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Full text of "Geschichte der inductiven Wissenschaften, der Astronomie, Physik, Mechanik, Chemie, Geologie von der frühesten bis zu unserer Zeit"

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Gelchichte 


inductiven Wiſſenſchaften, 


Aſtronomie, Phyſik, Mechanik, Chemie, Geologie x. 


von der früheften bis zu unkerer Zeit. 


Nach dem Engliſchen des W. Whewell, 
5 iii Anmerkungen 
von 


J. J. v. Littrow, 


Direktor der kaiſerl. königl. Sternwarte in Wien. 


Aaunadıa Eyovres dıadwoovemw aAAmAorg. 


Erſter Theil. 


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Stuttgart. 
Hoffmann’iche Verlags: Buchhandlung. 


1840. 


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Vorwort des Mebertetzers. 


Die vorliegende Geſchichte der Naturwiſſenſchaften *), 
die ich von dem Verfaſſer ſelbſt kurz nach ihrer Vollendung 
erhielt, ſchien mir ein ſo vorzügliches, und auch für meine 
Landsleute ein ſo nützliches und ſelbſt nothwendiges Werk 
zu ſeyn, daß ich einem allgemeinen Wunſche derſelben ent— 
gegen zu kommen glaube, wenn ich ihnen daſſelbe hier in 
deutſchem Gewande übergebe. Ich würde mich ſehr freuen, 
dieſen Wunſch glücklich errathen, und ihm auch zur Zu— 


friedenheit meiner Leſer entſprochen zu haben. 


) History of the inductive Sciences from the earliest to the 
present times. By the Rev. William Whewell. M. A. 
Fellow and Tutor of Trinity College, Cambridge: Presi- 
dent of the Geological Society of London. III. Vol. Lon- 
don, J. W. Parker. 


4 Vorwort des Ueberſetzers. 

Uebrigens ſuchte ich bei der Ueberſetzung mehr dem 
Sinne, als dem Worte des Verfaſſers zu folgen; der Ver— 
ſtändlichkeit des deutſchen Leſers auch durch deutſche Wen— 
dungen und, wo es nöthig ſchien, ſelbſt durch Einſchaltung 
einiger, die Begriffe näher bezeichnender Ausdrücke entgegen 
zu kommen; die ſelbſtſtändigen, eigenen Anmerkungen aber 
habe ich, zur Unterſcheidung des Driginaltertes, durchaus 


mit einem L bezeichnet. 


Der Ueberſetzer. 


An 
Sir John Fred. Will. Hertchel, A. G. H. 


Mein theurer Herſchel! 


Nicht mit gewöhnlicher Freude ergreife ich die Feder, Ihnen 
dieſe Schrift zu widmen. Sie enthält die Reſultate einer Kette 
von Ideen, die oft der Gegenſtand unſeres Geſpräches geweſen 
ſind, und deren erſte Glieder bis zurück in die Zeit unſerer 
frühen Freundſchaft an der Univerſität gehen. Wenn ich je ge— 
ſchwankt hätte in meinem Vorſatze, dieſe Reflexionen und Unter— 
ſuchungen alle in ein gemeinſchaftliches Ganze zuſammen zu 
bringen, ſo würde Ihre eigene ſchöne Schrift über einen ver— 
wandten Gegenſtand meine Kraft erneut und meinen Muth wie— 
der belebt haben. Denn ich konnte dieſe Schrift nie zur Hand 
nehmen, ohne die Wiſſenſchaften, um die es ſich hier handelt 
mit immer neuen Reizen bekleidet zu finden, und wenn ich mir 
gleich ſelbſt geſtand, daß ich mich nicht bis zu dieſem Grade der 
Gemeinverſtändlichkeit, die Ihr Werk ziert, erheben kann, ſo 
dürfte ich doch auch bemerken, daß ein Theil derſelben dem be— 
handelten Gegenſtande ſelbſt angehört, und ſonach hoffen läßt, 
daß die gegenwärtige Schrift ſo glücklich ſeyn wird, das In— 
tereſſe einiger Ihrer eigenen Leſer zu erwecken. Daß es Sie 
ſelbſt intereſſiren werde, ſtehe ich nicht an zu glauben. 

Wenn Sie jetzt in England wären, ſo könnte ich hier enden: 
aber wenn ein Freund mehrere Jahre in einem fremden Lande 
lebt, ſo haben wir ein Recht, offen von ihm zu ſprechen. Ich 
kann es daher nicht über mich gewinnen, meine Feder wieder 
hinzulegen, ohne der innigen Bewunderung der ſittlichen und 


6 


geſelligen Vorzüge und des geiftigen Adels zu gedenken, die in 
den Herzen Ihrer Freunde erwacht, ſo oft ſie Ihrer gedenken. 
Mit innigem Entzücken ſehen ſie die Strahlenkrone des verdien— 
ten Ruhmes, die ſich um Ihren Scheitel zieht, und mit noch 
größerem haben ſie, um mit einem derſelben zu ſprechen, be— 
merkt, daß Ihr Kopf noch bei weitem nicht der beſte Theil Ihrer 
ſelbſt iſt. z 

Möge Ihr Aufenthalt in der ſüdlichen Hemiſphäre fo glück 
lich und folgenreich ſeyn, als der Gegenſtand deſſelben edel und 
Ihrer würdig iſt, und wenn Ihr hohes Ziel erreicht ſeyn wird, 
möge Ihre Rückkehr in die Heimath ſchnell und glücklich ſeyn. 


Für immer, mein theuerſter Herſchel, 
Ihr 
5. Hyde Park Street, 


22. März 1837. 
W. Whewell. 


Vorrede des Verkatlers. 


In unſeren Tagen wird jede Bemühung, die Philoſophie 
der Wiſſenſchaft auszubilden und zu erweitern, auf Beifall 
rechnen können. Alle Gebildeten ſtimmen darin überein, daß 
es ſehr vortheilhaft wäre, wenn ein neues Licht gewor— 
fen werden könnte auf die Wege, die uns zur Wahrheit 
führen, auf die Kräfte, die wir zu dieſem Zwecke von der 
Natur erhalten haben, und endlich auch auf die Gegenſtände 
ſelbſt, an welchen dieſe Kräfte vorzüglich angebracht werden 
ſollen. Auch werden wohl die Meiſten geſtehen, daß in 
allen dieſen Beziehungen noch viel zu thun übrig iſt; denn 
die Verſuche, die man von Zeit zu Zeit dazu gemacht hat, 
find weit entfernt, alle fernere Bemühungen überflüſſig zu 
machen. So iſt zum Beiſpiel die große Reform der Wiſſen— 
ſchaft und ihrer Methoden, zu der Baco ſeine Zeitgenoſſen 
auffordern und vereinigen wollte, ſelbſt in unſern Tagen 
noch immer nicht vollſtändig ausgeführt worden. Und ſelbſt 
wenn ſie es wäre, ſo müßte ſie doch jetzt weiter verfolgt 
und ausgebreitet werden. Wenn Baco alles, was die 
Wiſſenſchaft in ſeiner Zeit hervorgebracht, umfaßt, und wenn 
er die Geſetze der wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen, ſo weit 
ſie aus der Erkenntniß ſeiner Tage geſammelt werden konn— 
ten, vollſtändig dargeſtellt hat, ſo wird es doch noch unſere 


8 Vorrede des Verfaſſers. 


Sache ſeyn, das Erbe, welches er uns hinterließ, zu er— 
halten und zu vermehren, indem wir ſeine Vorſchriften mit 
den neuen Anſichten und Vortheilen verbinden, welche uns 
unſere eigenen Erfahrungen an die Hand gegeben haben, 
und zugleich fuͤr jede Art von Erkenntniß diejenigen Metho— 
den aufzuführen, die uns die klarſte und ſicherſte Ueberzeu— 
gung gewähren. Eine ſolche Erneuerung und Ausdehnung 
jener Reform ſcheint recht eigentlich unſeren Tagen vorbe— 
halten zu ſeyn. Viele und unzweifelhafte Anzeigen verkün— 
digen uns die Nähe einer ſolchen Epoche, und der Verſuch, 
den überall zerſtreuten Elementen derſelben Form und Zu— 
ſammenhang zu geben, kann nicht wohl anders, als zeitge— 
mäß erſcheinen. 

Das Novum organon von Baco wurde ſehr angemeſſen 
durch ſein früheres Werk: Advancement of Learning, in 
die gelehrte Welt eingefuͤhrt, und ſo wird denn auch ein 
Verſuch, ſeine Reform der Methode und der Wiſſenſchaft 
ſelbſt fortzuſetzen und weiter zu führen, ebenfalls durch eine 
vollſtändige Ueberſicht des gegenwärtigen Zuſtandes der 
menſchlichen Erkenntniß, am beſten eingeleitet und begrün— 
det werden können. Der Wunſch, zu dieſer Reform etwas, 
ſo wenig dieß auch ſeyn mag, beizutragen, war die Veran— 
laſſung zu dem gegenwärtigen Werke über die Geſchichte der 
inductiven Wiſſenſchaften. Die unmittelbare Folge der Unter— 
ſuchungen, die mich zu der Ausarbeitung deſſelben führten, 
war die Ueberzeugung, daß wir, ſelbſt in unſeren Zeiten, 
nicht verzagen dürfen, eine Wiederbelebung derjenigen Er— 
fenntniß zu erleben, die durch das Licht geleitet wird, wel— 
ches die Geſchichte der Wiſſenſchaft um ſich verbreitet. Zwar 
wird eine ſolche Reform, wenn einmal ihre Stunde gekom— 
men iſt, nicht das Werk eines einzigen Mannes, ſondern 


Vorrede des Verfaſſers. 9 


ſie wird nur das Reſultat aller geiſtigen Beſtrebungen des 
ganzen Zeitalters ſeyn können. Und wer am meiſten vor— 
geſchritten iſt in der großen Arbeit, wird am liebſten das 
Geſtändniß ſeines ſcharfſinnigen Vorgängers wiederholen: 
Ipse certe, ut ingenue fatear, foleo aestimare hoc opus 
magis pro partu Temporis, quam Ingenii. 

Einem ſolchen Werke alfo, wenn immer und von wem 
immer es kommen mag, ſoll das Gegenwärtige, wie ich 
hoffe, zum nützlichen Vorläufer dienen. Doch vertraue ich 
auch, daß es, in ſeinem ſelbſtſtändigen Charakter, als eine 
bloße Geſchichte der Wiſſenſchaften, der Aufſchrift, die es 
an feiner Stirne trägt, nicht ganz unwürdig befunden wer— 
den ſoll. 

Der Verfaſſer einer ſolchen Geſchichte legt ſich offenbar 
eine ſchwere und bedenkliche Pflicht auf, da er über den 
Charakter und die Arbeiten der erſten Phyſiker aller Zeiten 
ſein Urtheil fällen ſoll. Aber dieſe richterliche Stellung iſt 
jedem Hiſtoriker ſo eigenthümlich, daß ſie, bei einer wiſſen— 
ſchaftlichen Geſchichte, nicht als anmaßend erſcheinen kann. 
Es iſt wahr, die letzte ſoll über die Verdienſte von Män— 
nern abſprechen, die ein viel tieferes Studium und eine viel 
genauere Kenntniß erfordern, als man von dem politiſchen 
Hiſtoriker gewöhnlich zu fordern pflegt, und die Volksſtimme, 
— die oft als gute Führerin dient, da ſie über die in der 
Geſellſchaft hervorragenden Männer nur ſelten ſehr oder lange 
im Irrthume iſt, — iſt von geringem Gewichte, wenn es 
ſich von rein wiſſenſchaftlichen Angelegenheiten handelt. Allein 
dieſe Nachtheile, unter welchen eine Geſchichte der Wiſſen— 
ſchaft leidet, werden wieder durch einen großen Vortheil auf— 
gewogen. Hier haben wir nämlich nicht bloße Sagen und 
Erzählungen von den Thaten unſerer Helden, ſondern wir 


10 Vorrede des Verfaſſers. 


haben dieſe Thaten ſelbſt vor uns. Die Thaten dieſer 
Männer aber ſind ihre Schriften, und dieſe werden uns 
nicht durch Tradition übergeben, ſondern ſie liegen ſelbſt vor 
unſern Augen: wir leſen nicht von ihnen, ſondern wir leſen 
fie ſelbſt. Und wenn ich noch von dem mich ſelbſt betref— 
fenden beſonderen Grund ſprechen darf, der mir Muth und 
Vertrauen zur Ausführung meines Unternehmens gibt, fo 
bin ich mir bewußt, mein ganzes Leben größtentheils mit 
denjenigen Arbeiten zugebracht zu haben, die uns am meiſten 
in den Stand ſetzen, dasjenige zu verſtehen, was Andere 
hervorgebracht haben. Auch war mir ein beftändiger freund— 
licher Verkehr mit vielen der ausgezeichnetſten Männer der 
Wiſſenſchaft, im In- und Auslande, gegönnt, und dieſe 
Geſellſchaft der größten Geiſter der vergangenen und der 
gegenwärtigen Zeit hat mich, wie ich glaube, fähig ge— 
macht, der Schönheit ihrer Entdeckungen mich zu erfreuen, 
ihre hohen Conceptionen zu bewundern, und in ihre Abſich— 
ten und Hoffnungen einzudringen. Deßhalb werde ich auch 
nicht zurückweichen dürfen vor der Verantwortlichkeit, die 
der Charakter eines Geſchichtſchreibers der Wiſſenſchaft mir 
auferlegt, ſelbſt dann nicht, wenn ich dadurch in den Kreis 
Derjenigen geführt werde, die noch mit mir leben, und 
unter denen wir uns ſelbſt noch bewegen. Hätte ich vor 
meinen Zeitgenoſſen verſtummen wollen, ſo wurde mein 
Werk unvollſtändig und verſtümmelt, ſo würde es nicht 
mehr, wie ich doch beabſichtigte, eine Warte geworden ſeyn, 
auf deren Höhe ich den Leſer ſtellen wollte, um von ihr 
den Blick vorwärts in die noch kommenden künftigen Tage 
zu werfen. Ich gab mich daher dem Vertrauen hin, daß 
meine Bemühungen, die Arbeiten der bereits längſt ſchon 
von uns geſchiedenen Weiſen kennen zu lernen, mich auch 


Vorrede des Verfaſſers. 11 


fähig machen werden, die Entdeckungen der Gegenwart ge— 
höͤrig zu ſchätzen, und von den noch unter uns wandelnden 
Männern mit derſelben Parteiloſigkeit und in demſelben 
Geiſte zu ſprechen, als ob ſie ſchon bei jenen des grauen 
Alterthums verſammelt wären. Aus dieſen Betrachtungen 
und aus dem Bewußtſeyn, Mühe und Arbeit bei meinen 
Unterſuchungen nicht geſcheut zu haben, ſchöpfte ich den 
Muth, meine Geſchichte von den früheſten Zeiten zu begin— 
nen und bis auf die heutigen Tage fortzuführen. 

Manche Leſer werden vielleicht mit mir rechten wollen, 
daß ich die Wiſſenſchaften, um die es ſich in dieſer Ge— 
ſchichte handelt, vorzugsweiſe die inductiven genannt 
habe, da ſie doch ſonſt gewöhnlicher die phyſikaliſchen oder 
die Naturwiſſenſchaften genannt werden. Ich wollte dadurch 
die Mißdeutung vermeiden, als hätte ich nur einige Wiſſen— 
ſchaften theilweiſe gewählt oder willkührlich beſchränkt. Die— 
jenigen, die in dieſem Werke abgehandelt werden, ſcheinen 
mir ein zuſammenhängendes ſyſtematiſches Ganze der menſch— 
lichen Erkenntniß zu bilden. Und wenn es noch andere 
Zweige dieſer Erkenntniß gibt, z. B. die moraliſchen, poli— 
tiſchen oder die ſchönen Wiſſenſchaften, die man ebenfalls 
inductive nennen könnte, wogegen ich nichts einzuwenden 
habe, ſo wird man doch, denke ich, auch geſtehen muͤſſen, 
daß das Verfahren, aus ſpeciellen Thatſachen allgemeine 
Wahrheiten abzuleiten, und von dem Beſonderen allmählig 
zu dem Allgemeinen aufzuſteigen, ein Verfahren, das durch 
das Wort Induction bezeichnet wird, bisher weit beſſer 
und richtiger in den Naturwiſſenſchaften befolgt worden iſt, 
mit welchen ſich dieſes Werk beſchäftigt, als in allen den 
hyperphyſiſchen Doctrinen, die ich von meiner Schrift ausge— 
ſchloſſen habe. Ich will noch hinzuſetzen, daß wenn ich 


12 Vorrede des Verfaſſers. 


ſpäter einen Ueberblick der Philoſophie der inductiven Wiſſen— 
ſchaften in ihren großen Zügen bekannt machen ſollte, es 
noͤthig ſeyn wird, um auch die moraliſchen, die ſchönen 
Wiſſenſchaften u. a. in ihrem rechten Lichte zu erblicken, 
die Geſchichte dieſer letzteren ebenfalls ſo zu behandeln, und 
dadurch dasjenige gleichſam zu ergänzen, was einige in dem 
Umfange des gegenwärtigen Werks noch vielleicht vermiſſen 
mögen. 

Ich habe übrigens, wie man wohl nicht anders erwar— 
ten wird, andere Schriftſteller, der Geſchichte ſowohl, als 
der Philoſophie der Wiſſenſchaften, nach Kräften benützt *). 
Ich that dieß ohne Anſtand, da die Neuheit meiner Schrift 
nicht in der Sammlung der in ihr enthaltenen Thatſachen, 
ſondern in dem allgemeinen Geſichtspunkt, unter welchen ſie 
hier gebracht ſind, beſtehen ſoll. Doch habe ich in allen 
Fällen dieſe meine Vorgänger nachgewieſen, und es werden 
wohl nur wenige Punkte ſeyn, wo ich nicht auch die früheren 
Hiſtoriker zu Rathe gezogen und die Quellen ſelbſt einge— 
ſehen hätte. 


) Unter dieſen nenne ich als ſolche, denen ich beſonders ver— 
pflichtet bin, Tennemann's Geſchichte der Philoſophie; 
Degerando’s Histoire comparee des Systemes de Phi- 
losophie; Montucla’s Histoire des Mathématiques mit 
Delambre’s Fortſetzung derſelben; Delambre’s Astro- 
nomie ancienne, du moyen äge, et moderne, und deſſen 
Astr. du dixhuitieme siecle; Bailly’s Hist. d’Astronomie 
ancienne et moderne; Voiron’s Histoire d’Asironomie; 
Fiſcher's Geſchichte der Phyſik; Gmelin's Geſchichte 
der Chemie; Thomson’s Hist. of chemistry; Sprengel's 
Geſchichte der Medicin und Botanik, und endlich die natur— 
hiftorifchen und phyſiologiſchen Werke von Cuvier. 


Vorrede des Verfaſſers. 13 


Nach dem von mir entworfenen Plane ſollte die Geſchichte 
jeder einzelnen Wiſſenſchaft ein für ſich abgeſondertes Ganze 
bilden, das durch die Epochen ihrer verſchiedenen Fort— 
ſchritte in eben ſo viele beſtimmte, aber zuſammenhängende 
Glieder getheilt wird. Wenn ich, durch meine Auswahl 
dieſer Epochen, die competenten Richter einer jeden Wiſſen— 
ſchaft zufrieden geſtellt habe, ſo muß der Entwurf, das 
eigentliche Schema des ganzen Werkes, von dauerndem 
Werthe bleiben, ſo unvollkommen auch die Ausführung ſeiner 
einzelnen Theile ſeyn mag. 

Mit all dieſen Hoffnungen eines guten Erfolgs iſt es 
doch unmöglich, nicht zu ſehen, daß eine Unternehmung 
dieſer Art im hohen Grade ſchwer und zweifelhaft bleibt. 
Aber alle, die ſich an ein ſolches Werk wagen, müſſen 
Troſt und Ermunterung in jenen Betrachtungen ſuchen, durch 
welche ihr großer Vorläufer ſelbſt ſich zu ſeinem Vorhaben 
ausrüſtete, in der Betrachtung, daß ihr Ziel iſt, die böch: 
ſten Intereſſen und Vorrechte der Menſchheit zu fördern, 
und daß ſie von den Beſten und Weiſeſten ihres Zeitalters 
Verbindung in ihrem Streben und Beihülfe in ihrer Arbeit 
erwarten konnen. 

„In Beziehung auf uns ſelbſt ſprechen wir nichts, aber 
„in Beziehung auf unſer Vorhaben ſagen wir, daß es nicht 
„auf das Aufſtellen einer Meinung, ſondern auf die Vollen— 
„dung einer Arbeit ankömmt, daß wir den Grund legen 
„wollen, nicht für irgend eine Secte oder Lehre, ſondern 
„für die Würde und den Nutzen der Menſchheit; daß daher 
„die, welche dieſen Nutzen fördern und Factionen und Vorur— 
„theile beſiegen wollen, ſich mit uns zu Rath und That 
„vereinigen, und ihre Hand an das, was noch zu thun 
„erübrigt, legen mögen; daß ſie übrigens alle guter Hoffnung 


14 Vorrede des Verfaſſers. 


„ſeyn und ſich nicht einbilden ſollen, dieſe Reform ſey ein 
„endloſes und den Sterblichen unausführbares Unternehmen, 
„und daß endlich ein Unternehmen dieſer Art nicht in einem 
„Menſchenalter zum Abſchluß gebracht, ſondern als die Auf— 
„gabe einer ganzen Folge von Generationen betrachtet wer— 
„den ſoll.“ 


Baco, Instaur. Mag. Praef. ad fin. 


Gelchichte der inductiven Witlencchakten. 


Einleitung. 


„Eine wahre Geſchichte der Wiſſenſchaften, ich darf es wahrlich 
„ſagen, fehlt uns noch. — Aber dieſe Schrift iſt nicht ſowohl für die 
„Neugierde oder für die bloßen Freunde der Literatur, ſondern für einen 
„ernſtern und höhern Zweck beſtimmt, nämlich den wiſſenſchaftlichen 
„Mann in dem Gebrauche und der Verwendung ſeiner Kenntniſſe zu 
„unterſtützen.“ 

Bacon. Advancement of Learning. Lib. II. 


Einleitung. 


Meine Abſicht iſt, die Geſchichte der vorzüglichſten inductiven 
Wiſſenſchaften von den früheſten Zeiten bis auf dieſe Tage zu 
ſchreiben. Ich werde demnach einige der merkwürdigſten Zweige 
der menſchlichen Erkenntniß von ihrem erſten Keime bis zu ihrer 
gegenwärtigen Höhe verfolgen, von den ſpitzfindigen, aber un— 
fruchtbaren Speculationen der alten griechiſchen Philoſophen bis 
zu den umfaſſenden Syſtemen von bewieſenen allgemeinen Wahr— 
heiten, welche die Wiſſenſchaft der Aſtronomie, der Mechanik 
und der Chemie in unſern Tagen bilden. 

Die Vollſtändigkeit der hiſtoriſchen Ueberſicht, die einer ſol— 
chen Abſicht entſpricht, beſteht nicht in der Aufhäufung aller 
einzelnen Kleinigkeiten, die zu der allmähligen Ausbildung der 
Wiſſenſchaft beigetragen haben, ſondern vielmehr in der klaren 
Darſtellung der Hauptzüge des großen Gemäldes. Der Ge: 
ſchichtſchreiber muß zeigen, wie jeder von jenen großen Schritten 
gemacht worden iſt, durch welche die Wiſſenſchaft ihre gegen— 
wärtige Geſtalt gewonnen hat, und zu welcher Zeit und durch 
welchen Mann jede von den großen Wahrheiten erhalten worden 
iſt, deren Sammlung jetzt einen ſo köſtlichen Schatz bildet. 

Ein ſolches Unternehmen, gehörig ausgeführt, muß allen 
denen intereſſant ſeyn, die auf den gegenwärtigen Zuſtand der 
menſchlichen Erkenntniſſe mit Wohlgefallen und Bewunderung 
hinblicken. Das jetzt lebende Geſchlecht betrachtet ſich als den 
Erben eines reichen wiſſenſchaftlichen Gutes, und es muß ihm 
daran gelegen ſeyn, zu erfahren, auf welche Weiſe dieſes Gut 
erhalten worden iſt, und durch welche Mittel es bewahrt und 
vermehrt und unſern ſpäten Nachkommen überliefert werden 


kann. Seit der Entſtehung dieſes Geſchlechtes hat es, im Auf— 
Whewell. I. 2 


18 Einleitung. 


ſuchen der Wahrheit, vorwärts geſtrebt, und jetzt, wo wir eine 
ſo hohe, gebietende Stellung erreicht haben, auf der uns das 
helle Licht des Tages umſtrahlt, jetzt müſſen wir nur mit inni— 
gem Danke hinblicken auf die Wege, welche wir ſeit Jahrtau— 
ſenden zurückgelegt haben, zurück auf die große Pilgrimſchaft, die 
unſere erſten Väter im dämmernden Zwielicht mitten unter den 
Wilden der Urwelt begannen, und die Jahrhunderte durch unter 
unzähligen Hinderniſſen nur ſehr langſam vorrückte, bis ſie end— 
lich, in den letzten Tagen, auf mehr offenen und lichten Pfaden, 
uns in weitere und fruchtbarere Gegenden geführt hat. Der 
Geſchichtſchreiber der Wiſſenſchaft aller dieſer ſo verſchiedenen 
Perioden wird ſchon durch den Gegenſtand ſeiner Erzählung ſelbſt 
auf Theilnahme rechnen dürfen, da kein Gebildeter die Ereig— 
niſſe und die Hauptperſonen ſeines eigenen Geſchlechts mit 
Gleichgültigkeit betrachten kann. 

Aber eine ſolche Geſchichte wird auch noch ein Intereſſe 
anderer Art haben. Es wird für den Leſer zugleich angenehm 
und nützlich ſeyn, die gegenwärtige Geſtalt und Ausdehnung, 
und die künftigen Hoffnungen und Ausſichten, ſo wie auch die 
letzten Fortſchritte der Wiſſenſchaft, näher kennen zu lernen. 
Der Gipfel, den wir nun erreicht haben, zeigt uns eben ſo die 
Wildniſſe, durch welche wir uns durchgewunden haben, als auch, 
auf der andern Seite, das Land der Verheißung, dem wir 
raſchen Schrittes entgegen eilen. Die Prüfung der Wege, auf 
welchen unſere Väter die Wiſſenſchaft auf ihren heutigen intel— 
lectuellen Zuſtand gebracht haben, wird uns, nicht nur unſer 
gegenwärtiges Beſitzthum, ſondern auch unſere Erwartungen 
für die Folgezeit, näher kennen lehren, wird uns nicht bloß mit 
unſern Reichthümern, ſondern auch mit den Mitteln bekannt 
machen, ſie zu ſichern und noch weiter zu vermehren. Mit 
Recht darf man erwarten, daß eine Geſchichte der inductiven 
Wiſſenſchaften uns nicht nur eine Ueberſicht des jetzt beſtehenden 
Vorraths von Kenntniſſen, ſondern auch eine Anzeige von den 
beſten Methoden geben werde, dieſen Vorrath noch zu vergrößern 
und ihn wohl geſichert unſern Enkeln zu überlaſſen. 

Solche Regeln aus der Literargeſchichte der Vergangenheit 
abzuleiten, dieß war die urſprüngliche Abſicht, die zu der gegen— 
wärtigen Schrift Veranlaſſung gegeben hat. Auch iſt dieſe Ab- 
ſicht nicht aufgegeben worden, aber ihre Ausführung, wenn ſie 


Einleitung. 19 


ſtatthaben ſoll, muß auf ein eigenes, künftiges Werk: „Ueber 
„die Philoſophie der inductiven Wiſſenſchaften“ ver: 
ſchoben werden. Ein Verſuch dieſer Art wird, von dem bereits 
ausgeführten Theil deſſelben zu ſchließen, bald nach dem gegen— 
wärtigen Werke vor dem Publikum erſcheinen. 

Obſchon aber viele von den Principien und Grundſätzen dies 
ſes künftigen Werkes auch ſchon in dem gegenwärtigen mit mehr 
oder weniger Klarheit hervortreten werden, ſo muß doch eine 
ſyſtematiſche und vollſtändige Auseinanderſetzung derſelben jenem 
ſpäteren vorbehalten bleiben. Nach meiner Ueberzeugung kann 
dieſem wichtigen Gegenſtande nur durch eine ſolche Theilung 
deſſelben Gerechtigkeit widerfahren. 

Auf dieſes ſpätere Werk muß daher auch der Leſer wegen 
der umſtändlichen Erklärung des Titels der gegenwärtigen Schrift 
verwieſen werden. Ohne in die Philoſophie der Wiſſenſchaft 
einzudringen, iſt es unmöglich, vollkommen genügend zu erklä— 
ren, auf welche Weiſe eigentlich die inductiven Wiſſenſchaften 
ſich von allen denen, die es nicht ſind, unterſcheiden, oder auf 
welche Weiſe einzelne Theile unſerer Erkenntniß aus der ganzen 
Maſſe herausgehoben werden und doch noch als Wiſſenſchaft 
beſtehen können. Hier mag es genügen, zu ſagen, daß die in 
dieſer Schrift behandelten Wiſſenſchaften gewöhnlich die ph y— 
ſiſchen oder auch die Natur-Wiſſenſchaften genannt wer— 
den, und daß man durch das Wort Induction das Verfahren 
verſteht, in welchem man von einzelnen Beobachtungen und 
Thatſachen zu allgemeinen, jene Beobachtungen umfaſſenden 
Wahrheiten ſich erhebt. 

Indeß gibt es einige techniſche Ausdrücke, die ſo oft in 
dieſer Schrift vorkommen und die ganz beſonders geeignet ſind, 
uns einen deutlichen Begriff von den hier abgehandelten Gegen— 
ftänden zu geben, daß eine kurze Erklärung derſelben hier nicht 
am unrechten Orte ſeyn wird. 

„Thatſachen und Ideen.“ — Bemerken wir alſo zuerſt, 
daß zur Entſtehung einer Wiſſenſchaft zwei Bedingungen erfor— 
dert werden: Thatſachen und Ideen, oder Beobachtungen der 
Dinge außer uns, und Reflexion darüber in uns, oder kurz: 
Sinn und Verſtand. Keines von dieſen beiden Elementen 
kann für ſich allein eine Wiſſenſchaft conſtituiren. Die Ein— 
drücke der Sinne, ohne das ſie verknüpfende Band des Ver— 

2 * 


20 Einleitung. 


ſtandes, führt bloß zu einem Aggregat von individuellen, unzu— 
ſammenhängenden Erfahrungen: die Operationen des Verſtandes 
aber, ohne alle weitere Beziehung auf die Dinge außer uns, 
können nur zu leeren Speculationen und zu trockenen, unfrucht— 
baren Abſtractionen leiten. Eine wahre, reelle Erkenntniß aber 
fordert die Vereinigung jener beiden Elemente. Man drückt ſich 
ſehr richtig aus, wenn man ſagt, daß wahre Erkenntniß in 
„der Interpretation der Natur“ beſtehe, alſo wird auch zu einer 
ſolchen Erkenntniß Beides, die Natur und ihr Interpret, der 
Verſtand, erfordert. Demnach wird auf der einen Seite Erfin— 
dungskunſt, Scharfſinn und gehörige Verbindung der Ideen, 
und auf der andern Seite die genaue und ſtetige Anwendung 
-dieſer Facultäten auf richtig beobachtete und wohl verſtandene 
Thatſachen unerläßlich ſeyn, wenn unſere auf dieſe beiden Grund— 
lagen gebaute Erkenntniß der Natur auf die Benennung einer 
wiſſenſchaftlichen Anſpruch machen ſoll. Die Geſchichte zeigt 
uns viele Fälle, wo die Wiſſenſchaft ſtille ſtehen oder irre gehen 
mußte, weil die eine oder die andere jener zwei Bedingungen 
vernachläſſigt wurde. Ja ſelbſt die Geſchichte der verſchiedenen 
Völker der Erde, die allgemeine Weltgeſchichte enthält ſehr 
viele Beiſpiele dieſer Art. Jene äußern Erſcheinungen, auf 
welchen die erſten phyſiſchen Erkenntniſſe der Menſchen beruhten, 
waren ſehr lange ſchon vor der Zeit bekannt, in welcher man ſich 
von ihnen durch den Verſtand Rechenſchaft geben konnte. Die 
Bewegungen der Himmelskörper, der Fall der Körper auf der 
Oberfläche der Erde waren eine alltägliche und allgemein bekannte 
Sache, lange vor der Entſtehung der griechiſchen Aſtronomie 
und Mechanik; aber der „göttliche Funken“ war noch nicht über 
ſie gekommen, um ſie mit ſeinem Lichte zu beleuchten — die 
Idee, der Verſtand fehlte noch, der dieſe äußern Erſcheinungen 
unter der Form eines Geſetzes unter einander verbinden ſollte. 
Selbſt in unſern Tagen haben die über die ganze Erde zerſtreu— 
ten Stämme der wilden und halbciviliſirten Völkerſchaften jeden 
Tag ganz dieſelben Phänomene der Natur vor ihren Augen, auf 
welchen die Europäer das große herrliche Gebäude der Wlſſen— 
ſchaft aufgeführt haben, während dort, in allen übrigen Welt— 
theilen, das geiſtige Band, welches dieſe Erſcheinungen zur 
Wiſſenſchaft vereint, noch beinahe gänzlich unbekannt iſt. Dort 
iſt das geiſtige Element noch nicht erwacht, und die Steine zu 


Einleitung 1 


jenem Gebäude liegen wohl dort zerſtreut umher, aber die Hand 
des Baumeiſters wird noch immer vermißt. 

Ganz eben ſo haben wir auch auf der andern Seite keinen 
Mangel an Beweiſen, daß die geiſtige Kraft des Meuſchen 
allein ebenfalls unfähig iſt, die Wiſſenſchaft zu erzeugen. Bei— 
nahe die ganze lange Bahn, welche die Philoſophie bei den 
Griechen durchlaufen hat, ſo wie die Scholaſtiker des Mittel— 
alters, ſo wie endlich die ſogenannten Philoſophen der Araber 
und Indier zeigen uns, daß die feinſte Subtilität und die 
ſchaͤrfſte Spitzfindigkeit, daß das höchſte Genie und die ſtrengſte 
ſchulgerechte Methode, ſo lange ſie allein ſteht, keine unſerer 
gegenwärtigen Naturwiſſenſchaften zu erzeugen im Stande gewe— 
ſen iſt. Die Logik allerdings, oder die Metaphyſik, ſelbſt Geo— 
metrie und Algebra konnten durch ſolche Mittel erhalten werden, 
aber nimmermehr wird man aus dieſen Materialien die Me— 
chanik oder die Optik, die Chemie oder die Phyſtologie erbauen 
können. Wie ſo ganz unmöglich die Entſtehung und Ausbildung 
der letztgenannten Wiſſenſchaften ohne eine ſtetige, ſorgfältige 
Verbindung mit den äußern Erſcheinungen, mit den eigentlichen 
Beobachtungen der Natur iſt, und wie raſch und glücklich im 
Gegentheil ihr Fortſchreiten iſt, wenn die geiſtige Kraft des 
Menſchen aus dieſen Quellen der Erfahrung ſchöpft, dieß zeigt 
uns die Geſchichte der Wiſſenſchaft in den letzten drei Jahrhun— 
derten auf eine Weiſe, die keinen weitern Zweifel mehr zu— 
laſſen kann. 

Dieſem gemäß wird alſo das Auftreten einer klaren Idee 
mit ihrer Anwendung auf eine beſtimmte Thatſache in der Ge— 
ſchichte der Wiſſenſchaft immer dann bemerkbar ſeyn, wenn 
dieſe Wiſſenſchaft ſelbſt einen bedeutenden Schritt zu ihrer wei— 
tern Ausbildung wagt. Wir werden im Verfolge unſerer Ge— 
ſchichtserzählnng ſehen, daß, fo oft eine ſolche Epoche des Forts 
ſchritts eintritt, auch die Combination jener beiden Elemente 
ihr vorausgegangen iſt. So oft ſich, in dem Laufe ſo vieler 
Jahrhunderte, unſere Kenntniß der Natur plötzlich erweitert, 
ſo oft irgend eine große Entdeckung die allgemeine Aufmerkſam— 
keit gefeſſelt hat, ſo oft iſt auch ein Mann, oder zuweilen meh— 
rere Männer zugleich, unter den Menſchen aufgeſtanden, dem 
eine klare und helle Vorſtellung des neuen Gegenſtandes den 
Geiſt erleuchtete, und der zugleich dieſe Vorſtellung mit Kraft 


22 Einleitung. 


und Beſtimmtheit auf den Gegenſtand außer ihm anzuwenden 
verſtand. Wir werden davon in der Folge Beiſpiele in Menge 
finden. 

„Allmähliger Fortſchritt der Wiſſenſchaft.“— Aber 
hiebei dringt ſich uns noch eine andere Betrachtung auf. Die 
Naturwiſſenſchaften ſind nämlich ſämmtlich nicht der Art, daß ſie 
gleichſam durch einen einzigen Anſtoß, er komme, woher er wolle, 
entſtehen, oder daß ſie, durch die bloße Entdeckung eines ihrer 
Hauptgrundſätze, ſchon vollendet vor uns daſtehen. Im Gegen— 
theile, ſie ſchreiten alle nur in gemeſſenem Schritte dieſer ihrer Voll— 
endung langſam entgegen; ſie erleiden auf ihrem langen Wege 
manche Veränderungen; ſie gehen ſelbſt öfter von einem Princip 
zum andern, ſelbſt zu ſolchen über, die von den früheren ganz ver— 
ſchieden und ſogar mit ihnen im Widerſpruche ſind. Doch muß 
dabei bemerkt werden, daß dieſer Widerſpruch nur ſcheinbar iſt. 
Die Principien, die den Triumph der Wiſſenſchaft in der frühe— 
ren Periode conſtituirten, ſcheinen oft durch ſpätere Entdeckungen 
umgeſtürzt, ja ganz vernichtet zu werden, aber ſie ſcheinen dieß 
nur, denn in der That werden ſie, ſo weit ſie nämlich der Wahr— 
heit gemäß ſind, in die ihr folgende Darſtellung aufgenommen 
und der neuen Lehre, als ein weſentlicher Beſtandtheil derſelben, 
gleichſam einverleibt. Die früher als ſolche erkannten Wahr— 
heiten werden von der ſpätern Wiſſenſchaft nicht verworfen, 
ſondern vielmehr von ihr aufgenommen und abſorbirt, ſie wer— 
den von ihr nicht widerſprochen, ſondern nur berichtigt und 
weiter ausgedehnt, und ſo beſteht die Wiſſenſchaft, nicht, wie 
es anfangs ſchien, aus einer Reihe von Umwälzungen, deren 
eine die andere zerſtört und aufhebt, ſondern vielmehr aus einer 
ſtetigen Folge von Entwicklungen, deren eine die andere in ſich 
aufnimmt, um fie auf dem neuen Wege noch weiter auszubil— 
den und ſo der geſuchten Wahrheit immer näher zu führen. Auf 
dieſe Weiſe kann man von der intellectuellen Welt daſſelbe 
behaupten, was der Dichter von der materiellen geſagt hat: 

Omnia mutantur, nil interit . 
Nec manet ut fuerat, nec formas servat Bun 
Sed tamen ipsa eadem est. 


„Alles ändert fich, und nichts geht verloren; 


„Nichts bleibt, wie es war, noch behält es dieſelbe 
„Geſtalt; aber es ſelbſt iſt doch immer daſſelbe.“ 


Einleitung. 23 


So enthält demnach die Wiſſenſchaft in ihrer gegenwärtigen 
Geſtalt die Subſtanz aller ihrer vorhergegangenen Modificatio— 
nen, und alles, was in den frühern Perioden in ihr entdeckt oder 
aufgeſtellt worden iſt, gibt ihrer letzten Form das ihr eigen— 
thümliche Gepräge. Ihre frühern Lehren mußten vielleicht erſt 
ſchärfer beſtimmt, in der Sprache der Gegenwart genauer aus— 
gedrückt werden, bis fie, nach manchen chemiſchen Prozeſſen und 
Läuterungen, in die neue Lehre aufgenommen werden konnten 
— aber ſie hören deßwegen nicht auf, in ihrer Art wahre Ver— 
beſſerungen der Wiſſenſchaft zu ſeyn. 

„Ausdrücke, als Erzeuger von Entdeckungen.“ — 
Die Arten, auf welche die früheſten wiſſenſchaftlichen Entdeckungen 
in ihrer heutigen Geſtalt von den Menſchen aufbewahrt werden, 
ſind in der That ſehr mannigfaltig. Anfangs traten ſie als alle 
Welt befremdende Neuigkeiten auf, und am Ende gehen ſie 
gewöhnlich in Axiome über, die ſich gleichſam von ſelbſt ver— 
ſtehen. Sie werden in die Sprache des Volks eingetragen als 
ein gewöhnlicher Satz oder vielleicht durch ein Wort der damals 
herrſchenden Schule, und ſo behaupten ſie ein Princip, während 
ſie nur eine vorübergehende Bezeichnung anzudeuten ſcheinen; ſie 
enthalten und bezeichnen zugleich eine Wahrheit, und gleich 
unſerem Golde, ſind ſie ein bloßes Zeichen und zugleich ein werth— 
voller Schatz. Wir werden ſpäter oft Gelegenheit haben, zu 
ſehen, wie große Entdeckungen auf dieſe Weiſe ihr Gepräge in 
den einzelnen Lauten und Worten der Wiſſenſchaft zurücklaſſen, 
und wie ihr Andenken, gleich jenem unſerer politiſchen Revolu— 
tionen, in der Veränderung des zu ihrer Zeit gangbaren Münz— 
fußes, leicht wieder erkannt wird. 

„Generaliſation.“ — Die großen Veränderungen, die 
in der Literargeſchichte Epoche machen, dieſe Revolutionen der 
intellectuellen Welt, haben, und dieß iſt ihr gewöhnliches und 
leitendes Kennzeichen, alle das Eigenthümliche, daß ſie als 
Schritte zur Generaliſation auftreten, als Uebergänge 
von befchränkten Wahrheiten zu andern höheren, in welchen 
jene nur als beſondere Theile enthalten ſind. Dieſer Fortſchritt 
der Erkenntniß von individuellen Erſcheinungen zu allgemeinen 
Geſetzen, von iſolirten Sätzen zu generellen Principien, iſt dem 
menſchlichen Geifte fo eigenthümlich, daß wir die Beiſpiele davon 
beinahe auf allen Blattern unſerer Geſchichte antreffen werden. 


24 Einleitung. 


„Suductive Epochen, ihre Einleitung und Folge.“ 
— Ju der Geſchichte der Wiſſenſchaften müſſen wir vor allem 
die Fortſchritte derſelben ſorgfältig beachten. Dieſe bilden die 
Haupthandlung unſeres Schauſpiels, und alles übrige, was mit 
derſelben nicht unmittelbar zuſammenhängt, ſo innig es auch 
ſonſt die Ausbildung und die Ausbildner ſelbſt der Wiſſenſchaft 
angehen mag, wird doch keinen weſentlichen Theil unſeres Themas 
ausmachen können. Unſere Erzählung wird ſich alſo nur auf 
die Reihe von Generaliſationen beziehen, von welchen wir ſo 
eben geſprochen haben. Aber unter ihnen werden wir einige 
von entſchiedener und hervorragender Größe antreffen, die auf 
das Geſchick der Wiſſenſchaft vorzüglichen Einfluß haben, und 
gegen welche alle andern nur als untergeordnet zurücktreten. 
Dieſe Hauptveränderungen, bei welchen der inductive Prozeß, 
durch den die Wiſſenſchaft allein gebildet wird, vorzüglich thätig 
war, wollen wir die inductiven Epochen derſelben nennen, 
und ſie verdienen daher unſere höchſte Aufmerkſamkeit. Sie 
werden in der Geſchichte gewöhnlich durch jene glänzenden Ent— 
deckungen und durch die unſterblichen Namen ihrer Urheber 
bezeichnet, in deren Bewunderung alle gebildete Völker der Erde 
gleichſam ſtillſchweigend unter ſich übereingekommen ſind. — Wenn 
wir aber dieſe Hauptepochen näher betrachten, ſo finden wir, 
daß ſie nicht plötzlich und ohne alle ſie vorbereitende Einleitung 
entſtanden ſind. Immer geht ihnen eine Zeit voraus, die wir 
ihre Einleitung nennen wollen, während welcher die den Ge— 
genſtand betreffenden Ideen der Menſchen aufgeregt und gleich— 
ſam in eine geiſtige Frementation verſetzt werden, wo dieſe 
anfangs nur dunklen Ideen nach Klarheit und Zuſammenhang 
ſo lange ringen, bis endlich der helle Gedanke, die reine Wahr— 
heit hervorſpringt und die bisher finſtere Gegend um ſich mit 
ihrem Lichte beleuchtet. — Und wenn nun dieſe Epoche vorüber 
iſt, ſo folgt ihr gewöhnlich eine andere Periode, die Folge von 
jener, während welcher jene Entdeckung immer mehr ausgebildet 
und erweitert wird. Jene, die Epoche, wird von den Heroen 
der Wiſſenſchaft heraufgeführt; dieſe, die Folge derſelben, wird 
gewöhnlich von den Leitern der Wiſſenſchaft eröffnet, und dann 
von ihnen den Geiſtern der zweiten und weitern Ordnung über— 
geben, um ſie in ihren kleineren Verzweigungen auszubilden. Dazu 
gehört meiſtens lange Zeit und die Vereinigung vieler Männer. 


Einleitung. 25 


Aber die Auszeichnung jener großen Epochen mit ihren beiden Be— 
gleitern iſt ſehr geeignet, in die Geſchichte der Wiſſenſchaft Licht 
und Beſtimmtheit zu bringen. Sie ſind gleichſam die Ruheplätze 
unſerer langen Reiſe, wo wir innehalten wollen, bis der Staub, 
den die Menge auf der Heerſtraße erregt, gefallen, und die Aus— 
ſicht in die Umgegend wieder klar geworden iſt. 

„Inductive Karten.“ — Da, wie gejagt, die Ausbil— 
dung der Wiſſenſchaft darin beſteht, daß aus iſolirten That— 
ſachen und Beobachtungen allgemeine Geſetze durch Induction 
abgeleitet werden, von welchen letztern man dann allmählig zu 
den allgemeinſten ſich zu erheben ſucht, ſo wird man von allen 
dieſen Fortſchritten eine Art von Zeichnung, eine Karte ent— 
werfen, in welcher man jene einzelnen Facten und die aus ihnen 
hervorgehenden, in immer größerer Allgemeinheit aufſteigenden 
Principien, gleichſam wie mit einem Blicke überſehen kann. 
Eine ſolche Karte der Wiſſenſchaft wird nicht unangemeſſen mit 
einer Flußkarte verglichen werden, in welcher ſich mehrere kleine 
Bäche zu einem Fluſſe, und mehrere ſolcher Flüſſe endlich zu 
einem mächtigen Strome vereinigen. Eine ſolche Darſtellung 
der Wiſſenſchaft muß, wenn ſie auf Vollſtändigkeit Anſpruch 
machen ſoll, alle die einzelnen Hauptſätze enthalten, aus welchen 
ſie beſteht, und ſie muß dieſe Sätze bis zurück zu ihren erſten 
Quellen verfolgen. Daher wird auch eine ſolche Karte als ein 
Criterium für unſere richtige Vertheilung der inductiven Epoche 
dienen, wenn ſie mit dem Urtheile der beſten Richter, und mit 
dem in der Geſchichte aufgeführten materiellen Inhalt der Wiſ— 
ſenſchaft vollkommen zuſammenſtimmt. Die Ausarbeitung ſol— 
cher Karten diente mir als ſicherer Führer durch das Gebiet der 
Geſchichte jeder einzelnen Wiſſenſchaft, und bewahrte mich vor 
Irrthümern in der Vertheilung der einzelnen Parthien derſelben, 
da gewiß nicht jede willkührliche Eintheilung jener Bedingung 
entſprechen wird. Indeß theile ich dieſe Karten hier noch nicht 
mit, ſondern behalte ſie für die Erläuterung der oben erwähnten 
„Philoſophie der Literargeſchichte“ vor, für welche fie eigentlich 
gehören, da ſie gleichſam als ein Theil von der Logik der 
Induction betrachtet werden können. 

„»Stillſtandsperioden.“ — In der Zeichnung einer 
ſolchen Karte ſieht man die Wege, auf welchen die Wiſſenſchaft 
vorgeſchritten iſt, und nichts weiter. Aber in der Geſchichte 


26 Einleitung. 
ſelbſt begegnet man auch noch andern Erſcheinungen, die ebenfalls 
viel zu belehrend und intereſſant ſind, um ganz übergangen 
werden zu können. Um den Fortgang einer Wiſſenſchaft richtig 
zu erkennen, muß man nicht bloß auf die Vortheile, ſondern 
auch auf die Nachtheile und Irrthümer ſehen, denen ſie auf 
ihrem Wege begegnet iſt. Wenn man bedenkt, wie kurz die 
Zeiten des wahren Fortſchritts einer jeden Wiſſenſchaft in dem 
Laufe ſo vieler verfloſſenen Jahrhunderte geweſen ſind, ſo fühlen 
wir ein dringendes Bedürfniß, zu fragen, was denn in den 
vielen andern ſtationären Perioden mit ihr geſchehen iſt, und 
welches denn die Gegenden ſind, in denen ſie ſo weit von dem 
wahren Wege ſich entfernen und ſo lange in der Irre herum— 
wandern konnte. Es wird für unſern Zweck gleich nothwendig 
ſeyn, die glücklichen und die verunglückten Verſuche des menſch— 
lichen Geiſtes näher kennen zu lernen. 

„Deduction.“ — Während einem großen Theil der eben 
erwähnten ſtationären Perioden finden wir gewöhnlich eine Un— 
terbrechung des weſentlichen Bedingniſſes aller wahren wiſſen— 
ſchaftlichen Fortbildung, nämlich den Mangel an Verbindung 
klarer Ideen mit beſtimmten Thatſachen, und in ſolchen Zeiten 
ſieht man die Menſchen bloß mit leeren Ideen tändeln. Sie 
gebrauchen ſie, um ihre Schlüſſe ſchulgerecht aus gegebenen 
Principien abzuleiten; ſie ordnen, claſſificiren und analyſiren 
dieſe Ideen, um ſie den Regeln des Verſtandes und der Logik 
gemäß in ein Syſtem zu bringen. Dieſes Verfahren wollen wir 
künftig mit dem Worte Deduction bezeichnen. An ihrem 
rechten Orte iſt ſie allerdings ein höchſt wichtiger Theil der Wiſ— 
ſenſchaft ſelbſt, aber ſie iſt ohne Werth, wenn die Principien, 
auf welchen das ganze Syſtem ruhen ſoll, nicht unmittelbar 
aus der Induction der Thatſachen hervorgehen, um das aus— 
ſchließende Material der ſubſtantiellen Wahrheit zu liefern. Ohne 
ein ſolches empiriſches Material gleicht ein Aggregat von De— 
monſtrationen der wahren inductiven Wiſſenſchaft höchſtens 
nur ſo, wie etwa ein Schatten dem reellen Körper gleicht, der 
ihn wirft. Wenn unſere Demonſtrationen eine reelle Bedeutung 
haben ſollen, jo muß die Induction das liefern, was die 
Deduction allein nie geben kann. An einen an die Wand 
bloß gemalten Haken läßt ſich auch nur wieder ein gemaltes 
Bild haͤngen. 


Einleitung. 27 


„»Unterſchied zwiſchen gewöhnlichen und wiſſen— 
ſchaftlichen Begriffen.“ — Wenn man die Begriffe und 
Worte, welche man in den Geſchäften des gewöhnlichen Lebens 
braucht, womit die Menſchen in ihrer Umgangsſprache unter 
einander verkehren, wenn man dieſe mit jenen vergleicht, auf 
welchen die exacten Wiſſenſchaften gegründet ſind, ſo findet man 
zwiſchen dieſen zwei Klaſſen von geiſtigen Aeußerungen viel Aehn— 
liches, und zugleich wieder große Verſchiedenheiten. Ohne hier 
das Verhältniß zwiſchen beiden vollſtändig anzuführen, was über— 
haupt ein ſehr ſchweres Problem iſt, ſo wollen wir nur bemerken, 
daß beide darin übereinkommen, daß ſie durch eine geiſtige Ver— 
bindung der äußern Eindrücke erzeugt werden, und daß ſie in einer 
gewiſſen zuſammenhängenden Reihe von Schlüſſen beſtehen, oder 
daß alle dieſe Begriffe, wenn man kürzer ſo ſagen darf (da wir 
dieſen Gegenſtand hier nicht bis in ſeine letzten Gründe verfolgen 
können), auf eine inductive Weiſe erworben und auf eine deductive 
Weiſe gebraucht werden. Im Gegentheile aber ſind beide wieder 
darin weſentlich verſchieden, daß die wiſſenſchaftlichen Begriffe 
beſtimmt und unveränderlich, die andern aber unbeſtimmt, viel— 
deutig und zweifelhaft ſind: jene gewähren eine klare Einſicht, 
werden in einem ſcharf begrenzten Sinne gebraucht, und bleiben 
ſtets identiſch dieſelben; dieſe aber ſteigen, gleich Irrlichtern, 
aus tauſend verſchiedenen, unklaren und düſtern Anſichten unſeres 
Innern auf, und die Dunkelheit und Inconſiſtenz ihres Ur— 
ſprungs hängt ihnen in allen ihren Anwendungen unzertrennlich 
an. Die wiſſenſchaftlichen Begriffe kann man durch Hülfe 
von Definitionen und Axiomen, zu allen Verſtandesoperationen 
gebrauchen, aber jeder Verſuch, mit den andern zu demſelben 
Ziele zu gelangen, kann nur zu inhaltsleeren Formen oder zu 
einer gänzlichen Verwirrung führen. 

Für das gewöhnliche practifche Leben reichen die letzten aller— 
dings hin. Aber der Menſch iſt nicht bloß ein practiſches Weſen; 
in ſeinem Innerſten trägt er eine unbeſiegbare Neigung zur 
Speculation, eine Luſt an der Betrachtung ideeller Verhältniſſe, 
eine Liebe zur Erkenntniß als reine Erkenntniß und ohne alle 
andern Nebenrückſichten. In dieſer ſpeculativen Tendenz des 
menſchlichen Weſens muß man den eigentlichen Grund zu der 
Verſchiedenheit jener zwei Gattungen von Begriffen ſuchen, von 
welchen wir fo eben gefprochen haben. Der Geiſt analyfirt dieſe 


23 Einleitung. 


Begriffe, baut Schlüffe darauf, combinirt, trennt und folgert, 
denn er fühlt, daß intellectuelle Gegenſtände eine ſolche Behand— 
lung ertragen. Selbſt bloße practiſche Kenntniß iſt, wie wir 
alle wiſſen, ohne Verſtand nicht möglich, aber der ſpeculative 
Verſtand iſt nur derjenige, der ſich ſelbſt auf ſeinem eigenen 
Boden genügt. Dieſe ſpeculative Facultät unſers Geiſtes kann 
nicht durch Thatſachen controllirt werden. Der Geiſt ſpricht 
bloß das Recht an, über ſeine eigenen Handlungen und Schöpfun— 
gen zu ſpeculiren; aber wenn er dieſes Recht auch auf die ae 
wöhnlichen Begriffe des Lebens ausdehnen will, ſo verirrt er 
ſich in trockene Abſtractionen und dreht ſich in einem Kreiſe von 
leeren Spitzfindigkeiten herum. Solche Begriffe gleichen den 
ſtehenden Gewäſſern unſerer Seen: ſo ſehr man ſie auch bewegen 
und erſchüttern mag, ſie treiben ſich immer nur in beſtimmten 
Wirbeln herum. Aber der menſchliche Geiſt beſitzt auch wiſſen— 
ſchaftliche Begriffe, und dieſe ſind wohl geeignet, auf jene Dis— 
cuſſionen und intellectuellen Verrichtungen einzugehen. Wenn ihm 
aus dem Born der Erfahrung und der Beobachtung hinläng— 
liches Material für ſeine Speculation zugeführt worden iſt, 
und wenn er ſich dann, angefüllt mit dieſem Vorrathe, auf das 
Gebiet der practiſchen Wiſſenſchaften herabläßt, dann gleichen 
ſeine Erzeugniſſe dem lebendigen Strome einer in ſich zuſammen— 
hängenden und nach einer beſtimmten Richtung fortſchreitenden 
Wiſſenſchaft. Daß aber eine Wiſſenſchaft beides zugleich ſeyn 
kann, reell in Beziehung auf ihren practiſchen Inhalt, und 
rein logiſch in Beziehung auf ihre Form, das iſt bereits durch 
die Exiſtenz mehrerer ſolcher Wiſſenſchaften über allen Zweifel 
erhoben. 

„Schulphiloſophie.“ — Wenn man aber eine Wiſſen— 
ſchaft, ohne jene Verification und Realiſation ihrer erſten Prin— 
cipien, errichten will, jo kann eine ſolche kein Correctiv mehr 
fuͤr ihre innere Wahrheit in ſich tragen. Eine Philoſophie, die 
auf dunklen, unbeſtimmten und inhaltsleeren Begriffen erbaut iſt, 
und bei der man nicht weiter auf den Zuſammenhang ihrer 
innern Doetrin mit den Erſcheinungen der Außenwelt ſieht, eine 
ſolche Philoſophie kann wohl lange Zeit durch beſtehen und ſelbſt 
den menſchlichen Geiſt ſehr feſt halten, aber dieſe Dauer beruht 
nur auf der Luſt, die der Menſch ſeiner innern Natur nach fühlt, 
wenn er die Operationen ſeines eigenen und des Geiſtes der 


Einleitung. 29 


andern betrachten und verfolgen, und fie dann in eine Art von 
logiſcher Conſiſtenz und von ſyſtematiſcher Anordnung bringen 
kann. In allen dieſen Fällen find aber die Gegenſtände, mit 
denen er ſich beſchäftigt, nicht mehr die Dinge außer ihm, ſon— 
dern nur die innern Beſchauungen ſeines eigenen Selbſts; und 
ſeine Abſicht iſt nicht, die äußere Welt, ſondern nur ſein inne— 
res Ich zu unterſuchen. Die Thatſachen, über welche hier ſpe— 
culirt wird, ſind nicht die Erſcheinungen in der Natur, ſondern 
nur die Sätze, welche die Meiſter in der Schule aufgeſtellt 
haben, und dieſe zu discutiren, zu reduziren, combiniren und 
analyſiren, das iſt das Geſchäft, welches den Nachfolgern dieſer 
Meiſter obliegt. Eine Aufeinanderfolge von Speculanten ſolcher 
Art, die eine gewiſſe Richtung verfolgen, hat man ſehr ange— 
meſſen eine Schule, und ihre Lehren ebendeshalb eine Schul— 
philoſophie genannt, gleichviel, ob ihr Zuſammentreffen auf 
dem Wege, auf dem ſie die Wahrheit ſuchen, bloß in einer per— 
ſönlichen Mittheilung, in Tradition, beſteht, oder ob daſſelbe 
nur das Reſultat der Uebereinſtimmung ihres intellectuellen 
Charakters und ihrer Neigung zu einer beſtimmten Speculation 
ſeyn mag. Die zwei großen Perioden der Schulphiloſophie (die 
wir aber hier bloß in Beziehung auf die eigentlich phyſiſchen 
Wiſſenſchaften betrachten) unſerer Literargeſchichte werden von 
den griechiſchen Philoſophen und von denen des Mittelalters 
gebildet. In jener erwachte die Wiſſenſchaft zuerſt unter den 
Menſchen, und in dieſer Periode hielt ſie ihren langen und 
tiefen Mittagsſchlaf. 

Was wir im Vorhergehenden kurz und unvollſtändig geſagt 
haben, würde viel Raum und Mühe fordern, es ganz nach 
ſeiner Wichtigkeit aus einander zu ſetzen. Indeß wird es ge— 
nügen, auch nur ſo viel davon mitgetheilt zu haben, um das 
nun Folgende deutlicher und Jedermann verſtändlich zu machen. 
Es iſt vielleicht als ein Nachtheil zu betrachten, daß man ein 
Unternehmen, wie das gegenwärtige, mit ſolchen metaphyſiſchen 
und manchen Leſer ſogar zurückſtoßenden Betrachtungen beginnen, 
und daß man dieſe noch dazu nur unvollſtändig und ohne ge— 
hörige Entwicklung geben muß. Mag man indeß dieſe Ein— 
leitung mit einer geographiſchen Karte von einem Lande ver— 
gleichen, mit welchem die Geſchichtſchreiber, die ſich mit dem 
Schickſale dieſer Länder beſchäftigen, ebenfalls oft genug ihre 


30 Einleitung. 


Erzählung beginnen. Unſere Leſer werden wohl nicht eben ſo 
viel Metaphyfik für die nun folgende Darſtellung bedürfen, als 
jene Geſchichtſchreiber an geographiſchen Kenntniſſen bei ihren 
Leſern vorauszuſetzen pflegen, und ſo ſoll denn, was bisher 
geſagt worden iſt, als ein ſchwacher Umriß der Geographie 
jener intellectuellen Welt betrachtet werden, zu deren Geſchichte 
wir nun übergehen wollen. 


Erſtes Buch. 


Gelchichte der Philotophie der griechifchen 
Schulen in Beziehung aut die Phyfik, 


Tig yag aoXa os Sar vavrıkag, 
Tig de xıvövvog xgaTegpo1Lg 
Adauavrog Önoev Hg. 


Wer begann die Schifffahrt? Und welche Gefahr 
band fie mit mächtigen, diamantnen Feſſeln? 
Pind. Pyth. IV. 124. 


Erſtes Buch. 


Gelchichte der Philofophie der griechifchen Schulen in 
Beziehung auf Phyfik. 


Erſtes Capitel. 
Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 
Erſter Abſchnitt. 
Erſte Derfuche des menfchlichen Geiftes in phyfifchen Gegenftänden, 


Schon in einer ſehr frühen Zeit unſerer Weltgeſchichte trat 
der Hang des Menſchen zu ſpeculativen Unterſuchungen der ihn 
umgebenden Natur hervor. Was ſie ſahen, forderte ſie zum 
Nachdenken, zu Vermuthungen, zu Schlüſſen auf: ſie bemühten 
ſich, die Erſcheinungen der Natur kennen zu lernen, ihre Urſachen 
zu finden, und dieſelben auf Principien zurückzuführen. Zuerſt 
vor allen Völkern ſcheint ſich dieſe geiſtige Thätigkeit bei den 
Griechen entfaltet zu haben. Während jener dunklen, einleiten— 
den Periode, in welcher dieſe ſpeculative Facultät des Geiſtes 
noch kaum ſich von den Feſſeln des practiſchen Lebens befreit 
hatte, wurden diejenigen, die in ſolchen Unterſuchungen am 
meiſten über die andern hervorragten, mit demſelben Ehren— 
namen, mit dem man überhaupt jeden practiſch vorzüglichen 
Mann belegte, Weiſe oder oopoı genannt. Nachdem aber dies 
ſelben Männer deutlicher einſehen gelernt hatten, daß ihre Be— 
mühungen bloß aus ihrer Liebe zur Erkenntniß entſprangen, alſo 
aus einer ganz andern Quelle, als die, welche gewöhnlich zur 

Klugheit im practiſchen Leben führt, ſo wurde für ſie ein anderer, 


mehr ee uud zugleich mehr beſcheidener Rau gewählt 
Whewell, 1. 


34 Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 


und fie wurden loco oder Freunde der Weisheit 
genannt. Dieſe Bezeichnung, ſagt man ), ſoll Pythagoras auf: 
gebracht haben. Allein derſelbe wird von Herodot ?) noch der 
kräftigſte Sophiſt genannt. "EAAnvav 8 f aodEVveotat@ 
cogıorn H 8H. Dieſer Geſchichtſchreiber ſcheint das Wort 
„Sophiſt“ nicht mit jenem Nebenbegriff von „Mißbrauch der 
Weisheit“ genommen zu haben, den es erſt ſpäter erhielt. Die 
Literaturgeſchichte ſtellt Pythagoras an die Spitze der ſoge— 
nannten italieniſchen Schule, eine der zwei Hauptzweige 
der griechiſchen Philoſophie. Die andere aber, die joniſche 
Schule, ſoll Thales geſtiftet haben, der wenigſtens hundert 
Jahre vor jenem lebte, und der unter den ſogenannten ſieben 
Weiſen von Griechenland aufgezählt wird. Dieſe letztere Schule 
verdient unſere Aufmerkſamkeit im höhern Grade durch ihren 
eigenthümlichen Charakter ſowohl, als auch durch die großen 
Fortſchritte, welche ſie in den ſpätern Zeiten gemacht hat. 
Dieſer joniſchen Schule folgten in Griechenland mehrere 
andere philoſophiſche Schulen, und die Gegenſtände, mit welchen 
ſich dieſe Inſtitute beſchäftigten, waren ſehr ausgebreitet. Ihre 
früheſten Verſuche beſtanden in der Aufſtellung von Syſtemen, 
durch welche ſie die Geſetze und Erſcheinungen der materiellen 
Welt erklären wollten, und dieſen folgten bald andere, die ſich 
auf die moraliſchen Fähigkeiten und Verhältniſſe des Menſchen 
bezogen. Die phyſiſchen Unterſuchungen dieſer Schule aber ſind 
unſerer Aufmerkſamkeit beſonders dadurch würdig geworden, 
weil ſie den Charakter und die Schickſale des merkwürdigſten 
aller menſchlichen Verſuche, zu einer ganz allgemeinen Erkennt— 
niß der Natur zu gelangen, in ſich enthalten. Es iſt in der That 
in hohem Grade intereſſant, die Hauptzüge dieſer ſehr gewagten 
Unterſuchung zu zeichnen. Der Weg, den ſie dabei verfolgten, 
war ein ſehr natürlicher und ungemein anlockend, und der Ver— 
ſuch wurde von einem Volke gemacht, dem in den feinſten 
Geiſtesgaben bisher kein anderes gleich gekommen iſt, und doch, 
man muß es geſtehen (in Beziehung auf die Phyſik wenig— 
ſtens wird Niemand es läugnen wollen) — der Verſuch iſt ein 
völlig verunglückter geweſen. Denn nur als ein ganz mißlungenes 


1) Cicero Tusc. V. 3. 
2) Herod. IV. 95. 


Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 35 


Unternehmen, den Grund aller Dinge zu erforſchen, muß man 
das Vollſtändigſte, was davon auf unſere Zeit gekommen iſt, 
die Ariſtoteliſchen Schriften über die Phyſik betrachten, die, 
nachdem fie ihr eingebildetes Ziel erreicht hatte, den menſchlichen 
Geiſt, in allen Beziehungen auf jene hyperphyſiſchen Gegenſtände, 
durch beinahe zwei volle Jahrtauſende in ſtarren Feſſeln ſchmach— 
ten ließ. 

Jene erſten Philoſophen Griechenlands ſchritten an ihr 
Werk mit einer Art, welche die Springkraft und das Selbſt— 
vertrauen ihres jugendlichen Geiſtes bewies, der noch ungebeugt 
von Nachtwachen und mißlungenen Verſuchen kühn vorwärts 
ſtrebt. Erſt den ſpätern Zeiten war es aufbehalten, zu lernen, daß 
es dem Menſchen nur gegönnt iſt, langſam und geduldig, und 
Strich für Strich das Alphabet zu erlernen, in welchen die 
Natur ihre Antworten auf unſere Fragen ertheilt. Jene jungen 
Weiſen aber wollten, mit einem einzigen Blicke fchon, den 
ganzen Inhalt ihres großen Buchs überſehen. Ihre Abſicht 
war es, den Urſprung und die Elemente des Univerſums zu 
erforſchen. Nach Thales war dieß das Waſſer, nach Anaxi— 
menes die Luft, und nach Heraclit endlich war das Feuer 
die eſſentielle Quelle, aus der alle Dinge des Weltalls hervor— 
gegangen ſind. Man hat, nicht ohne Wahrſcheinlichkeit, die 
Vermuthung aufgeſtellt, daß dieſe Umwandlung der Philoſophie 
in eine Cosmogenie eine Folge jener poetiſchen Weltbildung 
geweſen iſt, in welcher ſich die Dichter Griechenlands in einer 
viel früheren Periode ſo ſehr gefallen haben. Auch waren dieſe 
erhabenen, in undurchdringliches Dunkel gehüllten Gegenſtände 
allerdings mehr für die düſtere Hoheit der Dichtkunſt, als für 
die Philoſophie geeignet, die es nur mit dem ſcharf ſichtenden 
Verſtande zu thun hat. Wenn wir aber von den Principien 
aller Dinge ſprechen, ſo iſt dieſer Ausdruck, ſelbſt jetzt noch, 
ſehr vag und unbeſtimmt: aber wie viel mehr mußte er dieß bei 
jenem früheſten Gebrauche ſolcher abſtracten Begriffe ſeyn. Das 
Wort, welches die Griechen gewöhnlich dafür brauchten, war «ex, 
das zuerſt „den Anfang“ bezeichnete, das aber bald, ſchon in ſeinen 
erſten philoſophiſchen Anwendungen, eine dunkle vermiſchte Be— 
ziehung auf die mechaniſchen, chemiſchen, organiſchen und ſelbſt 
hiſtoriſchen Urſachen der Natur in ſich aufgenommen hat, nebſt 
den theologifchen, die damals nur kaum noch von den phyſiſchen 

3 * 


36 Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 


Urſachen getrennt waren. Es darf uns alſo auch nicht 
überraſchen, wenn die philoſophiſchen Meinungen jener alter— 
grauen Zeiten nur vage Muthmaßungen und ſcheinbare Analo— 
gien, nicht aber ſolche Vernunftgründe ſind, die eine ſtrenge 
Unterſuchung vertragen. Ariſtoteles ) ſagt mit viel Wahrſchein— 
lichkeit, daß die Lehre des Thales, nach welcher das Waſſer das 
Element des Univerſums ſey, aus der offenbaren Nothwendigkeit 
der Feuchtigkeit für das Leben aller Thiere und Pflanzen ent— 
ſprungen ſey. Aber dieſe ſchwankenden Analyſen von ſo dunklen 
und unbeſtimmten Doctrinen des Alterthums können nur von 
ſehr geringem Einfluß auf den eigentlichen Gegenſtand unſerer 
Geſchichte ſeyn. 

Einen deutlicheren Anfang der wahren Art, Gegenſtände 
der Natur zu unterſuchen, findet man in den enger begrenzten 
und mehr beſtimmten Beiſpielen von einzelnen Erſcheinungen 
dieſer Natur. Eine der intereſſanteſten derſelben iſt vielleicht 
die Unterſuchung, die uns Herodot ?) über die Urſachen der 
jährlichen Ueberſchwemmung des Nils mitgetheilt hat. „Was 
„die Natur dieſes Fluſſes betrifft, ſagt er, fo konnte ich darüber 
„weder von den Prieſtern, noch von andern Menſchen etwas 
„erfahren, fo oft ich fie auch darum gefragt habe. Der Nil 
„wächst nahe hundert Tage und ſein Wachsthum beginnt mit 
„dem Sommer-Solſtitium; nach jener Zeit aber nimmt er wieder 
„ab, und bleibt dann, während den ganzen Winter, ſehr klein. 
„Kein Aegyptier konnte mir aber etwas Befriedigendes über 
»„dieſe Kraft ſagen, durch welche der Nil in feiner Natur allen 
„andern Flüſſen gerade entgegengeſetzt iſt.“ 

Es ſcheint, Herodot fühlte in ſeinem griechiſchen Geiſte 
etwas, was ihn antrieb, die Urſache dieſer Erſcheinung zu er— 
forſchen, während dieſes Etwas den ägyptiſchen Geiſtern fremd 
geblieben iſt. Die Aegyptier hatten offenbar keine Theorie dieſes 
Phänomens, und fühlten auch kein Bedürfniß derſelben. Nicht 
ſo ſeine griechiſchen Landsleute, die wohl ihre Urſachen hatten, 
aber, wie es ſcheint, keine ſolchen, die unſern Herodot befrie— 
digten. „Einige Griechen, fährt er fort, die gern für große 
„Philoſophen gelten möchten, haben drei Wege eingeſchlagen, 


1) Metaphyſtk I. 3. 
2) Herodot II. 19. 


Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 37 


„jenes Phänomen zu erklären. Die erſten ſagen, daß die Ete— 
»ſiſchen Winde (die von Norden wehen) die Urſache jener Fluth 
„des Nils find, weil fie dieſen Fluß hindern, fein Waſſer in 
„das Meer auszugießen.“ Allein dagegen wendet er ſehr richtig 
ein: „Sehr oft wehen jene Winde nicht, und doch wächst der 
„Nil. Und überdieß, wenn jene Winde die wahre Urſache 
„feines Wachsthums wären, fo müßten alle gegen Norden fließen— 
„den Ströme dieſelben Eigenſchaften, wie der Nil, haben, was 
„doch die eben ſo gelegenen Ströme von Syrien und Libyen 
„nicht thun.“ 

„Die zweite Urſache iſt noch unwiſſenſchaftlicher (aveniorn- 
„uoveoreeon), und wahrhaft durch ihre Thorheit ausgezeichnet. 
„Nach ihr ſoll nämlich der Nil aus dem Ocean kommen, und 
„va der Ocean, heißt es, die ganze Erde umfließe, fo müſſe der 
„Nil auch jene Erſcheinung zeigen. Allein dieſe Meinung von 
„dem die Erde überall umkreiſenden Ocean gehört in das dunkle 
„Gebiet der Mythe, und ermangelt alles Beweiſes. Ich wenig— 
„itens weiß von keinem ſolchen Ocean, und glaube, daß Homer, 
„oder irgend ein anderer Dichter vor ihm dieſe Sache erfunden 
„und in feine Fictionen willkührlich eingewebt hat.“ 

Er geht nun zu der dritten Erklärung über, die einem 
Neueren wohl nicht unphiloſophiſch erſcheinen mag, die er aber 
doch eben ſo beſtimmt, wie jene beiden verwirft. „Der dritte 
„Weg, ſagt er, iſt unter allen der ſcheinbarſte, und zugleich der 
„unrichtigfte. Es heißt nämlich, daß der Nil von dem geſchmol— 
„zenen Schnee anlaufe, weil er aus Libyen mitten durch Aethio— 
„rien lauft und durch Aegypten ausfließt. Allein wie kann er 
„von Schnee anlaufen, da er aus den heißeren Gegenden in die 
„kälteren kömmt? Es gibt Gründe genug für Jedermann, dieſer 
„Erklärung zu widerſprechen. Die erſten und ſtärkſten geben 
„die Winde, die warm aus jenen Gegenden wehen. Die zwei— 
„ten, daß dieſes Land immerdar ohne Regen und Eis iſt. Da 
„aber auf Schneewetter nothwendig in wenigen Tagen Regen 
„fallen muß, fo würden jene Länder, wenn fie Schnee hätten, 
„auch nothwendig Regen haben. Der dritte Grund iſt die 
»ſchwarze Farbe der dort wohnenden Menſchen, die nur von der 
„Hitze kommt. Auch bleiben daſelbſt Weihe und Schwalben das 
„ganze Jahr, ohne abzuziehen, und die Kraniche, die ſich vor 
„oem Winter flüchten, wenn er in Seythien einbricht, wandern 


38 Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 


„zur Ueberwinterung in dieſe ſüdlichen Gegenden. Wenn es 
„daher auch nur etwas in dem Lande ſchneite, aus welchem und 
„durch welches der Nil fließt, ſo würde dieß alles nicht ſo ſeyn, 
„wie es wirklich daſelbſt iſt.“ — Nach dieſen Darſtellungen der 
fremden Meinungen gibt nun Herodot (II. 24) ſeine eigene 
Anſicht von der Sache, nicht eben auf die klarſte Weiſe, wie 
man geſtehen muß. Er ſagt wörtlich, wie folgt: „Zur Winters— 
„zeit wird die Sonne durch die Winterſtürme aus ihrer alten 
„Bahn getrieben und kommt in's hintere Libyen, alſo muß auch 
„dieſes Land, dem die Sonne jetzt am nächſten iſt, am meiſten 
„nach Waſſer dürſten, und ſeine Flüſſe werden, ſo weit ſie im 
„Lande ſtrömen, eintrocknen. Wenn nämlich die Sonne durch 
„das hintere Libyen hinauslauft, hat ſie, bei der heitern Luft 
„und der Wärme dieſes Landes, dieſelbe Wirkung, die ſie ſonſt im 
„Sommer zu haben pflegt, wo ſie mitten am Himmel läuft, das 
„heißt, fie zieht das Waſſer an ſich, und dann ſtößt fie es 
„wieder ab in die hinteren Gegenden, wo es die Winde auf— 
„fangen, zerſtreuen und auflöſen, wie denn natürlicher Weile 
„der Süd- und Thauwind, die von dieſem Lande herkommen, 
„unter allen Winden den meiſten Regen bringen. Doch glaube 
„ich, daß die Sonne das jährlich gezogene Nilwaſſer nicht jedes: 
„mal ganz fahren läßt. Wenn nun der Winter gelinder wird, 
„ſo kommt die Sonne wieder mitten am Himmel herauf, und 
„von jetzt an zieht fie bereits an allen Flüſſen gleich ſtark. Bis 
„dahin haben aber die anderen Flüſſe bei reichlichem Zufluß von 
„Regenwaſſer, da ihre Länder Regen- und Gießbäche haben, 
„eine ſtarke Strömung; des Winters aber, wenn die Regengüſſe 
„fie verlaſſen und zugleich die Sonne an ihnen zieht, nur eine 
„ſchwache. Dagegen iſt der Nil, der, ohne Regenwaſſer zu 
„haben, von der Sonne angezogen wird, der einzige Fluß, der 
„um dieſe Zeit eine weit geringere Strömung hat, als des Som: 
„mers, und indem er da mit allen Gewäſſern gleichmäßig ange— 
„zogen wird, ſo leidet er des Winters allein. Auf dieſe Art 
„halte ich daher die Sonne für die eigentliche Urſache dieſer 
„Erſcheinung.“ 

Es ſcheint alſo, ſo viel man aus der etwas geſchwätzigen 
Darſtellung des alten Joniers ſchließen kann, daß er die Un— 
gleichheiten des Nils in beſtimmten Jahreszeiten dem Einfluß 
der Sonne bloß auf die Quellen dieſes Fluſſes zuſchreibt, 


Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 39 


während er die andere Urſache, den Regen, ganz ausſchließen 
will, und daß unter dieſer Vorausſetzung der relative Erfolg 
derſelbe ſeyn würde, wenn die Sonne dieſe Quellen im Winter 
durch das Schmelzen des Schnees vermehrt, oder wenn ſie im 
Sommer dieſelben durch das vermindert, was er das Anziehen 
des Waſſers durch die Sonne nennt. 

Dieſes Beiſpiel, eine phyſiſche Unterſuchung aus der früheften 
Zeit der Griechen, ſcheint mir klar dafür zu ſprechen, daß ihre 
Philoſophie über ſolche Dinge auf dem eigenen Boden ihres 
Landes entſtanden, nicht aber aus Aegypten oder aus dem Oſten 
dahin geführt worden iſt, eine Meinung, die auch jetzt von 
beinahe allen competenten Richtern angenommen iſt ). In der 
That haben wir kein deutliches Zeugniß, daß die Afrikaniſchen 
oder die Aſiatiſchen Völkerſchaften, mit Ausnahme vielleicht der 
einzigen Indier, je den Trieb in ſich fühlten, ihre Begriffe von 
Urſache und Wirkung auf die ſichtbaren Erſcheinungen der Natur 
auf eine ſolche Weiſe anzuwenden, oder eine ſo ſcharfe Grenze 
zwiſchen einer fabelhaften Legende und einem Verſtandesſchluß 
zu ziehen, wie hier geſchehen iſt, oder endlich den Verſuch zu 
machen, durch Zuſammenſtellung mehrerer Erſcheinungen der— 
ſelben Art ſich zu der natürlichen Urſache derſelben zu erheben. 
Wir ſind daher auch wohl berechtigt, anzunehmen, daß dieſe 
Völkerſchaften den Griechen nicht gegeben haben, was ſie ſelbſt 
nie beſaßen, und daß daher die Philoſophie der Phyſik ſeinen 
eigenthümlichen und unabhängigen Urſprung in dem thätigen 
und ſcharfſinnigen Geiſte der Griechen ſelbſt ſuchen muß. 


Zweiter Abſchnitt. 
Erfte Milsverftändniffe der phyfiichen Philofophie der Griechen. 


Wir wollen nun zuſehen, mit welchem Glücke die Griechen 
den von ihnen eingeſchlagenen Weg verfolgt haben. Und hier 
müſſen wir ſogleich geſtehen, daß ſie ſich ſchon ſehr früh von der 
wahren Bahn, die allein zur Wahrheit führt, entfernten, und 
daß ſie in ein weites Feld von Irrthümern ſich verloren, in 


1) Thirlwall, Geſch. von Griechenl. II. 130, und Ritter, Geſch. der 
Philoſophie I. 150—173. 


40 Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 


dem ſie und alle ihre Nachfolger beinahe bis auf unſere Zeiten 
herumgeſchwärmt ſind. Es wird unnöthig ſeyn, hier zu unter— 
ſuchen, wie es gekommen iſt, daß diejenige geiſtige Kraft, welche 
uns zur Aufſpürung der Wahrheit verliehen worden iſt, ſo lange 
irre geführt und gleichſam gemißbraucht werden konnte. That— 
ſache iſt, daß die phyſiſche Philoſophie der Griechen nur zu bald 
eine tändelnde, werthloſe Sache wurde, und es wird nun an 
uns ſeyn, zu finden, worin eigentlich der Hauptmißgriff derſelben 
beſtand. 

Kehren wir, zu dieſem Zweck, noch für einen Augenblick zu 
der vorhergehenden Erklärung Herodots von der Ueberſchwem— 
mung des Nils zurück. Er ſagt, das Waſſer werde von der 
Sonne angezogen. Dieß iſt eigentlich ein metaphorifcher Aus— 
druck, da der Begriff der Anziehung hier in einer viel allgemeinern, 
als in der gewöhnlichen Bedeutung genommen wird. Die abſtracte 
Bedeutung des Worts „Anziehung“ iſt aber bei unſerem Geſchicht— 
ſchreiber, wie wir geſehen haben, noch ſehr vag und unbeſtimmt. 
Man kann nämlich zweierlei dabei denken, entweder eine mecha— 
niſche oder eine chemiſche Attraction, entweder einen gewiſſen 
Druck, oder auch eine Art von Verdunſtung. Auf gleiche 
Weiſe führten beinahe alle erſten Verſuche, die Erſcheinungen 
der Natur zu erklären, auf ſolche abſtracte Begriffe, die dunkel 
und unbeſtimmt waren, wie z. B. die Worte Geſchwindigkeit, 
Kraft, Druck, Stoß, Moment u. dergl. Bald nach der Auf— 
nahme ſolcher Worte mußte man das Bedürfniß fühlen, ihnen 
eine ſchaͤrfere Bezeichnung, eine größere Beſtimmtheit zu geben, 
ſo daß ſie zu den geiſtigen Operationen, zu welchen man ſie 
verwenden wollte, mit Sicherheit und Conſequenz gebraucht 
werden konnten. Zu dieſem letzten Zwecke aber gab es zwei 
Mittel. Das eine beſtand in der Unterſuchung, in der Analyſe 
des Worts in Beziehung auf die Vorſtellung, welche dieſes 
Wort in uns hervorrufen ſollte, und das andere beſtand in der 
Unterſuchung des äußeren Gegenſtandes, welcher dieſes 
abſtracte Wort in uns erzeugt hatte. Der letzte Weg, die 
reelle Methode, konnte allein zu einem glücklichen Erfolg 
führen, aber die Griechen verfolgten nur den erſten Weg, die 
Verbal-Methode, und gingen eben deßhalb irre. 

Wenn Herodot, als der Einfall von einer Anziehung des 
Waſſers durch die Sonne in ſeinem Kopfe entſtand, ſich bemüht 


Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 41 


hätte, ſich ſelbſt weiter zu erklären, aber durch Thatſachen 
zu erklaren, auf welche Weiſe er dieſes Wort näher beſtimmen 
mußte, um es auf ſeinen Gegenſtand gehörig anzuwenden, ſo 
würde er ſich wahrſcheinlich bald der wahren Auflöſung des 
Problems genähert haben. Hätte er z. B. verſucht, ſich durch 
ſolche Thatſachen zu belehren, ob dieſe Anziehung der Sonne 
nur auf die Quellen des Fluſſes, oder ob fie auf den ganzen 
Lauf deſſelben und auch auf ſolche Gewäſſer einwirke, die nicht 
unmittelbar zu dem Nil ſelbſt gehören, ſo würde er ſich ſehr 
bald veranlaßt gefunden haben, ſeine Hypotheſe ganz zu ver— 
werfen. Er würde nämlich die ſehr einfache und leichte Bemer— 
kung gemacht haben, daß dieſe Anziehung der Sonne eine Ver— 
minderung aller expandirten und offenen Sammlungen von 
Flüſſigkeiten bewirkt, dieſe letzten mögen nun ein Fluß, ein See 
oder ein Meer ſeyn, ſie mögen aus einer Quelle kommen oder 
nicht. Dieſe Bemerkung aber würde ihm gezeigt haben, daß 
dieſe Einwirkung der Sonne, die auf den ganzen Nil ſtatthat, 
im Sommer fein Waſſer eben fo, wie das aller anderen Flüſſe, 
nur vermindere, und daß alſo auch dieſe Anziehung der 
Sonne nicht die Urſache ſeines Austritts ſeyn kann. Auf dieſem 
Wege würde er ſeine erſte, vage Conception von jener Anziehung 
näher begrenzt und ſchärfer bezeichnet, er würde ſie weſentlich 
korrigirt haben, und dadurch würde er auf den wahren Begriff 
der Verdunſtung geleitet worden ſeyn. Und auf gleiche Weiſe 
hätte es mit allen jenen erſten abſtracten Notionen geſchehen 
ſollen, bis endlich der verbeſſerte Begriff, den man damit ver— 
bindet, dahin gebracht iſt, daß er mit der Vernunft und zugleich 
mit dem Zeugniß der Sinne in eine Parınamelde und ſcharf 
begrenzte Uebereinſtimmung gelangt. 

Aber auf dieſe Weiſe verfuhren jene griechiſchen Specula— 
toren nicht. Im Gegentheil, ſo bald ſie ein ſolches abſtractes, 
allgemeines Wort in ihre Philoſophie aufgenommen hatten, ſo 
ſuchten ſie nun eben dieſes Wort mit dem inneren Lichte ihres 
Geiſtes nach allen Seiten zu beleuchten und zu durchgrübeln, 
ohne ſich weiter um die Sache zu bekümmern, die in der äußeren 
Sinnenwelt jenem Worte entſprechen ſollte. Sie nahmen einmal 
als ausgemacht an, daß die wahre Philoſophie nur aus den 
inneren Relationen der Wörter hervorgehen müſſe, die in der 
Sprache des gemeinen Lebens gebraucht werden, und ſo ſuchten 


42 Eingang zur griechiſchen Philoſophie. 


ſie auch ihre Weisheit nur in dieſen Wörtern. Sie ſollten ihre 
erſten Conceptionen durch Beobachtung der Außenwelt fixiren 
und verbeſſern; aber ſie wollten ſie nur durch innere Reflexionen 
analyſiren und erläutern. Sie ſollten, durch wirkliche Verſuche, 
jene Conceptionen den Thatſachen anpaſſen, aber ſie wollten nur, 
umgekehrt, dieſe Thatſachen ſo lange modificiren und abändern, 
bis ſie ihren davon aufgefaßten Notionen angepaßt ſeyn würden. 
Sie ſollten, mit einem Worte, durch Induction beſtimmte 
Begriffe von den Dingen außer ihnen ſich verſchaffen, aber ſie 
wollten nur, durch Deduction, aus ihren Kunſtwörtern die 
denſelben, nicht aber die der Außenwelt, entſprechenden Reſul— 
tate ableiten. 

Dieſe durchaus falſche Methode wurde ſpäter auf eine ſehr 
ausgedehnte Weiſe in den philoſophiſchen Schulen der Griechen 
verfolgt, zu denen wir nun übergehen. 


Zweites Capitel. 
Die griechiſche Schulphiloſophie— 
Erſter Abſchnitt. 


Allgemeine Gründung der griechilchen Schulphilofophie, 


Die Naturphiloſophie der Griechen entſtand, indem ſie die 
ſie umgebende materielle Welt durch das Medium ihrer gewöhn— 
lichen Umgangsſprache betrachtete, und indem ſie zu der Unter— 
lage ihrer auf die Erſcheinungen der Natur gebauten Schlüſſe 
ſolche Worte brauchten, die wohl in einem weiteren und mehr 
abſtracten Sinne, als im gemeinen Leben, genommen waren, 
die aber demungeachtet eben ſo unbeſtimmt und dunkel waren. 
Eine ſolche Philoſophie aber, ſo ſehr ſie auch die aus der ge— 
meinen Sprachweiſe aufgenommenen Notionen analyſiren und 
ſublimiren mochte, konnte doch nie den Grundfehler, an welchem 
ihr erſtes Princip litt, wieder gut machen. Allein ehe wir von 
dieſem Fehler ſprechen, müſſen wir ihn zuerſt näher kennen 
lernen. 


Griechiſche Schulphiloſophie. 43 


Die Neigung des Menſchen, alles auf Gründe und Prin— 
cipien zurückzuführen, hat man ſelbſt in den Sprachgebäuden der 
Völker, ſchon in ſehr frühen Zeiten, bemerkt. Ein Beiſpiel da— 
von mag uns Thales, der eigentliche Gründer der griechiſchen 
Philoſophie, geben ). Als er gefragt wurde: „was iſt das 
Größte aller Dinge?“ antwortete er: „der Raum, denn alle 
Dinge ſind in der Welt, und die Welt ſelbſt iſt im Raum.“ — 
Aber in Ariftoteles finden wir dieſe Art der Speculation auf 
ihrem höchſten Gipfel. Beinahe alle feine Unterſuchungen fängt 
er damit an, daß man „im gemeinen Leben ſo oder ſo ſage.“ 
So z. B. wenn er die Frage discutiren will, ob es in der Na— 
tur einen leeren Raum gebe, ſo beginnt er damit, in wel— 
chem Sinne wir zu ſagen pflegen, daß irgend ein Ding in einem 
andern enthalten ſey. Er zählt mehrere derſelben auf 2), indem 
wir z. B. ſagen, der Theil ſey in dem Ganzen, ſo wie der Fin— 
ger in der Hand iſt, oder die Species ſey in dem Genus, ſo wie 
der Begriff „Menſch“ in dem „des Thieres“ iſt; eben ſo, die 
Herrſchaft Griechenlands ſey in dem König, und dergl. Allein 
von allen dieſen Sprecharten, ſetzt er hinzu, iſt die beſte und 
eigentlichſte die, wenn wir ſagen, ein Ding ſey in einem Gefäße 
oder überhaupt in einem beſtimmten Raume. Wenn er bis 
dahin gelangt iſt, ſo unterſucht er auf dieſelbe Weiſe das Wort 
„Raum“ und kommt ſonach zu dem Schluſſe, „daß wenn ein 
„Körper einen andern Körper einſchließt, der eingeſchloſſene im 
„Raum ift, und wenn nicht, nicht.“ Ein Körper, fährt er dann 
fort, bewegt ſich, wenn er ſeinen Raum ändert; aber, ſetzt er 
wieder hinzu, wenn ein Gefäß Waſſer enthält, und wenn das 
Gefäß auch in Ruhe bleibt, ſo kann ſich doch noch das Waſſer 
im Gefäße bewegen, denn es iſt in dem Gefäße eingeſchloſſen, 
ſo daß alſo, wenn auch das Ganze ſeinen Raum nicht ändert, 
doch die einzelnen Theile ſich in einer kreisförmigen Bewegung 
befinden können. Von da geht er nun zu dem eigentlichen Pro— 
blem des „leeren Raumes“ über, und unterſucht wieder, in wie 
viel verſchiedenen Bedeutungen dieſes Wort in der griechiſchen 
Sprache gebraucht werden kann, und endlich nimmt er von allen 
dieſen Bedeutungen als die angemeſſenſte dieſe an, daß „leerer 


1) Plutarch, Conv. Sept. Sap. Diog. Laert. I. 35. 
2) Ariſtot. Phys. Ausc. IV. 3. 


44 Griechiſche Schulphiloſophie. 


Raum“ ſo viel heiße, als „Raum ohne Materie.“ — Wie ganz 
ſteril und nutzlos aber dieſe Unterſuchung in Beziehung auf die 
darauf zu gründenden Folgerungen iſt, werden wir bald ſehen. 

Wenn er an einem andern Orte ) das Problem der „mes 
chaniſchen Wirkung“ discutiren will, ſo heißt es: „Wenn ein 
„»Menſch einen Stein mit einem Stabe ſtößt, fo ſagen wir, 
„daß der Stein von dem Manne, und wir ſagen nicht, daß 
»der Stein von dem Stabe bewegt wird, aber das letztere iſt 
„eigentlicher geſagt, als das erſte.“ 

Auch leiten dieſe griechiſchen Philoſophen ihre Dogmen am 
liebſten aus den allgemeinſten und abſtracteſten Begriffen ab, 
die ſie nur auftreiben können, z. B. von dem Begriff des Uni— 
verſums, als der Einheit oder als des Inhalts aller Mannig— 
faltigkeiten. Und einen ſo aufgeſtellten, höchſt ſublimirten 
Begriff ſuchen ſie nun, wie ſie ihn mit mehreren anderen Con— 
ceptionen combiniren und vereinigen können, mit dem Ganzen 
und ſeinen Theilen, mit der Zahl, der Grenze, dem Raume, 
dem Anfang und Ende, dem Vollen und Leeren, der Ruhe und 
der Bewegung, der Urſache und der Wirkung u. ſ. w. Auf 
dieſe Weiſe z. B. beſteht die bekannte Schrift des Ariſtoteles De 
Coelo ganz und gar nur aus der Analyſe und Unterſuchung 
ſolcher, den eben angeführten ähnlichen Worten. 

Das ſchöne Geſpräch Plato's, das Parmenides überſchrieben 
iſt, ſcheint anfangs zum Zweck zu haben, den gänzlichen Unwerth 
einer ſolchen philoſophiſchen Methode zu zeigen. Denn der Phi— 
loſoph, deſſen Namen der Dialog trägt, wird als im Streite 
mit Ariſtoteles aufgeführt, indem er den letzten durch eine Reihe 
von metaphyſiſchen Kunſtſtücken bis zu dem Schluſſe bringt: 
„daß, es mag nun Etwas exiſtiren oder auch nicht eriftiren, doch 
„daraus folgt, daß immer alles, und in allen Beziehungen, zu— 
„gleich iſt und nicht iſt, zugleich erſcheint und nicht erſcheint.“ — 
Uebrigens iſt die Methode Plato's, ſo weit ſie das, was wir 
jetzt Wahrheit nennen, betrifft, um nichts beſſer oder inhalts— 
voller, als die ſeines großen Gegners. Sie beſteht, wie wir 
aus den meiſten ſeiner Dialogen, beſonders aus dem Timaeus 
ſehen, bloß in dem Gebrauch oder Mißbrauch von Wörtern, die 
eben ſo vag und unbeſtimmt find, als die des Peripatetikers. So 


1) Ariſtot. Phys. Ausc. VIII. 5. 


Griechiſche Schulphiloſophie. 45 


tändelt er z. B. mit den Wörtern „Gut, Schön, Vollkommen“ 
u. f. und verwirrt die damit zu verbindenden Begriffe nur noch 
mehr, indem er ſie mit den ihm doch gänzlich unbekannten Ab— 
ſichten des Schöpfers aller Dinge und mit den Eigenſchaften des 
Univerſums in eine Art von Verbindung zu bringen ſucht. Auf 
dieſe Weiſe wird er durch eben ſolche Um- und Irrwege, wie 
Ariſtoteles, zu den im Alterthum berühmten Schlüſſen gelei— 
tet, daß der „leere Raum“ nicht exiſtirt, daß alle Dinge ihren 
„eigenen Raum“ ſuchen, und was dergleichen mehr iſt ). 

Eine andere, den Griechen ſehr geläufige Art, zu philoſo— 
phiren, beſteht in den Gegenſätzen, wobei vorausgeſetzt wurde, 
daß Adjective oder Subſtantive, die im gewöhnlichen Leben, oder 
auch in der abſtracten Sprache der Schule einander entgegenge— 
ſetzt ſind, auch immer zu einer Grundantitheſe in der Natur 
führen müſſen, daher man dieſelben mit großer Sorgfalt unter— 
ſuchen ſolle. So belehrt uns Ariſtoteles?), daß aus den Gegen— 
ſätzen, welche der Scharfſinn der Pythagoräer in den Zahlen be— 
merkte, zehn Principien abgeleitet werden können, nämlich, das 
Begrenzte und Unbegrenzte; das Gerade und Ungerade; das 
Rechts und Links; das Männliche und Weibliche; Ruhe und 
Bewegung; Gerad und Krumm; Licht und Finſterniß; Gut und 
Bös; Eins und Alles; Kreis und Viereck. Wir werden bald 
ſehen, daß Ariftoteles eben fo geſchickt die Lehre von den vier 
Elementen und andern wichtigen Dogmen aus ähnlichen Anti— 
theſen ableiten kann. 

Unſere Leſer werden ſich nicht verwundern, wenn wir 
ſagen, daß Discuffionen ſolcher Art nicht zur Wahrheit führen 
und durchaus von gar keinem reellen Nutzen ſeyn können. Wenn 
man alſo nur auf den wahren Fortſchritt unſerer Erkenntniß 
der Natur ſieht, ſo ſchrumpft die ganze große Maſſe der griechi— 
ſchen Philoſophie, ſo breit ſie ſich auch viele Jahrhunderte durch 
gemacht hatte, in einen kaum bemerkbaren Punkt zuſammen. 
Demungeachtet aber iſt der allgemeine Charakter dieſer Philoſo— 
phie, ſo wie auch ihr Schickſal von der Zeit ihres Anfangs bis 
zu der des gänzlichen Verfalls ihres hoch und lange verehrten 
Anſehens, für uns zugleich ſehr intereſſant und lehrreich. Geben 

1) Timaeus, S. 80. 

2) Metaphyſik I. 5, 


46 Griechiſche Schulphiloſophie. 


wir alſo einige Proben von dieſer Philoſophie aus der Zeit, wo 
ſie in ihrer höchſten Blüthe ſtand, d. h. aus den Werken des 
Ariſtoteles ſelbſt. 


Zweiter Abſchnitt. 
Die Naturphiloſophie des Arittoteles. 


Die vorzüglichſten phyſiſchen Schriften des Ariſtoteles ſind: 
Acht Bücher phyſtſcher Lectionen; vier Bücher von dem Himmel, 
und zwei von der Production und Deſtruction. Denn die Schrift 
„von der Welt“ wird jetzt allgemein als untergeſchoben betrach— 
tet, und die „Meteorologie“ iſt zwar ganz voll von Erklärungen 
natürlicher Erſcheinungen, enthält aber die Doctrinen der Schule 
nicht in ſo allgemeiner Form, wie die oben genannten Werke. 
Daſſelbe mag auch von den „Mechaniſchen Problemen,“ von den 
„Abhandlungen über verſchiedene Gegenſtände der Naturgeſchichte, 
„über die Thiere, Pflanzen, Farben, Schall u. f.“ geſagt werden, die 
wohl alle eine außerordentliche Menge von Thatſachen und eine 
wahrhaft bewunderungswürdige ſyſtematiſche Geiſteskraft des 
Stagiriten beweiſen, die aber keine rein philoſophiſche, keine 
Principien exponirende Werke find, und daher auch nicht hieher 
gehören. 

