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Geschichte
der
griechischen Philosophie.
Gemeinverständlich nach den Quellen.
Von
Dn A. Döring,
OynuMSialdircktor a. D. und Universitittsprofessor.
In zwei Bänden.
Band 1.
Leipzig,
O. R. Reisland.
1903.
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122612
SEP Z 5 19ÜÖ
Vorrede.
Von dem Vielen, das ich als Geleitswort dieser Arbeit
auf dem Herzen hätte, kann, wenn diese Vorrede sich nicht
zu abschreckender Länge dehnen soll, nur einiges Wenige
mehr angedeutet als ausgeführt werden.
Die Bezeichnung „gemeinverständlich"' auf dem Titel
soll nicht etwa die Schrift als eine Arbeit zweiter Hand,
als einen verwässerten Aufgufs der mafsgebenden Arbeiten
bezeichnen, von dem die Fachleute keine Notiz zu nehmen
brauchen. Schon der Zusatz „nach den Quellen^ soll sie
als durchaus auf eigenen FQfsen stehend, auf Original-
forschung beruhend charakterisieren.
Es sind aber auch in der Auffassung und Gestaltung
des Stoffes durchaus neue Bahnen eingeschlagen worden.
Schon in der Auffassung der einzelnen Systeme und ihres
Zusammenhanges untereinander, sowie in überaus zahlreichen
Einzelfragen bringt die Arbeit Neues und Eigentümliches.
Insbesondere aber ist auch das für die Vertreter des Faches
wohl nicht ohne Bedeutung, dafs hier zum ersten Male ver-
sucht wird, unter voller Ablehnung der gerade in der Ge-
schichte der antiken Philosophie so beliebten Fachwerk-
manier das Ganze als eine stetig fortschreitende Entwick-
lung unter sorgfältiger Beachtung der erkennbaren Beein-
flussungen, und zwar speziell als eine Entwicklung unter
dem einheitlichen Gesichtspunkte der Güterlehre oder axio-
logischen Ethik, darzustellen.
Wegen dieser streng wissenschaftlichen Haltung meiner
Arbeit kann ich denn auch die Berechtigung zu einer in-
haltlichen Kritik nur dem mit den Quellen und dem Stande
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IV Vorrede.
der Forschung durchaus Vertrauten zugestehen. Über die
formalen Momente, Verständlichkeit, Folgerichtigkeit, Ein-
heitlichkeit der Auffassung und Darstellung, steht jedem
ein Urteil zu.
Dafs nun eine solche durchaus wissenschaftlich gedachte
und das Verdienst mannigfacher Fortschritte der Erkenntnis
in Anspruch nehmende Arbeit zugleich gemeinverständlich
sein will, kann befremdlich erscheinen und ist jedenfalls ein
Wagnis, das der Rechtfertigung bedarf.
Diese liegt zunächst generell darin, dafs m. E. die
wissenschaftliche Arbeit überhaupt dem Bedürfnisse unserer
Zeit nach allgemeiner Zugänglichkeit der Wissenschaft, dem
stetig sich verbreiternden, ganz neue Kreise (Frauen, Ar-
beiter) ergreifenden Streben nach Anteilnahme an ihr ent-
gegenzukommen hat. Die formlosen, schwerverständlichen,
mit terminis technicis und fremdsprachlichen Belegstellen
gespickten, mit unendlicher Polemik, mit einem Wüste von
Anmerkungen überladenen Produkte des Gelehrtenfleifses
können der Natur der Sache nach nur dem Kreise der Ein-
geweihten dienen. Das Gute und Bedeutende mufs aber von
Haus aus dem weiteren Kreise zugänglich gemacht werden.
Dies Prinzip aber scheint mir ganz besonders auf dem
Gebiete der Philosophie und ihrer Geschichte Platz greifen
zu müssen. Eine über die allerunmittelbarste Gegenwart
hinausschauende Betrachtung mufs zu der Überzeugung
führen, dafs das zwanzigste Jahrhundert mehr und mehr
ein philosophisches werden wird, ein Jahrhundert, in dem
die Nachfrage nach der Philosophie, und zwar nach der
Philosophie nicht im Sinne haltloser Spekulationen zur Be-
friedigung müfsiger intellektueller Neugier, sondern als
„Lehrerin des Lebens", als „Kunstlehre der Lebensführung*
auf der Grundlage des Wirklichen, immer mehr um sich
greifen und mehr als in irgend einem früheren Zeitalter
sich bis zur Universalität steigern mufs. Das ist der Glaube
an ein philosophisches Zeitalter als völlig neue Kulturform,
in der die Philosophie nicht nur für eine geistige Aristo-
kratie, sondern für die Gesamtheit den geistigen und sitt-
lichen Lebensgrund bildet
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Vorrede. V
Die beste Einführung in die Philosophie — vornehm-
lich auch als Rettung vor dem Dilettantismus, der längst
Dagewesenes als neue Einsicht bewundert — ist aber ihre
Geschichte.
Und da hat denn wieder die abgeschlossen vor uns
liegende Geschichte der griechischen Philosophie besondere
Vorzüge. Alle wesentlichen Probleme des Denkens sind hier
schon in naturfrischer Unbefangenheit erörtert und tiefsinnig
durchdacht worden. Die griechische Philosophie ist unter
allen Umständen ein Kulturgut von unschätzbarem Werte,
zu dem der Weg um so entschiedener geebnet werden mufs,
je verblendeter sich die unmittelbare Gegenwart — freilich
in unbewufster Vollziehung eines Strafgerichts über die
Sünden des alten Gymnasiums — zum mittelalterlichen
„Graeca sunt, non leguntur" zurückzuschrauben bemüht ist.
Insbesondere aber liegt darin eine unvergängliche Vor-
bildlichkeit der alten Philosophie, dafs ihre Entwicklung in
sicherem Zuge dem grofsen Zentralproblem, der Frage nach
den höchsten Lebenswerten und der zur Realisierung der-
selben erforderlichen Lebensführung, zulenkt und in dieser
Frage ihren Schwerpunkt findet. So kann die künftige Ge-
staltung des philosophischen Denkens über die Episode der
christlichen Philosophie hinweg direkt an die antike an-
knüpfen. Die antike Philosophie ist hoch aktuell.
Die Rechtfertigung einer gemeinverständlichen Dar-
stellung gerade der griechischen Philosophie liegt also darin,
dafs gerade sie dem Bedürfnis nach philosophischer Lebens-
gestaltung entgegenkommt, aber auch für die Erweckung
dieses Bedürfnisses werbende Kraft besitzt.
Entsprechend nun dem Streben nach Gemeinverständlich-
keit mufste manches von der Darstellung ausgeschlossen
werden. Es fehlt die ausdrückliche Auseinandersetzung mit
den Etappen, Irrgängen und Streitfragen der Forschung.
Es fehlen weitläufige Literaturangaben. Wer deren benötigt
ist, findet seine Rechnung bei Ueberweg. Es fehlen die
klappernden termini technici bis auf das absolut Notwendige,
das zugleich da, wo es eingeführt wird, seine Erläuterung
findet. Es fehlen die fremdsprachlichen Belegstellen. Das
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VI Vorrede.
Buch hat keine einzige Anmerkung; es kommt in ihm kein
einziger griechischer Buchstabe vor. Die ab und zu un-
umgänglichen griechischen Wörter sind in lateinischen Lettern
gegeben. Lehrpunkte von untergeordneter Bedeutung und
Erscheinungen von untergeordnetem Range ohne erkennbare
Nachwirkung sind übergangen, Anhäufung blofser Namen
ist vermieden. Ja, um die Arbeit nicht über das Mafs des
unbedingt Erforderlichen hinaus zu schwellen, ist sogar auf
die zu einem absolut vollständigen Bilde erforderliche Aus-
malung des wechselnden kulturgeschichtlichen Hintergrundes
verzichtet worden. Der Geschichtskundige wird sich das
Notwendigste leicht selbst ergänzen, und jedenfalls mufs, ehe
man sich auf tiefsinnige Spekulationen über kulturgeschicht-
liche Zusammenhänge einläfst, der wirkliche Tatbestand der
philosophischen Lehren und ihrer philosophiegeschichtlichen
Zusammenhänge selbst unzweifelhaft festgestellt werden.
Positiv mufste das Streben nach Gemeinverständlichkeit
zu möglichster Verständlichkeit der Darstellung, zur an-
schaulichen Hervorkehrung charakteristischer Einzelzüge
und zu sorgfältiger Behandlung des Sprachlichen im Inter-
esse der Lesbarkeit führen. Vornehmlich aber kommt auch
in dieser Beziehung das Bestreben in Betracht, auf der
Grundlage der überlieferten Daten im Sinne der historischen
Kunst nach Möglichkeit abgerundete und lebendige Bilder
zu schaffen und eine zusammenhängende Gesamtentwicklung
herzustellen.
Entsprechend dem wissenschaftlichen Charakter der
Arbeit durften jedoch Hinweise auf die Quellen und die
entscheidenden Zeugnisse an keinem erheblichen Punkte
fehlen. Selbst für den weiteren Leserkreis fallen diese Hin-
weise als eine Art von moralischer Garantie ins Gewicht ; für
die Fachgenossen ermöglichen sie an jedem Punkte die Nach-
prüfung. Entsprechend dem gemeinverständlichen Charakter
der Arbeit aber mufsten diese Hinweise in allerkürzester
Fassung gegeben werden, und zwar geschieht das ausnahms-
los in Klammem im Texte selbst. Der Sachkundige wird
die Abkürzungen meist ohne weiteres zu deuten wissen.
Zur Erläuterung braucht nur folgendes hinzugefügt zu
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Vorrede. VII
werden. Unter D. L. ist Diogenes Laertius, unter
D. Diels' Doxographi graeci, unter Z. der jedesmal in
Betracht kommende Band des „grossen Zelle r"", und
zwar in der neuesten Auflage, zu verstehen. Namentlich
die beiden letztgenannten Werke machten es durch die Fülle
des in ihnen aufgespeicherten Quellenmaterials möglich, den
Hinweisen die gröfste Kürze zu geben. Die Fragmente des
Xenophanes und Empodekles sind nach der Zählung bei
Karsten aufgeführt. Die Fragmente der Vorsokratiker
von Diels und die des Chrysipp von v. Arnim konnten
nicht mehr, die Fragmenta poetarum philosophorum von Diels
nur noch teilweise benutzt werden.
Möchte denn die Arbeit sympathische Leser und Be-
urteiler finden, die ihre Eigenart auch in den vielen in
diesen Vorbemerkungen nicht ausdrücklich gekennzeichneten
Zügen herauszufinden und anzuerkennen geneigt sind!
Grofs -Lichter felde bei Berlin, Pfingsten 1903.
Der Verfasser.
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Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorrede III
Inhaltsverzeichnis Vin
Einleitung 1
1. Grundwesen der alten Philosophie 1
2. Die Perioden der alten Philosophie 4
Erste Periode.
Allgemein wissensohaftllclie Vorbereltungrszeit
(ea. eOO bis nach 800 vor Chr.) 7
Einteilung 7
Erster Absehnitt. Lebendiger StolT (Hylopsjctaismus). Die
Setanle Ton Milet (ea. 600 bis gegen 540 t. Chr.) 9
1. Thaies • 9
2. Anaximander 28
3. Anaximenes 40
Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsyotaismas. Abstrakte
Stoir lehre ohne ein wirkendes Prinzip; Unmögliehkeit der
Welterklüning (ca. 540 bis nach 400) 48
I. Zwei Vorläufer der unteritalischen Philo-
sophie (ca. 540—600) 49
1 Pythagoras 50
2. Xenophanes 63
IL Der kleinasiatische Hylopsychist Heraklit
(um 500) 82
IIL Entwicklungsgang der unteritalischen
Wissenschaft im Anschlufs an Pythagoras
und Xenophanes (ca. 500 bis nach 400) .... 106
1. Das älteste System des wissenschaftlichen Pythagoreismus 108
2. Die eleatische Theorie in gegensätzlicher Haltung zum
ältesten pythagoreischen System. Parmenides. (Um 500) . 119
3. und 4. Die unteritalische Forschung unter dem Eindruck
der Entdeckung der Planeten (nach 500) 137
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Inhaltsverzeichnis. XX
Seite
3. Das Zweitälteste System des wissenschaftlichen Pythagoreis-
mus (nach 500) 138
4. Alkmaon (nach 500) 144
5. Das Hauptsystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus
(um 480-470) '. 152
Weiterbildungen des kosmischen Systems ; H i k e t a s ,
Ekphantos, Heraklides von Pontos 168 —
Aristarch von Samos, Seleukos von Seleu-
cia 170.
6. Die Verteidigung der eleatischen Theorie, insbesondere
auch gegen das pythagoreische Hauptsystem. Zeno von Elea
(um 470) 173
7. Der letzte Vertreter des Eleatismus Melissos (um 460) . . 180
8. Weiterer Verlauf des wissenschaftlichen Pythagoreismus
(bis gegen 320) 182
Eurytos 183 — Philolaos 183 — Echekrates,
Xenophilos, Aristoxenos 189 — Dikaiarchos
190 — Nochmals Philolaos 191 — Archytas 194.
Dritter Ab^ehnitt. StolT und bewegendes Prinzip getrennt
(primitiTer Materialismus), ca. 400 bis gegen 800 196
1. Empedokles (um 465) 197
Sein Gedicht „Reinigungen'' 211.
2. Anaxagoras 216
3. Leukippos (um 450) 236
4. Die letzten Ausläufer der milesischen Schule (um 430) . . 247
Diogenes von Apollonia 247 — Hippon 250.
5. Demokrit (um 420) 252
6. Die Schule Demokrits in Abdera (ca. 400 bis gegen 300) . 290
Metrodor von Chios 290 -— Anaxarch 292 —
Diotimos, Apollodotus von Kyzikos, Heka-
täus 297 — Nausiphanes 299.
Zweite Periode.
Die Übergrängre zur Philosophie als wissen-
schaftlich begrründeter Güterlehre (ca. 460 bis
nach 300 vor Chr.) 304
Einleitung 304
Erste Stvfe. Die Sophisten und 8okrates nebst den reinen
Sokr«ttkern (ea. 450 bis Mitte des 4. Jahrhunderts). ... 306
A. Die Sophisten 306
I. Die ältere Sophistik 311
1. Protagoras 311
2. Prodikos von Keos 330
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X Inhaltsverzeichnis.
Seite
,8. Hippias von Elis 336
4. Antiphon 840
II. Die Ausartung der Sophistik 345
1. Aristophanes' Wolken, ein Zerrbild des Sophistentreibens
um 423 346
2. Plato im ersten Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts: die Sophistik
als falsche Staatskunst. Gorgias und seine Schule .... 349
Menon 853 - Polos 356 — Kallikles 357 —
Thrasymachos 358.
3. Plato im zweiten Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts: die
Sophistik als Afterbildung im Gegensatze gegen die Philo-
sophie 359
Der Euthydemos 360 — Der Sophistes 367.
4. Zeugnisse des Aristoteles (um 830) 371
B. Sokrates und die reinen Sokratiker . . . 372
1. Sokrates 372
Äufsere Daten 373 — Lehre 384 — Art seines Wirkens
402 — Erfolg 415 — ProzePs und Tod 415.
2. Die reinen Sokratiker 427
Xenophon 428 — Äschines 480 — Euklid von
Megara und Phädon 481.
Zweite Stufe. Die kleineren sokratlsehen 8ehiilen an4 PUto
(S99 bis nach 800) 432
I. Die Kyniker 432
1. Antisthenes 432
2. Diogenes von Sinope (ca. 410—323) 451
3. Krates von Theben, Metrokies und Hipparchia 474
4. Menippos und Menedemos 481
II. Die Kyrenaiker 483
1. Aristipp 484
2. Die kyrenaische H^uptschule 496
Antipater von Kyrene 496 — Der jüngere
Aristipp 496.
8. Die Seitenzweige der kyrenaischen Schule 500
Theodoros der Gottesleugner 500 — Annikereer
503 — Hegesias 504.
III. Die megarische nebst der elisch-eretrischen
Schule 507
1. Euklid von Megara 507
2. Phädon 515
3. Die Megariker » , . . . 517
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Inhaltsverzeiclinis. XI
Seite
Eubalides 517 — Diodoros Kronos 519 —
Stilpon 521.
4. Die elisch-eretrische Schule. Menedemos von Eretria . . 525
Etesibios 528.
IV. Popularphilosophische Erscheinungen im
Aüschlufs an diese Schulen 529
1. Bion von Borysthenes (ca. 330—260) 530
2. Teles von Megara 536
V. Plato 537
1. Plato bis zum Tode des Sokrates (399) 540
2. Plato als Moralforscher (399—395) 543
Der Protagoras 545 — Der kleinere Hippias
549 — Der Laches 549 — Der Charmides 550 —
Der Lysis 551 — Die Resultate hervortretend in Apo-
logie, Kriton, öorgias 551 — Der Menon 565 —
Der Euthyphron 557.
3. Plato als Bufsprediger (394) 559
Apologie 559 — Kriton 560 — Gorgias 561.
4. Hoffiaungsloser Verzicht auf öflFentliches Wirken. Die Er-
kenntnisfrage. Der Theätet (394/3) 563
5. Piatos Reisen (393) 568
6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2) 573
Der ürstaat 575 — Die Beziehungen auf Ägypten
(Timäus, Kritias) 585 — Der Timftus 586.
7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit durch die
Seelenlehre des Timäus. Umarbeitung des ürstaats (392) . 595
8. Vertiefung der Erlösungslehre des Timäus. Der „Phädrus**
(892/1) 609
9. Die Lehrtätigkeit in der Akademie bis zur zweiten sizilischen
Reise (ca. 390—367) 619
Id Auseinandersetzung mit abweichenden Standpunkten. Der
Euthydemos und Sophistes (nach 390) 621
„Staatsmann" und Parmenides 627.
11. Ein Schritt zur Lösung der Frage nach dem Lebensziel.
Das „Gastmahl* (ca. 385) 627
12. Der Höhepunkt des platonischen Denkens. Der „Phftdon**
(um oder nach 380) 632
13. Die zweite Umarbeitung des Staats und die zweite und dritte
sixilische Reise (868—360) 642
14. Die Alterslehre Piatos (360-347) 653
Ideen und Zahlen 654 — Die „Gesetze*^ 655 — Der
Philebos 657.
15. Der SUat der Gesetze 657
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Druckfehler.
S. 169 Z. 19 von oben Gas. praep. er, mufs heifsen Eus. praep. ev.
S. 278 Z. 13 „ „ Geschmackssinn „ „ Gesichtssinn.
S. 306 Überschrift: 470 mufs heifsen 450.
S. 462 Z. 8 von oben Meli, mufs heifsen Mull.
S. 463 Z. 16 » „ „ » n n
S. 467 Z. 10 „ „ 6; „ „ bei.
S. 549 Z. 11 . unten Lachos mufs heifsen Lach es.
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Einleitung.
1. Qrimdwesen der alten Philosophie.
Es ist eine grundfalsche Vorstellung, den gesamten
Verlauf der Philosophie von ihren Anfängen im Altertum
bis zu dem heute erreichten Zustande als eine einheitliche,
in gerader Linie stetig fortschreitende Entwicklung zu be-
trachten. Vollends hinfällig wird diese Betrachtungsweise,
wenn man in ganz äufserlicher Weise die herkömmliche Ein-
teilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und
Neuzeit ohne weiteres auf die Philosophie überträgt. Der
Entwicklungsgang der Philosophie mufs aus ihrem bereits
in der Vorrede festgestellten Wesen und Begrifife selbst, aus
dem ihr als Sondergebiet zukommenden Gegenstande des
Denkens und Forschens abgeleitet werden. Dies war aber
kein anderer als die Güter- und Glückseligkeitslehre, die
Frage des Lebensziels oder höchsten Gutes und die daraus
abgeleitete Theorie der das Lebensglück verwirklichenden
Lebensführung.
Zu dieser Grundfrage nun nimmt die Philosophie in
ihrem Entwicklungsgange eine zweifache, scharf gesonderte
Stellung ein, eine andere in der antiken, eine andere in
der christlichen Philosophie. Denn diese Zweiteilung
ist die wahre Einteilung der Geschichte der Philosophie.
Die alten Religionen mit ihrer Mannigfaltigkeit von
Göttergestalten und der verwirrenden Vielheit von Hilfe-
leistungen und Gnadenerweisungen für allerlei besondere
Interessen und Lagen des Lebens, die man durch Gunst-
bewerbung von den Göttern zu erlangen hoffte, konnten zu
tieferem Nachdenken über das Glückseligkeitsproblem keine
Anregung geben. Das Glückseligkeitsstreben auf ihrer Grund-
DOring. I. 1
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2 Einleitung.
läge blieb auf der Stufe des nicht nach wissenschaftlicher
Prüfung und systematischer Zusammenfassung strebenden
populären Bewufstseins stehen. Tiefer Denkende wurden
schon wegen ihrer vielfachen Abgeschmacktheiten und sitt-
lichen Anstöfsigkeiten früh an der Volksreligion irre. Ins-
besondere konnten diese so Gearteten in ihr keinen Anhalt
für eine befriedigende Lösung des Glückseligkeitsproblems
finden. So entstand die Philosophie als notwendige Er-
gänzung, ja als völliger Ersatz der Religion. Die antike
Philosophie hat in ihren bedeutsamsten und am meisten
charakteristischen Erscheinungen ein direktes und un-
mittelbares, ein primäres Verhältnis zum philosophischen
Grundproblem. Sie ist wesentlich Güterlehre. Es
ist durchaus ungeschichtlich, die alte Philosophie durch die
Brille der christlichen zu betrachten oder gar in die Schablone
der verschwommenen modernen Auffassung der Philosophie
hineinzuzwängen, nach der sie die alles Wissen umfassende
Universalwissenschaft ist. Man kommt so dahin, sie^ nicht
nach ihrem eigenartigen Grundwesen, sondern in modemer
Beleuchtung aufzufassen und lediglich zu fragen , was die
alten Denker über die Möglichkeit des Erkennens, über den
Weltgrund, über die Natur der Seele u. dgl. gelehrt haben.
Das treibende Grundinteresse der alten Philosophie, ihr
charakteristischer Einheitspunkt ist das Glückseligkeits-
problem.
Was diese Bezeichnung besagen will, wird noch besonders
deutlich, wenn man die christliche Philosophie als Gegen-
stück zur Vergleichung heranzieht. Zwar ist auch hier der
letzte Zielpunkt der gleiche: Glück, Wohlsein, Heil, Selig-
keit. In dieser Einheit des letzten Zieles liegt ja ihre Zu-
gehörigkeit zur Philosophie überhaupt, wie deren Wesen
bestimmt worden ist, begründet. Aber die Stellung zu der
Grundfrage ist jetzt eine total veränderte. Von dem Mo-
mente an, wo das Christentum als neue, selbständige Religion
auftritt, erscheint die Grundfrage, die Frage des Seelenheils
und der zu dessen Erlangung dienenden Lebensführung, auf
autoritativem Wege als endgültig gelöst. An Stelle der
Philosophenschule tritt die Kirche. Aber die hier gebotene
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1. Grundwesen der alten Philosophie. 3
Lösung hat zu ihrer Voraussetzung gewisse theoretische
Annahmen über unerkennbare Dinge, über Weltgrund und
Weltleitung, Wesen der Seele, Schaffung des Heils. Zwar
sind auch diese Voraussetzungen für die Möglichkeit der
christlichen Seligkeit dem Glauben autoritativ durch Offen-
barung gegeben, aber in Bezug auf diese Voraussetzungen
und Bedingungen des Heils stellt sich nunmehr die Möglich-
keit und das Bedürfnis der wissenschaftlichen Begründung
ein. Das Verhältnis der christlichen Philosophie zur Frage
des Lebenszieles ist ein indirektes und abgeleitetes,
ein sekundäres. Die christliche Philosophie ist wesent-
lich Wissenschaft von den unerkennbaren, un-
erfahrbaren, jenseitigen Dingen (Metaphysik),
nicht von diesen an sich und überhaupt, sofern sie den rein
theoretischen Erkenntnistrieb, die wissenschaftliche Neugierde
reizen könnten, sondern in dem Mafse und der Abgrenzung,
in dem sie Vorbedingungen und unumgängliche Voraus-
setzungen der christlichen Heilslehre sind. Die christliche
Metaphysik hat einen bestimmten, genau umgrenzten Kreis
von Fragen: Gott, Seele, Freiheit u. d gl. Selbstverständlich
pafst diese Bestimmung nicht ausnahmslos auf jede einzelne
Erscheinung, die im langen Entwicklungsgange der christ-
lichen Philosophie hervortritt. Es ist die zentrale und wesent-
liche Bezeichnung ihrer Eigenart, der sich alle für sie be-
deutsamen und charakteristischen Erscheinungen unterordnen,
zu der aber auch das Abweichende, zum Grundcharakter in
Gegensatz Tretende als zu dem gemeinsamen Zielpunkte in
Beziehung steht. So wenig wie in der alten Philosophie
jede einzelne Erscheinung ein direkter Ausdruck des Grund-
wesens der alten Philosophie ist, so wenig geht auch in der
christlichen Philosophie jede vorkommende Erscheinung
direkt in dem gemeinsamen Grundstreben auf. Es gibt Ab-
sprünge und Gegensätze, die teilweise einer neuen, über die
christliche Philosophie hinausstrebenden Entwicklungsstufe
vorgreifen, darum aber den einheitlichen und gemeinsamen
Grundcharakter: metaphysischer Unterbau der
Heilslehre, nicht aufheben.
Man könnte, ausgehend von einer tieferen Auffassung
1*
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4 Einleitung.
der weltgeschichtlichen Entwicklung überhaupt, zu einer
noch viel radikaleren Auffassung des Gegensatzes von an-
tiker und christlicher Philosophie gelangen. Wenn die alte
Geschichte überhaupt nicht das blofse Anfangsstück einer
geradlinig fortlaufenden Gesamtentwicklung ist, sondern ein
selbständiger, zum vollen Abschlufs gelangter Entwicklungs-
gang für sich, wenn ferner die Geschichte der christlich-
germanischen Welt derselbe Entwicklungsgang ist, nur in
gröfserem Mafsstabe,auf einem ausgedehnteren Schauplatze und
mit langsamerem Fortschreiten, unter teilweise verschiedenen
Entwicklungsbedingungen verlaufend und heute noch in einem
verhältnismäfsig frühen Stadium befindlich: so ergibt sich
auch für die bisherige christliche Philosophie eine völlig ver-
änderte Anschauung. Auch sie erscheint dann nur als ein
Anfangs- und Vorbereitungsstadium, in gewissem Mafse
parallel den frühesten Stadien der antiken Philosophie,
wenngleich ebenfalls unter andersartigen Bedingungen ver-
laufend. Die bedeutsameren Stufen, entsprechend den Höhe-
punkten der antiken Philosophie, hätten wir dann noch
vor uns.
Doch sei dem, wie ihm wolle, — jedenfalls liegt die alte
Philosophie als abgeschlossenes Ganzes vor uns, und es wird
die Aufgabe der gegenwärtigen Darstellung sein, die vor-
stehend angedeutete Auffassung von ihrer Grundeigentüm-
lichkeit durch die Darstellung selbst zu erweisen und zur
Anschauung zu bringen.
2, Die Perioden der alten Philosophie.
Ebenso wie die Grundeigentümlichkeiten der alten
Philosophie müssen auch die Hauptabschnitte ihres Verlaufs
aus der Wesensbestimmung der Philosophie abgeleitet werden.
Zeigte sich in Bezug auf ersteren Punkt, dafs in der alten
Philosophie eine direkte und unmittelbare Inangriffnahme
des Grundproblems, ein primäres Verhältnis zu demselben
stattfindet, so mufs die Einteilung sich ergeben aus den
Stufen und Phasen, die das Verhältnis zu ihm durchläuft.
Daraus ergeben sich denn der Natur der Sache nach
zunächst drei Perioden: eine Periode des Werdens und
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2. Die Perioden der alten Philosophie. 5
Entstehens der eigentümlichen Grundrichtung der alten Philo-
sophie, eine Periode ihrer Vollendung und Herrschaft und
eine Periode ihrer Abnahme, Entkräftung, Verneinung und
Auflösung. Und in der Tat haben wir diese drei Perioden
der alten Philosophie zu unterscheiden.
Mit dieser Dreiteilung aber gelingt es noch nicht, den
ganzen Bestand dessen zu umfassen, was herkömmlich, aber
auch mit gutem Rechte zur Geschichte der alten Philosophie
gerechnet wird. Diese beginnt herkömmlich mit Thaies
und beschäftigt sich in ihrem ersten Teile mit einer Reihe
von Denkern, bei denen sich teils noch gar keine, teils nur
sehr geringe Spuren von Interesse für die spezielle Grund-
frage der alten Philosophie zeigen. Es sind Denker, deren
Interesse fast ganz theoretisch der Frage der Welt-
erklärung zugewandt ist, die daher meist eher als die An-
ftnger der Naturwissenschaft denn als die der Philosophie
betrachtet werden müssen.
Dennoch kann auch die Geschichte der Philosophie diese
ältesten Denker nicht umgehen und ausschliefsen. Nicht
etwa deshalb, weil es einmal so hergebracht ist, sondern
ans einem dreifachen, triftigen und zwingenden Grunde.
Erstens ist der Entwicklungsgang auch der nach-
folgenden Philosophie so durchaus durch diese Erscheinungen
beeinflufst, dafs er ohne Kenntnis derselben völlig unver-
ständlich bleiben würde. In dieser schöpferischen Periode
des wissenschaftlichen Denkens überhaupt liegen die Wurzeln
and Voraussetzungen auch der Philosophie im eigentlichen
und strengeren Sinne.
Zweitens finden sich doch auch wenigstens bei einem
Teile dieser ältesten Denker schon Ansätze, vorahnende
Versuche zu Urteilen über den Wert des Lebens, durch die
sie nicht nur Vorläufer der eigentlichen Philosophie geworden
sind, sondern direkt Anregung zur Entstehung derselben ge-
geben haben.
Drittens endlich haben diese Anfänger der Wissen-
schaft auch an sich ein überaus hohes Interesse als Menschen
und als Denker, als schöpferische Geister, auf deren Schultern
die ganze weitere Entwicklung der Wissenschaft steht, als
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(J Einleitung.
unerschrockene und mit grofser Schärfe des Denkens auf
die letzten Ziele aller Erkenntnis losgehende Forscher, deren
Ringen mit den höchsten Problemen noch für die heutige
Naturwissenschaft etwas Vorbildliches, ja geradezu etwas
Beschämendes hat. Der Leser hat gewissermafsen ein Recht,
mit ihnen bekanntgemacht zu werden. An sich könnte ja
freilich der Geschichtschreiber der Philosophie diese Pflicht
dem Geschichtschreiber der Wissenschaft oder der Kultur
überhaupt zuschieben. Da aber sowohl das .Herkommen als
auch, wie bemerkt, die doppelte enge Verknüpfung mit der
Entwicklung der Philosophie sie mit der Philosophiegeschichte
in Verbindung setzt, so ist es durchaus berechtigt, sie dieser
als Anfangsstadium anzufügen.
Wir erhalten auf diese Weise folgende vier Perioden
der alten Philosophie:
I. Allgemeinwissenschaftliche Vorbereitungs-
zeit (ca. 600 bis gegen 300 vor Chr.).
II. Übergänge zur eigentlichen Philosophie
als wissenschaftlich begründeter Güter-
lehre (ca. 450 bis nach 300 vor Chr.).
IIL Herrschaft der wissenschaftlich begrün-
deten Güterlehre (ca. 300 vor Chr. bis nach
200 nach Chr.).
IV. Auflösung der Philosophie als Güterlehre
(ca. 100 vor Chr. bis 550 nach Chr.).
Dafs hier der Anfang der folgenden Periode der Zeit
nach durchweg in die vorhergehende zurückgreift, darf nicht
befremden. In der Geschichte geistiger Bewegungen gehen
die Anfänge des Neuen durchweg heben den Ausläufern des
Alten her, und die Zusammengehörigkeit beruht nicht auf
der äufseren Gleichzeitigkeit, sondern auf der inneren Gleich-
artigkeit.
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Erste Periode.
Allgemeinwissenschaftliche Vorbereitungszeit
(ca. 600 bis nach 300 vor Chr.).
Blnteilimgr.
Dieser Zeitraum ist der fruchtbare Muttersphofs der
europäischen Naturwissenschaft im weitesten Sinne des Wortes.
In ihm liegen die Keime der Gröfsenlehre , der Sternkunde
und der Erkenntnis des Weltbaues, der Erdkunde, der Er-
klärung der Erscheinungen in der Atmosphäre, der Physik
und der Forschung nach der Entstehung und Beschaffenheit
der organischen Wesen. Mit der gröfsten Kühnheit aber
wird gleich von vornherein vornehmlich die letzte und ent-
scheidende Grundfrage, die Frage nach dem Grundwesen
alles Seienden überhaupt, aufgeworfen und versucht, von
hier aus das Zustandekommen, die Entstehung der Welt
abzuleiten. In allen diesen Beziehungen wird in diesem
kurzen Zeiträume von eigentlich nur zwei Jahrhunderten —
die blofsen Nachzügler nicht gerechnet — eine erstaunliche
Fülle von Denkarbeit geleistet; ein rapider Wechsel und ein
überraschendes Fortschreiten der Theorien zu höherer Voll-
kommenheit findet statt. Ja, auch selbst an Versuchen, dem
eigentlichen Problem der alten Philosophie, der Frage nach
den wahren Ursachen der Glückseligkeit und der ent-
sprechenden Gestaltung der Lebensführung, von der gewonnenen
Weltanschauung aus vorahnend nahezukommen, fehlt es
nicht.
Was aber bei diesen einander ablösenden Theorien als
das für die einzelnen am meisten Bezeichnende vornehmlich
in die Augen fällt, das ist die Lehre von den letzten
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8 Erste Periode. Allgemeinwissenscliaftliclie Yorbereitungszeit.
Gründen alles Seienden. Diese Lehre wird sich daher
am besten eignen, um darauf die Einteilung der Periode zu
gründen. Nach diesem Gesichtspunkte aber lassen sich deut-
lich drei aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen unter-
scheiden:
1. Das Grundwesen der Dinge wird als Stoff mit
seelischen Eigenschaften, als lebendiger Stoff
gefafst, dem infolge seiner Lebendigkeit nicht nur Eigen-
bewegung, sondern auch die unbegrenzte Fähigkeit, sich in
alle möglichen anderen Stoffe umzuwandeln, zugeschrieben
wird. Wir dürfen uns nicht scheuen, für diese für den
ganzen weiteren Verlauf der alten Philosophie bedeutsame
Betrachtungsweise eine kurze einheitliche Bezeichnung ein-
zuführen. Es ist die Theorie des Hylopsychismus, d.h.
diejenige Theorie, nach der der Hyle, d. h. der Materie,
psychische d. h. seelische Eigenschaften und Kräfte anhaf-
tend gedacht werden.
2. Es wird mit dieser rohen Vorstellung vom lebendigen
Stoff gebrochen und zu einer abstrakten Vorstellung vom
Grundstoffe übergegangen, bei der es aber an einem wirk-
lichen Prinzip der Bewegung und Veränderung fehlt, und für
die demnach eine wirkliche Welterklärung zur Unmöglich-
keit wird.
3. Dieser Mangel wird ausgeglichen und die Möglich-
keit, die Welt aus den angenommenen Urprinzipien abzu-
leiten, wiederhergestellt, indem zwar die Urstoffe als un-
lebendig und der Eigenbewegung und Umwandlungsfähigkeit
entbehrend gedacht, dafür aber vom Stoffe gesonderte Be-
wegungskräfte angenommen werden. Diese Kräfte aber be-
wirken jetzt nicht eigentliche Stoffveränderungen, sondern
die Mannigfaltigkeit des Seienden wird jetzt lediglich durch
mechanische Stoffmischungen in verschiedenen Verhältnissen
erklärt. Es entsteht ein primitiver Materialismus, —
Materialismus, sofern er das gesamte Seiende aus Stoff und
vom Stoffe unterschiedener Kraft erklärt, primitiv, sofern
die Leistung der Kraft dabei auf die rein mechanische
Mengung der Stoffe eingeschränkt wird.
So erhalten wir drei Abschnitte:
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Erster Abschnitt. Lebendiger Stoff (Hylopsycbismus). 9
1. Lebendiger Stoff (Hylopsychismus). Schule
von Milet (ca. 600 bis gegen 540 vor Chr.).
2. Bruch mit dem Hylopsychismus. Abstrakte
Stofflehre ohne ein wirkendes Prinzip.
Unmöglichkeit der Welterklärung (ca. 540
bis nach 400 vor Chr.).
3. Stoff und bewegendes Prinzip getrennt
(primitiver Materialismus; ca. 460 bis nach
300 vor Chr.).
Erster Abschnitt
Lebendiger Stoff (Hylopsychismus). Die Schule von Milet
(ca. 600 bis gegen 540 v. Chr.)-
Hier folgen in kurzem Abstände aufeinander drei hervor-
ragende Denker, sämtlich der kleinasiatisch-jonischen Pflanz-
stadt Milet angehörig: Thaies, Anaximander und
Anaximenes. Man kann diese Schule auch, im Gegen-
satze gegen den im folgenden^ Abschnitte eintretenden Über-
gang der wissenschaftlichen Bewegung nach Unteritalien,
die kleinasiatische nennen. Im Altertum nannte man
diese Denker die Physiologen, wobei jedoch nicht an die
moderne Bedeutung des Wortes „Physiologie" als Lehre von
den organischen Körpern gedacht werden darf. Physiologie
im buchstäblichen Sinne bedeutet Naturforschung oder Natur-
denken ohne jede Einschränkung.
1. Thaies.
Thaies von Milet, der nach der wahrscheinlichsten
Annahme ungefähr von 625 — 545 vor Chr. lebte, steht her-
kömmlicherweise am Anfang der Geschichte der Philo-
sophie. Aristoteles, da, wo er von den Anfängen der Ab-
leitung des Seienden aus den ersten Ursachen spricht
(Metaph. I. 3), erklärt ihn für den „Heerführer dieser Art
von Forschung", und da Aristoteles hier für Forschung das
auch sonst bei ihm noch recht vieldeutige Wort „Philosophie"
gebraucht, so hat er Thaies mit dieser Bemerkung die Ehre
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10 Erste Periode. Erster Abschnitt Hylopsychismus.
verschafft, an der Spitze der Philosophiegeschichte zu mar-
schieren. Das hätte ja nun wohl seine volle Berechtigung,
wenn Philosophie nach noch immer beliebter Auffassung „die
Wissenschaft von allen Dingen und noch einigen anderen**
wäre. Fafst man aber das Wesen der Philosophie enger und
schärfer als diejenige Wissenschaft, die es mit den Problemen
des menschlichen Lebens und der Glückseligkeit zu tun hat,
so kann man ihm nur den Rang eines entfernten Vorläufers
der Philosophie einräumen. Dagegen wird man das Eigen-
tümliche dieser genialen Persönlichkeit genau treffen und
ihr Wesen urfd Wirken in seiner Totalität zu würdigen im
Stande sein, wenn man ihn als den Stammvater der
europäischen W^issenschaft bezeichnet. In diesem
Sinne urteilte auch Theophrast, der gelehrte Nachfolger
des Aristoteles, in seiner Geschichte der Naturphilosophie
(D. 475), dafs Thaies als der Anfänger der Naturforschung
gelte, weil die Bedeutung seiner Leistungen seine Vorgänger
verdunkelt habe.
Das wissenschaftliche Denken kann seiner Eigenart nach
in doppelter Weise bestimmt werden, nach der Seite seines
Verfahrens und nach der seiner Ergebnisse. In
ersterem Sinne steht es im Gegensatze vornehmlich gegen
das Phantasiedenken, das für seine Sätze nur die feierliche
Emphase einer starken persönlichen Überzeugung in die
Wagschale wirft. Die Wissenschaft appelliert au den
nachprüfenden Verstand, indem sie „klare und helle Gründe**
ins Feld führt; sie will nicht imponieren, sondern überzeugen.
In diesem Sinne ist Wissenschaft auch da, wo haltbare Er-
gebnisse noch nicht gewonnen werden. Es ist die neue
Geisteshaltung, in der das epochemachende Neue seinen
Ausdruck findet. Auch wenn das Denken inhaltlich einen
Irrweg einschlägt oder seine Sätze unzulänglich begründet,
bleibt ihm immer das Verdienst der Problemstellung und des
Versuchs. Die unzulängliche Begründung kann vertieft und
erweitert werden, der Irrweg feuert zu neuen Versuchen und
Anläufen an, bis das Ziel erreicht ist. Es kommt darauf
an, dafs der erste Schritt getan werde.
Eine besondere Schicksalsgunst ist es, wenn dem so
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1. Thaies. H
gearteten Denken auch schon haltbare Resultate in den
Schofs fallen, Erkenntnisse, auf denen als auf einer un-
erschütterlichen Grundlage der ganze weitere Bau fortgeführt
werden kann. In diesem glücklichen Falle kann man von
Wissenschaft im engeren Sinne reden.
Ob es Wissenschaft in diesem doppelten Sinne in den
von imserer Kulturentwicklung abseits liegenden Kultur-
gebieten, in den untergegangenen Reichen der Neuen Welt
oder im fernen Osten Asiens, gegeben hat oder gibt, kommt
für unser gegenwärtiges Thema nicht in Betracht. Es handelt
sich für uns um die europäische Wissenschaft, die ihre
Vorstufen bei den alten Kulturvölkern Babyloniens und
Ägyptens hat, deren eigentlicher Stammbaum aber in lücken-
losem Rückgange auf die Griechen der kleinasiatischen West-
küste zurückführt.
Dieser sachlichen Bestimmung der Wissenschaft ent-
spricht aber ferner auch eine persönliche. Der Mann
der Wissenschaft ist seiner geistigen Eigenart nach der Mann
des weltfremden Erkenntnisdurstes. Der Trieb
des Erkennens ist seine einzige Leidenschaft, der er frönt
ohne Rücksicht auf platte Nützlichkeit, auf greifbare Ver-
wendung des Erkannten im Lebenskampfe, gegen deren Be-
friedigung er alles andere für nichts achtet. Er ist der
Typus einer besonderen Art des höheren menschheitlichen
Berufes, des Forscherberufes.
Dieser menschheitlichen Berufsstellung entspricht sodann
femer auch die geistige Veranlagung des Mannes der
Wissenschaft. Er ist der Mann von genialer geistiger
Regsamkeit, der, unbeirrt vom Herkömmlichen ererbter
Vorstellungsweisen, alles, was ihm unter die Augen kommt,
mit innerer Unabhängigkeit vorurteilslos ansieht und mit
originaler Auffassung beurteilt. Er verwundert sich, wo
niemand vor ihm ein Problem gesehen hat, und sucht und
findet auf neuen Wegen neue Auskünfte und Lösungen.
Wir haben also vier Merkmale, zwei sachliche
und zwei persönliche. Nur das erstmalige Zusammen-
treffen aller dieser Merkmale in Verbindung mit dem zeugen-
den Fortwirken seiner schöpferischen Anregungen macht den
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12 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
Stammvater der Wissenschaft. Dafs dies alles bei
Thaies zusammentrifft, soll jetzt nachgewiesen werden.
Die Griechen hatten, wie alle Berichte zeigen, eine sehr
hohe Meinung von Thaies; er ist von einem eigenartigen
Nimbus umflossen. Dafs sie ein vollkommen deutliches Be-
wufstsein von seiner ganz eigenartigen Stellung hatten, er-
gibt sich nicht, wenngleich Diogenes Laertius, der
Geschichtschreiber der griechischen Philosophie, berichtet,
er habe keinen Lehrer gehabt, aufser dafs er den Verkehr
mit den ägyptischen Priestern genossen habe (I. 22). Dieser
Mangel der antiken Auffassung erklärt sich einesteils aus
dem unzulänglichen geschichtlichen Verständnis ihres eigenen
Kulturlebens, anderenteils aus dem Umstände, dafs Thaies
aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht oder doch nur in
sehr eingeschränktem Mafse (Di eis, Poet, philos. fragm.)
auf den Gedanken verfallen ist, die Resultate seiner For-
schungen schriftlich zu fixieren. Letzterer Umstand ist auch
die Ursache, dafs wir teilweise nur mit legendarisch aus-
geschmückten oder irreleitenden Nachrichten über seine Per-
sönlichkeit und seine Leistungen zu tun haben. Dies ist
aber kein absolutes Hindernis für unsere Darlegung. Manches
ist vielleicht nur gut erfunden, d. h. so, dafs die Wahrheit
sich in ihm spiegelt; das Wesentliche aber läfst sich mit
genügender Sicherheit feststellen.
Beginnen wir mit den persönlichen Merkmalen.
Thaies zeigt den Typus des weltvergessenden For-
schers, absorbiert von dem einzigen Interesse der Er-
kenntnis.
Plato entwirft im 24. Kapitel des Theätet ein Bild des
idealen Philosophen. Dieser befafst sich nicht mit den öffent-
lichen Angelegenheiten, nicht mit Lustbarkeiten und Stadt-
klatsch. Er weilt nur mit seinem Körper in der Stadt;
seine Seele schweift umher und mifst, was auf der Erde und
in ihren Tiefen ist, und sucht die Gesetze für die Sterne des
Himmels. Ein Beispiel hierfür bietet ihm ein Zug aus dem
Leben des Thaies. Eines Abends stürzt Thaies, beim Be-
obachten der Sterne nur nach oben schauend, in eine offene
Zisterne. Eine thrazische Sklavin verspottet ihn und sagt,
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1. Thaies. 13
in seinem Eifer, den Himmel kennen zu lernen, sehe er nicht,
was ihm vor den Ftifsen liege. Es ist nicht ohne Interesse,
dafs sich diese Anekdote in ihrem Fortleben, obschon frei
weitergebildet, gerade an die Astronomen geheftet zu haben
scheint. So erzählt Kant in den „Träumen eines Geister-
sehers" von dem dänischen Astronomen Tycho de Brahe,
er habe einst bei einer nächtlichen Fahrt dem Kutscher vor-
geschlagen, den Weg querfeldein zu nehmen und sich nach
den Sternen zu richten. Der Kutscher aber habe erwidert :
„Herr, auf die Sterne mögt Ihr Euch verstehen, aber auf
Erden seid Ihr ein Narr." In diesem Sinne nennt auch
Aristoteles den Thaies weise, aber nicht klug, weil er, gleich-
gültig gegen den eigenen Vorteil, nach erhabenem, aber ftlr
das eigene Fortkommen unnützem Wissen strebe (1141, 6, 3).
Zu diesem Bilde pafst auch eine andere Anekdote, die
Aristoteles (Polit. I. 11) von Thaies berichtet. Man habe
ihm einst wegen seiner Armut die Nutzlosigkeit der Philo-
sophie (dies Wort immer, wie auch in der Platostelle, in
dem eingangs erwähnten weiteren Sinne der rein theoreti-
schen Forschung) vorgeworfen. Da habe er, aus wissenschaft-
lichen Anzeichen ein gutes Olivenjahr voraussehend, noch im
Winter alle Ölpressen von Milet und Umgegend zu billigem
Preise gepachtet. Seine Berechnung sei zugetroffen, und nun
habe er durch hohe Wiedervermietung der Pressen grofse
Summen zusammengebracht. Er habe so den Beweis ge-
liefert, dafs es den Philosophen ein leichtes sei, reich zu
werden, wenn sie wollten, dafs es aber das nicht sei, wonach
sie strebten.
So wird auch berichtet, er habe, als ihm die Lösung
eines geometrischen Problems gelungen, in der Freude seines
Herzens den Göttern einen Stier geopfert (Diog. L. I. 24).
Es ist das dieselbe Geschichte, die bei Pythagoras wieder-
kehrt, nur dafs dieser nach Auffindung des pythagoreischen
Lehrsatzes gleich eine ganze Hekatombe schlachtet. An
diese Geschichte knüpft H. Heine die geistvolle Bemerkung,
seitdem gerieten jedesmal alle Ochsen in Angst, wenn eine
neue Wahrheit entdeckt werde.
Auch die Züge, in denen sein Privatleben sich in der
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1 4 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychisnms.
Legende widerspiegelt, passen zu dieser Eigenart. Von vor-
nehmstem Geschlecht, führte er ein einsames und den öffent-
lichen Angelegenheiten fernbleibendes Leben. Über den bei
dieser Sachlage zu erwartenden Charakter als Hagestolz
freilich gehen die Nachrichten auseinander. Die Frage der
Ratsamkeit der Verehelichung für den „Weisen" war bei
den späteren griechischen Philosophenschulen kontrovers, und
so mögen beide Parteien um die Wette die Autorität des
Thaies für sich in Anspruch genommen haben. Jedenfalls
wird von einer Seite berichtet, er habe in jüngeren Jahren
seiner Mutter, die in ihn drang, sich zu verheiraten, ge-
antwortet, es sei noch nicht an der Zeit, und, als sie in
späteren Jahren ihr Ansuchen erneuerte, es sei nicht mehr
an der Zeit (D. L. L 25 f.).
Auch seine «ägyptische Forschungsreise gehört in dies
Kapitel. Sie wird allerdings trotz vielfacher Bezeugung als
nicht streng erwiesen angesehen, hat aber die gröfste äufsere
und innere Wahrscheinlichkeit für sich. Zwar wurde der
den Griechen offene Freihafen Naukrätis, in dem auch
Milet ein Apolloheiligtum besafs (HerodotIL 181), erst unter
Amäsis (570—526) um 550, also gegen Ende von Thaies'
Lebenszeit, gegründet, aber schon Psammetich (663 — 609)
hatte durch jonische Söldner die Herrschaft gewonnen und
den Griechen und Phöniziern Unterägypten geöffnet; Necho
(609—594) versuchte die Herstellung des Suezkanals und
liefs durch Phönizier Afrika umschiffen, und A pries (588
bis 570) hatte ein griechisches Söldnerheer, das sich in
Ägypten ansässig machte. Wie hätte wohl ein Mann vom
Wissensdurste des Thaies unter solchen Umständen dem
Drange nach dem alten Kultur- und Wunderlande wider-
stehen sollen, das sozusagen vor den Toren von Milet lag?
Ebenso aber wie für seinen Wissensdurst zeugen für
seine intellektuelle Genialität zahlreiche Züge. Jedes
Vorkommnis bietet ihm ein Problem, das er mit geistvoller
Originalität in Angriff nimmt.
Zunächst galt er für den hervorragendsten unter den
sieben Weisen. Ein Zeugnis dafür bietet die Geschichte
von dem in dieser Eigenschaft ihm gespendeten kostbaren
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1. Thaies. 15
Ehreogeschenk , die mit rührender, freilich bei wichtigeren
Nachrichten erwünschterer Gründlichkeit Diogenes Laer-
tius (I. 27 — 33) in allen ihr vom fabulierenden Griechen-
geiste abgewonnenen Variationen voilrägt. Bald ist es ein
Dreifufs, bald eine Schale, bald ein goldener Pokal, bald
einfach durch ein Fischernetz emporgefördert, bald mit ruhm-
reicher Vergangenheit, von Hephästos selbst als Hochzeits-
geschenk für Pelops geschmiedet, von Paris zugleich mit
Helena geraubt, von Helena ins Meer versenkt und bei seiner
Wiederaufßndung ähnlich jener sagenberühmten Frau selbst
Ursache eines langwierigen Krieges zwischen Milet und einer
■ anderen Griechenstadt, bis das Orakel die Übergabe an den
Weisesten anordnet; bald wieder ein durch Schiffbruch ver-
sunkenes Geschenk des korinthischen an den milesischen
Tyrannen, bald die Hinterlassenschaft eines reichen Griechen,
bald eine Spende des Krösus, in beiden letzteren Fällen dem
Weisesten bestimmt. Fast in allen diesen Versionen empfängt
Thaies als der Weiseste zuerst das Geschenk, sendet es aber
bescheiden an einen anderen der Sieben weiter und weiht es,
als es nach dem Rundgange bei allen Sieben zu ihm zurück-
kehrt, dem Apollo als dem noch Weiseren.
Von den ihm zugeschriebenen Weisheitssprüchen mögen
wenigstens einige Proben angeführt werden, wenngleich sie
nur als Zeugnis für die ihm beigelegte geistige Bedeutung
dienen können, „Das Älteste von allem ist die Gottheit: sie
ist ungeworden; das Schönste die Welt: sie ist das Werk
der Gottheit; das Gröfste der Raum: er umfafst alles; das
Schnellste der Geist: er durcheilt alles; das Stärkste die
Notwendigkeit : sie überwindet alles ; das Weiseste die Zeit :
sie findet alles aus.** — „Beschwerlich ist es, sich selbst zu
erkennen, angenehm, andere zurechtzuweisen.** — „Am
besten und gerechtesten leben wir, wenn wir, was wir an
anderen tadeln, selbst nicht tun.** — „Was du deinen Eltern
Gutes erwiesen hast, das erwarte wieder von deinen Kindern.**
Interessant ist auch der Ausspruch: für drei Dinge sei er
dem Schicksal dankbar: erstlich dafs er als Mensch und
Dicht als Tier, zweitens dafs er als Mann und nicht als Weib,
und drittens dafs er als Grieche und nicht als Barbar
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16 Erste Periode. Erster Abschnitt Hylopsycliismus.
geboren sei. Auch die Glückseligkeitsfrage wird in diesen
Aussprüchen berührt, wenn auch die ihm beigelegte Lösung
nicht unter so eindrucksvollen Umständen erfolgt wie bei
der berühmten Auskunft Solons an Krösus (Herodot I. 30 flf.).
Thaies setzt die Glückseligkeit in drei Stücke: gesunden
Leib, ausreichende Glücksgtiter und gebildete Seele (D. L.
L 35 ff.). An anderer Stelle (Stob. Flor. L 172) wird
ihm aufser zahlreichen anderen Sprüchen auch das Wort
beigelegt: „Verbürge dich, — neben dir steht die Betörung."
Ganz besonders aber trägt den Stempel geistvoller
Originalität die Art und Weise, wie ihm für Probleme der
allerverschiedensten Art eine überraschende Lösung beigelegt
wird. Die ägyptischen Priester zerbrechen sich den Kopf
über ein Verfahren, die Höhe der Pyramiden zu messen.
Thaies läfst sie am eigenen Körper beobachten, zu welcher
Tageszeit der Schatten mit dem Körper gleich lang ist, und
mifst dann zur gleichen Stunde den Schatten der Pyramiden
(D. L. I. 27; Plin. H. N. 36, 82; Plut. Conv. sept. sap. 3).
Worin haben die periodischen Nilüberschwemmungen ihre
Ursache ? Auch das wufsten die ägyptischen Priester nicht.
Die dem Thaies zugeschriebene Auskunft, die Passatwinde
stauten das Wasser au/ (D. 384 ff.; Herod. IL 20), ist
wenigstens eine geistvolle Hypothese. König Krösus zieht
zu Felde gegen Cyrus. Er kann mit seinem Heere nicht
über den reifsenden Halys, da es dort keine Brücken gibt.
Thaies läfst durch einen Kanal den Strom hinter dem Rücken
des Heeres herleiten, und so befindet sich dasselbe, ohne
einen Fufs zu rühren, auf dem jenseitigen Ufer (Herodot
L 75). Auch die Geschichte mit den Ölpressen gehört hierher.
Dafs ein solcher Mann, auch ohne Berufspolitiker zu
sein oder auch nur sein zu wollen, auch in öffentlichen An-
gelegenheiten einen scharfen Blick bekundete, ist nicht zu
verwundern. So warnt er die Milesier mit Rücksicht auf
die aufsteigende Macht des Cyrus vor einem Bündnis mit
Krösus, dessen naehheriges Unterliegen seine Auffassung
bestätigte (D. L. I. 25). So erteilt er den jonischen Städten
Kleinasiens, als sie machtlos der persischen Übermacht
gegenüberstehen, den Rat, sich zu einem Bundesstaate
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1. Thaies. 17
zusammenzuschliefsen (Herod. I. 170). Mögen diese Ge-
schichtchen auch teilweise ersonnen sein, sie zeigen doch,
wessen man sich von Thaies versah.
Die Gebiete eigentlich wissenschaftlicher For-
schung nun, in denen dieser hervorragende Geist als Bahn-
brecher auftritt, sind die Geometrie, die Astronomie
und Kosmologie und das Problem des Grund wesens
alles Seienden.
Die Geometrie. Kant sagt in der Vorrede zur
zweiten Auflage der Vernunftkritik, die Mathematik sei von
den frühesten Zeiten her in dem bewundernswerten Volke
der Griechen den sicheren Weg der Wissenschaft gegangen,
d. h. sie habe eine Bahn eingeschlagen, die ihr den stetigen
Fortgang als Wissenschaft ermöglichte. Das habe freilich
nur durch eine Revolution, durch den glücklichen Einfall
eines einzigen Mannes zu stände kommen können. Möge
dieser nun Thaies oder wie sonst geheifsen haben,
es müsse ihm ein Licht aufgegangen sein, dafs nicht die zu-
fällig vorliegende Einzelfigur, sondern das begrifflich durch
sie Gedachte das eigentlich in Betracht Kommende sei. In
der Tat ist ja der gezeichnete Punkt nicht der wirkliche
geometrische Punkt, sondern nur das Zeichen desselben, die
gezeichnete Linie nicht die wirkliche geometrische Linie,
sondern nur das Zeichen derselben. Der geometrische Punkt
ist unausgedehnt, dimensionslos, die geometrische Linie hat
nur eine Dimension, die Länge u. s. w.
Die Nachricht, dafs Thaies gerade die Elemente der
Geometrie aus Ägypten zu den Griechen gebracht und da-
durch zu der reichen Entwicklung dieser Wissenschaft bei
diesem Volke die Anregung geboten habe, geht durch den
Aristotelesschüler £ u d em u s anscheinend bis auf jene reiche
und universelle Ansammlung wissenschaftlicher Materialien
zurück, die durch die gemeinsame Arbeit des Aristoteles
und seiner Schüler für den wissenschaftlichen Gebrauch der
Schule aufgespeichert wurde und von deren Wert wir unlängst
durch die Auffindung der „Staatsverfassung der Athener"
einen Begriff bekommen haben. Auf Eudemus geht nämlich
ausdrücklich die Nachricht zurück, dafs Thaies den Satz
D«ring. I. 2
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18 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
von der Gleichheit der Scheitelwinkel, sowie einen der Kon-
gruenzsätze gekannt habe. Mit gröfster Wahrscheinlichkeit
geht femer auf Eudemus zurück seine Kenntnis des Satzes
von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen
Dreieck. Dafs er die Einschreibung eines rechtwinkligen
Dreiecks in den Kreis gefunden — eben die Aufgabe, an die
sich die Geschichte von dem Stieropfer anknüpft! — , beruht
auf dem Zeugnis der Mathematikerin Pamphile zur Zeit
Neros.
Dafs die Ägypter durch die ständigen Nilüberschwem-
mungen schon früh auf eine praktische Landvermessung
geführt wurden, bezeugt Herodot (II. 109), und wenn Plato
dem mythischen Erfinder der Schrift in Ägypten, T h e u t h ,
auch die Urheberschaft der Arithmetik, Geometrie und Astro-
nomie beilegt (Phädr. 274), so wird es sich auch dabei zu-
nächst um den praktischen Betrieb handeln. Dafs aber
bei den Ägyptern nicht nur eine praktische Landvermessung,
sondern schon eine rein theoretische Geometrie in Betrieb
gewesen, scheint schon Aristoteles anzunehmen, wenn er aus-
führt, die Wissenschaften, die weder dem Nutzen noch dem
Genüsse dienten, seien erst da gefunden worden, wo man
Mufse hatte, und als Beispiel dafür die Ausbildung der
Mathematik durch die ägyptischen Priester anführt (Metaph.
I. 1). Mag es jedoch mit diesen rein theoretischen Leistungen
der Ägypter in der Geometrie sich verhalten, wie es wolle,
jedenfalls darf Thaies als der Einführer der reinen Geometrie
in die europäische Wissenschaft angesehen werden. Und
zwar ist er auf diesem Gebiete der Stammvater der Wissen-
schaft nicht nur im Sinne der Problemstellung und des Ver-
suchs, sondern auch in dem des grundlegenden und bleibenden
Resultats, von dem aus die Geometrie „den sicheren Weg
der Wissenschaft gehen" konnte.
Auch in der Astronomie und Kosmologie erscheint
Thaies in der Überlieferung als der grofse Anfänger. Hier-
auf deutet schon die Geschichte von der Zisterne hin, und
wenn an der Geschichte von der von ihm selbst verfafsten
Inschrift auf einem ihm gewidmeten Standbilde etwas wäre,
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1. Thaies. 19
80 müfste er selbst gerade seine astronomischen Leistungen
vor allem hochgehalten haben. Die Inschrift lautet:
Diesen Thaies preist Miletos' jonischer Boden
Als den Ersten im Werk der stemeskundigen Weisheit. (D. L. I. 34.)
Diese ausschliefsliche Betonung gerade der astronomischen
Leistungen erklärt sich dadurch, dafs diese gerade der all-
gemeinen Schätzung am zugänglichsten waren, weil sie eines-
teils der Schiffahrt, anderenteils einer übereinstimmenden
Regelung der Zeitmessung zu gute kamen. Jedenfalls preist
ihn ein erhaltener Vers des sonst so schmähsüchtigen und
alle Philosophen herunterreifsenden Skeptikers Timon
von Phlius aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert
nicht nur als den „Weisen unter den sieben Weisen", sondern
auch insbesondere als den Sternkundigen.
Unter seinen astronomischen Leistungen nun steht als
besonders sensationell obenan die berühmte Voraussagung
einer Sonnenfinsternis. Nach Herodot (I, 74) wurde es
während einer Schlacht zwischen den Medern und Lydem
plötzlich mitten am Tage Nacht. Die Schlacht wurde ab-
gebrochen, und das aufserordentliche Ereignis trug mit zu
dem bald darauf erfolgten Friedensschlüsse bei. Herodot
. fügt hinzu , dafs diese totale Sonnenfinsternis von Thaies
unter ausdrücklicher Bezeichnung des Jahres, in dem sie
stattfinden werde, vorausgesagt worden sei. Über diese
staunenswerte Angabe ist viel geforscht worden. In welchem
Jahre fand diese Finsternis statt? Wenn dies ermittelt
werden kann, so ist ein unschätzbarer Stützpunkt für die
chronologische Anordnung der Ereignisse gewonnen für Zeiten,
die noch jeder einheitlich geordneten Zeitrechnung entbehrten.
Femer: Wie war Thaies im stände, eine Sonnenfinsternis
vorauszusagen in Zeiten, wo es noch an den elementarsten
Einsichten in den Zusammenhang dieser himmlischen Vor-
gänge fehlte? Auf die erste dieser beiden Fragen ist man
übereinstimmend zu der Annahme gekommen, dafs es sich
um die totale Finsternis des 28. März 585 v. Chr. handelt.
Die zweite Frage anlangend mufs zunächst betont werden,
dafs der alte Berichterstatter keineswegs eine genaue Voraus-
berechnung auf Tag, Stunde, Minute und Sekunde behauptet,
2*
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20 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
wie sie die heutige Astronomie liefert, und wie wir sie in
jedem Kalender im voraus verzeichnet finden. Herodot be-
hauptet nur, das Jahr der Verfinsterung sei von Thaies
vorausgesagt worden. Eine Voraussagung innerhalb dieser
Grenzen durch Thaies aber wird für möglich gehalten, wenn
Thaies im Besitze der langjährigen Aufzeichnungen der
Babylonier über Sonnen- und Mondfinstemisse war, aus
denen sich eine gewisse Periodizität dieser Ereignisse und
somit die Möglichkeit einer Voraussagung wenigstens in den
Zeitgrenzen eines Jahreslaufes ergab.
Ist diese Erklärung richtig, so haben wir hier einen
neuen Beweisgrund für seinen Zusammenhang mit der ägyp-
tischen Priesterweisheit, durch deren Vermittlung allein ihm
die Tafeln der Babylonier zugänglich werden konnten.
Dafs nun das Eintreffen dieser Voraussagung trotz der
nach unseren Begriflfen ihr noch anhaftenden grofsen Ui)-
vollkommenheit auf seine Zeitgenossen den Eindruck einer
staunenswerten, fast übernatürlichen Weisheit machen mufste,
ist von vornherein anzunehmen. Wir besitzen aber auch
noch eine Nachricht, die die Tatsächlichkeit dieses Eindrucks
zu bezeugen scheint. Der von Aristoteles gebildete gelehrte
Staatsmann Demetrius Phalereus hatte eine Schrift
über die Archen tenfol gen Athens verfafst, nach denen die
Athener ebenso die Jahre bestimmten wie die Römer nach
ihren Konsuln. Darin kam (nach D. L. I. 22) die Notiz vor,
Thaies sei zuerst als Weiser bezeichnet worden zur Zeit des
athenischen Archonten Damasios, zu dessen Zeit auch die
Sieben überhaupt den Namen der Weisen bekommen hätten.
Das Archontat des Damasios aber fällt eben ins Jahr 585.
Dies ist, da nach der wahrscheinlichsten Annahme Thaies
um 625 geboren war, zugleich das Jahr, in das nach der
herkömmlichen Annahme seine Lebenshöhe (seine „Blüte**,
akm6) feilt, sein vierzigstes Lebensjahr. In der Tat ein
merkwürdiges Zusammentreffen! Besonders seltsam berührt
die Angabe von der gleichzeitigen Ernennung der übrigen
Weisen, gerade als ob die Kreierung dieses Titels für Thaies
zugleich den Anstofs zur Verleihung desselben an eine
Anzahl anderer berechtigter Anwärter gegeben hätte. Mut-
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1. Thaies. 21
mafslich hatte Demetrius Phalereus sich über diesen Sach-
verhalt genauer verbreitet und namentlich angegeben, vro
und von wem diese Ernennungen vorgenommen sein sollten.
Freilich wissen wir schon aus dem Zeugnis des Diogenes
Laertius, dem wir diese Nachricht verdanken, wie es mit
der Siebenzahl der Weisen stand, und dafs es eine erheblich
gröfsere Zahl von Anwärtern gab, sowie dafs die Siebenzahl
zum Teil in verschiedener Weise ausgefüllt wurde. Jeden-
falls bleibt als sehr wahrscheinlich bestehen, dafs dieser
Erfolg seines astronomischen Wissens im Jahre 585 das An-
sehen des Thaies wie mit einem Ruck zu unbegrenzter Höhe
emporgehoben hat.
Von seinen sonstigen astronomischen Leistungen wird
berichtet, dafs er die einzelnen Sterne des kleinen Bären
bestimmt habe. Ist dies richtig, so wurde dadurch wohl
auch der Polarstern bestimmt und so eine genauere Orien-
tierung zur See ermöglicht. Ferner die feste Normierung
des Monats auf 30 Tage (wodurch freilich das Zusammen-
fallen mit dem Mondlaufe preisgegeben wurde), die Fest-
setzung der Jahresdauer auf 365 Tage, die genauere Fixierung
der gröfseren Abschnitte des Jahres und damit auch der
Jahreszeiten durch Bestimmung der Sonnenwenden und der
Tag- und Nachtgieicheo.
Als Zeuge für diese seine astronomischen Leistungen
wird nicht nur Eudemus, der Schüler und Mitarbeiter des
Aristoteles, der aufser seiner Geschichte der Geometrie auch
eine solche der Astronomie verfafst hatte, angeführt, als
Bewunderer seiner astronomischen Erfolge nennt Diogenes
Laertius (L 23) auch die viel älteren Renker Heraklit
und Demokrit, sowie den noch älteren philosophischen
Rhapsoden Xenophanes, der, geboren um 570, noch Zeit-
genosse des Thaies war.
Weitere Nachrichten über kosmologische Lehren des
Tbales, wie die Annahme, dafs der Mond sein Licht von der
Sonne empfange« dafs die Sonne 720 Mal so grofs sei wie
der Mond, tragen zu sehr den Stempel der Erdichtung an
der Stirn oder widersprechen, wie die angeblich schon von
ihm gelehrte Kugelgestalt der Erde, zu offenkundig dem
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22 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
sonst bekauuten Entwicklungsgänge des kosmologischen
Wissens, als dafs es sich lohnte, sich länger bei ihnen auf-
zuhalten. Es ist in hohem Grade wahrscheinlich, dafs hier
die Lehren eines Naturforschers des 5. Jahrhunderts, Hip-
pon, auf Thaies übertragen worden sind. Dieser Hippon
gab sich, wie nachher zu zeigen, für einen Anhänger des
Thaies und verfolgte anscheinend das Interesse, den ganzen
Bestand seiner Naturlehre auf Thaies zurückzuführen und
durch den gefeierten Namen desselben zu Ansehen zu bringen.
Erleichtert wurde diese Fälschung dadurch, dafs Thaies selbst
nichts geschrieben hatte und also über die Einzelheiten
seiner Lehre eine gesicherte Überlieferung nicht bestand. Es
ist daher auch nicht auszumachen, wie er sich Gestalt und
Einrichtung des Weltgebäudes im ganzen und einzelnen vor-
gestellt hat. Nur eine einzige einigermafsen gesicherte
Nachricht in Bezug auf diesen Punkt ist auf uns gekommen.
Aristoteles berichtet (294,28), Thaies erkläre, wie man
sage, das Beharren der Erde in ihrer Mittellage in der
Welt dadurch, dafs sie als flache Scheibe wie ein Holz auf
dem Wasser schwimme. (So auch Theophrast D. 475;
Seneca Nat. Quaest. IIL 14.) Dazu stimmt die spätere An-
gabe (D. 379 f., 380), er habe die Erdbeben durch Be-
wegungen des Wassers erklärt. Wollen wir versuchen, uns
von diesem einzigen einigermafsen festen Punkte aus ein
Bild seiner Weltvorstellung zu entwerfen, so könnte man
auf die Vermutung kommen, er habe als Umgrenzung der
Welt eine feste Kugelhülle angenommen. Denn um nicht
im Räume zu zerfliefsen und die auf ihr schwimmende Erde
tragen zu können, mufste dem unter der Erde befindlichen
Wasser doch ein Widerhalt an einer /esten Umhüllung bei-
gelegt werden, in der es wie in einem Gefäfs eingeschlossen
wäre. Wahrscheinlicher jedoch ist nach dem ganzen weiteren
Entwicklungsgange, dafs er sich bei dem Gedanken des
Ruhens der Erde auf dem Wasser beruhigt hat, ohne sich
weiter über einen etwaigen Haltpunkt des Wassers den Kopf
zu zerbrechen. Auch die alten Zeugen bleiben bei dem G^-
tragenwerden durch das Wasser stehen (D. 475, 555, 653).
Dagegen läfst sich in keiner Weise sagen, wie er sich z. B.
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1. Thaies. 23
die Himmelskörper dachte, wie er ihre tägliche Rückkehr
zum Ausgangspunkte ihrer Bahn erklärte, u. dgl.
Soweit wir mit einiger Gewifsheit urteilen können, be-
stehen seine astronomischen Verdienste vornehmlich in der
Überführung des ägyptischen Wissens zu den Griechen und
in der ausdauernden, das Überkommene nachprüfenden, be-
stätigenden und vielleicht auch ergänzenden und erweiternden
Beobachtung.
Das dritte Gebiet seiner Forschung, dasjenige,
das ihm, wie wir gesehen haben, den Ehrenplatz an der
Spitze der Philosophie verschaflFt hat, ist seine Beschäftigung
mit dem Probleme des Prinzips alles Seienden. An dieser
Stelle mufs konstatiert werden, dafs dieselbe Aussage des
Aristoteles (Metaphys. I. 3), die ihm diese im strengen
Sinne nicht zutreffende Plazierung verschaflFt hat, zugleich
eine noch beute nachwirkende ungenaue Angabe über seine
Lösung dieses Problems bietet. Aristoteles berichtet an
dieser Stelle, Thaies habe für das Prinzip alles Seienden
das Wasser erklärt. Er selbst aber zieht im Verfolge dieser
Stelle diese Angabe wieder in Zweifel, indem er erklärt:
„Man sagt, dafs Thaies in dieser Vi eise die erste Ursache
bestimmt habe.** Ja noch mehr! Aristoteles selbst deutet
an anderen Stellen das Richtige oder doch bei weitem
Wahrscheinlichere an. Er führt als Ausspruch des Thaies
an, alles sei voll Götter, womit er woh] habe sagen wollen,
dafs die Seele dem All beigemischt sei. Er führt als Lehre
des Thaies an, dafs die Anziehungskraft des Magnets
auf einer diesem innewohnenden Seele beruhe (411, 7;
405, 19). Diese Zeugnisse des Aristoteles werden durch die
Angaben anderer bestätigt und ergänzt. Auch die An-
ziehungskraft des geriebenen Bernsteins habe er in derselben
Weise erklärt wie die des Magnets (D. L. L 24, unter Be-
rufung auf Aristoteles und „Hippias"), und auch den Pflanzen
habe er eine Seele zugeschrieben, vermöge deren manche
Pflanzen willkürliche Bewegungen, z. B. Zurückweichen ihrer
Teile bei Berührung, ausführten (D. 438). Auch Theo-
phrast legte ihm als Prinzip des Seienden das mit Eigen-
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24 Erste Periode. Purster Absclinitt. Hylopsychismus.
bewegung, also mit einer seelischen Eigenschaft ausgestattete
Wasser bei (D. 475).
Offenbar ist die Meinung des Thaies, nicht das Wasser an
sich, sondern das seelisch belebte, lebendige Wasser sei das
Grundelement des Seienden. Erst beide Zeugnisse zusammen
ergeben das Richtige. Wir haben hier noch die uralte Vor-
stellung, dafs jede Bewegung, jedes Wirken nach Analogie
des unserer Erfahrung Zunächstliegenden nur von einem
seelischen Prinzip ausgehen könne. Thaies ist nicht, wozu ihn
jener erstgenannte Bericht des Aristoteles stempeln würde,
reiner Materialist im buchstäblichen Sinne, der alles Natur-
geschehen aus dem unorganischen Stoffe ausschliefslich der
an diesem haftenden Kräfte ableitet, er ist Hylozoist, d. h.
Vertreter der Lehre, dafs allem Stoffe ein Lebensprinzip
beiwohnt, und dafs alle Bewegung und Veränderung von
diesem bewirkt wird. Noch genauer: er ist Hylopsychist,
d. h. dies alles durchwaltende Lebensprinzip ist ihm nicht
etwa nur die später so vielfach diskutierte „Lebenskraft*,
es ist von eigentlich seelischer Natur. Nur darf das
Seelische in seinem Sinne noch nicht als ein vom Stoffe Ge-
sondertes und vollends nicht als ein Zweckwirkendes gedacht
werden. Es ist ihm, wie schon die angeführten Beispiele
zeigen, und wie Aristoteles noch überdies ausdrücklich be-
zeugt, nur ein Prinzip der mechanischen Bewegung. Der
Hylopsychismus nimmt überhaupt nicht zwei Prinzipien, den
toten Stoff und die bewegende Seele, an; er sondert nicht;
das eine Existierende ist zugleich Stoff und lebendig. Es
ist daher richtiger, in seinem Sinne von lebendigem Stoffe
(bei Thaies von lebendigem Wasser) als von beseeltem Stoffe
zu reden. Im Grunde ist der Hylopsychismus eine viel
rohere, primitivere und elementarere Lehre als der Materia-
lismus, er ersetzt die von diesem zur Erklärung des ge-
samten Naturgeschehens für ausreichend erachteten physischen
Kräfte durch die rohe Vorstellung eines universellen seeli-
schen Bewegungsprinzips. Zeuge für diese Auffassung der
Lehre des Thaies ist auch Theophrast, der ihn (D. 475) zu
denen rechnet, die ein bewegtes Prinzip des Seienden an-
genommen hätten.
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1. Thaies. 25
•
Wie kam denn aber wohl Aristoteles an jener so in die
Augen fallenden Stelle, im Zusammenhange einer Übersicht
über die älteren Lehren vom Grundwesen des Seienden, dazu,
Thaies die kahle Lehre vom Wasser als Prinzip zuzu-
schreiben, die wegen der mangelnden Unterscheidung der
Kraft vom Stofife eigentlich noch nicht einmal als Materialis-
mus bezeichnet werden könnte? Dafür lassen sich mit
grofser Wahrscheinlichkeit zwei Gründe aufweisen.
Erstens ist er an dieser Stelle von der Tendenz beherrscht,
die geschichtliche Entwicklung in etwas gewaltsamer Weise
einer Konstruktion zu unterwerfen. Er meint, man müsse
zuerst darauf verfallen sein, von den verschiedenen Ursachen,
durch deren Zusammenwirken nach seiner eigenen Theorie
alles Geschehen stattfindet, den Stoff allein zur Erklärung
zu verwenden, und erst im weiteren Verlaufe der Entwick-
lung sei man stufenweise zur Erkenntnis der übrigen im
Naturgeschehen mitwirkenden Ursachen, z. B. der bewegenden
Ursache, der Zweckursache, gelangt.
Zweitens aber fand er höchstwahrscheinlich die irrige
Umdeutung des Thaies in einen abstrakten Stoffphilosophen
schon vor in der Darstellung des bereits genannten Natur-
philosophen der perikleischen Zeit, des Hippon. Dieser
Hippon vertrat ein Jahrhundert nach Thaies' Tode selbst
diese reine Stoff lehre. Er erklärte im strengsten Sinne das
Wasser für das Prinzip aller Dinge; sogar die Seele, die er
mit dem Gehirn identifizierte, war ihm Wasser. Dieser Mann
hat, wie schon bemerkt, oflFenbar die Tendenz verfolgt, die
gewichtige Autorität des Thaies für sich in Anspruch zu
nehmen und die Lehre desselben bis zur völligen Identität
an die seinige heranzurücken.
Besonders bemerkenswert sind in diesem Zusammen-
hange die Beweisgründe für die Wasserhypothese, die Aristo-
teles dem Thaies in den Mund legt. Die Nahrung alles
Organischen sei feucht ; der tierische Same sei feucht ; selbst
das Feurige (die Gestirne) entstehe aus dem Feuchten und
lebe durch dasselbe Dieses letzte Argument beruht auf der
auch sonst von den alten Naturphilosophen übernommenen
Volksvorstellung, dafs l>eim sogenannten Wasserziehen der
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2(j Erste Periode. Erster Abschnitt Hylopsychismus.
Sonne eine Ernährung des Sonnenfeuers durch emporgezogenes
Wasser, also eine Umsetzung des letzteren in Feuer statt-
finde. Diese Vorstellung wird hier also als vermeintlicher
Erfahrungsbeweis für die Ableitung auch des Feurigen aus
dem Wasser verwertet. Dieselben Gründe, noch erweitert
durch den Hinweis auf das Absterben der Pflanzen beim
.Mangel der Feuchtigkeit, finden sich noch bei mehreren
anderen Berichterstattern als angeblich von Thaies stammend
angeführt (D. 475, 276).
Hier ist nun zunächst bemerkenswert, dafs Aristoteles
überhaupt eine Stützung seiner Hypothese durch Gründe bei
Thaies voraussetzt. Dadurch erkennt er ihm den Charakter
eines wissenschaftlich verfahrenden Naturforschers zu. Ferner
aber, dafs er die Aufführung dieser Gründe als von Thaies
herstammend mit einem „vielleicht" einführt. Er kannte
natürlich die etwa wirklich von Thaies angeführten Gründe
nicht, da ja dieser seine Lehre nicht schriftlich fixiert hatte.
Dafs er aber selbst diese Gründe im Sinne des Thaies er-
sonnen haben sollte, ist wenig wahrscheinlich. Dagegen
finden sich Spuren, dafs Hippon sich gerade dieser Ar-
gumente bedient hat (Aristot. 405 b, 3). Also hat dieser,
indem er seine Lehre für die des Thaies ausgab, auch den
Schein erweckt, als ob seine Beweisgründe die des Thaies
seien. Auch bei Theophrast (D. 475) werden diese Beweis-
gründe als die des Thaies aufgeführt. Auf seine wirkliche
Lehre wird Thaies wohl durch ganz andere Erwägungen ge-
kommen sein. Das unermüdliche Wallen und Wogen des
Meeres selbst bei Windstille, sein Steigen und Sinken in
Ebbe und Flut, für das ihm die uns geläufige Erklärung
noch fehlte, mufste ihm den Eindruck eines lebendigen
Wesens machen. Aus dieser Lebendigkeit erklärten sich
dann ferner die vor Augen liegenden Wirkungen des Wassers.
Seine stille Bautätigkeit am festen Lande, die ihm nicht nur
am Delta Ägyptens, sondern auch in seiner engeren Heimat
vor Augen lag, mufste der primitiven Beobachtung als ein
Übergang des Wassers ins Feste erscheinen. Der Übergang
des Wassers in Nebel und Gewölk wurde als ein Übergang
in Luft gedeutet. Das Wasserziehen der Sonne als Beweis
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1. Thaies. 27
für den Übergang in Feuer könnte schon auf ihn zurück-
gehen. Und so kam er schliefslich dazu, jede Bewegung,
jedes Werden und jede Veränderung in der unorganischen
wie in der organischen Welt auf die bewegende Kraft der
Wasserseele zurückzuführen. Der Satz : Alles ist voll Götter,
d. h. voll seelischer Potenzen, wurde in Verbindung mit der
Wasserhypothese das oberste Prinzip seiner Erklärung des
Kat urgeschehens.
Einige Proben der Art und Weise, wie er von diesem
Prinzip aus die Vorgänge der Natur erklärte (Magnet, Bern-
stein), haben wir schon kennen gelernt. Es ist nun ferner
mit grofser Wahrscheinlichkeit zu vermuten, dafs er von
seiner Grundannahme aus eine Lehre von der Weltentstehung
und Welteinrichtung abgeleitet hat. Leider aber wissen wir
von seiner Kosmogonie gar nichts, und von seiner Kosmo-
logie kennen wir eben nur den einzigen Zug der auf dem
Wasser schwimmenden Erdscheibe, der aber nur geeignet
ist, eine Reihe weiterer vergeblicher Fragen hei-vorzutreiben.
Wie dachte er sich das Wasser in der Welt verteilt? Hat
er darüber nachgedacht, wie es kommt, dafs das Wasser
nicht im Räume zerfliefst? Wie stellte er sich die Himmels-
körper vor? Wie ihre Rückkehr zum Ausgangspunkte ihrer
Bahn? Hat er versucht, die übrigen Weltstoffe, den ge-
samten Weltbau, die organischen Wesen und schliefslich die
menschliche Vernunfttätigkeit aus dem lebendigen Wasser
abzuleiten, oder hat er sich hier mit der allgemeinen Be-
hauptung begnügt? Nahm er aufser dem mehr bildlich als
Gottheit bezeichneten allgemeinen Bewegungsprinzip noch
wirkliche Götter an? Die Möglichkeit dazu ist ja nicht aus-
geschlossen; so gut wie der Mensch und andere lebende
Wesen konnten ja auch Götter aus dem lebendigen Wasser
entstehen. Aber wir wissen von dem allem nichts. Doch
finden wir in seinem Ausspruch, alles sei voll Götter, den
er in Bezug auf die Lebendigkeit des Stoffes anwendet, den
ersten Ansatz zu dem den folgenden Denkern so geläufigen
Verfahren, das nach ihrer Ansicht besonders Mafsgebende in
der Natur als das Göttliche zu bezeichnen.
Dafs er dagegen schon die Unsterblichkeit der Seele
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28 Erste Periode. Erster Abschnitt Hylopsychismus.
gelehrt habe (D. L. I. 24), ist wohl nur eine Konsequenz-
macherei späterer Anhänger dieses Glaubens, die, um den
erlauchten Namen für sich ins Feld führen zu können, seine
Aussprüche in diesem Sinne umdeuteten.
Fragen wir schliefslich nach dem wissenschaftlichen
Wert der Grundannahme des Thaies, so stellt sich dieselbe
als eine überaus primitive Hypothese dar, die mit Über-
springung aller Zwischenglieder gleich das Endziel zu er-
fliegen versucht. In Wirklichkeit ist ja dies Endziel ein
solches, das mit jedem neuen Versuche, sich ihm anzunähern,
weiter zurückweicht. Auch die heutige Wissenschaft hat es
noch nicht erreicht. Das Bewundernswerte liegt hier nicht
in dem Lösungsversuche, sondern in der Problemstellung,
durch die der gesamten Naturforschung im weitesten Sinne
ihr letztes Endziel gesteckt wird. Das Programm der ge-
samten Naturforschung wird entworfen, und zwar entworfen
als Programm einer monistischen Entwicklungslehre, die
alles Seiende als Umgestaltung eines einheitlichen Urprinzips
begreifen lehrt.
Wenn wir so bei Thaies auch vieles nur durch den
Nebel der Zeitferne und einer legendarischen Überlieferung,
ja der absichtlichen oder mifsverständlichen Verfälschung,
getrübt und verzerrt erblicken, so fällt doch auch für unseren
Standpunkt noch Licht genug auf diese Gestalt, um sie mit
Sicherheit als die eines Geisteshelden ersten Ranges erkennen
zu können, dessen Wirken aus der Kette der Kulturcntwick-
lung nicht weggedacht werden kann, ohne diese Kette völlig
zu zerreifsen, als eines Ebenbürtigen der Aristoteles»
Galilei, Kepler, Newton, Humboldt. In besonderem
Mafse erhöht aber wird der Glanz dieser Stellung dadurch,
dafs er der eigentliche Anfänger ist, der den ganzen Prozefs
der Wissenschaft in Bewegung ge&etzt hat, auf dessen
Schultern alle stehen: der Stammvater der euro-
päischen Wissenschaft.
2. Anaximander.
Der jüngere Genosse des Thaies ist Anaximander
von Milet. Über seine Lel)enszeit ist aus ApoUodor, dem
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2. Anax im ander. 29
um 140 vor Chr. lebenden Ordner der griechischen Zeit-
rechnung, die Angabe erhalten, er sei im Jahre 547 64 Jahre
alt gewesen und bald darauf gestorben (D. L. II. 2). Er
war also 611 vor Chr. geboren. Wenn freilich demselben
Autor die Angabe zugeschrieben wird, der Höhepunkt seines
Lebens, seine „besten Jahre" seien in die Zeit des Poly-
krates von Samos gefallen, so scheint da die Regierungszeit
dieses Tyrannen, die schwerlich vor 530 fiel, zu früh an-
gesetzt zu sein.
Es läfst sich aber aus ersterer Angabe, wenigstens ver-
mutungsweise, noch mehr entnehmen. Warum wählte ApoUo-
dor gerade diese auffallende Bezeichnung seiner Lebens-
zeit? Anaximander ist der erste unter den griechischen
Naturforschem, der ein Buch geschrieben hat, vielleicht der
erste griechische Prosaiker überhaupt. Nun wird an der-
selben Stelle, der wir die obige Notiz verdanken, berichtet,
Apollodor habe dies Buch noch vor Augen gehabt. Wie,
wenn darin das 64. Lebensjahr des Autors als Abfassungs-
zeit angegeben war und zugleich durch Anspielungen auf
Zeitereignisse die Möglichkeit gegeben wurde, das 64. Lel)ens-
jahr gerade ins Jahr 547 zu verlegen? Ist diese Vermutung
richtig, so haben wir aus dieser dürren Notiz zugleich die
Abfassungszeit der Schrift Anaximanders gewonnen. Es ist
auch sehr wahrscheinlich, dafs der gewaltige, hier zum ersten
Male im Hirne eines Griechen auftauchende Gedanke, ein
wissenschaftliches Buch zu schreiben, ihm erst in vorgerückten
Lebensjahren gekommen ist. Sonst ist über seine persön-
lichen Verhältnisse nichts bekannt, aufser etwa, dafs ihm
eine alte Nachricht (D. L. VIII. 70) eine besondere Würde
und Feierlichkeit des Auftretens zuzuschreiben scheint.
Auch Anaximander ist ein vielseitiger Forscher. Er
soll die erste Erdkarte entworfen haben. Wie diese aus-
gesehen haben mag, davon können wir uns nach den noch
viel später herrschenden Vorstellungen über die Erdober-
fläche wenigstens im allgemeinen ein Bild machen. Die
Erde ist nach diesen Vorstellungen eine kreisförmige Fläche,
deren Mitte das Mittelländische Meer einnahm. Er soll
ferner eine Himmelskugel konstruiert haben, d. h. eine
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30 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
plastische Darstellung des Weltganzen. Wie er sich dieses
dachte, wird sich aus seiner Weltentstehungslehre ergeben.
Er ist also Geograph und Kosmograph. Er soll endlich den
„Gnomon" erfunden und Sonnenuhren angefertigt haben.
Die Sonnenuhr ist nichts Neues. Wir finden sie im Reiche
Juda schon zur Zeit des Propheten Jesaja, dem das unerhörte
Wunder zugeschrieben wird, dafs er den Schatten an der
Sonnenuhr des Königs Ahas um 10 Linien habe rückwärts
gehen lassen (Jesaj. 38, 7 f.). Nach Herodot (II, 109) ist
die Sonnenuhr von den Babyloniern zu den Griechen ge-
kommen. Wir haben uns diese alten Sonnenuhren wohl als
senkrecht stehende Pfeiler vorzustellen, umgeben von einem
Kreise, in den die Tageszeiten eingezeichnet waren. Der
von Anaximander erfundene Gnomon aber soll die Sonnen-
wenden und die Tag- und Nachtgleichen bezeichnet haben.
Er müfste danach eine vervollkommnete Sonnenuhr gewesen
sein, auf der zugleich durch eine Skala der Schattenlängen
am Mittag die hauptsächlichsten Wandlungen des Standes
der Sonne in ihrem Jahreslaufe bezeichnet waren, so dafs
sie zugleich als Kalender dienen konnte.
Seine Hauptleistung aber ist seine Theorie der Welt-
entstehung. Was wir für Thaies nicht wissen, das ergeben
für Anaximander die Nachrichten aufs deutlichste, dafs er
nämlich an die Aufstellung eines Stoffprinzips der Welt die
Ableitung des Weltbaues aus diesem Prinzip, also eine Welt-
entstehungslehre anschlofs.
Die vorhandenen Nachrichten über diese wissenschaft-
liche Tat des Anaximander sind dürftig und lückenhaft,
zum Teil auch durch späteres Mifsverständnis entstellt.
Einiges verdanken wir hier den Schriften des Aristoteles;
das meiste geht auf Theophrast, den gelehrten Schüler
desselben, zurück, ist aber teilweise nur in einer durch
irrige Annahmen Späterer entstellten Fassung überliefert.
Doch ist es möglich, aus diesem Chaos von Nachrichten
wenigstens die wesentlichen Grundzüge dieser wunderbaren
Konzeption mit ziemlicher Sicherheit zu rekonstruieren.
Für die Würdigung seiner Gesamtleistung auf diesem
Gebiete ist zunächst die nicht zu bezweifelnde Tätsache von
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2. Anaximander. 31
Bedeutung, dafs er zuerst seine Lehre schriftlich fixiert hat.
Seine Schrift wird aufgeführt unter dem Titel „Über die
Natur". Damit ist zum ersten Male ein fester Anfangspunkt
für eine fortschreitende wissenschaftliche Arbeit geschaifen
worden.
Weiter wird ihm das Verdienst beigelegt, den Grund-
begriff dieser ganzen Forschung, den Begriff des Prinzips
alles Seienden, zuerst terminologisch festgelegt zu haben,
indem er das Wort „arch6" (eigentlich Anfang) dafür ver-
wandte (D. 476, 559). Unser „Prinzip" ist nur die Latini-
sierung dieses ersten Terminus der europäischen Wissenschaft.
Sodann aber tut er in der Bestimmung dieses Prinzips
einen mächtigen Schritt über Thaies hinaus. Es ist ihm
zunächst ein Unendliches der Masse und ein Ewiges der
Dauer nach, ein Unendliches in Raum und Zeit. Es ist
ihm aber ferner auch der Qualität nach, wenngleich immer
noch lebendiger Stoflf, doch nicht mehr einer der sinnen-
fälligen, in der Erfahrung vorkommenden Stoffe, sondern ein
jenseits aller Erfahrung liegender unbestimmter Stoflf.
„Damit das Werden in keiner Weise ins Stocken gerate"
(D. 277), mufs zunächst die Masse des in die Welt ein-
strömenden Weltstoflfs unendlich sein. Der Gedanke eines
Kreislaufs des Werdens, einer Rückbildung des Gewordenen
in den Urstoflf, der Gedanke, dafs für eine endliche Welt
nur ein endliches Stoflfquantum erforderlich ist, scheint
diesem alten Denker noch völlig ferngelegen zu haben (Arist.
208, 8). Mit dieser Unendlichkeit der Masse, der Unendlich-
keit des Wirklichen hat Anaximander einen grundfalschen
Begriff in die Wissenschaft eingeführt Er selbst hat freilich
wohl den Gedanken der Unendlichkeit noch nicht in seiner
vollen Bedeutung erfafst; das Unendliche ist ihm wohl nur
das die sinnliche Wahrnehmbarkeit Übersteigende, das Un-
endliche des populären Sprachgebrauchs. Ebenso aber wie
eine räumliche hat er dem Urstoflfe auch eine zeitliche Un-
endlichkeit beigelegt. Er ist „unsterblich und unvergäng-
lich** (Aristot. 203b, 13), „nicht alternd", d. h. zeitlich ohne
Anfang and Ende.
Der Weltstoflf ist aber ferner auch der Beschaffenheit
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32 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
nach unbestimmt; er ist nicht nur ein Infinitum, sondern
auch ein In d e finitum. Das Unendliche (äpeiron) ist, wie
wir erkennen werden, gleich dem Wasser des Thaies lebendiger
StoflF, aber es ist keiner der uns vor Augen liegenden Stoflfe,
es ist ein im Entwicklungsprozesse jenseits der bekannten
Steife, allen diesen voranliegender Stoff. Aristoteles hat durch
die Art, wie er über diesen Punkt berichtet (187, 22; vgl.
D. 476), schon bei den meisten alten Berichterstattern das
Mifsverständnis veranlafst, als ob Anaximander, wie später
Empedokles und Anaxagoras, unter dieser ursprünglichen
Daseinsform nur eine mechanische Mischung, ein Gemenge,
der elementaren StoflFe verstehe. Aber Aristoteles ist an
diesem Mifsverständnis nur insofern schuld, als er den Aus-
druck „6kkrisis" (Ausscheidung) sowohl für den Prozefs der
mechanischen Entmischung (bei Empedokles und Anaxagoras)
als auch für den der qualitativen Weitergestaltung aus dem
Unbestimmten ins Bestimmte (bei Anaximander) verwendet.
Dagegen zeigt sich deutlich, dafs er die Bezeichnung „Ge-
misch" nur für die Fassung des Urzustandes des Stoffes bei
Empedokles und Anaxagoras gebraucht (187, 23 f.). Auch die
von Theophrast herrührende Anordnung dieser ältesten Lehren
über den Urstoff (D. 475 f.) zeigt deutlich, dafs er ihn der
Qualität nach unbestimmt gefafst hat.
In diesem Urstoff nun waltet die „ewige Bewegung"
(D. 559, 133), das Prinzip der Lebendigkeit, der Trieb zur
Entwicklung als Differenzierung. Aus diesem Triebe ent-
springt der erste Schritt der Weltbildung. Das Unbestimmte
spaltet sich in das Kalte und das Warme oder Feurige.
Hier ist der Punkt, wo auch Anaximander noch der mytho-
logischen Vorstellung des Hylozoismus, der Ableitung des
Werdens aus der dem Urstoffe beiwohnenden lebendigen
Triebkraft, seinen Tribut bringt. Und zwar nimmt das
„Kalte" den inneren Raum der werdenden Welt ein, während
das „Warme" als eine noch einheitliche, noch nicht zerteilte
Masse die äufsere Umhüllung bildet, „wie die Rinde einen
Baum umgibt" (D. 579).
Die zweite Stufe des Weltwerdens besteht sodann darin,
dafs das Kalte dreifach differenzirt wird. Aus ihm entspringt
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2. Anaximander. 33
einesteils das Feste, die Erde, anderenteils die Luft, und der
verbleibende Rückstand ist das Wasser. Hier haben wir
schon die vier Elemente des Empedokles, aber noch nicht
als ursprüngliche, unreduzierbare Urstoife, sondern als ge-
wordene, sekundäre Gebilde. Das „Kalte" war nicht eine
mechanische Mischung dieser drei Stoffe; es hat sich durch
qualitative Veränderung in sie verwandelt, es ist teilweise
zu Luft, teilweise zu Festem umgestaltet worden.
Hat nun Anaximander auch diese doppelte Umgestaltung
aus der hylozoistischen Triebkraft abgeleitet? Augenschein-
lich nicht. Wir hören in den Berichten, dafs der Prozels
der Bildung des Festen und der Luft aus dem Flüssigen,
das ja dem ursprünglichen Kalten gleichgesetzt wird, durch
Austrocknung und Verdunstung auch in der bestehenden
Welt seinen Fortgang nimmt und seinen Fortgang nehmen
wird, bis das Flüssige ganz aufgezehrt sein wird. Austrock-
nung und Verdunstung sind aber empirische Vorgänge, ver-
anlafst durch die Wärme. Am „Warmen** aber hatte er ja
auch für den ursprünglichen Weltbildungsprozefs bereits
durch die erste Differenzierung das verursachende Prinzip
für diese Wirkungen gewonnen. Er konnte also schon auf
dieser zweiten Stufe der Weltbildung die „ewige Bewegung**,
die hylozoistische Triebkraft, verabschieden. Er bedurfte
ihrer nicht mehr. Diese Vorgänge der Weltbildung ver-
laufen bereits als natürliches Geschehen am Faden der Natur-
gesetze, wenngleich dieser letztere Begriff für Anaximander
nur erst in aufdämmernder Unbestimmtheit vorhanden war.
Das aber mufs hier bestimmt festgehalten werden, dafs
unter Verdunstung von unserem alten Denker nicht etwa
blofs die Umsetzung des Flüssigen in den gasförmigen Zu-
stand, sondern die Umwandlung in wirkliche Luft und unter
Aastrocknung nicht etwa blofs die Niederschlagung der im
Flüssigen vorhandenen festen Stoffe, sondern die Umwand-
lung des Flüssigen selbst in Festes verstanden wird.
Näher entsteht durch diese doppelte Umwandlung des
.Kalten** eine regelmäfsige Urgestalt der werdenden Welt.
Das Feste lagert sich in der Mitte als Erde, der er die Ge-
stalt eines aufrechtstehenden Säulenstumpfes beilegt. Sie
UbTiug. i, 3
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34 Erste Periode. Erster Abschnitt Hylopsychismus.
wird nicht von irgend etwas anderem getragen, sondern
verharrt in der Mitte wegen des gleichen Ab^andes nach
allen Seiten (D. 559). Da kein Grund vorhanden ist, eine
Fallrichtung vor der anderen zu bevorzugen, so fällt sie über-
haupt nicht, sondern verharrt in der Schwebe (Arist 295 b, 11).
Die Höhe dieses Sänlenstumpfes beträgt ein Drittel des
Durchmessers (D. 539); die obere Fläche ist der Schauplatz
des künftigeo Lebens. Wie Anaximander auf diese Form
der Erde gekommen ist, wird nicht berichtet. Es liegt darin
eine Vorstufe der Kugelgestalt, was sich auch darin aus-
spricht, dafs er sich über die Vorstellung, die Erde müsse
auf etwas ruhen, kühn hinwegsetzt Um diesen zunächst
noch nicht völlig vom Flüssigen geschiedenen, noch schlam-
migen Kern legt sich das Wasser als ihn allseitig um-
fassende kugelförmige Hülle; um dieses in derselben Oestalt
die Luft. Das Warme oder Feurige aber hat schon bei der
ersten Differenzierung, ebenfalls als einheitliche Kugelhülle,
den äufsersten Raum eingenommen.
Dies die zweite Stufe der Weltbildung. Aber die am
Werke befindliche Kraft des Warmen ruht auch ferner
nicht. Die nur erst halbwegs vom Wasser geschiedene, noch
schlammige Erde wird durch fortschreitende Austrocknung
fest. Die umgebende Wasserhülle verliert durch fortschrei-
tende Austrocknung und Verdunstung, durch fortschreitende
Abgabe ihres Stoffes an das Feste und die Luft ihren Zu-
sammenhalt und schrumpft zu einem nur noch die tieferen
Stellen der Erdoberfläche ausfüllenden Reste, Meer genannt,
zusammen. Auch dieser Rest ist in beständigem Schwinden
begriffen.
Vornehmlich aber erleidet die Lufthülle eine gewaltige
Veränderung, die auch die verursachende Feuerhülle in Mit-
leidenschuft zieht und somit einer völligen Umgestaltung des
Weltbaues, einer Weltrevolution gleichkommt. Die Luft-
hülle wird, wie es scheint, teils durch die ausdehnende Ein-
wirkung der Feuerhülle, teils durch den Zuwachs infolge
der Verdunstung des Wassers, in einen Zustand äufserster
Spannung versetzt, der schliefslich zur Explosion führt. Ein-
geklemmt zwischen Wasser- und Feuerhülle, wie sie ist.
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2. Anazimander. ;35
Zersprengt sie schliefidick die Feuerhalle in ungeheure rad-
förmige Streifen, die also nunmehr den ganzen Weltkreis
umfangen. Diese feurigen Streifen werden aber ferner
ihrem ganzen Umfange nach umhüllt von unsichtbaren, aber
undurchsichtigen Teilen der ebenfalls zersprengten Lufthülle.
Es entstehen auf diese Weise um die Weltmitte h^um un-
geheure, unsichtbare Räder mit hohlem, dem ganzen Um-
fange nach mit Feuer gefülltem Radkranz. Nur an je einem
Punkte haben diese Radkränze eine Öfihung, aus der das
eingeschlossene Feuer, wie die Luft aus einem Blasbalg, un-
gestllm hervorsprtiht. Diese Öffnungen sind das, was wir
Sonne, Mond und Sterne nennen. Auch der Mond hat also
eigenes Licht oder vielmehr eigenes Feuer. Ebenso sämt-
liche Sterne. Der Begriff des Planeten ist für Anaximander
noch nicht vorhanden. Den gröfsten Durchmesser und also
auch den gröfsten Abstand von der Weltmitte hat das
Sonnenrad. Danach kommt das Mondrad ; die innersten und
kleinsten dieser Räder sind die der Sterne. Den Durch-
messer des Sonnenrades bestimmt er im Lichten auf 27,
den des Mondrades auf 18 Durchmesser der Erdoberfläche.
Die Öffnung des Sonnenrades, aus der das Feuer ausströmt,
ist so grofs wie die Erdoberfläche (D.351, 355, 559 f., 579).
In sehr origineller Weise scheint dieser ingeniöse Welt-
konstrukteur die Veränderungen im Laufe der Himmels-
körper erklärt zu haben. Ihren täglichen Auf- und Nieder-
gang erklärte er natürlich durch den Umschwung der Räder
um den Mittelpunkt der Welt. Auf welche Triebkraft er
diesen Umschwung zurückführte, besagen unsere Berichte
nicht. Vielleicht griff er hier wieder auf das ursprüngliche
hyiozoistische Erklärungsprinzip, die „ewige Bewegung",
zurück. Wenigstens berichtet Cicero (de N. D. I. 25), er
habe die Welten (d. h. die Weltkörper) für Götter erklärt,
was, wenn es richtig ist, darauf hinweist, dafs er ihnen
Eigenleben und Eigenbewegung beilegte. Doch hat er viel-
leicht auch für diesen täglichen Umschwung eine natur-
wissenschaftliche Erklärung versucht (Z. 223, 3).
Dagegen scheint er die jährlichen Veränderungen im
Sonnenlaufe, die wechselnde Dauer ihres Tageslaufes und
3*
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36 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
die wechselnde Höhe ihres Mittagsstandes wieder rein
mechanisch erklärt zu haben. Durch die Wirkung der
Sonnenwärme wird, wenn sie am stärksten ist, in erhöhtem
Mafse Wasser in Luft verwandelt. Die Expansion der Luft
nimmt zu, was sich in Luftströmungen äufsert. Durch diese wird
dann das Sonnenrad in eine andere Lage zur Erdoberfläche
gebracht. Es liegt mehr oder minder schräg und macht
überhaupt im Jahreslauf eine oszillierende Bewegung durch.
Es ist besonders zu beklagen, dafs über diesen Punkt die
Nachrichten so überaus spärlich fliefsen. Aristoteles hat
nur einige unbestimmte Hindeutungen auf diese Lehre, in
denen nicht einmal der Name des Anaximander genannt ist
(Meteor. II. 1 u. 2). Der Ausleger dieser aristotelischen
Schrift, Alexander von Aphrodisias, bezeugt in unzweifel-
hafter Weise die Lehre, ohne aber ins einzelne zu gehen
(D. 494). Wie es scheint, kam durch diese Theorie eine
Art Selbstregulierung in den Lagen des Sonnenrades zu
Stande, indem die erhöhte Expansion der Luft zurücktreibend
auf das Sonnenrad wirkte, die verminderte infolge der ver-
minderten Wärme Wirkung dann den Rückgang in die ur-
si)rüngliche Lage gestattete. Doch ist es nicht möglich,
ein völlig deutliches Bild von dieser Theorie zu gewinnen.
Nach Alexander hat er auch die Wandlungen des Mondlaufs
auf diese Weise erklärt, doch ist es da noch viel schwieriger,
sich das Genauere seiner Erklärung vorstellig zu machen.
Sehr einfach war seine Erklärung der Sonnen- und
Mondfinstemisse, sowie der Phasen der Mondes. Diese Er-
scheinungen treten sämtlich dadurch ein, dafs sich die das
Feuer auslassende Öffnung des betreffenden Rades ganz oder
teilweise verstopft (D. 560).
In dieser an sich lächerlichen Theorie zeigt sich so recht
die echt wissenschaftliche Grundrichtung und die un-
erschrockene Denkerkühnheit dieser primitiven Natur-
forschung. In dieser Theorie ist zunächst der Gegensatz
gegen die mythologische Naturerklärung der Volksregion
mit Händen zu greifen. Sie bedeutet nicht mehr und nicht
weniger als den völligen Bruch des Forschers mit der Ver-
persönlichung der himmlischen Vorgänge, insbesondere mit
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2. Anaximander. 37
der Ausdeutung der Finsternisse als Anzeichen des Götter-
zoms. Sie gemahnt in dieser Beziehung an den Bericht
über die Vorausverkündigung der Sonnenfinsternis. Ent-
sprechend dieser rein naturwissenschaftlichen Grundrichtung
seines Denkens hat er denn auch den Götternamen auf die
Himmelskörper übertragen. Er bedurfte keiner übernatür-
lichen Persönlichkeiten (Cic. N. D. I. 25; D. 302).
Wir bemerken aber ferner auch, dafs ihm die gegebenen
Tatsachen des Weltbaues zu Problemen werden, für die er
eine naturwissenschaftliche Erklärung sucht. Dafür zwar,
dafs er die Erde für einen Säulenstumpf erklärte, suchen
wir vergeblich nach einer Begründung. Zu einem Problem,
für das er eine Lösung suchte, wurde ihm aber ferner die
im Raum freischwebende Erde. Zu einem Problem wurden
ihm der Tageslauf der Sonne, ihre Rückkehr nach Osten
am Morgen, ihr verschiedener Höhenstand in den verschiedenen
Jahreszeiten und ihre Verfinsterungen. Und die für die
Sonne gefundene Lösung durch das ungeheure, um die Erde
schwingende Rad übertrug er dann auch auf die übrigen
Himmelskörper. Es ist der erste, in seiner Art grofsartige
Versuch, den Erscheinungen gerecht zu werden.
Dieser radikale, echt wissenschaftliche Bruch mit den
mythologischen Volksvorstellungen liegt aber, wie leicht zu
ersehen, nicht nur diesem einen Zuge der anaximandrischen
Katurerklärung zu Grunde. Er ist durchweg bemüht, die
Weltentstehung und das Naturgeschehen aus bekannten natür-
lichen Ursachen abzuleiten. In besonders hervorstechender
Weise zeigt sich dieser wissenschaftliche Geist auch in seiner
Erklärung der Entstehung der Lebewesen. Leider sind auch
hier die Berichte wieder besonders dürftig und unzureichend.
Wir hören, dafs er „die ersten Lebewesen im Feuchten sich
erzeugen lasse** (D. 430). Näher wird dieser Prozefs durch
dasselbe Wort bezeichnet, das die Umwandlung des Feuchten
in Luft unter dem Einflüsse des Feurigen ausdrückt Es
ist eine generatio aequivoca, eine Belebung des Feuchten
durch die Einwirkung der Wärme. Selbst der Mensch hat
ursprünglich in fischartiger Gestalt existirt, ist also im
Wasser entstanden (D. 560). Selbst. der Gedanke der Uni-
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38 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
Wandlung des Organismus durch Anpassung an veränderte
Lebensbedingungen klingt schon an. Die Tiere sollen wir-
rend ihres Aufenthalts im feuchten Elemente mit stacheligen
Binden umgeben gewesen sein, dann aber, beim Übergaage
auf das „Trocknere**, diese Binden abgeworfen haben (D. 430).
Diese Angabe versetzt offenbar den Vorgang, ttber den sie
berichtet, in diejenige Phase der Weltbildung, als sich das
Feuchte in das Feste verwandelte und dies letztere zunächst
noch in einem schlammartigen Übergangszustande existierte.
Auch für den Menschen wird die schon vorher erwähnte
Umwandlung mit seltsamer Begründung näher ausgeführt.
Der Mensch hätte sich, weil im Unterschiede von den anderen
Geschöpfen einer langdauernden Pflege bedürftig (offenbar
wird hier an das Eindesalter gedacht), nicht erhalten können,
wenn er sofort in seiner endgültigen Gestalt aufgetreten
wäre. Deshalb müsse angenommen werden, dafs er aus einem
andersartigen Tiere sich entwickelt habe (D. 579). Eine
abenteuerliche, auf Mifsverstand beruhende Ausmalung der
Theorie Anaximanders ist es wohl nur, wenn mehrere Bericht-
erstatter (Z. 228, 2) ihn lehren lassen, der Mensch sei ur-
si)rünglich in Fischleibern entstanden und erst, als er voll-
entwickelt sich selbst habe fortbringen können, aus diesem
Gewahrsam herausgetreten. Es ist kaum möglich, aus diesen
zerrissenen Bruchstücken mehr als die Grundzüge der Meinung
des alten Denkers zu gewinnen.
Noch mufs versucht werden, für eine vielerörterte Stelle
den richtigen Sinn zu finden, in der Simplicius, der aus
Theophrast schöpfende gelehrte Kommentator des 6. nach-
christlichen Jahrhunderts, eine wörtliche Anführung aus dem
Buche Anaximanders, dieser ältesten Urkunde der Natur-
wissenschaft, erhalten hat. Die Stelle lautet: „Woraus die
Dinge ihren Ursprung nehmen, in das müsse nach der Not-
wendigkeit auch ihr Untergang stattfinden. Denn Bufse
und Vergeltung leisteten sie einander für das Unrecht nach
der Ordnung der Zeit." Mit Becht fügt Simplicius hinzu,
dafs der Autor sich hier einer dichterisch gefärbten Sprache
bediene. Diese poetische Färbung liegt vornehmlich in den
menschlichem Geschicke entlehnten Bildern von Schuld und
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2. Anaximander. 3^
Strafe, die im zweiten — vielleicht allein wörtlich dem
B«he An&ximanders entstammenden — Satze hervortreten.
Man hat ans diesen Sätzen, deren Zusammenhang man
nicht mehr kannte, schon im Altertume allerlei als angeb-
liche Lehre des Anaximander herausgesponnen. Zunächst
sollte er eine unendliche Aufeinanderfolge von Weltent-
stehungen und Weltuntergängen gelehrt haben. Damit nicht
zufrieden, legte man ihm dann in völlig freier Erfindung
sogar ein gleichzeitiges Nebeneinanderbestehen mehrerer
Welten bei, für deren räumliche Entfernung voneinander man
sogar Detailbestimmungen anzuführen wufste (D. 327, 329).
Schwerlich hat der alte Denker schon so weit über die
bestehende Welt hinausgeblickt. Jedenfalls bieten die Worte
der Stelle, ruhig betrachtet, zu solchen Auslegungen keine
Handhabe. Er redet nicht von der Welt als Ganzem, sondern
deutlich genug von den Einzelstoflfen der Welt. Die Stelle
spricht nur von einer dem oben geschilderten Hervorgange
der Stoffe auseinander entgegengesetzten Entwicklungs-
richtung. Wie das Feste und die Luft aus dem Feuchten
geworden ist und wird, so gibt es auch eine Umwandlung in
entgegengesetzter Richtung, einen Rückgang ins Feuchte.
In den atmosphärischen Niederschlägen konnte Anaximander
nur Rückverwandlungen der Luft in Wasser erblicken. Und
auch für die Rückverwandlung des Festen in Wasser mochten
ihm Abschwemmungen festen Landes Beispiele zu bieten
scheinen. Ein Rückgängigwerden der ersten, ursprünglichen
Differenzierung dagegen als Rückgang in die unbestimmte
Stoflform wird er kaum gelehrt haben. Der Urstoff in seiner
unendlichen Fülle bedurfte keiner Ergänzung. Auch das
Feuer blieb Feuer.
Es wird also geraten sein, die aus unserem Sätzchen
herausgesponnenen phantastischen Weiterbildungen der Lehre
mit den besonnenen Forschem beiseite 2U lassen und den
Sinn desselben auf den Kreislauf, genauer auf die rückläufige
Bewegung, innerhalb der genannten drei Stofl'e zu beschränken.
Dafs diese in pathetischer Sprache als Sühne und Genug-
tuung für das durch das Hervorgehen begangene Unrecht
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40 Erste Periode. Erster Abschnitt Hylopsychismus.
bezeichnet wird, drückt den Gedanken aus, dafs durch die
Umwandlung die Masse und der Bereich des urspranglichen
Steifes verkürzt und beeinträchtigt worden sind, und entspricht
zugleich der erst mühsam aus der dichterischen Rede sich
losringenden Prosa. Gewifs darf man aus diesem Satze auch
folgern, dafs Anaximander nicht daran dachte, der mensch-
lichen Seele, die er gewifs, wie das belebende Prinzip der
lebendigen Geschöpfe überhaupt, aus dem Feurigen ableitete,
eine dauernde Sonderexistenz über den Tod hinaus zuzu-
schreiben.
Ein dauernd haltbares Resultat, eine naturwissenschaft-
liche Entdeckung also hat unser Naturforscher noch nicht
geliefert. Kaum in einzelnen Zügen seines Gedankenkreises
die Grundlage für eine sich anschliefsende Weiterführung
dieser naturwissenschaftlichen Bestrebungen. Es gibt auf
dieser phantastischen Urstufe der Naturerklärung noch kein
regelrechtes Weiterbauen auf gesicherter oder doch wenig-
stens für gesichert gehaltener Grundlage. Der Nachfolger
geht, fast völlig unbekümmert um die Annahmen seines
Vorgängers, fast in allen Punkten von neuen Voraussetzungen
aus. Dennoch aber müssen wir bei diesem ersten wissen-
schaftlichen Welterklärer eine Kühnheit, Weite und Kraft
des Denkens anerkennen, die auf seine Nachfolger anfeuernd
wirken mufste, und die ihren Wirkungen nach unmöglich
der weiteren Entwicklung verloren gewesen sein kann. Es
ist unmöglich, in Anaximander von Milet eine komische Figur
zu sehen. Er ist ein Geist ersten Ranges, dessen Gedanken-
arbeit indirekt in unserer wissenschaftlichen Entwicklung
noch fortlebt, ja, dessen mächtige Schwungkraft selbst für
die heutige Naturwissenschaft vorbildlich sein kann. Das
Wertvolle seiner Leistung liegt nicht in seinen Resultaten,
sondern in der grofsen Intention und dem grofsen Stile
seines Denkens. Er fordert Einheitlichkeit und Gesetzlich-
keit des gesamten Weltgeschehens.
3. Anaxlmenes.
Auch Anaximenes lebte in Milet und stand zu Anaxi-
mander in einer Art von Schülerverhältnis, über dessen nähere
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3. Anaximenes. 41
Beschaffenheit aber ebensowenig wie bei dem des Anaxi-
mander zu Thaies etwas Zuverlässiges bekannt ist. Über
die Zeit seiner Geburt gehen die Nachrichten auseinander,
doch ist dieselbe wahrscheinlich um 586 vor Chr. anzusetzen
(Z. 239; D. 561). Auch er hat seine Lehre in einer Schrift
,Über die Natur" niedergelegt. Wenn die Vermutung richtig
ist, dars die Schrift des Anaximander erst um 547 abgefafst
ist, also zu einer Zeit, da Anaximenes bereits ins vierzigste
Lebensjahr eingetreten war, so könnte auch die Schrift des
letzteren nicht lange nach der des Anaximander, im An-
schlösse an diese, geschrieben sein. Die unerhörte Tat An-
aximanders erweckte unmittelbar den Trieb zu rivalisierender
und berichtigender Nacheiferung.
Anaximenes abemimmt von Anaximander die Vorstellung
des der Masse nach unendlichen, den unendlichen Raum
aufserhalb der Welt erfüllenden, mit ewiger Bewegung aus-
gestatteten, d. h. lebendigen Urstoffes (D. 476, 560). In
allem abrigen setzt seine Welterklärung völlig neu ein UDd
geht durchaus ihre eigenen Wege. Das einzige aus seiner
Schrift erhaltene Bruchstack gibt über das Eigenartige und
Besondere seines Grundgedankens erwünschten Aufschlufs.
Es lautet: „Gleichwie unsere Seele, Luft seiend,
uns zusammenhält und beherrscht, so umfängt
auch die ganze Welt Hauch und Luft" (D. 278).
Ehe wir den Sinn dieser Stelle ins Auge fassen, mufs
zunächst ein auffälliger, mit anderen Nachrichten nicht in
Einklang stehender Ausdruck in derselben in Betracht ge-
zogen werden. Im Griechischen steht für „Welt" das Wort
Kosmos. Kosmos bedeutet ursprünglich Ordnung, wohl-
geordnete Einrichtung. Das lateinische „mundus**, ursprüng-
lich »Schmuck", ist nur eine ungeschickte Übersetzung dieses
philosophischen Ausdrucks. Nach einer wahrscheinlich auf
Theophrast zurückgehenden Nachricht (D. 327) soll zuerst
Pythagoras diesen Ausdruck auf das Weltall — das in der
Tat sonst bei den alten Denkern meist durch „Himmel" be-
zeichnet wird — angewandt haben, und zwar wegen der in
demselben herrschenden Ordnung. Ist nun unser Bruchstück
wörtlich genau überliefert, so hat Pythagoras in diesem
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42 Erste Periode. Erster Abschnitt Hylopsychismus.
Punkte an Anaximenes einen Vorläufer. Unmöglieh oder
unwahrscheinlich ist dies nicht. Wie wir sehen werden, ist
Pythagoras Schüler des Anaximenes, und der Ausdruck
„Kosmos" konnte sich diesem gerade von dem in unserem
Bruchstück zu Tage tretenden Ausgangspunkte seines Denkens,
der Vergleichung der Welt mit einem lebenden Organismus,
am ersten darbieten. Das Wort „Kosmos" wäre dann sogar
geradezu eine Bezeichnung für den einheitlichen, von einer
Kraft gelenkten Organismus, in dem jedes einzelnes Glied
und Organ aufs engste mit dem Leben des Ganzen zu-
sammenhängt.
Was sodann den Sinn des Satzes selbst anlangt, so
spricht derselbe zunächst schon im Subjekt des Vordersatzes
eine bedeutsame Gleichsetzung aus. Unsere Seele, die uns
beherrscht und zusammenhält, ist Luft. Es ist aber femer
auch der Satz als Ganzes eine Gleichung zwischen dem Welt-
all und dem menschlichen Organismus. Hinsichtlich beider
wird von demselben Subjekte, der Luft, etwas ausgesagt.
Die Form des Satzes als Gleichung berechtigt uns, beide
Prädikate auf das Subjekt in jeder der beiden Satzhälften
zu beziehen. In unserem Körper ist die Luft (als Seele)
das zusammenhaltende und beherrschende Prinzip, das Lebens-
prinzip des Organismus. Sie ist aber auch der den Körper
umgebende, von aufsen in ihn eindringende und einströmende
Stoff.
Was aber von der Luft in Bezug auf den menschlichen
Körper gilt, das soll nach unserem Satze von ihr auch in
Bezug auf das Ganze der Welt gelten. Die Welt ist von
„Hauch und Luft" umfangen. Diese umgebende Luft strömt
aber auch in das Weltall ein und wirkt in demselben als
„zusammenhaltendem und beherrschendes" Lebetsprinzip.
Die Welt atmet, wie unser Körper. Anscheinend aber stellt
sich Anaximenes dies Atmen nicht als eine Funktion des
Körpers und der Welt vor, sondern als ein selbsttätiges
Wirken der mit ewiger Bewegung ausgestatteten, lebendigen
Luft.
Das Bruchstück handelt nicht von der Weltentstehung,
sondern vom gegenwärtigen Bestände der Welt und des
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3. Anaximenes. 43
menschlichen Organismus. Auch in Beziehung hierauf läfst
es die meisten Fragen offen. Insbesondere mufs es auffallen,
daCs beim Körper die andere unumgängliche Lebensbedingung
neben dem Atmen, die eigentliche Nahrungsaufnahme, völlig
aufser acht gelassen zu sein scheint.
Auch die sekundären Quellen, die aufser einigen An-
deutungen bei Aristoteles durchweg auf Theophrast beruhen,
ergeben nur ein unvollständiges Bild.
Das Grundwesen alles Seienden ist die Luft. Sie ist in
ewiger Bewegung und Umwandlung begriffen. Darin tritt
auch bei ihm der Hylopsychismus zu Tage. Der Grund-
vorgang dieser Umwandlung ist aber jetzt nicht mehr, wie
beim Unendlichen Anaximanders, das Auseinandergehen in
zwei entgegengesetzte Beschaffenheiten, das Kalte und
Feurige, sondern selbsttätige Veränderung des Dichtigkeits-
zustandes, Verdichtung und Verdünnung. Diese bilden neben
dem Einströmen in die Welt die zweite Betätigungsweise
der Lebendigkeit des ürstoffes. Aber diese Volumenver-
änderung bewirkt nach Anaximenes zugleich eine Veränderung
der Qualität. Die verschiedenen vorkommenden Stoffe sind
nur verschiedene Dichtigkeitsgrade der Luft Durch Ver-
dttnnnng wird die Luft zu Feuer, durch. Verdichtung in
stufenweisem Fortschreiten zu Wind, Gewölk, Wasser, Erde,
Steinen. In dieser Weise entsteht die ganze Mannigfaltig-
keit der Dinge (D. 476 f., 560 f.; Aristot. 187, 11 f.). Es
gibt also nach der Seite der Verdünnung nur eine Stufe,
das Feuer, nach der Seite der Verdichtung dagegen zwei
Hauptstufen, das Flüssige und das Feste, mit mehreren
Zwischen- und Übergangsstufen.
Dafs mit der Verdünnung der Luft Erwärmung und mit
der Verdichtung Abkühlung verbunden sein sollte, scheint
er durch ein überaus kindliciies Experiment bewiesen zu
haben. Wenn man die Luft mit offenem Munde, also ohne
Zusammenpressung, ausatme, sei sie warm. Presse man da-
gegen beim Atmen die Lippen zusammen, so erzeuge die
auAströmeode Luft an den Lippen ein Kältegefühl (Plutarch
de pr. fr. 7). In diesem letzteren Falle findet eine Zusanmien-
presming statt, also eine Verdichtung, und daraus erklärte
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44 Erste Periode. Erster Abschnitt. Hylopsychismus.
er das begleitende Kältegefühl. Ohne diese Zusammen-
pressung dagegen erschien ihm offenbar das Ausatmen als
Verdünnung, und daraus erklärte er die der ausgeatmeten
Luft eigene Wärme; dagegen mufste ihm das Einatmen
wieder als Verdichtung und Abkühlung erscheinen. So
werden ihm Verdünnung, Erwärmung, Ausatmen einerseits,
Verdichtung. Abkühlung, Einatmen andererseits Wechsel-
begriffe.
Von dieser Theorie fällt auch ein Licht auf die an-
scheinende Nichtachtung der eigentlichen Ernährung. Wenn
die Luft sich in der Welt in der angegebenen Stufenfolge
verdichtet, so mufs auch im Körper die Bildung der flüssigen
und festen Stoffe, also die eigentliche Ernährung, durch die
einströmende und sich verdichtende Luft stattfinden. Doch
ist nicht ausgeschlossen, dafs er auch aufserdem durch Auf-
nahme von bereits durch Verdichtung entstandenen flüssigen
und festen Stoffen in den Körper die Ernährung vor sich
gehen liefs.
Anaximenes scheint mit besonderem Nachdruck die
lebendige Luft mit dem Göttlichen in eins gesetzt zu haben.
Schon in dem Ausspruch des Thaies, alles sei voll Götter,
fand sich diese Ineinssetzung des Lebensprinzips am Stoffe
mit dem Göttlichen. Von Anaximenes lesen wir, dafs er
die Luft als Gottheit bezeichnet habe, einmal mit der be-
merkenswerten Erläuterung, dafs man dabei unter Gottheit
die in den Elementen und Körpern waltenden Kräfte (also
das Lebendige und Selbsttätige darin) verstehen müsse
(D. 302, 531; Aristot. 203 b, 13).
Das ist also das Neue an dem Versuche des Anaximenes,
dafs er die Welt nach der Analogie des atmenden Orga-
nismus erklärt, wobei nur im Auge zu halten ist, dafs er
die Tätigkeit dabei nicht dem Organismus, sondern der ein-
strömenden Luft beilegt.
Vom Prozesse der Weltbildung im einzelnen bei An-
aximenes können wir uns nach den vorhandenen Nachrichten
nur ein unvollkommenes Bild machen. Nach einigen An-
gaben (D. 339, 344, 623 f.) soll er den Himmel als eine feste
Umhüllung der Welt gedacht haben. Er habe denselben als
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8. Anaximenes. 45
„den von der Erde am weitesten abstehenden Umfang** be-
zeichnet. Die Gestirne (d. h. die Fixsterne) seien wie Nägel
„in das Glasartige** eingetrieben. Danach müfste er also
auch an der Peripherie der Welt eine Verdichtung der Luft,
und zwar zu einer festen Eugelhülle, angenommen haben.
Doch steht diese Vorstellung mit der Lehre vom fortwähren-
den Einströmen der umgebenden Luft in die Welt, sowie
mit den nachstehenden Angaben über die Gestalt der Himmels-
körper im Widerspruch, so dafs die Angabe von den Nägeln
stark bezweifelt werden mufs.
Durch Verdichtung der Luft entstehen nämlich nach
ihm die in der Mitte ruhende Erde und die beweglichen
Himmelskörper (D. 346), Unter letzteren hat er schwerlich
etwas anderes verstanden als Sonne und Mond. Von den
Planeten im engeren Sinne findet sich auch bei Anaximenes
noch keine Spur. Auch Sonne und Mond sind ihm, wie
die Erde, ihrem Grundstoffe nach feste Gebilde, an die sich
aber von der Erde stammende Dünste ansetzen, die sich im
Aufsteigen verdünnen und zu Feuer werden. Sonne und
Mond haben also eine Doppelnatur (D. 342, 561). Auch
der Mend ist nach dieser Voraussetzung ein selbstleuchtender
Körper (D. 356). Ob er auch bei den Fixsternen das Feuer
aus den Dünsten der Erde ableitete oder direkt aus der
den Weltraum erfüllenden Luft entstehen liefs, ist nicht er-
Fichtlich.
Sowohl die Erde als diese beiden Körper sind Gebilde
von ganz flacher Form. Er vergleicht die Erde mit einer
Tischplatte (D. 377) und die Sonne mit einem Blatte (D. 352).
Was ihn auf diese Meinung brachte, wird ausdrücklich hervor-
gehoben. Nur bei dieser Form konnte er sich das Getragen-
werden dieser Körper von der den ganzen Weltraum aus-
füllenden Luft voi-stellen (D. 380, 561). An der letzteren
dieser beiden Stellen wird ihm auch für „sämtliche übrigen
Gestirne**, also auch für die Fixsterne, im vollen Widerspruch
zu der angeblichen Befestigung am Firmamente, diese flache
Form und das Getragenwerden von der Luft zugeschrieben.
För die Erde insbesondere erklärte er dies Getragenwerden
von der Luft durch das Bild eines auf einem Gefäfse
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46 Erste Periode. Erster Abschnitt Hylopsychismus.
ruhenden Deckels (Aristot. 294 b, 13). Dieses Bild des
Deckels ist aber nur teilweise zutreffend. Der Deckel ruht
auf dem Rande des Gefäfses, die Erde aber auf der unend-
lichen Luft selbst. Denn auch hier darf die Annahme einer
festen Umhüllung der Welt nicht vorausgesetzt werden.
Eigenartig ist seine Theorie von der Bewegung der
Sonne und des Mondes. Sie ist eine Kreisbewegung, aber
nicht eine solche, die von Ost nach West Ober der Erde
und dann wieder von West nach Ost unter der Erde ver-
läuft, wie bei den Feuerrädem des Anaximander, sondern
sie geht in fast wagerechtem, nur wenig schrägem Bogen
um die Erde herum, ähnlich dem unseres Hutrandes, wenn
wir den unser Haupt bedeckenden Hut in eine drehende Be-
wegung setzen würden (D. 561). Vielleicht bezieht sich auf
ihn auch die Nachricht, dafs „einige" der Welt, d. h. doch
wohl den Himmelskörpern, eine mühlsteinartige Bewegung
zuschrieben (D. 329 Anm.). Die Unsichtbarkeit der Sonne
vor dem Aufgange und nach dem Niedergange erklärte er
einesteils durch höhergelegene Teile der Erdoberfläche,
hinter denen die Sonnenbahn uns entschwinde (die also im
Osten und Westen liegen müssen), anderenteils aus der
gröfseren Entfernung, in die sie gerückt werde (D. 346, 561).
Wodurch er den Kreislauf der Sonne und des Mondes
bewirkt werden liefs, ist nicht bekannt. Die Wandlungen
in ihrem Laufe erklärte er durch den Widerstand der ver-
dichteten Luft, die die Sonne zurücktreibe (D. 352, 626).
Hier zeigt sich eine Ähnlichkeit mit Anaximander, doch ist
nicht zu erkennen, wie er sich die Verdichtung der Luft,
z. B. beim höchsten Mittagsstande der Sonne im Sommer,
erklärte, da ja nach seiner Voraussetzung Verdichtung die
Folge der Abkühlung ist.
Trotz dieser nur unzulänglichen und lückenhaften An-
gaben über die Welterklärung des Anaximenes erkennen wir
doch auch hier, wie bei Anaximander, den rein naturalisti-
schen Grundzug seiner Welterklärung. Sein Ausgangspunkt
ist die doppelte Lebensäufserung der Luft, Verdichtung und
Verdünnung, die er mit dem Ein- und Ausatmen in Parallele
stellte. Ob er, wie Anaximander, auch schon die erfahrungs-
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B. AnazineneB. 47
mäfsig gegebenen Naturkräfte zur Erklärung verwandte, ist
nicht ersichtlich. Deutlich erkennbar ist aber auch bei ihm,
wie bei jenem, das Streben, für den gegebenen Weltbestand
eine natürliche Erklärung zu suchen. Auch er fragt, warum
die Erde nicht fällt. Die Erklärung Anaximanders mufs
ihm wohl nicht genügt haben. Er kehrt zu der Auskunft
des Thaies zurück. Deren Anwendung aber war ihm er-
schwert, weil ihm zum Tragen der Erde nur die leichte Luft
zur Verfttgung stand. So verwandelt er die Erde und ent-
sprechend aueh die Himmelskörper in dünne Platten.
Ebenso sucht er auch für die übrigen Probleme Anaximan-
ders, für das Leuchten und die regelmäfsigen Bewegungen
der Himmelskörper, neue Erklärungen.
Durch Verdichtung und Verdünnung erklärte er aber
ferner auch eine Reihe von Erscheinungen in der uns um-
gebenden Welt Winde entstehen, wenn verdichtete Luft
sich vrieder verdünnt und ausdehnt, Wolken und Regen,
Schnee und Hagel durch fortschreitende Verdichtung der
Luft (D. 561, 370, 631). Er hat Erklärungen gegeben für
den BBtz, das Meeresleuchten (D. 561, 368, 231, 373). Ganz
naturwissenschaftlich gedacht und fast modern anmutend ist
seine dureh Aristoteles (365 b, 6 ff.) erhaltene Theorie der
Erdbeben. Wenn die Erde, durch Regen befeuchtet, wieder
zusammentrocknet, brechen grofse Stücke der Erdmasse los
und stürzen zusammen. Offenbar verlegte er diese Vor-
gänge ins Erdinnere, denn es wird ausdrücklich betont,
dafs dadurch die Erschütterungen (der Erdrinde) bewirkt
würden. Erdbeben träten daher ein einesteils bei grofser
Dürre, anderenteils bei starken Regengüssen. Die Dürre be-
fördere das Zerreifsen, die übergrofse Feuchtigkeit das Zu-
sammenstürzen. Hiemach scheint seine Theorie folgender-
mafsen gelautet zu haben: Erdbeben entstehen, wenn nach
grofser Nässe grofse Dürre eintritt (vergl. auch D. 379, 561).
Ob er, wie auch bei ihm angegeben wird (D. 337, 327),
die Vergänglichkeit der Welt und eine Vielheit aufeinander-
folgender Welten gelehrt hat, mufs doch aus denselben
Gründen wie bei Anaximander zweifelhaft scheinen.
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48 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
Zweiter Abschnitt.
Bruch mit dem Hylopsychismus. Abstrakte Stofflehre ohne
ein wiricendes Prinzip; Unmöglichlceit der Weltericiärung
(ca. 540 bis nach 400).
In diesem Zeitraum siedelt die Wissenschaft aus dem
jonischen Kleinasien nach Grofsgriechenland, d. h. nach der
Welt der unteritalischen Kolonien, über. Hier nimmt sie in
zwei Systemen, dem eleatischen und dem der Pytha-
goreer, die seltsam verschrobenen Vorstellungen über das
Wesen des UrstoflFes an, die eine Welterklärung unmöglich
machen. Beide brechen mit dem Hylopsychismus.
Parmenides, der Gründer der eleatischen Schule, be-
hauptet zwar noch einen einheitlichen realen Urstoff, leugnet
aber die Bewegung, das Vorhandensein irgend welcher um-
gestaltenden Triebkräfte in jeder Form. Er hat jedoch neben
dieser die Natur und die Welt verneinenden Theorie eine
zweite entwickelt, durch die er der Vorläufer des folgenden
Abschnittes wird. Er macht, wenn auch nur in der Form
einer Lehre des Scheines und Truges, ein Zugeständnis an
die natürliche, erfahrungsmäfsige Weltansicht. Das Haupt-
system des wissenschaftlichen Pythagoreismus
geht noch einen Schritt weiter, indem es auch das Vor-
handensein eines wirklichen Stoffes leugnet und diesen durch
die blofse begrenzte Raumausdehnung ersetzt. Dagegen geht
CS in der Frage der Bewegung nicht so weit wie Parmenides.
Es vermag zwar kein wirkendes Prinzip der Bewegung und
Veränderung tatsächlich aufzuweisen, gebärdet sich aber,
als ob ihm ein solches zur Verfügung stände, und gelangt
so, etwas anders als Parmenides, aber in gleich unberech-
tigter Weise, seinen Prinzipien zum Trotz, zu einer Ableitung
der wirklichen Welt. Es ist in hohem Grade bezeichnend,
dafs Aristoteles gerade diese beiden Systeme, das eleatische
und das pythagoreische, und nur sie, in besonderem Mafse
mit Hohn und Sarkasmus behandelt und ihnen die Fähigkeit
abspricht, von ihren eigentlichen und wirklichen Voraus-
setzungen aus zur Erklärung der wirklichen Welt zu gelangen.
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I. Zwei Vorläufer der unteritalißchen Philosophie (ca. 540—500). 49
Zu diesen extravaganten Theorien kommt es jedoch
nicht auf einen Schlag. Beide haben ihre ersten Vorläufer
an zwei Männern, die zugleich die Werkzeuge der Über-
tragung der wissenschaftlichen Bewegung vom kleinasiatischen
Jonien nach Unteritalien sind : in Pythagoras von Samos
und Xenophanes von Kolophon. Im wissenschaft-
lichen Pythagoreismus femer wird der vorbezeichnete Stand-
punkt nicht sofort erreicht, sondern erst durch mehrere
Zwischenstufen, die sich noch nachweisen lassen. Aufserdem
entsteht durch die polemische Wechselwirkung der beiden
Richtungen eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen und
Beziehungen.
Neben diesen in Grofsgriechenland verlaufenden Ent-
wicklungen zeitigt sodann in Kleinasien der alte Hylo-
psychismus um 500 in Heraklit von Ephesos eine Er-
scheinung von ausdrucksvoller Grofsartigkeit, ein System, in
dem weniger eine theoretisch befriedigende, korrekte Welt-
erklärung, als vielmehr eine das Gemüt befriedigende und
die Ableitung von Grundsätzen der Lebensführung ermög-
lichende Weltansicht erstrebt wird: eine auf dieser frühen
Vorstufe der Philosophie durchaus einzigartige Erscheinung.
Wir erhalten auf dieser Grundlage folgende Anordnung
dieses Abschnittes:
I. Zwei Vorläufer der unteritalischen Wissen-
schaft (Pythagoras und Xenophanes; ca.
540 — 500).
II. Der kleinasiatische Hylopsychist Heraklit
(um 500).
III. Der Entwicklungsgang der unteritalischen
Wissenschaft im Anschlufs an Pythagoras
und Xenophanes (ca. 500 bis nach 400).
I. Zwei Vorläufer der unteritalischen Philosophie
(ca. 540—500).
Schon durch die völlige Veränderung des leitenden Inter-
esses wird sowohl bei Pythagoras wie bei Xenophanes
der Übergang zu etwas Neuem bezeichnet. Beide sind ihrer
Grundrichtung nach nicht Naturforscher. Pythagoras
Dftring. I. 4
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50 Erste Periode. Zweiter Absebaitt Bnicb mit dem Hylopsycbismus.
vertritt eine mythologische Lehre vom Schicksal der Seele
und wird nur dadurch, dafs er eine Ordensgemeinschaft
gründete, die sich auch der Forschung zuwandte, der Vor-
läufer einer neuen Richtung. Xenophanes vertritt zwar
selbst ein wissenschaftliches Interesse und wird dadurch
direkt und unmittelbar der Vorläufer einer neuen Denk-
richtung. Aber dies Grundinteresse ist bei ihm nicht das
naturwissenschaftliche, sondern das theologische. Er ist
Theologe (Gottesforscher) im eigentlichen und buchstäblichen
Sinne des Wortes, d. h. er sucht im Gegensatze gegen den
Volksglauben das eigentliche und wirkliche Wesen der Gott-
heit zu ergründen.
1. Pythagoras. 630.
Pythagoras ist nur in sehr bedingtem und abgeleitetem
Mafse ein Mann der Wissenschaft. Es darf ihm kaum ein
neuer, von ihm zuerst ausgegangener wissenschaftlicher Ge-
danke zugesehrieben werden. Er ist in gewisser Weise ein
Religionsstifter. Seine Lehre gab sich als eine von der Gott-
heit geoflfenbarte Anleitung zur Verbesserung des Loses der
Seele im Jenseits und bei den ihr bevorstehenden künftigen
neuen Einkörperungen, sowie zur endgültigen Erlösung der
Seele von der ihrer Natur widerstrebenden und leidvollen
Verbindung mit dem Leibe. Das zu erstrebende Ziel des
Lebens ist Herstellung des ursprünglichen körperlosen Lebens
der Seele. In die Geschichte der Wissenschaft gehört Pytha-
goras nur wegen der sich an diese Bestrebungen im Laufe
der Zeit auschliefsenden wissenschaftlichen Theorien, in die
Geschichte der Philosophie im engeren Sinne nur deshalb,
weü durch Plato sowohl seine Lehre vom Schicksal der
Seele als auch ein Teil jener durch ihn mittelbar angeregten
wissenschaftlichen Theorien in die Philosophie übergeführt
worden sind.
Von jeher ist es ein Bedürfnis des religiösen Gefühls-
überschwangs gewesen, die Propheten und Mittelsmänner der
übernatürlichen Güter selbst ins Ül)ernatürliche und Wunder-
bare hinüberzurücken. Dies ist auch dem Pythagoras in
überreichlichem Malse widerfahren. Es ist nicht Aufgal)e
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1. Pythagoras. 530. 51
der Geschichte der Philosophie, in der er nur die Nebenrolle
eines Vorläufers und Veranlassers spielt, diesen Legenden-
bildungen über ihn im einzelnen nachzugehen, so merkwürdig
dies auch sein möchte. Wir haben nur die Aufgabe, ihn im
Lichte der Geschichte zu zeigen. Da jedoch manche der
völlig haltlosen Berichte des späteren Altertums über ihn
auch heute noch hier und da als geschichtlich beglaubigte
Tatsachen aufgeführt werden, so mufs mit dieser Darstellung
die Mahnung verbunden werden, nur die in der nachfolgenden
Zeichnung als geschichtlich aufgeführten Angaben für glaub-
würdig zu halten.
Pythagoras war geboren auf der zu den kleinasiatisch-joni-
schen Kolonien gehörigen Insel Samos spätestens um 570 v.Chr.
Der im kleinasiatisch-jonischen Ephesus um 540 geborene Hera -
klit spricht ihm in zwei erhaltenen Bruchstücken, deren eins
freilich durch das Streben der späteren Neupylhagoreer, für
die Echtheit der Pythagoras untergeschobenen Schriften ein
altes Zeugnis zu schaffen, eine Verfälschung erlitten hat,
Viellemerei zu, und der ebenfalls einer der jonisch - klein-
asiatischen Städte (Halikarnassos) entstammende Herodot
(geboren 484, seit 444 in Thurii in Unteritalien in der un-
mittelbarsten Nähe des Hauptwirkungsfeldes des Pythagoras
lebend) nennt ihn einen der hervorragendsten unter den
griechischen Denkern (IV. 95). Wir müssen nach diesen
Zeugnissen annehmen, dafs sich Pythagoras ein nach dem
Mafse seiner Zeit aufsergewöhnlich vielseitiges Wissen an-
geeignet hatte. Und da es damals weder höhere Schulen,
noch — mit verschwindenden Ausnahmen — wissenschaft-
liche Bücher gab, so konnte er sich dieses Wissen nur durch
Reisen und durch den direkten Verkehr mit den Trägern
desselben aneignen.
Dazu boten sich ihm vornehmlich zwei Wege. Eines-
teils mufste ihn die soeben in dem nahegelegenen und stamm-
verwandten Milet aufgeblühte junge Naturwissenschaft locken.
Um die Mitte des Jahrhunderts wirkte dort noch Anaxi-
mander. Ob er von diesem noch beeinflufst wurde, läfst
sich nicht nachweisen. Dagegen wird es nachher wahrschein-
lich gemacht werden, dafs er von Anaximenes, dessen
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52 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismue.
Buch Über die Natur, wie gezeigt, wohl bald nach 547 ab-
gefafst wurde, nachhaltige Einwirkungen erfahren hat.
Anderenteils waren damals gerade in Griechenland und
Kleinasien jene schwärmerischen Geheimlehren in grofser
Verbreitung, die sich mit dem Schicksal der Seele als einer
im Leibe eingekerkerten, mit der Wanderung der Seele
durch viele Leiber nacheinander und mit den Mitteln der
Erlösung von diesem traurigen Lose beschäftigten. Pytha-
goras wurde in diese Bewegung hineingerissen und bildet
das hauptsächlichste Mittelglied ihres Überganges in die
Philosophie durch Plato. Dieser Übergang in die Philosophie
ist von unermefslicher Bedeutung für das gesamte Geistes-
leben der Kulturwelt bis zum heutigen Tage geworden. Es
ist daher erforderlich, über den Ursprung und das Auftreten
dieser Bewegung bei den Griechen wenigstens das Wesent-
lichste und Notwendigste beizubringen. Wir können hierbei
der ausgezeichneten Schrift von Erwin Rohde, „Psyche,
Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen", 2. Aufl.
189(3, folgen.
Dafs der Seelenwanderungsglaube von den Ägyptern
(Herod. IL 127) oder Indern zu den Griechen gekommen
sei, ist eine irrige Vorstellung. Bei den alten Ägyptern
findet sich überhaupt nichts nur einigermafsen Entsprechendes,
und auch die indische Seelenwanderungslehre hat wenigstens
ein völlig verschiedenes Endziel, das Erlöschen der Seele in
der Nirwana. Bei den thrakischen Völkerschaften im Norden
der Balkanhalbinsel bestand die Verehrung einer Gottheit
von wilder, ungestümer Art, die mit verschiedenen Namen
bezeichnet und durch wilde, lärmende Tänze verehrt wurde,
vermittelst deren man sich in eine Art von Raserei versetzte.
Man glaubte so dem Gotte ähnlich und mit ihm in Gemein-
schaft versetzt zu werden. In diesen Zuständen des bewufst-
losen Aufsersichseins erscheint die Seele als vom Körper
getrennt, und so verbindet sich mit dieser Religionsform ein
besonders entschiedener Glaube an die Selbständigkeit der
Seele und ihre Fortdauer unabhängig und getrennt vom
Körper. Die wilden Einbildungen des verzückten Zustandes
von einem Entrttcktseip der Seele aus dem Leibe zur Gott-
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1. Pythagoras. 530. 53
heit erschienen diesen Gläubigen als tatsächliche Erlebnisse.
So mufste der Leib als eine Fessel der freien Seele und ihr
Leben im Leibe als eine Herabwürdigung derselben er-
scheinen (Herod. V. 4). Auch der Glaube an eine Wiedei-
kehr der Gestorbenen in das leibliche Leben verband sich
schon bei den thrakischen Völkerschaften mit diesen Vor-
stellungen (Herod. IV. 93-95).
Von den Thrakern ging diese Religionsform der Ver-
zückung mit allem, was sich daran anschlofs, zu den Griechen
über. Schon in den homerischen Dichtungen finden sich
Spuren der Bekanntschaft damit (Rohde IL 5, 38). Die
eigentliche Verbreitung in Griechenland fällt aber erst in
die nachhomerischen Jahrhunderte. Der Name des Gottes,
dem diese Dienste gewidmet waren, ist bei den Griechen
Dionysos. Auch hier entwickelte sich im Zusammenhange
mit diesen Verzückungen der Glaube an das vom Körper
unabhängige Bestehen der Seele. Die Seelen begeisterter
Seher, wie Hermotimos und Epimenides, sollten die
Gabe besessen haben, auf längere Zeit aufserhalb ihres
Körpers an einem anderen Orte zu existieren (R. IL 94 ff.),
und Hermotimos wird noch von Aristoteles (Met. 984 b, 19)
als Vorläufer des Anaxagoras in der Lehre von der Existenz
einer selbständigen Vernunftseele in der Welt genannt. Die
Verbindung mit dem Leibe erscheint als eine Befleckung der
Seele (R. II. 101 f.) Insbesondere galt der sagenhafte thra-
kische Sänger Orpheus als Begründer einer dem Bacchos
gewidmeten Glaubensform und Weise des Gottesdienstes in
geschlossenen Gemeinden, die sich zu diesem ganzen Vor-
stellungskreis bekannten. Diese sektenartigen Gemeinschaften,
zu deren Mitgliedschaft man nur durch einen besonderen
Einweihungsakt gelangen konnten, hiefsen Orphiker. Sie
treten nicht vor der Mitte des 6. Jahrhunderts auf (R. II,
103 ff.), waren also in der Bildungszeit des Pythagoras etwas
Neues. In Athen legte der am Hofe der Söhne des Tyrannen
Pisistratus (nach 550) lebende Onomakritos ihre Lehre
in Dichtungen nieder. Diese Lehre selbst galt als göttliche
Offenbarung (E. II. 106 ff.). In mythischer Form wird hier
der Gedanke vorgetragen, dafs es Aufgabe des Menschen sei,
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54 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
das dionysische Element in ihm von dem titanischen zu be-
freien. Daraus entspringt dann die Vorstellung, dafs die
Seele im Leibe wie in einem Gefängnis eingeschlossen sei,
um Vergebungen eines früheren Zustandes zu büfsen, die
von Plato (Kratyl. 400 C; Phäd. 62 B) ausdrücklich als
orphische Lehre bezeugt wird. Immer wieder mufs die Seele
nach dem Tode des Körpers, an das „Bad des Geschickes"
gefesselt, in den „Kreis der Geburten" eintreten (R. IL 121 ff.).
Erlösung von der Einkörperung war aber zu erwarten durch
die Religionsgebräuche der Orphiker und durch die „orphische
Lebensführung", zu der besonders die Enthaltung von Fleisch-
nahrung gehörte (R. II. 125 f.). Und wenn auch nicht gleich
nach dem einmaligen Sterben die endgültige Erlösung statt-
findet, sondern dazu ein öfter wiederholtes reines Leben in
stufenweiser Steigerung erforderlich ist, so erwartet doch in
den Zwischenpausen zwischen den einzelnen Einkörperungen
im Totenreiche die nach Reinigung vom Körper Strebenden
ein glücklicheres Los als die Unreinen. Dieses Los wird
durch ein Gericht beim Eintritt ins Totenreich bestimmt
(R. IL 127). Von der Läuterung und Besserung der Seele
im Hades ist auch das irdische Los bei der nächsten Ein-
körperung abhängig, bis endlich die Seele, vom Fluche der
Wiedergeburten befreit, aus dem Kreise des Werdens zu
ewigem körperfreiem Leben ausscheidet (R. IL 129 f.). Es
mufs schon an diestr Stelle auf den schroffen Gegen-
satz aufmerksam gemacht werden, in dem diese körper-
feindliche Lehre zu der christlichen Vorstellung von der
Fortdauer der Seele in Verbindung mit einem verklärten
Leibe steht. Dem Apostel Paulus ist nicht der Leib der
Sitz und Grund der Unvollkommenheit, denn er denkt sich
(1. Kor. 15) den künftigen Zustand als Verbindung der Seele
mit einem unvergänglichen „seelischen" Leibe, und das
apostolische Bekenntnis lehrt sogar die „Auferstehung des
Fleisches".
Dafs nun Pythagoras sich diesen Vorstellungskreis in
allem Wesentlichen mit vollster Überzeugung angeeignet hat,
dafür besitzen wir hinreichende Zeugnisse. Erhalten ist das
Bruchstück einer Elegie des mit Pythagoras genau gleich-
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1. Pythagoras. 530. 55
altrigen Xenophanes, dahin lautend, dafs einst Pythagoras,
als ein Hirnd geprügelt wurde, hinzugetreten sei und gebeten
habe, die Züchtigung einzustellen, da in den Lauten des
Hundes ihm die Seele eines geliebten Verstorbenen vernehm-
bar werde (D. L. VIII. 36). Mehrere Zeugnisse finden sich
bei Herodot. Dieser nennt (II. 81) die Orphiker, Bac-
chiker und Pytha goreer als verwandte Erscheinungen, deren
mystische Gebräuche er mit dem gemeinsamen Namen Orgien
(d. h. nicht ausschweifende Gelage, sondern geheimnisvolle
Gottesdienste) bezeichnet. Er erwähnt femer an der schon
angeführten Stelle IV. 93 — 96 ausführlich eine Erzählung,
die den thrakischen Gott Zalmoxis zu einem Sklaven des
Pythagoras machte, der von diesem den Glauben an Unsterb-
lichkeit und Seelenwanderung angenommen und nach seiner
Freilassung bei seinen Landsleuten eingeführt habe. In dieser
— im übrigen abgeschmackten — Erfindung spiegelt sich die
Tatsache, dafs der Pythagoreismus ebenso wie der orphisch-
bacchische Glaube mit der thrakischen Religion in Zusammen-
hang stand. Ferner erwähnt Plato (Rep. 600 B), dafs
Pythagoras wegen einer von ihm eingeführten Weise der
Lebensführung Liebe und Anhänglichkeit gefunden habe,
und dafs dessen Anhänger noch zu seiner — Piatos — Zeit
an dieser Lebensführung, die sie die pytha gorische nennten,
eine hervorstechende Eigentümlichkeit besäfsen. Auch die
beiden die „Viellemerei" des Pythagoras tadelnden Aus-
sprüche des Heraklit deuten auf ein abenteuerliches, von
Heraklit mifsbilligtes Resultat seiner Bestrebungen hin. In
dem einen heifst es, Pythagoras sei ein Beispiel, dafs Viel-
lernerei das Denken nicht fördere, und in dem anderen heifst
es (nach der wahrscheinlich ursprünglichen Fassung der
Stelle), Pythagoras habe am meisten von allen Menschen
sich des Erkundens beflissen und die Ergebnisse dieser Er-
kundung für seine eigene Weisheit ausgegeben, die aber in
Wahrheit nichts anderes sei als Viellernerei und schlechte
Kunst. Ob Pythagoras, wie berichtet wird (D. L. I. 13, 15 ;
IV. 8 f. ; VIII. 2, 40), diese seine Weisheit gerade von dem
Orphiker Pherekydes von Syros, einer der kykladischen
Inseln, erbalten hat, ist nicht auszumachen und übrigens
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56 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
völlig gleichgültig. Jedenfalls brauchte er, um diese Weis-
heit zu erlangen, nicht, wie ebenfalls im Altertum berichtet
wurde, nach Ägypten zu reisen, wo dieselbe ohnedies nicht
zu finden war, und noch viel entschiedener müssen die späten
Erzählungen von seinen Reisen in den fernen Orient, nach
Babylon, Indien, Persien, als Fabeln verworfen werden.
Wir dürfen aber ferner annehmen, dafs dieses mystische
Treiben durch Pythagoras auf eine höhere Stufe erhoben
worden ist. Blieb auch bei ihm das Endziel, die Erlösung
der Seele von den Banden der Leiblichkeit, unverrückt be-
stehen, nahm er auch keinen Anstofs an der rohen Vor-
stellung, dafs eine beliebige Seele in einen beliebigen Körper,
sogar den eines Tieres, fahren kann (Aristot. 407 b, 22), so
scheint er doch in den Hilfsmitteln der Seelenreinigung eine
Vertiefung und Veredlung eingeführt zu haben. Nicht nur
geheimnisvolle Götterdienste, körperliche Enthaltungen und
äufsere Gebräuche hielt er für wirksam. Auch durch Musik,
nicht durch jene wilde, sinnverwirrende Flöten- und Zymbel-
musik der alten Dionysosfeste, sondern durch eine ernste,
weihevolle, getragene Musik der apollinischen Lyra sollte
die Seele sich loslösen von der Umstrickung des Leibes.
Ferner hielt er Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Menschlich-
keit für geeignete Mittel der Seelenbefreiung. Insbesondere
aber dürfen wir wenigstens vermuten, dafs der Gedanke der
Reinigung von der Befleckung durch den Körper auch die
Brücke gebildet hat zu den ihm beigelegten naturwissen-
schaftlichen Bestrebungen. Auch die Wissenschaft konnte
als Seelenreinigung dienen, wenn diese nicht als wilde Ver-
zückung, sondern als mafsvolle, besonnene und gelassene
Haltung der Seele aufgefafst wurde. Nach dem Platoniker
Heraklides von Pontus, der der zweiten Hälfte des
vierten Jahrhunderts angehört, wurde Pythagoras einst vom
Tyrannen von Phlius nach seinem Berufe gefragt. Er er-
klärt sich für einen Philosophen, d. h. für einen Erkenntnis-
strebenden, und erläutert diesen neuen und befremdlichen
Ausdruck durch das Bild der griechischen Festspiele. Wie
auf diesen die einen erschienen, um als Sieger Ruhm, die
anderen, um als Händler Gewinn zu erlangen, die Edelsten
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1. Pythagoras. ^30. 57
und Besten aber nur, um zu schauen, so seien auch wir
aus einem anderen Leben, einer anderen Welt
in dies Leben gekommen. (Cic. Tusc. V. 8 f. ; D. L. L12;
VIIL 8.) Ergänzen wir die Vergleichung , so ergibt sich,
dafs das Streben der Menschen bestimmt wird durch die
aus dem Vorleben der Seele ihr überkommene Beschaffen-
heit, und dafs das Erkenntnisstreben das edelste, dem Voll-
endungszustand der Seele nächste ist, also auch als Mittel
der Seelenreinigung, ja als das höchste und vollkommenste
Mittel derselben, gelten kann. Nun stammt freilich diese
Erzählung nicht aus einem geschichtlichen Bericht, sondern
aus einem, wie so oft geschah, irrtümlich in einen geschicht-
lichen Bericht umgedeuteten erdichteten Dialog in der Weise
Piatos, in dem auch eher platonische als pythagoreische Ge-
danken ausgesprochen wurden (D. L. L 12). Aber wir be-
sitzen doch noch ein älteres Zeugnis, dafs die Pythagoreer
schon sehr früh sich Philosophen im wörtlichen Sinne ge-
nannt haben. Nach einer alten Nachricht war die um 470
verfafste Hauptschrift Zenos von Elea oder doch ein Teil
derselben unter dem Titel „Wider die Philosophen" bekannt.
Auch wenn dieser Titel nicht von ihm selbst herrührte,
80 mufs er doch für den Inhalt dieser Schrift oder des be-
treflfenden Abschnitts derselben besonders charakteristisch
gewesen und direkt aus ihrem Inhalt geflossen sein. Dafs
aber diese Streitschrift zum Teil gerade gegen die wissen-
schaftlichen Bestrebungen der Pythagoreer gerichtet war,
wird bei Zeno nachgewiesen werden. Wenn also auch Pytha-
goras selbst das Wort „Philosoph" noch nicht gebraucht hat,
80 umfs es doch sehr früh in der Schule entstanden sein.
Nun zeigt sich aber gerade diese älteste Form des
wissenschaftlichen Pythagoreismus, wie ebenfalls später ge-
zeigt werden wird, als eine Umbildung der Lehre des
Anaximenes von der beständig in die Welt einströmenden,
den unendlichen Raum aufser der Welt erfüllenden Luftmasse,
und auch die späteren wissenschaftlichen Pythagoreer haben
diesen Gedanken von der unendlichen Luftmasse aufserhalb
der Welt lange beibehalten (Aristot. 213 b, 22; D. 316 f., 338).
Diese von Anaximenes stammende Vorstellung von dem uu-
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58 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismiis.
endlichen Luftraum, von dem aus die Welt ernährt wird,
ist das älteste und allgemeinste Erbgut des wissenschaftlichen
Pythagoreismus. Wir dürfen also annehmen, dafs es Pytha-
goras selbst von Anaximenes überkommen hat, und dafs er
überhaupt seinen naturwissenschaftlichen Überzeugungen
nach wesentlich Schüler des Anaximenes war.
Zu diesem Zusammenhange mit Anaximenes stimmt
auch die Nachricht, dafs Pythagoras zuerst das Wort „Kosmos"
für Welt gebraucht habe. Dafs dies wahrscheinlich bereits
von ' Anaximenes geschehen ist, haben wir gesehen. Pytha-
goras aber gab diesem Ausdruck einen etwas veränderten Sinn
und zugleich eine stärkere Betonung, indem er die Welt als
ein erbauliches Vorbild für den nach Erlösung vom Leibe
Strebenden hinstellte — ein neuer Beweis für den Zusammen-
hang der wissenschaftlichen Tätigkeit mit dem Reinigungs-
streben. So sagt Plato (Gorg. 508A), die „Weisen" hätten
das All Kosmos genannt, weil in ihm Ordnung, nicht Un-
ordnung und Regellosigkeit herrsche.
Welches Mafs von Bedeutung nun Pythagoras selbst
schon der wissenschaftlichen Beschäftigung für die Haupt-
angelegenheit des Lebens beigelegt hat und ob er auf diesem
Gebiete ein selbständiger Forscher war, läfst sich nicht aus-
machen. Spätere Berichte übertragen auf ihn persönlich die
verschiedenartigsten und unvereinbarsten wissenschaftlichen
Lehren, die ganz offenbar erst der späteren Entwicklung
des wissenschaftlichen Pythagoreismus oder eher noch dem
noch weit späteren Neupythagoreismus angehören. Das
Wahrscheinlichste ist, dafs er selbst in der Naturforschung
kaum etwas Neues vorgebracht hat. Aber indem er die
wissenschaftliche Beschäftigung unter die Mittel der Seelen-
reinigung aufnahm, pflanzte er ein Samenkorn, das in der
weiteren Entwicklung des Ordens reichlich aufgegangen ist.
Der pythagoreische Orden läfst sich in dieser Beziehung mit
dem mittelalterlichen Mönchsorden der Benediktiner
vergleichen.
Dafs nun dieser ganze Gedankenkreis sich mit den un-
würdigen Vorstellungen von der Gottheit bei Homer und
Hesiod nicht zusammenreimen liefs, ist von vornherein
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1. Pythagoras. 580. 59
ersichtlich. Ein direktes Urteil des Pythagoras über die
Volksreligion ist zwar nicht erhalten, indirekt aber läfst.
sich seine Stellung zu derselben aus einer schon früh zu
seiner Verherrlichung ersonnenen Legende entnehmen. Man
schrieb ihm aufser anderen wunderbaren Verrichtungen auch
eine Hadesfahrt zu. Zurückgekommen, habe er dann über
seine Wahrnehmungen in der Unterwelt berichtet. So habe
er unter anderem die Seelen Homers und Hesiods zur
Strafe für das, was sie über die Götter gesagt,
in kläglicher Lage gefunden. Die Seele Homers hängt an
einem Baume, von Schlangen umringelt, die Hesiods wim-
mert unter Qualen, weil an eine eherne Säule angeschnürt
(D. L. Vin. 21).
Im vorstehenden haben wir die persönlichen Über-
zeugungen dargelegt, die Pythagoras während seiner Lehr-
und Bildungszeit sich angeeignet haben mag. Es mufste
sich aber aus dieser Lebensansicht auch ein Streben nach
Einwirkung auf andere entwickeln. Die Überzeugung von
der überwältigenden Wichtigkeit der Seelenrettung führt zu
einer Propaganda der Seelenrettung. Schon die Bacchiker
und Orphiker hatten sich überall zu Gemeinden oder Sekten
zusammengeschlossen. Auch bei Pythagoras mufste sich von
vornherein der Gedanke einer Sammlung und Anwerbung
Gleichgesinnter, wie er ihn später im pythagoreischen Orden
verwirklicht hat, als wesentlicher Bestandteil seiner Be-
strebungen einstellen.
Aber er ging in seinen Entwürfen noch weit über dies
geheimtuerische Konventikelwesen hinaus. War das künftige
Los der Seele vom irdischen Verhalten abhängig, so mufste
wo möglich für alle in dieser Richtung etwas geschehen;
es mufste das Staatsleben, es mufsten die Gesetze und öffent-
lichen Einrichtungen dem grofsen Zwecke dienstbar gemacht
werden. Ein antiker Calvin, geht Pythagoras in diesem
Punkte weit über seine Vorgänger hinaus. Er fafste den
Gedanken eines dem jenseitigen Heile dienenden Staats-
wesens.
Mit dieser Summe von Überzeugungen wird also Pytha-
goras in gereifterem Alter von seinen Reisen nach Samos
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60 Srste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
zurückgekehrt sein. Er wird auch versucht haben, in seiner
Vaterstadt für seine Überzeugungen zu wirken. Mit welchem
Erfolge und wie lange, ist unbekannt. In Sauios hatte sich
damals, etwa um 532, Polykrates der Alleinherrschaft
bemächtigt. Der Tyrann stützte sich auf die Massen und
hatte, wie Herodot ausführlich berichtet, die früher herr-
schenden Aristokraten aus dem Staate vertrieben. Er wufste
seine Popularität durch viel diesseitigere Mittel zu erhalten
als die pythagoreische Seelenrettung (Herod. III. 39, 54, 125),
und konnte überdies wohl einen sofehen, die Gemüter auf-
regenden Fanatismus nicht gebrauchen. Pythagoras verliefs
um 530 seine Heimat. Zuverlässige Nachrichten über die
Ursachen dieser im Altertum ungewöhnlichen Preisgebung
der Heimat und des Heimatsrechts sind nicht vorhanden
(Z. 308, 5).
Er wandte sich nach der unteritalischen Griechenstadt
Kroton, die nach der Begründung der dorischen Herrschaft
im Peloponnes von den dort unterdrückten Achäem unter
dorischer Führung gegründet worden war und sich unter der
Herrschaft einer Minderzahl von Adligen und Begüterten
einer grofsen Blüte erfreute. Er kam als Jonier in eine
nach Sprache und Sitte dorische Welt.
Aber er fand hier eine empfängliche Stätte für ein
Wirken im Sinne seiner Überzeugungen. Vielleicht hatte
die gerade in Unteritalien sehr verbreitete orphische Lehre
(R. II. 106) den Boden bereitet. Auch waren wohl die herr-
schenden Klassen für Derartiges eher empfänglich als die
unterdrückten Massen, und andernteils konnte es auch im
Interesse der Herrschenden liegen, wenn der Sinn der Be-
herrschten von den bürgerlichen Zuständen auf jenseitige
Angelegenheiten gelenkt wurde. In Kroton verwirklichte
sich ihm zunächst sein Ideal einer Ordensgemeinschaft mit
einer dem Heil der Seele dienenden Lebensordnung. Die
einzelnen Nachrichten über diese Einrichtung sind sehr un-
sicher und haben auch kein genügendes philosophisches
Interesse, um bei ihnen ausführlich zu verweilen. Wie un-
sicher diese Nachrichten sind, beweist schon der bereits von
Cicero (N. D. III. 88) hervorgehobene Widerspruch, dafs
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1. Pythagoras. 530. 61
ihm einesteils die Verwerfung der blutigen Opfer, andern-
teils aber die Darbringung eines Stieropfers (oder gar einer
ganzen Hekatombe) an die Musen nach Entdeckung seiner
geometrischen Lehrsätze beigelegt wurde.
Es konnte aber ferner nicht ausbleiben, dafs eine
so fest organisierte Gemeinschaft, die sich vornehmlich aus
den herrschenden Klassen rekrutierte, und die überdies
ihre Forderungen mit dem ganzen Gewicht der höchsten
menschlichen Angelegenheit geltend machte, auch auf die
öffentlichen Verhältnisse einen mafsgebenden Einflufs gewann.
Auch das Ideal des antiken Calvin fand in Kroton seine
Verwirklichung. Ja, der Orden fand in einer ganzen Zahl
der unteritalischen Griechenstädte, in denen ähnliche Zu-
stände, wie in Kroton, seine Aufnahme begünstigten, Aus-
breitung und eine herrschende Stellung. Im Mittelpunkte
dieses ausgedehnten Kreises steht Pythagoras als imponierende
Herrschergestalt in allen Angelegenheiten des Ordens. Hier
gilt das: Er selbst hat es gesagt! (Cicero N. D. I. 10) als
letzte Entscheidung unbedingt. Die Ordenslehre mufste
notwendig in allen wesentlichen Punkten stabil sein. Sie
steht und fällt mit ihren Voraussetzungen. Indirekt aber
erstreckt sich diese Herrschergewalt auch auf die politischen
Zustände der Gemeinden, in denen der Orden eine ent-
scheidende Macht gewonnen hatte. Der antike Calvin ist in
gewissem Sinne zu einem antiken Crom well geworden.
Geschrieben hat Pythagoras nach der wahrscheinlichsten
Nachricht, der freilich allerlei Versuche, sogar durch Fäl-
schung eines Zeugnisses des Heraklit, spätere Unterschie-
bungen als echte Schriften von ihm erscheinen zu lassen,
gegenüberstehen, nichts (D. L. VIIL 6 f.; I. 16), nicht ein-
mal im Sinne der Ordenslehre, geschweige denn in dem der
sich später im Orden entwickelnden wissenschaftlichen For-
schung.
Die Nachrichten über das weitere Schicksal des Pytha-
goras und seiner Stiftung sind unsicher und gröfstenteils
offenbar völlig ungeschichtlich. Als das Wahrscheinlichste
über den weiteren Verlauf der Bewegung hat sich für die
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Q2 ^rste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
mühsamsten und sorgfältigsten Forschungen folgendes er-
geben.
Um 510 führte Kroton einen Krieg gegen die übermächtige
Nachbarstadt Sybaris, der, wohl infolge der inneren Kräf-
tigung Krotons durch den Pythagoreismus, mit einem glän-
zenden Siege endete. Sybaris wurde völlig zerstört; sein
Landbesitz fiel den Krotoniaten zu. Aber bei der Verteilung
dieser Ländereien kam es nach der wahrscheinlichsten An-
gabe zu Streitigkeiten innerhalb der herrschenden
Partei selbst, in die auch Pythagoras verwickelt wurde,
und die ihn bewogen oder nötigten, Kroton zu verlassen und
sich nach dem benachbarten Metapont zu begeben, wo er
bald darauf, gegen 500, starb. Noch zu Ciceros Zeit wurde
dort sein Haus und die Stelle gezeigt, wo er gestorben
(Fin. V. 4). Die Nachrichten über diese Vorgänge sind über-
aus dürftig und unzuverlässig (Z. 335) ; insbesondere ist mit
diesen Vorgängen vielfach die erst viel später, um 440, er-
folgte blutige Auflehnung der demokratischen Partei in den
unteritalischen Städten gegen die politische Macht des Ordens,
die zu dessen Zersprengung führte, zusammengewirrt worden.
In Wirklichkeit hat dieser Zusammenbruch des von Pytha-
goras in einer Reihe der unteritalischen Städte begründeten
Systems erst 60 Jahre nach seinem Tode stattgefunden.
Um so mehr aber liefert sein Endschicksal einen Beitrag zu
dem traurigen Kapitel vom Undank der die Wohltaten
eines aufserordentlichen Wirkens Geniefsenden selbst gegen
den Wohltäter. „Der mein Brot isset, tritt mich mit Füfsen"
(Z. 332 ff.).
Die nachherige Zersprengung der Ordensgemeinschaft
hatte eine Zerstreuung der Ordensglieder und vielleicht eben
dadurch bei den wissenschaftlich Gerichteten ein unabhängi-
geres Walten des wissenschaftlichen Geistes zur Folge.
Davon wird an späteren Stellen zu handeln sein. Mit noch
gröfserer Zähigkeit aber haben sich der Ordensglaube und die
pythagorische Lebensführung in kleineren Kreisen erhalten,
um in späterer Zeit wieder emporzutauchen und, wie eben-
falls später zu berichten sein wird, von neuem Einflufs auf
die philosophische Bewegung zu gewinnen.
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2. Xenophanes. 63
2. Xenophanes.
Der zweite dieser aus dem jonischen Kleinasien nach
Unteritalien übergesiedelten Vorläufer der dort zur Ent-
wicklung gelangenden neuen Denkrichtungen ist Xeno-
phanes. Ihm liegt ein religiös-politisches Wirken im Sinne
des Pythagoras fern; er ist Dichter und Rhapsode, aber
auch in viel höherem Mafse als Pythagoras Denker über das
Wesen der Dinge. Doch tritt er darin wieder Pythagoras
zur Seite, dafs ein religiöser Gedanke — und zwar ist dies
bei ihm das Wesen der Gottheit -— im Mittelpunkte seines
Interesses steht.
Xenophanes war geboren um 570 vor Chr. in der
kleinasiatisch-jonischen Stadt Kolophon. Er war also kaum
jünger als Pythagoras. Nach dem erhaltenen Bruchstück
einer seiner Elegien (D. L. IX. 18) blickte er zur Zeit der
Abfassung derselben auf ein im Alter von 25 Jahren be-
gonnenes 67 jähriges Wanderleben durch die hellenischen
Lande zurück. Diese Elegie fällt also ungefähr ins Jahr 478,
und er war zur Zeit ihrer Abfassung 92 Jahre alt. Nach
der eben angeführten Stelle des Diogenes Laertius war er
aus seiner Vaterstadt vertrieben (oder verbannt) worden.
Der Zeit nach fftUt der Beginn seiner Heimatlosigkeit mit
der Unterjochung Joniens durch Cyrus 545 zusammen. Es
darf also vermutet werden, dafs seine Anhänglichkeit an
die nationale Unabhängigkeit der Grund seiner Vertreibung
gewesen ist. Dazu stimmt auch, dafs er in höherem Alter
anscheinend eine neue Heimat im unteritalischen Elea oder
Velia am Golf von Neapel, der Gründung der durch die
gleiche Freiheitsliebe zur Aufgabe der kleinasiatischen
Heimat getriebenen Phokäer, gefunden hat. Doch davon
später.
Unter seinen Dichtungen wird ein völlig verschollenes
Epos, „Die Gründung Kolophons", genannt (D. L. IX. 20).
Xtutmafslich hatte er diese Dichtung noch während des
Aufenthalts in der Vaterstadt verfafst. Kolophon wird unter
den sieben Städten, die sich um den Ursprung Homers
stritten, an dritter Stelle genannt, ein Beweis, dafs es ein
alter Sitz der epischen Dichtung war.
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(54 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Auch für seine Elegiendichtung konnte er Vorbild und
Anregung noch in seiner Vaterstadt erhalten, wo um 600
einer der hervorragendsten Elegiker, Mimnermus, bltlhte.
Doch läfst sich unter den von ihm erhaltenen Elegien oder
Elegienbruchstticken nichts mit Sicnerheit auf die Zeit vor
seiner Auswanderung zurückdatieren. Zeitlich nicht allzu-
fern von der Katastrophe scheint das Bruchstück zu liegen,
in dem er schildert, wie in der letzten Zeit vor der Unter-
jochung die Bürger Kolophons den Luxus und die Weich-
lichkeit der Lyder angenommen hatten und nur in Purpur-
gewändern, salbenduftend und mit gekräuseltem Haar auf
dem Markte erschienen (Diels, Poet, philos. fragm., Fr. 3).
Damals war der mündliche Vortrag der Geisteswerke
noch die normale und fast ausschliefslich übliche Form ihrer
Veröffentlichung. Gewifs ist er schon in seiner Vaterstadt
bei Götterfesten im musischen Wettstreit mit seinen Dich-
tungen aufgetreten. Nach seiner Vertreibung trug er als
wandernder Rhapsode seine eigenen Dichtungen vor (D. L. 18),
wohl auch als Mittel, seinen Lebensunterhalt zu gewinnen.
Die beiden uns vollständig erhaltenen Elegien (Diels,
Fr. 1 u. 2) zeigen uns Xenophanes als einen Mann von
ernstem, idealem, das Geistige und Sittliche hochschätzendem
Sinne. Die eine schildert die Vorbereitungen zu einem
reichen, glänzenden Gastmahle zu Ehren eines Gottes. Er
knüpft daran die Mahnung, beim Gelage mit reinem Sinne
die Götter zu ehren und um gerechten Sinn anzuflehen,
sowie mäfsig zu geniefsen, um auch ohne Hilfe des Sklaven
seine Wohnung erreichen zu können, beim Mahle selbst aber
nicht Streitigkeiten, Possen oder erdichtete Fabeln von den
Kämpfen der Titanen, Giganten oder Kentauren vorzubringen,
sondern Tüchtiges aus eigenem Erleben oder Gedanken über
die Tugend. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir auch
diese noch von frommem Glauben an die Volksgötter erfüllte
Dichtung noch in das Jugendalter des Dichters verlegen.
Später ändert sich diese pietätvolle Stimmung gewaltig.
Die andere Elegie beklagt die übermäfsige Schätzung
und Ehrung der Olympiasieger seitens ihrer Mitbürger.
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2. Xenoplianes. 65
Dadurch werde weder die materielle Blttte, noch die gute
Zucht gefördert, und die Weisheit, wie er sie vortrage, ent-
hehre der gebührenden Würdigung.
Von Charakterfestigkeit und sittlichem Ernst zeugt auch
eine Antwort, die er dem Musiker Lasos von Hermione
gegeben haben soll. Als dieser ihn der Feigheit beschuldigte,
weil er nicht mit ihm — um Geld — würfeln wollte, sagte
er : gerade die Einwilligung zum Verwerflichen würde Feig-
heit sein (Plut. vit. pud. 5).
Ein Mann von so ernstem und auf das Geistige ge-
richtetem Sinne nahm selbstverständlich die auf seinen
Wanderzügen sich ihm darbietenden Bildungsgelegenheiten
eifrig wahr. So wird er auch von den milesischen Denkern
einige Kenntnis genommen haben. Theophrast hatte ihn
geradezu als Schüler des Anaximander bezeichnet (D. L.
IX, 21), der dort mutmafslich um 547 sein Buch „Über die
Natur" veröfiFentlicht hatte und bald darauf starb, während
Sotion, der alte Historiker der Philosophenfolgen, ihn nur
als dessen Zeitgenossen bezeichnete. Dagegen hat er (nach
D. L. IX, 19) einen Hauptlehrsatz des Anaximenes, den
Satz, dafs die Welt atme, ausdrücklich verworfen. Ebenso
hatte er, wie wir gesehen haben, ofiFenbar während seines
Aufenthalts in Unteritalien in späteren Jahren, Kenntnis
von der Seelen wanderungslehre des Pythagoras ge-
nommen. Als Vertreter eines vielseitigen Wissens nennt
Heraklit bald nach 500 den Xenophanes neben Hesiod,
Pythagoras und dem vielgewanderten Geschichtschreiber
Hekatäus von Milet zum Belege des Satzes, dafs „Viellernerei
die Denkkraft nicht fördere" (D. L. IX. 1).
Vornehmlich aber müssen auf seinen Wanderungen die
von Stamm zu Stamm, von Stadt zu Stadt, wechselnden
religiösen Vorstellungen und Gebräuche sein Nachdenken
rege gemacht haben. Die Frage nach dem Wesen der Gott-
heit tritt dauernd in den Mittelpunkt seines Denkens. Er
ist in erster Linie nicht Physiker, wie Thaies und seine
Nachfolger, sondern „Theologe". Die Frage, wie man die
Gottheit zu denken habe, wird das sein Interesse ausschliefst
lieh beherrschende Problem; sie bestimmt auch die Weise,
DÄrlig. L 5
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4>(j Erste Periode. Zweiter Abscluiitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
in der er für den Fortgang des Denkens fruchtbar geworden
ist, uad den Platz, den er in der Geschichte der Philosophie
einzunehmen hat. Mit Recht hat daher auch Theophrast
in seiaer „Gaschichte der physischen Lehren "^ unter aus-
drtlcklicher Angabe dieses Grundes ihn als eigentlich nicht
in 4a8 physische Gebiet gehörig bezeichnet (D. 480).
Und zwar hat er hinsichtlich dieses ihn fortan durchs
Leben begleitenden Problems anscheinend zwei verschiedene
Phasen durchlaufen. Die ältere ist die der leidenschaftlichen
Bekämpfung der herrschenden Religionsvorstellungen, die
sich zu skeptischen Klagen über die Schwäche des mensch-
lichen Erkenntnisvermögens überhaupt steigerte, die spätere
die einer denkenden Konstruktion des Göttlichen nach dem
ihm vorschwebenden Ideal. Wir können die erstere Phase,
4ie des Ankämpfens gegen die Volksmythologie und des
Zweifels am menschlisehen Erkenntnisvermögen auf diesem
GeWete, nach den Gedichten, in denen sie niedergelegt war,
auch die der Sillen nennen. Die andere, die des positiven
Konstruierens , ist die seines grofsen Lehrgedichtes,
herkömmlieherweise, aber gewifs nicht von ihm selbst „Über
di« Natur** betitelt. Es ist wahrscheinlich, dafs er dieses
Gedicht erst in höherem Alter verfafst hat, als er in Elea
einen Ruhesitz gefunden hatte. Dafs er in Elea heimisch
geworden, beweist aufser der Tatsache, dafs der um 540 in
Elea geborene Parmenides sein Schüler war (Aristot.
986b, 22; D. L. IX. 21; D. 480), die Angabe, dafs er auch
die Gründung Eteas in einem Epos, und zwar in 2000 Hexa-
metern, besungen habe (D. L. IX.. 20). Die heldenmütige
Freiheitstat dir Pbokäer, die angesichts der medischen
Unterjochung 546 mit Weib und Kind ihre Stadt im Stiche
liefsen und zu Schifie eise neue Heimat suchten, die sie
nach vielen Nöten und Gefaliren in Elea fanden (Herodot
I. 162—167), war ein Thema, das eng mit seinen eigenen
schmerzlichen Jugenderinnerungen zusammenhing, ein ver-
gröfsertes Spiegelbild seines eigenen Geschickes. Gerade in
einer solchen Umgebung mufste er sich hdmisch fühlen.
Dafs aber überhaupt seine dichterische Ader bis ins höchste
Greisenalter nicht versiegt war, zeigt schon das eingangs
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2. Xenophanes. (j7
erwäluite Elegiebruehstttck des ZweiundDeunzigjährigen, das
wohl schon jenseits seines siebzigjährigen Diehterjubiläunis
liegen mochte. Freilich läfst sich die Annahme eines Alters-
wehnsitzes in Elea mit diesem Zeugnis tlber ein bis 478
fortgesetztes Wanderleben nur durch die Voraussetzung ver-
einigen, dafs er auch yon Elea aus seine Wanderungen als
Rhapsode ooch fortsetzte.
Hinsichtlich dieser beiden Phasen seiner Stellung zum
theologischen Problem haben wir nun das Nähere beizu-
bringen.
In defi Sillen sowohl wie im Lehrgedicht eröffnet Xeno-
phaaes der Poesie ein neues Gebiet. Beide sind in Hexa-
metern abgefafst; beide übertragen den epischen Vers auf
das Lehrgedicht. Die Sonderung beider Phasen aber, die
Verbindung der skeptischen Aussprtlche mit dem Tadel der
herkömmlichen Göttervorstellungen und die Zuweisung beider
an seine mittleren Jahre einerseits, die Verlegung der po-
sitiven Lehre über das Göttliche in sein höheres Alter
andererseits beruht nicht auf blofser Vermutung, sondern
aof einem positiven Zeugnisse, das diese Annahme vollständig
zu begründen scheint.
Der schon erwähnte Timon von Phlius, der geniale
Aohftnger und „Prophet" des radikalen Skeptikers Pyrrhon
von Elis, hat ebenfalls Sillen verfafst. Ein Sillos ist
eigentlich ein s^eel und höhnisch blickender Mensch, dann
übertragen ein Spottgedicht. In den drei Büchern dieser
Sillen nun, deren Ton und Plan die erhaltenen Bruchstücke
noch erkennen lassen, in denen er die ganze ältere und zeit-
genössische Philosophie als dogmatisch aufs schärfste angriff,
hatte er unserem Xenophanes eine hervorragende Rolle zu-
geteilt. Sein Angriff war in die höchst geistvolle Parodie
der Hadesfahrt des Odysseus (Odyss. XI) eingekleidet. Im
ersten Buche schilderte er in homerischen Wendungen einen
gewaltigen Redekampf der Philosophen im Hades. Im zweiten
Buche erschien dann der Schatten des Xenophanes, des
von den Illusionen des Dogmatismus fast freien ^Homer-
zerstampfers", der die Gottheit fern von Menschenart vor-
gestellt habe, und erklärte dem fragenden Timon die
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68 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
einzelnen Gestalten dieses philosophischen Schattenreichs in
beifsenden Sarkasmen. Dabei nun läfst ihn Timon klagend
auf die dogmatische Wendung seines späteren Denkens hin-
weisen. Er läfst ihn sich selbst als einen „nach zwei Seiten
Blickenden** anschuldigen und in die Klage ausbrechen,
dafs er noch in hohem Alter, der skeptischen Vorsicht
vergessend, auf Abwege des Denkens geraten sei und eine
bestimmte positive Ansicht über das Wesen der Gottheit
aufgestellt habe.
Diese bemerkenswerten Verse des Timon scheinen uns
zu berechtigen, sowohl die Bruchstücke der hexametrischen
Dichtungen des Xenophanes, in denen er sich zu einem
zweifelnden Verhalten bekennt, als auch diejenigen, in denen
er die herkömmlichen Göttervorstellungen angreift, einer
früheren Zeit und den Sillen zuzuweisen, seine positive Lehre
über das Göttliche dagegen dem höheren Alter und dem
Lehrgedicht.
Kommen wir zunächst auf die Phase der mittleren Jahre !
Sein Zweifel an der herrschenden Götterlehre entspringt
ganz und gar seinem sittlichen Bewufsteein. Am verfeinerten
sittlichen Gefühl einer fortgeschrittenen Bildungsstufe ge-
messen, können die überlieferten Göttergestalten nicht be-
stehen. Es ist ganz derselbe innerreligiöse Prozefs,
der in der Sphäre der biblischen Religion bei Ezechiel, bei
Jesus zu Tage tritt, nur im Falle des Xenophanes in der
Negative verharrend. „Alles haben Homer und Hesiod den
Göttern beigelegt, was bei den Menschen schimpflich und
tadelnswert ist, Stehlen, Ehebrechen, einander betrügen, und
fast alle ungesetzlichen Werke haben sie von den Göttern
ausgesagt" (Fr. 11), Diese anstöfsige Erscheinung hat aber
ihren begreiflichen Grund. Die Götter sind von den Menschen
nach dem Bilde ihres eigenen Wesens, ihrer eigenen Gebrech-
lichkeit und Unvollkommenheit, geschafifen. „Die Menschen
wähnen, die Götter würden geboren wie sie selbst; sie legen
ihnen das eigene Fühlen, die eigene Gestalt und Stimme bei.
Würden ja auch Rinder, Löwen oder Pferde, wenn sie Hände
hätten und malen könnten, die Gestalten der Götter nach
ihrem eigenen Bilde formen. So stellen auch die Neger
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2. Xenophanes. 09
ihre Götter schwarz und plattnasig, die Thraker die ihrigen
blond und blauäugig dar" (Fr. 14).
Das sind die dürftigen Überreste, die von den Aus-
führungen der Sillen über die Götterfrage auf uns gekommen
sind. Aber sie genügen, um uns zu zeigen, in welchen
Bahnen das Denken unseres Dichters auf dieser Stufe seiner
Entwicklung sich bewegte, dafs wir hier nicht mehr und
nicht weniger als eine Art von antikem Feuer bach vor
uns haben.
Diese Wahrnehmung einer völligen Abhängigkeit der
Göttervorstellungen vom eigenen Wesen ihrer Verehrer aber
hat ihn dann offenbar weiter zu jenen allgemeinen Aus-
sprüchen über die Nichtigkeit des menschlichen Erkennens
überhaupt geführt, die dem Pyrrhoneer Timon so zusagten,
dafs er ihn trotz seines späteren Rückfalls in den Dogma-
tismus zum Hadesführer erwählte und damit zugleich zum
Altmeister und Schutzpatron der Skepsis proklamierte.
„Es ist nie ein Mensch gewesen und wird nie einer sein,
der das Gewisse weifs über die Götter und über das, was
er über alle Dinge sagt. Denn wenn es ihm auch gelänge,
das Vollkommenste (d. h. das Richtigste) zu sagen, so weifs
er es gleichwohl nicht" (d. h. auch die richtige Aussage
wäre nur ein unkontrollierbarer Zufall); „Meinen ist aller
Los" (Fr. 34). In diesem Zusammenhange scheint auch der
Ausspruch vorgekommen zu sein: Gott weifs die Wahrheit
(Stob. Ecl. II. 1). Auch Cicero bezeugt (Ac. IL 74), er
schelte diejenigen als anmafsend, die zu behaupten wagten,
sie wüfsten etwas, während man nichts wissen könne.
Es ist eine Äufserung von ihm erhalten, in der er sieh
zu dieser ablehnenden Haltung in der Erkenntnisfrage ge-
radezu in Gegensatz stellt, die wie eine bewufste und ab-
sichtliche Revokation derselben klingt und die daher nach
unseren Voraussetzungen selbstverständlich dem Lehrgedicht
zugewiesen werden mufs. „Keineswegs haben von Anfang
an die Götter den Sterblichen alles offenbart, sondern mit
der Zeit stofsen sie forschend auf das Bessere" (Fr. 18).
Klingt das nicht gerade, als ob er, umgekehrt wie ilm
Timon ini Jenseits die dogmatische Verirrung seines Alters
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70 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
beklagen läfst, im Alter die skeptische Stimmung seiner
jüngeren Tage einschränken wollte? So gefafst, bilden diese
Verse ein neues bedeutsames Zeugnis für die in seinem
Alter eingetretene Wandlung, zu der wir nunmehr übergehen.
Bei diesem positiven Versuche nun ist es nicht mehr
der sittliche Gesichtspunkt, der ihn leitet. Dieser würde zur
Erfassung der Gottheit als einer sittlichen Persönlichkeit
geführt haben Es ist der Mafsstab der absoluten Erhaben-
heit der Gottheit über das Endliche überhaupt, den er an-
legt, und der ihn zu ziemlich naturalistischen Resultaten
führt. Wir würden aber vergeblich versuchen, ein irrtum-
freies und scharf umrissenes Bild dieser Resultate zu erlangen,
wollten wir uns auch hier ausschliefslich oder auch nur an
erster Stelle an seine eigenen Worte, an die spärlichen und
abgerissenen Überreste seines Lehrgedichtes halten. Wir
müssen uns, um ein festes Grundgerüst zu gewinnen, zu-
nächst an die sekundären Quellen wenden und uns begnügen,
die an die betreffenden Stellen des Zusammenhangs passen-
den Verse des Gedichts an den geeigneten Orten bestätigend
einzuschieben.
Von Plato erfahren wir nur (Soph. 242 D), dafs die
eleatischen Denker überhaupt und Xenophanes insbesondere
das All als ein einheitliches Wesen aufgefafst hätten.
Auch Aristoteles bezeichnet seinen Standpunkt nur
an einer Stelle (986b, 18). Parmenides habe das ein-
heitliche. Wesen der Dinge begrifflich (oder denkend) und
damit zugleich begrenzt gefafst, Melissus fasse es stoff-
uiäfsig und damit zugleich unbegrenzt und schrankenlos,
Xenophanes aber, der Lehrer des Parmenides, habe hinsicht-
lich dieses doppelten Gegensatzes noch keine deutliche
Stellung eingenommen, sondern bleibe hinsichtlich desselben
bei einer unerkennbaren Haltung stehen, indem er, auf das
Weltall hinblickend, das Eine für die Gottheit erkläre (d. h.
sich auf die Behauptung beschränke: es gibt keinen Gott,
als die einheitliche Welt). Überdies stehe er in der Aus-
drucksform seiner Gedanken hinter Parmenides zurück ; die-
selbe sei bäurisch (d. h. ungeschult).
Aristoteles hat aber offenbar die noch ungelenke Dar-
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2. Xenophanes. 71
stelluDg des Xenophanes aus verschiedenen Ursachen, die
erst nachher klargestellt werden können, in ihrer Eigenart
nicht erfafst. Es gibt eine ganze Reihe von Zeugnissen, die
auf der Darstellung Theophrasts beruhen, aus denen
hervorgeht, dafs Xenophanes zu den beiden von Aristoteles
bezeichneten Gegensätzen (begrenzt — unbegrenzt; denkend
— stoffmäfsig) eine ganz bestimmte Stellung eingenommen
und diese auch durch eine deutlich hervortretende Beweis-
führung begründet hat. Es wird genügen, von diesen Zeug-
nissen drei anzuführen.
Der kürzeste dieser Berichte ist der Plutarchs (D. 580).
Es ist ein oberflächliches Sammelsurium von Lehrsätzen des
Xenophanes, das aber nach allgemeinem Zugeständnis wenig-
stens indirekt auf dem grofsen Werke des Theophrast „Über
die naturphilosophischen Lehrbestimmungen ** beruht.
Trotz der dürftigen Beschaffenheit der hier vorliegenden
Nachrichten bieten sie doch einige deutliche Spuren einer
von Xenophanes geübten Beweisführung. Er hat bewiesen,
dafs aus dem Nichtseienden nichts werden kann. Er hat ge-
zeigt, dafs im Göttlichen weder ein Herrschafts- noch ein
Dienstbarkeitsverhältnis angenommen werden dürfe, weil das
Göttliche nicht als bedürftig gesetzt werden dürfe, sowie
dafs in ihm nicht eine Verteilung der Wahrnehmungen
(Hören, Sehen) an gesonderte Organe anzunehmen sei.
Der zweite Bericht ist der des Simplicius (D. 480).
In ihm wird zunächst die Bemerkung, die Theorie des Xeno-
phanes gehöre eigentlich nicht in die Geschichte der Physik,
weil er das Eins und Alles ausdrücklich mit der Gottheit
identifiziere, ausdrücklich auf Theophrasts Geschichte der
physischen Lehren zurückgeführt. Ob sodann die bei Sim-
plicius sich anschliefsenden Angaben über die Argumente
des Xenophanes ebenfalls aus Theophrast geschöpft sind, ist
streitig. Doch wäre es immerhin nicht unwahrscheinlich,
dafs Theophrast zur Begründung der vorstehenden Behaup-
tung wenigstens in Kürze das Verfahren des Xenophanes
gekennzeichnet hätte. Auch scheint nach den zahlreichen
vorhandenen Nachrichten über Einzelheiten seiner Naturlehre
(von denen nachher) doch Theophrast, auf dessen Schrift die
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72 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Ilylopsychismus.
derartigen Angaben durchweg beruhen, ihn nicht mit der
vorstehenden Wendung endgültig beiseite geschoben, sondern
eingehender über ihn berichtet zu haben. Einzelne dieser
Angaben (z. B. D. 348) werden ausdrücklich auf Theophrast
zurückgeführt.
Die bei Simplicius sich anschliefsenden Argumente nun
sind folgende: 1. Aus der der Gottheit zuzuschreibenden
allem überlegenen Macht folgt ihre Einheit. 2. Um ferner
das Nichtentstandensein, also die Ewigkeit, der Gottheit zu
erweisen, habe er dargetan, dafs sie durch nichts hervor-
gebracht werden könne. Nicht durch ein Gleichwertiges,
denn gleich Mächtiges könne sich gegenseitig nicht affizieren,
also auch nicht hervorbringen. Nicht durch ein Ungleich-
wertiges (nämlich : Minderwertiges ; der andere Fall der Un-
gleichwertigkeit, die Minderwertigkeit der hervorgebrachten
Gottheit, wird als der Voraussetzung der höchsten Voll-
kommenheit der Gottheit widersprechend, stillschweigend bei-
seite gelassen), denn das hiefse die Gottheit aus dem
(partiellen) Nichts hervorgehen lassen. 3. Die Gottheit darf
weder als unbegrenzt, noch als begrenzt gedacht werden.
Nicht unbegrenzt, denn das Unbegrenzte wäre das Nicht-
seiende, denn es hat weder Anfang, Mitte, noch Ende. (Wir
erkennen hier den Gegensatz gegen die Lehre des Anaxi-
m an der und Anaximenes von der Unendlichkeit des
Weltstoffs. Das Wirkliche mufs Anfang, Mitte und Ende
haben, d. h. es kann nicht unendlich sein.) Nicht begrenzt,
denn das setzte ein anderes, Begrenzendes voraus. 4. Sie
darf aber auch weder ruhend, noch bewegt gedacht werden.
Nicht ruhend, denn das Unbewegte sei das Nichtseiende,
und zwar deshalb, weil es weder zu etwas anderem, noch
etwas anderes zu ihm komme (ein überaus primitives Argu-
ment ! Obersatz : Seiend ist, was zu einem anderen kommen
oder zu dem ein anderes kommen kann). Aber auch nicht
bewegt, denn das Bewegtwerden als ein Erleiden setze ein
anderes Bewegendes voraus.
Die Unbewegtheit der Gottheit wird auch in einer er-
haltenen Stelle des Gedichts (Fr. 2G) ausgesprochen, aber
nur in dem Sinne, dafs das Göttliche immer an der gleichen
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2. Xenophanes. 73
Stelle verharre und es ihm nicht zieme, den Ort zu wechseln.
Diese Bemerkung ist also nur gegen eine vermenschlichende
Vorstellung von der Gottheit gerichtet.
Wir haben hier unter 3 und 4 die beiden berühmten,
dem Xenophanes zugeschriebenen Antinomien (einander auf-
hebende Sätze) vor uns, bei denen die Frage entsteht : Wenn
die Gottheit weder unbegrenzt, noch begrenzt, weder ruhend,
noch bewegt ist, was ist sie denn ? Zur Lösung der zweiten
derselben bringt Simplicius folgende Bemerkung bei:
Wenn der Gottheit Bewegungslosigkeit zugeschrieben werde,
80 geschehe dies nicht im Sinne der der Bewegung ent-
gegengesetzten Ruhe, sondern im Sinne eines sowohl der
Bewegung wie der Ruhe entgegengesetzten Verharrens. Diese
Bemerkung ist unzulänglich und wenig verständlich. Die
hier nur schwach angedeutete Lösung liegt wohl darin, dafs
die dem Göttlichen abgesprochene „Bewegung" lediglich das
passive Bewegtwerden ist. Durch die Verneinung in diesem
Sinne ist aber keineswegs ausgeschlossen das aktive Sich-
selbstbewegen.
Nach der Analogie dieser Lösung würde sich denn ferner
auch die erste der beiden Antinomien erledigen. Begrenzt
im i)as8iven Sinne (durch ein anderes) darf die Gottheit nicht
gedacht werden, wohl aber sich selbst begrenzend im aktiven
Sinne. Wie dies gemeint, wird sich weiterhin noch genauer
ergeben.
Diese ganze Art zu argumentieren aber zeugt selbst für
ihre Echtheit. Eine so primitive Argumentationsweise konnte
gar nicht ersonnen werden, sondern trägt den unverkenn-
baren Stempel der Echtheit unmittelbar an sich.
Durch diesen Gedankengang erklärt sich aber auch schon
teilweise das abschätzige Urteil und die ablehnende Haltung
des Aristoteles. Aristoteles wufste sich den Tiefsinn in den
beiden, überdies wohl auch noch unbehilflich ausgedrückten
Antinomien, namentlich der ersteren (weder begrenzt, noch
unbegrenzt) nicht zu deuten, und nahm daher an, Xenophanes
bleibe hinsichtlich der dabei zu Grunde liegenden Alternative
in der Schwebe und wisse darin noch keine Entscheidung
zu treffen. Der andere Punkt, hinsichtlich dessen er ihm
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74 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
eine unklare und unentschiedene Haltung vorwirft, die rein
stoflFliche oder denkende Beschaffenheit des All, kann erst
an späterer Stelle klargestellt werden.
Der dritte Bericht findet sich in der kleinen pseudo-
aristotelischen Abhandlung „Über Xenophanes, Zeno und
Gorgias**, deren richtiger Titel aber erwiesenermafsen lauten
uiufs: „Über Melissos, Xenophanes und Gorgias". Hier finden
wir in wesentlicher Übereinstimmung mit der Darstellung
des Simplicius, aber etwas eingehender und unter Beifügung
einiger weiteren, höchst charakteristischen Züge die gleiche
Argumentation über die Art, wie das Göttliche gedacht
werden müsse.
Auch hier wird, wie bei Theophrast, gleich zu Anfang
betont, dafs die Beweisführung des Xenophanes sich (nicht
auf die Natur, sondern) auf das Göttliche richte. Auch hier
wird die Einheit und die Ewigkeit mit denselben Gründen,
wie bei Simplicius, bewiesen. Beim Beweise für die Ewig-
keit findet sich jedoch ein sinnstörendes Einschiebsel. Bei
der Erwägung des Falles nämlich, dafs das Göttliche aus
einem Ungleichwertigen hervorgegangen sein sollte, wird
neben dem berechtigten Unterfall, dafs das Hervorbringende
das Minderwertige wäre, auch der unberechtigte Unterfall
gesetzt, dafs die Gottheit das Minderwertige wäre. Dafs
dieser Fall nach den Voraussetzungen des Xenophanes über-
haupt nicht gesetzt werden kann, ist bereits hervorgehoben
worden. Der Satz kann nur lauten : Wenn das Vollkommenere
(die Gottheit) aus dem minder Vollkommeneren würde, so
würde das Seiende aus dem (partiell) Nichtseienden.
Auch hier finden sich femer die beiden Antinomien mit
der gleichen Begründung wie bei Simplicius.
Neu und eigentümlich ist diesem Bericht ein für das
Verständnis des Xenophanes überaus wichtiger fünfter Punkt.
Aus der Einheit wird nämlich gefolgert, die Gottheit müsse
ein durchweg gleichartiges Wesen sein, welches
das Sehen, Hören und alle übrigen Sinne über-
all habe. Hier ist zweierlei zu unterscheiden: die Gleich-
artigkeit und die Weise des Empfindens unter der hier plötz-
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2. Xenophanes. 75
lieh nen hinzutretenden Voraussetzung, dafs das Göttliche
auch ein empfindendes Wesen ist
Den ersten Gedanken anlangend, so würde aus der Un-
gleichartigkeit folgen, dafs es Teile von Gott gebe, von
denen einer den anderen beherrsche oder von anderen be-
herrscht werde, was unstatthaft sei. Dieser Punkt war auch
schon im Berichte Plutarchs angedeutet. Daraus wird ge-
folgert, dafs der Gott kugelförmig gedacht werden müsse,
womit zugleich der Anforderung Genüge geleistet werde,
dafs Gott weder (durch ein Fremdes) begrenzt noch unbegrenzt
sein dürfe.
Bei dieser Kugelförmigkeit könnte man zunächst an das
die Welt als feste Kugelhülle umspannende Firmament denken.
Xenophanes hat jedoch unzweifelhaft nicht an einen solchen,
doch immerhin vielgliedrigen Weltbau, sondern lediglich
an die Erdkugel gedacht. Diese ist ihm der wesentliche
Inbegriff des Seienden. Doch davon nachher.
Eine Andeutung, dafs die Gottheit auch empfindet,
und zwar nicht durch gesonderte Organe, sondern als
Ganzes, bot ebenfalls schon der dürftige plutarchische Be-
richt. Eine vollinhaltliche Bestätigung dieser Lehre bietet
ein erhaltener Vers des Gedichtes: „Ganz sieht er, ganz
denkt er, ganz hört er" (Fr. 24). Hier tritt sogar zu
dem Empfinden noch das Denken hinzu. Es wird hier auch
deutlich, wie Aristoteles zu der anderen Ausstellung gegen
Xenophanes gekommen sein kann, derselbe verhalte sich zu
dem Gegensatze eines denkenden oder materiellen Urwesens
indifferent. Aristoteles hat nicht gesehen, dafs Xenophanes
i^einen Gott sowohl ausgedehnt und materiell, als auch
denkend und empfindend vorstellt. Xenophanes ist in diesem
Grundgedanken seiner Lehre noch echter Hylopsychist.
Für den Hylopsychismus aber hat Aristoteles, wie schon bei
Thaies zutage trat, kaum ein Verständnis.
Die in diesen Berichten zutage tretende Weltvorstellung
nebst Begründung ist so eigenartig, dafs sie von den Bericht-
erstattern nicht aus den Fingern gesogen worden sein kann.
Sie mufs für authentisch gelten. Ein später Zeuge be-
zeichnet diese Gottes- und Weltvorstellung kurz in der Weise,
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76 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
er lehre ein kugelförmiges, durch nichts affiziertes, un-
veränderliches, vernünftiges All (S. Emp. Hyp. L 225;
IIL 218).
Wie stellte sich nun Xenophanes auf dieser Stufe seines
Denkens zur Frage der Vielheit der Götter?
Ein Fragment lautet : „E i n Gott ist, der gröfste unter
den Göttern und Menschen, weder an Gestalt, noch an Sinn
den Sterblichen vergleichbar" (Fr. 23). Hat er hier den
Göttern des Volksglaubens einen Platz in seinem Weltsysteme
eingeräumt? Schlechterdings abweisen läfst sich diese Be-
hauptung nicht. Wenigstens in der Beschränkung, dafs er
irgendwie göttliche, d. h. übermenschliche Wesen, angenommen
habe. Es wären dies freilich nicht Götter nach dem von ihm
entwickelten strengen Begriffe des Göttlichen, sondeni ge-
wordene, begrenzte, endliche Wesen. Beweiskräftig dafür
ist freilich die Stelle nicht, denn ebensogut kann es sich in
der Stelle nur um eine epische Floskel handeln. Jedenfalls
hat Xenophanes die Göttlichkeit im strengen Sinne
nur dem ewigen All beigelegt. Er erklärte es für gleich
gottlos, ein Entstandensein der Götter anzunehmen, wie ein
Vergehen derselben. Denn in beiden Fällen gebe es eine
Zeit, in der keine Götter existierten. In demselben Sinne
ist die Antwort zu verstehen, die er den Leuten von Elea
gegeben haben soll. Dort wurde einer gewissen Gottheit
geopfert und zugleich ein Klagefest über ihren Untergang
gehalten. Xenophanes entscheidet: Ist es eine Gottheit, so
halte man ihr kein Klagefest; ist sie vergänglich, so opfere
man ihr nicht (Arist. 1399 b, 6; 1400 b, 5).
Es sind nun aber ferner von Xenophanes auch Angaben
über die Beschaffenheit der Welt im einzelnen, Erklärungen
von Vorgängen und Dingen in der Welt, überliefert. Auch
diese Lehren über die Welt lassen sich sehr wohl aus seiner
Gottesvorstellung ableiten.
Dafs die kugelförmige Gottheit stofflich ist, haben
wir gesehen. Über den Stoff der Dinge in der Welt hören
wir nun folgendes: „Erde und Wasser ist alles, was wird
und sich bildet« (Fr. 29; S. Emp. Hyp. III. 30). „Alle sind
wir aus Erde und Wasser ins Dasein getreten" (Fr. 33).
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2. Xenophanes. 77
Wenn es dem gegenüber einmal heifst: „Aus Erde ist das
Ganze und in Erde endigt das Ganze" (Fr. 27; D. 284), so
mufs angenommen werden, dafs hier der Zusammenhang die
Nichterwähnung des Wassers rechtfertigte. Auch in einem
Abschnitte Galens (D. 481) wird wenigstens für den mensch-
lichen Körper unter ausdrücklicher Berufung auf die Schrift
Theophrasts die Behauptung des Bestehens blofs aus
Erde scharf zurückgewiesen. Diese beiden Grundstoffe der
Gottnatur liegen uns femer in sichtbarer Verteilung über
die Welt vor. Die Quelle alles Wassers, aus dem auch die
Luft entsteht, ist das Meer (Fr. 30). Die Erde aber „wurzelt*
ihrem unteren Teile nach „im Unendlichen" (Fr. 28; Aristot.
294, 22; D. 376). Dies kann aber, da unserem Denker das
Unendliche das Nichtseiende ist, nur bedeuten : sie erstreckt
sich nach unten bis an die Grenze des Seienden, bis an die
Peripherie des kugelförmigen Gottes. Die obere Fläche ist
dann, soweit nicht von Wasser bedeckt, der Schauplatz des
Lebens und der Menschengeschichte.
Aus diesen beiden Stoffen seines Gottes, insbesondere
aus dem Wasser, nun wird alles in der Welt abgeleitet
Zunächst ist die Luft weiter nichts als verdunstetes Wasser.
Der Salzgehalt des Meeres erklärt sich dadurch, dafs bei
dieser Transformation in Luft die dem Wasser beigemengten
erdigen Bestandteile zurückbleiben. Die Luft wird zu
Wolken, die sich einesteils wieder zu Regen verdichten,
anderenteils zu Wi n de n verflüchtigen. Auch die Entstehung
der Flüsse erklärt sich so (Fr. 30; D. 371).
Aber auch alle Licht- und Feuererscheinungen über der
Erdfläche werden aus den Wolken, also indirekt aus dem
Wasser, abgeleitet. Wie sich Xenophanes dies Feurigwerden
gedacht hat, ist nicht überliefert „Was sie Iris (den
Regenbogen) nennen, auch das ist eine Wolke, purpurn und
rötlich und grünlich anzuschauen" (Fi*. 32). Das St Elms-
feuer besteht aus Wölkchen, die auf Grund einer ge-
wissen Bewegung leuchtend werden (D. 347). Auch
die Blitze sind ein durch Bewegung Leuchtendwerden
der Wolken (D. 3Ö8). Auch Planeten, Sternschnuppen
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78 Erste Periode. Zweiter Absciklitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
u. dergl. sind nur durch Bewegung feurig gewordene
Wolken (ib. 367).
Ja sogar die Gestirne sind weiter nichts als leuchtende
Wolken. Sie erlöschen bei Tage, werden aber «ir Nacht-
zeit „wie Kohlen^ (d. h. offenbar, wie man langsam fort-
glimn^nde Holzkohlen mit dem Blasbalg wieder in Glut
bringt, also wohl durch Windströmungen) wieder angefacht.
Was uns als Aufgang und Untergang erscheint, ist tatsäch-
lich nur AngefacÄtwerden und Erlöschen (ib. 343).
Selbst die Sonne ist nur eine Ansammlung glühenier
Wolken, eine Zusammenballung feuriger Teile, die aus der
feuchten Ausdünstung des Wassers entstehen. Sie ist beim
Aufgange eine andere als tags zuvor; jeder Tag hat seine
neue Sonne, die weiter nichts ist, als eine atmosphäriscbe
Erscheinung. Die verschiedenen Teile der Erdoberfläche
haben verschiedene Sonnen. Die Kreisform der tägUcfaen
Sonnenbahn ist eine optische Täuschung, hervorgerufen dufdi
die grofse Entfernung der Endpunkte der Bahn von uaserem
Standpunkte. Tatsächlich ist die Bewegung der Sonnen-
wolke ein Schweben in unbestimmter Richtung. Auch die
gewöhnlichen Dunstwolken scheinen uns ja bei ihrer An-
näherung am Horizont aitfzusteigen , bei ihrer Entfernung
unter den Horizont hinabzusinken. Die Finsternisse entstehen
durch teilweises oder vollständiges Erlöschen der Sonnen-
wolke. Wenn er auf Grund vermeintlicher Zeugnisse be-
hauptete, dafs es monatelange Sonnenfinsternisse gegeben
habe, so ist dies ganz folgerichtig. Die tägliche Entstehung
der Sonne wird ihm, wie die des Regens oder der Dürre,
von den Launen des Wettergottes abhängig. Zu gewissen
Zeiten gerät auch die Sonnenwolke gleichsam auf einen Irr-
weg, indem sie sich nach unbewohnten Erdstrecken entfernt.
Auch so entstehen Verfinsterungen. Da es nicht wahrschein-
lich ist, dafs Xenophanes eine doppelte Erklärung der Sonnen-
finsternisse gegeben hat, so liegt hier vielleicht ein Versuch
vor, den tieferen Stand der Sonne im Winter und die ent-
sprechende Licht- und Wärmeabnahme zu erklären (D. 348,
354, 355).
Auch der Mond ist eine leuchtende Wolke. Seine
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2. Xenophanes. 79
Phasen sind weiter uichts als periodische Erlöschungen
(ib. 356, 360). Dies ist wohl so zu verstehen, dafs er dem
Monde nicht, wie der Sonne, eine nur eintägige Dauer zu-
sehrieb, sondern ihn im Laufe eines Monats entstehen, lang-
sam anwachsen und ebenso allmählich wieder erlöschen (d. h.
sich in Wasser zurückverwandeln) liefs.
Für eine Umbildung des Wassers iu Luft scheint er
sehliefslich auch die menschliche Seele erklärt zu haben.
„Die Seele ist Hauch" (Pneuma, D. L. IX, 19).
So wird alles, was sich auf der Erdoberfläche und im
Räume über derselbe begibt, aus dem Wasser abgeleitet.
Daus er selbstverständlich auch dem Erdelement einen Anteil
an den Gebilden auf der Erdfläche zugewiesen haben wird,
bedarf keiner Erinnerung. An dieser Stelle nun mufs die
Annabnte, dafs Xenophanes unter dem kugelförmigen Gott
tediglich die Erde verstanden hat, fast zur Gewifsheit werden.
