stillstands-  und  Scheinlehre 
will  er  doch  nicht  mitmachen.  Und  so  verläuft  denn  die 
erkenntniskritische  Untersuchung  ohne  positives  Resultat, 
als  blofse  Ablehnung  der  unzulänglichen  Erklärungen,   was 


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568  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

äufserlich  darin  seinen  Ausdruck  findet,  dafs  Sokrates  wieder- 
holt und  auch  am  Schlüsse  noch  sein  Können  mit  dem  seiner 
Mutter,  der  Hebamme,  in  Parallele  stellt,  die  nicht  selbst 
gebäre,  sondern  nur  die  Geburten  ans  Tageslicht  fördere 
und  beurteile,  ob  sie  des  Aufziehens  wert  oder  nur  Mifs- 
geburten  seien. 

Seltsamerweise  wird  dies  Gespräch  am  Schlüsse  auf  den 
Tag  des  Prozesses  des  Sokrates  verlegt,  während  im  An- 
fange davon  nicht  die  Rede  war.  Sokrates  erklärt  am 
Schlüsse,  er  müsse  jetzt  fort  zur  Gerichtshalle,  imi  sich  zu 
verantworten,  wolle  aber  am  folgenden  Tage  die  Diskussion 
fortsetzen.  Als  ob  er  seiner  Freisprechung  so  sicher  ge- 
wesen wäre !  Dies  ist  um  so  seltsamer,  als  auch  der  Euthy- 
phron  in  diesen  Zeitpunkt  verlegt  wird  und  zwar  mit  dem 
Schauplatz  vor  der  Gerichtshalle  unmittelbar  vor  Beginn  der 
Verhandlung. 

6.   Piatos  Reisen  (393). 

Der  älteste  Zeuge  über  die  Reisen  Piatos  ist  Cicero. 
Nach  dessen  Zeugnis  (Rep.  I.  16;  Fin.  V.  87;  vergl.  Tusc- 
I.  39)  verkehrte  Plato  zuerst  in  Ägypten  mit  den  Priestern, 
kam  dann  nach  Tarent  zu  Archytas,  lernte  auch  den  Eche- 
krates  und  die  übrigen  Pythagoreer  kennen.  Endlich  sei 
er  auch  nach  Sizilien  gekommen.  Unter  den  „übrigen  Pytha- 
goreern"  werden  auch  einige  Namen  genannt,  die  erst  durch 
die  Neupythagoreer  und  die  von  diesen  in  Umlauf  gesetzten, 
angeblich  altpythagoreischen  Schriften  bekannt  geworden 
sind.  Cicero  scheint  also  aus  keiner  besonders  lauteren 
Quelle  geschöpft  zu  haben. 

Eine  grofse  Verwirrung  herrscht  in  den  Angaben  des 
Diogenes  Laertios.  Dieser  läfst  ihn  an  einer  Stelle  (III.  6) 
zuerst  zum  Mathematiker  Theodoros  nach  Kyrene  gehen 
(diese  Angabe  ist  wohl  nur  aus  dem  Theätet  geflossen,  wo 
dieser  Theodoros  als  Freund  des  Sokrates  auftritt),  dann 
nach  Italien  zu  den  Pythagoreern  Philolaos  und  Eurytos, 
dann  nach  Ägypten  zu  den  „Propheten".  An  einer  anderen 
Stelle  (18—20,  vergl.  II.  86)  erzählt  er  ausführlich,  dafs 
er  auf  dieser   ersten   Reise    zum    syrakusischen  Tyrannen 


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V.    5.  Piatos  Reisen  (393).  569 

Dionysios  (dem  Älteren,  406 — 367)  gekommen^sei,  sich  mit 
diesem  entzweit  habe  und  infolgedessen  nach  Ägina  gebracht 
und  dort  als  Sklave  verkauft,  aber  von  dem  Kyrenaiker 
Annikeris  (der  ungefähr  ein  Jahrhundert  später  lebte !)  los- 
gekauft und  nach  Athen  befördert  worden  sei.  Hier  wird 
also  die  ägyptische  Reise,  wenigstens  nach  der  unteritali- 
schen, zur  Unmöglichkeit.  Auch  aus  den  sonstigen  Quellen 
läfst  sich  nichts  Zuverlässiges  entnehmen.  Ebenso  ist  über 
den  Zeitpunkt  dieser  Reisen  nichts  Sicheres  tiberliefert. 

Wohl  aber  läfst  sich  auf  Grund  der  bisherigen  Dar- 
stellung seiner  Entwicklung  zeigen,  was  ihn  zu  diesen  Reisen 
veranlafste,  und  dafs  er  sie  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
erst  nach  Abfassung  des  Theätet  antrat.  Aus  dem  Theätet 
ist  ersichtlich,  dafs  Plato  sich  mit  tiefer  Verstimmung  von 
den  öffentlichen  Zuständen  Athens  abgewandt  hatte.  Wie 
er  dann  unmittelbar  nach  seiner  Reise  eine  Schrift  „Über 
den  Staat"  verfafste,  in  der  er  unter  ausdrticklicher  An- 
lehnung an  das  ägyptische  Kastenwesen  ein  der  demokrati- 
schen Verfassung  Athens  völlig  entgegengesetztes,  die  Masse 
aller  politischen  Rechte  beraubendes  Staatsideal  entwarf, 
wird  nachher  dargestellt  werden.  Aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  war  auf  diesem  Wege  bereits  Protagoras  voran- 
gegangen. Da  ist  es  denn  sehr  wahrscheinlich,  dafs  durch 
die  Überzeugung  von  der  Verwerflichkeit  der  Volkssouve- 
ränität und  der  Notwendigkeit,  sie  durch  eine  starke,  auf 
Militärmacht  gesttitzte  Regierung  zu  ersetzen,  sein  Blick 
auf  Ägypten  mit  seiner  Kriegerkaste  gelenkt  wurde.  Nach 
Thaies  war  auch  Demokrit  (etwa  um  430)  in  Ägypten  ge- 
wesen. Insbesondere  aber  hatte,  etwa  um  450,  Herodot, 
der  „Vater  der  Geschichtschreibung"  (geb.  484),  Ägypten 
bereist  und  eine  FtiUe  von  Nachrichten  tiber  dies  Land  in 
seinem  grofsen  Geschichtswerke  (Buch  II)  niedergelegt.  Da- 
selbst finden  sich  auch  einige  Nachrichten  tiber  das  ägyp- 
tische Kastenwesen  und  insbesondere  tiber  die  Kriegerkaste 
(C.  164—8).  Sehr  eng  aber  hatten  sich  zu  Piatos  Zeit  die 
Beziehungen  zwischen  Griechenland  und  Ägypten  gestaltet, 
und  weit  lebhafter  als  zur  Zeit  des  Thaies,  war  das 
Interesse  auf  Ägypten  gerichtet.    Seit  525  unter  persischer 


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570  Zweite  Periode,  Zweite  Stufe.  Die  kleinereu  sokratisch.  Schulen  etc. 

Herrschaft,  iiatte  Ägypten  um  414  das  persische  Joch  ab- 
geschüttelt und  genofs  bis  nach  350  unter  eigenen  Fürsten 
der  Unabhängigkeit.  Mehrere  Unterjochungsversuche  der 
Perser  (387,  362)  wurden,  vornehmlich  mit  Hilfe  griechischer 
und  lydischer  Söldnertruppen,  vereitelt.  Auch  die  gemein- 
same Gegnerschaft  gegen  das  persische  Reich  führte  in  diesen 
Kämpfen  die  Griechen  auf  die  ägyptische  Seite.  Überhaupt 
war  Ägypten  damals  ihrem  Gesichtskreise  ganz  nahe  gerückt. 
Die  Wiederherstellung  der  Unabhängigkeit  ging  aber  mehr 
von  den  Dynasten,  als  vom  Volke  aus;  mit  ihr  war  natur- 
gemäfs  ein  möglichster  Rückgang  auf  die  alten  Staatseinrich- 
tungen, Kultusformen  und  Sitten  verbunden.  Warum  diese 
auf  Plato  in  seiner  damaligen  Seelenverfassung  eine  An- 
ziehungskraft übten,  ist  teils  schon  angedeutet  und  wird  teils 
im  folgenden  Abschnitt  durch  sein  eigenes  Zeugnis  klar  werden. 
Was  femer  Plato  nach  Unteritalien  zu  den  Pythagoreern 
zog,  wird  verständlich,  wenn  wir  uns  der  entschiedenen  Hin- 
wendung zu  der  orphischen  Jenseitslehre  im  Gorgias  und 
Theätet  erinnern.  Schon  durch  seine  thebanischen  Genossen 
bei  Sokrates,  Simmias  und  Kebes,  hatte  er  offenbar 
von  den  Lehren  des  Philolaos  und  Eurytos,  zugleich  aber 
auch  unzweifelhaft  von  der  der  Orphik  nahe  verwandten 
pythagoreischen  Ordenslehre,  gegen  die  jene  sich  wandten, 
einige  Kenntnis  erhalten.  Mutmafslich  war  es  ihm  zunächst 
um  das  Genauere  der  mystischen  Ordenslehre  zu  tun.  Viel- 
leicht aber  ist  er  in  dieser  Beziehung,  bei  der  freieren 
Stellung  der  tarentinischen  Gruppe  zu  diesen  alten  Mysterien, 
kaum  auf  seine  Rechnung  gekommen.  Doch  mag  er  immer- 
hin in  Unteritalien  auch  noch  gläubige  Anhänger  der  Ordens- 
lehre angetroffen  haben.  Es  war  aber  mutmafslich  noch  ein 
anderes  Interesse,  das  ihn  gerade  zu  den  wissenschaft- 
lichen Pythagoreern  hinziehen  mufste.  Nach  dem  Theätet 
ist  es  wahrscheinlich,  dafs  Euklid  schon  damals  gegenüber 
den  Ideen  als  den  einzigen  Wesenheiten  zur  Verneinung  der 
Erscheinungswelt  neigte ,  dafs  aber  Plato  nicht  geneigt  war, 
diese  Scheinlehre,  diesen  abstrakten  Immaterialismus  mit- 
zumachen. Andernteils  stiefs  ihn  aber  auch  der  Materia- 
lismus des  Antisthenes  ab  (Theät.  155  E).    Nun  ist  früher 


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V.    5.   Piatos  Reisen  (398).  57 1 

gezeigt  worden,  dafs  schon  die  alten  Pythagoreer  das  Leere, 
den  Raum  für  den  WeltstoflF  erklärten,  und  dafs  wahrschein- 
lich Philolaos  dieser  Lehre  eine  weitere  Ausbildung  gegeben 
hatte.  Da  bot  sich  also  die  Möglichkeit,  auch  ohne  Zuhilfe- 
nahme des  eigentlichen  Stoffes  die  Realität  der  Erscheinungs- 
welt zu  retten.  So  konnte  er  von  diesem  Besuche  bei  den 
Pythagoreern  auch  Anregungen  zur  Naturspekulation  erwarten. 
Nach  den  angeführten  Zeugnissen  nun  (so  auch  Nepos, 
Dion  2)  wandte  er  sich  zunächst  nach  Tarent,  das  damals  der 
Sammelpunkt  der  Pythagoreer  war.  Wie  in  der  Schilderung 
der  letzten  Pythagoreer  gezeigt,  lebten  dort  um  400 — 390  der 
hochbetagte  Philolaos  und  sein  Genosse  Eurytos  nebst 
ihren  Schülern ,  den  fünf  „letzten  Pythagoreern",  darunter 
Echekrates.  Alle  drei  werden  auch  in  den  Zeugnissen  über 
die  Reise  als  von  ihm  in  Tarent  angetroffen  angeführt.  Da- 
gegen ist  es  nicht  wahrscheinlich,  dafs  schon  damals  Ar- 
chytas  die  führende  Stellung  in  Tarent  einnahm,  die  von 
den  Berichten  vorausgesetzt  wird.  Wenn  Plato  schon  da- 
mals ihn  kennen  lernte,  mufs  er  in  ganz  jugendlichem  Alter 
gestanden  haben.  Jedenfalls  konnte  er  dort  diesem  zweiten 
Interesse ,  das  ihn  den  Pythagoreern  zuführte ,  vollauf  Be- 
friedigung verschaffen.  Was  er  sich  dort  angeeignet  hat, 
wird  im  nächsten  Abscknitte  zu  tage  treten.  An  diesen 
unteritalischen  Aufenthalt  schlofs  sich  femer  ein  Besuch  am 
Hofe  des  älteren  Dionys  in  Syrakus  an.  Über  den  Anlafs 
des  Besuchs  berichtet  Nepos  (Dion  1  f.)  in  folgender  Weise. 
Am  Hofe  des  Dionysios  lebte  Dion,  der  Schwager  und 
Schwiegersohn  des  Tyrannen,  ein  damals  noch  jugendlicher 
Mann  von  hervorragenden  Gaben  und  grofsem  wissenschaft- 
lichem Interesse,  beim  älteren  Dionys  in  grofsem  Ansehen. 
Als  dieser  Dion  von  der  Ankunft  Piatos  in  Tarent  hörte, 
erbat  er  vom  Tyrannen  die  Erlaubnis,  ihn  nach  Syrakus  zu 
laden,  wo  er  mit  grofser  Auszeichnung  empfangen  wurde. 
Dion  (der  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  vorher  schon  pytha- 
goreische Einflüsse  erfahren  hatte),  wurde  Piatos  Schüler, 
und  zwischen  beiden  entstand  ein  inniges  Verhältnis.  Im 
übrigen  beziehen  sich  auf  diesen  Aufenthalt  Piatos  am 
schwelgerischen  Hof  zu  Syrakus  zahlreiche  Anekdoten.    Er 


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572  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

mufs  dort  mit  Aristipp  zusammengetroflFen  sein.  Als  bei 
einem  Gelage  der  Tyrann  von  seinen  Gästen  verlangt,  sie 
sollen  in  langem  Frauenkleide  vor  ihm  tanzen,  verweigert 
dies  Plato  unter  Anführung  einer  Stelle  aus  den  Bacchen 
des  Euripides  (827),  Aristipp  aber  ist  ihm  zu  Willen  (D. 
L.  II.  78;  S.  Emp.  Hyp.  III.  204).  Über  die  schliefslich 
eingetretene  Entzweiung  mit  dem  Tyrannen  berichtet  Nepos 
(a.  a.  0.)  nur  ganz  kurz.  Dieser  habe  ihn  als  Sklaven  ver- 
kaufen lassen.  Sehr  ausführlich  berichtet  darüber  Diogenes 
Laertios  (III.  18  ff.).  Danach  spricht  Plato  dem  Tyrannen 
«eine  Ansicht  über  die  Tyrannis  aus.  Das  Richtige  sei  nicht 
das  einem  einzelnen  zu  gute  Kommende.  Gerechtfertigt  sei 
eine  solche  Herrschaft  nur,  wenn  der  Herrschende  von  ganz 
überlegener  Tüchtigkeit  sei.  Der  Tyrann  findet  diese  An- 
sichten greisenhaft,  Plato  dagegen  findet  dies  Urteil  tyrannen- 
mäfsig.  Der  Tyrann  ist  wütend  und  will  zuerst  Plato  hin- 
richten lassen,  läfst  sich  jedoch  durch  Dion  erbitten,  ihn  nur 
dem  gerade  anwesenden  spartanischen  Geschäftsträger  Pollis 
zum  Verkauf  in  die  Sklaverei  zu  übergeben.  Nach  Plutarch 
(Dion  5)  hätte  Dion  die  Abreise  des  Pollis  benutzt,  um  Plato 
in  Sicherheit  zu  bringen,  der  Tyrann  aber  habe  diesen  heim- 
lich ersucht,  ihn  auf  der  Fahrt  umzubringen  oder  mindestens 
als  Sklaven  zu  verkaufen.  Der  weitere  Verlauf  wird  auch 
bei  D.  Laert.  mit  mannigfachen  Variationen  berichtet.  Jeden- 
falls Verkauf  auf  dem  Sklavenmarkt  zu  Ägina,  wo  auch  zu- 
nächst wegen  der  zwischen  Athen  und  Ägina  bestehenden 
Feindschaft  wiederum  das  Richtbeil  über  seinem  Haupte 
schwebt;  Freikauf  durch  den  um  100  Jahre  später  lebenden 
Annikeris  (so  auch  D.  L.  II.  86);  Rückkehr  nach  Athen. 
Auf  diese  Einzelheiten  ist  gar  nichts  zu  geben ;  ein  sicherer 
Bericht  ist  nicht  vorhanden;  möglicherweise  ist  die  ganze 
Sklavereiverkaufsgeschichte  eine  romanhafte  Erfindung.  Wie 
beliebt  es  war,  das  Verhalten  der  verschiedenen  Denker- 
charaktere in  dieser  bedrängten  Situation  sich  auszumalen, 
können  schon  die  Erzählungen  vom  Verkauf  des  Kynikers 
Diogenes  lehren. 

Die  Ansetzung  dieser  Reise  ungefähr  ins  Jahr  393  (der 
Antritt  vielleicht  noch  ins  Jahr  394  fallend)  entspricht  der 


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V.    6.   Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (898/2).      573 

gegebenen  Gesamtauffassung  von  der  Entwicklung  Piatos» 
Jedenfalls  ist  es  unwahrscheinlich  und  überflüssig,  unter  An- 
knüpfung der  Reise  an  den  Aufenthalt  in  Megara  (D.  L. 
III.  6)  Plato  ein  ganzes  Jahrzehnt  oder  länger  auf  Reisen 
zubringen  zu  lassen.  Ein  Jahr  ist  eine  lange  Zeit  und  ge- 
nügt im  vorliegenden  Falle  vollständig,  um  Plato  die  von 
ihm  verfolgten  Zwecke  erreichen  und  noch  darüber  hinaus 
reichliche  Anregungen  erhalten  zu  lassen. 

6.  Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  393/2. 

Aus  dem  platonischen  „  T  i  m  ä  u  s  **  und  dem  an  diesen  sich 
anschliefsenden,  unvollendet  gebliebenen  „Kritias"  ersehen 
wir ,  dafs  diese  *  beiden  Schriften  einen  Bestandteil  eines 
grofsen  vierteiligen  Ganzen  bilden  sollten.  Vier  Männer, 
Sokrates,  Timäus  aus  dem  unteritalischen  Lokri  (Tim.  20  A), 
Kritias  und  Hermokrates,  haben  sich  zusammengetan,  um  je 
durch  einen  zusammenhängenden,  nicht  in  Gesprächsform 
verlaufenden  Vortrag  (17  A  B,  20  B  C,  26  D)  einander  zu 
belehren.  Sokrates  hat  bereits  tags  vorher  seinen  Vortrag 
über  den  Staat  (20  B)  gehalten.  Wir  müssen  annehmen, 
dafs  dieser  Teil  der  Schrift  ausgeführt  gewesen  ist,  aber  in 
seiner  ursprünglichen  Form  nicht  mehr  vorhanden  ist.  Der 
unter  Piatos  Schriften  vorliegende  „Staat"  ist,  wie  er  vor- 
liegt, diese  Schrift  nicht,  hat  aber,  wie  gezeigt  werden  wird, 
einen  erheblichen  Teil  derselben  als  noch  heute  kenntlichen 
und  wieder  auszusondernden  Bestandteil  in  sich  aufgenommen. 
Als  zweiter  Redner  spricht  Timäus  über  die  Entstehung 
der  Welt  bis  einschliefslich  der  Naturbeschreibung  des 
Menschen  (27  A).  Im  Anschlufs  daran  soll  dann  Kritias 
(und,  wie  es  scheint,  auch  Hermokrates,  20  A)  urgeschicht- 
liche Überlieferungen  Athens  vortragen,  in  denen  zugleich 
der  von  Sokrates  phantasiemäfsig  entworfene  Musterstaat 
als  leibhaftig  einmal  vorhanden  gewesen,  in  lebendigem 
Wirken,  vor  Augen  geführt  werden  soll  (27  B,  26  D,  19  B  ff.). 
Von  diesem  letzten  Teile  ist  nur  ein  Bruchteil  des  Vortrags 
des  Kritias  im  Fragment  des  „Kritias"  zur  Ausführung 
gelangt. 

Es  soll  nun  im  folgenden  gezeigt  werden,  dafs  dieses 


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574  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

geplante  vierteilige  Ganze  (Tetralogie)  die  Schrift  ist,  in 
der  Plato  unmittelbar  nach  der  Rückkehr  die  Ergebnisse 
seiner  Reisen  niederzulegen  beabsichtigte  und  teilweise  nieder- 
gelegt hat.  Den  ihm  vorschwebenden  antidemokratischen 
Musterstaat,  dessen  Ausgestaltung  die  ägyptischen  Studien 
zur  Reife  gebracht  hatten,  hat  er  durch  den  Mund  des 
Sokrates  schildern  lassen.  Den  naturphilosophischen  Erwerb 
der  italienischen  Reise  läfst  er  nicht  einen  Tarentiner,  sondern 
einen  hervorragenden  Bürger  des  unteritalischen  Lokri,  der 
zugleich  ein  vortrefflicher  Philosoph  ist  (20  A),  vortragen. 
Zur  Erklärung  dieses  überraschenden  Zuges  steht  uns  weiter 
nichts  zu  Gebote  als  die  Tatsache,  dafs  Lokri,  an  der  Ost- 
seite der  südlichen  Landzunge  Italiens;  gelegen,  auf  dem 
Seewege  von  Tarent  nach  Syrakus  berührt  werden  mufste 
und  die  Vermutung,  dafs  Plato  vielleicht  auf  dieser  Fahrt 
dort  Station  und  eine  philosophische  Bekanntschaft,  die  Be- 
kanntschaft eines  pythagoreisch  gerichteten  Forschers,  ge- 
macht hat.  Von  den  letzten  Teilen  kann  nur  gesagt  werden, 
dafs  sie  offenbar  bezweckten,  einesteils  den  neuen  Muster- 
staat als  in  der  Vorzeit  Athens  schon  einmal  verwirklicht 
darzustellen  und  andernteils  ihn  auf  Grund  seiner  ägyp- 
tischen Eindrücke,  die  schon  in  der  vorausblickenden  Ein- 
leitung des  Timäus  aufs  lebhafteste  zu  tage  treten,  mit 
Ägypten  in  Zusammenhang  zu  bringen. 

Die  vorstehend  skizzierte  Auffassung  beruht  auf  einer 
doppelten  Annahme:  1.  der  uns  vorliegende  „Staat"  Piatos 
ist  das  Werk  einer  mehrfachen,  erweiternden  Umarbeitung 
des  unmittelbar  nach  der  Reise  verfafsten  „Urstaats",  der 
sich  rekonstruieren  läfst.  2.  der  Timäus  —  nebst  dem  Frag- 
ment des  Kritias  —  gehört  ebenfalls  diesem  Zeitpunkte  an 
und  stellt  nicht,  wie  meist  geglaubt  wird,  das  Denken  Piatos 
auf  einer  späteren,  reiferen  Stufe  dar,  sondern  auf  dieser 
Vorstufe  seines  eigentlichen  Systems,  genau  entsprechend 
der  von  ihm  in  diesem  Zeitpunkt  erreichten  Phase.  Be- 
gründet werden  diese  beiden  Annahmen  teils  durch  Betrach- 
tung der  in  Rede  stehenden  Schriften  selbst,  zu  der  wir 
jetzt  übergehen,  teils  durch  das  Ganze  des  vorhergehenden 
wie  des  nachfolgenden  Entwicklungsganges  Piatos. 


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V.    6.  Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2).       575 

1.  Der  Urstaat.  Merkwürdigerweise  hält  Plato  es 
für  nötig,  im  Eingange  des  Timäus  seinen  Sokrates  eine 
ziemlich  eingehende  Rekapitulation  seines  Vortrags  vom 
Tage  vorher  geben  zu  lassen.  Ob  er  dadurch  die  genaue 
Auffassung  des  Vorgetragenen  sicherstellen  wollte  (17  B), 
oder  ob  diese  Rekapitulation  etwa  erst  nach  dem  Aufgehen 
des  „Urstaats"  in  den  späteren  „Staat"  eingefügt  worden 
ist,  mufs  dahingestellt  bleiben.  Für  uns  hat  diese  Rekapi- 
tulation jedenfalls  den  Wert,  uns  ein  wesentliches  Stück 
des  damaligen  Denkens  Piatos  vor  Augen  zu  führen. 

Dargestellt  werden  sollte  der  beste,  der  vollkommene 
Staat  (17  C,  20  B).  Zu  diesem  Zwecke  wurde  zuerst  eine 
Scheidung  der  Staatsangehörigen  in  zwei  grofse  Gruppen, 
Landleute  und  Gewerbetreibende  einerseits,  Landesverteidiger 
andererseits,  vorgenommen  (17  0),  Es  wurden  sodann  hin- 
sichtlich des  Kriegerstandes  die  für  seine  Angehörigen  er- 
forderliche Naturanlage  und  Erziehung,  ihre  wirtschaftliche 
Lage,  die  Stellung  der  Frauen  in  ihm  und  schliefslich  seine 
Reinerhaltung  durch  Entfernung  der  Unwürdigen  aus  ihm 
dargestellt  (17  C— 19  A). 

Ausschlaggebend  für  die  Zuteilung  zum  Kriegerstande 
wie  zu  den  übrigen  Berufen  ist  die  Naturanlage.  Die  Krieger 
sind  Wächter  des  Staats  gegen  äufsere  und  innere  Gefähr- 
dung; die  Erwerbenden  sind  ihre  Untergebenen,  über  die 
sie  als  über  natürliche  Stammesgenossen  ein  mildes  Richter- 
amt üben.  Sie  sollen  mutig  und  weise,  hart  und  milde  zu- 
gleich sein.  Ausgebildet  werden  sie  durch  Gymnastik  und 
musische  Kunst  und  zugleich  mit  den  für  ihren  Beruf  er- 
forderlichen Kenntnissen  versehen.  Privateigentum  ist  ihnen 
untersagt.  Die  Beschützten  haben  ihnen  so  viel  Sold  zu 
liefern,  als  für  eine  mäfsige  Lebensweise  ausreicht.  Dieser 
fliefst  ihnen  gemeinschaftlich  zu ;  frei  von  allen  anderen  Be- 
schäftigungen,  gemeinsam  lebend,  bei  gemeinsamen  Mahl- 
zeiten haben  sie  nur  der  Tüchtigkeit  für  ihren  Beruf  zu 
leben.  Nur  männlich  geartete  Frauen  sollen  diesem  Stande 
angehören.  Diese  nehmen  an  allen  Obliegenheiten  des 
Standes  in  bezug  auf  den  Krieg  wie  auf  das  sonstige  Staats- 
leben teil.    Ehe  und  Familie  ist  für  diesen  Stand  aufgehoben. 


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576  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Alle  betrachten  sich  als  Blutsverwandte.  Die  Gleichaltrigen 
gelten  als  Brüder  und  Schwestern,  die  älteren  Generationen 
als  Eltern  und  Grofseltern,  die  jüngeren  als  Kinder  und 
Enkel.  Es  gibt  Leiter  und  Leiterinnen  (18  D),  denen  be- 
sonders auch  die  Verrichtung  obliegt,  den  Geschlechtsverkehr 
in  diesem  Stande  zu  regeln.  Dies  geschieht  durchs  Los, 
aber  so,  dafs  durch  eine  heimliche  Korrektur  des  Zufalls 
möglichst  die  Tüchtigsten  der  beiden  Geschlechter  zusammen- 
geführt werden.  Ebenso  andernteils  die  Minderwertigen. 
Die  Kinder  der  letzteren  aber  werden  heimlich  bei  den  Er- 
werbenden untergebracht  und  nur  dann,  wenn  sie  sich  später 
als- von  tüchtiger  Art  erweisen,  durch  die  Aufseher  wieder 
dem  Kriegerstande  zugeführt.  Diese  haben  auch  sonst  die 
Pflicht,  Unwürdige  aus  dem  Kriegerstande  zu  entfernen. 
Schliefslich  wird  festgestellt,  dafs  in  dieser  Rekapitulation 
von  dem  im  Vortrage  des  Sokrates  Behandelten  kein  Haupt- 
punkt übergangen  worden  ist  (19  A). 

Von  dieser  ursprünglichen  Schöpfung  Piatos,  deren 
Grundlinien  wir  hier  kennen  lernen,  sind  nun  alle  wesent- 
lichen Teile,  wenn  auch  gewifs  mit  kleinen  Änderungen,  in 
den  späteren  „Staat"  verschmolzen  worden.  Die  Einleitung 
des  sokratischen  Vortrags  zwar,  die  gewifs  nicht  fehlte  und 
in  der  unzweifelhaft  die  Beweggründe  und  Ziele  des  ur- 
sprünglichen radikalen  Reformplans  dargelegt  wurden,  hat 
einer  völlig  anderen,  der  total  neuen  Verwendung  des  Stoffes 
angepafsten  weichen  müssen.  Die  Form  der  zusammen- 
hängenden Rede  ist  in  die  Gesprächsform  umgewandelt. 
Zeitpunkt  und  Schauplatz  des  Zusammenseins,  sowie  die 
teilnehmenden  Personen  sind  andere  geworden.  Im  übrigen 
können  wir  die  betreffenden  Abschnitte  des  Staats  (II.  11  bis 
IV.  5;  V.  3—17)  als  die  der  Inhaltsangabe  im  Timäus  ent- 
sprechende Ausführung  betrachten. 

Hergestellt  werden  soll  der  „Staat  der  Glücklichen*,  der 
Staat,  in  dem  es  allen  nach  Möglichkeit  gut  geht.  In  ge- 
wissem Mafse  entspricht  dieser  Anforderung  die  ursprüng- 
liche Staatsgemeinschaft  auf  einer  niederen  Kulturstufe. 
Der  Staat  entsteht  nämlich  aus  der  Hilfsbedürftigkeit  der 
einzelnen.    Schon  auf  dieser  primitiven  Stufe  führt  die  Be- 


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V.    6.   Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2).       577 

Schaffung  der  Lebensbedürfnisse  zur  Teilung  der  Arbeit,  der 
Bedarf  an  auswärtigen  Produkten  zum  Tausch,  zum  Handel 
und  zum  Gelde.  In  friedlichem  und  behaglichem  Geniefsen 
fiiefst  auf  dieser  Stufe  den  zum  Staate  Vereinigten  das 
Leben  dahin  (372). 

Aber  damit  ist  doch  das  vorliegende  Problem  noch  nicht 
gelöst.  Die  Erwähnung  der  Eicheln  als  eines  der  Nahrungs- 
mittel dieser  patriarchalischen  Menschen  entlockt  dem  Mit- 
unterredner die  Bemerkung,  das  sei  doch  nur  ein  Muster- 
staat für  Schweine  (372  D).  Sokrates  gibt  dies  zu.  Es  soll 
ja  nicht  nur  ein  glücklicher  Staat  überhaupt  entworfen  werden, 
sondern  ein  solcher  unter  den  Bedingungen  einer  fort- 
geschrittenen Kultur  (372  E). 

So  läfst  er  also  Üppigkeit  und  Luxus  entstehen,  und 
da  nun  auch  das  Staatsgebiet  zum  Unterhalt  der  Bewohner 
nicht  mehr  ausreicht,  entwickelt  sich  Eroberungssucht.  An 
dieser  Stelle  mufs  bei  der  Umarbeitung  eine  Kürzung  statt- 
gefunden haben.  Es  wird  nämlich  durch  einen  abrupten 
Übergang  luv  Entstehung  des  Wächterstandes  hinüber- 
gesprungen. Offenbar  war  diese,  was  in  der  vorliegenden 
Fassung  (IL  14)  nicht  mehr  hervortritt,  ursprünglich  als 
durchgreifende  Reform  eines  ausgearteten  Zustandes  gedacht. 

Diese  „Wächter"  bilden  einen  Kriegerstand,  der  den 
Staat  gegen  äufsere  und  innere  Feinde  sichert.  Sie  müssen 
mutig  nach  aufsen,  sanft  gegen  die  Staatsgenossen  sein. 
Dazu  bedarf  es  zunächst  einer  besonderen  Naturanlage. 
Diese  mufs  aber  überdies  durch  eine  entsprechende  Er- 
ziehung ausgebildet  werden.  Diese  Erziehung  soll  nicht 
durch  Philosophie,  sondern  durch  eine  Umgestaltung  der 
herkömmlichen  gymnastisch-musischen  Ausbildung  bewirkt 
werden.  Mit  der  musischen  mufs  der  Anfang  gemacht  werden; 
sie  beginnt  schon  in  der  Kinderstube.  Und  da  die  frühesten 
Eindrücke  die  entscheidendsten  sind,  mufs  schon  unter  den 
Fabeln  und  Geschichten,  die  den  kleinen  Kindern  erzählt 
werden,  eine  strenge  Auslese  stattfinden.  Ebenso  aber  in 
den  der  heranwachenden  Jugend  mitgeteilten  Dichtungen, 
vornehmlich  Homer  und  Hesiod.  Hier  darf  es  keine  un- 
gerecht handelnden,  keine  in  Zwietracht  lebenden,  keine 

Döring.   1.  37 


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578  Zweite  Periode.   Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

das  menschliche  Geschick  nach  reiner  Willkür  bestimmen- 
den, oder  die  Menschen  zu  ungerechten  Handlungen  an- 
stiftenden, sie  durch  Wahnvorstellungen  irreleitenden,  keine 
durch  blofse  Kultushaudlungen  zu  gewinnenden  Götter  und 
keine  über  ihr  Schicksal  jammernden  oder  durch  Schreckens- 
vorstellungen vom  Jenseits  mit  Todesfurcht  erfüllten  Helden 
geben.  Plato  übt  hier  eine  unerbittliche  Kritik  an  den  tiber- 
lieferten Götter-  und  Jenseitsvorstellungen  und  schaltet  völlig 
frei  mit  der  Staatsreligion,  nicht  im  Interesse  des  an  sich 
Wahren,  sondern  um  sie  für  den  hier  vorliegenden  Er- 
ziehungszweck brauchbar  zu  machen.  Wie  es  sich  in  Wirk- 
lichkeit mit  diesen  Dingen  verhält,  kommt  dabei  gar  nicht 
in  Frage.  Die  Religion  ist  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel 
bei  der  nicht  philosophischen,  sondern  auf  Gewöhnung  be- 
ruhenden Erziehung  der  Wächter  und  mufs  diesem  Zwecke 
gemäls  zugeschnitten  werden.  Dafs  hierbei  die  orphisch- 
pythagoreischen  Lehren  vom  Schicksal  der  Seele  keine  Ver- 
wendung finden  können,  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Die 
Wächter  werden  im  allgemeinen  in  den  herkömmlichen  Vor- 
stellungen vom  Fortleben  nach  dem  Tode  aufgezogen.  Nur 
mufs  aus  diesen  alles  entfernt  werden,  was  den  Tod  als 
etwas  Schreckliches  erscheinen  läfst  (III.  1  tf.).  Damit  ist 
aber  auch  zugleich  jede  Abhängigkeit  des  jenseitigen  Loses 
vom  diesseitigen  Verhalten,  also  jeder  Anklang  an  die 
mystischen  Lehren  ausgeschlossen.  So  sehr  Plato  selbst  da- 
mals schon  in  diesen  Gedanken  heimisch  geworden  war,  so 
wenig  will  er  sie  doch  für  die  Wächter  verwenden,  die  im 
Gedankenkreise  der  moralisch  gereinigten  und  für  den  vor- 
liegenden Zweck  tauglich  gemachten  Volksreligion  verharren 
sollen. 

Ausgeschlossen  werden  mufs  aber  auch  alles  zu  mafs- 
losem  Lachen  oder  zu  Habsucht  und  Rachsucht  Verleitende 
in  den  Dichtungen.  Alles  mufs  Mäfsigkeit,  Besonnenheit, 
Gerechtigkeit  empfehlen.  Nur  das  Vorbildliche  ist  zulässig. 
Schon  die  in  der  Darstellung  der  entgegengesetztesten  Cha- 
raktere zu  Tage  tretende  Wandlungsfähigkeit  des  dich- 
terischen Genius  widerstreitet  dem  Geiste  dieser  Erziehung, 
die  in  sich  gefestete,  nur  sich  selbst  gleiche  und  nur  das 


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V.    6.  Die  schriftstellerische  Frucht  der  Keisen  (393/2).      579 

ihnen  Zukommende  betreibende  Menschen  heranbilden  soll 
(397).  Käme  ein  solcher  Dichter  in  den  Musterstaat,  der 
durch  seine  Kunst  vermag,  als  ein  Vielfältiger  zu  erscheinen 
und  alles  mögliche  nachzubilden,  so  würde  man  ihm  zwar 
als  einem  gotterfüllten,  bewundernswürdigen  und  unterhalten- 
den Manne  alle  Hochachtung  erweisen,  ihn  aber  zugleich 
bedeuten,  dafs  Derartige  sich  in  diesem  Staate  nicht  an- 
siedeln dürfen.  Man  würde  ihm  das  Haupt  mit  Öl  salben 
und  ihn  mit  Binden  bekränzen,  zugleich  aber  ihm  das  Ge- 
leit in  einen  anderen  Staat  geben  (398  A). 

Was  von  der  Poesie  gilt,  das  gilt  auch  von  der  Musik. 
Dio  Tonarten,  Taktarten  und  die  verschiedenen  Instrumente 
drücken  sehr  verschiedene  ethische  Grundstimmungen  aus. 
Auch  hier  ist  nur  das  der  normalen  Gemütsstimmung  Ent- 
sprechende zulässig.  Plato  gibt  hier  die  feinsinnigsten  Be- 
stimmungen, für  die  der  modernen  Welt  fast  alles  Ver- 
ständnis abhanden  gekommen  ist.  Gewifs  hatte  er  auch  in 
diesem  Punkte  von  den  Pythagoreern  gelernt,  die  ja  von  je 
her  die  Musik  als  sittliches  Bildungsmittel  behandelt  hatten 
und  zur  Zeit  seines  Aufenthalts  in  Tarent  dabei  waren, 
diese  Praxis  des  Ordens  in  strenge  Theorie  umzusetzen 
und  als  Vermächtnis  des  Ordens  der  Nachwelt  zu  übergeben. 
Xenophilos,  der  Lehrer  des  grofsen  Musiktheoretikers 
Aristoxenos,    gehörte   zu   den    „letzten    Pythagoreern". 

Ebendasselbe  aber  gilt  schliefslich  auch  von  der  bilden- 
den Kunst  (401  B).  Alles  in  allem  mufs  die  gesamte  musische 
Bihiung  die  alleinige  Aufgabe  verfolgen,  die  Urbilder  der 
Mäfsigung,  der  Tapferkeit,  der  Anständigkeit,  des  Hochsinns 
und  der  verwandten  Tugenden  den  angehenden  Wächtern 
als  das  einzig  Liebenswerte  erscheinen  zu  lassen  (402  C). 
Verdammenswert  mufs  ihnen  auch  die  Knabenliebe  erscheinen, 
wenn  sie  in  wahnsinnsartige  Leidenschaft  oder  sinnliche 
Zügellosigkeit  ausartet  (402  D  f.).  Das  Ziel  der  musischen 
Bildung  ist  die  Gewöhnung  zur  Liebe  des  wahrhaft  Schönen, 
d.  h.  des  Guten  (403  C;  401  E  f.;  402  D). 

Die  Gymnastik  ist  mafsvoU  zu  betreiben  und  darf  nicht 
in  Athletik  ausarten.  Ohne  diese  Erziehung  zum  Mafsvollen 
entsteht   in   der  Seele  Zügellosigkeit,  im  Leibe  Krankheit; 

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580  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  .Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Richter  und  Ärzte  werden  nötig.  Im  wahren  Staate  aber 
sollten  beide  nur  die  Aufgabe  haben,  das  seelisch  oder  leib- 
lich Untüchtige  auszumerzen.  Den  siechen  Körper  mit  vieler 
Kunst  zu  erhalten,  geht  im  Kriegerstande  nicht  an. 

Eine  herrschende  Stellung  unter  den  Wächtern  erhalten 
diejenigen,  die  die  gröfste  Einsicht  und  den  gröfsten  Eifer 
in  bezug  auf  das  Wohl  des  Ganzen  zeigen.  Sie  sind  sclion 
von  der  Natur  bevorzugt  ausgestattet.  Wenn  die  Natur 
der  Wächter  überhaupt  eine  silberne  genannt  werden  kann, 
so  ist  den  zur  Herrschaft  unter  ihnen  Berufenen  Gold  bei- 
gemengt. Sie  allein  sind  daher  die  Wächter  im  wahren  und 
eigentlichen  Sinne,  die  übrigen  nur  ihre  Helfer.  Eine  Haupt- 
aufgabe der  eigentlichen  Wächter  ist  es,  über  die  angeborene 
Tüchtigkeit  des  Nachwuchses  im  Kriegerstande  strenge  Kon- 
trolle zu  üben  und  diejenigen  Kinder,  in  deren  Seelen  sich 
ein  Zusatz  von  Erz ,  oder  Eisen  findet,  unnachsichtlich  dem 
Stande  der  Erwerbenden  zuzuführen.  Umgekehrt  aber  sollen 
sie  auch,  wenn  bei  Kindern  der  erwerbenden  Klasse  sich 
Gold  oder  Silber  in  den  Seelen  findet,  diese  in  den  Stand 
der  Wächter  oder  Helfer  aufnehmen  (415  B  f.,  423  C).  Der 
Kriegerstand  ist  also  nicht,  wie  bei  den  Ägyptern,  eine  Kaste. 

Dieser  Stand  nun  führt  eine  Art  Lagerleben.  Keine 
geschlossenen  Privatwohnungen,  kein  Privateigentum.  Gold 
und  Silber  in  jeder  Form  ist  für  sie  verpönt.  Das  zum 
Leben  Notwendige  erhalten  sie  von  den  Erwerbenden  in  jähr- 
lichen Zuschüssen.  Diese  müssen  aber  im  Laufe  des  Jahres 
aufgebraucht  werden.  Zusammenleben  und  gemeinsame  Mahl- 
zeiten wie  im  Feldlager  (416  C). 