Die „phyſiſchen Lectionen“ find das Werk, von dem 
die bekannte Anecdote gilt, die Simplicius, ein griechiſcher Com— 
mentator des VI. Jahrhunderts ſowohl, als auch Plutarch er— 
zählt. Es heißt, Alexander der Große habe ſeinem ehemaligen 
Lehrer über dieſes Werk geſchrieben: „Du haſt nicht gut gethan, 
„diefe Schrift herauszugeben; denn wie ſollen wir, deine Schü— 
„ler, die anderen Menſchen noch weiter übertreffen, wenn du, 
„was du uns gelehrt haſt, jetzt allen vorträgſt.“ — Darauf ſoll 
Ariſtoteles geantwortet haben: „Meine Lectionen find, und find 
„auch zugleich nicht, von mir öffentlich bekannt gemacht worden, 
„denn fie werden nur denen verſtändlich ſeyn, die fie früher von 
„mir ſelbſt gehört haben, und allen andern nicht.“ Dieſe Ge— 
ſchichte mag wohl von denen erfunden worden ſeyn, die das 
Werk über ihre eigene Faſſungskraft gehalten haben, und man 
muß geſtehen, jeden einzelnen Satz deſſelben ſich klar zu machen, 
iſt ſehr ſchwer, wo nicht unmöglich. Doch läßt ſich ein großer 
Theil des Inhalts ohne Schwierigkeit verfolgen, um daraus den 


Griechiſche Schulphiloſophie. 47 


Charakter und die Grundſätze ſeines Vortrags abzuleiten, und 
das iſt es, was wir hier thun wollen. 

Die Einleitung zu dieſem Werke beſtätigt ganz, was wir 
oben geſagt haben, daß er nämlich fetne Thatſachen und feine - 
darauf gebauten Schlüſſe ganz aus dem Sprachbau der von ihm 
gebrauchten Worte nimmt. „Wir müſſen vor allem, ſagt er, 
„von dem, was wir bereits wiſſen, zu dem übergehen, was wir 
„noch nicht kennen.“ — Dagegen läßt ſich nichts einwenden, aber 
ſchon die nächſte Folge, die er aus dieſem Satze zieht, will uns 
nicht mehr einleuchten. „Wir müſſen daher, ſagt er, von dem 
„Allgemeinen zu dem Beſonderen übergehen. Und einiges von 
»dieſem Allgemeinen, fährt er fort, finden wir ſchon in unſerer 
„Sprache, denn die Wörter bezeichnen die Dinge in ihrer allge— 
„meinen und unbegrenzten Form, wie dieß z. B. bei dem Worte 
„Kreis der Fall iſt, und indem wir dieſelben näher beſtimmen, 
„entfalten wir das Einzelne, was in dieſem Allgemeinen einge— 
»ſchloſſen iſt.“ Er erläutert dieß ſogleich durch ein Beiſpiel: 
„Auf dieſelbe Art heißen, ſagt er, die Kinder anfangs alle Män— 
„ner Vater, und alle Weiber Mutter, aber jpäter unter: 
„Icheiden fie dieſe Gegenſtände beſſer.“ 

Dieſer Anſicht gemäß beginnt er damit, mehrere von den 
großen Fragen über das Univerſum aufzuſtellen, welche die 
ſcharffinnigſten Männer vor ihm fo anhaltend beſchäftigt hatten, 
indem er nämlich die Wörter und Ausdrücke betrachtet, mit 
welchen dieſe Männer die allgemeinſten Notionen der Dinge und 
ihrer Verhältniſſe zu einander bezeichnet hatten. Wir haben be— 
reits einige Beiſpiele von dieſem ſeinem Verfahren mitgetheilt, 
die folgenden werden es noch mehr in's Licht ſetzen. 

Ob ein leerer Raum ſey oder nicht ſey, iſt bereits von vie— 
len Philoſophen unterſucht worden. Die Vertheidiger des leeren 
Raumes bringen für ihre Meinung kürzlich folgende Gründe: Ein 
leerer Raum muß ſeyn, weil ein Körper ſich ſonſt nicht bewegen 
könnte, ſo daß alſo ohne leeren Raum auch die Bewegung un— 
möglich wäre. Die Gegner aber ſagen: Es gibt keinen leeren 
Raum, denn die Intervalle zwiſchen den Körpern ſind mit Luft 
angefüllt, und die Luft iſt ein Körper. — Dieſe Beweiſe hat 
man auch durch unmittelbare Experimente zu unterſtützen ge— 
ſucht. Anaxagoras und ſeine Schule hat gezeigt, daß die Luft, 
wenn ſie eingeſchloſſen wird, dem Drucke widerſteht, wie man 


48 Griechiſche Schulphiloſophie. 


ſieht, wenn eine aufgeblaſene Blaſe gepreßt, oder wenn ein 
umgekehrtes Glas im Waſſer untergetaucht wird. Auf der an— 
dern Seite aber wird wieder angeführt, daß ein mit feiner 
Aſche ganz angefülltes Gefäß doch eben ſo viel Waſſer aufneh— 
men kann, als wenn es gar keine Aſche enthält, was ſich nur 
erklären läßt, wenn man zwiſchen den Aſchentheilchen einen 
leeren Raum annimmt. Darauf entſcheidet nun Er ſelbſt die 
Frage dahin, daß es keinen leeren Raum gibt, und zwar aus 
folgenden Gründen ): „Im leeren Raume kann es keinen Un— 
»terſchied von Oben und Unten geben, denn da bei einem Nichts 
„kein Unterſchied ſeyn kann, fo kann auch keiner bei einer blo— 
„Ken Privation oder Negation exiſtiren; der leere Raum ift aber 
„eine bloße Privation oder Negation der Materie, alſo würden 
»ſich, in einem leeren Raum, die Körper weder auf- noch ab: 
„wärts bewegen, was fie doch ihrer Natur nach thun müſſen.“ 
— Es iſt klar, daß eine ſolche Art zu argumentiren die gewöhn— 
lichen Worte der Sprache und unſere innere Verbindung dieſer 
Worte weit über die Herrſchaft der äußern Thatſachen erhebt, 
indem ſie die Wahrheit davon abhängig macht, ob dieſe Worte 
oder der damit verbundene Begriff privativ oder nicht iſt, und 
ob wir in der gewöhnlichen Sprache zu ſagen pflegen, daß die 
Körper ihrer Natur nach fallen. In einer ſolchen Philoſophie 
wird das Ergebniß jeder neuen Beobachtung ſo lange gedreht 
und gezwungen, bis es dem gewöhnlichen Sprachgebrauche 
entſpricht, weil der ganze Begriff auch nur aus dieſem Sprach— 
gebrauche ſelbſt entſtanden iſt. 

Wir wollen hiemit nicht ſagen, daß die gewöhnliche Art 
der äußern Eindrücke auf uns, die offenbar auch die Baſis unſe— 
rer gewöhnlichen Sprache ſind, beſchränkt oder bloß zufällig 
ſeyen. Sie enthalten vielmehr allgemeine und nothwendige Be— 
dingungen unſerer Auffaſſung. So werden z. B. alle Dinge 
als im Raume und in der Zeit enthalten, als durch die Rela— 
tion von Urſache und Wirkung verbunden, von uns aufgefaßt, 
und ſo weit, als die Ariſtoteliſche Philoſophie bei dieſen Auf— 
faſſungen ſtehen bleibt, hat fie einen reellen Boden, obſchon 
ſelbſt in dieſem Falle ihre Schlüſſe oft ſehr unſicher ſind. Wir 
haben davon ein Beiſpiel in dem achten Buche?), wo er beweiſen 


1) Ariſtot. Phyſik. IV. 7. 
2) Idem, VIII. 1. 


Griechiſche Schulphiloſophie. 49 


will, daß es nie eine Zeit gegeben habe, in welcher Verän— 
derung und Bewegung nicht exiſtirt hätte. „Denn, ſagt er, 
„wenn alle Dinge einmal in Ruhe waren, fo müßte die erſte 
„Bewegung durch eine gewiſſe Veränderung in dieſen Dingen 
„erzeugt werden, d. h. fo müßte eine Veränderung ſchon vor der 
„allererften Veränderung da geweſen ſeyn.“ Und ſpäter: „Wie 
„könnte man vor und nach anwenden, wo keine Zeit exiſtirt? 
„oder wie kann die Zeit exiſtiren, wenn keine Bewegung da iſt? 
„Wenn die Zeit eine bloße Numeration der Bewegung iſt, und 
„wenn die Zeit ewig iſt, fo muß auch die Bewegung ewig ſeyn.“ 
— Von dieſer Behauptung einer ewigen Bewegung geht er nun, 
durch eine ſonderbare Reihe von Schlüſſen, dahin weiter, dieſe ewige 
Bewegung mit der täglichen Bewegung des Himmels zu identi— 
ficiren. „Es muß, ſagt er ), etwas geben, welches das erſte 
„Bewegte iſt, wie das aus der Relation zwiſchen Urſache und 
„Wirkung folgt. Ferner muß aber auch die Bewegung immer 
„beitändig fortgehen, und daher entweder continuirlich oder 
„ſucceſſiv ſeyn. Allein von dem Continuirlichen ſagt man rich— 
„tiger, daß es beftändig iſt, als von dem Succeſſiven. Das 
„Continuirliche iſt daher das Beſſere. Aber das Beſſere iſt 
„immer zugleich das, was in der Natur ſtatt hat, wenn es 
„nur ſonſt möglich iſt. Alſo muß auch die erſte Bewegung des 
„Himmels eine continuirliche ſeyn, wenn ſonſt eine ewige Be— 
„wegung möglich ſeyn ſoll.“ — Wir ſehen hier die vagen Bes 
griffe von Beſſer und Schlechter in ſeine Argumentation 
eingeführt, ſo wie er es vorhin mit dem Natürlich und Un— 
natürlich gemacht hat. 

Aber gehen wir mit dem berühmten Stagiriten auf ſeiner 
Bahn noch weiter. „Wir wollen nun, ſagt er ), zeigen, daß 
„es eine ewige, einfache und continuirliche Bewegung gebe, und 
„daß dieſe kreisförmig ſeyn muß.“ — Dieß wird nun, wie 
man leicht errathen kann, daraus bewieſen, daß ein Körper nur 
dann ſich ewig fortbewegen kann, wenn er ſich gleichfoͤrmig in 
einem Kreiſe bewegt. Und ſonach iſt denn, nach den Principien 
dieſer Philoſophie, dargethan, daß es ein erſtes Bewegtes gibt 
und geben muß, das ſich ewig und gleichförmig in einem Kreiſe 
bewegt. 


1) Ariſtot. Phyſ. VIII. 6. 
2) Ariſtot. Phyſ. VIII. 8. 
Whewell. I. 4 


50 Griechiſche Schulphiloſophie. 


Obſchon eine ſolche Art zu beweiſen uns gar zu tändelhaft 
erſcheint, um länger bei ihr zu verweilen, ſo war es doch noth— 
wendig, ſie kennen zu lernen, um unſerm Autor nicht Unrecht 
zu thun, und dann ſicher mit ihm weiter gehen zu können. 

Gehen wir nun von ſeiner Lehre der Bewegung zu jener 
von den Elementen über, aus denen das Univerſum beſtehen 
ſoll, und bemerken wir dabei, daß die Sucht, ſpeculative Con— 
ceptionen aus den bloßen Verhältniſſen der Wörter zu ziehen, 
hier beſonders natürlich erſcheint. Denn die in einem ſehr wei— 
ten Sinne aufgefaßte Lehre von den vier Elementen, die gänz— 
lich aus dem Gegenſatze der vier Beiwörter heiß und kalt, 
feucht und trocken entſtanden zu ſeyn ſcheint, iſt viel älter, 
als Ariſtoteles, und war ſehr wahrſcheinlich eines der früheſten 
Dogmen der griechiſchen Philoſophie. Aber der große Meiſter 
in dieſer Kunſt brachte dieſe Anſicht in eine mehr ſyſtematiſche 
Form, als ſein Vorgänger. 

„Wir ſuchen, ſagt er, die Principien der ſinnlichen, d. h. 
„der betaſtbaren Dinge. Wir müſſen daher nicht alle Antitheſen 
„der Qualität, ſondern nur diejenigen nehmen, die eine Bezie— 
„hung zu dem Taſtſinn haben. So unterſcheiden ſich z. B. 
„ſchwarz und weiß, ſüß und bitter, nicht als taſtbare Dinge, 
„daher fie auch hier ganz außer unſerer Betrachtung fallen.“ 

„Diejenigen Antitheſen aber, die dem Taſtſinn angehören, 
„find folgende: heiß und kalt; trocken und feucht; ſchwer und 
„leicht; hart und weich; fett und mager; rauh und glatt; dick 
„und dünn.“ Indem er nun weiter fortgeht, findet er, daß 
man alle dieſe Antitheſen, bis auf die vier erſten, verwerfen 
müſſe, aus verſchiedenen Gründen. Schwer und leicht z. B. 
werden verworfen, weil ſie nicht zugleich active und paſſive 
Eigenſchaften bezeichnen, und die andern alle, weil ſie bloße 
Combinationen aus den vier erſten ſind, welche letztere daher, 
nach feiner. Behauptung, die vier Elementarqualitäten der 
Materie ſeyn müſſen. 

„Zwiſchen vier Dingen aber, heißt es weiter ), gibt es 
„»ſechs Combinationen zu zwei. Allein die Combinationen von 
„zwei entgegengeſetzten, wie heiß und kalt, müſſen verworfen 
„werden, fo daß wir alſo nur vier Elementarcombinatio⸗— 


1) Ariſtot. De Gen. et Corrupt. II. 2. 


Griechiſche Schulphiloſophie. 51 


„nen haben, die offenbar mit den vier Elementarkörpern über: 
„einſtimmen. Das Feuer nämlich iſt heiß und trocken; die 
„Luft iſt heiß und feucht (denn Dampf iſt auch Luft); das 
„Waſſer iſt kalt und feucht, und die Erde endlich iſt kalt und 
„trocken.“ 

Bemerken wir, daß dieſer Hang zur Annahme einer Ele— 
mentareigenſchaft in den Fällen, wo man in der gewöhnlichen 
Sprache ein bloßes Beiwort braucht, nicht nur ſchon lange vor 
Ariſtoteles im Gebrauch war, ſondern auch viele Jahrhunderte 
nach ihm im Gebrauch geblieben iſt. Um nur eines diefer Fälle 
zu erwähnen, fo würde es wohl ſchwer ſeyn, Baco’s »Inquisitio 
„in naturam calidi“ von dem Vorwurfe zu befreien, ganz ver— 
ſchiedene Klaſſen von Erſcheinungen unter der gemeinſchaftlichen 
Decke des Wortes „heiß“ zuſammenzubringen. 

Die Rectification dieſer erſten Anſichten über die elementare 
Zuſammenſetzung der natürlichen Körper gehört in eine viel 
ſpätere Periode, die eigentlich erſt nach der Wiedererweckung der 
Wiſſenſchaften eintrat. Indeß gibt es hier noch einige andere 
Sätze des Stagiriten, die wir beſonders betrachten müſſen, da 
ſie, bei jener Wiedererweckung, eine ſehr wichtige Rolle ſpielten, 
nämlich ſeine Lehre von der Bewegung. 

Auch dieſe ſind auf ſeine Art, alle Schlüſſe aus gewiſſen 
Wörtern, beſonders aus Beiwörtern, abzuleiten, gegründet. 
Hier aber zieht er ſeine Folgerungen nicht bloß, wie oben, aus 
der Antitheſe der Wörter, ſondern auch aus einer Unterſchei— 
dung derſelben, ob ſie nämlich eine bloß relative, oder aber 
eine abſolute Wahrheit enthalten. „Die frühern Schriftſteller, 
„ſagt Ariftoteles, haben die Begriffe von ſchwer und leicht 
„nur relativ genommen, indem ſie ſolche Fälle betrachteten, 
„wo beide Dinge, die ſie mit einander verglichen, ein gewiſſes 
„Gewicht hatten, nur das eine mehr, das andere weniger, und 
„fie glaubten, auf dieſem Wege auch das abſolut (drAws) 
„Schwere und Leichte beſtimmen zu können.“ — Heut zu Tage 
wiſſen wir, daß die Dinge, die wegen ihres geringen Gewichtes 
in der Luft aufwärts ſteigen, dieß nur deßwegen thun, weil ſie 
durch die ſie umgebende ſchwerere Luft aufwärts gedrückt werden. 
Allein dieſe ariſtoteliſche Annahme einer abſoluten Schwere, die 
offenbar ganz willkührlich oder vielmehr bloß eine nominelle iſt, 


hat die ganze darauf gebaute Demonſtration unſers Philoſophen 
4 * 


52 Griechiſche Schulphiloſophie. 


verdorben. Er geht davon aus, daß das Feuer Habſolut leicht“ 
iſt, weil es ſich immer über die übrigen drei Elemente erhe— 
ben will, und daß die Erde „abſolut ſchwer“ iſt, weil ſie ihre 
Stelle immer unter den drei andern Elementen einzunehmen 
ſtrebt. Er behauptet ferner, mit viel Scharfſinn, daß die Luft, 
die ihren Platz ſtets zwiſchen Feuer und Waſſer einzunehmen 
ſtrebt, dieß „nach ihrer Natur“ ſo thun müſſe, nicht aber 
in Folge von irgend einer Combination von andern Elementen. 
„Denn wenn die Luft, ſagt er, aus denjenigen Theilen zuſam— 
„mengeſetzt wäre, die dem Feuer ſeine Leichtigkeit geben, und 
„aus ſolchen, welche die Schwere hervorbringen, ſo könnte man 
„eine ſolche Quantität von Luft annehmen, die leichter wäre, 
„als eine andere Quantität von Feuer, das doch mehr leichte 
„Theile in ſich enthält.“ Und daraus ſchließt er dann, daß 
jedes von den vier Elementen nach der ihm beſonders angewie— 
ſenen Stelle ſtrebt, ſo daß das Feuer den höchſten Ort ein— 
nimmt, nach ihm die Luft, daß dann das Waſſer kömmt, und 
endlich die Erde am tiefſten ſteht. 


Die ganze Reihe dieſer Fehlſchlüſſe kömmt aber nur aus 
einem Irrthume, der eigentlich wieder einen bloßen Verbal— 
urſprung hat, nämlich daher, daß er das Wort „Leicht“ bloß 
im Gegenſatze mit dem Worte „Schwer“ betrachtet, und daß er, 
was er „Leichtigkeit der Körper“ nennt, als eine dieſen Körper 
inhärirende Eigenſchaft betrachtet, da er ſie doch nur als die 
Wirkung der ſie umgebenden Körper hätte betrachten ſollen. 


Es iſt immer merkwürdig, daß die Schwierigkeit, die noch 
jetzt den meiſten Anfängern in der Phyſik bei ihrem Eintritte 
in dieſe Wiſſenſchaft zu begegnen pflegt, die Schwierigkeit näm— 
lich, bei den Wörtern „oben“ und „unten“ ſich bloß entgegenge— 
ſetzte Richtungen zu denken, nicht nur von Ariſtoteles, ſondern 
überhaupt von allen griechiſchen Philoſophen ganz überſehen 
worden iſt. Sie waren von der runden Geſtalt der Erde feſt 
überzeugt, und ſie ſahen, daß, vermöge dieſer Geſtalt, alle 
Körper in convergierenden Richtungen gegen den Mittelpunkt der 
Erde gehen müſſen. Und da nun die ſchweren Körper in der 
That zu dieſem Mittelpunkte gehen, ſo mußte das Licht, als 
ein leichter Körper, von dieſem Mittelpunkte weg nach Außen zu 
gehen: „denn das Aeußere iſt dem innern Mittelpunkte der 


Griechiſche Schulphiloſophie. 53 


„Erde eben ſo entgegen geſetzt, wie das Schwere dem Leichten 
„gegenüberfteht ).“ 

Dieſes Beſtreben einiger Körper abwärts, und der andern 
aufwärts, und die daraus folgenden Erſcheinungen, ihr Gewicht, 
ihr Fall, ihr Schwimmen oder Untertauchen im Waſſer — alles 
dieß, ſo ungenügend es auch ſeyn mochte, befriedigte doch den 
größten Theil der ſpeculativen Welt bis hinauf zu Galilei und 
Stevinus. Zwar hatte bald darauf Archimedes die wahre Lehre 
von den ſchwimmenden Körpern vorgetragen, die ſehr verſchieden 
von jener ariſtoteliſchen iſt, aber man blieb bei der letztern, als 
der vermuthlich beſten, ſtehen. 

Ebenſo wurden die andern Theile von der Lehre der Bewe— 
gung durch unſern Stagiriten in demſelben Geiſte und mit dem— 
ſelben Erfolge vorgetragen. Nach ihm wird die Geſchwindigkeit 
eines auf dem Boden hingehenden Körpers allmählig geringer 
und hört endlich ganz auf (wobei er aber weder der Reibung, 
noch des Widerſtandes gedenkt); umgekehrt aber, die Bewegung 
eines in der Luft frei fallenden Körpers wird mit der Zeit 
immer ſchneller. Dieſe zwei Erſcheinungen erklärt er (oder be— 
zeichnet er vielmehr nur) dadurch, daß er die erſte Bewegung 
eine „gewaltſame,“ die andere aber eine „natürliche“ nennt. 
Seine ſpätern Nachfolger, die ſich feſt an dieſe Anſicht hielten, 
drückten ſie bekanntlich, um ſo wichtige Dinge leichter im Ge— 
dächtniß zu behalten, in Verſen aus 2). Von der natürlichen 
Bewegung (der fallenden Körper) hieß es: 


Principium tepeat, medium cum ſine calebit. 
Der Anfang lau, gegen Mitte und Ende immer wärmer. 


Von der „gewaltſamen“ Bewegung der z. B. auf einer horizon— 
talen Ebene fortgehenden Körper aber war die Regel: 


Principium fervet, medium calet, ultima friget. 
Anfang heiß, Mitte warm, Ende kalt. 


Ariſtoteles ſchien das Problem für ein ſehr ſchweres zu hal— 
ten, warum ein geworfener Stein ſich eine Weile durch bewegt 
und dann aufhört. Wenn die Hand, ſagt er, die den Stein 


1) Ariſtot. De Coelo. IV. 4. 
2) Alsted. Encycl. Vol. I. p. 687. 


54 Griechiſche Schulphiloſophie. 


wirft, die Urſache der Bewegung des Steins iſt, wie kann 
dieſer, ſobald er die Hand verlaſſen hat, ſich überhaupt noch 
bewegen? Und wenn er ſich doch noch bewegt, warum nicht 
immerfort? — Er beantwortet dieſe Fragen auf folgende Weiſe ): 
„Bei dem Wurfe des Steins wird der Luft eine Bewegung 
„mitgetheilt, deren einzelne Theile den Stein vorwärts treiben; 
„und ſo wirkt jedes Lufttheilchen auf den Stein, bis er zu ſol⸗ 
„chen Lufttheilchen kommt, die nicht mehr auf ihn wirken, weil 
„auch die anfängliche (von der Hand erhaltene) Bewegung des 
„Steins nicht mehr auf dieſe Lufttheilchen wirkt.“ — Man ſieht, 
daß er die durch die alltägliche Beobachtung bekannte Retarda⸗ 
tion des Steins in der Luft nicht der wahren Urſache, nämlich 
eben der den Stein umgebenden Luft, ſondern daß er ſie „dem 
Steine ſelbſt“ zuſchreibt, was offenbar wieder aus der Sprache 
des gemeinen Lebens genommen iſt, wo man auch ſagt, daß der 
„Stein ſelbſt“ ſich immer langſamer bewegt. 

Einer der am heftigſten vertheidigten und beſtrittenen Sätze 
des Ariftoteles, ſelbſt noch bei der Wiederauflebung der phy— 
ſiſchen Wiſſenſchaften, war der 2): „daß derjenige Körper der 
»ſchwerere iſt, der bei gleichem Inhalt ſchneller abwärts geht.“ 
— Die Anſicht, welche die Ariſtoteliker zu Galilei's Zeiten mit 
dieſem Satze verbanden, war, daß die Körper genau in demſel⸗ 
ben Verhältniß ſchneller fallen, je größer ihr Gewicht iſt. Ari— 
ſtoteles ſagt dieß auch ſelbſt in ausdrücklichen Worten ). 
Allein in einer andern Stelle ſcheint er wieder zwiſchen Gewicht 
und wirklicher Bewegung unterſcheiden zu wollen ). „In der 
„Phyſik, heißt es hier, nennen wir die Körper ſchwer und leicht 
„nach der Gewalt (Conn) ihrer Bewegung, aber dieſe Benen— 
„nungen find ihren wirklichen Operationen (evepysaıs) nicht 
„angemeffen, außer wenn man das Wort bonn (etwa Moment) 
„unter dieſen beiden Bedeutungen annehmen wollte.“ — Diefer 
Unterſchied zwiſchen Gewalt (oder Facultät) der Bewegung, 
und zwiſchen der wirklichen Operation (oder Energie) derſelben, 
kömmt ſehr oft im Ariſtoteles vor, und wenn er auch nicht eben 


1) Ariſtot. Phys. Ausc. VIII. 10. 

2) Id. De Coelo. IV. 1. 

3) Id. Ibid. III. 2. 

a) Ibid. IV. 2. x 


Griechiſche Schulphiloſophie. 55 


ganz unfruchtbar ſeyn mag, ſo war er doch vorzüglich geeignet, 
zur bloßen nominellen Speculation hin- und von aller wahren 
Sachkenntniß abzuführen. 

Die ſehr ſpitzfindigen Unterſchiede, die Ariſtoteles zwiſchen 
den verſchiedenen Arten der Urſachen aufgeſtellt hat, haben 
zwar auf ſeine Lehre von der Bewegung nur wenig unmittel— 
baren Einfluß, aber da ſie doch ſpäter in einem ſo weit ausge— 
dehnten Sinne aufgefaßt und ſo lange hartnäckig beibehalten 
wurden, fo müſſen wir ihrer hier noch in Kurzem erwähnen ). 
„Eine Art von Urſache, ſagt er, bezieht ſich auf die Materie 
„oder auf das Ding, woraus etwas gemacht iſt, z. B. Bronce 
„für eine Statue, Silber für ein Gefäß. Eine andere bezieht ſich 
„auf die Form oder auf die Aehnlichkeit, z. B. von der Octave 
»iſt die Urſache das Verhältniß von eins zu zwei; eine dritte 
„auf den Anfang oder die Entſtehung, fo iſt der Vater die Ur— 
»ſache des Kindes; und eine vierte endlich auf das Ende oder 
„den Endzweck, wie z. B. der Spaziergang die Urſache der Ge— 
»ſundheit iſt.“ — Dieſe vier Arten von Urſachen, nämlich die 
materielle, formelle, die efficiente und endlich die 
finale, wurden lange wie hohe Leuchten aller ſpeculativen In— 
quiſitionen verehrt, und ſelbſt unſere gewöhnliche Umgangsſprache 
hat noch ſehr deutliche Spuren derſelben aufzuweiſen. 

Meine Abſicht iſt, den Leſern die Principien und die ganze 
Art der ariſtoteliſchen Philoſophie, nicht aber die Reſultate 
derſelben mitzutheilen. Von dieſen letzten aber könnte man ohne 
Mühe mehrere anzeigen, die ſich ſo ſehr von unſern gegenwärti— 
gen Anſichten entfernen, daß man fie kaum ohne Lächeln vers 
nehmen kann. Ich erwähne hier nur kurz zwei derſelben. 

Gleich im Eingange zu feiner Schrift: De Coelo, beweist 
er „die Vollkommenheit der Welt“ auf folgende Weiſe 2): „Die 
„Dinge, aus welchen die Welt beſteht, ſind alle ſolide Körper, 
„und fie haben daher alle drei Dimenſionen. Aber drei iſt 
„unter allen Zahlen die vollkommenſte, denn fie iſt die erfte 
„aller Zahlen (weil nämlich eins noch keine Zahl iſt, und weil 
man ſtatt zwei auch beide ſagen kann, während drei dies 
„jenige Zahl iſt, durch die wir auch alles bezeichnen können); 


1) Ariſtot. Phys. II. 3. 
2) Id. De Coelo. I. 1. 


56 Griechiſche Schulphiloſophie. 


„überdieß hat dieſe Zahl drei auch einen deutlichen Anfang, 
„eine Mitte und ein Ende u. ſ. w.“ Man ſieht, wie daraus 
unmittelbar folgen muß, daß dieſe Welt die vollkommenſte von 
allen möglichen Welten iſt, und daß überdieß dieſe ganze Be— 
weisart wieder nur auf bloßen Meinungen über die einzelnen 
Wörter der gemeinen Sprache gebaut iſt. 

Das zweite Beiſpiel, aus demſelben Buche, fängt mit den 
folgenden Worten an: „Die einfachen Elemente der Natur müſ— 
„fen auch einfache Bewegungen haben. So haben auch in der 
„That Feuer und Luft ihre natürlichen Bewegungen aufwärts, 
„Waſſer und Erde aber abwärts, beide in gerader Richtung. 
„Aber außer dieſen (geradlinigen) Bewegungen gibt es auch noch 
„eine kreisförmige, die jenen Elementen nicht natürlich iſt, ob— 
„Ichon fie eine viel vollkommenere Bewegung iſt, als jene. Denn 
»der Kreis iſt ſelbſt eine vollkommene Linie, und eine gerade 
„Linie iſt dieß nicht. Es muß daher auch etwas geben, dem 
„oiefe vollkommene, kreisförmige Bewegung ebenfalls natürlich 
„it. Daraus folgt aber klar und unwiderſprechlich, daß es eine 
„gewiffe Eſſenz (3044) von Körpern geben muß, die ganz ver: 
„Ichieden von jenen vier Elementarkörpern, die göttlicher als 
»dieſe ſeyen, die daher auch über dieſen ſtehen müſſen. Denn 
„wenn diejenigen Dinge, die ſich in einem Kreiſe bewegen, in 
„einer unnatürlichen Bewegung begriffen ſeyn ſollten, fo wäre 
»es doch wunderbar, oder vielmehr, es wäre ganz abſurd, daß 
„eben dieſe unnatürliche Bewegung zugleich die einzige immer 
„fortgehende und wahrhaft unendliche Bewegung ſeyn ſollte, da 
„doch alle unnatürlichen Bewegungen ſehr bald ein Ende nehmen 
„müſſen. Aus allem dieſem folgt, denn fo müſſen wir fchließen, 
„daß es außer den vier Elementen, die wir hier auf der Erde 
vum uns haben, noch ein anderes von uns entferntes Element 
„geben muß, das deſto vollkommener iſt, je weiter es von uns 
»abſteht.“ — Dieſes fünfte und vollkommenſte aller Elemente 
des Weltalls iſt denn das, was die ſpätern lateiniſchen Schrift— 
ſteller über Ariſtoteles die „Quinta Essentia“ genannt haben, 
und zugleich das, was noch jetzt, in unſerem gewöhnlichen Sprach— 
gebrauche, unter der Benennung der „Quinteſſenz“ ſelbſt 
dem gemeinſten Manne bekannt iſt. 


Griechiſche Schulphiloſophie. 57 


Dritter Abſchnitt. 
Techniſche Ausdrücke der griechilchen Schulen. 


Bisher haben wir nur das Princip der griechiſchen Schulen 
betrachtet, das, wie wir geſehen haben, darin beſteht, ihre Doc— 
trinen nur aus der Analyſe der Wörter, wie ſie ihnen die ge— 
wöhnliche Sprache lieferte, zu entnehmen. Allein obſchon dieſe 
Philoſophen ihre Speculation mit dieſen Wörtern anfingen, ſo 
fanden ſie doch auch hald ſich gezwungen, dieſen Wörtern be— 
ſtimmte Bedeutungen und Begrenzungen zu geben, und ſo ent— 
ſtanden die techniſchen Ausdrücke dieſer Schulen. Die Ein— 
führung der letzten war allerdings ein wichtiger Fortſchritt der 
Erkenntniß in jeder Philoſophie, dieſelbe mag wahr oder falſch 
ſeyn, ſo daß es uns daher angemeſſen ſcheint, auch bei ihnen 
hier etwas zu verweilen. 


A. Techniſche Ausdrücke der Ariſtoteliſchen Phi— 
loſophie. 


Wir haben bereits in dem Vorhergehenden gelegentlich einige 
dieſer Ausdrücke des Stagiriten angeführt, wie z. B. die Wör— 
ter materiell, formell, final, cauſal, abſolut, relativ u. ſ. w. 
Wir wollen ihnen hier noch einige wenige hinzufügen. 

Die Unterſcheidung zwiſchen Materie und Form, beſon— 
ders wenn dieſe Wörter auf metaphyſiſchem Wege im allgemein— 
ſten Sinn auf unſichtbare Dinge angewendet werden ſollten, 
wurde bald ein Lieblingsausdruck, eine ſtehende Redensart der 
ariſtoteliſchen Schule. Iſt doch dieſe Metapher ſelbſt jetzt noch 
einer unſerer gewöhnlichſten und wahrhaft fundamentalen Aus— 
drücke, wenn wir die Dinge, die den Sinnen und die dem Ver— 
ſtande angehören, unterſcheiden wollen. Auf die Anwendung 
dieſer zwei Wörter haben beſonders die deutſchen Philoſophen, 
bis auf unſere Zeit, einen großen Theil des Gewichts ihrer ver— 
ſchiedenen Syſteme gelegt, wie denn z. B. Kant ſagt, daß 
Raum und Zeit die Formen unſerer ſinnlichen Erkenntniß ſind. 

Ein anderer Lieblingsausdruck des Ariſtoteles iſt die Anti— 
theſe von Kraft und Wirkung (dvvans xaı evepysia). Dieſe 
Diſtinction iſt die Baſis von den meiſten ſeiner phyſiſchen Phi— 
loſophemen. Beide Wörter wurden jedoch mit beſondern Beſchrän— 
kungen in die Schulen eingeführt. So hieß es: „Licht iſt die 


58 Griechiſche Schulphiloſophie. 


„Wirkung von dem, was leuchtet, ſo fern es leuchtet.“ Und 
wenn, wird dann hinzugefügt, „wenn das Leuchtende in Kraft, 
„aber nicht in Wirkung iſt, fo entſteht Finſterniß.“ Die obige 
Beſchränkung, „ſo fern es leuchtet,“ wurde daher genom— 
men, weil ein leuchtender Körper auch auf eine andere Art 
wirken kann. Eine Fackel z. B. kann ſich ſowohl bewegen als 
auch leuchten, aber ihre Bewegung iſt keine Wirkung derſelben, 
„jo fern fie leuchtet.“ 

Ariſtoteles ſchien mit dieſer Auseinanderſetzung ſelbſt ſehr 
zufrieden geweſen zu ſeyn, denn er fährt nun ſo fort: „Dem— 
„nach iſt das Licht kein Feuer, noch auch irgend ein anderer 
„Körper, noch auch der Ausfluß irgend eines Körpers (denn das 
„würde doch nur wieder ein Körper ſeyn), ſondern es iſt die Ge— 
„genwart von Etwas, gleich dem Feuer in den Körpern, allein 
„da es unmöglich iſt, daß zwei Körper in derſelben Stelle 
„zugleich ſeyn ſollen, fo iſt auch das Licht kein Körper.“ 

Ariſtoteles führte noch ein anderes Wort in ſeinen philoſo— 
phiſchen Vortrag ein, das er wahrſcheinlich ſelbſt geſchaffen hat, 
um dadurch diejenige Wirkung auszudrücken, die einer unwirk— 
ſamen Kraft entgegen geſetzt iſt. Dieß iſt das berüchtigte Evre- 
A held. — So heißt es von der bekannten Definition der Be— 
wegung im dritten Buche feiner Phyſik ): „Die Bewegung iſt 
„die Entelechie eines bewegten Körpers in Beziehung auf feine 
„Beweglichkeit.“ Und eben ſo iſt, nach ſeiner Definition, „die 
„Seele die Entelechie eines lebenden Körpers vermöge ſeiner Kraft.“ 
— Dieſes Wort wurde von den Nachfolgern des Stagiriten auf die 
mannigfaltgſte Weiſe überſetzt, und manche haben es auch für ganz 
unüberſetzlich erklart. Actus und Actio wollte den meiſten nicht genü— 
gend erſcheinen; actus verus, ipse cursus actionis erhielt von an⸗ 
anderen den Vorzug; auch primus actus wurde von mehreren ge— 
braucht, obſchon der letztere Ausdruck von einer anderen Schule in 
einer ganz verſchiedenen Bedeutung angewendet worden iſt. Budäus 
braucht dafür Eflicacia. Cicero?) paraphraſirt es mit: quasi quan- 
dam continuatam motionem et perennem. Aber dieſe Umſchreibung 
ſtimmt, wohl mit der Definition der Seele, wie ſie Cicero gibt, 


1) Ariſtot. Phyſ. III. 1. 
2) Cicero Tusc, Quaest. I. 10. 


Griechiſche Schulphiloſophie. 59 


aber nicht mit den übrigen Gegenſtänden überein, bei welchen 
jenes Wort überall von Ariſtoteles gebraucht wird. Von Her— 
molaus Barbarus erzählt man, er ſey von der Schwierigkeit, 
dieſes Wort gehörig zu überſetzen, ſo ſehr gepeinigt worden, 
daß er einſt bei Nachtzeit den böſen Geiſt zu Hülfe rief. Allein 
der alte Spötter ſagte ihm nur ein Wort, das noch dunkler 
war, als jenes, und endlich begnügte er ſich mit dem ſelbſt— 
gefundenen »perfectihabia.“ 

Es würde unangemeſſen ſeyn, hier die endloſen Reihen von 
techniſchen Ausdrücken aufzuführen, welche die ſpätern Zeiten in 
die ariſtoteliſche Philoſophie einzuführen beliebt haben. Be— 
merken wir jedoch bei dieſer Gelegenheit, daß der allgemeine 
und viele Jahrhunderte dauernde Gebrauch dieſer Kunſtwörter 
den mächtigen Einfluß einer jeden techniſchen Phraſeologie auf die 
Feſthaltung der Wahrheit ſowohl, als auch ſelbſt des Irrthums 
beweist. Dieſe ariſtoteliſchen Phraſen, und die metaphyſiſchen 
Anfichten, die fie involviren, find jetzt noch gang und gebe unter 
uns, und noch nicht vor langem hat es einem der erſten Schrift— 
ſteller Englands nöthig geſchienen, dieſe veralteten techniſchen 
Gerüſte durch die Waffen des Lächerlichen zu bekämpfen und ſie 
auf dieſe Art vielleicht aus unſerer Mitte zu verjagen. „Crambe 
„bedauerte höchlich, dieſe ſubſtantiellen Formen, dieſes 
„Geſchlecht von harmloſen Dingerchen, die ſich ſo viele Jahr— 
„hunderte friedlich unter uns herumgetrieben und gar manchem 
„unferer armen Philoſophen zu einem behaglichen Lebensunter— 
„halt gedient haben, und die man jetzt überall, wo man ſte trifft, 
„n iederſchießen und für immer von unſern Grenzen vertreiben 
„will, als ob ſie alle reißende Wölfe wären. Wie viel grau— 
„amer iſt man mit dieſen unſchuldigen Dingern verfahren, als 
„mit den ihnen fo ähnlichen Eſſenzen (Essentia, sor«), denen 
„man doch erlaubte, von den Schulbänken ſich in die Büchſen 
„unferer Apotheker zu flüchten, wo einige derſelben ihr Glück 
„gemacht haben, und ſogar bis zu 5 Grad von Quinteſſenzen 
yavancirt ſeyn ſollen ). 

Betrachten wir nun auch in Kürze die techniſchen Ausdrücke 
einiger anderen griechiſchen Schulen. 


1) Martinus Scriblerus Cap. VII. 


60 Griechiſche Schulphiloſophie. 


2. Techniſche Ausdrücke der Platoniker. 

Die Ideen des Plato haben vielleicht eine größere Cele— 
brität erlangt, als alle techniſchen Phraſen der ariſtoteliſchen 
Schüler zuſammengenommen. Die Nachricht von der Entſtehung 
derſelben gibt uns Ariſtoteles ſelbſt ). „Plato, ſagt er, be— 
»ſchäftigte ſich in feiner Jugend viel mit Cratylus und den 
„Heraclitiſchen Dogmen, die alle ſinnliche Gegenſtände als in 
„einem beſtändigen Fluſſe darſtellen, ſo daß, in Beziehung auf 
„fie, keine beſtimmte Wiſſenſchaft oder Erkenntniß möglich ſeyn 
„toll. Dieſelben Anſichten behielt Plato auch in feinen fpäteren 
„Lebensperioden bei. Als aber ſpäterhin Sokrates bloß die 
„»moraliſchen Gegenſtände zu behandeln und die phyſiſchen ganz 
„zu vernachläßigen anfing, und dabei doch auch auf allgemeine 
„Wahrheiten gerieth, ſo ſchlug Plato einen ähnlichen Weg ein, 
„und conſtruirte die von ihm aufgefundenen Dogmen fo, daß 
„fie, wenn auch nicht auf ſinnliche Dinge, doch auf Gegenftände 
„höherer Art anwendbar ſeyn ſollten. Und dieſe Dinge, die 
„nach ihm die Subjekte jener allgemeinen Wahrheiten find, 
„nannte er Ideen.“ 

Ganz übereinſtimmend damit finden wir denn auch in dem 
„Parmenides“ des Plato, der, wie man dafür hält, die Lehre 
von den Ideen am beſtimmteſten ausgedrückt enthält, die— 
ſen Parmenides ſelbſt auf folgende Weiſe zu Sokrates ſprechen: 
„O Sokrates, die Philoſophie hat dich zwar noch nicht ganz 
„aufgenommen, aber fie wird, wie ich glaube, dieß bald thun, 
„und du wirft ihr keine Schande machen. Schon jetzt, noch ein 
„Jüngling, unterſuchſt du ſchon die Meinungen der Menſchen. 
„Aber ſage mir, ſcheint dir auch, daß es gewiſſe Ideen (Eıön) 
„gibt, von welchen die anderen ſinnlichen Dinge ihre Benennung 
„erhalten und angenommen haben, wie man z. B. die Dinge 
„ähnlich nennt, die mit anderen das Aehnliche angenommen 
„haben, oder die groß, die mit anderen die Größe gemein haben, 
„oder die ſchön und gerecht, die der Schönheit und Gerechtigkeit 
„theilhaftig geworden find.“ — Dieſem ſtimmt nun Sokrates 
völlig bei. Und an einem anderen Orte deſſelben platoniſchen 


1) Aristot. Mesaphys. I. 6 und XII. 4. 


Griechiſche Schulphiloſophie. 61 


Dialogs ſagt er, daß dieſe „Ideen“ keineswegs in unſerer ge— 
meinen Erkenntniß von den Dingen eingeſchloſſen ſind, daher 
ſie, wie er folgert, Gegenſtände oder Ausflüſſe eines höheren, 
göttlichen Geiſtes ſeyn müſſen. Auch in dem Phädon wird die— 
ſelbe Anſicht vorgetragen und das Ganze endlich in folgende 
Worte zuſammengezogen: „Daß jede Idee ihre eigene Exiſtenz 
„habe, und daß die anderen Dinge an dieſen Ideen theilnehmen 
„und auch, nach der Art dieſer Theilnahme, von uns ihre Benen— 
„nung erhalten.“ 

Die Folge, die daraus gezogen wird, iſt, daß der Menſch, 
um einer gewiſſen und wahrhaftigen Erkenntniß theilhaftig zu 
werden, ſich ſo ſehr als ihm möglich bis zu dieſen Ideen erheben 
müſſe, und da alle anderen Dinge nur nach dieſen Ideen be— 
nannt werden, ſo haben auch die letzten den Vorrang unter 
allen Dingen. Die Idee von gut, ſchön, weiſe iſt das erſte 
Gut, das erſte Schöne, die erſte Weisheit. Dieſe höch— 
ſten aller Ideen (denn es gibt mehrere Grade unter ihnen) ſind 
die ewigen und für und aus ſich ſelbſt beſtehenden, und ſie ſind 
es, welche die Verſtandeswelt bilden, die voll iſt von Mo— 
dellen und Archetypen aller erſchaffenen Dinge. — Auf dieſelbe 
Weiſe, wie dort in den moraliſchen, betrachtet er auch bei ſeinen 
phyſiſchen Unterſuchungen die „Idee“ des primi calidi, des primi 
frigidi u. ſ. f. als die Fundamental-Principien, durch deren 
Einwirkung alle natürlichen Dinge kalt oder heiß u. ſ. f. 
genannt werden. Uebrigens finden wir in der platoniſchen 
Schule eben nicht viele Anwendungen ihrer Speculationen auf 
die Phyſik. Plutarch's Schrift „De primo frigido“ kann als 
eine ſolche betrachtet werden. Sie enthält in der That eine 
Discuſſion, die auch in den neueren Zeiten die Phyſiker beſchäf— 
tigt hat: ob nämlich die Kälte eine poſitive Eigenſchaft der 
Körper, oder eine bloße Negation ſey. 


3. Techniſche Ausdrücke der Pythagoräer. 


Die pythagoräiſchen Zahlen, fo weit fie als Mittel zur 
Erklärung der Natur dienen ſollten, ſind noch viel dunkler, als 
die platoniſchen Ideen. 

Uebrigens finden ſich zwiſchen beiden auch mehrere Aehn— 
lichkeiten. Plato nannte ſeine Ideen auch Einheiten oder 
Monaden, und wie nach ihm dieſe Ideen, ſo ſind auch, 


62 Griechiſche Schulphiloſophie. 


nach Pythagoras, die Zahlen die Quellen aller Dinge ). Sie 
waren aber auch wieder unter einander verſchieden, da alle 
Dinge die Natur der platoniſchen Ideen nur durch „Participa— 
tion“ annehmen, während ſie die Natur der pythagoräiſchen 
Zahlen „durch Imitation“ theilen. Einige dieſer Zahlen wurden 
überdieß von den Pythagoräern mit ganz außerordentlichen At— 
tributen bekleidet, die oft ſehr ſonderbare und wahrhaft gewalt— 
ſame Analogien erzeugten. So wurde z. B. die Zahl Vier, 
die fie Tetras oder Tetractys nannten, für die allervollkom— 
menſte Zahl und gewiſſermaßen auch für eine Analogie der 
menſchlichen Seele gehalten. Allein dieſe Lehren der Pythagoräer 
ſind in große Dunkelheit gehüllt, und die Arbeiten ihrer ſpä— 
teren Commentatoren haben dieſe Dunkelheit nur noch größer 
gemacht. Die Liebe dieſer Schulen zu mathematiſchen Specu— 
lationen mag ſie wohl zu der Lehre von den Atomen und von da 
zu manchen anderen, vielleicht nützlichen Kenntniſſen geführt haben. 
Indeß, ſo viel uns bekannt iſt, waren dergleichen in den älteſten 
Schulen dieſer Secte nicht zu finden, und vielleicht iſt es erſt 
unſeren Tagen aufbehalten geweſen, unter den neueren Unter— 
ſuchungen der Chemie und Kryſtallographie Spuren ähnlicher 
Speculationen bei den Alten zu ahnen. 


4. Techniſche Ausdrücke der Atomiſten und Anderer. 

Die atomiſtiſche Doctrin war eine der beſtimmteſten und 
meiſt ausgebildeten Theorien der alten Phyſiker, und ſie wurde 
auch mit großem Eifer und Ernſt auf die Erklärung der Natur 
angewendet. Obſchon ſie aber, in den ältern Zeiten, zu keinem 
großen Erfolg führte, jo diente fie doch gleichſam als tradi— 
tioneller Träger vieler reellen phyſiſchen Wahrheiten durch eine 
lange Reihe von Jahrhunderten, aus welchem Grunde ſie auch 
von Baco feiner eigenen hiſtoriſchen Unterſuchung werth gehal— 
ten wurde 2). 

Der Ausdruck „Atom“ ſelbſt bezeichnet hinlänglich die 
Natur dieſer Lehre. Nach ihr beſteht die ganze Welt nur 
aus Collectionen ſolcher „einfachen Körperchen,“ die alle von 


1) Ariſtot. Metaph. J. 6. 
2) Baco, Parmenidis et Telesii et praecipue Demacriti Philosophia 
M. f. deſſen Werke Vol. IX. 317. 


Griechiſche Schulphilofonhie. 63 


derſelben Art und von untheilbarer Kleinheit ſind (wie ſchon die 
Benennung Atom ſagt) und die durch ihre mannigfaltigen An— 
einanderfügungen und Bewegungen alle Körper der Natur her— 
vorbringen. 

Dieſer Atomenlehre des Leucipp und Demokrit wurde die 
Homoiomeria des Anaxagoras entgegen geſetzt, d. h. die 
Meinung, daß alle materiellen Dinge aus ſolchen kleinſten 
Theilen beſtehen, die aber bei jeder Körperart homogen und 
nur bei verſchiedenen Körpern verſchieden ſind. Weil nun 
z. B. durch unſere Speiſen das Fleiſch, das Blut und 
und die Knochen des menſchlichen Körpers unterhalten werden, 
ſo müſſen auch, nach Anaxagoras, in jener Nahrung Theile 
des Fleiſches, des Bluts und der Knochen enthalten ſeyn. Wenn 
die erſte Meinung mit der Atomenlehre der neuern Zeit Ver— 
wandtſchaft hat, ſo kann die zweite als die erſte Dämmerung 
des Begriffs unſerer chemiſchen Verwandtſchaften angeſehen 
werden. Auch die Stoiker, die ſich ebenfalls, beſonders in den 
letztern Zeiten, zu den materialiſtiſchen Anſichten hinneigten, 
hatten ihre eigenen techniſchen Ausdrücke für ſolche Gegenſtände. 
Sie behaupteten, daß die Materie in ſich ſelbſt eine Tendenz 
oder eine Dispoſition zu gewiſſen Geſtalten trage, welche Dis— 
pofition fie Aoyoı onspuarınoı (Saamenſtoffe) nannten. 

Was aber auch in dieſen techniſchen Ausdrücken aller diefer 
Schulen Geſundes und Brauchbares enthalten ſeyn mochte, ſo 
wurde es doch wieder durch das Vorherrſchen jener trockenen, 
mit Worten und Begriffen tändelnden Speculationen wieder 
verdunkelt und unnütz gemacht. Bei den Nachfolgern dieſer 
Männer wurde noch das wenige Gute, was jene gebracht 
hatten, durch den ungemeſſenen Hang zu Subtilitäten und 
zu den Commentationen der Schriften der Vorgänger, völ— 
lig verdorben, da es keinem derſelben einfiel, ſtatt jenen todten 
Büchern das große lebendige Buch der Natur ſelbſt zu befragen. 
Auf dieſe Weiſe dienten alle jene techniſchen Phraſen nur dazu, 
den traditionellen Dogmen der Secten Dauer und Feſtigkeit zu 
geben, aber ſie führten beinahe zu gar keiner reellen Erweiterung 
in der Erkenntniß der Natur. 

Die wahren Fortſchritte, welche in den Naturwiſſenſchaften 
gemacht wurden, verdankt man, wenn man etwa die Lehre von 
der Harmonie bei den Pythagoräern ausnimmt, nicht dieſen 


64 Griechiſche Schulphiloſophie. 


philoſophiſchen Schulen, ſondern da und dort einzelnen Männern, 
die ihren eigenen Weg für ſich verfolgten. Die ſtolzen Erwar— 
tungen der alten griechiſchen Philoſophen, ihre großen Entwürfe, 
und alle ihre hochmüthigen, ſelbſtvertrauenden Unternehmungen 
endigten in einem totalen Fehlſchlagen aller eigentlichen Erkennt— 
niß der Natur und ihrer Erſcheinungen. 

Dieſes Unfalls ungeachtet dürfen wir aber nicht zu klein 
von dieſen früheren Speculationen des menſchlichen Geiſtes 
denken. Die Männer, die ſich denſelben hingaben, waren mit 
einem außergewöhnlichen Scharfſinn, mit Erfindungskraft und 
mit einer ſeltenen Tiefe der Gedanken begabt, und, vor allem, 
ſie hatten das Verdienſt, die ſpeculativen Facultäten unſeres 
Geiſtes zuerſt kräftig entfaltet zu haben. Mit hohem Muthe 
drangen dieſe kühnen Jäger auf dem neuen Felde der Erkenntniß 
vor, und ſie ſind es, die zu aller folgenden Cultur und zur 
Erweiterung dieſer Kenntniſſe die erſte Gelegenheit gegeben haben. 
Dieſe Philoſophen des alten Griechenlands bilden gleichſam das 
heroiſche Zeitalter unſerer Literargeſchichte. Gleich den kühnen 
Schiffern in ihrer eigenen Mythologie ſteuerten ſie mit ihren unge— 
übten Barken muthvoll in das fremde, gefahrvolle Meer, voll 
von ſchönen jugendlichen Hoffnungen auf den glücklichſten Erfolg. 
Sie verfehlten wohl das goldene Vließ, das ſie ſo eifrig ſuchten, 
aber ſie erſchloſſen uns doch die Thore zu jenen unbekannten 
Gegenden, und ſie eröffneten jene hohe See vor unſern Blicken, 
auf der ſeitdem Tauſende von Abentheuern mit ihren bewim— 
pelten Fahrzeugen munter hin und wieder ſegeln, um den 
Schatz der geiſtigen Erkenntniß der Menſchheit in's Unendliche 
zu vermehren. 


Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 63 


Drittes Capitel. 


Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie der 
griechiſchen Schulen. 


Erſter Abſchnitt. 
Relultate der Schulphilofophie bei den Griechen. 


Die Methoden, welche die Schulen der griechiſchen Philoſophie 
auf die Erſcheinungen in der Natur angewendet hatten, waren 
völlig mißrathen. Keine einzige Entdeckung eines allgemeinen 
Geſetzes, nicht einmal die Erklärung irgend eines ſpeciellen 
Phänomens der Natur brachten dieſe kühnen und ſcharfſinnigen 
Forſcher von ihren weiten Wanderungen zurück. Die Aſtronomie, 
die während der Dauer dieſer Schulen nicht unbedeutende Fort— 
ſchritte machte, verdankt vielleicht auch etwas davon dem hohen 
Anſehen, mit welchem Plato die Vorzüglichkeit und Allgemein— 
heit der mathematiſchen Methode angeprieſen hatte, ſo wie auch 
der Lehre von der Harmonie, die wahrſcheinlich die Liebe der 
Pythagoräer zu den Zahlen erzeugte, deren Eigenſchaften ein 
vorzüglicher Gegenſtand der Beſchäftigung ihrer Schulen wurde. 
Allein, außer dieſen erſten Verſuchen, gewannen die Wiſſen— 
ſchaften nichts von allen jenen philoſophiſchen Secten, und der 
weitläufige und verwickelte Apparat, den der Stagirite errichtet 
hatte, ſcheint auch nicht eine einzige phyſiſche Wahrheit hervor— 
gebracht zu haben. 

Dieſer Vorwurf wird keiner weiteren Beweiſe bedürfen, da 
in dem ganzen großen, auf uns gekommenen Vorrath von grie— 
chiſchen Wiſſenſchaften nichts enthalten iſt, wofür wir ihnen und 
beſonders der ariſtoteliſchen Schule Dank wiſſen ſollten. Reelle 
Wahrheiten, einmal entdeckt, verbleiben bis an das Ende aller 
Zeiten ein Theil unſeres geiſtigen Schatzes, und ſie werden, 
durch alle Hinderniſſe ſpäterer Tage, doch immer leicht wieder 
erkannt. Allein wir können keinen einzigen phyſiſchen Satz an— 
anführen, den ſchon Ariſtoteles anticipirt hätte, auf die 
Weiſe nämlich, wie z. B. das Syſtem des Copernicus von Ari— 
ſtarch, oder die kreisförmigen Bewegungen der Geſtirne von 


Plato, oder endlich die Verhältniſſe der geen Accorde 
Whewell. I. 


66 Mißgeſchick der pſochiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 


ſchon durch die Zahlenlehre der Pythagoräer anticipirt wor— 
den iſt. 

Um dieß noch etwas näher zu betrachten, ſo finden wir unter 
den Werken des Ariſtoteles acht und dreißig Capitel von „Pro⸗ 
blemen,“ wie er ſie nennt, die vorzüglich geeignet ſind, 
die Fortſchritte kennen zu lernen, die dieſer Philoſoph in der 
Zurückführung der Erſcheinungen der Natur auf ihre „Geſetze 
und erſten Gründe“ gemacht haben mag. Die eigentlich phyſi— 
ſchen unter ihnen, die wir hier allein betrachten wollen, beziehen 
ſich beinahe alle auf ſolche Thatſachen, deren Erklärung recht 
eigentlich das Geſchäft der Theorie ſeyn muß. Man darf aber 
kühnlich ſagen, daß auch nicht eine von den Erklärungen, die 
Ariſtoteles von jenen Thatſachen gibt, eine wahrhaft werthvolle 
iſt. Bei den meiſten ertheilt er ſeine Antworten ſo zögernd und 
ſo ſchwankend, daß man den Mangel an wahrer wiſſenſchaft— 
licher Diſtinction ſeiner Ideen nicht weiter verkennen kann, wie 
denn auch die Endreſultate, die er aufſtellt, durchaus kein 
beſtimmtes allgemeines Princip in ſich enthalten. Vergeſſen 
wir aber dabei nicht, daß hier bloß von den eigentlich phyſiſchen 
Wiſſenſchaften des Ariſtoteles die Rede iſt. 

Nehmen wir, zum Beweiſe unſerer Ausſage, eines der ein— 
fachſten dieſer Probleme, deſſen wahre Principien am nächſten 
bei der Hand liegen — das mechaniſche: „Wie können,“ ſo 
fragt er), „kleine Kräfte große Laſten durch Hülfe eines Hebels 
„in Bewegung ſetzen, da doch hier, nebſt der Laſt, auch noch 
„der Hebel ſelbſt bewegt werden muß? — Dieß geſchieht darum,“ 
antwortet er, „weil ein größerer Halbmeſſer ſich ſtärker bewegt, 
„als ein kleinerer. — Wie kann ein kleiner Keil große Klötze 
„zerfprengen )? Weil der Keil aus zwei entgegen geſetzten 
„Hebeln beſteht. — Warum muß ein Menſch, wenn er von 
„einem Stuhle aufſteht, ſeinen Fuß und ſeinen Körper in einen 
„ſpitzen Winkel mit ſeinem Schenkel verſetzen? ). Weil der 
„rechte Winkel mit der Gleichheit und Ruhe in Verbindung 
„fteht. — Warum treibt ein Mann den Stein weiter mit einer 
„Schleuder, als mit der bloßen Hand . Weil er mit der 


1 Aristot., Prob. 4. 
2) Ibid. Exobl. 18. 
3) Ibid. 31. 
4) Ibid, 13. 


Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 67 


„Hand den Stein aus ſeiner Ruhe bewegt, während er mit der 
„Schleuder einen ſchon bewegten Stein in Bewegung ſetzt. — 
„Wenn ein kreisförmiger Reifen gegen den Boden geworfen 
„wird, warum beſchreibt er zuerſt eine gerade Linie, und dann, 
„wenn er fällt, eine Spirale )? Weil die Luft ihn zuerſt 
„gleichmäßig auf beiden Seiten drückt und unterſtützt, ſpäter 
„aber nur auf einer einzigen. — Warum iſt es ſo ſchwer, einen 
„Ton von feiner Octave zu unterſcheiden 27? Weil dann das 
„Verhältniß in der Stelle der Gleichheit fteht.“ — Man muß 
geſtehen; daß dieß ſehr unbeſtimmte und werthloſe Ant— 
worten ſind. Denn ſelbſt wenn wir, wie einige Commen— 
tatoren gethan haben, mehrere derſelben fo auslegen wollten, 
daß ſte mit einer richtigen Anſicht der Sache übereinſtimmen, 
ſo ſind wir doch unfähig, in den Worten unſeres Autors irgend 
einen klaren Begriff von einem allgemeinen Princip zu entdecken, 
welche eine ſolche Auslegung erfordert. 

Die Phyſik des Ariſtoteles kann daher nicht anders, als 
ein ganz mißglücktes Werk betrachtet werden. Er ſuchte keine 
allgemeinen Geſetze aus den Erſcheinungen, und wenn er daher 
dieſe Erſcheinungen erklären wollte, ſo hatte er kein Prineip, 
welches ihm dazu verhelfen konnte. 

Daſſelbe kann auch von den phyſiſchen Speculationen aller 
anderen philoſophiſchen Schulen geſagt werden. Sie kamen zu 
keiner Lehre, aus welcher ſie, durch richtige Vernunftſchlüſſe, 
die Thatſachen, welche fie vor ſich ſahen, erklären konnten, obs 
ſchon ſie oft verſuchten, ihre Principien in Gegenden zu ſuchen, 
die ganz außer dem Bereich unſerer Sinne liegen. Auf dieſe 
Weiſe führte z. B. das Princip, daß jedes Element feine 
eigene Stelle ſuche, zu der Lehre, daß die Stelle des Feuers 
die höchſte, d. h. über der Luft, eine wahre Feuerſphäre ſey, aus 
welcher Lehre dann das Wort Empyreum entſtand, welches unfere, 
Dichter noch jetzt gebrauchen. Die Pythagoriſche Lehre, daß 
zehn die vollkommenſte Zahl ſey ), verleitete ſie zu der Ber 
hauptung, daß es auch zehn himmliſche Körper gebe, und da ſie 
nur neun derſelben kannten, fo ſagten fie kühn, daß es noch 


1) Hei Ayvxa 11. 
2) Ilegı Apuov 14. 
3) Ariſtot., Metaphyſ. 


68 Mißgefchiet der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 


ein Antichthon (Gegenerde) gebe, die auf der andern Seite 
der Sonne ſtehe, und daher für uns unſichtbar ſey. Ihre Mei— 
nung über die Verhältniſſe der Zahlen führte ſie eben ſo zu ver— 
ſchiedenen anderen Speculationen über die Stellungen und 
Diſtanzen der Planeten, und da ſie früher ſchon gewiſſe Verhält— 
niſſe zwiſchen Diſtanzen und muſikaliſchen Noten gefunden hatten, 
ſo dachten ſie ſich, auf dieſen Grund hin, die Muſik der Sphä— 
ren aus. Obſchon wir alſo in der Phyſik der Griechen vergebens 
nach irgend beſſeren Reſultaten, als die vorhergehenden ſuchen, ſo 
darf es uns doch nicht überraſchen, daß mehrere Schriftſteller 
den Werth dieſer griechiſchen Philoſopheme viel höher ſchätzen, 
wenn wir bedenken, in welchem Grade der menſchliche Geiſt, ſo 
viele Jahrhunderte durch, von der Bewunderung des claſſiſchen 
Alterthums erfüllt geweſen iſt. Unter dieſen Bewunderern nennt 
man Dutens, der im Jahr 1766 feinen „Urſprung der den 
Neuern zugelegten Entdeckungen“ herausgegeben hat, und in 
welchem gezeigt wird, daß unſere berühmteſten Phyſiker den 
größten Theil ihrer Entdeckungen aus den Werken der Alten 
genommen haben. Die Abſicht dieſes Werkes iſt, wie man 
erwarten kann, dieß aus den Auslegungen der allgemeinen 
Phraſen, welche dieſe Alten gebraucht haben, zu beweiſen. Wenn 
z. B. Timäus in dem Dialog dieſes Namens von Plato, von 
dem Schöpfer der Welt ſagt ), „daß er in dieſe Welt zwei 
„Kräfte, die Quellen der Bewegungen derſelben und der verſchie— 
„denen Dinge gelegt habe,“ fo findet Dutens ?) in dieſer Rede 
einen klaren Beweis von der Central- und Tangential-Kraft der 
neuern Mechanik. Ganz eben ſo hatte er auch in den gewöhn— 
lichen Declamationen der Pythagoräer und Platoniker über die 
Verhältniſſe der Zahlen im Univerſum, den Zuſammenhang die— 
ſes Geredes mit dem Geſetze des verkehrten Quadrats der Ent— 
fernung entdeckt, welches der allgemeinen Gravitation zu Grunde 
liegt, obſchon er geſteht ), daß es all' den Scharfſinn News 
tons und ſeiner Nachfolger bedurfte, dieſe Entdeckung aus den 
kargen Fragmenten herauszufinden, durch welche ſie uns über— 
liefert worden ſind. 


— — 


1) Timäus 96 a. 
2) Edit. III. S. 83. 
3) Ibid. S. 88. 


Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 69 


Verſuche ſolcher Art reichen offenbar nicht hin, das gänzliche 
Mißglücken der griechiſchen Philoſophie zu verſchleiern, oder viel— 
mehr, man muß ſagen, daß ſolche Argumente, immerhin die 
beſten, die man für jene Behauptung aufbringen kann, nur um 
ſo deutlicher das gänzliche Mißlingen jener Philoſophie darthun. 
Gehen wir nun zu den eigentlichen Urſachen ihres Mißgeſchickes 
über. 


Zweiter Abſchnitt. 
Urſache des Milslingens der griechifchen Phylik. 


Der Grund des Mißlingens ſo vieler Verſuche der Griechen, 
eine wiſſenſchaftliche Phyſik zu errichten, iſt ſo wichtig, daß wir 
ihn hier näher betrachten müſſen, obſchon eine vollkommene 
Entwicklung dieſes Gegenſtandes mehr in unſere künftige „Phi— 
„lofophie der Induction“ gehört. Wir wollen zuerſt einige 
Fehler auszeichnen, auf die des Leſers Verdacht gleich anfangs 
fallen könnte, die aber, wie wir bald zeigen werden, nicht die 
wahren Urſachen jenes Unfalls ſind. 


Dieſe Urſache war erſtens nicht die Vernachläſſigung 
der Thatſachen. — Es iſt oft geſagt worden, daß die Grie— 
chen alle Beobachtung verſchmäht, und alle ihre Philoſophie 
aus ihrem eigenen Innern herausgeſponnen haben, und dies 
wird von Mehreren als ihr Hauptfehler angeſehen. Es iſt ohne 
Zweifel wahr, daß der Ausdruck „Vernachläſſigung der Erfah— 
„rung“ fo ausgelegt werden kann, als wäre er ein Mangel der 
philoſophiſchen Methode ſelbſt, weil die Coincidenz aller Theorie 
mit der Erfahrung zu der Wahrheit von jener nothwendig iſt. 
Wenn man aber jenen Ausdruck näher beſtimmt, ſo glaube ich 
ſagen zu können, daß die griechiſche Philoſophie die Nothwen— 
digkeit und den hohen Werth der Beobachtungen gehörig aner— 
kannt habe; daß fie, gleich vom Anfange aus, von beob— 
achteten Thatſachen ausgegangen iſt, und daß ſie endlich keinen 
geringen Gebrauch davon bei der Claſſifikation und Anordnung 


70 Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 


der äußeren Phänomene gemacht hat. Wir müſſen dieſe Be- 
hauptung erläutern, weil es wichtig iſt, zu zeigen, daß ſolche 
Schritte allein noch zu keiner Wiſſenſchaft führen. 


1. Die Anerkennung der Erfahrung, als des allgemeinen 
Grundes alles phyſiſchen Wiſſens, wird ſo allgemein als der 
unterſcheidende Charakterzug unſerer neuern Zeit angenommen, 
daß es wohl unſere Verwunderung erregen mag, zu hören, ſchon 
Ariſtoteles und andere alte Philoſophen haben auf das beſtimmteſte 
behauptet, daß alle unſere Erkenntniß mit der Erfahrung begin— 
nen muß. Sie drückten dieß ſelbſt auf eine unſerer philoſophi— 
ſchen Sprechart ähnliche Weiſe dadurch aus, daß man zuerſt 
eine Collection von einzelnen Facten haben, und dann aus 
dieſer erſt allgemeine Principien durch Induction ableiten 
müſſe, wo dann dieſe Principien, wenn ſie der höchſten Art 
waren, Axiome genannt wurden. Einige wenige Stellen werden 
dies näher zeigen. 


„Der Weg der Philoſophie,“ jagt Ariſtoteles ), indem er 
von den Regeln der Schlüſſe ſpricht, „iſt derſelbe mit dem aller 
„anderen Wiſſenſchaften: man muß nämlich zuerſt Thatſachen 
„ſammeln und die Dinge, an welchen dieſe Thatſachen ſich er: 
„eignen, kennen lernen, und davon fo viel als möglich zuſam— 
„mentragen.“ Dann lehrt er, daß man nicht dieſe ganze Maſſe 
auf einmal, ſondern zuerſt nur kleine Theile derfelben, einen 
nach dem andern, betrachten ſoll. „Und auf dieſe Weiſe,“ fährt 
er fort, „iſt es Sache der Beobachtungen, die Principien für 
„jeden Gegenſtand anzubieten, wie z. B. die aſtronomiſchen 
„Beobachtungen uns die Prineipien der aſtronomiſchen Wiſſen— 
»ſchaft liefern. Denn wenn die Erſcheinung am Himmel gehörig 
„aufgefaßt ift, fo folgert man dann aus ihnen die Geſetze der 
„Sternkunde. Daſſelbe läßt ſich auch von jeder anderen Wiſſen— 
„Ihaft ſagen, fo daß, wenn wir einmal die Thatſachen (ra 
„Üünapxovra) eines jeden Gegenſtandes erhalten haben, es unſere 
e iſt, daraus den Lauf der einzelnen Sätze gehörig abzu⸗ 
„leiten,“ 


1) Anal. Prior. I. se. 


Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 71 


Dieſe Thatſachen (ra Unapxovra) begreift er wieder, au 
andern Orten, unter der gemeinſchaftlichen Benennung der 
Senſation. So ſagt er ): „Es iſt klar, daß wenn die 
„Senſation unvollſtändig iſt, jo wird auch die darauf gebaute 
„Erkenntniß unvollſtändig ſeyn, da wir zur Erkenntniß nur ent— 
„weder durch Induction oder durch Demonſtration gelangen 
„können. Die Demonſtration geht aber von allgemeinen, und 
»die Induction nur von beſonderen Propoſitionen aus. Allein 
„wir können keine allgemeinen theoretiſchen Propoſitionen, außer 
„durch Induction, haben, und Inductionen können wir nicht 
„ohne Senſation machen, denn die Senſation hat es immer nur 
„mit dem Einzelnen zu thun.“ 


In einer andern Stelle ) behauptet er, daß die Principien 
vorhergehen und früher bekannt ſeyn müſſen, als die Concluſionen, 
und dabei unterſcheidet er dieſe Principien in abſolute und rela— 
tive. „Dieſe für uns relative Principien ſind die, die der Sen— 
„ſation näher liegen; abſolute Principien aber, die von unſerer 
„Senſation weiter entfernt ſind. Die allgemeinſten Principien 
„find auch die von uns entfernteſten. Diejenigen allgemeinen 
„Principien aber, die zur Erkenntniß abſolut nothwendig ſind, 
„heißen Axiome.“ 


Zu den angeführten Stellen kann man noch diejenigen hin— 
zufügen, in welchen er zu erklären ſucht, wie Leucipp auf die 
Lehre von den Atomen gekommen iſt. Nachdem er die Meinungen 
einiger früherer Philoſophen über dieſen Gegenſtand mitgetheilt 
hat, ſagt er ): „Indem fie auf dieſe Weiſe der Senſation Ge— 
„walt angethan und ſie ganz gemißachtet hatten, weil, wie ſie 
„behaupteten, ſie nur dem Verſtande allein folgen müſſen, ſo 
„kamen einige dieſer Philoſophen zu dem Schluſſe, daß das Uni— 
„verſum ein einziges Ganze, unendlich und in ewiger Ruhe 
„ſey. Da es aber doch offenbar war, daß es bei dieſen ſogenann— 


1) Anal. Post. I. 218. 
2) Anal. Post. I. 2. 
3) De Gen. et Cor. I. 8. 


72 Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 


„ten Vernunftſchlüſſen nahe an Wahnſinn gränzte, ſolche Mei— 
„nungen von den Thatſachen aufzuſtellen, weil doch keiner fo 
„tehöricht ſeyn wird, Feuer und Waller für eines zu halten, ſo 
„verfolgte Leucipp einen anderen Weg, der mit der Senſation 
„befler übereinſtimmte, und der doch wenigſtens nicht mehr im 
„Widerſpruche ſtand mit der Erzeugung und dem Untergange, 
„mit der Bewegung und der Abwechslung aller Dinge.“ Man 
ſieht daraus klar, daß die Schule, zu welcher Leucipp gehörte 
(die eclectiſche), wenigſtens anfänglich von der Nothwendigkeit 
durchdrungen geweſen ſeyn muß, daß jede philoſophiſche Theorie 
vor allem mit den Erſcheinungen der Natur in Uebereinſtimmung 
gebracht werden muß. 


2) Auch war dieſe Anerkennung des großen Werthes der Beob— 
achtung nicht bloß eine leere Declamation, ſondern die griechiſche 
Philoſophie ging, gleich anfangs, bloß von Beobachtungen aus. 
Es iſt zuerſt klar, daß ſie dieſe ihre Principien nur in der Ab— 
ſicht annahmen, um dadurch mehrere ganze Klaſſen von Erſchei— 
nungen darzuſtellen, ſo unvollkommen ihnen auch dieſes zuweilen 
gelingen mochte. Das Princip, daß jedes Ding ſeine eigene 
Stelle ſuche, wurde bloß ausgedacht, um dadurch die Erſchei— 
nungen der fallenden und die der aufwärts ſtrebenden Körper 
(wie z. B. die des Feuers) zu erklären. Eben ſo, wenn Ariſto— 
teles ſagt, daß die Wärme dasjenige iſt, was die Dinge von 
derſelben Art zuſammenbringt, und die Kälte das, was die 
Dinge von derſelben und auch von verſchiedener Art zuſammen— 
bringt, ſo will er offenbar durch dieſes ſogenannte Princip die 
bekannten Erſcheinungen erklären, wie feuchte Dinge in der 
Kälte frieren, und wie durch Schmelzung andere Dinge getrennt 
werden. Denn, ſetzt er hinzu, wie das Feuer einander unver— 
wandte Dinge vereinigt, ſo trennt es auch wieder die einander 
verwandten. Man könnte leicht noch mehrere ſolche Beweiſe 
anführen, wenn nicht die Sache ſchon für ſich ſelbſt fo deutlich 
wäre. Denn wie konnte man doch ein Princip, gleichſam wie 
für einen Augenblick, aus Uebermuth oder Eigenſinn, auf Gerade— 
wohl annehmen, wenn es nicht einigermaßen wenigſtens an— 
nehmbar iſt, wenn es nicht, ſcheinbar wenigſtens, mit der 
Natur und der Erfahrung im Einklange ſteht. 


Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 73 


Allein die Werke des Ariſtoteles zeigen uns noch auf eine 
ganz andere Weiſe, wie ungerecht es gegen ihn ſeyn würde, an— 
zunehmen, daß er die Thatſachen und Erfahrungen mißgeachtet 
habe. Viele von ſeinen größern Abhandlungen beſtehen beinahe 
ganz nur aus ſolchen Thatſachen, wie z. B. die „von den Far— 
ben, den Tönen“, ſo wie auch die bereits oben erwähnten „Pro— 
bleme“, nicht zu erwähnen der wahrhaft großen Sammlungen 
von Thatſachen in ſeiner „Naturgeſchichte und Phyſiologie“, die 
einen ſo bedeutenden Theil ſeiner Werke bilden, und ſelbſt 
noch jetzt für ſehr belehrend gelten können. Eine geringe Ueber— 
legung wird uns ſchon zeigen, daß die geſammten Naturwiſſen— 
ſchaften unſerer eigenen Zeit, z. B. die Mechanik, die Hydro— 
ſtatik u. a. gänzlich nur auf ſolchen Thatſachen beruhen, welche 
die Alten eben ſo gut, als wir ſelbſt gekannt haben. Die eigentlich 
fehlerhafte Stelle ihrer Philoſophie alſo, wo ſie ſich auch befinden 
mag, liegt weder in ihrer Mißachtung des hohen Werthes der 
Thatſachen, noch auch in der Vernachläſſigung der practiſchen 
Anwendung derſelben. 


3) Auch würden wir wohl der Wahrheit kaum näher kom— 
men, wenn wir ſagen wollten, daß Ariſtoteles und die andern 
alten Philoſophen wohl Thatſachen in Menge zu ſammeln, aber 
nicht, ſie zu vergleichen und zu claſſificiren wußten, und daß ſie 
alſo deßwegen zu keiner richtigen allgemeinen Erkenntniß gelan— 
gen konnten. Denn alle die oben erwähnten Abhandlungen des 
Ariſtoteles zeichnen ſich eben ſo vortheilhaft durch ſeine Kraft 
der Claſſification und der rein ſyſtematiſchen Zuſammenſtellung, 
als durch die eifrige Sammlung und Aufhäufung der einzelnen 
Thatſachen und Beobachtungen aus. Allein dieſe Claſſification 
allein führt uns noch zu keiner eigentlichen Erkenntniß, und man 
könnte noch gar manche Beiſpiele anführen von ſehr ſinnreichen, 
künſtlichen und äußerſt ſyſtematiſchen Claſſificationen, die dem— 
ungeachtet ganz unnütz und ohne allen guten Erfolg geblie⸗ 
ben ſind. N 


So wurden z. B. lange Zeit durch alle feurigen Erſcheinun— 
gen am Himmel auf eine ſehr gelehrte Weiſe als Meteore in 
verſchiedene Klaffen gebracht. Kometen, Sternſchnuppen, Feuers 


74 Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 


kugeln, ſelbſt das Nordlicht in allen ſeinen Geſtalten wurden in 
beſtimmte Gruppen geordnet, und mit ſpitzfindiger Mikrologie in 
ein ſogenanntes meteorologiſches Syſtem zuſammengeſtellt. 
Allein dies Syſtem war einer ganz willkührlichen und daher auch 
ganz unfruchtbaren Art. Als Charakter der Eintheilung hob 
man die Geſtalt, die Farbe, die Bewegung dieſer Meteore her— 
aus, und wo der Verſtand nicht mehr ausreichte, mußte die 
Phantaſie nachhelfen, die in dieſen Meteoren feurige Speere, 
Schwerter, Wagen, Drachen und ſelbſt ganze Armeen erblickte. 
Durch eine ſolche Claſſification wurden alle jene Erſcheinungen 
ganz um ihren eigentlichen Werth gebracht, und dieſer Werth 
würde ſich nicht vermehrt haben, wenn auch die Anzahl dieſer 
Erſcheinungen ſelbſt noch ſo viel größer geweſen wäre. Keine 
Regel, kein Geſetz konnte auf dieſe Weiſe entdeckt werden, das 
die Probe mit der ihm entſprechenden Beobachtung ausgehalten 
hätte. — Solche Claſſificationen alſo mußten von allen Berftäns: 
digen zur Seite geſtellt werden, wie fie denn auch alle längft 
ſchon vergeſſen find. In dieſen unſeren beſonderen Beiſpielen 
konnte man, auf jenem Wege, offenbar nie zu einer eigentlichen 
Wiſſenſchaft gelangen, und, man darf wohl ſagen, in Beziehung 
auf mehrere einzelne von dieſen Meteoren, kann man es auch 
ſelbſt heute noch eben fo wenig, nicht ſowohl aus Mangel an 
Thatſachen, noch auch aus Mangel einer ſyſtematiſchen Claſſiſi— 
cation, ſondern weil dieſe Claſſification der Art iſt, daß ſie kein 
reelles Princip enthält und auch nicht enthalten kann. 


4) Da nun, nach dem Vorhergehenden, zu einer Wiſſen- 
ſchaft zwei Dinge nöthig ſind — Erfahrungen und Ideen, und 
da, wie wir auch geſehen haben, die Erfahrungen oder die Beob— 
achtungen den alten griechiſchen Phyſikern nicht gemangelt haben, 
ſo müſſen wir nun nothwendig auf die Vermuthung kommen, 
daß der Fehler ihrer Philoſophie in den Ideen gelegen habe. 
Wie alſo, ſoll es ihnen an Geiſteskraft, an dem logiſchen Zu— 
ſammenhang ihrer Gedanken gefehlt haben? — Da Niemand 
zweifeln kann, daß dieſe Frage verneint werden müſſe, ſo dürfen 
wir auch nicht weiter dabei verweilen. Nicht einer, der die 
Literargeſchichte der alten Griechen nur einigermaßen kennt, wird 
läugnen wollen, daß fie in Scharffinn, in der Kraft der ſtrengen 


Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 75 


Beweisführung, kurz in der geſammten Geiſteskraft von irgend 
einem andern Volke übertroffen worden ſeyen. 


5) Gehen wir alſo wieder zu unſerer erſten Frage zurück: 
„worin beſtand der eigentliche radicale Fehler der philoſophiſchen 
„Schulen Griechenlands?“ 


Darauf antworte ich: „Dieſer Fehler beſtand darin, daß, 
„obfchon fie beides, Thatſachen und Ideen, im Ueberfluſſe be— 
„ragen, daß doch dieſe Ideen weder beſtimmt noch jenen That— 
„»ſachen angemeſſen waren.“ 


Dieſer eigenthümliche Character aller wahrhaft „wiſſenſchaft— 
lichen Ideen“, daß ſie „beſtimmt und den Thatſachen angemeſſen“ 
ſeyn müſſen, werden wir in dem bereits öfter erwähnten Werke 
„über die Philoſophie der inductiven Wiſſenſchaften“ umſtändlich 
auseinander zu ſetzen Gelegenheit erhalten. Hier wird es genü— 
gen, wenn der Leſer mit uns darin einverſtanden iſt, daß es für 
jede Klaſſe von Thatſachen eine ſpecielle Art von Ideen gebe, 
mittels welcher jene Thatſachen in allgemeine wiſſenſchaftliche 
Wahrheiten aufgenommen werden können, und daß dieſe Ideen, 
die wir eben deßwegen angemeſſen heißen wollen, mit völliger 
Beſtimmtheit und Klarheit aufgenommen werden müſſen, 
wenn ſie anders mit Nutzen auf jene Thatſachen angewendet wer— 
den ſollen. Der Mangel an ſolchen Ideen, die eine beſtimmte 
Beziehung zu den reellen äußeren Erſcheinungen in der Natur 
haben, dieſer Mangel alſo war es, der jene alten Philoſophen, 
mit ſehr wenig Ausnahmen, zu fo unbeholfenen und unglückli— 
chen Speculationen über die Natur verführte. 


Wir wollen dieß, der größeren Deutlichkeit wegen, durch 
einige Beiſpiele erläutern. — Ariſtoteles will unter anderen auch 
die bekannte Erſcheinung erklären, warum, wenn die Sonne 
einen Baum beſcheint, die kleinen hellen Stellen des Schattens 
am Boden immer kreisrund erſcheinen, da doch die Zwiſchen— 
räume der Blätter, durch welche die Sonnenſtrahlen dringen, 
um jene hellen Stellen zu erzeugen, nicht rund, ſondern von 
allen möglichen Formen ſind. Man ſollte auf den erſten Blick 
glauben, daß dieſe bellen Stellen die Geſtalt jener Zwiſchen— 


76 Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 


räume annehmen ſollten, ſo wie z. B. der Schatten der Körper 
an ſeiner Grenze auch die Geſtalt dieſer Körper annimmt. — 
Wir erklären jetzt dieſe Erſcheinung bekanntlich als eine noth— 
wendige Folge der kreisförmigen Geſtalt der Sonne, indem wir 
vorausſetzen, daß jeder Punkt der Sonne ſein Licht in gerad— 
linigen Strahlen ausſendet. Aber ſtatt dieſer, der Sache 
ſelbſt völlig angemeſſenen Idee von geradlinigen Strahlen, 
geht Ariſtoteles von der (ganz unangemeſſenen) Vorausſetzung 
aus, daß das Sonnenlicht eine Circular-Natur habe, welche ſie 
daher auch überall zu äußern ſtrebe. Dieſe vage und ganz un— 
beſtimmte Conception von einer circularen Eigenſchaft des 
Sonnenlichts (ſtatt der eigentlichen und reell angebbaren Con— 
ception von geradlinigen Strahlen) war die Urſache, die den 
Stagiriten hinderte, von dieſer einfachen und alltäglichen Er— 
ſcheinung die wahre Erklärung zu geben. 


Wie kam es ferner, um noch ein treffendes Beiſpiel zu geben, 
wie kam es, daß Ariſtoteles, dem doch die Eigenſchaft des He— 
bels und noch ſo manche andere Wahrheit der Mechanik wohl 
bekannt ſeyn mußte, doch unfähig war, daraus auch nur den 
Anfang einer eigentlichen Wiſſenſchaft zu conftruiren, wie doch 
nach ihm Archimedes in der That gethau hat? 


Die Urſache war, daß er, ſtatt Ruhe und Bewegung 
direct und beſtimmt und mit Beziehung auf ihre Urſache (d. h. 
auf Kraft) zu betrachten, daß er unter ganz anderen Anſichten 
und Ideen herumſchweifte, die er zu keinem ſtetigen Zuſammen— 
hange mit den Thatſachen bringen konnte, nämlich unter den 
Eigenſchaften des Kreiſes, der Geſchwindigkeitsverhältniſſe, und 
unter den unbeſtimmten Notionen von „ſeltſam und gewöhnlich“, 
von „natürlich und unnatürlich“, und was dergleichen mehr iſt. 
So ſetzt er, im Eingange zu ſeinen „mechaniſchen Problemen“ 
einige Schwierigkeiten, die er in ſeinem Werke zu bekämpfen 
haben würde, auseinander, und ſagt dann: „In allen dieſen 
„Fällen enthält der Kreis das eigentliche Princip von jenen Ur— 
„ſachen. Darauf muß man daher auch vorzüglich ſehen, denn 
„es kann nicht abſurd ſeyn, aus etwas ſchon an ſich Wunder: 
„baren etwas anderes noch Wunderbareres abzuleiten. Nun iſt 


Mißgeſchick der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 77 


„aber das Wunderbarſte von allem das, daß einander entgegen— 
„gefeßte Dinge verbunden werden können. Der Kreis iſt jedoch nur 
„aus ſolchen Verbindungen von entgegengeſetzten Dingen entſtan— 
„den: denn der Kreis wird durch einen ruhenden Punkt und durch 
„eine ſich bewegende Linie erzeugt, welche beide Dinge einander in 
„ihrer innerſten Natur entgegengeſetzt ſind, ſo daß wir uns alſo 
„nicht weiter verwundern dürfen, wenn aus ihm auch wieder 
„ſolche entgegengeſetzte Dinge entſpringen. So hat zuerſt die 
„Peripherie des Kreiſes, obſchon fie eine Linie ohne Breite iſt, 
„ganz entgegengeſetzte Eigenſchaften; denn fie iſt zugleich con ver 
„und auch concav. Zweitens hat der Kreis auch entgegenge— 
„ſetzte Bewegungen, indem er zugleich vor- und rückwärts geht, 
„indem die Peripherie, wenn ſie von einem Punkte ausgeht, zu 
„demſelben Punkte wieder, auf beiden Seiten, zurück kommt, ſo 
„daß der erſte Punkt zugleich der letzte iſt. Es wird daher, nach 
„allem bisher Geſagten, Niemand mehr wunderbar erſcheinen, 
„wenn der Kreis zugleich das Princip von andern, ebenfalls 
„wunderbaren Erſcheinungen iſt.“ 


Nach dieſem ſonderbaren Exordium, das ganz im Geſchmacke 
unſerer neuern deutſchen Naturphiloſophie verfaßt iſt, geht er 
nun zur näheren Erklarung der Erſcheinungen an dem Hebel aus 
jenen „wunderbaren Qualitäten“ des Kreiſes über. „Die wahre 
„Urſache, ſagt er in ſeinem vierten Problem, warum eine Kraft 
„in einer größeren Entfernung von dem Unterſtützungspunkte ein 
„gegebenes Gewicht leichter bewegt, iſt, weil ſie einen größeren 
„Kreis beſchreibt.“ — Früher hat er ſchon feſtgeſetzt, daß wenn 
ein Körper an dem Ende eines Hebels in Bewegung geſetzt wird, 
derſelbe als zwei Bewegungen in ſich enthaltend betrachtet wer— 
den muß, nämlich eine in der Richtung der Tangente und die 
andere in der Richtung des Halbmeſſers des Kreiſes. Jene erſte 
iſt, wie er ſagt, die der Natur angemeſſene, und dieſe 
nennt er die der Natur conträre Bewegung. Nun iſt aber 
in dem kleineren Kreiſe die conträre Bewegung jtärfer, als in 
dem größeren Kreiſe, „deßhalb, ſetzt er hinzu, wird das Bewe— 
„gende oder das Gewicht an dem längeren Hebelsarme durch die— 
„ſelbe Kraft einen weiteren Weg fortgeführt, als das Bewegte, 
„welches letztere am Endpunkte des kürzeren Armes liegt.“ 


78 Mißgeſchick der pſochiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 


Dieſe unbeſtimmte und ganz unangemeſſene Notion von na- 
türlicher und unnatürlicher Bewegung konnte unmöglich zu irgend 
einer wahrhaft wiſſenſchaftlichen Erkenntniß führen, und einer 
Gedankenfolge, die ſolche Speculationen ausbrütete, mußte die 
Auffaſſung eines wahren mechaniſchen Princips ganz unausführ— 
bar ſeyn. In dieſem Falle alſo beſtand der Fehler unſeres Philo— 
ſophen in der Vernachläſſigung einer den Thatſachen angemeſ— 
ſenen Idee, nämlich der Idee von irgend einer mechaniſchen 
Urſache, die wir jetzt Kraft nennen. Einer ſolchen Idee, die ihm 
fehlte, fubftituirte er ganz andere vage und unangemeſſene, ja 
ſelbſt unanmeßbare Notionen von den Verhältniſſen des Raumes 
und von den wunderbaren Eigenſchaften des Kreiſes. 


Alle übrigen Beiſpiele, die wir noch anführen könnten, ſind 
von derſelben Art. Wir wollen uns daher mit der Anführung 
von jenen beiden begnügen, und wir hoffen, daß nun unſere 
Leſer darin mit uns vollkommen übereinſtimmen werden, daß 
man aus den beobachteten Thatſachen nur dann allgemeine Wahr— 
heiten ableiten kann, wenn wir auf dieſe Thatſachen diejenigen 
ihnen angemeſſenen Ideen anwenden, durch welche feſte, be— 
ſtimmte und dauernde Relationen zwiſchen dieſen beiden Dingen 
erhalten werden können. 


Allein an ſolchen Ideen waren die Alten ſehr arm, und der 
verkrüppelte und unförmliche Wuchs ihrer Naturwiſſenſchaft war 
die unmittelbare Folge dieſer Armuth. Sie beſaßen allerdings 
ſehr deutliche Ideen von Raum und Zeit, von Zahl und Bewe— 
gung, und jo weit dieſe reichten, war auch ihre Erkenntniß er- 
träglich gut zu nennen. Auch hatten fie einen Schimmer von 
den Ideen eines Mediums, durch welches wir mehrere Eigen— 
ſchaften der Körper, z. B. die Farbe oder den Ton erkennen. 
Aber die Idee der Subſtanz blieb trocken in ihrem Geiſte. In⸗ 
dem ſie über die Elemente und die Qualitäten des Univerſums 
ſpeculirten, verloren ſie ſich auf Irrwege, weil ſie vorausſetzten, 
daß die Eigenſchaften des Zuſammengeſetzten mit denen feiner, 
Elemente identiſch ſeyn müſſen, und fo viel und lange fie auch 
mit den Ideen des Uebereinſtimmenden und Entgegengeſetzten tän— 
delten, ſo gelangten ſie doch nie zu einem Begriffe, dem unſerer 
modernen „Polarität“ ähnlich, durch welche die neueren Phy— 


Mißgeſchick der pfochifchen Philoſophie d. griech. Schulen. 79 


ſiker und Chemiker ſo manche verwickelte Erſcheinungen der Na— 
tur, ſo weit es uns jetzt möglich iſt und in Erwartung eines 
künftigen beſſeren Princips, mit einſtweilen hinlänglicher Ge— 
nauigkeit zu erklären wiſſen. 


In dem nächſten Buche werden wir den Einfluß dieſer all— 
gemeinen Idee auf die Bildung der verſchiedenen Wiſſenſchaften 
beſſer kennen lernen. Wir bemerken zuvor nur noch, daß wir, um 
den Naturwiſſenſchaften der Griechen volle Gerechtigkeit wieder— 
fahren zu laſſen, nicht den ganzen Lauf dieſer Schulen bis an 
ihren endlichen Verfall zu verfolgen nothwendig haben. Der Zu— 
wachs dieſer Schulen an ſolchen Kenntniſſen, wie wir fie in uns 
ſerer Geſchichte zu betrachten haben, war ſehr gering Die ſpä— 
teren Anführer dieſer philoſophiſchen Secten traten beinahe alle 
in die Fußtapfen ihrer erſten Meiſter, und obgleich ſie gar 
manches an ihren Lehren änderten, ſo konnten ſie ihnen doch 
beinahe Nichts von Bedeutung hinzuſetzen. Die Römer aber 
nahmen die Philoſophie der von ihnen beſiegten Griechen ohne 
weiteres unter ſich auf, und blieben immer, wie ſie auch ſelbſt 
geſtanden, tief unter ihren Lehrern. Sie waren eben ſo unbe— 
ſtimmt und willkührlich in ihren Ideen, wie die Griechen, ohne 
den Scharfſinn, die Erfindungskraft und den ſyſtematiſchen 
Geiſt der letzteren zu beſitzen. Um die vage Unbeſtimmtheit, 
welche die Griechen mit ihren oft ſehr tief gehenden Specula— 
tionen zu verbinden wußten, noch nach Kräften zu vermehren, 
führten die Römer eine gewiſſe rhetoriſche Declamation in 
ihre Philoſophie ein, welche wahrſcheinlich aus ihrem gewohnten 
politiſchen Treiben auf dem Forum hervorging, und welche die 
ohnehin nur düſter ſchimmernde Wahrheit noch mehr verdun— 
kelte. Doch läßt ſich unter denjenigen römiſchen Philoſophen, 
welche dieſer Vorwurf am meiſten trifft (Lucrez, Plinius, Se— 
neca u. a.), die dieſem Volke eigene Kraft und ihr ſtolzes 
Nationalgefühl nicht verkennen. Es liegt etwas ächt Römiſches 
in dem öffentlichen Geiſte, in jener Anticipation der Univerſal— 
monarchie, die fie, auch als Bürger jener intellectuellen Repn— 
blik, zu errichten gedenken. Sie ſprechen nur mit Bedauern, 
mit Mißachtung von den Werken ihrer eigenen Generation, aber 
ſie beurkunden einen tieferen und lebendigeren Glauben an die 


80 Mißgefchie der pſychiſchen Philoſophie d. griech. Schulen. 


Würde und an die künftige Entwickelung des Menſchengeſchlechts, 
als man unter den Philoſophen des alten Griechenlands zu 
finden gewohnt iſt. 

Wir müſſen nun einige Schritte zurück gehen, um mehrere 
viel beſtimmtere Schritte zur Ausbildung der Wiſſenſchaften zu 
beſchreiben, als die ſind, mit welchen wir uns bisher beſchäftiget 
haben. 


Zweites Buch. 


— 


Geſchichte der Uaturwillenkchatten des 
alten Griechenlands. 


Whewell. J. 6 


Hooun$evs ea nog 
Imynv xhonaıav, didaoxaAog rexvns 
Ilaons ßeotoıs nepnve. 


Prometheus, des Feuers verſchloſſene Quelle, 
erſchien den Sterblichen der Lehrer aller 
Wiſſenſchaft. RN. 

Aeschyl. Prom. Vinct. 109. 


Ein lei u u . 


— 


Eine wahre Naturwiſſenſchaft erfordert, wie bereits gefagt, 
beſtimmte und angemeſſene Ideen, angewendet auf Beobachtun— 
gen. Dieſe Ideen werden dann zu allgemeinen Sätzen fortge— 
führt, wie wir anderswo umſtändlicher zeigen werden, und dieſe 
Sätze endlich find es, aus welchen jede Wiſſenſchaft beſteht. — 
Wir wollen ſehen, wie die Naturwiſſenſchaften auf dieſem Wege 
bei den Griechen entſtanden ſind. — Wir treten nun in das Ge— 
biet der Aſtronomie, der Mechanik, Hydroſtatik, der Optik und 
Harmonik, von welchen Doctrinen wir die erſten Spuren und 
ihre nächſten Fortſchritte auseinander ſetzen wollen. 

Von dieſen einzelnen Parthien der menſchlichen Geſammter— 
kenntniß iſt ohne Zweifel die Aſtronomie die älteſte und merk— 
würdigſte, und wahrſcheinlich war ſie in einer Art von wiſſen— 
ſchaftlicher Geſtalt ſchon in Chaldäa, Aegypten und in anderen 
Gegenden vorhanden, ehe ſie in den Kreis der intellectuellen 
Thätigkeit der Griechen aufgenommen wurde. Doch müſſen wir, 
ehe wir von der Aſtronomie ſprechen, zuvor der andern Wiſſen— 
ſchaften Erwähnung thun, weil erſtens der Urſprung der Aſtro— 
nomie in der Dunkelheit des entfernten Alterthums verborgen 
iſt, ſo daß wir die näheren Umſtände ihrer Entſtehung nicht, wie 
bei den ſpäter entſtandenen Wiſſenſchaften, mit Beiſpielen bele— 
gen können, und zweitens auch, weil ich die Geſchichte der Aftro- 
nomie, der einzigen wahrhaft fortſchreitenden Wiſſenſchaft des 
Alterthums, wenn ſie einmal von uns begonnen iſt, nicht gern 
durch andere Gegenftände wieder unterbrechen möchte. 


84 Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik⸗ 


Erſtes Capitel. 
Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. 
Erſter Abſchnitt. 
Mt ei d n i k 


Die Aſtronomie iſt eine ſo alte Wiſſenſchaft, daß wir 
kaum eine Zeit in unſerer Menſchengeſchichte angeben können, 
wo ſie nicht exiſtirte. Die Mechanik im Gegentheile entſtand 
erſt nach der Zeit des Ariſtoteles, indem man Archimedes 
als den eigentlichen Gründer derſelben betrachten muß. Und 
was noch merkwürdiger iſt, und uns zugleich zeigt, wie wenig 
der Fortgang der Erkenntniß von den Menſchen ſelbſt abhängt: 
Dieſer Zweig blieb, obſchon anfangs der rechte Weg zu ſeiner 
Ausbildung eingeſchlagen wurde, unbebaut und ftationär durch 
beinahe zwei volle Jahrtauſende. Seit Archimedes bis auf Ga— 
lilei und Stevin wurde auch nicht ein einziger Schritt zur Ver— 
vollkommnung dieſer Wiſſenſchaft gemacht. Dieſer außerge— 
wöhnliche Stillſtand ſoll uns in der Folge beſchäftigen: jetzt 
wollen wir den erſten Anfang dieſer Doctrin betrachten. 

Der große Schritt des Archimedes beſtand in der gehörigen 
Begründung des Hauptſatzes über den geradlinigen Hebel, der 
mit zwei Gewichten beladen und in einem Punkte unterſtützt iſt. 
Dieſer Satz beſteht darin, daß die zwei Gewichte im Gleichge— 
wichte ſind, wenn ſie ſich verkehrt, wie ihre Entfernungen von 
dem Unterſtützungspunkte befinden. 

Archimedes beweist dieß in einem Werk, welches wir noch 
beſitzen, und ſein Beweis, der einfachſte von allen, iſt auch in 
unſere heutigen Lehrbücher aufgenommen worden. Er ſteht in 
inniger Verbindung mit dem Satze, daß jeder ſchwere Körper 
einen beſtimmten Punkt habe, welchen man den Schwerpunkt 
nennt. Und in dieſem Punkte kann man ſich jene beiden Ge⸗ 
wichte vereinigt denken, fo daß fie dann auf dieſen Punkt ganz 
eben ſo wirken, wie ſte früher, wo jedes Gewicht an ſeiner 
Stelle war, gewirkt haben. Oder allgemeiner: der Druck, durch 
welchen ein ſchwerer Körper getragen wird, bleibt derſelbe, wie 


Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. 85 


auch die Geſtalt und Lage dieſes Körpers geändert wird, wenn 
nur die Größe und Maſſe deſſelben nicht geändert wird. 