Zunächst findet sieb von der Annahme einer kugel-
fdnnigefl Hülle der Welt, eines Firmaments, und von eiaer
Fixierung der Erde im Mittelpunkte dieser Hohlkugel keine
Spur. Ferner: was sich oberhalb der Erdfläche durch die
Umgestaltungen des Wassers abspielt, ist gleichsam nur
flüchtige Projektion des irdischen Geschehens über die Grenze
des Gottes hinaus ins Leere und Nichtseiende. Durch diese
Projektionen wird der Satz nicht aufgehoben, dafs der Gott
nirgends durch etwas aufser ihm Seiendes beschränkt und
bestimmt wird, da ja alle diese Vorgänge in voller Ab-
häaitgigkeit von seiner eigenen stofflichen Grundlage und
durch sein eigenes Wirken stattfinden. Vielmehr erhalten
gerade durch die Identifikation der Gottheit mit der Erde
aUe die vorstehend gegebenen naturwissenschaftlichen Einzel-
erkl&rungen ihren Einbeitspunkt, und insbesondere erklärt
sich durch sie aufs beste die sonst so auffällige Degradierung
der Gestirne vom Range als Himmelskörper zu dem von
flüc^Ktigen atmosphärischen Erscheinungen. Weiter: es er-
klärt sieh so au& beste die sonst so auffällige Angabe, dafs
die Erde nach unten ihre Wurzeln bis zum Endpunkte des
Seienden hinab erstreckt. Sie ist eben selbst der Inbegriff
alles Seienden. Endlich: eine in Teile gegliederte Welt
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80 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Würde dem strengen Einheitspostulate unseres Denkers noch
weit entschiedener widersprechen, als die doch von ihm so
bestimmt abgelehnte Annahme von Organen des Gottes.
Wenn ihm zur Verwirklichung der Einheitsforderung nicht
einmal der Organismus genügt, dann noch viel weniger der
vielgliedrige Bau eines Kosmos.
Ist aber diese Auffassung richtig, so hat nicht erst, wie
nach den vorhandenen Nachrichten angenommen werden
müfste, Parmenides die Kugelform der Erde gelehrt,
sondern der Vorrang in dieser kühnen Lehre gebührt unserem
Xenophanes. Der Unterschied ist nur der, dafs Parmenides
der Erde als einem Einzelgliede des Weltbaues die Kugel-
form beigelegt hat, Xenophanes aber die Erde zugleich als
das Ganze der Welt auffafst.
Als die eigentlich treibende Kraft dieser Bewegungs-
und Veränderungsvorgänge in der Welt aber betrachtet unser
Denker unzweifelhaft die dem Gotte innewohnende geistige,
intellektuelle Qualität. „Ohne Ermüdung setzt er durch das
Denken seines Sinnes alles in Bewegung" (Fr. 25). Wenn
er nach einer späteren Angabe (D. 371) die Sonne als Ur-
sache des Übergangs des Wassers in Wolken und Winde
bezeichnet hat, so kann sich dies nur auf einzelne unter-
geordnete Vorgänge beziehen. Ist ja doch die Sonne selbst
nur ein Erzeugnis des verdunsteten Wassers!
Diese geistige Triebkraft äufsert sich aber nicht nur in
den Einzelvorgängen der Welt, wie sie gegenwärtig ist, sie
umfafst mit ihrem umgestaltenden Wirken auch das Ganze
der Welt, d. h. die Gottheit selbst. Diese wird durch nichts
aufser ihr bewegt, aber sie bewegt und verändert fort-
während sich selbst. Xenophanes bezeugt, dafs in einem
früheren Zeitpunkt Erde und Wasser noch nicht gesondert
waren, sondern eine Schlammmasse bildeten. Nicht als ob
sie in diesem Zustande der Qualität nach noch nicht ge-
schieden gewesen wären. Xenophanes ist im Festhalten an
der Stabilität dieser beiden Grundstoffe ein Vorläufer der
empedokleischen Lehre von den Elementen. Sie waren nicht
stofflich eins, sondern als zwei verschiedene Stoffe in einem
Zustande völliger Vermischung. Der kugelförmige Gott war
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I. 2. Xenophanes. 81
einmal ein empfindender und denkender Lehmklumpen. Als
Beweis dafür führte er an, dafs mitten im Festlande und
sogar auf Bergen sich versteinerte Muscheln und in den
Steinbrüchen von Syrakus Abdrücke von Fischen und See-
tang (so nach einer von G o m p e r z befürworteten Emendation)
gefunden haben. Ebenso auf Faros und Malta im Gestein
die Formen der verschiedensten Seetiere. Er erklärt dies
ausdrücklich aus einem früheren Schlammzustande, d. h. aus
dem Zustande der völligen Durchdringung der beiden Ele-
mente Erde und Wasser. Mit dem Schlamme seien dann
später die Abdrücke hart geworden. Er schliefst aus diesen
Erscheinungen, dafs auch künftig wieder eine solche Durch-
dringung der beiden Elemente, verbunden mit einem Unter-
gänge des Menschengeschlechts, eintreten werde, worauf
dann wieder eine neue Weltperiode einsetzen werde, und
so fort in ewigem Kreislaufe (D. 566).
Dafs Xenophanes vom Standpunkte dieser Lehren aus
an den Systemen der milesischen Naturphilosophen vieles
auszusetzen hatte, ist selbstverständlich. Er soll zwar den
Thaies gelobt haben (D. L. L 23), doch wird auch ausdrück-
lich bezeugt, dafs er ihm sowie seinen beiden Nachfolgern
widersprochen habe (ib. IX. 18; D. 580). Zwar hat ja auch
sein System ein echt hylopsychistisches Gepräge. Der Stoff
als solcher ist auch bei ihm lebendig. Aber was die älteren
Hylopsychisten noch nicht ausgesprochen hatten, er ist bei
ihm empfindend und sogar denkend, und so erhebt sich der
Hylozoismus bei ihm zu einer Art von primitivem Pantheis-
mus. Gewifs hatte Heraklit recht, wenn er unserem
Denker „Viellemerei", d. h. einen Reichtum an vielseitigem,
durch Erfahrung und Beobachtung erworbenem Wissen, zu-
sprach. Nicht aber, wenn er verkannte, dafs Xenophanes
die Mannigfaltigkeit seiner Einzelerfahrungen mit grofser
Kraft des Denkens zu einem einheitlichen und folgerichtigen
System verknüpft hat.
Wir werden sehen, dafs Heraklit selbst nicht nur in
Einzelheiten manches von Xenophanes entlehnt hat, sondern
dafs auch sein System als Ganzes im wesentlichen den
gleichen Grundcharakter hat wie das des Xenophanes. Als
DftriBf. I. 6
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82 Krste Periode. Zweiter Abaciautt 3Bruch mit dem Hylopsychismus.
fcesonders beBeidbnend fftr die radikale Folgerichtigkeit und
Furobtlofilgbeiit seineB Denkens mufg noch hervorgehoben
werrd^o), daXs ^r tden iganzen Aberglauben, der «ich an Orakel,
Vorzedtihen, W<ahi-aagung u. dgl fcnt^fte, in dessen Schlepp-
tau die fiplitere gmechisohe PhiJosoiidiie dauernd goriet, von
Grund auß verworfen hat. Von leinem Gott, wie der seinige,
hoanlen derartige Wirkuagon nicht ausgehen (Cic. Div. I. 5 ;
D. M5).
II. DBF kleinasiatische Hylopsychist Ueraklit (um 500).
IDie Albleitung der Welt aus einem lebendigen Urstoffe
ist noch in verschiedenen anderen Richtungen versucht worden.
Aristoteles erwähnt z. B. öfter (303 b, 10, 203 b, J05, 25)
die Annahme einer Mittelstufe ewischen Luft und Wasser
als Urprinzip. Von dieser Stufe aus gab es dann nach der
Seite der Verdichtung wie nach d^ der Verdünnung gleich-
in&faig je jswei Situfen (Wasser, Erde — Luft, Feuer). Auch
feine Zwischenstufe zwischen Luft und Feuer wird erwähnt
f(Z. 209. 2).
Über diese Versuche a(ber fdhlt es an näheren Kach-
richten. Irgend welchen Eiuflufs auf die tweitere Entwiok-
flung haben sie nicht gewonnen.
In ganz aufserordentlichiem Mafse und in den ver-
schiedensten Richtungen dagegen hat auf den weiteren Ent-
wicklungegang He ra k 1 i t eingewirkt. Er ist aufserdem ein
Denker und ßchriftstellor von überaus scharf ausgeprslgter
Eigenart; ziemlich genaue Nachrichten über seine Lehre und
eine Fülle von Bruchstücken seiner Schrift sind erhalten.
Er ist überdies ein Deilker , bei dem das rein theoretische
Interesse der Naturerklärung im einzelnen gegen die all-
gemeinen Grundzüge der Weltanschauung und eine daraus
■abzuleitende Gemütsverfassung und Lebensführung ganz in
den Hintergrund tritt, derjenige unter den Hylopsychisten
und der erste Denker überhaupt, der als Vorläufer der
Philosophie im eigentlidien Sinne zu bezeichnen ist. Nach
Sext. Empiricus (Dogm. I. 7) war es schon im Altertum
streitig, ob er nicht aufeer zu den Physikern audi zu den
(axiologischen) Ethikern zu rechnen sei. Nicht wegen des,
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n. Heraklit. ^3
bei ihm nicht vorhandenen, Strebens nach Erweiterung der
Naturerkenntnis , fioodem wegen der Originalität seiner
Gmndannähme und der Folgerungen für die Lebensführung,
die er daraitö ableitete, stellt er den Höhepunkt des hylo-
psychi&tischen Bedkens dar. Alles dies Grund genug, ihm
eine :be6«detre Aufmerksamkeit zu widmen.
Heraklit war geboren um oder nach 540 und soll ein
Alter von 60 Jahren erreicht haben (D. L. IX. 14). Er
stemmte aus einem der vomefamstei Gesdileohter der klein-
astatisch -joniscben Kolonie Ephesus. In seiner Familie
war die Königswttrde erblich , wenngleich dieselbe zu seiner
Zeit, wo sogar die Patrizierberrschaft bereits in die Demo-
kratie Oberzugehen im Begriffe war, zum blofsen Titel und
züT Trägerin einiger religiöser Gerimonien herabgesunken
war. Das Wenige, was über sein Leben und seine geistige
Entwicklung berichtet wird, tiägt mehr den Charakter dreier
Erdichtung, am ihn auch als Persönlichkeit, entsprechend
den Geiste und Tone seiner Schrift, als geniale, aber ab-
sonderliche Profdietengestalt erscheinen zu lassen, als den einer
beglaubigten Geschichtserzählung. Von Jugend an wunderbar
geartet, habe er als Jüngling erklärt, er wisse nichts als
ManB dagegen, er wkse alles. Er sei niemandes Schüler
gewesen, sondern iiabe alles sich selbst verdankt. Nur der
Drang, alle Phibsopfaen fein säuberlich in ein geistiges Ab-
stanuBHngs Verhältnis zu bringen (Sotion), führte dazu, ihm
Xenophanes als Lehrer zu geben (D. L. 5). Die ihm
erUieh zugefallene Königswürde habe er freiwillig einem
jüngeren Bruder überlassen (ib. 6). Den Antrag, als Gesetz-
geber seiner Vaterstadt aufzutreten (d. h. nach Lage der
Sache das Ansinnen der aristokratischen Partei, eine ihren
Interessen entsprechende Verfassung au entwerfen), habe er
abgelehnt, weil die Verfassung der Stadt sich schon dem
Sddechteren zugewandt habe, und statt dessen in demon-
strativer Weise angefangen, sich an den Spielen der Knaben
XU beleiligen, mit der Erklärung, das sei doch besser, als
sich weiter mit den öffentlichen Angelegenheiten zu befassen
(ib. 3). Ein tatsächliches Zeugnis des Ingrimms, mit dem
er den Übergang zur Demokratie betrachtete, hat sich in
6*
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^4 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
einer Stelle aus seiner Schrift erhalten. In dieser erteilt
er den Ephesiern, nachdem sie (jedenfalls in Verbindung mit
diesen Verfassungskftmpfen) ihren besten Mann, seinen Freund
Hermodoros, verbannt hatten, weil unter ihnen niemand
der Tüchtigste sein solle, den Rat, sich Mann für Mann auf-
zuhängen und den Unerwachsenen den Staat zu überlassen
(Strabo XIV. 25; bei Cic. Tusc. V. 105 und D. L. IX. 2.
etwas milder ausgedrückt). Schliefslich sei er zum voll-
ständigen Menschenhasser geworden, sei in die Berge ge-
gangen und habe dort von Kräutern gelebt. Doch habe er
sich dadurch eine Wassersucht zugezogen. Er sei deshalb
zur Stadt zurückgekehrt und habe den Ärzten die Frage
vorgelegt, ob sie den Regen in Trockenheit verwandeln
könnten. Da diese ihn nicht verstanden, habe er eine selbst-
erfundene Kur versucht, darin bestehend, dafs er sich in
einem Viehstall mit Dünger zugedeckt habe, um so durch
die Wärme das Wasser zu vertreiben. Die Kur sei jedoch
nicht angeschlagen; er sei gestorben (D. L. 3 f.). So hatte
sich in der Überlieferung sein Bild zu dem eines wunder-
lichen Heiligen gestaltet.
Auf ähnlichen Voraussetzungen über seine Lebensführung,
wie die letzten Angaben, beruht auch die hübsche Anekdote,
die Aristoteles (645, 17) erzählt. Fremde, die ihn aufsuchen,
sehen ihn erhitzt am Küchenherde stehen (also offenbar mit
der Zubereitung einer Speise beschäftigt). Als sie zaudern,
einzutreten, sagt er: Tretet nur ein, denn auch hier sind
Götter! Die Erzählung erinnert direkt an den hylopsychisti-
schen Ausspruch des Thaies, dafs alles voll. Götter sei, und
niufs unzweifelhaft im gleichen Sinne gedeutet werden.
Was nun seine philosophische Vorbildung anbetriift, so
ist er auf keinen Fall der philosophische Erdgeborene, für
den die vorstehenden Notizen ihn ausgeben möchten. Was
zunächst sein Verhältnis zu Xenophanes betrifft, so kann
natürlich von einer eigentlichen Schülerschaft keine Rede
sein. Doch kann er immerhin in jüngeren Jahren zu dem
seit 545 umherwandernden Rhapsoden in persönliche Be-
ziehungen getreten sein. Jedenfalls beweist schon das bereits
mehrfach erwähnte Bruchstück, dafs er die Lehre des
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IL Heraklit. 85
Xenophxines wie die des Pythagoras kennt. Dasselbe bezeugt
aber auch seine Bekanntschaft mit Hesiod und mit dem
jonischen Geschichtschreiber Hekatäus von Milet, dem
Vorläufer des Herodot, gestorben um 500. Das Fragment
lautet : „Viellernerei belehrt nicht den Verstand. Sonst hätte
sie den Hesiod belehrt und den Pythagoras, ferner auch
Xenophanes und Hekatäus." Dafs er jedoch von Xenophanes
auch in wesentlichen Punkten beeinflufst worden ist, wird
die Darstellung seiner Lehre zeigen.
Vornehmlich aber mufs eine starke Beeinflussung durch
die Denker des benachbarten, ebenfalls jonischen Milet mit
Entschiedenheit angenommen werden. Zwar liegt ein direktes
Zeugnis dafür nicht vor. Dafs jedoch eine solche statt-
gefunden, dafür spricht der ganze Charakter seiner Lehre.
Hatten ja doch Anaximander und Anaximenes ihre
Lehre schriftlich niedergelegt. Und dafs er Thaies kannte
und beifällig erwähnt hat, ist bereits angeführt.
Der Schrift, in der Heraklit seine Weisheit niederlegte,
wurde nur nach allgemeinem Herkommen und in wenig zu-
treffender Weise der Titel „Über die Natur" beigelegt
(D. L. 5). Andere gaben ihr den Titel „Die Musen" (ib. 12),
was aber wohl nur auf Mifsverständnis einer Platostelle be-
ruht (Soph. 242 D). Dafs sie aus drei Teilen, einem kosmo-
logischen, einem ethisch-politischen und einem theologischen
bestanden habe (D. L. 5), ist wenig glaubwürdig. Nach dem
Urteil solcher, die das Buch noch gekannt haben, überwog
darin das ethisch-politische Interesse weitaus das der Natur-
erklärung (ib. 12, 15; vgl. S. Emp. Dogm. L 7), und das
einzige Zeugnis, das über die Stelle einiger der erhalteneu
Fragmente in dem Buche vorhanden ist, belehrt uns, dafs er
gleich in den ersten Sätzen mit den ethischen Konsequenzen
seiner Weltanschauung herausplatzte. Der erste Satz besagte
nämlich, dafs die Menschen im allgemeinen der ewigen Welt-
vemunft, wie er sie verkündige, verständnislos gegenüber-
ständen, und dann folgte nach einer kurzen, für uns ver-
lorenen Ausführung der Gedanke, es sei eine Notwendigkeit,
nach dieser gemeinsamen einheitlichen Weltvernunft sein
Leben einzurichten, wenngleich die Masse lebe, als ob sie
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Qi) Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
eine Privateinsicht besäfse (S. Emp. D. IL 132 f.; Arist.
1407b, 11). Zufällig sind wir gerade über die Naturansicht
Heraklits genauer unterrichtet, und dadurch entsteht der
Schein, als ob er derselben ein besonderes Interesse gewidmet
habe.
Der Form nach zeichnete sich diese Schrift durch eine
Fülle höchst eindrucksvoller Wendungen, durch einen echten
Prophetenstil aus. Dies hat wesentlich mit dazu beigetragen,
dafs so viele seiner Aussprüche bis in die spätesten Zeiten,
zum Teil als geflügelte Worte, angeführt wurden und uns so
eine ziemliche Zahl heraklitischer Sätze erhalten sind.
Andemteils lag in dieser altertümlich ungefügen, bilder-
reichen, nicht in logischem Gedankengange und in über-
sichtlich gebauten Sätzen einherschreitenden Rede schon fllr
die Alten ein schweres Hindernis des Verständnisses. Von
Sokrates wird erzählt (D. L. II. 22; IX. 11), dafs er sie
sich einst von Euripides geborgt und beim Zurückgeben ge-
sagt habe, was er verstanden, sei vortrefflich, er nehme
daher auch von dem, was er nicht verstanden habe, das
gleiche an; sie erfordere aber einen dolischen Taucher.
Aristoteles tadelt (1407b, 11) an ihr, dafs man oft nicht
wisse, ob ein Wort zum vorhergehenden oder zum folgenden
zu ziehen sei, und Theophrast urteilte, er spreche aus
Melancholie manches nur halb aus, anderes bald so, bald
anders. Auf letzterem beruhen wohl auch die Urteile, die
den Berichten über seine Naturlehre bei Diog. Laert (IX. 7
und 8 — 11) eingefügt sind. Hier wird einesteils die bis-
weilen höchst lichtvolle und erhebende, an Kürze und Gre-
wichtigkeit unvergleichliche Darstellung gerühmt, andem-
teils aber mehrfach betont, dafs wichtige Punkte im Unklaren
bleiben. Der Pyrrhoneer Timon hatte ihn im Philosophen-
kampfe in der Unterwelt einesteils als den „Kräher* und
„Pöbelschmäher'', andemteils aber als den „Bätsler* ein-
geführt (D. L. IX. 6), und im späteren Altertum war für
ihn die Bezeichnung „der Dunkle"" stehend geworden. Zahl-
reiche Erläuterungsschriften von Philosophen wie von Gram-
matikern wurden ihm gewidmet (D. L. 15).
In welchen Zeitpunkt des Lebens Heraklits die Ab-
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II. Heraklit 8^7
fassung dieser Schrift fallt, ist nicht bekunat. Nach einer
alten Nachricht soll der Hermodoros, dessen Verbaoanng.
iu ihr erwähnt wird, bei der Gesetzgebung der Decemvim
in Rom, 452, hilfreiche Hand geleistet haben. Wäre dies ge-
schichtlich, so müfste seine Verbannung aus Ephesus und
also auch die Abfassung der Schrift möglichst weit herab-
gertickt werden. Ja, es müfste selbst die Lebensdauer
Heraklits anders bestimmt werden, wenn man nicht annehmen
wollte, dafs sein Freund Hermodor zur Zeit seines Todes
(480) noch in ziemlich jugendlichem Alter gestanden hätte.
Es scheint aber die Erzählung von dem römischen Wirken
Hermodors nicht genügend beglaubigt zu sein und so kann
über die Abfassungszeit der Schrift nur gesagt werden, dafs
sie mutmafslich nach 500, vielleicht gegen Ende seines
Lebens um 480, anzusetzen ist.
Die erhaltenen Fragmente der Schrift, ungefähr 130 an
der Zahl, sind von By water (Oxford 1877) unter voll-
ständiger Beifügung des Zusammenhanges, in dem sie vor-
kommen, gesanmielt worden. Mehrfache Erweiterungen und
Verbesserungen in dieser Sammlung bietet die sonst knapper
gehaltene Schrift von H. Di eis, Herakleitos von Ephesos
(Berlin 1901), die auch eine deutsche Übersetzung und eine
Zusammenstellung der sonstigen über Heraklit und seine
Lehre erhaltenen Nachrichten gibt. Nach dieser Schrift
werden im Nachfolgenden die Fragmente angeführt werden.
Die grundlegende Arbeit für die Sammlung der Fragmente
ist von Fr. Schleiermacher geleistet worden; ein zwei-
Mndiges Werk über Heraklit hat der bekannte sozialistische
Agitator Ferdinand Lassalie verfafst.
Die erhaltenen Fragmente geben zwar über die hervor-
ragendsten Punkte in der Lehre Heraklits, nicht aber über
den Zusammenhang seiner Lehre Aufschlufs. Es ist auch
unmöglich, aus ihnen den Gedankengang des Buches zii er-
kennen. Manche von ihnen bleiben schon deshalb unverständ-
lich, weil der Zusammenhang, in dem sie gestanden haben,
nicht bekannt ist. Eine zusammenhängende Anschauung
wenigstens über seine Weltvorstellung, beruhend auf dem
grofsen Geschichtswerke Theophrasts, in etwa aber auch
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88 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
Über seine sonstigen Lehren, geben die (bei Diels zu-
sammengestellten) indirekten Nachrichten bei Diogenes
Laertius und anderen. Es wird sich empfehlen, bei der
Darstellung der Lehre diese indirekten Nachrichten zu Grunde
zu legen und dann erst die Fragmente für die betreffenden
Lehrpunkte reden zu lassen.
1. Der auf Theophrast beruhende Abrifs seiner Natur-
lehre bei Diogenes Laertius (IX. 8 — 11). Der Grundstoff
aller Dinge ist das Feuer (vgl. Aristot. 984, 7). Wie bei
Anaximenes äufsert sich die Lebendigkeit des Feuers, soweit
sie als Umwandlung in andere Stoffe zutage tritt, als Ver-
dichtung und Verdünnung. Diese beiden Vorgänge haben
aber hier, weil das Feuer, der dünnste und leichteste Stoff,
den Ausgangspunkt bildet, eine wesentlich andere Stellung
als in dem System des Anaximenes. Bei diesem stellten sich
Verdichtung und Verdünnung als zwei gleichzeitige, in ent-
gegengesetzter Richtung eintretende Umwandlungsrichtungen
dar (Luft — Feuer; Luft — Feuchtes und Festes). BeiHera-
klit werden daraus zwei successive Reihen der Umwandlung,
die Reihe der Verdichtung, von Heräklit der Weg abwärts
genannt, und die Reihe der Verdünnung, von ihm der Weg
aufwärts genannt, beide mit den beiden Stufen des Feuchten
oder Flüssigen und des Festen. Die Luft als Zwischenstufe
liefs er völlig ausfallen. An die Stelle derselben trat ihm
die Ausdünstung (anathymlasis). Diese föUt zusammen mit
der Verdünnung oder dem Wege. aufwärts und ist von dop-
pelter Art. Als lichte Ausdünstung geht sie aus vom
Feuchten und bildet den Rückgang vom Feuchten zum
Feurigen. Wir haben hier offenbar die schon bei Thaies er-
wähnte kindliche Vorstellung von der Umwandlung des
Wassers in Feuer, die man beim sogenannten Wasserziehen
der Sonne vor Augen zu haben glaubte. Als dunkle Aus-
dünstung geht sie aus von der Erde. Diese mufs wegen
der zu Grunde liegenden Stufenfolge in der Umwandlung
in Wasser enden. Offenbar betrachtete er hier die dunklere,
trübere Luft als Zwischenstufe, entsprechend der Bildung
der Wolken und des Wassers in der Luft.
Schon im Zusammenhange mit diesen allgemeinen
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II. Heraklit. 89
GrundzfigeD des Naturgeschehens hatte er, nach dieser Dar-
stellung zu schliefsen, drei für seine Naturanschauung be-
sonders charakteristische Begriffe betont, den des bestän-
digen Fliefsens, den des Übergehens in das
Gegenteil und den der Naturnotwendigkeit. Der
vorstehend geschilderte ümwandlungsprozefs ist im ganzen
der Welt in beständigem Gange, wie bei einem fliefsenden
Wasser (S. Emp. Hyp. III. 115); diese kontinuierliche Um-
wandlung ist aber zugleich ein Übergang in ein Entgegen-
gesetztes (Feuer in Wasser, Flüssiges in Festes, und um-
gekehrt (Plato Soph. 242 D; Symp. 187 A); endlich ist das
Ganze dieser Vorgänge fest geregelt durch ein dem Welt-
geschehen innewohnendes Gesetz , die Naturnotwendigkeit
(heimarmSne), wie sie schon Anaximander gelehrt hatte.
Auf ihr beruht es, dafs der Weg aufwärts und abwärts für
das Ganze der Welt in ewigem Wechsel nach bestimmten
Zeiträumen einander ablösen. Auf eine Weltperiode der
Umwandlung des Feuers in die anderen Stoffe folgt eine
solche der Rückverwandlung derselben in Feuer. Erstere
Richtung des Weltprozesses habe er auch Krieg und J^nt-
zweiung, letztere (oder eher wohl ihren Endzustand) Ein-
tracht und Friede genannt.
Von dem Bilde, das sich Heraklit von der auf diese
Weise entstehenden Welt machte, hatte Theophrast offenbar
aus seinem Buche nur eine unzureichende Vorstellung ge-
winnen können. Der Auszug betont ausdrücklich, dafs über
die Beschaffenheit der das Ganze einschliefsenden Welthülle
sowie über die Beschaffenheit (und Gestalt) der Erde keine
bestimmte Aussage vorliege. Bei ersterem Punkt müssen
wir uns erinnern, dafs bei Thaies und Anaximenes die
Annahme einer das Ganze umschliefsenden Hohlkugel min-
destens unerweislich war, dafs sie bei Anaximander nur
als eine vorübergehende, nachher wieder zerplatzende, in
einer Zwischenphase der Weltbildung vorhanden ist und dafs
Xenophanes sie offenbar gänzlich beiseite gelassen hat.
Heraklit hat, wie sich gleich zeigen wird, dies Bestandstück
des Weltalls so wenig nötig wie Xenophanes. Und was die
Erde betrifft, so hat er es offenbar nicht der Mühe wert
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90 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
gehalten, über ihre Gestalt besonders nachzudenken; er wird
sich wohl bei der dem Augenschein entsprechenden Scheiben-
form beruhigt haben.
Den Himmelskörpern erkannte er so wenig, wie Xeno-
])hanes, von dem er in diesem Punkte ganz offenbar ab-
hängig ist, eine selbständige und dauernde kosmische Existenz
zu. Sie sind flüchtige, von Tage zu Tage wechselnde An-
häufungen der lichten Ausdünstungen des Wassers im nächsten
Umkreise der Erde (vgl. Plato Rep. 498 B; Aristot. 355, 14).
Dies ist denn auch der Grund, dafs die Vorstellung von einer
Kugelhülle der Welt, an der etwa die Fixsterne angeheftet
wären, ihm so wenig wie Xenophanes in den Sinn kam.
Von diesem unterscheidet er sich nur durch die Annahme
hohler GefÄfse mit der Erde zugekehrter Öffnung, in denen
sich die betreffenden feurigen Dünste ansammeln. Er kam
auf diese interessante Verbesserung des xenophanischen
Weltbildes wohl einesteils durch die Erwögung, dafs die
Himmelskörper doch eine scharf umrissene Kreisform zeigen,
anderenteils durch die bequemere Erklärungsmöglichkeit der
an den Himmelskörpern vorkommenden Veränderungen. Hier-
über erfahren wir nämlich folgendes: Die Sterngefäfse sind
am weitesten von der Erde entfernt; so erklärt es sich, dafs
der in ihnen angesammelte Feuerdunst am wenigsten Licht
und Wärme verbreitet. Der Mond andererseits ist uns am
nächsten, aber seine Licht- und Wärmewirkung wird durch
die gröfsere Dichtigkeit der Erdausdünstung (also unsere
Luft) stark beeinträchtigt. Die Sonne dagegen bewegt sich
in dem mittleren Räume, wo die dichte Erdausdünstung
fehlt. So kann ihre Licht- und Wärmewirkung voll zur
Geltung kommen, ihre Entfernung von uns ist dieser ent-
sprechend. Unerklärlich bleibt dabei freilich, dafs diese
nicht, wie beim Monde, durch die finstere Erdausdünstung
beeinträchtigt wird. Doch das ist eine Kleinigkeit im Ver-
gleich mit den sonstigen Schwierigkeiten, über die sich das
um diese Dinge wenig bekümmerte Denken Heraklits hinweg-
setzt. Die monatlichen Wandlungen des Mondes entstehen
dadurch, dafs sich das Gefäfs im Laufe eines Monats lang-
sam, aber stetig um seine Achse dreht, die Finsternisse beider
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II. Heraklit. 91
Himmelskörper durch ein mehr oder minder vollständiges,
einmaliges Umkippen der Gef&fse. Bei Nacht füllt sich das
Sonnengefäfs mit der dunklen Ausdünstung; die Licht- und
Wärmezunahme im Sommer erklärt sieh durch Zunahme der
lichten Dünste, das Gegenteil im Winter durch stärkere Bei-
mischung der dunklen Ausdünstungen (eine staunenswerte
Umkehrung der natürlichen Aufeinanderfolge von Ursache
und Wirkung!). Dafs sich Heraklit über die Gefäfse, d. h.
doch wohl über den Grund ihi'er regelmäfsigen Bewegung,
insbesondere beim Sonnengefäfs über den Weg der nächt-
lichen Rückbeförderung zur Aufgangsstelle, nicht näher er-
klärt habe, betont unser Bericht mit Bedauern. Aufserdem
aber steht auch das Beharren dieser Gefäfse in seltsamem
Widerspruche zu seiner Lehre vom rastlosen Wandel aller
Dinge.
Dafs er auch die übrigen Himmelserscheinungen, Regen,
Winde u. dgl , durch seine Ausdünstungstheorie erklärt habe,
wird nur summarisch hervorgehoben. In der Tat ist es nicht
schwer, sich die Umwandlung der Erdausdünstung in Wasser
und des Wassers in feurige Erscheinungen (Gewitter u. dgl.)
aus den Grundvoraussetzungen Heraklits zu erklären. Zum
Überflufs sind darüber bei den Doxographen einige ebenfalls
auf Theophrast zurückgehende Angaben erhalten.
2. Einige nicht unwichtige Ergänzungen zu diesem Be-
richt liefert die ganz kurze Notiz über die Naturlehre Hera-
klits, die jenem vorangeht (§ 7) und ebenfalls ihren letzten
Ursprung in Theophrast hat. Hier erfahren wir, dafs er
das Wort des von ihm ja auch sonst belobten Thaies über-
nommen hatte: ,, Alles sei voll Götter und Dämonen", das ja
bei ihm, ebenso wie bei jenem, nur ein Bild ist für die un-
endliche Lebensfülle, die in der Welt und in ihrem Grund-
fetoff, dem Feuer, waltet. Wir erfahren femer die staunens-
werte Tatsache, dafs er die Sonne für nicht gröfser erklärte,
als sie uns erscheint, wofür hier gleich die Bestätigung aus
den Fragmenten angefügt werden mag, die Sonne habe einen
Fufs im Durchmesser (Fr. 3D). Wir ersehen daraus, wie
nahe der Erde, wie ganz innerhalb des nächsten Umkreises
der Erde, er sich die Bahnen der Himmelskörper vorstellte.
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92 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Wir erhalten hier endlich eine wörtliche Anführung aus
dem Buche selbst, aus der sich ergibt, dafs er offenbar in
echt hylopsychistischer Auffassung das Urfeuer geradezu als
Seele bezeichnete. „Der Seele Grenzen kannst du nicht auf-
linden und ob du jegliche Strafse abschrittest; so tiefen
Grund hat sie" (Fr. 45 D). Aristoteles (405, 25) erklärt
diese Bezeichnung des Urprinzips als Seele daraus, dafs er
es ja als völlig körperlose und in beständigem Flusse be-
findliche „Ausdünstung" fasse.
3. Ergänzende Züge zu Heraklits Weltlehre erhalten
wir ferner aus den sonstigen, meist von Diels zusammen-
gestellten Zeugnissen späterer Schriftsteller, die fast aus-
schliefslich ihre letzte Quelle ebenfalls in Theophrast haben.
Diese Angaben sind aber teilweise durch Mifsverstand und
Sucht nach Übereinstimmung mit sonst bekannten Lehren
entstellt. Sie verdienen Erwähnung nur soweit das Neue
mit den vorstehenden Grundzügen im Einklang steht.
Aus diesen ergänzenden Angaben nun entnehmen wir
zunächst einen sehr wichtigen, auf dem Zeugnis Theophrasts
beruhenden Zug seiner Lehre, durch den er den von Anaxi-
menes beibehaltenen Ungedanken Anaximanders von der Un-
endlichkeit der Masse des WeltstoflFs berichtigte. Heraklit
hat ausdrücklich den Feuerstoff für der Masse
nach endlich und begrenzt erklärt (D. p. 40, (3).
Auch darin hatte er Xenophanes zum Vorgänger. Nach
demselben Bericht bezeichnete er ferner die Weltentstehung
als ein Erlöschen desUrfeuers. Nach einer anderen An-
gabe (Philo Leg. Alleg. IIL 3) nannte er sie „Mangel", den
Feuerzustand dagegen „Sättigung". Wir erfahren ferner,
dafs er die Dauer einer Weltjieriode auf 10800 Jahre be-
stimmte. Auf diese Zahl kam er in folgender Weise: Das
Menschenalter oder Geschlecht bestimmte er als denjenigen
Zeitraum, innerhalb dessen ein jetzt Geborener, die Zeugungs-
fähigkeit auf 14 Jahre angenommen, möglicherweise Grofs-
vater werden könnte, d. h. auf 30 Jahre. Dieses Menschen-
alter nun als Welttag angesetzt und mit 360, der von ihm
angenommenen Tageszahl des Jahres, multipliziert, ergibt
die Zahl 10800 als die des „Weltjahres" oder grofsen Jahres.
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II. Heraklit. 93
Man sieht also, dafs nicht nach irgendwelchen Welt-
vorgängen, sondern in ganz willkürlicher Anlehnung an das
Menschenleben die Dauer des Weltjahres bestimmt wird
(D. p. 41 flf., 13, 19). Gemeint ist offenbar der ganze Ver-
lauf eines einmaligen Weltprozesses vom Beginn der Um-
wandlung des Feuers bis wieder zum vollendeten Rückgang
in Feuer. Es mufs dies schon deshalb angenommen werden,
weil Heraklit offenbar einen bestimmten Endpunkt des Weges
abwärts, wo also aller Stoff zum Festen erstarrt sein werde,
nicht angenommen, sondern sich während einer Weltperiode
den Weg abwärts und aufwärts als beständig nebeneinander
herlaufend und einander fortwährend, wenigstens teilweise,
aufhebend und ausgleichend vorgestellt hat. Jedenfalls hat
er solche Weltperioden angenommen ( Arist. 319 b, 15). Die
Bezeichnung des Weges abwärts als Streit und Entzweiung
erhält eine Ergänzung an der Angabe, dafs Heraklit Homer
wegen des Verses „Möchte doch Entzweiung von den Göttern
und Menschen schwinden" (Jl. 18, 107) heftig getadelt habe;
könne doch nur auf Grund des Hervortretens der Gegensätze
Harmonie entstehen! (D. 43, 22). Damit hängt zusammen
das Zeugnis, dafs er dem Streit geradezu den Namen des
ol)ersten Gottes, des Weltherrschers Zeus, beigelegt hat
(Philodem bei D. Dox. 548).
Weil die Umwandlung in das Entgegengesetzte nicht
durch ein plötzliches Umschlagen, sondern in der Form des
stetigen Überganges stattfindet, ist das Entgegengesetzte
zugleich an den Dingen. In diesem Sinne behauptete
Heraklit (S. Emp. Hyp. II. 63), der Honig sei zugleich süfs
und bitter (wie er ja in der Tat den Kranken bitter
schmeckt).
Wir erfahren ferner, dafs die Seelen der belebten Wesen
auf der Erde, einschliefslich des Menschen, gleichartig sind
der allgemeinen Seele, d. h. dem Feuer, wie es überall und
jederzeit als Ausdünstung des Feuchten sich bildet, und dafs
die Seele, wenn sie im Tode den Körper verläfst, mit der
allgemeinen Feuerseele des All verschmilzt (D. 41, 15).
In einer ausführlichen Darlegung berichtet endlich
Sextus Empiricus, der Pyrrhoneer um 200 nach Chr.
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94 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
(Dogm. II. 126—134; D. 41, 16), dafg Heraklit daß Welt-
fauer, für das wir bereits die Bezeichnimg Seele gefanden
ha^en, in einer über die alten Milesier weit hiiumegehenden
Weise seigar äIs eine einheitliche Weltvernanft ge-
fafst habe. Hier ist der eigentliche Höhepunkt des Hylo-
\psycliiamus erreicht: der Weltstoff ist zugleich und an
sidi selbst Bicht nur Weltseele, sondern Welt Vernunft,
vernünftige Weltseele. Dadurch wird also auch das inne-
wohnende Gesetz der unverbrüchlichen Notwendigkeit, nach
dem alles in der Welt geschieht, ein Veraunf tgesetz ; das
Weltgeschehen ist in allen seinen Besonderbeiten vernünftig.
Es wird hier ferner näher geschildert, in welcher Weise
die menschliche ßeele, die ja von den Fliefsen, der be-
ständige Umwandlung aller Dinge in ihr Gegenteil, nicht
ausgeoommen ist, ihre Feuematur, die also zugleich ihre
Vernunftnatur ist , aus dem überall vorhandenen Feuerstoff
beständig ergänzt. Die JKanftle, durdi die dies geschieht,
sind nicht nur die Atmungsorgane, sondern anoh die Slnnes-
werkzeuge. Wenn diese im Schlafe geschlossen sind und
nur die Einatmung in Tätigkeit ist, wird das Band, das die
Seele mit dem allgemeinen Feuer- und Vernunftstofiie ver-
knüpft, erbeblich gelockert. Wie Kohlen, die vom Feuer
entfernt werden, erlischt das Seelenfeuer; wir werden fast
vemunftlos. Aus demselben Grunde gelten ihm auch die
allgemein und bei allen auftretenden Überzeugungen als
Offenbarungen der Weltvernunft, die Privatansichten der
einzelnen aber als unzuverlässig und unwahr. Noch kürzer
und schärfer drückt ßext. Empir.idiesen Gedanken Heraklits
an einer anderen Stelle (Dogm. II. 286) folgendermafsen
aus: Der Mensch ist nicht vernünftig; nur der allg^ateine
Weltstoff ist der Vernunft teilhaftig. Die wahre Erkenntnis
^beruht auf der Gleichartigkeit der Seele mit diesem. „Das
Bewegte wird durch das Bewegte erkannt* (Aristot. 405, 27).
Mit der gröfsten Wahrscheinlichkeit haben wir auch in
dieser Steigerung der seelischen Natur des Weltstoffes zur
Vernünftigkeit eine Einwirkung des Xenophanes su er-
kennen, bei dem ja auch der kugelförmige Gott als Ganzes
denkend ist.
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II. Heraklit. ' 95
Dadurch, dafe Heraklit die Sinne als Kanäle der Nah-
ruiigSEufuhr für das Yernunftvermö^en ansieht, entsteht eine
gewisse Unklarheit in Bezug auf die eigentliche Verrichtung
der Sinne, die Vermittlung von Eindrücken der Aufsenwelt.
Es läfst sich nicht entscheiden, ob er diese beiden Ver-
richftnBgen als einerlei oder als verschieden angesehen hat,
ja, ob er sie überhaupt in seinem Denken unterschieden hat.
Jedenfalls gehört hierher der in diesem Zusammenhange von
Sext. Empir. erhaltene Ausspruch (Fr. 107 D): „Üble Zeugen
-sind den Menschen Augen und Ohren, wenn sie Barbaren-
seelen haben.** Hier wird ofienhar das Zeugnis der Sinne
nidit an sich und überhaupt verworfen, sondern nur die
ricktige Auffassung und Verwertung desselben von der
richtigen Vernunftbeschaffenheit der Seele abhängig gemacht.
Unter den Sinnen als Zeugen gab er aber femer weitaus
dem Aage den Vorzug in Vergleichung insbesondere auch
mit dem Ohr (D. 42, 17), was wohl auch wieder mit der
Vorstellung von d^ AufnaJime der lichten Ausdünstungen
duffch die Sinne in .Zusammenhaog steht.
Ihifs er die Weltnotwendigkeit (heinutm^ne), die das All
diurchwaltet und daseiende durch Umwandlung in die Gegen-
sätze ^staltet, auch geradeau Vernunft (l<^gos) genannt
habe, bezeugen auch noch zwei andere Stellen (Stob. I. 85
und .78; D. 301, 322). Nach einem anderen Zeugnis (D. 559)
sdII er Gott geradezu ein vernünftiges Feuer genannt haben.
Sehr viel weniger indirekte Zeugnisse als über seine
Naititrlehre besitzen wir über die auf das Leben gerichtete
Seite seines Denkens. Hier ist zunächst von grundlegender
Bedestung die Angabe (D. 43, 21), er habe für das Lebens-
ziel, für den Inbegriff aller Befriedigung und den Ausgangs-
punkt des richtigen praktischen Verhaltens das „Wohlgefallen"
(euar^stesis), d. h. offenbar die freudige Einstimmung in die
Weltordnung erklärt. Dafs es ungeschichtlich ist, Heraklit
schon den erst viel später auftauchenden Begriff des Lebens-
ziels beizulegen, bedarf keines Beweises. Das Richtige in
dieser Angäbe besteht darin, dafs er, wie schon im Bisherigen
hervorgetreten ist und im weiteren Verlaufe noch bestimmter
hervortreten wird, mit grofser Emphase die Vemünftigkeit
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9() Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
der Weltordnung pries, sowie dafs er in der Erkenntnis
dieser Vernünftigkeit eine hohe Freudigkeit und Zufrieden-
heit empfand und eine volle Anpassung an dieselbe auch im
jiraktischeii Verhalten als notwendig Jforderte. Es ist eine
Art religiöser Grundstimmung dem Weltgrunde und der Welt-
einrichtung gegenüber, aus der auch die entsprechende
Lebenshaltung hervorgeht. Ja, man kann sagen, es liegt in
dieser Stimmung dem Weltgrunde gegenüber der erste Keim
der griechischen Mystik, wenn man unter Mystik im weiteren
Sinne ein religiöses Verhalten ohne Gunstbewerbung ver-
steht. Dafs er auch das Wort „Wohlgefallen" selbst schon
gebraucht hat, ist nicht unwahrscheinlich; jedenfalls aber
wird durch dasselbe die ihn beherrschende Grundstimmung,
das beherrschende Glücksgefühl aus der freudigen Zustim-
mung zur Weltordnung nicht als blofse resignierte Unter-
werfung unter das Unabänderliche, sondern auf Grund der
Erkenntnis von ihrer Trefflichkeit und ihrer Übereinstimmung
mit unseren wahren Bedürfnissen treffend bezeichnet.
4. Nachdem wir so aus den indirekten Zeugnissen eine
tJbersicht über die Lehre Heraklits gewonnen haben, werden
wir mit gröfserem Erfolg an den Wortlaut der erhaltenen
Bruchstücke herantreten können, die allerdings nur für einen
Teil der angeführten Lehren eine Bestätigung liefern, teil-
weise aber auch wieder eine Erweiterung und Vervollständi-
gung, die aber jedenfalls geeignet sind, uns mit diesem hoch-
gemuten Geiste in unmittelbare Berührung zu bringen.
Die Summe seiner theoretischen Weltansicht gibt folgendes
Bruchstück (D. 30): „Diese Welt, dieselbige für alle Wesen"
(d.h. wohl, es gibt nur eine Welt), „hat weder der Götter
noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer-
dar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer; „sein Er-
glimmen und sein Verlöschen sind ihre Mafse" (d. h. die
Perioden und Phasen des Weltgeschehens).
Diese „Mafse" (d. h. der Weg abwärts und aufwärts)
werden dann, wenngleich unvollständig, in folgendem Bruch-
stück (D. 31) genauer angegeben: „Feuers Wandlungen:
erstens Meer, die Hälfte davon Erde, die andere Glutwind".
(Hier wird gleich die vom Wasser ausgehende lichte und
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II. Heraklit. 97
feurige Verdunstung, die zugleich seine ständig verlaufende
Rückkehr ins Urprinzip ist, mitbezeichnet.) „Es zerfliefst
das Meer und erhält sein Mafs nach demselben Wort" (un-
verbrüchliche Vernunftordnung, lögos), „wie es vorher war,
ehe denn es Erde ward." Hier scheint, freilich nur in
halben Andeutungen, der Weg aufwärts bezeichnet zu werden.
Das Feste ist wieder zum Flüssigen geworden, aber auch
dies „zerfliefst" wieder, d. h. erhebt sich auf dem Wege der
feurigen Verdunstung wieder zum XJrstoff.
In eigenartiger Weise ist der Weg aufwärts und abwärts
in folgendem Bruchstück bezeichnet (D. 76), das aber nur
in entstellter Form überliefert ist und in echt heraklitischer
Fassung \ielleicht folgen dermafsen gelautet hat : „Feuer lebt
des Wassers Tod, Wasser lebt der Erde Tod, Erde den des
Wassers." Hier fehlt nach echt heraklitischer Manier, einen
Teil des Gedankens unausgesprochen zu lassen, das erste
Glied des Weges abwärts, die Wandlung des Feuers in Wasser.
Dafs er den Weg abwärts Mangel und den Weg aufwärts
Sättigung nannte, beweist das Bruchstück 65 D. Und dafs
er den Weg abwärts als Krieg bezeichnete , dazu pafst das
Wort (53 D): „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König.
Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen,
lue einen zu Sklaven, die andern zu Freien." Dagegen heifst
es von dem Ende des Weges aufwärts: „Das Feuer wird
alles richten und verdammen" (66 D).
Die Summe dieser Umwandlungen als zugleich die Ge-
samtheit des Weltgeschehens in sich begreifend fafst zusammen
Fr. 90 D; „Gegen Feuer wird umgetauscht das All und
Feuer gegen das All, wie Waren gegen Gold und Gold gegen
Waren."
Von grofser Bedeutung ist auch der Satz (60 D) : ;,Der
Weg auf und ab ist der nämliche" (d. h. in beiden Richtungen
der Umwandlung wird dieselbe Stufenfolge eingehalten).
Dafs dieser Wandel nun als ein beständiges Fliefsen in
der Welt fortwährend im Gange ist, bezeichnet das berühmte
Bild vom Flusse. Dasselbe ist am bekanntesten in folgender
Fassung (Plato; Kratyl. 402 A; Fr. 91 D): „Man kann nicht
«weimal in denselben Flufs hinabsteigen." Daneben findet
DdriBff. I. 7
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98 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
sich aber auch folgender Wortlaut : „Wer in dieselben Fluten
hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu. Auch die
Seelen (d. h. das Feurige) dünsten aus dem Feuchten empor."
Nach-diesem letzten Zusatz bezog sich diese Fassung wohl
speziell auf die Wandlung des Wassers durch die feurige
Ausdünstung.
Dieses Fliefsen ist aber zugleich ein Übergang in das
Gegenteil. Darum werden die Gegensätze schon in den Welt-
grund selbst verlegt: „Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer,
Krieg Frieden, Sättigung Hunger" (67 D).
Da aber dieser Übergang kein plötzliches Umschlagen
ist, so ist das Entgegengesetzte auch wieder zugleich an
den Dingen. Dies ist wohl der Sinn von Aussprüchen, dafs
Tag und Nacht eins ist (57), desgleichen grad und krumm,
wofür die Krempelmaschine als Beweis dienen mufs (59),
gut und übel, was aus dem den Patienten schmerzhaften und
doch heilsamen Tun der Ärzte folgt (58), rein und unrein;
das Meerwasser den Fischen trinkbar und gesund, den
Menschen untrinkbar und tödlich (61).
Nur auf Grund dieses Zusammenseins der Gegensätze
entsteht der kräftige Zug, die Spannung im Leben der Welt.
„Das Auseinanderstrebende stimmt zusammen; es ist eine
Harmonie des Auseinanderstrebenden, wie beim Bogen und
bei der Leier" (51). Dieses Bild ist für den Bogen ohne
weiteres verständlich: seine Brauchbarkeit beruht auf dem
kräftigen Auseinanderstreben seiner beiden Arme. Weniger
deutlich ist das Bild der Leier. Man müfste an eine Leier
denken, bei der die Saiten zwischen den beiden elastisch
auseinanderstrebenden Armen selbst aufgespannt sind und
dadurch in Spannung erhalten werden.
Wegen dieser Lehre vom Zusammensein des Entgegen-
gesetzten wurde, wie wir aus Aristoteles (1005b, 23 u. a.St.)
erfahren, schon im Altertum gegen Heraklit der Vorwurf er-
hoben, er leugne den nicht nur für unser Denken, sondern
auch für das Sein unverbrüchlichen Satz des Widerspruches,
nach dem an einem und demselben Objekte nicht zugleich
entgegengesetzte Bestimmungen stattfinden können, nach dem
überhaupt dasselbe niclit zugleich sein und nicht sein kann.
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IL Heraklit 99
Selbstverständlich hat Heraklit von diesem logischen Grund-
satze kein Bewufstsein gehabt. Dafs er in der paradoxen
Betonung des Zusammenseins des Entgegengesetzten in dem
in beständiger Umbildung begriffenen Stoffe seiner Verneinung
nahekommt, läfst sich allerdings nicht leugnen. Wie sehr
dies Zugleichsein des Entgegengesetzten als ein charak-
teristischer Zug seines Denkens galt, geht auch daraus hervor,
dafs Lucian (2. Jahrh. nach Chr.) in seiner „Philosophen-
versteigerung" ihm den Satz in den Mund legt: Lust und
Unlust, Verstand und Unverstand, Grofses und Kleines sei
im Grunde dasselbe (c. 14).
Dafs ein unverbrüchliches Gesetz in der Welt waltet,
drückt er folgendermafsen aus: „Die Sonne wird ihre Mafse
nicht übei-schreiten ; sonst werden die Erinnyen, der Dike
(des Weltgesetzes) Schergen, sie ausfindig machen" (94).
Die seelische und Vernunftnatur des Urfeuers findet
schon darin ihren Ausdruck, dafs er es Gott nennt (67).
Besonders nachdrücklich wird sie in folgenden Bruchstücken
ausgesprochen: „Unmündig heifst der Mann der Gottheit,
wie der Knabe dem Manne" (79). „Des Menschen Sinn hat
keine Einsichten, wohl aber der göttliche" (78). „Der weiseste
Mensch wird gegen Gott wie ein Affe erscheinen an Weis-
heit, an Schönheit und allem anderen" (83). „Einsicht
lenkt alles und jedes" (41). Ob er diese Weltvernunft als
eine bewufste dachte, ist nicht ersichtlich, doch wahr-
scheinlich.
In seltsamem Widerspruch mit dieser Auffassung scheint
er dann gelegentlich auch wieder die souveräne Willkür des
Weltwaltens betont zu haben: „Die Welt" (der Äon; was
er mit diesem Ausdrucke meint, ist nicht sicher) „ist wie ein
spielendes Kind beim Brettspiel; eines Kindes ist die Herr-
schaft" (52). „Die schönste Welt ist wie ein aufs Gerate-
wohl hingeschütteter Kehrichthaufen" (124). Vielleicht wollte
er in solchen Aussprüchen nur den Eindruck des Welt-
geschehens auf die unzulängliche menschliche Erkenntnis
bezeichnen, wie er ein anderes Mal sagt, die unsichtbare
Harmonie sei besser als die sichtbare (54).
Dafs die Sonne täglich neu ist, besagt auch Fr. G.
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100 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Dafs er die Wandlungen des Feuers auch auf den
Spezialfall der menschlichen Seele bezieht, zeigt Fr. 35:
„Für die Seelen ist es Tod, Wasser zu werden; für das
Wasser Tod, Erde zu werden. Aus der Erde wird Wasser,
aus Wasser Seele." Hier ist der Weg abwärts und aufwärts
für die Seele vollständig angegeben. Ebenso spricht er vom
Tode als einem „Nafswerden der Seele" (77). Ja, er scheint
nach derselben Stelle schon das körperliche Leben in seiner
Unvollkommenheit als eine Art Tod zu bezeichnen, wenn er
sagt: „Wir leben der Seelen Tod und jene leben unsern
Tod." Auf die Feuernatur der Seele, die freilich fort-
währender Zufuhr aus den feurigen Ausdünstungen in der
Welt bedarf, deutet der Ausspruch hin: „Trockne Seele die
weiseste und beste" (118). Da im Schlafe die wichtigsten
Kanäle dieser Zufuhr verschlossen sind, so haben nur „die
Wachenden eine gemeinsame Welt", im Schlafe aber jeder
seine eigene (80). Und den Vernunft- und hilflosen Zustand
des Trunkenen erklärt er sich dadurch, dafs „seine Seele
nafs" geworden ist (117). Auf dem nur unvollkommenen
Feuerzustande der Seele beruht es denn auch wohl, dafs die
Menge lebt, als hätte sie einen Privatverstand (2) und dafs
viele Menschen „Barbarenseelen" haben (107), sowie über-
haupt die geistesaristokratische Verachtung, mit der dieser
„Kräher" und „Pöbelschmäher" auf seine Mitbürger und die
Masse der Menschen überhaupt herabblickt. Darauf beruht
wohl auch sein Lob des weisen Bias von Prione, von
dem er das Wort übernimmt: Die Menge ist schlecht, wenige
sind die Tüchtigen (41, 104).
Nach diesen Aussprüchen über die Natur der Seele und
nach dem ganzen, jedes Beharren ausschliefsenden Charakter
seiner Weltanschauung überhaupt kann die Seele nicht als
eine im Tode beharrende Substanz gelten. So sagt er denn
auch (26; die Stelle ist verdorben und im weiteren Verlaufe
unverständlich): „Der Mensch zündet sich in der Nacht"
(d. h. im Leben) „ein Licht an ; wenn er gestorben , ist er
erloschen," und: „Die Toten sind wertloser als Dünger" (96).
Ob er — etwa für heroische Übermenschen — eine Aus-
nahme von diesem allgemeinen Menschenlose statuiert hat
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II. Heraklit. 101
(„Der Menschen wartet nach dem Tode, was sie nicht er-
warten noch wähnen" [27]; „Unsterbliche sterblich, Sterb-
liche unsterblich : sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben
ihr Leben" [62] und einige noch dunklere Stellen), läfst sich
beim Fehlen des Zusammenhangs dieser Aussprüche nicht
ermitteln. Vielleicht denkt er auch dabei nur an den Rück-
gang in den allgemeinen WeltstoflF. Jedenfalls würde er sich
mit der Annahme einer individuellen Fortdauer der Seele,
die ja auch nur ein Fliefsendes, in fortwährender Umbildung
Befindliches ist, in den schroffsten Widerspruch mit seinen
eigenen Grundvoraussetzungen verwickeln (Rohde, Psyche
IL 146 ff.).
Wie gering er von der Sinneswahrnehmung und der er-
fahrungsmäfsigen Erkenntnis dachte, das bezeugen die ab-
schätzigen Urteile über seine gelehrten Zeitgenossen. Nicht
die ,Viellernerei" belehrt nach seiner Meinung die Vernunft;
diese ist in ihrer Einheit mit dem Weltfeuer unmittelbare,
selbstgenugsame Erkenntnisquelle. Nicht ein logisch-metho-
disches Denken, sondern unmittelbare Vemunftanschauung
führt zur Wahrheit.
Dafs Heraklit auch ein Gefühls Verhältnis und zwar
ein positives, freudig bejahendes zum Weltgrunde statuierte
und daraus auch eine Regel des praktischen Verhaltens ab-
leitete, dazu bringen die Fragmente ebenfalls bedeutsame
Bestätigungen.
Zunächst freilich möchte man ihn nach den Prädikaten,
die er den beiden entgegengesetzten Weltzuständen gibt, für
eioen ausgemachten Pessimisten und sein Werturteil über
die Welt für ein negatives halten. Der reine Feuerzustand
ist Eintracht, Friede, Sättigung, der Zustand als Welt Streit,
Entzweiung, Mangel. Darnach müfste ihm der vorhandene
Weltzustand im Vergleich mit dem Ausgangszustand als ein
Abfall, eine Verschlechterung, also als ein Unglück erschienen
sein. Dazu scheint auch das Prädikat zu stimmen, mit dem
er selbst im Gegensatz gegen Demokrit, den lachenden
Philosophen, als der weinende Philosoph auf die Nachwelt
gekommen ist. Aber diese Prädikate beziehen sich, wie bei
Demokrit gezeigt werden soll, doch wohl nur auf die
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I(j2 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Haltung, die beiden der Torheit und Verkehrtheit der
Menschen gegenüber beigelegt wurde.
Auch ist er ganz und gar nicht gewillt, obige Kon-
sequenz zu ziehen. Er ist durchaus optimistisch gestimmt.
Die Welt ist vernünftig (41, 78); die unsichtbare Harmonie
ist besser als die sichtbare (54). „Der Gottheit ist alles
schön und gut und gerecht, während die Menschen einiges
für gerecht, anderes für ungerecht halten" (102). Für den
„Streit", durch den die Welt entstanden ist, nahm er leb-
haft Partei gegenüber dem frommen Wunsche Homers. Die
schönste Harmonie entspringt nur aus ihm (8).
Der eigentlichste Grund aber seines Wohlgefallens au
dem vorhandenen Weltzustande liegt darin, dafs ihm der
Streit mit seinen Wechselfällen unterhaltender und er-
frischender erscheint als das Einerlei eines ewigen Friedens-
zustandes. „Krankheit macht die Gesundheit angenehm,
Übel das Gute, Hunger die Sättigung, Mühsal die Ruhe"
(111). „Es ist nicht gut, wenn den Menschen alle ihre
Wünsche erfüllt werden" (110). „Im Wandel liegt eine Er-
holung; ermüdend ist es, immer denselben zu frönen und
zu dienen" (84). „Auch der Mischtrank zersetzt sich, wenn
er nicht immer umgerührt wird" (125). Und das „Nafs-
werden" im Tode erscheint ihm als eine Lust für die Seele
(77). Nach solchen Stellen müssen wir annehmen, dafs er
vornehmlich in dem, worin er die tiefste Eigentümlichkeit
der Weltordnung findet, in dem ewigen Wechsel aller Zu-
stände, ihre Vernünftigkeit, ihre Trefflichkeit, ihren Gefühls-
wert als zureichenden Grund menschlicher Befriedigung er-
kennt.
Aus diesem gleichsam religiösen Verhalten zur Welt-
ordnung hat aber Heraklit auch, wenigstens den Grundzügen
nach, die einzuschlagende Richtung des Handelns abgeleitet.
„Eins ist das Weise, zu erkennen die Einsicht, die alles lenkt"
(41). „Torheit ist es, dafs, während es eine einheitliche
Vernunft gibt, die Menge lebt, als hätte sie einen Privat-
verstand" (2). Nach einem anderen Ausspruche, der freilich
wegen seines starken Anklingens an die stoische Lehre etwas
verdächtig ist (112), ist die Besonnenheit die gröfste Tugend,
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II. Heraklit. 103
und die Weisheit besteht darin, Wahres zu reden und zu
tun, aufhorchend auf die Stimme der Natur, wo unter Natur
eben die vernünftige Weltordnung zu verstehen ist. Wenig-
stens bergen sollten die Menschen ihren Unverstand (95, 109).
Und da diese vernünftige Weltordnung sich nach Hera-
klits Ansicht vornehmlich auch in den allgemeinen Sitten
und Satzungen der menschlichen Gesellschaft und im Staats-
gesetz oflFenbart, so folgt aus seinem Prinzip die strengste
konservative Haltung gegenüber diesen durch das Walten
des Weltgeistes selbst in den Seelen der Gesetzgeber und
Schöpfer der Lebensordnungen geschaffenen Normen. „Das
Volk mufs für das Gesetz kämpfen wie für die Stadtmauer"
(44). „Man mufs den Frevelmut dämpfen wie eine Feuers-
brunst** (43). Und auch der Satz, dafs Götter und Menschen
die im Kriege Gefallenen ehren (24), mag in diesen Zu-
sammenhang gehören. Ebenso entspringt aus ihm wohl vor-
nehmlich die herbe und schroffe Haltung gegen die Masse
der Menschen, die, statt auf das einheitliche Vernunftgesetz
zu hören, der Willkür ihrer subjektiven Einfälle folgen.
Freilich hätte er sich folgerichtigerweise dieser sittlichen
Entrüstung entschlagen müssen, wenn der vielfach deutbare
und gedeutete Satz „Das Ethos ist dem Menschen der
Dämon" (119) die Bedeutung hat, die nach überwiegender
Wahrscheinlichkeit in den Worten liegt: die natürliche, an-
geborene Sinnesart, das Naturell, ist für den Menschen die
hauptsächlichste Schicksalsmacht. Denn wenn das Mafs,
das die einzelnen von der Feuernatur des All abbekommen
haben, ein für allemal durch die Weltordnung, die ja vor-
treflFlich ist, bestimmt ist, so können sie ja nicht dafür, dafs
ihnen nicht ein gröfserer Anteil zugefallen ist. Wozu also
der Lärm?
So hat also Heraklit sein Prinzip der Vollbefriedigung
und seine daraus abgeleitete Regel der Lebensführung. Er
ist der erste Vorläufer der axiologischen Ethik.
Mit dem Volksglauben und den religiösen Gebräuchen
seines Volkes hat er, wie nicht anders zu erwarten, ent-
schieden gebrochen. In der energischen Verurteilung der
homerischen Dichtung als Religionsurkunde zeigt er sich,
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104 Krste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
wie in mehreren anderen vorerwähnten Stücken, wieder als
Nachfolger des Xenophanes. „Homer verdiente aus den
Preis wettkämpfen" (an Götterfesten) „verwiesen und mit Ruten
gestrichen zu werden und ebenso Archilochos" (42). Und
ebenso in Bezug auf den Kultus: „Reinigung von Blutschuld
suchen sie vergeblich, indem sie sich mit Blut besudeln"
(d. h. durch Opfer), „wie wenn einer, der in Kot getreten,
sich mit Kot abwaschen wollte. Für wahnsinnig würde ihn
doch halten, wer etwa ihn bei solchem Treiben bemerkte.
Und sie beten auch zu diesen Götterbildern, wie wenn einer
mit Gebäuden Zwiesprache halten wollte. Sie kennen eben
die Götter und Heroen" (das Göttliche) „nicht nach ihrem
wahren Wesen." —
Die Lehre des Heraklit hat, wie wir später sehen werden,
in verschiedenen Richtungen nachhaltig und bedeutsam auf
den Entwicklungsgang der Philosophie eingewirkt. An dieser
Stelle ist nur ein kurzer Blick auf seine unmittelbare
Anhängerschaft zu werfen.
Zunächst müssen sich in dieser Anhängerschaft schon
früh im Anschlufs an den Gedanken des gleichzeitigen Zu-
sammenseins des Entgegengesetzten an den Dingen sehr
eigenartige Theorien über die Sinneswahmehmung entwickelt
haben. Schon der seit 450 wirkende Sophist Protagoras
zeigt sich von diesen Konsequenzen der Gegensatzlehre aufs
tiefste beeinflufst.
Wenn das Entgegengesetzte zugleich an den Dingen ist,
so kann es nicht überraschen, dafs auch Entgegengesetztt^s
an demselben Dinge wahrgenommen wird. Je nach den ver-
schiedenen Zuständen des Organismus überhaupt und der
Sinnesorgane insbesondere ist der eine für diesen Eindruck,
der andere für den entgegengesetzten empfänglich. Ja selbst
für dieselbe Person beim Wechsel ihrer Zustände trifft dies
zu. Der Honig ist dem Gesunden süfs, dem Kranken bitter.
An sich ist er beides; nur die Fähigkeit der Wahrnehmung
im Subjekte ist eine andere geworden. Jeder von beiden
Wahrnehmungen entspricht etwas Tatsächliches.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden schon bei diesen
alttn Herakliteren aus dieser Grundanschauung die weiteren
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IL Heraklit. 105
skeptisch klingenden Sätze abgeleitet, die wir bei Protagoras
finden. Es gibt (in der Wahrnehmung) keinen Irrtum,
denn jede Aussage beruht auf einem wirklichen Sinnes-
eindruck , also auf etwas an den Dingen wenigstens im ge-
gebenen Momente tatsächlich Vorhandenem. Es gibt keinen
Widerspruch zwischen zwei entgegengesetzten Aussagen.
Um sich zu widersprechen, müfsten beide Aussagen sich auf
dasselbe beziehen. Dies ist aber nicht der Fall; tatsächlich
meinen die beiden Aussagenden gar nicht dasselbe an dem
Dinge ; jeder meint das, was gerade ihn affiziert hat.
Alle diese Sätze sind, soweit sie die Sinneswahrnehmung
betreffen, durchaus folgerichtig aus Heraklits Lehre über das
Wesen des Seienden abgeleitet. Der Fehler liegt nach dieser
Anschauung nicht an dem Wahrnehmenden,, sondern am Ob-
jekte der Wahrnehmung. Es war nur die Gefahr vorhanden,
durch Ausdehnung dieser Berechtigung der Subjel^tivität
über das Gebiet der Sinneswahrnehmung hinaus auf jede
Art von Überzeugungen in einen schrankenlosen Subjektivis-
mus zu verfallen. Dafs die heraklitische Schule wenigstens
im Laufe ihrer späteren Entwicklung dieser Gefahr zum
Opfer gefallen ist, wird die nachstehende Schilderung ihres
Zustandes um 400 durch Plato zeigen.
Zuvor aber mufs von dem etwas älteren Herakliteer
Kratylos gesprochen werden. Von seinen persönlichen
Verhältnissen ist nur bekannt, dafs er der erste Lehrer des
um 427 geborenen Plato gewesen ist (Arist. 987, 32). Er
mufs also um 415—410 in Athen gelehrt haben. Ob er aus
Ephesos stammte und noch persönlich zu Heraklit in Be-
ziehung gestanden hat, ist nicht bekannt. Doch ist letzteres
schon nach dem soeben angegebenen Datum nicht wahr-
scheinlich ; auch erscheint er in dem nach seinem Namen ge-
nannten Dialoge Piatos (440 D) jünger als der 470 geborene
Sokrates. Er bekennt sich in diesem Dialog zur Lehre vom
Flufs der Dinge (440 C f.). Nach Aristoteles (1010, 10)
trieb er diese Lehre sogar in der Art auf die Spitze, dafs
er behauptete, man könne auch nicht ein einziges Mal
in denselben Flufs hinabsteigen. Nach dem platonischen
Kratylos (429 C) ferner mufs auch er aus dem Zusammensein
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106 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismiis.
des Entgegengesetzten an den Dingen die Folgerung gezogen
haben, dafs falsche Urteile unmöglich seien. Er kam aber
schliefslich (Arist. 1010, 10), oflFenbar auf Grund der wider-
sprechenden Natur der Dinge, zu der Ansicht, dafs man
sich jedes Urteils enthalten müsse, und bewegte nur noch
den Finger, wohl um das allgemeine Fliefsen auszudrücken.
In Ephesos selbst erhielt sich eine Art von Schule Hera-
klits bis lange nach dessen Tode. Von der wunderlichen
Ausartung dieser Schule, wie sie sich etwa um 400 gestaltet
hatte, entwirft Plato im Theätet (c. 27) eine höchst ergötz-
liche Schilderung. Er vergleicht diese Herakliteer mit Tieren,
die von Bremsenstichen wild geworden sind. Nach ihren
Schriften zu urteilen, müfsten sie selbst stets in unsteter
Bewegung sein, niemals bei der Sache bleiben oder in Ruhe
eine bestimmte Einzelfrage untersuchen. Werfe man eine
Frage auf, so zögen sie wie Pfeile aus einem Köcher rätsel-
hafte Sprüche hervor und schössen sie auf den Gegner ab.
Verlange man eine Erklärung derselben, so würden nur neue
Rätselsprüche abgeschleudert. Auch untereinander könnten
sie sich nicht verständigen und hüteten sich überhaupt, feste
ITberzeugungen auszusprechen, die ja etwas Beharrendes
sein würden. Keiner unter ihnen sei Schüler eines anderen ;
sie wüchsen von selbst hervor, wie gerade einer in Begeisterung
gerate, und jeder erkläre vom anderen, dafs er nichts wisse.
Spöttisch nennt er sie an einer anderen Stelle (Theätet 124 A)
geradezu „dieFliefsenden". Einer der hier hervorgehobeQen
Züge, die Neigung zu unverständlichen, orakelhaften Aus-
sprüchen, wird auch dem Kratylos in dem gleichnamigen
Dialoge (384 A; 427 D) beigelegt.
III. Entwicklungsgang der unteritalischen Wissenschaft
im Anschlufs an Pythagoras und Xenophanes (ca. 500
bis nach 400).
Erst auf dieser Stufe tritt die besondere Eigentümlich-
keit des zweiten Abschnittes, die Fassung des Grundwesens
der Dinge in einer solchen Weise, dafs eine Ableitung der
wirklichen Welt daraus zur Unmöglichkeit wird, in der
Lehre des Parmenides und im Hauptsysteme des
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m. Entwicklungsgang der unteritalischen Wissenschaft 107
wissenschaftlichen Pythagoreismus vollständig in
die Erscheinung. Aber auch auf dieser Stufe kommen neben
diesen beiden Systemen noch mehrere andere Erscheinungen
in Betracht. Auf pythagoreischer Seite kommt die welt-
feindliche Eigenart der Forschung nicht mit einem Schlage
zum vollen Ausdruck. Die Entwicklung vollzieht sich hier
in mehreren Vorstufen mit Nebenerscheinungen,
die ihrerseits wieder auf die nachfolgenden Entwicklungen
einen Einflufs gewinnen. Es mufs endlich auch der auf die
Höhepunkte folgende weitere Gang der Entwicklung
noch zur Darstellung gebracht werden. Es entsteht so ein
ziemlich komplizierter Entwicklungsgang, dessen wesentliche
Phasen folgende sind:
1. Das älteste System des wissenschaftlichen
Pythagoreismus, vielleicht schon vor 500.
2. Die eleatische Theorie in gegensätzlicher
Haltung zu diesem. Parmenides (um 500).
3 und 4. Die unteritalische Forschung unter
dem Eindruck der Entdeckung der Plane-
ten (nach 500).
3. Das Zweitälteste System des wissenschaft-
lichen Pythagoreismus (nach 500).
4. Alkmäon (nach 500).
5. Das Hauptsystem des wissenschaftlichen
Pythagoreismus (um 480 — 470).
0. Die Verteidigung der eleatischen Theorie,
insbesondere auch gegen das pythagoreische
Hauptsystem. Zeno von Elea (um 470).
7. Der letzte Vertreter des Eleatismus, Me-
lissos (um 460).
8. Weiterer Verlauf des wissenschaftlichen
Pythagoreismus (bis gegen 320).
Bei der grofsen Spärlichkeit der Nachrichten über die
meisten der hier darzustellenden Vorgänge beruht diese Auf-
fassung des Entwicklungsganges vielfach nur auf begründeter
Vermutung, bei der Irrtum nicht ausgeschlossen ist. Für
die Gewinnung einer wirklichen Erkenntnis ist es aber be-
kanntlich stes förderlicher, es auf die Gefahr des Irrens
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108 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
hin ZU wagen, als alles im Zustande vager, chaotischer Un-
bestimmtheit zu belassen.
1. Das Alteste System des wissenschaftlichen
Pythagrorelsmus. Um 600.
Dafs sich an die Empfehlung der wissenschaftlichen
Tätigkeit durch Pythagoras innerhalb des Ordens eine ge-
regelte Forschung durch eine intellektuell veranlagte Minder-
heit der Ordensglieder anschlofs, liegt in der Natur der
Sache. Es gab im Orden eine Gruppe von Gelehrten. Noch
Cicero bezeugt (Tusc. L 38), dafs die Pythagoreer jahr-
hundertelang das gröfste Ansehen als Gelehrte genossen.
Auf diesem Gegensatze der blofsen Ordensmitglieder und der
Gelehrten des Ordens beruht vielleicht die Nachricht (D. 59(i),
dafs es im Orden zwei Grade, Exoteriker und Esoteriker
(Eingeweihte), gegeben habe. Allerdings scheint dabei auch
eine gewisse Geheimtuerei im Spiele zu sein, insofern die
Veröffentlichung der wissenschaftlichen Theorien in Schriften
bei den alten Pythagoreern anscheinend nicht üblich war.
Dadurch mag es sich auch erklären, dafs für mehrere kosmo-
logische Lehren (Kugelgestalt der Erde, Identität von Morgen-
und Abendstem), die Theophrast dem Parmenides zuschreibt,
von anderer Seite die Priorität der Pythagoreer behauptet
wurde (D. L. VIII. 48, 14). Vielleicht hatte Parmenides,
der, wie wir sehen werden, von den Pythagoreern beeintlufst
war, von ihnen manches mündlich überkommen. Ob sich
Pythagoras persönlich an diesen Bestrebungen beteiligte,
läfst sich nicht entscheiden. Jedenfalls spricht Aristoteles,
dem wir fast allein zuverlässige Nachrichten über diese Be-
wegung verdanken, in Bezug auf wissenschaftliche Leistungen
nie von Pythagoras, sondern immer nur von den Pythagoreern.
Aber auch Aristoteles unterscheidet niemals die ver-
schiedenen aufeinanderfolgenden Stufen, in denen sich diese
pythagoreische Forschung entwickelt hat. Teils kommt er
in seinen erhaltenen Schriften nie in zusammenhängender
geschichtlicher Darstellung auf diesen Entwicklungsgang zu
sprechen. Eine unter seinem Namen gehende, aber wahr-
scheinlich nur seiner Schule angehörige Schrift „Zusammeu-
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III. 1. Das älteste System des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 109
Stellung der Lehren der Pythagoreer" ist bis auf wenige
Trümmer verloren gegangen. Teils aber wird es ihm selbst,
da die Pythagoreer ihre wissenschaftlichen Lehren nicht in
Schriften veröffentlichten, sondern nur mündlich fortpflanzten,
nicht möglich gewesen sein, die verschiedenen aufeinander-
folgenden Entwicklungen der Zeitfolge nach zu unterscheiden.
Er erklärt sogar in Bezug auf einen bestimmten Punkt aus-
drücklich (986, 26), die Zeitfolge nicht zu kennen.
Wollen wir diese Sonderung dennoch versuchen, so sind
wir dafür fast ausschliefslich auf innere Merkmale angewiesen.
Fast ausschliefslich, aber doch nicht ganz ausschliefslich.
Denn Aristoteles selbst legt doch an einigen Stellen Haupt-
lehren der Pythagoreer ausdrücklich nur einem Teile der
Schule bei. So bemerkt er (300, 15): dafs die yfelt aus
Zahlen bestehe, werde von einem Teile der Pythagoreer be-
hauptet. Und so führt er denn auch seine Angabe über die-
jenige Form der Lehre, die aus inneren Gründen für die
älteste gehalten werden mufs (986, 22 ff.), mit der Be-
merkung ein, dafs dieselbe nur von einem Teile der Pytha-
goreer aufgestellt worden sei. Dafs diese Lehre die ältere
gewesen sei, sagt er nicht. Die Begründung ihrer zeitlichen
Voranstellung liegt zunächst darin, dafs sie sich nach rück-
wärts direkt an die naturphilosophische Grundansicht des
Pythagoras anschliefst, andernteils aber nach vorwärts für
die Polemik des Parmenides die Voraussetzung bildet.
Sie liegt aber femer auch in dem gesamten, noch höchst
primitiven Charakter dieses Systems selbst. Ein indirektes
Zeugnis für das hohe Alter dieser Lehre liegt auch darin,
dafs Aristoteles in Zweifel ist, ob Alkmäon^, den er als
f inen jüngeren Zeitgenossen des Pythagoras selbst bezeichnet,
seine ihr ähnliche Theorie von ihr entlehnt habe oder um-
gekehrt.
Nach diesem Berichte nun sollte ein Teil der Pythagoreer
die Prinzipien des Seienden in eine Zehnzahl von Gegensatz-
paaren gesetzt haben: in die Grenze und das Unbegrenzte,
in das Ungerade und Gerade, in die Einheit und Vielheit,
in das Rechte und Linke, das Männliche und Weibliche,
das Ruhende und Bewegte, das Gerade und Krumme, das
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110 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Licht und die Finsternis, das Gute und Böse, das Quadrat
und das ungleichseitige Rechteck. Aristoteles bezeugt in
Bezug auf die Gesamtheit dieser Gegensätze, dafs das Seiende
aus ihnen als aus einem Stoffe zusammengesetzt und gebildet
gedacht werde (986 b, 4).
Der an der Spitze stehende Gegensatz der Grenze und
des Unbegrenzten ist hier der richtunggebende, auf dem
auch die Bedeutung der neun übrigen beruht. Die eine
Seite desselben, das Unbegrenzte, zeigt den Zusammenhang
mit der von Pythagoras selbst übernommenen Lehre des
Anaximenes. Das Unbegrenzte ist der aufserhalb der
Welt befindliche, in sie einströmende unendliche Weltstoff.
Zu diesem Stoffprinzip tritt aber hier zum ersten Male in
dualistischem (zweiteiligem) Sinne ein gleich ur-
sprüngliches, entgegengesetztes Prinzip hinzu.
Der Hylopsychismus war trotz der seelischen Prädikate des
Stoffes streng monistisch (einteilig) gewesen. Auch der
Gegensatz des Warmen und Kalten, durch deren Zusammen-
wirken bei Anaximander der Fortgang der Weltbildung
vermittelt wird, war kein ursprünglicher, sondern ein ei*st
durch Differenzierung entstandener.
Welches ist nun aber dieses zweite entgegengesetzte
Prinzip? Grenze als Gegenteil des Unbegrenzten ist offen-
bar ein verkürzter, prägnanter Ausdruck für das Prinzip der
Begrenzung, durch dessen Wirksamkeit der unendliche Welt-
stoff, mit bestimmten Umrissen versehen, in eine Form ge-
bracht wird. Der Gegensatz des Unbegrenzten und der
Grenze ist der des Stoffes und der Form. Hier wird
also zum ersten Male im griechischen Denken ein vom
Stoffe verschiedenes, nicht ihm anhaftendes Prinzip der Ge-
staltung unterschieden.
Dieser Gedanke der Begrenzung oder der Form kann
ungezwungen als ein sehr naheliegender aus der Ordenslehre
abgeleitet werden. Er ist eine Übertragung des für die
Lebensführung Geltenden auf die Weltgestaltung. Wie das
Leben durch den grofsen Zweck durchaus geformt und be-
stimmt sein soll, so erscheint jetzt die Welt selbst als das
durch die Form Gebildete und Bestimmte. Was Aufgabe
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IIL 1. Das älteste System des wissenschaftlichen Pythagoreismus. Hl
und Regel für die pythagoreische Lebensführung ist, Be-
grenzung und Form in das Leben zu bringen, das erscheint
hier vorbildlich in der Welteinrichtung verwirklicht. Man
könnte vermuten, dafs schon Pythagoras selbst, entsprechend
seiner ethischen Sinnesrichtung, die Lehre des Anaximenes
Von dem in die Welt einströmenden Unendlichen in diesem
ethischen Sinne umgewandelt haben mag.
Wir dürfen nun aber wohl auch noch einige andere
Stellen, bei Aristoteles, in denen von diesem Gegensatze des
Unbegrenzten und der Grenze die Rede ist, zur Erläuterung
heranziehen. Was ist das Unbegrenzte? Es ist eine
„Wesenheit" (203, 3; 204, 33). Es ist der Stoff der
Welt (988, 23). Genauer wird dieser WeltstoflF an zwei
Stellen bestimmt. Nach der einen derselben (213 b, 22 ff.)
strömt „aus dem unendlichen Lufthauche" durch
Ausatmung zugleich das Leere in die Welt ein und hat hier
die wichtige Verrichtung, die Dinge als gesonderte aus-
einanderzuhalten. In dieser merkwürdigen, aber auch rätsel-
haften Stelle tritt zunächst deutlich die durch Pythagoras
selbst vermittelte Anlehnung an Anaximenes hervor.
Wie bei diesem ist auch hier das Unendliche Luft.
Dafs der unendliche Lufthauch als ausatmend bezeichnet
wird, entspricht ebenfalls der Vorstellung vom Atmen* bei
Anaximenes. Dafs dieser Lufthauch nun auch selbst als der
eigentliche Weltstoff in die Welt einströmt, wird von Aristo-
teles nicht ausdrücklich gesagt, scheint sich aber doch mit
Notwendigkeit aus dem Zusammenhange zu ergeben. Auch
mufs doch wohl von ihnen, wie von Anaximenes, dieser Luft-
hauch als der eigentliche Weltstoff betrachtet worden sein,
nur dafs jetzt wohl nicht mehr, wie bei jenem, durch Ver-
dichtung und Verdünnung, sondern durch Abgrenzung die
Mannigfaltigkeit der Dinge erklärt wurde. Vom Lufthauch
unterschieden sie aber offenbar das ebenfalls in die Welt
einströmende Leere. Dasselbe ist nicht Stoff, sondern dient
nur der Abgrenzung des Stoffes. Auch nach Galen (D. (>1(>)
nahmen die Pythagoreer ein Leeres innerhalb der Welt
an. Wie sie sich freilich das Einströmen des Leeren in die
Welt vorstellten, das gehört zu den Unbegreiflichkeiten, mit
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112 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hyiopsychismus.
denen der Pythagoreismus auf allen seinen Entwicklungs-
stufen uns überrascht.
Die andere Stelle (D. 316 f.) stammt aus der dem Ari-
stoteles beigelegten verlorenen Schrift über die Pythagoreer
und besagt, dafs aus dem Unbegrenzten in die Welt ein-
geführt werde die Zeit, der Hauch und das Leere, das
die Dinge voneinander sondere. Hier tritt als etwas Neues
die Zeit hinzu. Vielleicht wiesen sie dieser eine Ahnliche
Rolle zu wie dem Leeren, d. h. dem Räume. Wie dieser
das Nebeneinander, so sondert die Zeit das Nacheinander.
Dafs auch der Zeit ihre ursprüngliche Stelle aufserhalb der
Welt angewiesen wurde, zeigt auch der Satz (D. 318), nach
„Pythagoras" sei die Zeit „die Sphäre des" (die Welt) „Um-
gebenden".
Eine bemerkenswerte Angabe findet sich auch noch in
den kurzen, aber auf Theophrast zurückgehenden An-
gaben der Doxographen (D. 338) : „Die Pythagoreer lehrten,
dafs aufserhalb der Welt ein Leeres sei, in welches die Welt
ausatme und aus welchem." Hier mufs wohl ergänzt werden :
„eine Ausatmung in die Welt stattfindet".
Hier wird noch ganz in der alten Weise des
Anaximenes die Einwirkung des umgebenden Leeren auf
die Welt als ein Ausatmen bezeichnet. Es wird aber femer
auch, abweichend von den bisherigen Zeugnissen, ein Zurück-
strömen aus der Welt in das Leere, also eine Wechsel-
wirkung, angenommen. Es liegt also auch hier die Vor-
stellung von der Luft als WeltstoflF zu Grunde. Dagegen ist
vom Eintritt des Leeren und der Zeit in die Welt nicht
die Rede.
Aber auch über die „Grenze" finden sich noch weitere
Aussagen. Zunächst kommt neben „Grenze" auch der Aus-
druck „das Begrenzte" vor (986, 17; 987, 15; 1106b, 29).
Ein ausdrücklicher Unterschied wird nicht gemacht; auch
indirekt tritt ein solcher nicht hervor. Doch bezeichnet viel-
leicht „Grenze" mehr das wirkende Prinzip, das Begrenzte
mehr das Resultat. Dieses Begrenzte nun müssen sie nach
dem Bisherigen als die durch die Grenze gesonderten und
durch das in die Welt eindringende Leere auseinander-
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II L 1. Das älteste System des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 113
gehaltenen Teilchen des Lufthauchs angesehen haben. Dazu
stimmt auch, dafs» selbst noch auf der höheren Entwicklungs-
stufe des Pythagoreismus den Elementen des Seienden „Gröfse",
d. h. Ausdehnung im geometrischen Sinne, beigelegt wurde
(1080b, 19). Es sind also, da der Weltstoff als Lufthauch ein
sinnenfälliger Stoff ist, auch die durch das Prinzip der
„Grenze" abgegrenzten Teilchen desselben ausgedehnte Stoff-
teile. Die Vorstellung des Atmens aber zeigt, dafs hier
noch keineswegs mit dem Hylopsychismus gebrochen worden ist.
Wie in diesem Zusammenhange näher die Weltbildung
vorgestellt wurde, dafür werden sich im weiteren Verlaufe
wenigstens noch einige Anhaltspunkte ergeben. Ehe wir
aber die folgenden Gegensatzpaare in Betracht ziehen, mufs
noch auf folgendes aufmerksam gemacht werden. Zunächst
gilt in dieser Doppelreihe jedesmal das erstgenannte Glied
für das Vollkommnere , das zweitgenannte für das Unvoll-
kommnere. Dies ergibt sich schon aus einer oberflächlichen
Betrachtung eines Teiles der Gegensatzpaare von selbst
(rechts— links, männlich — weiblich, gerade— krumm, Licht —
Finsternis, Gutes — Böses). Es wird aber überdies auch noch
ausdrücklich bezeugt (z. B. von Simplic. zu de coelo 172 b,
44 f.; von Plutarch de Is. et Osir. p. 370)
Femer aber sind die nachfolgenden Paare so zu ver-
stehen, dafs sich in ihnen der an der Spitze stehende Gegen-
satz von Stoff und Form in einer besonderen Fassung und
Anwendung, in einem Spezialfall, widerspiegelt, zugleich
aber so, dafs er in ihnen nicht in voller Ausschliefslichkeit
und Reinheit, sondern nur im Sinne des Überwiegens der
einen oder anderen Seite des Grundgegensatzes hervortritt.
Das zweite Gegensatzpaar ist das Ungerade und Ge-
rade der Zahl. Es ist hier zunächst ersichtlich, dafs schon
auf dieser frühen Stufe die Pythagoreer ihre Aufmerksam-
keit der Zahl zugewandt hatten. Auf die Zahl scheinen sie
zuerst durch die Musik geführt worden zu sein. Jedenfalls
bewegt sich hier ihre Zahlenspekulation noch in sehr be-
scheidenen Grenzen. Es handelt sich um die Beobachtung,
dafs die gerade Zahl der Teilung keine Grenze setzt, während
die ungerade in der bei der Teilung als Rest verbleibenden
Döring. I. 8
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114 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
Eins gleichsam der Teilung durch Aufrichtung einer Grenze
einen Widerstand entgegensetzt. Der Aristotelesschüler
Aristoxenos aus Tarent, der noch die letzten wissenschaft-
lichen Pythagoreer gekannt hatte (D. L. VIII. 46), drückt
dies so aus: die ungerade Zahl habe Anfang, Mitte und Ende
(Stob. I. 20), eine Bezeichnung für das Begrenzte, die wir
schon bei Xenophanes gefunden haben. In dieser einfachen
Wahrnehmung liegt der Vergleichungspunkt zwischen diesem
Gegensatze und dem des Begrenzenden und Unbegrenzten:
die ungerade Zahl hat das Begrenzende in sich. In ihr liegt
auch der Grund der Höherschätzung des Ungeraden im Ver-
gleich mit dem Geraden (351, 2).
Dieselbe Verschiedenheit der Wertschätzung wird dann
im dritten Paare auf den Gegensatz des Einen und der
Vielheit übertragen. Auf dem Gebiete der zählenden Auf-
fassung der Dinge ist das Eine das Begrenzte im strengsten
und vollkommensten Sinne, die Vielheit in ihrer Unein-
geschränktheit und Unbestimmtheit das Unbegrenzte. In
der Eins ist das Begrenzende wirksam. Eine Anspielung
auf diesen Gegensatz scheint bei Aristoteles in einer Stelle
der Nikomachischen Ethik (1096b, 5 f.) vorzuliegen, wo er
die Pythagoreer lobt, dafs sie die Eins in der Reihe der
Güter (d. h. auf der Vollkommenheitsseite der Gegensatz-
reihe) aufgeführt hätten.
Es folgt viertens der Gegensatz von rechts und links.
Hier ist offenbar der Ausgangspunkt die höhere Kräftigkeit
und Geschicklichkeit, also der höhere Wert der rechten Hand
im Vergleich mit der linken und der rechten Seite des
menschlichen Körpers im Vergleich mit der linken überhaupt.
Im Wertvolleren und Tüchtigeren mufs aber nach der Grund-
voraussetzung in höherem Mafse das Begrenzende wirksam
sein; das Minderwertige zeigt die Minderwertigkeit des Un-
begrenzten und Ungeformten nur in einer besonderen Aus-
prägung (Siraplic. zu de coelo 173, 5 ff.). Dafs übrigens
wenigstens die späteren Pythagoreer den Gegensatz von
rechts und links auch auf die Teile der Welt übertrugen,
wird später gezeigt werden.
Etwas anders verhält es sich wohl mit dem fünften
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HI. 1. Das älteste System des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 115
Gegensatzpaare, dem Männlichen und Weiblichen. Hier
liegt zunächst nicht eine allgemeine Abschätzung des Wertes
der beiden Geschlechter überhaupt zu Grunde, wie bei rechts
und links. Der Gegensatz beruht auf der Bedeutung der
beiden Geschlechter für die Erzeugung. Die vermeintliche
Rolle derselben bei der Fortpflanzung knüpft direkt an den
Gegensatz von Form und Stoff an. Das Männliche ist noch
bei Aristoteles das Formgebende, das Weibliche das den
Stoff Darbietende (vgl. auch Zeller 357, 1). Dafs daraus
auch die geringere Einschätzung des weiblichen Geschlechts
folgt, liegt in der Konsequenz der Grundanschauungeu vom
Werte der beiden Prinzipien.
Auf ein sehr umfangreiches Gebiet des Seienden führt
uns der sechste Gegensatz, der des Ruhenden und Be-
wegten. Das Ruhende ist das sowohl an sich als auch für
die Wahrnehmung in festen Formen und Umrissen sich
Darbietende, während das Bewegte in beiden Beziehungen
das in unbestimmten Konturen Verflatternde ist. Im Zu-
sammenhange gerade mit diesem Paare steht die Beantwortung
der Frage, welcher Seite des ursprünglichen Gegensatzes
wohl dies System die aktive, welchem die passive Rolle bei
der Weltbildung zugewiesen haben möge. Nach einem sehr
bestimmten Zeugnis des um 25 nach Chr. lebenden Platonikers
Eudoros (bei Simplic. zu Phys. 431, 8) leiteten die Pytha-
goreer die Bewegung aus dem Uribegreüzten ab. Damit
stimmt auch eine Aristotelesstelle (201b, 20 mit der Er-
klärung des Simplic. 428, 27, 430, 34) überein, nach der sie
die Bewegung auf die Seite des Nichtseienden (also des Un-
begrenzten) gesetzt hätten. Das stimmt also mit unserer
Stelle überein. Damit scheint aber eine andere Stelle des
Aristoteles (1091, 13) in Widerspruch zu stehen. Nach dieser
lehrten die Pythagoreer, dafs beim Beginne der Weltbildung
das Begrenzende die nächstliegenden Teile des Unbegrenzten
an sich gezogen und begrenzt, d. h. geformt habe. Darnach
wäre also das Formgebende das aktive und bewegende Prinzip.
Aber dieser Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Beide
Aussagen zusammengenommen verhelfen uns zu einer voll-
ständigen Einsicht in ihre Meinung. Die dem Unbegrenzten
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116 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismas.
angehörige, auf der Seite des Unvollkommenen stehende Be-
wegung ist die regellose, aus der sich kein Gebild gestalten
kann, und die höchstens als Vorbedingung für das Wirken
des Formprinzips gelten kann. Die eigentlich gestaltende
Kraft geht von diesem allein aus. Es ist aber für diese
Ableitung der Welt aus dem Zusammenwirken zweier ent-
gegengesetzter Prinzipien durchaus folgerichtig, jedem von
beiden eine gewisse aktive Rolle bei der Weltbildung zuzu-
schreiben. Nachdem einmal mit der Zweiheit der Prinzipien
über Anaximenes hinausgeschritten worden war, mufste die
von diesem ausschliefslich der unendlichen Luft zugewiesene
aktive Rolle entsprechend eingeschränkt werden.
Der siebente Gegensatz ist der des Geraden und
Krummen. An der einfachen, eindeutigen, klaren und festen
Form des Geraden schien ihnen offenbar das formende Prin-
zip einen volleren Anteil zu haben als an den in den mannig-
faltigsten und willkürlichsten Variationen auftretenden Ge-
staltungen des Krummen.
Bei Licht und Finsternis (achter Gegensatz) ist wohl
zunächst, ähnlich wie bei rechts und links, die Wertschätzung
der Grund für die Einreihung in die Tafel der Gegensätze.
Aber es kommt noch ein Weiteres hinzu. In der Finsternis
verschwimmen und verschwinden die Formen, sie schleudert
gleichsam die Welt der geformten Dinge in das alte Chaos
des ungeformten, unendlichen Stoffes zurück , während das
Licht, indem es die Formen und Umrisse scharf hervortreten
läfst, gleichsam selbst ein formgebendes und formschaflfendes
Prinzip ist.
Es folgt neuntens der Gegensatz des Guten und Bösen.
An sich könnte man nach dem Wortlaut st^tt des Bös'^n
auch das Übel setzen. Dann hätten wir keinen sittlichen
Gegensatz, sondern nur den Gegensatz des Wertvollen und
Minderwertigen in schärfster Ausprägung. Aber dieser Gegen-
satz liegt ja schon der ganzen Tafel überhaupt zu Grunde.
Aufserdem aber bezeugt Aristoteles in einem Zusammen-
hange, in dem nur von dem sittlichen Gegensatz die Rede
ist (110(3 b, 29), dafs die Pythagoreer das Böse in die Sphäre
des Unbegrenzten, das Gute aber in die des Begrenzten
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m. 1. Das älteste System des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 117
gesetzt hätten. Ad dieser Stelle gibt auch Aristoteles schon
die Deutung dieses Gegensatzes. Das sittlich Gute ist immer
ein Einheitliches, Eindeutiges; das Böse schliefst in jedem
Falle eine Vielheit von Möglichkeiten ein. Man könnte in
dieser Deutung noch etwas weiter gehen und sagen: das
Böse ist das vage, haltlose, willkürliche Begehren, das Gute
das nach einer festen Norm geregelte Wollen und Handeln.
Wir hätten dann eine sehr sinnvolle Ableitung des sittlichen
Gegensatzes aus dem Grundgegensatze des Unbegrenzten und
Begrenzenden.
Der zehnte Gegensatz endlich, der des Quadrats und
des ungleichseitigen Rechtecks, führt uns auf das Gebiet der
Geometrie. Wir erkennen zunächst, dafs auch dies Gebiet,
wie das der Zahlen, schon in so früher Zeit die Aufmerk-
samkeit der Pythagoreer auf sich gelenkt hatte. Doch zeigt
sich in unserem Gegensatze, ebenso wie bei den Zahlen, nur
erst ein sehr primitiver -Anfang der Kenntnisnahme. Auch
hier ist der Gegensatz des Bestimmten und Eindeutigen und
der unbestimmten Mannigfaltigkeit und Variabilität das
Mafsgebende. Das Quadrat ist schon durch eine Seiten-
länge eindeutig bestimmt; beim Rechteck ist auch in diesem
Falle durch die unendliche Variabilität der anderen Seiten-
länge eine unendliche Mannigfaltigkeit der Gestalt und Gröfse
möglich. Im Quadrat ist also das Formprinzip das Über-
wiegende, im Rechteck das Prinzip des Unbegrenzten.*
Eine unbestimmtere Hindeutung auf diese Tafel der
Gegensätze findet sich auch noch an einer anderen Stelle
des Aristoteles (1093b, 11). Hier heifst es, dafs in der Reihe
des Trefflichen das Ungerade, das Geradlinige und „die
Potenzen einiger Zahlen" (das Quadrat?) vorkommen.
Einer besonderen Erörterung bedarf noch der Umstand, dafs
die Tafel, die ja an sich, weil nicht aus einem einheitlichen
Prinzip abgeleitet, bis ins Unendliche weitergeführt werden
könnte, ausdrücklich auf die Zehnzahl beschränkt wird.
Aristoteles betont dies im Eingange seines Berichtes aus-
drücklich und hebt neben anderen Unterschieden zwischen
dieser Lehre und der Gegensatzlehre des Alkmäon von
Kroton (von der später besonders gehandelt werden wird)
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118 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
auch den hervor, dafs Alkmäon die Gegensätze nicht auf
eine bestimmte Zahl beschränkt habe. Auch Simpli-
cius nennt ausdrücklich die zehn Gegensatzpaare, die
von den Pythagoreern für „die gemeinsamen Prinzipien
von allem" erklärt worden seien, und betont, dafs sie durch
diese Beschränkung auf die Zehnzahl, in der das Ganze
der Zahl enthalten sei, sinnbildlich die Vollständigkeit
dieser Tafel hätten ausdrücken wollen (zu de coelo 271b, 7 ff.;
272 b, 44 ff.). Es kann nun allerdings angezweifelt werden,
ob diese Anwendung der Zehnzahl, sowie die sonstigen Be-
ziehungen auf die Zahl und die Mathematik in der Tafel
der Gegensätze schon der ursprünglichen Form dieser Lehre
angehörte, oder ob sie vielleicht erst bei der Aufnahme
dieses Lehrstückes in die spätere Form des pythagoreischen
Systems in die Tafel hineingetragen worden ist. In der Tat
macht das zehnte der Gegensatzpaare, das Quadrat und
Rechteck, fast den Eindruck, als sei es erst später angeflickt
worden, um die Zehnzahl vollzumachen. Und Eudoros,
der (Simpl. zur Phys. 431) von dem Hauptsystem der Pytha-
goreer eine andere Lehrform mit zwei obersten Prinzipien
unterscheidet, die mit verschiedenen Namen benannt würden,
führt nur sieben Gegensatzpaare auf, von denen nur fünf
mit unserer Tafel übereinstimmen. Auch Plutarch (de Is.
et Osir. p. 370) zählt von den zehn Paaren nur acht auf. Es fehlt
bei ihm das Männliche und Weibliche und das Gute und Böse.
Hiernach ist doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dafs
die Gegensatzlehre ursprünglich ohne die Zehnzahl existierte,
und dafs nur Aristoteles von dieser älteren Form keine
Kunde erhalten hatte. Jedenfalls kommt durch die Beziehung
auf das Dezimalsystem ein neuer Gedanke in das System
hinein, und es ist nicht unwahrscheinlich, dafs die Tafel uns
bei Aristoteles nur in einer späteren Bearbeitung behufs
Aufnahme in das Hauptsystem überliefert ist. Simplicius
berichtet sogar (in Phys. 26), dafs es mehrere derartige De-
kaden bei den Pythagoreern gegeben habe. Sollte jedoch
trotzdem die Zehnzahl ursprünglich sein, so ergäbe sich, dafs
auch diese ältesten Pythagoreer schon ihre Aufmerksamkeit
der Zahlenlehre und Geometrie zugewandt und insbesondere
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111. 2. Die eleatische Theorie. Parmenides. (Um 500.) 119
auch schon einen Einblick in die Bedeutung der Zehnzahl
im dekadischen Systeme gewonnen hätten, nach dem diese
einen Abschlufs des Zählens bildet, das mit der Elf wie mit
der Eins neu beginnt. Sie machten dann hiervon die An-
wendung, dafs alles Abschliefsende, Vollständige, Erschöpfende
in der Zehnzahl auftreten müsse, und glaubten somit in den
zehn Gegensatzpaaren die Zahl der möglichen Gegensätze
erschöpft zu haben.
Der Hauptgedanke ist jedenfalls, dafs zu dem regellos
bewegten Weltstoflfe, der auch jetzt noch als von eigentlich
stofflicher Natur, ja wohl noch geradezu als Luft im Sinne
des Anaximenes gedacht wurde, als neues ursprüngliches,
dem Stoffe an Wert überlegenes Prinzip der Weltbildung die
Form hinzugefügt wird, und dafs nur durch das Zusammen-
wirken beider Prinzipien das Zustandekommen einer Welt
für möglich gehalten wird. Man könnte wegen dieser Gnmd-
anschauung die Nachricht, dafs „Pythagoras" zuerst wegen
der im Weltill herrschenden Ordnung die Welt als Kosmos
bezeichnet hätte, gerade auf dieses älteste System beziehen.
Durch das Formprinzip wird dem unbegrenzten Stoffe Ord-
nung verliehen. Freilich ist nicht überliefert, wie sie sich
das Weltganze vorgestellt haben. Jedenfalls verwandelt sich
bei dieser Annahme die Beziehung von Kosmos auf den
Organismus in den Hinweis auf die Begrenztheit und Ge-
schlossenheit gegenüber dem Unbegrenzten.
2. Die eleatische Theorie in gregrensfttzlioher
Haltungr zian ältesten pythagroreischen System.
Parmenides. (Um 600.)
Wie Xenophanes der Vorläufer, so ist Parmenides
der Begründer der eleatischen Schule. Wenn die
Eleaten, weil sie nicht nur, wie Xenophanes, das passive
Bewegtwerden, sondern auch das aktive Sichsei bstbe wegen
des All, also die Bewegung in der Welt überhaupt leugneten,
von Aristoteles „Stillsteller der Welt" (Stasioten) und
»Naturleugner** (Aphysiker) genannt worden sein sollen
(S. Emp. Dogm. IV. 46; vgl. Arist. 184 b, 2(5; tatsächlich
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120 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
nennt sie schon Pluto Theaet. 181 A die Stillsteller des All),
so pafst dies erst auf Parmenides vollständig.
Seine Geburt in Elea fällt nach den besten Nachrichten
(Z. 555) etwa um 540, also bald nach der Gründung der
Stadt. Gegen diese Zeitbestimmung kann die Darstellung
Pia tos in dessen Dialoge Parmenides (127 BC), der ihn als
Fünfundsechzigjährigen in Athen mit dem noch sehr jugend-
lichen Sokrates sich unterreden läfst, nicht ins Gewicht
fallen. Diese Unterredung könnte als historische, da Sokrates
470 geboren war, nicht vor 450 angesetzt werden; Par-
menides' Geburt mtifste dann also ins Jahr 515 hinabgerückt
werden. Aber abgesehen von der ganz unmöglichen An-
nahme, dafs Sokrates als Zwanzigjähriger eine solche Philo-
sophenrolle gespielt haben könnte, ist ja dieser Dialog nur
dichterische Einkleidung einer Auseinandersetzung mit den
zeitgenössischen Nachfolgern der Eleaten, den Megarikern.
Dafs er der Schüler des Xenophanes gewesen, beruht
auf dem Zeugnis des Aristoteles (986 b, 22) und Theophrast
(Z. 554, 1). Der Peripatetiker Sotion um 190 vor Chr.
(bei D. L. IX. 21) sucht die Abhängigkeit von Xenophanes
erheblich herabzudrücken, indem er angibt, Permanides sei
nicht dem Xenophanes gefolgt, auch nicht durch diesen,
sondern durch Ameinias, einen Eleer von edlem Geschlecht,
aber arm, einen Pythagoriker, d. h. einen Anhänger der
pythagoreischen Ordenslehre, zu einem philosophischen Leben
angeregt worden (nach der berichtigten Lesart; Diels,
Hermes 35) und habe diesem nach seinem Tode ein „Heroon",
d. h. einen kapellenartigen Bau, mit Inschrift errichtet.
Diese Angabe beruht wahrscheinlich auf dem Vorhandensein
eines derartigen Bauwerks mit Inschrift in Elea, wobei es
jedoch zweifelhaft bleibt, ob dieser Ameinias wirklich ein
Pythagoriker war, ja ob der Gründer des Heroon mit
unserem Parmenides identisch ist. Doch hat beides aus
inneren Gründen grofse Wahrscheinlichkeit. Wenn jedoch
Spätere (Strabo 27, 1; Cebes Tab. 2) ihn geradezu nach
der pythagoreischen Ordensregel leben und sogar (Strabo
a. a. 0.) in diesem Sinne sich als Gesetzgeber seiner Vater-
stadt an der Politik beteiligen lassen, so sind das zweifel-
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III. 2. Die eleatische Theorie. Parmenides. (Um 500.) 121
hafte, vielleicht nur aus der vorstehenden Nachricht heraus-
gesponnene Angaben.
Jedenfalls hat Parmenides die Grundrichtung seines
Denkens von Xenophanes empfangen. Schon darin folgte er
Xenophanes, dafs er seine Lehre in dichterischer Form, in
Hexametern, vortrug. Von diesem Lehrgedicht sind erheb-
liche Bruchstücke erhalten, die wenigstens für den Haupt-
teil seiner Lehre als Leitfaden dienen können. (Die Bruch-
stücke herausgegeben, übersetzt und erklärt von Diels^
Parmenides' Lehrgedicht, Berlin 1897; die Fragmente nebst
den sonstigen Nachrichten über Parmenides auch in dessen
Poet, philos. Fragm.) Die Einkleidung ist die, dafs der
Lehrvortrag einer erhabenen Gottheit in den Mund gelegt
wird. Auf sausendem Wagen, dessen Rosse von Sonnen-
jungfrauen geführt werden, fährt er zum Lichte empor. Ein
gewaltiges Tor öflfnet sich. Die Göttin nimmt ihn huldreich
auf und verheifst ihm hohe Offenbarungen. Er soll erfahren
die untrügliche Wahrheit, aber auch der Menschen trügerische
Wahngedanken. Das Folgende (1, 31 f. D) ist nach Lesung und
Deutung zweifelhaft, doch scheint die Meinung zu sein, dafs
«luch in Bezug auf die menschliche Scheinerkenntnis eine
kritische Aussonderung des relativ Richtigeren in Aussicht
gestellt wird. Jedenfalls wird eine strenge Zweiteilung der
in Aussicht gestellten Belehrung in Lehre der Wahrheit und
Lehre des Scheins ausgesprochen.
Der Weg der Wahrheit ist nicht der des Herkömm-
lichen und der sinnlichen Erfahrung. Es iwSt der der Ver-
nunft, des Denkens. Nach ihr erscheint das Seiende als eine
unzerspaltene Einheit. Dafs die Vernunft das wahre Er-
kenntnisprinzip ist, wird durch die zunächst rätselhaft klin-
genden und erst an späterer Stelle verständlich werdenden
Worte begründet: denn Denken und Sein ist dasselbe.
Aber auch für die Vernunfterkenntnis gibt es noch Wege
des Irrtums neben dem der Wahrheit. Wegen der Identität
nämlich des Seins mit dem Denken kann nur das Sein, das
man bejaht und aussagt, existieren, das Nichts aber nicht.
Demgegenüber besteht nun der nächste Irrweg darin, zu be-
haupten, das Sein sei mit Notwendigkeit nicht, und das Nicht-
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122 Krste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
sein sei (4; 6, 3). Der zweite Irrweg aber besagt, Sein
und Nichtsein sei dasselbe und auch wieder nicht dasselbe,
die Annahme, dafs es bei allem einen Doppel weg gibt. Er
nennt die Vertreter dieser Ansicht „nichts wissende Sterb-
liche, Doppelköpfe, stumm und blind, ratlos schwankend,
verwirrtes und urteilsloses Volk". Für jenen ersten Irrweg
nun läfst sich schlechterdings keine Beziehung auf eine tat-
sächlich vorhandene Lehre ausfindig machen. Es läfst sich
dabei überhaupt ganz und gar nichts denken und wir müssen
darauf verzichten anzugeben, was damit gemeint sein könnte,
ob überhaupt ein wirklich vertretener Standpunkt gemeint
ist, oder ob vielleicht nur ironisch der äufserste Gegensatz
gegen die richtige Vernunftlehre bezeichnet werden soll.
Dagegen wird der zweite Irrweg, dem ein so leiden-
schaftlicher Ausfall gewidmet wird , nach der herrschenden
Ansicht übereinstimmend auf Heraklit gedeutet. Die Be-
gründung dieser Ansicht wird einesteils auf die zum Zu-
gleichsein der Gegensätze gesteigerte Flufslehre Heraklits,
andemteils auf den Gebrauch eines einzelnen Ausdrucks
(Doppelweg, angeblich auch bei Heraklit vorkommend) ge-
stützt. Dies sind aber doch nur Nebenpunkte des herakliti-
schen Systems. Müfste man nicht eine Polemik gegen den
Grundgedanken Heraklits, das lebendige, im Wege abwärts
und aufwärts rastlos sich verändernde Feuer, erwarten?
Ferner spricht dagegen auch ein chronologisch -geo-
graphisches Bedenken. Die Göttin redet den Herankommen-
den als „Jüngling" an. Darnach könnte ihm zur Zeit der
Abfassung des Gedichts allerhöchstens ein Alter von 40 Jahren
beigelegt werden. Die Anrede würde sonst vollständig der
Lächerlichkeit anheimfallen. Es mufs somit die Abfassung
des Gedichts spätestens um 5()0 angesetzt werden. Dies
war aber der früheste Termin, in dem man die Abfassung
der Schrift Heraklits annehmen konnte. Wahrscheinlich
fÄllt sie später. Sie wurde überdies von ihrem Urheber gar
nicht zur unmittelbaren Verbreitung bestimmt, sondern als
der Ertrag seiner Lebensarbeit in einem Tempel deponiert.
Sie müfste sich also trotzdem mit einer für die damaligen
Verkehrsverhältnisse und die örtliche Isolierung des geistigen
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III. 2. Die eleatisehe Theorie. Parmenides. (Um 500.) 123
Lebens unheimlichen Geschwindigkeit von Kleinasien nach
Unteritalien verbreitet haben. Femer pafst auch das durch-
aus nicht auf den einsamen Denker von Ephesos, dafs die
„Doppelköpfe" so nachdrücklich als eine Mehrheit, eine
zahlreiche Gruppe, bezeichnet werden. Schon dies führt auf
die überdies unserem Denker so nahegerückte, ihn unmittel-
bar berührende Erscheinung der ältesten wissenschaftlichen
Pythagoreer.
Dafs aber nur diese gemeint sein können, ergibt sich
aufs bestimmteste, wenn wir feststellen, was Parmenides mit
dem Seienden und dem Nichtseienden gemeint haben kann.
Das Nichtseiende war ihm offenbar der unendliche Raum
aufserhalb der Welt, der, angefüllt mit einem unendlichen
Weltstoff, von jenen ältesten Pythagoreem als das apeiron,
das Unbegrenzte, bezeichnet und zur „Grenze", dem Ge-
formten innerhalb derWelt, in Gegensatz gestellt wurde. Diese
„Grenze" ist ihm das Sein; seine Absage ist in erster Linie
gegen den Dualismus des ursprünglichen Gegensatzpaares
gerichtet. Möglicherweise haben jene ältesten Pythagoreer
selbst für ihr Unendliches die Bezeichnung des Nichtseienden
gebraucht. Zu dieser Deutung seiner Polemik stimmt auch
in auffälligem Mafse die weitere Äufserung, dafs es für diese
Gegner in allem einen Doppelweg gibt. Damit
scheint doch auf die Vielheit der Gegensatzpaare hingedeutet
zu werden. In den Worten „Sein und Nichtsein" sei diesen
Unglücklichen dasselbe und auch wieder nicht dasselbe, liegt
dann freilich eine kleine polemische Übertreibung. Nicht
dasselbe sind sie den Gegneni ja natürlich, sofern sie ja von
ihnen bestimmt unterschieden und auch dem Werte nach
ungleich eingeschätzt werden. Als dasselbe aber konnten sie
bezeichnet werden, sofern beiden Realität beigelegt, beide
als zum Dasein und Entstehen der Welt gleich unentbehr-
lich bezeichnet wurden. Das Lehrgedicht des Parmenides
ist der Protest des Monismus gegen den altpythagoreischen
Dualismus. Ist aber diese Beziehung richtig, so haben wir
an der Polemik des Parmenides eine neue, durchschlagende
Bestätigung für das Gegensatzsystem als das älteste System
des wissenschaftlichen Pythagoreismus.
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124 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Was versteht nun Parmenides unter diesem seinem
existierenden Sein? Hören wir ihn darüber zunächst selbst.
Das Sein ist unentstanden und daher auch unvergänglich.
Man kann von ihm nicht sagen: es war oder wird sein; sein
Verhältnis zur Zeit kann nur als ein „Jetzt" bezeichnet
werden. Wollte man es als ein zeitlich Gewordenes be-
zeichnen, so mtifste es entweder aus einem Seienden oder
einem Nichtseienden hervorgegangen sein. Ersteres ist nicht
möglich, da ja kein anderes Sein vor ihm existiert; letzteres
deshalb nicht, weil aus Nichtseienden eben auch nur Nicht-
seiendes werden könnte. Und welchen Antrieb könnte es
überhaupt geben, einmal anfangend aus dem Nichtsein hervor-
zugehen V Es mufs unbedingt, schlechthin sein oder überhaupt
nicht sein. Es gibt also für das Seiende als solches kein
Entstehen oder Vergehen.
Das Seiende ist ferner unteilbar, und zwar aus zwei
Gründen. Zunächst weil es durchweg gleichartig ist. Es ist
eine ziemlich starke Probe primitiver Logik, aus dem Fehlen
einer qualitativen Mannigfaltigkeit auf die Unmöglichkeit
einer quantitativen Teilung zu schliefsen. Bei Xenophanes
wurde nur die durchweg vorhandene Gleichartigkeit aus der
Vollkommenheit des göttlichen Wesens, die bei ihm der
höchste Gesichtspunkt ist, gefolgert. Gäbe es Teile, so
müfste es innerhalb des Göttlichen (wie in einem Organis-
mus) Beherrschendes und Beherrschtwerdendes geben.
Origineller und treffender ist das zweite Argument, das
die Unteilbarkeit durch die Unmöglichkeit des räumlichen
Sonderns erklärt. Die Aufhebung des Zusammenhangs
könnte (da das Nichtseiende, das Leere, nicht existiert) nur
durch ein anderes Seiendes geschehen ; ein solches aber gibt
es nicht. Die polemische Bezugnahme auf die Pythagoreer,
die eine Teilung in der Welt durch das Leere behaupteten,
ist auch hier deutlich. Auch Aristoteles bezeugt (325, 2),
dafs nach den Eleaten Vielheit des Seienden (also Teilbar-
keit) nur möglich sei, wenn etwas (nicht das Leere) da-
zwischentrete. Aus dieser Betrachtung folgt gleicherweise
die absolute Dichtigkeit des Seienden (kein Leeres und kein
fremdes Sein dazwischen) und die Unteilbarkeit (aus dem
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III. 2. Die eleatische Theorie. Parmenides. (Um 500.) 125
gleichen Grunde). Mit diesem Gedanken der völligen Un-
teilbarkeit und mehr noch mit dem der absoluten Dichtig-
keit scheint Parmenides schon über das von Xenophanes
Gesagte hinauszugehen, zugleich aber auch sich von der
Welt der Erfahrung zu entfernen. Es wird daher auch in
dem Angriff des Epikureers Kolotes (um 250 vor Chr.,
auf Parmenides, dessen Lehre von der unteilbaren Einheit
des Alls als Beweis geltend gemacht, dafs in der Welt des
Parmenides das Leben unmöglich sei (Plut. Kolot. 13).
In entscheidender Weise aber ist beides, das Hinaus-
gehen über Xenophanes und der Bruch mit der Erfahrung,
der Fa.ll, wenn nunmfehr auch die absolute Bewegungs-
losigkeit behauptet wird. Dies scheinen schon die Worte
zu besagen: „Als Selbiges im Selbigen verharrend ruht es in
sich selbst und verharrt standhaft dortselbst" (8,28 f.), sowie
ferner die Worte: „Drum ist alles leerer Schall, was die
Sterblichen in ihrer Sprache festgelegt haben, tiberzeugt,
es sei wahr — Werden und Vergehen, Sein und Nichtsein,
Veränderung des Ortes und Wechsel der leuchtenden Farbe"
(8, 38 ff.). Es ist wohl kein Zufall, dafs er gerade an diesem
entscheidenden Punkte seines Gedankenganges aufs neue sein
erst an späterer Stelle verständlich werdendes Erkenntnis-
prinzip einschärft : Denken nnd des Denkens Gegenstand ist
dasselbe; Sein und Denken sind nicht zu sondern (8, 34 f.).
Dieses Satz hat hier offenbar die besondere Bedeutung, dafs das
Sein ebenso unwandelbar sein mufs wie der Gedanke. Das
ist also sein Beweis für die absolute Leugnung der Be-
wegung, welche folgenschwere, die Erscheinungswelt ver-
nichtende Behauptung im übrigen mit staunenswerter Kürze
abgetan wird. Auf diesen Beweisgrund scheint auch
Aristoteles (9866,52) hinzudeuten, wenn er sagt, Parme-
nides bezeichne das Eine deshalb als begrenzt, weil er es
mehr in der Weise des Denkens fasse; nur dafs Grund
und Folge hier umgekehrt sind. Noch bestimmter deutet
er auf diesen Beweisgrund gegen die Bewegung hin, wenn
er an einer anderen Stelle (325, 13) von den Eleaten über-
haupt sagt, sie seien zur Leugnung der Bewegung durch
die Meinung gelangt, man müsse unter Beiseitelassung der
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126 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Sinneswahrnehmung nur dem Denken folgen, welche Leugnung
er dann aber freilich für eine Art Wahnsinn erklärt. Doch
sollen nach ihm die Eleaten, also doch wohl schon Parmenides
selbst, die Unmöglichkeit der Bewegung auch aus dem Nicht-
vorhandensein des Leeren gefolgert haben (325, 2).
Er leitet aber mitten in diesem Zusammenhange (8,32 f.)
noch eine andere, bedeutsame Bestimmung des Seins ab.
Weil ihm nichts fehlen darf (weil es als selbstgenugsam ge-
dacht werden mufs), mufs es begrenzt gedacht werden.
Denn das Unbegrenzte wäre ein immer und immer noch
einer Erweiterung Bedürfendes, nie zum Abschlufs Kommendes.
Es ist bemerkenswert, dafs hier die Begrenztheit des Wirk-
lichen nicht aus der Unvollziehbarkeit des Gedankens eines
unendlichen Wirklichen, sondern aus dem Gedanken abge-
leitet wird, dafs das Unbegrenzte ein unendlich Bedürftiges
sei. Aus der Begrenztheit aber folgt dann weiter (42flF.)-
dafs das Seiende „abgeschlossen ist nach allen Seiten hin,
vergleichbar der Masse einer wohl gerundeten Kugel" mit
völlig gleichmäfsiger Entfernung aller Teile des Umfanges
vom Mittelpunkte. Aufserhalb dieser Kugel ist natürlich
nichts , auch nicht das Nichtsein , das ja dem unbegrenzten
Weltstoflf der Pythagoreer entspricht.
Da haben wir also die Auskunft des Parmenides über
das Wesen des Seienden! Diesem Fanatiker des Denkens
ist das dem Denken analoge Sein eine absolut dichte,
starre (d. h. auch jeder inneren Bewegung und Veränderung
entbehrende) kugelförmige Substanz. Allem Augenschein
zum Trotz! Von welcher Art diese Substanz ist, darüber
sagt er nichts; über die Bezeichnung als das Seiende geht
er nicht hinaus. Aristoteles nun sagt an der schon
mehrfach angeführten Stelle (9866, 18), Parmenides scheine
sich der begriflffichen, also immateriellen Fassung des Einen
zu nähern, während Melissos es stofflich fasse und Xenophanes
hinsichtlich dieses Punktes in der Schwebe bleibe. Dafs
Aristoteles hier in betreff des Xenophanes im Irrtum ist,
haben wir gesehen. Die Annäherung an die begriffliche
oder immaterielle Fassung bei Parmenides fand er zunächst
darin, dafs dieser das Seiende für begrenzt erklärte. Vielleicht
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111. 2. Die eleatische Theorie. Parmenides. (Um 500.) 127
aber wirkte zur Bildung dieser Ansicht bei^ Arist. auch mit,
dafs jede besondere Angabe über die Beschaffenheit der ein-
heitlichen Substanz fehlt (bei Xenophanes bestand sie schliefslich
aus Erde und Wasser), und dafs daran die Behauptung ge-
knüpft wurde, Sein und Denken sei dasselbe, welche Be-
hauptung aber, wie sich zeigen wird, keineswegs als
Iinroaterialität des Seienden gemeint ist. Dafs überhaupt
Parmenides nicht, wie an dieser Stelle Aristoteles anzu-
nehmen geneigt ist, metaphysischer Idealist, das heist Stoff-
leugner und Vertreter der ImmaterialitÄt des Seienden ist,
geht schon aus den reinstoftlichen Prädikaten hervor, die
er dem Seienden beilegt, insbesondere auch aus der Ver-
gleichung mit einer Kugel, die er ja von Xenophanes über-
nommen hatte. Und so hat sich denn auch Aristoteles an
anderen Stellen der richtigen Auffassung nicht entzogen. So
fafst er Parmenides mit Demokrit und Empedokles unter
der Bemerkung zusammen, sie hätten nur das Sinnenfällige für
das Seiende gehalten (1010, 1; vgl. 2986, 21). Das Eigen-
artige und Bedeutsame dieser Lehre besteht nicht, wie Aristo-
teles annimmt, in einem Anlauf zur Behauptung der Un-
stofflichkeit des Seienden, sondern darin, dafs er gegenüber
der Sonderung des Gestaltungsprinzips vom Stoffprinzip bei
den von ihm so lebhaft bekämpften Pythagoreern nicht ein-
fach zum Hylopsychismus zurückkehrt, sondern die Be-
wegung und Gestaltung, deren Ursache streitig ist, einfach
streicht und aus der Welt hinausweist. So wird er zu dem
Stillsteller der Welt, „zu dem Naturleugner**, als den ihn
die alten Zeugnisse bezeichnen; so setzt er an Stelle des
konkreten, das Leben einschliefsenden Monismus der
Hylopsychisten durch einen Gewaltstreich des Denkens den
abstrakten Monismus der Bewegungslosigkeit.
Jedenfalls ist mit den zuletzt eröiterten Ausführungen
in schroffster und unbegreiflicher Weise der Bruch mit der
Erscheinungswelt vollzogen. Um so überraschender wirkt es,
dafs die Göttin nunmehr, nach Beendigung der Wahrheitsrede,
in der Darstellung der menschlichen Wahngedanken dazu
übergeht, ein durchaus originelles, scharfsinnig ausgedachtes
und die bisherigen Versuche in wesentlichen Punkten über-
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128 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
holendes System der Welt und ihrer Entstehung aufzustellen*
Ehe wir dieses Rätsel zu lösen versuchen, müssen wir zu-
nächst diese kosmologische und kosmogonische Leistung selbst
kennen lernen.
Die trügerische Meinung der Menschen nun soll zunächst
darin ihr Eigentümliches haben, dafs sie zwei Prinzipien des
Seienden für nötig erachtet (8, 53). Wir vermuten an dieser
Stelle, er werde auf die früher so scharf verurteilte Ansicht
der „Doppelköpfe", dafs auch das Nichtseiende sei, zurück-
kommen und von dieser aus das trügerische Weltsystem ent-
wickeln. Dies ist aber nicht der Fall. Er scheint eher eine
Anleihe bei Anaximander gemacht zu haben. Der Gegen-
satz ist der des Leichten, Feurigen und des Dichten, Schweren,
Finstern (8, 55 ff.). Der Unterschied von Anaximander be-
steht nur darin, dafs bei diesem der Gegensatz als abgeleiteter,
als die erste Differenzierung des ursprünglichen Einen, bei.
Parmenides aber als ein ursprünglich vorhandener erscheint.
Gleich am Anfange (60 f.) wird nochmals betont, dafs die
so abzuleitende Weltansicht die wirklich dem Erscheinenden
entsprechende sein wird, dafs sie daher nicht durch sonstige
menschliche Meinungen umgestofsen werden könne. Es gibt
also auch noch auf dem Gebiete des Scheines eine Rang-
ordnung und einen Unterschied zwischen dem relativ Be-
rechtigten und dem unbedingt Unberechtigten.
Von der Ausführung dieses Weltbildes im Gedichte sind
nun leider nur sehr dürftige Trümmer erhalten, so dafs wir
für diesen Teil der Lehre vornehmlich auf die Quellen zweiter
Hand angewiesen sind.
Über das Verhältnis der beiden Prinzipien zur urprting-
lichen Einheitslehre besitzen wir nur ein Zeugnis, aber ein
ausschlaggebendes. Nach Aristoteles (987, 1; vgl. 318 b, 6)
hat er das „Warme" (d. h. das Feurige) dem wahren Seien-
den, das andere Prinzip aber dem Nichtseienden gleichgesetzt.
Auch im Gedicht (8, 57) wird wenigstens eine Eigenschaft
des wahren Seienden, die durchweg gleiche Beschaffenheit,
auch dem Feuerprinzip beigelegt.
Parmenides hat nun offenbar von dieser Voraussetzung
aus nicht nur ein Bild der vorhandenen Welt entworfen ; er
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ni. 2. Die eleatische Theorie. Parmenides. (Um 500.) 129
hat auch ihre Entstehung (Kosmogonie) dargestellt. Wenig-
stens verheifst die Göttin in zwei Fragmenten (10 f.), die
ziemlich am Anfange des zweiten Teils gestanden haben
mQssen, er werde jetzt nicht nur die Beschaffenheit der ein-
Alnen Teile der Welt erfahren, sondern auch die Art, wie
sie entstanden und entsprossen, zur Geburt strebten, und
nach einem bei Plato (Sympos. 178 B) und Aristoteles
(984 b, 25) angefahrten Verse „ersann" das personifizierte
Werden (dies Subjekt nur bei Plato) „zuerst von allen Göttern
den Eros". Auch Fragm. 13, das von einigen anderen Teilen
des Weltbaues handelt, hat diese erzählende Form. Dazu
stimmt auch, dafs er, entgegen der „Wahrheitslehre" von
der Anfangs- und Endlosigkeit der Welt, in diesem Zu-
sammenhange auch einen Weltuntergang gelehrt hat (D. 564;
Fr. 19). Näheres über die Art, wie er sich die Weltbildung
gedacht hat, ist jedoch nicht erhalten.
Dagegen genügen die vorhandenen Nachrichten, um uns
ein Bild seiner Vorstellung vom Weltgebäude als fertigem
zu machen. Hier mufs nun zunächst ein merkwürdiges
Hinausschreiten über die hylopsychistische Vorstellung von
der Lebendigkeit und Umwandlungsfähigkeit der Urstoffe
konstatiert werden.
Die Lebendigkeit anlangend, so wird zwar eine verschiedene
Rolle und Funktion der beiden Urstoffe beim Werden der Welt
angenommen. Das Feurige ist das aktive, formende, bewegende,
das Dunkle das passive, stoffliche Prinzip der Welt (Cic. Acad,
n. 118; D. 564; D. L. IX. 22). Daneben aber führt er,
jetzt ganz dualistisch, die Verbindung der beiden Stoffe auf
ein von ihnen verschiedenes, bewegendes Prinzip zurück, das
er mit der Triebkraft der geschlechtlichen Vereinigung iden-
tifiziert. Es wird als Aphrodite bezeichnet (Plut. Amator. 18;
fac lun. 12), als Begierde (Cic. N. D. L 11), als Göttin, die
alles Werden verursacht (Simplic. ad Phys. 8 a ; and, Stellen
bei Krische, Forschungen, S. 112). Auch der zuerst von
allen Göttern entstandene Eros des vorher angeführten Verses
wird wohl nichts anderes sein als eine verschiedene Be-
zeichnung derselben Kraft. Danach liegt also in den beiden
Urstoffen nur die Fähigkeit und Disposition zu den ent-
Dirioff. I. 9
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130 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
gegengesetzten FunktioDen ; die eigentliche bewirkende Kraft
aber ist eine von ihnen verschiedene (Aristot. 984 b, 1).
Ebenso aber hat er auch mit der Verwandlung der Stoffe
ineinander gebrochen; alle Vereinigung ist nur Verbindung,
Mischung in verschiedenen Mischungsverhältnissen (Aristot.
380 b, 15).
Die gewordeüe Welt sieht nun folgendermafsen aus:
Um das Ganze wölbt sich eine feste Kugelhülle. Sie wird
nicht als dicht bezeichnet, scheint also nicht aus dem dichten,
dunklen Urstoffe zu bestehen. Woraus sie besteht und wie
sie entstanden, läfst sich aus din vorhandenen Nachrichten
nicht entnehmen. Wie es scheint, wirkt hier die Grundlehre
vom Seienden als einer Kugel nach. Dafür spricht auch die
Angabe (D. 303), dafs er diese feste Schale der Welt Gott
genannt habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach tritt uns hier
zum ersten Male die von jetzt ab herrschend werdende Vor-
stellung von dieser festen Welthülle, dem Firmament, ent-
gegen. Bei Thaies und Anaximenes und den von diesem
abhängigen ältesten Pythagoreern ist sie mehr als zweifel-
haft; bei Anaximander, Xenophanes und Heraklit ist sie
jedenfalls nicht vorhanden.
Innerhalb dieser Hohlkugel sodann sind die beiden gegen-
sätzlichen Elemente so angeordnet, dafs sie in ihrer Rein-
heit möglichst weite Abstände voneinander haben. Unmittel-
bar unter der Kugelhülle erstreckt sich das reine Feuer in
der Form einer Sphäre, d. h. einer Hohlkugel, die sich aller-
seits an jene anschliefst; im Mittelpunkte des Hohlraums
lagert die Erde, als der reine Inbegriff des dichten und
dunklen Stoffes. Und zwar hat er nach dem unverwerflichen
Zeugnis Tlieophrasts (D. L. VIII. 48; IX. 21) die Kugelform
der Erde gelehrt. Nach gröfster Wahrscheinlichkeit ist ihm
darin Xenophanes vorangegangen. Aber diesem war die
Erde das Ganze der Welt; die Erde als Weltkörper für
eine Kugel erklärt hat zuerst Parmenides. Auf diesen Unter-
schied scheint auch der alte Bericht (D. L. IX. 21) durch
den Zusatz ausdrücklich hinzudeuten, dafs die Erde in der
Mitte der Welt lagere (also nicht das Ganze der Welt aus-
mache). Wie Anaximander soll er das Beharren der Erde
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III. 2. Die eleatische Theorie. Parmenides. (Um 500.) 131
in der Weltmitte durch den gleichmäfsigen Abstand nach
allen Seiten erklärt haben (D. 380).
Gleich weit abstehend von diesen beiden entgegengesetzten
Elementen lagert eine Mittelsphäre, die Sphäre der gleich-
mäfsigsten Mischung der beiden Gegensätze, in der das die
Gegensätze zur Verbindung Treibende, die Aphrodite, der
Eros, seinen Sitz hat. Diese Kraft wird (Fr. 12) auch als
„die Göttin (Daimon), die alles lenkt*', in anderen Nach-
richten auch als die „Erzeugerin aller Bewegung und alles
Werdens** oder als die „schlüsselhaltende Gerechtigkeit und
Notwendigkeit" bezeichnet (D. 335). Bemerkenswert ist,
dafs auch im Eingange des Gedichts (I. 14) „Dike, die ge-
waltige Rächerin", die Schlüssel zur Wohnstätte der offen-
barenden Göttin bewahrt. Diese Mittelsphäre identifiziert er
übrigens mit der Milchstrafse , worauf er wohl durch den
matten, Licht und Dunkel gleichmäfsig vermischt zeigenden
Schimmer derselben geführt worden ist. Die Milchstrafse ist
ihm also eine Hohlkugel, in weitem Abstände um die Erde
gelagert und ia gleichem Abstände der inneren Fläche der
festen Welthülle parallel laufend.
Dieser Mittelsphäre nun streben von beiden Seiten, dem
Feuer des Umfanges wie der Erde im Mittelpunkte, her die
beiden entgegengesetzten Elemente zu. So entsteht eine
Stufenfolge von Vermischungen. Die beiden Extreme büfsen
in dem Mafse, in dem sie sich der Mittelsphäre nähern, von
ihrer Eigenart ein. Unterhalb der reinen Feuersphäre ist
eine Feuersphäre von geringerer Reinheit, in der schon eine
Beimischung des Dunkeln, doch mit Überwiegen des Feurigen,
eingetreten ist. Andernteils dünstet von der Erde als eine
schon durch Beimischung von Feuerteilen modifizierte Form
des Dunklen die Lufthülle aus. Sogar das Wasser hat im
Vergleich zur Erde schon eine Beimischung des Feurigen
(Aristot. 330 b, 14). Zwischen Luft und Mittelsphäre liegt
noch eine weitere gemischte Sphäre, in der aber noch
das dunkle Element, wenngleich weniger als in der Luft,
überwiegt.
Die gesamte Reihenfolge der Sphären ist also, von der
Erde an gerechnet, folgende: Lufthülle, gemischte Sphäre
9*
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132 Erste Periode. Zweiter Absclinitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
mit noch überwiegendem Dunklen. Mittelsphäre der gleich-
mftfsigen Mischung (Milchstrafse), gemischte Sphäre mit
Überwiegen des Feurigen, reine Feuersphäre, Firmament.
Wir dürfen uns jedoch diese Aufeinanderfolge nicht so denken,
als ob jede dieser Sphären eine in sich gleichmäfsige, in
allen ihren Teilen das gleiche Mischungsverhältnis dar-
stellende und von den Nachbarsphären durch einen plötz-
lichen Übergang gesonderte Einheit bildete. Vielmehr mufs
im Sinne des Parmenides, abgesehen von der Erde, der
Übergang vom Überwiegen des Dunklen zum Gleichgewichts-
zustand in der Mittelsphäre und weiter bis zur reinen Feuer-
sphäre als ein stetig iFortschreitender gedacht werden. Die
Sphären sind gewisseimafsen nur Fachwerke für das über-
wiegend Gleichartige. Dafs er sich die Sache so vorgestellt
hat, beweist die Angabe (D. 349), dafs er sogar in der Sphäre
der gleichmäfsigen Mischung eine der Erde zugewandte
dichtere und kältere und eine dem Weltumfnnge zugewandte
dünnere und wärmere Schicht angenommen hat. Fi*eilich
könnte diese Angabe auch so gedeutet werden, dafs dabei
die beiden zu beiden Seiten an die Milchstrafsensphäre an-
grenzenden Sphären mitverstanden werden.
Sehr merkwürdig ist seine Lehre von den Gestirnen.
Dieselben sind ihm im allgemeinen Ausscheidungen und
Kristallisationspunkte der verschiedenen Sphären, deren
Mischungsverhältnis daher auch in ihnen in die Erscheinung
tritt. Von der Erde ausgehend, treffen wir zunächst in der
Sphäre oberhalb der Luft den Mond an. Er hat eigenes
Licht, aber entsprechend dem Überwiegen des Dunklen in
seiner Sphäre überwiegt auch in ihm das Dunkle über das
Feurige. Er nannte ihn d aber in seiner dichterischen Sprache
„scheinleuchtend" (pseudophanes) und erklärte aus der tiber-
wiegenden Beimischung des Dunklen das Gesicht im Monde
(D. 361). Doch nahm er daneben auch eine Erleuchtung
durch die Sonne an (D. 357 f. und Fr. 15). Der Mittel-
sphäre wies er sämtliche übrige Himmelskörper mit Aus-
nahme der Sonne und des Morgensterns zu (D. 345). Die
Sonne gehört der nächst höheren Sphäre an, in der das
Feurige überwiegt, der Morgenstern, den er, wie es scheint,
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III. 2. Die eleatische Theorie. Parinenides. (Um 500.) 133
als der erste unter den griechischen Forschem mit dem
Äbendstem für einerlei erklärte, der reinen Feuersphäre
(ib. u. D. L. IX. 23; vgl. VIII. 14 und zur richtigen Lesung
dieser Stelle D. 492). Wir haben in dieser Anordnung ein
sehr bemerkenswertes Zeugnis, dafs auch Parmenides noch
nicht, so wenig wie seine Vorgänger, die Planeten von den
Fixsternen unterschieden hat, dafs aber der erste Ansatz zu
dieser Unterscheidung in der Absonderung des mit dem
Äbendstem als identisch erkannten Morgensterns bei ihm
zu Tage tritt. Sämtliche Sterne^ aufser Mond, Sonne und Venus,
werden unterschiedslos der Mittelspbäre zugewiesen.
In den verschiedenen erhaltenen Zeugnissen über das
Weltsystem des Parmenides finden sich mannigfache Schwierig-
keiten und Dunkelheiten, deren Behandlung im einzelnen
hier zu weit führen würde. Eine Einhelligkeit in diesen
Fragen ist noch nicht erzielt. Für die genauere Begründung
der im vorstehenden nur summarisch vorgetragenen Auf-
fassung verweise ich auf „Zeitschrift f. Philosophie 104 u. 111".
Nach der gegebenen Auffassung bezeichnet diese verächtlich
als Wahngebilde gebrandmarkte Weltvorstellung einen un-
geheuren und vielseitigen Fortschritt der Wissenschaft und
bildet die Grundlage, auf der fast alle Nachfolger weiter-
gebaut haben. Die Urstoflfe sind nicht mehr lebendig und
sich beliebig ineinander verwandelnd; sie bleiben, was sie
sind, und nur durch ihre Mischung in verschiedenen Ver-
hältnissen entstehen die verschiedenen Schattierungen des
Seienden; die Triebkraft dieser Mischung wird vom Stoffe
abgesondert. Die Welt ist von einer festen Kugelhülle um-
geben ; die einzelnen Teile des Weltbaues sind konzentrische
Sphären; mit der Identifikation des Morgen- und Abend-
stems und der Absonderung dieses Himmelskörpers von allen
fibrig«'n wird der erste Ansatz zur Unterscheidung der
Planeten von den Fixsternen gemacht; die Erde endlich ist
eine Kugel. Das sind lauter Punkte, die von den Nach-
folgern fast ausnahmslos als Ausgangspunkt respektiert worden
sind und von denen zwei, die Annahmen über die Form der
Erde und über den Morgen- und Abendstern, dauernd gültige
Entdeckungen darstellen. Und in der Aufstellung einer
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134 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
besonderen Triebkraft der Veränderungen wird er geradezu
der Vorläufer der Systeme des folgenden Abschnitts.
Parmenides hat sich aber in seiner Scheinlehre durchaus
nicht mit dieser Konstruktion eines Weltbildes begnügt ; er
hat zahlreiche naturwissenschaftliche Einzelbestimmungen,
namentlich über den Menschen gegeben. Von diesen Lehren
sind uns nur dürftige Trümmer erhalten. Nur einiges be-
sonders Bemerkenswerte sei hier noch angeführt. Die Tiere
sind aus der Erde entstanden und haben erst allmählich, wie
es scheint, durch eine Art von natürlicher Auslese, lebens-
fähige Gestalt gewonnen (D. 189: die Stelle ist arg ver-
derbt). Auch der Mensch ist aus dem Erdschlaram ge-
worden (D. L. IX. 22). Er übertrug aber die Entstehung
der Welt aus den beiden Urstoffen überhaupt auf alle
einzelnen Sonderexistenzen; nur die Mischung ist verschieden.
Dafs er auch die Entstehung des Menschen erklärt hat,
bezeugt auch Plutarch Kolot. 13. Wenn er gesagt hat,
die Seele werde von der Gottheit bald aus dem Sichtbaren
ins Unsichtbare geführt, bald umgekehrt (Simplic. Phys.
p. 39), so braucht darin kein, von seinen Voraussetzungen
aus völlig inkonsequentes, Bekenntnis zur Seelen wanderungs-
lehre gefunden zu werden. Er will wohl nur sagen, der
einheitliche SeelenstoflF (das Feurige) verteile sich abwechselnd
an die Körper und kehre wieder zur einheitlichen Gesamt-
masse zurück (im Tode).
Hier nun erhält sein Prinzip, dafs Sein nnd Denken
dasselbe sei, in weitestem Umfange seine Erläuterung. Er
schreibt auch in der Scheinlehre allem Existierenden eine
Art von Erkenntnis zu. Diese ist wesentlich eine Selbst-
erkenntnis des betreifenden UrstoflFes. Es gibt also zwei
Arten der Erkenntnis, eine des Feurigen und eine des
Dunkeln. Alles Existierende hat irgend eine Art von Er-
kenntnis, die natürlich dem Mischungsgrade entspricht.
Er sagt daher auch, die Seele sei aus Erde und Feuer
gemischt (D. 213). Seele im engeren und eigentlichen Sinne
ist aber nur das Feurige (D. 388). Daher haben auch die
Tiere , weil eine Seele , ein gewisses Mafs von Vernunft
(D. 392, 500). Andei-n teils hat der Leichnam, in dem nur
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111. 2. Die eleatische Theorie. Parmenides. (um 600.) 135
dii8 Dunkle, Erdige übrig geblieben, noch Erkenntnis des
Kalten und der Stille (D. 500). Alles Erkennen ist nur
ein Empfinden des dem eigenen Wesen Gleichartigen
(D. 166, 392, 499). Nun war das Feurige gleich dem
Seienden, das Dunkle gleich dem Nichtseienden des ersten
Teiles. So wird klar, dafs Sein und Denken (d. h. Selbst-
empfindung des wahrhaft Seienden) dasselbe ist. In diesem
Sinne sagt er (Fr. 16), dafs die Vernunfttätigkeit abhängig
sei von der Mischung der Urstoffe im Körper. Die Vernunft,
die das wahrhaft Seiende erkennt, ist nur der reine oder
doch erheblich überwiegende Feuerstoff selbst in dem vor-
nehmlich der Erkenntnis dienenden Körperteil, oder, was
für Parmenides dasselbe ist, in der Seele. Der Gedanke (der
die wahre Erkenntnis enthält) beruht auf dem Überwiegen
des FeuerstoflFes, der ja eben mit dem wahrhaft Seienden
identisch ist. Er ist also nur eine im Menschen sich voll-
ziehende Selbsterkenntnis des Feurigen oder Seienden. Die
Darlegung dieser seltsamen und durch das Ineinanderspielen
der beiden Theorien, der Wahrheits- und der Scheinlehre,
in ihr etwas verwickelten Theorie ist in den eigenen Worten
Theophrasts erhalten (D. 499 f.). Es ergibt sich das
Überraschende, dafs das Erkenntnisprinzip seiner Wahr-
heitslehre im Grunde ganz auf seiner Scheinlehre beruht,
und dafs seine Den krichtung ihrem eigentlichen Kerne nach
durchaus materialistisch und sensualistisch ist Er bleibt
in dieser Vorstellung von der Selbstempfindung der beiden
Prinzipien im Grunde dem Satze des Xenophanes treu, dafs
der Gott ganz sieht, hört und denkt, nur dafs bei ihm
diese einheitliche seelische Tätigkeit in zwei entgegen-
gesetzte Richtungen auseinandergeht.
Dafs er den Satz von der Einheit des Seins und
Denkens gerade im ersten Teile wiederholt einschärft, be-
ruht darauf, dafs er im Grunde von der Unveränderlichkeit
des Gedankens auf die Unveränderlichkeit des Seins ge-
kommen ist. Das Sein mufs unveränderlich sein, weil der
Gedanke Stabilität unverrückbare Notwendigkeit besitzt.
Im Grunde ist der Wunsch, die unbedingte Sicherheit des
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136 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Denkens festhalten zu können , das treibende Interesse bei
der Stillstellung der Welt.
Dies führt uns denn schliefslich auf die vielerörterte
Frage, wie es denn möglich war, dafs sich in einem und
demselben Kopfe zwei von ihrem eigenen Urheber so strenge
nach Wesen und Wert auseinander gehaltene Weltanschauungen
zusammenfinden konnten. Welches Bedürfnis veranlafste
Parmenides, nach der „Wahrheitslehre" auch noch die
Scheinlehre, und zwar diese offenbar in gröfster Ausführlich-
keit und mit Aufbietung beträchtlichen Scharfsinns, Unter-
suchens und Nachdenkens auszubilden?
Aristoteles spricht sich über diese eigentümliche
Sachlage folgen der mafsen aus (986, 28): Während er be-
haupte, es gebe nur das Seiende, werde er doch genötigt,
dem Erscheinenden Rechnung zu tragen, indem er nach der
Vernunft das eine, nach der Sinneswahrnehmung aber eine
Mehrheit von Prinzipien behaupte und so zu einer Er-
klärung der sinnlichen Welt gelange. Theophrast hat,
soweit seine Ausführung erhalten ist, nur gesagt, er sei da-
durch zu seiner Weltbildungslehre gelangt, dafs er trotz
seiner Einheitslehre der Meinung der Menge nicht habe ent-
rinnen können.
Diese im wesentlichen gewifs richtigen, aber etwas
abstrakt gehaltenen Urteile lassen sich wohl noch etwas
bestimmter und konkreter formulieren. Das Denken des
Parmenides hatte von zwei entgegengesetzten Seiten An-
regungen erhalten. Einesteils von der Einheitslehre des
Xenophanes, die sich bei ihm, wie gezeigt, zu einer aller
erfahrungsmäfsigen Wirklichkeit ins Angesicht schlagenden
philosophischen Schwärmerei steigerte. Andemteils von der
naturwissenschaftlichen Richtung her, die ihm zunächst in
der bei den alten Pythagoreern ausgeprägten Form, dann
aber wohl auch im Systeme Anaximanders entgegentrat,
und die ihn schliefslich zu einer selbständigen, mit bedeut-
samen neuen Zügen ausgestatteten Welterklärung geführt
hatten. So waren zwei unabhängig voneinander verlaufende
Strömungen in seinem Denken entstanden, und da er sich
durch die Leugnung des Werdens auch innerhalb der Welt
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III. 3 und 4. Die unteritalische Forschung. 137
den für Xenophanes noch gangbaren Weg der Vereinigung
abgeschnitten hatte, blieb ihm nichts anderes übrig , als die
Resultate seiner Naturphilosophie zu einer Verstellungs-
gruppe niederer Ordnung, zu einer berichtigten Wahnvor-
stellung zu degradieren. In seiner Brust wohnen zwei
Seelen, die er in keiner anderen Weise zur Verträglichkeit
bringen kann. Freilich fällt er durch dies sonderbare Ver-
fahren der grausamen Ironie des Schicksals anheim, dafs
das mit so grofsartiger Emphase den Gegnern zuge-
schleuderte Scheltwort „Doppelköpfe** in etwas anderem
Sinne, aber in uneingeschränktem Mafse ihn selbst triflFt.
Und damit können wir von dieser genialen und originalen
Erscheinung Abschied nehmen. Die weitere Ausbildung der
eleatischeu Lehre durch Zeno hat wenigstens in einigen
Punkten die nächstfolgenden Entwicklungen im Pythagoreis-
mus zur Voraussetzung, die daher zunächst dargestellt
werden müssen.
S und 4. Die unteritallscbe Forschun^r unter dem
Eindruck der Entdeckun^r der Planeten. (Nach 500«)
Parmenides hatte durch die Entdeckung der Einerlei-
heit des Morgen- und Abendsterns und die Verweisung des-
selben in eine besondere, von der der übrigen Himmels-
körper verschiedenen Sphäre den ersten Ansatz zur Ent-
deckung der Planeten im engeren Sinne , d. h. der be-
weglichen Himmelskörper aufser Sonne und Mond, gemacht.
Die vollständige Entdeckung nun dieser beweglichen Himmels-
körper in der den Alten überhaupt nur bekannten Sieben-
zahl (einschliefslich Sonne und Mond) bildet die Voraus-
setzung der beiden folgenden Denkrichtungen. Es ist nicht
bekannt, wie diese Kunde den Griechen aufgegangen ist,
ob durch Übertragung aus Ägypten oder Babylonien oder
durch eigene Beobachtung. Mutmafslich waren die Pytha-
goreer in Kroton die ersten Träger und Verkündiger dieser
neuen Erkenntnis. Auch der zweite durch sie beeinflufste
Denker, Alkmäon, hat ja seinen Sitz in Kroton. Jeden-
falls aber nehmen wir 'in beiden jetzt zu besprechenden
Theorien deutlich wahr, wie der Reiz des Neuentdeckten
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138 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
das Denken in einer bestimmten Richtung anregt und be-
schwingt.
8. Das Zweitälteste System des wissensohaf tliehen
Pythafiroreismus. (Nach 600.)
Wir kennen von dieser Entwicklungsstufe des Pytha-
goreismus fast nur den einen Zug der Beeinflussung durch
die Kenntnis der Planeten. Aber dieser Zug reicht voll-
ständig hin, um diese Stufe einesteils nach rückwärts als
eine der Zeit nach Parmenides angehörige, andemteils
aber auch nach vorwärts vom pythagoreischen Hauptsystem,
dessen Weltvorstellung eine total verschiedene ist, abzu-
sondern.
Aristoteles berichtet (290b, 12 if.) von einer Theorie
über die Bewegung der Planeten , die er ausdrücklich „den
Pythagoreern** beilegt (291, 8). Auch auf der Erde ent-
stehen — so lautet diese Theorie — wenn Körper von ver-
schiedener Ausdehnung und mit verschiedener Geschwindig-
keit sich bewegen, verschiedene Töne. Wenn demnach die
Sonne und der Mond und eine Anzahl von diesen der Gröfse
nach verschiedene Sterne sich schnell bewegen , so kann es
nicht ausbleiben, dafs dadurch Geräusche von ungeheurer
Stärke entstehen. Man mufs nun ferner annehmen, dafs
„die Geschwindigkeit infolge der Abstände"
das Verhältnis der musikalischen Intervallen einer Ton-
leiter darstellen, so dafs also die Töne der uraschwingen-
den Gestirne eine Tonleiter bilden.
In diesem Berichte ist infolge der grofsen Kürze manches
unklar, doch ist so viel deutlich, dafs hier, weil die ältere
griechische Tonleiter von Grundton bis Oktave aus sieben
Tönen bestand, die Kenntnis der sieben Planeten, nämlich
aufser Sonne und Mond Merkur, Venus, Mars, Jupiter und
Saturn, vorausgesetzt wird.
Eine Erläuterung dieser aristotelischen Stelle gibt
Simplicius in seinem Kommentar zu der betreffenden
Schrift des Aristoteles. Er nimmt an, dafs nach dieser
Theorie sämtliche sieben Planeten sich in 24 Stunden
um die Erde bewegen (209, 7). Er nimmt ferner an , dafs
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III. 8. Zweitältestes System des Pythagoreismus. 139
nach ihr zunächst die A b stft nde von der Erde den
Zahlenverhältnissen der Tonleiter entsprächen (Z. 10 S.).
Mit diesen Zahlenverhältnissen können nur gemeint sein die
angeblich von den Pythagoreern entdeckten Saitenlängen
für die verschiedenen Töne der Tonleiter. Danach erfordert
der Grundton im Verhältnis zur Oktave das Doppelte, im
Verhältnis zur Quarte IVs, in dem zur Quinte das Andert-
halbfache an Saitenlänge. Die übrigen Intervallen sollen
die älteren Pythagoreer noch nicht zahlenmäfsig bestimmt
haben ; die Terz wurde im Altertum überhaupt als musi-
kalisch minderwertig betrachtet. Eine vollständige Durch-
führung der Parallele zwischen den Zahlen der Tonleiter
und den Abständen der Planeten von der Erde würde aller-
dings eine vollständige Kenntnis der ersteren zur Voraus-
setzung haben. Über diese angebliche Entdeckung der
Pythagoreer gab es wunderliche Fabeln. Nach einem Be-
richt z. B. hätte Pythagoras aus dem Klange dreier Schmiede-
hämmer die Quarte, Quinte und Oktave herausgehört und
dann aus dem Gewicht der Hämmer das Zahlenverhältnis
ermittelt. Das Verhältnis der Saitenlängen für die einzelnen
Töne kann aber unmöglich als eine neue Entdeckung angesehen
werden ; das mufste jedem, der Saiteninstrumente anfertigte,
bekannt sein. Oder sollten die alten Instrumentenmacher
nur routinemäisig nach dem Gehör die Saitenlängen be-
stimmt haben?
Eine Andeutung, worin des Neue bestand, liegt vielleicht
in den Worten D. L. VIII. 12, dafs Pythagoras, dem man
alle diese Entdeckungen der Schule zuschob, „die Regel der
einen Saite" entdeckt, d. h. die Verhältnisse der Saiten-
längen an einer einzigen, durch einen verschiebbaren Steg
in verschiedener Länge gespannten Saite, einem Monochord,
nachgewiesen habe. Vielleicht experimentierten die Pytha-
goreer auch mit an Schnüren von verschiedener Länge be-
festigten Körpern, die sie mit verschiedener Geschwindigkeit
in Umschwung setzten.
Simplicius läfst aber den Ton der einzelnen Planeten
nicht allein von den Abständen von der Erde abhängen.
Nach denselben Zahlenverhältnissen hätten sie auch die
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140 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Gröfse und die Geschwindigkeit berechnet. Mit der
Gröfse ist wohl nicht die Gröfse der Himmelskörper selbst,
sondern die der Hohlkugeln (Sphären) gemeint, an denen
die Himmelskörper befestigt sind. Dies beweist die Be-
merkung des Simplicius, dafs das Umfassende stets gröfser
sei als das Umfafste (Z. 13 if.). Auch war ja diese Theorie
der konzentrischen Hohlkugeln schon durch Parmenides
eingeführt worden. Sie bedurfte freilich, um sie der neuen
Lehre von den sieben Planeten anzupassen, einer ent-
sprechenden Umgestaltung. Jeder Planet mufste eine be-
sondere Hohlkugel zugewiesen erhalten. Ist aber die Angabe
des Simplicius so gemeint, so besagt sie nur etwas Selbst-
verständliches, da ja der Halbmesser der Hohlkugeln mit
dem Abstand ihres Umfanges von der Erde zusammenfällt.
Ebenso selbstverständlich ist dann, unter der Voraussetzung,
dafs sämtliche Planeten in 24 Stunden die Erde umkreisen,
die Annahme, dafs auch die Geschwindigkeiten durch die-
selben Zahlenverhältnisse bestimmt würden , dafs also z. B.
die Saturnsphäre bei doppelter Länge ihres Halbmessers sich
mit der doppelten Geschwindigkeit um die Erde bewege
wie die Mondsphäre, und auf diese Weise die Oktave hervor-
bringe. Jedenfalls erhält durch diese Erklärung der
schwierige Ausdruck bei Aristoteles, dafs „die Geschwindig-
keiten infolge der Abstände" im Verhältnis der musikalischen
Intervallen ständen, seine volle Verdeutlichung. Das allein
Ausschlaggebende sind die Abstände von der Erde, d. h. die
Halbmesser der Sphären. Nach ihrer Gröfse richtet sich,
da alle ihren Umschwung in der gleichen Zeit vollenden,
die Geschwindigkeit des Umschwungs. Ähnlich, wenn auch
nicht ganz so deutlich , wie Simplicius , erklärt auch
Alexander von Aphrodisias unter Berufung auf die
verlorene Schrift des Aristoteles über die Pythagoreer die
Sache in seinem Kommentar zur Metaphysik (zu I. 5).
Jedenfalls ist deutlich, dafs die Pythagoreer von der Hervor-
bringung der Tonleiter durch die Planeten als vermeint-
licher Tatsache ausgingen und von da aus unter Voraus-
setzung der gleichen Zeitdauer der Umschwünge die Abstände
der einzelnen Sphären von der Erde berechneten.
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III. 3. Zweitältestes System des Pythagoreismus. 141
Im Berichte des Aristoteles folgt noch die Erklärung der
Pythagoreer, warum wir diese Tonleiter der himmlischen
Hohlkugeln, die Sphärenharmonie, nicht vernehmen. Wir
vernehmen sie von Geburt an fortwährend, aber sie kommt
uns nicht zum Bewufstsein, weil dazu der Gegensatz der
Stille, ein Wechsel zwischen Stille und Tönen, erforderlich
wäre. Auch der Schmied höre infolge der Gewöhnung das
Geräusch der Hämmer nicht mehr.
Fragen wir zunächst in Bezug auf diese Gruppe der
Pythagoreer, wie sie sich im übrigen das Weltsystem vor-
gestellt haben müssen. Selbstverständlich ruht die Erde im
Mittelpunkte der Welt. Die Erde als Kugel vorzustellen,
dazu lag in der mitgeteilten Theorie keine direkte Veran-
lassung. Wenn sie aber, wie gezeigt, die Theorie des
Parmenides von den die Erde umgebenden Hohlkugeln über-
nahmen, so ist es wenigstens sehr wahrscheinlich, dafs sie
dann zugleich auch die Kugelform der Erde mit über-
nahmen. Vielleicht hatte sogar Parmenides diese Lehre
schon von den Pythagoreern übernommen (D. L. VIII. 48).
Einige Angaben ferner, die zu dem pythagoreischen
Hauptsystem in offenem Widerspruch stehen, mit dem hier
vorliegenden Weltsystem aber wohl vereinbar erscheinen,
finden sich unter den Bruchstücken des sogenannten
Philolaos. Von dieser Schrift kann genauer erst weiter
unten gehandelt werden. Hier nur so viel, dafs sie ein aus
allerlei nicht zusammenstimmenden Nachrichten über ältere
pythagoreische Lehren unklar zusammengestöppeltes Mach-
werk aus dem letzten vorchristlichen Jahrhundert war.
Findet sich nun darin ein Stück, das mit einem anderweitig
sicher überlieferten Lehrstück folgerichtig zusammenpafst,
80 darf es wohl als dazu gehörig in Anspruch genommen
werden. Kun findet sich in einem Bruchstück dieses
Philolaos (D. 336 f.) eine widerspruchsvolle Zusammen-
schweifsung mehrerer pythagoreischer Weltvorstellungen.
Nach der einen derselben nannten sie den obersten und
äafsersten Teil der Welt (ofl'enbar den Fixsternhimmel)
Olymp, den Baum unterhalb desselben, in dem die fünf
Planeten nebst Sonne und Mond kreisen, Kosmos, den Raum
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142 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismas.
unter dem Monde bis zur Erde Uranos (Himmel). In
schwülstigen und gesuchten Wendungen wird angedeutet,
dafs diese drei Teile der Welt eine absteigende Stufenfolge
hinsichtlich der Vollkommenheit bilden. Im Olymp be-
findet sich „die Reinheit der Elemente**, im Kosmos waltet
„die Weisheit, die vollkommen ist", unter dem Monde sind
„die Dinge des veränderungslieben den Werdens", „das Ge-
wordene der Unordnung"; hier hat die Tugend ihre Stelle,
die unvollkommen ist. Zu dieser Vorstellung pafst auch die
in einem anderen Bruchstück (Stob. I. 172) angeführte
Zweiteilung der Welt in einen unveränderlichen Teil, der
„von dem das Ganze umgebenden Hauche bis zum Monde"
reicht, und einen veränderlichen, vom Monde bis zur Erde
reichenden Teil. Diese Angaben scheinen zu der Weltvor-
stellung der Sphärenharmonie zu passen. Wenn wir be-
denken, mit welch gehobenen Gefühlen diese Pytha goreer
die neugewonnene Vorstellung von den in ewigem Gleich-
niars des Umschwunges in reinen Tönen zusammen-
klingenden Sphären betrachten mufsten, wenn wir damit
die Vorstellung von der Erde als dem Orte der Einkerkerung
der Seele in den verhafsten Körper zusammennehmen, so
pafst diese Dreiteilung und Zweiteilung vortrefflich zu
unserem System. Früher aber als dieses kann sie auch
nicht angesetzt werden, weil sie die Unterscheidung zwischen
den Fixsternen und Planeten, deren volle Siebenzahl er-
scheint, zur Voraussetzung hat. Die ältere Benennung der
Welt als Kosmos wird dann hier auf die in unabänderlichem
Gleichmafs sich bewegenden Planeten eingeschränkt.
Weitere Nachrichten über die Weltvorstellung dieser
Pythagoreer sind nicht vorhanden. Wie sie die sieben Töne
der Tonleiter an die einzelnen Planeten verteilten, in welcher
Reihenfolge sie diese demgemäfs aufeinander folgen liefsen,
ist nicht bekannt. Ob sie den Mond und die übrigen Planeten,
wie die Sonne, für selbstleuchtende Körper hielten, ist nicht
auszumachen, wenngleich vielleicht auf sie die Angabe
(D. 358) pafst, dafs „Pythagoras" die Erleuchtung des
Mondes durch die Sonne gelehrt habe. Auch ob sie den
„Olymp", den Fixsternhimmel, als ein festes Gewölbe vor-
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III. 3. Zweitältestes System des Pythagoreismus. 143
gestellt und wie sie sich demgemäfs zu der alten pythagoreischen
Vorstellung von der aus dem Unbegrenzten aurser der Welt
eindringenden Luft, sowie zu der Umgestaltung dieser Lehre
in dem Gegensatzsystem gestellt haben, wird nicht berichtet.
Ersteres konnten sie von Parmenides übernehmen. Es ist
aber wegen des Widerspruches gegen die alte, von
Anaximenes übernommene Vorstellung von der unendlichen
Luft nicht wahrscheinlich, dafs sie dies getan haben. Noch
die vorstehend angeführte Stelle aus „Philolaos" von dem
„das Ganze umgebenden Hauche** scheint das Fortleben
dieser Lehre im Pythagoreismus zu bezeugen.
Dagegen kann aus den Grundvoraussetzungen der
Sphftrenharmonie ein Rückschlufs auf ihren Grundgedanken
überhaupt gemacht werden. Als Ausgangspunkt stellt sich
hier dar die bekannte eifrige Pflege der Musik bei den
Pythagoreern als Mittel der Seelenreinigung. Im Anschlufs
daran beschäftigten sie sich natürlich eifrig mit den tech-
nischen Grundlagen der Saiteninstrumente. Die Zahlen-
verhältnisse der Saitenlängen waren ihnen geläufig. Und
als nun als neue astronomische Tatsache die Siebenzahl der
Planeten bekannt wurde, da lag es nahe, diese mit den sieben
Tönen der Tonleiter in Beziehung zu bringen. Als Mittel-
glied hierfür bot sich dar da& Zahlenverhältnis der Saiten-
längen. Die Fähigkeit, die Gröfse der Planeten und die
Abstände ihrer Sphären von der Erde durch Messung exakt
festzustellen, besafs man nicht. Die Übereinstimmung mit
den Saitenlängen und die Erregung von Tönen durch die
umschwingenden Sphären wird einfach vorausgesetzt. So
kam die phantastische Vorstellung von der Sphärenharmonie
zu Stande. Ihre Grundvoraussetzung ist: es mufs im Welt-
bau ein durch Zahlen ausdrtickbares harmonisches Verhältnis
bestehen, das denn auch in den entsprechenden Tönen der
Himmelskörper seinen Ausdruck findet.
Hier zeigt sich eine Verwandtschaft mit dem älteren
System, aber zugleich auch ein deutlicher Fortschritt über
dasselbe hinaus. Jene ältere Lehre übertrug die im Orden
geltende Forderung, das eigene Leben aus einem regel- und
ziellosen in ein fest geregeltes umzugestalten, als etwas
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144 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
tatsächlich Vorhandenes auf die Welt und die Dinge der
Welt im weitesten Umfange. Alles Seiende erschien als in
einem Prozesse der Bildung und des Überganges aus dem
Form- und Regellosen ins Geformte, Begrenzte, Geregelte
begriffen. Das praktische Interesse der Lebensregelung wird
zu einem Erkenntnisprinzip für die Weltordnung. Schon
hierbei spielte die Zahl eine Rolle.
Jetzt nun, nach der Entdeckung der Siebenzahl der
Planeten, wird in bestimmterer Weise die Forderung einer
durch die Musik harmonisch geregelten Gemütsverfassung
zum Erkenntnisprinzip für die Welteinrichtung. Auch diese
mufs zahlenmäfsig so geregelt sein, dafs ihre Wohlordnung
in den Tönen der Tonleiter einen sinnenfälligen Ausdruck
findet. Die Welt ist nicht nur eine durch ein Formprinzip
in der Formung begriffene , sie ist , wenigstens in ihren
höheren Sphären, tatsächlich nach einem arithmetisch-
musikalischen Prinzip geformt und geregelt, ein Kosmos,
in dem das vom Menschen zu Erstrebende vorbildlich ver-
wirklicht ist. So erklärt sich auch die besondere Hoch-
schätzung der Planetenwelt im Vergleich mit der Sphäre
unter dem Monde. Die Welt als erbauliches Vorbild
menschlichen Strebens, das ist das gemeinsame Prinzip
dieser beiden ältesten Systeme, Anregungen für das pytha-
goreische Leben zu bieten das Ziel des wissenschaftlichen
Sinnens bei beiden. Dieser gemeinsame Zug erscheint jetzt,
unter dem Einfiufs der neuen Entdeckung der Siebenzahl
der Planeten, auf einer neuen, höheren, eindrucksvolleren
Stufe der Entfaltung.
4. AULmäon. (Nach 600.)
Nach H e rodot (IIL 131) nahmen zur Zeit der ältesten
Pythagoreer die krotonianischen Ärzte den ersten
Rang unter den griechischen Ärzten ein. Es gab also in
Kroton, dem Stammsitze des Py thagoreismus , damals auch
eine berühmte Ärzteschule. Der erste schriftsteUerische
Vertreter derselben scheint Alkmäon gewesen zu sein.
Nach Aristoteles (986, 30) bezog sich seine Lehre auf
das Menschliche, auf körperliche Zustände, und nach
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III. 4. Alkmäon. 145
D. L. VIII. 83 trug er vornehmlich ärztliche Lehren vor
und kam nur gelegentlich auf die Welteinrichtung zu
sprechen. Auch die an dieser Stelle überlieferten Eingangs-
worte seiner Schrift scheinen auf das Medizinische als das
Hauptthema seiner Schrift hinzudeuten. „Er sagt: „Über
das Unsichtbare haben nur die Götter eine deutliche Er-
kenntnis. Wenn aber Menschen forschen . . . (oder: „Wenn
man aber nach menschlicher Weise forscht . . ."). Als Nach-
satz mufs wohl ergänzt werden: „kann nur über Mensch-
liches Gewifsheit erlangt werden". Dazu stimmt endlich,
dafs die grofse Mehrzahl der von ihm überlieferten Lehren
sich auf physiologische und medizinische Probleme bezieht.
Alkmäon ist in erster Linie der Vater der Anatomie und
Physiologie.
Er gehört aber auch in den hier darzustellenden Zu-
sammenhang. Und zwar aus einem doppelten Grunde.
Einesteils bildet er ein Seitenstück zu den Vertretern der
Sphärenharmonie. Auch auf ihn hat die Unterscheidung der
Planeten von der Fixsternwelt mit der Gewalt eines neuen
Gedankens gewirkt ; er hat sogar eine noch viel bedeutsamere
Folgerung daraus gezogen als jene Pythagoreer. Andernteils
hat er auch mit einem Teile seiner medizinischen Lehren
nachhaltig auf die philosophische Entwicklung gewirkt, die
ohne ihn nicht vollständig verständlich sein würde.
Nach einer Angabe bei Aristoteles (98(3, 28 f.), die aber
von manchen für untergeschoben gehalten wird, wäre er ein
jüngerer Zeitgenosse und noch persönlicher Schüler des Pytha-
goras gewesen. Nach D. L. VIII. 81^ hatte er sein Buch
drei Männern gewidmet, von denen wenigstens einer, Bron-
tinos, auch im Zusammenhange mit den ältesten Pytha-
goreem genannt wird, nämlich entweder als Schwiegervater
des Pythagoras oder als Gatte einer Schülerin desselben
(D. L. VIII. 42). Ist eine von diesen Angaben geschichtlich,
und ist femer dieser Brontinos mit dem Empfänger der Wid-
mung dieselbe Person, so läge auch darin ein Zeugnis für
die Zeit des Wirkens Alkmäons. Jedenfalls verlegt ihn
Aristoteles in diese Frühzeit, wenn er den Zweifel ausspricht,
ob Alkmäon einen Punkt seiner Lehre von der pythagoreischen
Dftrioff. I. 10
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146 ^rste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
Gegensatzlehre überkommen habe oder umgekehrt. Dafs er
in Kroton wirkte und aller Wahrscheinlichkeit nach auch
dort geboren war, wird schon dadurch bewiesen, dafs er
ständig Alkmfton von Kroton genannt wird. Die vorhandenen
Fragmente sind am vollständigsten von Wach tl er (De Alc-
maeone Crotoniata, Leipzig 1896) gesammelt werden, nach
dessen Zählung sie hier angeführt werden.
Über seine astronomischen Ansichten nun wird
folgendes berichtet. Er lehrte, dafs alle die göttlichen
Körper, die Sonne, der Mond, die Gestirne und der ganze
Hinmiel, sich unablässig bewegen (Arist. 405, 29). Deutlicher
als an dieser Stelle tritt die Unterscheidung der Planeten
von den Fixsternen hervor, wenn ihm die Lehre beigelegt
wird, die Planeten bewegten sich im Gegensatze gegen den
Fixstemhimmel von West nach Ost (D. 345). Ohne erhelv
liche Bedeutung ist die Angabe, er habe die Sonne für eine
flache Scheibe und den Mond (wie Heraklit) für gefäfsartig
gehalten, um so die Phasen des Mondes erklären zu können.
Natürlich folgt aus letzterer Vorstellung nicht, dafs er mit
Heraklit auch die tägliche Erneuerung annahm, was ja zu
seiner Lehre von der Göttlichkeit und Ewigkeit der Himmels-
körper im schroffsten Widerspruche gestanden hätte.
Der Hauptpunkt ist, dafs er diesen sich ewig gleich-
mäfsig bewegenden Himmelskörpern, den Planeten einschliefs-
lich von Sonne und Mond und der Fixstemsphäre, eine innere
Quelle der Bewegung zuschrieb, dafs er sie für unsterbliche,
göttliche Wesen erklärte. Dafs er sie als „beseelt" bezeichnet
habe (Clem. Alex. Admonit. ad Gent. I. 57), ist dafür wohl
ein ungenauer Ausdruck. Er wird wohl an der alten hylo-
psychistischen Vorstellung festgehalten haben, nach der dem
körperlichen Stoffe an sich selbst die seelischen Eigenschaften
beigelegt wurden. Und von diesem Punkte, also von der
neuen Erkenntnis hinsichtlich der Planeten als einer be-
sonderen Gruppe der Himmelskörper, aus gelangte er dann
durch einen kühnen Analogieschlufs zu dem ersten Versuche
einer wissenschaftlichen Begründung der Unsterblichkeits-
lehre (Fr. 9 f.). Diese Lehre wurde vom pythagoreischen
Orden, dem Alkmäon nahe stand, dogmatisch, als Glaubens-
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III. 4 Alkmäon. 147
artikel, behauptet. Alkmäon ist der erste, der sie wissen-
schaftlich zu begründen versuchte. Wir müssen diesen Ver-
such im Zusammenhange seiner Gesamtlehre vom seelischen
Leben betrachten.
Alle lebenden Wesen (die Tiere) haben Empfindungen.
Er ging die einzelnen Sinne durch und suchte in primitiver
Weise das Zustandekommen der Empfindungen zu erklären
(Theophrast D. 506 f.; Fr. 3, 5—7). Dies ist eine der
schwächsten Partien seiner Theorie. Über den Tastsinn
hatte er, wie Theoprast ausdrücklich bemerkt, sich über-
haupt nicht ausgelassen. Alle Empfindungen ferner haben
ihren Einheitspunkt im Gehirn. Das Gehirn steht durch
Leitungsgänge (Poren) in Verbindung mit den Öffnungen,
durch die die Empfindungen stattfinden. Erleidet das Ge-
hirn eine Veränderung, so treten Störungen der Em-
pfindung ein (Fr. 4; D. 507). Epochemachend ist hier die
Erkenntnis des Gehirns als Zentralorgan (die sogar bei
einem Aristoteles wieder verloren gehen konnte) und die
Hindeutung auf die Leitungsbahnen von den Sinnesorganen
zum Gehirn. In diesem Zusammenhange erscheint die An-
gabe eines Späteren (Chalcidius zu PL Tim. b. Mullach
IL 233) glaublich, Alkmäon habe bereits Sektionen gemacht.
Aus der Bedeutung, die er dem Gehirn beilegt, ent-
springt auch seine Behauptung, dafs der Same aus dem
Hirn stamme (D. 414; Fr. 12), womit wohl wieder die An-
nahme auch eines weiblichen Samens zusammenhängt (Fr. 13),
sowie die Angabe, dafs sich von den Teilen des Fötus zu-
erst der Kopf als der wichtigste Teil ausbilde (D. 427 f. Fr. 17).
Vom Tiere aber unterscheidet sich der Mensch dadurch,
dafs er nicht nur empfindet, sondern auch denkt. Es ist
ein Unterschied zwischen der allen beseelten Wesen zu-
kommenden, an das Organ gebundenen Funktion der Em-
pfindung und der Verarbeitung der Empfindungen im Denken,
zwischen Seele und Geist (D. 506; Fr. 2).
Offenbar hat aber Alkmäon das Zustandekommen des
Denkens und Erkennens aus den Empfindungen weit genauer
verfolgt, als aus dem kurzen Bericht des Theophrast zu
entnehmen ist. Plato führt einmal (Phädon 96 B) neben
10*
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148 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
anderen Theorien über das Denken auch die folgende an,
deren Urheber er nicht nennt: Das Gehirn bietet die Em-
pfindungen dar. Aus diesen entsteht Erinnerung und Vor-
stellung und, wenn diese zur Beharrlichkeit gelangt, die Er-
kenntnis. Es ist sehr wahrscheinlich, dafs wir hier die Lehre
des Alkmäon vor uns haben. Nach den Worten Piatos be-
schränkte er dann die Bedeutung des Gehirns, das ja der
Mensch mit dem Tiere gemeinsam hat, auf die „Darbietung'^
und legte die höheren Funktionen, das Festhalten der Er-
innerung, die Bildung der Allgemeinvorstellungen und die
Erkenntnis, welche letztere ja den Menschen vom Tiere
unterscheidet , dem denkenden Geiste bei , der ja ebenfalls
dem Menschen allein zukommt. Diese Begriffe erkennen wir
auch noch bei Aristoteles als feste Grundlage der eigenen
Lehre desselben vom Zustandekommen des Denkens. Alle Tiere,
sagt er (996, 24flF.), haben Empfindung. Wo diese (durch
das Gedächtnis) beharrt, entsteht als Summe dieses Be-
harrenden die Erfahrung, die erste Stufe der Erkenntnis.
Wo aber die Empfindungen sich nicht erbalten, kann es
zu keiner Art von Erkenntnis kommen. Ebenso sagt er im
I.Kapitel der Metaphysik : „Alle Tiere haben Empfindung.
Aus dieser entsteht bei einigen Erinnerung, bei anderen
nicht, und darum sind jene verständiger und gelehriger
als diejenigen, die sich nicht erinnern können. Zu einer
Erfahrung kommt es auch bei den höheren Tieren nur in
geringem Mafse; erst beim Menschen entspringen aus ihr
die höheren intellektuellen Leistungen. Aristoteles ist hier
insofern über Alkmäon hinausgegangen, als er auch den
höheren Tieren einen gewissen Anteil an Gedächtnis und
Erfahrung zuschreibt, also die Grenzlinien zwischen Mensch
und Tier etwas anders zieht. Entsprechend mufste er dann
auch die Erfahrung dem körperlichen Organ zuschreiben
und konnte nur die spezifisch menschlichen Denktätigkeiten
der unsterblichen Seele vorbehalten. Deutlich erkennbar
aber ist auch bei ihm die Lehre des Alkmäon als Grund-
lage und Ausgangspunkte
Die Denktätigkeit nun ist nach Alkmäon, wie die Be-
wegung der Himmelskörper, eine unablässige Selbstbewegung.
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III. 4. Alkmäon. 149
Es gilt also auch von ihr, was von diesen gilt, dafs ihr
TrÄger, der denkende Geist, die Quelle derselben in sich
selbst haben mufs. Also ist auch der denkende Geist, wie
die Gestirne, unvergänglich. Dafs dies das Beweisverfahren
Alkmäons war, geht schon aus der kurzen Angabe des
Aristoteles (405, 29) hervor, er habe die (denkende) Seele
deshalb für unsterblich erklärt, weil sie den unsterblichen
Körpern in der unablässigen Bewegung gleiche. Noch weiter
geht einer der Erklärer dieser Aristotelesstelle, Philo-
p 0 n o s (Fr. 9), nach dem er die denkende Seele wegen dieser
ewigen Beweglichkeit, aus der, wie bei den Himmelskörpern,
ihre Unsterblichkeit folge, geradezu von „dem himmlischen
Körper" abstammen liefs. Hier ist die Einzahl befremdlich,
aber auch die ganze Angabe ist, wenn auch nicht unmöglich,
doch nicht genügend beglaubigt. Wäre sie richtig, so läge
darin zugleich ein Zeugnis, dafs Alkmäon die Denkseele
trotz ihrer Unsterblichkeit für körperlich gehalten habe.
Dies ist aber auch schon ohnedies das Wahrscheinlichere.
Nur das Körperliche kann sich bewegen; auch wird die
Vorstellung eines unstoflFlichen (immateriellen) Wesens wohl
noch nicht in den Kopf dieses alten Mediziners gekommen
sein. Er ist wohl auch in seiner Lehre vom Geiste noch
HylopsycMst. Die Spuren einer Beeinflussung durch diesen
eigentümlichen Gedankengang in bezug auf die Natur des
Denkens und die Begründung der Unsterblichkeit werden
uns bei Plato (Timäos, Phädrus) unverkennbar entgegen-
treten. Eine Erläuterung zu diesem ganzen Gedanken-
kreise bildet schliefslich auch sein geistvoller Ausspruch
(Arist. 916, 33), der Mensch (nach seiner körperlichen Natur)
sei deshalb dem Tode verfallen, weil er nicht vermöge, den
Anfang an das Ende anzuküpfen. Nur die kreisförmige
Bewegung nämlich vermag dies; die geradlinig fort-
schreitende Entwicklung endet notwendig mit dem Verfall.
Während schon durch diesen Unsterblichkeitsbeweis eine
freundliche Stellung Alkmäons zur pythagoreischen Ordens-
lehre bewiesen wird und begründet werden mufste — viel-
leicht sympathisierte er auch mit den sittlich-politischen
Zielen des Ordens — , zeigt sich bei ihm keine Spur der
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150 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Seelenwanderungslehre. Ja, eine Anerkennung derselben
würde geradezu in vollstem Widerspruch mit der scharfen
Grenzlinie stehen, die er zwischen der tierischen und der
menschlichen Seele zog. Alkmäon konnte unmöglich das
Hineinfahren gerade der unsterblichen, d. h. der denkenden
Menschenseele in den dazu nicht gearteten tierischen Orga-
nismus gutheifsen. Ebensowenig ist es nach seiner ganzen
geistigen Eigenart und nach dem Protest gegen Be-
stimmungen über das Unerkennbare, mit dem er seine
Schrift einleitete, wahrscheinlich, dafs er sich zugleich mit
der Erkenntnis der Planeten auch das daraus herausge-
sponnene Phantasiestück der Sphärenharmonie angeeignet
haben sollte.
Ebenso mufs aber auch für ein zweites Haupt-
stück seiner Lehre, mit dem er ebenfalls eine erkenn-
bare Wirkung auf Spätere geübt hat, volle Selbständigkeit
gegenüber den Pythagoreern in Anspruch genommen
werden.
Nach Aristoteles (Met. 986, 30 ff.) lehrte er, die meisten
der Beschaffenheiten des menschlichen Körpers träten in
gegensätzlicher Form auf, z. B. weifs - schwarz, süfs— bitter,
gut — schlimm (wohl von den normalen oder nicht normalen
Zuständen zu verstehen), grofs— klein. Im Vergleich mit
jenen Pythagoreern, die die Tafel der 10 Gegensätze auf-
stellten, hätte er diese Gegensätze nicht in fester Abgrenzung
gegeben, sondern willkürlich und ohne Einschränkung hin-
geworfen. Wie es scheint, ist hier Aristoteles durch die
ganz äufserliche Ähnlichkeit der Aufstellung von Gegensatz-
paaren zu dieser Zusammenstellung verleitet worden. Sagt
er doch selbst, Alkmäon habe die Gegensätze nur in bezug
auf die menschliche Natur aufgestellt, und tritt doch ferner
bei Alkmäon, wie wir weiterhin noch deutlicher sehen
werden, eine Haupteigentümlichkeit der pythagoreischen
Gegensatzlehre, die Minderwertigkeit der einen Seite der
Gegensätze, durchaus nicht hervor. Es ist daher wohl ein
entschiedener Irrtum , wenn er weiterhin (986, 61 S.) sagt,
bei beiden lasse sich so viel entnehmen, dafs ihnen die
Gegensätze die Prinzipien des Seienden seien, woraus
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III. 4. AlkmÄon. 151
dann bei einem späteren Autor (Ps.-Clem. Rom. D. 250) die
Einreihung des Alkmäon unter die Vertreter verschiedener
Theorien über das Wesen des Seienden mit dem sinnlosen
Schlagwort „Gegensätze" geworden ist.
Über den wirklichen Sinn seiner Gegensatzlehre
itcheint die folgende Stelle, die zugleich das für seine Kach-
wirkung auf Nachfolgende und damit für das Verständnis
der nachfolgenden Entwicklung Bedeutsame enthält, das
Richtige zu bieten (D. 442). Nach Alkmäon ist das die
Gesundheit Erhaltende das Gleichgewicht (die Isonomie,
d. h. eigentlich die staatliche Gleichberechtigung) der Stoffe,
des Feuchten und Trocknen, des Kalten und Warmen, des
Bitteren und Süfsen und der übrigen. Die Alleinherrschaft
einer derselben verursache Krankheit, denn verderblich sei
die Alleinherrschaft eines von den Entgegengesetzten.
Krankheit entstehe durch Übermafs oder Mangel von Wärme
oder Kälte (oder, müssen wir hinzufügen, eines anderen der
Entgegengesetzten), z. B. im Blute, im Marke oder im Ge-
hirn. Sie entstünden aber bisweilen auch aus den äufseren
Ursachen : Beschaffenheit des Wassers, der Landschaft oder
Örtlichkeit, oder aus Zwang oder anderem Ähnlichen. Die
Gesundheit aber sei die symmetrische Wirkung dieser Be-
schaffenheiten.
Hier erkennen wir Sinn und Zusammenhang, in dem
die Gegensatzlehre bei Alkmäon auftrat; hier erst lernen
wir die wichtigsten und bezeichnendsten seiner Gegensatz-
paare kennen; hier sehen wir, dafs es durchaus nicht seine
Meinung war, das eine Glied der einzelnen Gegensätze gegen
das andere im Werte zurückzusetzen. Beide sind gleich-
wertig; nur auf ihrem Gleichgewichte beruht der normale
Zustand des Körpers. Diese Lehre über Gesundheit und
Krankheit, sowie manche andere physiologische Lehren, die
hier übergangen werden können, bildeten den eigentlichen
Kernpunkt der Lehre Alkmäons, des hervorragenden Mit-
gliedes und ersten schriftstellerischen Vertreters der hoch-
gepriesenen krotonianischen Ärzteschule. Seine allgemein-
wissenschaftliche Bedeutung, erkennbar an den Nachwirkungen
bei späteren Denkern, beruht auf den angeführten Punkten.
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152 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
Sie rechtfertigt die Aufführung dieses genialen Physiologen
und Mediziners auch in dem Zusammenhange der allgemeinen
wissenschaftlichen Entwicklung.
5. Das Hauptsystem des wissenschaftlichen
Pythagroreismus. (Um 480 — 470.)
Das Hauptsystem der Pythagoreer ist dasjenige, in dem
die von ihnen betriebene Zahlenforschung den mafsgebenden
und entscheidenden Einflufs auf ihre Welterklärung ge-
wonnen hat.
Die Zeit seiner Entstehung läfst sich nur ungefähr aus
den nachfolgenden Anhaltspunkten bestimmen. Zunächst
beginnt Aristoteles seinen eingehendsten Bericht über
dies System, nachdem er vorher von Empedokles und
Leukipp gesprochen hat, deren Schriften vor die Mitte
des 5. Jahrhunderts fallen, mit den Worten „gleichzeitig
mit diesen und vor diesen" (985 b, 23). Sodann legt er
diesen Pythagoreern als Vorstufe und Voraussetzung für
ihre Welterklärung eine eingehende und erfolgreiche Be-
schäftigung mit den mathematischen Wissenschaften und
insbesondere mit der Zahlenlehre bei. Hier wird deutlich
ein Zusammenarbeiten vieler und ein allmähliches Fort-
schreiten vorausgesetzt. Dies versetzt uns in eine Zeit, wo
der Orden noch in ungetrübter Ruhe unangefochten seine
Ziele verfolgen konnte, also in die Zeit vor dem Hervor-
treten jener Wirren, die um 440 zu der blutigen Verfolgung
des Ordens führten. Endlich hat, wie später zu zeigen,
Zeno von Elea, der etwa um 510 geborene Schüler des
Parmenides, sich polemisch gegen einige Grundannahmen
dieses Systems gewandt und andernteils Empedokles (um
450) sehr wahrscheinlich einige seiner Lehren von ihnen
übernommen. Daraus ergibt sich die Zeit um 480 — 470 als
die wahrscheinliche Entstehungszeit.
Dafs nun diese Pythagoreer von der Zahlenforschung
zur Welterklärung übergingen und die Resultate jener in
dieser zur Anwendung brachten, sagt Aristoteles mit grofsem
Nachdruck. „Sie kamen zu der Ansicht, dafs die Prin-
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IIL 5. Hauptsy Stern des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 153
zipien der mathematischen Wissenschaften Prinzipien alles
Seienden seien." „Sie glaubten in den Zahlen viele Ähn-
lichkeiten mit dem Seienden und Geschehenden zu erblicken,
mehr als im Feuer und in der Erde und im Wasser."
(985b, 25.) Er betont sogar, dafs sie anfangs — wie es
scheint, in mehr spielender Weise — nur auf einzelnes die
Zahl als Erklärungsprinzip angewandt hätten, z. B. auf „die
rechte Zeit", die Gerechtigkeit, die Ehe (1078b, 21). Wir
erkennen hier noch deutlich das allmähliche Werden dieser
neuen Art von Welterklärung.
Näher bewegte sich diese Anwendung der Zahlen als
universelles Prinzip der Welterklärung nach Aristoteles in
einer doppelten Richtung. Einesteils erklärten sie die Zahlen
geradezu für den Stoff des Seienden, andemteils fanden sie
in den Zahlen (und Zahlenverhältnissen) das Prinzip zur
Erklärung der Eigenschaften und Zustände der Dinge
(986, 15). Diese von Aristoteles aufgestellte Zweiteilung
der Anwendung der Zahlen zur Welterklärung ist von der
gröfsten Bedeutung für das Verständnis des Systems. Die
erste Richtung betrifft die Frage nach dem Grundwesen
des Seienden, die zweite bezieht sich auf eine Mannigfaltig-
keit von Einzelanwendungen der Zahlen, durch die in meist
willkürlicher und spielender Weise Dinge, Vorgänge und
Zustände auf Zahlen und Zahlenverhältnisse zurückgeführt
wurden.
Welcher Art die mathematischen und insbesondere arith-
metischen Studien und Entdeckungen waren, die den Aus-
gangspunkt und die Grundlage dieser Welterklärung bildeten,
darüber fehlt es für diese ältesten Forscher fast ganz an
sicheren Nachrichten. Soweit sie für das System in Betracht
kommen, zeigt schon dieses selbst die arithmetischen Ge-
danken, die ihnen als Ausgangspunkte dienten.
Von den beiden Gesichtspunkten, die Aristoteles auf-
stellt, ist eigentlich der erste — die Zahlen der Stoff des
Seienden — befremdlicher als der zweite. Er wird jedoch
verständlicher, wenn wir von der Annahme ausgehen, dafs
sie in dem Streben, ihre Zahlenforschung auf die Seinslehre
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154 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychlsmus.
anzuweDden, die schon vorhandene Gegensatzlehre in diesem
Sinne umbildeten.
Den ersten Anhalt für diese Umbildung boten ihnen
die beiden ersten Gegensatzpaare : Unbegrenztes — Grenze ;
Ungerades — Gerades. Aristoteles sagt da, wo er sich an-
schickt, die Prinzipien des Seienden für dieses System an-
zugeben (986, 13 flf.), folgendes: „Die Elemente der Zahl
sind das Gerade und das Ungerade ; von diesen ist das eine
(das Ungerade) begrenzt (nach der schon früher angegebenen
Vorstellungsweise: gehemmte Teilung), das andere (das
Gerade) unbegrenzt." Hiernach scheint ihre erste Opera-
tion an der Tafel der Gegensätze die Verschmelzung der
beiden ersten Gegensatzpaare gewesen zu sein. Das Gerade
und Ungerade rückte so aus der Stellung einer blofsen An-
wendung des Grundgegensatzes auf die Zahlen, eines blofsen
Spezialfalles in die des allgemeinen Grundgegensatzes selbst
ein. Alles Begrenzte wurde ein Ungerades, alles Unbegrenzte
ein Gerades.
Dabei ist aber schon die Grundvoraussetzung gemacht,
dafs die Zahlen das Wesen — der Stoff — der Dinge seien.
Die Zahlen aber stellen sich so dar, dafs aus einem
, Element, der Eins, durch fortgehende Hinzufügung die
ganze Zahlenreihe entsteht. Es müfste also das erste Er-
zeugnis des Zusammenwirkens der Grenze und des Un-
begrenzten, des Form- und Stoffprinzips der Welt, das erste
Begrenzte, so gefafst werden, dafs es als Eins bezeichnet
werden konnte. Aristoteles fährt an obiger Stelle fort:
„Die Eins aber bestehe aus diesen beiden, denn sie sei
gerade und ungerade." Letzteres kann nun von der Eins
als blofser Zahlgröfse unmöglich gesagt werden;
höchstens könnte, man ihr eine Ausnahmsstellung jenseits
des Geraden und Ungeraden zuweisen und sagen, sie sei
weder gerade noch ungerade. Dieser Satz beweist also,
dafs sie ihr schon eine über das blofse Zahlensystem hinaus-
gehende Bedeutung zugewiesen, dafs sie sie mit dem
ersten Begrenzten identifiziert hatten. Dies war
ja nach der früheren Lehre ein abgegrenztes Stück des
unendlichen Lufthauches aufser der Welt. Diesen Luft-
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III. 5. Hauptsystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 15^
hauch nun konnten die Zahlenphilosophen nicht mehr ge-
brauchen. Die darauf bezüglichen, früher angeführten
Stellen beruhen entweder auf einer Vermengung der ver-
schiedenen pythagoreischen Standpunkte, oder es haben die
Zahlentheoretiker ihn in inkonsequenter, pietätvoll-konser-
vativer Anlehnung an den Bestand der Lehre lediglich als
Inventarstück weitergeführt. Ihre wirkliche Meinung aber
gibt folgender Satz des Aristoteles: „Sie nehmen von
den Einheiten an, dafs sie Gröfse haben," d. h.
sie legen der Eins Ausdehnung im räumlichen, geometrischen
Sinne bei. Dafs dies der Sinn ist, beweist der Zusatz des
Aristoteles: „Wie jedoch die erste Eins sich zur Gröfse
gebildet habe, darauf scheinen sie nicht antworten zu
können" (1080 b, 18). Das Wahrscheinlichste ist also, dafs
sie das begrenzte Stück Lufthauch — wenigstens still-
schweigend — fallen liefsen, dagegen die „erste Eins" al&
begrenztes Stück des Leeren, des Raumes fafsten.
Also eine Ausleerung des körperlichen Stoffes zum blofsen
Räume als Weltsteff! In diesem Sinne hat denn auch die
Aussage Sinn, die Eins sei gerade und ungerade, d. h. un-
begrenzt und begrenzt. Unbegrenzt, sofern sie den unend-
lichen Raum zum Steif hat, begrenzt, sofern von diesem
Stoffe in ihr nur ein begrenzter Teil vorhanden ist.
Für diese Fassung der Eins als Raumeinheit bieten sich
noch folgende weitere Zeugnisse. „Die Pythagoreer setzen
die Zahlen als Gröfse habend" (1080 b, 32). „Gesetzt, man
gäbe ihnen zu, dafs aus den Zahlen die Gröfse" (d. h. hier
nach dem Zusammenhang die räumliche Ausdehnung der
Dinge) „würde, oder dafs dies gezeigt würde, wie könnten
daraus die leichten und schweren Körper werden?" (990,
12). „Die Zahlen sind die Dinge selbst" (987 b, 27). „Daa
Begrenzte, das Unbegrenzte und die Eins sind nicht blofse
Attribute an den sinnlichen Stoffen, sie sind die Wesenheit
selbst; also ist die Zahl die Wesenheit von allem" (987,
13 ff.). Wiederholt wird betont, dafs die Zahlen ihnen nicht
etwa ein vom Seienden abgesondertes Gebiet besitzen, in
dem sie rein für sich bestehen, eine Stufe aufserhalb der
Sinnenwelt, als Musterbilder, wie die platonischen Ideen;
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156 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
dafs es keine andere reale Existenz weise der „Zahl" gibt
als die in den Dingen (1090, 20; 1080 b, 17; 1083 b, 11;
987 b, 29; 990, 21; 203, 6). Wiederholt wird hervorgehoben,
dafs sie die Ableitung der Welt aus diesem Prinzip gerade
so vornehmen, wie wenn dies ein physisches wäre (989 b,
35 ; 990, 15). Hierbei mufs jedoch festgehalten werden, dafs
sie trotz dieser gewaltsamen Umdeutung der Zahl ins Räum-
liche hartnäckig an dem Streben festhielten, bei ihrer Welt-
erklärung die Zahl selbst im ursprünglichen und eigent-
lichen Sinne, die arithmetische Zahl, zu Grunde zu legen
(1080 b, 16, 30; 1083 b, 13).
Über diese Ableitung der Welt, der Mannigfaltigkeit
der Stoffe und Dinge nun aus dem blofsen Raumprinzip
sind nur sehr dürftige Nachrichten vorhanden. „Aus der
Eins entstehen die Zahlen*' auch in der Fassung als Raum-
einheiten, — „die Zahlen aber sind die ganze Welt" (986,
20). Genauer spricht hierüber folgende Stelle: „Offenkundig
sagen sie, dafs, nachdem die Eins sich gebildet hatte, . . .
sofort die nächsten Teile des Unbegrenzten von der Grenze
angezogen und begrenzt wurden", und dafs sie eine Welt-
bildung geben und als Physiker reden wollten (1091, 14).
Einzelheiten über diese „Weltbildung", über die Ab-
leitung der konkreten Stofffe und ihrer Eigenschaften u. s. w.
aus dem Raumprinzip sind nicht bekannt. Bemerkenswert
ist hier nur noch die Angabe, das Vollkommenste sei nicht
am Anfang, wie auch bei Pflanze und Tier der Anfang zwar
die Ursache sei, der Vollkommenheitszustand aber erst
nachher eintrete (1072 b, 30). Damit haben sich die Pytha-
goreer zu einer Entwicklungs- oder Evolutionslehre bekannt.
Ein ganz hervorragendes Beispiel für die Ableitung der
Dinge aus den Zahlen bildet eine Andeutung über die
Seelenlehre der Pythagoreer. Nach Aristoteles (404, 26) er-
klärte ein Teil der Pythagoreer die Seele für einerlei mit
den Sonnenstäubchen, ein anderer Teil für das diese Be-
wegende. In dieser Angabe liegt ein starkes Zeugnis für
die Fassung der Eins als räumlich ausgedehnt. Die Sonnen-
stäubchen sind kleinste Stoffteilchen. Dies wird noch be-
sonders dadurch bestätigt, dafs diese Lehre für einerlei erklärt
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III. 5. Hauptsystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 157
wird mit der Demokrits, der die Seele ebenfalls aus
Sonnenstäubchen bestehen liefs und in diesen feinste Atome
erkannte. Dafs aber die Sonnenstäubchen für Bestandteile
gerade der Seele gehalten wurden, hat offenbar seinen
Grund in dem Scheine einer den Sonnenstäubchen bei-
wohnenden Eigenbewegung. Diese legten dann die Pytha-
goreer teils den Sonnenstäubchen selbst bei, als eine einem
Teile des Begrenzten anhaftende Eigenschaft, teils unter-
schieden sie das Bewegende als etwas Besonderes und
nannten dies Seele. Wie es unter solchen Voraussetzungen
bei ihnen mit dem Ordensglauben an die Unsterblichkeit
stand, erfahren wir nicht. Es wird sich an späterer Stelle
Gelegenheit bieten, auf diese Frage zurückzukommen.
Im übrigen besteht in bezug auf die Durchführung und
Anwendung ihrer Prinzipien zur Erklärung der Natur eine
empfindliche Lücke in unseren Nachrichten. Wir wissen
nicht, ob und eventuell wie sie Feuer, Wasser u. s. w.,
überhaupt alles Konkrete aus den Raumeinheiten ableiteten.
Lehrreich und vielfach der vorstehenden Auffassung als
weitere Bestätigung dienend sind nun aber ferner die kri-
tischen Bemerkungen, die Aristoteles den einzelnen Punkten
dieser Welterklärung widmet. Dafs sie nach ihm die Ge-
staltung der „ersten Eins" zur Raumgröfse nicht haben er-
klären können (1080 b, 13), ist schon bemerkt. Genauer
sagt er über diese Bildung der Eins: „mag sie aus Flächen,
oder aus der Farbe , oder aus Samen , oder aus etwas , das
sie nicht anzugeben vermögen*, versucht werden (1091, 15).
Hier bleibt zweifelhaft, ob die angegebenen Erklärungs-
versuche wirklich von den Pythagoreem stammen oder
ihnen nur von Aristoteles in den Mund gelegt werden;
jedenfalls sind sie uns nicht verständlich. Weiter erklärt
er, die Zusammensetzung der Körper aus Zahlen zu be-
haupten und dann doch wieder diese Zahlen als die Zahlen
im echten und eigentlichen Sinne nehmen zu wollen, sei
unmöglich (1083 b, 12). Sodann rügt er, dafs es dieser
Theorie an einer bewegenden Ursache, an einem Prinzip
des Werdens und der Gestaltung fehle (989 b, 31 ; 990, 8).
In der Tat bleibt sie in einer Art von unausgesprochenem
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158 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Hylopsychismus stecken, und zwar so, dafs in unklarer
Weise bald nach dem älteren System die Bewegung von
dem in die Welt einströmenden Leeren ausgeht, bald von
der das Unbegrenzte anziehenden „Grenze". Dafs er es
femer für unmöglich erklärt, von der blofsen räumlichen
Ausdehnung der Eins Schwere und Leichtigkeit (also über-
haupt die wirklichen Eigenschaften der Körper) abzuleiten
(990, 14), ist schon erwähnt. An anderer Stelle drückt er
dies folgendermafsen aus: „Von den Naturkörpem zeigt es
sich, dafs sie Schwere und Leichtigkeit haben, von den
Einsen hingegen ist es weder möglich, dafs sie einen Körper
ausmachen, noch auch, dafs sie Schwere haben" (300, 17).
Und indem er an anderer Stelle (1090, 32) nochmals diesen
Vorwurf wiederholt, kommt er zu dem spöttischen. Gesamt-
urteil über die ganze Theorie: „Sie scheinen von einer
anderen Welt und von anderen Körpern zu reden als von
den sinnenfälligen."
In dieser Kritik sind zwei Punkte von einschneidender
Bedeutung, indem sie aufs schärfste die Berechtigung zeigen,
diese Pythagoreer, wie oben geschehen, dem Welt- und
Naturleugner Parmenides an die Seite zu stellen: 1. Sie
haben weder ein wirkliches Stoffprinzip noch ein Prinzip
der Bewegung, können also in Wirklichkeit die tatsächlich
gegebene Welt nicht erklären. 2. Trotzdem nehmen sie
diese Aufgabe in Angriff und erheben den Anspruch, die
Welt erklären zu können.
Der ungelöste Zwiespalt zwischen dem Ausgangspunkte
und der realen Aufgabe, der bei Parmenides völlig unver-
hüllt in der Doppelheit seiner Lehre zutage trat, wird hier
verdeckt durch die scheinbare oder vermeintliche Einheit
des Systems, hinter der sich aber derselbe ungelöste Zwie-
spalt verbirgt. Sie vermögen Anfang und Ende nicht
zusammenzubringen.
Wir kommen zu der zweiten, der mehr spielen-
den Anwendung der Zahlen auf allerlei Einzelver-
hältnisse des Seienden. Nach einer bereits früher ange-
führten Bemerkung (1078 b, 21) scheint dies sogar die
ursprüngliche gewesen zu sein, von der sie erst allmählich
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III. 5. HauptBystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 159
ZU dem kühnen Unterfangen, die Zahl für den Weltstoflf zu
erklären, vordrangen. Auf diese Einzelversuche scheinen
sich einige Ausdrücke zu beziehen, die Aristoteles anwendet,
um ihre Auffassung des Verhältnisses der Zahlen zum
Seienden zu bezeichnen. Er sagt, sie hätten in den Zahlen
„viele Ähnlichkeiten mit dem Seienden und Geschehen-
den zu erblicken geglaubt"; sie hätten „Übereinstim-
mungen in den Zahlen und Tonleitern mit den Eigen-
schaften und Teilen der Welt" aufzuzeigen gewufst (985 b,
27 flf.). Auch das scheint hierher zu gehören, dafs nach
den Pythagoreem das Seiende durch Nachahmung der
Zahlen bestehe (987 b, 11). Wenigstens passen alle diese
Ausdrücke weniger auf die vorstehende Lehre von der
Wesenseinheit mit den Dingen als auf solche Einzelanwen-
dungen.
Das Grundbeispiel nun für diese Denkrichtung ist die
Tonleiter, deren einzelne Intervalle sich ja, wie schon bei
der Sphärenharmonie ausgeführt, auf Zahlen Verhältnisse
zurückführen lassen. Bei der Tonleiter war das Verhältnis
zu den Zahlen so gesichert, dafs diese selbst geradezu wieder
als Erklärungsprinzip angewendet werden konnte, wie
Aristoteles mehrfach hervorhebt (z. B. 985 b , 32 ff.), und
wie das Beispiel der Sphärenharmonie zeigt.
Als fernere Beispiele führt Aristoteles an: Gerechtig-
keit, Seele, Vernunft, „rechte Zeit", Ehe (985 b, 30; 1078 b,
21). Wie sie diese Begriffe auf Zahlen zurückführten, sagt
er nicht. Bei einem späteren Erklärer dieser Stellen
(Alexander von Aphrodisias um 200 nach Chr.)
findet sich die Angabe, dafs sie die Gerechtigkeit durch
eine der ersten Quadratzahlen, durch die Vier, oder noch
lieber durch die Neun, weil diese das Quadrat der ersten
männlichen, d. h. ungeraden, also bevorzugten Zahl der
Drei, sei, ausgedrückt hätten. Dazu dient als Erläuterung
die Angabe bei Aristoteles selbst (1132 b, 21 cf. 1194, 28),
dafs sie unter der Gerechtigkeit die genaue Wiedervergeltung,
das „Auge um Auge, Zahn um Zahn**, verstanden hätten. Sie
fanden also diese Ausgleichung eines Tuns durch das Er-
leiden eines genau Gleichen in der Multiplikation einer
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160 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
Zahl mit sich selbst ausgedrückt. Nach demselben Erklärer
hätten sie die Vernunft durch die Eins, die Meinung durch
die Zwei ausgedrückt (zu Grunde liegt der ungleiche Wert
des Ungeraden und Geraden), die Ehe durch die Fünf, weil
diese *die Verbindung der ersten männlichen Zahl (3) mit
der ersten weiblichen (2) sei. Weitere Angaben über diese
Art des Gebrauchs der Zahlen, die aber vielleicht erst Er-
findung der späteren Neupythagoreer sind, bei S t o bäus 1. 21.
Das Haupt- und Prachtstück dieser Art der Zahlen-
erklärung aber war ihre Lehre vom Weltgebäude, die,
gänzlich verschieden von der der Sphärenharmonie, ganz
überwiegend durch die Tendenz beherrscht war, im Welt-
ganzen die vollkommenste Zahl, die Zehnzahl, ausgedrückt
zu finden. Als Grund für diese Vollkommenheit der Zehn-
zahl gibt Aristoteles (986, 8) nur an, sie umfasse „die ganze
Natur der Zahlen". Dies deutet wohl darauf hin, dafs nach
dem Dezimalsystem, das also den Pythagoreern bekannt
war, mit der Zehn das ganze Zahlensystem als immer neue
Wiederholung der zehn ersten Zahlen auf einer höheren
Stufe gegeben sei. Ob auch schon die alten Pythagoreer
aus demselben Grunde die Vierzahl hochhielten, weil näm-
lich Zehn die Summe der vier ersten Zahlen ist, ist un-
bekannt. In einem neupythagoreischen Lehrgedicht des
letzten vorchristlichen Jahrhunderts , dem sogenannten
„Goldenen Gedicht**, findet sich sogar der Schwur bei
Pythagoras als demjenigen, der sie die Vierzahl (die tetrak-
tys) gelehrt habe, in der die Quelle und Wurzel der ewigen
Natur liege.
Über diese neue Lehre vom Weltgebäude sagt nun
Aristoteles da, wo er dieses System summarisch charakteri-
siert (986, 8 ff.), nur, sie hätten, weil es notwendig zehn
bewegliche Himmelskörper geben müsse, tatsächlich aber
deren nur neun bekannt seien, als zehnten die Gegenerde
hinzugedichtet. Er findet dies also in Einklang mit ihrem
allgemeinen Verfahren bei diesen Bestrebungen, das er
einige Zeilen vorher folgendermafsen schildert: „Wenn
irgendwo eine Lücke blieb, so erbettelten sie sich noch
etwas, um in ihre Untersuchung Einklang zu bringen.**
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m. 5. Hauptsystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 161
Genauere Angaben über dies Weltsystem macht Aristo-
teles in der Schrift vom Weltall (293, 34 flf.). In die Mitte
der Welt setzten sie ein Feuer. Dies ist das wichtigste
und wertvollste Stück des gesamten Weltbaues. Es mufs
daher auch den ausgezeichnetsten und gesichertsten Platz
in der Welt einnehmen. Diesen Weltmittelpunkt nannten
sie auch „die Wache des Zeus" (d. h. offenbar den Punkt,
wo die weltgestaltende Macht ihren Hauptsitz hat). Mit
dieser Schätzung der Weltmitte hängt zusammen die An-
nahme einer rechten und linken Seite der Welt (284 b, 6),
und zwar in der Weise, dafs- der der Weltmitte zugewandte
Teil der Welt als der rechte (d. h. der bevorzugte) galt
(Simplic. 171 b, 7; 176 b, 31). um dieses Zentralfeuer
nun liefsen sie zehn Himmelskörper oder Sphären kreisen:
die Gegenerde, die Erde — die hier im Zusammenhange
dieses phantastischen Denkens zum erstenmal ihres Platzes
in der Mitte der Welt beraubt und unter die Wandelsterne
versetzt wird — , die sieben Planeten einschliefslich Sonne
und Mond und die Fixsternsphäre. Dafs weder dies Zentral-
feuer noch die Gegenerde jemals von uns gesehen wird,
dafür gibt Aristoteles in seiner überaus kurzen Darstellung
keinen Grund an. Doch erklärt sich dies leicht dadurch,
dafs sie nur den von der Weltmitte abgewandten Teil der
Erde, der während des ganzen Kreislaufs dem Weltumfange
zugekehrt bleibt, für bewohnt hielten. Diesen Teil der Erde
nannten sie nämlich den oberen oder den rechten (285 b, 25),
letzteres offenbar deshalb, weil er als der bewohnte ihnen
als der voUkommnere und bevorzugte galt.
Diese fragmentarischen Angaben des Aristoteles finden
einige Ergänzungen an den erhaltenen Bruchstücken des
angeblichen Philolaos, deren einige offenbar richtige An-
gaben über dies Weltsystem enthalten. Diese sind zwar hier
in abgeschmackter und kopfloser Weise mit Zügen anderer
Weltvorstellungen zu einem unvorstellbaren Chaos ver-
mengt, doch ist es möglich, nach innerer Zugehörigkeit das
Hierhergehörige aus diesem ürbrei auszuscheiden.
Auch „Philolaos" bekennt sich zur Lehre vom Zentral-
feuer (D. 336 f. ; 377). Er nennt die Mitte der Welt den
DOriog. I. 11
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162 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
wichtigsten Teil derselben, weil sie die Ursprungsstatte der
Welt sei (Stob. I. 148), und sagt: „Die zuerst gefügte Eins
in der Mitte der Welt wird Herd genannt" (Stob. I. -189).
Hier wird sogar dieser „Weltherd" mit der „ersten Eins"
als einerlei gesetzt, was schwerlich der Lehre der alten
Pythagoreer entspricht, wenngleich auch diese gewifs das
Zentralfeuer als den zuerst entstandenen Teil der Welt be-
trachtet und also wohl auch die „erste Eins" als den ersten
Ansatz zum Zentralfeuer angesehen haben mögen. Der
ungeheure Sprung von der stofFlosen Ausdehnung zum
stoflFlichen Feuer darf dabei nach dem früher Ausgeführten
nicht befremden.
„Philolaos" führt femer für das Zentralfeuer eine Anzahl
Benennungen an, die ebenfalls möglicherweise altpythago-
reisch sind: Herd des All, Haus des Zeus, Mutter der
Götter, Altar, Halt und Mafs der Natur (D. 336 f.).
Von ganz besonderer Wichtigkeit ist aber ein Bruch-
stück, in dem die Beschaffenheit der Sonne berichtet wird
(D. 349 f.). Die Sonne ist glasartig und wirkt als Spiegel,
indem sie das Licht des Zentralfeuers uns zuwirft. Sie ist
im Verhältnis zu dieser uns unsichtbaren Zentralsonne nur
ein in erborgtem Lichte leuchtender gröfserer Mond. Leider
hat der Fälscher hier, wie auch schon im weiteren Verlaufe
des vorigen Bruchstückes, die Vorstellung vom Zentralfeuer
als der einzigen Licht- und Feuerquelle der Welt mit einer
anderen Vorstellung stumpf und sinnlos zusammengearbeitet,
nach der es auch noch im äufseren Umkreise der Welt eine
zweite Licht- und Wärmequelle gibt, und von der sich auch
schon bei Aristoteles (293, 32) eine schwache Spur findet.
Infolgedessen bringt er in unserem Bruchstück neben solchen
Wendungen, nach denen die Sonne ein Spiegel ist, der das
Licht des Zentralfeuers der ihr zugewandten bewohnten
Seite der Erde zuwirft, solche völlig irreleitende Ausdrücke,
nach denen sie wie eine Sammellinse oder ein durchsichtiger
Glaskörper „das Feuer in der Welt" der Erde zuwirft. Be-
stätigt wird diese Vorstellung von der Sonne als einem
Spiegel auch noch durch die den Pythagoreem zugeschriebene
— übrigens nicht auf Philolaos zurückgeführte — Erklärung
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nL 5. Haaptsystem des wissenschi^lichen Pythagoreismus. 163
der Müchstrafse (D. 364 f.). Die Milchstrafse ist die Wir-
kuDg des von der Sonne zurückgeworfenen Lichtes, das auf
den die Welt umgebenden Fixstemhimmel fallt. Dies ist
so zu verstehen, dafs wir dann, wwn die Erde auf ihrer
Bahn um das Zentralfeuer von der Sonne al^ekommen ist,
also Nacht hat, wenigstens den Widerschein des von der
Sonne zurückgeworfenen Lichtes an dem uns zugewandten
Teile des Fixsterngewölbes wahrnehmen.
Es wird nämlich nach dieser Lehre durch die Planeten-
bahn der Erde der Wechsel von Tag und Nacht bewirkt
Sie haben angenommen, dafs die Erde ihre Bahn in 24
Stunden vollendet, während die Sonne zu der ihrigen ein
volles Jahr gebraucht. So kommt es, dafs die Erde in
ihrem Tageslaufe immer nur einen Teil der Zeit auf der-
jenigen Seite der Welt verweilt, wo sich auf ihrem Um-
schwünge gerade die Sonne befindet. Sie mochten von
dieser Voraussetzung aus sogar im stände sein, den Wechsel
der Tageslänge und die Jahreszeiten zu erklären.