Hier  wird  nun  der  Einwand  erhoben,  dafs  doch  bei  einer 
solchen  Lebensführung  die  Glückseligkeit,  die  doch  in  diesem 
Musterstaat  allen  in  gleichem  Mafse  zu  teil  werden  solle, 
diesem  Stande  nur  in  sehr  geringem  Mafse  zufalle.  Hier 
liegt  ein  wichtiges  Zeugnis  über  das  Prinzip  vor,  von  dem 
aus  dieses  älteste  Staatsideal  Piatos  gestaltet  ist.  Es  soll 
der  glückliche  Staat  sein  (420  C).  Glücklich  offenbar 
im  ganz  landläufigen  Sinne  der  behaglichen  Befriedigung 
aller  Lebensbedürfnisse  in  Sicherheit,  Friede  und  Eintracht. 
Gewifs  war  dies  Prinzip  auch  in  dem  für  uns  verlorenen 


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V.    6.   Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2).        581 

Eingänge  des  sokratischen  Vortrages  zum  Ausdruck  ge- 
kommen. Der  Einwurf  in  bezug  auf  den  Kriegerstand  wird 
eben  durch  diese  Fassung  der  Glückseligkeit  begründet.  Ent- 
kräftet wird  er  dadurch,  dafs  im  Musterstaat  nicht  nur  ein 
Bruchteil  der  Glückseligkeit  teilhaft  werden  soll,  sondern 
alle  gleichmäfsig,  und  dafs  femer  der  Wächterstand  in  seiner 
ehrenvollen  und  für  das  Ganze  bedeutsamen  Stellung  einen 
Ersatz  finden  mufs  für  das,  was  ihm  an  äufserem  Behagen 
abgeht.  Der  Staat  ist  nicht  eine  gleichförmige  Masse, 
sondern  ein  Organismus,  in  dem  jedem  Gliede  wie  seine  be- 
sondere Verrichtung,  so  auch  seine  besondere  Art  des  Wohl- 
seins zukommt. 

Die  Wächter  im  engeren  Sinne  aber  haben  noch  weitere 
Obliegenheiten.  Sie  haben  dafür  zu  sorgen,  dafs  der  Staat 
hinsichtlich  der  räumlichen  Erstreckung  weder  zu  grofs  noch 
zu  klein  sei.  Zu  grofs  darf  er  nicht  werden,  da  er  sonst 
aufhörte,  ein  einheitlicher  zu  sein.  Etwa  zur  Verfügung 
stehende  Landstrecken  über  die  normale  Gröfse  hinaus  soll 
man  unbenutzt  liegen  lassen  (423  B  C).  Sie  haben  ferner 
auch  bei  den  Erwerbenden  zu  sorgen,  dafs  jeder  den  Beruf 
ergreift,  zu  dem  er  tauglich  ist,  und  nur  diesen  betreibt 
(423  D).  Sie  müssen  vor  allem  sorgen,  dafs  in  den  Formen 
der  musischen  Bildung  keine  den  Charakter  des  Krieger- 
standes zur  Entartung  bringenden  Neuerungen  sich  ein- 
schleichen. Die  Weisen  der  Musik  verändern  heifst  die 
Grundlagen  des  Staates  umstürzen  (424).  Desgleichen 
haben  sie  auf  strenge  Ordnungen  in  Tracht  und  Sitte  zu 
halten  (425).  Zu  allem  diesem,  sowie  auch  zur  Handhabung 
der  Marktpolizei,  zur  Festsetzung  von  Zöllen  und  zur  Schlich- 
tung von  Streitsachen  aller  Art  bedarf  es  für  so  Geartete 
keiner  detaillierten  Einzelvorschriften.  Die  Wächter  sind 
das  verkörperte,  personifizierte  Gesetz  (423  D,  425  B  D  flf.). 
In  bezug  auf  die  religiösen  Einrichtungen  des  Staats  da- 
gegen werden  sie  an  das  delphische  Orakel  verwiesen 
(427  B  C). 

Eine  ganz  besonders  wichtige  Obliegenheit  der  Wächter 
aber  ist  in  dem  Bisherigen  (423  E)  nur  erst  gestreift:  die 
Stellung   der  Frauen   und   die   Regelung   des   Geschlechts- 


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582  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Verkehrs  und  der  Kinderzeugung  im  Kriegerstande.  Hier 
schliefst  sich  der  Abschnitt  V.  3—17  an.  Die  Frauen  dieses 
Standes  haben  an  den  Verrichtungen  der  Männer  teilzunehmen 
und  daher  auch  die  gleiche  musisch-gymnastische  Vorbildung 
zu  erhalten  wie  jene.  Auch  in  der  Waffenftihrung  und  im 
Reiten  müssen  sie  ausgebildet  werden  (452  C).  Sie  haben 
daher  z.  B.  nicht  nur  im  Erziehungsalter,  sondern  auch  als 
Erwachsene  in  den  Turnhallen  unbekleidet  (wie  es  die  grie- 
chische Sitte  für  Leibesübungen  mit  sich  brachte)  an  den 
Übungen  der  Männer  teilzunehmen  (452).  Ihre  Tugend  soll 
ihnen  anstatt  des  Kleides  dienen  (457  E).  Auch  die  Nackt- 
heit der  Männer  auf  dem  Übungsplatze  war  einmal  eine 
Neuerung.  Der  Unterschied  in  den  geschlechtlichen  Funk- 
tionen zwischen  Mann  und  Weib  hebt  nicht  die  im  übrigen 
vorhandene  Gleichartigkeit  beider  Geschlechter  auf  (454  D  ff.)- 
Die  Begabung  ist  bei  beiden  die  gleiche;  nur  ist  das  Weib 
im  allgemeinen  ein  schwächeres  Wesen  als  der  Mann  (455  D  E). 
Dies  gilt  also  auch  in  bezug  auf  die  Befähigung  zum  Wächter- 
dienst, selbstverständlich  mit  der  auch  für  die  Tauglichkeit 
der  Männer  für  diesen  Stand  geltenden  Einschränkung 
(458  C).  Sie  werden  also  auch  an  der  Gemeinsamkeit  des 
Lagerlebens  in  vollem  Mafse  teilnehmen  (ib.).  Sie  haben 
daher  auch  zum  Wächteramt  im  engeren  Sinne,  zum  Herr- 
scheramt, Zutritt  (460  B).  Ehe  und  Familien  gibt  es 
nicht.  Dies  würde  nur  Selbstsucht,  Zwiespalt  und  Nepotis- 
mus fördern  (461  Eff.,  463).  Der  ganze' Stand  bildet  eine 
Familie  mit  gemeinsamer  Erziehung.  Kein  Kind  kennt  seine 
Eltern;  die  Verwandtschaftsstufen  im  gleichen  Lebensalter 
(Brüder  und  Schwestern)  wie  in  aufsteigender  und  absteigen- 
der Linie  sind  für  alle  dieselben.  Andernteils  darf  aber  im 
„Staate  der  Glücklichen"  auch  nicht  zügellose  Geschlechts- 
gemeinschaft herrschen  (458  E).  Hier  haben  nun  die  Wächter 
die  bei  den  Haustieren  erprobten  Regeln  der  Züchtung  an- 
zuwenden. Das  beste  Lebensalter  zur  Zeugung  mufs  inne- 
gehalten, das  Bedürfnis  des  Standes  an  Nachwuchs  mufs  be- 
rücksichtigt werden.  In  Verbindung  mit  festlichen  Mahlen 
findet  zu  den  geeigneten  Zeiten  die  Zuteilung  durchs  Los 
statt,  aber  mit  geheimer  Begünstigung  der  Tüchtigsten  in 


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V.    6.   Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2).       583 

beiden  Geschlechtern.  Die  Kinder  der  Minderwertigen  sollen 
nicht  aufgezogen  werden  (459  D) ;  sie  sollen,  ebenso  wie  ver- 
krüppelt Geborene,  an  einem  geheimen  Orte  verborgen,  d.  h. 
doch  wohl  ausgesetzt  werden  (460  C).  Hier  scheint  gegen- 
über dem  Auszuge  im  Timäus,  der  die  Aussetzung  nicht 
erwähnt,  in  der  späteren  Bearbeitung  eine  Verschärfung  vor- 
genommen zu  sein. 

Über  das  Säugen,  das  zeugungsberechtigte  Alter,  über 
die  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  nach  Ablauf  des- 
selben werden  Bestimmungen  getroffen.  In  diesem  Alter, 
das  bei  der  Frau  mit  dem  40.,  beim  Manne  mit  dem  55.  Jahre 
beginnt,  ist  der  Geschlechtsverkehr  (natürlich  nur  mit  der 
entsprechenden  vorgerückten  Altersstufe)  freigegeben.  Kommt 
da  noch  Empfängnis  vor,  so  findet  Abtreibung  oder  Aus- 
setzung statt  (461).  Ohne  Zuteilung  durch  die  Herrscher 
erzeugte  Kinder  gelten  als  Bastarde,  was  mit  ihnen  geschehen 
soll,  wird  nicht  gesagt  (ib.  A  B). 

An  diesem  Punkte  nun,  wo  das  Leben  des  leitenden 
Standes  als  Ganzes  tiberblickt  werden  kann,  wird  auf  die 
früher  aufgeworfene  Frage  betreffs  des  Anteils  dieses  Standes 
an  der  allgemeinen  Glückseligkeit  noch  einmal  zurück- 
gegriffen. Plato  glaubt  hier  in  emphatischer  Weise  versichern 
zu  können,  dafs  der  Stand  nicht  zu  kurz  gekommen  ist 
(465  D  ff.). 

Es  folgen  noch  Bestimmungen  in  bezug  auf  den  Krieg. 
Auch  die  Frauen  nehmen  daran  teil  (in  der  Schlacht  meist 
nur  als  Reservetruppe,  doch  auch  in  vorderster  Schlacht- 
reihe, 471  D),  desgleichen  die  schon  halb  erwachsenen  Kinder, 
wenigstens  mit  allerlei  Dienstleistungen  für  die  Kämpfenden. 
Der  im  Kampfe  Weichende  wird  in  die  Klasse  der  Er- 
werbenden verstofsen,  der  Kriegsgefangene  seinem  Schicksal 
überlassen.  Dem  ruhmvoll  Kämpfenden  darf  während  des 
Feldzugs  kein  von  ihm  geliebtes  Wesen  —  auch  männlichen 
Geschlechts!  —  sich  versagen.  Die  im  Kampfe  Gefallenen 
oder  sonst  ausgezeichnet  Bewährten  werden  im  Tode  wie 
überirdische  Wesen  durch  einen  förmlichen  Kultus  an  ihren 
Grabstätten  verehrt. 

Es    folgen    noch    einige    humane    kriegsrechtliche   Be- 


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584  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Stimmungen  für  Kriege  zwischen  griechischen  Staaten.  Die 
Griechen  sollen  sich  als  ein  einheitliches  Volk  ansehen. 
Dann  folgt  die  entscheidende  Frage,  ob  dieser  Idealstaat, 
in  dem  alles  Gute  verwirklicht  ist,  selbst  wohl  zur  Wirklich- 
keit werden  könnte.  Hier  aber  (472  B)  bricht  das  aus  dem 
„Urstaat"  Herübergenommene  ab;  die  Antwort  erfolgt  vom 
Standpunkte  der  späteren  Umarbeitung  aus.  — 

Hier  hat  also  Plato  den  sokratischen  Gedanken  der 
Staatsreform  im  vollen  Umfange  wieder  aufgenommen.  Es 
soll  ein  Staat  hergestellt  werden,  in  dem  allgemeine  Wohl- 
fahrt und  Zufriedenheit  herrscht.  Er  hatte  eine  Zeitlang 
an  die  Verbesserung  der  öffentlichen  Zustände  Athens  ledig- 
lich durch  Versittlichung  der  Leitenden  auf  Grund  des  philo- 
sophischen Prinzips  der  Seelengesundheit  geglaubt.  Diese 
Sittlichkeit  sollte  erkenntnismäfsig  begründet  werden.  Dieser 
Glaube  ist  geschwunden.  Der  Gedanke  der  Seelengesund- 
heit ist  hier  ganz  in  den  Hintergrund  getreten.  Wo  es  sich 
um  Begründung  sittlicher  Eigenschaften  handelt,  wie  bei  den 
Wächtern,  tritt  an  Stelle  des  intellektuellen  Prinzips  das  Prinzip 
der  Gewöhnung  durch  ein  fein  ausgedachtes  System  staatlicher 
Erziehungsmafsregeln.  Der  früher  als  allmächtig  gepriesenen 
Vernunftbegründung  des  Sittlichen  wird  jetzt  nur  in  dem 
Falle  eine  Bedeutung  zuerkannt,  wenn  vorher  im  Erziehungs- 
alter durch  Gewöhnung  ein  fester  Grund  gelegt  ist  (402  A). 
Aber  es  läfst  sich  überhaupt  der  „Staat  der  Glücklichen" 
auf  dem  von  Sokrates  betretenen  Wege  nicht  herstellen. 
Der  gröfst«  Feind  der  öffentlichen  Wohlfahrt  ist  die  demo- 
kratische Ä^olkssouveränität.  Aus  ihm  fliefsen  alle  Schäden 
des  athenischen  Staatswesens,  deren  Bekämpfung  auf  dem 
Boden  der  bestehenden  Verfassung  unmöglich  ist.  Nicht 
durch  Überredung  der  Massen  in  der  Volksversammlung 
kann  Vernunft  und  Tugend  zum  Siege  gelangen.  Sie  mufs 
in  Waffen  starren.  Nur  durch  Beseitigung  aller  Volksrechte 
kann  der  Wohlfahrtsstaat  hergestellt  werden.  Es  wird  hier 
im  Dienste  der  besten  Sache  das  eingeführt,  was  die  Ty- 
rannen im  Dienste  roher  Eigensucht  geschaffen  hatten: 
eine  bewaffnete  Polizeimacht  gegenüber  dem  seiner  Rechte 
beraubten  Volke.    Die  Erwerbenden  mögen  unter  dem  Schutz, 


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V.    6.   Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (898/2).       585 

aber  auch  unter  dem  Trutz  der  Waffen  friedlich  ihrer  Be- 
schäftigung nachgehen  und  ihr  Leben  geniefsen.  Wie  schon 
bei  Protagoras  angeführt,  ist  es  nicht  unmöglich,  dafs 
dieser  mit  solcher  radikalen  Umgestaltung  vorangegangen 
war.  Auch  das  Prinzip  der  Gewöhnung  weist  auf  seine 
Moraltheorie  hin.  Aufserdem  zeigen  wohl  einige  Züge  — 
der  den  Staat  beherrschende  Stand  der  Wehrhaften  und 
dergl.  —  einen  Einflufs,  der  im  übrigen  doch  auch  wieder 
durchaus  andersartigen  spartanischen  Verfassung.  Wesent- 
lich mitgewirkt  hat  aber  unzweifelhaft  die  ägyptische  Ein- 
richtung der  Kriegerkaste,  aus  der  auch  die  Herrscher  her- 
vorgingen. Nur  die  kastenmäfsige  Abschliefsung  hat  Plato 
nicht  übernommen. 

Vollkommen  deutlich  wird  dieser  Einflufs  Ägyptens, 
wenn  wir  uns  im  T  i  m  ä  u  s  zunächst  denjenigen  Erörte- 
rungen zuwenden,  die  sich  noch  auf  die  Staatsfrage  beziehen. 

Kritias  hat  eine  alte,  auf  Selon  zurückgehende  Geschichte 
gehört.  Selon  hatte  sie  aus  Ägypten  (22,  Krit.  108  D, 
110  A,  113  A),  wo  sich  solche  Überlieferungen  durch  die 
Jahrtausende  erhalten  konnten.  Vor  neun  Jahrtausenden 
hat  in  Athen  ein  Staat  bestanden,  ähnlich  dem  ägyptischen, 
insbesondere  mit  einem  von  den  übrigen  Ständen  abgeson- 
derten Kriegerstande  (24  B).  Dieser  Staat  verdankte  seine 
Einrichtung  der  Göttin  Athene,  die  mit  der  ägyptischen 
Göttin  Neith  dieselbe  ist,  und  die  auch  den  ägyptischen  Staat 
begründet  hat  (21  E,  28  D,  24  D).  Schon  bei  dem  gestrigen 
Vortrage  des  Sokrates  hat  Kritias  sich  über  die  Mafsen  ge- 
wundert, dafs  der  von  Sokrates  entworfene  Staat  fast  in 
allen  Stücken  mit  dem  athenischen  Urstaat  nach  Solons 
Bericht  übereinstimmt.  Dieser  Musterstaat  hat  bei  den  leib- 
lichen Vorfahren  der  Athener  schon  einmal  bestanden  (25  E, 
26  D;  Krit.  110  B). 

So  weit  im  Timäus.  Die  genauere  Darlegung  dieses 
alten  Berichts  bringt  dann  der  „Kritias".  Genau  dieselben 
Einrichtungen,  die  von  Sokrates  seinem  idealen  Krieger- 
stande beigelegt  wurden,  bestanden  bei  dem  Kriegerstande 
jenes  athenischen  Urstaats  (HO  0  D,  112  C).  Diese  Krieger 
wohnten  auf  der  Höhe  der  Akropolis,  die  damals  eine  weit 


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586  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

gröfsere  Ausdehnung  hatte  als  zurzeit  (111  E  flf.).  Es 
wurde  darauf  gesehen,  dafs  die  Zahl  der  Krieger  im  waffen- 
fähigen Alter,  die  Frauen  eingerechnet,  20000  nicht  über- 
stieg. Diese  beherrschten  ganz  Griechenland  und  die  Länder 
westlich  bis  zu  den  Säulen  des  Herakles  (112  D  f.,  108  E). 

Nun  befand  sich  jenseits  dieser  Säulen  damals  eine  ge- 
waltige Insel,  die  Insel  Atlantis,  gröfser  als  Asien  und  Afrika 
zusammen  (Tim.  24  E,  108  Ej,  und  auf  dieser  Insel  ein 
mächtiges  Königreich  (114),  das  auch  Nordafrika  und  Teile 
von  Stidwesteuropa  beherrschte  (Tim.  25).  In  der  Schilde- 
rung dieses  Reiches  bricht  der  Kritias  ab  (121  C).  Nur 
kurz  wurde  schon  vorher  im  Eingange  des  Timäus  erwähnt, 
dafs  ein  gewaltiger  Eroberungszug  dieses  Reiches  gegen 
Griechenland  durch  die  Tapferkeit  der  athenischen  Krieger 
abgewehrt  worden  sei  (25,  Krit.  109  A,  112  E),  und  dafs 
später  das  Meer  die  Insel  Atlantis  verschlungen  habe  (25  C 
D ;  Krit.  108  E). 

Gewifs  sollte  der  Kritias  im  weiteren  Verlaufe  durch 
genaue  Schilderung  dieses  glorreichen  Sieges  die  von  Plato 
vorgeschlagene  Staatsform  empfehlen.  Für  uns  ist  die  tiber- 
all hervortretende  starke  Bezugnahme  auf  Ägypten  —  eines 
weiteren  Hinweises  auf  dieselbe  bedarf  es  wohl  nicht!  — 
von  besonderer  Bedeutung.  Es  sind  frische  und  neue  Ein- 
drücke, die  hier  wiederklingen! 

2.  Der  Timäus.  Für  den  von  Plato  eingenommenen 
Standpunkt  ist  am  bezeichnendsten,  dafs  mit  der  Ideenlehre 
in  euklidischer  Form  die  pythagoreische  Raum-StoflFlehre 
verbunden  wird,  um  so  die  Wirklichkeit  der  Erscheinungs- 
welt zu  retten.  Dazu  tritt  dann  eine  eigenartige,  nur  hier 
sich  findende  Lehre  vom  Wesen  und  Schicksal  der  Seele, 
die  vielleicht  auf  die  in  Unteritalien  erworbene  Bekannt- 
schaft mit  der  pythagoreischen  Ordenslehre  zurückzuführen 
ist.  Mit  diesen  Elementen  verbindet  sich  dann  endlich  eine 
zum  Teil  bis  ins  einzelste  durchgeführte,  phantastische  Natur- 
lehre, die  mutmafslich  zum  Teil  von  Philolaos  stammt. 
Die  spärlichen  und  unsicheren  Nachrichten  über  eine  von  Plato 
erworbene  Schrift  desselben ,  nach  der  er  gearbeitet  hätte, 
sind  schon  früher  angeführt  worden.    Die  Einzelheiten  dieser 


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V.    6.  Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2).       587 

höchst  phantastischen  Vorstellungen  sind  aber  ohne  Be- 
deutung für  seine  weitere  Entwicklung.  Nur  die  Haupt- 
punkte sollen  hier  hervorgehoben  werden,  und  zwar  in  freier, 
nicht  an  die  Darstellung  Piatos  sich  bindender  Anordnung. 
Die  Welt  ist  nicht  eine  blofse  Scheinwelt.  Sie  ist  zwar 
das,  was  nie  ist,  sondern  nur  immer  wird  (27  D  f.),  aber 
als  solches  hat  sie  doch  Realität.  Die  Grundbedingungen 
für  ihr  Zustandekommen  sind  folgende:  1.  Ein  Einheit- 
liches, das  ewig  in  demselben  Zustande  ist,  un- 
entstanden,  unveränderlich,  bleibend,  die  Welt  der  Ur- 
oder  Musterbilder,  die  durch  das  Denken  erfafst  wird 
(27  D,  28  A  C,  29,  48  E,  51  E  f.).  Dieses  Einheitliche 
umfafst  aber  in  sich  zugleich  die  ganze  Mannigfaltigkeit 
des  durch  das  Denken  zu  Erfassenden  (30  C  D).  Hier  tritt 
uns  die  euklidische  Vergegenständlichung  der  sokratischen 
Begriffe  entgegen.  Die  Abstammung  aus  der  Begritfslehre 
findet  ihren  Ausdruck  in  der  wiederholten  nachdrücklichen 
Betonung  der  Erfafsbarkeit  durch  das  Denken  und  des  un- 
veränderten Beharrens.  Beides  trifft  für  die  Begriffe  zu. 
Sie  sind  ja  selbst  Gebilde  des  Denkens  und  zwar  solche  von 
beharrender  Festigkeit.  Daher  wird  schon  im  Euthyphron 
der  Begriff  der  Frömmigkeit  als  die  „Gestalt"  (eidos)  be- 
zeichnet, durch  die  alles  Fromme  fromm  ist,  und  als  das 
Musterbild  (parädeigma) ,  auf  das  hinblickend  wir  bei  den 
einzelnen  Handlungsweisen  entscheiden  können,  ob  sie  unter 
den  Begriff  der  Frömmigkeit  fallen  (6  D  f.).  Während  aber 
im  Euthyphron  nur  von  dem  Musterbilde  einer  sittlichen 
Eigenschaft  die  Rede  ist  und  an  eine  Vergegenständlichung, 
eine  Existenz  aufserhalb  des  Denkens  nicht  gedacht  wird, 
beziehen  sich  hier  die  Musterbilder  (auch  hier  der  Ausdruck 
paradeigma  !)  auf  alles  Existierende  und  es  ist  hier  eine  Ver- 
gegenständlichung,  eine  Verwandlung  in  eine  Wesenheit, 
eine  unkörperliche  Substanz  eingetreten.  Einmal  werden 
die  Urbilder  „ewige  Götter"  genannt  (37  C).  Hier  haben 
wir  die  Urform  der  platonischen  Ideenlehre  vor  uns,  wenn- 
gleich das  Wort  „Idee"  noch  nicht  vorkommt:  eine  ewige, 
einheitliche,  wirkungslose  Welt  starrer  Urbilder.  Hier  tritt 
uns  der  Umschlag  der  BegriflFslehre  ins  Metaphysische,  mit 


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588  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

dem  Euklid  vorangegangen  war,  bei  Plato  zum  ersten  Male 
entgegen,  und  auf  diese  Wesenheiten  wird  dann  auch  die 
Erfafsbarkeit  durchs  Denken  und  die  Unveränderlichkeit 
übertragen.  Wegen  der  Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit, 
die  dieser  Welt  der  Urbilder  eigen  ist,  kann  es  auch  nur 
eine  Welt  geben  (31  A). 

2.  Der  Raum  in  doppelter  Bedeutung,  einesteils  als 
die  Bedingung  für  die  Möglichkeit  einer  sinnenfälligen,  aus- 
gedehnten Welt  überhaupt,  andernteils  aber  auch  als  der 
eigentliche  und  ursprüngliche  Weltstoff.  In  ersterer^ Be- 
ziehung wird  er  bezeichnet  als  das  Leere,  in  dem  alles 
Werdende  wird  (50  D  ff.)  als  die  Amme  und  das  Aufnehmende 
des  Werdens  (49  A,  50  B  C,  52  D,  53  A),  die  „Mitursache" 
der  Dinge  (46  C).  Er  ist  dem  Untergange  nicht  unterworfen 
und  gewährt  allem  Werdenden  Platz.  Er  ist  weder  durch  die 
Sinne  noch  durch  das  eigentliche  Denken  erfafsbar,  sondern 
nur  durch  eine  Art  unechten  oder  Afterdenkens,  sofern  ja 
notwendig  das  Sinnenfällige  (nicht  das  Urbildliche!)  an  irgend 
einem  Orte  sein  und*  einen  Raum  einnehmen  mufs  (52  B). 
In  diesem  Sinne  des  Aufnehmens,  des  „Worin",  vergleicht 
Plato  den  Raum  auch  mit  der  Mutter,  während  die  Urbilder 
dem  Vater  gleichen  (50  C).  Freilich  ist  diese  Vergleichung 
insofern  ungenau,  als  keins  von  beiden,  wie  doch  die  Eltern 
bei  der  Entstehung  des  Nachwuchses,  eine  wirkende  Rolle  hat. 

Der  Raum  ist  aber  ferner  auch  der  eigentliche  Welt- 
stoff. Die  vier  Elemente  können  dies  nicht  sein,  da  sie  in 
beständiger  Umbildung,  im  Übergange  ineinander  begriffen 
sind  und  ihnen  daher  keine  bestimmte  Beschaffenheit  zu- 
kommen kann  (48  B,  49  C  ff.).  Diese  Schwierigkeit  findet 
bei  dem  stets  sich  gleichbleibenden  Räume  nicht  statt 
Dieser  wird  daher  geradezu  als  der  Teig  für  alles  bezeichnet, 
in  dem  die  Abbilder  der  ewigen  Urbilder  im  wechselnden 
Werden  ihre  Ausprägung  erhalten  (50  B  f.).  Wenn  nach 
dieser  ganz  deutlichen  Stelle  noch  ein  Zweifel  sein  könnte, 
dafs  Plato  hinsichtlich  der  Vereinerleiung  von  Raum  und 
Stoff  sich  hier  an  den  wissenschaftlichen  Pythagoreismus  an- 
geschlossen hat ,  so  würde  dieser  Zweifel  seine  volle  Er- 
ledigung finden  durch  die  Art,  wie  die  vier  Elemente  aus 


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V.    6.   Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2).       589 

räumlichen  Gebilden  abgeleitet  werden.  Da  aber  diese  Theorie 
zur  Entstehung  der  sinnenfälligen  Welt  gehört,  so  kann 
darauf  erst  nachher  eingegangen  werden.  Es  mufs  aber  bei 
dieser  Fassung  des  Raumes  als  Weltstoff  doch  noch  etwas 
vorgeschwebt  haben,  was  über  die  blofse  Räumlichkeit  hinaus- 
geht. Es  war  nämlich  vor  der  Weltbildung  das  Sinnen- 
fällige „nicht  im  Ruhezustande,  sondern  in  einer  unharmo- 
nischen und  ungeregelten  Bewegung**  (30  A).  Hiernach 
scheint  also  doch  noch  ein  Unterschied  zwischen  dem  Raum 
als  der  blofsen  Möglichkeit  des  Ausgedehnten  und  dem 
Räume  als  dem  eigentlichen  Weltstoff  angenommen  zu 
werden.  Ersterer  ist  der  blofse  Raum,  letzterer  der  be- 
wegte Raum.  Hätte  Plato  diesen  Gedanken  weiterverfolgt, 
80  wäre  er  im  Gegensatze  gegen  einen  Welt  Stoff  im  engeren 
Sinne,  eine  Urmaterie,  auf  eine  Theorie  der  Bewegung 
als  des  ursprünglich  Vorhandenen,  eine  kinetische  Welt- 
bildungstheorie gekommen.  Es  bleibt  aber  hinsichtlich  dieses 
Punktes  bei  einer  vereinzelten  Andeutung. 

3.  Die  Urbilder  sind  unveränderliche,  räum-  und  zeit- 
lose, wirkungslose  Wesenheiten.  Der  Raum  als  Weltstoff 
ist  ungeformt,  und  in  ihm  selbst  liegt  kein  Formprinzip. 
Selbst  an  der  einzigen  Stelle,  wo  von  einer  vorweltlichen 
Bewegung  die  Rede  ist,  wird  diese  als  eine  unharmonische 
und  ungeregelte  und  der  vorhandene  Zustand  als  ein  solcher 
der  Unordnung  bezeichnet.  So  bedarf  es  also,  wenn  eine 
sinnenfällige  Welt  nach  dem  Muster  der  Urbilder  entstehen 
soll,  einer  besonderen  wirkenden  Ursache,  eines  Welt- 
bild n  e  rs.  Dieser  wird  verglichen  mit  einem  Künstler  oder 
Handwerker  (demiurgös).  Auch  für  den  Künstler  gibt  es 
ein  Urbild,  auf  das  er  bei  seinem  Bilden  hinblicken  mufs, 
wenn  das  Gebilde  gut  ausfallen  soll  (28  A).  Einen  solchen 
Demiurgös  nun  gibt  es  auch  für  die  Welt  (29  A).  Es  ist 
nicht  leicht,  von  diesem  „Verfertiger  und  Vater  des  All" 
eine  Vorstellung  zu  gewinnen  und  diese  mitzuteilen  (28  C). 
Es  mufs  aber  angenommen  werden,  dafs  er  „gut"  (d.  h. 
wohl  tüchtig)  ist  und  deshalb  bei  der  Weltbildung  sich  nach 
den  ewigen  Urbildern  richtet  (29  A). 

Über  die  sinnenfällige  Welt  kann  nur  mit  Wahrschein- 


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590  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

lichkeit  geredet  werden.  Denn  einesteils  ist  sie  eine  Welt 
des  blofsen  Werdens  und  der  Veränderung,  für  die  es  keine 
Vernunfterkenntnis  gibt  (28  A),  andernteils  erlaubt  die 
menschliche  Schwäche  nur  wahrscheinliche  Erkenntnisse 
(29  C). 

Die  vom  Weltbildner  angestrebte  Vollkommenheit  konnte 
in  der  Sphäre  des  Sichtbaren  nur  durch  einen  mit  einer 
Seele  ausgestatteten  Körper  erreicht  werden.  Die  Welt 
mufste  ein  vernunftbegabtes  lebendes  Wesen  werden  (30  C  flF.). 
Für  ein  Wesen,  das  eine  Vielheit  belebter  Wesen  in  sich 
fassen  sollte,  war  die  Kugelform  die  geeignetste  Form.  Sie 
wird  dadurch  auch  der  Gottheit  selbst  ähnlich.  Der  kreis- 
förmige Umschwung  ihrer  Peripherie  entspricht  der  Be- 
wegungsart des  Denkens,  das  nach  dem  Timäus  ebenfalls 
eine  solche  Kreisbewegung  ist  (33  B— 34  A).  Zunächst  wird 
die  Weltseele  geformt,  ein  phantastisches  Gebilde,  das  nach 
einem  künstlichen,  schwer  verständlichen  Zahlensystem  gleich- 
sam als  Gerüst  der  Welt  ausgespannt  wird  (35,  37  A).  Sie 
erstreckt  sich  unsichtbar  vom  Mittelpunkte  aus  durch  das 
Ganze  und  zugleich  als  Hülle  um  die  äufsere  Kugelfläche 
(34  B,  36  D  f.).  In  ihrer  inneren  Ausbreitung  sind  die  sieben 
Planetensphären  präformiert  (36  D,  38  C).  Es  wird  ferner 
die  Zeit  gebildet  als  Abbild  der  Ewigkeit  der  Urbilder  im 
immer  Werdenden  (37  C  ff.). 

Der  Stoff  der  Einzeldinge,  die  vier  Elemente,  entsteht 
aus  zwei  Arten  rechtwinkliger  Dreiecke.  Die  eine  Art  der- 
selben hat  ungleiche  Seiten,  aber  von  einem  bestimmten 
Gröfsenverhältnis  (54  D).  Vier  solcher  Dreiecke  zu  einer 
körperlichen  Figur  zusammengesetzt  ergeben  das  Tetraeder. 
Dies  bildet  wegen  seiner  Kleinheit  und  Spitzigkeit  den 
Grundstoff  des  Feuers.  Aus  acht  solcher  Dreiecke,  dem  ver- 
doppelten Tetraeder,  entsteht  das  Oktaeder.  Aus  Oktaedern 
besteht  die  Luft.  Zwanzig  solcher  Dreiecke  zusammengefügt 
ergeben  das  regelmäfsige  Zwanzigeck  (Ikosaeder),  dem  Wasser 
entsprechend.  Die  zweite  Art  der  rechtwinkligen  Dreiecke 
ist  zugleich  gleichschenklig.  Aus  24  solchen  Dreiecken  ent- 
steht angeblich  der  Würfel.  Dieser  ist  die  Grundgestalt  für 
das   Erdelement,    das   massigste   der   vier   Elemente.     Ein 


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V.    6.   Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/^).       591 

fünfter  auf  diese  Weise  abzuleitender  regelmäfsiger  Körper, 
das  Zwölfeck  (Dodekaeder),  soll  der  Grundgestalt  der  Welt 
überhaupt  entsprechen  (53  C  ff.).  Bei  dieser  Art  der  Zu- 
sammensetzung der  Elemente  aus  Körpern,  die  in  letzter 
Instanz  aus  gleichgestalteten  Dreiecken  bestehen,  ward  es 
für  Plato  ein  leichtes,  den  von  ihm  als  Tatsache  angenommene 
Übergang  der  Elemente  ineinander  zu  erklären.  Nur  das 
Erdelement,  das  aus  einer  anderen  Art  von  Dreiecken  be- 
steht, ist  von  diesem  Übergange  ausgeschlossen  (56  D  ff.). 
Doch  gerät  er  hier  in  einen  Widerspruch  mit  sich  selbst, 
da  er  vorher  auch  die  Erde  am  Kreislauf  der  Elemente 
hatte  teilnehmen  lassen  (49  C). 

Es  ist  leicht  ersichtlich,  dafs  diese  Art,  physische  Körper 
aus  ebenen  Figuren  entstehen  zu  lassen,  eine  völlig  unmög- 
liche ist.  Es  ist  aber  ferner  ganz  evident,  dafs  diese  Art,  die 
sinnenfällige  Welt  zu  retten,  indem  Raumteile  an  Stelle 
des  Stoffes  gesetzt  wurden,  die  der  Pythagoreer  ist.  Es  ist 
schon  früher  die  Vermutung  ausgesprochen  worden,  dafs 
die  Weiterbildung  dieser  pythagoreischen  Lehre,  die  hier 
in  der  Verteilung  der  vier  Elemente  an  die  regelmäfsigen 
Körper  und  in  der  Ableitung  der  letzteren  aus  Dreiecken 
zu  Tage  tritt,  vielleicht  schon  von  Philolaos  vorgenommen 
worden  war.  Jedenfalls  liegt  hier  eine  Anlehnung  an  die 
Stofflehre  der  Pythagoreer  vor. 

Die  vier  Elemente  sind  nun  ferner,  wie  die  Welt  als 
Ganzes,  beseelt.  Es  gibt  Feuer-,  Wasser-,  Luft-  und  Erd- 
wesen. Die  Feuerwesen  sind  die  Planetengeister,  die  auch 
Götter  genannt  werden  (39  E  ff.).  Hier  schliefst  sich  ein 
sehr  sarkastisch  gehaltener  Ausfall  gegen  die  Götter  des 
Volksglaubens  an,  der  so  ziemlich  auf  dasselbe  hinauskommt 
wie  das  skeptische  Wort  des  Protagoras  (40  D  ff.):  „Über 
die  anderen  Gottheiten  aber  zu  sprechen  und  ihre  Ent- 
stehung zu  kennen,  geht  über  unsere  Kräfte.  Man  mufs 
hier  der  Überlieferung  Glauben  schenken,  denn  die  Vertreter 
derselben  nennen  sich  ja  Nachkommen  der  Götter,  müssen 
also  ihre  Vorfahren  kennen,  wenngleich  sie  weder  wahr- 
scheinliche noch  notwendige  Beweisgründe  aufzuweisen  haben." 

Die  Beseelung   der  Fixsterne  bilden   die  unsterblichen 


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592  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Vernunftseelen  der  Menschen.  Sie  werden  vom  Weltbildner 
aus  den  bei  der  Bildung  der  Weltseele  übriggebliebenen 
SeelenstofiFresten  gebildet  (41  D,  69  C).  Ihre  Zahl  stimmt 
mit  der  der  Fixsterne  überein.  Auf  diese  gesetzt,  über- 
schauen sie  durch  den  Umschwung  des  Himmelsgewölbes 
den  ganzen  Bau  des  Weltalls.  Es  ist  aber  ihr  Los,  nach 
dieser  Weltschau  auf  den  verschiedenen  Planeten  in  Körper 
eingeschlossen  zu  werden.  In  dieser  Lage  ist  es  ihre  Auf- 
gabe, nach  vollkommener  Gotteserkenntnis  zu  streben  und 
über  die  durch  Berührung  mit  dem  Sinnlichen  erzeugten 
heftigen  Erschütterungen ,  die  Sinneseindrücke  und  die 
AfiFekte,  die  Herrschaft  zu  behaupten  (41  E  fif.). 

Die  Herstellung  der  Körper  nach  der  Versetzung  auf 
die  Planeten  und  der  niederen,  sterblichen  Seelenteile  über- 
trägt der  Weltbildner  den  einzelnen  Planetengöttern  (42  D, 
41  A  B).  Sitz  der  Denkseele  ist  der  Kopf;  der  übrige 
Körper  ist  nur  erforderlich,  um  diesem  Halt  und  die  Mög- 
lichkeit der  Fortbewegung  (wozu  auch  die  Sinne  notwendig 
sind) ,  zu  verleihen  (44  D  fif.).  Um  dieses  Körpers  willen 
sind  aber  wieder  die  beiden  niederen  Seelenteile  erforder- 
lich, die  ihren  Sitz  in  den  beiden  Höhlen  des  Rumpfes 
haben.  Der  edlere  derselben,  „das  Mutige",  hat  in  ^er 
Brusthöhle  seinen  Sitz  und  vermag  auch  der  Vernunftse^le 
in  der  Zügelung  der  Begierden  des  Körpers  und  des  be- 
gehrenden Seelenteils  Hilfe  zu  leisten  (70).  Diese  Lehre 
von  den  Seelenteilen  kommt  im  Timäus  zuerst  vor.  Der 
ursprüngliche  Mensch  ist  männlichen  Geschlechts  (42  A), 
aber  ohne  Zeugungs trieb  und  Zeugungsorgane  (91  A). 

Welche  Seelen  nun  jene  Herrschaft  behaupten,  die 
gelangen  —  natürlich  körperlos  —  zu  seligem  Leben  auf 
ihren  Fixstern  zurück.  Denen  aber  dies  nicht  gelingt,  die 
müssen  eine  zweite  Einkörperung  in  der  minderwertigen 
Natur  des  Weibes  erleiden.  Und  so  weiter  abwärts  in  tie- 
rische Wesen,  je  nach  der  besonders  bei  ihnen  hervor- 
getretenen Schwäche,  so  lange,  bis  die  Vernunft  wieder  zur 
Herrschaft  gelangt  (42  Bf.,  90  E).  Mit  der  Entstehung 
des  Weibes  erst  beginnt  die  Möglichkeit  der  Fortpflanzung, 
mit  der  noch  tieferen  Entartung  die  Existenz  der  Tiere  (91). 


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V,    6,  Die  schriftstellerische  Frucht  der  Reisen  (393/2).       593 

Ohne  jene  Schwäche  wäre  das  körperliche  Leben  nur  eine 
kurze  Episode  gewesen.  So  ist  also  das  Weib  ein  rück- 
gebildeter Mann,  und  sämtliche  Tiere  sind  in  verschiedenem 
Grade  rückgebildete  Menschen.  Die  ganze  Theorie  ist  in 
gewisser  Weise  ein  auf  den  Kopf  gestellter  Darwinismus. 

Dafs  nun  in  dieser  Lehre  vom  Menschenlose  eine  Be- 
einflussung durch  die  damalige  Gestalt  der  pythagorei- 
schen Ordenslehre  vorliegt,  ist  mindestens  sehr  wahr- 
scheinlich. Doch  läfst  sich  nicht  bestimmen,  in  welchem 
Mafse  Plato  das  von  dort  her  Übernommene  selbständig 
umgebildet  hat.  Die  Seelenlehre  weist  hier  in  der  Drei- 
teilung der  Seele  in  einen  unsterblichen  und  zwei  sterbliche 
Teile  Züge  auf,  die  im  Gorgias  und  Menon  noch  nicht  vor- 
kommen, und  die  Plato  auch  nachher  teilweise  wieder  fallen 
läfst.  Die  Verbindung  der  Seelen  mit  den  Fixsternen  und 
die  Einkörperung  ohne  ursprüngliche  Verschuldung  sind 
ebenfalls  Züge,  die  nur  im  Timäus  vorkommen  u.  s.  w. 
Dieser  Teil  des  Timäus  ist  eine  Erlösungslehre  im  echt 
pythagoreischen  Sinne.  Es  handelt  sich  nicht  mehr  um 
Seelengesundheit,  sondern  um  Erlösung  vom  Körper  und 
dem  Kreislauf  der  Geburten. 