Die Wahrheit dieſes Satzes wird durch alltägliche Erſchei— 
nungen beſtätiget. Das Gewicht eines Steinhaufens wird nicht 
geändert, wenn die einzelnen Steine deſſelben ihre Lage unter 
einander ändern. Wir können die Laſt eines Steines in unſerer 
Hand durch eine bloße Wendung deſſelben nicht anders machen. 
Wenn wir die Wirkung einer Wage oder eines ähnlichen Inſtru— 
ments unterſuchen, ſo ſehen wir noch deutlicher, daß die verän— 
derte Lage eines Gewichtes, oder die veränderte Stellung meh— 
rerer Gewichte, auf die Wirkung der Wage keinen Einfluß bat, 
ſo lange nur der Unterſtützungspunkt derſelben nicht geändert 
wird. 

Dieſe allgemeine Thatſache wird uns klar, ſobald wir nur 
in unſerem Geiſte diejenige Vorſtellung aufnehmen, die nöthig 
iſt, ſie von anderen gehörig zu unterſcheiden. So vorbereitet, erſcheint 
uns dieſe Wahrheit offenbar, ſelbſt unabhängig von jedem Experi— 
ment; ſie ſcheint uns ein Geſetz zu ſeyn, dem jedes Experiment 
dieſer Art unterworfen ſeyn muß. — Was iſt alſo die leitende 
Idee, die uns in den Stand ſetzt, über dieſe mechaniſchen Er— 
ſcheinungen Schlüſſe zu bauen? Mit einiger Aufmerkſamkeit auf 
den Gang dieſer Schlüſſe bemerken wir, daß dieſe Idee die des 
Druckes iſt. Dieſer Druck wird nehmlich als die meßbare Wir— 
kung aller ſchweren ruhigen Körper betrachtet, unterſchieden von 
allen andern Wirkungen, wie z. B. Bewegung, Aenderung der 
Figur u. dgl. Ohne hier die Geſchichte der Entſtehung dieſer 
Idee in unſerer Seele geben zu wollen, mag es genügen, zu 
ſagen, daß eine ſolche Idee in uns deutlich hervorgebracht wer— 
den kann, und daß auch auf ihr das ganze Gebäude unſerer 
wiſſenſchaftlichen Statik errichtet worden iſt. Druck, Laſt, Ge— 
wicht, ſind Namen, durch welche dieſe Idee bezeichnet wird, wenn 
ihre Richtung direct abwärts geht; aber in anderen Faͤllen ſehen 
wir auch Druck ohne Bewegung, oder ein bloßes todtes Beſtre— 
ben der Körper. 2 

Auch mag Druck in irgend einer Richtung ohne alle Bewe— 
gung beſtehen. Aber die Urſachen, die einen ſolchen Druck her— 
vorbringen, find auch fähig, Bewegung zu erzeugen, und erzeu— 
gen ſie auch gewöhnlich, wie z. B. bei zwei Ringern, oder auch 
bei der Wage, wenn man ſie zum Wägen braucht. Auf dieſe 


86 Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. 


Weiſe kamen wir dahin, den Druck als die Ausnahme und die 
Bewegung als die Regel zu betrachten, oder vielleicht ſtellten 
wir uns den Druck nur als eine Bewegung vor, die eintreten 
könnte oder wollte, wie z. B. die Bewegung, welche die Arme 
eines Hebels haben würden, wenn ſie ſich zu bewegen anfangen 
möchten. 

Wir wenden uns weg von dem reellen Fall, der vor uns 
liegt, nehmlich, von dem ruhenden, ſich im Gleichgewichte hal— 
tenden Körper, und gehen zu einem anderen Fall über, welchen 
wir willkührlich annehmen, um dadurch den erſten deutlicher 
darzuſtellen. Dieſen willkührlichen und gleichſam imaginären 
Sprung ſetzen wir dann jener diſtinkten und eigentlichen Idee 
des Druckes gegenüber durch Mittel, aus welchen die wahren 
Principien dieſes Gegenſtandes abgeleitet werden können. 

Wir haben bereits geſehen, daß Ariſtoteles in der Zahl der— 
jenigen iſt, welche die Schwierigkeiten dieſes Problems vom 
Hebel umgehen wollten, und deren Bemühungen daher auch 
mißrathen ſind. Er fehlte, wie bereits geſagt, weil er ſeine 
Principien in vagen und unbeſtimmten Begriffen von der Be— 
wegung ſuchte, in dem Unterſchiede zwiſchen einer natürlichen 
und unnatürlichen Bewegung, und in noch andern, ganz unzu— 
läſſigen Dingen, wie z. B. in dem Kreiſe, welchen das Gewicht 
beſchreiben will, in der Geſchwindigkeit, welche es bei dieſer 
Bewegung haben ſoll u. ſ. w., alles Umſtände, die mit der 
hier zu betrachtenden Thatſache nichts zu thun haben. Der Ein— 
fluß ſolcher unangemeſſenen Speculationen war das Haupthinder— 
niß, welches der Ausbildung der wahren wiſſenſchaftlichen Idee 
des Archimedes im Wege ſtand. 


Zweiter Abſchnitt. 
hy d er od a ee 


Archimedes legte nicht allein den Grundſtein zur Statik der 
ſoliden Körper, ſondern er löste auch das Fundamental-Problem 
der Hydroſtatik, oder der Statik der flüſſigen Körper, glück⸗ 
lich auf. Dieſe Auflöſung iſt um ſo merkwürdiger, da das von 
ihm für die Hpdroſtatik aufgeſtellte Princip nicht nur bis zum 
Ende des Mittelalters unbenutzt blieb, ſondern da es auch ſelbſt 


Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. 87 


dann, als es wieder aufgenommen wurde, fo wenig klar einge- 
ſehen worden iſt, daß man es nur das hydroſtatiſche Para— 
doxon genannt hat. Dieſes Princip nimmt nämlich nicht nur 
die Idee des Drucks, den es mit der Statik der ſoliden Körper 
gemein hat, in ſich auf, ſondern es ſetzt überdieß auch die be— 
ſtimmte Idee eines flüſſigen Körpers auf, das heißt, eines ſol— 
chen Körpers, deſſen kleinſte Theile alle untereinander ſchon durch 
den geringſten Druck vollkommen beweglich werden, und in wel— 
chem jeder auf eines dieſer Theilchen ausgeübte Druck ſofort 
allen andern Theilen der Flüſſigkeit mitgetheilt wird. Aus dieſer 
Idee der Flüſſigkeit folgt nothwendig jene Vervielfachung 
des Drucks, welche das erwähnte hydroſtatiſche Paradoxon 
conſtituirt. Man ſah, daß die Natur ſelbſt dieſen Begriff be— 
ſtätigt, und daß auch die Folgen deſſelben durch die Beobach— 
tungen realiſirt werden. Dieſe Idee von der Flüffigkeit wird 
nun in dem Poſtulate ausgedrückt, das den Eingang zu Archime— 
des „Abhandlung von den ſchwimmenden Körpern“ 
bildet, und durch deſſen Hülfe werden von ihm nicht nur die 
erſten und einfachſten, ſondern ſelbſt mehrere, nicht wenig ver— 
wickelte Aufgaben der Hydroſtatik glücklich aufgelöst. 

Die Schwierigkeit, dieſe Idee der Flüſſigkeit gehörig feſtzu— 
halten, um daraus ſichere Schlüſſe zu ziehen, mag daraus beur— 
theilt werden, daß ſelbſt noch in den neueſten Zeiten Män— 
ner von großem Talente, und die mit mathematiſchen Concep— 
tionen nicht unbekannt waren, mehreren Mißgriffen und falſchen 
Anſichten in Beziehung auf dieſen Gegenſtand nicht entgangen 
ſind. Die hohe Wichtigkeit dieſer Idee aber, klar aufgefaßt und 
ſtreng feſtgehalten, iſt ſchon daraus erklärbar, daß die ganze 
heutige Hydroſtatik, als ſtrenge Wiſſenſchaft betrachtet, nichts 
anders, als die bloße Entwicklung jener Idee ſelbſt iſt. Wie weit 
man aber, in dieſer Doctrin, ohne jene Idee kommen kann, 
haben wir oben bei Ariſtoteles in ſeinen Speculationen über die 
leichten und ſchweren Körper geſehen. Der Stagirit betrachtete 
nämlich die Begriffe von Leicht und Schwer als einander ent— 
gegengeſetzt, oder als ſolche Dinge, die in den Körpern ſelbſt 
liegen, und indem er ſich von der Unterſtützung der Körper 
durch die ſie umgebende Flüſſigkeit keine klare Anſicht verſchaffen 
konnte, wurde ſeine ganze Beweisführung eine verwirrte Maſſe 
von falſchen und unzuſammenhängenden Aſſertionen, die auch 


88 Früheſter Zuſtand der Mechanik und Hydroſtatik. 


der höchſte Scharfſinn nicht mit den Thatſachen in Ueberein— 
ſtimmung bringen, und noch weniger aus ihnen irgend ein reelles 
Naturgeſetz ableiten konnte. 

Für die Statik und Hydroſtatik beſtand ohne Zweifel die 
Hauptbedingung der glücklichen Entwicklung dieſer Wiſſenſchaften 
in der klaren Auffaſſung der zwei angemeſſenen Ideen von 
dem ſtatiſchen und von dem hydroſtatiſchen Drucke. Aus ihnen 
folgte ſofort der Ausdruck der zwei Experimentalgeſetze, daß 
erſtens der ganze Druck eines feſten ſchweren Körpers abwärts 
gerichtet iſt und immer derſelbe bleibt, und daß zweitens bei den 
flüſſigen Körpern jeder auf einen Theil derſelben angebrachte 
Druck ſich ſofort allen Theilen mittheilt. Wenn einmal jene 
Ideen vollkommen verſtanden ſind, ſo liegen auch dieſe zwei Ge— 
ſetze ſo klar am Tage, daß kein weiterer Zweifel über fie möglich 
ſeyn kann. Jene zwei Ideen ſind gleichſam die Wurzel aller 
mechaniſchen Wiſſenſchaft, und das vollkommene Verſtändniß 
derſelben iſt auch heut zu Tage noch das erſte Erforderniß, zur 
Kenntniß dieſer Wiſſenſchaft zu gelangen. Allein nachdem ſie 
in dem Geiſte des Archimedes klar aufgewacht waren, fielen ſie 
wieder, viele Jahrhunderte durch, in tiefen Schlaf zurück, bis 
ſie endlich in Galilei's, und klarer noch in Stevin's Geiſte wie— 
der erwachten. Seit dieſer letzten Epoche kehrten ſie nicht mehr 
zu dem alten Schlummer zurück, und das Reſultat ihres Wachens 
war die Ausbildung zweier Wiſſenſchaften, die eben ſo ſtreng 
und ſicher in ihren Demonſtrationen ſind, als es die Geometrie 
ſelbſt nur immer ſeyn kann, mit der ſie auch an Intereſſe und 
Fülle des Inhalts wetteifern, und die überdieß noch den großen 
Vorzug vor ihr voraushaben: daß ſie ein getreues Bild von 
den Geſetzen der phyſiſchen Welt geben, und vor unſern 
Augen die hohen Vorſchriften entfalten, nach welchen die Phäno— 
mene der Natur auf einander folgen und folgen müſſen, ſo lange 
dieſe Natur ſelbſt keine Aenderung erleidet. 


Früheſter Zuſtand der Optik. 89 


Zweites Capitel. 
Früheſter Zuſtand der Optik. 


Die Fortſchritte, welche die Alten in der Optik machten, 
waren nahe denjenigen in der Statik gleich, und wie ſie die 
wahre Urſache der Lehre vom Gleichgewicht fanden, ohne irgend 
einen ſicheren Begriff von der Bewegung zu erhalten, ſo fanden 
ſie auch das Geſetz der Reflexion des Lichts, aber ſie hatten 
keine oder doch nur ſehr unklare Anſichten von der Refraction 
deſſelben. 

Das optiſche Princip, zu welchem ſie gelangten, läßt ſich 
kurz ſo ausdrücken: Sie wußten, daß das Sehen durch Strahlen 
bewirkt wird, die in geraden Linien fortgehen, und daß dieſe 
Strahlen durch gewiſſe Körper (Spiegel) ſo zurückgeworfen wer— 
den, daß die Winkel, welche der einfallende und der zurückge— 
worfene Strahl mit dem Spiegel bildet, derſelbe iſt. Aus dieſen 
Prämiſſen zogen ſie, mit Hülfe der Geometrie, mancherlei Fol— 
gerungen, wie z. B. für die Convergenz derjenigen Strahlen, 
die von einem Hohlſpiegel kommen u. dgl. 

Bemerken wir, daß die in dieſe Anſichten eingeführte Idee 
die der Geſichtsſtrahlen, d. h. derjenigen Linien iſt, längs 
welchen das Licht geleitet und das Sehen hervorgebracht werden 
ſoll. Es war wohl nicht ſchwer, aus dieſer einmal feſt aufge— 
faßten Anſicht noch zu finden, daß dieſe Strahlenlinien gerade 
Linien ſeyn müſſen. Gleich im Eingange zu Euclid's „Abhand— 
lung von der Optik“ werden einige Beweiſe für dieſe gera— 
den Linien angeführt, indem er ſagt: „der beſte Beweis dafür 
„find die Schatten und die hellen Streifen, die entſtehen, wenn 
„das Licht durch die Fenſter oder durch enge Spalten tritt, die 
„nicht fo ſeyn könnten, wenn die Strahlen der Sonne nicht in 
„geraden Linien beſtänden. Eben ſo ſind auch bei unſeren irdi— 
„ichen Lichtern die Schatten größer als die Körper, wenn das 
„Licht kleiner iſt; und umgekehrt, die Schatten kleiner als die 
„Körper, wenn das Licht größer iſt,“ unzähliger anderen Erſchei— 
nungen nicht zu gedenken, die jene Idee, wenn ſie einmal klar 
aufgefaßt iſt, von allen Seiten beſtätigen. 


90 Früheſter Zuſtand der Optik. 


Nicht ſo leicht war es, die Gleichheit der beiden Winkel bei 
der Reflexion des Lichts von Spiegeln zu beweiſen. Allein die 
vollkommene Aehnlichkeit des Bildes mit dem Object bei einem 
ebenen Spiegel, z. B. bei der Oberfläche eines ſtehenden Waſ— 
ſers, welche Aehnlichkeit eine unmittelbare Folge jenes Geſetzes 
iſt, wird in dieſem Falle leicht auf dieſes Geſetz führen können, 
das dann, einmal gefunden, durch unzählige andere Erſcheinun— 
gen beſtätiget wird. 

Aber mit dieſen, an ſich richtigen Principien war viel Un— 
beſtimmtes, waren ſelbſt Irrthümer, auch bei ihren beſten Schrift— 
ſtellern, verbunden. Euclid und die Platoniker behaupteten, daß 
das Sehen durch Strahlen bewirkt werde, die von dem Auge 
ausgehen, nicht alſo von dem leuchtenden Gegenſtande zu dem 
Auge kommen, ſo daß wir alſo, wenn wir Gegenſtände anſehen, 
ihren Umriß und ihre Geſtalt gleichſam nur wie ein blinder 
Mann kennen lernen, der dieſe Gegenſtände nach und nach in 
allen ihren Theilen mit der Spitze ſeines Stockes befühlt. Dieſer 
Mißgriff, ſo ſehr ihn auch Montucla rügt, war übrigens weder 
fo arg, noch auch fo ſchädlich, da die mathematiſchen Reſultate 
für beide Vorausſetzungen doch immer dieſelben bleiben. — Eine 
andere ſonderbare Annahme der Alten beſtand darin, daß ſie 
jene Geſichtsſtrahlen keineswegs nahe an einander, ſondern viel— 
mehr durch Zwiſchenräume getrennt vorausſetzten, etwa wie die 
Finger einer ausgebreiteten Hand. Der Grund, der ſie zu dieſer 
Annahme bewog, war der Umſtand, daß wir ſehr feine Gegen— 
ſtände, z. B. eine Nadel, nicht mehr deutlich ſehen, wenn wir 
fie zu nahe vor das Auge halten, was, nach ihrer Meinung uns 
möglich wäre, wenn die Geſichtsſtrahlen von den Augen in der 
That zu allen Punkten des Gegenſtands fortgingen. 

Dieſe Fehler alle würden aber den Fortgang der Optik nicht 
aufgehalten haben. Allein die Ariſtoteliſche Phyſik enthielt auch 
hier, wie überall, viel ſchädlichere Irrthümer. Der ſpitzfindige 
Stagirite begnügte ſich nicht, die Geſetze des Sehens zu ſuchen, 
er wollte vielmehr den letzten Grund, die Cauſation, wie man 
es nannte, dieſes Sehens erforſchen, und der Apparat, den er 
zu dieſer Entdeckung in Bewegung ſetzte, beſtand, wie ſonſt 
überall, aus unbeſtimmten Worten, aus unangemeſſenen Ideen 
und aus ſchlecht combinirten Beobachtungen. Nach ihm wird 
das Sehen durch ein gewiſſes Mittleres, ein Medium, hervor— 


Früheſter Zuſtand der Optik. 91 


gebracht, das zwiſchen dem Object und dem Auge ſich aufhält. 
Dieß ſchließt er daraus, daß wir an das Auge feſt angelegte 
Gegenſtände nicht mehr ſehen. Dieſes Medium nun iſt ihm 
»das Licht“ oder „das Transparente in Action“; Dunkelheit aber 
ſoll entſtehen, „wenn dieſe Transparenz potential, nicht actual iſt; 
„und eben jo iſt auch die Farbe nichts abſolut Sehbares, on— 
„dern nur ein an dem abſolut Sehbaren haftendes Ding, wie 
»denn dieſe Farbe die Kraft hat, das Transparente in Action zu 
»verſetzen u. ſ. w.) 

In allem dieſem Gerede ſieht man keinen Zuſammenhang, 
weder mit dem inneren Begriffe, noch mit der äußeren Erſchei— 
nung des Gegenſtandes. Seine Unterſcheidungen von Kraft und 
Action, von eigentlichen und uneigentlichen Farben u. dgl. ent— 
halten in ſich ſelbſt nichts, was von dem Verſtande feſtgehalten 
und weiter fortgeführt werden könnte, und ſie ſind daher von 
jenen fruchtbaren phyſiſchen Speculationen des Archimed und 
Euclid, deren wir oben erwähnt haben, völlig verſchieden und 
ganz nutzlos. 


1) Ariſtot. de Anim. II. 6. 


92 Erſte Zuſtände der Harmonik. 


Drittes Capitel. 
Erſte Zuſtände der Harmonik. 


Die Muſik beſtand bei den Alten in einer Anwendung der 
Arithmetik, ſo wie die Mechanik und Optik derſelben eine An— 
wendung der Geometrie auf die Gegenſtände dieſer Doctrinen 
enthielt. Die Geſchichte der Entſtehung der arithmetiſchen Muſik 
wird in der „arithmetiſchen Abhandlung des Nikomachus“ auf 
folgende Weiſe erzählt. 

Pythagoras kam auf einem Spaziergange, in Gedanken über 
das Maaß der muſikaliſchen Noten verſunken, an der Hütte eines 
Schmiedes vorbei, und verwunderte ſich, die Töne der Hämmer, 
wie mehrere derſelben den Ambos trafen, in einem gewiſſen 
muſikaliſchen Verhältniſſe zu hören. Indem er die Sache näher 
unterſuchte, fand er, daß die Intervalle zwiſchen dieſen Tönen 
eine Quarte, eine Quinte und eine Octave ſeyen. Er wog die 
Haͤmmer, und fand, daß der eine, der die Octave gab, halb fo 
ſchwer war, als der ſchwerſte, während der mit der Quinte zwei 
Dritttheile, und der mit der Quart drei Viertheile von jenem 
wog. Er ging nach Hauſe, dachte über die Sache nach, und 
entdeckte endlich, daß, wenn er gleichlange Metallſaiten mit Ge— 
wichten ſpannte, welche daſſelbe Verhältniß wie jene Hämmer 
hatten, daß dann von dieſen Saiten dieſelben drei muſtkaliſchen 
Accorde hervorgebracht werden. So erhielt er ein beſtimmtes 
Maaß für die verſchiedenen Töne, und die Muſik wurde unter 
ſeiner Hand ein Gegenſtand arithmetiſcher Speculation. 

Dieſe Erzählung, wenn ſie nicht etwa bloß eine philoſophi— 
ſche Fabel ſeyn ſoll, iſt ohne Zweifel ſehr ungenau, da jene drei 
muſikaliſchen Accorde keineswegs durch Hämmer von den bezeich— 
neten Gewichten hervorgebracht werden. Das Experiment mit 
den Saiten aber iſt vollkommen richtig, und iſt auch noch heut— 
zutage die Baſis aller muſikaliſchen Theorie. 

Es möchte ſcheinen, als ob die Wahrheit, ja ſchon die 
Wahrſcheinlichkeit einer ſolchen Geſchichte, nach welcher eine 
wiſſenſchaftliche Entdeckung durch einen bloßen Zufall gemacht 
worden iſt, gegen die oben aufgeſtellte Behauptung ſtreitet, daß 


Erſte Zuſtände der Harmonik. 93 


jedes wiſſenſchaftliche Princip die Bedingung einer wohlüberleg— 
ten Idee vorausſetzt. Allein, genauer beſehen, wird man in 
dieſen, wie überhaupt in allen bloß zufälligen wiſſenſchaftlichen 
Entdeckungen finden, daß eben der ſchon vorgängige Beſitz einer 
ſolchen Idee es war, durch welche der glückliche Zufall erſt mög— 
lich geworden iſt. Indem Pythagoras die Wahrheit durch Tra— 
dition erhielt, mußte er ſchon eine beſtimmte und genaue Idee 
von dieſen Relationen der Töne beſitzen, die man jetzt Octave, 
Quinte und Quarte nennt. Wäre er dieſe Relationen ſcharf 
aufzufaſſen nicht früher ſchon befähigt geweſen, ſo würden jene 
Hammerſchläge ſein Ohr ganz eben ſo ohne allen Erfolg, wie die 
Ohren jenes Schmiedes, in Bewegung geſetzt haben. Ja er 
mußte auch überdieß fchon eine innige Bekanntſchaft mit den 
Zahlen verhältniſſen überhaupt gemacht haben, und, vor allem, 
was vielleicht ſein größter Vortheil vor dem Schmiede war, er 
mußte einen gewiſſen inneren Drang in ſich fühlen, zwei ſchein— 
bar ſo verſchiedene Dinge, wie Zahlen und Töne ſind, in eine 
innige Verbindung mit einander zu bringen. Nachdem aber ein— 
mal dieſe geiſtige Paarung zweier ſo heterogener Elemente in ſei— 
nem Innern voraus gegangen war, konnte es ihm wahrſcheinlich 
nicht mehr ſchwer werden, auch ein Experiment auszuſinnen, wo— 
durch dieſelbe beſtätiget werden ſollte. 

Solche Experimente mit Saiten machten die Philoſophen 
der Pythagoräiſchen Schule ), und beſonders Laſus von Her— 
mione, und Hippaſus von Metapontum, indem ſie bald die 
Länge der Saiten, bald die ſie ſpannenden Gewichte mannigfal— 
tig abänderten, und auf dieſe Weiſe wurde jene Verbindung der 
Idee mit der Thatſache, der Vorſtellung mit der Beobachtung 
hergeſtellt, auf welche in letzter Inſtanz dieſe ſo wie auch jede 
andere Wiſſenſchaft beruht. 


Mit dieſer kurzen Darſtellung von der Entdeckung der Fun— 
damental-Principien, welche die Griechen entdeckten, will ich die 
Geſchichte ihrer Naturwiſſenſchaft beſchließen, nicht nur weil die 
erſten Schritte in jeder Wiſſenſchaft immer zu den wichtigſten 
Punkten derſelben gehören, ſondern auch, weil die Griechen in 


1) Man ſehe Montucla, III. 10. 


94 Erſte Zuſtände der Harmonik. 


der That auch keine weiteren Schritte gemacht haben. Man be⸗ 
merkt bei dieſem Volke keinen ſtetigen Fortgang in dieſem 
Zweige der menſchlichen Erkenntniß; keine neuen Thatſachen, die 
unter die Herrſchaft der früheren Principien gebracht worden 
wären, und noch weniger eine Erweiterung dieſer Principien 
ſelbſt. Ihre ganze Reiſe endete mit ihrem erſten Schritte. Archi— 
medes hatte die intellectuelle Welt aus ihrer Ruhe aufgeweckt, 
aber ſie fiel, gleich nach ihm, wieder in die frühere paſſive Ruhe 
zurück, und die Wiſſenſchaft der Mechanik blieb dort ſtehen, wo 
man fie hingeſtellt hatte. Und obſchon in anderen Dingen, wie 
in der Harmonik, viel geſchrieben wurde, ſo beſtanden doch dieſe 
Werke nur in weiteren Deductionen aus dem früheren Princip, 
mittels arithmetiſcher Berechnungen, die wohl, es iſt wahr, ge— 
legentlich durch die Unterhaltung, welche die Muſik, als Kunſt 
betrachtet, mancherlei Abänderungen und Modificationen erzeug— 
ten, die aber die Wiſſenſchaft ſelbſt durch keine neue Wahrheit 
bereichern konnten. 


Drittes Buch. 


Gefchichte der griechifchen Attronomie. 


Tode de undcıg nore oB) rov EAAnvov, og N 
negı Ta Heim TIOTE nomyuarevsoda Yvnrag org. 


Nie beforgte einer der Griechen, daß es dem Sterblichen nicht 
zieme, ſich mit den Himmliſchen zu beſchäftigen. 
Plato Epinomis. 


Einleitung. 


Die früheſten aſtronomiſchen Begriffe ſind aus der Sprache des 
gewöhnlichen Lebens entſtanden, und ſcheinen auf den erſten 
Blick nichts Techniſches zu enthalten. „Tag, Jahr, Monat, 
Himmel, Sternbild“ — find Worte, die auch den ſorgloſen, 
rohen Menſchen nicht fremd ſind, aber ſie ſind doch die erſten 
Elemente der Aſtronomie. Wie es möglich war, daß der menſch— 
liche Geiſt, unter allen Feldern der Erkenntniß, auf dieſem allein 
ſo früh ſchon, und zwar bloß aus den alltäglichſten Erſcheinun— 
gen, eine Wiſſenſchaft errichten konnte, werden wir ſpäter, in 
der „Philoſophie der Wiſſenſchaften“ umſtändlich zu erläutern 
Gelegenheit finden. Zwei der hieher gehörenden Urſachen aber 
müſſen wir jetzt ſchon anzeigen. Erſtens iſt nämlich das auch 
im gemeinen Leben gewöhnliche Verfahren, durch welches wir 
eine Anzahl von homogenen Dingen auf eine höhere Einheit 
zurückführen, wie dieß bei den obigen Benennungen „Jahr, Mo— 
nat“ u. f. der Fall iſt, offenbar ein rein inductives Der 
fahren, und demnach dasjenige, dem alle Wiſſenſchaften ihr 
Daſeyn verdanken. Zweitens aber ſind die Ideen, welche hier 
jener Induction zu Grunde liegen, alle der Art, daß ſie auch 
dem gemeinſten Manne ſehr beſtimmt und deutlich vorliegen, wie 
z. B. die von Raum und Zeit, von Zahl, Geſtalt, Bewegung, 
Wiederkunft u. dgl., ſo daß alſo, gleich bei der erſten Beſchäf— 
tigung mit dieſen Gegenſtänden, die ſie bezeichnenden Begriffe 
eine ſcharfbegrenzte, wiſſenſchaftliche Form annahmen. 

Wir wollen nun die einzelnen Wege kennen lernen, die der 
menſchliche Geiſt in Beziehung auf die Erſcheinungen des Him— 
mels von den früheſten Zeiten an gegangen iſt. 


Whewell. J. 7 


98 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


Erſtes Capitel. 
Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


Erſter Abſchnitt. 
Entftehung des Begriffs von dem Jahr. 


Der Begriff von Tag dringt ſich den Menſchen gleichſam 
von ſelbſt in allen Verhältniſſen des Lebens auf. Die regel— 
mäßige Abwechslung des Lichts und der Finſterniß, der relativen 
Wärme und Kälte, des Lärms und der Stille, der Geſchäfte und 
der Ruhe aller lebenden Dinge; die Erſcheinung des Auf- und 
Niederſteigens und des Untergangs der Sonne, ſelbſt die mit dieſen 
Erſcheinungen verbundenen und eben ſo regelmäßig auf einander 
folgenden Bedürfniſſe der Nahrung und des Schlafes — alle 
dieſe in ſo abgemeſſenen, kurzen, und eben daher ſo leicht aufzu— 
faſſenden Perioden von immer wiederkehrenden, Jedermann ſicht— 
baren, ja auffallenden Phänomene müſſen in jedem Menſchen, 
der nur eben von Zeit und Periode eine Vorſtellung hat, den 
beſtimmten Begriff des Tages, d. h. derjenigen Periode er— 
zeugen, in welcher die eben genannten Erſcheinungen in der 
Ordnung, wie ſie regelmäßig auf einander folgen, enthalten ſind. 

Der Begriff von Jahr wird auf dieſelbe Weiſe gebildet, 
indem wir auch hier wieder andere Phänomene, die eben ſo regel— 
mäßig wiederkehren, wie jene, durch einen, den ganzen Cyclus 
derſelben umfaſſenden Zeitraum bezeichnen. Aber dieſer zweite 
Begriff erforderte ſchon, wenn er ebenfalls beſtimmt ſeyn ſollte, 
eine größere Aufmerkſamkeit auf die ihn conſtituirenden Erſchei— 
nungen. Denn hier iſt die regelmäßige Wiederkehr derſelben 
weniger auffallend, und die Periode iſt auch viel größer, um 
in allen ihren Theilen mit Leichtigkeit aufgefaßt zu werden. Un— 
gewöhnlich kühle Sommer oder warme Winter mögen Kinder 
und Wilde ſchon oft auf die Anſicht geführt haben, daß die 
aufeinander folgenden Jahre von ganz ungleicher Länge ſind, 
was bei den „Tagen“ nicht ſo leicht der Fall ſeyn kann. 

Demungeachtet iſt die Wiederkehr der das Jahr bildenden 
Erſcheinungen ſo offenbar, daß wir uns den Menſchen nicht 
wohl ohne dieſen Begriff denken können, obſchon dieſelben Erſchei— 


Früheſter Zuſtand der Aftronomie. 99 


nungen in verſchiedenen Ländern und Klimaten gar große Ver— 
änderungen erleiden. In einigen Gegenden ändert der Winter 
die Anſicht des Landes gänzlich, indem er graſige Ebenen und 
dichtbelaubte Wälder und fließende Ströme in ſchneebedeckte 
Wüſten und in ſtarre Eisfelder verwandelt, während wieder in 
andern Ländern die Wieſen ihr Grün und die Bäume ihre 
Blätter durch das ganze Jahr behalten, und wo nur die Regenzeit 
oder die, von den unſern ganz verſchiedenen Arbeiten des Land— 
manns, die Reihe der vorübergehenden Jahreszeiten bezeichnen. 
Doch wurde, in allen Theilen der Oberfläche der Erde, der jähr— 
liche Kreislauf dieſer Erſcheinungen durch eine eigene Benennung 
unterſchieden. Der Bewohner der Aequatorialgegenden hat am 
Ende eines jeden ſechsten Monats die Sonne vertikal über ſei— 
nem Scheitel, und ſo ähnlich auch für ihn die Erſcheinungen 
des Himmels in den nächſten ſechs Monaten, mit denen der 
eben ſo langen vorhergehenden Periode ſind, ſo finden wir doch 
bei keinem jener Völker ein Jahr, deſſen Länge nur die Hälfte 
des unſrigen beträgt. Bloß die Araber 9), die weder Schiff: 
fahrt noch Ackerbau treiben, haben ein von dem Monde abhängi— 
ges Jahr, und borgen dafür auch, wenn ſie von dem Sonnen— 
jahr ſprechen wollen, die Benennung deſſelben aus einer andern 
Sprache. 

Im Allgemeinen bezeichneten die verſchiedenen Völker dieſe 
Periode immer durch ein ſolches Wort, das mit der Wiederkehr 
der Jahreszeiten und der Landarbeiten in irgend einem Zuſam— 
menhange ſteht. Das Annus der Römer bezeichnet einen Ring, 
wie wir in dem davon abgeleiteten Annulus ſehen; das grie— 
chiſche eviavros drückt „etwas in ſich ſelbſt Wiederkehrendes“ aus, 
und das Wort, welches in mehreren celtifchen Sprachen unſer 
„Jahr“ bezeichnet, ſoll, wie das Year der Engländer, von dem 
alten Vra kommen, das in der ſchwediſchen Sprache ebenfalls 
„Ring“ heißt und vielleicht aus dem römiſchen Gyrus ſtammt. 


Zweiter Abſchnitt. 


Beltimmung des Civiljahrs. 


Sobald die Menſchen das Bedürfniß fühlten, Ereigniſſe, die 
in längeren Zwiſchenzeiten vorgefallen waren, unter einander zu 


1) Ideler. Berl. Memoir. 1813. S. 51. 
7 aK 


100 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


verbinden, mußte ſich ihnen jene Periode der wechſelnden Jah— 
reszeiten gleichſam von ſelbſt zu dieſem Zwecke anbieten. Wenn 
aber dieſe Verbindung mit einiger Genauigkeit erfolgen ſollte, 
ſo mußte man vor allem die Anzahl Tage kennen, die jeder die— 
ſer Jahreszeiten entſprechen, eine Kenntniß, die ſchon höhere 
Fähigkeiten und Kunſtgriffe, als die bisher erwähnten, voraus— 
ſetzt. Um z. B. mit ſo großen Zahlen zu rechnen, wie die 
ſind, die der Menge der Tage im Jahre gleichkommen, muß 
man ſchon ein beſtimmtes „Zahlenſyſtem“ und gewiſſe praktiſche 
Rechnungsmethoden kennen ). Die Indianer in Südamerika, 
die Kuſſa Kaffern, die Hottentoten und die Einwohner von Neu— 
holland, die nicht weiter zählen ſollen 2), als die Finger und 
Zehen ihrer Hände und Füße, können daher den Begriff eines 
Jahres von 365 Tagen nicht mehr aufnehmen, und daſſelbe 
wird von allen den Völkern gelten, welche jene erſten Schritte 
zur Civiliſation, eine Zählungsart von zwei oder fünf oder zehn 
Einheiten, noch nicht kennen. 

Aber ſelbſt wenn eine Nation ſchon ein ſolches Zahlenſyſtem 
beſitzt, ſo wird es ihr noch immer ſchwer genug fallen, die ge— 
naue Anzahl der Tage zu finden, welche jene Periode des Wech— 
ſels der Jahreszeiten in ſich ſchließt; da die unbeſtimmte Be— 
grenzung dieſer Zeiten und die oft großen Veränderungen, 
welchen ſie von einem Jahre zum andern unterworfen ſind, die 
darauf zu gründende Länge des Jahrs lange ſehr ungewiß laſſen 
wird. Erſt dann wird es dem Menſchen möglich ſeyn, dieſem 
Zwecke näher zu kommen, wenn er eine längere Zeit durch auf 
die verſchiedenen Stellungen und Bewegungen der Sonne auf— 
merkſam geweſen iſt, alſo auf Erſcheinungen, die viel mehr 
Beobachtungsgeiſt und Präciſion der practiſchen Auffaſſung er— 
fordern, als der bloße Wechſel von Licht und Dunkel, oder von 
warm und kalt. Die Bewegung der Sonne am Himmel, die 
Verſchiedenheit der Orte auf der Erde, wo ſie für uns auf- und 
untergeht, die größte Höhe über dem Horizont, die ſie jeden 
Mittag erreicht, das veränderliche Verhältniß des Tags zur 
Nacht während dem Laufe des Jahres, alles dieß kann, wie 


1) M. f. den Art. Arithmetic. in der Encycl. Metrop. (von Peacock) 


Art. 8. 
2) Ibid. Art. 32. 


Früheſter Zuſtand der Aftronomie. 101 


man wohl bei näherer Aufmerkſamkeit ſchon ſehr früh bemerkt 
haben mag, zu jenem Ziele führen. Doch wird die Rückkehr 
der Sonne, wenn ſie ihre größte oder auch ihre kleinſte mit— 
tägige Höhe über dem Horizont erreicht hat, mit der Wieder— 
kunft ihres Auf- oder Untergangs an demſelben irdiſchen Ge— 
genſtande, wohl diejenige Erſcheinung ſeyn, die man vorzugs— 
weiſe zu jenem Zwecke gebraucht hat. Daher werden auch die 
Sonnenwenden (roonaı nAıoıo) von Heſiod wiederholt als die— 
jenigen Punkte gebraucht, von denen er die Jahreszeiten der 
verſchiedenen Arbeiten des Landmanns zählt. „Fünfzig Tage 
„nach der Wendung der Sonne, ſagte er , iſt die angemeſſenſte 
„Zeit zum Anfang der Jagd“ u. ſ. f. 

Dieſe Erſcheinungen ſind allerdings verſchieden für verſchie— 
dene Erdſtriche, aber die Periode der Wiederkehr iſt doch für 
alle Länder dieſelbe. Wenn auch nur eine derſelben mit einiger 
Aufmerkſamkeit betrachtet wurde, ſo konnte man ſchon eine ge— 
näherte Kenntniß der Anzahl der Tage eines Jahres erhalten, 
und je länger die Beobachtungen dieſer Art fortgeſetzt wurden, 
deſto genauer mußte auch, wie ſchon aus der Natur des Gegen— 
ſtandes folgt, jene Kenntniß werden. 

Nebſt dieſen Kennzeichen, die zu einer genauen Beſtimmung 
der Jahreslänge durch die Sonne führten, gab es noch andere 
Erſcheinungen von einer weniger ſcharf beſtimmten Art, die aber 
dafür auch dem gemeinſten Manne auffallen mußte, wie z. B. 
die jährliche Wiederkehr der Zugvögel, der Schwalben (XeAıdov) 
und ider Geier oder Habichte (ıxtıw). Ariſtophanes ſagt in ſei— 
nem Luſtſpiele dieſes Namens, daß es das Geſchäft dieſer Vögel 
ſey, die Jahreszeiten zu bezeichnen, und auch Heſiod ſchon be— 
trachtet das Geſchrei der Kraniche als den Vorboten des kom— 
menden Frühlings ). Die Griechen kannten anfangs nur zwei 
Jahreszeiten, den Sommer (Jegços) und Winter (Ne,Eẽ ), wel— 
cher letzte die ganze kühle und regnige Zeit des Jahres umfaßte. 
Später wurde der Winter in zwei Theile getheilt, in Xeıuov und 
sap (Frühling), und der Sommer ebenſo in 989 und onwe« 
(Herbſt). Tacitus ſagt, daß die Germanen weder die Wohl— 


3) Hesiod. Opera et Dies. V. 661. 
1) Ideler, Chronologie. I, 240. 


102 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


thaten, noch ſelbſt den Namen des Herbſtes kennen: Autumni 
perinde nomen ac bona ignorantur. Aber das Wort „Herbſt“ 
oder Harvest ſcheint doch ein altgermaniſches Wort zu ſeyn ). 

In derſelben Periode, in welcher die Sonne durch ihren 
ganzen Cyclus von Erſcheinungen geht, vollenden auch die Fix— 
ſterne einen andern Kreis von Erſcheinungen, und dieſe letzten 
wurden vielleicht eben ſo früh, wie jene, zur Beſtimmung der 
Länge des Jahres gebraucht. Viele von den Gruppen, welche 
die Fixſterne am Himmel bilden, mußten, ſo wie die ausge— 
zeichnet helleren Sterne, ſchon in den erſten Zeiten die Blicke 
der Menſchen auf ſich ziehen. Man bemerkte wohl bald, daß 
dieſe Sterne zu gewiſſen Jahreszeiten nach dem Untergange der 
Sonne am weſtlichen Himmel ſichtbar waren, daß ſie bald 
darauf der Sonne ſelbſt immer näher und näher kamen und 
endlich ganz in dem hellen Lichte dieſes Geſtirns verſchwanden. 
In einigen Wochen darauf ſah man dieſelben Sterne wieder im 
Oſten kurz vor der Sonne aufgehen, und ſich jeden folgenden 
Tag wieder von derſelben mehr und mehr entfernen. Dieſer 
Auf- und Untergang der Fixſterne in Beziehung auf die 
Sonne konnte in den Gegenden von Griechenland und Chaldäa, 
wo die Luft ſo rein iſt, gar leicht auch als ein Zeichen der ver— 
ſchiedenen Jahreszeiten gebraucht werden, und Aeſchylus !) zählt 
dieß als eine der vielen Wohlthaten auf, die Prometheus, der 
Lehrer aller Künſte, dem früheſten Menſchengeſchlechte mitge— 
theilt hat. So wurde der Aufgang der Pleiaden am Abend als 
ein Zeichen des herannahenden Winters betrachtet ?). Das 
Anſchwellen des Nils in Aegypten fiel mit dem heliſchen Auf— 
gang des Sirius, den die Aegyptier Sothis nannten, zuſammen. 
Selbſt ohne ſolche Inſtrumente, durch die man die Zeit und die 
Grade eines Bogens am Himmel mit einiger Genauigkeit meſſen 
kann, konnte man doch, durch Beobachtungen dieſer Art, die 
Anzahl der Tage im Jahre mit hinlänglicher Genauigkeit be— 
ſtimmen, und dadurch die Grenzen der Jahreszeiten durch jene 
Erſcheinungen der Fixſterne feſtſetzen. Ja dieſe Beobachtungen 
des Auf- und Untergangs der Fixſterne ſcheinen ſelbſt die erſte 


5) Ideler, Chronologie. J. 243. 
6) Aeschyl. Prometh. Vinet. 
7) Vergl. Ideler Chronol. I. 242 und Plin. H. Nat. XVIII. 69. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 103 


nähere Kenntniß des geſtirnten Himmels veranlaßt und herauf— 
geführt zu haben. So lehrt Heſiod die Landleute ), daß fie 
beim Aufgang der Pleiaden ernten und bei dem Untergange 
derſelben pflügen ſollen. Auf ähnliche Weiſe wird von ihm 
auch Sirius), Arctur !“), die Hyaden und Orion“) gebraucht. 

Auf ſolchen Wegen alſo wurde endlich gefunden, daß das 
Jahr nahe 365 Tage enthalte. Die Aegyyptier eigneten ſich die 
Ehre dieſer Entdeckung zu, wie Herodot) erzählt. Die Prie— 
ſter jenes Landes lehrten ihn, „daß die Aegypter zuerſt die 
„wahre Länge des Jahrs gefunden und daſſelbe in zwölf gleiche 
„Theile getheilt haben, und ſie ſagten, daß man dieſe Ent— 
„deckung mit Hülfe der Sterne gemacht habe.“ — Jeder dieſer 
zwölf Theile, oder jeder dieſer Monate, beſtand aus 30 Tagen, 
und am Ende des Jahrs wurden noch 5 Tage hinzugefügt, 
„wodurch der jährliche Sonnenkreis vollendet war.“ Es ſcheint, 
daß auch die Juden ſehr früh ſchon eine ähnliche Zeitrechnung 
gehabt haben, denn die Sündfluth, die 150 Tage währte (Ge— 
nes. VII. 24), ſoll mit dem 17ten Tag des zweiten Monats 
(Genes. VII. 11) angefangen und mit dem 17ten Tag des ſie— 
benten Monats (Genes. VIII. 4) geendet, das heißt, 5 Monate 
zu 30 Tagen, gedauert haben. 

Ein ſolches Jahr mit einer beſtimmten ganzen Zahl von 
Tagen wird ein Civiljahr (oder ein bürgerliches Jahr) ge— 
nannt, und es gehört zu den allerfrüheſten, noch auf uns ge— 
kommenen Einrichtungen derjenigen Völker, die bereits die erſten 
Schritte zur Civiliſation gemacht haben, ſo wie auch die Be— 
mühungen, das bürgerliche Jahr mit dem natürlichen (mit 
dem Lauf der Sonne) in Uebereinſtimmung zu bringen, zu den 
älteſten Spuren gehören, die uns von wahrhaft ſyſtematiſchen 
Erkenntniſſen der erſten Menſchen erhalten worden ſind. 

Dritter Abſchnitt. 
verbellerung des Civiljahrs; Julianiſcher Kalender. 

Durch die bisherige Art, die Länge des Jahrs in ganzen 
Tagen zu beſtimmen, läßt ſich dieſe Periode mit der eigentlichen 

8) Hesiod. Opera et Dies. V. 381. 

9) Id. v. 413. 

10) Id. V. 562. 


11) Id. V. 612. Vergl. Ideler, hiſtor. Unterſuchungen, S. 209. 
12) Herodot. II. 4. 


104 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


Wiederkehr der Jahreszeiten in keine genaue Uebereinſtimmung 
bringen. Die wahre Länge des Jahres iſt nämlich, wie bekannt, 
nahe 365 Tage und 6 Stunden. Wenn nun alſo ein Jahr von 
bloß 365 Tagen beſteht, ſo wird nach vier Jahren das fünfte 
ſchon um einen ganzen Tag zu früh anfangen, wenn man näm— 
lich den Anfang des Jahrs in Beziehung auf die Sonne und 
die Fixſterne betrachtet, und in 120 Jahren würde es ſchon um 
30 Tage oder um einen ganzen Monat zu früh anfangen, ein 
Fehler, den auch eine geringe Aufmerkſamkeit ſehr leicht bemer— 
ken müßte. Auf dieſe Weiſe würde demnach das bürgerliche 
Jahr nicht mehr mit den Jahreszeiten übereinſtimmen, der An— 
fang von jenem würde bald in dieſe, bald in jene Jahreszeit 
fallen, und daher auch dieſe Jahreszeiten ſelbſt nicht weiter an— 
zeigen; das Wort „Jahr“ würde unbeſtimmt und zweifelhaft 
werden, und die Verbeſſerung deſſelben würde ſich immer mehr 
aufdringen, je weiter man in der Zeit ſelbſt vorſchreitet. 

Man weiß jetzt nicht mehr, wer zuerſt die Unzuläſſigkeit 
dieſer ganzen Zahl von 365 Tagen entdeckt hat ). Wir finden 
dieſe Kenntniß, die Zugabe von 6 Stunden oder den vierten 
Theil eines Tages, beinahe bei allen gebildeten Völkern des 
Alterthums, ſo wie auch die mannigfaltigen Mittel, davon Rech— 
nung zu tragen. Das gewöhnlichſte war die Einſchaltung (In— 
tercalation), die auch wir noch beibehalten haben, indem wir 
nämlich alle vierte Jahre dem Monat Februar einen Tag mehr 
geben, als in den drei andern Jahren. Auch in Weſtindien 
fand man ſchon dieſe Einſchaltungen vor. Die Mexicaner z. B. 
gaben am Ende von je 52 Jahren noch 13 Tage hinzu. Die 
Methode der alten Griechen aber (die ſich zu dieſem Zwecke der 
Octaedris oder des Cykels von acht Jahren bedienten), war mehr 
zuſammengeſetzt, weil ſie ihr Jahr auch noch mit dem Lauf des 
Monds in Uebereinſtimmung bringen wollten, wovon wir ſpäter 
ſprechen werden. Die Aegyptier im Gegentheile ließen ihr bür— 
gerliches Jahr abſichtlich von einer Jahreszeit zur andern wan— 


1) Syncellus (Chronographia) ſagt, daß der Sage zufolge der König 
Aſeth der erſte zu den 360 Tagen, die das älteſte Jahr bildeten, 
die fünf andern Tage hinzugab, um die Länge des Jahrs auf 

Z 365 Tage zu bringen. Aſeth foll im XVIII. Jahrhundert vor 
Ch. G. gelebt haben. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 105 


dern, wenigſtens in Beziehung auf ihre religiöſen Gebräuche. 
„Sie wünſchen nicht, ſagt Geminus )), daß dieſelben Opfer ihrer 
„Götter immer auf dieſelben Jahreszeiten fallen, ſondern daß 
„fie vielmehr alle dieſe Zeiten allmählig durchwandern, und daß 
„daher daſſelbe Feſt bald auf den Frühling oder Sommer, bald 
„wieder in den Herbſt oder Winter falle.“ Die Periode, in 
welcher ſonach ihre Feſte alle Jahreszeiten durchlaufen, betrug 
1461 Jahre, denn 1460 Jahre zu 365 ¼ Tagen find gleich 1461 
Jahren zu 365 Tagen. Dieſe Periode von 1461 Jahren hieß 
bei den Aegyptiern die Sothiſche Periode, von Sothis 
(Hundsſtern oder Sirius), daher derſelbe Zeitraum auch zu— 
weilen die Canicular-Periode genannt wird 5). 

Andere Völker gebrauchten dieſe Intercalation nicht zur 
Verbeſſerung ihres Jahrs, ſondern ſie rectificirten daſſelbe von 
Zeit zu Zeit, wenn ſich die Fehler zu ſtark angehäuft hatten. 
Die Perſer ſollen alle 120 Jahre einen Monat von 30 Tagen 
hinzugefügt haben. Der Kalender der Römer war anfangs ſehr 
unvollkommen, wurde aber ſpäter durch Numa verbeſſert und 
ſollte auch für die Folgezeit durch die Auguren in Ordnung 
erhalten werden. Allein dieß geſchah nicht, und die Folge dieſer 
Vernachläßigung war eine gänzliche Unordnung des Kalender— 
weſens dieſes Volkes, dem endlich Julius Cäſar ein Ende machte. 
Auf den Rath des Aegyptiers Soſigenes adoptirte er die Ein— 
ſchaltung eines Tages in je vier Jahren, die wir im Allgemeinen 
noch jetzt beibehalten, und um den bis auf ſeine Zeit angewach— 
ſenen Fehler wegzubringen, ſetzte er 90 Tage zu dem Jahre, in 
welchem dieſe verbeſſerte Zeitrechnung anfing, welches Jahr deß— 
halb das Annus confusionis genannt wurde. Dieſer Julia— 
niſche Kalender begann mit dem erſten Januar des Jahrs 45 
vor Chr. G. 


Vierter Abſchnitt. 


Derfuche die Länge des Mondsmonats zu beftimmen. 


Der Kreislauf des Monds, in welchem dieſes Geſtirn alle 
ſeine Veränderungen durchläuft, wird, in den früheſten Sprachen 


2) Geminus. Uranolog. 
3) Censorinus de Die Natali, Cap. 18. 


106 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


ſchon, nach dieſem Geſtirne ſelbſt benannt. Dieſe Veränderungen 
des Monds fallen in der That mehr in die Sinne, als die jähr— 
lichen Variationen der Sonne; jene drängen ſich auch dem Sorg— 
loſeſten gleichſam auf, und wenn die Sonne von uns ſcheidet, 
zieht der Mond vor allen andern Geſtirnen unſere Blicke nur 
um ſo mehr auf ſich, als die Stille und Ruhe der Nacht ſich 
zu den Betrachtungen des Himmels ſo viel mehr eignet, als die 
geräuſchvollen Geſchäfte des Tages. Uederdieß ſind die Verän— 
derungen der Geſtalten des Monds und ſeines Ortes unter den 
Geſtirnen ſo auffallend, und die Periode derſelben iſt ſo kurz, 
daß ſie auch von dem ſchwächſten Gedächtniß leicht aufgenommen 
werden kann. Aus dieſen Urſachen mag es erklärt werden, 
warum die älteſten Völker ihre Zeiten lieber nach Monden, als 
nach den Jahren der Sonne gezählt haben. 

Die Benennungen, welche ſie für dieſe Periode gebraucht 
haben, ſcheinen uns auf die früheſte Geſchichte der Sprachen 
ſelbſt zurückzuführen. Unſer Wort „Monath, Month u. f.“ iſt 
offenbar von dem Worte „Mond, Moon u. f.“ abgeleitet, und 
dieſe Bemerkung ſcheint in allen Teutoniſchen Sprachen zu gelten. 
Auch das griechiſche unv (Monat) kam von ruemùm (Mond), wie 
dieſes Geſtirn ſchon im Homer genannt wird, obſchon man ſpä— 
terhin die Benennung „Selene“ gebrauchte ). 

Auch dieſer Monat iſt keine Periode von einer ganzen 
Anzahl von Tagen, da ſie mehr als 29 und weniger als 30 Tage 
in ſich faßt. Die letzte Zahl wurde anfangs vorgezogen, wahr— 
ſcheinlich weil ſie die einfachſte war, und ſie herrſchte auch lange 
Zeit in vielen Ländern. Aber ſchon eine geringe Anzahl von 
ſolchen Mondmonaten zu 30 Tagen zeigte keine Uebereinſtim— 
mung mehr mit den Erſcheinungen des Mondes. Eine weitere 
Betrachtung zeigte, daß man mit abwechſelnden Monaten von 
29 und 30 Tagen eine lange Zeit durch leicht ausreichen könnte. 

Die Griechen nahmen dieſe Mondzeitrechnung an, und fie 
ſahen daher die Tage ihres Monats als die Repräſentanten der 
Mondsphaſen an. Der letzte Tag jedes Monats wurde sun xcı 


1) Cicero leitet das Wort mensis von mensura (Maaß) ab, und 
einige Etymologiſten wollen alle die oben genannten Benennungen 
von dem hebräiſchen Manah (Maaß) deriviren, mit dem auch das 
arabiſche Almanach verwandt ſeyn ſoll. 


Früheſter Zuſtand der Aftronomie- 107 


ver (der alte und neue) genannt, da auf ihn die Verſchwindung 
und die Wiedererſcheinung dieſes Geſtirns fiel 2). Auch waren 
die Feſt- und Opfertage der Griechen, wie ſie durch die Kalender 
beſtimmt wurden, in unmittelbarem Zuſammenhange mit den 
Perioden der Sonne und des Monds: „Geſetze und Orakel, 
„age Geminus, beſtimmten, daß bei den Opfern drei Dinge 
„beachtet werden, der Tag, der Monat und das Jahr.“ Bei 
ſolchen Anſichten mußte ihnen ein verbeſſertes Syſtem der Inter— 
calation als eine religiöſe Pflicht erſcheinen. 

Da die getroffene Abwechslung der Mondmonate von 29 
und 30 Tagen nicht genau mit dem Lichtwechſel des Monds 
übereinſtimmte, ſo gerieth dieſe Zeitrechnung der Griechen bald 
in Unordnung. Ariſtophanes läßt in ſeinen „Wolken“ den Mond 
ſich beſchweren über dieſe ſchlechte Einrichtung des griechiſchen 
Kalenders (Nubes, Vers. 615—619). Allein die Verbeſſerung 
dieſer Unordnung ſollte ſich, ſo wurde es gewünſcht, nicht bloß 
auf eine genauere Kenntniß der Mondsphaſen beziehen, ſondern 
ſie ſollte zugleich eine beſſere Verbindung des Mondjahres mit 
dem Sonnenjahre umfaſſen, da das letzte doch immer der Haupt— 
zweck aller früheren Zeitrechnung ſeyn mußte. 


Fünfter Abſchnitt. 


neh 


Nimmt man in einem Jahre ſechs Monate zu 30 und ſechs 
zu 29 Tagen, ſo erhält man ein Jahr von 354 Tagen, ſo daß 
demnach die Differenz zwiſchen einem ſolchen Mondjahr und 
einem Sonnenjahr von 365 ¼ Tag, volle 11¾ Tage betragen 
würde. Dieſem Fehler wollte man ſchon in ſehr frühen Zeiten 
dadurch begegnen, daß man in jedem zweiten Jahre einen gan— 
zen Monat von 30 Tagen einſchaltete. Herodot“) hat uns eine 
Converſation Solons aufbehalten, die eine noch rohere Einſchal— 
tungsart enthält. Beide Verfahren aber können nicht als ein 
wahrer Fortſchritt der Chronologie angeſehen werden. 


2) Aratus in der Stelle von dem Monde, die Geminus S. 33 anführt. 
1) Herodot I. 15. 


108 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


Der erſte Cyelus, der als eine wahrhaft genäherte Verbin— 
dung zwiſchen den Sonnen- und Mondjahren zu betrachten iſt, 
war die Octaödris oder die bereits erwähnte Periode von acht 
Jahren. Acht Jahre von 354 Tagen, zuſammen mit drei Mo— 
naten von 30 Tagen, geben die Summe von 2922 Tagen, und 
dieß iſt auch zugleich der genaue Betrag von acht Jahren, deren 
jedes 365 ¼ Tag hat. Dieſe Periode wird demnach dem gewünſch— 
ten Zwecke wenigſtens ſo weit entſprechen, als die oben angegebene 
Länge des Solar- und Lunarcyelus an ſich ſelbſt genau iſt ). 
Sie wird übrigens verſchiedene äußere Geſtalten annehmen, je 
nach der Art, wie die Einſchaltungen in die verſchiedenenen 
Monate vertheilt werden. Das gewöhnliche Verfahren war, 
einen dreizehnten Monat am Ende jedes dritten, fünften und 
achten Jahres einzuſchalten. Dieſe Einrichtung oder dieſe Pe— 
riode wird verſchiedenen Perſonen und Zeiten zugeſchrieben. 
Dodwell ſetzt die Einführung derſelben in die 59. Olympiade, 
im VI. Jahrhundert vor Ch. G., aber Ideler hält die aſtrono— 
miſchen Kenntniſſe der Griechen von dieſer Zeit N fähig, eine 
ſolche Einrichtung zu treffen. 

Indeß war dieſer neue Cyclus nichts weniger, als ſehr 
genau. Die Dauer von 99 (nämlich Smal 12, mehr 3) Luna— 
tionen iſt nahe 2923½ Tage, alſo mehr als 2922 Tage, ſo daß 
man alſo in 16 Jahren ſchon einen Fehler von 3 Tagen hatte. 
Dieſer Cyclus von 16 Jahren (Heccaedecaeteris), mit drei In— 
terpolationstagen an feinem Ende, ſoll eingeführt worden ſeyn, 
um die Berechnung mit dem Monde in Uebereinſtimmung zu 
bringen, aber auf dieſe Weiſe wurde wieder der Anfang des 
Jahrs in Beziehung auf die Sonne verſchoben. Nach zehn ſol— 
chen Cyclen, d. h. nach 160 Jahren, würden die eingeſchalteten 
Tage auf 30 ſteigen, und ſonach würde das Ende des Mond— 
jahres um einen ganzen Monat von dem Ende des Sonnenjahres 
voraus ſeyn. Schließt man aber das Mondjahr mit dem Ende 
des vorhergehenden Monats, ſo könnte man die beiden Jahre 


2) Der Solareyclus beträgt 365 T. 6 St., während das wahre Solar— 
jahr (die tropiſche Umlaufszeit der Erde 365 T., 5 St., 48 Min., 
47.81 Sec. beträgt. Der obige Lunarcyelus beträgt 29½ Tag, wäh: 
rend die wahre ſynodiſche Revolution des Monds jetzt gleich 29 T., 
12 St., 44 Min., 27 Sec. iſt. 


Früheſter Zustand der Aſtronomie. 109 


wieder zur Harmonie bringen, wodurch man alſo einen Cyclus 
von 160 Jahren erhielt. 
Allein dieſer Cyclus von 160 Jahren war nur aus dem von 
16 Jahren genommen und wahrſcheinlich nicht in den eigentlichen 
Volksgebrauch gekommen, was mit dem anderen, wenigſtens 
mit dem von acht Jahren, allerdings der Fall geweſen iſt. 
Allein eine viel genauere und von dieſen Cykeln ganz un— 
abhängige Periode wurde im Jahr 432 vor Chr. G. von Meton ?) 
eingeführt. Dieſe aus 19 Jahren beſtehende Periode iſt ſo genau 
und angemeſſen, daß ſie noch bis auf dieſe Tage von uns ſelbſt 
gebraucht wird. Die Zeit, welche 19 Sonnenjahre und 235 Lu— 
nationen umfaſſen, iſt nahe dieſelbe (die frühere iſt nämlich um 
9 Stunden, und die letzte um 7½ Stunden kleiner als 6940 
ganze Tage). Wenn daher dieſe 19 Jahre ſo in 235 Monate 
getheilt werden, daß ſie mit den Veränderungen des Monds 
übereinfommen, jo werden am Ende dieſer Periode dieſelben 
Erſcheinungen wieder in derſelben Ordnung beginnen, wie zuvor. 
Damit aber 235 Monate, von 30 und von 29 Tagen, zuſammen 
6940 Tage machen, mußte man 125 von den erſten, und 110 
von den letzten Monaten nehmen, wo dann die erſten volle, 
die letzten aber hohle Monate genannt worden ſind. Man be— 
diente ſich eines eigenen Kunſtgriffs, um die 110 hohle Monate 
unter die 6940 Tage zu vertheilen. Man fand, daß nahe auf 
je 63 Tage ein hohler Monat komme. Zählt man alſo 30 Tage 
für jeden Monat, und läßt man jeden 63ſten Tag einen Tag 
aus, ſo hat man in 19 Jahren 100 Tage ausgelaſſen. Und 
dieß hat man denn auch wirklich gethan, indem man den dritten 
Tag des dritten Monats, den ſechsten Tag des fünften Monats, 
den neunten Tag des ſiebenten Monats u. f. f. ausließ, und 
dadurch dieſe Monate hohl nahm. Von den neunzehn Jahren 
der Periode mußten ſieben Jahre von dreizehn Monaten ſeyn, 
aber man ſieht nicht mehr, nach welcher Regel man dieſe ſieben 
Jahre ausgewählt hat. Einige unſerer Chronologen geben das 
3., 6., 8., 11., 14., 17. und 19. Jahr dafür an, andere aber 
nehmen dafür das 3., 5., S., 11., 13., 16. und 19. Jahr an. 
Die nahe Uebereinſtimmung der Solar- und Lunar-Periode 
in dieſem Cyclus von neunzehn Jahren war ohne Zweifel eine 


) Ideler, Hift. Unterſ. S. 208. 


119 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


bedeutende Entdeckung für die Zeit, in welcher ſie gemacht worden 
iſt. Es iſt aber nicht leicht, den Weg zu zeigen, wie man dar— 
auf gekommen ſeyn mag, da wir nicht wiſſen, auf welche Weiſe 
man damals die Tage des Kalenders mit den Erſcheinungen des 
Himmels in Uebereinſtimmung zu bringen ſuchte. Die Länge 
des Monats wurde ohne Zweifel durch die Beobachtungen der— 
jenigen Finſterniſſe, die in der Zeit ſehr weit von einander entfernt 
waren, mit hinlänglicher Genauigkeit beſtimmt, da man ſehr 
früh ſchon bemerkte, daß dieſe Finſterniſſe nur zur Zeit des Neu— 
oder Vollmonds eintreten ). Wenn aber einmal die Länge des 
Monats genau bekannt war, ſo war die Entdeckung eines dem 
Volkskalender regulirenden Cyclus bloß Sache der arithmetiſchen 
Gewandtheit, und mußte daher von dem Zuſtande der Arithme— 
tik jener Zeit abhängen, obſchon vielleicht die Entdeckung ſelbſt 
mehr dem arithmetiſchen Scharfſinn irgend eines Einzelnen, als 
der Methode der Wiſſenſchaft ſelbſt zugeſchrieben werden muß. 
Es iſt möglich, daß der „Meton'ſche Cyclus“ genauer war, als 
ſein Urheber ſelbſt es wußte, und daß er durch einen glücklichen 
Zufall weiter gekommen iſt, als er durch irgend eine ſtreng 
wiſſenſchaftliche Berechnung ſeiner Zeit gekommen ſeyn könnte. 
In der That iſt dieſer Cyclus fo genau, daß die Kirche jetzt 
noch, durch ſeine Hülfe, die Neumonde zur Beſtimmung des 
Oſterfeſtes beſtimmt, und die in unſern Kalendern aufgeführte 
„goldene Zahl“ iſt bekanntlich nur die Zahl, welche die Jahre 
dieſes Cyclus anzeigt ). 

Etwa hundert Jahre ſpäter (i. J. 330 vor Chr. G.) wurde 
dieſer Cyclus von Calippus verbeſſert, der den Fehler deſſelben 
durch die Beobachtung einer Monds-Finſterniß entdeckte, die er 
ſechs Jahre vor dem Tode Alexanders des Großen angeſtellt 
hatte 5). In dieſen corrigirten Cyelus wurden wieder vier Me— 
ton'ſche Perioden von neunzehn Jahren genommen, und am Ende 


4) Thycyd. VII. 50. IV. 52 und II. 28. 


5) Derſelbe Cyclus von neunzehn Jahren wurde auch eine ſehr lange 
Zeit durch von den Chineſen gebraucht, deren bürgerliches Jahr, 
wie das der Griechen, ebenfalls aus Monaten von 29 und 30 Tagen 
beſtand. Auch die Siameſen haben dieſelbe Periode (Astronom. Lib. 
Usef. Knowl.). 


6) Delambre Hist. de l’Astron. Aec. S. 17. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 111 


des 76ſten Jahrs ein Tag weggelaſſen, um dadurch von den 
Stunden Rechnung zu tragen, um welche, wie oben geſagt 
wurde, jene 6940 Tage größer als neunzehn Jahre und als 
235 Lunationen find. Dieſe „Calippiſche Periode gebraucht 
Ptolomäus in feinem Almageſt zur Angabe der von ihm ange— 
führten Finſterniſſe. 

Dieſe beiden Perioden, von Meton und Calippus, ſetzen 
ohne Zweifel ſchon eine beträchtlich nahe Kenntniß der Aſtrono— 
men jener Zeit von der wahren Länge des Mondmonats voraus, 
und die erſte beſonders iſt ein recht glückliches Mittel, um den 
Sonnen- und Mond⸗-Kalender in Uebereinſtimmung zu bringen. 

Der Römiſche Kalender, von dem unſer eigener abſtammt, 
zeugt von viel weniger Geſchicklichkeit, als der Griechiſche. Ob— 
ſchon die Chronologen in Beziehung auf die Conſtruction des 
römiſchen Kalenders nicht ganz übereinſtimmen, fo iſt doch nicht 
zu zweifeln, daß ihre Monate ſich urſprünglich ebenfalls auf 
den Mond bezogen haben. Auf welche Weiſe ſie aber auch den 
Lauf des Mondes mit dem der Sonne in Uebereinſtimmung zu 
bringen ſich bemüht haben mögen, ſo iſt doch ſo viel klar, daß 
der Verſuch mißglückt, und daß er in ſpätern Zeiten ganz 
aufgegeben worden iſt. Die Römiſchen Monate, vor und nach 
der Correction durch Julius Cäſar, waren bloße Theile des 
Jahres, die zu den Neu- und Vollmonden keine weitere Be— 
ziehung mehr hatten. Da aber die Neueren dieſe Eintheilung 
des Jahres beibehalten haben, ſo hat dadurch unſer Kalender 
zwar einen der früheſten Verſuche, unſere Zeitrechnung mit den 
Erſcheinungen des Himmels in Uebereinſtimmung zu bringen, 
aber auch zugleich einen gänzlich mißglückten Verſuch, aufge— 
nommen, um ihn der ſpäteſten Folgezeit zu überliefern. 

Wenn man nun, wie es dieſer Geſchichte ziemt, auf die 
eigentlichen Fortſchritte der Wiſſenſchaft ſieht, ſo ſcheinen bloße 
Kalenderverbeſſerungen nur wenig Stoff zu unſeren Betrach— 
tungen zu liefern. Aber ſie dürfen deßhalb nicht ganz über— 
gangen werden. Denn wenn die Kalender eines ſcheinbar noch 
rohen Volkes, eines noch ganz unwiſſenſchaftlichen Zeitalters, 
doch ſchon einen höheren Grad von Uebereinſtimmung mit den 
wahren Bewegungen der Sonne und des Monds zeigen (wie dieß 
bei den Lunarkalendern der Griechen, und den Solarkalendern 
der Mexikaner der Fall iſt), ſo enthalten ſolche Schriften zugleich 


112 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


die einzigen Ueberreſte von den aſtronomiſchen Entdeckungen 
dieſer Völker, auf welche ſie vielleicht viel Zeit und Mühe und 
Geiſteskraft verwendet haben, von denen aber alle weitere Spuren 
verloren gegangen ſind. Spätere Verbeſſerungen dieſer Art, die 
erſt entſtehen, wenn bereits die aſtronomiſchen Beobachtungen 
einen höheren Grad von Genauigkeit erreicht haben, ſind von 
geringem Werthe für die Geſchichte der Wiſſenſchaft, da fie den 
ihnen zu Grunde liegenden Entdeckungen nur nachfolgen und 
gewöhnlich noch tief unter denjenigen Erkenntniſſen ſtehen, aus 
welchen ſie abgeleitet werden, während ſo kurze und doch zugleich 
ſo genaue Perioden, wie die des Meton, vielleicht noch das erſte 
Gepräge der Kenntniß tragen, welche ſie enthalten, und immer— 
hin genaue Beobachtungen ſowohl, als auch arithmetiſchen Scharf— 
ſinn vorausſetzen. Die Entdeckung eines ſolchen Cyclus ſetzt 
immer einen talentvollen glücklichen Geiſt voraus, wie die Ent— 
deckung eines jeden anderen Naturgeſetzes. Außer dem aber mag 
uns die nähere Betrachtung ſolcher Verſuche fremd bleiben, da 
ſie mehr der Kunſt, als der Wiſſenſchaft, angehören, und da 
ſie mehr eine bloße Anwendung unſerer Erkenntniß auf das 
practiſche Leben, als eine wahre Erweiterung dieſer Erkennt— 
niß ſind. 


Sechster Abſchnitt. 
Die Conſtellationen. 


Bei dem erſten aufmerkſamen Blick zum Himmel wird man 
zu einer gewiſſen Anordnung der Geſtirne derſelben in verſchie— 
denen Gruppen gleichſam aufgefordert. Wie aber der Menſch 
dazu gekommen ſeyn mag, dieſen Gruppen ſo ſeltſame phan— 
taſtiſche Namen und Bedeutungen zu geben, die ſie in der That 
ſchon in den allerälteſten Zeiten erhalten haben, möchte ſchwer 
zu erklären ſeyn. Einzelne Sterne und auch auffallende Gruppen 
derſelben, wie z. B. die Pleiaden, führt ſchon Homer und Heſiod 
an, und die in dem Buche „Job“ enthaltenen Benennungen 
gehören einer noch viel frühern Zeit ). 


1) Kannſt du hemmen den füßen Einfluß der Chima (der Pleiaden), 
oder löſen das Band von Keſil (Orion)? Kannſt du aufſtellen 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 113 


Das Merkwürdigſte bei dieſen Sternbildern iſt erſtens, daß 
ſie ganz willkührliche Combinationen von einzelnen Geſtirnen 
enthalten, da die künſtlichen Figuren, in welche man ſie einzu— 
ſchließen ſuchte, gar keine Aehnlichkeit mit der Anordnung der 
Sterne ſelbſt zu haben ſcheinen, und zweitens, daß demunge— 
achtet dieſe Figuren auch in ſehr entfernten Ländern wieder an— 
getroffen werden, ſo daß eine Mittheilung derſelben von einem 
Volke zum andern nicht weiter gelängnet werden kann. Die 
ganz willkührliche Zuſammenſtellung dieſer Figuren zeigt, daß 
fie mehr das Werk der Imagination und der mythologiſchen 
Anſichten, als das der Convenienz und einer wahren Anordnung 
geweſen ſeyn muß. „Die Sternbilder,“ ſagt einer unſerer heuti— 
gen Aſtronomen 2), „ſcheinen dieſe Figuren und Benennungen 
„abfichtlich erhalten zu haben, um die Verwirrung und Unſchick— 
„lichkeit ſo groß als möglich zu machen. Zahlloſe Schlangen 
„winden ſich in langen, verwickelten Zügen, die man kaum mit 
„dem Auge verfolgen kann, am Himmel hin; Bären, Löwen, 
„Hunde, Vögel und Fiſche, große und kleine, nördliche und 
„füdliche, treiben ſich da herum und verwirren alle Gegenſtände. 
„Ein beſſeres Syſtem der Conſtellationen würde eine weſentliche 
„Nachhülfe für unſer Gedächtniß ſeyn.“ Wenn man dieſe Grup— 
pen durch Geſtalten anzeigen wollte, die ihnen in der That 
ähnlich ſind, ſo würde man in den meiſten Fällen auf ganz 
andere Benennungen, als die eingeführten, gelangen. So findet 
der gemeine Mann bei uns mit Recht angemeſſener, daß der 
Haupttheil des Sternbildes, den die Alten „den großen Bären“ 
genannt haben, der „Wagen“ heiße ). 


Mazzaroth (Sirius) in ſeiner Jahreszeit? oder kannſt du leiten 
Aiſch (Arctur) mit feinen Söhnen? Tob. XXVVIIII. 31. — Der 
Arctur und Orion und die Pleiaden gemacht hat und die Gemächer 
des Südens Tob. IX. 9. — Dupuis VI. 545 glaubt, daß Aisch oder 
dig die „Ziege“ bedeutet. M. ſ. Hyde's Ulughbeigh. 
2) Herſchel. 
3) Beide Benennungen waren auch ſchon den erſten Griechen bekannt. 
Aorrov Tv xaı dauakav enıxAnow xaArscıv. 
Die Bären, die man gewöhnlich den Wagen nennt. Homer. 
Odys. I. 
Aoxrog war wahrſcheinlich die traditionelle, und daga die, 


der auffallend ähnlichen Form wegen, gewöhnliche Benenunng. 
Whewell. I, 8 


114 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


Die erwähnte Aehnlichkeit der Benennung der Sternbilder 
in verſchiedenen Gegenden iſt in der That ſehr auffallend. Die 
Uebereinſtimmung der Chaldäiſchen, Aegyptiſchen und Griechi— 
ſchen Benennungen iſt nicht zu verkennen. Mehrere Schriftſteller 
behaupten, daß dieſelbe Aehnlichkeit auch in den Arabiſchen und 
Indiſchen Conſtellationen wieder gefunden werde“), wenigſtens 
unter denen des Thierkreiſes. Obſchon aber die Figuren beinahe 
alle dieſelben ſind, ſo ſind doch die Benennungen und die mit 
ihnen verbundenen Mythen verſchieden, je nach den hiſtoriſchen 
und religiöſen Anſichten jedes Volkes ). Der himmliſche Fluß, 
den die Griechen Eridanus nannten, hieß bei den Aegyptiern der 
Nil. Viele ſind der Anſicht, daß die Zeichen des Thierkreiſes, 
die Zone, in welcher die Sonne und der Mond einhergeht, ihre 
Benennungen erhalten haben von dem Lauf der Jahreszeiten, 
von der Bewegung der Sonne, oder von den Arbeiten der Land— 
leute. Wenn wir diejenige Lage des Himmels aufſuchen, die 
vermöge der jetzt wohlbekannten Theorie die Präceſſion der 
Nachtgleichen vor 15,000 Jahren ſtattgehabt hat, ſo iſt die Be— 
deutung der Zeichen des Thierkreiſes, in Beziehung auf den Lauf 
der Sonne und auf das Klima von Aegypten, in der That ſehr 
auffallend ), daher man auch davon Gelegenheit genommen 
hat, die Erfindung des Thierkreiſes in jene entfernte Zeitperiode 
zu verſetzen. Andere Schriftſteller haben dieſes zu große Alter— 
thum als unwahrſcheinlich verworfen, und dafür die Hypotheſe 
aufgeſtellt, daß das jeder Jahreszeit angewieſene Sternbild das— 
jenige ſey, welches in dieſer Jahreszeit bei dem Einbruche der 
Nacht eben aufgeht. Auf dieſe Weiſe, glauben ſie, wurde die 
„Wage,“ durch welche die Gleichheit der Tage und Nächte ange— 
zeigt wird, unter diejenigen Sterne verſetzt, die bei dem Anfang 
des Frühlings zur Abendzeit aufgehen. Durch dieſe Annahme 
würde die Zeit der Erfindung der Sternbilder im Zodiakus auf 
das Jahr 2500 vor unſerer Zeitrechnung gebracht werden. 


Y Dupuis VI. 548. Der Indiſche Thierkreis ſetzt einen Widder 

und einen Fiſch an die Stelle unſeres Steinbocks, ſo daß ſelbſt hier 
die Aehnlichkeit nicht gut geläugnet werden kann. Bailly, Hist. 
d' Astr. I. S. 157. 

5) Dupuis VI. 549. 

6) Laplace, Hist. d’Astron., in deſſen Expos. du Syst. du Monde. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 115 


Ohne Zweifel hatte die Phantaſie und wahrſcheinlich auch 
der Aberglaube ſeinen guten Theil bei der Bildung der Conſtel— 
lationen des Himmels. Wenigſtens iſt gewiß, daß ſchon in ungemein 
früher Zeit ſehr abenteuerliche Eigenſchaften mit demſelben vers 
bunden wurden “). Die Aſtrologie iſt ſchon in den älteften 
Zeiten im Oſten bekannt geweſen, und nach ihr hatten die Ge— 
ſtirne einen ſehr weſentlichen Einfluß auf den Charakter und 
das Schickſal der Menſchen, da ſie in unmittelbarer Verbindung 
mit den höhern Mächten der Natur ſtehen ſollten. 

Fernerhin können wir die Bildung dieſer Conſtellationen 
und die mit ihnen verbundenen Begriffe als einen der früheſten, 
und zugleich als einen gänzlich mißlungenen Verſuch anſehen, in den 
Geſtirnen des Himmels irgend eine Relation zu uns ſelbſt zu fin— 
den. Die erſten Verſuche der Menſchen, die Erſcheinungen und 
Bewegungen der himmliſchen Körper durch Schlüſſe auf Einheit 
und Zuſammenhang zurückzuführen, wurden auf eine ganz 
falſche Weiſe gemacht. Denn ſtatt dieſe Erſcheinungen bloß in 
Beziehung auf Raum und Zeit und Zahl, auf eine rein ra— 
tionelle Art, zu betrachten, wurden noch ganz andere Mittel zu 
Hülfe gerufen, die Phantaſie, die Tradition, Hoffnung, Furcht, 
Ahnung des Uebernatürlichen, Verhängniß u. dergl. Der Menſch, 
für dieſen Grad der Erkenntniß noch zu jung, mußte erſt lernen, 
welche Ideen er, um ſeine Verſuche mit Erfolg anzuſtellen, über 
dieſe Gegenſtände in ſich aufnehmen, und welche er von ſeinen 
Betrachtungen ausſchließen müſſe. In jener frühen Zeit war 
dieſe Unkenntniß wohl ſehr natürlich und auch zu entſchuldigen, 
aber dafür iſt es deſto merkwürdiger, zu ſehen, wie lang und 
hartnäckig der Glaube ſich erhielt (wenn er ja in unſern Tagen in 
der That ſchon gänzlich erloſchen iſt), daß die Bewegungen der 
Geſtirne mit den Schickſalen der Menſchen in unmittelbarem 
Zuſammenhange ſtehen, und daß es uns möglich ſey, das Geſetz 
dieſer Verbindung zu entdecken. 

Wir können daher auch denjenigen nicht beiſtimmen, welche 
die Aſtrologie der früheren Jahrhunderte nur „als eine entartete 
„Aſtronomie, als den Mißbrauch einer noch viel früheren eigent— 
„lichen Wiſſenſchaft“ betrachten 9. Die Aſtrologie bezeichnet 


7) Dupuis VI. 546. 
8) Dupuis VI. 546. 


116 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


vielmehr die erſten Schritte der Menſchen zur Aſtronomie, indem 
ſie dieſelben gewöhnte, die Erſcheinungen des Himmels in Grup— 
pen zu ordnen, in eine Art von Zuſammenhang zu bringen, und 
ihnen am Ende zu zeigen, daß jene eingebildeten mythologiſchen 
Relationen, von denen ſie ſo Großes erwarteten, nur einen ſehr ge— 
ringen Werth haben. Seitdem ſie einmal zu dieſer Ueberzeugung 
gekommen ſind, ſieht man die Wiſſenſchaft ſelbſt, im Gefolge von 
deutlichen Begriffen des Raums, der Zeit und der Zahl, ſtetigen 
Schritts auf der wahren Bahn einhergehen. 


Siebenter Abſchnitt. 
Die Planeten. 


Als man einmal mit den Geſtirnen des Himmels eine nähere 
Bekanntſchaft eingegangen hatte, konnten ſich auch die „Planeten“ 
nicht leicht mehr der Aufmerkſamkeit des Beobachters entziehen. 
Venus beſonders mußte durch ihren Glanz und durch ihre immer— 
währende Nähe bei der Sonne die Augen der Menſchen bald auf 
ſich ziehen. Pythagoras ſoll der erſte geweſen ſeyn, der den 
Morgen- und Abendſtern für ein und daſſelbe Geſtirn hielt. 
Gewiß wurde dieſe Bemerkung ſchon ſehr früh gemacht, da eine 
nur ein oder zwei Jahre fortgeſetzte Betrachtung des Himmels 
ſchon darauf leiten mußte. 

Auch Jupiter und Mars, die oft noch heller als Venus ſind, 
konnten nicht lange unbemerkt bleiben. Merkur und Saturn 
haben zwar weniger Licht, aber in jenen reinen Himmelsſtrichen 
mußten auch ſie, bei einiger Aufmerkſamkeit, bald gefunden 
werden. Aber die ſonderbaren Bewegungen dieſer Körper unter 
den andern Geſtirnen des Himmels unter eine beſtimmte Regel 
zu bringen, mag wohl viel Zeit und Mühe gekoſtet haben, und 
wahrſcheinlich waren die erden, ohne Zweifel ſehr frühen Verſuche 
zu dieſem Zweck, mehr aſtrologiſcher, als eigentlich aſtronomi— 
ſcher Natur. 

In einer Zeit, zu der unſere einigermaßen verläßliche Ge— 
ſchichte der Menſchheit nicht hinaufreicht, wurden dieſe Planeten, 
zugleich mit der Sonne und dem Monde, durch die Aegyyptier, 
oder durch irgend ein anderes ſehr altes Volk, in eine gewiſſe 
Ordnung gegen einander geſtellt. Wahrſcheinlich hielt man ſich 
dabei an die verſchiedene Geſchwindigkeit, mit welcher die 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 117 


Planeten unter den Fixſternen einhergehen. Denn obſchon die 
Bewegung eines jeden einzelnen Planeten ſehr veränderlich iſt, 
ſo iſt doch die Stufenreihe dieſer Geſchwindigkeiten von einem 
Planeten zu dem andern, ſehr in die Augen fallend, und dieſe 
jedem derſelben eigene Bewegung ſcheint die Phantaſie jener 
frühern Völker auf die Anſicht gebracht zu haben, daß auch 
jedem Planeten ein eigener Charakter, eine ihm ausſchließend zu— 
kommende Eigenſchaft beiwohne. So wurde Saturn mit einer 
kalten trägen Natur begabt; Jupiter, der wegen ſeiner ſchnellern 
Bewegung auch näher zur Sonne verſetzt wurde, galt für einen 
gemäßigten, Mars für einen feurig lebhaften Körper u. ſ. w. 

Es wird nicht nöthig ſeyn, bei den Benennungen und Eigen— 
ſchaften dieſer Körper, die ihnen von den Alten beigelegt wur— 
den, länger zu verweilen ). Bemerken wir dafür, daß ſie die 
deutlichen Spuren einer der älteſten unſerer Zeiteintheilungen, 
die „der Woche,“ an ſich tragen. Dieſe Eintheilung der Zeit 
in ſieben Tage iſt, wie wir aus den älteſten Schriften der Juden 
ſehen, aus dem graueſten Alterthume zu uns gekommen. Dieſe 
Woche fand ſich bei den Arabern, den Aſſyriern und den 
Aegyptiern 2). Auch die Bramanen Indiens kennen ſie, und 
auch hier werden die einzelnen Tage der Woche nach den Plane— 
ten benannt. 

Es ſcheint nicht leicht, die leitende Idee aufzufinden, welche 
zu dieſen Benennungen der Wochentage Gelegenheit gegeben hat. 
In den älteſten Zeiten ließ man die Planeten in folgender Ord— 
nung auf einander folgen, wenn man mit den von der Erde ent— 
fernteſten anfängt: „Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, 
„Merkur und Mond.“ Und das wahrſcheinlichſte Verfahren, 


1) Achilles Tat ius (Uranol) gibt folgende Aegyptiſche und Griechiſche 
Namen der Planeten nebſt ihren Eigenſchaften. 
Aegypt. Griechiſch. Eigenſchaften. 
Saturn. Neueoewg Koovsaotno yaıyov, hell. 
Jupiter. Ooıgıdos Zeus, Jog gYaedov, glänzend. 


Mars. Hodxleouvg — — nvoosiSs, feurig. 
Venus. — Ayoodırzns Ewopogos, morgenbringend. 
Merkur. AToAAwvog ‘Eoue crix g, blinkend. 


2) Laplace, Hist. d’Astron. 


118 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


mit ihnen die einzelnen Tage der Woche zu beſtimmen, ſcheint 
folgendes zu ſeyn. — (Man nahm an, daß jeder dieſer Himmels⸗ 
körper, in der angeführten Ordnung, die einzelnen Stunden des 
Tages beherrſchen oder der Regent dieſer Stunden ſeyn, und 
daß überdieß derjenige, welcher die erſte Stunde eines Tages 
regiert, auch zugleich dieſem Tage ſeinen Namen geben ſoll. So 
hieß alſo z. B. der Tag, deſſen erſte Stunde Saturn regierte, 
Dies Saturni, oder Samſtag. Demnach beherrſchte Jupiter 
die zweite Stunde dieſes Tags, Mars die dritte, die Sonne die 
vierte u. ſ. w., alſo auch der Mond die ſiebente, dann wieder 
Saturn die achte, Jupiter die neunte u. ſ. w., ſo daß demnach 
die fünfzehnte und zwei und zwanzigſte Stunde wieder auf Sa— 
turn, die drei und zwanzigſte auf Jupiter, die vier und zwan— 
zigſte auf Mars und die fünf und zwanzigſte, das heißt die erſte 
Stunde des folgenden Tages, auf die Sonne kam, daher auch 
dieſer zweite Tag der Woche Dies Solis oder Sonntag genannt 
wurde. In dieſem zweiten Tage beherrſchte alſo Venus die 
zweite Stunde, Merkur die dritte und die Sonne wieder die 
achte, fünfzehnte und zwei und zwanzigſte, ſo daß alſo Venus 
die drei und zwanzigſte, Merkur die vier und zwanzigfte, 
und daher der Mond die erſte Stunde des nächſtfolgenden 
Wochentags beherrſchte, weßhalb dieſer Tag Montag, Dies 
Lunae, genannt wurde u. ſ. w. L.) 

Man kann mit Laplace ?) die „Woche“ als das älteſte Denk: 
mal der Aſtronomie der Vorzeit betrachten. Ohne Unterbrechung 
wand ſich dieſe einfache Periode aus den dunkelſten Zeiten der 
Vorwelt bis auf unſere Tage, indem ſie ihren Lauf durch ſo viele 
Jahrhunderte fortſetzte, ungeſtört von den Revolutionen der 
Völker und ſelbſt von den Verwirrungen, in welche unſere übrige 
Zeitrechnung ſo oft verfallen iſt. Als die Gottheiten jener 
Zeit, die den Tagen dieſer Periode ihre Namen gegeben hatten, 
von ihren Thronen ſteigen mußten, wurden die Benennungen 
der alten Teutoniſchen Götter an ihre Stelle geſetzt ). Nur die 
Quäcker, welche dieſe heidniſchen Namen der Wochentage nicht an— 
nehmen wollten, verwarfen zugleich mit ihnen das älteſte Monument 
des die Welt ſo lange beherrſchenden aſtrologiſchen Aberglaubens. 

2) Laplace, Hist. d’Astron. 


3) Donnerſtag, Thursday, kömmt von Thor, dem Donnergotte, Freitag, 
Friday, von Freya, der Venus der alten Deutſchen u. f. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 119 


Achter Abſchnitt. 
Kreiſe der Sphäre. 


Die bisher angeführten Erfindungen können zwar als Fort— 
ſchritte in der aſtronomiſchen Erkenntniß, aber nicht als reine 
techniſche oder wiſſenſchaftliche Speculationen betrachtet werden, da 
eine richtige Zählung der Zeit nur als eines der erſten Bedürfniſſe 
der aus dem rohen Zuſtand der Wildheit ſich erhebenden Völker 
angeſehen werden muß. Die Eintheilung des Himmels aber 
durch Hülfe einer Kugel, auf deren Oberfläche mehrere Kreiſe in 
beſtimmten Richtungen gezogen ſind, iſt ein weſentlicher Schritt 
zur Aſtronomie. Es iſt ſchwer, die erſten Urheber dieſer Sphären 
anzugeben. Die Anſicht des Himmels ſelbſt leitet uns ſchon auf 
die Idee einer hohlen Kugel, auf deren Oberfläche die Sterne 
ſtehen. Man ſah bald, daß man die Bewegung dieſer Sterne, 
wie ſie jede Nacht durch geſehen wurde, durch eine Drehung 
jener Kugel um einen beſtimmten Durchmeſſer, um eine Axe 
derſelben, darſtellen kann. Man bemerkte nämlich unter dieſen 
Sternen des Himmels einen, der an dieſer Bewegung keinen 
Theil nimmt, ſondern ſcheinbar ſtille ſteht, während die andern 
alle ſich in parallelen Kreiſen um jenen bewegen, und dabei ihre 
Diſtanzen unter ſich unverändert beibehalten. Dieſer unbeweg— 
liche Stern iſt alle Nächte derſelbe und immer an derſelben 
Stelle, während alle übrigen ihre allgemeine Stellung gegen den 
Horizont mit jeder Nacht etwas ändern, und die ganze Periode 
aller dieſer Aenderungen in einem jeden Jahre durchlaufen. 
Alles dieß ſtimmt ſehr wohl mit jener erſten Anſicht überein, 
daß der Himmel, gleich einem großen Dome, in der Geſtalt 
einer Kugel über uns gewölbt iſt, und daß ſich dieſe Kugel 
immerwährend und regelmäßig um eine Axe bewegt, die durch 
jenen in ſcheinbarer Ruhe befindlichen Stern geht. 

Allein damit iſt jene Erſcheinung noch nicht erklärt, nach 
welcher die Lage der Geſtirne gegen den Horizont von einer 
Nacht zur andern während dem Laufe eines Jahres geändert 
wird. Man fand wohl bald, daß man, zu dieſem Zwecke, noch 
eine eigene Bewegung der Sonne unter den fixen Geftirs 
nen des Himmels an jener Kugelfläche annehmen müſſe. Dieſe 
Sonne macht wahrſcheinlich durch die Helligkeit ihres Lichts die 


120 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


in ihrer Nähe ſtehenden Sterne unſichtbar, wie dieß auch der 
Vollmond, wenigſtens mit den ſchwächeren Sternen thut, daher 
wir dieſe Sterne, wie das Licht des Tages gen Abend abnimmt, 
wieder allmählig hervorkommen ſehen. Und wie dann dieſe 
Sonne, wenn ſie während einem Jahr ihre ganze Bahn unter 
den Sternen zurücklegt, mit jedem Aufgang den Tag, und mit 
jedem Untergange die Nacht über uns heraufführt, ſo wird auch, 
während derſelben Zeit eines Jahres, jeder Theil des geſtirnten 
Himmels, einer nach dem andern, zur Nachtzeit ſich unſern 
Blicken darſtellen. 

Dieſer Satz, „daß die Sonne ihren Weg unter den Sternen 
„in jedem Jahre zurücklegt,“ iſt die Baſis der ganzen Aſtronomie, 
und ein großer Theil dieſer Wiſſenſchaft beſteht nur in der wei— 
tern Entwicklung und Erläuterung dieſes Satzes. Es iſt ſchwer, 
die Methode, durch welche man dieſe Bahn der Sonne am 
Himmel näher kennen lernte, oder die eigentlichen Entdecker 
derſelben, oder auch nur die Zeit dieſer Entdeckung anzugeben. 
Es mochte wohl nicht gleich einleuchten, wie man dieſen Weg der 
Sonne unter den Sternen beſtimmen ſoll, da die Sterne, bei 
welchen ſie eben iſt, durch ſie ſelbſt unſichtbar gemacht werden. 
Wenn man den ganzen Umkreis des Himmels in zwölf gleiche 
Theile oder „Zeichen“ theilt, ſo bemerkt Autolycus, der älteſte 
Schriftſteller über dieſe Gegenſtände, deſſen Werke auf uns ge— 
kommen find ), daß die Sonne immer die Sterne eines ſolchen 
Zeichens für uns unſichtbar macht. Demnach würden diejenigen 
Sterne, die beim Auf- oder Untergange der Sonne ihr zunächſt 
noch ſichtbar ſeyn, ein halbes Zeichen (oder 15 Grade) von ihr 
abſtehen, die abendlichen Sterne auf der Oſtſeite, und die mor— 
gendlichen auf der Weſtſeite der Sonne. Mit Hülfe dieſer Be— 
merkung konnte ein Beobachter, der nur einige Kenntniß des 
geſtirnten Himmels beſaß, jeden Tag diejenigen Sterne angeben, 
bei welchen die Sonne für dieſen Tag ſich eben aufhielt. 

Auf dieſen oder einem ähnlichen Weg wurde ohne Zwei— 
fel die Bahn der Sonne am Himmel von den erſten Aſtronomen 
gefunden. Thales, den man den Vater der griechiſchen Aſtro— 
nomie nennt, lernte dieſe Kenntniſſe wahrſcheinlich bei den 
Aegyptiern, und brachte ſie von da in ſein Vaterland. Seine 


1) Delambre, Astr. Anc. S. XIII. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. f 121 


Einſicht war vielleicht noch beträchtlich weiter vorgedrungen, 
wenn es wahr iſt, was man von ihm behauptet, daß er eine 
Finſterniß vorherſagen konnte. Allein dieß iſt nicht überein— 
ſtimmend mit den Fortſchritten, die ſeine Nachfolger in der 
Aſtronomie noch zu machen hatten. 

Der Kreis, in welchem ſich die Sonne jährlich am Himmel 
bewegt, iſt gegen den, welchen die Sterne täglich zurücklegen, 
um einen beträchtlichen Winkel geneigt. Plinius?) ſagt, daß 
Anaximander, ein Schüler des Thales, dieſe ſchiefe Lage der 
Ecliptik zuerſt bemerkt, und dadurch, wie er ſich ausdrückt, „die 
Thore des Himmels geöffnet habe ).“ Ohne Zweifel hat der, 
welcher zuerſt eine klare Idee von der Natur der Sonnenbahn 
in der Himmelsſphäre aufſtellte, einen großen Schritt gemacht, 
der gleichſam von ſelbſt zu allem Uebrigen führte, aber es hält 
ſchwer, zu glauben, daß die Aegyptier und Chaldäer nicht ſchon 
früher ſo weit gekommen ſeyn ſollten. 

Die tägliche Bewegung der Himmelsſphäre und die Bewe— 
gung der Sonne und des Mondes in ihren eigenen Bahnen 
gaben einer eigenen mathematiſchen Doctrin, „der Lehre von 
der Sphäre“ den Urſprung, die einen der früheſten Zweige 
der practiſchen Mathematik bildete. Bei dieſer Gelegenheit 
wurde eine Anzahl von neuen techniſchen Ausdrücken eingeführt. 
Man nahm den Himmel als eine „ganze Sphäre“ an, obſchon 
wir jedesmal nar die Hälfte derſelben ſehen. Man feste ferner 
voraus, daß er ſich um den (uns ſichtbaren oder) nördlichen, 
und überdieß noch um einen, jenem entgegengeſetzten ſüdlichen 
Pol drehe, und nannte durch die dieſe beiden Pole verbindende 
gerade Linie die „Axe“ des Himmels. Derjenige größte Kreis, 
der in der Mitte zwiſchen dieſen zwei Polen liegt, und den 
Himmel in zwei Hälften theilt, wurde Aequator (Iomusoıvos) 
genannt. Die zwei dem Aequator parallelen Kreiſe, welche die 
ſchiefe Bahn der Sonne über und unter dem Aequator begrenzten, 
hießen die Wendekreiſe (Tropici, roonıxaı), weil die Sonne, 
wenn ſie in ihrem Laufe dieſe Kreiſe erreicht hat, gleichſam 
wieder in die vorige Gegend des Himmels zurückkehrt. Dieje— 


2) Hist. Nat. II. Cap. VIII. 
3) Plutarch. de Plac. Philosoph. L. II. Cap. XII. ſagt, daß Pytha⸗ 
goras dieſe Entdeckung gemacht habe. 


123 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


nigen Sterne, welche nie untergehen, ſind von einem anderen 
Kreiſe eingeſchloſſen, der der arktiſche Kreis (apxrıxog von 
agxros, dem großen Bären, der ſelbſt nicht untergeht) genannt 
wurde. Ein ihm gegenüberſtehender, von dem Südpole eben ſo 
weit entfernter Kreis hieß der antarktiſche, und er enthielt 
diejenigen Sterne, die bei uns nicht mehr aufgehen). Die dem 
Aequator parallele Zone, welche die ganze Sonnenbahn enthält, 
wurde Zodiacus (Thierkreis) genannt; die zwei Punkte, in 
welchen die Sonnenbahn den Aequator durchſchneidet, hießen die 
Aequinoctialpunkte, weil zu der Jahrszeit, wo die Sonne 
in dieſen Punkt tritt, Tag und Nacht auf der ganzen Erde 
gleich groß iſt. Solſtitialpunkte aber wurden die zwei 
Punkte der Sonnenbahn genannt, in welchen ſte die beiden 
Wendekreiſe berührte. Die Coluren (zoAgoor, verſtümmelte Kreife) 
ſind jene Kreiſe, welche durch die beiden Pole und durch die 
Solſtitialpunkte gehen, und ſie haben ihren Namen davon, daß 
man immer nur einen Theil derſelben ſieht, weil der andere 
unter dem Horizonte iſt. 

Der Horizont (öensov) wird gewöhnlich als die Grenze 
zwiſchen Erd und Himmel angenommen. In der „Lehre von 
der Sphäre“ iſt er als ein größter Kreis, d. h. als ein ſolcher 
Kreis vorausgeſetzt, der durch den Mittelpunkt des Himmels und 
der dem Himmel concentriſchen Erde geht, ſo daß demnach immer 
die Hälfte des Himmels über dem Horizonte iſt. Dieſer Ausdruck 
begegnet uns zuerſt in einem Werke Euclid's, das Phän o— 
mena (Dawoueva) genannt wird. 

Wir beſitzen zwei Schriften des Autolycus ) (der nahe 
300 Jahre vor Ch. G. lebte), welche die Reſultate der „Theorie 
der Sphäre“ auf eine deductive Weiſe enthalten. In dem 
Werke Neo Kıvsusvng Zpaıoag (von der beweglichen Kugel) zeigt 
er, wie aus der Annahme einer gleichförmigen täglichen Bewe— 
gung der Sphäre verſchiedene Eigenſchaften des Auf- und Unter: 
gangs und der Bewegungen der Geſtirne folgen. Und in einer 
zweiten Schrift: Neo Enirol o xaı Zvosov (von dem Auf: 
und Untergehen s) ſetzt er die Bewegung der Sonne in ihrer 


4) Die beiden Polarkreiſe der neuern Aſtronomie find von jenen ark 
tiſchen und antarktiſchen Kreiſen verſchieden. 

5) Delambre, Astr. Anc. S. 19. 

6) Ib. S. 25. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 123 


Bahn gleichförmig voraus, und gibt verſchiedene Propoſitionen 
über den Auf- und Untergang der Sterne in Beziehung auf den 
gleichzeitigen Auf- und Untergang der Sonne). Mehrere von 
dieſen Propoſitionen werden jetzt noch als für die Aſtronomie 
weſentlich betrachtet, und ſind ſelbſt zum Verſtändniß der grie— 
chiſchen und römiſchen Dichter nothwendig. 