Dafs auch der Mond als ein das Licht des Zentral-
feuers zurückwerfender Spiegel betrachtet wurde, beweist
das — vielleicht sogar auf Theophrast zurückgehende —
Zeugnis, dafs nach „Pythagoras** auch der Mond spiegel-
artig sei (D. 357). Sehr viel Aufschlufs über die ganze
Beschaffenheit dieses Weltbildes gewährt eine andere, aus
»Philolaos" stammende Angabe über den Mond (D. 361).
Nach dieser ist der Mond erdähnlich und bewohnt, wodurch
sich das sogenannte Gesicht im Monde erklären sollte. Aber
die Tiere und Pflanzen sind dort gröfser und schöner als
auf der Erde, die Tiere fünfzehnmal so grofs als bei uns.
Der Tag dauert fünfzehnmal so lange als bei uns. Diese
letzte Angabe ist sehr lehrreich. Offenbar liefsen sie auch
den Mond, wie sämtliche bewegliche Himmelskörper, um
das Zentralfeuer kreisen, und zwar diesen, entsprechend
seinen in 29 Va Tagen sich vollendenden Wandlungen, in
30 Tagen. Infolgedessen hat er auf seiner der Sonne und
dem Umfange der Welt zugewandten Seite fünfzehn Tage
Tag und fünfzehn Tage Nacht, woraus sie dann weiter die
entsprechende Gröfse und Vollkommenheit der Organismen
11*
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164 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bnich mit dem Hjlopsychismus.
auf ihm folgerten. Eine gewisse Unklarheit liegt nur darin,
dafs sie aus dieser Beschaffenheit des Mondes auch das
Gesicht im Monde ei:klären wollten, da doch dies der uns
zugewandten, beständig vom Zentralfeuer beleuchteten, nach
der Analogie der Erde nicht als bewohnt zu denkenden Seite
des Mondes angehört. Doch ist dies wohl nur eine Gedanken-
losigkeit dieses Schriftstellers. Nach einem anderen Bericht,
der zu dieser ganzen Vorstellung besser pafst, hätten manche
Pythagoreer das Gesicht im Monde als Widerspiegelung
eines Teils der Erdoberfläche betrachtet (D. 361). Dagegen
fehlt ganz eine Angabe, wie sie die Mondphasen erklärten,
während für die Mondfinstemisse eine sogar auf der Schrift
des Aristoteles über die Pythagoreer und auf dem Zeugnis
des Platoschülers Philipp von Opus beruhende Nach-
richt vorhanden ist. Nach dieser (D. 360) erklärten sie die
Verfinsterungen des Mondes durch das Zwischentreten teils
der Erde, teils der Gegenerde zwischen Mond und Zentral-
feuer.
Nach diesen Angaben, besonders nach denen über den
Mond, können wir uns das ganze Weltsystem dieser Pytha-
goreer, wenigstens den Hauptzügen nach, rekonstruieren.
In der Mitte der Welt befindet sich das Zentralfeuer, die
Quelle alles Lichtes und aller Wärme in der Welt. Diese
Weltmitte ist jetzt nicht mehr, wie bei der Theorie der
Sphärenharmonie, der unvollkommenste und elendeste, sie ist
der wertvollste und vollkommenste, der „rechte" Teil der
Welt. Um das Zentralfeuer kreist mit dem geringsten
Abstände von ihm die Gegenerde, auf ihrer unteren, dem
Zentralfeuer zugewandten Seite fortwährend von diesem
bestrahlt, auf der oberen, dem Weltumfang zugewandten
Seite im Verlaufe seiner Bahn abwechselnd von der unteren,
mutmafslich auch spiegelartig gedachten Seite der Erde,
vom Monde, der Sonne, den Planeten und dem Fixstem-
himmel beleuchtet. Da sie ausdrücklich als Gegenstück der
Erde bezeichnet wird, haben sie gewifs auch sie als auf
ihrer dem Fixstemhimmel zugekehrten Seite bewohnt ge-
dacht, vielleicht auch ähnlich wie beim Monde über die
Beschaifenheit der Organismen auf ihr spekuliert. Ent-
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m. 5. Hauptsystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 165
sprechend der Kürze ihres Abstandes müssen sie auch ihren
Kreislauf kürzer dauernd gedacht haben als den der Erde.
Soweit also Tag und Nacht von dem der Sonne zurück-
gestrahlten Lichte abhängig sind, murste beides dort erheblich
kurzer angenommen werden als auf der Erde, doch mochten
sie dagegen die untere Seite der Erde als leuchtenden
Körper für' die Gegenerde in Anschlag bringen.
Die Erde ist ebenfalls auf ihrer unteren, der Weltmitte
zugewandten Seite ewig vom Zentralfeuer bestrahlt. Ihre
nach aufsen gewandte, bewohnte Seite empfängt ihr Licht
nach Mafsgabe des 24stündigen Umlaufs abwechselnd vom
Monde nebst Planeten und Fixsternen und der Sonne. Wes-
halb wir die innere Seite der Welt niemals zu Gesichte be-
kommen, wird von „Philolaos" (D. 377) ausdrücklich an-
gemerkt.
Der Mond vollendet seine Bahn um das Zentralfeuer,
entsprechend seinem gröfseren Abstände, in 30 Tagen. Seine
untere, uns zugekehrte Seite ist ewig vom Zentralfeuer be-
strahlt. Wie sie dabei die Mondphasen erklärten, ist un-
bekannt. Sie wird zwar als spiegelartig bezeichnet, wurde
aber, entsprechend dem schwächeren Lichte, mehr nach Art
der Erde nur unvollkommen spiegelnd gedacht. Verfinstert
wird sie durch das Vortreten teils der Erde, teils der
Gegenerde. Seine dem Weltumfang zugekehrte, von uns
abgewandte Seite hat, gemäfs dem Wechsel zwischen An-
näherung an die für ihre längere Kreisbahn einen längeren
Zeitraum gebrauchende Sonne und der Abkehr von der-
selben, 15 Tage Tag und 15 Tage Nacht. Damit steht im
Einklang die Beschaffenheit ihrer Organismen.
Die Sonne kreist im Laufe eines Jahres um das Zentral-
feuer. Ihre der Weltmitte zugekehrte Seite ist ein glatter,
polierter Spiegel, der deshalb Licht und Wärme des Zentral-
feuers mit gröfster Vollkommenheit zurückstrahlt. Sogar in der
Nacht, wenn die Erde auf ihrem täglichen Kreislaufe sich von
ihr entfernt hat, nehmen wir den Reflex dieser bestrahlten
Hälfte der Sonnenoberfläche am Fixsterngewölbe als Milch-
strafse wahr. Die Sonnenfinsternisse erklärten sie nach einer
vielleicht auf Theophrast zurückgehenden Nachricht (D. 354)
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166 Erste Periode. Zweiter Abschnitt ßruch mit dem Hylopsychismas.
durch das Dazwischentreten des Mondes zwischen die Sonne
und die zentrale Lichtquelle. Freilich hätten sie auch bei
der Sonne wie beim Monde Verfinsterungen durch den Vor-
tritt der Erde und Gegenerde annehmen mOssen. Wie sie
sich die dem Weltumkreis zugewandte Seite der Sonne ge-
dacht haben, wird nicht tiberliefert. Jedenfalls konnte die-
selbe nur das reflektierte Licht der vom Zentralfeuer noch
weiter abliegenden Planeten und des Fixsternhimmels em-
pfangen. Ob sie sich daher diese Seite der Sonne bewohnt
gedacht haben, ist zweifelhaft, da sie hier bei der gröfseren
Entfernung von der Weltmitte und dem alleinigen An-
gewiesensein auf die Reflexe der vom Zentralfeuer ent-
fernteren Planeten nur eine kümmerliche Licht- und Wärme-
entwicklung annehmen konnten. Doch gilt vielleicht, was-
nachher ttber die Planeten zu berichten ist, auch für die
Sonne.
Über die Umlaufszeiten der fttnf übrigen Planeten wird
nichts berichtet, doch werden sie dieselben, entsprechend
den stets wachsenden Abständen vom Zentralfeuer, fort-
schreitend länger angesetzt haben. Die Erde braucht 24
Stunden, der Mond 30 Tage, die Sonne ein Jahr, und so-
werden sie weitergerechnet haben. Es mufs hier noch auf
einen weiteren grofsen Gegensatz gegen das System der
Sphärenharmonie aufmerksam gemacht werden. Bei dieser
wurde nach dem ausdrücklichen Zeugnis des SimpUcius
die Umlaufszeit sämtlicher Planeten um die Erde = 24
Stunden gesetzt. Dadurch wurde erreicht, dafs mit dem
Wachsen der Abstände von der Erde die Geschwindigkeiten
sehr verschieden angenommen werden konnten. Es mufsten
eben die himmlischen Körper sehr ungleiche Bahnen in der
gleichen Zeitdauer zurücklegen. Diese Verschiedenheit der
Geschwindigkeiten war für dies System notwendig, um die
Hervorbringung der verschiedenen Töne der Tonleiter glaub-
lich zu machen. Jetzt aber, beim Umlauf um das Zentral-
feuer, werden auf Grund sicherer Beobachtungen wenigstens
hinsichtlich der Erde, des Mondes und der Sonne die Um-
laufszeiten verschieden gesetzt; es war also kein Grund
mehr vorhanden, auch die Geschwindigkeiten verschieden zu
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m. 5. Hauptsystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 167
setzen. Wie es scheint, werden jetzt die sehr ungleichen
Bahnen bei gleicher Geschwindigkeit in sehr ungleichen
Umlaufszeiten zurückgelegt.
Über die sonstige Beschaffenheit dieser Planeten im
engeren Sinne findet sich noch eine Angabe (D. 343, 624).
Der Ausdruck ist nicht ganz klar, doch ist der Sinn un-
zweifelhaft der, dafs die Pythagoreer jedes der Gestirne für
eine Welt gleich der Erde, umgeben von Luft, gehalten
h&tten. Danach hätten sie also die Analogie des Mondes
mit der Erde auch auf diese fünf Himmelskörper erstreckt.
Wollten wir diese Analogie ins einzelne verfolgen, so müfsten
wir annehmen, dafs auch bei diesen Körpern die dem Um-
fang zugekehrte Seite bewohnt gedacht worden sei, er-
leuchtet und erwärmt von dem Reflex des Zentralfeuers auf
der unteren Seite der nächstferneren Körper. Doch ist es
beim Fehlen weiterer Nachrichten müfsig, diese Analogie
weiter zu verfolgen. Vielleicht haben sie sich diese Ver-
hältnisse ganz anders, vielleicht überhaupt nicht im einzelnen
ausgemalt.
Die zehnte Sphäre ist die Fixsternsphäre, deren Körper
natürlich ihr Licht ebenfalls vom Zentralfeuer empfangen.
Ob sie auch diese bewegt dachten, ist unbekannt. Wenn
dies der Fall war, mufsten sie ihr bei dem grofsen Abstände
von der Weltmitte auch bei gleicher Geschwindigkeit mit
den neun übrigen Körpern oder Sphären eine sehr lang-
dauernde Umlaufszeit zuschreiben. Doch lag in dem ihre
Weltvorstellung beherrschenden Prinzip, der Zehnzahl der
Sphären, kein Grund, ihnen allen eine Bewegung beizu-
legen. Es kam nur darauf an, dafs die Zehnzahl nach-
gewiesen wurde.
Es ist nicht wahrscheinlich, dafs bei diesem neuen
Weltsystem das Tönen der Himmelskörper beibehalten wurde.
Dazu ist der Unterschied zu einschneidend. Zunächst ist
das die dichtende Einbildungskraft leitende Interesse ein
ganz anderes geworden. Es handelt sich darum, die Zehn-
zah] als die »Zahl der Welt** nachzuweisen, sowie um den
Gedanken der Weltmitte, die früher als die Stätte der Un-
vollkommenheit gegolten hatte, als des bedeutsamsten und
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168 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
bevorzugtesten Teils der Welt. Ferner hatte sich die Zahl
der beweglichen Himmelskörper auf mindestens neun ver-
mehrt, und es hätte folgerichtig auch der Erde und Gegen-
erde ein Ton beigelegt werden müssen. Endlich aber war,
wie schon bemerkt — und das ist das Entscheidende — ,
der eigentliche Grund für die Verschiedenheit der Töne, die
Verschiedenheit der Umlaufs ge seh windigkeiten, in
Wegfall gekommen und durch die Verschiedenheit der Um-
laufszeiten ersetzt worden. In der Tat findet sich auch
aufser der Schrift des Aristoteles vom Himmel und deren
Erklärer Simplcius nur an ganz wenigen Stellen (Cic. Samr.
Scip. Hippel. D. 55) die Sphärenharmonie erwähnt, und
selbst in den erhaltenen Bruchstücken des falschen Philolaos,
der doch sonst ein Meister im Zusammenarbeiten des Nicht-
zusammenstimmenden ist, und der ausführlich von der Ton-
leiter und dem Bau der Welt handelt, zeigt sich keine Spur
derselben. Erst noch Spätere scheinen diese Lehre wieder
aufgefrischt und mit den veränderten Weltvorstellungen in
Einklang gebracht zu haben.
Wohl aber haben sie mit diesem dekadischen Weltbilde
die Bezeichnung der Begriffe durch Zahlen, von der oben
die Rede war, in Verbindung gebracht. Die zehn konzen-
trischen Weltsphären konnten durch die Zahlen von eins
bis zehn bezeichnet worden, und da lag es nahe, diejenigen
Begriffe, die durch die gleiche Zahl bezeichnet wurden, in
die entsprechende Weltsphäre zu verlegen. In der Tat be-
richtet denn auch Aristoteles, dafs sie Meinung, rechte Zeit,
Ungerechtigkeit, Scheidung und Mischung eben wegen dieser
zahlenmäfsigen Übereinstimmung an bestimmte Teile des
Weltgebäudes verlegt hätten (990, 23). Nähere Angaben
macht er darüber nicht. Vermuten läfst sich, dafs z. B.
die Meinung, der die Zahl 2 entspricht, der Erdregion zu-
gewiesen wurde.
Dieses phantastische Weltbild des Hauptsystems hat zu-
erst den kühnen Gedanken gefafst, die Erde aus ihrer Ruhe-
lage in der Mitte der Welt zu entfernen und als Planeten
in Umlauf zu setzen. Es hat femer den Ausgangspunkt
gebildet für mehrere sehr merkwürdige Verbesserungsver-
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III. 5. Hauptsystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 169
suche. Nach einer von Cicero (Aead. II. 123) unter Be-
rufung auf Theophrast überlieferten Angabe liefs der
Pythagoreer Hiketas von Syrakus sämtliche Himmelskörper
stillstehen und nur die Erde sich um ihre Achse drehen.
Wie dadurch die Himmelserscheinungen erklärt werden
konnten, ist schwer zu begreifen; noch unbegreiflicher aber
ist die Angabe, er habe auch die Lehre von der Gegenerde
aufrechterhalten (D. 376). Andere Nachrichten schreiben
die Achsendrehung der Erde dem Pythagoreer Ekphantos,
ebenfalls aus Syrakus, zu. Derselbe wird auch sonst als
Umgestalter der pythagoreischen Naturlehre angeführt. An
Stelle der begrenzten Raumatome soll er — offenbar unter
dem Einflüsse des leukippisch-demokritischen Atomismus —
körperlich ausgedehnte Atome, wirkliche Körper gesetzt
haben. Doch habe er die Entstehung der Welt aus den-
selben nicht dem Zufall, sondern einer in der Welt wirk-
samen göttlichen Zwecktätigkeit zugeschrieben und dem-
entsprechend statt der Vielheit der Welten nur eine Welt
behauptet (D. 286, 566, 327, 330, 378; Gas. praep. er. XV.
58). Wesentlich dieselben Lehren wie dem Ekphantos
werden auch dem Heraklides aus Pontes beigelegt.
Dieser war geboren um 395 (Z. IL 1 , 842). Er war ein
Schüler Piatos, der aber vorher mit den Pythagoreern in
Verbindung gestanden hatte (D. L. V. 86; Z. 843, 1). Er
war ein geistvoller, aber höchst phantastischer Denker, dem
unter anderem die Behauptung beigelegt wird, es sei einmal
ein Mensch aus dem Monde (den er also bewohnt dachte)
herabgefallen (D. L. VIII. 72). Auch er soll die Atomen-
lehre, und zwar wesentlich mit denselben Veränderungen
wie Ekphantos, vertreten haben (D. 252, 541). Ebenso die
Achsendrehung der Erde als alleinige Bewegung unter den
Himmelskörpern (D. 378; Simpl. zu de coelo 444, 519, 541).
Es besteht die Vermutung, dafs die beiden Pythagoreer aus
Syrakus, Hiketas und Ekphantos, über deren persönliche
Verhältnisse sonst so gar nichts verlautet, weiter nichts waren
als Figuren in einem Dialog des Heraklides, in dem er
zwei Nuancen einer neuen Weltauffassung sich auseinander-
setzen liefs, und die später nur mifsverständlich als geschicht-
Digiti
zedby Google
170 Srste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsjchismas.
liehe Personen gefafst wurden. In diesem Falle hätte er
dann den Ekphantos mutmafslich zum Träger seiner eigenen
Ansicht gemacht
Noch viel merkwürdiger ist aber eine andere Umge-
staltung der Zentralfeuerlehre, die freilich erst bedeutend
später auftrat. Nach D. 345 haben „einige der Mathema-
tiker" (d. h. der Astronomen von Fach) die Sonne in den
Mittelpunkt der Welt gesetzt. Nach Plutarch (fac. lun. 6;
Qu. plat. 8; D. 355) war der erste Vertreter dieser Lehre
Aristarch von Samos (um 280 vor Chr.), der „Koper-
nikus des Altertums", der die Sonne als Fixstern bezeichnete
und die Erde um dieselbe kreisen liefs. Mutmafslich setzte
Aristarch die Sonne an Stelle des Zentralfeuers. Seine
Lehre wurde später (um 150 vor Chr.) durch Seleukos
von Seleucia, den „Galilei des Altertums", durch wissen-
schaftliche Gründe gestützt (Plut. Qu. plat. 8), konnte jedoch
gegenüber der überwältigenden Autorität eines Aristo-
teles im Altertum nicht durchdringen.
Wie nun diese Pythagoreer bei diesem phantastischen,
aber doch der Grundrichtung nach ganz naturwissenschaft-
lich gedachten Systeme sich zum Götter- und Seelenglauben
gestellt haben, darüber fehlt es ganz an sicheren Nach-
richten. Die hohlen Tiraden des falschen Philolaos, der dem
Pythagoreismus einen weltbildenden Gott andichtet und in
gespreizten Phrasen die geheimen Kräfte der Zahlen ver-
herrlicht, können als Zeugnis hierfür nicht in Betracht
kommen. Ein merkwürdiges Zeugnis über eine angeblich
von ihnen aufgestellte Lehre vom höchsten Gut, aus der
sich wenigstens über ihre Stellung zur Lehre von der
Seelen Wanderung und Seelenerlösung etwas vermuten läfst,
findet sich in einem alten Verzeichnis der „Lebensziele"
verschiedener Philosophen und Schulen bei Clemens von
Alexandria, aus dem auch die betreffende Nachricht
über Heraklit stammt. Wenn wir den verdorbenen Text
dieser Angabe aus Theodoret, einem Kirchenschriftsteller
des 5. Jahrhunderts, der aus Clemens geschöpft hat, be-
richtigen, so setzte „Pythagoras" das „Lebensziel" in die
„Erkenntnis der Vollkommenheit der Zahlen" oder, wie
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lU. 5. Hauptsystem des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 171
Theodore! verflachend angibt, in „die vollkommenste Er-
kenntnis der Zahlen". Als Gewährsmann führt Clemens
Heraklides Ponticus an. Vielleicht kam auch diese
Angabe, wie die über Pythagoras als den Schöpfer des Aus-
dmeks „Philosoph" in dessen Schrift „Über die Scheintote"
vor. Doch hatte er auch eine eigene Schrift über die
Pythagoreer verfafst (D. L. V. 88).
Selbstverständlich wird hier auch diesen alten Denkern^
wie dem Heraklit, in durchaus ungeschichtlieher Weise das
Bestreben beigelegt, in der Kernfrage der späteren, eigent-
lichen Philosophie, der Frage nach dem höchsten Lebens-
wert, eine in einer festen Formel niedergelegte Entscheidung
zu treffen. Dieser ganze Gedankenkreis lag ihnen unzweifel-
haft noch völlig fem.
Es bleibt aber nach Beseitigung dieser entstellenden
Verhüllung als geschichtlicher Kern ein bemerkenswertes
Zeugnis über die Gesinnung und Lebensauffassung dieser
inssenschaftlichen Pythagoreer übrig. Es mochten sich
mündliche Äufserungen ihrer Überzeugung, die ihre Lehr-
tätigkeit durchzogen, durch Überlieferung erhalten haben
und vielleicht später auch schriftlich fixiert worden sein^
nach denen sie in der begeisterten Durchforschung der Welt
an der Hand ihres Zahlenprinzips persönlich die höchste
Befriedigung, eine wahre Seligkeit empfanden. Indem ihnen
alle Erscheinungen des Natur- und des Geisteslebens immer
neue Bestätigungen für die vermeintliche Erkenntnis lieferten^
dafs in der Zahl der wahre Schlüssel für alle Geheimnisse
der Natur und der sittlichen Welt in die Hand gegeben sei,,
berauschten sie sich in dieser ins Endlose fortschreitenden
Erkenntnis der ,^ Vollkommenheit der Zahlen" und fanden
in diesem Phantasiedenken individuell ihr höchstes Lebens-
glfick.
Ziehen wir nun aber weiterhin das Besondere dieser
Formulierung, die Bezugnahme auf die Zahl, von ihr ab,
so erübrigt ein Zeugnis für eine Weise der höchsten Lebens-
befriedigung, die von allgemeingültiger Bedeutung für alle
Zeiten ist, wenigstens für den kleinen, aber in der Kultur-
welt sich immer neu rekrutierenden Kreis der Forscher und
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172 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
Denker von Gottes Gnaden. Ihnen ist das schöpferische
Forschen und Denken selbst, wie es von Erfolg zu Erfolg,
von Einsicht zu Einsicht fortschreitet, wie die höchste
Lebensbetätigung, so auch die höchste Lebensbefriedigung.
Was diese alten Pythagoreer für sich bezeugten, das hätte
mutmafslich auch in unserem Jahrhundert noch ein Alexander
von Humboldt oder Helmholtz für sich bezeugen können.
Es liegt aber femer in dieser Formel auch noch ein
Zeugnis für die Stellungnahme dieser wissenschaftlichen
Pythagoreer zu dem ursprünglichen beherrschenden Interesse
der pythagoreischen Ordenslehre. Die Rettung der Seele
aus den Banden der Körperlichkeit war offenbar für sie
nicht mehr die oberste, beherrschende Angelegenheit. Viel-
leicht blickten sie mit einem überlegenen oder mitleidigen
Lächeln von der Höhe ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung
aus auf diesen alten Aberglauben herab, mit dem sie längst
gebrochen hatten , der sie wenigstens nicht mehr ängstigte ;
vielleicht liefsen sie diese alten Probleme dies Ordensfana-
tismus achselzuckend kühl und unbeachtet im Winkel stehen.
Wir werden bald auf ähnliche Erscheinungen aus einer nur
wenig jüngeren Zeit treffen; danach kann dies nicht un-
glaublich erscheinen. Eine gewisse Bestätigung erhält sie
dadurch, dafs der Musikforscher Aristoxenos, wie es
scheint, auf das ausdrückliche Zeugnis der „letzten Pytha-
goreer" hin (Gell. N. A. IV. 11), deren Schüler er gewesen
war, sogar Pythagoras selbst von den auf der Seelen-
wanderung beruhenden Speiseverboten zu entlasten bemüht
ist. Er habe als Nahrungsmittel nur den Pflugstier und
den Widder, also zwei besonders nützliche Haustiere, ver-
boten (D. L. VIII. 20; Athen. X. 418), habe sich durchaus
nicht der Bohnen enthalten, im Gegenteil diese als ein be-
sonders gesundes Gemüse allen anderen vorgezogen, habe
Ferkel und junge Böcklein wohl zu schätzen gewufst (Gell,
obige Stelle). Wir erkennen hier deutlich die pythagoreischen
Freidenker, bei denen der wissenschaftliche Geist und das
wissenschaftliche Interesse den alten Wust längst hinweg-
gefegt haben, und die nun auch auf dem alten Meister selbst
derartige Lächerlichkeiten nicht sitzen lassen wollen. Es
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in. 6. Zeno von Elea. 173
hängen aber diese .Speiseverbote , wie wir gesehen haben,
aufs engste mit der Seelenwanderungslehre zusammen. Da-
her ist die Freigeisterei in bezug auf jene ein deutlicher
Beweis der freien Stellung auch in bezug auf diese. War
aber einmal das leitende Interesse des Ordens geschwunden,
so ist es nicht zu verwundem, dafs in diesen Forscherkreisen
eine Lebensanschauung wie die von Clemens bezeichnete
Platz griff. Es ist unbedingt berechtigt, sie den „letzten
Pythagoreem" zuzusprechen; vielleicht aber hatte sie auch
schon vorher bei den Vertretern des pythagoreischen Haupt-
systems Platz gegriflFen.
6. Die Verteidlfirung: der eleatischen Theorie, ins-
besondere auch gegen das pythagroreische Haupt-
system. Zeno von Elea. (Um 470.)
Zeno von Elea ist Schüler des Parmenides. Er
verteidigte nach dem Zeugnisse Pia tos in seiner Haupt-
schrift die Lehre des Parmenides durch ein indirektes Ver-
fahren, indem er zeigte, dafs aus der gewöhnlichen Ansicht
der Dinge sich noch viel ungereimtere Folgerungen ergäben
als aus den paradoxen Behauptungen seines Lehrers (Pannen.
128 C). Plato läfst ihn gleichzeitig mit Parmenides als
Vierzigjährigen mit dem jungen Sokrates zusammentreflFen
(Pannen. 127 B C). Danach müfste er nach dem bei Par-
menides Bemerkten um 490 geboren sein. Es gilt aber für
diese Angabe dasselbe wie für die auf Parmenides bezüg-
liche. Höchstens kann der von Plato angegebene Alters-
unterschied von 25 Jahren zwischen beiden als ein geschicht-
liches Zeugnis gelten. Dann müfste Zeno um 510 geboren
sein, was auch zu den sonstigen Nachrichten ziemlich stimmt
(Z. 585, 1). Seltsam mutet an dieser Platostelle die Notiz
an, man sage, dafs Zeno (in jüngeren Jahren) der „Geliebte''
des Parmenides gewesen sei. Seltsam insbesondere auch
deshalb, weil Plato diese Angabe ohne ein Wort des
Zweifels oder der Mifsbilligung passieren läfst (vergl. D. L.
IX. 25).
Die hier in Betracht kommende Hauptschrift war, wie
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174 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
€S scheint, unter verschiedenen Titeln bekannt (Z. 587).
Vielleicht waren einige dieser Titel nur Teiltitel für gröfsere
Abschnitte der Schrift. Der merkwürdigste darunter ist:
„Wider die Philosophen". Vielleicht bezog sich dieser Titel
nur auf diejenigen Abschnitte, die — wie wir sehen werden
— gegen die Seinslehre des pythagoreischen Hauptsystems
gerichtet waren. Auch wenn Zeno selbst ihn nicht gebraucht
hat, mufs doch im Inhalt ein Anlafs zu ihm vorhanden ge-
wesen sein. Nach dem bereits bei Pythagoras darüber Aus-
geführten ist schon dieser Titel ein Beweis einesteils, dafs
sich die alten Pythagoreer Weisheitstrebende nannten,
andernteils, dafs seine Polemik sich gegen diese richtete.
Wenn Plato (Parmen. 128 D E) den vierzigjährigen
Zeno sagen läfst, er habe sie bereits in jüngeren Jahren
geschrieben und veröffentlicht, so wird damit wohl nur der
Zweck verfolgt, die tatsächlich der Zeit des erdichteten
Zusammentreffens voranliegende Abfassung mit diesem in
Einklang zu bringen. In Wirklichkeit knüpft die Schrift
gewifs auch der Zeit nach an das pythagoreische Haupt-
system an. Sie war in Prosa geschrieben und zerfiel, ent-
sprechend den verschiedenen Beweisführungen, in eine Anzahl
von Abschnitten (Parmen. 127 E). Ziemlich genaue Angaben
über den Verlauf der Beweise finden sich teils bei Aristo-
teles, teils bei dessen Erklärern, besonders bei Sim-
plicius.
Von den acht Beweisen Zenos richten sich die ersten
drei gegen die Grundvoraussetzungen der Pythagoreer; der
vierte nimmt eine Sonderstellung ein; in den vier letzten
wird die Leugnung der Bewegung durch Parmenides indirekt
gerechtfertigt.
1. Die erste Grundvoraussetzung der Pythagoreer war
der unendlich leere Raum aufserhalb der Welt.
Zeno soll nun folgendermafsen argumentiert haben (die
Zeugnisse bei Z. 596, 1) : Wenn der Raum etwas Wirkliches
ist, mufs er wieder in einem Räume sein ; desgleichen wieder
dieser, und so fort ins Unendliche. Dies ist absurd; also
gibt es keinen Raum. Diese Argumentation ist von der
Annahme der Unendlichkeit des Raumes aus unzutreffend.
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m. 6. Zeno von Elea. 175
Zeno mufs dabei den Satz des Parmenides zu Grunde gelegt
haben, dafs alles Wirkliche begrenzt sei, also auch der
Raum, wenn wirklich. Übrigens ist seine Argumentation
nicht gegen den Raum überhaupt, die Raumvorstellung an
sich und im weitesten Sinne, auch nicht gegen das von den
Pythagoreem angenommene Leere innerhalb der Welt, son-
dern lediglich gegen das Leere aufserhalb der Welt ge-
richtet. An das Rätsel des Raumes überhaupt rührt er
noch nicht
2. Die Eins als begrenzter Raumteil. Die
Zeugnisse über den hierhergehörigen Beweis (Z. 591 flf.)
ergeben zunächst, dafs die Argumentation ausdrücklich gegen
die Eins gerichtet war — ein Beweis, dafs er das pytha-
goreische Hauptsystem im Auge hat, und zwar gegen die
Eins als räumlich ausgedehnt, ein neuer Beweis, dafs dies
wirklich die Meinung dieses Systems war. Sein Beweis
selbst besteht in folgendem : Wenn es eine solche räumliche
Eins gibt, so murs sie entweder als unteilbar oder als
teilbar gedacht werden. Wenn als unteilbar, so kann dies
nur geschehen, indem sie als unausgedehnt gedacht wird.
Das Unausgedehnte ist aber punktuell, d. h. als Raurateil
ist es gleich dem Nichts. Aus solchen unausgedehnten
Einsen kann keine Raumgröfse werden, mögen noch so viele
zusammengehäuft werden. Zeno drückte dies so aus: Was,
zu einem anderen hinzugefügt oder von ihm weggenommen,
das andere weder gröfser noch kleiner macht, gehört nicht
zu dem Seienden. Wird dagegen die räumliche Eins (wie
tatsächlich die Pythagoreer taten) als teilbar (d. h. als aus-
gedehnt) angenommen, so ist sie zunächst nicht mehr ein-
heitlich, weil sie aus einer Mehrheit von Teilen besteht,
Ferner aber mufs sie alsdann als unendlich grofs gedacht
werden. Es mufs nämlich jeder Teil wieder eine Gröfse
haben und mufs auch von den anderen Teilen getrennt sein.
Dieses Trennende mufs aber ebenfalls etwas Seiendes sein.
Hier liegt wieder stillschweigend eine parmenideische Voraus-
setzung zu Grunde: das Leere ist das Nichtseiende. Als
solches kann es die Teile nicht sondern. Dazu bedarf es
eines Seienden. Dieses trennende Seiende mufs aber (eben
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176 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
als Seiendes) ebenfalls wieder Gröfse haben, also teilbar
sein. Dann tritt dieselbe Argumentation von neuem ein,
und so fort ins Unendliche, und es folgt, dafs die räumlich
ausgedehnte Eins unendlich grofs gedacht werden mufs.
Das ausgedehnt gedachte Raumatom der Pythagoreer mufs
als unendlich ausgedehnt gedacht werden.
3. Vielheit solcher Raumeinheiten. Wird eine
Mehrheit solcher Raumatome (die Zahlen als Stoff der Welt
nach der Lehre der Pythagoreer) angenommen, so ergibt
sich, dafs diese Vielheit ebensowohl begrenzt als unbegrenzt,
endlich und zugleich unendlich gedacht werden mufs. Be-
grenzt, denn es sind dieser Raumeinheiten so viele, als es
sind. Unbegrenzt: denn auch hier mufs zwischen je zwei
Einheiten ein Trennendes sein. Dies kann aber auch hier
nicht (wie die Pythagoreer wollen) das Leere sein ; es mufs
etwas Seiendes sein. Zwischen diesem Seienden und den
beiden ursprünglichen Einheiten, zwischen denen es ein-
geschoben ist, mufs aber ebenso wieder behufs Trennung
ein Seiendes existieren. Und so geht es fort ins Unendliche.
Wenn auch nur zwei gesonderte Einheiten angenommen
werden, so folgt, dafs die Zahl der Einheiten notwendig
unendlich grofs gedacht werden mufs (Z. 594, 1).
Es ergibt sich a,us diesen drei ersten Beweisen, dafs
Zeno die Grundvoraussetzungen des pythagoreischen Systems,
das unendliche Leere und die Raumeinheiten, nicht eigent-
lich auf dessen eigenem Boden widerlegt, sondern dafs er
eigensinnig die parmenideische Anschauung vom Nichtsein
des Leeren, von der Begrenztheit des Wirklichen und von
der nur durch ein Seiendes möglichen Trennung hinein-
mengt. Nur unter dieser Voraussetzung sind seine Beweise
gegen den Raum, das Raumatom und die Vielheit zutreffend.
Nur mit den Einwänden gegen die Eins hat er in etwa
den wunden Punkt jeder Atomtheorie getroffen, obwohl er
auch hier das trennende Seiende einmengt; die Eins als
unausgedehnt ist = nichts, als ausgedehnt ist sie keine
wahre Einheit und bleibt ins Unendliche teilbar.
So haben wir also hier das ergötzliche Schauspiel, dafs
die beiden Systeme der Welt- und Naturleugner einander
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III. 6. Zeno von Elea. 177
in die Haare geraten und das eine von den unmöglichen
Voraussetzungen des anderen aus vernichtet wird.
4. Von dem nun folgenden Argument (Z. 596, 2) ist
nicht sicher, ob es in dem Buche Zenos gestanden hat.
Auch ist nicht recht deutlich, gegen welche Lehre seine
Spitze sich richtet. Dagegen ist bei ihm die ursprüngliche
Form der Frage und Antwort noch ziemlich erhalten. Es
wird folgendermafsen gelautet haben: Wenn ein Scheffel
Hirse ausgeschüttet wird, gibt es ein Gerftusch? — Ja. —
Wenn ein einzelnes Hirsenkorn oder gar der 10000. Teil
eines solchen fällt, gibt es ein Geräusch? — Nein. — Gibt
es zwischen dem Scheffel und dem einzelnen Korn oder
seinem 10000. Teile ein Gröfsenverhftltnis ? — Ja. — Mufs
diesem nicht auch ein Verhältnis des in beiden Fällen hervor-
gebrachten Geräusches entsprechen? Die hier unausweich-
liche Folgerung, dafs der 10000. Teil eines Hirsenkomes
ein Geräusch hervorbringen könne, ist nach der Meinung
Zenos eine Absurdität; tatsächlich ist sie eine ganz unan-
stöfsige naturwissenschaftliche Wahrheit.
Wir kommen zu den vier Beweisen gegen die
Bewegung (die Zeugnisse bei Z. 597 ff.).
1. Die Bewegung kann nicht einmal anfangen.
Ein Körper, der eine bestimmte Bahn durchmessen soll,
mufs, ehe er am Ziel ankommt, die Hälfte der Bahn durch-
messen. Ehe er in der Mitte des Weges ankommt, mufs er
die Hälfte der Hälfte, also das erste Viertel der Bahn,
zurücklegen. Ehe er diesen Punkt erreicht, mufs er die
Hälfte des ersten Viertels durchmessen, und so fort ins Un-
endliche, da die Teilbarkeit der Bahn keine Grenze hat.
Der bewegte Körper müfs, um vom Anfangspunkte der Bahn
zu irgend einem Punkte zu gelangen, unendlich viele Räume
durchmessen. Diese Unendlichkeit von Raumteilen läfst
sich aber in endlicher Zeit nicht durchlaufen. Also kann
die Bewegung nicht einmal anfangen; sie ist unmöglich.
Der Trugschlufs beruht hier, wie schon Aristoteles
(233, 21 flf.) bemerkt, auf einer Verwechslung der Teilbarkeit
mit der Längenausdehnung. Aus der unendlichen Teilbarkeit
der Bahn wird verstohlen ihre unendliche Länge abgeleitet.
D«rlBf. I. 12
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178 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem HylopsychisDius.
2. Der schnellfüfsige Achilleus kana die
langsame Schildkröte; wenn diese einen Vorsprung
hat, nicht einholen. Denn während er diesen Vorspruug
durchläuft, hat die Schildkröte einen neuen Vorsprung ge-
wonnen; derselbe ist zwar um so viel mal kleiner, als
Achilleus schneller läuft. Während Achilleus diesen kleineren
Vorsprung durchmifst, hat die Schildkröte einen neuen, wenn-
gleich abermals entsprechend kleineren, gewonnen. Und so
fort ins Unendliche. Die Annahme der Bewegung führt
also zu einer Absurdität. Tatsächlich liegt hier dieselbe
Verwechslung vor wie unter 1.
3. Der fliegende Pfeil ruht. Da auch die Zeit
unendlich teilbar ist, befindet sich der Pfeil in einem ge-
gebenen unendlich kleinen Zeitteile an einer bestimmten
Stelle. Was aber in einem gegebenen Zeitteile sich in
einem und demselben Räume befindet, ruht. Also führt die
Annahme der Bewegung zur Absurdität. Bei diesem Argu-
mente ist das ebenmäfsige Fortschreiten (die Kontinuität) der
Bewegung aufser acht gelassen. Zeno scheint diesen Beweis
auch noch in einer etwas anderen Form vorgetragen zu
haben. „Was sich bewegt, bewegt sich weder an der Stelle,
wo es ist , noch an der , wo es nicht ist" (D. L. IX. 72).
Der Sinn dieser Beweisführung wird deutlich, wenn wir sie
uns in Frageform vorgetragen denken: Findet die Bewegung
an der Stelle statt, wo der Gegenstand ist? Unmöglich,
denn das Sein an einer Stelle schliefst die Fortbewegung
aus? Oder an der Stelle, wo er nicht ist? Vollends un-
möglich, da er sich nicht bewegen kann, wo er nicht ist.
Aufser diesen beiden Fällen ist aber ein dritter nicht mög-
lich, also gibt es keine Bewegung.
4. Das vierte Argument hat in der überlieferten
Form die Schwierigkeit, dafs es auf einer gar zu handgreif-
lichen Täuschung beruht, wie man sie Zeno kaum zutrauen
darf. In einer Bahn befinden sich drei gleichlange Reihen
von Gegenständen so aufgestellt, dafs die zweite von der
Mitte der ersten ebenso weit nach links reicht wie die
dritte nach rechts. Nun bewegt sich die zweite und dritte
Reihe mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzter
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III. 6. Zeno von £lea. 179
Richtung so lange, bis beide genau die Lage der ersten
Reihe erreicht haben. Bei dieser Bewegung sind aber in
der gleichen Zeit sämtliche Teile der beiden bewegten
Reihen aneinander vorübergekommen, in der sie nur an der
H&lfte der Teile der ersten (ruhenden) Reihe vortlber-
gekommen sind. Darin soll aber eine Absurdität liegen.
Diese soll darin bestehen, dafs die beiden in entgegengesetzter
Richtung bewegten Reihen, um aneinander vorbeizukommen,
nur die Hälfte der Zeit brauchen, die erforderlich ist, um
an der ruhenden Reihe vorbeizukommen. Da man ein so
kindliches Argument Zeno kaum zutrauen kann, ist viel-
leicht an der Berichterstattung etwas nicht in Ordnung.
Nach Diogenes Laertius (VIII. 57, IX. 25; S. Emp.
Dogm. I. 6 f.) soll Aristoteles Zeno den Erfinder der Dia-
lektik genannt haben. Dieses Wort kommt schon im Alter-
tum in sehr verschiedener Bedeutung vor. Da aber hier
der Dialektik ausdrücklich die Rhetorik, d. h. die Kunst
der ununterbrochenen, zusammenhängenden Rede eines Ein-
^nen, oder genauer die Theorie dieser Kunst gegen-
übergestellt wird, so ergibt sich, dafs Dialektik hier
im ursprünglichen, wörtlichen Sinne als die Kunst der
wissenschaftlichen Wechselrede zwischen mehreren gemeint
ist, und zwar in der Form der Frage und Antwort, so dafs
der Antwortende fortschreitend zu Zugeständnissen gedrängt
wird. Dies pafst genau auf das Verfahren, das Zeno bei
seinen Argumenten ohne Zweifel anwandte; nur darf nicht,
wie bei der Rhetorik, an eine Theorie dieser Unterredungs-
kunst, sondern nur an die geschickte Handhabung gedacht
werden.
Wie Parmenides, so scheint auch Zeno schliefslich
neben der Wahrheitslehre auch eine Scheinlehre aufgestellt
zu haben. Aus den erhaltenen dürftigen und entstellten
Angaben darüber (D. L. IX. 29) scheint sich zu ergeben,
dafs er darin im wesentlichen Parmenides folgte. Zwar
soll er nach dieser Angabe statt des einfachen Grundgegen-
satzes des letzteren einen doppelten ursprünglichen Gegen-
satz, den des Warmen und Kalten und den des Trockenen
raid Feuchten, angenommen und einen Übergang dieser
12*
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180 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
Gegensätze ineiDander behauptet haben. Doch läfst sich
darin mit Leichtigkeit eine Verunstaltung der parmenide-
ischen Lehre durch Einmengung späterer Ansichten er-
kennen. Auf Parmenides scheint auch der folgende Satz
zu beruhen, der Mensch sei aus der Erde entstanden, die
Seele sei eine Mischung aus den vorgenannten Gegensätzen
ohne Überwiegen eines derselben. Wenn endlich an der
Spitze die beiden Sätze stehen, es gebe Welten, ein Leeres
aber gebe es nicht, so kann die erste dieser beiden Be-
hauptungen auf die Mehrheit der parmenideischen Welt-
sphären bezogen werden; die zweite aber besagt entweder,
dafs auch in der Welt der Meinung durch die Sphären der
gesamte Weltraum ausgefüllt ist, oder er mengt verständnis-
los die Grundannahme des Wahrheitssystems ein, dafs ,,da8
Nichtseiende" nicht sei.
Noch wird berichtet (Suidas), dafs Zeno auch eine
„Erklärung des Empedokles' geschrieben habe. Ist dies
richtig, so mufs er auch in die neue Entwicklungsphase der
Naturerklärung noch einmal kritisch eingegriffen haben«
Das Lehrgedicht des Empedokles „Über die Natur** ist
wahrscheinlich schon um 460 oder früher veröffentlicht
worden. Es mufs dann freilich angenommen werden, dafs
diese „Erklärung" zugleich ein kritischer Angriff vom elea-
tischen Standpunkte aus war. Doch fehlt es gänzlich an
weiteren Nachrichten über diese Schrift.
7. Der letzte Vertreter des Eleatismus Melissos.
(Um 460.)
Melissos, der dritte Vertreter der eleatischen Lehre,
gehört dem kleinasiatisch-jonischen Samos an. Es ist zu-
verlässig bezeugt, dafs er um 442 als Befehlshaber der
samischen Flotte einen Seesieg über Perikles gewann
(Z. 906, 1). Im übrigen ist von seinem Leben nichts be-
kannt, insbesondere fehlen alle zuverlässigen Nachrichten
über seinen philosophischen Bildungsgang, und wie es zu-
ging, dafs er, dem Osten der griechischen Welt angehörig,
ein Vertreter der im fernen Westen hervorgetretenen elea-
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III. 7. Der letzte Vertreter des Eleatismus Melissos. 181
tischeiit Lehre wurde. Wenn wir seine kriegerische Leistung
einem vorgerückten Alter und seine philosophische Schrift,
in der er die eleatische Lehre vertrat, einer etwas frtlheren
Lebenszeit zuweisen, so kommen wir vermutungsweise für
seine Geburt auf die Zeit um 500 und für die Abfassung
seiner Schrift für die um 460. Er war dann ein jüngerer
Zeitgenosse Zenos.
Von seiner Schrift sind bei Simplicius ziemlich
umfangreiche Fragmente erhalten ; Aristoteles beschäftigt
sich wiederholt mit seiner Lehre, und die schon erwähnte,
ftlschlich Aristoteles beigelegte Schrift „Über Melissos, Xeno-
phanes und Gorgias*' gibt einen kurzen, mit einer Kritik
versehenen Abrifs derselben.
Sein Beweisverfahren entsprach nicht sowohl dem Zenos
als dem des Parmenides. Das Nichtsein des leeren Raumes
steht ihm fest. Hinsichtlich des „Seienden" bewies er zu-
nächst dessen Ewigkeit. Hier folgt nun seine bedeutsamste
Abweichung von Parmenides. Er setzt das Seiende als un-
endlich der räumlichen Ausdehnung nach. Vornehmlich
diese Behauptung hat ihm wohl die verächtliche Beurteilung
seitens des Aristoteles zugezogen, der ihn bäurisch und
plump nennt (980 b, 12, 26; 186, 10). Für diese räumliche
Unendlichkeit bringt er zwei Beweise vor. Erstens glaubt
er aus der zeitlichen Unendlichkeit die räumliche folgern zu
können. Dieser Beweisgrund ist schon im Altertum von
Aristoteles und anderen mit Recht als unzutreffend an-
gegriffen worden (Z. 608, 2; Ps. Arist. 975 b, 34 ff.). Zweitens
aber könnte eine Begrenzung des Seienden nur durch das
Leere stattfinden, das aber als Nichtseiendes nicht existiere
(Z. 612, 2). Aus der Unbegrenztheit folgert er dann weiter
die Einheit, da mehrere räumlich Unendliche undenkbar
sind (Z. 612, 1). Dieses räumlich Unendliche wird ferner
auch von ihm im strengen Sinne des Parmenides für be-
wegungs- und veränderungslos erklärt (Z. 614 f.; Cic. Ac.
n. 118). Die Unmöglichkeit jeder Art von Bewegung und
Veränderung folgert er mit grofsem Nachdruck aus dem
Nichtsein des leeren Raumes, ohne den keine Art der Be-
wegung möglich sei. Dieses unendlich ausgedehnte Seiende
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182 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismus.
hat er endlich unzweifelhaft, wie Parmenides, in irgend einem
Sinne als stofflicli gedacht. Wenn er aus der Einheit
folgert, es k^nne kein Körper sein (Z. 611, 2), so ist dies
offenbar nur in dem Sinne gemeint, dafs der Körper in ge-
sonderte Teile zerfallen würde, die ja schon Xenophanes
seinem Gott abgesprochen hatte. Keinesfalls aber ergibt
sich daraus, dafs er, tlber Parmenides hinausschreitend, die
UnStofflichkeit (Immaterialität) des Seienden behauptet hätte»
Dies wäre nicht nur ftlr die vorplatonische Zeit etwas völlig^
Unerhörtes, es widerspricht auch dem ausdrtlcklichen Zeug-
nis des Aristoteles (986b, 20).
So bewegte sich also dieser später gegen einen Perikles
erfolgreiche Seeheld in seiner philosophischen Schrift in den
völlig unfruchtbaren Bahnen des eleatischen Denkens, dessen
Ungeheuerlichkeiten er noch durch die unendliche Aus-
breitung des starren Stoffes vermehrt hat. Von einer Aus-
gleichung dieser fanatischen Weltleugnung durch die An-
nahme einer Erscheinungswelt bietet sich bei ihm keine
Spur. Sein einziges Verdienst als Denker besteht dann
darin, dafs er mit Nachdruck die Unmöglichkeit der Be-
wegung ohne Annahme des leeren Raumes geltend ge-
macht hat.
Weitere Nachrichten über den Bestand der eleatischen
Schule nach Melissos sind nicht vorhanden, doch ist dadurch
das Nachwirken ihrer Lehre, wie wir sehen werden, nicht
ausgeschlossen.
8. TV eiterer Verlauf des wissenscliaftlichen
PythafiTorelsmus (bis firefiren 320).
Über die Schicksale des wissenschaftlichen Pythagoreis-
mus seit der Aufstellung des Hauptsystems und namentlich
auch seit den Verfolgungen des Ordens um 440 sind zuver-
lässige Nachrichten nicht vorhanden. Die folgenden dürf-
tigen Nachrichten gehen auf Aristoxenos von Tarent
zurück, den Schöpfer der griechischen Musiktheorie, der
noch mit den „letzten Pythagoreem** in Zusammenhang
stand. Danach waren die Lehrer der letzten Pythagoreer
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III. 8. Weiterer Verlauf des -wissenschaftlichen Pythagoreismus. 183
Philolaos und Eurytos in Tarent. Über den letzteren
dieser beiden fehlt es durchaus an weiteren Nachrichten
(Z. 338, 5). Möglicherweise gehört ihm die abgeschwächte
Form der Seelen wanderungslehre an, die in PlatosPhädon
(87) dem Thebaner Kebes in den Mund gelegt wird, nach
der die Seele zwar mehrere Körper überdauert, schliefslich
aber doch ebenfalls kraftlos wird und dahinstirbt. Konnte
doch Plato von seiner und des Philolaos Lehre Kenntnis
erhalten haben, wenn er auf seiner bald nach dem Tode
des Sokrates (399) unternommenen unteritalischen Reise
beide kennen gelernt hatte (D. L. III. 6). Dann müfste als
die Zeit des Zusammenseins dieser beiden Männer in Tarent
das erste Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts (400—390) an-
genommen werden. Genaueres als über Eurytos läfst sich
über Philolaos feststellen.
Mit diesem hat es eine eigene Bewandtnis. Man kannte
seit der Mitte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts eine
Schrift unter seinem Namen (Cic. Rep. I. 10 ; D. L. VIII. 85).
Aus dieser Schrift sind zahlreiche Bruchstücke auf uns ge-
kommen, in denen ein Vertreter des pythagoreischen Systems
zu uns redet. Seit der grofse Philologe Böckh (Philolaos, 1819)
dafür eingetreten ist, dafs nicht nur diese Bruchstücke dieser
schon Cicero bekannten Schrift entstammen, was nicht zu be-
zweifeln ist, sondern dafs auch diese Schrift jenen alten Denker
des 5. Jahrhunderts zum Verfasser habe, ist diese Ansicht bis
heute im allgemeinen in Geltung geblieben. Schwerwiegende
Gründe sind freilich gegen sie ins Feld geführt worden
(Schaarschmidt, Die angebliche Schriftstellerei des Philo-
laos, 1864; Rothenbücher, Das System der Pythagoreer,
1807). Aristoteles, der doch so oft auf das Hauptsystem
der Pythagoreer zu sprechen kommt, kennt keinen Philo-
laos; auch Theophrast mufs ihn nicht gekannt haben.
Der Verfasser der auf uns gekommenen Bruchstücke ist ein
unklarer, verschwommener Kopf, der in manierierter Sprache
übel zusammengeschweifste und mit späteren Theorien ver-
quickte Bruchstücke des alten Pythagoreismus vorträgt,
einer jener Fälscher, die seit dem letzten vorchristlichen
Jahrhundert, wie wir später sehen werden, massenhaft auf-
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184 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismns.
treten. Man kann kühnlich behaupten, dafs die Fälschung
dieses verworrenen Kopfes bisher das Verständnis des Ent-
wicklungsganges bei den Pythagoreem hintangehalten hat,
und dafs, solange diese Schrift für echt gilt, die (Jeschichte
des Pythagoreismus nicht geschrieben werden kann. Die
Unrichtigkeit der Böckhschen Annahme wird am kürzesten
und einfachsten durch Zusammenstellung der unzweifelhaften
Tatsachen über den wirklichen Philolaos bewiesen. Diese
Tatsachen haben in der allerjüngsten Zeit durch die Auf-
findung des Auszuges aus Menons Jatrica einen Zuwachs
von solcher Bedeutung erhalten, dafs dadurch die ganze
Frage ein völlig verändertes Ansehen erhält. Menon war
ein Schüler und Mitarbeiter des Aristoteles, und seine
Schrift war eine Zusammenstellung von Daten aus der
Geschichte und Theorie der Arzneikunde für den Gebrauch
der Schule (herausgegeben von Di eis, Supplementum
Aristotel. III. 1. 1893).
In Piatons Phädou, der am Todestage des Sokrates
(399) spielt, wird Philolaos als ein Philosoph erwähnt, der
vor nicht gar langer Zeit in Theben geweilt hat, jetzt aber
nicht mehr dort anwesend ist. Über seine Zugehörigkeit
zu einer Schule oder Richtung wird nichts gesagt. Die
beiden sich mit Sokrates unterredenden Thebaner Kebes
und Simmias, die auch sonst (Mem. I. 2, 48; III. 11, 17)
als Gefährten des Sokrates erwähnt werden, sind vorher in
Theben seine Schüler gewesen. Auf die Vermutung des
Sokrates, dafs sie wohl von Philolaos etwas über die Ver-
werflichkeit des Selbstmordes gehört haben werden, erwidert
Kebes, dafs dies nichts Bestimmtes gewesen (610 f.). Die
Unterredung wendet sich dann der Unsterblichkeitsfrage zu,
und nachdem Sokrates gegenüber den von jenen geltend
gemachten Ansichten der Menge über diese Frage mehrere
Beweise für die Unsterblichkeit vorgebracht hat, rückt
Simmias (85 E) mit einer philosophischen Bestreitung der
Unsterblichkeit heraus. Es ist mindestens sehr wahrschein-
lich, dafs wir hier die Lehre des Philolaos vor uns
haben.
Doch ehe auf diese Lehre näher eingegangen wird.
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III. 8. Weiterer Verlauf des wissenöchaftlichen Pythag(oreismus. 185
müssen wir die sonstigen sicheren Nachrichten über Philo-
laos zusammenstellen.
Nach dem Auszuge aus Menon (Kap. 20) war er ein
Krotoniat. Das bedeutet nicht notwendig, dafs er in
Kroton geboren war; es bedeutet nur seine Zugehörigkeit
zur krotoniatischen Ärzteschule. Doch wird er auch von
Diogenes Laertius (VIII. 84) als Krotoniat bezeichnet.
Als Mediziner wird er denn auch durch die bei Menon
erhaltenen Überreste seiner Lehre charakterisiert. Da ist
nichts von Zahlen und Zahlengeheimnissen. Zunächst eine
Theorie tlber die Entwicklung des Körpers vor und nach
. der Geburt, die deutlich an die Gegensatzlehre des Alkmäon
anklingt. Wie der männliche Same und die Gebärmutter,
so ist auch das Geborene warm. Aber begierig zieht es
sofort die äufsere Luft, die kalt ist, ein. Das ganze Luft-
bedürfnis beruht auf dem Bedürfnis, das Übermafs der
Wärme zu mindern. „Darauf,** nämlich offenbar auf dem
richtigen Gleichgewicht des Warmen und Kalten, „beruht
der Bestand der Körper.**
Es folgt eine Theorie über die Entstehung der Krank-
heiten, die trotz der Dürftigkeit des Auszuges doch
noch einige Züge der alkmäonischen Gleichgewichtstheorie
durchblicken läfst Die Krankheiten entstehen teils durch
zu dickes oder zu dünnes Blut, teils von der Galle (hier
fehlt die nähere Angabe), teils vom Schleim, den er für
wann hält und durch dessen Anhäufung die Entzündungen
entstehen sollen. Aufserdem gibt es Nebenursachen der
Krankheiten. Dieselben bestehen in Übermafs oder Mangel
an Erwärmung, Abkühlung, Nahrung oder Ähnlichem, also
ebenfalls in Gleichgewichtsstörungen.
Hier haben wir den authentischen Philolaos. Wir fragen
die Kenner der vermeintlichen Philolaosbruchstücke, ob
zwischen diesen und den hier vorliegenden Angaben eine
geistige Gemeinschaft, eine Übereinstimmung der Grund-
anschauung denkbar ist.
Es wird femer berichtet, Demokrit, der Materialist
und Unsterblichkeitsleugner, sei sein Schüler gewesen (D. L.
IX. 38). Diese Nachricht beruht auf dem Zeugnis des
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186 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Hylopsychismos.
Demokriteers Apollodotos von Kyzikos, der wahr-
scheinlich im 4. Jahrhundert lebte (Clem. AI. Strom. II.
c. 21). Da Demokrit, geboren um 460, wahrscheinlich um
430 in Unteritalien war, so mufs Philolaos um diese 2Ieit
irgendwo in Unteritalien gelehrt haben. Nachher war er
dann eine Zeitlang in Theben und nach 400 in Tarent.
Endlich findet sich noch in der Ethik des Aristotelesschülers
Eudemos (1225, 32) der Ausspruch von ihm, es gebe Vor-
stellungen, die stärker seien als wir selbst. Dem Zusammen-
hange nach ist hier von Vorstellungen uns bedrohender
Übel die Rede, die gleichsam zwangsweise unser Handeln
bestimmen. Dieser Ausspruch scheint doch mehr einem
nüchtern erwägenden Kopf als einem schwärmerischen
Enthusiasten zu entstammen.
So vorbereitet können wir nun an die vorstehend als
philolaisch bezeichnete, von Simmias im Phädon vorgetragene
Theorie über das Wesen der Seele herantreten. Das Argu-
ment, dafs die Seele als etwas in seinen Äufserungen Un-
sichtbares und Unkörperliches nicht vergehen könne, sagt
Simmias, lasse sich mit demselben Rechte auch auf die
Melodien der Leier anwenden. Man müsse nach demselben
Beweisverfahren annehmen, dafs, wenn die Leier und die
Saiten, die hier das Körperliche darstellen, zerbrochen und
zerrissen seien, dennoch die Tonfolgen wie etwas selbständig
für sich Bestehendes noch fortdauerten. Was bei der Leier
die bestimmte, den gewünschten Tönen angepafste Spannung
der Saiten, das sei beim Körper die bestimmte, im rechten
Mafse gehaltene harmonische Mischung des Warmen und
Kalten, Trockenen und Feuchten. Aus ihr entspringe die
Seele (d. h. die seelischen Erscheinungen), wie die Tonfolgen
aus der richtigen Spannung der Saiten. Wie mit der Ver-
nichtung dieser letzteren die Tonfähigkeit zu Grunde gebe,
so mit der Zerstörung jenes Gleichmafses der Mischung im
Körper durch Krankheit die Seele. Wenn infolge der
Störung des richtigen Mischungsverhältnisses im Körper
der Tod eintritt, so wird zuerst die Seele zu nichte, wäh-
rend die Reste der körperlichen Mischung, ähnlich wie das
Holz und die Saiten der Leier, die Vernichtung der harmo-
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in. 8. Weiterer Verlauf des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 187
nischen Mischung, auf der das Leben beruhte, noch eine
Weile überdauern (85 E ff.).
Simmias hat die ganze Tragweite dieser Theorie noch
nicht erfafst. Wie schon vorher (77 C) bekennt er sich
auch nachher wieder (92 A) zu der Ansicht , dafs die Seele
dennoch vor dem Körper bestanden haben könne, und erst
Sokrates, der Gegner, mufs ihm die Unvereinbarkeit der-
selben mit der Lehre von der Seele als Erzeugnis richtiger
Mischung im Körper klarmachen« Es sei ja das Bestehen
vor dem Körper bei dieser Annahme ebenso undenkbar, wie
der Bestand der Tonfolge vor oder nach dem Vorhandensein
der Leier (ib.).
Diese Seelentheorie wird auch von Aristoteles mehr-
fach erwähnt, wenn auch ohne Nennung ihres Urhebers. In
seiner Staatslehre sagt er (1340 b, 18), viele der Weisen
lehrten, dafs die Seele eine Harmonie sei, andere, sie habe
Harmonie. Diese letzte Ansicht ist von der in Rede stehen-
den total verschieden. Die ganze Stelle beweist aber, dafö
Philolaos mit seiner Ansicht schon damals nicht allein stand^
sowie femer, daft der Vergleich der seelischen Erscheinungen
mit den Tönen in verschiedener Weise zur Anwendung ge-
bracht wurde. An einer anderen Stelle aber (407 b, 27) er-
wähnt Aristoteles gerade die im Phädon vorgetragene Lehre
und zwar unter deutlicher Bezugnahme auf die Erörterung
darüber im Phädon. Nach dieser Lehre sei die Seele „Har-
monie*'. Denn wie die Harmonie eine Vereinigung von
Entgegengesetztem sei, so bestehe auch der Körper aus
Entgegengesetztem. Auch hier sagt er von dieser
Lehre, dafs sie viele Anhänger habe. Auch habe sie schon
in veröffentlichten Schriften gleichsam Rechenschaft abgelegt.
Ist dies, wie es den Anschein hat, eine Hindeutung auf den
Phädon, so kann Philolaos selbst diese Lehre nicht in einer
Schrift vertreten haben, und Plato hatte sie durch münd-
lichen Verkehr kennen gelernt.
Eine entfernte Hindeutung auf diese Harmonielehre des
Philolaos findet sich bei Diog. Laertios (VIII. 85), wo ihm
die Lehre beigelegt wird, alles geschehe durch Harmonie
und Weltgesetze , und wo er aufserdem sogar als der mut-
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188 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
mafsliche erste Vertreter der sonst dem Heraklides (oder
Hiketas) beigelegten Lehre von der Achsendrehung der Erde
genannt wird.
Wir haben hier eine im ganzen Altertum fast einzig
dastehende Erklärung der seelischen Erscheinungen vor uns.
Mochte die Seele mit Plato und vielleicht schon mit Pytha-
goras als eine unstofTliche oder mit den Materialisten
gewöhnlichen Schlages in mannigfaltigen Variationen als
eine besondere Art körperlichen Stoffes gefafst werden,
immer ist sie eine besondere, vom Körper verschiedene
Substanz. Hier zuerst erscheint das Seelische als Funktion,
als Erzeugnis des körperlichen Prozesses, modern ausgedrückt
als Kombinationsresultat und Summationsphänomen der den
körperlichen Stoffen anhaftenden und in allem Körperlichen
wirksamen Spannkräfte. Wie unendlich verschieden von
jeder Substanztheorie diese Auffassung ist, das kann schon
die Vergleichung mit der von Kebes vertretenen Seelen-
theorie lehren. Nach dieser ist die Seele nach wie vor
eine für sich bestehende Substanz, und wenn ihr das Altem
und Vergehen nach einer Reihe von Einkörperungen zu-
geschrieben wird, so ist sie eben eine vergängliche Substanz,
wenn auch von gröfserer Beständigkeit als die der einzelnen
Körper, in die sie fährt. Dies ist nur eine Abschwächung
des pythagoreischen Seelenglaubens, eine schwächliche, un-
klare, haltlose Übergangs- und Kompromifstheorie.
In der von Simmias vorgetragenen Theorie dagegen,
insbesondere in der Ableitung der seelischen Erscheinungen
aus der Spannung der körperlichen Gegensätze, erkennen
wir deutlich den Anhänger der Lehre des Alkmäon.
Nur ist hier die von Alkmäon vertretene Unterscheidung
des unsterblichen Geistes, der nicht an das körperliche
Organ gebunden ist, von den mit dem Organe vergehenden
seelischen Erscheinungen aufgegeben. Alles Seelische
ist körperliche Funktion. Wir erhalten ein völlig einheit-
liches und verständliches Bild des wirklichen Philolaos.
Unzweifelhaft gilt die Polemik Piatos gegen die Seelenlehre
des Simmias in Wirklichkeit dem Philolaos. Der im Phädon
ihr gegebenen Einkleidung entkleidet, bedeutet sie eine Aus-
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m. 8. Weiterer Verlauf des wissenschaftliclien Pythagoreismus. 189
einandersetzung mit der Seelenlehre des Philolaos. Ihn
hatte Plato auf seiner ersten italischen Reise um 393 noch
persönlich in vorgerücktem Greisenalter in Tarent kennen
gelernt (D. L. III. 6).
Plato hat wahrscheinlich auch noch eine andere Lehre
des Philolaos berücksichtigt. Ehe jedoch davon gesprochen
wird, soll die Geschichte der letzten Pythagoreer weiter-
verfolgt werden. Und zwar deshalb, weil das Wenige, was
davon bekannt ist, gerade für den philolaischen Ursprung
der in Rede stehenden Seelentheorie eine weitere glänzende
Bestätigung bildet.
Schon jetzt aber kann als annähernd richtig die Geburt
des Philolaos um 470 und sein Tod (in Tarent) um 390
angesetzt werden. Die Angabe dagegen (D. L. VIII. 84),
er sei wegen Verdachts, nach der Tyrannis zu streben, ge-
tötet worden, ist vielleicht nur ein Nachhall der Nachrichten
über die Verfolgungen, denen die Pythagoreer um 440 aus-
gesetzt waren«
Als Schüler des Eurytos und Philolaos werden (D. L.
VIII. 46) fünf Männer genannt, die „letzten Pythagoreer",
deren Existenz um 366 auch anderweitig bezeugt wird
(Diodor XV. 76), von denen jedoch nur' zwei, Echekrates
und Xenophilos, weiter bekannt sind und unsere Auf-
merksamkeit verdienen.
Echekrates ist offenbar derselbe, der sich im Phädon
die letzte Unterredung des Sokrates erzählen läfst, und der
bei der Erwähnung jener philosophischen Bestreitung der
Unsterblichkeit den Berichterstatter mit der Bemerkung
unterbricht, dafs diese Theorie ihm schon früher
als wahr erschienen sei und auch jetzt wieder ihn
lebhaft anmute, so dafs sein Vertrauen zum Standpunkte
des Sokrates erschüttert werde (88 D).
Von Xenophilos dagegen erfahren wir aus einer
alten Nachricht (Suidas) und aus einigen Resten der zahl-
reichen Schriften des Aristoxenos, des Schöpfers der
griechischen Musiktheorie (Mahne, De Aristoxeno § 57), dafs
er ein bedeutender Musikforscher und der Lehrer eben
dieses Aristoxenos gewesen ist. Auch an der Diogenesstelle
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190 Erste Periode. Zweiter Abschnitt Bruch mit dem Uylopsychismus.
über die letzten Pythagoreer (VIII. 46) wird bezeugt , dafs
Aristoxenos, später Schüler des Aristoteles, der erst 335
Beine Lehrtätigkeit in Athen begann, diese letzten Pytha-
goreer „noch gekannt"" habe. Aristoxenos stammte aus
Tarent, dem Schauplatz dieser letzten wissenschaftlichen
Betätigungen des Py thagoreismus , und mufs zwischen 380
und 370 geboren sein, konnte also um oder vor 360 der
Schüler des Xenophilos sein.
Bei diesem Aristoxenos nun findet sich genau dieselbe
einzigartige Theorie von der Seele wie bei Philolaos. Wie
bei der Leier die Tonfolge, so entspringen aus der Be-
schaffenheit des Körpers die mannigfaltigen Regungen der
Seele (Cic. Tusc. I. 19, 41 u. 51). Hier schliefst sich der
Ring; es zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang: Aristo-
xenos ist in seiner Seelenlehre der geistige Enkel des
Philolaos.
Dieselbe Theorie findet sich aber femer bei Dikai-
archos aus der sizilischen Stadt Messana, der als Zeit-
genosse und Mitschüler des Aristoxenos bezeichnet wird
(Cic. Tusc. I. 41). Diese Mitschülerschaft mufs sich nicht
nur auf das Verhältnis des Aristoxenos zu Aristoteles, son-
dern auch auf das zu den Pythagoreern in Tarent erstreckt
♦ haben. Das lehrt schon die Seelenlehre des Dikaiarch.
Dieser, nach Ciceros Zeugnis (Tusc. I. 41, 77; ad Att. II. 12)
ein gelehrter, geistvoller und tüchtiger Schriftsteller, hatte
in zwei Schriften über die Seele (Cic. ad Att. 13. 32, Tusc.
I. 21, 77) die Existenz der Seele aufs entschiedenste be-
stritten. Es gebe nur den Körper, aus dessen Mischungs-
verhältnissen die Lebens- und Bewufstseinserscheinungen ihren
Ursprung hätten (Tusc. I. 21, 24, 41, 51; Ac. IL 124).
Nach späteren Nachrichten (D.387, 651; Z. IL 2, 890, 3) hat
er, genau wie Philolaos, die seelischen Erscheinungen als
Produkte der richtigen Mischung der vier Elemente, näher
des Warmen und Kalten , Feuchten und Trockenen , be-
zeichnet. Nach Plutarch (Kolot. 14) und D. L. III. 38
hatte er dabei besonders auch die Lehre Piatos über die
Seele bekämpft, und entsprechend erklärte er auch die Ver-
nunft für etwas Körperliches (S. Emp. Dogm. I. 349).
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m. 8. Weiterer Verlauf des wissenschaftlichen Pythagoreismus. 191
Wir haben also in dieser letzten Phase des wissenschaft-
lichen Pythagoreismus drei einander ablösende Generationen,
sämtlich in Tarent wirksam oder von Tarent ausgehend,
sämtlich sich Spezial Wissenschaften, der ärztlichen Wissen-
schaft, der Musiktheorie, wohl auch der Mathematik und
Physik, zuwendend, sämtlich vom Grunddogma des Ordens
abgefallen :
1. Eurytos und Philolaos in Tarent um 400— 390,
letzterer dort wohl nur während seiner letzten Lebensjahre
weilend ;
2. deren fünf Schüler, darunter Echekrates und
Xenophilos, bis gegen 340. Ersterer anscheinend später
in Griechenland, letzterer vielleicht dauernd in Tarent ver-
blieben ;
3. Aristoxenos vonTarent und Dikaiarch von
Messana, von Tarent ausgehend, nach 335 Schüler des
Aristoteles, mindestens bis gegen 320.
Nach einer Nachricht bei Diogenes Laertius (VIII.
45) soll das pythagoreische System sogar neun bis zehn
Menschenalter nach Pythagoras bestanden haben. Als Be-
weis dafür werden eben die fünf „letzten Pythagoreer** an-
geführt. Doch ist diese Rechnung wohl etwas zu reichlich
ausgefallen. Denn selbst wenn vom Beginn der Wirksamkeit
des Pythagoras (um 540) an gerechnet wird, würden neun
Menschenalter, zu 30 Jahren gerechnet, 270 Jahre aus-
machen, also bis 270 hinabführen. Hier liegt also irgend
ein für uns nicht mehr verständliches Versehen vor.
Dieser Verlauf dient zugleich als volle Bestätigung für
die Seelenlehre des Philolaos. Plato hat sich aber wahr-
scheinlich, trotz seines Gegensatzes gegen die Leugnung der
Unsterblichkeit, eine andere Lehre des Philolaos angeeignet,
die er im Timäus entwickelt.
Es ist dies die höchst eigenartige Weiterbildung der
pythagoreischen Lehre vom Grundstoffe des Seienden als
begrenztem Räume und die Ableitung der Elemente aus
dieser Stofflehre. Wir haben gesehen, dafs Aristoteles dem
pythagoreischen Hauptsystem den Vorwurf macht, es sei
von seinem Urstoffe aus unmöglich, den Übergang zu den
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192 Erste Periode, Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem Hylopsychismus.
Elementen und den wirklichen Körpern zu finden. Dieser
Versuch wird aber im Timäus gemacht (48 E flf.). .
Es werden nämlich im Timäus in ausführlicher Dar-
stellung als die ersten Begrenzungen des gestaltlosen Raumes
Dreiecke von bestimmten Formen angenommen. Indem
diese dann wieder in rein geometrischer Weise zu körper-
lichen Figuren sich zusammenschliefsen , entstehen die fünf
regelmäfsigen stereometrischen Körper, das Tetraeder (Vier-
spitz), das Oktaeder (Sechsspitz), das Zwölfeck, das Zwanzig-
eck und der Würfel. Diese werden dann in eigenartiger
Weise an die vier Elemente verteilt. Die Elemente sind
danach ihren Grundbestandteilen nach rein mathematische
Körper, jeder eigentlichen Stofflichkeit entbehrend. Durch
veränderte Zusammenlegung der Dreiecke gehen sie in-
einander über.
Unzweifelhaft liegt hier eine Weiterbildung der pytha-
goreischen Stofflehre vor. Die Frage ist nur, ob diese dem
Plato als Eigentum gehört oder von ihm übernommen ist.
Für letzteres sprechen folgende Gründe:
1. Öie Pythagoreer werden ihre seltsame Fassung des
Stoflproblems mutmafslich nicht in der vagen Unbestimmt-
heit belassen haben, in der sie uns bei Aristoteles entgegen-
trat. Sie werden sich fortschreitend bemüht haben, dieselbe
in der Art weiterzubilden, dafs daraus die Elemente und
die wirkliche Welt abgeleitet werden konnten. Findet sich
doch auch bei Aristoteles wenigstens ein Zeugnis für das
Vorhandensein solcher Bemühungen, in dem sogar eine
leise Hindeutung auf die obige Theorie vorkommt Er
spricht da von Versuchen, die „erste Eins** „aus Flächen,
oder aus der Farbe, oder aus Samen, oder aus etwas, das
sie nicht anzugeben wissen**, entstehen zu lassen (1091, 15).
2. Plato bezeichnet diese Lehre durchaus nicht als sein
geistiges Eigentum; er legt den Vortrag derselben einem
unteritalischen Weisen, dem Lokrer Timäus, in den Mund.
Auch f&llt die Abfassung des Timäus, wie später zu zeigen,
keineswegs in das Alter Piatos, sondern schliefst sich un-
mittelbar an die italische Reise an.
3. Wir finden schon im 3. Jahrhundert mehrfach die
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m. 8. Weiterer Verlauf des wissenscliaftliclien Pytiiagoreismus. 193
Angabe, dafs der Timäus mit Hilfe einer älteren Schrift
abgefafst sei. Neanthes (um 240) bezeichnet Plato als
VeröflFentlicher pythagoreischer Lehren (D. L. VIII. 55).
Der Pyrrhoneer Tinton (um 230) behauptet (Fr. 26), Plato
habe für vieles Geld ein kleines Buch gekauft und danach
den Timäus verfafst, und der sehr unzuverlässige Her-
mippos (um 200) macht daraus die Angabe, der Timäus
sei nach einer Schrift des Philo laos, die Plato von dessen
Angehörigen erkauft habe, geschrieben worden (D. L. VIII.
85). Wenn sich Hermippos dabei auf einen älteren Schrift-
steller beruft, so meint er vielleicht Timon. In diesem
Falle hätte er freilich die Beziehung auf Philolaos aus
seinen eigenen Mitteln hinzugetan.
Dafs Philolaos überhaupt wohl ein Buch geschrieben
hat, wird durch die Aufzeichnungen des Menon über ihn
wahrscheinlich. Doch müfste dies eine medizinische Schrift
gewesen sein. Ob er darin die Lehre Alkmäons vom Denken
und von der Unsterblichkeit berührt hat, ist fraglich. Plato,
der beide Lehren kennt, kann dieselben sehr wohl direkt
aus dem Buche des Alkmäon geschöpft haben. Zweifelhaft
ist auch, ob im Buche des Philolaos seine eigene Seelen-
theorie vorkam. Plato konnte dieselbe, ebenso wie die mut-
mafslich dem Eurytos zugehörige, auf mündlichem Wege
überkommen haben. Dasselbe kann auch hinsichtlich der
Lehre vom StoflF und den Elementen, falls diese dem Philo-
laos angehört, der Fall gewesen sein. Doch ist die Möglich-
keit nicht ausgeschlossen, dafs er aufserdem auch das Buch
des Philolaos gekannt hat.
Durch diese Gründe, die natürlich wieder auf der
Grundannahme eines persönlichen Verkehrs Piatos mit Philo-
laos ruhen (D. L. III. 6), wird allerdings die philolaische
Herkunft der StoflFlehre des Timäus nur als möglich er-
wiesen. Aber auch wenn Plato sie von einem anderen
Pythagoreer seiner Zeit übernommen hatte, bleibt sie ein
Zeugnis für den damaligen Stand des pythagoreischen Denkens.
Jectenfalls ist dieses Lehrstück des platonischen Timäus mehr
als irgend ein anderes geeignet, für eine Entlehnung aus
dem damaligen wissenschaftlichen Pythagoreismus angesehen
D«riBf. I. 13
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194 Erste Periode. Zweiter Abschnitt. Bruch mit dem HylopsychismuB.
ZU werden. Doch möchten sich im platonischen Timäus
wohl noch andere Lehrstücke finden, die als Ertrag des
Verkehrs mit Philolaos betrachtet werden könnten. So wird
hier gelehrt, dafs alle Bewegung auf der ungleichartigen
(also gegensätzlichen) Beschaffenheit der Dinge beruht (57 E) ;
die Krankheiten entstehen durch Überfülle oder Mangel-
haftigkeit der Stoffe im Körper (82) und dergl. Überhaupt
kann Plato doch die ganze abenteuerliche Physiologie seines
Timäus, dessen Abfassungszeit im Anschlufs an die unter-
italische Reise als unzweifelhaft erwiesen werden wird, nicht
aus den Fingern gesogen haben. Hier fallen die alten
Nachrichten über das von Plato in Unteritalien gekaufte
Buch, die auch in der Form auftreten, dafs er von Philolaos
selbst drei pythagoreische Bücher gekauft habe (Satyros um
180 vor Chr. bei D. L. III. 9; VIII. 15, 84), schwer ins
Gewicht. Vielleicht ist das ganze Lehrsystem des Timäus
von philolaischen Gedanken, die nur dem damaligen Stand-
punkte Piatos entsprechend umgestaltet sind, durchzogen.
Doch möge es der Kürze halber bei dieser schwierigen Frage
hier mit dieser Andeutung sein Bewenden haben.
Nach allem diesem kann Philolaos nur in sehr bedingter
Weise als Pythagoreer angesehen werden, wenngleich er
(D. L. VIII. 84 f.) , vielleicht schon unter dem Einflufs der
gefälschten Schrift, als solcher bezeichnet wird.
Zur Vervollständigung dieses Bildes der letzten Pytha-
goreer mufs schliefslich noch das Wenige angeführt werden,
was über den Taren t ine r Archytas zuverlässig bekannt
ist. Seine Lebenszeit wird dadurch bestimmt, dafs auch mit
ihm Plato in Berührung gekommen ist. Wenn dies bereits
auf der ersten unteritalischen Reise Piatos geschehen ist
(Cic. Fin. V. 87; Rep. I. 16; Cato III. 41), so mufs Archytas
doch damals noch in ganz jugendlichem Alter gestanden
haben. Dagegen scheint die Erzählung, dafs Plato auf
seiner zweiten sizilischen Reise 367 eine Annäherung
zwischen Archytas nebst seinen anderen Freunden in Tarent
und dem jüngeren Dionysius von Syrakus herbeigeführt
habe (7. piaton. Brief 338 C) und, als er auf seiner dritten
sizilischen Reise (361) durch die Ungnade des jüngeren
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HL 8. Weiterer Verlauf des wissenschaftliclien Pythagoreismus. 195
Dionys ernstlich gefährdet war, durch die Fürsprache des
Archytas gerettet worden sei (D. L. III. 23, VIII. 79; Z.
III. 1. 424. 4) geschichtlich zu sein. Archytas ist sonach
jttnger als die „letzten Pythagoreer". Ob er selbst noch
in irgend einem Sinne Anhänger der pythagoreischen Schule
war, ist zweifelhaft. Die zahlreichen Schriften, die ihm
beigelegt wurden, und von denen umfangreiche Bruchstücke
vorhanden sind (Mullach I. 553 flF., IL 117 ff.), sind jeden-
falls, soweit sie philosophischen Inhalts sind, neupytha-
goreische Fälschungen aus dem letzten vorchristlichen Jahr-
hundert. Auf diesen Fälschungen beruht wohl auch das
Zeugnis des Horaz in der Archytasode (I. 38), nach dem
er sich zur Seelenwanderungslehre bekannt haben sollte
(V. 14). Danach müssen denn auch die Anspielungen
dieser Ode auf seine Leistungen als Astronom und Natur-
forscher (Messung der Oberfläche des Meeres und des Fest-
landes, Berechnung der Zahl des Sandes) auf denselben
unzuverlässigen Quellen beruhen. Aristoteles erwähnt
nur zwei naturwissenschaftliche Begrifisbestimmungen von
ihm, die der Windstille und der Meerestille (1043, 21).
Von dem Aristotelesschüler Ende mos ist ein Bericht er-
halten über eine scharfsinnige Fragestellung des Archytas,
durch die er offenbar die Realität des unendlichen Raumes
beweisen wollte. „Kann man am Ende der Welt die
Hand oder den Stab ausstrecken?" (Simplic. Phys. 467;
Z. 436, 2).
Entsprechend werden ihm auch in den Zeugnissen
Späterer (z. B. D. L. VIII. 83) vornehmlich geometrische,
musiktheoretische und mechanische Leistungen zugeschrieben.
Er soll z. B. einen Automaten, eine fliegende Taube, kon-
struiert haben ((jell. N. A. X. 12). Aufserdem hat er sich
(nach Aristoxenos, D. L. VIII. 82) als Feldherr aus-
gezeichnet und ist niemals besiegt worden. Und als er
einmal durch die Umtriebe seiner Neider die Feldherrn-
würde verlor, war eine Niederlage die Folge. Und nach
einer anderen Nachricht (ib. 79) soll er siebenmal hinter-
einander auf Jahresfrist zum Feldherm gewählt worden
sein, obwohl das Gesetz eine Wiederwahl nicht gestattete.
13 ♦
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196 Erste Periode. Dritter Absclin. Stoflfu. bewegendes Prinzip getrennt
Ebenso wird er als ein Muster aller Tugenden gepriesen
(ib. und Z. 341, 2).
Dritter Abschnitt.
StofT und bewegendes Prinzip getrennt (primitiver
Materialismus), ca. 460 bis gegen 300.
Die Abenteuerlichkeiten der zweiten Stufe, ihr Bruch
mit der Wirklichkeit konnten den auf eine naturwissen-
schaftliche Erklärung der gegebenen Welt gerichteten Geist
nicht befriedigen. So kehrt die Forschung von dem durch
Parmenides und die Pythagoreer eingeschlagenen Irrweg zum
Streben nach einer haltbaren Erklärung der Erscheinungswelt
zurück. Die von den Nachtretern der milesischen Schule
eingeschlagene Richtung reagiert gegen diese unmöglichen
Theorien. Aber es konnte nach solchen Zwischenfällen nicht
einfach zu den Grundanschauungen der Milesier zurück-
gekehrt werden. Als dauernde Nachwirkung der Leugnung
der Bewegung und Veränderung im eleatischen Systeme
bleibt eine gemeinsame Eigentümlichkeit der hier in Betracht
kommenden Systeme zurück : das Fallenlassen der Lebendigkeit
und Um Wandlungsfähigkeit des UrstoflFes. Der Hylopsychis-
mus wird nicht erneuert. Der UrstoflF wird in allen diesen
Systemen als unveränderlich gegeben betrachtet. Alle Mannig-
faltigkeit des Seienden entsteht nur durch verschiedene
Mischungsverhältnisse des UrstoflFes. Und zwar ist diese
Mischung eine rein mechanische, ein blofses Nebeneinander-
liegen der StoflFteilchen. Von der Entstehung neuer StoflFe
durch chemische Verbindung im Unterschiede von einem
mechanischen Gemenge hat diese alte Naturwissenschaft
noch keine Ahnung. Um aber die grofse Mannigfaltigkeit
des in der Natur Gegebenen erklären zu können, mufste
eine gewisse Mannigfaltigkeit der BeschaflFenheit schon in
den ursprünglichen Stoflf verlegt werden. Und um die Ent-
stehung der verschiedenen Mischungsverhältnisse in dem an
sich toten und bewegungsunfähigen StoflFe ableiten zu können,
mufste femer als zweites Hauptprinzip der Welterklärung
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1. Empedokles (um 465). 197
eine vom StoflFe gesonderte bewegende Kraft angenommen
werden. Es entstehen so Systeme, die mit dem modernen
Materialismus, der alles aus dem Stoffe und den schon in
der unorganischen Natur waltenden Kräften ableitet, eine
gewisse Ähnlichkeit haben.
Diese Entwicklung vollzieht sich annähernd gleichzeitig
in drei verschiedenen Formen durch drei verschiedene
Männer auf verschiedenen Schauplätzen, durch Empe-
dokles in Sizilien, durch Anaxagoras in Kleinasien und
Athen, durch Leukippos wahrscheinlich in Unteritalien.
Und da das System des Leukippos seine Vollendung und
Weiterbildung in etwas späterer Zeit durch seinen grofsen
Schüler Demokrit erhält, und da femer in dieser Zeit
auch noch einige Nachzügler der hylopsychistischen Rich-
tung zu nennen sind, so erhalten wir folgende fünf Kapitel :
1. Empedokles (um 465).
2. Anaxagoras (um 460).
3. Leukippos (um 450).
4. Die letzten Vertreter des alten Hylopsy-
chismus (um 430).
5. Demokrit (ca. 420).
6. Die Schule Demokrits in Abdera (ca. 410
bis gegen 300).
1. Empedokles (um 466).
Empedokles entstammte der reichen und blühenden
Stadt Agrigent (Akragas) im Süden Siziliens. Eine spätere
Nachricht weist dieser Stadt die für antike Verhältnisse
fabelhafte Zahl von 800000 Einwohnern zu und legt Empe-
dokles in bezug auf seine Landsleute das Witzwort bei:
„Sie prassen, als ob sie morgen sterben würden, und bauen
Häuser, als ob sie ewig leben würden" (D. L. VIII. 63).
Schon sein Grofsvater war dort ein reicher und angesehener
Mann und huldigte dem nur für sehr Begüterte zugäng-
lichen Rennsport mit dem Viergespann. Sein Name wurde
in den Verzeichnissen der Olympiasieger für das Jahr 496,
also kurz vor der Geburt seines Enkels, als Sieger mit dem
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198 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
Viergespann verewigt (D. L. VIII. 51). Empedokles selbst
ist um 492 geboren. Er mufs ein frühreifer Geist gewesen
sein. Schon bald nach 470, also in den zwanziger Jahren,
trat er in seiner Vaterstadt politisch hervor. Es mufs also
seine wissenschaftliche Lehrzeit, namentlich soweit sie etwa
mit persönlichem Aufenthalt in anderen Städten verbunden
war, vor diesen Zeitpunkt fallen.
Die äufseren Zeugnisse über seinen philosophischen
Bildungsgang weisen auf Parmenides und die Py t ha-
ger eer hin, sind aber nur teilweise zuverlässig. Nach
Theophrast war er Anhänger oder Nacheiferer des Par-
menides und Nachahmer desselben auch in der dichterischen
Form seines Lehrvortrags, mehr noch aber der Pythagoreer
(D. L. 55 ; D. 477). Eine persönliche Schülerschaft bei Parme-
nides behauptet Alkidamas, ein Schüler des Gorgias, der
wieder Schüler des Empedokles war (D. L. 56). Dies
Zeugnis des Alkidamas verliert aber alles Ansehen, wenn
er die Schülerschaft bei Parmenides in dieselbe Zeit mit
der des über 20 Jahre älteren Zeno verlegt und ihn femer
auch zum Schüler des Anaxagoras und I^thagoras macht.
Nun ist zwar eine persönliche Schülerschaft bei Parmenides
der Zeitfolge nach nicht unmöglich, da dieser, geboren um
540, um 470 noch gelebt haben kann; andernteils aber
konnte Empedokles wie die poetische Form, so auch den
Lehrinhalt des Gedichts diesem selbst entnehmen. In einigen
Angaben wird er sogar noch zum persönlichen Schüler des
Xenophanes gemacht, dem er auch die dichterische Form
entlehnt habe (D. L. VIII. 56, IX. 20). Dies ist nun, wenn-
gleich Xenokrates noch um 478 gelebt hat, kaum denkbar.
Immerhin aber mag der jugendliche Feuergeist, wenn er
auszog, um Weisheit zu gewinnen, seine Schritte zunächst
nach Elea gerichtet haben.
Noch weniger haltbar sind in den Einzelheiten die
Zeugnisse für seine Beziehungen zu den Pythagoreem.
Nach Angabe des Geschichtschreibers Tim aus um 280 vor
Chr. (D. L. 54) soll er Schüler des Pythagoras selbst ge-
wesen sein. Dies ist der Zeitfolge nach unmöglich. Und
ebenso hinfällig ist die von diesem Autor hinzugefügte
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1. Empedokles (um 465). 199
Geschichte, er sei wegen Aneignung pythagoreischer Lehren
in seinen eigenen Schriften von den Vorträgen des Pytha-
goras ausgeschlossen worden. Neanthes (um 240 vor Chr.)
(D. L. 55) macht ihn wenigstens nicht zum Schüler des
Pythagoras selbst, sondern nur der Pythagoreer, berichtet
aber wenigstens auch, diese hätten nach der Veröflfent-
Jichung ihrer Lehren in seinen Gedichten die ^allgemeine
Bestimmung getroffen, künftig Dichter nicht mehr zuzu-
lassen.
Nach der inneren Beschaffenheit seiner Lehre hat er
zur Grundrichtung seines Denkens den Anstofs durch die
eleatische Lehre erhalten und hat femer wesentliche Einzel-
züge seiner Lehre aus dem pythagoreischen Hauptsystem
übernommen. Und da er letzteres nur durch mündliche
Überlieferung kennen lernen konnte, so wird wohl wenig-
stens ein zeitweiliger Aufenthalt in Kroton angenommen
werden müssen.
Auf diese Lehrzeit folgte alsbald die selbständige Aus-
bildung seiner eigenen Ideen, sowie die Ausbreitung der-
selben im mündlichen Verkehr und die Abfassung seines
Lehrgedichtes „Über die Natur". Dafs er zur Zeit der
Abfassung dieser Dichtung Anhänger hatte, beweist die darin
vorkommende Anrede an einen derselben, namens Pausa-
nias, der auch anderweitig als Lieblingsschüler von ihm
erwähnt wird (D. L. 60).
Gehen wir zunächst auf den Inhalt dieses Lehrgedichts
ein. Erhalten sind von demselben über 300 Verse, mut-
mafslich ungefähr der sechste Teil (Diels, Die Gedichte
des Empedokles, [Sitzungsber. der Berl. Akad., 1898). Er-
gänzt wird unsere Kenntnis seiner Naturlehre durch die
Zeugnisse Späterer, namentlich des Aristoteles und Theo-
phrast (alles auf sein Leben, seine Lehre und seine Dich-
tungen überhaupt Bezügliche bei Diels, Fragmenta poet.
philos.).
Im Eingange des Gedichts (denn dahin wird doch wohl
Fr. 111 gehören) stellt er dem Angeredeten die unerhör-
testen Fähigkeiten in Aussicht, die er durch die zu ver-
kündende Lehre erlangen wird. Sie wird ihn befähigen,
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200 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
Krankheiten zu heilen, das Alter unschädlich zu machen,
verderbliche Winde, die die Fluren verwüsten, zu be-
schwichtigen oder auch hervorzurufen, Dürre und Regen zu
schaffen, ja Tote aus der Unterwelt zurückzurufen. Wir
sehen, Empedokles ist nicht der Mann, dem es blofs um
•theoretische Erkenntnis der Natur zu tun ist; er ist ein
antiker B^co von Verulam, der ja auch verhiefs, dafs
eine gesteigerte Naturerkenntnis den Menschen „handeln
lehren werde wie die Natur". Gewifs hat er hier den Mund
etwas zu voll genommen und Dinge verheifsen, an deren
Verwirklichung er im Ernst selbst nicht glauben konnte.
Er ist eben schon in dieser rein naturwissenschaftlichen
Periode eine Mischung von Newton und Cagliostro, wie
Renan von ihm gesagt hat.
Dennoch scheint diesen prahlerischen Verheifsungen ein
tatsächlicher Kern zu Grunde zu liegen. Nach dem alten
Geschichtschreiber Timäus (um 260; D. L. 60) soll er
durch schlauchartig hergerichtete und auf den Höhen an-
gebrachte Eselsfelle die versengenden Passatwinde (den
Sirokko) unschädlich gemacht und sich dadurch den Namen
des „Windab wehrers" erworben haben. Vielleicht liegt in
diesem Bericht in der Verwendung von Eselsfellen und in der
Schlauchform eine durch abergläubische Vorstellungen und
Erinnerungen an die Odysseussage herbeigeführte Entstellung
der Überlieferung. Der Esel war den unterirdischen Göttern
geweiht, und die Schläuche erinnern an die in Schläuche
eingeschlossenen Winde der Odyssee. Vielleicht ist die zu
Grunde liegende Tatsache die Vermauerung von engen Berg-
schluchten oder auch die Absperrung derselben, durch die
der Sirokko einbrach (Plut. Kolot. 32), durch ausgespannte
Tierhäute. Nach einem anderen Bericht (D. L. 70) soll er
in Selinus einen die Luft verpestenden und die Gesundheit
der Bewohner schädigenden Flufs durch Hineinleitung ge-
sunden Wassers gereinigt haben. Ebenso wird die Heilung
einer von den Ärzten aufgegebenen Frau (D. L. 69), sowie
die Wiederbelebung einer Scheintoten durch ihn erwähnt.
Letzteren Vorfall hatte Heraklides von Pontos in zwei
verschiedenen Schriften behandelt (D. L. 63, 67). Eine der-
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1. Empedokles (um 465). 201
selben führte sogar den Titel „Über die Scheintote". In
ihr war der Vorfall offenbar romanhaft ausgeschmückt; der
Scheintod, der nach anderen Angaben (Plin. H. N. VII. 52)
nur sieben Tage dauerte, wird hier ein 30tägiger, und
Empedokles benutzt hier den Anlafs, um durch unerklär-
liches Verschwinden unter wunderbaren Erscheinungen den
Glauben an seine Entrückung unter die Götter hervorzu-
rufen. Nach den einfacheren Berichten scheint Empedokles
an dem sonst völlig erstarrten Körper in der Gegend des
Herzens noch eine Spur von Wärme entdeckt und durch
Beseitigung einer Abnormität in der Lage der Gebärmutter
(Plin. a. a. 0.) die Erstarrung beseitigt zu haben. Viel-
leicht hatte er selbst im Gedichte den Vorgang erwähnt
(D. L. 60), und zwar in dem Zusammenhange, wo er den
Schlaf als partielle und den Tod als totale Abkühlung des
Blutes erklärte (l). 435, 437). Dafs er durch solche Taten
bei den Unkundigen in den Ruf eines Zauberers kommen
mufste (D. L. 59), ist selbstverständlich.
In dem Ausgangspunkte seiner Lehre nun stimmt er
bis auf den Wortlaut mit Parmenides überein. Es kann
kein absolutes Werden, kein Werden aus dem Nichts und
kein absolutes Vergehen als Vergehen ins Nichts geben
(Arist. 314 b, 7; D. 320). Aber die völlige Leugnung des
Werdens und Vergehens selbst macht er darum doch nicht
mit. Es gibt ein Werden und Vergehen im relativen Sinne,
nämlich als Mischung und Entmischung vorhandener un-
veränderlicher StoflFe von verschiedener BeschaflFenheit. „Ein
Werden gibt es von nichts, noch ein Vergehen, sondern nur
Mischung und Entmischung des Gemischten. Werden (Physis)
aber nennen es die Menschen" (Fr. 6; vergl. Fr. 114;
Aristot. 314 b, 16; D. 32(5). Diese Stoffe sind Erde, Wasser,
Luft und Feuer.
Schon bei Anaximander und Anaximenes waren
diese vier angeblichen Stoffe vorgekommen, wenngleich nur
als ümwandlungsprodukte des einheitlichen Urstoffes. Be-
ziehungen des Empedokles zu Anaximander werden auch in
den vorhandenen Nachrichten (D. L. VIII. 7) noch ange-
deutet, wenngleich nur in der Weise, dafs er als dessen
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202 Erste Periode. Dritter Absclin. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
Nachahmer im äufseren Auftreten bezeichnet wird. Aber
auch darin blickt eine Abhängigkeit von Anaximander noch
durch, dafs er nach dem Zeugnis des Aristoteles (985,
31; 330 b, 19) das Feuer den drei übrigen Stoffen entgegen-
setzte und so die Vierzahl auf eine Zweizahl zurückführte.
Übrigens hatte auch Parmenides aus seiner ursprüng-
lichen Z weih ei t diese Vierzahl hervorgehen lassen. Tat-
sächlich sind drei dieser angeblichen Elemente, im weiteren
Sinne gefafst, Aggregatzustände; das vierte ist ein chemi-
scher Prozefs. Indem aber Empedokles diese vier Stoflfe zu
UrstolTen verabsolutierte, ist er der Urheber der das spätere
Altertum beheiTSchenden und bis zur Neuzeit geltend
gebliebenen Lehre von den vier Elementen geworden.
Aus diesen vier Stoffen nun bestehen alle Einzeldinge,
wenngleich nicht in jedem alle enthalten sind. Die unend-
liche Mannigfaltigkeit der Dinge erklärt sich dadurch, dafs
das Mischungsverhältnis ein unendlich verschiedenes ist
(D. 43 flf.). Die Weise der Verbindung ist mechanische
Mischung, in der Art, dafs die Teilchen des einen Stoffes
in die Zwischenräume oder Öffnungen (Poren) des anderen
eintreten (Aristot. 325 b, 10). Die Theorie der mechanischen
Mischung hat zur Voraussetzung die Annahme eines Leeren
in irgend einer Form, wenngleich Empedokles das eigent-
liche Leere verneint haben soll (Z. 768, 1). Vielleicht aber
bezieht sich diese Leugnung des Leeren bei ihm nur auf
den vorweltlichen Zustand der völligen Durchdringung der
Elemente, von dem nachher die Rede sein wird. Er mufs
doch einen vom Stoffe nicht ausgefüllten Raum angenommen
haben, wenn er auch denselben vielleicht mit Parmenides
als das Nichtseiende bezeichnete (Arist. 326 b, 8; Theophr.
de sensu 13). Die Elemente existieren in der Form sehr
kleiner, runder Teilchen (D. 312, 315, 320; Arist. 305, 2;
325 b, 5; Fr. 96). Der Grundschwierigkeit dieser Lehre
von kleinsten Stoffteilchen, ferner der unendlichen Teilbar-
keit des Stoffes scheint er sich dadurch entzogen zu haben,
dafs er sagte, die kleinsten Teilchen der Elemente seien
zwar an sich noch weiter teilbar, teilten sich aber nicht
weiter (Arist. 305, 1).
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1. Empedokles (um 465). 20B
Die Grundstoffe besitzen nicht nur nicht mehr die
Wandlungsfähigkeit, wie in den hylopsychistischen Systemen,
es feHt ihnen auch jede Art von Eigenbewegung, Die ihre
Mischung und Entmischung bewirkenden Kräfte liegen nicht
in ihnen selbst. Die Triebkräfte der Bewegung werden jetzt
vom Stoffe gesondert. Es sind ihrer zwei: die Liebe als
die Kraft der Verbindung des Ungleichartigen und der Streit
als die Kraft der Trennung des Ungleichartigen, also in-
direkt als die der Zusammenführung des Gleichartigen. Ein
Einflufs des Parmeuides zeigt sich hier wenigstens in
der Liebe, die auch geradezu als Aphrodite bezeichnet wird
(Plato, Soph. 242 D). Den Streit konnte er aus Heraklit
entnehmen. Jedenfalls nimmt er in noch ganz mythologisch-
poetischem Sinne und in Ermangelung physischer Kräfte zwei
Triebkräfte des Menschenlebens einfach in die unorganische
Natur hinüber. Doch ist diesem primitiven Denker der
Unterschied von Kraft und Stoff noch so wenig aufgegangen^
dafs er auch von diesen beiden Kräften redet wie von
körperlichen Stoffen, die den Dingen beigemischt sind (Arist.
314, 16; 1091b, 12).
Empedokles scheint nun im Prinzip wie Heraklit
einen regelmäfsigen Wechsel von Entstehen und Vergehen
der Welt angenommen zu haben (Arist. 187, 24; 250 b, 26;
252, 5; 279b, 15; 187, 20; Z. 778). Dies konnte nach
seinen Voraussetzungen nur so geschehen, dafs einmal die
Liehe eine vollständige, gleichmäfsige Mischung der Elemente
unter Aufhebung aller Mannigfaltigkeit der Mischungsver-
hältnisse hervorgebracht hatte, aus welchem Zustande dann
durch Wirksamwerden des Streites eine fortschreitende Zu-
sammenführung des Gleichartigen hervorging bis zur völligen
Sonderung der Elemente. Diesen Zustand, der aber wohl
nur ein gedachter, niemals wirklich werdender ist, nannte
er Chaos. Sodann aber durch Wiedereintreten der Liebe
eine fortschreitende Vermischung in den mannigfachsten
Mischungsverhältnissen. Es gäbe also danach zwei entgegen-
gesetzte naturlose Zustände, den der vollständigen Durch-
dringung und den der vollständigen Sonderung aller Ele-
mente, und zwischen diesen beiden Endpunkten zwei mögliche
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204 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt«
Arten der Weltentwicklung, durch Eintreten des Streits
und der Liebe (Fr. 17). Dieser Umschlag im Wirken der
beiden Kräfte ist ja freilich ebensowenig naturwissenschaft-
lich; er ist noch ebenso mythologisch wie die beiden Kräfte
selbst. Er ist einfach ein nicht weiter zu erklärendes, als
tatsächlich hinzunehmendes Weltgesetz. Empedokles ist
jedoch tatsächlich auf diese doppelte Möglichkeit der Ent-
stehung des Weltprozesses nicht eingegangen, sondern hat
nur von dem einen Ausgangspunkte aus, der alleinigen
Herrschaft der Liebe, seine Welt entstehen lassen (Aristot.
301, 15; 334, 5).
Den Zustand, von dem diese Entwicklung ausgeht,
nennt er „Kugel" (Sphairos). Diese Benennung erinnert
wieder an Parmenides. Dessen Lehre konnte ihn auch
veranlassen, von diesem Zustande der Alldurchdringung der
Elemente seinen Ausgangspunkt zu nehmen. In dieser Kugel
wird in einem gegebenen Momente der Streit wirksam, der
das Ungleichartige auseinanderführt und dadurch das Zu-
sammentreten des Gleichartigen ermöglicht. Eine Ursache
für diesen Beginn des Weltprozesses gab er nicht an. Es
war ihm ein Weltgeschick, das einfach als Tatsache hin-
genommen werden mufs (Arist. 1000 b, 12).
Durch die trennende Wirkung des Streites wird nun
zunächst die Luft aus der Masse ausgesondert und ergiefst
sich rings um den Sphairos (D. 334, 582). Dann sondert
sich das Feuer aus und ergiefst sich in demselben Räume
wie die Luft. Dieser Beginn der Sonderung mit den beiden
leichtesten Elementen beweist, dafs er sich den Streit nicht
als mechanisch sondernde Zentrifugalkraft gedacht hat. In
diesem Falle hätte sich ja zunächst das Schwerere absondern
müssen. Durch die Wirkung des Feuers verhärtet sich ein Teil
der Lufthülle zum glasartigen Himmelsgewölbe (D. 339), an
dessen innerer Fläche jetzt das Feuer ausgebreitet ist (D. 582).
Diese feste Begrenzung der Welt stimmt mit der „Trug-
lehre" des Parmenides überein. Eine weitere Scheidung
vollzieht sich an dem im Inneren der Kugel verbleibenden
Stoffe, der Mischung von Erde und Wasser, die sich, ent-
sprechend der Ausscheidung von Luft und Feuer, in einen
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1. Empedokles (um 465). 205
engeren Raum zusammengezogen hat (D. 334), Unter Mit-
wirkung einer Wirbelbewegung prefst sich das Wasser aus
der Erde heraus (D. 334), während zugleich die aus-
trocknende Wirkung der Feuerhülle die Erde fest werden
läfst. Wohl in diesem Zusammenhange hat Empedokles das
Meer den „Schweifs der Erde" genannt (Arist. 357, 24;
D. 381), was natürlich nicht im Sinne einer Umwandlung
der Erde in Wasser verstanden werden darf. Die die Erde
umgebende atmosphärische Luft ist von der Luft als Element
verschieden; sie entsteht durch Verdunstung des Wassers
durch Wirkung der Feuerhülle, ist also eigentlich Wasser
(D. 334).
Bis dahin hat sich also folgender Zustand ergeben.
Innerhalb der äufsersten Kugelhülle, des Firmamentes aus
geschmolzener Luft, hat sich als innere Kugelhülle das
Feuer ausgebreitet. Im Inneren der Kugel befindet sich,
umgeben vom Wasser und der aus dem Wasser entstandenen
atmosphärischen Luft, als letzter Rückstand des Sphairos
die Erde, aller Wahrscheinlichkeit nach mit Parmenides
als kugelförmig gedacht. Das Verharren der Erde in der
Mitte der Welt scheint er durch die Wirbelbewegung der
sie umgebenden Elemente erklärt zu haben (Plato Phaed.
99 B; Arist. 295, 16).
Der weitere Verlauf der Weltbildung ist, da die be-
treffenden Teile des Gedichts fast völlig verloren sind und
die abgeleiteten Nachrichten wegen Kürze, Unklarheit und
Verderbnis des Textes teilweise unverständlich bleiben, nicht
mehr vollständig zu ermitteln. Vielleicht liefs er die Feuer-
hülle mit der Sonne und die dunkle, aber mit den Fix-
sternen als zurückgebliebenen Teilen der ursprünglichen
Feuerhülle versehene Lufthülle (D. 341 f., 582) sich in zwei
Hilften einer einheitlichen Kugelschale umwandeln (D. 438),
welche letztere nun durch ihren Umschwung um die Erde
den Wechsel von Tag und Nacht hervorbringt (Z. 787;
D. 339, 582, 623). Und da nach einer anderen Stelle
(D. 582) die Fixsterne am Himmelsgewölbe befestigt sein
sollen, müfste er auch dies an diesem Umschwünge haben
teihiehmen lassen (Arist. 295, 16; 284, 24).
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206 Erste Periode. Dritter Absclm. StofF u. bewegendes Prinzip getrennt.
Zu dieser Annahme stehen aber in unlösbarem Wider-
spruche die Angaben über die Beschaffenheit der Sonne.
Diese ist nur das am Firmamente entlang wandernde Spiegel-
bild des unter der Erde befindlichen Feuers. Sie wird in
diesem Sinne geradezu mit einer Abspiegelung im Wasser
verglichen (D. 350 f., 582, 626; Plut. de orac. c. 12). Die
eigentliche Sonne ist entweder die unter der Erde befind-
liche Feuerhalbkugel als Ganzes oder ein besonderer Teil
derselben (D. 334, 350; D. L. VIII. 77). Danach müfste
er angenommen haben, dafs sich die Feuerhemisphäre am
Tage, ja vielleicht dauernd , unterhalb der bewohnten Seite
der Erde befinde. Dann bleibt aber immer noch mehreres
unverständlich. Zunächst die kreisförmige Gestalt des
Sonnenbildes. Nach einigen Stellen (D. 350 f ) scheint es,
als ob er in der Sonne ein Spiegelbild der dem Feuer im
Wege stehenden Erde gesehen hätte. Er hätte sie dann
für dunkel gehalten und das Tageslicht aus den seitwärts
von der Erde nach oben dringenden Strahlen des unteren
Feuers abgeleitet. Dem widerspricht aber ein Vers des
Gedichts (251 Motto), nach dem durch das Dazwischentreten
der Erde gerade die Nacht bewirkt werden soll (vergl. Plut.
-^^Plat. p. lOah)- Zweitens aber auch die tägliche Wan-
derung dieses Spiegelbildes von Ost nach West. Und end-
lich der Wechsel von Tag und Nacht. Weder wenn die
Feuerhemisphäre nachts nach oben kommt, noch wenn sie
unten bleibt, aber dauernd ihre Strahlen nach oben sendet,
kann es Nacht werden.
Kurz, es ist hier eine unausftillbare Lücke in der Bericht-
erstattung (vergl. Zeitschr. für Philos. Band 104). Nur wenn
wir die Vorstellung von den beiden Sonnen als eine Empe-
dokles angedichtete Fälschung ansehen wollten, liefse sich
ein einheitliches und verständliches Weltbild herstellen.
Jedenfalls aber zeigt diese Vorstellung von der Sonne als
blofsem Spiegelbilde eines uns verborgenen Lichtes auf einer
glasartigen Fläche eine so grofse Verwandtschaft mit dem
pythagoreischen Hauptsystem, dafs im Falle ihrer Richtig-
keit eine Entlehnung, also eine Beeinflussung durch den
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1. Empedokles (am 465). 207
wisseDSchaftlichen Pythagoreismus unbedingt angenommen
werden mufs.
Der Mond ist ein vom Firmament abgesonderter Teil
des orsprOnglichen Schmelzungsprozesses (D. 357), also glas-
artig, von scheibenförmiger Gestalt (D. 358; D. L. VIII. 77).
Er ist doppelt so weit von der Sonne (also vom Firmament)
wie von der Erde entfernt (D. 362). Er empfängt sein Licht
von der Sonne ; Empedokles mufs ihm jedoch , da in ihm,
ähnlich wie im Firmament, zurückgebliebene Feuerteile sind
(D. 357), auch ein, wenngleich schwaches, Eigenlicht bei-
gelegt haben. Die Planeten werden deutlich von den Fix-
sternen unterschieden (D. 342), doch fehlen nähere Nach-
richten über die sie betreffende Lehre.
Zu bemerken ist noch, dafs Empedokles bei dieser
Weltbildung, ähnlich vrie Anaximander, aufser der my-
thologischen Triebkraft des Streites auch die erfahrungs-
mäfsigen Kräfte und Wirkungen der Elemente, insbesondere
des Feuers als Schmelzung, Austrocknung und Verdunstung,
in Tätigkeit treten läfst. Er läfst in naiver, halb unbe-
wufster Weise im geeigneten Momente diese natürlichen
Wirkungen der Tätigkeit des Streites zur Seite treten, ja
diese geradezu ablösen. Vielleicht * beruht darauf auch die
von Aristoteles bezeugte Sonderstellung, die er dem Feuer
im Vergleich mit den drei übrigen Elementen anwies, sowie
die Angabe, er lasse die Teilchen der Elemente „durch
Wärme, Weichheit und Feuchtigkeit wie durch einen Leim"
verbunden sein (Plut. Kolot. 10). Selbstverständlich ist in
der so gewordenen Welt die Entmischung keine vollständige.
Ausdrücklich wird bezeugt, dafs in der Welt die Mischung
der Elemente stets vorhanden ist (D. 336). Entsprechend
mufs also in ihr auch ein partielles Fortwirken der Liebe
gedacht werden. Sie zeigt ein ständiges Wechselspiel der
beiden Grundkräfte.
Von den organischen Wesen sind die Pflanzen vor der
Entstehung des gegenwärtigen Weltzustandes, in dem Tag
und Nacht wechseln, aus der Erde entstanden (D. 438).
Sie sind beseelt, was aber bei Empedokles kein Hinausgehen
über die Natur der Elemente bedeutet, da auch die Seele
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208 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
aus den Elementen besteht (Z. 792). Von den animalischen
Wesen sind zuerst einzelne Glieder (z. B. Augen, Arme,
Häupter ohne Hälse; Di eis Fr. 57) aus dem Boden her-
vorgewachsen. Diese wurden dann durch Wirkung der
Liebe — die hier besonders deutlich als blinde, zwecklos
waltende Naturmacht erscheint — zu unförmlichen Gestalten
verbunden. Es entstehen Wesen mit Doppelgesichtern oder
doppelter Brust, Stiere mit Menschenköpfen und Menschen
mit Stierköpfen, Rinder mit Händen u. dgl. (Fr. 61; Arist.
430, 28; 198 b, 31; 640, 19; Plut. Kolot. 27). Diese sind
aber weder lebens- noch fortpflanzungsftlhig. In diesem
Gedanken liegt wenigstens ein entfernter Anklang an
Darwins natürliche Auslese, weshalb auch Aristoteles
(198b, 16) bei der Erwägung der Möglichkeit zweckmäfsiger
Bildungen ohne natürliche Zwecktätigkeit diese Lehre des
Empedokles als Beispiel heranzieht. Eine Fortentwicklung
durch Anpassung und Vererbung erworbener Eigenschaften
hat er jedenfalls noch nicht gelehrt; diese wird vielmehr
ersetzt durch die fortgehenden npuen Zusammenballungen,
bis lebensfähige Organismen — aber doch auch nur durch
Zufall ! — entstehen (D. 430).
Eine besondere Seele gibt es nicht; die Seelentätig-
keiten vollziehen sich durch die Elemente. Die Sinnes-
wahmehmungen entstehen durch Berührung des Gleich-
artigen in dem betreffenden Sinnesorgan mit dem Gleich-
artigen im Wahrgenommenen (Fr. 109; Aristot. 1009 b, 17:
S. Emp. Gramm. 303). Beim Gesichtssinn sind dies unsicht-
bare Ausflüsse, die sich fortwährend von den Objekten los-
lösen und mit solchen des Auges zusammentreflFen; beim
Gehör ist es die bewegte Luft, die ins Ohr eindringt
(Fr. 89; Z. 800, 4 f.; 801, 2). Wegen der von ihm (Fr. 2)
behaupteten Unzulänglichkeit der Sinneserkenntnis wurde
er zu den Vorläufern der Skepsis gerechnet (Cic. Acad. II.
74; D. L. IX. 73). Das Denken geschieht durch das Blut
in der Nähe des Herzens, in dem die Elemente am innigsten
gemischt sind, wo also für alles von aufsen Eintretende am
ersten ein Gleichartiges zur Aufnahme bereit ist. Es ist
also tatsächlich auch nur ein inneres Wahrnehmen des
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1. Empedokles (um 465). 209
Gleichartigen durch das Gleichartige (Fr. 105; Arist. 427,
26; 1009b, 17). Trifft Ungleichartiges dort zusammen, so
entsteht Nichtwissen. Auf dieselbe Art entstehen auch die
Gefühle (Fr. 107; D. 502). Wegen dieses kindlichen Materia-
lismus, der das eigentliche Wesen der Schwierigkeit noch
gar nicht ahnt, wird denn auch Empedokles vorgeworfen,
dafs er nicht zwischen der — an die Organtätigkeit ge-
bundenen — Seele und dem — unabhängig von den Organen
existierenden — Geiste unterscheide (D. 506). Ganz folge-
richtig aber behauptete er, dafs seelische Vorgänge überall
in der Natur vorkommen, wo die gleichen Bedingungen —
Zusammentreffen des Gleichartigen — vorhanden seien, also
z. B. bei den Pflanzen (Z. 802, 1). Im übrigen hat seine
Theorie von der Sinneswahmehmung wenigstens das Ver-
dienst, dafs er hier zuerst ein Problem sah. Und wie
schwer es auf diesem Gebiete dem Denken wurde, sich den
eigentlichen Sachverhalt klarzumachen, das geht schon
daraus hervor, dafs die hervorragendsten Denker des Alter-
tums sich seine Theorie zu eigen gemacht haben, und dafs
sie noch viele Jahrhunderte nach ihm als eine der möglichen
Lösungen Kurs hatte.
So entsteht in diesem System alles durch mechanisch
bewegte Stoffe von einer bestimmten Beschaffenheit. Von
einer unsterblichen Seele kann da so wenig die Rede sein
wie von eigentlichen Göttern; es ist ausgesprochen materia-
listisch. Vielleicht liefs er jedoch, wenn seine Erwähnungen
der Götter (Fr. 21, 23) nicht blofse dichterische Rede-
wendungen sind, auch die Götter des Volksglaubens aus der
Verbindung der Elemente hervorgehen. Über eine waltende
Tätigkeit derselben freilich verlautet nichts, und auch des-
halb ist diese Annahme entstandener Götter nicht wahr-
scheinlich, weil er den Göttemamen auch den Elementen
und den beiden Weltkräften beilegte (Aristot. 333 b, 21;
Cic. N. D. I. 29). Er versteckte also, wie durchweg seine
Vorgänger, einen tatsächlichen Atheismus unter einer mifs-
bräuchlichen Verwendung des Götternamens. Doch scheint
er daneben auch noch eine über die Welt erhabene, nicht
Diriig. I. 14
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210 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoflfu. bewegendes Prinzip getrennt.
nach den rohen Vorstellungen des Volksglaubens zu fassende
Grottheit angenommen zu haben (Z. 815 f.).
Einen Angriff auf dieses System scheint noch Zeno
von Elea in einer Schrift unternommen zu haben, die
unter dem Titel „Erklärung des Empedokles" angeführt
wird (Suidas), über deren Inhalt aber nichts bekannt ist.
Gleichzeitig mit diesem Wirken als Forscher und Lehrer,
also in seinen jüngeren Jahren, hat Empedokles auch eine
politische Rolle in seiner Vaterstadt gespielt. Wenn wir
versuchen, die zerstreuten und lückenhaften Angaben darüber
in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen, so ergibt
sich folgendes. In Agrigent wurde um 470 ein Tyrann ge-
stürzt und eine demokratische Verfassung eingeführt (Diod.
XI. 59). Hierbei scheint (D. L. VIII. 72) sein Vater Meton
bedeutend mitgewirkt zu haben. Wenigstens wird erzählt,
dafs nach dessen Tode neue Bestrebungen in der Richtung
auf die Tyrannis hervorgetreten seien, und dafs Empedokles
diesen gegenüber wirksam für die Eintracht zwischen den
Parteien und ftir bürgerliche Rechtsgleichheit eingetreten
sei. Als Zeuge für seine demokratische Gesinnung wird
Aristoteles angeführt (D. L. 63). Trotzdem mufs die
Demokratie wieder in eine Geschlechterherrschaft über-
gegangen sein. Es wird berichtet, dafs er einen zur Herr-
schaft gelangten Rat von tausend Männern nach dreijährigem
Bestände gestürzt und die Demokratie wiederhergestellt
habe (D. L. 66), natürlich unter Vertreibung der Leiter
dieser Aristokratie. In die Zeit dieser Geschlechterherrschaft
fallen wohl die Züge, nach denen er in bestimmten Einzel-
fällen der Anmafsung und Überhebung der Notablen kräftig
entgegentritt (D. L. 64 f.). Hierzu pafst auch die Angabe,
dafs er die Vornehmen ihrer Gewalttaten und der Ver-
schleuderung des Staatsvermögens überwiesen habe (Plutarch.
Kolot. 32), und das Lob einer gewaltigen Beredsamkeit, das
ihm Timon in den „Sillen" (Fr. 26) erteilt. Aristoteles
hat ihn geradezu für den Erfinder der (durch technische
Regeln geleiteten) Redekunst erklärt (D. L. VIII. 57), und
in der Tat entwickelte sich im Anschlufs an ihn diese Kunst
gerade in Sizilien zu rascher Blüte. Dagegen mufs in die
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1. Empedokles (um 465). 211
nun folgende demokratische Zeit das ihm beigelegte Haschen
nach Ansehen beim Volke durch auffallende Handlungen der
Wohlt&tigkeit und durch pomphaftes Auftreten in Kleidung
und Gebaren fallen (D. L. 73). Ebenso auch als Folge-
erscheinung der Popularität, die ihm durch seinen Kampf
gegen die Geschlechter und durch dies Auftreten zugefallen
war, die Anbietung der Königswürde, d. h. der Tyrannis
(D'. L. 63). Den Massen müfste natürlich ein volksfreund-
licher Tyrann erwünschter sein als die mutmafslich doch
immer wieder drohende Geschlechterherrschaft Denn die
vertriebenen Häupter der Geschlechter werden unablässig
im Bunde mit ihren zurückgebliebenen Stammesgenossen
gegen die Demokratie Sturm gelaufen haben. Empedokles
schlägt in aufrichtiger Anhänglichkeit an die Demokratie
die angebotene Alleinherrschaft aus. Aber er mufs denn
doch dem Ansturm seiner Feinde erlegen sein. Vielleicht
beschuldigte man ihn trotz der Ablehnung auf Grund seines
Haschens nach der Volksgunst des Strebens nach der
Tyrannis. Seine Verbannung wird nicht direkt berichtet,
sie folgt aber aus der Angabe, dafs noch weit später die
Nachkommen seiner Feinde die von ihm erstrebte Rückkehr
hintertrieben hätten (D. L. 67), und dafs er in der Fremde
starb (D. L. 71).
Das war ein schwerer Schlag, der ihn in den besten
Jahren, vielleicht um 460 oder bald nachher, aus einer in
jeder Beziehung glänzenden, durch hohe Erfolge seines
wissenschaftlichen Strebens, durch Reichtum und bürgerliche
Ehren geschmückten Lage hinauswarf und ihn, seiner Habe
beraubt, dem Elend und der Rechtlosigkeit des Verbannten
preisgab. Dieser Schlag mufste ihn bis ins Innerste hinein
erschüttern, und es kann nicht wundernehmen, wenn wir
Empedokles jetzt, in der zweiten Hälfte seines Lebens, als
Vertreter einer völlig anderen Weltanschauung, als Ver-
künder einer seiner bisherigen diametral entgegengesetzten
Lehre antreifen. In der Tat geriet er unter den Einflufs
der melancholischen Orphik in ihrer düstersten und welt-
feindlichsten Gestalt. Wie dies geschah, darüber ist uns
keine Nachricht erhalten. Kunde von der stattgefundenen
14*
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212 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt
„Bekehrung" aber geben uns die Reste des zweiten der
von ihm verfafsten Lehrgedichte, in dessen Titel „Reini-
gungen" (Kathannol) schon der Gedanke der Erlösung der
Seele von ihrer Verunreinigung durch die Haft im Körper
zum Ausdruck kommt.
Den Hauptinhalt dieser Dichtung bildete die Ver-
kündigung, dafs der Mensch ein gefallener Gott ist. Die
an sich göttlichen Seelen sind, weil sie sich durch Mord
oder Meineid befleckt haben, auf lange Zeit (10000 oder
gar 30000 Jahre) in irdische Leiber gebannt und müssen
die verschiedensten Leiber durchwandern (Fr. 115, 124, 126 f.).
Selbst in Pflanzen können sie einkehren. Er selbst weifs
sich als einen aus dem Himmel Verbannten. Er verflucht
den Tag, an dem er frevelhafte Speise zu sich genommen
hat. Diese Rede ist ebenso verworren wie die von der
Verschuldung des Mordes und Meineids im körperlosen
Seelendasein. Die Erde ist ein Jammertal, eine düstere
Höhle, voll Not, Elend und Verbrechen. Er selbst war
schon ein Jüngling, ein Mädchen, ein Strauch, ein Vogel
und ein Fisch (Fr. 117). Aber er hat bereits die letzte
Stufe der Wanderung durch die Leiblichkeit erklommen,
von der aus sich die Aussicht auf baldige Heimkehr in die
Götterwelt eröfl'net. Es ist die Stufe der Wahrsager, Dichter,
Ärzte und Fürsten (Fr. 146).
Wir bemerken schon aus diesen Zügen, dafs Empedokles
bereits das ihm oflenbar unentbehrliche erhöhte Selbstgefühl
so ziemlich wiedergewonnen hat. Noch deutlicher tritt dies
in den an die Freunde in Agrigent gerichteten Eingangs-
worten des Gedichtes hervor. Er überrascht dieselben durch
die Mitteilung, dafs er ein unsterblicher Gott sei, nicht ein
sterblicher Mensch, und dafs er als solcher umherziehe, mit
priesterlichen Binden und Kränzen geschmückt. Wenn er
in eine Stadt einziehe, umdrängten ihn Unzählige ehrfurchts-
voll, Rat begehrend in bezug auf äufseres Gedeihen, Orakel-
sprüche und Heilung von schmerzlicher Krankheit. Dies
entspricht ganz der von ihm erreichten Stufe eines Wahr-
sagers und Wunderarztes, der für alle menschlichen Nöte
und Gebrechen Rat weifs.
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1. Empedokles (um 465). 213
Aber er verband oflFenbar mit dieser Schilderung seiner
neuen Herrlichkeit einen besonderen Zweck. Es ist die
Rede von einem Versuche, seine Rückkehr nach Agrigent
zu ermöglichen (D. L. 67). Sehr wahrscheinlich wollte er
durch die „Reinigungen'' diese Möglichkeit anbahnen. Dazu
stimmen auch die Lobpreisungen, mit denen er in der An-
rede die Freunde verschwenderisch überhäuft. Er preist sie
als edel, tugendhaft und gastfrei. Dieser Versuch ist denn
freilich mifslungen. Die Nachkommen seiner alten Gegner
hintertrieben seine Rückkehr, und wie es scheint, wurde
hierbei auch die neue Götterwürde, in der er sich präsen-
tierte, gegen ihn ins Feld geführt (D. L. 66 f.). Gerade die
Göttlichkeit, mit der er sich empfehlen wollte, mochte von
den Feinden gegen ihn geltend gemacht werden.
Zu den Lebensregeln, die in diesem Gedichte erteilt
wurden, ist noch folgendes anzuführen. Zunächst folgt aus
der Bedeutung der Tiere in der Seelenwanderungslehre der
strengste Vegetarianismus (Z. 809, 1). Tiere zu schlachten
ist Mord, Fleischgenufs der Menschenfresserei gleichzuachten.
Entsprechend wird auch von Plato (Gesetze 782 C) der
Vegetarianismus als Bestandteil der orphischen Lebens-
führung bezeichnet. Aus demselben Grunde waren denn in
diesen Kreisen auch die blutigen Tieropfer verpönt. Auch
in den „Reinigungen" (Fr. 128) wurden diese verworfen.
Und entsprechend wird berichtet, dafs Empedokles bei einer
auch sonst bezeugten Anwesenheit in Olympia, bei der er
der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, der Löwe des
Tages war (D. L. 66), Nachbildungen der Opfertiere aus
Mehl und Honig den Göttern dargebracht habe (D. L. 53).
Konsequent hätte er freilich auch den Genufs der Pflanzen
verbieten müssen. Das ging aber nicht wohl an. Er ver-
bietet aber die Verletzung des Lorbeers wegen dessen
religiöser Bedeutung und den Genufs der Bohnen (Fr. 140 f.;
letzteres vielleicht wegen der Ähnlichkeit mit den mensch-
lichen Geschlechtsteilen, die wieder an das unheilvolle Los
der Einkörperung erinnern; Gell. N. A. 4, 11, 9). Auch
die Forderung völliger geschlechtlicher Enthaltsamkeit, die
ja auch zum Grunddogma in enger Beziehung steht, wird
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214 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt
ihm zugeschrieben (Hippol. p. 251). Diese Forderungen
gehen über das in der altpythagoreischen Ordenslehre Vor-
geschriebene unzweifelhaft weit hinaus und weisen ent-
schieden auf die orphische Herkunft dieser seiner neuen
Richtung hin. Diese orphische Denkweise hat er auf die
äufserste Spitze getrieben.
Dieses Gedicht wurde bei den olympischen Spielen des
Jahres 440 durch einen Rhapsoden vorgetragen (D. L. 68;
Dikaiarch b. Athen. 14, 620). Es wird also zu diesem Zeit-
punkte wohl etwas Neues gewesen sein.
Nach alten Zeugnissen (Timäus bei D. L. 67, 71 ; Nean-
thes ib. 73) ist Empedokles im Peloponnes oder in Megara
gestorben, und zwar nach Aristoteles und Heraklides (D. L.
52, 74) im Alter von 60 Jahren, also um 432. Nach anderen
Nachrichten, die aber nicht glaublich sind, hätte er ein
Alter von 109 Jahren erreicht (D. L. 58, 74). Über die
Art seines Todes ist Zuverlässiges nicht überliefert. Die
verschiedenen Angaben darüber (D. L. VIII. 73, 74, 67 flF.)
verlieren zum Teil schon dadurch alle Glaubwürdigkeit, dafs
sie sein Scheiden aus dem Leben mit wunderbaren Um-
ständen oder mit der angeblichen Sucht in Verbindung
bringen, für ein überirdisches Wesen gehalten zu werden.
So wurde eine Entrückung zu den Göttern im Anschlufs
an mehrere seiner aufserordentlichen Taten, die Erweckung
der Scheintoten und die Reinigung eines Flusses, gefabelt
Die späteren Erzähler erklärten dann dies Verschwinden
natürlich, indem sie angaben, er sei auf den Ätna gestiegen
und habe, um jede Spur seines Erdendaseins auszutilgen,
sich in den Krater gestürzt (D. L. 67 flf., 71 f.). Eine be-
sonders gehässige Wendung erhielt dann dieser Bericht
durch den Zusatz eines Späteren, der Berg habe einen der
metallenen Schuhe, die er zu tragen pflegte, wieder aus-
geworfen, und so sei der Betrug an den Tag gekommen
(69 f.).
Es ist im vorstehenden eine bestinmite Auffassung über
Lebensgang und Entwicklung des Empedokles befolgt worden.
Darüber noch ein Wort der Rechtfertigung. Zunächst be-
darf es wohl kaum noch einer Begründung, dafs die
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1. Empedokles (um 465). 215
Gedankenkreise der beiden Gedichte nicht als gleichzeitig
und nebeneinander in seinem Geiste bestehend angenommen
worden sind. Die materialistische Naturlehre, nach der die
Seele im Stoffe des Blutes besteht, und die Erlösungs-
botschaft, nach der sie eine gefallene Gottheit ist, hatten
nicht zusammen in demselben Bewufstsein Raum. Der
Übergang von der einen zur anderen hat zur Voraussetzung
einen totalen Umschwung in der gesamten Gesinnung und
Denkweise. Die Frage ist nur, welche von beiden Geistes-
richtungen als die vorangehende, welche als die nachfolgende
zu betrachten ist. Die Nachrichten der Alten bieten für die
Lösung dieser Frage wie über die Tatsache der beiden ent-
gegengesetzten Geistesrichtungen überhaupt keinen Anhalt.
Unter den neuesten Forschern sind die Ansichten in bezug
auf dieses auch psychologisch merkwürdige Problem geteilt.
Der belgische Forscher Bidez (La biographie d'Emp6docle,
Gent 1894) entscheidet sich für das Vorangehen der mysti-
schen Periode, Diels (Über die Gedichte des Empedokles,
Sitzungsber. der Berl. Akad. 1898) für das der natur-
wissenschaftlichen.
Die Gründe für den Anschlufs der vorstehenden Dar-
stellung an die letztere Ansicht sind hauptsächlich folgende:
1. Das Lehrgedicht schliefst sich leichter an den als wahr-
scheinlich befundenen Bildungsgang des Empedokles an. In
ihm treten die Einwirkungen des Parmenides und der wissen-
schaftlichen Pythagoreer unzweifelhaft zu Tage. 2. Der
Eingang der „Reinigungen" deutet auf den Versuch hin,
durch dieses Gedicht für seine Rückberufung in die Vater-
stadt Stimmung zu machen und den Anstofs zu geben.
3. Die Vorlesung derselben in Olympia wird durch ein zu-
verlässiges Zeugnis (Dikaiarch bei Athenäus) ins Jahr 440
verlegt. Die Dichtung konnte, wenn die Vorlesung einen
Sinn haben sollte, nicht etwas Altes, vielen schon Bekanntes
sein; sie mufste den Charakter des Neuen und Sensatio-
nellen haben. 4. Die weltschmerzliche Richtung der „Reini-
gungen** entspricht besser dem schlimmen Umschlage seines
Lebensschicksals als die kühne naturphilosophische Welt-
erklärung. 5. Seine Theorie vom Sehen hat, wie sich er-
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216 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
geben wird, schon Leukippos (um 450) übernommen.
i). Aristoteles berichtet, Anaxagoras (geboren um 500)
sei den Jahren nach älter, den Werken nach (d. h. den
beiderseitigen naturphilosophischen Veröffentlichungen nach)
jünger als Empedokles (984, 11).
In diesem neuen Geisteszustände des geist-, phantasie-
und gemütvollen Mannes tritt ja nun auch immer noch
etwas von der alten schwindelhaften Grofssprecherei hervor,
seinem innersten Kerne nach aber war er wohl schwerlich
etwas Schwindelhaftes, vielmehr echte, fanatische Gläubigkeit.
2. Anaxagroras.
Den zweiten Versuch, von der Unveränderlichkeit der
Grundstoffe aus eine Naturlehre aufzubauen, unternahm
Anaxagoras.
Er war geboren in der kleinasiatisch -jonischen Stadt
Klazomenä um 500. Dafs er älter war als Empedokles,
aber später als dieser mit seiner Lehre hervortrat, bezeugt
Aristoteles (984, 10). Einer vornehmen und wohlhabenden
Familie angehörend widmete er sich mit 20 Jahren unter
Vernachlässigung aller niederen Interessen — wovon weiter
unten — der Forschung (D. L. IL 7; Z. 969). Nach
Theophrast (D. 478) schlofs er sich der Schule des
Anaximenes an. In welcher Weise dies geschah, ist
nicht bekannt, doch ist dies Zeugnis für sein Ausgehen von
Anaximenes von der gröfsten Bedeutung für das Verständnis
seiner Lehre, die in der Tat nur eine Umbildung der anaxi-
menischen auf der Grundlage der Unveränderlichkeit der
Stoffe ist. Selbstverständlich kann von einer persönlichen
Schülerschaft bei Anaximenes, der lange vor 500 gestorben
ist, nicht die Rede sein. Es wird überhaupt nicht berichtet,
dafs er Studien halber seine Vaterstadt verlassen habe.
Den Anstofs zu seiner Umbildung des letzten milesischen
Systems wird er übrigens so gut wie Empedokles vom elea-
tischen Systeme aus empfangen haben. Ob wir dabei an
seinen Alters- und Stammesgenossen Melissos von
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2. Anaxagoras. 217
Samos denken dürfen, der ja wohl auch Anregungen von
Anaximenes her empfangen hatte, läfst sich nicht ausmachen.
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dafs er schon in
den dreißiger Jahren seines Lebens den Schauplatz seiner
Lehrtätigkeit nach dem bis dahin von der Philosophie völlig
unberührten Athen verlegte. Wenn er dort dreifsig Jahre
gelehrt hat (D. L. IL 7) und seine Vertreibung aus Athen
um 434—2 f&llt, so mufs seine Übersiedelung dorthin um
464 — 2, also im vierten Jahrzehnt seines Lebens, statt-
gefunden haben. Von einer äufseren Nötigung zum Ver-
lassen seiner Vaterstadt wird nichts berichtet, die Über-
siedelung mufs also wohl das Werk eines freien Entschlusses
gewesen sein.
In Athen genofs er den Schutz des Per i kl es, der
geradezu sein Schüler genannt wird (D. L. IL 12; Diodor
XIL 38). Plato leitet das Hochsinnige und Erhabene in
der Beredsamkeit des Perikles geradezu von der Beschäftigung
mit der das All umfassenden Gedankenwelt des Anaxagoras
ab (Phäd. 270 A). Auch Euripides (geb. 480) war sein
verehrungsvoller Schüler; schon das Altertum fand in seinen
Tragödien vielfach Anklänge an die Lehren des Anaxagoras.
Sein Verhältnis zu Perikles wurde auch der Anlafs zu der
kurz vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges gegen ihn
erhobenen Anklage wegen religiöser Irrlehren, die seinem
athenischen Aufenthalt ein Ende bereitete. Diese Anklage
ging von den Feinden des Perikles aus und bezweckte die
Erschütterung der Stellung desselben durch den Vorwurf
der Begünstigung eines so gottlosen Freidenkers (D. L. IL
12; Diodor XII. 38 f.). Vielleicht hatte Anaxagoras gerade
um diese Zeit seine Schrift „Über die Natur" veröflFentlicht.
Wenigstens erklärt es sich so am leichtesten, dafs gerade
in diesem Zeitpunkte die Lehre des Anaxagoras gegen
Perikles ausgebeutet wurde. Auch das bereits angeführte
Zeugnis des Aristoteles (984, 10) scheint für eine verhältnis-
mäfsig späte Veröffentlichung seiner Lehre zu sprechen.
Ehe wir auf diese Anklage und sein weiteres Lebens-
sehicksal eingehen, müssen wir uns mit dem wesentlichen
Inhalt seiner Lehre bekannt machen. Hauptquelle dafür
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218 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
sind, aufser den vielfachen Zeugnissen Späterer, die bei
Simplicius erhaltenen erheblichen Bruchstücke seiner in
jonischer Prosa verfafsten Schrift.
Nach Aristoteles (187, 21) hat Anaxagoras mit Empe-
dokles gemein, dafs beide die Einzelstoffe durch Aus-
scheidung aus einem Gemisch entstehen lassen, unterscheidet
sich aber von ihm dadurch, dafs jener diesen Vorgang sich
periodisch wiederholen, Anaxagoras aber ihn (d. h. die
Weltbildung) nur einmal geschehen läfst, sowie ferner darin,
dafs jener nur die vier Elemente, Anaxagoras aber un-
begrenzt viele Stoffe annimmt. Den Punkt der Überein-
stimmung anlangend, so spricht sich darüber Anaxagoras
selbst folgendermafsen aus : „Vom Entstehen und Vergehen
reden die Hellenen nicht richtig. Denn kein Ding entsteht
oder vergeht, sondern aus vorhandenen Dingen wird es
zusanmiengesetzt und wieder getrennt. Das Richtige wäre
daher, das Entstehen als Zusammensetzung und das Ver-
gehen als Trennung zu bezeichnen" (Fr. 17 Mullach). Hier
ist vollkommen deutlich nicht nur das Werden aus Nichts,
sondern auch die Umwandlung der Stoffe ineinander aus-
geschlossen.
Für die den Urstoffen beigelegte unbegrenzte Mannig-
faltigkeit der Beschaffenheit gebraucht sowohl Aristoteles
als auch Anaxagoras selbst (Fr. 4, 6) das Wort, das eigent-
lich „unendlich" bedeutet (äpeiros). Er hat aber dabei schwer-
lich an eine Unendlichkeit im strengen Sinne gedacht. Die
Behauptung, dafs keiner der „Samen" (wie er die Stoff-
teilchen nennt) dem anderen an Beschaffenheit gleich sei
(Fr. 4, 6), findet vielleicht darin ihre Erklärung, dafs er
auch die ihnen zugeschriebene Verschiedenheit der Gestalt
(ebenso wie die in Farbe, Geruch und Geschmack) (Fr. 3;
D. 312) zur Beschaffenheit rechnet. Aber auch wenn in
diesem Sinne eine Verschiedenheit jedes einzelnen StoflF-
teilchens von jedem anderen angenommen wird, kommt doch
noch lange keine Unendlichkeit der Beschaffenheit im ab-
soluten Sinne heraus. Wir werden noch sehen, dafs er auch
anderweitig das Wort „unendlich" in mehr populärem Siime,
im Sinne des alltäglichen Sprachgebrauchs verwendet.
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2. Anaxagoras. 219
Als Beispiele dieser qualitativen Verschiedenheit der
Urstoflfe nennt er wiederholt (Fr. 4, 8, 13) das Feuchte und
das Trockene, das Warme und das Kalte, das Helle und
das Dunkle, das Dichte und das Lockre. Ob er die vier
Elemente des Empedokles zu den Urstoffen gerechnet hat,
ist zweifelhaft. Aristoteles läfst ihn einmal (984, 11) Wasser
und Feuer dazu rechnen, an anderen Stellen aber (314, 18;
302, 28) läfst er ihn die vier Elemente zu den Mischungen
rechnen. Vielleicht gleicht sich dieser Widerspruch dadurch
aus, dafs an den letzteren Stellen von diesen Stoffen nach
ihrem tatsächlichen Vorkommen in unserer Welt die Rede
ist. Eine vollständige Entmischung der Urstoffe zu ab-
soluter Reinheit kommt nämlich nach Anaxagoras in unserer
Welt nicht vor. Mit Wasser und Brot werden alle Organe
des Körpers ernährt: ein Beweis, dafs im Wasser und Brot
noch viele andere Stoffe stecken (D. 279). Als sonstige
Beispiele seiner Urstoflfe führt Aristoteles (314, 18;
302, 28) an: Knochen, Fleisch, Mark; eine auf Theophrast
beruhende Stelle (D. 478): Wasser, Feuer und Gold.
Lucrez nennt in seinem Lehrgedicht „Über die Natur der
Dinge" (I. 828 flf.) unter den Urstoffen des Anaxagoras aufser
den vier Elementen Knochen, Eingeweide, Blut.
Diese „Samen" oder „Dinge" (wie er ebenfalls die Ur-
stoffe nennt) sind aber femer der Zahl nach von „unend-
licher" Vielheit (Fr. 4), der Gröfse nach von „unendlicher"
Kleinheit (Fr. 1). Was die Unendlichkeit der Zahl nach
anbetrifft, so denkt er dabei offenbar nicht an die räumlich
beschränkte Welt; es schwebt ihm, wie wir noch sehen
werden, der unbegrenzte Weltstoff des Anaximander und
Anaximenes vor. Doch scheint ihm schon der Gedanke
aufgedämmert zu sein, dafs das Wirkliche nicht in schlecht-
hin unendlicher Vielheit gedacht werden kann. Wenigstens
sagt er (Fr. 14), dafs es beim Alles kein Mehr noch Weniger
gebe; das Alles sei immer gleich; ein Mehr als das Alles
sei ein unvollziehbarer Gedanke.
Ebenso hat er bei der unendlichen Kleinheit schon den Ge-
danken der nie zum Ende gelangenden Teilbarkeit des Stoffes
ins Auge gefafst. Wenigstens sagt er (Fr. 15), dafs es kein
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220 Erste Periode. Dritter Ab sehn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
unbedingt Kleinstes gebe, sondern immer noch ein Kleineres
gedacht werden könne. Solange etwas ein Seiendes sei,
sei es auch teilbar; nur das Nichtseiende sei nicht teilbar.
Ebensowenig gebe es ein absolut Grofses; das Grofse sei
hinsichtlich der Gröfse dem Kleinen gleichartig (d. h. es
bestehe zwischen ihnen nur ein relativer Unterschied).
Diese Feinheit des Denkens kann nach den Leistungen eines
Zeno nicht überraschen, scheint aber allerdings auch
Kenntnis dieser Leistungen vorauszusetzen. Jedenfalls ist
>die „unendliche" Kleinheit der UrstoflFe von ihm bewufst
nur im populären Sinne behauptet worden, und es ist daher
ganz in seinem Sinne, wenn von Aristoteles (314, 18)
auf diese seine UrstoflFe der Ausdruck „Gleiditeilige"
(Homöomerien) , d. h. aus der BeschaflTenheit nach völlig
gleichen Teilchen Bestehende, angewandt worden ist, welcher
Ausdruck ja eben voraussetzt, dafs auch diese kleinsten
Stoflfteilchen noch aus Teilen bestehen.
Wenn wir nun an seine Vorstellung von der Weltbildung
herantreten, wird sofort sein Ausgehen von Anaximenes und
die Umbildung, die er mit der Lehre desselben vornahm,
deutlich.
Die Schrift des Anaxagoras begann mit den Worten:
„Am Anfange (d. h. vor der Weltbildung) waren alle ,Dinge'
(d. h. UrstoflFe) zusammen" (d. h. sie befanden sich im Zu-
stande völlig gleich mäfsiger Vermengung; D. L. II. 7 u. a.
St.). Dieser Anfangssatz war sehr bekannt. Er wird häufig,
z. B. bei Plato öfter auch in scherzhafter Anwendung, fast
wie ein geflügeltes Wort angeführt (Z. 986, 1). Infolge
dieser Vermengung trat keine besondere Farbe oder sonstige
Eigenschaft eines der StoflFe hervor (Fr. 4). Wir müssen
uns jedoch hüten, hierbei an irgend ein Analogen einer
chemischen Verbindung zu denken. Ein derartiger BegriflF
ist im Gesichtskreise des Anaxagoras so wenig wie in dem
irgend eines anderen alten Denkers jemals aufgetaucht Die
Verbindung ist eine mechanische Vermengung, bei der jeder
StoflF seine Eigenart völlig bewahrt, ein Nebeneinander, keine
innere Durchdringung (D. 315).
Dieses Gemenge aller StoflFe nennt er auch — offenbar
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2. Anaxagoras. 221
schon im Hinblick auf die nachher im Inneren desselben
sich bildende Welt — ,das Umfassende" und sagt von
diesem (ganz wie Anaximenes von seiner Luft) aus: „Es war
unendlich der Menge nach" (Fr. 2). Hier erkennen wir,
dafs die quantitative Unendlichkeit des Stoffes sich bei
Anaxagoras so wenig wie bei den beiden mehrgenannten
Milesiem auf die Welt, sondern auf den vor- und aufser-
weltlichen Zustand bezieht. Wir erhalten aber auch noch
einige nähere Aufschlüsse über die Beschaffenheit dieses
Gemenges. „Alles beschlofs Luft und Äther (d. h. Feuer;
Aristot. 302b, 4; 270b, 24 u. a. St.) in sich; beide un-
endlich; denn diese sind das Gröfste in dem Gesamten der
Menge nach." Er hat also offenbar an Stelle der unend-
lichen Luft des Anaximenes ein Gemenge von Luft
und Feuer gesetzt, das im Urzustände wie ein ver-
bindender Teig die übrigen Urstoffe in sich fafste.
Diese Auffassung wird auch durch Aristoteles bestätigt.
Nach diesem verstand Anaxagoras unter „Luft und Feuer"
die Mischung sämtlicher Urstoffe (302 b, 1). Und an einer
anderen Stelle (989 , 30 ff.) führt er aus , dafs Anaxagoras
eigentlich nur zwei Grundprinzipien des Seienden habe,
nämlich aufser dem erst nachher zu erwähnenden bewegenden
Prinzip diese einheitliche, unbestimmte Mischung der Stoffe
(989 b, 15).
Dieses eigenartig bestimmte, unendlich ausgedehnte Ge-
menge der Stoffe bildet also im Urzustände eine starre,
unbewegte Masse. In ihm selbst ist kein Prinzip der Be-
wegung oder Gestaltung. In ihm ist auch kein Leeres
(Arist. 213, 22; Ps.-Arist. Melissos 976 b, 20). Wahrschein-
lich hat sich Anaxagoras diesen Zustand so gedacht, dafs
an jedem beliebigen Punkte dieses Unendlichen die Be-
dingungen für die Entstehung einer Welt vorhanden waren,
sobald nur ein Prinzip der Entmischung und Gestaltung in
Wirksamkeit trat
Der erste Akt der Weltbildung besteht nun darin, dafs
ein kugelförmiges Stück dieser unendlichen Masse in Drehung
um seinen Mittelpunkt versetzt wird. Durch diese drehende
Bewegung wird zunächst nur dies Stück Masse von dem
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222 Erste Periode. Dritter Abschn. StoflFu. bewegendes Prinzip getrennt
unbeweglich verbleibenden Rest abgesondert und dadurch
zunächst der Ort der künftigen Welt bestimmt (Fr. 7).
Wahrscheinlich wird dieser erste Akt der Weltbildung durch
die Worte bezeichnet : „Die Luft und der Äther" (d. h. ein
Stück der vorbeschriebenen Masse, beide Stoffe nebst den
in ihnen enthaltenen sonstigen Stoffen nach ungesondert)
„wird von dem umgebenden Vielen abgesondert" (Fr. 2).
Die Art dieser Bewegung wird näher als eine erst langsame,
aber an Geschwindigkeit stetig zunehmende geschildert. Dies
ist unzweifelhaft der Sinn der folgenden Worte: „Und zu-
erst begann es nur wenig umzuschwingen, dann schwang es
mehr um, und es wird stetig mehr umschwingen" (Fr. 6).
Ja, er schildert die Schnelligkeit dieser Bewegung als eine
jede innerhalb der menschlichen Erfahrung vorkommende
Geschwindigkeit um ein Vielfaches übersteigende (Fr. 11).
In welcher Richtung er sich diese Bewegung dachte, wird
nicht überliefert; doch ist wegen ihres engen Zusammen-
hanges mit der Entstehung und der Bahn der Himmels-
körper — wovon nachher — wahrscheinlich, dafs er sie als
um eine von Nord nach Süd sich erstreckende Achse in
ostwestlicher Richtung verlaufend vorstellte. Diese Achse
geht durch den höchsten und tiefsten Punkt der Weltkugel
(Zenith und Nadir).
Die bewegende Kraft nun dieses Umschwungs ist die
Vernunft (der nüs). Sie wird ihrem Wesen nach haupt-
sächlich in Fragm. 6 beschrieben. Die Vernunft ist das
feinste und reinste von allen „Dingen**, d. h. Urstoffen.
Diese Bezeichnung als „Ding" beweist, dafs Anaxagoras sie
noch nicht als eine von den übrigen Stoffen total verschiedene,
immaterielle Substanz dachte; sie ist ein körperlicher
Stoff. Aber doch ein Stoff von ganz besonderer Art. Wäh-
rend die anderen Stoffe niemals ganz rein vorkommen, son-
dern sogar von jedem anderen Stoffe eine, wenn auch noch
so geringfügige, Beimischung beibehalten, nimmt umgekehrt
die Vernunft niemals irgend eine Beimischung eines anderen
Stoffes an. Sie bleibt ganz für sich und nur sich selbst
gleich. In der ursprünglichen Vermengung der Stoffe ist sie
nicht enthalten. Vermöge ihrer grofsen Stärke hat sie,
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2. Anaxagoras. 223
wie schon gezeigt, den ersten Anstofs zur Weltbildung
gegeben. Es werden ihr aber auch intellektuelle Eigen-
schaften zugeschrieben. Sie besitzt die vollste Erkenntnis
von allem, von den Vorgängen bei der Weltbildung, von
den Vorgängen des gegenwärtigen Weltzustandes, z. B. vom
Umschwünge des Äthers und der Gestirne, desgleichen auch
von den künftigen Umgestaltungen des Weltzustandes. Auch
Aristoteles bezeugt, dafs Anaxagoras der Weltvernunft
Bewegungskraft und Erkenntnis beilege, und findet nur in
letzterer Annahme einen Widerspruch gegen die behauptete
Unaffizierbarkeit der Vernunft. Denn Erkennen beruht auf
einem Affiziertwerden durch die Dinge (405, 13 b, 20 ff.).
Es ist nun die Frage, ob Anaxagoras diese Erkenntnis
und diese Stärke als völlig gesondert angesehen hat, oder
ob er angenommen hat, dafs die an sich blofs mechanisch
wirkende Kraft durch den Einflufs der Erkenntnis zu einer
plan- und zweckvoll wirkenden geworden sei. Die Vernunft
ist einesteils allwissend, andernteils allmächtig; die Frage ist,
ob die Allmacht sich nur als mechanische Kraft äufsert,
oder ob sie von der Allwissenheit zu zweckvollem Walten
bestimmt wird.
Plato und Aristoteles, die doch die Schrift des
Anaxagoras noch vollständig vor sich hatten, verneinen das
letztere. Beide sprechen in beredten Worten aus, dafs ihnen
als Vertretern eines Zweckprinzips in der Welt das Buch
des Anaxagoras eine Enttäuschung bereitet habe. Plato
läfst (Phäd. 970 flf.) seinen Sokrates schildern , wie er er-
wartet habe, dafs Anaxagoras den gesamten Weltbau, die
Gestalt und Lage der Erde, den Lauf der Gestirne u. s. w.
aus dem Prinzip der Zweckmäfsigkeit ableiten würde. Tat-
sächlich aber verfahre dieser so, wie wenn er, um zu er-
klären, warum er, Sokrates, hier sitze und sich unterrede,
den Bau der Glieder und der Sprechwerkzeuge auseinander-
setzen wollte. Er führe in der Erklärung der Welt, was
nur notwendige Vorbedingung sei, als alleinige Ursache
auf (ähnlich Gesetze 967 Bf.). Und Aristoteles erklärt
zwar (984 b, 15), mit seiner Lehre von der weltordnenden
Vernunft sei Anaxagoras unter die früheren Denker wie ein
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224 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt
Nüchterner unter eine Schar verworren Faselnder getreten,
versichert dann aber (985, 18), er verwende die Vernunft
bei der Weltbildung nur wie den Gott auf dem Schwebe-
gerüst, den die tragischen Dichter, wenn sie die Gegensätze
der handelnden Personen nicht von innen heraus zum
Ausgleich zu bringen wüfsten, herniederfahren liefsen, um
den Streit zu schlichten (der sprichwörtlich gewordene deus
ex machina, der Gott auf dem Schwebegerüst). So ziehe
auch Anaxagoras die Vernunft nur heran, wenn er mit den
mechanischen Ursachen nicht weiterkönne und ins Gedränge
gerate.
Diese beiden Beurteiler haben insoweit recht, als
Anaxagoras allerdings nicht ausdrücklich den ganzen
Weltbau aus dem Zweckmäfsigkeitsprinzip ab-
geleitet hat. Insofern aber scheinen sie zu irren, als
Anaxagoras die Vernunft bei der Weltbildung keineswegs
blofs als mechanische Bewegungskraft, sondern wenig-
stens teilweise auch als Prinzip einer zweck-
vollen Ordnung verwendet hat. Aristoteles selbst
mufs anerkennen, dafs Anaxagoras den Geist als Ursache
der zweck vollen Gestaltung der Welt bezeichne (404 b, 1 f.)-
Und nach seinen eigenen Worten (Fr. G) erkannte nicht
nur die Vernunft bei der Weltbildung den vorhandenen und
den künftigen Zustand, sondern sie ordnete auch alles, wie
es sein sollte; sie verfuhr also planvoll. Und dies scheinen
auch die Angaben über die weiteren Akte der Weltbildung
zu bestätigen. Allerdings war der erste Akt der Welt-
bildung nur die Herstellung einer kreisförmigen Bewegung,
durch die zunächst nur ein Stück aus dem ruhenden System
ausgesondert wird. Es findet aber ferner infolge dieser ein-
getretenen Bewegung auch die Entmischung der StoflFe statt
(Br. 6, 7). Und zwar erfolgt die Anordnung dieser Stoffe
in ganz entgegengesetzter Weise, als nach der blofs mecha-
nischen Wirkung der Umschwungsbewegung erwartet werden
müfste. Nach dieser müfste das Dichte und Schwere in den
Umkreis geführt werden, das Dünne und Leichte aber im
Innern des in Bewegung versetzten Gemenges verbleiben.
Aber gerade das Entgegengesetzte geschieht. Zunächst tritt
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2. Anaxagoras. 225
das Dichte, Feuchte, Kalte und Dunkle, d. h. die Luft nebst
den in dem ursprünglichen Gemenge enthaltenen Teilchen
der übrigen Stoffe, nach der Mitte zusammen, „wo jetzt die
Erde ist"; der Stoff von entgegengesetzter Beschaffenheit
dagegen, der Äther oder das Feuer, entweicht rein und un-
vermischt in den Umkreis der sich drehenden Kugel (Fr. 8).
Das ist der zweite Akt der Weltbildung. Darin scheint
doch eine planvolle Leitung zu liegen! Und derselbe, der
mechanischen Wirkung entgegengesetzte Vorgang wiederholt
sich dann nochmals beim dritten Akte. Die Luft mit den
dichteren Stoffen, die sich nach der Mitte zu gesammelt
haben, nennt er „die Wolken". Aus diesen sondert sich
jetzt weiter das Wasser ab, aus dem Wasser die Erde, und
aus der Erde bilden sich unter Mitwirkung des Kalten und
des Wassers die Steine (Br. 9). Auch hier geht das Feste
nicht nach aufsen, sondern nach innen! Nebenbei bemerkt
liegt auch in dieser Reihenfolge der Bildungen ein deut-
licher Anklang an Anaximenes, nur dafs nicht die im Stoffe
selbst liegende Kraft der Verdichtung, sondern die in der
Vernunft liegende Kraft der planvollen Zusammenordnung
des sich Ausscheidenden das Wirkende ist.
Und ferner! Die Erde gestaltet sich nicht, wie man
nach dem Prinzip des Umschwungs erwarten sollte, zur
Kugel, sondern zu einer flachen Scheibe, die ringsum bis
hart an die Weltgrenze reicht, so dafs die unter der Erd-
scheibe befindliche Luft nicht entweichen kann und die Erd-
scheibe wie ein Deckel von dieser Luft getragen wird
(Aristot. 294 b, 13). Hier ist einesteils im Gegensatz gegen
die in der unteritalischen Philosophie seit Parmenides ein-
gebürgerte Kugelform der Erde wieder ein Einflufs des
Anaximenes zu erkennen, andemteils aber zeigt sich auch
hier wieder eine Zweckwirkung. Die Erde mufs die an-
gegebene Gestalt und Lage haben, damit sie von der Luft
getragen werden kann. Mit besonderem Nachdruck weist
Aristoteles an der angeführten Stelle auf diesen Grund der
Bückkehr zur älteren Vorstellung hin. Da aber Anaxagoras
einmal eine weltbildende Vernunft annahm, so mufste er
auch diese, durch die blofse mechanische Bewegung uner-
DöriBff. I. 15
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226 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
klärliche Erdform der Zwecktätigkeit der Vernunft zu-
schreiben.
Diese Ruhelage der Erde wird nur zuweilen dadurch
gestört, dafs Feuerteile in die unter der Erde befindliche
Luft eindringen (wahrscheinlich von der um die Welt
schwingenden Feuerhülle aus). Diese verursachen durch
das natürliche Streben des Feuers nach oben die Erdbeben
(Arist. 365, 17).
Dagegen scheint nun in einem weiteren Hauptvorgange
der Weltbildung, in der Entstehung der Himmelskörper, die
doch von so wesentlicher Bedeutung für die Bewohnbarkeit
der Welt sind, Anaxagoras ein rein mechanisches Geschehen
zu erblicken. Die Himmelskörper entstehen, indem durch
den Umschwung der feurigen Welthülle von den Rändern
der Erde grofse Steinmassen losgerissen und mitfortgeführt
werden. Diese geraten dann durch den feurigen Zustand
ihrer Umgebung in Glut. Sonne, Mond und Stenie sind
glühende Steinmassen, von der Erde stammend und durch
den Umschwung des Himmels mitfortgeftihrt (D. L. II. 8;
D. 341, 345, 349, 35G, 562). Hier erkennen wir, dafs er
den Umschwung des Himmels als von Ost nach West ge-
richtet annahm, da dies ja der Lauf der Himmelskörper ist.
Dafs sie gegenwärtig nicht mehr senkrecht über der Erde
ihren Lauf nehmen, wie ursprünglich der Fall gewesen,
sondern in schräger Richtung zur Erdfläche stehen, erklärte
er durch eine später erfolgte Senkung des Weltgebäudes
(oder der ErdeV) in südlicher Richtung. Diese sei viel-
leicht durch ein zweckvolles Walten herbeigeführt, damit
es neben unbewohnbaren Teilen der Erde auch solche gebe,
in denen ein zuträglicher Wechsel von Abkühlung und Er-
wärmung stattfinde (D. L. IL 9; D. 337). Also hier wieder,
wenn auch nur mit einem „vielleicht", eine Wirkung der
zweckvoll waltenden Vernunft! Und zwar hier in ausdrück-
licher Bezeugung, die auf seine eigene Darstellung zurück-
geht ! Dagegen scheint er die Sonnenwenden wieder, ähnlich
wie Anaximander, mechanisch erklärt zu haben (D. 352).
Die Sonne ist gröfser als der Peloponnes (D. L. II. 8;
D. 562), nach einem anderen Bericht vielmal so grofs als
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2. Anaxagoras. 227
der Peloi>onnes (D, 351); dagegen soll er dem Monde die
Gröfse des Peloponnes zugeschrieben haben (Plut. fac. lun.
19, 9). Der Mond ist zwar auch noch ein glühender Körper,
er mufs aber wegen seiner geringeren Entfernung von der
Erde von Anaxagoras als in einem schon weniger heifsen
Teile der Feuersphäre treibend gedacht sein, da ihm nicht
nur Berge und Täler, sondern auch Bewohner zugeschrieben
werden (Plato, Apol. 26 D; D. 356; D. L. II. 8) und (nach
Plato, Kratyl. 409 A) seine Erleuchtung durch die Sonne
behauptet wird, welche Lehre (nach dieser Stelle) sogar
Anaxagoras zuerst aufgestellt haben soll. Auch ein Bruch-
8tQck der Schrift (10), in dem einem anderen Himmelskörper
Zustände ganz wie auf der Erde beigelegt werden, scheint
sich auf den Mond zu beziehen.
Dafs er auch die Sterne in ähnlicher Weise wie Sonne
und Mond entstanden dachte, geht aus der Angabe (D. L.
IL 12) hervor, nach seiner Ansicht bestehe der ganze Himmel
aus Steinen, die nur durch den Umschwung schwebend er-
halten würden, und die herabfallen würden, wenn der Um-
schwung aufhörte.
Dies führt zugleich auf den mutmafslichen Entstehungs-
grund dieser eigenartigen Theorie, die so völlig von der
seiner Zeitgenossen abweicht und entfernt an die Kant-
Laplacesche Theorie von der Entstehung der Planetein aus
dem Zentralkörper erinnert. Es ist nämlich in den jüngeren
Jahren des Anaxagoras (nach Plinius IL 58 im Jahre 466,
also kurz vor seiner Übersiedelung nach Athen) bei Aegos-
potamos am Hellespont ein gewaltiger Meteorstein gefallen.
Aristoteles (344b, 31) bringt denselben mit einem gleich-
zeitig sichtbaren grofsen Kometen in Zusammenhang. Und
Plutarch (Lys. 12) berichtet nach einem älteren Schrift-
steller, dafs vor dem Falle des Steines 75 Tage lang eine
feurige Wolke am Himmel sichtbar gewesen sei. Anaxa-
goras soll die Herkunft des Steines aus der Sonne behauptet
und seinen Fall vorhergesagt haben (D. L. IL 10; Plut
a. a. 0.). Letzteres ist wohl eine aus der von ihm ge-
gebenen Erklärung des wunderbaren Vorgangs heraus-
gesponnene Sage. Wahrscheinlicher ist das Entgegengesetzte,
15*
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228 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
dafs er seine ganze Theorie von der Herkunft der Himmels«
körper von der Erde aus diesem wunderbaren Vorkommnis
abgeleitet hat.
Dafs die weltbildende Tätigkeit der Vernunft planvoll
stattfinde, wird übrigens auch von Anaxagoras selbst aus-
drücklich ausgesprochen. Er läfst sie (Fr. 12) geschehen
auf Grund eines Wissens dessen, was ist und war und sein
wird in dem die Welt umgebenden Gemenge und in der
sich bildenden Welt selbst. Und nach PI a t o (Kratyl. 413 D)
hat er die Vernunft für das Gerechte erklärt, weil sie, un-
beschränkt in ihrer Herrschaft und mit nichts gemischt, alle
Dinge ordne und alle durchdringe. Hier ist offenbar die
Gerechtigkeit nicht ein ethischer Begriff, sondern dient zur
Bezeichnung des zweckvollen Verfahrens bei der Welt-
bildung.
Nach allem diesem scheint doch Anaxagoras der Welt-
vernunft schon bei der Weltbildung ein gewisses Mafs von
Zwecktätigkeit zugeschrieben zu haben. Die von den alten
Milesiern dem Stoffe beigelegte seelische Kraft hatte sich
schon bei Xenophanes und Heraklit zur Denktätigkeit
gesteigert; bei Anaxagoras bringt sie, was sie an der Fähig-
keit zu schrankenloser Umbildung der StoflFe verloren hat,
auf dem Gebiete der vernünftigen Zwecktätigkeit wieder ein.
Es ist aber die Weltbildung keineswegs das einzige
oder auch nur das augenfälligste Gebiet, auf dem sich die
Weltvernunft betätigt. Es werden auch alle seelischen Er-
scheinungen, alle Formen der Beseelung in der Welt auf
sie zurückgeführt. Nach den Fragmenten (5, 6, 13) ist in
allem Beseelten ein gröfserer oder kleinerer Teil der Ver-
nunft wirksam. Der Unterschied ist nicht ein solcher der
Art, sondern nur des Mafses. Und Aristoteles erhebt
auf Grund dieser Lehre gegen Anaxagoras den von seinem,
des Aristoteles, Standpunkt aus berechtigten Vorwurf, er
mache zwischen Vernunft und Seele keinen deutlichen
Unterschied, sondern schreibe die betreffenden Wirkungen
bald der Seele, bald der Vernunft zu (404 b, 1 flF.; 403 b, 3).
Und da er nicht nur den Tieren, sondern auch den Pflanzen
Seele beilegte (Z. 1012, 1), so mufs er auch schon die
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2. Anaxagoras. 229
niedrigeren Lebenserscheinungen, die blofsen Ernährungs-
vorgänge, also überhaupt das ganze Gebiet des Organischen,
auf die Weltvernunft zurückgeführt haben. Er rechnete
die Pflanzen zu den lebenden Wesen, denen Lust- und
ÜDlustgefühle zukommen, aber er schlofs auf diese Be-
schaffenheit aus dem Wachstum und dem Abwerfen der
Blätter, also aus den blofsen Vegetationserscheinungen
(Aristot. 815, 15). Modem ausgedrückt rechnete er schon
die „Lebenskraft" zur Weltvernunft.
Den Körper der Pflanzen liefs er, wie es scheint, aus
dem Zusammenwirken von Luft und Wasser, den der Tiere
aus dem Zusammenwirken von Äther (Feuer), Wasser und
Erde entstehen, letzteres, indem Funken des ätherischen
Feuers in die noch schlammige Erde fallen (Z. 1012, 2, 3).
Er scheint schon im körperlichen Bau eine Übereinstimmung
zu dem Mafse des den verschiedenen Gattungen der leben-
den Wesen zufallenden Geistes angenommen zu haben. Die
Tiere sind uns in manchen körperlichen Eigenschaften tiber-
legen, der Mensch aber ist das klügste Tier, weil er Hände
hat (Z. 1011, 1, 2). Hier kann das Händehaben in seinem
Sinne nicht als die bewirkende Ursache, sondern nur als
der Erkenntnisgrund der höheren geistigen Begabung an-
gesehen werden.
Ob -er die menschliche Seele ftir unsterblich gehalten
hat, darüber sind die Angaben unsicher und widersprechend
(D. 392, 437). Doch kann es bei seiner Grundanschauung
von der einheitlichen Weltvernunft, von der, wie alle Be-
wegung, so auch alle Beseelung stammt, nicht im geringsten
zweifelhaft sein, dafs er eine individuelle Unsterblichkeit
dem Menschen ebensowenig wie dem Tiere oder der Pflanze
beilegen konnte.
In bezug auf die Sinnesempfindungen lehrte Anaxagoras,
dafs die Wahrnehmung nicht durch das Gleiche im Organ,
sondern durch das Entgegengesetzte stattfinde. Das Gleiche
mache auf das Gleiche keinen Eindruck. Eine Bestätigung
dieser Theorie fand er in der Beobachtung, dafs jede Em-
pfindung in gewissem Sinne und Mafse von Unlust begleitet
sei, besonders bei längerem Verharren oder übermäfsiger
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230 Jfirste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
Stärke. Er versuchte, diese Theorie auch auf die einzelnen
Sinne anzuwenden. Beim Auge ging dies an, da das Innere
des Auges dunkel ist; auch bei der Temperaturempfindung
konnte er mit Recht darauf hinweisen, dafs wir vornehmlich
das der Körpertemperatur Entgegengesetzte empfinden. Ab-
surd wurde die Sache schon beim Geschmack, wo wir das
Bittere durch das Süfse in uns und das Sttfse durch das
Bittere in uns empfinden sollen. Vollends beim Geruch
und beim Gehör scheint er nicht einmal einen Versuch zur
Anwendung dieser Gegensatztheorie gemacht zu haben
(Theophr. de sens. D. 507 f.). Auch D. 516 berichtet Theo-
phrast nur, dafs der Schall eine Bewegung der Luft und
die Düfte Ausströmungen seien, ohne die Gegensatztheorie
zu berühren.
Die Sinne sind aber schon in ihrem eigentlichen Be-
reiche, den ihnen an sich zugänglichen Wahrnehmungen,
schwach und unzulänglich. Wenn wir eine schwarz- und
eine weifsgefärbte Flüssigkeit abwechselnd tropfenweise aus-
giefsen, so vermag das Auge die Farben nicht zu erkennen
(Sext. Emp. Dogm. I. 90). Eine ähnliche Sinnestäuschung
noch gröberer Art nahm er beim Schnee an. Er behauptete»
derselbe sei eigentlich schwarz (Cic. Acad. II. 72, 100) und
zwar deshalb, weil das Wasser schwarz sei (S. Emp. Hyp.
I. 33). Vollends also ist das eigentliche Wesen der Dinge,
wie es seine Lehre offenbarte, natürlich den Sinnen unzu-
gänglich. Sie sind dazu viel zu grob. Sie vermögen die
nach Zahl, Gestalt und Beschaffenheit unfafsbare Mannig-
faltigkeit der Urstoffe nicht zu erkennen. Aus der Über-
zeugung von der Richtigkeit seiner Theorie ergibt sich ihm
mit Notwendigkeit die Annahme der Vernunft als des
eigentlichen Erkenntnisprinzips, wenngleich auf der Grund-
lage der Sinneswahrnehmungen (Sext. Emp. Dogm. I. 91»
140). Ob er eine nähere Begründung dieser Lehre ge-
geben hat, darüber fehlt es an Nachrichten.
Nach einer späteren Angabe (D. 331) hätte Anaxagoras
zu denen gehört, die die Welt als vergänglich bezeichneten.
Nun ist ja freilich alles, was entsteht, nicht nur »wert, dafs
es zu Grunde geht", sondern auch fähig, wieder zu Grunde
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2. Anaxagoras. 231
zu gehen. Die ihm zugeschriebene Vergänglichkeitslehre
besagt aber etwas mehr als diesen Gemeinplatz; sie besagt,
dafs er ein bestimmtes Endziel der Welt, einen periodischen
Rückgang in den ursprünglichen Zustand gelehrt habe. Zu
einer solchen Lehre liegt aber im Ganzen seiner Theorie
keine Handhabe. Die Annahme zweier in entgegengesetzten
Richtungen wirkenden Kräfte, wie beiEmpedokles, liegt
ihm fem. Es liegt ja eine naive Kindlichkeit in der An-
nahme, dafs „eines schönen Morgens" die Weltvernunft ihre
weltbildende Tätigkeit begonnen habe. Aber dieser Naivität
haben sich bis heute unzählige Denker schuldig gemacht,
und es ist gerade bei der Vernunft als weltbildendem Prinzip
sehr unwahrscheinlich, dafs er dem Anfangen ein Aufhören
ihrer Tätigkeit entgegengesetzt haben sollte. Hat er, wie
wir angenommen haben, bei der Weltentstehung eine stetig
zunehmende Beschleunigung der Weltbewegung gelehrt, so
würde daraus doch nur eine immer reinere Gestaltung der
Urstoffe sich ergeben, die aber nach seinen Voraussetzungen
nicht zum Untergange führen könnte. Und speziell auf der
Erde liefs er diese Beschleunigung und also auch den Fort-
schritt der Entmischung nicht stattfinden. Ja, auch für den
Himmel bezieht sich die behauptete stetige Beschleunigung
des Umschwungs wohl nur auf die Periode der Welt-
bildung.
Bezeichnete Empedokles die bewegenden Kräfte noch
rein mythisch, so hat Anaxagoras mit seiner Weltvernunft
einen entschiedenen Irrweg in bezug auf diese Frage be-
treten. Wir müssen ihn wegen dieser Lehre tadeln, aber
aus dem entgegengesetzten Grunde wie Plato und Aristo-
teles. Was er diesen zu wenig tat, tut er uns zu viel. Es
war ein verhängnisvoller Irrtum, das Zweckprinzip und
einen besonderen Träger desselben in die Welterklärung
einzuführen. Sehen wir aber von diesem für seine Zeit er-
klärlichen und entschuldbaren Fehler ab, vergegenwärtigen
wir uns die ganze Summe der ganz der Naturerklärung ge-
widmeten Lebensarbeit dieses tiefernsten, scharfsinnigen,
genialen Denkers, vergegenwärtigen wir uns die strenge
Folgerichtigkeit seiner Konstruktionen und die Fülle wahr-
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232 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
haft geistvoller Zftge darin, wie sie sich uns ergeben haben,
so dürfen wir ihm, wenn auch mit einer Einschränkung
liinsichtlich des Superlativs, den alten Ehrennamen des „am
meisten Physischen" (Sext. Emp. Dogm. 1. 90) wohl gönnen.
Jedenfalls kommt ihm derselbe zu hinsichtlich der aus-
schliefslich diesem Gegenstande zugewandten Richtung seines
Interesses, von der jetzt schliefslich im Anschlüsse an seine
Naturlehre noch gehandelt werden mufs.
Änaxagoras soll nach der schon mehrfach erwähnten
Aufzählung des Clemens von Alexandria für das
höchste Lebensgut erklärt haben „die Forschung (theoria)
und die daraus entspringende Freiheit". Hier ist die bei
den Pythagoreern mit Bezug auf ihre besondere Richtung
spezieller formulierte gelehrte Beschäftigung in ihrer vollen
Allgemeinheit belassen, dagegen ein Zug hinzugefügt, der
dem in zahlreichen Zügen und Anekdoten zu Tage
tretenden Charakterbilde des Änaxagoras vortrefflich an-
gepafst ist. Die Forschung ist an sich selbst beseligend;
sie beglückt aber ferner auch dadurch, dafs sie den Forscher,
den sie ganz hinnimmt, von den Sorgen und Kümmernissen
um die niederen Angelegenheiten des Lebens befreit und
ihn diesen Dingen gegenüber mit einem grofsartigen Gleich-
mut, mit der allgemeinen philosophischen Grundstimmung
wappnet. Es bedarf * keiner Erinnerung, dafs wir auch in
dieser Angabe keinen geschichtlichen Bericht über eine von
Änaxagoras getroffene wissenschaftliche Lehrentscheidung in
der Frage des höchsten Gutes, sondern nur eine aus dem
tiberlieferten Bilde seiner Persönlichkeit und aus gelegent-
lichen Äufserungen ungeschichtlich zurechtgemachte Formel
vor uns haben, die höchstens angibt, wie er diese Frage
beantwortet haben könnte, wenn er zweihundert Jahre später
gelebt hätte.
Dieses ausschliefsliche Interesse für die Wissenschaft
und der daraus entspringende Hochsinn nun spiegelt sich
teils in den Berichten über sein Verhalten zu den Interessen
des äufseren Lebens und über gelegentliche Aussprüche von
ihm, teils aber auch in Äufserungen, in denen er ausdrück-
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2. Anaxagoras. 233
lieh die Frage der Glückseligkeit und der Lebenswerte ins
Auge gefafst haben soll.
In ersterer Beziehung lesen wir schon bei Plato (Hipp,
mai. 283 A), er habe das reiche ererbte Vermögen vernach-
lässigt und alles eingebüfst. Auch Aristoteles deutet ein-
mal auf diesen Charakterzug des Anaxagoras hin (1141b, 3).
Wie Thaies sei er weise, aber nicht klug, weil sie über
der Erkenntnis des an sich nicht Verwendbaren das Nütz-
liche vernachlässigten. Schon die Zusammenstellung mit
Thaies zeigt hier, dafs von einer wissenschaftlichen Theorie
über das höchste Gut bei ihm nicht die Rede sein kann.
Auch Cicero (Tusc. V. 115) führt ihn als Beweis für das
Glück der wissenschaftlichen Beschäftigung an, da er ja
sonst nicht Landbesitz und Erbteil im Stiche gelassen und
sich ganz dem göttlichen Genufs des Lernens und Forschens
hingegeben hätte. Nach Diog. L. (IL 6) hatte er seinen
ganzen Reichtum seinen Verwandten überlassen, und nach
einer anderen Erzählung antwortet er auf den Vorwurf, er
verwahrlose seinen Besitz: „Nicht wäre ich gerettet, wenn
nicht diese Dinge zu Grunde gegangen wären." Eine ähn-
liche Gleichgültigkeit wird ihm auch in anderen Beziehungen
beigelegt. Eine Bezugnahme auf Anaxagoras fand man in
einer Stelle einer Tragödie des Euripides (Theseus), wo der
Held erklärt, von einem Weisen gelernt zu haben, dafs man
sich alle möglichen Schicksalsschläge stets gegenwärtig
halten müsse, um durch ihr etwaiges Eintreffen nicht über-
rascht zu werden (Cic. Tusc. III. 29 f.; Plut. Cons. Apol.
p. 112. An ersterer Stelle wird auf Anaxagoras auch der
Ausspruch bei der Nachricht vom Tode eines Sohnes zurück-
geführt: „Ich wufste, dafs ich einen Sterblichen gezeugt
habe"). Und als er beim Herannahen des Todes in Lamp-
sakus gefragt wird, ob er wünsche, dafs seine Leiche nach
Klazomenä gebracht werde, habe er geantwortet, es bedürfe
dessen nicht ; der Weg zum Totenreiche sei von allen Orten
gleich nahe (Cic. Tusc. L 104; D. L. II. 11). Das ihn an
Stelle dieser Dinge beherrschende Interesse bezeichnen
folgende beide Äufserungen. Auf die Frage, warum man
wünschen raüfste, lieber geboren als nicht geboren zu sein.
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234 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt
antwortet er: „Um der Betrachtung des Himmels und des
gesamten Weltalls willen" (Eth. Eud. 1216, 10; D. L. IL 10).
Und auf den Vorwurf, er vernachlässige sein Vaterland,
erwidert er, auf den Himmel (das Weltall) zeigend: „Bei-
leibe nrcht! Gar sehr liegt mir mein Vaterland am Herzen**
(D. L. IL 7).
Und von Äufserungen mehr allgemeingültiger Bedeutung
berichtet schon Aristoteles (1179, 13), er habe gesagt,
die Lehre, dafs nicht Reichtum und Macht glücklich mache,
müsse der Menge seltsam erscheinen. Und nach der ende-
mischen Ethik (1215b, 7) antwortet er auf die Frage, wer
der Glücklichste sei: „Keiner von denen, die du dafür
hältst. Dir würde er als ein Tor erscheinen**, wozu der
Autor die allerdings eine starke Färbung von seiner eigenen
Weltanschauung aus an sich tragende Erläuterung gibt,
dafs er wohl an ein Leben ohne Schmerz und Fehl für das
Gute, mit erhabener Forschung ausgefüllt, gedacht haben
möge.
So zeigt Anaxagoras in seiner persönlichen Lebens-
auffassung die deutliche Prägung des in seiner Forscher-
tätigkeit bewufst vollbeseligten Denkers und Gelehrten.
Dazu stimmt auch die Angabe, dafs man ihm (mit Rück-
sicht auf seine Grundlehre) den Beinamen „die Vernunft**
gegeben habe, der sich auch noch in einem erhaltenen Verse
aus den Sillen des Timon von Phlius findet (D. L. II. 6),
und dafs Perikles aus dem Verkehr mit ihm den erhabenen
Ton seiner Beredsamkeit angenommen habe. Dazu stimmt
auch ein erhaltenes lyrisches Bruchstück des Euripides,
in dem er, offenbar mit Beziehung auf Anaxagoras, den
Forscher selig preist, der, unbekümmert um die Bestrebungen
der Menge, ausschliefslich im Anschauen und Erforschen der
unvergänglichen Welt sein Leben hinbringt. Eine wissen-
schaftliche Behandlung jedoch der Frage nach dem höchsten
Gute wird ihm mit Unrecht beigelegt.
Nach dieser Übersicht über seine Lehre wird die weitere
Gestaltung seines Schicksals nach Veröffentlichung seines
Buches verständlicher werden. Erfolgte diese wirklich erst
um 434, so war damit den Feinden des Perikles eine will-
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2. Anaxagoras. 235
kommene Handhabe geboten, um dem grofsen Staatsmanne
einen Verdrufs zu bereiten und seine Stellung zu erschüttern.
Anaxagoras wurde nicht einmal auf Grund seiner Gesamt-
lehre, sondern, ganz nach dem Rezepte der christlichen
Inquisitionsprozesse, auf Grund einzelner herausgerissener
Sätze wegen „Unfrömmigkeit", d. h. wegen Widerspruchs
gegen die herrschende Mythologie, auf den Tod angeklagt.
Er hatte gelehrt, dafs die Sonne nicht eine Gottheit, son-
dern ein glühender Steinklumpen sei. Diese Lehre war
allerdings besonders auffilllig und geeignet, Widerspruch
hervorzurufen. Auch So k rat es hat sie gerade in seiner
Weise einer eingehenden Kritik unterworfen (Mem. IV. 7, 6).
Übrigens wurde die theologische Anklage noch verschärft
durch eine politische, indem man ihn auch der Hinneigung
zu oder gar des Einverständnisses mit den Medem, dem
alten Erbfeinde, beschuldigte (D. L. II. 12). Der Verlauf
des Prozesses wird verschieden erzählt. Offenbar kannte
man im späteren Altertume den wirklichen Hergang nicht
mehr; jedenfalls vermögen wir heute aus den widersprechenden
Angaben nicht mehr die etwa darunter befindliche richtige
herauszuerkennen. Hohe Geldstrafe (5 Talente = 22 500 M.»
nach dem heutigen Geldwert das Zehnfache) und Ausweisung,
Freisprechung auf Grund persönlicher Anwaltschaft des
Perikles, Flucht aus dem Gefängnis durch Veranstaltung
desselben, das sind die verschiedenen Lesarten (Z. 975, 4).
Jedenfalls fand sich Anaxagoras bewogen, nachdem ihm ein
solcher Lohn dreifsigjährigen Wirkens in Athen geworden,^
trotz seiner mindestens 66 Jahre den Staub des athenischen
Bodens von seinen Füfsen zu schütteln.
Er kehrte nicht in seine Vaterstadt zurück. Er fand
für den Rest seiner Tage eine neue Heimat in Lamp-
sakus am Hellespont. Er mufs auch dort noch bis zu
seinem 428 im Alter von 72 Jahren erfolgten Tode in ehren-
voller und wirksamer Weise seine Lehrtätigkeit fortgesetzt
haben. Wenigstens ist aller Wahrscheinlichkeit nach, wie
später zu zeigen, der 40 Jahre jüngere Demokrit in
Lampsakus sein Schüler gewesen, und auch ein Lampsakener
wird als sein Schüler genannt (Z. 1019, 4). Auch die ihm
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236 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
in Lampsakus erwiesenen hohen Ehren gelten wohl nicht
allein der Berühmtheit seines Namens und der sympathischen
Würde seiner Persönlichkeit. Als sein Ende naht, erscheinen
vor ihm, wie schon erwähnt, die Behörden der Stadt und
erkundigen sich nach seinen Wünschen hinsichtlich des
Ortes seiner Bestattung. Desgleichen fordern sie ihn auf,
selbst die ihm nach seinem Tode zu erweisenden Ehren zu
bestimmen. Er fordert, dafs zu seinem Andenken der
Monat, in dem er sterben würde, für die Jugend der Stadt
alljährlich ein Ferienmonat sein sollte, und dies soll noch
nach Jahrhunderten beobachtet worden sein. Aufserdem
ehrte man ihn durch Begräbnis auf öffentliche Kosten und
durch Altäre, die der „Vernunft" und der „Wahrheit" ge-
widmet gewesen sein sollen (Alkidamas, Schüler des Gorgias
bei Aristot. 1398b, 16; D. L. II. 14 f.; Aelian. V. VIII. 19).
Sein Hauptschüler war Archelaos, jedenfalls in
Athen, der nach Theophrast (D. 479) „der Lehrer des
Sokrates gewesen sein soll", und der die Naturlehre des
Anaxagoras durch eine Reihe nicht ganz unbedeutender
Abweichungen im einzelnen modifizierte (Z. 1033 ff.). Man
nannte ihn den letzten Physiker (D. L. IL 16). Daneben
scheint er auch schon unter dem Einflüsse der Sophisten,
der neuen Zeit huldigend, über die Entstehung der staat-
lichen Einrichtungen spekuliert zu haben (D. 564; D. L.
IL 16). Auch der von einem Teile der Sophisten vertretene
Satz, das Gerechte und das Schlechte beruhe nicht auf
Natur, sondeiTi auf wechselnder Sitte und willkürlicher
Satzung, wird ihm bereits beigelegt (D. L. ib.). Was es
mit der angeblichen Schülerschaft des — ihm gleichaltrigen !
— Sokrates auf sich hat, wird später zu erörtern sein.
3. Leukippos (um 460).
Bei dem Begründer des scharfsinnigsten und folge-
richtigsten dieser drei Parallelsysteme kommt zunächst die
Existenzfrage in Betracht. Epikur hat behauptet, es habe
gar keinen Leukippos gegeben (D. L. X. 13), und diese Be-
hauptung ist noch neuerdings von einem geistvollen und
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3. Leukippos (um 450). 237
gelehrten deutschen Philologen (Erwin Rohde, Verhandl.
der 34. Philol.-Vers., 1879) wieder aufgenommen worden.
Zur Entkräftung dieser Behauptung können folgende Tat-
sachen genügen: 1. In der der aristotelischen Schule an-
gehörigen Schrift über Melissos, Xenophanes und Gorgias
kommt in dem Bericht über eine etwa um 450 verfafste
Jugendschrift des Gorgias eine Bezugnahme auf einen
Sprachgebrauch in Schriften des Leukipp vor (980, 7). Da
diese Bezugnahme allem Anscheine nach auf der Schrift des
Gorgias selbst beruht, liegt hier aller Wahrscheinlichkeit
nach ein fast der Entstehungszeit des leukippischen Systems
gleichzeitiges Zeugnis eines wenig jüngeren Zeitgenossen
vor. 2. Diogenes von Apoll onia, dessen Lehre bereits
423 von Aristophanes verspottet wurde, hat nach dem
Zeugnisse Theophrasts (D. 477) wesentliche Punkte der-
selben von Leukipp übernommen, 3. Aristoteles nennt
nicht nur Leukipp sehr häufig neben Demokrit, sondern
zeigt namentlich an einer Stelle (Entstehen und Vergehen
L 8) ausführlich, wie Leukippos die Grundgedanken des
Atomismus im Gegensatze gegen die eleatische Lehre ent-
wickelt habe. 4. Theophrast hat ihn für den Verfasser
der unter den Schriften Demokrits aufgeführten „Grofsen
Weltordnung** und wahrscheinlich auch für den Verfasser
der ebendort aufgeführten Schrift „Über die Vernunft" er-
klärt (D. L. IX. 46 ; D. 321) und wenigstens die Grundzüge
des Atomismus ihm ausdrücklich beigelegt (D. 483). In
dem Umstände, dafs diese Schriften später in das Gesamt-
verzeichnis der Hervorbringungen der atomistischen Schule
aufgenommen wurden, liegt auch die Erklärung der Mög-
lichkeit, das Dasein Leukipps zu leugnen. Namentlich seine
Hauptschrift, die gewifs ursprünglich nur den Titel „Die
Weltordnung** (Diakosmös) führte, wurde nach der Aufnahme
m die grofse Sammlung von einer gleichnamigen Schrift
Demokrits, die den Titel „Die kleine Weltordnung** erhielt,
als „Die grofse Weltordnung** unterschieden und galt jetzt
ebenfalls für ein Werk Demokrits. Damit wäre die Existenz-
frage erledigt
Da er nun femer jedenfalls der Lehrer des um 460
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238 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
geborenen Demokrit war, kann seine Geburt mit der
gröfsten Wahrscheinlichkeit um 490 und das Hervortreten
seiner Lehre um 460 angesetzt werden. Weiteres ist aber
über seine Lebensverhältnisse nicht bekannt Sogar sein
Geburtsort war schon den Alten nicht mehr bekannt.
Aristoteles sagt nur einmal: „Leukipp und der Abderit
Demokrit" (303, 4), läfst also die Frage nach seiner Her-
kunft unbestimmt. Theophrast (D. 483) gibt an, er sei
entweder aus Elea oder aus Milet gewesen, denn beide An-
gaben fänden sich. Aber mutmafslich beruhten diese An-
gaben nur auf Vermutung; es spiegelt sich darin nur die
Tatsache, dafs Leukipp der hauptsächlichste Umgestalter
der alten milesischen Naturlehren unter dem Einflüsse des
parmenideischen Denkens ist, wie denn auch Theophrast
selbst im unmittelbaren Anschlüsse an die vorstehende An-
gabe berichtet, er sei, von der Lehre des Parmenides aus-
gehend, über dieselbe hinausgeschritten. Wenn nun eine
spätere Angabe (D. L. IX. 30) zu diesen beiden mutmafs-
lichen Geburtsorten als dritten gar noch Abdera hinzufügt,
so ist da lediglich die spätere Bezeichnung der atomistischen
Schule als abderitische (nach ihrem durch die Lehrtätigkeit
Demokrits begründeten Sitze) auf den Vorgänger und Lehrer
Demokrits übertragen. Nur mit überwiegender Wahrschein-
lichkeit kann hiernach vermutet werden, dafs Unteritalien
und speziell Elea die Bildungsstätte und somit möglicher-
weise auch die Geburtsstätte sowie die Stätte des Wirkens
Leukipps gewesen ist. Die Nachrichten, die ihn geradezu
zum Schüler Zenos machen (D. L. L 15; D. 564), stimmen,
wie wir sehen werden, mit der wirklichen Entwicklung seiner
Lehre völlig überein und haben daher die gröfste Wahr-
scheinlichkeit für sich.
Nach den vorhandenen zuverlässigen Nachrichten läfst
sich eine Anzahl von Grundlehren des atomistischen Systems
mit vollster Sicherheit auf Leukipp zurückführen. Aristo-
teles (Entstehen und Vergehen L 8) führt, ausgehend von
dem Problem, wie eine Einwirkung eines Stoffes auf einen
anderen möglich sei, aus, dafs die am meisten methodische
und von einem Prinzip ausgehende Lösung desselben von
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8. Leukippos (um 450). 239
Leukipp und Demokrit gegeben worden sei. Sie gingen
von der Natur aus, wie sie wirklich sei. Ihren Ausgangs-
punkt hätten sie von der Leugnung des Leeren bei den
Eleaten genommen. Daraus hätten die Eleaten die Un-
möglichkeit der Bewegung und der Vielheit geschlossen.
Denn auch Vielheit sei nur möglich, wenn es ein dazwischen-
tretendes Leeres gebe. So seien sie in rein begrifflichem
Raisonnement, ohne die Erfahrungstatsachen zu Bäte zu
ziehen, völlig vom sinnlich Gegebenen abgekommen und auf
Behauptungen geraten, die an Unsinnigkeit noch über die
Vorstellungen der Wahnsinnigen hinausgingen. Diese näm-
lich irrten zwar in Fragen des Sittliche^ und Herkömm-
lichen, würden aber niemals Feuer und Eis für ein und
dasselbe halten. Diesen gegenüber habe dann Leukipp
(hier, an entscheidender Stelle, wird er allein
genannt und seine Worte, was nur bei einer noch vor-
handenen Schrift Sinn hatte, mit einem „Er sagt" an-
geführt) ein Verfahren eingeschlagen, dessen Ergebnisse mit
der Sinneswahmehmung in Einklang ständen. Er habe zu-
gestanden, dafs es ohne ein Leeres keine Bewegung gebe,
und dafs das Leere ein Nichtseiendes sei, nichts desto weniger
aber behauptet, dies Nichtseiende existiere ebensosehr wie
das Seiende. An dieser entscheidenden Stelle (325, 28) ist
im Texte ein Wort ausgefallen; die Worte „desto weniger"
sind jedoch eine durch den Sinn geforderte Ergänzung.
Hier also hat sich im Gegensatz gegen die eleatische Lehre
der Gedanke der Realität des Raumes zum erstenmal zu
voller Klarheit emporgerungen. Hier bezeugt Aristoteles
schon für Leukipp, allermindestens dem Sinne nach, an-
scheinend aber auch schon der paradoxen Formulierung nach,
die sonst Demokrit zugeschrieben wird, die Grundlehre des
Atomismus: „Nicht in höherem Mafse existiert das Ichts
als das Nichts" (me mällon to dfen e to meden). Beide
Arten des Existierenden aber, läfst Aristoteles Leukipp fort-
fahren, ständen im schroffsten Gegensatze zueinander. Das
im eigentlichen Sinne Seiende sei ein durchaus Volles (d. h.
absolut Dichtes, wie ja auch die Eleaten in Konsequenz
ihrer Leugnung des Leeren behaupteten), aber es gebe dessen
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240 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt
nicht nur ein einziges, sondern — was ja bei der Existenz
des Leeren möglich -— unbegrenzt vieles. Jedes Einzelne
dieser Vielheit sei wegen seiner Kleinheit unsichtbar. Durch
die Existenz des Leeren werde ihm ferner auch die Mög-
lichkeit der Bewegung gewährleistet. Die Atome bewegen
sich im Leeren. Diese nicht mehr teilbaren kleinsten Massen*
teilchen (Atom bedeutet ein Unteilbares) seien femer nicht
flftchenhaft, sondern körperhaft, Sie existieren in unbegrenzt
vielen Formen. Aus ihnen entstehe das Zusammengesetzte
einesteils durch das Leere (d. h. in der Form lockerer Zu-
sammenfügung mit Zwischenräumen), andemteils durch Be-
rührung (d. h. in, fester Zusammenfügung ohne leere Räume
dazwischen) (325 b, 29). Auf diesen ZusammenfOgungen
und ihrem Wechsel beruhe Entstehen und Vergehen und
die Einwirkung eines Dinges auf ein anderes (325, 31).
Aristoteles erklärt an dieser Stelle, die Betrachtung über
das aus diesen Grundlagen weiter sich Ergebende abbrechen
zu wollen. Er hätte also wohl noch einiges Weitere zur
Lehre speziell des Leukipp beibringen können. Eine Stelle,
an der er diese Fortsetzung speziell in betreff der Grund-
lehren des Leukipp geliefert hätte, findet sich in seinen
uns erhaltenen Schriften nicht. Woher er das bis dahin
Beigebrachte entnommen hat, ob aus einer Schrift Leukipps
oder aus einer abgeleiteten Quelle, sagt er nicht, doch ist
bei seiner Art zu forschen wohl das erstere wahrscheinlicher.
Jedenfalls stehen wir einem vollgültigen und unbezweifel-
baren Zeugnisse über Entstehung und Grundzüge der Lehre
Leukipps gegenüber. Dieser ist ihm geradezu der Erretter
der Wissenschaft von der Welt- und Naturlosigkeit der
Eleaten.
Auch Theophrast unternimmt in der uns überlieferten
Auslassung über Leukipp (D. 483), die Grundzüge des Ato-
mismus speziell im Sinne Leukipps darzulegen. Nach dem
bereits angeführten Zeugnisse, nach dem er die „Grofse
Weltordnung" für ein Werk Leukipps hielt, dürfen wir an-
nehmen, dafs seine Darstellung dieser Schrift entnommen
ist. Auch er läfst Leukipp seine Lehre im Gegensatze
gegen die der Eleaten entwickeln. Während diese das
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3. Leukippos (um 450). 241
Seiende für einheitlich und der Masse nach begrenzt er-
klärten, habe er ihm unbegrenzte Vielheit beigelegt.
Während jene es , das Nichtseiende leugnend , für unbewegt
ausgäben, erkläre er die Atome (d. h. die nicht mehr teil-
baren Elemente des Seienden) für beständig bewegt (hier
tritt zuerst die an der Aristotelesstelle noch nicht erwähnte
ursprüngliche Eigenbewegung der Atome auf). Die
Möglichkeit dieser Bewegung beruhe darauf, dafs das
Seiende um nichts mehr existent sei als das Nichtseiende
(das Leere). Beide seien geradezu die Elemente des Werdens,
daher es auch heifse: „Sie (die Atome) bewegen sich in
demLeeren.** Die Gestalt der Atome sei von unbegrenzter
Mannigfaltigkeit bei völliger Gleichheit der stofflichen Be-
schaffenheit; sie seien absolut voll (hier führt Theophrast
sogar das altertümliche, jonische Wort nastös für „voll" an,
das jedoch möglicherweise erst von Demokrit gebraucht
worden ist (D. 285, 311, 314).
So weit bei Theophrast der Bericht über Leukipp; die
weiter folgenden Angaben beziehen sich auf Demokrit und
seine Schule.
Die hier im Gegensatze gegen die eleatische Einheits-
lehre betonte Vielheit der Stoffatome konnte er aus
der pythagoreischen Lehre von den ßaumatomen (der
„Grenze") entnehmen, wie überhaupt ein Einflufs auch des
pythagoreischen Hauptsystems auf sein Denken zwar nicht
äufserlich bezeugt wird, aber aus inneren Gründen sehr
wahrscheinlich ist.
Ob schon Leukipp die unbegrenzte Mannigfaltigkeit in
der Gestalt der Atome näher ins einzelne ausgeführt hat,
wird nicht berichtet, ist aber nach der Darstellung seiner
Lehre von der Weltentstehung (D. L. IX.; 31 s. u.) wahr-
scheinlich. Ebenso steht es mit der Begründung der Un-
teilbarkeit derselben durch die absolute Dichtigkeit.
Auf diese Frage mufste schon Leukipp durch seine nahen
Beziehungen zu den Eleaten geführt werden. Schon Z e n o
hatte, wenn Teilbarkeit angenommen wurde, die unendliche
Gröfse des einzelnen Stoffteils bewiesen, undParmenides hatte
für sein kugelförmiges Seiendes die Teillosigkeit behauptet.
DAring. I. 16
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242 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
Dafs schon erGröfsen unterschiede der Atome angenommen
hat, wird ebenfalls in dem Bericht über seine Weltbildungs-
theorie (D. L. IX. 31) vorausgesetzt. Von der Verschieden-
heit der Gröfse ist aber, da die Atome bei völlig gleich-
artiger Beschaffenheit und absoluter Dichtigkeit sämtlich
von gleicher Schwere (spezifischem Gewicht) sind, auch die
Verschiedenheit des Gewichts abhängig (Arist. 326, 9).
Aristoteles legt Unterschiede der Gestalt sowohl wie
der Gröfse der Atome beiden, dem Leukipp und dem
Demokrit, gemeinsam bei (303, 13).
Ein wichtiges Hilfsmittel zur Erklärung der Mannig-
faltigkeit der Dinge ist für die atomistische Theorie, da
auch ihr der Begriff der chemischen Verbindung gänzlich
fehlte, die Anordnung und die Stellung oder Lage
der Atome. Aristoteles verdeutlicht die Anordnung
durch das Beispiel der beiden Buchstaben A und N, die
entweder zu der Silbe an oder zu der na zusammentreten
können. Die Stellung erläuterter durch ein griechisches
Schriftzeichen, das senkrecht gestellt (N) ein N, wagerecht
gestellt (Z) ein Z bedeutet (985 b, 18). Selbstverständlich
hat der letztere Unterschied nur bei Atomen von unregel-
mäfsiger Gestalt, nicht bei runden und glatten, Bedeutung.
Dafs nun auch dieser Teil der Theorie schon bei Leukipp
vorkam, wird dadurch wahrscheinlich, dafs Aristoteles öfter,
wo er seiner erwähnt, Leukipp und Demokrit verbunden
anführt (985 b, 12; 300, 21; 314, 21; 315 b, 4 flf.). Hier
auch die verdeutlichende Bemerkung zur Anordnung : „Aus
denselben Buchstaben entsteht eine Tragödie und eine
Komödie-," vergl. auch D. 397.
Von entscheidender Bedeutung für den Atomismus ist
die Frage, wie die ursprüngliche Bewegung der im Leeren
zerstreuten Atome gedacht wurde. Aus welcher Ursache
wurde dieselbe abgeleitet? Und in welcher Richtung ver-
laufend wurde sie gedacht? Nach der angeführten Dar-
stellung Theophrasts hat es den Anschein, als ob schon
Leukipp eine den Atomen ursprünglich anhaftende Eigen-
bewegung angenommen habe, vermöge deren sie in den
verschiedensten Richtungen im Räume umherfahren. Sie
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8. Leukippos (am 450). 243
sind ^beständig bewegt**, „bewegen sich im Leeren". ,Genau
denselben Ausdruck gebraucht Aristoteles in der an
die Spitze gestellten, zusammenhängenden Darlegung Ober
Leukipp (325, 31; vergl. 300 b, 9). Eben derselbe legt
wiederholt 'gerade Leukipp die ewige Bewegung
bei (1011b, 32; 1012, 6). Durch diese Zeugnisse scheint
die Annahme einer nicht weiter erklärbaren Urbewegung
der Atome schon bei Leukipp genügend bekräftigt (vergl.
D. 564).
Man sollte nun erwarten, dafs der Atomismus von vorn-
herein genauere Bestimmungen über Richtung und Art
dieser Bewegung (ob in vielerlei Richtung? ob ausschliefs-
lich geradlinig?) aufgestellt hätte. Dies scheint aber nicht
der Fall gewesen zu sein. Wenigstens sagt Aristoteles in
bezug auf Leukipp und Demokrit (985b, 19): ^Die
Frage der Bewegung, aus welcher Ursache oder wie sie
bei den Urelementen des Seienden stattfindet, haben auch
sie, ebenso wie die andern (ihre Zeitgenossen), leichtfertig
beiseite gelassen." Ebenso vermifst er an einer anderen
Stelle (300 b, 10) bei beiden eine Angabe über die Art und
naturgemäfse Richtung der Urbewegung, und ferner rügt er
wiederholt am atomistischen Systeme, dafs es nur den leeren
Raum als Ursache der Bewegung anführe, der ja freilich
nur eine Bedingung ihrer Möglichkeit ist (265 b, 24; 214,
24). Leukipp speziell scheint überhaupt das Prinzip der
mechanischen Erklärung alles Geschehens noch nicht mit
voller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht zu haben.
Wenigstens wird ihm an zwei fast bis zum Wortlaut über-
einstimmenden Stellen (D. L. IX. 33; D. 565), die wohl ihre
letzte Quelle an Theophrast haben, der Vorwurf gemacht,
er berufe sich für alles Geschehen in der Welt auf eine
gewisse Notwendigkeit, über deren Natur er aber nichts
Deutliches zu sagen wisse. Doch ist dies Urteil vielleicht
tendenziös und befangen, weil vom Standpunkt eines in der
Welt wirksamen Zweckprinzips aus gefällt. Wenigstens
wird er anderweitig nach derselben Quelle zu denen ge-
rechnet, die mit deutlichem Bewufstsein im Gegensatz gegen
eine Weltvemunft ein vernunftloses Naturgesetz annehmen
16*
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244 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
(D. 330), und die einzige Stelle, die eine wörtliche Anführung
aus einer seiner Schriften („Über die Vernunft") aufbewahrt
hat (D. 321), lautet: „Keine Sache geschieht zufällig, son-
dern alles nach Gesetz (lögos) und aus Notwendigkeit."
Nach dieser Stelle scheint er doch einen genügend deut-
lichen Begrüf von der Notwendigkeit gehabt zu haben. Er
hat geradezu den Begriff des Naturgesetzes.
Die Weltentstehung anlangend findet sich zunächst in
einigen Berichten eine seltsame Unterscheidung zwischen
dem „Unendlichen" und dem „grofsen Leeren". Der erste
Akt der Entstehung einer Welt besteht nach diesen Dar-
stellungen darin, dafs die Atome aus dem Unendlichen in
das grofse Leere stürzen (D. L. IX. 30, 31 ; D. 564). Diese
Unterscheidung erklärt sich wohl dadurch, dafs schon Leu-
kipp in schroffem Gegensatze gegen die Eleaten das Leere
geradezu für eine stoffliche Ursache des Seienden er-
klärte (Arist. 985 b, 8), also nicht mit dem blofsen Räume
identifizierte. Dies liegt denn auch schon in dem Satze,
dafs das Nichts nicht weniger sei als das Ichts. Es scheint
fast, als ob auch hier eine Beeinflussung durch die pytha-
goreische (oder anaximenische) Weltentstehungslehre vorläge.
Mit der Weltentstehungslehre hängt femer enge zusammen
die Vorstellung von der Entstehung der Elemente. Aristo-
teles (302, 12) rügt auch hier an beiden Atomikem, dafs
sie nur unzulänglich angegeben hätten, aus wie beschaffenen
und gestalteten Atomen die vier Elemente sich zusammen-
setzten. Sie beschränkten sich darauf, dem Feuer die
kugelförmigen Atome zuzuweisen, während sie bei Luft,
Wasser und Erde nur Gröfsenunterschiede der Atome an-
nähmen nnd dabei ein Übergehen dieser drei Elemente in-
einander behaupteten (303, 14, 25). Letzteres scheint auch
sonst bezeugt zu werden (D. L. IX. 30). Natürlich konnte
er einen solchen Übergang nur durch veränderte Atomver-
bindung vermittelt denken.
Über Leukipps Weltentstehungslehre selbst findet sich
ein höchst komplizierter Bericht bei Diogenes Laertius
(IX. 31 ff.), der teilweise dunkel ist, teilweise aber auch
durch andere Zeugnisse bestätigt wird. Durch das Zusammen-
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3. Leukippos (um 450). 245
prallen der Atome entsteht aus den vielen unregelmäfsigen
Bewegungen eine einheitliche Wirbelbewegung, Dabei soll
sich das Gleichartige zusammenfinden. Die feinsten Atome
werden, wie beim Durchsieben, aus der Masse wieder heraus-
gedrängt und scheiden aus der werdenden Welt aus. Die
übrigen bilden im Umwirbein ein kugelförmiges System.
Um dasselbe bildet sich durch Verfilzung hakenförmiger
Atome (D. 336) eine Haut oder ein Mantel (offenbar die
feste Welthülle, das Firmament). Aus denselben Stoffen
soll dann aber auch wieder vermöge eines Zuges zur Mitte
sich die Erde bilden. Diese ist nach Leukipp, ähnlich wie
beiAnaximander, tamburinförmig (D. 377 ; D. L. IX. 30).
Ebenso entstehen durch allerlei mit dem Wirbel zusammen-
hängende weitere Vorgänge, deren Schilderung infolge der
grofsen Kürze teilweise unverständlich ist, innerhalb der
Hohlkugel die übrigen Bestandteile unserer Welt: zu äufserst
die Sonne, dann die übrigen Gestirne, dann der Mond. Aus
einer nicht recht verständlich überlieferten Ursache nahm
auch er eine nachträgliche Senkung der Erde nach Süden
an (D. 377). Diese schräge Lage der Erde zur Achse der
umlaufenden Himmelskörper, in denen die ursprüngliche
Wirbelbewegung fortwirkt, dient, wie bei Anaxagoras, zur
Erklärung der Bahn der Sonne am südlichen Horizont.
Da die Bedingungen der Entstehung einer Welt sich
unbegrenzt oft wiederholen, so gibt es selbstverständlich
unbegrenzt viele Welten, die sich aber auch gelegentlich
wieder in die Urstoffe auflösen (D. L. IX. 30; D. 327).
Hiemach ist Leukipp der erste, der die unbegrenzte Viel-
heit der Weltsysteme gelehrt hat. Es ist freilich zwischen
dieser antiken Auffassung und der in der modernen Welt
auf Grund der kopemikanischen Theorie zuerst durch
Giordano Bruno vertretenen ein himmelweiter Unter-
schied. Dort jede einzelne Welt durch eine feste Kugelhülle
von allen übrigen und von der Unendlichkeit abgeschlossen,
die Himmelskörper nur Trabanten der Erde; hier diese
unsere Welt von unendlicher Weite und Gröfse, jeder Fix-
stern eine Sonne, von Planeten umgeben. Nur in einem
Punkte ähneln sich beide Anschauungen: unsere Welt mit
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246 Erste Periode. Dritter Abschn. StofFu. bewegendes Prinzip getrennt.
Sonne und Erde ist bei beiden nicht mehr die Welt schlecbt-
bin, deren bebagliche Enge einen geeigneten Schauplatz für
ein nach Menschenart gedachtes Gdtterwalten abgeben
konnte.
Nach einem ausdrücklichen Zeugnis des Aristoteles
(404, 5) bat Leukipp schon in den Sonnenstäubchen einen
Beweis für die Erfüllung des Raumes mit Atomen gesehen.
Wie es nach derselben Stelle (und D. 388) scheint, hat
auch er schon die Seele für feurig, d. h. aus kugelförmigen
und daher äufserst beweglichen Atomen bestehend, gedacht
(D. 214). Selbstverständlich war dadurch beim Fehlen der
Einheitlichkeit die Fortdauer nach dem Tode ausgeschlossen.
Auch der Grundgedanke der Erkenntnislehre Demokrits,
nach dem wir mit den Sinnen nicht die Wirklichkeit des
Seienden, sondern nur durch die Natur unseres Auffassungs-
vermögens veränderte Eindrücke desselben erhalten, wird
schon Leukipp zugeschrieben (D. 397). In der Tat lag diese
Folgerung bei der Grundannahme von der Verschiedenheit
des Wesens des Seienden vom Sinnenfälligen so nahe, da(»
Leukipp so gut wie Empedokles oder Anaxagoras sie
ziehen konnte. Ob e r schon die präzise Formulierung dafür
gefunden hat, dafs die sinnenfällige Beschaffenheit der Dinge
nicht von Natur (physei), sondern nur für die menschliche
Auffassungsweise (nömo) vorhanden sei, ist zweifelhaft.
Doch wird auch diese schon sowohl ihm als dem von ihm
beeinfiufsten Diogenes von Apollonia zugeschrieben
(D. 397).
Auch die Erklärung des Sehens durch von den Dingen
sich ablösende „Bilder", die wir bei Empedokles kennen
gelernt haben, und die nachher Demokrit vertrat, wird
schon ihm zugeschrieben (D. 403, 395; Alex. Aphr. zu de
Sensu S. 24 u. 56). Da Empedokles der Ältere ist, wird
er sie zuerst aufgestellt haben. Dadurch aber erhält die
Wahrscheinlichkeit, dafs Leukipp in Unteritalien lebte, einen
neuen Zuwachs. In strenger Folgerichtigkeit hat endlich
auch er schon das Denken, ebensogut wie die Sinnes-
wahrnehmung, für einen rein körperlichen Vorgang erklärt
(D. 394).
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4. Die letzten Ausläufer der milesischen Schule (um 480). 247
Möglicherweise sind auch noch andere Lehren, die in
den auf uns gekommenen Nachrichten nur für Demokrit
bezeugt werden, schon von liOukipp aufgestellt worden.
Doch genügt das Wenige, was erhalten ist, zum Beweise,
dafs die Grundzüge des atomistischen Systems ihm an-
gehören, und dafs er der eigentliche Schöpfer desselben ist.
4. Die letzten Ausläufer der milesischen Schule
(um 430).
In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts treten uns
noch zwei Anhänger der alten jonischen Naturlehre ent-
gegen. Dieselben gehören nicht nur der Zeit nach hierher,
sondern auch deshalb, weil sie in den Einzelheiten ihrer
Lehre sich von den fortgeschrittenen Anschauungen der Zeit
beeinflufst zeigen. Insbesondere mufs der eine derselben,
Diogenes v o n A p o 1 1 o n i a , hier eingeordnet werden, weil
er von Anaxagoras und Leu kipp vieles entlehnt hatte.
Dies bezeugt Theophrast ausdrücklich (D. 477), und es
läfst sich auch im einzelnen vielfach nachweisen, so dafs seine
Lehre, die der Demokrits der Zeit nach vorangeht, in
manchen Fällen als Beweis dienen kann, dafs schon Leukipp
die betreifende Lehre aufgestellt hat. An den zweiten der-
selben, Hippon, knüpft sich kein solches Interesse, doch
ist auch er der Zeit wegen an dieser Stelle einzuordnen.
Bei Diogenes von ApoUonia fehlen fast alle
direkten Nachrichten über seine persönlichen Verhältnisse.
Aus einer von dem Aristotelesschüler Demetrius von
P h a 1 e r 0 n verfafsten Verteidigungsschrift des Sokrates
stammt die Angabe, dafs er in Athen heftig angefeindet
und beinahe in einen Religionsprozefs verwickelt worden sei
(D. L. IX. 57). Auf einen athenischen Aufenthalt etwa im
dritten Viertel des 5. Jahrhunderts deutet auch der Um-
stand, dafs seine Lehre in den 423 aufgeführten „Wolken"
des Aristo phanes (wovon nachher) und in den „Troe-
rinnen" des Euripides (884 ff.) berücksichtigt worden ist.
Auch Theophrast bezeugt an der angeführten Stelle,
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248 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt
dafs er so ziemlich der jüngste der von der milesischen
Schule ausgegangenen Physiker gewesen sei.