In  grofser  Ausführlichkeit  wird  im  Timäus  eine  Natur- 
lehre vorgetragen,  bei  der  alles  einzelne  in  phantastischer 
Weise  aus  der  göttlichen  Zweck tätigkeit  abgeleitet  wird. 
Hiervon  nur  noch  einige  wenige  Proben.  Zur  Ernährung? 
der  ursprünglich  allein  vorhandenen  Männer  wurden  die 
Pflanzen  geschaffen.  Auch  diese  sind  beseelt,  besitzen  aber 
nur  den  niederen  Teil  der  sterblichen  Seele  (77).  Es  herrschte 
also  ursprünglich  Vegetarianismus.  Warum  dieser  nicht 
dauernd  gilt,  da  ja  doch  anscheinend  alle  Tiere  menschliche 
Seelen  haben,  wird  nicht  gesagt.  Die  Nägel  am  mensch- 
lichen Körper  werden  aus  dem  Vorauswissen  der  Untergötter 
erklärt,  dafs  künftig  infolge  der  Verschuldung  eine  Um- 
bildung in  Tierkörper  stattfinden  werde  (76  D  f.).  Es  wird 
also  der  künftige  Tierkörper  geradezu  als  eine  Umbildung 
des  menschlichen  gedacht:  ein  umgekehrter  Darwinismus 
im  strengsten  und  eigentlichsten  Sinne.  Bemerkenswert  ist 
dagegen,  dafs  Plato  in  ausdrücklichen  und  deutlichen  Worten 

Döring.  I.  38 


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594  Zweite  Perio'de.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

die  Keime  des  künftigen  Menschen  als  in  die  Gebärmutter 
eintretende  kleine  Tierchen  bezeichnet  (91  D). 

Ein  wichtiges  Hilfsmittel  zur  Stärkung  der  Vemunft- 
seele  besteht  in  der  Erkenntnis  der  Bahnen  der  Himmels- 
körper. Auch  die  Vernunfttätigkeit  ist  nämlich,  wie  oft  be- 
tont wird,  ein  kreisförmiger  Umlauf.  Diese  sonderbare  Lehre 
geht  —  vielleicht  durch  Vermittlung  von  Philolaos  — 
sehr  wahrsclieinlich  auf  Alkmäon  zurück,  der  ja  zwischen 
der  ewigen  Bewegung  der  Gestirne  und  dem  Leben  der 
Vernunftseele  eine  enge  Gleichartigkeit  angenommen  hatte. 
Jene  Erkenntnis  der  ^Umläufe  des  All"  kann  also  die  „ver- 
derbten Umläufe  in  unserem  Kopfe  verbessern"  (90  D).  Wo 
man  sich  dies  Hilfsmittel  nicht  zu  nutze  macht,  findet  sogar 
—  im  Widerspruch  mit  der  früheren  Stelle,  an  der  die  Stufe 
des  Weibes  deutlich  als  von  allen  zu  durchlaufende  Zwischen- 
stufe bezeichnet  wurde  (42  B  ff.)  —  direkte  Einkörperung 
als  Vögel  und  noch  niedere  Tiere  statt.  Die  Stufenfolge 
ist  hier:  Lufttiere,  Landtiere,  Wassertiere.  Unter  den 
letzteren  stellen  wieder  die  Muscheln  den  höchsten  Grad 
der  Vernunftlosigkeit  und  Stumpfheit  dar.  Doch  ist  auch 
selbst  von  dieser  niedrigsten  Stufe  aus  durch  Wiedererwachen 
der  Vernunft  eine  Rückkehr  zu  höheren  Stufen  in  künftigen 
Geburten  möglich,  wie  überhaupt  bei  diesen  ein  beständiges 
Aufwärts-  und  Abwärtsgehen  stattfindet  (91  F  fl".). 

Dafs  nun  der  Timäus  nicht,  wie  meist  angenommen 
wird,  dem  höheren  Alter  Piatos  angehört,  sondern  der  Zeit 
Unmittelbar  nach  den  Reisen,  ergibt  sich  aus  folgenden 
Gründen : 

1.    Aus  der  engen  Verbindung  mit  dem  Urstaat; 

2  aus  den  deutlichen  Beziehungen  zum  wissenschaft- 
lichen Pythagoreismus,  mutmafslich  in  der  Umformung  des- 
selben durch  Philolaos,  und  zur  Ordenslehre; 

3.  aus  der  primitiven  Form  der  Ideenlehre,  die  sich  zu 
der  späteren  Entwicklung  als  Anfangsstufe  verhält.  Ins- 
besondere hat  er  später  die  Annahme  der  Materie  ganz 
fallen  gelassen; 

4.  aus  dem  ganzen,  noch  rohen  und  primitiven  Charakter 
des  platonischen  Denkens  im  Timäus. 


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V.    7.   Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  etc.     595 

Die  volle  Bestätigung  dieser  Auffassung  des  Timäus  als 
einer  blofsen  Vorstufe  des  eigentlichen  platonischen  Systems 
kann  freilich  nur  eine  Überschau  des  gesamten  Entwick- 
lungsganges gewähren. 

7.    Vertierung:  der  Lehre  von  der  Seelengresundheit 

durch  die  Seelenlehre  des  Timäus.    Umarbeitung: 

des  Urstaats  (392). 

Es  ist  nicht  leicht,  mit  Sicherheit  anzugeben,  weshalb 
Plato  die  geplante  Zusammenstellung  von  vier  Vorträgen 
unvollendet  gelassen  hat.  Es  ist  jedoch  von  vornherein 
wahrscheinlich,  dafs  ihn  einesteils  das  in  dieser  Tetralogie 
Geplante  nicht  mehr  befriedigte,  und  dafs  andernteils  eine 
höhere  Aufgabe  auf  Grund  neuer  Einsichten  ihn  reizte. 

Den  ersten  Punkt  anlangend,  so  war  die  Zusammen- 
stellung der  Ergebnisse  seiner  Reisen  eine  mehr  äufserliche, 
des  inneren  Zusammenhanges  entbehrende.  Ja,  es  liegen 
in  den  verschiedenen  Teilen  der  Tetralogie  geradezu  wider- 
sprechende Anschauungen  vor.  Die  Ztichtungstheorie  und 
die  hohe  Bewertung  des  weiblichen  Geschlechts  im  Urstaat 
läfst  sich  mit  der  Form  der  Seelenwanderungslehre  im 
Timäus  kaum  vereinigen.  Nach  letzterer  ist  der  angeborene 
Zustand  nicht  Folge  der  Beschaffenheit  der  Eltern,  sondern 
des  Verhaltens  in  den  früheren  Einkörperungen,  und  die  Geburt 
als  Weib  ist  eine  Strafe.  Dazu  kam  die  noch  recht  rohe 
Form,  in  der  die  Erlösungslehre  im  Timäus  aufgestellt  war: 
Erkenntnis  des  Göttlichen  und  Herrschaft  über  die  Affekte 
und  Begierden  als  die  Bedingung  der  Erlösung. 

Andernteils  enthielt  die  im  Timäus  zuerst  aufgestellte 
Lehre  von  den  drei  Seelenteilen  die  Aufforderung,  die  Lehre 
von  der  Seelen gesundheit  als  dem  Ziele  des  sittlichen  Ver- 
haltens in  neuer,  vertiefter  Weise  zu  gestalten.  Wie  ver- 
hielten sich  die  drei  Seelenteile  im  normalen  und  im  nicht 
normalen  Seelenzustande?  Plato  wendet  sich  von  der  Er- 
lösungslehre zeitweilig  wieder  zu  seinen  Bemühungen  um 
Moralbegründung  zurück.  Er  gestaltet  den  Urstaat  zu  einer 
Lehre  vom  normalen  und  verkehrten  Zustande  der  Seele  um, 

38* 


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596  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Der  Musterstaat  wird  in  den  Dienst  der  Sittenlehre  gestellt. 
Die  Handhabe  dazu  bot  ihm  der  Umstand,  dafs  es,  wie  in. 
der  Seele  drei  Teile,  so  im  Musterstaat,  die  eigentlichen 
Herrscher  als  ein  besonderer  Stand  gezählt,  drei  Stände  gab. 
Der  Normalstaat  konnte  als  Vorbild  für  den  normalen  Zu- 
stand der  Seele  verwertet  werden.  Die  Staatslehre  wird 
zur  Ethik. 

Diese  vertiefende  Rückkehr  zum  Moralismus  kann  an 
keine  spätere  Stelle  als  die  hier  angenommene,  gesetzt 
werden.  Unmittelbar  darauf  beschreitet  der  Genius  Piatos 
völlig  neue  Bahnen.  Die  Umgestaltung  des  Urstaats  besteht 
in  folgendem:  1.  ist,  wie  schon  hervorgehoben,  Einleitung 
und  Schlufs  gestrichen;  2.  sind  in  dem  Verbleibenden,  ab- 
gesehen von  der  Umwandlung  in  die  Gesprächsform,  nur 
einige  leichte  Änderungen  und  Zusätze  (Hinweisungen  auf 
den  nunmehrigen  ethischen  Endzweck)  vorgenommen;  vor- 
nehmlich aber  wird  3.  durch  Hinzufügung  einer  neuen  Ein- 
leitung (I.  und  IL  1—10),  sowie  der  Abschnitte  IV.  6—19, 
VIII — X  die  eigentliche  Umwandlung  vollzogen.  Welcher 
Art  diese  ist,  das  mufs  nun  durch  Darlegung  des  Gedanken- 
ganges in  seinen  wesentlichen  Zügen  im  einzelnen  gezeigt 
werden. 

Die  neue  Einleitung  zeigt  einen  völlig  veränderten 
Schauplatz  und  völlig  neue  Personen.  Das  Gespräch  wendet 
sich  dem  Begriffe  der  Grerechtigkeit  zu.  Mehrer  Bestim- 
mungen desselben  werden  versucht,  die  sich  aber  als  un- 
zulänglich erweisen.  Thrasymachos  tritt  mit  der  schon 
früher  angeführten  Gewaltlehre  auf,  nach  der  die  Gerechtig- 
keit der  Beherrschten  darin  besteht,  dafs  sie  sich  den  nach 
den  Interessen  der  Herrschenden  entworfenen  Gesetzen  willig 
fügen,  die  der  Herrschenden  aber  in  der  schrankenlosen 
Geltendmachung  ihres  eigenen  Vorteils.  Demgegenüber 
macht  Sokrates  geltend,  dafs  mit  dem  Staatszwecke  der  all- 
gemeinen Wohlfahrt  die  Befriedigung  des  wahren  Interesses 
der  Herrschenden  sehr  wohl  Hand  in  Hand  gehen  könne. 
Dies  Interesse  bestehe  bei  den  Edleren  nicht  in  Gold  und 
Ehre,  sondern  in  der  Verhütung  des  Übelstandes,  dafs  sie 
selbst  der  Herrschaft  der  Schlechteren  unterworfen  werden. 


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V.    7.   Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  etc.     597 

Das  Wesen  der  Gerechtigkeit  aber  wird  jetzt  dahin  bestimmt, 
dafs  sie  der  wesentlichste  Teil  der  Vollkommenheit  der  Seele 
sei,  ohne  die  es  keine  wahre  Glückseligkeit  gebe.  So  ist  die 
Gerechtigkeit  als  wesentliche  sittliche  Eigenschaft  in  den 
Mittelpunkt  des  sittlichen  Verhaltens  gestellt.  Aber  auch 
dies  Ergebnis  erscheint  als  unbefriedigend,  weil  in  ihm  doch 
die  eigentliche  Frage,  was  das  Gerechte  sei,  noch  keine 
Lösung  gefunden  habe. 

Damit  schliefst  das  erste  Buch.  Die  Vemunftbegrün- 
dung  des  sittlichen  Verhaltens  (der  ethische  Intellektua- 
lismus) erfordert  eine  solche  Bestimmung  des  Sittlichen,  dafs 
dasselbe  zugleich  als  ein  Gut  von  höchster  beglückender 
Kraft  erscheint.  So  wird  denn  nunmehr  (II.  1—10)  die 
Frage  so  gestellt:  Die  Gerechtigkeit  mufs  so  bestimmt 
werden,  dafs  sie  zugleich  als  ein  sowohl  unmittelbar  durch 
sich  selbst  als  auch  durch  ihre  Wirkungen  und  Folgen  im 
höchsten  Grade  erstrebenswertes  Gut  dasteht.  Diese  Problem- 
stellung wird  dann  in  ersterer  Beziehung  (an  sich)  noch 
weiter  aufs  äufserste  verschärft.  Es  soll  die  beglückende 
Kraft  der  Gerechtigkeit  auch  unter  den  denkbar  un- 
günstigsten Umständen  erwiesen  werden.  Angenommen, 
das  ungerechte  Verhalten  haben  die  vollste  Sicherheit,  nicht 
entdeckt  und  zur  Verantwortung  gezogen  werden.  An- 
genommen, der  Ungerechte  besitze  den  unsichtbar  machen- 
den Ring  des  lydischen  Königs  Gyges,  der  sein  Tun  jedem 
menschlichen  Auge  entziehe.  Angenommen  sogar,  der  Un- 
gerechte vermöge  selbst  die  Götter  über  sein  Tun  zu  täuschen 
oder  doch  durch  ihnen  wohlgefällige  Leistungen  bei  aller 
Schlechtigkeit  ihre  Zufriedenheit  und  Gnade  zu  erlangen, 
was  als  auf  dem  Boden  der  Volksreligion  und  der  von  den 
Dichtern  vertretenen  Anschauungen  möglich  erwiesen  wird. 
Oder  es  gibt  keine  Götter,  oder  sie  kümmern  sich  nicht  um 
die  menschlichen  Angelegenheiten.  Kann  das  Wesen  der 
Gerechtigkeit  so  bestimmt  werden,  dafs  diese  unter  allen 
diesen  Voraussetzungen  als  ein  volle  Glückseligkeit  be- 
wirkendes Gut  erwiesen  ist?  Wollte  man  hierbei  so  ver- 
fahren, dafs  man  etwa  doch  noch  auf  die  äufseren  Vorteile 
der  Gerechtigkeit  hinwiese,  wie  etwa  von  den  Dichtem  dem 


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598  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Frommen  äufsere  Güter  verheifsen  oder  in  der  rohen  Orphik 
ihnen  eine  ewige  Trunkenheit  im  Jenseits  in  Aussicht  ge- 
stellt wird,  während  die  Gottlosen  im  Schlamme  liegen  (3ö3, 
364  E),  oder  von  Ehre,  Ansehen,  Geschenken  seitens  der 
Menschen  redete  (366  E),  —  so  wäre  auch  damit  die  Auf- 
gabe nicht  gelöst.  Denn  der  auf  diese  Weise  Gerechte  wäre 
beim  Wegfall  solcher  Vorteile  der  erste  zum  Unrechttun 
(366  D),  und  eine  solche  Begründung  käme  nicht  über  den 
Standpunkt  des  Thrasymachos  hinaus,  dafs  im  Grunde  die 
Ungerechtigkeit  das  eigentlich  Vorteilhafte  sei  (367  A).  Es 
mufs  vielmehr  erwiesen  werden,  dafs  die  Gerechtigkeit  ein 
Gut,  die  Ungerechtigkeit  ein  Übel  ist,  mögen  auch  beide 
von  Göttern  und  Menschen  unbemerkt  bleiben  (367  E),  oder 
noch  bestimmter :  dafs  jene  das  gröfste  Übel,  diese  das  gröfste 
Gut  der  Seele  ist  (366  E). 

Diese  schwierige  Untersuchung  soll  nun  dadurch  er- 
leichtert werden,  dafs  das  Wesen  der  Gerechtigkeit  zunächst 
am  gröfseren  Objekt,  wo  sie  leichter  erkennbar  ist,  a  m  S  t  a  a  t  e, 
aufgezeigt  wird  (368  G  flf.).  So  lenkt  denn  die  Rede  in  da» 
Fahrwasser  des  Musterstaats  ein,  und  es  wird  das  schon  vor- 
handene Bild  des  „Staates  der  Glücklichen^  inhaltlich  fast 
unverändert  der  neuen  Schrift  einverleibt. 

Noch  ehe  aber  dies  Bild  vollständig  entworfen  ist,  näm- 
lich in  dem  eingeschobenen  Abschnitt  IV.  6—19,  wird  die 
Frage  aufgeworfen,  wo  sich  denn  nun  in  diesem  Muster- 
staat das  Wesen  der  Gerechtigkeit  offenbart.  In  diesem 
Staate  ist  Weisheit  vorhanden  in  den  Herrschenden.  Ihre 
Weisheit  gehört  dem  ganzen  Staate  zu,  da  sie  ja  das  ihn. 
leitende  Prinzip  sind  (c.  6).  In  ihm  ist  ferner  Tapferkeit 
vertreten  durch  den  Kriegerstand,  bei  dem  die  richtige 
Meinung  über  das  zu  Fürchtende  und  nicht  zu  Fürchtende 
durch  Naturanlage  und  Erziehung  entwickelt  ist  (c.  7).  Auch 
die  Sophrosyne  als  die  Herrschaft  über  Affekte  und  Be- 
gierden findet  sich  in  ihm.  Zwar  nicht  bei  allen,  nicht  ein- 
mal bei  der  Mehrzahl ,  aber  bei  der  Minderheit  der  durch 
Natur  und  Gewöhnung  Tüchtigen,  die  die  Begierden  der 
Masse  im  Zaume  hält  (c.  8).  Diese  Enthaltsamen  aber  finden 
sich  nicht  nur  in  einem  der  drei  Stände;  die  Sophrosyne 


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V.    7.  Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  etc.    599 

bildet  ein  Band,  das  die  besseren  Elemente  sämtlicher  drei 
Stände  zur  Eintracht  zusammenhält  (c.  9).  Ebenso  aber  ist 
in  diesem  Staate  auch  die  .Gerechtigkeit  verwirklicht. 
Diese  besteht  nämlich  darin,  dafs  die  Verteilung  in  drei 
Stände  auf  der  Befähigung  und  Berechtigung  zu  den  be*- 
treflfenden  Leistungen,  also  auf  der  Würdigkeit  beruht.  Ihr 
Gegenteil,  die  Vielgeschäftigkeit,  nach  der  die  verschiedenen 
Verrichtungen  von  Unberufenen  ausgeübt  werden,  ist  die 
wahre  und  eigentliche  Ungerechtigkeit  (433  f.). 

Diese  am  Staate  gewonnene  Erkenntnis  wird  nun  weiter 
auf  den  Einzelmenschen  angewandt.  Es  finden  sich  nämlich 
die  in  den  drei  Ständen  des  Staates  verkörperten  Fähig- 
keiten auch  im  Einzel  menschen  als  drei  verschiedene  Seelen- 
kräfte. Es  gibt  ein  Erkennendes,  ein  im  niederen  Sinne  Be- 
gehrendes und  eine  edlere  Leidenschaft,  die  geneigt  ist,  sich 
als  gehorsame  Helferin  in  den  Dienst  der  Vernunft  zu  stellen. 
Die  Gerechtigkeit  im  Einzelmenschen  wird  also  darin  be- 
stehen, dafs  jede  dieser  Richtungen  die  ihr  zukommende 
Bedeutung  und  Verrichtung  im  Seelenleben  erhalte.  Für 
das  Vernünftige  gebührt  es  sich,  dafs  es  herrsche,  für  das 
„Mutige",  dafs  es  jenem  als  Helfer  zur  Seite  stehe,  für  das 
Begehrliche  aber,  dafs  es  sich  diesen  beiden  verbundenen 
Richtungen  unterordne.  So  treten  auch  hier  die  drei 
Tugenden  der  Weisheit,  Tapferkeit  und  Sophrosyne  zu  Tage. 
Vermöge  dieser  richtigen  Betätigungs weise  der  drei  Seelen- 
richtungen ist  nun  aber  auch  im  Einzelmenschen  die  Ge- 
rechtigkeit im  gleichen  Sinne  wie  im  Staate  vorhanden. 
Jede  der  drei  Richtungen  tut  das  ihr  Zukommende  (441  D). 
Ein  so  Gearteter  wird  aber  auch  im  gewöhnlichen  Sinne  ein 
Gerechter  sein,  indem  er  sich  jedes  Unrechts  und  Frevels 
enthält  (442  E  f.).  Die  Gerechtigksit  ist  ein  Verhalten, 
durch  das  jener  harmonische  Gesamtzustand  der  Seele  —  jene 
Seelennormalität  dürfen  wir  auch  sagen  —  verwirklicht  und 
erhalten  wird  (443  E).  Ungerechtigkeit  aber  ist  der  Auf- 
ruhr der  Begierden  in  Zügel losigkeit,  die  feige  Schwäche  des 
„Mutigen"  in  dem  ihm  zukommenden  Dienste,  endlich  das 
Umschlagen  der  Weisheit  in  ihr  Gegenteil,  die  Unweisheit, 
und  dieser  Zustand  führt  auch  zu  jeder  Art  von  Schlechtig- 


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600  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

keit  (444  B).  Hier  wird  es  denp  auch  geradezu  ausgesprochen, 
dafs  jener  Zustand  Seelengesundheit,  dieser  Seelenkrankheit 
ist  (444  C  f.). 

Hiermit  ist  also  nicht  nur  das  Wesen  der  Gerechtigkeit 
als  der  eigentliche  Kern  der  Seelengesundheit  bestimmt;  es 
ist  auch  erwiesen,  dafs  sie  an  und  für  sich  und  abgesehen 
von  allen  nachfolgenden  Vorteilen  das  höchste  Erstrebens- 
werte ist.  Es  sollen  aber  auch  die  verschiedenen  möglichen 
Formen  der  Entartung  und  die  ihnen  folgende  Unseligkeit 
nachgewiesen  werden.  Auch  hierbei  soll  der  Staat  als  Leit- 
faden benutzt  werden.  Diese  Erörterung  bricht  am  Ende 
des  vierten  Buches  ab  und  findet  ihre  Fortsetzung  im  achten 
Buche. 

Die  Entartung  nun  findet  auf  beiden  Gebieten  in  der 
Weise  statt,  dafs  sich  das  nicht  zum  Herrschen  Berechtigte 
zur  Herrschaft  empordrängt  Die  normale  Verfassung  ist 
auf  beiden  Gebieten  die  Aristokratie  im  buchstäblichen 
Sinne,  die  Herrschaft  der  Besten,  der  Vernunft,  der  Weis- 
heit (544  E,  587  D).  Dieser  gegenüber  gibt  es  vier  Formen 
der  Entartung.  Es  kann  sich  das  „Mutige  und  Ehrliebende" 
zur  Herrschaft  erheben.  Plato  nennt  diese  Form  Timokratie. 
Auf  dem  Staatsgebiete  ist  sie  in  der  kretischen  und  spar- 
tanischen Verfassung  verwirklicht  (544  C,  545  A  f.).  Die  drei 
folgenden  Formen,  die  Oligarchie  (Herrschaft  weniger  auf 
Grund  überwiegenden  Besitzes),  die  Demokratie  und  die 
Tyrannis,  kommen  alle  darin  überein,  dafs  in  ihnen  das  Be- 
gehrliche zur  Herrschaft  gelangt  ist;  die  Oligarchie  und  die 
Demokratie  bilden  einen  Gegensatz;  die  abwärtsgehende 
Entwicklung  schwankt  vom  einen  zum  anderen  hinüber,  von 
der  Begehrlichkeit  der  wenigen  Reichen  zu  der  der  Masse 
der  Armen,  bis  dann  auf  der  äufsersten  Stufe  der  Ent- 
artung, in  der  Tyrannis,  die  vemunftlose  Begehrlichkeit 
eines  einzigen  den  ganzen  Staat  unter  sein  brutales  Joch 
gebeugt  hat.  Diesen  vier  Formen  im  Staate  entsprechen 
aber  auch  im  Einzelmenschen  vier  Entartungsformen.  Es 
gibt  einen  timokratischen  Menschen,  in  dem  Mut  und 
Ehrbegierde  die  Herrschaft  führen,  einen  oligarchischen, 
in  dem  Vernunft  und  Ehrtrieb  von  der  Geldgier  völlig  unter- 


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V.    7.   Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  etc.  601 

jocht  sind  (553  C  D),  die  die  vielgestaltige  Masse  der  Begierden 
im  Zaume  hält  und  sein  Begehren  einzig  auf  die  Anhäufung 
von  Schätzen  konzentriert  (554),  einen  demokratischen, 
der  Unterschieds-  und  wahllos  der  ganzen  Mannigfaltigkeit 
4er  Lüste  und  Begierden  dient  (558  C  ff.),  und  einen  der 
Tyrannis  entsprechenden,  der  auf  eine  ihn  blind 
beherrschende  Hauptleidenschaft  versteift  ist,  der  er  in  tie- 
rischer Wildheit  alles  opfert,  und  die  ihn  zu  Verbrechen 
und  Gewalttat  stachelt  (571).  In  höchst  geistvoller  und  er- 
greifender Weise  schildert  Plato  diese  vier  Staatsformen  und 
Menschentypen  im  Detail  und  zeigt,  wie  durch  fortschreitende 
Entartung  eines  aus  dem  andern  hervorgeht  (VIII,  I — IX.  3). 
Hierauf  wird  dann  noch  vierteilig  der  Beweis  geführt, 
dafs  der  im  vorstehend  entwickelten  Sinne  Gerechte  unter 
allen  Umständen  der  wahrhaft  Glückliche  ist  (IX.  4—13). 
Zunächst  ergibt  sich,  dafs,  wie  in  den  entarteten  Staats- 
formen, so  auch  in  den  entarteten  Menschentypen  das  beste 
und  edelste  Element  zur  Sklaverei  verdammt  ist  (c.  4 — 6). 
Zweitens  zeigt  sich,  dafs  in  bezug  auf  die  mit  jedem  der 
drei  Zustände  verbundenen  Lustgefühle  der  Weisheitsliebende 
die  umfassendste  Erfahrung  hat,  dafs  also  sein  zu  Gunsten 
der  Vernunftlust  ausfallendes  Urteil  das  mafsgebende  und 
entscheidende  ist  (c  7  f.).  Drittens  wird  sodann  zu  einer 
auf  seelischer  Erfahrung  beruhenden  Abschätzung  der  ver- 
schiedenen Lusterträge  übergegangen.  Dem  von  positiver 
Unlust  Geplagten  erscheint  schon  der  Indiflferenzzustand  der 
Unlustlosigkeit  als  Lust.  Umgekehrt  erscheint  dem  im 
positiven  Lustzustande  Befindlichen  der  Zustand  der  Lust- 
losigkeit  als  Unlust.  Beide  Arten  des  Indifferenzzustandes 
sind  aber  identisch,  also  beruht  die  Meinung,  beim  Über- 
gange aus  dem  Unlustzustande  des  Bedürfens  und  Begehrens 
in  den  der  Befriedigung  positive  Lust  zu  erlangen,  auf 
Täuschung.  Plato  hätte  hier  folgern  können:  Da  es  keine 
andere  Lust  gibt  als  solche  nach  vorausgegangener  Unlust 
des  Begehrens,  so  ist  bei  der  Lust  über  den  Indifferenz- 
zustand nicht  hinauszukommen,  während  die  Unlust  etwas 
Positives  ist.  Es  gibt  keine  positive  Lust.  Das  ist  die 
Folgerung,  die  Schopenhauer  gezogen  hat.    Plato  zieht 


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602  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

aber  diese  Folgerung  nur  für  die  Sinnenlust  im  eigentlichen 
und  engeren  Sinne.  Diese  ist  nur  Stillung  von  Unlust, 
während  der  Übergang  zur  sinnlichen  Unlust  wirkliche  Un- 
lust ist  (584  C,  E). 

Es  gibt  aber  auch  positive  Lust,  die  nicht  auf  vor- 
gängiger Bedürfnisunlust  beruht.  Ein  Beispiel  dafür  auf 
dem  sinnlichen  Gebiete  ist  die  Lust  aus  Wohlgerüchen 
(584  B).  Und  da  ist  dann  die  Vernunftlust,  weil  sie  aus 
dem  wahrhaft  Seienden  entspringt,  höher  als  die  aus  dem 
Scheinhaften,  Körperlichen  (585).  Dazu  kommt,  dafs  der 
Vemunftmensch  aufserdem  innerhalb  der  richtigen  Grenzen 
auch  der  übrigen  Arten  der  Lust  aus  Befriedigung  des  Ehr- 
liebenden und  des  Begehrenden  teilhaft  wird  (586  E).  Plato 
unternimmt  es  sogar,  zahlenmäfsig  den  Lustertrag  des  Ver- 
nunftmenschen im  Verhältnis  zu  dem  (am  ungünstigsten 
gestellten)  Tyrannenmenschen  herauszurechnen.  Diese  Be- 
rechnung ist  freilich,  auch  wenn  man  alle  sonstigen  Voraus- 
setzungen Piatos  zugeben  wollte,  schon  als  Rechnung  in 
allen  ihren  Teilen  hinfällig.  Zunächst  wird  der  Abstand 
vom  Vernunftmenschen  zum  oligarchischen  Menschen  und 
wieder  von  diesem  zum  tyrannischen  jedesmal  statt  2  =  3 
gesetzt.  Das  Anfangsglied  wird  hier  beide  Male  unberech- 
tigterweise mitgezählt,  der  Oligarchische  also  zweimal  in 
Rechnung  gestellt.  So  kommen  statt  vier  sechs  Glieder  heraus. 
Statt  aber  zu  addieren,  multipliziert  Plato  und  kommt  so 
auf  einen  Abstand  von  neun  Gliedern.  Um  sodann  den  Lust- 
abstand zu  gewinnen,  multipliziert  er  aus  nicht  ersichtlichen 
Gründen  diese  Zahl  wieder  zweimal  mit  sich  selbst,  macht 
729.  Der  nach  der  Vernunft  lebende  Philosoph  ist  also 
729  mal  so  glücklich  als  der  Tyrannenmensch  (587).  Diese 
ganze  Beweisführung  umfafst  die  Kapitel  IX.  8—11. 

Viertens  wird  dann  die  Menschennatur  unter  einem 
grofsartigen,  phantastischen  Bilde  dargestellt.  Man  denke 
sich  ein  Ungetüm  mit  einer  Unzahl  von  Köpfen  wilder  und 
zahmer  Tiere,  das  überdies  seiner  Gestalt  nach  in  einer  be- 
ständigen Wandlung  begriffen  ist,  ferner  eine  Löwen-  und 
eine  Menschengestalt,  diese  drei  Gebilde  zur  Einheit  ver- 
wachsen und  in  einen  menschlichen  Körper  eingeschlossen. 


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V.    7.   Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  etc.    603 

Wer  nun  behauptet,  die  Ungerechtigkeit  sei  vorteilhaft,  be- 
hauptet nichts  anderes,  als  man  müsse  jenes  Ungetüm  und 
den  Löwen  nach  seiner  wilden,  bestialischen  Natur  stärken, 
die  Menschengestalt  aber  schwächen  und  Hungers  sterben 
lassen.  Wer  aber  die  Gerechtigkeit  für  das  wahrhaft  Vor- 
teilhafte.  hält ,  wird  an  dem  Untier  nur  das  Zahme  nähren 
und  pflegen  und  hierzu  den  Löwen  als  Mithelfer  gewinnen, 
vornehmlich  aber  dem  Menschenbilde  Macht  und  Herrschaft 
verleihen.  Denn  dies  Menschliche  ist  eigentlich  das  Gött- 
liche im  Menschen.  Bei  dem  Löwen  insbesondere  kommt 
es  darauf  an,  dafs  er  weder  in  seiner  tierischen  Wildheit 
unbändig  verharrt  noch  im  Dienste  des  Menschenbildes  feige 
und  schlaff"  ist  oder  gar  unter  die  Herrschaft  des  Untiers 
gerät.  Im  letzteren  Falle  wird  er  zum  Aff'en.  Selbstverständ- 
lich ist  auch  hier  wieder  die  Gerechtigkeit  die  Herstellung 
des  normalen  Verhältnisses  zwischen  den  Seelenteilen  (588  B 
bis  590  B), 

Schliefslich  wird  noch  in  Anlehnung  an  das  Bild  der 
Fall  in  Betracht  gezogen,  dafs  der  edelste  Teil  im  Menschen 
von  Natur  schwach  entwickelt  ist.  In  diesem  Falle  dient 
es  zu  seinem  eigenen  Besten,  wenn  er  im  Staate  der 
Herrschaft  der  Vernunftstarken  unterworfen  wird.  So  liefert 
diese  ethische  Betrachtung  rückwärts  auch  wieder  eine  Be- 
stätigung für  den  Musterstaat. 

Hiermit  ist  jedoch  die  Beweisführung  für  den  überragen- 
den Wert  der  „Gerechtigkeit"  (d.  h.  der  Seelennormalität) 
noch  nicht  beendigt.  Der  Zustand,  in  den  der  Mensch  seine 
„innere  Staatsverfassung"  (591  E)  auf  Erden  gebracht  hat, 
ist  nicht  nur  an  sich  und  im  Diesseits  der  beste,  er  ist  von 
ausschlaggebender  Bedeutung  auch  für  das  jenseitige  Schick- 
sal. Auch  das  Schlufsargument  des  Gorgias  kehrt  hier  in 
verschärftem  Mafse  wieder. 

Vor  diesem  Schlufsabschnitt  aber  findet  sich  ein  längerer 
Abschnitt,  der  zur  Rechtfertigung  der  bei  Erziehung  der 
Wächter  im  Urstaat  an  den  Dichtem  geübten  scharfen  Kritik 
dienen  soll  (X.  1—8).  Es  läfst  sich  nicht  beweisen,  dafs 
dieser  Abschnitt  gleichzeitig  mit  der  neuen  Ethik  entstanden 
ist.    Jedenfalls  kann  er  nicht  dem  Urstaat  angehören,  denn 


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604  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

Plato  bemerkt  (607  B),  er  habe  damals  aus  guten  Gründen 
die  Dichter  aus  seinem  Staate  verwiesen,  sei  aber  in- 
zwischen dieserhalb  der  Härte  und  Unbildung  bezichtigt 
und  in  Komödien,  aus  denen  er  Verse  anführt,  als  Schwätzer 
und  Überweiser  verspottet  worden.  Dies  ist  zugleich  ein 
deutlicher  Beweis,  dafs  der  „Staat"  zu  verschiedenen  Zeiten 
geschrieben  ist.  Dieser  Abschnitt  ist  also  ein  den  Zusammen- 
hang unterbrechendes  Einschiebsel,  das  richtiger  als  Anhang 
an  den  Schlufs  der  Schrift  gehört  und  daher  auch  besser 
nachher  besprochen  wird.  Jener  Schlufsabschnitt  nun  be- 
ginnt mit  der  Verkündigung  der  Unsterblichkeit  der  Seele. 
Hier  nun  zeigt  sich  abermals  ein  äufseres  Merkmal,  dafs 
der  „Staat"  aus  Stücken  verschiedener  Ursprungszeit  zu- 
sammengesetzt ist.  Der  Mitunterredner  verwundert  sich 
über  die  Behauptung  der  Unsterblichkeit,  und  es  wird  daher 
ein  Beweis  angetreten,  dafs  die  Seelen  unvergänglich  sind 
und  von  jeher  in  sich  gleichbleibender  Zahl  existiert  haben 
(608  D  ff.).  Nun  ist  aber  in  demjenigen  Abschnitte ,  den 
wir  als  Zusatz  der  zweiten  Umarbeitung  anzusehen  haben 
(V.  18— VII  Ende),  mehrfach  von  der  Unsterblichkeit  die 
Rede  (496  E,  498  C,  540  B).  Wäre  also  dieser  Teil  zur 
Zeit,  als  der  gegenwärtige  Abschnitt  geschrieben  wurde, 
vorangegangen,  so  wäre  sowohl  die  Verwunderung  Glaukons 
als  die  Beweisführung  völlig  unmotiviert.  Es  liegt  hier  eine 
leicht  begreifliche  Unachtsamkeit  bei  der  zweiten  Umarbei- 
tung vor. 

Die  Unsterblichkeit  wird  nun  ferner  hier  nicht  mit  der- 
selben unzweifelhaften  Ausdrücklichkeit  wie  im  Timäus  auf 
die  Vernunftseele  eingeschränkt.  Doch  wird  auch  hier  der 
unsterblichen  Seele  wenigstens  als  wahrscheinlich  die  Mannig- 
faltigkeit abgesprochen  (611  B  E);  ja,  sie  wird  geradezu  als 
reine  Vemunftseele  bezeichnet  (611  C).  Auch  das  Bild, 
unter  dem  die  durch  Ungerechtigkeit  verderbte  Seele  hier 
dargestellt  wird,  scheint  darauf  hinzudeuten,  dafs  an  dieser 
Stelle  nur  die  Vernunftseele  vorschwebt.  Sie  wird  nämlich 
mit  dem  Meergott  Glaukos  verglichen,  dessen  Körper  durch 
den  Sturm  der  Wellen  verstümmelt  ist,  während  andernteils 
Muscheln,  Seetang  und  Steine  an  ihn  angewachsen  sind,  so 


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V.    7.  Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  etc.    605 

dafs  seine  eigentliche  Gestalt  ganz  unkenntlich  geworden 
ist  (611  D).  Diesem  Bilde  liegt  offenbar  ein  Einheitliches 
zu  Grunde,  also  kommt  für  das  Jenpeits  nur  die  Vernunft- 
seele in  Betracht.  Nur  ganz  äufserlich  und  nebenher  und 
vielleicht  nur  um  den  Gegensatz  gegen  den  Phädrus  zu  ver- 
decken wird  (612  A)  die  Frage ,  ob  die  unsterbliche  Seele 
einheitlich  oder  mehrgestaltig  sei,  wie  eine  offene  hingestellt. 

Vor  der  Schilderung  des  jenseitigen  Loses  nun  wird  die 
frühere  radikale  Voraussetzung,  dafs  hinsichtlich  des  wahren 
sittlichen  Zustandes  selbst  die  Götter  getäuscht  werden 
könnten,  ausdrücklich  zurückgenommen.  Sind  die  Gerechten 
ja  doch  der  Gottheit  ähnlich,  und  findet  ja  doch  selbst  bei 
den  Menschen  auf  die  Dauer  Gerechtigkeit  und  Ungerechtig- 
keit ihre  wahre  Schätzung  (612  G  ff.). 

Der  Bericht  selbst  über  das  jenseitige  Los  zeigt  eher 
Verwandtschaft  mit  dem  im  Gorgias  als  mit  den  Vorstel- 
lungen im  Timäus.  Auch  hier  haben,  wie  im  Gorgias,  die 
Seelen  nach  dem  Tode  vor  dem  Totenrichter  zu  erscheinen. 
Die  der  Gerechten  werden  einem  aufwärts  zum  Himmel 
führenden  Wege  zugewiesen,  die  der  Ungerechten  gehen 
abwärts  unter  die  Erde.  Dadurch  ist  aber  ihr  Los  nicht 
für  immer,  sondern  nur  für  ein  Jahrtausend  besiegelt.  Nach 
Ablauf  desselben  finden  sie  sich  wieder  an  dem  Orte  des 
Gerichts  ein.  Ihr  verschiedenes  Aussehen  zeugt  von  dem 
verschiedenen  Lose,  das  ihnen  zu  teil  geworden.  Auch  die 
ärgsten  Frevler,  die  entweder  als  unheilbar  zur  ewigen 
Strafe  verdammt  sind  oder  doch  noch  nicht  genug  gebüfst 
haben,  versuchen,  das  Ausgangstor  des  unterirdischen  Aufent- 
haltsorts zu  passieren.  Aber  das  Tor  brüllt,  und  auf  dies 
Zeichen  hin  ergreifen  danebenstehende  feurige  Männer  die 
Schuldigen,  fesseln  sie,  werfen  sie  zu  Boden,  ziehen  ihnen 
die  Haut  ab  (eine  geschundene  Seele  geht  denn  ja  freilich 
noch  über  den  „geschundenen  Raubritter" !),  schleifen  sie 
durch  Domen,  peinigen  sie  und  schleudern  sie  in  den  Tar- 
taros zurück  (614  C  ff.). 

Von  der  Stätte  des  Gerichts  wandern  nun  die  Seelen  in 
fünf  Tagereisen  zur  Weltachse,  um  die  sich  (mittelst 
Speichen)  acht  konzentrische  Reifen  drehen,  den  Fixstem- 


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606  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

himmel  und  die  sieben  Planeten  bewegend.  Die  Ge- 
schwindigkeit der  Umdrehung  ist  verschieden.  Diese  Welt- 
achse haben  wir  uns  offenbar  senkrecht  stehend  zu  denken. 
Auf  jedem  Reifen  sitzt  eine  Sirene ,  die  einen  lauten  Ton 
ausstöfst.  Diese  acht  Töne  bilden  zusammen  eine  Ton- 
leiter (616  B  —617  B).  Hier  haben  wir  eine  '  merkwürdige, 
mehr  phantastisch  als  naturwissenschaftlich  gedachte  Variante 
der  altpythagoreischen  Sphärenharmonie. 

An  der  Achse  des  Weltrades  sitzen  die  Parzen.  Vor 
ihnen  sind  Bilder  von  tierischen  und  menschlichen  Lebens- 
weisen ausgebreitet.  Lose  werden  über  die  Seelen  hin- 
geschleudert und  von  ihnen  aufgefangen.  Diese  bestimmen 
die  Reihenfolge,  in  der  die  Seelen  zur  Auswahl  der  Lebens- 
formen heranzutreten  haben.  Es  sind  gewissermafsen  Ab- 
fertigungsnummern. Die  Auswahl  verringert  sich  natürlich 
mit  jeder  getroflfenen  Wahl,  und  so  ist  in  erheblichem  Mafse 
die  Wahl  durch  den  Zufall  eingeschränkt.  Doch  wird  ver- 
sichert, dafs  auch  noch  für  den  zuletzt  Herantretenden  eine 
annehmbare  Lebensweise  bereitliege  (619  B). 