Das oben erwähnte Werk von Euclid iſt von derſelben Art. 
Delambre ®) ſchließt aus dieſem Werke, daß Euclid feine aſtrono— 
miſchen Kenntniſſe nur aus Büchern genommen, aber nie ſelbſt 
den Himmel beobachtet habe. 

Bemerken wir hier zum erſtenmale, was wir fpäter noch oft 
in dieſer Geſchichte ſehen werden — den Trieb des menſchlichen 
Geiſtes zur Deduction. So oft er ſich ſo viele Kenntniſſe der 
Art verſchafft, daß ſie durch logiſche Schlüſſe verbunden und 
wieder in ihre Theile aufgelöst werden können, ſo oft ſucht er 
auch daraus eine Art von Wiſſenſchaft zu bilden, indem er dieſe 
Schlüſſe in ein Syſtem zu bringen ſtrebt. Die Geometrie iſt 
von jeher ein Lieblingsgegenſtand dieſes Triebes geweſen, und 
fie ſowohl, als auch die Trigonometrie, die ebene wie die ſphä— 
riſche, ſind bis auf die gegenwärtigen Zeiten dasjenige Feld ge— 
weſen, auf dem ſich das mathematiſche Talent der Deduction 
vorzugsweiſe gefallen hat, indem ſchon einige wenige Wahrheiten 
genügten, um auf ihnen, als auf einer Baſis, das ganze Ge— 
bäude der Wiſſenſchaft zu erheben. 


Neunter Abſchnitt. 
Augelgeltalt der Erde. 


Die Begründung der Kugelgeſtalt der Erde iſt als ein wich— 
tiger Schritt der Aſtronomie betrachtet worden, da ſie die erſte 
von jenen Ueberzeugungen enthält, die mit dem offenbaren Sinnen— 
ſcheine im Widerſpruche ſteht, und demungeachtet von der Wiſſen— 
ſchaft über alle Zweifel erhoben wird. Dem Menſchen den Glau— 
ben aufzudringen, daß die Begriffe von „Oben“ und „Unten“ ſich 


7) Ueber den ſogenaunten cosmiſchen, heliſchen und achroniſchen 
Auf⸗ und Untergang der Sterne. 
8) Astr. Anc. S. 53. 


124 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


bloß auf verſchiedene Richtungen in verſchiedenen Stellen beziehen; 
daß das Meer, anſcheinend fo eben, doch conver iſt; daß die 
Erde, die uns auf ſo feſtem Grund zu ruhen ſcheint, doch ganz 
und gar ohne Unterſtützung iſt: dieß ſind allerdings große 
Triumphe des entdeckenden ſowohl, als auch des die Andern 
belehrenden Geiſtes. Man wird dieß nicht läugnen können, wenn 
man bedenkt, daß vor noch nicht ſehr langer Zeit die Lehre von 
den Antipoden für monſtros und ketzeriſch verſchrieen worden iſt. 

Und doch führt die Verſchiedenheit der Lage des Horizonts 
an verſchiedenen Orten der Oberfläche der Erde fchon jeden Anz 
fänger in der Aſtronomie auf die Annahme einer kugelförmigen 
Erde. Anaximander ) ſoll der erſte unſere Erde kugelförmig 
und zugleich frei im Raume ſchwebend angenommen haben, ſo 
wie er auch eine Kugel conſtruirt haben ſoll, auf welcher man 
die Länder und Meere der Erde ſehen konnte. Da wir aber die 
Beweiſe, die er für ſeine Behauptung gebraucht haben mag, 
nicht kennen, ſo können wir auch über den Werth derſelben nicht 
urtheilen. Vielleicht war dieſer ſein Satz nicht beſſer begründet, 
als der, den ihm Diogenes Laertius ebenfalls zuſchreibt, daß 
die Erde die Geſtalt einer Säule oder eines Pfeilers habe. 
Wahrſcheinlich wurden dieſe Vertheidiger der Kugelgeſtalt der 
Erde durch die Bemerkung darauf geführt, daß die geographi— 
ſchen Breiten oder die Polhöhen an verſchiedenen Orten der Erde 
ebenfalls verſchieden ſind. Sie mochten gefunden haben, daß der 
Weg, den ſie auf der Erde von Nord gen Süd zurücklegen, dem 
Wege proportional iſt, welchen ihr Horizont, während einer ſol— 
chen Reiſe, am Himmel beſchrieb, und da dieſer Horizont für 
jeden Ort der Erde eine waſſerrechte oder tangirende Lage hat, 
ſo konnten ſie leicht auf die Anſicht kommen, daß die Erde in 
der Mitte der himmliſchen Kugel aufgeſtellt und ſelbſt wieder 
eine ähnliche, nur kleinere Kugel iſt. a 

Bei Ariſtoteles findet man dieſe Lehre ſchon ſo beſtimmt aus— 
gedrückt, daß man ihn für den erſten Begründer derſelben an— 
ſehen kann 2). „Was die Geſtalt der Erde betrifft, ſagt er, ſo 
„muß ſie eine Kugel ſeyn.“ Er beweist dieß zuerſt durch das 
abwärts gerichtete Streben aller Dinge au allen Orten der 


1) M. ſ. Brucker, Vol. I. S. 486. 
2) Aristot. de Coelo. Lib. II. Cop. XIV. Casaubon. S. 290. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 125 


Erde, und ſetzt dann hinzu: „Dazu kömmt noch das Zeugniß 
„der Sinne. Denn wenn die Erde keine Kugel wäre, ſo würden 
„die Mondsfinfterniffe keine fo geſtalteten Ausſchnitte in dieſem 
„Geſtirne zeigen; denn die Schattengrenze des Monds nimmt 
„während dem Laufe eines Monats verſchiedene Geſtalten an, 
„die einer geraden Linie, die einer convexen und dann wieder 
„einer concaven Kreislinie, aber zur Zeit der Finſterniß iſt dieſe 
„Grenze immer convex. Da nun eine Mondsfinſterniß durch den 
„Erdſchatten entſteht, ſo muß dieſe Erde ſelbſt die Geſtalt einer 
„Kugel haben. Auch folgt aus der Erſcheinung der Sterne über 
„dem Horizont, daß dieſe Geſtalt kugelförmig, und zugleich, daß 
»dieſe Kugel ſelbſt nicht eben ſehr groß ſeyn kann. Denn wenn 
„man auch nur wenig gen Süd oder gen Nord fortgeht, fo än— 
„dert ſich der Kreis des Horizonts ſogleich auffallend, fo daß die 
„in unſerem Scheitel ſtehenden Sterne ſich ſofort von demſelben 
„entfernen. Eben fo werden mehrere (ſüdliche) Sterne in Aegyp— 
„ten und Cypern noch geſehen, die man in den nördlicher lie— 
„genden Ländern nicht mehr ſieht, und wieder andere Sterne, die 
„gegen Norden liegen, bleiben in den nördlichen Gegenden der 
„Erde, während ihrem ganzen täglichen Laufe über dem Hori— 
„zont, während fie in den ſüdlichen Gegenden gleich allen andern 
„auf: und untergehen. — Die Mathematiker, die den Umfang 
„der Erde durch Schlüſſe beſtimmen wollen, geben denſelben zu 
„400,000 Stadien an, woraus wir denn folgern, daß die Geſtalt 
„der Erde nicht nur ſphäriſch, ſondern daß auch ihr Volumen 
„nur gering iſt, wenn man fie mit dem Himmel vergleicht.“ 
Dieſe Wahrheit, einmal aufgefaßt, konnte dann auch 
leicht noch durch andere Gründe vertheidigt und beſtätigt werden, 
wie wir derſelben in mehreren Schriftſtellern finden. So ſagt 
z. B. Plinius), „daß alle Dinge einen Hang haben, nach dem 
„Ort der ſchweren Körper zu fallen, und da dieſer Ort der 
„Mittelpunkt der Erde iſt, daß dieſe Erde ſelbſt keinen ſolchen 
„Hang haben kann; ferner, daß die Unebenheiten der Oberfläche der 
„Erde ſo gering ſind, daß ſie keinen weſentlichen Einfluß auf die 
„Geſtalt der Erde haben können; daß die Waſſertropfen von 
»ſelbſt die Kugelform annehmen; daß die Grenzen des Meeres 


3) Plinius, Hist. Nat. II. LXV. 


126 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


„herabfallen müßten, wenn die Oberfläche deſſelben nicht eben- 
„falls abgerundet wäre; daß wir von entfernten Schiffen zuerft 
„die oberſten Theile erblicken, was ebenfalls die runde Geſtalt der 
„Erde beweist u. ſ. f.“ — Dieſelben Sätze werden auch in unſeren 
Tagen noch in den Schulen vorgetragen, fo daß alſo ſchon in 
jenen frühen Zeiten gleichſam die Schätze geſammelt worden. 
ſind, die jetzt noch einen Theil unſerer Wiſſenſchaft bilden. 


Zehnter Abſchnitt. 
Cichtgeſtalten des Mondes. 


Sobald man ſich einmal einen beſtimmten Begriff von dem 
Monde, als einem kugelförmigen Körper, gemacht hatte, der 
ſich in einer Bahn um die Erde bewegt, von welcher die außer 
dieſer Bahn ſtehende Sonne nicht eingeſchloſſen wird, ſo war 
man auch ſchon auf dem Wege, die verſchiedenen Lichtgeſtalten, 
die uns der Mond während jedem Monate zeigt, auf eine be— 
friedigende Weiſe zu erklären, da die convexe Lichtſeite des 
Monds immer der Sonne zugewendet iſt. Dieſe Erklärung ließ 
ſich auf eine ſehr einfache Weiſe ſelbſt für den gemeinen Mann 
verſinnlichen, wenn z. B. eine ſteinerne Kugel von der Sonne 
beſchienen wird, und wenn wir uns ſo ſtellen, daß uns der 
Stein in derſelben Richtung mit dem Monde erſcheint. Dann wird 
der von der Sonne beſchienene Theil des Steines immer eine 
der Lichtphaſe des Mondes ähnliche Geſtalt haben, mit dem 
einzigen Unterſchiede, daß wir den dunklen Theil der uns zuge— 
wendeten Seite des Mondes nicht, oder doch nicht ſo deutlich 
ſehen, wie bei dem Steine. 

Dieſe Erklärung der Lichtgeſtalten des Mondes wird dem 
Anaximander zugeſchrieben, und Ariſtoteles kannte ſie ebenfalls !). 
Auch konnte ſie, da ſie ſich gleichſam von ſelbſt anbietet, den 
Chaldäern und Aegyptiern nicht wohl entgangen ſeyn, wenn ihre 
Aſtronomen ſich überhaupt damit beſchäftiget haben, die Urſachen 
der Erſcheinungen des Himmels zu erforſchen. 


1) Aristot. Probl. XV. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 127 


Eilfter Abſchnitt. 
inter ni te. 


Die Finſterniſſe wurden ſchon in den älteſten Zeiten mit vor— 
züglicher Theilnahme betrachtet. Der Glaube an einen überna— 
türlichen Einfluß der Geſtirne auf den Menſchen, der, wie wir 
geſehen haben, ſchon in dem grauen Alterthume herrſchte, konnte 
nur mit Verwunderung und Schrecken auf plötzliche Aenderun— 
gen in den Erſcheinungen des Himmels blicken, die man durch 
lange Zeit nur ſehr regelmäßig vor ſich gehen ſah. In dieſem 
Falle befanden ſich wahrſcheinlich alle Völker zur Zeit ihrer an— 
faugenden Bildung. 

Dieſer Eindruck, den die Finſterniſſe auf die Menſchen 
machte, war auch die Urſache, warum ſie ſo ſorgfältig bemerkt 
und der Nachwelt erhalten worden ſind. Auch ſind die Nach— 
richten von den beobachteten Finſterniſſen die älteſten aſtronomi— 
ſchen Denkmäler der Vorzeit, die uns überliefert worden ſind. 

Sobald man einmal einige von den Geſetzen entdeckt hatte, 
nach welchen andere Erſcheinungen des Himmels, z. B. der Lauf 
der Sonne oder die Lichtgeſtalten des Monds, ſo regelmäßig auf 
einander folgen, ſo war die Vermutbung wohl ſehr natürlich, 
daß auch dieſe ungewöhnlichen und ſcheinbar unregelmäßigen 
Phänomene ebenfalls gewiſſen Geſetzen unterliegen könnten. Die 
Aufſuchung eines ſolchen Geſetzes ſcheint fchon in ſehr frühen 
Zeiten der Menſchengeſchichte erfolgreich geweſen zu ſeyn. Die 
Chaldäer ſollen bereits im Stande geweſen ſeyn, künftige Finſter— 
niſſe voraus zu ſagen. Sie thaten dieß wahrſcheinlich mit Hülfe 
ihres Cyklus von 223 Monaten oder nahe 18 Jahren, da am Ende 
einer jeden ſolchen Periode die Finſterniſſe des Monds und der 
Sonne wieder in derſelben Ordnung zurückkehren. — Dieß war 
wohl das erſte Beiſpiel der Vorherſagung einer beſtimmten Er— 
ſcheinung des Himmels. Die Chineſen tragen ſich noch mit einer 
viel früheren Erzählung dieſer Art, nach welcher unter der Re— 
gierung von Tſchon-kaung, gegen das Jahr 2000 vor Chr. Geb. 
eine Sonnenfinſterniß ſich erreignet haben ſoll, bei welcher Gelegen— 
heit zwei hohe Staatsbeamte und Aſtronomen, welche dieſe 
Finſterniß ſchlecht vorausberechnet hatten, von dem regierenden 
Kaiſer zum Tode verurtheilt worden ſind. Allein dieſe Nachricht 


128 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


ſcheint nicht verläßlich, da das ganze folgende Jahrtauſend durch 
die chineſiſchen Jahrbücher auch nicht einer einzigen Beobachtung 
oder irgend einer aſtronomiſchen Erſcheinung erwähnen, und da 
ſelbſt ſpäter noch die chineſiſche Aſtronomie auf einer ſehr nie— 
deren Stufe der Ausbildung ſtehen geblieben iſt. 

Es iſt ſchwer, den Weg zu finden, auf welchem die Chal— 
däer zu ihrem Cyklus von 18 Jahren gekommen ſeyn mögen. 
Man kann mit Delambre vorausſetzen ), daß fie die von ihnen 
beobachteten Finſterniſſe genau aufgezeichnet, und dann, bei der 
Durchſicht ihrer Verzeichniſſe gefunden haben, daß die Monds— 
finſterniſſe in beſtimmten Zeiten wieder kommen. Man kann 
auch mit andern Schriftſtellern annehmen, daß ſie die Bewe— 
gungen des Monds und der Sonne mit beſonderer Sorgfalt ver— 
folgt haben, und dadurch endlich auf die Periode gekommen ſind, 
welche dieſe Ordnung der Finſterniſſe umfaſſen. Aber dieſer letz— 
tere Weg ſetzt ſchon viel höhere aſtronomiſche Kenntniſſe voraus. 
Es iſt daher wahrſcheinlicher, daß dieſer Cyklus auf jenem erſten 
Wege gefunden worden iſt. Nach 6585 ¼ Tag oder nach 223 
Lunationen kehren die Finſterniſſe in derſelben Ordnung, und 
auch nahe in derſelben Größe, wieder zurück. Die Schriftſteller 
der Alten wenigſtens beſtreiten es nicht, daß die Chaldäer mit 
dieſer Periode von 18 Jahren, die ſie Saros nannten, bekannt 
waren, noch daß ſie mit Hülfe derſelben die Finſterniſſe berechnet 
haben. 


Zwölfter Abſchnitt. 


Erfte Folgen dieles frühelten Zuſtandes der Aftronomie. 


Jeder Zuftand der Wiſſenſchaft wird von einer Reihe prac- 
tiſcher Anwendungen und ſyſtematiſcher Verſuche begleitet, die 
aus dem bereits oben erwähnten Hange geiſtvoller Menſchen zu 
deductiven Speculationen entſpringen. Der früheſte Zuſtand der 
Aſtronomie, ſo weit ſie ſchon als eigentliche Wiſſenſchaft betrach— 
tet werden kann, gibt uns deren mehrere Beiſpiele, von welchen 
wir einige hier kurz anführen wollen. 


1) Delamhre, Astr. Anc. S. 212. 


Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 129 


Vorherbeſtimmung der Finſterniſſe. 


Die verſchiedenen Cykeln, welche die älteſten Völker zum 
Behufe ihres Kalenders oder ihrer Zeitrechnung erfunden hatten, 
gab ihnen auch, wie bereits geſagt, Gelegenheit, die künftigen 
Finſterniſſe vorherzubeſtimmen, und dieſer Zweig der aſtronomi— 
ſchen Erkenntniß wurde in allen Zeiten mit einer Art von Vor— 
liebe ausgebildet. 


Irdiſche Zonen. 


Nachdem einmal die Kugelgeſtalt der Erde erkannt war, 
wurde die „Lehre von der Sphäre“, die man bisher nur für den 
Himmel gebraucht hatte, auch auf die Erde angewendet. Demnach 
wurde die Oberfläche der Erde durch verſchiedene imaginäre 
Kreiſe in eine Art von Eintheilung gebracht. Man zog auf der 
Erde den Aequator, die Wendekreiſe und andere Kreiſe ganz in 
derſelben Winkeldiſtanz, wie man ſie früher auf dem Himmel 
verzeichnet hatte. Dadurch gerieth man auf die Annahme, daß 
die Erde in, dem Aequator parallele, Gürtel oder Zonen einge— 
theilt ſey, die ſehr weſentlich unter einander verſchieden ſeyn 
ſollen. Je näher man gegen Süden reiste, deſto wärmer wurde 
das Klima. Man ſchloß daraus, ohne es eben in der That er— 
fahren zu haben, daß der Theil der Erde, der zwiſchen den beiden 
Wendekreiſen enthalten iſt, wegen ſeiner großen Hitze ganz un— 
bewohnbar ſeyn müſſe, und daß eben ſo der von den beiden 
Polarkreiſen eingeſchloſſene Theil der Erde, durch ſeine große 
Kälte, allem Leben feindlich entgegen wirke. Dieſe Anſicht war, 
wie jetzt Jeder weiß, ungegründet, aber jene Eintheilung der 
Erde in parallele Zonen führte demungeachtet zu mehreren ſehr 
richtigen und nützlichen Propoſitionen über die Länge der Tage 
und Nächte an verſchiedenen Orten der Erde und dgl. 


Gnom onik. 


Eine andere Frucht der „Lehre von der Sphäre“ war die 
Gnomonik, oder die Kunſt, Sonnenuhren zu verfertigen. Anaxi— 
menes ſoll, wie Plinius erzählt, der erſte die Griechen dieſe 
Kunſt gelehrt haben, ſo wie auch er und Anaximander die erſte 


Sonnenuhr in Lacedämon errichtet haben ſollen. 
Whewell, A 9 


130 Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


Größe der Sonne. 


Die oben erwähnte Erklärung der Lichtgeſtalten des Mondes 
führte Ariſtarch von Samos auf eine ſehr finnreihe Mes 
thode, die Verhältniſſe der Entfernungen der Sonne und des 
Mondes von der Erde durch Beobachtung zu beſtimmen. Wenn 
der Mond, in ſeinen Vierteln, genau halb beleuchtet iſt, ſo iſt 
in dem Dreiecke zwiſchen Sonne, Erde und Mond der Winkel 
am Monde gleich 90 Graden. Beobachtet man alſo in dieſem 
Augenblicke den Winkel an der Erde, ſo iſt der Sinus dieſes 
Winkels gleich der Entfernung des Mondes von der Erde, divi— 
dirt durch die Entfernung der Erde von der Sonne. Man erhält 
alſo die Sonnenparallaxe aus der bekannten Parallaxe des 
Mondes, welche letzte durch unmittelbare Beobachtungen auf der 
Erde leicht gefunden werden kann. Dieſe in theoretiſcher Be— 
ziehung richtige Methode läßt aber keine verläßliche practiſche 
Ausführung zu, da es ſehr ſchwer iſt, die Zeit anzugeben, wann 
der Mond genau zur Hälfte beleuchtet, oder wann die Schatten— 
grenze (bei ihrem Uebergang aus einer converen Curve in eine 
concave) genau eine gerade Linie iſt, und da der geringſte Fehler 
in dieſer Zeitangabe jenes Verhältniß der beiden Diſtanzen ſehr 
unrichtig machen kann. Auch war das Reſultat, welches Ari— 
ſtarch erhielt, ſehr fehlerhaft, indem er fand, daß die Entfernung 
der Sonne nur achtzehnmal größer ſeyn ſoll, als die des Mondes 
von der Erde, da ſie doch, wie wir jetzt wiſſen, über vierhundert— 
mal größer iſt. 

Obſchon wir leicht noch länger bei dieſen Gegenſtänden ver— 
weilen könnten, ſo wird es doch angemeſſener ſeyn, vorwärts zu 
eilen. Zu dem Vorhergehenden wurden wir durch das Intereſſe 
gleichſam verleitet, welches der ſpeculative Geiſt der Griechen 
über die früheſten aſtronomiſchen Entdeckungen verbreitete, fo 
lange derſelbe bloß bei dieſen Speculationen verweilte. Nun aber 
iſt es Zeit, daſſelbe Volk zu betrachten, wie es zu einem wür— 
digeren Geſchäfte, zu der eigentlichen Entwicklung und Vollen— 
dung jener frühen Entdeckungen übergeht. 


Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 131 


Zweites Capitel. 
Eingang zu der inductiven Epoche Hipparch's. 


Obſchon wir die nächſten Folgen jener früheſten aſtronomi— 
ſchen Entdeckungen keineswegs vollſtändig aufgezählt zu haben 
glauben, gehen wir doch ſofort zu der Betrachtung der nun fol— 
genden großen Entdeckung über, die in der Geſchichte der Aſtro— 
nomie Epoche gemacht hat: zu der Theorie der Epicykel und 
der excentriſchen Kreiſe. Ehe wir aber dieſe Theorie ſelbſt näher 
kennen lernen, wollen wir, unſerm urſprünglichen Plane gemäß, 
vorerſt einige von den Verſuchen und Conjecturen, die ihr vor— 
ausgingen, und zugleich die anwachſende Menge von Thatſachen 
näher betrachten, welche das Bedürfniß einer ſolchen Theorie 
immer fühlbarer machte. 

Zu den bisher erzählten Fortſchritten der Aſtronomie bedurfte 
man keines beſonderen Talents, um den beabſichtigten Zweck 
zu erreichen. Die Bewegungen der Himmelskörper konnten und 
mußten beinahe als die Reſultate einer Bewegung der Sphäre 
betrachtet werden, und auch die Variationen dieſer Erſcheinungen 
des Himmels, wie ſie von verſchiedenen Punkten der Erdober— 
fläche geſehen werden, führten gleichſam von ſelbſt auf die An— 
nahme der Kugelgeſtalt der Erde. In allen dieſen Fällen leitete 
die erſte Vermuthung, die Vorausſetzung der einfachſten Geſtalt 
und die Annahme der einfachſten, der gleichförmigen, Bewegung 
ſofort zu ſolchen Reſultaten, die keine nachträglichen Verbeſſe— 
rungen mehr erforderten. Allein dieſe Einfachheit, dieſe leichte 
und uns gleichſam von ſelbſt ſich anbietende Erklärung des Gegen— 
ſtandes konnte keine Anwendung mehr finden, ſobald es ſich um 
die Darſtellung der viel mehr zuſammengeſetzten Bewegungen der 
Planeten handelte. Dieſe wunderbar verſchlungenen Bahnen 
der „Wandelſterne“ waren nicht fo leicht zu ergründen, „da 
„jeder derſelben, wie Cicero ſich ausdrückte, fo mannigfaltige 
„Veränderungen in ſeinem Laufe erleidet, bald vor-, bald rück— 
„wärts, bald ſchnell, bald wieder langſam geht, bald zur Abend— 
»zeit erſcheint, allmählig ſchwächer wird, und wieder in der 

9 * 


132 Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 


„Morgendämmerung mit neuem Lichte hervortritt ).“ Eine wei— 
ter fortgeſetzte Aufmerkſamkeit auf dieſe Planeten mochte wohl eine 
gewiſſe, übrigens ſehr verwickelte Regelmäßigkeit in ihren Bewegun— 
gen bemerken, die man auch als einen „Tanz“ derſelben zu be— 
ſchreiben pflegte. Divdor ?) erzählt, daß die Chaldäer den Auf— 
und Untergang der Geſtirne von der Zinne des Belus-Tempels 
mit vielem Fleiße beobachtet haben. Auf dieſem Wege allein 
konnten ſie auch nur die Perioden des Vor- und Rückgangs von 
Mars, Jupiter und Saturn gefunden haben, ſo wie die Zeiten 
ihres Umlaufs, in welchen ſie wieder zu denſelben Punkten des 
Himmels zurückkehren ). Merkur und Venus blieben immer in 
der Nachbarſchaft der Sonne, um welche ſie, gleich einem Pen— 
del, ihre auf und ab gehenden Schwingungen, zu beiden Seiten 
der Sonne, vollenden, ſo daß es jenen alten Beobachtern nicht 
ſchwer fallen konnte, die Größe und Dauer der Amplituden die— 
ſer Schwingungsbogen zu beſtimmen. 

Von dieſen Bewegungen der Planeten hat man ſich, in den 
älteſten Zeiten, etwa auf folgende Art Rechenſchaft zu geben ge— 
ſucht. — Saturn z. B. geht, wie man fand, in je 30 unſerer 
Jahre 29 mal durch jenen Cyklus von Veränderungen, nach 
welchen er ſich bald vor-, bald rückwärts bewegt, ſo daß er zu— 
gleich in derſelben Zeit ſeine ganze Bahn am Himmel vollendet, 
und wieder zu demſelben Fixſterne zurückkehrt. Mit ſolchen Dar— 
ſtellungen, mit ſolchen Beſtimmungen und Perioden mögen ſich 
die älteſten Aſtronomen des Orients lange Zeit begnügt haben. 
Allein der Scharfſinn der Griechen, der dabei nicht ſtehen blieb, 
ſuchte ein ſinnliches Bild, einen eigenen Mechanismus zu erfor— 
ſchen, durch den man jene verwickelten Bewegungen darſtellen 


1) La quae Saturni stella dieitur, Paıv@vque a Graecis nominatur, 
quae a terra abest plurimum, triginta fere annis cursum suum 
conficit; in quo cursu multa mirabiliter efficiens, tum antece- 
dendo, tum retardando, tum vespertinis temporibus delitescendo, 
tum matutinis se rursum aperiendo, nihil immutat sempiternis sae- 
culorum aetatibus, quin eadem iisdem temporibus effieiat. Cicero, 
de Nat. Deor. Lib. II. und auf gleiche Weiſe auch von den andern 
Planeten. 

2) Delambre, Astr. Anc. S. 4. 

3) Plinius, Hist. Nat. L. II. 


Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 133 


konnte, und ſie fanden dazu bald ein ſehr angemeſſenes Mittel. 
Venus z. B., die im Ganzen ſich vorwärts oder von Weſt gen 
Oſt unter den Fixſternen bewegt, ſieht man zu gewiſſen Zeiten 
einen kurzen Weg rückwärts (von Oſt gen Weſt) gehen, dann 
einige Tage ſtill ſtehen, und dann wieder ihre erſte vorwärts ge— 
richtete Bewegung annehmen Die Griechen ſtellten ſich alſo vor, 
daß Venus in dem Umkreis eines Reifens (Rades) liege, deſſen 
Ebene, verlängert, nahe durch die Erde geht, deſſen Mittelpunkt 
aber ſich ſelbſt wieder am Himmel, und zwar vorwärts (von 
Weſt gen Oſt) rund um uns bewegt, während ſich derſelbe Rei— 
fen in derſelben Richtung um ſeinen eigenen Mittelpunkt bewegt, 
und ſo den an dem Umkreis befeſtigten Planeten mit ſich fort— 
führt. Bei dieſer Einrichtung wird die Bewegung des Reifens 
um ſeinen eigenen Mittelpunkt, an manchen Stellen, der Bewe— 
gung dieſes Mittelpunkts entgegen wirken, und ſie zuweilen ſo— 
gar gänzlich aufheben, wo dann der Planet uns am Himmel 
ſtillſtehend erſcheinen muß, ſo wie er ſogar rückwärts zu gehen 
ſcheinen wird, wenn die Rotation des Reifens um ſeinen Mittel— 
punkt jene geocentriſche Bewegung dieſes Mittelpunktes noch über— 
trifft. Ganz dieſelbe Erſcheinung würden wir haben, wenn zur 
Nachtzeit ein Mann mit einer brennenden Lampe in einiger Ent: 
fernung von uns in der Peripherie eines Kreiſes herumgeht, 
wo uns das Licht dieſer Lampe bald vor-, bald rückwärts zu 
gehen, bald für einige Augenblicke gänzlichſtillzuſtehen ſcheinen 
würde. 

Eine ſolche Vorrichtung wurde nun für jeden einzelnen Pla— 
neten ausgedacht, und die imaginären Reifen oder Kreiſe, die 
man zu dieſem Zwecke anwendete, wurden Epieykel genannt. 

Die Anwendung dieſes ſinnreichen Mechanismus auf die 
Planeten ſcheint in Griechenland um die Zeit des Ariſtoteles ent— 
ſtanden zu ſeyn. In Plato's Werken findet man einen ſonder— 
baren Vorgeſchmack von dieſer Art von mechaniſchen Specula— 
tionen. Im zehnten Buche der „Politik“ liest man nämlich 
die Erzählung des Aleinus aus Pamphylien, der, nachdem er in 
der Schlacht ſcheinbar getödtet war, auf dem Scheiterhaufen 
wieder erwachte, und nun den Zuhörern mittheilt, was er wäh— 
rend ſeiner Entrückung von der Erde geſehen hat. Unter anderen 
Offenbarungen beſchreibt er auch die Maſchinerie, durch welche 
die Himmelskörper in Bewegung geſetzt werden. Die Um— 


134 Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 


drehungsaxe des ganzen Himmels iſt eine große diamantene 
Spindel, die das „Schickſal“ zwiſchen ſeinen Knieen hält, und 
an dieſer Axe ſind, mittelſt verſchiedener Stäbe, Ringe befeſtigt, 
in deren Umkreiſen die Planeten ſich bewegen, wo denn die Ord— 
nung und Größe dieſer Stäbe und Ringe umſtändlich beſchrieben 
werden. — Ebenſo beſchreibt Plato in ſeinen „Epinomis“ die 
verſchiedenen Bewegungen der himmliſchen Körper auf eine 
Weiſe, die allerdings eine beſtimmtere Bekanntſchaft mit dem 
allgemeinen Charakter der planetariſchen Bewegungen verräth, 
und nachdem er von den Aegyptiern und Syriern, als den erſten 
Ausbildnern dieſer Kenntniſſe, geſprochen hat, muntert er ſeine 
eigene Landsleute zur weiteren Verfolgung dieſes Gegenſtandes 
mit den merkwürdigen Worten auf: „Was wir Griechen von 
„den Barbaren erhalten, pflegen wir zu verbeſſern und weiter 
„auszubilden, fo daß wir dennoch hoffen dürfen, daß auch dieſe 
„Kenntniſſe von uns weit über die Grenze geführt werden mögen, 
„welche die Fremden erreicht haben.“ Doch weiß er die Schwierig— 
keiten einer ſolchen Erweiterung und die dazu nothwendigen Kennt— 
niſſe gehörig zu würdigen. „Ein (ſolcher) Aſtronom,“ ſetzt er hin— 
„zu, muß ein Mann von den vorzüglichſten Talenten ſeyn, und 
„fein Geiſt muß ſchon von Jugend auf mit dieſen Studien, be— 
„fonders den mathematiſchen, bekannt gemacht werden, ſowohl 
„mit der Zahlenlehre, als auch mit jenen anderen Zweigen der 
„Mathematik, die fo nahe mit der „„Wiſſenſchaft des Himmels“ 
„verwandt find, und die man thörichter Weiſe die „„Erdmeßkunſt““ 
„(Geometrie) genannt hat.“ 

Dieſe Vorherſagungen wurden im weiteren Verlaufe der 
griechiſchen Aſtronomie auf eine ſehr merkwürdige Weiſe 
erfüllt. 

Die Auflöſung dieſes Problems machte bald, nachdem es ein— 
mal aufgeſtellt war, raſche Fortſchritte. Eudox von Enidus ſoll, 
wie Simplicius *) erzählt, die Hypotheſe dieſer beweglichen Kreiſe 
oder Sphären, der erſte eingeführt haben. Calipp von Cyzicus 
beſuchte den Polemarch, einen vertrauten Freund des Eudox, und 
ging dann mit ihm nach Athen, um daſelbſt dem Ariſtoteles die 
Entdeckung des Eudox mitzutheilen, mit deſſen Hülfe er auch 
dieſelbe noch weiter ausgebildet haben ſoll. 


4) Lib. II. De Coelo Bullialdus. S. 18. 


Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 135 


Anfangs ſuchte man dieſe Hypotheſe ohne Zweifel nur fo 
weit zu bringen, daß ſte die allgemeinſten Erſcheinungen der 
Planeten: ihre Stationen und Retrogradationen, darſtellen konnte, 
aber man erkannte bald, daß auch die Bewegungen der Sonne 
und des Mondes, ſo wie ſelbſt die Bewegungen der Planeten, 
welche in dieſer Hypotheſe als kreisförmig angenommen wurden, 
noch mehreren Anomalien oder Unregelmäßigkeiten unterliegen, 
die eine noch weitere Vervollkommnung jener Hypotheſe noth— 
wendig machten. 

Jener Mangel an Gleichförmigkeit in der Bewegung der 
Sonne und des Mondes mußte, obſchon er viel weniger als 
die der Planeten auffiel, doch leicht bemerkt werden, als man 
einmal angefangen hatte, nur einige Genauigkeit in die aſtro— 
nomiſchen Beobachtungen zu bringen. Wir haben bereits oben 
(im erſten Kapitel) geſehen, daß ſchon die Chaldäer in dem Be— 
ſitze einer Periode von 18 Jahren waren, die fie bei der Vor— 
herbeſtimmung der Finſterniſſe gebrauchten, und die vielleicht 
durch eben ſolche genauere Mondsbeobachtungen von ihnen gefun— 
den worden iſt, obſchon es wahrſcheinlicher iſt, daß ſie bloß durch 
die von ihnen aufbewahrten Verzeichniſſe der bereits vorüberge— 
gangenen Finſterniſſe auf jene Periode gekommen ſeyn mögen. 
Die Bewegungen des Monds ſind ſo verwickelt, daß ſie ohne 
Mühe und langfortgeſetzte Beobachtungen nicht wohl auf be— 
ſtimmte Geſetze zurückgebracht werden können. Wenn man die 
Bahn dieſes Satelliten unter den Fixſternen des Himmels ver— 
zeichnet, ſo findet man, daß ſie, wie die der Sonne, ſchief gegen 
den Aequator liegt, daß ſie aber demungeachtet nicht, gleich 
dieſer, immer durch dieſelben Fixſterne geht. Eben ſo iſt alſo 
auch die Breite des Monds, oder ſein ſenkrechter Abſtand von 
der Ecliptik, nicht für jeden Punkt der Ecliptik derſelbe. Die 
Urſache davon iſt, daß die Knoten, oder die Punkte, in wel— 
chen die Ecliptik von der Mondsbahn geſchnitten wird, beweglich 
ſind und ihre Lage ſtets ändern, ſo daß dieſe Knoten im Mittel 
jährlich um nahe 19 Grad auf der Ecliptik rückwärts oder 
von Oſt gen Weſt gehen. Ueberdieß iſt auch die Bewegung des 
Monds, in ſeiner Bahn ſelbſt betrachtet, keineswegs gleichför— 
mig, ſondern ſeine Geſchwindigkeit in verſchiedenen Punkten 
ſeiner Bahn iſt ebenfalls ſehr verſchieden. Wenn der Mond 
nach einer beſtimmten Anzahl ſeiner Umläufe um die Erde wieder 


136 Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 


zu derſelben Lage gegen die Sonne, gegen jene Knoten und auch 
gegen dieſe Punkte ſeiner größten und kleinſten Geſchwindigkeit 
in der Bahn zurückgekehrt iſt, ſo werden auch alle die Umſtände, 
von welchen eigentlich die Finſterniſſe abhängig ſind, wieder die— 
ſelben ſeyn, und dieſe Finſterniſſe ſelbſt werden daher wieder 
einen neuen Cyklus in derſelben Ordnung beginnen ). In 
6585 ⅛ Tagen aber find 239 Umläufe des Monds in Beziehung 
auf die Punkte der größten und kleinſten Geſchwindigkeit in 
ſeiner Bahn 241 Umläufe in Beziehung auf ſeine Knoten, und 
endlich 223 ganze Umläufe in Beziehung auf die Sonne enthal— 
ten, daher dieſe Periode von 6585 ⅛ Tagen die Finſterniſſe des 
Mondes und der Sonne wieder auf die frühere Ordnung und 
Größe derſelben zurückführt. 

Wenn die Chaldäer die Bewegung des Mondes unter den 
Fixſternen nur mit einiger Genauigkeit beobachten konnten, wie 
man dieß vorausſetzen muß, wenn ſie jene Perioden in der That 
auf dem Wege unmittelbarer Mondsbeobachtungen gefunden 
haben ſollen, ſo konnte ihnen die Veränderlichkeit ſeiner Ge— 
ſchwindigkeit nicht wohl entgehen, da der tägliche Weg des Mon— 
des in ſeiner Bahn, im Laufe einer jeden Revolution, von 22 
bis zu 26 Durchmeſſer des Mondes (von 11¼ bis 13 Graden) 
variirt. Aber es fehlen uns alle Nachrichten, daß ſie dieſe 
Variationen gekannt haben, und Delambre ©) mag daher 
wohl Recht haben, wenn er alle ſolche genauere Beobachtungen 
nur den Griechen zuſchreibt. 


5) Nach den neueſten Beſtimmungen iſt für den Anfang des gegen— 
wärtigen Jahrhunderts von dem Monde 
die ſideriſche Revolntion gleich 27.321661 Tage 


die tropiſche ? ; 27321582 5 
die ſynodiſche . 8 5 29.530589 „ 
die anomalyſtiſche . 3 27.554600 „ 
und der Drachenmonat . 27.212220 


wo die ſideriſche Revolution die Umlaufszeit des Mondes um die 
Erde in Beziehung auf die Fixſterne, die tropiſche in Beziehung 
auf die Nachtgleichen, die ſynodiſche in Beziehung auf die Sonne, 
die anomalyſtiſche in Beziehung auf die Punkte der größten und 
kleinſten Geſchwindigkeit, und wo endlich der Drachenmonat die 
Umlaufszeit des Mondes in Beziehung auf die Knoten ſeiner 
Bahn mit der Ecliptik bezeichnet. L. 
6) Delambre, Astr. Anc. I. 212. 


Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 137 


Auch die Ungleichförmigkeit der Bewegung der Sonne mußte 
bekannt werden, ſobald man nur ein Mittel hatte, die Länge der 
vier Jahreszeiten, d. h. diejenigen Epochen mit Verläßlichkeit zu 
beobachten, wo die Sonne in den Nachtgleichen oder in den Sol— 
ſtitialpunkten ankömmt. Dieſe Jahreszeiten würden nämlich 
alle unter ſich von gleicher Länge ſeyn, wenn die Geſchwindigkeit 
der Sonne immer dieſelbe wäre. 

Es konnte nicht ſchwer ſeyn, einzuſehen, daß man mit Hülfe 
der Epicykel auch von ſolchen Ungleichheiten Rechenſchaft geben 
kann. Ein Reifen, an welchem die Sonne oder der Mond be— 
ſeſtigt iſt, und der ſich um die Erde und zugleich um ſeinen 
eigenen Mittelpunkt bewegt, mußte die Wirkung hervorbringen, 
daß dieſe beiden Geſtirne bald ſchnell, bald wieder langſam zu 
gehen ſcheinen, ganz ebey ſo, wie dieß oben bei den Planeten 
der Fall geweſen iſt, nur konnten dieſe Reifen oder Ringe für 
die Sonne und den Mond viel kleiner ſeyn, als für die Planeten. 
Es iſt daher wahrſcheinlich, daß man ſchon zu Plato's und Ari— 
ſtoteles Zeiten Verſuche machte, dieſe Hypotheſe der Epicykel in 
Gang zu bringen, obſchon die eigentlich wiſſenſchaftliche Ausbil— 
dung derſelben erſt in die Tage Hipparchs gefallen iſt. 

Das Problem, welches ſich den Aſtronomen zur Löſung anbot, 
und welches auch, wie man ſagt, Plato denſelben förmlich an— 
geboten hat, läßt ſich in beſtimmten Worten ſo ausdrücken: „die 
„Bewegungen der Himmelskörper durch eine Combination von 
„gleichförmigen kreisförmigen Bewegungen darzuftellen.“ — Daß 
nämlich eine kreisförmige Bewegung auch zugleich eine gleich— 
förmige ſeyn ſollte, war eine Vorausſetzung, die, wenn ſie bloß 
anfangs als die einfachſte, gleichſam nur zum Verſuche, gewählt 
worden wäre, nicht getadelt werden könnte. Allein dieſe Be— 
dingung, die in der That in der Natur nicht beſteht, wurde in 
der Folge mit einer Hartnäckigkeit feſtgehalten, die in die ganze 
Aſtronomie eine unendliche Verwirrung eingeführt hat. Die 
Geſchichte dieſer Annahme zeigt uns einen der ausgezeichnetſten 
Fälle jener Vorliebe des menſchlichen Geiſtes zur Einfachheit und 
Uebereinſtimmung, welche zwar die Quelle beinahe aller unſerer 
allgemeinen Wahrheiten iſt, welche aber auch zugleich ſchon viele 
Irrthümer erzeugt und Jahrtauſende lang feſtgehalten hat. In 
unſeren Tagen iſt es allerdings leicht, zu ſehen, wie phantaſtiſch 
man damals die Idee von Einfachheit und Vollkommenheit, in 


138 Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs. 


der Lehre von der gleichförmigen Bewegung der Himmelskörper 
in Kreiſen, aufgenommen und ausgelegt hat. Die Platoniker, 
ſo wie auch früher ſchon die Pythagoräer, hatten dieſe Anſicht 
als ein unantaſtbares Dogma in ihren Schulen aufgenommen. 
Nach Geminus „festen fie die Bewegung der Sonne, des 
„Mondes und aller Planeten gleichförmig und in Kreiſen vor 
„ſich gehend voraus, da ſie unter den ewigen und göttlichen 
„Dingen keine ſolche Unordnung zugeben konnten, nach welcher 
„diefelben bald geſchwinder, bald wieder langſamer gehen, bald 
„endlich gänzlich ſtille ſtehen. Wer könnte eine ſolche Unregel— 
„mäßigkeit der Bewegung auch nur bei einem Menſchen erträg— 
„lich finden, der auf Anſtand und Sitte hält. Zwar zwingen 
„uns die Verhältniſſe des gemeinen Lebens öfter, unſere Schritte 
„zurückzuhalten oder zu beſchleunigen, aber in der höchſtvoll⸗ 
„kommenen Natur der Himmelskörper iſt es unmöglich, einen 
„Grund aufzufinden, warum dieſelben bald langſamer, bald wieder 
„geſchwinder gehen ſollten, und eben deßwegen haben jene Weiſen 
„auch das Problem aufgeſtellt, auf welche Art man die Bewe— 
„gungen dieſer Körper durch einen „„gleichförmigen Fortſchritt 
„derſelben in Kreiſen““ darſtellen könnte.“ 

Dieſe Anſicht führte demnach auf geradem Wege zu der 
Theorie der Epicykel. Es iſt wahrſcheinlich, daß dieſe Theorie, 
wenigſtens für die Planeten, zu oder ſelbſt noch vor den Zeiten 
Plato's ſchon als die wahre angenommen war. Ariſtoteles aber ſetzt 
uns dieſelbe zuerft näher auseinander '). „Eudox,“ jagt er, „gab 
„jedem Planeten vier Sphären. Die erſte drehte ſich mit den 
„Fixſternen (wodurch die tägliche Bewegung des Himmels ent— 
„ſteht); die zweite Sphäre gab dem Planeten eine Bewegung 
„längs der Ecliptik (wodurch die ſogenannte mittlere Länge des 
„Planeten entſteht); die dritte Sphäre hatte ihre Are?) ſenkrecht 
„auf die Ecliptik (wodurch die Ungleichheit der Bewegung in 


7) Ariſtoteles, Metaphyſ. XI. 8. 

8) Ariſtoteles ſagt: „die dritte hatte ihre Pole in der Ecliptik.“ 
Allein dieß ſcheint aus einem Mißverſtändniß von ſeiner Seite 
entſtanden zu ſeyn. Er bekennt, daß er dieſe Nachrichten von 
den eigentlichen Aſtronomen erhalten habe (ex Tg omeioratng 
gıhocogıag Tav nadmuarızav), die er aber nicht vollkommen 
verſtanden haben mag. 


Eingang zu der inductiven Epoche Hipparchs.“ 139 


„Länge dargeſtellt wurde), und die vierte endlich die gegen jene 
„Richtungen ſchiefe Bewegung (oder die Bewegung in der 
„Breite).“ — Er ſoll auch der Sonne und dem Monde eine 
eigene Bewegung in der Breite, und daher eine beſondere Sphäre 
zu dieſem Zwecke ertheilt haben; aber entweder hat Ariſtoteles 
jene Nachrichten, oder haben wir ſeine Ausdrücke nicht gehörig 
verſtanden, denn es wäre abſurd, dem Eudox eine Kenntniß der 
Bewegung der Sonne in der Breite zuſchreiben zu wollen. Ca— 
lippus ſetzte noch zwei andere Sphären für die Sonne und den 
Mond hinzu, um die Erſcheinungen dieſer beiden Himmelskörper 
vollkommen zu erklären, ſo daß es alſo ſcheint, er habe die un— 
gleichen Geſchwindigkeiten derſelben bereits gekannt. Er ſoll ſelbſt 
für die Planeten noch eine fünfte Sphäre ausgedacht haben, 
wahrſcheinlich um dadurch die Excentricität ihrer Bahnen zu 
erklären. 

In dieſer erſten Geſtalt, in welcher die neue Hypotheſe auf— 
trat, ſcheint man ſich um die Größen und Entfernungen der 
verſchiedenen Kreiſe, aus welchen die complicirte Maſchine be— 
ſtand, wenig gekümmert zu haben. Die Auflöſung der „ſchiefen“ 
Bewegung des Mondes in zwei andere, die Eudox vorſchlug, 
war nicht eben der einfachſte Weg, die Sache darzuſtellen. Ca— 
lippus wollte noch auf andere bemerkte Unregelmäßigkeiten Rück— 
ſicht nehmen, wodurch die Anzahl der Kreiſe dieſes Syſtems bei— 
nahe verdoppelt und das Syſtem noch verwickelter wurde. Nach 
ſeiner Hypotheſe beſtand die ganze Maſchine aus nicht weniger, 
als 55 Sphären. 

Dieß waren alſo die Fortſchritte, welche die neue Idee der 
epicykliſchen Hypotheſe kurz vor dem Auftreten Hipparchs gemacht 
hatte, durch welchen ſie erſt ihr eigentlich wiſſenſchaftliches Da— 
ſeyn erhielt. Doch wurde demſelben auch noch auf einem an— 
deren Wege, durch Sammlung von Beobachtungen, eifrig vor— 
gearbeitet. Schon die Chaldäer hatten bereits um das Jahr 367 
vor Chr. Geb. in Babylon mehrere Finſterniſſe beobachtet, und 
dieſe Beobachtungen ſind den Griechen überliefert worden, da 
Hipparch und Ptolemäus ihre Theorie des Mondes auf dieſe 
Finſterniſſe gründeten. Nicht für ganz ſo verläßlich dürfen wir 
wohl die Erzählung halten, daß die Chaldäer zur Zeit von Ale— 
rander dem Großen eine Reihe von Beobachtungen beſaßen, die 
volle 1900 Jahre alt waren, und die Calliſthenes, auf Ariſtoteles 


140 Inductive Epoche Hipparchs. 


Verlangen, nach Griechenland gebracht haben ſoll. In der That 
beginnen alle griechiſchen Beobachtungen von einigem Werthe 
erſt mit der Alexandriniſchen Schule. Ariſtyll und Timocharis 
ſcheinen, wie man aus den Citationen Hipparch's ſieht, die Orte 
der Fixſterne und der Planeten, und die Zeiten der Solſtitien 
zwiſchen den Jahren 295 und 269 vor Chr. Geb. beobachtet zu 
haben. Ohne dieſe Beobachtungen würde es dem Hipparch ſehr 
ſchwer, wo nicht unmöglich geweſen ſeyn, die Theorie der 
Sonne und die der Präceſſion der Nachtgleichen aufzuſtellen. 
Wenn Beobachtungen, die in der Zeit ſehr von einander ent— 
fernt ſind, unter ſich verglichen werden ſollen, ſo müſſen ſie 
zuerſt auf eine ihnen allen gemeinſchaftliche Epoche reduzirt 
werden. Die Chaldäer rechneten nach der Nabonaſſariſchen Aera, 
die mit dem Jahre 749 vor Chr. Geb. anfing. Die griechiſchen 
Beobachtungen aber wurden auf die Calippiſche Periode (die 76 
Jahre betrug) bezogen, und die mit dem Jahre 331 vor Chr. 
Geb. anfing, und nach welcher Hipparch und Ptolemäus ihre 
Beobachtungen anzugeben pflegten. 


Drittes Capitel. 
Inductive Epoche Hipparch's. 
Erſter Abſchnitt. 

Aufftellung der Theorie der Epicykel, 


Obſchon die Idee der Epicykel bereits zu Plato's Zeiten bes 
ſtanden, und obſchon die Nachfolger deſſelben ſich an dem neuen 
Problem auf mannigfaltige Weiſe zu üben geſucht hatten, ſo 
müſſen wir doch Hipparch als den eigentlichen Entdecker und 
Begründer dieſer Theorie betrachten, da er ſich nicht, wie jene, 
begnügte, bloß die Möglichkeit einer Darſtellung der himm— 
liſchen Bewegungen durch Kreiſe zu behaupten, ſondern da er 
die Wirklichkeit, ja die Nothwendigkeit dieſer Darſtel— 
lung bewies, und da er zugleich die wahre Größe und Verhältniſſe 
dieſer Kreiſe durch Rechnung beſtimmt hatte. Mit Recht ſagt 


Inductive Epoche Hipparchs. 141 


man, „daß derjenige eine Sache entdeckt, der ihre Wirklichkeit 
„am erſten beweist“, nicht bloß, weil eine jede Theorie, ehe fie 
als wahr erwieſen wird, keinen Vorzug vor allen den andern 
Meinungen hat, unter welchen ſie herumirrt, ſondern vielmehr, 
weil erſt derjenige, der ſich ihrer auf dem Wege der Rechnung 
bemächtigt, ſie allein mit derjenigen klaren Beſtimmtheit beſitzt, 
wodurch ſie, ſo zu ſagen, erſt ſein Eigenthum wird. 

Um dieſe Theorie der Epicykel in der That aufzuſtellen, war 
es nothwendig, die Größe, die Diſtanz und die Lagen aller 
dieſer Kreiſe oder Sphären zu beſtimmen, in welchen ſich die 
Himmelskörper bewegen, und zwar ſo zu beſtimmen, daß dadurch 
die ſcheinbaren unregelmäßigen Bewegungen dieſer Körper den 
Beobachtungen gemäß dargeſtellt werden. Die beſte Einſicht in 
die Schwierigkeiten dieſes Problems werden wir erhalten, wenn 
wir uns die in der That ſtatthabenden Bewegungen dieſer Kör— 
per, die wir nun vollſtändig kennen, näher vorſtellen wollen. 
Die wahre Bewegung der Erde um die Sonne, alſo auch die 
ſcheinbare Bewegung der jährlichen Sonne um die Erde geht 
nicht, wie man früher glaubte, in einem Kreiſe vor ſich, deſſen 
Mittelpunkt die Erde iſt, ſondern ſie hat in einer Ellipſe ſtatt, 
in deren Mittelpunkt die Erde nicht iſt, und die Geſchwindigkeit 
der Sonne iſt am größten, wenn ſie dieſem Orte der Erde im 
Innern der Ellipſe am nächſten kömmt. Man könnte ſtatt dieſer 
Ellipſe auch wohl noch einen Kreis annehmen, wenn man nur 
die Erde nicht in den Mittelpunkt dieſes Kreiſes ſetzt, denn auch 
dann würde die Sonne eine deſto größere Geſchwindigkeit haben, 
je näher ſie demjenigen Punkte ihrer Peripherie (dem Perigäum) 
kömmt, welcher zunächſt bei der Erde ſteht. Eine ſolche kreis— 
förmige Bahn wurde von den Alten eine excentriſche genannt, 
ſo wie man die Diſtanz der Erde von dem Mittelpunkte dieſes 
Kreiſes die Ercentricität hieß. Man kann durch eine leichte 
geometriſche Betrachtung zeigen, daß ein ſolcher excentriſcher 
Kreis ganz dieſelbe ſcheinbare Bewegung der Sonne geben würde, 
wie ein kreisförmiger Epicykel, in deſſen Peripherie ſich die 
Sonne gleichförmig bewegt, während der Mittelpunkt dieſes Epi— 
cykels wieder gleichförmig in der Peripherie eines andern Kreiſes 
einhergeht, in deſſen Mittelpunkt die Erde ſteht. Auch hat ſchon 
Ptolemäus (im dritten Buche ſeines Almageſt's) dieſe Identität 
des excentriſchen Kreiſes mit den Epicykeln vollftändig erkannt. 


142 Inductive Epoche Hipparchs. 


Excentriſcher Kreis der Sonne. 


Nachdem Hipparch deutlich erkannt hatte, daß ſich auf dieſe 
Weiſe die Bewegung der Sonne den Beobachtungen gemäß dar— 
ſtellen laſſe, ſo war es nun ſeine Sache, um die Möglichkeit der 
Hypotheſe zur Wirklichkeit zu erheben, von dieſem excentriſchen 
Kreiſe, in welchem ſich die Sonne bewegen ſollte, erſtens die 
Ercentricität, zweitens den der Erde nächſten Punkt der Pe— 
ripherie oder das Perigeum (Erdnähe), und endlich drittens 
die Epoche anzugeben, zu welcher die Sonne in dieſes Perigeum 
tritt. Nur durch die gehörige Angabe dieſer drei Elemente der Son— 
nenlehre konnte er die Wahrheit ſeiner epicykliſchen oder, was daſſelbe 
iſt, ſeiner excentriſchen Hypotheſe genügend beweiſen. Und dieß hat 
er auch in der That gethan, und ſich eben dadurch in den Stand 
geſetzt, fortan den Ort und die Geſchwindigkeit der Sonne für 
jede künftige Zeit durch Rechnung voraus zu beſtimmen, oder 
mit andern Worten, eine Sonnentafel zu conſtruiren, aus 
der man den Ort der Sonne unter den Geſtirnen des Him— 
mels für jede vergangene oder folgende Zeit berechnen konnte. 
Dieſe Tafeln, die uns Ptolemäus ) mittheilt, enthalten die 
Anomalie oder die Ungleichheit der Bewegung der Sonne, und 
zwar mit Hülfe der Proſtaphäreſis (unſerer heutigen Mittel 
punktsgleichung), die für jede Diſtanz der Sonne von dem Pe— 
rigeum zu ihrer mittleren (oder gleichförmigen) Bewegung hin⸗ 
zugeſetzt werden muß, um die wahre Bewegung derſelben zu 
erhalten, wie ſie uns von der excentriſchen Lage der Erde aus 
in der That erſcheint. 

Mancher Leſer wird vielleicht glauben, daß die Berechnung 
eines Sonnenorts für jede vergangene oder künftige, auch noch 
fo weit von uns entfernten Zeit, die Kenntniß einer ſehr großen 
Anzahl von Beobachtungen der Sonne, die man zu allen Jahres— 
zeiten angeſtellt hat, vorausſetzen muß. Allein dieß iſt keines— 
wegs der Fall, und eben darin that ſich der Genius des Erfinders 
dieſer Theorie, wie dieß bei allen ſolchen Gelegenheiten geſchieht, 
hervor, daß er durchſah, daß auch ſchon eine ſehr kleine Anzahl 
von Beobachtungen vollkommen hinreicht, die Wahrheit ſeiner 


1) Almagest. Lib. lil. 


Inductive Epoche Hipparchs. 143 


Hypotheſe für alle Zeiten zu beweiſen. Zwei beobachtete Aequi— 
noctien und ein Solſtitium genügten dem Geiſte Hipparchs, um 
ſeinen großen Zweck zu erreichen. „Er bemerkte,“ ſagt Ptole— 
mäus, „daß die Zeit von dem Frühlingsäquinoctium zu dem 
„Sommerſolſtitium 94½ Tage, die von dem Sommerſolſtitium 
„aber zu dem Herbſtäquinoctium nur 92½ Tage betrage, und 
„aus dieſen zwei Beobachtungszeiten wußte er den Schluß abzu— 
„leiten, daß die gerade Linie, welche den Mittelpunkt des excen— 
„triſchen Kreiſes der Sonne mit dem Mittelpunkte des Zodiakus 
„(d. h. mit dem Mittelpunkt der Erde) verbindet, den vier und 
„zwanzigſten Theil des Halbmeſſers jenes excentriſchen Kreiſes 
„beträgt, und daß das Apogäum (die Erdweite) in der Peri— 
„pherie dieſes Kreiſes um 24½ Grad vor dem Sommerſolſtitium 
„liege.“ 

Die Genauigkeit dieſer Tafel oder dieſes Canons der 
Sonne wurde nicht nur durch die Uebereinſtimmung derſelben 
mit den Beobachtungen der Griechen aus jener Zeit (welche letz— 
tere noch ſehr unvollkommen waren), ſondern noch viel mehr 
dadurch beſtätiget, daß man nun, mit Hülfe dieſer Tafeln, die 
Sonn- und Mondfinſterniſſe genau voraus berechnen konnte. 
Dieſe Finſterniſſe ſind nämlich ein ſehr guter Probierſtein ſolcher 
Tafeln, weil ſchon die geringſte Aenderung in dem Orte der 
Sonne oder des Mondes die Erſcheinung einer Finſterniß ganz 
umändern, ja wohl völlig unmöglich machen kann. Obgleich nun 
Hipparchs Tafeln, wenn ſie mit unſeren neuern verglichen wer— 
den, nicht mehr auf Genauigkeit Anſpruch machen können, ſo 
hielten ſie doch jene ſchwere und immer wiederkehrende Prüfung 
mit einer für jene Zeit ſehr erträglichen Richtigkeit aus, und 
beſtätigten auf dieſe Weiſe die Wahrheit der Theorie, nach wel— 
cher ſie berechnet waren. 


Excentriſcher Kreis des Monds. 


Die Bewegungen des Monds ſind viel mehr zuſammengeſetzt, 
als die der Sonne. Da aber für die letzte die Annahme eines 
excentriſchen Kreiſes oder eines Epicykels hinreichend gefunden 
war, ſo mußte der Verſuch ganz natürlich ſcheinen, auf dieſelbe 
Weiſe auch den Mond zu behandeln. In der That zeigte Hip— 
parch, daß man durch dieſes Mittel wenigſtens die größte Un— 


144 Inductive Epoche Hipparchs. 


gleichheit des Mondes darſtellen kann. Es iſt nicht eben leicht, 
die verſchiedenen Wege anzuzeigen, auf denen man hier zum 
Ziele zu kommen ſuchte, da es ſchon ſchwer hält, durch bloße 
Worte (ohne analytiſche Formeln) die bloßen Thatſachen der 
Bewegung des Mondes auszudrücken. Wenn dieſes Geſtirn eine 
ſichtbare, helle Spur ſeines Weges unter den Geſtirnen des 
Himmels zurückließe, fo würde dieſe als eine äußerſt verwickelte 
krumme Linie erſcheinen. Der Umfang einer jeden Revolution 
des Monds gleitet über oder unter der vorhergehenden weg, und 
viele ſolche Revolutionen zuſammen genommen bilden eine Art 
von ſehr complicirtem Netzwerk, das ſich über die Fläche des 
Thierkreiſes verbreitet ). Bei jedem Umlauf des Monds wird 
die Länge deſſelben durch eine Anomalie verändert, die der 
oben von der Sonne erwähnten ähnlich iſt. Ueberdieß aber 
weicht die Bahn des Mondes auch zu beiden Seiten der Eclip— 
tik ab, wodurch die verſchiedene Breite des Monds entſteht. 
Man bemerkte aber bald, daß die Periode, in welcher dieſe 
Breite alle ihre auf einander folgenden Veränderungen durch— 
wandert, nicht dieſelbe iſt, in welcher die Veränderungen der 
Länge eingeſchloſſen ſind, und eben dieß iſt die Urſache, daß der 
Mond in jeder folgenden Revolution wieder einen andern Weg 
am Himmel beſchreibt, und daß dieſer Weg, ſo wie auch die 
Geſchwindigkeit, mit welcher er zurückgelegt wird, immerwäh— 
renden Aenderungen unterworfen iſt. 

Demungeachtet wußte Hipparch dieſe Bewegungen des Monds 
ganz eben ſo in Tafeln zu bringen, wie er es für die Sonne 
gethan hatte. Mit viel größerer Schärfe, als je vor ihm ge— 
ſchehen iſt, beſtimmte er die ſogenannte mittlere Bewegung 
des Monds in Länge und Breite, und ſtellte dann die Anoma— 
lien der Länge, wie oben bei der Sonne, durch einen excentri— 
ſchen Kreis dar. 

Aber bei dieſen Verſuchen begegnete ihm noch ein neues 
Hinderniß. Das Apogäum der Sonne blieb immer auf derſelben 
Stelle des Himmels unbeweglich ſtehen, wenigſtens konnte Pto— 
lomäus für den von Hipparch vor 270 Jahren angegebenen Ort 


2) Man findet einen ſehr angemeſſenen Verſuch, dieſen Gegenſtand 
bildlich darzuſtellen in dem Companion to the British Almanak für 
d. 1834. 


Inductive Epoche Hipparchs. 145 


dieſes Apogaͤums der Sonne keine Verbeſſerung finden. Nicht 
ſo bei dem Monde, deſſen Apogäum eine ſehr bedeutende Be— 
wegung im Raume hat. Schon vor Hipparch (der nahe 150 
Jahre vor Ch. G. lebte) hatte man einen Cyclus von 6585 ¼ 
Tagen gefunden, in welchem 241 ſideriſche und 239 anomali— 
ſtiſche Revolutionen des Monds enthalten ſind. Dieſer Unter— 
ſchied von zwei Revolutionen in nahe 18 Jahren gab die Ver— 
anlaffung zu der Annahme, daß bei dem Monde der excentriſche 
Kreis ſelbſt wieder eine eigene Bewegung habe, nach welcher 
das Apogäum vorwärts oder von Weſt gen Oſt geht, ſo daß 
alſo nebſt den drei Elementen, die wir oben für die Sonnen— 
tafeln angeführt haben, für den Mond noch ein Viertes hinzu— 
kam, nämlich die Geſchwindigkeit, mit welcher ſich das Apogäum 
deſſelben am Himmel vorwärts bewegt. 

Auch dieſe Aufgabe wurde von Hipparch gelöst, und ſeine 
Mondstafeln beruhen ebenfalls nur auf einigen wenigen Beob— 
achtungen des Monds, nämlich bloß auf ſechs meiſtens von 
den Chaldäern beobachteten Finſterniſſen ). Drei von dieſen 
Finſterniſſen wurden zu Babylon in den Jahren 366 und 367 
der Nabonaſſariſchen Aera, und die drei anderen wurden zu 
Alexandrien in dem 547ſten Jahre dieſer Aera beobachtet. 
Auf dieſe Weiſe konnte er die Excentricität und das Apogäum 
der Mondsbahn für zwei Epochen beſtimmen, die 180 Jahre 
von einander entfernt waren, wodurch er alſo auch die Bewe— 
gung dieſes Apogäums erhielt 9). 

Zwar gibt es noch, außer den von Hipparch beobachteten, 
mehrere andere große Ungleichheiten des Mondes, aber ſeine 
Mondstafeln waren demungeachtet für jene Zeiten ſehr 
brauchbar, beſonders zur Berechnung der Finſterniſſe, da 


3) Ptolemaeus, Almag. IV. 10. 

4) Ptolemäus ſtellt die Ungleichheit des Monds durch einen Epieykel 
vor, aber Hipparch gebrauchte dazu den excentriſchen Kreis, wie 
für die Sonne. Es iſt bereits oben geſagt worden, daß beide, in 
Beziehung auf die Reſultate, identiſch ſind. Auf die Planeten 
wurde dieſelbe Theorie der Epicykel damals noch nicht, wenigſtens 
nicht auf mathematiſchem Wege, fortgeführt, obſchon auch ſie, wie 
jene zwei erſten Geſtirne, Ungleichheiten unterliegen, die ſich ganz 
auf dieſelbe Weiſe durch Epicykel oder durch excentriſche Kreiſe dar— 
ſtellen laſſen. 

Whewell. I, 10 


146 Inductive Epoche Hipparchs. 


glücklicherweiſe die größte von den Ungleichheiten, die Hipparch 
nicht berückſichtigte, nämlich die ſogenannte Evection, zur Zeit 
des Neu- und Vollmonds gänzlich verſchwindet. 

Dieſe numeriſche, auf Beobachtung und auf Rechnung gegrün— 
dete Auseinanderſetzung der Bewegungen des Monds und der 
Sonne, dieſe Begründung der Theorie der Epieykel und endlich 
die auf dieſer Theorie erbauten Tafeln der beiden Geſtirne enthal— 
ten den größten und ſchönſten Theil des hohen Verdienſtes, das 
ſich Hipparch um die Ausbildung der Aſtronomie erworben hat. 

Hipparch hatte, und zwar mit großer Genauigkeit, die 
mittleren Bewegungen der Planeten beſtimmt, aber der 

Mangel an hinreichenden Beobachtungen hinderte ihn, auch die 
Ungleichheiten derſelben durch feine epicykliſche Theorie darzuſtel— 
len. Die Maſſe der ſämmtlichen Beobachtungen, die er von ſeinen 
Vorgängern erhielt, war, wie Ptolemäus ſagt, lange nicht ſo 
groß, als die, welche er ſelbſt uns hinterließ. „So kam es,“ 
ſetzt er hinzu '), „daß er, der die Bewegung der Sonne und des 
„Monds durch feine Epicykel jo genau darzuſtellen wußte, für 
„die Planeten, jo weit wir aus feinen Schriften ſehen können, 
„nicht einmal einen Verſuch dazu machte, ſondern ſich bloß damit 
„begnügte, die bisher geſammelten Beobachtungen in Ordnung 
„zu bringen, ihnen von feinen eigenen mehr, als er von andern 
„erhalten hatte, hinzuzufügen, und endlich ſeinen Zeitgenoſſen 
„die Unzulänglichkeit derjenigen Hypotheſen zu zeigen, durch 
„welche andere Aſtronomen die Erſcheinungen des Himmels dar— 
„zuſtellen gedachten.“ — Es ſcheint, daß ſchon mehrere Aſtro— 
nomen vor ihm den Verſuch gewagt hatten, einen „Canon“ oder 
eine „Tafel“ für die Planeten zu entwerfen, durch welche man 
den ſcheinbaren Ort dieſer Körper für jede gegebene Zeit durch 
Rechnung beſtimmen könnte; aber da ſie ohne Rückſicht auf die 
Excentricität der Bahnen entworfen waren, ſo konnten ſie nicht 
anders, als ſehr fehlerhaft und ganz unbrauchbar ſeyn. 

Ptolemäus ſagt mit Recht, daß Hipparch ſeine bekannte 
Wahrheitsliebe und ſeinen geraden Sinn dadurch bezeugte, daß 
er dieſen Theil der von ihm begonnenen großen Arbeit der 
Nachwelt überließ. Die von ihm aufgeſtellte Theorie der Sonne 
und des Monds zeigt ihn uns als einen der größten, erfindungs— 


5) Ptolemaeus, Almag. IX. 2. 


Inductive Epoche Hipparchs. 147 


reichſten Aſtronomen, und fie beſtätiget zugleich vollkommen das 
hohe Anſehen, in welchem er immer bei feinen Zeitgenoſſen und 
Nachfolgern geſtanden hat. 

In der That wird man unter den Weiſen des Alterthums 
kaum einen zweiten mehr finden, von dem alle ſo gleichſtim— 
mig nur mit Bewunderung ſprechen. Ptolemäus ſelbſt, dem 
wir eigentlich die nähere Kenntniß dieſes außerordentlichen 
Mannes verdanken, ſpricht beinahe nie von dieſem Manne, 
ohne demſelben zugleich irgend ein lobendes Beiwort hinzuzu— 
fügen. Hipparch iſt ihm nicht nur ein „ſorgfältiger und 
„vortrefflicher Beobachter,“ ſondern auch zugleich „ein höchſt 
„wahrheit- und arbeitliebender Mann“), der in allen Theilen 
„der Wiſſenſchaft feinen ſeltenen Scharfſinn und ſeine bewun— 
„derungswürdige Erfindungskraft gezeigt hat.“ — Indem Plinius 
der Aeltere von ihm und von Thales ſpricht, ruft er begeiſtert 
aus: „Große Männer, weit erhaben über das gemeine Maaß 
„menſchlicher Kräfte, die ihr die Geſetze entdeckt habt, denen die 
„»himmliſchen Körper gehorchen; die ihr die Herzen der Menſchen 
„von den Feſſeln befreit habt, mit welchen das Vorurtheil und 
„die Furcht vor den Erſcheinungen des Himmels (der Finſterniſſe) 
„fie umgab. Heil Euch und Eurem hohen Geiſte, der uns die 
„Sprache des Himmels und die Geſetze des Univerſums kennen 
„gelehrt, der das Band geknüpft hat, welches fortan die Men— 
„ſchen mit den Göttern verbindet.“ — Auch die neueren Schrift— 
ſteller können von Hipparch nur mit Bewunderung ſprechen. 
Selbſt Delambre, der ſo ſelten lobt und ſo gern tadelt, ſcheint 
alle ſeine Sprödigkeit zu verlieren, wenn er auf Hipparch kömmt. 
Von Ariſtarch bemerkt er?), daß „unglücklicherweiſe“ fein Werk 
ganz auf uns gekommen iſt, und von Halicon aus Cyzitus, der 
eine Finſterniß richtig vorausgeſagt hat, ſagt er ), daß, wenn 
je die Geſchichte wahr iſt, Halicon mehr glücklich als geſchickt 
geweſen ſeyn mag. Aber von Hipparch heißt es“): „In ihm 
„ſehen wir einen der außerordentlichſten Männer des Alterthums, 
„ja den allergrößten in denjenigen wiſſenſchaftlichen Unter— 
„ſuchungen, welche die Combination der Geometrie mit den 


6) Ptolem. Almag. IX. 2. 
7) Delambre, Astr. Anc. I. 75. 
8) Ibid. I. 17. 
9) Ibid. I. 186. 
1943 


148 In ductive Epoche Hipparchs. 


„Beobachtungen erfordern.“ Delambre ſetzt noch hinzu, offenbar 
um dieſe Lobrede mit der geringſchätzigen Weiſe zu verſöhnen, 
in welcher er gewöhnlich von mittelmäßigen aſtronomiſchen Be— 
obachtungen ſpricht, „daß gute Beobachtungen und vorzügliche 
„Inſtrumente nur ſehr langſam, nur durch eine Reihe von Jahr— 
„hunderten und durch die Vereinigung vieler ausgezeichneten 
„Männer erhalten werden können, während Fleiß und Geiſtes— 
„kraft von dem einzelnen Manne abhängig iſt.“ 

Außer dieſer Theorie der Epicykel verdanken wir dem Hip— 
parch noch mehrere andere große Entdeckungen und Verbeſſerungen 
in der Aſtronomie. Allein jene erſcheint als der größte Bor 
ſchritt dieſer Wiſſenſchaft unter den Alten, und daher als der 
„leitende Punkt“ unſerer Geſchichte, deren Zweck nur die Auf— 
zeichnung des Fortgangs der reellen theoretiſchen Erkenntniß, 
und der dieſen Fortgang zunächſt begleitenden Verhältniſſe iſt. 


Zweiter Abſchnitt. 
Würdigung der Theorie der Epicykel. 


Es wird nicht unangemeſſen ſeyn, hier den eigentlichen 
Werth dieſer epicykliſchen Theorie näher kennen zu lernen, um 
ſo mehr, da vielleicht manche zu leicht davon denken. Denn 
erſtens wird jetzt dieſe Theorie als falſch anerkannt, und einige 
der ausgezeichnetſten Aſtronomen der neuern Zeit verdanken ihren 
Ruhm größtentheils dem Verdienſte, jene Theorie zuerſt in ihrer 
Blöße gezeigt und ſte endlich völlig zerſtört zu haben. Zweitens 
iſt auch dieſe Theorie nicht bloß falſch, ſondern auch äußerſt 
zuſammengeſetzt und verwickelt, ſo daß ſie jetzt nur als eine 
Maſſe von willkührlichen und ſelbſt abſurden Complicationen 
betrachtet wird. So ſpricht Milton von dieſem Gegenſtande ). 

. . He his fabric of the heavens 
Hath left to their disputes, perhaps to move 
His laughter at their quaint opinions wide; 
Hereafter when they come to model heaven 
And calculate the stars, how will they wield 
The mighty frame! how build, unbuild, contrive, 
To save appearances! how gird the sphere 
Wilh centric and eccentrie scribled o’ver 
Cycle in epicyele, orb in orb! u. s. f. 


1) Milton, Verlorenes Paradies VIII. 


Inductive Epoche Hipparchs. 149 


„.. Er übergab feinen Himmelsbau ihrer geſchwätzigen Zänkerei 
(mundum tradidit disputationibus eorum), vielleicht nur, um über 
ihre weither geholten Hypotheſen zu lächeln. Und als fie dann kamen, 
um die Sterne zu berechnen und ſelbſt die Himmel zu modelliren, 
wie behandelten ſie den erhabenen Bau! Sie riſſen nieder, bauten 
wieder auf, und quälten ſich ab, um nur den Schein zu retten. 
Sie bevölkerten den Himmel mit centrifchen nnd excentriſchen 
Kreiſen, die ſie übereinander thürmten, mit Cyklen in Epichklen, 
mit Bahn' in Bahnen u. ſ. f.“ 


Wer erinnert ſich nicht dabei des bekannten Ausſpruchs 
Alphons des Zehnten von Caſtilien 2), als man ihm dieſes 
verwickelte Syſtem auseinanderſetzte: „Wenn ich damals mit 
„zu Rathe gezogen worden wäre, fo hätte ich einen anderen, 
„einfacheren und beſſeren Plan für das Weltall vorgeſchlagen.“ — 
Ueberdieß wird dieſes epicykliſche Syſtem noch mit einer phan— 
taſtiſchen Conception von der Beſchaffenheit der Sphären beladen, 
aus welchen es zuſammengeſetzt iſt, daß nämlich dieſe Sphären 
alle von Kryſtall ſeyn, und daß auch die weiten Zwiſchenräume, 
welche dieſe Sphären von einander trennen, aus einer ſoliden 
Maſſe beſtehen ſollen, zwiſchen welchen ſich jene Kryſtallſphären, 
als eben ſo viele Kugelſchaalen, immerwährend bewegen, eine 
Annahme, die man mit Recht für unglaublich und monſtros 
gehalten hat. 

Allein wir müſſen vorerſt dieſe Anſichten zu verbeſſern oder 
ganz zu entfernen ſuchen, damit wir erſtens dieſer Hipparchiſchen, 
oder wie fie gewöhnlich genannt wird, dieſer Ptolemäiſchen Hy— 
potheſe nicht Unrecht thun, und zweitens noch aus einem andern, 
für uns noch wichtigeren Grund. Wir können nämlich an dieſem 
Beiſpiele ſehen, wie eine Theorie in hohem Grade ſchätzbar 
ſeyn mag, obſchon ſie von dem wahren Zuſtande der Dinge 
falſche Anſichten aufſtellt, und wie ſie, wenn ſie gleich ganz 
unnöthige Verwicklungen in ſich aufgenommen hat, doch für die 
Wiſſenſchaft ſelbſt von ſehr großem Nutzen ſeyn kann. Bei den 
weiteren, ſpäteren Fortſchritten unſerer Erkenntniß kann der 
Fall eintreten, daß der Werth des wahren Theils einer Theorie 
den anderen falſchen Theil derſelben weit überwiegt, und daß 
der Gebrauch, der Nutzen irgend einer Vorſchrift durch ihren 


2) Im Jahre 1252 nach Ch. G. 


150 Inductive Epoche Hipparchs. 


Mangel an Simplicität keineswegs verringert wird. Die erſten 
Schritte der menſchlichen Erkenntniß verlieren dadurch ihren 
Werth nicht, daß fie nicht auch zugleich die letzten find, und der 
Anfang einer Reiſe in unbekannte Gegenden erfordert oft nicht 
weniger Muth und Kraft als das Ende derſelben. 

Das eigentlich Wahre an Hipparchs Theorie und das, def— 
ſen Werth durch keine nachfolgende Entdeckung vermindert wer— 
den konnte, iſt die „Auflöſung“ der ſcheinbaren Bewegungen 
der himmliſchen Körper in ein Aggregat von bloß kreisförmigen 
Bewegungen. Der Prüfſtein der Wahrheit und Realität dieſer 
Auflöſung iſt der, daß fie zur Conſtruction von „Tafeln“ führt, 
durch welche die Orte jener Körper für jede gegebene Zeit, mit 
den Beobachtungen nahe übereinſtimmend, angezeigt werden. — 
Das Grundprincip der ganzen Methode iſt die Annahme, daß 
alle Bewegungen des Himmels gleichförmig ſind und in Kreiſen 
vor ſich gehen. Dieſe Annahme kann man allerdings falſch 
nennen, und wir haben geſehen, welche ſonderbare, phantaſtiſche 
Gründe man zu Gunſten dieſer Annahme aufgeſtellt hat. Aber 
irgend eine Hypotheſe iſt doch einmal nothwendig, um die Bewe— 
gungen jedes Planeten in verſchiedenen Punkten ſeiner Bahn 
unter einander in Verbindung zu bringen, das heißt, um irgend 
eine Theorie dieſer Bewegungen zu erhalten, und man muß 
geſtehen, eine einfachere Hypotheſe, als eben dieſe, kann man 
nicht mehr finden. Das eigentliche Verdienſt dieſer Theorie be— 
ſteht alſo darin, daß man, wenn man einmal den Betrag der 
Excentricität, der Lage des Apogeums und der Epoche aus eini— 
gen wenigen Beobachtungen gehörig beſtimmt hat, man dar— 
aus, mittels jener Theorie, den Ort des Planeten für alle, 
auch für die entfernteſten Zeiten, in Uebereinſtimmung mit den 
Beobachtungen ableiten kann. Um irgend eine bemerkte Ungleich— 
heit in der Bewegung durch Hülfe eines Epicykels darzuſtellen, 
dazu wird nicht bloß vorausgeſetzt, daß dieſe Ungleichheit in der 
That exiſtire, ſondern auch, daß dieſe Ungleichheit der Art ſey, 
daß ſie an gewiſſen Stellen ihren größten und kleinſten Werth 
habe, daß ſie zwiſchen dieſen Stellen nach einem beſtimmten 
Geſetze allmählig zu- und abnehme, und daß daher der einge— 
führte Epicykel alle dieſe Modifikationen der Ungleichheit voll— 
ſtändig darſtellen müſſe. 

Dieß wird noch weiter durch die Bemerkung erläutert, daß 


Inductive Epoche Hipparchs. 151 


dieſe Auflöſung der himmliſchen Bewegungen in lauter kreisför— 
mige im Grunde ganz mit der beſten und neueſten Methode 
übereinſtimmt, welche die Aſtronomen unſerer Tage für jene Be— 
wegungen anwenden. Dieſe unſere Methode beſteht bekanntlich 
darin, alle Ungleichheiten der himmliſchen Bewegungen durch 
Reihen darzuſtellen, deren einzelne Glieder, jedes für ſich, 
die einzelnen Theile darſtellt, aus welchen man ſich jede Ungleich— 
heit zuſammengeſetzt vorſtellt. Dieſe Glieder enthalten aber nur 
die Sinus und Coſinus von gewiſſen Winkeln, das heißt, 
ſie enthalten gewiſſe techniſche Hülfsmittel, durch welche man den 
Kreis, alſo auch die kreisförmigen Bewegungen auszumeſſen 
pflegt, unter der Vorausſetzung, daß alle kreisförmige Bewegung 
ihrer Natur nach auch eine gleichförmige Bewegung iſt, und da— 
her mit der Zeit ſelbſt in einem conſtanten Verhältniß bleibt, 
eine Vorausſetzung, welche die Alten ihrer epicykliſchen Theorie 
ebenfalls zu Grunde gelegt haben. In dieſer Beziehung iſt alſo das 
große Problem, alle himmliſchen Bewegungen in partielle, kreis— 
förmige aufzulöſen, dieſes Problem, das ſchon vor zwei Jahr— 
tauſenden in Plato's Schule aufgeſtellt worden iſt, auch noch in 
unſern Zeiten der Gegenftand, mit welchem ſich die wiſſenſchaft— 
liche Aſtronomie vorzugsweiſe beſchäftigt. 

Daß Hipparch bei ſeinem erſten Verſuche, dieſes Problem 
für die Bewegungen der Sonne und des Mondes aufzulöſen, 
ſeinen Zweck ſo vollſtändig erreichte, und daß er zugleich die 
Möglichkeit der Anwendung ſeiner Methode auf alle andere 
Himmelskörper fo klar erkannte, dieß allein ſichert ihm ſchon 
eine der erſten Stellen unter den großen Aſtronomen aller Zeiten. 
Was die Vorwürfe und ſelbſt die Spöttereien betrifft, die ſich 
manche gegen die Verwicklung dieſes Syſtems erlaubt haben, 
ſo ſieht man leicht, daß ſie von wenig Gewichte ſind. Als ein 
Rechnungsſyſtem iſt es nicht nur gut, ſondern, wie wir ſo 
eben gezeigt haben, ſelbſt in ihrer Hauptbeziehung nicht von dem 
neueſten und beſten Syſtem verſchieden. Wenn die Bewegungen 
der Planeten, durch irgend eine Berechnungsart, ſo gut als nur 
möglich, dargeſtellt werden, und wenn man dann über die Ver— 
wicklung und Beſchwerde dieſer Rechnung Klage führen wollte, 
ſo mögen wir nur die Natur ſelbſt, nicht aber den Aſtronomen 
anklagen. Dieſer wird ſich gegen ſolche Vorwürfe ohne Zweifel 


152 Inductive Epoche Hipparchs. 


zu vertheidigen willen. „Ohne uns, ſagt Ptolemäus), ohne 
„uns durch die Verwicklung einer Hypotheſe oder durch die 
„Schwierigkeit einer Berechnung abſchrecken zu laſſen, haben wir 
„bloß darauf zu ſehen, die Erſcheinungen der Natur ſo gut als 
„möglich darzuſtellen. Wenn dieſe Hypotheſe jede einzelne Un— 
„gleichheit genau darſtellt, ſo wird die Combination derſelben 
„der Wahrheit gemäß ſeyn, und warum ſollen wir uns über die 
„Verwicklungen der himmliſchen Körper ſo ſehr verwundern, da 
„uns doch die Natur dieſer Körper noch ſo gänzlich unbe— 
„kannt iſt?“ 

Aber man könnte jetzt ſagen, daß jene himmliſchen Bewe— 
gungen in der That viel einfacher ſind, als ſie in jener Hypo— 
theſe dargeſtellt waren, und daß die ganze Theorie der Epicykel, 
als Conſtruction der eigentlichen Planetenwelt betrachtet, völlig 
grundlos und falſch iſt. Darauf kann erwiedert werden, daß 
keiner der beſſern Aſtronomen des Alterthums, ſo viel wir wiſſen, 
dieſen Epicykeln eine wirkliche, reelle Exiſtenz zugeſchrieben hat. 
Wenn auch die dogmatiſchen Philoſophen, wie Ariſtoteles, dieſe 
himmliſchen Sphären für wirklich beſtehende, ſolide Körper ge— 
halten haben mögen, fo fpricht doch Ptolemäus“) von ihnen 
nur, als von bloßen imaginären Dingen, und ſchon aus feinem 
Beweiſe, den er für die Identität eines Epicykels mit einem excen— 
triſchen Kreiſe gibt, folgt klar, daß er dieſe Epieykel für nichts 
anderes gehalten hat, als für eine geometriſche Conception, durch 
welche er die ſcheinbaren Bewegungen des Himmels den Beob— 
achtungen gemäß darzuſtellen verſuchte. 

Es iſt allerdings wahr, daß die reellen Bewegungen der 
Planeten viel einfacher ſind, als die ſcheinbaren, wie ſie von der 
(ſelbſt wieder beweglichen) Erde geſehen werden, und daß wir 
demnach, die wir dieſe reellen Bewegungen kennen, jene Ver— 
wicklungen und Verwirrungen der alten Hypotheſen nur mit einer 
Art von Abneigung betrachten müſſen. Allein dieſe reellen 
Bewegungen würden wir nie kennen gelernt haben, wenn nicht 
zuerſt jene?fcheinbaren Bewegungen fo fleißig und genau une 
terſucht worden wären. Wie ſchwer der Uebergang von den Er— 
ſcheinungen zur Wahrheit, von den beobachteten Thatſachen zur 


3) Almag. XIII. 2. 
4) Aluag. III. 3. 


er 


Inductive Epoche Hipparchs. 153 


wahren Theorie derſelben iſt, davon kann ſich jeder leicht ſelbſt 
überzeugen, wenn er es verſucht, aus bloßen allgemeinen Be— 
griffen von der reellen Bewegung des Mondes die Regeln abzu— 
leiten, nach welchen man eine Finſterniß berechnen ſoll, oder 
auch nur einem Anfänger zu zeigen, welcher Art der ſcheinbare 
Weg des Mondes unter den Sternen des Himmels iſt. 

Der beſte Beweis von dem Verdienſte und dem hohen Werthe 
der epicykliſchen Theorie beſteht darin, daß ſie geeignet war, die 
geſammten aſtronomiſchen Kenntniſſe jener Zeiten zu umfaſſen, 
daß ſie den Aſtronomen Mittel zu anderen, noch beſſeren und 
genaueren Methoden an die Hand gab, und daß ſie endlich, 
wenn wir ſo ſagen dürfen, als ein Behältniß diente, in welchem 
man die Reſultate einer langen Reihe von Arbeiten und Ent— 
deckungen, der Griechen, Römer, Araber und der Europäer des 
Mittelalters, aufnehmen und ſo lange bewahren konnte, bis end— 
lich die neue Theorie ſich erhob, durch welche jene ältere entbehr— 
lich gemacht und ihrer fo lange treu erfüllten Pflichten überhoben 
werden konnte. Es mag manchem ſonderbar ſcheinen, daß der 
Vater dieſer neuen Theorie, daß Copernicus ſelbſt die Epicykel 
der Alten noch unverändert beibehalten hat. Allein er behielt 
nur das von der Theorie der Alten bei, was wir oben als das 
eigentlich Werthvolle derſelben bezeichnet haben. „Wir müſſen 
„annehmen, ſagt er ), daß die himmliſchen Bewegungen kreis— 
„förmig ſind, weil die Ungleichheiten derſelben ein beſtimmtes 
„Geſetz befolgen und in unveränderlichen Perioden wiederkehren, 
„was ſie nur dann thun können, wenn ſie in Kreiſen vor ſich 
„gehen.“ a 

In dieſem Sinne alſo war Hipparchs Theorie eine reelle und 
unzerſtörbare Wahrheit, die nicht durch ſpätere Wahrheiten wider— 
legt oder verworfen, ſondern die in jeder folgenden, beſſern aſtro— 
nomiſchen Theorie, mit ihren wahren Beſtandtheilen aufgenom— 
men und gleichſam von ihr abſorbirt werden konnte, und die 
daher auch für alle Folgezeiten einen der wichtigſten Theil unſerer 
aſtronomiſchen Erkenntniß bilden wird. 

Schon eine geringe Ueberlegung wird uns zeigen, daß die Ein— 
führung und Aufſtellung der epicykliſchen Theorie zwar die charakte— 
riſtiſchen Kennzeichen an ſich trägt, die wir oben als die Bedin— 


5) Copernicus. De Revol. L. I Cab. 4. 


154 Inductive Epoche Hipparchs. 


gungen eines jeden wahren Fortſchritts der Wiſſenſchaft bezeichnet 
haben, nämlich die „Anwendung von klaren, angemeſſenen Ideen 
„auf eine Reihe von reellen Thatſachen.“ Die Klarheit der geo— 
metriſchen Conception, durch die es dem Hipparch möglich wurde, 
der Sonne und dem Monde ihre Bahn am Himmel anzuweiſen, 
bedarf hier keiner weiteren Erläuterung, und wir haben ſo eben 
gezeigt, wie dieſelben Ideen, auf das ganze Planetenſyſtem an— 
gewendet, auch die verſchiedenen Erſcheinungen dieſer anderen 
Himmelskörper den Beobachtungen gemäß dargeſtellt haben. Um 
dieſe Schritte in der Wiſſenſchaft zu machen, war Mühe und 
Fleiß in der Sammlung und Sichtung der Beobachtungen, war 
mathematiſche Klarheit der Begriffe, war endlich ein ſtetes Feſt— 
halten der Anſicht nothwendig, daß jede gute Theorie nur in 
einer glücklichen Analyſe der Beobachtungen beſtehe. 


Dritter Abſchnitt. 
Präcelſion der Nachtgleichen. 


Dieſelben Eigenſchaften, die wir in den bisher erwähnten 
Unterſuchungen Hipparchs bemerkt haben, ſorgſamen Fleiß in 
der Sammlung von Beobachtungen und eine klare Beſtimmtheit 
des Begriffs in der Darſtellung derſelben — dieſelben Eigen— 
ſchaften finden wir auch bei ſeinen andern Entdeckungen, die wir 
hier kurz anzeigen wollen. N 

Eine der wichtigſten dieſer Entdeckungen iſt die des „Vor— 
rückens der Nachtgleichen.“ — Der Umſtand, der ihn darauf 
führte, war eine von ihm bemerkte Aenderung der Länge aller 
Fixſterne. Dieſe Längen werden bekanntlich auf der Ekliptik von 
dem Punkte an gezählt, wo dieſe Ekliptik den Aequator durch— 
ſchneidet. Jene Längen werden ſich alſo ändern, wenn dieſe 
Ekliptik oder wenn die Sonnenbahn ſich ändert. Allein eine Aen— 
derung in der Länge dieſer Bahn iſt nicht ſo leicht zu bemerken. 
Man lernt den Weg der Sonne unter den Sternen nicht durch 
eine bloße Anſicht des Himmels, ſondern nur durch eine Reihe 
von Schlüſſen aus ganz anderen Beobachtungen kennen. Hipparch 
bediente ſich zu dieſem Zwecke beſonders der Mondsfinſterniſſe. 
Da nämlich dieſe Finſterniſſe immer nur an ſolchen Orten ſich 
ereignen, die der Sonne am Himmel diametral gegenüber ſtehen, 


Inductive Epoche Hipparchs. 155 


ſo gaben ſie ihm ein Mittel, den Ort der Sonne für jede ſolche 
Zeit kennen zu lernen. Indem er aber die von ihm ſelbſt beob— 
achteten Finſterniſſe mit denen verglich, die nahe 150 Jahre 
vor ihm Timocharis angeſtellt hatte, fand er, daß der helle 
Stern, der damals ſchon, wie jetzt, die Kornähre der Jungfrau 
genannt wurde, und der zu ſeiner Zeit ſechs Grade von dem 
Nachtgleichenpunkte entfernt war, daß dieſer Stern vor 150 
Jahren acht Grade von demſelben Punkte abſtand. Er fiel bald 
auf die Vermuthung, daß eine ähnliche Aenderung der Länge 
wohl bei allen Fixſternen Statt habe, aber ſein philoſophiſcher 
Geiſt ließ ihn dieſe Vermuthung nicht ſogleich als Wahrheit an— 
nehmen. Er unterſuchte auf ähnliche Weiſe auch den Ort des 
Regulus und mehrerer anderer Fixſterne, und fand ſeine dadurch 
frühere Vermuthung vollkommen beſtätigt. Auch jetzt aber konnte 
er nicht wohl annehmen, daß dieſe Sterne alle ihre Länge in der 
That ändern, ſondern er ſuchte vielmehr, ob die von ihm be— 
merkte Erſcheinung ihren Grund vielleicht in einer Aenderung 
derjenigen Kreiſe habe, die man, wie wir ſchon oben geſagt 
haben, auf der Sphäre des Himmels gezogen hat, um dadurch 
die Lage der Geſtirne angeben zu können. 

Die Klarheit, mit welcher Hipparch die von ihm bemerkte 
Erſcheinung des Himmels betrachtete, folgt ſchon aus der von 
ihm gegebenen Erklärung derſelben. Nach ihm hat, wie uns 
Ptolemäus erzählt, der Grund jener Aenderung in einer Bewe— 
gung des Himmels ſtatt, die um den Pol der Ekliptik, nicht aber 
um den Pol des Aequators vor ſich geht. (Mit andern Worten: 
Jene Erſcheinung wird durch die Annahme vollkommen erklärt, 
daß der Pol des Aequators um den ruhenden Pol der Ekliptik, 
gegen die Ordnung der Zeichen, oder daß der Aequator ſich auf 
der ruhenden Ekliptik, ebenfalls gegen die Ordnung der Zeichen, 
ſich bewegt, wobei der Aequator ſich nahe ſelbſt parallel bleibt. L.) 
Dadurch wurde der reine Begriff dieſer eigenthümlichen Bewe— 
gung ſowohl, als auch die Realität ihrer Exiſtenz, dieſe zwei 
Hauptbedingungen jeder wahren Entdeckung, zur klaren Anſicht 
gebracht. Welche Maſſe von Beobachtungen aber durch dieſe 
Entdeckung unter ein gemeinſchaftliches Geſetz gebracht worden 
iſt, dieß läßt ſich gewiſſermaßen ſchon daraus abnehmen, daß 
durch die Präceſſion, die ſeit Hipparchs Zeit bis auf unſere 
Tage die Orte aller Sterne am Himmel nahe um 30 Grade 


156 Inductive Epoche Hipparchs. 


verändert hat, die ganze Revolution des geſtirnten Himmels um 
volle 360 Grade ihrer Peripherie erſt in dem Zeitraume von 
25,000 Jahren vollendet ſeyn wird. Auf dieſe Weiſe iſt dieſe 
Entdeckung das Band geworden, welches die entfernteſten Perio— 
den unſerer Menſchengeſchichte mit einander verbindet, wie denn 
auch z. B. die ſcharfſinnigen Unterſuchungen Newton's in ſeiner 
Chronologie ſämmtlich nur auf dieſer Präceſſion der Nachtgleichen 
beruhen. 

Dieſe zwei Entdeckungen, die der Conſtruction der Tafeln der 
Sonne und des Mondes, und die der Präceſſion, gehören zu 
den größten und wichtigſten Fortſchritten der Aſtronomie, nicht 
nur an ſich ſelbſt, ſondern auch in Beziehung auf die neuen 
Gegenſtände und Unterſuchungen, zu welchen ſie die Aſtronomen 
geführt haben. Die erſte fand Ordnung und ein beſtändiges Ge— 
ſetz unter den Erſcheinungen, die dem erſten Blicke nur Ver— 
wirrung und immerwährende, regelloſe Aenderung darboten, und 
die zweite lehrte uns eine neue, immerfort thätige Veränderung 
aller Fixſterne des Himmels kennen, die man bisher, wie ſchon 
ihr Name ſagt, als feſt und für ewige Zeiten unbeweglich an— 
genommen hatte. Entdeckungen dieſer Art waren wohl geeignet, 
gar manche Fragen in dem forſchenden Geiſte des Menſchen zu 
erwecken, da fortan nichts mehr, ohne die ſtrengſte Unterſu— 
chung, als feſt und beſtändig angenommen werden konnte, und 
da keine künftige, ſcheinbar auch noch ſo verwickelte Erſcheinung 
uns von dem Verſuche abſchrecken konnte, eine einfache Erklärung 
und ein regulirendes Geſetz derſelben zu ſuchen, nachdem uns dieß 
bei einem der ſchwerſten Probleme dieſer Art ſo glücklich gelungen 
war. Allein dieſen Forderungen zu entſprechen, waren vor allem 
beſſere Beobachtungsmethoden nothwendig, als die, mit 
welchen man ſich bisher begnügt hatte. Ueberdieß führten jene 
zwei großen Entdeckungen, ſo wie auch die, welche durch ſie zu— 
nächſt veranlaßt wurden, zu mancherlei Folgerungen, Verbin— 
dungen und Erweiterungen, durch welche die Wiſſenſchaft ſelbſt 
nur gewinnen konnte. Kurz, dieſe Epoche der Induction 
leitete, wie dieß bei jeder ſolchen Epoche der Fall iſt, auf eine 
ihr zunächſt folgende Periode der Entwicklung, der Verification, 
und der Anwendung und Erweiterung derjenigen Schätze, in deren 
Beſitz man ſich ſo eben geſetzt hatte. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 157 


Viertes Capitel. 
Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 
Erſter Abſchnitt. 
Unterſuchungen zur Beſtätigung der gefundenen Theorie. 


Die Entdeckung des leitenden Geſetzes der Bewegungen der 
Sonne und des Mondes, und die der Präceſſion der Nachtglei— 
chen können als die zwei Glanzpunkte der Hipparchiſchen Aſtro— 
nomie betrachtet werden, als die zwei Stammentdeckungen, aus 
welchen manche andere, kleinere hervorſproßten. Durch ſie wurde 
das Bedürfniß fühlbar gemacht, auch die übrigen Nebenzweige 
des großen Baumes näher kennen zu lernen, und dieſes Bedürf— 
niß wurde durch eine Reihe von eifrigen Beobachtern und Be— 
rechnern befriedigt, die zuerſt aus der Alexandriniſchen Schule, 
und ſpäter auch aus andern gebildeten Ländern hervorgingen. 
Indem wir aber der verſchiedenen Bemühungen dieſer Nachfolger 
Hipparchs gedenken wollen, werden wir uns kürzer, als bisher, faſſen 
können, da die bloße weitere Entwicklung einer einmal aufge— 
ſtellten Lehre für unſere Geſchichte nicht mehr von dem Gewichte 
ſeyn kann, wie jene erſte Conception, jene primitive Beſtätigung 
der Fundamentalwahrheit, auf welche dann ſpäter jede ſyſtema— 
tiſche Doctrin gewöhnlich erbaut wird. Doch dürfen dieſe Pe— 
rioden der Verification nicht gänzlich überſehen werden, und ihre 
Betrachtung iſt vielleicht nirgends ſo nützlich, als eben in der 
Aſtronomie. 

Eigentlich aber hinterließ Hipparch ſeinen Nachfolgern nur 
wenig von jenen Nebenarbeiten, zu welchen ſeine großen Ent— 
deckungen Veranlaſſung gegeben haben. Er ſelbſt hatte ſchon 
mit der genaueſten Sorgfalt beinahe alle einzelne Theile ſeines 
Gegenſtandes unterſucht. Wir wollen hier nur die vorzüglichſten 
derſelben näher bezeichnen. 