Wo seine Vaterstadt Apollonia gelegen hat, ist un-
bekannt; als Schriftsteller bediente er sich,^ wie die erhaltenen
Fragmente seiner Schrift „Über die Natur" zeigen, des
kleinasiatisch-jonischen Dialekts. Aufser diesen Fragmenten
sind noch zahlreiche indirekte Nachrichten, auf Theophrast
beruhend, über seine Lehre vorhanden.
Bei Diogenes steigert sich wie bei Heraklit die
Lebendigkeit des Urstoffes zur höchsten Vernünftigkeit.
Abweichend von Heraklit ist sein Interesse nicht der
Gemütsbefriedigung und praktischen Lebensführung, sondern
dem Theoretischen, der Naturerklärung, zugewandt. In
seiner Darstellung verfuhr er streng methodisch. In dem
erhaltenen Anfangssatze seiner Schrift (D. L. IX. 57; VI.
81) spricht er aus, dafs man bei jeder Darlegung zunächst
das Prinzip in unanfechtbarer Weise feststellen müsse. Er
betonte im weiteren Verlaufe zunächst, dafs für alles Seiende
ein einheitliches Urprinzip angenommen werden müsse, weil
nur so eine verändernde Einwirkung der Stoffe aufeinander
gedacht werden könne (Arist. 322 b, 13). Nur das dem
Grundwesen nach Gleiche kann das Gleiche affizieren. Er
bewies sodann, dafs dies Urprinzip einesteils ein Stoff sein
müsse, aus dem alle Stoffe abgeleitet werden könnten,
andemteils aber auch ein denkendes Wesen, befähigt, alles
zweckvoll zu ordnen und das in der Welt vorhandene Leben
und Bewufstsein hervorzubringen (Z. 260), Wir erkennen
hier deutlich die Beeinflussung durch Anaxagoras, nur
dafs er die durch die neue Denkrichtung aufgebrachte Zwei-
heit der Prinzipien wieder zur Einheit zurückführt. Für
dieses einheitliche Prinzip erklärt er alsdann die als Seele,
als lebendiges und denkendes Wesen gefafste Luft (Z. 260).
Mit Anaximenes leitete er aus dieser durch Verdichtung
und Verdünnung als ihre ersten Lebensäufserungen die
Mannigfaltigkeit des Seienden ab (D. 477; Z. 264, 3), aber
er fafste die Verdichtung und Verdünnung offenbar nicht,
wie jener, als zwei entgegengesetzte Entwicklungsrichtungen
der Luft, sondern stellte, wie Heraklit das Feuer, so die
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4. Die letzten Ausläufer der milesischen Schule (um 430). 249
Luft an die Spitze und liefs von ihr die Verdichtung und
Verdünnung als zwei Richtungen des gleichen Weges (als
Weg aufwärts und abwärts) ausgehen. Dies ergibt sich un-
zweifelhaft daraus, dafs er die Luft in ihrer Reinheit für
den dünnsten und feinsten und damit zugleich für den
wärmsten Stoff erklärte (Z. 264). Verdichtung ist Ab-
kühlung, Verdünnung Erwärmung. Schon die Luft selbst
zeigt in dieser Beziehung unendlich viele Abstufungen: die
obere Luft ist dünner und wärmer als die untere. Auf
den weiteren Stufen der Verdichtung entsteht das Feuchte
und das Feste.
Andemteils ist aber die Luft auch das Prinzip alles
Lebens und alles Seelischen einschliefslich der Vernunft
(D. 510, 512). Inwieweit er dies in der Welteinrichtung
nachwies, ist im einzelnen nicht bekannt. Doch beruht wohl
hierauf, dafs er mit besonderem Nachdruck die Luft als
Gottheit oder als Zeus bezeichnete und diesem unter Be-
rufung auf Homer Allwissenheit beilegte (D. 536). Direkt
legte er auch der Luft Erkenntnis bei (Arist. 405, 23).
Insbesondere beruht alles Seelische bei den organischen
Wesen auf der Einatmung der Luft (Simplic. Phys. 152, 18;
Hippokr. de flat. 3). Die Pflanzen sind unbeseelt, weil sie
nicht atmen (D. 512). Je reiner die eingeatmete Luft ist,
um so vollkommener ist das seelische Leben. Die Fische
atmen zwar (Arist. 470b, 30), aber wegen der geringen
Menge der dem Wasser beigemengten Luft können sie noch
weniger als die der Erde zugeneigten und% unreine Luft
atmenden Landtiere Intelligenz entwickeln. Die Vögel
atmen zwar eine reinere Luft, aber diese durchdringt nicht
ihren ganzen Körper, daher sie den Fischen an Intelligenz
nicht überlegen sind. Die Kinder sind unverständig, weil
sie wegen ihrer niedrigen Statur in einer tieferen Luftschicht
atmen. Ähnlich erklärte er die Unverständigkeit der
Schlafenden, der Trunkenen und mit Speise Überfüllten
(D. 513 f.).
Auf diesen mit strenger Folgerichtigkeit aus seinem
Grundprinzip abgeleiteten Vorstellungen beruht denn auch
eine äufserst komische Erfindung in den „Wolken" des
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260 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
Aristophanes. Derselbe hat in dieser Komödie allerlei Aus-
wüchse in den Ansichten der damals in Athen bekannten
Philosophen auf die Gestalt des Sokrates zusammengehäuft.
Und dazu hat denn auch Diogenes von Apollonia einen be-
trächtlichen Anteil beigesteuert. Inbesondere findet der bei
Sokrates in die Lehre tretende Strepsiades den Meister in
einem Hängekorbe hoch oben in der Luft schwebend und
erhält dafür die Erklärung, dafs die denkende Erkenntnis
der tiberirdischen Dinge nur oben in der reineren Luft
möglich sei, wo die Feuchtigkeit der Erde nicht störend
auf das Denken wirke (219 ff.)-
Die von Theophrast behauptete Abhängigkeit von Anaxa-
goras und Leukipp in den Einzelheiten seiner Lehre läfst
sich heute nur noch in wenigen Zügen nachweisen. In bezug
auf Anaxagoras, dessen Lehre ohnedies genügend bekannt
ist, hat dies auch kein weiteres Interesse. Ob er z. B. mit
diesem die Gestirne von der Erde stammen liefs, ist nicht
ersichtlich. Jedenfalls dachte auch er sie als glühende
Steinmassen und erklärte den Stein von Aegospotamos für
einen herabgefallenen Stern (D. 341, 342, 349, 356). Mit
L e u k i p p soll er gemeinsam gehabt haben die Vielheit der
gleichzeitig existierenden Welten (327), welche Angabe je-
doch zweifelhaft ist, vornehmlich aber den Satz, dafs die
Sinneswahmehmungen nicht die wirkliche Beschaffenheit der
Dinge offenbaren, sondern nur eine Umgestaltung der Ein-
drücke durch die besondere Beschaffenheit unserer Organe
(D. 397). Dies ist also zugleich ein Zeugnis für das Vor-
handensein dieser Lehre schon bei Leukipp. Im übrigen
sind die überlieferten Einzelheiten seiner Naturerklärung
ohne allgemeines Interesse.
In völlig entgegengesetzter Richtung als Diogenes von
Apollonia wird die jonische Naturlehre durch Hippen
weitergebildet. Dieser nimmt dadurch eine Sonderstellung
ein, dafs er aus dem Stoffe allein ohne anhaftende seelische
Eigenschaften die Welt abzuleiten versuchte. Er tritt damit
aus dem Bereiche des Hylopsychismus heraus. Und da er
auch nicht, wie Empedokles, Anaxagoras und Leukipp, ein
vom Stoffe verschiedenes Prinzip der Bewegung annahm, so
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4. Die letzten Aasläofer der milesischen Schule (um 480). 251
Stellt er eine ganz eigenartige, durch ihn allein vertretene
Denkrichtang dar. Er ist Materialist, aber nicht Materialist
im Sinne der vorgenannten drei Denker, auch nicht im
heutigen Sinne des Wortes, sondern Materialist im streng
buchstäblichen Sinne des Wortes. Er leitet alles aus dem
Stofifiß allein ohne irgend einen Zusatz ab. Darauf beruht
es denn auch wohl, dafs ihm Aristoteles Leichtfertigkeit
und Pöbelhaftigkeit des Denkens vorwirft (984, 4; 405 b, 2),
und dafs er, während man bei den Hylopsychisten immer
noch die Anerkennung eines wirkenden Göttlichen im
weiteren Sinne fand, ausdrücklich als Atheist bezeichnet
wird (D. 475).
Von Hippon war schon bei Thaies die Bede. Über
seine persönlichen Verhältnisse kann mit einiger Sicherheit
fast nur ausgesagt werden, dafs er der Zeit des Perikles
angehörte (Z. 254, 4). Aufserdem wird er in dem mehr-
erwähnten Auszuge aus Menons Geschichte der Arznei-
kunst als „Krotoniat" bezeichnet, womit aber nicht seine
Herkunft, sondern nur seine Zugehörigkeit zu der bei
Alkmäon erwähnten krotonianischen Ärzteschule bezeichnet
wird. Aber auch diese Bezeichnung hat bei ihm, wie die
Grundzüge seiner Lehre zeigen, einen ganz anderen Sinn
als bei einem Alkmäon.
Er erklärte das Wasser rein als solches, ohne ihm see-
lische Eigenschaften beizulegen, für den Urstoflf der Dinge
und führte dafür die Gründe an, die wir als fälschlich dem
Thaies beigelegte kennen gelernt haben (Aristot. 983 b, 23;
D. 475). Auch die Seele ist Wasser (Aristot. 405 b, 1;
D. 566, 212, 214, 388). Dazu stimmen denn auch voll-
ständig die physiologischen und medizinischen Lehren, die
ihm in dem Auszuge aus Menon beigelegt werden. Als das
Prinzip des Lebens und der Wahrnehmung (also auch der
seelischen Funktionen) beim Menschen wie bei den lebenden
Wesen überhaupt hat er danach die im Körper vorhandene
Feuchtigkeit bezeichnet. Befindet sich diese in normalem
Zustande, so ist das Geschöpf gesund; trocknet sie ein, sa
verliert es die Empfindung und stirbt. Beim Greise ist der
Körper trocken und daher ohne lebhaftere Empfindungen»
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252 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
Durch Hitze oder Kälte verändert sieb der Bestand der
Feuchtigkeit im Körper, wird zu viel oder zu wenig, zu
dick oder zu dünn oder gerät sonst in einen abnormen
Zustand. Daraus entstehen alle Krankheiten.
Eine andere Quelle für das Detail seiner Lehren, näm-
lich für seine Vorstellungen vom Weltgebäude, bildet un-
zweifelhaft ein Teil der Thaies fälschlich zugeschriebenen
Sätze. Wie seine Grundlehre, so hat er nämlich auch
manche seiner Speziallehren Thaies untergeschoben. Man
könnte daher aus diesem für Thaies Unmöglichen eine Reihe
von Zügen aussondern, die mit der gröfsten Wahrscheinlich-
keit Hippo beigelegt werden könnten. Einiges davon ist
bereits bei Thaies angeführt worden. Wir würden so ein
Bild von seiner Weltansicht gewinnen, wie sie sich unter
dem Einflüsse fortgeschrittener Naturforschung gestaltet
hatte. Es kann jedoch auf diese Ausführungen als zu wenig
bedeutsam hier verzichtet werden.
6. Demokrit (ca. 420).
Demokrit gehört unter den Erscheinungen, mit denen
die Geschichtschreibung der Philosophie zu tun hat, zu den
Geistern allerersten Ranges. Seine Bedeutung beruht nicht
allein darauf, dafs er das System Leukipps zur Vollendung
gebracht und eine atomistische Schule begründet hat, die
ungefähr ein Jahrhundert bestanden hat, auch nicht allein
auf den nachhaltigen Wirkungen, die in der weiteren Ent-
wicklung der antiken Philosophie von ihm ausgegangen sind.
Sie beruht in erster Linie auf seiner überraschenden, eigen-
artigen Gröfse und Universalität als Denker wie als Schrift-
steller. In ihm hat vornehmlich schon die erste Periode der
antiken Philosophie mehr noch als in Heraklit einen
Typus der auch auf das persönliche Leben und Wohlsein
angewandten Forschung hervorgebracht. Doch unterscheidet
er sich in diesem Punkte dadurch in tiefgreifendster Weise
von Heraklit, dafs nach ihm nicht auf die Welteinrichtung,
die achtlos am Menschen vorübergeht, die Befriedigung ge-
gründet werden kann, sondern dafs wir die Bedingungen
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5. Demokrit (ca. 420). 253
der Glückseligkeit ausschliefslich in uns selbst zu suchen
haben. Mit dieser Auffassung wird Demokrit der wahre
Stammheros der wahren Philosophie im engeren Sinne.
Leider hat für uns ein ungünstiges Geschick die Doku-
mente seiner hervorragenden Bedeutung als Denker und
Schriftsteller bis auf wenige dürftige Überbleibsel und Nach-
richten zweiter Hand völlig vernichtet. Schon in seiner
eigenen Schule mufs es an geschichtlichem Sinne sehr gefehlt
haben. Nur wenige, offenbar lediglich gelegentliche Angaben
über sein Wirken gehen auf seine Schüler und Nachfolger
zurück. Seine Schriften wurden in seiner Schule mit denen
Leukipps und seiner Nachfolger zu einer einheitlichen Masse
zusammengewirrt, in der das Echte durch einen Wust minder-
wertiger Leistungen der Nachfolger beeinträchtigt wurde.
Bald mufs auch diese Schule durch Mangel an bedeuten-
deren Talenten verkümmert und zu Grunde gegangen sein.
Sein grofser jüngerer Zeitgenosse Plato scheint, wenn-
gleich die von Aristoxenos, dem Verleumder des Sokrates
und Plato, ausgeheckte Geschichte von dessen fanatischem
Hafs gegen die Lehre Demokrits, die ihn zum Aufkauf der
Schriften desselben mit der Absicht der Vernichtung an-
getrieben habe (D. L. IX. 40; Athen. XL 15, 114 f.), nur
abgeschmackte Erdichtung ist, fast nur gegen Ende seines
Lebens und auch dann nur indirekt, durch einen Teil seiner
Gedankenwelt beeinflufst worden zu sein. Es haben dann
zwar Aristoteles und Theophrast sich eingehend mit
dieser beschäftigt und uns wertvolle und zuverlässige Nach-
richten über seine Lehre aufbewahrt, aber bald versteht es
Epikur, die eigene werte Persönlichkeit an die Stelle des
gröfseren Vorgängers zu pflanzen und mit den von ihm er-
borgten Gedanken sein eigenes, Jahrhunderte dauerndes
System zurechtzuzimmern, so dafs in seiner ohnedies nicht
gerade anf Gelehrsamkeit erpichten Schule eine Mifsachtung
des eigentlichen Urhebers ihrer Grundgedanken Platz griflF.
Trotzdem aber hatten die Demokrit beigelegten Schriften
sich bis ins erste nachchristliche Jahrhundert erhalten, und
Thrasylos, der gelehrte Hofastrolog des Kaisers Tiberius
(14—37 nach Chr.), derselbe, der als eifriger Verehrer Piatos
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254 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt
dessen Schriften in einer geordneten Ausgabe zusammen-
stellte, hat in gleicher Weise auch eine umfassende Zu-
sammenstellung der unter Demokrits Namen erhaltenen
Schriften veranstaltet und mit einer orientierenden Ein-
leitung versehen (D. L. IX. 41, 37, 45), ein schönes Zeugnis
objektiver Wertschätzung des Gediegenen auch bei eigener
entgegengesetzter Denkrichtung. Aber diese verdienstvolle
Bemühung hat nicht den Erfolg gehabt, den man erwarten
sollte, und der bei Plato eingetroflfen ist, die Dokumente
einer genialen Geistesarbeit der Nachwelt zu erhalten.
Zwar finden sich beim Pyrrhoneer Sextus Empiricus
um 180 nach Chr. noch reichliche Anführungen aus Demo-
krit, dieselben sind aber wahrscheinlich einem älteren Schrift-
steller entlehnt, und im übrigen sind wohl diese Schriften
trotz der Bemühung des Thrasylos bald der Gleichgültigkeit
oder wohl eher noch dem Hasse ganz entgegengesetzter
Geistesrichtungen sowohl auf heidnischem wie auf christ-
lichem Boden zum Opfer gefallen. So ist es denn heute
kein leichtes Stück Arbeit, ein dem grofsen Gegenstande
einigermafsen entsprechendes Bild von der Persönlichkeit
und Geistesarbeit Demokrits zu entwerfen.
Über das Leben Demokrits ist nur wenig Beglaubigtes
überliefert. Die meisten der erhaltenen Züge tragen den
Stempel der Erdichtung an der Stirn; Anekdoten, die den
ihn beherrschenden gewaltigen Forschertrieb oder den ihm
eigenen, fast übernatürlichen Scharfsinn ins Licht setzen
sollen. Demokrit war geboren in der blühenden und wohl-
habenden Stadt Abdera in Thracien, die um die Mitte des
6. Jahrhunderts von den vor der persischen Unterjochung
flüchtenden Bewohnern des kleinasiatisch-jonischen Teos ge-
gründet worden war (Herod. L 168). Wie die Phokäer nach
Elea im fernen Westen, so retteten die Teer ihre Freiheit
nach dem hohen Norden. Dafs Abdera später in den Geruch
eines antiken Krähwinkel oder Schöppenstädt kam, davon ist
vielleicht, wie später zu zeigen, sein grofser Sohn die un-
schuldige Ursache geworden. Seine Geburt fällt nach einem
auf ihn selbst zurückgehenden Zeugnis und nach der An-
nahme des Chronologen Apollodor (D. L. IX. 41) wahr-
Digiti
zedby Google
5. Demokrit (ca. 420). 255
scheiolich um 460; Thrasylos setzt sie ein Jahr vor die
Geburt des Sokrates, also um 471. Nach seinem eigenen
Zeugnis (ib.) fällt die Abfassung der „Kleinen Weltordnung",
die wahrscheinlich seine früheste Schrift war, mutmafslich
ums Jahr 420, Zwischen diese beide Daten, d. h. etwa von
435 an, sind seine ausgedehnten Bildungs- und Forschungs-
reisen anzusetzen. Auch über diese ist ein Selbstzeugnis
erhalten (Clem. AI. Strom. I. 15; Euseb. Praep. ev. X. 2).
Nach diesem hat er von allen seinen Zeitgenossen die
meisten Länder forschend durchwandert und den Sinn der
meisten Menschen kennen gelernt, und ist in geometrischer
Beweisführung nicht einmal von den ägyptischen Gelehrten
überwunden worden. Diesen ägyptischen Aufenthalt ein-
gerechnet ist er im ganzen fünf Jahre in der Fremde ge-
wesen.
Dafs in diese Reisen vornehmlich seine philosophische
Ausbildung verlegt werden mufs, ist im höchsten Grade
wahrscheinlich. Er war persönlicher Schüler des Leukipp
(Arist 985 b, 4; Theophr. D. 484; der Epikureer Apollodor
um 140 vor Chr. D. L. X. 13; IX. 34). Mutmafslich hat
dieses für seine ganze Denkrichtung entscheidende Zusammen-
sein in Elea stattgefunden. Denn einen Aufenthalt in
Unteritalien bezeugen auch sonstige zuverlässige An-
gaben. Nach dem unteritalischen Geschichtschreiber Glaukos
von Rhegium, der noch sein Zeitgenosse war, und nach
Thrasylos war er persönlicher Schüler pythagoreischer
Denker (D. L. IX. 42). In welchem Orte dies gewesen sein
kann, läfst sich, da um 440 die blutige Zersprengung des
pythagoreischen Ordens in den unteritalischen Griechen-
städten stattgefunden hatte, nicht ausmachen. Und nach
dem Zeugnis des Demokriteers Apollodotos von Kyzi-
kos (D. L. IX. 38), das als auf einer Überlieferung der
Schule beruhend stark ins Gewicht fällt, hat er mit Philo-
laos verkehrt. Es mufs dies vor dem thebanischen Auf-
enthalt des Philolaos gewesen sein, vielleicht in Kroton, zu
dessen Ärzteschule ja Philolaos von Haus aus gehörte. Dafs
er in der Geistesrichtung desselben manches mit der des
Leukipp Verwandtes finden mufste, braucht hier nicht noch-
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256 Erste Periode. Dritter Abschn. Stofifu. bewegendes Prinzip getrennt
mals betont zu werden. Dagegen hat er sich vielleicht bei den
Pythagoreern die geometrischen Kenntnisse angeeignet, mit
denen er nachher den ägyptischen Weisen imponieren konnte.
FOr einen Aufenthalt aber auch speziell in Elea kann ins
Gewicht fallen, dafs er in seinen Schriften die Hauptlehren
des Parmenides und Zeno erwähnt hat (D. L. IX. 42).
Letzterer kann sogar damals noch am Leben gewesen sein.
Dafs er auch in Ägypten war, ist nach seinem
eigenen Zeugnis nicht zu bezweifeln. Ägypten lag damals
mehr noch als zur Zeit des Thaies im Gesichtskreise der
Griechen. An der letzten Erhebung dieses Landes gegen
die persische Herrschaft in dem Dezennium von 460—450
hatten bedeutende Flotten der Athener, d. h. des grofsen
Seebundes, an dessen Spitze Athen stand, aufs nachdrück-
lichste teilgenommen. Der athenische Bund führte auf
ägyptischem Boden den Kampf gegen den persischen Erb-
feind. Seit 449 war die persische Herrschaft über Ägypten
wieder gesichert, aber die Anziehungskraft des alten
Wunderlandes und seiner Weisheit auf einen Mann wie
Demokrit konnte sich trotzdem geltend machen. Auch be-
stand zwischen Griechen und Ägyptern ohne Zweifel auf
Grund der vorangegangenen gemeinsamen Kämpfe eine
freundliche Stimmung. Dafs spätere Zeugen (D. L. IX. 35 ;
D. 565) seine Reisen nicht nur auf Ägypten, sondern auch
nach Persien zu den Chaldäern, zum Roten Meere, nach
Äthiopien und selbst zu den „nackten Weisen** Indiens
ausdehnen, kann nicht ins Gewicht fallen. Ob er nach
Babylon zu den Chaldäern gekommen ist, mufs dahingestellt
bleiben. Immerhin waren durch die Perserkriege die Länder
des persischen Reiches dem Interesse der Griechen nahe-
gerückt worden, aber auch das Zeugnis des Geographen
Strabo im ersten nachchristlichen Jahrhundert, dafs Demo-
krit einen grofsen Teil Asiens durchreist habe (XV. p. 703),
ist hier nicht von genügender Beweiskraft. Indien aber lag
vor dem Zuge Alexanders noch ganz aufserhalb ihres
Gesichtskreises.
Dafs er auch in Athen gewesen ist, bezeugt er selbst
in den mehrfach angeführten Worten: „Ich war in Athen,
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5. Demokrit (ca. 420). 257
uBd niemand kannte mich", (Cic. Tusc. V. 104; D. L.
IX, 36). In welchem Zusammenhange diese Worte vor-
kamen, ist nicht bekannt ; anscheinend aber besagen sie nur,
dafs er mit den dortigen Philosophen keine Beziehungen
angeknüpft habe, sondern inkognito dort geweilt hat. Der
weiteren Angabe, dafs er dort auch Sokrates gesehen
habe, jedoch ohne von diesem gekannt zu sein, widersprach
schon Demetrius von Phaleron in seiner Verteidigung
des Sokrates (ib. 37); und es ist auch an sich wenig wahr-
scheinlich, da Sokrates um jene Zeit (vor 430) noch ziem-
lich unbekannt war und seine Wirksamkeit erst eben
begann.
Höchstwahrscheinlich hat er auf dieser Reise auch den
seit etwa 433 in Lampsakos weilenden Anaxagoras
aufgesucht. Von persönlichen Beziehungen zu diesem ist
mehrfach die Bede (D. L. II. 14; IX. 34). Dafs diese von
persönlich unfreundlicher Natur gewesen seien, wie diese
Stellen berichten, ist wohl nur ein aus Demokrits Polemik
gegen Anaxagoras abgeleiteter Klatsch. Dafs sie in Athen
stattgefunden haben sollten, ist wegen der Entfernung des
Anaxagoras aus Athen um 433 und wegen des eigenen Zeug-
nisses Demokrits, dafs er in Athen mit niemand verkehrt
habe, ausgeschlossen. In seinen Schriften hat er Anaxa-
goras mehrfach, teils anerkennend (S. Emp. Dogm. I. 140),
teils ablehnend (D, L. IX. 34 f.), erwähnt. Dafs er (nach
letzterer Stelle) die Lehre des Anaxagoras von der Welt-
vemunft ablehnte, ist selbstverständlich ; dafs er aber dessen
Lehre von Sonne und Mond für nicht original, sondern ent-
lehnt erklärt haben sollte, pafst weder auf des Anaxagoras
Lehre von der Beschaffenheit noch von der Entstehung der
Himmelskörper und mufs daher wohl auf einem Mifsver-
ständnis beruhen.
Die kindlichen Erzählungen von einer Erbteilung mit
seinen beiden Brüdern vor der Reise, bei der sich Demokrit
mit einer baren Summe von 100 Talenten (= 450000 Mk.)
begnügt habe, vom vollständigen Verbrauch dieser Summe
auf der Reise und von den fürstlichen Spenden, die ihm
sodann seine Vaterstadt nach Vorlesung seines Erstlings-
DftrUf. I. 17
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258 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt
werks hätte zu teil werden lassen (Ael. Var. bist IV. 20;
D. L. IX. 35, 39) brauchen nicht eingehend behandelt zu
werden. Letztere steht überdies mit den ebenso kindlichen
Anekdoten, nach denen er von seinen Landsleuten für ver-
rückt gehalten und erst infolge des Urteils des Hippo-
krates zu Ehren gekommen sei, der ihn heilen sollte und
dabei seine Geistesgröfse entdeckt habe (Z. 845; D. L.
IX. 24), in vollem Widerspruch. Auch dafs in diesen Be-
richten die „Grofse Weltordnung**, die nach Theophrast
Leukipp angehörte, als das vorgelesene Meisterwerk figuriert,
kennzeichnet sie als Erdichtung.
In seine Vaterstadt zurückgekehrt, beschäftigte sich
Demokrit mit dem Vortrag seiner Lehre, mit umfangreichen
Forschungen auf den verschiedensten Gebieten und mit der
Abfassung seiner Schriften. In bezug auf die beiden ersten
dieser Tätigkeiten ist Näheres nicht bekannt; von seiner
Schule, die die abderitische genannt wurde, und deren Anhänger,
auch wenn sie nicht aus Abdera gebürtig waren, als Abde-
riten bezeichnet werden, wird im folgenden Kapitel die Rede
sein. Von seinen Schriften hat sich ein Verzeichnis in der
von Thrasylos ihnen gegebenen Anordnung, wenngleich in
verderbtem Zustande, erhalten (I). L. IX. 46). Danach hat
dieser sie wie die platonischen in Tetralogien, d. h. in
Gruppen von je vier Schriften, angeordnet (ib. 45), und zwar
scheint er dieser Gruppen 15, also im ganzen 60 Schriften,
angenommen zu haben. Diese kleineren Gruppen sind dann
wieder, gemäfs dem Ausspruche des Thrasylos, Demokrit sei
ein geistiger Fünfkämpfer gewesen (D. L. IX. 37), d. h.
entsprechend den fünf Arten der körperlichen Übungen:
Sprung, Schnelllauf, Diskoswurf, Sperwurf, Ringen, ein
Virtuose in der Naturforsehung, der Ethik, der Mathematik,
den Wissenschaften der allgemeinen Bildung und den Theo-
rien der nützlichen Künste, in gröfsere Abteilungen zusammen-
geordnet. Deren sind sechs: moralische Schriften (2 Tetra-
logien), physische (4 Tetralogien), mathematische (3 Tetra-
logien), musische, d. h. Sprachen, Poesie und Gesang
betreflfende (2 Tetralogien), technische, d. h. medizinische,
den Landbau, die Malerei und die Kriegskunst betreifende
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5. Demokrit (ca. 420). 259
(2 Tetralogien). Aufserdem eine sechste Abteilung, Schriften
verschiedenen, meist naturwissenschaftlichen Inhalts in zwei
Tetralogien enthaltend. Nun nennt zwar auch Diogenes
Laertius (I. 16) in einem Verzeichnis solcher Philosophen,
die zahlreiche Schriften verfafst haben, Demokrit an vierter
Stelle, gleich nach Aristoteles, aber dies ist kein Beweis
für die Echtheit der ganzen thrasylischen Schriftenmasse,
da dieses Verzeichnis einesteils sehr unvollständig ist und
z. B. Plato und Theophrast, sowie einige anderweitig von
ihm als Vielschreiber Bezeichnete (den Epikureer Apollodor,
den Karneadeer Klitomachos) übergeht, andernteils aber
Demokrit betreffend offenbar auf der Sammlung des Thra-
sylos beruht. Dafs aber diese Sammlung vieles Fremde
Demokrit aufbürdet, ergibt sich schon daraus, dafs sich
unter dieser Schriftenmasse auch die beiden von Theophrast
Leukipp beigelegten Schriften finden, femer aber auch
daraus, dafs, nach diesen 60 Titeln zu schliefsen, in diesen
Schriften mehrfach dieselben Themata und Stoffe wiederholt
bearbeitet waren. Die Sammlung des Thrasylos charakteri-
siert sich hiernach als eine Art von Inventar der gesamten
geistigen Arbeit der Schule. Wir haben es nur mit den
naturwissenschaftlichen und ethischen Lehren Demokrits zu
tun. Diese bilden auch die einzigen Gebiete, auf denen eine
einigermafsen ausgiebige und zuverlässige Überlieferung
seiner Lehren vorhanden ist.
Jedenfalls wird die Vortreflfllchkeit seiner schriftstelle-
rischen Darstellung von den Alten einmütig gerühmt. Schon
der Spötter Timon läfst ihn (D. L. IX. 40) unter den in
der Unterwelt sich tummelnden Helden des Gedankens als
„kundigen Hirten der Rede" unter den Ersten sich hervor-
tun. Cicero erteilt seiner Sprache mehrfach (Orator 67 ; De
Orat. I. 49; Div. II. 133) hohes Lob und stellt ihn mit
Plato zusammen. Plutarch (Qu. conviv. V. 7, 6) nennt seine
Rede „dämonisch und prächtig", und Sextus Empiricus
(Dogm. I. 265) findet sie der des Zeus ähnlich.
Die Angaben über die Dauer seines Lebens (Z. 848)
sind verschieden und stimmen nur darin überein, dafs er
ein hohes Alter erreichte. Sie schwanken zwischen 90 und
17*
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260 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
109 Jahren. Auch bei der niedrigsten Annahme ragt er
weit in die folgende Periode hinein und hat z. B., wenn er
um 370 gestorben ist, Sokrates um annähernd 30 Jahre
überlebt.
Was nun zunächst die Naturlehre Demokrits an-
betriflft, so gilt von ihr im allgemeinen das Urteil Ciceros,
er stimme mit Leukipp in der Annahme der beiden Grund-
prinzipien, des Leeren und des Vollen, überein, stelle aber
das übrige ausführlicher dar (Acad. IL 118).
In diesem Sinne werden dann wohl zunächst die beiden
Beweise für die Existenz des Leeren, die Aristoteles
(213b, 4 ff.) den Atomikem beilegt, ihm zuzuschreiben sein:
1. Ohne Leeres keine Ortsbewegung; 2. ohne leere Zwischen-
räume keine Möglichkeit der Zusammenpressung der Körper.
Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dafs schon Leukipp, der
das Leere gegen die Eleaten behauptete und verteidigte,
diese Gründe vorgebracht hat.
Übereinstimmende Eigenschaften sämtlicher Atome sind :
1. Die völlige Gleichheit der Qualität. Es gibt
nur eine Art von Stoff (Arist. 275b, 29). Derselbe hat
z. B. an sich keine Farbe. Das, was von uns als Farbe
und Farbenwechsel empfunden wird, beruht auf der An-
ordnung der Atome in einem gröfseren Ganzen (Arist.
316, 1). Selbstverständlich sind die Atome auch von gleichem
spezifischem Gewicht (Arist. 326, 9).
2. Die absolute Dichtigkeit. Auf dieser beruhen
die Unteilbarkeit (Cic. Fin. I. 17), die Unzerstörbarkeit und
Unveränderlichkeit (Unaffizierbarkeit) der Atome. Das Atom
ist „apathisch** (Aristot. 325, 52; D. 308; D. L. IX. 44;
S. Emp. Dogm. IV. 318), d. h. es kann an ihm durch keine
Einwirkung irgend eine Veränderung hervorgebracht werden,
aufser der der räumlichen Lage. So sehr war er von dem
ursächlichen Zusammenhange von Dichtigkeit und Unteil-
barkeit durchdrungen, dafs er sich zu der Paradoxie ver-
stieg, es könne ein Atom von der Gröfse einer Welt geben
(D. 311). In diesem Ausspruch tritt noch die Herkunft der
Atomenlehre von dem kugelförmigen, absolut dichten Seienden
des Parmenides deutlich zu Tage. Die Atome sind nur Ver-
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5. Demokrit (ca. 420). 261
vielfältigungen dieses einen Seienden in kleinem Mafsstabe.
Aber auch der Gtedanke selbst, dafs eine Teilung nur mög-
lich sei bei dazwischen befindlichem Leeren, beruht auf
Zeno und gehört daher vielleicht schon Leukipp an.
Alle Mannigfaltigkeit in der Beschaffenheit der zusammen-
gesetzten Dinge beruht nun aber auf den Verschieden-
heiten, die schon an den Atomen vorkommen.
Diese sind teils solche, die schon den einzelnen Atomen für
sich genommen zukommen, teils solche, die auf der ver-
schiedenen Art ihrer Zusammengruppierung beruhen.
Erstere sind Unterschiede der Gestalt und der
Gröfse. Der Gestaltunterschiede mufs es unendlich viele
geben, weil nur so die unendliche Mannigfaltigkeit der
Dinge erklärt werden kann (Arist. 315 b, 9). Offenbar er-
schienen Demokrit die Gestaltunterschiede der Atome von
hervorragendster Bedeutung für die Erklärung des Seienden,
da er für sie aufser der von der Unteilbarkeit entlehnten
Benennung „Atome" auch die Bezeichnung als „Ideen"", d. h.
Gestalten, gebrauchte (Plut. Kolot. 8, 4; D. 388). Eine
seiner Schriften, die unter dem Titel „Über die Ideen"
angeführt wird (Sext. Emp. Dogm. I. 137), hat aller Wahr-
scheinlichkeit nach von den Atomen gehandelt.
Beispiele, wie sich Demokrit die Mannigfaltigkeit der
Gestalten gedacht hat, gibt Aristoteles nur an einer
Stelle (188, 23). Danach sind sie unter anderem „winkelig,
gerade oder kugelig". Reichlichere Beispiele gibt Theo-
phrast da, wo er von Demokrits Erklärung der Sinnes-
eindrücke handelt (D. 516 ff.). Davon nachher. Die reich-
haltigste Aufzählung gibt Cicero (N. D. I. 66; Acad. IL
121). Danach sind die Atome teils glatt, teils rauh; sie
sind rund oder winklig, gebogen, gekrümmt oder mit Haken
versehen.
Die Gröfse der Atome hat ihre obere Grenze an ihrer
Unsichtbarkeit; innerhalb dieser Grenze aber gibt es immer
noch unzählige Abstufungen (D. L. IX. 44). Von der Gröfse
ist natürlich, da das spezifische Gewicht bei allen das
gleiche ist, das Gewicht der einzelnen abhängig (Theophr.
D. 516, 61).
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262 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
Zwei andere Verschiedenheiten, die ebenfalls für die
Erklärung der Mannigfaltigkeit der Dinge von ausschlag-
gebender Bedeutung sind, beruhen auf den verschiedenen
Möglichkeiten im Zusammentreffen der Atome. Es sind die
Anordnung der gleich oder verschieden geformten und
gleich oder verschieden grofsen, die ja ebenfalls in unendlich
verschiedenartiger Weise stattfinden kann, und die Lage,
die von den (unregelmäfsig gestalteten) Atomen in diesen
Zusammenstellungen angenommen wird. Diese kann z. B.
bei einem hakenförmigen, gekrümmten oder zugespitzten
Atome ebenfalls eine unendlich mannigfache sein. Aus Ver-
änderungen in der Anordnung und Lage der Atome erklärte
Demokrit z. B. den Übergang aus dem festen in den
flüssigen Zustand und umgekehrt, d. h. das Schmelzen und
Erstarren (Arist. 327, 18).
Diese vier Verschiedenheiten der Atome sind für die
besondere Eigenart der demokritischen Lehre von charakteri-
sierender Bedeutung. Auf ihnen beruht ganz und gar die
Möglichkeit des Versuchs, aus blofser mechanischer Ver-
mischung dieser eigenartigen Urkörper die unendliche Viel-
artigkeit der Dinge abzuleiten. Als nächste Mischungs-
produkte, aus denen dann weiter in der Weise des
Empedokles die übrigen Dinge abgeleitet werden konnten,
scheint Demokrit ausschliefslich die vier Elemente ange^^ehen
zu haben (D. L. IX. 44). Mit ihnen mündet seine Natur-
erklärung wenigstens teilweise — denn es ist z. B. in seiner
Vorstellung vom Feuer etwas Eigenartiges, beruhend auf
der Art seiner Entstehung, wovon nachher — in den bereits
gebahnten Weg.
Dieses Eigenartige nämlich beruht auf seiner Lehre von
der Urbewegung der Atome, ohne die überdies kein
Zusammentreten zu zusammengesetzten Dingen, keine Welt-
entstehung möglich war. Im ursprünglichen Zustande der
Vereinzelung befinden sich sämtliche Atome in lebhafter
Bewegung. Über die Richtung und den Ursprung dieser
Bewegung mufs er sich wohl nur unzulänglich ausgesprochen
haben. Wenigstens erstreckt Aristoteles den Tadel eines
fahrlässigen Verhaltens in der Beantwortung beider Fragen
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5. Demokrit (ca. 420). 263
gleichmäfsig auf ihn und auf Leukipp (985 b, 19), und an
einer anderen Stelle (252, 35; vergl. 742 b, 17) meint er, hin-
sichtlich des Ursprungs der Bewegung überhebe
sich Demokrit der Aufgabe, far ein immer Seiendes
ein Erklärungsprinzip zu suchen. Auf diese fehlende Ab-
leitung der Bewegung aus einem weiter zurückliegenden
Ursächlichen scheint sich denn auch der Tadel des Aristo-
teles zu beziehen. Dafs Demokrit den Atomen eine inne-
wohnende ursprüngliche Bewegung beilegte, scheint er selbst
zu bezeugen (409, 13).
Was nun zunächst die Richtung anlangt, so wird
auch jetzt noch behauptet, Demokrit habe sie als senk-
rechten Fall gedacht, d. h. er habe in kindlichster Naivetät
das Oben und Unten auf der Erde auf das unendliche Leere
übertragen. Einer solchen Leistung untergeordneten Denk-
vermögens war ein Epikur fähig, aber kein Demokrit.
AuTserdem gibt Cicero nach griechischer Quelle (Fin. I
17; vergl. D. L. IX. 44) die betreffende Lehre Demokrits
folgendermafsen an: „Die Atome bewegen sich in dem un-
endlichen Leeren, in dem es weder ein Oben noch
Unten, weder eine Mitte noch ein Ende gibt, in
der Art, dafs sie durch Zusammenstöfse in einen Zusammen-
hang geraten," d. h. offenbar in verschiedenen, aber mut-
mafslich als geradlinig gedachten Richtungen.
Und was dann femer den Ursprung dieser Bewegung
anbetrifft, so bezeugt Cicero an derselben Stelle, dafs man
nach Demokrit „diese Bewegung der Atome anfangslos und
von ewiger Zeit her bestehend annehmen" müsse, und an
einer anderen Stelle (Fat. 20) sagt er, Demokrit habe lieber
die strenge Notwendigkeit alles Geschehens (als unausweich-
liche Konsequenz dieser Annahme) in den Kauf nehmen
wollen, als die natürliche Bewegung von den
Atomen losreifsen. Die ewige Bewegung der Atome
im Leeren wird auch anderweitig bezeugt (z. B. D. 565;
Plut Kolot. 8).
Diese ewige Bewegung haftet den Atomen teilweise
auch noch nach ihrem Zusammentreten an. Das Wenige,
was über ihre Bedeutung für den Unterschied der Elemente
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264 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
für Leukipp bezeugt wird, ist schon bei diesem angeführt
worden. Demokrit hat auch diesen Punkt genauer aus-
geführt. Die gröfseren Atome erleiden, vornehmlich wenn
sie sich wegen ihrer unregelmäfsigen Gestalt mehr oder
weniger ineinander verfilzen, eine Hemmung der Ur-
bewegung.
Anders das Feuer, das aus kleinen und runden Atomen
besteht. Alle ' Eigenschaften und Wirkungen des Feuers,
insbesondere auch seine verletzende Kraft, beruhen auf der
Fortdauer der rapiden Bewegung (307, 16).
Hier ist nun der Punkt, wo das fruchtbarste Prinzip der
demokritischen Naturlehre, wo eine wirkliche Vorahnung
des Galilei sehen Beharrungsgesetzes zu Tage tritt. Eine
sich nicht aufzehrende Bewegung, die keiner neuen Anstöfse
bedarf, schien dem ganzen Altertume und Mittelalter nur
auf dem seelischen Gebiete möglich. Wo sie vorhanden ist,
wie z. B. bei den Gestirnen, mufs daher Beseelung als Ur-
sache angenommen werden. Demokrit dagegen läfst die den
Atomen anhaftende Bewegung sich nicht etwa in den ersten
Zusammenstöfsen erschöpfen; sie bestimmt auch nachher,
wie wir sehen werden, die Natur der aus den Atomen zu-
sammengesetzten Elemente. Ja, das Seelische selbst findet
umgekehrt aus diesem Beharren der anhaftenden Bewegung
seine Erklärung. Es wurde daher vom Standpunkte des
antiken Denkens aus ganz folgerichtig gegen ihn der Ein-
wand gerichtet, eine mechanische Bewegung könne nur von
kurzer Dauer sein und reiche daher nicht aus, die Be-
wegung in der Welt zu erklären (S. Emp. Dogm. IIL 113).
Die durch den Zusammenprall der Atome^an einer be-
stimmten Stelle entstehenden zusammengesetzten Bewegungen
nun, durch die sich eine Welt bildet, bezeichnete Demokrit
als Wirbel. Er identifizierte denselben, wie ausdrücklich
bezeugt wird (D. L. IX. 45; S. Emp. Dogm. III. 113), mit
der Notwendigkeit, auf die Leukipp alles Geschehen in der
Welt zurückgeführt hatte. Hatte aber schon Leukipp diese
Notwendigkeit zugleich als Weltgesetz bezeichnet und vom
Zufall gesondert, so ist von Demokrit der Ausspruch über-
liefert, der allerdings zunächst auf das menschliche Schicksal
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5. Demokrit (ca. 420). 265
Bezug nimmt, die Menschen hätten sich das Trugbild des
Zufalls als Vorwand für ihre eigene Unklugheit ersonnen
(Stob. II. 156). Jedes Geschehen steht also in strengem
ursächlichem Zusammenhange, der in letzter Linie auf der
eigenartigen Verbindung der Atombewegungen beruht. Da-
gegen ist jede Zwecktätigkeit der Natur völlig ausgeschlossen
(Arist. 472, 1).
Der durch den Zusammenprall der Atome erzeugte
Wirbel bewirkt nun nach Demokrit näher ein Zusammen-
treten der gleichartigen Atome (Theophrast D. 484). Bei
der Gleichartigkeit ist oifenbar an die Gleichheit der Gestalt
und Gröfse gedacht, und das nächste Erzeugnis dieses Zu-
sammentretens sind offenbar die aus solchen je gleichartigen
Atomen bestehenden vier Elemente. Diese Wirkungsweise
des Wirbels wird geradezu als ein Naturgesetz bezeichnet.
Demokrit hat aber noch eine genauere Begründung dieses
Gesetzes durch zwei analoge Vorgänge versucht. Durch
die schwingende Bewegung des Siebes werden die ver-
schiedenen Getreidearten voneinander gesondert, und das
Gleichartige findet sich zusammen: Linse zu Linse, Gerste
zu Gerste, Weizen zu Weizen. Ebenso werden durch die
Brandung am Meeresufer die länglichen Steinchen mit den
länglichen, die runden mit den runden zusammengeführt
(S. Emp. Dogm. I. 117). Diese Bilder haben nun allerdings
wenig Beweiskraft, und es ist ihm daher, soweit wir urteilen
können, die Begründung des vermeintlichen Naturgesetzes,
das er als Mittelglied zur Ableitung der Elemente aus den
Atomen nicht entbehren konnte, wenig gelungen. Beim
Siebe wirkt aufser der rüttelnden Bewegung die Weite der
Maschen und Öffnungen zur Zusammenführung des nach
Gestalt und Gröfse Gleichartigen entscheidend mit. Oder
es müfste an ein Sieb mit geschlossenem, undurchlässigem
Boden gedacht werden, das dann aber kein Sieb mehr wäre,
und bei dem überdies das Eintreten der angenommenen
Wirkung durch das blofse Rütteln ebensowenig erweisbar
wäre wie bei dem zweiten Bilde das Zusammentreten der
gleichgeformten Steinchen durch die blofse mechanische
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266 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
Wirkung der BranduDgswelle. Kurz, es steht mit diesem
Teile seiner Naturlehre nicht gut.
Wie er sich die Weltbildung im einzelnen und
die Gestaltung des Weltgebäudes gedacht hat,
darüber sind nur spärliche Angaben überliefert, die im all-
gemeinen ohne Schaden übergangen werden können. Er
folgte hier in allen wesentlichen Punkten Leukipp (D. 329,
336). Einige Besonderheiten hinsichtlich der . Natur der
Himmelskörper, die ihm allein beigelegt werden, und in
betreff deren die Lehre Leukipps nicht bekannt ist, deuten
auf Beeinflussung durch Anaxagoras hin. Wie dieser
erklärte er die Gestirne für „Felsen" (D. 341). Wie er ihr
Leuchten erklärte, wird nicht gesagt, doch hat er mutmafs-
lich mit Anaxagoras den Himmel für feurig gehalten und
also die Himmelskörper für glühende Felsen. Bei der Sonne
(D. 349) wird dies ausdrücklich und in Worten , die mit
denen des Anaxagoras übereinstimmen, bezeugt. Sie ist ein
glühender Steinklumpen oder Fels. Beim Monde wird er
sogar geradezu mit Anaxagoras zusammengestellt. Beide
lehren (D. 357), derselbe sei „eine glühende Feste, in der
es Ebenen, Berge und Schluchten gibt". Entsprechend er-
klärte er auch das „Gesicht im Monde", hierin etwas ab-
weichend von Anaxagoras, durch den Schattenwurf der
höheren Teile des Mondes (D. 361). Dies deutet wieder
darauf hin, dafs er mit Anaxagoras den Mond neben dem
nur schwachen eigenen Lichte als nur mäfsig glühender
Körper von der Sonne erleuchtet sein liefs. Die Bewegung
der Sonne und also wohl auch der übrigen Himmelskörper
wird durch den bei der Entstehung der Welt erzeugten und
dauernd bestehenden Wirbel bewirkt (D. 353).
Die bedeutendste Abweichung von Leukipp, die hin-
sichtlich der Gestalt der Erde, zeigt ebenfalls eine Beein-
flussung durch Anaxagoras. Wie dieser fafste er die
Erde, abweichend von Leukipp, als eine flache Scheibe
(D. 377). Nach dem Zeugnis des Aristoteles (294b, 13)
übernahm er von Anaxagoras geradezu die Vergleichung
mit einem Deckel über der darunter befindlichen Luft und
die Begründung dieser Annahme durch die Notwendigkeit,
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5. Demokrit (ca. 420). 267
fOr das Beharren der Erde an ihrer Stelle einen genügenden
Grund zu haben. Diese Begründung war bei ihm sogar
noch zutreffender als bei Anaxagoras, da er von Leukipp
die feste Welthülle, die „Haut um die Welt" übernommen
hatte (D. 336). Er schliefst sich also in bezug auf die
Gestalt der Erde mit voller Entschiedenheit und aus wissen-
schaftlichen Gründen, die für den damaligen Stand der
Wissenschaft berechtigt waren, an die alte jonisch -ost-
griechische Vorstellung an. Hiermit hängt auch die Angabe
zusammen, dafs die Erde anfangs, als ihre Ausbildung noch
nicht vollendet war, geschwankt habe (D. 378), sowie seine
Erklärung der Senkung der Erdscheibe nach Süden, weil
dort die Luft weniger tragfähig sei (D. 371). Die Herkunft
der Himmelskörper von der Erde scheint er nicht von
Anaxagoras übernommen zu haben. Bezeugt wird nur, daf»
er die Erde früher als die Gestirne entstanden sein liefs
(D. 565). Dagegen betrachtete er wenigstens Sonne und
Mond als ursprünglich selbständig entstandene Bildungen
wie die Erde (D. 581), als Welten für sich, die also erst
nachträglich sich mit der Erde zu einem einheitlichen Welt-
systeme verbunden haben. Ebenso scheint er bei der Sonne
die feurige Natur durch nachträgliche Aufnahme von Feuer-
atomen an ihrer Oberfläche erklärt zu haben (ib.)-
Eine merkwürdig zutreffende, das Richtige vorahnende
Erklärung gibt Demokrit von der Milchstrafse. Sie ist ihm
nur die für unser Auge zusammenfliefsende Lichtwirkung
zahlreicher kleiner, nahe zusammenstehender Sterne, die
nicht mehr einzeln unterschieden werden (D. 365). Selbst-
verständlich rechnete er sie zu unserer Welt, in deren
Mitte die Erde steht, und die von den übrigen Welten durch
ihre feste Hülle völlig geschieden ist. Aber wie grofs hat
er sich doch schon diese unsere Welt vorgestellt !
Eine farbenreiche Ausführung hat bei Demokrit die
Lehre von den unbegrenzt vielen, gleichzeitig be-
stehenden und fortwährend entstehenden und vergehenden
Welten erhalten. Da die Beschaffenheit einer ent-
stehenden Welt lediglich von der Besonderheit der gerade
hier zusammenstofsenden Atome und ihrer Bewegungs-
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268 Erste Periode. Dritter Abschn. StoflFu. bewegendes Prinzip getrennt.
richtuDgen abhängig ist, so ist zwar der Fall nicht aus-
geschlossen, dafs auch die eine oder die andere der un-
zähligen Welten der unserigen in der ganzen Zusammen-
setzung und demgemäfs auch im Gesamtverlaufe des
Geschehens in ihr, in der Beschaffenheit der in ihr auf-
tretenden Personen u. s. w. völlig gleich ist. Diese Mög-
lichkeit verwertet Cicero (Acad. IL 55, 125) als Beispiel
zu der erkenntnistheoretischen Streitfrage, ob es ein völlig
ununterscheidbares Ähnliches geben könne. Im allgemeinen
scheint jedoch Demokrit überwiegend die Verschiedenheit
der so unter unendlich wechselnden Entstehungsbedingungen
ins Dasein tretenden Welten betont zu haben. Die Welten
sind verschieden an Gröfse und verschieden an Entfernung
voneinander. In einigen wird es weder Sonne noch Mond
geben, in anderen eine Mehrzahl dieser Himmelskörper oder
doch völlig andere Gröfsenverhältnisse im Vergleich zu
unserer Welt. Einige dieser Welten mögen auch ohne
Feuchtes und ohne organisches Leben sein. Unsere Welt
ist also nur ein unter bestimmten Bedingungen zu stände
gekommener Spezialfall innerhalb dieser Mannigfaltigkeit.
Im Anschlufs hieran scheint Demokrit weiter ausgeftihrt zu
haben, dafs diese Weltbildungen nicht in einem einmaligen
Werdeprozefs zum Abschlufs kommen, sondern dafs hier
ein ewiges Werden und Vergehen herrscht. Eine Welt kann
einer Nachbarwelt den WeltstoflF entziehen und auf deren
Kosten ihre Vergröfserung bewirken. Solange dies ge-
schieht, ist sie eine jugendlich wachsende Welt. Sie ver-
harrt dann in einem dem erwachsenen Körper analogen
Vollendungszustande, bis sie in die Machtsphäre einer über-
mächtigen Welt gerät, die ihr den WeltstoflF entzieht, sie
zu einer alternden, dahinschwindenden Welt herabsetzt und
schliefslich ganz in sich aufsaugt (D. 565). Selbstverständ-
lich hat Demokrit alle diese Vorgänge als rein mechanisch
verlaufend gedacht. Es mufs dabei freilich als unbewufste
Voraussetzung die Anziehungskraft als allgemeine Eigen-
schaft des StoflFes wirksam gedacht werden. In Kürze wird
dieser Vorgang auch folgendermafsen geschildert (D. 331):
^Demokrit lehrt, dafs eine Welt vernichtet werde, wenn die
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5. Demokrit (ca. 420). 269
grOfsere die kleinere besiege." Übrigens werden die Grund-
züge dieser Lehre schon von Leukipp berichtet (D. L. IX.
33). Nach Philo von Alexandria (Incorrupt. m. 3) soll
Demokrit auch einen Untergang von Welten durch Zu-
sammenprallen gelehrt haben. Derselbe würde jedoch eine
Fortbewegung der Welten im Leeren zur Voraussetzung
haben. Ein solcher ist aber, nachdem einmal durch den
Zusammenstofs der Atome ein Wirbel sich gebildet hat, aus-
geschlossen. Die lineare Fortbewegung der Atome ist in
die Wirbelbewegung übergegangen.
Über Demokrits Vorstellungen von der Seele gibt
Aristoteles ausführliche Nachricht. Die Seele besteht
aus denselben kleinen und runden Atomen wie das Feuer.
Wegen ihrer Kleinheit und Kugelform vermögen diese überall
einzudringen und die ihnen anhaftende Bewegung ihren Um-
gebungen mitzuteilen. Schon hier liegt die Vorstellung der
Verbreitung der Seelenatome durch den ganzen Körper zu
Grunde. Diese wird auch sonst bezeugt (Lucrez III. 342;
S. Emp. Dogm. I. 439). Und da nun durch das Eindringen
der umgebenden Luft in den Körper (das Einatmen) die
Gefahr entsteht, dafs die Seelenatome aus dem Körper aus-
getrieben werden, so bedarf es zur Fortdauer des Lebens
einer Gegenwirkung gegen diesen Druck von aufsen. Dieser
erfolgt durch das Ausatmen. Zugleich aber werden auch
durch das Einatmen neue Seelenatome aus der umgebenden
Luft dem Körper zugeführt. Aus beiden Gründen ist das
Atmen die Bedingung des Lebens (404, 1; 405, 9; 471b, 30).
Aristoteles veranschaulicht die Erklärung der Bewegung
durch die Seelenatome bei Demokrit durch die scherzhafte
Erfindung eines Komödiendichters. Dieser nämlich hatte
die Sage, Dädalos habe den Gestalten seiner Kunst Be-
wegung verliehen, in der Weise gedeutet, dafs er in die
hohlen Gliedmafsen Quecksilber eingegossen habe. In ganz
ähnlicher Weise bewirkten nach Demokrit die im Innern
der Glieder sich bewegenden Seelenatome die Bewegung der
Körperteile (406 b, 17).
Die Konsequenz dieser Seelenvorstellung ist die Be-
hauptung, dafs auch im toten Körper noch Seelenatome
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"270 Erste Periode. Dritter Abschn. Stofif u. bewegendes Prinzip getrennt
zurückbleiben und diesem also auch noch ein gewisses Mars
von Empfindung (wovon sogleich) zukommt (Cic. Tusc. I. 82),
sowie ferner, dafs überall, wo Wärme und Bewegung ist,
auch Seele vorhanden ist (D. 390, 398). Letzteres beruht
Auf der Gleichsetzung der Seele mit den Feueratomen. Ins-
besondere auch den Pflanzen mufste Demokrit in diesem
Sinne Seele beilegen (Ps.-Arist. 815 b, 16).
Die zweite Hauptfunktion der Seele ist die Er-
kenntnis. Mit ihr hatte sich Demokrit besonders ein-
gehend beschäftigt und in diesem Punkte besonders die
Atomistische Lehre über Leukipp hinaus weitergebildet. Er
hatte ihr besonders zwei Schriften gewidmet: die Kanon es
{Erkenntnisprinzipien, S. Emp. Dogm. L 138), die, mut-
mafslich in drei Büchern (D. L. IX. 47), von der Sinnes-
«rkenntnis, der Vernunfterkenntnis und vom Gefühl als dem
Prinzip der Werte und des praktischen Verhaltens handelten
<S. Emp. Dogm. I. 140), und die Kratynterien (Be-
kräftigungsmittel, S. Emp. Dogm. I. 136; D. L. IX. 47), in
denen er anscheinend den Wert der Sinneserkenntnis be-
sonders untersucht hatte. Vornehmlich in dieser nachdrück-
licheren Behandlung der Erkenntnisfrage zeigt sich Demokrit
als der Mann einer schon vorgeschrittenen Zeit, der ein
blofser dogmatischer Vortrag der Lehre nicht mehr genügt,
die schon nach dem Zustandekommen der Erkenntnis fragt.
Nicht nur die bewegende Wirkung der Seele, sondern
auch die Empfindung und Erkenntnis vollzieht sich auf rein
mechanischem Wege. Es gibt keine andere Einwirkung
von Körper auf Körper aufser der mechanischen durch
Berührung, Druck und Stofs. Dies gilt auch in bezug auf
die Seele. Zunächst erfolgen auf diese Weise die Sinnes-
eindrücke. Für das Sehen übernahm er die Theorie des
Empedokles von den von der Oberfläche der Dinge beständig
sich ablösenden und durch die Luft dahinschwebenden
Bildern. Die Atomenlehre kam dieser Theorie entgegen,
indem sie diese Ablösung durch die Feinheit und die Ur-
bewegung der Atome, aus denen die Bilder bestehen, ver-
ständlich machte (Theophr. D. 513, 394, 403). Die Farben -
empfindung insbesondere beruht, wie Demokrit auch in bezug
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5. Demokrit (ca. 420). 271
auf die einzelnen Farben ausgeführt hatte, auf den Ver-
schiedenheiten der Gestalt, Anordnung und Lage der Atome
an der Oberfläche der Körper und in den von dieser sich
loslösenden Bildern (Aristot. 316, 1 ; D. 520, 522, 314).
Das Hören wird durch die Einwirkung der von den
Aufseren Gegenständen bewegten Luft auf die Seelenatome
bewirkt und findet zwar vornehmlich in den Ohren , aber
auch sonst statt, wo die bewegte Luft in den Körper ein-
dringt (D. 515, 408). Der Geschmack beruht auf den ver-
schiedenen Gestalten der das Organ berührenden Objekte
(Theophr. D. 517, 520; De causis plant. VL 2, 6). Über
den Geruch hat sich Demokrit nur unbestimmt geäufsert.
Er läfst die Geruchsempfindungen, ähnlich wie die des
Gesichts, durch Atomausflüsse aus den Gegenständen ent-
stehen, versucht aber hier nicht, die Arten der Empfindung
im einzelnen zu erklären (D. 524).
Beim Tastsinn beruhen zunächst die verschiedenen
Druckempfindungen des Leichten und Schweren darauf, dafs
die zusammengesetzten Körper teils aus gröberen oder
feineren Atomen bestehen, teils in dichterer oder lockererer
Weise, mit wenigen und kleineren oder mit vielen und
gröfseren leeren Zwischenräumen zusammengesetzt sind.
Auf letzterem Grunde beruht es, dafs das Blei schwerer ist
als das Eisen, während das Eisen infolge der Gestalt seiner
Atome eine festere Fügung hat und daher härter ist
(D. 516 f.). Im übrigen hat er sich über die Tastempfin-
dungen, obgleich es ihm auch da ein leichtes sein mufste,
z. B. das Rauhe und Glatte, das Harte und Weiche u. s. w.
aus seinen Grundunterschieden abzuleiten, nicht näher aus-
gelassen. Theophrast bemerkt nur einmal (D. 515), die
Gehörempfindung entstehe ebenso inwendig wie die Tast-
empfindung an der Aufsenseite des Körpers. Diese Ähn-
lichkeit kann aber im Sinne Demokrits nur darin bestehen,
dafs es sich in beiden Fällen um unmittelbare Berührung
handelt. Dies gilt ja tatsächlich auch von den übrigen
Sinnen, wie denn Aristoteles (442, 29) die zutreffende
Bemerkung macht, Demokrit verwandle im Grunde alle
Empfindungen in Tastempfindungen.
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272 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
Dafs nun in dieser ganzen Summe von Theorien das
eigentliche Problem, der Übergang einer Bewegung in eine
Empfindung, auch noch nicht einmal geahnt, geschweige
denn zu lösen versucht ist, bedarf keiner Ausführung. Wird
doch, abgesehen von geringfügigen Ansätzen, sogar der Bau
der Sinnesorgane , dessen Kenntnis die erste Vorbedingung
für die Erkenntnis des eigentlichen Problems bilden würde,
noch völlig beiseitegelassen. Die Übertragung der Be-
wegung erscheint als ausreichender Erklärungsgrund für
die Entstehung der Empfindung.
Trotz dieser Geringwertigkeit der Theorie aber mufste
gerade bei Demokrit auf sie etwas im einzelnen eingegangen
werden, weil sich daran seine berühmten Aussprüche über
die nur im menschlichen Bewufstsein (nach Her-
kommen, wie er sagt), nicht aber in der Natur selbst
vorhandenen Sinnesqualitäten anschliefsen. Dies besagt das
oft angeführte Wort : „Nach Herkommen gibt es das Süfse,
nach Herkommen das Bittere, nach Herkonmien das Warme,
nach Herkommen das Kalte, nach Herkommen die Farbe»
in Wirklichkeit die Atome und das Leere" (S. Emp. D. I.
135). Hier wird also den Farben, den Geschmacksempfin-
dungen und einem Teile der Tastempfindungen, den Tempe-
raturempfindungen ein realer Gegenstand abgesprochen.
Entsprechend stellt auch Theophrast seine Lehre dar
(D. 517). Kalt und warm seien nur Veränderungen in
unserem Empfinden, die allerdings auf Veränderungen in
der Atomgruppierung beruhen. Ähnlich stehe es mit den
Geschmacksempfindungen. Bei diesen wird auch ein Er-
fahrungsbeweis beigebracht. Dieselben Dinge wirken bei
verschiedenen Geschöpfen und auch bei uns selbst in ver-
schiedenen Körperzuständen und Lebensaltem verschieden
auf den Geschmackssinn. Sie schmecken bald süfs, bald
bitter, bald sauer. Ein deutlicher Beweis, dafs die Geschmacks-
empfindung wesentlich mit von der BeschaflFenheit des Organs
abhänge. (Ähnlich auch S. Emp. Hyp. L 213 f.; IL 63,
wo Demokrit, weil der Honig dem einen süfs, dem anderen
bitter schmeckt, den Schlufs zieht, er sei an sich weder
süfs noch bitter.) Dies behaupte nun Demokrit ganz all-
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5. Demokrit (ca. 420). 273
gemein von den Sinnesempfindungen , er habe es jedoch be-
sonders in bezug auf Geschmacks- und Farbenempfindungen
und unter diesen wieder vornehmlich in bezug auf den
Geschmackssinn ausgeführt.
Dies Letzte findet seine Bestätigung in einigen Stellen
der Schrift Theophrasts über die Pflanzen, auf die schon
vorstehend verwiesen wurde. Nach diesen Stellen hat
Demokrit die verschiedenen Geschmacksempfindungen, das
Stlfse, das Bittere, das Saure, das Salzige im einzelnen aus
der verschiedenen Gestalt und Gröfse der Atome in den die
Empfindung erzeugenden Gegenständen zurückgeführt. Es
gibt daher keine Farben an sich ohne den Geschmackssinn,
keine Geschmäcke an sich ohne den Geschmackssinn (Arist.
426, 26).
Wo nun ein allgemeines Urteil über die Lehre Demo-
krits von den Empfindungen abgegeben wird, lautet dies
dahin, er habe überhaupt und ohne Einschränkung
die unseren Sinnen sich darbietenden Eigenschaften für
nicht an den Dingen vorhanden erklärt. So sagt Theo-
phrast (D. 516), Demokrit mache .die Empfindungen zu
blofsen Veränderungen der Sinne, und SextusEmpiricus
erläutert den angeführten Ausspruch Demokrits vom Her-
kommen dahin, dafs den Sinneseindrücken nichts in den
Dingen zu Grunde liege (Dogm. IL 184; I. 135). Ander-
weitig wird dies so ausgedrückt, er leugne die Realität der
sinnenf&Uigen Eigenschaften (D. L. IX. 45, 72; D. 394).
Wenn dagegen Aristoteles einmal sagt, nach Leukipp
und Demokrit liege in der sinnlichen Erscheinung Wahrheit,
so hat das mit der hier in Rede stehenden Lehre nichts zu
tun, sondern ist nur im Gegensatze gegen die völlige Ver-
leugnung der Erscheinungswelt bei den Floaten gemeint
(315 b, 9; vergl. 325, 13).
Und auch Demokrit selbst hatte an anderen Stellen
sich über die Sinneseindrücke im gleichen verneinenden
Sinne ausgesprochen. So in den „Kratynterien" : „Wir er-
kennen (durch die Sinne) nichts Gewisses, sondern nur
etwas gemäfs der Beschaffenheit des Körpers sich Ver-
änderndes,^ und: „Wie beschaffen ein Jegliches ist oder
D«riig. L 18
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274 Erste Periode. Dritter Abschn. Stofifu. bewegendes Prinzip getrennt
nicht ist, nehmen wir der Wirklichkeit nach nicht wahr."
Und in der Schrift von den „Ideen" : „Der Mensch ist nach
dieser Richtschnur (der Sinneserkenntnis) von der Wirklich-
keit getrennt." „Diese Rede macht klar, dafs wir in Wirk-
lichkeit (durch die Sinne) nichts über irgend etwas wissen,
sondern nur die Meinung bei allen verbreitet ist." „Es
wird klar sein, dafs, zu erkennen, wie ein Jegliches in
Wirklichkeit ist, unmöglich ist" (S. Emp. Dogm. I. 136 f.).
In dieser Beziehung auf die Sinneseindrücke, nicht auf das
wirkliche Wesen der Dinge, konnte Demokrit auch sagen,
jedes Ding sei ebensowohl so als anders (Plut. Eolot. 4),
wenn nämlich das Sein in der Erscheinung dem Sein an
sich entgegengesetzt wird.
Die uneingeschränkte Verwerfung der Sinneserkenntnis
war ja auch die notwendige Konsequenz seiner Lehre. Denn
wenn er auch einzelnen Sinneseindrttcken , wie denen von
der Schwere oder Härte der zusammengesetzten Körper,
Wahrheit, d. h. Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, zu-
erkennen konnte, so waren doch auch diese Eindrücke noch
weit entfernt, das eigentliche Wesen des Seienden, um das
es der Erkenntnis zu tun ist, die Atome und das Leere, zu
offenbaren. Was Demokrit eigentlich an den Sinnen auszu-
setzen hat, ist genau dasselbe, was Empedokles und
Anaxagoras ihnen vorwerfen, dafs sie nämlich das nicht
kundgeben, was der betreffende Denker als das Grundwesen
der Natur ergrtibelt hat. Die Kritik der Sinne ist keine
der Forschung vorangehende, erkenntnistheoretische, sondern
eine ihr nachfolgende, aus metaphysischer Ungehaltenheit
über ihre Nichtübereinstimmung mit den betreffenden Sätzen
über das Grundwesen der Dinge entspringende.
Diese Ungehaltenheit über die Sinne äufserte sich bei
diesen Männern dann auch in erweitertem Umfange in
Klagen über die Unzulänglichkeit des menschlichen Er-
kenntnisvermögens überhaupt, so dafs sie in den Geruch
von Skeptikern kamen, wie dies bei Empedokles und Anaxa-
goras bereits gezeigt worden ist. In besonders ausgeprägtem
Mafse zeigt sich dies bei Demokrit. So hat er nach
Aristoteles (1009b, 11) gesagt, entweder sei überhaupt
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6. Demokrit (ca. 420). 275
nichts wahr, oder doch uns unerkennbar. Nach anderen
(D. L. IX. 72; Cic. Acad. II. 32): „Der Wirklichkeit nach
wissen wir nichts; denn in der Tiefe ist die Wahrheit."
Tatsächlich aber ist dies nicht seine wirkliche Meinung.
Beruht ja doch auch die Sinneswahmehmung bei ihm auf
einer tatsächlichen Affektion durch die Dinge und ihre Be-
schaffenheit, wenn wir auch diese Affektionen nach unserer
Weise, d. h. falsch, auslegen. Insbesondere aber wird er
als Vertreter der V e r n u n f t als der zulänglichen Erkenntnis-
quelle wiederholt geradezu mit Plato zusammengestellt
(S. Emp. Dogm. IL 6, 56), und nach einer ausführlichen
Darlegung dieses Punktes stellte er der unechten, nicht
ebenbürtigen Bastarderkenntnis durch die Sinne die echte,
vollbürtige durch die Vernunft gegenüber (S. Emp. Dogm.
I. 139). Dies mufs bei einem so ausgesprochenen Materia-
listen in hohem Mafse befremden. Ist das nur eine in-
konsequente, parteiische Auskunft, um nur eine Stütze für
seine Lieblingsüberzeugungen zu gewinnen, auch wenn er
dabei im übrigen gänzlich aus der Rolle fällt? Keineswegs!
Glücklicherweise ist uns ein zuverlässiges Zeugnis erhalten,
wie er die hohe Schätzung der Vemunfterkenntnis mit
seinen materialistisch-mechanischen Voraussetzungen in Ein-
klang zu bringen wufste. Nicht nur die Empfindung, son-
dern auch der Gedanke entsteht durch direkte Einwirkung
der äufseren Dinge (D. 394, 395). Offenbar hat er an-
genommen, dafs es aufser der durch die Sinne vermittelten
auch eine direkte, unter Ausschaltung der Sinnesorgane
stattfindende Einwirkung der Dinge auf die Seelenatome
gebe und dafs bei dieser die bei den Sinnen sich ein-
schleichenden trügerischen Zutaten ausgeschlossen seien.
Die Seelenatome stellen, direkt affiziert, eine höhere und
vollkommenere Art von Sinnestätigkeit dar, bei der das
wirkliche Wesen der Dinge sich offenbart. Das Denken ist
nur eine vollkommenere Art der Empfindung. Diese Auf-
fassung findet denn auch ihre Bestätigung durch eine An-
gabe Theophrasts (D. 515), nach der Demokrit das
Denken von einem normalen Zustande der Seele, d. h. von
der richtigen Verteilung der Feueratome, abhängen läfst.
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276 Erste Periode. Dritter Absclin. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt
Bei einem Übermafs oder einem zu geringen Mafse des
Feurigen werde es beeinträchtigt. Mit Recht hätten deshalb
die Alten in diesem Falle, nämlich im Falle der Bewufstseins-
störungen, von einem „Andersdenken" gesprochen. Hier
wird nun zwar die Gleichsetznng von Denken und Empfinden
der Gattung nach nicht direkt bezeugt. Es scheint jedoch,
dafs das Fehlende durch ein Zeugnis des Aristoteles
ergänzt wird. Dieser bringt nämlich zunächst (404, 27) die
Hindeutung auf den Sprachgebrauch der Alten vom „Anders-
denken" genauer. Es handelt sich um eine Homerstelle,
die wir freilich in unserer heutigen Ilias nicht mehr lesen.
Nach dieser lag der vom Gegner getroflFene Hektor da
„anders denkend", d. h. bewufstlos oder im Sinne Demokrits
mit einer Störung im Bestände seiner Seelenatome behaftet.
Hierzu fügt aber Aristoteles weiter die freilich wegen ihrer
Kürze kaum verständliche Erläuterung hinzu, Demokrit
kenne keine von der (körperlichen) Seele gesonderte (un-
körperliche) Vernunft; denn das Wahre sei ihm das (der
Seele) Erscheinende. Das heifst mit anderen Worten: das
Denken war ihm nicht Funktion einer unkörperlichen Ver-
nunft, sondern eine nach Art der Sinne in der Weise der
Empfindung, als Seelenempfindung, stattfindende Beein-
flussung der Seele durch die Dinge.
Es sind schliefslich zu dieser Erkenntnislehre Demokrits
(von der praktischen Richtschnur kann erst nachher ge-
handelt werden) noch zwei Punkte hervorzuheben. Zunächst
stellte er sich mit seiner Lehre von der Sinneserkenntnis in
diametralen Gegensatz zu der Theorie, die von der herakli-
tischen Lehre aus entwickelt wurde. Nach letzterer waren
alle die entgegengesetzten Wahrnehmungsmöglichkeiten tat-
sächlich in den Dingen vorhanden. Der Honig war sowohl
süfs als bitter. Demokrit dagegen sagte, wie schon be-
merkt: der Honig ist an sich weder süfs, noch bitter.
Beides sind nur Sinnesqualitäten, die dem Honig als einer
besonderen Atomverbindung an sich nicht zukommen können.
Die Lehre der Herakliteer war in besonderer Richtung durch
den älteren Landsmann Demokrits, Protagoras von
Abdera, von dem aber erst in der folgenden Periode ge-
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5. Demokrit (ca. 420). 277
handelt werden kann, ausgebildet worden. So ist es also
ganz selbstverständlich, dafs Demokrit dieser Lehre seines
Landsmannes widersprach. Und in der Tat wird uns denn
auch berichtet (S. Emp. Dogm. L 389), dafs er der Lehre
des Protagoras , jeder Sinneseiudruck sei wahr (d. h. im
Gegenstande begründet), widersprochen habe. Ja, wir hören
(Plut. Kolot. 4), dafs er der Behauptung des Protagoras,
jedes Ding besitze an sich die entgegengesetzten Eigen-
schaften, eine eigene gründliche Gegenschrift gewidmet
habe.
Der andere Punkt ist folgender. Eine rätselhafte An-
gabe (D. 399) besagt, Demokrit lege den unvernünftigen
Tieren eine gröfsere Zahl von Sinnesempfindungen bei, als
(im Text steht „und", was aber keinen Sinn gibt) den
Weisen und den Göttern. Dies ist ganz folgerichtig. Bei
den höher Organisierten tritt die wertlosere Erkenntnisweise
durch das Mittelglied der Sinne infolge der stärkeren Ent-
wicklung det Seelenatome gegen die „echte", direkte, die
Seelenempfindung, zurück. Bei intellektuell niedriger stehen-
den Wesen dagegen überwiegt die indirekte Empfindung
durch die Sinne die direkte durch die Seele. So verstanden
bildet auch diese Stelle einen neuen Beweis, dafs er Sinnes-
und Vernunfterkenntnis unter einen einheitlichen Gesichts-
punkt zusammengefafst hatte. Beide sind Empfindungs-
weisen.
Dafs nun die Seele, aus Atomen bestehend, die durch
den ganzen Körper zerstreut sind, keinen Fortbestand nach
dem Tode hat, ist selbstverständliche Konsequenz der
Theorie. Die durch kein Einheitsband verknüpften Feuer-
atome zerstieben nach dem Untergange des Köi*pers, wie
alle übrigen Bestandteile desselben, in alle Winde (D. 398;
Stob. I. 384).
Ziemlich ausführliche Nachrichten sind über die Stellung
Demokrits zum GOtterglauben vorhanden. Hier mufs
unterschieden werden zwischen der Stellung, die er zu den
Vorstellungen des Volksglaubens einnahm und dem, was er
selbst nach seiner eigensten Überzeugung das Göttliche
nannte.
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278 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu.bewegeBdes Prinzip getrennt
Die Vorstellungen des Volksglaubens sind auf ver-
schiedene Weise entstanden. Einesteils aus dem Eindruck
ungewöhnlicher Naturerscheinungen. Donner und Blitz.
Kometen, Sonnen- und Mondfinsternisse wurden göttlichem
Wirken zugeschrieben (S. Emp. Dogm. III. 24). Andem-
teils aber durch wirklich vorhandene, aber riesengrofse
Gestalten in der Luft, die sich nach denselben Gesetzen
bilden wie alles Zusammengesetzte und durch dieselben
Feueratome beseelt werden wie alles Beseelte. Sie werden
dem Gehör wahrnehmbar, da sie stimmbegabt sind, und
dem Gesichtssinn, wie alles Sichtbare, durch die von ihnen
ausströmenden Bilder. Sie sind so wenig unvergänglich
wie irgend ein Zusammengesetztes, aber von sehr langer
Lebensdauer. Sie sind teils wohlwollend und gütig, teils
übelwollend und können daher nützen und schaden. Ina-
besondere vermögen sie auch den Menschen die Zukunft zu
offenbaren (S. Emp. Dogm. III. 19, 42; Cic. N. D. I. 10,
29, 120; Zell. 937, 3; Diel s, Arch. f. Gesch. d. Phil. VII).
Durch diese Lehre stellt sich Demokrit selbst in ge-
wissem Mafse innerhalb des Volksglaubens. Er erklärt aus
ihr die Göttererscheinungen des Volksglaubens als etwas
Mögliches und Tatsächliches und schreibt diesen Wesen
eine Einwirkung auf die menschlichen Geschicke zu. Es
wird ihm der Wunsch zugeschrieben , glückliche „Bilder*
(Gestalten, Idole) zu haben (bei irgend welchen Unter-
nehmungen von dieser Seite nicht Hemmung, sondern
Förderung zu erfahren, S. Emp. Dogm. III. 19). Er glaubt
an die Herkunft von Traumbildern (denen er überhaupt,
wie den Vorstellungen im Wachen, eine von aufsen kommende
stoflFliche Ursache zuschreibt, Cic. Div. II. 120) von diesen
Wesen; dies ist wohl die Weise, in der er hauptsächlich
die Zukunftsoflfenbarungen von ihnen ausgehend denkt (Zell.
940, 2). Und da Demokrit überdies auch die Erforschung
der Zukunft aus den Eingeweiden der Opfertiere in gewissen
Grenzen einer natürlichen Erklärung für zugänglich hielt
(so in bezug auf das Bevorstehen von Seuchen oder Un-
fruchtbarkeit, Cic. Div. I. 131), so ist es wohl glaublich,
dafs die Demokriteer an den herkömmlichen Religions-
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5. Demokrit (ca. 420). 279
gebrauchen festhielten (Orig. c. Geis. VII. 66). Ob Demokrit
auch eine Beeinflussung dieser dämonischen Wesen durch
menschliche Gunstbewerbung annahm, worin doch das eigent-
liche Wesen der Volksreligionen besteht, wird nicht be-
richtet.
Seiner allereigensten Meinung nach aber fand er das
Göttliche in den Feueratomen und der in ihnen vermöge
ihrer Beweglichkeit vorhandenen seelischen Kräfte (D. 302).
Cicero sagt weniger klar und vollständig, er nenne Götter
„die Vernunftprinzipien in der Welt", oder gar „unsere
Erkenntnis und Einsicht" (N. D. I. 120, 29). Es ist leicht
ersichtlich, dafs er von der Ableitung auch der Vernunft-
tätigkeit aus den beweglichen Feueratomen, wenn er wollte,
geradezu zu einer zwar materiellen und vergänglichen, aber
vernünftigen Weltseele gelangen konnte. Ja, er hätte dieser
sogar, wenn er diese Denkrichtung noch weiter verfolgte,
Zwecksetzung und Zwecktätigkeit zuschreiben können und
wäre so für das Geschehen innerhalb der Welt zu
einem völlig entgegengesetzten Prinzip gelangt, wie für
dasjenige, durch das er das Werden der Welt erklärte.
Es ist Dicht bekannt, wie weit er auf diesem Wege vor-
geschritten ist. Dafs er aber die eben angedeuteten Kon-
sequenzen gezogen haben sollte, ist nicht wahrscheinlich.
Von der vielseitigen Forschertätigkeit Demokrits auf
den Gebieten mehrerer Einzelwissenschaften ist nur weniges
bekannt. Ein Eingehen auf diese Gebiete liegt aufserhalb
unserer Aufgabe. Jedenfalls hat diese gewaltige Vielseitig-
keit der Forschung und die sich in ihr offenbarende Geistes-
gröfse vornehmlich die sagenbildende Tätigkeit, die sich an
ihn heftete und von der wir schon einige Proben kennen
gelernt haben, in Bewegung gesetzt. Von diesem sein Haupt
umrankenden Sagenkranze an dieser Stelle, ehe wir zu
seinen ethischen Lehren übergehen, nur noch einige Proben.
Selbstverständlich traute man einem solchen Geiste das
ÄuTserste von Scharfsinn und Scharfblick zu. So über-
rascht er den Hippokrates bei dessen Anwesenheit in Abdera
durch die Erkenntnis, dafs eine Schale Ziegenmilch, die er
vor sich sieht, von einer schwarzen Ziege stamme, die zum
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280 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getreiint
erstenmal geboren habe und die denselben begleitende Tochter
begrüfst er am ersten Morgen als Jungfrau, am folgenden
Morgen aber, nachdem sie in der Tat in der vorhergehenden
Nacht ihre Jungfrauschaft verloren hatte, als Weib (D. L.
IX. 42). Ja, man legte ihm geradezu übernatfirliches Wissen
bei; man machte ihn zu einem Magier und Weissager, zu
einem antiken Doktor Faust (Z. 846). Ebenso selbstver-
ständlich mufste ein solcher Geist ein weitabgewandtes
Leben führen, ganz in seine Forschung und Gedankenwelt
versunken. Er haust in einem abgelegenen Gartenhäuschen
und merkt nicht, dafs sein Vater, der hier noch am Leben
ist, einen Ochsen zu einem Opferfest an seiner Tür an-
gebunden hat (D. L. IX. 36). Wie Anaxagoras vernach-
lässigt er seine Habe und schenkt sein Vermögen dem
Staate; [die bei Thaies berichtete Geschichte von den Öl-
pressen ist auch ihm aufgeheftet worden (Z. 844). Ja, er
soll, um unbeirrt durch die Erscheinungswelt seinen Ge-
danken nachgehen zu können, sich selbst geblendet haben
(Z. ib.) und dergleichen mehr.
Wir kommen zu seinen ethischen Lehren.
Wie durch seine ausgebildete Lehre vom Werte der
Wahrnehmung und des Denkens, geht Demokrit auch durch
die eingehende Behandlung der Bedingungen und Hinder-
nisse wahrer Glückseligkeit über Leukipp hinaus. Er ist
der erste, der dieser Frage mindestens eine eigene Schrift
gewidmet hat. In dem Schriftenverzeichnis des Thrasylos
finden sich sogar acht „ethische", d. h. der richtigen Lebens-
führung gewidmete Schriften. Es ist aber nicht mehr aus-
zumachen, wie viel davon ihm selbst, wie viel der Schule
angehört, in der diese Fragen eifrig behandelt wurden.
Noch viel weniger, in welchem Mafse die in sehr grofser
Zahl erhaltenen ethischen Aussprüche der einen oder anderen
dieser Schriften und damit Demokrit selbst angehören. Als
unzweifelhaft echt ist jedenfalls die Schrift „Über die Freudig-
keit" anzusehen, die auch unter dem Titel „Über das Wohl-
befinden" oder „Über das Lebensziel" (höchste Gut) an-
geführt wird. Diese war noch in den ersten Jahrhunderten
nach Christi Geburt bekannt und ist noch von Seneca
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5. Demokrit (ca. 420). 281
und Plutarch bei der Abfassung ihrer gleichbetitelten
Schriften benutzt worden. Wir sind im stände, aus den
erhaltenen Bruchstücken und den Nachrichten über seine
Lehre alle wesentlichen Punkte seiner Glückseligkeitslehre
aufzuzeigen. (Die Bruchstücke werden nach der Zählung
bei Natorp, Die Ethika des Demokrit, Marburg 1893,
angeführt werden.)
An die Spitze stellt Demokrit den bedeutsamen, wie
ein Refrain von ihm häufig wiederholten Satz, dafs Freude
und ünfreude die entscheidende Norm des Glückszustandes
oder des menschlichen Verhaltens sei (Br. 1, die Lesart
nicht sicher, doch der Sinn unzweifelhaft; Br. 2; Sext.
Emp. Dogm. I. 140). An der zuletzt angeführten Stelle
bezeugt der Demokriteer Diotimos, dafs Demokrit (wahr-
scheinlich im dritten Buche seines „Kanon", der die Normen
der Entscheidung auf dem Gebiete des Erkennens und
Handelns aufstellte), für das Erstreben und Meiden die
Gef üh 1 e als Richtmafs aufgestellt habe. Damit ist zweierlei
mit der gröfsten Bestimmtheit ausgesprochen. Zunächst die
prinzipielle Loslösung des Einzelnen von der Gemeinschaft,
die Konstituierung des unabhängigen Individuums als
Voraussetzung und Ausgangspunkt. Wenn der Mensch sich
in der Regelung seines Verhaltens nur nach dem zu richten
hat, was ihn glücklich macht, so ist damit die Verselb-
ständigung des Einzelmenschen, die Loslösung und Selbst-
berechtigung des Individuums gegenüber der Gesellschaft
deutlich vorausgesetzt. Diese Loslösung hat schon Hera-
klit für sich vollzogen; ebenso entschieden tut es Demokrit.
Sodann aber liegt in diesen Worten auch schon der Ein-
spruch gegen die gedankenlose Betrachtungsweise des naiven
Bewufstseins , nach der das Glück in den äufseren Dingen
und Zuständen unmittelbar gegeben sein soll. Mit völliger
Entschiedenheit wendet sich gegen diese kindliche Vor-
stellungsweise Demokrit, deutlicher noch als im vorstehenden
Ausspruche in dem Satze : „Die Eudaimonie wohnt nicht in
Herden, noch im Golde; die Seele ist die Wohnstätte des
Dämon'' (Br. 9 — 11). Es mufste hier der griechische Aus-
druck für Glückseligkeit, der eigentlich Göttergunst, Gunst
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282 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt.
des Daimon bedeutet, beibehalten werden, um den Anklang
an das nachfolgende „Dämon** erkennbar zu machen. Wir
erkennen deutlich ^ dafs Demokrit noch das volle Bewufst-
sein der wörtlichen und ursprünglichen Bedeutung von
Eudaimonie hat. Möglicherweise liegt in diesem Ausspruch
auch eine Erinnerung an das Wort Heraklits, das Ethos
sei dem Menschen der Daimon, d. h. die Schicksalsmacht.
Vielleicht hatte schon im Zusammenhange mit diesem
Gedanken Demokrit jene Kritik an seinen Mitbürgern geübt,
die der guten Stadt Abdera unverdientermafsen den Ruf
des antiken Schildbürgertums und ihm selbst den Beinamen
des lachenden Philosophen eingetragen hat. Schon Sotion
(um 190 vor Chr*; Stob. III. 20, 53) hatte gesagt, dafs
Heraklit, über die Torheiten der Menge sich entrüstend,
darüber geweint, Demokrit aber gelacht habe, und
Seneca erwähnt, dafs Heraklit, so oft er unter Menschen
gegangen war, weinte, Demokrit im gleichen Falle lachte
(Tranqu. 15; Ira II. 10; andere Stellen Zell. 845). Mut-
mafslich hatte Demokrit gleich im Eingange seiner Schrift
das gewöhnliche Verhalten der Menschen, ihr Glück in be-
stimmten äufseren Dingen zu finden und diese gierig zu er-
streben , als lächerlich gegeifselt und dies an dem jederzeit
in der Öflfentlichkeit zu beobachtenden Verhalten seiner
Mitbürger veranschaulicht. So kamen denn die Abderiten,
indem man diese kritisch -satirischen Ausführungen dahin
mifsverstand , als habe Demokrit diesen ein besonders
reiches Mafs von Torheit zusprechen wollen, in den Ruf
einer den menschlichen Durchschnitt weit übersteigenden
Abgeschmacktheit (Cic. N. D. I. 120).
Wir erfahren nun ferner, dafs Demokrit die Frage der
Glückseligkeit nicht nur für sich persönlich, für seine
individuelle Veranlagung, zu lösen suchte, sondern dafs er
sie, ganz ebenso wie die Erkenntnisfrage, durchaus wissen-
schaftlich für alle Menschen , für den Menschen überhaupt,
auf Grund der erfahrungsmäfsig gegebenen Eigentümlichkeit
der menschlichen Natur stellte. „Allen Menschen ist eines
und dasselbe das Gute (d. h. das wahrhaft Beglückende)
und das Wahre" (Br. 6; vergl. 7, 15, 17 f., 52), und als
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5. Demokrit (ca. 420). 283^
zweiten beachtenswerten Punkt, dafs er nicht für einzelne
Momente oder Abschnitte des Lebens, sondern für das
Leben als Ganzes, ftlr das Gesamtleben, die Rechnung auf-
zumachen gewillt war. „Das Beste für den Menschen ist,
sein Leben so durchzuführen, dafs er möglichst viel Freudig-
keit und möglichst wenig Kümmernis hat" (Br. 7).
Aus jedem dieser beiden Prinzipien aber ergibt sich
die weitere Folgerung, dafs die Sinnenlust kein geeigneter
Weg zur Glückseligkeit ist. Sie hat keine menschliche
Allgemeingültigkeit, sondern wechselt bei den Verschiedenen,
wie auf dem Gebiete der Erkenntnis die Sinneswahrnehmung
nach verschiedenen Gesichtspunkten eine verschiedene war.
Daher fügt Br. 6 hinzu: „Das sinnlich Angenehme ist für
Verschiedene verschieden." Sie kann auch nicht einen
sicheren Überschufs für das Gesamtleben abwerfen, weil sie
von viel zu kurzer Dauer ist (Br. 53) und, wie ebenfalls
schon bei der Sinneswahmehmung hervorgehoben wurde,
bald in ihr Gegenteil, die sinnliche Unlust, den Widerwillen,
umschlägt (Br. 54 f.). Hierher gehört sein verächtliches
Urteil über die Geschlechtslust. Den Geschlechtsakt nannte
er „eine kleine Epilepsie" (Clem. AI. Paed. IL 10; Galen.
Comm. in Hipp, de epid. Gell. N. A. XIX. 2) oder nach
einer anderen Fassung „einen kleinen Schlagfiufs, bei dem
der Mensch von Sinnen gerate" (Stob. Flor. VI. 57). Daher
fügt auch Br. 7 hinzu, dafs der Überschufs nur erreicht
werden kann, „wenn einer nicht im Sterblichen (Vergäng-
lichen, Körperlichen) seine Lust sucht". Und auch Diog»
Laert. (IX. 45) bemerkt, dafs das höchste Gut Demokrits
mit der Sinneulust nicht einerlei sei.
Aus dem zweiten Prinzip aber ergibt sich weiter, dafs
das Erstrebte ein einheitlicher Gesamtzustand sein mufs»
Dies hat Demokrit dadurch ausgedrückt, dafs er ihn als
„Wohlsein" oder „Wohlbefinden" bezeichnete (D. L. IX. 45;
Stob. II. 52; Clem. AI. IL 21). Vielleicht wählte er diesen
Ausdruck, um dem Doppelsinn des Wortes Lust, das gar
zu leicht immer nur auf die Sinnenlust bezogen wird, aus
dem Wege zu gehen.« Ausdrücklich wird bezeugt, dafs die
„Freudigkeit" im Sinne Demokrits nicht, wie einige es
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284 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
mifsverständlich aafgefafst hätten, mit der „Lust** einerlei
sei (D. L. IX. 45). Dieses Wohlsein oder Wohlbefinden
aber kann ferner, da vom Körper eine solche Stetigkeit
nicht zu erwarten ist, da der Daimon in der Seele wohnt,
nur als ^in Zustand der Seele betrachtet werden. So sind
wir bei seiner Bestimmung des höchsten Gutes angelangt.
Seine eigentliche Bezeichnung dafür ist, wie auch schon
der Titel der Hauptschrift zeigt, „Freudigkeit". (Obige
Stellen; Cic. fin. V. 87.)
Diese Freudigkeit als dauernder Zustand der Seele
kann aber nur entspringen aus einer vernünftigen, zweck-
bewufsten Gestaltung der gesamten Lebensführung. Das
Lebensziel kann nur erreicht werden durch richtige Ab-
wägung, Beurteilung, Unterscheidung der ver-
schiedenen Lustwerte (Stob. IL 52). Demokrit bezeichnet
daher geradezu „die Unwissenheit des Besseren* (Heil-
sameren) als die Ursache des Verfehlens (Br. 28). Er klagt
die Menschen an, dafs sie sich „das Trugbild des Schicksals
ersonnen haben zur Entschuldigung für ihre eigene Un-
wissenheit" (Br. 29), und geifselt z. B. die Torheit, von den
Göttern Gesundheit zu erflehen, während sie doch, ohne es
2U wissen, die Fähigkeit, sich gesund zu erhalten, in sich
selbst besäfsen und nur durch Unmäfsigkeit und Lüste zu
Verrätern ihrer Gesundheit würden (Br. 21; vergl. auch
24 — 26). Er fordert Lebensführung durch zweckbewufste
Vernunft. Der Zweck ist eine möglichst günstige Lust-
bilanz. Von diesem Punkte erklären sich zwei andere ihm
zugeschriebene Bezeichnungen des höchsten Gutes, nämlich
als Symmetrie oder Harmonie (Stob. IL 5, 2). Es ist
nämlich, da Demokrit im Prinzip keine Art der Lust von
der Mitwirkung zur Glückseligkeit ausschliefst und nur jede
nach ihrem verhältnismäfsigen Werte zur Geltung kommen
lassen will, Aufgabe der Vernunft, jeder Lustart den ihr
nach ihrer Bedeutung für die Glückseligkeit zukommenden
Platz und Spielraum zuzuweisen. Das ist aber das Wesen
der Symmetrie und Harmonie, dafs jeder Teil und Bestand-
teil den ihm nach seiner Bedeutung für das Ganze zu-
kommenden Raum und Anteil hat. Aufgabe der Vernunft
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5. Demokrit (ca. 420). 28&
ist, das Gaoze der Lebensführung als ein harmonisches und
symmetrisches Gefüge von möglichst hohem Gesamtlustwert
zu gestalten.
Ganz allgemein genommen besteht die „Symmetrie" in
einem gewissen Mittelmafs zwischen dem Zuviel und Zuwenig,
Die beiden letzteren sind ihrer Natur nach unbeständig
und neigen dazu, in ihr Gegenteil umzuschlagen, wodurch
der Seele Erschütterungen und Leiden bereitet werden
(Br. 52).
Es werden ihm aber noch einige andere Ausdrücke zu-
geschrieben, die er angeblich unterschiedslos mit den bereits
angeführten als Bezeichnungen des Lebenszieles verwandt
haben soll (D. L. IX. 45; Cic. Fin. V. 87), die aber tat-
sächlich besondere Seiten und Gruppen dieses symmetrischen
Aufbaues der Glückseligkeit bezeichnen. Die Berichte sind
in diesem Punkte ungenau und haben aus Unachtsamkeit
die in den einzelnen Ausdrücken liegenden feinen Unter-
schiede verwischt. Wir hören zunächst, dafs er das Wohl-
befinden mit der Meeresstille und dem Gleich-
gewichte der Wogen verglichen habe (D. L. IX. 45).
Offenbar ist damit die negative Seite des Wohl-
befindens, die Freiheit von gewaltsamen und unnatür-
lichen imd daher schmerzlichen Erregungen, bezeichnet.
Und zwar hat er dies Bild zunächst auf körperliche
Zustände angewandt. Töricht sei es, die in allerlei Er-
regungen und Schwankungen der körperlichen Zustände zu
Tage tretenden Vorzeichen von Stürmen im Körper un-
beachtet zu lassen und nicht auf Grund solcher Anzeichen
herannahender Stürme beizeiten vorzubeugen (Br. 23). Ganz
offenbar liegt hier die Vergleichung der Gesundheit mit der
Meeresstille und der Krankheit mit den Meeresstürmen zu
Grunde.
In viel nachdrücklicherer Weise aber hat er die Meeres-
stille der Seele, die Freiheit von stürmischen Erregungen
in ihr, als Bedingung des Wohlbefindens gefordert. Wenn
wir lesen, dafs er die „Freudigkeit" vornehmlich darin ge-
fanden habe, dafs die Seele nicht von Furcht oder aber-
gläubischer Götterangst (Deisidaimonie) oder sonstigen Er-
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286 Erste Periode. Dritter AbschiL Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
regungen erschüttert werde (D. L. IX. 45), so erkennen
wir, dafs er der seelischen Meeresstille einen ganz be-
sonderen Wert für die Glückseligkeit beigemessen hat. Wir
erkennen aber auch, welches ihm die hauptsächlichsten
Gegensätze der seelischen Meeresstille sind. Zunächst Furcht
und Sorge überhaupt, wie sie aus übermäfsiger Schätzung
der äufseren Güter entspringen, dann vornehmlich die Angst
vor dem Walten der Götter in unserem diesseitigen und
jenseitigen Schicksal. „Einige Menschen, unkundig der Auf-
lösung der sterblichen Natur, im Bewufstsein aber der ver-
übten Missetaten, bringen ihre Lebenszeit hin in jammer-
voller Erschütterung und Angst, indem sie sich trügerische
Fabeln in bezug auf den Zustand nach dem Tode ersinnen**
(Br. 92 ; vergl. 96). Auf das Gesamtgebiet der Ängste und
Sorgen bezieht sich der Ausdruck „Angst fr eiheit**, der
geradezu in der Reihe der von Demokrit zur Bezeichnung
des höchsten Gutes angewandten Ausdrücke aufgeführt wird
(Cic. Fin. V. 87 ; Clem. AI. IL 21). Endlich alle möglichen
anderen Erregungen. Hierher würde z. B. Habsucht, Hafs,
Neid, Ehrgeiz gehören. „Der Habsüchtige hat das Los
der Biene; er arbeitet, als ob er ewig leben würde"
(Br. 80).
Von hier aus erhält auch schon die Gerechtigkeit als
Verhaltungsweise des Einzelnen ihre Sanktion. „Der Buhm
der Gerechtigkeit besteht in Zuversicht und Angstfreiheit;
die Furcht des Ungerechten ist die Vollendung der Un-
seligkeit** (Br. 46). „Wer freudig gerechte und gesetzliche
Taten vollbringt, der ist im Wachen und im Schlafe froh
und fühlt sich stark und ohne Kümmernis. Wer der
Gerechtigkeit mifsachtet und seine Pflicht nicht tut, dem
werden alle Freuden verbittert, wenn er seines Verhaltens
gedenkt; er macht sich selbst unglücklich" (Br. 47). „Der
Schädigende ist unglücklicher als der Geschädigte" (Br. 48).
Zur Meidung der wahren Übel mufs aber die
Sicherung der wahren Güter ergänzend hinzutreten.
Das Leben ist reich an positiv Beglückendem. Auch hier
läfst sich wieder die Unterscheidung zwischen leiblichen und
seelischen Gütern erkennen, so dafs sich nach der doppelten
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5. Demokrit (ca. 420). 287
Zweiteilung: negativ -positiv, leiblich -seelisch, im ganzen
eine Vierteilung der Lebensgüter ergibt.
Wenn nämlich Demokrit die Sinnenlust als das Ganze
des Lebenszieles für völlig unzulänglich erachtet, so ist es
darum doch nicht seine Meinung, der Befriedigung der
körperlichen Bedürfnisse und selbst der körperlichen
Lust den ihnen gebührenden Anteil an der Gesamtsumme
der Lebensgüter zu versagen. „Unverstand ist es, dem zum
Leben Notwendigen nicht Raum zu geben" (Br. 91).
Aber nicht nur als Bedürfnisbefriedigung, auch als Lust
hat das Körperliche seine Berechtigung. „Der Tor lebt,
ohne sich des Lebens zu freuen" (Br. 93). Er sehnt sich
nach der Jugend zurück und freut sich doch nicht der
Jugend" (Br. 94). Nur mufs hier die Besonnenheit. regelnd
und mäfsigend eintreten. „Die Besonnenheit vermehrt das
Angenehme und vergröfsert die Lust" (Br. 56). „Wenn
einer das Mafs überschreitet, so wird das Freudvolle zum
Leidvollen" (Br. 55).
Weit über die leiblichen Güter aber ragen an Wert die
seelischen hervor. „Wer die Güter der Seele erwählt,
erwählt das Göttlichere, wer aber die des Leibes (wörtlich:
des Zeltes, der Hütte der Seele, ein bei Demokrit öfter
vorkommender, bei ihm fast befremdlicher und mehr der
pythagoreischen Vorstellungsweise entsprechender Ausdruck),
das Menschliche" (Br. 9). Hier bietet sich erst recht eine
aufserordentliche Mannigfaltigkeit von Gütern dar. Ein
hohes Gut ist die Freundschaft. „Wer auch nicht
einen wackeren Freund hat, dessen Leben ist nicht lebens-
wert" (Br. 209). Zahlreiche Ratschläge in bezug auf die
Wahl echter Freunde und das richtige Verhalten in der
Freundschaft, sowie im Verkehr mit Menschen überhaupt
schliefsen sich hier an (Br. 208, 210—230). Ein Gut ist
femer ein geordnetes, einträchtiges Staatsleben.
„Ein wohlgeleiteter Staat ist der beste Zustand. In ihm
ist alles; wird er erhalten, so wird alles erhalten; geht er
zu Grunde, so geht alles zu Grunde" (Br. 134). „ÖfFent-
liehe Not ist schwerer als die des Einzelnen, denn es bleibt
keine Hoffnung auf Hilfe" (Br. 135). „Die Feindschaft der
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288 Erste Periode. Dritter Absclm. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt
Volksgenossen ist sehr viel schlimmer als die der Fremden"
(Br. 137). „Aus der Eintracht entspringen dem Staate die
grofsen Taten und die Möglichkeit, der Feinde Herr zu
werden; auf andere Weise nicht" (Br. 137). „Das Gesetz
ist der Wohltäter des menschlichen Lebens" (Br. 139; vergl.
auch 138, 140 ff.). Er hat daher die Beschäftigung mit der
Politik als der höchsten der Wissenschaften, die den Men-
schen grofse und herrliche Vorteile bringe, aufs wärmste
empfohlen (Plut. Kolot. 32) und selbst die Freundschaft der
Fürsten als vom höchsten Vorteil für das menschliche Leben
bezeichnet (Plut. Non posse 19).
Vor allem aber schätzt Demokrit unter den positiven
Gütern der Seele das Denken und Erkennen. Ein von
ihm hochgepriesenes Gut ist die Bildung (Br. 183 — 198).
Im Preise der Seligkeit des Naturerkennens wetteifert
Demokrit mit Anaxagoras. „Die grofsen Freuden ent-
springen aus dem Anschauen der herrlichen Werke" (Br. 36).
Er soll öfter gesagt haben, er wolle lieber eine einzige
Beweisführung gefunden haben als den Besitz der per-
sischen Königswürde (Eus. Pr. ev. XIV. 27). Und Cicero
berichtet, Demokrit habe in die Erforschung und Erkenntnis
der Natur geradezu das Ganze der Glückseligkeit gesetzt
und um ihretwillen seine Habe verwahrlost und vernach-
lässigt, ja, wie ein abgeschmacktes Märchen berichtete, sich
der Augen beraubt, um ungestört seinen Gedanken leben
zu können (Fin. V. 87), und stellt ihn in dieser Beziehung
ausdrücklich mit Anaxagoras zusammen (ib. 115). Es wird
ihm eine eigene Schrift zugeschrieben unter dem Titel
Tritogeneia (eigentlich „die am Flusse Triton Geborene",
Beiname der Athene, von ihm aber wohl im Sinne von
„Dreiwert" gebraucht), in der er nämlich ausgeführt haben
soll, dafs aus der Verständigkeit — deren Vertreterin ja
auch wieder Athene ist — dreierlei Wertvolles entspringe,
richtig zu überlegen, das Gedachte gut auszusprechen und
es richtig in Tat umzusetzen (D. L. IX. 46 und Natorp
S. 3).
Es liefse sich noch manches Einzelne beibringen, aber
das Überlieferte ist in manchen Punkten zu unsicher und
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5. Demokrit (ca. 420). 289
noch zu wenig verarbeitet. Auch wird das Angeführte ge-
nügen, um zu zeigen, dafs Demokrit, wenn auch vielleicht
noch nicht in systematisch -geschlossener Form (Cic. Fin.
V. 87 f.), aber doch inhaltlich eine wohlgeordnete Lösung der
ßlQckseligkeitsfrage in Übereinstimmung mit seinen theore-
tischen Lehren gegeben hat. Entsprechend seiner Natur-
lehre sucht er den Grund des Glückes nicht in der welt-
leitenden Macht, sondern in der gegebenen Einrichtung der
menschlichen Natur und ihrer Bedürfnisse, deren universelle
Befriedigung in richtiger Abstufung der Werte ihm das
Glück bedeutet. Entsprechend den Unterschieden der beiden
Erkenntnisarten, der körperlichen und der seelischen,
richtet er Wertunterschiede zwischen den Gütern des Körpers
und denen der Seele auf.
Es zeugt von völliger Unkenntnis und Verkennung, wenn
Cicero (Fin. V. 23) einem griechischen Vorgänger — übrigens
in vollem Widerspruch mit seinen eigenen Angaben an der
soeben angeführten Stelle — das Urteil nachschreibt, Demokrit
gebe wohl an, worin die Glückseligkeit bestehe, aber nicht,
woraus (d. h. durch welche Güter) sie uns zu teil werde. Ein
verkehrteres Urteil über Demokrit, den bedeutendsten Vor-
läufer der axiologischen Ethik, der im Punkte der Bezeichnung
der Lust als des eigentlichsten Lebenswertes geradezu bahn-
brechend und endgültig vorbildlich ist, wenn er auch das
wahre Prinzip für die Wertunterschiede der Lustgefühle
noch nicht gefunden hat, konnte wohl kaum gefällt werden.
Noch sei hier eine sinnige Erzählung wiedergegeben,
die Kaiser Julian der Abtrünnige (Brief 37) an De-
mokrit anknüpft. Der König Darius hat die schönste seiner
Frauen durch den Tod verloren und ist untröstlich. Demo-
krit erbietet sich, die Gestorbene ins Leben zurückzurufen,
wenn der König ihm das dazu Erforderliche beschaffen wolle.
Hier liegt nun freilich, wenn wir an den durch den Beginn
der Kriege gegen Griechenland bekannten Darius L (521 bis
485) denken, ein den Eindruck der Anekdote von vornherein
vernichtender Anachronismus vor. Aber es gab auch noch
einen Darius IL Nothos, der von 429—5 regierte, also ein
genauer Zeitgenosse Demokrits war. Als das unentbehrliche
Döring. I. 19
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290 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip getrennt
Hilfsmittel zur Erweckung der toten Königin nun fordert
Demokrit, dafs an ihr Grabmal die Namen dreier Menschen
angeschrieben würden, die nie in ihrem Leben ein Leid er-
fahren hätten. Der König schickt seine Leute auf die
Suche nach den drei ungetrübt Glücklichen, aber sie werden
nicht gefunden. Da lacht Demokrit nach seiner Gewohnheit
und schilt den König einen Toren, dafs er in seinem mafs-
losen Schmerze verlange, allein vom allgemeinen Mfenschen-
lose eine Ausnahme bilden zu wollen. —
Wie die gewaltige Geistesarbeit dieses Geistesriesen auf
die Nachwelt weitergewirkt hat, läfst sich für uns nur noch
teilweise nachweisen. Manches die antike Entwicklung An-
gehende kann erst an weit späterer Stelle zur Sprache
kommen. Dafs Demokrit in erster Linie bei der Entwick-
lung der modernen Naturwissenschaft durch Galilei und
seine Zeitgenossen Gevatter gestanden hat, ist eine un-
zweifelhafte Tatsache. Für jetzt haben wir nur noch in
Kürze das Notwendigste über seine unmittelbare Schule in
Abdera beizubringen.
6. Die Solitae Demokrits in Abdera (oa. 400
bis gegen 300).
Wie die Schule Demokrits in Abdera organisiert war,
darüber erfahren wir gar nichts; dafs in ihr die ganze
Mannigfaltigkeit der von ihm behandelten Wissenschaften
weitergepflegt wurde, läfst sich nach vereinzelten Nach-
richten wohl annehmen. Besonders aber wurde der von ihm
betonte Zweifel an der Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis
schärfer ausgebildet, und ferner wandten sich, wie es scheint,
die meisten seiner Anhänger überwiegend der Glückselig-
keitsfrage zu und entwickelten hier mancherlei Nuancierungen
der Lehre des Meisters. Vielleicht hängt dies Überwiegen
des praktischen Interesses teilweise gerade mit dem Zweifel
an der Möglichkeit sicheren Erkennens auf dem Gebiete
des Seienden zusammen.
Der bedeutendste unter den Nachfolgern Demokrits war
MetrodorvonChios. Er wird bald für einen unmittel-
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6. Die Schule Demokrits in Abdera (ca. 400 bis gegen 300). 291
baren Schüler Demokrits ausgegeben, bald für den Schüler
eines der Schüler desselben (D. L. IX. 56; Z. 460, 3). Da
Demokrit wahrscheinlich bis gegen 370 gelebt hat, und da
Nausiphanes von Teos, der Schüler Metrodors, allem
Anschein nach um oder bald nach 330 sich in Abdera die
atomistische Lehre aneignete, so ist es durchaus nicht un*
wahrscheinlich, dafs Metrodor noch Demokrit selbst zum
Lehrer gehabt hat.
Dafs Metrodor in bezug auf die naturwissenschaftlichen
Grundprinzipien Demokrit folgte, in der Einzelforschung
aber seine eigenen Wege ging, ist nach dem Zeugnis Theo-
phrasts (D. 484) nicht zu bezweifeln. Manche seiner be-
sonderen Ansichten über naturwissenschaftliche Einzelfragen
werden angeführt (D. 345 flf., 365 flF., 582) , haben aber kein
allgemeineres Interesse. Für das Dasein unendlich vieler
Welten berief er sich auf die Unendlichkeit des Weltstoffes
und meinte, eine einzige Welt im unendlichen Leeren würde
ebenso lächerlich sein wie eine einzige Ähre auf einem
grofsen Felde (D. 292). Im Zweifel an dem menschlichen
Erkenntnisvermögen ging er weit über Demokrit hinaus.
Nicht nur erklärte er ohne Einschränkung die Sinne für
trügerisch und „umnachtet" (D. 396; Cic. Ac. II. 73; Z.
963, 1), er leugnete überhaupt das Vorhandensein eines
Erkenntnismittels und verstieg sich bis zu dem Satze, wir
wüfsten nicht einmal das, dafs wir nichts wüfsten (S. Emp.
Dogm. L 48, 88; D. L. IX. 5*8). Vollständiger führt diesen
Ausspruch Cicero als Anfang seiner Schrift „Über die
Natur" in folgender Fassung an (Ac. II. 73): „Ich leugne,
dafs wir wissen, ob wir etwas oder nichts wissen. Ich be-
haupte, dafs wir nicht einmal wissen, ob wir eben das
(unser Wissen oder Nichtwissen) nicht wissen oder wissen,
und überhaupt (dafs wir nicht wissen), ob etwas sei oder
nichts sei.* In dieser Behauptung des Nichtwissens auch
hinsichtlich unseres Wissens oder Nichtwissens liegt eine
gewisse Ähnlichkeit mit dem später zu behandelnden Pyr-
rhonismus, aber doch auch zugleich wieder ein bedeut-
samer Unterschied vom Pyrrhonismus, der auch hinsichtlich
dieser Frage bei der ürteilsenthaltung stehen blieb. Der
19*
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292 Erste Periode. Dritter Abscliii. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
Standpunkt Metrodors ist nicht der der pyrrhonischen
Skepsis, sondern negativer Dogmatismus. Trotz dieser radi-
kalen Leugnung der Möglichkeit des Wissens aber mufs er
doch eine Form gefunden haben, in der er positive Lehren
vortrug, denn er hat offenbar sein Buch „Über die Natur"
nach diesem kraftvollen Anfangssatz nicht abgebrochen, son-
dern weitergeschrieben, und die erhaltenen Reste zeigen,
dafs er ein umfassendes naturwissenschaftliches Lehrgebäude
aufgeführt hat.
Ob Metrodor auch in der Axiologie und Ethik den Spuren
des Meisters gefolgt ist, darüber fehlt es gänzlich an Nach-
richten. Dagegen ist von fünf anderen Demokriteern teils
ausschliefslich , teils neben einigen sonstigen Notizen ihre
Bezeichnung des höchsten Gutes überliefert.
Da ist zunächst Anaxarchos der Abderite, Schüler
Metrodors oder eines anderen Demokriteers , geboren bald
nach 380 (D. L. IX. 58) zu nennen. Er ist schon wegen
des bestimmenden Einflusses, den er auf Pyrrhon, den
Begründer der skeptischen Schule, übte, aber auch an sich
als Persönlichkeit von besonderer Bedeutung. Ob er ein
geborener Abderite war oder nur als Anhänger der Schule
diesen Namen führt, ist nicht auszumachen.
Von seinem äufseren Lebensgange ist nur bekannt, dafs
er den Zug Alexanders des Grofsen (seit 334) mitmachte
und bald nach Alexanders Tode (323) ein schreckliches Ende
fand. In welcher Eigenschaft er sich am Alexanderzuge
beteiligte, ist nicht bekannt, doch scheint es, dafs er weder
als forschender Gelehrter noch als Soldat sich anschlofs,
sondern als Hofmann und Gesellschafter in freierer Stellung
dem Gefolge des Königs angehörte. Über seinen Tod
nachher.
Über seine philosophischen Ansichten im einzelnen ist
nur wenig bekannt. Nach einer sehr kindlichen Anekdote
(Plut. Euthym. 4) hat er einst dem König die Lehre von
der unendlichen Zahl der Welten auseinandergesetzt, worauf
dieser zu weinen anfängt, weil er noch nicht einmal eine
einzige dieser Welten unter seine Herrschaft gebracht habe.
Hier wird die Glaubwürdigkeit der ganzen Erzählung durch
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6. Die Schale Demokrits in Abdera (ca. 400 bis gegen 800). 293
die Lächerlichkeit des erhaben sein sollenden Verhaltens des
Königs beeinträchtigt. Immerhin aber wird der Demokri-
tismns als Überzeugung Anaxarchs vorausgesetzt. Aufser-
dem wird bezeugt, dafs er die skeptische Haltung Metrodors
teilte, und dafs er ihr eine Wendung gab, die zu einer un-
mittelbaren Anwendung auf die Lebensführung hindrängte.
Er erklärte nämlich, das Leben sei nichts als ein Bühnen-
spiel, ein Traum oder die Wahnvorstellung eines Irrsinnigen
(S. Emp. Dogm. I. 88, 48).
Dafs er trotzdem darauf bedacht war, als echter Demo-
kriteer das Leben möglichst unlustfrei und lustvoll zu ge-
stalten, beweist der ihm ständig erteilte Beiname des
Eudaimonikers (D. L. IX. 60; Z. 964, 3). Es gab nämlich
unter den Demokriteem eine Richtung unter diesem Namen
{D. L. I. 17; Z. a. a. 0.). Es werden das wohl diejenigen
Demokriteer gewesen sein, die weniger in der gelehrten
Forschung als in der praktischen Lebensweisheit dem Meister
nacheiferten und von einer bestimmten Überzeugung über
die wertvollsten Lebensgüter aus die Glückseligkeit zu ver-
wirklichen strebten. Innerhalb dieser Gruppe waren natür-
lich wieder verschiedene Ansichten über das am meisten
zu Erstrebende möglich. Wir werden unter den noch zu
nennenden Demokriteem, die vielleicht sämtlich Eudaimoniker
waren, Beispiele solcher Verschiedenheit kennen lernen.
Anaxarch seinerseits setzte das entscheidende Hilfsmittel zu
einer glückseligen Lebensführung in eine vollständige Un-
angefochtenheit des Gefühls durch die Wechselfälle des
Lebens (Apathie) und in die daraus entspringende gleich-
mfifsige Heiterkeit der Stimmung (D. L. IX. 60). Diese
ihm eigene Lösung des Glückseligkeitsproblems entspringt
nun offenbar ganz folgerichtig aus der Grundanschauung
von der Unerkennbarkeit des Grundwesens der Dinge und
von der blofsen Scheinhaftigkeit alles dessen, was uns im
Leben aufstöfst. Aus dieser Grundanschauung entspringt
die Besonderheit der Richtung, die er unter den Eudaimo-
nikem vertritt.
Wie er nun diese Lebensauffassung in seiner Lebens-
führung zur Durchführung brachte, davon sind nur ver-
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294 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt.
einzelte Züge erhalten, die überdies meist aus in mehrfacher
Fassung überlieferten Anekdoten bestehen, aus denen nur
zu entnehmen ist, wie er im Gedächtnis der Nachwelt fort-
lebte. Eine besondere Trübung scheint dies Bild teilweise
auch noch dadurch erhalten zu haben, dafs er, weil von
Alexander dem Neffen des Aristoteles, Eallisthenes,
vorgezogen, bei den Peripatetikem verhafst war.
In diesem Sinne ist vielleicht die Beschuldigung zu
nehmen, dafs er seiner zur Sinnenlust und Genufssucht
neigenden Naturanlage nicht widerstrebt habe (Timon Phl.
Fr. 9; Z. 965, 5), wenngleich ein solches Verhalten an sich
mit dem Grundsatz der vollkommenen Gleichgültigkeit gegen
die Wechselfälle des Lebens nicht in Widerspruch steht.
In demselben Sinne liegt möglicherweise auch eine Ent-
stellung vor, wenn ihm in einem bedeutsamen Falle ein
verderblicher Einflufs auf die Entwicklung Alexanders durch
zu nachsichtige, ja geradezu frivol -schmeichlerische Be-
urteilung seines Verhaltens schuld gegeben wird. Als
Alexander im Jähzorn seinen Freund Klitus erschlagen hat
und in höchste Verzweiflung geraten ist, tröstet ihn Anaxarch
in folgender Weise: „Dike und Themis sind die Beisitze-
rinnen am Throne des Zeus. Das bedeutet, dafs alles, was
Zeus tut, recht und gerecht ist. Dasselbe mufs aber auch
von dem irdischen Herrscher gelten (Arrian. Anab. IV. 9;
Plut. Alex. 52)." Dafs die Berichterstatter hier aus einer
dem Anaxarch mifsgünstigen Quelle geschöpft haben, geht
schon daraus 'hervor*, dafs beide übereinstimmend hinzu-
fügen, diese Tröstung habe auf den Charakter des Königs
eine dauernd verderbliche Wirkung geübt. Aber auch die
Richtigkeit der Erzählung vorausgesetzt mufs bei der Be-
urteilung zweierlei unterschieden werden: der moralische
Wert und die sittliche Wirkung der Tröstung einerseits und
die Frage andererseits, ob das Verhalten Anaxarchs blofse
gesinnungslose Schmeichelei war, oder ob es folgerichtig aus
seiner Lebensauffassung hervorging. In ersterer Beziehung
kann über die Verwerflichkeit kein Zweifel sein. In letzterer
aber kann ein solches Verhalten sehr wohl als Ausflufs jener
skeptischen Betrachtungsweise des Lebens und der Wirklich-
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6. Die Schule Demokrita in Abdera (ca. 400 bis gegen 800). 295
keit angesehen werden, die das Leben als ein Spiel nimmt,
mit dem man sich so gut wie möglich abfinden mufs. Das
Geschehene ist nicht ungeschehen zu machen, also mufs
man auf diese oder jene Weise darüber hinwegzukommen
suchen. Dafs aus der Lebensauffassung Anaxarchs sich
kein sittliches Heldentum ergibt, ist leicht zu ersehen ; aber
zwischen folgerichtigem Verhalten und Gesinnungslosigkeit
ist immer noch eine recht weite Kluft.
Eine Bestätigung dieser Auffassung liegt darin, dafs
der eine der beiden Geschichtschreiber, die obige Erzählung
bringen, Plutarch, gerade im Zusammenhange derselben
hervorhebt, dafs Anaxarch in der Philosophie seinen eigenen
Weg gegangen sei und auf die Vertreter der anderen Rich-
tungen mit Geringschätzung hinabgesehen habe. Er be-
schuldigt ihn also keineswegs der Gesinnungslosigkeit, son-
dern sucht den Fehler in den Prinzipien seiner Denkweise.
Allerdings war der Schein gegen ihn, und so mufs er sich
(nach Antigenes von Knystos, einem zuverlässigen
Berichterstatter, D. L. IX. 63) einst von einem jener
„nackten Weisen" (Gymnosophisten) Indiens die Zurecht-
weisung gefallen lassen, er sei nicht befähigt, andere etwas
Gutes zu lehren, da er selbst das Leben eines Höflings
führe.
Dafs er im übrigen in seinem Verhältnis zu Alexander
sich zwar klug und gewandt, aber keineswegs gesinnungslos
benahm, dafür zeugen folgende Züge. Er stand bei Alexander
in besonderer Gunst und wurde von ihm als Freund be-
handelt (Plut Alex. 8; Alex. virt. 10; Bernays, Abh. I.
126). Er hatte eine Schrift „Über das Königtum" verfafst
(Clem. AI. Strom. I. 6), die offenbar für Alexander bestimmt
war. Über die Gesamtrichtung dieser Schrift ist nichts
bekannt, doch ist daraus (a. a. 0.) ein Fragment erhalten,
aus dem sich ergibt, dafs er darin auch von dem richtigen
Verhalten gegenüber den Grofsen der Erde gehandelt hatte.
Das Auskramen von Gelehrsamkeit zur Unzeit, am unrechten
Orte und vor ungeeigneten Hörern wird hier als eine dem
Redenden selbst schädliche Torheit, das richtige Verhalten
in dieser Beziehung aber als eine ihm selbst heilsame Kunst
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296 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoff u. bewegendes Prinzip f^etrennt
bezeichnet (Bernays , Abh. I. 123 flF.). Wir erkennen hier
den Mann von Wissen, von dem gelegentlich Mitteilungen
aus dem Schatze seiner Gelehrsamkeit zur Würze des Mahles
oder müfsiger Stunden am Hofe und im Lager erwartet
werden, der aber genau weifs, in welcher Form und in
welchem Mafse er diese zu bringen hat, um nicht als
Pedant lästig zu werden.
Aber er ist nicht nur der kluge Hofmann, er weifs
auch seine persönliche Würde und die Unabhängigkeit seiner
Überzeugung zu wahren. Die Voraussetzung zum Ver-
ständnis der hierher gehör] gen Züge ist, dafs Alexander als
Gott gelten wollte und sich als Gott behandeln liefs.
So ^irft Alexander einst beim Mahle in übermütiger
Laune mit Äpfeln nach ihm. In Anaxarch regt sich der
Unmut, aber er fafst sich schnell und trinkt dem König mit
folgendem Zitat aus einer euripideischen Tragödie (Orestes
265) zu : „Darf auch ein Gott von sterblicher Hand getroffen
werden?" (So nach dem ältesten und besten Berichterstatter
Philodem in Vol. Herc. coli. alt. c. 5.) Der Sinn ist wohl
eine feine Hindeutung auf das Unpassende solcher Vertrau-
lichkeiten, die er in seiner Stellung doch nicht erwidern
dürfe. Einen direkten Spott über die Göttlichkeit des
Königs bei Gelegenheiten, wo die schwache Menschlichkeit
unverhüllt zu Tage tritt (Krankheit, Verwundung), legt ihm
eine Anekdote bei, die in verschiedenen Abwandlungen vor-
kommt. Die geschickteste Zuspitzung zeigt sie in folgender
Form : Alexander ist verwundet worden. Da sagt Anaxarch,
auf das herabrinnende Blut deutend: das ist Menschenblut,
nicht Götterblut (Anspielung auf Ilias V. 340, wo ein be-
sonderes Wort für das Blut der Götter gebraucht wird;
D. L. IX. 60; vergl. Z. 965, 3).
Ein direktes Hervortreten der gleichgültigen Stimmung,
in die Anaxarch die Lösung des Glückseligkeitsproblems
setzte, zeigen folgende Züge. Er ist auf dem Alexander-
zuge in einen Sumpf geraten* Der junge Pyrrhon, der
sich als hingebender Schüler an ihn angeschlossen hat,
macht nicht die geringste Anstalt, ihn aus dieser gefähr-
lichen Lage zu befreien. Andere Hinzukommende tadeln
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6. Die Schale Demokrits in Abdera (ca. 400 bis gegen 800). 297
diesen, Anaxarch aber lobt ihn wegen der bewiesenen Gleich-
gQltigkeit und Leidenschaftslosigkeit (D. L. IX. 63).
Diese Gleichgültigkeit beweist er denn auch selbst in
seinem vielgepriesetien Verhalten in seinem schrecklichen
Tode. Er ist verfeindet mit einem der Begleiter Alexanders,
namens Nikokreon. Ein Fall, bei dem er angeblich diese
Feindschaft in besonders schroffer Weise habe hervortreten
lassen, indem er bei einem Prunkmahle zur Vervollständigung
der Herrlichkeit desselben das Auftragen eines Satrapen-
kopfes gewünscht habe, wird so verschieden erzählt und
entspricht auch so wenig seiner sonst zu Tage tretenden Art,
dafs darauf wenig zu geben ist (Gomperz, Commentat. in
hon. Mommsenii 1893). Als er dann nach dem Tode des
Königs (323) zu Schiffe in die Heimat zurückkehrt, wird er
an die Küste von Cypern verschlagen, wo inzwischen Niko-
kreon Statthalter geworden ist und gerät in dessen Hände.
Nikokreon befiehlt, ihn in einem jener grofsen Mörser, die
zum Zerkleinem des Getreides dienten, mit eisernen Keulen
zu zerstampfen. Hierauf sagt Anaxarch: „Zerstampfe den
Sack, in dem Anaxarch steckt, den Anaxarch triffst du
nicht!* Und als jener nunmehr befiehlt, ihm die Zunge
auszuschneiden, beifst er die Zunge ab und speit sie dem
Satrapen ins Gesicht (D. L. IX. 59 f.). Hier ist die erste
Antwort als Äufserung der vollsten Gleichgültigkeit gegen
das eigene (Jeschick noch allenfalls begreiflich; die zweite
Handlung aber steht dazu als Ausflufs einer leidenschaft-
liehen Exaltation in fühlbarem Gegensatz und charakterisiert
sieh als Erzeugnis der weiterspinnenden Dichtung, zumal
auch von Pythagoreem und vom Eleaten Zeno das Gleiche
berichtet wird.
Von einigen anderen Demokriteern erfahren wir fast
nur die Weise, in der sie, mehr oder minder selbständig
und abweichend von Demokrit, das Lebensziel bestimmt
hätten (Clem. AI. Strom. II. 21). Nicht einmal die Lebens-
zeit wird bei den meisten angegeben, doch werden sie sämt-
lieh dem vierten Jahrhundert angehören.
D i 0 1 i m 0 8 ist bereits dafür als Zeuge angeführt worden,
dafs Demokrit in seinem „Kanon" Lust und Unlust als
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298 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffa. bewegendes Prinzip getrennt
Wertmarsstab aufgestellt habe (S. Emp. Dogm. I. 140).
Nach derselben Stelle bekannte er sich auch selbst zu diesem
Wertmafsstab, und dazu stimmt denn genau, dars er (nach
Clemens), ebenso wie Demokrit, das „Wohlbefinden" in den
„Vollbesitz der Güter" gesetzt habe, wobei freilich die Frage
offen bleibt, ob er auch die feine Wertgliederung der GQter,
die wir bei Demokrit angetroffen haben, von diesem mit-
übernommen hatte. Aurser diesen Nachrichten ist über ihn
nur eine unbedeutende Angabe über astronomische Ansichten
vorhanden (D. 346).
Apollodotus von Eyzikos ist bereits mit einer
wichtigen Angabe zum Bildungsgange Demokrits vorge-
kommen (D. L. IX. 38). Als Lebensziel stellte er auf „das
die Seele Erregende" (die Psychogogie) , d. h, doch wohl
das Interessierende, das nicht sinnlich, sondern seelisch
Fesselnde, die Aufmerksamkeit in lustvoller Weise in An-
spruch Nehmende. Damit hätte er dann freilich im Ver-
gleich mit Demokrit das Wertvolle auf eine der von
diesem angenommenen vier Gütergruppen, allerdings auf
die auch von Demokrit selbst am stärksten betonte, ein-
geschränkt.
Der dritte dieser Männer, Hekatäus, stammte nach
dem Zeugnis des Geographen Strabo (XIV. 644) aus der
kleinasiatisch-jonischen Stadt Teos. Wenn er aufserdem ein
Abderite genannt wird (Plut. Is. et Os. 354; D. L. IX. 69),
so haben wir darin nur ein weiteres Zeugnis für seine auch
von Clemens bezeugte Zugehörigkeit zur Schule Demokrits
zu erkennen. Dafs er als Teer zu seiner Ausbildung nach
Abdera ging, beruht, wie bei seinem sogleich zu nennenden
Landsmanne Nausiphanes, ohne Zweifel auf den noch nicht
erloschenen Beziehungen zwischen der Mutterstadt Teos und
der Tochterstadt Abdera (Herod. I. 168). Auch darin
stimmte er mit Nausiphanes überein, dafs er auch den etwa
seit 323 in seine Vaterstadt Elis zurückgekehrten Pyrrhon
aufsuchte, so dafs er geradezu als Pyrrhoneer bezeichnet
wird (D. L. IX. 69). Dies wird aber bei ihm wohl nur in
dem gleichen eingeschränkten Sinne zutreffen wie bei Nau-
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6. Die Schule Demokrits in Abdera (ca. 400 bis gegen 300> 299
siphanes. Als Lebensziel stellte er die Selbstgenügsamkeit
(Autarkie), d. h. die möglichste Freiheit von Bedürfnissen
und LebensansprOchen , auf. Er entfernt sich damit am
weitesten von der vielseitig ausgebildeten Güterlehre Demo-
krits. Vielleicht fand er es klug, die Ansprüche ans Leben
möglichst einzuschränken; hätte er in dieser Freiheit selbst
geradezu das erstrebenswerteste Gut gefunden, so wäre er
damit geradezu zum Eynismus (von dem später) hinüber-
getreten. Mit seinem ethischen Prinzip der Genügsamkeit
steht es in Einklang, dafs er in mehreren in der Weise der
Staatsromane gehaltenen Schriften, einer tendenziös gefärbten
Geschichte Ägyptens und einer Schi-ift „Über die Hyper-
boreer", das sagenhafte glückselige Volk im hohen Norden,
seinen Zeitgenossen einen Spiegel vorzuhalten bemüht war.
In der ersteren dieser beiden Schriften hatte er auch eine
XJmdeutung der Hauptgötter auf die Elemente vorgenommen
(Susemihl, Alexandrinerzeit L 310).
Der vierte dieser Männer ist N a u s i p h a n e s. Er nimmt
ein besonderes Interesse in Anspruch, einesteils weil über
ihn mehr bekannt ist, sodann aber vornehmlich, weil er das
Mittelglied zwischen der Schule Demokrits und Epikur
bildet. Wie Hekatäus stammte er aus Teos (D. L. IX.
69), und sein Bildungsgang ist der gleiche wie bei diesem.
Dafs er sich zunächst an die Schule in Abdera anschlofs,
folgt schon daraus, dafs er „Abderit^ und Demokriteer ge-
nannt wird (Clem. AI. Strom. IL 21; Cic. N. D. L 72;
Suid. V. Epic). Dafs er vielleicht Schüler Metrodors war,
wird dadurch wahrscheinlich, dafs auch Metrodor als Lehrer
Epikurs genannt wird (Stob. I. 199), welcher Irrtum sich
bei dieser Annahme am leichtesten erklärt. Auch wird von
ihm der an Metrodor anklingende Ausspruch angeführt, dafs
das Erscheinende ebensowenig sei, wie nicht sei (Senec. ep.
88). Wie Hekatäus begab er sich dann nach Elis zu
Pyrrhon (D. L. IX. 64, 69, 102). Da er zur Zeit seiner
Anwesenheit bei diesem, die nicht vor 323 stattgefunden
haben kann, als noch junger Mann bezeichnet wird (D. L.
64), 80 kann er frühestens um 350 geboren sein. Er nahm
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300 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoflf u. bewegendes Prinzip getrennt
jedoch die Lehre Pyrrhons nicht an, sondern betrachtete
nur die Seelenstimmung und den Wandel derselben als vor-
bildlich, wovon er auch dem jungen Epikur häufig erzählen
mufste (D. L. 64). Vielleicht hat er auch in diesem Sinne
über Pyrrhon geschrieben (D. L. 102). Da nun Epikur sein
Schüler war und dieser seine Ausbildung etwa von 321 an
in Teos genossen hat (Strabo XIV. 638; Zeitschr. f. Philos.
119), so ist es sehr wahrscheinlich, dafs er bereits um diese
Zeit eine Lehrtätigkeit in dieser seiner Heimatstadt er-
«fiiiet hatte. Wie lange diese nach diesem Zeitpunkt noch
gedauert hat, wie lange er überhaupt gelebt hat, ist nicht
bekannt. Epikur stiefs später die gröbsten Schmähungen
über seinen Charakter und Lebenswandel wie über seine
Fähigkeiten und Lehrtätigkeit aus (S. Emp. Math. I. 2;
D. L. X. 8). Er nannte ihn einen schlechten, unzüchtigen
Menschen, ein MoUusk, einen Betrüger, einen unwissenden
und unfähigen Lehrer und bezeichnete es als eine Geistes-
verwirrung und Lästerung, dafs Nausiphanes es wage, sich
seinen Lehrer zu nennen. Nach Cicero (N. D. I. 73, 93)
hätte er zwar das äufsere Schülerverhältnis nicht ab-
geleugnet, aber erklärt, er habe bei Nausiphanes nichts
gelernt. Demgegenüber bezeugt SextusEmpiricus an
der angeführten Stelle, dieser habe viele junge Leute sorg-
fältig in den Wissenschaften, besonders auch in der Rhe-
torik, unterrichtet, und auch hinsichtlich Epikurs wird be-
zeugt, dafs derselbe den gröfsten Teil seiner Lehre von ihm
überkommen und ihn teilweise ausgeschrieben habe (D. L.
X. 7, 14).
Seine Lehre anlangend, so hatte er zunächst eine
erkenntnistheoretische Schrift unter dem Titel „Der
Dreifufs" verfafst. Dieser Titel schon erinnert an die
Dreiteilung der Erkenntnisprinzipien bei Demokrit (Sinne,
Vernunft und für das Praktische die Gefühle), die bei diesem
in der Dreiteilung seines „Kanon" ihren Ausdruck gefunden
hatte. Dafs er diese Dreiteilung übernommen hatte, beweist
auch der Umstand, dafs sie in dem von dieser Schrift be-
einflufsten ^Kanon" Epikurs (D. L. X. 14) wieder zu Tage
trat. Welche Stellung er aber zu den beiden theoretischen
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ß. Die Schule Demokrits in Abdera (ca. 400 bis gegen 300). 301
Erkenntnisprinzipien einnahm — denn dafs er in bezug auf
Lust und Unlust auf dem demokritischen Boden stand, kann
nicht bezweifelt werden — , darüber fehlen alle Nachrichten.
In der Physik ferner war er im wesentlichen Demokriteer.
Dies ergibt sich aus dem Zeugnis (D. L. X. 7), dafs Epikur
in seiner wesentlich demokritischen Physik zwar mehrfach
gegen ihn polemisiert, in Wirklichkeit aber meist dasselbe
gesagt habe wie er. Einzelheiten Über seine Physik sind
nicht bekannt ; dafs er jedoch dies Gebiet nicht vernach-
Iftssigte, folgt aufser der Abhängigkeit Epikurs von ihm
auch daraus, dafs er in einer von ihm verfafsten Schrift
über die Rhetorik die Anschauung vertrat, die Physik sei
die beste Vorbereitung für die staatsmännische Tätigkeit,
die er dem Philosophen anempfahl, und zwar deshalb die
begte, weil sie von Wahnvorstellungen befreie (Philodem in
Vol. Herc. cf. Sudhaus, Rh. Mus. 48; Philolog. 54; Philodems
Rhet. II., 1896). Er wird also schon von diesem Gesichts-
punkte aus der Physik seine Kräfte gewidmet haben. Gegen
diese Auffassung der Naturwissenschaft als geeigneter
Vorbildung für den Staatsredner polemisierte noch Me-
trodor von Lampsakos, der Schüler Epikurs, um 300
in einer eigenen Schrift (Usener, Epicurea 412).
Seine Lehre vom Lebensziel betont, ähnlich wie die des
Hekatäus und Anaxarch, ausschliefslich die negative Seite
der GOterlehre Demokrits, doch in einer anderen Richtung
als die jenes. Er bezeichnete als das höchste Gut „Be-
stürzungsfreiheit* (Akataplexie). Es sei dasselbe, was
Demokrit „Angstfreiheit" (Athambla) genannt habe (Clem.
AI. StroDQ. IL 21). Schon diese Bemerkung zeigt, dafs er
nur ein Stück der demokritischen Güterlehre übernommen
hatte, und zwar dasjenige Stück, bei dem vornehmlich die
Freiheit vom Aberglauben in bezug auf das Walten der
Götter und das Jenseits in Betracht kam. Hierzu stimmt
denn auch genau, dafs er die Freiheit von Wahnvor-
stellungen für ein wichtiges Erfordernis zur staatsmänni-
schen Tätigkeit erklärte. Dafs er seine Lehre vom höchsten
Gute auf diesen negativen Teil der demokritischen Güter-
tafel einschränkte, ist vielleicht dem Einflüsse Pyrrhons zu-
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302 Erste Periode. Dritter Abschn. Stoffu. bewegendes Prinzip getrennt
zuschreiben, dessen skeptisch begfttndeten Gleichmut er
bewunderte (D. L. IX. 64). —
So reicht mit diesen Ausläufern der Schule Demokrits
die erste Periode der antiken Philosophie bis fast an das
Jahr 300 hinab. Es hatten inzwischen tiefgreifende Um-
gestaltungen des Denkens stattgefunden, und es konnte
nicht fehlen, dafs diese späten Bekenner des Demokritismus,
wie teilweise schon Demokrit selbst, von diesen neuen
Denkrichtungen stark beeinflufst wurden. Es würde sich
dies auch direkt nachweisen lassen, wenn damit nicht ein
unbequemes Vorwegnehmen des erst Darzustellenden ver-
bunden wäre. Bei der Dürftigkeit unserer Kenntnis von
diesen weit hinabreichenden Nachwirkungen war es das
zweckmäfsigste, sie hier gleich anzuschliefsen. Und damit
ist denn das Ende dieser ersten, vorbereitenden Periode
erreicht. Wir haben gesehen, dafs dieselbe nicht nur
grundlegend für die auch in der eigentlichen Philosophie
bedeutsame und oft ausschlaggebende Weltauffassung und
Welterklärung ist, dafs vielmehr auch in dieser Periode
schon die hervorragendsten Geister nach dem Rechte der
freien Persönlichkeit sich unabhängig der Welt gegenüber-
stellen und fragen, in welchem Mafse und durch welche
Mittel ihnen der unverjährbare Anspruch auf Glückseligkeit
gewährleistet werden könne. Beruhen die hierauf bezüg-
lichen Angaben bei Clemens Alexandr. auch hinsichtlich
der Pythagoreer und des Anaxagoras auf einer un-
geschichtlichen Hineintragung späterer Denkweisen , war
ihre Stellung zu diesem Problem in Wirklichkeit eine rein
individuelle, subjektive, in gelegentlichen Äufserungen zu
Tage tretende, so mufste doch wenigstens bei Heraklit
und Demokrit eine scharf ausgeprägte Stellungnahme
zur Glückseligkeitsfrage nicht nur für den persönlichen
Bedarf, sondern in allgemeingültigem Sinne angenommen
werden. Der weinende und der lachende Philosoph bilden
auch in dieser Beziehung einen Gegensatz. Es sind zwei
charakteristische Grundtypen der Axiologie, die sich in
der nachfolgenden Entwicklung wiederholen. Dort das
freudige Bewufstsein von der dem menschlichen Bedürfnis
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6. Die Schale Demokrits in Abdera (ca. 400 bis gegen 800). 303
entgegenkommenden Güte der Welteinrichtung, hier eine
Welteinrichtung, die auf solche Ansprüche keine Rück-
sicht nimmt, und der Mensch, der aus sich selbst heraus,
aus den Bedürfhissen seiner Natur die Bedingungen seines
Wohlseins feststellt.
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Zweite Periode.
Die Übergänge zur PMlosopMe als wissen-
scliaftlieli begründeter Gttterlebre (ea. 450 bis
nach 300 vor Chr.).
Binleitungr.
Die neue Periode sondert sich scharf von der ersten,
der allgemein wissenschaftlichen Vorbereitungszeit. Das Inter-
esse wendet sich fast völlig von der Erforschung und Er-
klärung der Natur und der Welt ab und dem Menschen und
seinen Wohlseinsbedingungen zu. Als eine aufserordentlich
treffende Bezeichnung dieser bedeutsamen Wendung über-
haupt kann das Wort Ciceros (Tusc. V. 10; Acad. I. 15)
gelten, mit dem er allerdings zunächst nur auf Sokrates
abzielt. Dieser habe die Philosophie vom Himmel (d. h.
von der Betrachtung des Weltalls und der Natur) abberufen
und ihr in den Staaten ihren Platz angewiesen und sogar
in die Hausverwaltungen sie eingeführt; er habe sie ge-
nötigt, über das Leben und die Sitten, über die Güter und
Übel Untersuchungen anzustellen. Dafs mit dieser Hin-
wendung auf die menschlichen Angelegenheiten ein
Schritt in der Richtung auf die Philosophie im eigentlichen
und engeren Sinne geschieht, bedarf keines Beweises.
Um so schwieriger aber ist es, gegen die folgende
Periode, in der diese eigentliche Philosophie rein und un-
verhüllt hervortritt, eine scharfe Scheidelinie zu ziehen.
Schon innerhalb des Jahrhunderts, das wir der zweiten
Periode zugewiesen haben, treten uns Erscheinungen ent-
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Einleitung. 305
gegen, die bei weniger scharfer Betrachtung ganz und gar
die Merkmale der dritten Periode, die Beschränkung der
wesentlichen Aufgabe der Philosophie auf die Festsetzung
eines höchsten Gutes als Prinzip der Lebensführung, an sich
tragen. Gewifs liegt hier eine grofse Schwierigkeit vor, und
es mufs eingeräumt werden, dafs sich die vielgestaltige und
durch so vielerlei Umstände bestimmte Entwicklung des
Wirklichen nicht in allen Punkten restlos in das Schema
der Periodeneinteilung einzwängen läfst. Dennoch mufs die
Scheidung als vollberechtigt aufrechterhalten werden. Diese
Berechtigung kann jedoch erst durch die Darstellung im
einzelnen vollständig dargetan werden. An dieser Stelle
mufs es gentigen, auf das scharf hervortretende Streben
nach einer methodisch-wissenschaftlichen Begrün-
dung der verschiedenen Fassungen des höchsten Gutes, wo-
durch nebeneinander eine Reihe von Schulen ins Dasein
traten, als auf das Neue und Epochemachende der dritten
Periode, das diese scharf von der zweiten sondert, vor-
läufig hinzuweisen.
Innerhalb dieser zweiten Periode nun begegnet uns in
der aufserordentlichen Vielgestaltigkeit der in ihr hervor-
tretenden Erscheinungen eine neue Schwierigkeit. Es handelt
sich um die richtige innere Gliederung der Periode. Eine
Übergangsperiode mufs in ihren Übergängen einen Fort-
schritt auf das künftige Neue hin darstellen, einen Stufen-
gang der Entwicklung. Nun zeigen sich in der Tat inner-
halb dieses Zeitraums zwei einander ablösende Stufen. Die
philosophische Bewegung wendet sich zunächst noch nicht
den Bedürfnissen des isolierten Einzelmenschen, sondern der
gedeihlichen Entwicklung des Gemeinschaftslebens zu. Es
wird noch ganz überwiegend an dem Zusammenhange des
einzelnen mit der Gemeinschaft festgehalten und nur ver-
sucht, den erhöhten Anforderungen des Gemeinschaftslebens
in Haas und Staat an die geistige Ausbildung der leitenden
il&nner gerecht zu werden. Die Philosophie wird Vor-
bildung der herrschenden Klassen in der Re-
gierungskunst (Sophisten und Sokrates nebst
dessen reinen und ausschliefslichen Anhängern).
Dftriog. I. 20
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306 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Auf 4er zweiten Stufe tritt sodann das Interesse des
Einzelmenschen neben dem der Gesamtheit mehr und mehr
hervor. Es entsteht ein Nebeneinander oder Ineinander des
Interesses am Wohlsein der Gesamtheit und an der Lösung
des Glückseligkeitsproblems für den einzelnen. Ja, es werden
schon ganz im Sinne der folgenden Periode, nur noch nicht
mit der dieser eigentümlichen wissenschaftlichen Begründung,
Lehren über das höchste Gut aufgestellt, je nach der Eigen-
art der verschiedenen Denker. Die öflFentlichen Einrich-
tungen sollen sich dann diesen Bedürfnissen und Anforde-
rungen anbequemen und dienstbar machen. In diesem Sinne
werden Staatsideale aufgestellt. Teilweise schreitet die
Hervorkehrung der persönlichen Überzeugungen über das
Glück und den Wert der Lebensgüter bis zum völligen Ver-
zicht auf die Beihilfe der Gesellschaft fort So gelangt auf
dieser zweiten Stufe die Entwicklung bis hart an die Grenze
der neuen Periode. Sie gelangt bis zur Loslösung des
Individuums in der Bestimmung seiner Glückseligkeits-
bedingungen, aber noch nicht zur methodisch -wissenschaft-
lichen Begründung der letzteren (die kleineren sokra-
tischen Schulen und Plato).
Erste Stufe.
Die Sophisten und Sokrates nebst den reinen Sokratikern
(ca. 470 bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts).
A. Die Sophisten.
Um die Mitte des füjiften vorchristlichen Jahrhunderts
trat in Griechenland eine grofse Umwandlung des gesamten
geistigen Lebens ein. Die wissenschaftlichen Bestrebungen
der ersten Periode hatten sich — auch der Pythagoreismus
bildet in dieser Beziehung keine Ausnahme — ganz auf die
engen Kreise der von Natur für derartige Studien und
Interessen Veranlagten beschränkt. Die mit der Verwaltung
grofser Haushaltungen mit zahlreichem Sklavenbestande
betrauten und an der Leitung der Staaten vorzugsweise
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A. Die Sophisten. 307
beteiligten herrschenden Klassen, die Notabein oder Hono-
ratioren (kalor kagathol, wörtlich die „Schönen und Guten"),
erhielten die Ausbildung zu diesen höheren Verrichtungen
auf praktischem Wege, durch Hineinarbeitung unter der
Leitung Kundiger. Es machte in dieser Beziehung wohl
kaum einen Unterschied, ob diese Notabein, wie in den
Aristokratien, dem Geburtsadel oder, wie in den Oligarchien,
dem besitzenden Btlrgerstande angehörten, oder ob sie sich,
wie in den Demokratien, als Berufspolitiker mehr oder
weniger aus allen Klassen rekrutierten.
Jetzt nun erforderten die erhöhten Anforderungen an
die Leitung von Haus und Staat, die komplizierter und
schwieriger werdenden Zustände, für die leitenden Kreise
Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nicht durch
blofse Routine, sondern nur durch ausdrückliche Schulung
erworben werden konnten. Es entsteht zum erstenmal das
Bedürfnis der theoretischen Vorbildung für den praktischen
Lebensberuf, zunächst noch nicht im Hinblick auf eine
Mannigfaltigkeit dieser Berufe, sondern mit Bezug auf den
allen Mitgliedern der herrschenden Stände gemeinsamen
Beruf, die Leitung von Haus und Staat. Es kommt die
2ieit, wo in den Begriff des „Schönen und Guten" aufser
edler Geburt und Wohlhabenheit nebst praktischer Tüchtig-
keit, persönlicher Respektabilität , Ansehen und Einflufs
auch eine gewisse höhere Geistesbildung als unumgängliches
Merkmal aufgenommen wird (vergl. Walter, Geschichte
der Ästhetik im Altertum, Leipzig 1893, S. 121 if., und
meine Schrift „Die Lehre des Sokrates", München 1895,
S. 398 ff.).
Diesem neuen Bedürfnis nun kamen die Sophisten
entgegen, eine Gruppe von wissenschaftlich gebildeten
Männern, die sich die Befriedigung desselben zum Lebens-
berufe machten und, von Stadt zu Stadt umherziehend, teils
durch Einzelvorträge, hauptsächlich aber durch gröfsere
zusammenhängende XJnterrichtskurse vornehmlich der er-
wachsenen Jugend der herrschenden Klassen, der „Hono-
ratioren", gegen Entgelt die zur Leitung von Haus und
Staat erforderliche Geistesbildung beibrachten.
20*
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308 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Es entspricht also hier dem Bedürfnis die Befriedigung,
der Nachfrage das Angebot. Das schliefst aber nicht aus,
dafs vielfach auch umgekehrt die dargebotene Befriedigung
das Bedürfnis, das Angebot die Nachfrage erst wachgerufen
haben mag.
In dem hier bezeichneten Sinne hat das Wort „Sophist*
noch keine Spur von der verfänglichen Bedeutung, die es
erst auf Grund der späteren Ausartung dieser Berufs-
tätigkeit angenommen hat. Andemteils hat es aber auch
die ältere, ganz unbestimmte Bedeutung schon völlig ab-
gestreift, nach der es einen gelehrten Forscher oder auch
einen tüchtigen Künstler oder Techniker überhaupt ohne
jede Nebenbedeutung bezeichnete. Nach Piatos Darstellung
(Protag. 316 D ff.) hat schon Protagoras das Wort mit
vollem Bewufstsein genau in dem vorstehend umgrenzten
neuen Sinne von sich und seiner Lehrtätigkeit gebraucht.
Dort bezeichnet er als diejenige Tüchtigkeit, in der durch
das Zusammensein mit ihm seine Schüler von Tage zu Tage
Fortschritte machen, die Wohlberatenheit oder Fähigkeit zu
klugem Handeln in den eigenen Angelegenheiten, der Ver-
waltung des eigenen Hauswesens, und in den Angelegen-
heiten des Staates, dem Eingreifen in dieselben durch Tat
und Rede, und erklärt sich vollkommen einverstanden, als
Sokrates dies als einen Unterricht in der Regierungskunst
und als Ausbildung tüchtiger Bürger bezeichnet. Ganz
ebenso spricht sich Plato selbst aus (Rep. 600 C f.). Nach
dieser Stelle pflegten Protagoras, Prodikos und sehr viele
andere ihren Schülern die Überzeugung beizubringen, sie
seien, wenn nicht gerade von ihnen, dem jeweiligen Lehrer,
ausgebildet, weder ihr Hauswesen noch ihren Staat zu ver-
walten im Stande. Und Plato fügt hinzu, diese Lehrer
würden wegen der in dieser Richtung den Zöglingen bei-
gebrachten Weisheit von diesen so leidenschaftlich geliebt,
dafs die Schüler sie fast auf den Köpfen umhertrügen.
Die Sophisten sind die Begründer des höheren Unter-
richtswesens in der europäischen Welt. In ihrer Tätigkeit
liegen die ersten Keime unseres Mittelschul- und Universitäts-
wesens, damit aber zugleich auch die Anfänge der Erscheinung,
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A. Die Sophisten. 309
dafs sich der Gegensatz der Notabeln und der Massen zu
dem der Gebildeten und Ungebildeten verschärft.
Welches waren denn aber die Gegenstände dieser
Schulung? Und welche Lehrmethoden befolgten die So-
phisten? Bei der grofsen Dürftigkeit der vorhandenen
Nachrichten läfst sich über beide Punkte nicht viel sagen.
Zunächst war unzweifelhaft beides bei den verschiedenen
Sophisten verschieden. Im platonischen Protagoras (318 E)
macht dieser Sophist in bezug auf die Lehrstoffe einen
grofsen Unterschied zwischen sich und dem ebenfalls an-
wesenden Hippias, auf den er einen verächtlichen Seitenblick
wirft. Während man nämlich bei diesem mehr das Schul-
mäfsige lerne: Rechnen, Sternkunde (zur Orientierung auf
Reisen), Landvermessung, Literatur und Musik, ziele bei
ihm alles direkt auf den bereits angeführten Zweck, die
Regierungskunst. Ferner aber wechseln in den verschiedenen
Entwicklungsphasen der Sophistik die Lehrstoffe und damit
auch die Verfahrungsweisen. Es gehört daher das meiste
in die Einzeldarstellung. Doch ist z. B. ein allen gemein-
samer Zug die Ausbildung in der Redefertigkeit bis hinauf
zu einer kunstvollen Beredsamkeit, und wenigstens die
älteren Sophisten betrachteten als eine Hauptaufgabe auch
die sittliche Erziehung sowohl der künftigen Staatsmänner
selbst als auch die Entwicklung der Fähigkeit in denselben,
auch in den Massen die sittliche Gesinnung als unumgäng-
liche Bedingung eines gesunden Staatslebens zu pflegen.
Sie traten als Moral lehr er auf. Die Sophistik ist in
ihrer besseren Zeit Moral ismus, d. h. ihr ist die ethische
Tugend ebenso wie die Tüchtigkeit im allgemeinen Mittel
zum Zweck, etwas im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt
und des Gedeihens aller durch das Gedeihen der Allgemein-
heit, durch richtige Leitung Kotwendiges. Dies ist ein
charakteristisches Anzeichen dafür, dafs wir uns in einer
Periode der Aufklärung befinden. Die über die engen
Grenzen des eigenen Staatsgebiets hinausblickende Auf-
klärung hat die Erkenntnis gezeitigt, dafs die im einzelnen
Staate geltenden Staatseinrichtungen , Gesetze , Sitten,
Religionsvorstellungen und Religionsbräuche nicht, wie der
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310 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
naive Sinn der Altvordern annahm, ewige, unverbrüchliche
Natur Ordnungen sind, die nicht anders gedacht werden
können, sondern mehr oder minder willkürliche Satzungen,
gewordene, herkömmliche Einrichtungen und Vorstellungs-
weisen, bei denen man nach dem Rechts- und Vemunftgrunde
zu fragen berechtigt ist. Es gibt für sie keinen Punkt in
den herkömmlichen Gesellschaftsordnungen und Glaubens-
vorstellungen, der auf Geltung Anspruch machen könnte,
ehe er die Prüfung der Vernunft passiert hat. Insbesondere
kann für die Anerkennung der sittlichen Verpflichtung nicht
mehr auf das blofse Herkommen und den religiösen Glauben
als Stütze gerechnet werden. Mau mufs sich nach neuen,
rein aus der menschlichen Natur selbst entlehnten Stützen
des Sittlichen umsehen. So bildet ein hervorragendes Stück
der älteren sophistischen Erziehung eine neue, rein mensch-
liche Moralbegründung. Endlich schliefsen sich einesteils
an die Erziehung zur Regierungskunst, andernteils aber
auch an das Vorherrschen dieses rationalistischen, auf-
klärerischen Geistes Betrachtungen über Wesen und Zweck
des Staates an. Man fragt, wie der wahre Staat beschaffen
sein müsse; man fragt nach dem „besten Staate**.
Die Sophisten führten aber ferner die bis dahin uner-
hörte Neuerung ein, dafs sie sich für ihren Unterricht be-
zahlen liefsen. Er war dies eine natürliche Konsequenz des
Umstandes, dafs sie von Ort zu Ort zogen und die Lehr-
tätigkeit zum ausschliefslichen Lebensberuf machten. Über
das nach den älteren Begriffen Schimpfliche und Ent-
würdigende dieser Honorarforderung wird an späterer Stelle
noch zu reden sein. Dafs darin, auch abgesehen von diesem
Gesichtspunkte, ein Keim der Entartung liegt, ist leicht er-
sichtlich. Durch das Erwerbsinteresse wird der Produzent
fast immer abhängig von der Geschmacksrichtung oder Auf-
nahmefähigkeit des Abnehmers, sei dies nun der Staat oder
die Gemeinde oder der einzelne.
Es ist schon angedeutet worden, dafs die Sophistik
mehrere Entwicklungsphasen durchlaufen hat. Genauer sind
dies zwei Phasen, eine ältere, würdigere, in der das Inter-
esse des einzelnen noch als mit dem Gedeihen des Ganzen
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A. I. 1. Protagoras. 311
Hand in Hand gehend betrachtet wird, in der die Hingabe
an das Wohl des Ganzen noch als Pflicht und zugleich als
die beste Klugheit betrachtet wird, in der daher auch die
Moralbegründung als die wichtigste Aufgabe erscheint, und
eine jüngere, eine Phase der Entartung, in der für die
übermächtige, gewalttätige Selbstsucht des einzelnen der
Staat nur noch als Ausbeutungsobjekt erscheint, in der daher
die sittliche Erziehung als überflüssig in Wegfall kommt
und die Redekunst als wichtigstes Machtmittel, als das
wirksame Hilfsmittel, um die blinden Massen zu betören
und nach dem eigenen Vorteil zu leiten, ausschliefslich
Pflege findet.
Der Zeitpunkt, in dem diese Wendung zum Schlechteren
mit Entschiedenheit einsetzt, fftllt ziemlich genau mit dem
Jahre 427 zusammen, in dem Gorgias von Leontini
in Sizilien in Athen erschien und seine Tätigkeit als Wander-
lehrer im eigentlichen Griechenland begann. Es sind also
zunächst zu betrachten die älteren Sophisten und so-
dann die Ausartung der Sophistik seit 427. Selbst-
verständlich scheiden sich diese beiden Phasen nicht in der
VF eise, dafs nicht die ältere zugleich in die jüngere hin-
überreichte und auch die jüngere in der älteren ihre Vor-
bereitung fände.
I. Die altere Sophistik.
1. I^otafiroras.
Protagoras war geboren zu Abdera um 480. Er
war also ein um etwa 20 Jahre älterer Landsmann des
Demokrit. Er soll in jüngeren Jahren Lastträger ge-
wesen sein und als solcher ein beim Tragen von Lasten
unterzulegendes Polster erfunden haben (Z. 1053, 3). Über
seinen Bildungsgang sind sichere Nachrichten nicht vor-
handen, doch ergibt sich, wie nachher zu zeigen, aus der
Beschaffenheit seiner Lehre ganz unzweifelhaft, dafs er
durchaus nicht Zögling einer etwa in Abdera bestehenden
Schule des Leukipp gewesen sein kann, dafs er vielmehr
seine wissenschaftlichen Anregungen aus der Schule des
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312 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Heraklit empfangen haben mufs. Ob dies in Ephesus
geschehen oder in seiner Vaterstadt durch persönliche Ein-
wirkung eines Herakliteers oder auch durch blofses Studium
von Schriften, was ja alles möglich wäre, läfst sich nicht
ausmachen.
Von seinem dreifsigsten Jahre an durchzog er vierzig
Jahre lang die griechischen Städte als Wanderlehrer mit
grofsem Erfolge, auch hinsichtlich des materiellen Ertrages
seiner Lehrtätigkeit (Plato Menon 91 D f. ; D. L. IX. 52).
Nach ersterer Stelle hätte ihm seine Kunst mehr eingetragen
als Phidias und zehn anderen Bildhauern die ihrige; nach
der zweiten soll er für einen Lehrkursus 7500 Mk., also
nach dem heutigen Geldwerte ein bedeutend Mehrfaches
dieser Summe, ein kleines Vermögen, gefordert haben. Doch
ist diese Angabe jedenfalls ungeheuer übertrieben (Z. 1083, 2).
Auf eine solide Geschäftsgebarung weist es hin, dafs er
Zahlung des geforderten Honorars erst nach Vollendung des
Kursus verlangte und es dabei der gewissenhaften Erwägung
der Schüler anheimstellte, ob sie den Wert des empfangenen
Unterrichts nicht etwa unter der geforderten Summe ein-
schätzten (Plato Prot. 328 B; Arist. Eth. N. 1164, 24). Wie
er anscheinend der erste Wanderlehrer war, so soll er auch
zuerst Honorar gefordert haben (D. L. IX. 52). Dieses Ver-
fahren wurde von Sokrates (Mem. L 6, 13) und Plato als
schimpflich gebrandmarkt. Nach der älteren Vorstellungs-
weise sollte der einzige Lohn des Ausbildenden in der
lebenslangen, treuen Anhänglichkeit und Hingabe des
Schülers bestehen. Doch scheint diese Hingabe in der
älteren Zeit oft in einer körperlichen Preisgebung bestanden
zu haben, die weit schimpflicher war als die Zahlung in
Geld.
Eine blofse Schnurre ist die Erzählung von dem „Prozefs
um das Honorar", die sogar in einer dem Protagoras unter-
geschobenen Schrift behandelt worden ist. Einer seiner
Schüler hatte ausbedungen, dafs das Honorar fällig sein
sollte, wenn er seinen ersten Prozefs gewonnen haben würde.
Er liefs sich nun von Protagoras auf Zahlung des Honorars
verklagen und bewies im Prozesse, dafs er in keinem Falle
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A. I. 1. Protagoras. 313
zur Zahlung verpflichtet sei. Werde er zur Zahlung ver-
urteilt, so habe er den Prozefs verloren; werde er frei-
gesprochen, so sei er kraft des Richterspruches nicht ver-
pflichtet. Protagoras dagegen beweist, dafs er in jedem
Falle zahlen müsse. Wenn verurteilt, kraft des Richter-
spruches, wenn freigesprochen, wegen des gewonnenen Pro-
zesses (D. L. IX. 55 f.).
Protagoras hat sich auf seinen Wanderungen, die sich
auch auf Unteritalien, Sizilien und wohl auch auf das
griechische Kyrene in Afrika ausdehnten (Z. 1052), min-
destens dreimal auch in Athen aufgehalten. Der zweite
Aufenthalt dort fällt in die dreifsiger Jahre, kurz vor Aus-
bruch des Peloponnesischen Krieges (Z. 1052, 4); der letzte,
um 411 , wurde für ihn verhängnisvoll. Doch davon erst
nach Darstellung seiner Lehre.
Bei dem zweiten dieser Besuche fand er noch von Seiten
des Perikles Beachtung (Plut. Perikl. 36); beim dritten mufs
der damals etwa 16jährige Plato (geb. 427) ihn noch
persönlich und in seiner Lehrtätigkeit kennen gelernt haben.
Plato hat noch mehr als 12 Jahre nach seinem Tode vor-
nehmlich in dreien seiner Schriften, die sämtlich dem ersten
Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts angehören, dem Protagoras,
dem Theätet und dem Menon, Urteile über ihn abgegeben,
und in den beiden erstgenannten derselben sich eingehend
mit seiner Lehre auseinandergesetzt. In seiner Staatslehre
scheint er sogar, wie wir sehen werden, direkt von ihm
beeinflufst zu sein. Plato ist daher, da die Schriften des
Protagoras bis auf wenige Sätze für uns verloren sind, der
wichtigste Zeuge für dessen Lehre. An dieser Stelle ist
zunächst nur zu betonen, dafs er ihn in sämtlichen drei
Schriften überwiegend als bedeutende und achtungswerte
Persönlichkeit behandelt, auch trotz des Honoramehmens.
Im Protagoras wird sein würdevolles Auftreten und sein
gesteigertes Selbstgefühl mit einer gewissen Ironie behandelt ;
dennoch aber kommt seine geistige Bedeutung durchaus zur
Geltung. Im Theätet wird er gegen eine einseitige und
unbillige Kritik nachdrücklich in Schutz genommen, und
im Menon (91) stammt das Urteil, er habe 40 Jahre hindurch,
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314 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
ohne dafs man es gemerkt habe, seine Schüler verderbter
entlassen, als er sie empfangen habe, von einem abgesagten
Feinde dieser ganzen neuen Bildungsweise und Anhänger
der altväterlichen Weise, dem Hauptankläger auch des
Sokrates, Anytos her, während das dem Sokrates in den
Mund gelegte Urteil über seine Lehrweise viel freundlicher
lautet.
In seiner Lehrtätigkeit verwirklichte Protagoras,
soweit uns bekannt ist, am vollkommensten das Bild der
älteren Sophistik, wie sie vorstehend dargestellt worden ist.
Seine Lehre ist nicht ein allumfassendes System, sondern
nur die Summe der bei seiner praktischen Lehrtätigkeit zur
Anwendung gelangenden und für dieselbe mafsgebenden
Überzeugungen. Seine Schriften, soweit wir von deren Inhalt
sichere Kunde haben, werden im Zusammenhange seiner
Lehre zur Erwähnung kommen. Ein vorhandenes Verzeichnis
derselben (D. L. IX. 55) ist unvollständig und hinsichtlich
der Echtheit des Aufgeführten unsicher.
Zunächst handelt es sich um seine Erkenntnis-
theorie. Hier ist nun gerade bei Protagoras mit be-
sonderer Vorliebe ein geradezu inquisitorisches Verfahren
angewandt worden, um aus den vorhandenen Nachrichten
über seine Lehre die vermeintliche Grundverderbnis der
Sophistik von Anfang an herauszuverhören und auf Grund
des so ermittelten Tatbestandes das vernichtende Urteil der
Gesinnungslosigkeit zu fällen.
Nun ist uns seine Erkenntnistheorie, ebenso wie auch
seine ethischen Lehren, nur aus dem Munde seiner Bestreitet
und Kritiker bekannt. Plato will sie (im Theätet) in allen
Punkten widerlegen; Aristoteles und Sextus Empi-
rie u s berücksichtigen sie ebenfalls nur, um in verschiedener
Richtung Ausstellungen an ihr zu machen. Glücklicherweise
haben jedoch diese Kritiker so viel Tatsächliches über diesen
Teil seiner Lehre beigebracht, dafs es möglich ist, die
Grundzüge desselben mit Sicherheit zu rekonstruieren.
Protagoras hatte seine philosophischen Anregungen von
der Schule Heraklits empfangen. Mit dieser nahm er das
beständige Fliefsen alles Seienden und das gleichzeitige
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A. I. 1. Protagoras. 315
Vorhandensein des Entgegengesetzten an den Dingen an»
Der damus abgeleiteten Leugnung der Möglichkeit alles
Erkennens aber stellt er eine neue Theorie entgegen. Die
Schrift, in der dies geschah, wird unter verschiedenen Be-
zeichnungen aufgeführt. Nach Plato (The&t. 162 A und
öfter; Erat. 386 C) scheint sie unter dem Titel „Die Wahr-,
heit*' bekannt gewesen zu sein ; anderwärts (S. Emp. Dogm.
I. 60) wird sie unter dem Titel „Die niederwerfenden Be-
weise" und bei D. L. (IX. 55), wie es scheint, unter dem
Titel „Widerreden" angeführt. Man möchte vermuten, dafs
der gemeinsame Sinn aller dieser Benennungen der Ein-
spruch gegen die Aufhebung der Erkenntnis bei den Hera-
kliteem ist, also keineswegs auf eine „frivole „Sophistik"
hindeutet, vielmehr auf das Bestreben , einen festen Boden
der Erkenntnis zu gewinnen.
Nun lautete aber nach der zweiten der vorstehenden
Stellen der erste Satz dieser Schrift: „Aller Dinge
Mafs ist der Mensch, der seienden, dafs sie
sind, der nicht seienden, dafs sie nicht sind."
Und in engster Verbindung mit diesem ersten Satze er-
scheint in mehreren Berichten stets ein zweiter: „Wie die
Dinge mir erscheinen, so sind sie mir; wie sie
dir erscheinen, so sind sie dir" (PI. Theät. 152A;
Erat 385 E ff.; auch Arist. 1062b, 13 u. S. Emp. Hyp. L
216 ff.; Dogm. I. 60). Da haben wir ja, so lautet die
gewöhnliche Rede, den echten „Sophisten"; was bedürfen
wir weiter Zeugnis? Alle Wahrheit löst sich in das Belieben
der einzelnen auf. Dasselbe scheint der ihm ebenfalls zu-
geschriebene Satz: „Alles ist wahr" (D. L. IX. 51) in
kürzester Formulierung auszudrücken. Auch der Satz, dafs
zwei über denselben Gegenstand Entgegengesetztes Aus-
sagende einander nicht widersprechen, scheint ihm anzu-
gehören. Daher denn auch Aristoteles den gegen Hera-
klit erhobenen Einwand , er hebe das Widerspruchsgesetz
auf, auch auf Protagoras ausdehnt (1009, 5). Aber ganz
das Entgegengesetzte ist seine Meinung. Alle diese Sätze
bilden nur die Einleitung zu dem Versuch, die Sinnes-
wahrnehmung gegen die von den Herakliteern erhobenen
, Digitized by VjOOQIC
316 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Einwände zu verteidigen und sie dabei mit ihren eigenen
Wa£fen zu schlagen. Er stellt sich mit ihnen auf denselben
Boden, um von da aus über sie hinauszukommen. Nach
den Herakliteem kann es, weil es kein beharrendes Sein
gibt, auch keine Erkenntnis eines Seienden geben. Beweis
dessen ist die Erfahrung, dafs den Verschiedenen die Dinge
verschieden erscheinen, dem Erwachsenen anders als dem
Kinde, dem Kranken oder Wahnsinnigen anders als dem
Gesunden, dem Schlafenden anders als dem Wachenden, dem
Menschen anders als dem Tiere u. s. w.
Diese Theorie übernimmt nun zunächst Protagoras voll-
ständig. Das von irgend jemand Wahrgenommene mufs
existieren. Es gibt keine Wirkung ohne Ursache. Jeder
Sinnesvorstellung entspricht etwas in den Dingen wirklich
Vorhandenes (S. Emp. Dogm. L 388). Dies ist denn auch
der Sinn seiner beiden ersten Sätze. Der erste besagt, dafs
der Mensch, d. h. nicht der Mensch im allgemeinen oder
seiner Idee nach gefafst, sondern der einzelne, jeder
Mensch, er mag beschaffen sein, wie er will (Theät. 152 A,
160 C, 183 B), in seinen Sinnesvorstellungen Zeugnis von der
Existenz des Vorgestellten ablegt. Diese Behauptung
wird dann im zweiten Satze dahin erweitert, dafs auch die
das Wie, die besondere Beschaffenheit der Dinge be-
treffenden Sinnesvorstellungen des einzelnen ihre Ursache
und ihren Berechtigungsgrurid in der Wirklichkeit der Dinge
haben.
Dafs sich nämlich die beiden Sätze in erster Linie auf
die Sinneswahrnehmung beziehen, deutet schon Plato
(Theät. 152 A, 160 D) an, indem er dieselben mit der Be-
hauptung für einerlei erklärt, dafs die Erkenntnis in der
Wahrnehmung bestehe. Und ebenso Aristoteles, wenn er
sagt, der Grund der Behauptung, das Widersprechende sei
wahr, liege in der Ansicht; nur das Sinnenfällige sei ein
Seiendes (1010, 1 ; vergl. 1062 b, 12 ff.). Bei S e x t u s E m p i -
ricus (Dogm. I. 369, 388) wird seine Lehre dahin for-
muliert, jede Sinnes Wahrnehmung sei wahr, und auch
der Kirchenschriftsteller Hermias in seiner „Verspottung
der heidnischen Philosophen" hat diesen Sinn der S&tze
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A. L 1. Protagoras. 317
richtig erfafst, wenn er Protagoras folgende Lehre beilegt:
Norm und Entscheidungsgrund für das Tatsächliche ist
der Mensch, und das unter die Sinneswah rnehmungen
Fallende ist tatsächlich ; das nicht darunter Fallende gehört
nicht zu den Arten des Seienden (D. 653). Eben weil die
Dinge fliefsen, wie er mit den Herakliteem lehrt (S. Emp.
Hyp. I. 217, 219), sind in ihnen die mannigfaltigsten und
entgegengesetztesten Eigenschaften tatsächlich und gleich-
zeitig vertreten. Die Entstehungsursachen aller Sinnes-
eindrücke liegen im Stoffe vor; der Stoflf ist nach seiner
wirkliehen Beschaffenheit alles das, als was er den Ver-
schiedenen erscheint (S. Emp. Hyp. I. 218). Der Kranke
ist wegen seiner Meinung, der Wein sei bitter, nicht für
unwissend zu erklären. Von Nichtseiendem aus kann kein
Vorstellen entstehen (Theät. 166 E).
Nun aber folgt die Wendung, vermöge deren Protagoras
von dieser Grundlage aus nun doch wieder eine normale
und allgemeingültige Sinneswahrnehmung zu gewinnen sucht.
Der Grund, weshalb die Verschiedenen Verschiedenes an den
Dingen wahrnehmen, liegt zwar einesteils in den an den
Dingen gleichzeitig vorhandenen entgegengesetzten Eigen-
schaften, andernteils aber auch in der Verschiedenheit in
den Zuständen und der Empfänglichkeit der Sinnesorgane.
Diese ist eine andere beim Menschen als beim Tiere, beim
Kranken und Wahnsinnigen als beim Gesunden, beim Er-
wachsenen als beim Kinde oder dem kindischen Greise, beim
Wachenden als beim Schlafenden (S. Emp. Dogm. I. 61;
Hyp. I. 217; Theät. 153 E). Hier ist nun der Punkt, wo
Protagoras den Hebel ansetzt. Unter den verschiedenen auf
diese Weise zu stände kommenden Auffassungsweisen ist
eine die dem normalen, naturgemäfsen Zustande
entsprechende; die anderen sind abnorm und naturwidrig
(Hyp. I. 218). Nicht als ob man z. B. der Auffassung des
Kranken als einer falschen die wahre entgegenstellen dürfe.
Da vom Nichtseienden aus keine Vorstellungen entstehen
können, so sind auch die des Kranken wahr (d. h. von den
Gegenständen stammend). Nur sind seine Organe abnorm,
80 dafs er die weniger gute (nicht die weniger wahre) Vor-
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318 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Stellung bildet. Es ist Sache des Arztes, seinen Körper
so zu behandeln, dafs derselbe in den besseren (normalen)
Zustand übergeführt wird und demgemäfs auch die besseren
(normalen) Eindrücke von den Dingen erh< (Theät.
166 D fr.).
Diese Theorie von der Sinneswahrnehmung ist durch-
aus folgerichtig aus der heraklitischen Voraussetzung ent-
wickelt. Sie steht und fällt mit der metaphysischen Theorie,
aus der sie abgeleitet ist. Freilich gelingt ihr die Über-
windung der heraklitischen Skepsis nur unzureichend. Nur
die gröfsere Zahl der Urteilenden ergibt hier das Normale.
Angenommen, sagt Aristoteles (1009b, 2), alle wären
krank oder verrückt und nur zwei oder drei gesund oder
bei Verstände, so würden diese letzteren als die Kranken
oder Verrückten gelten. Es entsteht daher hier die Frage:
Bei wem liegt die Entscheidung, auf welcher Seite die
normale Vorstellungsweise stattfindet? Wer entscheidet über
den Gesunden? (1011, 8).
Protagoras hat nun ferner diese Theorie unberechtigter-
weise auch auf die nicht direkt aus den Sinnen stammen-
den, sondern der Seele angehörigen Meinungen der
Menschen ausgedehnt (Theät. 158 D; 166 D IBF.; 171 A; 172 A;
S. Emp. Dogm. I. 60). Die Beurteiler erschweren hier
das Verständnis, weil sie beide Gebiete, das der Sinne und
das seelische, nicht auseinanderhalten. Es handelt sich z. B.
um Meinungen über das sittlich Gute oder Verwerfliche.
Auch hier wendet er ganz dieselbe Betrachtungsweise an
wie bei den Sinnen. Keine Meinung ist unbedingt verkehrt ;
jede mufs in irgend etwas Tatsächlichem ihren Grund haben.
Dennoch gibt es auch hier den Unterschied des Normalen
und des Nichtnormalen. Wie dort der kranke Körper, so
ist hier die im abnormen Zustande befindliche Seele die
Ursache der weniger billigenswerten Auffassung. Und wie
dort der Arzt den Körper bessern mufs, so mufs hier die
Seele in den normalen Zustand übergeführt werden. Die
kranke Seele fafst wegen ihres verkehrten Zustandes alles
so verkehrt auf, wie sie selbst ist. Derjenige nun, der hier
dem Arzte entspricht, ist einesteils der Erzieher, vor-
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A. I. 1. Protagoras. 319
nehmlich aber der Sophist (Theät. 166 D; ProtÄg. 322 B),
und was dort die Arzneien bewirken sollten, das bewirkt
hier die Belehrung (Theät. 166DJBF.).
Ja, er geht in dieser Analogie noch einen Schritt weiter.
Er überträgt sie auf ganze Staatsgemeinschaften.
Auch hier gibt es verschiedene Meinungen über das Gute
und Gerechte, die in den Gesetzen und Staatseinrichtungen
ihren Ausdruck gefunden haben. Auch diese haben sämt-
lich ihre Richtigkeit für diejenigen, die sie für richtig halten,
und solange dies der Fall ist. Aber auch hier gibt es ein
Besseres, ein Normales. Und auch hier gibt es solche, die
es verstehen, die kranken Seelenzustände einer solchen
Gesamtheit, auf denen die minder guten Einrichtungen be-
ruhen, in den normalen Zustand überzuführen. Das sind
„die weisen und guten Redner" (Theät. 167 C; 172 A;
177CflF.).
Diese Erweiterung der ursprünglichen Theorie auf
Meinungen jeder Art und selbst auf Staatseinrichtungen
hat ja nun freilich noch weit weniger Grund als die
ursprüngliche Theorie selbst Es liegt aber doch auch kein
Grund vor, sie für den Ausflufs einer frivolen Gesinnungs-
losigkeit zu halten. Der von Staat zu Staat Wandernde
wird offenbar von seiner heraklitischen Sinnestheorie aus
unter dem Einflüsse einer klugen Anpassungsfähigkeit oder,
wenn man will, unter dem einer berechtigten Milde, eines
abgeklärten, welterfahrenen Geistes auf diese erweiternde
Übertragung geführt. Auch hier gibt es ja überall ein
Berechtigteres und Besseres; nur soll dasselbe nicht durch
schroffe Verurteilung der vorhandenen Ansichten und auf
dem staatlichen Gebiete durch jähen Umsturz, sondern auf
beiden Gebieten durch ruhige Umbildung verbessert werden.
Dieser Erkenntnistheorie des Protagoras ist schon sein
jüngerer Landsmann Demokrit in einer eigenen Schrift
entgegengetreten. Über diese Schrift ist nur bekannt, dafs
er darin sowohl die heraklitische Voraussetzung des gleich-
zeitigen Vorhandenseins entgegengesetzter Eigenschaften in
den Dingen, als auch die daraus abgeleitete Folgerung des
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320 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Protagoras, alle Sinneseindrücke seien wahr, bestritten hat
(Plut. Kolot. 4; S. Emp. Dogm. I. 389; D. L. IX. 42). Er
scheint also vornehmlich die Theorie von der Sinneserkenntnis
ins Auge gefafst zu haben, die natürlich zu seinen eigenen
metaphysischen Voraussetzungen und den daraus gezogenen
Folgerungen in bezug auf den Wert der Sinneswahmehmungen
im vollsten Gegensatze stand.
Nun werden aber noch einige andere Aussprüche von
ihm angeführt, die doch wieder Grund zu geben scheinen,
ihn als frivolen „Sophisten" zu brandmarken. Nach D. L.
(IX. 51) hat er gesagt, es gebe für jeden Gegenstand zwei
entgegengesetzte Betrachtungsweisen, und nach Aristoteles
(Rhet. 1402 , 23 ; andere Erwähnungen dieses Satzes bei
Z. 1140, 1) wurde er hart getadelt, weil er der Redekunst
die Aufgabe zuweise, die schwächere Betrachtungsweise zur
stärkeren zu machen. Bei dem ersten dieser beiden Sätze
wissen wir nicht, in welchem Zusammenhange er vorgekommen
ist. Doch scheint er nach dem Vorstehenden nicht zu seiner
Erkenntnislehre gehört zu haben. Nach dieser gibt es keines-
wegs über jeden Gegenstand gerade zwei einander wider-
sprechende Betrachtungsweisen, sondern die Gegenstände
selbst sind von vielfacher Beschaffenheit, und je nach dem
Zustande des Wahrnehmenden wird die eine oder die andere
dieser Beschaffenheiten wahrgenommen, die dabei durchaus
nicht gerade einen Gegensatz zu bilden brauchen. Der
Gegensatz der Betrachtungsweisen kann nur entstehen aus
dem Gegensatz der Interessen , die sich an den Gegenstand
knüpfen. Es scheint sich also bei diesem Ausspruch um
Rechtsstreitigkeiten oder Ähnliches zu handeln. Der Satz
gehört wahrscheinlich in den Zusammenhang einer Be-
lehrung über die rechtliche und rednerische Wahrnehmung
und Vertretung der eigenen Interessen und hat in diesem
Zusammenhange nichts Verfängliches oder Anstöfsiges. OflFen-
kundig bezieht sich auf das Gebiet der praktischen Inter-
essen und der Redekunst der zweite Satz. Und da zeigt
sich denn allerdings, wenn Protagoras seine Geltung nicht
eingeschränkt hat, ein starkes Zugeständnis an das durch
sittliche Bedenken nicht behinderte Advokatentum im
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A. I. 1. Protagoras. 321
schlechten Sinne des Wortes und ein Anklang an die spätere
Ausartung der Sophistik.
Die erkenntnistheoretischen Sätze führen schon auf die
eigentliche Lehrtätigkeit des Protagoras hinüber. Eine
vollständige Übersicht dessen, was er für den oben ange-
gebenen Bildungszweck für erforderlich hielt, ist nicht über-
liefert. Dafs er auch für die körperliche Ausbildung Rat-
schläge und Anregungen gab, könnte daraus geschlossen
werden, dafs als Gegenstand einer seiner Schriften die
Ringkunst angeführt wird (Plato Soph. 232 E; D. L. IX. 55).
Einen Einblick in seine Verfahrungsweise überhaupt
gewinnen wir durch Piatos Protagoras. Plato hatte, wie
schon bemerkt, bei der letzten Anwesenheit des Sophisten
in Athen (um 411) die ganze Art desselben persönlich
beobachten können. Sein spätestens wohl im Alter von
30 Jahren geschriebener Protagoras gibt unzweifelhaft diese
Jugendeindrücke in aufserordentlich lebensfrischer Weise
wieder. Wie hier Protagoras das Ziel seines Unterrichts
auf die Fragen des Sokrates im allgemeinen bestimmt, ist
schon oben angegeben worden. Sokrates bezweifelt nun, dafs
die Regierungskunst lehrbar sei. Unvermerkt geht aber
dieser Begriff im Verlaufe der Erörterung in den der sitt-
lichen Tüchtigkeit über, und die Diskussion spitzt sich auf
die Frage zu, ob die Tugend lehrbar sei (320 B). Es mufs
also auch wohl für Protagoras diese als ein wesentliches
Hauptstück der Regierungskunst gegolten haben.
Den Beweis nun, dafs die Tugend lehrbar sei, führt
Protagoras durch den Vortrag einer Art von ausgeführter
Fabel (320 C flf.). Nachdem die Tiere gebildet worden waren,
wurden sie mit den zu ihrer Erhaltung notwendigen Organen,
Kräften und Fähigkeiten ausgestattet. Der schwache, hilf-
lose Mensch erhielt zu demselben Zwecke von Prometheus
den Kunstverstand und das Feuer. Diese Gaben boten ihm
nun zwar zu seiner Ernährung hinreichende Hilfe, zum
Kampf gegen die Tiere aber waren sie unzulänglich, da die
Menschen vereinzelt lebten. Die Versuche, sich zu Staaten
zusammenzuschliefsen, schlugen fehl, weil sie in Ermangelung
der staatsbildenden Einsicht (oder Kunst, 321 D, 322 B) sich
DArUg. 1. 21
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322 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
gegenseitig unrecht taten. Da liefs ihnen Zeus durch
Hermes die Scham (d. h. wohl einesteils das Ehrbedürfnis
als die Scheu vor dem Urteile der anderen und andemteils
das Ehrgefühl als die Scheu vor dem eigenen besseren
Selbst) und das Rechtsgefühl einpflanzen, und zwar nicht
in der Weise der Kunstanlagen, die zu gegenseitiger Aus*
hilfe durch Teilung der Arbeit an Verschiedene verschieden
ausgeteilt waren, sondern so, dafs alle daran Anteil haben
sollten. Denn ohne das könnten keine Staaten bestehen,
und wer an ihnen keinen Anteil habe, müsse als ein
Krankheitsstoflf der Staatsgemeinschaft getötet werden. Die
staatsbildende Tugend wird dann auch noch mit den Namen
Gerechtigkeit und Besonnenheit (Sophrosyne) bezeichnet
(323 A).
Diese Naturgrundlage aber genügt noch nicht; sie mufs
erst durch Sorgfalt, Übung und Unterricht ausgebildet
werden. Dafs dies möglich ist, beweisen schon der Tadel
und die Strafe, wovon nach allgemeinem Brauche nicht die
mit unentrinnbaren Naturmängeln Behafteten, wohl aber die
der bürgerlichen Tugend Ermangelnden betroffen werden.
Die Strafe ist ein Mittel der Abschreckung und Erziehung«
Den vollen Beweis für die Ausbildungsmöglichkeit der sitt-
lichen Anlagen aber glaubt Protagoras dadurch zu erbringen,
dafs er auf die vom zartesten Alter an im Gange befindliche
Gewöhnung zum Rechten und Belehrung über Recht und
Unrecht hinweist, wobei auch Drohungen und Schläge nicht
gespart werden. In der Schule setzt sich dann diese Ge-
wöhnung fort durch Aneignung von Sittensprüchen der
Dichter und Hinweis auf rühmliche Vorbilder edler Taten.
Auch die Leibesübungen dienen diesem Zwecke, indem sie
den Körper geschickt machen, der richtig gestimmten Seele
als gefügiges Werkzeug zu dienen. Und nach der Schule
nimmt der Staat den Jüngling direkt in Zucht Er mufs
sich mit den Gesetzen bekannt machen und gewöhnen, ihnen
nachzuleben. Auch hier tritt die Strafe als ergänzendes
Hilfsmittel der Gewöhnung ein.
Protagoras drückt seine Gesamtmeinung auch so aus:
„Jedem von uns nützt die Gerechtigkeit und Tugend der
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A. I. 1. Protagoras. 323
anderen; deshalb lehrt jeder so gern den anderen das
Gerechte und Gesetzmäfsige** (327 B). Und selbst die nach
unseren Begriffen Allerungerechtesten, die innerhalb eines
geordneten Gemeinwesens die gewöhnende Macht der Er-
ziehung und Gerechtigkeitspfiege erfahren haben, stehen
turmhoch über dem solcher Einflüsse völlig entbehrenden
Wilden. Allerdings gibt es ganz besonders befähigte und
wirksame Bildner zur Tugend, und unter diesen glaubt
Protagoras selbst in allererster Reihe zu stehen.
In dieser Ausführung, die wir allen Grund haben für
der wirklichen Meinung des Protagoras entsprechend zu
halten, sind vornehmlich drei Punkte bemerkenswert.
1. Als das Haupterfordemis für das Gedeihen des
menschlichen Gemeinschaftslebens, also als die Hauptaufgabe
der „Regierungskunst" in Haus und Staat erscheint ihm
die möglichst weitgehende Ausbildung der sittlichen Ge-
sinnung bei allen, vornehmlich bei den leitenden Peraönlich-
keiten. Er hat unzweifelhaft auch andere für den Regie-
renden unumgängliche Gegenstände gelehrt. So hält er es
(Protag. 338 E f.) für ein sehr wichtiges Stück der Bildung,
Dichteraussprüche richtig erklären und nach ihrem Wahr-
heitsgehalt beurteilen zu können. So hat er gewifs die
Redekunst gelehrt und ist in diesem Zusammenhang dazu
gekommen, einige Grundbegriffe der damals noch gar nicht
existierenden Grammatik festzustellen, wie die vier Arten
des einfachen Satzes: Aussage, Frage, Wunsch, Befehl
(D. L. IX. 53 f.), und über den richtigen, sinngemäfsen Ge-
brauch der Wörter Bestimmungen zu treffen (PL Phädr.
267 C). Er ist auch selbst ein Meister und Vorbild der
Redegewandtheit. Denn er versteht nicht nur in zusammen-
hängendem Vertrage seine Gedanken zu entwickeln, sondern
ist auch gewandt, in knapper Kürze zu fragen und zu ant-
worten (Protag. 329 A B). Nach seinem eigenen Zeugnis aber
ist er vornehmlich und an allererster Stelle Moralist,
d. h. er strebt vor allem nach möglichster Beförderung der
Moralität als der unumgänglichsten Vorbedingung für ein
gedeihliches, geordnetes und glückliches Gemeinschaftsleben
der Menseben. Wenn er, wie nach den vorhandenen Nach-
21*
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324 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
richten (D. L. IX. 55; III. 52, 57) nicht zu bezweifeln,
auch eine Schrift über den Staat verfafst und darin das
Bild eines möglichst vollkommenen Staatswesens entworfen
hat, so mufs auch darin die Pflege der Sittlichkeit, besonders
bei den herrschenden Klassen, stark in den Vordergrund
getreten sein.
2. Als Hilfsmittel zur Beförderung des Sittlichen läfst
er die Religion als Furcht vor der strafenden Gewalt der
Götter im Diesseits und Jenseits völlig beiseite, sucht viel-
mehr die Begründung des Sittlichen ganz auf menschlich-
natürlichem Boden. Er ist nicht religiöser, sondern mensch-
lich-natürlicher (anthropologischer) Moralist.
Den ersten Punkt anlangend, so beobachtet in dieser
Beziehung seine vorstehende Ausführung ein beredtes, viel-
sagendes Schweigen. Mit keinem Worte wird auf die Gott-
heit als den Hort des Rechts hingewiesen, kein religiöser
Gedanke als Stütze des Sittlichen angerufen. Eine be-
merkenswerte Ergänzung zu diesem Stillschweigen bietet
die Nachricht, dafs er ein Buch „Über die Götter" verfafst
hatte, das mit den Worten anfing: „Über die Götter bin
ich nicht im stände zu wissen, ob sie sind oder nicht sind.
Denn vielerlei verhindert dies Wissen, die Unerkennbarkeit
des Gegenstandes und die Kürze des menschlichen Lebens.^
Hier haben wir also in der Tat eine beim Nichtwissen
stehenbleibende Skepsis, in voller Übereinstimmung mit
seiner ausschliefslich auf der Wahrnehmung und Erfahrung
beruhenden Erkenntnislehre. Was jenseits aller Erfahrung
liegt, kann nicht Gegenstand der Erkenntnis werden. Wir
hören ferner, dafs er bei seiner letzten Anwesenheit in
Athen (um 411), also eben zu der Zeit, als der junge Plato
von seiner Person und Lehre Kenntnis genommen haben
wird, dies Buch in einem engeren Kreise von Gebildeteren
vorlesen liefs, und dafs diese Vorlesung zu jener Anklage
führte, die, wie wir sehen werden, die indirekte Ursache
seines Todes wurde (D. L. IX. 51 f., 54; S. Emp. Dogm.
III. 55 ; D. 535. Eine Anspielung auf den Inhalt der Schrift
schon Theät. 162 D).
In voller Ehrlichkeit, aber ohne jeden leidenschaftlichen.
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A. I. 1. Protagoras. 325
polternden Zelotismus der Verneinung, läfst er daher bei
seiner Moralbegründung den Götterglauben völlig, aber
stillschweigend aus dem Spiele, wenn er auch, als Sokrates
im weiteren Verlaufe des platonischen Dialogs unter den
Tugenden auch die Frömmigkeit aufführt, dies still-
schweigend geschehen läfst, ja sogar äufserlich zustimmt
(Protag. 329 C, 330 BD, 331, 349 B).
Und so ist er denn drittens genötigt, andere, für den
Bestand des menschlichen Gemeinschaftslebens genügend
ergiebige Quellen des Sittlichen nachzuweisen. Er kennt
deren zwei. Das Sittliche beruht einesteils auf einer Natur-
ausstattung, andernteils auf der Ausbildung derselben
durch vielfache Mittel der Gewöhnung. Die Naturaus-
stattung ist ihm wieder eine doppelte. Sie ist das natür-
liche Bedürfnis nach Ehre, Billigung und Anerkennung, das
sich als Scheu vor dem allgemein Gemifsbilligten äufsert,
vielleicht auch die Scheu vor dem Urteil des besseren Selbst.
Sie ist femer ein angeborener Respekt vor den Rechten des
anderen, ein natürliches Rechts- und Billigkeitsgefühl. In
beiden Begriffen zusammengenommen, der Scham und dem
Rechtsgefühl, liegt bereits eine Vorahnung dessen, was
später im BegrilBFe des Gewissens in einem einheitlichen
Ausdrucke zusaramengefafst worden ist. Die Ausbildung
dieser Anlage durch Erziehung geschieht dadurch, dafs
einesteils von Kind an dem einzelnen der Inhalt der sitt-
lichen Forderung, wie ihn das allgemeine Urteil, die öffent-
liche Meinung, die herrschende Sitte und das Staatsgesetz
feststellten, durch beständige Erinnerung nahegebracht, andern-
teils diese Forderung eingeschärft wird, indem durch Er-
mahnung, Zurechtweisung, Drohung, Strafe, durch Vorbilder
und durch die Autorität des bürgerlichen Gesetzes eine
Gewöhnung zur Befolgung oder doch wenigstens zur An-
erkennung als Norm des Handelns begründet wird.
Ob Protagoras diese Lehre durch Bestimmungen über
die Natur und die Eigenschaften der Seele, etwa im Sinne
Heraklits, gestützt hat, ob er zur Frage der Unsterblichkeit
Stellung genommen, oder ob er auch diese Fragen ebenso
wie die nach der Existenz der Götter durch den Hinweis
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326 Zweite Periode. Erste ^tufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
auf die ünerfafsbarkeit des Gegenstandes beiseitegeschoben .
hat, darüber fehlen uns fast alle Nachrichten. Wenig klar
und genau ist die Angabe (D. L. IX. 51), er habe gelehrt,
die Seele sei nichts aufser den Sinneswahmehmungen. Ob
ferner eine ihm beigelegte Schrift „Über die Dinge im
Hades" (D. L. IX. 55) wirklich von ihm stammte, und was
der Inhalt derselben war, ist nicht bekannt. Jedenfalls ist
er der erste Ethiker, der in der Form einer wissenschaft-
lichen Theorie die Verwirklichung des Sittlichen ausschliefs-
lich auf Natur und Gewöhnung gegründet hat.
Von Demokrit unterscheidet er sich in der ganzen
Anlage seiner Sittenlehre durchaus. Beide lassen allerdings
die Götter völlig aus dem Spiel. Im übrigen ist Demokrit
ein Vorläufer der philosophischen Güterlehre, der das richtige
Verhalten des einzelnen ganz aus der Erkenntnis des zu
seinem eigenen wahren Glücke Dienenden, also ganz aus
Vemunfttätigkeit ableitet. Bei ihm zeigt sich zuerst in
deutlicherer Ausprägung die axiologische Ethik. Auf
diesem Standpunkte ist die aus der Bestimmung des höch-
sten Gutes fliefsende Regel der Lebensführung unzweifelhaft
und ohne Einschränkung lehrbar. Protagoras geht vom
Interesse des Gemeinschaftslebens aus und leitet daraus die
Notwendigkeit des Sittlichen ab. Er ist der erste nach-
drückliche Vertreter des Moralismus. Es ist ein merk-
würdiges Spiel des Zufalls, dafs die beiden diametral ent-
gegengesetzten Richtungen der Ethik innerhalb einer kurzen
Zeitspanne völlig unabhängig voneinander ihren Ursprung
aus Abdera nehmen und Abdera so den Ruhm hat, in
doppeltem Sinne die Geburtsstätte der Ethik
zu sein. Es mufs doch mit den Abderiten nicht so gans
schlimm gestanden haben!
Nur in geringerem Mafse kommt bei der Richtung des
Protagoras die Vernunfttätigkeit des einzelnen neben der
Naturanlage und Gewöhnung in Betracht. Wenn nach der
Darstellung Piatos Protagoras dennoch die Lehrbarkeit der
Tugend behauptete, so ist dies glaublich, da er ja sich
selbst als einen der wirksamsten Tugendlehrer anpries. Doch
müssen sich dann seine eigentlichen Beweisführungen atif
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A. I. 1. Protagoras. 327
den Nachweis der Notwendigkeit des Zusammenlebens der
Menschen und der Notwendigkeit des Sittlichen für dieses
Zusammenleben, sowie auf die Ableitung der sittlichen und
Gesetzesvorschriften aus den Bedingungen des Gemeinschafts-
lebens beschränkt haben. Im übrigen aber mufs er mehr
durch Vorführung von Beispielen des Guten, durch Dichter-
stellen u. dgl. auf die Entwicklung der sittlichen Natur-
anlage zu wirken gesucht haben.
So ergibt sich äenn auch im platonischen Protagoras
das Resultat, dafs er die von ihm behauptete Lehrbarkeit
der Tugend, d. h. eine Begründung des sittlichen Verhaltens
lediglich durch den Beweis des mit dem Sittlichen ver-
bundenen eigenen Vorteils, im strengen Sinne nicht aufrecht-
erhalten kann (Protag. 341). Und damit hängt noch ein
anderer Punkt zusammen. Wer, wie Protagoras, das Sitt-
liche fiberwiegend aus Naturanlage und Gewöhnung ableitete,
hatte nicht das Bedürfnis, dasselbe auf einen einheitlichen
Begriff zurückzuführen und alle einzelnen sittlichen Willens-
richtungen aus einer einheitlichen Urquelle abzuleiten. Bei
seinem Verfahren war es möglich, die verschiedenen löb-
lichen Eigenschaften einzeln ins Auge zu fassen und durch
die angedeuteten Erziehungsmittel zu stärken und zu ent-
wickeln. Anders, wenn die Lehrbarkeit der Tugend im
strengen Sinne behauptet und das Sittliche durch eine
Beweisführung als dem eigenen Vorteil entsprechend nach-
gewiesen werden sollte. In diesem Falle war es für die
Wirksamkeit der Beweisführung unbedingt geboten, zunächst
die Gesamtheit der sittlichen Vorschriften auf ein einheit-
liches Prinzip zurückzuführen, um sodann für dies den
Beweis der Notwendigkeit für das eigene Wohlsein antreten
zu können. Und so finden wir denn in der Tat auch in
diesem Punkte in der platonischen Schrift einen Gegensatz
zwischen Protagoras und seinem Sokrates. Protagoras will
auf die Frage nach der Einheit der Tugend nur eine ge-
wisse Ähnlichkeit der Tugenden, wie schliefslich alle Dinge
in irgend einem Mafse einander ähnlich seien, zugestehen
oder ein Zusammengehören, wie die Teile des Gesichts,
Auge, Ohr, Nase u. s. w., organisch verbunden seien (Protag.
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328 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
329 C flf.). Inwieweit er in den ihm beigelegten ethischen
Schriften (D. L. IX. 55) auf diese Frage eingegangen war,
ist nicht bekannt.
Schliefslich scheint sich Protagoras auch schon mit der
Frage der zweckmäfsigsten Staatseinrichtung , des voll-
kommensten Staats beschäftigt zu haben. Er hatte an-
scheinend eine Schrift „Über den Staat" verfafst (D. L.
IX. 55). Auch befand sich unter den Dialogen, die dem
Sokratiker Kriton untergeschoben worden waren, einer unter
dem Titel „Protagoras oder Unterredung über den Staat"
(D. L. II. 121), was doch eine Staatslehre bei ihm voraus-
setzt. Vornehmlich aber wird berichtet, Plato habe das
Wesentliche seiner Schrift vom Staate aus des Protagoras
„Widerreden" entlehnt (D. L. IIL 37, 57). Wenn dies
richtig ist, müfste auch diese Schrift des Protagoras sich
mit dem vollkommenen Staate beschäftigt haben. Und zwar
müfsten wir dann annehmen, dafs Plato die ursprtüigliche,
von ihm selbst nachher mehrfach umgestaltete und er-
weiterte Form seines Idealstaats (wovon später) den Grund-
zügen nach von Protagoras entlehnt hätte. Diese älteste
Form des platonischen Staats gehört mutmafslich dem Jahre
393 an. Selbt wenn eine direkte Entlehnung von seiten
Piatos nicht stattgefunden hat, läfst doch die aufgekommene
Meinung einer Entlehnung eine Ähnlichkeit in wesentlichen
Punkten vermuten. Wenn wir aber von Piatos Staat in
seiner Urform auf das Staatsideal des Protagoras schliefsen
dürften, so müfste schon er den Bruch mit der demokra-
tischen Volkssouveränetät vollzogen und die Staatsgewalt
ganz in die Hände einer kastenartig geschlossenen, durch
Naturanlage und Erziehung dazu befähigten, vielleicht auch
durch Ausschlufs vom Privateigentum und Familienleben
den selbstischen Interessen entrückten Minderheit gelegt
haben. Er wäre der Urheber des Gedankens, die Demokratie
durch eine starke, auf WaflFengewalt sich stützende Regierung
zu ersetzen. Dafs eine solche Vorstellung von der voll-
kommensten und dem allgemeinen W^ohlsein dienlichsten
Form des menschlichen Gemeinschaftslebens von den Grund-
anschauungen des Protagoras und von seinen vielseitigen
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A. I. 1. Protagoras. 329
und langjährigen Einblicken in die schweren Übelstände in
den damaligen Staatsgemeinschaften aus gewonnen werden
konnte, wird der nicht bestreiten können, der sich die vor-
stehend dargestellten Grundzüge seiner Denkweise vergegen-
wärtigt. Insbesondere konnte ihm von der Bedeutung aus,
die er der sophistischen Vorbildung für die Fähigkeit zu
herrschen beilegte, die Demokratie leicht als schweres
Hindernis für die Betätigung der Herrscherkunst erscheinen.
Geschichtliche Gewifsheit kann freilich in bezug auf diesen
Punkt nicht erlangt werden.
Der Tod des Protagoras steht in enger Verbindung
mit der über ihn, wie etwa 22 Jahre früher über Anaxa-
goras, in Athen verhängten Anklage wegen Religions-
verletzung. In Athen bestand zur Zeit seines letzten
Aufenthalts daselbst, um 411, kurze Zeit unter völliger Auf-
hebung der demokratischen Freiheit die Herrschaft eines
Rates von 400 Aristokraten. Von einem Mitgliede dieses
Rates ging die Anklage gegen den Siebzigjährigen aus, ver-
anlafst durch die bereits mitgeteilten Anfangsworte seiner
Schrift über die Götter (D. L. IX. 54).
Er mufste Athen verlassen, wir wissen nicht, ob als
Flüchtling oder als zur Ausweisung Verurteilter (Timon
Phl. Fr. 48; D. L. IX. 52; Cic. N. D. I. 63). Nach einer
anderen Nachricht (S. Emp. Dogm. III. 56) wurde er zum
Tode verurteilt, rettete sich aber durch die Flucht. Femer
erging an alle, die Schriften von ihm besafsen, durch den
öffentlichen Ausrufer der Befehl, diese auszuliefern, und das
Ausgelieferte wurde auf dem Marktplatze den Flammen
überliefert, das älteste bekannte Beispiel dieser später in
der Christenheit so beliebt gewordenen Weise des Wütens
gegen den Geist mit Mitteln roher Gewalt (D. L. IX. 52;
Cic. a. a. O.)- Er schiffte sich nach Sizilien ein und starb
auf dieser Reise, ob durch Schiffbruch oder an einer Krank-
heit auf der Überfahrt, darüber gehen die Nachrichten aus-
einander (D. L. IX. 55; Z. 1053, 2), in jedem von beiden
Fällen doch wohl wenigstens indirekt das Opfer der über
ihn verhängten Verfolgung. Und während diese bei Anaxa-
goras überwiegend das Werk persönlichen Hasses gegen
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330 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Perikles war, scheint hier der Akt eines wirklichen und
unverfälschten altgläubigen Fanatismus vorzuliegen.
2. Prodlkos von Keos.
Neben Protagoras vertritt am vollständigsten das Streben
der älteren Sophisten Prodikos von Keos. In der bereits
angeführten Stelle aus Plato über die hohe Schätzung der
Sophisten (Rep. 600 C) wird neben Protagoras sein Name
ausdrücklich genannt. Er gehört jedoch bereits einer etwas
jüngeren Generation an (PI. Protag. 317 C); seine Geburt
fällt frühestens um 465. Er scheint sich mehr noch als
Protagoras in Athen aufgehalten zu haben (Plato Hipp,
maj. 282 C). Auch er liefs sich für seine Vorträge bezahlen
(Z. 1061, 5). Sokrates hat nach Piatos scherzhafter Darstellung
bei ihm über den richtigen Gebrauch der Wörter „die
Fünfzigdrachmenrede" (ca. 37 jMk.), als für ihn zu kost-
spielig, nicht gehört, sondern nur die „Eindrachmenrede"
(Krat. 384 B), und nach dem unter Piatos Schriften stehen-
den Axiochos trägt er niemals umsonst vor, hat aber Vor-
träge zu einer halben Drachme, zu zwei und vier Drachmen
(366 C). Zur Zeit des Todes des Sokrates (399) war er
noch am Leben (PL Apol. 19 E).
Seine äufsere Erscheinung wird in Piatos Protagoras
ins Lächerliche gezogen. Sokrates bedient sich dort in der
Schilderung seiner Wahrnehmungen beim Eintritt in das
vornehme Haus, in dem die berühmten Sophisten Einkehr
gehalten haben , der Wendungen , in denen in der Odyssee
Odysseus seine Beobachtungen beim Eintritte in das Toten-
reich erzählt. In bezug auf Prodikos heifst es hier (315 C f.) :
„Auch den Tantalos sah ich." In einem besonderen Zimmer
sitzt er, eingehüllt in Decken und Felle, umgeben von einem
Kreise von Bewunderern, zu denen er mit dumpfer Stinune
spricht. Offenbar war er kränklich und von ernstem, feier-
lichem, düsterem Wesen. Dazu stimmt denn auch die
düstere Schilderung von den Leiden und Beschwerden des
Menschenlebens, die ihm im „Axiochos" in den Mund gelegt
wird (366 D flf.). Weinend tritt der Mensch ins Leben ein,
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A. I. 2. Prodikos von Keos. 331
und kein Lebensalter von der Wiege bis zum Grabe ist
frei von Leiden; wen die Götter lieben, den nehmen sie
früh hinweg; jeder Beruf ist mit den gröfsten Beschwerden
verbunden.
Auch er leitete seine Zöglinge zu erhöhter Redefertig-
keit und Redegewandtheit an (Plato Phädr. 267 B). Ihn
selbst läfst Plato (Protag. 337) in zierlich abgezirkelten
Sätzen sprechen. Einen ganz besonders hervorstechenden
Teil dieses Unterrichts mufs die Anleitung zum genauen,
sinngemäfsen Gebrauche der Wörter gebildet haben (PL
Euthyd. 277 E; Charm. 163 D; Lach. 197 D; Schol, zu Phädr.
267 B; Aristot. 112 b, 22). Plato zieht im Protagoras auch
diese Eigentümlichkeit ins Lächerliche, indem er ihn auch
in der Unterhaltung mit Erwachsenen fortwährend zur Zeit
und zur Unzeit pedantische, für den Sinn bedeutungslose,
ja teilweise ganz willkürliche und aus der Luft gegriffene
Wortunterscheidungen anbringen läfst (337, 339 E, 340 B,
341, 358 ABE). An der letzten dieser Stellen erbittet
Sokrates sein Urteil über eine sachliche Frage, verbittet
sich aber zugleich unter allgemeinem Gelächter, in das sogar
Prodikos selbst einstimmen mufs, jede Wortunterscheidung.
Aber auch nach den sonstigen Angaben über diese Unter-
scheidungen scheinen sie meist nicht besonders zutreffend
gewesen zu sein, und er scheint sich in ihrer Durchführung
nicht einmal gleich geblieben zu sein. Und auch in einer
anderen Beziehung wird ihm in dem unter Piatos Schriften
stehenden „Eryxias" (397 C ff.) eine lächerliche Rolle zu-
geteilt, indem er bei der Verteidigung eines Satzes von
einem aufgeweckten und schlagfertigen Knaben in die Enge
getrieben wird. Mochte jedoch dieses Treiben oberflächlich
und lächerlich sein, so zeugt es doch von dem Bestreben,
nicht in angeblich sophistischer Weise die Begriffe zu ver-
wirren, sondern im Gegenteil sie in möglichst genauer und
scharfer Form zum Ausdruck zu bringen.
In sehr nachdrücklicher Weise sucht aber auch Pro-
dikos femer bei den Jünglingen der leitenden Kreise eine
sittliche Gesinnung zu befördern. Und zwar verzichtet auch
er dabei auf den Götterglauben der Volksreligion. Er lehrte.
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332 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
dafs die von den Menschen herkömmlich angenommenen
Götter nicht existierten. Dieselben seien nur Vermensch-
lichungen der Elemente und der Himmelskörper. Femer
hätten die Alten der Frucht des Feldes und des Weinstocks,
überhaupt den dem Menschen nützlichen Naturkräften und
Naturerzeugnissen göttliche Verehrung beigelegt (D. 544,
59; Cic. N. D. I. 118; S. Emp. Dogm. III. 18). Er wird
wegen dieser radikal -aufklärerischen Theorie geradezu zu
den Götterleugnem gerechnet (S. Emp. Dogm. III. 51).
Ebenso entschieden hat er, wenn die Darstellung im
^Axiochos" (369 B) geschichtlich ist, ein Fortleben nach dem
Tode verneint. Denn das setzt der dort ihm beigelegte
Ausspruch voraus, der Tod habe (eben als Übergang zum
Nichtsein) weder für die Lebenden noch für die Gestorbenen
eine Bedeutung. Jedenfalls sucht auch er die Sittlichkeit durch
rein menschlich-natürliche Gründe zu stützen. Auch er ist
anthropologischer Moralist. Erhalten ist uns nur ein Bei-
spiel seiner moralischen Lehrweise, das sich freilich nur auf
die Vermeidung der sinnlichen Ausschweifungen bezieht.
In Xenophons Denkwürdigkeiten (II. 1, 21—34) wiederholt
Sokrates aus dem Gedächtnis den von Prodikos häufig ge-
haltenen Vortrag über „Herakles am Scheidewege". In
dieser allegorischen Erzählung erscheint Herakles in keinem
Zuge als der Halbgott der griechischen Volksreligion, son-
dern einfach als der Vertreter des schon durch seine Geburt
zur Herrschaft berufenen Nachwuchses der Geburtsaristo-
kratie. Der Sophist verfolgt nur das Absehen, die in der
Basse liegenden tüchtigen Eigenschaften in die richtige
Bahn zu lenken (§ 33, 27). Wir sehen, dafs er darauf aus-
ging, die Söhne der „Schönen und Guten" — dies sind aber
in seinem Sinne die durch Geburt zur Herrschaft berufenen
Adligen — zu einer für sie selbst und für das Ganze heil-
samen Führung der Herrschaft anzuleiten. Dazu bedarf es
aufser anderen Eigenschaften vornehmlich der sittlichen
Tüchtigkeit. Die uns allein erhaHene Probe seines Ver-
fahrens, der Herakles am Scheidewege, bezieht sich, wie
gesagt, ausschliefslich auf die Empfehlung der Enthaltsamkeit
gegenüber der Sinnenlust.
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A. I. 2. Prodikos von Keos. 333
Als Herakles in das Jünglingsalter eintritt, in dem der
Mensch genötigt ist, die Richtung seines Handeies selbst zu
bestimmen, zieht er sich, ungewifs, welchen Weg er wählen
soll, in die Einsamkeit zurück. Da nähern sich ihm zwei
stattliche Frauengestalten, die eine von edlem und züchtigem
Wesen, natürlicher Gesichtsfarbe, schamhaftem Blick, ehr-
barer Haltung, in weifsem Gewände, die andere üppig und
fleischig, geschminkt, von hochaufgerichteter Haltung, die
Augen weit geöf&iet, die Kleidung so, dafs der üppige Leib
möglichst sichtbar wird. Sie besichtigt häufig sich selbst und
ihren Schatten und achtet darauf, ob sie auch von anderen
bemerkt wird. Indem beide sich nähern, behält die erstere
ihren ruhigen Schritt bei ; die andere beschleunigt denselben
zum Laufe und kommt jener zuvor. Sie bietet sich Herakles
als Freundin und Führerin auf dem Lebenswege an. Sie
will ihn den angenehmsten und leichtesten Weg führen;
nichts Lustvolles wird er ungekostet lassen; alles Schwere
soll ihm fürs ganze Leben erspart bleiben. Über Kriege
und Staatsgeschäfte wird er nicht nachdenken; nur um die
erlesensten Genüsse sämtlicher fünf Sinne, um möglichst
genufsreichen Verkehr mit schönen Knaben, um möglichst
erquicklichen Schlaf und möglichst mühelose Erlangung aller
dieser Annehmlichkeiten ii?ird er sich kümmern. Auch
braucht ihn nicht die Sorge um die Mittel zu diesen Ge-
nüssen zu Anstrengung und Mühsal des Leibes und der
Seele zu treiben. Von der Arbeit anderer wird er seinen
Unterhalt bestreiten: vor nichts Gewinnbringendem braucht
er zurückzuschrecken ; ihre Nachfolger haben die Vollmacht,
jeden Nutzen auszubeuten. Sie selbst nennt sich die Glück-
seligkeit; ihre Feinde nennen sie das Laster.