Abgesehen  von  dieser  teilweisen  Einschränkung  der 
Wahl  durch  den  Zufall  erfolgt  dieselbe  nach  den  aus  dem 
jeweiligen  Seelenzustande  resultierenden  Neigungen.  Dieser 
Seelenzustand  ist  vornehmlich  von  der  Führung  des  früheren 
Erdenlebens  abhängig.  Selbst  von  den  vom  Himmel  Ge- 
kommenen wählen  viele  falsch,  weil  die  Tugend  ihres  früheren 
Erdenlebens,  die  ihnen  den  Eintritt  in  den  Himmel  ver- 
schaffte, nur  eine  gewohnheitsmäfsige  (nicht  intellektuell 
begründete),  auf  dem  Leben  in  einem  geordneten  Staate  be- 
ruhende war,  der  Aufenthalt  im  Himmel  sie  aber  nicht  im 
Leiden  geübt  hat.  So  habe  ein  solcher  sogar  eine  Tyrannen- 
herrschaft gewählt  (619  B  flF.).  Der  einzig  richtige  Gesichts- 
punkt der  Wahl  wäre  der,  ob  das  zu  führende  Leben  die 
Gerechtigkeit  oder  die  Ungerechtigkeit  fördert  (61 8  D  f.). 
Die  Art  des  Wählens  wird  durch  zahlreiche  Beispiele  ver- 
anschaulicht. Ein  Schwan  (der  also  wohl  früher  schon 
Mensch  war)  wählt  ein  Menschenleben ;  ähnlich  auch  andere 
musikliebende  Tiere;  Aias  das  eines  Löwen,  Agamemnon 
das  eines  Adlers,  Thersites   das  eines  AflFen,  Odysseus  das 


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V.    7.   Vertiefung  der  Lehre  von  der  Seelengesundheit  etc.    (507 

eines  zurückgezogen  lebenden  Privatmannes  (620).  Hierauf 
erhält  jede  Seele  einen  „Dämon"  als  Wächter  und  Voll- 
strecker der  getroffenen  Wahl  und  mufs  dann  Lethe  trinken, 
um  das  bisher  Erlebte  zu  vergessen.  Hierauf  werden  alle, 
blitzend  wie  Sternschnuppen,  in  verschiedenen  Richtungen 
der  Erde  und  dem  Orte  ihrer  neuen  Geburt  zugeführt 
(620  E  flf.).  Gewifs  hat  Plato  diese  Phantasmagorien  nur  in- 
soweit als  wahr  genommen,  als  er  in  ihnen  eine  tiefsinnige 
Symbolik  des  Seelenschicksals  erkannte. 

Wir  haben  hier  die  höchste  Entwicklungsstufe  der  Be- 
mühungen Piatos  um  Moralbegründung  vor  uns.  Nachdem 
er  die  Dreiteilung  der  Seele  gefunden  hat,  wird  ihm  die 
Seelengesundheit  zur  Herrschaft  der  Vernunftseele  über 
die  Triebseelen.  Hierbei  wird  ein  ganz  neuer  Begriff  der 
Gerechtigkeit  eingeführt.  Die  Gerechtigkeit  ist  wie  im 
Staat  so  auch  in  der  EinzeJseele  die  richtige  Verteilung  der 
Befugnisse  an  die  drei  Gebiete  und  damit  zugleich  der  Ab- 
schlufs  der  drei  übrigen  Tugenden.  Da  sie  aber  daneben 
auch  wieder  in  dem  herkömmlichen  Sinne  vorkommt,  er- 
hält der  Begriff  etwas  Schillerndes  und  schwer  zu  Er- 
fassendes. — 

Zur  Rechtfertigung  des  harten  Urteils  über  die  Dichter 
im  Urstaat  (X.  1—8)  werden  hauptsächlich  zwei  Gründe 
angeführt.  1.  Die  nachahmende  Dichtkunst  (Epos  und 
Drama)  birgt  in  sich  eine  Gefahr  für  die  Denktätigkeit  der- 
jenigen Hörer,  die  nicht  im  Wissen  des  wirklichen  Wesens 
der  Dinge  einen  Schutz  dagegen  besitzen.  Für  jede  Art 
von  Gegenständen  (z.  B.  für  ein  Hausgerät)  gibt  es  nur 
eine  Idee  (dieser  Ausdruck  hier  zuerst!),  die  von  der  Gott- 
heit stammt  (596  A,  597  B).  Auf  diese  hinblickend  ver- 
fertigt der  Handwerker  die  vielen  gleichartigen  Einzel- 
geräte. Diese  sind  im  Vergleich  mit  der  Idee  etwas 
Minderwertiges,  nicht  im  strengen  Sinne  Seiendes.  Der 
Nachahmer,  der  Dichter  oder  bildende  Künstler,  der  als  ein 
Tausendkünstler  nicht  bei  einem  stehen  bleibt,  sondern  alles 
nachbildet,  was  im  Himmel,  auf  Erden  und  unter  der  Erde 
ist,  steht  der  Wesenheit  noch  eine  Stufe  femer,  indem  er 
nicht  das  Urbild,  sondern  nur  das  Abbild ,  die  Erscheinung 


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608  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

nachbildet.  Verstünde  er  sich  auf  eine  Sache  recht,  so 
würde  er  wohl  diese  anfertigen,  statt  mit  unzulänglichem 
Verständnis  von  allem  Scheinbilder  zu  entwerfen.  Auf 
keinem  Gebiete  menschlicher  Tätigkeit  wird  durch  diese 
Scheinbilder  der  Kunst  etwas  wirklich  Heilsames  bewirkt. 
Von  dem  zu  Grunde  liegenden  Seienden  versteht  er  nichts; 
nicht  einmal  von  den  Nachbildern;  sonst  könnte  er  sie  ver- 
fertigen (601  B).  Er  folgt  den  Meinungen  der  Menge  und 
treibt  ein  blofses  Spiel,  eine  Täuschung,  in  die  er  als  Maler 
den  Gesichtssinn  versetzt. 

In  diesen  Ausführungen  tritt  uns  eine  Form  der  Ideen- 
lehre entgegen,  die  der  im  Timäus  noch  sehr  nahe  steht.  Die 
Ideen  sind  hier  wie  dort  starre,  unbewegliche  Urbilder,  nur 
dafs  sie  hier  abweichend  vom  Timäus  als  von  der  Gottheit 
hervorgebracht  bezeichnet  werden. 

2.  Beim  Dichter  aber  kommt  noch  ein  zweites  Bedenken 
hinzu.  Er  stellt  fassungslose  Affekte,  feiges  Verhalten 
gegenüber  dem  Geschick  dar,  ist  also  dem  schlechten  und 
unverständigen  Teile  der  Seele  zu  Gefallen,  der  an  der 
Nachahmung  dieser  verächtlichen  und  weibischen  Haltungs- 
losigkeit  seine  Freude  hat.  Solche  Mafslosigkeit  wirkt  dann 
auf  die  eigene  Lebensführung  nachteilig  zurück.  Ebenso 
verhält  es  sich  beim  Lächerlichen  und  allen  sonstigen  mafs- 
losen  Gefühlen  und  Begehrungen.  Homer  ist  der  erste  der 
Tragiker  (zwischen  Epos  und  Drama  wird  hier  kein  Unter- 
schied gemacht).  Plato  gesteht,  dafs  er  von  Kindheit  an 
mit  Liebe  und  Verehrung  an  diesem  Dichter  gehangen  hat 
(595  B),  dafs  er  nach  kundigem  Urteil  der  Schöpfer  der 
griechischen  Kultur  ist.  Dennoch  mufs  es  bei  dem  früheren 
Urteil  sein  Bewenden  haben.  Bei  dem  aus  dem  Staate 
hinauskomplimentierten  Dichter  schwebte  wohl  Homer  vor. 
Darum  heifst  es  jetzt,  es  sei  nicht  statthaft,  ihn  „wieder 
aufzunehmen"  und  nach  ihm,  statt  nach  der  Vernunft,  sein 
Leben  einzurichten.  Es  mufs  sein  Bewenden  dabei  haben, 
dafs  im  Musterstaat  nur  Hymnen  auf  die  Götter  (natürlich 
nach  den  gereinigten  Göttervorstellungen!)  und  Lobgesänge 
auf  tüchtige  Männer  am  Platze  sind  (606  E  f.). 


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V.    8.   VertiefuDg  der  Erlösungslehre  des  Timäus  etc.        (j09 

8.   Veptlefüngr  der  Brlösunge lehre  des  Timftus. 
Der  „Phädrus"  (392/1). 

Die  Bemühungen  um  Moralbegründung  nehmen  ihren 
Ausgangspunkt  vom  Interesse  am  Gedeihen  der  Gesellschaft. 
Der  dem  Handelnden  selbst  vorgehaltene  Gewinn  für  sein 
inneres  Leben  und  für  sein  jenseitiges  Schicksal  ist  nur  die 
Triebfeder,  ihn  zu  gesellschafterhaltendem  Tun  anzufeuern. 
So  im  Gorgias,  so  aufs  neue  wieder  im  umgearbeiteten 
„Staate".  Im  Timäus  aber  war  zuerst  der  pythagoreische 
Erlösungsgedanke  bei  Plato  zum  Ausdruck  gelangt.  Bei 
diesem  tritt  das  persönliche  Interesse  an  die  erste  Stelle. 
Die  Erlösung  ist  eine  rein  persönliche  Angelegenheit.  Die 
Rückwendung  zu  ihr  in  vertiefter  Gestalt  tritt  uns  im 
„Phftdrus"  entgegen. 

Die  Abfassungszeit  des  „Phädrus"  ist  durch  ein  äufseres 
Merkmal  in  etwa  bestimmt.  Am  Schlüsse  (278  E  f.)  wird  in 
wohlwollender  und  hoffnungsreicher  Weise  des  Redners  Iso- 
k  rat  es  (geb.  436)  gedacht.  Diese  Worte  verbieten,  den 
Phädrus  später  als  die  um  391  verfafste  „Sophistenrede"  des 
Isokrates  anzusetzen,  in  der  dieser  in  scharfer  Weise  der 
eigentlichen  Philosophie  als  Bildungsmittel  der  Jugend  eine 
Absage  erteilte.  Nach  der  Sophistenrede  konnte  Plato  so 
nicht  mehr  über  Isokrates  reden,  wie  er  hier  tut.  Es  kam 
durch  sie  zum  Bruche  zwischen  Plato  und  seinem  Anhange 
und  Isokrates. 

Das  für  uns  Bedeutsame  im  Phädrus  tritt  in  der  Schrift 
selbst  nur  als  Episode  auf.  Das  beherrschende  Interesse  der 
Schrift  ist  das  Suchen  nach  der  idealen  Redekunst.  Diese 
Untersuchungen  umgeben  als  Rahmen  jene  Episode. 

Hieraus  ergibt  sich  folgender,  in  zwei  Hauptteilen  ver- 
laufender Gedankengang.  Im  ersten  Hauptteile  wird  zu- 
nächst eine  angebliche  Rede  des  Lysias  mitgeteilt,  die 
ganz  auf  der  Stufe  der  herkömmlichen  Handwerksmäfsigkeit 
der  Redekunst  steht.  Im  Gegensatz  dazu  extemporiert  So- 
krates  eine  Rede  über  den  gleichen  Gegenstand  und  in  dem- 
selben Sinne,  die  aber  eine  höhere  Kunstform  der  Rede 
zeigt.    Dann  aber  behandelt  er  nochmals  den  gleichen  Gegen- 

Döring.   I.  39 


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610  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

Stand  in  einer  auch  inhaltlich  vertieften  und  veredelten 
Richtung,  und  hier  treffen  wir  eben  auf  die  Gedanken,  die 
das  Hauptinteresse  dieser  Schrift  bilden. 

Im  zwei  ten  Hauptteile  werden  dann  an  der  Hand  dieser 
drei  Probestücke  die  Anforderungen  an  den  idealen  Redner 
entwickelt.  Diese  laufen  im  Grunde  darauf  hinaus,  dafs  nur 
das  in  lebendiger  Wechselwirkung  verlaufende  Lehrgespräch 
als  wahrhaft  fruchtbare  Form  der  Einwirkung  durch  die  Rede 
gelten  kann  (276,  277  D  f.). 

Der  Übergang  zu  den  neuen  Grundanschauungen  im 
ersten  Hauptteile  geht  nun  näher  folgendermafsen  vor  sich. 

Die  Rede  des  Lysias  hatte  zum  Gegenstande  die  Über- 
redung eines  schönen  Knaben,  dafs  es  für  ihn  vorteilhafter 
sei,  die  sinnlichen  Gunstbezeugungen  der  sogenannten  grie- 
chischen Liebe  (des  Eros)  nicht  einem  leidenschaftlich 
erregten  Verehrer,  sondern  einem  verständigen  Freunde  zu 
gewähren.  Die  Gründe  dafür  werden  in  platter,  äufser- 
licher  Weise  aneinandergereiht.  Die  erste  Gegenrede  des 
Sokrates  begründet  denselben  Satz  dadurch,  dafs  die  leiden- 
schaftliche Liebe  etwas  Krankhaftes,  ein  Art  Wahnsinn  und 
also  auch  für  denjenigen  schädlich  sei,  der  ihren  Gegenstand 
bilde. 

Sokrates  empfindet  aber  dann  die  ganze  Richtung  dieser 
Beweisführung  als  eine  Verkehrtheit  und  ein  Unrecht  gegen 
den  Gott  Eros.  Er  geht  daher  in  einer  zweiten  Gegenrede 
zur  Verherrlichung  der  Liebesleidenschaft  über.  Diese  ist 
freilich  ein  Wahnsinn,  aber  sie  gehört  zu  denjenigen  Formen 
des  Wahnsinns,  die  heilsam  und  segenstiftend  sind,  wie  der 
des  Sehers,  des  im  Geheimdienst  des  Dionysos  Schwärmen- 
den, des  Dichters.  Ja,  der  Liebeswahnsinn  dient  geradezu 
und  in  einer  durch  nichts  zu  ersetzenden  Weise  der  Er- 
reichung des  wahren  Lebensziels;  er  ist  das 
eigentliche  Hilfsmittel  zur  Erlösung  aus  der 
Leiblichkeit. 

Die  Seele  ist  als  ein  sich  selbst  Bewegendes  unsterblich. 
Das  sich  selbst  Bewegende  ist  aber  auch  zugleich  die  einzig 
mögliche  Quelle  der  Bewegung  für  alles  andere  Bewegte. 
Denn   das  durch  anderes  Bewegte  verfällt,   wenn  der  An- 


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V.    8.   Vertiefung  der  Erlösungslehre  des  Timäus  etc.        61 1 

stoft  aufgebraucht  ist,  wieder  in  Ruhe  (der  epochemachende 
Gedanke  des  Beharrungsgesetzes  war  den  Alten  unbekannt!). 
Deshalb  kann  die  Seelenbewegung  auch  nicht  wieder  von 
etwas  anderem  abgeleitet  werden;  sie  mufs  anfangslos  sein. 
Dies  der  Unsterblichkeitsbeweis  des  „Phädrus**,  verschieden 
von  dem  im  10.  Buche  des  Staates  versuchten,  an  Alkmäon 
erinnernd.  Nach  ihm  kann  es  überhaupt  keine  andere  letzte 
Quelle  der  Bewegung  in  der  Welt  geben  als  von  seelischer 
Natur,  ein  Gedanke  von  ungeheuer  Tragweite.  Noch  im 
Timäus  war  die  Seele  nicht  anfangslos. 

Die  genauere  Beschaffenheit  der  Seele  wird  Kürze 
halber  durch  ein  Bild  bezeichnet.  Sie  gleicht  einem  Gespann 
mit  geflügelten  Rossen  und  einem  Wagenlenker.  Auch  bei 
den  Göttern  ist  es  so,  doch  sind  bei  diesen  Rosse  und  Lenker 
von  gleichartiger  guter  Beschaffenheit.  Wir  stellen  uns  die 
Götter  —  ob  mit  Recht  oder  Unrecht  mufs  dahingestellt 
bleiben  —  als  mit  einem  Körper  versehen  vor,  aber  dieser 
ist  unsterblich  (246  C  D).  Bei  den  menschlichen  Seelen 
bilden  die  Rosse  ein  Zweigespann  von  entgegengesetzter 
Beschaffenheit.  Das  eine  Rofs  ist  dem  Wagenlenker 
gleichartig  und  gehorsam,  das  andere  ist  anders  geartet  und 
widerstrebend.  Auch  als  Ganzes  sind  die  Seelen  gefiedert 
(251  B).  Solange  Gefieder  und  Flügel  in  Ordnung  sind, 
schweben  sie  in  der  Gefolgschaft  der  Götter  körperlos 
im  All.  Erst  nach  Verlust  der  Fittiche  sinken  sie  in  einen 
erdigen  Leib  hinab  (246  B  ff.).  Dafs  unter  dem  Bilde  des 
Gespannes  die  drei  Seelenteile  eingeführt  werden,  ist  leicht 
ersichtlich.  Es  ist  jedoch  bemerkenswert,  dafs  hier  im 
Gegensatze  gegen  den  Timäus  die  Dreiteilung  schon  dem 
vorleiblichen  Zustande  angehört,  also  auch  die  beiden  niederen 
Seelenteile  unsterblich  sind.  Auch  ist  es  inkonsequent,  dafs 
den  Göttern,  wenn  auch  nur  vermutungsweise.  Leiblichkeit 
beigelegt  wird.  Vielleicht  wollte  Plato  nicht  gar  zu  sehr 
gegen  die  Volksvorstellung  verstofsen. 

Der  Sturz  in  die  Körperlichkeit  geschieht  folgender- 
mafsen.  Die  Nahrung  des  besten  Teils  der  Seele,  durch  die 
auch  die  Flügel  erhalten  werden  (246  E ,  247  D,  247  B  f.), 
besteht   in    der  Anschauung    einer    herrlichen  Welt    färb-, 

39* 


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612  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc- 

gestalt-  und  körperloser  Wesenheiten,  die  das  eigent- 
liche Sein  bilden  und  sich  aufserhalb  oder  oberhalb  des 
Himmelsgewölbes  befinden.  (Im  Timäus  waren  die  Ur- 
bilder überhaupt  nicht  im  Räume.)  Diese  Anschauung,  die 
nur  dem  Wagenlenker,  d.  h.  der  Vernunft,  möglich  ist, 
bildet  zugleich  das  wahre  Wissen  (247  C).  Hier  zeigt  sich, 
dafs  auch  der  auf  die  Ideen  bezügliche  Teil  bildlich  ein- 
gekleidet ist:  die  Anschauung  ist  eine  denkende  Er- 
fassung. 

Von  dieser  Anschauung  nähren  sich  die  Götterseelen 
und  alle  anderen,  solange  sie  ihnen  zu  teil  wird ;  sie  ist  die 
eigentliche  Lebensbedingung  der  Seele. 

Genannt  werden  von  den  Ideen  die  Gerechtigkeit,  die 
Besonnenheit  (Sophrosyne),  das  wahre,  nicht  auf  das  Werdende 
und  Veränderliche  gerichtete  Wissen.  Die  übrigen  werden 
in  dem  Ausdruck  „das  andere  Seiende**  zusammengefafst 
(247  E).  Eine  andere  Bezeichnung  ist  „das  göttliche  Schöne, 
Weise,  Gute  und  alles  Ähnliche"  (246  E). 

Zu  diesem  Seelenmahle  nun  begeben  sich  die  Seelen 
aufserhalb  des  die  Welt  umschliefsenden  Himmelsgewölbes, 
also  aufserhalb  der  Welt,  um  dann  an  der  steileif  Aufsen- 
seite  des  Gewölbes  zum  „Rücken  des  Himmels"  empor- 
zufahren, bis  sie  jenen  überhimmlischen  Ort  der  Ideen  in 
Sicht  bekommen.  Dabei  führt  sie  der  Umschwung  des 
Himmels  mit  herum,  so  dafs  sie  den  Anblick  von  allen 
Seiten  geniefsen  (247  B  f.).  Die  Gespanne  der  Götter  führen 
diesen  Anstieg  mit  Leichtigkeit  aus,  den  übrigen  Seelen 
aber  bereitet  das  linke  Rofs,  das  sich  störrisch  der  Auffahrt 
widersetzt,  Schwierigkeiten.  Einigen  gelingt  es,  während 
einer  ganzen  Umdrehung  des  Himmels  das  Haupt  des  Wagen- 
lenkers in  der  Höhe  des  Anblicks  zu  erhalten.  Andere  be- 
haupten sich  nur  während  eines  Teils  des  Umschwunges  auf 
dieser  Höhe,  gleiten  auch  zeitweise  zurück,  so  dafs  sie  nur 
einen  Teil  des  Anblicks  geniefsen.  Den  übrigen  gelingt 
infolge  der  Unzulänglichkeit  des  Wagenlenkers 
selbst  dies  nicht;  es  entsteht  ein  Gedränge,  in  dem  die 
Seelen  verletzt  und  die  Flügel  geknickt  werden.    Sie  kehren 


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V.    8.   Vertiefung  der  Erlösungslehre  des  Timäus  etc.        613 

zurück,  ohne  die  Anschauung  des  Seienden  erlangt  zu  haben, 
und  nähren  sich  nun  vom  Meinen  (248). 

Solange  die  Seelen  bei  diesen  stetig  sich  wiederholenden 
Auffahrten  auch  nur  einen  Teil  des  Seienden  erblicken, 
bleiben  sie  im  körperlosen  Zustande.  Sobald  aber  einmal 
eine  Seele  gar  nicht  zum  Anblick  gelangt  und  überdies  im 
Gedränge  zu  Schaden  gekommen  ist,  sinkt  sie,  der  Flügel 
beraubt,  zur  Erde  hinab  und  wird  in  einen  Leib  eingeschlossen, 
{248  C  f.) ,  und  zwar ,  da  sie  der  Voraussetzung  nach  doch 
bei  früheren  Auffahrten  etwas  geschaut  hat,  in  einem 
menschlichen  Leib.  Wie  Plato  dies  Geschick  der  Ver- 
leiblich ung  ansieht,  zeigen  folgende  Worte:  „Wir  waren 
rein"  (also  der  Körper  eine  Befleckung!)  „und  nicht  ge- 
kennzeichnet durch  das,  was  wir  Körper  nennen  und  jetzt 
mit  uns  herumtragen,  gefesselt  wie  die  Auster  in  ihrer 
Schale."     (250  C.) 

Je  nach  dem  Mafse  des  bei  den  früheren  Auffahrten 
Gesehenen  gestaltet  sich  das  menschliche  Los  in  neun  Ab- 
stufungen: 1.  der  Philosoph  und  Freund  des  Schönen,  der 
Musenkunst  und  dem  Eros  ergeben;  2.  der  zur  Herrschaft 
oder  Kriegführung  tüchtige  gesetzliche  Herrscher;  3.  der 
zur  Leitung  des  Hauswesens  oder  zu  Staatsgeschäften  Tüch- 
tige; 4.  der  Gymnastiker  oder  Heilkünstler  (beide  dem 
Körper  dienend!);  5.  der  Seher  oder  Priester  der  Geheim- 
dienste; 6.  der  Dichter  oder  Künstler;  7.  der  Handwerker 
oder  Landwirt;  8.  der  Sophist  oder  Demagoge;  9.  der 
Tyrann. 

Es  verbindet  sich  also  hier  die  mystische  Lehre  vom 
körperfreien  Vorleben  der  Seele  (im  Unterschied  vom  Timäus 
tritt  hier  die  Einschliefsung  in  den  Körper  als  Folge  einer 
Verfehlung  durch  Schwäche  der  denkenden  Seele  ein)  mit 
dem  neuen  spezifisch  platonischen  Gedanken,  dafs  nur  durch 
die  Anschauung  der  Ideen  die  Seelen  sich  in  diesem  körper- 
freien Zustande  behaupten  können.  Das  Aufhören  der 
intellektuellen  Anschauung  bedingt  das  Eintreten  der  Ver- 
leiblichung,  und  auch  die  Stufen  des  irdischen  Loses  sind 
von  dem  Mafse  der  gewonnenen  Eindrücke  abhängig.  Die 
Jetzte    das    Schicksal    der    Seele    vorausbestimmende    Ur- 


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614   Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc 

Sache  ist  offenbar  die  ursprüngliche  Kräftigkeit  der  Ver- 
nunftseele. 

Die  Folgen  dieses  Falles  sind  sehr  nachhaltige.  Erst 
wenn  der  Seele  die  Flügel  wieder  gewachsen  (d.  h.  wenn 
der  Zug  zum  Ewigen  wieder  ihre  beherrschende  Richtung 
geworden),  kann  sie  in  das  leiblose  Dasein  zurückkehren 
(249  B).  Dazu  reicht  aber  eine  einmalige  gute  Lebens- 
führung nicht  aus.  Auch  fällt,  wie  im  zehnten  Buche  des 
Staates,  in  ein  Jahrtausend  nur  eine  einzige  Verleiblichung; 
den  Rest  des  Jahrtausends  verbringen  die  Seelen  an  dem 
ihrer  Beschaffenheit  entsprechenden  jenseitigen  Orte.  An 
der  summarischen  Kürze,  mit  der  hier  die  im  Staat  ge- 
schilderten Vorgänge,  das  Gericht,  die  jenseitigen  Zustände 
und  der  Wiedereintritt  ins  leibliche  Leben  nach  tausend 
Jahren,  nur  berührt  werden  (248  E  flF.),  ist  ersichtlich,  dafs 
die  Schilderung  im  Staat  als  bekannt  vorausgesetzt  wird. 
In  einem  Falle,  bei  der  Erwähnung  der  neuen  Lebenswahl 
(249  B),  ist  diese  Kürze  so  grofs,  dafs  ohne  die  Schilderung 
im  Staat  die  Worte  geradezu  unverständlich  sind.  Die  Seelen 
kommen  „zum  Losen  und  zur  Wahl",  heifst  es  da,  ohne  dafs 
über  die  Bedeutung  dieser  beiden  so  total  verschiedenen 
Vorgänge  für  den  Ausfall  auch  nur  die  geringste  weitere 
Andeutung  gemacht  würde.  Es  ist  deutlich,  dafs  hier  die 
erste  Umarbeitung  des  „Staats"  direkt  vorausgesetzt  wird. 
Diesmal,  beim  Eintritt  in  das  zweite  Leben,  kann  (aus  den 
im  Staat  des  näheren  dargelegten  Ursachen)  eine  Seele 
auch  in  einen  Tierleib  gelangen.  Im  allgemeinen  bedarf  es 
zur  Herstellung  der  Flügel  eines  Zeitraums  von  zehn  Jahr- 
tausenden, also  einer  zehnfachen  Einkörperung,  was  sich 
freilich  mit  der  grofsen  Verschiedenheit  der  Seelen  und  dem 
teilweisen  Hinabsinken  in  den  Tierzustand  schlecht  zusammen- 
reimen läfst.  Nur  diejenigen,  die  dreimal  ohne  Falsch  ein 
philosophisches  und  dem  Eros  huldigendes  Leben  geführt 
haben,  können  nach  drei  Jahrtausenden  zur  Gemeinschaft 
der  Götter  zurückkehren  (249  A). 

Abweichend  vom  Timäus  werden  hier  auch  von  Haus 
aus  und  ursprünglich  tierische  Seelen  vorausgesetzt.  Diesen 
ist  der   Aufstieg   ins   Menschliche   unmöglich.     Denn  eine 


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V.    8.   Vertiefung  der  Erlösungslehre  des  Timäus  etc.        615 

Seele,  die  niemals  jene  ewigen  Gestalten  geschaut  hat,  kann 
niemals  in  einen  Menschenleib  gelangen.  Denn  die  dem 
Menschen  eigene  Zusammenfassung  vieler  Sinneswahrneh- 
mungen zur  Einheit  (der  Allgemeinvorstellungen  oder  Be- 
griffe) durch  die  Vernunft  kann  nur  vermittelst  der  Er- 
innerung an  die  dereinstige  Ideenschau  von  statten  gehen 
(249  B  f.). 

Diese  Ausführung  ist  in  mehrfacher  Beziehung  be- 
merkenswert. Zunächst  ist  hier  der  grundlegende  Unter- 
schied zwischen  der  menschlichen  und  tierischen  Intelligenz 
treffend  bezeichnet:  dort  die  in  den  Wörtern  der  Sprache 
zum  Ausdruck  gelangende  Fähigkeit  zu  Allgemeinvorstel- 
lungen auch  über  das  sinnlich  Anschauliche  hinaus,  hier  das 
Kleben  an  der  sinnlichen  Anschauung. 

Ferner  erkennen  wir  hier  deutlich  die  Abstammung  der 
platonischen  Ideen  von  den  sokratischen  BegriflFen  als  deren 
jenseitige  Vergegenständlichung.  Endlich  zeigt  sich  hier 
die  bereits  im  Menon  vorgekommene  Lehre  von  der  Wieder- 
erinnerung als  der  Bedingung  für  die  Möglichkeit  des  Wissens 
und  Erkennens  in  einer  neuen,  veränderten  Form.  Doi>t 
bezog  sich  das  vorirdische  Erkennen  als  eine  Summe  von 
Einzelerfahrungen  auf  alle  möglichen  Dinge  im  Himmel  und 
auf  Erden.  Auch  im  Timäus  wurde  den  Seelen  vor  der  Ein- 
körperung  auf  ihrem  Fixstern  durch  den  Umschwung  des 
Himmelsgewölbes  wenigstens  von  den  Bewegungen  der 
Himmelskörper,  dem  Vorbilde  der  Denkbewegung,  eine  An- 
schauung gewährt.  Hier  bezieht  sich  die  vorirdische  An- 
schauung als  rein  intellektuelle  auf  die  ewigen  Urbilder 
alles  Sinnenfälligen  selbst,  und  die  Wiedererinnerung  hat 
nur  die  Bedeutung  eines  mitwirkenden  Faktors  beim  irdi- 
schen Erkennen.  Auf  ihr  beruht  die  angeborene  Möglich- 
keit der  begrifflichen  Zusammenfassung  der  Sinneseindrücke. 
Die  Ideenschau  ist  die  Vorbedingung  für  die  Fähigkeit  zur 
begrifflichen  Zusammenfassung. 

Dies  alles  aber  ist  nur  Vorbereitung  auf  den  eigent- 
lichen Zweck  dieser  zweiten  Sokratesrede.  Nur  einige  Hin- 
deutungen auf  die  erlösende  Kraft  des  „Eros"  waren  im 
Bisherigen   gefallen.     Jetzt   nun   (249  D)   wendet   sich  die 


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616  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc'. 

Rede  wieder  dem  Preise  des  Eros  zu.  Die  Erneuerung  der 
Flügel  kann  nur  erfolgen,  wenn  an  den  irdischen  Abbildern 
der  Ideen  die  Erinnerung  an  das  einst  Geschaute  erwacht. 
Die  irdischen  Abbilder  jedoch  der  Gerechtigkeit,  der  Be- 
sonnenheit und  der  übrigen  ewigen  Wesenheiten  sind  trübe 
und  ohne  Glanz.  Auch  sind  die  Sinne  wenig  geeignete  Werk- 
zeuge für  die  Wahrnehmung  dieser  Urbilder  in  ihren  Ab- 
bildern. Dagegen  hatte  die  Schönheit  schon  als  Urbild 
einen  ganz  besonderen  Glanz,  und  ihre  sinnlichen  Abbilder 
sind,  wenngleich  eine  eigentliche  Erkenntnis  des  zu  Grunde 
liegenden  Wesenhaften  durch  die  Sinne  nicht  möglich  ist  — 
eine  solche  würde  bei  der  Schönheit  wie  bei  den  übrigen 
Ideen  die  Liebe  aufs  äufserste  steigern  — ,  gerade  dem 
schärfsten  Sinne,  dem  Gesichtssinn,  unmittelbar  zugänglich. 
Hier  nun  zeigt  sich  ein  auffälliger  Gedankensprung,  eine 
willkürliche  Einschränkung  des  zu  erwartenden  Gedankens. 
Bei  der  Schönheit  schwebt  nicht  das  ganze  weite  und  mannig- 
faltige Gebiet  des  Schönen  vor,  sondern  lediglicli  die  Schön- 
heit des  jugendlichen  männlichen  Körpers.  Der  „Eros", 
der  soeben  noch  Miene  gemacht  hatte,  sich  als  Sinn  und 
Trieb  zur  begrifflichen  Erkenntnis  herauszustellen,  kehrt  zu 
seinem  ursprünglichen,  recht  anstöfsigen  Ausgangspunkte 
zurück. 

Wenn,  so  fährt  Plato  fort,  beim  Anblick  des  „Schönen" 
der  seelische  Zustand  nicht  ein  derartiger  ist,  um  sofort 
auf  die  Schönheit  an  sich  hingelenkt  zu  werden,  so  ent- 
steht jener  zuerst  erwähnte  krankhafte  Liebeswahnsinn ;  die 
Anschauung  des  Abbildes  erregt  keine  heilige  Scheu.  Die 
Begierde  treibt  dazu,  sich  wie  ein  vierfüfsiges  Tier  zu  ge- 
bärden und  in  frevelhaftem,  widernatürlichem  Umgang  den 
Zeugungstrieb  zu  befriedigen  (250  E).  Bei  wem  aber  das 
einst  Geschaute  nachwirkt,  der  schaudert  beim  Anblick  eines 
götterähnlichen  Antlitzes  oder  eines  wahrhaft  schönen 
Körpers  zusammen  wie  vor  einer  Gottheit.  Er  möchte  dem 
Geliebten  wie  einem  Gotte  oder  Götterbilde  opfern.  Dies 
ist  aber  der  seelische  Zustand,  durch  den  das  neue  Wachs- 
tum des  seelischen  Gefieders  herbeigeführt  wird.  Die  durch 
das  Auge  aufgenommene  Ausströmung  der  Schönheit  erweicht 


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V.    8.   Vertiefung  der  Erlösungslehre  des  Timäus  etc.        617 

den  Keimboden  des  Gefieders  und  der  Flügel  und  beseitigt 
das  Hindernis  des  Hervorsprossens.  Es  fängt  in  der  Seele 
an,  zu  treiben  und  zu  wachsen;  es  entsteht  ein  Schmerz  wie 
beim  Zahnen.  Solange  die  Anschauung  des  Geliebten  währt, 
wird  dieser  Schmerz  von  Wonne  überwogen;  in  der  Ab- 
wesenheit des  Geliebten  aber  verhärtet  sich  der  Boden  wieder, 
und  das  sprossende  Gefieder  verursacht  einen  stechenden 
Schmerz.  Ruhelos  bei  Tag  und  Nacht,  ist  die  Seele  einzig 
von  der  Sehnsucht  nach  dem  Anblick  des  Schönen  erfüllt. 
Der  so  Ergriffene  vergifst  Eltern,  Verwandte  und  Freunde, 
vernachlässigt  sein  Vermögen,  kümmert  sich  nicht  um  Sitte 
und  Herkommen,  um  nur  dem  Geliebten,  als  dem  alleinigen 
Arzte  seiner  Leiden,  nahe  zu  sein  und  zu  Füfsen  zu  liegen. 
Das  den  einzelnen  fesselnde  Schönheitsideal  richtet  sich  nach 
dem  Gotte,  dessen  Gefolgschaft  er  bei  jener  vorirdischen 
Auffahrt  angehört  hat :  Zeus,  Ares  u.  s.  w.  (252  f.). 

Bei  diesen  Vorgängen  tritt  nun  aber  auch  das  böse  Rofs, 
die  Begierde,  wieder  in  Aktion.  Es  drängt  zum  Streben 
nach  sinnlicher  Vereinigung.  Es  entsteht  ein  erbitterter 
Kampf  zwischen  den  entgegenstrebenden  Mächten  der  Seele 
<254  C  ff.),  bis  das  schlechte  Rofs,  oft  niedergerissen  und  ge- 
bändigt, schon  beim  Anblick  des  schönen  Knaben  in  Angst 
gerät.  Dieser  wird  nun  durch  die  Werbungen  des  Lieben- 
den allmählich  dahin  gebracht,  die  Annäherungen  desselben 
bis  zur  körperlichen  Berührung,  zur  Liebkosung  und  zum 
Beisammenliegen  zuzulassen  (255).  Dabei  kehrt  dann  die 
von  ihm  ausgegangene  Ausströmung  durch  sein  Auge  auf 
ihn  selbst  zurück  und  erzeugt  auch  in  seiner  Seele  die- 
selben Wirkungen  wie  in  der  des  Liebhabers.  Er  sieht  im 
Liebhaber  sich  selbst  wie  in  einem  Spiegel.  Auch  in  ihm 
entsteht  Liebe  zu  der  in  ihm  selbst  verkörperten  Idee  der 
Schönheit,  die  auch  bei  ihm  die  gleiche,  die  Erlösung  för- 
dernde Wirkung  hat.  Auch  bei  ihm  stellt  sich  aus  der 
gleichen  Ursache  das  gleiche  ungestüme  Sehnen  nach  dem 
Beisammensein  ein.  Nun  erhält  die  sinnliche  Begierde  an 
der  Willfährigkeit  des  Geliebten  eine  neue  gefährliche  Hand- 
habe. Siegt  die  Vernunft,  so  führen  beide  auf  Erden  ein 
seliges  Leben  in  Enthaltsamkeit  und  Sittsamkeit;  nach  dem 


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618  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Tode  aber  sind  sie  befiedert  und  haben  einen  der  drei  zur 
Erlösung  erforderlichen  Lebensläufe  zu  siegreichem  Ende  ge- 
führt (256  B).  Manchmal  jedoch  gewinnt  auch  bei  dem 
idealen  Eros  in  unbewachten  Momenten  das  böse  ßofs  auf 
beiden  Seiten  die  Oberhand.  Wenn  sie  aber  nur  selten  und 
unter  dem  Widerstreben  des  besseren  Teils  der  Seele  der 
Sinnenlust  frönen,  so  treten  ihre  Seelen  im  Tode  zwar  un- 
befiedert, aber  doch  mit  dem  Triebe  nach  Befiederung  aus 
dem  Körper  und  werden  nicht  den  dunklen  Wohnstätten 
unter  der  Erde,  sondern  den  himmlischen  Regionen  zugeführt 
(256  C  flf.),  woran  sich  dann  natürlich  die  weiteren  Phasen 
des  Seelenschicksals,  wie  früher  beschrieben,  anschliefsen. 

Hiermit  ist  denn  öowohl  die  Rede  des  Lysias  als  die 
erste  des  Sokrates  widerrufen  und  dem  Eros  eine  Sühne 
zu  teil  geworden.  Dem  nüchtern-verständigen  Pfleger  des 
Sinnengenusses  bei  Lysias  wird  schliefslich  wegen  der  Niedrig- 
keit der  Gesinnung  eine  9000jährige  Bufse  im  Jenseits  zu- 
dekretiert (256  E). 

Wir  erkennen  in  dieser  dichterisch  eingekleideten  Speku- 
lation, wie  sich  die  Ideenlehre  in  die  mystische  Erlösungs- 
lehre eingefügt  hat.  Das  unumgängliche  Hilfsmittel  zur 
Erhaltung  des  körperfreien  Lebens  ist  die  Ideenschau,  und 
auch,  nachdem  die  Einkörperung  stattgefunden  hat,  ist  die 
Erhebung  zur  Ideß  des  Schönen  das  Hilfsmittel  der  Er- 
lösung. Die  Seelengesundheit  hat  die  ihr  früher  beigelegte 
Bedeutung  für  das  Los  im  Jenseits  an  die  Ideenschau  ab- 
getreten. 

Dafs  aber  das  Schöne  gerade  in  der  Schönheit  des  jugend- 
lichen männlichen  Körpers  gefunden  wird,  scheint  doch  zu 
beweisen,  dafs  hier  noch  ein  drittes  Moment  sich  einmischt. 
Eine  ganze  Anzahl  der  dem  Phädrus  vorangehenden  oder 
kurz  nachfolgenden  Dialoge,  der  Lysis,  der  Charmides,  der 
Euthydemos  sind  voll  von  Zügen  des  Interesses,  das  Plato 
der  päderastischen  Leidenschaft  entgegenbrachte.  Was  bei 
Sokrates  nach  Xenophons  Zeugnis  (Mem.  IV.  1)  eine  scherz- 
hafte Einkleidung  für  sein  Interesse  an  der  Gewinnung 
höher  begabter  Träger  seines  Reformwerks  war,  scheint  bei 
Plato   bitterer  Ernst   und   eine  wirkliche  Leidenschaft  ge- 


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V.    9.  Die  Lehrtätigkeit  in  der  Akademie  bis  zur  zweit,  siz.  Reise.    619 

wesen  zu  sein.  Diese  nimmt  bei  ihm  eine  ästhetische,  ja, 
eine  metaphysische  Einkleidung  an.  Er  wird,  wie  schon 
früher  zum  Romantiker,  so  jetzt  zum  Metaphysiker  der 
Päderastie.  Diese  erhält  für  die  wichtigsten  Begebenheiten 
in  der  mystischen  Welt  des  Jenseits  ausschlaggebende  Be- 
deutung. Dennoch  kann  diese  ins  Ideale  emporgeschraubte 
Leidenschaft  ihren  sinnlichen  Ausgangspunkt  nicht  ver- 
leugnen. Insbesondere  die  grofse  Milde ,  mit  der  das  ge- 
legentliche Hinabsinken  ins  Sinnliche  beurteilt  wird,  läfst 
tief  blicken.  Sie  erinnert  an  das  Wort  im  Faust:  „Du  über- 
sinnlicher, sinnlicher  Freier!"  Aber  auch  in  der  von  Plato 
gepriesenen  höheren  Form  mufs  diese  Leidenschaft  alle  Un- 
befangenheit und  Natürlichkeit  im  Verkehr  der  verschie- 
denen Altersstufen  des  männlichen  Geschlechts  vernichten. 
Der  zur  Zeit  etwa  36  jährige  Plato  läfst  uns  hier  einen  tiefen 
Blick  in  seine  Seele  tun;  er  schreibt,  ohne  es  zu  ahnen, 
Selbstbekenntnisse.  Die  Rolle,  die  hier  neben  der  mit  der 
Jenseitslehre  verbundenen  Ideenlehre  der  „Eros"  spielt,  ent- 
hüllt uns  ein  Stück  aus  der  Herzensgeschichte  des  Philo- 
sophen. 