Das von ihm aufgeſtellte Geſetz der Präceſſion, nach welchem 
bloß der Aequator ſich auf der feſten Ekliptik bewegt, ſetzte vor— 
aus, daß die Orte der Fixſterne am Himmel und ihre gegen— 
ſeitigen Diſtanzen unveränderlich ſind, und eben ſo beruhten auch 
ſeine Sonnen- und Mondtafeln gleichſam ſtillſchweigend auf der 


158 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Vorausſetzung, daß unſer Tag, ſo wie auch unſer Jahr, unver— 
ändert von derſelben Länge für alle Zeiten bleibe. Allein Hip— 
parch begnügte ſich nicht, dieſe zwei Hypotheſen als die Baſis 
ſeiner Theorie bloß anzunehmen, er ſuchte ſie auch zu be— 
weiſen. 


1) Unbeweglichkeit der Fixſterne. 


Schon die bloße Entdeckung der Präceſſion mußte fofort auf 
die Frage führen, wenn ſie auch früher nie aufgeſtellt worden 
wäre, ob die Firfterne auch in der That immer denſelben Ort 
am Himmel einnehmen. Dieſe wichtige Frage zu beantworten, 
unternahm Hipparch die Conſtruction einer eigenen Himmels— 
karte. Denn obſchon die Reſultate ſeiner Unternehmung von 
ihm eigentlich nur in Worten ausgedrückt wurden, ſo glauben 
wir doch dieſen Namen dem von ihm entworfenen Catalog der 
vorzüglichſten Fixſterne geben zu müſſen. Er bedient ſich näm— 
lich zur Ortsbezeichnung dieſer Sterne der ſogenannten Aligne— 
ments, indem er immer drei oder mehr ſolcher Sterne aus— 
wählt, die durch eine ſcheinbare gerade Linie am Himmel unter 
einander verbunden werden können. So ſagt er z. B., daß der 
größere Stern in der ſüdlichen Scheere des Krebſes, ferner der 
hellere in demſelben Sternbilde, der dem Kopf der Hydra voran— 
geht, und endlich der hellſte Stern im kleinen Hund, nahe in 
derſelben geraden Linie liegen. Ptolemäus, der uns dieſe und 
viele andere Alignements Hipparchs erhalten hat, folgert dar— 
aus, daß ſich die gegenſeitige Lage der Sterne ſeit Hipparchs 
Zeit, d. h. ſeit nahe 300 Jahren nicht geändert habe, eine 
Wahrheit, die man ohne Hipparchs Catalog, der 1080 Sterne 
enthielt, nicht beſtätigen konnte. 

Dieſe Aufzahlung der vorzüglichſten Sterne des Himmels 
durch Hipparch iſt ein in der Geſchichte der Aſtronomie ſehr be— 
rühmt gewordenes Ereigniß. Plinius ) ſpricht davon mit Bes 
wunderung als von einer erhabenen, übermenſchlichen Unterneh— 
mung: Ausus rem etiam Deo improbam, annumerare posteris 
stellas. Derſelbe Geſchichtſchreiber erzählt uns, daß die Aus— 
führung dieſer großen Arbeit durch ein wunderbares aſtrono— 


1) Plin. Hist. Nat. II. XXVI. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 159 


miſches Ereigniß veranlaßt worden ſey, nämlich durch die Er— 
ſcheinung eines neuen, früher unſichtbaren Sterns: novam stel- 
lam et aliam in aevo suo genitam deprehendit, ejusque 
motu, qua die fulsit, ad dubitationem est adductus, anne 
hoc saepius fieret, moverenturque et eae, quas putamus af- 
fixas. Gegen dieſe Nachricht iſt nichts einzuwenden, nur mag 
man mit Delambre ?) bemerken, daß uns nicht geſagt wird, ob 
dieſer neue Stern am Himmel geblieben, oder vielleicht bald 
darauf wieder verſchwunden iſt. Ptolemäus erwähnt weder des 
Sterns noch dieſer Geſchichte, und ſein Catalog enthält keinen 
hellen oder größern Stern, der nicht auch in den „Cataſterismen“ 
des Eratoſthenes gefunden würde. Dieſe Cataſterismen ſind ein 
Verzeichniß von 475 der hellſten Sterne, die nach der Ordnung 
der Sternbilder, zu welchen ſie gehören, aufgezählt werden, und 
die nahe ſechzig Jahre vor Hipparch zuſammengeſchrieben wor— 
den ſind. 


2) Beſtändigkeit des Jahrs. 


Hipparch unternahm auch die Unterſuchung, ob alle Jahre 
gleiche Länge haben, und obſchon er, bei ſeiner ängſtlichen Liebe 
zur Genauigkeit 5), ſich ſelbſt über dieſe Gleichheit nicht völlig 
zufrieden ſtellen konnte, ſo zeigte er doch, durch die Finſterniſſe 
ſowohl, als auch durch die Beobachtungen der Zeiten, in welchen 
die Sonne durch die Aequinoctialpunkte geht, daß der Unter— 
ſchied der aufeinander folgenden Jahre, wenn er ja noch beſteht, 
wenigſtens ungemein klein ſeyn müſſe. Die Beobachtungen der 
nachfolgenden Aſtronomen, beſonders die des Ptolemäus, beſtä— 
tigten dieſe Meinung, und zeigten mit Verlaͤßlichkeit, daß die 
Länge des Jahrs für alle Zeiten unveränderlich iſt. 


3) Beſtändigkeit des Tags, Zeitgleichung. 


Schwerer war es, ſich von der völligen Gleichheit der Tage 
zu überzeugen. Das Jahr nämlich wird durch die von der Na— 
tur gegebene Anzahl der Tage, die es enthält, gemeſſen, aber 


2) Delambre, Astr. Anc. I. 290. 
3) Ptolem. Almag. III. 2. 


160 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


der Tag wird von uns ſelbſt nur durch künſtliche Mittel in 
Stunden oder in ſeine Theile getheilt. Die mechaniſchen Mittel 
der Alten reichten jedoch nicht hin, dieſe letzte Eintheilung mit 
der hier nöthigen Genauigkeit vorzunehmen, obſchon ihre Aſtro— 
men ſich auch wohl der Waſſeruhren und anderer ähnlicher 
Inſtrumente bedienten. Man nahm indeß als das einfachſte, 
was man vorausſetzen konnte, an, daß die ſcheinbare tägliche 
Bewegung der Fixſterne, durch welche eigentlich die Länge des 
Tages beſtimmt wird, vollkommen gleichförmig und immer von 
derſelben Dauer iſt. Aus dieſer Annahme folgte von ſelbſt, daß 
der Sonnentag (d. h. die von einer Culmination der Sonne 
bis zur nächſtfolgenden andern) ungleich ſeyn müſſe, weil 
nämlich die Geſchwindigkeit der Sonne für verſchiedene Zeiten 
veränderlich iſt. Dieſe Bemerkung führte auf die ſogenannte 
Zeitgleichung, d. h. auf den Unterſchied der Zeit, die für 
jeden Augenblick zwiſchen einer richtigen Sonnenuhr und einer 
guten (nach der ſogenannten mittleren Zeit gehenden) aſtrono— 
miſchen Uhr ſtatt hat. Die alten griechiſchen Aſtronomen haben 
auf dieſe Zeitgleichung immer Rückſicht genommen, was vor— 
ausſetzt, daß ſie auch die Unveränderlichkeit des Tages aner— 
kannt haben. 


Zweiter Abſchnitt. 
Unterfuchungen, welche Hipparch's Theorie nicht beftätigten. 


Einige von den Unterſuchungen Hipparch's und ſeiner Nach— 
folger betrafen die eigentliche ſchwache Seite der von ihm auf— 
geſtellten Theorie, und fie würden, wenn die Beobachtungen der 
Alten genau genug geweſen wären, entweder auf die Verbeſſerung, 
oder auch auf eine gänzliche Verwerfung dieſer Theorie geführt 
haben. | 

Unter diefen müſſen wir zuerft der Parallaxe der Him— 
melskörper erwähnen, das heißt jener ſcheinbaren Verſetzung 
ihres Ortes am Himmel, wenn ſie von dieſem oder einem an— 
deren Punkte der Oberfläche der Erde betrachtet werden. Pto— 
lemäus handelt umſtändlich von dieſem Gegenſtande, und man 
kann nicht zweifeln, daß auch Hipparch ſich ſorgfältig damit 
beſchäftiget habe, da er ein eigenes „parallactiſches Inſtrument“ 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 161 


erfunden hat. Der Begriff einer Parallaxe, als einer geome— 
triſchen Conception, war in der That zu einfach, als daß man 
ihn lange hätte überſehen können, und ſchon bei der erſten Be— 
gründung der „Lehre von der Sphäre“ mußte es auffallend er— 
ſcheinen, daß man, ohne bemerklichen Irrthum, jeden Punkt 
der Oberfläche als den Mittelpunkt der Himmelsſphäre annehmen 
konnte. Allein wenn dieß in Beziehung auf die Fixſterne als 
richtig anerkannt wurde, durfte man es auch für die Sonne 
und den Mond als wahr vorausſetzen? Bei der Sonne zwar 
iſt die Ortsveränderung, die ſie durch die Parallaxe erleidet, ſo 
gering, daß auch der beſte practiſche Aſtronom des Alterthums 
dieſelbe unmöglich bemerken konnte, aber bei dem Monde verhielt 
ſich dieſe Sache ganz anders. Der Mond kann durch die Parall— 
axe um einen Bogen am Himmel verſetzt werden, der zweimal 
den Durchmeſſer dieſes Geſtirns (genauer 0° 57“) beträgt, eine 
Größe, die auch das unvollkommenſte aſtronomiſche Inſtrument 
angeben muß, wenn es auf dieſen Namen überhaupt noch 
Anſpruch machen will. Das Geſetz, nach welchem die durch die 
Parallaxe erzeugten Aenderungen erfolgen ſollen, iſt leicht zu 
finden, wenn man die Erde als kugelförmig vorausſetzt, aber 
die eigentliche „Größe“ dieſer Aenderung hängt von der Diſtanz 
des Monds von der Erde ab, und ſetzt alſo wenigſtens eine gute 
Beobachtung zur Beſtimmung dieſer Diſtanz voraus. Ptolemäus 
hat eine Tafel der Wirkungen der Parallaxe berechnet, deren 
Argument die ſcheinbare Höhe des Monds iſt, und wobei er 
verſchiedene Diſtanzen des Monds vorausſetzt. Allein dieſe Di— 
ſtanzen ſtimmen in ihrer Aufeinanderfolge nicht mit der wahren 
Bewegung des Monds überein, weil ſie, wie natürlich, nur nach 
der epicykliſchen Bewegung deſſelben angenommen wurden. 

In der That iſt dieſe ganze epieykliſche Theorie, obſchon fie, 
die „ſcheinbaren Orte“ oder die Länge und Breite der Himmels— 
körper allerdings der Wahrheit gemäß darzuſtellen vermag, doch 
in Beziehung auf die Diſtanzen derſelben von der Erde, ſehr 
fehlerhaft. Man kann die Halbmeſſer eines oder auch mehrerer 
Epicykel ſo annehmen, daß dadurch die ſcheinbaren Längen der 
Planeten mit jeder willkührlichen Genauigkeit dargeſtellt werdenz 
allein wenn man dieß thut, ſo laſſen ſich, eben weil man es 
gethan hat, die Diſtanzen der Planeten von der Erde nicht mehr 
der Wahrheit gemäß darſtellen und umgekehrt. 

Whewell. I. 11 


162 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Durch die in verſchiedenen Zeiten beobachtete Parallaxe 
laſſen ſich die für dieſelben Zeiten ſtatthabenden Verhältniſſe der 
Diſtanzen des Monds von der Erde finden. Ein anderes Mit— 
tel, die letzten Verhältniſſe zu finden, gewährt die Beobachtung 
des ſcheinbaren Durchmeſſers des Monds in verſchiedenen Zeiten. 
Allein beide Beobachtungen, die der Parallaxe und die des ſchein— 
baren Durchmeſſers des Monds, konnten mit den unvollkom— 
menen Inſtrumenten der Alten, wie es ſcheint, nicht mit der 
erforderlichen Schärfe gemacht werden, um daraus ein Argument 
gegen ihr epicykliſches Syſtem abzuleiten, obſchon die Falſchheit 
deſſelben auf dieſem Wege ſich am beſten hätte erkennen laſſen müſ— 
ſen. Man begnügte ſich, wie es ſcheint, mit der Uebereinſtim— 
mung dieſes Syſtems in Beziehung auf die beobachteten Längen 
der Planeten, die man auch allein mit einiger Genauigkeit 
meſſen konnte, und bekümmerte ſich wenig darum, ob auch die 
Diſtanzen derſelben von der Erde durch daſſelbe Syſtem genau 
dargeſtellt wurden, weil man doch die Beobachtungen der Parall— 
axe ſowohl, als auch die der ſcheinbares Durchmeſſer dieſer Pla— 
neten, aus welchen ſich allein jene Diſtanzen ableiten ließen, mit 
den Inſtrumenten jener Zeit nicht genau genug beobachten konnte. 

In der That läßt ſich zeigen (m. ſ. Littrow's theor. und 
pract. Aſtr. Vol. II. S. 110 u. f. L), daß derjenige Halbmeſſer 
des Epicykels, welcher die Ungleichheit der Länge des Monds 
richtig darſtellt, die Ungleichheit ſeiner Diſtanz von der Erde 
um das Doppelte zu groß gibt. Ptolemäus nahm die Excen— 
tricität der Mondsbahn gleich / —= 0.0833 des Halbmeſſers 
dieſer Bahn an, da ſie doch in der That nur halb ſo groß (ge— 
nauer gleich 0.0548) iſt. Dieſer Theil der von Hipparch aufge— 
ſtellten epicykliſchen Theorie trägt alſo in ſich ſelbſt den Keim 
ihrer Zerſtörung. Auch wurde die Unzuläſſigkeit dieſer Theorie 
von der Zeit an vollſtändig anerkannt, als die aſtronomiſche 
Beobachtungskunſt dahin gelangt war, den ſcheinbaren Durch— 
meſſer des Monds bis auf ſeinen dreißigſten oder vierzigſten 
Theil (d. h. bis auf eine Minute) genau zu meſſen. Wir wer— 
den in der Folge ſehen, welche weitere Wege dieſe Theorie ein— 
geſchlagen hat; hier mag es genügen, zu bemerken, daß eine ſehr 
lange Zeit vergehen mußte, bis die Kunſt zu beobachten ſolche 
Fortſchritte gemacht hatte, die Unzuläßlichkeit jener Hypotheſe 
vollkommen zu erweiſen. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 163 


Dritter Abſchnitt. 


Beobachtungsmethade der griechifchen Altronomen. 


Da es in allen ſogenannten Verificationsperioden eine 
Hauptſache iſt, die abſolute Größe der Dinge, um die es ſich 
handelt, mit Genauigkeit kennen zu lernen, ſo müſſen auch alle 
Verbeſſerungen der bisher zu den Beobachtungen gebrauchten 
Inſtrumente und Methoden als characteriſtiſche Züge einer ſol— 
chen Epoche betrachtet werden. Wir wollen hier einige derſelben 
näher anführen. 

Die Schätzung der Diſtanzen der Geſtirne durch das bloße 
Auge iſt ein ſehr unverläßliches Verfahren, obſchon es die Alten 
öfters angewendet zu haben ſcheinen. Man liest in ihren Schrif— 
ten von Sternen, die zwei oder drei Ellen (cubitus, nyxvs) von 
einander abſtehen. Man kann ſich einen Begriff von der Ge— 
nauigkeit einer ſolchen Meſſungsart machen, wenn man hört, 
daß die frühern Griechen die Sonne einen Fuß groß angenom— 
men haben, eine Meinung, die Cleomedes ) auf das Umſtänd— 
lichſte zu widerlegen für gut fand. 


Etwas genauer iſt die Methode der Alignements, von der 
wir ſchon oben bei Gelegenheit des Sterncatalogs von Hipparch 
geſprochen haben. Eine gerade Linie z. B. durch die zwei Hinter— 
räder des Wagens (des großen Bären) geht verlängert durch 
den Polarſtern, eine Art ſich auszudrücken, die man auch wohl 
jetzt noch gebraucht, um Anfängern den geſtirnten Himmel kennen 
zu lehren. 

An verläßlichere Beobachtungen irgend einer Art aber konnte 
man nicht eher denken, bis die Aſtronomen auf das Zuſammen— 
treffen der Geſichtslinie der Himmelskörper mit eigentlichen 
Inſtrumenten verfielen, dieſes Zuſammentreffen mag nun durch 
unmittelbares Sehen oder auch, bei der Sonne beſonders, durch 
den Schatten derſelben vermittelt werden. 


1) M. ſ. Delambre, Astr. Anc. I. 222. 


164 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Die älteſte und gewöhnlichſte Weiſe, die Lage der Himmels— 
körper zu beſtimmen, war ohne Zweifel die, wo die Höhe der 
Sonne durch die Länge des Schattens gefunden wurde, den ein 
von ihr beſchienener ſenkrechter Stab (oder ein Gnomon) auf 
ſeinen horizontalen Boden wirft. Nach einem Memoir von 
Gaubil, das zuerſt in der Connaisance des temps f. d. J. 
1809 erſchien ), fand Tſchou-kong um das Jahr 1100 vor Ch. G. 
in der untern Stadt Loyang, die jetzt Honanfu heißt, die 
Schattenlänge eines Gnomons von acht Fuß Höhe zur Zeit des 
Sonnenſolſtitiums gleich einem und einem halben Fuß. — 
Die Griechen bedienten ſich ſchon ſehr früh eines ähnlichen 
Verfahrens. Strabo ſagt ), „daß Byzanz und Marſeille auf 
„demſelben Breitenparallel liegen, weil in dieſen Städten die 
„Schatten daſſelbe Verhaͤltniß zu der Länge des Gnomons haben, 
„wie Hipparch berichtet, der hierin dem Pytheas folgt.“ 

Allein die Aſtronomen drücken die Lagen der Himmelskörper 
gewöhnlich durch ſogenannte Winkeldiſtanzen aus, und dieſe wer— 
den am einfachſten durch den Bogen eines Kreiſes angegeben, 
deſſen Mittelpunkt das Auge des Beobachters einnimmt. Der 
Gebrauch des Gnomons mag durch graphiſche Methoden der 
Geometrie auf dieſe Beſtimmungen der Winkel durch ihre 
Tangenten geführt haben, obſchon man auch ſchon ſehr früh dieſe 
Winkel unmittelbar durch Kreisinſtrumente, die an ihrer Peri— 
pherie eingetheilt waren, gemeſſen zu haben ſcheint. Man 
theilte dieſe Peripherie ſchon in den älteſten Zeiten in 360 gleiche 
Theile, vielleicht weil man durch jeden ſolchen Theil, für jene 
Beobachtungen nahe genug, den täglichen Weg der Sonne am 
Himmel darſtellen wollte. Die Lage der Sonne wurde durch 
den Schatten eines durch den Mittelpunkt auf dem Kreiſe ſenk— 
rechten Styles an der eingetheilten Peripherie deſſelben angezeigt. 
Eines der älteſten Inſtrumente dieſer Art war die Hemiſphäre 
des Beroſus. Eine hohle Halbkugel wurde mit ihrem Rande 
horizontal geſtellt, und in dem Mittelpunkte derſelben wurde 
ein Stiel befeſtigt. Der Schatten des unterſten Endpunkts dieſes 


9) Useful knowledge. Hist. Astron. ©. 5, 
3) Delambre, Astr. Anc. I. 257. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 165 


Stiels hatte dann dieſelbe Lage gegen den tiefſten Punkt der 
Halbkugel, welche die Sonne gegen den höchſten Punkt des 
Himmels hatte. Doch wurde dieſes Inſtrument vielmehr zur 
Eintheilung des Tages in Stunden gebraucht. 

Eratoſthenes ) beſtimmte der erſte die Größe der Nei— 
gung der Ecliptik gegen den Aequator, man weiß nicht mehr, 
durch welche Inſtrumente. Er ſoll von der Großmuth des 
Ptolemäus Evergetes zwei Armillen erhalten haben, die aus 
verſchiedenen Kreiſen zuſammengeſetzt waren. Sie wurden in 
dem Porticus von Alexandrien aufgeſtellt, wo ſie lange Zeit zu 
den Beobachtungen dienten. Einer dieſer Kreiſe wurde ſo ge— 
ſtellt, daß er mit dem Aequator parallel war, wo dann an dem 
Tage die Sonne durch den Aequator ging, an welchem die innere 
Seite dieſes Ringes nicht beſchienen wurde. Mit einem ſolchen 
Inſtrumente konnte man alſo die Zeit der Nachtgleichen finden. 
Auch Hipparch ſcheint ſich eines ähnlichen Werkzeugs bedient zu 
haben ). „Der Kreis von Kupfer,“ ſagt Ptolemäus, „der zu 
„Alexandrien in dem ſogenannten Quadratportal aufgeſtellt war, 
»ſcheint zur Beobachtung der Nachtgleichen beſtimmt geweſen zu 
»ſeyn.“ Ein ſolches Inſtrument wurde Aequinoctial-Ar— 
mille genannt. 

Ptolemäus beſchreibt auch eine Solſtitial-Armille, die 
aus zwei Ringen beſtand, die ſich in einander bewegten. Der 
innere war mit zwei hervorſtehenden, einander diametral gegen— 
über liegenden Schnäbeln verſehen. Dieſe Kreiſe wurden beide 
in die Ebene des Meridians gebracht, und dann der innere ſo 
lange gedreht, bis der Schatten des einen Schnabels genau auf 
den anderen fiel, wo dann der Ort der Sonne im Mittag durch 
die Eintheilung des äußeren Ringes beſtimmt werden konnte. 

Zu den Berechnungen wurde ſchon damals der Grad in 
60 Minuten, und die Minute in 60 Secunden eingetheilt. 
Allein für die Mechaniker jener Zeit war es unmöglich, die 
Peripherie ihrer Kreiſe in ſo viel kleine Theile zu theilen. 
Die Armillen von Alexandrien waren nur in Sechstheile des 
Grades oder von zehn zu zehn Minuten getheilt. Die an dieſen 
Inſtrumenten beobachteten Winkel aber pflegte man in Theilen 


4) Delambre, Astr. Anc. I. 86. 
5) Ptolem, Almag. III. 2. 


166 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


der ganzen Peripherie anzugeben. So ſagte Eratoſthenes, daß 
der Zwiſchenraum zwiſchen den beiden Sonnenenden ½3 der 
Peripherie betrage ). 

Man bemerkte bald, daß man zu dieſen Beobachtungen 
keinen ganzen Kreis brauchte. Ptolemäus jagt daher “), daß 
er bequemer zu ſeinen Höhen-Beobachtungen eine viereckige Platte 
von Stein oder Holz gebrauche, auf deren einer Seite der vierte 
Theil eines Kreiſes mit ſeinen Eintheilungen angebracht iſt. In 
dem Mittelpunkte dieſes Kreiſes wurde ein Stift ſenkrecht auf 
die Platte angebracht, und wenn dann der oberſte Halbmeſſer 
des Kreiſes horizontal geſtellt wurde, ſo konnte man die Höhe 
der Sonne durch den Schatten finden, welcher von jenem Stifte 
auf die Peripherie des Kreiſes geworfen wurde. Als das Be— 
dürfniß einer größern Genauigkeit dieſer Beobachtungen mehr 
und mehr fühlbar wurde, war man auf verſchiedene Vorrich— 
tungen und Verbeſſerungen dieſer Inſtrumente bedacht. Sie 
wurden mittels einer Mittagslinie genau in die Ebene des 
Meridians geſtellt; die Ebene des Inſtruments wurde durch ein 
Bleiloth in eine vertikale Lage gebracht, ſo wie auch der 
oberſte Halbmeſſer durch die Waſſerwage horizontal geſtellt 
Ne e. 

Auf dieſe Weiſe konnte man alſo die Lage der Sonne und 
des Mondes am Himmel mittels des Schattens beobachten, wel— 
chen dieſe Geſtirne verurſachten. Zur Beobachtung der Sterne vi— 
ſirte der Beobachter längs der Fläche ſeines Rings, ſo daß der von 
dem Stern ausgehende Lichtſtrahl dieſer Fläche parallel wurde ). 


6) Delambre, Astr. Anc. I. 87. Seine Beobachtung gab ihm wahr⸗ 
ſcheinlich für dieſen Zwiſchenraum 47⅝ 847.66 Grade, und 2 


üft gleich 0.132 oder nahe gleich — 

7) Almagest. I. 1. 

8) Schon Ptolemäus bemerkte die Krümmung feiner Inſtrumente, 
die aus Holz gemacht waren, wenn ſie ſich durch die Feuchtigkeit 
warfen. Almag. III. 2. Er ſah, daß der innere Rand ſeines Aequa— 
torialrings in demſelben Aequinoctial-) Tage zweimal beleuchtet 
wurde, denn er wußte nicht, daß die Urſache dieſer Erſcheinung 
in der Refraction zu ſuchen iſt. 

9) Delambre, Astr. Anc. I. 185. Ptolem. Almag. I. I. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 167 


Später fand man es angemeſſener, die Sonne unmittelbar 
in Beziehung auf die Ekliptik zu beobachten, und zu dieſem 
Zwecke gebrauchte man das ſogenannte Aſtrolabium, deſſen 
Beſchreibung uns Ptolemäus aufbehalten hat ). Auch dieſes 
Inſtrument beſtand aus mehreren ineinander beweglichen Ringen, 
von welchen der eine in die Lage der Ekliptik gebracht wurde, 
während man den anderen, der immer durch den Pol der Eklip⸗ 
tik ging, ſo ſtellte, daß ſeine Fläche zugleich die Sonne traf. 
Auf dieſe Weiſe konnte man auch die Lage des Monds gegen die 
Ekliptik und die Poſition deſſelben gegen die Sonne oder gegen 
einen Fixſtern beſtimmen. 

Dieſes Aſtrolabium blieb lange im Gebrauch, noch länger 
aber der oben erwähnte Quadrant des Ptolemäus, der, im 
größern Maaßſtab ausgeführt, den ſogenannten Mauerqua— 
dranten bildet, deſſen man ſich noch in den 1 Zeiten zu 
bedienen pflegte. 

Es mag auffallend erſcheinen “), daß Hipparch, der eine 
längere Zeit durch die Geſtirne in Beziehung auf den Aequator 
(alſo Rectaſcenſionen und Declinationen) beobachtet hatte, ſpäter— 
hin den Gebrauch ſeines Aequatorial-Inſtruments gänzlich ver— 
ließ, und das Aſtrolab vorzog, welches unmittelbar die Lage 
der Geſtirne gegen die Ekliptik (oder die Länge und Breite dieſer 
Geſtirne) angab. Wahrſcheinlich that er dieß in Folge ſeiner 
Entdeckung der Präceſſion, nach welcher die Breite aller Fixſterne 
unverändert bleibt, ſo daß er für verſchiedene Zeiten nur die 
Länge derſelben zu kennen nöthig hatte ). 


10) Ptolem. Almag. V. I. 

11) Delambre, Astr. Anc. S. 181. 

12) Die Folgen dieſer Wahl Hipparchs find jetzt noch in allen Theilen 
der Aſtronomie ſichtbar. Die ganze Einrichtung unſerer Inſtru— 
mente und ihre innige Verbindung, beſonders mit unſerer Zeit— 
beſtimmung durch Uhren, verweist ung, bei unſern Berechnungen, 
auf den Aequator, während die meiſten unſerer Beobachtungen, 
wie auch die Ebenen bei den Planeten- und Kometenbahnen, ſich 
noch immer auf die Ekliptik beziehen. Unſere Sterncataloge 
ſtimmen mit unſerer Beobachtungsart überein, da ſich hier dieſe 
Uebereinſtimmung beſonders fühlbar machte; aber dieß iſt nicht 
mehr der Fall mit den neuern Tafeln der Sonne und des Monds, 
und aller Planeten, die ſich noch immer, wie bei den alten Grie— 


168 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Zu den erwähnten Inſtrumenten kann man auch die Dio p— 
tern und das parallactiſche Inſtrument zählen, deren ſich 
Hipparch und Ptolemäus bedienten. Mittels des letztern wurde 
die Zenithdiſtanz der Geſtirne durch zwei an einem Stabe ange— 
brachte Abſehen beobachtet, welcher Stab ſich um den Endpunkt 
eines andern drehen ließ, der mittels eines Bleiloths ſenkrecht 
geſtellt wurde, wo man dann den Winkel zwiſchen den beiden 
Stäben meſſen konnte. 

Das folgende Beiſpiel einer aus dem Ptolemäus entlehnten 
Beobachtung mag uns zeigen, auf welche Weiſe N 
dieſe Beobachtungen anzugeben pflegte. „In dem zweiten Jahre 
„Antonins, den neunten Tag des Pharmuthi, nahe bei Unter— 
„gang der Sonne, als die letzten Theile des Stiers im Meridian 
„waren, d. h. (5½; Aequinoctialſtunden nach dem Mittag), war 
„der Mond im dritten Grad der Fiſche, in dem Abſtand von 
„92 Graden und 8 Minuten von der Sonne; eine halbe Stunde 
„ſpäter war die Sonne untergegangen, und das Viertel der 
„Zwillinge im Meridian, und da erſchien Regulus an dem andern 
„Ringe des Aſtrolabs, 57½ Grad mehr vorwärts, als der 
„Mond, in Länge ).“ Aus dieſen Angaben berechnet dann 
Ptolemäus die Länge des Regulus. 

Nach dem Vorhergehenden ſieht man wohl, daß die Beob— 
achtungen der Alexandriniſchen Aſtronomen auf keine große Ge— 
nauigkeit Anſpruch machen konnten. Dieſer Umſtand hatte aber, 
nach der allgemeinen Aufnahme der Hipparchiſchen Theorie, einen 
ſehr ungünſtigen Einfluß auf den Fortgang der Wiſſenſchaft. 
Hätten jene Aſtronomen den Ort des Mondes Tag für Tag 
genau angeben können, ſo würden ſie alle die Ungleichheiten 
deſſelben entdeckt haben, die ſo ſpät erſt durch Tycho Brahe 
gefunden wurden; und hätten ſie die Parallaxe oder den ſchein— 


chen, auf die Ekliptik beziehen, obſchon wir ſie doch, gleich den 
Fixſternen, nur in Beziehung auf den Aequator beobachten. Indeß 
möchte es ſchwer ſeyn, die Aſtronomen dahin zu vereinigen, ſich 
von dieſem, dem gegenwärtigen Zuſtande der Wiſſenſchaft nicht 
mehr angemeſſenen Reſte des Alterthums zu trennen, um die 
gewünſchte Gleichförmigkeit zwiſchen den Beobachtungen und ihren 
Berechnungen zu erhalten. L. 


13) Delambre, Astr. Anc. II. 248. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 169 


baren Durchmeſſer des Mondes auch nur mit einiger Schärfe meſſen 
können, ſo würden ſie ihre epicykliſche Theorie, durch die Kennt— 
niß der wahren Mondsbahn, als vollkommen falſch erkannt 
haben. Aber die große Unvollkommenheit ihrer Beobachtungen 
und die ſehr geringe Uebereinſtimmung derſelben mit den Be— 
rechnungen hielt ſie von allen weitern Fortſchritten ab, und 
hieß ſie ihre beliebte Theorie mit ſerviler Zuſtimmung und 
bloß mit dunklem Bewußtſeyn erkennen, ſtatt mit jener ratio— 
nellen Ueberzeugung, mit jener intuitiven Klarheit, die allein 
der Wiſſenſchaft einen Anſtoß zum weiteren, wahren Fort— 
ſchritte geben kann. 


Vierter Abſchnitt. 
periode von Hipparch bis Ptolemäus. 


Wir wollen nun die Nachfolger Hipparchs bis zu Ptolemaͤus 
näher kennen lernen, dem erſten großen Aſtronomen, der ſeit 
jenem in der Geſchichte dieſer Wiſſenſchaft erſchien, obſchon auch 
er nur in der Reihe derjenigen ſteht, welche die von Hipparch 
aufgeſtellte Theorie bloß beftätigt, entwickelt, und in einzelnen 
Theilen weiter ausgeführt haben. Die übrigen Aſtronomen, die 
zwiſchen dieſen beiden Männern lebten, drangen ſelbſt auf dem 
letzten Wege nicht weiter vor, obſchon man mit Recht annehmen 
darf, daß ſie ihre Arbeiten unter ſehr günſtigen Verhältniſſen 
ausgeführt haben, da ſie alle ſich der freigebigen Unterſtützung 
der Aegyptiſchen Könige zu erfreuen hatten ). Die „gött— 
„liche Schule Alexandriens,“ wie ſie von Syneſius im vierten 
Jahrhundert genannt wird, ſcheint nur ſehr wenig Männer 
hervorgebracht zu haben, die im Stande waren, die Wiſſenſchaft 
vorwärts zu führen, oder auch nur, die Entdeckungen ihres 
unſterblichen Lehrers zu beſtätigen und weiter zu begründen. 
Die mathematiſche Klaſſe dieſer Schule wußte ſehr viel zu ſchrei— 
ben, und offenbar beobachteten ſie auch fleißig: aber ihre Beob— 
achtungen waren von geringem Werth, und ihre Schriften ſind 
bloße Expoſitionen der von ihrem Meiſter aufgeſtellten Theorie 


1) Delambre, Astr. Anc. II. 240. 


170 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


mit den geometriſchen Folgerungen derſelben, ohne weitere Be— 
mühung, ſie mit den Beobachtungen ſelbſt zu vergleichen. So 
ſcheint z. B. auch nicht einer dieſer Männer um die Verification 
der von Hipparch entdeckten Präceſſion der Nachtgleichen ſich be— 
müht zu haben, bis hinauf zur Zeit des Ptolemäus, volle 250 
Jahre nach jenem; eben ſo wenig wird bei den Schriftſtellern 
dieſer Zwiſchenzeit jener Präceſſion auch nur erwähnt, und Pto— 
lemäus führt keine einzige Beobachtung aus dieſer Periode 
an, während er unabläſſig von den Beobachtungen des Hipparch 
ſpricht, ſo wie von der des Ariſtyll und Timochanis, des Conon 
und anderer, die noch vor Hipparch gelebt und beobachtet haben. 

Demungeachtet iſt die Alexandriniſche Schule, ſo unfrucht— 
bar ſie auch für die Aſtronomie war, für die literariſche Cultur 
überhaupt von großem, nützlichem Einfluß geweſen. Viele Schrif— 
ten derſelben hat uns die Zeit erhalten, obſchon die von Hip— 
parch ſelbſt verloren gegangen ſind. Wir beſitzen noch das „Ura— 
nologium“ von Geminus (im Jahre 70 vor Chr. Geb.), eine 
ſyſtematiſche Zuſammenſtellung der Aſtronomie, in welcher Hip— 
parchs Theorie mit ihren nächſten Folgerungen gehörig auseinan— 
der geſetzt wird, und die vorzüglich recht gute Nachrichten von 
den verſchiedenen chronologiſchen Cykeln enthält, deren Ge— 
brauch mit der Calippiſchen Periode aufhörte. Eben ſo haben 
wir noch die „Kreistheorie der Himmelskörper“ von Cleomedes 
(60 Jahre vor Chr. Geb.), deren vorzüglichſter Theil die „Theorie 
der Sphäre“ iſt, mit Einſchluß der Folgen der Kugelgeſtalt der 
Erde. Ein anderes Werk „Ueber die Sphäre“ von Theodoſius 
aus Bithynien (50 Jahre vor Chr. Geb.) enthält die vorzüg— 
lichſten Lehren dieſes Gegenſtandes, und iſt lange, ſelbſt in den 
neuern Zeiten, als allgemeines Lehrbuch gebraucht worden. Hieher 
gehört auch Menelaus, der etwas ſpäter als jener lebte, und 
der uns drei Bücher über die Sphären hinterlaſſen hat. 

Eine der vorzüglichſten „Deductionen“ jeder geometriſchen 
Theorie, wie z. B. der von der Sphäre oder von den Epicykeln, 
beſteht ohne Zweifel in der numeriſchen Berechnung der Reſul— 
tate dieſer Theorie in einzelnen Fällen. Auf dieſem Wege hat 
man z. B. auf der epicykliſchen Theorie die Sonnen- und Monds⸗ 
tafeln erbaut, wie wir bereits oben geſagt haben. Allein dieſer 
Bau ſetzte eine neue Rechnungsmethode, die Trigonometrie, 
voraus, durch welche man die Verhältniſſe der Seiten und 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 171 


Winkel der Dreiecke beſtimmen konnte. Hipparch ſelbſt hatte ſich 
dieſe neue Methode entworfen, wie er denn überhaupt der Ur— 
heber jedes großen Fortſchritts in der Aſtronomie der Alten ge— 
weſen iſt 2). Er ſchrieb ein Werk in zwölf Büchern „Ueber die 
„Conſtruction der Tafeln der Sehnen und Bogen,“ da die Grie— 
chen Tafeln dieſer Art zur Auflöſung der Dreiecke gebrauchten. 
Die „Lehre von der Sphäre“ erforderte auf ähnliche Weiſe auch 
eine „ſphäriſche Trigonometrie“, und Hipparch ſcheint 
auch dieſe zuerſt ausgebildet zu haben ), da er Reſultate vor— 
trägt, die den Beſitz einer Methode zur Auflöſung ſphäriſcher 
Dreiecke vorausſetzen. Auch Hypſtikles, ein Zeitgenoſſe des Pto— 
lemäus, machte mehrere Verſuche zur Auflöſung ſolcher Pro— 
bleme. Allein es iſt auffallend, daß die erwähnten Nachfolger 
Hipparchs, nämlich Theodoſius, Cleomed und Menelaus, der 
Berechnung der Dreiecke, der ebenen wie der ſphäriſchen, nicht 
einmal Erwähnung thun ), obſchon der letzte, wie man ſagt ), 
über die Chordentafel ein eigenes Werk geſchrieben hat, das aber 
verloren gegangen iſt. 

Wir werden ſpäter noch oft ſehen, wie vorherrſchend in ge— 
bildeten Zeiten die Anlage iſt, welche die Schriftſteller zu den Com— 
mentatoren vorhergegangener Werke macht. Daſſelbe Beſtreben 
zeigte ſich auch ſchon ſehr früh in der Alexandriniſchen Schule. 
Aratus “), der gegen 270 vor Chr. Geb. am Hofe des Antigonus, 
Königs von Macedonien, lebte, beſchrieb die Sternbilder des Himmels 
in zwei Geſängen, welche die Aufſchrift tragen: „Phaenomena“ 
und „Prognostica“. — Dieſe Gedichte waren wenig mehr, als eine 
in Verſe gebrachte Darſtellung der Schrift des Eudoxus über den 
achroniſchen und heliſchen Auf- und Untergang der Sterne. Dieſes 
Werk wurde ſogar der Gegenſtand eines eigenen Commentars, 
den Hipparch über daſſelbe verfaßte, der dieß vielleicht für den 
einfachſten Weg hielt, ſeinen Entdeckungen eine günſtige Auf— 
nahme bei dem größern Kreiſe der Leſer zu verſchaffen. Die 
Römer wurden durch drei lateiniſche Ueberſetzungen mit dieſem 


2) Delambre, Astr. Anc. II. 37. 
3) Delamb. Anc. Ast. I. 117, 
4) Id. Ibid. I. 248. 

5) Id. Ibid. II. 37. 

6) Id. Ibid. I. 74. 


172 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Gedichte des Aratus bekannt gemacht; die erſte derſelben war 
von Cicero, von deſſen Ueberſetzung noch verſchiedene Fragmente 
auf uns gekommen find “); die zweite iſt von Germanicus Cäſar, 
einem der Schwiegerſöhne des Kaiſers Auguſtus, und dieſe iſt 
beinahe vollſtändig auf uns gekommen; die dritte ebenfalls voll— 
ſtändige endlich iſt die von Avienus ?). Die „Astronomica“ 
des Manilius und das „Poeticon Astronomicon“ des Hyginus, 
beide aus der Zeit des Auguſtus, ſind Dichtungen, welche die 
erſten Elemente der Aſtronomie mit mythologiſchen Ausſchmückun— 
gen zu verbinden ſuchen, die aber für die Geſchichte der Aſtro— 
nomie ohne weiteren Werth ſind. Nahe daſſelbe Urtheil läßt 
ſich auch über die Erläuterungen und Declamationen von Cicero, 
Seneca und Plinius fällen, da file uns von keiner Erweiterung 
der aſtronomiſchen Erkenntniſſe Nachricht geben, und da ſie ſelbſt 
nicht ſelten nur dunkle und unbeſtimmte Begriffe über die Gegen— 
ſtände verrathen, die ſie beſchreiben wollen. 

Die merkwürdigſten Stellen in den zwei letztgenannten Au— 
toren find vielleicht noch die rhetoriſchen Ausdrücke, mit welchen 
ſie ihre Bewunderung für die Entdeckungen in der Phyſik und 
Aſtronomie mittheilen. In einer dieſer Stellen drückt Seneca 
ſeine Ueberzeugung von dem unbegrenzten Fortgang der Wiſſen— 
ſchaft, als die eigentliche Beſtimmung des Menſchen, aus. Ob— 
ſchon dieſer Glaube nicht viel mehr, als eine unbeſtimmte Mei— 
nung war, die auf einer willkührlichen Annahme beruhte, ſo 
führte ſie doch zu manchen andern Vermuthungen, von welchen 
einige, da ſie zufälliger Weiſe in Erfüllung gegangen ſind, viel 
Aufſehen gemacht haben. So ſpricht Seneca von den Kometen °): 
„die Zeit wird kommen, wo dieſe Dinge, die jetzt verborgen ſind, 
„durch Genie und Fleiß an's Licht gelangen werden, und die Nach— 
„welt wird ſich verwundern, daß wir ſo alltägliche Dinge nicht 
„wiſſen konnten.“ Die Bewegungen der Planeten, ſetzt er hin— 
zu, die ſo verwickelt und ſcheinbar verworren ſind, werden dem— 


7) Zwei Copien dieſer Ueberſetzung, mit Zeichnungen ſehr verſchie— 
dener Zeitalter, des Römiſchen und des Anglo-Sächſiſchen, werden, 
nach Ottley's Bericht, in der Archaeologia, Vol. XVIII. be: 
ſchrieben. 

8) Montucla, Hist. des Mathem. I. 221. 

9) Seneca, Quaest. nat. VII. 25. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 173 


ungeachtet auf beſtimmte Geſetze zurückgeführt, und Andere ſol— 
len nach uns kommen, die uns auch die Bahnen der Kometen 
enthüllen werden. — Solche Muthmaßungen und Vorausſetzun— 
gen aber darf man ihrer großen Weisheit wegen nicht eben be— 
wundern, denn Seneca wurde mehr durch die Phantaſie, als 
durch wahre Vernunftgründe, zu dieſen Meinungen gebracht. 
Doch ſollen ſie auch nicht als bloße glückliche Einfälle, ohne alles 
weitere Verdienſt, betrachtet werden, da ſie uns vielmehr bewei— 
ſen, daß die Ueberzeugung von der Exiſtenz ſolcher allgemeinen 
Geſetze, und daß der Glaube an die Möglichkeit der Entdeckung 
ſolcher Geſetze, immer dann in des Menſchen Bruſt ſich erhebt, 
wenn er ſich einmal zum Nachdenken über fo erhabene Gegen— 
ſtände gewöhnt hat. 

Eine wichtige practiſche Anwendung der bisher erworbenen 
theoretiſchen Kenntniſſe wurde durch die bereits erwähnte Kalender— 
verbeſſerung des Julius Cäſar gemacht, und das Verdienſt dieſer 
Verbeſſerung gehört recht eigentlich der Alexandriniſchen Schule 
an, da der Aſtronom Soſigenes, der ſie ausführte, aus Aegyp— 
ten zu dieſem Zwecke nach Rom berufen wurde. 


Fünfter Abſchnitt. 


Ervmeffungen. 


Nur wenige Verſuche wurden, wie wir bereits geſagt haben, 
in dieſer Epoche gemacht, die den Zweck hatten, die erſten Ent— 
deckungen der früheren Aſtronomen von Alexandrien zu erweitern 
oder auch nur zu beſtätigen. Eine Frage beſchäftigte beſonders 
die Aufmerkſamkeit der beſſeren Köpfe dieſer und auch wohl 
aller Zeiten: die Größe der Erde, deren Geſtalt bereits 
allgemein als kugelförmig angenommen war. Die Chaldäer 
hatten in einer viel früheren Zeit behauptet, daß ein Mann 
den Umfang der ganzen Erde binnen einem Jahre zurück— 
legen würde. Allein dieß war bloß eine auf Nichts gegründete 
Sage. — Der Verſuch des Eratoſthenes aber, dieſes Problem 
zu löſen, beruhte auf vollkommen richtigen Gründen. Die Stadt 
Syene lag unter dem Wendekreiſe, weil dort, am Tag der 
Sonnenwende, alle ſenkrechten Gegenſtände keinen Schatten mehr 
warfen, und weil ein ſenkrechter Brunnen an dieſen Tagen 


174 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


bis an ſeinen Boden von der Sonne beſchienen wurde. Zu Ale— 
randrien aber war die Sonne, an denſelben Tagen, um die Zeit 
des Mittags, noch um den fünfzigſten Theil der Peripherie, oder 
um 7¼ Grade von dem Zenit entfernt. Beide Städte lagen nahe 
in demſelben Meridian, und ihre Diſtanz wurde durch die könig— 
lichen Straßenaufſeher zu 5000 Stadien beſtimmt. Daraus ſchloß 
Eratoſthenes, daß der Umkreis der Erde 250,000, und der Halb- 
meſſer derſelben 40,000 Stadien betrage. Ariſtoteles ), der ein 
Jahrhundert vor Eratoſthenes lebte, ſagt, daß die Geometer 
den Umkreis der Erde zu 400,000 Stadien angegeben haben, und 
Hipparch, 150 Jahre nach Eratoſthenes, war der Anſicht, daß 
das Reſultat des Letzteren um ſeinen zehnten Theil vergrößert, 
alſo der Umfang der Erde auf 275,000 Stadien gebracht werden 
ſollte ). — Poſidonius, der berühmte Freund Cicero's, machte 
einen anderen Verſuch zu demſelben Zwecke. Zu Rhodus erſchien 
der Stern Canopus eben noch am Horizont; zu Alexandrien er— 
hob er ſich im Mittag ſchon bis zu dem 48ſten Theil der Peri— 
pherie. Auch dieſe beiden Orte liegen nahe in demſelben Meri— 
dian, und ihre Diſtanz beträgt 5000 Stadien, woraus Poſidonius 
den Umkreis der Erde zu 240,000 Stadien ableitete. Wir kön— 
nen aber alle dieſe Meſſungen nicht als genau betrachten, da 
wahrſcheinlich weder auf die Meſſung der geradlinigen Diſtanz 
der beiden Endpunkte, noch auf die des Bogens, welchen ſie 
zwiſchen ſich enthalten, große Sorgfalt verwendet worden iſt. 
Endlich iſt auch die Größe des zu dieſen Meſſungen angewende— 
ten Stadiums nichts weniger, als genau bekannt. 

Als die Araber im neunten Jahrhundert die vorzüglichſten 
Bebauer der Aſtronomie wurden, ſo wiederholten ſie dieſe Meſ— 
ſungen mit größerer Genauigkeit. Unter dem Kalifen Alma— 
mon) wurde die weite Ebene von Singiar in Meſopotamien zu 
dieſer Unternehmung ausgewählt. Die arabiſchen Aſtronomen 
theilten ſich daſelbſt in zwei Geſellſchaften, von welchen die eine 
unter der Anführung des Chalid ben Abdolmalic ſtand, während 
die andere der Leitung des Alis ben Iſa übergeben wurde. Die 
eine derſelben ging in der Richtung des Meridians nördlich, die 


1) Aristot. de Colo. II. ad fin. 
2) Plin. Hist. Nat. II. 108. 
3) Moniucia. Hist. des Math. I. 357. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 175 


andere füdlich, ihren zurückgelegten Weg durch unmittelbare Anz 
legung ihrer Meßſtangen bezeichnend, bis jede einen vollen Grad 
auf der Oberfläche der Erde vollendet hatte. Sie fanden dieſe 
zwei Grade, den einen 56 und den andern 36 Meilen, die 
Meile zu 4000 Ellen (Cubitus) gerechnet. Um allen Zweifel 
über das von ihnen gebrauchte Maaß zu entfernen, wird geſagt, 
daß damit der ſogenannte ſchwarze Cubitus gemeint ſey, der 27 
Zolle enthielt, wo jeder Zoll ſechsmal die Dicke eines Gerſten— 
korns beträgt. f 


Sechster Abſchnitt. 
Entdeckung der Evection durch Ptolemäus. 


Wir haben zum Schluſſe des vorhergehenden Abſchnitts be— 
reits der Araber erwähnt, weil in der That in der Zeit von 
Hipparch bis zu den Arabern und ſelbſt viel weiter noch keine 
große, Epoche machende Entdeckung gefunden wird, mit welcher 
ſich eine neue Periode der Wiſſenſchaft beginnen ließe. Es wird 
daher auch belehrender für uns ſeyn, den Charakter dieſer langen 
Periode bloß im Allgemeinen kennen zu lernen, als ein umſtändli— 
ches Verzeichniß von allen den unbekannten und meiſtens werthloſen 
Schriftſtellern und ihren, doch nur geborgten und oft ſelbſt nur 
halbverſtandenen Meinungen aufzuſtellen. Einer jedoch zeichnet 
ſich unter dieſer Menge rühmlich aus, ja fein Name iſt ſelbſt 
berühmter geworden, als der ſeines großen Vorgängers, und 
ſeine, glücklicherweiſe auf uns gekommene Werke enthalten 
neunundneunzig Hunderttheile deſſen, was uns von der ganzen 
griechiſchen Aſtronomie bekannt geworden iſt. Zwar war er nicht 
der Gründer einer neuen Theorie, aber wir verdanken ihm doch 
einige ſehr wichtige Fortſchritte in der Beſtätigung, der Verbeſ— 
ſerung und der weiteren Entwicklung der von Hipparch aufge— 
ſtellten neuen Theorie. — Wir ſprechen von Ptolemäus, 
deſſen Werk Meyan Zuvrakıs (Große Conſtruction) eine voll— 
ſtändige Auseinanderſetzung des Zuſtandes der Aſtronomie ſeiner 
Zeit (d. h. der Zeit von 110 bis 150 nach Chr. Geb. unter der 
Regierung Adrians und Antonins) enthält. Dieſes Werk iſt unter 
uns mehr durch einen fremden Namen bekannt, der uns zur Erin— 
nerung dient, daß wir unſere erſte Kenntniß ſeines Inhalts deu 


176 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Arabern verdanken, die es Al Magisti oder Almagest genannt 
haben. 

Als eine mathematiſche Expoſition der epieykliſchen Theorie 
und der Anwendung derſelben auf die Bewegungen der Sonne, 
des Monds und der Planeten und aller übrigen aſtronomiſchen 
Unterſuchungen iſt es ein glänzendes, dauerndes Denkmal des 
Fleißes, der Geſchicklichkeit und des Scharfſinns ſeines Verfaſ— 
ſers. In der That ſetzen alle übrigen aſtronomiſchen Schriften, 
die von den Alten auf uns gelangt ſind, kaum irgend etwas von 
Werth zu dem Vorrathe von Kenntniß hinzu, den wir aus dem 
Almageſt erhalten, und wer immer die Aſtronomie der Griechen 
kennen lernen will, muß ſich vorzugsweiſe, wenn nicht allein, zu 
Ptolemäus wenden. Er gibt uns einen vollſtändigen Bericht 
über die Art, auf welche Hipparch die Hauptpunkte ſeiner Theo— 
rie feſtgeſetzt hat, einen Bericht, den wir um ſo bereitwilliger 
von ihm hinnehmen, da er ſelbſt immer nur mit Bewunderung, 
mit Begeiſterung von ſeinem großen Meiſter ſpricht, dem er und 
dem auch wir ſelbſt jene glänzenden Entdeckungen verdanken. 

In den meiſten Zweigen der Wiſſenſchaft weiß Ptolemäus 
dem, was Hipparch gethan, noch weſentliche Verbeſſerungen oder 
genauere Beſtimmungen hinzuzufügen. Wir wollen dieſelben nicht 
alle umſtändlich anführen, ſondern begnügen uns mit der näheren 
Anzeige derjenigen zwei Theile des Almageſts, die in der Hip— 
parchiſchen Theorie wahrhaft neue Fortſchritte bezeichnen, näm— 
lich der Evection des Monds, und der Planetentheorie. 

Die Ungleichheiten des Monds hat man, wie bereits geſagt, 
durch Hülfe der Epicykel darzuſtellen geſucht, indem man die 
Halbmeſſer derſelben aus der Beobachtung der Finſterniſſe durch 
Berechnung zu beſtimmen ſuchte. Aber obſchon die Hypotheſe 
eines Epicykels hinreichte, den Ort des Mondes am Himmel 
zur Zeit der Finſterniſſe zu beſtimmen, ſo konnte man doch da— 
mit noch nicht für andere Punkte der Mondsbahn ausreichen. 
Ptolemäus bemerkte dieß, als er ſich anſchickte, die Winkel— 
Diſtanzen des Monds von der Sonne auch außer den Finſter— 
niſſen zu beobachten. „Dieſe Diſtanzen, ſagt er‘) ſtimmten 
„wohl zuweilen, aber oft auch wieder nicht mit der epicykliſchen 
„Theorie überein; aber bei einer näheren Unterſuchung fand ſich 


1) Ptolem. Almag. V. 2. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 227 


„bald eine beſtimmte Regel für dieſe Differenz“ 2), die ſpäter von 
Bullialdus, einem Aſtronomen des ſiebzehnten Jahrhunderts, 
den Namen der Evection erhielt. Ptolemäus ging ſofort 
daran, dieſe Ungleichheit durch ſeine Combination von Kreiſen 
darzuſtellen, und da Hipparch fur die (elliptifche) Mittelpunktsglei— 
chung des Mondes bereits einen Epicykel gebraucht hatte, der 
ſich in der Peripherie eines Kreiſes bewegte, deſſen Mittelpunkt 
die Erde einnahm, ſo ſetzte Ptolemäus die Erde außer den 
Mittelpunkt des letzten Kreiſes, um dadurch jener Ungleichheit 
zu genügen, ſo daß er alſo einen Epicykel mit einem excentriſchen 
Kreis verband. Die Art, wie er dieſe beiden Kreiſe gebrauchte, war 
etwas verwickelt, verwickelter kann man ſagen, als nöthig war?). 
Nach ihm bewegt ſich die Erdferne ſeines excentriſchen Kreiſes 
rückwärts (oder gegen die Ordnung der Zeichen), während der 


2) Dieſe Regel läßt ſich jetzt am einfachſten auf folgende Art aus— 
drücken. — Bezeichnet a die Länge des Monds weniger der der 
Sonne, und iſt b die Anomalie des Monds vom Perigeum ge— 
zählt, ſo iſt jene Ungleichheit oder die ſogenannte Evection gleich 
13 Sin (2 a—b). Für die Neu- und Vollmonde iſt a gleich o 
oder 180%, alſo die Evection gleich — 1.3 Sin b. Für die Zeit 
der beiden Viertel aber iſt a gleich 90 oder 270, alſo auch die 
Evection + 1.3 Sin b. — Die elliptiſche Mittelpunktsgleichung 
des Monds aber iſt für alle Punkte der Bahn gleich 6%3 Sin b. 
Die griechiſchen Aſtronomen vor Ptolemäus beobachteten den 
Mond nur zur Zeit der Finſterniſſe, oder im Neu- und Voll— 
mond, wo ſie demnach für die Summe dieſer zwei größten 
Ungleichheiten des Monds (63 — 1.3) Sin b oder 5° Sin b finden 
mußten, und da ſie dieſe letzte Größe für die, von der Excentri— 
cität der Mondsbahn abhängige Mittelpunktsgleichung des Monds 
anſahen, fo fanden fie aus dieſer zu kleinen Gleichung auch eine 
zu kleine Excentricität der Mondsbahn. Ptolemäus aber, welcher 
der erſte, den Mond auch in den Quadraturen (oder den Vierteln) 
beobachtete, fand für die Summe jener Ungleichheiten in dieſen 
beiden Zeiten (6.3 + 1.3) Sin b oder 7% Sin b, alſo wieder 
die Excentricität der Mondsbahn hier, in den Vierteln, eben ſo 
viel zu groß, als man ſie zur Zeit der Finſterniſſe zu klein ge— 
funden hatte. Er ſchloß daraus, daß die Excentricität der Monds— 
bahn veränderlich ſey, was aber nicht gegründet iſt. L. 

3) Hätte Ptolemäus, umgekehrt, die Mittelpunktsgleichung des 
Monds durch einen excentriſchen Kreis, und die Evection durch 
einen Epicykel vorgeſtellt, ſo würde die Darſtellung ſeiner Monds— 


bewegung viel einfacher geworden ſeyn. 
Whewell. 1. 12 


178 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs— 


Mittelpunkt des Epicykels nahe zweimal geſchwinder auf der Pe— 
ripherie des excentriſchen Kreiſes vorwärts fortſchreitet, ſo daß der 
Mittelpunkt des Epicykels in jedem Monat zweimal ſich um den 
excentriſchen Kreis bewegt. Durch dieſe Vorrichtung wurde aller— 
dings die Bewegung des Monds ſo weit richtig dargeſtellt, daß 
jene zweite Ungleichheit, oder daß die Evection die Lange des 
Mondes zur Zeit des Neu- und Vollmondes am meiſten vermin— 
derte, und wieder im Gegentheile in den Vierteln am meiſten 
vermehrte. 

Die Entdeckung der Evection und ihre Darſtellung durch die 
epicykliſche Theorie war, aus mehr als einem Grunde, ein ſehr 
wichtiger Schritt in der Aſtronomie. Wir wollen dieſes hier 
etwas näher angeben. 

1) Sie führte zuerſt auf die Vermuthung, daß die Bewe— 
gungen der himmliſchen Körper mehreren verſchiedenen Un— 
gleichheiten unterworfen ſeyn mögen; daß, wenn man auch eine 
Gattung derſelben entdeckt oder auf eine beſtimmte Regel zurück— 
gebracht hat, dann wieder andere ſichtbar werden; daß die Ent— 
deckung einer ſolchen Regel auch wohl zugleich auf die Entdeckung 
von Abweichungen dieſer Regel führen könne, welche letztere dann 
wieder neue Regeln erforderten; daß man überhaupt, bei der 
Anwendung der Theorie auf die Beobachtungen, nicht bloß die— 
jenige beſtimmte Erſcheinung, welcher jene Theorie entſprechen 
ſoll, ſondern auch noch häufig andere, gleichſam übrigblei— 
bende Erſcheinungen findet, denen durch jene Theorie nicht ent— 
ſprochen wird, und die daher ganz außer den Grenzen der bis— 
herigen Berechnung ſtehen; und daß ſonach die Natur nicht 
immer ſo einfach und regelmäßig iſt, wie ſie unſere Hypotheſen 
darſtellen, ſondern daß wir von ihr ſelbſt immer weiter vorwärts 
zu mehr und mehr verwickelten Phänomenen, gleichſam zu einer An— 
häufung von Regeln und Verhältniſſen, geführt werden. Eine ſolche 
Thatſache, wie die Evection, dargeſtellt durch eine ſolche Hypotheſe, 
wie die des Ptolemäus, war ſehr geeignet, einem aufmerkſamen 
Aſtronomen den Muth zu benehmen, wahre Naturgeſetze aus 
bloßen ideellen Anſichten, oder nur aus einigen wenigen Beob— 
achtungen ableiten zu wollen. 5 
229) Die Entdeckung der Evection hatte eine Wichtigkeit, die 
aber erſt ſpät hinterher erkannt wurde, indem fie als die erſte 
jener zahlreichen Ungleichheiten des Mondes auftrat, die ihren 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 179 


Urſprung in der ſtörenden Kraft der Sonne haben. Dieſe 
Ungleichheiten wurden nur nach und nach entdeckt, und ſie führ— 
ten endlich zu der Aufſtellung des Geſetzes der allgemeinen Gra— 
vitation. Die früheſte Ungleichheit des Monds, welche die Alten 
kennen lernten, kam aus einer ganz anderen Quelle, nämlich 
aus derſelben, aus welcher auch die Ungleichheit der Bewegung 
der Sonne entſteht, aus der Bewegung derſelben in einer El— 
lipſe, ohne alle Rückſicht auf äußere Störungen. Dieſe erſte 
Ungleichheit, wie ſie genannt wurde, iſt jetzt unter der Be— 
nennung der Mittelpunktsgleichung bekannt)), und dieſe 
kömmt nicht nur der Sonne und dem Monde, ſondern auch allen 
Planeten ohne Ausnahme zu, da ſich alle dieſe Körper in El— 
lipſen bewegen; während die Evection dem Monde ausſchließend 
angehört, und, wie geſagt, aus einer ganz andern Quelle, näm— 
lich aus den Störungen kömmt, welche der Mond in der Bewe— 
gung um ſeinen Hauptplaneten, um die Erde, von der Sonne 
erleidet. Die Entdeckungen der andern großen Ungleichheiten 
des Monds, der Variation und der ſogenannten jährlichen 
Gleichung ſchließen ſich jener der Evection durch Ptolemäus 
unmittelbar an, obſchon fie erſt viele Jahrhunderte nach Ptole— 
mäus von Tycho Brahe im ſechzehnten Jahrhunderte gemacht 
worden ſind. Die vorzüglichſte Urſache dieſer langen Verzögerung 
lag in der Unvollkommenheit der aſtronomiſchen Inſtrumente 
jener Zeiten. 

3) Die epicykliſche Hypotheſe war ſehr geeignet, dieſe neue 
Entdeckung in ſich aufzunehmen. Blos ein zweiter Epicyfel zu 
dem erſten gefügt, war, wie wir geſehen haben, hinreichend, 


4) Dieſe Mittelpunktsgleichung iſt der Unterſchied des Ortes des 
Planeten in ſeiner elliptiſchen Bahn von demjenigen Orte, den 
der Planet einnehmen würde, wenn er ſich in derſelben Umlaufs— 
zeit gleichförmig in einem Kreiſe bewegen würde, deſſen Mittel— 
punkt die Sonne einnimmt. Man nennt den letzten, bloß imas 
ginären Planeten, den mittleren, während der eigentliche, in 
der Ellipſe ſich bewegende, der wahre Planet genannt wird. 
Kennt man alſo für jede gegebene Zeit die Länge des mittleren 
Planeten, die aber wegen ihrer gleichförmigen Bewegung ſehr 
leicht zu finden iſt, ſo darf man nur zu ihr die Mittelpunkts— 
gleichung hinzufügen, um ſofort auch die geſuchte Länge des 
wahren Planeten in ſeiner Bahn zu erhalten. L. 

8 


180 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


dieſe Ungleichheit darzuſtellen. Auch wurden alle, reellen und 
eingebildeten, übrigen Entdeckungen von Ptolemäus bis zu Co— 
pernikus hinauf, dieſer Theorie der Epicykel, wenn wir ſo 
ſagen dürfen, einverleibt, wie denn dieß auch von Tycho mit der 
von ihm entdeckten Variation und jährlichen Gleichung in der 
That geſchehen iſt. Auch Copernikus hatte, wie wir bereits oben 
bemerkten, die Epicykel in ſeiner neuen Theorie unverändert bei— 
behalten, und, was beſonders merkwürdig erſcheinen mag, ſelbſt 
Newton) hatte noch die Bewegung des Mondsapogeums mit— 
telſt eines Epicykels zu erläutern geſucht. Als ein Mittel, die 
beobachteten Ungleichheiten jeder Art in der Bewegung der 
Himmelskörper darzuſtellen, und der eigentlichen Berechnung zu 
unterwerfen, war demnach dieſe epieykliſche Theorie ſehr geeignet, 
der Aſtronomie ſelbſt in der Folgezeit noch ſehr wichtige Dienſte zu 
leiſten, ſo große Fortſchritte und Erweiterungen ſie auch in dieſer 
Zeit erhalten mochte. Auch war dieſe Theorie im Grunde, wie be— 
reits geſagt, identiſch mit dem noch jetzt gebräuchlichen Verfah— 
ren, nach welchem die Aſtronomen alle dieſe Ungleichheiten durch 
beſtimmte Reihen von Kreisfunktionen auszudrücken pflegen. 

4) Obſchon aber dieſe Doctrin von den Epicykeln und ercen— 
triſchen Kreiſen, als bloße Hypotheſe, ſehr zuläßig, und als 
Mittel zur Darſtellung der einzelnen himmliſchen Bewegungen 
ſehr angemeſſen erſchien, ſo verlor ſie doch durch die wiederholten, 
ſich immer mehr häufenden Anwendungen, deſto mehr die Geſtalt 
einer eigentlich wiſſenſchaftlichen Theorie, je öfter ſie gebraucht 
und in immer neuen Nothfällen zu Hülfe gerufen werden mußte. 
Wenn ſie auch jene Ungleichheiten, den ſehr befchränften For— 
derungen der Aſtronomen jener Zeiten gemäß, mit genügender 
Genauigkeit darſtellte, ſo gab ſie doch keine getreue Anſicht 
von der eigentlichen Natur dieſer Bewegungen, und noch weniger 
von den Urſachen derſelben. Je mehr dieſe Doctrin, mit den 
ſteigenden Bedürfniſſen der Wiſſenſchaft, erweitert und ausge— 
bildet wurde, deſto verwickelter und verworrener wurde ſie zu— 
gleich, da ſie doch, wie dieß bei jeder wahren Theorie ſtets 
der Fall iſt, immer einfacher werden, immer klarer und deut— 
licher hervortreten ſollte. Wenn eine Gattung von Bewegungen 
eine gewiſſe Anordnung und Verbindung dieſer Epicykel hervor— 


5) Newton, Princip. Lib. III. Prop. XXXV. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 181 


gerufen hatte, fo mußte dieſe wieder abgeändert und modificirt, 
ja oft gänzlich verworfen werden, ſobald eine andere, neue Gat— 
tung von Bewegungen hinzukam, die ebenfalls wieder ihre be— 
ſonderen Erklärungen durch dieſelben Epicykel verlangten. Man 
konnte durch dieſes Hülfsmittel die Längen, und allenfalls auch 
die Breiten der Planeten mit einigermaßen befriedigender Ge— 
nauigkeit darſtellen, allein von den Parallaxen und von den 
ſcheinbaren Durchmeſſern dieſer Planeten ließ ſich, durch dieſe 
epicykliſche Doctrin, keine Rechenſchaft geben. In der That hät— 
ten auch die Griechen, wie wir bereits erwähnt, jene Doctrin 
als falſch und unſtatthaft gänzlich verwerfen müſſen, wenn nur 
ihre Inſtrumente gut genug geweſen wären, die Diſtanzen des 
Monds von der Erde, durch Hülfe des ſcheinbaren Durchmeſſers 
deſſelben, mit einiger Verläßlichkeit zu beſtimmen ). Gewiß 
nur die Unvollkommenheit der Inſtrumente und ſonach der gan— 
zen aſtronomiſchen Beobachtungskunſt jener Zeiten war die Ur— 
ſache, daß dieſe Theorie der Epicykel ſo viele Jahrhunderte durch 
ihre Herrſchaft in der Wiſſenſchaft erhalten konnte. 


Siebenter Abſchnitt. 


Beſchluls der Geſchichte der griechifchen Aftronomie. 


Wir ſollten nun zu dem bereits erwähnten zweiten großen 
Schritte übergehen, durch welchen Ptolemäus ſein Verdienſt um 
die Wiſſenſchaft begründet hat, zu ſeiner Beſtimmung der 
Theorie der Planeten durch Hülfe der Epicykel. Da aber 
dieſer Gegenſtand, ſo intereſſant er auch für ſich ſelbſt iſt, in 
der Geſchichte der Wiſſenſchaft keine neue Epoche begründet, ſo 
wollen wir nur kurz bei ihm verweilen. — Alle Planeten bewe— 
gen ſich bekanntlich in Ellipſen um die Sonne, ſo wie auch der 
Mond ſich um die Erde, und, ſcheinbar wenigſtens, die Sonne 


6) Die Veränderung des ſcheinbaren Durchmeſſers des Mondes iſt 
ſo groß, daß ſie uns ſelbſt mit ſehr mittelmäßigen Inſtrumenten 
nicht mehr entgehen könnte. Dieſer ſcheinbare Durchmeſſer be— 
trägt in der Erdnähe 2010, und in der Erdferne 1762 Secunden, 
alfo 248 Secunden oder 4 Minuten s Secunden weniger, als in 
dem erſten Punkte. L. 


182 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


ſelbſt ſich um dieſe unſere Erde bewegt. Die Planeten werden 
alſo, fo wie der Mond und die Sonne, einer Mittelpunkts⸗ 
gleichung unterworfen ſeyn, da dieſe bloß von der Bewegung in 
der Ellipſe kömmt. Dieſe erſte Ungleichheit wird demnach bei 
den Planeten, ſo wie dieß oben für die Sonne und den Mond 
geſchehen iſt, durch einen excentriſchen Kreis vorgeſtellt wer— 
den können. Für die andere, größere und auffallendere Un— 
gleichheit aber, nach welcher dieſe Planeten bald vor-, bald rück— 
wärts gehen, wurde von den Alten der eigentliche Epicykel zu 
Hülfe gerufen, der ſich auf jenem excentriſchen Kreiſe bewegen 
ſollte. Die Beſtimmung der Größe dieſer Excentricität des letzten 
Kreiſes, und die Angabe des Orts der Erdnähe und Erdferne 
jener planetariſchen Bahnen war nun die Aufgabe, die Ptole— 
mäus zu löſen ſich bemühte, da Hipparch, wie wir geſehen haben, 
nicht die zu einer ſolchen Unternehmung nothwendigen Beobach— 
tungen vorgefunden hatte. 

Die Beſtimmungen der Excentricität hatten aber, in der 
Anſicht des Ptolemäus, etwas Eigenthümliches, auf das wir 
hier beſonders aufmerkſam machen müſſen. — Die elliptiſche Be— 
wegung der Planeten hat um die Sonne Statt; Ptolemäus aber 
ſah dieſe Bewegungen als von der Sonne unabhängig an, indem 
er ſie bloß auf die Erde bezog, und auf dieſe Weiſe war die— 
jenige Excentricität, die er zu beſtimmen hatte, eigentlich die 
Summe von zwei Excentricitäten, von der der Planeten- und 
von jener der Erd-Bahn. Ptolemäus ſtellte dieß auf die herge— 
brachte Weiſe durch ſeinen Mechanismus eines excentriſchen 
Kreiſes (des excentriſchen Deferenten, wie er dieſen Kreis nannte), 
und durch einen Epicykel dar, deſſen Mittelpunkt auf der Pe— 
ripherie jenes Deferenten, jedoch ſo ſich bewegte, daß dieſe Be— 
wegung des Mittelpunkts des Epicykels, nicht um den Mittel— 
punkt des Deferenten, ſondern um einen andern Punkt dieſes 
deferirenden Kreiſes, gleichförmig angenommen wurde. Dieſer 
andere Punkt wurde der Aequant genannt. — Ohne hier weiter 
in dieſen Gegenſtand einzudringen, mag es genügen, zu ſagen, 
daß es ihm durch eine glückliche Combination dieſer deferirenden 
Kreiſe mit ihren Epicykeln gelang, jene beiden Ungleichheiten 
der planetariſchen Bewegungen mit einer für ſeine Zeiten genü— 
genden Genauigkeit darzuſtellen. Indem er ſeine eigenen Beob— 
achtungen mit denen ſeiner Vorgänger (z. B. mit den Beobach— 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 183 


tungen der Venus durch Timocharis) verglich, gelang es ihm 
auch, die Dimenſionen und Stellungen dieſer Kreiſe für alle 
Planeten gehörig zu beſtimmen ). 

Indem wir hier unſere Nachrichten von den Fortſchritten 
der Griechen in der Aſtronomie ſchließen, bemerke ich bloß, daß 
es meine Abſicht dabei war, nur die vorzüglichſten Gegenſtände 
anzugeben, auf welchen der eigentliche Fortſchritt der Wiſſen— 
ſchaft bei dieſem Volke beruhte, nicht aber alle einzelnen Theile 
des Gegenſtandes umſtändlich auszuführen. Einige Parthieen 
jener alten Theorieen, z. B. die Art, auf die Breite des 
Monds und der Planeten Rückſicht zu nehmen, ſind demjenigen, 
was bereits oben geſagt wurde, im Allgemeinen analog, und 
bedürfen daher hier keiner beſonderen Anführung. Andere 
Theile der griechiſchen Aſtronomie, wie z. B. die Refraction, 
nahmen bei dieſem Volke keine klare, beſtimmte Geſtalt an, und 
können höchſtens als entfernte Vorſpiele zu den Entdeckungen 


1) Ptolemäus beſtimmte die Halbmeſſer und die Umlaufszeiten ſeiner 
beiden Kreiſe für die Planeten auf folgende Weiſe. — Für die 
ſogenannten unteren Planeten, d. h. für Merkur und Venus, 
nahm er den Halbmeſſer des Deferenten gleich dem Halbmeſſer 
der Erdbahn, und den des Epicykels gleich dem der Planetenbahn 
an. Für dieſelben Planeten verhielt ſich, nach ſeiner Voraus— 
ſetzung, die Umlaufszeit des Planeten in ſeinem Epicykel zur 
Umlaufszeit des epicykliſchen Mittelpunkts im Deferenten, wie 
die ſynodiſche Revolution des Planeten zu der tropiſchen Revo— 
lution der Erde um die Sonne. — Für die drei oberen Plane- 
ten, Mars, Jupiter und Saturn aber war der Halbmeſſer des 
Deferenten gleich dem Halbmeſſer der Planetenbahn, und der 
Halbmeſſer des Epicykels gleich dem Halbmeſſer der Erdbahn; die 
Umlaufszeit des Planeten in feinem Epicykel aber verhielt ſich 
zur Umlaufszeit des epicykliſchen Mittelpunkts im Deferenten, 
wie die ſynodiſche Revolution des Planeten zur tropiſchen Revo— 
lution deſſelben Planeten. Ptolemäus hätte offenbar ſchon durch 
eine einzige dieſer beiden Vorausſetzungen die geometriſche Bewe— 
gung aller Planeten den Beobachtungen gemäß darſtellen konnen, 
aber er ſcheint dieſe Duplicität der Darftellung gewählt zu ha— 
ben, um bei den untern ſowohl, als auch bei den oberen Plane— 
ten dem Epicykel ſtets den kleineren der beiden Halbmeſſer 
geben zu können, oder um ſtets den kleineren Kreis auf dem 
größeren, nicht umgekehrt, ſich bewegen zu laſſen. L. 


184 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


der Neueren in dieſem Punkte betrachtet werden. Ehe wir aber 
zu dieſer neuen Geſchichte der Aſtronomie übergehen, müſſen wir 
noch einen langen, immer merkwürdigen, obſchon zugleich be— 
trübenden Weg durch weite, unfruchtbare Wüſten zurücklegen. 


Achter Abſchnitt. 
Altronomie der Araber. 


Die eben erwähnte Wüſte dehnt ſich von Ptolemäus bis zu 
Copernicus aus. Nach jenem ſchritt die griechiſche Aſtronomie 
nicht mehr vorwärts, und von ihm bis zu Copernicus war aller 
Geiſt der wiſſenſchaftlichen Entdeckung in tiefen Schlaf verſunken. 
Während dieſer langen Zeit von vierzehn Jahrhunderten ) er— 
ſchienen bloß die Araber als die Träger der aſtronomiſchen 
Kenntniſſe, als die Mittler, welche die alte Zeit der Wiſſenſchaft 
mit der neuen verbanden. Sie erhielten ſie von den Griechen, 
ihren Beſiegten, und ſie überlieferten ihre geſammelten Schätze eben— 
falls den Eroberern Weſteuropas, als hier die Liebe zur Wiſſen— 
ſchaft und die Fähigkeit, ſie zu faſſen, wieder erwacht war. In 
dieſer langen Zwiſchenzeit hatte aber das koſtbare Erbe der Vorzeit 
nur wenige Veränderungen erlitten. Die arabiſchen Aſtronomen 
waren getreue, aber unbeholfene Diener, die das ihnen anver— 
traute Gut zu bewahren, aber nicht zu vermehren wußten. In 
der Geſchichte der arabiſchen Aſtronomie findet man nur wenige 
Züge, die auf einen Fortgang der Wiſſenſchaft deuten; aber 
da dieſes Wenige als eine unmittelbare Folge der griechiſchen 
Aſtronomie betrachtet werden muß, ſo wollen wir einige Züge der— 
ſelben kurz anzeigen. 

Als das Zepter der weftaflatifchen Länder in die Hände der 
Abaſſidiſchen Caliphen ?) überging, erhob ſich Bagdad, „die Stadt 
des Friedens“, zu Pracht und Bildung, und dieſe Stadt wurde 
der Hauptſitz der Wiſſenſchaft unter den Nachfolgern Alman— 
ſors des Siegreichen, ſo wie es Alexandrien unter den 
Nachfolgern des großen Macedoniers geweſen war. Die Aſtronomie 


1) Ptolemäus ſtarb gegen d. J. 150 nach Chr. Geb. und Copernicus 
am 24. Mai 1543. 
2) Gibbon, Hist. of the decl. X. 31. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 185 


vor allen gewann die Gunſt der Mächtigen und die Liebe der 
Gebildeten im Volke, und alles Gute, deſſen ſie ſich unter ihren 
neuen Freunden rühmen konnte, ſcheint feinen Urſprung nur in 
dem Schutze, und alſo in der perſönlichen Zuneigung der ſara— 
ceniſchen Fürſten genommen zu haben. Unter ſolchen Ermun— 
terungen mußte, in allen den Theilen der Wiſſenſchaften, Großes 
geſchehen, die von dem Reichthume und dem Einfluſſe der Mäch— 
tigen abhängen. Man überſetzte die Werke der Griechen; man 
errichtete Inſtrumente von ungewöhnlicher Größe, baute Stern— 
warten und unterhielt Beobachter, und da die neuen Beobach— 
tungen die Fehler der bisher beſtehenden Tafeln erkennen lehrten, 
ſo wurden ſofort auch neue Tafeln entworfen. Noch unter Alman— 
ſor wurden die Schriften der Griechen aus allen Gegenden ge— 
ſammelt und die meiſten derſelben in die arabiſche Sprache über— 
ſetzt ?). Unter derſelben Regierung erſchien auch die Ueberſetzung 
der MeyaAn Zvvraäıs des Ptolemäus, die fortan den Namen 
Almageſt erhielt, von Iſaak ben Homain. 

Der größte arabiſche Aſtronom aber kam erſt ein halbes 
Jahrhundert ſpäter. Dieß iſt Albategnius, wie er gewöhnlich 
genannt wird, oder eigentlich Muhammed ben Geber Albatani, 
der, wie der letzte Name ſagt, aus Batan, einer Stadt Meſo— 
potamiens ) ſtammte. Albategnius, ein ſyriſcher Prinz, hatte 
feine Reſidenz Aracte oder Racha in Meſopotamien, doch ſtellte 
er auch einen Theil ſeiner Beobachtungen in Antiochien an. Sein 
Werk iſt in der lateiniſchen Ueberſetzung auf uns gekommen. 
„Nachdem ich, ſchreibt er, die Syntaxis des Ptolemäus geleſen 
„und die Nechnungsmethoden der Griechen kennen gelernt hatte, 
„leiteten mich meine eigenen Beobachtungen darauf, daß jene 
„wohl noch einige Verbeſſerungen erleiden könnten.“ Er fand es 
nöthig, zu den Bemerkungen des Ptolemäus noch einige Zuſätze 
zu machen, ſo wie dieſer es mit denen des Abrachis (Hipparchs) 
gethan hat. Demnach gab Albategnius eigene Tafeln der Sonne, 
des Monds und der Planeten heraus, die lange Zeit nach ihm 
in großem Anſehen ſtanden. ö 

Allein dadurch wurde die Herausgabe anderer Tafeln nicht 
aufgehalten. Unter dem Kalifen Hakem (gegen d. J. 1000 nach 


3) Gibbon, X. 36. 
4) Delambre, Astr. du moyen Age. 4. 


186 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Chr. Geb.) erſchienen die Tafeln des Ebn Junis für die Sonne, 
den Mond und die Planeten, die deßhalb die Hakemitiſchen Ta— 
feln genannt worden ſind. Bald darauf gab Arzachel von Toledo 
ſeine Tolediniſchen Tafeln heraus. Im dreizehnten Jahrhundert 
gab Naſir Eddin ſeine Geſtirntafeln heraus, die er dem Tarta— 
riſchen Fürſten Ilchan gewidmet hatte, und die deßwegen die 
Ilchaniſchen Tafeln hießen. Noch zwei Jahrhunderte ſpäter er— 
ſchien Ulugh Beigh, der Enkel Timur-khans (oder Tamerlan's) 
ein Fürſt aus den Ländern jenſeits des Oxus. Die Tafeln dieſes 
eifrigen practiſchen Aſtronomen werden ſelbſt von den neuen Aſtro— 
nomen als ſehr wichtig für jene Zeiten angeführt. Sie wurden 
von Hyde im Jahre 1665 herausgegeben. — Dieſe Reihen von 
aſtronomiſchen Tafeln, denen wir noch mehrere andere hinzufü— 
gen könnten, führt uns bis hinauf zu den alphonfinifchen Ta— 
feln, die zuerſt im Jahr 1252 unter den Auſpicien von Alphons X., 
Königs von Caſtilien, erſchienen, und durch die wir uns ſchon 
der Grenze der neueren Aſtronomie nähern. Dieſe letzten Tafeln 
wurden durch einen Verein von fünfzig Aſtronomen zuſammen— 
gebracht, unter welchen ſich Alragel und Alkabiz aus Toledo 
beſonders auszeichneten. Sie erſchienen gedruckt zu Venedig 
1483 und berichtiget ebendaſ. 1524 und zu Paris 1545. 

Allen dieſen Tafeln wurde die epicykliſche Theorie des Ptole— 
mäus zu Grunde gelegt, und jene größtentheils ohne alle Ab— 
änderung. Die Araber fühlten wohl zuweilen die übermäßige 
Verwicklung dieſer Lehre, die ſie ſo eifrig ſtudirten, aber ihr 
Geiſt hatte nicht die Kraft der Erfindung, durch welche ſich die 
Aſtronomen Europas in ſpäteren Zeiten ihren eigenen Weg zu 
einem einfacheren und beſſeren Syſteme zu bahnen wußten. So 
ſagt Alpetragius im Eingange zu ſeiner „Theorie der Planeten“, 
„daß er anfangs über die Verwicklung dieſes Syſtems ganz er— 
„ſtaunt und verwirrt war, daß aber ſpäterhin Gott die Gnade 
„hatte, ihm das verborgene Geheimniß ſeiner Planetenbahnen 
„zu offenbaren, ihm die Eſſenz ſeiner Wahrheit kund zu geben, 
„und ihm die wahre Geſtalt der planetariſchen Bewegungen auf: 
„zudecken.“ Sein Syſtem beſtand, nach Delambres) in der Anz 
nahme einer ſpiralförmigen Bewegung der Planeten von Oſt gen 
Weſt, ein Einfall, den doch ſchon Ptolemäus widerlegt hatte. 
Ein anderer arabiſcher Aſtronom, Geber von Sevilla, weiß an 


5) Delambre, Hist. du Moyen Age. S. 7. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 187 


Ptolemäus fehr viel zu tadeln “), aber ohne ihn weſentlich ver— 
beſſern zu können. Uebrigens ſind die arabiſchen Beobachtungen 
im Allgemeinen ſchätzenswerth, da ſie mit beſſern Inſtrumenten 
und mit mehr Geſchicklichkeit gemacht ſind, als die griechiſchen, 
und da ſie uns zugleich dienen, die Stätigkeit oder auch die 
Veränderlichkeit mehrerer Elemente kennen zu lernen, wie die 
der Schiefe der Ekliptik, der Neigung der Mondsbahn u. f. 

Doch müſſen wir einiger Theorieen der Araber beſonders ers 
wähnen. Die wichtigſte derſelben iſt die Entdeckung der Bewe— 
gung der Erdnähe durch Albategnius. Er hatte für ſeine Zeit 
die Länge des Periheliums der Erdbahn gleich 82 Grade gefun— 
den, während es von Ptolemäus in die Länge von 65 Graden 
geſetzt wurde. Der Unterſchied von vollen 17 Graden konnte 
unmöglich auf Rechnung von unvollkommenen Beobachtungen 
geſetzt werden, obſchon ſich dieſer Punkt allerdings nicht gut mit 
Schärfe beſtimmen läßt. Der Schluß davon, auf die Beweglichkeit 
dieſes Punktes, iſt ſo einfach, daß man wohl nicht mit Delambre 
übereinſtimmen kann, der das Recht auf dieſe Entdeckung dem 
Albategnius verkümmern oder ganz abſprechen will, bloß weil es 
derſelbe nicht ausdrücklich ausgeſprochen hat. 

Um zu dieſer Entdeckung zu gelangen, ſchloſſen übrigens die 
arabiſchen Aſtronomen ganz richtig aus ihren eben ſo richtigen Be— 
obachtungen. Aber ſie waren nicht immer ſo glücklich. Arzachel 
fand im eilften Jahrhundert die Länge des Perihels der Erdbahn 
um einige Grade geringer, als Albategnius, der gegen das Jahr 
880 lebte, woraus jener ſofort den Schluß zog, daß das Perihel 
in dieſer Zwiſchenzeit rückwärts gegangen ſey. Allein wir wiſſen 
jetzt, da wir die Theorie dieſer Bewegung ſehr wohl kennen, daß 
ſich die Sache ganz anders verhält Albategnius, deſſen Ver— 
fahren weniger genau war, als das des Arzachel, hatte ſich um 
eben jene Differenz geirrt, und das Perihel für ſeine Zeit um 
ſo viel zu groß angegeben, woraus dann Arzachel auf ein Rück— 
wärtsgehen deſſelben irriger Weiſe geführt worden iſt. Auf ſol— 
chen fehlerhaften Beobachtungen wurde dann eine wunderliche, 
ebenfalls ganz falſche Hypotheſe erbaut, die unter dem Namen 
der Trepidation der Fixſterne lange Zeit im Schwunge 
blieb. Arzachel war auf den Einfall gekommen, daß ein ein— 
faches Rückwärtsgehen der Aequinoctialpunkte auf der feſten 


6) Delambre, Hist. du Moyen Age. S. 180, 


188 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Ekliptik (wie ſie von Hipparch aufgeſtellt wurde) nicht hinreiche 
zur Erklärung der ſcheinbaren Bewegungen des geſtirnten Him— 
mels, ſondern daß man zu dieſem Zwecke noch zwei kleine Kreiſe 
von nahe acht Graden im Halbmeſſer anwenden müſſe. Dieſe 
Kreiſe hatten ihre Mittelpunkte in den beiden Aequinoctialpunkten, 
und ihre Peripherien ſollte der erſte Punkt des Widders und 
jener der Wage während nahe 800 Jahren zurücklegen. Auf 
dieſe Weiſe würden die wahren Nachtgleichpunkte 400 Jahre 
durch rückwärts, und dann eben ſo lange wieder vorwärts gehen, 
wobei auch noch die Breite der Fixſterne eine Aenderung erleiden 
müßte. Obſchon aber eine ſolche Bewegung ganz grundlos und 
blos eingebildet iſt, ſo fand ſie doch viele Anhänger unter den 
Aſtronomen, und wurde ſelbſt noch in der erſten Ausgabe der 
Alphonſiniſchen Tafeln angewendet, ſpäter aber, wie fie es ver— 
diente, gänzlich verworfen. 

Eine wichtige Ausnahme von dem allgemeinen Vorwurf, 
daß die Aſtronomie unter den Arabern keine Fortſchritte machte, 
wurde erſt vor Kurzem von Sedillot gefunden ). Es ſcheint, 
daß Mohammed Abul Wefa al Buzdjñani, ein arabiſcher Aſtro— 
nom des zehnten Jahrhunderts, der um das Jahr 975 zu Bagdad 
beobachtete, eine neue große Ungleichheit des Monds entdeckt 
habe, dieſelbe, welche jetzt unter dem Namen der Variation 
bekannt iſt und für deren erſten Entdecker man bisher Tycho Brahe 
gehalten hat. In Folge dieſer Ungleichheit iſt die Geſchwindig— 
keit des Monds am größten im Neu- und Vollmond, und am 
kleinſten in den beiden Vierteln, ſo daß alſo der Mond vom 
erſten Viertel bis zum Vollmond hinter ſeinem mittlern Orte 
iſt; daß er im Vollmond ſelbſt mit dieſem mittlern Orte über— 
einſtimmt; daß er ferner von dem Vollmond bis zu dem letzten 
Viertel vor ſeinem mittlern Orte iſt, und ſo weiter, woraus 
dann ſofort folgt, daß die größte Wirkung dieſer Anomalie in 
die Octanten, d. h. in diejenigen Punkte feiner Bahn fällt, 
die in der Mitte zwiſchen den vier Vierteln liegen. (vergl. S. 177) 
Ein Theil des „Almageſts“ von Abul Wefa iſt in der k. Bibliothek 
zu Paris aufbewahrt. Nachdem er in demſelben die zwei ſchon 
früher bekannten Ungleichheiten des Monds, die Mittelpunkts— 

7) Sedillot, Nouvelles Recherches sur I’hist. de l’Astron. chez les 


Arabes Nouv. Journal asiatique. 1835. Novemb. N 95. (Vergl. Libri, 
Hist. des sciences mathem. en Italie. S. 122. 154. 401. u. f. L). 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 189 


gleichung und die Evection aufgezählt hat, gibt er dem neunten Ab— 
ſchnitte ſeines Werks die Aufſchrift: „Ueber eine dritte Anomalie 
„des Monds, Muhazal oder Prosneuſis genannt.“ Wenn der 
Mond, ſagt er hier, in der Erdnähe oder Erdferne iſt, wo jene zwei 
erſten Anomalien verſchwinden, ſo fand ich durch meine Beob— 
achtungen, daß der Mond, wenn er zugleich nahe im Gedritt— 
ſchein oder im Geſechstſchein mit der Sonne ſtand, ſtets um 
1¼ Grad von feinem berechneten Orte entfernt war. „Ich ſchloß 
„daraus,“ fährt er fort, „daß dieſe Anomalie von den beiden 
„anderen unabhängig iſt, was allein durch eine Abweichung des 
„Durchmeſſers des Epicykels von dem Mittelpunkte des Thier— 
»kreiſes verurſacht werden kann.“ 

Man wird hier bemerken, daß die Entdeckung dieſer neuen 
Ungleichheit des Monds auf einem reell-inductiven Weg gemacht 
worden iſt. Die Beobachtungen zeigten eine Abweichung von 
der bisherigen Berechnung, und man wußte diejenigen Fälle, 
wo dieſe Abweichung ſtatthatte, gehörig auszuwählen und auf 
die wahre inductive Weiſe unter einander zu vergleichen. Der 
dadurch gemachte Fortſchritt war allerdings nicht eben ſehr groß, 
denn Abul Wefa ſcheint bloß die Exiſtenz, nicht aber die wahre 
Größe, noch auch das Geſetz dieſer Ungleichheit gefunden zu haben. 
Demungeachtet gibt uns dieſe Entdeckung einen höhern Begriff 
von dem wahren wiſſenſchaftlichen Geiſt der Araber, als alles 
übrige, was wir von ihnen kennen gelernt haben. 

Unter ſeinen Zeitgenoſſen und nächſten Nachfolgern aber 
ſcheint dieſe Entdeckung keine beſondere Aufmerkſamkeit auf ſich 
gezogen zu haben, wenigſtens war ſie längſt ſchon vergeſſen, als 
Tycho Brahe, ſechs Jahrhunderte ſpäter, dieſe ſchöne Entdeckung 
noch einmal machte. Man kann nicht umhin, dieſen Umſtand 
als einen Beweis der geiſtigen Beſchränktheit der arabiſchen 
Periode zu betrachten. Die Gelehrten unter den Arabern waren 
ſo wenig daran gewohnt, die Wiſſenſchaft als etwas Fortſchrei— 
tendes zu betrachten, daß ſie nicht einmal den Muth hatten, an 
diejenigen Entdeckungen zu glauben, die ſie ſelbſt gemacht hatten, 
und daß ſie durch die Feſſel der Autorität ſelbſt dann noch 
zurückgehalten wurden, wenn ſie, was ſelten genug eintrat, 
ihren griechiſchen Meiſtern einige Schritte vorangeeilt waren. 

Da die Araber ihre ganze aſtronomiſche Theorie (bis auf 
die wenigen ſo eben bezeichneten Ausnahmen) von den Griechen 
genommen hatten, ſo nahmen ſie auch von denſelben die mathe— 


190 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


matiſchen Methoden an, durch deren Hülfe man zu jenen Theo— 
rien gekommen war. Die Arithmetik und Trigonometrie, die 
zwei vorzüglichſten dieſer Hülfsmethoden, wurden in den Händen 
der Araber bedeutend verbeſſert. In der erſten beſonders leiſteten 
ſie der ganzen gebildeten Welt durch die Einführung der noch 
jetzt unter uns gewöhnlichen Zahlzeichen, ſtatt den unbeholfenen 
der Alten, einen Dienſt, den man nicht leicht zu hoch anſchlagen 
kann ). Dieſe Zahlzeichen ſcheinen indiſchen Urſprungs zu ſeyn, 
wie die Araber ſelbſt anerkannten, und ſonach würden ſie keine 
Ausnahme von dem oben aufgeſtellten Vorwurf begründen, daß 
nämlich der wiſſenſchaftliche Erfindungsgeiſt den Arabern nicht 
vorzugsweiſe beigewohnt habe ). 


8) Montucla, Hist. de Math. I. 376. 

9) Dieſe Erfindung, nach welcher jedes Zahlzeichen einen doppelten 
Werth hat, einen abſoluten und einen relativen, welcher letzte 
durch die Stellung des Zeichens ausgedrückt wird, ſcheint ſo ein— 
fach, und iſt uns allen bereits ſo gewöhnlich geworden, daß wir 
kaum mehr im Stande find, den hohen Werth derſelben gehörig zu 
ſchätzen. Um ſich davon zu überzeugen, darf man nur fragen, in 
welchem Zuſtande ſich wohl unſere Mathematik und mit ihr alle 
diejenigen Wiſſenſchaften befinden würden, welche die Mathematik 
zu ihrer Grundlage haben, wenn wir unſere Rechnungen noch 
auf die Weiſe machen müßten, auf welche ſie die alten Römer mit 
ihren Zahlzeichen gemacht haben, wo z. B. M taufend, D fünf: 
hundert, Ceinhundert, L fünfzig u. ſ. f. bedeutete. — Die hohe 
Wichtigkeit dieſer Erfindung muß uns aber auch zugleich auf eine 
zweite Frage führen, nämlich auf das Volk oder auf den einzelnen 
Mann, dem wir ein ſo großes werthvolles Geſchenk verdanken. 
Unſer Verf. ſchreibt ſie, wie wir geſehen haben, den Indiern zu, 
von welchen ſie die Araber zu uns gebracht haben ſollen. Dieß 
war auch bisher in der That die am meiſten verbreitete Meinung. 
Allein erſt in unſern Tagen iſt dieſer Gegenſtand wieder zu einer 
neuen, ernſteren Discuſſion gekommen, und es wird dieſem Orte 
nicht unangemeſſen ſeyn, die vorzüglichſten Reſultate jener Unter— 
ſuchung kurz mitzutheilen. Libri, in feiner Hist. des sciences 
mathem. en Italie. Vol. I. S. 20. (Paris 1838) ſchreibt die Erfin— 
dung unſeres gegenwärtigen arithmetiſchen Syſtems den Hindus 
zu, von welchen ſie Leonard Fibonacci (wie er in einer Contraction 
ftatt Filius Bonacci heißt) erhalten und in das europäifche Abend: 
land eingeführt haben ſoll. Fibonacci war ein Kaufmann in Piſa, 
und ſein erſtes und vorzüglichſtes Werk iſt der „Tractatus de 
l’Abaco, das er im Jahr 1202 geſchrieben hat. Er erzählt darin, 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 191 


Eine andere arabiſche Verbeſſerung, zwar von untergeord— 
netem Rang, aber doch von großem Nutzen, verdanken wir dem 
Albategnius. Er führte die Sinus oder die halben Chorden 
in die Trigonometrie ein, ſtatt den ganzen, viel unbeholfnern, 
welche die Griechen gebraucht hatten. Ueber den Urſprung des 


daß er Aegypten, Syrien, Griechenland und die Provence durch— 
reist, und in jenen Ländern die indiſche Rechnungsart kennen ge— 
lernt hat, die er für ganz vorzüglich halte, und daher hier ſeinen 
Landsleuten mittheilen wolle. Er legt, und mit Recht, ſehr viel 
Gewicht darauf, daß man mit dieſer ſeiner von den Hindus er— 
lernten Methode, durch bloß zehn Zeichen, alle Zahlen, auch die 
größten, ſchreiben könne. Cum his itaque novem figuris, ſagt er, 
et cum sino o, quod arabice Zephirum appellatur, seribitur qui- 
libet numerus. Dieſe und die übrigen mathematiſchen Schriften 
des Fibonacci ſind nie gedruckt worden, ſondern ſie liegen noch 
jetzt in dem Staube der Bibliotheken als Manuſcripte begraben. 

Gegen dieſe Anſicht Libri's, daß wir unſer heutiges Zahlen: 
ſyſtem von den Indiern, wenn auch vielleicht erſt durch Vermitt— 
lung der Araber, erhalten haben, hatte ſchon früher Chasles (in 
den Mém. couronnés par l’Acad. de Bruxelles, Vol. XI. Brüſſel 
1837) Einwendungen gemacht, und dieſelben erſt neuerlich noch 
zu bekräftigen geſucht. Nach Chasles (m. ſ. Comptes rendus de 
l’Acad. de Paris 1839. Janvier 21) ſtammt unſer gegenwärtiges 
Zahlenſyſtem nicht aus dem Oriente, ſondern aus Griechenland, 
und zwar von Pythagoras oder doch von der Pythagoräiſchen Schule. 
In der Geometrie des Boethius oder Boecius (geb. 470, geſt. 526 
nach Ch. G.) befindet ſich nämlich eine hieher gehörende Stelle 
über den ſogenannten Abacus oder Tabula Pythagorica welche 
man, nach Chasles, bisher ganz unrichtig verſtanden haben ſoll. 
Chasles entdeckte ein bisher unbekanntes Manuſcript dieſes Werks, 
wo dieſer locus classicus ganz verſtändlich unſere gegenwärtige 
Rechnungsart auseinanderſetzt und ſelbe auch als der Pythagoräi— 
ſchen Schule gehörig angibt. Chasles fand auch noch, daß dieſe 
Rechnungsart zugleich dieſelbe iſt, die Gerbert (Pabſt Sylveſter II.) 
um das Jahr 1000 unſerer Zeitrechnung vorgetragen hat. Drei 
bisher ganz unbekannte Manuſcripte der Leidner, und eines der 
k. Pariſer Bibliothek ſollen dieſe Thatſachen über allen Zweifel er— 
heben, und Chasles ſchließt daraus, daß dieſe Rechnungsart uns 
weder von den Arabern noch von den Indiern gelehrt worden, 
fondern daß fie, ſchon vor unferer Bekanntſchaft mit den Arabern, 
wenigſtens unter den Gelehrten in Europa, bekannt und aufge— 
nommen war, daß ſie aber vor dem XIII. Jahrhundert nicht in 
den eigentlichen Volksgebrauch überging, und daß ſie endlich 


192 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


Worts Sinus hat man allerlei Vermuthungen. Die wahrſchein— 
lichſte iſt vielleicht die, nach welcher Sinus die wörtliche Ueber— 
ſetzung des arabiſchen Gib (Falte) iſt, fo daß die zwei Hälften 
der Chorde, zuſammengefaltet, den Sinus bilden. 