Inzwischen ist auch die andere Frauengestalt heran-
gekommen. Sie kennt seine Eltern und seine Natur, wie
sie sich während der Erziehung gezeigt hat. Nach beidem
hofil sie, dafs er, wenn er den zu ihr führenden Weg ein-
sehlagen wird, ein tüchtiger Vollbringer edler und würdiger
Taten werden wird. Sie will ihn nicht durch Verheifsungen
von Lust täuschen; nichts wahrhaft Gutes verleihen die
Götter ohne Anstrengung und eigene Mühe den Menschen.
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334 Zweite Periode. £rste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Als solche Güter zÄhlt sie auf: die Gnade der Götter, die
Liebe der Freunde, öflfentliche Ehren, Ruhm bei der ge-
samten Nation, Macht und Erfolg im Kriege, körperliche
Tüchtigkeit.
Hier erhebt die andere den Vorwurf, das sei ein schwerer
und langer Weg zum Wohlsein; der ihrige zur Glückselig-
keit sei leicht und kurz. Die Tugend erwidert, dafs jene
überhaupt kein wirkliches Gut zu verleihen habe. Die Über-
füllung mit Genüssen erzeuge bald Ekel und erfordere nun
die künstlichsten Reizmittel, um den Genufs noch zu er-
zwingen. Herabwürdigung der Menschennatur im Genüsse,
Verabsäumung der eigenen Interessen, Verachtung, Mifs-
trauen, Freundlosigkeit sind die Wirkungen. Ihre Genossen
sind in der Jugend leiblich unfähig, im Alter blöden Geistes,
elend und gebrochen, mühsam das ihnen Obliegende voll-
bringend. Die Lust haben sie in der Jugend durchgekostet,
das Schwere dem Alter aufgespart. In ihrem Kreise wird
der stifseste Klang, der des gespendeten Lobes, niemals
gehört, der lieblichste Anblick, der eines eigenen heilsamen
Werkes, niemals geschaut.
Anders auf der Bahn der Tugend. Hier gibt es wahre
Ehre, wahren Erfolg, wahre Freundschaft, Unabhängigkeit
von den Naturbedürfnissen bei der Führung der notwendigen
Geschäfte und wahren Genufs in der Befriedigung derselben,
weil eben das Bedürfnis abgewartet wird. Im Alter werden
ihre Genossen geehrt von der Jugend ; mit Freude gedenken
sie ihrer früheren Taten, tüchtig und mit Lust vollbringen
sie das ihnen noch Obliegende. Sie sind Freunde der Götter,
geliebt von den Freunden, geehrt vom Vaterlande, nach
dem Tode nicht vergessen, sondern für alle Zeiten in ehren-
dem Gedächtnis gehalten. Kurz, es wird ihnen die „be-
seligendste Glückseligkeit" zu teil.
Auch hier wird, wie bei Protagoras, zunächst eine zu
Grunde liegende Naturanlage betont. Aber diese wird nicht,
wie bei jenem, ausdrücklich gerade als eine sittliche be-
zeichnet. Auch wird nicht ihre Allgemeinheit als Bestand-
teil der menschlichen Natur überhaupt betont, vielmehr sie
ausdrücklich zum Attribut und Erbteil der adligen Geburt
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A. I. 2. Prodikos von Keos. 335
gemacht. Vornehmlich aber weicht Prodikos in der Art,
wie er die Naturanlage zur Entfaltung bringen will, von
Protagoras ab. Lei letzterem ist die Tugend nur in dem
vagen und unbestimmten Sinne lehrbar, dafs die gewöhnende
Erziehung unter den Begriflf der Lehre gebracht wird. Bei
Prodikos aber handelt es sich um wirkliche Lehre, um In-
anspruchnahme der Erkenntnistätigkeit. Die Entscheidung
soll herbeigeführt werden durch Eröffnung der Einsicht in
den eigenen wahren Vorteil. Dies drückt schon das Thema
«Herakles am Scheidewege" aus, und die Lage, in die der
Jüngling beim Beginn seiner selbständigen Lebensführung
gebracht wird, ist die, dafs er sich zwischen der Üppigkeit
und der Enthaltsamkeit aus deutlich erkannten Gründen der
eigenen Glückseligkeit, des eigenen wahren Vorteils, durch
einen die ganze ihm bevorstehende Lebensführung be-
stimmenden Entschlufs entscheiden soll. Diese Gründe
werden ihm vorgeführt. Sie sind von mannigfacher Art;
alle wahrhaft schätzbaren und dauernden Lebensgüter
sprechen für die ernstere Lebensgestaltung. Es handelt sich
um einen die gesamte Lebensführung bestimmenden Ent-
schlufs.
Eine Schrift des Prodikos über Herakles wird auch
sonst angeführt (Plato Sympos. 177 B). Und ebenso bezeugt
Plato (Protag. 340 B f.) , dafs er die Tugend für schwierig
erklärte und das Wort Hesiods, vor die Tugend hätten
die Götter den Schweifs gesetzt, mit Vorliebe anführte.
So vermögen wir also hier, trotz der so dürftigen und
unzureichenden Nachrichten über das Wirken des Prodikos,
einesteils die volle Übereinstimmung mit Protagoras in einem
wichtigen Punkte der sophistischen Bildungsarbeit, andem-
teils aber auch eine wesentlich von der jenes verschiedene
Verfahrungsweise zu erkennen. Das Ziel ist das gleiche,
der Weg ein verschiedener. Auch bei Prodikos ist die
Moralbegründung durchaus eine menschlich-natürliche , aber
sie geht nicht auf Gewöhnung, sondern auf Überzeugung
vom eigenen wahren Vorteil; sie ist intellektualistisch.
Zu betonen ist noch, dafs Sokrates in dem Gespräche,
in dem diese Rede des Prodikos erhalten ist, ihn in durch-
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386 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
aus ernstgemeinter Weise als Helfer in der von ihm selbst
vertretenen Sache heranzieht. Er nennt ihn den weisen
Prodikos und hebt hervor, dafs die Rede selbst in viel
stattlichere Worte gekleidet sei, als er es wiederzugeben
vermöge (34), wenngleich auch noch in der Wiedergabe bei
Xenophon die höchst sorgfältige Stilisierung überall durch-
blickt.
Und da selbst Aristophanes, der Verächter der
ganzen sophistischen Richtung, dem Prodikos im Ernste
„Weisheit und Einsicht" zuzuerkennen scheint (Wolken 360),
so liegt kein Grund vor, sein Wirken anders als ernst,
wohlgesinnt und heilsam anzusehen, gegen welches Urteil
es durchaus keinen Gegengrund bildet, dafs er sich mit der
herrschenden Zeitrichtung rückhaltlos auf den Boden der
religiösen Aufklärung stellte.
3, Hlppias von EUs.
Die Lebenszeit des Hippias fällt nach denselben Beweis-
stellen (PI. Protag. 317 C; cf. Hipp. maj. 282 E; Apol. 19E)
annähernd mit der des Prodikos zusammen, also von un-
gefähr 465 bis nach 399. Auch er führt das Wanderleben
der Sophisten und rühmt sich in dem Dialog „Der gröfsere
Hippias", dessen platonischer Ursprung zweifelhaft ist, allein
in Sizilien in kurzer Zeit, und zwar während dort gleich-
zeitig Protagoras als gefährlicher Konkurrent wirkte, mehr
als 11000 Mk. verdient und überhaupt mehr als jede be-
liebigen zwei anderen Sophisten zusammengenommen mit
seiner Lehrtätigkeit erworben zu haben (282 E).
Für einen hervorstechenden Zug seiner Geistesrichtung,
wie für die Art, wie er seinen Ruf als Lehrer ausbreitete
und Kundschaft gewann, ist sein Geburts- und Wohnort
Elis von ausschlaggebender Bedeutung.
Hippias nämlich erscheint stets als der Mann von un-
glaublich ausgebreitetem Wissen und Können, und auch in
seiner Lehrtätigkeit beschränkt er sich durchaus nicht auf
die für die Regierungskunst unbedingt erforderlichen Kennt-
nisse. Er versteht sich auf Astronomie und Naturkunde,
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A. L 3. Hippias von Elis. 337
auf Geometrie und Reehnen , auf Grammatik , Metrik und
Musik, auf Geschichte und Altertumskunde (worüber er auch
dse Schrift verfafst hatte; Z. 1066, 2, 1067, 1), auf die
Ged&chtniskunst, vermöge deren er z. B. 50 Namen nach
einmaligem Hören behalten kann. Er verfafst epische Ge-
dichte, Tragödien, Dithyramben und Prosavorträge; ja, er
versteht sich auf eine Anzahl von Handwerken. In Olympia
ist er einmal aufgetreten, ausgerüstet mit folgenden, sämt-
lich von ihm selbst angefertigten Gegenständen : einem Ringe
mit geschnittenem Steine, einem Siegelring, einem Bade-
striegel, einer metallenen Ölflasche, einem Paar Schuhe,
Mantel und Unterkleid (Hipp. maj. 285 C ff.; Xen. Symp. 62;
Hipp. min. 368 B if.). Entsprechend hatte auch sein Unter-
richt diese Richtung auf das Universelle. Von dem mife-
gfinstigen Seitenblicke, den Protagoras im gleichnamigen
platonischen Dialoge (318 E) hinsichtlich der Belästigung
der jungen Leute mit seinen Schulkünsten auf ihn wirft,
war schon die Rede.
Diese universelle Richtung aber konnte ihm gerade in
seiner Vaterstadt zu eigen werden. Im Gelnete derselben
lag Olympia, wo alle vier Jahre nicht nur die körperlichen
Wettkämpfe stattfanden, sondern auch Dichter, Musiker,
Gelehrte und Künstler aller Art die Gelegenheit benutzten,
ihre Leistungen der versammelten Menge aus allen griechischen
Landen zur Kenntnis zu bringen. Ein regelmäfsiger Besuch
dieser Festspiele von Jugend auf mufste ihn also mit allen
neuesten Bestrebungen im Geistesleben seines Volkes be-
kannt machen.
Ebenso war ihm auch dort die beste Gelegenheit ge-
boten, als Erwachsener seine eigenen Leistungen zur Schau
zu stellen, den Versammelten etwas zum besten zu geben
und dadurch Beziehungen anzuknüpfen und Einladungen
zur Lehrtätigkeit nach allen Gegenden Griechenlands ent-
gegMizunehmen (Hipp. min. 363 G f.).
Aus diesem Umstände in Verbindung mit ^er be-
häbige SelbstgefiUligkeit des Naturells erklärt sich denn
auch wohl das Reklamesüchtige in seinem Auftreten, das
ihm bei Plato regelmäfsig in einem lächerlichen Lichte er-
D#riaf. I. 22
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388 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
scheinen läfst. Im Protagoras wird er, ähnlich wie Prodikos,
mit einem Zitat aus der Hadesfahrt des Odysseus eingeführt
und dargestellt, wie er in einem besonderen Räume, auf
einem hohen Sessel sitzend, den auf den Stufen gelagerten
Hörern sein Wissen mitteilt (315 B) und nachher, zur Ab-
gabe seines Urteils in einer Streitfrage aufgerufen, mit
einem ganz unverhältnismäfsigen Aufwände von Worten
gleich den Kernpunkt seiner ganzen Weisheit zum besten
gibt (337 C). Und ebenso erscheint er in den beiden nach
ihm benannten Dialogen durchweg bei fast unglaublicher
Oberflächlichkeit und Unfähigkeit zu schärferem Denken
selbstgefällig-sicher, prahlerisch und herablassend.
Diese Universalität des Wissens und der Lehrtätigkeit
ist aber nur die eine Seite am Wesen des Hippias. Es sind
Spuren genug vorhanden, dafs er in dem Hauptpunkte der
sophistischen Lehrtätigkeit, der Begründung des Sittlichen,
der allgemeinen Richtung der älteren Sophistik folgte.
Ob auch er sich dabei zum Glauben an die Götter und
das Jenseits kritisch verhielt, darüber ist nichts überliefert.
Doch zeigt sich auch bei ihm das Bestreben, das Sittliche
ausschliefslich auf natürlichem Wege zu begründen.
Am bezeichnendsten ist in dieser Beziehung die eben
berührte Stelle des Protagoras (337 C). Um zu entscheiden,
wie es in dem Gedankenaustausch zwischen Sokrates und
Protagoras gehalten werden soll, beruft er sich auf die Be-
schaffenheit der Menschennatur, aus der alle Ordnungen des
Zusammenlebens der Menschen abzuleiten seien. Das positive
Gesetz der Staaten ist ein Tyrann der Menschen und er-
zwingt vieles gegen die Natur. Von Natur ist das Gleiche
dem Gleichen stammverwandt; von Natur, nicht durch Gesetz,
sind alle die Anwesenden Verwandte, Hausgenossen und Mit-
bürger. Deshalb können und sollen sie sich vertragen und
einer dem anderen nachgeben. Hier tritt deutlich der auf-
klärerische Gegensatz zwischen der an sich noch nicht be-
rechtigten hergebrachten Satzung und dem durch die Natur
selbst Sanktionierten hervor. Es kommt aber femer der-
selbe Grundgedanke einer Naturausstattung zum Sittlichen
zum Ausdruck wie bei Protagoras, nur in einer etwas
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A. I. 3. Hippias von Elia. 339
anderen Formulierung. Offenbar ist ihm das Mitgefühl des
Gleichen mit dem Gleichen, des Menschen mit dem Menschen
die Grundlage des sittlichen Lebens.
Nicht ganz so deutlich treten die gleichen Grundzüge
in einem Gespräche mit Sokrates hervor, das Xenophon
(Memorab. IV. 4) berichtet. Dasselbe ist den Grundzügen
nach gewifs geschichtlich und mufs ungefähr in dieselbe
Zeit fallen, in der der junge Plato seine vornehmlich im
Protagoras niedergelegten Beobachtungen über die Sophisten
machte (um 411). Auch hier verhält er sich ablehnend
gegen den Wert der positiven Gesetze, die ja oft genug von
eben denselben, die sie gegeben, wieder abgeschafft oder
geändert werden (§ 14). Dagegen ist ihm der von Sokrates
vorgebrachte Gedanke, dafs es ungeschriebene, von allen
Menschen anerkannte Gesetze gebe, die in der Natur ihren
Grund haben, sympathisch (§ 18). Auch hier beschäftigt er
sich mit ethischen Fragen. Getreu seinem Grundsatze, über
dieselben Fragen jedesmal Neues vorzubringen, hat er soeben
eine neue Bestimmung der Gerechtigkeit gefunden, der
niemand wird widersprechen können, deren Inhalt uns aber
leider vorenthalten wird. Auch im „kleineren Hippias" hat
er soeben in einem Vortrage bewiesen, dafs die Ilias wegen
der Wahrhaftigkeit ihres Haupthelden Achilleus der Odyssee
vorzuziehen sei, die den trügerischen Odysseus verherrliche
(353 B ff.). Auch hier scheint er das Naturell für den Ur-
sitz des Sittlichen zu halten, doch so, dafs er auch wieder,
wie Protagoras, versucht, durch die Aufstellung von Vor-
bildern und durch Mahnreden sittlich bildend zu wirken.
Auch im „gröfseren Hippias" (286 A f.) rühmt er sich einer
Rede, in der nach der Einnahme Trojas auf die Bitte des
jungen Neoptolemos Nestor diesem Ratschläge erteilt, durch
welches Verhalten er zu Ehre und Ansehen gelangen könne,
in der in vorzüglicher Weise das Thema behandelt werde,
welchen Bestrebungen ein junger Mann sich widmen müsse.
Auch bei ihm also tritt, wie bei Protagoras, zur Natur-
anlage die sittliche Gewöhnung hinzu. Dagegen zeigt er
sich im „kleineren Hippias*' für den Gedanken, dafs die
Tugend auf einer Erkenntnistätigkeit beruhe, und dafs
22*
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340 Zweite Periode. Erste Stafe. Die Sophisten und Sokrates etc.
daher der bewufst und absichtlich schlecht Handelnde dem
nur gewohnheitsmäfsig gut Handelnden vorzuziehen sei,
völlig verständnislos und unzugänglich. Er kann sich zu
der Höhe dieser aus der Begründung des Sittlichen durch
Vemunftgründe entspringenden Paradoxie nicht erheben und
zeigt sich überhaupt in der herkömmlichen Verfahrungsweise
der Förderung des Sittlichen durch Gewöhnung und Mahn-
reden völlig befangen.
Genaueres über sein Lehrverfahren auf dem ethischen
Gebiete ist nicht bekannt, doch zeigen schon die wenigen
angeführten Züge und die freundschaftliche Art, wie Sokrates
in dem angeführten Kapitel der xenophontischen Denk-
würdigkeiten mit ihm verkehrt, dafs er ein vielseitig glän-
zend begabter Mann war und als Moralist, wenn auch dem
strengen ethischen Intellektualismus wegen mangelnder
Schärfe des Denkens unzugänglich, eine ernste und wohl-
meinende Richtung und Wirksamkeit verfolgte.
4. Antiphon.
Aufser den drei Genannten mufs zu dem älteren Ge-
schlecht der Sophisten auch noch Antiphon gezählt werden.
Er darf nicht übergangen werden, weil gerade von ihm
neuerdings Züge bekannt geworden sind, die das Lehr-
verfahren der älteren Sophisten überhaupt in ein helleres
Licht setzen.
Zunächst zwar erscheint er in einem überaus wider-
wärtigen Lichte durch seine von Xenophon (Mem. I. 6) be-
richteten wiederholten Bemühungen, Sokrates das Vertrau^i
seiner Schüler zu entziehen und diese aus Habsucht zu sich
selbst hinüberzulocken. So sagt er einmal in Gegenwart
der Schüler zu Sokrates, die Philosophie, d. h. die höhere
Bildung, verfolge doch als letzten Zweck den, die Glück-
seligkeit der Zöglinge zu fördern. Dies treffe aber bei
Sokrates nicht zu. Auf jeden Entgelt für seinen Unterrieht
verzichtend, verzichte er auf die Mittel zu einer anständigen
und angenehmen Lebensweise und begnüge sich mit einer
Kleidung und Kost, bei der kein Sklave bei seinem Herrn
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A. I. 4. Antiphon. 341
aushalten würde. Wenn er seine Jünger zu einer solchen
Lebensführung anhalte, so könne er nur als ein Lehrer der
Unseligkeit bezeichnet werden. Direkt gegen die Unent-
geltlichkeit der Lehre des Sokrates richtet sich sein zweiter
Angriff. Sokrates zeige sich dadurch zwar als gerecht, da
er nichts zu bieten habe und ein Betrüger wäre, wenn er
Honorar forderte. Darin liege aber zugleich das Zu-
geständnis, dafs er keine Weisheit besitze. Ein drittes Mal
wirft er ihm vor, dafs er doch aufser stände sei, seinen
Genossen eine politische Ausbildung zu geben (worauf es
doch nach dem gemeinsamen Grundzuge des sophistischen
Unterrichts allein ankomme). Dafs Sokrates von politischen
Dingen nichts verstehe, schliefst er daraus, dafs er sich
selbst an den öffentlichen Angelegenheiten nicht beteilige.
Wir entnehmen aus diesem Berichte Xenophons zunächst,
dafs Antiphon, über dessen Lebenszeit sonst Genaueres nicht
bekannt ist, jedenfalls in der Zeit von etwa 410 — 400 —
auf diese Zeit beziehen sich die Berichte Xenophons —
sieh, wenn auch nicht dauernd, in Athen aufgehalten hat.
In welchem Lebensalter er damals stand, lälst sich nicht
entnehmen. Wenn Xenophon diese Angriffe lediglich aus
sophistischer Habsucht ableitete, so beruht das vielleicht
auf parteiischer Abneigung; vielleicht hielt Antiphon die
Art, wie Sokrates auf seine Schüler wirkte, wirklich für
verkehrt und zweckwidrig. Seine feindselige Haltung gegen
diesen wird auch bei Diogenes Laertius (IL 46), und zwar
unter Berufung auf eine — für uns verlorene — Schrift
des Aristoteles, bezeugt. Von seiner eigenen Lehrweise
l&fst sich einigermafsen ein Bild gewinnen aus den er-
haltenen Bruchstücken seiner Schriften. Eine seiner Schriften
war betitelt „Wahrheit", eine andere „Über die Eintracht" ;
eine dritte enthielt eine Staatslehre.
Die Schrift über die Wahrheit bestand aus zwei Büchern.
Im ersten derselben behandelte er die Erkenntnisfrage. In
welchem Sinne, ist nicht genügend erkennbar. Wenn er
hier z. B. ausführte, dafs man durch die Sinne zwar lange
Gegenstände, niemals aber die Länge selbst wahrnehme, so
sebeint damit gegenüber der Theorie des Protagoras auf
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342 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
das die Allgemeinvorstellungen bildende Denken als das die
Wahrnehmung ergänzende Erkenntnismittel hingewiesen zu
werden (Sauppe, De Antiphon te sophista S. 10). Jeden-
falls findet sich auch hier keine Spur von der vermeintlichen
Sucht der Sophisten nach Verdrehung und Irreleitung. Das
zweite Buch der „Wahrheit"^ gab eine Naturlehre und handelte
insbesondere auch von der menschlichen Natur. Einige
seiner hierhergehörigen Lehren sind erhalten (Z. 1108, 2;
Arist. 172, 7; 185, 17), es hat aber kein Interesse, darauf
einzugehen. Wir entnehmen daraus nur, dafs er auch ein
gewisses Mafs naturwissenschaftlicher Kenntnisse für die
leitenden Männer für erforderlich hielt. Dafs er diesen
Belehrungen eine dem Handeln dienliche Richtung gab, geht
auch daraus hervor, dafs er vielfach als Vorzeichen- und
Traumdeuter bezeichnet wird (D. L. IL 46; Z. 1071). Ob
er die äufseren Vorkommnisse und die Träume, in denen
er ein Hilfsmittel fand, den Ausgang geplanter Unter-
nehmungen vorauszusehen, für göttliche Veranstaltungen
angesehen und also überhaupt ein göttliches Walten an-
genommen hat, oder ob er als Rationalist den betreffenden
Volksglauben natürlich zu begründen versuchte, ist nicht
bekannt. Doch ist das letztere das wahrscheinlichere, da
er den Vorsehungsglauben verwarf (Orig. c. Cels. IV. 25;
Blafs, De Antiph. soph. Fr. 98, 32, 133). Daraufhin
könnte man vermuten, dafs der Beiname des Vorzeichen-
deuters (D. L. IL 46) ihm mehr in spöttischem Sinne, als
eine Art Spitzname, beigelegt worden sei.
Seine Schrift über die Eintracht scheint den Zweck
verfolgt zu haben, ein gesetzliches und gemeinnütziges Ver-
halten durch Klugheitsgründe zu empfehlen. Das Glück des
Menschen liegt zum Teil in der Hand des Geschickes, vor-
nehmlich aber steht es in der Macht des Menschen selbst,
sich durch eifriges Bemühen tüchtige Eigenschaften zu er-
werben. Wer Ansehen und Ruhm bei den Menschen er-
langen will, mufs von Jugend auf sich immer in gleich-
mäfsiger Richtung tüchtig zeigen. So gewöhnt er die
anderen an ein günstiges Urteil über sich, entgeht dem
Neide, dem die plötzlich hervortretende Überlegenheit
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A. I. 4. Antiphon. 343
anheimfällt, und erwirbt sich unwandelbares Vertrauen, das
nur durch die Länge der Zeit erwachsen kann. — Wer
nach der höchsten Tüchtigkeit strebt, mufs erwägen, in
welcher Weise er durch Rede oder Tat das Beste leisten
kann; denn so wird er sich den meisten nützlich machen
können. — Besser und dauernder als durch Geldspenden
wird einer seinen Mitmenschen Gutes erweisen, wenn er
die Gesetze hochhält und der Gerechtigkeit dient, denn das
verbindet und hält zusammen die Staaten und die Menschen.
— Der wahrhaft tüchtige Mann strebt nicht durch äufseren,
erborgten Glanz — z. B. Reichtum — nach Ehre, sondern
durch die eigene Tüchtigkeit. — Die feige Liebe zum Leben
wäre berechtigt, wenn nur äufsere Gewalt uns desselben
berauben könnte und wir sonst unsterblich wären. Besser
als ein elendes Greisenalter und ein Tod in Unehre ist der
ewige Nachruhm, der dem Opfer des Lebens folgt. — Der
Mensch ist von Natur unfähig, vereinzelt zu leben; die Not-
wendigkeit hat die Gemeinschaft begründet. Wäre einer
unverwundbar und unnahbar für Krankheit und Leid, über-
natürlich und stählern an Leib und Seele, so könnte ihm
vielleicht der Gedanke kommen, dafs er ungestraft Gewalt
üben dürfte. Aber auch ein solcher könnte nicht ohne Recht
und Gesetz leben; die Gesamtheit der übrigen würde sich
gegen ihn erheben und ihn mit Gewalt oder List über-
wältigen. — Aus der Gesetzlichkeit entspringt der höchste
Gewinn für den einzelnen wie für die Gesamtheit. Aus ihr
entsteht das Vertrauen, das den Umlauf der Güter und
damit das Ausreichen auch mäfsigen Gutes für alle schafft.
Sie schafft dem Beglückten sicheren Genufs, verleiht Eifer
zu öffentlichen und Privatgeschäften, ermöglicht sorglosen
Schlummer und macht selbst den Krieg weniger gefährlich.
Die Ungesetzlichkeit erzeugt inneren Streit und Hader und
alle jenen Vorteilen entgegengesetzten Übel. — Die Tyrannis
entsteht aus Ungesetzlichkeit und Begierde, wenn allgemeine
Verderbnis eingerissen ist. Ohne Recht und Gesetz können
die Menschen nicht leben. Sind diese von der Menge ge-
wichen, so geht ihre Pflege auf einen über, aber nur durch
Umsturz des allgemeinen Gesetzes. Der Räuber des Rechtes
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344 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
aber müTste selbst nicht von Fleisch und Bein, wie die
anderen, sondern von Stahl sein (Blafs, De Antiphonte
sophista Jamblichi auctore, 1880).
So liefern diese Bruchstücke ein besonders deutliches
Zeugnis für das Streben der älteren Sophisten nach Be-
gründung sittlichen und gesetzlichen Sinnes bei den leitenden
Männern. Sie lassen uns einen Blick tun auch in die Unter-
richtsweise dieser Männer. Näher erinnert der Hinweis auf
die Hilflosigkeit des Menschen in der Vereinzelung an Prota-
goras; die durchgängige Begründung des gesetzlichen Ver-
haltens durch den Hinweis auf den eigenen Vorteil, auf
Sicherheit des Lebens, Ehre und Ansehen, überhaupt durch
Klugheitserwägungen aber stellt Antiphon als Moralisten
ganz auf die Seite des Prodikos. Der Titel der Schrift
fafst alle diese Gedanken in einem einheitlichen Begriffe zu-
sammen. Auch in der Anpreisung der Gesetzlichkeit als
des elementarsten Stückes der Gerechtigkeit durch Sokrates
(Mem. IV. 4, 12—18) finden sich grofsenteils die gleichen
Gedanken wieder, und insbesondere wird auch hier darauf
verwiesen, dafs zur Eintracht überall in den Staaten ermahnt
wird und überall in den griechischen Staaten der Bürgereid
ein Gelöbnis der Eintracht enthält, der Eintracht nicht in
gleichgültigen Dingen, z. B. in den Ansichten über die
Leistungen von Chören, Flötenspielern oder Dichtem, son-
dern als Gehorsam gegen die Gesetze ({5 16).
Über den Grundgedanken der dritten Schrift des Anti-
phon „Über den Staat'' lälst sich aus dem wenigen daraus
Erhaltenen nichts Bestimmtes entnehmen. Doch wird auch
er, wie Protagoras in der gleichbetitelten Schrift, darin
seine Meinung über die beste, d. h. dem allgemeinen Wohl-
sein am meisten dienende Verfassung ausgesprochen haben.
Dafs dies nach seiner Meinung die Republik war, zeigen
schon die vorstehend mitgeteilten Äufserungen. Welche
Form der Republik, ob die aristokratische oder demokra-
tische, ist nicht zu ersehen. Übrigens hat er in dieser
Schrift auch von der Ehe, vom Hauswesen und dergL ge-
handelt.
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A. II. Die Ausartung der Sophistik. 345
II. Die Ausartung der Sophistik.
Über die entartende und entartete Sophistik besitzen
wir noch weniger zuverlässige und unparteiische Nach-
richten als über die ursprüngliche Gestalt. Wir müssen
ihr Bild aus den gefärbten Darstellungen von Gegnern ent-
nehmen.
Der geniale Komödiendichter Aristophanes ist ein
geschworener Feind der die strenge Denkart und Lebens-
haltung der Väter zersetzenden Aufklärung. Sie erscheint
ihm absurd und möralwidrig. Plato fühlt sich in dem
Mafse, in dem seine eigene Weltanschauung sich in ent-
gegengesetzter Richtung ausbildet, mit zunehmender Stärke
von der Sophistik abgestofsen. Auch die ältere Sophistik
war ihm nicht sympathisch gewesen; mit der Erstarkung
seines eigenen Denkens erweitert sich die Kluft zusehends.
Dazu kommt endlich, dafs offenbar bei beiden in das Bild
der Sophistik auch noch Züge von anderen, nach der An-
sicht der beiden Darsteller verwandten Geistesrichtungen
hineingeflossen sind. Das sind aber unsere beiden Haupt-
zeugen.
Angesichts dieser Sachlage läfst sich nichts tun, als
die Grundzüge dieser Schilderungen wiederzugeben unter
dem ausdrücklichen Vorbehalt, dafs für das Mafs ihrer
Geschichtlichkeit eine Bürgschaft nicht übernommen werden
kann.
Diese Zeugnisse sind überdies durch menschenalterlange
Zeiträume voneinander getrennt, in denen selbstverständlich
die Entwicklung nicht stillstand. Wenn wir auch noch
Aristotelesals Zeugen heranziehen, so breiten sie sich
annähernd über ein volles Jahrhundert aus, müssen also
mit Notwendigkeit verschiedene Entwicklungsstufen der
Sophistik betreffen.
Die uns erhaltenen Zeugnisse gruppieren sich folgender-
JuaTsen:
1. Aristophanes' „Wolken": ein Zerrbild des
Sophistentreibens um 423.
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346 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
2. Plato im ersten Jahrzehnt des 4. Jahr-
hunderts: die Sophistik als falsche Staats-
kunst; Gorgias und seine Schule.
3. Plato im zweiten Jahrzehnt des 4. Jahr-
hunderts: die Sophistik als Afterbildung
im Gegensatze gegen die Philosophie.
4. Zeugnisse des Aristoteles um 330.
1. Aristophaiies' „W^olken": ein Zerrbild des
Sophistentreibens um 423.
Ein sehr lebendiges Bild, wie sich ums Jahr 423 das
Treiben der Sophisten dem Kreise der Femerstehenden dar-
stellte, gewährt uns die in diesem Jahre aufgeführte Komödie
des Aristophanes „Die Wolken". Wir besitzen diese Komödie
nur in der Umarbeitung des Jahres 420, die aber, wie es
scheint, nicht zur Aufführung gelangte. Dieses Bild ist
nicht nur, entsprechend der fehlenden Neigung des Zeichners
zu tieferem Eingehen in den wirklichen Tatbestand und
seine Zusammenhänge, ein ungenaues, auf nur oberfläch-
licher Information beruhendes, es ist, entsprechend dem
Zwecke und der Art dieser alten Form der Komödie, geradezu
ein absichtlich verzerrtes, ins Grobe und Ungeheuerliche
gemaltes. Dazu kommt, dafs in ihm die Züge der aus-
klingenden Naturphilosophie, wie sie sich damals in Athen
darstellte, in mutmafslich unhistorischer Weise mit denen
der Sophistik zusammengeflossen sind. So entsteht ein Zerr-
bild des damaligen Sophistentreibens in Athen, wie es sich
im Kopfe des Aristophanes spiegelte. Bei allen Übertreibungen
dürfen wir darin aber doch wohl manche lebenswahre Züge
der damaligen Gestalt der Sophistik erkennen.
Strepsiades, ein Athener alten Schlages, ist durch die
UnWirtschaftlichkeit seiner vornehmen Gattin und die noblen
Passionen seines Sohnes in drückende Schulden geraten.
Er vermag die hohen Monatszinsen nicht zu beschaffen und
versucht daher zunächst, den Sohn zu bereden, in die Lehr-
anstalt des Sokrates einzutreten, wo man gegen Bezahlung
aufser allerlei naturwissenschaftlichen Kenntnissen auch die
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A. IL 1. Arißtoph. „Wolken": ein Zerrbild des Sophistentreibens. 347
Kunst beigebracht bekommt, sich durch Rednerkttnste recht-
lichen Verpflichtungen zu entziehen, Unrecht in Recht zu
verwandeln. Er soll dort die „schwächere", d. h. der
schwächeren Sache dienende oder, wie er sie auch nennt, die
ungerechte Rede erlernen, vermöge deren man auch die
allerungerechteste Sache gewinnen und die Gläubiger um
die ganze Schuld bringen kann. Ironisch überträgt er auf
diese modernen Helden die alte Bezeichnung der „Schönen
und Guten" (V. 101), die sie ja selbst in veränderter Be-
deutung für sich in Anspruch nahmen.
Dafs hier durch einen beklagenswerten Irrtum des
übermütigen Dichters die ehrwürdige Gestalt des Sokrates
zum typischen Vertreter dieses Treibens gemacht wird,
kommt für den gegenwärtigen Zweck nicht in Betracht und
hat uns erst in dem von Sokrates handelnden Kapitel zu
beschäftigen.
Da der Sohn sich weigert, meldet sich Strepsiades
selbst als Schüler an. Er findet die Forscher mit natur-
wissenschaftlichen Problemen beschäftigt, z. B. wie weit ein
Floh springt, nach seinen eigenen Füfsen gemessen, und er-
sieht daraus hoflFnungsfreudig die zu erwartende Verstandes-
verfeinerung, vermöge deren er kinderleicht den Gläubigern
wird entgehen können. Auch das macht ihn in seiner Be-
geisterung nicht irre, dafs, wie ihm berichtet wird, der
Meister tags zuvor einem augenblicklichen Mangel an Sub-
sistenzmitteln durch einen ganz gemeinen Kleiderdiebstahl
abgeholfen hat. Im übrigen zeigen sich ihm Schüler und
Meister überwiegend mit naturphilosophischen Spekulationen
beschäftigt. Wie namentlich der letztere, entsprechend der
Lehre des Diogenes von Apollonia, im Hängekorb
durch die reinere Luftschicht der höheren Region sein Denk-
vermögen steigert, ist schon früher erwähnt worden. Es ist
deutlich, dafs der Dichter auch die damals in Athen ihr
Wesen treibenden Nachzügler der Naturphilosophie in sein
buntes Bild des Sophistentreibens hineingezogen hat. Augen-
scheinlich dienen sie ihm zur Begründung des religiösen
Radikalismus der Sophistik, von dem wir alsbald eine Probe
erhalten. Denn als Strepsiades sein Anliegen vorbringt, die
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348 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Redekunst, die sich der Schuldenzahlung zu entziehen weifs,
gelehrt zu bekommen, und bei den Göttern schwört, das ge-
forderte Honorar zahlen zu wollen , verweist ihm Sokrates
dies veraltete Gebaren und verspricht Einführung in die
Erkenntnis der Wolken als der wahren Götter, die denn
auch alsbald als der Chor der Komödie heranschweben und
sich als die eigentlichen Weltregentinnen kundgeben. Sie
sind, wie Sokrates ihn belehrt, auch die eigentlichen
Spenderinnen der trügerischen Redekunst, wohl in dem-
selben Sinne, wie nach Diogenes von Apollonia die Luft,
deren Umbildung der Wolkendunst ist, den Verstand nährt
und verfeinert. Das Chaos (der leere Raum!), die Wolken
und die Zunge, das ist die Dreiheit der fortan zu glaubenden
Götter (V. 422 f.). Aufserdem wird auch noch der Wirbel,
durch den die Welt geworden, als Gott proklamiert. Er
empfängt die Verheifsung, der Gläubigemot geschickt ent-
gehen zu lernen; auf eine politische Rolle ist sein Ehrgeiz
nicht gerichtet.
Leider aber zeigt sich sein hausbackener Sinn, der
einzig auf die ungerechte Rede erpicht ist, für die sonstigen,
ihm zugemuteten Lehren aus Metrik, Rhythmik, Grammatik
völlig verständnislos, und er empfängt schliefslich wegen
völliger Unfähigkeit den Rat, den Sohn statt seiner herzu-
senden. Mantel und Schuhe, beim Beginn des Studiums ab-
gelegt, erhält er nicht zurück. Vor dem nunmehr der Lehr-
anstalt zugeführten Sohne treten sodann die beiden „Reden*',
die gerechte und die ungerechte, persönlich im Wortgefechte
einander entgegen, der gerechte Redner zugleich als Lob-
redner der guten alten Zeit mit ihrer Schlichtheit, Einfalt
und Sittenstrenge, der ungerechte als Verteidiger der
modernen Unsitten und der modernen Schamlosigkeiten,
Da dieser neue Geist der herrschende geworden, mufs sich
schliefslich der Redner der Gerechtigkeit besiegt erklären.
Bald empfängt Strepsiades den Sohn als angeblich aus-
gelernten Rabulisten und Rechtsverdreher zurück. Er selbst
fertigt auf ergötzliche Weise einige Gläubiger ab, mufs aber
bald die Folgen der neuen Bildung des Sohnes am eigenen
Leibe erfahren. Der Sohn prügelt ihn durch und Ix^.weist
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A. IL 2. Gorgias and seine Schale. 349
ihm, dafs dies aus derselben Liebe, also mit demselben
Rechte geschieht, mit dem einst der Vater ihn geprttgelt
hat, da ja der Alte doppelt Kind geworden. Die alten
Sitten sind nur entstandene Satzung von zeitweiser Geltung ;
man kann sie jederzeit durch neue ersetzen.
Der Alte erkennt seinen Irrweg, kehrt zu den alten
Göttern zurück und wendet sich mit Axt und Fackel gegen
die Sophistenschule, um sie zu vernichten.
2. Plato Im ersten Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts :
die Sophlstik als flalsche Staatskunst. Gorgrias und
seine Schule.
Die Wirksamkeit des Gorgias im eigentlichen Griechen-
land begann bereits im Jahre 427. Die platonischen Zeug-
nisse im „Menon^ und „Gorgias** gehören ungefähr den
Jahren 395 oder 394 an. Sie zeigen also, wie sich um diese
Zeit das Bild des gorgianischen Wirkens im Geiste Piatos
darstellte. Ehe wir aber auf diese Schilderungen eingehen,
mufs angegeben werden, was über das Leben und Wirken
des Gorgias bis zu diesem Zeitpunkte bekannt ist.
Im Jahre 427 erschien der bis dahin im eigentlichen
Griechenland wenig bekannte Gorgias als Gesandter seiner
Vaterstadt Leontini in Sizilien in Athen und machte durch
die dort bisher unbekannte kunstvolle Art seiner Bered-
samkeit einen tiefen Eindruck. An dieses Auftreten schlofs
sich eine dauernde Tätigkeit als hochbezahlter Wanderlehrer
(Plat. Hipp. maj. 282 B). Mit diesem Wirken des Gorgias
beginnt die Ausartimg der Sophistik nach der einen Rich-
tung, dafs nicht mehr das Wohl der Gesamtheit als Ziel
der Ausbildung erscheint, sondern der eigene Vorteil der
höhergebildeten leitenden Männer, die Ausbeutung des
Staates für ihre eigenen Interessen, wenn auch zunächst
nicht durch offene Gewalt, sondern durch die Macht einer
kunstvollen Beredsamkeit. Die sittliche Seite der Erziehung
kommt in Wegfall; die „Tugend", zu der angeleitet wird,
hat mit sittlichen Eigenschaften und Zwecken nichts mehr
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350 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
ZU tun, sondern ist nur noch Geschicklichkeit, die Menschen
zu leiten und nach den eigenen Zwecken zu bestimmen.
Gorgias war zur Zeit jenes Auftretens in Athen viel-
leicht schon 55 Jahre alt und hatte verschiedene Wand-
lungen durchgemacht. Geboren etwa 482, war er ungefähr
gleichaltrig mit Protagoras und erheblich älter als Prodikos
und Hippias, auch als Sokrates. Aber sein einschneidendes
Wirken beginnt erst seit 427.
Ursprünglich Anhänger des naturwissenschaftlichen
Systems des Empedokles (D. L. VIII. 58), das vielleicht
schon vor 460 in Sizilien hervorgetreten war, scheint er
auch noch im Alter als sophistischer Wanderlehrer gelegent-
lich von den Lehren dieses Systems Gebrauch gemacht zu
haben (Fiat. Men. 78 C). Als ein beweglicher Geist scheint
er dann aber unter den Einflufs der Dialektik Zenos ge-
raten zu sein. Vielleicht lenkte zuerst die von Zeno in
späterem Lebensalter gegen das Natursystem des Empedokles
gerichtete Kritik seine Aufmerksamkeit auf diese Richtung.
Diese auf Widerlegung der natürlich - menschlichen Be-
trachtungsweise gerichtete Beweisart mufs seinen Scharfsinn
gereizt haben, und er lieferte in seiner Schrift „Über die
Natur oder über das Nichtseiende" (S. Emp. Dogm. I. 65)
eine Argumentation, die das von jenem in der Widerlegung
der herkömmlichen Betrachtungsweise Geleistete weit über-
bot, zugleich aber ins Fratzenhafte und Abgeschmackte ver-
zerrte. Er bewies in dieser Schrift drei Sätze: 1. Es ist
nichts. 2. Wenn etwas wäre, könnten wir es nicht er-
kennen. 3. Wenn etwas wäre und wir es erkennen könnten,
könnten wir diese Erkenntnis nicht mitteilen. Über sein
Beweisverfahren sind uns nur lückenhafte und nicht ganz
zuverlässige Berichte erhalten (Ps.-Arist. MXG. 979 f. ; S.
Emp. Dogm. I. 65 flF.) , die aber ausreichen , um uns eine
Vorstellung von dieser seltsamen Argumentationsweise zu
geben.
Den ersten Satz bewies er teils direkt, teils indirekt.
Der direkte Beweis bestand, auf die einfachste Form ge-
bracht, in folgender Schlufskette. Nichtsein ist Nichtsein.
Also: Nichtsein ist (Verwechslung von „ist** als Kopula und
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A. IL 2. Gorgias und seine Schule. 351
als Aussage über Existenz). Hieraus folgt entweder, wenn
das Sein als das Gegenteil des Nichtseins angenommen wird,
dafs das Sein nicht ist. Oder es folgt, wenn das Sein als
dasselbe wie das Nichtsein angenommen wird, ebenfalls, dafs
das Sein nicht ist. Beide Folgerungen stehen freilich im
vollen Widerspruch mit dem zweiten Satze, nach dem das
Nichtsein ist. Trotzdem glaubte er auf diese Weise bewiesen
zu haben, dafs nichts ist. (Dieser direkte Beweis nach
MXG. 979 , 23 flF. wird hier ausdrücklich als seine eigene
Erfindung bezeichnet; weniger deutlich S. Emp. Dogm.
I. 06 f.)
Der indirekte Beweis geht von der Annahme aus, dafs
etwas sei. Dann müfste es entweder geworden oder un-
geworden sein. Beides wird mit törichten Verrenkungen,
deren Einzelheiten wir uns ersparen können, als unmöglich
erwiesen. Also ist auch die gemachte Voraussetzung un-
möglich. Ferner müfste, wenn etwas wäre, dies entweder
ein Einheitliches oder ein Vielfaches sein. Beides wird als
unmöglich erwiesen. Gleiches Resultat: es ist nichts. Er
scheint auch noch einen dritten indirekten Beweisgrund bei-
gebracht zu haben. Wenn etwas wäre, müfste es sich ent-
weder bewegen oder bewegt werden (entweder bewegen oder
ruhen?). Auch hier das gleiche Resultat (dies nur MXG.
980, 3 flF., doch wohl nur lückenhaft erhalten). Bei diesen
indirekten Beweisen konnte er sich, wie auch ausdrücklich
hervorgehoben wird (MXG. 979, 22 f.; 6, 22, 25), teilweise
der Vorarbeit des Zeno bedienen, von dem wenigstens für
die eine Seite der aufgestellten Gegensätze, für das Nicht-
gewordensein , gegen die Vielheit und Bewegung, schon die
Beweise geliefert worden waren.
Aber auch wenn etwas wäre, könnte es nicht erkannt
werden. Er bewies dies gesondert für die beiden vermeint-
lichen Mittel der Erkenntnis, das Denken und die Wahr-
nehmung (S. Emp. Hyp. II. 64), doch ist auch hier seine
Beweisführung nur unvollständig erhalten. Wenn das Ge-
dachte gleich dem Seienden wäre, so müfste alles, was wir
denken, auch sein, und umgekehrt müfste etwas Nicht-
seiendes nicht gedacht werden können. Es müfste also
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352 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
fliegende Menschen oder ein Wagenrennen auf dem Meere
geben, da wir solches denken (d. h. phantasiemäfsig vor-
stellen!) können. Oder aber wir müfsten aufser stände
sein, NichtSeiendes, z. B. eine Scylla oder eine Chimaira
und dergl., vorzustellen. Oder: wenn unsere Gedanken
wahr sein sollten, müfsten sie entweder die Dinge selbst
oder doch den Dingen völlig gleich sein, z. B. weifs, wenn
wir etwas Weifses denken (S. Emp. 77 f.). Seine Beweis-
führung gegen die Sinneswahrnehmung ist nicht erhalten.
Und endlich: wenn etwas w&re und erkannt werden
könnte, so könnte diese Erkenntnis doch nicht mitgeteilt
werden. Die Mitteilung müfste durch Worte geschehen.
Die Worte bewirken eine bestimmte Art von Sinneswahr-
nehmungen, die aber nichts gemein haben z. B. mit den
Wahrnehmungen der anderen Sinne, die durch das Wort
übermittelt werden sollen, z. B. mit der Vorstellung eines
Geschmacks, Geruchs, einer Farbe. So wenig ein Geruch
eine Gesichtsvorstellung übermitteln kann, so wenig ist der
Gehörseindruck des gesprochenen Wortes dazu im stände.
Ebenso ist aber auch der in mir vorhandene Gedanke vom
Laute des Wortes durchaus verschieden und kann daher
durch den Laut nicht übermittelt werden. Dazu kommt in
beiden Fällen, beim Wahrgenommenen wie beim Gedachten,
dafs die Vorstellung, die beim anderen auf Grund der Rede
entsteht, unzweifelhaft etwas anderes und nicht einerlei ist
mit der Vorstellung in der Seele des Mitteilenden. Dies ist
in dem Sinne zu verstehen, dafs doch nicht dieselbe, iden-
tische Vorstellung den Redenden verlassen hat und zum
Hörenden hinübergewandert ist.
Diese kindlichen, aber auf ein noch ungeschultes Denken
verblüffend wirkenden Begriffsspielereien konnten für Gorgias
selbst nur die Bedeutung haben, seine Überzeugung von
einer unbedingt gewissen Wahrheit zu erschüttern. Ernst-
lich glauben konnte er, wenn auch damals der Gedanke,
dafs doch wenigstens das BewuCstsein seiner selbst als des
in dieser Weise Argumentierenden und Zweifelnden als etwas
unbedingt Gewisses ihm gegeben sei, noch aufserhalb des
allgemeinen Vorstellungskreises lag, an derartige unerhörte
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A. II. 2. Gorgias und seine Schule. 353
Besultate des spintisierenden Scharfsinns nicht. Doch mochte
immerhin die Möglichkeit, durch ein solches Raisonnement
alles in Schein aufzulösen und in der Verneinung jeder
sicheren Erkenntnis viel weiter zu gehen als Protagoras,
bei ihm mit zu dem Entschlufs beitragen, sich ganz auf die
praktische Seite zuwerfen und der Kunst der Menschen-
leitung durch die Rede sich zuzuwenden, die es fertig
bringt, durch die Kraft des eigenen Geistes dem für das
eigene Interesse förderlichen Schein in der Überzeugung
der Menge Wirklichkeit zu leihen. Die Anregung zur Aus-
bildung der Redekunst zu einer durch lehrbare Regeln be-
stimmten Fertigkeit soll schon von Empedokles gegeben
worden sein (D. L. VIII. 58). Jedenfalls hat die Rhetorik
sich in Sizilien seit etwa 450 entwickelt. Die drei Rich-
tungen, denen er nacheinander gehuldigt hat, die Natur-
forschung, die Dialektik und die Rhetorik, werden auch in
der einen der beiden erhaltenen Gorgias zugeschriebenen
Musterreden, de r Helena, unterschieden (§ 13).
Die Zeugnisse für diese letzte Wendung in der Wirk-
samkeit des Gorgias findet sich bei Plato, und zwar vor-
nehmlich in den Dialogen Menon und Gorgias, die beide
erst dem ersten Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts angehören.
Es kann aber nicht bezweifelt werden^ dafs Gorgias schon,
als er 427 seine Wandertätigkeit im eigentlichen Griechen-
land begann, diese Wendung vollzogen hatte.
Die charakteristischen Züge dieses Wirkens sind folgende:
1. Zweck der leitenden Tätigkeit im Staate ist nicht das
Gesamtwohl, sondern der eigene Vorteil; die Regierungs-
kunst ist auf Ausbeutung des Gemeinwesens gerichtet. Der
Leitende bedarf daher keiner sittlichen Ausbildung. 2. Dieser
Zweck soll aber nicht durch Gewalt verwirklicht werden,
sondern scheinbar freiwillig sollen alle dem Interesse des
leitenden Mannes dienen. Dies wird erreicht durch das
Mittel der Redekunst (Phileb. 58 B).
Folgen wir zunächst den Zeugnissen im „Menon^. Der
junge Menon erscheint ganz und gar als Schüler des
Gorgias und spiegelt dessen Denkweise genau wieder (Menon
7 IC, 73 B, 79 E, 95 C, 96 D). Da ist denn zwar, wo Menon
Döring. I. 28
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354 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
das von Gorgias Überkommene wiedergibt, wohl noch von
„Tugenden" die Rede, aber er versteht darunter nur Fertig-
keiten und Geschicklichkeiten, deren man sich zum eigenen
Vorteil bedient. Die „Tugend" des Mannes besteht darin,
die Angelegenheiten des Staates so zu verwalten, dafs ihm
und seinen Genossen daraus Vorteil, seinen Feinden aber
Nachteil erwächst. Die dem herrschenden Manne Dienst-
baren haben nicht ihr eigenes Interesse zu verfolgen, son-
dern dasselbe als gehorsame Werkzeuge dem des Gebietenden
unterzuordnen. Die Tugend der Frau besteht darin, dem
Manne die Sorge für das Hauswesen abzunehmen, dabei
aber ihm untertänig und gehorsam zu sein. Ähnlich wohl
wird es mit der „Tugend" der Kinder und Sklaven stehen,
obwohl darüber Näheres nicht angegeben wird (Men. 71 D f.).
Sokrates findet auf diese Auskunft über das Wesen der
Tugend, das sei ja nichts Einheitliches, sondern ein ganzer
Bienenschwarm von Tugenden (72 A). Auch Aristoteles
(1260, 26) bezeugt (freilich vielleicht nur auf Grund dieser
platonischen Darstellung), dafs Gorgias die Tugenden nur
aufgezählt habe.
Aber auch, als nun Menon im Dialoge sich bemüht, aus
eigenen Mitteln einen einheitlichen Begriff der Tugend auf-
zustellen, kommt er über diesen Gedanken einer dem eigenen
Vorteil dienenden Fähigkeit nicht hinaus. Er bestimmt diese
einheitliche Tugend als die Fähigkeit zu herrschen (78 C),
oder sich das Gute, d. h. Güter, gute Dinge (780), zu ver-
schaffen und dergl. Ja, er gesteht offen, das am Gorgias
vornehmlich zu schätzen, dafs er nie sich anheischig mache,
sittliche Tugend zu lehren, vielmehr über die anderen
Sophisten, die solches in Aussicht stellten, nur lache, selbst
aber die Ausbildung tüchtiger Redner Yür sein einziges Ziel
erkläre (95 C).
Auch in einer anderen Beziehung noch ist dieser
Gorgiasschüler lehrreich. Gegenüber dem Bemühen, den
Begriff der Tugend zu finden, bringt er den Satz vor, wenn
man nicht schon wisse, was etwas sei, könne man es nicht
suchen und selbst, wenn man es durch Zufall fände, könne
man nicht wissen , dafs man es gefunden habe , da man es
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A. II. 2. Gorgias und seine Schule. 355
ja nicht kenne. Ein Satz, der dann sofort dahin erweitert
wird, man könne weder, was man wisse, noch was man
nicht wisse, erforschen. Wisse man etwas, so bedürfe es
der Erforschung nicht; wisse man es nicht, so sei die Mög-
lichkeit, es zu suchen, ausgeschlossen (80 E). Hier, scheint
es, hat sich noch ein Rest jener alten Dialektik in der
späteren Lehrtätigkeit des Gorgias erhalten.
Die ausführlichste Auskunft aber über diese endgültige
Wendung in den Bestrebungen des Gorgias gibt der nach
ihm benannte Dialog Piatons. Hier bekennt er sich selbst
als Lehrer der Redekunst. Die Redekunst verhilft dem
Menschen zum gröfsten und besten Gewinn, den ein Mensch
erlangen kann (451 D), und dieser gröfste Gewinn besteht
darin, dafs er in dem Staatsverbande, zu dem er gehört,
sich selbst frei bewegt und andere beherrscht. Er bestimmt
durch seine Rede die Geschworenen im Gericht, die Rats-
herrn im Rate, die Bürger in den Volksversammlungen
nach seinem Willen (452 D f.). Gorgias gibt zwar zu, dafs
es sich bei solchen Unterredungen um Recht und Unrecht
handelt, aber nicht um eine sachliche Ermittelung von Recht
und Unrecht, sondern um ein blofses Meinen darüber und
zwar, wie er weiter ausführt, um ein Meinen zu Gunsten
des Redenden selbst, also um eine Auslegung des Rechtes
im Sinne des eigenen Vorteils (454 B flF.). Er macht jedoch
scBliefslich Sokrates das Zugeständnis, dafs der Redner von
der in seiner Kunst liegenden Gewalt über die Menschen
einen gerechten Gebrauch machen soll (457 B), und dafs
der Lehrer der Redekunst seinen Jüngern auch die Kenntnis
der Gerechtigkeit beibringen müsse, ja, dafs der Redner
immer den Willen haben müsse, gerecht zu handeln (459 D flF.).
Er hat sich damit, da er von der Durchsetzung der selbst-
süchtigen Absichten des Redners als dem eigentlich Wert-
vollen in der Redekunst ausging, in einen Widerspruch
verwickelt, der zwar der Anständigkeit seiner Gesinnung,
nicht aber der Klarheit sines Denkens Ehre machte
(461 B f.).
Der Fortgang des Gesprächs zeigt, wie im weiteren
Verlaufe dieser Entwicklung der schlimme Grundgedanke
28*
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356 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
die ursprünglich noch vorhandene Hemmung überwältigt.
Wir haben es aber für jetzt nur mit Gorgias selbst zu tun.
Es sind daher nun auch die äufseren Data über den Ver-
lauf seines Wirkens beizubringen.
Gorgias betrieb sein Geschäft als Lehrer der Redekunst
von jenem Zeitpunkte seines ersten Auftretens in Athen an
noch über 40 Jahre lang mit dem gröfsten Erfolge an Ehre
und Geld. Er soll in voller Geistesfrische ein Alter von
109 Jahren erreicht haben. Bildsäulen wurden ihm gesetzt.
Seine Honorarforderung wird, wie bei Protagoras, auf
7500 Mk. angegeben, gewifs mit derselben Übertreibung wie
bei Protagoras. Über sein Lehrverfahren berichtet Cicero
(Ein. IL 1), er habe seine Zuhörer aufgefordert, ein ihnen
erwünschtes Thema zu nennen und darüber dann sofort un-
vorbereitet in zusammenhängender Rede gesprochen. Im
höheren Alter scheint er das Wanderleben aufgegeben und
sich in Larissa, wo die Jugend des thessalischen Adels ihm
zuströmte, einem mehr sefshaften Betriebe seines Unterrichts
gewidmet zu haben. Dort ist auch der junge Menon sein
Schüler gewesen. Da dieser sich bei Plato noch mit dem
399 gestorbenen Sokrates unterredet und 400 am Feldzuge
des jüngeren Cyrus teilnahm, so müfste Gorgias schon vor
diesem Zeitpunkte den Wohnsitz in Larissa gewählt haben.
Genaueres ist jedoch über diese lange Zeit seines Wirkens
und über seinen Tod nicht bekannt. '
Im platonischen Gorgias nun tritt an Stelle des Gorgias
als zweiter Unterredner dessen jugendlicher Schüler Polos,
ebenfalls als Lehrer der Redekunst bekannt (Z. 1069, 1).
Er preist die Redekunst, weil sie die Macht verleiht zu
töten, Vermögen einzuziehen, zu verbannen nach Gutdünken
wie ein Tyrann (466 B), um des eigenen Vorteils willen
(468 D). Sein eigentliches Ideal ist die Gewaltherrschaft.
Er hält den tyrannischen Herrscher von Macedonien und
den Perserkönig wegen ihrer unumschränkten Macht für
glücklich (470 D f.). Die Beredsamkeit ist also eigentlich
nur ein schwächerer Notbehelf, um annähernd zum gleichen
Ziele zu kommen« Jedenfalls erklärt er den erfolgreich
Ungerechten für glücklich, wenn es ihm gelingt, sich der
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A. II. 2, Gorgias und seine Schule. 357
verdienten Strafe zu entziehen (472 E). Auch Polos aber
zeigt noch eine gewisse Gutartigkeit und Scheu vor den
letzten Konsequenzen, indem er schliefslich zugibt, dafs
Unrechttun für den Täter schädlich sei (475 C f.). Ja , er
macht, wenn auch mit Widerstreben, das Zugeständnis, dafs
die sittliche Schlechtigkeit Krankheit der Seele und die
strafende Gerechtigkeit die Heilkunst dafür sei, und dafs
der selbstische ßedekünstler sich nur selbst der wahren
Wohltat solcher Heilung entziehe, wie beim Leibe die Kunst,
sich zu putzen, die körperlichen Schäden versteckt, statt
Heilung zu suchen (bis 481 B).
Als entschiedenster Verfechter der Konsequenzen dieser
Ausartung der Sophistik tritt sodann Kallikles auf. Von
ihm ist sonst nichts bekannt. Es ist zweifelhaft, ob er
eine geschichtliche Person ist (Z. 1071, 1), doch wird er
im Dialog wie eine wirklich in Athen lebende Persönlichkeit
behandelt (487 C, 495 D). Vielleicht wird hier eine in Athen
bekannte Persönlichkeit nur unter verändertem Namen auf-
geführt. Er steht auf dem Standpunkte, dafs das vorstehend
Zugegebene nur im Sinne der Satzung gilt, während die
Stimme der Natur in allem für das diametral Entgegen-
gesetzte eintritt. Die Satzung ist der Schutz, den die
Schwachen sich gegen die Übermacht der Starken schaffen.
Die Natur wie die Geschichte zeigt tiberall nur den Kampf
ums Dasein. Philosophie ist eine Kinderei, gut genug für
das Erziehungsalter, dem wirklichen Leben fremd (482 E flf.).
Das Recht des Stärkeren ist die Gerechtigkeit der Natur
(488 B; 490 A). Die Überlegenheit der Natur besteht in
Mannhaftigkeit und Herrschertüchtigkeit (491 C f.). Starke
Begehrlichkeit ist das Gute und Gerechte nach der Natur,
die wahre Tugend, Besonnenheit und Selbstbeherrschung
Narrheit (ib. E flF.). Das Gute ist die Lust (495 A). Dafs
Kallikles diese Anschauungen im Laufe der Unterredung
mit Sokrates aufgebe, tritt nicht hervor.
Auch Kallikles wird von Plato als ein anhänglicher und
verehrungsvoller Schüler des Gorgias bezeichnet (497 C,
501 C). Unzweifelhaft hat daher Plato durch die Aufeinander-
folge der drei Unterredner, des Gorgias und seiner beiden
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I
358 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophistea und Sokrates etc.
Schüler, die Fortentwicklung der von Gorgias eingeführten
Weise der Ausbildung bis zur völligen Verneinung der sitt-
lichen Verpflichtung darstellen wollen. —
. Im Anschlurs an diese Darstellung mufs noch eine
Gestalt Erwähnung finden, die von Plato zwar nicht in
direkten Zusammenhang mit Gorgias gebracht wird, die
aber das, was bei Gorgias und seinen Schülern nur als letzte
Konsequenz hervortritt, die offene Gewalttat im Dienste
selbstischer Ausbeutung des Staates, als das eigentliche
Wesen und ausschliefsliche Ziel der Herrscherkunst vertritt.
Das ist der Thrasy machos in dem um 390 verfafsten
ersten Buche des platonischen Dialogs vom Staate. Bei ihm
handelt es sich nicht um die unmerklich, unter dem Scheine
der Freiwilligkeit überführende Redekunst, sondern die
Kunst des Herrschens ist ihm offene Gewalttat, ungeschminkte
Anwendung des Rechtes des Stärkeren.
Thrasymachos ist eine geschichtliche Persönlichkeit, doch
ist über den Bildungsgang und die Geistesrichtung des
geschichtlichen Thrasymachos so gut wie nichts bekannt.
Nach Cicero (De orat. III. 128) hat er vieles über die
Natur geschrieben; in welchem Sinne, erfahren wir aber
nicht. Nach zwei Erwähnungen bei Plato femer (Phädr.
2610, 266 C) stammte er aus Ghalcedon und hatte Regeln
der Redekunst veröffentlicht, besafs auch selbst in hervor-
ragendem Mafse die Geschicklichkeit, durch die Rede die
Gefühle der Zuhörer anzustacheln oder zu beschwichtigen.
Auch Aristoteles (183b, 32) kennt ihn als Theoretiker
der Redekunst.
Dieser nun greift im platonischen Dialoge in leiden-
schaftlicher Weise in eine Unterredung über das Wesen der
Gerechtigkeit ein. Wie ein zum Sprunge ausholendes Raub-
tier fährt er dazwischen, macht gebieterisch Vorschriften,
wie die Unterredung geführt werden soll, und verlangt von
Sokrates für die Belehrung, die er ihm erteilen wird, Geld
(336 B flf., 337 D). Er versteht unter Gerechtigkeit im Staats-
leben das den Stärkeren, den die Staatsgewalt in Händen
Haltenden, Zuträgliche (338 C, 339 A). Diese beuten die
Schwäche und Einfalt der Volksgenossen zu ihrem eigenen
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A. IL 8. Die Sophistik als Afterbildung. 359
Vorteil aus, indem sie das ihnen selbst Vorteilhafte als
Gesetz aufstellen und den Übertreter als Widerspenstigen
und Ungerechten bestrafen. Nicht kleinliche Beutelschneiderei,
sondern Gewalttat im grofsen Stile, die nicht nur das Privat-
eigentum, sondern auch den Besitz des Staates an sich reifst
und auch vor dem in Tempeln unter Götterschutz Nieder-
gelegten nicht zurückweicht, steht dem Mächtigen zu. Die
Tyrannis ist sein Ideal, der seiner Unersättlichkeit Genüge
tuende Ungerechte ist der Glücklichste, der Gerechte der
Unglücklichste. Die Gerechtigkeit (im herkömmlichen Sinne)
ist i,fremdes Gut**, d. h. sie fördert einen anderen, den
Starken und Herrschenden, während sie dem einfältigen
Gerechten, der gehorcht und dient, nur zum Schaden ge-
reicht (3430, 344, 348 D). Die Gerechtigkeit ist eine brave
Gutmütigkeit, die Ungerechtigkeit Klugheit und Tüchtigkeit.
Auch für Völker und Staaten untereinander soll dies Recht
des Stärkeren gelten (348 C f.). Die Herrscherkunst unter-
scheidet sich also nach Thrasymachus dadurch von allen
übrigen Künsten, wie der des Arztes oder Steuermannes,
dafs sie nicht zum Besten derjenigen geübt wird, an denen
sie sich betätigt, sondern zum Besten der Ausübenden, und
in diesem Sinne verwendet er das Bild des Hirten , der ja
auch seine Herden nur für eigenen Genufs oder um des
Gelderwerbs willen weidet und pflegt (341 C flf., 343 A f.,
3450 flf.).
8. Plato im zweiten Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts:
die Sophistik als Afterbildune: im Oegrensatze gegen
die Philosophie.
Im Geiste Piatos hat sich, nachdem er sein eigenes
System gefunden hat, die Philosophie mehr und mehr als
eine Führerin nicht sowohl für die Betätigung im öffent-
lichen Leben als vielmehr für eine wahrhaft befriedigende
Gestaltung des eigenen Lebens, als Bildung im höchsten
Sinne des Wortes, herausgestellt. Mit diesem Mafsstabe
gemessen erscheint ihm denn nun, was die Sophisten als
Geistesbildung anbieten, unsäglich minderwertig und ver-
ächtlich. Er empfindet das Bedürfnis, diese Minderwertigkeit,
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360 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
diesen Kontrast gegen sein eigenes Lebensideal, in der
stärksten Weise zum Ausdruck zu bringen. Dies geschieht
in den beiden Dialogen „Euthydemos" und „Sophistes",
beide etwa um 388 oder wenig später verfafst.
Im „Euthydemos" hat Plato einen bestimmten Anlafs,
die währe Philosophie der falschen gegenüberzustellen, I so-
krates (geb. um 435 oder 433) war um 390 in seiner
,, Sophistenrede" für die rednerische Bildung im Gegensatze
zur philosophischen als das wahre Bildungsideal aufgetreten.
Um dies zu erweisen, scheint er aufser dem Kyniker
Antisthenes vornehmlich die zur Zeit sich breitmachenden
Sophisten, die er verächtlich beurteilt, als die wahren Ver-
treter der Philosophie der Zeit hingestellt zu haben. In-
folge dieser Vereinerleiung fiel mit der Sophistik auch die
Philosophie. Da die Rede nur unvollständig erhalten ist,
läfst sich nicht beurteilen, in welcher Weise er den Angriff
auf die Sophistik zugleich als einen Angriff auf die Philo-
sophie überhaupt durchführte. Doch wird er auch im
„Euthydemos" als ein solcher bezeichnet, der die verächt-
lichsten Sophisten als die gefeiertsten Vertreter der Zeit-
philosophie bezeichnete und damit die Philosophie selbst als
gerichtet betrachtete (304 D ff.).
Gegen diese Vereinerleiung tritt daher Plato im Euthy-
4emos auf, indem er in einem Gemälde von höchster drama-
tischer Kraft und Spannung die angesehensten unter den
damaligen Sophisten, das Bruderpaar Euthydemos und
Dionysodoros (304 E f.), sich in ihrer ganzen bodenlosen
Nichtigkeit darstellen läfst und ihnen in der Gestalt des
Sokrates die von Isokrates verkannte wahre Philosophie
gegenüberstellt. Wir haben es an dieser Stelle nur mit der
Schilderung des Treibens der beiden Sophisten zu tun; das
Gegenbild der wahren Philosophie gehört in den Entwick-
lungsgang Piatos.
Nach unserem Dialog stammten die beiden Brüder aus
Chios und waren nach Athen gekommen, nachdem sie in
der unteritalischen Stadt Thurii ausgewiesen worden waren
(271 C, 288 A). Bis vor kurzem waren sie als Lehrer des
Kampfes in voller Rüstung und der Kriegskunst überhaupt
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A. IL d. Die Sophistik als Afterbildung. 361
aufgetreten (273 C, E). In letzterer Eigenschaft erscheint
Dionysodor auch in den Denkwürdigkeiten Xenophons (III. 1),
also etwa um 410 — 400. Neuerdings sind sie als Lehrer
der Gerichtsrede, also der Hilfsmittel bei Verteidigung und
Anklage, aufgetreten (272 A, C). Sie geben sich aber auch
für Tugendlehrer aus (273 E) und rühmen sich, von allen
jetzt lebenden Menschen am besten sich auf Erweckung des
Strebens nach Tugend zu verstehen (274 E). Dafs sie aber
unter Tugend nicht sittliche Tüchtigkeit, sondern nur eine
gewisse Gewandtheit und Geschicklichkeit verstehen, sich
unter allen Umständen aus der Aifaire zu ziehen und den
Gegner zu verblüffen, wird die Schilderung Piatos lehren.
Tugend ist ihnen danach nur der weitere Begriff dessen,
von dem ein besonderes Teilstück die Prozefskünste bilden,
die durch unerwartete Wendungen den Gegner aus der
Fassung bringen und die Geschworenen verwirren.
Nach einem anderen Zeugnis Piatos (Kratyl. 386 C) ver-
trat Ethydemos den Satz, dafs allen Dingen alles auf
gleiche Weise zugleich und immer zukomme.
Dieser Satz ist offenbar, wie die Erkenntnislehre des Prot-
agoras, aus der heraklitischen Seinslehre abgeleitet.
Doch fehlt hier das gesinnungsvolle Streben des Protagoras,
von diesen Voraussetzungen aus zu einer normalen und
allgemeingültigen Erkenntnis zu gelangen. Der obige Satz
bleibt bei der den Herakliteem eigenen rückhaltlosen
Leugnung des Widerspruchsgesetzes, bei der Behauptung,
dafs das Widersprechende zugleich den Dingen zukommen
könne, stehen, vermutlich, weil daraus die gesinnungslosen
Künste der Verdrehung von Tatsachen und Rechtsbegriffen
am leichtesten abgeleitet werden konnten. Entsprechend
berichtet auch Sextus Empiricus(Dogm. I. 48), Dionyso-
dor habe kein Wahrheitsmerkmal anerkannt, wozu jedoch
nicht recht stimmt, wenn derselbe Autor (ib. 64) beiden
Brüdern ein relativ gültiges Wahrheitsmerkmal beilegt und
sie in dieser Beziehung an Protagoras anschliefst. Die An-
gaben des Sextus scheinen hier nicht auf besonders genauen
und zuverlässigen Quellen zu beruhen.
Wenn wir dagegen der Schilderung Piatos im Euthy-
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362 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
demos folgen, so haben die beiden Brüder sich absolut nicht
um folgerichtige Ableitung ihres Verfahrens aus einer Seins-
lehre oder einem Erkenntnisprinzip gekümmert. Nirgends
tritt ein solcher Rückgang hervor. Ihr Haupthilfsmittel ist
sprachliche Verdrehung, und als ihnen vorgehalten wird,
dafs ihre Behauptungen mit ihren kurz vorher abgegebenen
Erklärungen im offenen Widerspruch stehen, finden sie es
höchst altvaterisch, ihnen das vorher Gesagte ins Gedächtnis
zurückzurufen (287 B).
Der Verlauf der platonischen Schilderung ist nun im
wesentlichen folgender. Da die beiden sich für wirksame
Tugendlehrer ausgeben, veranlafst Sokrates sie, ein Probe-
stück ihrer Lehrkunst abzulegen, indem sie mit Kleinias,
einem schönen und aufgeweckten Knaben, einen einleitenden
oder vorbereitenden (protreptischen) Kursus abhalten, dahin-
zielend, dafs derselbe zur nachhaltigen Empfänglichkeit für
das Tugendstreben angeregt werde.
Diesen Kursus beginnt Euthydemos mit der Frage, ob
die Verständigen oder die Unwissenden lernen. Dionysodor
flüstert Sokrates mit breitem Lachen zu, der Knabe werde
in jedem Falle hereingelegt werden, möge er antworten, wie
er wolle. Als Kleinias antwortet, die Verständigen lernten,
zeigt ihm Euthydemos, dafs dies vielmehr von den Un-
wissenden gelte, während dann sofort Dionysodor mit dem
Beweise einspringt, dafs es vielmehr die Verständigen unter
den Schülern seien. Beider Leistung wird von dem sie be-
gleitenden Chor von Schülern wie von einer wohlgeschulten
Glaque mit Lachen und Beifallsgetöse gefeiert.
Sofort fragt nun Euthydemos, ob man lerne, was man
wisse, oder was man nicht wisse, und Dionysodor versichert
abermals triumphierend Sokrates, das sei wieder, wie alle
ihre Fragen, eine unentrinnbare Schlinge. Der Antwort des
Knaben, man lerne, was man nicht wisse, hält Euthydemos
entgegen, alles zu Lernende bestehe doch aus Buchstaben,
die doch jeder kenne, worauf aber sofort Dionysodor ihn
wie einen Fangball greift und ihm beweist, man lerne, was
man nicht wisse.
Sokrates erbarmt sich nun des ganz verwirrt werdenden
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A. IL 3. Die Sophistik als Afterbildung. 363
Knaben: das seien nur vorbereitende Scherze. Er erklärt
ihm den Doppelsinn der Fragen und bittet die beiden, nun-
mehr mit ihrer Probe Ernst zu machen. Er gibt auch selbst
aus dem Stegreif eine kleine Probe, wie er sich den vor-
bereitenden Kursus zur Tugendlehre beginnend denkt, wobei
freilich klar wird, dafs, was er unter Tugend versteht,
himmelweit von dem Tugendbegriff der beiden Sophisten
verschieden ist. Es ist ein kleines Lehrstack der echten
Philosophie im Sinne Piatos, das hier der Afterphilosophie
der Sophisten kontrastierend entgegengesetzt wird.
Aufgefordert, nun in diesem Sinne den protreptischen
Kurs im Ernste weiterzuführen, beweisen die Sophisten,
wer wünsche, dafs Kleinias weise werde, wünsche seine
Vernichtung, denn er wünsche, dafs er nicht mehr sei, was
er jetzt sei. Das ist denn dem Hauptanbeter des schönen
Knaben, dem Ktesippos, doch zu viel. Erregt über den
Gedanken der Vernichtung des angeschwärmten Idols, wirft
er den Sophisten lügenhafte Kunststücke vor. Aber er er-
reicht dadurch nur, dafs ihm selbst jetzt bewiesen wird,
man könne nicht lügen, weil man doch immer von etwas
spreche, dies Etwas aber doch ein Seiendes, also ein Wahres
sein müsse. Schon hier wird klar, dafs ihnen — selbst nach
der platonischen Darstellung — der heraklitische Hintergrund
dieser Argumentation nicht ganz fehlt, dafs sie nicht nur
mit Wortkünsten und Wortverdrehungen operieren. Ganz in
demselben Sinne wird dann auch der Einwand des Ktesippos
entkräftet, der Lügende rede aber doch nicht so von dem
Seienden, wie es sich verhalte. Dem wird nämlich entgegen-
gehalten, das sei eine absurde Forderung, denn dann müsse
man vom Schlechten schlecht, von grofsen Leuten grofs und
von Hitzigen hitzig sprechen.
Da nun Ktesippos anfängt, ungemütlich zu werden, legt
Sokrates dem Argument vom Vernichten des Kleinias den
berechtigten Sinn des Umschaffens zu einem Besseren unter
und veranlafst dadurch Ktesippos zu der Erklärung, dafs
er nicht schimpfe, sondern nur widerspreche. Dadurch hat
er aber nur das Stichwort zu einer neuen rabulistischen
Leistung geliefert. Es gibt kein Widersprechen, so wenig
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364 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
wie ein Lügen, da jede Aussage sich ja auf ein Seiendes
bezieht und die widersprechenden Aussagen also gar nicht
das gleiche Etwas betreffen. Hier kommt die Argumen-
tation den heraklitischen Voraussetzungen ganz nahe, daher
denn auch hier Sokrates auf Protagoras und seine Schüler
„und noch Ältere" (offenbar die Herakliteer) als Vertreter
dieses Satzes verweist (286 C). Aber Protagoras hatte ein
Mittel gefunden, den absurden Konsequenzen dieses Satzes
zu entgehen, während die beiden Sophisten in ihrer extremen
und dabei ganz äufserlichen und nur auf Verblüfifimg ab-
zielenden Handhabung dieser ganzen Argumentationsweise
nunmehr rettungslos in die absurdesten Konsequenzen der-
selben hineingeritten werden. Es gibt nach dieser Voraus-
setzung auch kein falsches Vorstellen, kein Widerlegen, also
auch kein Fehlgreifen im Handeln, also auch keine An-
leitung zum richtigen Verhalten, die zu erteilen sie doch
selbst in Aussicht gestellt haben. Da in diesem Gesprächs-
gange Sokrates einmal die Wendung gebraucht: „Was meint
dieser Ausdruck?" (287 C), wird ihm entgegengehalten, dafs
doch nur beseelte Wesen etwas meinen können.
Sokrates hält es an diesem Punkte der Unterredung
nochmals für angezeigt, seinerseits eine Probe zu geben, wie
er sich die Belehrung des jungen Kleinias denkt. Er nimmt
den vorhin fallen gelassenen Faden seines Gedankenganges
mit Kleinias wieder auf und führt ihn in ernsthafter Unter-
suchung ein Stück weiter (288 B fif.). Er sagt dabei dem
Knaben, wie den Proteus, *der sich sträubt zu weissagen,
müsse man diese Männer festhalten, bis sie Ernst machen.
Als er schliefslich mit Kleinias auf die schwere Frage ge-
kommen ist, welche Art von Erkenntnis das Hilfsmittel zur
wahren Glückseligkeit sei, springt dann Euthydemos wieder
ein und hilft aus der Verlegenheit mit dem Beweise, dafs,
wer etwas weifs, alles weifs. Denn wer etwas weifs, ist
kundig. Wüfste er etwas nicht, so wäre er nicht kundig.
Beides zugleich, wissend und nichtwissend, kann man nicht
sein, also weifs jeder alles. Ja, jeder hat immer alles
gewufst, schon bei seiner Geburt, ja, ehe Himmel und Erde
entstanden waren. Und ebenso in der fernsten Zukunft
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A. n. 3. Die Sophistik als Afterbildung. 365
(294 E, 296 C). Er weifs sogar, dafs die Tugend ungerecht
ist, also das durch den offenen Widerspruch Unmögliche.
Der Beweis dieser erstaunlichen Behauptung wird lediglich
durch ein absurdes Wortkunststtick geleistet. Sokrates mufs
bejahen, dafs er immer alles „vermöge etwas" weifs. Dieser
Zusatz: vermöge etwas dient nur zu einer vorübergehenden
Verrichtung. Er soll den Antwortenden zur Bejahung der,
wie er denkt, nur in eingeschränktem Sinne gemeinten
Frage verlocken. Nachdem dann die Bejahung erfolgt ist,
wird das „vermöge etwas" ausgeschieden und gefolgert:
also weifst du immer alles. Höchst humoristisch ist die
Schilderung, wie Sokrates, ehe er den vorstehenden Satz
bejaht, in vorgeblicher Tölpelhaftigkeit, in Wirklichkeit aber
in Erkenntnis der plumpen Falle, in die er gelockt werden
soll, in seinen Antworten allerlei Zusätze macht, durch die
das beabsichtigte Manöver unmöglich gemacht wird.
Nachdem dies Ungeheuerliche geleistet ist, öffnen sich
die Schleusen dieser „Philosophie" ungescheut zu den
läppischsten Kunststücken. Wer Vater ist, ist Vater schlecht-
hin, Vater überhaupt, also von allem, auch von den Tieren.
Der Hund des Ktesippos, der Vater und sein ist, ist also
sein (des Ktesippos) Vater, er prügelt also seinen Vater.
Wenn es jemand gut ist, Arznei zu nehmen, dann auch in
möglichst grofsen Quantitäten, also einen ganzen Wagen
voll. Ebenso verhält es sich mit den Waffen im Kriege.
Wenn es gut ist, Geld zu haben, dann auch immer und
überall in möglichst grofser Menge, also z. B. drei Talente
im Bauche und ein paar Goldstücke in den Augen.
Ktesippos hat nach diesen Proben bereits die Pointe
dieser Weisheit erfafst. Er versucht sich in völlig eben-
bürtiger Weise auf, diesem Felde und zeigt, dafs die
Scythen, wenn sie in den ihnen zugehörigen Schädeln er-
schlagener Feinde ihr Gold aufbewahren oder daraus trinken,
dies mit ihren eigenen Schädeln vornehmen. Es folgt dann
nach einigen rein grammatischen Scherzen, die im Deutschen
schwer wiederzugeben, eine bedeutsamere Wendung, die
zerrbildliche Verhöhnung einer Art von plumpen Angriffen,
die, wie auch sonst bekannt, auf die platonische Ideenlehre
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366 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
gemacht wurden. Die Darlegung derselben mufs aber einer
späteren Stelle vorbehalten werden. Es wird dann noch
bewiesen, dafs, weil dem Schmiede das Schmieden und dem
Koch das Zerkleinem des Fleisches zukommt, der Schmied
mit Hämmern bearbeitet und der Koch in Stücke geschnitten
werden mufs, und dafs, weil man mit seinem lebenden Eigen-
tum machen kann, was man will, man über seine Familien-
und persönlichen Schutzgötter ebenso verfügen kann wie
über sein Vieh.
Die Wirkung dieser Schaustellung auf die Gesamtheit
der Zuhörer ist überwältigend. Der Jubel und das Hände-
klatschen wird bis zur Entkräftung getrieben; nach dem
Bericht des Sokrates, der immer noch die ironische Rolle
des Bewunderers festhält, fehlte wenig, dafs selbst die
Säulen der Lykeionshalle, wohin die Szene verlegt wird, in
den allgemeinen Jubel eingestimmt hätten. Der Hohn Piatos
gipfelt in dem scheinbar in voller Verehrung ihnen erteilten
Rate des Sokrates, bei dem grofsen Vorzuge ihrer Lehre,
dafs sie so leicht angeeignet werden könne, dafs, wie sie
selbst rühmen. Alte und Unbegabte von ihrer Belehrung
nicht ausgeschlossen sind und jeder daneben auch noch
seinen gewohnten Geschäften nachgehen kann (304 C), doch
ja mit ihren Schaustellungen vorsichtig zu Werke zu gehen
und sie nicht vor grofsen Massen zum besten zu geben.
Wir haben in dieser überaus geistvollen Satire die
Antwort Piatos auf die Verunglimpfung der Philosophie
durch Gleichsetzung mit der Sophistik. Natürlich mufste
er, um seinen polemischen Zweck zu erreichen, den Gegen-
satz recht krafs und scharf machen, und so wird dieser
Schilderung wohl ein Stück Übertreibung anhaften. Aber
ganz aus der Luft gegriffen, ganz frei erfunden kann sie
doch nicht sein, dann würde sie wieder ihren Kampfzweck
verfehlt haben und dem Einwand der böswilligen Ver-
kleinerung und Entstellung ausgesetzt gewesen sein. Ein
wesentliches Stück Wahrheit muls diese Schilderung einer
Richtung der Sophistik um 390 enthalten. Sie zeigt uns,
was von diesen Leuten als „Tugend" erstrebt wurde, und mit
welchen Mitteln sie diese Tugend zu verbreiten bemüht waren.
. Digitized by VjOOQIC
A. II. 8. Die Sophistik als Afterbildung. 367
Wie im „Euthydemos" handelt es sich auch im „So-
phistes** um eine polemische EeuDzeichnung der Sophisten
als Afterphilosophen und Verbreiter einer falschen Bildung
im Gegensatze gegen die echte Philosophie. Wie dort der
Begriff der Tugend als höherer Lebenstüchtigkeit im weite-
sten Sinne an die Stelle der ursprünglichen Herrscher-
tüchtigkeit gerückt ist, so hier der Begriff der Bildung.
Der „Sophistes*' enthält eine längere Episode, in der sich
Plato mit anderen, der seinigen entgegengesetzten Richtungen
auseinandersetzt, und bildet infolgedessen ein wichtiges
Dokument für das System Piatos. In dieser Beziehung mufs
an späterer Stelle auf ihn zurückgekommen werden. Die
Hauptrichtung des Dialogs aber verfolgt von Anfang bis zu
Ende den Zweck, das Wesen des Sophisten in seinem Unter-
schiede vom Staatsmann und Philosophen zu bestimmen
(217 A ff.). Und zwar geschieht dies in der Form eines mit
reichlicher Komik, Satire und Ironie durchtränkten logischen
Exerzitiums. Ausgehend vom Allgemeinbegriffe der Kunst,
unter den jedenfalls die Sophistik fallen mufs, wird dieser
durch fortschreitende Hinzufügung von Sondermerkmalen
so lange zweiteilig gespalten, bis die sophistische Kunst
zum Vorschein kommt. Und zwar wird dies Verfahren
nicht nur einmal zu einer Bestimmung des Wesens der
Sophistik angewandt, sondern sechsmal. Denn die Sophistik
ist, wie wiederholt versichert wird, eine sehr vielseitige
Kunst, die daher auch in mannigfacher Weise bestimmt
werden kann und mufs. Die ersten fünf Bestimmungen
gehen vom Begriff der erwerbenden Kunst aus, d. h. sie
zielen fast ganz ausschliefslich auf die in ihrer Ausartung
ganz besonders anstöfsige Neuerung der Sophisten, sich für
ihre Lehrtätigkeit honorieren zu lassen. Dies Erwerbs-
streben wird hier in satirischer Schärfe als das einzige und
entscheidende Merkmal der Sophistik behandelt. Erst die
sechste Begriffsbestimmung kommt von einem anderen All-
gemeinbegriffe aus zu einer eingehenderen Kennzeichnung
•der Lehrtätigkeit der Sophisten. Im einzelnen gestaltet
sich hiemach der Gedankengang des Dialogs im wesentlichen
folgendermafsen.
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368 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Die erwerbenden Künste vollziehen sich teils durch
gütliches Übereinkommen der beiden in Betracht kommenden
Teile als Tausch, teils durch Vergewaltigung des
einen Teils durch den anderen. Die Vergewaltigung ge-
schieht teils durch offene Gewaltanwendung, teils durch List.
Letztere führt auf den Begriff der Jagd auf Geschöpfe, die
auf dem Lande leben. Diese sind teils solche, die sich zur
Wehre setzen, teils solche, die wehrlos erjagt werden. Zum
letzteren Falle gehört der Mensch, sofern er durdi Über-
redung gewonnen wird. Die Überredung kann teils an den
Massen geübt werden, teils an einzelnen. Wird sie im
letzteren Falle um Lohn oder sonstiger Vorteile willen
geübt, so entsteht teils der Schmeichler und Schmarotzer,
teils der Sophist. Die Sophistik in diesem Sinne wird als
eine als Geldgeschäft betriebene Scheinerziehungskunst oder
als Jagd auf reiche und vornehme Jünglinge bestimmt
(223 B).
Die Sophistik fällt aber femer auch unter den Begrifft
der Kunst des freiwilligen Austausches. Der Händler bietet
entweder selbsterzeugte Waren oder die Erzeugnisse anderer
feil. Im letzteren Falle kann dies geschehen im weiteren
Umfange, indem man von Ort zu Ort zieht, oder im engeren
Kreise, indem man sich sefshaft auf die eigene Stadt be-
schränkt. Entsprechend der Gepflogenheit der meisten
Sophisten wird hier zunächst der erstere Fall berücksichtigt
Die feilgebotenen Waren femer können entweder Bedürfnisse
des Leibes oder der Seele sein. Im letzteren Falle kann
es sich entweder um unterhaltende Schaustellungen der
mannigfachsten Art oder um Darbietung von Wissen handeln.
Das Wissen wiederum zerfällt einesteils in die unbestimmte
Vielheit der Wissenschaften und Kunstlehren, andemteils in
die Tugendlehre. Der Sophist ist ein umherziehender
Händler mit derjenigen besonderen Art von Geisteswaren,
die sich auf Tugend beziehen (224 D). Dieses Bild des
umherziehenden Händlers mit Nahrungsmitteln der Seele,
nämlich mit Kenntnissen, hatte Plato auch schon im „Prot-
agoras" (313 C f.) von den Sophisten gebraucht und dort
sogar schon die Bemerkung hinzugefügt, dafs, wie alle
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A. U. 3. Die Sophistik als Afterbildung. 369
Händler, so auch diese ihre Ware anpreisen, wenn sie auch
nicht wissen, ob dieselbe für die Seele heilsam oder schäd-
lich ist.
Er kann aber drittens und viertens auch unter
den Begriff des sefshaften Krämers mit dieser Art von Ware
gebracht werden, und zwar mit der weiteren Unterscheidung,
dafs er als solcher teils nur fremde Erzeugnisse feilhält,
teils aber Produzent und Selbstverkäufer in einer Person
ist (224 E, 231 E). Offenbar wird in der zweiten bis vierten
Definition nicht die Sophistik als Ganzes bezeichnet, son-
dern es werden verschiedene Nuancierungen des Betriebes
unterschieden. Zuerst der Sophist als Wanderlehrer und
der sefshafte und sodann der Sophist, der lediglich fremde,
erlernte Weisheit zu Markte bringt, und derjenige, der selbst
produktiv und original ist. Es ist deutlich, dafs letztere
Unterscheidung nicht nur auf den Sefshaften, sondern ebenso-
gut auch auf den Umherziehenden angewandt werden kann,
so dafs wir eigentlich vier Gruppen erhalten mtifsten:
1. Wandernde, a) Originaldenker, b) fremde Weisheit ver-
breitend; 2. Sefshafte, a) Originaldenker, b) Angelerntes
lehrend.
Behufs einer fünften Bestimmung der Sophistik als
erwerbender Kunst wird nunmehr auf den Erwerb durch
Vergewaltigung zurückgegriffen* Diese konnte statt-
finden als offene Gewalt oder als List. An der früheren
Stelle war der Sophist in der Linie der listigen Ver-
gewaltigung aufgesucht worden. Jetzt wird er in der Rubrik
der offenen Gewalt verfolgt. Diese kann als körperlicher
Kampf Leib gegen Leib oder als ein auf die Seele geübter
Zwang stattfinden. Letzterer findet wieder entweder in
zusammenhängenden Reden in der Kunst der gerichtlichen
Beredsamkeit statt oder im Privatverkehr in kurzer Rede
und Gegenrede in der Disputierkunst. Wird letztere sodann
kunstmäfsig als Erwerb gelehrt, so ergibt sich die sophistische
Streitkunst oder Eristik (225 E f.). Diese Wesensbestimmung
des Sophisten geht schon auf eine ganz bestimmte Eigenheit
der ausartenden Sophistik. Die Tüchtigkeit des Menschen
besteht nach ihr in der Fertigkeit, durch verblüffende Kunst-
DOriDf. I. 24
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370 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sopfeistem und Sokrates etc.
Stacke alles dem eigenen Vorteil Dienende zu beweisen,
jeoer Kunst, deren Iftcherliche Veraemmg Rato bereits im
Euthydemos geschildert hatte. Diese Bestimmung bildet
also sch<m den Übergang zu der mehr innerlichen Be-
zeichnung der Eigenart der Sophistik, die nunmehr in der
sechsten Definition gegeben wird.
Eme besondere Art von Künsten bilden die des Son-
derns und Scheidens. Wenn dabei das Schlechtere vom
Besseren ausgeschieden wird, sind sie Künste der Reinigung.
Diese können an leblosen Stoffen oder auch am menschlichen
Körper vorgenommen werden. Andernteils an der mensch-
lichen Seele. Hier ist das Schlechte einesteils die Untugend,
andernteils der Irrtum. Den Irrtum beseitigt die Lehrkunst.
Diese wird teils in bezug auf die besonderen Fachwissen-
schaften geübt, teils in einem mehr allgemeinen Sinne behufs
Herstellung der Bildung (229 D). Die negative Vor-
bedingung der letzteren ist die Überführung des zu Bildea-
den von der eigenen Unwissenheit. Diese Tätigkeit geht
leicht Hand in Hand mit der Erweckung der Vorstellung
eines universellen Wissens auf selten des Lehrenden. Dies
kann aber nur ein Scheinwissen sein, weil es unmöglich
ist, auf allen Gebieten Sachverständiger zu sein. Der
Sophist befindet sich nicht im Besitze der Wahrheit (233 C).
Seine Kunst gehört unter die nachbildenden Künste,
und zwar nicht unter diejenige Gruppe derselben, die wirk-
liche Kopien, Vervielfältigungen der betreffenden Gegen-
stände hervorbringt, sondern derjenigen, die, wie die bildeoh
den Künste, nur Scheinbflder der Gegenstände liefert
(235 E ff.). Das Scheinbild ist Nachahmung im engeren und
besonderen Sinne (267 A). Diese kann nun wieder auf
Kenntnis des nachgeahmten Gegenstandes beruhen oder ohne
genügende Kenntnis desselben unternommen werden. Im
letzteren Falle entsteht eine auf blofser Meinung beruhende
Nachahmung (267 D). Bei dieser kann wieder beim Nach-
ahmenden der gute Glaube vorhanden sein, er kenne den
im Scheinbilde nachzuahmenden Gegenstand, oder es wird
von ihm nur in bewufstem Truge die Meinung erweckt, als
kenne er denselben. Wird nun diese mit bewuföt trügerischer
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A. II. 4. Zeugnisse des Aristoteles (um 330). 371
Vorspregelung des Wissens geübte Herstellung von S^hein-
bildern des Wirklichen in der Form der privaten Wechsel-
rede geübt, so ist das Wesen des Sophisten getroffen (268 B f.).
Der Sophist ist also im Sinne Piatos ein bewufst schwindel-
hafter und betrügerischer Vermittler eines Scheinbildes der
Wahrheit, dessen Urbild ihm unbekannt ist. Mit dieser
denkbar schroffsten Absage an die Sophistik dieses Zeit-
punktes schliefst der Dialog. Plato ist seitdem Ifaum wieder
auf die Sophistik zurückgekommen; sie war für ihn abgetan.
Nur in einem gelegentlichen Ausfalle schildert er in dem
spätesten, gegen 367 verfafsten Teile seines „Staates" (493 A)
den Sophisten als den erwerbsüchtigen Lehrer der Kunst,
der Masse als einer grofsen und starken Bestie zu schmeicheln
und sie nach Belieben zu lenken. Jedes sittlichen Urteils
bar, gebrauchen sie die Bezeichnungen gerecht und un-
gerecht nur nach den Trieben und jeweiligen Launen der
grofsen Bestie. Diese haben sie andauernd und mit vielem
Zeitaufwande studiert und die Resultate dieser Studien, als
Kunst der Volksleitung nach Regeln zusammengestellt,
nennen sie Weisheit und machen sie zum Gegenstande ihrer
bezahlten Lehrtätigkeit. Hier erscheint also der Sophist
wieder, wie im Gorgias, als Lehrer der Regierungskunst
durch Volksrede, aber freilich auf einer sehr viel tieferen
Stufe als dort. Dort war die Masse die durch selbstherr-
liche Naturen im Grunde tyrannisch geleitete, hier handelt
es sich um die armselige Kunst, lediglich durch Hätsche-
lung der Masseninstinkte, die also das eigentlich Herrschende
sind, obenaufzukommen.
4. Zeugrnlsse des Aristoteles (um 330).
In durchaus verächtlichem Lichte erscheint die spätere
Sophistik auch bei Aristoteles. Im Gegensatze gegen
das durchaus reelle Verfahren des Protagoras in der Ab-
messung des Honorars ist der gewöhnliche Sophist ein
Schwindler. Notgedrungen läfst er sich im voraus bezahlen,
denn hinterher würde ihm niemand für sein wertloses Wissen
Geld geben (1064, 22 ff.). Auf die durch Gorgias vertretene
24*
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372 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Richtung bezieht sich seine Bemerkung, sie gäben sich für
Lehrer der Regierungskunst aus, kannten aber deren wahres
Wesen gar nicht, sondern verwechselten sie mit der Rhe-
torik (1181, 14). Dagegen hat er in seiner Schrift „Über
das sophistische Beweisverfahren" die andere Ausartung im
Auge, durch die eben das Wort „Sophistik" die noch heute
übliche schlimme Bedeutung bekommen hat. Er bestimmt
hier die Sophistik ganz wie Plato als „eine scheinbare,
nicht wirkliche Weisheit" und den Sophisten als „einen
Geschäftsmann, der aus der scheinbaren, nicht wirklichen
Weisheit Erwerb zieht" (165, 21). Er klassifiziert in dieser
Schrift die ganze Masse jener Spiegelfechtereien, von denen
Plato im Euthydemos ein humoristisches Bild gibt, in voll-
kommen ernsthafter und streng wissenschaftlicher Weise
nach der Art der dabei zur Anwendung kommenden Kunst-
griffe und Blendwerke und gibt damit zugleich die Hilfs-
mittel zur Unschädlichmachung des Truges an die Hand.
Indem so die verschiedenen Verfahrungsweisen bei diesem
trügerischen Spiele zum wissenschaftlichen Bewufstsein er-
hoben werden, sind sie zugleich ein für allemal in ihrer
ganzen Nichtigkeit aufgedeckt; ja, die Beschäftigung mit
ihnen erscheint ihm unter dieser Voraussetzung geradezu
als logisch bildend und das Verständnis der Sprache und
der Denk Vorgänge fördernd.
B. Sokrates und die reinen Sokratiker.
1. Sokrates (469—399).
Sokrates stimmt im Grundzuge seiner Bestrebungen
ganz und gar mit den älteren Sophisten tiberein. Wie bei
diesen steht im Mittelpunkte seines Wirkens die Erziehung
zur wahren Herrschertüchtigkeit und wie diese setzt er das
Wesen derselben einesteils in den Besitz der erforderlichen
Kenntnisse und Fähigkeiten, andemteils aber auch in die
zu jedem gemeinnützigen Wirken unentbehrliche sittliche
Gesinnung.
Neben dieser wesentlichen Übereinstimmung zeigen sich
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B. 1. Sokrates (469-899), 373
aber auch tiefeinschneidende Unterschiede. Diese beruhen
zum Teil schon auf dem Umstände, dafs er nicht als umher-
ziehender Wanderlehrer wirkte, sondern als sefshafter Bürger
seine Tätigkeit auf seine Vaterstadt beschränkte. Schon
damit hängt es teilweise zusammen, dafs er nicht um Lohn
lehrte, sondern sein Erzieherwirken nach altem Brauche
unentgeltlich als eine patriotische Ehrenpflicht übte. Damit
hängt es femer zusammen, dafs er sich nicht in Anbequemung
an die in den verschiedenen Staaten bestehenden Zustände
an die Söhne der Mächtigen und Einflufsreichen wandte,
also bald an den Adel, bald an die Begüterten, sondern in
radikaler Weise nur die innere Befähigung der zu Bildenden
in Betracht zog, und dafs er auch in der Beurteilung der
bestehenden Staatsformen nicht einer bunten Mannigfaltigkeit
Rechnung zu tragen brauchte, sondern einer einheitlichen
und sich gleichbleibenden Aufgabe gegenübergestellt war.
Ein anderer Teil dieser Unterschiede beruht auf seinem
Bildungsgange und seiner persönlichen Eigenart. Ent-
schiedener als die Sophisten lejint er die naturphilosophischen
Theorien ab und hält, insbesondere auch in der Moral-
begrtindung, am überlieferten Götterglauben in gereinigter
und veredelter Gestalt fest. Scharf und planvoll führt er
bei aller scheinbaren Ungebundenheit und Berechnungs-
losigkeit die Grundzüge seiner Erziehertätigkeit durch, unter-
stützt durch die Fähigkeit zu scharfem begrifflichem und
auf das Verhältnis von Zwecken und Mitteln gerichtetem
Denken. Zu allem dem kommt dann aber der wunderbare
Reiz einer ganz sittlichen, aber auch stets geistig bewegten
Persönlichkeit, die ausschliefslich durch den mündlichen
Verkehr die nachhaltigsten und fast den ganzen weiteren
Verlauf der alten Philosophie bestimmenden Anregungen zu
geben vermochte. Cicero folgt nur einem zu seiner Zeit
in den herrschenden Schulen geltenden Urteil, wenn er ihn
den Vater der Ethik, ja, den Vater der Philosophie über-
haupt nennt (Tusc. III. 8; Ein. II. 1).
Den ersten Spuren einer Wirksamkeit des Sokrates in
diesem Sinne begegnen wir etwa ums Jahr 432, also zu
einer Zeit, wo er etwa 37 Jahre alt war. Über seinen
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374 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Lebens- und Bildungsgang bis zu diesem Zeitpunkte sind
nur die dürftigsten Nachrichten vorhanden. Sein Vater
Sophroniskos war ein kleiner, offenbar wenig begüterter
Bildhauer, der auch den Sohn zunächst in der eigenen
Kunst anlernte. Noch in späterer Zeit wurden auf der
Akropolis bekleidete Charitinnen als sein Werk gezeigt
(D. L. IL 18 f.; Pausan. L 22, IX. 85), und Timon von
Phlius nennt ihn (Fr. 50) den „Steinbildner" (läxöos), in
welchem Worte jedoch durch einen Doppelsinn auch der
Begriff des Volksbildners zu liegen scheint. Ein ehr^volles
Zeugnis für Sophroniskos als einen tüchtigen und achtungs-
werten Bürger findet sich bei Plato (Laches 180 E f.). Der
ehemalige Bildhauer in Sokrates blickt noch durch in seiner
Unterredung mit dem Bildhauer Klei ton (Mem. III. 10,
(5 ff.), dem er zum Bewufstsein bringt, dars ein Hauptreiz
der bildenden Kunst in der Wiedergabe des seelischen Aus-
drucks und der Gemütsbewegungen der dargestellten Per-
sonen bestehe. Seine Mutter Phainarete war eine Hebamme
(Plat. Theät 149 A). Er hatte einen Stiefbruder mütter-
licherseits, so date also sein Vater entweder die Phainarete
als Witwe geheiratet hatte oder nach dessen frühem Tode
diese eine zweite Ehe eingegangen ist (Plato, Euthyd. 297 E).
Den Bildhauerberuf kann er, da in den auf sein späteres
Leben bezüglichen Zeugnissen jede Anspielung auf solche
Tätigkeit fehlt, nicht lange betrieben haben. Über seine
Lebensverhältnisse in seiner Bildungs- und Entwicklungszeit,
sowie über die Einflüsse, unter denen er das wurde, als
was er uns nachher entgegentritt, fehlt jede befriedi^nde
und zuverlässige Nachricht Wovon lebte und was trieb e^
während der zwei Jahrzehnte von seinem Jünglingsalter bis
432, wo wir ihn zuerst wirkend finden? Unter welchen
Einwirkungen fand insbesondere seine geistige Entwicklung
statt? In letzterer Beziehung wird er gelegentlich als
Schüler desAnaxagoras bezeichnet (D. L. IL 19, 45), der
ja von etwa 463—33 in Athen weilte, und mit dessen Ansicht
von der Sonne er sich bei Xenophon vertraut zeigt (Mem.
IV. 7, 6). Noch häufiger und nachdrücklicher wird Arche-
laos, der Schüler des Anaxagoras, als sein Lehrer be-
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B. 1. Sokrates (469—899). 375
zeidinet (D. L. ib., I. 14; X. 12; D- 479, 564, 567, 599).
Dieser kann jedoch , wenn er nicht als fast Oleichaltriger
gleich heim ersten Auftreten des Anaxagoras in Athen (um
464) sich an diesen anschlofs, kaum erheblich älter als
Sokrates gewesen sein. Auch begegnen wir in dem späteren
Gedankenkreise des Sokrates keiner einzigen Spur, die mit
irgend welcher Sicherheit auf eine Einwirkung dieses Denkers
zurückgeführt werden k<)nnte, und die ganze Angabe scheint
lediglich auf der Sucht Späterer zu beruhen ,x den Entwick-
lungsgang der Philosophie in die Form persönlicher Ab-
hängigkeit von Schüler und Lehrer zu zwängen. Mit Anaxa-
goras hielt die Philosophie ihren Einzug in Athen, Arche-
laos ist Athener (D. 280, 479, 568, 590, 599), Sokrates
ebenfalls, also mufs er der Schüler des Archelaos gewesen
sein.
Für die Beurteilung der geistigen Entwicklung des
Sokrates sind zunächst zwei Züge bedeutsam. Der eine ist
sein Daimonion, seine Götterstimme, jener seltsame starke
innere Drang, der sich nach zahlreichen Zeugnissen Xeno-
phons und Piatos sehr häufig abmahnend in ihm regte,
wenn er — in grofsen und folgenreichen oder auch in
kleinen und unwichtigen Angelegenheiten — eine Ent-
scheidung zu treffen im Begriff war. So mächtig und eigen-
artig macht sich in solchen Zweifelsfällen diese abmahnende
Stimme vernehmbar, dafs Sokrates selbst zu der Über-
zeugung gelangte, in ihr nicht ein Erzeugnis seines eigenen
Innern, sondern eine übernatürliche Wirkung höherer Mächte,
ein Orakel, zu erblicken, und sich gewöhnt hatte, ihr un-
bedingt Folge zu leisten. Nun bezeugt Plato ausdrücklich
(Apol. 31 D), dafs dies Götterzeichen schon von Kind an
ihm zu teil geworden sei. In diesem eigentümlichen Zuge
seiner Geistesanlage haben wir wohl eine rein gefühlsmäfsig
auftretende, nicht durch bewufst erfafste Gründe gestützte,
aber mit elementarer Gewalt sich geltend machende, ahnende
Erkenntnis des Zweckmäfsigen, im gegebenen Falle Richtigen
zu sehen. Auch im bewufsten Geistesleben des Sokrates
spielt das Zweckgemäfse eine hervorstechende Rolle. In dieser
triebmäfsigen Betätigung dieser Geistesrichtung aber liegt
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376 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
ein fast weiblicher Zug in der sonst so männlichen Gemüts-
art des Sokrates. Mit dieser Wirksamkeit eines unbewufsten
Innenlebens aber steht in vollem Einklang eine andere Be-
tätigungsform einer ahnungsvollen, dem bewufsten Verstandes-
leben, dem reflektierenden Denken entrückten Innerlichkeit
seines Seelenlebens, von der uns ein merkwürdiges Beispiel
bei Plato (Sympos. 174 D flf.) berichtet wird. Sokrates be-
findet sich 432 in Erfüllung seiner Dienstpflicht im Feldlager
vor der macedonischen Stadt Potidäa. Eines Morgens denkt
er, aufserhalb des Lagers stehend, über etwas nach. Er
vertieft sich in seinen Gegenstand. Es wird Mitlag; er
steht, ganz in sich versunken, an derselben Stelle. Der
seltsame Vorgang wird ruchtbar im Lager; man beobachtet
ihn von weitem. Es wird Abend; ein Teil der Soldaten
trägt seine Schlafdecken aufserhalb des Lagers in seine
Nähe, um ihn zu beobachten. Er steht, seiner Umgebung
entrückt, nachdenkend die ganze Nacht auf derselben Stelle.
Als die Sonne aufgeht, verrichtet er ihr seine Andacht und
geht fort. Beide Züge beruhen auf einer ganz ungewöhn-
lichen Stärke des unbewufsten Geisteslebens, auf einer
Organisation , die Verknüpfungen vollzieht , ohne sie ins
Licht des Bewufstseins zu erheben. Bei einer solchen
Organisation ist aber in allen Beziehungen die Lenkung
und Gestaltung von innen heraus übermächtig ; die Fähigkeit,
von aufsen entscheidend beeinflufst zu werden, ist auf einen
Tiefpunkt herabgedrückt.
Und damit hängt dann weiter der zweite Zug zusammen.
Wir finden in den Darstellungen der geistigen Eigenart des
Sokrates, wie sie Plato so meisterhaft im wesentlichen un-
zweifelhaft naturgetreu entwirft, den ständig wiederkehrenden
Zug, dafs Sokrates den Gedanken eines Schülerverhältnisses
seinerseits stets nur in ironischem Sinne zum Ausdruck
bringt. So nennt er sich wiederholt einen Schüler des
Prodikos (Protag. 341 A; Menon 96 E; Krat. 384 B), der
übrigens 4—5 Jahre jünger war als er selbst, stets aber
nur mit ironischem Anfluge, und selbst da, wo er in
Xenophons Denkwürdigkeiten die Rede von Herakles am
Scheidewege mit Beifall vorträgt, fehlt ein leiser Hauch
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B. 1. Sokrates (469-399). 377
Yon Ironie nicht. Viel stärker tritt diese humoristische
Behandlung des Schülerverhältnisses im „Euthydemos" her-
vor , wo er wiederholt erklärt , sich noch in seinem vor-
gerückten Alter bei den beiden Sophisten in die Lehre
geben zu wollen, und den alten, biederen Freund Kr i ton
auffordert, das Gleiche zu tun, auch sich zeitweise schon
ganz als Schüler gebärdet und von der Unzufriedenheit
seines Musiklehrers mit dem alten, ungeschickten Schüler
berichtet. In dieser humoristisch-ironischen Behandlung des
Schülerverhältnisses kommt die innere Selbstherrlichkeit
zum Ausdruck, die Plato als wesentlichen Charakterzug
seines Meisters ansieht. Er kann sich den Sokrates offenbar
nicht als jemandes Schüler denken.
Dieser selbständige Gang seines Geisteslebens schliefst
natürlich nicht aus, dafs er in seiner Entwicklungszeit von
den verschiedensten Seiten Anregungen empfangen und
Bildungselemente in sich aufgenommen hat. Er kennt die
klassischen Dichter, vorab Homer (Mem. I. 2, 56, 58 ; 3, 37),
und liest mit seinen Schülern „die Schriften der alten
Weisen" (Mem. I. 6, 9). Er versteht sich gründlich auf
Geometrie und Astronomie (Mem. IV. 7, 3, 5) und dergl.
Selbstverständlich wird er von den in Athen auftretenden
Philosophen, einem Anaxagoras, Archelaos, Dio-
genes.von Apollonia, ebenfalls Kenntnis genommen
und sich in seinem Denken mit ihnen auseinandergesetzt
haben, wie. nicht minder mit manchen der älteren Denker,
deren Theorien ihm durch mündliche Berichte oder auch
durch eigene Lektüre ihrer Schriften zugänglich werden
konnten. Von seinem Studium des herakliti sehen Buches
und dem über dasselbe gefällten Urteil ist schon früher
die Rede gewesen. Sein Gesamturteil über die Natur-
philosophie, von dessen Richtung bei der Lehre zu handeln
sein wird, ist ein auf umfassender Kenntnisnahme beruhendes
und allseitig erwogenes. Weit mehr noch aber als diese
ältere Denkrichtung mufste das Wirken der älteren Sophisten
in Athen seine Aufmerksamkeit und sein Nachdenken in
Anspruch nehmen. Protagoras wird schon bald nach
dem Jahre 450, also in der bildsamsten Zeit des Sokrates,
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378 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
zuerst in Athen aufgetreten sein, und vielleicht ist dessen
Erziehertätigkeit geradezu ausschlaggebend für das von ihm
selbst gewählte Lebensziel gewesen. Prodi kos und Hip-
pias sind etwas jüngere Altersgenossen des Sokrates, aber
vielleicht waren sie früher auf dem Plan als er, so dafs auch
deren Art sein Nachdenken befruchten und auf eine in
manchen Beziehungen verwandte Art des Wirkens hinlenken
konnte.
Aber allen diesen Anregungen gegenüber geht er doch
auch wieder in allem Wesentlichen seinen eigenen Weg, und
es ist eine überaus treffende Bezeichnung, wenn er in
Xenophons Gastmahl (1. 5) in ausdrücklichem Gegensatz
gegen diejenigen, die von den Sophisten lernen, sich selbst
als Originaldenker (autürgös tes philosophfas) bezeichnet.
Wann und wie das Bewufstsein dieser seiner Eigenart
sich in ihm entwickelt hat, wissen wir nicht. Die ersten
Nachrichten über sein Wirken in der Bahn, die er sich vor-
gezeichnet hatte, datieren, wie bemerkt, ungefähr aus der
Zeit um 432. In diesem Jahre war Sokrates am Feldzuge
gegen Potidäa beteiligt. Schon vor diesem aber hatte, so
berichtet Plato im „Gastmahl" (217 A, 218 D, 219 E), der
jugendliche Alkibiades (geboren um 450) in der Über-
zeugung, dafs keiner ihn besser zur höchsten Tüchtigkeit
bilden könne, sich mit glühender Begeisterung anjhn an-
geschlossen, und Sokrates hat gegenüber der Hingabe des
schönen Jünglings eine glänzende Probe von Enthaltsamkeit
in bezug auf Sinnengeuufs abgelegt Derselbe ist sodann
auch während des Feldzuges sein Tischgenosse und bezeugt,
dafs schon damals Sokrates durch seine aufserordentlichste
Fähigkeit, Entbehrungen und Strapazen zu ertragen, die
höchste Bewunderung erregte. Beim stärksten Frost genügt
ihm seine gewöhnliche Kleidung, und barfüfsig schreitet er
über das Eis hin (219 E ff.). Und als bei einem Gefecht
während dieser Belagerung Alkibiades verwundet worden ist,
hat Sokrates ihn mit samt seinen Waffen aus dem Kampfe
gerettet und sodann die Erteilung eines Tapferkeitspreises,
den Alkibiades für Sokrates forderte, an Alkibiades befür-
wortet (220 D). Der letzte Punkt wird auch durch Anti-
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B. 1. Sokrates (469—399). 379
sthenes bezeugt^ doch für eine ins Jahr 424 fallende
Schlacht (Mulla<di, Fragm. 63). Plato legt diesen Bericht
dem trunkenen Alkibiades in einem späteren Zeitpunkte
seines Lebens in der Form einer begeisterten Schilderung
in den Mund. Hier tritt uns also schon der echte Sokrates
entgegen. Ebenso wie Alkibiades hat sich aber nach Plato
auch der mit diesem ungefähr gleichaltrige Kritias schon
y<Mr dem Zuge nach Potidäa an ihn angeschlossen (Gharmid.
156 A, 153 A).
Dafs diese beiden in jüngeren Jahren Sokrates zum
Führer nahmen, bezeugt auch Xenophon, freilich in sehr
viel nüchternerer Weise (Mem. I. 2, 23 — 48). Dieses Schüler-
verhältnis zweier später unheilvoll wirkender Staatsmänner
war offenbar zur Zeit des Todes des Sokrates in Vergessen-
heit geraten und daher von seinen Anklägern nicht gegen
ihn geltend gemacht worden. Erst einige Jahre nach seiner
Hinrichtung wurde es in einer nachträglichen Rechtfertigung
der Anklage durch einen gewissen Polykrates gegen ihn
ausgebeutet, und das hat Xenophon Anlafs gegeben , über
diese weit zurückliegenden Vorgänge Erkundigungen einzu-
ziehen. Seine Darstellung des Verhältnisses der beiden zu
Sokrates ist weit weniger ideal, als es wenigstens hinsicht-
lich des Alkibiades die des platonischen „Gastmahls^ ist. Er
stellt beide als Jünglinge von brennendem Ehrgeiz dar, die
bei Sokrates nur, wie andere bei den Sophisten, die Aus-
bildung in den zu einem Politiker gewöhnlichen Schlages
erforderlichen Fähigkeiten suchten, aber keineswegs ge-
sonnen waren, auf die von jenem angestrebte Veredlung des
staatsmännischen Wirkens einzugehen, und denen es nament-
lich nicht eingefallen sei, die von ihm für den wahren
Herrscher geforderte Enthaltsamkeit, Abhärtung und Be-
dürfnislosigkeit zu üben. Nur zeitweilig seien sie durch
die Macht seines Vorbildes und seiner Lehre auch für diesen
Punkt gewonnen worden. Kritias sei sogar mit dauerndem
Groll wegen einer erhaltenen derben Zurechtweisung, den
er später als Haupt der 30 Tyrannen (404) in unedler Weise
betätigt habe, von seinem Lehrer geschieden. Als sie er-
reicht hätten, was sie wünschten, seien sie von Sokrates
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380 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
ferngeblieben. Von Bedeutung ist, dafs auch Xenophon in
diesem Bericht die ganze Eigenart des sokratischen Wirkens
schon in diesen frühen Zeitpunkt verlegt.
Auf diesen hellerleuchteten Punkt im Wirken des
Sokrates, wo eine durch das nachherige Verhalten der Zög-
linge zwar getrübte, aber nicht ausgelöschte Einwirkung
seiner Erziehertätigkeit auf das Staatsleben zu Tage tritt,
folgt ein über 20 jähriger Zeitraum, der für uns in bezug
auf sein Lehrwirken so gut wie völlig ertraglos ist, und aus
dem nur einige wenige sein sonstiges Leben betreffende
Züge überliefert sind.
Ln Jahre 424 nahm er an der für die Athener unglück-
lichen Schlacht bei Delion in Böotien teil. Sein uner-
schrockenes und umsichtiges Verhalten auf dem Rückzuge
läfst Plato sowohl durch den späteren Feldherrn Laches
(Lach. 181 B, 189 B) als auch durch Alkibiades, diesmal
nicht mehr als unmittelbaren Genossen des Sokrates (Gast-
mahl 221 A) , von beiden aber als Augenzeugen , in den
höchsten Tönen preisen. Seine Teilnahme an der ebenfalls
unglücklichen Schlacht bei Amphipolis in Macedonien
422 wird nur eben erwähnt, ohne nähere Angaben (Apol. 28 E).
Zwischen diese beiden kriegerischen Ereignisse, ins Jahr
423, fällt jene unglückliche und unbillige Verunglimpfung
durch Aristophanes in den „Wolken", die nach Plato
(Apol. 18) vornehmlich dazu beigetragen hat, das öffentliche
Urteil über Sokrates irrezuleiten, ja geradezu in gefähr-
licher Weise zu vergiften. Die „Wolken" sind uns nur in
einer niemals aufgeführten Umarbeitung durch den Dichter
• erhalten. Es ist nicht bekannt , ob diese Umarbeitung die
gehässigen Züge des aufgeführten Stückes gemildert, ver-
schärft oder in ihrer ursprünglichen Fassung erhalten hat;
jedenfalls ist in dem uns erhaltenen Text die völlig mifs-
greifende Verzeichnung bösartig genug. Die Komödie ist auf
die gesamten dem Dichter mifsfälligen philosophischen Zeit-
richtungen gemünzt, und als Konzentrationspunkt für sein
Zerrbild hat er in völlig ungerechtfertigter Weise die schon
äufserlich auffällige und komisch wirkende Gestalt des
Sokrates gewählt. Wir können aus dieser Wahl nur ent-
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B. 1. Sokrates (469—399). 381
nehmen, dafs Sokrates damals ziemlich stadtbekannt war,
dafs aber selbst in gebildeten Kreisen über die Art seines
Wirkens nur ganz vage Vorstellungen verbreitet waren.
Als engverbundener Genosse des Sokrates erscheint in
diesem Stücke (105, 145, 157, 496 f.) Chairephon, wegen
seiner Hagerkeit und Blässe spöttisch als „halbentseelter
Geist" bezeichnet. Diesem Chairephon wird in Piatos Apo-
logie eine angeblich für das Wirken des Sokrates überaus
folgenreiche Handlung zugeschrieben. Von exzentrischer
Gemütsart und von Jugend auf leidenschaftlicher Anhänger
des Sokrates (beides wird ihm auch im „Charmides" 153 B
beigelegt, dessen Handlung ins Jahr 432 gelegt ist), hatte
er angeblich einst das delphische Orakel befragt, ob jemand
weiser sei als Sokrates, und die Antwort erhalten, niemand
sei weiser. Dies habe dann Sokrates, da er sich der ihm
zugesprochenen Auszeichnung nicht bewufst gewesen, ver-
anlafst, Menschen aller Stände, Berufe und Beschäftigungen
hinsichtlich ihres Verständnisses für die Gründe ihres beruf-
lichen Handelns auszuforschen. Er habe aber überall bei
zuversichtlichstem Glauben an die eigene Einsicht nur
völlige Unklarheit gefunden und sei so zu der Einsicht
gelangt, dafs seine eigene, vom Gotte beglaubigte Einsicht
nur in dem einen Punkte bestehen könne, dafs er zwar
auch nichts wisse, aber wenigstens von diesem seinem Nichts-
wissen ein Bewufstsein habe. Diese pflichtmäfsige Auf-
deckung der Unwissenheit so zahlreicher Menschen aber
habe ihm in den weitesten Kreisen Feindschaft zugezogen
(Apol. 21 ff.). Diese berühmte Ausführung Piatos schliefst,
genauer betrachtet, eine grofse Un Wahrscheinlichkeit in
sich. Einesteils soll das Orakel schon Kenntnis von der
aufserordentlichen Weisheit des Sokrates erlangt haben, und
andemteils erwirbt er selbst sich erst aus Anlafs des Orakel-
spruchs ein Verständnis — und zwar ein recht seltsames ! —
von der Natur seiner Weisheit. Auch müfste das Orakel
von den religiösen und priesterlichen Interessen aus, die es
doch vertrat, einen Antrieb gehabt haben, Sokrates eine so
aufserordentliche Stellung anzuweisen. Noch seltsamer aber
ist die Art, wie Plato diese zunächst rein persönliche An-
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382 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
gelegeoheit weiterhin zu einer Pflicht gegen den orakel-
spendenden Gott, die unablässige Aufdeckung der Verständniß-
losigkeit der anderen zu einem unter Hintansetzung aller
persönlichen Interessen dem Gotte zu leistenden Dienst
aufbauscht. Schliefslich wird dann aus dieser Pflicht des
Kampfes gegen den Wissensdünkel sogar die Pflicht der an
jeden seiner Mitbürger zu richtenden Ermahnung, für die
Gesundheit seiner Seele zu sorgen.
Über diesen Orakelspruch wird auch noch in der unter
Xenophons Schriften stehenden Verteidigungsrede des
Sokrates berichtet, die aber schwerlich mit seiner wirklichen
Verteidigungsrede zusammenfällt. Hier wird die Frage des
Chairephon nur unbestimmt bezeichnet; er habe in betreif
des Sokrates angefragt. Die Antwort des Orakels lautet,
kein Mensch sei anständiger, gerechter und besonnener als
Sokrates (§ 14). Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dafs
dieser Orakelspruch überhaupt stattgefunden hat. Er soll
einerseits für das Lehrwirken des Sokrates richtunggebend
gewesen sein und setzt doch anderseits schon ein be-
deutendes Hervortreten in bestimmter Richtung voraus.
Wenn er geschichtlich ist, lassen sich weder der Zeitpunkt
noch die näheren Umstände des Vorganges und der genauere
Inhalt des Spruches bestimmen. Auf keinen Fall aber hat
er für das Wirken des Sokrates die Bedeutung gehabt, die
ihm in der platonischen Darstellung in lehrhafter Absicht
beigelegt wird.
Anscheinend fällt in diesen Zeitraum, vielleicht gegen
420, also etwa in das 50. Lebensjahr des Sokrates, seine
Verheiratung mit Xanthippe. Dies ist daraus zu schliefsen,
dafs ein in Xenophons Denkwürdigkeiten (II. 2) berichtetes
Gespräch mit seinem ältesten Sohne, der darin als etwa
14— 15 jährig erscheint (§ 7), aller Wahrscheinlichkeit nach
in das letzte Jahrzehnt seines Lebens zu setzen ist. Auch
nach Piatos Phädon (116 B, 60 A) hatte er zur Zeit seines
Todes noch zwei ganz kleine Kinder. Die Frau eines
Sokrates, der trotz seiner Besitzlosigkeit keiner gewinn-
bringenden Beschäftigung nachging, und dem auch der ideale
Lebensberuf wohl nur gelegentliche Geschenke und Unter-
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B. 1. Sokrates (469-399). 383
sttttzungen seiner Freunde eintrug, hätte, um ihre Stellung
an der Seite eines solchen Gatten im Verständnis seiner
Gröfse würdig ausfüllen zu können, ein sehr einsichts- und
charaktervolles Weib sein müssen. An Einsicht und Bildung
Aber fehlte es Xanthippe ganz, und dabei war sie auch noch
von einer krankhaften Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit
<ies Temperaments. Die intimsten und dabei am meisten
ernst gehaltenen und am meisten geschichtlichen Angaben
ober sie bietet die erwähnte Unterredung bei Xenophon.
Hier beschwert sich der Sohn über die unerträgliche Übel-
launigkeit der Mutter, die in ihren Scheltreden schlimmer
sei als ein wütendes Tier. Dafs es sich hierbei um ein
völlig ungezügeltes Temperament, um erbliche Belastung im
Sinne der Hysterie handelt, beweist gerade die begütigende
Vorstellung des Vaters, der darauf hinweist, sie sei doch in
ihren Handlungen eine sorgsame Mutter, sie meine es nicht
80, und der dem Sohne rät, ihre leidenschaftlichen Reden
nicht anders anzusehen wie die der Schauspieler auf der
Bühne. Dafs sie diese Übellaunigkeit aber auch gegen den
Gatten nicht zurückhielt, bezeugen die verschiedenen ihr
anhängenden Anekdoten, unter denen die bekannteste die
ist, daft sie nach einer kräftigen Schmährede ihn in der
Wut mit Wasser begiefst, worauf Sokrates: „Sagte ich es
nicht, dafs bei Xanthippe auf ein Donnerwetter auch
Regen folgt ?• (D. L. II. 36). In Xenophons Gastmahl
(4, 10) gibt Sokrates dieser unglücklich ausgefallenen Wahl
seiner Lebensgefährtin eine humoristische Wendung, indem
€r auf die Frage, warum er mit einem Weibe lebe, das von
allen, die es je gegeben habe oder noch geben werde, das
widerspenstigste sei, antwortet, auch wer sich zum Pferde-
b&BfligeT ausbilde, beschäftige sich nicht mit den frömmsten,
sondern mit den wildesten Rossen, und so habe auch er es
in bezug auf den Umgang mit Menschen gehalten. Tat-
s&chKch ist diese vorgängige Erwägung schwerlich von ihm
angestellt worden, und nur jm Scherze stellt er die im Ver-
kehr mit dieser Frau tatsächlich gewonnene Übung in der
Gelassenheit als von Haus aus bezweckte dar. In Wirk-
lichkeit liegt OTie Feblwahl und eine Enttäuschung vor : die
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384 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
warnende Stimme des Daimonion mufs bei dieser Angelegen-
heit geschwiegen haben.
Schliefslich aus diesem Zeitraum noch eine unfreund-
liche Äufserung in des Aristophanes „Vögeln", aufgeführt
414, dahinlautend, dafs Sokrates „ungewaschen*' seine Kunst
der Seelenführung übe (V. 1554). Dieselbe bezeugt wenig-
stens, dafs er auch um diese Zeit der gewohnten Beschäftigung
oblag.
Erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens fällt wieder
ein helleres Licht auf sein Wirken. Wir finden ihn da
umgeben von einer Anzahl ausgezeichneter Jünglinge, die
zwar nur in beschränktem Mafse für das eigentliche Ziel
seines Wirkens gewonnen wurden, dafür aber fruchtbare
Anregungen für die Weiterentwicklung der Philosophie in
den verschiedensten Richtungen von ihm empfingen. In
diesen Zeitraum fällt die Schülerschaft Xenophons, ge-
boren etwa 426, femer des Antisthenes, des Aristipp
und des Euklides von Megara, sämtlich wohl vor 430
geboren, endlich und vor allen die Piatos, geboren 427.
Über sein Wirken in diesem Zeitraum sind wir denn auch
durch die erhaltenen Schriften mehrerer der Genannten
genauer unterrichtet. Mit der Berücksichtigung dieser
Schriften zur Ermittlung des Gedankenkreises, der Lehre
des Sokrates tritt denn aber auch die Notwendigkeit der
Entscheidung über die als eigentlich geschichtlich zu be-
trachtende Quelle an uns heran.
Bald nach dem Tode des Sokrates haben zahlreiche
seiner Jünger einen neuen Literaturzweig, das „Sokrates-
gespräch", angebaut. Angeregt durch das von dem Meister
mündlich mit genialer Geschicklichkeit geübte Lehrgespräch
bildeten sie dies schriftstellerisch nach, indem sie ihre mehr
oder minder sokratischen Gedanken in Gesprächsform mit
Sokrates als Führer der Unterredung schriftlich darstellten.
Die meisten dieser Sokratesdialoge sind bis auf kümmer-
liche Reste untergegangen. Der hervorragendste Vertreter
dieser Literaturgattung ist Plato. Er behält fast in allen
seinen Dialogen, auch dann, als sich seine Denkweise schon
völlig von der des Meisters entfernt hatte, die Gepflogenheit
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B. 1. Sokrates (469— d99> 385
bei, Sokrates zum Führer des Gespräches zu machen. Das
spätere Altertum hat diese Dialoge vielfach dahin mifsver-
standen, dafs sie Berichte über den Gedankenkreis des wirk-
lichen Sokrates gäben, und so hat dieser Akt pietätvoller
Verehrung in hohem Mafse die Wirkung gehabt, das Bild
des historischen Sokrates völlig zu verwirren und seinen
Gedankenkreis mit dem Piatonismus zu verschmelzen. Von
diesem Mifsverständnis ist man im allgemeinen zurück-
gekommen. Niemand hält mehr z. B. die Unsterblichkeits-
beweise des „Phädon" für sokratisch. Nur für einige der
platonischen Schriften glauben manche auch heute noch den
Charakter geschichtlicher Berichterstattung in Anspruch
nehmen zu können. Die „Apologie" soll die wirkliche Ver-
teidigungsrede des Sokrates wiedergeben, der „Eriton" die
Gründe des wirklichen Sokrates für die Verweigerung der
Flucht aus dem Gefängnis. Aber auch diesen letzten Resten
des Mifsverständnisses, Plato für einen geschichtlichen Bericht-
erstatter über die Gedankenwelt des Sokrates zu halten,
mufs auf das entschiedenste entgegengetreten werden. Wenn
Plato sich nicht gescheut hat, im Phädon die schmerzlichste
Situation im Leben des Meisters, seinen Todestag, als wirk-
samen Bahmen für die Darlegung eigener, gar nicht auf
sokratischem Boden entsprossener Gedanken zu benutzen, so
wird er sich wohl auch nicht gescheut haben, die gericht-
liche Verteidigung des Sokrates und die Situation der von
seinen Freunden vorbereiteten Flucht aus dem Gefängnisse
dem gleichen Zwecke dienstbar zu machen. Dafs alle diese
Schriften nicht sokratische, sondern platonische Gedanken
entwickeln, kann natürlich erst bei Plato gezeigt werden.
Hier handelt es sich nur um das Prinzip, dafs Plato, ein so
ausgezeichneter Schilderer der persönlichen Eigenart des
Sokrates, des Sokrates als Charakterfigur, er in seinen Dia-
logen ist, als Zeuge für die Lehre des Sokrates nicht in
Betracht kommen kann. Ist ja doch selbst diese Charakter-
figur bei aller Naturtreue auch wieder eine Schöpfung der
Plato in so reichem Mafse verliehenen dichterischen
Gestaltungskraft, bei der er es nicht vermieden hat, zu
idealisieren und selbst Züge seines eigenen Wesens auf
Döring. I. 25
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386 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Sokrates zu übertragen. Insbesondere gilt das letztere un-
zweifelhaft von den Zügen sinnlich-ästhetischer Begeisterung
für rein körperliche Schönheit heranwachsender Jünglinge
in den Dialogen aus den jüngeren Jahren Piatos. Plato
selbst ist in der empfänglichen Lebenszeit der vergeistigende
Romantiker der Knabenliebe und überträgt diesen Zug un-
berechtigterweise (wie das Zeugnis Xenophons beweist) auf
seinen Sokrates.
Ganz und gar anders dagegen verhält es sich mit den
„Denkwürdigkeiten" (Memorabilien) oder „Erinnerungen an
Sokrates", dieXenophon verfafst hat. Diese Schrift trägt
ihren Titel mit Unrecht; sie ist tatsächlich ihrer ganzen
Anlage nach eine nachträgliche Verteidigung des Sokrates
gegen die Anklagepunkte, die zur Verurteilung geführt
hatten. Xenophon war zur Zeit des Prozesses nicht in
Athen und kam auch nachher nicht dorthin zurück. Er
kann daher, wie er ausdrücklich erklärt, nur vermuten,
durch welche angebliche Tatsachen die Anklage gestützt
wurde (Mem. I. 1, 1). Er entkräftet daher nur kurz diese
vermutete Begründung und führt dann aus dem ganzen
Wirken des Sokrates den Beweis, dafs dies nicht ein ver-
derbliches, sondern ein heilsames, des höchsten Lobes wür-
diges gewesen sei. Xenophon hat dabei, dem Zwecke der
Verteidigung gemäfs, wohl absichtlich einige Punkte im
Wirken des Sokrates mehr im Dunkel gelassen; in anderen
Beziehungen zeigt er, dafs sein Verständnis der ganzen Art
des Sokrates nur ein unvollkommenes und beschränktes war.
Ein Widersinn dagegen ist es, eine Schrift, die sich einen
solchen Zweck setzt und sich überall auf die eigene Augen-
und Ohrenzeugenschaft beruft, für eine blofse Lehrschrift
Xenophons zu halten, der den Verteidigungszweck nur als
schriftstellerische Einkleidung benutze, um seine eigenen
Gedanken zu Markte zu bringen. Hier, wenn irgendwo,
haben wir den wirklichen und wahrhaften Sokrates vor uns.
Xenophon mufs sich während seines Verkehrs mit Sokrates,
der etwa von 410 oder etwas später bis 400 währte, Auf-
zeichnungen gemacht haben, nach denen er in dieser Schrift
berichtet. Bei richtigem Gebrauche genügt diese Schrift,
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B. 1. Sokrates (469—899). 387
um uns ein Bild vom Gedankenkreise des geschichtlichen
Sokrates zu machen.
Weniger zuverlässig ist Xenophons „Gastmahr, in dem
er mehr in freier Schilderung die Weise des Sokrates im
zwanglosen Verkehr schildert. Aber auch hier hat er gewifs
zum Teil geschichtliche Züge, wirkliche Erinnerungen,
wenngleich in freier Anordnung, zusammengetragen. Doch
ist hier der Ertrag für die Lehre nur gering. Noch sehr
viel weniger aber läfst sich aus den spärlichen* Angaben des
Aristoteles entnehmen, die überdies sich teilweise nur auf
Sokrates als Gesprächsfigur bei Plato oder als Vorbedingung
für die Entstehung einiger Lehren Piatos beziehen.
Um also den für sein gesamtes Wirken mafsgebenden
Gedankenkreis des Sokrates kennen zu lernen, haben wir
uns an die Schrift Xenophons zu halten. Aus ihr läfst
sich, wenn auch mit einiger Mühe, die Summe der seinem
Wirken zu Grunde liegenden Überzeugungen als ein wohl-
gegliedertes Ganzes, als ein einheitliches System heraus-
schälen.
Der erste hier hervortretende Zug ist, dafs Sokrates
viel entschiedener als die meisten der Sophisten jede Be-
schäftigung mit der Naturphilosophie ablehnte. Von weit
gröfserer Wichtigkeit sind für den Menschen die mensch-
lichen Angelegenheiten. Ferner haben die bisherigen Be-
mühungen auf diesem Gebiete bewiesen, dafs es unmöglich
ist, da zu gesicherten Resultaten zu gelangen. Die in ihren
Ansichten einander aufs schroffste widersprechenden Natur-
philosophen gewähren ein ähnliches Bild wie eine Gesell-
schaft von Wahnsinnigen, die mit den widersprechendsten
fixen Ideen behaftet sind. Und endlich: selbst wenn man
theoretisch die Natur erforschen könnte, gäbe es doch keine
Möglichkeit, nach diesen Erkenntnissen die Naturordnung
zu ändern und den Zwecken der Menschen dienstbar zu
machen. So verzichtet er bewufst und vollständig auf diese
Richtung der Forschung (I. 1, 11 — 17).
Die positive Ergänzung dieser Ablehnung ist, dafs das
letzte Merkziel seines Denkens in der Erhöhung der öffent-
lichen Wohlfahrt besteht.
25*
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388 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
In der Naturordnung sind dem Menschen vielfache
Grundbedingungen der Glückseligkeit gewährt. Die Welt-
einrichtung ist das Werk eines weisen und gegen die leben-
den Geschöpfe gütig gesinnten Urhebers (I. 4, 7; IV. 3, 6 f.).
Der Mensch insbesondere ist mit solchen Vorzügen aus-
gestattet, dafs er glückseliger ist als die Tiere (I. 4, 11—14).
Das Leben ist ein Gut vom höchsten Werte (II. 2, 3). Der
glückliche Ausgang unserer Bestrebungen ist vielfach vom
Walten der ^hicksalsmächte abhängig und der menschlichen
Einsicht verborgen, aber die Bewerbung um die Gunst der
Götter kann sowohl den günstigen Verlauf der Geschicke
als auch, durch Vorzeichen und Orakel, die richtige Er-
kenntnis in bezug auf den Ausfall geplanter Unternehmungen
gewährleisten (I. 1, 8 f.; I. 3, 3).
In hohem Mafse ist aber die Glückseligkeit der einzelnen
vornehmlich von dem wohlgeordneten Zustande des Hauses und
Staates abhängig (IIL 4, 9; II. 7, 12; IV. 1, 2, 4, 17). Im
normalen Hauswesen — man denke an die besonders in-
folge der Sklavenwirtschaft oft sehr ausgedehnten hauswirt-
schaftlichen Betriebe der Alten — herrscht Eintracht, all-
gemeine Zufriedenheit und wirtschaftliches Gedeihen. Das
Gedeihen des eigenen Staates aber ist nach antiker An-
schauung schon an sich selbst eine Quelle der Erhebung
für den einzelnen; mehr noch aber macht sich der normale
oder abnorme öflfentliche Zustand durch direkte Rück-
wirkungen auf sein Wohl oder Wehe ihm empfindlich fühl-
bar (III. 6, 24).
Die in Athen vorhandenen Zustände in Haus und Staat
kranken an schweren Übelständen und sind vielfach reform-
bedürftig. Die alte Tüchtigkeit des Staatswesens ist im
Niedergange begriflfen; eine Kriegsgefahr von einem sonst
geringgeschätzten Gegner, wie den Böotiem, erweckt die
ernstesten Besorgnisse (III. 5, 13, 1).
Sokrates glaubt aber nicht, dafs die Ursache der vor-
handenen Übelstände in dem Zustande des Volks im all-
gemeinen oder in der demokratischen Regierungsform an
sich liege. Für die tüchtigen Eigenschaften des athenischen
Volks hat er Worte der wärmsten Anerkennung (III. 5, 2 f..
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B. 1. Sokrates (469—399). 389
3, 12 flF.). Und was die Demokratie anlangt, so weifs er ja
recht wohl, dafs die politische Einsicht nicht bei der Masse
der die Volksversammlung zusammensetzenden Bürger zu
suchen ist. Diese besteht aus Walkern und Sattlern, Zimmer-
leuten, Schmieden, Bauern, Kleinhändlern und dergl., die
genötigt sind, ihr Denken und Trachten überwiegend auf
die materielle Seite des Lebens, auf den Erwerb zu richten
(III. 7, 4 flf.). Aber die Demokratie ist ja auch nur eine
durchsichtige Form; die eigentlich Leitenden sind die Ver-
trauensmänner des Volkes, die Politiker von Profession, die
durch gute oder schlechte Mittel die Leitung der Massen
in die Hände zu bekommen wissen. Die Volksherrschaft
ist in Wirklichkeit eine Herrschaft der Volksführer, der
Demagogen. Die Kritik des Sokrates wendet sich noch nicht
gegen diesen Zustand an sich (I. 2, 10 f.). Nur in einem
Punkte will er die Staatseinrichtungen selbst geändert
wissen. Das ist die ungeheuerliche Einrichtung der
Archontenwahl durchs Los aus einer gröfseren, durch die
verschiedenen Körperschaften präsentierten Zahl von An-
wärtern. Hier ist von vornherein eine Angelegenheit, die
man in allen übrigen Lebensverhältnissen durch Urteil ent-
scheidet, die Auswahl der für eine Verrichtung Geeignetsten,
dem blinden Zufall anheimgestellt (I. 2, 9).
Im übrigen will er zwar auch, dafs die Massen vor
Ausartung bewahrt und zu tüchtiger Lebensführung an-
gehalten werden (III. 5, 8—14); insbesondere ist in dieser
Beziehung sein Augenmerk darauf gerichtet, der nützlichen
Arbeit die in einer sklavenhaltenden Gesellschaft ihr leicht
abhanden kommende Ehre zu erhalten. Mit Vorliebe beruft
er sich auf den Vers des Hesiod : „Arbeit ist niemals Schande ;
der Mülsiggang nur ist Schande" (I. 2, 57), und entscheidet
in seinen Ratschlägen an Freunde, die in Bedrängnis ge-
raten sind, durchweg in diesem Sinne (II. 7 — 10). Den
eigentlichen Grundschaden aber findet er in der unzuläng-
lichen Beschafifenheit der tatsächlich zur Leitung Gelangen-
den. Dies gilt gleichermafsen für das Haus wie für den
Staat. Bei den Leitenden fehlt es teils an dem richtigen
Können und Verstehen; sie sind Dilettanten in den
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390 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Geschäften und Verrichtungen, die ihnen obliegen, oder zu
denen sie in übel angebrachtem Ehrgeiz im Staate sich
herandrängen (I. 7; III. 5, 21). Teils aber und vornehmlich
fehlt es da an dem rechten Wollen, an den richtigen
sittlichen Eigenschaften. An deren Stelle tritt
gewalttätige^ Eigensucht , egoistische Ausbeutung und Aus-
nutzung (IL 6, 24) aus Ehrgeiz oder Gewinn- und Genufs-
sucht Wer leiten will, mufs nicht nur zu überreden
verstehen, er mufs das Vertrauen der Massen zu gewinnen
wissen, was am besten durch wirkliche Befähigung und auf
das Gemeinwohl gerichtete Gesinnung geschieht. Vollends
wer gut leiten will, bedarf dieser letzteren beiden Eigen-
schaften im ausgedehntesten Mafse.
Es sind drei Bezeichnungen, in denen Sokrates die
Gesamtheit der für die wahrhaft heilsame Leitung in Haus
und Staat erforderlichen Eigenschaften zusammenfafst. Die
Befähigung dazu ist „d i e königliche Kunst" (IV. 2, 11;
IL 1, 17). Er nennt sie ferner „die schönste und herr-
lichste Tugend", durch die Staaten und Häuser gut ver-
waltet werden (I. 2, 64). Tugend ist hier ebensowenig im
blofs sittlichen Sinne gebraucht, wie wenn sie (I. 7, 1) der
dilettantischen Scheintüchtigkeit entgegengesetzt wird. Er
bezeichnet endlich den, der die Gesamtheit dieser Eigen-
schaften besitzt, als den wahrhaft „Schönen und Guten".
Sokrates gibt diesem Ausdruck einen neuen Sinn, indem er
bei ihm völlig von der auf Geburt und Reichtum beruhenden
gesellschaftlichen Stellung absieht und das ausschliefsliche
Gewicht auf die persönlichen Eigenschaften legt (III. 8, 5;
I. 2, 59). Ist ja doch Sokrates selbst, arm und von niederer
Herkunft, wie er war, nach Xenophons Urteil ein Muster-
bild eines „Schönen und Guten" (I. 2, 18), und verurteilt
er doch aufs entschiedenste den Dünkel derjenigen, die da
meinen, schon durch ihren Reichtum oder ihre gesellschaft-
liche Stellung zur Leitung des Staates berechtigt und be-
fähigt zu sein (IV. 1, 5; I. 2, 59). Sokrates hat den Begriff
des „Schönen und Guten", d. h. des Notabein, völlig demo-
kratisiert, d. h. aller Standesvorzüge entkleidet und aus-
schliefslich auf persönliche Tüchtigkeit zurückgeführt. Er
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B. 1. Sokrates (469-399> 391
bedeutet ihm genau dasselbe wie der Besitzer der Tugend
im weitesten Sinne (I. 2, 18; IV. 8, 11) und der Inhaber
der königlichen Kunst. In dieser Verwerfung der Reste
von Standesbevorzugungen in der athenischen Demokratie
ist derselbe Sokrates, der den demokratischen Mifsbrauch
des Loses so entschieden verwirft, demokratischer als das
herrschende System.
Es sind aber zwei Gruppen von Eigenschaften, die das
Wesen dieser segensreichen Herrschernatur ausmachen. Sie
murs zunächst die Fähigkeiten zum Herrschen über-
haupt besitzen. Diese fassen sich unter der Voraussetzung
eines demokratischen Gemeinwesens in den drei Begriffen
der Tatkraft, der Redefertigkeit und der Geschicklichkeit,
d. h. der Ausrüstung mit allen für eine leitende Stellung
überhaupt erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten, zu-
sammen. Diese Eigenschaften aber sind auch dem zwar
erfolgreichen, aber schlechten, d. h. eigensüchtigen und ver-
derblichen Herrscher eigen. Zum heilsamen Herrscher
wird der Leitende nur dadurch, dafs ihm auch Sophrosyne
zukommt. Dieses Wort bedeutet eigentlich geistige Gesund-
heit und wird daher auch geradezu in Gegensatz zur Ver-
rücktheit gesetzt (I. 1 , 16) ; im Sinne des Sokrates bedeutet
es aber geradezu den Inbegriff der sittlichen Eigenschaften.
Diese machen die wahre geistige Gesundheit aus und bilden
zugleich das vernehmlichste Erfordernis des dem gemeinen
Besten dienenden Leiters (IV. 3, 1).
Die Sophrosyne ist also dasselbe wie die Tugend im
engeren ethischen Sinne (III. 9, 5; I. 2, 1; II. 6, 22). Die
besonderen unter ihr zusammengefafsten Eigenschaften werden
von Sokrates einzeln aus der Aufgabe des wahren Herrschers
abgeleitet. Dieser Eigenschaften sind vier, gesondert nach
den verschiedenen Gebieten , auf denen sich die Sophrosyne
zu betätigen hat. Bezieht sie sich auf die Götter, heifst sie
Frömmigkeit (L 1, 20; IV. 3, 2), im Verhältnis zu den
Menschen Gerechtigkeit (IV. 4, 1), in bezug auf Ge-
fahren Tapferkeit (IV. 6, 10); in bezug auf die sinnlichen
Lustgefühle Enthaltsamkeit (IV. 5, 9), zu der auch die
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392 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Abhärtung und Bedürfnislosigkeit gerechnet wird. Dies
sind die sokratischen Kardinaltugenden.
Ganz folgerichtig leitete Sokrates diese Tugenden so-
wohl ihrem Wesen und Umfange als ihrer Notwendigkeit
nach aus den Erfordernissen der wahren Herrschertätigkeit
ab. Es lag ihm fern, eine allgemein-menschliche Sittenlehre
zu entwerfen; es ist ihm nur darum zu tun, seine Zöglinge
auch mit den dem wahren HeiTScher notwendigen sittlichen
Eigenschaften auszustatten.
Wahre Frömmigkeit ist einesteils als Gottesfurcht
eine notwendige Vorbedingung für das Zustandekommen
auch der übrigen Tugenden (I. 1, 18 f.; 4, 19; IV. 3, 18),
andernteils als das Hilfsmittel zur Erlangung der Gnade
der Götter, die sich besonders in der Erteilung von Orakeln
zeigt, unentbehrlich für ein erfolgreiches Wirken in Haus
und Staat (I. 1, 7 «F.; IV. 7, 10; II. 2, 13). In beiden Be-
ziehungen also ist sie ein unumgängliches Erfordernis des
guten Herrschers. Sokrates vertritt nicht etwa als Alt-
gläubiger, sondern in ebenso wissenschaftlicher Weise, wie
man im 18. Jahrhundert das „Dasein Gottes** philosophisch
erwiesen zu haben glaubte, das persönliche Walten der
Gottheit in der Welt. Seine Beweisart (I. 4; IV. 3) ist
überwiegend diejenige, die später als die physiko-theologische
bezeichnet worden ist, und die von der offenbaren Verwirk-
lichung von Zwecken in der Welt ihren Ausgangspunkt
nimmt. Sie ist in ihrer geistvollen und scharfsinnigen
Durchführung ein Ausflufs des ihm eigenen, überaus starken
Sinnes für das Zweckvolle. Dafs er dabei nicht bis zur
entschiedenen Betonung der Einheit der göttlichen Persön-
lichkeit fortschreitet (wenigstens nach Xenophon), ist viel-
leicht nur eine Anbequemung an den herrschenden Götter-
glauben. Um die Gnade der Götter zu erlangen, bedarf es
der Betätigung der gottesfürchtigen Gesinnung durch Gebet
und Opfer, sowie durch das richtige ethische Verhalten
(I. 1, 9; IL 2, 14; III. 9, 15). In bezug auf die beiden
zuerst genannten Eultushandlungen gilt ihm die Regel, dafs
die Götter ihre Ehre auch durch äufsere Betätigung der
frommen Gesinnung verlangen. Sie wollen gebeten sein;
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B. 1. Sokrates (469—899). 393
nur soll man ihnen nicht vorschreiben, was sie geben sollen.
Man soll sie nur um das Gute, uns Heilsame bitten; worin
dies besteht, wissen sie selbst am besten (I. 3, 2). Man
soll auch opfern, aber nicht auf die Massenhaftigkeit des
Geopferten an sich kommt es an, sondern auf das richtige
Verhältnis desselben zum Vermögensstande des Opfernden
(I. 3, 3; IV. 3, 17). Im allgemeinen liegt der Gottheit nicht
so sehr daran, dafs bestimmte gottesdienstliche Gebräuche
peinlich innegehalten werden, sondern nur daran, dafs sich
überhaupt die fromme Gesinnung in solchen betätige. Daher
er auch die Weisung des delphischen Orakels guthiefs, nach
dem Herkommen der eigenen Stadt die Götter zu verehren
(I. 3, 1; IV. 3, 16).
Sokrates vertritt hier gegenüber dem Radikalismus
eines Protagoras und Prodikos eine gemäfsigte reli-
giöse Aufklärung. DieGottheit verlangt Gunst-
bewerbung. Nur durch diese ist ihre Gnade zu erlangen.
Diese Gunstbewerbung ist einesteils eine kultische, durch
Gebet, Opfer und Kultushandlungen überhaupt, wobei es
aber nicht auf das Äufserliche, sondern nur auf Betätigung
der religiösen Gesinnung ankonmit. Andernteils besteht sie
in der Beobachtung der sittlichen Vorschriften. Auf ein Jen-
seits bezügliche Wirkungen der Göttergunst werden nicht in
Betracht gezogen. Diese aufgeklärte Religiosität, die in
gewissem Mafse an die Vemunftreligion des 18. Jahrhunderts
erinnert, ist ihm neben dem rein menschlich begründeten
Moralismus eine unentbehrliche Stütze des Gesellschaftslebens.
Die Gerechtigkeit ist nicht nur loyale Unterwerfung
unter das Staatsgesetz, sondern auch die Gewissenhaftigkeit
in der Beobachtung eingegangener Verbindlichkeiten, aus-
gesprochener oder stillschweigender, in allen Lebensverhält-
nissen, selbst dem Sklaven und Landesfeinde gegenüber
(IV. 4, 12 flf.). In diesem Sinne gehört auch die Dankbarkeit,
selbst dem Feinde gegenüber, zur Gerechtigkeit (IL 2, 1 flf.).
Es gibt ferner „ungeschriebene Gesetze", wie das Verbot
der Blutschande, denen man gehorchen mufs (IV. 4, 19).
Aber nicht nur das Unterlassen des im weitesten Sinne
Ungesetzlichen, auch die positive Ausübung alles Gemein-
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394 Zweite Periode. £rste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
nützigen rechnet Sokrates zur Gerechtigkeit (IV. 8, 11;
II. 6, 24 f.; III. 3, 9 f., 5, 25; 7, 9). Die Gerechtigkeit
umfafst bei ihm auch die Bewufsttreue und Güte; sie ist
die soziale Tugend im weitesten Umfange. In diesem Sinne
ist es auch verständlich und gerechtfertigt, dafs Sokrates
unter Umständen Unwahrhaftigkeit (der Feldherr, der dem
entmutigten Heere gegenüber das Herannahen von Ver-
stärkungen vorgibt), Trug (dem kranken Kinde, das die
Arznei nicht nehmen will, wird diese unter die Speise ge-
mischt) und gewaltsame Eigentumsberaubung (dem in
Melancholie Verfallenen, von dem zu befürchten steht, dafs
er sich ein Leids antun wird, wird die Waffe weggenommen)
zur Gerechtigkeit rechnet (IV. 2, 17 flf.).
Und dafs Sokrates auch die Gerechtigkeit in erster
Linie als notwendige Eigenschaft des Leitenden in Betracht
zieht, ergibt sich daraus, dafs er sie ausdrücklich als Be-
standteil der „königlichen Kunst** und als Bedingung des
zu einem umfassenden Wirken erforderlichen allgemeinen
Vertrauens bezeichnet (IV. 2, 11; 4, 15 flf.)-
Die Tapferkeit ist das mannhafte Verhalten gegen-
über der Gefahr, dem Übel überhaupt (IV. 6, 10). Eine
genauere Bestimmung dessen, was als Gefahr und Übel zu
erachten ist, wird hier nicht gegeben. Ausgeschlossen wird
nur der vom Begriff des Tapferen, der das Vorhandensein
einer Gefahr nicht erkennt. Ebenso fehlt es bei dieser
Tugend an dem Nachweis ihrer Unentbehrlichkeit für den
wahren Leiter. Es ist fraglich, wieweit Sokrates sich bei
dieser Tugend ins einzelne eingelassen hat und in die Breite
und Tiefe gegangen ist. Jedenfalls konnte es ihm nicht
schwer fallen, auch diese Tugend als ein notwendiges Er-
fordernis des leitenden Mannes zu erweisen.
Dafs Sokrates auch die Enthaltsamkeit (einschliefs-
lieh der Abhärtung und Bedürfnislosigkeit) nicht nur als
Hilfsmittel bei der Pflege der eigentlichen, dem Gemeinwohl
dienenden Tugenden betrachtete, sondern direkt zum Sitt-
lichen rechnete (III. 9, 4flF.; IV. 5, 7; I. 2, 8), erklärt sich
ebenfalls daraus, dafs er seine ganze Tugendlehre aus den
Erfordernissen des idealen Herrschers ableitete. Diese Strenge
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B. 1. Sokrates (469—399). 395
der LebensführuDg ist nämlich zunächst direkt und un-
mittelbar für die Erledigung bedeutender Geschäfte der
mannigfachsten Art unentbehrlich (IL 1, 1—7; I. 6, 9).
Sie ist aber femer auch von der gröfsten Bedeutung für
das Vertrauen der Geleiteten, ohne das eine einflufsreiche
Stellung undenkbar ist (I. 5). Sie ist endlich von wesent-
lichstem Werte für die Abschliefsung und dauernde Er-
haltung von Freundschaftsbündnissen, die allein es ermög-
lichen, die herrschende Stellung der wahrhaft Tüchtigen
und Gemeinnützigen im Staate zu gewinnen und aufrecht-
zuerhalten. Denn nur der enthaltsam Lebende ist in diesem
Sinne ein wertvoller Freund (L 5, 4; 6, 9; IL 6, 21 flf.).
Aber nicht nur als direkter Bestandteil der Sophrosyne,
auch als Hilfsmittel zur Übung der übrigen Tugenden ist
die mafsvolle Lebensführung dem leitenden Manne unent-
behrlich. Sie ist frei von den Versuchungen zur Un-
gerechtigkeit, denen der Schwelger erliegt (I. 2, 5; IL 6,
24; 1, 25). Sie ist frei von den das Handeln beein-
trächtigenden körperlichen Zerrüttungen, die im Gefolge
der Unenthaltsamkeit auftreten (IL 1, 20). Sie gewährt
endlich die zur Erkenntnis des Richtigen und Guten not-
wendige Klarheit des Denkens (IV. 5, 6— 8, 11). In diesem
indirekten Sinne wird die Enthaltsamkeit der Grundstein
der Tugend genannt (I. 5, 4 f.). Ebenso wie zur Tugend
ist sie aber auch für ein tatkräftiges Handeln überhaupt
die wesentliche Vorbedingung (IV. 5).
Die Enthaltsamkeit ist überhaupt diejenige Tugend, die
Sokrates von allen am wärmsten schätzt und am nachdrück-
lichsten empfiehlt. So kann es denn nicht wundernehmen,
dafs er ihr auch, abgesehen von ihrer Bedeutung für die
leitenden Stellungen, noch weitere Empfehlungsgründe mit
auf den Weg gibt; deren sind zwei. Zunächst gewährt die
mafsvolle Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse, bei
der eben das wirkliche Bedürfnis abgewartet und nur dies
befriedigt wird, in müheloser Weise einen mindestens ebenso
grofsen Lustertrag, wie ihn der Schwelger durch die mühe-
vollsten, sein ganzes Dichten und Trachten in Anspruch
nehmenden Veranstaltungen erzielen kann. Sie ist also nicht
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396 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
einmal mit einer Einbufse an Lustgefühlen verbunden (I. 3,
6, 15; 6, 5; IV. 5, 9; III. 11, 13 f.; II. 1, 30, 33). Sie ist
andernteils als Freiheit von den knechtenden Bedürfnissen,
als Selbstgenügsamkeit ein stolzer Zustand der Gottähn-
lichkeit. Was der Gottheit von selbst zufällt, weil sie alles
hat und ihr nichts fehlt, das erreicht der Enthaltsame
gleichsam auf einem Umwege, indem er seine Bedürfnisse
nach Möglichkeit einschränkt. „Nichts bedürfen ist gött-
lich; so wenig als möglich bedürfen kommt dem Göttlichen
am nächsten; das Göttliche ist aber das Vollkommene, das
dem Göttlichen Nächste das dem Vollkommenen Nächste"
(I. 6, 10).
Es ist sehr wohl möglich, dafs Sokrates ursprünglich
in rein persönlicher Weise auf sein Enthaltsamkeitsprinzip
geführt worden ist. Nur so war es ihm möglich, ohne Be-
zahlung sich seiner idealen Reformarbeit ganz zu widmen.
In seinem vollendeten Gedankensystem aber nimmt dann die
Enthaltsamkeit die vorbezeichnete Stelle ein.
Der wahre Besitz dieser sittlichen Eigenschaften kann
nun aber nicht in einem unklaren Tasten nach dem Richtigen
bestehen. Das Gebiet des Sittlichen mufs in jeder Beziehung
gegen die angrenzenden Gebiete des sittlich Verkehrten ab-
gegrenzt werden. Es bedarf zum sittlichen Handeln der
sittlichen Einsicht, der Weisheit im Sinne eines
deutlichen Wissens, was das Gute ist. Hier ist
nun die eine der beiden Stellen, an denen die auch von
Aristoteles dem Sokrates als erfolgreichste Leistung nach-
gerühmte BegriflFsbestimmung zur Geltung kommt. Zwar
hat er auf dem sittlichen Gebiete nicht eigentlich Defini-
tionen, Inhaltsbestimmungen, durch Aufzählung der Merk-
male gegeben. Als Hauptaufgabe betrachtete er hier die
Umschreibung des Gebietes, die Umfangsabgrenzung. Nur
wer das Geziemende weifs, ist im stände, es zu vollbringen,
ohne fehlzugreifen (IIL 9, 4 f. : I. 2, 50). Er war daher in
seiner Lehrtätigkeit beständig damit beschäftigt, zu unter-
suchen, was fromm, was unfromm, was gerecht, was un-
gerecht, was Tapferkeit, was Feigheit u. s. w. sei (I. 1, 16),
und legte auf das Sondern der entgegengesetzten Richtungen
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B. 1. Sokrates (469—399). 397
des Handelns ein so grorses Gewicht, dafs Xenophon sogar
den Namen seiner Dialektik (eigentlich Unterredungskunst)
von diesem Sondern (dial6gein) ableitet (IV. 5, 11 f.). Er
besafs in dieser Richtung, wie Xenophon betont (IV. 8, 4, 11),
eine untrügliche Sicherheit, und Proben dieser seiner Weis-
heit werden mehrfach angeführt (IV. 2, 12 ff.; 6, 2 -6, 10 f.).
Aufser den sittlichen Eigenschaften bedarf der leitende
Mann aber auch gewisser Kenntnisse und Fertig-
keiten. In dieser Beziehung wird er als „mechanikös"
bezeichnet (IV. 3, 1). Er mufs sich auf die Geometrie nicht
als abstrakte Wissenschaft, sondern im buchstäblichen Sinne
als die Kunst der Landvermessung verstehen. In demselben
Sinne mufs er mit der Sternkunde so weit vertraut sein,
dafs er bei Nacht die Zeit bestimmen und sich orientieren
kann. In der gleichen praktischen Richtung mufs er sich
aufs Rechnen verstehen. Die Sorge für seine Gesundheit
wird ihm in einfachster Weise durch eine verständige Selbst-
beobachtung ermöglicht. Ohne den Rat des Arztes auszu-
schliefsen , ist Sokrates der Ansicht , dafs beständige
Beobachtung der Wirkungen von Speise, Trank und
sonstigem Verhalten auf die Gesundheit besser als der
beste Arzt das dem eigenen Körper Heilsame herausfinden
könne. Endlich verlangt er in dieser Beziehung, ent-
sprechend seiner hohen Meinung von den Götterzeichen,
die Kenntnis der Kunst, diese Vorzeichen zu deuten (IV. 7).
Dies Verzeichnis der erforderlichen Kenntnisse macht
auf Vollständigkeit keinen Anspruch (IV. 7, 2). Daneben
wird als unentbehrlicher Bestandteil der Herrschertüchtigkeit
die Fähigkeit, zu reden (d. h. zu überreden und zu über-
zeugen, die bei den demokratischen Grundvoraussetzungen
dieses ganzen Herrschertums an die Stelle des Zwanges und
der Disziplin tritt) und zu handeln, häufig nachdrücklich
betont (IV. 3, 1; I. 2, 15; IL 6, 14; 9, 4; IIL 6, 16;
IV. 2, 1).
Dafs Sokrates bei der Redefertigkeit nicht, wie
etwa Gorgias, eine künstlich abgezirkelte Redekunst im
Dienste eigensüchtiger Zwecke im Auge hatte, sondern nur
die Geschicklichkeit, das an sich Richtige und Heilsame auf
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398 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
gütlichem Wege den Beteiligten einleuchtend zu machen,
ist klar. Bei Xenophon schiebt sich da, wo er von dieser
Seite des sokratischen Wirkens reden will (IV. 6), der
Redekunst ohne weiteres die Kunst der Wechselrede, die
Dialektik, unter, und er handelt hier, freilich in recht
verständnisloser Weise, auch von der in der Tat durch
Sokrates aufgebrachten Kunst der Begrififsbestimmungen
(Definitionen). Hier ist die Stelle, wo diese recht eigentlich
in Betracht kommen. Jede überzeugende Rede mufs mit
deutlichen, scharf umrissenen Begriffen operieren. So be-
zeugt denn auch Xenophon (IV. 6, 1), Sokrates sei der
Überzeugung gewesen, wer da wisse, was ein jegliches
sei (Definition), der allein sei auch im stände, andere zu
belehren, und habe deshalb mit den Seinigen unablässig
solche Begrififsbestimmungen erörtert. Xenophon bemüht
sich auch, freilich mit völligem Mifserfolg, eine Vorstellung
von dieser so hochbedeutsamen Seite am Verfahren des
Sokrates zu geben. Es ist indes anderweitig genugsam be-
kannt und wird noch bei Plato zur Sprache kommen, welche
hohe Bedeutung diesen ersten Ansätzen zur Kunst der
logischen Begrififsbildung für die weitere Geistesentwicklung
zukommt, und daher in hohem Mafse zu bedauern, dafs sich
Xenophon hier als Berichterstatter über das Verfahren des
Sokrates so unzulänglich zeigt. Dafs Sokrates mit seiner
Begriffsbildung tiefgreifend auf Plato gewirkt hat, dafs ihm
aber die Begriffe nicht zugleich für sich seiende Wesen-
heiten, sondern nur Gebilde unseres Verstandes gewesen
sind, bezeugt Aristoteles aufs nachdrücklichste an einer
Reihe von Stellen (987b, 1; 1078b, 17, 30; 1086b, 2;
642, 28). Aufser diesem wichtigen Punkte hebt Xenophon
noch folgende Grundzüge seiner schlichten Überredungskunst
hervor. Man stellt die Grundfrage, um die es sich handelt,
einfach und klar hin. Man bedient sich, um die zu
empfehlende Auffassung einleuchtend zu machen, der all-
gemein anerkanntesten Wahrheiten als der am sichersten
wirkenden Überzeugungsgründe (IV. 6, 13 ff.). Hierher ge-
hört dann wohl vornehmlich das von ihm selbst mit so
grofser Geschicklichkeit angewandte Verfahren der Heran-
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B. 1. Sokrates (469-399). 399
ziehuDg verwandter (analoger) Fälle. So beweist er, dafs
man in jeder Sache dem Sachverständigen am liebsten ge-
horche, durch das Beispiel des Steuermanns und des Land-
wirts (III. 3, 9); so, dafs der sicherste Weg, um in Staats-
sachen für tüchtig gehalten zu werden, der sei, es zu sein,
durch das des Flötenbläsers und des Feldherm (I. 7 cf. III.
6, 38). Diese schlichte Art der Redeführung liefs sich,
wenn es nicht auf Trug und Irreleitung, sondern nur auf
Einleuchtendmachung des Richtigen ankam, ebensogut in
der zusammenhängenden Volksrede wie in der Wechselrede
mit einzelnen anwenden.
Auch bei der Tüchtigkeit zum Handeln, der
Energie, schweift Xenophon teilweise auf ein anderes Gebiet
über (IV. 5). Doch ist ersichtlich, dafs Sokrates, wie schon
bemerkt, auch in dieser Beziehung von der Unabhängigkeit
von körperlichen Bedürfnissen und Genüssen das Höchste
erwartete. Als wichtiges Hilfsmittel zur Gewinnung dieser
Eigenschaft erscheint ihm femer offenbar die Gymnastik,
da es keine menschliche Tätigkeit gebe, bei der der Körper
nicht beteiligt sei (III. 12, 5 f.).
Diesen allgemeingültigen Anforderungen an den tüch-
tigen Leiter in Haus und Staat schliefsen sich sodann noch
besondere Erfordernisse für die verschiedenen be-
sonderen Verrichtungen vornehmlich im Staatsleben an. Im
Staatsleben bedarf es der Feldherren, der Richter (Ge-
schworenen) und der eigentlichen Politiker, die in der Volks-
versammlung tätig sind und der inneren Verwaltung und
der diplomatischen Vertretung nach aufsen vorstehen (IL 6,
38). Aber auch der grofse Hauswirt hat aufser seinen
direkten Verrichtungen (III. 4) mit mancherlei beson-
deren Angelegenheiten, wie Rechtsstreitigkeiten (II. 9),
Staatsleistungen (III. 4, 3 flf.) zu tun. Auf allen diesen
Sondergebieten müssen zu den für alle geltenden sittlichen
und technischen Anforderungen noch besondere Fähigkeiten,
Kenntnisse und Fertigkeiten hinzutreten, die Sokrates viel-
fach im einzelnen erörtert (III. 1 — 7; IV. 6, 14).
Wenn nun die in diesem Sinne sittlich und technisch
Tüchtigen an der Spitze der grofsen Hauswirtschaften stehen,
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400 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
SO mufs dies notwendig eine Quelle des Wohlseins für alle
Beteiligten werden, und vielem menschlichen Elend wird
vorgebeugt. Vornehmlich aber wird im Staatsleben, wenn
solche Männer in genügender Zahl und in einhelligem
Wirken als ein festgeschlossener Freundeskreis an die öffent-
lichen Aufgaben herantreten und die verderblichen Elemente
aus dem öffentlichen Leben verdrängen, ein neuer gesegneter
Zustand eintreten.
Es entsteht aber hier die Frage: Was soll die Höher-
gearteten bewegen und veranlassen, sich solcher Reform-
arbeit zu unterziehen und sich dafür auszubilden? Der be-
herrschende Grundtrieb der menschlichen Natur ist der
egoistische. „Alle entscheiden sich unter den mög-
lichen Handlungsweisen für diejenige, die sie
für die ihnen selbst zuträglichste halten" (III.
9, 4). Auch in zahlreichen Einzelwendungen (z. B. IV. 1, 2;
II. 6, 25; IV. 2, 11; III. 3, 15; 5, 28; 7, 9) setzt Sokrates
auch beim gemeinnützlichen und sittlichen Tun die selbstische
Grundtriebfeder voraus. Der einzelne ist im letzten Grunde
seiner Interessen und seines Handelns auf sich selbst ge-
stellt.
Sokrates hat nun unzweifelhaft unter den selbstischen
Beweggründen des gemeinnützigen Handelns auch die heil-
samen Wirkungen der Frömmigkeit, die Erweisungen der
Göttergunst in Anschlag gebracht. Wem die Götter gnädig
sind, dem erteilen sie Orakel (I. 1, 9) und dergl. Er ver-
fehlt aber nicht, auch die rein menschlichen Triebfedern
aufzuzeigen. Das selbstische Interesse der wahrhaft Tüch-
tigen an der herrschenden Stellung liegt aber darin, dafs
sie sich nur durch diese vor den Schäden bewahren können,
die ihnen aus der Herrschaft Unwürdiger unvermeidlich zu
teil werden. In der Ausübung der „königlichen Kunst"
liegt ihr eigenes, wohlverstandenes Interesse, ihre Glück-
seligkeit (II. 1, 14—17; 6, 25; IV. 2, 11). Wenn sie nicht
Ambofs sein wollen, müssen sie Hammer sein (II. 1, 19 ; IV.
5, 10). Etwas anderer Art ist wohl der eigene Glückselig-
keitsgewinn bei der normalen Hauswirtschaft. Jedenfalls
aber wird auch diese nachdrücklich als etwas dem Aus-
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B. 1. Sokrates (469—399). 401
übenden selbst Heilsames bezeichnet (IV. 6, 10; IL 1, 17 ff.).
Deshalb gelten ihm auch alle die Dinge, die zur Ausübung
der wahren Herrschertätigkeit erforderlich sind, als höchst
schätzenswerte Güter. So die sittlichen Eigenschaften (III.
8, 5; I. 5, 4; IV. 5, 7; 2, 11), so die Weisheit als Fähig-
keit, zwischen dem Guten und Bösen zu unterscheiden (IV.
5, 11; 1, 5; 5, 6). So das Fortschreiten in der Tugend und
die Wahrnehmung desselben (I. 6, 8 f. ; IV. 8, 6). So körper-
liche und seelische Tüchtigkeit (IV. 5, 10; IL 1, 19 f.), so-
wie Ansehen und Anerkennung seitens der anderen (IL 1,
19; 7, 2, 17). So haben ferner die häufigen Lobpreisungen
des Besitzes tüchtiger Freunde als eines hohen Gutes (L 6,
14; 2, 8; IL 1, 17) oflFenbar ihren letzten Grund in der
Unentbehrlichkeit der Freundschaft für die gemeinsame
Erringung und die gemeinsame Behauptung der leitenden
Stellung im Staate, und in diesem Sinne erscheint denn
auch die fortschreitende Tüchtigkeit der Freunde und sogar
die eigene Fähigkeit, die Freunde durch die Dienste an
sich zu fesseln, als Gegenstand der Freude (I. 6, 9; IV. 5,
10; IL 1, 19).
Auch diese richtige Abschätzung des vom wohlverstan-
denen eigenen Interesse aus zu Erstrebenden ist ein Werk
der Weisheit. War diese im ersten Sinne sittliche
Einsicht, so ist sie im zweiten Sinne die Fähigkeit, das
dem eigenen Besten wahrhaft Dienliche zu erkennen (IV.
5, 6; IIL 9, 4 f.). Läfst sich mit der Weisheit im ersteren
Sinne die Untugend vereinigen, so ist das Zusammensein der-
selben mit ihr im zweiten Sinne ein undenkbarer Fall. In ihr
liegt ja die Vemunftbegründung des richtigen Verhaltens
überhaupt als des dem eigenen Besten allein Dienlichen.
Auf die Vemunfttätigkeit aber gründet Sokrates ganz
überwiegend, ja fast ausschliefslich das richtige Verhalten.
Er fafst den Menschen in abstrakter Weise überwiegend
als Vemunftwesen. Gegen das als zweckmäfsig und heilsam
Erkannte kommen Triebe und Begierden kaum in Betracht.
Die Tugend ist lehrbar, indem sie als dem eigenen Inter-
esse entsprechend erwiesen wird. Die Tugenden sind, wie
Aristoteles (1144b, 17), allerdings stark übertreibend,
Döring. I. 26
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402 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
die Lehre des Sokrates formuliert, Vernunftbetätigungen
(phroneseis).
Nur in zwei Punkten scheint Sokrates über diese
Schätzung der Güter nach ihrer Bedeutung für die zu er-
strebende Herrscherstellung hinauszugehen und den Wert
anders zu begründen. Einige Male streift erden ganz modernen
Gedanken, dafs das tüchtige Wirken Freude an sich selbst,
Anerkennung und Wertschätzung seiner selbst nach sich
ziehe (II. 1, 19, 31, 33), und andemteils erscheint er als
Vorläufer der kynischen und epikureischen Lehre, indem er
speziell an der Enthaltsamkeit die göttergleiche Selbst-
genügsamkeit oder die Erhöhung des sinnlichen Genusses
durch die mafsvoUe Befriedigung preist (I. 6, 10; 3, 15;
IV. 5, 9). Aber dies sind bei ihm nur gelegentliche Neben-
gedanken.
Diese Beweggründe recht verstandener Selbstliebe nimmt
nun Sokrates auch für seine eigene Stellung als Anbahner
und Verwirklicher der grofsen von ihm betriebenen Reform
der öflFentlichen Zustände durch Veredlung der leitenden
Männer in Anspruch. Er verzichtet auf die bei den Sophisten
vornehmlich wirksame Triebfeder des Gelderwerbs und bleibt
in dieser Beziehung dem alten Herkommen der unentgelt-
lichen Ausbildung angehender Staatsmänner durch die im
Dienste der ÖflFentlichkeit Stehenden treu (I. 6, 13; 2, 60).
Ja, er setzt die Ausbietung der eigenen Weisheit um Geld
seitens der Sophisten (I. 6, 13) geradezu der Prostitution
gleich. Auch für sich selbst veranschlagt er die Göttergunst
als ein wertvolles Besitztum. Offenbar erblickte er in seinem
Daimonion einen Erfahrungsbeweis dafür, dafs die Gottheit
das ihr wohlgefällige Streben nicht ohne Lohn läfst. Er ist
aber ferner bei seinem grofsen reformatorischen Lebensplan
von dem persönlichen Bedürfnis geleitet, in besseren, ge-
ordneteren, erquicklicheren und gesicherteren öffentlichen
Zuständen zu leben. Das Motiv, das er für die zu idealen
Leitern Auszubildenden in Bereitschaft hat, gilt ihm auch
für sein eigenes Lebenswerk. Auf den Erfolgen dieses
seines Wirkens beruht seine Glückseligkeit (IV. 8, 69; 9,
11; I. 6, 14; 2, 8; IL 6, 28). Eine bedeutsame Ergänzung
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B. 1. Sokrates (469-399). 403
freilich erhielt diese Triebfeder seines Wirkens offenbar
durch den im Altertum ganz singulftr dastehenden Gedanken
der Freude am eigenen Wert neben der Anerkennung der
Besten (II 1, 19), sowie teilweise auch (für die Enthalt-
samkeit) an dem mannhaften Freiheitsbedürfnis und in etwa
-auch an der Erkenntnis des Lustertrages der Mftfsigkeit.
Der Grundzug in der geistigen Physiognomie des Sokrates,
aus dem dieses ganze Gedankensystem entspringt, ist ein
ganz aufsergewöhnlich stark entwickelter Sinn für das
Zweckmftfsige. In ihm wurzelt die Beziehung alles Tuns
auf das Eigenwohl und die davon nicht zu trennende rein
intellektuelle Leitung alles Handelns; in ihm auch der
streng systematische Aufbau der Zwecke, die alle in einem
letzten Endzweck gipfeln und sich zu ihm wieder als Mittel
verhalten. Aus ihm entspringt auch der fast komisch
wirkende Eifer, mit dem er, ganz abseits von seinem eigent-
lichen Grundstreben, dem Maler, dem Bildhauer, dem
Panzerschmied und selbst der Hetäre aus dem Zwecke ihrer
Berufstätigkeit Regeln für die Ausübung derselben an-
demonstriert (III. 10 f.). Sokrates entwickelt in den erst-
genannten Gesprächen ein tiefgehendes Verständnis für
Zweck und Wirkung der Kunst und zeigt sich so ganz
nebenher als Vorläufer der platonisch-aristotelischen Ästhetik,
ja geradezu als der erste Ästhetiker. Ja, selbst der mystische
Zug in seinem Wesen, die „Götterstimme", ist, richtig be-
trachtet, nur eine mit elementarer Gewalt auftretende un-
bewufste Äufserungsform dieser praktischen Verständigkeit.
Wie gestaltete sich nun auf Grund solcher Über-
zeugungen das Wirken des Sokrates? Daeselbe ver-
lief zunächst ganz und gar in der Öffentlichkeit. Schon in
der Morgenfrühe begab er sich nach den zum Lustwandeln
bestimmten Säulenhallen und den Stätten der Gymnastik;
um die Mitte des Vormittags, wenn der Markt sich füllte,
war er dort anzutreffen; während der übrigen Zeit des
Tages war er stets da, wo die gröfste Ansammlung von
Menschen stattfand. Und meist war er an diesen Orten
mit Reden beschäftigt (I. 1, 10): In dieser Öffentlichkeit
wird er sich mit seinen älteren Freunden, einem Kriton und
26*
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404 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
anderen, getroffen haben. In ihr verlaufen femer die Unter-
redungen mit Femerstehenden tlber die mannigfachsten
Themata, bei denen dann gewifs häufig genug jene zer-
setzende Fragekunst zur Anwendung kam, die er dem
Wissensdünkel gegenüber als Mittel der Züchtigung und
Zurechtweisung anzuwenden pflegte (I. 4, 1). Hier traf er
endlich mit den ständigen jugendlichen Begleitern zusammen,
die als Lernende und sich Bildende den eigentlichen Gegen-
stand seines Wirkens bildeten. Gewifs waren diese auch
teilnahmsvolle Zeugen jener öffentlichen Unterredungen, aber
ebenso gewifs gab es auch eine ganz scharfe Scheidelinie
zwischen den Aufsenstehenden und dem zu seiner eigentlich
bildenden Tätigkeit zugelassenen Jüngerkreise. Mit beson-
derem Nachdruck erklärt Xenophon (I. 4, 1), dafs man nur
in diesem engeren Kreise den eigentlichen Sokrates kennen
lernen konnte, und dafs er in seinem Berichte gegenüber
den vagen Vorstellungen, die ausschliefslich auf seinem
Verhalten den Fernerstehenden gegenüber beruhten, von
diesem eigentlichen Wirken den Schleier fortziehen will.
Nicht als Lehrer wollte Sokrates gelten (L 2, 3, 8), wohl
um nicht mit den Sophisten verwechselt zu werden. Dennoch
beherrschte ihn das redlichste und wirksamste Bemühen, die
eigenen Überzeugungen in einleuchtendster Weise zu über-
mitteln und verständlich zu machen (IIL 8, 1; IV. 2, 40).
Nicht jeder hatte Zutritt zu diesem Kreise. Die Unentgelt-
lichkeit seines Wirkens ermöglichte es ihm. Unbefähigte
und Ungeeignete fernzuhalten (L 2, 6; 5, 6). Denn wenn
auch dieser Verkehr mit der zur wahren Herrschertüchtigkeit
zu bildenden Jugend gewifs nicht in geschlossenen Schul-
räumen, sondern ebenfalls an jenen, der allgemeinen Be-
nutzung freistehenden Orten, den Turnplätzen und Säulen-
hallen, stattfand, so besafs Sokrates doch die wirksamsten
Mittel, ungeeignete Elemente fernzuhalten, wie er anderseits
sich keine Mühe verdriefsen liefs, verheifsungsvoUe jugend-
liche Kräfte in den Bann seines Einflusses zu ziehen.
Mit leidenschaftlichem Eifer nämlich suchte er Jüng-
linge von höherer Begabung an sich heranzuziehen. Er
kleidete diesen Eifer, wie Xenophon ausdrücklich betont, in
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B. 1. Sokrates (469-399). 405
scherzhafter Weise, also mit einer gewissen Ironie, in die
Formen der im damaligen Athen in widerwärtiger Weise
grassierenden und z. B. in den Jugendschriften Piatos in
für uns abstofsenden Formen zu Tage tretenden päderastischen
Galanterie. Dafs aber Sokrates in Wirklichkeit von dieser
alle Unbefangenheit im Verkehr mit schönen Knaben auf-
hebenden Verirrung völlig frei war, bezeugt Xenophon in
den Worten, dafs seine Begierde offenkundig nicht auf den
Reiz der körperlichen Jugendblüte, sondern auf die gute
Naturveranlagung zur Tugend gerichtet gewesen sei (IV.
1, 2 cf. II. 6, 28 ff.). Nur an einer einzigen Stelle, die
aber nicht einmal als unzweifelhaft geschichtliche Schilderung
gelten kann (Gastmahl 4, 27 f.), zeigt Xenophon seinen
Sokrates als von dieser bedauernswerten Zeitverirrung wenig-
stens in etwa berührt.
Genauer wird die Begabung, auf die sich sein Liebes-
werben richtete, bezeichnet als schnelles Erfassen, dauerndes
Festhalten und eine Anlage zu gemeinnütziger Gesinnung
(IV. 1, 2). Ein Fall, wie er einen solchen Begabten, trotz-
dem derselbe in dünkelhafter Aufgeblasenheit schon über
die Lemzeit hinaus zu sein glaubt, in unverdrossenem Eifer
in seinen Bereich zu ziehen versteht (IV. 2), wird sogleich
zur Darstellung kommen.
Diese Begabten nämlich mufsten zunächst durch eine
geeignete Behandlungsweise auch empfänglich gemacht
werden. Manche glaubten, schon an ihrer Naturbegabung
eine ausreichende Ausstattung zu erfolgreichem Wirken zu
besitzen. Diesen hielt er vor, dafs die Tüchtigsten am
meisten der Ausbildung bedürften und im anderen Falle
wie Rassepferde oder Rassehunde gerade in die ärgsten
Verkehrtheiten gerieten (IV. 1, 3 f.). Andere glaubten,
durch ihren Reichtum alles durchsetzen und zu Ansehen
gelangen zu können. Diese verwies er auf das ihnen
mangelnde Unterscheidungsvermögen zwischen dem Heil-
samen und Schädlichen, ohne dafs kein zu wirklichem An-
sehen führendes Wirken möglich sei (IV. 1, 5). Der dritte
Fall ist der eben jenes Wissensdünkels (IV. 2). Der Be-
treffende besitzt noch nicht das gesetzliche Alter für die
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406 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Volksversammlung, treibt aber schon Politik und sucht von
einer Sattlerwerkstatt in der Nähe des Marktplatzes aus
auf die Beschlüsse einzuwirken. Sokrates begibt sich dort-
hin und setzt in Hörweite jenes den Seinigen auseinander,
dafs in der schwierigsten aller Etlnste, der der Staatsleitung,
die Einsicht nicht von selbst kommen könne. Ein andermal
persifliert er vor seinen Jüngern in Anwesenheit des Be-
treffenden direkt dessen Dilettantismus. Dieser Jüngling
wird, wenn er dereinst das Alter zum Besuche der Volks-
versammlungen erreicht haben wird, im Eingang seiner
Volksreden stets emphatisch versichern, dafs er es stets
peinlich vermieden habe, von Kundigen zu lernen oder
auch nur den Schein solcher Abhängigkeit zu erwecken.
Er zieht dies noch besonders dadurch ins Lächerliche, dafs
er eine ähnliche Versicherung einem angehenden Arzte in
den Mund legt Bei einem dritten Annäherungsversuche in
der Sattlerwerkstätte spitzt jener schon die Ohren auf die
an die Freunde gerichteten, aber auf ihn gemünzten Reden.
Das nächste Mal geht dann Sokrates allein hin und er-
reicht nun durch geschicktes Auftreten ein bereitwilliges
Eingehen des jungen Mannes auf seine Prozedur, durch die
er das vermeintliche Wissen desselben in den wichtigsten
auf das öffentliche Wohl bezüglichen Fragen in der nach-
haltigsten Weise wie eine Seifenblase zerplatzen macht
Das Endergebnis ist, dafs der junge Mann es für das Beste
hält, ganz zu schweigen, da er offenbar einfach gar nichts
wisse. Ganz zerknirscht, an sich selbst verzagend, geht er
ab, überzeugt von seiner sklavenmäfsigen Verständnis-
losigkeit.
Viele nun der durch solche vorbereitende Behandlung
in diesen Zustand Versetzten, fährt Xenophon fort, liefsen
sich nicht wieder bei Sokrates sehen. Das galt diesem als
ausreichender Beweis, dafs es ihnen an der wirklichen Be-
fähigung zu dem fehlte, wozu er sie heranbilden wollte.
Er liefs sie gehen. Im eben geschilderten Falle aber (viel-
leicht ist es der Xenophons selbst) ist die Kur angeschlagen.
Der junge Mann kommt wieder und weicht nun nicht mehr
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B. 1. Sokrates (469—399). 407
von Sokrates Seite, und dieser schlägt nun ihm gegenüber
den Ton echter, milder Belehrung an (IV. 2).
Eine ähnliche Prozedur, die Sokrates mit dem jungen
Glaukon, dem Bruder Piatos, vornahm (IIL 6), endigt in
die herzliche Ermahnung, sich doch vor allem die zu einer
leitenden Stellung erforderlichen Einsichten zu verschaffen.
Das Wirken des Sokrates auf seine Jünger vollzieht
sich nun zunächst durch sein Vorbild. In seiner Lebens-
führung zeigt er die geforderten Eigenschaften verwirklicht
und erweckt so bei den Nacheifernden Mut und Hoffnung
auf Erfolg (I. 3, 2). Er war der vorbildliche „Schöne und
Gute" in seinem Sinne (I. 2, 18). Er war im Vollbesitz
der Einzeltugenden und der Weisheit, die das Gute und
Böse zu scheiden versteht (IV. 8, 11; I. 4, 15; IV. 3, 12';
4, 1—4; 8, 4; 4, 11; IL 1 f., 8). Dafs er ein Muster der
Frömmigkeit im Sinne seiner Lehre war, wird von
Xenophon mehrfach betont (z. B. I. 1, 2). Seine strenge
Gesetzlichkeit auf dem Grunde der Gottesfurcht hatte
er in einem allgemein bekannten Falle an den Tag gelegt,»
als im Jahre 406 nach der Schlacht bei den Arginusen die ^
Feldherm in Anklagezustand versetzt wurden, weil sie nicht
für Beerdigung der Gefallenen gesorgt hatten. Sokrates
hatte in der darüber aburteilenden Volksversammlung den
Vorsitz und widerstand der tobenden Volksmenge, die
gegen das Gesetz in einer Abstimmung über sämtliche
Feldherm die Todesstrafe verhängen wollte (I. 1, 17 f.;
IV. 4, 2). Ebenso leistete er zur Zeit der 30 Tyrannen
(404) mehreren ungesetzlichen Befehlen dieser Machthaber
mit äufserster Gefahr für sein Leben Widerstand (I. 2, 31 ff.;
IV. 4, 3). Noch Horaz schweben in seiner Lobpreisung
des charakterfesten Gerechten, den weder die Schmähliches
fordernde Bürgerwut, noch das Antlitz des dräuenden
Tyrannen erschüttert (Oden IJL 3), diese glänzenden Er-
weisungen seiner charaktervollen Tugend vor. Wie er
schliefslich noch in seinem Prozesse und in seinem Tode
Gerechtigkeit und Tapferkeit übt, wird noch zur Sprache
kommen.
Vor allem aber ist er in der Enthaltsamkeit,
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408 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Abhärtung und Bedürfnislosigkeit einleuchtendes
und für die ganze Folgezeit eindrucksvolles Vorbild. Er
kam mit seinem überaus geringen Einkommen sehr leicht
aus (I. 2, 1). Ein so geringes Mafs von Arbeit erscheint
Xenophon nicht denkbar, dafs dessen Ertrag nicht aus-
gereicht hatte, um seine Bedürftiisse zu bestreiten (I. 3, 5),
und Antiphon meint, bei der Kost des Sokrates würde jeder
Sklave seinem Herrn entlaufen (I. 6, 2). Hunger und Durst
waren die Würze bei den geringwertigen Speisen und Ge-
tränken, mit denen er für gewöhnlich seinen Lebensunterhalt
bestritt (I. 3, 5; 6, 5). Schuhe trägt er nicht und statt
der aufser dem Hause üblichen drei Kleidungsstücke be-
gnügt er sich mit dem auf blofsem Leibe getragenen Unter-
chiton und einem schäbigen Mantel (L 6, 2). Auch hält er
es für überflüssig, diese überaus einfache Kleidung dem
Wechsel der Temperatur anzupassen, für den er eben
unempfindlich ist (L 6, 6 ; 2, 5). Bei Gastmählern vermeidet
er jedes Übermafs in Speise und Trank (I. 3, 6); gegen
den Geschlechtsgenufs ist er vollständig gefeit (I. 3, 14).
Alle diese Entsagungen übt er aber nicht im Sinne einer
trübseligen Askese, die darauf ausgeht, den Körper mög-
lichst herunterzubringen. Er verfolgt diese Lebensweise als
die gesundeste und zuträglichste (I. 6, 5) und unterläfst es
nicht, sich die zur Verarbeitung der Speisen erforderliche
Bewegung zu machen (L 2, 4). Ja, in Xenophons Gastmahl
(2, 16 flf.) bekennt er sich dazu , dafs er sich zu Hause der
Tanzbewegungen als der für die gleichmäfsige Inanspruch-
nahme aller Körperteile zweckmäfsigsten Form der Leibes-
übung zu diesem Zwecke bedient, und einer seiner Freunde
bestätigt, dafs er ihn einst beim einsamen Tanzen angetroffen
hat. Er hat anfangs geglaubt, Sokrates sei von Sinnen
gekommen, hat dann aber, von diesem belehrt, selbst an-
gefangen, sich wenigstens der „Freiübungen*' zum gleichen
Zwecke zu bedienen.
Ebenso versteht er sich aber auch in vorbildlicher Weise
auf die dem leitenden Manne notwendigen Kenntnisse und
Fertigkeiten (IV. 7), und seine immer rege Spannkraft und
Tatkraft hat ihre Quelle in seiner mäfsigen Lebensweise
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B. 1. Sokrates (469—399). 409
(IV. 5, 1). Seine Kunst in der Führung der überzeugenden
Rede ferner ist über alles Lob erhaben (IV. 6, 13-15).
Sokrates betätigte nun diese vorbildlichen Eigenschaften
nicht in eigener politischer Tätigkeit. Noch weniger ist er
darüber aus, als Hauswirt ein Vorbild zu geben oder auf
den Sondergebieten öffentlichen Wirkens (als Feldherr,
Richter oder Politiker im engeren Sinne) vorbildlich zu
wirken. Das hatte aber seinen guten Grund in der be-
sonderen Lebensaufgabe, die er sich vorgesetzt hatte. Hoch-
bedeutsam ist in dieser Beziehung die Antwort, die er auf
den Vorwurf Antiphons erteilt, er müsse sich doch wohl
nicht auf die Staatsgeschäfte verstehen, da er sich nie daran
beteilige ; er könne also auch in dieser Beziehung unmöglich
bildend wirken. Sokrates antwortet mit der Gegenfrage,
ob er nicht die Staatsgeschäfte besser betreibe, wenn er
recht viele dazu tüchtig mache, als wenn er selbst als
einzelner daran teilnehme (I. 6, 15).
Mit dem Vorbilde aber verbindet sich sodann das direkte
und eigentliche Erzieherwerk.
In bezug auf die Reihenfolge der durch dasselbe zu
erweckenden Eigenschaften hatte Sokrates in der ersten
Zeit seines Wirkens mit Alcibiades und Kritias üble Er-
fahrungen gemacht. Diese beiden jungen Männer, von
brennendem Ehrgeiz nach einer hervorragenden Rolle im
Staate, wie er eben war, erfüllt, suchten sich vornehmlich
die allgemein bildende Einwirkung des sokrätischen Verkehrs
zu nutze zu machen, während die sittliche Seite seines
Erziehungsplanes ihnen überflüssig und sogar lästig erschien,
und Sokrates war damals dieser Art der Ausnutzung nicht
entschieden genug entgegengetreten (I. 2, 17). Und so war
an diesen beiden hochbegabten Zöglingen sein Erziehungs-
werk im wesentlichen gescheitert. Sokrates liefs sich das
zur Lehre dienen. Im späteren Verlaufe seiner Erziehungs-
tätigkeit stellte er die Ausbildung der sittlichen Eigen-
schaften voran und ging nicht eher zu den Kenntnissen
und Fertigkeiten, zur Tüchtigkeit im Reden und Handeln
über, als bis jener für sein Vorhaben ausschlaggebender
Punkt gesichert war (IV. 3, 1).
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410 Zweite Periode. £rste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Seine sittliche Erziehung aber besteht nicht in einem
blofsen Ermahnen und Predigen. Das richtige Verhalten
soll bei seinen Zöglingen durchaus aus deutlicher Erkenntnis
entspringen; die Tugend soll, wie auch das sonstige zweck-
gemäfse Verhalten, intellektualistisch begründet sein. Er
will zu einer philosophisch begründeten Tugend anleiten.
Dieses Wissen ist nun in erster Linie ein Wissen um
den Inhalt des Geforderten. Dies ist die erste Vorbedingung
des richtigen Verhaltens (III. 9, 5; IV. 6). Ja, er zeigt,
dafs derjenige auf einer höheren Stufe steht, der mit voller
Erkenntnis des Richtigen unsittlich handelt, als wer dies
ohne solches Wissen tut (IV. 2, 19 flF.). Der zweite Punkt
dieser Erkenntnis ist sodann, dafs ein solches Verhalten für
eine wahrhaft erfolgreiche Ausübung der Herrschertätigkeit
unumgänglich ist. Weise im vollen Sinne ist nicht der-
jenige, der nur das sittlich Richtige kennt, sondern der es
auch ausübt, nachdem er erkannt hat, dafs er so allein seine
Zwecke fördern kann (III. 9, 4).
In diesem Sinne nun leitete Sokrates zunächst zur
Gottesfurcht an. Es sind zwei seiner auf diesen Punkt
gerichteten Lehrgänge erhalten (I. 4 und IV. 3). Beide
Beweisführungen gehen aus von der zweckvollen Einrichtung
der Welt vornehmlich im Interesse des Menschen, die auf
einen weisen und menschenliebenden Urheber schliefsen läfst.
Das Verhältnis der Einheit des Göttlichen zur Vielheit der
Götter des Volksglaubens bleibt hierbei in einer gewissen
Schwebe, obgleich doch der Einheitsgedanke überwiegt.
Dann wird der Übergang zur speziellen Vorsehung gemacht,
zu denjenigen Gunsterweisungen , die man sich nur durch
der Gottheit geleistete Dienste sichern kann. Zwar ist die
Gottheit bedürfnislos, aber sie verlangt doch als Bedingung
solcher Gnadenerweisungen nicht nur die Gesinnung, sondern
auch die äufsere Handlung, wenngleich sie hierin nicht
peinlich auf bestimmten Kultushandlungen besteht. Der
Mensch erlangt aber nicht allein durch solche Kultus-
handlungen die Gnade der Götter. Da die Götter das Gute
billigen und das Böse mifsbilligen und da nicht nur unsere
Reden und Handlungen, sondern auch unsere heimlichsten
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B. 1. Sokrates (469—399). 4H
Gedanken in den Bereich ihres Wissens fallen (I. 1, 19), so
ist die Grottesfurcht auch ein wirksames Hilfsmittel zur
Förderung der übrigen sittlichen Tugenden und umgekehrt
das sittliche Verhalten eine Form des Gottesdienstes, durch
die wir uns die Gnade der Götter erwerben.
So zeigt Sokrates die wahre Frömmigkeit als das
richtige Verhalten gegen die Gottheit und ebenso be-
handelt er die Gerechtigkeit und Tapferkeit als das
richtige Verhalten gegen die Menschen und gegen Gefahren
(IV. 6, 2—6, 10 f.). Auch vor seinen Schtllem wird er die
wahre Inhaltsbestimmung dieser Tugenden aus den Erforder-
nissen der wahren Herrscherkunst abgeleitet haben. Und
nicht anders verfährt er auch bei der Enthaltsamkeit
(IL 1, 1 — 5). Diese freilich hat eine mehrfache Bedeutung
für die wahre Herrschematur. Nicht nur direkt und un-
mittelbar als Sicherstellung der gemeinnützigen Richtung
seines Wirkens und des Vertrauens der Geleiteten bedarf
er ihrer, sondern auch indirekt für die untergeordneten
Eigenschaften der Spannkraft des Wirkens, sowie zum Er-
werb und zur Betätigung aller der Fähigkeiten, die den
tüchtigen Mann ausmachen (I. 5, 4 f. ; IV. 5) und nicht
minder zur Herstellung des Freundschaftsbandes, ohne das
dies ganze ideale Wirken nicht zu denken ist (I. 5, 4; 6,
9; IL 6).
Ganz ebenso verfährt Sokrates seinen jungen Freunden
gegenüber hinsichtlich der ganzen zweiten Gruppe der
Erfordernisse, der Kenntnisse und Fertigkeiten, der
Spannkraft und Bedefertigkeit. Er zeigt ihnen, dafs Mafs
und Art des Könnens auch hier vollständig von dem zur
wahren Herrscherkunst Erforderlichen abhängig ist; diese
bildet auch hier den letzten Bichtpunkt in seinem ganzen
Bildungssystem (IV. 7 ; III. 3, 10 f.). Auch die Kenntnisse
und Fertigkeiten lehrt er teilweise selbst; soweit jedoch
nötig, überweist er seine Zöglinge an andere geeignete
Lehrer (IV. 7, 1). Und ebenso verfährt er hinsichtlich
der zu den besonderen öffentlichen Diensten
(Feldherr u. s. w.) erforderlichen Vorkenntnisse (IIL 1).
Wie die richtige Abgrenzung des Erforderlichen gegen
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412 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
das Überflüssige sich aus dem Blick auf die Herrscher-
tüchtigkeit ergibt, so folgt aus dieser einheitlichen Bezug-
nahme auch die Unentbehrlichkeit aller dieser Eigenschaften
für den» der den letzten Zweck, die Tüchtigkeit im Dienste
eines gröfseren Ganzen, will. Wie Sokrates aber diesen
Willen selbst zu gemeinnützigem Dienste eines gröfseren
Ganzen begründete, das haben wif gesehen, und nicht anders
wird er auch bei seinem Erzieherwerk hinsichtlich dieses
Punktes verfahren sein.
Er hat aber offenbar diese ganze Summe von Einzel-
belehrungen, wenn auch äufserlich nicht in der systema-
tischen Geschlossenheit eines Lehrkursus , sondern in der
zwanglosen Weise des an Anlässe und Gelegenheiten an-
knüpfenden freundschaftlichen Zwiegesprächs, inhaltlich und
dem Wesen nach stets in einem grofsen, zweckbewufsten
Zusammenhange gedacht und gehandhabt. Die Befähigung
Xenophons reicht nicht aus, um uns diesen Zusammenhang
mit voller Deutlichkeit vor Augen zu führen. Vielleicht
hat er auch, gemäfs dem auf Leser von engem Gesichts-
kreise berechneten Verteidigungszwecke seiner Schrift,
manches absichtlich verschwiegen. Dennoch finden wir bei
ihm an einer Stelle (I. 1, 16) eine umfassende Aufzählung
der ständigen Themata des Sokrates, die uns einen tieferen
Blick in diesen grofsen Zusammenhang seiner Belehrungen
eröffnen. Es handelt sich da um die Summe der Einsichten,
die den „Schönen und Guten" im Sinne des Sokrates aus-
machen, durch die er sich von dem in schmählicher Un-
wissenheit und Gedankenlosigkeit verharrenden „Sklaven-
mäfsigen" unterscheidet. Xenophon erklärt selbst sein Ver-
zeichnis für unvollständig. Trotzdem aber wird hier erkennbar,
dafs die Belehrungen des Sokrates in einem gröfseren Zu-
sammenhange gedacht waren, als sonst bei Xenophon er-
kennbar.
Im Gegensatze gegen die Forschungen der Naturphilo-
sophen werden hier die bei Sokrates in Betracht kommenden
Erkenntnisse zusammenfassend als die „das Menschenleben
betreffenden", d. h. doch wohl di^e für das menschliche
Gemeinschaftsleben bedeutsamen, bezeichnet (so auch 1. 2, 18).
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B. 1. Sokrates (469—399). 413
Sie zerfallen in drei Gruppen, von denen wir die dritte als
die umfassendste voranstellen müssen. Sokrates legte dar,
„was Herrschaft über Menschen, was ein zur Herrschaft
über Menschen Befähigter" ist. Hier ist der doppelte Fall
der Leitung im Hauswesen und im Staate zur Einheit zu-
sammen gefaf st. Wenn Sokrates über Herrschaft redete, so
verstand er darunter natürlich die wahre Herrschaft. Die
wahre Herrschaft bezweckt ausschliefslich das Wohlbefinden
der Geleiteten. Erklärt doch Sokrates sogar beim Feldherm
die Glückseligkeit der angeführten Truppe für das Gesamt-
ziel seines Wirkens (III. 2). Aufser dem wahren Zwecke
der Herrschaft wird er bei diesem Begriffe auch von den
wahren Hilfsmitteln zur Erreichung desselben gehandelt
haben. Die gewaltsamen Mittel des erleuchteten Despotis-
mus sind nach Lage der Sache für ihn ausgeschlossen. Die
zu Gebote stehenden Mittel sind der durch Vertrauen und
Überredung erzeugte freiwillige Gehorsam der Untergebenen.
Dies führt dann auf die notwendigen Eigenschaften des
wahrhaft „zur Herrschaft Befähigten": das Wollen des
Heilsamen, die sittlichen Eigenschaften, natürliche Tüchtig-
keit und erworbener Besitz der erforderlichen Fähigkeiten
einschliefslich der Tatkraft und Redefertigkeit, kurz die
Summe der Eigenschaften, die zur idealen leitenden Tätig-
keit erforderlich sind und den „Schönen und Guten" im
sokratischen Sinne ausmachen.
Die zweite Gruppe dieser ständigen Themata wird
durch die Worte bezeichnet : was ein Staat, was ein Staats-
mann sei. Hier also die Anwendung auf das wichtigere der
beiden Gebiete der Herrschertätigkeit. Der Staat ist der
wahre Staat, derjenige, in dem die Ausübung der wahren
Herrschaft möglich ist. Sokrates hat offenbar die ver-
schiedenen Staatsformen nach den ihnen gegebenen Möglich-
keiten wahren Herrsch er wirkens gegeneinander abgewogen.
Wir hören (IV. 6, 12), dafs er die verschiedenen Staats-
formen scharf definierte. Königtum ist die Herrschaft eines
einzigen, die auf freiwilligem Gehorsam der Bürger beruht
und sich an Gesetze bindet; Tyrannis dasselbe ohne diese
beiden Merkmale; Aristokratie ist diejenige Verfassung, bei
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414 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
der die Staatsleiter ausschliefslich aus einer engeren Gruppe
der Staatsangehörigen entnommen werden, aus denen, die
den vollen Anteil an den Staatslasten und Staatsleistungen
zu tragen haben; Plutokratie diejenige, wo dies Vorrecht
nur der höchsten Yermögensklasse zukommt; Demokratie
diejenige, in der eine solche Schranke nicht existiert. £s
kann schon nach den früher beigebrachten Äufserungen des
Sokrates gegen die Anmafsung der Reichen und Mächtigen
und nach seiner ganz von der äufseren Stellung absehenden
Bestimmung des „Schönen und Guten" wohl nicht zweifel-
haft sein, dafs er sich unter diesen Yerfassungsformen fQr
die Demokratie als die seinen Beformgedanken am meisten
entsprechende entschieden hat. Er ist kein Bevolutionär ;
seine Beformpläne sind den Zuständen der Vaterstadt an-
gepafst. Nur da, wo die leitenden Stellen allen zugänglich
sind, ist die Möglichkeit, die Besten und Würdigsten an die
Spitze zu bringen, in uneingeschränktem Mafse vorhanden.
Jede vorab eintretende Einschränkung der Berechtigung zu
den leitenden Stellungen nach äufseren Gesichtspunkten
schränkt diese Möglichkeit rn unheilvoller Weise ein. Ver-
werflich erscheint ihm in der Demokratie nur die Besetzung
der leitenden Stellen durch den Zufall des Loses.
Die dritte Gruppe dieser Themata umfafst die dem
leitenden Manne unentbehrlichen sittlichen Eigenschaften
und ihre Gegensätze insbesondere. Der Sophrosyne als der
Gesamttugend wird. hier, gemäfs dem buchstäblichen Sinne
von Sophrosyne, die Verrücktheit entgegengesetzt, ein Beweis,
dafs er mit der begriflFlichen Feststellung der Tugenden zu-
gleich den Nachweis ihres Glückseligkeitswertes und ihrer
Unentbehrlichkeit verband. Es schliefsen sich an die Spezial-
tugenden: Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Tapferkeit nebst
ihren Gegenteilen. Unter dem ferner hier aufgeführten
Gegensatz des „Schönen" und „Häfslichen" steckt vielleicht
die Enthaltsamkeit und ihr Gegenteil. Die sonstigen Herrscher-
eigenschaften werden hier nicht berührt; eine Hindeutung
auf sie liegt jedoch unzweifelhaft in den „anderen Dingen",
auf die sich aufserdem der „Schöne und Gute" verstehen
müsse.
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B. 1. Sokrates (469-^99). 415
So gerichtet war das Wirken des Sokrates. Einen
durchschlagenden Erfolg für Reform der athenischen Zu-
stände in seinem Sinne hat er nicht erreicht. Die wenigen
Mustersokratiker, die Xenophon (I. 2, 48) aufzählt, und
denen er das Zeugnis gibt, dafs sie in Haus, Staat und
Freundschaft seinen Forderungen nachstrebten, waren nicht
bedeutend genug, um die von ihm erstrebte Reform durch-
ffUiren zu können. Die bedeutenderen Schüler aus dem
letzten Jahrzehnt seines Wirkens, ein Aristipp, Anti-
sthenes, Xenophon, gingen ihre eigenen Wege, Eu-
klides von Megara war nicht Athener ; Plato hat, wie
wir sehen werden, eine Zeitlang vergeblich versucht, das
Reform Aerk des Sokrates fortzuführen. Höchst ungünstig
für seine Absichten mufsten die Aufregungen und der für
Athen sich immer ungünstiger gestaltende Verlauf des
peloponnesischen Krieges wirken. Dazu kam, dafs schon
um 412 einmal längere Zeit die demokratische Verfassung
durch die Herrschaft des Rates der 400 ersetzt worden war
und dafs nach der völligen Niederwerfung Athens 404 die
Herrschaft der 30 Tyrannen eingesetzt wurde. Eine be-
sondere Ironie des Schicksals aber liegt darin, dafs nicht,
wie zu befürchten stand, die feindselige Haltung der
Häupter dieser Machthaber seinen Untergang herbeiführte,
sondern dafs die 403 wiederhergestellte Demokratie ihm das
Verderben bereitete. An sich hätte diese ja auf den Ge-
danken kommen können, es in dem damals, wie stets nach
einem unglücklichen Kriege, vorhandenen Streben nach Er-
neuerung und Gesundung der öffentlichen Zustände einmal
mit dem Systeme des Sokrates zu versuchen. Unglück-
licherweise aber fehlte es den Führern der Bewegung gegen
die Tyrannen an dieser Weite des Blickes. Sie strebten
nach Erneuerung der altväterlichen Zustände aus der glor-
reichen Zeit der Marathonkämpfer und glaubten, die ganze
inzwischen stattgefundene Bewegung der Geister ignorieren
und ausstreichen zu können. Die neue Demokratie von 403
war wesentlich reaktionär.
Über die besonderen Umstände, durch die diese Geistes-
richtung für Sokrates sogar direkt verderblich geworden
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416 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
ist, fehlt es ganz an Nachrichten. Derjenige Vertreter dieser
Bichtung, von dem die Anklage gegen Sokrates im Jahre
399 ausgegangen ist, war der reiche Besitzer einer (mit
Sklaven betriebenen) Gerberei, An y tos. Von den beiden
anderen Anklägern des Sokrates nämlich: Meletos, einem
unbedeutenden Tragödiendichter (Schol. zu Plat. Apol. 183
und 23 E), und Lykon, einem Bhetor (Plat Apol. 23 E),
tritt der letztere in dem Prozesse gar nicht hervor und ist
auch sonst unbekannt, der erstere aber war offenbar nur
der Wortführer der Anklage und das Werkzeug des Anytos,
der ihn für seine Dienstleistung bezahlte (Schol. zu Apol.
18 B). Über diesen Anytos nun ist bekannt, dafs er in
hervorragendem Mafse an dem Werke Thrasybuls, der
Vertreibung der 30 Tyrannen, mitgewirkt und in der er-
neuerten Demokratie in grofsem Ansehen gestanden und
bedeutende Staatsämter bekleidet hat (Z. 192, 6). Seine
Stellung zu der Frage der Ausbildung der leitenden Per-
sönlichkeiten wird in Piatos Menon (verfafst 395) in einer
unzweifelhaft dem wirklichen Sachverhalt entsprechenden
Weise scharf beleuchtet. Hier richtet Sokrates an ihn die
Frage, welchen Lehrern man wohl den jungen Menon zu-
weisen könne, der sich in derjenigen Weisheit und Tugend
auszubilden wünsche, vermöge deren man seine häuslichen
und staatlichen Angelegenheiten gut verwalten könne.
Gegenüber diesem unverkennbaren Hinweis auf die modernen
Bestrebungen erklärt Anytos, er dulde bei keinem seiner
Angehörigen, Verwandten oder Freunde den Verkehr mit
den Sophisten , die die offenbaren Verderber der mit ihnen
Umgehenden seien. Sokrates weist demgegenüber auf die
40jährige erfolgreiche Tätigkeit des Protagoras hin, bei
dem doch in einem so langen Zeitraum etwaige unheilvolle
Wirkungen seines Tuns deutlich zu Tage getreten sein
müfsten. Anytos aber bleibt bei seiner Überzeugung. Seiner
Ansicht nach müfsten derartige Lehrer, einerlei ob Fremde
oder Bürger, von Staats wegen ausgewiesen werden. Die
einzig richtige Ausbildung zu einer leitenden Stellung sei
die, die man nach altvaterischer Weise von Seiten der
„schönen und guten" Bürger empfange, d. h. jene Über-
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B. 1. Sokrates (469-399). 417
lieferung der Regierungskunst durch das Beispiel und Vor-
bild der regierenden Männer selbst an das heranwachsende
Geschlecht. Und als nun Sokrates gegen diese Methode
aus der guten alten Zeit geltend macht, dafs doch ein
Themistokles , Aristides, Perikles und andere nicht einmal
ihre eigenen Söhne, obgleich um ihre Ausbildung eifrig
besorgt, zu tüchtigen Staatsmännern hätten heranbilden
können, da beschuldigt er diesen der üblen Nachrede gegen
diese Männer und knüpft daran die drohende Andeutung,
dafs es in Athen nicht schwer sei, jemanden zu verderben
(91—94). Hier ist deutlich, dafs Plato die Denkweise des
Anytos, die zu seinem Vorgehen gegen Sokrates geführt
hatte, noch nachträglich hat kennzeichnen wollen, und dafs
diese Denkweise in einer völlig altväterlichen fanatischen,
Verwerfung dessen besteht, was Sokrates mit den älteren
Sophisten gemeinsam war. Zum Überflufs läfst er noch
nachträglich Sokrates die Verstimmung des Anytos durch
die Herabwürdigung jener Mustermänner der guten alten
demokratischen Zeit erklären, durch die er sich selbst
mit getroffen fühle (95 A). Und sehr bezeichnend für
Anytos als den Urheber der Anklage gegen Sokrates ist
der fernere Zusatz, er werde auch schon selbst noch er-
fahren, was — direkt und wirklich, nicht in einer so ab-
geschwächten Form, wie er sie Sokrates verüble — üble
Nachrede sei. Wenn spätere Quellen (D. L. IL 38; Schol.
zu PL Apol. 18 B) von einem persönlichen Hafs des Anytos
gegen Sokrates reden, weil dieser ihn wegen seines Gewerbes
verspottet habe, so ist das ein überflüssiger Erklärungs-
grund. Auch weifs davon Plato nichts. Völlig haltlos
vollends ist die Erzählung in der angeblich xenophontischen
„Verteidigung des Sokrates" (29 ff.) , dieser habe unmittel-
bar nach seiner Verurteilung den tödlichen Hafs des Anytos
darauf zurückgeführt, dafs Sokrates Anytos getadelt habe,
weil er seinen begabten Sohn zwinge, beim Gewerbe des
Vaters zu bleiben. Der wirkliche Gegensatz ist gar nicht
Handwerk oder Wissenschaft, sondern Vorbildung für die
staatsmännische Tätigkeit in der hergebrachten rein prak-
tischen Weise oder durch Philosophie. Vollends absurd ist
Döring. I. 27
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418 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
es, wenn dieser Bericht den Sokrates im Angesichte des
Todes weissagen läfst, der Sohn werde wegen dieser Ver-
gewaltigung einem schimpflichen Laster zum Opfer fallen,
was sich dann in der Weise bewahrheitet habe, dafs jener
ein Trunkenbold geworden.