9.   Die  Lehrtätlgrkelt  in  der  Akademie  bis  zur 
zweiten  Blzllischen  Reise  (ea.  390—367). 

Gegen  390  oder  vielleicht  etwas  später  begann  Plato 
eine  regelmäfsige  Lehrtätigkeit.  Zum  Schauplatz  derselben 
wählte  er  anfangs,  wie  Antisthenes,  eine  öffentliche  An- 
stalt für  Leibesübungen,  die  mit  dem  Heiligtum  eines  sonst 
unbekannten  Heros  Akademos  verbunden  war  und  daher 
Akademie  genannt  wurde.  Es  war  ein  parkartiger,  mit 
Bäumen  bestandener  Platz,  mutmafslich  auch  mit  bedeckten 
Hallen  versehen,  eine  kleine  halbe  Stunde  nordwestlich  der 
Stadt  beim  Kolonoshügel  gelegen,  mit  schönem  Blick  auf 
die  Stadt  mit  der  Akropolis  und  dem  Lykabettoshügel.  Es 
bezeichnet  einen  charakteristischen  Gegensatz  gegen  Sokrates, 
dafs  sich  Plato  mit  seiner  Lehrtätigkeit  aus  der  Unruhe  der 
Stadt  in  die  ländliche  Stille  zurückzog.  Der  Name  Akademie 
ging  dann  auf  seine  Schule  über,  und  so  ist  es  gekommen, 


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620  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

dafs  aus  dem  Namen  dieses  obskuren  Heros  die  Bezeichnung 
für  eine  ganz  andersartige  Sache  hervorgegangen  ist,  die 
dann  in  der  Folge  als  Allgemeinname  für  wissenschaftliche 
Anstalten  der  verschiedensten  höheren  und  niederen  Art 
sich  in  allen  Kultursprachen  eingebürgert  hat.  Später  ver- 
legte Plato*  den  Schauplatz  seiner  Lehrtätigkeit  in  einen  der 
eigentlichen  Akademie  benachbarten,  von  ihm  angekauften 
Garten,  in  dem  er  auch  beerdigt  worden  ist  (D.  L.  IIL  5, 
7,  41).  Dieses  Grundstück  blieb  auch  in  der  Folge  im  Besitz 
der  Schule  und  war  bis  zu  deren  Aufhebung  529  nach  Chr., 
also  über  neun  Jahrhunderte  lang,  der  Sitz  derselben.  Heute 
hat  sich  über  dem  Boden  keine  Spur  mehr  von  dieser  denk- 
würdigen Kulturstätte  erhalten.  Nachgrabungen  scheinen 
daselbst  noch  nicht  stattgefunden  zu  haben. 

Die  Lehrtätigkeit  Piatos  an  dieser  Stätte  scheint  bis 
zur  zweiten  sizilischen  Reise  (367),  also  während  eines  Zeit- 
raums von  über  20  Jahren,  keine  erhebliche  Unterbrechung 
erlitten  zu  haben.  Über  die  Formen,  in  denen  sie  sich  voll- 
zog, ist  nichts  überliefert,  doch  wird  er,  nach  seinen  Schriften 
zu  schliefsen,  auch  im  mündlichen  Verkehr  überwiegend  die 
Form  des  Lehrgesprächs  angewandt  haben. 

Eine  Anzahl  seiner  bedeutendsten  Schriften  gehört  diesem 
Zeitraum  an.  Die  Art,  wie  er  sich  imEuthydemos  und  So- 
phistes  mit  abweichenden  Geistesrichtungen  polemisch  aus- 
einandersetzt, macht  es  sehr  wahrscheinlich,  dafs  diese  beiden 
Schriften  der  Anfangszeit  seiner  Schulgründung  angehören. 
Der  Sophistes  bietet,  aufser  der  Polemik  gegen  die  Sophisten, 
in  der  Auseinandersetzung  mit  Euklid  zugleich  eine  wichtige 
Weiterentwicklung  der  Ideenlehre.  An  ihn  schliefst  sich, 
wie  äufsere  Merkmale  zeigen,  der  „Staatsmann"  an. 
Eine  sehr  eigenartige  Phase  im  Denken  Piatos  stellt  das 
„Gast mahl"  dar,  das  nach  einer  darin  vorkommenden  An- 
spielung auf  eine  zeitgenössische  Begebenheit  im  Jahre  385 
oder  kurz  nachher  verfafst  ist.  Das  platonische  Denken  in 
seiner  am  meisten  charakteristischen  Ausprägung,  auf  seinem 
klassischen  Höhepunkte,  stellt  der  „Phädon**  dar,  der 
mutmafslich  dem  Dezennium  von  380—370  angehört.  Schon 
in  deutlichem  Zusammenhang  endlich  mit  den  Ereignissen 


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Y.   10.  Auseinandersetzung  mit  abweichenden  Standpunkten  etc.    621 

des  Jahres  367,  die  zur  zweiten  sizilischen  Reise  führten, 
steht  die  zweite  Umarbeitung  des  „Staates". 


lO.    Auselnandersetzungr  mit  abweichenden  Stand- 
punkten.   Der  „Euthydemos"  und  „Sophlstes".    (Um 
und  bald  nach  390.) 

Die  beiden  hier  in  Betracht  kommenden  Schriften  sind 
schon  bei  der  Schilderung  der  ausgearteten  Sophistik,  gegen 
die  sie  sich  zunächst  wenden,  als  Quelle  benutzt  worden. 
Der  Sophistes  mufste  aufserdem  auch  zur  Kennzeichnung 
des  Standpunktes  Euklids  herangezogen  werden.  Nach  ihrer 
Bedeutung  für  die  Entwicklung  des  platonischen  Denkens 
können  sie  erst  an  dieser  Stelle  gewürdigt  werden. 

1.  Der  „Euthydemos".  Der  eigentliche  und  letzte 
Zweck  dieses  Dialogs  enthüllt  sich  erst  durch  Berücksich- 
tigung einer  Stelle,  die  sich  erst  gegen  Ende  desselben 
findet.  Hier  (304  D)  wird  ein  Mann  erwähnt,  der  sich  sehr 
weise  dünkt  und  für  Ausarbeitung  von  Gerichtsreden  für 
andere  einen  besonderen  Ruf  hat  (305  B  C).  Dieser  hat 
über  Euthydemos  und  Dionysodor  das  Urteil  abgegeben,  dafs 
sie  zu  den  bedeutendsten  Vertretern  der  zeitgenössischen 
Philosophie  gehörten,  dabei  aber  leere  Schwätzer  seien,  die 
auf  nichtsnutzige  Dinge  einen  unnützen  Eifer  verwenden 
(304  E  f.).  Er  schliefst  daraus,  dafs  die  Philosophie  über- 
haupt ein  wertloses  Ding  sei  und  insbesondere  in  der  Jugend- 
bildung nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielen  dürfe  und  im 
übrigen  durch  Politik  und  Rhetorik  ersetzt  werden  müfste 
(305  B  ff.).  Demgegenüber  lautet  das  Urteil  Piatos,  die 
Vertreter  solcher  Ansichten  seien  Leute  zwar  von  ver- 
ständigem Sinn,  aber  doch  nur  dritten  Ranges,  während 
sie  selbst  für  sich  den  ersten  in  Anspruch  nehmen  möchten 
(306  C). 

Dieser  Mann  ist  niemand  anderes  als  Isokrates.  Der- 
selbe hatte  in  seiner  Sophistenrede  um  391  sich  in  ähnlicher 
Weise  geäufsert.  Gegen  diese  ist  der  „Euthydemos"  als 
Verteidigung  der  wahren  Philosophie  gerichtet.  Be- 
hufs dieser  Verteidigung  wird   das  Verfahren   der  beiden, 


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622  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

angeblich  so  bedeutenden  Sophisten  auf  die  tiefste  Stufe 
des  Läppischen  und  Abgeschmackten  hinabgerückt  und  ihm 
in  dem  des  Sokrates  die  wirkliche  Philosophie  in  wirk- 
samstem Kontraste  gegenübergestellt.  Beide  Teile  geben 
eine  Probe  des  protreptischen,  d.  h.  zur  Beschäf- 
tigung mit  der  Philosophie  überleitenden  Ver- 
fahrens. Bei  jenen  besteht  dies  in  den  früher  geschil- 
derten, das  jugendliche  Denkvermögen  verwirrenden  Possen. 
Die  Probe  des  Sokrates  zeigt  zum  ersten  Male  die  epoche- 
machende Wendung  des  platonischen  Denkens,  durch  die  er 
eben  die  bedeutsamste  Übergangserscheinung  zur  folgenden 
Periode,  zur  Erfassung  des  eigentlichen  Wesens  der  Philo- 
sophie, geworden  ist.  Hier  wird  der  Ausgangspunkt  schon 
ganz  von  der  Glückseligkeitsfrage,  von  der  Frage  nach  den 
Lebenswerten  des  Einzelmenschen  genommen.  Die  hierher 
gehörigen  Reden  des  Sokrates  sind  der  erste  Versuch  einer 
wirklichen  Anregung  und  Anwerbung  zur  eigentlichen  Philo- 
sophie, die  Ursprungsstätte  der  Protreptik  im  eigent- 
lichen Sinne.  Dem  geschichtlichen  Sokrates  wird  nach- 
gerühmt (Xen.  Mem.  L  4,  1),  dafs  er  sich  meisterhaft  auf 
die  Anregung  und  Anlockung  zur  Tugend  verstanden 
habe.  Hier  hat  sich  das  Verhältnis  umgekehrt.  Es  handelt 
sich  um  die  Anlockung  zum  Nachdenken  über  das  eigent- 
liche Wesen  der  Glückseligkeit. 

Aber  es  wiederholt  sich  bei  dieser  neuen  Wendung  des 
Denkens  dieselbe  Erscheinung,  die  bei  Piatos  Hinwendung  zur 
Moralbegründung  hervortrat.  Das  Denken  bewegt  sich  auf 
den  neuen  Bahnen  noch  unsicher  und  tastend  und  läuft 
schliefslich  in  eine  noch  ungelöst  bleibende  Schwierigkeit 
aus.  So  wenig  wie  dort  darf  wohl  auch  hier  das  Gedränge, 
in  das  Sokrates  schliefslich  kommt,  als  ein  blofs  erkünsteltes 
angesehen  werden. 

Jeder  wünscht,  dafs  es  ihm  wohl  gehe.  Alle  Güter 
aber,  Reichtum,  Gesundheit,  Schönheit,  Adel,  Macht  und 
Ehre,  ja,  auch  Besonnenheit ,  Gerechtigkeit  und  Tapferkeit 
können  zum  Glück  nicht  durch  ihren  blofsen  Besitz  führen. 
Man  mufs  sie  auch  recht  zu  gebrauchen  wissen.  Diese 
Fähigkeit  verleiht   die   Einsicht  und   Weisheit.     Ohne   sie 


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V.   10.  Auseinandersetzang  mit  abweichenden  Standpunkten  etc.    623 

sind  jene  anderen  Güter  nur  gleichgültige  Mitteldinge,  ja, 
unter  Umständen  eher  Übel  als  Güter.  Die  Weisheit  ist 
also,  vorausgesetzt,  dafs  sie  lehrbar  ist,  mit  allen  Mitteln 
zu  erstreben,  wenn  man  glücklich  werden  will.  Sie  ist  aber 
lehrbar  (278  E  flF.).  Hier  hat  es  nun  den  Anschein,  als  ob 
die  Weisheit  und  Einsicht  es  nur  mit  dem  richtigen 
Gebrauche  der  übrigen  Güter  zu  tun  habe.  Im  weiteren 
Verlaufe  aber  verwandelt  sie  sich  eben  durch  die  hier  noch 
hervortretende  Unsicherheit  des  Denkens  in  das  doppelte 
Vermögen,  einesteils  die  Güter  hervorzubringen,  andemteils 
sie  richtig  zu  gebrauchen.  Sie  mufs  diese  beiden  Vermögen 
in  einem  vereinigt  in  sich  schliefsen  (288  D  flF.).  Diese 
Wendung  des  Gedankens  nun  wird  zu  einem  wohlberechneten 
Stich  gegen  den  „ Reden verfertiger**  benutzt.  Die  Kunst  des 
Redenschreibens  kann  die  gesuchte  Weisheit  nicht  sein. 
Denn  der  die  Reden  macht,  weifs  sie  nicht  zu  gebrauchen 
(Isokrates  soll  unvermögend  zum  öffentlichen  Auftreten  ge- 
wesen sein),  und  der  sie  vorträgt,  also  gebraucht,  weifs  sie 
nicht  zu  machen.  Beide  verhalten  sich  zueinander  wie  der 
Verfertiger  musikalischer  Instrumente  zum  ausübenden 
Musiker.  Und  doch  ist  die  Kunst  des  Redenschreibens,  fügt 
Sokrates  ironisch  hinzu,  eine  so  gewaltige,  eine  Art  Be- 
schwörungskunst, nur  nicht  für  Bestien,  sondern  für  Ge- 
richtshöfe und  Volksversammlungen  (289  C  ff.).  Mit  der 
wirklichen  Lösung  des  Problems  aber  läfst  Plato  seinen  So- 
krates wirklich  und  ernstlich  ins  Gedränge  kommen,  und 
wenn  er  in  dieser  Not  in  offenbar  spöttischer  Absicht  die 
Hilfe  der  beiden  Sophisten  anruft,  worauf  die  dann  wieder 
mit  ihren  absurden  Possen  einsetzen  (292  f.) ,  so  folgt 
daraus  noch  nicht,  dafs  die  Verlegenheit  selbst  nur  eine 
erkünstelte  ist. 

Das  wahre  Endziel  des  Dialogs  kommt  in  den  Schlufs- 
worten  zum  vollen  Ausdruck.  Wie  bei  allen  Bestrebungen 
gibt  es  auch  bei  der  Philosophie  Pfuscher  in  grofser  Zahl. 
Will  man  aber  ein  Urteil  über  ihren  Wert  gewinnen,  so 
mufs  man  nicht  nach  den  Personen  urteilen,  die  sich  für 
ihre  Vertreter  ausgeben,  sondern  die  Sache  selbst  ins  Auge 
•fassen    und    dann  entweder  verwerfen    oder    sich    ihr   mit 


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624  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

vollem  Eifer  hingeben  (307).  Hier  tritt  die  Verteidigung 
des  eigenen  Lebenswerkes  gegen  Isokrates  in  ihr  volles 
Licht. 

2.  Der  Sophistes.  Auch  hier  zittert  im  scharfen 
Angriff  gegen  die  entartete  Sophistik  noch  der  durch  Iso- 
krates wachgerufene  Kampf  nach.  Doch  ist  hier  noch 
weniger  als  im  Euthydemos  dieser  AngriflF  das  Letzte.  Dafs 
es  sich  hier  um  eine  Auseinandersetzung  mit  Euklid 
handelt,  ist  schon  dadurch  angedeutet,  dafs  der  Dialog 
äufserlich  an  den  Theätet  anknüpft.  Dort  war  am  Schlüsse 
eine  Fortsetzung  der  Unterredung  für  den  folgenden  Tag  in 
Aussicht  genommen.  Als  diese  Fortsetzung  nun  gibt  sich 
der  Sophistes.  Freilich  darf  dies  nicht  in  dem  Sinne  ge- 
nommen werden,  als  ob  beide  Dialoge  nach  einem  von  vorn- 
eherein bestehenden  Plane  hintereinander  ausgearbeitet  wor- 
den wären,  etwa  wie  die  unvollendete  Tetralogie,  zu  der 
der  Urstaat  und  der  Timäus  gehören.  In  diesem  Falle 
würde  doch  die  Gerichtsverhandlung,  zu  der  sich  Sokrates 
am  Schlüsse  des  Theätet  begibt  und  die  ja  zur  Einkerkerung 
des  Sokrates  führte,  im  Sophistes  irgend  eine  Berücksich- 
tigung gefunden  haben.  Diese  Einkleidung  bedeutet  nur 
eine  spätere  Anknüpfung  an  das  im  Theätet  Behandelte,  bei 
dem  ja  auch  schon  das  Verhältnis  zu  Euklid  mafsgebend 
war.  Dieser  Zusammenhang  findet  ferner  auch  darin  seinen 
Ausdruck,  dafs  auch  hier,  wie  im  Theätet,  mehrfach  auf 
die  Lehre  des  P  ar  m  e  n i  d e  s  als  Ausgangspunkt  hingedeutet 
wird  (241  E,  244  E  ff.),  und  dafs  nicht  Sokrates  das  Gespräch 
führt,  sondern  ein  „Fremdling  aus  Elea".  Dieser  ist  nun  zwar 
keineswegs  Vertreter  der  eleatischen  Philosophie.  Plato 
legt  ihm  seine  eigenen  Ansichten  in  den  Mund.  Aber  die 
Herkunft  aus  Elea  deutet  doch  auf  einen  Gedanken- 
zusammenhang mit  der  eleatischen,  d.  h.  euklidischen  Lehre. 

Die  Auseinandersetzung  mit  Euklid  nun  erfolgt  in  einer 
Episode,  zu  der  die  Begriffsbestimmung  des  Sophisten  An- 
lafs  gibt.  Der  Gedankengang  dieser  Episode  leidet  freilich 
vielfach  an  derselben  Dunkelheit,  die  schon  im  Theätet  zu 
tage  tritt. 

Den  Sophisten  wird  schuld  gegeben,   dafs   sie  Trüge- 


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V.    10.  Auseinandersetzung  mit  abweichenden  Standpunkten  etc.    625 

risches  behaupten.  Das  heifst  also  mit  andereu  Worten :  sie 
sagen  das  Nichtseiende.  Sie  selbst  freilich  behaupten,  dafs 
dies  nicht  möglich  sei  und  dafs  daher  (nach  dem  alten 
Raisonneraent  der  Herakliteer)  jede  Aussage  wahr  sei.  Aber 
auch  Plato  steht  auf  dem  Boden  der  Voraussetzung,  dafs 
man  das  Nichtseiende  nicht  sagen  könne.  Um  daher  den 
Vorwurf  der  trügerischen  Aussage  gegen  die  Sophisten  auf- 
rechthalten zu  können,  wird  in  einer  weitschichtigen  und 
teilweise  unverständlichen  Erörterung  der  Beweis  geführt, 
dafs  auch  das  Nichtseiende  in  gewissem  Sinne  am  Seien- 
den Anteil  habe  und  also  gesagt  werden  könne  (236  E  bis 
264  C). 

Wir  können  diese  Beweisführung  als  Ganzes  auf  sich 
beruhen  lassen.  Es  kommen  jedoch  in  ihrem  Verlaufe  mehr- 
fach Erörterungen  vor,  man  sieht  nicht  recht,  wie  und 
warum,  die  ein  neues  Licht  auf  die  Ideenlehre  werfen  und 
teilweise  geradezu  eine  wichtige  und  bedeutsame  Weiter- 
bildung derselben  im  Gegensatze  gegen  Euklid  darstellen. 
Auf  diese  Erörterungen  haben  wir  unsere  Aufmerksamkeit 
zu  richten. 

Zunächst  ein  paar  kleine  Proben  von  den  Konsequenzen, 
die  die  Ideenlehre  für  die  ganze  Gestaltung  des  Denkens 
nach  sich  zieht.  Wenn  ein  Gegenstand  von  einem  anderen 
verschieden  ist,  so  ist  dies  nicht  der  Fall  durch  seine  eben 
von  der  des  anderen  abweichende  BeschaflFenheit ,  sondern 
durch  Teilnahme  an  der  Idee  der  Verschiedenheit  (255  E). 
Der  Beweis  ferner,  dafs  die  Bewegung  einesteils  ist  und 
andernteils  nicht  ist,  wird  dadurch  geführt,  dafs  sie  eines- 
teils „am  Seienden"  (d.  h.  an  der  Idee  des  Seins)  Anteil  hat, 
andernteils  aber  auch  wieder  von  der  Idee  des  Seienden  ver- 
schieden ist  (256  A). 

Hauptsächlich  aber  wird  der  Behauptung,  das  Eine 
könne  nicht  zugleich  ein  Vieles  sein,  und  man  dürfe  daher 
nicht  einem  Subjekte  mannigfache  Prädikate  beilegen,  son- 
dern nur  identische  Urteile  bilden  (251),  durch  eine  neue 
Fassung  der  Ideenlehre  entgegengetreten.  Zunächst  wird 
der  Widersinn  dieser  Behauptung  ins  Licht  gestellt.  Nach 
ihr  dürfe  man  weder  den  BegriflF  der  Bewegung  noch  den 

Döring.    I.  40 


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626  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

der  Ruhe  mit  dem  des  Seienden  in  Verbindung  bringen, 
woraus  dann  folge,  dafs  weder  die  materialistische  Ansicht, 
die  alles  in  Bewegung  denke,  noch  die  euklidische  Ideen- 
lehre, die  den  Ideen  absolute  Ruhe  beilege,  statthaft  sei. 
Überhaupt  werde  dadurch  jede  Möglichkeit  einer  WelterklÄ- 
rung  ausgeschlossen,  und  die  Vertreter  dieser  Ansicht  geraten 
selbst  jeden  Augenblick  in  ihren  Reden  in  Widerspruch  mit 
ihrer  eigenen  Voraussetzung  (251  D  flF.). 

Um  diesem  Widersinn  zu  entgehen,  mufs  man  an- 
nehmen, dafs  zunächst  die  Begriffe  (von  den  Ideen  noch 
abgesehen)  miteinander  in  Gemeinschaft  treten  können. 
Nur  das  Widersprechende  ist  dazu  aufser  stände.  Es  mufs 
eine  Wissenschaft  geben,  die  dies  Verfahren  regelt.  Diese 
Wissenschaft  ist  die  Dialektik  (253  D).  Hier  tritt  mit 
voller  Deutlichkeit  das  Hauptproblem  der  Logik  zu  Tage, 
wenngleich  Plato  weder  den  Begriflf  noch  den  Namen  der 
Logik  hat.  Die  Logik  zeigt  das  richtige  Verfahren,  die 
BegriflFe  durch  Zusammenfügung  der  Einzelanschauungen  zu 
bilden,  sowie  sie  wieder  zu  zerlegen,  sie  in  Urteilen  zu  ver- 
binden und  zu  trennen.  Das  ist  die  „Gemeinschaft* 
(koinonla)  der  BegriflFe,  die  auch  ihre  „Verflechtung"  genannt 
wird.  Löst  man  die  Begriflfe  aus  diesem  Zusammenhange, 
verbietet  man  ihnen,  darin  einzutreten,  so  hört  alles  Denken 
auf  (259  E  flf.). 

Diöse  Gemeinschaft  der  BegriflFe  hat  aber  zugleich 
Geltung  für  das  wesenhaft  Seiende,  dessen  Abbilder  im 
Geiste  sie  sind,  für  die  Ideen.  Somit  mufs  auch  für  die 
Welt  der  Ideen  die  für  die  Welt  der  BegriflFe  erwiesene 
Möglichkeit  der  Verknüpfung  Geltung  haben.  Die  Welt  der 
Ideen  ist  nicht,  wie  es  nach  den  Ausdrücken  im  Timäus 
und  nach  der  poetischen  Schilderung  im  Phädrus  scheinen 
könnte,  eine  Welt  von  starr  nebeneinander  stehenden  Wesen- 
heiten; sie  ist  ein  entsprechend  der  mannigfachen  Ver- 
knüpfung der  BegriflFe  im  Urteil  in  mannigfacher  und 
wechselnder  Weise  sich  ineinander  schlingender  lebendiger 
Organismus,  dessen  Bewegungen  mit  denen  des  richtigen 
Denkens  parallel  gehen.  Das  richtige  Denken  spiegelt  nur 
die  Wandlungen  in  den  Verknüpfungen   dieses  Organismus 


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Y.  11.  Ein  Schritt  zur  Lösung  der  Frage  nach  dem  Lebensziel  etc.  627 

ab  und  bildet  sie  nach.  Das  Urteil  ist  nur  die  Art,  wie 
sich  diese  wesenhafte  Gemeinschaft  des  wahrhaft  Seienden 
in  unserem  Denken  und  Sprechen  abbildet.  Freilich 
kommt  diese  Unterscheidung  von  Begriffen  und  Ideen  im 
Dialog  selbst  nicht  so  deutlich  zum  Ausdruck,  wie  sie  hier 
der  Verständlichkeit  halber  gegeben  ist  (256  E,  257  E,  258  C, 
200  D). 

Diese  Koinonla  der  Ideen  untereinander  ist  also  die 
eigentümliche  Weiterbildung,  die  im  Sophistes  im  Gegensatz 
gegen  Euklid  der  platonischen  Lehre  zu  teil  wird.  Fortan 
geht  er  in  der  Ausgestaltung  und  Darstellung  dieser  Lehre 
seinen  eigenen  Weg,  ohne  auf  Euklid  weiter  Rücksicht  zu 
nehmen.  Der  an  den  Sophistes  unmittelbar  sich  anschliefsende 
„Staatsmann"  ist  ebenso  wie  der  in  die  gleiche  Richtung 
gehörende  „Parmenides"  von  einer  solchen  Unlebendig- 
keit  und  Schwerverständlichkeit  der  Gedankenführung  und 
liefert  so  wenig  einen  eigentümlichen  Beitrag  zum  Wesent- 
lichen des  platonischen  Denkens,  dafs  er  hier  übergangen 
werden  kann. 

11.   Ein  Sehritt   zur  Lösung:  der  Fragre  nach  dem 
Lebensziel.    Das  „Gastmahl"  (ea.  386). 

Das  „Gastmahl"  kann  nach  einer  gelegentlichen  An- 
spielung (193  A)  nicht  vor  385  verfafst  sein.  Diese  Schrift 
bildet  geradezu  eine  Abnormität,  einen  Schritt  vom  Wege 
im  Verlaufe  der  Entwicklung  Piatos,  insofern  in  ihr  die 
Unsterblichkeit  nur  sehr  zweifelnd  zugestanden  und  der 
jenseitige  Bestand  einer  Ideenwelt  wenigstens  nicht  direkt 
erwähnt  wird.  Dagegen  stellt  sie  insofern  einen  Fortschritt 
dar,  als  in  ihr  die  im  Euthyderaos  noch  ganz  in  der  Schwebe 
gelassene  Frage  nach  dem  am  meisten  zu  erstrebenden  Gute 
um  einen  bedeutenden  Schritt  ihrer  endgültigen  Lösung  ent- 
gegengeführt wird. 

Der  äufsere  Rahmen  dieses  Dialogs  ist  folgender.  Der 
jugendschöne  Tragödiendichter  Agathen  hat  mit  seinen 
Dramen  einen  Sieg  erlangt.  Auf  dem  zur  Feier  dieses 
Sieges  veranstalteten  Gastmahle  wird  vorgeschlagen,  dafs 
die  Anwesenden  der  Reihe  nach  eine  Lobrede  auf  den  Eros 

40* 


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28      Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

halten  sollen.  Von  diesen  Lobreden  werden  sechs  mitgeteilt, 
u.  a.  die  des  Arztes  Erysimachos,  des  Dichters  Aristo- 
phanes  und  des  Agathen  selbst.  Die  letzte  ist  die  des 
Sokrates.  Auf  diese  mufs  nachher  genauer  eingegangen 
werden.  Nach  Beendigung  derselben  dringt  der  trunken 
von  einem  Gelage  heimkehrende  Alkibiades  in  die  Gesell- 
schaft ein.  Er  hält  die  schon  früher  erwähnte  begeisterte 
Lobrede  auf  Sokrates,  dessen  Schüler  er  einst  gewesen. 
Danach  dringen  noch  andere  Nachtschwärmer  ein.  Es  ent- 
steht ein  lärmendes  Zechen.  Schliefslich  haben  sich  alle 
Gäste  entfernt  oder  liegen  schlafend  auf  den  Pfühlen,  bis  auf 
Agathen,  Aristophanes  und  Sokrates.  Letzterer  setzt  den 
tiefsinnigen  und  der  Antike  sonst  so  fremden  Gedanken 
auseinander,  dafs  der  tragische  und  komische  Dichter  eine 
und  dieselbe  Person  sein  müsse,  bis  gegen  Morgen  auch  jene 
beiden  vom  Schlafe  tibermannt  werden.  Sokrates  begibt  sich 
ins  Lykeion,  nimmt  dort  ein  Bad  und  geht  dann  den  Tag 
über  seiner  gewohnten  Beschäftigung  nach. 

Der  Lehrgehalt  nun  der  sokratischen  Rede  über  die 
Liebe  ist  folgender.  Er  behauptet,  die  Einsichten,  die  er 
vorträgt,  der  weisen  Mantineerin  Diotima  zu  verdanken, 
die  einst  den  Athenern  durch  ein  Opfer  zehnjährigen  Auf- 
schub einer  Pestepidemie  bewirkt  habe,  und  die  ihn  in  der 
„Liebeskunst"  unterrichtet  habe.  Eine  rätselhafte,  für  uns 
nicht  mehr  verständliche  Einkleidung!. 

Der  Eros  ist  das  Kind  der  Fülle  und  der  Bedürftig- 
keit, d.  h.  er  ist  ein  Zustand  des  Verlangens  nach  der  Fülle 
der  besten  Güter,  deren  Inbegriff  die  Glückseligkeit.  Er 
ist,  ganz  universell  gefafst,  Philosophie  im  buchstäblichen 
Sinne,  d.  h.  Weisheitsbegehren.  Nur  das  Gute,  d.  h.  das, 
was  ein  Gut  ist,  das  den  Menschen  Begltickende,  kann  man 
lieben.  Insbesondere  und  im  engeren  Sinne  aber  ist  die 
Liebe  wegen  des  nattirlichen  Wunsches ,  das  Gute  immer 
zu  haben,  der  Wunsch  nach  Unsterblichkeit.  Diese  ist 
aber  im  eigentlichen  Sinne  den  sterblichen  Wesen  versagt 
(206  E,  207  D).  So  streben  sie  denn  in  mancherlei  Weisen 
nach  Fortdauer  wenigstens  in  den  Nachwirkungen  des 
eigenen  Tuns.     Schon  das  Tier  hat  den  Trieb,  wenigstens 


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Y.    11.  Ein  Schritt  zur  Lösung  der  Frage  nach  dem  Lebensziel  etc.  629 

im  leiblichen  Nachwuchs  fortzudauern.  Der  Ehrbegierige 
möchte  im  Gedächtnis  der  Nachwelt  unsterblich  sein.  Die 
edelste  Form  aber  des  Fortlebens  in  den  Werken  ist  die  in 
den  Geisteskindern.  Solche  haben  Homer  und  Hesiod  in 
ihren  Dichtungen,  Lykurg  und  Selon  in  ihren  Verfassungen 
hinterlassen.  Eine  besondere  Form  des  Fortlebens  in  Geistes- 
kindern ist  die  in  edelgearteten  Seelen,  die  man  zur  Weis- 
heit und  Tugend  gebildet  hat.  Hier  findet  sich  ein  be- 
merkenswerter Nachklang  der  echten  sokratischen  Lehre. 
Die  gröfste  und  schönste  Einsicht  ist  die  in  der  geordneten 
Leitung  der  Staaten  und  Hauswesen  sich  betätigende,  deren 
Name  Besonnenheit  und  Gerechtigkeit  ist  (209  A).  Dieses 
Bilden  zur  Tugend  ist  ein  Zeugen  auf  dem  Gebiete  der 
Seele.  Bei  dieser  Seelenzeugung  fällt  dann  freilich  Plato 
im  Sinne  des  schon  im  Phädrus  so  stark  hervorgetretenen 
Schönheitskultus  etwas  aus  der  Rolle.  Er  läfst  den  nach 
Unsterblichkeit  durch  seelische  Zeugung  Begierigen  sich 
nicht  nur  an  der  schönen,  d.  h.  begabten  und  empfänglichen 
Seele,  sondern  auch  am  schönen  Körper  erfreuen.  Beides 
sollte  vereinigt  sein.  Ja,  er  spricht  auch  hier  von  einer  an- 
scheinend körperlichen  Berührung  des  Schönen  (209  B  f.). 

In  dieser  Art  des  Fortlebens  besteht  also  bis  dahin 
einzig  die  ersehnte  Unsterblichkeit.  Aber  die  Unterweisung 
der  Diotima  hat  noch  einen  zweiten  Teil.  Der  Eros  wird 
mit  einem  Male,  wie  im  Phädrus,  Begehren  nach  dem 
Schönen.  Er  beginnt  in  der  Jugend  als  Liebe  zu  schönen 
Körpern,  und  zwar  zunächst  als  ausschliefsliche  Liebe  zu 
einem  Schönen.  Bald  aber  wird  er  inne,  dafs  zwischen 
der  leiblichen  Schönheit  dieses  Einen  und  der  der  vielen 
anderen  Schönen  eine  enge  Verwandtschaft  besteht.  Es 
geht  ihm  die  Allgemeinvorstellung  des  leiblich  Schönen 
überhaupt  auf.  Damit  läfst  die  Leidenschaft  für  den  Einen 
nach;  sie  erscheint  jetzt  eng  und  unbedeutend,  sklavisch 
und  kleingeistig  (210  B  D).  Hier,  zeigt  sich  ein  starker 
und  höchst  charakteristischer  Gegensatz  gegen  die  lebens- 
wierige  Gemeinschaft  der  beiden  Liebenden  im  Phädrus. 
Die  Einschränkung  des  Schönheitskultus  auf  den  Einen 
ist  überwunden  und  verflogen.    Dies  zeigt  noch  deutlicher 


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680   Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

die  weitere  Ausführung.  Weiterhin  nämlich  erscheint  dem 
Liebenden  die  seelische  Schönheit  weit  köstlicher  als  die 
leibliche.  Noch  edler  aber  dann  die  im  Wollen  und  Schaffen, 
sowie  die  in  den  Gegenständen  der  Erkenntnistätigkeit.  Der 
Liebende  fährt  auf  die  hohe  See  des  Schönen  (210  D,  211  C) 
und  findet  schliefslich  das  Schöne  an  sich  und  von  Natur, 
das  immer  ist  und  weder  entsteht  noch  vergeht,  das  nicht 
in  einer  Hinsicht  schön  ist  und  in  einer  anderen  nicht, 
nicht  jetzt  oder  hier  und  für  den  einen  schön,  zu  anderer 
Zeit  aber  und  am  anderen  Orte  oder  für  einen  anderen 
häfslich,  nicht  an  einem  anderen  haftend,  sondern  an  und 
für  sich  und  in  sich  selbst  ewig  und  überall  dasselbe,  so 
dafs  umgekehrt  alles  einzelne  Schöne  an  ihm  nur  Anteil 
hat,  ohne  dafs  es  selbst  durch  dessen  Entstehen  oder  Ver- 
gehen in  Mitleidenschaft  gezogen  würde  (211  A  ff.).  Durch 
diese  Anschauung  des  Schönen  in  seiner  Eigenart  ohne 
Beimischung  alles  Endlichen  und  Veränderlichen  wird  dann 
das  Leben  erst  lebenswert  (211  D).  Auch  ist  man  nur  so 
im  Stande,  im  Sinne  des  vorigen  Gedankenganges  nicht 
blofse  Abbilder  der  Tugend,  sondern  wahre  Tugend  in  den 
Seelen  zu  zeugen.  Wer  aber  dies  vermag,  dem  gebührt 
es ,  dafs  er  von  den  Göttern  geliebt  werde ,  und  wenn 
irgend  ein  anderer  Mensch  es  ist,  dafs  auch  er  unsterblich 
sei  (212  A). 

Auch  in  diesem  letzten  Satze  bleibt  es  mindestens 
zweifelhaft,  ob  von  einer  persönlichen  Unsterblichkeit  die 
Rede  ist.  Die  Erwähnung  des  „Zeugens"  in  den  Seelen 
läfst  auch  hier  die  Möglichkeit  offen,  nur  an  das  Fortleben 
in  den  Seelenzeugungen  zu  denken,  während  allerdings  die 
Verleihung  der  Unsterblichkeit  durch  eine  besondere  Götter- 
gunst die  Deutung  auf  Unsterblichkeit  im  eigentlichen 
Sinne  möglich  macht.  Aber  auch  bei  dieser  Auffassung 
bleibt  die  Unsterblichkeit  nur  ein  gehoffter  Ausnahmefall 
auf  Grund  besonderer  Würdigkeit.  Ebenso  ist  aber  hier 
auch  der  Gedanke  an  ein  jenseitiges  Bestehen  der  Ideen 
ferngerückt.  Alles,  was  von  der  „Schönheit  an  sich"  gesagt 
wird,  bedarf  dieser  Voraussetzung  nicht,  sondern  bezieht 
sich  nur  auf  den  in  der  Seele  entstehenden  sokratischen  Be- 


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V.  11.  Ein  Schritt  zur  Lösung  der  Frage  nach  dem  Lebensziel  etc.    631 

griff.  Dazu  stimmt  auch  alles,  was  über  die  Entstehung 
dieser  Erkenntnis  gesagt  wird.  Sie  entsteht  nicht,  wie  im 
Phädrus,  beim  ersten  vollen  Eindruck  der  erscheinenden 
Schönheit  plötzlich  und  mit  einem  Schlage  unter  Mit- 
wirkung der  Rückerinnerung  an  das  einst  Geschaute.  Diese 
Rückerinnemng  bleibt  hier  ganz  beiseite.  Die  Erkenntnis 
des  „Schönen  an  sich"  entsteht  durch  eine  stetig  sich  er- 
weiternde Anschauung  des  vielfältigen  Einzelschönen  in 
stufenweiser  Steigerung.  Sie  entsteht  gleichsam  auf  induk- 
tivem Wege.  Das  Schöne  an  sich  ist  nur  der  von  allem 
Einzelschönen  abgezogene  allgemeine  Begriff.  Diese  Ent- 
stehungsweise steht  auch  in  vollem  Einklänge  mit  dem  fast 
völligen  Verzicht  auf  die  Unsterblichkeit.  Wenn  es  kein 
Nachleben  gibt,  ist  erst  recht  kein  Vorleben  anzunehmen. 
Das  „Gastmahl"  zeigt  in  bezug  auf  diese  beiden  Punkte 
ein  völliges  Abbiegen  von  dem  im  Phädrus  in  so  zuversicht- 
licher Weise  eingeschlagenen  Gedankenwege.  Auch  das 
leidenschaftliche  Festhalten  an  dem  einen  Geliebten  ist 
hier  verflogen.  Nur  in  einem  Punkte  zeigt  sich  hier  ein 
bedeutsames  Hinausgehen  über  jenen  Gedankenkreis.  Im 
Phädrus  war  die  Erlösung  vom  Leibe  das  letzte  Ziel  des 
Strebens;  die  Anschauung  des  Schönen  war  nur  Mittel  für 
diesen  Zweck.  Hier  dagegen  ist  die  Anschauung  des 
Schönen  an  sich  dasjenige,  wodurch  das  Leben  erst  lebens- 
wert wird.  Sie  ist  nicht  mehr  Mittel,  sondern  selbst  letzter 
und  höchster  Lebenszweck.  Damit  ist  zugleich  die  im 
Euthydemos  noch  offen  gebliebene  Antwort  auf  die  Frage 
nach  dem  höchsten  Gute  erteilt.  Diese  Richtung  auf  einen 
letzten  Lebenszweck  und  diese  Fassung  desselben  bleibt  auch 
fernerhin,  wenngleich  in  veränderter  Ausgestaltung,  dem 
Denken  Piatos  erhalten. 

Wir  müssen  noch  einen  raschen  Blick  auf  die  Lobrede 
des  Alkibiades  nach  ihrem  Zusammenhange  mit  der  Rede 
des  Sokrates  werfen.  Dieser  Zusammenhang  besteht  mehr 
mit  dem  ersten  als  mit  dem  zweiten  Hauptteile  der  sokra- 
tischen  Rede.  Alkibiades  verherrlicht,  wie  teilweise  schon 
früher  dargelegt,  Sokrates  in  der  mannigfachsten  Weise,  in 
keiner  aber  so  nachdrücklich   und    überschwenglich  wie  in 


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632  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

seiner  Eigenschaft  als  Muster  des  wahren  Eros  als  des 
Strebens  nach  Zeugung  der  Tugend  in  edelgearteten  Seelen. 
Unbeirrt  durch  die  stärksten  Versuchungen  der  Sinnenlust 
von  Seiten  des  sich  ihm  zu  sinnlichem  Genüsse  dar- 
bietenden Jünglings  hat  er  dies  Streben  einzig  und  un- 
verrückt im  Auge  behalten.  Dies  Streben  nach  Zeugung 
der  Tugend  und  nach  unsterblichem  Fortleben  in  den  Geistes- 
kindem  war  die  einzige  Leidenschaft  seiner  Seele. 