Das größte Geſchenk, welches die Wiſſenſchaft den Arabern 
verdankt, iſt, daß ſie von dieſem Volke, während einer langen 
Periode von Finſterniß und Verwilderung, aufrecht erhalten 
wurde, ſo daß Europa, als einmal die Tage des Unheils zu 
Ende gingen, die Wiſſenſchaft aus den Händen dieſes Volkes 
ungeſchwächt wieder entgegen nehmen konnte. Wir werden ſpä— 
ter ſehen, wie der Genius Europa's mit dieſem koſtbaren Erbe 
verfuhr, nachdem er es einmal wieder erhalten hatte. 

Es wird nicht unangemeſſen ſeyn, am Ende dieſes Buches 
die vorzüglichſten Züge der Literaturgeſchichte dieſes Volkes 
zuſammen zu ſtellen. — Es wurde bereits geſagt, daß die Araber 
ihre Kenntniſſe meiſtens nur aus den Schriften der Griechen 
genommen haben. Almamon (7 833 nach Ch. G.) hatte dem 
griechiſchen Kaiſer, Michael dem Stammler, einen Frieden dic— 
tirt, deſſen eine Hauptbedingung war, den Arabern eine Anzahl 
griechiſcher Manuſcripte auszuliefern. Dieſe Ueberſetzungen 
wurden bald ſehr beliebt unter den Nachfolgern der erſten Cha— 
lifen, aber es iſt zu beklagen, daß die meiſten derſelben nicht 
ſowohl aus dem griechiſchen Original, als vielmehr aus frühern, 
meiſtens ſehr fehlerhaften ſyriſchen Ueberſetzungen gemacht wor— 
den ſind, und daß auch die Araber ſelbſt bei ihren Arbeiten mit 


ſelbſt unter den Gelehrten des VI. bis VIII. Jahrhunderts wieder 
in eine beinahe allgemeine Vergeſſenheit gekommen iſt. Aus die— 
ſer Urſache hätten ſich auch die vielen Ueberſetzer der arabiſchen 
Schriften im XIII. Jahrhundert mit den algebraifchen und arith— 
metiſchen Schriften der Araber beinahe gar nicht befaßt, was ſie 
gewiß gethan haben würden, wenn ſie eine ſo vortreffliche, neue 
Art zu zählen darin gefunden hätten, oder wenn ihnen dieſe Art 
zu zählen nicht ſchon anders woher bekannt und ſelbſt ſchon ge— 
läufig geweſen wäre. Damit ſtimme nun auch das oben erwähnte 
Manuſcript der k. Bibliothek zu Paris überein, das von Radulph, 
Biſchof von Laon, verfaßt iſt, der mit ſeinem Bruder, dem be— 
rühmten Anſelmus, in Paris und Laon Profeſſor war, und i. J. 
1132 geſtorben iſt, und der in dieſem Manuſcripte ſelbſt ſagt, 
daß dieſes Syſtem der Numeration bei den Abendländern ganz in 
Vergeſſenheit gekommen, und erſt von Gerbert und Hermann 
wieder aufgeweckt und in den Gebrauch eingeführt worden iſt. L. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 193 


ſehr wenig Auswahl und Kritik verfuhren. Außer den griechiſchen 
Schriftſtellern über Medicin, die ſich ihrer beſondern Vorliebe 
erfreute, waren es vorzüglich die Philoſophen Griechenlands, 
und unter dieſen vor allen Ariftoteles und Plato, mit welchen 
ſich die Araber beſchäftigten. Der erſte ſchien ihrem fpeculativen, 
und der zweite ihrem ſchwärmeriſchen Talente zuzuſagen, und ſie 
ſuchten bald beide, ſo heterogen ſie auch ſeyn mochten, nicht 
nur mit ſich ſelbſt, ſondern auch mit den Dogmen ihres Isla— 
mismus zu vereinigen ). Leider hat der Haß der Spanier 
gegen die Mauren die arabiſchen Schriften ſehr ſelten gemacht. 
Indeß ſieht man aus den immer noch ſehr zahlreichen Ueber— 
reſten derſelben, daß ſie ſich vorzüglich mit der Auslegung des 
Ariſtoteles beſchäftigten, deſſen Anſehen ſie über alles verehrten. 
Alfarabi (oder Abu Naſr Ibn Tarkhan F 954), der den Namen 
des zweiten Metaphyſikers erhielt (der erſte war und blieb Ariſto— 
teles) rühmte ſich, die Bücher der Phyſik des Stagiriten vierzig— 
mal, und die Rhetorik deſſelben zweihundertmal durchgeleſen zu 
haben, und Averroes (oder Abul Walid F gegen 1200) behaup— 
tete, daß die Natur erſt bei der Geburt des Ariſtoteles vollendet 
worden ſey. Alkendi (Jacob ben Iſak Alkendi F 880), vorzugs— 
weiſe der „Philoſoph“ genannt, trug durch ſeine Vorleſungen 
über den Ariſtoteles, die er zu Baſra hielt, ebenfalls viel zu 
der Hochachtung ſeiner Landsleute für die alten Griechen bei. 
Avicenna (Abu Ali al Hoſain Ibn Sina 1036), der „Fürſt 
der Aerzte“ genannt, galt zugleich unter den Arabern als der 


1) Aus dieſer Quelle entſtanden unter den Arabern die Motaſalim, 
eine heterodoxe Secte von Gelehrten, die mit den erſten Gnoſtikern 
der Chriſten viel Aehnlichkeit hatte, und die auch, wie dieſe, der 
gegen ſie ausgebrochenen Verfolgung unterlag. Johannes Chry— 
ſorrhoas aus Damaskus (+ 790) ſcheint dazu vorzüglich beigetragen 
zu haben, da er, der Gründer des erſten eigentlichen Syſtems 
einer chriſtlichen Theologie, die philoſophiſchen Werke des Ariſtoteles 
in das Syriſche überſetzte oder vielmehr auf feine Weiſe umarbei— 
tete, die dann von den Arabern begierig aufgefaßt und weiter 
geführt wurde. Dieſer Johannes Damascenus galt für einen der 
vorzüglichſten Theologen der morgenländiſch-griechiſchen Kirche, und 
ſtand lange Zeit im Dienſte eines Chalifen, ſtarb aber als Mönch 
im Kloſter Saba bei Jeruſalem. Seine Werke gab Lequien zu 
Venedig 1748 in 2 Foliobänden heraus. 

Whewell. I. 13 


194 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


größte ariſtoteliſche Philoſoph, ſo wie er auch vielleicht unter 
allen Schriftſtellern jener Zeiten den bedeutendſten Einfluß auf 
die ſogenannten Scholaſtiker der folgenden Jahrhunderte aus— 
geübt hat. Algazel (Abu Ahme del Gaſali + 1127), ein berühm— 
ter Eiferer für den Islamismus, erkärte ſich auf das heftigſte 
gegen alle Philoſophie in feiner „Destructio omnium systema- 
tum,“ welcher Schrift Averroes feine „Destructio Destructionis“ 
entgegenſetzte. — Abu Dſchufur Ibn Tophail (aus Sevilla, 
+ 1176) wurde durch feinen philoſophiſchen Roman, Hai ebn 
Voktan oder (Philosophus autodidaetus) berühmt, das ſchönſte 
Product der arabiſchen Literatur, das wir kennen gelernt haben. 
Er trieb die Verehrung für Ariſtoteles fo weit, daß er die 
Formen (Schemen) deſſelben für geiſtige Kräfte, mit eigener 
Intelligenz begabt, für beſondere Naturweſen erklärte, deren 
Complex die Weltſeele bildet, welche letzte Gott ſelbſt zur Quelle 
und zum Mittelpunkte hat. — Unter den Schülern des oben 
erwähnten Averroes war der berühmteſte Moimonides (Moſes 
ben Maimon + 1205), der gefeiertſte Schriftſteller der Juden 
im Mittelalter, von ſeinen Zeitgenoſſen unter dem Namen „der 
„Ruhm des Orients und die Leuchte des Abendlandes“ bekannt?). 

Die Araber vor Mahomed ſcheinen ſeit den älteſten Zeiten 
für ſich abgeſchloſſen, ohne Zuſammenhang mit den übrigen 
Völkern, ihre nächſten Gränznachbarn ausgenommen, gelebt zu 
haben, gegen welche letzten ſie ihre Unabhängigkeit männlich zu 
behaupten wußten. Aber in den Nomaden Arabiens ſchlummerten 
ſeltene Kräfte, deren Erwachen zuerſt ihr Schwert, und dann 
ihren Glauben mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit über 
einen großen Theil der Erde verbreitete. Dieſer Glaube war 
früher Sabäismus. Arm an Kenntniſſen, ohne roh zu ſeyn, 
befreundeten ſie ſich mit der ſie umgebenden Natur und beob— 
achteten die Geſtirne des Himmels, die ihnen als Wegweiſer zu 
ihren nächtlichen Wanderungen dienten. Die Stämme der 
Beduinen hatten Sagen und genealogiſche Ueberlieferungen, und 
die Geſänge ihrer Dichter waren ihnen Ergötzung zugleich und 
Volksunterricht ). Dieſes der ganzen übrigen Erde unbekannte 


2) Ein ausſührlicheres Verzeichniß der arabiſchen Philoſophen findet 
man in: Tydemann’s conspectus operis Ibn Chalicani, de vitis 
illustrium virorum. Leiden 1809. 

3) Sylvest. de Sacy. in Mem. des Inscript. Vol. 50. S. 247. 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 195 


Hirtenvolk erhob ſich, durch die Kraft eines einzigen Mannes, 
plötzlich zu einer erobernden weltbeherrſchenden Nation. Der 
Koreſchite Abul Kaſem Mohammed aus Mekka (geb. 20. April 
571, geſt. 8. Juni 632) kündigte ſich, ergriffen von dem Glau— 
ben an höhere Offenbarung, in der Nacht der Geheimniſſe (am 
27. Ramaſan 609) als göttlichen Geſandten an. Alle Hinder— 
niſſe und Gefahren beſiegend erreichte er ſein hohes Ziel und 
hinterließ ſeinem Volke das noch jetzt im Orient allgemein ver— 
ehrte und heilige Buch, den Koran, deſſen 114 Suren Moham— 
meds erſter Nachfolger, der Chalife Abubekr (im J. 633) gefams 
melt hatte, und der unter den zweiten Chalifen Othman (650) all— 
gemein bekannt gemacht wurde. Die Zeit dieſer erſten Chalifen 
war den kriegeriſchen Stürmen geweiht und ohne Ertrag für 
Geſittung und Wiſſenſchaft. Auch unter den Ommajaden, an welche 
das Chalifat von Mekka nach Damaskus gelangte, blieb die gei— 
ſtige Bildung der Nation noch auf einer niedern Stufe ſtehen, da 
noch immer ſoldatiſcher Enatismus vorwaltete, der ſeinen Schrecken 
nach Aſien, Afrika und Europa verbreitete, und dem, weit von 
allen wiſſenſchaftlichen Bedürfniſſen entfernt, der Koran genügte. 
Aber mit der Dynaſtie der Abbaſſiden (i. J. 750) beginnt das Zeit— 
alter der arabiſchen Literatur. Dieſe Eroberer waren für höhere 
Geiſtesbildung ſehr empfänglich. Sie hatten an dem genußreichen 
Leben der Bewohner Syriens, Griechenlands und Aegyptens 
Geſchmack gefunden, und der durch reiche Beute zunehmende 
Wohlſtand hatte, unter den Großen beſonders, den Sinn für 
Frieden, für Kunſt und Wiſſenſchaft, und für eine veredelte 
Behaglichkeit des Lebens erweckt. Die Prunkſucht der Chalifen 
in ihrer glanzvollen Reſidenz zu Bagdad begünſtigte dieſen Hang. 
Almanſun (753 bis 775) berief ſyriſche Aerzte aus der Schule der 
Neſtorianer an ſeinen Hof, unter welchen ihn beſonders Georg 
Bochtiſchua auf den reichen Gehalt der medieiniſchen Literatur 
der Griechen aufmerkſam machte. Dieß gab Anlaß zur ſchnel— 
len Vermehrung der ſchon früher angefangenen ſyriſchen Ueber— 
ſetzungen aus dem Griechiſchen, und bald darauf zur Uebertragung 
derſelben aus dem Syriſchen in die Landesſprache der Araber. 
Auch wurden die mit Medicin in näherer Verbindung ſtehenden 
griechiſchen Werke über Philoſophie, Naturkunde, Aſtronomie 
und Mathematik immer mehr berückſichtigt. Es bildeten ſich, 
dem neuen Bedürfniß gemäß, Unterrichtsanſtalten und wiſſen— 
13° 


196 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


ſchaftliche Academien im großen Style. Der Hof des durch 
Tapferkeit, Gerechtigkeit und Liebe zur Wiſſenſchaft ausgezeich— 
neten Chalifen Harun al Raſchid (786-808) wurde der Haupt⸗ 
ſitz dieſer Anſtalten, deren Glanz ſich bald über ganz Südaſien 
verbreitete. Noch freigebiger und kunſtliebender erwies ſich ſein 
Sohn, Al Mamun (808-833), der überall, beſonders in Gries 
chenland, literariſche Schätze ſammeln, und Gelehrſamkeit und 
Gelehrte jeder Art in ſeinen hohen Schutz nehmen ließ. Unter 
ihm und feinem Nachfolger, dem Chalifen Motaſem (833841) 
wurden förmliche große Ueberſetzungs-Geſellſchaften errichtet, die 
griechiſche unter Aufſicht des ſyriſchen Arztes Joannes Meſpe, 
dem Lehrer Mamun's, und die perſiſche unter Joannes ebn 
Batrik. Andere ähnliche Unterrichtsanſtalten und Academien 
wurden, außer der Hauptſtadt Bagdad, auch in Kufa, Damas— 
kus, Basra, Bokhara, Samarkand und in anderen großen 
Städten des Reichs errichtet, wie denn die Nebenländer des 
weit verbreiteten Reiches mit dem Chalifenſitze in wiſſenſchaft— 
licher Thätigkeit wetteiferten, die gleichſam zum Hofton und 
zum gewöhnlichen Bedürfniß der Mächtigen und Großen gewor— 
den war. So fand Kunſt und Wiſſenſchaft Pflege und Achtung 
in Perſien ſeit dem achten Jahrhundert unter der Herrſchaft 
der Barmekiden, Somaniden und Buiden; in Aegypten unter 
den Ajubiden, Bahoriden und Abbaſſiden; in Nordafrika 
unter den Aglabiden und anderen Herrſcherfamilien. Am folge— 
reichſten für Europa war der Anbau der Literatur und Kunſt 
in Spanien unter den Ommajaden (vom Jahre 755 bis 1038), 
beſonders unter den Chalifen Abderrahman III. und Hakem II. 
Zu dieſer Zeit war es, und nicht, wie viele glauben, unter 
Ferdinand und Iſabella, wo Amerika entdeckt wurde, zu jener 
erſten Zeit war es, daß Spanien ſein wahrhaft goldenes Jahr— 
hundert und die höchſte Stufe ſeines Glanzes erreicht hatte. 
Damals goß Spanien, von arabiſchem Feuer erwärmt, ſein 
geiſtiges Licht in reichen Strömen aus über das ganze übrige, in 
finſterer Nacht der Barbarei liegende Europa, und ſelbſt über 
den fernen Oſten, aus welchem dieſes Licht zuerſt gekommen 
war. Hier fügte der glänzende Hof der Ommajaden zu dem 
Rufe der Waffen noch den Ruhm der Kunſt und Wiſſenſchaft, 
und aus allen Theilen Europa's, ja ſelbſt aus den entfernteſten 
Ländern Aſiens wanderte man nach der Academie von Co r- 
dova. Nie vielleicht wurde die Wiſſenſchaft und jede Blüthe 


Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 197 


des menſchlichen Geiſtes höher geſchätzt und mehr geehrt, als 
am Hofe Hakems II., und der Ruf ſeiner Academie zu Cordova 
ließ den der längſt verſchollenen zu Alexandrien, ließ ſelbſt den 
Ruf der kurz zuvor von Harun und Mamun geſtifteten Hoch— 
ſchulen von Bagdad, Kufa, Baſſora u. a. weit hinter ſich 
zurück. Auch war zu keiner anderen Zeit Spanien intelligenter 
und reicher und glücklicher, und nie waren daſelbſt die Finanzen, 
die Verwaltung, die Induſtrie, der innere und äußere Handel, 
der Landbau und ſelbſt der Zuſtand der öffentlichen Straßen 
beſſer beſorgt, als in dieſer glänzenden Zeit. Dieſe moham— 
medaniſche Academie zu Cordova hat ſich ſogar den Ruhm an— 
geeignet, der Chriſtenheit einen Pabſt gegeben zu haben, der 
durch ſein eigenes Vorbild, durch ſeine Schriften und durch ſeine 
Erziehung von Kaiſern und Königen, mehr als irgend ein an— 
derer, auf die Kultur des damals der Bildung jeder Art ſo 
hochbedürftigen chriſtlichen Europa's auf das wohlthätigſte ein— 
gewirkt hat. Pabſt Sylveſter II. (+ 1003), das Kind armer 
Landleute in der Auvergne, hatte den Schatz ſeiner ausgebreiteten 
Kenntniſſe an dieſer hohen Schule Spaniens geſammelt, um ihn 
dann der übrigen, nicht bloß im Geiſte, ſondern auch in der Wahr— 
heit von ihm beberrfchten chriftlichen Welt mitzutheilen. Aber nicht 
bloß in Cordova, der prachtvollen Reſidenzſtadt Abderrahmans 
und Hakems, ſondern auch in den vielen andern blühenden 
Städten Spaniens, in Granada, Toledo, Sevilla, Valencia, Mur— 
cia, Almeria, Malaga u. a. gab es weltberühmte Hochichulen, 
Academien und reiche Bücherſammlungen. In Hakems Pallaſt 
jedoch verſammelten ſich die berühmteſten Männer ſeiner Zeit, 
und hier wurde auch die Sammlung der vorzüglichſten Schriften 
ſeines und aller vorhergehenden Jahrhunderte aufgeſtellt, die er 
mit großen Koſten durch eigene Abgeſandte in den größten Städten 
von Afrika, Aegypten, Syrien, Arabien und Perſien entweder 
aufkaufen, oder, wo dieß unmöglich war, abſchreiben ließ. Auf 
dieſe Weiſe ſammelte er eine Maſſe von 600,000 Manuſcripten, 
deren Katalog allein 44 Bände faßte. Von den vielen in ſeine 
Nähe gezogenen Gelehrten forderte er nichts, als die Been— 
digung ihrer angefangenen Werke, indem er es an nichts mangeln 
ließ, um ihnen die Mittel und die nöthige Muſe zu ihren 
Unternehmungen zu ſichern ). Dieß war die Nationalbildung, 


4) M. ſ. über die Geſchichte der arab.-ſpan. Literatur Murphry, 
history of the mahomedan. Emp. in Spain; Casiri biblicth. Arab. 


198 Folgen der inductiven Epoche Hipparchs. 


dieß die Nationalwohlfahrt Spaniens im neunten Jahrhundert — 
und welches iſt das Schickſal dieſer beiden immer unzertrennli— 
chen Gefährtinnen in demſelben Lande zu unſerer Zeit? — 
Beide theilen ihr Loos mit den gegenwärtigen Unterrichtsanſtalten 
und Akademien dieſes Reiches; ſie ſind alle entflohen, um der 
Noth, dem Elende und der Barbarei ihre Stelle zu überlaſſen. 
So wahr iſt, was Leibnitz ſagte, daß ein Volk ſchon durch 
die Errichtung wiſſenſchaftlicher Anſtalten ſich dem Bunde der 
civiliſirten Nationen beigeſellt und dadurch allein in den Kreis 
derjenigen eintritt, die an der allgemeinen geiſtigen Entwicklung 
und daher auch an dem Glücke der Menſchheit wahren und 
lebendigen Antheil nehmen. L). 

Ehe wir dieſen Gegenſtand für immer verlaſſen, wollen 
wir noch bemerken, daß die Aſtronomie noch jetzt in unſerer 
Sprache häufige Spuren ihres Aufenthalts unter den Arabern 
an ſich trägt. Dahin gehört z. B. unſer Zenith und der ihm 
gegenüberſtehende Punkt, das Nadir; die dem Horizonte pa— 
rallelen Kreiſe oder Almikantharats; ſo wie Azimut, 
Alhidade u. m. a. Mehrere Sterne tragen noch jetzt arabiſche, 
obſchon oft ſehr verſtümmelte Namen, wie Aldebaran, Rigel, 
Fomalhaut, und dahin gehört auch das Wort Almanach, 
vielleicht das am meiſten unter uns gebräuchliche Wort von 
allen, die aus der arabiſchen Zeit der Aſtronomie auf uns über— 
gegangen find ). 


Hisp.; Aſchbach, Geſchichte der Ommajaden 1830; Mitteldorf de 
institutis litt. in Hisp. Gölting. 1811. 

5) Es iſt nicht meine Abſicht, alle Bemühungen der anderen Natio— 
nen anzuführen, die, ſo berühmt ſie auch ſonſt geweſen ſeyn 
mögen, dem großen Syſtem der europäiſchen Kultur fremd ge— 
blieben ſind. Sonſt mußte ich auch von der Aſtronomie einiger 
orientaliſcher Völkerſchaften ſprechen, z. B. von den Chineſen, von 
denen Montucla (Hist. du Math. I. 465) ſagt, daß fie ſchon im 
dritten Jahrhundert unſerer Zeitrechnung die erſte Ungleichheit 
(die Mittelpunktsgleichung) des Monds, und die eigene Bewe— 
gung der Fixſterne (oder die Präceſſion der Nachtgleichen) entdeckt 
haben ſollen, da doch die Griechen dieſe Entdeckungen ſchon fünf 
Jahrhunderte früher gemacht haben. 


Viertes Buch. 


Gefchichte der phyfitchen Wiltentchaften 
im Mittelalter, oder Darftellung des 
ſtationären Zeitraums der inductiven 
Wilfentchaften. 


Und ſchüchtern flieht die Wahrheit 

Zur alten Höhle, über der 

Sich caſuiſt'ſche Berge thürmen; 

Und die Philoſophie, die früher bis 

Zum Himmel ragte, trocknete 

Auf ihre letzten Gründe ein, 

Und war nicht mehr zu ſehen. 

Die Phyſik ging zur Metaphyſik betteln, 

Und ſelbſt die Mathematik mußte 

Zum Myſticismus fliehen. Doch vergebens! 

Der Geiſt der Wiſſenſchaft erkrankt, 

Stiert uns mit ſcheuem Blicke an, 

Dreht ſchwindelnd ſich und raſ't und ſtirbt. 
Dunciade. B. IV. 


Einleitung. 


Wir gelangen nun zu der nähern Betrachtung jenes langen 
und unfruchtbaren Zeitraums, der die wiſſenſchaftliche Thätig— 
keit des alten Griechenlands von der des neuern Europa's trennt, 
und den wir deßwegen die ſtationäre Periode der Wiſſenſchaften ge— 
nannt haben. Es würde zwecklos ſeyn, der verſchiedenen Formen 
zu erwähnen, in welche die Menſchen dieſer Zeit die Entdeckungen 
früherer Jahrhunderte vorzutragen geſucht haben, oder die geringen 
Fortſchritte aufzuzählen, die ſie ſelbſt, entblößt von aller wahren 
Philoſophie, gemacht haben mögen. Wir begnügen uns, die 
allgemeinen, charakteriſtiſchen Züge von dem Geiſte und den 
Sitten dieſer Zeit aufzuſtellen, um dadurch, ſo weit dieß mög— 
lich iſt, die Fehler und Irrthümer derſelben aufzudecken, und 
ſo wenigſtens einige Kenntniß von den Urſachen der Finſterniß 
und der Unfruchtbarkeit dieſer Periode zu erhalten. 

Wir haben ſchon öfter geſagt, daß ein wahrer Fortgang in 
der Wiſſenſchaft immer die Vereinigung von zwei Dingen er— 
fordert: beſtimmte und klare Begriffe von dem Gegenſtande, 
um den es ſich handelt, und richtige Anwendung derſelben auf 
ſpecielle Thatſachen oder auf Beobachtungen. In der Periode, 
zu welcher wir nun übergehen, waren aber alle Begriffe der 
Menſchen über wiſſenſchaftliche Gegenſtände nur dunkel und ver— 
worren, und die geiſtige Anlage, dieſe Begriffe mit den Be— 
obachtungen in irgend eine beſtimmte Harmonie zu bringen, 
ſchien gänzlich zu fehlen. Dieſe ihre Beobachtungen, wenn ſie 
deren je gemacht hatten, blieben daher, unter jenen dunklen 
Begriffen, für ſie ohne Nutzen. Dieſes Uebel wurde noch durch 
eine beſondere moraliſche Eigenſchaft in dem Charakter jener 
Zeiten vergrößert: durch eine ſclaviſche Feigheit des Denkver— 


202 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


mögens auf der einen Seite, das nicht umhin konnte, ſich 
nach einer höheren intellectuellen Macht umzuſehen, und durch 
Unverträglichkeit alles Widerſpruchs auf der andern Seite. Dazu 
kam noch eine eigene Art von enthuſiaſtiſcher Stimmung, die, 
einmal in die Unterſuchung eingeführt, alle geiſtigen Opera— 
tionen gewiſſen ganz verdrehten und illuſoriſchen Ideen unterzu— 
ordnen ſtrebt. 

Dieſe charakteriſtiſchen Kennzeichen unſeres Zeitraums, die 
Unklarheit der Begriffe, die Servilität des Geiſtes, ſeinen Hang 
zur Intoleranz und endlich ſeine enthuſiaſtiſchen Verirrungen 
wollen wir nun in den vier Capiteln des folgenden Buchs, über 
die Dunkelheit der Ideen, über den commentatoriſchen Geiſt, 
über den Dogmatismus und über den Myſticismus des Mittel— 
alters, kurz zuſammenſtellen. 


Erſtes Capitel. 
Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


Jener feſte und ſichere Beſitz von beſtimmten und klaren 
allgemeinen Begriffen, der zu jeder wahren Erkenntniß erfordert 
wird, war das charakteriſtiſche Kennzeichen derjenigen unter den 
Alten, welche als die Schöpfer oder Gründer der einzelnen Wiſſen— 
ſchaften, die ſich unter ihnen erhoben, betrachtet werden. Dieſe 
Entdecker im Reiche der Wiſſenſchaften mußten ſich vor allen 
andern lichte und ſtetige Aperceptionen von ſolchen allge— 
meinen Verhältniſſen zu eigen machen, wie z. B. Raum und 
Zeit, Ordnung, Urſache und dergleichen ſind, und ſie mußten 
ſie auch mit Präciſion und vollkommener Fertigkeit den äußeren 
Erſcheinungen, d. h. den Beobachtungen anzupaſſen verſtehen. 
Dieſe wiſſenſchaftlichen Begriffe waren nothwendiger Weiſe viel 
ſchärfer und beſtimmter, als die des gewöhnlichen Lebens, und 
ſie mußten zugleich dem wiſſenſchaftlichen Manne geläufig genug 
ſeyn, da die damit verbundenen Worte eigentlich die Sprache 
bilden, in welcher er denken ſoll. Auf dieſe Weiſe wird der 
Entdecker neuer Wahrheiten zu Lehren geführt, welche von den 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 203 


anderen nur in dem Maaße angenommen und befolgt werden, 
als auch dieſe den Grundbegriff der Sache eben ſo ſcharf auf— 
faſſen und mit ihm eben ſo vertraut werden können, als jener 
es durch ſeine eigene Kraft geworden iſt. So bemerkte Hipparch, 
indem er ſich von den Bewegungen und den Combinationen der 
Bewegungen, die ſeine epicykliſche Theorie conſtituiren, einen 
klaren Begriff aufgeſtellt hatte, daß die bloße relative Länge 
der vier Jahreszeiten ſchon hinreichend iſt, um daraus die eigent— 
liche Geſtalt der Sonnenbahn zu beſtimmen; und fo wurde auch 
Archimed, nachdem er ſich einmal in den Beſitz eines klaren 
Begriffs von dem mechaniſchen Druck geſetzt hatte, in den Stand 
geſetzt, nicht nur, aus dieſem Begriffe, die Eigenſchaften des 
Hebels und die des Schwerpunkts abzuleiten, ſondern auch zu— 
gleich die Wahrheit dieſes ſeines Princips in der Vertheilung 
des Drucks bei den flüſſigen Körpern zu erkennen, auf welchen, 
in letzter Inſtanz, die geſammte Hydroſtatik beruht. 

Unter dieſen klaren Ideen allein gedeihen und blühen die Wiſ— 
ſenſchaften, und wo immer jene fehlen, wird die Wiſſenſchaft 
matt, ſtationär oder retrograd. Wenn die Menſchen nur die 
Worte der Wiſſenſchaft gedankenlos wiederholen, ohne klare 
Begriffe damit zu verbinden; wenn die geiſtige Auffaſſung dieſer 
Worte unbeſtimmt und düſter wird; wenn ſie der wiſſenſchaft— 
lichen Lehre nur als einer fremden Tradition, nicht aus eigener 
Ueberzeugung, beiſtimmen, wenn ſie ihr nur glauben, ſtatt ſie 
ſelbſt zu prüfen, wenn endlich das ganze Syſtem der Wiſſen— 
ſchaft nur als eine Sammlung von Meinungen, nicht aber als 
ein jedem menſchlichen Verſtande zur immer neuen Selbſtunter— 
ſuchung vorgelegtes Geſetzbuch betrachtet wird, durch welches die 
geſammte Natur in der That regiert wird — dann kann es 
natürlich nicht anders kommen, als daß, unter ſolchen blinden 
Nachbetern, das Licht der Wahrheit, das jene großen Vorgänger 
angezündet haben, wieder ganz erlöſcht und verloren geht. Sie 
ſind viel zu ſchwach, die Fackel der Wahrheit, an die ſie ihre 
ohnmächtigen Hände legen wollen, lebendig zu erhalten; ſie 
können es nicht einmal hindern, wenn dieſe Fackel wieder in 
die Höhlen, aus welchen ſie gebracht worden iſt, ſich zurück— 
zieht, oder auch wohl gänzlich erliſcht. ! 

Dieſe geiftige Schwäche aber, dieſe wankende Unbeſtimmtheit 
alles Gedankens, iſt in der Periode, an deren Eingang wir 


204 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


nun ſtehen, vorherrſchend, und ſie iſt es auch, die den eigent— 
lichen Character dieſes ganzen Zeitraums bildet. Wir wollen 
einige ſpecieile Züge derſelben näher betrachten. 


1. Sammlung von Meinungen. 


Daß in dieſer Periode bloße Sammlungen von Meinungen 
und Anſichten der Phyſiker und Aſtronomen eine ſo vorzügliche 
Stelle in der Literatur einnehmen konnten, ſchon dieß allein iſt 
ein Beweis, daß ſich der menſchliche Geiſt zu unbeſtimmten und 
ſchwankenden Begriffen hinneigte. Dieß gilt ſelbſt von ſolchen 
Werken der frühern Zeit, wie z. B. Plutarchs (50 J. nach 
Ch. G.) fünf Bücher „über die Meinungen der Philoſophen,“ 
oder Diogenes Laertius (250 nach Ch. G.) „Leben der Philoſo— 
phen,“ in welchem er ebenfalls die Meinungen derſelben über 
phyſiſche Gegenſtaͤnde geſammelt hat. Nahe zugleich mit Plutarch's 
erwähnter Schrift erſchien noch ein anderes Werk dieſer Art, 
die „Naturgeſchichte“ des ältern Plinius, das man übrigens mit 
Recht die „Encyclopädie des Alterthums“ genannt hat. Selbſt 
Ariſtoteles pflegte ſchon jeder ſeiner Unterſuchungen die Mei— 
nungen aller ſeiner Vorgänger vorauszuſchicken. Aber dieſe 
„Zuſammenſtellungen“ allein ſchon als einen Haupttheil der 
Wiſſenſchaft anzuſehen, zeugt von einer ſehr ſeichten und fehler— 
haften Anſicht der Wiſſenſchaft ſelbſt. Denn nicht um Autorität 
handelt es ſich hier, und noch weniger um die Meinungen vieler, 
ſondern die einzige Probe, welche die Wiſſenſchaft und jede ihrer 
einzelnen Doctrinen zu beſtehen hat, beruht bloß auf der getreuen 
Anwendung und Uebereinſtimmung ihrer allgemeinen Sätze auf 
jeden einzelnen, beſonderen Fall. Das Anſehen vorhergegangener, 
großer Männer, das in der Moral, in der Politik und in 
andern practiſchen Gegenſtänden von großem Gewichte ſeyn 
kann oder vielleicht ſelbſt ſeyn ſoll, unterſcheidet hier nichts 
mehr. Das Verweilen und Feſthalten bloßer fremder Meinungen 
erzeugt in dem Schriftſteller, ſo wie in dem Leſer, nur eine 
dunkle und unangemeſſene Auffaſſung des vollen Inhaltes der 
auf dieſe Weiſe vorgetragenen Lehren, ſelbſt wenn unter den 
letzten ſolche gefunden werden, die durch jene klare Präciſion für 
die Wiſſenſchaft von wahrem Nutzen ſeyn könnten. Die bloße 
Verſchiedenheit der Meinungen anderer führt noch keine Wahrheit 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 205 


mit ſich; dieſes Aufzählen deſſen, was der und jener geſagt hat, 
lehrt uns nicht, was von allem dieſem Geſagten wahr oder 
falſch iſt, und dieſe Anhäufungen unbeſtimmter Begriffe, wäre 
ihre Anzahl auch noch ſo groß, gibt uns doch keinen einzigen 
wahrhaft beſtimmten Begriff. Im Gegentheile, die Gewohnheit, 
bei den Worten und Anſichten anderer ſtehen zu bleiben und 
uns mit jenen loſen Auffaſſungen fremder, gleichſam nur im 
Fluge einer vorübereilenden Lectüre erhaltener Sätze zu begnügen, 
wird jeder feſten Einſicht, jedem eigenen klaren Gedanken nur 
ſchädlich ſeyn, da ſie zu jener ſchwächlichen Unbeſtimmtheit aller 
Conceptionen führt, die mit allen wahrhaft wiſſenſchaftlichen 
Unterſuchungen unverträglich iſt. 

Man kann daher das Vorherrſchen der erwähnten Samm— 
lungen mit Recht als ein Zeichen des Verfalls des wahren 
philoſophiſchen Talents in dem Mittelalter betrachten. Als 
Beweiſe dazu könnte man eine lange Reihe von Auszügen, 
Epitomen, Lehrbüchern und dergl. anführen. Alle Schriften dieſer 
Gattung ſind für die eigentliche Wiſſenſchaft ohne Werth; die 
Arbeit ihrer Verfaſſer iſt ein todter Körper; ihnen fehlt das 
Princip alles wiſſenſchaftlichen Lebens, und Bücher dieſer Art 
leiten ihre Entſtehung, und ziehen ihre Ernährung nur aus dem 
Leichnam der wahren Wiſſenſchaft; ſie gleichen den Inſecten— 
ſchwärmen, die aus dem verweſenden Körper irgend eines edleren 
Thieres hervorgehen. 


2. Unbeſtimmtheit der Begriffe über Mechanik. 


Jene Unbeſtimmtheit der Begriffe, jener verderbliche Cha— 
rakterzug des Geiſtes im Mittelalter, läßt ſich am beſten aus 
den Werken der Schriftſteller jener Zeiten, ſelbſt der vorzüglichſten 
derſelben, entnehmen. Keiner von ihnen iſt im Stande, die 
klaren und beſtimmten Begriffe, welche von den Griechen auf 
ſie übergegangen waren, gehörig feſt zu halten. In der Mecha— 
nik z. B. bemerkt man auch nicht einen Schritt vorwärts ſeit 
der Zeit des Archimedes bis zu Stevinus und Galilei. Archi— 
medes hatte die Lehre von dem Hebel aufgeſtellt; von ſeinen 
Nachfolgern aber während jener langen Zeit hatten manche, und 
alle vergebens, verſucht, die Lehre von der ſchiefen Fläche auf 
eine ähnliche Weiſe zu begründen. Betrachten wir einen dieſer 


206 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


Verſuche näher, z. B. den des Pappus (400 nach Ch. G.) 
in ſeinen acht Büchern „mathematiſcher Sammlungen,“ und wir 
werden die Urſache dieſes Mißlingens bald kennen lernen. Schon 
ſein Problem, ſchon die Worte, mit welchen es vorgelegt wird, zeu— 
gen von Mangel an klarer Auffaſſung des Gegenſtandes: „Wenn 
„die Kraft gegeben iſt, die eine beſtimmte Laſt längs einer hori— 
yzontalen Ebene bewegt, die Vermehrung dieſer Kraft zu finden, 
»die nöthig iſt, dieſelbe Laſt längs einer gegebenen ſchiefen Ebene 
„zu bewegen.“ Dieſe Aufgabe wird aufgeſtellt, ohne vorher zu 
ſagen, auf welche Weiſe man die Kräfte meſſen ſoll, die 
ſolche Wirkungen hervorbringen; und auf die Art, wie die Laſt 
gezogen werden ſoll, ſo wie auf die Beſchaffenheit der Ebene, 
auf der die Bewegung vor ſich gehen ſoll, wird, als auf gleich— 
gültige Nebenſachen, keine weitere Rückſicht genommen. Das 
eigentliche Problem ſollte heißen: „Die Kraft zu finden, die eine 
„Laſt auf einer ſchiefen Fläche erhalten ſoll,“ und ohne Zweifel 
hat auch die Auflöſung, die Pappus gibt, mehr Bezug auf 
dieſes, als auf das von ihm ſelbſt aufgeſtellte Problem. Doch 
iſt ſeine Schlußfolge ganz verſchieden von denjenigen mechani— 
ſchen Begriffen, auf welche dieſes Problem ſich bezieht. Er 
nimmt die Laſt kugelförmig an, und wenn dann dieſe Kugel 
mit der ſchiefen Ebene in Berührung gebracht wird, nimmt er 
an, daß die Wirkung dieſelbe ſeyn wird, als wenn dieſe Laſt 
von einem horizontalen Hebel getragen würde, deſſen Hypomoch— 
lion jener Berührungspunkt iſt, wo dann die Kraft auf die 
Oberfläche der Kugel wirkt. Allein eine ſolche Annahme ſetzt 
einen völligen Mangel jener klaren mechaniſchen Idee von dem 
Drucke voraus, auf dem doch in letzter Inſtanz die Wirkung 
aller Kräfte beruht, jener ſelben Idee, auf welche Archimedes 
die Eigenſchaften des Hebels, und ſpäter Stevinus die der ſchie— 
fen Ebene mit vollkommener Richtigkeit erbaut hat. Der Be— 
weggrund, den Pappus haben mochte, von einer ſo ſonderbaren 
Vorausſetzung auszugehen, kam wahrſcheinlich von feiner Be: 
merkung, daß jene „Vermehrung der Kraft“ für eine horizontale 
Ebene verſchwindet, und im Gegentheile deſto größer werde, je 
größer die Neigung der Ebene gegen den Horizont iſt. Offenbar 
war alſo ſein Begriff von dem Gegenſtande unbeſtimmt und 
ſchwankend; es fehlte ihm die auf Verſtand gegründete Ueber— 
zeugung; er begnügte ſich mit bloßen Muthmaßungen und vagen 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 207 


Anfichten, die aber nie zu einer wahren, reellen Erkenntniß 
führen. 

Pappus war ohne Zweifel einer der beiten Mathematiker 
der Alexandriniſchen Schule, allein über mechaniſche Gegenſtände, 
wo ſeine Ideen noch ſo unbeſtimmt waren, hatten auch alle 
ſeine Zeitgenoſſen keine beſſeren aufzuweiſen. Ueberhaupt ſchien 
über alle Gegenſtände der ſpeculativen Mechanik, ſeit Archimed 
bis zu den neuern Zeiten, nichts als Dunkelheit und Verwirrung 
zu herrſchen. Der menſchliche Geiſt war vollauf beſchäftigt, die 
feinen Diſtinctionen und Subtilitäten der ariſtoteliſchen Schule 
über Kraft und Bewegung in eine Art von Syſtem zu bringen, 
und da ein Geſchäft mit Dingen, von welchen ſie keine beſtimm— 
ten Ideen hatten und haben konnten, jede Anwendung auf reelle 
Thatſachen und Beobachtungen von ſelbſt ausſchloß, ſo konnte 
auch, in ſolchen Händen, die Wiſſenſchaft nicht vorwärts ſchreiten. 
Wir haben bereits geſehen, daß die Anſichten des Ariſtoteles 
über die Phyſik, wie ſie unmittelbar von ihm ſelbſt kamen, 
aller eigentlich wiſſenſchaftlichen Präciſton ermangelten. Seine 
Nachfolger, ſo ſehr ſie ſich auch bemühten, die Lehren ihres 
Meiſters zu entwickeln und zu vervollkommnen, haben es 
doch nie verſucht, deutlichere Begriffe in ihre Diſcuſſionen einzu— 
führen, und da ſie ſich nie, auf irgend eine feſte Weiſe, auf 
Thatſachen bezogen, fo konnte auch die Unbeſtimmtheit ihrer 
Begriffe durch keine Beobachtung widerlegt oder verbeſſert werden. 
Die phyſiſchen Syſteme, die ſie aus den Werken des Stagiriten 
borgten, wurden in der Folge der Zeit in große, regelmäßige 
Syſteme umgeformt. Aber obſchon man dieſen Syſtemen keine 
practiſche Geltung geben konnte, ohne wieder neue Diſtinctionen 
und Modificationen einzuführen, durch welche die Verwirrung 
der alten dunklen Begriffe nur noch größer wurde, ſo behielt 
man doch dieſe Syſteme mit allen ihren Dogmen ſo lange und 
ſo hartnäckig bei, bis endlich die ganze ſogenannte gelehrte Welt 
zu dem Glauben gelangte, es müſſe fo und es könne und dürfe 
nicht anders ſeyn. Als aber, in einer viel ſpätern Zeit, andere, 
hellere Köpfe, wie Galilei und Boyle, einen Widerſpruch gegen 
dieſen allgemeinen Volksglauben wagten, da hatten die neuen, 
von dieſen Männern aufgeſtellten Maximen einen eben ſo frem— 
den Klang in den Ohren ihrer Zeitgenoſſen, als jetzt jene ſo 
lange feſtgehaltenen ariſtoteliſchen Diatriben in den unſeren 


208 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


haben. So durfte Boyle ſeine neuen Entdeckungen über die 
Mechanik der flüffigen Körper nur unter dem Titel von „Hydro: 
»ſtatiſchen Paradoxen“ bekannt machen, die er aber durch „Ex— 
»perimente“ erläutern und beweiſen konnte. Die Meinungen, 
mit deren Widerlegung er es in dieſer Schrift zu thun hat, ſind 
aber eben dieſelben, welche die ariftotelifchen Philoſophen bisher 
als gewiß, als die einzig wahren verſchrieen hatten, wie z. B., 
daß in allen Flüſſigkeiten die oberen Theile gegen die unteren 
nicht gravitiren; daß eine leichtere Flüſſigkeit gegen eine ſchwere 
nicht gravitirt; daß die Schwere, ſo wie auch die Leichtigkeit, 
eine poſitive Eigenſchaft der Körper ſelbſt ſey u. ſ. f. So lange 
Behauptungen dieſer Art von anderen unbeſtritten und ungeprüft 
blieben, wurden ſie von allen Menſchen angehört und wiederholt, 
ohne die Widerſprüche, welche ſie enthalten, auch nur zu ahnen, 
und ſo blieb man Jahrhunderte durch in dem ruhigen Beſitz von 
erträumten Schätzen, auf die man noch ſtolz zu ſeyn guten Grund 
zu haben glaubte. Als aber die Controverſen zu Galilei's Zeit 
die Menſchen mit mehr Schärfe und Beſtimmtheit denken gelehrt 
hatten, ſo entdeckte man bald, daß gar viele von dieſen früher 
ſo hochgeſchätzten Lehren mit der Wahrheit, mit den Beobach— 
tungen und oft genug mit ſich ſelbſt im Widerſpruche ſtehen. 
Wir haben ein merkwürdiges Beiſpiel von der Ideenverwirrung, 
in welche die Ariftotelifer mit ihrer Lehre von dem Fall der 
Körper gerathen ſind. „Gewichtige Körper,“ ſagten ſie, „müſſen 
ſchneller fallen, als leichte, denn Gewicht iſt die Urſache des Fal— 
lens, und bei größeren Körpern iſt auch das Gewicht größer.“ Sie 
bedachten nicht, daß, wenn ſie das Gewicht des Körpers als 
eine denſelben bewegende Kraft anſehen, ſie auch den Körper als 
ein der Bewegung widerſtehendes Ding anſehen mußten, und daß 
die Wirkung von dem Verhaͤltniſſe der Kraft zum Widerſtand 
abhängen müſſe, kurz, fie hatten keine klare Idee von einer ac= 
celerirenden Kraft. Dieſer Mangel erſtreckt ſich über das 
ganze Gebiet ihrer mechaniſchen Speculationen und macht ſie 
daher auch ganz werthlos ). 


1) Da des Ariſtoteles bisher fchon fo oft gedacht worden iſt und auch 
ferner noch erwähnt werden wird, ſo wird es manchen Leſern nicht 
unangemeſſen ſcheinen, dieſen einflußreichſten aller Philoſophen 
und vielleicht aller Schriftſteller der alten und neuen Zeiten hier 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 209 


Dieſelbe Verwirrung der Gedanken über Gegenftände der 
Mechanik läßt ſich auch in den Schriftſtellern von weniger tech— 


etwas näher kennen zu lernen. — Er war im erſten Jahre der 
neun und neunzigſten Olpmpiade (d. h. im Jahre 384 vor Ch. G.) 
zu Stagira, einer griechiſchen Kolonie in Thracien, geboren. 
Sein Vater Nicomachus war der Arzt und Freund des Königs 
Amyntas von Macedonien. Schon frühzeitig verlor er ſeine Ael— 
tern und kam in ſeinem ſiebenzehnten Jahre zu Plato nach Athen, 
deſſen Schüler er die nächſten zwanzig Jahre blieb. Die letzten 
dieſer Jahre ſchien er ſich mit Plato nicht mehr gut vertragen 
zu haben, und nach dem Tode ſeines Lehrers ſuchte er nach 
und nach die Meinungen deſſelben in ſeinen Schriften bei jeder 
Gelegenheit zu bekämpfen. Gegen ſein vierzigſtes Jahr wurde er 
von König Philipp von Macedonien zur Erziehung ſeines damals 
dreijährigen Sohnes Alexanders berufen. Er ſtand bei Philipp, 
bis an das Ende des Lebens dieſes Königs, in großer Gunſt. Daß 
er, wie mehrere glauben, Alexander in ſeinen Kriegen nach Indien 
begleitete, iſt unrichtig, da er vielmehr, als der perſiſche Krieg 
begann, nach Athen zurückkehrte, um daſelbſt ſeine philoſophiſche 
Schule zu errichten, während er ſeinen Freund und Verwandten 
Kalliſthenes an ſeiner Stelle bei Alexander zurückließ. In Athen 
errichtete er ſeine Schule im Lyceum (Lykeion), dem einzigen 
Gymnaſtum, das ihm noch offen ſtand, da Kenocrates die Acade— 
mie, und die Cyniker das Kynoſarges bereits beſetzt hielten. Da 
er hier ſeine Vorträge meiſtens im Auf- und Abgehen mit ſeinen 
Schülern hielt, fo bekamen dieſe den Beinahmen der Peripate— 
tiker (der Herumwandelnden). Ariſtoteles theilte feine Zuhörer 
in zwei Klaſſen, von welchen die einen des Morgens in tieferen 
philoſophiſchen Unterſuchungen (die akroamatiſchen), die anderen 
aber des Abends in mehr vorbereitenden und allgemein foßlichren 
Vorträgen (den exoteriſchen) geübt wurden. Hier lebte er dreizebn 
Jahre. Gegen das Ende dieſer Zeit ſoll er bei ſeinem königlichen 
Schüler und Gönner in Ungnade gefallen ſeyn, weil er die ver— 
N änderten Sitten deſſelben zu freimüthig getadelt hatte. In Folae 
dieſer Spannung begab er ſich nach Chaleis, um, wie man ſagt, 
dem Tod des Socrates zu entgehen, indem man ihm ein Gedicht 
zum Lobe ſeines Freundes Hermias als Frevel gegen die Götter 
ausgelegt hatte. Bald nach dieſer Flucht von Athen ſtarb er auch 
zu Chalcis i. J. 322. Von den ſehr zahlreichen Schriften des 
Ariſtoteles iſt viel, aber doch lange nicht alles gerettet worden. 
Der größte Theil der übrig gebliebenen ſcheint nur die akroama— 
tiſchen, nicht aber auch die exoteriſchen zu betreffen. Dieſe akroa— 
Whewell. J. 14 


210 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


niſcher Art aus jenen Zeiten wieder finden. Wenn ein Menſch 
nur einen einigermaßen beſtimmten Begriff von einer mechaniſchen 


matiſchen Schriften des Stagiriten hatten ſonderbare Schickſale. 
Zuerſt wurden ſie auf Theophraſt, und dann auf deſſen Schüler 
Neleus aus Skepſis vererbt. Neleus hinterließ dieſelben bei ſeinem 
Tode unwiſſenden Menſchen, die ſie ſchlecht verwahrten und endlich 
unter die Erde vergruben. Nachdem ſie hier durch Näſſe und 
Moder gelitten hatten, wurden ſie zu einem hohen Preis an den 
Bücherfreund Apollicon verkauft, der die Stellen, wo die Hand— 
ſchrift gelitten hatte, durch ſeine Zuſätze, wohl nicht immer glück— 
lich, auszufüllen ſuchte. Später kam dieſes Manuſcript mit der 
athenienſiſchen Beute durch Sulla nach Rom, wo ſie Tyrannion 
und Andronicus in Ordnung brachten und in der Geſtalt, wie wir 
ſie jetzt beſitzen, herausgaben. Unter den verſchiedenen neuern 
Ausgaben derſelben gilt die von Friedrich Sylbury für die beſte; 
doch wird auch die von Caſaubonus und Duval, fo wie die ueueſte 
von Buhle ſehr geſchätzt. 

Ohne uns hier in eine Darſtellung der ariſtoteliſchen Philoſo— 
phie im Allgemeinen einzulaſſen, die man in Ritters „Geſchichte 
der Philoſophie, im dritten Theile, nachſuchen kann, mögen folgende 
Bemerkungen genügen. — Nach Ariſtoteles iſt die Philoſophie 
„die Wiſſenſchaft von den oberſten Gründen des Seyns“ und ihr 
Gegenſtand iſt nur das Ewige und Nothwendige, getrennt von 
allen Künſten des Lebens, und ſelbſt von allen ſittlichen Rückſichten. 
Seine ganze geiſtige Tendenz war, wie Degerando (in ſeiner Geſch. 
der Syſteme der Philoſophie) ſagt, auf die Erfahrung gerich— 
tet, und von allen Idealen, auch den ſittlichen, denen Plato ſo 
ſehr nachhing, ſuchte er ſich fern zu halten. Wo er konnte, blieb 
er bei der Wirklichkeit ſtehen, bei dem, was iſt, nicht was ſeyn 
ſollte oder könnte. Diefe feine Tendenz wurde aber ſchon von den 
Römern, beſonders von Cicero verkannt, der ihn, nach ſeiner Weiſe 
die Philoſophie zu behandeln, mit Plato und den Academikern ver— 
ſchmelzen wollte, gegen welche Vereinigung er ſich ſelbſt gewiß ſehr 
erklärt haben würde. Noch weiter wurde dieſe geiſtige Amalgami— 
fation des empiriſchen Stagiriten mit dem ihm diametral gegenüber 
ſtehenden ideellen Plato von den Scholaſtikern des Mittelalters 
getrieben, die ſich die theoſophiſchen Neuplatoniker der erſten chriſt— 
lichen Jahrhunderte zum Muſter nahmen, und deren platonijirender 
Ariſtoteles, ein anderer Z@xgarng uaıvouevog, in den Schriften 
deſſelben nicht mehr zu erkennen iſt. — Ariſtoteles leitet alles 
Denken aus finnlichen Wahrnehmungen ab, die er Empfindungen 


Unbeftimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 211 


Wirkung hatte, fo konnte er keinen Augenblick die alberne Fabel 
von dem Echineis oder Remoral (Schiffhalter), einem kleinen 


nennt. Er geht darin ſo weit, daß er auch von einer Wiſſenſchaft 
der Sinne ſpricht, von einer ſinnlichen Empfindung des Guten 
und Böſen, und daß er zuweilen ſogar eine gewiſſe Art von 
Empfindung ſelbſt ſchon Verſtand nennt. Nach ihm iſt das durch 
den Geiſt Erkennbare nicht für ſich ſelbſt, ſondern nur in dem 
Sinnlichen da, und deßwegen kann es auch nur wieder in dem 
Sinnlichen erkannt werden, und ohne Empfindung würde auch keine 
Anerkennung ſtatthaben. Der Geiſt erkennt alfo nur die äußeren 
Dinge, wenn ſie ihm durch die Empfindung offenbart werden. 
Wenn uns einer unſerer Sinne fehlte, ſo würden uns auch eine 
oder mehrere Erkenntniſſe oder Wiſſenſchaften fehlen. Zu diefem, 
allem Denken nothwendig vorhergehenden ſinnlichen Eindruck zählt 
er aber auch diejenigen Vorſtellungen, welche uns die Erinne— 
rung bereits vergangener Eindrücke, ſo wie die, welche uns die 
bloße Phantaſie gewährt. Zuerſt entſtehen in uns Empfin— 
dungen, dieſe werden feſtgehalten durch das Gedächtniß, und 
wenn die von dem Gedächtniſſe erhaltenen Eindrücke mit neuen 
Empfindungen verglichen werden, ſo geben ſie uns Unterſchei— 
dung, aus der dann Erfahrung, und aus dieſer endlich die 
Wiſſenſchaft ſelbſt erwächst. Allein diejenige Wiſſenſchaft, 
welche die Urſache jener Erſcheinungen aufſucht, iſt ſelbſt kein 
Reſultat jener Erfahrungen, ſondern es gibt noch eine andere, 
eigene Thätigkeit des Geiſtes, die ſich zwar auch an die Erfahrung 
anſchließen muß, die aber nicht von ihr hervorgebracht wird, und 
dieſe Thätigkeit iſt es, welche „die Wiſſenſchaft“ im höhern Sinne 
des Wortes erzeugt. 

In der Phyſik ſtellt Ariſtoteles die Natur als eine ſelbſtſtän— 
dige innere Kraft dar, welche die Dinge, ihrem Weſen gemäß, 
bewegt oder feſthält. Die Natur (Yvaoıg) iſt ihm ein eigenes 
Weſen, das weder Materie noch Form iſt, aber doch als Beides 
zugleich habend betrachtet werden muß. Die Natur iſt ihm ein 
Weſen, deſſen Einheit in der alle Dinge zuſammenhaltenden Form 
beſteht, während die Elemente, die zuſammengehalten werden, die 
Materie bilden. Dieſe Natur iſt ihm eins mit der allgemeinen 
lebendigen Weltkraft, und er nimmt an, daß durch das ganze 
Weltall eine belebende Wärme dringe, und dadurch alles gleichſam 
mit einem Geiſte erfülle. Er vergleicht dieſe Natur oft mit einem 
Künſtler, der nicht nach vollem Bewußtſeyn, ſondern nur nach 
einem dunklen Triebe handle, daher er ſie auch nicht göttlich, 

14 * 


212 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


Seefiſch glauben, der das größte Schiff, an dem er ſich anſaugt, 
in feinem Laufe zurückhalten ſoll. Plinius (Hist. Nat. XXXU. 7) 


ſondern nur dämoniſch nennt, 7) yao pvoıg daıuovın, aAN 8 Heil 
esıv. Dieß ift, nach ihm, auch der Grund, warum unter den Urfachen, 
die in der Natur wirkſam ſind, dem Zufall und Ungefähr ſo viel 
Raum gegeben wird; daher kommen endlich auch die vielen Un— 
vollkommenheiten (oder Mißgeburten, wie er ſie nennt), die wir 
in den Erzeugniſſen der Natur bemerken. Kunſt nämlich und 
Natur kann fehlen, weil beide ihre Werke nicht aus vernünftiger 
Ueberzeugung, ſondern nur aus Trieb, aus einer Art von Inſtinct 
vollbringen. — Diejenigen Unterſuchungen der Erſcheinungen in 
der Natur, welchen die Mathematik als Folie dient, Aſtronomie, 
Mechanik u f. ſcheinen zwar für ihn beſondere Reize gehabt zu 
haben, da er ſich ſo gern über ſie verbreitet, aber ſie bilden dem— 
ungeachtet die eigentliche „ſchwache Seite“ ſeiner Philoſophie. 
Ueberhaupt gilt von ihm, wie von Plato, wie von den meiſten 
Philoſophen der alten und neuen Zeit, daß ſie deſto mehr und 
lieber über Mathematik, und beſonders über Anwendung derſelben 
auf die Natur ſprechen, je weniger ſie davon verſtehen, und daß 
ihnen von der Mathematik häufig nicht einmal das gehörig bekannt 
geworden zu ſeyn ſcheint, was den erſten Compendien derſelben 
angehört. Auch hatten ſie es nicht eben ſehr noth, da ihre „philo— 
„ſophiſche Aſtronomie“ und ihre ganze „hyperphyſiſche Phyſik“ keine 
Beobachtungen, alſo auch keine eigentlichen Berechnungen bedurfte, 
indem fie das Weltall a priori conſtruirten, und ſich wenig darum 
kümmerten, ob dieſe ihre imaginäre Natur auch mit der reellen 
Welt außer ihnen übereinſtimmte oder nicht. Die Hauptſätze der 
ariſtoteliſchen Aſtronomie laſſen ſich auf Folgendes zurückführen: 
„Im Himmel herrſcht eine viel größere Ordnung der Bewegungen, 
„als auf der Erde. Dieſe himmliſchen Bewegungen können nur 
„die einfachſten und die vollkommenſten zugleich, d. h. fie können 
„nur kreisförmige Bewegungen ſeyn, in welchen nämlich die Kör— 
„per immer in gleicher Richtung fortgehen und doch wieder in ſich 
„ſelbſt zurückkehren. Dieſe himmliſchen Körper ſind leidenloſe 
„Weſen, welche das beſte Ziel erreicht haben; ſie ſind dem Gött— 
„lichen viel näher, als die Erde oder die auf ihr lebenden Men: 
„ſchen. Der Himmel hat eine Seele und den Urſprung feiner 
„Bewegung in ſich ſelbſt, und dieſe Bewegung bedarf keines Aus— 
„ruhens, wie z. B. die der Thiere, weil fie ohne alle Mühe ge— 
„ſchieht und daher auch keine Ermüdung erzeugt. Zu der Vortreff— 
„lichkeit dieſer Bewegung der himmliſchen Körper gehört auch, daß 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 213 


erzählt dieſes Mährchen ganz ernſthaft und declamirt noch darüber 
auf ſeine Weiſe: „Was,“ ſagt er, „iſt wohl ſtärker, als das 


„ſie von der Rechten wieder zur Rechten vor ſich geht. Dieß gilt 
„jedoch nur von dem oberſten Himmel, in welchem jene Geſtirne 
„wohnen. Die niederen Sphären aber enthalten die Planeten, 
„und dieſe letzten find ſchon nicht mehr fo vollkommene Weſen, 
„da fie ſich auch zur Linken und in ſchiefen Kreisbahnen bewegen. 
„In der Mitte der Welt aber ſteht die Erde, weil das Irdiſche 
„immer nur nach dem Mittelpunkt der Welt ſtrebt.“ Wie ſchwan— 
kend und nichtsſagend dieß alles iſt, leuchtet von ſelbſt ein. 

In einem günſtigeren Lichte erſcheint der Stagirit auf dem 
eigentlich philoſophiſchen Gebiete. Wenn Plato mit ſeiner blühen— 
den Feder, mit feiner lebhaften Phantaſte, mit all' feinem Schmuck 
der Rede als ein hohes Muſter der „ſchönen Darſtellung“ mit 
Recht betrachtet wird, ſo bleibt dem Ariſtoteles dafür der reine, 
durchdringende, von allem Sremdartigen geläuterte Verſtand, und 
darin ſteht er vielleicht höher, als irgend ein Philoſoph der alten 
und der neuen Zeiten. Unſere heutigen ſogenannten Naturphilo— 
ſophen wollten die Strenge, deren ſich die Mathematik rühmt, 
auch auf ihr Feld verpflanzen. Aber fie benahmen ſich dabei ſehr 
ungeſchickt, indem ſie ſich nur an die äußeren Formen dieſer Wiſ— 
ſenſchaft hielten, und auch wohl halten mußten, da fie, wie man 
aus ihren Schriften ſelbſt am beſten ſieht, von dem Inneren der— 
ſelben keine Kenntniß hatten. Sie glaubten übrigens damit etwas 
ganz Neues, bisher Unverſuchtes gethan zu haben. Aber Ariſtoteles 
iſt ihnen hierin ſchon vor mehr als zweitaufend Jahren, nur auf 
einem ganz anderen Wege, vorausgegangen, indem er nämlich 
die „ſtrenge Conſequenz“ der Schlüſſe, deren ſich die Mathematik 
rühmt, auch in ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen einzuführen 
ſuchte. Leſſing, dem dieſe Conſequenz auch nicht fremd war, ſagte 
daher ganz recht, daß das, was Ariſtoteles z. B. über die Natur 
und Eigenſchaft des Dramas in feiner Schrift: Legr Houriung 
aufgeſtellt hat, ganz eben ſo wahr und ſtreng bewieſen erſcheine, 
als irgend ein Satz in der Geometrie Euklids, wenn gleich dort 
weder Figuren noch algebraiſche Zeichen zu Hülfe gerufen worden 
find. In der That iſt bei allen rein philoſophiſchen Unterſuchuugen 
der tief eingehende, ſcharf ſondernde Geiſt des Stagiriten un— 
verkennbar, der in die Maſſe des Gegebenen eindringt und ſelbſt 
in der größten Dunkelheit ſich Licht zu verſchaffen weiß. Durch 
alle dieſe Forſchungen aber zieht ſich die Anſicht, daß der Menſch 
für feine Erkenntniß überall nichts Sicheres hat, als die äußeren 


214 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


„Meer und die Winde? Welches Gebäude iſt wohl größer, als 
„ein Schiff? Und doch kann ein kleiner Fiſch, der Echineis, ſie 


Erſcheinungen. An dieſen letzten darf daher nichts geändert, ihnen 
darf durchaus nichts vergeben werden. Der geiſtigen Kraft, in 
dieſen Erſcheinungen der Außenwelt Einheit und Ordnung zu 
finden, wird viel, aber lange nicht alles eingeräumt. Die Er— 
fahrung zeigt uns vielmehr, daß wir dieſelben häufig nur in 
einem ſehr unvollkommenen Lichte erblicken. Nach ihr waltet 
mehr Zufall, als vernünftiges Geſetz in der Welt, und da ſich die 
Vernunft nicht ganz mit der Erfahrung in Einklang bringen läßt, 
ſo muß auch ein großer Theil derſelben dem Zufall und der Unver— 
nunft preisgegeben werden. Das Ideal unſerer Erkenntniß, im 
theoretiſchen wie im practifchen Leben, iſt auch ihm, wie feinem 
Lehrer Plato, etwas Göttliches — aber mit kaltem Scharfblick den 
Lauf der Natur beobachtend findet er, daß für uns dieſes Ideal 
nicht paßt, daß dieſes Göttliche zwar für ſich exiſtirt, aber nur 
als ein Fremdling zu uns herabgelangt, und daß es ſich in der 
beſtändigen Bewegung des Lebens nicht feſthalten läßt. Darum 
iſt ihm die Wiſſenſchaft ſelbſt auch etwas Veränderliches, die Tugend 
aber, zwar an ſich bleibend, jedoch die Uebung derſelben dem 
wechſelnden Spiele des vielbewegten Lebens unterworfen. Darum 
endlich iſt auch das höchſte Gut des Menſchen, die Glückſeligkeit, 
den Wechſelfällen des Zufalls preisgegeben. Der Wirklichkeit dieſer 
Welt iſt daher das Ideal verſagt, aber demungeachtet iſt es in 
Wahrheit da, nur nicht in uns, ſondern bloß in dem höchſten 
Weſen, das alles bewegt, das die ganze Natur umfaßt und be— 
ſeelt, und das ſelbſt in unſer Juneres herabſteigt, um hier der 
Wahrheit und Tugend eine Stelle, nicht zu geben, ſondern nur 
vorzubereiten. — Dieſe betrübenden Anſichten ſind aber weit ent— 
fernt, ihn kleinmüthig zu machen, vielmehr zählt er es zu einer 
der vorzüglichſten Eigenſchaften des Menſchen, zu einer wahren 
Tugend deſſelben, ſich in die einmal unabänderlich gegebene Wirk— 
lichkeit zu finden, und ihr ſo viel als eben möglich iſt, mit hei— 
terem Muthe abzugewinnen. Zwar erſcheint ihm der Menſch in 
der Stellung, in welcher er hier von der Natur geſetzt iſt, nur 
als ein geringes, dürftiges Weſen, aber er findet das Leben deſ— 
ſelben doch noch immer lebenswerth, wenn er nur ſein Streben dahin 
richtet, daß er in der That und wahrhaft lebe, indem er, ſtatt 
ſich mit eitlen Beſtrebungen vergebens abzumühen, die ihm ge— 
gebene Wirklichkeit mit reger, verſtändiger Thätigkeit ergreift. 
Darin unterſcheiden ſich auch die beiden Lehrbegriffe Plato's und 


Unbeftimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 22 


„alle zurückhalten, wenn ſie auch ſämmtlich denſelben Weg gehen. 
„Mögen die Winde blaſen und die Wogen raſen, dieſes kleine 


des Stagiriten am auffallendſten, daß jene die Erſcheinungen der 
Außenwelt mittels der inneren Ideen begründet, während Ariſto— 
teles die Materie, als den ewigen Grund dieſer Erſcheinungen, 
außer uns feſtſetzt, und indem er dieſes Materielle als etwas 
Untergeordnetes und durchaus nur Leidendes betrachtet, daraus 
die Zufälligkeiten und Anomalien der materiellen und der ſittlichen 
Welt abzuleiten ſucht. Plato ſuchte eine Wiſſenſchaft, die ſich 
über die Beſchränkung der irdiſchen Verhältniſſe, die auch er er— 
kennt und erkennen muß, herausſchwingt, und er betrachtet den 
Menſchen, abgeſehen von ſeinen gegenwärtigen beſchränkten Ver— 
hältniſſen, in einem künftigen, reineren, höheren Zuſtande. Ari— 
ſtoteles aber betrachtet ihn, wie er ihn eben findet, und dieſem 
gegenwärtigen Menſchen ſucht er auch ſeine Wiſſenſchaft anzupaſſen. 
Ihm mißfällt jener hohe Flug der Gedanken, und noch mehr 
jenes Sichhingeben an die Phantaſie auf Koſten des Verſtandes, 
jenes Streben nach Ueberſinnlichem und Geträumten auf Koſten 
des Gegenwärtigen und Wirklichen, und dieſes Mißfallen, das aus 
der ganzen Denkweiſe des Ariſtoteles und aus dem eigentlichen 
Weſen ſeiner Philoſophie hervorgeht, findet ſchon darin ihre voll— 
ſtändige Erklärung, daß er, gleich ſeinem berühmten Nachfolger 
Theophraſt, die AYavacız ng Yuxng nicht annimmt, und 
auch die Vernunft zwar als etwas an ſich Ewiges, aber nicht als 
ein dem Menſchen eigenthümliches, ſondern als ein dem Ganzen, 
dem Weltall oder dem höchſten Weſen angehörendes Gut betrach— 
tet. — In Plato, den Panätius mit Recht den „Homer der 
Philoſophie“ genannt hat, offenbarte ſich der jugendlich aufſtrebende 
Sinn der Wiſſenſchaft: Pato lebte mehr in der Zukunft, als 
in der Gegenwart; er zehrte von ſeinen Hoffnungen und nährte 
ſich mit Ideen. Der männlichere Geiſt des Stagiriten dagegen 
ſchreitet feſt und ſicher in die Tiefe der Gegenwart hinab: weg— 
gewendet von den poetiſchen Träumen der Jugend kehrt er feinen 
Blick der Wirklichkeit zu, und findet ſie lange nicht ſo ſchön und 
reizend, als ſein Vorgänger, doch ſucht er zugleich mit dieſer 
Wirklichkeit ſo gut, als es eben geht, ſich abzufinden. Zeno 
endlich, der Stifter der Stoa, und ſeine berühmten Nachfolger 
Kleanthes und Chryſipp, gleicht dem grämlichen, lebensmüden 
Greiſe, der, mit Unmuth zurück und ohne Hoffnung vorwärts 
blickend, nirgend einen feſten Stand finden kann, und dem nichts 
mehr übrig bleibt, als mit dem Schickſal zu hadern oder ſich ihm 


216 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


„Geſchöpf meiſtert ihre Wuth und feſſelt ein Schiff, das keine 
„Ketten, kein Anker mehr feſthalten kann, und dieß vermag jenes 


ſchweigend zu unterwerfen. Nach Plato ſind die Menſchen glück— 
liche, ätheriſche Weſen, die einer immer höheren Glückſeligkeit 
entgegengehen; nach Ariſtoteles aber ſind ſie ſehr mittelmäßige Ge— 
ſchöpfe, die nichts Beſſeres thun können, als ſich mit dieſer Mit— 
telmäßigkeit ſo viel möglich abzufinden; nach Zeno endlich ſind 
fie Sklaven des blinden Geſchicks und Thoren, die von der wahren 
Weisheit ewig fern bleiben, obſchon ſie ewig nach ihr zu ringen 
beſtimmt ſind. 

Ueber das hohe Anſehen, das Ariſtoteles beſonders im Mittel— 
alter genoß, iſt bereits oben geſprochen worden. Die Araber 
gingen hierin mit ihrer Liebe zur Spitzfindigkeit und mit ihrer 
lebhaften Imagination voraus. Im zehnten und eilften Jahr— 
hundert ſchon war dieſes Anſehen ſo hoch geſtiegen, daß es einer 
Menge von Bullen und kirchlichen Bannflüchen kräftig widerſtehen 
konnte, und endlich wurde ſein Triumph ſo groß, und die Ver— 
ehrung, die man gegen den Stagiriten hegte, ſo abgöttiſch, daß 
die Profeſſoren bei dem Antritte ihres Lehramtes einen Eid ab— 
legen mußten, in ihren Vorträgen ſich nie, weder von dem 
Evangelium, noch von den Schriften des Ariſtoteles, zu entfernen. 
Noch zu Ende des XVI. Jahrhunderts war es gefährlich, ſich dem 
Anſehen des Ariſtoteles zu widerſetzen oder auch nur einige ſeiner 
Sätze nicht anzunehmen. Petrus Ramus (c 1572) hatte es an 
der Univerſität zu Paris gewagt, einige Behauptungen des Sta— 
giriten für falſch zu erklären. Die Folge dieſer Frevelthat war 
eine allgemeine Revolte ſeiner Schule, ja der ganzen Stadt. 
Das Parlament von Paris machte die Sache des Ariſtoteles zu 
feiner eigenen Angelegenheit. Remus wurde entlaſſen, der 
König proſcribirte ſeine Schriften, und er ſelbſt konnte ſich der 
allgemeinen Verfolgung nur durch eine ſchleunige Flucht entziehen. 
Einige Jahre ſpäter, wo eine peſtartige Seuche in Paris ausbrach, 
und wo man, wie er glaubte, über der allgemeinen Calamität 
ſeiner vergeſſen haben würde, wagte er es, aus ſeinem Verſtecke 
hervorzukommen, und ſeine Lehrſtätte wieder zu beſteigen. Er 
hütete ſich ſehr, auch nur den Namen des Ariſtoteles weiter aus— 
zuſprechen. Aber der neuerungsſüchtige Profeſſor konnte ſich nicht 
enthalten, feinen Schülern den Rath zu ertheilen, das Qu in der 
lateiniſchen Sprache nicht mehr, wie kw, ſondern blos wie k aus— 
zuſprechen, weil er gefunden haben wollte, daß die alten Römer 
ebenfalls kamkam für quamquam und kiskis für quisquis geſprochen 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 217 


„Thierchen, nicht etwa durch große Anftrengung, ſondern nur 
„indem es ſich an das Schiff hängt. Bejammernswerthe Eitelkeit 
»der Menſchen, vom thurmhohen Schiffe, durch ihre Hände 


haben. Sofort erwachte die alte Wuth ſeiner Gegner, und der 
verruchte Anti-Ariſtoteles wurde mit Steinen geworfen und mit 
Stöcken von ſeinem Lehrſtuhl getrieben, und durfte fortan ſich nicht 
mehr auf der Gaſſe ſehen laſſen. Aller Vorſicht ungeachtet wurde 
er doch bald darauf von einem dieſer philoſophiſchen Banditen 
meuchlings ermordet. 

Noch muß bemerkt werden, daß daſſelbe Anſehen und derſelbe 
nachtheilige Einfluß, den Ariſtoteles auf die Philoſophen des Mit: 
telalters ausgeübt hat, in den letzten Decennien des verfloſſenen Jahr— 
hunderts, in Deutſchland wenigſtens, wieder zurückzukehren drohte. 
Er ſcheint es, in Verbindung vielleicht von den Scholaſtikern jener 
finſtern Zeiten, geweſen zu ſeyn, der unſern neuern Naturphilo— 
ſophen das Beiſpiel jener dunklen, geſchraubten, oft bis zur Un— 
verſtändlichkeit verdeckten Härte der Sprache und des Gedankens 
gegeben hat, durch welche ſich dieſe ſogenannten Weltweiſen aus— 
zuzeichnen geſucht haben. Zu den bereits oben gelieferten Be— 
weiſen dieſer Behauptung wollen wir hier noch die wörtliche 
ariſtoteliſche Erklärung der „Bewegung“ im Allgemeinen hinzu— 
fügen. „Die Bewegung,“ heißt es, „iſt die Thätigkeit des dem 
„Vermögen nach Seyenden, ſofern es dem Vermögen nach iſt. 
„Demnach muß die Bewegung ein Mittleres ſeyn zwiſchen dem 
„bloßen Vermögen nach beſtehenden Seyn, und zwiſchen dem 
„reellen Seyn der gänzlich verwirklichten Thätigkeit, in welcher 
„letzten nichts mehr dem Vermögen nach iſt, weil die Bewegung 
„weder früher noch ſpäter ſeyn kann, als indem das dem Vermögen 
„nach Seyende ſich verwirklicht, früher aber nur das dem Ver— 
„mögen nach Seyende, und ſpäter nur die Wirklichkeit ſelbſt iſt, 
„aus welchem Grunde die Bewegung weder dem Vermögen, noch 
„der Energie angehört, weil weder das ſich nothwendig bewegt, 
„was dem Vermögen nach eine Größe hat, noch auch das, was 
„der That nach eine Größe hat.“ — Stellen dieſer Art, und man 
findet ihrer nicht wenige in den ariſtoteliſchen Schriften, können 
immerhin, ohne zu erröthen, an die Seite unſerer ſchönſten 
naturphiloſophiſchen Productionen geſetzt werden, und um ihre 
Vortrefflichkeit ganz zu genießen, wollen wir die Leſer erſuchen, 
ſie Wort für Wort in irgend eine andere alte oder neue Sprache 
zu überſetzen, die alle weniger, als unſere gute deutſche Mutter— 
ſprache geeignet zu ſeyn ſcheinen, ſich von jedem Unberufenen 
mißhandeln zu laſſen. L. 


218 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


„erbaut, und von ihren Wällen herab, zur See, wie zu Land, zu 
„fechten, da fie doch bewegungslos, gleich einem Gefangenen, von 
„einem Fiſch feſtgehalten werden können, deſſen Länge nicht einmal 
„einen und einen halben Fuß beträgt. Ein ſolches Thier ſoll das 
„Hauptſchiff in der Schlacht von Actium feſtgehalten, und An— 
„tonius dadurch gezwungen haben, ein anderes Fahrzeug zu be— 
»„ſteigen. Selbſt in unſeren eigenen Tagen hielt ein ſolches Thier 
„das Schiff des Kaiſers Cajus feſt, als er von Aſtura nach Anz 
„tum fahren wollte. Man ſtaunte nicht wenig, als dieſes 
„Schiff wie eine Mauer ſtehen blieb, während alle andere von 
»der Flotte weiter ſegelten; aber die Verwunderung währte nicht 
„lange, da einige von der Schiffsmannſchaft in das Waſſer 
„ſprangen und den Fiſch an dem Steuerruder fanden. Sie zeig— 
„ten ihn dem Kaiſer, der ergrimmte, zu ſehen, daß ein ſolches 
„Thier ſich ſeinem von vierhundert Ruderern befolgten Befehle 
„entgegenſetzen durfte. Es glich einem Klumpen Blei und hatte 
„keine Kraft mehr, als es einmal in's Schiff gebracht war.“ 
Auch Lucan ?) bezieht ſich nach Dichterweiſe auf dieſe Legende, 
und führt dieſen Fiſch nur an, um ihn mit mehreren anderen 
Monſtroſitäten zuſammen zu ſtellen. 

Ein nur einigermaßen richtiger Begriff von dem, was wir 
Ziehen nennen, würde den Römern gezeigt haben, daß das 
Schiff und die Ruderer den angehängten Fiſch durch die Kraft, 
welche das Ruder auf das Waſſer ausübt, fortziehen müſſen, 
und daß der Fiſch, wenn er keinen Anhaltspunkt an einem äuße— 
ren Körper hat, dieſer Kraft nicht widerſtehen kann. 


3) Unbeſtimmte Begriffe in der Baukunſt. 


Dieſe Unbeſtimmtheit der Begriffe, auf die wir ſo oft ſchon 
aufmerkſam gemacht haben, wird vielleicht noch beſſer hervor— 


2) Lucanus, Pharsalia. IV. 670, wo er eine von den Miſchungen bes 
ſchreibt, die man bei Bezauberungen anzuwenden pflegt: 
Huc quicquid foetu genuit Natura sinistro, 
Miscetur: non spuma canum quibus unda timori est, 
Viscera non lyncis, non durae nodus hyaenae 
Defuit, et cervi pasti serpente medullae; 
Non puppis retinens, Euro tenente audentes 
In mediis Echineis aquis, oculique draconum etc. 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 219 


treten, wenn wir die Veränderungen bemerken, die in dem rö— 
miſchen Reiche die Baukunſt erlitten hat. Jedes Bauwerk muß, 
wenn es auf die ihm eigenthümliche Schönheit Anſpruch machen 
ſoll, in mechaniſcher Beziehung ein in ſich abgerundetes, ſelbſt— 
ſtändiges Ganze ſeyn. Die bloß zur Zierde deſſelben beſtimmten 
Glieder müſſen eine Anordnung haben, die das Princip der Hal— 
tung und der Stabilität in ſich trägt. Die Collonaden der 
Griechen z. B. ſtellten einen horizontalen geradlinigen Balken 
vor, der auf einer vertikalen Unterlage ruhte, und ihre Thor— 
giebel ahmten den Bau eines Daches nach, an dem einander 
entgegengeſtellte Balken ſich gegenſeitig trugen. Dieſe Bauart 
wurde zu einem beſtimmten Modell der Kunſt, da ſie das Gepräge 
der unterſtützenden Kraft in ſich trug. Allein jene anderen Col— 
lonaden oder Giebel, die, obſchon jenen griechiſchen ganz ähnlich, 
aller eigentlich mechaniſchen Wahrheit ermangelten, gehören 
ſchon in die Zeit des Verfalls der Architektur, und fie zei— 
gen uns, daß die Menſchen dieſer Zeit den Begriff der inneren 
haltenden Kraft verloren, und nur den der äußeren Form be— 
halten haben. Eben dieß aber haben die Baumeiſter des römi— 
ſchen Kaiſerreichs gethan. Unter ihren Händen wurden jene 
Giebel an ihrem Scheitel geſpalten und in zwei getrennte Hälften 
getheilt, die ſich nicht länger gegenſeitig unterſtützten, und die 
daher einen mechaniſchen Widerſpruch darſtellten. Das horizon— 
tale Hauptgebälke ihrer Collonaden ſtellte nicht mehr einen gerad: 
linigen Balken vor, der von einem Pfeiler zum andern reichte, 
ſondern es ragte über jede Säule hervor, wand ſich wieder zur 
Wand zurück und hing ſelbſt mit derſelben in den Zwiſchenſtellen 
zuſammen. Die prachtvollen Ueberreſte von Palmyra, Balbas 
und Patra (in Arabien) geben uns zahlloſe Belege zu dieſen 
ganz verkehrten Einfällen, und ſie zeigen uns auf eine ſehr be— 
lehrende Art, wie der Verfall der Kunſt und Wiſſenſchaft immer 
Hand an Hand mit jener Unbeſtimmtheit und Verdunkelung der 
klaren Begriffe zu gehen pflegt. 


4) Unbeſtimmte Begriffe in der Aſtronomie. 


Indem wir von der Kunſt wieder zur Wiſſenſchaft zurück— 
gehen, könnte man, auf den erſten Blick, vorausſetzen, daß wir 
in Beziehung auf Aftronomie jene Unbeſtimmtheit der Begriffe 


220 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


von dem Mittelalter nicht erwarten ſollten, da bereits ganz klare 
und beſtimmte Notionen aus der Vorzeit da lagen, die man nur 
wieder aufnehmen und allenfalls auch ſelbſt unterſuchen und an— 
wenden durfte. Auch iſt wohl gewiß, daß die Begriffe der Menſchen 
von Raum und Zahl und Zeit von jeher immer hinlänglich be— 
ſtimmt geweſen ſeyn mögen, da ſo einfache elementare Begriffe 
nicht wohl einer Verdunklung oder einer Verwirrung fähig zu 
ſeyn ſcheinen. Auch haben die ſpäteren Griechen, die Araber und 
ſelbſt die früheſten neueren Aſtronomen die Hypotheſen des Pto— 
lemäus mit einer immerhin erträglichen Klarheit aufgefaßt. 
Demungeachtet darf man ſagen, daß das Mittelalter dieſe Be— 
griffe von Raum und Zahl nicht in jener lebendigen, kräftigen 
Weiſe beſaß, die allein zur Entdeckung neuer Wahrheiten führen 
kann. Hätten ſie deutlich eingeſehen, daß es der theoretiſche 
Aſtronom bloß mit relativen Bewegungen zu thun hat, ſo 
würden ſie, wenn auch nicht die Wahrheit, doch wenigſtens die 
Möglichkeit des Copernicaniſchen Syſtems eingeſehen haben, wie 
denn die Griechen, ſchon in ſehr früher Zeit, dieſe Möglichkeit 
ſehr wohl begriffen haben. Allein davon findet man auch nicht 
die leiſeſte Spur. In der That, die Art, wie die arabiſchen 
Mathematiker die Auflöſung ihrer Probleme darſtellen, zeugt 
keineswegs von jener klaren Auffaſſung der räumlichen Verhält— 
niſſe, noch von jener inneren Luſt der Betrachtung dieſer Relatio— 
nen, die aus den geometriſchen Speculationen der Griechen überall 
hervorſieht. Die Araber gewöhnten ſich, ihre Reſultate ohne 
Beweiſe, und ihre Lehren ohne die Unterſuchungen und Wege 
darzuſtellen, durch welche fie zu jenen gelangt find, Ihr Haupt— 
zweck dabei ſcheint mehr practiſch, als rein ſpeculativ, mehr auf 
die Berechnung des Reſultats, als auf die Expoſition der Theo— 
rieen gerichtet geweſen zu ſeyn. Delambre 3) mußte öfter ſich 
nicht wenig bemühen, um die Methoden zu errathen, durch welche 
Ibn Junis ſeine Auflöſung mehrerer ſchwieriger Probleme ge— 
funden haben mag. 

5) Un beſtimmtheit der Ideen der Skeptiker. 

Dieſelbe Unſtätigkeit des Geiſtes, die den Menſchen hindert, klare 
Begriffe und feſte Ueberzeugung über einzelne Gegenſtände zu er— 


3) Delaubre, Astr. du Moyen Age. S. 125. 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 221 


halten, führt ihn am Ende auch dahin, die Möglichkeit aller 
ſicheren Erkenntniß überhaupt zu läugnen, und als reiner Skep— 
tiker in allen Wiſſenſchaften aufzutreten. Männer dieſer Art 
müſſen immer nur unbeſtimmte Begriffe von ihren Gegenftänden 
haben, da ſie ſonſt die ſtreng bewieſenen Wahrheiten der Wiſſen— 
ſchaft nicht läugnen könnten, und ſo ſehr ſie auch in ihrem Zeitalter 
Aufſehen gemacht haben, ſind ſie doch zugleich ein Beweis, daß 
unter ihren Zeitgenoſſen ſelbſt größtentheils nur wieder ſolche 
unbeſtimmte Begriffe geherrſcht haben müſſen. Im Mittelalter 
mochte überdieß die unendliche Speculationsſucht und die allge— 
meine Jagd nach Subtilitäten, die in den philoſophiſchen Schu— 
len vorherrſchte, einen Mann von kühnem und ſcharfſinnigem 
Geiſte ſehr leicht bis zu jener allgemeinen Zweifelſucht gebracht 
haben, da jene Schulen ſo durchaus nichts darboten, was einen 
verſtändigen Mann befriedigen konnte. Und ſo mag allerdings 
der Skepticismus jener Zeit unſerer Aufmerkſamkeit werth ſeyn, 
als ein Zeichen der Erſchlaffung der Wiſſenſchaft, die einem ſo 
allgemeinen Angriff, der gegen ihre eigene Eriftenz gerichtet war, 
nichts Weſentliches mehr entgegenſtellen konnte. 

Unter dieſen philoſophiſchen Skeptikern iſt Sextus Empiricus 
der merkwürdigſte. Den Zunamen Empiricus erhielt er von der 
eben ſo genannten ärztlichen Secte jener Zeit, die alle ihre 
Kenntniſſe aus der Erfahrung nehmen wollte, im Gegenſatze zu 
den rationalen und methodiſchen Secten, welche der Arznei— 
kunde eine mehr wiſſenſchaftliche Form zu geben ſuchten Y). 
Seine Werke enthalten eine Reihe von Abhandlungen, die nach 


4) Sextus Empiricus, aus Mitilene, gegen das Jahr 200 nach Chr. 
Geburt, gilt als der wiſſenſchaftliche Wiederherſteller und Voll— 
ender des Pyrrhonismus. Wir beſitzen von ihm zwei Werke: 
„Anweiſung zur Skepſis“, 3 B., und „Gegen die dogmatiſchen 
Philoſophen“, 11 B. — Die Skeptiker läugneten durchaus alle Er: 
kenntniß, ſie möge uns durch die Sinne oder auf einem anderen 
Wege zugeführt werden, und ſie ließen durchaus keinen Beweis 
für irgend eine Sache gelten, ihren eigenen, daß es keinen ſolchen 
Beweis gebe, allein ausgenommen. Daher zieme dem Weiſen vor 
allem eine gänzliche Zurückhaltung jedes Urtheils, ja ſelbſt jedes, 
auch zweifelhaften Ausſpruchs, worin die berühmte ayaoıa 
dieſer Secte beſtand. .. L. 


222 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


der Reihe gegen alle Wiſſenſchaften feiner Zeit gerichtet find. 
Da findet man ein eigenes Capitel gegen die Geometer, ein an— 
deres gegen die Arithmetiker, gegen die Aſtrologen, Muſiklehrer, 
Grammatiker, Logiker u. f., und es iſt, wie ein neuerer Schrift— 
ſteller ſich ausdrückt, als ein Rahmen zu betrachten, der die 
ganze encyclopädiſche Ueberſicht aller Wiſſenſchaften feiner Zeit 
umfaßt. Doch gehen ſeine Einwürfe mehr auf die Metaphyſik 
im Allgemeinen, als auf die einzelnen Theile der Wiſſenſchaften, 
und er läugnet nicht ſowohl die aus der Erfahrung abgeleiteten, 
als vielmehr nur die durch bloße Speculationen erhaltenen 
Lehren. So ſind ſeine Einwürfe gegen die Arithmetik und Geome— 
trie eigentlich nur gegen die abſtracten Spitzfindigkeiten gerichtet, 
welche die Natur des mathematiſchen Punkts, der Linie, der 
Einheit u. dgl. betreffen. Ueber die Aſtrologie aber drückt er 
ſich ſo aus: „Ich betrachte hier nicht jene vollendete Wiſſenſchaft, 
„die auf Geometrie und Arithmetik beruht, denn die Schwäche 
»dieſer letzten Doctrinen habe ich bereits gezeigt, noch bekämpfe 
„ich jene Gabe der Vorausſagung aus den Bewegungen der 
»himmliſchen Körper, die ſich die Schüler vom Eudox und Hip— 
»parch vorbehalten haben, und alles übrige, was einige Aſtro— 
„nomie zu nennen pflegen, denn dieß find alles Beobachtungen 
„von Erſcheinungen, gleich denen in der Landwirthſchaft oder in 
»der Schiffkunſt, ſondern ich erkläre mich hier nur gegen jene 
„Kunſt, nach welcher die Chaldäer aus der Geburt eines Men— 
„ſchen fein Schickſal vorherverkündigen wollen.“ So ſehr alſo 
auch Sextus ein Skeptiker von Profeſſion war, ſo entging ihm 
doch nicht der Unterſchied zwiſchen einem aus Beobachtungen ab— 
geleiteten und einem bloß hyperphyſiſchen oder myſtiſchen Dogma, 
wenn auch ſchon das erſte nichts hatte, was ſeine Bewunderung 
erregen konnte. 

Die früheſten Schriftſteller der chriſtlichen Kirche bekämpften 
die Philoſophie ihrer heidniſchen Gegner viel zu leicht, aber aus 
ganz anderen Gründen, wie wir ſpäter ſehen werden. Noch un— 
verträglicher war der Geiſt des Islamismus mit der kühnen 
Prüfung und der Negation aller Autorität der griechiſchen 
Schriftſteller. Doch läßt ſich ein merkwürdiges Beiſpiel von 
Skeptik unter den Arabern aufſtellen. Dieß iſt der ſchon oben 
erwähnte Algazel oder Algezeli, ein berühmter Philoſoph zu 
Bagdad im zwölften Jahrhundert, der ſich als den Gegner nicht 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 223 


nur von der gemiſchten peripatetiſchen und platoniſchen Philo— 
ſophie ſeiner Zeit, ſondern als den Feind von Ariſtoteles ſelbſt 
erklärte. In feiner von Avicenna widerlegten „Deſtruction“ der 
Philoſophie ) ſcheint er die Grundprincipien der Philoſophie des 
Plato und Ariſtoteles angegriffen, und die Möglichkeit eines 
bekannten Zuſammenhangs zwiſchen Urſache und Wirkung ge— 
läugnet zu haben, wodurch er gleichſam der Vorgänger des be— 
rühmten engliſchen Philoſophen Hume geworden iſt. In ſeinem 
andern Werke: „Von den Meinungen der Philoſophen“ unter— 
ſuchte er dieſe Sätze einzeln in Beziehung auf die Principien 
der phyſikaliſchen Wiſſenſchaften. Wir können aber nicht an— 
ſtehen, zu ſagen, daß ſeine Einwürfe, ſo weit ſie die reell-bewie— 
ſenen Wahrheiten der Aſtronomie und anderer inductiven Wiſ— 
ſenſchaften betrafen, nur noch eine größere Verwirrung der 
Ideen in ihm ſelbſt ſowohl, als auch in ſeinen Zeitgenoſſen, die 
er dadurch zur Wahrheit führen wollte, hervorbringen mußten. 


6) Geringſchätzung der Naturwiſſenſchaften bei den 
erſten Chriſten. 


Wenn die Araber, die erſten Beförderer der Wiſſenſchaft 
im Mittelalter, ſich ſchon mit ſo ſchwachen und ſervilen Kennt— 
niſſen begnügten, ſo läßt ſich leicht errathen, daß bei den früheren 
Chriſten die Dunkelheit und Verwirrung in allen wiſſenſchaft— 
lichen Begriffen noch viel größer geweſen ſeyn muß, da die 
letzten alle Phyſik mit Geringſchätzung, wenn nicht mit völliger 
Nichtachtung, behandelten. In der That wurde durch mehrere 
Jahrhunderte alles Studium der Naturwiſſenſchaften, ſelbſt von 
den erſten und ausgezeichnetſten Schriftſtellern der chriſtlichen 
Kirche, nicht bloß vernachläßigt, ſondern ſelbſt als ſchädlich 
widerrathen. Die großen practiſchen Lehren, die ſich jetzt dem 
menſchlichen Geiſte geoffenbart hatten, und die ernſten Pflichten 
der Unterordnung des Willens und der Zügelung aller Leiden— 
ſchaften, welche die neue Religion auferlegte, machten aus jenen 
Speculationen, die bloß der Neugierde angehören ſollten, einen 
ſehr tadeluswerthen Mißbrauch der geiſtigen Kraft des Mens 
ſchen, und viele von den Kirchenvätern ließen, mit verſtärktem 


5) M. ſ. Degerando Hist. Comp. des Systemes philos. IV. 124. 


224 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


Nachdruck, die Meinung von Sokrates wieder hervortreten, daß 
die einzig wahre und unſer ſelbſt würdige Philoſophie diejenige iſt, 
die ſich nur mit unſern gegenwärtigen Pflichten und mit unſern 
künftigen Hoffnungen näher bekannt macht ). So ſagt Euſe— 


6) Brucker, III. 317. Der weiſe und ſonſt fo nüchterne Sokrates 
ließ ſich hierin von ſeiner Abneigung gegen die Sophiſten ſeiner 
Zeit viel zu weit führen. Er verwarf ſelbſt in den mathematiſchen 
Wiſſenſchaften alles als unnütz und ſchädlich, was nicht unmittel- 
bar bei den Geſchäften des gemeinen Lebens mit Vortheil gebraucht 
werden kann. „Er befahl deshalb auch, wie Xenophon in feinen 
„Memor. Soer. IV Cap. erzählt, die Aſtronomie nur fo weit zu 
„erlernen, daß man die Theile des Jahrs und des Tages kenne, 
„um auf Reiſen und bei andern Gefchäften ſich darnach zu richten, 
„und fo viel (ſetzt er naiv hinzu) läßt ſich allenfalls ſchon von 
„Jägern und Schiffern lernen. Aber die Bewegungen der himm— 
„liſchen Körper, ihre Entfernung von der Erde, die Urſachen ihrer 
„Entſtehung u. dergl. kennen zu lernen, davor warnte er ſeine 
„Schüler auf das Eindringendſte, weil er davon durchaus keinen 
„Nutzen ſehe, und weil auch der, der ſolche Dinge erforſchen will, 
„auf ſo viele andere wichtigere und nützliche Unternehmungen 
„Verzicht thun müſſe. Jene Dinge, ſetzte er hinzu, werden dem 
„Menſchen doch immer ein Geheimniß bleiben, und den Göttern 
„ſelbſt kann es nicht anders als unangenehm ſeyn, wenn die 
„Menſchen dasjenige zu entdecken ſuchen, was ihnen jene ſo ſorg— 
„fältig zu verdecken ſich bemühen.“ — Welche Vorſtellungen eines 
ſonſt ſo großen Mannes von der Gottheit, und welche Rath— 
ſchläge, die er auf dieſe Vorſtellungen baut! Wenn die Nachwelt 
dieſelben genau befolgt hätte, wo wären wir jetzt? Die Gering— 
ſchätzung aller Wiſſenſchaft und eine allgemeine Barbarei würden 
ihre Folge geweſen ſeyn. Zu dieſem Extreme wurde er aber ohne 
Zweifel durch die Sophiſten verleitet, durch welche die Jugend von 
Athen mit ganz nutzloſen und inhaltsleeren Diatriben hingehalten 
wurde. In ſeiner edeln Entrüſtung über dieſen Mißbrauch der 
geiſtigen Kräfte des Menſchen ergriff er die Geißel, um dieſe 
Verkäufer einer ſehr ſchlechten Waare aus dem Tempel zu jagen, 
aber er bedachte nicht, daß er durch das hinter ihm offen gelaſ— 
ſene Thor einem noch viel größeren Uebel den freien Zutritt 
geſtattete. — Sein Johannes, der liebſte und treueſte ſeiner 
Jünger, Xenophon, ſcheint dieſe Anſicht des Meiſters ganz in ſich 
aufgenommen zu haben. Indem er die Verbannung ſeines großen 
Zeitgenoſſen Anaxagoras erzählt, der ebenfalls in der Kenntniß 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 225 


bins (Praee. Ev. XV. 61): „Nicht aus Unkenntniß dieſer Dinge, 
„die jene bewundern, ſondern aus Verachtung ihrer unnützen 
„Arbeiten iſt es, daß wir jo klein von dieſen Sachen denken, 
yund unſern Geiſt zu beſſeren Gegenſtänden wenden.“ Wenn 


des geſtirnten Himmels weiter gehen wollte, als es dem ſouve— 
rainen Pöbel Athens zu gefallen geruhte, der dann, um feine 
thörichte Wuth zu entſchuldigen, den verfolgten Weiſen für wahn— 
ſinnig erklärte, ergreift Kenophon dieſe Gelegenheit, feine Leſer 
alles Ernſtes zu rathen, ſich von dieſem Beiſpiele warnen zu 
laſſen, ‚und ja nicht zu ſehr der Aſtronomie nachzuhängen, um 
„nicht Gefahr zu laufen, ſo wie Anaxagoras, darüber den Ver— 
„ſtand zu verlieren.“ — Selbſt Plato, von dem man zu rühmen 
pflegte, daß er ungewöhnliche Kenntniſſe in der Mathematik und 
Aſtronomie beſeſſen habe, obſchon feine Werke, ſo vortrefflich dieſe 
auch in andern Beziehungen ſeyn mögen, davon kein Zeugniß 
geben, ſelbſt Plato iſt der Aſtronomie, in dem neuern Sinne des 
Wortes, ſehr abhold. Zu ſeiner Zeit war nämlich das, was die 
Philoſophen „Aſtronomie“ nannten, ein Theil ihrer Methaphyſik, 
ein Aggregat von Hypotheſen über den Urſprung und den Zweck 
des Weltalls, über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Materie, 
über das primitive Chaos, den Grunditoff aller Dinge, die Welt— 
ſeele, über das vovg und anelgov, das Aoyog und qrouo, das 
ro ov und das um ro ov, und was dergleichen Spitzfindigkeiten 
mehr ſind, die er aber alle gar ſehr in Schutz nimmt und mit 
ganzer Kraft zu cultiviren räth, während er die auf wirkliche 
Beobachtungen gegründete Aſtronomie nur als eine Nebenſache 
verwirft, mit welcher ſich die kleinen unphiloſophiſchen Geiſter bes 
ſchäftigen mögen, die aber des wahren Weiſen ganz unwürdig 
iſt. „Die wahren Aſtronomen, ſchließt er, rechne ich daher aller— 
„dings zu den weiſen Männern, aber nicht die, welche, wie He— 
„ſiod (?) und alle andern ihm gleichen Aſtronomikaſter (xaı av- 
„Tag rag rolsreg aspovousvreg) dieſe Wiſſenſchaft dadurch 
„betreiben wollen, daß fie den Auf- und Untergang der Geſtirne 
„und dergleichen mehr beobachten, ſondern vielmehr diejenigen, 
„welche die acht Sphären des Himmels und die große Harmonie 
„des Weltalls erforſchen, was allein dem Geiſte des von den Göt— 
„tern erleuchteten Menfchen angemeſſen und würdig iſt.“ — Daß 
aber dieſer Vorſchlag des Heis IIAgrovog, wenn er genau befolgt 
worden wäre, zu demſelben Ziele geführt hätte, wie der oben 
erwähnte von Sokrates und Kenophon, obſchon beide von ganz 
entgegengeſetzten Gründen ausgehen, iſt für ſich klar. L. 
Whewell. I. 15 


226 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


aber die Gedanken der Menſchen abſichtlich von allen Ideen abs 
gewendet werden, die zu den Naturwiſſenſchaften gehören, ſo kön— 
nen die letzten wohl nicht anders als dunkel und unbeſtimmt blei— 
ben. Ja man konnte am Ende auch nicht begreifen, wie Andere 
beſſere und deutlichere Begriffe über ſolche Gegenftände haben 
ſollten. Dieſe Menſchen hielten, wie Lactantius (Lib. III. Init.) 
alle Wiſſenſchaft für eitel und nichtig. „Um die Ur: 
»ſachen der natürlichen Dinge zu erforſchen, ſetzt er hinzu, und 
„zu fragen, ob die Sonne auch in der That fo groß iſt, als fie 
„und erſcheint; ob der Mond convex oder concav iſt; ob die 
„Fixſterne feſt am Himmel ſtehen oder frei in der Luft ſchwim— 
„men; von welcher Form und Maſſe der Himmel gemacht wurde; 
„ob er in Ruhe oder in Bewegung iſt; wie groß die Erde ſeyn 
„mag, und auf welche Art fie aufgehängt oder im Gleichgewicht 
„erhalten wird — über ſolche Dinge zu forſchen und zu diſpu— 
»tiren, iſt daſſelbe, als wenn wir über unſere Meinungen von 
„einer Stadt in einem entfernten Lande ſtreiten wollten, von 
»der keiner mehr als den Namen derſelben gehört hat.“ Es iſt 
kaum möglich, die gänzliche Abweſenheit alles klaren Begriffs 
von phyſiſchen Gegenſtänden ſtärker auszudrücken, als in dieſer 
Stelle geſchieht. 