Die Anklage, die ausdrücklich als von Meletos ein-
gereicht bezeichnet wird (so auch Mem. IV. 4, 4; 8, 3),
lautete dahin, Sokrates verwerfe die staatlich anerkannten
Götter und führe andere, neue Götterwesen ein. Femer
verderbe er die Jugend. Strafantrag: der Tod (D. L. IL
40; Xen. Mem. L 1, 1). In welcher Weise der erste
Anklagepunkt begründet wurde, ist völlig unbekannt. Nur
vermutungsweise nimmt Xenophon an, mit den „neuen
Götterwesen" (daimönia) sei die durch ein vages Gerücht
zu einer besonderen Gottheit aufgebauschte Götterstimme
des Sokrates, sein Daimonion, gemeint. Da Sokrates sich
nach Xenophons nachdrücklichem Zeugnis in bezug auf alle
gottesdienstlichen Gebräuche völlig korrekt verhielt, so mag
Xenophon mit seiner Vermutung wohl das Rechte getroffen
haben. Doch könnte möglicherweise auch ein Nachhall der
Verquickung mit den Naturphilosophen oder selbst eine
Bezugnahme auf die wirklichen religiösen Ansichten des
Sokrates vorliegen. Auch in bezug auf den Jugendverderb
kennt Xenophon zunächst die Begründung nicht, und erst
nachträglich führt er fünf Punkte an, die zur Begründung
dieser Anklage vorgebracht worden seien. Es ist nun
nachgewiesen, dafs diese aus einer nachträglichen, frühe-
stens 393 veröffentlichten Rechtfertigungsschrift der Anklage
entnommen sind, die auf Veranlassung des Anytos ein
Sophist, namens Polykrates, verfafste, und in der Anytos
als der Redende eingeführt wurde (D. L. IL 38 f.). Von
den fünf in dieser Schrift vorkommenden Begründungen
wurde nun die Erziehung des Alcibiades und Kritias durch
Sokrates, nach sicheren Zeugnissen (Isokrat. Bus. c. 2;
Liban. Apol. Sokr.) erst von Polykrates vorgebracht. Zur
Zeit der wirklichen Anklage waren diese um ein Menschen-
alter zurückliegenden Vorgänge unberührt geblieben. Die
übrigen vier Gründe aber können möglicherweise auch schon
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B. 1. Sokrates (469—399). 419
bei der wirklichen Anklage vorgebracht worden sein und
verdienen daher, angeführt zu werden. 1. Durch seine
Kritik der Archontenauswahl durchs Los verleite er seine
Schüler zur Verachtung der bestehenden Gesetze und flöfse
ihnen Neigung zu gewalttätigem Vorgehen im Staate ein.
Xenophon vermag diesen Punkt nicht unbedingt zu ent-
kräften (I. 2, 9—11). 2. Er bringe ihnen die Meinung bei,
dafs sie durch ihn einsichtsvoller würden als ihre Väter.
Und da nun nach Sokrates' Lehre der Törichte ein Ver-
rückter sei, der Verrückte aber durch den geistig Normalen
gefesselt werden dürfe, so müfsten nach seinen Voraus-
setzungen die von ihm unterrichteten Söhne auch das Recht
haben, ihre Väter zu fesseln. Es wird bei diesem Punkte
nicht klar, wie weit hier die wirkliche Argumentation des
Sokrates reicht, und wie weit es sich um übelwollende
Konsequenzmacherei handelt. Xenophon entkräftet diesen
Punkt dadurch , dafs Sokrates die Berechtigung zur Fesse-
lung ausdrücklich auf die eigentlichen Wahnsinnigen ein-
geschränkt habe (L 2, 49 f.). 3. Er verleite zur Gering-
schätzung von Verwandten und guten Freunden, weil die
blofse wohlwollende Gesinnung an sich, d. h. ohne die Be-
fähigung zu wirklich erspriefslicher Hilfleistung, ohne Wert
sei. Xenophon hält dem entgegen , Sokrates habe durch
derartige Ausführungen nur bezweckt, in seinen Schülern
selbst das Streben nach wertvollen Eigenschaften und Fähig-
keiten wachzurufen (L 2, 51—55). 4. Endlich habe Sokrates
verwerfliche Gesinnungen durch Berufung auf Dichterworte
gerechtfertigt. So habe er einen Vers Hesiods „Kein Tun,
nur Untätigkeit bringt Schande** zur Rechtfertigung auch
des unsittlichen Verhaltens gebraucht, wenn es nur Gewinn
bringe. Desgleichen habe er das Verhalten des Odysseus
bei einer vor Troja ausgebrochenen Panik, der die Edlen
mit sanften Worten ermahnt, die Geringen aber mit Schelt-
worten und Schlägen zum Stehen bringt (IL 2, 188 If.), bei-
fällig erwähnt und dadurch eine tyrannische und undemo-
kratische Gesinnung an den Tag gelegt. In bezug auf die
erste der beiden Stellen konnte die Entkräftung nicht schwer
fallen; bei der Homerstelle nimmt Xenophon an, dafs
27*
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420 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Sokrates durch das Zitat nur den Gegensatz zwischen dem
innerlich Tüchtigen und dem wertvoller Eigenschaften Ent-
behrenden habe veranschaulichen wollen (I. 2, 56—61).
Dies wenige über die Anklage Bekannte oder zu Ver-
mutende macht denn doch den Eindruck, dafs es sich dabei
vornehmlich um ein Material für den Geschworenenpöbel
handelte, dem der eigentliche Gegensatz nicht mit dem ge-
wünschten Erfolge zum Verständnis zu bringen war. Es
sind boshaft für die Unmündigen zurechtgestutzte Lappalien,
um „einen Mann zu verderben". Der eigentliche Beweg-
grund war, dafs die ganze neuere, auf eine höhere intellek-
tuelle Entwicklung abzielende Bewegung tödlich getroffen
werden sollte. Die ganze Richtung pafste diesen Roman-
tikem der Demokratie nicht.
Sehr bemerkenswerte Nachrichten hat uns Xenophon
(IV. 8, 4 — 10) über das Verhalten des Sokrates in der Vor-
bereitung seiner Verteidigung aus dem Munde des treuen
Anhängers Hermogenes erhalten. Da Sokrates an-
scheinend gar nicht an seine Verteidigung denkt, mahnt ihn
jener, darauf Bedacht zu nehmen. Sokrates: Sein ganzes
Leben sei in der sorgfältigen Festsetzung des Gerechten
und in entsprechendem Handeln eine Vorbereitung seiner
Verteidigung. Hermogenes: Dieser ideale Standpunkt sei
gegenüber athenischen Richtern, die notorisch durch Reden
zu ungerechten Sprüchen verleitet zu werden pflegten, übel
angebracht. Jetzt kommt Sokrates mit dem wahren und
eigentlichen Grunde heraus: Das Daimonion halte ihn von
der Vorbereitung auf die Verteidigung ab. Hier ist nun
ein besonders deutliches Beispiel, um das Wesen dieser
„Götterstimrae*' zu erkennen. Zunächst in betreff derjenigen
Punkte, über die sie Auskunft erteilt. Um die Notwendig-
keit einer nachdrücklichen Verteidigung als des geeigneten
Mittels zum Zwecke der Freisprechung zu erkennen, be-
dürfte es keiner höheren Offenbarung. Die Entbehrlichkeit
der Orakel zur Erkenntnis der zweck gemäfsen Mittel pflegte
Sokrates auch sonst zu betonen (I. 1, 9). Gewarnt wird
hier vielmehr, wie auch sonst (I. 1, 8), vor der Verfolgung
des Zweckes selbst. Die Freisprechung aber bedeutete das
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B. 1. Sokrates (469—399). 421
Weiterleben. Davor algo warnt die Götterstimme, d. h. der
Zweckinstinkt. „Du wunderst dich, dars es dem Gotte (der
Götterstimme) besser scheint, wenn ich jetzt mein Leben
endige." Weiter aber zeigt unser Bericht, dafs Sokrates
bemüht war, die Richtigkeit der vermeintlich übernatür-
lichen Entscheidung auch durch das natürliche Erkennen
zu bewahrheiten. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkte näm-
lich ist ihm die Verfolgung seines nächsten Lebensziels, die
Erlangung einer vorbildlichen Tüchtigkeit und die An-
ziehungskraft, die er dadurch auf Gleichstrebende übte, in
erwünschter Weise von statten gegangen. Bei längerem
Leben aber würde er dem Alter seinen Tribut zu zahlen
haben. Die Schärfe der Sinne und der geistigen Fähig-
keiten wird abnehmen. Selbst wenn sich dieser Rückgang
der eigenen Wahrnehmung entzöge, würde das Leben auf-
hören, noch lebenswert zu sein. Vollends aber, wenn auch
noch das Bewufstsein der abnehmenden Wirkungsfähigkeit
hinzuträte. Auch dafs im vorliegenden Falle das wünschens-
werte Ziel durch einen nach landläufiger Meinung schimpf-
lichen Vorgang, die Verurteilung, erreicht wird, macht ihn
nicht irre. Er glaubt in dieser Beziehung seine Sache ge-
trost dem Urteil der Nachwelt anheimstellen zu können.
Also freiwilliger Verzicht auf eine wirksame Verteidigung
im Interesse des Wunsches, einer wertlosen Lebensphase
tiberhoben zu sein! Noch viel schärfer als in den „Denk-
würdigkeiten" ist diese Auffassung seines Verhaltens beim
Prozesse durchgeführt in der schwerlich von Xenophon ver-
fafsten, aber grofsenteils auf seinen Nachrichten beruhenden
kleinen Schrift „Die Verteidigung des Sokrates".
Über die gerichtliche Verhandlung selbst besitzen wir
nur ganz wenige authentische Angaben. Die Zahl der Ge-
schworenen (Heliasten) betrug wahrscheinlich 501 und war
entnommen den 6000 durchs Los aus der Gesamtzahl der
über 30 Jahre alten Bürger ausgewählten Richtern. Auch
diese Bildung des jedesmaligen Gerichtshofes für den ein-
zelnen Fall erfolgte durchs Los. Es war also ein ganz zu-
fällig zusammengesetzter Ausschufs des athenischen Durch-
■schnittsspiefsbürgertums , der über die Sache des Sokrates
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422 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
abzuurteilen hatte. Jeder mitwirkende Geschworene erhielt
einen Tagelohn von drei Obolen oder einer halben Drachme
(nicht ganz 40 Pfennige). Die erste Verhandlung betraf die
Schuldfrage, die zweite das Strafmafs. In der ersten Ver-
handlung war es üblich, nicht nur die Anklage zu ent-
kräften, sondern auch alles Günstige vorzubringen, was man
sonst irgend für sich anführen konnte. Aufserdem war es
herkömmlich, wenn auch, nach Xenophons ausdrücklichem
Zeugnis (IV. 4, 4) gesetzlich verboten, durch Schmeicheleien
und andere das Selbstgefühl kitzelnde Mittel, sowie durch
flehentliche Anrufung ihres Mitleids auf die Stimmung
der Richter einzuwirken, und gerade durch dieses Mittel
wurde häufig ein günstiger Richterspruch erzielt, ein
Beweis, dafs hier nicht nach objektivem Recht, sondern nach
sehr subjektiven Stimmungen entschieden wurde. Wir er-
fahren nun über die Anklagerede des Meletos nichts, über
die Verteidigungsrede des Sokrates als Ganzes nur, dafs nie
ein Mensch sich wahrhafter, anständiger und ge-
rechter verteidigt habe (IV. 8, 1). Nehmen wir hierzu
noch die weitere Angabe hinzu, dafs Sokrates die Gemüts-
beeinflussung der Geschworenen völlig unterliefs, obgleich
er selbst durch nur mäfsige Anwendung derselben ein frei-
sprechendes Urteil erzielt haben würde (IV. 4, 4; vergl.
PI. Apol. 38 D), so ergibt sich, dafs in obigem Satze durch
die Wahrhaftigkeit seiner Verteidigung wohl die streng
bei der Wahrheit bleibende Behandlung der Anklagepunkte
und seines gesamten Wirkens bezeichnet wird, dafs dagegen
durch die Anständigkeit und Gerechtigkeit wohl
auf die Verschmähung des schmeichlerischen und kläglichen
Gebarens vor den Richtern hingewiesen wird. Dieses er-
scheint Xenophon einesteils als eine eines anständigen
Mannes unwürdige Selbsterniedrigung, andernteils als
Verstofs gegen das Gesetz.
Die beiden Angaben über das Stimmenverhältnis bei der
Abstimmung über die Schuldfrage (Plato Apol. 36 A; D. L.
II. 41) sind beide in der Lesart unsicher. Nur vermutungs-
weise läfst sich danach annehmen; dafs 281 Stimmen für
schuldig, 220 für unschuldig abgegeben wurden.
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B. I. Sokrates (469—399). 423
Im zweiten Akte des Prozesses hat nunmehr Sokrates
dem Strafantrag des Klägers den seinigen gegenüberzustellen.
Nach Piatos Apologie hätte er in erster Linie als das ihm
eigentlich Gebührende die Speisung im Prytaneion beantragt,
wo die diensttuenden Mitglieder des Rats, sowie fremde
Gesandte und andere Gäste des Staats, ferner aber auch
besonders verdiente Bürger beköstigt wurden. Es sei dies
insbesondere für ihn , als einen unvermögenden Mann, von
Wert, da ihm dadurch volle Mufse für sein Lebenswerk
gewährt werde. Bei dieser Darstellung stimmt nun freilich
die nähere Begründung dieses ungewöhnlichen Strafantrags,
die Plato ihm in den Mund legt, nicht zu dem geschicht-
lichen Sokrates, sondern zu dem von Plato in dieser Schrift
in lehrhafter Absicht umgemodelten Bilde desselben. Er
beansprucht die Vergünstigung als der Universalseelsorger
der Athener, als den ihn Plato im ersten Teile der Rede
dargestellt hat (Apol. 36). Sicherlich konnte auch der
geschichtliche Sok rates ähnlich über den Wert seines Wirkens
denken , und auch Xenophon urteilt , dafs Sokrates durch
dasselbe nicht den Tod, sondern hohe Ehre von Seiten des
Staats verdient habe (L 2, 64). Ob aber Sokrates wirklich
in diesem entscheidenden Augenblicke ausdrücklich diesen
paradoxen Strafantrag gestellt hat, läfst sich nach den vor-
handenen Zeugnissen nicht entscheiden.
Da er aber nun doch einen Strafantrag stellen soll,
so beantragt er nach Plato, da Geldverlust kein Schaden
sei, also darin keine Anerkennung der Straffälligkeit liege,
eine Geldstrafe von einer Mine (= 100 Drachmen oder
75 Mk.). Dies sei alles, was er besitze. Da ihm aber
soeben seine anwesenden Freunde, Kriton, Plato und einige
andere, erklärten, bis zum Betrage von 30 Minen (V2 Talent
= 2250 Mk.) für ihn bürgen zu wollen, so sei er auch in
der Lage, diesen letzteren Betrag zu beantragen (38 AB;
etwas anders D. L. IL 41).
Diesen Strafantrag nehmen die Richter mit Lärm ent-
gegen (D. L. II. 42), und das Resultat ist, dafs noch 80
von denen, die ursprünglich für unschuldig gestimmt hatten,
jetzt für die Todesstrafe eintraten. Man hätte an sich eher
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424 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
das Gegenteil erwarten sollen, da doch gewifs mancher, der
das Schuldig gesprochen, nicht gerade für die Todesstrafe
eintreten mochte. Ein Mittelweg war nämlich ausgeschlossen ;
die Geschworenen hatten lediglich zwischen den beiden
Strafanträgen zu wählen. Diese achtzig bestraften also,
wie im Grunde unzweifelhaft schon die überwiegende Mehr-
zahl jener 281 bei der ersten Abstimmung, nicht sowohl die
angeblichen Verbrechen der Anklage als vielmehr die respekt-
widrige Mifsachtung ihrer eigenen werten Personen als der
Vertreter des souveränen Volks von Athen mit dem Tode.
Eine Appellation aber gab es von diesem hohen Gerichtshof
nicht; er war erste und letzte Instanz.
Plato läfst Sokrates noch ein Schlufswort an das
Kollegium der Geschworenen richten, das sich aber eben-
falls als im Sinne der ganzen Schrift komponiert heraus-
stellt (z. B. 39 C D). Der einzige Zug in diesem Schlufswort,
der vielleicht in bezug auf den historischen Sokrates eine
Bedeutung hat, ist der ihm beigelegte Zweifel, ob es ein
Fortleben der Seele nach dem Tode gibt (40 C). Auch schon
in der ersten, der eigentlichen Verteidigungsrede läfst Plato
ihn sich zu der gleichen Unwissenheit bekennen (29). Diese
Äufserungen sind deshalb von besonderem Interesse, weil
kein direktes Zeugnis über die Stellung des historischeu
Sokrates zum Unsterblichkeitsglauben vorliegt. Selbstver-
ständlich drücken die beiden Stellen nur die Ansicht des
damaligen Plato aus. Aber dieser stand damals noch dem
Standpunkte des Meisters nahe, und so ist wenigstens einige
Wahrscheinlichkeit vorhanden, dafs hier auch die Stellung
des historischen Sokrates zu der Frage zum Ausdruck ge-
langt. Wäre diese eine entschieden bejahende gewesen, so
würde dies wohl der unsterblichkeitsgläubige Xenophon
(Kyrup. VIII. 7, 19) da, wo er Äufserungen des Sokrates
über die menschliche Seele anführt (Mem. L 4, 13; IV.
3, 14) sich nicht haben entgehen lassen.
In Piatos „Kriton" hat dieser alte, treue Freund des
Sokrates diesem nach der Verurteilung durch Bestechung
der Gefängniswärter die Möglichkeit der Flucht bereitet.
Sokrates aber lehnt es, vornehmlich aus sittlichen Gründen,
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B. 1. Sokrates (469—399). 425
ab, sich in dieser Weise seinem Schicksal zu entziehen
(ähnlich auch Phädon 99 A). Von einem ähnlichen Vorgange
weifs auch Diogenes Laertios (IL 60), legt aber den Be-
freiungsplan dem Sokratiker Ä seh ine s bei. Die ganze
Sache ist nicht genügend beglaubigt; bei Plato dient die
Situation nur dazu, um seine eigene damalige Moral-
begründung dem Sokrates in den Mund zu legen. Xenophon
berichtet über die Zwischenzeit zwischen Verurteilung und
Tod nur , dafs sie 30 Tage betrug , weil bis zur Rückkehr
des Staatsschiffes von der Apollofeier auf Dolos keine Hin-
richtung stattfinden durfte (vergl. auch Phädon 58), femer,
dafs Sokrates seine Verurteilung mit der gröfsten Gelassen-
heit und Mannhaftigkeit hingenommen, und dafs in der ge-
priesenen Heiterkeit seiner Seelenstimmung und in seinem
ganzen Verhalten in dieser Zwischenzeit auch nicht die
geringste Veränderung eingetreten sei (IV. 8, 2). Freilich
konnte Xenophon ja glauben, den Befreiungsplan, wenn
dieser existierte und ihm bekannt geworden war, mit Rück-
sicht auf die noch lebenden Anstifter verschweigen zu
müssen.
Eine ergreifende Schilderung vom Todestage des Sokrates
gibt Plato im „Phädon". Abgesehen von der philosophischen
Erörterung über die Unsterblichkeitsfrage, die- ganz sein
Eigentum ist, liegen hier wohl im wesentlichen geschicht-
liche Züge vor. Die Freunde, die während dieser Zwischen-
zeit sich täglich im Gefängnis eingefunden haben, sind an
diesem Tage, da bereits tags zuvor das Staatsschiff zurück-
gekehrt ist, früher als sonst zur Stelle. Sokrates philo-
sophiert über die Annehmlichkeit aus der Beseitigung des
Druckes der soeben ihm abgenommenen Fesseln und be-
richtet, dafs er im Gehorsam gegen eine Traum Weisung im
Gefängnis Verse gemacht hat. Nun erst kommt die Rede
auf seinen noch heute bevorstehenden Tod, von wo dann
der Übergang zum philosophischen Thema des Dialogs ge-
macht wird. Nach Beendigung des Gesprächs nimmt er ein
Bad, um den Frauen nicht mit der Waschung des Leichnams
Mühe zu machen, und verabschiedet sich von seinen An-
gehörigen. Gegen Sonnenuntergang kommt der Gefangen-
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426 Zweite Periode. £r8te Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
Wärter, der ihn wegen seines edlen und gelassenen Ver-
haltens liebgewonnen hat, und kündigt ihm weinend an, dafs
er jetzt den Giftbecher trinken mufs (116 c). Sokrates will
nicht „geizen, wo nichts mehr vorhanden ist", indem er die
ihm rechtlich noch zustehende Spanne Zeit bis zum wirklich
eingetretenen Sonnenuntergänge noch beansprucht. Das Gift
wird gebracht, und Sokrates erkundigt sich, wie er sich zu
verhalten habe. Nach dem Trinken umhergehen, bis er
Schwere in den Beinen fühlt, dann sich niederlegen. Ob
er auch — wie sonst beim Trinken üblich — eine Libation
für die Götter ausgiefsen dürfe? — Es sei in dem Becher
nur genau das erforderliche Quantum vorhanden. Nachdem
er getrunken, brechen die Freunde in Klagen und Jammern
aus. Sokrates verweist es ihnen; darum ja habe er die
Frauen fortgeschickt. Er verfährt nach der erhaltenen
Weisung. Im Liegen stellt der Diener die von den Fttfsen
aufwärts fortschreitende Kälte, Starre und Gefühllosigkeit
fest und erklärt, dafs, wenn diese Lähmung bis zum Herzen
fortgeschritten sein würde, der Tod einträte. Sein Haupt
ist verhüllt. Als die Kälte bis zum Unterleib gelangt ist,
schlägt er noch einmal die Hülle zurück und sagt: „Kriton,
wir schulden dem Asklepios einen Hahn"" (das übliche Opfer
der Genesenden an den Heilgott); „versäume es ja nicht!"
Das waren seine letzten Worte. Bald darauf ein Zucken;
der Diener deckt ihn auf; das Auge ist gebrochen. Kriton
drückt ihm Mund und Augen zu.
In diesen letzten Vorgängen des Lebens des Sokrates
liegt eine gewaltige Tragik. Aber nicht in dem gewalt-
samen Tode als solchem, den er ja, wie auch Xenophon
(IV. 8, 3) bezeugt, auf das ruhmwürdigste bestand, und dem
zu entgehen er sich nicht bemüht hatte, sondern in dem
herben Geschick, dafs sein grofser, mit Preisgabe aller
anderen Lebensinteressen von ihm ein Menschenalter hin-
durch verfolgter Reformgedanke an der Ungunst der Zeiten
und der Unfähigkeit seiner Umgebungen gescheitert war,
dafs er an der Schwelle des nicht mehr wirkungsf&higen
Alters sich im stillen gestehen mufste, er habe das mit
Einsetzung aller seiner Kräfte lebenslang verfolgte einzige
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B. 2. Die reiuen Sokratiker. 427
Ziel nicht erreicht. In diesen Gedanken, die keiner der
Berichterstatter zum Ausdruck gebracht hat — Xenophon
preist sogar seinen Tod als den denkbar glücklichsten und
gottbegnadetsten — , die er vielleicht selbst niemals gegen
irgend jemand ausgesprochen hat, liegt die Tragik des
sokratischen Lebens. Aber diese wahre und eigentliche
Tragödie des Sokrates ist noch nicht geschrieben worden.
2. Die reinen Sokratiker.
Das nächste praktische Ziel des Sokrates, die Beform
der öffentlichen Zustände, wurde nach seinem Tode zunächst
aufgegeben. Eine Gruppe seiner namhafteren Schüler hielt
es sogar für geraten, Athen zeitweilig zu verlassen und
sich zu Euklides nach Megara in Sicherheit zu bringen.
Die bedeutenderen unter den Schülern des Sokrates
wurden im Laufe ihrer weiteren Entwicklung von den bei
ihm empfangenen Anregungen aus zu neuen, selbständigen
Standpunkten weitergeführt. Mit ihnen hat es der folgende
Abschnitt zu tun. Gegenwärtig handelt es sich um die-
jenigen seiner Schüler, die ausschliefslich auf dem Boden
der sokratischen Lehre stehen blieben.
Es hat keinen Wert, die Namen derer aufzuzählen, die
als mehr oder minder treue Anhänger des Sokrates genannt
werden, aber sich niemals in irgend einer Weise hervor-
taten (Z. 233, 1). Von einer anderen, zahlreichen Gruppe
der Sokratesschüler kannte das Altertum schriftlich auf-
gezeichnete Dialoge im Sinne und Stile des Sokrates. Im
Anschlufs an die mündlich mit so glänzender Fertigkeit
geübte Unterredungskunst des Sokrates entstand eine neue
Literaturgattung, das „Sokratesgespräch". Diese neue
Literaturgattung ist ein sprechender Beweis von dem nach-
haltigen Eindruck, den die Begabung des Sokrates für diese
Form der Gedankenentwicklung hinterlassen hatte. Die
meisten der in diesem Sinne verfafsten Dialoge aber waren
den Sokratesschülem, deren Namen sie trugen, nur unter-
geschoben. Uns ist überdies davon nur ganz weniges und
dabei völlig Unbedeutendes erhalten. Auch über diese un-
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428 Zweite Periode. Erete Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
echten und dazu meist verlorenen „Sokratesgesprftche"
können wir stillschweigend hinweggehen.
In Kürze zu berücksichtigen bleiben nur vier Namen
aus dieser Gruppe, über deren im Sinne des Sokrates ver-
fafste Dialoge sich etwas sagen läfst : Xenophon, Äschines,
Euklid und Phädon. Von Interesse ist bei diesen vor-
nehmlich die Frage, inwieweit sie den Geist des sokratischen
Wirkens erfafst hatten und seinen Gedanken einer Ver-
besserung der öffentlichen Zustände durch richtige Aus-
bildung der leitenden Männer aufrechterhielten und fort-
führten.
Für uns steht hier, schon wegen der Zahl und Be-
deutung seiner erhaltenen Schriften, Xenophon an der
Spitze. Anscheinend aber hat er, auch abgesehen von
diesem Umstände der Erhaltung, von allen den hier in Be-
tracht Kommenden am meisten sich mit der Gesamtheit der
Zwecke des Sokrates erfüllt Und doch bietet auch er nur
ein verkümmertes Abbild dessen, was Sokrates gewollt hat.
Xenophon, in Athen geboren , lebte ungefihr von
426—354. Er gehörte zur Jüngerschaft des Sokrates im
letzten Jahrzehnt des Lebens desselben. Über die Art, wie
Sokrates ihn als Schüler geworben, wird eine unbeglaubigte
Anekdote erzählt. Sokrates begegnet dem auffallend schönen
Jüngling in einer engen Strafse, versperrt ihm mit seinem
Stabe den Weg und richtet eine Reihe von Fragen an ihn,
wo man diese und jene Lebensbedürfnisse kaufen könne.
Xenophon gibt darauf Bescheid. Darauf fragt Sokrates:
Wo aber kann man zum „schönen und guten" Manne
werden? Jener weifs keine Antwort zu geben. Darauf
Sokrates : So folge und lerne (D. L. IL 48). Vielleicht ist
diese Anekdote ein Nachhall der Erzählung (Mem. IV. 1),
wie Sokrates den jungen, schönen und bildungseifrigen,
schon vor dem gesetzlichen Lebensalter um die öffentlichen
Angelegenheiten sich kümmernden, aber eingebildeten Euthy-
demos als Schüler gewinnt, und vielleicht ist dieser Euthy-
demos Xenophon selbst
Im Jahre 400 ging Xenophon nach Kleinasien, um im
Gefolge des jüngeren Cyrus dessen Kriegszug gegen seinen
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B. 2. Die reinen Sokratiker. 429
Bruder, den Perserkönig , mitzumachen, um diesen vom
Throne zu stürzen. Cyrus wird in der Schlacht bei Kunaxa
besiegt und fällt ; Xenophon beteiligt sich in hervorragender
Stellung an dem berühmten Rückzuge der 10000 griechischen
Söldner quer durch Kleinasien zum Schwarzen Meere, den
er in seiner „Anabasis" beschrieben hat. Er führte dann
einen Teil jener Truppe den Spartanern zu und kämpfte in
der Schlacht bei Koronea 394 gegen seine Vaterstadt. Wahr-
scheinlich wegen dieser Stellungnahme wurde er seines
athenischen Bürgerrechts verlustig erklärt (Anabas. V. 3,
6 f.). Er lebte später längere Zeit auf einem ihm von den
Spartanern geschenkten Landgute im Peloponnes und endete
seine Tage, durch Kriegsunruhen von dort vertrieben, wahr-
scheinlich in Korinth.
Xenophon hat sich die Lehre des Sokrates von den
Eigenschaften, die zu einer leitenden Stellung erforderlich
sind, als treuer Schüler zu eigen gemacht. Wie er in seiner
eigenen Lebensführung nach einem alten Zeugnisse (D. L.
IL 56) die des Sokrates genau nachzubilden suchte (wobei
er aber freilich in wesentlichen Stücken, wie in der Neigung
zum Landbau, zur Jagd und Reitkunst und zum Kriegs-
wesen, von Sokrates abwich und in einer altväterlichen
Frömmigkeit mit Vergröberung der sokratischen Vorstellungen
von (jebet und Opfer diesen weit überbot), so bewegt sich auch
in denjenigen seiner philosophischen Schriften, in denen er im
eigenen Namen spricht, alles um den Begriff der Herrscher-
tüchtigkeit. Diese Schriften leiden jedoch an zwei Haupt-
mängeln. Einesteils fehlt ihnen die Schärfe in der Fest-
stellung und Unterscheidung der Begriffe, andernteils tritt
an Stelle des sokratischen Gedankens, dafs der leitende
Mann, indem er seinem eigenen Wohle dient, doch zunächst
und vor allem das Wohl des Staates oder der ihm Anver-
trauten fördert, ein starkes Überwiegen des selbstischen
Interesses. Bei ihm stehen die von Sokrates geforderten
Herrschereigenschaften ganz im Dienste des eigenen Vorteils
und Erfolges; das letzte Ziel ist Ausnutzung der Unter-
gebenen für die eigenen Zwecke. Zur Begründung dieser
Sätze wird es genügen, einen Blick auf die beiden am
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430 Zweite Periode. Erste Stufe. Die Sophisten und Sokrates etc.
meisten charakteristischen Schriften zu werfen, in denen er
das Ideal eines Herrschers im Staate und eines Haushalters
entwirft, die „Erziehung des Cyrus" und die „Haushaltungs-
kunst".
In letzterer Schrift wollte Xenophon offenbar das von
Sokrates weniger berücksichtigte Walten des „Schönen und
Guten" (6, 12) in einem grofsen Haushalt vorführen. Er
entwirft das Idealbild eines klugen Haushalters, der mit
klug berechnetem Wohlwollen alle an der Leitung Be-
teiligten im Interesse des Gedeihens des Ganzen, aber schliefs-
lieh doch nur im Interesse des eigenen Vorteils auszunutzen
versteht. Die „Erziehung des Cyrus" handelt keineswegs
nur von der Ausbildung dieses Herrschers, des älteren Cyrus
nämlich, sondern gibt ein nach sokratischen Gesichtspunkten
umgemodeltes romanhaftes Bild von der Bewährung der er-
langten Eigenschaften in einer langjährigen Herrscher-
tätigkeit. Die durch die Erziehung entwickelte Herrscher-
tüchtigkeit desselben beruht auf Naturanlage, aber diese ist,
abweichend von Sokrates, vornehmlich durch seine aristokra-
tische Herkunft gewährleistet. Im übrigen wimmelt diese
Schrift förmlich von Gedankenparallelen zu den „Denk-
würdigkeiten". Dagegen zeigt sich deutlich, dafs Xenophon
die systematische Zusammenfassung und Ableitung der sitt-
lichen Tugenden bei Sokrates selbst nicht verstanden und sich
zu eigen gemacht hat. So werden die verschiedenen Tugen-
den ohne inneres Band und einheitliche Ableitung aus einem
gemeinsamen Zwecke einfach nebeneinandergestellt. So ist
die Sophrosyne nicht, wie bei Sokrates, der Gesamtbegriff
der Herrschertugenden, sondern eine Tugend neben den
übrigen, die noch überdies ganz in der schwankenden Be-
deutung des populären Sprachgebrauchs bald dies, bald
jenes bedeutet (z. B. I. 2, 6 ff.; III. 1, 16 ff.; VIII. 1, 23 ff.).
Ebenso ist auch hier das eigene Interesse nicht nur die
letzte Triebfeder, sondern auch der letzte Zielpunkt alles
Handelns.
Von Ä seh in es gab es sieben Dialoge, darunter einen
„Alkibiades", die aber teilweise schon im Altertum für un-
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B. 2. Die reinen Sokratiker. 431
echt erklärt worden sind (D. L. IL 61 ff.). Inwieweit sich
dieser Sokratiker das Ganze des sokratischen Gedanken-
kreises angeeignet hat, lärst sich aus den geringfügigen
erhaltenen Resten nicht erkennen.
Euklid von Megara und Phädon von Elis
schlugen später selbständige, von Sokrates sehr weit ab-
führende Bahnen ein und gehören daher ihrer eigentlichen
Bedeutung nach in den zweiten Hauptabschnitt dieser
Periode, zu den „kleineren sokratischen Schulen". Doch
müssen beide ursprünglich in ihren Dialogen als reine
Sokratiker aufgetreten sein. Die sechs dem Euklid und die
zwei dem Phädon beigelegten sokratischen Dialoge (D. L.
II. 108, 105) wurden freilich schon im Altertum hinsichtlich
ihrer Echtheit angezweifelt (D. L. IL 64). Über den Inhalt
der euklidischen Dialoge ist nichts bekannt. An den beiden
dem Phädon beigelegten zeigt sich so recht deutlich, wie
im späteren Altertum die erdichteten Situationen dieser
Schriften mifsverständlich für Geschichtserzählung genommen
wurden. In dem einen, „Zopyros", war ausgeführt, wie ein
Physiognomiker dieses Namens an Sokrates alle erdenklichen
verkehrten Naturanlagen entdeckt, worauf dann Sokrates
die Richtigkeit dieser Beurteilung anerkennt, aber zeigt,
wie er diese Anlagen durch Selbstzucht gebändigt und aus-
gerottet habe. Diese Erfindung Phädons wurde dann später,
wie z. B. die Erwähnung bei Cicero (Fat. c. 5) zeigt, als
ein tatsächlich geschehener Vorgang verstanden und weiter-
erzählt. In dem anderen Dialog hatte Phädon Sokrates
sich mit einem Schuster, namens Simon, in dessen Werk-
stätte unterreden lassen. Dieser erdichtete Simon wurde
dann später zum Range einer wirklichen Persönlichkeit
erhoben, der man die Aufzeichnung von 33 angeblich von
Sokrates mit ihm gehaltenen Unterredungen unterschob
(D. L. IL 122 f.).
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432 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Zweite Stufe.
Die kleineren sokratischen Schulen und Plato (399 bis
nach 300).
Die Erscheinungen dieser Stufe nehmen, wie die reinen
Sokratiker, ihren Ausgang von Sokrates, unterliegen aber
durchweg aufserdem auch noch anderen Einflüssen. Bei
ihnen kommt an Stelle einer Reform der öffentlichen Zu-
stände oder doch neben derselben mehr und mehr die Los-
lösung des einzelnen Denkers von der Gemeinschaft im
Streben nach individueller Befriedigung zum Durchbruch.
Die Frage nach dem wahren Lebensziel des Einzelmenschen
taucht auf und wird in verschiedener Weise, wenn auch noch
nicht methodisch und mit wissenschaftlicher Begründung
beantwortet. Doch wird daneben noch inmier die Frage
nach dem wahren und vollkommenen, dem „besten'' Staate
behandelt. Auf dieser Stufe vollzieht sich der eigent-
liche Übergang zu dem endgültigen Problem der antiken
Philosophie.
Die kleineren sokratischen Schulen sind diekynische,
die kyrenaische und die megarische nebst der
elisch-eretrischen, an die sich noch einige populär-
philosophische Erscheinungen gegen Ende des Zeit-
raums anschliefsen. Dann folgt Plato. Es ergibt sich
also folgende Anordnung:
1. Die Kyniker.
2. Die Kyrenaiker.
3. Die megarische nebst der elisch-eretri-
schen Schule.
4. Popularphilosophische Erscheinungen im
Anschlufs an diese Schulen.
5. Plato.
I. Die Kyniker.
1. Antisthenes.
Der Begründer der kynischen Schule zeigt in seiner
Geistesrichtung noch nicht diejenige volle Einheitlichkeit
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I. 1. Antisthenes. 433
•
aus einem Gufs, die seine Nachfolger auszeichnet. Er ist
durch verschiedene Einflüsse hindurchgegangen, die ihre
Spuren bei ihm zurückgelassen haben, und wir müssen daher,
um sein Wesen richtig zu erfassen, dieser Entwicklung, so-
weit es noch möglich ist, nachzugehen versuchen.
Antisthenes lebte ungefähr von 435—370 (Z. 281, 1).
Er galt für den Sohn eines athenischen Bürgers und einer
thrazischen Sklavin und „soll" demgemäfs kein vollbürtiger
und vollberechtigter athenischer Bürger gewesen sein. Die
Anekdoten, die im Anschlufs an diese angebliche Halb-
bürtigkeit auftreten (D. L. VI. 1, 4; II. 31), können ihr
natürlich nicht zum Range einer geschichtlichen Tatsache
verhelfen. Er war ursprünglich Schüler des Gorgias in
der Redekunst (D. L. VI. 1). Dafs er auch selbst Unter-
richt in der Beredsamkeit erteilt habe, kann nur daraus
geschlossen werden, dafs er, nachdem er Sokrates kennen
gelernt, seine Schüler aufgefordert haben soll, seine Mit-
schüler bei diesem zu werden (D. L. VI. 2). Dagegen wird
ausdrücklich betont, dafs diese jugendliche Beschäftigung
seinen Schriften ein rhetorisches Gepräge gegeben habe,
das namentlich in einzelnen derselben stark hervorgetreten
sei (D. L. a. a. 0.). Noch Cicero liest ihn gern, obgleich
er ihn mehr für einen scharfsinnigen als für einen gelehrten
Autor hält (ad Att. 12, 38).
Gleichzeitig mufser auch von den älteren Sophisten
beeinflufst worden sein. Noch zur Zeit seines Verkehrs mit
Sokrates läfst ihn Xenophon im „Gastmahl" (4, 62 f.) mit
Prodikos, Hippias und anderen Sophisten in Verbindung
stehen. Dafs er auch von Protagoras beeinflufst worden
sei, könnte daraus gefolgert werden, dafs auch er (nach
Aristoteles) behauptete, es sei keine falsche Aussage
und kein Widersprechen möglich (1024 b, 33; 1046, 20).
Doch scheint bei ihm diese Behauptung aus anderen, mit
der sokratischen BegriflFslehre zusammenhängenden Voraus-
setzungen abgeleitet worden zu sein; wovon nachher.
Mit höchster Begeisterung schlofs er sich sodann in
schon etwas vorgerückten Jahren an Sokrates an, so dafs
auch sein Zusammensein mit diesem in das letzte Jahrzehnt
Döring. I. 28
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434 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
des Wirkens desselben filllt. In Xenophons „Denkwürdig-
keiten" (III. 11, 17) nennt ihn Sokrates als einen der-
jenigen, die nie von seiner Seite weichen, und unterredet
sich mit ihm über den Wert tüchtiger Freunde, auch wenn
sie arm sind, in der Absicht, auf diese Weise indirekt einem
der Gefährten, der einen armen Freund verachtete, eine
Lektion zu erteilen (IL 5). Anscheinend wird dadurch auch
Antisthenes als arm bezeichnet.
Ein sehr viel vollständigeres Charakterbild des Anti-
sthenes aus der Zeit des gemeinsamen Verkehrs mit Sokrates
zeichnet Xenophon in seinem „Gastmahl". Auch hier tritt
zunächst seine leidenschaftliche Anhänglichkeit an Sokrates
hervor. Als jeder der Anwesenden angeben soll, in welchem
Sinne er zur Gemeinde des Liebesgottes gehöre, erklärt
Antisthenes, aufs heftigste in Sokrates verliebt zu sein,
woran sich dann ein Austausch von Scherzreden über die
angebliche Sprödigkeit des Sokrates anschliefst (6, 4 — 6).
Hier erscheint er ferner als der immer schlagfertige Dis-
putierer, der durch häufiges Eingreifen Leben und neue
Wendungen in die Unterhaltung bringt (2, 13; 3, 4; 4, 2,
6; 6, 5). Er gerät dabei gelegentlich auch ins Derbe und
Unfeine hinein und mufs sich von Sokrates, weil er das
Kapitel Xanthippe zur Sprache bringt, eine leichte Zurecht-
weisung gefallen lassen (2, 10). Insbesondere treten hier
auch schon einige charakteristische Züge seiner späteren
Denkrichtung hervor. So die in seiner schriftstellerischen
Tätigkeit und gewifs auch in seiner mündlichen Lehre so
umfassend hervortretende Neigung zu einer moralisierenden
Auslegung der homerischen Gedichte. Er bezeichnet die
Rhapsoden, die den ganzen Homer auswendig wissen, als
höchst einfältige Menschen. Es ist sehr bezeichnend, dafs
ihm Sokrates mit der Bemerkung beitritt, jene verständen
von dem tieferen Unter- und Hintersinn der home-
rischen Dichtungen nichts. Mit dieser Bemerkung erscheint
Sokrates selbst geradezu als der Urheber der lange Zeit so
beliebten moralisch-allegorischen Auslegung des Homer und
das umfassende Vorgehen des Antisthenes in dieser Richtung
als eine der von Sokrates empfangenen Anregungen. In
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I. 1. Antisthenes, 435
diesem Sinne legte z. B. Sokrates die Verwandlung der
Gefährten des Odysseus in Schweine durch Circe auf Ver-
leitung zur Unmäfsigkeit in Speise und Trank aus (Mem. I.
3, 7). Auch die verschiedene Behandlung der Edlen und
des Volkes durch Odysseus bei einer ausgebrochenen Panik
deutete er, wie schon erwähnt, auf Unterschiede des inneren
Wertes. Auch die gemeinsame Lektüre der „alten Weisen"
mit den Gefährten (Mem. I. 6, 14), wobei, wenn sie „etwas
Gutes** antreffen, dies zur Nutzanwendung herausgegrüffen
und angeeignet wird, deutet auf den Ursprung dieser Rich-
tung von Sokrates hin.
Noch weit charakteristischer für den späteren Anti-
sthenes ist die ihm hier beigelegte Stellung zum Reichtum.
Als jeder dasjenige namhaft machen soll, worauf er sich
am meisten zu gute tut, nennt Antisthenes seinen Reichtum
(3, 8) und erläutert dies (4, 34—44) in folgender Weise.
Er hat so wenig, dafs er es kaum zu finden weifs. Gleich-
wohl genügt dies zur Deckung seiner wirklichen Bedürfnisse
vollständig. Er kann sich sättigen, hat ein Obdach und
eine Lagerstätte, auf der er sich des vortrefiflichsten Schlafes
erfreut. Sein geschlechtliches Bedürfnis befriedigt er bei
solchen, mit denen sich sonst niemand einlassen will, und die
daher über die Mafsen zärtlich gegen ihn sind (vergl. D. L.
VL 3). Bei allen diesen Bedürfnisbefriedigungen hat er
überdies mehr Genufs als zuträglich. Will er sich einmal
etwas Besonderes zu gute tun, so holt er sich die Lecker-
bissen nicht vom Markte, sondern aus der Vorratskammer
des Appetites, d. h. er wartet noch besonders das stärkere
Hervortreten des Bedürfnisses ab. Sollte er einmal sein
bifschen Habe verlieren, so gibt es keine so unergiebige
Arbeit, die ihm nicht leicht den für ihn ausreichenden
Unterhalt gewähren würde. Aber auch zu den besten
Tugenden gewährt ihm dieser „Reichtum** den Antrieb. Zu
ungerechten Handlungen gegen andere fehlt ihm jede Ver-
suchung. Er macht ihn aber auch freigebig. Denn er er-
möglicht es ihm, an den Reichtümern der Seele, von denen
er bei Sokrates ohne Entgelt erworben hat, soviel er tragen
konnte, jedem, der Lust hat, ohne Opfer jeden beliebigen
28*
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436 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Antißil zu gewähren. Das köstlichste Gut aber, das er
seinem Keichtum verdankt, ist die unbegrenzte Mufse, die
es ihm ermöglicht, den ganzen Tag mit Sokrates zusammen
zu sein.
Hier erkennen wir bis auf den einzelnen Wortlaut den
gelehrigen Schüler des Sokrates in dessen zentraler Schätzung
der Enthaltsamkeit und Bedürfnislosigkeit.
Inwieweit einige bei späteren Schriftstellern überlieferte
Anekdoten aus dieser Lehrzeit bei Sokrates geschichtlichen
Wert haben, läfst sich nicht ausmachen. So, dafs das ihm
zugehörige Häuschen im Piräus gelegen und er täglich die
Meile Weges nach Athen hin und her zurückgelegt habe,
um mit Sokrates zusammen zu sein (D. L. VI. 2). So der
Zug, dafs er die Risse seines Mantels mit einer gewissen
Ostentation und Effekthascherei nach aufsen gekehrt habe,
was Sokrates einst zu der Bemerkung veranlafst habe : „Ich
sehe aus den Löchern deines Mantels die Eitelkeit heraus-
schauen" (VI. 8; II. 36). Dafs er beim Tode des Sokrates
gegenwärtig war, bezeugt Plato im Phädon (59 B).
Nach dem Tode des Sokrates eröffnete er selbst eine
Schule in dem aufserhalb der Stadtmauern gelegenen Gym-
nasium Kynosarges (D. L. VI. 13). Ob diese Anstalt noch
zu seiner Zeit, wie ursprünglich, für die Leibesübungen der
nicht VoUbürtigen bestimmt war, ist zweifelhaft (Bernays,
Apollon. V. Th. p. 91). Dagegen stammt von dieser Örtlich-
keit wohl ursprünglich der Name „Kyniker" (D. L. VI. 13 und
Menag. z. d. St.), der erst später die Nebenbedeutung der
die Gesetze der Sitte und des Anstandes Verletzenden
(Kyniker = die Hündischen) angenommen hat. Dafs er
sich für seinen Unterricht hätte bezahlen lassen, könnte
man aus der Anekdote schliefsen, nach der er auf die Frage,
warum er so wenig Schüler habe, geantwortet hätte : „Weil
ich sie mit einem silbernen Stabe austreibe" (VI. 4). Doch
ist der Sinn dieser Äufserung zweifelhaft. Auch die
Anekdote, nach der ein Hörer von auswärts ihm eine Spende
in Aussicht stellt, wenn sein Schiff mit Lebensmitteln an-
gekommen sein würde, worauf Antisthenes beim Krämer
sich seinen Sack mit Mehl füllt und diesen ebenfalls auf
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I. 1. Antisthenes. 437
die Ankunft jenes Schiffes vertröstet (VI. 9), setzt nicht
eigentliche Bezahlung voraus. Jedenfalls stünde diese in
direktem Widerspruche mit der Rede über seinen Reichtum
in Xenophons „Gastmahl". Nur gelegentliche Beisteuern
zu seinem Lebensunterhalt, vornehmlich in Naturalien,
scheint er nicht verschmäht zu haben, während er im übrigen
durch ein kleines Besitztum und durch seine Bedürfnis-
losigkeit gegen Mangel geschützt war.
Mehrere spätere Schriftsteller (D. L. VI. 13) berichten,
Antisthenes habe schon die vollständige kynische Bettler-
tracht angelegt: den doppelgeschlagenen Mantel aus grobem
Stoffe als einziges Kleidungsstück, Ranzen und Stab, wild-
wachsenden Bart. Dies ist jedoch aus manchen Gründen
wenig wahrscheinlich. Seine umfassende schriftstellerische
Tätigkeit und der Gegensatz, in den sich sein Schüler
Diogenes in bezug auf die Lebensführung zu ihm stellt,
sprechen wenigstens gegen die Obdachlosigkeit. Zum Über-
flufs besitzen wir auch ein ausdrückliches Zeugnis eines
älteren Schriftstellers (Neanthes von Kyzikos um 240 vor
Chr. bei D. L. a. a. 0.). Danach reduzierte er die zwei
von Sokrates noch beibehaltenen Kleidungsstücke auf eins,
den Mantel, trug diesen aber zum Schutze gegen die Kälte
doppelt geschlagen, während er die übrigen Abzeichen des
umherschweifenden Bettlertums, den Stab und den Ranzen
für die einzusammelnden Nahrungsmittel, noch nicht an-
nahm. Dazu stimmt der Rat, den er dem Diogenes erteilte,
als dieser — natürlich noch in seiner Schülerzeit — um
ein Unterkleid bettelte, er möge den Mantel doppelt schlagen
(ib. 6).
Dafs er Diogenes nicht radikal und konsequent genug
war, geht daraus hervor, dafs dieser ihn einmal mit einer
Trompete verglichen haben soll, die zwar andere anfeuere,
selbst aber ihren eigenen Ton nicht höre (Stob. Flor. 13, 19;
Dio Chrys. VIII. 275). Dazu stimmt auch die Anekdote,
dafs ihm Diogenes in seiner letzten Krankheit mit der
Frage, ob er nicht eines Freundes bedürfe, einen Dolch an-
bietet, der ihn von seinen Leiden erlösen könne ; Antisthenes
aber antwortet, er wünsche von den Leiden, nicht aber vom
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438 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
Leben erlöst zu sein (D. L. VI. 19). Hier haben wir noch
den echten Schüler des Sokrates, dem auch noch das Leben
an sich ein Gut war. Es ist daher auch wenig glaublich,
dafs man schon ihn den „Hund schlechthin", den Hund par
excellence genannt habe (ib. 13). Der Name „Hund" soll
nach einem anderen, sehr glaubwtlrdigen Zeugnis (Suid.)
sogar dem Diogenes zuerst beigelegt worden sein.
Von einem rauhen Verhalten gegen seine Schüler ist
nur einmal die Rede, wo er dies zugleich durch den Ver-
gleich mit dem Verhalten des Arztes den Kranken gegen-
über rechtfertigt (ib. 4). Im übrigen wird mehrfach sein
gelassenes und liebenswürdiges Wesen im Verkehr gerühmt,
durch das er jeden gewinne, und das auch in seinen Schriften
hervortrete (ib. 14 f.), und ausdrücklich betont, dafs er
Sokrates nicht nur in der Abhärtung, sondern auch im
Gleichmut nacheifere (ib. 2). Also auch darin noch der
echte Sokratiker!
Bemerkenswert ist die grofse Zahl und die mannig-
faltigen Themata seiner Schriften. Es gab von denselben
eine sachlich geordnete Gesamtausgabe in zehn Bänden,
deren Inhaltsverzeichnis Diogenes Laertius (a. a. 0. 15 flF.)
mitteilt. Die Zahl der hier aufgeführten Titel ist ungefähr
63. Der erste Band enthielt Reden und rhetorische Schriften;
darunter werden auch die beiden unter seinem Namen er-
haltenen Vorträge „Aias" und „Odysseus" aufgeführt, die
aber so, wie sie vorliegen, der gröfsten Wahrscheinlichkeit
nach untergeschoben sind. Es folgten dann einige physio-
logische Abhandlungen, an die sich aber sofort bis Ende
des fünften Bandes Ethisch-Politisches anschlofs. Band VI
und VII enthielten logisch -erkenntnistheoretische Schriften,
doch mit einigen fremdartigen Einschiebseln anderen Inhalts.
Band VIII und IX Schriften zur Literatur, besonders zu
Homer, den er mit seiner moralisierenden Auslegung aufs
reichlichste bedacht hat. In Band X war Verschieden-
artiges zusammengestellt, dessen Echtheit anscheinend be-
zweifelt wurde, wie denn in der Tat schon der ungefähr
ein Jahrhundert nach ihm lebende Stoiker P e r s a i o s mehrere
der hier aufgeführten Schriften als unecht verwarf (D.L. II. 61).
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I. 1. Antisthenes. 439
Das wenige, was aus den einzelnen Schriften unter
Beifügung des Titels angeführt wird, ist ganz ohne Be-
deutung und gibt keinen Aufschlufs über Inhalt und
Gedankengang derselben. In die Gedankenwelt des Anti-
sthenes können wir nur aus den vereinzelten aus seinen
Schriften überhaupt erhaltenen Sätzen und aus den ihm
zugeschriebenen Sentenzen einigermafsen einen Einblick ge-
winnen.
Diese Gedankenwelt nun scheint nicht ein systematisches
Ganzes aus einem Gufs gebildet zu haben. Die meisten
seiner Lehren sind Weiterbildungen ganz bestimmter Ge-
danken des Sokrates , die anregend auf ihn gewirkt haben.
Inwieweit dabei aufserdem noch andere Einflüsse mitgewirkt
haben, lafst sich bei der Mangelhaftigkeit der Nachrichten
kaum bestimmen.
Zunächst scheint ihn die sokratische Begriffs-
lehre lebhaft angezogen zu haben. Er begnügte sich aber
nicht damit, wie Sokrates den Begriff als dasjenige zu be-
zeichnen, was ein jedes Ding ist; er nannte ihn „das, was
ein Ding ist und war" (D. L. VI. 3). Vielleicht wollte er
dadurch ausdrücken , dafs der Begriff das dauernde Wesen
der Dinge bezeichne. Auf dem Boden der Begriffslehre nun
scheint er später schon dadurch in einen Gegensatz zu Plato
gekommen zu sein, dafs er die bei diesem später auftretende
Verdinglichung der Begriffe als immaterielle Substanzen
(Ideen) verwarf und bei den Begriffen als blofsen Gebilden
unseres Denkens stehen blieb. Diretete Zeugnisse für diesen
Streit sind freilich nur aus sehr später Zeit vorhanden
(Z. 295, 2). Nach diesen hätte Antisthenes gesagt, er sehe
wohl das Pferd, aber nicht die „Pferdheit". Worauf Plato,
das sei natürlich, da ihm das Auge fehle, mit dem man die
Pferdheit sehe. Hat dieser Konflikt wirklich stattgefunden,
so ist es sehr möglich, dafs die plumpe Verspottung der
Ideenlehre, die Plato im „Euthydemos" (301 ff.) den beiden
Sophisten in den Mund legt, tatsächlich zur Kennzeichnung
der Polemik des Antisthenes dienen sollte. Dieser Spott
ist gegen die platonische Lehre von der „Gegenwärtigkeit"
(Parusie) der Ideen in den Einzeldingen gerichtet. Es wird
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440 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
daraus gefolgert : „Wenn bei dir ein Ochse gegenwärtig ist,
so bist du ein Ochse, wenn Dionysodor, so bist du Diony-
sodor."
Für Antisthenes ist bei dieser Ablehnung der Ideen-
lehre wie für Sokrates der Begriff nur die denkende Zu-
sammenfassung des durch die Erfahrung und den gesunden
Menschenverstand Gegebenen. Es ist sehr wahrscheinlich,
dafs wir in der in Piatos „Theätet" aufgeführten Formel,
Wissen sei die richtige Meinung mit Definition (201CflF.X
seinen erkenntnistheoretischen Standpunkt in seiner ganzen
Vollständigkeit vor uns haben. Er fordert also eine begriff-
liche Fixierung des dem natürlichen Erkennen Gegebenen,
die Aussagen des gesunden Menschenverstandes auf deut-
liche Begriffe gebracht. Sicher ist freilich diese Auslegung
nicht, doch scheint er auch sonst mit Eifer auf die Ver-
deutlichung der Vorstellungen gedrungen zu haben. „Der
Anfang der Bildung ist die Untersuchung der Benennungen,"
d. h. der die Vorstellungen bezeichnenden Wörter (Epiktet
Diss. I. 17). Eine seiner Schriften führte daher den Titel
„Über Bildung oder über die Benennungen" (D. L. VI. 17).
Er mufö aber von der BegriflFslehre aus zu allerlei
abstrusen und seltsamen Folgerungen gekommen sein, die
ihm von selten des Aristoteles den Vorwurf der „Ungebildet-
heit" und „Albernheit" zuziehen (1043b, 24; 1024b, 32).
Aristoteles aber bezeichnet diese Irrwege seines logischen
Denkens nur sehr unbestimmt, und in den Stellen bei Plato,
die man auf diesen Teil seiner Lehre zu beziehen pflegt,
wird er nicht ausdrücklich genannt. Es ist daher zwar wohl
möglich, dafs er zu einer Zeit, wo es noch keine Logik gab,
von seiner Begriffslehre aus in allerlei Irrtümer geriet. Da
aber die vorhandenen Nachrichten nicht ausreichen, uns von
diesen Irrtümern ein deutliches Bild zu machen, da femer
diese FehlgriflFe mehr in die Vorgeschichte der Logik als in
die Geschichte der Philosophie gehören, und da dieselben
endlich auf seine eigentlichen Lehren keinen Einflufs geübt
zu haben scheinen, so können wir die Einzelheiten dieser
Nachrichten auf sich beruhen lassen. Nur das sei angeführt,
dafs er angeblich von seiner Begriffslehre aus —
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I. 1. Antisthenes. 441
wie, ist nicht recht begreiflich — zu der Annahme gelangte,
man könne von jedem Dinge nur es selbst aussagen (z. B.
Mensch ist Mensch: identische Urteile), wodurch geradezu
die Möglichkeit der Definition als Angabe einer Mehrheit
von Merkmalen wieder aufgehoben worden wäre. Vielleicht
behauptete er die ausschliefsliche Möglichkeit der identischen
Urteile nur für die einfachsten Vorstellungen, die keine
Mehrheit von Merkmalen enthalten (Aristot. 1043 b, 28).
Noch unbegreiflicher ist es von seinen Voraussetzungen aus,
dafs er auch die bekannten Behauptungen aufgestellt haben
soll, es gebe keine widersprechenden und keine falschen
Aussagen (Arist. 1024 b, 32; 104 b, 20; D. L. IX. 53). Diese
paradoxen Behauptungen sollen dann den Hauptzusammen-
stofs mit Plato herbeigeführt haben. Er soll zur Ver-
lesung einer Abhandlung, in der er die Unmöglichkeit des
WiderSprechens bewiesen hatte, Plato eingeladen haben. Als
er diesem sein Thema mitteilte, suchte derselbe ihn seines
Irrtums zu überführen, und das habe ihn zur Abfassung
seiner Schrift „Sathon oder über das Widersprechen" ver-
anlafst (D. L. III. 35). Dafs diese, wie der Bericht hinzu-
fügt, zu einer dauernden Entfremdung zwischen beiden
führte, ist schon nach dem Titel glaublich, da das Wort
„Sathon" eine schmähliche Verhunzung des Namens Piatos
darstellt (sathe bedeutet das männliche Glied). Es ist daher
auch sehr wohl möglich, dafs auch die Verspottung der
beiden obigen Sätze im „Euthydemos" vornehmlich gegen
Antisthenes gerichtet ist. Übrigens war das Verhältnis der
beiden wohl auch schon vor diesem Bruche kein besonders
sympathisches, wenigstens wenn auf die darüber überlieferten
Anekdoten etwas zu geben ist. Bei einem festlichen Auf-
zuge mit prächtigen Reitpferden sagt Antisthenes zu Plato,
er sei auch ein solches sich brüstendes Prunkrofs, und als
er einst den erkrankten Plato besucht und ein Gefäfs mit
ausgebrochener Galle stehen sieht, sagt er: „Die Galle sehe
ich da, aber den Dünkel nicht" (D. L. VI. 7).
Ein anderer von Sokrates übernommener und noch
schärfer ausgebildeter Punkt ist dessen Neigung zu einem
rein geistigen und einheitlichen Gottesbegriff. Folgender
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442 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Ausspruch über die Gottheit, vielleicht aus seiner Schrift
über die Natur, wird angeführt: „Aus einem Bilde wird er
nicht erkannt, mit den Augen wird er nicht gesehen, keinem
gleicht er. Deshalb kann ihn niemand aus einem Bilde
kennen lernen" (Theodoret, Gr. äff. cur. I. cf. Clem. AI.
Protrept. VI. 71). Und ausdrücklich aus derselben Schrift
wird das Wort angeführt, nach der Satzung gebe es viele
Götter, nach der Natur aber nur einen (Philodem D. 538).
Zu dieser Lehre steht es denn freilich in einem selt-
samen Widei-spruch , wenn eine bei Plato öfter erwähnte
materialistische Lehre, nach der nicht nur die sinnenfälligen
Dinge, sondein alles Existierende überhaupt rein stofiflich
und auch die Seele ein stoflfliches Ding sei, mit einer ge-
wissen Wahrscheinlichkeit auf Antisthenes bezogen wird
(Z. 297 flF.). Plato nennt zwar an den betreflFenden Stellen
den Vertreter dieser Lehre nicht, und so fehlt es an der
vollen Gewifsheit, ob Antisthenes gemeint ist. Vielleicht
betonte er nur im Gegensatze gegen die abstrakte Ideen-
lehre des Euklid, der die Dinge der Erscheinungswelt für
blofsen Schein erklärte, die Realität der Einzeldinge^und
des Stoffes. Jedenfalls können wir auch diesen Punkt hier
auf sich beruhen lassen, da auch ihm eine entscheidende
Bedeutung für das wichtigste und einzig nachdrücklich fort-
wirkende Lehrgebiet des Antisthenes, das ethische, nicht
zukommt. Zur Glückseligkeit bedarf es nach seiner Über-
zeugung allein der Tugend. Diese ist Sache des Handelns
und bedarf nicht vieler Beweisführungen oder wissenschaft-
licher Kenntnisse (D. L. VL 11). Soll doch Antisthenes die
zur Tugend Gelangten z. B. vom Studium der Sprache und
Literatur als von etwas Fremdartigem und Ablenkendem
abgemahnt haben (ib. 103).
Das ganze Schwergewicht fällt bei ihm, wie bei Sokrates,
auf die Fragen des praktischen Lebens. Hier aber zeigt
sich der ganze Gegensatz gegen seinen Meister. Es handelt
sich nicht mehr darum, die Leiter in Staat und Hauswesen
für ihren Beruf in der Gemeinschaft vorzubilden. Schon
die gesellschaftliche Stellung, die er einnahm, mufste ihn
gegen diese Aufgaben gleichgültig machen und ihm den
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I. 1. Antisthenes. 443
epochemachendeu Übergang zur Isolierung als Einzelmensch
erleichtern. Dazu kam noch, dafs er nicht nur das Lebens-
werk des Sokrates so schrecklich hatte scheitern sehen,
sondern dafs die Verderbnis der öffentlichen Zustände in-
zwischen ins Hoffnungslose fortgeschritten war. Antisthenes
hat daher für sie fast nur noch hoffnungslose Verurteilung
und beifsenden Sarkasmus. Zwar, wenn er sagt, man müsse
sich zum Staate verhalten wie zum Feuer, komme man zu
nahe, so verbrenne man sich, bleibe man zu fem, so friere
man (Stob. Flor. 45, 28), so liegt darin noch eine gewisse
Anerkennung des Wertes der staatlichen Ordnung auch in
ihrer Entartung. Anders lauten folgende Aussprüche. „Dann
gehen die Staaten zu Grunde, wenn sie nicht mehr im stände
sind, die Schlechten von den Tüchtigen zu unterscheiden."
„Unsinnig ist es, aus dem Weizen den Lolch auszulesen und
im Kriege die Untauglichen fernzuhalten, im Staatsleben
dagegen die Schlechten nicht zurückzuweisen." In derselben
steten Bezugnahme auf den Grundgedanken des sokratischen
Wirkens rftt er den Athenern, durch Volksl)eschlufs ihre
Esel zu Pferden zu ernennen, da sie ja auch durch blofse
Abstimmung Leute, die nichts verstünden, zu Feldherrn
machten (D. L. VL 5, 6, 8). Und in einer Schrift, betitelt
„Der Staatsmann", unterwarf er die athenischen Demagogen
der Reihe nach einer scharfen Kritik (Athenäus V. p. 220 D).
So entspringt die Tendenz, sich als einzelner aus dem
allgemeinen Schiffbruch zu retten. Höchst charakteristisch
für diese völlig veränderte Stellung zum öffentlichen Leben
ist die neue Umformung des Begriffes des „Schönen und
Guten", die ihm beigelegt witd. Der Schöne und Gute ist
jetzt derjenige, der von den Wissenden lernt, dafs die Übel,
mit denen man behaftet ist, entrinnbar sind (ib. 8). Hier
ist dieser alte Grundbegriff des Staatslebens ganz ins Indivi-
dualistische umgeschlagen. Das eigene Wohlsein, das bei
Sokrates überwiegend als Triebfeder zur Begründung des
dem gemeinen Besten dienenden Verhaltens gegolten hatte^
wird jetzt das oberste und beherrschende Prinzip. Die
Frage nach der eigenen Glückseligkeit, dem vollkommenen
Leben ^ dem höchsten Gut tritt an die Spitze, wenngleich
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444 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
noch nicht in wissenschaftlicher Begründung. Der Moralis-
mus schlägt in die Lehre vom Lebensziel um, die Philo-
sophie kommt zu sich selbst, zu ihrer eigentlichen und
wahren Aufgabe.
In der Bestimmung dieses letzten Zieles nun zeigt sich
bei Antisthenes die bedeutsamste Beeinflussung durch
Sokrates, freilich nicht durch das Ganze der sokratischen
Lehre, sondern durch zwei bedeutsame Einzelpunkte der-
selben.
Der eine Punkt ist die ausschliefsliche Leitung des
Handelns durch die Vernunft, d. h. durch eine auf den
letzten Endzweck gerichtete Erkenntnistätigkeit. Sokrates
hatte in der deutlichen Erkenntnis des Zweckmäfsigen das
weit überwiegende Hilfsmittel zum richtigen Handeln ge-
funden. Daran hält Antisthenes fest. „Man mufs Vernunft
besitzen oder einen Strick" (Plut. Sto. rep. 14). Und auf
die Frage eines neueintretenden Schülers nach den erforder-
lichen Utensilien antwortet er: „Ein neues Schreibheft,
einen neuen GriflFel und eine neue Wachstafel," wobei das
dreimalige „neu" durch ein Wortspiel zugleich bedeutet „und
Vernunft" (D. L. VL 3). Ganz wie bei jeder axiologischen
Ethik ist ihm daher das zur wahren Glückseligkeit führende
Verhalten, die Tugend, lehrbar, und wenn einmal vollkommen
deutlich in seinem ursächlichen Zusammenhange mit dem
wahren Wohlsein erkannt, auch ein unverlierbarer Besitz
(ib. 10, 12, 105). Auch die Bedenken, die Xenophon
einmal gegen die ausschliefslich intellektuelle Begründung
des Handelns äufsert (Mem. I. 2, 14 — 23), sind wahrschein-
lich auf Antisthenes gemünzt. Trotz dieses überwiegenden
Intellektualismus im Handeln aber forderte er doch auch
noch „sokratische Kraft", d. h. eine der richtigen Erkenntnis
zur Seite stehende und sie in Tat umsetzende Willensenergie
(D. L. VI. 11).
Der zweite Punkt ist der, dafs er das Lebensziel aus-
schliefslich au6 der sokratischen Empfehlung der Bedürfnis-
losigkeit entnahm. Sokrates hatte gefunden, dafs die Be-
dttrfnislosigkeit nicht nur eine sehr wichtige Vorbedingung
der Leistungsfähigkeit ist, sondern dafs sie auch an sich
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I. 1. Antisthenes. 445
ein Gut ist. Sie macht den Göttern ähnlich, die nichts be-
dürfen, weil sie alles haben. Sie gewährt femer auch in
der einfachsten Weise das höchste Mafs des erreichbaren
Sinnengenusses. Dieser götterähnliche Zustand der Selbst-
genügsamkeit durch Verzicht auf die Fülle der hemmenden
und fesselnden Bedürfnisse wird von Antisthenes zum aus-
schliefslichen Lebensideal erhoben (ib. 11). Die höchste und
eigentlichste Befriedigung liegt in der Freiheit des
Nichtbedürfens. Das Hauptmittel aber femer, um zu
dieser Freiheit zu gelangen, ist die Erkenntnis des Trüge-
rischen der vermeintlichen Bedürfnisse, die Erkenntnis, dafs
dieselben auf Wahnvorstellungen bemhen. So kommt es,
dafs dieses wichtigste Hilfsmittel der Freiheit geradezu
selbst als das höchste Gut bezeichnet wird.
Nach dem überaus wertvollen Zeugnisse des Clemens
von Alexandria (Strom. II. § 130) setzte Antisthenes das
höchste Gut in die „Illusionslosigkeit" (atyphfa).
Alle die Dinge, die die Menschen für Bedürfnisse und
Güter, deren Fehlen sie für Entbehrungen und Übel halten,
durch die sie den Stöfsen und Schlägen des Geschicks
tausend verwundbare Stellen bieten, sind nicht das, wofür
sie gelten. Die wahre Erkenntnis enthüllt alle diese
vermeintlichen Güter und Übel, die uns unsere Freiheit und
Unabhängigkeit rauben, als Illusionen. Die vermeintlichen
Güter und Übel sind in Wahrheit für das Werturteil Mittel-
dinge (Adiaphora im Sinne des Werturteils). Für sie alle
gilt das weder — noch, weder Güter noch Übel. In dieser
Erkenntnis liegt aber auch schon das Prinzip der rechten
Lebensgestaltung, nämlich des freiwilligen Verzichts auf
alle diese vermeintlichen Güter; sie führt zur Bedürfnis-
losigkeit und damit zur wahren Glückseligkeit. Wenn unter
ausdrücklicher Berufung auf eine Schrift des Antisthenes
ihm die Lehre beigelegt wird, das höchste Gut sei „das
Leben nach der Tugend" (D. L. VI. 104), so ist das doch
erst eine abgeleitete Bestimmung, denn erstens ist Tugend
an sich ein sehr vieldeutiger Begriff, der seinen Inhalt erst
von der Werterkenntnis aus erhalten kann. Tugend ist das
Streben nach den wahren Glückseligkeitswerten. Diese be-
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446 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
stehen bei ihm im Nichtbedürfen und Nichtentbehren. Also
ist Tugend das Streben nach der göttergleichen Selbst-
genügsamkeit durch Bedürfnislosigkeit. Zweitens aber
ist auch die so mit einem bestimmten Inhalt erfüllte Tugend
nicht das eigentliche höchste Gut selbst, sondern nur etwas
aus ihm Entspringendes. Das höchste Gut selbst ist eben
das Durchschauen aller Illusionen.
Vom Ausgangspunkte der „Illusionslosigkeit" aus ergibt
sich für Antisthenes eine „Umwertung aller Werte", zunächst
in dem Sinne, dafs alles das, was nach den Wahnvor-
stellungen der Menschen als ein Gut, dessen Gegenteil als
ein Übel erscheint, für etwas Gleichgültiges und Entbehr-
liches erklärt wird, das man haben oder nicht haben kann,
ohne dafs dadurch der eigentliche Glücksstand geändert
wird. Sinnengenufs , Reichtum, edle Geburt, Schönheit,
Macht, Ehre, Freundschaft und Gemeinschaft, Familienglück,
bürgerliche Freiheit auch im Gegensatze gegen den Sklaven-
stand, Vaterland, Götterschutz und Götterhilfe sind keine
Güter, und alle die mühseligen Veranstaltungen, die man
dieser Dinge wegen in Bewegung setzt, alle die Opfer, die
man ihnen bringt, sind verloren. Das einzige wirkliche
Gut ist die Unabhängigkeit von allem, was das Schicksal
rauben kann. „Dem Schicksal nichts anheimstellen", d. h.
von seinen Launen das eigene Glück nicht abhängig machen
(D. L. VI. 105), das ist in dieser Beziehung der oberste
Grundsatz. Dem Verkehrsbedürfnis z. B. stellt er den Satz
entgegen, die Philosophie habe ihm die Fähigkeit verliehen,
mit sich selbst Umgang zu pflegen (D. L. VI. 6); der edlen
Geburt den, dafs nur der Tugendhafte von Adel sei (ib. 10);
dem Familienbande den, dafs der Gerechte höher zu schätzen
sei als der Verwandte (ib. 12). Ohne Bedeutung für die
wahre Glückseligkeit ist auch der Unterschied des natür-
lichen Geschlechts: „Des Mannes und des Weibes Tugend
ist die gleiche" (ib.).
Aber diese Umwertung nimmt noch eine viel zu-
gespitztere Gestalt an. Da die vermeintlichen Güter sich
der Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit des Weisen
geradezu hinderlich und schädlich und die vermeintlichen
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I. 1. Antisthenes. 447
Übel sich ihr heilsam und förderlich erweisen, so werden
die Güter direkt zu Übeln und die Übel zu Gütern.
Für diese Umkehrung liefert schon die Rede des Anti-
sthenes in Xenophons Gastmahl über den Keichtum ein
charakteristisches Beispiel. Der Begüterte ist allen mög-
lichen Plackereien ausgesetzt und begehrt unersättlich nach
mehr und wird dadurch unfrei, ja, er wird in Verbrechen
oder gar, wie so manche Tyrannen, in die abscheulichsten
Schandtaten verstrickt. Er, der völlig Arme dagegen, der
eidlich beteuert keinen Obolus zu besitzen und an Grund
und Boden nicht so viel, dafs sich ein Ringer davon mit
Staub bestreuen könnte, ist aus den schon angegebenen
Gründen der wahrhaft Reiche (4, 34 flf.).
Im Sinne dieser Umkehrung ist femer der Sinnengenufs
geradezu ein Übel. Beständig führt er das Wort im Munde :
„Ich möchte lieber verrückt sein als geniefsen" (D. L. VI. 3;
S. Emp. Hyp. III. 181; Dogm. V. 73). Als jemand ein
üppiges Genufsleben preist, sagt er: »Die Kinder meiner
Feinde sollen schwelgen" (D. L. VI. 8). Insbesondere gilt
dies vom Geschlechtsgenufs. „Wenn ich die Aphrodite an-
träfe, würde ich sie erschiefsen." Sein Prinzip, das geschlecht-
liche Bedürfnis nur bei solchen Frauen zu befriedigen, die
es ihm „Dank wissen" (D. L. VI. 3; Xen. Gastm. IV. 38),
beruht einesteils auf dem Bestreben, sich um ein so unter-
geordnetes Körperbedürfnis möglichst wenig Ungelegenheiten
zu bereiten (in welchem Sinne er dem verfolgten Ehebrecher
zuruft: „0 du Unglücklicher, welcher Gefahr hättest du
für einen Obolus entgehen können" (D. L. VI. 4), andern-
teils aber auch auf dem Interesse, die vom Ziele ablenkende
Leidenschaft zu vermeiden.
Dagegen heifst er Mühsal, Schmerz und Schande als
Hilfsmittel der Übung in der Verachtung der Scheingüter
geradezu willkommen. Die Anerkennung der Menschen er-
scheint ihm als eine Gefahr. Er will lieber unter die Raben
als unter die Schmeichler geraten (körakes — kölakes,
D. L. VI. 4), denn jene fressen die Toten, diese die Leben-
digen. Wenn ihn die Menge oder ein Schlechter lobt,
gerät er in Besorgnis, dafs er etwas Schlimmes begangen
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448 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
haben möchte (D. L. VI. 5, 8). Dagegen mufs man die
Feinde als ein Gut schätzen, denn sie merken zuerst unsere
Fehler und sind also unsere besten Bundesgenossen (ib. 12;
Plut. cap. ex host. util. Cic. De amic. 90).
Die allumfassende Tugend ist bei dieser Lebensauffassung
die Einsicht, die das Leben im Sinne der Illusionslosig-
keit regelt. Er preist sie daher als die sicherste Mauer,
die weder durchbrochen noch durch Verrat eingenommen
werden kann. Sie ist ein „uneinnehmbarer Gedankenbau"
(ib. 13). Die Enthaltsamkeit und die Tapferkeit
im Kampfe mit den Begierden und den Anfechtungen des
Schicksals sind auf diesem Standpunkte nur selbstverständ-
liche Modifikationen der Einsicht. Die Gerechtigkeit
im engeren Sinne, die niemand unrecht tut, ergibt sich aus
der Bedürfnislosigkeit von selbst, da das Begehren nach
den Gütern und Vorzügen der anderen selbstverständlich
wegfällt (Xenoph. Gastm. 4, 42). In diesem Sinne vergleicht
Antisthenes den Neid mit dem Rost. „Wie dieser das Eisen,
so zerfrifst der Neid den Charakter" (D. L. VL 5). Aber
auch noch in einem höheren Sinne fühlt er sich gedrungen,
Gerechtigkeit zu üben, nämlich im Sinne der wahren Wohl-
tat. Er ist freigebig mit seinem geistigen Besitz, der Ein-
sicht, die von allen Übeln des Lebens erlöst (Xenoph. Gastm.
4, 43). In diesem Sinne vergleicht er sich mit dem Arzte,
und rechtfertigt dadurch sein oft hartes und rauhes Ver-
halten gegen seine Schüler und seinen Verkehr mit den
Gesunkenen (D. L. VI. 4, 6). Auch der in den Titeln seiner
Schriften zweimal vorkommende Ausdruck „Aufseher** (D. L.
VI. 17 f.) scheint darauf hinzudeuten, dafs er dem Weisen
gleichsam das Amt eines Wächters und Mahners unter den
Menschen beilegte. Dieser seelsorgerische Drang läfst sich
aus der ganz auf sich selbst gestellten Lebensführung des
Kynikers nicht folgerichtig ableiten. Welchen Grund sollte
er haben, sich um das Wohlsein der anderen zu kümmern?
Er scheint ein unwillkürlich nachwirkendes Erbteil des
sokratischen Geistes zu sein.
Besonderer Erweisungen der Frömmigkeit bedarf es
nicht. Der selbstgenugsame Weise verlangt nichts von der
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I. 1. Antisthenes. 449
Gottheit; auch ist es Aberglaube, dafs man dieser durch
Opfer, Gebete u. dergl. etwas zu gute tun könne und dafür
besondere Gnadenerweisungen von ihr erwarten dürfe. Er
weist daher die kollektierenden Bettelpriester der „Götter-
mutter** ab; für die Erhaltung ihrer Mutter müfsten die
Götter selbst sorgen (Clem. AI. Protrept. p. 64). Der eine
Gott verlangt keinen anderen Dienst als das wahrhaft ver-
nünftige Leben. Ganz vereinzelt steht ein ihm zugeschriebener
Ausspruch : „Wer unsterblich sein will, mufs fromm und ge-
recht leben** (D. L. VI. 5). Dazu steht in einem gewissen Wider-
spruch die Erzählung, dafs er sich zwar in die orphischen
Mysterien einweihen liefs, dabei aber an den Weihepriester,
der die grofsen Vorzüge der Gerechten im Hades rühmte, die
Frage richtete: Warum stirbst du denn nicht? (D. L. VI. 4).
Manche Titel seiner Schriften lassen vermuten, dafs er
gegenüber der verweichlichenden und durch künstliche Be-
dürfnisse elend machenden Kultur nicht müde wurde, auf
das Glück des einfachen Naturzustandes hinzuweisen. So
stellte er vielleicht in der Schrift „Der Kyklop oder über
Odysseus** den einfachen Naturmenschen dem verschlagenen
Kulturmenschen gegenüber. Freilich scheint er, wenn es
mit dem dreifachen Titel einer seiner Schriften „Über den
Gebrauch des Weines**, „Über die Trunkenheit**, „Über den
Kyklopen** seine Richtigkeit hat (D. L. VI. 18), dann auch
wieder dieselbe Sagengestalt der Odyssee als warnendes
Beispiel der Unmäfsigkeit verwendet zu haben. Eine andere
Schrift handelte „Über die Natur der Tiere**. Da ein blofs
naturwissenschaftliches Interesse ihm völlig fem lag, so
läfst sich vermuten, dafs hier das Tier als Vorbild der
Bedürfnislosigkeit aufgestellt wurde. Auch „Über den
Hund** hat er geschrieben, ein Thema, das wegen des Spott-
namens seiner Richtung ihm besonders nahe lag, bei dem
er aber vielleicht Anlafs nehmen konnte, diesen Spottnamen
im Sinne der Vorbildlichkeit des Hundes in einen Ehren-
namen zu verwandeln. Noch bei Sextus Empiricus (Hyp.
I. 72) heifst es, dafs die Kyniker wegen der Klugheit und
der guten Eigenschaften des Hundes sich den Namen des-
selben als Ehrennamen beigelegt hätten.
DftriBff. I. 29
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450 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
Unter den Gestalten der griechischen Heldensage aber
ist ihm vor allen Herakles, der unermüdlich den Mühsalen
des Lebens Trotzbietende, der eigentliche Schutzpatron.
Dazu mochte den nächsten äufseren Anlafs der Umstand
bieten, dafs das Gymnasium Kynosarges dem Herakles ge-
weiht war. Doch wurde dann diesem zufälligen Umstände
eine tiefere Bedeutung beigelegt. Wie er femer den
Kyklopen dem Odysseus gegenüberstellte, so wohl auch
Penelope der Helena. Abschreckende Beispiele lieferten
ihm vielleicht Aias und Kirke und die beiden Kulturförderer
Prometheus und Palamedes, wobei es an gewaltsamen alle-
gorischen Umdeutungen der Züge der Sage nicht gefehlt
zu haben scheint.
In einem seltsamen Gegensatz nun gegen diese Selbst-
genügsamkeit des Weisen, gegen diese völlige Loslösung
von der menschlichen Gesellschaft steht die Tatsache, dafs
Antisthenes in seinen Schriften sich vielfach mit Haus und
Staat beschäftigt hatte. Er hatte eine „Haushaltungskunst",
eine „Staatslehre", einen Dialog über das Herrschen und
zwei Schriften über das Königtum verfafst (D. L. VL 15 ff.).
Wir sehen daraus, dafs er auch in diesem Punkte, trotz der
Einseitigkeit, in der er die Lehre des Sokrates fortführte,
den Anregungen seines Meisters gefolgt war. Vielleicht ist
hier eine gewisse, auch sonst bei ihm zu Tage tretende
Schreibseligkeit im Spiel. Doch darf man ihm eine voll-
ständige Zusammenhangslosigkeit seiner verschiedenen Ge-
dankengruppen nicht aufbürden. Wie kam er dazu, auch
diesen Gedankenkreis zu pflegen, und wie dachte er sich
das wünschenswerte Gemeinschaftsleben? Dafs er, wie
Sokrates, an eine Verbesserung der vorhandenen öffentlichen
Zustände geglaubt und gedacht hätte, ist nach dem bisher
Aufgeführten nicht wahrscheinlich. Er wird also wohl ein
Staatsideal, eine Utopie im Sinne des Kynismus, aufgestellt
haben. Welche Gestalt aber hatte dies Staatsideal? Den
einzigen Anhaltspunkt hierfür bietet folgender, als seine
Lehre überlieferter Satz: „Der Weise wird nicht nach den
aufgestellten Gesetzen den Staat leiten, sondern nach dem
Gesetz der Tugend" (D. L. VI. 11). Hieraus ergibt sich
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—323). 451
zunächst, dafs er sich in seinem Idealstaate den kynischen
Weisen als unumschränkten, nicht an Gesetze gebundenen
Staatslenker dachte. Ferner aber auch, da das „Gesetz der
Tugend", natürlich der kynischen, dabei die einzige Richtschnur
sein soll, und da, wie wir wissen, der Weise schon in seiner
privaten Lebensstellung die Masse der Menschen als unglück-
liche Kranke, sich selbst aber als den berufenen Seelenarzt
ansieht, dafs diese Herrschaft offenbar in dem Sinne geübt
werden sollte, um die Menschen möglichst von ihren Wahn-
vorstellungen hinsichtlich der Glückseligkeitsbedingungen zu
heilen und dem wahren Glückszustande zuzuführen. Wir
werden also wohl vermuten dürfen, dafs dieser kynische
Staat den Zweck verfolgte, die Gesamtheit der Menschen
mit allen zulässigen Mitteln der kynischen Lebensführung
möglichst nahezubringen, vielleicht auch dadurch, dafs
ihnen die Möglichkeit des Trachtens nach den verderblichen
Scheingütem nach Kräften entzogen wurde. Über diese
allgemeine Vermutung hinauszugehen und uns dies Staats-
ideal in seinen einzelnen Zügen auszumalen, verbietet sich
beim Fehlen aller Nachrichten von selbst. Auch ist bei
Diogenes, über dessen Staatsideal wenigstens einige Nach-
richten vorliegen, auf die Frage zurückzukommen. Jeden-
falls sehen wir, dafs Antisthenes die Vereinzelung des Weisen
nur als einen vorläufigen Zustand betrachtete, und dafs er,
trotz dieser völligen Loslösung des einzelnen, dem Gedanken
an eine Reform des Gemeinschaftslebens doch noch nicht
völlig entsagt hatte.
2. Diogrenes von Sinope (ca. 410 — ^323).
Der einzige bedeutende Schüler des Antisthenes und
der eigentliche Begründer der kynischen Lebensweise ist
Diogenes von Sinope, nächst Sokrates auch heute noch
die populärste Gestalt unter den alten Philosophen. Sein
Geburtsjahr kann nur annähernd nach der Angabe bestimmt
werden, dafs er 323 gestorben (Plut. qu. conv. VIIL 1, 4;
D. L. VL 79) und mindestens 81, vielleicht gegen 90 Jahre
alt geworden sei (Gens. Di. nat. 15, 2; D. L. VL 76).
29*
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452 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Seine Vaterstadt Sinope war eine griechische Kolonie an
der Sodküste des Schwarzen Meeres. Als Anlafs seiner
Übersiedelung nach Athen wird in den mannigfaltigsten
Variationen (D. L. VI. 20 f.) erzählt, er sei wegen Falsch-
münzerei entweder geflohen oder verbannt worden. Diese
Geschichte ist in hohem Grade charakteristisch für die Be-
schaffenheit der Quellen über Lehre und Leben des Diogenes.
Seine eigenen Schriften, wenn nicht auch diese nur unter-
geschoben waren, müssen früh verloren gegangen sein. Da-
gegen hat sich schon früh und dauernd durch die Jahr-
hunderte die Lehrdichtung, die Anekdoten- und Sentenzen-
jagerei seiner bemächtigt und ihn mit einem solchen Wüste
von erdichteten Zügen aller Art umsponnen, dafs es völlig
unmöglich scheint, zum Kerne der wirklichen Persönlichkeit
durchzudringen.
Bei der Falschmünzereigeschichte nun scheint eine
Herausschälung des geschichtlichen Kerns ausnahmsweise
doch möglich. Unter seinen wahrscheinlich echten Dialogen
(D. L. VL 80) befand sich einer unter dem Titel „Der
Parder. Es läfst sich nicht einmal ahnen, welche Gegen-
stände er unter diesem seltsamen Titel behandelt haben
mag. In dieser Schrift nun kam der Satz vor, er habe das
„Nomisma" umgeprägt (D. L. 20). In welchem Sinne und
Zusammenhange dieser Ausspruch stand, das wufste offen-
bar auch unser Berichterstatter nicht mehr. Beim Fehlen
eines festen örtlichen Mittelpunktes der Schule und bei der
Lebensweise der Kyniker ist es nicht zu verwundem, dafs
diese Schriften früh untergegangen sind. Buchstäblich ge-
nommen konnte unter dem „Nomisma" die Münze seiner
Vaterstadt und unter der Umprägung die betrügerische
Aufprägung eines neuen Stempels verstanden werden, wo-
durch ihr Wert erhöht wurde. Dafs aber Diogenes das
Wort in einem bildlichen Sinne nahm, ergibt sich aus einer
verständnisvollen Darlegung seiner Lehre, die wahrscheinlich
dem kurz nach Christi Geburt lebenden Diokles von
Magnesia angehört, von der uns aber leider nur das
Schlufsstück erhalten ist (D. L. 70 f.). Dies schliefst mit
der zusammenfassenden Formel, so habe denn in der Tat
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—328). 453
Diogenes sich in Wort und Tat als ein Umpräger des
„Nomisma" erwiesen, indem er nichts auf das der Satzung
(nömos) Gemftfse, alles auf das der Natur Gemäfse gegeben
habe, indem er erklärte, dasselbe Gepräge der Lebens-
führung zu verwirklichen wie Herakles, die Freiheit
allem vorziehend. Dieser Berichterstatter also hat offenbar
noch den wirklichen Sinn des Ausspruchs im „Pardel" er-
fafst: „Umwertung aller Werte" vom Prinzip der Freiheit
als dem Naturgemäfsen aus, im Gegensatz gegen die Tyrannei
der Sitte und der Vorurteile; Vorbild Herakles (An-
spielungen hierauf auch bei Plutarch de virt, Alex. IL
332 cf. VII. 312).
Eine gewisse Bestätigung erhält diese Auffassung durch
die Erzählung, er habe vom delphischen Orakel oder von
einem Apolloorakel in seiner Vaterstadt auf die Frage, wie
er die höchste Ehre erwerben könne, die Weisung erhalten,
das „Nomisma"" umzuprägen. Dies scheint nämlich nach
dem verworrenen Bericht (D. L. 20 f.) die ursprüngliche
Fassung des angeblichen Orakels gewesen zu sein. Des
angeblichen Orakels, denn diese ganze Orakelgeschichte
wird wohl nichts anderes sein als eine Erfindung der Schule
in Nachahmung des angeblich über Sokrates erteilten Orakels,
das diesen nach Piatos Apologie zu seinem ganzen Wirken
angefeuert haben soll. Diogenes, der wahre und eigentliche
Stammheros der Kyniker, sollte dadurch im Range neben
Sokrates gestellt werden. In Wirklichkeit lag den höchst
konservativen Apolloorakeln nichts ferner, als zu einer Um-
prägung der herrschenden Satzungen aufzufordern. Es
braucht hierfür nur an die von Sokrates her bekannte Ant-
wort der Pythia auf die Frage nach den richtigen Formen
der Götterverehrung erinnert zu werden : „Nach der Satzung
(nömos) der Stadt. ** In phantastischer Ausschmückung, aber
mit richtigem Verständnis des Sinnes der Worte findet sich
diese Orakel geschieh te auch noch bei dem orakelgläubigen
Kaiser Julian dem Abtrünnigen (Orat. VI in Gyn.).
War aber einmal dieser Weg der Schullegende beschritten,
so hatte es gewifs gerade für die Kyniker einen pikanten
Reiz, ihren Meister sich zunächst durch Mifsverstand des
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454 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
doppelsinnigen Orakels in ein Münzverbrechen verstricken
zu lassen. So würde sich der Bericht erklären (D. L. 20;
Suidas s. V), Diogenes habe anfangs das Orakel mifsver-
standen und sich auf die Falschmünzerei geworfen. Für
diese Auffassung des ursprünglichen Mifsverständnisses als
eines Bestandteils der Schullegende scheinen auch die beiden
recht geistvollen Antworten zu sprechen, die man ihm zur
Abwehr des Vorwurfs, er sei einst ein Falschmünzer ge-
wesen, in den Mund legte (D. L. 56). „Es gab einst eine
Zeit, wo ich ein solcher war, wie du jetzt bist; ein solcher
aber, wie ich jetzt bin, wirst du niemals werden." Und:
„Es gab auch eine Zeit, wo ich meine Kleider näfste; das
geschieht aber jetzt nicht mehr." Selbstverständlich bewirkte
die verfängliche Wendung der Legende gehässige Angriffe
von Seiten der Gegner, wie sie sich auch noch in dem Wüste
der erhaltenen Nachrichten widerspiegeln, und gegen diese
wurden dann wieder diese Formen der Abwehr erdichtet.
Was in Wirklichkeit Diogenes zur Übersiedelung nach
Athen veranlafste, ist unbekannt. Diog. Laert. VI. 49 ist
zweimal von einer Verbannung aus seiner Vaterstadt (ohne
Erwähnung des Münzverbrechens) die Rede. Diese konnte
auch aus politischen Gründen über ihn verhängt sein. Viel-
leicht aber war es der Zug, sei es zur Philosophie über-
haupt, sei es zu der besonderen Form der philosophischen
Lebensführung, die man an die Gestalt des Sokrates an-
knüpfte, und die, wie man annahm; in Antisthenes ihre
Verkörperung gefunden hatte. Auch die Zeit seiner Über-
siedelung nach Athen ist unbekannt, kann aber vermutungs-
weise um 380, also in die spätere Lebenszeit des Anti-
sthenes (gestorben um 470), gesetzt werden.
Dafs er schon mit einem Zuge zu Antisthenes als dem
echten Sokratiker nach Athen kam, und dafs dies in der
letzten Zeit des Wirkens desselben geschah, scheint durch
die Erzählung von den seltsamen Umständen seiner Auf-
nahme als Schüler bei diesem seine Bestätigung zu finden.
Antisthenes hatte seine Lehrtätigkeit ganz aufgegeben, weil
von den vielen, die ihn hörten, keiner sich zur vollen Nach-
folge entschlofs. So wies er denn auch Diogenes wiederholt
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—828). 455
ab und drohte ihm schliefslich mit Stockschlägen, und als
auch dies nicht half, führte er einen tüchtigen Schlag mit
dem Stocke gegen seinen Kopf. Diogenes aber sagt:
„Schlage nur weiter; einen so harten Knüttel wirst du
nicht finden, dafs du mich damit von deiner Belehrung fort-
treiben kannst." Darauf denn Aufnahme und engste Gemein-
schaft (Ael. Var. H. X. 16; D. L. 21).
Dafs Antisthenes von der Annahme der vollständigen
kynischen Lebensform noch weit entfernt war, ist schon
hervorgehoben worden. Wir besitzen nun aber mehrere
Zeugnisse über die ganz allmähliche Entstehung der kyni-
schen Lebensweise bei Diogenes. Diese gehen grofsenteils
auf einen Zeugen ersten Ranges zurück, nämlich auf eine
Schrift Theophrasts, der, geboren um 370, vielleicht
schon vor 350 bis zu Piatos Tode (347) und nachher wieder
wahrscheinlich von 336 an dauernd in Athen lebte.
Zunächst nimmt er die vereinfachte Tracht des Anti-
sthenes, das doppeltgeschlagene Obergewand, an (D. L. 6;
S. Emp. Hyp. I. 153). Sodann (D. L. 22) erhielt er in
bedrängten Verhältnissen einen Fingerzeig zur weiteren
Vereinfachung seiner Lebensweise durch die Beobachtung
einer umherlaufenden Maus, die weder eine Lagerstätte auf-
suchte noch die Finsternis scheute, noch nach Genüssen
trachtete. Dies habe ihn veranlafst, den groben Bettler-
mantel (trlbön) anzulegen, in dem er denn auch (in Er-
mangelung eines Obdaches und Bettes) schlief. Anscheinend
geht auch die weitere Schilderung auf Theophrast zurück.
Er legt sich einen Ranzen für Lebensmittel zu und vollzieht
fortan alle Lebensverrichtungen, Essen, Schlafen u. s. w.,
in der Öffentlichkeit, so dafs er in der Folge rühmen konnte,
welches herrliche Obdach ihm die Athener in der Säulen-
halle des Zeustempels und des Parthenon errichtet hätten
(D. L. 22; Teles bei Stob. Flor. 5, 67). Den Stab habe er
anfangs nur in Krankheitsfällen oder auf Wanderungen be-
nutzt, später dauernd. Hier beruft sich Diog. Laertios
auch auf das Zeugnis eines athenischen Staatsbeamten,
namens Olympiodor, ungewifs, aus welcher Zeit, und eines
Redners Polyeuktes, der an anderer Stelle (II. 38) im Zu-
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456 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
sammenhange mit dem Prozefs des Sokrates genannt wird.
Auch gebettelt haben soll er anfangs nur aus Not (D. L. 49
vergl. 21).
Die Mausegesefaichte wird auch sonst in mehrfachen
Variationen erzfthlt. Die Athener feiern mit üppigen Gaste-
reien ein Götterfest. Diogenes , arm und unbekannt , wird
nirgends eingeladen und kann auch selbst niemand einladen.
Er drückt sich betrübt in eine dunkle Ecke und verzehrt
ein Stück Brot. Da tröstet ihn der Anblick einer Maus,
die auch nichts von den üppigen Mahlen der Athener be-
gehrt, sondern zufrieden die ihm entfallenden Brotkrumen
verspeist (Plut. Prof. in virt. Ael. V. bist. XIII. 25). Nach
einer noch feineren Zuspitzung (D. L. 40) sagt er: „Sieh
da, sogar Diogenes hat noch Schmarotzer!" In diese Über-
gangszeit gehört auch die Anekdote von dem Sklaven Manes,
den er aus Sinope mitgebracht hat, und der ihm davonläuft,
weil ihm die dürftige Lebensweise nicht behagt. Man fordert
ihn auf, Schritte zur Wiedererlangung zu tun. Diogenes
aber sagt: „Wenn Manes den Diogenes entbehren kann,
sollte nicht Diogenes den Manes entbehren können?" (Ael.
V. H. XIII. 27; D. L. VI. 55; Stob. Flor. 62, 47). Eine
Anspielung auf diese Erzählung fand sich schon um 240 bei
dem Philosophen Teles (Stob. Flor. 97, 31).
So gelangt er denn, anscheinend anfangs unter dem
Drucke der Not, dahin, die Theorie des Antisthenes von
der Freiheit durch Illusionslosigkeit als dem wahren Wege
zur Glückseligkeit in die schärfste und konsequenteste
Praxis umzusetzen. Er lebt von den einfachen Nahrungs-
mitteln, die er nicht erbettelte, sondern als rechtmäfsigen
Entgelt für sein Lehren und Mahnen von den Freunden
„einforderte" (D. L. 46). Seine Mahlzeiten hält er öflfent-
lich und rechtfertigt dies das eine Mal dadurch,* dafs der
Hunger sich auch in der Öffentlichkeit einstelle, das andere
Mal dadurch , dafs , wenn Frühstücken überhaupt nicht un-
schicklich sei , es auch auf dem Markte nicht unschicklich
sein könne (D. L. 58, 69). Dafs er sich auch des Geschlechts-
bedürfnisses auf öffentlichem Markte durch Onanie ent-
ledigte und dabei nur bedauerte, dafs man den Magen nicht
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—323). 457
in gleich einfacher Weise befriedigen könne, beruht auf dem
Zeugnis des Stoikers Chrysippos, der 209 starb (Plut.
rep. Sto. 21 ; vergl. D. L. 46, 69). Die Öffentlichkeit solcher
anstöfsiger Handlungen beruht auf dem Grundsatze, dafs,
was der Natur gemäfs ist, auch nicht aus der Öffentlichkeit
verbannt zu werden braucht. So wird denn auch berichtet,
dafs er alle Verrichtungen der Demeter (alles, was mit der
Ernährung und Verdauung zusammenhängt) und der Aphro-
dite öffentlich vollzogen habe (D. L. 69). Dies ist denn
auch wohl der Hauptgrund, weshalb ihm der Beiname des
Hundes zu teil wurde. Wenigstens wird er einmal wegen
öffentlichen Frtihstückens Hund geschimpft, worauf er er-
widert, sie, die Zuschauer, seien vielmehr die Hunde (ib. 61).
Andernteils aber verband er mit der Öffentlichkeit solcher
Handlungen wohl auch einen direkten Lehrzweck : sie sollten
propagandistisch wirken. Gegen Hitze und Kälte härtet er
sich ab, indem er sich in dem von der Sonne erhitzten
Sande wälzt oder bei strenger Kälte beschneite Standbilder
umarmt (D. L. 23) oder mit blofsen Füfsen über Schnee
geht (ib. 34). Um den Gebrauch des Feuers zur Zubereitung
der Speisen tiberflüssig zu machen, versucht er sich im Ver-
zehren rohen Fleisches, was ihm aber nicht gelingt (ib.).
Seinen hölzernen Becher wirft er fort, als er einen Knaben
aus der hohlen Hand trinken sieht, und seine Efsschüssel,
als einer Linsen aus einem gehöhlten Stücke Brot afs (ib.
37). Obdach und Schlafstelle findet er in den Säulenhallen
der Tempel. Die so höchst populäre Fafsgeschichte dagegen
beruht mindestens auf einer gewaltigen Übertreibung. Zu-
nächst ist dabei in keinem Falle an ein Fafs in unserem
^Sinne mit Dauben und Reifen zu denken, sondern an jene
riesigen Tongef&fse zur Aufbewahrung von Getreide, Wein
oder Öl, die noch heute vielfach unter den Resten des
Altertums gefunden werden. Sodann findet sich die an-
scheinend älteste Erwähnung des Fasses in einem angeb-
lichen Briefe des Diogenes an einen Freund, den er ersucht
hat, ein Häuschen für ihn zu beschaffen, und dem er meldet,
er bedürfe dessen nicht mehr, da er das Fafs beim Metroon
(dem Tempel der Göttermutter) bezogen habe (D. L. 23).
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458 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Diese Briefe waren aber wohl sämtlich untergeschoben. In
den späteren Berichten wird dann das Wohnen im Fasse zu
einer ständigen Gewohnheit verallgemeinert (Juvenal Sat.
14, 309; Orig. c. Gels. IL 7, 3; Diogenian IV. 38). Diog.
Laörtios (VI. 43) berichtet als einen besonderen Beweis
seiner Beliebtheit bei den Athenern, dafs, als ein böser
Bube sein Fafs zerschlagen habe, diesem eine Tracht Prügel
verabreicht, Diogenes aber von Staats wegen mit einem
neuen Fasse versehen worden sei, und Lucian weifs sogar
zu berichten, dafs er, um sich Bewegung zu machen, das
Fafs öfter hin und her gerollt habe. In Wahrheit mag er
vielleicht einmal zeitweilig in einem Fasse Obdach gesucht
haben, obwohl selbst dies leicht von einem beliebigen obdach-
losen Bettler auf ihn übertragen werden konnte. Das,
worauf es bei der ganzen Frage eigentlich ankommt, ist der
Verzicht auf ein eigenes Obdach.
Gemäfs der schon bei Antisthenes auftretenden Vor-
stellung vom Berufe des Kynikers ist er nun ferner Arzt
und Heiland, ein Hund, der die Freunde beifst, um sie zu
retten (Stob. Flor. 13, 25, 27). Der anscheinend schon bei
Antisthenes vorkommende Gedanke, dafs der Kyniker ein
göttlicher Bote und Mahner zum wahren Heile ist, kommt
bei Diogenes nur indirekt dadurch zum Ausdruck, dafs er
die Freimütigkeit das Schönste am Menschen nennt (D. L.
69) und demgemäfs mit grofser Derbheit namentlich den
Luxus und die Sinnenlust als die Quelle eingebildeter Be-
dürfnisse geifselt. So sagt er zu dem Reichen, der sich
von seinem Sklaven die Schuhe anziehen läfst, er werde
nicht glücklich sein, wenn er sich nicht auch noch vom
Sklaven schneuzen lasse (D. L. 44). In demselben Sinne
verfolgt er mit scharfem Tadel alles, was der Prostitution
dient, der männlichen sowohl wie der weiblichen (D. L. 46,
53 f., 59, 68, 60 f.). Er sagt auch, er nehme, wie ein guter
Chorlehrer, den Ton etwas höher, als die Sänger einzu-
setzen hätten (ib. 49).
Diese Freimütigkeit ist denn offenbar der Anlafs ge-
worden, dafs die Überlieferung aus ihm eine Art antiken
Eulenspiegels gemacht und alle möglichen, mit seinem Prinzip
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—323). 45^
durchaus nicht zusammenhängenden Witze und Derbheiten
auf sein Konto gesetzt hat. Eine blofse Eulenspiegelei ist
z. B. eine Anekdote, die schon in den „Chrien" seine»
Enkelschülers Metrokies (um 300) gestanden hat. Unter
„Chrien** verstand man bezeichnende Handlungen bekannter
Personen, meist mit hinzutretender pointierter Äufserung.
Auch in einer Chriensammlung des Stoikers Hekaton
(um 100 vor Chr.) kam Diogenes vor (D. L. 32). In den
späteren Rhetorenschulen wurde diese Art von Anekdoten
mit Vorliebe als Themata für Stilübungen benutzt. Metrokies
also berichtete, Diogenes sei einst halbrasiert in ein Trink-
gelage junger Leute eingetreten und dort jämmerlich durch-
geprügelt worden. Hierfür habe er sich in der Weise ge-
rächt, dafs er die Namen der Schläger auf eine grofse
weifse Tafel schrieb und diese umhertrug (D. L. 23). Ähn-
licher Art ist, dafs er sich statt des Haupthaares die Füfse
salbt, damit der Duft nicht unnütz verfliege, sondern in die
Nase gelange (ib. 39). Ein Beispiel der zahlreichen blofsen
Witze, die sich an ihn hefteten: Einer, der einen Balken
trägt, stöfst ihn damit und sagt nachher: Achtung! Dio-
genes fragt hierauf nach der einen Version: „Willst du
mich noch einmal stofsenV" Nach der anderen schlägt er
ihn mit dem Stocke und ruft dann ebenfalls nachträglich:
„Achtung!" (D. L. 41, 66). Ein paar Beispiele der ihm nach-
erzählten Derbheiten: Er bittet einen mürrischen Menschen
um etwas. Dieser sagt: „Wenn du mich überreden kannst."
Diogenes : „Wenn ich dich überreden könnte, hätte ich dich
längst überredet, dich aufzuhängen" (ib. 59). Bei einem
Gastmahl werden ihm wie einem Hunde die Knochen zu-
geworfen. Diogenes acceptiert die Auffassung als Hund^
indem er die Gewohnheiten des Hundes hinsichtlich des
Urinlassens an den Kleidern jener nachahmt (ib. 46).
Wenn wir uns nun von diesen Auswüchsen der Diogenes-
legende seiner eigentlichen Gedankenwelt zuwenden, so tritt
zunächst hervor, dafs Diogenes seiner eigenen Auffassung
nach durchaus Philosoph ist und die Lebensauffassung, die
er selbst vertritt, und für die er andere gewinnen will, als
Philosophie betrachtet (D. L. 63, 64, 65). Er mufs ein
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460 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
2usaiiimenhängeDdes Gedankensystem besessen haben, das,
«ei es von ihm selbst, sei es von einem seiner Anhänger,
auch in Schriften niedergelegt worden ist. Zwar vergleicht
•er Schriften geringschätzig mit gemalten Feigen (D. L. 48),
aber es sind inmitten des Anekdotenwustes bei Diogenes
Laertios wenigstens einige Bruchstücke einer zusammen-
hängenden Darstellung seiner Lehre erhalten (70 f. , 38, 44,
24), die auf wohldurchdachten Überzeugungen beruhen und
aus Schriften geschöpft sein müssen.
Von Schriften nun wurden ihm beigelegt; 13 Dialoge
und 7 Tragödien, aufserdem Chrien und Briefe (D. L. 80).
Die unter seinem Namen erhaltenen Briefe sind, wie bemerkt,
offenbar gefälscht. Dafs Diogenes selbst Chrien aufgezeichnet
haben sollte, ist widersinnig. Die Tragödien werden teils
seinem Schüler Philiskos, teils dem gewerbsmäfsigen Erz-
fälscher Pasiphon beigelegt, der den Sammeleifer der alexan-
drinischen Bibliothek durch Unterschiebung von Schriften
für seinen Geldbeutel nutzbar zu machen suchte (ib. 73, 80).
Über die Dialoge läfst sich nichts sagen, doch scheint es,
dafs wenigstens in einem Teile derselben seine wirklichen
Gedanken wiedergegeben waren. Für die Echtheit eines
Dialogs über den Staat liegt das Zeugnis des Stoikers
Kleanthes um 270 vor Chr. vor (Vol. Herc. VIII. 13);
von den Tragödien wurden mehrere von dem Epikureer
Philodem um 50 vor Chr. für echt gehalten (Gomperz,
Ztschr. f. öst. Gymn. 1878).
Ablehnend verhält sich Diogenes gegen die übrigen
Philosophenschulen in Athen. Den Unterricht Pia tos
nennt er in einem boshaften Wortspiel ein Zu-Grunde-
richten (D. L. 24), und der schon bei Antisthenes berichtete
Gegensatz in bezug auf die Ideenlehre wiederholt sich hier
in der Form, dafs Diogenes erklärt, zwar Tische und Becher,
aber keine Tischheit und Becherheit zu sehen, worauf Plato
auch hier erwidert, dafs ihm das dazu erforderliche intellek-
tuelle Sehvermögen fehle (ib. 53). Im übrigen bewegen sich
<lie Konflikte mit Plato durchaus auf dem praktischen Ge-
biete. Plato hat zum Empfange auswärtiger Gäste sein
Haus mit prächtigen Teppichen belegt. „Ich trete auf den
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—823). 461
Dünkel Piatos," sagt Diogenes. „Mit einer anderen Art
von Dünkel," erwidert Plato (ib. 26). Plato bezeichnet ihn
in höchst treffender und lehrreicher Weise als einen rasend
gewordenen Sokrates (ib. 54; Ael. V. H. VIV. 33) und
deutet gewifs zutreffend auf die in seinem Verhalten liegende
Ostentation hin, wenn er die Leute, die den im strömenden
Regen dastehenden Diogenes bemitleiden, auffordert, dies
wenigstens nicht vor jenes Ohren zu tun (D. L. 41). Andern-
teils spöttelt Diogenes über den Besuch Piatos am üppigen
Hofe von Syrakus (D. L. 25; Ael. V. H. XIV. 33).
Die Schule Euklids vonMegara erscheint ihm nicht
als eine Schule (scholl), sondern als eine Galle (chol6). A1&
einer dieser Dialektiker beweist, es gebe keine Bewegung,
steht er auf und geht umher, und als einer derselben an
ihm den Beweis probiert, dafs er Homer habe (wovon
später) , fafst er sich an die Stirn und erklärt , er bemerke
da nichts (D. L. 38 f.).
Auch mit Aristoteles, der von 366— 347 und später
wieder von 335 an in Athen weilte, wird wenigstens eine
Begegnung berichtet. Diogenes überreicht Aristoteles eine
Feige. Dieser merkt, dafs Diogenes die Nichtannahme er-
wartet und sich für diesen Fall eine beifsende Antwort
(eine.Chrie) ausgesonnen hat, nimmt die Feige und sagt:
„Du hast deine Feige und deine Chrie verloren" (D. L. V, 18).
Die Geometrie, die Astronomie und die Musikwissenschaft
verachtete er als nutzlos (D. L, 73). Die Astronomen sehen
nach Sonne und Mond und übersehen das Nächstliegende
(ib. 27). Der Zuversichtlichkeit, mit der ein Astronom seine
Theorien vorträgt, setzt er die Frage entgegen: „Seit wann
bist zu vom Himmel zurückgekommen?" (ib. 39). Der
Musiker weifs die Saiten der Leier harmonisch zu spannen,
die Regungen •der eigenen Seele aber nicht in Harmonie zu
bringen (27). Und gegen die Musiker parodiert er eine
Stelle des Euripides:
Durch Einsicht hält man Haus und Staat in gutem Stand,
Nicht durch das Zirpen und GeträUer eurer Melodien
(ib. 104).
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462 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleinereu sokratisch. Schulen etc.
Als ihm einer eine Uhr vorzeigt (mutmafslich eine
Wasseruhr), findet er das Ding vortrefflich, um die Stunde
des Mittagessens nicht zu verpassen (ib. 104).
Dennoch ist Diogenes Freund der Bildung. Er preist
sie als die Tugend der Jungen, den Trost der Alten, den
Reichtum der Armen und den Schmuck der Reichen (ib. 68)
und erklärt den Ungebildeten für die gröfste Last der Erde
(Meli. Fr. 60). Aber die Bildung bezieht sich bei ihm, wie
bei den Kynikern überhaupt (ib. 103), nur auf die richtige
Regelung des Lebens, auf das Ethische. In Beziehung auf
die Lebensregelung aber ist auch er zunächst strenger
Intellektualist. Das Wort „Vernunft oder einen Strick"
führte er beständig im Munde (ib. 24). Nur die Philosophie
kann zu einem glücklichen Leben führen (ib. 65). Die Ver-
wirklichung desselben ist möglich. Nicht das Leben an sich
ist ein Übel, sondern das verkehrte Leben (ib. 55). Er soll
oft laut ausgerufen haben: „Die Götter haben den Menschen
ein leichtes Leben verliehen, diese Einsicht aber ist für sie
verloren, da sie nach Leckerbissen, Salben u. dgl. trachten"
(ib. 44).
Das letzte zu Erstrebende ist, wie wir schon gehört
haben, die Freiheit. Von ihr aus ergibt sich die Umprägung
der Lebensführung mit dem Stempel der Natur statt des
Herkommens. Vorbild ist Herakles (ib. 71). Die drei
Feinde der Glückseligkeit sind das Schicksal, das Her-
kommen und die eigenen Affekte und Begehrungen. Dem
Schicksal mufs man Mut entgegensetzen, dem Herkommen
die Natur, den Gemütsbewegungen die Vernunft (ib. 38).
Aber der Mut gegenüber dem Schicksal entspringt nicht
aus blofser animalischer Kraft, sondern aus dem Denken.
Auf die Frage, was ihm die Philosophie genützt habe, ant-
wortet er: Wenn nichts anderes, so wenigstens das, jedem
Schicksal gewachsen zu sein (ib. 63). So ist ihm die Armut
kein Übel, weil sie kein Verbrechen ist (Stob. Flor. 95, 12),
der Tod nicht, weil man ihn nicht fühlt (D. L. 68). Er
legt dem Schicksal die Worte in den Mund: „Diesem
wütenden Hunde kann ich nichts anhaben" (Stob. Ecl. IL
348; Anspielung auf einen Homervers II. 8, 299). Er geht
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—323). 463
aber, wie Antisthenes, über die blofse Standhaftigkeit dem
Schicksal gegenüber weit hinaus. Auch hier übt er das
Geschäft der Umprägung; das Mifsgeschick ist ein Segen.
Als ihn etwas Schlimmes betrifft, sagt er; „Bravo, Schicksal,
dafs du mir so mannhaft zur Seite stehst!" (Stob. Flor.
108, 71). Armut ist eine in der Torm der Selbstbelehrung
(autodidaktisch) wirkende Hilfe zur „Philosophie" ; was diese
durch Worte zu bewirken sucht, das bringt die Armut
durch Werke fertig (Stob. Flor. 95, 11, 99). Und um-
gekehrt sind edle Geburt, Ruhm u. dergl. vermeintliche
Güter nicht nur wertlos, sondern geradezu verderblich (D.
L. 72). Der Schmeichler ist ihm von den zahmen Tieren
das schädlichste (D. L. 51). Auch er betont den Wert der
Feinde (Plut., Nutzen der Feinde p. 332). Die Herab-
würdigung ist „ein fremdes Gut", d. h. ein Gut, das dem
Herabgewürdigten zu gute kommt (Meli. Fr. 32 f.). So
kann er die ihn treffenden Unannehmlichkeiten des Lebens
mit dem überlegenen Humor behandeln, der in zahlreichen
Anekdoten seinen Ausdruck findet.
Ähnlich ist es mit den Begierden. Die Geldgier ist
„die Mutterstadt aller Übel" (D. L. 50). Liebe ist eine
Beschäftigung für Mtifsige (ib. 51), ja, ein um der Lust
willen erstrebtes Unheil (ib. 67). Die Ehe verwirft er. Die
Jungen sollen niemals heiraten, die Alten nie und nimmer
(ib. 54). Als dezidierten Weiberfeind zeigt ihn die Anek-
dote, nach der er beim Anblick einiger an einem Baume
erhängter Weiber sagt: „Möchten doch alle Bäume solche
Früchte tragen!" (ib. 54). Generell wird auch ihm, wie
dem Antisthenes, die affektlose Gelassenheit nachgerühmt
(D. L. 15).
Wie Antisthenes scheint auch Diogenes eine Art Gottes-
glauben festgehalten zu haben, der jedoch bei der dem
Kyniker fehlenden Hilfsbedürftigkeit kein eigentlich religiöses
Leben auslöst und mit Gleichgültigkeit gegen die Volkskulte
gepaart ist. Zwar geht er der direkten Antwort eines un-
berufenen Fragers, ob er an Götter glaube, durch die Grob-
heit aus dem Wege: „Natürlich, da ich dich als einen
Gottverhafsten betrachte" (D. L. 43). Die Bemerkung „Alles
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4G4 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
ist voll von der Gottheit" (ib. 37) steht in einem Zusammen-
hange, nach dem sie nicht besonders ernstlich genommen
werden kann. Er verweist nämlich damit einer Frau die
anstöfsige Art, wie sie sich vor einem Götterbilde nieder-
geworfen hat. Die Gottheit sei auch hinter ihr. Gegen
eine waltende Vorsehung soll er das Treiben der Tyrannen
und überhaupt das Gedeihen der Bösen geltend gemacht
haben (Cic. N. D. III. 83, 88). Mit dem schärfsten Hohne
verfolgt er die anmafsende Lehre der eleusinischen Orakel-
priester, dafs der erste beste Eingeweihte auf den Inseln
der Seligen wohnen, ein Epaminondas oder Agesilaos da-
gegen im Hades im Kote liegen wird (D. L. 34). Wenn
er Steuerleute, Ärzte und Philosophen sieht, hält er den
Menschen für das gescheiteste von allen Geschöpfen, wenn
aber Traumdeuter und Seher und ihren Anhang oder Leute,
die sich auf Ehre und Reichtum etwas einbilden, für das
törichteste (ib. 24). Träume sind weiter nichts als Phantasie-
gebilde des Schlafes; viel wichtiger ist es, sich um das zu
kümmern, was man wachend treibt (ib. 43).
Einen genaueren Bericht als über seine Lehre von der
Regelung des Lebens durch Vernunft besitzen wir über den
Teil seiner Lebensphilosophie, der von der Übung handelt.
Auf diese scheint er ein besonderes Gewicht gelegt zu haben.
Nichts kann ohne Übung zu stände gebracht werden; diese
aber überwindet alle Schwierigkeiten. Beim Handwerker,
beim Athleten, beim Flötenbläser hängt alles von dem auf-
gewandten Mafse von Übung ab. So auch bei der wahren
Lebensführung. Es gibt eine leibliche und eine seelische
Übung. Letztere besteht in der Befestigung und Geläufig-
machung der einschlagenden Vorstellungen. Beide Arten
der Übung müssen Hand in Hand gehen. Die Verachtung
der Sinnenlust wird durch Gewöhnung geradezu selbst zu
einem höchst angenehmen Zustande, den zu entbehren
schliefslich ein ebenso grofses Opfer ist wie für den Diener
der Lüste die Entbehrung der gewohnten Genüsse (D.L.70f.).
Auch bei Diogenes finden sich noch einige Spuren, dafs
er für die dem kynischen Ideal Entsprechenden die Be-
zeichnung als „Schöne und Gute" beibehielt (D. L. 27;
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca, 410—823). 465
Stob. Flor. IV. 112; Mull. Fr. 261). Vornehmlich aber sind
ihm diese, wie sich in zahlreichen Wendungen wider-
spiegelt, die wahren Menschen. Dies ist der Sinn der
allbekannten symbolischen Handlung, dafs er bei hellem
Tage mit der Laterne Menschen sucht (D. L. 41). In dem-
selben Sinne ruft er einst Menschen herbei, fährt dann
aber, als viele zusammenströmen, mit dem Stocke dazwischen
und ruft: „Menschen habe ich gerufen, nicht Kehricht!"
(ib. 33). Er will es daher nicht gelten lassen, dafs die
Sieger in den gymnastischen Spielen sich rühmen, Men-
schen besiegt zu haben. Sklaven haben sie besiegt (ib.
43, 33). Die beim Austritt aus einem Bade oder bei der
Rückkehr aus Olympia an ihn gerichtete Frage, ob er dort
viele Menschen angetroffen habe, verneint er, und erst
auf die Frage, ob viel Volks dort sei, erteilt er eine be-
jahende Antwort (ib. 40, 60). Ein Dialektiker appliziert
ihm folgenden läppischen Fangschlufs: „Was ich bin, bist
du nicht. Ich bin ein Mensch, also bist du keiner," Dio-
genes aber sagt: „Falsch! Bei mir mufst du anfangen.
Ich bin ein Mensch, also bist du keiner (Gell. N. A. 18,
13 f.). In etwa hiermit verwandt sind auch seine Urteile
über Sparta. Männer hat er nirgends gesehen, Knaben
aber in Lakedaimon (D. L. 27). Und von Sparta nach
Athen zurückkehrend sagt er, er komme aus dem Männer-
gemach ins Frauengemach (ib. 59). Eben deshalb ist ihm
selbst ein Sokrates noch ein üppiger Schwelger, weil er ein
Häuschen und ein Bett hat und bisweilen Schuhe anzieht
(Ael. V. H. 4, 11), und er erklärt ihn — offenbar wegen
dieser mangelnden Entschiedenheit — geradezu für verrückt
(D. L. 54).
In seltsamer Weise scheinen in einigen der ihm bei-
gelegten Tragödien, sowie vielleicht auch in einem der ihm
zugeschriebenen Dialoge zur Sittenlehre einige ethische
Fragen behandelt worden zu sein. Unter ausdrücklicher
Berufung auf die Tragödie „Thyestes" wird ihm die Recht-
fertigung des Genusses von Menschenfleisch beigelegt. Dieser
komme bei manchen Völkern vor ; in den Speisen, mit denen
wir unseren Körper nähren, seien ja schon die gleichen
Döring. I. 80
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466 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
Bestandteile enthalten wie im Menschenfleisch (D. L. 73;
Philodem, s. Gomperz, Ztschr. f. öst. Gymn. 1878). Nun
wird in der Sage dem Thyestes von seinem Bruder Altreus
das Fleisch seiner eigenen Kinder zum Mahle vorgesetzt.
Offenbar wurden also in dieser Tragödie im Anschlufs an
die von der Sage dargebotene Situation diese Recht-
fertigungsgründe vorgetragen. Und in ähnlicher Weise war
vielleicht in der Tragödie „Ödipus" der geschlechtliche
Verkehr mit der eigenen Mutter als etwas nicht der Natur
Widerstreitendes verteidigt worden (Dio Chrys. X. p. 305).
Eine ethisch - lehrhafte Tendenz scheint auch die Tragödie
„Medea"* gehabt zu haben. Anknüpfend an den Zug der
Sage, dafs Medea sich die Kunst beilegt, Alte zu verjüngen,
wurde sie in dieser Dichtung als Vertreterin der wahren
Weisheit dargestellt, die durch eine abhärtende Lebensweise
die durch Üppigkeit Entnervten stählt und verjüngt (Stob.
Flor. 29, 92). Ähnliche moralisierende Tendenzen werden
wohl auch die übrigen „Tragödien" verfolgt haben, doch
fehlt es darüber gänzlich an Nachrichten. Endlich soll er
auch die Aneignung von Tempelgut als nicht verwerflich
vertreten haben. Es ist nicht bekannt, in welchem Zusammen-
hange und mit welchen Einschränkungen diese radikalen
Lehren in diesen Schriften verteidigt wurden. Vielleicht
handelte es sich dabei nur um einen Angriff auf das nicht
von der Natur, sondern nur durch das Herkommen Geheiligte
in paradoxer Zuspitzung.
Neben dieser Isolierung des sich selbst genügenden
Individuums scheint aber Diogenes ebenso wie Antisthenes
doch auch wieder das Ideal eines Staates in seinem Sinne
entworfen zu haben. Unter den ihm zugeschriebenen Dia-
logen befand sich einer, betitelt „Der Staat", und auch ein
Teil der ihm beigelegten Tragödien mufs die gleichen
Probleme behandelt haben (D. L. 73). Der ihm vor-
schwebende Staat ist ein Weltstaat, ein Menschheitsstaat
(D. L. 72), und er selbst ist als Weltbürger (Kosmopolit)
ein prophetischer Bürger dieser besseren Zukunft (ib. 63).
In diesem Weltstaat ist der Zwang der Ehe aufgehoben;
die Kinder gehören der Gesamtheit an (ib. 72; VII. 131).
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—323). 467
Weiteres erfahren wir über die Einrichtungen dieses Welt-
staats nicht. Bezeichnend aber ist es, dafs, noch ehe
Alexander darangeht, praktisch die engen Grenzen der
griechischen Stadtstaaten und selbst der Nationalität zu
durchbrechen und den christlichen Menschheitsgedanken
vorzubereiten, dieser vorurteilsfreie Denker, dem auch das
Vaterland kein unentbehrliches Gut war, theoretisch den
gleichen Gedanken zur Geltung gebracht hat. Im Zusammen-
hange mit seinem Staatsideal steht wohl der Vorschlag einer
Münze aus Knöcheln (Athen. 4, 159; Philodem 6; Gomperz
a. a. 0.), durch den er wohl der unheimlichen Macht des
Geldes über die Gemüter der Menschen entgegentreten
wollte. Freilich ohne die entfernteste Ahnung von der
volkswirtschaftlichen Bedeutung des Geldes, denn diese
Mafsregel, die in einem gegen die ganze übrige Welt ab-
gesperrten beschränkten Staatsgebilde einen Sinn gehabt
hätte, pafste zum Weltstaat wie die Faust aufs Auge. Für
den Staat, wie er ist, scheint er jedenfalls Gesetze für not-
wendig zu halten (D. L. 72).
Mit dem Gedanken des Weltstaates hängt auch noch
ein merkwürdiger Ausspruch über die Sklaverei zusammen.
Das griechische Wort für Sklave (andräpodon) legt er so
aus, es sei ein Wesen, das menschliche Füfse (ändrön pödas),
aber auch eine menschliche Seele habe (D. L. 67). Also
auch der Sklaverei gegenüber ist er vorurteilsfrei!
Diogenes Laertios rühmt unserem Kyniker eine ganz
unwiderstehliche Gabe zu überzeugen nach und führt als
Beweis dafür folgende Geschichte an. In Ägina lebte
Onesikritos. Dieser sendet einen seiner Söhne nach
Athen. Dieser hört Diogenes und kann sich nicht mehr
von ihm trennen. Jener sendet seinen älteren Sohn Phi-
liskos, um den Bruder zurückzuholen. Aber auch dieser
wird gefesselt. Nun geht er selbst, wird aber ebenfalls von
Diogenes gewonnen (D. L. 75). Hier ist nun freilich eine
Schwierigkeit in der Zeitrechnung. Onesikritos wird an
anderer Stelle als Verfasser von Schriften über Alexanders
Erziehung und Taten und als Teilnehmer am Alexanderzuge
genannt (D. L. 84). Nach Lucian (Peregr. Pr. c. 25)
30*
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468 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
diente er unter Alexander als Schiifskapitän und hat in
seiner Schrift unter anderem über die Selbstverbrennung
eines Brahmanen in Indien berichtet (vergl. Strabo 15, 716).
Sein Zusammensein mit Diogenes in Athen mttfste danach
vor dem Alexanderzuge stattgefunden haben, zumal Diogenes
beim Beginne desselben, wie sogleich zu zeigen, wahrschein-
lich in Korinth lebte, und es müfste femer wegen der Teil-
nahme an dem Eriegszuge angenommen werden, dafs seine
Annäherung an Diogenes nur vorübergehend war. Philiskos
dagegen mufs sich dauernd an Diogenes angeschlossen haben,
da ihm sogar die Abfassung der sieben Tragödien zuge-
schrieben wurde (D. L. 73, 80). Auch sonst wird er als
Dichter erwähnt (Plut. Timol. 15).
Die Schicksale seiner letzten Lebensjahr-
zehnte werden uns geradezu in der Einkleidung eines
spannenden Bomans dargeboten. Zwei Männer, der Kyniker
Menippos, Urenkelschüler des Diogenes, und ein gewisser,
sonst nicht bekannter Eubulos, hatten beide einen „Ver-
kauf des Diogenes" geschrieben (D. L. 29 f.). Mutmafslich
war in diesen beiden Schriften die ganze letzte Lebenszeit
des Diogenes in phantastischer Ausschmückung dargestellt.
Wir können uns die Hauptstücke dieser Dichtung aus ver-
schiedenen Quellen wieder zusammenlesen. Diese geben
allerdings nur teilweise an, was der Erfindungsgabe des
einen und des anderen dieser beiden Schriftsteller zu ver-
danken ist.
Auf einer Fahrt nach Ägina wird er mit den sämtlichen
Passagieren von Seeräubern gefangen genommen und nach
Kreta auf den Sklavenmarkt gebracht (D. L. 74). Unter-
wegs beredet er die Seeräuber, die ihre Gefangenen sehr
schlecht verköstigen, durch die Vorstellung, dafs .man doch
auch das Vieh vor dem Verkauf ordentlich füttere, ihm
bessere Kost zukommen zu lassen. Er gibt seinen Unglücks-
gefährten davon ab und bestimmt einen besonders Betrübten
noch überdies durch die Worte Nestors an die „betränte
Hekuba", dafs auch Niobe in ihrem Leid des Essens nicht
vergessen habe (II. 24, 602), zum Zulangen (Philo Jud.
Omnem lib. prob. p. 883). Beim Verkauf soll er stehen; er
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—328). 469
meint aber, die Fische fänden doch auch ihren Käufer, ob-
schon sie liegen. Er findet es lächerlich, dafs man Ton-
gefäfse vor dem Ankauf durch Betasten und Anschlagen
prüfe, beim Menschen sich aber mit dem blofsen Anblick
begnüge (D. L. 29 nach Menippos). Auf die Frage, was er
verstände, sagt er, über Menschen zu herrschen, und fordert
den Ausrufer auf, auszurufen, ob sich vielleicht jemand einen
Herrn kaufen wolle (ib. u. Stob. Flor. 3, 63). Einen weich-
lich aussehenden Käufer verscheucht er durch die Auf-
forderung, er möge ihn kaufen, er scheine ihm einen Mann
nötig zu haben, durch welche Keckheit denn auch die anderen
abgeschreckt werden (Philo a. a. 0.). Nach der Parallel-
erzählung ist der Weichling, den er wie vorstehend anredet,
der Korinther Xeniades, der ihn hier jedoch kauft und nach
Korinth bringt (D. L. 74). Diesem macht er nun be-
greiflich, dafs er ihm gehorchen müsse. Der Fall liege
ebenso, wie wenn er sich einen Arzt gekauft hätte (ib. 36).
Xeniades überträgt ihm das ganze Hauswesen und macht
ihn zum Erzieher seiner Söhne. Er findet bald, dafs ein
guter Dämon in sein Haus eingezogen sei (ib. 74). Nach
dem Bericht des Kynikers Kleomenes, eines Zeitgenossen
und Mitschülers des Menippos (D. L. 95), verweigert Diogenes
den von seinen Anhängern ihm angebotenen Loskauf. Auch
die Löwen seien nicht Sklaven ihrer Ernährer, sondern um-
gekehrt (D. L. 75). Die Erziehung der Knaben nimmt er
ganz allein in die Hand. In kynischer Tracht, barfufs, bei
einfachster Kost und Wasser zieht er sie auf und härtet
sie durch Leibesübungen ab. Zu bescheidener Haltung in
der Öffentlichkeit, ohne vorlautes Wesen, gewöhnt er sie.
Die erforderlichen Kenntnisse bringt er ihnen in kürzester
und behältlichster Formulierung bei; Stellen aus Dichtern
und Schriftstellern, auch aus seinen eigenen Schriften, läfst
er sie auswendig lernen. Die Knaben sind ihm anhängliche
und dankbare Zöglinge und seine besten Fürsprecher bei
den Eltern. Er bleibt bis zum Tode im Hause des Xeniades ;
die Söhne bereiten ihm die Bestattung (D. L. 30 f. nach
Eubulos). Die Bedeutung, die er der Erziehung beilegt,
tritt auch in der Anekdote hervor, dafs er wegen des un-
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470 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
gezogenen Verhaltens eines Knaben dessen Erzieher prügelt
(Meli. Fr. 255).
An diese Xeniadesgeschichte schliefst sich auch die Be-
kehrung des Moni mos zum Kynismus an, wie sie von
einem gewissen Sosikrates um 100 vor Chr. berichtet
wurde (D. L. 82). Monimos aus Syrakus ist nach dieser
Erzählung Sklave eines Freundes des Xeniades. Er hört
letzteren häufig im Hause seines Herrn die Vorzüge des
Diogenes rühmen. Er stellt sich wahnsinnig, so dafs sein
Herr ihn wegjagt und er nun mit Diogenes in Verkehr
treten kann. So wird dieser ehemalige Sklave ein wegen
seines Ernstes und seiner lauteren Wahrheitsliebe hoch-
angesehener Kyniker (D. L. 82 f.). Mehrere Schriften,
darunter auch eine humoristische, werden von ihm erwähnt
(ib.). Der geistvolle und philosophisch gebildete Komiker
Menander (um 300) schildert in einer erhaltenen Stelle
(ib.) seine kynische Tracht und Lebensweise und legt ihm
den Satz bei, alle unsere Vorstellungen seien Hlusionen
(typhos). Es kann wohl kaum zweifelhaft sein, dafs hier
lediglich die Vorstellungen vom Werte der Scheingüter für
unsere Glückseligkeit gemeint sind, und dafs uns hier
Monimos als Vertreter der schon bei Antisthenes besprochenen
Illusionslosigkeit (atyphfa) bezeugt wird. Es ist daher offen-
bar nur ein Mifsverständnis , wenn ihm bei Sextus Em-
pirie us (Dogm. I. 48, 88; II. 5) in theoretischem Sinne
die Lehre beigelegt wird, alle unsere Vorstellungen seien
nur Illusionen, das ganze Leben ein Bühnenspiel, ein Traum,
eine Wahnvorstellung.
Historisch ist hier vielleicht der Aufenthalt in Korinth
in der letzten Lebenszeit, doch wäre es müfsig, über Zeit
und wirkliche Veranlassung der Übersiedelung dorthin etwas
feststellen zu wollen. Neben den Sklavendienst im Hause
des Xeniades tritt nun für den korinthischen Aufenthalt
eine ganz andere Version, nach der er auch in Korinth die
gewohnte obdachlose Lebensweise an öffentlichen Orten fort-
setzt. An diese Version schliefst sich dann weiter die be-
rühmte Begegnung mit Alexander an, die schon von Cicero
(Tusc. V. 92) kurz erwähnt wird. Plutarch im „Leben
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—828). 471
Alexanders** (c. 14) erzählt sie folgeodermarsen. Der junge,
21jährige Alexander ist zu einer grofsen Versammlung der
Hellenen auf dem Isthmus im Jahre 335, die den Krieg
gegen Persien unter seiner Führung beschliefst, persönlich
erschienen. Alles drängt sich an ihn heran, auch Philo-
sophen der verschiedensten Richtungen. Nur der im nahen
Korinth weilende Diogenes bleibt entgegen der Erwartung
und dem Wunsche Alexanders aus. Dieser sucht ihn daher
in seinem Standquartiere in einem Gymnasien in dem vor
den Toren der Stadt gelegenen Cypressenhain Kraneion
(Pausan. II. 2, 4; D. L. 77) persönlich auf. Diogenes, der
sich gerade sonnt, antwortet auf die Frage des Königs, ob
er einen Wunsch habe, er möge ihm etwas aus der Sonne
gehen. Das Gefolge Alexanders findet diese Antwort höchst
lächerlich, Alexander aber, voll Staunen über diese Seelen-
gröfse, sagt: Wenn ich nicht Alexander wäre, möchte ich
Diogenes sein. In seiner Rede über Alexanders Glück
kommt Plutarch auf diese Geschichte zurück und fügt noch
hinzu, der erschütternde Eindruck dieser Begegnung sei bei
Alexander ein nachhaltiger gewesen, so dafs er noch oft des
Diogenes gedacht und den vorstehenden Wunsch wiederholt
habe (c. 10, vergl. D. L. 32 u. 38).
Dieses Gegenübertreten des Welteroberers und Welt-
überwinders hat auch noch verschiedene andere, recht ab-
surde Anekdoten hervorgetrieben (D. L. 60, 68). Vielleicht
ist aus dem Reiz dieses Kontrastes auch die Angabe ent-
sprungen, dafs beide auf einen Tag gestorben seien. Diese
Angabe findet sich zuerst bei Demetrios von Magnesia um
Christi Geburt (D. L. 79) ; auch Plutarch erwähnt sie (Symp.
VIII. 4).
Ein Seitenstück zu dieser Begegnung mit Alexander
ist die mit Dionysios dem Jüngeren, dem Tyrannen
von Syrakus, der seit seiner Vertreibung (343) in Korinth
lebte. Diogenes sagt zu ihm: Wie unverdient ist dein Ge-
schick! Dionysios dankt ihm für seine Teilnahme, Diogenes
aber sagt, so sei es nicht gemeint; unverdient sei sein
Glück, dafs er, anstatt das Mifsgeschick des Tyrannentums,
in Wahrheit ein Sklave, bis zu seinem Ende erdulden zu
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472 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
müssen, in Korinth in behaglicher Sicherheit seine Tage
hinbringe (Plut. Timol. 15; num. seni. c. 1).
Auch um den Tod des Diogenes schlingt sich wieder
ein üppiger Kranz teils pietätvoller Legenden, teils auf
Herabwürdigung zielender Erdichtungen. Diese Gruppe von
Zügen beginnt mit seinen angeblichen Antworten auf die
Frage, wie er bestattet sein wolle. Wenn wir dabei von
einer ziemlich törichten Erfindung absehen, die dem „Ver-
kauf" des Eubulos angehört (D. L. 31 f.), finden sich hier
zwei recht sinnige Versionen, die den fortgesetzten Aufenthalt
an öffentlichen Orten zur Voraussetzung haben. Nach der
einen sagt er, man solle seinen Leichnam unbeerdigt hin-
werfen. Also den Raubvögeln und wilden Tieren zur Beute?
Durchaus nicht! Legt einen Stock neben mich, damit ich
sie verscheuchen kann. — Das kannst du ja nicht , da du
es als Toter nicht merkst! — Nun, dann kann mir auch
der Bifs der Tiere nicht mehr schaden (Cic. Tusc. I. 104).
Nach der anderen sollte man ihn so hinwerfen, dafs er
„seinen Brüdern" noch nützen könne (D. L. 79; Ael. V. H.
8, 14). Offenbar versteht er unter „seinen Brüdern" die
Hunde.
Ebenso rankt sich dann um den Tod selbst eine Mannig-
faltigkeit teils gehässiger, teils pietätvoller Versionen (D.
L. 76 f.). Es wird genügen, die einfachste und wahrschein-
lichste mitzuteilen. Eines Morgens finden den annähernd
Neunzigjährigen seine Nachfolger, als sie ihn, ihrer Gewohn-
heit gemäfs, in seinem Standquartier im Kraneion aufsuchen,
in seinen Tribon eingehüllt daliegen. Als sie ihn aufdecken,
ist er tot. Nach den Versen, die der Dichter Kerkidas,
ein jüngerer Zeitgenosse, ihm widmete, und in denen er ihn
einen wahrhaften Diogenes, d. h. einen Sohn des Zeus, und
einen himmlischen Hund nannte (D. L. 76 f.) , war er frei-
willig durch Anhalten des Atems gestorben. Diese Selbst-
tötung in so vorgerückten Jahren stimmt zu der bei Anti-
sthenes berichteten Dolchgeschichte. Nach einer anderen
Erzählung hatte er bei schwerem körperlichem Leiden, das
aber die Fähigkeit, zu reden und zu handeln (auch
hier wieder ein Anklang an den „Schönen und Guten" des
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I. 2. Diogenes von Sinope (ca. 410—323). 473
Sokrates!), nicht aufhob, den Selbstmord verweigert. Dieser
zieme nur dem, der diese Fähigkeiten nicht besitze (Ael. V.
H. X. 11). Zu dieser feineren und echt sokratischen Auf-
fassung des Selbstmordes steht eine Anekdote aus seiner
athenischen Zeit in Widerspruch. Diogenes begegnet dem
gelähmten und auf einer Bahre getragenen Speusippos,
dem Nachfolger Piatos (347—339). Speusippos grüfst ihn
mit dem herkömmlichen „Freue dich!" Diogenes erwidert:
„Aber nicht du, der du es erträgst, in solchem Zustande
weiterzuleben!" Worauf Speusippos: „Wir leben nicht mit
den Beinen, sondern mit der Vernunft" (D. L. IV. 3; Stob.
Flor. 116, 19). Auf seinem Grabe wurde ein Denkstein mit
einem Hunde aus parischem Marmor errichtet (D. L. 78),
den noch um 150 nach Chr. Pausanias sah (II. 2, 4), und
in Sinope setzte man ihm ein ehernes Standbild mit einer
poetischen Inschrift, die ihm wegen des leichten Lebens-
pfades durch Selbstgenügsamkeit, den er gewiesen, ewigen
Nachruhm voraussagt (D. L. 78). —
Das vorstehend entworfene Bild macht keineswegs den
Anspruch auf geschichtliche Zuverlässigkeit. Nach der Be-
schaffenheit der Berichte ist es unmöglich, ein geschichtlich
treues oder auch nur ein einheitliches und widerspruchs-
freies Bild von dieser bedeutenden Gestalt der griechischen
Welt zu entwerfen. Mit einer unerschöpflichen Erfindungs-
gabe wurden die Jahrhunderte hindurch die widersprechend-
sten Ztlge auf ihn gehäuft, von denen ein gutes Teil gewifs
zum „Treppenwitz der Geschichte" gehört. In den nach-
christlichen Jahrhunderten, der Zeit der höchsten Verderbnis
der griechisch-römischen Welt, taucht er bei dem Juden
Philo, bei Epiktet und Dio Chrysostomos als eine leuchtende
Idealgestalt auf, und noch der Kaiser Julian der Abtrünnige
widmet ihm den Zoll höchster Bewunderung. Ganz un-
berechenbar ist die Nachwirkung seiner entschlossenen Welt-
entsagung bis weit in die christliche Welt hinein, ja bis zur
lebendigen Gegenwart. Leider nur ist von Seiten der
Geschichtsforschung noch viel zu wenig geschehen, um für
diese so folgenreich nachwirkende Erscheinung den geschicht-
lichen Kern aus den verunreinigenden Schlacken der Über-
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474 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
lieferung herauszuschälen oder auch nur die Wandlungen
dieser Überlieferung nach allen ihren aufeinanderfolgenden
Gestalten vollständig klarzustellen.
8. Krates von Theben, Metrokies und Hlpparchia.
Der bedeutendste unter den Schülern des Diogenes ist
Krates von Theben. Ihm kommt schon dadurch eine be-
deutende Stellung in der Entwicklung des Kynismus zu,
dafs er den namentlich von Diogenes im mündlichen Ver-
kehr ausgebildeten Witz und Humor, besonders auch dessen
Art, Dichterstellen geistreich anzuwenden und zu paro-
dieren, in die Literatur einführte. Eine noch bedeutendere
Nachwirkung aber hat er dadurch geübt, dafs Zeno, der
Stifter der stoischen Schule, ursprünglich sein Schüler war.
Krates mufs ungefähr um 366 geboren sein (D. L.
VI. 87) und bis in das folgende Jahrhundert hinein gelebt
haben. Er war von Haus aus vermögend (D. L. ib.), aber
häfslich und von solcher Leibesbeschaffenheit, dafs er im
Gymnasien über seinen Eifer in den Leibesübungen verlacht
wurde. Er habe aber dem Trotz geboten und um der
Gesundheit willen sich selbst zum Ausharren in der leib-
lichen Ausbildung ermuntert. Die Spötter würden ihre
eigene Lässigkeit später bereuen und ihn für seinen Eifer
glücklich preisen (D. L. 91). In anderen Stellen wird sein
körperliches Gebrechen in der Weise bezeichnet, dafs er
verwachsen und lahm war (D. L. 92; Julian Orat. VI).
Seine Umwandlung soll durch eine Szene der — nicht
erhaltenen — euripideischen Tragödie Telephos bewirkt
worden sein. Telephos, ein Sohn des Herakles und König
von Mysien, wird durch den Speer des Achilleus verwundet.
Diese Wunde kann nur durch diesen Speer selbst geheilt
werden. Um dieser Heilung teilhaft zu werden, nähert er
sich in Bettlertracht dem Lager vor Troja. Diese Szene:
Telephos in elendem Aufzuge, mit einem Korbe am Arme,
wirkt auf den vielleicht schon durch kynische Vorstellungen
vorbereiteten Krates so verlockend, dafs er sich seiner Habe
entledigt und das kynische Bettlerleben beginnt (D. L. 87).
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I. 8. Krates von Theben, Metrokies und Hipparchia. 475.
Über die Art, wie er sich seines Vermögens entäufserte^
sind verschiedene Versionen vorhanden (D. L. 87 f.). Er
habe sein Geld ins Meer geworfen. Aber Theben liegt nicht
am Meere. Oder er habe es mit der Bestimmung deponiert,
dafs, wenn seine Kinder Philosophen — im kynischen Sinne
— werden würden , es der Bürgerschaft zufallen solle, weil
sie es dann nicht nötig hätten; andernfalls sollte es den
Kindern verbleiben. Aber seine Heirat fällt erst später
und konnte von ihm als angehendem Kyniker nicht einmal
in Aussicht genommen sein.
Bei der Weggabe seines Vermögens soll er den Vers
gebraucht haben:.
Krates beraubt den Krates alles seines Guts (Simpl. zu
Epikt. c. 10), oder:
Krates aus Theben hat den Krates freigemacht (Suid.).
Über seinen Auschlufs an Diogenes wird Genaueres
nicht berichtet (D. L. 85), doch finden wir ihn später in
Athen (ib. 90), und seine Lebensführung ist die einea
Kynikers strengster Observanz. Nach der erhaltenen Stelle
eines Komödiendichters (ib. 87) müfste er sogar im Sommer
einen recht dicken und im Winter einen zerlumpten Mantel
getragen haben. Und nach den „Chrien'' seines Schülers
Zeno machte er sich nichts daraus, seinen Tribon mit einem
Stück Fell zu flicken (ib. 91). Diese „Chrien" waren viel-
leicht dieselbe Schrift, die auch als „Erinnemngen an
Krates" bezeichnet werden (VII. 4). Als Demetrio»
Phalereus, der von 317 bis 307 makedonischer Statthalter
in Athen war, ihm Brote und Wein übersandte, soll er sehr
ungehalten gewesen sein und gesagt haben: „Möchten doch
die Brunnen auch Brot geben!" (ib. 90; Athen. X. 422).
Dies ist eine Überbietung des Ausspruches des Diogenes
vom Magen und zugleich ein Zeugnis, dafs er, auch hierin
den Diogenes überbietend (der den Wein nicht verschmähte»
ib. 54), zu den nur Wasser trinkenden Kynikern gehörte
(ib. 105). Ob er es diesen auch in der völligen Ablehnung
der Fleischkost gleichtat, wird nicht gesagt. Jedenfalls
scheint ihm mit Recht gerade die Enthaltsamkeit als Haupt-
tugend beigelegt zu werden (ib. 14).
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476 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Auch andere Verhaltungsweisen, die Diogenes beigelegt
werden, treibt er auf die Spitze. Diogenes läfst seine
Schüler einen eingesalzenen Fisch oder eine Partie Schaf-
käse über die Strafse tragen, infolge welcher Zumutung
einige ihm abtrtlnnig werden (ib. 36). Erates gibt dem
jungen Zeno einen Topf mit gekochten Linsen zu tragen,
und als dieser den Topf unter dem Mantel verbirgt, schlägt
er ihn mit seinem Stock entzwei (D. L. VII. 3). Diogenes
bettelt eine Bildsäule an, um sich im Ertragen der Erfolg-
losigkeit seiner Bitten zu üben (VI. 49). Krates schimpft
Strafsendirnen , um sich im Ertragen von Schmähungen zu
üben (ib. 90). Auch die Händel und Beibungen mit den
zeitgenössischen Philosophen kehren bei ihm wieder. So mit
Xenokrates, dem Vorsteher der Akademie von 339 —314,
worüber aber Näheres nicht bekannt (Mark Aurel VI. 13).
Nach den „ Erinnerungen ** Zenos las er einem Schuhmacher
in dessen Werkstätte eine Mahnung zur Beschäftigung mit
der Philosophie vor, die von Aristoteles an einen König
von Cypern gerichtet war. Darin waren Reichtum und
Ruhm als Vorbedingungen dieser Beschäftigung gepriesen.
Krates aber meint, er wolle eine solche Mahnschrift für den
Schuhmacher abfassen, den er in allen Stücken für besser
vorbereitet zur Philosophie halte als jenen König von Cypern
(Teles bei Stob. 95, 26). So mehrfach mit dem Dialektiker
Stilpon (D. L. II. 117 f.; VII. 24), dem er unter anderem
auf eine wissenschaftliche Frage mit einer Blähung ant-
wortet, worauf Stilpon : „Ich wufste, dafs du alles eher von
dir geben würdest, als was am Platze ist." So mit Mene-
demos von Eretria, den er wegen eines vermeintlich
unzüchtigen Verhältnisses zu einem Freunde und wegen
seiner politischen Tätigkeit schmäht (VI. 91; II. 131). Ein
bemerkenswertes Zeugnis für seinen Anschlufs auch an das
Staatsideal des Diogenes liegt in der Anekdote, er habe,
als Alexander ihm angeboten, er wolle ihm zu Ehren das
von ihm zerstörte Theben wieder aufbauen, unter anderem
geantwortet, er sei ein Bürger des Staates des Diogenes
(D. L. VI. 93). Was er von den bestehenden öffentlichen
Zuständen hielt, gc^ht aus dem Ausspruch hervor, man müsse
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I. 3. Erates von Theben, Metrokies und Hipparchia. 477
SO lange philosophieren, bis man die Feldherren für Esels-
treiber halte (ib. 92).
In besonders ausgeprägter Weise tritt bei ihm der
kynische Drang zum Rügen menschlicher Verkehrtheiten,
der Missions- und Seelenretterdrang hervor. Er erwarb
sich den Beinamen des „Türöflfhers", weil er sich nicht
damit begnügte, anstöfsige Vorkommnisse in der Öffentlich-
keit zu rügen, sondern als Mahner in die Häuser eindrang
(D. L. VI. 86). Es ist wohl nur eine Idealisieying , wenn
Spätere, darunter Plutarch und Kaiser Julian, dieses Vor-
gehen als ein sanftes Friedenstiften und mildes Zurecht-
weisen in befreundeten Familien schildern (Meli. Fr. 34,
41, 43).
Bemerkenswert ist folgendes Beispiel dieser Seelsorger-
tätigkeit, das Teles (um 250 vor Chr.) erwähnt, und das
für sein eigenes Lebensschicksal bedeutsam wurde. Me-
trokles aus Maroneia, einer griechischen Kolonie an der
thrakischen Küste (D. L. 94), hielt sich in Athen als Schüler
des Theophrast (seit 323 Nachfolger des Aristoteles) und
Xenokrates auf. Die Geschichte mufs also zwischen 323
und 314 passiert sein. Geraäfs den in diesen Kreisen herr-
schenden Vorstellungen von anständiger Lebensweise ist er
genötigt, einen bedeutenden Aufwand zu machen: eine ge-
räumige Wohnung mit den zugehörigen Sklaven, feine
Kleidung, Luxus in den Mahlzeiten. Obwohl er daher von
Hause reichlich mit Geld versorgt wird, überfällt ihn die
hypochondrische Sorge, dafs sein Vermögen daraufgehen, er
in Dürftigkeit geraten und schliefslich Hungers sterben
werde. Er geht daher zu Krates über und kann nun auch
ohne Zuschüsse von Hause leicht sein Leben bestreiten,
denn er schläft im Sommer in Tempelhallen, im Winter in
Bädern, begnügt sich mit dem doppelt geschlagenen Mantel,
salbt sich mit den Ölresten, die die Badenden von ihrer
Haut abstriegeln und nährt sich von Brot, Kohl und gering-
wertigen Fischen, die er selbst an den Feuern der Schmiede
brät. So weit Teles. Die eigentliche Krisis erzählt Diogenes
Laertios ergänzend folgendermafsen (VI. 94). Infolge der
üppigen Lebensweise sei er beim Studieren von Blähungen
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478 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
heimgesucht worden und habe infolgedessen in hypochon-
drischer Stimmung beschlossen, nicht mehr auszugehen und
durch freiwilligen Hungertod seinem Leben ein Ende zu
machen. Krates habe davon gehört und ihn aufgesucht,
nachdem er vorher eine reichliche Mahlzeit Lupinen zu sich
genommen. Er habe ihn zunächst mit Worten über das
ihn bedrückende Vorkommnis getröstet, dann aber ihm als
Wirkung der Lupinen den Tatbeweis geführt, dafs derartige
Begleiterscheinungen der Verdauung auch bei anderen vor-
kommen. Und so habe er ihn für den Kynismus gewonnen.
Er mufs dann später den Metrokies bei einem Besuch
in seiner Heimat Maroneia begleitet haben. Dort nämlich
wird Hipparchia, die schöne und vielumworbene Schwester
des Metrokies, von einer heftigen Leidenschaft für Krates
und seine Lebensweise ergriffen. Sie erklärt den Eltern, sie
werde sich töten, wenn sie nicht die Seine werden dürfe.
Krates erfüllt die Bitte der Eltern, sie von ihrer Leiden-
schaft abzubringen, in loyalster Weise. Er stellt sich selbst
unbekleidet in seiner ganzen Mifsgeschaffenheit vor sie und
daneben die Requisiten seines Bettlerlebens und sagt: Das
ist dein Geliebter, und das ist seine Habe ; du kannst nicht
die Meine werden, wenn du nicht meine Lebensweise mit
mir teilen willst. Hipparchia ist sofort entschlossen und
folgt ihm fortan getreulich in der gleichen Tracht und in
allen seinen Bettlergewohnheiten (D. L. 96 f.).
An diesen einzig dastehenden Fall einer Kynikerehe
knüpfen sich die läppischen Nachreden, die beiden hätten
auch den Geschlechtsakt öffentlich vollzogen (D. L. 97; S.
Emp. Hyp. L 153; IIL 200; Clem. AI. Strom. IV. 523 u.
a. St.). Dabei liegt offenbar nur zu Grunde, dafs beim
Verzicht auf eigene Häuslichkeit auch ihr Geschlechtsverkehr
an denjenigen Stellen stattfand, wo sie zu nächtigen pflegten,
worin aber durchaus nicht liegt, dafs sie sich damit in
schamloser Weise in die Öffentlichkeit drängten.
Dafs er aber trotz dieser Eheschliefsung im Prinzip an der
kynischen Verwerfung der Ehe festhielt, würden folgende
Züge beweisen, wenn sie als geschichtlich gelten dürfen.
Seinen Sohn führte er, als er ins Jünglingsalter eingetreten
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I. 3. Krates von Theben, Metrokies und Hipparchia. 479
war, einer öffentlichen Dirne zu mit den Worten: das ist
die Ehe deines Vaters (ib. 88), und seine Töchter gab er
nach einer erhaltenen Stelle aus einer Komödie des Menander
auf dreifsigtägige Probe aus (ib. 93).
Von seinen Schriften ist am meisten charakteristisch
ein humoristisch - satirisches Lehrgedicht in parodierten
Homerversen, von dem freilich nur einige dürftige Trümmer
erhalten sind, die nur einen unsicheren Schlufs auf die An-
lage des Ganzen gestatten. Danach hat er vielleicht zu-
nächst in Anlehnung an die Erzählung des Odysseus über
seinen Besuch im Totenreiche (Odyss. 11) die Vertreter der
herrschenden Richtungen der Philosophie verspottet. Einiger-
mafsen deutlich erkennbar ist hier fast nur der Angriff gegen
Stilpon, den er als von mafslosem Dünkel erfüllt dar-
stellt (D. L. II. 118; Diels, Poet. phil. fragm. 217). Zu
diesen boshaften Angriffen auf andere Schulen hat er dann
möglicherweise in Gegensatz gestellt eine idealisierende
Schilderung des kynischen Lebens. Hierher würde denn
vornehmlich die Stelle gehören, in der er in Anlehnung an
eine Schilderung Kretas bei Homer (Odyss. 19, 172) eine
glückliche Stadt „Ranzen" preist, zu der keine Schmarotzer
und Lüstlinge sich verirren, wo es nur Thymian, Knoblauch,
Feigen und Brot gibt, keinen Streit um Gold und Ehre
(D. L. 85).
Parodien sind auch eine Anrufung der Musen nach
einem Gedicht Solons, in der er aber diese Göttinnen
nur um das zur Lebenserhaltung notwendige Mafs von
Gütern und um den bedürfnislosen Sinn anruft, aus dem
alles Gute fliefst (Julian. Orat. VL 199; VII. 213), sowie
eine Variation einer „Grabschrift des Sardanapal", die an-
fing: „Das habe ich, was ich gegessen habe," wofür Krates
sagt: „Das habe ich, was ich gelernt habe; alle übrigen
Herrlichkeiten sind mit dem Dunste (dem typhos, der Ein-
bildung) dahingeschwunden" (D. L. 86). In einem anderen
Gedicht preist er in Anlehnung an die Form der Götter-
hymnen die Gottheit Bedürfnislosigkeit, die Tochter der
Besonnenheit (Julian Or. VI. 199).
Andere Fragmente haben einen epigrammartigen Cha-
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480 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
rakter, könnten jedoch möglicherweise auch aus seinen
„Tragödien** stammen (Diels a. a. 0. 221). So die Verse:
„Die Liebe vertreibt der Hunger; wenn nicht dieser, die
Zeit, und wenn auch diese nicht die Glut zu löschen ver-
mag, so bleibt als letztes Heilkraut dir der Strick" (D. L.
86). So das Gedicht mit der Überschrift „Haushaltungs-
buch", wo ein reicher Schwelger dem Koch zehn Minen
(750 Mk.), dem Arzte eine Drachme, dem Schmeichler fünf
Talente, dem Rechtsfreund einen Dunst, der Buhlerin ein
Talent, dem Philosophen drei Obolen aussetzt (ib.).
Ungewifs, aus welchem Zusammenhange stammend,
finden sich die Verse: „Weifst du nicht, was für eine Macht
der Ranzen hat und ein Mafs Lupinen und der unbesorgte
Sinn" (Teles bei Stob. Flor. 97, 31; D. L. 86).
Ausdrücklich einer der von ihm verfafsten Tragödien
wird eine Stelle zugeteilt, die ein schwungvolles Bekenntnis
der Zugehörigkeit zum Weltstaat darstellt (D. L. 98). Viel-
leicht war diese Tragödie ein „Herakles" (Plut. Exil. 5;
Diels 222).
Endlich ist noch eine Stelle aus einem Gedichte er-
halten, in der er sich selbst im Angesicht des nahenden
Todes anredet : „So gehst du denn dahin, liebes Buckel chen,
und schreitest zum Hause des Hades, gekrümmt vom Altei:^"
(D. L. 92). Diese dient zugleich als Beweis, dafs er in
vorgerückten Jahren gestorben ist, und zwar eines natür-
lichen Todes.
Aufser diesen Dichtungen hatte er auch philosophische
Briefe verfafst, die in der Sprache Plato sehr nahe gekommen
sein sollen (D. L. 98). Die unter seinem Namen erhaltenen
Briefe sind jedenfalls unecht.
Über Metrokies erfahren wir nur wenig. Er hatte
zahlreiche Schüler, auch von aufserhalb Athens (Alexandria,
Ephesos), durch die sich der Kynismus vielleicht auch nach
anderen Teilen der hellenistischen Welt ausgebreitet hat
(D. L. 95). Seine „Chrien" sind früher erwähnt worden
(ib. 33). Auch die früher erwähnte Stelle aus Teles, in der
sein bedürfnisloses Leben nach der Bekehrung zu Krates
geschildert wird, beruht vielleicht auf einer Schrift von ihm
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I. 4. Menippos und Menedemos. 481
selbst. Wenigstens läfst ihn auch Plutarch (An vitio-
sitas etc. II. 494) in ähnlichen Wendungen das Glück der
Unabhängigkeit vom Schicksal preisen. Nach eingetretener
Altersschwäche soll auch er durch Unterdrückung des
Atmens freiwillig aus dem Leben geschieden sein (D. L. 95).
Von Hipparchia wird nur noch eine Begegnung mit
Theodoros, dem berühmten Vertreter der Lehre Aristipps,
am Hofe des Lysimachos in Thrazien, eines der Nachfolger
Alexanders (f 281), berichtet. Entgegen der griechischen
Sitte nimmt sie dort an einem Gastmahl teil und fordert
dabei den kecken Theodoros auch noch durch einen ziem-
lich kindischen Trugschlufs heraus, indem sie folgert, wenn
es für ihn kein Unrecht sei, sich selbst zu schlagen, dürfe
auch sie, Hipparchia, ihn schlagen. Theodoros versucht, sie
in recht brutaler Weise an ihre Weiblichkeit zu erinnern,
indem er ihr das Bettlergewand in die Höhe hebt und dabei
einen Vers aus Euripides (Baichen 1233) zitiert, der das
Weib an den Webstuhl verweist. Sie fühlt sich aber durch
diese schnöde Behandlung nicht im mindesten eingeschüehtert,
sondern meint, es sei doch wohl eine gute Fürsorge für sich
selbst gewesen, dafs sie, anstatt ihre Zeit am Webstuhl hin-
zubringen, nach Bildung gestrebt habe. Ähnlicher Anekdoten
soll es noch viele von ihr gegeben haben, von denen wir
aber nichts weiter erfahren (D. L. 97 f.).
4. Menippos und Menedemos.
Menippos war ursprünglich ein phönizischcr Sklave
in Sinope, der Vaterstadt des Diogenes. Des Erwerbs wegen
siedelt sein Herr nach Theben über (D. L. 99). Menippos
wird dann unter den Schülern des Metrokies genannt (ib.
95). Wie sich dieser Wandel seiner Lebenslage vollzogen
hat, wird nicht berichtet. Er soll es mit dem Leben eines
Kynikers nicht für unvereinbar gehalten haben, durch
Wuchergeschäfte ein grofses Vermögen zusammenzubringen
(ib. 99), und auch dadurch seinen Mangel an der echten
kynischen Gesinnung bewiesen haben, dafs er, nachdem er
durch Betrug alles wieder verloren, sich erhängte (ib. 100).
Döring. I. 31
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482 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc
Jedenfalls liegt seine Bedeutung nicht in seiner Lebens-
führung, sondern in seiner schriftstellerischen Tätigkeit. In
einer grofsen Zahl satirischer Schriften in der zwanglosen
Manier der Kyniker — Prosa und Verse gemischt, witzig
angebrachte oder parodierte Verse der klassischen Dichter
u. dergl. — verhöhnte er die bereits verstorbenen Philo-
sophen, indem er die Szene in das Totenreich verlegte, des-
gleichen aber auch die lebenden, sowie die Vertreter der
übrigen Wissenschaften. Es werden nicht weniger als 15
verschiedene Titel derartiger Schriften von ihm aufgeführt
(D. L. 101; Athen. 14, 664c). Der römische Schriftsteller
Varro hat diese Dichtungen bald nach 100 vor Chr. in
seinen „Menippischen Satiren" nachgeahmt Seine roman-
hafte Verherrlichung des Diogenes in seinem „Verkauf des
Diogenes" ist schon früher erwähnt. Entsprechend läfst
denn auch Lucian (um 150 nach Chr.) in seinen „Toten-
gesprächen" den in der Unterwelt weilenden Diogenes ihn
als guten Freund und Gesinnungsgenossen auffordern, die
Erde zu verlassen und ins Schattenreich herabzukommen,
wo ihm für seine Satire reichlicher noch als dort oben
Stoff geboten werde, und schildert ihn im übrigen nach
Tracht und Lebensweise als echten Kyniker.
Diese verschiedenartigen Züge lassen sich schlecht zur
Einheit zusammenfassen; und vielleicht haben wir in der
Wuchergeschichte nur eine gehässige Nachrede zu erkennen,
durch die sich die in seinen Schriften Verhöhnten und An-
gegriffenen an ihm rächten. Wie sollte auch ein Mann,
dessen ganzes Interesse auf wucherischen Erwerb gerichtet
ist, dazu kommen und dazu im stände sein, vom Standpunkte
des Kynikers eine schriftstellerische Polemik gegen das
ganze wissenschaftliche Treiben seiner Zeit zu eröffiien, eine
Polemik von solcher Kraft und Schneidigkeit, dafs ihre
Nachwirkungen noch nach mehr als zwei Jahrhunderten zu
spüren sind ? Denn seine Lebenszeit fällt in die erste Hälfte
des dritten vorchristlichen Jahrhunderts.
Ein wunderlicher Heiliger mufs der Kyniker Mene-
demos gewesen sein, mit dem um die Mitte des dritten
vorchristlichen Jahrhunderts der alte Kynismus zu Grabe
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II. Die Kyrenaiker. 4g3
gegangen zu sein scheint. Wo er eigentlich lebte, ist un-
bekannt Er soll ursprünglich Schaler eines Epikureers,
des Epikur recht nahe stehenden Kolotes, gewesen sein
(D. L. 102). Ja, es wird sogar ein Kjrenaiker als sein
ursprünglicher Lehrer genannt (v. Arnim, Dia von Prusa 29).
Später murs dann ein Umschlag bei ihm eingetreten sein.
Er wurde ein fanatischer Kyniker, der insbesondere den
Drang, als Bufsprediger gegen die Verkehrtheiten der Men-
schen aufzutreten^ in die denkbar groteskeste Form gebracht
hat. Bekleidet mit einem grauen, bis auf die Erde reichen-
den Gewände, mit purpurrotem Gürtel, auf dem Kopf eine
seltsam geformte Mütze, auf der die zwölf Zeichen des
Tierkreises eingewebt waren, mit ungeheurem Bart, einen
Stab in der Hand, an den Füfsen den hochsohligen Kothurn
der Tragödie, der ihm übermenschliche Gröfse verlieh, trat
er einher und erklärte, er sei von den Göttern der Unter-
welt als Kundschafter auf die Erde gesandt, um dort unten
über die Vergehungen der Menschen zu berichten. Das ist
das letzte, was wir von den Lebensäufserungen des alten
Kynismus hören. Ein absurdes, aber mit dem Anfang in
engem Zusammenhange stehendes Ende!
II. Die Kyrenaiker.
Die kyrenaische Schule hat ihren Namen von der
Heimat Aristipps, der griechischen Kolonie Kyrene an
der Nordküste von Afrika im heutigen Tripolis, wo auch
der Sitz der Schule war. Auch in ihr löst sich, wie bei
Antisthenes, der einzelne im Prinzip von allen Beziehungen
auf das Gemeinschaftsleben los, stellt sich auf sich selbst
und regelt sein Leben lediglich nach seinen eigenen Bedürf-
nissen und Interessen. Noch entschiedener als die Kyniker
sind auch die Kyrenaiker praktische Individualisten.
Während aber bei Antisthenes dieser Individualismus zu-
nächst von der hoffnungslosen Verderbtheit der öffentlichen
Zustände seinen Ausgangspunkt nimmt, scheint er bei
Aristipp aus einer stark entwickelten selbstischen Genufs-
tendenz an sich hervorzugehen. Diese Richtung auf eine
31»
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484 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
bestimmte Art der Lebensführung hat sich aber in dieser
Schule und schon bei Aristipp selbst, wie wir sehen werden,
mehr, als in den anderen Schulen dieser Übergangszeit der
Fall war, um einß theoretisch - wissenschaftliche Unterlage
und Rechtfertigung bemüht.
1. Aristipp,
Über die Lebenszeit des Aristipp ist direkt nichts über-
liefert, doch kann dieselbe annähernd von 430—360 an-
genommen werden. Er stammte aus der reichen Handels-
stadt Kyrene, war anscheinend von wohlhabender Familie
und hatte vielleicht (Z. 337, 4) schon in seiner Vaterstadt
den Unterricht des Protagoras genossen. Der Ruf des
Sokrates lockte ihn nach Athen (D. L. IL 65; Plut.
curios. 2), und er war im letzten Jahrzehnt des Lebens des-
selben sein Schüler. Seit wann, ist nicht bekannt, doch
gehörte er noch zur Zeit des Todes des Sokrates dem
Schülerkreise an (PL Phaed. 59 C).
Xenophon führt in seinen Aufzeichnungen über Sokrates
mehrere Unterredungen desselben mit Aristipp auf. Aus
denselben geht hervor, dafs Aristipp nicht mehr der ganz
jugendliche, bescheidene und fügsame Schüler ist, sondern
schon mit einer gewissen Gereiftheit und Selbständigkeit
jenem gegenübertritt, ja, dafs sogar schon die Grundzüge
seiner eigenen Lehre zu dieser Zeit hervortreten. Um
einen der Weichlichkeit und dem Sinnengenufs ergebenen
Schüler indirekt zurechtzuweisen, zeigt Sokrates (Mem. IL 1)
dem Aristipp, dafs der zum Herrschen Tüchtige enthaltsam
und abgehärtet sein mufs. Aristipp aber lehnt diese Herrscher-
rolle ganz von sich ab: er will sich überhaupt nicht als
Bürger „in einen Staat einschliefsen", sondern überall als
Fremder leben. So sieht sich denn Sokrates genötigt, die
Vorteile der Enthaltsamkeit auch abgesehen von jenem
ursprünglichen Gesichtspunkte ins Licht zu stellen. Er
schliefst mit dem Vortrage der allegorischen Erzählung des
Prodikos von Herakles am Scheidewege und mit einer
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II. 1. Aristipp. 485
Mahnung an Aristipp, bei seiner Lebensführung auch den
späteren Teil seines Lebens im Auge zu behalten.
Aristipp ist für den Augenblick zum Schweigen ge-
bracht; dafs er aber die Worte des Sokrates nicht als eine
heilsame Belehrung, sondern als eine erlittene Niederlage
empfindet, zeigt er bald darauf, als er glaubt, durch Hin-
weis auf einen schwachen Punkt im sokratischen Gedanken-
system nun seinerseits Sokrates eine Schlappe beibringen
zu können (Mem. III. 8). Der von Aristipp in Frage ge-
stellte Punkt hängt eng mit der früher erhaltenen Lektion,
aber auch mit der Wendung zusammen, die bei Aristipp
wie bei Antistheneß das Denken nehmen wird, der Stellung
des einzelnen ganz auf sich selbst in den Fragen der Lebens-
führung. Sokrates will den tüchtigen Herrscher und als
hauptsächlich erforderliche Eigenschaft desselben Moralität.
Um diese zu begründen, weist er auf die mannigfachen mit
einer sittlichen Lebensführung verbundenen Vorteile hin.
Sittlichkeit ist die beste Lebensweisheit In dieser Weise
war er auch in dem früheren Gespräche hinsichtlich der
Enthaltsamkeit verfahren. Dies hat offenbar Aristipp zun(i
weiteren Nachdenken über die angepriesenen Güter geführt,
und er hat gefunden, dafs jedes im Sinne der gewöhnlichen
Denkweise als Gut Geltende nur zu etwas gut ist und
unter Umständen auch ein Übel sein kann. Er fragt daher
jetzt Sokrates, ob er irgend ein Gut kenne, bereit, ihm die
Unzulänglichkeit der zu nennenden Güter nachzuweisen.
Offenbar befindet er sich hier schon auf dem direkten Wege
zu der neuen Problemstellung, die das Verhältnis von Lebens-
führung und Güterlehre umkehrt, nicht, wie Sokrates, die
Lebensführung vorangehen läfst, sondern aus dem zu er-
strebenden, unbedingt wertvollen Gute die Lebensführung
ableitet. Sokrates läfst sich nicht fangen. Er kennt kein
Gut an sich, sondern nur Dinge, die je nach den sich ver-
ändernden Umständen des Falles als Güter zu erstreben
sind. Aristipp aber ist in der Frage nach einem unbedingt
zu bevorzugenden Gute auf dem direkten Wege zu seinem
neuen Standpunkte.
Aristipp war beim Tode des Sokrates nicht zugißgen.
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486 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Er war, wie Piaton (Phaed. 59 C) mit einer für uns nieht
mehr verständlichen Kürze, vielleicht schonend, berichtet,
„in Ägina**. So nahe bei Athen und doch nicht herbei-
eilend! Es mufs doch schon eine starke Scheidewand
zwischen ihm und Sokrates aufgerichtet gewesen sein, dafs
sie selbst dieser weltgeschichtlichen Tragik Trotz bot! Die
späteren Berichterstatter haben diesen Aufenthalt in Ägina
im Sinne einer leichtfertigen Genufssucht ausgeschmückt.
Wir wissen nicht, wie es sich damit verhalten hat. Jeden-
falls werden aus seinem späteren Leben Aussprüche von
ihm angeführt, die seine dankbare Anerkennung für die
von Sokrates empfangenen Anregungen bezeugen (D. L. IL
71, 76, 78, 80).
Bald nach dem Tode des Sokrates begann er nach dem
Muster der Sophisten eine Tätigkeit als Wanderlehrer gegen
Bezahlung. Xenophon berichtet in einem Abschnitt seiner
Denkwürdigkeiten (L 2, 60), der frühestens um 390 verfafst
sein kann, mit unzweifelhafter Beziehung auf Aristipp, ein
Beweis, dafs die Unterweisung des Sokrates nicht wertlos
gewesen sei, liege darin, dafs es Schüler von ihm gebe, die
kleine Teile des von ihm umsonst Empfangenen nur gegen
hohes Honorar wieder mitteilten. Von Aristoteles (996, 32)
wird er, wahrscheinlich dieses Umstandes wegen, geradezu
als Sophist bezeichnet. Auch die im übrigen unmögliche
Angabe, er habe vom Ertrag seines Unterrichts bedeutende
Summen an Sokrates gesandt (D. L. IL 63), hat das
Honoramehmen zur Voraussetzung.
Auf seinen Wanderfahrten scheint er sich längere Zeit
bei Dionysios dem Älteren, dem Tyrannen von Syrakus
(406—367), aufgehalten zu haben, dessen Gunst er sich
durch seine weltmännische Gewandtheit und Anbequemungs-
fähigkeit zu erwerben wufste (D. L. IL 66). Wie weit
diese Anpassungsfähigkeit gehen mochte, kann folgende
Anekdote erläutern, deren Geschichtlichkeit natürlich nicht
verbürgt ist. Einst spuckte ihn Dionysios an. Jemand
tadelt ihn, dafs er sich das gefallen lasse. Er sagt: Die
Fischer lassen es sich gefallen, dafs das Meer sie bespritzt,
um köstliche Fische zu erjagen; warum sollte ich mich
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II. 1. Aristipp. 487
nicht um desselben Zweckes willen mit Speichel bespritzen
lassen? (Ebendas. 67.) Nach einer anderen Anekdote tut
er vor Dionysios, um die Erhörung einer Bitte zu erlangen,
einen Fufsfall und rechtfertigt dies dadurch, er könne nicht
dafür, dafs der Tyrann die Ohren an den Füfsen habe
(desgl. 79). Ja, er tanzt vor ihm auf sein Verlangen in
einem langen weiblichen Purpurkleide (78; S. Emp. Hyp.
III. 204). Es wird ihm daher auch die Lehre beigelegt, es
sei etwas sittlich Gleichgültiges, Weiberkleider anzulegen
(S. Emp. Hyp. L 155).
Über die sonstigen Stationen seines Wanderlebens ist
nichts Erhebliches bekannt. Nach Plutarch (Dion. 19) wäre
er auch zur Zeit der letzten Reise Piatos nach Syrakus
(361), also in hohem Alter, am Hofe des jüngeren Dionysios
(seit 367) anwesend gewesen. Auch von dieser gleichzeitigen
Anwesenheit beider Philosophen dort werden verschiedene
Anekdoten erzählt; doch ist die ganze Sache zweifelhaft.
Jedenfalls mufs Aristipp zwischendurch längere Zeit in seiner
Vaterstadt Kyrene gelebt haben, da er dort eine Schule
hinterliefs und seine Tochter Arete zur Philosophin und
Nachfolgerin in seiner Lehrtätigkeit ausbildete (D. L. IL
72, 84, 86).
Über die Echtheit der Aristipp beigelegten, sehr zahl-
reichen Schriften waren schon im Altertum die Ansichten
geteilt, und es ist darüber nichts Sicheres auszumachen
(D. L. IL 83 «F., 64; VIIL 27; Z. 344 f.). Jedenfalls be-
sitzen wir nur indirekte Nachrichten über seine Lehre, und
es ist sogar sehr wahrscheinlich, dafs er selbst dieselbe
noch nicht systematisch ausgebildet, sondern nur in den
Grundzügen festgestellt hatte (Euseb. pr. ev. XIV. 31 f.;
Z. a. a. 0.). Dafs er zusammenhängende Vorträge gehalten
habe, wird bezeugt (Athen. 11, 50c). Es gab auch auf-
gezeichnete Vorträge dieser Art unter seinem Namen, die
aber schon im Altertum für unecht gehalten wurden (D. L.
IL 84).
Einige bezeichnende Grundzüge seiner Weltanschauung
lassen sich schon aus den zahlreichen Anekdoten und Aus-
sprüchen entnehmen, die Diogenes Laertius von ihm anführt.
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488 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Danach legte er zunächst der Bildung überhaupt den
höchsten Wert bei. Der Gebildete unterscheidet sich vom
Ungebildeten wie ein geschultes Rofs von einem ungebän-
digten. Der Ungebildete bedarf der Vermenschlichung
(anthropismös) , der Gebildete besitzt also Menschlichkeit,
Humanität, — ein Begriflf, der in der ganzen griechischen
Literatur hier allein vorkommt (II. 69 f.). Das Wesen der
Bildung nun scheint er zunächst im weiteren und unbestimm-
terien Sinne gefafst zu haben. Jemand fragt, in welcher
Beziehung sein Sohn besser sein würde, wenn er ihn bilden
liefse. Aristipp : Wenn in keiner anderen, dann doch darin,
dafs er nicht im Theater als ein Stein auf dem Steine sitzt
(72). Der Wert der Bildung, meint er femer, werde zu
Tage kommen , wenn man einen Gebildeten und einen Un-
gebildeten von allem eütblöfst zu wildfremden Menschen
schicke (73). Näher ist der Gebildete einesteils der Lebens-
gewandte, der sich mit Geistesgegenwart in jeder Lage
zurechtzuhelfen weifs , andernteils geht der Begriff schon
über in den des Einsichtsvollen, der seine Lebensführung
zweckbewufst nach festen Überzeugungen zu ordnen ver-
steht. In ersterer Beziehung aus den vielfachen Proben,
die er selbst geliefert hat, nur eine. Er fährt mit einer
bedeutenden Geldsumme zu Schiflfe. Er merkt, dafs er auf
ein Seeräuberschiflf geraten ist, und dafs man ihn um des
Geldes willen umbringen wird. Er holt sein Geld aufs Ver-
deck und fängt an, es zu zählen, läfst aber dabei, wie aus
Versehen , die ganze Summe über Bord fallen , denn er sei
besser, dafs diese durch ihn, als dafs er um ihrer willen zu
Grunde gehe. Die Schififsmannlschaft aber täuscht er da-
durch, dafs er mit lautem Wehklagen seinen Verlust be-
jammert (77). Die andere Seite tritt in folgenden beiden
Zügen zu Tage. Ein Vater findet die von ihm für die
Ausbildung seines Sohnes geforderte Summe (375 Mk.) zu
hoch ; dafür könne er schon einen Sklaven kaufen. Aristipp
erwidert : Tue das, dann hast du zwei (72). Ein Verwalter
des syrakusischen Tyrannen, der eigentlich ein phrygischer
Sklave und ein schlechter Mensch war, zeigt ihm prahlerisch
sein prächtig eingerichtetes Haus mit kostbaren Fufsböden.
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II. 1. Aristipp. 489
Aristipp spuckt ihm eine volle Ladung Speichel ins Gesicht.
Als jener unwillig wird , sagt er : Ich konnte gerade keine
passendere Stelle dafür finden (75).
Dies Können und diese Einsicht aber sollen sich nicht
auf unnütze und unwesentliche Dinge richten. Damit ge-
winnen wir den Übergang zur Philosophie. Einer rühmt
sich seiner Schwimm- und Taucherkunst. Ob er sich nicht
schäme, meint Aristipp, sich einer Sache zu rühmen, die
ein Delphin viel besser verstünde (73)? Ein anderer will
ihm ein Rätsel zu lösen geben. „Warum soll ich es lösen,
da es schon gebunden uns zu schaffen macht?** (70.) Er
sagt: Die Vielesser, die dann durch Leibesübungen der
Verdauung nachhelfen, sind nicht gesünder wie diejenigen,
die nur das Erforderliche zu sich nehmen. So sind auch
nicht die Vielwisser, sondern diejenigen die Tüchtigen, die
das Erforderliche lernen (71). Er vergleicht die mit der
Vielheit der Wissenschaften sich Abgebenden, die Philo-
sophie aber Vernachlässigenden mit den Freiern der Pene-
lope, die in Ermangelung dieser sich mit ihren Mägden be-
gnügen, oder mit Odysseus, der im Hades alle Toten
besichtigt, die Herrscherin des Totenreiches selbst aber
nicht zu Gesichte bekommt (79 f.).
Mit diesen Aussprüchen kommen wir denn zur Philo-
sophie. Dafs diese ihm, genau wie dem Antisthenes, die
Wissenschaft des wahrhaft Wertvollen, der durch Einsicht
geregelten Lebensführung ist, zeigt schon seine Antwort auf
die Frage, was die Philosophen voraushaben. „Wenn alle
Gesetze aufgehoben würden, würden wir gerade so leben
wie jetzt.** (68.) Der Philosoph bestimmt seine Lebensführung
mit Freiheit, von innen heraus. Er findet es seltsam, dafs
man beim Ankauf einer Vase diese aufs sorgfältigste prüft,
die verschiedenen Lebensführungen aber nur leichtfertig
gegeneinander abschätzt (78). Auch er vergleicht, wie Anti-
sthenes, die Philosophen mit den Ärzten (70).
Auch bei Aristipp wie bei Antisthenes steht der Philo-
soph frei und losgelöst von allen Rücksichten, nur auf sich
selbst und seine eigene Glückseligkeit sehend, vor der Wahl
der wertvollsten Lebensgüter, um von dieser aus sein Leben
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490 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
als ein freies Werk der Einsicht und praktischen Vernunft
zu gestalten. Diese Wahl aber, dieses Werturteil fällt bei
Aristipp in völlig entgegengesetztem Sinne aus wie bei
Antisthenes.
Nach Diog. L. (86) erklärte er für das höchste Gut
„die sanfte Bewegung, die in Empfindung übergeht". Um
diese Formel vollständig zu verstehen , bedarf es einer Er-
läuterung der in ihr schon mitangedeuteten theoretischen
Grundlage, auf der diese Bestimmung des höchsten Gutes
ruht. Diese Grundlage lernen wir aus einer platonischen
Stelle kennen. Plato hat (im Theätet) eben die Lehre des
Protagoras auseinandergesetzt, nach der auch den einander
entgegengesetzten Empfindungen Verschiedener eine reale
Beschaffenheit in dem verursachenden Gegenstande zu Grunde
liegen müsse. Es soll sodann (Theaet. 155D) „der verborgene
wahre Sinn dieser Lehre des Protagoras oder vielmehr nam-
hafter Männer** auseinandergesetzt werden. Diese „nam-
haften Männer" werden dann weiter (156 A) als besonders
elegante und zierliche Denker bezeichnet. Nach dieser
offenbar noch über Heraklit und Protagoras hinausgehenden
Lehre gibt es überhaupt keine Dinge oder Stoffe und also
auch keine Beschaffenheiten an sich (156 E). Das All ist
weiter nichts als Bewegung (A). Diese Bewegung ist eines-
teils eine affizierbare (ein sehr unklarer Ausdruck ; gemeint
sind die Sinneswerkzeuge mit ihrer Fähigkeit, affiziert zu
werden), andernteils eine affizierende, und durch das Zu-
sammenwirken, durch eine Art von Reibung beider entsteht
zwillingsartig einesteils die Wahrnehmung, andernteils das
Wahrgenommene, das dem Sinneseindruck als sein sach-
liches Gegenstück Entsprechende. Auch dies letztere ist
also kein an sich und dauernd Seiendes; es entsteht jedes-
mal erst im Akte der Wahrnehmung und hat zur Bedingung
seines Entstehens das Zusammenwirken der beiden Arten
der Bewegung. Dennoch wird diesem Wahrgenommenen
eine von dem Sinneseindruck unterschiedene Daseinsweise
an sich, wenigstens im Akte der Wahrnehmung, zugeschrieben.
Und zwar werden nicht nur die eigentlichen Sinneseindrücke,
die Empfindungen des Gesichts, Gehörs, Geruchs, des Tast-
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IL 1. Aristipp. 491
und TemperatuFsinnes, sondern aueh Lust und Unlust, Be*
gierde und Furcht auf diese Weise erklärt (156 B ff.)« Wieder
ein sehr unklarer Gedanke. Diese Lehre wird von Plato
als eine Art von Geheimlehre solcher bezeichnet, die von
Protagoras ausgehen, aber, wie es scheint, auch wieder über
Protagoras hinausgehen (152 C, 156 A).
Dafs hier die Lehre Aristipps vorliegt, wird durch
andere Nachrichten ttber dieselbe wenigstens sehr wahr-
scheinlich. Sextus Empiricus sagt über die Lehre zwar
nicht des Aristipp selbst, aber seiner Schule folgendes:
„Es existieren nur die Affektionen, nichts anderes. Der
Laut z. B. ist keine Affektion, sondern etwas eine Affektion
Bewirkendes, gehört aber nicht zum Existierenden." (Mus.
53.) Diese kurze und etwas unklare, ja widerspruchsvolle
Formulierung scheint doch genau der vorstehend nach Plato
dargelegten Lehre zu entsprechen. Genauer wird die Lehre
dieser Schule von demselben Schriftsteller (Dogm. I. 190 ff.)
folgendermafsen dargestellt. Nur die Sinnesaffektionen
werden wahrgenommen. Das sie Bewirkende ist unerkenn-
bar. Dafs wir die Empfindung weifs oder süfs haben, ist
eine unzweifelhafte und unwiderlegbare Tatsache ; dafs aber
das diese Eindrücke Bewirkende weifs oder süfs wäre, ist
unbeweisbar. Auch von einem an sich nicht Weifsen oder
nicht Süfsen können diese Eindrücke hervorgebracht werden.
Der Schwindliche oder Gelbsüditige sieht alles gelb, der
Augenkranke alles rot, der die Augen Verschiebende oder
Wahnsinnige alles doppelt. Die Empfindung zeigt uns nur
sich selbst ; das sie Bewirkende existiert vielleicht, erscheint
uns aber nicht. Daher ist auch die den Menschen gemein-
same Wahrnehmung kein Mafsstab (wie Protagoras annahm),
denn jeder empfindet nur seine eigene Empfindung, nicht
die des anderen. Eine Übertragung ist unmöglich. Wie
die Gelbsüchtigen und Augenkranken von denselben Ob-
jekten widersprechende Farbeneindrücke empfangen, so ist
es vielleicht auch mit den Normalsichtigen. Wir legen den
Dingen gemeinsame Namen bei, die Eindrücke aber gehören
nur dem einzelnen an (weitere Zeugnisse Z. 348, 1).
Diese Theorie, fährt Sextus fort (199 f.), mufste denn
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492 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
auch auf ihre Gttterlehre bestimmend wirken. Denn die
Eindrücke sind teils lustvoü, teils unlustvoll, teils keins
von beiden. Die unlustvollen nennen sie Übel, die lust-
vollen Güter, die in der Mitte liegenden aber weder Güter
noch Übel. So sind die Sinneseindrücke auch in dieser Be-
ziehung der Mafsstab, und wir richten uns in unserer
Lebensführung, sagen sie, nach ihnen, indem wir das Lust-
volle bevorzugen. Eine kürzere, aber auch wieder inhalt-
reichere und die Betrachtung auf jene zuerst angeführte
Formel des Aristipp zurücklenkende Formulierung gibt
Sextus an anderer Stelle (Hjrp. L 215): „Die Sinnenlust
und die sanfte Bewegung des Fleisches (d. h. in den Or-
ganen der Sinnesempfindung) ist das höchste Gut." Hier
wird die lustvolle Aifektion mit der „sanften Bewegung"
in eins gesetzt. Es wird also angenommen, dafs die heftigeren
AflFektiohen der Empfindungsorgane, als der Natur unseres
Körpers nicht gemäfs, unlustvoll wirken, die sanfteren Affek-
tionen dagegen, als unserer Organisation gemä&, lustvoll.
Dafs diese Lehre nicht erst von den Nachfolgern des
Aristipp ausgebildet worden ist, sondern schon ihm selbst
angehört, wird durch die obigen Angaben Piatos mindestens
wahrscheinlich. Auch im Philebus (43 B) wird eine Lehre
erwähnt, nach der die Entstehung von Lust und Unlust
ausdrücklich an die von Heraklit gelehrte Bewegung auf-
wärts und abwärts angeknüpft wird und ferner drei Arten
von Zuständen unterschieden werden, lustvolle und unlust-
volle aus stärkeren Bewegungen, mittlere dagegen aus ge-
ringen, nicht merkbaren Bewegungen. In dieser Stelle scheint
eine neue Bestätigung dafür zu liegen, dafs diese ganze
Lehre schon von Aristipp selbst herstammt (vergl. auch
Z. 352, 1). Ebenso müssen dann aber auch schon die Haupt-
züge der aus diesen Grundbestimmungen unweigerlich fol-
genden Lustlehre ihm selbst angehören. Wenn erstens die
Lust das naturgemäfs Erstrebte und Erstrebenswerte ist,
wenn zweitens nicht die Dinge selbst und ihre Zusammen-
hänge, ein einheitliches Weltgeschehen, erkennbar sind, son-
dern nur die in jedem Moment uns treffenden Lust- und
Unlusteindrücke, so können wir, falls wir durch Einsicht
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II. 1. Aristipp. 493
und Vernunft unser Leben möglichst lustvoll gestalten
wollen, nicht einen einheitlichen Lebensplan entwerfen, son-
dern nur von Moment zu Moment, von Fall zu Fall das
möglichst Lustvolle erkennen und uns zu eigen machen.
Nur der Augenblick ist unser; die auf die möglichst lust-
volle Gestaltung des Lebens zielende Einsicht ist ein Augen-
blicksdenken, ein Augenblicksentschliefsen , nicht eine das
gesamte Leben nach einem einheitlichen Plane regelnde
intellektuelle Tätigkeit (Ael. V. H. 14, 6). Auch Diog.
Laert. biezeugt (66), Aristipp habe immer nur den gegen-
wärtigen Genufs erstrebt, nicht aber mit einem Opfer von
Unlust künftigen Genufs erkaufen wollen.
Wir kehren nun zu den Anekdoten und Aussprüchen
bei Diogenes Laertius zurück. Diese liefern zahlreiche Be-
stätigungen für die eben entwickelte Lehre Aristipps vom
höchsten Gute. Zunächst ist nach diesen Berichten sein
ganzes Streben überhaupt auf Sinnengenufs , auf Gaumen-
kitzel, Wohlgerüche, Geschlechtsgenufs gerichtet (IL 69,
75, 76). Zu Sokrates ist er gegangen, als er der Bildung
begehrte, zum Tyrannen, da er des Genusses begehrt (80;
im Griechischen ein Wortspiel paidefa und paidiä). Offenbar
nur in diesem Sinne des gröfseren Reichtums an Sinnen-
genüssen legt Aristipp (71), als er wegen seiner Todesangst
bei einem schweren Sturme auf See getadelt wird, dem
Leben des Philosophen einen höheren Wert bei als dem
des Nichtphilosophen. Zum Geniefsen aber braucht man
Geld. So nimmt er die Weise der Sophisten an und erklärt
dem Tyrannen unverhohlen, dafs er ihm geben will, was er
besitzt, und von ihm empfangen, was er nicht besitzt (77).
Er fordert geradezu Geld von ihm (82) und fügt sich, wie
wir bereits gesehen, um dieses Zweckes willen in schimpf-
licher Weise in seine eigenwilligen Launen.
Es ist aber femer nicht der rohe, massenhafte Genufs,
der nur heftige und also unlustvolle Erregungen erzeugen
kann, dem er nachgeht. Als einer sich vor ihm rühmt,
dafs er sehr viel Wein vertragen könne, ohne trunken zu
werden, sagt er: das kann auch ein Maulesel (73).
Es ist der feinere Genufs, auf den es ihm ankommt. Der
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494 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
Genufs soll ihn nicht fesseln, unterjochen, ihn mit den
Unlustgefahlen heftigen, leidenschaftliehen Begehrens er-
fallen. In bezug auf sein Verhältnis zur schönen Buhlerin
Lais sagt er: „Ich besitze, aber werde nicht besessen,"
oder: „Ich habe, aber es hat mich nicht," (74 f.) und in
bezug auf seine £inkehr in einem Freudenhause: „Nicht
das Hineingehen ist verwerflich, sondern das Nichtheraus-
gehenkönnen." (69). Nicht die Enthaltung vom Genüsse,
sondern der Gebrauch, ohne hingerissen zu werden, zeigt
die Herrschaft (75; Stob. Flor. 17, 18). Eben deshalb aber
ist er auch nicht wählerisch und wird nicht durch Neben-
gedanken des Widerwärtigen vom Genüsse abgehalten, wenn
nur der Zweck des Augenblicksgenusses sichergestellt wird.
So rechtfertigt er den Verkehr mit öflfentlichen Dirnen durdi
den Vergleich mit einem Schiffe oder einem Hause, von
deren Benutzung man sich auch nicht durch die Erwägung
abhalten lasse, dafs sich auch zahlreiche andere derselben
bedienten (74).
Durch dieses Prinzip des nur auf den Augenblicksgenufs
gestellten Begehrens erklärt sich seine Gleichgültigkeit
gegen übergrofsen Besitz. Er tröstet sich leicht tlber den
Verlust eines Landgutes, da ihm noch drei übriggeblieben
sind, und findet, dafs der gröfsere Besitz ebensowenig der
wertvollere ist wie der gröfsere Schuh (Ael; V. H. 7, 3;
Stob. Flor. 95, 32). Aus ihm erklären sich auch die Züge
einer vollständig sinnlosen Verschwendung, die an sich frei-
lich zu dem Streben nach Erwerb des unumgänglichen Hilfs-
mittels des Genusses, des Geldes; in Gegensatz treten. Er
kauft ein Rebhuhn für 37,50 Mk. , das er auch für einen
Obolos (12 Va Pfg.), also den 300sten Teil dieser Summe,
kaufen könnte, mit der Begründung, dafs ihm jener gröfsere
Betrag nicht mehr wert sei als der Obolos (66). Offenbar
ist hier die erstrebte Augenblickslust der einzige Wert-
mafsstab, g^en den der Gedanke an die dem Gelde dauernd
anhaftende Fähigkeit zur Beschaffung ähnlicher Genüsse
momentan zurücktritt.
Dafs eine solche Lebensanschauung folgerichtigerweise
nicht nur zur Vermeidung lästiger Konflikte mit anderen
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II. 1. Aristipp. 495
und mit den Gesetzen, also zu einer Art von Gerechtigkeit,
sondern selbst zu vereinzelten Handlungen der Gttte führen
kann, ist leicht zu sehen. Letzteres nämlich durch Ver-
mittlung des natürlichen Mitgefühls, das die Unlust der
anderen als eigene Unlust mitempfindet. So tut er zur
Versöhnung mit dem befreundeten Äschines, mit dem er
sich erzürnt hatte, obwohl der Ältere, den ersten Schritt
(82 f.). So heifst er auf einer Reise den begleitenden Sklaven,
der unter der Last eines schweren Geldsacks stöhnt, so viel
von dem Gelde wegwerfen, dafs er das Verbleibende bequem
tragen könne (77), — eine Erzählung, bei der auch wieder die
nur an den Augenblick denkende Nichtachtung des Geldes
zum Ausdruck kommt. Diese Erzählung beruht auf dem
Zeugnis des Bion von Borysthenes, des Schülers eines Haupt-
vertreters der kyrenaischen Schule. Sie wird auch dadurch
etwas weniger unglaubwürdig, dafs (nach Horaz Sat. IL
3, 99) die Szene in eine afrikanische Wüste verlegt wird,
in der ein verzögerter Aufenthalt unratsam war. Auch der
Ausspruch (68), dafs ihm aus der Philosophie der Vorteil
erwachse, mit allen furchtlos verkehren zu können (der
einen gewissen Gegensatz zum Selbstverkehr des Antisthenes
bildet), gehört in diesen Zusammenhang. Ebenso der bereits
angeführte, dafs der Philosoph seine Lebensführung nicht
verändern würde, wenn alle Gesetze aufgehoben würden.
Von einem Bestimmtwerden durch religiöse Überzeugungen,
das ja auch schon durch seine Erkenntnislehre ausgeschlossen
war, findet sich in dem über Aristipp Überlieferten nicht
die geringste Spur. Er ist vollständiger Freigeist.
Nach diesen Darlegungen läfst sich nun auch ermessen,
mit welchem Rechte Aristipp sich einen Schüler des Sokrates
nennen konnte. Der eigentliche Grundgedanke des Sokrates
ist bei ihm noch sehr viel entschiedener als bei Antisthenes
in den Hintergrund getreten. Von einer Richtung seines
Denkens auf eine vollkommene, d. h. der allgemeinen Glück-
seligkeit gemäfse Staatseinrichtung findet sich auch nicht
die leiseste Spur, und das kann auch nicht anders erwaitet
werden, da er ja jede allgemeine, das Gesamtleben auch
nur des einzelnen umfassende Veranstaltung verwirft. Da-
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496 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
gegen fand, ähnlich wie die Freiheitslehre des Antisthenes,
so seine Lustlehre einen Anhaltspunkt an einem der
Empfehlungsgründe, die Sokrates für die Enthaltsamkeit
ins Feld führte. Die Enthaltsamkeit sollte nach Sokrates
ein gröfseres Quantum sinnlichen Genusses gewährleisten,
weil sie das Genufsvermögen nicht abstumpfe. Hier ist der
Wert und die Berechtijgung des Sinnengenusses als Voraus-
setzung anerkannt. Aus diesem winzigen Nebenpunkt der
sokratischen Lehre hat Aristipp unter Zuhilfenahme der
weitergebildeten Theorie des Protagoras und unter dem Ein-
flüsse seiner ursprünglichen Wohlhabenheit und seiner schon
in der Heimat erworbenen Lebensgewohnheiten sein ganzes
Genufssystem herausgesponnen. Aufserdem hat er, wie
Antisthenes, von Sokrates auch noch die Einsicht als die
das praktische Verhalten nach den letzten Zwecken regelnde
Tugend übernommen. Freilich kann diese Tugend bei ihm
nur ein beschränktes Wirkungsgebiet in Anspruch nehmen,
da sie nicht die gesamte Lebensführung nach einheitlichem
Plane zu regeln, sondern nur die Augenblicksentschlüsse zu
bestimmen hat.
2. Die kyrenalsche Hauptschule.
Die Schule spaltete sich sofort in zwei Richtungen, von
denen die eine durch Antipater von Kyrene, die andere
durch Aristipps Tochter Arete vertreten war. Von Anti-
pater ist nur die Anekdote bekannt, dafs er, erblindet, zu
den ihn bemitleidenden Frauen sagt, es gebe ja doch auch
nächtliche Sinnengenüsse, von denen also auch der Blinde
nicht ausgeschlossen sei (Cic. Tusc. V. 102). Seine Schule
hat sich später wieder in zwei Richtungen verzweigt, von
denen nachher. Die eigentliche kyrenaische Schule geht
von Arete aus.
Diese soll von ihrem Vater sorgfältig erzogen und
namentlich zur Geringschätzung übermäfsigen Besitzes an-
gehalten worden sein (D. L. II. 72). Sie bildet dann wieder
ihren Sohn, den jüngeren Aristipp, zum Philosophen,
den man daher „den von der Mutter Belehrten" nannte
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IL 2. Die kyrenaische Hauptschule. 497
(ib. 86). So entsteht die eigentliche kyrenaische Schule, die
an der in den Grundzügen vom Stifter aufgestellten Lehre
festhielt. Ein Abrifs ihres Systems ist uns erhalten (ib.
86—93), freilich in einer Form, die es erst im Laufe des
dritten Jahrhunderts erhalten haben kann. Über die Gliede-
rung dieses Systems sind auch sonst Nachrichten erhalten
(Sen. Ep. 89; S. Emp. Dogm. LH, 15).
Das Wesen der Dinge ist nicht mit Sicherheit zu er-
kennen. Mit Sicherheit wahrnehmbar sind nur die AflFek-
tionen, die wir innerlich erfahren, die Zustände unseres
Bewufstseins. Die genauere Darlegung dieser Erkenntnis-
lehre, wie sie sich bei Sextus Empiricus (Dogm. L
190 ff. und andere Stellen) findet, ist schon bei Aristipp
selbst angeftlhrt worden. Indem hier das "wirklich Erfahr-
bare mit grofser Konsequenz auf das innerlich, im Bewufst-
sein des Subjekts Vorgehende eingeschränkt wird, wird die
Erfahrungslehre (der Empirismus) mit Notwendigkeit skep-
tisch in bezug auf alles nicht unmittelbar im Bewufstsein Ge-
gebene. Ob den Dingen an sich Farbe, Ton u. s. w. zukommt,
ist unbekannt. Um diese reine Subjektivität der Empfindung
recht nachdrücklich zum Ausdruck zu bringen, sagten sie,
der Empfindende selbst werde süfs, bitter, hell, dunkel, er
werde zum Pferde, zur Mauer u. dergl. (Plut. Kolot. 24 f. ;
vergl. Cic. Ac. II. 76, 142). Eine Wissenschaft von der
Natur ist daher unmöglich. Sie ist aber auch entbehrlich,
da die Fieiheit von abergläubischer Götterfurcht und von
der Furcht in bezug auf ein Leben nach dem Tode auch
ohne Naturwissenschaft erreicht werden kann.
Unter den in unserem Bewufstsein auftretenden Er-
scheinungen sind zwei Arten von besonderer Bedeutung für
unser Wohlsein, die sinnliche, d. h. direkt vom Körper her
ohne Vermittlung eines Vorstellens verursachte Lust und
Unlust. Jene entspringt aus einer sanften, diese aus einer
rauhen Bewegung. Alle lebenden Wesen erstreben diese
Lust und meiden diese Unlust. Auch der Mensch macht
davon keine Ausnahme. Während des Genusses sinnlicher
Lust ist er befriedigt und strebt nach nichts weiter. Diese
Lust ist also das erstrebenswerteste Gut. Aber nur sie
Döring. I. 32
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498 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc
selbst eben als Bewegung, nicht als blofs vorgestellte in der
Rtickerinnerung oder Zukunftserwartung, wo das Merkmal
der Bewegung fehlt. Wegen dieser Ausschliefsung der Er-
innerung und Hoffnung kann denn auch nicht von Glück-
seligkeit im Sinne eines das Gesamtleben umfassenden Zu-
standes die Rede sein; nur in bezug auf die einzelnen von
Sinnenlust erfüllten Lebensmomente wollen sie den Ausdruck
gelten lassen.
Der Beschaffenheit nach ist diese Lust immer die gleiche,
gleichviel, wie sie verursacht ist. Ja, auch hinsichtlich des
Stärkegrades (Intensität, Quantität) mufs ihren einzelnen
Akten eine wesentliche Gleichartigkeit zuerkannt werden.
Diese letztere Angabe hat auf den ersten Anblick etwas
Auffallendes, ist aber doch folgerichtig aus der Grundvoraus-
setzung abgeleitet. Die sanfte Bewegung hat zwei Grenz-
gebiete, eins, wo sie sich dem nicht mehr Merkbaren nähert,
ein anderes, wo durch Steigerung der Lebhaftigkeit eine
Annäherung an die rauhe, also unlustvolle Bewegung statt-
findet. Das in der Mitte zwischen diesen beiden Grenz-
gebieten Liegende ist also auch hinsichtlich des Stärke-
grades von wesentlich gleichartigem Charakter.
Die blofse Abwesenheit von Unlust gehört so wenig zur
Lust], wie die blofse Abwesenheit der Lust als Unlust ge-
rechnet werden kann. Da beide Gefühle aus Bewegung
entspringen , kann der Zustand der reinen Bewegungslosig-
keit, den sie mit dem eines Schlafenden verglichen, weder
nach der einen noch nach der anderen Seite in Anschlag
gebracht werden.
Unter den einzelnen Sinnen sprechen sie dem Gesichts-
und Gehörssinn, diese rein für sich genommen, ohne Zu-
sammenhang mit den anderen Sinnen, die Fähigkeit zu
echter Lustwirkung ab. Durch diese beiden Sinne entstehen
nicht sowohl jene Bewegungen, als vielmehr Vorstellungen.
Vorstellungen aber sind, auch wenn sie Unlustzustände zum
Gegenstande haben, eher lustvoll als unlustvoll. Das be-
weist die tragische Kunst, die ja Lustwirkungen hervorbringt,
obschon sie Unlustzustände darstellt.
Gleich starke Lust- und Unlustzustände können hin-
sichtlich des Lustwertes doch nicht ohne weiteres gegen-
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IL 2. Die kyrenaische Hauptschule. 499
einander gerechnet werden. Wegen des natürlichen Lust-
bedürfnisses sind die Lustzustände selbstverständlicher und
also von verhältnismäfsig schvrächerer Wirkung, die Unlust-
zustände naturwidriger und also von verhältnismäfsig stärkerer
Wirkung. Die Erkauf ung von Lust durch Unlust mufs daher
möglichst vermieden werden.
Innerhalb gewisser Grenzen gestanden sie auch eine
nicht aus dem Körper entspringende, sondern auf Vor-
stellungen in der Seele beruhende Lust zu, z. B. aus der
Vorstellung eines vorhandenen glücklichen Zustandes des
Vaterlandes. Wie sie dies mit ihren Grundprinzipien in
Einklang brachten, nur die vom Körper aus durch sanfte
Bewegung erzeugte (sinnliche) Lust als Lust anzuerkennen,
wird nicht berichtet. Immerhin ist ihnen die körperliche
Lust wertvoller als die seelische und die körperliche Un-
lust schlimmer als die seelische (90). Auch wird in diesem
Zusammenhange nochmals eingeschärft, dafs weder die Er-
innerung an genossene noch die Erwartung zukünftiger Lust
zur Lust gerechnet werden könne. Bei beiden fehle das
Merkmal der Bewegung; im Falle der Erinnerung ist die
früher vorhanden gewesene durch die Zeit aufgehoben, in
dem der Erwartung ist sie überhaupt noch gar nicht vor-
handen.
Wer nach diesen Sätzen lebt, ist der wahre Weise.
Die Eigenschaft, durch die er sein Handeln gestaltet, ist die
Einsicht. Sittliche Grundsätze sind hierbei im Prinzip
ebensowenig mafsgebend wie religiöse Glaubenssätze. Letztere
— einschliefslich der über das Jenseits — sind Wahn-
vorstellungen. Erstere beruhen nicht auf Natur, sondern
auf Satzung und Herkommen. Ebenso bildet die Un-
anständigkeit der Handlungen, aus denen Lust entspringt,
kein Hindernis ihres Vollzuges (93, 88). Doch wird der
Weise nichts tun, das gesetzliche Strafen nach sich zieht
oder Schande bringt. Hier findet das Luststreben an dem
Grundsatz , die Lust nicht durch Unlust zu erkaufen , seine
Grenze.
Heftige Erregungen, wie Neid oder leidenschaftliche
Liebe, vermeidet der Weise nach Möglichkeit ; freilich vermag
32»
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500 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren ßokratisch. Schulen etc.
er z. B. der Trauer oder Furcht, die in der Natur be-
gründet sind, nicht aus dem Wege zu gehen. Tugend ist
dasjenige Verhalten, das Sinnenlust bewirkt, natürlich unter
Ausschlufs sonstiger übler Folgen (Cic. Off. IIL 116). Freund-
schaft oder Leibesübungen empfehlen sich durch den aus
ihnen entspringenden Nutzen. Besitz ist nur insoweit zu
erstreben, als er ein Hilfsmittel zur Beschaffung von Sinnen-
genüssen ist.
Da das zu Erstrebende nur in den vereinzelten Sinnen-
genüssen besteht, so kann durchaus nicht erwartet werden,
dafs der „Weise" durchaus glücklich, der Tor durchaus un-
glücklich ist. Es kann sich bei jenem nur um ein Über-
wiegen des Lustvollen handeln. Dies darf für den Weisen
erwartet werden, da er ja seine ganze Lebensführung hierauf
anlegt. Der Weise ist in bezug auf die Erreichung des
Lebensziels jedenfalls vor dem Toren im Vorteil, und das
genügt, um das Streben nach Weisheit als das bessere Teil
zu empfehlen (91).
Wir haben hier offenbar ein mit der gröfsten Schärfe
und Folgerichtigkeit durchgeführtes System des sinn-
lichen Hedonismus vor uns. Beider grofsen Kürze des
Abrisses treten freilich besonders die Folgerungen für die
Lebensgestaltung nicht mit genügender Deutlichkeit und
Vollständigkeit zu Tage, und an einer Stelle, bei der Zu-
lassung der Lust über das Gedeihen des Vaterlandes, scheint
eine patriotische Inkonsequenz die Logik des Systems durch-
brochen zu haben. Wer dem System dies Gepräge gegeben
hat und in welchen Schriften es niedergelegt war, ist nicht
bekannt.
3. Die Seitenzweige der kyrenaisohen Soliule.
A. Theodorus der Gottesleugner soll noch ein
unmittelbarer Schüler des Aristipp gewesen sein (D. L.
II. 86), wich aber in wesentlichen Punkten von der Lehre
der Hauptschule ab. Es gab eine nach ihm benannte
Schule derTheodoreer (ib. 97). Seinen Beinamen erhielt
er davon, dafs er in einem Buche „Über die Götter" die
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II. 8. Die Seitenzweige der kyrenaischen Schule. 501
Existenz eines Göttlichen in jedem Sinne leugnete (ib.). Er
mufs dies, während die Hauptschule sich mit der Leugnung
einer Vorsehung und eines persönlichen Waltens begnügte,
in der schroffsten und rückhaltlosesten Weise ausgesprochen
haben. Aufser ihm werden nur ganz wenige unter den
alten Denkern als eigentliche Gottesleugner bezeichnet (Cic.
N. D. I. 2, 63, 117; S. Emp. Hyp. III. 218; Dogm. III.
51, 55), obwohl ja, wie mehrfach hervorgehoben worden ist,
namentlich die Naturphilosophen das Göttliche in einem von
der Volksreligion unendlich weit abliegenden Sinne fafsten.
Er wurde wegen seiner Stellung zur Religion aus Kyrene
verbannt (ib. 103) und hielt sich darauf eine Zeitlang in
Athen auf, wo er gegen Bezahlung Unterricht erteilte
oder auch populäre Vorträge in der Weise der Sophisten
späterer Jahrhunderte hielt (D. L. IV. 52 ; IL 102). Dieser
athenische Aufenthalt mufs in die Jahre 316—306 fallen, in
denen Demetrius Phalereus dort Statthalter war.
Dieser nämlich bewahrte ihn vor einer Verurteilung durch
den Areopag wegen Gottesleugnung (D. L. IL 101; vergl.
116). Er mufste jedoch schliefslich Athen verlassen (ib. 102).