12.   Der  Höhepunkt  des  platonischen  Denkens.    Der 
„Phädon"  (um  oder  nach  380), 

Der  „Phädon"  ist  wohl  die  formvollendetste  unter  den 
Schriften  Piatos.  Stimmungsvoll  und  aus  einem  Gusse, 
mufs  sie  auch  auf  den  eine  hinreifsende  Wirkung  üben,  der 
den  Gedankengang  mifsbilligt.  In  diesen  Gedankengang 
wird  der  neue  Gedanke  des  „Gastmahls",  die  Anschauung  des 
Schönen  als  höchstes  Lebensziel,  in  stark  veränderter  und 
erweiterter  Gestalt  wieder  aufgenommen;  im  übrigen  kehrt 
diese  Schrift  von  den  Abwegen  des  „Gastmahls"  in  nachdrück- 
lich verstärkter  Form  zum  Unsterblichkeitsgedanken  und 
zur  Ideenlehre  zurück.  Das  höchste  Gut  ist  die  anschauende 
Erkenntnis  der  ewigen  Wesenheiten  überhaupt.  Diese  kann 
aber  nur  in  einem  körperfreien  Leben  dem  Menschen  voll- 
ständig zu  teil  werden.  Nach  Erlösung  vom  Körper  zu 
streben  ist  also  des  Menschen  wichtigste  Angelegenheit. 
Aber  diese  Erlösung  ist  jetzt  nicht  mehr,  wie  im  Phädrus, 
selbst  der  letzte  Zweck ,  dem  die  Ideenschau  als  Mittel 
dient;  das  Verhältnis  hat  sich  direkt  umgekehrt.  Die  wahre 
Erkenntnis  ist  der  letzte  Zweck  geworden;  die  Er- 
lösung vom  Leibe  ist  nur  Mittel  für  diesen  Zweck.  Hilfs- 
mittel aber  für  die  Erlösung  sind  wieder  die  wahren 
Tugenden,  so  dafs  aus  dieser  Lehre  vom  Lebenszweck  auch 
eine  erhabene  Lehre  von  der  Lebensführung  abgeleitet  wird. 

Der  Phädon  spielt  am  Todestage  des  Sokrates.  Wegen 
mannigfacher  Beziehungen  auf  Früheres  ist  er  in  der  bis- 
herigen Darstellung  schon  öfter  herangezogen  worden.  Auf 
diese  früher  erörterten  Punkte  braucht  hier  nur  hingedeutet 
zu  werden. 


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y.    12.    Der  Höhepunkt  des  platonischen  Denkens  etc.       ()33 

Der  wahre  Philosoph  wünscht,  zu  sterben.  Philosophieren 
ist  Sterben-wollen  (61  C).  Der  Philosoph  strebt  einzig  nach 
Erkenntnis  (64  E).  Für  die  Erlangung  der  wahren  Er- 
kenntnis aber  ist  die  Gemeinschaft  mit  dem  Körper  ein 
Hindernis.  Durch  die  Sinne  wird  die  Seele  getäuscht.  Das 
Denken,  durch  das  allein  wahre  Erkenntnis  erlangt  werden 
kann,  geht  am  besten  ohne  die  Störung  der  Sinneseindrticke 
von  statten,  wenn  die  Seele  allein  ist  und  den  Körper 
gehen  läfst.  Insbesondere  sind  die  an  sich  seienden  Wesen- 
heiten, das  Gerechte,  Schöne  und  Gute  an  sich,  überhaupt 
die  Wesenheiten  der  Dinge,  nicht  sinnenftllig,  sondern  nur 
mit  der  Seele  zu  erfassen  (65).  Dazu  kommt,  dafs  die 
körperlichen  Bedürfnisse,  Krankheiten,  Begierden,  Besorg- 
nisse u.  s.  w.  ein  direktes  Hemmnis  des  Erkenntnisstrebens, 
also  ein  schlimmes  Übel  bilden.  So  ist  also  wahre  Er- 
kenntnis überhaupt  nicht  zu  erlangen  oder  erst  nach  dem 
Tode  (61  E).  Der  Tod  ist  die  Trennung  der  Seele  vom 
Körper  (64CfiF.),  die  Reinigung  der  Seele  von  der  „Tor- 
heit des  Körpers"  (67  A).  Dies  trifft  aber  nur  zu,  wenn 
diese  Lösung  schon  im  Erdenleben  genügend  vorbereitet 
worden  ist.  Loslösung  vom  Körper,  Reinigung  ist  also  die 
wichtigste  Angelegenheit  des  Philosophen  (6?  B  f.). 

Aus  diesem  Bestreben  allein  entspringen  die  wahren 
Tugenden  (68  C  ff.).  Die  gemeine  Tapferkeit  ist  nur  eine 
Art  von  Feigheit.  Nur  aus  Furcht  vor  noch  gröfseren  Übeln 
bietet  sie  dem  Tode  Trotz.  Die  gemeine  Sophrosyne  ent- 
springt aus  Lüsternheit.  Man  enthält  sich  einiger  Lüste, 
um  anderer  teilhaft  zu  werden.  Diese  Tugend  ist  nur  ein 
Handelsgeschäft,  ein  Schatten  der  Tugend,  eine  Sklaven- 
tugend. Wahre  Tugenden  sind  nur  die,  die  aus  dem  In- 
teresse der  Lösung  vom  Körper  behufs  Erlangung  wahrer 
Erkenntnis  entspringen.  Die  wahren  Tugenden  sind  Rei- 
nigungen (69  C). 

Jetzt  nun  äufsert  Kebes  einen  Zweifel  an  der  Grund- 
voraussetzung dieser  ganzen  Gedankenreihe,  am  Fortleben 
der  Seele  (70).  So  müssen  denn  dafür  Beweise  beigebracht 
werden.  Damit  ist  das  Hauptthema  des  Phädon  erreicht. 
Es  ist  sehr  bezeichnend  im  Hinblick  auf  die  Denkrich- 


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634  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc- 

tung  des  „Gastmahls",  dafs  Plato  eine  streng  wissenschaftliche 
Behandlung  der  Unsterblichkeitslehre  und  im  Zusammen- 
hange damit  auch  der  Ideenlehre  ftlr  notwendig  hält.  Sicher- 
lich wollte  er  durch  die  Überwindung  der  hier  vorgebrachten 
Zweifel  in  erster  Linie  nicht  andere,  sondern  sich  selbst 
überzeugen.   Dieser  Kebes  ist  er  selbst. 

Dererste  Beweis  geht  von  dem  allgemeinen  Satze 
aus,  dafs  alles  aus  seinem  Gegensatze  entspringt.  Gäbe  es 
nur  eine  Richtung  des  Geschehens,  so  würde  alles  zuletzt 
sich  in  einem  und  demselben  Zustande  befinden.  Daher 
mufs  also  auch  wie  der  Tod  aus  dem  Leben  so  auch  wieder 
das  Leben  aus  dem  Tode  entspringen  (71). 

Der  zweite  Beweis  geht  von  dem  Satze  aus,  dafs 
das  Lernen  ein  Wiedererinnern  ist.  Dies  ergibt  sich  daraus, 
dafs  man  durch  richtige  Fragen  alle  möglichen  richtigen 
Einsichten  aus  den  Menschen  herauslocken  kann,  selbst 
mathematische  (73  E).  Hier  zeigt  sich  deutlich  ein  Rück- 
blick auf  den  Menon,  wenngleich  freilich  dort  die  um- 
gekehrte Argumentationsweise  stattfand.  Dort  sollte  durch 
die  Voraussetzung  eines  Vorlebens  die  Möglichkeit  des 
Lernens  (als  Rückerinnerung)  erwiesen  werden,  hier  durch 
die  Tatsächlichkeit  des  Lernens  (als  Rückerinnerung)  die 
Tatsächlichkeit  eines  Vorlebens.  Auch  durch  einen  anderen 
Zug  noch  unterscheidet  sich  unsere  Stelle  von  der  im  Menon. 
Dort  war  für  das  frühere  Leben  nur  eine  sinnliche  Er- 
kenntnis der  Dinge  in  der  Welt  vorausgesetzt,  hier  wird 
demselben  vornehmlich  der  Erwerb  gewisser  Begriffe  zu- 
geschrieben, die  nicht  aus  der  Sinneserkenntnis  stammen 
können.  So  der  Begriff  der  Gleichheit.  Die  Sinne  zeigen 
stets  nur  Gegenstände,  die  einander  teilweise,  vielleicht  über- 
wiegend, gleich  sind,  teilweise  aber  auch  ungleich.  Dies 
soll  dann  aber  auch  von  allen  anderen  Begriffen 
gelten.  Als  Beispiele  werden  angeführt:  gröfser,  kleiner, 
schön,  gut,  gerecht,  fromm  (75  C).  Diese  alle  können  in 
ihrer  strengen  begrifflichen  Form  nicht  aus  der  unvoll- 
kommenen Verwirklichung  im  Sinnlichen  gewonnen  werden. 
Sie  können  aber  auch  nicht  im  eigentlichen  Sinne  au- 
geboren sein;  sonst  müfsten  sie  uns  von  Haus  aus  im  Be- 


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V.    12.   Der  Höhepunkt  des  platonischen  Denkens  etc.       635 

wufstsein  sein.  Tatsächlich  aber  werden  sie  erst  bei  Ge- 
legenheit der  entsprechenden  Sinneswahrnehmungen  ins  Be- 
wufstsein  gerufen  (76  B).  Daraus  schliefst  Plato ,  dafs  sie 
unbewufst  gewordene  Erinnerungen  aus  einem  körperlosen 
Vorleben  als  vernünftige  Wesen  sind.  Schon  hier  mufs  die 
Voraussetzung  gemacht  werden,  dafs  diese  Begriffe  in  ihrer 
Reinheit  und  Vollkommenheit  als  Wesenheiten  existieren 
(76  D  ff.). 

Diese  beiden  ersten  Beweise  ergänzen  einander:  der 
erste  geht  auf  ein  Nachleben,  der  zweite  auf  ein  Vorleben 
(77  B  ff.). 

Ein  dritter  Beweis  beruht  auf  der  Einfachheit  der 
Seele.  Das  Einfache  kann  sich  nicht  auflösen.  Der  Beweis 
für  die  Einfachheit  der  Seele  wird  aus  ihrer  Fähigkeit  zur 
Erfassung  der  Ideen  geführt.  Nur  das  Gleiche  kann  das 
Gleiche  erfassen.  Die  Ideen  sind  aber  einfach,  denn  einfach 
mufs  sein,  was  sich  immer  gleich  bleibt.  Zur  Erfassung  der 
Ideen  aber  ist  die  Seele  befähigt,  wenn  sie  sich  der  Störung 
durch  die  Sinneseindrücke  entzieht  (78  C  ff.).  Also  mufs 
auch  die  Seele  einfach  sein  (80  B).  So  wird  denn  hier  die 
im  Timäus  und  Phädrus  angenommene  Dreigestal tigkeit  der 
Seele,  die  schon  im  umgearbeiteten  Staate  wenigstens  für 
den  jenseitigen  Zustand  nicht  mehr  angenommen  wurde,  hier 
für  immer  und  unbedingt  fallen  gelassen. 

An  diesen  Beweis  schliefst  sich  eine  Erörterung  über 
die  verschiedenen  möglichen  Schicksale  der  Seele  nach  dem 
Tode.  Hat  sie  sich  hier  von  der  Vermischung  mit  dem 
Körperlichen  rein  gehalten,  so  tritt  sie  nach  dem  Tode  in 
volle  Gemeinschaft  des  Erkennens  mit  diesen  ewigen,  gött- 
lichen Wesenheiten,  frei  von  den  Störungen  durch  die  Sinne, 
und  geniefst  in  diesem  ungestörten  Erkennen  die  höchste 
Seligkeit  (81  A).  Hat  sie  dagegen  sich  in  enge  Gemein- 
schaft mit  dem  Körper  eingelassen,  so  wird  sie  vom  Körper- 
lichen durchdrungen  und  verwächst  damit.  Sie  hat  geradezu 
etwas  Erdartiges  in  sich  aufgenommen  und  ist  dadurch  sicht- 
bar geworden,  so  dafs  sie  an  den  Gräbern  umherspukt,  bis 
sie  wieder  an  einen  Körper  gefesselt  wird  (81  B  ff.).  Hier 
nimmt  also  das  platonische  System  ein  Stück  recht  wüsten 


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636  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

animistischen  Aberglaubens,  den  Gespensterglauben,  in  sich 
auf.  Die  neue  Körperlichkeit  aber  wird  in  diesem  Falle 
eine  tierische  sein,  und  zwar  eine  der  jeweiligen  Richtung 
der  vorangegangenen  Lebensführung  entsprechende,  was  durch 
eine  Reihe  von  Beispielen  (Esel,  Wolf,  Habicht,  Geier,  Bienen, 
Wespen,  Ameisen)  erläutert  wird  (81  E  ff.). 

Der  wahre  Philosoph  enthält  sich  um  der  Lösung  und 
Reinigung  seiner  Seele  willen  alles  dessen,  was  ihn  an  den 
Körper  fesselt.  In  den  Körper  eingekerkert  und  genötigt, 
Mithelferin  ihrer  eigenen  Gefangenschaft  zu  sein,  durchschaut 
die  philosophisch  gerichtete  Seele  den  Trug  der  Sinne  und 
glaubt  nur  ihrer  eigenen  Denkkraft,  die  sie  zum  Wahrhaften 
und  Ewigen  hinführt  und  zugleich  von  den  Affekten  um 
körperliche  Güter  und  Übel  befreit,  die  sie  nur  fester  an 
den  Körper  fesseln  würden.  Sie  nährt  sich  am  Ewigen,  um 
im  Tode  mit  demselben  (anschauend)  vereinigt  zu  werden 
(82  D  ff). 

In  zartsinnigster  und  rücksichtsvollster  Einkleidung 
bringen  nun  erst  an  dieser  Stelle  die  beiden  Thebaner 
die  ihnen  eigenen  Theorien  über  Wesen  und  Schicksal  der 
Seele  vor,  die  wir  an  früherer  Stelle  als  die  des  späteren 
wissenschaftlichen  Pythagoreismus  kennen  gelernt  haben 
(84  C— 88  B).  Bis  dahin  hatten  sie  sich  nur  im  allgemeinen 
als  Zweifler  an  der  Unsterblichkeit  kundgegeben. 

In  ebenso  feiner  und  edler  Weise  aber  nimmt  auch 
Sokrates  diese  Gegenargumente  entgegen.  Wie  es  Menschen 
gibt,  die  infolge  übler  Erfahrungen  mit  den  Menschen 
Menschenhasser  (Misanthropen)  werden,  so  kann  man  auch 
durch  Mifserfolge  im  Forschen  zum  Verächter  der  wissen- 
schaftlichen Forschung  (zum  Misologen)  werden.  Das  richtige 
aber  ist,  in  solchen  Fällen  den  Fehler  bei  sich  selbst  zu 
suchen  und  unverdrossen  von  neuem  anzusetzen  (89  D  ff.). 
Noch  weniger  aber  zieme  es  ihm,  den  Rechthaberischen  zu 
spielen,  da  er  ja  nur  für  sich  selbst  eine  stichhaltige  Über- 
zeugung suche.  (Hier  spricht  Plato!)  In  Rede  und  Gegen- 
rede, sowie  in  dem  Verhalten  der  Zuhörer  ist  hier  wie  über- 
haupt in  der  ganzen  Schrift  in  meisterhafter  Weise  die  feier- 
liche Abschiedsstimmung  des  Todestages  wiedergegeben,  die 


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y.    12.  Der  Höhepunkt  des  platonischen  Denkens  etc.       637 

auch  den  kleinsten  Mifsklang  meidet.  Die  Bedenken,  die 
Sokrates  zunächst  gegen  die  beiden  Theorien  äufsert,  führen  ihn 
auf  die  letzten  Gründe  des  Werdens  und  Vergehens  überhaupt 
(96).  Er  hat  sich  eingehend  mit  den  verschiedenen  materia- 
listischen Theorien  der  Naturphilosophen  befafst,  ist  aber 
dadurch  ganz  unfähig  geworden,  auch  nur  die  gewöhnlichsten 
Erscheinungen  zu  verstehen.  So  soll  eins  zu  zwei  werden, 
indem  entweder  ein  zweites  Eins,  das  doch  auch  nur  eins 
ist,  hinzutritt  oder  das  Eine  zerschnitten  wird  (97).  Und 
so  mit  anderen  Fragen.  So  hat  ihn  denn  auch  die  Lehre 
des  Anaxagoras  von  der  Weltvemunft  aus  den  früher  an- 
gegebenen Gründen  enttäuscht. 

So  hat  er  sich  denn  einer  völlig  anderen  Betrachtungs- 
weise zugewandt.  Hier  nun  wird  die  Ideenlehre  in  der- 
jenigen Gestalt,  die  sie  auf  dem  Höhepunkte  des  platonischen 
Denkens  angenommen  hat,  ausdrücklich  und  nachdrücklich 
als  Stützpunkt  der  Unsterblichkeitslehre  eingeführt. 

Die  eigentliche,  einzige  und  wahre  Ursache  alles  Er- 
scheinenden ist  die  Welt  der  Dinge  an  sich.  Nur  durch 
Anteilhaben  (metoch^)  an  dem  betreffenden  an  sich  Seien- 
den hat  das  Erscheinungsding  seine  Eigenart.  Nur  durch 
das  Gegenwärtigsein  (parusla)  und  die  Gemeinschaft 
(koinonla)  jenes  Urseienden  ist  jenes  das,  was  es  ist  (100  B  ff.). 
Nur  durch  das  Schöne  wird  das  Schöne  schön,  nur  durch 
Gröfse  das  Grofse  grofs,  das  Gröfsere  gröfser,  nur  durch 
Kleinheit  das  Kleinere  kleiner.  Wollte  man  das  Gröfsersein 
eines  Menschen  im  Verhältnis  zu  einem  anderen  durch  den 
überragenden  Kopf  erklären,  so  würde  der  kleine  Kopf  die 
Gröfse  bewirken  (101  A).  Ebenso  überragt  die. Zahl  zehn 
die  Acht  durch  die  Idee  der  Vielheit  und  das  zwei  Ellen 
Lange  das  Einellige  durch  die  Idee  der  Hälfte  (!),  und  die 
Zwei  entsteht  nicht  durch  Spaltung  oder  Zusatz,  sondern 
durch  die  Idee  der  Zweiheit  (101  B  ff.).  Wenn  Simmias 
gröfser  ist  als  Sokrates  und  kleiner  als  Phädon,  so  geschieht 
dies  dadurch,  dafs  er  sowohl  an  der  Idee  der  Gröfse  als  an 
der  der  Kleinheit  Anteil  hat,  während  jene  beiden  im  Ver- 
hältnis zu  ihm  an  der  der  Kleinheit  resp.  der  Gröfse  Anteil 
haben  (102  C).    Je  nach  der  Gröfse  der  verglichenen  Person 


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638  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schalen  etc. 

weicht  bei   Simmias  die  Gröfse  oder  die  Kleinheit  zurück 
(102  B  ff.). 

In  dieser  Stelle  finden  wir  zunächst  die  drei  charak- 
teristischen Bezeichnungen  für  das  Verhältnis  der  Erschei- 
nungsdinge zu  den  Ideen.  Vom  Standpunkte  der  Erschei- 
nungsdinge aus  betrachtet  ist  dies  das  Anteilhaben,  vom 
Standpunkte  der  Ideen  aus  das  Gegenwärtigsein,  von 
einem  mittleren  Standpunkte  aus,  der  beide  gleicherweise 
ins  Auge  fafst,  ist  es  Gemeinschaft.  Diese  Gemeinschaft 
zwischen  der  Idee  und  dem  Erscheinungsdinge  mufs  aber 
durchaus  unterschieden  werden  von  der  im  Sophistes  be- 
handelten zwischen  den  Ideen  untereinander.  Letztere  ge- 
währleistet die  Möglichkeit  wechselnder  Verhältnisse  zwischen 
den  Ideen  selbst  und  an  sich;  erstere  bezeichnet  das  Ver- 
hältnis zwischen  den  Ideen  und  den  Erscheinungen.  Nach 
diesen  Bezeichnungsweisen  nun  hat  es  den  Anschein,  dafs 
Plato  hier  die  im  Timäus  vorgetragene  Lehre  von  der  Räum- 
lichkeit als  Stoff  der  Erscheinungswelt  wieder  fallen  gelassen 
hat  und  jetzt  als  das  einzige  Wirkliche  die  immaterielle 
Substanz  der  Ideenwelt  annimmt.  Nur  insoweit  als  sie  An- 
teil haben  an  den  Ideen,  als  das  Gegenwärtigsein  der 
Ideen  in  ihnen  stattfindet,  haben  die  Erscheinungsdinge  Re- 
alität. Sie  sind  die  unvollständige  und  getrübte  Daseins- 
weise der  Ideen  selbst,  in  der  diese  nur  unvollkommen  und 
in  eine  Vielheit  auseinandergegangen  den  Sinnen  erscheinen. 
Diese  Vermutung  wird  auch  dadurch  bestätigt,  dafs  hier  mit 
keinem  Worte  mehr  eines  Stoffes  Erwähnung  getan  wird. 
Eine  weitere  Bestätigung  wird  sich  an  späterer  Stelle  er- 
geben. Es  hat  sich  also  zwischen  dem  Timäus  und  dem 
Phädon  die  Lehre  Piatos  zu  einem  vollständigen  Im- 
materialismus  entwickelt.  Aus  den  sokratischen  Be- 
griffen als  Schöpfungen  des  Denkens  ist  durch  eine  seltsame 
Umgestaltung  nicht  nur  die  höchste,  sondern  die  einzige 
Art  des  Existierenden  geworden.  Auch  der  Weltbildner,  der 
nach  den  „Musterbildern"  den  Stoff  gestaltete,  wird  dadurch 
entbehrlich.  Die  Ideen  sind  selbst  und  an  sich  das  Seiende, 
nur  im  Erscheinenden  in  getrübter,  gebrochener,  schatten- 
hafter Daseinsweise.     Wie   abenteuerlich   und   verschroben 


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y.    12.  Der  Höhepunkt  des  platonischen  Denkens  etc.       639 

aber  diese  Art  der  Welterklärung  ist,  das  lehren  zur  Genüge 
die  vorstellend  angeführten  Beispiele,  durch  die  Plato  seine 
Theorie  veranschaulicht. 

Auf  dieser  Grundlage  nun  führt  Plato  jetzt  seinen  ent- 
scheidenden, vierten  Beweis  für  die  Unsterblichkeit 
(103  D  ff.) 

Durch  die  Aufnahme  anderer  Ideen  verändern  sich  die 
Dinge  oder  hören  auf,  zu  existieren.  Letzteres,  wenn  sie 
eben  nur  durch  die  betreffende  Idee  sind,  was  sie  sind.  So 
hört  der  Schnee  durch  die  hinzutretende  leee  der  Wärme, 
das  Feuer  durch  die  der  Kälte  auf,  zu  existieren.  Nun  gibt 
es  aber  zwischen  gewissen  Ideen  selbst  Gemeinschaftsverhält- 
nisse, vermöge  deren,  wo  die  eine  der  so  verknüpften  Ideen 
gegenwärtig  ist,  auch  die  andere  notwendig  vorhanden  sein 
mufs.  Was  an  der  Idee  der  Dreiheit  Anteil  hat,  hat  not- 
wendig auch  an  der  des  Ungeraden  Anteil  und  kann  die 
des  Geraden  nicht  aufnehmen,  obgleich  diese  der  Idee  der 
Dreiheit  direkt  nicht  entgegengesetzt  ist.  Ist  in  einem  Körper 
die  Idee  des  Feuers,  dann  auch  die  der  Wärme,  wenn  die 
des  Fiebers,  dann  auch  die  der  Krankheit.  Dieser  Gedanke 
bildet  einen  Teil  der  bereits  im  Sophistes  entwickelten  Lehre 
von  der  Gemeinschaft  der  Ideen  untereinander. 

Hier  nun  springt  der  neue  Unsterblichkeitsbeweis  hervor. 
Dieselbe  Gemeinschaft,  die  zwischen  der  Idee  der  Dreiheit 
und  der  des  Ungeraden  besteht,  die  besteht  auch  zwischen 
der  Idee  der  Seele  und  der  der  Unvergänglichkeit.  Wo  die 
erstere  vorhanden,  ist  auch  die  letztere  zur  Stelle.  Diese 
schliefst  aber  ihr  Gegenteil  aus.  Die  Seele  entweicht  der 
herantretenden  Idee  des  Vergehens,  wie  der  Schnee  der  des 
Warmen  entweichen  würde,  wenn  die  Idee  des  Nichtwarmen 
der  Idee  des  Schnees  untrennbar  anhaftete  (106).  Dieses 
untrennbare  Anhaften  aber  findet  bei  der  Idee  der  Seele 
hinsichtlich  der  Idee  der  Unsterblichkeit  oder  Unvergäng- 
lichkeit statt.  Die  Seele  ist  also  unsterblich,  weil  zwischen 
diesen  beiden  Ideen  eine  untrennbare  Gemeinschaft  besteht. 
Ein  Beweis  für  diesen  Punkt  wird  freilich  nicht  geliefert. 
Aber  auch  wenn  er  geliefert  wäre,  würde  nur  folgen,  dafs 
diese  beiden  Ideen  untrennbar  verwachsen  wären,  wenn  sie 


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(540  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

überhaupt  im  Sinne  Piatos  existierten.  Diese  Existenz  aber 
vorausgesetzt,  folgt  die  Unsterblichkeit  der  Seele  aus  ihrem 
Anteilhaben  an  den  beiden  verkoppelten  Ideen. 

An  diesen  Beweis  schliefsen  sich  dann  Ausführungen 
im  Sinne  jener  grofsen  mythischen  Bildergruppe,  von  der  uns 
wesentliche  Teile  schon  im  Gorgias  und  PhÄdrus  und  in  der 
Umarbeitung  des  „Staats"  entgegentraten  (107  ff.).  Auch  hier 
kommt  die  Aburteilung  am  Orte  des  Gerichts  vor  (107  D,  113C, 
114  B).  Die  am  Irdischen  klebende  Seele  sträubt  sich 
gegen  die  Hinführung  zum  Gerichtsorte,  die  ihrem  Dämon 
nur  mit  Mühe  gelingt  (108  A  f.).  Hier  wird  auf  die  Aus- 
führungen beim  dritten  Beweise  verwiesen,  die  freilich  das 
Gericht  und  den  Zwischenaufenthalt  im  Jenseits  nicht  er- 
wähnten, sondern  die  neue  Einkörperung  gleich  von  der 
Erde  aus  vor  sich  gehen  liefsen.  Auch  werden  dort,  ab- 
weichend von  der  Republikstelle,  die  der  gemeinen,  nicht 
philosophisch  begründeten  Tugend  Beflissenen  als  dem  Ir- 
dischen anhängend  in  das  Los  des  Tierwerdens  mitein- 
begriffen. Dies  stimmt  zu  der  harten  Verurteilung  der 
nicht  vom  Gedanken  der  Reinigung  getragenen  Tugend  an 
der  früheren  Stelle  unseres  Dialogs.  Wir  sehen  an  der 
ersten  dieser  beiden  Abweichungen,  dafs  die  Einzelzüge 
dieses  Mythos  nicht  unwandelbar  feststehen,  an  der  zweiten, 
dafs  sie  sich  speziell  nach  den  fortschreitenden  Grundüber- 
zeugungen Piatos  umgestalten. 

Auch  die  tausendjährige  Periode  der  früheren  Stellen 
wird  hier  nicht  beibehalten.  Der  Aufenthalt  im  Jenseits 
wechselt  je  nach  Bedarf  der  erforderlichen  Sühne  (113  A). 
Besonders  die  jenseitigen  Stätten  dieser  Sühne  werden  hier 
in  phantastischen  Farben  ausgemalt.  Auch  hier  gibt  es  ein 
Oben  und  ein  Unten.  Die  himmlische  Region  wird  hier 
näher  bezeichnet  als  die  wahre  Erdoberfläche.  Diese  ist 
nämlich  an  der  Stelle,  wo  das  Luftmeer  an  den  Äther  grenzt. 
Wir  Lebenden  befinden  uns  eigentlich  noch  in  der  Erde. 
Dort  oben  ist  der  Zwischenaufenthalt  der  in  höherem  Mafse 
Gerechten  (108  E,  114  B).  Unter  der  Erde  ist  zunächst 
der  düstere  Hohlraum  im  Mittelpunkte  der  Erde,  dem  die 
unheilbaren  Frevler  zugewiesen  werden  (112  A,.  113  E).    Von 


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V.    12.    Der  Höhepunkt  des  platonischen  Denkens  etc.       641 

diesem  aus  ergiefsen  sich  drei  unterirdische  Ströme.  Zu- 
nächst der  Acheron,  der  sich  in  den  acherusischen  See  er- 
giefst.  An  letzterem  weilen  diejenigen,  die  ein  mittelmäfsiges 
Leben  geführt  haben,  bis  sie  zur  neuen  Einkörperung  ge- 
langen (112  E ,  113  A  D).  Sodann  der  Pyriphlegethon  und 
der  Kokytos,  zwei  Feuerströme,  die  vom  Tartarus  aus  rechts 
und  links  vom  acherusischen  See  vorbeifliefsen  und  dann  in 
den  Tartarus  zurückströmen.  In  ihnen  treiben  die  schweren, 
aber  heilbaren  Frevler.  Beim  Vorbeitreiben  am  archerusi- 
schen  See  flehen  sie  jedesmal  die  dort  weilenden  Opfer  ihrer 
Taten  um  Aufnahme  an,  bis  sie  diese  erlangen  und  damit 
in  die  Gruppe  der  dort  Weilenden  übertreten  (113, 114  A  f.). 
Ganz  und  für  alle  Folgezeit  von  neuer  Einkörperung  befreit 
sind  nur  diejenigen,  die  sich  durch  Philosophie  (d.  h. 
eben  nach  Mafsgabe  der  im  Phädon  vorgetragenen  Lehre) 
hinreichend  vom  Körperlichen  gereinigt  haben.  Diese  ge- 
langen in  noch  schönere  Wohnstätten  als  die  auf  der  wahren 
Erdoberfläche  (114  C).  Die  neue  Lebenswahl  nach  Ablauf 
des  jenseitigen  Aufenthalts  findet  im  Phädon  keine  Erwähnung. 

Sokrates  erklärt  ausdrücklich,  mit  diesen  Bildern  nur 
annähernd  und  ungefähr  die  verschiedenen  Jenseitslose  be- 
zeichnet zu  haben.  Jedenfalls  kann  der  dem  Tode  freudig 
entgegensehen,  der  der  Interessen  des  Körpers  sich  ent- 
schlagen, dagegen  nach  wahrer  Erkenntnis  gestrebt  und  (im 
Dienste  dieses  Strebens)  seine  Seele  mit  Tugend  geschmückt 
hat  (114  D  f.). 

Hier,  auf  dem  Höhepunkte  des  platonischen  Denkens, 
haben  wir  also  schon  ein  deutliches  Lebensziel,  die 
wahre  Erkenntnis,  die  jedoch  erst  im  Jenseits  wahrhaft 
verwirklicht  werden  kann,  und  eine  daraus  abgeleitete 
Lebensordnung.  Zur  vollen  Zugehörigkeit  zur  nächsten 
Periode  fehlt  hier  nur  die  wissenschaftlich-methodische  Be- 
gründung des  Lebensziels. 

Welche  Wirkungen  freilich  diese  Philosophie  des  Sterben- 
woUens  unter  Umständen  ausüben  konnte,  dafür  besitzen  wir 
an  einem  Epigramm  des  Kallimachos  (um  280  vor  Chr.) 
ein  merkwürdiges  Zeugnis.  Nach  diesem  hatte  ein  gewisser 
Kleombrotos,    ohne  irgend   einen  sonstigen  Anlafs   zum 

Dftrinff.   I.  41 


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642  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleinereu  sokratisch.  Schulen  etc. 

Selbstmorde,  sich  lediglich  auf  Grund  der  Lektüre  des  Phädon 
von  einer  hohen  Mauer  hinabgestürzt,  um  dem  Kerker  des 
Leibes  zu  entrinnen  und  der  wahren  Erkenntnis  teilhaft  zu 
werden  (vergl.  auch  Cic.  Tusc.  L  84). 

13.   Die  zweite  Umarbeitung:  des  Staats  und  die 
zweite  und  dritte  slzilisehe  Reise  (368— 360). 

Unter  den  von  Thrasyllos  kurz  nach  Christi  Geburt 
zusammengestellten  Schriften  Piatos  befindet  sich  auch  eine 
Sammlung  von  Briefen  (D.  L.  III.  61),  die  sich  durchweg 
auf  seine  Beziehungen  zu  Unteritalien  und  Sizilien  beziehen. 
Diese  Briefe  können  nicht  als  echt  gelten,  doch  enthalten 
sie  teilweise,  namentlich  der  sehr  umfangreiche  siebente, 
der  sich  als  nach  dem  Tode  seines  Freundes  D  i  o  n  (353)  an 
dessen  Verwandte  und  Freunde  gerichtet  gibt,  beachtens- 
werte Angaben. 

In  diesem  siebenten  Briefe  wird  versichert,  dafs  Plato 
schon  zur  Zeit  seiner  ersten  Reise  (392)  von  der  Notwendig- 
keit einer  völligen  Umgestaltung  der  demokratischen  Staats- 
form überzeugt  gewesen  sei  und  für  diese  Überzeugungen 
auch  an  dem  damals  noch  jugendlichen  Dion  einen  empfäng- 
lichen Schüler  gefunden  habe  (326  A  f.,  327  A).  Tatsächlich 
wird  Dion  damals  die  Gedanken,  die  Plato  bald  darauf 
im  Urstaat  niederlegte,  von  diesem  überkommen  haben. 
Nach  dem  Tode  des  älteren  Dionys  nun  (368)  hat  nach 
jenem  Briefe  Dion  das  Herüberkommen  Piatos  behufs  Ver- 
wirklichung seines  Staatsideals  durch  den  jüngeren  Dionys 
eifrig  befürwortet  (327  f.).  Ob  Dion  die  weitere  Entwick- 
lung Piatos  nach  jener  persönlichen  Berührung  verfolgt  hat, 
ist  zweifelhaft.  Mutmafslich  stellte  er  sich,  als  er  nach  dem 
Tode  des  älteren  Dionys  im  HirAlick  auf  die  Empfänglich- 
keit des  jüngeren  Dionys  für  die  Reformpläne  Piatos  diesen 
zu  schleunigem  Herüberkommen  aufforderte,  diese  Reform 
noch  durchweg  im  Sinne  des  Urstaats  vor:  der  junge  Tyrann, 
beraten  von  einem  Kreise  der  das  wahre  Staatswohl  allein 
im  Auge  Habenden  und  gestützt  auf  einen  idealen  Krieger- 
stand. 

Nicht  wesentlich  anders  als  dieser  Brief   stellt    auch 


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V.    13.   Die  zweite  ümarbeituDg  des  Staats  etc.  643 

Plutarch  im  Leben  Dions  die  Sachlage  dar,  nur  dafs  nach 
ihm  nicht  nur  von  Dion,  sondern  auch  vom  jungen  Dionysos 
selbst  und  den  Pythagoreern  in  Italien  wiederholte  dring- 
liche Aufforderungen  an  Plato  gerichtet  worden  wären  (c.  10  f.). 

Nun  war  freilich  der  Plato  von  368,  an  den  diese  Auf- 
forderungen gerichtet  wurden,  nicht  mehr  der  Plato  von  392. 
Es  war  der  des  Phädon,  für  den  die  Anschauung  der  Ideen 
das  höchste  Gut  und  deshalb  Philosophieren  Sterbenwollen 
war.  Wenn  daher  der  siebente  Brief  (328  A  f.)  ihn  erwägen 
läfst,  dafs  jetzt  oder  nie  die  Aussicht  zur  Verwirklichung 
seines  Gedankens:  Vereinigung  der  Philosophie  und  der 
Herrschergewalt  in  derselben  Person,  gegeben  sei,  so  be- 
deutete das  bei  dem  damaligen  Plato  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  als  eine  Einrichtung  des  Staats  im  Sinne  des 
Phädon. 

Diese  Annahme  findet  denn  auch  ihre  volle  Bestätigung 
durch  die  zweite  Umarbeitung  des  Staats,  die  ganz 
unzweifelhaft  aus  dieser  Sachlage  als  die  nächste  Wirkung 
der  an  ihn  ergangenen  Aufforderungen  entsprungen  ist. 
Diese  zweite  Umarbeitung  besteht  ausschliefslich  in  der 
Einfügung  des  grofsen  Abschnittes  V.  18 — VII.  Ende.  Mit 
einer  merkwürdigen  Sorglosigkeit  (möglicherweise  aber 
mit  Rücksicht  auf  Dion,  den  Anhänger  seiner 
älteren  Gedanken,  um  diesen  nicht  von  vorn- 
herein abzuschrecken)  hat  Plato  die  beiden  früheren 
schon  aus  ganz  verschiedenen  Gedankenrichtungen  hervor- 
gegangenen und  ziemlich  äufserlich  zusammengeschweifsten 
Teile  unverändert  stehen  gelassen  und  nunmehr  ein  neues^ 
noch  weit  greller  gegen  das  Bisherige  abstechendes,  ja  die 
früheren  Aufstellungen  ausdrücklich  verwerfendes  Stück 
eingesetzt.  Nur  die  vermutete  Rücksichtnahme  auf  Dion 
kann  dies  Verfahren  einigermafsen  erklärlich  machen. 

In  dieser  Einfügung  wird  die  Schrift,  die  in  der  ersten 
Fassung  eine  Staatslehre  gewesen,  dann  in  der  zweiten  eine 
Ethik  geworden  war,  wieder  zur  Lehre  vom  Idealstaat.  Aber 
dieser  Idealstaat  ist  jetzt  nicht  mehr  der  „Staat  der  Glück- 
lichen", er  ist  eine  Heilsanstalt  im  Sinne  des  Phädon  und 
zugleich  die  Tyrannis  der  Sterbenwollenden. 

41» 


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644  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.   Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Anknüpfend  an  die  V.  17  im  Sinne  des  Urstaats  auf- 
geworfene Frage,  ob  wohl  ein  solcher  Musterstaat  Wirklich- 
keit werden  könne,  wird  im  folgenden  Kapitel  für  dieses 
Wirklichwerden  eine  Bedingung  aufgestellt,  die  ganz  aufser- 
halb  des  Gesichtskreises  des  Urstaats  liegt.  Der  Muster- 
staat kann  wirklich  werden,  wenn  die  Philosophen  Könige 
oder  die  Könige  Philosophen  werden.  Schon  die  Art  und 
Weise,  wie  dieser  Satz  als  eine  ungeheure  Paradoxie  ein- 
geführt wird  (473  C) ,  beweist ,  dafs  wir  uns  in  ejnem  ganz 
neuen  Fahrwasser  befinden.  Vollends  aber  die  sich  an- 
schliefsende  Bestimmung  des  Wesens  des  Philosophen.  Nach 
dem  buchstäblichen  Sinne  von  Philosoph  ist  dieser  ein  nach 
Wahrheit  Strebender,  die  Wahrheit  aber,  die  der  Philosoph 
zu  erkennen  begehrt,  ist  das  Ansich  der  Dinge.  Nur 
wer  dies  erkennt,  besitzt  Einsicht.  Wer  bei  der  Erscheinung 
stehen  bleibt,  hat  nur  Meinung  (476).  Das  Nichtseiende 
ist  nicht  erkennbar  (477  A);  nur  das  wahrhaft  Seiende  ist 
Gegenstand  der  Erkenntnis  im  eigentlichen  Sinne.  Das 
Mittlere  zwischen  beiden,  das  Erscheinende,  das  stets  zu- 
gleich seiner  Idee  entspricht  und  doch  auch  wieder  deren 
Gegenteil  darstellt,  entspricht  der  Meinung.  In  der  Er- 
scheinung ist  das  Schöne  zugleich  auch  häfslich,  das  Gerechte 
ungerecht,  das  Doppelte  ein  Halbes  (479). 

Nur  die  wahrhaft  Einsichtigen  in  diesem  Sinne  der 
Ideenlehre  sind  geeignet,  Wächter  des  Staats  zu  sein.  Diese 
sind  ihrer  Naturanlage  nach  erkenntnisbegierig  in  bezug 
auf  das  Ganze  der  Wesenheit.  Sie  sind  gleichgültig  gegen 
untergeordnete  Güter  und  Übel,  daher  besonnen,  mäfsig  und 
gerecht.  Sie  müssen  von  hervorragenden  Geistesgaben  sein ; 
wo  möglich  sollen  sie  auch  durch  körperliche  Schönheit 
sich  auszeichnen  (VI.  12;  VII.  15).  Die  Zahl  dieser  philo- 
sophisch gerichteten  Naturen  ist  notwendig  eine  geringe. 
„Es  ist  unmöglich,  dafs  die  Menge  philosophisch  geartet 
sei."  (491  B,  494  A.)  Ohne  ganz  besondere  Sorgfalt  in  der 
Ausbildung  aber  werden  gerade  solche  Anlagen  nur  zum 
Verderben  ausschlagen.  Es  entstehen  so  die  den  Staaten 
Gefährlichsten.  Schlagen  sie  aber  die  richtige  Entwicklung 
ein,  so  ziehen  sie  sich  in  den  Staaten,  wie  diese  durchweg 


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V.    13.  Die  zweite  Umarbeitung  des  Staats  etc.  645 

sind,  zurück  und  führen  ein  abgeschiedenes  Leben,  weil  sie 
in  die  bestehenden  Verhältnisse  nicht  hineinpassen.  Nur 
im  besten  Staate  können  sie  zur  Geltung  kommen.  In 
diesem  sind  sie  im  stände,  die  Harmonie  des  eigenen  Wesens, 
die  sie  im  Verkehr  mit  den  ewigen  Dingen  erlangt  haben, 
in  den  Staat  hineinzutragen,  der  nur  in  dieser  Weise  ein 
glücklicher  werden  kann.  Davon  kann  auch  die  Menge, 
mit  Ausnahme  weniger  Übelwollender,  überzeugt  werden 
(VI.  6—13). 