7) Frage von den Antipoden. 


Bei ſolchen Anſichten darf es uns nicht wundern, wenn 
auch die Folgerungen, die man ſelbſt aus gut begründeten Theo— 
rien abgeleitet hat, auf eine unvollſtändige und ganz unange⸗ 
meſſene Weiſe aufgenommen wurden. Man könnte mehrere 
merkwürdige Beiſpiele von ſolchen Mißgriffen anführen. Eines 
der auffallendſten iſt die Frage von der Exiſtenz der Anti— 
poden oder von Menſchen, welche uns gegenüber auf der Ober— 
fläche der Erde wohnen und deren Füße daher gegen die unſri— 
gen gekehrt ſind. Die Lehre von der Kugelgeſtalt der Erde 
folgt, wie wir oben geſehen haben, als eine geometriſche Noth— 
wendigkeit aus dem klaren Begriff von den verſchiedenen Er— 
ſcheinungen, die uns die Natur über dieſen Gegenſtand dar— 
bietet. Dieſe Lehre wurde von den Griechen rein aufgefaßt und 
ſtetig feſtgehalten, und ſie wurde auch von allen arabiſchen und 
europäiſchen Aſtronomen, die ihnen folgten, angenommen. Sie 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters, 227 


war in der That ein unveräußerlicher Theil jedes aſtronomiſchen 
Syſtems, das nur überhaupt die Erſcheinungen der Natur im 
Großen auf eine faßliche Weiſe darſtellen wollte. Allein jene 
Menſchen, die von der Natur ganz und gar keinen klaren Be— 
griff hatten und abſichtlich auch nicht haben wollten, und die 
alle hieher gehörenden Fragen in einem ganz andern Lichte be— 
trachteten, jene allein mochten wohl noch als Gegner dieſer Leh— 
ren auftreten. — Und fie thaten dieß auch. Die Exiſtenz von den 
Bewohnern der uns entgegengeſetzten Theile der Erde war etwas, 
worauf der Menſch durch Nachdenken und Ueberlegung gekommen 
war, deſſen Wahrheit aber allein durch die Erfahrung beſtätigt 
oder widerlegt werden konnte; aber andere Rückſichten, die ſich 
nicht unmittelbar weder auf den Verſtand, noch auf die Erfah— 
rung beziehen, und die ſich auf alle Menſchen ohne Unterſchied 
erſtrecken ſollen, gaben den erſten chriſtlichen Lehrern Mittel an 
die Hand, ſich gegen die Möglichkeit der Antipoden zu erklären. 
Lactantius ) gab dieſe feine Erklärungen auf eine Weile ab, 
welche die Unverträglichkeit dieſer neuen Philoſophen und zugleich 
die Unbeſtimmtheit und Verwirrung aller, ihrer Begriffe von 
der Phyſik ſehr deutlich bezeugen. „Iſt es möglich, fagt er 
„(Lib. III. 23), daß Menſchen fo albern ſeyn können, zu glaus 
„ben, daß auf der andern Seite der Erde das Getreide und die 
„Bäume mit ihrer Spitze abwärts hängen, und daß dort die 
„Menſchen ihre Füße höher als ihre Köpfe haben ſollen? Wenn 
„man dieſe Philoſophen fragt, wie ſie ſolche Ungereimtheiten 
„beweiſen, wie fie ſich erklären wollen, warum dort nicht alle 
„Dinge von der Erde wegfallen, ſo antworten ſie, daß die Na⸗ 
„tur aller Dinge ſo eingerichtet iſt, daß die ſchweren Körper 
„gegen den Mittelpunkt der Erde ſtreben, gleich den Speichen 


7) Lactantius lebte mit dem oben erwähnten Euſebius im vierten 
Jahrhundert. Jener wurde ſeines ſchönen Vortrags wegen der 
chriſtliche Cicero genannt, und feine Divine institutiones in VII 
Büchern werden als ſein vorzüglichſtes Werk gerühmt. Euſebius 
Hieronymus, aus Stridon, iſt durch ſeine Polymathie, ſeinen 
Eifer für die Rechtgläubigkeit und durch ſeine Bibelerklärungen 
berühmt geworden. Er wird der „Vater der Kirchengeſchichte“ 
genannt. Anfänglicher Gegner der Arianer ward er ſpäter, als 
Biſchof zu Cäſarea in Paläſtina, ihr Freund und Vertheidiger 
gegen den h. Athauaſtus. L. 

25 * 


228 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


„eines Rades, während die leichten Körper, Wolken, Rauch, 
„Feuer überall von dem Mittelpunkte weg gegen den Himmel 
„hin gehen. Ich bin wahrhaftig in Verlegenheit, wie man 
»ſolche Leute nennen ſoll, die, wenn fie einmal in den Irrthum 
„gerathen find, dann noch fo hartnäckig in ihrer Thorheit bes 
»harren, und eine abſurde Meinung durch eine zweite, noch 
»abſurdere, vertheidigen wollen.“ — Es iſt offenbar, daß, fo 
lange Lactantius den eigentlichen Hauptbegriff der neuen Theorie 
nicht in ſich aufnehmen will, er auch die Argumente ſeiner 
Gegner abſurd finden muß, und daß er auf dieſe Weiſe von der 
Wahrheit der Sache nicht überzeugt werden konnte. Im ſechsten 
Jahrhundert, unter der Regierung Juſtinians, finden wir einen 
andern Schriftſteller, Cosmas Indicopleuſtes ), der die Erde 
als eine längliche Tenne beſchreibt, die mit ſenkrechten Wällen 
rings umgeben und mit einem Gewölbe überdeckt iſt, unter wel— 
chem letzten ſich die himmliſchen Körper hin und her bewegen, 
indem ſie alle um ein gewiſſes ſehr hohes Gebirg rund herum 
laufen, welches ſich im nördlichen Theil der Erde befindet, und 
welches zugleich, wenn die Sonne ſich hinter dieſes Gebirge be— 
gibt, unſere Nächte verurſacht. In den Schriften des h. Au— 
guſtins (De Civit. Dei, XVI. 9), der um das Jahr 400 lebte, 
wird die Lehre von den Antipoden auf eine andere Weiſe wider— 
legt. Ohne die Kugelgeſtalt der Erde läugnen zu wollen, wird 
doch behauptet, daß die uns entgegenſtehende Seite der Erde 
nicht von Menſchen bewohnt ſeyn könne, und zwar aus dem 
Grunde, weil die h. Schrift keiner ſolchen Race unter den Nach— 
kommen Adams erwähnt. Aehnliche Rückſichten walteten auch 
bei dem bekannten Prozeſſe des Virgilius vor, des Biſchofs von 
Salzburg im achten Jahrhundert. Als dem h. Bonifacius, Erz— 
biſchof von Mainz, berichtet wurde, daß Virgilius die Exiſtenz 
der Antipoden vertheidige, wurde jener ganz erſchreckt durch die 


8) Dieſer Cosmas war ein Alexandriniſcher Kaufmann, der weite 
Reiſen gemacht, ſich längere Zeit in Indien aufgehalten hatte und 
ſpäter als Mönch (im Jahr 550) geſtorben iſt. Er trug eine To— 
pographia Christiana in XII Büchern zuſammen, in der Abſicht, 
das ptolemäiſche Syſtem zu chriſtianiſiren oder mit der Bibel in 
Einklang zu bringen. Man findet dieſe Schrift græce et lat. in 
Montfaucon Coll. patrum. Tom. II. L. 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 229 


Annahme einer Welt, die ganz außer dem Bereiche der Erlöſung 
liegen ſollte, und machte die Anzeige von dieſer Ketzerei bei dem 
Papſte Zacharias anhängig. Es ſcheint übrigens nicht, daß die 
Klage zu einer ſtrengen Ahndung geführt habe, und die Erzäh— 
lung von der Abſetzung des Biſchofs von Salzburg, die Kepler 
und andere neuere Schriftſteller in Umlauf gebracht haben, iſt 
ohne Zweifel erdichtet ?). Dieſelben Bedenklichkeiten blieben aber 
noch lange unter den chriſtlichen Schriftſtellern vorherrſchend, 
und Toſtatus 1%) erklärte die Meinung von der Rundung der 
Erde als ſehr bedenklich und gefahrvoll wenige Jahre noch vor 
der Entdeckung Amerika's durch Columbus. 


8) Intellectuelle Stellung der Mönchsorden. 


Noch muß bemerkt werden, daß dieſe Meinungen vieler 
kirchlichen Schriftſteller zwar als ein vorherrſchendes und charak— 
teriſtiſches Kennzeichen jener Zeit angeſehen werden können, daß 
ſie aber demungeachtet nicht ſo allgemein verbreitet geweſen ſind, 
als uns manche glauben machen wollten. Wurden doch auch 
öfter in aufgeklärten Tagen einzelne, ſelbſt hervorragende Per— 
ſonen, von einer ſolchen Verwirrung der Begriffe auf Abwege ge— 
bracht; und ebenſo findet man auch in jenen finſtern Zeiten, 
wo klare Begriffe jeder Art allerdings ſehr ſelten waren, doch 
immer auch mehrere, die ſich der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß 
mit Glück hingegeben, und die alte, wahre Anſicht von der 
Geſtalt der Erde unverändert beibehalten haben. So führt 


9) Bonifaz, der h. Apoſtel Deutſchlands, war im Jahr 680 in Eng— 
land geboren, wo er in der Taufe den Namen Winfred erhielt. 
In feinem dreißigſten Jahre ging er als Heidenbekehrer nach 
Deutſchland, wozu er von Gregor II. in Rom förmlich den Auf— 
trag erhielt. Gregor III. machte ihn zum Primas von Deutſch— 
land und Erzbiſchof von Mainz. Er errichtete mehrere Bisthümer 
in Regensburg, Salzburg, Freiſingen, Erfurt, Würzburg; ver— 
ſammelte in Deutſchland acht Concilien, ſtiftete die berühmte 
Abtei zu Fulda und unternahm im Jahr 754 in feinem 7aften 
Lebensjahre eine neue apoſtoliſche Reiſe zur Bekehrung der Un— 
gläubigen, wo er aber am 3. Juni 755 von Barbaren auf dem 
freien Felde erſchlagen wurde. 

10) Montfaucon. Patrum Collectio. Vol. II. 


230 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


Boethins *) im fechsten Jahrhundert die Kleinheit der Erd— 
kugel, im Vergleich gegen den Himmel, als einen Grund an, 
den menſchlichen Stolz zu bekämpfen. Dieſes Werk wurde von 
dem engliſchen König Alfred in das Angel-Sächſiſche überſetzt, und 
von dem berühmten Beda commentirt, der ſich, bei Gelegenheit 
der eben angeführten Stelle, für dieſelbe Lehre erklärt und über— 
haupt eine nähere Bekanntſchaft mit Ptolemäus und feinen grie— 
chiſchen und arabiſchen Erklärern verräth. Gerbert, im zehnten 
Jahrhundert, reiste von Frankreich nach Spanien, um da von 
den Arabern die Aſtronomie zu erlernen, und er übertraf bald 
ſeine Meiſter. Auch ſoll er künſtliche Uhren conſtruirt und ein 
Aſtrolabium von einer beſonderen Einrichtung verfertigt haben. 
Im Jahr 999 beſtieg er unter dem Namen Sylveſter II. den 
päpſtlichen Stuhl ). Unter den übrigen Pflegern der Wiſſen— 
ſchaft, von welchen einige, nach ihrem Fortgange zu ſchließen, 


11) Boäthius de Consolat. pr. 7. 

12) Bosthius wurde im Jahr 470 in Rom aus einer alten, ange⸗ 
ſehenen Familie geboren. Seine eigentliche Bildung erhielt er in 
Athen. Theodorſch, König der Oſtgothen, überhäufte ihn mit Bes 
weiſen ſeiner Huld und erhob ihn zu den erſten Staatsſtellen. 
Später wußten ihn feine Gegner bei dem alternden, mißtrauiſchen 
König zu verſchwärzen, als wäre er den Gothen abhold, und 
Boethius wurde in ein Schloß zu Pavia eingekerkert und daſelbſt 
im Jahr 528 auf die grauſamſte Weiſe ermordet. In ſeiner Ju⸗ 
gend ſchon hatte er viele lateiniſche Ueberfetzungen des Plato, 
Ptolemäus, Euklides, Archimedes u. a. herausgegeben, die ſein 
Freund Caſſiodor wegen der Reinheit der Sprache ſehr zu rühmen 
pflegte. Sein vorzüglichſtes Werk iſt: De Consolatione phikoso- 
phica, das er im Kerker ſchrieb und das ſpäter in beinahe alle 
europäifche Sprachen überſetzt worden ift. — Beda, mit dem Bei⸗ 
namen Venerabilis, ein angel⸗ſächſiſcher Mönch im ſiebenten Jahr: 
hundert, war durch ſeine für jene Zeiten große Beleſenheit berühmt. 
Wir haben von ihm ein Chronicon (allgemeine Weltgeſchichte) 
und eine engliſche Kirchengeſchichte. — Gerbert oder Sylveſter II., 
deſſen wir ſchon oben erwähnten, bildete ſich ebenfalls unter den 
Arabern aus, durchreiste die vorzüglichſten Länder Europa's und 
ſtarb im Jahr 1003 mit dem Ruhme eines der gelehrteſten Män⸗ 
ner ſeiner Zeit. Er beſchäftigte ſich vorzüglich mit Mathematik 
und Philoſophie, und wurde durch feine Kenntniſſe bei feinen 
ſtupiden Zeitgenoſſen in den Verdacht der Zauberei gebracht. L. 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 231 


eine hinreichend klare Erkenntniß wenigſtens der erſten Ele— 
mente ihrer Doctrinen beſeſſen haben mögen, nennen wir hier 
(nach Montucla ““) Adelbold, deſſen Werk „über die Sphäre“ 
dem Papſt Sylveſter gewidmet war, deſſen geometrifches Rai— 
ſonnement aber, demſelben Montucla zufolge, unbeſtimmt und 
phantaſtiſch iſt; Hermann Contractus, ein Mönch von St. 
Gallen, der im Jahr 1050 ein aſtronomiſches Werk herausgab; 
William von Hirsanger, der im Jahr 1080 dem Beiſpiel 
ſeines Vorgängers folgte; und Robert von Lothringen, den 
Wilhelm der Eroberer wegen ſeiner großen aſtronomiſchen Kennt— 
niſſe zum Biſchof von Hereford ernannte. Im nächſtfolgenden 
zwölften Jahrhundert legte ſich Adelhard Goth, ein Engländer, 
unter den Arabern auf die Wiſſenſchaften, wie es Gerbert im 
vorbergehenden Jahrhundert gethan hatte, und bei ſeiner Rück— 
kehr nach England überſetzte er die Elemente Euklids, die er 
aus Spanien oder aus Aegypten mit ſich gebracht hatte. Ro— 
bert Grostéte, Biſchof von Lincoln, war der Autor einer 
„Abhandlung über die Sphäre,“ und Roger Bacon lobt ſehr 
die mathematiſchen Kenntniſſe des Letzteren, mit dem er ſeine 
jüngern Jahre verlebt hatte ). 

„Und hier, ſagt Montucla in ſeiner Geſchichte der Mathe— 
„matik, dem ich in dem Vorhergehenden vorzüglich gefolgt bin, 
yhier kann man nicht umhin, zu geſtehen, daß alle die genann— 


13) Montucla. I. 502. 

14) Roger Bacon, ein engliſcher Mönch des dreizehnten Jahrhunderts, 
der ſich durch die Kraft ſeines Genies weit über ſeine Zeit erhob. 
Er hatte die Univerſitäten zu Oxford und zu Paris beſucht, und 
ließ ſich im Jahr 1240 als Mönch in dem Franciskanerkloſter zu 
Oxford nieder. Er beſchäftigte ſich vorzuͤglich mit Phyſik, und 
ſcheint einen für feine Zeiten an's Wunderbare grenzenden Scharf: 
ſinn beſeſſen zu haben. Durch ſeine Gelehrſamkeit zog er ſich den 
Haß feiner Klofterbrüder zu, und als er dem Papſt einen Bor: 
ſchlag zur Reform des Clerus machte, wurde er in den Kerker 
geworfen. Der nachfolgende Papſt Clemens IV., der ihn früher 
als Cardinal perſönlich kennen gelernt hatte, befreite ihn, und 
unter ſeinem Schutze ſchrieb er ſein berühmtes Werk: Opus majus. 
Aber unter dem nächſtfolgenden Papſt Nicolaus III. wurde er 
wieder ſeinen Verfolgern überlaſſen und neuerdings in den Kerker 
gebracht. Nach zehn Jahren erſt erhielt er ſeine Freiheit, ging 
nach Oxford zurück und ſtarb daſelbſt bald darauf im Jahr 1294. L. 


232 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


„ten Männer, die, wenn ſie auch die Wiſſenſchaften nicht er— 
„weitert, fo doch uns erhalten haben, daß beinahe alle dieſe 
„Männer aus den Mönchsklöſtern hervorgegangen ſind. Dieſe 
„Klöſter waren, während jener rohen und ſtürmiſchen Zeiten, 
„die Freiſtätten der Wiſſenſchaft geworden. Ohne jene frommen 
„Männer, die in der Stille ihrer Kloſterzelle die claſſiſchen 
„Werke der Alten abſchrieben oder ſtudierten oder, ſo gut ſie 
„konnten, nachzuahmen ſuchten, wären alle dieſe Werke für uns 
„verloren gegangen, ſo daß wir vielleicht kein einziges derſel— 
„ben kennen gelernt hätten. Das einzige Band, das uns mit 
„den Griechen und Römern verbindet, wäre entzwei geriſſen 
„und die koſtbaren Erzeugniſſe der alten Literatur würden für 
„ung eben fo für immer verloren ſeyn, wie die Werke jenes 
„Volkes, wenn es je in der That da geweſen iſt, das, wenn 
„wir Bailly glauben wollen, in der Vorzeit die Mitte Hochaſiens 
„bewohnt und bereits alle Künſte und Wiſſenſchaften in dem 
„Zuſtand einer ſehr weit vorgeſchrittenen Kultur beſeſſen haben 
»ſoll. Alle durch Jahrtauſende erworbene Kenntniſſe und Er— 
„fahrungen hätten wir wieder von ihren erſten Elementen be— 
„ginnen müſſen, und in der Zeit, wo der menſchliche Geiſt wies 
„der aus feinem langen Schlafe erwacht und von feiner Betäu— 
„bung zu ſich gekommen wäre, würden wir uns auf derſelben 
„Stufe der Cultur befunden haben, welche etwa die Griechen 
„zur Zeit des trojaniſchen Krieges eingenommen haben.“ Dieſe 
Betrachtungen, ſetzt Montucla hinzu, ſind wohl geeignet, uns 
Empfindungen gegen dieſe religiöſen Orden einzuflößen, die ſehr 
von jenen verſchieden ſind, welche ihre Gegner geltend zu machen 
geſucht haben ). 

So weit als ihre religiöſen Anſichten nicht hindernd entge— 
gen traten, war es wohl zu erwarten, daß Männer, die ihren 


15) Andere Anſichten über dieſen Gegenſtand ſ. m. in Gibbon’s History 
of the decline etc. Cap. 29 und 37. Jedenfalls kann das im Text 
Gefagte nicht auf die eine Klaſſe der Mönche, auf die Anach o 
reten, und wohl auch nur mit großen Beſchränkungen auf die 
andere, die Connobiten, angewendet werden, welche letztere 
doch noch eine geſellige Verbindung unterhielten, aus der allein die 
Beförderung irgend eines wiſſenſchaftlichen Zweckes hervorgehen 
konnte. Was wir mehreren von den ausgezeichneten Stiftungen 
dieſer Art verdanken, iſt bekannt. L. 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 233 


Studien in zurückgezogener Ruhe lebten, entfernt von allen Zer— 
ſtreuungen des gewöhnlichen Lebens, den Wiſſenſchaften mit viel 
größerm Fortgange obliegen konnten, da ihre Begriffe über 
ſpeculative Gegenſtände Zeit und Gelegenheit hatten, zu reifen, 
ſich abzuklären und eine gewiſſe ſtetige Feſtigkeit anzunehmen. 
Die Wiſſenſchaften jener Zeit, als Gegenſtände der gelehrten 
Bildung und der Cultur überhaupt betrachtet, wurden unter der 
Benennung der „fieben freien Künſte“ zuſammengefaßt. Das 
Trivium enthielt die drei erſten dieſer freien Künſte, die 
Grammatik, Logik und Rhetorik, hatte alſo mit den eigentlich 
inductiven Wiſſenſchaften nichts gemein. Das Quadrivium 
aber, welches die vier andern Doctrinen, die Arithmetik, Geo— 
metrie, Aſtronomie und die Muſik enthielt, konnte nicht wohl 
mit Erfolg ohne jene drei cultivirt werden, und forderte bereits 
eine gewiſſe Gewöhnung des Geiſtes an Präciſion in der Beobach— 
tung und an reine Begriffe von den zu beobachtenden Gegen— 
ftänden ). 


9) Volksmeinungen. 


Daß ſelbſt in den beſten Köpfen etwas fehlen mußte, ſie 
zu wiſſenſchaftlichen Fortſchritten und Entdeckungen zu befähi— 
gen, iſt ſchon daraus klar, daß die Wiſſenſchaft eine fo 
lange Zeit durch ſtationär geblieben iſt. Ich habe bereits ge— 
zeigt, daß eine Urſache davon in dem Mangel aller kräftigen 
und beſtimmten Ideen über dieſe Gegenſtände gelegen hat. 
Wenn aber dieſe ſelbſt den ausgezeichnetſten und gebildetſten 
Männern fehlte, ſo läßt ſich leicht vorausſetzen, daß in den 
andern gemeineren Klaſſen eine noch viel größere Dunkelheit 
und Verwirrung aller dieſer Begriffe vorherrſchen mußte. Man 
nahm in der That allgemein an, ſo roh und widerſinnig 
uns auch dieſe Annahme jetzt erſcheint, daß die Geſtalt der 
Erde und des Himmels diejenige iſt, welche ſie uns in jedem 


16) M. ſ. Brucker III. 597. — Roger Bacon ſagt in ſeiner Specula 
mathematica, Cap. I: Harum scientiarum porta et clavis est ma— 
thematica, quam sancti a principio mundi invenerunt ete. Cujus 
negligentia jam per triginta vel quadraginta annos destruxit totum 
studium Latinorum. Ich kann nicht ſagen, bei welcher Gelegenheit 
dieſe Vernachläſſigung eingetreten ſeyn ſoll. 


234 Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 


Punkte der Oberfläche der Erde wirklich erſcheint, und daß das 
Gewäſſer des Himmels ſich an dem maäteriellen Gewölbe des 
Firmaments befinde, woher es zuweilen als Regen oder Schnee 
herabſteigt. Doch ſcheinen einige richtige aſtronomiſche Ideen 
ſelbſt in jener Zeit nicht unpopulär geweſen zu ſeyn. Ein fran⸗ 
zöſiſches Gedicht „Bild der Welt“ aus den Tagen Eduard II. 
(um das Jahr 1300) enthält einen metriſchen Bericht von der 
Erde und dem Himmel, der mit den Anſichten des Ptolemäus 
übereinſtimmt. In einer Handſchrift davon, die in der Univer- 
ſitätsbibliothek zu Cambridge aufbewahrt wird, ſieht man übereins 
ſtimmend mit dem Texte eine kugelförmige Erde abgebildet, auf 
der an allen Orten Menſchen aufrecht ſtehend dargeſtellt ſind. 
Um die Neigung aller Körper gegen den Mittelpunkt der Erde 
zu bezeichnen, wird dieſe Erde in der Richtung mehrerer ihrer 
Durchmeſſer durchbohrt dargeſtellt, wo die Menſchen Kugeln 
in dieſe Oeffnungen fallen laſſen, die ſich alle im Mittelpunkt 
der Erde begegnen. Was die Schwierigkeit betrifft, welche die 
Begriffe von Oben und Unten mit ſich führen, wenn ſie auf 
die Kugelgeſtalt der Erde angewendet werden, ſo wie die Ver— 
änderung der Richtung der Schwere jenſeits des Mittelpunkts 
der Erde, ſo mögen unſere Leſer die außerordentliche Weiſe be— 
merken, auf welche Dante mit ſeinem Führer aus dem unterſten 
Boden des Abgrunds ſich erhebt. Nachdem ſie durch die Oeff— 
nung gedrungen waren, in der Lucifer wohnt, ſagt der Dichter: 


Jo levai gli oichi e credetti vedere 
Lucifero com’ io l’avea lasciato, 
E vidili le gambe in su tenere, 

. „Questi come & fitto* 
„Ei sottasopra ?* “ 
Quando mi volsi, tu passast' il punto, 
Al qual si traggon d’ogni parte i pesi. 

Inferno. XXXIV. 


„Ich erhob die Augen und glaubte Luzifer wieder fo, wie ich 
„ihn verlaſſen hatte, erblicken zu können, aber ich ſah ihn die 
„Füße aufwärts halten. — Wie iſt denn der (fragte ich) ſo um⸗ 
„gekehrt geſtellt? — Als ich mich wendete (war die Antwort), 
„gingſt du durch den Punkt, zu welchem die ſchweren Körper 
„von allen Seiten hingezogen werden.“ 


Unbeſtimmtheit der Begriffe des Mittelalters. 235 


Dieß iſt gewiß philofophifcher ausgedrückt, als Milton's 
Darſtellung in einer viel gebildeteren Zeit, der Uriel auf einem 
Sonnenſtrahl zur Erde gleiten läßt, auf welchem er auch wieder, 
als die Sonne unter den Horizont geſunken war, zurückfährt. 


.. . Uriel to his charge 
Returned on that bright beam, whose point now raised, 
Bore him slope downward to the pun, now fallen 
Beneath the Azores. 
Parad. Cost. B. IV. 


Die richtigen Begriffe von Oben und Unten erleiden durch 
die täglichen Erſcheinungen zu viele Veränderungen, als daß ſie 
von einem unwiſſenſchaftlichen Geiſte gehörig feſtgehalten werden 
könnten. So mag auch die mißverſtandene Lehre von der krum— 
men Oberfläche des Meeres Gelegenheit zu den Erzählungen ge— 
geben haben, daß ein Theil des Weltmeers über der Erde 
ſtehe, ſo daß von ihm zuweilen Körper zur Erde fallen oder 
Anker herabgelaſſen werden. Auch ſolche wunderliche Einfälle 
ſind übrigens lehrreich, indem ſie den Leſer immerhin mit jener 
Dunkelheit und Unbeſtimmtheit der Ideen mehr und mehr be— 
kannt machen, von denen wir hier zeigen wollten, daß ſie im 
Mittelalter die vorherrſchenden geweſen ſind. 

Wir wollen nun zu einem anderen Charakterzug übergehen, 
der den Geiſt dieſes Zeitraums, wie mir ſcheint, recht eigentlich 
bezeichnet. 


Zweites Capitel. 
Der commentatoriſche Geiſt des Mittelalters. 


Nachdem die erſten großen Entdecker und Begründer der 
Wahrheit, in den verſchiedenen Zweigen der menſchlichen Er— 
kenntniß, das Intereſſe und die Bewunderung aller derer an 
ſich gezogen hatten, die ſie begreifen und ihnen folgen konnten, 
da erwachte auch bald darauf, wie wir bereits geſagt haben, 
eine Neigung unter den Menſchen, ſich dem Anſehen jener großen 
Vorgänger unbedingt hinzugeben; die Meinungen derſelben zu 


236 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


ergründen, um dadurch feine eigenen Anſichten zu berichtigen; 
die Natur nicht in ihr ſelbſt, ſondern nur in Büchern zu ſtu— 
dieren, und überhaupt mehr auf das zu ſehen, was Andere ge— 
dacht und gejagt haben, als ſelbſt über die Dinge nachzudenken. 
Dieſe neue Tendenz des menſchlichen Geiſtes verdient unſere 
ganze Aufmerkſamkeit, da ihre Wirkungen ſehr wichtig und für 
das Mittelalter ſehr charakteriſtiſch ſind, und da ſie der ganzen 
geiſtigen Thätigkeit vieler aufeinanderfolgender Jahrhunderte 
eine beſondere Richtung, ein eigenthümliches Gepräge gegeben 
hat. Eine ganz neue Art von Beſchäftigung aller zur Specu— 
lation ſich hinneigender Köpfe trat nun an die Stelle jener reel— 
len Prüfungen der Erſcheinungen in der Natur, durch die allein 
unſere Erkenntniß derſelben wahrhaft gefördert werden kann. 
In manchen Gegenſtänden, wie z. B. auf dem Gebiete der 
Moral, der Poeſie, der bildenden Künſte, mag dieſes Widerſpiel 
zwiſchen früheren Meinungen und der gegenwärtigen Wirklich— 
keit nicht ſo deutlich hervortreten, da hier, wie man vielleicht 
ſagen kann, Meinung und Wirklichkeit nicht mehr verſchieden 
ſind. In den ſogenannten ſchönen, redenden und bildenden 
Künſten ſind unſere Gedanken, unſere Gefühle gleichſam das 
Material unſerer Kunſtwerke; fie können als die Inſtrumente, 
die wir hier anzuwenden haben, angeſehen werden. Wenn wir 
alſo in ſolchen Gegenſtänden das Studium, oder auch nur das 
Anfeben des Alterthums verwerfen wollten, fo würde dieß nur 
unſere Unwiſſenheit, unſere Unbekanntſchaft mit den Gegenſtän— 
den ſelbſt verrathen, und wir würden, durch ein ſolches Ver— 
fahren, nur diejenigen zwei Dinge gewaltſam von einander trennen, 
die wir doch eigentlich zu einem einzigen lebendigen Ganzen ver— 
binden ſollen ). Aber ſelbſt auf dem Gebiete der Poeſie und der 


1) Auch über dieſen ſehr wichtigen Gegenſtand ſind Andere anderer 
Anſicht geweſen. Ohne hier darüber entſcheiden zu wollen, führen 
wir bloß die Meinung eines der neueſten Schriftſteller an, dem 
in Dingen dieſer Art eine Stimme wohl zugeftanden werden wird. 
Quetelet in ſeinem Werke „Ueber den Menſchen und die Entwick— 
lung ſeiner Fähigkeiten“ drückt ſich darüber auf folgende Weiſe aus: 
Der Künſtler, der redende ſowohl, als auch der bildende, der 
z. B. nur den Typus des griechiſchen Menſchen, nach ſeiner 
körperlichen oder nach ſeiner geiſtigen Bildung ſtudiert hat, und 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 237 


Geſchichte zeigte ſich die Armuth und Servilität des menſchlichen 
Geiſtes im Mittelalter auf eine wahrhaft merkwürdige Weiſe. 


der ihn dann auch wieder, wie dieſes gewöhnlich geſchieht, bei feinen 
eigenen Darſtellungen unſerer Zeit benützen will, dieſer Künſtler 
wird, mit dieſem feinem uns fremden Typus, fo bewunderungs— 
werth uns derſelbe auch im Allgemeinen erſcheinen mag, ſeine Zu— 
ſchauer oder Zuhörer doch meiſtens nur kalt und unempfindlich 
laſſen. Man wird ſeine Kunſt bewundern, aber man wird nicht 
gerührt, nicht ergriffen werden. Die griechiſchen Phyſiognomieen, 
(die körperlichen, wie die geiſtigen) haben doch alle einen gewiſſen 
Familienzug, der uns, ſo bald wir ihn erblicken, ſofort und gleichſam 
unwillkührlich in das Alterthum verſetzt. Läßt aber der Künſtler 
dieſen griechiſchen Menſchen, wie im Scaufpiele, ſogar handelnd 
auftreten, ſo wird der Anachronismus nur um ſo fühlbarer. In 
der Zeit der Wiedergeburt der Künſte erkannten die Maler und 
Bildhauer ſehr gut die Nothwendigkeit, nicht das Alterthum, 
ſondern die um ſie ſelbſt lebende Gegenwart darzuſtellen, und eben 
dadurch brachten fie fo magiſche Wirkungen hervor. Das Geſicht 
des Heilandes von Michael Angelo, das Geficht der Madonna 
von Raphael hat nichts mit der Phyſiognomie gemein, welche die 
Alten ihrem Zeus oder ihrer Minerva gegeben haben, und doch 
ſtehen jene modernen Bilder in keiner Beziehung den ſchönſten 
Formen des Alterthums nach, ja ſie wirken nur um ſo mehr auf 
uns, als ſie uns ſelbſt und der uns umgebenden Natur entnom— 
men ſind. Dieſe Künſtler thaten alſo ſehr wohl daran, ihre Dar— 
ſtellungen auch aus ihren Umgebungen zu nehmen, und den Ty— 
pus ihres höheren, veredelten Menſchen nicht aus einer früheren, 
für uns längſt ſchon abgeſchiedenen, ſondern aus ihrer eigenen 
Zeit zu ſuchen. Man war bisher auf dieſen Gegenftand nicht auf: 
merkſam genug, aber man wird, bei genauerer Ueberlegung, nicht 
läugnen können, daß er ſich noch viel weiter fortführen läßt. Einen 
ſolchen ſtehenden Typus hatte z. B. die preußiſche Armee unter 
Friedrich II., und die dieſes Gepräge tragen, werden noch jetzt 
von Jedermann auf den erſten Blick erkannt. Eben ſo hatte in 
dem franzöſiſchen Heere der Soldat der alten Kaiſergarde einen 
ihm eigenthümlichen Typus, der klaſſiſch und gleichſam ſprich— 
wörtlich geworden, und der noch jetzt mit den Erinnerungen an 
das Kaiſerreich innig verſchmolzen iſt. 

So weit Quetelet. — Es ſcheint uns, daß dieſe Bemerkungen 
von unſeren redenden und bildenden Künſtlern bisher zu wenig 
beachtet worden ſind, und daß dieß wohl die Haupturſache von 
jener Einförmigkeit und Kälte ſeyn mag, die uns aus den meiſten 


238 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


Die Geſchichtſchreiber jedes Landes z. B. führen beinahe alle den 
Urſprung ihres Volkes auf die doch eben nur fabelhaften Er— 


neueren Schöpfungen der Imagination, die den Alten nachgebildet 
ſind, anzuwehen ſcheint. Halten wir doch die Erzählungen von 
dem Enthuſiasmus für ganz unglaublich, mit welchen ähnliche 
Erzeugniſſe jener alten Dichter und Künſtler von ihren Zeitge— 
noſſen aufgenommen worden ſind. Zwar mußten auch wir das 
Bedürfniß, die Natur ſelbſt zu ſtudieren, dringend fühlen, aber 
indem wir dieſe Natur für alle Zeiten unveränderlich wähnten, 
haben wir ſie nicht in ihr ſelbſt, ſondern nur in den Werken der 
Alten geſucht. Dieſe Alten, vorzüglich die Griechen, haben ohne 
Zweifel denjenigen phyſiſchen und geiſtigen Menſchen, wie er da— 
mals lebte, mit außerordentlicher Kunſt geſchildert, und über— 
raſcht durch die Vollkommenheit ihrer Schilderungen glaubten wir 
nichts Beſſeres thun zu können, als ſie ſklaviſch nachzuahmen. 
Aber eben wegen dieſem Glauben ſind wir, in der eigentlichen 
Naturſchilderung, ſo weit hinter ihnen zurückgeblieben. Als die 
Römer aus ihrer Barbarei erwachten, fanden ſie die hohe Kultur 
der Griechen bereits vollendet, ja dem Alter nahend, vor ſich, 
und ſie hatten, wie ſie glaubten, nichts anderes zu thun, als 
dieſe hohe Muſter nachzuahmen. Statt ſich, nach dem Bei— 
ſpiele der Griechen, aus ſich ſelbſt herauszubilden, ließen ſie ihren 
Geiſt durch ein fremdes, von ihnen beſiegtes Volk, in Feſſeln 
ſchlagen, und ſie konnten ſich von dieſen Banden nie mehr gänzlich 

befreien. Fortan mußte, wer in Rom auf Bildung Anſpruch machen 
wollte, vorerſt ein Grieche werden. Daher konnte ſelbſt der erſte 
und größte unter den römiſchen Dichtern, der, wie er ſelbſt ge— 
ſteht, ſich auch nur auf dieſem Wege gebildet hatte, ſeinen Lands— 
leuten keinen beſſeren Rath geben, als die exemplaria graeca noc- 
turna diurnaque manu zu durchblättern. Das Verderbliche, ja das 
Vergebliche dieſes Rathes ſchien ſchon fein würdiger Zeitgenoſſe zu 
fühlen, als er denſelben Römern zurief, jenen von Horaz gezeigten 
Weg lieber ganz zu verlaſſen, und Römer, d. h. Krieger zu 
bleiben: 


Excudant alii mollius aera 
Tu regere imperio populos, Romane memento, 
Hae tibi erunt artis : 

Virg. 


Aber er ſelbſt wurde, ohne es zu willen, mehr als jener, von 
dem Strome fortgeriſſen, und ſeine Aeneis iſt, aller ihrer großen 
und ſchönen Stellen ungeachtet, doch nur eine Nachahmung des 


Commenkatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 239 


zählungen der Dichter von der Entſtehung Roms zurück, oder 
ſie wählen die Gründer ihres Volkes aus den Helden, die Troja 


unſterblichen griechiſchen Epos, hinter welchem fie in allen Haupt— 
beziehungen weit zurückgeblieben iſt. 

Und was war die Folge dieſes Mißgriffs? — Daß die Römer, 
die, als Eroberer, noch heut zu Tage als das erſte Volk der Welt 
betrachtet werden, in Beziehung auf Wiſſenſchaft und Kunſt gegen 
die Griechen nur gleich unmündigen Kindern daſtehen. In der 
That, wenn man die Römer alles deſſen, was ſie von den Griechen 
gelernt und geraubt haben, wieder entkleidet, ſo können ſie 
größtentheils nichts, als ihre eigene kahle Blöße zeigen. 

Ich beſorge aber ſehr, daß auch unfere eigene ſogenaunte öffent⸗ 
liche Erziehung, nicht bloß die der Schule, ſondern unſere ganze 
wiſſenſchaftliche Cultur, ſeit der Wiedererweckung der Wiſſenſchaf— 
ten im fünfzehnten Jahrhundert bis auf unſere Zeiten, auf einer 
ähnlichen falſchen Baſis, ja vielleicht auf einem noch ſchlechteren 
Grunde erbaut worden iſt. In der That, beinahe alle Völker 
Europa's waren zu der Zeit, als ſie aus ihrer Barbarei hervor— 
treten ſollten, nahe in derſelben Lage, wie die Römer, als ſie am 
Ende ihrer Kriege mit Karthago die erſte Bekanntſchaft mit dem 
Luxus und den Reichthümern Aſiens und mit den Künſten und 
Wiſſenſchaften Griechenlands gemacht hatten. Sie erwachten 
beinahe plötzlich aus einer langen Nacht der Unwiſſenheit, und ihr 
von dem neuen, ungewohnten Lichte geblendetes Auge ſah nicht 
die lebendige, von allen Seiten ſie umgebende lebendige Natur, 
ſondern nur den Reflex des göttlichen Lichtes derſelben, wie es 
ſich in den Werken, in den todten Werken der Griechen und Rö— 
mer abſpiegelte, in dieſen Werken, die man den halbwilden Völkern 
Europa's aus der fernen Fremde zugeführt, mit denen man ſie 
beinahe überſchüttet hatte, und aus denen ſie nun ihren brennen— 
den Durſt nach Erkenntniß ſtillen ſollten. Hätten fie nur, wenn 
ihnen keine andere Wahl mehr frei ſtand, gleich jenen Römern, 
ſich wenigſtens auch den, wenn gleich ebenfalls ſchon längſt ver— 
ſtorbenen Kindern der Natur, hätten fie ſich nur den Griechen 
zugewendet, ſo wäre vielleicht noch der größte Theil des Unheils 
abgewendet worden. Gewiß würde, wenn Plato und Xeuophon, 
ſtatt Cicero, die eigentlichen Lehrer und Führer des neuern Euro— 
pa's geworden wären, unſere ganze Literatur eine andere, beſſere 
Geſtalt erhalten haben. Aber der mißgünſtige Genius, der ihnen 
bereits den wahren, urſprünglichen Born des Lebens verdeckt, der 
fie gleich anfangs einen falſchen Weg geführt hatte, warf fie 
den Römern in die Arme, in deren Feſſeln fie noch liegen, 


240 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


belagerten, wenn nicht aus den unmittelbaren Familien von 
Noah oder auch von Adam ſelbſt 2). 


und wahrſcheinlich auch noch ferner, ſo lange wenigſtens, liegen 
werden, als ſie es für ihren höchſten Ruhm halten, es ihren Bor: 
gängern gleich zu thun, und als ſie ſich ſelbſt unter einander mit 
der Ehre brüſten, die Affen von den Affen zu heißen. Ohne das 
viele Gute, das wir den Römern verdanken, zu verkennen, wollen 
wir doch auch nicht unſere Augen abſichtlich gegen das Beſſere ver— 
ſchließen. Anweiſung, Lehre und Erziehung jeder Art bedarf der 
Einzelne, bedarf auch jedes Volk, wenn es zu etwas Bedeutſamem 
heranwachſen ſoll; aber die eigentliche Ausbildung in letzter In— 
ſtanz muß doch aus ihm ſelbſt hervorgehen. Dieſe geiſtige 
Ausbildung der Völker äußert ſich, der Geſchichte zufolge, immer 
zuerſt in ſeiner Dichtkunſt. Wohlan, haben unſere Barden, haben 
die Minneſänger und Troubadours des Mittelalters auf dieſer 
erſten Stufe der Bildung einen ſchlechten Anfang gemacht? Was 
ließ ſich von einem Volke erwarten, das beinahe noch im Zuſtande 
der Wildheit einen Oſſian hervorgebracht hat, wenn es auf dem— 
ſelben ſelbſtſtändigen Wege fortgegangen wäre? — Und was hat es, 
was haben wir endlich alle von dieſen Römern, die doch nur wieder 
die geiſtigen Sklaven der Griechen geweſen und in den meiſten 
Zweigen der Literatur gegen dieſe nur unmündige Kinder geblie— 
ben ſind, was haben wir alle von ihnen, daß wir uns ſo hinzu— 
drängen, ihnen bei jeder Gelegenheit den Bart zu ſtreicheln? Es 
iſt fürwahr eine große Ehre für uns, zu geſtehen, daß es vor 
zweitauſend Jahren große Kinder gegeben hat, die geſcheuter 
waren, als wir ſind, und als wir wahrſcheinlich auf dieſem Wege 
auch immer bleiben werden. L. 

Den Völkern, welche die moſaiſche Erdgeſchichte angenommen 
haben, leiſtete die Arche Noah's nahe dieſelben Dienſte, wie früher 
den Griechen und Römern die Belagerung Troja's. Nach des ge— 
lehrten Dr. Keatings „Geſchichte von Irland“ (Seite 13 u. f.) 
landete der Rieſe Portholanus, der Sohn Searas, des Sohnes 
Eras, des Sohnes Srus, des Sohnes Framants, des Sohnes 
Fathaclans, des Sohnes Magogs, des Sohnes Japhets, des 
Sohnes Noah's, am 14. Mai im Jahre der Welt 1978 an der 
Küſte von Munſter im ſüdlichen Irland. Obſchon ihm ſein großes 
Unternehmen gelang, machte doch das zügelloſe Leben ſeines Wei— 
bes ſein häusliches Leben ſehr unglücklich, und reizte ihn endlich 
in einem fo hohen Grade, daß er ihren Lieblingsfreund tödtete. 
Das war, wie der grundgelehrte Hiſtoriker hinzuſetzt, das erſte 
Beiſpiel weiblicher Falſchheit und Untreue, welches je in Irland 


2 


— 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 241 


Wie ſich dieß auch übrigens verhalten mag, unſer gegen— 
wärtiges Geſchäft iſt, die mannigfaltigen Geftalten der Natur— 
wiſſenſchaften in den verſchiedenen Jahrhunderten darzuſtellen, 
in der Hoffnung, aus dieſer vorläufigen Betrachtung dann auch 
einiges Licht über die andern Erkenntniſſe des menſchlichen Geiſtes 
bringen zu können. In jenen Wiſſenſchaften aber iſt es nur 


vorgekommen iſt. — Es gab noch im ſiebzehnten Jahrhundert 
mehrere Alterthumsforſcher von eben ſo großer Gelehrſamkeit als 
Leichtgläubigkeit, welche bei dem düſtern Licht von Legenden, Sagen, 
Chroniken und Etimologieen die Urenkel Noah's vom Thurm 
Babels bis an die entfernteſten Zeiten vor uns rückwärts zu füh— 
ren wußten. Einer der unterhaltendſten dieſer einſichtsvollen Ge— 
ſchichtsforſcher iſt Olaus Nudbek, Profeſſor an der Univerſität zu 
Upfala (+ 1702). 

Sein berühmteſtes Werk iſt die „Atlantica sive vera Japheti 
posterorum sedes ac patria. Upsala, 1675. III. Vol.“ in Fol. Was 
die Alten von der Atlantis erzählten, wendet er in dieſem Werke 
auf Schweden an, und behauptet, von großer antiquariſcher und 
hiſtoriſcher Beleſenheit unterſtützt, daß Sch weden die wahre At— 
lantis des Plato ſey, und daß nicht nur Griechen und Römer, 
ſondern auch Engländer, Deutſche und andere europäiſche Völ— 
ker aus Schweden abſtammen. Von Schweden erhielten die Grie— 
chen ihr Alphabet, ihre Aſtronomie, ihre Religion. Gegen dieſes 
wonnevolle Land, denn ſo erſcheint ihm ſein Vaterland, waren 
die Atlantis des Plato, das gerühmte Land der Hyperboräer, die 
Gärten der Hesperiden, die glücklichen Inſeln, ja ſelbſt die ely— 
ſäſſchen Felder nur ſchwache, unvollkommene Abbildungen. Ein 
von der Natur ſo verſchwenderiſch begünſtigtes Klima konnte, un— 
ſerem Hiſtoriker zufolge, nach der Sündfluth nicht lange unbe— 
wohnt bleiben, und da er der Familie des Noah nur einige wenige 
Jahre geſtattet, um ſich von 8 bis auf 20,000 Perſonen zu ver— 
mehren, fo muß er dieſe Nachkommenſchaft auch bald in einzelne 
Kolonieen theilen und ſie ausziehen laſſen, um die Welt zu be— 
völkern. Die nach Schweden beſtimmte Kolonie zog unter Aske— 
naz, Sohn Gomers, Sohn Japhets aus, und war bald ſo frucht— 
bar, daß ſie, gleich einem Bienenſtock, ſeine Schwärme nicht nur 
in Schweden ſelbſt, ſondern auch über den größten Theil von Eu— 
ropa, Afrika und Aſien ausgoß, ſo daß, mit des Autors Metapher 
zu reden, das Blut dieſes großen Volkskörpers wieder von den 
Extremitäten zu dem (aſiatiſchen) Herzen zurückſtrömte, von dem 
es gekommen war. L. 

Whewell J. — 16 


242 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


allzugewiß, daß man ſich der Mühe, eigentliche Beobach— 
tungen anzuſtellen, im Mittelalter größtentheils, wo nicht 
ganz zu überheben fuchte, indem man an die Stelle derſelben 
Sammlungen und Auszüge und Erläuterungen der früheren 
Autoren ſetzte. So wurden die Beobachter durch Commentatoren, 
die Induction und Autokritik durch Beleſenheit, und die großen 
Entdeckungen durch große Gelehrſamkeit erſetzt. 


1) Natürlicher Hang zur Autorität. 


Die Hinneigung zu fremder Autorität iſt, wie man leicht 
ſieht, in der Natur des Menſchen begründet, und ſie äußert ſich 
auch bei ſeinen geiſtigen Functionen. Ergebung in das Anſehen 
eines weiſen, verſtändigen Mannes, ein Hang, den wir weder 
verwerfen können noch wollen, ſcheint den Menſchen in practiſchen 
ſowohl, als auch in bloß ſpeculativen Dingen gleichſam angeboren. 
Die meiſten fühlen eine Art von Genugthuung, von Troſt dar— 
in, zu wiſſen, daß es andere, weiſe, ſcharfſinnige, höhere Men— 
ſchen gegeben hat, die ſich von den gewöhnlichen Irrthümern des 
Lebens frei gemacht haben. Das Vergnügen, welches uns die 
Bewunderung dieſer Männer verſchafft, und auch wohl die Be— 
quemlichkeit, die wir dem Vertrauen auf ſolche Männer verdanken, 
macht uns dieſen Glauben meiſtens ſehr willkommen. Auch gibt es 
wohl noch andere Gründe, die uns gern annehmen laſſen, daß es 
in allen Zweigen der Wiſſenſchaft Geiſter von vorzüglicher Stärke 
gegeben habe, die wir nur zu leſen und zu ſtudiren brauchen, um 
ebenfalls in den Beſitz aller der Wahrheiten zu gelangen, zu 
welchen jene ſich aus eigener Kraft erhoben haben. Der dem 
Menſchen inwohnende Trieb zur Geſelligkeit findet es angenehmer, 
mit den Gedanken ſeines Nachbars, im Geſpräch oder in der 
Schrift, als mit der todten Maſſe der Natur zu verkehren, die 
kein Mitgefühl in ihm erregt, und das bloße Aufſuchen der Geſetze 
dieſer für ihn todten Natur gewährt ihm lange nicht die freund— 
lichen Genüſſe, die er in der Geſellſchaft von Plato und Ariſto— 
teles und von anderen großen Männern des Alterthums findet. 
Ein großer Theil dieſes geſelligen Umgangs mit den Geiſtern 
der Vorzeit hat überdieß feine beſonderen Reize für denkende 
Menſchen, da er in bloßen Folgerungen aus einmal als unbe— 
zweifelt angenommenen Principien beſteht, in Folgerungen de— 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 243 


ductiver Art, gleich denen der Geometrie, die meiſtens ohne 
große Anſtrengung gemacht werden können, die viel Selbſtbe— 
ruhigung und zugleich eine unerſchöpfliche Quelle von geiſtigen 
Genüſſen gewähren. 

Dieſe und andere Gründe erwecken gewöhnlich die Kritiker 
und die Commentatoren zu einer Zeit, wenn die Erfinder ſich 
zu verlieren beginnen; wenn die bereits geſammelte Maſſe von 
Entdeckungen ſich anhäuft und nicht mehr gut überſehen werden 
kann, und wenn endlich, wie dieß gewöhnlich der Fall iſt, die 
geiſtige Kraft und die Hoffnungen der Menſchen durch bürgerliche 
und politiſche Unglücksfälle geſchwächt wird. Dieſem gemäß 
zeichnete ſich die Alexandriniſche Schule aus durch den Geiſt der 
Gelehrſamkeit, der kritiſchen Beurtheilung, der Auslegung und 
der Nachahmung alles deſſen, was vorher in den Wiſſenſchaften 
geleiſtet worden war, und dieſelbe Thätigkeit, die zum erſtenmale 
in ihrer ganzen Kraft in dem Muſeum herrſchte, wurde auch 
ſpäterhin, bei allen ähnlichen Gelegenheiten, als das leitende 
Princip jedes academiſchen Inſtituts wieder erkannt >). 


3) Dieſem Geiſte, der in der alexandriniſchen Schule lebte, und der 
mehr auf Ausbreitung als auf innere Intenſität der Gelehrſam— 
keit bedacht war, wurde auch die Bibliothek dieſes Inſtituts 
angemeſſen eingerichtet. Die ägyptiſchen Ptolemäer hatten dieſes 
Denkmal ihrer Liebe zur Literatur errichtet. Der ſchönſte Theil 
von Alexandrien hieß Bruchion, und hier prangten, nahe an dem 
großen Hafen, die königlichen Paläſte. Hier befand ſich auch das 
oben erwähnte Muſeum oder das academiſche Gebäude der 
Alexandriniſchen Schule, in welchem die Hälfte der großen 
Bibliothek in 400,000 Bänden, aufgeſtellt war; die andere Hälfte, 
von 300,000 Bänden, ſtand im Serapion, dem Tempel des 
Jupiter Serapis. Dieſe größte aller Bibliotheken des Alter— 
thums hatte ſehr traurige Schickſale und wurde dreimal zerſtört. 
C. J. Cäſar, ſelbſt einer der ausgezeichnetſten Schriftſteller der 
Alten, der eine große öffentliche Bibliothek in Rom angelegt 
und ſie dem gelehrten Varro zur Aufſicht übergeben hatte, Cäſar 
ſelbſt war der erſte Zerſtörer dieſer Bibliothek. Wahrend ſeiner 
Belagerung Alexandriens brannte das Muſeum ſammt ſeiner 
Bibliothek, wohl ohne Cäſars Schuld und gewiß ohne ſeinen 
Willen, gänzlich ab. Jene 400,000 Bände oder Rollen, welche die 
ganze römiſche, griechiſche, indiſche und ägyptiſche Literatur um— 
faßten, wurden ein Raub der Flammen. Cäſar hat es nicht für 

16 * 


244 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


Wie natürlich es den Menſchen immer geweſen iſt, irgend 
einen großen Mann aus ihrer Mitte als ihren oberſten Leiter 
zu wählen, und ihm außerordentliche Geiſteskraft zuzuſchreiben, 
ſehen wir in der Art, wie Griechenland ſeinen Homer zu ver— 


angemeſſen gefunden, in ſeinen Commentarien dieſes Unfalls zu 
erwähnen. (M. ſ. die Sammlungen Freinsheims, Supplem. Livian. 
Cap. 12. 43.) An die Stelle dieſer Bibliothek trat nachher die 
ſogenannte Pergamiſche Bücherſammlung, die Antonius der Kleo— 
patra zum Geſchenk gemacht hatte. Dieſe Bibliothek von Pergamus 
ſoll aus 200,000 Bänden beſtanden haben. — Nahe vierhundert 
Jahre ſpäter, i. J. 390 nach Ch. G. unter der Regierung des 
Arcadius, wurde der Tempel des Serapis von den Chriſten unter 
Anführung ihres Erzbiſchofs Theophilus zerſtört, wobei auch die 
hier aufgeſtellte Bibliothek gänzlich zu Grunde ging, ſo daß der 
Geſchichtſchreiber Oroſius, mehrere Jahre nachher, nur noch die 
leeren Schränke ſehen konnte. Nos vidimus armaria librorum 
exinanita a nostris hominibus (Oros. L. VI. Cap. 15). — Im Jahre 
640 wurde dieſelbe Stadt, nach einer vierzehnmonatlichen Belas 
gerung, von Amru, dem erſten Feldherrn des Chalifen Omar, 
mit Sturm eingenommen. Man kennt die Antwort, die Omar 
gegeben haben ſoll, und nach welcher die Papyrus- und Pergament: 
rollen der Bibliothek in 4000 Bäder der Stadt vertheilt wurden, 
wo davon durch ſechs Monate die Feuerung dieſer Bäder 
beſtritten wurde. So wird dieſe Geſchichte von Abulpharagius 
(Dynaſt. S. 114 Ueberſetzung von Pokok) erzählt, eines arabiſchen 
Schriftſtellers, der aber erſt ſechshundert Jahre ſpäter an der 
Grenze von Medien gelebt hat. Allein zwei Annaliſten früherer 
Zeit, Eutychius und Elmacin, erwähnen derſelben nicht, obſchon 
der erſte dieſe Eroberung Alexandriens weitläufig beſchrieben hat. 
(M. f. Gibbon's Geſch. des röm. Reichs Cap. 51, und Libri's 
Hist. des sciences math. en Italie.) — Noch ſchlechter ging es der 
großen Bibliothek, welche die erſten griechiſchen Kaiſer in ihrer 
neuen Hauptſtadt Conſtantinopel angelegt hatten, und die Leo III. 
oder der Iſaurier, der berüchtigte Bilderſtürmer in feinem fanati— 
ſchen Eifer, zugleich mit den ſämmtlichen Gelehrten 
dieſer Stadt, an einem Tage verbrennen ließ, wie Zonaras, An- 
nales. Par. 1686. Vol. II. p. 104 mit folgenden Worten erzählt: 
Eos (doctos) demum dimisit Leo in aedes illus regias, multamque 
materiam aridam circum eos collocatam, noctu incendi jussit, 
atque ita aedes cum libris et doctos illos ac venerabiles viros 
combussit. L. 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 245 


ehren pflegte. Ihre lebhafte Phantaſie wußte in ſeinen Gedichten 
den Urſprung aller Künſte und Wiſſenſchaften zu entdecken, und 
dieſe Anſichten haben ſelbſt in den neueren Zeiten noch manchen 
Beifall gefunden. Denn andere Beiſpiele zu übergehen, wollen 
wir bloß bemerken, daß Strabo ſeine Geographie mit den Worten 
beginnt, daß er vollkommen mit Hipparch übereinſtimme, der 
den Homer den erſten Begründer aller unſerer geographiſchen 
Kenntniſſe nennt. Auch beſchränkt Strabo dieſe Benennung 
nicht etwa nur auf die verſchiedenen topographiſchen Nachrichten, 
die man in der Ilias und der Odyſſee über die Gegenden finden 
kann, die das mittelländiſche Meer umgeben, ſondern er findet 
auch in denjenigen Ausdrücken des Dichters, die offenbar bloß 
der poetiſchen Fiction angehören, ganz unzweideutige Beweiſe 
von tiefen geographiſchen Kenntniſſen. Homer ſpricht z. B. von 
der Sonne, „die ſich über den ſanft und tief hinfließenden Ocean 
„erhebt;“ oder von ihrer „hellen Gluth, die ſich in das Weltmeer 
„taucht ;“ oder von den Sternbildern im Norden, „die unbenetzt 
„bleiben von den Wogen des Meeres,“ oder endlich von 
Jupiter, „der zu dem Ocean herabſteigt, um mit den tadelloſen 
„Aethiopiern zu fchmaufen“ — und alle dieſe Ausdrücke find 
für Strabo eben ſo viele Beweiſe der tiefen geographiſchen 
Kenntniſſe ſeines Homers. 


2) Charakter der Commentatoren. 


Der Geiſt der Commentation wendet ſich viel lieber zu Ge— 
genftänden des Geſchmacks, der Philoſophie und der Moral, als 
zu den eigentlichen Naturwiſſenſchaften. Daher bilden die ſoge— 
nannten Kritiker und die Grammatiker den eigentlichen großen 
Haufen dieſes Volkes. Und obſchon dieſe Commentatoren zuweilen 
auch mathematiſche oder phyſiſche Gegenſtände zu ihren Bearbei— 
tungen wählen (wie z. B. Proklus, der die Elemente der Geome— 
trie von Euklid commentirte, oder Simplicius, der die Phyſik 
des Ariſtoteles bearbeitete), ſo ſind doch auch dieſe Commentatio— 
nen mehr philoſophiſcher als rein mathematiſcher Art. Nur ſelten 
oder nie wußten dieſe Leute ihren Autor ſo zu commentiren, daß 
ſie die Behauptungen deſſelben ihren eigenen Prüfungen und 
Experimenten unterwarfen. Wenn z. B. Simplicius die Lehre des 
Ariſtoteles von dem „leeren Raume“ erläutern will, fo führt er die 


246 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


Behauptung des Stagiriten an, daß ein mit Aſche gefülltes Gefäß 
eben ſo viel Waſſer aufnehmen könne, als ein ganz leeres, citirt 
dann auch wohl noch die Meinungen einiger anderer Schrift— 
ſteller, aber er bringt ſelbſt keinen eigenen Verſuch, durch welchen 
er ſelbſt die Wahrheit der Sache beſtätiget hätte. Eudemus hatte 
geſagt, daß die Aſche etwas Heißes in ſich enthalte, gleich dem 
ungelöſchten Kalke, und daß dadurch etwas von dem Waſſer 
verdampft werde; andere meinten wieder, das Waſſer werde 
durch die Aſche verdichtet und was dergleichen mehr iſt ). 

Des Commentators eigentliche Sache iſt Erläuterung; 
er will das Werk, auf das er ſelbſt ſich ſtützt, dem Zuſtande 
der Bildung und der Meinungen ſeiner eigenen Zeit anpaſſen; 
dunkle Stellen aufklären, und Lücken ausfüllen, aber nicht neue 
Wahrheiten hinzufügen oder auch nur die alten erweitern. 
Er beſchränkt ſich darauf, wieder zu geben, was er in ſeinem 
Autor gefunden hat; er will nur alte Sätze entwickeln, nicht 
aber neue aufſtellen. Er pflegt und beſorgt nur fremde Ge— 
danken; er bearbeitet nicht ſeinen eigenen Boden, er pflügt mit 
fremden Stieren, und ſelbſt ſeine Ernte ſoll nur die Scheune 
eines Andern füllen. Demnach arbeitet er nicht wie ein freier 
Mann, ſondern nur als ein gedungener Sklave; er gehört zu 
dem Geſinde, nicht zu den ſelbſt producirenden Arbeitern ſeines 
Gebieters, und ſeine Pflicht iſt es, den äußeren Glanz des 
fremden Hauſes durch ſeine Dienſte zu ſchmücken, nicht aber den 
inneren Wohlſtand deſſelben durch eigene Erfindungen zu ver— 
mehren. 

So untergeordnet aber auch dieſes Geſchäft eines Commen— 
tators anderen erſcheinen mag, ſo iſt doch er ſelbſt gewöhnlich 
nur zu ſehr geneigt, dieſem Geſchäfte eine viel größere Wichtig— 
keit beizulegen. Es es allerdings ſehr nützlich, ein gutes 
Buch zu erläutern, und wenn irgend ein Mann ein ſolches 
Geſchäft gehörig vollführt, ſo würde es ohne Zweifel ſehr un— 
billig ſeyn, ihm Vorwürfe zu machen, daß er nicht noch mehr 
gethan hat. Aber wer lang und mühſam mit einem Buche 
ſich beſchäftiget hat, iſt gewöhnlich geneigt, dieſer ſeiner Mühe 
einen höheren Werth beizulegen, als ſie in der That verdient; 
ihm erſcheint das von ihm bearbeitete Feld viel größer, als es 


4) Simplicius S. 170. 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 247 


wirklich iſt, und er kommt endlich in ſeiner Selbſtgenügſamkeit 
dahin, ſein Geſchäft als das höchſte des menſchlichen Geiſtes zu 
betrachten, zu dem nur das ausgezeichnetſte Talent zugelaſſen 
werden kann. Den Plato oder den Ariſtoteles zu verſtehen, iſt 
ihm der Gipfel des Scharfſinns und der Gelehrſamkeit. Wenn 
er dann einen guten Theil dieſer voluminöſen Bände durchge— 
macht hat, fo ſieht er mit ſelbſtgefalligem Stolz auf den 
glücklich zurückgelegten Weg, auf die Zeit und Mühe, die er 
darauf verwendet, auf die Hinderniſſe, die er beſiegt hat, und 
glaubt ſich nun berechtigt, ſich ſelbſt auch als einen Meiſter 
anzuſehen und neben ſeinem Ideale aufzuſtellen. Als einen 
Beleg zu dieſer Philautie kann man die Rede betrachten, die 
Henry Savile am Schluſſe ſeiner jährlichen Vorleſungen über 
den Euklid an die Univerſität zu Oxford gehalten hat: „So 
„habe ich denn alſo, meine Herren Zuhörer, mit der Gnade 
„Gottes mein Verſprechen gehalten, und bin nun meines Wortes 
„entbunden: denn ich habe nun, nach meinen beſten Kräften, 
„die Definitionen und Poſtulate und Axiome nebſt den acht erften 
„Sätzen der Geometrie des Euklides glücklich geendet ). Und 


6) Exsolsi per Dei gratiam, Domini auditores, promissum et liberavi 
fidem meam: explicavi pro meo modulo definitignes, petitiones, 
communes sententias et octo priores propositiones Elementorum 
Euclidis. Hic, annis fessus, cyclos artemque repono. — Diefem 
können wir, als Seitenſtück, noch eine andere Schlußrede beifügen, 
die Odofredi gehalten hat, der im XIII. Jahrhundert zu Bologna 
die Digeſten lehrte: Ergo finivimus ſibrum istum et est consuetudo, 
quod nunc cantatur missa ad honorem Sancti Spiritus, et est bona 
consu:tudo, ideo est etiam tenenda. Sed quia moris est, quod 
Doctores in ſine libri dicant aliqua de suo proposito, dicam vobis 
aliqua, pauca tamen. Et dico vobis, quod in anno sequenti in- 
tendo docere ordinarie et bene et legaliter, sicut unquam feci: 
extraordinarie autem non credo legere, quia scholares non sunt 
boni pagatores (weil die Schüler ſchlechte Zahler find); quia vo— 
lunt scire, sed nolunt solvere, juxta illud: „scire volunt omnes, 
mercedem solvere nemo.“ — Non habeo vobis plura dicere, eatis 
cum benedictione Domini, tamen hene veniatis ad missam, et rogo 
Vos, Odolredus. — Und doch fanden die Profeſſoren jener Zeit, 
beſonders in Italien, in ſehr hohen Beſoldungen, die ſie, wie man 
ſieht, noch durch andere Vorleſungen, für welche ſie ſich von den 


248 Commentatoriſcher Geift des Mittelalters. 


„nun will ich, vom Alter niedergedrückt, meine Zirkel und 
„meine Kunſt niederlegen.“ 

Wir ſprechen aber hier von dem genöhnbchee Verfahren 
dieſer Commentatoren. In beſondern Fällen wurde allerdings 
auch wohl der commentirte Autor gebraucht, um auf ihn, als 
auf einer neuen Baſis, ein ganz anderes, dem Autor ſelbſt 
fremdes Syſtem aufzuführen, wie z. B. die Neuplatoniker mit 
den Schriften Plato's gethan haben. Solche Commentatoren, 
deren es mehrere im Mittelalter gegeben hat, gehören aber in 
eine ganz andere Klaſſe. 


3) Griechiſche Commentatoren des Ariſtoteles. 


Die Schüler und Nachfolger dieſes großen Philoſophen 
nahmen nicht gleich anfangs, und nicht auf einmal, jenen ſervilen 
commentatoriſchen Charakter an. Zuerſt war ihr Geſchäft, das 
Fehlende in den Schriften ihres Lehrers zu erſetzen, die einge— 
ſchlichenen Irrthümer zu verbeſſern, und auch den Inhalt der— 
ſelben zu erklären. So hat, unter den erſten Commentatoren 
des Stagiriten, Theophraſt fünf Arten von Syllogismen 
aufgeſtellt, ſtatt den vier, die Ariſtoteles ſelbſt gegeben hatte, 
wie jener auch zugleich die Regeln für den hypothetiſchen Syllo— 
gismus genauer beſtimmt hat. Theophraſt ſammelte auch noch 
mehrere naturhiſtoriſche Nachrichten, beſonders über die verſchie— 
denen Thiere und Pflanzen, die Ariſtoteles überſehen hatte. In 
vielen Gegenſtänden weicht er ganz von ſeinem Lehrer ab, wie 
3: B. über den Salzgehalt des Meerwaſſers, den Ariſtoteles der 
Ausdunſtung des Waſſers durch die Sonnenſtrahlen, Theophraſt 
aber den Salzlagern auf dem Meeresboden zuſchrieb. — Porphy— 
rius, im dritten Jahrhundert, ſchrieb ein Werk über die „Prä— 
dicabilien,“ das als eine ſo angemeſſene Ergänzung zu den 
„Prädicamenten oder Categorien“ des Ariſtoteles angeſehen ward, 
daß es dem letzten gewöhnlich, als ein integrirender Theil deſſelben, 
angebunden wurde (m. ſ. Buhle. Ariſtot. I. 284). Beide zu⸗ 


Zuhörern eigens zahlen ließen, zu vergrößern ſuchten. Die Uni— 
verſität von Bologna koſtete zu dieſer Zeit der Stadt jährlich 
zwanzigtauſend Ducaten, nahe die Hälfte ihrer ganzen Revenüen. 
M. f. Libri, Hist. des sc. math. L. 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 249 


ſammen wurden bis auf die neuern Zeiten als ein Elementar— 
buch zum höheren Unterricht gebraucht. Dieſe fünf Prädicabilien 
ſind die fünf Stufen, die man gewöhnlich bei der Eintheilung 
mehrerer zuſammenhängender Dinge betrachtete, nämlich das 
Genus, Species, Differentia, Individuum und Aceidens. Die 
zehn Categorien des Ariſtoteles aber find die Titel, unter welche 
ſich die verſchiedenen Sätze oder die Eigenſchaften der Dinge 
bringen laſſen, nämlich Substantia, Quantitas, Relatio, Qualitas, 
Spatium, Tempus, Positio, Habitus, Actio und Passio. 

In den folgenden Zeiten wurden die Commentatoren des 
Stagiriten immer ſerviler. Sie folgten ihm Wort für Wort, und 
erläuterten ſeine Lehren und Ausdrücke oft mit ſchleppender 
Weitwendigkeit, indem ſie einzelne Worte in ganze Sentenzen, 
und Sentenzen in lange Paragraphe ausdehnten. Hieher gehört 
z. B. Alexander Aphrodienſis, der im zweiten Jahrhundert zu 
Athen, und fpäter zu Alexandrien die ariſtoteliſche Philoſophie 
vortrug, und der wegen ſeiner Gewandtheit in der Auslegung 
ſeines Meiſters vorzugsweiſe der Exeget genannt wurde. 
Sein Commentar iſt, wie der neueſte Herausgeber der Werke 
des Ariſtoteles [Buhle. 1. 288] ſagt, öfter nützlich, aber durch 
die Weitſchweifigkeit ſeines Styls, durch ſeine Sucht, alle Sätze 
des Ariſtoteles ſelbſt zu discutiren, und durch die immerwähren— 
den Vertheidigungen ſeiner eigenen, und die Widerlegungen der 
fremden Meinungen, macht er den Text ſeines Meiſters in vielen 
Fällen nur noch dunkler, ſtatt ihn aufzuhellen. Mehr als einmal 
verſuchten es auch dieſe Commentatoren, beſonders die aus der 
Alexandriniſchen Schule, ganz entgegengeſetzte Meinungen der 
früheren Philoſophen zu vereinigen, oder wenn ſie ſich nicht 
vereinigen ließen, doch auf eine gewaltſame Weiſe unter 
einander zu verbinden. Simplicius z. B. und mehrere Ale— 
randriniſche Philoſophen, Alexander, Ammonius und andere, 
mühten ſich vergebens ab, die Lehren des Pythagoras, der 
Eleatiker, der Stoiker, ſo wie beſonders die des Plato und 
Ariſtoteles, unter einander zu vereinigen 8). Boethius hatte 
ſich vorgenommen, die geſammten Werke des Plato und Ariſto— 
teles in die lateiniſche Sprache zu überſetzen ), und die Ueber— 


6) Buhle. I. 311. 
7) Degerando, Hist. des Sciences. IV. 100. 


250 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


einſtimmung ihrer Lehren zu zeigen, ein Rieſenwerk, das er nie 
ausführen konnte. Andere mühten ſich wieder ab, die Verwir— 
rungen, die durch ſolche Uebereinſtimmungsverſuche entſtanden 
waren, wieder aufzulöſen, wie z. B. Johann der Grammatiker, 
der unter dem Namen Philoponus (Arbeitsfreund) bekannter iſt, 
und der gegen das Ende des ſiebenten Jahrhunderts den weitläufi— 
gen Beweis führen wollte, daß Proklus und Porphyrius den Ari— 
ſtoteles völlig mißverſtanden, und daher ſich vergebliche Mühe 
gegeben haben, die Lehren des Stagiriten mit der neuplato— 
niſchen Schule, oder auch wohl mit Plato ſelbſt in eins zu 
verſchmelzen ). Andere wieder wurden Verfaſſer von Auszügen, 
Epitomen und Compendien, durch welche ſie ihre Autoren in 
eine einfachere, dem Leſer mehr faßliche Form gießen wollten, 


8) Degerando. IV. 100 und 155. Dieſer Philoponus, der letzte Schü— 
ler des Ammonius, von dem wir eine Meſſung des Umfangs der 
Stadt Rom haben, war es, der die oben erwähnte Verbrennung 
der Alexandriniſchen Bibliothek durch die Araber zu verhindern 
ſuchte. Amru hatte nach einer hartnäckigen Belagerung dieſe 
Stadt endlich eingenommen, und ſchrieb dem Chalifen Omar: 
„Dieſe große Stadt des Weſtens enthält 4000 Palläſte, eben ſo 
„viele Bäder, 400 Theater oder Beluſtigungsorte, 12,000 Buden 
„zum Verkaufe von Eßwaaren und 40,000 zinspflichtige Juden. 
„Die Stadt iſt durch die Gewalt der Waffen, durch Sturm, ohne 
„Kapitulation, eingenommen worden, und die getreuen Muſel— 
„männer dürſten nach der Frucht ihres Sieges (d. h. nach Plün⸗ 
„derung der Stadt). — Aber der Beherrſcher der Gläubigen verwarf 
„mit Feſtigkeit jeden Gedanken an Plünderung, und befahl ſeinem 
„Stellvertreter, die Schätze der Stadt zum Beſten des Glaubens 
„zu verwenden. (M. ſ. Eutychius, Annal. Vol. II. p. 316.) Nicht 
„ſo dachte Omar in Beziehung auf die Bibliothek. Amru, der die 
„Wiſſenſchaften und die Gelehrten liebte, ließ in ſeinen Muſe— 
„ſtunden den oben erwähnten Philoponus öfter zum Geſpräche 
„laden. Durch dieſen vertrauten Umgang ermuthigt, wagte es 
„Philoponus, um die Erhaltung der Bibliothek zu bitten, deren 
„Schickſal in der allgemeinen Verwirrung nach der Einnahme der 
„Stadt noch nicht beſtimmt worden war. Amru war geneigt, dem 
„Wunſche ſeines gelehrten Schützlings zu willfahren, aber ſeine 
„itrenge Redlichkeit wollte zuerſt die Einwilligung feines Beherr— 
„ſchers einholen, worauf er die bekannte Antwort erhalten haben 
„fol.“ L. 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 251 


wie Joannes von Damascus, in der Mitte des achten Jahrhun— 
derts, der mehrere Auszüge aus den ariſtoteliſchen Werken 
machte und der zuerſt das Studium dieſes Philoſophen in die 
Theologie einführte. Dieſe beiden Schriftſteller lebten unter dem 
Schutze der Araber, jener unter Amru, dem Eroberer Aegyptens, 
und dieſer als Secretär des Chalifen, von welchem er ſich ſpäter 
in ein Kloſter zurückzog ). 

Zu dieſer Zeit wurden, an der Stelle der Griechen, die 
Araber die Pfleger und Beſchützer der Philoſophie. Juſtinian 
hatte durch ein eigenes Edict die athenienſiſche Schule, die letzte, 
wo noch die heidniſche Philoſophie gelehrt wurde, geſchloſſen, 
und Leo der Iſaurier, der eifrige Bilderſtürmer, verbot alle 
Schulen, wo nebſt dem Chriſtenthume auch noch andere Wiſſen— 
ſchaft vorgetragen wurde “). Doch zog ſich die Reihe der 


9) Degerando. IV. 150. 

10) Degerando. IV. 150. 163. und 167. Die philoſophiſchen Schulen 
Athens wurden noch viele Jahrhunderte nach ihren berühmten 
Stiftern von Griechen und von Fremden häufig beſucht, und von den 
weiſeſten und tugendhafteſten der römiſchen Kaiſer beſchützt. Ha— 
drian ſtiftete in Athen eine öffentliche Bibliothek mit einem Por— 
ticus von hundert Säulen, mit Gemälden und Statuen geſchmückt. 
Die Antonine wieſen den Lehrern, die bisher von ihren Zuhörern 
unterhalten wurden, bedeutende Gehalte aus der Staatskaſſe an. 
Selbſt unter den Nachfolgern Conſtantins rühmte man noch die 
Freigebigkeit der Kaiſer gegen dieſe berühmten, und wenigſtens 
wegen ihres Alterthums und ihres ehemaligen Glanzes verehrten 
Anſtalten. Die ſpätern Einfälle der Gothen und anderer barba— 
riſcher Völker des Nordens wurden ihnen wohl verderblich, aber 
doch nicht in dem Grade, als die Einführung eines neuen Cultus. 
Die überlebende Secte der Platoniker beſonders hatte ſich einem 
ſchwärmeriſchen Geiſte der Forſchung, hatte ſich dem Aberglauben 
und der Magie übergeben, und da ſie in der Mitte der neuen 
chriſtlichen Welt allein blieb, nährte ſie hartnäckig ihren Abſcheu 
vor der Regierung und vor der neuen Kirche. Proklus und Iſidor, 
im fünften Jahrhundert, werden als die zwei letzten großen Lehrer dies 
ſer athenienſiſchen Schulen gerühmt. Aber die „goldene Kette der 
Platoniker,“ wie fie mit Vorliebe genannt wurde, reichte auch 
noch, nach dem Tode dieſer beiden Männer, ununterbrochen fort 
bis zu dem Edicte des Kaiſers Juſtinianus I., des ſogenannten 
Geſetzgebers, i. J. 529, durch welches den Schulen von Athen 


252 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


Commentatoren des Ariſtoteles, obſchon ſchwach genug, bis zu 
den letzten Zeiten des griechſchen Kaiſerthums fort. Die Kaiſerin 
Anna Comnena erwähnt eines gewiſſen Ereſtratus, der mora— 
liſche und dialectiſche Abhandlungen verfaßt hatte, und den ſie 
nicht anſteht, wegen ſeines Talents in philoſophiſchen Discuſ— 
ſionen über alle Stoiker und Platoniker zu erheben. Nicephorus 
Blemmydes ſchrieb ebenfalls logiſche und phyſiſche Auszüge für 
den Unterricht des Joannes Ducas (F 1255); Georg Pachymeus 
verfaßte ein Epitome der ariſtoteliſchen Philoſophie und ein 
Compendium ſeiner Logik; Theodor Metochytes, zu ſeiner Zeit 
berühmt durch Eloquenz und Gelehrſamkeit, gab eine Paraphraſe 
der Bücher des Ariſtoteles über Phyſik, über die Seele, und über 
den Himmel “). Dieſer Metochytes ſoll, wie Fabricius ſagt, 
behauptet haben, daß alle Philoſophen, und beſonders Plato 
und Ariſtoteles, die Meinung und das Anſehen ihrer Vorgänger 
verſchmäht und verworfen haben. Es konnte ihm wohl nicht 
entgehen, wie ganz anders die Philoſophie zu ſeiner eigenen 
Zeit betrieben wurde. 


4) Griechiſche Eommentatoren über Plato und andere. 


Wir haben bisher vorzüglich von Ariſtoteles geſprochen, da 
er es war, an welchem ſich die Commentatoren jener Zeiten 
beſonders zu üben pflegten. Der Name ſeines großen Neben— 


ewiges Stillſchweigen auferlegt wurde. Sieben Freunde, die letz⸗ 
ten Lehrer dieſer Schulen, flohen nach Perſien, wo ſie unter 
Chosroes, der den Titel eines Beſchützers der Wiſſenſchaften affec— 
tirte, Schutz und Unterſtützung zu finden hofften. Sie fanden 
ſich nur zu bald in ihren Erwartungen getäuſcht, und wollten 
wieder zurückkehren, indem fie, wie fie ſagten, es vorzogen, an 
den Grenzen ihres Vaterlandes zu ſterben, als dieſe Gunſtbe— 
zeigungen der Barbaren zu genießen. Chosroes ſendete ſie zurück, 
nachdem er in ſeinem Friedensvertrage mit Juſtinian bedungen 
hatte, daß ſie von den Strafen, mit welcher der letzte alle ſeine 
noch heidniſchen Unterthanen belegt hatte, frei bleiben ſollten. 
Dieſe letzten „ſieben Weiſen von Griechenland,“ unter denen der 
vorzüglichſte Simplicius war, endeten ihr Leben im Vaterlande in 
Friede und Dunkelheit (M f. Gibbon. XL. Cap.). L. 


11) Degerando. IV. 168. 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 253 


buhlers Plato glänzte zwar, bei ſeinen Verehrern, in keinem 
minder hellen Lichte, aber dieſe „Neuplatoniker,“ wie ſie genannt 
wurden, hatten ſo viele und ſo große Aenderungen mit den 
Lehren ihres Meiſters vorgenommen, daß ſie eine ganz eigene 
Art von Commentatoren zu bilden ſcheinen. Bemerken wir 
jedoch zuerſt, wie ſchnell ſich die Nachbeter dieſer beiden 
Philoſophen aus ſich ſelbſt zu vermehren wußten. Porphyrius, 
der den Ariſtoteles commentirte, wurde wieder von Ammonius 
commentirt; die ſechs Enneaden des Plotinus wurden von 
Proklus und Dexippus commentirt; der ältere Pſellus war der 
Paraphraſt von Ariftoteles, und der jüngere Pſellus, im eilf— 
ten Jahrhundert, machte den Verſuch, die neuplatoniſche Schule 
wieder herzuſtellen. Der erſte von dieſen beiden Schriftſtellern 
hatte zu ſeinen Zöglingen zwei in der Geſchichte berühmte 
Männer, den Kaiſer Leo VI., den ſogenannten Philoſophen, 
und Photius, den Patriarchen von Conſtantinopel, die beide 
das Reich der Wiſſenſchaft in Griechenland wieder herſtellen 
wollten. Wir beſitzen noch die Sammlung von Auszügen des 
Photius, die, gleich jenen des Stobäus und anderer, die Hin— 
neigung ihres Zeitalters zur Compilation, zu Excerpten und 
Epitomen, d. h. zum Erlöſchen alles wiſſenſchaftlichen Lichtes 
bezeugen. 


5) Arabiſche Commentatoren des Ariſtoteles. 


Man könnte vielleicht erwarten, daß die griechiſche Phi— 
loſophie, indem ſie zu einem Volke überging, das einen 
ganz anderen Charakter hatte und unter gänzlich verſchiedenen 
Verhältniſſen lebte, jener Reihe von ſervilen Commentatoren 
ein Ende gemacht und neue Wahrheiten zu Tage gefördert haben 
werde. Auf dieſe Weiſe hätten die arabiſchen Schulen in Bagdad 
ſich erheben können, gleich denen der Peripatetiker, der Acade— 
miker, der Stoiker in Athen, ja jenes Volk hätte wohl auch 
den ganzen Boden, auf dem ſpäter Copernikus, Galilei, Lavoi— 
ſier und Linnee ihre Syſteme erbauten, fur ſich ſelbſt vorweg 
nehmen können. Von allem dem aber iſt nichts geſchehen. 
Die Araber können, in der Philoſophie und in der Wiſſenſchaft 
überhaupt, keinen wahrhaft großen Mann aus ihrer Mitte 
nennen, und keine bedeutende Entdeckung, die einen weſentlichen 


254 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


Einfluß auf den Fortgang und die Beſtimmung des Menſchen— 
geſchlechts hatte. Sie fügten ſich knechtiſch in die geiſtige Dienſt— 
barkeit der Nation, die ſie durch ihre Waffen beſiegt hatten, 
und ſie ſpannten ſich ſelbſt an daſſelbe Sklavenſeil, um gemein— 
ſchaftlich mit den Griechen den Triumphwagen des Plato und 
Ariſtoteles zu ziehen. Auch werden wir uns, bei näherer Ueber— 
legung, über dieſen Mangel an geiſtiger Kraft bei einem ſchein— 
bar jugendlichen Volke nicht eben ſehr verwundern dürfen. Die 
Araber waren nicht gehörig vorbereitet, die Schätze zu genießen 
und anzuwenden, die ihnen gleichſam von ſelbſt in die Hände 
fielen. Wie die meiſten halbgebildeten Volker lebten ſie nur für 
ihre vaterlaͤndiſchen Dichtungen, durch die wohl ihre Phantaſie, 
aber nicht ihr Verſtand, nicht ihre höheren ſpeculativen Fähig— 
keiten erweckt und geübt werden konnten. — Sie nahmen die 
Philoſophie der Griechen plötzlich in ſich auf, ohne früher durch 
alle jene Stufen der brennenden Neugierde und der jugendlich 
kühnen Forſchungsluſt gegangen, ohne aus der Nacht in die 
Dämmerung und dann erſt in das helle Licht der Erkenntniß, 
ohne aus dem Lande des Zweifels in das der Wahrheit und der 
Entdeckung übergegangen zu ſeyn, wodurch der Geiſt der Griechen 
erweitert, geübt und zu ihren Forſchungen gleichſam zubereitet 
worden iſt. Auch hatten die Araber nie, gleich den Griechen, 
jenes individuelle Selbſtgefühl, jene unabhängige Willenskraft, 
jene geiſtige Freiheit genoſſen, die nur aus der Freiheit der 
politiſchen Einrichtung eines Landes entſpringt. Ihnen fehlte 
jene mittheilende geiſtige Thätigkeit, die nur in kleineren Ge— 
meinden wohnt; ihnen fehlte jene erhebende Begeiſterung, die 
aus dem allgemeinen Mitgefühle, der Bewunderung einer Ver— 
ſammlung von gebildeten Zuhörern entſpringt, und kurz ihnen 
fehlte die Nationalerziehung, die ſie allein hätte fähig machen 
können, würdige Schüler des Plato und des Ariſtoteles zu werden. 
Darum wurden ſie auch von ihren neuen literariſchen Schätzen 
mehr erdrückt und unterjocht, als bereichert und geſtärkt, und da 
es ihnen an dem Sinn für wahre geiſtige Freiheit mangelte, ſo 
waren ſie ſchon zufrieden, ſich der Leitung des-Ariſtoteles und an— 
derer dogmatiſchen Philoſophen hinzugeben. Ihr kriegeriſches Leben 
hatte ſie gewöhnt, einem Führer zu gehorchen, und ihre unbe— 
grenzte Verehrung für das ihnen auferlegte religiöſe Geſetzbuch 
hatte ihnen auch die Annahme eines philoſophiſchen Korans leicht 


Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 255 


gemacht. Auf dieſe Weiſe überſetzten die Araber, zwar nicht die 
griechiſchen Dichter, aber dafür deſto eifriger die griechiſchen 
Philoſophen, und ſie überſetzten dieſelben Wort für Wort, ohne 
Abweichung und ohne ſich an ihrem Originale irgend eine Aen— 
derung oder einen Zuſatz zu erlauben. Sie wurden alle Ariſto— 
teliker. Sie ſtudierten nicht blos den Ariſtoteles ſelbſt, ſondern 
auch die Commentatoren des Ariſtoteles, und die ohnehin ſchon 
ſo große und unnütze Heerde der letzteren wurde von ihnen noch 
vermehrt. — Die philoſophiſchen Werke des Stagiriten hatten 
eigentlich ſchon vor dem Anwachs der arabiſchen Macht ihren 
Weg nach Oſten gefunden. Schon im ſechsten Jahrhundert hatte 
Uranus, ein Syrier, aufgemuntert durch des Königs Chosroes 
Liebe zur Philoſophie, mehrere Schriften des Ariſtoteles über— 
ſetzt 2), und um dieſelbe Zeit gab auch Sergius ſeine ſyriſchen 
Ueberſetzungen einiger griechiſchen Philoſophen. Im ſiebenten 
Jahrhundert überſetzte Jacob von Edeſſa die Dialectik des Ari— 
ſtoteles und fügte dem Werke ſeine Anwendungen bei. Dieſe 
Arbeiten wurden allmälig ſehr zahlreich und die erſten Ueber— 
ſetzungen des Ariſtoteles durch die Araber wurden beinahe alle 
in die Syriſche oder in die Perſiſche Sprache gemacht. 

Die arabiſchen Ausleger des Stagiriten, ſo wie auch ſchon 
früher viele von den alexandriniſchen, gaben ihrer Philoſophie einen 
eigenen Anſtrich, zu dem ſie die Farben aus einer beſonderen 
Quelle ſchöpften, die wir ſpäter unter dem Namen des Myſti— 
cismus beſprechen werden. Uebrigens tragen ſie beinahe alle ſehr 
deutlich das jeder Commentation eigenthümliche Gepräge. An der 
Spitze derſelben ſteht Alkindi !“), der an dem Hofe Almamons 
gelebt zu haben ſcheint, und der Commentationen zu dem ari— 
ſtoteliſchen Organon geſchrieben hat. Alfarabi aber war die 
glänzendfte Zierde der philoſophiſchen Schule zu Bagdad. Er 
umfaßte die Mathematik, die Aſtronomie, die Arzneikunde und 
die Philoſophie. Aus einer hohen Familie entſproſſen, und mit 
einem reichen Erbe ſeiner Väter ausgeſtattet, führte er doch ein 
ſehr ſtrenges Leben, und weihte ſich ganz dem Nachdenken und 
der Wiſſenſchaft. Mit Vorliebe bemühte er ſich, beſonders den 
Inhalt des ariſtoteliſchen Werks von der Seele zu erktären. — 


12) Degerando. IV. 196. 
13) Degerando. IV. 187. 205. 


256 Commentatoriſcher Geiſt des Mittelalters. 


Avicenna (oder Eba Sina) war zugleich der Ariſtoteles und der 
Hippokrates der Araber, und ohne Zweifel der ausgezeichnetfte 
Mann, den dieſes Volk hervorgebracht hat. In dem Laufe 
eines unglücklichen, ſtürmiſchen Lebens, überhäuft von Vergnü— 
gungen und politiſchen Geſchäften, wußte er doch Werke zu 
ſchreiben, die lange Zeit nach ihm als das höchſte Geſetzbuch 
der Wiſſenſchaft in Ehren geſtanden find, Seine medieiniſchen 
Werke beſonders, obſchon fie wenig mehr als eine Compilation 
von Hippokrates und Galenus ſind, wußten doch die Stelle 
dieſer beiden, ſelbſt an den europäiſchen Univerſitäten, einzu— 
nehmen; ſie wurden zu Paris und Montpellier als hohe Muſter 
verehrt, und zwar bis zu dem Ende des ſiebenzehnten Jahrhunderts, 
wo ſie plötzlich in beinahe gänzliche Vergeſſenheit fielen. Meh— 
rere neuere Autoren ſind der Anſicht, daß Avicenna eine eigene, 
originelle Kraft in ſeinen Darſtellungen der Logik und Meta— 
phyſik des Ariſtoteles gezeigt habe. — Unter den ſpaniſchen 
Ariſtotelianern zeichnete ſich beſonders Averroes (Ebn Roſhd) aus, 
welcher der allgemeine Führer der Schulmänner wurde, die ihn 
dem Ariſtoteles zur Seite, oder ſelbſt noch über ihn ſtellten ). 
Da er der griechiſchen Sprache nicht mächtig war, fo überſetzte er 
den Ariſtoteles aus dem Syriſchen. Er war mehrere Jahrhun— 
derte durch nur unter dem Namen des Commentators bekannt, 
und er verdiente dieſen Titel allerdings ſchon durch die Servilität, 
mit welcher er behauptete, daß Ariſtoteles alle Wiſſenſchaften 
auf den größtmöglichen Grad ihrer Vollendung gebracht, daß er 
den ganzen Kreis des menſchlichen Wiſſens ausgemeſſen, und 
die Grenzen deſſelben für immer feſtgeſetzt habe. Demungeachtet 
erblickt man in den Werken des Averroes mehrere Spuren der 
neuplatoniſchen Philoſophie, die doch dem Ariſtoteles gewiß 
ganz fremd geweſen iſt. Diejenigen ſeiner Schriften, die er 
gegen Algazel, dem arabiſchen Skeptiker, geſchrieben, haben wir 
ſchon oben erwähnt. 

Nachdem ſolchergeſtalt die Suprematie des Ariſtoteles 
von den Männern der Schule einmal allgemein anerkannt war, 
ſo verſuchten ſie nun auch, in der Verehrung ihres großen 
Führers, einen Schritt weiter zu gehen. So entſtand allmäh— 
lig aus dem bisherigen Syſtem der Commentation das neue 


14) Degerando. IV. 247. Averroes ſtarb i. J. 1206. 


Myſticismus des Mittelalters. 257 


des Dogmatismus, von dem wir in dem vierten Kapitel 
ſprechen wollen, nachdem wir zuerſt noch einen anderen, wichti— 
gen Charakterzug unſeres ſtationären Zeitraumes beobachtet 
haben werden. 


Drittes Capitel. 
Myſticismus des Mittelalters. 


Wir hatten ſchon öfters Gelegenheit zu bemerken, daß ſich 
bereits in der alexandriniſchen Schule ein neues, beſonderes 
Element in die Philoſophie eingeſchlichen hat, welches den Spe— 
culationen der folgenden Jahrhunderte eine eigene Färbung zu 
geben ſchien. Wir wollen dieſes Element Myſticismus 
nennen, da der Leſer aus der jetzt üblichen Bedeutung dieſes 
Worts leicht den eigentlichen Charakter jenes Elements ableiten 
wird, beſonders wenn wir ihm mehrere ſpecielle Fälle deſſelben 
vorgeführt haben werden. Statt z. B. die Erſcheinungen der 
Außenwelt, wie uns dieſelben durch die Sinne dargeſtellt werden, 
auf Raum und Zeit, oder auf die bisher gewöhnliche Verbin— 
dung von Urſache und Wirkung zu beziehen, fing man jetzt an, 
jene Erſcheinungen auf geiſtige und überſinnliche Relationen 
zurückzuführen, auf höhere Intelligenzen oder auf theologiſche Ob— 
jekte, auf den Zuſammenhang der vergangenen und zukünftigen 
Ereigniſſe einer moraliſchen Welt, auf gewiſſe Zuftände des Gemüths 
und vorzüglich endlich auf Ausgeburten einer neuen eingebil— 
deten Mythologie, die man durch die Benennung der Dämos 
nologie zu bezeichnen pflegte. Auf dieſe Weiſe wurde die 
Phyſik zur Magie, die Aſtronomie zur Aſtrologie, die Philoſo— 
phie ging in eine Art von Theoſophie über, das Studium der 
Zuſammenſetzung der natürlichen Körper artete in Alchemie aus, 
und die Mathematik ſelbſt wurde auf eine Contemplation der 
geiſtigen Eigenſchaften der Zahlen und der Figuren beſchränkt. 

Die Betrachtung dieſes Zuſtandes des menſchlichen Geiſtes 
iſt für die Geſchichte der Wiſſenſchaften ſehr wichtig, da ſie auf 
den eigentlichen Charakter des Mittelalters den größten Einfluß 


hat. Dieſe Hinneigung zum Myſticismus gab allen Arbeiten 
Wgewell. 1. 17 


258 Myſticismus des Mittelalters. 


und Gedanken der Menſchen, in Beziehung auf ihre geiſtige 
Ausbildung, eine ganz beſondere Richtung. Zuerſt entſtand 
aus dieſer Quelle die ſchon öfter erwähnte „neuplatoniſche Phi— 
loſophie“ unter den Griechen, und die ihr entſprechende Doctrin 
unter den Arabern, und da durch dieſe Philoſophie auch die 
Alchemie, die Magik und die Aſtrologie in hohes Anſehen 
kamen, ſo wurde dadurch der ganzen gebildeten oder auf Bildung 
Anſpruch machenden Welt eine falſche Richtung gegeben. Auf 
dieſe Weiſe wurde aber auch aller Fortſchritt der Wiſſenſchaft ver— 
zögert oder ganz verhindert, denn wir werden bald ſehen, daß 
die Wiſſenſchaft durch jene Verkehrtheit und Mißleitung des 
menſchlichen Geiſtes viel mehr verloren hat, als ſie durch irgend 
einen Zuwachs des Eifers gewinnen konnte, der aus den über— 
ſpannten Hoffnungen und Erwartungen dieſer Myſtiker in der 
That hervorgegangen ſeyn mag. 

Es iſt nicht unſere Abſicht, eine allgemeine Ueberſicht von 
den Fortſchritten und Schickſalen dieſer myſtiſchen Philoſophie 
zu geben. Wir wollen uns begnügen, einige charakteriſtiſche 
Züge derſelben herauszuheben, die auf den dadurch veran— 
laßten Verfall der Wiſſenſchaften vorzüglich eingewirkt haben. 
Der leitende Faden in dieſem Labyrinth iſt aber der bereits oben 
erwähnte Hang, alle Dinge und Erſcheinungen nicht auf be— 
ſtimmte und klare, durch die Sinne gegebene Verhältniſſe, 
nicht auf allgemeine, der Pruͤfung durch Beobachtung fähige 
Geſetze, ſondern bloß auf ſolche vage, entfernte und bloß ima— 
ginäre Notionen zurückzuführen, die wir mit unſern Beobach— 
tungen und Experimenten in keinen weitern Zuſammenhang 
bringen können, weil ſie zu einer ganz anderen, von der uns 
hier umgebenden, ganz verſchiedenen Welt gehören. Der eigent— 
liche Charakter des Myſticismus beſteht darin, daß er die ein— 
zelnen Erſcheinungen in der Natur, nicht den zunächſt höheren, 
homogenen — ſondern daß er ſie ganz heterogenen und unendlich 
weit von uns entfernten Urſachen unterordnet, und daß dieſe 
Unterordnung, wie man noch hinzuſetzen muß, nicht aus einem 
Akt des ruhigen Verſtandes, ſondern nur aus einer bloßen 
Aufwallung der erhitzten Pbantaſie hervorgeht. 


Myſticismus des Mittelalters. 259 


1) Neuplatoniſche Theoſophie. 