Eine Zeitlang hielt er sich bei Ptolemäus Lagi (323 — 283) in
Ägypten auf und ging als dessen Gesandter zu Lysimachös
in Thracien (t 281), an dessen Hofe die früher erzählte Be-
gegnung mit Hipparchia stattfand. Auch Lysimachös scheint
ihn aber wegen seiner Gottesleugnung von seinem Hofe ver-
wiesen zu haben (102). Zuletzt lebte er wieder in Kyrene
(103).
In seiner Lehre tritt ebenso wie in seinem persönlichen
Verhalten eine gewisse brutale Rücksichtslosigkeit hervor,
die ihm auch ausdrücklich beigelegt wird (IV. 52). Diese
zeigt sich aufser in der Gottesleugnung auch sonst in der
rückhaltlosen Weise, in der er die Konsequenzen der Lust-
lehre aussprach. Es gibt nichts von Natur Verwerfliches;
die sittlichen Satzungen dienen nur dazu, die Toren im
Zaume zu halten. Während daher die Hauptschule das
durch Gesetz und Sitte Verpönte praktisch unter allen Um-
ständen meiden hiefs, erklärte er, der Weise werde sich des
Diebstahls, Ehebruchs, Tempelraubs oder des öffentlichen
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5 02 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Geschlechtsverkehrs unter Umständen nicht enthalten (II. 99).
Der Freundschaft bedarf der Weise nicht, da er sich selbst
genügt, und beim Toren kann wahre Freundschaft nicht
stattfinden, da dieser nur des Nutzens wegen Freunde sucht
Wenn der Weise sich ftir das Vaterland aufopfere, so hiefse
das, ein mit Einsicht ausgestattetes Leben zum Vorteil der
Toren preisgeben. Überdies sei die ganze Welt das Vater-
land des Weisen (98).
Nach einer anderen Richtung weicht er dadurch von der
Hauptlehre ab, dafs er das höchste Gut und Übel nicht in
die sinnliche Lust und Unlust selbst und an sich setzte,
sondern in die dabei empfundene Freude oder BetrQbnis.
Er unterschied also zwischen dem körperlichen Vorgange
und der seelischen Wirkung desselben. Offenbar wollte er
durch diese Unterscheidung das Wohl- oder Übelbefinden
mehr von dem äufseren Reiz unabhängig machen und in die
Gewalt des Weisen bringen. Namentlich der sinnlichen Un-
lust gegenüber wurde es dadurch der freien Entscheidung
des Weisen anheimgegeben, ob er sie als ein Übel ansehen
wolle oder nicht Er kann, wenn er will, ihr trotzen, sich
geistig über sie erheben. Diesen trotzigen Sinn legt ihm
die Anekdote bei, nach der er dem König Lysimachos auf
die Drohung mit Hinrichtung ohne Begräbnis erwidert, er
hänge nicht am Leben, und was das Begräbnis betreffe, so
sei es ihm einerlei, ob er in der Erde oder in der Luft
verfaule (Sen. Tranqu. 14; Cic. Tusc. I. 102; vergl. V. 117).
In diesem Sinne erklärt er die sinnliche Lust und Unlust
an sich sogar für gleichgültige Mitteldinge; die Einsicht
hat zu entscheiden, ob sie sie als Güter oder Übel an-
nehmen will. So wird diese, die Einsicht, zum eigentlichen
Gut, zur letzten Instanz des Werturteils. Von diesem Prinzip
aus gewinnt er sogar den in den früher angeführten Sätzen
aufgegebenen sittlichen Standpunkt wieder. Da die Einsicht
erkennt, dafs die Verletzung der Gerechtigkeit durchweg
üble Folgen hat, erscheint ihm die Gerechtigkeit geradezu
neben der Einsicht als Gut (D. L. 98).
Anscheinend etwas später, nämlich nach dem zweiten
Nachfolger des Antipater, spaltet sich die von diesem aus-
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IL 3. Die Seitenzweige der kyrenaischen Schale. 503
gehende Richtung, über deren ursprünglichen Charakter
nichts bekannt ist, in zwei Zweige, die Anhänger des Anni-
keris und des Hegesias.
Über die Lehre der Annikereer gibt es aufser dem
Bericht bei Diog. Laert. (96 f.) noch einen solchen bei Clemens
von Alexandria (Strom. II. 417). Nach beiden stimmten sie
in den Grundzügen mit dem Hauptsystem überein, namentlich
darin, dafs sie ein einheitliches Ziel für das Gesamtleben
verwarfen und nur für die einzelnen Lebensmomente ein
solches anerkannten, und dafs sie der blofsen Unlustfreiheit
als dem Zustande eines Toten gleichkommend keinen Wert
beilegten.
Dagegen finden sich zwei tiefgreifende Abweichungen
Erstens fanden sie aufser in der Sinnenlust auch in gewissen
Handlungen der Aufopferung eine Quelle der Freude und
des Genusses. Einen schwachen Ansatz zu dieser Lehre,
aber ohne Klarheit und Folgerichtigkeit, zeigte auch das
Hauptsystem in der Freude am Gedeihen des Vaterlandes.
Kach den Annikereern entspringt Lust auch aus Handlungen
der Freundschaft, der Dankbarkeit, der Pietät gegen die
Eltern und der tätigen Teilnahme am Vaterlande. Solche
Handlungen sind auch dann beglückend, wenn sie mit Mühe,
Opfern und Einbufse an Sinnengenüssen verbunden sind.
Die Triebfeder bleibt aber auch bei ihnen durchaus die
selbstische. Das Glück des Freundes z. B. könnte nach
ihrer Lehre für den andern nur dann direkt einen Gegen-
stand des Strebens bilden, wenn er dasselbe unmittelbar
(nicht blofs durch das Mitgefühl) als das seinige empfinden
könnte (D. L. 96). Dafür aber erkannten sie gerade in der
Freundschaft einen unmittelbaren Zug und Drang des Wohl-
wollens an, der auch dann noch wirksam sei, wenn |der
Freund keinen Nutzen bringt und wenn um seinetwillen
Unlustzustände übernommen werden müssen. Doch ist auch
dieser Drang zu Opfern immer noch selbstischer Natur
(ib. 97)." Clemens drückt diese selbstische Ableitung so aus :
„Freude entspringt nicht nur aus Sinnengenüssen, sondern
auch aus der Hingabe in Verhältnissen zu anderen und aus
edlen Handlungen." Auch hier wird die erwartete Freude
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504 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
deutlich als Triebfeder des gesamten Tuns bezeichnet. Ob
sie die Entstehung dieser beglückenden Gefühle aus selbst-
losen Handlungen noch weiter zu erklären versucht haben
oder sich dafür lediglich auf das Zeugnis der unmittelbaren
Erfahrung, des Gefühls berufen haben, wird nicht berichtet.
Jedenfalls erweitert sich hier der sinnliche Hedonismus
der Hauptschule zu einem universellen Hedonismus, der
auch sittliche Aufopferung einschliefst.
Der zweite Differenzpunkt ist folgender. Es gibt in der
menschlichen Natur einen überwiegenden Hang zum Schlechten
(d. h. zum roh und gemein Selbstischen). Dieser kann nicht
durch die blofse Vernunftüberzeugung von den aus edleren
Handlungen entspringenden Lustgefühlen überwunden werden.
Der Intellektualismus ist als Triebkraft zur Gewinnung
dieser edleren Glücksgefühle nicht ausreichend. Um die
rechte Spannkraft zu solchen edleren Betätigungen gegen-
über der in der Masse herrschenden niederen Selbstsucht zu
gewinnen, bedarf es aufser der Vernunfttätigkeit auch einer
Gewöhnung zu der edleren Verhaltungsweise (D. L. 90).
Diese mufs, um uns zu den mit Opfern verbundenen Hand-
lungen zu befähigen, der Vemunftüberzeugung als Hilfskraft
zur Seite stehen.
H e g e s i a s verhielt sich zunächst zu der Annahme
einer idealeren Leistungsfähigkeit der Selbstsucht bei den
Annikereem ablehnend. Dankbarkeit, Freundschaft, Wohltat
seien nur denkbar, wo ein eigener Nutzen im engeren und
eigentlichsten Sinne in Betracht komme (D. L. 93). Ins-
besondere sei die Leistung des Weisen (durch Belehrung)
den anderen gegenüber eine so unverhältnismäfsig über-
legene, dafs von einer Ausgleichung derselben durch die ihm
zu teil werdenden Gegenleistungen nicht die Rede sein könne
(95). Danach kann also folgerichtig beim Weisen ein An-
trieb zum aufopfernden Wirken für andere nicht entstehen.
Seine Hauptabweichung aber besteht darin, dafs er von
einer veränderten Fassung der Lustlehre und von Erwägungen
über die Ungunst der menschlichen Schicksalslage aus dazu
kam, die Möglichkeit der Glückseligkeit über-
haupt zu leugnen. Ein im H auptsystem schon angelegter
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II. 8. Die Seitenzweige der kyrenaischen Schule. 505
Zug, nämlich die Lehre vom gröfseren Schwergewicht der
Unlustgefühle im Vergleich mit der Natürlichkeit und Selbst-
verständlichkeit der Lust, wächst sich bei ihm zu be-
herrschender Bedeutung aus. Der sinnliche Hedonis-
mus schlägt bei ihm in einen regelrechten Pessi-
mismus um.
Die Begründung ist eine doppelte. Einesteils erklärt
er, die Entstehung von Lust und Unlust sei nicht ohne
weiteres in gleichartiger und gesetzmäfsiger Weise in der
Menschennatur angelegt. Die Gefühlswirkungen sind nicht
in eindeutiger Weise von dem einwirkenden Objekt ab-
hängig. Ihr Eintreten oder Nichteintreten ist ganz über-
wiegend durch begleitende Nebenumstände bedingt. Ist
Sättigung mit Lustgefühlen (überhaupt oder von einer be-
stimmten Art) vorhanden, so ist kein Boden mehr für neue
starke Lustwirkungen. Die eigentliche Vorbedingung für.
deren Eintreten ist die Seltenheit und Neuheit, das Fehlen
der Gewöhnung und Verwöhnung. Was für den Armen ein
besonderer Genufs sei, falle für den Reichen als solcher
weg. Ebenso verhalte es sich mit der Freiheit, der höheren
gesellschaftlichen Stellung, dem Ruhme. Nur wo diese
Güter den Reiz der Neuheit hätten, wie bei dem frei-
gewordenen Sklaven, dem aus Niedrigkeit und Unberühmt-
heit Auftauchenden, könnte von ihnen noch eine Lust-
wirkung ausgehen (D. L. 94). Vielleicht gehört in diesen
Zusammenhang auch die Lehre, die Cicero (Tusc. III. 28,
52, 59, 76) den Kyrenaikern überhaupt beilegt, dafs nur
das unerwartet eintreffende Übel als Übel empfunden werde.
Andemteils ist die menschliche Schicksalslage überhaupt
eine viefach ungünstige. Die Seele ist völlig abhängig vom
Körper und wird fortwährend in den Strudel der wechseln-
den Zustände desselben hineingezogen und durch dieselben
in beständiger Unruhe erhalten. Ein unberechenbares Ge-
schick vereitelt fortwährend unsere Hoffnungen (94). Dazu
kommt, dafs unsere ganze Erkenntnis der Dinge, nach der
wir doch unser Handeln einrichten müssen, durch die Empfin-
dungen vermittelt ist, diese aber ungenau und trüglich sind,
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506 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
SO dafs wir nur nach einer gewissen Wahrscheinlichkeit
unser Handeln einrichten können (95).
So kommt er zu folgenden Sätzen: Glückseligkeit ist
etwas nicht zu Erlangendes. Leben und Tod ist gleich-
wertig (also doch das Nichtsein nicht unbedingt und unter
allen Umständen vorzuziehen). Dem Toren (der die wirk-
liche Sachlage nicht durchschaut) mag das Leben erspriefslich
sein; für den Weisen ist es etwas Gleichgültiges. Er wird
sein Bestreben nicht sowohl auf die Erlangung von Gütern,
als auf die Vermeidung der Übel richten (94 f.). Als höchstes
Ziel setzt er sich die Freiheit von körperlichen Beschwerden
und seelischer Unlust. Dies wird er aber am besten erreichen,
wenn er sich gegen die Hilfsmittel des sinnlichen Genusses
gleichgültig verhält (96).
Ganz weltschmerzlich klingt es auch, wenn das Unrecht,
das uns die Menschen antun, nicht aus ihrem freien Willen,
sondern aus der Herrschaft der sie bedrängenden Affekte
abgeleitet wird. Daher ziemt sich nicht Hafs, sondern Ver-
zeihung und Unterweisung zum Richtigen.
Dieser Hegesias hatte sich, gewifs nicht auf Grund der
Absichten, die er mit seiner Lehre verfolgte, sondern auf
Grund der unbeabsichtigten Wirkungen, die von derselben
ausgingen, den Beinamen des „zum Tode Überredenden"
(peisithänatos) erworben (86). Er hatte einen Dialog unter
dem Titel: „Der sich zu Tode Hungernde" (apokarterön)
geschrieben, dessen Situation die war, dafs einen in frei-
williger Aushungerung Begriffenen die Freunde aufsuchen,
um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, er aber in seinen
Gegenreden durch Darlegung der Übel des Lebens seinen
Entschlufs rechtfertigt. So beweglich soll auch Hegesias
selbst in seinen Vorträgen die Leiden des Lebens geschildert
haben, dafs viele seiner Zuhörer dadurch zum Entschlufs
des Selbstmords gebracht wurden und König Ptolemäus von
Ägypten, zu dessen Reiche Kyrene gehörte, ihm schliefslich
derartige Vorträge verboten habe (Cic Tusc L 83 f. ; Z.
341, 3).
So ist aus dem Wirken des Aristipp auf einem ab-
gelegenen Schauplatze des griechischen Lebens eine mannig-
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III. 1. Euklid von Megara. 507
faltige und nicht unfruchtbare Erörterung bedeutsamer philo-
sophischer Probleme erwachsen. Wie lange diese Schulen
ihr Dasein gefristet haben, ist nicht bekannt, doch haben sie
unzweifelhaft über ein Jahrhundert nach Aristipps Tode, bis
gegen die Mitte des 3. Jahrhunderts, bestanden.
III. Die megarische nebst der elisch-eretrischen
Schule.
1. Buklid von Megrara.
Euklid von Megara, nicht zu verwechseln mit dem
über hundert Jahre später in Alexandria lebenden Mathe-
matiker dieses Namens, mufs annähernd um 430 geboren
sein. Er gehörte in der letzten Lebenszeit des Sokrates dem
engeren Schülerkreise desselben an. Nach einer alten Er-
zählung (Gell. N. A. 6, 10) wurden, nachdem er schon eine
Zeitlang mit Sokrates verkehrt hatte, die Megarenser mit
dem Tode bedroht, wenn sie sich in Athen betreffen liefsen.
Er soll darauf öfter zur Nachtzeit in Weiberkleidem den
30 Kilometer betragenden Weg nach Athen hin und zurück
zu Fufse zurückgelegt haben, um einige Nachtstunden mit
Sokrates Zusammensein zu können. In Xenophons Denk-
würdigkeiten wird er nicht erwähnt. Beim Tode des Sokrates
war er gegenwärtig (Plat. Phaed. 59 C) und gewährte nach
demselben Plato und anderen Sokratikem, die befürchten
mufsten, dafs der Hafs der herrschenden Partei sich auch
gegen sie richten möchte, in Megara eine zeitweilige Zu-
fluchtsstätte (D. L. II. 106; III. 6 nach dem Platoschüler
Hermodor). Der arme und einflufslose Antisthenes und der
Ausländer Aristipp scheinen sich jedoch nicht unter diesen
befunden zu haben.
Die megarische Schule gehört zu den zahlreichen grie-
chischen Philosophenschulen, deren Dokumente völlig unter-
gegangen sind. Nur spärliche und unsichere Nachrichten
sind über sie vorhanden. So läfst sich denn auch die eigen-
artige philosophische Entwicklung Euklids, vermöge deren er
durch seine Einwirkung auf Plato ein überaus wichtiges
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508 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Mittelglied im Entwicklungsgange der alten Philosophie
überhaupt geworden ist, nur vermutungsweise bestimmen.
Von der ursprünglichen, anscheinend rein sokratischen
Schriftstellerei Euklids war schon bei den „reinen Sokra-
tikem" die Rede. Wenn die ihm zugeschriebenen sechs
Dialoge echt waren, so beweisen schon die harmlosen Titel
derselben (Äschines, Kriton, Alkibiades, Von der Liebe
u. dgl.), dafs darin die spätere Lehre Euklids noch nicht
vorgetragen wurde. Sie waren dann wohl Schriften, in denen
Euklid im Zusammenhange mit Plato und Phädon in Megara
und im Wetteifer mit diesen durch Wiedergabe eng an
Sokrates sich anschliefsender Gedankengänge das Andenken
des dahingeschiedenen Meisters pflegte.
Aber bald nahm die geistige Entwicklung Euklids eine
durchaus veränderte Richtung an. Es wird bezeugt, dafs
er sich mit der Lehre des P arme nid es befafste (D. L.
n. 106). Dafs diese Beschäftigung bei ihm schon um 394
vorhanden war, beweist der um diese Zeit verfafste „Theätet"
Piatos. Dieser Dialog weist schon durch ein äufseres
Merkmal darauf hin, dafs zur Zeit seiner Abfassung eine
engere geistige Gemeinschaft seines Verfassers mit Euklid
bestand. Es wird nämlich in der Einleitung der ganze
Dialog als ein von Euklid aus dem Munde des Sokrates
aufgezeichneter eingeführt. Selbstverständlich ist dies nur
eine Form der Einkleidung, durch die aber Plato eine nahe
Beziehung der darin entwickelten Gedanken zu Euklid aus-
drücken will.
Dieser Dialog handelt von dem Wesen des Wissens, der
Erkenntnis. Er verläuft ohne ein positives Resultat und
ist auch in den einzelnen Wendungen der Untersuchung
unklar und schwerverständlich. Wir dürfen also von ihm
von vornherein auch über den damaligen Standpunkt Euklids
keinen deutlichen Aufschlufs erwarten. Folgendes ist aber
deutlich erkennbar. Gefordert wird eine unbedingt sichere
und gültige (apodiktische) Erkenntnis. Die verschiedenen
Theorien, die das Erkennen mit dem Wahrnehmen gleich-
setzten und sich dabei auf die Lehre Heraklits stützten,
dafs das Wesen der Dinge ein beständig sich Veränderndes,
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in. 1. Euklid von Megara. 509
immer nur Werdendes sei (Protagoras, Aristipp), können
dieser Anforderung nicht genügen. Dem gegenüber wird
mit besonderem Nachdruck wiederholt auf die alle Bewegung
und Veränderung vom Seienden ausschliefsende Lehre der
Eleaten hingewiesen (180 E ff., 183 E). Plato selbst ver-
meidet es an dieser Stelle noch ausdrücklich, zu diesem radi-
kalen Gegensatz in betreff des Wesens der Dinge Stellung zu
nehmen (181 B). Vollends also sind Aufschlüsse über die da-
malige Stellung Euklids hier nicht zu erwarten. Nur das kann
vermutungsweise aus diesem Dialog herausgelesen werden, dafs
im Gegensatz gegen den Heraklitismus die Bewegungsleugung
des Parmenides schon damals in seinen Gesichtskreis ge-
treten war und dafs er schon damals gegenüber der ver-
änderlichen Erscheinungswelt als den einzig wahren Gegen-
stand wirklicher Erkenntnis ein beharrendes Sein im Sinne
des Parmenides annahm, das durch Denken erfafst wird.
„Nur durch die Seele kann das beharrende Sein (usla) er-
fafst werden" (186 A). „Wahrnehmen ist kein Wissen"
(186 E).
Es ist sehr wahrscheinlich, dafs sich aus diesen An-
fängen zuerst bei Euklid die Fassung der sokratischen Be-
griffe als immaterieller, aller Veränderung entrückter Wesen-
heiten, d. h. Ideen, entwickelt hat. Aristoteles beschreibt
diese Entwicklung folgendermafsen , allerdings ohne dabei
Euklid ausdrücklich als ihren Urheber zu bezeichnen (1078 b,
9 ff.). „Die ersten Vertreter der Ideenlehre" kamen zu ihrer
Ansicht durch die Überzeugung von der Wahrheit der hera-
klitischen Lehre , dafs alles Sinnenfällige in beständigem
Flusse sei. Von diesem Fliefsenden könne es kein Wissen
geben. Sollte ein solches möglich sein, so müsse es aufser
dem Sinnenfälligen von diesem verschiedene beharrende Ob-
jekte (eigentlich „Naturen") geben. Nun habe Sokrates
zuerst Begriffe gebildet, jedoch ohne denselben eine Sonder-
existenz zuzuschreiben. (Er betrachtete sie lediglich als
Gebilde unseres Denkens.) Die Vertreter der Ideenlehre
aber hätten — eben um einen Gegenstand wahren Wissens
zu erlangen — diesen sokratischen Begriffen eine reale
Sonderexistenz beigelegt und sie Ideen genannt. Dazu
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510 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
eigneten sich die Begriffe wegen ihrer Festigkeit und Un-
veränderlichkeit.
Dafs bei dieser Umwandlung der Begriffe in meta-
physische Substanzen Parmenides Gevatter gestanden hat,
hebt Aristoteles nicht hervor. Und doch hatte schon
Parmenides den Rückschlufs von der Unveränderlichkeit des
Gedankens auf die Bewegungslosigkeit des wahren Seienden
gemacht. Es brauchten nur an Stelle des parmenideischen
Gedankens die sokratischen Begriffe eingesetzt zu werden,
und die Ideenlehre in ihrer ursprünglichen Form ^ar fertig.
Wie sehr auch noch später die Schule Euklids den Anschlufs
an die Floaten suchte und diese für ihre Vorläufer ausgab,
geht schon daraus hervor, dafs noch Cicero (Ac. II. 129)
sogar Xenophanes geradezu für den Urheber der mega-
rischen Schule erklärte.
Dafs nun diese Umwandlung zuerst von Euklid vor-
genommen wurde, scheint aus dem um 388 verfafsten
„Sophistes" Piatos hervorzugehen. In diesem Dialog werden
als die beiden zur Zeit einander gegenüberstehenden und
sich lebhaft bekämpfenden Ansichten über die Natur des
Seienden einesteils die materialistische, andernteils eine
solche aufgeführt, die das wahrhaft Seiende in eine unsicht-
bare Welt versetzt, es für Gedankendinge und unkörperliche
Gestalten erklärt (245 A -246 B). Die Vertreter dieser letz-
teren Ansicht werden auch als die „Ideenfreunde** be-
zeichnet (248 A). Dieses wahrhaft Seiende kann nach dieser
Lehre nichts wirken oder leiden und hat am Werden und
der Veränderung keinen Anteil. Bewegung, Leben, Seele,
Einsicht, Vernunft wird ihm abgesprochen. Unwandelbar
verharrt es in ehrwürdiger Ruhe. Nur durch Denken kann
es erkannt werden (248 B—E). Es ist also eine Welt der
Musterbilder. Dem Körper nach haben wir durch die
Sinneswahrnehmung am Werdenden, d. h. an der veränder-
lichen Erscheinungswelt, Anteil, der Seele nach durch das
Denken am wahrhaft Seienden (248 A).
In dieser in starrer Ruhe verharrenden Ideenwelt
konnte natürlich auch kein Wechsel der einem Begriffe zu-
kommenden Merkmale und Prädikate vorkommen. Es ist
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UI. 1. Euklid von Megara. 511
daher eher von Euklid als von Antisthenes verständlich,
dafs er aus dieser Lehre die Konsequenz zog, man dürfe
einem Subjekt überhaupt kein anderes Prädikat beilegen
als es selbst, und z. B. vom Menschen nichts anderes aus-
sagen als dafs er Mensch , vom Guten nichts anderes als
dafs es gut sei. Wenn daher als Vertreter dieser Lehre
Junge und „spätlemende Greise" genannt werden (251 B),
so ist es wahrscheinlich, dafs der letztere Ausdruck ein
spöttischer Seitenhieb auf Euklid war, der ja um 388 jeden-
falls schon die Vierzig überschritten hatte und sich viel-
leicht schon den Fünfzigen näherte und der offenbar erst
kurz vor der Abfassung des „Sophistes" zur vollen Aus-
bildung seiner abstrakten Ideenlehre gelangt war. Aller-
dings wird bei Aristoteles auch Antisthenes diese absurde
Konsequenz der Begriffslehre beigelegt, und auch er könnte
daher möglicherweise unter den „spätlemenden Greisen"
mitverstanden sein. Doch ist bei ihm, der ja im Prinzip bei
der sokratischen Begriffslehre stehen blieb, das Neugelemte
nicht so umfassend und tiefgreifend wie bei Euklid. Auch
wird er mit seinen Ansichten damals schon längere Zeit auf
dem Reinen gewesen sein. Sachlich betrachtet, entbehrte
selbstverständlich dies absurde Verbot der Prädizierung für
beide Standpunkte der Folgerichtigkeit. Für den Erfahrungs-
standpunkt des Antisthenes war gar kein Anlafs vorhanden,
die Prädizierung aufzuheben, und aus der abstrakten Ideen-
lehre Euklids konnte nur gefolgert werden, dafs in dieser
jenseitigen Welt der Ideen ein Wechsel der Merkmale
und Eigenschaften nicht stattfinde, nicht aber, dafs über-
haupt den Ideen keine Mannigfaltigkeit von Eigenschaften
anhafte.
Da Plato von den „Ideenfreunden" in der Mehrheit
spricht, so scheint Euklid, wenn anders er gemeint ist, für
die damalige Form seiner Lehre eine Anhängerschaft gehabt
zu haben. Wenn aber anderen Nachrichten zu glauben ist,
30 hatte er selbst damals noch nicht ausgelernt, und die im
„Sophistes" gekennzeichnete Form seiner Lehre war noch
nicht die endgültige. Diogenes Laertios schreibt ihm
folgende Lehre zu (II. 106). Das Gute sei einheitlich,
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512 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
werde aber mit vielen Namen benannt. Man nenne es Ein-
sicht, Gott, Vernunft und noch anders. Das dem Guten
Entgegengesetzte sei nicht seiend. Wenn diese Angabe
richtig ist, war er in einer letzten Phase seiner Entwicklung
vollends zur Einheitslehre des Parmenides übergegangen,
wobei er natürlich das „Eine** des Parmenides nicht als eine
„wohlgerundete Kugel", sondern im Sinne seiner früheren
Ideenlehre völlig immateriell gefafst haben mufs. Er
hatte ferner auch in dieser Phase diese Einheitslehre mit
einem sokratischen Begriffe, dem Begriffe des Guten, ver-
quickt. Das Gute war bei Sokrates das dem Handelnden
selbst Heilsame, das eben als solches auch für sein gemein-
nütziges Handeln den Beweggrund bildete. Sokrates hatte
dies Gute für das praktische Verhalten ausdrücklich für
ein unbegrenzt Mannigfaltiges erklärt, das nur in dem an
sich inhaltleeren Begriff der Glückseligkeit seinen Einheits-
pimkt finde. Euklid aber hat diesen praktischen, auf die
Glückseligkeit des einzelnen bezüglichen Begriff ins Meta-
physische hinübergerückt und ihn mit dem unveränderlichen
und unbeweglichen Einen der Eleaten in eins gesetzt. Auch
Cicero bezeugt, dafs Euklid für das einzig Gute „das Eine,
das sich selbst Gleiche und immer dasselbe" erklärt habe
(Ac. II. 129). Dafs er aber zugleich das „Eine" der ihm
bei Parmenides noch anklebenden stofflichen Beschaffenheit
vollständig entkleidet hat, das beweisen die Prädikate, mit
denen es bezeichnet wird. Es ist Einsicht, Gott, Vernunft.
War das Eine bei Xenophanes und Parmenides, obgleich
stofflich, doch zugleich denkend, vernünftig, so ist es jetzt
seinem ganzen Wesen nach nichts anderes als Einsicht und
Vernunft.
Ist das „Eine" des Parmenides zum „Guten" geworden,
so der Gegensatz des Einen, das wesenlose, veränderliche
Viele der trügerischen Erscheinungswelt zum Gegensatz des
Guten. Ganz wie bei Parmenides wird dieses dem vermeint-
lich einzig wahrhaft Wirklichen, dem als geistige Substanz
gesetzten Gebilde des Denkens Entgegengesetzte für nicht
seiend erklärt. Das Bedürfnis eines unbedingt sicheren
Erkennens hat zur Leugnung der Erscheinungswelt geführt.
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III. 1. Euklid von Megara. 513
Wahrscheinlich ist der platonische „Parmenides", wie
schon früher bemerkt, eine Auseinandersetzung mit diesem
endgültigen Standpunkte Euklids. Es ist aber dieser Dialog
nach Sinn und Gedankengang so schwerverständlich, dafs es
kaum möglich ist, aus ihm weitere Aufschlüsse Über diese
letzte Phase seiner Lehre zu gewinnen. Vielleicht hängt
die Vereinheitlichung der metaphysischen Wesenheiten mit
dem früheren Standpunkt noch in der Weise zusammen,
dafs in dem „Einen" und „Guten" nur die Vielheit der
Ideen zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefafst wurde.
Wenn nun nur dies unveränderliche Eine wahrhaft
existiert, alles Endliche aber Trug und Schein ist, so kann
es nur noch eine Lebensaufgabe für den Menschen geben:
die Erkenntnis dieses wahrhaft Seienden. Auch schon in
der Sophistesstelle ist von dieser Erkenntnis eingehend die
Rede. Vielleicht liegt in der Bezeichnung des Einen als
des Guten eine Hindeutung darauf, dafs seine Erfassung im
Erkennen als das einzig erstrebenswerte Ziel hingestellt
werden sollte. Ganz deutlich tritt diese Auffassung in der
vorstehend angeführten Stelle Ciceros hervor, wo das
„Gute" durchaus im Sinne des höchsten Gutes des Menschen
gemeint ist.
Eine Hauptaufgabe dieses Standpunktes mufste not-
wendig in der Widerlegung der gegnerischen Behauptungen
und der natürlichen Weltansicht bestehen. So erneuert sich
schon bei Euklid selbst jene spitzfindige Dialektik der alten
Eleaten, die darauf gerichtet war, die natürliche Ansicht
der Dinge als widerspruchsvoll zu erweisen. Das Vorhanden-
sein dieser Richtung schon bei Euklid beweist eine Stelle
aus den Sillen Timons (D. L. IL 107), in der er ein Zänker
genannt wird, der den Megarensem die Disputierwut ein-
geimpft habe. Dies Verfahren mufste, wenn es auch nicht
wie bei der ausartenden Sophistik im Dienste unlauterer
Interessen geübt wurde, tatsächlich auf ganz ähnliche Kunst-
stücke hinauslaufen, wie sie bei jenen im Schwange waren.
Es ist daher nicht zu verwundern, wenn die Anhänger des
Euklid als „Sophisten, die ihre Zuflucht zu den Ideen
genommen haben", oder geradezu als Sophisten schlechthin
Döring. I. 83
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514 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
bezeichnet wurden (Eudemus b. Simplic. zur Phys. 98. 1;
Aristokles bei Eus. pr. ev. 15. 2). Über die Art, wie
Euklid selbst diese Dialektik geübt hat, besitzen wir nur
dürftige Andeutungen. Plato sagt schon im Sophistes
(246 B) mit Beziehung auf ihn, er zerschlage die Körper in
kleine Stücke und nenne sie nicht Sein, sondern ein sich
bewegendes Werden. Hier scheint doch das Zerschlagen in
kleine Stücke auf Argumentationen hinzudeuten ähnlich
jenen, durch die Zeno von Elea bewies, dafs bei der An-
nahme einer Mehrheit im Körperlichen ein unendlich Vieles
herauskomme und bei dem einzelnen Körperlichen sowohl
unendliche Kleinheit bis zum Nichtsein als auch unendliche
Gröfse bewiesen werden könne. Ausdrücklich hebt Plato an
dieser Stelle hervor, dafs es sich hierbei um einen Kampf
gegen die entgegengesetzte, den Stoff bejahende Ansicht
handle. Ebenso berichtet auch Diog. Laertios (IL 107), dafs
Euklid nicht die Voraussetzungen, sondern die Resultate der
Gegner angegriffen habe, d. h. dafs er diese als widerspruchs-
voll und unhaltbar zu erweisen versucht habe. Hinsichtlich
der Voraussetzungen habe er das Verfahren des Sokrates
verworfen, durch Anführung von Analogien zu allgemeinen
Urteilen zu gelangen (z. B. dafs überall der Sachkundige
die Leitung haben müsse). Seien die Analogien dem in Rede
stehenden Gegenstande gleichartig, so fasse man besser diesen
selbst direkt ins Auge ; seien sie ihm ungleichartig, so seien
sie nicht beweiskräftig.
Als Hilfsmittel ferner, um diesem weitabgewandten
Erkenntnisstreben sich ungestört hingeben zu können, mufste
er möglichste Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit
gegen die Wechselfälle des wirklichen Lebens oder auch eine
von solchen störenden Wechselfällen möglichst freie Lebens-
lage verlangen. So wird für seine Schule bezeugt, dafs sie
die Freiheit von Belästigungen (aochles(a) für das erste Er-
strebenswerte erklärt hätten (Alex. v. Aphr. de an. II. 150).
Von diesem Gesichtspunkte konnte auch hier, wie bei Anti-
sthenes und Aristipp, eine Theorie der Lebensführung ab-
geleitet werden, eine solche nämlich, die alles das, was die
reine Erkenntnistätigkeit förderte, für löblich und Tugend,
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IIL 2. Phädon. 515,
alles aber, was sie hemmte und hinderte, für verwerflich
und Untugend erklärte. Doch fehlen alle Nachrichten, ob
Euklid sein System in dieser Richtung auf das den einzigen
Lebenszweck Fördernde ausgebaut hat.
Jedenfalls hat sich hier der Sokratismus von der un-
billigen Forderung einer unbedingt gewissen Erkenntnis aus
und unter dem verderblichen Einflufs des weltfeindlichen
und wirklichkeitsflüchtigen Eleatismus von seinem ursprüng-
lichen Ausgangspunkt himmelweit entfernt und in sein
schnurgerades Gegenteil verkehrt, in einen von allem Interesse
am Wirklichen abgewandten, den Blick ausschliefslich auf
eine erträumte Scheinwelt richtenden, dem Leben abgestor-
benen Quietismus. Ob Euklid mit seinen Grundlehren irgend
welche Annahmen über ein Fortleben und jenseitiges Schicksal
der Seele verband, woraus seine Richtung auf Erkenntnis
des Seienden noch eine weitere Verstärkung hätte gewinnen
können, ist unbekannt.
2. Phädon.
Phädon vonElis ist der jüngste der direkten Sokrates-
schüler. Einem edlen Geschlecht seiner Vaterstadt ent-
stammend und von grofser Schönheit, kam er in jungen
Jahren , vielleicht achtzehnjährig , wahrscheinlich erst 400,
ein Jahr vor dem Tode des Sokrates, als Kriegsgefangener
nach Athen, wurde dort als Sklave verkauft und verfiel
dem schrecklichen Lose, als Objekt widernatürlicher Un-
zucht in einem öflFentlichen Hause prostituiert zu werden.
Er wurde aber auf Fürsprache des Sokrates von dessen
Gefährten losgekauft und kam so in den sokratischen Kreis
(D. L. II. 105, 31 ; Z. 275, 1). Er war beim Tode des Sokrates
gegenwärtig und Plato hat ihm in dem nach ihm benannten
Dialoge, einem seiner bedeutendsten und berühmtesten und
einem der gröfsten Werke der Weltliteratur, der dem
Sokrates an seinem Todestage in den Mund gelegten Be-
weisführung für die Unsterblichkeit, ein unvergängliches
Ehrendenkmal gesetzt, obwohl er in diesem Dialoge selbst
nicht als Unterredner hervortritt, sondern ihm nur die
33*
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516 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Berichterstattung über dies angeblich von Sokrates an seinem
Todestage geführte Lehrgespräch zugewiesen wird. Da der
„Phädon" wohl erst ein Viertel Jahrhundert oder länger nach
dem Tode des Sokrates verfafst ist, so liegt hierin ein
Zeugnis für die auch später unwandelbar fortdauernde
Hochschätzung Piatos gegen den jugendlichen Genossen.
Diese Übertragung der Berichterstattung an Phädon ist
eine Art Widmung der Schrift an ihn und hat zur Voraus-
setzung die Annahme einer gewissen Übereinstimmung des-
selben mit den darin vorgetragenen Lehren. Diese Hoch-
schätzung spricht sich auch in verschiedenen Einzelzügen
der Schrift aus. Als Phädon zum Berichte aufgefordert
wird, läfst ihn Plato sagen, er komme dieser Aufforderung
sehr gern nach, da das Andenken an Sokrates für ihn stets
die höchste Freude sei (58 D), und in überaus inniger
Weise läfst er ihn seinen wehmütigen Gefühlszustand an
jenem Schmerzenstage schildern (58 E f.). Im weiteren Ver-
lauf des Gesprächs (88 E) läfst er ihn seine Hingerissenheit
von der weihevollen Milde betonen, mit der Sokrates die
Bedenken seiner Mitunterredner entgegennahm, und läfst
ihn schildern, wie Sokrates gemäfs seiner Gewohnheit auch
an diesem Tage, während er zu dessen Füfsen auf einem
Schemel sitzt, beim Sprechen mit seinen schönen langen Haaren
spielt, ihm über den Kopf streicht und ihn ermahnt, sich
nicht etwa morgen aus Trauer diese schönen Haare ab-
schneiden zu lassen (89 A f.).
Sehr viel weniger als durch diese rührenden Züge des
platonischen Meisterwerks ist Phädon durch seine eigenen
philosophischen Leistungen unsterblich geworden. Er wird
zwar als einer der namhaftesten Sokratesschüler und als
Gründer der elischen Schule genannt (D. L. IL 47; I. 19),
dem entspricht aber nicht, was über seine Leistungen bekannt
ist. Nach dem Tode des Sokrates hat er sich wahrscheinlich
derjenigen Gruppe der Sokratiker angeschlossen, die zu
Euklid nach Megara übersiedelte. Wenigstens wird er in
dem schon angeführten Bruchstück aus Timon (D. L. IL 107)
als dem Euklid ähnlich neben diesem genannt, ohne dafs
jedoch zu ersehen ist, worin diese Ähnlichkeit bestanden hat.
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III. 3. Die Megariker. 517
Dafs er zunächst wie Euklid in der Form des Sokrates-
gesprächs schriftstellerisch auftrat, ist schon erwähnt. In-
wieweit er dann die spätere Entwicklung des Euklid mit-
gemacht hat , ist nicht bekannt. Er begründete dann ia
seiner Vaterstadt Elis eine der megarischen verwandte
Schule (D. L. I. 19; II. 105). Was er aber eigentlich in
dieser Schule gelehrt hat, ist ebenfalls nicht bekannt.
Von der weiteren Entwicklung dieser Schule später.
3. Die Megrariker.
Die Schule Euklids erhielt sich bis ins dritte Jahr-
hundert. Ihre Vertreter wurden auch Eristiker (d. h.
Streitphilosophen) oder Dialektiker genannt (D, L. II. 106;
II. 17), letzteres nach dem ursprünglichen Sinne dieses
Wortes, weil sie ihre Beweisführungen in die Form von
Fragen einkleideten, auf die nur Ja oder Nein geantwortet
werden durfte. Man nannte dies geradezu „eine Beweis-
führung abfragen" und sprach vpn „megarischen Fragen"
(Z. 264, 1). Das Streben, durch solche Beweisführungen
die gewöhnliche Weltansicht als unmöglich zu erweisen,
geht aber teilweise in eine zwecklose , nur auf VerblüflFung
des Gefragten abzielende sophistische Spielerei über.
Ein bedeutender Vertreter dieser Richtung ist Eubu-
lides von Milet. Ob er ein direkter Schüler Euklids war,
ist nicht sicher. Seinen Unterricht genofs Demosthenes
(geb. um 383, also etwa 365; D. L. II. 108; Z. 247, 1).
Doch mufs er noch bedeutend später in Wirksamkeit ge-
wesen sein, da er eine heftige und verleumderische Streitschrift
gegen Aristoteles gerichtet hat (D. L. IL 109; Z. 246, 7),
der seine Lehrtätigkeit erst 335 antrat. Jedenfalls lehrte
wohl schon Eubulides in Athen. Er erfand viele solche
„dialektische" Fangschlüsse, von denen sieben bekannt sind.
Von diesen können zwei wenigstens noch in einen ge-
wissen Zusammenhang mit der euklidischen Bestreitung des
Vielen gebracht werden, der „Haufenschlufs" (sorltes) und
der „Kahlkopf". In ersterem wird gefragt, ob ein Korn,
zwei, drei, vier u. s. w. Körner einen Haufen jiusmachen,
wobei dann schliefslich die Nötigung entsteht, durch Hinzu-
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518 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
fügung eines einzigen Korns das Entstehen eines Haufens
zuzugestehen. Im „Kahlkopf" wurde gefragt, ob durch
Ausreifsung eines einzigen Haares, zweier, dreier u. s. w.
Haare jemand kahlköpfig werde, wo dann ebenfalls schliefs-
lich ein einziges Haar den Ausschlag gibt. Dieser Beweis
wurde später noch in verschiedenen anderen Formen vor-
getragen, z. B. wo das Wenige aufhört und das Viele an-
fängt (D. L. VII. 82), wo sich Armut und Reichtum, Be-
rühmtheit und Unberühmtheit, lang und kurz, breit und
schmal scheiden (Cic. Acad. IL 49, 92). Noch der Stoiker
Chrysippos um 230 verfafste darüber eine Schrift. Ge-
folgert wurde daraus, dafs die Annahme eines Vielen und
Mannigfaltigen zu Ungereimtheiten führe.
Schon ins Gebiet der kindischen Spielerei gehen über
„der Versteckte**, „der Verhüllte", „Elektra". Kennst du
den Verhüllten oder Versteckten? (Es ist aber nach der
zu machenden Voraussetzung der Vater des Gefragten.) —
Nein. — Also kennst du deinen eigenen Vater nicht. —
Kannte Elektra (die Tochter Agamemnons) den vor ihr
Stehenden ? (Es war aber ihr Bruder 0 restes, durch lange
Abwesenheit in der Fremde von Kind an ihr entfremdet.)
— Nein. — Also kannte sie ihren eigenen Bruder nicht.
Im Bejahungsfalle aber wurde bei allen drei Fragen auf die
Unmöglichkeit des Kennens hingewiesen.
Im „Lügner" wird gefragt: Wenn jemand sagt, er lüge
eben jetzt, lügt er dann? Lautet die Antwort: ja, so wird
gefolgert: Also ist seine Behauptung, jetzt zu lügen, un wahrt
also sagt er die Wahrheit, also lügt er jetzt, also ist auch
seine Behauptung, jetzt zu lügen, eine Unwahrheit , und sa
fort bis ins Unendliche. Lautet die Antwort: nein, so
wird gefolgert: Also ist seine Behauptung, jetzt zu lügen,
wahr; also mufs auch diese Behauptung eine Lüge sein;
also sagt er die Wahrheit u. s. w. Gegen diesen Fang-
schlufs hat Chrysippos sogar mehrere Bücher geschrieben
(D. L. VII. 19G), ohne eine befriedigende Lösung zu finden
(Cic. Acad. III. 95 f.; de Div. IL c. 4), und auch der scharf-
sinnige Aristoteliker Theophrast hat ihm eine aus drei
Büchern bestehende Schrift gewidmet (D. L. V. 49). Noch
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III. 3. Die Megariker. 519
der skeptische Akademiker Karneades benutzte ihn als
Beweis, dafs man durch Denken keine Erkenntnis gewinnen
könne (Cic. Ac. II. 95 f., 98). Man brachte ihn auch in die
Form, dafs er an einen angeblich von Epimenides herrühren-
den Vers angeknüpft wurde : ^die Kreter sind immer Lügner**
(angeführt im Neuen Testament, Brief an Titus I. 12), wo
dann, da Epimenides als Kreter selbst in seinem Urteil ein-
begriflFen war, dieselbe Schwierigkeit sich ergab wie in der
ursprünglichen Fassung.
Über alle Mafsen kindlich ist der letzte Fangschlufs,
„der Gehörnte" genannt. „Hast du deine Hörner verloren?"
Wenn „Nein": „Also hast du sie noch." Wenn „Ja": „Also
hast du welche gehabt." Er kommt auch in der Form vor:
Hast du aufgehört, deinen Vater zu schlagen? wo ebenfalls,
mochte die Antwort ja oder nein lauten , das Schlagen des
Vaters, sei es als noch gegenwärtig, sei es als wenigstens
in der Vergangenheit stattgefunden, gefolgert wurde. (Vgl.
zu diesen Schlüssen überhaupt auch Z. 2(54, 2.)
Es ist schwer zu erkennen, wie diese Spielereien mit
der abstrusen Einheitslehre noch zusammenhingen. Deut-
licher tritt dieser Zusammenhang bei den Leistungen zweier
etwas später ziemlich gleichzeitig auftretender Megariker
hervor, des Diodoros Kronos und desStilpon. Beide
müssen wenigstens zeitweise in Athen gelehrt haben, da der
dort sich ausbildende spätere Gründer der Stoa, Zeno von
Kition, ihr Schüler war (D. L. II. 112, 120; VIL 16, 25).
Doch mufs wenigstens Stilpon seinen eigentlichen Wohnsitz
in Megara gehabt haben (D. L. II. 115; IX. 109). Beide
lebten bis gegen 300.
Diodoros Kronos war Schüler des Eubulides. Er
richtete seine Argumente in der Weise Zenos gegen die
Möglichkeit der Bewegung. Ein sich fortbewegender Gegen-
stand müfste sich entweder an dem Orte bewegen, wo er
ist oder wo er nicht ist. Beides ist unmöglich. Also gibt
es keine Fortbewegung (Sext. Emp. Hyp. III. 71 If.; Dogm.
IV. 143; Gram. 311). Er wollte deshalb nicht sagen: der
Körper bewegt sich, sondern nur: er hat sich bewegt, wobei
also die Tatsache selbst, aber gleichsam als etwas Unbegreif-
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520 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
liches und Unerklärliches , zugegeben , also doch der Zu-
sammenhang mit der natürlichen Weltansicht festgehalten
wird (S. Emp. Dogm. IV. 48, 85 f., 102). Freilich wich er
damit von der Lehre Zenos und Euklids ab , die auch eine
vollendete Bewegung nicht zugaben, sondern die Bewegung
in jedem Sinne leugneten.^
Bewegung ist aber ferner auch die Veränderung, das
Werden und Vergehen. So bewies er denn auch nach dem
gleichen Schema, dafs man nicht sterben könne. Man könne
weder in der Zeit, in der man lebe, noch in der man nicht
lebe, also überhaupt nicht sterben (S. Emp. Dogm. 1. 310
bis 312). So wurde, wenn auch nicht von Diodoros selbst,
bewiesen, dafs Sokrates nicht gestorben sei. Er selbst
brachte folgendes Stücklein vor. Wenn eine Mauer zerstört
ist, so mufs dies geschehen sein entweder zur Zeit als die
Steine noch zusammenhingen oder als sie sich getrennt
hatten. Beides ist unmöglich (S. Emp. Dogm. IV. 346 f.).
lin Anschlufs au diese Bewegungsargumente wird folgende
Anekdote erzählt. Diodoros hatte sich einst eine Schulter
ausgerenkt. Er nimmt die Hilfe des Arztes Herophilos,
des Begründers der rein auf die Erfahrung sich gründenden
lirztlichen Schule (S. Emp. Dogm. 1. 188, 220), in Anspruch.
Da sagt dieser: „Entweder ist die Schulter an dem Orte
au^tgefallen , wo sie war, oder an dem, wo sie nicht war.
Beides ist unmöglich. Also ist die Schulter nicht ausgefallen.*^
Erst durch Diodors inständiges Bitten liefs sich der Arzt
bewegen, die Schulter wieder einzurenken (S. Emp. Hyp.
II 245).
Mit der Leugnung der Veränderung hängt auch der von
Diodor erfundene Beweis gegen die Möglichkeit zusammen,
den man mit dem stolzen Namen „der Obsiegende" (kyrieüön)
bezeichnete und der noch nach Jahrhunderten als dialek-
tisches Meisterstück bewundert wurde (Z. 269, 5). Wenn
es keine Veränderung gibt, so gibt es nur unveränderliche
Wirklichkeit. Es darf keinen Übergang eines Möglichen in
ein Wirkliches geben. Es wurde also der natürlichen Welt-
ansicht, die diesen Übergang fortwährend statuiert, eine
Stütze entzogen, wenn man den Begriff der Möglichkeit als
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III. 8. Die Megariker. 521
unstatthaft erwies. Dies sollte in diesem Beweise in folgen-
der Weise geleistet werden. Etwas Mögliches kann nicht
zu etwas Unmöglichem werden. Dies müfste aber geschehen,
wenn von zwei entgegengesetzten Möglichkeiten die eine zur
Wirklichkeit würde. Denn damit würde zugleich die ent-
gegengesetzte Möglichkeit zur Unmöglichkeit. Also kann
es keine Möglichkeit geben (Z. 270). Dieser Beweisführung
hat schon Aristoteles (um 330) eine ausführliche und
sorgfältige Widerlegung gewidmet. Er bezeichnet sie als
eine den Megarikern eigentümliche, ohne einen bestimmten
Namen zu nennen (1046 b, 29 ff.).
Stilpon von Megara war nach dem Tode des
Aristoteles (322) die gröfste philosophische Berühmtheit
Oriechenlands. Zahlreiche Schüler anderer Philosophen
verliefsen diese und gingen zu Stilpon über. Selbst Theo-
phrast, der ausgezeichnete Nachfolger des Aristoteles, ent-
ging, trotz seiner glänzenden Beredsamkeit, diesem Lose
nicht. Fast ganz Griechenland (d. h. der philosophisch
interessierte Teil der Griechen) wandte sich unter seinem
Einflüsse der megarischen Schule zu (D. L. II. 113 f.). Ja,
selbst die Laien weit nahm von ihm, als dem grofsen Mode-
philosophen, eifrig Notiz. Ptolemäus I (Lagi oder Soter)
von Ägypten ehrte ihn, als er 307 Megara in Besitz nahm,
durch ein grofses Geldgeschenk und wollte ihn mit sich
nach Ägypten nehmen. Er nahm aber nur einen Teil des
Geldes an und wich der Übersiedelung nach Ägypten aus,
indem er sich bis zum Abzüge des Königs in Ägina aufhielt
Und Demetrios der Städtezerstörer, der im darauf-
folgenden Jahre Megara eroberte, fragte den Philosophen,
ob ihm durch Plünderung etwas abhanden gekommen sei.
Stilpon aber soll erwidert haben, er habe niemand die
Wissenschaft forttragen sehen (Plut. Demetr. 9; D. L. IL 115).
Und wie die Grofsen so auch das Volk. Als er einst nach
Athen kam, liefen die Handwerker aus ihren Werkstätten
zusammen, um ihn zu sehen. Dabei soll er, als jemand
liemerkte, man bewundere ihn wie ein fremdes Tier, er-
widert haben: „Nein, wie einen wahrhaften Menschen"
(D. L. II. 119). Nur mit dem athenischen Gerichtshof in
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522 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Religionsangelegenheiten, dem Areopag, hatte auch er kein
Glück. Wegen einer Bemerkung, das Athenebild des
Phidias sei nicht die Tochter des Zeus, also keine Gottheit,
wurde er vorgefordert und trotz der Ausrede, es sei kein
Gott (im Griechischen dasselbe Wort wie Gottheit), aber
eine Göttin, mit Ausweisung bestraft (das. 116).
Nach einer Angabe (D. L. I. 16) soll er nichts ge-
schrieben haben. Anderseits werden ihm einige Dialoge
beigelegt, über deren Inhalt aber nichts bekannt ist (D. L.
II. 120). Aus dem Wenigen, was über seine Lehre berichtet
wird, scheint hervorzugehen, dafs er, ähnlich wie die
„Ideenfreunde" des platonischen Sophistes, nur den als un-
körperliche Wesenheiten gedachten Begriffen Wirklichkeit
zugestand, die einzelnen sinnenfälligen Exemplare aber für
wesenlosen Schein erklärte. Er bewies z. B. , dafs der mit
ihm redende Mensch niemand sei, denn er sei nicht in
höherem Mafse dieser als ein anderer. Dies erklärt sich
nur, wenn er als wesenhafte Wirklichkeit nur den in den
einzelnen Exemplaren scheinhaft zu Tage tretenden Gattungs-
begriff ansah, die Vermannigfaltigung desselben in einer
Vielheit von körperlichen Exemplaren aber für blofsen
Schein erklärte. Dieselbe Vorstellungsweise tritt in dem
zweiten überlieferten Beispiel hervor. Es wird ein Kohl-
kopf vorgezeigt. Stilpon erklärt: dies ist nicht der Kohl.
Der Kohl war vor unzähligen Jahren. Also ist dies nicht
Kohl (D. L. II. 119). Wir sehen aus diesen Beispielen,
dafs die Schule sich in dem entscheidenden Punkte stets
gleichgeblieben ist, wenngleich die Einheitslehre hier
nicht zum Ausdruck kommt. So wird denn auch ihm noch
die widersinnige Behauptung zugeschrieben, man dürfe von
einem Subjekte nur es selbst aussagen, also nur identische
Urteile fällen (Plut. Kolot. 22),
Deutlicher als bei Euklid treten bei Stilpon auch die
praktischen Konsequenzen dieser Lehre hervor. Wenn nur
die in starrer Unveränderlichkeit dastehenden ewigen Ideen
Wesenheiten sind, so gibt es für den Menschen als denkendes
Wesen nichts wahrhaft Begehrenswertes als die denkende
Erfassung dieser ewigen Wesenheiten. Dazu stimmt genau
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III. 3. Die Megariker. 523
der Ausspruch Stilpons bei der Eroberung von Megara/
Und wenn die uns umgebende Welt des Mannigfaltigen nur
eine Scheinwelt ist, so ist ihr und den in ihr uns be-
treflFenden Vorkommnissen gegenüber das einzig richtige
Verhalten die Gleichgültigkeit, Afifektlosigkeit, Unerschütter-
lichkeit. In der Tat legt Seneca (Ep. 9, 1) Stilpon die
Affektlosigköit als höchstes Gut bei. Da^u stimmt wieder
das Verhalten bei der Eroberung von Megara, das von
Seneca (Unerschütterlichkeit des Weisen c. 5) dahin näher
ausgemalt wird, er habe in Wirklichkeit dabei sein ganzes
Vermögen verloren, und seine Töchter seien gefangen fort-
geführt worden. Ebenso die auch sonst ihm beigelegten
Züge von Gleichmut (mit dem er z. B. die ausschweifende
Lebensweise seiner Töchter ertragen haben soll, Plut. Tranqu.
6; D. L. IL 114) und das allgemeine Zeugnis über die
Schlichtheit und Unverkünsteltheit seines Verhaltens (D. L.
IL 114, 117). Vielleicht verband er mit dieser negativen
und ablehnenden Haltung gegen die herkömmlichen Wert-
urteile noch die positive Aufgabe, die Idee des Menschen
in sich selbst zur möglichst vollständigen Verwirklichung
zu bringen. Wenigstens könnte darauf seine Äufserung über
den „wahrhaften Menschen" gedeutet werden. Doch erinnert
dies Wort auch an Diogenes, dessen Nachfolger Stilpon
auch zeitweilig gewesen sein soll (D. L. VI. 76).
Dafs er nicht göttergläubig war, wenngleich er vor-
sichtig seine Freigeisterei nicht an die grofse Glocke hing,
zeigt aufser dem schon erwähnten Konflikt mit dem Areopag
auch die Antwort, die er Krates auf die Frage erteilt haben
soll, ob die Götter über die ihnen gewidmete Verehrung
Wohlgefallen empfänden, er möge derartige Fragen nicht
öffentlich, sondern unter vier Augen stellen (D. L. IL 117).
Auch von einem Glauben an ein jenseitiges Fortleben findet
sich bei ihm keine Spur. Es scheint also allein die Über-
zeugung, dafs Erkenntnis des Unveränderlichen das höchste
Lebensziel sei und daher alles, was diese störe, aus dem
Wege geräumt werden müsse, ihn zu einem nachdrücklichen
Vollkommenheitsstreben begeistert zu haben. So wird be-
richtet, er sei von Natur zum Trünke und zu geschlecht-
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524 Zweite Periode. Zweite Stnfe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
liehen Ausschweifungen geneigt gewesen, habe aber diesen
Hang so vollständig bezähmt, dafs niemals einer ihn be-
trunken gesehen oder eine Spur wollüstiger Neigungen an
ihm bemerkt habe (Cic. Fat. 10). Und Plutarch (Kolot.
22) rühmt seine Seelengröfse , Sanftmut und Selbstbeherr-
schung, durch die er seinem Yaterlande, seinen Freunden
und den ihn auszeichnenden Fürsten Ehre gemacht habe.
So führt ihn insbesondere als Mahner zu gleichmütiger
Ertragung aller Wechselfälle des Schicksals schon Tel es
an, der sein Landsmann und fast noch sein Zeitgenosse
war (Stob. Flor. 40, 8; 108, 83).
Dafs diese Fassung der Lebensaufgabe in der Wirkung
vielfach mit dem kynischen Freiheitsstreben übereinkam, ist
leicht ersichtlich. Daraus darf aber nicht geschlossen werden,
Stilpon habe sich der kynischen Lehre angenähert. Der
Ausgangspunkt ist ein völlig verschiedener, bei den Eynikem
direkt und unmittelbar die negative Schätzung der Lebens-
güter selbst unter voller Anerkennung ihrer Wirklichkeit
und ohne die Vorstellung eines jenseits der Erscheinungs-
welt Liegenden. Bei Stilpon in erster Linie die erkennende
Richtung auf das einzig Wirkliche und erst abgeleitet imd
als Folgerung daraus die Geringschätzung der Scheinwelt.
So ist denn auch das praktische Verhalten selbst bei aller
Ähnlichkeit doch ein wesentlich anderes. Bei den Eynikem
auch äufserlich freiwillige Entbehrung, bei Stilpon nur
innere Unabhängigkeit, ein philosophischer Humor, ein
Standpunkt, der sich in gewissem Mafse sogar dem des
Aristipp annähert. Dies zeigt eine Anekdote. Stilpon unter-
bricht eine philosophische Unterredung mit dem Kyniker
Erat es, indem er eilig dem Markte zuläuft, um beim Ver-
kauf der soeben eingetroffenen Fische (im damaligen Athen
ein Gegenstand luxuriösen Genusses) den richtigen Zeit-
punkt nicht zu versäumen, und entschuldigt sich dem ihm
nacheilenden Erates gegenüber mit den Worten: „Die
Unterredung läuft uns nicht davon, aber die Fische werden
ausverkauft sein" (D. L. IL 119).
Auch sonst tritt der zwischen ihm und Erates bestehende
Gegensatz deutlicher hervor. So sagt er zu diesem, als er
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in. 4. Die elisch-eretrische Schule. Menedemos von Eretria. 525
ihn im Winter in seinem zerlumpten Mantel frieren sah :
„Erates, du hast einen neuen Mantel nötig.^ (Hier dasselbe
Wortspiel, das wir schon bei Antisthenes fanden. Das Wort
„neu" bedeutet zugleich „und Vernunft".) So soll er, als
der junge Zeno von Kition von Krates zu ihm über-
ging und Krates diesen am Mantel zu sich zurückziehen
wollte, gesagt haben, die richtige Handhabe des Philosophen
seien die Ohren; man ziehe ihn zu sich, indem man ihn
überzeuge (D. L. VII. 24). Krates seinerseits revanchiert
sich durch das recht unflätige Benehmen, das schon be-
richtet wurde, und durch die spöttischen Verse in den
„Sillen**, in denen er ihn des Hochmuts bezichtigt.
4. Die elisch-eretrische Schule. Menedemos
von Eretria.
Über die nächsten Nachfolger Phädons in der Schule
zu Elis sind nur ganz dürftige Nachrichten vorhanden
(D. L. II. 105, 126). Annähernd um 320—315 trat dort in
der Person des Menedemos von Eretria ein neues
Element ein. Zwar ist auch bei diesem über seinen philo-
sophischen Standpunkt so gut wie nichts bekannt, doch tritt
er uns in den erhaltenen Nachrichten wenigstens als lebendige
Persönlichkeit entgegen. Dies ist den Bruchstücken einer
Schrift des Bildhauers Antigenes von Karystos zu
verdanken, die hauptsächlich bei Diogenes Laertios erhalten
sind.
Dieser Antigenes stammte aus dem Landstädtchen
Karystos im Süden von Euböa und war ungefähr um 290
geboren. Er kam um 275 — 270 nach Eretria, um sich zu
bilden, und war dort vielleicht auch der Schüler des Mene-
demos. Er erlernte sodann in Athen die Bildhauerkunst,
versäumte aber nicht, sich zugleich mit den philosophischen
Berühmtheiten Athens und teilweise auch des übrigen
Griechenlands bekannt zu machen. Später wurde er von
Attalos von Pergamos (241—197) nach Pergamos berufen,
wo er bis gegen 220 lebte. Dort legte er in einer seiner
Schriften seine Erinnerungen an die geistigen Gröfsen, die
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526 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
er persöDÜch kennen gelernt hatte, als eine Art von
Memoiren oder literarischer Porträts nieder. Er berück-
sichtigte aber dabei als Nichtfachmann in der Philosophie
die Systeme nicht, sondern begnügte sich damit, Lebens-
umstände, Gharakterzüge und geistvolle Aussprüche zu be-
richten. Wir werden im weiteren Verlaufe auch noch bei
anderen Philosophen die aus dieser Schrift stammenden
Kachrichten benutzen können.
Menedemos nun war etwa um 340 geboren. Zusammen
mit seinem Freunde Asklepiades von Phlius, dem er
für Lebenszeit verbunden blieb (D. L. IL 105, 126, 137 f.;
die gehässige Ausdeutung dieses Verhältnisses durch Krater
ist früher erwähnt worden), kam er als Soldat nach Megara.
Dort erwacht sein Interesse für Philosophie, und er gibt die
kriegerische Laufbahn auf (ib. 131). Ob er sich zunächst
nach Athen zur Schule Piatos wandte (ib.), ist zweifelhaft;
keinesfalls kann er, wie dort behauptet wird, Plato selbst,
der 347 gestorben war, noch gehört haben. Hauptsächlich
mufs er in Megara Schüler Stilpons gewesen sein, den
er auch wegen seines edlen Charakters hochschätzte (D. L.
105, 126, 134). Dann begaben sich die beiden Freunde
nach Elis, wo Menedemos der zweite Nachfolger Phädons
geworden sein soll. Infolgedessen soll die Schule den Namen
der eretrischen erhalten haben (D. L. 105, 126). Doch
wird dies wohl darauf beruhen, dafs Menedemos bald nach
seiner Vaterstadt Eretria zurückkehrte und dort seine
Lehrtätigkeit fortsetzte (130). Er wurde anfangs von seinen
Landsleuten, denen die Philosophie wohl noch etwas Un-
bekanntes war, verachtet und mit Ehrentiteln, wie „Hund",
„Schwätzer** belegt. Später aber machte diese Gering-
schätzung der höchsten Anerkennung Platz: er wurde an
die Spitze des kleinen Freistaats berufen und mit Gesandt-
schaften an die Machthaber der Zeit, die Herrscher der
verschiedenen aus dem Reiche Alexanders hervorgegangenen
Staaten, betraut und erledigte alle diese Geschäfte In ehren-
voller und für seine Vaterstadt nutzbringender Weise (D. L.
140). Auch bei Antigenes Gonatas, dem der griechi-
schen Bildung zugeneigten Könige von Macedonien (276 bis
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III. 4. Die elisch-eretrische Schule. Menedemos von Eretria. 527
240), stand er in besonderer Gunst, so dafs dieser sich
seinen Schüler nannte. Dieser König, geboren um 320,
hatte sich in der Tat seit 292 längere Zeit in Griechenland
aufgehalten, war aber allerdings von den griechischen Philo-
sophen wohl Zeno von Kition noch näher getreten als
unserem Menedemos. Auch diesem König gegenüber soll
Menedemos mannhaft für die Unabhängigkeit seiner Vaterstadt
eingetreten sein und, als er den König in seiner Herrschsucht
unnachgiebig fand, im Schmerz über die Eretria drohende
Unterjochung eines freiwilligen Hungertodes gestorben sein.
So berichtet über sein Lebensende unter anderen Antigonos
von Karystos. Nach einer anderen Version mufste er den
Intriguen seiner heimischen Widersacher weichen und starb
aus Gram darüber in der Fremde. Nach dieser Darstellung
sollte er gerade bei Antigonos Gonatas seine letzte Zuflucht-
stätte gefunden haben (D. L. 141 ff.). Jedenfalls fällt sein
Tod ungefähr ins Jahr 270.
Er wird* geschildert als ein Mann von ernster und
edler Lebenshaltung. Der Gymnastik eifrig ergeben, machte
er noch als Greis mit seinem muskulösen Körper und seinem
sonnverbrannten Gesicht den Eindruck eines Athleten; ein
ihm in Eretria gesetztes Standbild zeigte daher absichtlich
den gröfsten Teil des Körpers entblöfst (ib. 132). Er lebte
mäfsig und zeigte gegenüber den geschlechtlichen Aus-
artungen der Zeit ein strenges Urteil (ib. 126 f.). Seine
ernste sittliche Gesinnung zeigt sich auch darin, dafs er
gegenüber der Behauptung, das Wünschenswerteste sei, alles
zu erlangen, was man begehre, erklärte, etwas viel Wert-
volleres sei, nur zu begehren, was sich zieme (ib. 136).
Über seinen philosophischen Standpunkt er-
fahren wir sehr wenig. Schriften scheint er nicht hinter-
lassen zu haben (D. L. I. 16; II. 136). In religiöser Be-
ziehung scheint- er völlig freigeistig gewesen zu sein. Wenig-
stens bezeichnet er eine Polemik gegen die Vorzeichen- und
Orakel Wirtschaft als ein Totschlagen von Toten (D. L. 134).
Den kindischen Ausartungen der megarischen Dialektik
trat er energisch entgegen. Als ein Vertreter dieser Schule,
der auch sonst vielfach genannte Dialektiker Alexinos,
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528 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen 6tc.
an ihm den Fangschlufs: „Hast du aufgehört, deinen Vater
zu schlagen?** probieren will, sagt er: „Ich habe ihn nicht
geschlagen und habe auch nicht damit aufgehört,** und als
jener nun verlangt, er solle nach der Regel der Schule nur
mit Ja und Nein antworten, erklärt er, diese lächerliche
Regel müsse man an der Schwelle abweisen (135). Andem-
teils wird ihm doch auch wieder eine leidenschaftliche
Disputiersucht und eine gewisse Neigung zu den dialek-
tischen Spitzfindigkeiten der Megariker .beigelegt. So be-
weist er, dafs das Gute, weil vom Nützlichen verschieden^
nicht nützlich sei. Doch überträgt er diese Wortkämpfe
nicht auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch und erweist
demselben Alexinos, dem er in scharfem Spotte gegenüber-
tritt, in menschenfreundlichster Weise die wesentlichsten
Dienste (136, 134).
An dem praktischen Grundgedanken der megarischen
Schule, dafs wahre Erkenntnis das höchste Gut sei, scheint
er festgehalten zu haben (Cic. Ac. IL 129; D. L. IL 134).
Damit müfste er auch die Voraussetzung dieses Lebensziels,
das Bestehen unveränderlicher jenseitiger Wesenheiten neben
der Scheinwelt, vertreten haben. Doch sind die Nachrichten
in dieser Beziehung so dürftig und widersprechend, dafs
darüber nichts Bestimmtes ausgemacht werden kann (D. L.
134, 135; Simplic. Schol. in Arist. Kateg. 68a, 34). Manche
der hier einschlagenden Punkte scheint er als offene Fragen
behandelt zu haben (D. L. 136).
Alles in allem macht er mehr den Eindruck eines
Mannes, der auf der euklidischen Grundlage sich eine philo-
sophische Gesinnung und Lebensansicht im allgemeinen an-
geeignet hat, als den eines mit den einzelnen Lehr- und
Streitpunkten sich befassenden Fach- und Schulphilosophen.
Nur ein einziger Schüler des Menedemos wird noch
genannt, Ktesibios, der aber mehr die Karikatur eines
Philosophen als ein Philosoph gewesen zu sein scheint, und
mit dem die elisch-eretrische Schule eine traurige Endschaft
erreichte. Er war arm (D. L. IV. 37); die geistige Be-
weglichkeit, die das dialektische Verfahren zu Wege brachte,
scheint von ihm vorwiegend ausgenutzt worden zu sein, nm
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IV. PopularphilosophAche Erscheinungen etc. 529
in der Gesellschaft als geistreicher, aber gesinnungsloser
Spafsmacher und durch überraschende Paradoxien zu
glänzen, so dars er als guter Gesellschafter geschätzt und
häufig zu Gastereien geladen wurde. Er soll daher auf die
Frage, was ihm die Philosophie eingetragen habe, ge-
antwortet haben: „Den Vorteil, kostenlos zu dinieren."
Auch soll er ein gewandter Ballspieler gewesen sein (Athen.
IV. 162 e). Timon von Phllus widmete ihm in seinen „Sillen"
folgenden, eine bekannte Homerstelle (II. I. 225) parodieren-
den Vers (Fr. 30):
„Gastmahlswütig, mit dreistem Gemüt und dem Auge des
Hirschkalbs."
IV. Popularphilosophische Erscheinungen im Anschlufs
an diese Schulen.
Zwischen dem kynischen Freiheitsgedanken und dem
aristippischen : „Ich besitze, aber ich werde nicht besessen,"
besteht eine gewisse Verwandtschaft. Beide Richtungen
führen zur Unabhängigkeit von den engen Bestrebungen
und kleinlichen Sorgen des Alltagsmenschen; sie treffen in
einer gewissen allgemein philosophischen Gesinnung zu-
sammen. Und dafs vollends die ausschliefsliche Richtung
auf Erkenntnis eines Beharrenden jenseits der Erscheinungs-
welt bei den Megarikern eine gleiche Lebensansicht förderte,
das liegt in der Natur der Sache, und dafür zeugt auch
das Beispiel eines Stilpon und Menedemos. Letzterer
ist schon geradezu mehr ein Mann des praktischen Lebens
mit philosophischer Gesinnung als ein Fachphilosoph.
So kann es nicht wundernehmen, wenn im Anschlufs
an die geschilderten eindrucksvollen Erscheinungen des
4. Jahrhunderts um 300 sich eine mehr allgemein philo-
sophische Richtung entwickelte, die nicht strenge einer
Schul Überlieferung anhing, aber eine allgemeine philo-
sophische Lebensanschauung vertrat, eine Richtung, die,
gleichgültig gegen die Scheingüter wie gegen die kleinen
Nöte des Lebens, diesen mit innerer, nicht notwendig auch
äufserlich prahlerisch zur Schau getragener Unabhängigkeit
gegenüberstand, eine Popularphilosophie , die sich den er-
D(»ring. I. 34
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530 Zweite Periode. Zweite Stufe. Bie kleineren sokratisch. Schulen etc.
habenen Gleichmut eines Sokrates, Antisthenes , Diogenes
und Krates, aber auch eines Stilpon und selbst eines
Aristipp zum Vorbild nahm.
Bekannt sind zwei Vertreter dieser Richtung: Bion
von Borysthenes und sein kleinerer Nachtreter Teles
von Megara.
1. Bion von Borysthenes (ea. 330 — 260).
Der mazedonische König Antigenes Gonatos war
seit seiner Thronbesteigung (276) bemüht, seinen Hof in
einen Musenhof zu verwandeln. Dichter und Gelehrte, vor-
nehmlich auch Philosophen der verschiedensten Richtungen
fanden dort gastliche Aufnahme.
Dort finden wir etwa um 270 auch Bion von Bory-
sthenes. Zwei junge Stoiker, Persans und Philonidas,
suchten den einer abgetanen Richtung angehörigen und
wissenschaftlich nicht gerade hochstehenden älteren Mann
beim König herabzusetzen und auch seine Herkunft zu ver-
dächtigen. Bion hat das den Fragen des Königs angemerkt,
und so gibt er denn, anscheinend in einem Briefe an den
König im Rahmen der herkömmlichen homerischen Fragen:
„Wer? Woher der Männer? Wo ist Vaterstadt dir und
Erzeuger?" und in parodierender Anwendung des Verses:
„Solchem Geschlechte und Blut zu entstammen kann
ich mich rühmen"
folgende freimütige Erklärung ab: „Mein Vater war ein
Freigelassener, der sich mit dem Ärmel die Nase abwischte."
Dies bedeutet nicht etwa das Fehlen eines Taschentuchs,
das die Alten überhaupt nicht kannten ,, sondern die durch
sein Geschäft als Händler mit eingesalzenen Fischen be-
dingte Unmöglichkeit, sich mit den von der Salzlake feuchten
Fingern zu schneuzen (Menag. zu d. St.). Diese Wendung
wurde ein geflügeltes Wort, und noch Horaz wurde von
seinen Gegnern wörtlich der gleiche Schimpf angehängt
(Suet. Vit. Horat). Dieser Vater habe in Borysthenes gelebt
(griechische Kolonie am Einflufs des Dniepr ins Schwarze
Meer, auch Olbia genannt). Er habe kein Gesicht gehabt,
sondern statt dessen ein Denkzeichen der Brutalität seines
ehemaligen Herrn. Entsprechend diesem seinem Stande
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IV. 1. Bion von Borysthenes (ca, 330—260). 531
habe er seine Lebensgefährtin aus einem öffentlichen Hause
genommen. Nachher sei er wegen Zollhinterziehung mit
seiner ganzen Familie als Sklave verkauft worden. Er
selbst sei bei dieser Gelegenheit als anmutiger Knabe von
einem Lehrer der Beredsamkeit gekauft worden, der ihn
bei seinem nicht lange darauf ei^olgten Tode zum Erben
seiner ganzen Habe eingesetzt habe. Hier scheint doch
zwischen den Zeilen zu lesen, dafs er diesem alternden,
offenbar ehelosen Rhetor wohl recht anrüchige Dienste zu
leisten hatte. Er verbrennt darauf dessen Skripturen, macht
alles Geldwerte zu Gelde und begibt sich nach Athen, um
sich zum Philosophen zu bilden (D. L. IV. 46).
In demselben Briefe scheint er ferner dem König zu
Gemtite geführt zu haben, er möge es doch mit seinen
Freunden halten wie mit seinen Bogenschützen, d. h. nicht
fragen, woher sie stammen, sondern wie tüchtig sie sind
(Stob. Flor. 86. 13). Jedenfalls konnte er „sich rühmen",
wenn auch nicht gerade seiner Herkunft selbst, aber doch
dessen, was er bei solcher Herkunft durch eigene Kraft
aus sich gemacht hatte.
In Athen nun geriet er zunächst in die Akademie, die
Schule Pia tos, wahrscheinlich noch zur Zeit, als ihr X e n o -
krates vorstand (339—314). Doch kann die Akademie,
wenngleich sie auch später noch diese Berühmtheit sich als
einen der Ihrigen nicht wollte entgehen lassen (IV. 23), ihn
nicht lange gefesselt haben. Er scheint sogar später sich
über den alternden Xenokrates lustig gemacht zu haben (ib.
10). Er geht zum Kyniker Krates und nimmt Mantel,
Ranzen und Stab an. Die Verwechselung des Kyniker Krates
mit dem um 30 Jahre späteren Akademiker gleichen Namens
als seines Lehrers (ib. 52) ist vielleicht von der späteren
Akademie geflissentlich herbeigeführt worden, um ihn als
Zögling der Akademie erweisen zu können. Bei Krates nun
hat er offenbar sowohl hinsichtlich der Lebensauffassung als
iiuch hinsichtlich der derben und wirksamen Art der sprach-
lichen Einkleidung recht viel gelernt. Doch hielt es ihn
auch hier nicht dauernd. In seinen Gesichtskreis tritt der
derbe und originelle Kyrenaiker Theodoros, der Gottes-
B4*
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532 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
leugne r, der zwischen 316 — 306 längere Zeit in Athen lehrte.
Diese Zeitbestimmung ist auch für die Chronologie des Lebens
Bions der Hauptanhaltspunkt. Auch von Theodoros hat er
sich unzweifelhaft nach Inhalt und Form manches angeeignet.
Inhaltlich jedenfalls die radikale Freigeisterei, in bezug auf
die Form die schlagende und überraschende Ausdrucksweise.
Ebenso aber auch hinsichtlich der eigenen Lebensführung.
Wenn wir hören, dafs Bion später in prächtigem Aufzuge
von Stadt zu Stadt zog und in zusammenhängender Rede
gegen Honorar fesselnde Vorträge (Diatriben, D. L. IL 77)
hielt (D. L. 53), so wird er wohl schon bei seinem Über-
tritt zu Theodoros Ranzen und Stab bald den Abschied ge-
geben haben und auch hinsichtlich der Form seiner Rede
wird er die Hauptanregung von Theodoros erhalten haben.
Dafs er aufserdem während seiner athenischen Bildungszeit
auch Theophrast, den geistvollen und sprachgewaltigen
Nachfolger des Aristoteles (322-297), hörte (D. L. 52), er-
klärt sich schon aus seinem Streben nach sprachlicher Aus-
bildung und nach philosophischer Beurteilung des Treibens
der Menschen (denn auch darin war Theophrast grofs); die
metaphysischen Spekulationen des peripatetischen Systems
hat er gewifs auf sich beruhen lassen.
So wird er ein „Sophist" (D. L. 47; Fr. 4 Meli.), und
zwar in dem doppelten Sinne, in dem auch schon von Theo-
doros diese Bezeichnung gebraucht wird: in dem älteren
Sinne als ein umherziehender Lehrer, der seine Weisheit
für Geld zu Markte bringt, und in dem neu sich entwickeln-
den der stark gewürzten, auf das grofse Publikum berech-
neten Vorträge. In ersterer Beziehung scheint er in humo-
ristischer Weise den alten Spruch: „Den Freunden ist alles
gemein," verwandt zu haben, um die Geldbeutel derer, die
sich an ihn anschlössen, zu seinen Gunsten zu beeinflussen
(D. L. 53). Auch soll er seine Schüler in drei Klassen ge-
teilt haben: goldene, die zahlen und lernen, silberne, die
zahlen und nicht lernen, und eherne, die nicht zahlen, aber
lernen (Stob. Ecl. IL 218). Auch verschmähte er in diesem
Sinne nicht recht schwindelhafte Kunststückchen. So soll
er in Rhodos, um von vornherein den Schein eines gewal-
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IV. 1. Bion von Borysthenes (ca. 830—260). 533
tigen Zulaufs zu erwecken, eine Anzahl Schiiferknechte in
Schülerkleidung gesteckt und gedungen haben, ihm zu folgen
(D. L. 53). In der zweiten Beziehung werden seine Vor-
träge als mit allen Mitteln auf starke Wirkungen hin-
arbeitend geschildert. Er personifizierte die Begriffe und
liefs sie in lebhafter Wechselrede gegeneinander auftreten;
er würzte seinen Vortrag mit Parodien bekannter Dichter-
stellen, mit Anekdoten aus dem Leben der gefeierten Philo-
sophen, mit witzigen und sprachlich überraschenden, feuille-
tonistischen Wendungen, kurz, er tat alles, was beim gröfseren
Publikum eine durchschlagende Wirkung erzielen konnte.
Man sagte daher von ihm, er habe der Philosophie ein
„blumiges" Gewand angezogen (D. L. 47, 52). Offenbar
sind die zahlreichen Aufsätze, die er hinterliefs (D. L. 47),
und die auf Jahrhunderte hin als Fundgrube für Pointen
und effektvolle Züge nachgewirkt haben, nur Aufzeichnungen
nach den mündlich gehaltenen Vorträgen, und die aus jenen
erhaltenen Proben können uns deshalb ein Bild seiner Weise
auch in diesen geben. So sagt er von einem Verschwender :
Den Amphiaraos hat die Erde (das Land) verschlungen, du
aber das Land. Die Schönheit nennt er ein fremdes (an-
deren zugute kommendes) Gut, den Reichtum den Nerv der
Geschäfte (nervus rerum). Den Neidischen, der ein betrübtes
Gesicht macht, fragt er, ob ihm selbst etwas Übles, oder
einem anderen etwas Gutes zugestofsen sei (D. L. 47 f.).
Den auf Schmeichler Hörenden vergleicht er mit einem zwei-
henkligen Kruge, den man an seinen Henkeln leicht
transportiert (Plut. vit. pud. c. 18). Um der Menge zu ge-
fallen, mufs man ein Kuchen oder thasischer Wein sein (Dio.
Chrys. 66). Agamemnon, der sich (II. 10, 14) im Schmerze
die Haare ausrauft, verfihrt so, als ob die Kahlheit den
Kummer beseitigte (Cic. Tusc. III. 162) u. s. w.
Wir verstehen nach diesen Proben, wie Horaz (Epist.
II. 2, 60 und Akro zu d. St.), der ihm auch manches ent-
lehnt hat, von dem „boshaften Salz'' der bioneischen Reden
sprechen konnte.
Sein Gedankenkreis war offenbar eine Mischung von
Kynisch^m und Kyrenaischem. Das Wenige, was wir über
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534 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
seine Lehre wissen, läfst sich nur teilweise der einen oder
anderen Richtung zuweisen. Gewifs ist er seiner eigenen
Lebensauffassung und LebensfOhrung nach kein Eyniker,
aber wenigstens überwiegend kynisch ist die Geringschätzung,
mit der er den SpezialWissenschaften entgegenkommt (D.
L. 53). Was nutzt es, über die Irrfahrten des Odysseus zu
forschen, unsere eigenen aber aufser acht zu lassen! (Stob.
Flor. 4, 54.) Die Astronomen kennen die „Fische" am
Himmel, aber die in ihrem Bereiche schwimmenden sehen
sie nicht (ib. 80, 3). Das Wort von den Freiem der Pene-
lope, das auch ihm zugeschrieben wird (Ps.-Plut. lib. educ. 10),
kam schon bei Aristipp vor, ein deutlicher Beweis, wie hier
die Credankenkreise ineinanderfliefsen.
Echt kynisch ist die von Teles ihm entlehnte Selbst-
rechtfertigung der Armut (Stob. Flos. 5, 67). Sie schliefst
von keiner Tugend aus. Sie gewährt das zum Leben Not-
wendige: die Brunnen sind voll Wasser; Kohl wird an allen
Strafsen gebaut; die ganze Erdoberfläche ist als Lagerstatt
benutzbar, und Laub zum Zudecken gibt es genug. Auch
Sinnengentisse versagt sie nicht. An verliebten Weibern in
vorgerückten Jahren fehlt es nicht, und als Gaumenkitzel
dient Hunger und Durst. Niemand hungert nach Kuchen
und durstet nach Eiswasser. Obdach gewähren im Winter
die Bäder, im Sommer die Tempelhallen.
Ähnlich steht es mit der Herabsetzung der Schmeichelei
und des Lobes. Nicht der Acker trägt Frucht, den man
lobt, sondern den man umgräbt und baut (Plut. de adul. 23),
Auf gutem Wege ist nur. der, der Schmähungen ebenso gern
hört wie die einschmeichelnden Willkommensgrüfse (Plut.
de prof. in virt.) Ebenso die Vergleichung der Habsucht
mit der Wassersucht. Der Versuch, den mit dieser ver-
bundenen krankhaften Durst zu stillen, mufs notwendig fehl-
schlagen und kann das Übel nur verschlimmem. Der Kranke
wird eher zerplatzen als sein Gelüst befriedigen (Teles bei
Stob. Fl. 97, 31). Dahin gehört endlich das freiwillige
Scheiden aus dem Leben, wenn dasselbe nicht mehr lebens^
wert ist. Wenn ein Mieter die Miete schuldig bleibt, so
nimmt der Hausherr die Tür und das Dach weg und ver-
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IV. 1. ßion von Borysthenes (ca. 330—260). 535
schliefst den BruDneD, um den Mieter zum Auszug zu zwingen.
So hat uns auch die Natur diesen Körper in Pacht gegeben,
und wenn sie uns heraushaben will, macht sie Augen, Ohren,
Füfse und Hände unbrauchbar. Dann warte ich nicht länger,
sondern gehe ohne Murren von dannen, dem Kahne des
Totenschiffers zu (Teles, Stob. Flor. 5, 67). Dagegen kann
der Gedanke, das Tun der Menschen gleiche einer Komödie,
und ihr Treiben müsse nicht ernster genommen werden wie
blofse Bilder der Einbildungskraft (Sen. Tranqu. 15), eben-
sowohl auf kyrenaischem wie auf kynischem Boden gewachsen
sein. Ähnlich vergleicht er auch die eigene Lebenslage mit
einer vom Schicksal übertragenen Rolle, mit der man zu-
frieden sein mufs, wenn es auch keine erste Heldenrolle
ist (Teles bei Stob. Flor. 5, 67).
Dafs er speziell von Theodorus die Polemik gegen reli-
giöse Vorstellungen übernahm, wird ausdrücklich bezeugt
(D. L. 54). So sagt er denn auch in bezug auf den Glauben,
dafs die Sünden der Väter an den Nachkommen gestraft
werden, das sei lächerlicher, als wenn man für die Krank-
heit des Grofsvaters oder Vaters dem Enkel oder Sohne
Arznei eingeben wollte (Plut. de sera num. vind. 19). Oder
er fragt mit Bezug auf einen Homervers, in dem die „Bitten"
(die Abbitte) als lahm, runzlig und schielend und zugleich
als Kinder des Zeus geschildert werden (II. 9, 502), wie
man eine Gottheit um tüchtige Kinder anflehen könne, die
sich solche nicht einmal selbst gewähren könne (dem. AI.
Admon. ad gent. 37). Er weist es jedoch, vorsichtiger als
Theodoros, mit einem witzigen Dichterzitat zurück, die Frage,
ob es Götter gibt, in der Öffentlichkeit zu erörtern (D. L.
IL 117). Dagegen scheint er seinem Widerwillen gegen
das Orakelwesen, den ja auch die Kyniker teilten, ungescheut
Ausdruck gegeben zu haben (ib. 135).
Gegen seinen Lebenswandel werden aufser dem schon
vorgekommenen manche Anklagen erhoben. Namentlich
wird er der schnödesten Päderastie bezichtigt (D. L. IV.
53 f.; vergl. 48 f.). Dafs er nicht das Leben eines Diogenes
führte, ist unzweifelhaft, aber es scheint doch hierbei teil-
weise gehässige Nachrede vorzuliegen. Dies gilt auch von
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536 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc
dem, was über sein Lebensende berichtet wird. In schwei-es
Siechtum verfallen, soll es ihm nach dem einen Bericht an
der nötigen Pflege gefehlt haben, bis König Antigonos ihm
zwei Diener sandte, und er habe sich dann in einer Sänfte
hinter dem König hertragen lassen. Während er sich hier
bis zuletzt in der Umgebung des Königs befindet, verlegt
eine andere Erzählung sein Lebensende nach Chalcis auf
Euböa, und da habe er denn in seinen Leiden seine Frei-
geisterei völlig verleugnet, Bufse getan und durch Amulette
Linderung gesucht (D. L. 54 f.).
Hier haben wir den Popularphilosophen, den philosophi-
schen Feuilletonisten, dem es vornehmlich darauf ankommt,
die schon geläufig gewordenen Gedanken durch neuen Auf-
putz zu erhöhter Wirksamkeit zu bringen.
2. Teles von Megrara.
Wegen der zahlreichen Züge, besonders von den Ky-
nikem und von Bion, die Teles anführt, ist im vorigen
schon häufig auf ihn Bezug genommen worden. Er ist ein
schwächerer Nachtreter Bions und lebt hauptsächlich von
den Brosamen, die von dessen Tische fallen. Dafs er aus
Megara stammte und die Vorträge, von denen sieben im
Auszuge erhalten sind (sämtlich im Florilegium des Stobäus),
um 250 oder 240 in seiner Vaterstadt vor bildungsbedürf-
tigen Jünglingen gehalten hat, läfst sich mit einiger Wahr-
scheinlichkeit aus dem Inhalt entnehmen (Hense, Teletis
reliquiae, 1889). Sonstige Nachrichten über seine Persönlich-
keit sind nicht vorhanden. In reichlichen Beispielen führt
er die heroischen Aussprüche der grofsen philosophischen
Charaktere der jüngsten Vergangenheit vor; „Über Scheinen
und Sein", „Über Selbstgenügsamkeit", „Über Verbannung"
(Verlust der Heimat kein Unglück), „Über Reichtum und
Armut", „Über den Unwert der Sinnenlust", „Über die
Schicksalslage" und „Über Gleichmut" das sind die The-
mata der im Auszuge erhaltenen Vorträge. Was er selbst
hinzutut, ist recht hausbacken. Er will überhaupt nur
zeigen, was in philosophischer Charaktergröfse und Erhaben-
heit über das Schicksal geleistet worden ist und geleistet
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V. Plato. 537
Verden kann. An sich selbst und seine Zuhörer stellt er
so hohe Anforderungen nicht; er unterscheidet sehr wohl
zwischen dem, was man sich zumuten könnte, und dem, was
er gewillt ist, sich selbst zuzumuten. So konimt ein hohles
Pathos, ein kindisches Renommieren mit einer möglichen
Erhabenheit der Gesinnung und GrÖfse des Charakters heraus,
die er doch selbst zu besitzen nicht einmal beansprucht.
Es sind schulmeisterliche Deklamationen, um den zuhören-
den Knaben ein gewisses moralisches Gruseln beizubringen
und ihnen einen Weg zu zeigen, den sie vielleicht einmal
einschlagen könnten, wenn Not an Mann geht. Einstweilen
genügt ihm die philosophische Grundstimmung, die den Tand
der Welt theoretisch verachtet.
V. Plato.
Plato ist der erste griechische Denker, diössen* eigene
Schriften in reicher Fülle erhalten sind. Er steht unter den
Bannerträgern der Weltliteratur in allererster Reihe , und
der Einflufe, den seine Schriften auf die gesamte Kultur-
entwicklung geübt haben, ist geradezu unberechenbar. Der
Oang der Kultur ist ohne Kenntnis dieser Schriften uu-
verständlich. Schon aus diesem Grunde ist es erforderlich,
über diese Erscheinung nicht mit kahlen Allgemeinheiten
hinwegzugehen. Aufserdem aber ist die Verlockung zu Mit-
teilungen aus dieser unerschöpflichen Fundgrube um so
gröfser, je spärlicher sich Reste der ihm vorangelienden
Denker erhalten haben.
Bei Plato mufs zwei falschen Vorstellungen von vorn-
herein mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden.
Erstens der Vorstellung , als ob er im Gegensatz gegen die
„kleinen sokratischen Schulen" der eigentliche Vollender des
Sokratismus gewesen sei. Wie wir den Gedankenkreis des wirk-
lichen Sokrates kennen gelernt haben, stand dieser im Dienste
eines auf die öffentlichen Zustände Athens zu seiner Zeit
gerichteten Reformstrebens. Plato knüpft zunächst allerdings
an diese Bestrebungen an ; er übernimmt auch sonst mancher-
lei lebenskräftige Keime aus der Gedankenwelt seines Meisters.
Aber in der Weiterentwicklung seines eigenen Denkens über-
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538 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
nimmt er von anderen Seiten her so mancherlei Antriebe
und gestaltet das Übernommene in so neuer und eigenartiger
Weise, dafs er sich im Verlaufe dieser Entwicklung von
seinem sokratischen Ausgangspunkte himmelweit entfernt.
Zweitens die Vorstellung, als ob er in der überwiegen-
den Mehrheit seiner Schriften ein einheitliches, in sich über-
einstimmendes Gedankensystem zum Ausdruck bringe. Ganz
im Gegensatze zu dieser Vorstellung ist Plato von seinen
ersten bis zu seinen letzten Schriften in einer beständigen
Entwicklung und Umgestaltung seiner Gedankenwelt be-
griffen. Er gehört zu den Phantasiedenkem, die sich nicht
in einem einheitlichen Gedankenkreise fest und dauernd an-
siedeln, sondern sich fortwahrend veränderten Interessen
liebevoll hingeben. Es gibt allerdings in dem mittleren
Teile seiner schriftstellerischen Tätigkeit eine Gruppe von
Schriften, die man als die Urkunden des eigentlichen Plato-
nismus im engeren Sinne, des klassischen oder mustergültigen
Piatonismus, bezeichnen kann. Für diese Gruppe trifft es
auch am meisten zu, dafs auch Plato noch auf der Über-
gangsstufe zur axiologischen Ethik stehen bleibt. Um aber
Plato ganz würdigen und auch diese mittlere Gruppe recht
verstehen zu können, darf man sich in der Darstellung nicht
auf sie beschränken, sondern mufs das Ganze dieses grofsen,
ein halbes Jahrhundert umfassenden Entwicklungsprozesses
nach allen seinen Stufen und Phasen in Betracht ziehen.
Plato kann nicht als Systematiker begriffen und darf nicht
als Systematiker dargestellt werden. Die Darstellung der
fortwährenden Umgestaltungen seines Denkens ist zugleich
seine eigentliche und wahre Lebensbeschreibung.
Dies Verfahren hat aber freilich mit einer ganz aurser-
ordentlichen Schwierigkeit zu kämpfen. Es gibt keine
äufseren Zeugnisse für die Abfassungszeit und Zeitfolge der
platonischen Schriften. Nur in ganz wenigen Fällen bilden
Anspielungen auf Zeitereignisse, die auch uns noch bekannt
sind, einen äufseren Anhalt für die Bestimmung der Ab-
fassungszeit. Die gelehrte Forschung hat die aufserordent-
lichsten Anstrengungen gemacht, um mit den verschieden-
artigsten Mitteln unzweifelhafte Resultate in bezug auf
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V. Plato. 539
diesen Punkt zu erlangen. Die Abfassungszeit und Zeit-
folge der platonischen Schriften bildet noch heute den
wesentlichen Inhalt der sogenannten „platonischen Frage".
Unser exaktes Zeitalter hat zur Lösung derselben neben den
bisherigen Versuchen noch ein neues, vermeintlich der Willkür
der subjektiven Meinungen und Vorurteile entrücktes, ganz
objektives Hilfsmittel aufgebracht. Das ist die Sprach-
statistik. Ausgehend von der Annahme, dafs ein Schrift-
steller in gewissen häufig wiederkehrenden Wörtern und
Wendungen in der gleichen Zeit seines Lebens eine gewisse
Gleichförmigkeit beobachten werde, hat man mit einem un-
geheuren Aufwand von Fleifs über das Auftreten solcher
häufig wiederkehrender Sprachelemente in den verschiedenen
Schriften statistische Zusammenstellungen gemacht. Ähn-
lichkeit oder Wechsel des Gebrauchs sollte über die zeit-
liche Zusammengehörigkeit oder Nichtzusammeügehörigkeit
der Schriften entscheiden. Aber auch dies scheinbar un-
trügliche Hilfsmittel hat nicht zu entscheidenden Resultaten
geführt. Es scheint doch, dafs die Voraussetzung für die An-
wendbarkeit dieser Methode, die Gleichheit des Gebrauchs
solcher Sprachelemente in einer bestimmten Lebenszeit, nicht
zutreflfend ist. "Wenigstens hat die probeweise Anwendung
des Verfahrens auf einen neueren Schriftsteller, bei dem
die Abfassungszeit der Schriften genau bekannt ist, ein
diese Voraussetzung völlig vernichtendes Resultat geliefert
(Zellers Versuch mit David Straufs, Arch. f. Gesch. der
Philos. 11, 1Ö98). So bleibt also die auch an sich des Gegen-
standes allein würdige Lösung der Frage au8 dem Inhalt
der Schriften selbst zugleich die einzig mögliche. Wenn
eine bestimmte zeitliche Anordnung der Schriften ein inner-
lich überzeugendes und zugleich den bekannten äufseren
Lebensverhältnissen Piatos entsprechendes Bild seiner Ent^
Wicklung ergibt, so darf diese Anordnung mit der gröfsten
erreichbaren Wahrscheinlichkeit als die richtige angesehen
werden.
Nach diesem Verfahren nun ergeben sich für die Dar-
stellung Piatos folgende Kapitel:
1. Plato bis zum Tode des Sokrates (399).
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540 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
2. Plato als Moralforscher (399—395).
3. Plato als Bufsprediger (394).
4. Hoffnungsloser Verzicht auf öffentliches Wirken. Die
Erkenntnisfrage. Der „Theätet" (394/3).
5. Piatos Reisen (393).
0. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2).
7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit durch
die Seelenlehre des Timäus. Umarbeitung des ür-
staats (392).
8. Vertiefung der Erlösungslehre des Timäus. Der „Phä-
drus" (392/1).
9. Die Lehrtätigkeit in der Akademie bis zur zweiten
sizilischen Reise (ca. 390—367).
10. Auseinandersetzung mit abweichenden Standpunkten.
Der „Euthydemos" und der „Sophistes" (nach 390).
11. Ein Schritt zur Lösung der Frage nach dem Lebens-
ziel. Das „Gastmahl" (ca. 385).
12. Der Höhepunkt des platonischen Denkens. Der „Phä-
don" (um oder nach 380).
13. Die zweite Umarbeitung des Staats und die zweite
und dritte sizilische Reise (368—60).
14. Die Alterslehre Piatos (360-^47).
15. Der Staat der Gesetze.
1. Plato bis zum Tode des Sokrates (399).
Piatos Lebenszeit fällt nach den wahrscheinlichsten An-
nahmen von 427—347. Einem altadligen und begüterten
Hause entsprossen, genofs er in seiner Erziehung alle die
Vorteile, die das damalige Athen bieten konnte, und alle die
Anregungen, die auch dem Heranwachsenden schon die
Stellung seiner Familie auf den Höhen der athenischen Ge-
sellschaft bieten konnte. Dafs diese Anregungen sich auch
auf das philosophische Gebiet erstreckten, ist nach dem da-
maligen Zustande des athenischen Geisteslebens von vorn-
herein anzunehmen und wird z. B. durch die in seinem
^Protagoras" vorliegende lebhafte Schilderung des Auftretens
und Gebarens der drei älteren Sophisten, des Prot ago res,
Hippias und Prodikos, im Hause des reichen K a 1 1 i a s ,
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V. 1. Plato bis zum Tode Sokrates (399). 541
„der für die Sophisten mehr Geld aufgewandt hatte als alle
übrigen (Athener) zusammengenommen" (Apol. 20 A), deutlich
erwiesen. Da die Vertreibung des Protagoras aus Athen
ins Jahr 411 fällt, so müssen diese Schilderungen auf
Eindrücken des Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen beruhen.
Als eigentlichen Lehrer in der Philosophie aber hatte er in
seiner Erziehungszeit nach dem Zeugnisse des Aristoteles
(Met. 1. 6 Anf.) den extremen Herakliteer Kratylos, dessen
Bestreitung jeder Erkenntnismöglichkeit durch Erfahrung
auf Grund der beständigen Wandlung alles Sinnenfälligen,
wie Aristoteles andeutet, einen dauernd wirksamen Gärungs-
stoff in seine Seele warf.
Fürs erste jedoch glaubte sich Plato zum Dichter be-
rufen. Er soll bis zum Alter von zwanzig Jahren, in welchen
Zeitpunkt nach dem Zeugnis seines persönlichen Schülers
Hermodor (D. L. III. 6) seine Bekanntschaft mit Sokrates
fällt, zahlreiche Dichtungen verschiedener Gattung, Dithy-
ramben, Lieder, Tragödien, verfafst haben. Eine tragische
Tetralogie von ihm soll sich schon in der Vorbereitung zur
Aufführung befunden haben, als das Eintreten der Gestalt
des Sokrates in sein Leben allen diesen Bemühungen ein
Ziel setzte. Angeblich soll Plato, nachdem er Schüler des
Sokrates geworden, seine sämtlichen Dichtungen den Flammen
überliefert und dabei einen Vers der Ilias, mit dem Thetis
sich bei Hephästos einführt, um die neue Waifenrüstung des
Achill anfertigen zu lassen (Ilias 18, 392), in folgender
Weise umgestaltet haben:
Tritt, Hephästos, herfür, Piaton ist deiner bedürftig!
(D. L. III. 5; Älian V. H. IL 30.) Jedenfalls ist uns von
seinen Dichtungen nichts mit Sicherheit für echt zu Halten-
des erhalten.
Der Verkehr mit Sokrates dauerte acht Jahre, von
407 bis zu dessen Tode. Nach der Apologie müfste er bei
der Verurteilung des Meisters gegenwärtig gewesen sein.
Bei der Aufzählung der am Todestage des Sokrates an-
wesenden Jünger im Phädon (59 B) heifst es: „Plato war
krank." Ob vor Schmerz und Kummer? Jedenfalls war,
auch abgesehen von dem Einflüsse des Sokrates auf seine
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542 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
philosophische Entwicklung, die persönliche Anhänglichkeit
an diesen, der Zauber, den die Persönlichkeit des Weisen
auf ihn übte, ein überaus mächtiger. Das beweist vor allem
der einzigartige Akt der Huldigung, dafs Plato in fast allen
seinen Dialogen seine eigenen Gedanken dem Sokrates in
den Mund gelegt und dabei mit wahrhaft dichterischer Kraft
ein verklärtes Bild des Charakters, des Naturells und der
unnachahmlichen Denkerweise des wunderbaren Mannes ge-
schaffen hat, das diesen in seiner ganzen Eigenart lebendig
vor unserem Geiste erstehen läfst. Ist der Gedankeninhalt
der platonischen Schriften ausnahmslos sein persönliches
Eigentum, eine Reihe von Dokumenten • seiner stetig fort-
schreitenden Denkerarbeit, so ist die Einkleidung, das
poetische Beiwerk der Dialoge ein immer neuer, sich nie ge-
nugtuender Versuch, mit aller ihm zur Verfügung stehen-
den dichterischen Gestaltungskraft die geistvolle und liebens-
würdige Denkerpersönlichkeit des Meisters lebendig vor Augen
zu stellen, Diese Einwirkung der Persönlichkeit bildet zu-
gleich den ersten Punkt der dauernden Beeinflussung Piatos
durch den Verkehr mit Sokrates. Er stellt gewissermafsen
die f 0 rmale Seite des von Sokrates ihm Überkonmienen dar.
Die staunenswerte Geschicklichkeit des Sokrates in der
Führung wissenschaftlicher Untersuchungen in Gesprächs-
form hat ihm — ebenso wie den andern Sokratikern — den
Anstofs gegeben, dies Verfahren in der Methode des eigenen
Denkens nachzubilden und in dem sogenannten „Sokrates-
gespräch" schriftstellerisch zu entwickeln und in die Litera-
tur einzuführen. Plato ist der glänzendste Vertreter des
„ Sokratesgesprächs".
Aufserdem hat aber Plato auch den ganzen wesent-
lichen Inhalt der Lehre des Sokrates als lebenskräftiges
Element seiner philosophischen Entwicklung in sich auf-
genommen.
Und zwar hat Sokrates in inhaltlicher Beziehung vor-
nehmlich in dreifacher Richtung dauernd bei ihm nach-
gewirkt :
1. Aus der sokratischen Kunst der Begriifsbildung er-
wuchs ihm im späteren Verlaufe seiner Entwicklung seine
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V. 2. Plato als Moralforscher (399—895). 543
eigenartige Lehre vom wahrhaft Seienden. Fürs erste jedoch
diente sie ihm, wie bei Sokrates selbst, als logisches Hilfs-
mittel für vornehmlich ethische Untersuchungen;
2. übernahm er den Grundzug der sokratischen Be-
strebungen, die Richtung auf Verbesserung der öffentlichen
Zustände, wenngleich dieses Streben bei ihm von vornherein
neue, von den sokratischen verschiedene Bahnen einschlägt;
3. bleibt er, wo es sich um Gestaltung der eigenen
Lebensführung handelt, dem überwiegenden Intellektualis-
mus des Meisters treu, d. h. der Überzeugung , dafs unser
Tun weit tiberwiegend durch unsere Vorstellungen von dem
uns selbst Heilsamen gestaltet werden kann und soll.
2. Plato als Moralforsoher (399 — 395).
Wie schon bemerkt, begab sich ein Teil der Schüler
des Sokrates, unter ihnen Plato, nach dem Tode des Meisters,
weil sie sich selbst bedroht glaubten, zu Euklid nach Me-
gara. Wie lange dieser Aufenthalt gedauert hat, ist nicht
bekannt. Gewifs aber werden sie in diesem engeren Zu-
sammenleben sich gemeinsam in Erinnerungen an den Dahin-
geschiedenen vertieft und den Gedanken des Meisters nach-
gegangen sein. So entstanden jene rein sokratischen Dia-
loge, wie sie nach einer wahrscheinlichen Annahme für die
Frühzeit eines Euklid und Phädon bezeichnend sind.
So entstanden auch bei Plato jene Schriften, die man als
die „kleinen sokratischen Dialoge"" zu bezeichnen pflegt, und
von denen für uns der Protagoras, der kleinere
Hippias, derLaches, der Charmides und der Lysis
in Betracht kommen. Ob die ersten Ansätze und Versuche
zu dieser Schriftstellerei bei ihm nicht vielleicht schon in
die Lebenszeit des Sokrates fallen ist nicht sicher bekannt.
Die Anekdote, dafs Plato seinen Lysis in Gegenwart des
Sokrates vorgelesen habe und dieser dann seine Verwunde-
rung geäufsert habe, was der junge Mann alles über ihn
erdichte (D. L. III. 35), ist hierfür nicht beweisend. Doch
ist allerdings schwer zu glauben, dafs bei einem Geiste wie
Plato, nachdem er schon vor dem 20. Jahre als Dichter viel-
fach schöpferisch aufgetreten war, diese schaffende Kraft
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544 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
während eines achtjährigen Zeitraums bis zu seinem 28. Jahre
völlig brachgelegen haben sollte. Andernteils katin aber
auch nicht behauptet werden, dafs diese ganze Schriften-
gruppe gerade in Megara und nicht vielmehr auch teilweise
nach erfolgter Rückkehr nach Athen verfafst worden sei.
Jedenfalls ist Plato in diesen Dialogen nicht einfacher
Nachtreter des Sokrates. Ausgehend von dem sokratischen
Gedanken, dafs das Heil des Staates auf der Tüchtigkeit
der leitenden Persönlichkeiten beruht, fafst er ganz aus-
schliefslich die eine Seite dieser Tüchtigkeit, die sittlichen
Eigenschaften, ins Auge. Er wird Moralist. Sokrates nun
hatte femer diese sittlichen Eigenschaften aus ihrer Not-
wendigkeit für die echte Regierungskunst abgeleitet und
auch den Antrieb zu ihrer Betätigung aus dem Bedürfnis
der wahrhaft Tüchtigen, selbst an der Spitze zu stehen, ent-
wickelt. Plato übernimmt den Gedanken, dafs man die
Tugenden nicht blofs in herkömmlicher Weise nebeneinander-
stellen dürfe, sondern dafs hier eine Ableitung aus einem
einheitlichen Prinzip stattfinden müsse, sowie auch den Ge-
danken, dafs das wahre eigene Interesse zu ihrer Ausübung
führen müsse. Aber er löst beide Gedanken aus der engen
Bezugnahme zum Staatsleben; er will das Sittliche aus der
Abhängigkeit, in der es bei Sokrates noch stand, loslösen,
es verselbständigen und ganz auf sich selbst stellen. Es
handelt sich auch bei ihm um eine Ethik für Staatslenker,
aber es soll zum ersten Male eine Ethik sein, die ganz auf
eigenen Füfsen steht. Diesen beiden Forderungen wäre ent-
sprochen, wenn ein einheitliches Gut von überragendem
Werte nachgewiesen werden könnte, dessen Verwirklichung
durch die ebenfalls einheitliche Tugend einträte. Liefse sich
ein solches Gut nachweisen, so wären damit die beiden
Probleme, das Problem der intellektuellen Triebfeder zur
Tugend und das der Einheit der Tugend, in einem gelöst
und zugleich die Yerselbständigung der Ethik zu Stande
gebracht. Die „kleinen sokratischen Dialoge" stellen die
noch erfolglosen Versuche Piatos an diesem Probleme, gleich-
sam seine noch vergeblichen Entdeckungsreisen nach einer
wissenschaftlichen Ethik dar. Als Jugendwerke charakteri-
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V. 2. Plato als Moralforscher (399—895). 545
sieren sie sich durch diese Erfolglosigkeit, die durchaus
nicht, wie vielfach angenommen wird, eine blofs gemachte,
scheinbare, die wirklich gewonnenen Resultate künstlich
wieder versteckende, sondern eine ganz echte und natur-
wüchsige ist. Neue philosophische Gedanken kommen immer
nur unter schweren Geburtswehen, in langsamer Entwick-
lung und meist zunächst in verkümmerter Ausdrucksform
zutage. Ferner aber auch durch eine noch vielfach her-
vortretende Ungelenkigkeit in der Gedankenführung. An-
demteils aber tritt in ihnen in der reichen dramatischen,
manchmal fast novellenhaften Szenerie, der den Gedanken-
kem fast überwuchernden szenischen Einkleidung der Dichter
Plato zutage, der uns reizvolle Genrebilder aus dem Leben
und Treiben des sokratischen Kreises vor die Seele zaubert.
Das vollständige Programm für diese Untersuchungen
bietet der „Protagoras". Dieser Dialog nimmt seinen
Ausgangspunkt ausdrücklich von dem Verlangen eines Jüng-
lings aus guter Familie, zu Staatsgeschäften tüchtig zu
werden (316 C), und auch der Sophist bezeichnet die Tüchtig-
machung in der Staatskunst als das Ziel seines Unterrichts
(318 E f.). Es wird aber von diesem allgemeineren Gebiet
— und das ist für die Denkrichtung des jungen Plato cha-
rakteristisch — ohne besondere Begründung auf das engere
Teilgebiet der sittlichen Tugend übergegangen (320 B) und
die Frage aufgeworfen, ob diese überhaupt durch Unterricht
beigebracht werden könne, ob die Tugend lehrbar sei. Prot-
agoras glaubt dies durch die früher schon wiedergegebene
Fabel vom Menschengeschlecht erweisen zu können. Auf
Grund einer sittlichen Naturausstattung und der Ausbildung
derselben durch Gewöhnung von Jugend auf wird der Mensch
zu den sittlichen Eigenschaften herangebildet (320 D if.).
Die hervorragendsten Meister in dieser Kunst der sittlichen
Ausbildung sind die Sophisten (328 B).
Diese vage Fassung der Lehrbarkeit der Tugend ent-
spricht aber nicht der Meinung Piatos. Ihm ist die Tugend
nur dann lehrbar, wenn bei ihrem Zustandekommen die
Vernunfttätigkeit, die Erkenntnis ihres unbedingten Wertes
für uns selbst, das ausschlaggebende ist. Nur dann kann
Döring. I. 35
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546 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Tugend im eigentlichen Sinne gelehrt, d. h. Verstandes-
mäfsig andemonstriert werden, wenn ihr Wert für den Be-
sitzer dem Zögling vollkommen deutlich und einleuchtend
gemacht werden kann. Damit dies aber möglich, mufs sie
etwas Einheitliches sein. Wäre sie nur ein Gattungsbegriff
für eine Mannigfaltigkeit verschiedener Eigenschaften, so
könnte ein einheitlicher Beweis für den Wert der Tugend
nicht geführt werden. Der Beweis würde in eine gröfsere
Zahl verschiedener Beweisgänge für die einzelnen Sonder-
tugenden auseinanderfallen. Die Lehrbarkeit der Tugend
als solcher steht und fällt mit der Ableitbarkeit der Einzel-
tugenden aus einem einheitlichen Prinzip. Die beiden Plato
beschäftigenden Probleme fallen ihm in eins zusammen. Des-
halb läfst er seinen Sokrates, um zur wahrhaften Lehr-
barkeit der Tugend vorzudringen, den Umweg über die
Frage der Einheit wählen, und er läfst Protagoras im rich-
tigen Gefühl für den Zusammenhang der beiden Fragen sich
in jeder möglichen Weise gegen das Zugeständnis der Ein-
heit sträuben.
Plato hat jedoch nur durch dies Sichsträuben den Zu-
sammenhang der Einheitlichkeit der Tugenden mit der Ver-
nunftbegründung markiert. Eine deutliche Begründung
dieses Zusammenhanges gibt er nicht. In dieser das Ver-
ständnis erschwerenden Unzulänglichkeit der Darstellung
zeigt sich der Anfänger. Endlich gibt Protagoras zu, dafs
von den fünf von Sokrates aufgezählten Haupttugenden:
Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Frömmig-
keit, vier in einem nahen Verwandtschaftsverhältnis ständen ;
für die Tapferkeit aber glaubt er noch eine Sonderstellung
retten zu können, da sie als Temperamentstugend sehr wohl
auch ohne die übrigen Tugenden vorkommen könne (349 B ff.).
Es fällt hier zunächst auf, dafs die aufgezählte Tugend-
reihe mit dem sokratischen Tugendsystem nur teilweise
zusammenstimmt. Bei Sokrates nehmen Besonnenheit (So-
phrosyne) und Weisheit eine Sonderstellung ein. Diese
tritt hier nicht hervor. Und von den sokratischen Spezial-
tugenden ist die Enthaltsamkeit unerwähnt geblieben. In
welcher Art sich ferner Plato den inneren Zusammenhang
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V. 2. Plato als Moralforscher (399—395). 547
dieser fünf Tugenden denkt, und in welchem Sinne er von
Protagoras für die vier mit Ausnahme der Tapferkeit zu-
gegeben wird, kommt nicht zum Ausdruck. Doch zeigt sich
auch hier wieder an der Beflissenheit, mit der Protagoras
wenigstens für die Tapferkeit eine Sonderstellung in An-
spruch nimmt, dafs er den Zusammenhang der Getrenntheit
der Tugenden mit dem, was e r unter Lehrbarkeit versteht,
und den Zusammenhang der Einheitlichkeit mit der eigent-
lichen und wahren Lehrbarkeit bestimmt durchfühlt. Er
gibt tatsächlich für die vier Tugenden schon hier zu, dafs
sie in Erkenntnis der mit ihrer Ausübung verbundenen Vor-
teile bestehen.
Es wird nun der Beweis versucht, dafs auch die Tapfer-
keit eine ebensolche Erkenntnis ist. Und zwar in folgender
Weise. Es wird mit dem gröfsten Nachdruck betont, dafs
der stärkste, entscheidende Beweggrund für unser Tun und
Lassen die Erkenntnis des eigenen Vorteils ist. Diese Er-
kenntnis ist nicht ein Sklave, den man nach Belieben so
oder so leiten kann. Sie ist unbezwingbar (352 B). Prot-
agoras selbst gibt zu, dafs es schmählich wäre, zu behaupten,
die Erkenntnis wäre nicht das Stärkste in der Welt. Unter
dieser Voraussetzung wird nun auch für die Tapferkeit der
Beweis angetreten, dafs sie intellektuell, ein Erkenntnis-
produkt ist.
Der letzte Vorteil ist die Lust, der letzte Nachteil die
Unlust, beides natürlich nicht im Sinne der Sinnenlust,
sondern in der umfassenden Bedeutung dieser beiden Ge-
fühlszustände überhaupt. Lust und Unlust sind das letzte
Gut und Übel (355 A). Unter Lust darf aber nicht die
blofs augenblickliche Lust verstanden werden, auch wenn
sie in ihren Folgen gröfsere Unlust bewirkt oder gröfsere
Lust raubt. Ebenso unter Unlust nicht die augenblickliche
Unlust, auch wenn sie in ihren Folgen uns gröfsere Lust
bereitet oder uns von gröfserer Unlust befreit. Es wird
hier nicht nur für jede der beiden Gefühlsarten, für sich,
sondern auch für beide gemeinsam ein einheitlicher Mafs-
stab verausgesetzt. Die hier in Betracht kommende Er-
kenntnis wird als ein Messen und Zählen geradezu den mathe-
35*
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548 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
matischen Wissenschaften gleichgesetzt. Der Gewinn des
gröfstmöglichen Lustertrags wird geradezu als das Ziel
alles Strebens hingestellt. Es bereitet sich hier geradezu
schon der Sprachgebrauch der späteren Philosophie in der
Anwendung des Ausdrucks „Lebensziel" (t61os) vor (354 C flF.).
Dieser Ausdruck tritt uns hier zum ersten Male als un-
zweifelhaft von dem betreifenden Denker selbst gebraucht
entgegen.
Folgt nun jemand unter Nichtbeachtung der später sich
einstellenden Nachteile der Augenblickslust , so ist dies Un-
wissenheit (357 D), Mangel an Erkenntnis. Diese Unwissen-
heit besteht darin, dafs ihm das zeitlich Fernere kleiner er-
scheint.
Nun folgt die Anwendung auf die Tapferkeit. Liegt
das Übel in der Zukunft, so wird es gefürchtet. Mit diesem
erst drohenden Übel hat es die Tapferheit zu tun. Tapfer-
keit ist die richtige Erkenntnis, ob etwas zu fürchten oder
nicht zu fürchten ist, Feigheit die Unwissenheit in beiderlei
Beziehungen. So ist also die Tapferkeit ebenso wie die
übrigen vier Tugenden eine Erkenntnisart (361 B).
Der Beweis ist unvollständig. Zur Tapferkeit wird
z. B. ausdrücklich die Preisgebung des eigenen Lebens ge-
rechnet (359 E). Es fehlt aber durchaus der Nachweis, dafs
damit die höchste und dauerndste Lustwirkung verbunden
ist. Und vollends fehlt für die übrigen Tugenden dieser
Nachweis vollständig. Es wird ohne Beweis das dem
eigenen Vorteil zuwiderlaufende Handeln mit der sittlichen
Verkehrtheit gleichgesetzt und umgekehrt (358 D). Erwiesen
ist nur, dafs, wenn bei einer durch Erkenntnis geleiteten
Lebensführung das sittliche Verhalten sich als das den
gröfsten Lustertrag bringende herausstellt, die Entschei-
dung zu seinen Gunsten ausfallen wird. Hier zeigt sich
die im Denken Piatos noch vorhandene Lücke: er hat den
Begriflf noch nicht gefunden, der zugleich den Einheitspunkt
der sittlichen Tugenden und den Bestimmungsgrund zur
Entscheidung für dieselben ausdrückt. Die Tugend ist nur
bedingt als lehrbar erwiesen, wenn sie nämlich in der
Tat, was hier nur behauptet wird, den höchsten Lustertrag
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V. 2/ Plato als Moralforscher (899—395). 549
gewährt. Jedenfalls aber stellt sich Plato im Protagoras
der Intention nach in ganz ausschliefslicher Weise auf
den Boden des sokratischen Intellektualismus. Er vertritt
viel entschiedener und ausschliefslicher als Sokrates selbst
das Prinzip der Lehrbarkeit der Tugend*
Der ^kleinere Hippias" (so genannt, weil es unter
den Plato beigelegten Schriften auch einen gröfseren Hippias
gibt, dessen platonischer Ursprung aber zweifelhaft ist) be-
handelt die auf dem Standpunkt der Vernunftleitung des
Handelns entspringende absonderliche Konsequenz, die Para-
doxie des ethischen Intellektualismus. Diese besteht darin,
dafs der bei voller Erkenntnis des Richtigen (dem eigenen
Vorteil Entsprechenden) absichtlich verkehrt Handelnde höher
steht als der beim Fehlen dieser Erkenntnis unabsichtlich, aus
Unwissenheit, verkehrt Handelnde. Dies ist in Wirklichkeit
auf diesem Standpunkt gar kein Problem, da es nach den schon
im Protagoras gemachten Voraussetzungen unmöglich ist,
der klaren Erkenntnis des eigenen Vorteils zuwiderzuhandeln.
In der Tat wird denn auch, wenngleich in ganz. versteckter
Weise, in zwei Worten am Ende angedeutet, dafs die ganze
Frage nach den eigenen Voraussetzungen Piatos jeder prak-
tischen Bedeutung entbehrt. Es heifst da, der absichtlich
schlecht Handelnde, wenn es einen solchen gebe, sei
der Bessere (376 B). Nur dadurch wird die Paradoxie über-
haupt möglich, dafs bei der Betonung der Erkenntnis ver-
schwiegen wird, dafs damit die Erkenntnis des eigenen Nutzens
gemeint ist.
Der „Lachos" beschäftigt sich noch eingehender als
der Protagoras mit dem Begriif der Tapferkeit. Auch hier
wird diese Tugend in die Erkenntnis gesetzt, ob das im
äufseren Leben oder auch in unseren eigenen Begehrungen
(191 E) uns bedrohlich Entgegentretende unser wahres
Wohlsein bedroht und also ein w i r k 1 i c h e s Übel ist (198 B).
Wo dies nicht zutriift, da ist nichts zu fürchten, da hat die
Tapferkeit ihren Platz. Es wird dann die Tugend überhaupt
auch hier in die Erkenntnis des durch das betrefifende
Handeln zu erwerbenden Gutes oder zu vermeidenden Übels
gesetzt (198 D f.). So geht auch hier mit dem Intellektua-
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550 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
li^mus des Handelns das Streben nach Vereinheitlichung
der Tugend Hand in Hand (199 E). Es bedarf nicht einer
besonderen Sophrosyne , Gerechtigkeit oder Frömmigkeit,
denn Tugend ist das Wissen von den wahren Gütern und
Übeln (199 D). Freilich weifs auch hier Plato die Haupt-
sache noch nicht anzugeben, worin nämlich das wahrhaft
Gute und Üble besteht, und deshalb erklärt sich auch sein
Sokrates einstweilen noch für untauglich zum Lehren; er
mufs erst selbst noch lernen (200 E). Dieser Sokrates ist
niemand anders als Plato selbst. Er hat den Einheits*
punkt der sittlichen Eigenschaften, in dem zugleich der B&-
Stimmungsgrund des Strebens nach ihnen liegt, noch nicht
entdeckt. Direkt irreleitend aber ist es, wenn die Tapfer-
keit geradezu zur Tugend überhaupt erweitert wird, indem
der Unterschied in der Zeitlage der Güter und Übel, ob
sie in Vergangenheit und Gegenwart schon wirklich ge-
worden oder als erst bevorstehend der Zukunft angehören,
für gleichgültig erklärt wird (199 C).
Im „Charmides**, dessen platonischer Ursprung
übrigens bestritten ist, wird die gleiche Vorstellungsweise
auf die Tugend der Sophrosyne angewandt. Nebenher be-
merkt, ist hier, wie im Laches, der sokratische BegriflF der
Sophrosyne als der allgemeinen sittlichen Willensrichtung,
einerlei, ob sie aus Erkenntnis entspringt, aufgegeben. Dieses
schwankende und unbestimmte Wort scheint hier, wie im
Laches, eine der Spezialtugenden zu bezeichnen.
Auch hier nun wird als das für die menschliche Glück-
seligkeit Entscheidende die Erkenntnis der wahren Güter
und Übel bezeichnet (173 D if.). Ob die Sophrosyne mit
dieser Erkenntnis einerlei sei, wird in Zweifel gelassen.
Jedenfalls müsse sie als ein wertvolles Gut betrachtet werden.
Auch hier betont Plato durch den Mund seines Sokrates die
Unzulänglichkeit seines eigenen Denkens (175 E). Und in
der Tat findet auch hier nicht nur die Frage nach dem
Wesen der Sophrosyne und ihrem Verhältnis zu den übrigen
Tugenden keine Lösung, sondern auch auf die Frage der
Fragen, die Frage, worin denn eigentlich die wahren Güter
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V. 2. Plato als Moralforscher (399—395). 551
und Übel bestehen, wird eine Antwort zu geben noch nicht
einmal versucht (174 D).
Einen ganz kleinen Schritt in der Richtung auf Beant-
wortung dieser Grundfrage tut der „Lysis**. Freilich bildet
hier nicht die Wesensbestimmung der Tugenden oder die
Frage nach ihrem Zustandekommen den Ausgangspunkt.
Es handelt sich um das Wesen der Freundschaft. Diese
wird begehrt auf Grund eines eigenen Mangels und Bedürf-
nisses. Das Streben nach Freundschaft ist nur ein Sonder-
fall des auf das »Gute*, d. h. auf die zu unserem Wohlsein
erforderlichen Güter, gerichteten Begehrens (218). Diese
Güter aber bilden eine Stufenfolge. Manche sind nur Güter
um eines anderen Begehrenswerten willen, zu dessen Er-
reichung sie als Hilfsmittel dienen (219). Es mufs ein
wesentlich Begehrenswertes geben, das nicht um eines andern
willen begehrt wird (220 A B). Dies wird dann als das
der Natur Angemessene (oikelon) bezeichnet (221 E f.).
Welches aber dieses der Natur angemessene Gut sei, wird
nicht zu bestimmen versucht, und so verläuft denn auch die
Frage nach dem Wesen der Freundschaft mit dem diesen
Dialogen eigentümlichen Eingeständnis des eigenen Un-
vermögens (223 B) im Sande.
Plato ist schliefslich über die Frage des begehrens-
wertesten Gutes, aus dessen Verfolgung die Tugend ent-
springt, ins klare gekommen. Die von ihm gewonnene Ein-
sicht über diesen Punkt bildet einen der wichtigsten Aus-
gangspunkte seiner weiteren philosophischen Entwicklung.
Er hat aber die Art, wie er zu dieser neuen Erkenntnis
gelangt ist, nicht in einer besonderen Schrift dargelegt. Nur
der neugewonnene Gedanke selbst tritt uns in denjenigen
Schriften entgegen, in denen er ihn missionierend ver-
wertet, als Moralprediger zum Heile des Staates, in dem
Sinne, in dem er das Werk des Sokrates fortzuführen be-
müht war. Aus den hierhergehörigen Schriften, der Apo-
logie, dem Kriton und dem Gorgias, müssen wir das schliefs-
lich gewonnene Resultat seiner Moralforschung entnehmen.
In der Apologie nun wird als das über alles zu Er-
strebende die normale Beschaffenheit der Seele be-
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552 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sok ratisch. Schulen et<r.
zeichnet (29 E, 30 B). Und in welchem Sinne dies gemeint,
das zeigt schon die kurz darauf folgende Bemerkung, dafs
die Ungerechtigkeit das gröfste Übel ist (300).
Und im „Kriton" entscheidet sich Sokrates wider die
Flucht aus dem Gefängnis, weil durch Ungerechtigkeit die
Seele zerrüttet, durch Gerechtigkeit ihr Gedeihen ge-
bracht wird. Wenn schon mit einem zerrütteten Körper
das Leben nicht lebenswert ist, wie viel weniger mit einer
zerrütteten Seele! (47 E.)
In sehr viel nachdrücklicherer und entschiedenerer Weise
aber kommt die neue Erkenntnis im „Gorgias** zum Aus-
druck. Hier ist die neue Überzeugung zu ihrer vollen Be-
deutung für die Moralbegründung emporgewachsen. Hier
wird der Ungerechte in jedem Falle für unselig erklärt, un-
seliger, wenn er ungestraft bleibt. Denn die Strafe ist das
Heilmittel der Ungerechtigkeit, die eine schlimme seelische
Krankheit ist, schlimmer als Armut oder körperliches Leiden.
Die Laster sind die Übel der Seele. Der Verderb der Seele
ist das schlimmste der Übel. Da durch die Strafe der Zu-
stand der Seele gebessert wird, so sollte man, wenn man
unrecht getan hat, sich so schnell als möglich dies Heil-
mittel beschaffen, wie man bei körperlichen Leiden eiligst
zum Arzte geht. Wenn es nicht ungerecht wäre, auch dem
Feinde unrecht zu tun, so müfste man dem Feinde zur
Straffreiheit behilflich sein (472—81). Unrecht tun ist ein
schlimmeres Übel als Unrecht leiden (580 D). Nicht nur der
flüchtige Sinnengenufs, sondern auch das dauernd dem leib-
lichen Leben Nützliche ist ohne Bedeutung im Vergleich
mit dem hohen Gute eines normalen Seelenzustandes. Das
Leben des an der Seele Kranken ist ein elendes ; ihm wäre
es besser, nicht zu leben (512). Die Normalität der Seele
besteht in einem geordneten Zustande, in der Sophrosyne,
die hier wie bei Sokrates als der Inbegriff der Tugend er-
scheint. Unbesonnenheit und Zügellosigkeit, das Gegenteil
der Sophrosyne, ist Abnormität der Seele. Die Sophrosyne
besteht in dem gebührenden Verhalten gegen Götter und
Menschen, in Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Femer aber
auch in dem richtigen Verhalten zu dem, was man erstreben
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V. 2. Plato als Moralforscher (399-395). 553
und meiden mufs, zu Lust und Schmerz. Das ist aber Sache
der Tapferkeit (507). Hier steckt in der Tapferkeit auch
die vierte der sokratischen Spezialtugenden, die Enthaltsam-
keit, und so wird aus der Sophrosyne als der Normalität
der Seele das ganze sokratische Tugendsystem abgeleitet.
Deshalb ist auch von den „Weisen" (den Pythagoreern) das
All ein Kosmos genannt worden, ein Geordnetes, in dem
nicht Unordnung und Zügellosigkeit herrscht (508 A). Wir
befinden uns hier im Mittelpunkte des vollausgestalteten
platonischen Moralismus, der in der Apologie und im Kriton
nur erst in einzelnen Andeutungen zutage trat. Jetzt
erst erscheint daher der aus dem reinen Intellektualismus
folgende Satz, dafs niemand absichtlich unrecht tut, sondern
nur aus Unwissenheit und Irrtum, mit stichhaltiger Be-
gründung. An der Seelenvollkommenheit als dem höchsten
Gute hat er diese jetzt gefunden. Das Böse ist Unkenntnis
des wahren Heiles (509 C ff.).
Mit dieser Lösung nun hat der griechische Moralismus
und die antike Ethik überhaupt eine Richtung eingeschlagen,
die von da ab die eigentümliche Einseitigkeit der antiken
Sittenlehre ausmacht. Das Sittliche wird nicht angesehen
als das der Gesamtheit zu gute Kommende, als eine An-
gelegenheit des Staats und der Gesellschaft, wie es doch
bei einem Protagoras und Sokrates der Fall war,
sondern als die Vervollkommnung des eigenen Wesens, als
Vollendung der Persönlichkeit, als höchste Entwicklung des
Individuums selbst.
Eine gewaltige Wertverstärkung erhält aber ferner im
Gorgias das Gut der Seelenvollkommenheit durch die Folgen,
die sich im Jenseits daran anknüpfen. In der Apologie und
im Kriton herrschte in dieser Beziehung teils Anschlufs an
die Volksvorstellungen vom Jenseits, teils Zweifel, ob es über-
haupt ein Fortleben gebe. Im Gorgias aber finden sich
schon an früherer Stelle Anklänge an einen andersartigen
Jenseitsglauben. Ein Vers des Euripides wird zitiert, nach
dem vielleicht das Leben in Wahrheit Tod und der Tod das
wahre Leben ist, und von einem „weisen Mann" hat Sokrates
gehört, dafs wir jetzt tot sind und unsere Leiber Gräber
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554 Zweite Periode. Zweite Stufe, Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
(Anspielung auf die auch von Pythagoras übernommene
Lehre der Orphiker vom körperlichen Leben als einem Fall
der Seele. Die Zusammenstellung von Leib [söma] und
Grab [seraa] bildet im Griechischen ein Wortspiel). Und
so noch Ähnliches (492 E f.). lu nachdrücklichster Verbin-
dung mit der Seelengesundheit aber tritt diese Jenseitslehre
am Schlüsse auf. Nach uraltem Rechte kommt der Fronmie
und Gerechte nach den Inseln der Seligen, der Gottlose
und Ungerechte in den Tartarus. Nach einer alten Sage
fielen jedoch in älterer Zeit die Urteile der Totenrichter oft
unrichtig aus, denn die Richtenden erschienen vor ihnen
noch bekleidet mit dem Leibe und begünstigt durch Gebart
und Reichtum, sowie durch Zeugen, die zu ihren Gunsten
aussagten. Auch die Richter selbst waren im Leibe und
daher der Täuschung durch den Sinnenschein unterworfen.
Dies wurde dann später abgestellt. Seele gegen Seele sollte
das Gericht stattfinden. Da fallen dann alle diese Schein-
vorzüge weg. Der Richter weifs nicht, mit wem er es zu
tun hat, ob vielleicht mit dem Perserkönig oder sonst einem
mächtigen Herrscher. Er sieht nur die Mi fsg estalt der
Seele, in die jedes frevelhafte Tun in Striemen und Narben
seine Spuren eingezeichnet hat. Jetzt ist es möglich, die
Unverbesserlichen als warnendes Exempel ewiger Qual zu
überweisen, die Verbesserlichen aber der nachträglichen,
heilenden Strafe, die nur zeitlich ist. Den Inseln der Seligen
aber werden jetzt nur die wahrhaft normalen Seelen zu-
gewiesen. Nur selten kommt vor die Totenrichter eine
Seele, die fromm und wahrhaft gelebt hat, die Seele eines
schlichten Mannes ohne Macht im Staate, häufiger die Seele
eines Philosophen, der der wahren Lebensaufgabe nach-
gegangen ist. Solchen Seelen wird dann der glückliche
Wohnsitz angewiesen. Sokrates versichert, er sei von der
Wahrheit dieser Sagen überzeugt und strebe darnach, der-
einst seine Seele so gesund als möglich zu zeigen (522 E ff.).
Diese Jenseitslehre ist mit einer Anzahl von Einzel-
zügen ausgestattet, die sie als Bestandteil eines gröfseren
Ganzen, einer Art von antiker „göttlicher Komödie" kenn-
zeichnen, deren Gesamtplan sich erst in einigen späteren
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V. 2. Plato als Moralforscher (899—395). 555
Dialogen Piatos, im Phädrus, im Phädon und im Staate ent-
hüllt. Erst dort kann dieses merkwürdige Gebilde als
Ganzes erfafst und gewürdigt werden. Hier nur vorläufig
so viel, dafs wir es unzweifelhaft mit der Lehre der or-
phischen Sekte zu tun haben, von der schon bei Pytha-
goras die Rede war. Von Sokrates hatte er diese Lehre
nicht. Xenophon, der treue Sokratiker, läfst in der Kyru-
pädie (VIIL 7, 17 ff.) den sterbenden Kyros zwar dem Un-
sterblichkeitsglauben zuneigen, aber doch in Zweifel bleiben,
und auch Plato läfst in der Apologie Sokrates sich völlig
unentschieden über die Frage aussprechen. Wie sich jedoch
vorstehend gezeigt hat, modelt Plato die übernommene or-
phische Lehre in freier Weise nach seinem Gedanken der
Seelengesundheit um.
Dies Bekenntnis Piatos zur Lehre der Orphiker er-
möglicht es denn auch, einen Anhaltspunkt für die Ab-
fassungszeit des „Gorgias" und indirekt auch der ihm ver-
wandten beiden Schriften, der Apologie und des Kriton, zu
gewinnen. Die erste, noch unbestimmte Bezugnahme auf
die orphische Lehre findet sich nämlich im „Menon**. Sie
tritt hier aber nur ganz gelegentlich auf zur Beseitigung
eines Einwandes g^en die Möglichkeit des Erkennens. Was
man schon weifs, braucht man nicht zu erforschen; bei dem
aber, was man noch nicht weifs, ist die Erforschung un-
möglich, da man ja gar nicht weifs, was man erforschen
soll : so lautet dieser Einwand. Demgegenüber sagt Sokrates,
er habe von Männern und Frauen, von Priestern und
Priesterinnen, auch von Pindar und anderen ihm
an erhabener Anschauung ähnlichen Dichtern gelernt, dafs
die Seele unsterblich sei und nicht nur einmal, sondern in
häufiger Wiederkehr in die Körperwelt eingehe. Wie ein
hier angeführter Vers Pindars lehrt, ist nach dieser An-
schauung das Seelenlos im künftigen Erdenleben vom Ver-
halten im vorhergehenden abhängig, daher ein durchaus
frommes Leben geboten ist Bei diesem endlosen und
zwischen verschiedenen Daseinsweisen wechselnden Leben
der Seele hat sie denn auch schon früher von allen Dingen
auf Erden und im Jenseits Erfahrungen erlangt, und es
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556 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
gibt nichts, wovon sie nicht Kenntnis hätte. Bei dem all-
gemeinen Zusammenhang, in dem alles in der Welt steht,
bedarf es nur der Erinnerung an eins, um auch das übrige
damit im Zusammenhang Stehende ins Bewufstsein zurück-
zurufen. Was man Forschen und Lernen nennt, ist nichts
als Wiedererinnerung. Die mystische Lehre dient hier ledig-
lich als schwache Verlegenheitsauskunft, um jenem sophisti-
schen Einwurf zu entgehen. Sie tritt hier aber auch in
einer so einfachen Gestalt auf, dafs im Vergleich mit der
Erwähnung im „Gorgias" der Eindruck einer erst beginnen-
den Beschäftigung mit ihr hervorgebracht wird (80 E ff.).
Der hier mehrfach genannte Pindar (geboren um 520), der
offenbar hier Plato beeinflufst hat, vertrat in seinen Dich-
tungen neben den herkömmlichen Vorstellungen die orphische
Theologie, diese jedoch als seine persönliche Überzeugung,
wenngleich in dichterisch freier Behandlung (Rohde,
Psyche IL 204 ff.). Merkwürdig ist der im Menon versuchte
experimentelle Beweis für die Wiedererinnerung. Dei-selbe
besteht darin, dafs einem jungen Sklaven die Lösung der
geometrischen Aufgabe abgefragt wird, den Inhalt eines ge-
gebenen Quadrats zu verdoppeln (82). Die Wiedererinne-
rungslehre selbst ist ein erster primitiver Versuch, die An-
nahme einer angeborenen Erkenntniserbschaft begreiflich
und glaubhaft zu machen. Sie hat eine entfernte Ähnlich-
keit mit der Theorie Herbert Spencers, nach der die
angeborenen Denkgewohnheiten auf vererbten Gewöhnungen
der Gattung beruhen, nur dafs die zu Grunde liegende Er-
fahrung bei Spencer die vererbte der Gattung, bei Plato
aber die des präexistenten Individuums ist. Auch besteht
bei Plato das Angeborene in den in der Seele aufgespeicher-
ten Erinnerungen, bei Spencer in der fortschreitenden Ver-
vollkommnung des körperlichen Organs.
Aber auch der Hauptinhalt des „Menon" steht auf einer
früheren Stufe als der des „Gorgias". Die Lehrbarkeit der
Tugend wird hier, wie in den Jugenddialogen nur ganz un-
bestimmt an die Bedingung geknüpft, dafs aus der Tugend
ein unbedingt wertvolles Gut entspringe. Welches dies sei,
wird nicht gesagt. Der doch in der Apologie und im Kriton
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V. 2. Plato als Moralforscher (399—395). 557
schon so deutlich betonte Gedanke der Seelengesundheit
kommt nicht vor. Auch das Wesen der Tugend wird nur
unbestimmt bezeichnet, als die Fähigkeit, die häuslichen und
staatlichen Angelegenheiten recht zu verwalten, die Eltern
zu versorgen und mit Bürgern und Fremden in einer eines
rechtschaffenen Mannes würdigen Weise zu verkehren (91 A).
In diesem Sinne wird sie (in vollem Gegensatz gegen den
Gorgias) den gefeierten Staatsmännern Athens zuerkannt,
wenngleich nicht als aus Erkenntnis entsprungen, sondern
auf Grund unklarer und wandelbarer Vorstellungen, wie
durch eine glückliche Schicksalsfügung. Daher sie auch
ihre Tugend nicht haben lehren , ja, nicht einmal auf ihre
eigenen Söhne übertragen können (93 ff.).
Diese schwankenden ethischen Anschauungen scheinen
nicht nur dem Gorgias, sondern auch der Apologie und dem
Kriton voran zu liegen. Ja, sie lassen sich überhaupt nicht
recht in den Entwicklungsgang Piatos einreihen. Nun findet
sich aber im Menon (90 A; Z. 489, 2) eine Anspielung auf
ein Ereignis des Jahres 395 als unlängst geschehen. Hiemach
könnten die drei genannten Schriften erst nach diesem Zeit-
punkte, etwa 394, verfafst sein, Andemteils freilich neigt
der Menon schon der orphischen Lehre zu, die Plato in der
Apologie seinem Sokrates noch nicht in den Mund zu legen
wagt. Aber dies erklärt sich daraus, dafs er damals wohl
selbst über diesen Punkt noch schwankte, und dafs er in
bezug auf Sokrates nicht gar zu sehr gegen die geschicht-
liche Wahrheit verstofsen durfte.
Im Anschlufs an diese Forschung über die sittlichen
Fragen kann schon hier auch noch der „Euthyphron**
erwähnt werden, obwohl er anscheinend einer etwas späteren
Zeit angehört. Die Bedeutung dieses Dialogs besteht näm-
lich, wie es scheint, darin, dafs in ihm die Frömmigkeit als
eine besondere Tugend aus dem von Sokrates überkommenen
Tugendsystem gestrichen wird. In der Tat hat Plato später
diese Tugend nicht mehr in seiner Tugendreihe mitauf-
geführt. Da sie im Gorgias noch nachdrücklich mitgezählt
wird, müfste der Euthyphron mindestens etwas später fallen
als der Gorgias. Euthyphron ist ein strenger Anhänger der
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558 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Volksreligion. Plato läfst ihn mit Sokrates vor dem Ge-
richtsgebäude zusammentreffen, als dieser im Begriff ist,
sich auf die doppelte gegen ihn ergangene Anklage zu ver-
antworten. Sokrates will sich von ihm über das Wesen der
wahren Frömmigkeit belehren lassen , die ihm ja durch die
Anklage abgesprochen worden ist. Es kommt aber zu keinem
befriedigenden Resultat Die Erklärung, das Fromme sei
das Gottgefällige, scheitert an der Vielköpfigkeit der volks-
tümlichen Götterwelt. Die Ansichten und Forderungen sind
widersprechend, so dafs dasselbe zugleich fromm und un-
fromm sein kann (6 E ff.). Damit ist die Unmöglichkeit
einer philosophisch stichhaltigen Begriffsbestimmung der
Frömmigkeit auf dem Boden der Volksreligion erwiesen.
Die zuletzt versuchte Erklärung als Wissenschaft des
Opfems und Betens hat das wider sich, dafs sie auf ein
Handelsgeschäft hinausläuft. Der Opfernde gibt, um zu
empfangen, was er betend heischt. Eine besondere Schwierig-
keit ist dabei noch, dafs der Gottheit überhaupt nichts ge-
boten werden kann , da sie nichts bedarf (14 B ff.). Damit
scheint für Plato die Frage der Frömmigkeit als einer be-
sonderen Tugend für jeden Standpunkt, nicht nur für den
der Volksreligion, abgetan zu sein, wenngleich dieses Resultat
nicht ausdrücklich formuliert wird.
Es zeugt von der aufserordentlich niedrigen Stufe, auf
der das Verständnis Piatos selbst bei hochgelehrten Forschem
noch steht, wenn auch heute noch behauptet wird, der Euthy-
phron sei zur Verteidigung des Sokrates — vielleicht in der
Zeit zwischen der erhobenen Anklage und der Prozefs-
verhandlung — verfafst worden. Eine solche Zweckwidrig-
keit sollte man billigerweise Plato nicht zutrauen. Eine
Schrift, die die vernichtendsten Angriffe gegen die Volks-
religion enthält und schliefslich nicht nur das Wesen, sondern
auch die Möglichkeit der Frömmigkeit als ein ungelöstes
Rätsel im Dunklen läfst, konnte unmöglich verfafst werden,
um den Meister gegen die Anklage zu verteidigen, er hebe
die vom Staate sanktionierten Götter auf. Das hiefse Öl
ins Feuer giefsen und den Anklägern eine willkommene
Handhabe bieten.
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V. 3. Plato als Bufsprediger (394). 559
3. Plato als Bufspredlsrer (894).
Nachdem Plato die Vernunftbegründung des Sittlichen
gefunden hat, geht er mit Feuereifer daran, tias von Sokrates
unvollendet gelassene Reformwerk in Angriff zu nehmen.
Er beschränkt aber die Reform auf die srittiiche Wieder-
geburt der leitenden Kreise vermittelst der neugewonnenen
Einsicht. Und nicht durch mündliche Rede, sondern durch
eben jene drei Schriften (Apologie, Kriton, Gorgias)
will er das Reformwerk vollbringen.
Im Schlufswort der Apologie läfst Plato seinen Sokrates
die Richter, die ihn verurteilt haben, also anreden: Ihre
Meinung, durch seinen Tod einen lästigen Mahner und Pre-
diger loszuwerden, sei ein trügerischer Wahn. Neue Mahner
in vermehrter Zahl werden aus dem Kreise seiner Jünger
erstehen, und um so dringlicher wird ihre Mahnrede sein,
je jugendlicher sie sind (39 C).
Hier bezeichnet Plato mit vollkommener Deutlichkeit
das Werk, das er in Angriff genommen hat. Der Sokrates
der Apologie ist Bufsprediger. Die Fortsetzung seines
Werkes bedeutet Inangriffnahme der Bufspredigt. Aber nicht
in direkter Anrede, etwa in der Form einer Flugschrift, be-
treibt er dies Werk, sondern in künstlerischer Einkleidung,
wie es etwa ein Moderner in der Form eines Romans oder
auch eines Dramas versuchen würde. Zum Träger seines
Mahnrufs macht er Sokrates, aber nicht den geschichtlichen,
sondern den nach Bedarf seines Vorhabens umgemodelten
Sokrates. Hatte dieser ihm ja doch auch schon als Träger
der im vorigen Abschnitt geschilderten Bestrebungen dienen
müssen. Die Apologie ist in keinem Sinne eine Wieder-
gabe der Verteidigungsrede, wie sie der wirkliche Sokrates
gehalten hat. Er ist nur der Verkttnder der Botschaft, die
Plato an das Volk von Athen gerichtet hat. Die Verteidi-
gungsrede ist nur Einkleidung. An jeden einzelnen Bürger
des gepriesenen Athens ergeht der Ruf, sich nicht um Geld
und Ehre, sondern um das Heil seiner Seele durch Tugend
zu kümmern. Junge und Alte sollen unablässig gemahnt
werden, zum Heile der Stadt nicht für das leibliche Wohl,
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560 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
sondern für das Gedeihen der Seele zu sorgen. Nicht
Tüchtigkeit aus Reichtum, sondern Reichtum und alle Güter
durch Tüchtigkeit! (29 E ff.). Die Bürgerschaft ist wie ein
starkes und edles Rofs, das aber etwas träge ist und des
Sporns bedarf. Der ideale Sokrates, den Plato hier für
sich reden läfst, ist der Sporner des Rosses, der über dieser
grofsen Angelegenheit alles andere hintansetzt; er ist der
Seelsorger der athenischen Bürgerschaft (30 E ff.).
Auch der Kriton kann nicht anders angesehen werden
denn als ein solcher Ruf zum Heile durch sittliche Wieder-
geburt. Ob der Plan, Sokrates aus dem Kerker zu befreien,
bestanden hat oder nicht, und mit welcher Begründung sich
dieser dazu ablehnend verhalten haben mag (was wir alles
nicht wissen), darauf kommt es hier nicht an. Das Ver-
halten des zu Unrecht verurteilten Sokrates im Kerker, wie
es Plato schildert, die Ablehnung der mit gewichtigen
Gründen ihm angetragenen Flucht um des Gedeihens seiner
Seele durch Gerechtigkeit willen ist hier weiter nichts als
eine eindringliche Predigt von der Kraft des Gedankens der
Seelengesundheit, auch in der schwersten Versuchung zu
scheinbar gerechtfertigter Ungesetzlichkeit die Gerechtigkeit
das Feld behaupten zu lassen. Die Gerechtigkeit ist aber
hier die Unterwerfung unter die geheiligten, das Gesamt-
wohl verbürgenden Ordnungen des Staatslebens, auch dann,
wenn durch den schreiendsten Mifsbrauch derselben das
eigene Wohl in vernichtender Weise geschädigt wird. Aus
dem Prinzip der Seelengesundheit folgt, dafs man unter
keinen Umständen Unrecht tun, auch nicht Unrecht mit
Unrecht vergelten darf (49). Darum läfst er die Gesetze,
die Staatsordnungen selbst das Wort ergreifen und an die
Wohltaten erinnern, die er vom ersten Lebenshauche an
von ihnen erfahren hat; er läfst sie ausführen, dafs es jedem
freisteht, den Staat zu verlassen, dafs aber, wer bleibt,
eben damit die Verpflichtung übernimmt, unter allen Um-
ständen sich ihnen zu unterwerfen. Wer sich an einem
Punkte gegen die Staatsordnung auflehnt, der vernichtet an
seinem Teile, soviel an ihm ist, im Prinzip das Gesetz und
den Staat selbst (50 f.).
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V. 3. Plato als Bufsprediger (394). 561
Mit der äufsersten Schärfe aber tritt diese Bufspredigt
im Gorgias auf. Hier wird von dem Prinzip der Seelen-
gesundheit aus eine überschwengliche Lehre vom Zwecke
des Staates und der Staatsleitung aufgestellt. Der Staat
ist seinem wahren Wesen nach eine Heilsanstalt; seine Leiter
haben an den Bürgern die höchste Form menschlicher Glück-
seligkeit, die Seelengesundheit, zu verwirklichen. Die Staats-
kunst zerfällt in die Kunst der Gesetzgebung und der Rechts-
pflege* Beide müssen diesem letzten Ziele dienstbar ge-
macht werden. Es wird hier eine grofsartige Verdeutlichung
vom Gebiete der Körperpflege her vorgenommen. Diese ver-
folgt einen doppelten Zweck: Gesundheit und Schönheit.
Jedem dieser beiden Zwecke dient eine wahre Kunst und
eine Afterkunst. Bei der Gesundheit ist dies die Heilkunst
und die Kochkunst, bei der Schönheit die Gymnastik und
die Putz- oder Toilettenkunst. Dieselben Zwecke aber hat
der Staat für die Sefele zu verwirklichen. Doch wird hier
nicht so strenge zwischen Gesundheit und Schönheit ge-
schieden und nur die Gleichung zwischen den beiden wahren
und den beiden Afterkünsten durchgeführt. Der Heilkunst
entspricht die wahre Gesetzgebungskunst, der Kochkunst
die Sophistik. Diese wird hier in einem engeren und be-
sonderen Sinne als falsche, vom wahren Staatszwecke ab-
lenkende Gestaltung der Staatseinrichtungen gedacht. Es
ist die triviale Auffassung des Staatszweckes, die ihn ge-
mäfs der landläufigen Auffassung in äufseren Glanz, in die
Beschaffung von allerlei Angenehmem und Nützlichem für
die Bürger setzt (520 B). Der Gymnastik entspricht die
wahre Redekunst , der Putzkunst die falsche (517 f.). Dafs
Plato hier speziell die gerichtliche Beredsamkeit im Auge
hat, ergibt der ganze Zusammenhang. Was er aber unter
dieser wahren Beredsamkeit in folgerichtigem Zusammen-
hange mit seinem letzten Prinzip versteht, das hat er an
einer anderen Stelle gesagt. Die wahre Redekunst geht
darauf aus, dem Schuldigen die Wohltat der Strafe zu ver-
schaffen. Ihre wahre Verrichtung ist die Anklage des Un-
gerechten, erst recht, wenn dies der Freund, der eigene
Sohn oder der Ankläger selbst ist (508 B). Im Vergleich
D6ri>f. I. 36
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562 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
damit ist die landläufige Gerichtsberedsamkeit, die auf Ver-
meidung der Strafe und Erstreitung äufserlicher Vorteile
um jeden Preis gerichtet ist, nur ein Zerrbild.
An diesem Ideale gemessen ist Sokrates (d. h. der ideale
Sokrates Piatos) der einzige Vertreter der wahren Staats-
kunst. Aber er wird verurteilt werden, wie vor Kindern
der Arzt, wenn der Koch ihn anklagt (521 D f.). Dagegen
verfällt das bestehende Staatswesen einem vernichtenden
Urteile. Es ist weiter nichts als ein Zerrbild. Die gefeierten
Staatsmänner Athens, ein Perikles, Kimon, Miltiades und
Themistokles, haben nur äufsere Erfolge erzielt; dafs sie
die Bürger nicht besser, sondern schlechter gemacht haben,
das mufsten sie an ihrem eigenen Leibe durch die gegen
sie ausbrechende Feindschaft erfahren. Wenn Esel, Pferde
oder Ochsen unter der Leitung eines Wärters bissig, stöfsig
oder zu Schlägern werden, so genügt das als Beweis, dafs
der Wärter seiner Aufgabe nicht gewachsen war (515 f.).
Nichts charakterisiert schärfer den Gegensatz gegen alles
Bestehende als diese Verurteilung der gefeierten Staats-
männer, die Athen grofs gemacht hatten. Es ist genau so,
wie wenn heute jemand über einen Bismarck rückhaltlos
den Stab brechen wollte. Noch unendlich viel weiter aber
als diese Bemühungen der älteren Staatsmänner liegt das
selbstisch-ausbeuterische Treiben der gorgianischen Gefolg-
schaft von der Verwirklichung der wahren Staatszwecke ab.
Hier schlägt das Zerrbild in das volle Gegenteil der Wahr-
heit um. Wie diese Richtung hier von Plato gekennzeichnet
wird, das ist bei ihrer Schilderung an der früheren Stelle
ausgeführt worden und braucht hier nicht wiederholt zu
werden. Dieser völligen Verkehrung gegenüber wird dann
auch als letzter Trumpf die Wirkung des Seelenzustandes
auf das jenseitige Schicksal ausgespielt. Hier ergibt sich,
dafs das Ringen nach Seelengesundheit viel wichtiger ist
als alles Ringen um irdische Dinge. Denn im Jenseits gibt
es kein Entrinnen mehr. Da wird der jetzt Ungläubige ent-
setzt das Maul aufsperren und vom Schwindel befallen
werden. Angesichts der Bedeutung dieses jenseitigen Schick-
sals kann es gar nicht ins Gewicht fallen^ ob man jetzt von
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y. 4. Hoffiiungsloser Verzicht auf öffentliches Wirken etc. 563
Kurzsichtigen als Tor verlacht oder selbst mifshandelt wird
(522 E ff.).
In bewegter Schlufsrede (527) werden dann alle diese
Mahnungen nochmals zusammengefafst. Das beste Gut ist
Gerecht sein, das nächstbeste die Züchtigung als Mittel
zum Gerechtwerden. So wird das wahre Glück im Leben
und nach dem Tode erlangt. Nur wer in diesem höheren
Zustand sich befestigt hat, ist in Wahrheit befähigt und
berechtigt, in den öffentlichen Angelegenheiten als Ratgeber
aufzutreten. —
So tritt Plato in diesen drei etwa dem Jahre 394 an-
gehörigen Schriften im Glauben an die Kraft des grofsen,
neuen Gedankens der Seelengesundheit mit hinreifsender
Wärme und steigender Inbrunst als missionierender Ethiker
auf, mit dem Ziele und in der Hoffnung, für den ihm vor-
schwebenden idealen Zustand des Ganzen zunächst ein neues
Geschlecht von Staatslenkem zu werben, ganz so, wenn
auch mit veränderten Zielen und Mitteln, wie vordem in
seiner Weise es Sokrates versucht hatte, ähnlich, wie im
ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in seinen verschiedenen
Redegängen Fichte erstrebt hat.
4, Hoffilimsrsloser Verzicht auf öfiTentUches W^lpken.
Die Erkenntnlsfragre. Der „Theätet" (394/3).
Schon im Gorgias klang die Bufspredigt düster und hoff-
nungslos genug. Ein völliges Aufgeben dieser Bemühungen
spricht aus einer längeren Ausführung im „Theätet", der
auch aus äufseren Gründen (Z. 406, 1) in die Zeit von
394—391 gesetzt werden mufs. Nach dem ganzen weiteren
Verlaufe der Entwicklung Piatos aber müssen wir ihn noch
ins Jahr 394 oder spätestens Anfang 393 setzen.
Der Hauptpunkt ist in diesem Dialoge die Auseinander-
setzung mit den verschiedenen vorhandenen Richtungen der
Erkenntnislehre aus Anlafs einer von Euklid empfangenen
Anregung. Der Theätet ist Piatos Erkenntniskritik, freilich
eine solche, die über die Negation noch nicht hinauskommt.
Vor Betrachtung dieser neuen Seite in seinem Denken aber
richten wir unseren Blick auf das merkwürdige Einschiebsel,
36 •
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564 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
das sich offenbar zji den im vorigen Abschnitt geschilderten
Bemühungen als entschiedene, düstere, hoffnungslose Absage
verhält (172 C-177 C).
Die Bemerkung, dafs man zu den immer verwickelter
werdenden Fragen der eigentlichen Untersuchung ja volle
Mufse habe, führt mitten im Dialog zu einer schroffen Gegen-
überstellung der philosophischen Beschäftigung gegen die
Tätigkeiten im Staatsleben, die weder nach ihrer Aus-
dehnung noch nach der Art der darin ausgesprochenen Ge-
danken im Zusammenhange begründet ist, sondern als be-
absichtigte Aussprache auffällt. Zunächst wird nur darauf
hingewiesen, dafs die Gerichtsredner in ihren Ausführungen
eingeengt sind durch die nach der Wasseruhr ihnen zu-
gewiesene Zeit und durch die Nötigung, sich auf das streng
zur Sache Gehörige zu beschränken. Sie sind aber auch
in anderer Beziehung wie Sklaven eingeschränkt. G^
nötigt, mit allen Mitteln um den Beifall der Geschworenen
zu buhlen, müssen sie notwendig an Einsicht und sittlicher
Gesinnung verkümmern. Der Philosoph dagegen hat die
vollste Bewegungsfreiheit. Er würde freilich an den Ge-
richtshöfen eine lächerliche Rolle spielen. Aber dahin geht
auch nicht sein Interesse. Er kennt kaum den Weg zu den
öffentlichen Gebäuden, weifs nicht, was Rechtens ist, be-
wirbt sich nicht um Ämter. Der Stadtklatsch in jeder Form
ist ihm unbekannt Er ist nur mit dem Körper in der
Stadt; seine Seele verkehrt mit den ewigen Gesetzen des
Seienden. Es geht ihm wie Thaies, der die Sterne be-
obachtete und das vor den Füfsen Liegende aufser acht
liefs. Ihn verlacht die thrazische Sklavin, der Philosoph
aber lacht, wenn mit wichtiger Miene Reichtum, Macht, Er-
folg, ein mächtiger Tyrann oder ein spartanischer König ge-
priesen wird, der durch 25 Ahnen seinen Stammbaum auf
Herakles zurückführt. Der Philosoph ist unbehilflich in
den alltäglichen Verrichtungen des Lebens, aber er kennt
das wahrhafte Leben, er weifs, worin Recht und Unrecht,
Glück und Elend an sich bestehen. Auf dem irdischen
Schauplatz und in der sterblichen Sphäre sind diese Klein-
lichkeiten unumgänglich. Das Gegenteil des Guten mufs
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V. 4. Hofihungsloser Verzicht auf öffentliches Wirken etc. 565
auch sein; bei den Göttern aber kann es seinen Sitz nicht
aufschlagen. Dorthin, zum Wohnsitz der Götter, sobald als
möglich zu flüchten, murs man bedacht sein. Diese Flucht
wird bewerkstelligt durch möglichste Verähnlichung mit
der Gottheit. Diese Verähnlichung besteht in Gerechtig-
keit und Frömmigkeit mit Einsicht, d. h. nicht in der
Scheintugend der herkömmlichen Moral, die das Schlechte
meidet und dem Guten nachstrebt, soweit es erforderlich
ist, um vor den Menschen als gut zu gelten. Die Gott-
heit ist im Grunde ihres Wesens gerecht; alle und jede Un-
gerechtigkeit ist ihr fremd. Darin aber liegt der alleinige
Mafsstab für wirkliche Tüchtigkeit, nicht in den groben und
platten Künsten der Staatslenkung und Lebensgeschicklich-
keit, die man herkömmlich als Tüchtigkeit und Weisheit
anpreist. Man soll diesen Leuten das Lob nicht zugestehen,
dafs sie zur Erhaltung des Staates notwendig sind; man
mufs ihnen vielmehr die Wahrheit sagen. Nach dieser gibt
es zwei Formen des jenseitigen Schicksals, die mit innerer
Notwendigkeit aus dem folgen, was der Mensch ist, denen
daher niemand entgehen kann, die göttliche der gröfsten
Glückseligkeit an jenem von den Übeln ^freien Sitz der
Götter, und die ungöttliche eines neuen, dem gegenwärtigen
Ahnlichen Erdenlebens in Gemeinschaft mit den Schlechten.
Sie werden freilich in ihrer Überklugheit solche Verkündi-
gung verachten. Nur wenn man sie einzeln zur Rechen-
schaft zieht, kann man sie trotz allen Widerstrebens schliefs-
lich dahin bringen, dafs ihnen selbst ihre Reden nicht mehr
gefallen und ihre Beredsamkeit zusammenschrumpft.
Hier ist zunächst deutlich, dafs die Länge und das Ge-
wicht dieser Auslassung ganz aufser Verhältnis steht zu dem
Anlafs, an den sie angeknüpft wird. Durch diesen wäre
nur eine kurze, nebenhergehende Bemerkung gerechtfertigt
gewesen. Die wuchtigen Gedanken, die hier ausgesprochen
werden , sind um ihrer selbst willen da , und es ist leicht
erkennbar, was diese Episode besagen will. Die Grund-
gedanken sind die gleichen wie im Gorgias. Die Gottähn-
Hchkeit, die nicht in einer Scheintugend vor den Menschen,
sondern in einer tugendhaften Richtung der Seele selbst
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566 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokraiVsch. Schulen etc.
besteht, ist nur ein vertiefter Ausdruck für die Seelen-
gesundheit. Von dieser ist aber hier wie dort das Schick-
sal nach dem Tode unmittelbar und direkt abhängig. Ja,
auch in diesem Punkte liegt hier eine Verfeinerung und
Vertiefung vor. Es bedarf keiner Totenrichter mehr; das
Geschick der Seele nach den beiden Richtungen hin voll-
zieht sich von selbst nach ihrer inneren Beschaffenheit, ohne
fremdes Zutun. Vielleicht ist dies auch die eigentliche Mei-
nung im Gorgias, und vielleicht zielte Plato auch dort nur
auf diesen tieferen Sinn der orphischen Lehre von den Toten-
richtem, wenn er seinen Sokrates erklären läfst, er halte
diese nicht für einen Mythus, sondern für Wahrheit.
Auf dieser gemeinsamen Grundlage aber hat sich jetzt im
Vergleich zum Gorgias die Stellung des Philosophen zum
öffentlichen Leben völlig verändert. Dort noch Kampf für
die Geltendmachung seines Ideals im Staatsleben, hier hoff-
nungslose Abkehr, Verzicht, Absage, Flucht in die Einsam-
keit, ins Jenseits. Die Episode des Bufspredigertums ist
beendigt; die öffentlichen Zustände sind nicht zu retten. —
Der Hauptinhalt des Theätet, die Auseinander-
setzung mit mehreren erkenntnistheoretischen Standpunkten
aus Anlafs einer Einwirkung Euklids, ist schon bei den ein-
zelnen in Betracht kommenden Standpunkten, bei Prota-
goras, Aristipp, Antisthenes und Euklid, als ge-
schichtliches Zeugnis verwertet worden. Das dort Gesagte
braucht hier nicht im einzelnen wiederholt zu werden.
Mit Euklid hat Plato offenbar gemeinsam die — freilieb
unausgesprochene — Forderung einer unbedingt gewissen
(apodiktischen) Erkenntnisweise. Zunächst erscheint die
Theorie des Protagoras, nach der auch den vom Normalen
abweichenden Vorstellungen eine relative Richtigkeit zu-
erkannt wird, als unzulänglich. Protagoras kann seinen
Satz nicht aufrechterhalten, dafs der Mensch das Mafs aller
Dinge sei; seine „Wahrheit" ist weder für andere noch für
ihn selbst wahr (171 C). Mufs er doch selbst den seine
Lehre für unwahr erklärenden Behauptungen Wahrheit zu-
erkennen! (171 A, 179 B.) Aber auch die Sinneswahr-
nehmung selbst ergibt keine volle Erkenntnis. Zu ihr mufs
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V. 4 Hoffnungsloser Verzicht auf öffentliches Wirken etc. 567
eine Tätigkeit der Seele ergänzend hinzutreten. Sein und
Nichtsein, Identität und Unterschied, Ähnlichkeit und Un-
ähnlichkeit, Gerade und Ungerade, das Wesen der sinn-
lichen Eigenschaften an sich können nur durch die Seele
erfafst werden (185 C flf.)- Wissen ist nicht Wahrnehmen
(186 E).
An diese Betonung einer Tätigkeit der Seele im Er-
kennen schliefst sich der Vorschlag an, das Wissen als
„wahre Meinung^ zu bestimmen. Dieser ganz unzulängliche
Einfall wird jedoch kurzerhand durch die Erwägung ab-
gewiesen, dafs es ja beim blofsen Meinen kein Mittel gibt,
das richtige vom falschen Meinen zu unterscheiden. Theätet
selbst erklärt, dafs er bei der Aufstellung dieser Erklärung
etwas vergessen habe. Sie laute vollständig: „die wahre
Meinung mit dem Logos" (201 C). Das ist denn die dritte
Definition, mit der sich Plato kritisch auseinandersetzt. Es
ist schon früher dargelegt worden, dafs dies die Definition des
Antisthenes war. Dafs er unter dem „Logos" die hinzu-
gefügte Definition verstand, konnte nur vermutet werden,
da sich Plato darüber nicht deutlich ausspricht (206 C ff.).
Jedenfalls wird diese Erkenntnislehre dadurch widerlegt,
dafs nach ihr das Ganze (das in der Definition Zusammen-
gefafste?) ein Wissen darstellen soll, während doch die ein-
zelnen Bestandteile und Elemente der Zusammenfassung
nur Gegenstand der Meinung (der sinnlichen Erfahrung) sind.
Bei der Zurückweisung aller drei Versuche, besonders
des zweiten und dritten, tritt im Grunde die Forderung der
unbedingten Gewifsheit (der Apodiktizität) als Bedingung
des Wissens hervor. Für Euklid wurde diese Forderung,
wie wir gesehen haben, der Antrieb, der ihn der parmeni-
deischen Lehre vom Bewegungslosen als dem allein wirklich
Seienden zuführte. Das Erscheinende ist Schein. Plato
macht diese Wendung nicht mit. Wiederholt werden die
Eleaten in unserem Dialog erwähnt; mit besonderer Hoch-
achtung Parmenides, aber die Stillstands- und Scheinlehre
will er doch nicht mitmachen. Und so verläuft denn die
erkenntniskritische Untersuchung ohne positives Resultat,
als blofse Ablehnung der unzulänglichen Erklärungen, was
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568 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
äufserlich darin seinen Ausdruck findet, dafs Sokrates wieder-
holt und auch am Schlüsse noch sein Können mit dem seiner
Mutter, der Hebamme, in Parallele stellt, die nicht selbst
gebäre, sondern nur die Geburten ans Tageslicht fördere
und beurteile, ob sie des Aufziehens wert oder nur Mifs-
geburten seien.
Seltsamerweise wird dies Gespräch am Schlüsse auf den
Tag des Prozesses des Sokrates verlegt, während im An-
fange davon nicht die Rede war. Sokrates erklärt am
Schlüsse, er müsse jetzt fort zur Gerichtshalle, imi sich zu
verantworten, wolle aber am folgenden Tage die Diskussion
fortsetzen. Als ob er seiner Freisprechung so sicher ge-
wesen wäre ! Dies ist um so seltsamer, als auch der Euthy-
phron in diesen Zeitpunkt verlegt wird und zwar mit dem
Schauplatz vor der Gerichtshalle unmittelbar vor Beginn der
Verhandlung.
6. Piatos Reisen (393).
Der älteste Zeuge über die Reisen Piatos ist Cicero.
Nach dessen Zeugnis (Rep. I. 16; Fin. V. 87; vergl. Tusc-
I. 39) verkehrte Plato zuerst in Ägypten mit den Priestern,
kam dann nach Tarent zu Archytas, lernte auch den Eche-
krates und die übrigen Pythagoreer kennen. Endlich sei
er auch nach Sizilien gekommen. Unter den „übrigen Pytha-
goreern" werden auch einige Namen genannt, die erst durch
die Neupythagoreer und die von diesen in Umlauf gesetzten,
angeblich altpythagoreischen Schriften bekannt geworden
sind. Cicero scheint also aus keiner besonders lauteren
Quelle geschöpft zu haben.
Eine grofse Verwirrung herrscht in den Angaben des
Diogenes Laertios. Dieser läfst ihn an einer Stelle (III. 6)
zuerst zum Mathematiker Theodoros nach Kyrene gehen
(diese Angabe ist wohl nur aus dem Theätet geflossen, wo
dieser Theodoros als Freund des Sokrates auftritt), dann
nach Italien zu den Pythagoreern Philolaos und Eurytos,
dann nach Ägypten zu den „Propheten". An einer anderen
Stelle (18—20, vergl. II. 86) erzählt er ausführlich, dafs
er auf dieser ersten Reise zum syrakusischen Tyrannen
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V. 5. Piatos Reisen (393). 569
Dionysios (dem Älteren, 406 — 367) gekommen^sei, sich mit
diesem entzweit habe und infolgedessen nach Ägina gebracht
und dort als Sklave verkauft, aber von dem Kyrenaiker
Annikeris (der ungefähr ein Jahrhundert später lebte !) los-
gekauft und nach Athen befördert worden sei. Hier wird
also die ägyptische Reise, wenigstens nach der unteritali-
schen, zur Unmöglichkeit. Auch aus den sonstigen Quellen
läfst sich nichts Zuverlässiges entnehmen. Ebenso ist über
den Zeitpunkt dieser Reisen nichts Sicheres tiberliefert.
Wohl aber läfst sich auf Grund der bisherigen Dar-
stellung seiner Entwicklung zeigen, was ihn zu diesen Reisen
veranlafste, und dafs er sie aller Wahrscheinlichkeit nach
erst nach Abfassung des Theätet antrat. Aus dem Theätet
ist ersichtlich, dafs Plato sich mit tiefer Verstimmung von
den öffentlichen Zuständen Athens abgewandt hatte. Wie
er dann unmittelbar nach seiner Reise eine Schrift „Über
den Staat" verfafste, in der er unter ausdrticklicher An-
lehnung an das ägyptische Kastenwesen ein der demokrati-
schen Verfassung Athens völlig entgegengesetztes, die Masse
aller politischen Rechte beraubendes Staatsideal entwarf,
wird nachher dargestellt werden. Aller Wahrscheinlichkeit
nach war auf diesem Wege bereits Protagoras voran-
gegangen. Da ist es denn sehr wahrscheinlich, dafs durch
die Überzeugung von der Verwerflichkeit der Volkssouve-
ränität und der Notwendigkeit, sie durch eine starke, auf
Militärmacht gesttitzte Regierung zu ersetzen, sein Blick
auf Ägypten mit seiner Kriegerkaste gelenkt wurde. Nach
Thaies war auch Demokrit (etwa um 430) in Ägypten ge-
wesen. Insbesondere aber hatte, etwa um 450, Herodot,
der „Vater der Geschichtschreibung" (geb. 484), Ägypten
bereist und eine FtiUe von Nachrichten tiber dies Land in
seinem grofsen Geschichtswerke (Buch II) niedergelegt. Da-
selbst finden sich auch einige Nachrichten tiber das ägyp-
tische Kastenwesen und insbesondere tiber die Kriegerkaste
(C. 164—8). Sehr eng aber hatten sich zu Piatos Zeit die
Beziehungen zwischen Griechenland und Ägypten gestaltet,
und weit lebhafter als zur Zeit des Thaies, war das
Interesse auf Ägypten gerichtet. Seit 525 unter persischer
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zedby Google
570 Zweite Periode, Zweite Stufe. Die kleinereu sokratisch. Schulen etc.
Herrschaft, iiatte Ägypten um 414 das persische Joch ab-
geschüttelt und genofs bis nach 350 unter eigenen Fürsten
der Unabhängigkeit. Mehrere Unterjochungsversuche der
Perser (387, 362) wurden, vornehmlich mit Hilfe griechischer
und lydischer Söldnertruppen, vereitelt. Auch die gemein-
same Gegnerschaft gegen das persische Reich führte in diesen
Kämpfen die Griechen auf die ägyptische Seite. Überhaupt
war Ägypten damals ihrem Gesichtskreise ganz nahe gerückt.
Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit ging aber mehr
von den Dynasten, als vom Volke aus; mit ihr war natur-
gemäfs ein möglichster Rückgang auf die alten Staatseinrich-
tungen, Kultusformen und Sitten verbunden. Warum diese
auf Plato in seiner damaligen Seelenverfassung eine An-
ziehungskraft übten, ist teils schon angedeutet und wird teils
im folgenden Abschnitt durch sein eigenes Zeugnis klar werden.
Was femer Plato nach Unteritalien zu den Pythagoreern
zog, wird verständlich, wenn wir uns der entschiedenen Hin-
wendung zu der orphischen Jenseitslehre im Gorgias und
Theätet erinnern. Schon durch seine thebanischen Genossen
bei Sokrates, Simmias und Kebes, hatte er offenbar
von den Lehren des Philolaos und Eurytos, zugleich aber
auch unzweifelhaft von der der Orphik nahe verwandten
pythagoreischen Ordenslehre, gegen die jene sich wandten,
einige Kenntnis erhalten. Mutmafslich war es ihm zunächst
um das Genauere der mystischen Ordenslehre zu tun. Viel-
leicht aber ist er in dieser Beziehung, bei der freieren
Stellung der tarentinischen Gruppe zu diesen alten Mysterien,
kaum auf seine Rechnung gekommen. Doch mag er immer-
hin in Unteritalien auch noch gläubige Anhänger der Ordens-
lehre angetroffen haben. Es war aber mutmafslich noch ein
anderes Interesse, das ihn gerade zu den wissenschaft-
lichen Pythagoreern hinziehen mufste. Nach dem Theätet
ist es wahrscheinlich, dafs Euklid schon damals gegenüber
den Ideen als den einzigen Wesenheiten zur Verneinung der
Erscheinungswelt neigte , dafs aber Plato nicht geneigt war,
diese Scheinlehre, diesen abstrakten Immaterialismus mit-
zumachen. Andernteils stiefs ihn aber auch der Materia-
lismus des Antisthenes ab (Theät. 155 E). Nun ist früher
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V. 5. Piatos Reisen (398). 57 1
gezeigt worden, dafs schon die alten Pythagoreer das Leere,
den Raum für den WeltstoflF erklärten, und dafs wahrschein-
lich Philolaos dieser Lehre eine weitere Ausbildung gegeben
hatte. Da bot sich also die Möglichkeit, auch ohne Zuhilfe-
nahme des eigentlichen Stoffes die Realität der Erscheinungs-
welt zu retten. So konnte er von diesem Besuche bei den
Pythagoreern auch Anregungen zur Naturspekulation erwarten.
Nach den angeführten Zeugnissen nun (so auch Nepos,
Dion 2) wandte er sich zunächst nach Tarent, das damals der
Sammelpunkt der Pythagoreer war. Wie in der Schilderung
der letzten Pythagoreer gezeigt, lebten dort um 400 — 390 der
hochbetagte Philolaos und sein Genosse Eurytos nebst
ihren Schülern , den fünf „letzten Pythagoreern", darunter
Echekrates. Alle drei werden auch in den Zeugnissen über
die Reise als von ihm in Tarent angetroffen angeführt. Da-
gegen ist es nicht wahrscheinlich, dafs schon damals Ar-
chytas die führende Stellung in Tarent einnahm, die von
den Berichten vorausgesetzt wird. Wenn Plato schon da-
mals ihn kennen lernte, mufs er in ganz jugendlichem Alter
gestanden haben. Jedenfalls konnte er dort diesem zweiten
Interesse , das ihn den Pythagoreern zuführte , vollauf Be-
friedigung verschaffen. Was er sich dort angeeignet hat,
wird im nächsten Abscknitte zu tage treten. An diesen
unteritalischen Aufenthalt schlofs sich femer ein Besuch am
Hofe des älteren Dionys in Syrakus an. Über den Anlafs
des Besuchs berichtet Nepos (Dion 1 f.) in folgender Weise.
Am Hofe des Dionysios lebte Dion, der Schwager und
Schwiegersohn des Tyrannen, ein damals noch jugendlicher
Mann von hervorragenden Gaben und grofsem wissenschaft-
lichem Interesse, beim älteren Dionys in grofsem Ansehen.
Als dieser Dion von der Ankunft Piatos in Tarent hörte,
erbat er vom Tyrannen die Erlaubnis, ihn nach Syrakus zu
laden, wo er mit grofser Auszeichnung empfangen wurde.
Dion (der aller Wahrscheinlichkeit nach vorher schon pytha-
goreische Einflüsse erfahren hatte), wurde Piatos Schüler,
und zwischen beiden entstand ein inniges Verhältnis. Im
übrigen beziehen sich auf diesen Aufenthalt Piatos am
schwelgerischen Hof zu Syrakus zahlreiche Anekdoten. Er
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572 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
mufs dort mit Aristipp zusammengetroflFen sein. Als bei
einem Gelage der Tyrann von seinen Gästen verlangt, sie
sollen in langem Frauenkleide vor ihm tanzen, verweigert
dies Plato unter Anführung einer Stelle aus den Bacchen
des Euripides (827), Aristipp aber ist ihm zu Willen (D.
L. II. 78; S. Emp. Hyp. III. 204). Über die schliefslich
eingetretene Entzweiung mit dem Tyrannen berichtet Nepos
(a. a. 0.) nur ganz kurz. Dieser habe ihn als Sklaven ver-
kaufen lassen. Sehr ausführlich berichtet darüber Diogenes
Laertios (III. 18 ff.). Danach spricht Plato dem Tyrannen
«eine Ansicht über die Tyrannis aus. Das Richtige sei nicht
das einem einzelnen zu gute Kommende. Gerechtfertigt sei
eine solche Herrschaft nur, wenn der Herrschende von ganz
überlegener Tüchtigkeit sei. Der Tyrann findet diese An-
sichten greisenhaft, Plato dagegen findet dies Urteil tyrannen-
mäfsig. Der Tyrann ist wütend und will zuerst Plato hin-
richten lassen, läfst sich jedoch durch Dion erbitten, ihn nur
dem gerade anwesenden spartanischen Geschäftsträger Pollis
zum Verkauf in die Sklaverei zu übergeben. Nach Plutarch
(Dion 5) hätte Dion die Abreise des Pollis benutzt, um Plato
in Sicherheit zu bringen, der Tyrann aber habe diesen heim-
lich ersucht, ihn auf der Fahrt umzubringen oder mindestens
als Sklaven zu verkaufen. Der weitere Verlauf wird auch
bei D. Laert. mit mannigfachen Variationen berichtet. Jeden-
falls Verkauf auf dem Sklavenmarkt zu Ägina, wo auch zu-
nächst wegen der zwischen Athen und Ägina bestehenden
Feindschaft wiederum das Richtbeil über seinem Haupte
schwebt; Freikauf durch den um 100 Jahre später lebenden
Annikeris (so auch D. L. II. 86); Rückkehr nach Athen.
Auf diese Einzelheiten ist gar nichts zu geben ; ein sicherer
Bericht ist nicht vorhanden; möglicherweise ist die ganze
Sklavereiverkaufsgeschichte eine romanhafte Erfindung. Wie
beliebt es war, das Verhalten der verschiedenen Denker-
charaktere in dieser bedrängten Situation sich auszumalen,
können schon die Erzählungen vom Verkauf des Kynikers
Diogenes lehren.
Die Ansetzung dieser Reise ungefähr ins Jahr 393 (der
Antritt vielleicht noch ins Jahr 394 fallend) entspricht der
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (898/2). 573
gegebenen Gesamtauffassung von der Entwicklung Piatos»
Jedenfalls ist es unwahrscheinlich und überflüssig, unter An-
knüpfung der Reise an den Aufenthalt in Megara (D. L.
III. 6) Plato ein ganzes Jahrzehnt oder länger auf Reisen
zubringen zu lassen. Ein Jahr ist eine lange Zeit und ge-
nügt im vorliegenden Falle vollständig, um Plato die von
ihm verfolgten Zwecke erreichen und noch darüber hinaus
reichliche Anregungen erhalten zu lassen.
6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen 393/2.
Aus dem platonischen „ T i m ä u s ** und dem an diesen sich
anschliefsenden, unvollendet gebliebenen „Kritias" ersehen
wir , dafs diese * beiden Schriften einen Bestandteil eines
grofsen vierteiligen Ganzen bilden sollten. Vier Männer,
Sokrates, Timäus aus dem unteritalischen Lokri (Tim. 20 A),
Kritias und Hermokrates, haben sich zusammengetan, um je
durch einen zusammenhängenden, nicht in Gesprächsform
verlaufenden Vortrag (17 A B, 20 B C, 26 D) einander zu
belehren. Sokrates hat bereits tags vorher seinen Vortrag
über den Staat (20 B) gehalten. Wir müssen annehmen,
dafs dieser Teil der Schrift ausgeführt gewesen ist, aber in
seiner ursprünglichen Form nicht mehr vorhanden ist. Der
unter Piatos Schriften vorliegende „Staat" ist, wie er vor-
liegt, diese Schrift nicht, hat aber, wie gezeigt werden wird,
einen erheblichen Teil derselben als noch heute kenntlichen
und wieder auszusondernden Bestandteil in sich aufgenommen.
Als zweiter Redner spricht Timäus über die Entstehung
der Welt bis einschliefslich der Naturbeschreibung des
Menschen (27 A). Im Anschlufs daran soll dann Kritias
(und, wie es scheint, auch Hermokrates, 20 A) urgeschicht-
liche Überlieferungen Athens vortragen, in denen zugleich
der von Sokrates phantasiemäfsig entworfene Musterstaat
als leibhaftig einmal vorhanden gewesen, in lebendigem
Wirken, vor Augen geführt werden soll (27 B, 26 D, 19 B ff.).
Von diesem letzten Teile ist nur ein Bruchteil des Vortrags
des Kritias im Fragment des „Kritias" zur Ausführung
gelangt.
Es soll nun im folgenden gezeigt werden, dafs dieses
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574 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
geplante vierteilige Ganze (Tetralogie) die Schrift ist, in
der Plato unmittelbar nach der Rückkehr die Ergebnisse
seiner Reisen niederzulegen beabsichtigte und teilweise nieder-
gelegt hat. Den ihm vorschwebenden antidemokratischen
Musterstaat, dessen Ausgestaltung die ägyptischen Studien
zur Reife gebracht hatten, hat er durch den Mund des
Sokrates schildern lassen. Den naturphilosophischen Erwerb
der italienischen Reise läfst er nicht einen Tarentiner, sondern
einen hervorragenden Bürger des unteritalischen Lokri, der
zugleich ein vortrefflicher Philosoph ist (20 A), vortragen.
Zur Erklärung dieses überraschenden Zuges steht uns weiter
nichts zu Gebote als die Tatsache, dafs Lokri, an der Ost-
seite der südlichen Landzunge Italiens; gelegen, auf dem
Seewege von Tarent nach Syrakus berührt werden mufste
und die Vermutung, dafs Plato vielleicht auf dieser Fahrt
dort Station und eine philosophische Bekanntschaft, die Be-
kanntschaft eines pythagoreisch gerichteten Forschers, ge-
macht hat. Von den letzten Teilen kann nur gesagt werden,
dafs sie offenbar bezweckten, einesteils den neuen Muster-
staat als in der Vorzeit Athens schon einmal verwirklicht
darzustellen und andernteils ihn auf Grund seiner ägyp-
tischen Eindrücke, die schon in der vorausblickenden Ein-
leitung des Timäus aufs lebhafteste zu tage treten, mit
Ägypten in Zusammenhang zu bringen.
Die vorstehend skizzierte Auffassung beruht auf einer
doppelten Annahme: 1. der uns vorliegende „Staat" Piatos
ist das Werk einer mehrfachen, erweiternden Umarbeitung
des unmittelbar nach der Reise verfafsten „Urstaats", der
sich rekonstruieren läfst. 2. der Timäus — nebst dem Frag-
ment des Kritias — gehört ebenfalls diesem Zeitpunkte an
und stellt nicht, wie meist geglaubt wird, das Denken Piatos
auf einer späteren, reiferen Stufe dar, sondern auf dieser
Vorstufe seines eigentlichen Systems, genau entsprechend
der von ihm in diesem Zeitpunkt erreichten Phase. Be-
gründet werden diese beiden Annahmen teils durch Betrach-
tung der in Rede stehenden Schriften selbst, zu der wir
jetzt übergehen, teils durch das Ganze des vorhergehenden
wie des nachfolgenden Entwicklungsganges Piatos.
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2). 575
1. Der Urstaat. Merkwürdigerweise hält Plato es
für nötig, im Eingange des Timäus seinen Sokrates eine
ziemlich eingehende Rekapitulation seines Vortrags vom
Tage vorher geben zu lassen. Ob er dadurch die genaue
Auffassung des Vorgetragenen sicherstellen wollte (17 B),
oder ob diese Rekapitulation etwa erst nach dem Aufgehen
des „Urstaats" in den späteren „Staat" eingefügt worden
ist, mufs dahingestellt bleiben. Für uns hat diese Rekapi-
tulation jedenfalls den Wert, uns ein wesentliches Stück
des damaligen Denkens Piatos vor Augen zu führen.
Dargestellt werden sollte der beste, der vollkommene
Staat (17 C, 20 B). Zu diesem Zwecke wurde zuerst eine
Scheidung der Staatsangehörigen in zwei grofse Gruppen,
Landleute und Gewerbetreibende einerseits, Landesverteidiger
andererseits, vorgenommen (17 0), Es wurden sodann hin-
sichtlich des Kriegerstandes die für seine Angehörigen er-
forderliche Naturanlage und Erziehung, ihre wirtschaftliche
Lage, die Stellung der Frauen in ihm und schliefslich seine
Reinerhaltung durch Entfernung der Unwürdigen aus ihm
dargestellt (17 C— 19 A).
Ausschlaggebend für die Zuteilung zum Kriegerstande
wie zu den übrigen Berufen ist die Naturanlage. Die Krieger
sind Wächter des Staats gegen äufsere und innere Gefähr-
dung; die Erwerbenden sind ihre Untergebenen, über die
sie als über natürliche Stammesgenossen ein mildes Richter-
amt üben. Sie sollen mutig und weise, hart und milde zu-
gleich sein. Ausgebildet werden sie durch Gymnastik und
musische Kunst und zugleich mit den für ihren Beruf er-
forderlichen Kenntnissen versehen. Privateigentum ist ihnen
untersagt. Die Beschützten haben ihnen so viel Sold zu
liefern, als für eine mäfsige Lebensweise ausreicht. Dieser
fliefst ihnen gemeinschaftlich zu ; frei von allen anderen Be-
schäftigungen, gemeinsam lebend, bei gemeinsamen Mahl-
zeiten haben sie nur der Tüchtigkeit für ihren Beruf zu
leben. Nur männlich geartete Frauen sollen diesem Stande
angehören. Diese nehmen an allen Obliegenheiten des
Standes in bezug auf den Krieg wie auf das sonstige Staats-
leben teil. Ehe und Familie ist für diesen Stand aufgehoben.
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576 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Alle betrachten sich als Blutsverwandte. Die Gleichaltrigen
gelten als Brüder und Schwestern, die älteren Generationen
als Eltern und Grofseltern, die jüngeren als Kinder und
Enkel. Es gibt Leiter und Leiterinnen (18 D), denen be-
sonders auch die Verrichtung obliegt, den Geschlechtsverkehr
in diesem Stande zu regeln. Dies geschieht durchs Los,
aber so, dafs durch eine heimliche Korrektur des Zufalls
möglichst die Tüchtigsten der beiden Geschlechter zusammen-
geführt werden. Ebenso andernteils die Minderwertigen.
Die Kinder der letzteren aber werden heimlich bei den Er-
werbenden untergebracht und nur dann, wenn sie sich später
als- von tüchtiger Art erweisen, durch die Aufseher wieder
dem Kriegerstande zugeführt. Diese haben auch sonst die
Pflicht, Unwürdige aus dem Kriegerstande zu entfernen.
Schliefslich wird festgestellt, dafs in dieser Rekapitulation
von dem im Vortrage des Sokrates Behandelten kein Haupt-
punkt übergangen worden ist (19 A).
Von dieser ursprünglichen Schöpfung Piatos, deren
Grundlinien wir hier kennen lernen, sind nun alle wesent-
lichen Teile, wenn auch gewifs mit kleinen Änderungen, in
den späteren „Staat" verschmolzen worden. Die Einleitung
des sokratischen Vortrags zwar, die gewifs nicht fehlte und
in der unzweifelhaft die Beweggründe und Ziele des ur-
sprünglichen radikalen Reformplans dargelegt wurden, hat
einer völlig anderen, der total neuen Verwendung des Stoffes
angepafsten weichen müssen. Die Form der zusammen-
hängenden Rede ist in die Gesprächsform umgewandelt.
Zeitpunkt und Schauplatz des Zusammenseins, sowie die
teilnehmenden Personen sind andere geworden. Im übrigen
können wir die betreffenden Abschnitte des Staats (II. 11 bis
IV. 5; V. 3—17) als die der Inhaltsangabe im Timäus ent-
sprechende Ausführung betrachten.
Hergestellt werden soll der „Staat der Glücklichen*, der
Staat, in dem es allen nach Möglichkeit gut geht. In ge-
wissem Mafse entspricht dieser Anforderung die ursprüng-
liche Staatsgemeinschaft auf einer niederen Kulturstufe.
Der Staat entsteht nämlich aus der Hilfsbedürftigkeit der
einzelnen. Schon auf dieser primitiven Stufe führt die Be-
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2). 577
Schaffung der Lebensbedürfnisse zur Teilung der Arbeit, der
Bedarf an auswärtigen Produkten zum Tausch, zum Handel
und zum Gelde. In friedlichem und behaglichem Geniefsen
fiiefst auf dieser Stufe den zum Staate Vereinigten das
Leben dahin (372).
Aber damit ist doch das vorliegende Problem noch nicht
gelöst. Die Erwähnung der Eicheln als eines der Nahrungs-
mittel dieser patriarchalischen Menschen entlockt dem Mit-
unterredner die Bemerkung, das sei doch nur ein Muster-
staat für Schweine (372 D). Sokrates gibt dies zu. Es soll
ja nicht nur ein glücklicher Staat überhaupt entworfen werden,
sondern ein solcher unter den Bedingungen einer fort-
geschrittenen Kultur (372 E).
So läfst er also Üppigkeit und Luxus entstehen, und
da nun auch das Staatsgebiet zum Unterhalt der Bewohner
nicht mehr ausreicht, entwickelt sich Eroberungssucht. An
dieser Stelle mufs bei der Umarbeitung eine Kürzung statt-
gefunden haben. Es wird nämlich durch einen abrupten
Übergang luv Entstehung des Wächterstandes hinüber-
gesprungen. Offenbar war diese, was in der vorliegenden
Fassung (IL 14) nicht mehr hervortritt, ursprünglich als
durchgreifende Reform eines ausgearteten Zustandes gedacht.
Diese „Wächter" bilden einen Kriegerstand, der den
Staat gegen äufsere und innere Feinde sichert. Sie müssen
mutig nach aufsen, sanft gegen die Staatsgenossen sein.
Dazu bedarf es zunächst einer besonderen Naturanlage.
Diese mufs aber überdies durch eine entsprechende Er-
ziehung ausgebildet werden. Diese Erziehung soll nicht
durch Philosophie, sondern durch eine Umgestaltung der
herkömmlichen gymnastisch-musischen Ausbildung bewirkt
werden. Mit der musischen mufs der Anfang gemacht werden;
sie beginnt schon in der Kinderstube. Und da die frühesten
Eindrücke die entscheidendsten sind, mufs schon unter den
Fabeln und Geschichten, die den kleinen Kindern erzählt
werden, eine strenge Auslese stattfinden. Ebenso aber in
den der heranwachenden Jugend mitgeteilten Dichtungen,
vornehmlich Homer und Hesiod. Hier darf es keine un-
gerecht handelnden, keine in Zwietracht lebenden, keine
Döring. 1. 37
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578 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
das menschliche Geschick nach reiner Willkür bestimmen-
den, oder die Menschen zu ungerechten Handlungen an-
stiftenden, sie durch Wahnvorstellungen irreleitenden, keine
durch blofse Kultushaudlungen zu gewinnenden Götter und
keine über ihr Schicksal jammernden oder durch Schreckens-
vorstellungen vom Jenseits mit Todesfurcht erfüllten Helden
geben. Plato übt hier eine unerbittliche Kritik an den tiber-
lieferten Götter- und Jenseitsvorstellungen und schaltet völlig
frei mit der Staatsreligion, nicht im Interesse des an sich
Wahren, sondern um sie für den hier vorliegenden Er-
ziehungszweck brauchbar zu machen. Wie es sich in Wirk-
lichkeit mit diesen Dingen verhält, kommt dabei gar nicht
in Frage. Die Religion ist ein unentbehrliches Hilfsmittel
bei der nicht philosophischen, sondern auf Gewöhnung be-
ruhenden Erziehung der Wächter und mufs diesem Zwecke
gemäls zugeschnitten werden. Dafs hierbei die orphisch-
pythagoreischen Lehren vom Schicksal der Seele keine Ver-
wendung finden können, liegt in der Natur der Sache. Die
Wächter werden im allgemeinen in den herkömmlichen Vor-
stellungen vom Fortleben nach dem Tode aufgezogen. Nur
mufs aus diesen alles entfernt werden, was den Tod als
etwas Schreckliches erscheinen läfst (III. 1 tf.). Damit ist
aber auch zugleich jede Abhängigkeit des jenseitigen Loses
vom diesseitigen Verhalten, also jeder Anklang an die
mystischen Lehren ausgeschlossen. So sehr Plato selbst da-
mals schon in diesen Gedanken heimisch geworden war, so
wenig will er sie doch für die Wächter verwenden, die im
Gedankenkreise der moralisch gereinigten und für den vor-
liegenden Zweck tauglich gemachten Volksreligion verharren
sollen.
Ausgeschlossen werden mufs aber auch alles zu mafs-
losem Lachen oder zu Habsucht und Rachsucht Verleitende
in den Dichtungen. Alles mufs Mäfsigkeit, Besonnenheit,
Gerechtigkeit empfehlen. Nur das Vorbildliche ist zulässig.
Schon die in der Darstellung der entgegengesetztesten Cha-
raktere zu Tage tretende Wandlungsfähigkeit des dich-
terischen Genius widerstreitet dem Geiste dieser Erziehung,
die in sich gefestete, nur sich selbst gleiche und nur das
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Keisen (393/2). 579
ihnen Zukommende betreibende Menschen heranbilden soll
(397). Käme ein solcher Dichter in den Musterstaat, der
durch seine Kunst vermag, als ein Vielfältiger zu erscheinen
und alles mögliche nachzubilden, so würde man ihm zwar
als einem gotterfüllten, bewundernswürdigen und unterhalten-
den Manne alle Hochachtung erweisen, ihn aber zugleich
bedeuten, dafs Derartige sich in diesem Staate nicht an-
siedeln dürfen. Man würde ihm das Haupt mit Öl salben
und ihn mit Binden bekränzen, zugleich aber ihm das Ge-
leit in einen anderen Staat geben (398 A).
Was von der Poesie gilt, das gilt auch von der Musik.
Dio Tonarten, Taktarten und die verschiedenen Instrumente
drücken sehr verschiedene ethische Grundstimmungen aus.
Auch hier ist nur das der normalen Gemütsstimmung Ent-
sprechende zulässig. Plato gibt hier die feinsinnigsten Be-
stimmungen, für die der modernen Welt fast alles Ver-
ständnis abhanden gekommen ist. Gewifs hatte er auch in
diesem Punkte von den Pythagoreern gelernt, die ja von je
her die Musik als sittliches Bildungsmittel behandelt hatten
und zur Zeit seines Aufenthalts in Tarent dabei waren,
diese Praxis des Ordens in strenge Theorie umzusetzen
und als Vermächtnis des Ordens der Nachwelt zu übergeben.
Xenophilos, der Lehrer des grofsen Musiktheoretikers
Aristoxenos, gehörte zu den „letzten Pythagoreern".
Ebendasselbe aber gilt schliefslich auch von der bilden-
den Kunst (401 B). Alles in allem mufs die gesamte musische
Bihiung die alleinige Aufgabe verfolgen, die Urbilder der
Mäfsigung, der Tapferkeit, der Anständigkeit, des Hochsinns
und der verwandten Tugenden den angehenden Wächtern
als das einzig Liebenswerte erscheinen zu lassen (402 C).
Verdammenswert mufs ihnen auch die Knabenliebe erscheinen,
wenn sie in wahnsinnsartige Leidenschaft oder sinnliche
Zügellosigkeit ausartet (402 D f.). Das Ziel der musischen
Bildung ist die Gewöhnung zur Liebe des wahrhaft Schönen,
d. h. des Guten (403 C; 401 E f.; 402 D).
Die Gymnastik ist mafsvoU zu betreiben und darf nicht
in Athletik ausarten. Ohne diese Erziehung zum Mafsvollen
entsteht in der Seele Zügellosigkeit, im Leibe Krankheit;
37*
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580 Zweite Periode. Zweite Stufe. .Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Richter und Ärzte werden nötig. Im wahren Staate aber
sollten beide nur die Aufgabe haben, das seelisch oder leib-
lich Untüchtige auszumerzen. Den siechen Körper mit vieler
Kunst zu erhalten, geht im Kriegerstande nicht an.
Eine herrschende Stellung unter den Wächtern erhalten
diejenigen, die die gröfste Einsicht und den gröfsten Eifer
in bezug auf das Wohl des Ganzen zeigen. Sie sind sclion
von der Natur bevorzugt ausgestattet. Wenn die Natur
der Wächter überhaupt eine silberne genannt werden kann,
so ist den zur Herrschaft unter ihnen Berufenen Gold bei-
gemengt. Sie allein sind daher die Wächter im wahren und
eigentlichen Sinne, die übrigen nur ihre Helfer. Eine Haupt-
aufgabe der eigentlichen Wächter ist es, über die angeborene
Tüchtigkeit des Nachwuchses im Kriegerstande strenge Kon-
trolle zu üben und diejenigen Kinder, in deren Seelen sich
ein Zusatz von Erz , oder Eisen findet, unnachsichtlich dem
Stande der Erwerbenden zuzuführen. Umgekehrt aber sollen
sie auch, wenn bei Kindern der erwerbenden Klasse sich
Gold oder Silber in den Seelen findet, diese in den Stand
der Wächter oder Helfer aufnehmen (415 B f., 423 C). Der
Kriegerstand ist also nicht, wie bei den Ägyptern, eine Kaste.
Dieser Stand nun führt eine Art Lagerleben. Keine
geschlossenen Privatwohnungen, kein Privateigentum. Gold
und Silber in jeder Form ist für sie verpönt. Das zum
Leben Notwendige erhalten sie von den Erwerbenden in jähr-
lichen Zuschüssen. Diese müssen aber im Laufe des Jahres
aufgebraucht werden. Zusammenleben und gemeinsame Mahl-
zeiten wie im Feldlager (416 C).
Hier wird nun der Einwand erhoben, dafs doch bei einer
solchen Lebensführung die Glückseligkeit, die doch in diesem
Musterstaat allen in gleichem Mafse zu teil werden solle,
diesem Stande nur in sehr geringem Mafse zufalle. Hier
liegt ein wichtiges Zeugnis über das Prinzip vor, von dem
aus dieses älteste Staatsideal Piatos gestaltet ist. Es soll
der glückliche Staat sein (420 C). Glücklich offenbar
im ganz landläufigen Sinne der behaglichen Befriedigung
aller Lebensbedürfnisse in Sicherheit, Friede und Eintracht.
Gewifs war dies Prinzip auch in dem für uns verlorenen
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2). 581
Eingänge des sokratischen Vortrages zum Ausdruck ge-
kommen. Der Einwurf in bezug auf den Kriegerstand wird
eben durch diese Fassung der Glückseligkeit begründet. Ent-
kräftet wird er dadurch, dafs im Musterstaat nicht nur ein
Bruchteil der Glückseligkeit teilhaft werden soll, sondern
alle gleichmäfsig, und dafs femer der Wächterstand in seiner
ehrenvollen und für das Ganze bedeutsamen Stellung einen
Ersatz finden mufs für das, was ihm an äufserem Behagen
abgeht. Der Staat ist nicht eine gleichförmige Masse,
sondern ein Organismus, in dem jedem Gliede wie seine be-
sondere Verrichtung, so auch seine besondere Art des Wohl-
seins zukommt.
Die Wächter im engeren Sinne aber haben noch weitere
Obliegenheiten. Sie haben dafür zu sorgen, dafs der Staat
hinsichtlich der räumlichen Erstreckung weder zu grofs noch
zu klein sei. Zu grofs darf er nicht werden, da er sonst
aufhörte, ein einheitlicher zu sein. Etwa zur Verfügung
stehende Landstrecken über die normale Gröfse hinaus soll
man unbenutzt liegen lassen (423 B C). Sie haben ferner
auch bei den Erwerbenden zu sorgen, dafs jeder den Beruf
ergreift, zu dem er tauglich ist, und nur diesen betreibt
(423 D). Sie müssen vor allem sorgen, dafs in den Formen
der musischen Bildung keine den Charakter des Krieger-
standes zur Entartung bringenden Neuerungen sich ein-
schleichen. Die Weisen der Musik verändern heifst die
Grundlagen des Staates umstürzen (424). Desgleichen
haben sie auf strenge Ordnungen in Tracht und Sitte zu
halten (425). Zu allem diesem, sowie auch zur Handhabung
der Marktpolizei, zur Festsetzung von Zöllen und zur Schlich-
tung von Streitsachen aller Art bedarf es für so Geartete
keiner detaillierten Einzelvorschriften. Die Wächter sind
das verkörperte, personifizierte Gesetz (423 D, 425 B D flf.).
In bezug auf die religiösen Einrichtungen des Staats da-
gegen werden sie an das delphische Orakel verwiesen
(427 B C).
Eine ganz besonders wichtige Obliegenheit der Wächter
aber ist in dem Bisherigen (423 E) nur erst gestreift: die
Stellung der Frauen und die Regelung des Geschlechts-
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582 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Verkehrs und der Kinderzeugung im Kriegerstande. Hier
schliefst sich der Abschnitt V. 3—17 an. Die Frauen dieses
Standes haben an den Verrichtungen der Männer teilzunehmen
und daher auch die gleiche musisch-gymnastische Vorbildung
zu erhalten wie jene. Auch in der Waffenftihrung und im
Reiten müssen sie ausgebildet werden (452 C). Sie haben
daher z. B. nicht nur im Erziehungsalter, sondern auch als
Erwachsene in den Turnhallen unbekleidet (wie es die grie-
chische Sitte für Leibesübungen mit sich brachte) an den
Übungen der Männer teilzunehmen (452). Ihre Tugend soll
ihnen anstatt des Kleides dienen (457 E). Auch die Nackt-
heit der Männer auf dem Übungsplatze war einmal eine
Neuerung. Der Unterschied in den geschlechtlichen Funk-
tionen zwischen Mann und Weib hebt nicht die im übrigen
vorhandene Gleichartigkeit beider Geschlechter auf (454 D ff.)-
Die Begabung ist bei beiden die gleiche; nur ist das Weib
im allgemeinen ein schwächeres Wesen als der Mann (455 D E).
Dies gilt also auch in bezug auf die Befähigung zum Wächter-
dienst, selbstverständlich mit der auch für die Tauglichkeit
der Männer für diesen Stand geltenden Einschränkung
(458 C). Sie werden also auch an der Gemeinsamkeit des
Lagerlebens in vollem Mafse teilnehmen (ib.). Sie haben
daher auch zum Wächteramt im engeren Sinne, zum Herr-
scheramt, Zutritt (460 B). Ehe und Familien gibt es
nicht. Dies würde nur Selbstsucht, Zwiespalt und Nepotis-
mus fördern (461 Eff., 463). Der ganze' Stand bildet eine
Familie mit gemeinsamer Erziehung. Kein Kind kennt seine
Eltern; die Verwandtschaftsstufen im gleichen Lebensalter
(Brüder und Schwestern) wie in aufsteigender und absteigen-
der Linie sind für alle dieselben. Andernteils darf aber im
„Staate der Glücklichen" auch nicht zügellose Geschlechts-
gemeinschaft herrschen (458 E). Hier haben nun die Wächter
die bei den Haustieren erprobten Regeln der Züchtung an-
zuwenden. Das beste Lebensalter zur Zeugung mufs inne-
gehalten, das Bedürfnis des Standes an Nachwuchs mufs be-
rücksichtigt werden. In Verbindung mit festlichen Mahlen
findet zu den geeigneten Zeiten die Zuteilung durchs Los
statt, aber mit geheimer Begünstigung der Tüchtigsten in
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2). 583
beiden Geschlechtern. Die Kinder der Minderwertigen sollen
nicht aufgezogen werden (459 D) ; sie sollen, ebenso wie ver-
krüppelt Geborene, an einem geheimen Orte verborgen, d. h.
doch wohl ausgesetzt werden (460 C). Hier scheint gegen-
über dem Auszuge im Timäus, der die Aussetzung nicht
erwähnt, in der späteren Bearbeitung eine Verschärfung vor-
genommen zu sein.
Über das Säugen, das zeugungsberechtigte Alter, über
die Befriedigung des Geschlechtstriebes nach Ablauf des-
selben werden Bestimmungen getroffen. In diesem Alter,
das bei der Frau mit dem 40., beim Manne mit dem 55. Jahre
beginnt, ist der Geschlechtsverkehr (natürlich nur mit der
entsprechenden vorgerückten Altersstufe) freigegeben. Kommt
da noch Empfängnis vor, so findet Abtreibung oder Aus-
setzung statt (461). Ohne Zuteilung durch die Herrscher
erzeugte Kinder gelten als Bastarde, was mit ihnen geschehen
soll, wird nicht gesagt (ib. A B).
An diesem Punkte nun, wo das Leben des leitenden
Standes als Ganzes tiberblickt werden kann, wird auf die
früher aufgeworfene Frage betreffs des Anteils dieses Standes
an der allgemeinen Glückseligkeit noch einmal zurück-
gegriffen. Plato glaubt hier in emphatischer Weise versichern
zu können, dafs der Stand nicht zu kurz gekommen ist
(465 D ff.).
Es folgen noch Bestimmungen in bezug auf den Krieg.
Auch die Frauen nehmen daran teil (in der Schlacht meist
nur als Reservetruppe, doch auch in vorderster Schlacht-
reihe, 471 D), desgleichen die schon halb erwachsenen Kinder,
wenigstens mit allerlei Dienstleistungen für die Kämpfenden.
Der im Kampfe Weichende wird in die Klasse der Er-
werbenden verstofsen, der Kriegsgefangene seinem Schicksal
überlassen. Dem ruhmvoll Kämpfenden darf während des
Feldzugs kein von ihm geliebtes Wesen — auch männlichen
Geschlechts! — sich versagen. Die im Kampfe Gefallenen
oder sonst ausgezeichnet Bewährten werden im Tode wie
überirdische Wesen durch einen förmlichen Kultus an ihren
Grabstätten verehrt.
Es folgen noch einige humane kriegsrechtliche Be-
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584 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Stimmungen für Kriege zwischen griechischen Staaten. Die
Griechen sollen sich als ein einheitliches Volk ansehen.
Dann folgt die entscheidende Frage, ob dieser Idealstaat,
in dem alles Gute verwirklicht ist, selbst wohl zur Wirklich-
keit werden könnte. Hier aber (472 B) bricht das aus dem
„Urstaat" Herübergenommene ab; die Antwort erfolgt vom
Standpunkte der späteren Umarbeitung aus. —
Hier hat also Plato den sokratischen Gedanken der
Staatsreform im vollen Umfange wieder aufgenommen. Es
soll ein Staat hergestellt werden, in dem allgemeine Wohl-
fahrt und Zufriedenheit herrscht. Er hatte eine Zeitlang
an die Verbesserung der öffentlichen Zustände Athens ledig-
lich durch Versittlichung der Leitenden auf Grund des philo-
sophischen Prinzips der Seelengesundheit geglaubt. Diese
Sittlichkeit sollte erkenntnismäfsig begründet werden. Dieser
Glaube ist geschwunden. Der Gedanke der Seelengesund-
heit ist hier ganz in den Hintergrund getreten. Wo es sich
um Begründung sittlicher Eigenschaften handelt, wie bei den
Wächtern, tritt an Stelle des intellektuellen Prinzips das Prinzip
der Gewöhnung durch ein fein ausgedachtes System staatlicher
Erziehungsmafsregeln. Der früher als allmächtig gepriesenen
Vernunftbegründung des Sittlichen wird jetzt nur in dem
Falle eine Bedeutung zuerkannt, wenn vorher im Erziehungs-
alter durch Gewöhnung ein fester Grund gelegt ist (402 A).
Aber es läfst sich überhaupt der „Staat der Glücklichen"
auf dem von Sokrates betretenen Wege nicht herstellen.
Der gröfst« Feind der öffentlichen Wohlfahrt ist die demo-
kratische Ä^olkssouveränität. Aus ihm fliefsen alle Schäden
des athenischen Staatswesens, deren Bekämpfung auf dem
Boden der bestehenden Verfassung unmöglich ist. Nicht
durch Überredung der Massen in der Volksversammlung
kann Vernunft und Tugend zum Siege gelangen. Sie mufs
in Waffen starren. Nur durch Beseitigung aller Volksrechte
kann der Wohlfahrtsstaat hergestellt werden. Es wird hier
im Dienste der besten Sache das eingeführt, was die Ty-
rannen im Dienste roher Eigensucht geschaffen hatten:
eine bewaffnete Polizeimacht gegenüber dem seiner Rechte
beraubten Volke. Die Erwerbenden mögen unter dem Schutz,
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (898/2). 585
aber auch unter dem Trutz der Waffen friedlich ihrer Be-
schäftigung nachgehen und ihr Leben geniefsen. Wie schon
bei Protagoras angeführt, ist es nicht unmöglich, dafs
dieser mit solcher radikalen Umgestaltung vorangegangen
war. Auch das Prinzip der Gewöhnung weist auf seine
Moraltheorie hin. Aufserdem zeigen wohl einige Züge —
der den Staat beherrschende Stand der Wehrhaften und
dergl. — einen Einflufs, der im übrigen doch auch wieder
durchaus andersartigen spartanischen Verfassung. Wesent-
lich mitgewirkt hat aber unzweifelhaft die ägyptische Ein-
richtung der Kriegerkaste, aus der auch die Herrscher her-
vorgingen. Nur die kastenmäfsige Abschliefsung hat Plato
nicht übernommen.
Vollkommen deutlich wird dieser Einflufs Ägyptens,
wenn wir uns im T i m ä u s zunächst denjenigen Erörte-
rungen zuwenden, die sich noch auf die Staatsfrage beziehen.
Kritias hat eine alte, auf Selon zurückgehende Geschichte
gehört. Selon hatte sie aus Ägypten (22, Krit. 108 D,
110 A, 113 A), wo sich solche Überlieferungen durch die
Jahrtausende erhalten konnten. Vor neun Jahrtausenden
hat in Athen ein Staat bestanden, ähnlich dem ägyptischen,
insbesondere mit einem von den übrigen Ständen abgeson-
derten Kriegerstande (24 B). Dieser Staat verdankte seine
Einrichtung der Göttin Athene, die mit der ägyptischen
Göttin Neith dieselbe ist, und die auch den ägyptischen Staat
begründet hat (21 E, 28 D, 24 D). Schon bei dem gestrigen
Vortrage des Sokrates hat Kritias sich über die Mafsen ge-
wundert, dafs der von Sokrates entworfene Staat fast in
allen Stücken mit dem athenischen Urstaat nach Solons
Bericht übereinstimmt. Dieser Musterstaat hat bei den leib-
lichen Vorfahren der Athener schon einmal bestanden (25 E,
26 D; Krit. 110 B).
So weit im Timäus. Die genauere Darlegung dieses
alten Berichts bringt dann der „Kritias". Genau dieselben
Einrichtungen, die von Sokrates seinem idealen Krieger-
stande beigelegt wurden, bestanden bei dem Kriegerstande
jenes athenischen Urstaats (HO 0 D, 112 C). Diese Krieger
wohnten auf der Höhe der Akropolis, die damals eine weit
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586 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
gröfsere Ausdehnung hatte als zurzeit (111 E flf.). Es
wurde darauf gesehen, dafs die Zahl der Krieger im waffen-
fähigen Alter, die Frauen eingerechnet, 20000 nicht über-
stieg. Diese beherrschten ganz Griechenland und die Länder
westlich bis zu den Säulen des Herakles (112 D f., 108 E).