Wird  ein  so  Begabter  schon  als  Sohn  eines  Königs 
oder  Machthabers  geboren,  so  ist  diese  Aufgabe  noch 
viel  leichter,  weil  er  schon  die  Herrschaft  besitzt  (c.  14). 
Eine  deutliche  Bezugnahme  auf  den  Fall  des  jüngeren 
Dionys! 

Die  Frage  der  Ausbildung  dieser  Herrschernaturen  soll 
nun  jetzt  von  Anbeginn  neu  erörtert  werden.  Es  ist  zwar 
früher  von  der  Erprobung  der  aus  den  Wächtern  hervor- 
gehenden Herrscher  schon  die  Rede  gewesen,  die  eigentliche 
Aufgabe  ist  aber  damals  ihrer  grofsen  Schwierigkeit  wegen 
noch  nicht  angerührt  worden.  Der  besondere  Unterricht 
der  Herrscher  bildet  eine  neu  hinzukommende  Aufgabe 
(507  E  ff.).  Alles  dies  entspringt  deutlich  aus  der  neuen, 
um  368  entstandenen  Sachlage! 

Der  höchste  Unterrichtsgegenstand  ist  die  Idee  des 
Guten  (505  A,  534  B  C),  das  vollkommene  Gute,  durch 
das  die  Gerechtigkeit  und  die  übrigen  Tugenden  erst 
brauchbar  und  nützlich  werden.  Diese  (d.  h.  das  Ideal  der 
Zweckmäfsigkeit)  ist  auf  dem  geistigen  Gebiete  des  Er- 
kennens  dasselbe,  was  das  Licht  und  die  Sonne  auf  dem 
des  körperlichen  Sehens,  nämlich  die  notwendige  Bedingung 
der  Erkenntnis  der  Wahrheit  (508  E).  Wie  aber  die  Sonne 
auf  dem  Gebiete  des  Sichtbaren  nicht  nur  Erkenntnis  be- 
wirkt, sondern  auch  Entstehen  und  Wachstum,  so  ist  die 
Idee  des  Guten  auch  der  Grund  aller  Wesenheit  (509  A  f.). 
Das  heifst  mit  anderen  Worten:  Plato  findet  in  der  hier 
zum  ersten  Male  auftretenden  Idee  des  Guten,  d.  h.  des 
Zweckvollen,  den  Einheits-  und  Quellpunkt  der  gesamten 
Ideenwelt.    Schon  im  Timäus  hatte  er  die  Welt  der  Urbilder 


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646  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

als  eine  einheitliche  bezeichnet,  ohne  aber  den  Vereinigungs- 
punkt näher  zu  bestimmen.  Dies  geschieht  nun  hier.  Wegen 
dieser  zentralen  Stellung  in  der  Ideenwelt  ist  dann  aber  die 
Idee  des  Guten  auch  der  Höhepunkt  der  wahren  Erkenntnis, 
ja  die  Bedingung  für  die  Möglichkeit  eines  wirklichen  Ver- 
ständnisses der  Ideenwelt  überhaupt.  In  der  hohen  Stellung, 
die  der  Idee  des  Guten  angewiesen  wird,  liegt  das  Bekenntnis 
zur  Herrschaft  des  Zweckes  in  der  Welt,  zu  einer  teleo- 
logischen Weltanschauung. 

Das  dialektische  Denken  erfafst  die  Wirklichkeit  des 
Seienden  selbst,  nicht  ein  blofses  Bild.  Auf  dem  Gebiete 
des  Werdens  kann  nur  Meinung  stattfinden  (c.  21).  Der 
Mensch  in  der  Leiblichkeit  ist  wie  ein  von  Kindheit  an  im 
Hintergrunde  einer  Höhle  mit  dem  Angesichte  gegen  die 
Rückwand  unbeweglich  Gefesselter.  Die  an  dieser  Rück- 
wand entlang  huschenden  Schatten  der  aufsen  vorbei- 
getragenen Gegenstände  hält  er  für  die  wirklichen  Dinge. 
Losgebunden  würde  ein  solcher,  geblendet  vom  Licht  und 
gewohnt,  die  Schatten  für  das  Wirkliche  zu  halten,  nur 
langsam,  widerstrebend  und  unter  Schmerzen  zur  Erkenntnis 
des  Wirklichen  gelangen.  Die  Deutung  dieses  berühmten 
Höhlengleichnisses  wird  nur  stückweise  gegeben.  Wir  er- 
fahren, dafs  das  Licht,  das  die  Schattenbilder  bewirkt,  die 
Idee  des  Guten ,  und  dafs  die  Stricke ,  mit  denen  der  Ge- 
fangene gefesselt  ist,  die  körperlichen  Lüste  sind  (517  B  f., 
519  A  f.).  Im  übrigen  ist  klar,  dafs  die  Höhle  die  Leiblich- 
keit, die  oben  vorbeigetragenen  Dinge  die  Ideen  und  die 
Schattenbilder  an  der  Rückwand  der  Höhle  die  Erscheinungs- 
dinge sind.  In  dieser  Bezeichnung  der  Erscheinungsdinge 
liegt  ein  neuer  Beweis  für  die  schon  im  Phädon  deutlich 
hervortretende  Ansicht  Piatons  auf  dieser  Stufe  seiner  Ent- 
wicklung, dafs  es  in  keinem  Sinne  einen  Stoif  gibt,  sondern 
dafs  die  Erscheinungsdinge  nur  trübe  erschaute  Schatten 
des  Wirklichen  sind. 

In  diesem  Bilde  ist  denn  nun  auch  die  Aufgabe  für  die 
Ausbildung  der  Begabten  bezeichnet.  Sie  müssen  von  den 
Fesseln  befreit  und  zum  Lichte,  zur  Erkenntnis  des  Wirk- 
lichen emporgeführt  werden  (519  D  f.,  521  C,  513  C  f.). 


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V.    13.   Die  zweite  Umarbeitung  des  Staats  etc.  647 

Es  wird  hier  die  Voraussetzung  gemacht,  dafs  die 
musisch -gymnastische  Bildung  der  Wächter  des  Urstaats, 
die  auf  einer  Gewöhnung  zu  harmonischem  Leben  hinaus- 
läuft, den  ktlnftigen  Herrschern  schon  zu  teil  geworden  ist 
(521  E  f.).  Diese  erhebt  sich  aber  nicht  über  die  Stufe  des 
Werdenden,  des  Meinens.  Sie  müssen  aber  zur  Erkenntnis 
des  Seienden,  zum  Wissen  emporgehoben  werden.  Und  zwar 
durch  solche  Unterrichtsgegenstände,  die  zugleich  in  ihrem 
Herrscherberuf  ihnen  zu  statten  kommen  (521  C  f.). 

Der  erste  dieser  Gegenstände  ist  die  A  r  i  t  h  m  e  t  i  k.  Die 
sinnlichen  Eigenschaften  der  Dinge  gehören  dem  Werdenden 
und  Veränderlichen  an  und  können  nicht  zum  wahren  Denken 
überleiten.  Die  Zahl  aber  weist  auf  die  Wesenheit  hin.  Die 
Zahl  an  sich  ist  nicht  der  gezählte  sinnliche  Körper;  sie 
gehört  dem  Seienden  an  (c.  7.  8).  Zugleich  wird  durch  diesen 
Unterrichtsgegenstand  die  Denkkraft  geschärft;  er  wirkt 
formal  bildend  (526  B). 

Es  folgt  die  Geometrie.  Auch  sie  ist,  wie  die 
Arithmetik,  für  den  Herrscher  von  praktischem  Gebrauche, 
zugleich  aber  hat  sie  ein  immer  Seiendes  zum  Gegenstande. 
Es  wird  durch  sie  die  Erkenntnis  der  Idee  des  Guten  (als 
des  Einheitspunktes  der  Ideenwelt  überhaupt)  vorbereitet 
(c.  9). 

Unter  der  Geometrie  war  hier  nur  die  ebene  Geometrie 
verstanden,  die  es  mit  Flächen  zu  tun  hat  (528  D).  Als 
Drittes  mufs  aber  die  höhere  Stufe  dieser  Wissenschaft, 
deren  Gegenstand  die  Körper  bilden,  die  Stereometrie, 
hinzutreten.  Diese  ist  freilich  kaum  noch  erfunden  (528). 
Den  vierten  Gegenstand  bildet  sodann  die  Astronomie, 
die  das  Körperliche  in  Bewegung  zeigt  (528  A,  E).  Auch 
bei  ihr  wird  der  praktische  Nutzen  und  die  formal  bildende 
Kraft  hervorgehoben  (527  D,  530  C).  Die  Hauptsache  aber 
ist,  dafs  die  Bewegung  der  astronomischen  Körper  ein  sinn- 
liches Abbild  der  wahren  Bewegung,  der  Bewegung  an  sich, 
liefert,  die  nur  begrifflich  zu  erfassen  ist.  (Gemeint  ist  wohl 
die  Bewegung  des  Denkens,  die  schon  im  Timäus  in  diesem 
Sinne  vorkam ,  oder  auch  die  im  Verhältnis  der  Ideen  zu 
einander  vorkommende  Bewegung,    von    der   im   Sophistes 


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648  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokra tisch.  Schulen  etc. 

die  Rede  war.)  Die  blofse  Kenntüis  der  Himmels- 
erscheinungen  ist  für  den  wahren  Astronomen  Nebensache 
(530  C). 

Fünftens  wird  dann  auf  einen  rein  theoretischen  Be- 
trieb der  Musik  hingewiesen,  der  die  Tonfolgen  aufzählen 
zurückführt.  Dieser  müfste  auf  den  Nachweis  abzielen, 
welche  Zahlen  Verhältnisse  Harmonie  ergeben  und  warum. 
So  würde  auch  die  Musik  auf  die  Erkenntnis  des  „Schönen 
und  Guten"  (d.  h.  des  wahrhaft  Seienden)  vorbereiten  (c.  12). 

Dies  alles  aber  ist  nur  Vorstufe  zur  Dialektik.  Diese 
sucht  durch  das  Denken  allein  ohne  alle  Hilfe  der  Sinne 
das  wahrhaft  Seiende.  Jene  anderen  Wissenschaften  bleiben 
immer  noch  bei  unbewiesenen  Voraussetzungen  stehen ;  die 
Dialektik  schreitet  zum  Ausgangspunkte  selbst  fort.  Ihr 
Organ  ist  das  reine  Denkvermögen  (diänoia).  Sie  ist  der 
höchste  Unterrichtsgegenstand  (c.  13. 14).  Gemäfs  der  Existenz 
der  Begriffe  als  Wesenheiten  ist  sie  (nach  späterem  Sprach- 
gebrauch) Logik  und  Metaphysik  in  einem. 

Nachdem  dieser  ünterrichtsplan  für  die  Heri-scher  auf- 
gestellt ist,  wird  die  Bestimmung  des  Urstaats,  dafs  die 
Herrscher  die  im  Wächteramt  Erprobten  sein  sollen,  förm- 
lich und  ausdrücklich  widerrufen.  Ein  so  umfassendem 
Lehrkursus  kann  unmöglich  noch  in  vorgerückten  Jahren 
bewältigt  werden.  Schon  im  Knabenalter  müssen  die  Höher- 
befähigten ausgewählt  und  mufs  mit  dieser  wissenschaft- 
lichen Ausbildung  begonnen  werden  (536  C  ff.).  Danach  ge- 
staltet sich  denn  der  gesamte  Bildungsgang  der  künftigen 
Herrscher  folgendermafsen.  Zunächst  haben  sie  bis  zum 
20.  Lebensjahre  zwei  bis  drei  Jahre  lang  die  sehr  an- 
strengende gymnastische  Ausbildung  durchzumachen,  die  eine 
gleichzeitige  geistige  Anspannung  ausschliefst  (537  B).  Es 
folgt  dann  bis  zum  30.  Lebensjahre  ein  mehr  übersichtlich 
gehaltener  Kursus  in  den  vorstehenden  wissenschaftlichen 
Fächern.  Bei  diesem  tritt  die  dialektische  Befähigung  zu 
Tage.  Diese  bildet  dann  den  leitenden  Gesichtspunkt  für 
eine  mit  der  gröfsten  Vorsicht  vorzunehmende  zweite 
Auswahl.  Dann  folgt  der  definitive  Kursus  der  Aus- 
gewählten.   Derselbe  dauert  fünf  Jahre.    Nach  dieser  Zeit, 


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V.    13.   Die  zweite  Umarbeitung  des  Staats  etc.  649 

also  mit  35  Jahren,  werden  sie  Herrscher,  aber  zunächst 
für  einen  fünfzehnjährigen  Zeitraum  nur  auf  Probe.  Erst 
die  in  dieser  Probe  bewährten  Fünfzigjährigen  sind  die 
eigentlichen  Herrscher.  Abwechselnd  verbringen  sie  ihre 
Zeit  in  der  Ideenschau  und,  wenn  die  Reihe  sie  trifft,  in 
einem  staatlichen  Amte,  bis  ans  Ende  ihrer  Tage.  Nicht 
als  einen  Vorzug  sehen  sie  diese  Herrschertätigkeit  an, 
sondern  als  ein  notwendiges,  dem  Staate  gebrachtes  Opfer 
(540  B).  Schon  früher  ist  betont  worden  (519  D) ,  dafs  die 
zum  höchsten  Glück  der  Ideenschau  Gelangten  nur  zwangs- 
weise und  notgedrungen  sich  mit  den  irdischen  Angelegen- 
heiten befassen,  und  es  ist  im  Zusammenhange  damit  auf 
sie  die  Betrachtung  des  Urstaats  übertragen  worden,  dafs 
nicht  einem  einzelnen  Stande  im  Staate  ein  hervorragendes 
Mafs  von  Glückseligkeit  gewährleistet  werden  kann  ,*  wozu 
kommt,  dafs  sie  durch  die  ihnen  lästige  Mühewaltung  des 
Herrschens  dem  Staate  die  auf  sie  verwandte  Arbeit  der 
Ausbildung  ersetzen  (VII.  5). 

Den  vollendeten  Herrschern  liegt  auch  die  Ausbildung 
des  Nachwuchses  zum  Herrscherstande  ob.  Wenn  sie  zu 
den  „Inseln  der  Seligen"  abscheiden,  wird  man  ihnen  feier- 
liche Totenfeste  veranstalten,  bei  denen  sie,  falls  das  del- 
phische Orakel  dies  gutheifst,  als  übermenschliche  Wesen 
(Dämonen),  andernfalls  als  „glückselige  und  göttliche 
Menschen"  gepriesen  werden  (540  B  C).  Ausdrücklich  wird 
auch  hier  betont,  dafs  alles  Gesagte  in  gleichem  Mafse 
auch  auf  die  Frauen  seine  Anwendung  haben  soll,  voraus- 
gesetzt, dafs  sie  das  erforderliche  Mafs  der  Begabung  be- 
sitzen (540  C). 

Diese  wahrhaft  beglückende  Staatsform  kann  in  die 
"Wirklichkeit  übergeführt  werden.  Man  mufs  alle,  die  über 
zehn  Jahre  alt  sind,  aus  dem  Staate  entfernen  und  aufs 
Land  schicken,  die  unter  zehn  Jahre  alten  aber  in  neuer 
Weise  aufserhalb  der  bisherigen  Sitten ,  die  auch  die  ihrer 
Eltern  sind,  heranbilden  (540  E).  Ob  sich  diese  nur  flüchtig 
berührte  radikale  Mafsregel  nur  auf  die  künftigen  Herrscher 
beziehen  soll  oder  auf  alle,  wird  nicht  gesagt.  Jedenfalls 
hat  Plato  in   diesem  Abschnitt  noch   viel  vollständiger  als 


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650  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

auf  den  beiden  früheren  Stufen  unserer  Schrift  den  Stand 
der  Erwerbenden  und  Gehorchenden  aufser  acht  gelassen. 

Hier  ist  nun  zunächst  sonnenklar,  dafs  gegentlber  dem 
Urstaat  in  der  Vorbildung  der  aus  dem  Kriegerstande  her- 
vorgehenden Herrscher  eine  unendlich  tiefgreifende  Um- 
gestaltung vorgenommen  worden  ist.  Plato  selbst  bezeugt 
dies.  Aber  auch  der  Gesichtspunkt,  den  Musterstaat  zur 
Veranschaulichung  der  Gerechtigkeit  zu  benutzen ,  ist  hier 
völlig  geschwunden.  Der  leitende  Gesichtspunkt  ist  wieder, 
wie  beim  Urstaat,  der  „Staat  der  Glücklichen",  freilich  in 
erhöhter  Potenz  und  unter  fast  ausschliefslicher  Berücksich- 
tigung der  leitenden  Klasse.  Dafs  die  niederen  Naturen 
unter  der  durch  kein  Gesetz  gebundenen  Willkürherrschaft 
dieser  Weisen  glücklich  leben  werden,  wird  mehr  voraus- 
gesetzt als  nachgewiesen. 

Die  neue  Erziehung  der  Herrscher  nun  entspricht  ganz 
dem  im  Phädon  aufgestellten  Lebensziel:  es  ist  die  Er- 
ziehung der  Sterbenwollenden.  Für  die  durch  ihre  Begabung 
zur  Verfolgung  dieses  Ziels  Befähigten  wird  der  Staat,  in- 
dem er  ihnen  die  entsprechende  Erziehung  angedeihen 
läfst,  zur  Heilsanstalt.  Ob  die  anderen  beiden  Stände  in 
der  Richtung  auf  das  jenseitige  Heil,  die  ewige  Anschauung 
des  Seienden,  gefördert  werden,  erfahren  wir  nicht.  Wie 
es  scheint,  müssen  sich  diese  mit  der  diesseitigen  Glückselig- 
keit begnügen.  Denn  auch  die  im  Kriegerstande  anerzogene 
gewohnheitsmäfsige  Tugend  steht  im  Phädon  in  sehr  nie- 
driger Geltung.  Es  liegt  hier  eben  ein  krasser  Geistes- 
aristokratismus  vor. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  strenge  Bezugnahme 
der  Erziehungsmafsregeln  auf  den  Erziehungszweck  in  der 
Unterweisung  der  künftigen  Herrscher.  Die  meist  schon 
bei  Sokrates  (Xenoph.  Mem.  IV.  5)  vorkommenden  Unter- 
richtsgegenstände, die  dort  aber  ausschliefslich  den  prak- 
tischen Zwecken  dienen,  werden  hier  vertieft,  um  in  stufen- 
weiser Anordnung  den  Geist  vom  Sinnlichen,  Werdenden, 
Veränderlichen  dem  wahrhaft  Seienden  zuzuführen.  Auch 
dafs  die  Schärfung  des  Denkens  durch  diese  Stoffe,  die  for- 
male Bildung,   als   ein  sich   von   seihst  ergebendes  Neben- 


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V.    13.   Die  zweite  Umarbeitung  des  Staats  etc.  651 

Produkt  der  inhaltlichen  Aneignung  bezeichnet  wird,  zeugt 
von  einem  tiefen  pädagogischen  Verständnis.  Bemerkens- 
wert ist,  dafs  hier,  wo  es  sich  um  die  Ausbildung  von 
Herrscherpersönlichkeiten  handelt,  Plato  ganz  offen- 
bar auf  die  Grundzüge  des  sokratischen  Erziehungs- 
plans, wie  ihn  auch  Xenophon  schildert,  zurückgegriffen  bat. 
Die  höhere  Naturbefähigung,  die  Unterrichtsgegenstände, 
alles  erinnert  an  Sokrates.  Nur  ist  freilich,  entsprechend 
dem  völlig  veränderten  Erziehungszweck,  der  in  erster  Linie 
in  der  Anleitung  zur  Ideenschau  besteht,  alles  das  ent- 
sprechend verändert  und  umgestaltet. 

Ganz  besonders  deutlich  tritt  endlich  zu  Tage,  dafs 
Plato  diese  Anwendung  der  Phädonlehre  auf  den  Muster- 
staat unter  dem  Eindruck  der  Berufung  nach  Syrakus  vor- 
nahm. Sicher  glaubte  er  nach  den  Schilderungen  Dions  an 
diesem  und  dem  Kreise  seiner  Geistesverwandten,  die  sich 
mit  einer  Gruppe  brutaler  Sinnenmenschen  um  den  Einflufs 
auf  den  jungen  Tyrannen  stritten  (Nepos  Dion  c.  3  f.;  Plutarch 
Dion  c.  11),  ein  Material  zur  Heranbildung  eines  idöalen 
Herrscherstandes  auf  dem  Boden  der  Ideenschau  zu  finden. 
Und  auch  die  Bezugnahme  auf  den  jungen  Dionys  an  der 
Stelle,  wo  er  den  Vorzug  des  auf  dem  Throne  geborenen 
Höherbefähigten  vor  anderen  seinesgleichen  betont  (VI.  14), 
ist  offenkundig.  Diese  Sachlage  spiegelt  sich  auch  noch  in 
dem  „Jetzt  oder  Nie"  als  dem  ausschlaggebenden  Beweg- 
grunde zur  Reise  im  siebenten  Briefe  (328),  der  freilich  die 
überirdische  Eigenart  seines  damaligen  Staatsideals  nicht 
zur  Geltung  bringt. 

So  trat  er  denn  mit  dem  verhimmelten  Reformprojekt 
als  Sechzigjähriger,  sein  ihm  so  teures  Studium  und  Lehr- 
amt im  Stiche  lassend  (7.  Brief  329  B),  die  mühselige  Reise 
an.  Für  den  praktischen  Politiker  Dion  mochte  die  phan- 
tastische Gestalt,  in  der  ihm  Piatos  Reformpläne  nach 
fünfundzwanzigjähriger  Trennung  entgegentraten,  keine  ge- 
ringe Enttäuschung  bilden.  Über  die  jetzt  sich  abspielenden 
Ereignisse  gibt  den  genauesten  Bericht,  dessen  Zuverlässig- 
keit freilich  zweifelhaft  ist,  der  siebente  Brief.  Schon  bei 
Piatos  Ankunft  steht  Dion  in  dem  Verdacht,  sich  selbst  der 


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652  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Tyrannis  bemächtigen  zu  wollen.  Trotz  Piatons  nachdrück- 
licher Verteidigung  wird  Dion  ein  Vierteljahr  nach  Piatos 
Ankunft  in  die  Verbannung  geschickt  (vgl.  auch  Plutarch, 
Dion  13,  14).  Dions  Gesinnungsgenossen  und  mit  ihnen 
Plato  hegen  die  gröfste  Besorgnis,  ebenfalls  von  den  Gegen- 
mafsregeln  des  Tyrannen  betroffen  zu  werden.  Schon  hat 
sich  in  der  Stadt  das  Gerücht  verbreitet,  Plato  sei  hin- 
gerichtet worden.  Der  Tyrann  aber  läfst  sie  kommen  und 
versichert  sie  seiner  Gnade.  An  Piatos  Verbleiben  ist  ihm 
der  Volksstimmung  wegen  alles  gelegen,  und  so  hat  er  denn 
Mafsregeln  getroffen,  um  ihm  die  Abreise  unmöglich  zu 
machen.  Zugleich  legt  er  es  darauf  an,  Plato  von  Dion  zu 
sich  herüberzuziehen.  Der  Erwartung  Piatos  dagegen,  er 
werde  sich  in  ernstlichem  Studium  und  Hören  seiner  Vorträge 
ihm  inniger  nähern,  entspricht  er  schon  aus  der  Berechnung 
nicht,  dafs  er  damit  die  Gegner  Dions  gegen  sich  aufbringen 
werde.  So  scheitern  alle  Bemühungen  Piatos ,  bei  dem 
jungen  Tyrannen  „ein  Verlangen  nach  dem  philosophischen 
Leben  zu  entzünden"  (329  C  ff.).  Abgesehen  von  allem 
andern  hatte  Dionys  offenbar  keine  Lust,  sich  mit  dem 
fünf-  bis  fünfzehnjährigen  Kursus  im  platonischen  Wissen- 
schaftssystem zu  belasten.  Bezeichnend  in  dieser  Beziehung 
ist  der  Rat,  den  nach  dem  dritten,  angeblich  später  an 
Dionys  selbst  gerichteten  Briefe  Plato  damals  dem  Tyrannen 
gegeben  haben  soll,  entweder  überhaupt  keine  Reformen 
vorzunehmen  oder  sich  vorher  mit  der  Geometrie  (diese  hat 
Dionys  nur  spöttisch  aus  dem  ganzen  Unterrichtssystem 
hervorgehoben)  vertraut  zu  machen  (319  C).  Über  die  Art,  wie 
diese  für  Plato  so  unerquickliche  Lage  ihr  Ende  erreichte, 
hat  der  siebente  Brief  nichts.  Nach  dem  dritten  Briefe 
(316  E  f.)  erfolgte  Piatos  Abreise  infolge  eines  gütlichen 
Übereinkommens,  bei  dem  der  Tyrann  versprach,  binnen 
kurzem  Plato  gleichzeitig  mit  Dion  zurückkommen  zu  lassen, 
um  eine  Aussöhnung  mit  letzterem  herbeizuführen.  (Vgl. 
auch  Plutarch,  Dion  15,  16).  Noch  vor  seiner  Abreise 
bringt  er  die  schon  früher  erwähnte  Annäherung  zwischen 
Dionys  und  Archytas  nebst  anderen,  ihm  von  seiner  ersten 
Reise  her  bekannten  Tarentinern  zu  stände  (7.  Brief  338  G). 


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V.    14.    Die  Alterslehre  Piatos  (360—347).  653 

Die  nach  dem  Vorstehenden  in  Aussicht  genommene 
letzte  Reise  Piatos  fand  im  Jahre  361  statt.  Von  Dionys, 
sowie  auch  von  Dion,  dem  noch  immer  Verbannten,  der  auch 
seinerseits  auf  die  Aussöhnung  durch  Plato  hoffte,  war  er 
dringend  zu  der  Reise  aufgefordert  worden  (317  A).  Nach 
einer  anderen  Angabe  war  auch  zu  Plato  das  Gerücht  ge- 
drungen, Dionys  sei  aufs  neue  von  gewaltigem  Eifer  für  die 
Philosophie  erfüllt,  weil  er  sich  philosophisch  Gebildeten  gegen- 
über starke  Blöfsen  gegeben  habe  (338  f.).  Auch  die  tarentini- 
schen  Freunde  sollen  Plato  um  die  Reise  gebeten  haben 
(7.  Brief  339  D ;  Plutarch,  Dion  18).  So  fafst  er  nochmals 
Hoffnung  auf  Verwirklichung  seiner  Ideale  durch  den  Tyrannen 
(339  E).  Er  wird  auch  diesmal  hoch  aufgenommen  und  beginnt 
sogar  dem  Tyrannen  philosophische  Vorträge  zu  halten,  die 
aber  nicht  über  einen  einzigen  hinauskommen  (341  A,  345  A). 
Doch  der  Bruch  der  in  Bezug  auf  Dion  gegebenen  Ver- 
sprechungen und  die  fortdauernden  Beweise  von  Übelwollen 
und  Mifstrauen  gegen  Dion  führen  bald  eine  Spannung 
herbei.  Plato  gerät  in  eine  Art  von  Gefangenschaft  Sein 
Leben  ist  bedroht.  Und  nur  durch  die  Fürsprache  des 
Archytas  und  der  tarentinischen  Freunde  wird  ihm  360 
die  Abreise  ermöglicht  (317  C  ff.,  350  A  B,  340  A).  Die 
nunmehr  schrankenlos  in  boshaften  Handlungen  sich  er- 
gehende Feindschaft  des  Tyrannen  gegen  Dion  veranlassen 
diesen  zu  einem  Zuge  gegen  Syrakus.  Er  bemächtigt  sich 
(357)  leicht  der  Herrschaft,  wird  aber  353  ermordet.  Es 
gelingt  sogar  Dionys  346,  noch  einmal  der  Tyrannis  sich  zu 
bemächtigen,  doch  zwingt  ihn  343  T  i  m  0 1  e  0  n ,  ihr  für  immer 
zu  entsagen.  Nach  diesem  Zeitpunkt  lebte  er  in  Korinth. 
Sein  dortiges  Zusammentreffen  mit  dem  Kyniker  Diogenes 
ist  früher  erwähnt  worden. 

14.  Die  Alterslehre  Piatos  (360— 347). 
Als  Plato  360  von  der  letzten  sizilischen  Reise  zurück- 
kehrte, war  er  67  Jahre  alt.  Es  verbleibt  von  da  bis  zu 
seinem  Tode  noch  ein  Zeitraum  von  13  Jahren.  Auch  in 
dieser  letzten  Lebenszeit  nun  ist  bei  ihm  der  Trieb,  seine 
Gedanken  umzugestalten  und  zu  verbessern,  nicht  erloschen. 


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654  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Dies  spiegelt  sich  schon  ganz  äufserlich  in  der  Angabe,  er 
sei  schreibend  gestorben  (Cic.  Cato  m.  13),  und  tritt  auch 
für  unsere  Kenntnis  noch  in  mehreren  Erscheinungen  her- 
vor. Insbesondere  äufsert  sich  dieser  Trieb  in  dieser  letzten 
Phase  als  ein  Streben  nach  Übereinstimmung  mit  der  ge- 
gebenen Wirklichkeit  sowohl  auf  dem  theoretischen  als  auf 
dem  praktischen  Gebiete. 

Zunächst  legt  ihm  Aristoteles,  der  von  367—347 
der  Akademie  angehörte,  Bestimmungen  über  die  Ideen  bei, 
die  in  den  bisher  erwähnten  Schriften  nicht  vorkommen, 
die  daher  als  eine  Umgestaltung  der  Ideenlehre  in  diesem 
letzten  Zeitraum  betrachtet  werden  müssen.  Bei  dem  ge- 
ringen Interesse  dieser  Änderung  wird  es  genügen,  über 
diesen  Punkt  nur  das  Notwendigste  anzuführen,  zumal  die 
Angaben  des  Aristoteles  nur  in  gelegentlichen,  nur  teilweise 
verständlichen  Andeutungen  bestehen. 

Als  Abweichung  von  seiner  früheren  Lehre  mufs  es  er- 
scheinen, wenn  Aristoteles  (1028  b,  19)  angibt,  Plato  habe 
drei  Arten  von  Wesenheiten  angenommen,  die  Ideen,  das 
Mathematische  (worunter  nach  anderen  Stellen  die  Zahlen 
zu  verstehen  sind)  und  die  sinnlichen  Körper.  Er  mufs 
hiernach  also  zunächst  den  sinnlichen  Einzeldingen 
wieder  ein  selbständiges  Sein  zugeschrieben 
haben.  Ferner  treten  hier  die  Zahlen  als  eine  besondere 
,» Wesenheit"  neben  den  Ideen  auf.  Dafs  diese  zweite  Ände- 
rung eine  Konsequenz  der  ersten  war,  erhellt  aus  folgender 
Betrachtung. 

Im  Timäus  waren  die  Einzeldinge  Abbilder  der  Ideen 
als  Urbilder  im  Räumlichen  als  Stoff  gewesen.  Im 
Phädon  war  die  Vielheit  der  Einzeldinge  nur  eine  ge- 
trübte Erscheinungsweise  der  entsprechenden  ein- 
heitlichen Idee.  Bei  beiden  Betrachtungsweisen  konnte  die 
Schwierigkeit  nicht  aufkommen,  dafs  das  Einheitliche  zu- 
gleich eine  Vielheit  sein  sollte.  Sobald  aber  mit  dem  Ge-' 
danken,  dafs  die  Ideen  das  einzig  Reale  an  den  Dingen 
seien,  die  Fassung  der  vielen  Einzeldinge  als  „Wesenheiten* 
verbunden  wurde,  entstand  die  Schwierigkeit,  dafs  nunmehr 
die   zugehörige   Idee  ihre  Einheit  verlor   und   als   in   un- 


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V.    14.   Die  Alterslehre  Piatos  (360—347).  655 

begrenztem  Mafse  zerteilt  gedacht  werden  mufste.  Dieser 
Schwierigkeit  sollte  durch  Zwischenschiebung  der  Zahlen 
begegnet  werden.  Wie  dies  geraeint  ist,  scheint  aus  folgen- 
der Äufserung  des  Aristoteles  hervorzugehen,  in  der  zwar 
Plato  nicht  genannt  wird,  die  aber  sich  unverkennbar  mit 
der  vorliegenden  Frage  beschäftigt  (1002  b,  12) :  Das  , Mathe- 
matische' (d.  h.  die  Zahlen)  ist  in  anderen  Punkten  von 
den  Sinnendingen  verschieden;  darin  aber  stimmt  es  mit 
diesen  überein,  dafs  es  auch  von  ihm  eine  Vielheit  von 
Gleichartigem  gibt.**  Das  kann  doch  nur  heifsen,  dafs 
man  jede  beliebige  Zahl  als  beliebig  oft  existierend  denken 
kann,  was  bei  den  Ideen  ausgeschlossen  ist.  Im  Zusammen- 
hange mit  dieser  Äufserung  werden  auch  hier  die  drei  Arten 
der  Wesenheiten  aufgezählt,  und  zwar  als  das  Sinnliche,  das 
Mittlere  und  die  Ideen.  Offenbar  sind  hier  unter  dem 
Mittleren  die  Zahlen  zu  verstehen.  Sie  bilden  vermöge  der 
mit  den  Sinnendingen  gemeinsamen  Eigentümlichkeit,  be- 
liebig oft  gesetzt  werden  zu  können  bei  im  übrigen  unsinn- 
licher Beschaffenheit,  ein  geeignetes  Mittelglied  zwischen  der 
einheitlichen  Idee  und  den  vielen  entsprechenden  Sinnen- 
dingen, ein  Hilfsmittel,  um  bei  der  Nichtannahme  eines 
Stoflfes  dem  Ungedanken  einer  unbegrenzten  realen  Zei- 
teilung  der  Ideen  zu  entgehen.  Die  Idee  wird  schon  in 
der  unsinnlichen  Sphäre  zur  Zahl.  In  dieser  ist  ihr  Wesen 
vervielfältigt  und  zerteilt,  und  so. ist  es  leichter,  den  Über- 
gang zur  unbegrenzten  Vielheit  der  Einzeldinge  zu  finden. 
Diese  Andeutung  mag  genügen,  um  wenigstens  die  Richtung 
zu  kennzeichnen,  in  der  sich  mutmafslich  diese  abstrusen 
Spekulationen  der  letzten  Lebenszeit  Piatos  bewegten.  Schon 
dies  Wenige  aber  zeigt  uns,  dafs  Plato  bei  eigensinnigem 
Festhalten  an  den  Ideen  als  dem  einzig  wahrhaft  Seienden 
doch  einen  Weg  suchte,  um  auch  der  Erscheinungswelt  ein 
höheres  Mafs  von  Realität  beilegen  zu  können,  als  im  Phädon 
und  dem  letzten  Bestandteil  des  Staates  geschehen  war. 

In  noch  viel  entschiedenerer  Weise  zeigt  sich  in  der 
letzten  Schrift  Piatos,  den  „Gesetzen",  die  zugleich  alle 
anderen  an  Umfang  übertrifft,  dies  Streben  nach  Anpassung 
ans  erfahrungsmäfsig  Wirkliche  auf  dem  praktischen  Gebiet. 

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656  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Es  wird  berichtet  (D.  L.  III.  37) ,  dafs  Plato  die  „Gesetze« 
auf  Wachstafeln  geschrieben,  d.  h.  nach  dem  Schreib- 
gebrauche der  Zeit  im  Unreinen,  im  noch  unvollendeten 
Entwürfe,  hinterlassen  und  dafs  sein  Schüler  Philipp  von 
Opus  sie  abgeschrieben  und  veröffentlicht  habe.  Dieser 
sei  auch  der  Verfasser  des  am  Schlüsse  angehängten  „Nach- 
worts zu  den  Gesetzen"  (Epinomis),  das  allerdings  ganz  ab- 
weichende und  dem  platonischen  Denken  überhaupt  fremde 
Dinge  behandelt.  Dies  Gepräge  des  noch  unvollendeten 
Entwurfs  zeigt  denn  die  Schrift  auch  aufs  deutlichste. 
Auch  scheinen  an  manchen  Stellen  durch  den  Abschreiber 
die  einzelnen  Wachstafeln  in  unrichtiger  Reihenfolge  an- 
einandergereiht zu  sein.  Auf  den  späten  Ursprung  der 
Schrift  deutet  auch  eine  Anspielung  auf  ein  Zeitereignis. 
Als  357  Dion  sich  der  Stadt  Syrakus  bemächtigte,  nahm 
Dionys  das  unteritalische  Lokri  ein  und  herrschte  dort  bis  zu 
seiner  Rückkehr  nach  Syrakus  346.  Auf  diesen  Sieg  über  Lokri 
findet  sich  eine  Anspielung  (638  B). 

Zu  dieser  Spätzeit  seines  Lebens  und  namentlich  auch 
zu  den  in  Syrakus  mit  seinen  Heilanstaltsidealen  gemachten 
trüben  Erfahrungen  stimmt  denn  auch  der  Inhalt  unserer 
Schrift  und  die  ausdrücklichen  Zeugnisse,  die  sie  selbst  über 
ihren  Zweck  ablegt.  Die  „Gesetze"  entwerfen  wie  der 
„Staat"  einen  Musterstaat,  aber  einen  solchen,  der  nicht 
nur  vom  Erlösungsstaate  der  letzten  Umarbeitung  des 
„Staats",  sondern  selbst  von  der  völligen  Aufhebung  der 
Volkssouveränität,  sowie  der  Ehe  und  des  Privateigentums 
bei  der  herrschenden  Klasse  im  Urstaat  himmelweit  ver- 
schieden ist.  Das  Lebensziel  der  wahren  Erkenntnis  in 
einem  körperfreien  Jenseits  wird  hier  auch  nicht  einmal 
mehr  für  eine  auserlesene  Minderheit  verfolgt,  und  auch  die 
diesseitige  Glückseligkeit  aller  soll  nicht  mehr  wie  im  Ur- 
staat dadurch  erreicht  werden,  dafs  die  gesamte  Staats- 
gewalt in  den  Händen  einer  auserlesenen  Minderheit  ver- 
einigt wird.  Plato  kehrt  zum  Prinzip  der  Volkssouveränität 
zurück  und  trifft  nun  auf  dieser  Grundlage  Vorkehrungen 
mannigfacher  Art,  um  der  Zuchtlosigkeit  zu  wehren  und 
für  alle  die  Verwirklichung  eines  Ideals  diesseitiger  Glück- 


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V.    15.   Der  Staat  der  Gesetze.  657 

Seligkeit  herbeizuführen,  dessen  Grundlinien  sehr  bestimmt 
entworfen  werden.  Dieses  neue  Gltickseligkeitsideal ,  das 
jedoch  nur  dogmatisch,  ohne  wissenschaftliche  Begründung, 
aufgestellt  wird,  hat  geradezu  den  Ausgangspunkt  gebildet 
für  die  frühesten  Bestrebungen  der  folgenden  Periode,  für 
das  Lebensziel,  das  höchste  Gut ,  eine  wissenschaftliche  Be- 
gründung zu  finden.  Diese  Schrift  Piatos  steht  somit  hart 
an  der  Grenze  der  beiden  Perioden.  Wegen  dieser  viel- 
fachen, sowohl  für  das  Denken  Piatos  als  auch  für  die 
weitere  Entwicklung  ihr  zukommenden  Bedeutung  mufs  ihr 
noch  ein  besonderer  Abschnitt  gewidmet  werden. 

Nach  einer  dritten  Richtung  endlich  müfsten  wir  eine 
Umgestaltung  des  Denkens  Piatos  in  diesem  Zeitraum  an- 
nehmen, wenn  angenommen  werden  könnte,  dafs  der  unter 
seinen  Schriften  stehende  Dialog  „Philebos"  wirklich  von 
ihm  verfafst  wäre.  In  diesem  Falle  hätte  Plato  geradezu 
in  die  den  Anfang  der  dritten  Periode  bezeichnende  wissen- 
schaftliche Diskussion  über  das  wahre  Lebensziel  noch  selbst 
eingegriflFen  und  wäre  damit  geradezu  in  die  folgende  Periode 
noch  selbst  hinübergetreten.  Es  ist  jedoch  aus  vielen  Gründen 
im  höchsten  Grade  zweifelhaft,  dafs  diese  Schrift  ihm  selbst 
angehört.  Jedenfalls  gehört  sie  ihrem  Inhalt  und  Zwecke 
nach  in  die  folgende  Periode  und  mufs  dort  an  der  ihr  zu- 
kommenden Stelle  zur  Besprechung  kommen. 

16.   Der  Staat  der  Gesetze. 

In  den  „Gesetzen"  soll  nicht  der  bestmögliche  Staat 
entworfen  werden.  Es  gibt  eine  dreifache  Abstufung  der 
Staatsverfassungen.  Im  besten  Staate  ist  nicht  nur  das 
Privateigentum  und  die  Familie  aufgehoben,  sondern  es  ist 
darin  durch  eine  tiefeingreifende  Erziehung  sogar  eine  völlige 
Einhelligkeit  im  Gefühlsleben  und  in  den  Werturteilen  er- 
zielt. Alle  halten  ein  und  dasselbe  für  erstrebenswert  und 
zu  meiden  (739).  Offenbar  denkt  hier  Plato  an  die  Er- 
ziehung der  Wächter  im  Urstaat.  An  den  hohen  Flug,  den 
im  Staate  von  367  die  Erziehung  der  Herrscher  nahm,  er- 
innert er  nicht  einmal  mit  einer  Andeutung.  Nur  in  ein- 
zelnen gelegentlichen  Bemerkungen  zeigt  sich,  dafs  ihm  selbst 

Dörinjf.    I.  42 


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658  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

die  jenseitigen  Dinge  noch  immer  als  die  wichtigeren  gelten. 
Die  irdischen  Angelegenheiten  müssen  zwar  geordnet  werden, 
sind  aber  im  Grunde  einer  grofsen  und  ernsten  Bemühung 
nicht  wert.  Das  eigentliche  Glück  ist  in  ihnen  nicht  zu  finden. 
Nur  die  Gottheit  ist  ernster  Bemühung  wert.  Der  Mensch 
(in  seinem  Erdenleben)  ist  nur  ein  Spielzeug  der  Gottheit 
(803  B  f.).  Auch  der  Gott  der  Unterwelt  ist  der  Verehrung 
würdig,  denn  die  Gemeinschaft  der  Seele  mit  dem  Körper 
ist  durchaus  nichts  Besseres  als  ihre  Trennung  (828  D). 

Der  beste  Staat  ist  ein  Staat  „für  Götter  und  Götter- 
söhoe".  Gegenwärtig  aber  handelt  es  sich  um  einen  Staat 
zweiten  Ranges.  Gemeinsamkeit  des  Besitzes  ist  ein 
der  Denkweise  des  heutigen  Geschlechts  nicht  fafsbares 
Ideal.  Für  den  weiteren  Verlauf  der  Schrift  wird  eine  Dar- 
stellung auch  noch  der  dritten  Rangstufe  in  Aussicht  ge- 
nommen ,  zu  der  es  aber  nicht  gekommen  ist  (739  E  f.). 
Selbst  in  diesem  zweiten  Staate  müssen,  um  ihn  folgerecht 
durchzuführen,  noch  sehr  weitgehende  Opfer  an  Bewegungs- 
freiheit und  natürlichen  Neigungen  gebracht  werden  (746), 
und  er  kann,  weil  er  nicht  mit  Göttersöhnen  und  Heroen, 
sondern  mit  schwachen  Menschen  als  seinen  Bürgern  zu 
rechnen  hat,  selbst  strenger  Strafbestimmungen  nicht  entraten 
(853  B  ff.). 

Nach  welchen  Gesichtspunkten  nun  dieser  Staat  auf- 
gebaut wird,  und  wie  er  sich  demgemäfs  gestaltet,  sowie  auch, 
dafs  in  einzelnen  Teilen  der  Schrift  Unfertigkeit  und  mangel- 
hafte Anordnung  zu  Tage  tritt,  das  wird  am  besten  durch 
eine  knappe  und  gedrängte  Inhaltsangabe  der  Schrift  deut- 
lich werden. 

Drei  Greise,  ein  Athener,  ein  Kreter  und  ein  Spartaner, 
spazieren  auf  Kreta  von  Knossos,  der  Stadt  des  Minos,  des 
ruhmreichen  kretischen  Gesetzgebers,  nach  dem  in  der  Nähe 
gelegenen  Zeusheiligtum  und  unterhalten  sich  unterwegs 
über  Gesetzgebung  und  Staatenbildung.  Sehr  bald  kommt 
es  zur  Aufstellung  des  wahren  Staatsziels:  Glückseligkeit 
der  Bürger  durch  den  Besitz  aller  Güter.  Es  gibt  aber 
menschliche  und  göttliche  Güter.  Die  menschlichen  sind: 
Gesundheit,  Schönheit,  Stärke,  Reichtum,  die  göttlichen :  Ein- 


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V.    15.   Der  Staat  der  Gesetze.  659 

sieht,  Sophrosyne,  Gerechtigkeit  und  Tapferkeit.  Letztere 
stehen  „durch  Natur**  ersteren  voran.  Hier  treten  die  vier 
Kardinal tugenden  ohne  jenen  inneren  Zusammenhang  auf, 
den  die  erste  Umarbeitung  des  Staats  zwischen  ihnen  her- 
gestellt hatte.  Dieser  Zusammenhang  ist  hier  fallen  ge- 
lassen. Auch  weiterhin  wird  nicht  versucht,  eine  innere 
Einheit  dieser  Vierzahl  nachzuweisen,  auch  wo  ausdrücklich 
auf  diesen  Punkt  die  Rede  kommt  (963  C  ff.). 

Nach  dieser  Rangordnung  der  Güter  mufs  sich  der  Ge- 
setzgeber bei  seinen  Einrichtungen  richten,  und  zwar  mufs 
er  unter  den  göttlichen  Gütern  wieder  der  vernünftigen  Ein- 
sicht den  höchsten  Rang  beilegen  (631  B  ff.).  Dieser  Aus- 
gangspunkt wird  aber  nicht  weiterverfolgt.  Es  folgen  un- 
zusammenhängende Bemerkungen  über  einige  spezielle  Ob- 
liegenheiten des  Gesetzgebers,  an  die  sich  eine  Kritik  der 
kretisch-spartanischen  Gesetzgebung  durch  den  Athener  an- 
schliefst. Diese  Kritik  kommt  aber  nicht  zu  dem  ihr  durch 
eine  voraufgeschickte  Disposition  (632  E)  vorgesteckten  Ziele, 
gerät  vielmehr  auf  ganz  seltsame  Abwege,  nämlich  auf  die 
Erwägung,  unter  welchen  Umständen  in  einem  normalen 
Staatswesen  die  Pflege  der  Trunkenheit  von  nöten  ist.  Diese 
weit  ausgesponnene,  vielfach  einer  unfreiwilligen  Komik  nicht 
entgehende  Erörterung  (641  D— 674  C)  hat  für  den  Grund- 
gedanken nur  dadurch  Bedeutung ,  dafs  in  ihrem  Verlaufe 
auf  die  notwendige  gesetzliche  Einschränkung  der  Dichter 
und  Künstler  hingewiesen  wird.  Diesen  darf  nicht  gestattet 
werden,  in  ihren  Produktionen  dem  Geschmacke  der  Menge 
zu  schmeicheln  (658).  Gewifs  ist  die  Erregung  von  Lust 
Zweck  der  Kunst,  aber  nicht  der  Lust  des  ersten  besten, 
sondern  des  Tugendhaften.  Die  Gesetzgebung  hat  dafür  zu 
sorgen,  dafs  von  Kind  an  alle  gewöhnt  werden,  in  der 
gleichen  Weise  Lust  und  Unlust  bei  den  Kunstschöpfungen 
zu  empfinden  wie  die  vorbildlichen  Greise.  Nicht  direkt, 
sondern  auf  diesem  indirekten  Wege  des  berichtigten  Ge- 
schmacksurteils soll  die  Kunst  sittlich  bilden  (658  E — 660  E). 
Dies  führt  dann  auf  nochmalige  Betonung  der  für  den  Staat 
mafsgebenden  Güterlehre. 

Was  nämlich  von  der  Menge  ein  Gut  genannt  wird,  wird 

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660  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

mit  Unrecht  so  genannt.  Nach  dem  Urteil  der  Menge  ist 
das  oberste  Gut  Gesundheit;  dann  kommt  Schönheit,  dann 
Reichtum.  Sie  rechnet  ferner  zu  den  Gütern  normale  Be- 
schaffenheit der  Sinne,  Macht,  endlose  Fortdauer  des  Lebeugf. 
Diese  vermeintlichen  Güter  aber  sind  dies  nur  für  Gerechte 
und  Fromme;  für  Ungerechte  sind  sie  Übel.  Für  diese  ist 
das  Leben  selbst  das  gröfste  Übel,  erst  recht,  wenn  es  un- 
vergänglich wäre,  denn  sie  sind  im  Besitze  aller  dieser  Güter 
trotzdem  unglücklich  (661  f.).  Diese  Güterlehre  mufs  im 
wahren  Staate  obligatorisch,  als  Glaubenssatz  gelten.  Bei 
schwerer  Strafe  müssen  die  Dichter  und  die  Bürger  über- 
haupt genötigt  werden ,  sich  zu  ihr  zu  bekennen  (661  C, 
662  B).  Der  Beweis,  dafs  sie  die  richtige  ist,  wird  dadurch 
geführt,  dafs  sie  die  lustvollste  ist  (663  A).  Hier  tritt  der 
alte  sokratische  Satz  auf:  „Niemand  wird  sich  überreden 
lassen,  freiwillig  das  zu  tun,  was  nicht  mehr  Lust  als  Un^ 
lust  nach  sich  zieht."  Die  Menge  freilich  urteilt  über  die 
zeitlich  fernen  Wirkungen  wie  Kinder;  sie  liegen  ihr  im 
Dunkel.  Der  Gesetzgeber  aber  soll  sie  eines  Besseren  be- 
lehren (663  B).  Dieser  Beweis  aber  wird  dadurch  geführt, 
dafs  Ehre  lustvoll,  Schande  unlustvoll  ist,  und  dafs  erstere 
der  Gerechtigkeit,  letztere  der  Ungerechtigkeit  folgt.  Wäre 
dies  nicht  die  Wahrheit,  so  wäre  es  wenigstens  eine  heil- 
same Lüge  (663  D  f.). 

Von  den  dem  Preise  der  Tugend  gewidmeten  Chören 
wird  dann  wieder  zum  Thema  des  Weines  übergelenkt;  die 
kretische  Verfassung  ist  ganz  aus  dem  Gesichtskreise  ge- 
schwunden. 

Mit  ganz  neuem  Ansetzen  wird  hierauf  auf  die  Ent- 
stehung des  Staats  überhaupt  eingegangen,  mit  kritischen 
Bemerkungen  über  mancherlei  Mifsstände  in  den  geschicht- 
lich hervorgetretenen  Staaten  (Buch  III).  In  diesem  Zu- 
sammenhange wird  für  den  rechten  Staat  nochmals  die  For- 
derung aufgestellt,  dafs  in  ihm  die  verschiedenen  Güter  nach 
ihrem  wahren  Werte  geschätzt  werden  müssen.  Und  zwar 
werden  jetzt  drei  Güterklassen  aufgestellt:  Güter  der  Seele 
(„wenn  in  ihr  Sophrosyne  vorhanden  ist")  als  die  oberste, 
Güter  des  Körpers  als  die  zweite  und  äufsere  Güter  als  die 


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V.     15.  Der  Staat  der  Gesetze.  661 

dritte  (697  B).  Diese  Rangordnung  ist  nicht  verschieden 
von  der  früheren,  zweiteiligen,  doch  scheint,  wie  das  Folgende 
zeigt,  der  Kreis  des  Erstrebenswerten  etwas  weiter  gezogen 
zu  sein. 

Im  vierten  Buch  wird  nun  das  Material,  aus  dem 
der  Musterstaat  hergestellt  werden  soll,  in  zwei  offenbar 
einander  ausschliefsenden  Weisen,  also  in  einem  doppelten 
Entwürfe,  dargeboten.  Einmal  handelt  es  sich  um  eine  ganz 
neue  Kolonie,  mit  deren  Gründung  der  Kreter  beauftragt 
ist  (702  B  f.,  707  E  ff.).  Ganz  bald  darauf  (709  B  ff.)  aber 
fordert  der  Gesetzgeber  für  sein  Experiment  einen  Staat,  der 
von  einem  jungen,  intelligenten  und  tugendhaften  Tyrannen 
beherrscht  wird.  Im  weiteren  Verlaufe  behält  die  neue 
Kolonie  die  Oberhand  (736,  744  B,  751  E,  754),  doch  taucht 
auch  der  Fall  des  vom  Tyrannen  beherrschten  Staates  ge- 
legentlich wieder  auf  (735  D).  Einmal  werden  sogar  beide 
Fälle  nebeneinandergestellt  (738  B).  Die  Gesetzgebung  be- 
ginnt. Als  Prinzip  für  die  zu  wählende  Verfassung  wird 
aufgestellt,  dafs  sie  nicht  Sonderinteressen,  sondern  dem  ge- 
meinen Besten  zu  dienen  hat  (712—15).  In  einer  feierlichen 
Ansprache  (716 — 718  B)  wird  den  neuen  Bürgern  dargetan, 
dafs  wahrer  Götterdienst  die  Grundlage  des  Staatslebens 
sein  mufs.  Hierauf  soll  die  Gesetzgebung  selbst  beginnen 
(718  C).  Es  werden  einige  Verordnungen  über  die  Ehe  auf- 
gestellt (721).  Dann  der  Grundsatz,  dafs  den  Gesetzen  Ein- 
leitungen vorangeschickt  werden  sollen,  die  über  ihre  Zweck- 
mäfsigkeit  und  Notwendigkeit  unterrichten  (722  C  ff.).  Hier- 
auf (Anfang  von  Buch  V)  folgt  ganz  offenbar  die  Fort- 
setzung jener  feierlichen  Anrede  an  die  Bürger.  Das  Da- 
zwischenstehende  ist  also  an  die  unrechte  Stelle  geraten. 
Nächst  den  Göttern  ist  die  Seele  das  wertvollste  Besitztum 
des  Menschen.  Nächst  den  Göttern  mufs  sie  am  meisten 
geehrt  werden.  Wer  ihr  allen  Willen  läfst,  wer  nie  seine 
eigene  Schuld  eingesteht,  schädigt  sie.  Dasselbe  gilt  vom 
Sinnengenufs,  von  der  feigen  Furcht  vor  Gefahren  und  Be- 
schwerlichkeiten,  insbesondere  von  der  Todesfurcht,  da  ja 
vielleicht  der  Zustand  nach  dem  Tode  ein  glücklicherer  ist 
als  im  Diesseits,  also  das  irdische  Leben  vielleicht  überhaupt 


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662  Zweite  Periode.   Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

kein  Gut  ist.  Auch  wer  körperliche  Schönheit  oder  Reich- 
tum über  die  Tugend  setzt;  entehrt  die  Seele.  Die  gröfste 
Strafe  ist,  schlecht  zu  werden  (726—8). 

Das  dritte  wertvolle  Besitztum  ist  der  Körper.  Er  wird 
recht  geehrt,  wenn  man  nicht  nach  einem  einzelnen  der 
körperlichen  Güter  gesondert  strebt,  nach  Schönheit  oder 
Kraft,  Gewandtheit,  Gröfse,  Gesundheit,  sondern  nach  der 
richtigen  Vereinigung  dieser  verschiedenen  Güter  (728  D  f.). 
Hier  nun  verwischt  und  verdunkelt  sich  der  Fortgang  der 
Rede;  Fremdes  mengt  sich  ein.  Wir  können  hier  das  ein- 
zelne auf  sich  beruhen  lassen.  Doch  sei  betont,  dafs  in 
diesen  zerrissenen  Zusammenhängen  einige  bemerkenswerte 
Gedanken  auftauchen.  Niemand  ist  freiwillig  ungerecht,  weil 
niemand  sein  eigenes  Unglück  will  (731  C) :  der  ethisch  in- 
tellektualistische  Jugendgedanke  aus  dem  Protagoras!  Wir 
begehren  Lust,  verabscheuen  Unlust;  den  Mittelzustand 
wünschen  wir  bei  vorhandener  Unlust,  wünschen  wir  nicht 
bei  vorhandener  Lust.  Geringere  Unlust,  mit  gröfserer  Lust 
verbunden,  wünschen  wir ;  umgekehrt,  wenn  die  Unlust  gröfser 
ist  als  die  begleitende  Lust.  Ist  beides  im  Gleichgewicht, 
so  schweigt  der  Wunsch.  In  bezug  auf  das  Ganze  des 
Lebens  wünschen  wir  starke  Mengen  von  Lust  und  Unlust, 
wofern  nur  erstere  das  Übergewicht  hat.  Doch  gilt  auch 
das  als  ein  wünschenswerter  Zustand,  wenn  bei  nur  ge- 
ringen Graden  von  Lust  und  Unlust  die  Lust  überwiegt. 
Ein  Leben,  in  dem  beides  im  vollständigen  Gleichgewicht 
ist ,  kann  nicht  als  wünschenswert  gelten  (733  B  flf.).  Ein 
Bekenntnis  zur  Positivität  der  Lust  wie  der  Unlust  mit 
kürzester  Übersicht  der  möglichen  Fälle! 

Schliefslich  wird  erklärt,  dafs  nunmehr  die  Einleitung 
zur  Gesetzgebung  beendigt  sei  und  diese  selbst  beginnen 
könne  (734  E). 

Diese  beginnt  denn  auch  in  der  Tat.  Zunächst  werden 
aus  der  Zahl  der  Kolonisten,  die  sich  zusammengefunden 
haben,  die  weniger  wünschenswerten  Elemente  ausgeschieden 
und  die  Zahl  der  Bürger  auf  5040  eingeschränkt,  welche  Zahl 
sich  dadurch  empfiehlt,  dafs  sie  in  der  mannigfaltigsten 
Weise  (in  59  verschiedenen  Weisen)  teilbar  ist  (738  A).    Alle 


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V.     15.    Der  Staat  der  Gesetze.  663 

erhalten  gleichwertige  Landlose,  die  nicht  veräufsert  werden 
dürfen.  Diese  Zahl  der  Familienlose  mufs  konstant  bleiben. 
Die  Bürger  treiben  keine  Handwerke  oder  Geschäfte,  sondern 
leben  vom  Landbau  (741  E).  Als  Geld  dient  eine  im  Aus- 
lande wertlose  Münze.  Nach  dem  mitgebrachten  Vermögen, 
das  aber  auch  ein  gewisses  Mafs  nicht  übersteigen  darf, 
werden  vier  Vermögensklassen  gebildet,  nach  denen  sich  Ab- 
gaben und  Staatsleistungen,  aber  auch  die  Besetzung  obrig- 
keitlicher Ämter  richtet.  Hier  sind  einige  kleine  Uneben- 
heiten stehen  geblieben.  Die  Bürger  dürfen  kein  Gold  oder 
Silber  besitzen  (742),  und  doch  gibt  es  bewegliches  Ver- 
mögen. Bei  der  Einteilung  in  die  vier  Klassen  sollen  ein- 
mal auch  Geburt  und  Tüchtigkeit  mit  ins  Gewicht  fallen, 
dann  aber  ausschliefslich  das  Vermögen  in  Betracht  kommen 
(744  B  f.).  In  diesem  Zusammenhange  wird  abermals  be- 
tont, dafs  die  Gesetzgebung  stets  die  wahre  Glückseligkeit 
aller  als  den  Endzweck  aller  zu  treffenden  Anordnungen  im 
Auge  haben  mufs,  dafs  aber  diese  wahre  Glückseligkeit  nur 
im  Besitze  der  drei  Güterklassen  in  der  richtigen  Rang- 
ordnung besteht.  Eine  Gesetzgebung  wäre  verfehlt,  die  etwa 
in  ihren  Anordnungen  der  Gesundheit  eine  höhere  Wert- 
stufe zuwiese  als  der  Sophrosyne.  Mit  klarstem  Zweck- 
bewufstsein  mufs  der  Gesetzgeber  seine  Bestimmungen  treffen 
(742  C — 744  A).  Diese  Rangordnung  der  Güterklassen  findet 
auch  an  späterer  Stelle  nochmals  ihren  Ausdruck  (870  B). 
Die  äufseren  Güter  sind  um  des  Körpers  willen  da,  der 
Körper  um  der  Seele  willen.  Daher  rangiert  der  Reichtum 
als  Drittes  hinter  der  Tüchtigkeit  der  Seele  und  des  Körpers. 
In  dem  so  eingerichteten  Staate  nun  kommt  das  Prinzip 
der  Volkssouveränität  dadurch  zum  Ausdruck,  dafs  die  über- 
aus zahlreichen  Behörden  durch  Volkswahl  eingesetzt  werden. 
Dabei  wird  jedoch  gegen  das  demokratische  Prinzip  der 
völligen  Rechtsgleichheit  aller  eine  prinzipielle  Verwahrung 
eingelegt  (757).  Durch  die  (innere)  Ungleichheit  wird  das 
(äufserlich)  Gleiche  ungleich.  Auch  die  Gottheit  verfährt 
in  der  Zuteilung  ihrer  Gnadener Weisungen  nach  dem  Prinzip 
der  verschiedenen  Würdigkeit.  Auch  die  Staatsweisheit  mufs 
nach  diesem  „Recht  an  sich"  die  Rechtsgleichheit  bemessen. 


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664  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

Doch  soll  das  rein  demokratische  Prinzip  der  Gleichheit  aller 
darin  zur  Geltung  kommen,  dafs  in  der  Stellenbesetzung 
in  einigen  Fällen  das  Los  entscheiden  soll.  (So  auch  756  E, 
759  B.)  Das  Los  drückt  in  der  radikalsten  Weise  die  Gleich- 
wertigkeit zwar  nicht  der  Wähler,  aber  der  in  ein  Amt  zu 
Berufenden  aus,  freilich  aber  mutet  die  Empfehlung  des 
Loses  nach  den  betreffenden  Ausführungen  des  historischen 
Sokrates  eigentümlich  an. 

In  der  Praxis  kommt  die  Einschränkung  des  allgemeinen, 
gleichen  Wahlrechts  durch  das  Prinzip  der  verschiedenen 
Würdigkeit  bei  den  verschiedenen  Wahlen  in  verschiedener 
Weise  zum  Ausdruck.  In  einem  Falle  sind  nur  diejenigen 
wahlberechtigt,  die  an  einem  Kriege  teilgenommen  haben 
(753  B),  in  einem  anderen  (bei  der  Wahl  der  militärischen 
Behörden)  alle,  die  mit  den  Waflfen  gedient  haben  oder  gegen- 
wärtig dienen  (755  C).  Bei  der  wichtigsten  Wahl,  der  des 
Rates,  findet  die  Wahl  durch  ein  ziemlich  kompliziertes 
Verfahren ,  vornehmlich  aber  dadurch  statt-,  dafs  jede  der 
vier  Vermögensklassen  die  gleiche  Zahl  von  Ratsmitgliedem 
wählt,  die  drei  ersten  Klassen  mit  Zwangsbeteiligung  an  der 
Wahl  (756  C  ff.). 

Gegenüber  diesem  Prinzip  der  Volkssouveränität  nun 
hat  Plato  eine  grofse  Anzahl  von  Gegengewichten  ge- 
schaffen, durch  die  sie  unschädlich  gemacht  werden  und  eine 
absolute  Stabilität  der  Verfassung  gewährleistet 
werden  soll. 

Das  erste  derselben  liegt  schon  in  der  strengen  Auf- 
rechterhaltung einer  fast  völligen  wirtschaftlichen  und  recht- 
lichen Gleichheit  aller  Bürger.  Nur  mit  starker  Ein- 
schränkung wird  die  Ungleichheit  des  beweglichen  Ver- 
mögens zugelassen;  im  Landbesitz  sind  alle  gleichgestellt. 
Ein  eigentlicher  Unterschied  von  reich  und  arm  darf  nicht 
aufkommen  (742,  745).  Deshalb  mit  ist  auch  Handel  und 
Handwerk  den  Bürgern  untersagt  und  rechtlosen  Mitbewohnern 
des  Staats  zugeteilt  (84ö).  Vor  dem  Gesetz  sind  alle  gleich ; 
von  den  immerhin  geringfügigen  Unterschieden  im  aktiven 
Wahlrecht  war  schon  die  Rede. 

Dazu  kommt    als  Zweites   die   in   der  Bürgerschaft 


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V.    15.   Der  Staat  der  Gesetze.  665 

genährte  Überzeugung  von  der  absoluten  Vortreflflichkeit 
der  Staatseinrichtung.  Die  als  Staatszweck  zu  Grunde 
liegende  Glückseligkeitslehre  ist  ein  auf  alle  Weise  den 
Bürgern  einzuschärfendes  Dogma.  Schon  die  erste  Anrede 
des  Gesetzgebers  war  diesem  Zwecke  gewidmet.  Die  Ein- 
leitungen zu  den  einzelnen  Gesetzen  femer  sollen  dazu 
dienen,  die  Vemunftüberzeugung  von  der  diesem  obersten 
Staatszweck  entsprechenden  Beschaffenheit  der  betreffenden 
Gesetze,  von  ihrer  Zweckgemäfsheit,  zu  begründen. 

Drittens  wird  den  Bürgern  der  Verkehr  mit  anderen 
Staaten,  durch  den  Umsturzgedanken  Eingang  finden  könnten, 
aufs  äufserste  erschwert.  Von  der  Münze  war  schon  die 
Rede.  Beisen  der  Bürger  in  andere  Staatsgebiete  bedürfen 
der  Genehmigung,  die  nur  in  bestimmt  bezeichneten  Fällen 
erteilt  wird  (949  E  ff.).  Fremde  Reisende,  die  des  Erwerbs 
oder  Vergnügens  wegen  kommen,  unterliegen  einer  strengen 
Aufsicht.  Kommen  sie  aber,  um  von  den  Staatseinrichtungen 
Kenntnis  zu  nehmen,  so  soll  ihnen  aller  mögliche  Vorschub 
geleistet  werden  (952  D  fiF.). 

Viertens  wachen  über  der  Aufrechterhaltung  der 
einzelnen  Staatsordnungen  zahlreiche  Behörden  mit  genau 
abgegrenzten  Obliegenheiten,  meist  mit  einer  ihrem  Wirkungs- 
kreise entsprechenden  Strafgewalt  ausgestattet.  Den  ein- 
zelnen Gesetzen  sind  strenge  Strafbestimmungen  beigefügt. 
Die  Gesetze  sind  ja  der  geringen  Einsicht  der  Menschen 
wegen  notwendig.  Bei  vollkommener  Einsicht  aller  bedürfte 
es  keiner  Gesetze  (875).  Das  schwerste  Vergehen  aber 
nächst  der  Verletzung  der  Heiligtümer  der  Götter  ist  die 
Auflehnung  gegen  das  Staatsgesetz,  die  Neuerungssucht. 
Solche  Umtriebe  zur  Anzeige  zu  bringen  ist  jeder  Bürger 
verpflichtet.  Die  Inhaber  der  höheren  Ämter,  denen  sie  ent- 
gehen oder  die  sie  aus  Feigheit  nicht  zur  Anzeige  bringen, 
unterliegen  schwerer  Verantwortung;  die  Neuerungssüch- 
tigen selbst  trifft  der  Tod  (856  B  ff.).  Schon  durch  diese 
völlige  Unangreifbarkeit  sämtlicher  staatlicher  Einrichtungen 
ohne  Ausnahme,  die  jede  gesetzgeberische  Tätigkeit  aus- 
schliefst, sind  der  Volkssouveränität  die  engsten  Grenzen 
gezogen.     Aufser  den  Strafen    gibt   es  auch   hohe  Ehren- 


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(566  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.   Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

erweisungen  von  Gesetzes  wegen,  besonders  für  ausgezeichnete 
Führung  von  Staatsämtem  (946  E  f.). 

Ein  hochbedeutsames  Mittel  zur  Festigung  der  Ver- 
fassung ist  fünftens  die  Erziehung  des  gesamten  Nach- 
wuchses von  Staats  wegen.  Hier  tritt  zunächst  wieder  die 
völlige  Gleichstellung  der  Geschlechter  hervor.  Die  Gleich- 
berechtigung der  Frauen  ist  der  einzige  Punkt,  hinsichtlich 
dessen  sich  Plato  in  seinen  verschiedenen  Staatsidealen  vom 
Urstaat  bis  zu  den  Gesetzen  völlig  gleichbleibt.  Die  Teil- 
nahme der  Frauen  an  den  Staatsämtem  und  am  Kriegs- 
dienst —  trotz  der  wieder  eingeführten  Einehe !  —  wird 
wie  etwas  Selbstverständliches  in  unserer  Schrift  nur  neben- 
bei berührt  (785  B).  Wie  es  scheint ,  hat  Plato  nicht  nur 
die  weibliche  Kraft  dem  Staate  direkt  dienstbar  machen 
wollen,  sondern  auch  den  unmefsbaren  Einflufs  der  Frau 
auf  den  Mann  als  Bestimmungsgrund  auf  sich  wirken  lassen. 
Demgemäfs  nehmen  denn  auch  die  Mädchen  an  allen  Ver- 
anstaltungen der  öffentlichen  Erziehung,  einschliefslich  der 
Gymnastik,  des  Reitens  und  der  Waffenübungen,  mit  dem- 
selben gesetzlichen  Zwange  teil  wie  die  Knaben  und  Jüng- 
linge (794  D,  804  D  «F.,  813  D  ff.). 

Die  Erziehung  selbst  ist  im  wesentlichen  die  gleiche 
musisch-gymnastische,  die  schon  im  Urstaat  für  den  Nach- 
wuchs des  Kriegerstandes  aufgestellt  war,  hier  auf  die 
Jugend  des  gesamten  Bürgerstandes  ausgedehnt.  Wie  dort 
so  wird  auch  hier  namentlich  die  musische  Erziehung  in 
den  Dienst  der  Herstellung  des  richtigen  Seelenzustandes 
gestellt  und  in  diesem  Sinne  die  strengste  Zweckbeziehung 
auf  diesen  Punkt  mit  der  gröfsten  Entschiedenheit  durch- 
geführt. Nur  ist  hier  das  Ziel  ein  etwas  verändertes, 
nämlich  die  Heranbildung  zur  offiziellen,  der  ganzen  Staats- 
einrichtung zu  Grunde  liegenden  Schätzung  der  Lebens- 
güter. In  diesem  Sinne  mufs  sich  Dichtung,  Musik  und 
Tanz  unnachsichtlich  der  Modelung  durch  das  Staats- 
interesse unterwerfen ,  und  die  betreffenden  Bestimmungen 
sind  hier  noch  viel  umfangreicher  und  vielseitiger  als  im 
Urstaat  (797  ff.,  812  ff..  835  D  f.).  Neuerungen  auf  allen 
diesen  Gebieten  sind,  als  geradezu  den  Bestand  der  Ver- 


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V.     15.   Der  Staat  der  Gesetze.  667 

fassung  gefährdend,  streng  verpönt  (797).  Auf  die  Einzel- 
heiten dieses  hochinteressanten  und  pädagogisch  hoch- 
bedeutenden, wenngleich  heute  nur  geringes  Verständnis 
findenden  Gebietes  hier  einzugehen,  würde  zu  weit  führen. 
Musik  und  Tanz  ist  für  Plato  ein  der  Dichtung  gleich- 
berechtigter Bestandteil  des  „Gesinnungsunterrichts".  Auch 
der  Komödie  und  Tragödie  wird  in  diesem  Zusammenhange 
die  ihr  im  Staatsleben  zukommende  Bedeutung  zugewiesen 
(816  D  flf.). 

Aufserdem  werden  als  Gegenstände  des  öffentlichen 
Unterrichts  auch  noch  Rechnen,  Geometrie  und  Astronomie 
bezeichnet,  aber  ganz  so  wie  bei  Sokrates  nur  in  den  Grenzen 
des  praktischen  Bedürfnisses,  ohne  wissenschaftliche  Finessen 
(816  E  ff.). 

Die  sechste  Stütze  der  Gesetzesautorität  ist  eine  offi- 
zielle Staatsreligion  und  ein  staatlich  sanktionierter  Jenseits- 
glaube. Die  Staatsreligion  wird  wie  im  Urstaat  nach  dem 
Bedürfnis  des  Staats  frei  zurechtgemodelt.  Hier  wie  dort 
ist  nicht  die  Wahrheit,  sondern  das  Bedürfnis,  die  staat- 
liche Ordnung  aufrechtzuerhalten ,  der  ausschlaggebende 
Gesichtspunkt  für  die  Festsetzung  der  Glaubensartikel. 
Die  zu  verehrenden  zwölf  Hauptgötter  sind  von  Staats  wegen 
festgesetzt,  doch  werden  im  ganzen  365  Gottheiten  und 
höhere  Wesen  verehrt,  so  dafs,  wie  in  der  katholischen 
Kirche,  jeder  Tag  des  Jahres  seinen  Patron  hat  (828). 
Zahlreiche  Priesterkollegien  und  Kultusbeamte  aller  Art 
sind  von  Staats  wegen  eingesetzt  (759);  das  Opferwesen  ist 
gesetzlich  geregelt.  Privatheiligtümer  sind  nicht  gestattet 
(909  D).  In  allen  religiösen  Fragen  hat  das  delphische 
Orakel  die  letzte  Entscheidung  (z.  B.  856  D). 

Gesetzlich  vorgeschrieben  ist  der  Glaube,  dafs  die  Seele 
unsterblich  ist  und  nach  dem  Tode  vor  den  Göttern  Rechen- 
schaft abzulegen  hat  (959  A  f.).  Die  Lehre  von  der  Ver- 
geltung im  Hades  und  in  einem  neuen  Erdenleben,  wo  der 
Missetäter  genau  das  zu  erleiden  hat,  was  er  verübt  hat 
(der  Muttermörder  wird  als  Weib  geboren  und  von  den 
eigenen  Kindern  erschlagen),  wird  nur  als  ein  empfehlens- 
werter Glaube  hingestellt  (870  D  f.,  872  E).    Dies  ist  eine 


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668  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

von  der  in  den  früheren  Dialogen  durchaus  verschiedene, 
der  indischen  Karmalehre  verwandte  Vorstellungsweise.  Der 
gesetzmäfsige  Götterglaube  bewahrt  vor  bösen  Taten  und 
gesetzwidrigen  Reden.  Nur  der  wird  solche  freiwillig  be- 
gehen, der  entweder  überhaupt  nicht  an  Götter  glaubt  oder 
ihr  Eingreifen  leugnet  oder  ihre  leichte  Versöhnbarkeit 
durch  Opfer  und  Gebete  annimmt  (885  B,  888  C). 

Diese  drei  Irrlehren  müssen  durch  Gesetze  bekämpft 
werden.  Doch  wird,  nach  dem  für  diese  Gesetzgebung  über- 
haupt angenommenen  Verfahren,  zunächst  in  Form  einer 
belehrenden  Einleitung  ihre  Haltlosigkeit  dargetan.  Die 
erste  der  drei  Ansichten  stützt  sich  auf  eine  mechanische 
Naturerklärung,  nach  der  es  nur  beim  Menschen  ein  zweck- 
volles Wirken  gibt,  nach  der  die  Götter  eine  Erfindung  der 
Gesetzgeber  sind  und  Macht  Recht  ist  (889  f.) :  Lehren,  wie 
sie  wohl  in  jüngeren  Sophistenkreisen  gäng  und  gäbe  waren. 
Auch  die  Seele  besteht  nach  dieser  Lehre  aus  den  Ele- 
menten (891  C).  Demgegenüber  wird  bewiesen,  dafs  an  den 
Anfang  alles  Seienden  das  gestellt  werden  mufs,  was  die 
Quelle  der  Bewegung  in  sich  selbst  hat.  Dies  kann  aber 
nur  seelischer  Natur  sein.  Die  Bewegung  der  Welt  und 
der  Himmelskörper  mufs  also  im  Seelischen  ihren  Ursprung 
haben  (892—96).  Nun  kann  aber  auch  die  seelische  Be- 
wegung als  eine  geregelte  und  als  eine  regellose  gedacht 
werden.  Es  ist  aber  die  Bewegung  der  Himmelskörper  eine 
geregelte,  eine  (wie  schon  im  Timäus  oft  betont)  der  Be- 
wegung des  Denkens  gleiche.  Sie  setzt  also  nicht  eine  un- 
vernünftige und  übelwollende,  sondern  eine  vernünftige  und 
wohlwollende  Seele  als  Ursache  voraus  (896  E  ff.).  Die  Be- 
wegungen der  Himmelskörper  werden  durch  göttliche 
Seelen  hervorgebracht.  Die  Welt  ist  (nach  dem  alten 
Worte  von  Thaies)  voll  Götter  (899). 

Die  zweite  Ansicht  findet  ihre  Stütze  am  vermeintlichen 
Glücke  der  Schlechten  und  Ungerechten  (899  D  f.).  Aber 
solche  Gleichgültigkeit  selbst  gegen  die  kleineren  Angelegen- 
heiten des  Weltlaufs  widerstreitet  ganz  und  gar  der  gött- 
lichen Vollkommenheit  (900  D  ff.).  Dafs  ein  gerechtes  Walten 
im  Weltlauf  oft  zu  fehlen  scheint,  beruht  darauf,  dafs  die 


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V.    15.   Der  Staat  d«r  Gesetze.  669 

göttliche  Weltleitung  das  Ganze  im  Auge  haben  mufs.  Es 
ist  nicht  das  Ganze  der  Teile  wegen  da,  sondern  die  Teile 
des  Gaözen  wegen.  Da  aber  doch  auch  wieder  die  sittliche 
Beschaffenheit  eines  jeden  das  Werk  seiner  eigenen  freien 
Bestimmung  ist,  so  findet  dafür  Vergeltung  im  Jenseits  statt. 
Es  gibt  ein  Fortleben  auf  der  Erde,  unter  der  Erde  und 
über  der  Erde  (903Bflf.). 

Ähnlich  wird  dann  auch  die  dritte  Ansicht  widerlegt 
(905  D-907  D).  Nach  dieser  „Einleitung"  folgt  dann  das 
„Gesetz  über  die  Gottlosigkeit"  selbst  (907  D  ff.).  Und  da 
nun  jede  der  drei  Klassen  wieder  in  zwei  Abteilungen  zer- 
fällt, je  nachdem  der  Betreffende  persönlich  rechtschaffen 
und  achtbar  ist  oder  auch  durch  sein  Handeln  Anstofs  er- 
regt, so  gibt  es  sechs  strafbare  Verhaltungs weisen  (908  B  ff.). 
Da  aber  die  drei  Arten  der  Irrgläubigkeit  selbst  hinsicht- 
lich der  Strafbarkeit  gleichgesetzt  werden,  gibt  es  nur  zwei 
Arten  von  Strafen.  Der  nicht  zugleich  schlecht  handelnde 
Irrgläubige  wird  mit  fünf  Jahren  Gefängnis,  im  Falle  er- 
neuter Anklage  aber  mit  dem  Tode  bestraft  (909  A).  Der 
zugleich  Schlechte  aber  wird  wie  ein  schädliches  Tier  in 
einem  einsam  und  von  allem  Verkehr  ferngelegenen  Ge- 
fängnis (908  A)  unter  Abschliefsung  von  allem  Verkehr 
lebenslänglich  eingesperrt  und  nach  seinem  Tode  sein  Leichnam 
unbeerdigt  hingeworfen  (909  B). 

So  ist  also  auch  die  Religion  in  recht  wirksamer  Weise 
in  den  Dienst  des  Staatsinteresses  genommen. 

Vorstehendes  sind  nur  die  am  meisten  charakteristischen 
Züge  aus  dem  sehr  ins  einzelne  ausgeführten  Bilde  dieses 
neuen  Musterstaats.  Das  für  den  Fortgang  der  Entwicklung 
Bedeutsamste  an  dieser  Schrift  ist,  dafs  Plato  zwar  eines- 
teils offenbar  an  den  orphisch- pythagoreischen  Jenseits  Vor- 
stellungen festhält  (von  der  vollkommenen  Erkenntnis  als 
dem  der  Körperfreiheit  noch  übergeordneten  Interesse  findet 
sich  keine  Spur),  andernteils  aber  mit  grofsem  Nachdruck, 
doch  ohne  Begründung,  diktatorisch,  dogmatisch  eine  ganz 
bestimmte  Lehre  von  den  Bedingungen  der  diesseitigen  Glück- 
seligkeit aufstellt.  — 

Damit  wären  wir  denn  zugleich  ans  Ende  der  an  Wand- 


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670  Zweite  Periode.  Zweite  Stufe.  Die  kleineren  sokratisch.  Schulen  etc. 

langen  so  reichen  Denkarbeit  Piatos  gelangt.  Niemals  kann 
es  gelingen,  aus  der  Gresamtheit  der  platonischen  Schriften 
oder  auch  nur  aus  den  an  geistigem  Gehalt  bedeutendsten 
derselben  ein  einheitliches  System  zusammenzustellen.  Wer 
das  System  Piatos,  den  eigentlichen  Vollendungspunkt  seiner 
Entwicklung  kennen  lernen  will,  mufs  sich  an  den  Phädon 
und  den  jüngsten  Teil  des  „Staates"  (V.  18— VII  Ende) 
halten.  Auf  diesem  Höhepunkte  ist  ihm  rein  see- 
lisch anschauende  Erkenntnis  des  ewigSeienden 
das  erstrebenswerte  Gut,  das  Lebensziel. 

In  den  zahlreichen  Wandlungen  Piatos  aber  spiegelt 
sich  auch  wieder  der  Gesamtcharakter  dieser  Übergangs- 
periode, die  in  ihren  verschiedenen  Strömungen  von  der 
Verbesserung  der  staatlichen  Zustände  zum  Moralismus,  und 
vom  Moralismus  zur  Aufstellung  eines  höchsten  Lebensgutes 
hinüberschwankte,  ohne  dafs  jedoch  für  die  verschiedenen 
in  der  letzteren  Richtung  hervortretenden  Bestimmungen 
eine  wissenschaftliche  Begründung  versucht  wurde. 


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Von  demselben  Verfasser  ist  u.  a.  erschienen: 

Johann  Lambach  und  das  Gymnasium  zu  Dortmund 

von   1543  —  82.    Berlin  1875,  Calvary  &  Co. 

Die  Kunstlehre  des  Aristoteles.  Jena,  Dufft.  i876.  6  Mark. 

Philosophische    Güterlehre,    Berlin,  R.  Gärtner  (H.  HeTfeWer). 
1888.    8  Mark. 

System  der  Pädagogik  im  ümriss.  Ebenda.  i894.  6  Mark. 

Über  Zeit    und  Raum,    Ebenda.    1894.    l  Mark. 

Die  Lehre  des  Sokrates  als  soziales  Reformsystem. 

München,  C.  H.  Beck.    1895.    12  Mark. 

Hamlet.     Ein   neuer   Versuch   zur  ästhetischen   Er- 
klärung der  Tragödie.  Berlin.  R.  Gärtner  (H.  Heyfelder). 

1898.  7  Mark. 

Handbuch  der  menschlich-natürlichen  Sittenlehre  für 

Eltern    und    Erzieher.    Stuttgart,  Fr.  Fromann  (E.  Hauff). 

1899.  4  Mark. 

Eine  Frühlingsreise   in  Griechenland.    Frankfurt  a.  m., 

Neuer  Frankfurter  Verlag.    1903.    3  Mark. 


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Pierersche  Hofbuchdruckerei  Stephan  Geibel  k  Co.  in  Altenburg. 


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