Nun befand sich jenseits dieser Säulen damals eine ge-
waltige Insel, die Insel Atlantis, gröfser als Asien und Afrika
zusammen (Tim. 24 E, 108 Ej, und auf dieser Insel ein
mächtiges Königreich (114), das auch Nordafrika und Teile
von Stidwesteuropa beherrschte (Tim. 25). In der Schilde-
rung dieses Reiches bricht der Kritias ab (121 C). Nur
kurz wurde schon vorher im Eingange des Timäus erwähnt,
dafs ein gewaltiger Eroberungszug dieses Reiches gegen
Griechenland durch die Tapferkeit der athenischen Krieger
abgewehrt worden sei (25, Krit. 109 A, 112 E), und dafs
später das Meer die Insel Atlantis verschlungen habe (25 C
D ; Krit. 108 E).
Gewifs sollte der Kritias im weiteren Verlaufe durch
genaue Schilderung dieses glorreichen Sieges die von Plato
vorgeschlagene Staatsform empfehlen. Für uns ist die tiber-
all hervortretende starke Bezugnahme auf Ägypten — eines
weiteren Hinweises auf dieselbe bedarf es wohl nicht! —
von besonderer Bedeutung. Es sind frische und neue Ein-
drücke, die hier wiederklingen!
2. Der Timäus. Für den von Plato eingenommenen
Standpunkt ist am bezeichnendsten, dafs mit der Ideenlehre
in euklidischer Form die pythagoreische Raum-StoflFlehre
verbunden wird, um so die Wirklichkeit der Erscheinungs-
welt zu retten. Dazu tritt dann eine eigenartige, nur hier
sich findende Lehre vom Wesen und Schicksal der Seele,
die vielleicht auf die in Unteritalien erworbene Bekannt-
schaft mit der pythagoreischen Ordenslehre zurückzuführen
ist. Mit diesen Elementen verbindet sich dann endlich eine
zum Teil bis ins einzelste durchgeführte, phantastische Natur-
lehre, die mutmafslich zum Teil von Philolaos stammt.
Die spärlichen und unsicheren Nachrichten über eine von Plato
erworbene Schrift desselben , nach der er gearbeitet hätte,
sind schon früher angeführt worden. Die Einzelheiten dieser
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2). 587
höchst phantastischen Vorstellungen sind aber ohne Be-
deutung für seine weitere Entwicklung. Nur die Haupt-
punkte sollen hier hervorgehoben werden, und zwar in freier,
nicht an die Darstellung Piatos sich bindender Anordnung.
Die Welt ist nicht eine blofse Scheinwelt. Sie ist zwar
das, was nie ist, sondern nur immer wird (27 D f.), aber
als solches hat sie doch Realität. Die Grundbedingungen
für ihr Zustandekommen sind folgende: 1. Ein Einheit-
liches, das ewig in demselben Zustande ist, un-
entstanden, unveränderlich, bleibend, die Welt der Ur-
oder Musterbilder, die durch das Denken erfafst wird
(27 D, 28 A C, 29, 48 E, 51 E f.). Dieses Einheitliche
umfafst aber in sich zugleich die ganze Mannigfaltigkeit
des durch das Denken zu Erfassenden (30 C D). Hier tritt
uns die euklidische Vergegenständlichung der sokratischen
Begriffe entgegen. Die Abstammung aus der Begritfslehre
findet ihren Ausdruck in der wiederholten nachdrücklichen
Betonung der Erfafsbarkeit durch das Denken und des un-
veränderten Beharrens. Beides trifft für die Begriffe zu.
Sie sind ja selbst Gebilde des Denkens und zwar solche von
beharrender Festigkeit. Daher wird schon im Euthyphron
der Begriff der Frömmigkeit als die „Gestalt" (eidos) be-
zeichnet, durch die alles Fromme fromm ist, und als das
Musterbild (parädeigma) , auf das hinblickend wir bei den
einzelnen Handlungsweisen entscheiden können, ob sie unter
den Begriff der Frömmigkeit fallen (6 D f.). Während aber
im Euthyphron nur von dem Musterbilde einer sittlichen
Eigenschaft die Rede ist und an eine Vergegenständlichung,
eine Existenz aufserhalb des Denkens nicht gedacht wird,
beziehen sich hier die Musterbilder (auch hier der Ausdruck
paradeigma !) auf alles Existierende und es ist hier eine Ver-
gegenständlichung, eine Verwandlung in eine Wesenheit,
eine unkörperliche Substanz eingetreten. Einmal werden
die Urbilder „ewige Götter" genannt (37 C). Hier haben
wir die Urform der platonischen Ideenlehre vor uns, wenn-
gleich das Wort „Idee" noch nicht vorkommt: eine ewige,
einheitliche, wirkungslose Welt starrer Urbilder. Hier tritt
uns der Umschlag der BegriflFslehre ins Metaphysische, mit
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588 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
dem Euklid vorangegangen war, bei Plato zum ersten Male
entgegen, und auf diese Wesenheiten wird dann auch die
Erfafsbarkeit durchs Denken und die Unveränderlichkeit
übertragen. Wegen der Einheit in der Mannigfaltigkeit,
die dieser Welt der Urbilder eigen ist, kann es auch nur
eine Welt geben (31 A).
2. Der Raum in doppelter Bedeutung, einesteils als
die Bedingung für die Möglichkeit einer sinnenfälligen, aus-
gedehnten Welt überhaupt, andernteils aber auch als der
eigentliche und ursprüngliche Weltstoff. In ersterer^ Be-
ziehung wird er bezeichnet als das Leere, in dem alles
Werdende wird (50 D ff.) als die Amme und das Aufnehmende
des Werdens (49 A, 50 B C, 52 D, 53 A), die „Mitursache"
der Dinge (46 C). Er ist dem Untergange nicht unterworfen
und gewährt allem Werdenden Platz. Er ist weder durch die
Sinne noch durch das eigentliche Denken erfafsbar, sondern
nur durch eine Art unechten oder Afterdenkens, sofern ja
notwendig das Sinnenfällige (nicht das Urbildliche!) an irgend
einem Orte sein und* einen Raum einnehmen mufs (52 B).
In diesem Sinne des Aufnehmens, des „Worin", vergleicht
Plato den Raum auch mit der Mutter, während die Urbilder
dem Vater gleichen (50 C). Freilich ist diese Vergleichung
insofern ungenau, als keins von beiden, wie doch die Eltern
bei der Entstehung des Nachwuchses, eine wirkende Rolle hat.
Der Raum ist aber ferner auch der eigentliche Welt-
stoff. Die vier Elemente können dies nicht sein, da sie in
beständiger Umbildung, im Übergange ineinander begriffen
sind und ihnen daher keine bestimmte Beschaffenheit zu-
kommen kann (48 B, 49 C ff.). Diese Schwierigkeit findet
bei dem stets sich gleichbleibenden Räume nicht statt
Dieser wird daher geradezu als der Teig für alles bezeichnet,
in dem die Abbilder der ewigen Urbilder im wechselnden
Werden ihre Ausprägung erhalten (50 B f.). Wenn nach
dieser ganz deutlichen Stelle noch ein Zweifel sein könnte,
dafs Plato hinsichtlich der Vereinerleiung von Raum und
Stoff sich hier an den wissenschaftlichen Pythagoreismus an-
geschlossen hat , so würde dieser Zweifel seine volle Er-
ledigung finden durch die Art, wie die vier Elemente aus
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2). 589
räumlichen Gebilden abgeleitet werden. Da aber diese Theorie
zur Entstehung der sinnenfälligen Welt gehört, so kann
darauf erst nachher eingegangen werden. Es mufs aber bei
dieser Fassung des Raumes als Weltstoff doch noch etwas
vorgeschwebt haben, was über die blofse Räumlichkeit hinaus-
geht. Es war nämlich vor der Weltbildung das Sinnen-
fällige „nicht im Ruhezustande, sondern in einer unharmo-
nischen und ungeregelten Bewegung** (30 A). Hiernach
scheint also doch noch ein Unterschied zwischen dem Raum
als der blofsen Möglichkeit des Ausgedehnten und dem
Räume als dem eigentlichen Weltstoff angenommen zu
werden. Ersterer ist der blofse Raum, letzterer der be-
wegte Raum. Hätte Plato diesen Gedanken weiterverfolgt,
80 wäre er im Gegensatze gegen einen Welt Stoff im engeren
Sinne, eine Urmaterie, auf eine Theorie der Bewegung
als des ursprünglich Vorhandenen, eine kinetische Welt-
bildungstheorie gekommen. Es bleibt aber hinsichtlich dieses
Punktes bei einer vereinzelten Andeutung.
3. Die Urbilder sind unveränderliche, räum- und zeit-
lose, wirkungslose Wesenheiten. Der Raum als Weltstoff
ist ungeformt, und in ihm selbst liegt kein Formprinzip.
Selbst an der einzigen Stelle, wo von einer vorweltlichen
Bewegung die Rede ist, wird diese als eine unharmonische
und ungeregelte und der vorhandene Zustand als ein solcher
der Unordnung bezeichnet. So bedarf es also, wenn eine
sinnenfällige Welt nach dem Muster der Urbilder entstehen
soll, einer besonderen wirkenden Ursache, eines Welt-
bild n e rs. Dieser wird verglichen mit einem Künstler oder
Handwerker (demiurgös). Auch für den Künstler gibt es
ein Urbild, auf das er bei seinem Bilden hinblicken mufs,
wenn das Gebilde gut ausfallen soll (28 A). Einen solchen
Demiurgös nun gibt es auch für die Welt (29 A). Es ist
nicht leicht, von diesem „Verfertiger und Vater des All"
eine Vorstellung zu gewinnen und diese mitzuteilen (28 C).
Es mufs aber angenommen werden, dafs er „gut" (d. h.
wohl tüchtig) ist und deshalb bei der Weltbildung sich nach
den ewigen Urbildern richtet (29 A).
Über die sinnenfällige Welt kann nur mit Wahrschein-
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590 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
lichkeit geredet werden. Denn einesteils ist sie eine Welt
des blofsen Werdens und der Veränderung, für die es keine
Vernunfterkenntnis gibt (28 A), andernteils erlaubt die
menschliche Schwäche nur wahrscheinliche Erkenntnisse
(29 C).
Die vom Weltbildner angestrebte Vollkommenheit konnte
in der Sphäre des Sichtbaren nur durch einen mit einer
Seele ausgestatteten Körper erreicht werden. Die Welt
mufste ein vernunftbegabtes lebendes Wesen werden (30 C flF.).
Für ein Wesen, das eine Vielheit belebter Wesen in sich
fassen sollte, war die Kugelform die geeignetste Form. Sie
wird dadurch auch der Gottheit selbst ähnlich. Der kreis-
förmige Umschwung ihrer Peripherie entspricht der Be-
wegungsart des Denkens, das nach dem Timäus ebenfalls
eine solche Kreisbewegung ist (33 B— 34 A). Zunächst wird
die Weltseele geformt, ein phantastisches Gebilde, das nach
einem künstlichen, schwer verständlichen Zahlensystem gleich-
sam als Gerüst der Welt ausgespannt wird (35, 37 A). Sie
erstreckt sich unsichtbar vom Mittelpunkte aus durch das
Ganze und zugleich als Hülle um die äufsere Kugelfläche
(34 B, 36 D f.). In ihrer inneren Ausbreitung sind die sieben
Planetensphären präformiert (36 D, 38 C). Es wird ferner
die Zeit gebildet als Abbild der Ewigkeit der Urbilder im
immer Werdenden (37 C ff.).
Der Stoff der Einzeldinge, die vier Elemente, entsteht
aus zwei Arten rechtwinkliger Dreiecke. Die eine Art der-
selben hat ungleiche Seiten, aber von einem bestimmten
Gröfsenverhältnis (54 D). Vier solcher Dreiecke zu einer
körperlichen Figur zusammengesetzt ergeben das Tetraeder.
Dies bildet wegen seiner Kleinheit und Spitzigkeit den
Grundstoff des Feuers. Aus acht solcher Dreiecke, dem ver-
doppelten Tetraeder, entsteht das Oktaeder. Aus Oktaedern
besteht die Luft. Zwanzig solcher Dreiecke zusammengefügt
ergeben das regelmäfsige Zwanzigeck (Ikosaeder), dem Wasser
entsprechend. Die zweite Art der rechtwinkligen Dreiecke
ist zugleich gleichschenklig. Aus 24 solchen Dreiecken ent-
steht angeblich der Würfel. Dieser ist die Grundgestalt für
das Erdelement, das massigste der vier Elemente. Ein
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V. 6. Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/^). 591
fünfter auf diese Weise abzuleitender regelmäfsiger Körper,
das Zwölfeck (Dodekaeder), soll der Grundgestalt der Welt
überhaupt entsprechen (53 C ff.). Bei dieser Art der Zu-
sammensetzung der Elemente aus Körpern, die in letzter
Instanz aus gleichgestalteten Dreiecken bestehen, ward es
für Plato ein leichtes, den von ihm als Tatsache angenommene
Übergang der Elemente ineinander zu erklären. Nur das
Erdelement, das aus einer anderen Art von Dreiecken be-
steht, ist von diesem Übergange ausgeschlossen (56 D ff.).
Doch gerät er hier in einen Widerspruch mit sich selbst,
da er vorher auch die Erde am Kreislauf der Elemente
hatte teilnehmen lassen (49 C).
Es ist leicht ersichtlich, dafs diese Art, physische Körper
aus ebenen Figuren entstehen zu lassen, eine völlig unmög-
liche ist. Es ist aber ferner ganz evident, dafs diese Art, die
sinnenfällige Welt zu retten, indem Raumteile an Stelle
des Stoffes gesetzt wurden, die der Pythagoreer ist. Es ist
schon früher die Vermutung ausgesprochen worden, dafs
die Weiterbildung dieser pythagoreischen Lehre, die hier
in der Verteilung der vier Elemente an die regelmäfsigen
Körper und in der Ableitung der letzteren aus Dreiecken
zu Tage tritt, vielleicht schon von Philolaos vorgenommen
worden war. Jedenfalls liegt hier eine Anlehnung an die
Stofflehre der Pythagoreer vor.
Die vier Elemente sind nun ferner, wie die Welt als
Ganzes, beseelt. Es gibt Feuer-, Wasser-, Luft- und Erd-
wesen. Die Feuerwesen sind die Planetengeister, die auch
Götter genannt werden (39 E ff.). Hier schliefst sich ein
sehr sarkastisch gehaltener Ausfall gegen die Götter des
Volksglaubens an, der so ziemlich auf dasselbe hinauskommt
wie das skeptische Wort des Protagoras (40 D ff.): „Über
die anderen Gottheiten aber zu sprechen und ihre Ent-
stehung zu kennen, geht über unsere Kräfte. Man mufs
hier der Überlieferung Glauben schenken, denn die Vertreter
derselben nennen sich ja Nachkommen der Götter, müssen
also ihre Vorfahren kennen, wenngleich sie weder wahr-
scheinliche noch notwendige Beweisgründe aufzuweisen haben."
Die Beseelung der Fixsterne bilden die unsterblichen
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592 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Vernunftseelen der Menschen. Sie werden vom Weltbildner
aus den bei der Bildung der Weltseele übriggebliebenen
SeelenstofiFresten gebildet (41 D, 69 C). Ihre Zahl stimmt
mit der der Fixsterne überein. Auf diese gesetzt, über-
schauen sie durch den Umschwung des Himmelsgewölbes
den ganzen Bau des Weltalls. Es ist aber ihr Los, nach
dieser Weltschau auf den verschiedenen Planeten in Körper
eingeschlossen zu werden. In dieser Lage ist es ihre Auf-
gabe, nach vollkommener Gotteserkenntnis zu streben und
über die durch Berührung mit dem Sinnlichen erzeugten
heftigen Erschütterungen , die Sinneseindrücke und die
AfiFekte, die Herrschaft zu behaupten (41 E fif.).
Die Herstellung der Körper nach der Versetzung auf
die Planeten und der niederen, sterblichen Seelenteile über-
trägt der Weltbildner den einzelnen Planetengöttern (42 D,
41 A B). Sitz der Denkseele ist der Kopf; der übrige
Körper ist nur erforderlich, um diesem Halt und die Mög-
lichkeit der Fortbewegung (wozu auch die Sinne notwendig
sind) , zu verleihen (44 D fif.). Um dieses Körpers willen
sind aber wieder die beiden niederen Seelenteile erforder-
lich, die ihren Sitz in den beiden Höhlen des Rumpfes
haben. Der edlere derselben, „das Mutige", hat in ^er
Brusthöhle seinen Sitz und vermag auch der Vernunftse^le
in der Zügelung der Begierden des Körpers und des be-
gehrenden Seelenteils Hilfe zu leisten (70). Diese Lehre
von den Seelenteilen kommt im Timäus zuerst vor. Der
ursprüngliche Mensch ist männlichen Geschlechts (42 A),
aber ohne Zeugungs trieb und Zeugungsorgane (91 A).
Welche Seelen nun jene Herrschaft behaupten, die
gelangen — natürlich körperlos — zu seligem Leben auf
ihren Fixstern zurück. Denen aber dies nicht gelingt, die
müssen eine zweite Einkörperung in der minderwertigen
Natur des Weibes erleiden. Und so weiter abwärts in tie-
rische Wesen, je nach der besonders bei ihnen hervor-
getretenen Schwäche, so lange, bis die Vernunft wieder zur
Herrschaft gelangt (42 Bf., 90 E). Mit der Entstehung
des Weibes erst beginnt die Möglichkeit der Fortpflanzung,
mit der noch tieferen Entartung die Existenz der Tiere (91).
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V, 6, Die schriftstellerische Frucht der Reisen (393/2). 593
Ohne jene Schwäche wäre das körperliche Leben nur eine
kurze Episode gewesen. So ist also das Weib ein rück-
gebildeter Mann, und sämtliche Tiere sind in verschiedenem
Grade rückgebildete Menschen. Die ganze Theorie ist in
gewisser Weise ein auf den Kopf gestellter Darwinismus.
Dafs nun in dieser Lehre vom Menschenlose eine Be-
einflussung durch die damalige Gestalt der pythagorei-
schen Ordenslehre vorliegt, ist mindestens sehr wahr-
scheinlich. Doch läfst sich nicht bestimmen, in welchem
Mafse Plato das von dort her Übernommene selbständig
umgebildet hat. Die Seelenlehre weist hier in der Drei-
teilung der Seele in einen unsterblichen und zwei sterbliche
Teile Züge auf, die im Gorgias und Menon noch nicht vor-
kommen, und die Plato auch nachher teilweise wieder fallen
läfst. Die Verbindung der Seelen mit den Fixsternen und
die Einkörperung ohne ursprüngliche Verschuldung sind
ebenfalls Züge, die nur im Timäus vorkommen u. s. w.
Dieser Teil des Timäus ist eine Erlösungslehre im echt
pythagoreischen Sinne. Es handelt sich nicht mehr um
Seelengesundheit, sondern um Erlösung vom Körper und
dem Kreislauf der Geburten.
In grofser Ausführlichkeit wird im Timäus eine Natur-
lehre vorgetragen, bei der alles einzelne in phantastischer
Weise aus der göttlichen Zweck tätigkeit abgeleitet wird.
Hiervon nur noch einige wenige Proben. Zur Ernährung?
der ursprünglich allein vorhandenen Männer wurden die
Pflanzen geschaffen. Auch diese sind beseelt, besitzen aber
nur den niederen Teil der sterblichen Seele (77). Es herrschte
also ursprünglich Vegetarianismus. Warum dieser nicht
dauernd gilt, da ja doch anscheinend alle Tiere menschliche
Seelen haben, wird nicht gesagt. Die Nägel am mensch-
lichen Körper werden aus dem Vorauswissen der Untergötter
erklärt, dafs künftig infolge der Verschuldung eine Um-
bildung in Tierkörper stattfinden werde (76 D f.). Es wird
also der künftige Tierkörper geradezu als eine Umbildung
des menschlichen gedacht: ein umgekehrter Darwinismus
im strengsten und eigentlichsten Sinne. Bemerkenswert ist
dagegen, dafs Plato in ausdrücklichen und deutlichen Worten
Döring. I. 38
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594 Zweite Perio'de. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
die Keime des künftigen Menschen als in die Gebärmutter
eintretende kleine Tierchen bezeichnet (91 D).
Ein wichtiges Hilfsmittel zur Stärkung der Vemunft-
seele besteht in der Erkenntnis der Bahnen der Himmels-
körper. Auch die Vernunfttätigkeit ist nämlich, wie oft be-
tont wird, ein kreisförmiger Umlauf. Diese sonderbare Lehre
geht — vielleicht durch Vermittlung von Philolaos —
sehr wahrsclieinlich auf Alkmäon zurück, der ja zwischen
der ewigen Bewegung der Gestirne und dem Leben der
Vernunftseele eine enge Gleichartigkeit angenommen hatte.
Jene Erkenntnis der ^Umläufe des All" kann also die „ver-
derbten Umläufe in unserem Kopfe verbessern" (90 D). Wo
man sich dies Hilfsmittel nicht zu nutze macht, findet sogar
— im Widerspruch mit der früheren Stelle, an der die Stufe
des Weibes deutlich als von allen zu durchlaufende Zwischen-
stufe bezeichnet wurde (42 B ff.) — direkte Einkörperung
als Vögel und noch niedere Tiere statt. Die Stufenfolge
ist hier: Lufttiere, Landtiere, Wassertiere. Unter den
letzteren stellen wieder die Muscheln den höchsten Grad
der Vernunftlosigkeit und Stumpfheit dar. Doch ist auch
selbst von dieser niedrigsten Stufe aus durch Wiedererwachen
der Vernunft eine Rückkehr zu höheren Stufen in künftigen
Geburten möglich, wie überhaupt bei diesen ein beständiges
Aufwärts- und Abwärtsgehen stattfindet (91 F fl".).
Dafs nun der Timäus nicht, wie meist angenommen
wird, dem höheren Alter Piatos angehört, sondern der Zeit
Unmittelbar nach den Reisen, ergibt sich aus folgenden
Gründen :
1. Aus der engen Verbindung mit dem Urstaat;
2 aus den deutlichen Beziehungen zum wissenschaft-
lichen Pythagoreismus, mutmafslich in der Umformung des-
selben durch Philolaos, und zur Ordenslehre;
3. aus der primitiven Form der Ideenlehre, die sich zu
der späteren Entwicklung als Anfangsstufe verhält. Ins-
besondere hat er später die Annahme der Materie ganz
fallen gelassen;
4. aus dem ganzen, noch rohen und primitiven Charakter
des platonischen Denkens im Timäus.
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V. 7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit etc. 595
Die volle Bestätigung dieser Auffassung des Timäus als
einer blofsen Vorstufe des eigentlichen platonischen Systems
kann freilich nur eine Überschau des gesamten Entwick-
lungsganges gewähren.
7. Vertierung: der Lehre von der Seelengresundheit
durch die Seelenlehre des Timäus. Umarbeitung:
des Urstaats (392).
Es ist nicht leicht, mit Sicherheit anzugeben, weshalb
Plato die geplante Zusammenstellung von vier Vorträgen
unvollendet gelassen hat. Es ist jedoch von vornherein
wahrscheinlich, dafs ihn einesteils das in dieser Tetralogie
Geplante nicht mehr befriedigte, und dafs andernteils eine
höhere Aufgabe auf Grund neuer Einsichten ihn reizte.
Den ersten Punkt anlangend, so war die Zusammen-
stellung der Ergebnisse seiner Reisen eine mehr äufserliche,
des inneren Zusammenhanges entbehrende. Ja, es liegen
in den verschiedenen Teilen der Tetralogie geradezu wider-
sprechende Anschauungen vor. Die Ztichtungstheorie und
die hohe Bewertung des weiblichen Geschlechts im Urstaat
läfst sich mit der Form der Seelenwanderungslehre im
Timäus kaum vereinigen. Nach letzterer ist der angeborene
Zustand nicht Folge der Beschaffenheit der Eltern, sondern
des Verhaltens in den früheren Einkörperungen, und die Geburt
als Weib ist eine Strafe. Dazu kam die noch recht rohe
Form, in der die Erlösungslehre im Timäus aufgestellt war:
Erkenntnis des Göttlichen und Herrschaft über die Affekte
und Begierden als die Bedingung der Erlösung.
Andernteils enthielt die im Timäus zuerst aufgestellte
Lehre von den drei Seelenteilen die Aufforderung, die Lehre
von der Seelen gesundheit als dem Ziele des sittlichen Ver-
haltens in neuer, vertiefter Weise zu gestalten. Wie ver-
hielten sich die drei Seelenteile im normalen und im nicht
normalen Seelenzustande? Plato wendet sich von der Er-
lösungslehre zeitweilig wieder zu seinen Bemühungen um
Moralbegründung zurück. Er gestaltet den Urstaat zu einer
Lehre vom normalen und verkehrten Zustande der Seele um,
38*
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596 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Der Musterstaat wird in den Dienst der Sittenlehre gestellt.
Die Handhabe dazu bot ihm der Umstand, dafs es, wie in.
der Seele drei Teile, so im Musterstaat, die eigentlichen
Herrscher als ein besonderer Stand gezählt, drei Stände gab.
Der Normalstaat konnte als Vorbild für den normalen Zu-
stand der Seele verwertet werden. Die Staatslehre wird
zur Ethik.
Diese vertiefende Rückkehr zum Moralismus kann an
keine spätere Stelle als die hier angenommene, gesetzt
werden. Unmittelbar darauf beschreitet der Genius Piatos
völlig neue Bahnen. Die Umgestaltung des Urstaats besteht
in folgendem: 1. ist, wie schon hervorgehoben, Einleitung
und Schlufs gestrichen; 2. sind in dem Verbleibenden, ab-
gesehen von der Umwandlung in die Gesprächsform, nur
einige leichte Änderungen und Zusätze (Hinweisungen auf
den nunmehrigen ethischen Endzweck) vorgenommen; vor-
nehmlich aber wird 3. durch Hinzufügung einer neuen Ein-
leitung (I. und IL 1—10), sowie der Abschnitte IV. 6—19,
VIII — X die eigentliche Umwandlung vollzogen. Welcher
Art diese ist, das mufs nun durch Darlegung des Gedanken-
ganges in seinen wesentlichen Zügen im einzelnen gezeigt
werden.
Die neue Einleitung zeigt einen völlig veränderten
Schauplatz und völlig neue Personen. Das Gespräch wendet
sich dem Begriffe der Grerechtigkeit zu. Mehrer Bestim-
mungen desselben werden versucht, die sich aber als un-
zulänglich erweisen. Thrasymachos tritt mit der schon
früher angeführten Gewaltlehre auf, nach der die Gerechtig-
keit der Beherrschten darin besteht, dafs sie sich den nach
den Interessen der Herrschenden entworfenen Gesetzen willig
fügen, die der Herrschenden aber in der schrankenlosen
Geltendmachung ihres eigenen Vorteils. Demgegenüber
macht Sokrates geltend, dafs mit dem Staatszwecke der all-
gemeinen Wohlfahrt die Befriedigung des wahren Interesses
der Herrschenden sehr wohl Hand in Hand gehen könne.
Dies Interesse bestehe bei den Edleren nicht in Gold und
Ehre, sondern in der Verhütung des Übelstandes, dafs sie
selbst der Herrschaft der Schlechteren unterworfen werden.
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V. 7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit etc. 597
Das Wesen der Gerechtigkeit aber wird jetzt dahin bestimmt,
dafs sie der wesentlichste Teil der Vollkommenheit der Seele
sei, ohne die es keine wahre Glückseligkeit gebe. So ist die
Gerechtigkeit als wesentliche sittliche Eigenschaft in den
Mittelpunkt des sittlichen Verhaltens gestellt. Aber auch
dies Ergebnis erscheint als unbefriedigend, weil in ihm doch
die eigentliche Frage, was das Gerechte sei, noch keine
Lösung gefunden habe.
Damit schliefst das erste Buch. Die Vemunftbegrün-
dung des sittlichen Verhaltens (der ethische Intellektua-
lismus) erfordert eine solche Bestimmung des Sittlichen, dafs
dasselbe zugleich als ein Gut von höchster beglückender
Kraft erscheint. So wird denn nunmehr (II. 1—10) die
Frage so gestellt: Die Gerechtigkeit mufs so bestimmt
werden, dafs sie zugleich als ein sowohl unmittelbar durch
sich selbst als auch durch ihre Wirkungen und Folgen im
höchsten Grade erstrebenswertes Gut dasteht. Diese Problem-
stellung wird dann in ersterer Beziehung (an sich) noch
weiter aufs äufserste verschärft. Es soll die beglückende
Kraft der Gerechtigkeit auch unter den denkbar un-
günstigsten Umständen erwiesen werden. Angenommen,
das ungerechte Verhalten haben die vollste Sicherheit, nicht
entdeckt und zur Verantwortung gezogen werden. An-
genommen, der Ungerechte besitze den unsichtbar machen-
den Ring des lydischen Königs Gyges, der sein Tun jedem
menschlichen Auge entziehe. Angenommen sogar, der Un-
gerechte vermöge selbst die Götter über sein Tun zu täuschen
oder doch durch ihnen wohlgefällige Leistungen bei aller
Schlechtigkeit ihre Zufriedenheit und Gnade zu erlangen,
was als auf dem Boden der Volksreligion und der von den
Dichtern vertretenen Anschauungen möglich erwiesen wird.
Oder es gibt keine Götter, oder sie kümmern sich nicht um
die menschlichen Angelegenheiten. Kann das Wesen der
Gerechtigkeit so bestimmt werden, dafs diese unter allen
diesen Voraussetzungen als ein volle Glückseligkeit be-
wirkendes Gut erwiesen ist? Wollte man hierbei so ver-
fahren, dafs man etwa doch noch auf die äufseren Vorteile
der Gerechtigkeit hinwiese, wie etwa von den Dichtem dem
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598 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Frommen äufsere Güter verheifsen oder in der rohen Orphik
ihnen eine ewige Trunkenheit im Jenseits in Aussicht ge-
stellt wird, während die Gottlosen im Schlamme liegen (3ö3,
364 E), oder von Ehre, Ansehen, Geschenken seitens der
Menschen redete (366 E), — so wäre auch damit die Auf-
gabe nicht gelöst. Denn der auf diese Weise Gerechte wäre
beim Wegfall solcher Vorteile der erste zum Unrechttun
(366 D), und eine solche Begründung käme nicht über den
Standpunkt des Thrasymachos hinaus, dafs im Grunde die
Ungerechtigkeit das eigentlich Vorteilhafte sei (367 A). Es
mufs vielmehr erwiesen werden, dafs die Gerechtigkeit ein
Gut, die Ungerechtigkeit ein Übel ist, mögen auch beide
von Göttern und Menschen unbemerkt bleiben (367 E), oder
noch bestimmter : dafs jene das gröfste Übel, diese das gröfste
Gut der Seele ist (366 E).
Diese schwierige Untersuchung soll nun dadurch er-
leichtert werden, dafs das Wesen der Gerechtigkeit zunächst
am gröfseren Objekt, wo sie leichter erkennbar ist, a m S t a a t e,
aufgezeigt wird (368 G flf.). So lenkt denn die Rede in da»
Fahrwasser des Musterstaats ein, und es wird das schon vor-
handene Bild des „Staates der Glücklichen^ inhaltlich fast
unverändert der neuen Schrift einverleibt.
Noch ehe aber dies Bild vollständig entworfen ist, näm-
lich in dem eingeschobenen Abschnitt IV. 6—19, wird die
Frage aufgeworfen, wo sich denn nun in diesem Muster-
staat das Wesen der Gerechtigkeit offenbart. In diesem
Staate ist Weisheit vorhanden in den Herrschenden. Ihre
Weisheit gehört dem ganzen Staate zu, da sie ja das ihn.
leitende Prinzip sind (c. 6). In ihm ist ferner Tapferkeit
vertreten durch den Kriegerstand, bei dem die richtige
Meinung über das zu Fürchtende und nicht zu Fürchtende
durch Naturanlage und Erziehung entwickelt ist (c. 7). Auch
die Sophrosyne als die Herrschaft über Affekte und Be-
gierden findet sich in ihm. Zwar nicht bei allen, nicht ein-
mal bei der Mehrzahl , aber bei der Minderheit der durch
Natur und Gewöhnung Tüchtigen, die die Begierden der
Masse im Zaume hält (c. 8). Diese Enthaltsamen aber finden
sich nicht nur in einem der drei Stände; die Sophrosyne
Digiti
zedby Google
V. 7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit etc. 599
bildet ein Band, das die besseren Elemente sämtlicher drei
Stände zur Eintracht zusammenhält (c. 9). Ebenso aber ist
in diesem Staate auch die .Gerechtigkeit verwirklicht.
Diese besteht nämlich darin, dafs die Verteilung in drei
Stände auf der Befähigung und Berechtigung zu den be*-
treflfenden Leistungen, also auf der Würdigkeit beruht. Ihr
Gegenteil, die Vielgeschäftigkeit, nach der die verschiedenen
Verrichtungen von Unberufenen ausgeübt werden, ist die
wahre und eigentliche Ungerechtigkeit (433 f.).
Diese am Staate gewonnene Erkenntnis wird nun weiter
auf den Einzelmenschen angewandt. Es finden sich nämlich
die in den drei Ständen des Staates verkörperten Fähig-
keiten auch im Einzel menschen als drei verschiedene Seelen-
kräfte. Es gibt ein Erkennendes, ein im niederen Sinne Be-
gehrendes und eine edlere Leidenschaft, die geneigt ist, sich
als gehorsame Helferin in den Dienst der Vernunft zu stellen.
Die Gerechtigkeit im Einzelmenschen wird also darin be-
stehen, dafs jede dieser Richtungen die ihr zukommende
Bedeutung und Verrichtung im Seelenleben erhalte. Für
das Vernünftige gebührt es sich, dafs es herrsche, für das
„Mutige", dafs es jenem als Helfer zur Seite stehe, für das
Begehrliche aber, dafs es sich diesen beiden verbundenen
Richtungen unterordne. So treten auch hier die drei
Tugenden der Weisheit, Tapferkeit und Sophrosyne zu Tage.
Vermöge dieser richtigen Betätigungs weise der drei Seelen-
richtungen ist nun aber auch im Einzelmenschen die Ge-
rechtigkeit im gleichen Sinne wie im Staate vorhanden.
Jede der drei Richtungen tut das ihr Zukommende (441 D).
Ein so Gearteter wird aber auch im gewöhnlichen Sinne ein
Gerechter sein, indem er sich jedes Unrechts und Frevels
enthält (442 E f.). Die Gerechtigksit ist ein Verhalten,
durch das jener harmonische Gesamtzustand der Seele — jene
Seelennormalität dürfen wir auch sagen — verwirklicht und
erhalten wird (443 E). Ungerechtigkeit aber ist der Auf-
ruhr der Begierden in Zügel losigkeit, die feige Schwäche des
„Mutigen" in dem ihm zukommenden Dienste, endlich das
Umschlagen der Weisheit in ihr Gegenteil, die Unweisheit,
und dieser Zustand führt auch zu jeder Art von Schlechtig-
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600 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
keit (444 B). Hier wird es denp auch geradezu ausgesprochen,
dafs jener Zustand Seelengesundheit, dieser Seelenkrankheit
ist (444 C f.).
Hiermit ist also nicht nur das Wesen der Gerechtigkeit
als der eigentliche Kern der Seelengesundheit bestimmt; es
ist auch erwiesen, dafs sie an und für sich und abgesehen
von allen nachfolgenden Vorteilen das höchste Erstrebens-
werte ist. Es sollen aber auch die verschiedenen möglichen
Formen der Entartung und die ihnen folgende Unseligkeit
nachgewiesen werden. Auch hierbei soll der Staat als Leit-
faden benutzt werden. Diese Erörterung bricht am Ende
des vierten Buches ab und findet ihre Fortsetzung im achten
Buche.
Die Entartung nun findet auf beiden Gebieten in der
Weise statt, dafs sich das nicht zum Herrschen Berechtigte
zur Herrschaft empordrängt Die normale Verfassung ist
auf beiden Gebieten die Aristokratie im buchstäblichen
Sinne, die Herrschaft der Besten, der Vernunft, der Weis-
heit (544 E, 587 D). Dieser gegenüber gibt es vier Formen
der Entartung. Es kann sich das „Mutige und Ehrliebende"
zur Herrschaft erheben. Plato nennt diese Form Timokratie.
Auf dem Staatsgebiete ist sie in der kretischen und spar-
tanischen Verfassung verwirklicht (544 C, 545 A f.). Die drei
folgenden Formen, die Oligarchie (Herrschaft weniger auf
Grund überwiegenden Besitzes), die Demokratie und die
Tyrannis, kommen alle darin überein, dafs in ihnen das Be-
gehrliche zur Herrschaft gelangt ist; die Oligarchie und die
Demokratie bilden einen Gegensatz; die abwärtsgehende
Entwicklung schwankt vom einen zum anderen hinüber, von
der Begehrlichkeit der wenigen Reichen zu der der Masse
der Armen, bis dann auf der äufsersten Stufe der Ent-
artung, in der Tyrannis, die vemunftlose Begehrlichkeit
eines einzigen den ganzen Staat unter sein brutales Joch
gebeugt hat. Diesen vier Formen im Staate entsprechen
aber auch im Einzelmenschen vier Entartungsformen. Es
gibt einen timokratischen Menschen, in dem Mut und
Ehrbegierde die Herrschaft führen, einen oligarchischen,
in dem Vernunft und Ehrtrieb von der Geldgier völlig unter-
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V. 7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit etc. 601
jocht sind (553 C D), die die vielgestaltige Masse der Begierden
im Zaume hält und sein Begehren einzig auf die Anhäufung
von Schätzen konzentriert (554), einen demokratischen,
der Unterschieds- und wahllos der ganzen Mannigfaltigkeit
4er Lüste und Begierden dient (558 C ff.), und einen der
Tyrannis entsprechenden, der auf eine ihn blind
beherrschende Hauptleidenschaft versteift ist, der er in tie-
rischer Wildheit alles opfert, und die ihn zu Verbrechen
und Gewalttat stachelt (571). In höchst geistvoller und er-
greifender Weise schildert Plato diese vier Staatsformen und
Menschentypen im Detail und zeigt, wie durch fortschreitende
Entartung eines aus dem andern hervorgeht (VIII, I — IX. 3).
Hierauf wird dann noch vierteilig der Beweis geführt,
dafs der im vorstehend entwickelten Sinne Gerechte unter
allen Umständen der wahrhaft Glückliche ist (IX. 4—13).
Zunächst ergibt sich, dafs, wie in den entarteten Staats-
formen, so auch in den entarteten Menschentypen das beste
und edelste Element zur Sklaverei verdammt ist (c. 4 — 6).
Zweitens zeigt sich, dafs in bezug auf die mit jedem der
drei Zustände verbundenen Lustgefühle der Weisheitsliebende
die umfassendste Erfahrung hat, dafs also sein zu Gunsten
der Vernunftlust ausfallendes Urteil das mafsgebende und
entscheidende ist (c 7 f.). Drittens wird sodann zu einer
auf seelischer Erfahrung beruhenden Abschätzung der ver-
schiedenen Lusterträge übergegangen. Dem von positiver
Unlust Geplagten erscheint schon der Indiflferenzzustand der
Unlustlosigkeit als Lust. Umgekehrt erscheint dem im
positiven Lustzustande Befindlichen der Zustand der Lust-
losigkeit als Unlust. Beide Arten des Indifferenzzustandes
sind aber identisch, also beruht die Meinung, beim Über-
gange aus dem Unlustzustande des Bedürfens und Begehrens
in den der Befriedigung positive Lust zu erlangen, auf
Täuschung. Plato hätte hier folgern können: Da es keine
andere Lust gibt als solche nach vorausgegangener Unlust
des Begehrens, so ist bei der Lust über den Indifferenz-
zustand nicht hinauszukommen, während die Unlust etwas
Positives ist. Es gibt keine positive Lust. Das ist die
Folgerung, die Schopenhauer gezogen hat. Plato zieht
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602 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
aber diese Folgerung nur für die Sinnenlust im eigentlichen
und engeren Sinne. Diese ist nur Stillung von Unlust,
während der Übergang zur sinnlichen Unlust wirkliche Un-
lust ist (584 C, E).
Es gibt aber auch positive Lust, die nicht auf vor-
gängiger Bedürfnisunlust beruht. Ein Beispiel dafür auf
dem sinnlichen Gebiete ist die Lust aus Wohlgerüchen
(584 B). Und da ist dann die Vernunftlust, weil sie aus
dem wahrhaft Seienden entspringt, höher als die aus dem
Scheinhaften, Körperlichen (585). Dazu kommt, dafs der
Vemunftmensch aufserdem innerhalb der richtigen Grenzen
auch der übrigen Arten der Lust aus Befriedigung des Ehr-
liebenden und des Begehrenden teilhaft wird (586 E). Plato
unternimmt es sogar, zahlenmäfsig den Lustertrag des Ver-
nunftmenschen im Verhältnis zu dem (am ungünstigsten
gestellten) Tyrannenmenschen herauszurechnen. Diese Be-
rechnung ist freilich, auch wenn man alle sonstigen Voraus-
setzungen Piatos zugeben wollte, schon als Rechnung in
allen ihren Teilen hinfällig. Zunächst wird der Abstand
vom Vernunftmenschen zum oligarchischen Menschen und
wieder von diesem zum tyrannischen jedesmal statt 2 = 3
gesetzt. Das Anfangsglied wird hier beide Male unberech-
tigterweise mitgezählt, der Oligarchische also zweimal in
Rechnung gestellt. So kommen statt vier sechs Glieder heraus.
Statt aber zu addieren, multipliziert Plato und kommt so
auf einen Abstand von neun Gliedern. Um sodann den Lust-
abstand zu gewinnen, multipliziert er aus nicht ersichtlichen
Gründen diese Zahl wieder zweimal mit sich selbst, macht
729. Der nach der Vernunft lebende Philosoph ist also
729 mal so glücklich als der Tyrannenmensch (587). Diese
ganze Beweisführung umfafst die Kapitel IX. 8—11.
Viertens wird dann die Menschennatur unter einem
grofsartigen, phantastischen Bilde dargestellt. Man denke
sich ein Ungetüm mit einer Unzahl von Köpfen wilder und
zahmer Tiere, das überdies seiner Gestalt nach in einer be-
ständigen Wandlung begriffen ist, ferner eine Löwen- und
eine Menschengestalt, diese drei Gebilde zur Einheit ver-
wachsen und in einen menschlichen Körper eingeschlossen.
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V. 7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit etc. 603
Wer nun behauptet, die Ungerechtigkeit sei vorteilhaft, be-
hauptet nichts anderes, als man müsse jenes Ungetüm und
den Löwen nach seiner wilden, bestialischen Natur stärken,
die Menschengestalt aber schwächen und Hungers sterben
lassen. Wer aber die Gerechtigkeit für das wahrhaft Vor-
teilhafte. hält , wird an dem Untier nur das Zahme nähren
und pflegen und hierzu den Löwen als Mithelfer gewinnen,
vornehmlich aber dem Menschenbilde Macht und Herrschaft
verleihen. Denn dies Menschliche ist eigentlich das Gött-
liche im Menschen. Bei dem Löwen insbesondere kommt
es darauf an, dafs er weder in seiner tierischen Wildheit
unbändig verharrt noch im Dienste des Menschenbildes feige
und schlaff" ist oder gar unter die Herrschaft des Untiers
gerät. Im letzteren Falle wird er zum Aff'en. Selbstverständ-
lich ist auch hier wieder die Gerechtigkeit die Herstellung
des normalen Verhältnisses zwischen den Seelenteilen (588 B
bis 590 B),
Schliefslich wird noch in Anlehnung an das Bild der
Fall in Betracht gezogen, dafs der edelste Teil im Menschen
von Natur schwach entwickelt ist. In diesem Falle dient
es zu seinem eigenen Besten, wenn er im Staate der
Herrschaft der Vernunftstarken unterworfen wird. So liefert
diese ethische Betrachtung rückwärts auch wieder eine Be-
stätigung für den Musterstaat.
Hiermit ist jedoch die Beweisführung für den überragen-
den Wert der „Gerechtigkeit" (d. h. der Seelennormalität)
noch nicht beendigt. Der Zustand, in den der Mensch seine
„innere Staatsverfassung" (591 E) auf Erden gebracht hat,
ist nicht nur an sich und im Diesseits der beste, er ist von
ausschlaggebender Bedeutung auch für das jenseitige Schick-
sal. Auch das Schlufsargument des Gorgias kehrt hier in
verschärftem Mafse wieder.
Vor diesem Schlufsabschnitt aber findet sich ein längerer
Abschnitt, der zur Rechtfertigung der bei Erziehung der
Wächter im Urstaat an den Dichtem geübten scharfen Kritik
dienen soll (X. 1—8). Es läfst sich nicht beweisen, dafs
dieser Abschnitt gleichzeitig mit der neuen Ethik entstanden
ist. Jedenfalls kann er nicht dem Urstaat angehören, denn
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604 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
Plato bemerkt (607 B), er habe damals aus guten Gründen
die Dichter aus seinem Staate verwiesen, sei aber in-
zwischen dieserhalb der Härte und Unbildung bezichtigt
und in Komödien, aus denen er Verse anführt, als Schwätzer
und Überweiser verspottet worden. Dies ist zugleich ein
deutlicher Beweis, dafs der „Staat" zu verschiedenen Zeiten
geschrieben ist. Dieser Abschnitt ist also ein den Zusammen-
hang unterbrechendes Einschiebsel, das richtiger als Anhang
an den Schlufs der Schrift gehört und daher auch besser
nachher besprochen wird. Jener Schlufsabschnitt nun be-
ginnt mit der Verkündigung der Unsterblichkeit der Seele.
Hier nun zeigt sich abermals ein äufseres Merkmal, dafs
der „Staat" aus Stücken verschiedener Ursprungszeit zu-
sammengesetzt ist. Der Mitunterredner verwundert sich
über die Behauptung der Unsterblichkeit, und es wird daher
ein Beweis angetreten, dafs die Seelen unvergänglich sind
und von jeher in sich gleichbleibender Zahl existiert haben
(608 D ff.). Nun ist aber in demjenigen Abschnitte , den
wir als Zusatz der zweiten Umarbeitung anzusehen haben
(V. 18— VII Ende), mehrfach von der Unsterblichkeit die
Rede (496 E, 498 C, 540 B). Wäre also dieser Teil zur
Zeit, als der gegenwärtige Abschnitt geschrieben wurde,
vorangegangen, so wäre sowohl die Verwunderung Glaukons
als die Beweisführung völlig unmotiviert. Es liegt hier eine
leicht begreifliche Unachtsamkeit bei der zweiten Umarbei-
tung vor.
Die Unsterblichkeit wird nun ferner hier nicht mit der-
selben unzweifelhaften Ausdrücklichkeit wie im Timäus auf
die Vernunftseele eingeschränkt. Doch wird auch hier der
unsterblichen Seele wenigstens als wahrscheinlich die Mannig-
faltigkeit abgesprochen (611 B E); ja, sie wird geradezu als
reine Vemunftseele bezeichnet (611 C). Auch das Bild,
unter dem die durch Ungerechtigkeit verderbte Seele hier
dargestellt wird, scheint darauf hinzudeuten, dafs an dieser
Stelle nur die Vernunftseele vorschwebt. Sie wird nämlich
mit dem Meergott Glaukos verglichen, dessen Körper durch
den Sturm der Wellen verstümmelt ist, während andernteils
Muscheln, Seetang und Steine an ihn angewachsen sind, so
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V. 7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit etc. 605
dafs seine eigentliche Gestalt ganz unkenntlich geworden
ist (611 D). Diesem Bilde liegt offenbar ein Einheitliches
zu Grunde, also kommt für das Jenpeits nur die Vernunft-
seele in Betracht. Nur ganz äufserlich und nebenher und
vielleicht nur um den Gegensatz gegen den Phädrus zu ver-
decken wird (612 A) die Frage , ob die unsterbliche Seele
einheitlich oder mehrgestaltig sei, wie eine offene hingestellt.
Vor der Schilderung des jenseitigen Loses nun wird die
frühere radikale Voraussetzung, dafs hinsichtlich des wahren
sittlichen Zustandes selbst die Götter getäuscht werden
könnten, ausdrücklich zurückgenommen. Sind die Gerechten
ja doch der Gottheit ähnlich, und findet ja doch selbst bei
den Menschen auf die Dauer Gerechtigkeit und Ungerechtig-
keit ihre wahre Schätzung (612 G ff.).
Der Bericht selbst über das jenseitige Los zeigt eher
Verwandtschaft mit dem im Gorgias als mit den Vorstel-
lungen im Timäus. Auch hier haben, wie im Gorgias, die
Seelen nach dem Tode vor dem Totenrichter zu erscheinen.
Die der Gerechten werden einem aufwärts zum Himmel
führenden Wege zugewiesen, die der Ungerechten gehen
abwärts unter die Erde. Dadurch ist aber ihr Los nicht
für immer, sondern nur für ein Jahrtausend besiegelt. Nach
Ablauf desselben finden sie sich wieder an dem Orte des
Gerichts ein. Ihr verschiedenes Aussehen zeugt von dem
verschiedenen Lose, das ihnen zu teil geworden. Auch die
ärgsten Frevler, die entweder als unheilbar zur ewigen
Strafe verdammt sind oder doch noch nicht genug gebüfst
haben, versuchen, das Ausgangstor des unterirdischen Aufent-
haltsorts zu passieren. Aber das Tor brüllt, und auf dies
Zeichen hin ergreifen danebenstehende feurige Männer die
Schuldigen, fesseln sie, werfen sie zu Boden, ziehen ihnen
die Haut ab (eine geschundene Seele geht denn ja freilich
noch über den „geschundenen Raubritter" !), schleifen sie
durch Domen, peinigen sie und schleudern sie in den Tar-
taros zurück (614 C ff.).
Von der Stätte des Gerichts wandern nun die Seelen in
fünf Tagereisen zur Weltachse, um die sich (mittelst
Speichen) acht konzentrische Reifen drehen, den Fixstem-
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606 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
himmel und die sieben Planeten bewegend. Die Ge-
schwindigkeit der Umdrehung ist verschieden. Diese Welt-
achse haben wir uns offenbar senkrecht stehend zu denken.
Auf jedem Reifen sitzt eine Sirene , die einen lauten Ton
ausstöfst. Diese acht Töne bilden zusammen eine Ton-
leiter (616 B —617 B). Hier haben wir eine ' merkwürdige,
mehr phantastisch als naturwissenschaftlich gedachte Variante
der altpythagoreischen Sphärenharmonie.
An der Achse des Weltrades sitzen die Parzen. Vor
ihnen sind Bilder von tierischen und menschlichen Lebens-
weisen ausgebreitet. Lose werden über die Seelen hin-
geschleudert und von ihnen aufgefangen. Diese bestimmen
die Reihenfolge, in der die Seelen zur Auswahl der Lebens-
formen heranzutreten haben. Es sind gewissermafsen Ab-
fertigungsnummern. Die Auswahl verringert sich natürlich
mit jeder getroflfenen Wahl, und so ist in erheblichem Mafse
die Wahl durch den Zufall eingeschränkt. Doch wird ver-
sichert, dafs auch noch für den zuletzt Herantretenden eine
annehmbare Lebensweise bereitliege (619 B).
Abgesehen von dieser teilweisen Einschränkung der
Wahl durch den Zufall erfolgt dieselbe nach den aus dem
jeweiligen Seelenzustande resultierenden Neigungen. Dieser
Seelenzustand ist vornehmlich von der Führung des früheren
Erdenlebens abhängig. Selbst von den vom Himmel Ge-
kommenen wählen viele falsch, weil die Tugend ihres früheren
Erdenlebens, die ihnen den Eintritt in den Himmel ver-
schaffte, nur eine gewohnheitsmäfsige (nicht intellektuell
begründete), auf dem Leben in einem geordneten Staate be-
ruhende war, der Aufenthalt im Himmel sie aber nicht im
Leiden geübt hat. So habe ein solcher sogar eine Tyrannen-
herrschaft gewählt (619 B flF.). Der einzig richtige Gesichts-
punkt der Wahl wäre der, ob das zu führende Leben die
Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit fördert (61 8 D f.).
Die Art des Wählens wird durch zahlreiche Beispiele ver-
anschaulicht. Ein Schwan (der also wohl früher schon
Mensch war) wählt ein Menschenleben ; ähnlich auch andere
musikliebende Tiere; Aias das eines Löwen, Agamemnon
das eines Adlers, Thersites das eines AflFen, Odysseus das
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V. 7. Vertiefung der Lehre von der Seelengesundheit etc. (507
eines zurückgezogen lebenden Privatmannes (620). Hierauf
erhält jede Seele einen „Dämon" als Wächter und Voll-
strecker der getroffenen Wahl und mufs dann Lethe trinken,
um das bisher Erlebte zu vergessen. Hierauf werden alle,
blitzend wie Sternschnuppen, in verschiedenen Richtungen
der Erde und dem Orte ihrer neuen Geburt zugeführt
(620 E flf.). Gewifs hat Plato diese Phantasmagorien nur in-
soweit als wahr genommen, als er in ihnen eine tiefsinnige
Symbolik des Seelenschicksals erkannte.
Wir haben hier die höchste Entwicklungsstufe der Be-
mühungen Piatos um Moralbegründung vor uns. Nachdem
er die Dreiteilung der Seele gefunden hat, wird ihm die
Seelengesundheit zur Herrschaft der Vernunftseele über
die Triebseelen. Hierbei wird ein ganz neuer Begriff der
Gerechtigkeit eingeführt. Die Gerechtigkeit ist wie im
Staat so auch in der EinzeJseele die richtige Verteilung der
Befugnisse an die drei Gebiete und damit zugleich der Ab-
schlufs der drei übrigen Tugenden. Da sie aber daneben
auch wieder in dem herkömmlichen Sinne vorkommt, er-
hält der Begriff etwas Schillerndes und schwer zu Er-
fassendes. —
Zur Rechtfertigung des harten Urteils über die Dichter
im Urstaat (X. 1—8) werden hauptsächlich zwei Gründe
angeführt. 1. Die nachahmende Dichtkunst (Epos und
Drama) birgt in sich eine Gefahr für die Denktätigkeit der-
jenigen Hörer, die nicht im Wissen des wirklichen Wesens
der Dinge einen Schutz dagegen besitzen. Für jede Art
von Gegenständen (z. B. für ein Hausgerät) gibt es nur
eine Idee (dieser Ausdruck hier zuerst!), die von der Gott-
heit stammt (596 A, 597 B). Auf diese hinblickend ver-
fertigt der Handwerker die vielen gleichartigen Einzel-
geräte. Diese sind im Vergleich mit der Idee etwas
Minderwertiges, nicht im strengen Sinne Seiendes. Der
Nachahmer, der Dichter oder bildende Künstler, der als ein
Tausendkünstler nicht bei einem stehen bleibt, sondern alles
nachbildet, was im Himmel, auf Erden und unter der Erde
ist, steht der Wesenheit noch eine Stufe femer, indem er
nicht das Urbild, sondern nur das Abbild , die Erscheinung
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608 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
nachbildet. Verstünde er sich auf eine Sache recht, so
würde er wohl diese anfertigen, statt mit unzulänglichem
Verständnis von allem Scheinbilder zu entwerfen. Auf
keinem Gebiete menschlicher Tätigkeit wird durch diese
Scheinbilder der Kunst etwas wirklich Heilsames bewirkt.
Von dem zu Grunde liegenden Seienden versteht er nichts;
nicht einmal von den Nachbildern; sonst könnte er sie ver-
fertigen (601 B). Er folgt den Meinungen der Menge und
treibt ein blofses Spiel, eine Täuschung, in die er als Maler
den Gesichtssinn versetzt.
In diesen Ausführungen tritt uns eine Form der Ideen-
lehre entgegen, die der im Timäus noch sehr nahe steht. Die
Ideen sind hier wie dort starre, unbewegliche Urbilder, nur
dafs sie hier abweichend vom Timäus als von der Gottheit
hervorgebracht bezeichnet werden.
2. Beim Dichter aber kommt noch ein zweites Bedenken
hinzu. Er stellt fassungslose Affekte, feiges Verhalten
gegenüber dem Geschick dar, ist also dem schlechten und
unverständigen Teile der Seele zu Gefallen, der an der
Nachahmung dieser verächtlichen und weibischen Haltungs-
losigkeit seine Freude hat. Solche Mafslosigkeit wirkt dann
auf die eigene Lebensführung nachteilig zurück. Ebenso
verhält es sich beim Lächerlichen und allen sonstigen mafs-
losen Gefühlen und Begehrungen. Homer ist der erste der
Tragiker (zwischen Epos und Drama wird hier kein Unter-
schied gemacht). Plato gesteht, dafs er von Kindheit an
mit Liebe und Verehrung an diesem Dichter gehangen hat
(595 B), dafs er nach kundigem Urteil der Schöpfer der
griechischen Kultur ist. Dennoch mufs es bei dem früheren
Urteil sein Bewenden haben. Bei dem aus dem Staate
hinauskomplimentierten Dichter schwebte wohl Homer vor.
Darum heifst es jetzt, es sei nicht statthaft, ihn „wieder
aufzunehmen" und nach ihm, statt nach der Vernunft, sein
Leben einzurichten. Es mufs sein Bewenden dabei haben,
dafs im Musterstaat nur Hymnen auf die Götter (natürlich
nach den gereinigten Göttervorstellungen!) und Lobgesänge
auf tüchtige Männer am Platze sind (606 E f.).
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V. 8. VertiefuDg der Erlösungslehre des Timäus etc. (j09
8. Veptlefüngr der Brlösunge lehre des Timftus.
Der „Phädrus" (392/1).
Die Bemühungen um Moralbegründung nehmen ihren
Ausgangspunkt vom Interesse am Gedeihen der Gesellschaft.
Der dem Handelnden selbst vorgehaltene Gewinn für sein
inneres Leben und für sein jenseitiges Schicksal ist nur die
Triebfeder, ihn zu gesellschafterhaltendem Tun anzufeuern.
So im Gorgias, so aufs neue wieder im umgearbeiteten
„Staate". Im Timäus aber war zuerst der pythagoreische
Erlösungsgedanke bei Plato zum Ausdruck gelangt. Bei
diesem tritt das persönliche Interesse an die erste Stelle.
Die Erlösung ist eine rein persönliche Angelegenheit. Die
Rückwendung zu ihr in vertiefter Gestalt tritt uns im
„Phftdrus" entgegen.
Die Abfassungszeit des „Phädrus" ist durch ein äufseres
Merkmal in etwa bestimmt. Am Schlüsse (278 E f.) wird in
wohlwollender und hoffnungsreicher Weise des Redners Iso-
k rat es (geb. 436) gedacht. Diese Worte verbieten, den
Phädrus später als die um 391 verfafste „Sophistenrede" des
Isokrates anzusetzen, in der dieser in scharfer Weise der
eigentlichen Philosophie als Bildungsmittel der Jugend eine
Absage erteilte. Nach der Sophistenrede konnte Plato so
nicht mehr über Isokrates reden, wie er hier tut. Es kam
durch sie zum Bruche zwischen Plato und seinem Anhange
und Isokrates.
Das für uns Bedeutsame im Phädrus tritt in der Schrift
selbst nur als Episode auf. Das beherrschende Interesse der
Schrift ist das Suchen nach der idealen Redekunst. Diese
Untersuchungen umgeben als Rahmen jene Episode.
Hieraus ergibt sich folgender, in zwei Hauptteilen ver-
laufender Gedankengang. Im ersten Hauptteile wird zu-
nächst eine angebliche Rede des Lysias mitgeteilt, die
ganz auf der Stufe der herkömmlichen Handwerksmäfsigkeit
der Redekunst steht. Im Gegensatz dazu extemporiert So-
krates eine Rede über den gleichen Gegenstand und in dem-
selben Sinne, die aber eine höhere Kunstform der Rede
zeigt. Dann aber behandelt er nochmals den gleichen Gegen-
Döring. I. 39
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610 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
Stand in einer auch inhaltlich vertieften und veredelten
Richtung, und hier treffen wir eben auf die Gedanken, die
das Hauptinteresse dieser Schrift bilden.
Im zwei ten Hauptteile werden dann an der Hand dieser
drei Probestücke die Anforderungen an den idealen Redner
entwickelt. Diese laufen im Grunde darauf hinaus, dafs nur
das in lebendiger Wechselwirkung verlaufende Lehrgespräch
als wahrhaft fruchtbare Form der Einwirkung durch die Rede
gelten kann (276, 277 D f.).
Der Übergang zu den neuen Grundanschauungen im
ersten Hauptteile geht nun näher folgendermafsen vor sich.
Die Rede des Lysias hatte zum Gegenstande die Über-
redung eines schönen Knaben, dafs es für ihn vorteilhafter
sei, die sinnlichen Gunstbezeugungen der sogenannten grie-
chischen Liebe (des Eros) nicht einem leidenschaftlich
erregten Verehrer, sondern einem verständigen Freunde zu
gewähren. Die Gründe dafür werden in platter, äufser-
licher Weise aneinandergereiht. Die erste Gegenrede des
Sokrates begründet denselben Satz dadurch, dafs die leiden-
schaftliche Liebe etwas Krankhaftes, ein Art Wahnsinn und
also auch für denjenigen schädlich sei, der ihren Gegenstand
bilde.
Sokrates empfindet aber dann die ganze Richtung dieser
Beweisführung als eine Verkehrtheit und ein Unrecht gegen
den Gott Eros. Er geht daher in einer zweiten Gegenrede
zur Verherrlichung der Liebesleidenschaft über. Diese ist
freilich ein Wahnsinn, aber sie gehört zu denjenigen Formen
des Wahnsinns, die heilsam und segenstiftend sind, wie der
des Sehers, des im Geheimdienst des Dionysos Schwärmen-
den, des Dichters. Ja, der Liebeswahnsinn dient geradezu
und in einer durch nichts zu ersetzenden Weise der Er-
reichung des wahren Lebensziels; er ist das
eigentliche Hilfsmittel zur Erlösung aus der
Leiblichkeit.
Die Seele ist als ein sich selbst Bewegendes unsterblich.
Das sich selbst Bewegende ist aber auch zugleich die einzig
mögliche Quelle der Bewegung für alles andere Bewegte.
Denn das durch anderes Bewegte verfällt, wenn der An-
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V. 8. Vertiefung der Erlösungslehre des Timäus etc. 61 1
stoft aufgebraucht ist, wieder in Ruhe (der epochemachende
Gedanke des Beharrungsgesetzes war den Alten unbekannt!).
Deshalb kann die Seelenbewegung auch nicht wieder von
etwas anderem abgeleitet werden; sie mufs anfangslos sein.
Dies der Unsterblichkeitsbeweis des „Phädrus**, verschieden
von dem im 10. Buche des Staates versuchten, an Alkmäon
erinnernd. Nach ihm kann es überhaupt keine andere letzte
Quelle der Bewegung in der Welt geben als von seelischer
Natur, ein Gedanke von ungeheuer Tragweite. Noch im
Timäus war die Seele nicht anfangslos.
Die genauere Beschaffenheit der Seele wird Kürze
halber durch ein Bild bezeichnet. Sie gleicht einem Gespann
mit geflügelten Rossen und einem Wagenlenker. Auch bei
den Göttern ist es so, doch sind bei diesen Rosse und Lenker
von gleichartiger guter Beschaffenheit. Wir stellen uns die
Götter — ob mit Recht oder Unrecht mufs dahingestellt
bleiben — als mit einem Körper versehen vor, aber dieser
ist unsterblich (246 C D). Bei den menschlichen Seelen
bilden die Rosse ein Zweigespann von entgegengesetzter
Beschaffenheit. Das eine Rofs ist dem Wagenlenker
gleichartig und gehorsam, das andere ist anders geartet und
widerstrebend. Auch als Ganzes sind die Seelen gefiedert
(251 B). Solange Gefieder und Flügel in Ordnung sind,
schweben sie in der Gefolgschaft der Götter körperlos
im All. Erst nach Verlust der Fittiche sinken sie in einen
erdigen Leib hinab (246 B ff.). Dafs unter dem Bilde des
Gespannes die drei Seelenteile eingeführt werden, ist leicht
ersichtlich. Es ist jedoch bemerkenswert, dafs hier im
Gegensatze gegen den Timäus die Dreiteilung schon dem
vorleiblichen Zustande angehört, also auch die beiden niederen
Seelenteile unsterblich sind. Auch ist es inkonsequent, dafs
den Göttern, wenn auch nur vermutungsweise. Leiblichkeit
beigelegt wird. Vielleicht wollte Plato nicht gar zu sehr
gegen die Volksvorstellung verstofsen.
Der Sturz in die Körperlichkeit geschieht folgender-
mafsen. Die Nahrung des besten Teils der Seele, durch die
auch die Flügel erhalten werden (246 E , 247 D, 247 B f.),
besteht in der Anschauung einer herrlichen Welt färb-,
39*
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612 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc-
gestalt- und körperloser Wesenheiten, die das eigent-
liche Sein bilden und sich aufserhalb oder oberhalb des
Himmelsgewölbes befinden. (Im Timäus waren die Ur-
bilder überhaupt nicht im Räume.) Diese Anschauung, die
nur dem Wagenlenker, d. h. der Vernunft, möglich ist,
bildet zugleich das wahre Wissen (247 C). Hier zeigt sich,
dafs auch der auf die Ideen bezügliche Teil bildlich ein-
gekleidet ist: die Anschauung ist eine denkende Er-
fassung.
Von dieser Anschauung nähren sich die Götterseelen
und alle anderen, solange sie ihnen zu teil wird ; sie ist die
eigentliche Lebensbedingung der Seele.
Genannt werden von den Ideen die Gerechtigkeit, die
Besonnenheit (Sophrosyne), das wahre, nicht auf das Werdende
und Veränderliche gerichtete Wissen. Die übrigen werden
in dem Ausdruck „das andere Seiende** zusammengefafst
(247 E). Eine andere Bezeichnung ist „das göttliche Schöne,
Weise, Gute und alles Ähnliche" (246 E).
Zu diesem Seelenmahle nun begeben sich die Seelen
aufserhalb des die Welt umschliefsenden Himmelsgewölbes,
also aufserhalb der Welt, um dann an der steileif Aufsen-
seite des Gewölbes zum „Rücken des Himmels" empor-
zufahren, bis sie jenen überhimmlischen Ort der Ideen in
Sicht bekommen. Dabei führt sie der Umschwung des
Himmels mit herum, so dafs sie den Anblick von allen
Seiten geniefsen (247 B f.). Die Gespanne der Götter führen
diesen Anstieg mit Leichtigkeit aus, den übrigen Seelen
aber bereitet das linke Rofs, das sich störrisch der Auffahrt
widersetzt, Schwierigkeiten. Einigen gelingt es, während
einer ganzen Umdrehung des Himmels das Haupt des Wagen-
lenkers in der Höhe des Anblicks zu erhalten. Andere be-
haupten sich nur während eines Teils des Umschwunges auf
dieser Höhe, gleiten auch zeitweise zurück, so dafs sie nur
einen Teil des Anblicks geniefsen. Den übrigen gelingt
infolge der Unzulänglichkeit des Wagenlenkers
selbst dies nicht; es entsteht ein Gedränge, in dem die
Seelen verletzt und die Flügel geknickt werden. Sie kehren
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V. 8. Vertiefung der Erlösungslehre des Timäus etc. 613
zurück, ohne die Anschauung des Seienden erlangt zu haben,
und nähren sich nun vom Meinen (248).
Solange die Seelen bei diesen stetig sich wiederholenden
Auffahrten auch nur einen Teil des Seienden erblicken,
bleiben sie im körperlosen Zustande. Sobald aber einmal
eine Seele gar nicht zum Anblick gelangt und überdies im
Gedränge zu Schaden gekommen ist, sinkt sie, der Flügel
beraubt, zur Erde hinab und wird in einen Leib eingeschlossen,
{248 C f.) , und zwar , da sie der Voraussetzung nach doch
bei früheren Auffahrten etwas geschaut hat, in einem
menschlichen Leib. Wie Plato dies Geschick der Ver-
leiblich ung ansieht, zeigen folgende Worte: „Wir waren
rein" (also der Körper eine Befleckung!) „und nicht ge-
kennzeichnet durch das, was wir Körper nennen und jetzt
mit uns herumtragen, gefesselt wie die Auster in ihrer
Schale." (250 C.)
Je nach dem Mafse des bei den früheren Auffahrten
Gesehenen gestaltet sich das menschliche Los in neun Ab-
stufungen: 1. der Philosoph und Freund des Schönen, der
Musenkunst und dem Eros ergeben; 2. der zur Herrschaft
oder Kriegführung tüchtige gesetzliche Herrscher; 3. der
zur Leitung des Hauswesens oder zu Staatsgeschäften Tüch-
tige; 4. der Gymnastiker oder Heilkünstler (beide dem
Körper dienend!); 5. der Seher oder Priester der Geheim-
dienste; 6. der Dichter oder Künstler; 7. der Handwerker
oder Landwirt; 8. der Sophist oder Demagoge; 9. der
Tyrann.
Es verbindet sich also hier die mystische Lehre vom
körperfreien Vorleben der Seele (im Unterschied vom Timäus
tritt hier die Einschliefsung in den Körper als Folge einer
Verfehlung durch Schwäche der denkenden Seele ein) mit
dem neuen spezifisch platonischen Gedanken, dafs nur durch
die Anschauung der Ideen die Seelen sich in diesem körper-
freien Zustande behaupten können. Das Aufhören der
intellektuellen Anschauung bedingt das Eintreten der Ver-
leiblichung, und auch die Stufen des irdischen Loses sind
von dem Mafse der gewonnenen Eindrücke abhängig. Die
Jetzte das Schicksal der Seele vorausbestimmende Ur-
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614 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc
Sache ist offenbar die ursprüngliche Kräftigkeit der Ver-
nunftseele.
Die Folgen dieses Falles sind sehr nachhaltige. Erst
wenn der Seele die Flügel wieder gewachsen (d. h. wenn
der Zug zum Ewigen wieder ihre beherrschende Richtung
geworden), kann sie in das leiblose Dasein zurückkehren
(249 B). Dazu reicht aber eine einmalige gute Lebens-
führung nicht aus. Auch fällt, wie im zehnten Buche des
Staates, in ein Jahrtausend nur eine einzige Verleiblichung;
den Rest des Jahrtausends verbringen die Seelen an dem
ihrer Beschaffenheit entsprechenden jenseitigen Orte. An
der summarischen Kürze, mit der hier die im Staat ge-
schilderten Vorgänge, das Gericht, die jenseitigen Zustände
und der Wiedereintritt ins leibliche Leben nach tausend
Jahren, nur berührt werden (248 E flF.), ist ersichtlich, dafs
die Schilderung im Staat als bekannt vorausgesetzt wird.
In einem Falle, bei der Erwähnung der neuen Lebenswahl
(249 B), ist diese Kürze so grofs, dafs ohne die Schilderung
im Staat die Worte geradezu unverständlich sind. Die Seelen
kommen „zum Losen und zur Wahl", heifst es da, ohne dafs
über die Bedeutung dieser beiden so total verschiedenen
Vorgänge für den Ausfall auch nur die geringste weitere
Andeutung gemacht würde. Es ist deutlich, dafs hier die
erste Umarbeitung des „Staats" direkt vorausgesetzt wird.
Diesmal, beim Eintritt in das zweite Leben, kann (aus den
im Staat des näheren dargelegten Ursachen) eine Seele
auch in einen Tierleib gelangen. Im allgemeinen bedarf es
zur Herstellung der Flügel eines Zeitraums von zehn Jahr-
tausenden, also einer zehnfachen Einkörperung, was sich
freilich mit der grofsen Verschiedenheit der Seelen und dem
teilweisen Hinabsinken in den Tierzustand schlecht zusammen-
reimen läfst. Nur diejenigen, die dreimal ohne Falsch ein
philosophisches und dem Eros huldigendes Leben geführt
haben, können nach drei Jahrtausenden zur Gemeinschaft
der Götter zurückkehren (249 A).
Abweichend vom Timäus werden hier auch von Haus
aus und ursprünglich tierische Seelen vorausgesetzt. Diesen
ist der Aufstieg ins Menschliche unmöglich. Denn eine
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V. 8. Vertiefung der Erlösungslehre des Timäus etc. 615
Seele, die niemals jene ewigen Gestalten geschaut hat, kann
niemals in einen Menschenleib gelangen. Denn die dem
Menschen eigene Zusammenfassung vieler Sinneswahrneh-
mungen zur Einheit (der Allgemeinvorstellungen oder Be-
griffe) durch die Vernunft kann nur vermittelst der Er-
innerung an die dereinstige Ideenschau von statten gehen
(249 B f.).
Diese Ausführung ist in mehrfacher Beziehung be-
merkenswert. Zunächst ist hier der grundlegende Unter-
schied zwischen der menschlichen und tierischen Intelligenz
treffend bezeichnet: dort die in den Wörtern der Sprache
zum Ausdruck gelangende Fähigkeit zu Allgemeinvorstel-
lungen auch über das sinnlich Anschauliche hinaus, hier das
Kleben an der sinnlichen Anschauung.
Ferner erkennen wir hier deutlich die Abstammung der
platonischen Ideen von den sokratischen BegriflFen als deren
jenseitige Vergegenständlichung. Endlich zeigt sich hier
die bereits im Menon vorgekommene Lehre von der Wieder-
erinnerung als der Bedingung für die Möglichkeit des Wissens
und Erkennens in einer neuen, veränderten Form. Doi>t
bezog sich das vorirdische Erkennen als eine Summe von
Einzelerfahrungen auf alle möglichen Dinge im Himmel und
auf Erden. Auch im Timäus wurde den Seelen vor der Ein-
körperung auf ihrem Fixstern durch den Umschwung des
Himmelsgewölbes wenigstens von den Bewegungen der
Himmelskörper, dem Vorbilde der Denkbewegung, eine An-
schauung gewährt. Hier bezieht sich die vorirdische An-
schauung als rein intellektuelle auf die ewigen Urbilder
alles Sinnenfälligen selbst, und die Wiedererinnerung hat
nur die Bedeutung eines mitwirkenden Faktors beim irdi-
schen Erkennen. Auf ihr beruht die angeborene Möglich-
keit der begrifflichen Zusammenfassung der Sinneseindrücke.
Die Ideenschau ist die Vorbedingung für die Fähigkeit zur
begrifflichen Zusammenfassung.
Dies alles aber ist nur Vorbereitung auf den eigent-
lichen Zweck dieser zweiten Sokratesrede. Nur einige Hin-
deutungen auf die erlösende Kraft des „Eros" waren im
Bisherigen gefallen. Jetzt nun (249 D) wendet sich die
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616 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc'.
Rede wieder dem Preise des Eros zu. Die Erneuerung der
Flügel kann nur erfolgen, wenn an den irdischen Abbildern
der Ideen die Erinnerung an das einst Geschaute erwacht.
Die irdischen Abbilder jedoch der Gerechtigkeit, der Be-
sonnenheit und der übrigen ewigen Wesenheiten sind trübe
und ohne Glanz. Auch sind die Sinne wenig geeignete Werk-
zeuge für die Wahrnehmung dieser Urbilder in ihren Ab-
bildern. Dagegen hatte die Schönheit schon als Urbild
einen ganz besonderen Glanz, und ihre sinnlichen Abbilder
sind, wenngleich eine eigentliche Erkenntnis des zu Grunde
liegenden Wesenhaften durch die Sinne nicht möglich ist —
eine solche würde bei der Schönheit wie bei den übrigen
Ideen die Liebe aufs äufserste steigern — , gerade dem
schärfsten Sinne, dem Gesichtssinn, unmittelbar zugänglich.
Hier nun zeigt sich ein auffälliger Gedankensprung, eine
willkürliche Einschränkung des zu erwartenden Gedankens.
Bei der Schönheit schwebt nicht das ganze weite und mannig-
faltige Gebiet des Schönen vor, sondern lediglicli die Schön-
heit des jugendlichen männlichen Körpers. Der „Eros",
der soeben noch Miene gemacht hatte, sich als Sinn und
Trieb zur begrifflichen Erkenntnis herauszustellen, kehrt zu
seinem ursprünglichen, recht anstöfsigen Ausgangspunkte
zurück.
Wenn, so fährt Plato fort, beim Anblick des „Schönen"
der seelische Zustand nicht ein derartiger ist, um sofort
auf die Schönheit an sich hingelenkt zu werden, so ent-
steht jener zuerst erwähnte krankhafte Liebeswahnsinn ; die
Anschauung des Abbildes erregt keine heilige Scheu. Die
Begierde treibt dazu, sich wie ein vierfüfsiges Tier zu ge-
bärden und in frevelhaftem, widernatürlichem Umgang den
Zeugungstrieb zu befriedigen (250 E). Bei wem aber das
einst Geschaute nachwirkt, der schaudert beim Anblick eines
götterähnlichen Antlitzes oder eines wahrhaft schönen
Körpers zusammen wie vor einer Gottheit. Er möchte dem
Geliebten wie einem Gotte oder Götterbilde opfern. Dies
ist aber der seelische Zustand, durch den das neue Wachs-
tum des seelischen Gefieders herbeigeführt wird. Die durch
das Auge aufgenommene Ausströmung der Schönheit erweicht
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V. 8. Vertiefung der Erlösungslehre des Timäus etc. 617
den Keimboden des Gefieders und der Flügel und beseitigt
das Hindernis des Hervorsprossens. Es fängt in der Seele
an, zu treiben und zu wachsen; es entsteht ein Schmerz wie
beim Zahnen. Solange die Anschauung des Geliebten währt,
wird dieser Schmerz von Wonne überwogen; in der Ab-
wesenheit des Geliebten aber verhärtet sich der Boden wieder,
und das sprossende Gefieder verursacht einen stechenden
Schmerz. Ruhelos bei Tag und Nacht, ist die Seele einzig
von der Sehnsucht nach dem Anblick des Schönen erfüllt.
Der so Ergriffene vergifst Eltern, Verwandte und Freunde,
vernachlässigt sein Vermögen, kümmert sich nicht um Sitte
und Herkommen, um nur dem Geliebten, als dem alleinigen
Arzte seiner Leiden, nahe zu sein und zu Füfsen zu liegen.
Das den einzelnen fesselnde Schönheitsideal richtet sich nach
dem Gotte, dessen Gefolgschaft er bei jener vorirdischen
Auffahrt angehört hat : Zeus, Ares u. s. w. (252 f.).
Bei diesen Vorgängen tritt nun aber auch das böse Rofs,
die Begierde, wieder in Aktion. Es drängt zum Streben
nach sinnlicher Vereinigung. Es entsteht ein erbitterter
Kampf zwischen den entgegenstrebenden Mächten der Seele
<254 C ff.), bis das schlechte Rofs, oft niedergerissen und ge-
bändigt, schon beim Anblick des schönen Knaben in Angst
gerät. Dieser wird nun durch die Werbungen des Lieben-
den allmählich dahin gebracht, die Annäherungen desselben
bis zur körperlichen Berührung, zur Liebkosung und zum
Beisammenliegen zuzulassen (255). Dabei kehrt dann die
von ihm ausgegangene Ausströmung durch sein Auge auf
ihn selbst zurück und erzeugt auch in seiner Seele die-
selben Wirkungen wie in der des Liebhabers. Er sieht im
Liebhaber sich selbst wie in einem Spiegel. Auch in ihm
entsteht Liebe zu der in ihm selbst verkörperten Idee der
Schönheit, die auch bei ihm die gleiche, die Erlösung för-
dernde Wirkung hat. Auch bei ihm stellt sich aus der
gleichen Ursache das gleiche ungestüme Sehnen nach dem
Beisammensein ein. Nun erhält die sinnliche Begierde an
der Willfährigkeit des Geliebten eine neue gefährliche Hand-
habe. Siegt die Vernunft, so führen beide auf Erden ein
seliges Leben in Enthaltsamkeit und Sittsamkeit; nach dem
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618 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Tode aber sind sie befiedert und haben einen der drei zur
Erlösung erforderlichen Lebensläufe zu siegreichem Ende ge-
führt (256 B). Manchmal jedoch gewinnt auch bei dem
idealen Eros in unbewachten Momenten das böse ßofs auf
beiden Seiten die Oberhand. Wenn sie aber nur selten und
unter dem Widerstreben des besseren Teils der Seele der
Sinnenlust frönen, so treten ihre Seelen im Tode zwar un-
befiedert, aber doch mit dem Triebe nach Befiederung aus
dem Körper und werden nicht den dunklen Wohnstätten
unter der Erde, sondern den himmlischen Regionen zugeführt
(256 C flf.), woran sich dann natürlich die weiteren Phasen
des Seelenschicksals, wie früher beschrieben, anschliefsen.
Hiermit ist denn öowohl die Rede des Lysias als die
erste des Sokrates widerrufen und dem Eros eine Sühne
zu teil geworden. Dem nüchtern-verständigen Pfleger des
Sinnengenusses bei Lysias wird schliefslich wegen der Niedrig-
keit der Gesinnung eine 9000jährige Bufse im Jenseits zu-
dekretiert (256 E).
Wir erkennen in dieser dichterisch eingekleideten Speku-
lation, wie sich die Ideenlehre in die mystische Erlösungs-
lehre eingefügt hat. Das unumgängliche Hilfsmittel zur
Erhaltung des körperfreien Lebens ist die Ideenschau, und
auch, nachdem die Einkörperung stattgefunden hat, ist die
Erhebung zur Ideß des Schönen das Hilfsmittel der Er-
lösung. Die Seelengesundheit hat die ihr früher beigelegte
Bedeutung für das Los im Jenseits an die Ideenschau ab-
getreten.
Dafs aber das Schöne gerade in der Schönheit des jugend-
lichen männlichen Körpers gefunden wird, scheint doch zu
beweisen, dafs hier noch ein drittes Moment sich einmischt.
Eine ganze Anzahl der dem Phädrus vorangehenden oder
kurz nachfolgenden Dialoge, der Lysis, der Charmides, der
Euthydemos sind voll von Zügen des Interesses, das Plato
der päderastischen Leidenschaft entgegenbrachte. Was bei
Sokrates nach Xenophons Zeugnis (Mem. IV. 1) eine scherz-
hafte Einkleidung für sein Interesse an der Gewinnung
höher begabter Träger seines Reformwerks war, scheint bei
Plato bitterer Ernst und eine wirkliche Leidenschaft ge-
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V. 9. Die Lehrtätigkeit in der Akademie bis zur zweit, siz. Reise. 619
wesen zu sein. Diese nimmt bei ihm eine ästhetische, ja,
eine metaphysische Einkleidung an. Er wird, wie schon
früher zum Romantiker, so jetzt zum Metaphysiker der
Päderastie. Diese erhält für die wichtigsten Begebenheiten
in der mystischen Welt des Jenseits ausschlaggebende Be-
deutung. Dennoch kann diese ins Ideale emporgeschraubte
Leidenschaft ihren sinnlichen Ausgangspunkt nicht ver-
leugnen. Insbesondere die grofse Milde , mit der das ge-
legentliche Hinabsinken ins Sinnliche beurteilt wird, läfst
tief blicken. Sie erinnert an das Wort im Faust: „Du über-
sinnlicher, sinnlicher Freier!" Aber auch in der von Plato
gepriesenen höheren Form mufs diese Leidenschaft alle Un-
befangenheit und Natürlichkeit im Verkehr der verschie-
denen Altersstufen des männlichen Geschlechts vernichten.
Der zur Zeit etwa 36 jährige Plato läfst uns hier einen tiefen
Blick in seine Seele tun; er schreibt, ohne es zu ahnen,
Selbstbekenntnisse. Die Rolle, die hier neben der mit der
Jenseitslehre verbundenen Ideenlehre der „Eros" spielt, ent-
hüllt uns ein Stück aus der Herzensgeschichte des Philo-
sophen.
9. Die Lehrtätlgrkelt in der Akademie bis zur
zweiten Blzllischen Reise (ea. 390—367).
Gegen 390 oder vielleicht etwas später begann Plato
eine regelmäfsige Lehrtätigkeit. Zum Schauplatz derselben
wählte er anfangs, wie Antisthenes, eine öffentliche An-
stalt für Leibesübungen, die mit dem Heiligtum eines sonst
unbekannten Heros Akademos verbunden war und daher
Akademie genannt wurde. Es war ein parkartiger, mit
Bäumen bestandener Platz, mutmafslich auch mit bedeckten
Hallen versehen, eine kleine halbe Stunde nordwestlich der
Stadt beim Kolonoshügel gelegen, mit schönem Blick auf
die Stadt mit der Akropolis und dem Lykabettoshügel. Es
bezeichnet einen charakteristischen Gegensatz gegen Sokrates,
dafs sich Plato mit seiner Lehrtätigkeit aus der Unruhe der
Stadt in die ländliche Stille zurückzog. Der Name Akademie
ging dann auf seine Schule über, und so ist es gekommen,
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620 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
dafs aus dem Namen dieses obskuren Heros die Bezeichnung
für eine ganz andersartige Sache hervorgegangen ist, die
dann in der Folge als Allgemeinname für wissenschaftliche
Anstalten der verschiedensten höheren und niederen Art
sich in allen Kultursprachen eingebürgert hat. Später ver-
legte Plato* den Schauplatz seiner Lehrtätigkeit in einen der
eigentlichen Akademie benachbarten, von ihm angekauften
Garten, in dem er auch beerdigt worden ist (D. L. IIL 5,
7, 41). Dieses Grundstück blieb auch in der Folge im Besitz
der Schule und war bis zu deren Aufhebung 529 nach Chr.,
also über neun Jahrhunderte lang, der Sitz derselben. Heute
hat sich über dem Boden keine Spur mehr von dieser denk-
würdigen Kulturstätte erhalten. Nachgrabungen scheinen
daselbst noch nicht stattgefunden zu haben.
Die Lehrtätigkeit Piatos an dieser Stätte scheint bis
zur zweiten sizilischen Reise (367), also während eines Zeit-
raums von über 20 Jahren, keine erhebliche Unterbrechung
erlitten zu haben. Über die Formen, in denen sie sich voll-
zog, ist nichts überliefert, doch wird er, nach seinen Schriften
zu schliefsen, auch im mündlichen Verkehr überwiegend die
Form des Lehrgesprächs angewandt haben.
Eine Anzahl seiner bedeutendsten Schriften gehört diesem
Zeitraum an. Die Art, wie er sich imEuthydemos und So-
phistes mit abweichenden Geistesrichtungen polemisch aus-
einandersetzt, macht es sehr wahrscheinlich, dafs diese beiden
Schriften der Anfangszeit seiner Schulgründung angehören.
Der Sophistes bietet, aufser der Polemik gegen die Sophisten,
in der Auseinandersetzung mit Euklid zugleich eine wichtige
Weiterentwicklung der Ideenlehre. An ihn schliefst sich,
wie äufsere Merkmale zeigen, der „Staatsmann" an.
Eine sehr eigenartige Phase im Denken Piatos stellt das
„Gast mahl" dar, das nach einer darin vorkommenden An-
spielung auf eine zeitgenössische Begebenheit im Jahre 385
oder kurz nachher verfafst ist. Das platonische Denken in
seiner am meisten charakteristischen Ausprägung, auf seinem
klassischen Höhepunkte, stellt der „Phädon** dar, der
mutmafslich dem Dezennium von 380—370 angehört. Schon
in deutlichem Zusammenhang endlich mit den Ereignissen
Digiti
zedby Google
Y. 10. Auseinandersetzung mit abweichenden Standpunkten etc. 621
des Jahres 367, die zur zweiten sizilischen Reise führten,
steht die zweite Umarbeitung des „Staates".
lO. Auselnandersetzungr mit abweichenden Stand-
punkten. Der „Euthydemos" und „Sophlstes". (Um
und bald nach 390.)
Die beiden hier in Betracht kommenden Schriften sind
schon bei der Schilderung der ausgearteten Sophistik, gegen
die sie sich zunächst wenden, als Quelle benutzt worden.
Der Sophistes mufste aufserdem auch zur Kennzeichnung
des Standpunktes Euklids herangezogen werden. Nach ihrer
Bedeutung für die Entwicklung des platonischen Denkens
können sie erst an dieser Stelle gewürdigt werden.
1. Der „Euthydemos". Der eigentliche und letzte
Zweck dieses Dialogs enthüllt sich erst durch Berücksich-
tigung einer Stelle, die sich erst gegen Ende desselben
findet. Hier (304 D) wird ein Mann erwähnt, der sich sehr
weise dünkt und für Ausarbeitung von Gerichtsreden für
andere einen besonderen Ruf hat (305 B C). Dieser hat
über Euthydemos und Dionysodor das Urteil abgegeben, dafs
sie zu den bedeutendsten Vertretern der zeitgenössischen
Philosophie gehörten, dabei aber leere Schwätzer seien, die
auf nichtsnutzige Dinge einen unnützen Eifer verwenden
(304 E f.). Er schliefst daraus, dafs die Philosophie über-
haupt ein wertloses Ding sei und insbesondere in der Jugend-
bildung nur eine untergeordnete Rolle spielen dürfe und im
übrigen durch Politik und Rhetorik ersetzt werden müfste
(305 B ff.). Demgegenüber lautet das Urteil Piatos, die
Vertreter solcher Ansichten seien Leute zwar von ver-
ständigem Sinn, aber doch nur dritten Ranges, während
sie selbst für sich den ersten in Anspruch nehmen möchten
(306 C).
Dieser Mann ist niemand anderes als Isokrates. Der-
selbe hatte in seiner Sophistenrede um 391 sich in ähnlicher
Weise geäufsert. Gegen diese ist der „Euthydemos" als
Verteidigung der wahren Philosophie gerichtet. Be-
hufs dieser Verteidigung wird das Verfahren der beiden,
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622 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
angeblich so bedeutenden Sophisten auf die tiefste Stufe
des Läppischen und Abgeschmackten hinabgerückt und ihm
in dem des Sokrates die wirkliche Philosophie in wirk-
samstem Kontraste gegenübergestellt. Beide Teile geben
eine Probe des protreptischen, d. h. zur Beschäf-
tigung mit der Philosophie überleitenden Ver-
fahrens. Bei jenen besteht dies in den früher geschil-
derten, das jugendliche Denkvermögen verwirrenden Possen.
Die Probe des Sokrates zeigt zum ersten Male die epoche-
machende Wendung des platonischen Denkens, durch die er
eben die bedeutsamste Übergangserscheinung zur folgenden
Periode, zur Erfassung des eigentlichen Wesens der Philo-
sophie, geworden ist. Hier wird der Ausgangspunkt schon
ganz von der Glückseligkeitsfrage, von der Frage nach den
Lebenswerten des Einzelmenschen genommen. Die hierher
gehörigen Reden des Sokrates sind der erste Versuch einer
wirklichen Anregung und Anwerbung zur eigentlichen Philo-
sophie, die Ursprungsstätte der Protreptik im eigent-
lichen Sinne. Dem geschichtlichen Sokrates wird nach-
gerühmt (Xen. Mem. L 4, 1), dafs er sich meisterhaft auf
die Anregung und Anlockung zur Tugend verstanden
habe. Hier hat sich das Verhältnis umgekehrt. Es handelt
sich um die Anlockung zum Nachdenken über das eigent-
liche Wesen der Glückseligkeit.
Aber es wiederholt sich bei dieser neuen Wendung des
Denkens dieselbe Erscheinung, die bei Piatos Hinwendung zur
Moralbegründung hervortrat. Das Denken bewegt sich auf
den neuen Bahnen noch unsicher und tastend und läuft
schliefslich in eine noch ungelöst bleibende Schwierigkeit
aus. So wenig wie dort darf wohl auch hier das Gedränge,
in das Sokrates schliefslich kommt, als ein blofs erkünsteltes
angesehen werden.
Jeder wünscht, dafs es ihm wohl gehe. Alle Güter
aber, Reichtum, Gesundheit, Schönheit, Adel, Macht und
Ehre, ja, auch Besonnenheit , Gerechtigkeit und Tapferkeit
können zum Glück nicht durch ihren blofsen Besitz führen.
Man mufs sie auch recht zu gebrauchen wissen. Diese
Fähigkeit verleiht die Einsicht und Weisheit. Ohne sie
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V. 10. Auseinandersetzang mit abweichenden Standpunkten etc. 623
sind jene anderen Güter nur gleichgültige Mitteldinge, ja,
unter Umständen eher Übel als Güter. Die Weisheit ist
also, vorausgesetzt, dafs sie lehrbar ist, mit allen Mitteln
zu erstreben, wenn man glücklich werden will. Sie ist aber
lehrbar (278 E flF.). Hier hat es nun den Anschein, als ob
die Weisheit und Einsicht es nur mit dem richtigen
Gebrauche der übrigen Güter zu tun habe. Im weiteren
Verlaufe aber verwandelt sie sich eben durch die hier noch
hervortretende Unsicherheit des Denkens in das doppelte
Vermögen, einesteils die Güter hervorzubringen, andemteils
sie richtig zu gebrauchen. Sie mufs diese beiden Vermögen
in einem vereinigt in sich schliefsen (288 D flF.). Diese
Wendung des Gedankens nun wird zu einem wohlberechneten
Stich gegen den „ Reden verfertiger** benutzt. Die Kunst des
Redenschreibens kann die gesuchte Weisheit nicht sein.
Denn der die Reden macht, weifs sie nicht zu gebrauchen
(Isokrates soll unvermögend zum öffentlichen Auftreten ge-
wesen sein), und der sie vorträgt, also gebraucht, weifs sie
nicht zu machen. Beide verhalten sich zueinander wie der
Verfertiger musikalischer Instrumente zum ausübenden
Musiker. Und doch ist die Kunst des Redenschreibens, fügt
Sokrates ironisch hinzu, eine so gewaltige, eine Art Be-
schwörungskunst, nur nicht für Bestien, sondern für Ge-
richtshöfe und Volksversammlungen (289 C ff.). Mit der
wirklichen Lösung des Problems aber läfst Plato seinen So-
krates wirklich und ernstlich ins Gedränge kommen, und
wenn er in dieser Not in offenbar spöttischer Absicht die
Hilfe der beiden Sophisten anruft, worauf die dann wieder
mit ihren absurden Possen einsetzen (292 f.) , so folgt
daraus noch nicht, dafs die Verlegenheit selbst nur eine
erkünstelte ist.
Das wahre Endziel des Dialogs kommt in den Schlufs-
worten zum vollen Ausdruck. Wie bei allen Bestrebungen
gibt es auch bei der Philosophie Pfuscher in grofser Zahl.
Will man aber ein Urteil über ihren Wert gewinnen, so
mufs man nicht nach den Personen urteilen, die sich für
ihre Vertreter ausgeben, sondern die Sache selbst ins Auge
•fassen und dann entweder verwerfen oder sich ihr mit
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624 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
vollem Eifer hingeben (307). Hier tritt die Verteidigung
des eigenen Lebenswerkes gegen Isokrates in ihr volles
Licht.
2. Der Sophistes. Auch hier zittert im scharfen
Angriff gegen die entartete Sophistik noch der durch Iso-
krates wachgerufene Kampf nach. Doch ist hier noch
weniger als im Euthydemos dieser AngriflF das Letzte. Dafs
es sich hier um eine Auseinandersetzung mit Euklid
handelt, ist schon dadurch angedeutet, dafs der Dialog
äufserlich an den Theätet anknüpft. Dort war am Schlüsse
eine Fortsetzung der Unterredung für den folgenden Tag in
Aussicht genommen. Als diese Fortsetzung nun gibt sich
der Sophistes. Freilich darf dies nicht in dem Sinne ge-
nommen werden, als ob beide Dialoge nach einem von vorn-
eherein bestehenden Plane hintereinander ausgearbeitet wor-
den wären, etwa wie die unvollendete Tetralogie, zu der
der Urstaat und der Timäus gehören. In diesem Falle
würde doch die Gerichtsverhandlung, zu der sich Sokrates
am Schlüsse des Theätet begibt und die ja zur Einkerkerung
des Sokrates führte, im Sophistes irgend eine Berücksich-
tigung gefunden haben. Diese Einkleidung bedeutet nur
eine spätere Anknüpfung an das im Theätet Behandelte, bei
dem ja auch schon das Verhältnis zu Euklid mafsgebend
war. Dieser Zusammenhang findet ferner auch darin seinen
Ausdruck, dafs auch hier, wie im Theätet, mehrfach auf
die Lehre des P ar m e n i d e s als Ausgangspunkt hingedeutet
wird (241 E, 244 E ff.), und dafs nicht Sokrates das Gespräch
führt, sondern ein „Fremdling aus Elea". Dieser ist nun zwar
keineswegs Vertreter der eleatischen Philosophie. Plato
legt ihm seine eigenen Ansichten in den Mund. Aber die
Herkunft aus Elea deutet doch auf einen Gedanken-
zusammenhang mit der eleatischen, d. h. euklidischen Lehre.
Die Auseinandersetzung mit Euklid nun erfolgt in einer
Episode, zu der die Begriffsbestimmung des Sophisten An-
lafs gibt. Der Gedankengang dieser Episode leidet freilich
vielfach an derselben Dunkelheit, die schon im Theätet zu
tage tritt.
Den Sophisten wird schuld gegeben, dafs sie Trüge-
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V. 10. Auseinandersetzung mit abweichenden Standpunkten etc. 625
risches behaupten. Das heifst also mit andereu Worten : sie
sagen das Nichtseiende. Sie selbst freilich behaupten, dafs
dies nicht möglich sei und dafs daher (nach dem alten
Raisonneraent der Herakliteer) jede Aussage wahr sei. Aber
auch Plato steht auf dem Boden der Voraussetzung, dafs
man das Nichtseiende nicht sagen könne. Um daher den
Vorwurf der trügerischen Aussage gegen die Sophisten auf-
rechthalten zu können, wird in einer weitschichtigen und
teilweise unverständlichen Erörterung der Beweis geführt,
dafs auch das Nichtseiende in gewissem Sinne am Seien-
den Anteil habe und also gesagt werden könne (236 E bis
264 C).
Wir können diese Beweisführung als Ganzes auf sich
beruhen lassen. Es kommen jedoch in ihrem Verlaufe mehr-
fach Erörterungen vor, man sieht nicht recht, wie und
warum, die ein neues Licht auf die Ideenlehre werfen und
teilweise geradezu eine wichtige und bedeutsame Weiter-
bildung derselben im Gegensatze gegen Euklid darstellen.
Auf diese Erörterungen haben wir unsere Aufmerksamkeit
zu richten.
Zunächst ein paar kleine Proben von den Konsequenzen,
die die Ideenlehre für die ganze Gestaltung des Denkens
nach sich zieht. Wenn ein Gegenstand von einem anderen
verschieden ist, so ist dies nicht der Fall durch seine eben
von der des anderen abweichende BeschaflFenheit , sondern
durch Teilnahme an der Idee der Verschiedenheit (255 E).
Der Beweis ferner, dafs die Bewegung einesteils ist und
andernteils nicht ist, wird dadurch geführt, dafs sie eines-
teils „am Seienden" (d. h. an der Idee des Seins) Anteil hat,
andernteils aber auch wieder von der Idee des Seienden ver-
schieden ist (256 A).
Hauptsächlich aber wird der Behauptung, das Eine
könne nicht zugleich ein Vieles sein, und man dürfe daher
nicht einem Subjekte mannigfache Prädikate beilegen, son-
dern nur identische Urteile bilden (251), durch eine neue
Fassung der Ideenlehre entgegengetreten. Zunächst wird
der Widersinn dieser Behauptung ins Licht gestellt. Nach
ihr dürfe man weder den BegriflF der Bewegung noch den
Döring. I. 40
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626 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
der Ruhe mit dem des Seienden in Verbindung bringen,
woraus dann folge, dafs weder die materialistische Ansicht,
die alles in Bewegung denke, noch die euklidische Ideen-
lehre, die den Ideen absolute Ruhe beilege, statthaft sei.
Überhaupt werde dadurch jede Möglichkeit einer WelterklÄ-
rung ausgeschlossen, und die Vertreter dieser Ansicht geraten
selbst jeden Augenblick in ihren Reden in Widerspruch mit
ihrer eigenen Voraussetzung (251 D flF.).
Um diesem Widersinn zu entgehen, mufs man an-
nehmen, dafs zunächst die Begriffe (von den Ideen noch
abgesehen) miteinander in Gemeinschaft treten können.
Nur das Widersprechende ist dazu aufser stände. Es mufs
eine Wissenschaft geben, die dies Verfahren regelt. Diese
Wissenschaft ist die Dialektik (253 D). Hier tritt mit
voller Deutlichkeit das Hauptproblem der Logik zu Tage,
wenngleich Plato weder den Begriflf noch den Namen der
Logik hat. Die Logik zeigt das richtige Verfahren, die
BegriflFe durch Zusammenfügung der Einzelanschauungen zu
bilden, sowie sie wieder zu zerlegen, sie in Urteilen zu ver-
binden und zu trennen. Das ist die „Gemeinschaft*
(koinonla) der BegriflFe, die auch ihre „Verflechtung" genannt
wird. Löst man die Begriflfe aus diesem Zusammenhange,
verbietet man ihnen, darin einzutreten, so hört alles Denken
auf (259 E flf.).
Diöse Gemeinschaft der BegriflFe hat aber zugleich
Geltung für das wesenhaft Seiende, dessen Abbilder im
Geiste sie sind, für die Ideen. Somit mufs auch für die
Welt der Ideen die für die Welt der BegriflFe erwiesene
Möglichkeit der Verknüpfung Geltung haben. Die Welt der
Ideen ist nicht, wie es nach den Ausdrücken im Timäus
und nach der poetischen Schilderung im Phädrus scheinen
könnte, eine Welt von starr nebeneinander stehenden Wesen-
heiten; sie ist ein entsprechend der mannigfachen Ver-
knüpfung der BegriflFe im Urteil in mannigfacher und
wechselnder Weise sich ineinander schlingender lebendiger
Organismus, dessen Bewegungen mit denen des richtigen
Denkens parallel gehen. Das richtige Denken spiegelt nur
die Wandlungen in den Verknüpfungen dieses Organismus
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Y. 11. Ein Schritt zur Lösung der Frage nach dem Lebensziel etc. 627
ab und bildet sie nach. Das Urteil ist nur die Art, wie
sich diese wesenhafte Gemeinschaft des wahrhaft Seienden
in unserem Denken und Sprechen abbildet. Freilich
kommt diese Unterscheidung von Begriffen und Ideen im
Dialog selbst nicht so deutlich zum Ausdruck, wie sie hier
der Verständlichkeit halber gegeben ist (256 E, 257 E, 258 C,
200 D).
Diese Koinonla der Ideen untereinander ist also die
eigentümliche Weiterbildung, die im Sophistes im Gegensatz
gegen Euklid der platonischen Lehre zu teil wird. Fortan
geht er in der Ausgestaltung und Darstellung dieser Lehre
seinen eigenen Weg, ohne auf Euklid weiter Rücksicht zu
nehmen. Der an den Sophistes unmittelbar sich anschliefsende
„Staatsmann" ist ebenso wie der in die gleiche Richtung
gehörende „Parmenides" von einer solchen Unlebendig-
keit und Schwerverständlichkeit der Gedankenführung und
liefert so wenig einen eigentümlichen Beitrag zum Wesent-
lichen des platonischen Denkens, dafs er hier übergangen
werden kann.
11. Ein Sehritt zur Lösung: der Fragre nach dem
Lebensziel. Das „Gastmahl" (ea. 386).
Das „Gastmahl" kann nach einer gelegentlichen An-
spielung (193 A) nicht vor 385 verfafst sein. Diese Schrift
bildet geradezu eine Abnormität, einen Schritt vom Wege
im Verlaufe der Entwicklung Piatos, insofern in ihr die
Unsterblichkeit nur sehr zweifelnd zugestanden und der
jenseitige Bestand einer Ideenwelt wenigstens nicht direkt
erwähnt wird. Dagegen stellt sie insofern einen Fortschritt
dar, als in ihr die im Euthyderaos noch ganz in der Schwebe
gelassene Frage nach dem am meisten zu erstrebenden Gute
um einen bedeutenden Schritt ihrer endgültigen Lösung ent-
gegengeführt wird.
Der äufsere Rahmen dieses Dialogs ist folgender. Der
jugendschöne Tragödiendichter Agathen hat mit seinen
Dramen einen Sieg erlangt. Auf dem zur Feier dieses
Sieges veranstalteten Gastmahle wird vorgeschlagen, dafs
die Anwesenden der Reihe nach eine Lobrede auf den Eros
40*
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28 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
halten sollen. Von diesen Lobreden werden sechs mitgeteilt,
u. a. die des Arztes Erysimachos, des Dichters Aristo-
phanes und des Agathen selbst. Die letzte ist die des
Sokrates. Auf diese mufs nachher genauer eingegangen
werden. Nach Beendigung derselben dringt der trunken
von einem Gelage heimkehrende Alkibiades in die Gesell-
schaft ein. Er hält die schon früher erwähnte begeisterte
Lobrede auf Sokrates, dessen Schüler er einst gewesen.
Danach dringen noch andere Nachtschwärmer ein. Es ent-
steht ein lärmendes Zechen. Schliefslich haben sich alle
Gäste entfernt oder liegen schlafend auf den Pfühlen, bis auf
Agathen, Aristophanes und Sokrates. Letzterer setzt den
tiefsinnigen und der Antike sonst so fremden Gedanken
auseinander, dafs der tragische und komische Dichter eine
und dieselbe Person sein müsse, bis gegen Morgen auch jene
beiden vom Schlafe tibermannt werden. Sokrates begibt sich
ins Lykeion, nimmt dort ein Bad und geht dann den Tag
über seiner gewohnten Beschäftigung nach.
Der Lehrgehalt nun der sokratischen Rede über die
Liebe ist folgender. Er behauptet, die Einsichten, die er
vorträgt, der weisen Mantineerin Diotima zu verdanken,
die einst den Athenern durch ein Opfer zehnjährigen Auf-
schub einer Pestepidemie bewirkt habe, und die ihn in der
„Liebeskunst" unterrichtet habe. Eine rätselhafte, für uns
nicht mehr verständliche Einkleidung!.
Der Eros ist das Kind der Fülle und der Bedürftig-
keit, d. h. er ist ein Zustand des Verlangens nach der Fülle
der besten Güter, deren Inbegriff die Glückseligkeit. Er
ist, ganz universell gefafst, Philosophie im buchstäblichen
Sinne, d. h. Weisheitsbegehren. Nur das Gute, d. h. das,
was ein Gut ist, das den Menschen Begltickende, kann man
lieben. Insbesondere und im engeren Sinne aber ist die
Liebe wegen des nattirlichen Wunsches , das Gute immer
zu haben, der Wunsch nach Unsterblichkeit. Diese ist
aber im eigentlichen Sinne den sterblichen Wesen versagt
(206 E, 207 D). So streben sie denn in mancherlei Weisen
nach Fortdauer wenigstens in den Nachwirkungen des
eigenen Tuns. Schon das Tier hat den Trieb, wenigstens
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Y. 11. Ein Schritt zur Lösung der Frage nach dem Lebensziel etc. 629
im leiblichen Nachwuchs fortzudauern. Der Ehrbegierige
möchte im Gedächtnis der Nachwelt unsterblich sein. Die
edelste Form aber des Fortlebens in den Werken ist die in
den Geisteskindern. Solche haben Homer und Hesiod in
ihren Dichtungen, Lykurg und Selon in ihren Verfassungen
hinterlassen. Eine besondere Form des Fortlebens in Geistes-
kindern ist die in edelgearteten Seelen, die man zur Weis-
heit und Tugend gebildet hat. Hier findet sich ein be-
merkenswerter Nachklang der echten sokratischen Lehre.
Die gröfste und schönste Einsicht ist die in der geordneten
Leitung der Staaten und Hauswesen sich betätigende, deren
Name Besonnenheit und Gerechtigkeit ist (209 A). Dieses
Bilden zur Tugend ist ein Zeugen auf dem Gebiete der
Seele. Bei dieser Seelenzeugung fällt dann freilich Plato
im Sinne des schon im Phädrus so stark hervorgetretenen
Schönheitskultus etwas aus der Rolle. Er läfst den nach
Unsterblichkeit durch seelische Zeugung Begierigen sich
nicht nur an der schönen, d. h. begabten und empfänglichen
Seele, sondern auch am schönen Körper erfreuen. Beides
sollte vereinigt sein. Ja, er spricht auch hier von einer an-
scheinend körperlichen Berührung des Schönen (209 B f.).
In dieser Art des Fortlebens besteht also bis dahin
einzig die ersehnte Unsterblichkeit. Aber die Unterweisung
der Diotima hat noch einen zweiten Teil. Der Eros wird
mit einem Male, wie im Phädrus, Begehren nach dem
Schönen. Er beginnt in der Jugend als Liebe zu schönen
Körpern, und zwar zunächst als ausschliefsliche Liebe zu
einem Schönen. Bald aber wird er inne, dafs zwischen
der leiblichen Schönheit dieses Einen und der der vielen
anderen Schönen eine enge Verwandtschaft besteht. Es
geht ihm die Allgemeinvorstellung des leiblich Schönen
überhaupt auf. Damit läfst die Leidenschaft für den Einen
nach; sie erscheint jetzt eng und unbedeutend, sklavisch
und kleingeistig (210 B D). Hier, zeigt sich ein starker
und höchst charakteristischer Gegensatz gegen die lebens-
wierige Gemeinschaft der beiden Liebenden im Phädrus.
Die Einschränkung des Schönheitskultus auf den Einen
ist überwunden und verflogen. Dies zeigt noch deutlicher
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680 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
die weitere Ausführung. Weiterhin nämlich erscheint dem
Liebenden die seelische Schönheit weit köstlicher als die
leibliche. Noch edler aber dann die im Wollen und Schaffen,
sowie die in den Gegenständen der Erkenntnistätigkeit. Der
Liebende fährt auf die hohe See des Schönen (210 D, 211 C)
und findet schliefslich das Schöne an sich und von Natur,
das immer ist und weder entsteht noch vergeht, das nicht
in einer Hinsicht schön ist und in einer anderen nicht,
nicht jetzt oder hier und für den einen schön, zu anderer
Zeit aber und am anderen Orte oder für einen anderen
häfslich, nicht an einem anderen haftend, sondern an und
für sich und in sich selbst ewig und überall dasselbe, so
dafs umgekehrt alles einzelne Schöne an ihm nur Anteil
hat, ohne dafs es selbst durch dessen Entstehen oder Ver-
gehen in Mitleidenschaft gezogen würde (211 A ff.). Durch
diese Anschauung des Schönen in seiner Eigenart ohne
Beimischung alles Endlichen und Veränderlichen wird dann
das Leben erst lebenswert (211 D). Auch ist man nur so
im Stande, im Sinne des vorigen Gedankenganges nicht
blofse Abbilder der Tugend, sondern wahre Tugend in den
Seelen zu zeugen. Wer aber dies vermag, dem gebührt
es , dafs er von den Göttern geliebt werde , und wenn
irgend ein anderer Mensch es ist, dafs auch er unsterblich
sei (212 A).
Auch in diesem letzten Satze bleibt es mindestens
zweifelhaft, ob von einer persönlichen Unsterblichkeit die
Rede ist. Die Erwähnung des „Zeugens" in den Seelen
läfst auch hier die Möglichkeit offen, nur an das Fortleben
in den Seelenzeugungen zu denken, während allerdings die
Verleihung der Unsterblichkeit durch eine besondere Götter-
gunst die Deutung auf Unsterblichkeit im eigentlichen
Sinne möglich macht. Aber auch bei dieser Auffassung
bleibt die Unsterblichkeit nur ein gehoffter Ausnahmefall
auf Grund besonderer Würdigkeit. Ebenso ist aber hier
auch der Gedanke an ein jenseitiges Bestehen der Ideen
ferngerückt. Alles, was von der „Schönheit an sich" gesagt
wird, bedarf dieser Voraussetzung nicht, sondern bezieht
sich nur auf den in der Seele entstehenden sokratischen Be-
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V. 11. Ein Schritt zur Lösung der Frage nach dem Lebensziel etc. 631
griff. Dazu stimmt auch alles, was über die Entstehung
dieser Erkenntnis gesagt wird. Sie entsteht nicht, wie im
Phädrus, beim ersten vollen Eindruck der erscheinenden
Schönheit plötzlich und mit einem Schlage unter Mit-
wirkung der Rückerinnerung an das einst Geschaute. Diese
Rückerinnemng bleibt hier ganz beiseite. Die Erkenntnis
des „Schönen an sich" entsteht durch eine stetig sich er-
weiternde Anschauung des vielfältigen Einzelschönen in
stufenweiser Steigerung. Sie entsteht gleichsam auf induk-
tivem Wege. Das Schöne an sich ist nur der von allem
Einzelschönen abgezogene allgemeine Begriff. Diese Ent-
stehungsweise steht auch in vollem Einklänge mit dem fast
völligen Verzicht auf die Unsterblichkeit. Wenn es kein
Nachleben gibt, ist erst recht kein Vorleben anzunehmen.
Das „Gastmahl" zeigt in bezug auf diese beiden Punkte
ein völliges Abbiegen von dem im Phädrus in so zuversicht-
licher Weise eingeschlagenen Gedankenwege. Auch das
leidenschaftliche Festhalten an dem einen Geliebten ist
hier verflogen. Nur in einem Punkte zeigt sich hier ein
bedeutsames Hinausgehen über jenen Gedankenkreis. Im
Phädrus war die Erlösung vom Leibe das letzte Ziel des
Strebens; die Anschauung des Schönen war nur Mittel für
diesen Zweck. Hier dagegen ist die Anschauung des
Schönen an sich dasjenige, wodurch das Leben erst lebens-
wert wird. Sie ist nicht mehr Mittel, sondern selbst letzter
und höchster Lebenszweck. Damit ist zugleich die im
Euthydemos noch offen gebliebene Antwort auf die Frage
nach dem höchsten Gute erteilt. Diese Richtung auf einen
letzten Lebenszweck und diese Fassung desselben bleibt auch
fernerhin, wenngleich in veränderter Ausgestaltung, dem
Denken Piatos erhalten.
Wir müssen noch einen raschen Blick auf die Lobrede
des Alkibiades nach ihrem Zusammenhange mit der Rede
des Sokrates werfen. Dieser Zusammenhang besteht mehr
mit dem ersten als mit dem zweiten Hauptteile der sokra-
tischen Rede. Alkibiades verherrlicht, wie teilweise schon
früher dargelegt, Sokrates in der mannigfachsten Weise, in
keiner aber so nachdrücklich und überschwenglich wie in
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632 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
seiner Eigenschaft als Muster des wahren Eros als des
Strebens nach Zeugung der Tugend in edelgearteten Seelen.
Unbeirrt durch die stärksten Versuchungen der Sinnenlust
von Seiten des sich ihm zu sinnlichem Genüsse dar-
bietenden Jünglings hat er dies Streben einzig und un-
verrückt im Auge behalten. Dies Streben nach Zeugung
der Tugend und nach unsterblichem Fortleben in den Geistes-
kindem war die einzige Leidenschaft seiner Seele.
12. Der Höhepunkt des platonischen Denkens. Der
„Phädon" (um oder nach 380),
Der „Phädon" ist wohl die formvollendetste unter den
Schriften Piatos. Stimmungsvoll und aus einem Gusse,
mufs sie auch auf den eine hinreifsende Wirkung üben, der
den Gedankengang mifsbilligt. In diesen Gedankengang
wird der neue Gedanke des „Gastmahls", die Anschauung des
Schönen als höchstes Lebensziel, in stark veränderter und
erweiterter Gestalt wieder aufgenommen; im übrigen kehrt
diese Schrift von den Abwegen des „Gastmahls" in nachdrück-
lich verstärkter Form zum Unsterblichkeitsgedanken und
zur Ideenlehre zurück. Das höchste Gut ist die anschauende
Erkenntnis der ewigen Wesenheiten überhaupt. Diese kann
aber nur in einem körperfreien Leben dem Menschen voll-
ständig zu teil werden. Nach Erlösung vom Körper zu
streben ist also des Menschen wichtigste Angelegenheit.
Aber diese Erlösung ist jetzt nicht mehr, wie im Phädrus,
selbst der letzte Zweck , dem die Ideenschau als Mittel
dient; das Verhältnis hat sich direkt umgekehrt. Die wahre
Erkenntnis ist der letzte Zweck geworden; die Er-
lösung vom Leibe ist nur Mittel für diesen Zweck. Hilfs-
mittel aber für die Erlösung sind wieder die wahren
Tugenden, so dafs aus dieser Lehre vom Lebenszweck auch
eine erhabene Lehre von der Lebensführung abgeleitet wird.
Der Phädon spielt am Todestage des Sokrates. Wegen
mannigfacher Beziehungen auf Früheres ist er in der bis-
herigen Darstellung schon öfter herangezogen worden. Auf
diese früher erörterten Punkte braucht hier nur hingedeutet
zu werden.
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y. 12. Der Höhepunkt des platonischen Denkens etc. ()33
Der wahre Philosoph wünscht, zu sterben. Philosophieren
ist Sterben-wollen (61 C). Der Philosoph strebt einzig nach
Erkenntnis (64 E). Für die Erlangung der wahren Er-
kenntnis aber ist die Gemeinschaft mit dem Körper ein
Hindernis. Durch die Sinne wird die Seele getäuscht. Das
Denken, durch das allein wahre Erkenntnis erlangt werden
kann, geht am besten ohne die Störung der Sinneseindrticke
von statten, wenn die Seele allein ist und den Körper
gehen läfst. Insbesondere sind die an sich seienden Wesen-
heiten, das Gerechte, Schöne und Gute an sich, überhaupt
die Wesenheiten der Dinge, nicht sinnenftllig, sondern nur
mit der Seele zu erfassen (65). Dazu kommt, dafs die
körperlichen Bedürfnisse, Krankheiten, Begierden, Besorg-
nisse u. s. w. ein direktes Hemmnis des Erkenntnisstrebens,
also ein schlimmes Übel bilden. So ist also wahre Er-
kenntnis überhaupt nicht zu erlangen oder erst nach dem
Tode (61 E). Der Tod ist die Trennung der Seele vom
Körper (64CfiF.), die Reinigung der Seele von der „Tor-
heit des Körpers" (67 A). Dies trifft aber nur zu, wenn
diese Lösung schon im Erdenleben genügend vorbereitet
worden ist. Loslösung vom Körper, Reinigung ist also die
wichtigste Angelegenheit des Philosophen (6? B f.).
Aus diesem Bestreben allein entspringen die wahren
Tugenden (68 C ff.). Die gemeine Tapferkeit ist nur eine
Art von Feigheit. Nur aus Furcht vor noch gröfseren Übeln
bietet sie dem Tode Trotz. Die gemeine Sophrosyne ent-
springt aus Lüsternheit. Man enthält sich einiger Lüste,
um anderer teilhaft zu werden. Diese Tugend ist nur ein
Handelsgeschäft, ein Schatten der Tugend, eine Sklaven-
tugend. Wahre Tugenden sind nur die, die aus dem In-
teresse der Lösung vom Körper behufs Erlangung wahrer
Erkenntnis entspringen. Die wahren Tugenden sind Rei-
nigungen (69 C).
Jetzt nun äufsert Kebes einen Zweifel an der Grund-
voraussetzung dieser ganzen Gedankenreihe, am Fortleben
der Seele (70). So müssen denn dafür Beweise beigebracht
werden. Damit ist das Hauptthema des Phädon erreicht.
Es ist sehr bezeichnend im Hinblick auf die Denkrich-
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634 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc-
tung des „Gastmahls", dafs Plato eine streng wissenschaftliche
Behandlung der Unsterblichkeitslehre und im Zusammen-
hange damit auch der Ideenlehre ftlr notwendig hält. Sicher-
lich wollte er durch die Überwindung der hier vorgebrachten
Zweifel in erster Linie nicht andere, sondern sich selbst
überzeugen. Dieser Kebes ist er selbst.
Dererste Beweis geht von dem allgemeinen Satze
aus, dafs alles aus seinem Gegensatze entspringt. Gäbe es
nur eine Richtung des Geschehens, so würde alles zuletzt
sich in einem und demselben Zustande befinden. Daher
mufs also auch wie der Tod aus dem Leben so auch wieder
das Leben aus dem Tode entspringen (71).
Der zweite Beweis geht von dem Satze aus, dafs
das Lernen ein Wiedererinnern ist. Dies ergibt sich daraus,
dafs man durch richtige Fragen alle möglichen richtigen
Einsichten aus den Menschen herauslocken kann, selbst
mathematische (73 E). Hier zeigt sich deutlich ein Rück-
blick auf den Menon, wenngleich freilich dort die um-
gekehrte Argumentationsweise stattfand. Dort sollte durch
die Voraussetzung eines Vorlebens die Möglichkeit des
Lernens (als Rückerinnerung) erwiesen werden, hier durch
die Tatsächlichkeit des Lernens (als Rückerinnerung) die
Tatsächlichkeit eines Vorlebens. Auch durch einen anderen
Zug noch unterscheidet sich unsere Stelle von der im Menon.
Dort war für das frühere Leben nur eine sinnliche Er-
kenntnis der Dinge in der Welt vorausgesetzt, hier wird
demselben vornehmlich der Erwerb gewisser Begriffe zu-
geschrieben, die nicht aus der Sinneserkenntnis stammen
können. So der Begriff der Gleichheit. Die Sinne zeigen
stets nur Gegenstände, die einander teilweise, vielleicht über-
wiegend, gleich sind, teilweise aber auch ungleich. Dies
soll dann aber auch von allen anderen Begriffen
gelten. Als Beispiele werden angeführt: gröfser, kleiner,
schön, gut, gerecht, fromm (75 C). Diese alle können in
ihrer strengen begrifflichen Form nicht aus der unvoll-
kommenen Verwirklichung im Sinnlichen gewonnen werden.
Sie können aber auch nicht im eigentlichen Sinne au-
geboren sein; sonst müfsten sie uns von Haus aus im Be-
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V. 12. Der Höhepunkt des platonischen Denkens etc. 635
wufstsein sein. Tatsächlich aber werden sie erst bei Ge-
legenheit der entsprechenden Sinneswahrnehmungen ins Be-
wufstsein gerufen (76 B). Daraus schliefst Plato , dafs sie
unbewufst gewordene Erinnerungen aus einem körperlosen
Vorleben als vernünftige Wesen sind. Schon hier mufs die
Voraussetzung gemacht werden, dafs diese Begriffe in ihrer
Reinheit und Vollkommenheit als Wesenheiten existieren
(76 D ff.).
Diese beiden ersten Beweise ergänzen einander: der
erste geht auf ein Nachleben, der zweite auf ein Vorleben
(77 B ff.).
Ein dritter Beweis beruht auf der Einfachheit der
Seele. Das Einfache kann sich nicht auflösen. Der Beweis
für die Einfachheit der Seele wird aus ihrer Fähigkeit zur
Erfassung der Ideen geführt. Nur das Gleiche kann das
Gleiche erfassen. Die Ideen sind aber einfach, denn einfach
mufs sein, was sich immer gleich bleibt. Zur Erfassung der
Ideen aber ist die Seele befähigt, wenn sie sich der Störung
durch die Sinneseindrücke entzieht (78 C ff.). Also mufs
auch die Seele einfach sein (80 B). So wird denn hier die
im Timäus und Phädrus angenommene Dreigestal tigkeit der
Seele, die schon im umgearbeiteten Staate wenigstens für
den jenseitigen Zustand nicht mehr angenommen wurde, hier
für immer und unbedingt fallen gelassen.
An diesen Beweis schliefst sich eine Erörterung über
die verschiedenen möglichen Schicksale der Seele nach dem
Tode. Hat sie sich hier von der Vermischung mit dem
Körperlichen rein gehalten, so tritt sie nach dem Tode in
volle Gemeinschaft des Erkennens mit diesen ewigen, gött-
lichen Wesenheiten, frei von den Störungen durch die Sinne,
und geniefst in diesem ungestörten Erkennen die höchste
Seligkeit (81 A). Hat sie dagegen sich in enge Gemein-
schaft mit dem Körper eingelassen, so wird sie vom Körper-
lichen durchdrungen und verwächst damit. Sie hat geradezu
etwas Erdartiges in sich aufgenommen und ist dadurch sicht-
bar geworden, so dafs sie an den Gräbern umherspukt, bis
sie wieder an einen Körper gefesselt wird (81 B ff.). Hier
nimmt also das platonische System ein Stück recht wüsten
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636 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
animistischen Aberglaubens, den Gespensterglauben, in sich
auf. Die neue Körperlichkeit aber wird in diesem Falle
eine tierische sein, und zwar eine der jeweiligen Richtung
der vorangegangenen Lebensführung entsprechende, was durch
eine Reihe von Beispielen (Esel, Wolf, Habicht, Geier, Bienen,
Wespen, Ameisen) erläutert wird (81 E ff.).
Der wahre Philosoph enthält sich um der Lösung und
Reinigung seiner Seele willen alles dessen, was ihn an den
Körper fesselt. In den Körper eingekerkert und genötigt,
Mithelferin ihrer eigenen Gefangenschaft zu sein, durchschaut
die philosophisch gerichtete Seele den Trug der Sinne und
glaubt nur ihrer eigenen Denkkraft, die sie zum Wahrhaften
und Ewigen hinführt und zugleich von den Affekten um
körperliche Güter und Übel befreit, die sie nur fester an
den Körper fesseln würden. Sie nährt sich am Ewigen, um
im Tode mit demselben (anschauend) vereinigt zu werden
(82 D ff).
In zartsinnigster und rücksichtsvollster Einkleidung
bringen nun erst an dieser Stelle die beiden Thebaner
die ihnen eigenen Theorien über Wesen und Schicksal der
Seele vor, die wir an früherer Stelle als die des späteren
wissenschaftlichen Pythagoreismus kennen gelernt haben
(84 C— 88 B). Bis dahin hatten sie sich nur im allgemeinen
als Zweifler an der Unsterblichkeit kundgegeben.
In ebenso feiner und edler Weise aber nimmt auch
Sokrates diese Gegenargumente entgegen. Wie es Menschen
gibt, die infolge übler Erfahrungen mit den Menschen
Menschenhasser (Misanthropen) werden, so kann man auch
durch Mifserfolge im Forschen zum Verächter der wissen-
schaftlichen Forschung (zum Misologen) werden. Das richtige
aber ist, in solchen Fällen den Fehler bei sich selbst zu
suchen und unverdrossen von neuem anzusetzen (89 D ff.).
Noch weniger aber zieme es ihm, den Rechthaberischen zu
spielen, da er ja nur für sich selbst eine stichhaltige Über-
zeugung suche. (Hier spricht Plato!) In Rede und Gegen-
rede, sowie in dem Verhalten der Zuhörer ist hier wie über-
haupt in der ganzen Schrift in meisterhafter Weise die feier-
liche Abschiedsstimmung des Todestages wiedergegeben, die
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y. 12. Der Höhepunkt des platonischen Denkens etc. 637
auch den kleinsten Mifsklang meidet. Die Bedenken, die
Sokrates zunächst gegen die beiden Theorien äufsert, führen ihn
auf die letzten Gründe des Werdens und Vergehens überhaupt
(96). Er hat sich eingehend mit den verschiedenen materia-
listischen Theorien der Naturphilosophen befafst, ist aber
dadurch ganz unfähig geworden, auch nur die gewöhnlichsten
Erscheinungen zu verstehen. So soll eins zu zwei werden,
indem entweder ein zweites Eins, das doch auch nur eins
ist, hinzutritt oder das Eine zerschnitten wird (97). Und
so mit anderen Fragen. So hat ihn denn auch die Lehre
des Anaxagoras von der Weltvemunft aus den früher an-
gegebenen Gründen enttäuscht.
So hat er sich denn einer völlig anderen Betrachtungs-
weise zugewandt. Hier nun wird die Ideenlehre in der-
jenigen Gestalt, die sie auf dem Höhepunkte des platonischen
Denkens angenommen hat, ausdrücklich und nachdrücklich
als Stützpunkt der Unsterblichkeitslehre eingeführt.
Die eigentliche, einzige und wahre Ursache alles Er-
scheinenden ist die Welt der Dinge an sich. Nur durch
Anteilhaben (metoch^) an dem betreffenden an sich Seien-
den hat das Erscheinungsding seine Eigenart. Nur durch
das Gegenwärtigsein (parusla) und die Gemeinschaft
(koinonla) jenes Urseienden ist jenes das, was es ist (100 B ff.).
Nur durch das Schöne wird das Schöne schön, nur durch
Gröfse das Grofse grofs, das Gröfsere gröfser, nur durch
Kleinheit das Kleinere kleiner. Wollte man das Gröfsersein
eines Menschen im Verhältnis zu einem anderen durch den
überragenden Kopf erklären, so würde der kleine Kopf die
Gröfse bewirken (101 A). Ebenso überragt die. Zahl zehn
die Acht durch die Idee der Vielheit und das zwei Ellen
Lange das Einellige durch die Idee der Hälfte (!), und die
Zwei entsteht nicht durch Spaltung oder Zusatz, sondern
durch die Idee der Zweiheit (101 B ff.). Wenn Simmias
gröfser ist als Sokrates und kleiner als Phädon, so geschieht
dies dadurch, dafs er sowohl an der Idee der Gröfse als an
der der Kleinheit Anteil hat, während jene beiden im Ver-
hältnis zu ihm an der der Kleinheit resp. der Gröfse Anteil
haben (102 C). Je nach der Gröfse der verglichenen Person
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638 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schalen etc.
weicht bei Simmias die Gröfse oder die Kleinheit zurück
(102 B ff.).
In dieser Stelle finden wir zunächst die drei charak-
teristischen Bezeichnungen für das Verhältnis der Erschei-
nungsdinge zu den Ideen. Vom Standpunkte der Erschei-
nungsdinge aus betrachtet ist dies das Anteilhaben, vom
Standpunkte der Ideen aus das Gegenwärtigsein, von
einem mittleren Standpunkte aus, der beide gleicherweise
ins Auge fafst, ist es Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft
zwischen der Idee und dem Erscheinungsdinge mufs aber
durchaus unterschieden werden von der im Sophistes be-
handelten zwischen den Ideen untereinander. Letztere ge-
währleistet die Möglichkeit wechselnder Verhältnisse zwischen
den Ideen selbst und an sich; erstere bezeichnet das Ver-
hältnis zwischen den Ideen und den Erscheinungen. Nach
diesen Bezeichnungsweisen nun hat es den Anschein, dafs
Plato hier die im Timäus vorgetragene Lehre von der Räum-
lichkeit als Stoff der Erscheinungswelt wieder fallen gelassen
hat und jetzt als das einzige Wirkliche die immaterielle
Substanz der Ideenwelt annimmt. Nur insoweit als sie An-
teil haben an den Ideen, als das Gegenwärtigsein der
Ideen in ihnen stattfindet, haben die Erscheinungsdinge Re-
alität. Sie sind die unvollständige und getrübte Daseins-
weise der Ideen selbst, in der diese nur unvollkommen und
in eine Vielheit auseinandergegangen den Sinnen erscheinen.
Diese Vermutung wird auch dadurch bestätigt, dafs hier mit
keinem Worte mehr eines Stoffes Erwähnung getan wird.
Eine weitere Bestätigung wird sich an späterer Stelle er-
geben. Es hat sich also zwischen dem Timäus und dem
Phädon die Lehre Piatos zu einem vollständigen Im-
materialismus entwickelt. Aus den sokratischen Be-
griffen als Schöpfungen des Denkens ist durch eine seltsame
Umgestaltung nicht nur die höchste, sondern die einzige
Art des Existierenden geworden. Auch der Weltbildner, der
nach den „Musterbildern" den Stoff gestaltete, wird dadurch
entbehrlich. Die Ideen sind selbst und an sich das Seiende,
nur im Erscheinenden in getrübter, gebrochener, schatten-
hafter Daseinsweise. Wie abenteuerlich und verschroben
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y. 12. Der Höhepunkt des platonischen Denkens etc. 639
aber diese Art der Welterklärung ist, das lehren zur Genüge
die vorstellend angeführten Beispiele, durch die Plato seine
Theorie veranschaulicht.
Auf dieser Grundlage nun führt Plato jetzt seinen ent-
scheidenden, vierten Beweis für die Unsterblichkeit
(103 D ff.)
Durch die Aufnahme anderer Ideen verändern sich die
Dinge oder hören auf, zu existieren. Letzteres, wenn sie
eben nur durch die betreffende Idee sind, was sie sind. So
hört der Schnee durch die hinzutretende leee der Wärme,
das Feuer durch die der Kälte auf, zu existieren. Nun gibt
es aber zwischen gewissen Ideen selbst Gemeinschaftsverhält-
nisse, vermöge deren, wo die eine der so verknüpften Ideen
gegenwärtig ist, auch die andere notwendig vorhanden sein
mufs. Was an der Idee der Dreiheit Anteil hat, hat not-
wendig auch an der des Ungeraden Anteil und kann die
des Geraden nicht aufnehmen, obgleich diese der Idee der
Dreiheit direkt nicht entgegengesetzt ist. Ist in einem Körper
die Idee des Feuers, dann auch die der Wärme, wenn die
des Fiebers, dann auch die der Krankheit. Dieser Gedanke
bildet einen Teil der bereits im Sophistes entwickelten Lehre
von der Gemeinschaft der Ideen untereinander.
Hier nun springt der neue Unsterblichkeitsbeweis hervor.
Dieselbe Gemeinschaft, die zwischen der Idee der Dreiheit
und der des Ungeraden besteht, die besteht auch zwischen
der Idee der Seele und der der Unvergänglichkeit. Wo die
erstere vorhanden, ist auch die letztere zur Stelle. Diese
schliefst aber ihr Gegenteil aus. Die Seele entweicht der
herantretenden Idee des Vergehens, wie der Schnee der des
Warmen entweichen würde, wenn die Idee des Nichtwarmen
der Idee des Schnees untrennbar anhaftete (106). Dieses
untrennbare Anhaften aber findet bei der Idee der Seele
hinsichtlich der Idee der Unsterblichkeit oder Unvergäng-
lichkeit statt. Die Seele ist also unsterblich, weil zwischen
diesen beiden Ideen eine untrennbare Gemeinschaft besteht.
Ein Beweis für diesen Punkt wird freilich nicht geliefert.
Aber auch wenn er geliefert wäre, würde nur folgen, dafs
diese beiden Ideen untrennbar verwachsen wären, wenn sie
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(540 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
überhaupt im Sinne Piatos existierten. Diese Existenz aber
vorausgesetzt, folgt die Unsterblichkeit der Seele aus ihrem
Anteilhaben an den beiden verkoppelten Ideen.
An diesen Beweis schliefsen sich dann Ausführungen
im Sinne jener grofsen mythischen Bildergruppe, von der uns
wesentliche Teile schon im Gorgias und PhÄdrus und in der
Umarbeitung des „Staats" entgegentraten (107 ff.). Auch hier
kommt die Aburteilung am Orte des Gerichts vor (107 D, 113C,
114 B). Die am Irdischen klebende Seele sträubt sich
gegen die Hinführung zum Gerichtsorte, die ihrem Dämon
nur mit Mühe gelingt (108 A f.). Hier wird auf die Aus-
führungen beim dritten Beweise verwiesen, die freilich das
Gericht und den Zwischenaufenthalt im Jenseits nicht er-
wähnten, sondern die neue Einkörperung gleich von der
Erde aus vor sich gehen liefsen. Auch werden dort, ab-
weichend von der Republikstelle, die der gemeinen, nicht
philosophisch begründeten Tugend Beflissenen als dem Ir-
dischen anhängend in das Los des Tierwerdens mitein-
begriffen. Dies stimmt zu der harten Verurteilung der
nicht vom Gedanken der Reinigung getragenen Tugend an
der früheren Stelle unseres Dialogs. Wir sehen an der
ersten dieser beiden Abweichungen, dafs die Einzelzüge
dieses Mythos nicht unwandelbar feststehen, an der zweiten,
dafs sie sich speziell nach den fortschreitenden Grundüber-
zeugungen Piatos umgestalten.
Auch die tausendjährige Periode der früheren Stellen
wird hier nicht beibehalten. Der Aufenthalt im Jenseits
wechselt je nach Bedarf der erforderlichen Sühne (113 A).
Besonders die jenseitigen Stätten dieser Sühne werden hier
in phantastischen Farben ausgemalt. Auch hier gibt es ein
Oben und ein Unten. Die himmlische Region wird hier
näher bezeichnet als die wahre Erdoberfläche. Diese ist
nämlich an der Stelle, wo das Luftmeer an den Äther grenzt.
Wir Lebenden befinden uns eigentlich noch in der Erde.
Dort oben ist der Zwischenaufenthalt der in höherem Mafse
Gerechten (108 E, 114 B). Unter der Erde ist zunächst
der düstere Hohlraum im Mittelpunkte der Erde, dem die
unheilbaren Frevler zugewiesen werden (112 A,. 113 E). Von
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V. 12. Der Höhepunkt des platonischen Denkens etc. 641
diesem aus ergiefsen sich drei unterirdische Ströme. Zu-
nächst der Acheron, der sich in den acherusischen See er-
giefst. An letzterem weilen diejenigen, die ein mittelmäfsiges
Leben geführt haben, bis sie zur neuen Einkörperung ge-
langen (112 E , 113 A D). Sodann der Pyriphlegethon und
der Kokytos, zwei Feuerströme, die vom Tartarus aus rechts
und links vom acherusischen See vorbeifliefsen und dann in
den Tartarus zurückströmen. In ihnen treiben die schweren,
aber heilbaren Frevler. Beim Vorbeitreiben am archerusi-
schen See flehen sie jedesmal die dort weilenden Opfer ihrer
Taten um Aufnahme an, bis sie diese erlangen und damit
in die Gruppe der dort Weilenden übertreten (113, 114 A f.).
Ganz und für alle Folgezeit von neuer Einkörperung befreit
sind nur diejenigen, die sich durch Philosophie (d. h.
eben nach Mafsgabe der im Phädon vorgetragenen Lehre)
hinreichend vom Körperlichen gereinigt haben. Diese ge-
langen in noch schönere Wohnstätten als die auf der wahren
Erdoberfläche (114 C). Die neue Lebenswahl nach Ablauf
des jenseitigen Aufenthalts findet im Phädon keine Erwähnung.
Sokrates erklärt ausdrücklich, mit diesen Bildern nur
annähernd und ungefähr die verschiedenen Jenseitslose be-
zeichnet zu haben. Jedenfalls kann der dem Tode freudig
entgegensehen, der der Interessen des Körpers sich ent-
schlagen, dagegen nach wahrer Erkenntnis gestrebt und (im
Dienste dieses Strebens) seine Seele mit Tugend geschmückt
hat (114 D f.).
Hier, auf dem Höhepunkte des platonischen Denkens,
haben wir also schon ein deutliches Lebensziel, die
wahre Erkenntnis, die jedoch erst im Jenseits wahrhaft
verwirklicht werden kann, und eine daraus abgeleitete
Lebensordnung. Zur vollen Zugehörigkeit zur nächsten
Periode fehlt hier nur die wissenschaftlich-methodische Be-
gründung des Lebensziels.
Welche Wirkungen freilich diese Philosophie des Sterben-
woUens unter Umständen ausüben konnte, dafür besitzen wir
an einem Epigramm des Kallimachos (um 280 vor Chr.)
ein merkwürdiges Zeugnis. Nach diesem hatte ein gewisser
Kleombrotos, ohne irgend einen sonstigen Anlafs zum
Dftrinff. I. 41
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642 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleinereu sokratisch. Schulen etc.
Selbstmorde, sich lediglich auf Grund der Lektüre des Phädon
von einer hohen Mauer hinabgestürzt, um dem Kerker des
Leibes zu entrinnen und der wahren Erkenntnis teilhaft zu
werden (vergl. auch Cic. Tusc. L 84).
13. Die zweite Umarbeitung: des Staats und die
zweite und dritte slzilisehe Reise (368— 360).
Unter den von Thrasyllos kurz nach Christi Geburt
zusammengestellten Schriften Piatos befindet sich auch eine
Sammlung von Briefen (D. L. III. 61), die sich durchweg
auf seine Beziehungen zu Unteritalien und Sizilien beziehen.
Diese Briefe können nicht als echt gelten, doch enthalten
sie teilweise, namentlich der sehr umfangreiche siebente,
der sich als nach dem Tode seines Freundes D i o n (353) an
dessen Verwandte und Freunde gerichtet gibt, beachtens-
werte Angaben.
In diesem siebenten Briefe wird versichert, dafs Plato
schon zur Zeit seiner ersten Reise (392) von der Notwendig-
keit einer völligen Umgestaltung der demokratischen Staats-
form überzeugt gewesen sei und für diese Überzeugungen
auch an dem damals noch jugendlichen Dion einen empfäng-
lichen Schüler gefunden habe (326 A f., 327 A). Tatsächlich
wird Dion damals die Gedanken, die Plato bald darauf
im Urstaat niederlegte, von diesem überkommen haben.
Nach dem Tode des älteren Dionys nun (368) hat nach
jenem Briefe Dion das Herüberkommen Piatos behufs Ver-
wirklichung seines Staatsideals durch den jüngeren Dionys
eifrig befürwortet (327 f.). Ob Dion die weitere Entwick-
lung Piatos nach jener persönlichen Berührung verfolgt hat,
ist zweifelhaft. Mutmafslich stellte er sich, als er nach dem
Tode des älteren Dionys im HirAlick auf die Empfänglich-
keit des jüngeren Dionys für die Reformpläne Piatos diesen
zu schleunigem Herüberkommen aufforderte, diese Reform
noch durchweg im Sinne des Urstaats vor: der junge Tyrann,
beraten von einem Kreise der das wahre Staatswohl allein
im Auge Habenden und gestützt auf einen idealen Krieger-
stand.
Nicht wesentlich anders als dieser Brief stellt auch
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V. 13. Die zweite ümarbeituDg des Staats etc. 643
Plutarch im Leben Dions die Sachlage dar, nur dafs nach
ihm nicht nur von Dion, sondern auch vom jungen Dionysos
selbst und den Pythagoreern in Italien wiederholte dring-
liche Aufforderungen an Plato gerichtet worden wären (c. 10 f.).
Nun war freilich der Plato von 368, an den diese Auf-
forderungen gerichtet wurden, nicht mehr der Plato von 392.
Es war der des Phädon, für den die Anschauung der Ideen
das höchste Gut und deshalb Philosophieren Sterbenwollen
war. Wenn daher der siebente Brief (328 A f.) ihn erwägen
läfst, dafs jetzt oder nie die Aussicht zur Verwirklichung
seines Gedankens: Vereinigung der Philosophie und der
Herrschergewalt in derselben Person, gegeben sei, so be-
deutete das bei dem damaligen Plato nicht mehr und nicht
weniger als eine Einrichtung des Staats im Sinne des
Phädon.
Diese Annahme findet denn auch ihre volle Bestätigung
durch die zweite Umarbeitung des Staats, die ganz
unzweifelhaft aus dieser Sachlage als die nächste Wirkung
der an ihn ergangenen Aufforderungen entsprungen ist.
Diese zweite Umarbeitung besteht ausschliefslich in der
Einfügung des grofsen Abschnittes V. 18 — VII. Ende. Mit
einer merkwürdigen Sorglosigkeit (möglicherweise aber
mit Rücksicht auf Dion, den Anhänger seiner
älteren Gedanken, um diesen nicht von vorn-
herein abzuschrecken) hat Plato die beiden früheren
schon aus ganz verschiedenen Gedankenrichtungen hervor-
gegangenen und ziemlich äufserlich zusammengeschweifsten
Teile unverändert stehen gelassen und nunmehr ein neues^
noch weit greller gegen das Bisherige abstechendes, ja die
früheren Aufstellungen ausdrücklich verwerfendes Stück
eingesetzt. Nur die vermutete Rücksichtnahme auf Dion
kann dies Verfahren einigermafsen erklärlich machen.
In dieser Einfügung wird die Schrift, die in der ersten
Fassung eine Staatslehre gewesen, dann in der zweiten eine
Ethik geworden war, wieder zur Lehre vom Idealstaat. Aber
dieser Idealstaat ist jetzt nicht mehr der „Staat der Glück-
lichen", er ist eine Heilsanstalt im Sinne des Phädon und
zugleich die Tyrannis der Sterbenwollenden.
41»
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644 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Anknüpfend an die V. 17 im Sinne des Urstaats auf-
geworfene Frage, ob wohl ein solcher Musterstaat Wirklich-
keit werden könne, wird im folgenden Kapitel für dieses
Wirklichwerden eine Bedingung aufgestellt, die ganz aufser-
halb des Gesichtskreises des Urstaats liegt. Der Muster-
staat kann wirklich werden, wenn die Philosophen Könige
oder die Könige Philosophen werden. Schon die Art und
Weise, wie dieser Satz als eine ungeheure Paradoxie ein-
geführt wird (473 C) , beweist , dafs wir uns in ejnem ganz
neuen Fahrwasser befinden. Vollends aber die sich an-
schliefsende Bestimmung des Wesens des Philosophen. Nach
dem buchstäblichen Sinne von Philosoph ist dieser ein nach
Wahrheit Strebender, die Wahrheit aber, die der Philosoph
zu erkennen begehrt, ist das Ansich der Dinge. Nur
wer dies erkennt, besitzt Einsicht. Wer bei der Erscheinung
stehen bleibt, hat nur Meinung (476). Das Nichtseiende
ist nicht erkennbar (477 A); nur das wahrhaft Seiende ist
Gegenstand der Erkenntnis im eigentlichen Sinne. Das
Mittlere zwischen beiden, das Erscheinende, das stets zu-
gleich seiner Idee entspricht und doch auch wieder deren
Gegenteil darstellt, entspricht der Meinung. In der Er-
scheinung ist das Schöne zugleich auch häfslich, das Gerechte
ungerecht, das Doppelte ein Halbes (479).
Nur die wahrhaft Einsichtigen in diesem Sinne der
Ideenlehre sind geeignet, Wächter des Staats zu sein. Diese
sind ihrer Naturanlage nach erkenntnisbegierig in bezug
auf das Ganze der Wesenheit. Sie sind gleichgültig gegen
untergeordnete Güter und Übel, daher besonnen, mäfsig und
gerecht. Sie müssen von hervorragenden Geistesgaben sein ;
wo möglich sollen sie auch durch körperliche Schönheit
sich auszeichnen (VI. 12; VII. 15). Die Zahl dieser philo-
sophisch gerichteten Naturen ist notwendig eine geringe.
„Es ist unmöglich, dafs die Menge philosophisch geartet
sei." (491 B, 494 A.) Ohne ganz besondere Sorgfalt in der
Ausbildung aber werden gerade solche Anlagen nur zum
Verderben ausschlagen. Es entstehen so die den Staaten
Gefährlichsten. Schlagen sie aber die richtige Entwicklung
ein, so ziehen sie sich in den Staaten, wie diese durchweg
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V. 13. Die zweite Umarbeitung des Staats etc. 645
sind, zurück und führen ein abgeschiedenes Leben, weil sie
in die bestehenden Verhältnisse nicht hineinpassen. Nur
im besten Staate können sie zur Geltung kommen. In
diesem sind sie im stände, die Harmonie des eigenen Wesens,
die sie im Verkehr mit den ewigen Dingen erlangt haben,
in den Staat hineinzutragen, der nur in dieser Weise ein
glücklicher werden kann. Davon kann auch die Menge,
mit Ausnahme weniger Übelwollender, überzeugt werden
(VI. 6—13).
Wird ein so Begabter schon als Sohn eines Königs
oder Machthabers geboren, so ist diese Aufgabe noch
viel leichter, weil er schon die Herrschaft besitzt (c. 14).
Eine deutliche Bezugnahme auf den Fall des jüngeren
Dionys!
Die Frage der Ausbildung dieser Herrschernaturen soll
nun jetzt von Anbeginn neu erörtert werden. Es ist zwar
früher von der Erprobung der aus den Wächtern hervor-
gehenden Herrscher schon die Rede gewesen, die eigentliche
Aufgabe ist aber damals ihrer grofsen Schwierigkeit wegen
noch nicht angerührt worden. Der besondere Unterricht
der Herrscher bildet eine neu hinzukommende Aufgabe
(507 E ff.). Alles dies entspringt deutlich aus der neuen,
um 368 entstandenen Sachlage!
Der höchste Unterrichtsgegenstand ist die Idee des
Guten (505 A, 534 B C), das vollkommene Gute, durch
das die Gerechtigkeit und die übrigen Tugenden erst
brauchbar und nützlich werden. Diese (d. h. das Ideal der
Zweckmäfsigkeit) ist auf dem geistigen Gebiete des Er-
kennens dasselbe, was das Licht und die Sonne auf dem
des körperlichen Sehens, nämlich die notwendige Bedingung
der Erkenntnis der Wahrheit (508 E). Wie aber die Sonne
auf dem Gebiete des Sichtbaren nicht nur Erkenntnis be-
wirkt, sondern auch Entstehen und Wachstum, so ist die
Idee des Guten auch der Grund aller Wesenheit (509 A f.).
Das heifst mit anderen Worten: Plato findet in der hier
zum ersten Male auftretenden Idee des Guten, d. h. des
Zweckvollen, den Einheits- und Quellpunkt der gesamten
Ideenwelt. Schon im Timäus hatte er die Welt der Urbilder
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646 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
als eine einheitliche bezeichnet, ohne aber den Vereinigungs-
punkt näher zu bestimmen. Dies geschieht nun hier. Wegen
dieser zentralen Stellung in der Ideenwelt ist dann aber die
Idee des Guten auch der Höhepunkt der wahren Erkenntnis,
ja die Bedingung für die Möglichkeit eines wirklichen Ver-
ständnisses der Ideenwelt überhaupt. In der hohen Stellung,
die der Idee des Guten angewiesen wird, liegt das Bekenntnis
zur Herrschaft des Zweckes in der Welt, zu einer teleo-
logischen Weltanschauung.
Das dialektische Denken erfafst die Wirklichkeit des
Seienden selbst, nicht ein blofses Bild. Auf dem Gebiete
des Werdens kann nur Meinung stattfinden (c. 21). Der
Mensch in der Leiblichkeit ist wie ein von Kindheit an im
Hintergrunde einer Höhle mit dem Angesichte gegen die
Rückwand unbeweglich Gefesselter. Die an dieser Rück-
wand entlang huschenden Schatten der aufsen vorbei-
getragenen Gegenstände hält er für die wirklichen Dinge.
Losgebunden würde ein solcher, geblendet vom Licht und
gewohnt, die Schatten für das Wirkliche zu halten, nur
langsam, widerstrebend und unter Schmerzen zur Erkenntnis
des Wirklichen gelangen. Die Deutung dieses berühmten
Höhlengleichnisses wird nur stückweise gegeben. Wir er-
fahren, dafs das Licht, das die Schattenbilder bewirkt, die
Idee des Guten , und dafs die Stricke , mit denen der Ge-
fangene gefesselt ist, die körperlichen Lüste sind (517 B f.,
519 A f.). Im übrigen ist klar, dafs die Höhle die Leiblich-
keit, die oben vorbeigetragenen Dinge die Ideen und die
Schattenbilder an der Rückwand der Höhle die Erscheinungs-
dinge sind. In dieser Bezeichnung der Erscheinungsdinge
liegt ein neuer Beweis für die schon im Phädon deutlich
hervortretende Ansicht Piatons auf dieser Stufe seiner Ent-
wicklung, dafs es in keinem Sinne einen Stoif gibt, sondern
dafs die Erscheinungsdinge nur trübe erschaute Schatten
des Wirklichen sind.
In diesem Bilde ist denn nun auch die Aufgabe für die
Ausbildung der Begabten bezeichnet. Sie müssen von den
Fesseln befreit und zum Lichte, zur Erkenntnis des Wirk-
lichen emporgeführt werden (519 D f., 521 C, 513 C f.).
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V. 13. Die zweite Umarbeitung des Staats etc. 647
Es wird hier die Voraussetzung gemacht, dafs die
musisch -gymnastische Bildung der Wächter des Urstaats,
die auf einer Gewöhnung zu harmonischem Leben hinaus-
läuft, den ktlnftigen Herrschern schon zu teil geworden ist
(521 E f.). Diese erhebt sich aber nicht über die Stufe des
Werdenden, des Meinens. Sie müssen aber zur Erkenntnis
des Seienden, zum Wissen emporgehoben werden. Und zwar
durch solche Unterrichtsgegenstände, die zugleich in ihrem
Herrscherberuf ihnen zu statten kommen (521 C f.).
Der erste dieser Gegenstände ist die A r i t h m e t i k. Die
sinnlichen Eigenschaften der Dinge gehören dem Werdenden
und Veränderlichen an und können nicht zum wahren Denken
überleiten. Die Zahl aber weist auf die Wesenheit hin. Die
Zahl an sich ist nicht der gezählte sinnliche Körper; sie
gehört dem Seienden an (c. 7. 8). Zugleich wird durch diesen
Unterrichtsgegenstand die Denkkraft geschärft; er wirkt
formal bildend (526 B).
Es folgt die Geometrie. Auch sie ist, wie die
Arithmetik, für den Herrscher von praktischem Gebrauche,
zugleich aber hat sie ein immer Seiendes zum Gegenstande.
Es wird durch sie die Erkenntnis der Idee des Guten (als
des Einheitspunktes der Ideenwelt überhaupt) vorbereitet
(c. 9).
Unter der Geometrie war hier nur die ebene Geometrie
verstanden, die es mit Flächen zu tun hat (528 D). Als
Drittes mufs aber die höhere Stufe dieser Wissenschaft,
deren Gegenstand die Körper bilden, die Stereometrie,
hinzutreten. Diese ist freilich kaum noch erfunden (528).
Den vierten Gegenstand bildet sodann die Astronomie,
die das Körperliche in Bewegung zeigt (528 A, E). Auch
bei ihr wird der praktische Nutzen und die formal bildende
Kraft hervorgehoben (527 D, 530 C). Die Hauptsache aber
ist, dafs die Bewegung der astronomischen Körper ein sinn-
liches Abbild der wahren Bewegung, der Bewegung an sich,
liefert, die nur begrifflich zu erfassen ist. (Gemeint ist wohl
die Bewegung des Denkens, die schon im Timäus in diesem
Sinne vorkam , oder auch die im Verhältnis der Ideen zu
einander vorkommende Bewegung, von der im Sophistes
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648 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokra tisch. Schulen etc.
die Rede war.) Die blofse Kenntüis der Himmels-
erscheinungen ist für den wahren Astronomen Nebensache
(530 C).
Fünftens wird dann auf einen rein theoretischen Be-
trieb der Musik hingewiesen, der die Tonfolgen aufzählen
zurückführt. Dieser müfste auf den Nachweis abzielen,
welche Zahlen Verhältnisse Harmonie ergeben und warum.
So würde auch die Musik auf die Erkenntnis des „Schönen
und Guten" (d. h. des wahrhaft Seienden) vorbereiten (c. 12).
Dies alles aber ist nur Vorstufe zur Dialektik. Diese
sucht durch das Denken allein ohne alle Hilfe der Sinne
das wahrhaft Seiende. Jene anderen Wissenschaften bleiben
immer noch bei unbewiesenen Voraussetzungen stehen ; die
Dialektik schreitet zum Ausgangspunkte selbst fort. Ihr
Organ ist das reine Denkvermögen (diänoia). Sie ist der
höchste Unterrichtsgegenstand (c. 13. 14). Gemäfs der Existenz
der Begriffe als Wesenheiten ist sie (nach späterem Sprach-
gebrauch) Logik und Metaphysik in einem.
Nachdem dieser ünterrichtsplan für die Heri-scher auf-
gestellt ist, wird die Bestimmung des Urstaats, dafs die
Herrscher die im Wächteramt Erprobten sein sollen, förm-
lich und ausdrücklich widerrufen. Ein so umfassendem
Lehrkursus kann unmöglich noch in vorgerückten Jahren
bewältigt werden. Schon im Knabenalter müssen die Höher-
befähigten ausgewählt und mufs mit dieser wissenschaft-
lichen Ausbildung begonnen werden (536 C ff.). Danach ge-
staltet sich denn der gesamte Bildungsgang der künftigen
Herrscher folgendermafsen. Zunächst haben sie bis zum
20. Lebensjahre zwei bis drei Jahre lang die sehr an-
strengende gymnastische Ausbildung durchzumachen, die eine
gleichzeitige geistige Anspannung ausschliefst (537 B). Es
folgt dann bis zum 30. Lebensjahre ein mehr übersichtlich
gehaltener Kursus in den vorstehenden wissenschaftlichen
Fächern. Bei diesem tritt die dialektische Befähigung zu
Tage. Diese bildet dann den leitenden Gesichtspunkt für
eine mit der gröfsten Vorsicht vorzunehmende zweite
Auswahl. Dann folgt der definitive Kursus der Aus-
gewählten. Derselbe dauert fünf Jahre. Nach dieser Zeit,
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V. 13. Die zweite Umarbeitung des Staats etc. 649
also mit 35 Jahren, werden sie Herrscher, aber zunächst
für einen fünfzehnjährigen Zeitraum nur auf Probe. Erst
die in dieser Probe bewährten Fünfzigjährigen sind die
eigentlichen Herrscher. Abwechselnd verbringen sie ihre
Zeit in der Ideenschau und, wenn die Reihe sie trifft, in
einem staatlichen Amte, bis ans Ende ihrer Tage. Nicht
als einen Vorzug sehen sie diese Herrschertätigkeit an,
sondern als ein notwendiges, dem Staate gebrachtes Opfer
(540 B). Schon früher ist betont worden (519 D) , dafs die
zum höchsten Glück der Ideenschau Gelangten nur zwangs-
weise und notgedrungen sich mit den irdischen Angelegen-
heiten befassen, und es ist im Zusammenhange damit auf
sie die Betrachtung des Urstaats übertragen worden, dafs
nicht einem einzelnen Stande im Staate ein hervorragendes
Mafs von Glückseligkeit gewährleistet werden kann ,* wozu
kommt, dafs sie durch die ihnen lästige Mühewaltung des
Herrschens dem Staate die auf sie verwandte Arbeit der
Ausbildung ersetzen (VII. 5).
Den vollendeten Herrschern liegt auch die Ausbildung
des Nachwuchses zum Herrscherstande ob. Wenn sie zu
den „Inseln der Seligen" abscheiden, wird man ihnen feier-
liche Totenfeste veranstalten, bei denen sie, falls das del-
phische Orakel dies gutheifst, als übermenschliche Wesen
(Dämonen), andernfalls als „glückselige und göttliche
Menschen" gepriesen werden (540 B C). Ausdrücklich wird
auch hier betont, dafs alles Gesagte in gleichem Mafse
auch auf die Frauen seine Anwendung haben soll, voraus-
gesetzt, dafs sie das erforderliche Mafs der Begabung be-
sitzen (540 C).
Diese wahrhaft beglückende Staatsform kann in die
"Wirklichkeit übergeführt werden. Man mufs alle, die über
zehn Jahre alt sind, aus dem Staate entfernen und aufs
Land schicken, die unter zehn Jahre alten aber in neuer
Weise aufserhalb der bisherigen Sitten , die auch die ihrer
Eltern sind, heranbilden (540 E). Ob sich diese nur flüchtig
berührte radikale Mafsregel nur auf die künftigen Herrscher
beziehen soll oder auf alle, wird nicht gesagt. Jedenfalls
hat Plato in diesem Abschnitt noch viel vollständiger als
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650 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
auf den beiden früheren Stufen unserer Schrift den Stand
der Erwerbenden und Gehorchenden aufser acht gelassen.
Hier ist nun zunächst sonnenklar, dafs gegentlber dem
Urstaat in der Vorbildung der aus dem Kriegerstande her-
vorgehenden Herrscher eine unendlich tiefgreifende Um-
gestaltung vorgenommen worden ist. Plato selbst bezeugt
dies. Aber auch der Gesichtspunkt, den Musterstaat zur
Veranschaulichung der Gerechtigkeit zu benutzen , ist hier
völlig geschwunden. Der leitende Gesichtspunkt ist wieder,
wie beim Urstaat, der „Staat der Glücklichen", freilich in
erhöhter Potenz und unter fast ausschliefslicher Berücksich-
tigung der leitenden Klasse. Dafs die niederen Naturen
unter der durch kein Gesetz gebundenen Willkürherrschaft
dieser Weisen glücklich leben werden, wird mehr voraus-
gesetzt als nachgewiesen.
Die neue Erziehung der Herrscher nun entspricht ganz
dem im Phädon aufgestellten Lebensziel: es ist die Er-
ziehung der Sterbenwollenden. Für die durch ihre Begabung
zur Verfolgung dieses Ziels Befähigten wird der Staat, in-
dem er ihnen die entsprechende Erziehung angedeihen
läfst, zur Heilsanstalt. Ob die anderen beiden Stände in
der Richtung auf das jenseitige Heil, die ewige Anschauung
des Seienden, gefördert werden, erfahren wir nicht. Wie
es scheint, müssen sich diese mit der diesseitigen Glückselig-
keit begnügen. Denn auch die im Kriegerstande anerzogene
gewohnheitsmäfsige Tugend steht im Phädon in sehr nie-
driger Geltung. Es liegt hier eben ein krasser Geistes-
aristokratismus vor.
Von besonderem Interesse ist die strenge Bezugnahme
der Erziehungsmafsregeln auf den Erziehungszweck in der
Unterweisung der künftigen Herrscher. Die meist schon
bei Sokrates (Xenoph. Mem. IV. 5) vorkommenden Unter-
richtsgegenstände, die dort aber ausschliefslich den prak-
tischen Zwecken dienen, werden hier vertieft, um in stufen-
weiser Anordnung den Geist vom Sinnlichen, Werdenden,
Veränderlichen dem wahrhaft Seienden zuzuführen. Auch
dafs die Schärfung des Denkens durch diese Stoffe, die for-
male Bildung, als ein sich von seihst ergebendes Neben-
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V. 13. Die zweite Umarbeitung des Staats etc. 651
Produkt der inhaltlichen Aneignung bezeichnet wird, zeugt
von einem tiefen pädagogischen Verständnis. Bemerkens-
wert ist, dafs hier, wo es sich um die Ausbildung von
Herrscherpersönlichkeiten handelt, Plato ganz offen-
bar auf die Grundzüge des sokratischen Erziehungs-
plans, wie ihn auch Xenophon schildert, zurückgegriffen bat.
Die höhere Naturbefähigung, die Unterrichtsgegenstände,
alles erinnert an Sokrates. Nur ist freilich, entsprechend
dem völlig veränderten Erziehungszweck, der in erster Linie
in der Anleitung zur Ideenschau besteht, alles das ent-
sprechend verändert und umgestaltet.
Ganz besonders deutlich tritt endlich zu Tage, dafs
Plato diese Anwendung der Phädonlehre auf den Muster-
staat unter dem Eindruck der Berufung nach Syrakus vor-
nahm. Sicher glaubte er nach den Schilderungen Dions an
diesem und dem Kreise seiner Geistesverwandten, die sich
mit einer Gruppe brutaler Sinnenmenschen um den Einflufs
auf den jungen Tyrannen stritten (Nepos Dion c. 3 f.; Plutarch
Dion c. 11), ein Material zur Heranbildung eines idöalen
Herrscherstandes auf dem Boden der Ideenschau zu finden.
Und auch die Bezugnahme auf den jungen Dionys an der
Stelle, wo er den Vorzug des auf dem Throne geborenen
Höherbefähigten vor anderen seinesgleichen betont (VI. 14),
ist offenkundig. Diese Sachlage spiegelt sich auch noch in
dem „Jetzt oder Nie" als dem ausschlaggebenden Beweg-
grunde zur Reise im siebenten Briefe (328), der freilich die
überirdische Eigenart seines damaligen Staatsideals nicht
zur Geltung bringt.
So trat er denn mit dem verhimmelten Reformprojekt
als Sechzigjähriger, sein ihm so teures Studium und Lehr-
amt im Stiche lassend (7. Brief 329 B), die mühselige Reise
an. Für den praktischen Politiker Dion mochte die phan-
tastische Gestalt, in der ihm Piatos Reformpläne nach
fünfundzwanzigjähriger Trennung entgegentraten, keine ge-
ringe Enttäuschung bilden. Über die jetzt sich abspielenden
Ereignisse gibt den genauesten Bericht, dessen Zuverlässig-
keit freilich zweifelhaft ist, der siebente Brief. Schon bei
Piatos Ankunft steht Dion in dem Verdacht, sich selbst der
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652 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Tyrannis bemächtigen zu wollen. Trotz Piatons nachdrück-
licher Verteidigung wird Dion ein Vierteljahr nach Piatos
Ankunft in die Verbannung geschickt (vgl. auch Plutarch,
Dion 13, 14). Dions Gesinnungsgenossen und mit ihnen
Plato hegen die gröfste Besorgnis, ebenfalls von den Gegen-
mafsregeln des Tyrannen betroffen zu werden. Schon hat
sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, Plato sei hin-
gerichtet worden. Der Tyrann aber läfst sie kommen und
versichert sie seiner Gnade. An Piatos Verbleiben ist ihm
der Volksstimmung wegen alles gelegen, und so hat er denn
Mafsregeln getroffen, um ihm die Abreise unmöglich zu
machen. Zugleich legt er es darauf an, Plato von Dion zu
sich herüberzuziehen. Der Erwartung Piatos dagegen, er
werde sich in ernstlichem Studium und Hören seiner Vorträge
ihm inniger nähern, entspricht er schon aus der Berechnung
nicht, dafs er damit die Gegner Dions gegen sich aufbringen
werde. So scheitern alle Bemühungen Piatos , bei dem
jungen Tyrannen „ein Verlangen nach dem philosophischen
Leben zu entzünden" (329 C ff.). Abgesehen von allem
andern hatte Dionys offenbar keine Lust, sich mit dem
fünf- bis fünfzehnjährigen Kursus im platonischen Wissen-
schaftssystem zu belasten. Bezeichnend in dieser Beziehung
ist der Rat, den nach dem dritten, angeblich später an
Dionys selbst gerichteten Briefe Plato damals dem Tyrannen
gegeben haben soll, entweder überhaupt keine Reformen
vorzunehmen oder sich vorher mit der Geometrie (diese hat
Dionys nur spöttisch aus dem ganzen Unterrichtssystem
hervorgehoben) vertraut zu machen (319 C). Über die Art, wie
diese für Plato so unerquickliche Lage ihr Ende erreichte,
hat der siebente Brief nichts. Nach dem dritten Briefe
(316 E f.) erfolgte Piatos Abreise infolge eines gütlichen
Übereinkommens, bei dem der Tyrann versprach, binnen
kurzem Plato gleichzeitig mit Dion zurückkommen zu lassen,
um eine Aussöhnung mit letzterem herbeizuführen. (Vgl.
auch Plutarch, Dion 15, 16). Noch vor seiner Abreise
bringt er die schon früher erwähnte Annäherung zwischen
Dionys und Archytas nebst anderen, ihm von seiner ersten
Reise her bekannten Tarentinern zu stände (7. Brief 338 G).
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V. 14. Die Alterslehre Piatos (360—347). 653
Die nach dem Vorstehenden in Aussicht genommene
letzte Reise Piatos fand im Jahre 361 statt. Von Dionys,
sowie auch von Dion, dem noch immer Verbannten, der auch
seinerseits auf die Aussöhnung durch Plato hoffte, war er
dringend zu der Reise aufgefordert worden (317 A). Nach
einer anderen Angabe war auch zu Plato das Gerücht ge-
drungen, Dionys sei aufs neue von gewaltigem Eifer für die
Philosophie erfüllt, weil er sich philosophisch Gebildeten gegen-
über starke Blöfsen gegeben habe (338 f.). Auch die tarentini-
schen Freunde sollen Plato um die Reise gebeten haben
(7. Brief 339 D ; Plutarch, Dion 18). So fafst er nochmals
Hoffnung auf Verwirklichung seiner Ideale durch den Tyrannen
(339 E). Er wird auch diesmal hoch aufgenommen und beginnt
sogar dem Tyrannen philosophische Vorträge zu halten, die
aber nicht über einen einzigen hinauskommen (341 A, 345 A).
Doch der Bruch der in Bezug auf Dion gegebenen Ver-
sprechungen und die fortdauernden Beweise von Übelwollen
und Mifstrauen gegen Dion führen bald eine Spannung
herbei. Plato gerät in eine Art von Gefangenschaft Sein
Leben ist bedroht. Und nur durch die Fürsprache des
Archytas und der tarentinischen Freunde wird ihm 360
die Abreise ermöglicht (317 C ff., 350 A B, 340 A). Die
nunmehr schrankenlos in boshaften Handlungen sich er-
gehende Feindschaft des Tyrannen gegen Dion veranlassen
diesen zu einem Zuge gegen Syrakus. Er bemächtigt sich
(357) leicht der Herrschaft, wird aber 353 ermordet. Es
gelingt sogar Dionys 346, noch einmal der Tyrannis sich zu
bemächtigen, doch zwingt ihn 343 T i m 0 1 e 0 n , ihr für immer
zu entsagen. Nach diesem Zeitpunkt lebte er in Korinth.
Sein dortiges Zusammentreffen mit dem Kyniker Diogenes
ist früher erwähnt worden.
14. Die Alterslehre Piatos (360— 347).
Als Plato 360 von der letzten sizilischen Reise zurück-
kehrte, war er 67 Jahre alt. Es verbleibt von da bis zu
seinem Tode noch ein Zeitraum von 13 Jahren. Auch in
dieser letzten Lebenszeit nun ist bei ihm der Trieb, seine
Gedanken umzugestalten und zu verbessern, nicht erloschen.
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654 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Dies spiegelt sich schon ganz äufserlich in der Angabe, er
sei schreibend gestorben (Cic. Cato m. 13), und tritt auch
für unsere Kenntnis noch in mehreren Erscheinungen her-
vor. Insbesondere äufsert sich dieser Trieb in dieser letzten
Phase als ein Streben nach Übereinstimmung mit der ge-
gebenen Wirklichkeit sowohl auf dem theoretischen als auf
dem praktischen Gebiete.
Zunächst legt ihm Aristoteles, der von 367—347
der Akademie angehörte, Bestimmungen über die Ideen bei,
die in den bisher erwähnten Schriften nicht vorkommen,
die daher als eine Umgestaltung der Ideenlehre in diesem
letzten Zeitraum betrachtet werden müssen. Bei dem ge-
ringen Interesse dieser Änderung wird es genügen, über
diesen Punkt nur das Notwendigste anzuführen, zumal die
Angaben des Aristoteles nur in gelegentlichen, nur teilweise
verständlichen Andeutungen bestehen.
Als Abweichung von seiner früheren Lehre mufs es er-
scheinen, wenn Aristoteles (1028 b, 19) angibt, Plato habe
drei Arten von Wesenheiten angenommen, die Ideen, das
Mathematische (worunter nach anderen Stellen die Zahlen
zu verstehen sind) und die sinnlichen Körper. Er mufs
hiernach also zunächst den sinnlichen Einzeldingen
wieder ein selbständiges Sein zugeschrieben
haben. Ferner treten hier die Zahlen als eine besondere
,» Wesenheit" neben den Ideen auf. Dafs diese zweite Ände-
rung eine Konsequenz der ersten war, erhellt aus folgender
Betrachtung.
Im Timäus waren die Einzeldinge Abbilder der Ideen
als Urbilder im Räumlichen als Stoff gewesen. Im
Phädon war die Vielheit der Einzeldinge nur eine ge-
trübte Erscheinungsweise der entsprechenden ein-
heitlichen Idee. Bei beiden Betrachtungsweisen konnte die
Schwierigkeit nicht aufkommen, dafs das Einheitliche zu-
gleich eine Vielheit sein sollte. Sobald aber mit dem Ge-'
danken, dafs die Ideen das einzig Reale an den Dingen
seien, die Fassung der vielen Einzeldinge als „Wesenheiten*
verbunden wurde, entstand die Schwierigkeit, dafs nunmehr
die zugehörige Idee ihre Einheit verlor und als in un-
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V. 14. Die Alterslehre Piatos (360—347). 655
begrenztem Mafse zerteilt gedacht werden mufste. Dieser
Schwierigkeit sollte durch Zwischenschiebung der Zahlen
begegnet werden. Wie dies geraeint ist, scheint aus folgen-
der Äufserung des Aristoteles hervorzugehen, in der zwar
Plato nicht genannt wird, die aber sich unverkennbar mit
der vorliegenden Frage beschäftigt (1002 b, 12) : Das , Mathe-
matische' (d. h. die Zahlen) ist in anderen Punkten von
den Sinnendingen verschieden; darin aber stimmt es mit
diesen überein, dafs es auch von ihm eine Vielheit von
Gleichartigem gibt.** Das kann doch nur heifsen, dafs
man jede beliebige Zahl als beliebig oft existierend denken
kann, was bei den Ideen ausgeschlossen ist. Im Zusammen-
hange mit dieser Äufserung werden auch hier die drei Arten
der Wesenheiten aufgezählt, und zwar als das Sinnliche, das
Mittlere und die Ideen. Offenbar sind hier unter dem
Mittleren die Zahlen zu verstehen. Sie bilden vermöge der
mit den Sinnendingen gemeinsamen Eigentümlichkeit, be-
liebig oft gesetzt werden zu können bei im übrigen unsinn-
licher Beschaffenheit, ein geeignetes Mittelglied zwischen der
einheitlichen Idee und den vielen entsprechenden Sinnen-
dingen, ein Hilfsmittel, um bei der Nichtannahme eines
Stoflfes dem Ungedanken einer unbegrenzten realen Zei-
teilung der Ideen zu entgehen. Die Idee wird schon in
der unsinnlichen Sphäre zur Zahl. In dieser ist ihr Wesen
vervielfältigt und zerteilt, und so. ist es leichter, den Über-
gang zur unbegrenzten Vielheit der Einzeldinge zu finden.
Diese Andeutung mag genügen, um wenigstens die Richtung
zu kennzeichnen, in der sich mutmafslich diese abstrusen
Spekulationen der letzten Lebenszeit Piatos bewegten. Schon
dies Wenige aber zeigt uns, dafs Plato bei eigensinnigem
Festhalten an den Ideen als dem einzig wahrhaft Seienden
doch einen Weg suchte, um auch der Erscheinungswelt ein
höheres Mafs von Realität beilegen zu können, als im Phädon
und dem letzten Bestandteil des Staates geschehen war.
In noch viel entschiedenerer Weise zeigt sich in der
letzten Schrift Piatos, den „Gesetzen", die zugleich alle
anderen an Umfang übertrifft, dies Streben nach Anpassung
ans erfahrungsmäfsig Wirkliche auf dem praktischen Gebiet.
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656 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Es wird berichtet (D. L. III. 37) , dafs Plato die „Gesetze«
auf Wachstafeln geschrieben, d. h. nach dem Schreib-
gebrauche der Zeit im Unreinen, im noch unvollendeten
Entwürfe, hinterlassen und dafs sein Schüler Philipp von
Opus sie abgeschrieben und veröffentlicht habe. Dieser
sei auch der Verfasser des am Schlüsse angehängten „Nach-
worts zu den Gesetzen" (Epinomis), das allerdings ganz ab-
weichende und dem platonischen Denken überhaupt fremde
Dinge behandelt. Dies Gepräge des noch unvollendeten
Entwurfs zeigt denn die Schrift auch aufs deutlichste.
Auch scheinen an manchen Stellen durch den Abschreiber
die einzelnen Wachstafeln in unrichtiger Reihenfolge an-
einandergereiht zu sein. Auf den späten Ursprung der
Schrift deutet auch eine Anspielung auf ein Zeitereignis.
Als 357 Dion sich der Stadt Syrakus bemächtigte, nahm
Dionys das unteritalische Lokri ein und herrschte dort bis zu
seiner Rückkehr nach Syrakus 346. Auf diesen Sieg über Lokri
findet sich eine Anspielung (638 B).
Zu dieser Spätzeit seines Lebens und namentlich auch
zu den in Syrakus mit seinen Heilanstaltsidealen gemachten
trüben Erfahrungen stimmt denn auch der Inhalt unserer
Schrift und die ausdrücklichen Zeugnisse, die sie selbst über
ihren Zweck ablegt. Die „Gesetze" entwerfen wie der
„Staat" einen Musterstaat, aber einen solchen, der nicht
nur vom Erlösungsstaate der letzten Umarbeitung des
„Staats", sondern selbst von der völligen Aufhebung der
Volkssouveränität, sowie der Ehe und des Privateigentums
bei der herrschenden Klasse im Urstaat himmelweit ver-
schieden ist. Das Lebensziel der wahren Erkenntnis in
einem körperfreien Jenseits wird hier auch nicht einmal
mehr für eine auserlesene Minderheit verfolgt, und auch die
diesseitige Glückseligkeit aller soll nicht mehr wie im Ur-
staat dadurch erreicht werden, dafs die gesamte Staats-
gewalt in den Händen einer auserlesenen Minderheit ver-
einigt wird. Plato kehrt zum Prinzip der Volkssouveränität
zurück und trifft nun auf dieser Grundlage Vorkehrungen
mannigfacher Art, um der Zuchtlosigkeit zu wehren und
für alle die Verwirklichung eines Ideals diesseitiger Glück-
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V. 15. Der Staat der Gesetze. 657
Seligkeit herbeizuführen, dessen Grundlinien sehr bestimmt
entworfen werden. Dieses neue Gltickseligkeitsideal , das
jedoch nur dogmatisch, ohne wissenschaftliche Begründung,
aufgestellt wird, hat geradezu den Ausgangspunkt gebildet
für die frühesten Bestrebungen der folgenden Periode, für
das Lebensziel, das höchste Gut , eine wissenschaftliche Be-
gründung zu finden. Diese Schrift Piatos steht somit hart
an der Grenze der beiden Perioden. Wegen dieser viel-
fachen, sowohl für das Denken Piatos als auch für die
weitere Entwicklung ihr zukommenden Bedeutung mufs ihr
noch ein besonderer Abschnitt gewidmet werden.
Nach einer dritten Richtung endlich müfsten wir eine
Umgestaltung des Denkens Piatos in diesem Zeitraum an-
nehmen, wenn angenommen werden könnte, dafs der unter
seinen Schriften stehende Dialog „Philebos" wirklich von
ihm verfafst wäre. In diesem Falle hätte Plato geradezu
in die den Anfang der dritten Periode bezeichnende wissen-
schaftliche Diskussion über das wahre Lebensziel noch selbst
eingegriflFen und wäre damit geradezu in die folgende Periode
noch selbst hinübergetreten. Es ist jedoch aus vielen Gründen
im höchsten Grade zweifelhaft, dafs diese Schrift ihm selbst
angehört. Jedenfalls gehört sie ihrem Inhalt und Zwecke
nach in die folgende Periode und mufs dort an der ihr zu-
kommenden Stelle zur Besprechung kommen.
16. Der Staat der Gesetze.
In den „Gesetzen" soll nicht der bestmögliche Staat
entworfen werden. Es gibt eine dreifache Abstufung der
Staatsverfassungen. Im besten Staate ist nicht nur das
Privateigentum und die Familie aufgehoben, sondern es ist
darin durch eine tiefeingreifende Erziehung sogar eine völlige
Einhelligkeit im Gefühlsleben und in den Werturteilen er-
zielt. Alle halten ein und dasselbe für erstrebenswert und
zu meiden (739). Offenbar denkt hier Plato an die Er-
ziehung der Wächter im Urstaat. An den hohen Flug, den
im Staate von 367 die Erziehung der Herrscher nahm, er-
innert er nicht einmal mit einer Andeutung. Nur in ein-
zelnen gelegentlichen Bemerkungen zeigt sich, dafs ihm selbst
Dörinjf. I. 42
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658 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
die jenseitigen Dinge noch immer als die wichtigeren gelten.
Die irdischen Angelegenheiten müssen zwar geordnet werden,
sind aber im Grunde einer grofsen und ernsten Bemühung
nicht wert. Das eigentliche Glück ist in ihnen nicht zu finden.
Nur die Gottheit ist ernster Bemühung wert. Der Mensch
(in seinem Erdenleben) ist nur ein Spielzeug der Gottheit
(803 B f.). Auch der Gott der Unterwelt ist der Verehrung
würdig, denn die Gemeinschaft der Seele mit dem Körper
ist durchaus nichts Besseres als ihre Trennung (828 D).
Der beste Staat ist ein Staat „für Götter und Götter-
söhoe". Gegenwärtig aber handelt es sich um einen Staat
zweiten Ranges. Gemeinsamkeit des Besitzes ist ein
der Denkweise des heutigen Geschlechts nicht fafsbares
Ideal. Für den weiteren Verlauf der Schrift wird eine Dar-
stellung auch noch der dritten Rangstufe in Aussicht ge-
nommen , zu der es aber nicht gekommen ist (739 E f.).
Selbst in diesem zweiten Staate müssen, um ihn folgerecht
durchzuführen, noch sehr weitgehende Opfer an Bewegungs-
freiheit und natürlichen Neigungen gebracht werden (746),
und er kann, weil er nicht mit Göttersöhnen und Heroen,
sondern mit schwachen Menschen als seinen Bürgern zu
rechnen hat, selbst strenger Strafbestimmungen nicht entraten
(853 B ff.).
Nach welchen Gesichtspunkten nun dieser Staat auf-
gebaut wird, und wie er sich demgemäfs gestaltet, sowie auch,
dafs in einzelnen Teilen der Schrift Unfertigkeit und mangel-
hafte Anordnung zu Tage tritt, das wird am besten durch
eine knappe und gedrängte Inhaltsangabe der Schrift deut-
lich werden.
Drei Greise, ein Athener, ein Kreter und ein Spartaner,
spazieren auf Kreta von Knossos, der Stadt des Minos, des
ruhmreichen kretischen Gesetzgebers, nach dem in der Nähe
gelegenen Zeusheiligtum und unterhalten sich unterwegs
über Gesetzgebung und Staatenbildung. Sehr bald kommt
es zur Aufstellung des wahren Staatsziels: Glückseligkeit
der Bürger durch den Besitz aller Güter. Es gibt aber
menschliche und göttliche Güter. Die menschlichen sind:
Gesundheit, Schönheit, Stärke, Reichtum, die göttlichen : Ein-
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V. 15. Der Staat der Gesetze. 659
sieht, Sophrosyne, Gerechtigkeit und Tapferkeit. Letztere
stehen „durch Natur** ersteren voran. Hier treten die vier
Kardinal tugenden ohne jenen inneren Zusammenhang auf,
den die erste Umarbeitung des Staats zwischen ihnen her-
gestellt hatte. Dieser Zusammenhang ist hier fallen ge-
lassen. Auch weiterhin wird nicht versucht, eine innere
Einheit dieser Vierzahl nachzuweisen, auch wo ausdrücklich
auf diesen Punkt die Rede kommt (963 C ff.).
Nach dieser Rangordnung der Güter mufs sich der Ge-
setzgeber bei seinen Einrichtungen richten, und zwar mufs
er unter den göttlichen Gütern wieder der vernünftigen Ein-
sicht den höchsten Rang beilegen (631 B ff.). Dieser Aus-
gangspunkt wird aber nicht weiterverfolgt. Es folgen un-
zusammenhängende Bemerkungen über einige spezielle Ob-
liegenheiten des Gesetzgebers, an die sich eine Kritik der
kretisch-spartanischen Gesetzgebung durch den Athener an-
schliefst. Diese Kritik kommt aber nicht zu dem ihr durch
eine voraufgeschickte Disposition (632 E) vorgesteckten Ziele,
gerät vielmehr auf ganz seltsame Abwege, nämlich auf die
Erwägung, unter welchen Umständen in einem normalen
Staatswesen die Pflege der Trunkenheit von nöten ist. Diese
weit ausgesponnene, vielfach einer unfreiwilligen Komik nicht
entgehende Erörterung (641 D— 674 C) hat für den Grund-
gedanken nur dadurch Bedeutung , dafs in ihrem Verlaufe
auf die notwendige gesetzliche Einschränkung der Dichter
und Künstler hingewiesen wird. Diesen darf nicht gestattet
werden, in ihren Produktionen dem Geschmacke der Menge
zu schmeicheln (658). Gewifs ist die Erregung von Lust
Zweck der Kunst, aber nicht der Lust des ersten besten,
sondern des Tugendhaften. Die Gesetzgebung hat dafür zu
sorgen, dafs von Kind an alle gewöhnt werden, in der
gleichen Weise Lust und Unlust bei den Kunstschöpfungen
zu empfinden wie die vorbildlichen Greise. Nicht direkt,
sondern auf diesem indirekten Wege des berichtigten Ge-
schmacksurteils soll die Kunst sittlich bilden (658 E — 660 E).
Dies führt dann auf nochmalige Betonung der für den Staat
mafsgebenden Güterlehre.
Was nämlich von der Menge ein Gut genannt wird, wird
42*
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660 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
mit Unrecht so genannt. Nach dem Urteil der Menge ist
das oberste Gut Gesundheit; dann kommt Schönheit, dann
Reichtum. Sie rechnet ferner zu den Gütern normale Be-
schaffenheit der Sinne, Macht, endlose Fortdauer des Lebeugf.
Diese vermeintlichen Güter aber sind dies nur für Gerechte
und Fromme; für Ungerechte sind sie Übel. Für diese ist
das Leben selbst das gröfste Übel, erst recht, wenn es un-
vergänglich wäre, denn sie sind im Besitze aller dieser Güter
trotzdem unglücklich (661 f.). Diese Güterlehre mufs im
wahren Staate obligatorisch, als Glaubenssatz gelten. Bei
schwerer Strafe müssen die Dichter und die Bürger über-
haupt genötigt werden , sich zu ihr zu bekennen (661 C,
662 B). Der Beweis, dafs sie die richtige ist, wird dadurch
geführt, dafs sie die lustvollste ist (663 A). Hier tritt der
alte sokratische Satz auf: „Niemand wird sich überreden
lassen, freiwillig das zu tun, was nicht mehr Lust als Un^
lust nach sich zieht." Die Menge freilich urteilt über die
zeitlich fernen Wirkungen wie Kinder; sie liegen ihr im
Dunkel. Der Gesetzgeber aber soll sie eines Besseren be-
lehren (663 B). Dieser Beweis aber wird dadurch geführt,
dafs Ehre lustvoll, Schande unlustvoll ist, und dafs erstere
der Gerechtigkeit, letztere der Ungerechtigkeit folgt. Wäre
dies nicht die Wahrheit, so wäre es wenigstens eine heil-
same Lüge (663 D f.).
Von den dem Preise der Tugend gewidmeten Chören
wird dann wieder zum Thema des Weines übergelenkt; die
kretische Verfassung ist ganz aus dem Gesichtskreise ge-
schwunden.
Mit ganz neuem Ansetzen wird hierauf auf die Ent-
stehung des Staats überhaupt eingegangen, mit kritischen
Bemerkungen über mancherlei Mifsstände in den geschicht-
lich hervorgetretenen Staaten (Buch III). In diesem Zu-
sammenhange wird für den rechten Staat nochmals die For-
derung aufgestellt, dafs in ihm die verschiedenen Güter nach
ihrem wahren Werte geschätzt werden müssen. Und zwar
werden jetzt drei Güterklassen aufgestellt: Güter der Seele
(„wenn in ihr Sophrosyne vorhanden ist") als die oberste,
Güter des Körpers als die zweite und äufsere Güter als die
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V. 15. Der Staat der Gesetze. 661
dritte (697 B). Diese Rangordnung ist nicht verschieden
von der früheren, zweiteiligen, doch scheint, wie das Folgende
zeigt, der Kreis des Erstrebenswerten etwas weiter gezogen
zu sein.
Im vierten Buch wird nun das Material, aus dem
der Musterstaat hergestellt werden soll, in zwei offenbar
einander ausschliefsenden Weisen, also in einem doppelten
Entwürfe, dargeboten. Einmal handelt es sich um eine ganz
neue Kolonie, mit deren Gründung der Kreter beauftragt
ist (702 B f., 707 E ff.). Ganz bald darauf (709 B ff.) aber
fordert der Gesetzgeber für sein Experiment einen Staat, der
von einem jungen, intelligenten und tugendhaften Tyrannen
beherrscht wird. Im weiteren Verlaufe behält die neue
Kolonie die Oberhand (736, 744 B, 751 E, 754), doch taucht
auch der Fall des vom Tyrannen beherrschten Staates ge-
legentlich wieder auf (735 D). Einmal werden sogar beide
Fälle nebeneinandergestellt (738 B). Die Gesetzgebung be-
ginnt. Als Prinzip für die zu wählende Verfassung wird
aufgestellt, dafs sie nicht Sonderinteressen, sondern dem ge-
meinen Besten zu dienen hat (712—15). In einer feierlichen
Ansprache (716 — 718 B) wird den neuen Bürgern dargetan,
dafs wahrer Götterdienst die Grundlage des Staatslebens
sein mufs. Hierauf soll die Gesetzgebung selbst beginnen
(718 C). Es werden einige Verordnungen über die Ehe auf-
gestellt (721). Dann der Grundsatz, dafs den Gesetzen Ein-
leitungen vorangeschickt werden sollen, die über ihre Zweck-
mäfsigkeit und Notwendigkeit unterrichten (722 C ff.). Hier-
auf (Anfang von Buch V) folgt ganz offenbar die Fort-
setzung jener feierlichen Anrede an die Bürger. Das Da-
zwischenstehende ist also an die unrechte Stelle geraten.
Nächst den Göttern ist die Seele das wertvollste Besitztum
des Menschen. Nächst den Göttern mufs sie am meisten
geehrt werden. Wer ihr allen Willen läfst, wer nie seine
eigene Schuld eingesteht, schädigt sie. Dasselbe gilt vom
Sinnengenufs, von der feigen Furcht vor Gefahren und Be-
schwerlichkeiten, insbesondere von der Todesfurcht, da ja
vielleicht der Zustand nach dem Tode ein glücklicherer ist
als im Diesseits, also das irdische Leben vielleicht überhaupt
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662 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
kein Gut ist. Auch wer körperliche Schönheit oder Reich-
tum über die Tugend setzt; entehrt die Seele. Die gröfste
Strafe ist, schlecht zu werden (726—8).
Das dritte wertvolle Besitztum ist der Körper. Er wird
recht geehrt, wenn man nicht nach einem einzelnen der
körperlichen Güter gesondert strebt, nach Schönheit oder
Kraft, Gewandtheit, Gröfse, Gesundheit, sondern nach der
richtigen Vereinigung dieser verschiedenen Güter (728 D f.).
Hier nun verwischt und verdunkelt sich der Fortgang der
Rede; Fremdes mengt sich ein. Wir können hier das ein-
zelne auf sich beruhen lassen. Doch sei betont, dafs in
diesen zerrissenen Zusammenhängen einige bemerkenswerte
Gedanken auftauchen. Niemand ist freiwillig ungerecht, weil
niemand sein eigenes Unglück will (731 C) : der ethisch in-
tellektualistische Jugendgedanke aus dem Protagoras! Wir
begehren Lust, verabscheuen Unlust; den Mittelzustand
wünschen wir bei vorhandener Unlust, wünschen wir nicht
bei vorhandener Lust. Geringere Unlust, mit gröfserer Lust
verbunden, wünschen wir ; umgekehrt, wenn die Unlust gröfser
ist als die begleitende Lust. Ist beides im Gleichgewicht,
so schweigt der Wunsch. In bezug auf das Ganze des
Lebens wünschen wir starke Mengen von Lust und Unlust,
wofern nur erstere das Übergewicht hat. Doch gilt auch
das als ein wünschenswerter Zustand, wenn bei nur ge-
ringen Graden von Lust und Unlust die Lust überwiegt.
Ein Leben, in dem beides im vollständigen Gleichgewicht
ist , kann nicht als wünschenswert gelten (733 B flf.). Ein
Bekenntnis zur Positivität der Lust wie der Unlust mit
kürzester Übersicht der möglichen Fälle!
Schliefslich wird erklärt, dafs nunmehr die Einleitung
zur Gesetzgebung beendigt sei und diese selbst beginnen
könne (734 E).
Diese beginnt denn auch in der Tat. Zunächst werden
aus der Zahl der Kolonisten, die sich zusammengefunden
haben, die weniger wünschenswerten Elemente ausgeschieden
und die Zahl der Bürger auf 5040 eingeschränkt, welche Zahl
sich dadurch empfiehlt, dafs sie in der mannigfaltigsten
Weise (in 59 verschiedenen Weisen) teilbar ist (738 A). Alle
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V. 15. Der Staat der Gesetze. 663
erhalten gleichwertige Landlose, die nicht veräufsert werden
dürfen. Diese Zahl der Familienlose mufs konstant bleiben.
Die Bürger treiben keine Handwerke oder Geschäfte, sondern
leben vom Landbau (741 E). Als Geld dient eine im Aus-
lande wertlose Münze. Nach dem mitgebrachten Vermögen,
das aber auch ein gewisses Mafs nicht übersteigen darf,
werden vier Vermögensklassen gebildet, nach denen sich Ab-
gaben und Staatsleistungen, aber auch die Besetzung obrig-
keitlicher Ämter richtet. Hier sind einige kleine Uneben-
heiten stehen geblieben. Die Bürger dürfen kein Gold oder
Silber besitzen (742), und doch gibt es bewegliches Ver-
mögen. Bei der Einteilung in die vier Klassen sollen ein-
mal auch Geburt und Tüchtigkeit mit ins Gewicht fallen,
dann aber ausschliefslich das Vermögen in Betracht kommen
(744 B f.). In diesem Zusammenhange wird abermals be-
tont, dafs die Gesetzgebung stets die wahre Glückseligkeit
aller als den Endzweck aller zu treffenden Anordnungen im
Auge haben mufs, dafs aber diese wahre Glückseligkeit nur
im Besitze der drei Güterklassen in der richtigen Rang-
ordnung besteht. Eine Gesetzgebung wäre verfehlt, die etwa
in ihren Anordnungen der Gesundheit eine höhere Wert-
stufe zuwiese als der Sophrosyne. Mit klarstem Zweck-
bewufstsein mufs der Gesetzgeber seine Bestimmungen treffen
(742 C — 744 A). Diese Rangordnung der Güterklassen findet
auch an späterer Stelle nochmals ihren Ausdruck (870 B).
Die äufseren Güter sind um des Körpers willen da, der
Körper um der Seele willen. Daher rangiert der Reichtum
als Drittes hinter der Tüchtigkeit der Seele und des Körpers.
In dem so eingerichteten Staate nun kommt das Prinzip
der Volkssouveränität dadurch zum Ausdruck, dafs die über-
aus zahlreichen Behörden durch Volkswahl eingesetzt werden.
Dabei wird jedoch gegen das demokratische Prinzip der
völligen Rechtsgleichheit aller eine prinzipielle Verwahrung
eingelegt (757). Durch die (innere) Ungleichheit wird das
(äufserlich) Gleiche ungleich. Auch die Gottheit verfährt
in der Zuteilung ihrer Gnadener Weisungen nach dem Prinzip
der verschiedenen Würdigkeit. Auch die Staatsweisheit mufs
nach diesem „Recht an sich" die Rechtsgleichheit bemessen.
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664 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
Doch soll das rein demokratische Prinzip der Gleichheit aller
darin zur Geltung kommen, dafs in der Stellenbesetzung
in einigen Fällen das Los entscheiden soll. (So auch 756 E,
759 B.) Das Los drückt in der radikalsten Weise die Gleich-
wertigkeit zwar nicht der Wähler, aber der in ein Amt zu
Berufenden aus, freilich aber mutet die Empfehlung des
Loses nach den betreffenden Ausführungen des historischen
Sokrates eigentümlich an.
In der Praxis kommt die Einschränkung des allgemeinen,
gleichen Wahlrechts durch das Prinzip der verschiedenen
Würdigkeit bei den verschiedenen Wahlen in verschiedener
Weise zum Ausdruck. In einem Falle sind nur diejenigen
wahlberechtigt, die an einem Kriege teilgenommen haben
(753 B), in einem anderen (bei der Wahl der militärischen
Behörden) alle, die mit den Waflfen gedient haben oder gegen-
wärtig dienen (755 C). Bei der wichtigsten Wahl, der des
Rates, findet die Wahl durch ein ziemlich kompliziertes
Verfahren , vornehmlich aber dadurch statt-, dafs jede der
vier Vermögensklassen die gleiche Zahl von Ratsmitgliedem
wählt, die drei ersten Klassen mit Zwangsbeteiligung an der
Wahl (756 C ff.).
Gegenüber diesem Prinzip der Volkssouveränität nun
hat Plato eine grofse Anzahl von Gegengewichten ge-
schaffen, durch die sie unschädlich gemacht werden und eine
absolute Stabilität der Verfassung gewährleistet
werden soll.
Das erste derselben liegt schon in der strengen Auf-
rechterhaltung einer fast völligen wirtschaftlichen und recht-
lichen Gleichheit aller Bürger. Nur mit starker Ein-
schränkung wird die Ungleichheit des beweglichen Ver-
mögens zugelassen; im Landbesitz sind alle gleichgestellt.
Ein eigentlicher Unterschied von reich und arm darf nicht
aufkommen (742, 745). Deshalb mit ist auch Handel und
Handwerk den Bürgern untersagt und rechtlosen Mitbewohnern
des Staats zugeteilt (84ö). Vor dem Gesetz sind alle gleich ;
von den immerhin geringfügigen Unterschieden im aktiven
Wahlrecht war schon die Rede.
Dazu kommt als Zweites die in der Bürgerschaft
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V. 15. Der Staat der Gesetze. 665
genährte Überzeugung von der absoluten Vortreflflichkeit
der Staatseinrichtung. Die als Staatszweck zu Grunde
liegende Glückseligkeitslehre ist ein auf alle Weise den
Bürgern einzuschärfendes Dogma. Schon die erste Anrede
des Gesetzgebers war diesem Zwecke gewidmet. Die Ein-
leitungen zu den einzelnen Gesetzen femer sollen dazu
dienen, die Vemunftüberzeugung von der diesem obersten
Staatszweck entsprechenden Beschaffenheit der betreffenden
Gesetze, von ihrer Zweckgemäfsheit, zu begründen.
Drittens wird den Bürgern der Verkehr mit anderen
Staaten, durch den Umsturzgedanken Eingang finden könnten,
aufs äufserste erschwert. Von der Münze war schon die
Rede. Beisen der Bürger in andere Staatsgebiete bedürfen
der Genehmigung, die nur in bestimmt bezeichneten Fällen
erteilt wird (949 E ff.). Fremde Reisende, die des Erwerbs
oder Vergnügens wegen kommen, unterliegen einer strengen
Aufsicht. Kommen sie aber, um von den Staatseinrichtungen
Kenntnis zu nehmen, so soll ihnen aller mögliche Vorschub
geleistet werden (952 D fiF.).
Viertens wachen über der Aufrechterhaltung der
einzelnen Staatsordnungen zahlreiche Behörden mit genau
abgegrenzten Obliegenheiten, meist mit einer ihrem Wirkungs-
kreise entsprechenden Strafgewalt ausgestattet. Den ein-
zelnen Gesetzen sind strenge Strafbestimmungen beigefügt.
Die Gesetze sind ja der geringen Einsicht der Menschen
wegen notwendig. Bei vollkommener Einsicht aller bedürfte
es keiner Gesetze (875). Das schwerste Vergehen aber
nächst der Verletzung der Heiligtümer der Götter ist die
Auflehnung gegen das Staatsgesetz, die Neuerungssucht.
Solche Umtriebe zur Anzeige zu bringen ist jeder Bürger
verpflichtet. Die Inhaber der höheren Ämter, denen sie ent-
gehen oder die sie aus Feigheit nicht zur Anzeige bringen,
unterliegen schwerer Verantwortung; die Neuerungssüch-
tigen selbst trifft der Tod (856 B ff.). Schon durch diese
völlige Unangreifbarkeit sämtlicher staatlicher Einrichtungen
ohne Ausnahme, die jede gesetzgeberische Tätigkeit aus-
schliefst, sind der Volkssouveränität die engsten Grenzen
gezogen. Aufser den Strafen gibt es auch hohe Ehren-
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(566 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
erweisungen von Gesetzes wegen, besonders für ausgezeichnete
Führung von Staatsämtem (946 E f.).
Ein hochbedeutsames Mittel zur Festigung der Ver-
fassung ist fünftens die Erziehung des gesamten Nach-
wuchses von Staats wegen. Hier tritt zunächst wieder die
völlige Gleichstellung der Geschlechter hervor. Die Gleich-
berechtigung der Frauen ist der einzige Punkt, hinsichtlich
dessen sich Plato in seinen verschiedenen Staatsidealen vom
Urstaat bis zu den Gesetzen völlig gleichbleibt. Die Teil-
nahme der Frauen an den Staatsämtem und am Kriegs-
dienst — trotz der wieder eingeführten Einehe ! — wird
wie etwas Selbstverständliches in unserer Schrift nur neben-
bei berührt (785 B). Wie es scheint , hat Plato nicht nur
die weibliche Kraft dem Staate direkt dienstbar machen
wollen, sondern auch den unmefsbaren Einflufs der Frau
auf den Mann als Bestimmungsgrund auf sich wirken lassen.
Demgemäfs nehmen denn auch die Mädchen an allen Ver-
anstaltungen der öffentlichen Erziehung, einschliefslich der
Gymnastik, des Reitens und der Waffenübungen, mit dem-
selben gesetzlichen Zwange teil wie die Knaben und Jüng-
linge (794 D, 804 D «F., 813 D ff.).
Die Erziehung selbst ist im wesentlichen die gleiche
musisch-gymnastische, die schon im Urstaat für den Nach-
wuchs des Kriegerstandes aufgestellt war, hier auf die
Jugend des gesamten Bürgerstandes ausgedehnt. Wie dort
so wird auch hier namentlich die musische Erziehung in
den Dienst der Herstellung des richtigen Seelenzustandes
gestellt und in diesem Sinne die strengste Zweckbeziehung
auf diesen Punkt mit der gröfsten Entschiedenheit durch-
geführt. Nur ist hier das Ziel ein etwas verändertes,
nämlich die Heranbildung zur offiziellen, der ganzen Staats-
einrichtung zu Grunde liegenden Schätzung der Lebens-
güter. In diesem Sinne mufs sich Dichtung, Musik und
Tanz unnachsichtlich der Modelung durch das Staats-
interesse unterwerfen , und die betreffenden Bestimmungen
sind hier noch viel umfangreicher und vielseitiger als im
Urstaat (797 ff., 812 ff.. 835 D f.). Neuerungen auf allen
diesen Gebieten sind, als geradezu den Bestand der Ver-
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V. 15. Der Staat der Gesetze. 667
fassung gefährdend, streng verpönt (797). Auf die Einzel-
heiten dieses hochinteressanten und pädagogisch hoch-
bedeutenden, wenngleich heute nur geringes Verständnis
findenden Gebietes hier einzugehen, würde zu weit führen.
Musik und Tanz ist für Plato ein der Dichtung gleich-
berechtigter Bestandteil des „Gesinnungsunterrichts". Auch
der Komödie und Tragödie wird in diesem Zusammenhange
die ihr im Staatsleben zukommende Bedeutung zugewiesen
(816 D flf.).
Aufserdem werden als Gegenstände des öffentlichen
Unterrichts auch noch Rechnen, Geometrie und Astronomie
bezeichnet, aber ganz so wie bei Sokrates nur in den Grenzen
des praktischen Bedürfnisses, ohne wissenschaftliche Finessen
(816 E ff.).
Die sechste Stütze der Gesetzesautorität ist eine offi-
zielle Staatsreligion und ein staatlich sanktionierter Jenseits-
glaube. Die Staatsreligion wird wie im Urstaat nach dem
Bedürfnis des Staats frei zurechtgemodelt. Hier wie dort
ist nicht die Wahrheit, sondern das Bedürfnis, die staat-
liche Ordnung aufrechtzuerhalten , der ausschlaggebende
Gesichtspunkt für die Festsetzung der Glaubensartikel.
Die zu verehrenden zwölf Hauptgötter sind von Staats wegen
festgesetzt, doch werden im ganzen 365 Gottheiten und
höhere Wesen verehrt, so dafs, wie in der katholischen
Kirche, jeder Tag des Jahres seinen Patron hat (828).
Zahlreiche Priesterkollegien und Kultusbeamte aller Art
sind von Staats wegen eingesetzt (759); das Opferwesen ist
gesetzlich geregelt. Privatheiligtümer sind nicht gestattet
(909 D). In allen religiösen Fragen hat das delphische
Orakel die letzte Entscheidung (z. B. 856 D).
Gesetzlich vorgeschrieben ist der Glaube, dafs die Seele
unsterblich ist und nach dem Tode vor den Göttern Rechen-
schaft abzulegen hat (959 A f.). Die Lehre von der Ver-
geltung im Hades und in einem neuen Erdenleben, wo der
Missetäter genau das zu erleiden hat, was er verübt hat
(der Muttermörder wird als Weib geboren und von den
eigenen Kindern erschlagen), wird nur als ein empfehlens-
werter Glaube hingestellt (870 D f., 872 E). Dies ist eine
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668 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
von der in den früheren Dialogen durchaus verschiedene,
der indischen Karmalehre verwandte Vorstellungsweise. Der
gesetzmäfsige Götterglaube bewahrt vor bösen Taten und
gesetzwidrigen Reden. Nur der wird solche freiwillig be-
gehen, der entweder überhaupt nicht an Götter glaubt oder
ihr Eingreifen leugnet oder ihre leichte Versöhnbarkeit
durch Opfer und Gebete annimmt (885 B, 888 C).
Diese drei Irrlehren müssen durch Gesetze bekämpft
werden. Doch wird, nach dem für diese Gesetzgebung über-
haupt angenommenen Verfahren, zunächst in Form einer
belehrenden Einleitung ihre Haltlosigkeit dargetan. Die
erste der drei Ansichten stützt sich auf eine mechanische
Naturerklärung, nach der es nur beim Menschen ein zweck-
volles Wirken gibt, nach der die Götter eine Erfindung der
Gesetzgeber sind und Macht Recht ist (889 f.) : Lehren, wie
sie wohl in jüngeren Sophistenkreisen gäng und gäbe waren.
Auch die Seele besteht nach dieser Lehre aus den Ele-
menten (891 C). Demgegenüber wird bewiesen, dafs an den
Anfang alles Seienden das gestellt werden mufs, was die
Quelle der Bewegung in sich selbst hat. Dies kann aber
nur seelischer Natur sein. Die Bewegung der Welt und
der Himmelskörper mufs also im Seelischen ihren Ursprung
haben (892—96). Nun kann aber auch die seelische Be-
wegung als eine geregelte und als eine regellose gedacht
werden. Es ist aber die Bewegung der Himmelskörper eine
geregelte, eine (wie schon im Timäus oft betont) der Be-
wegung des Denkens gleiche. Sie setzt also nicht eine un-
vernünftige und übelwollende, sondern eine vernünftige und
wohlwollende Seele als Ursache voraus (896 E ff.). Die Be-
wegungen der Himmelskörper werden durch göttliche
Seelen hervorgebracht. Die Welt ist (nach dem alten
Worte von Thaies) voll Götter (899).
Die zweite Ansicht findet ihre Stütze am vermeintlichen
Glücke der Schlechten und Ungerechten (899 D f.). Aber
solche Gleichgültigkeit selbst gegen die kleineren Angelegen-
heiten des Weltlaufs widerstreitet ganz und gar der gött-
lichen Vollkommenheit (900 D ff.). Dafs ein gerechtes Walten
im Weltlauf oft zu fehlen scheint, beruht darauf, dafs die
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V. 15. Der Staat d«r Gesetze. 669
göttliche Weltleitung das Ganze im Auge haben mufs. Es
ist nicht das Ganze der Teile wegen da, sondern die Teile
des Gaözen wegen. Da aber doch auch wieder die sittliche
Beschaffenheit eines jeden das Werk seiner eigenen freien
Bestimmung ist, so findet dafür Vergeltung im Jenseits statt.
Es gibt ein Fortleben auf der Erde, unter der Erde und
über der Erde (903Bflf.).
Ähnlich wird dann auch die dritte Ansicht widerlegt
(905 D-907 D). Nach dieser „Einleitung" folgt dann das
„Gesetz über die Gottlosigkeit" selbst (907 D ff.). Und da
nun jede der drei Klassen wieder in zwei Abteilungen zer-
fällt, je nachdem der Betreffende persönlich rechtschaffen
und achtbar ist oder auch durch sein Handeln Anstofs er-
regt, so gibt es sechs strafbare Verhaltungs weisen (908 B ff.).
Da aber die drei Arten der Irrgläubigkeit selbst hinsicht-
lich der Strafbarkeit gleichgesetzt werden, gibt es nur zwei
Arten von Strafen. Der nicht zugleich schlecht handelnde
Irrgläubige wird mit fünf Jahren Gefängnis, im Falle er-
neuter Anklage aber mit dem Tode bestraft (909 A). Der
zugleich Schlechte aber wird wie ein schädliches Tier in
einem einsam und von allem Verkehr ferngelegenen Ge-
fängnis (908 A) unter Abschliefsung von allem Verkehr
lebenslänglich eingesperrt und nach seinem Tode sein Leichnam
unbeerdigt hingeworfen (909 B).
So ist also auch die Religion in recht wirksamer Weise
in den Dienst des Staatsinteresses genommen.
Vorstehendes sind nur die am meisten charakteristischen
Züge aus dem sehr ins einzelne ausgeführten Bilde dieses
neuen Musterstaats. Das für den Fortgang der Entwicklung
Bedeutsamste an dieser Schrift ist, dafs Plato zwar eines-
teils offenbar an den orphisch- pythagoreischen Jenseits Vor-
stellungen festhält (von der vollkommenen Erkenntnis als
dem der Körperfreiheit noch übergeordneten Interesse findet
sich keine Spur), andernteils aber mit grofsem Nachdruck,
doch ohne Begründung, diktatorisch, dogmatisch eine ganz
bestimmte Lehre von den Bedingungen der diesseitigen Glück-
seligkeit aufstellt. —
Damit wären wir denn zugleich ans Ende der an Wand-
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670 Zweite Periode. Zweite Stufe. Die kleineren sokratisch. Schulen etc.
langen so reichen Denkarbeit Piatos gelangt. Niemals kann
es gelingen, aus der Gresamtheit der platonischen Schriften
oder auch nur aus den an geistigem Gehalt bedeutendsten
derselben ein einheitliches System zusammenzustellen. Wer
das System Piatos, den eigentlichen Vollendungspunkt seiner
Entwicklung kennen lernen will, mufs sich an den Phädon
und den jüngsten Teil des „Staates" (V. 18— VII Ende)
halten. Auf diesem Höhepunkte ist ihm rein see-
lisch anschauende Erkenntnis des ewigSeienden
das erstrebenswerte Gut, das Lebensziel.
In den zahlreichen Wandlungen Piatos aber spiegelt
sich auch wieder der Gesamtcharakter dieser Übergangs-
periode, die in ihren verschiedenen Strömungen von der
Verbesserung der staatlichen Zustände zum Moralismus, und
vom Moralismus zur Aufstellung eines höchsten Lebensgutes
hinüberschwankte, ohne dafs jedoch für die verschiedenen
in der letzteren Richtung hervortretenden Bestimmungen
eine wissenschaftliche Begründung versucht wurde.
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Von demselben Verfasser ist u. a. erschienen:
Johann Lambach und das Gymnasium zu Dortmund
von 1543 — 82. Berlin 1875, Calvary & Co.
Die Kunstlehre des Aristoteles. Jena, Dufft. i876. 6 Mark.
Philosophische Güterlehre, Berlin, R. Gärtner (H. HeTfeWer).
1888. 8 Mark.
System der Pädagogik im ümriss. Ebenda. i894. 6 Mark.
Über Zeit und Raum, Ebenda. 1894. l Mark.
Die Lehre des Sokrates als soziales Reformsystem.
München, C. H. Beck. 1895. 12 Mark.
Hamlet. Ein neuer Versuch zur ästhetischen Er-
klärung der Tragödie. Berlin. R. Gärtner (H. Heyfelder).
1898. 7 Mark.
Handbuch der menschlich-natürlichen Sittenlehre für
Eltern und Erzieher. Stuttgart, Fr. Fromann (E. Hauff).
1899. 4 Mark.
Eine Frühlingsreise in Griechenland. Frankfurt a. m.,
Neuer Frankfurter Verlag. 1903. 3 Mark.
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Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel k Co. in Altenburg.
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