Der Neuplatonismus iſt das erſte Beiſpiel dieſer myſtiſchen 
Philoſophie, die wir hier näher zu betrachten haben. Der 
Hauptpunkt, auf welchen wir unſere Aufmerkſamkeit richten 
wollen, iſt jene Lehre von einer intellektuellen Welt, die un— 
mittelbar aus dem Akt des „göttlichen Geiſtes,“ als aus der 
„einzigen Realität“ hervorgeht, verbunden mit einer Sehnſucht 
nach der Vereinigung der menſchlichen Seele mit dem göttlichen 
Geiſte, welche Vereinigung der Zweck unſerer Exiſtenz ſeyn ſoll. 
Die „Ideen“ Plato's waren, für dieſen Philoſophen, bloße 
Formen unſerer Erkenntniß; für die Neuplatoniker aber wur— 
den ſie wirkliche Weſen, ja eigentlich die einzigen in der 
Welt wirklich exiſtirenden Gegenſtände, und das unzugäng— 
liche Schema des Univerſums, das nur aus dieſen Ideen 
beſtehen ſoll, wurde als das größte und höchſte Objekt aller 
philoſophiſchen Contemplationen aufgeſtellt. Das Verlangen des 
menſchlichen Geiſtes, ſeinem Schöpfer und Erhalter näher zu kom— 
men und in eine unmittelbare geiſtige Verbindung mit ihm zu 
treten, kann zu einer Gedankenreihe leiten, die der Aufmerkſam— 
keit eines religiöſen Philoſophen in hohem Grade würdig ſeyn 
mag; aber ein Beſtreben dieſer Art, ſelbſt wenn es wohl geord— 
net und auf Offenbarung geſtützt iſt, kann doch kein Mittel ſeyn, 
in den Naturwiſſenſchaften Fortſchritte zu machen. Wenn es aber 
endlich bloß das Reſultat einer phantaſtiſchen Exaltation iſt, ſo 
kann es den menſchlichen Geiſt leicht in eine Lage verſetzen, in 
welcher er ganz unfähig für alle eigentliche Wiſſenſchaft wird. Dieſer 
Hang, eine übernatürliche Urſache mit den äußeren Erſcheinungen 
der materiellen Natur in Gemeinſchaft zu bringen, muß daher 
als rein myſtiſch, und als eine von denjenigen Quellen betrachtet 
werden, aus welchen der Verfall der Wiſſenſchaften im Mittel— 
alter abzuleiten iſt. Die neuplatoniſche Philoſophie aber iſt 
eine der merkwuͤrdigſten Formen dieſes Myſticismus. 

Obſchon Ammonius Saccas, am Ende des zweiten Jahr— 
hunderts, gewöhnlich als der Gründer der neuplatoniſchen Schule 
angeſehen wird, ſo gebührt dieſe Auszeichnung doch eigentlich ſei— 
nem Schüler Plotinus, ſowohl wegen den verſchiedenen Schrif— 
ten, die wir von ihm größtentheils noch beſitzen, als auch wegen 

. 


260 Myſticismus des Mittelalters. 


dem Enthuſiasmus, den ſein Charakter und ſeine Sitten in den 
Schülern und Nachfolgern dieſes immerhin außerordentlichen 
Mannes aufgeregt hat. Sein ganzes Leben war der Betrachtung, 
der Milde und der Selbſtverläugnung geweiht, und er ſtarb im 
zweiten Jahre der Regierung des Claudius (i. J. 270). 

Sein Schüler Porphyrius hat uns eine Lebensbeſchreibung 
des Plotinus hinterlaſſen, aus welcher wir ſehen können, wie ſehr 
das Betragen des letzteren geeignet war, auf Andere lebhaften Ein— 
druck zu machen. „Plotinus, der Philoſoph unſerer Zeit,“ ſo be— 
ginnt Porphyrius ſeine Schrift, „erſchien uns als ein höheres Weſen, 
»das beſchämt iſt, einen Körper zu bewohnen. Mit ſolchen Anſichten 
„war es ihm ſchon unerträglich, von ſeiner Familie, von ſeinen 
„Aeltern, von ſeinem Vaterlande weiter zu ſprechen. Nie gab er 
„zu, daß fein Körper von einem Maler oder von einem Bildhauer 
„vorgeftellt werde, und als einſt Aurelius ihn um die Erlaubniß 
„erſuchte, eine Abbildung von ſeinem Geſtchte zu nehmen, ant— 
„wortete er: Iſt es nicht genug, daß wir dieſen Körper, in 
„welchen uns die Natur eingeſchloſſen hat, mit uns herumtragen 
„»müſſen; ſollen wir auch noch ein länger dauerndes Bild von 
„diefem Kerker entwerfen, als ob die Anſicht deſſelben fo 
„was Großes wäre.“ — Und dieſelben Geſinnungen behielt 
er auch bis an ſein Ende. Als er ſchon mit dem Tode rang, 
ſagte er: „Ich gehe nun, das Göttliche, das in uns wohnt, 
„mit dem Göttlichen des Univerſums zu vereinigen.“ — Alle 
ſeine Nachfolger ſahen auf ihn nur mit Verehrung, mit unge— 
wöhnlicher Bewunderung herauf, und Porphyrius, fein Schüler, 
ſammelte von den Lippen ſeines großen Lehrers die ſechs Ennea— 
den ſeiner Lehre, die er in eine eigene Ordnung brachte und 
mit beſonderen Anmerkungen verſah. 

Es iſt nicht ſchwer, in dieſer Schrift des Porphyrius hin— 
längliche Beiſpiele jener myſtiſchen Speculation aufzufinden, 
durch welche ſich die Neuplatoniker ausgezeichnet haben. Die 
intelligible Welt, heißt es (VI. Ennead. III. 1), der Realitäten 
oder Eſſenzen entſpricht der Sinnenwelt in allen einzelnen Klaſſen 
der Dinge, welche ſie enthält. Zu jener intelligiblen Welt er— 
hebt ſich der menſchliche Geiſt auf einem dreifachen Wege, auf 
dem der Muſik, auf dem der Liebe, und auf dem der Philoſophie 
(II. Ennead. II. 2). — Die Thätigkeit der menſchlichen Seele 
wird von Plotinus mit der Bewegung des Himmels identificirt. 


Myſticismus des Mittelalters. 261 


„Dieſe Thaͤtigkeit, ſagt er, hat um einen Mittelpunkt ſtatt 
„und iſt daher kreisförmig; aber ein Mittelpunkt iſt nicht daſſelbe 
„»in einem Körper und in einem Geiſte; in jenem iſt der Mittel: 
„telpunkt etwas locales, in dieſem aber iſt er Das, von dem alles 
„Uerbige abhängt. Doch beſteht zwiſchen beiden eine Analogie; denn 
„wie in dem einen, ſo muß auch in dem andern ein mittlerer 
„Punkt ſeyn, und wie die Kugel ſich um ihr Centrum dreht, fo 
„wird auch die Seele des Menſchen durch ihre geiſtigen Triebe 
„um Gott, als um ihren Mittelpunkt, bewegt.“ 

Der Beſchluß dieſer Enneaden “*) iſt der Annäherung, der 
Vereinigung und des Genuſſes der menſchlichen Seele mit Gott 
gewidmet. Auch hier beginnt der Verfaſſer wieder mit ſeiner 
Analogie zwiſchen der kreisförmigen Bewegung der Seele und 
jener des Himmels. „Wir drehen uns, ſagt er, um ihn, wie 
„in einem Chorreigen; ſelbſt wenn wir uns von ihm wenden, 
„bewegen wir uns nur um ihn. Nicht immer wenden wir unſer 
„Auge zu ihm, aber wenn wir es thun, zieht ſogleich Ruhe und 
„Zufriedenheit in uns ein, und eine unausſprechliche Harmonie, 
„die dieſer göttlichen Bewegung eigenthümlich zukommt. Bei 
„oiejer Bewegung ſucht unſer Geiſt die Quelle des Lebens, 
„den Born des Weltalls, den Urſprung aller Weſen, den Grund 
„»der Tugend und die Wurzel aller Geiſter (VI. Ennead. IX. 
„S. 9.) Dermaleinſt wird die Zeit für uns kommen, wo dieſer 
„Anblick immerdauernd ſeyn, wo die Seele nicht mehr von dem 
„Körper geſtört werden, wo fie nichts mehr von ihm zu leiden 
„haben wird. Aber das, was anblickt, iſt nicht das, was ae: 
»ſtört wird, und wenn dieſer Anblick verdunkelt wird, jo wird 
„dadurch nicht auch die Erkenntniß verfinſtert, die in dem Be— 
»weiſe, in dem Glauben, in der Vernunft liegt; und dieſer An— 
„blick ſelbſt iſt noch nicht Vernunft, ſondern größer, als Ver— 
„nunft, und ſchon vor aller Vernunft da geweſen.“ 

Im fünften Buche der dritten Enneade wird der Dämon 
beſprochen, der jedem Menſchen beigegeben ſeyn ſoll. Die hier 
gegebene Lehre ſcheint darauf hinzugehen, daß die Liebe, dieſe 
gemeinſame Quelle aller Leidenſchaften, in eines jeden Menſchen 
Herz zugleich „der Dämon iſt, der ihn überall begleitet.“ Dieſe 

1 Der Name Enneaden wurde von Porphyrius gewählt, weil ſein 

Werk aus ſechs Theilen beſteht, deren jeder neun Bücher enthält. 


262 Myſticismus des Mittelalters. 


Dämonen werden aber, wenigſtens von den ſpätern Schriftſtellern 
dieſer Schule, mit einem ſichtbaren Körper, mit einem eigenen 
Charakter bekleidet, ähnlich der menſchlichen Geſtalt und dem 
menſchlichen Charakter. Es iſt ſonderbar, zu ſehen, wie dieſe 
unhaltbare und viſionäre Geiſterſeherei doch wieder zurückfällt 
in das Gebiet der Sinne und der Körperwelt, nachdem ſie ſich 
vergebens abgemüht hat, ſich in jener luftigen Höhe ſchwebend 
zu erhalten. Dieſe philoſophiſchen Phantasmagorien riefen end— 
lich auch den Wunſch hervor, jene Dämonen oder ſichtbare 
Genien ſich dienſtbar zu machen, und die Abhandlung über die 
Myſterien der Aegyptier, die man dem Jamblichus zuſchreibt, 
gibt uns Nachricht von den geheimen Ceremonien, von den 
myſtiſchen Worten und den Sühnopfern, durch welche jener 
Zweck erreicht werden ſoll ). 


16) Dieſe neuplatoniſche Schule gelangte erſt in der Mitte des dritten 
Jahrhunderts nach Ch. G. zu Anſehen, zu welcher Zeit die ſtoiſche 
Philoſophie ihrem gänzlichen Verfalle nahe war, und jenes Anſehen 
währte bis gegen die Mitte des ſechsten Jahrhunderts, wo K. 
Juſtinian den bereits erwähnten Befehl ertheilte, alle heidniſchen 
philoſophiſchen Schulen Griechenlands zu ſchließen, und wo die 
letzten Lehrer derſelben zu Chosroes nach Perfien flächteten. Dieſe 
neuplatoniſche Schule nahm mit der größten Duldſamkeit beinahe 
alle älteren Syſteme in ihren Schooß auf, daher ſie auch ſo 
viele Freunde und Anhänger fand, die über die ganze griechiſch— 
römiſche Welt verbreitet waren. Nur einen Gegner hatte ſie, 
mit dem fie ſich nie abfinden wollte und konnte — das Chriſten— 
thum, an deſſen Klippen ſie auch endlich ſcheiterte. Ihr vereintes 
Streben war dahin gerichtet, dieſe neue religiöſe Lehre zu unter— 
graben, und mit ihr eben ſo unduldſam zu verfahren, als dieſe 
ſelbſt gegen alle Andersdenkende verfuhr — aber ihr Beſtreben 
gereichte zu ihrem eigenen Untergang und zur Verherrlichung 
ihres Feindes. Die Neuplatoniker ſtrebten nach der Erkenntniß 
des Höchſten, des Abſoluten, und nach inniger Vereinigung mit 
demſelben, um dadurch die Beſtimmung des Menſchen, Erfaſſung 
des Alls, Heiligkeit und Seligkeit zu erlangen, wozu, nach ihrer 
Lehre, nur Anſchauung (Oewgıa) des Abſolute führen ſollte. 

Plotinus war i. J. 205 zu Lycopolis in Aeypten geboren, 
und hörte zu Alexandrien den berühmten Ammonius Saccas. 
Unter K. Gordianus zog Plotinus als Soldat gegen die Perſer, 
und am Ende dieſes unglücklichen Feldzugs ging er nach Rom, wo 


Myſticismus des Mittelalters. 263 


Es wird für unſern Zweck nicht nöthig ſeyn, dieſe Schule 
bis zu ihrem Ende im ſechsten Jahrhundert zu verfolgen, oder ihre 


— — 


er ſeine neue philoſophiſche Schule gründete. Er wurde ſelbſt von 
feinen Gegnern wegen feiner hohen Rechtlichkeit verehrt, die ſich 
aber oft einer ungemeſſenen Schwärmerei hingab. So faßte er 
unter Galienus, deſſen Gewogenheit er gewonnen hatte, den aben— 
theuerlichen Entſchluß, eine Stadt, Platonopolis, zu gründen, 
die ganz nach den Geſetzen eingerichtet und verwaltet werden 
ſollte, die Plato in ſeiner „Republik“ aufgeſtellt hatte. Nach Art 
der Pythagoräer enthielt er ſich aller Fleiſchſpeiſen und genoß ſelbſt 
Brod nur ſelten. Seines Körpers ſchämte er ſich als eines eitlen 
Schattenbildes, daher er auch nie, ihm aufzuhelfen, Arznei nahm. 
Obſchon er, wie oben geſagt, feinen Freunden auf ihre Fragen 
über Verwandte, Aeltern und Vaterland, als über gar zu ver— 
ächtliche Dinge, keine Antwort gab, ſo feierte er doch den Geburts— 
tag des Plato und Sokrates jedes Jahr mit großer Sorgfalt. 
Seine Schüler und Zeitgenoſſen ſchrieben ihm geheime Künſte und 
förmliche Wunderwerke zu, ja ſelbſt unmittelbare Zuſammenkünfte 
mit der Gottheit. Seine Schriften ſind größtentheils durch ſeinen 
Schüler Porphyrius auf uns gekommen, aber, wie es ſcheint, nicht 
wenig verändert und ſelbſt verſtümmelt. Er ſelbſt ſoll nicht gut zu 
ſchreiben verſtanden und oft ſogar gegen die Orthographie gefehlt ha— 
ben. Schon die Alten haben über die Dunkelheit ſeines Vortrags Klage 
geführt, da ſeine Vorträge oft bis zum Räthſelhaften myſtiſch ſind. 
— Sein erwähnter Lehrer Saccas war früher Laſtträger in Ale— 
randrien, und er verdankte feinen ſpätern Ruhm nicht ſowohl ſich 
ſelbſt, als ſeinen berühmten Schülern Plotinus, Longinus (deſſen 
Schrift „über das Erhabene“ auf uns gekommen iſt), Origenes, 
dem berübmten Kirchenvater, und Porphyrius. 

Porphyrius war i. J. 233 in Syrien geboren und lehrte zu 
Rom mit großem Beifall. Seine Zeitgenoſſen rühmen „das Füll— 
horn ſeiner Gelehrſamkeit und die Süßigkeit ſeiner Rede.“ — 
Er war es vorzüglich, der die berüchtigte Dämonenlehre dieſer 
Schule ausgebildet hat. Die damals ſchon ſehr in Verfall gerathene 
Religion ſeines Vaterlandes fand an ihm einen heftigen Gegner, 
aber er wollte auch zugleich den chriſtlichen Glauben bekämpfen, 
und alles auf ſeine Philoſophie reduzirt wiſſen. 

Jamblichus, des Porphyrius Schüler, ebenfalls ein geborner 
Syrier, lebte unter Conſtantin dem Großen im Anfang des vier— 
ten Jahrhunderts. Seine Werke, voll Myſticismus, zeugen von dem 
Verfalle der Literatur, von Mangel an Geſchmack, von einer ſehr 
unphiloſophiſchen Leichtgläubigkeit und endlich von einer grenzen, 


264 Myſticismus des Mittelalters. 


theurgiſchen Syſteme alle anzuführen, und die Bemühungen 
aufzuzählen, die ſich die letzten Philoſophen dieſer neuen Sekte 
gegeben haben, das hohe Alterthum ihrer Lehre zu beweiſen, wie 
ſie denn Orpheus ſelbſt den Vater ihrer Schule genannt haben. 
Dieſes Syſtem nahm bald, wie alle myſtiſchen Syſteme, mehr 
eine religiöſe, als eine rein philoſophiſche Geſtalt an, doch hatten 
die Meinungen und Anſichten ſeiner Bekenner einen entſchiedenen 
Einfluß auf ihr Betragen im geſelligen Leben. Sie gaben der 
Welt das Schauſpiel einer ſtrengen Sittlichkeit und einer from— 
men Erhebung des Geiſtes, die ſie übrigens mit dem gröbſten Aber— 
glaubendes Heidenthums zu vereinigen ſuchten. Die Nachfolger des 
Jamblichus, wie Proclus, Syrianus, ein gewiſſer Plutarch u. a. 
im fünften Jahrhundert gaben ihrem Vereine mehr das Anſehen 
eines Prieſterthums, als einer philoſophiſchen Schule *). Da fie 
nicht aufhörten, dem Chriſtenthume ſich drohend gegenüber zu 
ſtellen, ſo wurden ſie endlich auch unter den Kaiſern Conſtantin 
und Conſtantius Verfolgungen ausgeſetzt. Sopater, ein ſyriſcher 
Philoſoph aus dieſer Schule, wurde auf Befehl Conſtantins ent— 
hauptet, weil er durch die Kraft ſeiner Magie dem Winde Feſſeln 
angelegt hatte ). Aber Julian (+ 363), der bald darauf den 


loſen Geſchwätzigkeit, aber dieß alles hinderte nicht, daß er von ſeinen 
Zeitgenoſſen für einen der größten Männer gehalten wurde. Auch 
ihm wurden Wunder zugeſchrieben. Wenn er in Gebeten begriffen 
war, ſoll man ihn oft bis zehn Ellen über die Erde erhöht und von 
goldfarbnem Lichte umſtrahlt geſehen haben, und häufig traf man 
ihn auch im Umgange mit Dämonen. In ſeiner pythagoriſchen 
Vorliebe für die Zahlen gibt er unter anderen ein umſtändliches 
Namen- und Zahlenregiſter einer ganzen Armee von Dämonen 
und heidniſchen Gottheiten, die er, nach Art der römiſchen Kriegs— 
heere, in verſchiedene Klaſſen eintheilt, und deren jedem er ſeinen 
beſonderen Wirkungskreis anweist. I. 


17) Degerando III. 407. 


18) Gibbon. Cap. XXI. Sopater, der die Freundſchaft Conſtantins ge— 
noſſen hatte, reizte den Grimm des prätorianiſchen Präfecten Ab— 
lavius. Die jährliche Kornflotte aus Aegypten blieb einmal wegen 
Mangel eines Südwindes in Konſtantinopel längere Zeit aus, 
und um die Unzufriedenheit des Volkes zu ſtillen, wurde Sopater 
auf des Präfecten Beſchuldigung hin enthauptet, daß er die Winde 


Myſticismus des Mittelalters. 265 


Thron beſtieg, erklärte ſich wieder eifrig für die Lehre des Jam— 
blichus. — Später zeichnete ſich Probus als einen der berühm— 
teften Männer der neuplatoniſchen Schule aus “), der im Leben 
und Lehre ein getreuer Nachfolger des Platinus geweſen iſt. 
Wir beſitzen eine Biographie oder vielmehr einen Panegy— 
ricus auf ihn, den fein Schüler Marinus verfaßt hatte, und in 
dem er als das Ideal eines Philoſophen, im Sinne der Neupla— 
tonifer, dargeſtellt wird. Die lange Reihe feiner Tugenden und 
Vorzüge wird unter verſchiedenen Kapiteln aufgeführt, von den 
phyſiſchen, den moraliſchen, den purifikatoriſchen, den theoreti— 
ſchen und den theurgiſchen. In ſeinem Knabenalter ſchon ſoll 
er Beſuche von Apollo und Minerva erhalten haben. Er ſtudirte 
die Redekunſt in Alexandrien, aber in Athen wurde er erſt von 
Lyſianus und dem oben erwähnten Plutarch in die Geheimniſſe 
der Neuplatoniker eingeweiht. Asklepigenia, die berühmte Toch— 
ter dieſes Plutarch, ertheilte ihm mit eigener Hand die Weihe; 
fie führte ihn zu den myſtiſchen Geheimniſſen der Chaldäer und 
in die verborgenen Gänge der Theurgie, ſo wie er auch zu den 
Eleuſiniſchen Myſterien zugelaſſen wurde. Er hatte ſich durch 
Beredſamkeit und weit verbreitete Kenntniß großen Ruhm ers 
worben, aber größeren noch durch ſeine Gewandtheit in den über— 
natürlichen Künſten, die ſo innig mit den Lehren ſeiner Sekte 
verbunden waren. Er ſcheint uns mehr in dem Lichte eines 
Hierophanten, als in dem eines Philoſophen zu glänzen. Einen 
großen Theil ſeines Lebens brachte er zu in Faſten und Gebet, 
mit Hymnen und Purifikationen und Erſcheinungen der Dämo— 
nen, und mit der Feier der Feſte der heidniſchen Gottheiten, beſon— 
ders der großen „Mutter der Götter.“ Uebrigens verbreitete ſich 
feine ſehr tolerante religiöſe Verehrung über die Mytholo— 
gien aller Völker, und der Philoſoph, pflegte er zu ſagen, iſt 
nicht blos der Prieſter von einer, ſondern von allen Religionen 
in der Welt. Aus dieſem Grunde verfaßte er auch Hymnen 
zur Ehre der Gottheiten Griechenlands, Roms, Aegyptens und 


durch die Macht ſeiner Magie gebannt hätte. Suidas fügt hinzu, 
daß Conſtantin durch dieſe Hinrichtung zeigen wollte, daß er den 
Aberglauben der Heiden gänzlich abgelegt habe. L. 


19) Degerando III. 419. Probus ſtarb im Jahr 487. 


266 Myſticismus des Mittelalters. 


Arabiens — bloß das Chriſtenthum blieb von ſeiner e aus⸗ 
geſchloſſen. 


2) Myſtiſche Arithmetik. 


Es wird nicht nothwendig ſeyn, aus den Werken dieſes 
Proclus noch mehrere Beiſpiele von dem myſtiſchen Charakter 
ſeiner Schule anzuführen, aber einer beſonderen Form dieſes 
Myſticismus müſſen wir noch gedenken, die zu jener Zeit fo oft, 
beſonders bei Proclus, vorkömmt, und die nicht unangemeſſen 

die „myſtiſche Arithmetiké genannt werden kann. Wie alle Gat— 
tungen dieſer geiſtigen Krankheit, ſo beſteht auch dieſe in einer 
Verbindung unſerer Begriffe von den äußeren Objecten mit jenen 
allgemeinen und unbeſtimmten Ideen von der Güte und Voll— 
kommenheit höherer Weſen. Hier aber geſchieht dieß mit den Be— 
griffen, die wir von den „Zahlen“ haben, und es iſt ſonder— 
bar, daß eben dieſe den menſchlichen Geiſt ſo oft und lange auf 
Abwegen feſtgehalten haben. Die Zahlen laſſen ſich allerdings 
unmittelbar auf die Moral und auf unſere Gefühle eben ſo 
gut, als auf die Gegenſtände der materiellen Welt anwenden. 
Ueberdieß hatte man, durch die Entdeckung des Princips der 
muſikaliſchen Accorde, wahrſcheinlich gegen alle Erwartung, ge— 
funden, daß die Töne ſehr innig mit Zahlenverhältniſſen zu— 
ſammenhingen, die man doch nicht ganz eben ſo leicht bei unſeren 
Gedanken oder Gefühlen entdecken mochte, und die zugleich auf die 
Vermuthung führen konnte, daß das geſammte Weltall, das körper— 
liche wie das geiſtige, noch ſehr viele ſolcher allgemeinen und abſtrac— 
ten Wahrheiten enthalte, die ſich ebenfalls durch Zahlen ausdrücken 
laſſen. Zahlenverhältniſſe aber haben überhaupt ein ſo weites 
Feld, daß ſich die Vergnügungen einer ſolchen Beſchäftigung leicht 
in's Unendliche ausſpinnen laſſen, ſobald ſich nur einmal der 
menſchliche Geiſt dem Hange hingeben will, in jene Abgründe 
der Finſterniß und der Unbeſtimmtheit herabzuſteigen, und dieſer 
Hang eben iſt es, der das Eigenthümliche des Myſticismus aus— 
macht. Dieſem gemäß erſchien auch dieſe Art von Speculation ſchon 
ſehr früh in unſerer Literargeſchichte, und zwar zuerſt unter den 
Pythagoräern, deren beſondere Aufmerkſamkeit ſchon gleich an— 
fangs auf die Theorie der Harmonie gerichtet war. Dieſe und 
einige andere Lehren der Pythagoräiſchen Philoſophen wurden 


Myſticismus des Mittelalters. 267 


nicht bloß von den Neuplatonikern, ſondern auch ſogar ſchon 
von Plato ſelbſt aufgenommen, deſſen Speculationen über die 
Zahlen bereits das Gepräge des myſtiſchen Charakters deutlich 
genug an ſich tragen. Auf dieſe Weiſe wurden die anfangs reinma— 
thematiſchen Zahlenbegriffe von „Gerad und Ungerad, von Groß 
und Klein“, durch eine Art von phantaſtiſcher Wendung, auf die 
Begriffe von „Güte, Vollkommenheit und Schönheit“ übertragen, 
und aus der Paarung ſolcher Ideen untereinander entſprang 
endlich ein ſehr complicirtes und weitverbreitetes neues Syſtem. 
Ohne lange bei dieſem Gegenſtande zu verweilen, wird es ſchon 
genügen, die bloßen Titel der hiehergehörenden Werke kennen zu 
lernen. Architas ſchrieb eine eigene Abhandlung über die Zahl 
Zehn 2°), und Telauge, die Tochter des Pythagoras, eine andere 
über die Zahl Vier. Dieſe letzte Zahl, die unter dem Namen 
der Tetractys bekannt war, wurde in der Pythagoräiſchen Schule 
beſonders hoch gehalten. Sie wird auch in den „Goldenen 
Verſen“ erwähnt, die man dem Pythagoras zuſchreibt. In Pla— 
to's Werken zeugen mehrere Stellen von ſeinem Glauben an 
ſittliche oder religidfe Verhältniſſe der Zahlen. Bei den Neu— 
platonikern aber wurde dieſe Lehre zu einem förmlichen Syſtem er— 
hoben. Proclus gründete ſeine Philoſophie größtentheils auf das 
Verhältniß der Einheit zur Vielheit, und aus dieſer Quelle ſchöpft 
er ſeine Darſtellung der Cauſalität des Weltgeiſtes durch drei Tria— 
den von Abſtractionen, wo denn in der Entwicklung eines Theils 
dieſes Syſtems auch die Zahl Sieben eine große Rolle ſpielt ?). 
„Die intelligiblen und intellectuellen Gottheiten erzeugen alle 
„Dinge auf einem dreifachen Wege; denn die Monaden in ihnen 
„werden je nach ihren Zahlen eingetheilt; und was die Monade 
„in der früheren war, iſt die Zahl in der letzten. Und die ins 
„tellectuellen Gottheiten erzeugen auch alle Dinge auf einem 
„ſiebenfachen Wege, denn fie entwickeln die intelligiblen und zu 
„gleicher Zeit die intellectuellen Triaden in intellectuelle Hebdo— 
„maden, und verbreiten ihre concentrirten Kräfte in intellectueller 
„Mannigfaltigkeit.“ — Die Zahl „ſieben“ iſt bei den Mathema— 
tikern eine ſogenannte Primzahl, das heißt, eine Zahl, die bloß 


20) Montucla. Hist. des Math. II. 123. 
21) Proclus. V. 3. nach Taylors Ueberſetzung. 


268 Myſticismus des Mittelalters. 


die Einheit und ſonſt keine ganze Zahl zum Factor hat; in der 
Sprache der Neuplatoniker aber iſt ſie eine „jungfräuliche Zahl, 
die keine Mutter hat,“ und die deßhalb der Minerva heilig iſt. 
Die Zahl „ſechs“ im Gegentheile iſt ihnen eine „perfecte Zahle, 
und deßhalb der Venus geweihet u. ſ. w. 

Auch die Verhältniſſe des Raumes wurden auf eine ähnliche 
phantaſtiſche Weiſe behandelt, indem ſie die geometriſchen 
Eigenſchaften mit jenen phyſiſchen und metaphyſiſchen Notionen 
zu paaren ſuchten, die ihnen von ihrer lebhaften Einbildungskraft 
oder von ihrem auf Geradewohl herumſchweifenden Verſtande 
eingegeben wurden. Als ein Beiſpiel davon können wir die 
Meinung Plato's über die Atome der vier Elemente anſehen 22). 
Er gibt jeder Gattung dieſer Atome eine von den fünf Geſtalten 
der regelmäßigen Körper, mit welchen letzten er und ſeine Schule 
ſich mit Vorliebe beſchäftigten. Die Atome des Feuers waren Tetra— 
eder oder Pyramiden, weil ſie ſpitzig ſind und aufwärts ſtreben; 
die der Erde ſind Würfel, weil ſie beſtändig ſind und den Raum 
vollkommen ausfüllen; die der Luft find Octaͤder, da fie denen 
des Feuers am ähnlichſten ſind; und die Atome des Waſſers 
endlich find Ikoſasder, da fie der Kugel am nächſten kommen. 
Das Dodecaeder iſt die Geſtalt der Atome des Himmels, und 
dieſe Geſtalt zeigt ſich auch in anderen Dingen wieder, wie in 
den zwölf Zeichen des Thierkreiſes. — Man ſieht, wie leicht und 
los dieſe Verbindungen von Zahl und Raum in allen dieſen 
myſtiſchen Viſionen ſich darſtellen. 

Es ſehlte nicht an neuern Schriftſtellern, welche dieſe Zahlen— 
träume der alten Philoſophen fortgeſetzt haben, wie Peter Bungo 
und Kircher, die beide große Werke „über die Myſterien der 
Zahlen“ geſchrieben haben. Der erſte beſonders behandelt die ge— 
heimnißvollen Eigenſchaften aller Zahlen nach der Reihe mit 
der größten Umſtändlichkeit. — Selbſt auf die Aſtronomie hat 
dieſe Geiſteskrankheit Einfluß gehabt. In der erſten Ausgabe 
der Alphonſiniſchen Tafeln ) wird, um die Präceſſion der Nacht— 
gleichen darzuſtellen, der erſte Punkt des Aries während einer 
Zeit von 7000 Jahren in der Peripherie eines Kreiſes bewegt, 
deſſen Halbmeſſer 18 Grade beträgt, während der Kreis ſelbſt in 


22) Stanley. Hist. philos. 
23) Montuela. Hist. des Math. I. 5ll. 


Moſticismus des Mittelalters. 269 


49,000 Jahren ſich um die ganze Ekliptik bewegt, und dieſe 
Zahlen 7000 und 49,000 waren ohne Zweifel von den jüdiſchen 
Berechnern dieſer Tafel gewählt, weil ſie ihnen in Beziehung 
auf die hebräiſche Feier des Sabbats zu ſtehen ſchienen. 


3) Astrologie. 


Von allen den Geſtalten aber, die der Myſticismus ange— 
nommen hatte, wurde keine mehr ausgebildet, als die Aſtrologie. 
Obſchon die Aſtrologie im ganzen Mittelalter beinahe deſpotiſch 
herrſchte, fo geht doch ihr Urſprung, ſelbſt ſchon als ausgebil— 
detes techniſches Syſtem, in das graueſte Alterthum zurück. 
Höchſt wahrſcheinlich iſt ſie im Orient entſtanden. Man ſchreibt 
ſie gewöhnlich den Babyloniern oder Chaldäern zu. Der Name 
Chaldäer war zu Rom gleichbedeutend mit „Mathematiker“ oder 
„Aſtrolog“, und wir leſen in den Schriften der Alten, daß dieſe 
Menſchenklaſſe mehr als einmal des Reiches verwieſen worden 
iſt, zur Zeit der Republik ſowohl, als auch unter dem Kaiſer— 
reiche?“). Dieſe immer wiederholten Ausweiſungen aber zeigen, daß 
ſie ſelbſt ohne großen Erfolg geweſen ſeyn müſſen. „Dieſe Gattung 
„von Menſchen, ſagt Tacitus, wird bei uns immer verwieſen 
„werden und immer wieder zurückkommen.“ In Griechenland 
ſcheint die Regierung keine feindliche Stellung gegen dieſe Leute an— 
genommen zu haben, denn hier ſchienen ſie immer aus der Stellung 
der Geſtirne zur Zeit ihrer Geburt die Schickſale der Menſchen 
ungehindert beſtimmt zu haben. Die Lehren der erſten Aſtrolo— 
gen ſind gänzlich verloren gegangen, und wir können daher nicht 
wiſſen, ob die Anſichten der Menſchen bei der Entſtehung dieſer 
Kunſt mit denjenigen übereinſtimmten, welche ſpäterhin, als ſie 
ſo heftig angegriffen und verfolgt wurden, im Schwunge waren. 
Doch iſt es wahrſcheinlich, daß die Aſtrologie, obſchon ſie ſpäter durch 
phyſiſche Analogien unterſtützt worden iſt, in den früheren Zeiten 
mehr auf einem mythologiſchen Glauben geruht hat. Die Grie— 
chen ſprachen von der „Influenzé oder von dem „Ausfluß“ 
(anogH010S) der Geſtirne, die Chaldäer aber legten ihnen wahr: 
ſcheinlich beſondere Kräfte bei, die von ihnen, als von Gott— 
heiten, ausgeübt würden. Auf welche Weiſe man aber auch die 


24) Tacit. Annal. II. 32. XII. 52. und Histor. I. 22. JI. 62. 


270 Myſticismus des Mittelalters. 


Sonne, den Mond und die Planeten mit Göttern und Göttinnen 
identificirt haben mochte, ſo ſcheint es doch, daß die Charaktere, 
die ſie dieſen Gottheiten zuſchrieben, die Kräfte und Eigenſchaften 
derjenigen Geſtirne beſtimmen ſollten, deren Namen ſie trugen. 
Dieſe offenbar nur eingebildete Aſſociation wurde beibehalten, 
erweitert und durch die Phantaſie ausgebildet, ſtatt daß ſie an— 
deren mehr beſtimmten und weſentlicheren Verbindungen ihre 
Stelle hätten abtreten ſollen, und auf dieſem Wege entſtand eine 
neue ſogenannte Wiſſenſchaft, die das Gepräge des Myſticismus 
deutlich in ſich trägt. 

In den früheren helleren Zeiten ſcheint jener Gemeinſinn 
vorgeherrſcht und dem Aufkommen der Aſtrologie entgegen— 
gearbeitet zu haben, nach welchem man jede theoriſche Mei— 
nung ruhig zu unterſuchen, und mit den Erſcheinungen in der 
Natur durch Beobachtungen zu vergleichen pflegte. So erzählt 
uns Cicero 2), daß Eudor die Anmaßungen der chaldäiſchen 
Aſtrologen verworfen hat, und Cicero ſelbſt erklärt ſich ge— 
gen dieſelben mit ſo klaren und verſtändigen Gründen, daß 
ſie auch noch in unſern Tagen angewendet werden könnten, in— 
dem er z. B. der großen Verſchiedenheit des Charakters und 
der Schickſale derjenigen Menſchen erwähnt, die doch alle in 
demſelben Augenblicke geboren werden; indem er das gänzliche 
Mißlingen ihrer Vorherſagungen in Beziehung auf Pompejus, 
Craſſus und Cäfar namhaft macht, denen jene Propheten ein 
glorreiches Alter und einen ruhigen Tod verkündigt hatten. Er 
führt ſelbſt noch einen andern Grund an, den die Leſer vielleicht 
von ihm nicht erwarten werden, nämlich die große Entfernung 
der Planeten in Vergleich mit der Entfernung des Monds von 
der Erde: „Welchen Einfluß, ſagt er, können ſolche Dinge auf 
„uns haben, die beinahe in einer unendlichen Entfernung von 
„uns abſtehen!“ 

Plinius erklärt ſich ebenfalls und aus denſelben Grün⸗ 
den gegen die Aſtrologie 22). „Homer, jagt er, erzählt uns, daß 
„Hector und Polydamas in derſelben Nacht geboren wurden: 
„Menſchen von ſo ganz verſchiedenem Charakter. Und werden 


25) Cicero, de Divin. II. 42. 
26) Plinius, Hist. Nat. VII. 49. 


Myſticismus des Mittelalters. 271 


„nicht zu jeder Stunde, in jedem Lande der Welt, zugleich Herren 
und Sklaven, Könige und Bettler geboren!“ 

Den Eindruck, den Gründe dieſer Art gemacht haben mögen, 
kann man aus der Anekdote abnehmen, die man von Publius 
Nigidius Figulus erzählt, ein römiſcher Bürger zur Zeit des 
Julius Cäſar, deſſen Lucanus als eines berühmten Aſtrologen 
erwähnt. Als man ihm den Einwurf machte, daß ſehr nahe 
zugleich geborne Menſchen doch alle ſo verſchiedene Schickſale 
haben, ſoll Nigidius ſeinen Gegner erſucht haben, zwei einander 
ſehr nahe Punkte auf einer Töpferſcheibe zu machen, die ſich 
eben ſehr ſchnell vor ihm bewegte. Als er die Scheibe zum 
Stillſtand gebracht hatte, zeigte ſich, daß jene zwei Punkte ſehr 
weit aus einander lagen. In Folge dieſer ſinnreichen Wider— 
legung ſoll Nigidius ſogar den Beinamen Figulus (der Töpfer) 
erhalten haben. „Aber dieſe Wiederlegung ſetzt der h. Auguſtin 
„hinzu, der uns jene Anekdote erhalten hat, iſt eben ſo gebrech— 
lich, als die Waare, die auf der Töpferſcheibe gemacht wird.“ 

Als aber die finſteren Zeiten immer mehr über das römiſche 
Reich hereinzogen, da ſcheine nauch die beſſeren Köpfe jene klaren 
Anſichten völlig verloren zu haben, durch die allein ſolche Blend— 
werke vertrieben werden können. Seneca nimmt bereits den Einfluß 
der Planeten für ausgemacht an, und ſelbſt Tacitus wagt nicht, 
ſich beſtimmt dagegen zu erklären. „Was mich betrifft, ſagt 
„er 2), jo zweifle ich; aber gewiß, der größte Theil des Menſchen— 
»geſchlechts läßt ſich nicht von der Meinung abbringen, daß 
„»das Schickſal eines jeden Menſchen ſchon bei feiner Geburt be— 
»ſtimmt iſt, obgleich manche Ereigniſſe dieſen Vorherſagungen 
„nicht entſprechen, wegen der Unwiſſenheit derer, die dieſe Kunſt 
„treiben, ſo daß alſo dieſe Kunſt ſelbſt mit Unrecht beſchuldigt 
„wird, deren Wahrheit vielmehr durch fo viele bekannte Beiſpiele 
„aller Zeiten beſtätigt iſt.“ Der große Geſchichtſchreiber nimmt Ge— 
legenheit zu dieſer Bemerkung von Theaſyllus, dem Lieblingsaſtro— 
nomen des Kaiſers Tiberius, deſſenGeſchicklichkeit durch die folgende 
Anekdote beſtätigt werden ſoll. Mehrere Männer, die einer wich— 
tigen Angelegenheit wegen mit Tiberius ſprechen wollten, wurden 
zur Audienz in einem Gebäude zugelaſſen, das auf einer hohen 
Felſenſpitze der Inſel Capreä (in der Nähe von Neapel) errich— 


27) Tacitus. Annal. VI. 22. 


272 Myſticismus des Mittelalters. 


tet war. Sie gelangten zu dieſer Stelle auf einen engen Pfad, 
blos von einem einzigen Freigelaſſenen von großer körperlichen 
Stärke begleitet. Bei ihrer Rückkehr, als der Kaiſer einigen 
Verdacht in ihre Verläßlichkeit geſchöpft hatte, war ein einziger 
Stoß hinreichend, das Geheimniß und das Opfer deſſelben in 
den Wellen des Meeres unter ihm für immer zu begraben. 
Nachdem Theaſyllus in dieſer Einnöde das Schickſal des Kaiſers 
nach den Regeln ſeiner Kunſt beſtimmt hatte, fragte ihn dieſer, 
ob er auch berechnet hätte, wie lange er ſelbſt noch zu leben 
habe. Der Aſtrolog betrachtete den Lauf der Geſtirne, zögerte 
mit der Antwort, zeigte Beſorgniß und Schrecken, und erklärte 
endlich: „dieſe gegenwärtige Stunde ſey für ihn kritiſch, vielleicht 
„ſelbſt feine Todesſtunde.“ Aber Tiberius umarmte ihn, und 
ſagte: „Du hatteſt recht. Du warſt in Gefahr, aber du ſollſt 
„ihr entfliehen,“ und von dieſem Augenblicke an machte er ihn 
zu ſeinem geheimen Rathgeber. 

Der Glaube an die Wahrheit der Aſtrologie, die auf dieſe 
Weiſe ſelbſt wiſſenſchaftlich gebildete und ſehr verftändige Män— 
ner ergriffen hatte, äußerte einen noch viel größeren Einfluß auf 
die ſpeculativen, aber unſtäten Gemüther der ſpäteren philoſophi— 
ſchen Schüler von Alexandria, Athen und Rom. Wir beſttzen 
noch eine Abhandlung des Proclus über Aſtronomie, die uns 
von dem myſtiſchen Treiben dieſer Kunſt zu jener Zeit ein Bei— 
ſpiel gibt. Proclus gibt ſeine Schrift als einen Commentar über 
ein anderes Werk „Tetrabiblos“ über denſelben Gegenſtand, 
welches letzte dem Ptolemäus zugeſchrieben wird. Aber wir 
haben gute Gründe, zu zweifeln, daß der Verfaſſer der „Megale 
Syntaxis“ in der That der Autor einer ſolchen Schrift geweſen 
iſt. Einige wenigen Stellen daraus werden dieß in ein näheres 
Licht ſetzen 2°). Die ganze ſogenannte Wiſſenſchaft wird zu— 
erſt aus dem Grunde in Schutz genommen, weil cs allgemein 
bekannt iſt, welche gewaltige phyſiſche Einflüſſe die himm— 
liſchen Körper auf die Erde haben. „Die Sonne ordnet alle 
„irdiſchen Dinge, die Geburt der Thiere, das Wachſen der Früchte, 
„das Fließen des Waſſers, die Wechſel der geſunden und kranken 
„Zuſtände nach den verſchiedenen Jahreszeiten u. ſ. f. Die 
„Sonne erzeugt Wärme, Früchte, Trockenheit und wieder Kälte, 
„je nach ihren verſchiedenen Abſtänden von dem Zenith. Der 


f 28) Proclus, Tetrabiblos 1. 2. 


Myſticismus des Mittelalters. 273 


„Mond, der unter allen Geſtirnen der Erde am nächſten ſteht, 
„hat auch den größten Einfluß auf dieſelbe; mit dem Monde 
»ſympathiſiren alle lebende und unbelebte Weſen; die Gewäſſer 
„der Flüſſe fallen und ſteigen nach feinem Lichtwechſel, die Ebbe 
„und Fluth des Meeres wird von dem Auf- und Untergange des 
„Mondes bedingt, und nach ihm richtet ſich auch das Zu- und 
„Abnehmen der Pflanzen und Thiere in einzelnen Theilen und 
„im Ganzen.“ Man ſieht, wie man im Verfolge ſolcher Zu: 
ſammenſtellungen, von denen einige reell und andere bloß 
eingebildet ſind, mit Hülfe einer ungeregelten Einbildungskraft 
zu einer Art von ſcheinbarer Wiſſenſchaft aufſteigen wollte. — 
Nach dieſem Eingange geht nun Proclus (J. 4) zu den eigent— 
lichen Lehren der Aſtrologie über. „Die Sonne, ſagt er, iſt die 
„Urfache der Hitze und Trockenheit; die Kraft derſelben iſt in 
„ihrer Natur beſchränkt, aber doch noch fühlbarer, als die der ande— 
„ren Himmelslichter, wegen ihrer Größe und wegen dem Wechſel 
„der Jahreszeiten, die von ihr erzeugt werden. Die Natur 
„des Monds iſt größtentheils feucht, denn da er der Erde am 
„nächiten ſteht, fo zieht er die Dünſte an, die von den feuchten 
„Körpern aufſteigen, daher werden die Körper durch ihn weich 
„und zur Fäulniß geneigt. Durch das Licht aber, welches der 
„Mond von der Sonne erhält, theilt er der Erde auch einen 
„guten Theil Wärme mit. Saturn iſt kalt und trocken, weil 
„er am meiften von der wärmenden Kraft der Sonne und von 
„den feuchten Dünſten der Erde entfernt iſt. Doch herrſcht auf 
„oem Saturn die Kälte weit vor und iſt viel größer, als die 
„Trockenheit, auch wird er, ſo wie alle andere Planeten, von 
„en verſchiedenen Stellungen häufig verändert, die er gegen 
„die Sonne und den Mond einnimmt.“ — Auf dieſem Wege 
findet der Verfaſſer, daß Mars trocken und ſcharf iſt „wegen 
„ieiner feurigen Natur, die auch in der That ſchon durch feine 
„Farbe angezeigt wird.“ Jupiter hat eine gute Miſchung von 
Warm und Feucht, ſo wie auch Venus. Merkur aber iſt in 
ſeinem Charakter ſehr veränderlich. — Aus dieſen Eigenſchaften 
fließen dann mehrere andere, die ſich auf die wohlthätigen oder 
nachtheiligen Wirkungen dieſer Geſtirne beziehen. Nach ihm 
find Wärme und Feuchte erzeugende Elemente, daher die Alten 
dem Jupiter, der Venus und dem Mond gute Kräfte zuſchrieben, 
während Saturn und Merkur eine bösartige Natur haben, u. dgl. 
Whewell. I. 18 


0 


274 Myſticismus des Mittelalters. 


Er weiß auch noch andere Unterſchiede des Charakters dieſer 
Geſtirne aufzuzählen, die aber alle gleich eingebildet und nur 
von einer zügelloſen Phantaſie eingegeben ſind. Einige Planeten 
ſind ihm männlich, andere weiblich; wie denn der Mond und 
die Venus zu dem weiblichen Geſchlechte gerechnet werden, ohne 
Zweifel aus einem mythologiſchen oder auch wohl aus einem 
etymologiſchen Grunde. Einige Planeten find Nacht- und wieder 
andere Taggeſtirne: zu jenen gehört die Sonne und Jupiter, zu 
dieſen der Mond und die Venus; Saturn und Mars aber ſind 
zugleich Tag- und Nacht-Geſtirne u. ſ. w. 

Auch die Fixſterne, beſonders die des Thierkreiſes, haben ihre 
eigenen Einflüſſe und beſtimmte ihnen angewieſene Gegenſtände. 
Jeder der zwölf Zeichen des Thierkreiſes hat ſeine eigene Herr— 
ſchaft über einen beſtimmten Theil des menſchlichen Körpers, der 
Widder auf den Kopf, der Stier auf den Nacken u. ſ. w. 
Aber der wichtigſte Theil des geſtirnten Himmels für den Aſtro— 
logen war dasjenige Zeichen des Zodiacus, das im Augenblick 
der Geburt eines Menſchen eben aufgeht. Dieß wurde eigentlich 
das Horoſcop, der „Ascendent“ oder auch „das erſte Haus“ ge— 
nannt. Der ganze Umkreis des Himmels wurde nämlich in 
zwölf Häuſer eingetheilt, in welchem Leben und Tod, Ehe und 
Kinder, Reichthum und Ehre, Freunde und Feinde enthalten 
ſeyn ſollten. 

Es wird unnöthig ſeyn, den Fortgang dieſer Wiſſenſchaft 
umſtändlich zu verfolgen. Bei den Arabern ſtand ſie in vorzüg— 
lichem Anſehen, wie man es von dem Charakter dieſes Volkes 
erwarten kann. Albumaſar, aus Balk, im Khoraſan, der im 
ſiebenten Jahrhundert lebte, war einer ihrer größten Aſtronomen 
und zugleich ein ſehr berühmter Aſtrolog. Sein aſtrolsgiſches 
Werk: „De magnis Conjunctionibus, Annorum Revolutionibus 
„ac eorum Perfectionibus“ war viele Jahrhunderte durch auch 
in Europa hochgeſchätzt. Aboazen Haly, der ein Werk „De 
judiciis Astrorum“ ſchrieb, lebte im dreizehnten Jahrhundert in 
Spanien, und wurde in der Aſtrologie für einen wahrhaft claſ— 
ſiſchen Schriftſteller gehalten. 

Es iſt leicht zu errathen, daß dieſe apotelesmatiſche oder 
Judicial-Aſtrologie (fo wurde diejenige Aſtrologie genannt, die 
ſich vorzugsweiſe mit der Beſtimmung der menſchlichen Schickſale 
aus den Geſtirnen beſchäftigten), nachdem ſie einmal von dem 


Myſticismus des Mittelalters. 275 


menſchlichen Geiſte feſten Beſitz genommen hatte, in unzählige 
ſpitzfindige Diſtinctionen, und in die wildeſten Conceptionen aus— 
arten mußte, um ſo mehr, da Verſtand und Erfahrung dieſen 
ungeregelten Ausflügen der Phantaſie nichts mehr entgegen zu 
ſetzen hatten. Einige Lehrer dieſer Kunſt unternahmen es zwar, 
die von den Aſtrologen aufgeſtellten Regeln durch Vergleichung 
mit den in der That ſtattgehabten Ereigniſſen zu läutern oder zu 
verbeſſern, allein dieſe ſchwachen und oft ſelbſt wieder trügeriſchen 
Bemühungen blieben ohne Erfolg. Selbſt in der ſogenannten „natür— 
lichen Aſtrologie,“ die ſich mit dem Einfluß der himmliſchen Geſtirne 
auf unſere Witterung beſchäftigt, welche Maſſe von ſorgfältig 
angeſtellten Beobachtungen iſt da nothwendig, um auch nur eine 
einzige, wahrhaft verläßliche Vorſchrift aufzuſtellen. Wer weiß 
es nicht, wie lange Zeit hindurch ganz falſche und grundloſe 
Regeln über den Einfluß des Monds auf die Witterung, allen 
unſern Erfahrungen gleichſam zu Trotz, das menſchliche Gemüth 
feſtgehalten haben und noch feſt halten. Wenn aber die Gegen— 
ſtände, um die es ſich hier handelt, ſo unbeſtimmt und ſo vielſeitig 
ſind, wie z. B. der Charakter oder die Leidenſchaften des Men— 
ſchen, wie durfte man da erwarten, daß auch das höchſte menſchliche 
Talent einen feſten Boden gewinnen könne, um von ihm aus 
einer Lehre zu widerſtehen, die aus überall zuſammen getragenen, 
kühnen Behauptungen beſtand, die das Anſehen des großen Haufens 
und ſelbſt der Mächtigen und Gebildeten im Volke gewonnen hatte, 
und die bereits ſeit Jahrhunderten als ein geſchloſſenes Syſtem, als 
eine wohlbegründete Wiſſenſchaft ſich dargeſtellt hatte. Dieſem 
gemäß war der Einfluß der Geſtirne auf die Handlungen und 
Schickſale der Menſchen ein feſter, ſeit den älteſten Zeiten be— 
währter Glaube geworden, von dem auch der Beſte und Ver— 
ſtändigſte ſich nicht mehr losmachen konnte, um ſo weniger, da 
ein dunkles Gefuͤhl von der Höhe des Gegenſtandes dieſem Glauben 
an eine innige Verbindung der Erde mit dem Himmel noch eine 
beſondere Kraft verlieh, die ſelbſt den beſcheidenſten Zweifel von 
ſich fern zu halten wußte. Nicht eher wurde es beſſer, bis die 
Aſtrologen ſelbſt ihrer Zeit ein Opfer bringen mußten, bis ſie 
ſelbſt in jenen ſervilen commentatoriſchen Weg geriethen, der dem 
Mittelalter ſo eigenthümlich war, und wodurch ſie, wie jene Philo— 
ſophen, ſich ſelbſt und ihre Wiſſenſchaft um ihr bisher behauptetes 
Anſehen brachten. Die fpäteren Aſtrologen copirten und commen— 
18 * 


276 Myſticismus des Mittelalters. 


tirten und erlaͤuterten die Werke ihrer Vorgänger, aber auch ihre 
Sonne ging unter, als das Licht der wahren Wiſſenſchaft ſich 
über unſern Horizont erhob. 

Bemerken wir noch, daß die Aſtrologie, auch außer den 
Mahomedanern, bei den orientalifchen Völkern in beſonders 
großem Anſehen geſtanden hat und wahrſcheinlich noch ſteht. 
Die Juden, die Indier, die Siameſen und Chineſen ſind von 
jeher große Verehrer derſelben geweſen. Das Vorherrſchen von 
unbeſtimmten, ſchwärmeriſchen und inhaltsleeren Begriffen bei 
dieſen Völkern kann uns nicht überraſchen, da keines derſelben, 
wie allerdings die Völker Europa's gethan haben, über irgend einen 
Gegenſtand der Phyſik richtige und originelle Principien aufge— 
ſtellt hat. Die Künſte mögen in verſchiedenen Orten der Ober— 
fläche der Erde entſtanden ſeyn. Die Wiſſenſchaften aber 
ſind nur in Europa und auch da nur in beſonders günſtigen 
Zeiten entſtanden. 

Während der langen Zeit jedoch, von der wir hier ſprechen, 
war auch für Europa dieſe produktive Kraft des menſchlichen 
Geiſtes unterbrochen oder ganz gelähmt. Während dieſer ganzen 
Periode ſank unſer Erdtheil zu derſelben Tiefe herab, in welcher 
die anderen immer geweſen ſind. Unſere Wiſſenſchaft war da— 
mals ein wildes Gemenge von Kunſt und Myſticismus, von 
denen wir bereits mehrere Formen kennen gelernt haben, und 
von welchen wir auch noch zwei andere (die Alchemie und die 
Magie) näher betrachten müſſen. 

Jedoch können wir, ehe wir zu dieſen übergehen, uns der 
Bemerkung nicht enkhalten, daß der tiefe und dauernde Einfluß, 
den die Aſtrologie auf den menſchlichen Geiſt erlangt hat, ſich 
vorzüglich darin kund gibt, daß ſelbſt die ſtärkſten und hellſehend— 
ſten Männer, auch noch nach der Wiedererwachung der Wiſſen— 
ſchaften in Europa, lange Zeit durch ſich nicht völlig von dem - 
Wahne losmachen konnten, daß es in dieſer Kunſt doch irgend 
ein Element der Wahrheit geben müſſe. Roger Bacon, Cardan, 
Kepler, Tycho Brahe, Franz Bacon u. a. liefern uns die Be— 
ftätigung zu dieſer Behauptung. Dieſe Männer, oder doch die 
meiſten von ihnen, verwerfen allerdings jene gemeinen, excen— 
triſchen Thorheiten, mit welchen die Aſtrologie nur zu ſehr bela— 
den war; aber wenn dieſe entfernt werden, dachten ſie, ſo müſſe 
doch noch irgend etwas Reelles und Werthvolles zurückbleiben. 


Myſticismus des Mittelalters. 277 


Dahin gehört auch Campanella **), von dem wir bald als von 
einem der erſten Gegner des Ariſtoteles ſprechen werden, und 
der ein eigenes Werk geſchrieben hat, das die Aufſchrift hat: 
„Aſtrologie, gereinigt von allem Aberglauben der Juden und Ara— 
ber, phyſiologiſch behandelt ?°).“ 


29) Baco, de Augm. scient. III. 4. Campanella war 1568 zu Stilo in 
Calabrien geboren, und ſtarb 1639. Wegen ſeiner Oppoſition gegen 
Ariſtoteles wurde er verfolgt und (i. J. 1635) zur Flucht nach 
Frankreich gezwungen. L. 

30) Bemerken wir hier noch, daß dieſer Glaube an Aſtrologie, vielleicht 
der älteſte Aberglaube der Menſchheit, auch zugleich unter allen am 
längſten gedauert hat. Noch zu Ende des ſiebenzehnten Jahrhunderts 
war er allgemein in Europa. Der berühmte engliſche Dichter Dry— 
den (+ 1701) ließ ſich noch für feine Kinder die Nativität ftellen. 
— Katharina von Medicis brachte den neugebornen Heinrich IV. 
von Frankreich zu dem berühmten Aſtrologen Noſtradamus, um 
dem Kinde die Nativität ſtellen zu laſſen. Der Knabe mußte, wie 
alle anderen, nackt ausgezogen werden, wo dann der Sterndeuter 
den ganzen Körper unterſuchte, und daraus, in Verbindung mit 
dem Stand der Geſtirne zur Zeit der Geburt des Kindes, das 
künftige Schickſal deſſelben vorausſagte. Dieſer Noſtradamus (eigent— 
lich Michael Notredame) lebte größtentheils in Abgeſchiedenheit 
von allen Menſchen zu Salon in Frankreich, wo er ſeine Prophe— 
zeihungen in Reimen zu ganzen Hunderten in die Welt ſchickte, 
und wo er von den erſten Perſonen des Reichs beſucht wurde, bis 
ihn Carl IX. zu feinen Leibarzt erhob. Er ſtarb im Jahr 1566, 
und noch 1781 wurden ſeine Prophezeihungen von Rom aus ver— 
boten, weil darin auch der Untergang des Pabſtthums vorhergeſagt 
wurde. Da er Carl IX. vorausgeſagt hatte, daß er ſo viele Jahre 
leben werde, als er ſich, auf der Ferſe eines Fußes ſtehend, in einer 
Stunde umdrehen kann, ſo übte ſich der König jeden Morgen in 
dieſem Manövre ein, und bald wurde dieſe Bewegung Jedermann 
für ſo zuträglich gehalten, daß ſich alle Hofleute darin übten, um 
es ihrem Herrn nachzuthun und vielleicht gleich ihm ihre Anſprüche 
auf Longävität geltend zu machen. — Sollen wir nicht hinzuſetzen, 
daß auch unſere eigene kränkelnde Zeit noch nicht ganz von Rück— 
fällen dieſer aſtrologiſchen Krankheit ſicher zu ſeyn ſcheint? Als 
Beweiſe dafür ließe ſich Pfaffs „Aſtrologie“ Bamberg 1816, „der 
Stein der drei Weiſen „Bamb. 1821, das Buch der Seherin von 
Prevorſt, und wohl noch manches andere anführen. L. 


278 Myſticismus des Mittelalters. 


4) Alchemie. 


Wie andere Zweige des Myſticismus ſcheint auch die Alche— 
mie aus denjenigen Ideen von moraliſchen, perſönlichen und 
mythologiſchen Eigenſchaften entſtanden zu ſeyn, welche die Men— 
ſchen mit Worten verbanden, die anfangs eine bloße Anwen— 
dung auf phyſiſche Eigenſchaften enthalten hatten. Dieß folgt aus 
der Art, wie in den erſten auf uns gekommenen Schriften über 
Chemie dieſer Gegenſtand behandelt worden iſt, nämlich in den 
Werken Geber's von Sevilla), der in dem achten oder neun— 
ten Jahrhundert gelebt haben ſoll. Schon die Titel von dieſen 
Schriften zeigen den Geiſt, der in ihnen weht. „Ergründung 
der Vollkommenheit.“ — „Von der Summe der Vollkommenheit 
„oder von dem vollkommenen Meiſterthume.“ — „Ueber die Auf: 
„findung der Wahrheit und Vollkommenheit“ u. dgl. Die Grund— 
lage dieſer Phraſeologie iſt ſeine Unterſcheidung der Metalle in 
vollkommene und un vollkommene. Gold iſt ihm das vollkom— 
menſte Metall, da es das ſchönſte, reinſte, dauerhafteſte und 
koſtbarſte iſt; ihm zunächſt ſteht das Silber, und dann kommen 
die anderen Metalle. Seine „Ergründung der Vollkommenheit“ 
hatte den Zweck, zu verſuchen, ob ſich wohl auch andere Me— 
talle in Gold verwandeln laſſen. Dieſem gemäß wurden weit— 
läufige Theorien aufgeſtellt, nach welchen die Metalle ſämmt— 
lich aus denſelben Elementen beſtehend angenommen wurden, 
ſo daß demnach jene Verwandlung wenigſtens für theoretiſch 
möglich gehalten werden konnte. Allein der myſtiſche Hang, die 
entfernteſten Dinge mit einander zu verbinden, ging bald noch 
viel weiter. Man erklärte Gold und Silber für die zwei „edel— 
ſten“ Metalle, und nannte jenes den „König,“ und dieſes die 
„Königin“ aller Metalle. Dieſe Einfälle zu unterſtützen, wurden 
mythologiſche Ideen zu Hülfe gerufen, wie dieß früher auch in 
der Aſtrologie geſchehen iſt. Gold war gleichbedeutend mit Sol 
oder Sonne; Silber wurde identiſch mit Luna oder Mond, und 
eben fo wurde der Venus Kupfer, dem Mars Eiſen, dem Jupi— 
ter Zinn, und dem Saturn Blei zugeordnet. Die chemiſchen 
Prozeſſe der Miſchung und Erwärmung wurden unter dem Bilde 


31) Thomſons Geſchichte der Chemie. I. 117. 


Myſticismus des Mittelalters. . Au 


von perſönlichen Actionen und Reactionen, von Kämpfen und 
Siegen dargeſtellt. Einige Elemente hießen „Sieger,“ andere 
„Befiegte,“ und man beſaß Vorrichtungen, welche die Kraft haben 
ſollten, das Ganze eines Körpers in die Subſtanz eines andern 
Körpers zu verwandeln, welche Vorrichtungen unter dem Titel 
„Magifterien“ bekannt wurden. Wenn Gold mit Queckſilber 
gemiſcht wurde, ſo hieß es, der König und die Königin wären 
getraut worden, um Kinder ihrer eigenen Art zu erzeugen. Man 
fieht aber leicht, daß, wenn chemiſche Operationen auf ſolche Weiſe 
dargeſtellt wurden, der Aufſchwung der Phantafle mit der Hoff: 
nung auf Gewinn ſich verbinden muß, um jeden verſtändigen 
Verſuch zu vereiteln, Täuſchung durch Beobachtungen zu ent— 
fernen, oder reelle und beſtimmte Begriffe über dieſe Gegenſtände 
herrſchend zu machen. 

Dieſe Ausſchweifung des vagen Begriffs von „Vollkommen— 
heit“ bei alchemiſtiſchen Unterſuchungen wurde ſelbſt noch weiter 
getrieben. Daſſelbe Präparat, das die Kraft haben ſollte, un— 
edlere Metalle in Gold zu verwandeln, wurde auch zu einer 
Univerſalmedizin erhoben, die alle Krankheiten heilen oder ihrem 
Ausbruche vorbeugen, die das menſchliche Leben verlängern, kör— 
perliche Kraft und Schönheit verleihen ſollte, und kurz, der „phi— 
loſophiſche Stein“ oder der „Stein der Weiſen“ wurde endlich mit 
allen nur gedenkbaren Vorzügen ausgeſchmückt, welche die Phan— 
taſie dieſer neuen Gattung von Weltweiſen nur auszubrüten im 
Stande war. 

Es iſt beinahe zum Sprichworte geworden, daß die Alchemie 
die Mutter der Chemie geweſen iſt, und daß wir nie die Ent— 
deckungen gemacht haben würden, auf denen nun die wahre 
wiſſenſchaftliche Chemie erbaut iſt, wenn wir nicht durch die Hoff— 
nungen und durch die Leiſtungen jener eitlen und betrüglichen 
Kunſt dazu aufgefordert und angeleitet worden wären. Um die 
Richtigkeit einer ſolchen Ausſage gehörig zu beurtheilen, muß 
man vor allem das Intereſſe zu ſchätzen wiſſen, das der Menſch 
an rein ſpeculativen Wahrheiten und an den reellen Verbeſſerun— 
gen fühlt, zu welchen jene führen können. Seit dem Untergange 
der Alchemie und dem Aufleben der wahren Chemie waren dieſe 
Intereſſen mächtig genug, eine viel größere und eifrigere Anzahl 
von Männern für die letzte Wiſſenſchaft zu gewinnen, als dieß 
bei der erſten je der Fall geweſen iſt. Wir ſehen keinen Grund, 


280 Myſticismus des Mittelalters. 


warum der Erfolg weniger glänzend hätte ſeyn ſollen, wenn die 
wahre Chemie noch früher entſtanden wäre. Die Aſtronomie 
wurde lange Zeit ohne Hülfe der Aſtrologie cultivirt. Vielleicht 
aber läßt ſich die Sache auch ſo darſtellen. — In jener langen 
Stillſtandsperiode war der menſchliche Geiſt ſo geſchwächt und 
herabgewürdigt, daß eine reine ſpeculative Wahrheit nicht mehr 
ihre volle Kraft auf ihn ausüben konnte, und die myſtiſchen Be— 
ſtrebungen, wo man bloß nach dunklen und entſtellten Bildern der 
Wahrheit ſo eifrig jagte, mögen mit zu jenen Vorherbeſtimmun— 
gen gezählt werden, durch welche der menſchliche Geiſt, ſelbſt in 
ſeiner tiefſten Verſunkenheit, immer noch zu etwas Edlerem geleitet 
wird, das hoch über der Sinnlichkeit und der gemeinen Leiden— 
ſchaft liegt; ſie mögen mit in dem großen Plane der Erziehung 
des Menſchengeſchlechts gelegen haben, die den Mangel an in— 
tellectueller Kraft des Geſchlechts durch andere analoge Gaben 
zu erſetzen ſuchte 57). 


32) Wie die Alchemie, nachdem ſie einmal weiter ausgebildet war, ihre 
eigene Sprache hatte, ſo hatten auch die verſchiedenen Grade ihrer 
Verehrer eigene Titel. Die Inhaber der Wiſſenſchaft wurden 
Weiſe genannt; die dem wahren Lichte Nachſtrebenden hießen 
Philoſophea; die Meiſter der Kunſt Adepten, und die Jün— 
ger derſelben Alchemiſten. Ihre Kunſtſprache beſtand größten— 
theils in Bildern und Gleichniſſen, und ſie wurde unter ihnen 
auch deßwegen beſonders cultivirt, um ihre Kenntniſſe vor den 
Fremden geheim zu halten. Als den erſten Gründer ihrer Wiſſen— 
ſchaft rühmten ſie den Hermes, Sohn des Anubis in Aegypten, 
von dem ſie viele magiſche und alchemiſtiſche Bücher aufwieſen, 
die aber natürlich alle in viel ſpäteren Zeiten entſtanden ſind. Deß— 
halb wurde ihre Kunſt auch die hermetiſche genannt. In der 
Folge verbreitete ſich die Luſt zu dieſen myſtiſchen Künſten beſon— 
ders unter den Römern, die ihres großen Reichthums ungeachtet 
immer noch nach größerem verlangten. Schon Caligula ſtellte Ver— 
ſuche an, aus Operment Gold zu machen. Diocletian hingegen 
befahl, alle ägyptiſchen Bücher über die Magie zu verbrennen, in 
der Beſorgniß, wie es in dem Edicte hieß, daß ſonſt die Römer 
durch den Reichthum, den fie aus dieſen Künſten ziehen, zu be 
ſtändigen Empörungen gegen das Reich gereizt werden. Es iſt 
aber wahrſcheinlicher, daß ſein geſunder Sinn die Thorheit dieſer 
Unternehmungen anerkannt hatte, da er ſonſt dieſe alchemiſtiſchen 


Operationen zum Vortheile feines Staatsſchatzes angewendet — 


Myſticismus des Mittelalters. 281 


5) Magie. 


Die magiſchen Künſte, ſo weit ſie von denen, die ſie aus— 
übten, geglaubt werden und auf die Wiſſenſchaft ſelbſt Einfluß 
haben konnten, ſtehen mit der Aſtrologie auf demſelben Boden, 
wie denn auch dieſe beiden Doctrinen immer in enger Freund— 
ſchaft gelebt haben. Unfähigkeit und Abneigung, die natürlichen 
und philoſophiſchen Urſachen der Erſcheinungen aufzuſuchen, und 
der Glaube an bloß geiſtige und übernatürliche Verbindungen 


haben würde. Zu ſeiner Zeit ſcheinen die meiſten zwar alten alche— 
myſtiſchen Bücher entſtanden zu ſeyn, die man dem Pythagoras, 
Salomon, Demokrit u. ſ. w. zuſchrieb, die aber wohl meiſtens 
nur ägyptiſche Mönche und ſophiſtiſche Einſiedler zu ihren Verfaſſern 
hatten. Die alten Griechen ſchenkten dieſen Dingen wenig oder 
keine Aufmerkſamkeit. Die Römer ſcheinen erſt durch die Erobe— 
rung Aegyptens darauf aufmerkſam geworden zu ſeyn. Von eben 
daher kamen ſie auch im ſiebenten Jahrhundert zu den Arabern, die 
fie fpäter nach Spanien und von da über ganz Europa verbreiteten. 
(M. ſ. die Werke des La Mothe le Vayer. Vol. I. S. 327 u. f.) 
Im Mittelalter wurde die Alchemie beſonders von den Mönchen 
getrieben, daher ſie auch ſpäterhin von den Päbſten verboten wurde, 
obſchon ſelbſt einer von ihnen, Johann XXII., viel Geſchmack daran 
gefunden hatte. Im vierzehnten Jahrhundert war Raymund Lully 
(von dem bald näher geſprochen werden ſoll) einer der berühmteſten 
Alchemiſten. Von ihm wird erzählt, daß er bei ſeiner Anweſenheit 
in London für den König Eduard J. eine Maſſe von 50,000 Pfund 
Queckſilber in Gold verwandelt habe, aus welchem Golde dann 
die erſten Roſenobel geprägt worden ſeyn ſollen. Dieſe Verwand— 
lung der ſogenannten unedleren Metalle in edlere wurde ſpäter 
der vorzüglichſte, wo nicht der einzige Zweck der Alchemiſten, und 
das Mittel, welches ſie dazu erfunden haben wollten, ſollte zugleich 
als eine Univerſalmedizin dienen, allen Krankheitsſtoff aus dem 
Körper zu entfernen und das menſchliche Leben zu erhalten. Dieſes 
Mittel wurde von ihnen der Stein der Weiſen, Lapis philosopho— 
rum, das große Magiſterium, die rothe Tinctur, das große Elixir 
genannt, und durch daſſelbe ſollten zugleich alle Metalle in Gold ver— 
wandelt werden können. Ein anderes Mittel, die unedleren Metalle 
in Silber zu verwandeln, hieß der Stein der zweiten Ordnung 
oder das kleine Magiſterium, oder auch die weiße Tinctur. M. f. 
Schmieders Geſchichte der Alchemie. Halle 1832. L. 


282 Myſticismus des Mittelalters. 


dieſer Erſcheinungen, dieß ſind die beiden Elemente von dieſer, 
und von jeder anderen Gattung des Myſticismus. So iſt auch 
der Hang, der den Menſchen zur Annahme jenes eingebildeten 
Anſehens der Magie über die Elemente verleitete, nur wieder 
ein neues Beiſpiel von jener unſeligen Gedankenrichtung, die 
den Fortgang aller reellen Wiſſenſchaft während der Zeit des 
Mittelalters, und die alle Erhebung des Geiſtes über die äußeren 
Erſcheinungen gehindert hat, durch welche allein die wahre Wiſ— 
ſenſchaft begründet werden kann. 

Doch gibt es noch einen andern Standpunkt, aus welchem 
dieſer Gegenſtand in Beziehung auf den geiſtigen Charakter jener 
Periode betrachtet werden kann. 

Der Hang dieſer Zeit, alle durch practiſche Kenntniſſe oder 
Geiſtesſtärke ausgezeichnete Perſonen für Magier zu erklären, 
zeigt uns, wie ausgedehnt, wie vollſtändig die Unfähigkeit dieſer 
Periode geweſen ſeyn muß, das Weſen einer wahren, reellen 
Wiſſenſchaft zu begreifen. In aufgeklärten und erleuchteten Zei— 
ten, wie in denen des alten Griechenlands oder des neuern Eu— 
ropa's, wird Erkenntniß jeder Art von allen, auch von denen 
gewünſcht und anerkannt, die ſie ſelbſt am wenigſten beſitzen; 
aber in den Tagen der Finſterniß und der geiſtigen Unterjochung 
iſt wahre Wiſſenſchaft die Zielſcheibe des Haſſes, der Furcht und 
der Verfolgung. Dort iſt das Auge des Menſchen offen, ſeine 
Gedanken ſind klar, und wie ſehr ſich auch der Denker über die 
übrige Menge erheben mag, die letzte hat doch immer einen Schim— 
mer von ſeiner lichten Bahn, ſie ſieht dieſe Bahn für alle geöffnet, 
und Ruhm und Ehre iſt auch für dieſe Menge der Lohn des 
Fleißes und der Kraft. Hier aber iſt der große Haufen nicht 
bloß unwiſſend, ſondern auch geiſtlos; er hat alle Luſt an Er— 
kenntniß jeder Art, allen Wunſch nach ihr und alles Gefühl für 
die Würde derſelben verloren, und zwiſchen ihr und dem weiſeren 
Manne gibt es keine Verbindung mehr. Er ſieht ihn wohl über 
ſich, aber er weiß nicht, wie er zu dieſer Höhe gekommen iſt, 
noch wie er ſich auf ihr erhält; ja dieſer höher geſtellte Mann 
wird am Ende für ihn ein Gegenſtand des Widerwillens oder 
der Abneigung, des Verdachtes und der Furcht, und dieſe An— 
ſichten werden durch die Einbildungen des Aberglaubens noch be— 
ſtätigt und verſtärkt. Jede höhere Kenntniß galt als Magie, und 
die. Magie als eine gottloſe und verbrecheriſche Kunſt zu betrach— 


Myſticismus des Mittelalters. 283 


ten, darauf führte jene Abneigung gegen alles Große und Un— 
gewöhnliche gleichſam von ſelbſt, und ſo entſtand jene merkwürdige 
Zeit in der Geſchichte, wo beinahe Jedermann, der einen ausge— 
zeichneten wiſſenſchaftlichen Namen erworben hatte, ebendeßwegen 
auch für einen Magiker, für einen Zauberer oder Schwarzkünſtler 
gelten mußte. Naudäus, ein gelehrter Franzoſe im ſiebzehnten 
Jahrhundert, ſchrieb eine „Apologie aller Gelehrten, die ungerech— 
ter Weiſe für Magiker gehalten wurden.“ Das große Verzeichniß 
aller derer, die er in ſeinen Schutz zu nehmen hatte, wurde aus 
allen Ständen und Altern gewählt. Alkindi, Geber, Artephius, 
Thebit, Raymund Lully, Arnold von Brescia, Peter von Apono, 
Paracelſus und viele andere waren dem Verdachte der Zauberei 
und der Schwarzkunſt ausgeſetzt geweſen. Selbſt Thomas von 
Aquino, Roger Bacon, Michael Scott, Pico von Mirandola und 
Trithemites konnten, obſchon dem Prieſterſtande angehörend, jenem 
Verdachte nicht entgehen. Selbſt hohe Würdenträger der Kirche 
wurden in dieſe weitverbreitete Verketzerung verwickelt, wie Ro— 
bert Grostete, Biſchof von Lincoln, Albert der Große, Biſchof 
von Regensburg, und die Päbſte Sylveſter II. und Gregor VII. 
Und auf dieſelbe Weiſe, wie der gemeine Haufe große Kenntniß 
und ausgezeichnete Gelehrſamkeit zu ſeiner eigenen Zeit mit der 
Geſchicklichkeit in jenen finſtern und übernatürlichen Künſten ver— 
mengte, ſo wußte er auch die beſten und edelſten Männer der 
Vorwelt in Zauberer und Hexenmeiſter zu verwandeln, wie Ari— 
ſtoteles, Salomon, Joſeph, Pythagoras, und endlich auch den 
Dichter Virgilius, der ebenfalls für einen ſehr mächtigen und 
geſchickten Nekromanten gehalten wurde, wie aus gar manchen 
Hiftorien von feinen wundervollen Thaten und Kunſten hervor: 
gehen ſollte 3). 

33) Die Volksſage des Mittelalters hat den großen römiſchen Dichter 
Virgilius zu einen Zauberer gemacht, und ſeine Verſe wurden 
zu prophetiſchen und anderen myſtiſchen Zwecken als Looſe gebraucht. 
(Sortes Virgilianae.) Seine vierte Ecloge wurde ſchon zu Kaiſer 
Conſtantins Zeit als eine Prophezeihung der nahen Ankunft des 
Meſſias angeſehen. (Gibbon, Cap. XX.) — Von den im Texte 
genannten und einigen anderen, der Zauberei verdächtigen Mannern 
wird hier eine kurze Erwähnung nicht am unrechten Orte ſeyn. — 
Zuerſt gedenken wir des Namensverwandten des eben angeführten 
römiſchen Dichters, des Virgilius, Biſchofs von Salzburg. Er 


284 Myſticismus des Mittelalters. 


Dieſe verſchiedenen Formen des Myſticismus bilden einen 
hervorſtechenden Charakterzug in dem Gemälde der geiſtigen Welt 


wurde viele Jahre durch als ein Zauberer gefürchtet, bis ihn endlich 
der Biſchof von Metz als einen Ketzer des Scheiterhaufens würdig 
erklärte, weil er an die Antipoden glaube. — Geber, der erſte 
Chemiker oder Alchemiſt unter den Arabern, lebte im achten Jahr— 
hundert. In feinen Werken ſoll fchon die Bereitung des Queck— 
ſilbers gelehrt worden ſeyn. — Raymund Lully oder Lullus war 
aus einem alten Geſchlechte in Palma auf der Inſel Majorca im 
Jahr 1234 geboren. In ſeinen Jünglingsjahren pflegte er der 
ausſchweifendſten Liebe gegen das andere Geſchlecht; ſpäter wurde 
er durch übernatürliche Viſionen geiſtigen Contemplationen zu— 
gewendet. Er ſpielte mehrere Jahre durch den Pilger im Orient, 
wo er als Miſſionär die Türken zu bekehren ſuchte. Seine Ab» 
ſicht, ſelbſt der Stifter eines neuen Mönchsordens zu werden, 
konnte er nicht erreichen, obſchon er ſich, als Vorbereitung zu 
dieſem Geſchaͤfte, mehrere Jahre als Einſiedler in der Wüſte auf— 
gehalten hatte. Später lehrte er, was er ſeine Philoſophie nannte, 
in Rom ſowohl, als auch in Paris. Nachdem er ſich in ſeine 
Spitzfindigkeiten ſo tief hineinſtudirt hatte, daß er endlich glaubte, 
die Geheimniſſe der Incarnation u. f. durch gewöhnliche natürliche 
Gründe beweiſen zu können, ging er, da er bei ſeinen Landsleuten 
keine Neigung für ſolche Beweiſe fand, wieder zu den Mahome— 
danern, und zwar (i. J. 1295) nach Tunis, wo er die gelehrteſten 
Imans dieſer Stadt zu einer theologiſchen Diſputation aufforderte, 
durch welche er ſie alle für ſeine Anſichten zu gewinnen hoffte. 
Ein gemeiner Fakir verrieth ihn dem König, und Lully ſollte ent— 
hauptet werden. Er wurde des Landes verwieſen, mit der Dro— 
hung, wenn er wieder kommen ſollte, geſteiniget zu werden. Von 
da wandte er ſich wieder an Päbſte und Concilien, um vielleicht 
dieſe für ſeine Anſichten zu gewinnen. Nachdem er ſich lange ver— 
gebens abgemüht hatte, ging er, ein Greis von 80 Jahren, wieder 
nach Tunis zurück, wo er nach einer Predigt auf dem großen 
Platze Bugia von dem wüthenden Pöbel geſteiniget wurde. Sein 
vorzüglichſtes Werk iſt die Ars major seu generalis, das er zur 
Widerlegung des Islams geſchrieben hat. Sonſt haben wir noch 
von ihm verſchiedene Schriften, aus deren Titel man ſchon ihren 
Werth und Inhalt ſehen kann: De Forma Dei; de Convenientia 
fidei et intellectus in objecto; de substantia et accidente, in quo 
probatur Trinitas; de Trinitate in Unitate sive de Essentia Dei: 
de Ente infinito; de Ente absoluto; de Incarnatione; de Praede- 
stinatione u. dergl. M. ſ. Fleury Hist. Eecles. Vol. 18 und 19. 


Myſticismus des Mittelalters. 285 


durch eine lange Reihe von Jahrhunderten. Die Theoſophie und 
die Theurgie der Neuplatoniker, die myſtiſche Arithmetik der 


Seine Opera omnia hat Yvo Salzinger, Mainz 1722, herausgege— 
ben. — Arnold von Brescia, einer der ausgezeichnetſten Män— 
ner des zwölften Jahrhunderts, ſtudirte zu Paris unter Abä— 
lard, und kehrte 1136 voll neuer Ideen in feine Vaterſtadt zurück, 
wo er durch ſeine Strafreden das Volk gegen die Geiſtlichkeit auf— 
regte. Er wurde von Innocenz II. in den Bann gethan, floh nach 
der Schweiz, und kehrte im Jahr 1144 nach Rom zurück, wo er 
ſeine Predigten wieder vornahm. Da ihn Volk und Senat be— 
ſchützte, fo widerſtand er ſelbſt dem Pabſte Anaſtaſius IV., und 
ſeine römiſche Herrſchaft, denn ſo kann ſie genannt werden, dauerte 
zehn Jahre, bis endlich Adrian IV. mit Hülfe des Kaiſers Fried— 
richs Barbaroſſa den kühnen Gegner bändigte. Er wurde gefangen 
genommen (1155), als Ketzer und Zauberer lebendig verbrannt, 
und feine Aſche in die Tiber geworfen. M. ſ. Gibbon. Cap. 69. — 
Peter von Apono, ein berühmter Arzt im Anfange des vier— 
zehnten Jahrhunderts, lebte in Venedig in großem Anſehen, wo 
er zugleich für einen großen Aſtronomen galt, obwohl er ſich nur 
mit Aſtrologie und Alchemie, und zwar mit ſo weniger Umſicht 
beſchäftigte, daß er 1316 als ein Zauberer in efligie verbrannt 
wurde, denn er ſelbſt entfloh und ſtarb bald darauf i. J. 1320. 
Wir haben von ihm noch eine Schrift über das Aftrolabium. — 
Paracelſus oder Theophraſtus Paracelſus von Hohenheim, auch 
Bombaſtus genannt, wurde gegen 1490 im Kanton Schwyz ge— 
boren. Er wurde von ſeinem Lehrer, dem berühmten Chemiker 
Trithemius, Abt von Spanheim, und von dem großen Labo— 
ranten Sigismund Fugger in die Geheimniſſe der Alchemie einge— 
weiht. Er durchreiste ſpäter den größten Theil Europa's als 
Arzt und Chemiker, wo er ſich durch glückliche Kuren bald einen 
ſehr großen Namen gemacht hatte. Um das Jahr 1527 wurde er 
Profeſſor der Medicin in Baſel, wo er ſich gegen die Werke des 
Galen und Avicenna erklärte, die er auch öffentlich verbrannte, 
aber dafür die des Hippokrates in ſeinen Schutz nahm. Mit 
lächerlichem Stolze maßte er ſich die Alleinherrſchaft in der Me— 
dizin an. Nachdem er mit dem Magiſtrate von Baſel ſich ſatt ge— 
ſtritten hatte, zog er wieder als Arzt in Deutſchland herum, wo 
er auch i. J. 1541 zu Salzburg ſtarb. Er ſtand noch lange nach 
feinem Tode in großem Anſehen als Arzt, Alchemiſt, Aſtrolog und 
Theoſoph, fo wie auch als Magiker und Geomant. Seine vor: 
züglichſten fixen Ideen waren die unmittelbare Emanation des 
Menſchen von Gott, der Einfluß der Geſtirne auf den menſchlichen 


286 Myſticismus des Mittelalters. 


Pythagoräer und ihrer Nachfolger, die Prophezeihungen der Aſtro— 
logen, und endlich die excentriſchen Anſprüche der Magie und Alche— 
mie ſtellen nicht unangemeſſen die verſchiedenen Verzweigungen jenes 
allgemeinen Hangs zum Myſticismus dar, zu welchem ſich die 
Philoſophie und die Wiſſenſchaft überhaupt hinneigte. Allerdings 


Körper, und der Stein der Weiſen. Er ſuchte die Kabbala auf 
die Medizin anzuwenden. Unter den von ihm eingeführten Arz— 
neien ſtand das Opium obenan. Gegen die Syphilis ſoll er der 
erſte den Mercur angewendet haben. Die vollſtändigſte Ausgabe 
feiner Werke erſchien zu Genf, 1658, II. Vol. in Fol. — Thomas 
Aquinas, Roger Bacon und Albert der Große wird an anderen 
Orten dieſes Werkes beſprochen. — Pico von Mirandola, 
Graf, einer der gelehrteſten und zugleich ſonderbarſten Menſchen, 
geb. 1463, mit ungewöhnlichen Talenten, beſonders einem großen 
Gedächtniß begabt, der i. J. 1486 an den Kirchenthurm Roms 900 
Theſen aus allen Wiſſenſchaften anſchlug, über die er mit jedem Ge— 
lehrten, in jeder Sprache und in jedem beliebigen Versmaße zu diſpu— 
tiren ſich anbot. Niemand wagte zu erſcheinen, aber dafür machte man 
die Rechtgläubigkeit ſeiner Theſen verdächtig, worauf ſein gelehrtes 
Werk „Apologja“ erſchien. Er befolgte die ſtrengſte Lebensweiſe, um 
ſich ganz den Wiſſenſchaften widmen zu können. Sein Heptaplus ift 
eine myſtiſche Auslegung der Schöpfungsgeſchichte. Der Hauptzweck 
ſeines Lebens war die Vereinigung des Plato mit Ariſtoteles. Er 
lebte mit den berühmteſten und mächtigſten Männern ſeiner Zeit in 
vertraulichen Verhältniſſen und ſtarb 1494 auf feinem Landgute bei 
Florenz, das ihm Lorenzo von Medici geſchenkt hatte. Von feinen Zeit— 
genoſſen wird er als ein Wunder von Genie und Gelehrſamkeit ge— 
prieſen. Er war ein Gegner der Aſtrologie, aber demungeachtet 
dem Myſticismus zugethan. — Robert Grosteſte oder Gros— 
tete, Lehrer der Philoſophie zu Paris und Oxford, Biſchof von 
Lincoln (+ 1253), Ueberſetzer mehrerer ariſtoteliſcher Schriften, 
und Verfaſſer eines Compendiums der Phyſik und mehrerer Ab: 
handlungen über die freien Künſte. — Gerbert oder Sylveſter II., 
wie er als Pabſt genannt wurde, ſtarb 1003 mit dem Ruhme 
eines der gelehrteſten Männer ſeiner Zeit. Sein Gegner, der 
Biſchof Otto, verſicherte ganz ernſthaft, daß Gerbert ſeine hohe 
Stelle nur ſeinem Bunde mit dem böſen Feinde zu danken habe. — 
Gregor VII. oder Hildebrand, ſtarb 1088, einer der größten 
Päbſte, durch ſeinen Kampf mit Heinrich IV., durch ſeine Gebote 
über Simonie und Prieſterehe, und durch ſein Bündniß mit der 
Gräfin Mathilde von Toscana bekannt. M. ſ. Voigts Hildebrand 
und ſein Zeitalter. Weimar, 1815, II. Vol. L. 


Myſticismus des Mittelalters. 287 


gab es in dieſer langen Zeit auch einige ſtärkere Geiſter, welche ſich 
von der Laſt dieſer Ketten von dieſen grundloſen und trügeriſchen 
Einbildungen mehr oder weniger befreiten, aber auf der andern 
Seite drang der Myſticismus unter der großen, gedankenloſen 
Menge, die er völlig feſſelte, bis zu Extremen vor, von denen 
wir uns jetzt kaum eine Vorſtellung machen können. Im All— 
gemeinen ſehen wir aus dem Vorhergehenden, daß während dem 
Mittelalter der Myſticismus in allen ſeinen Geſtalten das lei— 
tende Princip der Geiſter war, des gewöhnlichen Menſchen im Volke 
ſowohl, als auch der meiſten von den ausgezeichnetſten Weiſen 
und Gelehrten. In dieſer langen Zeit fehlten größtentheils alle 
klaren Begriffe von den Gegenſtänden außer uns, ſo wie alle An— 
Anwendungen dieſer Begriffe auf eigentliche Beobachtungen. Die 
Gedanken der Menſchen waren unſtet und ſchwankend, und ſie 
wurden nicht von dem ruhigen Verſtande, ſondern nur von einer 
krankhaft aufgeregten Phantaſie aufgenommen und fortgeführt. 
An die Stelle der eigenen Forſchung war fremde Autorität, war 
ein unbegrenzter Glaube an dieſe Autorität getreten. Die auf 
ſolchem Wege erhaltenen Anſichten konnten aber keinen dauern— 
den Werth haben; ſie konnten weder zur ſicheren Erhaltung der 
alten, noch zur Erwerbung von neuen Wahrheiten geeignet ſeyn. 
Umſonſt mochte die Erfahrung ihre Schätze und Vorräthe auf— 
häufen. Da ſie alle nur in dem loſen Schleyer des Myſticismus 
aufbewahrt werden ſollten, und da die Augen aller Menſchen 
nur auf jene übernatürlichen Schätze gerichtet waren, die von 
den Wolken des Himmels zu ihnen herniederſteigen ſollten, ſo 
achteten ſie wenig oder überſahen auch ganz alle diejenigen Reich— 
thümer, mit welchen uns die Natur auf der Erde ſelbſt zunächſt 
umgeben hat. 


288 Dogmatismus des Mittelalters. 


Viertes Capitel. 
Dogmatismus des Mittelalters. 


Indem wir in dem Vorhergehenden von dem Geiſte der 
Commentatoren ſprachen, ſo machten wir vorzüglich aufmerkſam 
auf die eigenthümliche ſinnreiche Servilität, mit welcher ſich dieſer 
Geiſt entfaltete, auf die Spitzfindigkeit, mit welcher er die Ge— 
danken der Andern durchwühlte, und auf den Mangel aller 
kräftigen Erzeugung von eigenen, neuen und reellen Wahrhei— 
ten. Dieß war in der That der Charakter der Commentatoren 
im Anfang des Mittelalters, allein in den ſpäteren Zeiten erlitt 
er, aus mehreren Urſachen, verſchiedene Aenderungen. Dieſelbe 
Servilität, die ſich ſelbſt dem fremden Joche unterworfen hatte, 
beſtand jetzt auch darauf, dieſes Joch auf den Nacken der An— 
dern zu legen; dieſelbe Spitzfindigkeit, die alle Wahrheiten, 
deren ſie eben bedurfte, in einigen von ihr ſelbſt beglaubigten 
Büchern gefunden hatte, beſchloß nun auch, und zwar in perem— 
toriſcher Form, daß Niemand in dieſen oder auch in allen übri— 
gen Büchern eine andere Wahrheit finden ſollte; und ſo gingen 
jene feinſpeculirenden Wortphiloſophen in förmliche Tyrannen 
über, ohne deßhalb aufzuhören, Sklaven zu ſeyn, oder, mit einem 
Worte, die Commentatoren wurden Dogmatiker. 


1) Urſprung der ſcholaſtiſchen Philoſophie. 


Die Urſachen dieſer merkwürdigen Veränderungen haben 
mehrere neuere Schriftſteller ſehr gut auseinander geſetzt !). Wir 
wollen hier den Fortgang derſelben in Kürze verzeichnen. 

Der Hang der Römer in den letzten Zeiten ihres Reiches 
zu einer bloß commentatoriſchen Literatur und zu einer bloß 
nachbetenden Philoſophie iſt bereits oben beſprochen worden. Der 
Verluſt ihrer bürgerlichen Freiheit, der Mangel jener aus Wohl— 
ſtand entſtehenden Heiterkeit, und ſelbſt die Subſtitution der un— 
philoſophiſchen lateiniſchen Sprache an die Stelle der verftändig 


1) Dr. Hampden in feiner Biographie des Thomas Aquinas (Eney— 
elop. Metrop.); Degerando in feinen Hist. Comparee. Vol. IV. und 
Tennemanns Geſch. der Philoſ. Vol. VIII. Einleitung. 


Dogmatismus des Mittelalters. 289 


und fein gegliederten griechiſchen Sprache, alles dieß trug dazu 
bei, die bereits vorherrſchende Schwäche und Trockenheit des 
Geiſtes immer mehr zu vergrößern. Die Menſchen jener Zeit 
hatten entweder ganz vergeſſen, oder ſie wagten es nicht mehr, die 
Natur ſelbſt zu befragen, mit eigenen Händen nach neuen Wahr— 
heiten zu ſuchen, und überhaupt das zu thun, was jene großen 
Männer der Vorzeit gethan haben: fie waren ſchon zufrieden, 
ihre Bücher um Rath fragen, fremde und veraltete Meinungen 
ſtudieren, erklären und vertheidigen, und von dem, was andere 
vor ihnen geleiſtet haben, wenigſtens ſprechen zu können. Sie 
ſuchten ihre Philoſophie nur in denjenigen Büchern, die einmal 
als die beſten angenommen waren, und ſie wagten es nicht, 
ähnliche, aber neue Fragen, wie in eben dieſen Büchern ge— 
ſchehen war, ſich ſelbſt vorzulegen. 

Dieſer gänzliche Mangel an Muth und Originalität bezeich— 
nete denn auch die Philoſophie, zu der ſie auf ſolchem Wege ge— 
langten. Es gibt mehrere einander ſcheinbar entgegengeſetzte 
Principien, auf welche ſich die Meinungen der Menſchen grün— 
den, die aber alle ihre Wurzeln in der intellectuellen Conſtitution 
derſelben haben, und die, wenn einmal der Geiſt in eine höhere 
Thätigkeit verſetzt wird, ſelbſt von den entgegengeſetzteſten Par— 
theien und Secten ergriffen und benützt zu werden pflegen. Hieher 
gehört z. B. das Berufen auf eine höhere Autorität der Anderen oder 
auch wohl auf eigene höhere Einſicht; die Aufſuchung der Quelle 
unſerer Erkenntniß in der Erfahrung oder auch in bloßen Begriffen; 
das Anſehen, welches man durch eine myſtiſche oder auch durch 
eine ſkeptiſche Wendung ſeines Vortrags gewinnt u. ſ. w. Solche 
Gegenſätze finden ſich oft genug in den Vorträgen der größten 
Schriftſteller, und beſonders zwei von dieſen, Plato und Ariſto— 
teles, waren in dieſer Beziehung, obſchon fie beide nach dem— 
ſelben Ziele ſtrebten, doch ſehr verſchieden in den Mitteln, welche 
ſie dazu in Bewegung ſetzten. Wir haben bereits oben der 
Bemühungen erwähnt, die ſich Boethius und andere gegeben 
haben, dieſe beiden großen Philoſophen des Alterthums zu einer 
Art von Vereinigung zu bringen. Man kann auch dieſe 
Verſuche ſo fern wenigſtens als gelungen anſehen, als ſie in 
dem Gemüthe der Menſchen den feſten Glauben an die Möglich— 


keit eines philoſophiſchen Syſtems zurückgelaſſen Pa das auf 
Whewell. J. 


290 Dogmatismus des Mittelalters. 


dieſen beiden Männern erbaut werden und des Beifalls aller 
denkenden Menſchen ſich erfreuen ſollte. 

Allein während dieſer Glaube ſich nach und nach entwickelte, 
bemächtigte ſich noch ein anderer, mit viel größerer Kraft, des 
menſchlichen Geiſtes. Die chriſtliche Religion wurde allmählig 
das leitende Princip alles Denkens, und die erſten großen Lehrer 
der neuen Kirche verkündigten dieſe Religion nicht bloß als die 
einzige Führerin des Menſchen durch ſein Leben, nicht bloß als 
das beſte Mittel der Ausſöhnung deſſelben mit den himmliſchen 
Mächten, ſondern auch zugleich als die einzige Philoſophie im 
weiteſten Sinne des Wortes, als eine in ſich ſelbſt beſtehende 
ſpeculative Wiſſenſchaft von der Beſtimmung und Natur des 
Menſchen ſowohl, als auch von der Welt, in die er geſetzt 
worden iſt. 

Dieſe Anforderungen jener erſten Kirchenväter wurden auch 
ſogleich allgemein und willig anerkannt. Der Gegenſtand des 
reinen, mit Vertrauen einer höheren Macht ſich hingebenden Glau— 
bens war ſeitdem zugleich ein Gegenſtand ſpeculativer Wiſſenſchaft 
geworden. Unglücklicherweiſe aber wurde bei dieſer Erhebung des 
Glaubens zur Wiſſenſchaft nicht bedacht, daß die letzte ohne Hülfe 
von eigentlichen Beobachtungen nicht beſtehen kann, und daß der 
Verſtand, auf dem Felde der Wiſſenſchaft, doch nur mit dieſen Beob— 
achtungen zu thun hat, durch die allein die Errichtung eines eigent— 
lich wiſſenſchaftlichen Syſtems möglich wird. Es wurde ferner ohne 
weiteres angenommen und feſtgeſetzt, daß diejenige Philoſophie, die 
den Menſchen durch jene großen Denker des Heidenthums zugekom— 
men war, identiſch mit der ſey, die unmittelbar aus den Offen— 
barungen folge, die Gott ſelbſt dieſen Menſchen gegeben hat, 
und daß demnach die Theologie auch zugleich die einzig wahre Phi— 
ſoſophie ſeyn müſſe. In der That waren auch ſchon die Neupla— 
toniker, obſchon auf anderen Wegen, zu derſelben Anſicht ge— 
langt. Johannes Scotus Erigena ), der unter der Regierung 


2) Johannes Scotus Erigena, einer der gelehrteſten und ſcharfſinnigſten 
Männer, war im neunten Jahrhundert in Irland geboren. Von 
Karl dem Kahlen an den franzöſiſchen Hof berufen, lebte er 
daſelbſt längere Zeit, bis er ketzeriſcher Meinungen wegen Frank— 
reich verlaſſen mußte. Er wurde von Alfred dem Großen nach 
Oxford gerufen, wo er i. J. 886 ftarb. Seine Philoſophie ſchloß 


Dogmatismus des Mittelalters. 291 


Alfreds im neunten Jahrhundert in England, alſo noch vor der 
Exiſtenz der ſcholaſtiſchen Philoſophie, lebte, hatte bereits dieſelbe 
Lehre zu der feinigen gemacht: Anſelmus ) aber hatte fie im 


ſich an die Neuplatoniſche an, hatte jedoch viel Eigenthümliches. 
Wir haben von ihm eine Ueberſetzung des Dionyſius Areopagita, 
der die Hauptquelle der myſtiſchen Anſichten des Mittelalters ge— 
worden iſt. Für ſeine vorzüglichſte Arbeit wird die Schrift de 
divisione naturae gehalten. Er nahm eifrigen Antheil an den 
Streitigkeiten des Paſchaſius Radbertus, Abtes zu Corbie; des 
berühmten Hinkmar, Erzbiſchofs von Rheims, und des Godeſchalk, 
Mönchs zu Fulda, über die Lehre von der Transſubſtantiation und 
Prädeſtination, worin er ſich als einen weit über ſein Zeitalter 
erhabenen Mann zeigte. Seine religiös-philoſophiſchen Anſichten 
neigten ſich zu denen des Pelagianismus, welche Lehre der eng— 
liſche Mönch Pelagius im fünften Jahrhundert gegründet hatte. 
Daß er nicht, wie ſein armer Gegner, der oben erwähnte Gode— 
ſchalk oder Gottſchalk, verfolgt wurde, verdankte er wohl ſeiner 
Freundſchaft der Großen, mit denen er auf einem ſehr vertraulichen 
Fuße umgegangen zu ſeyn ſcheint, wie folgende Anecdote bezeugen 
kann. Als er einmal an dem Tiſche Karls des Kahlen, wo er für 
einen Schotten galt, ihm gegenüber ſaß, und der König, vom 
Weine aufgeregt, ſeinen Witz über das für einen Franzoſen unbe— 
holfene Weſen des Philoſophen glänzen laſſen wollte, fragte er 
denſelben: Amice, die mihi, quid distat inter Sottum (Tölpel) et 
Scotum? — „Latitudo hujus tabulae“ „die Breite dieſes Tiſches“ 
antwortete Erigena, und der König dachte groß genug, die Replik 
hinzunehmen. M. ſ. Baronius, Annales Eeclesiastici und Fleury 
Hist. Weclesiastique. L. 


3) Anſelmus wurde zu Aoſta in Piemont, i. J. 1034 geboren. Im 


Jahre 1093 wurde er Erzbiſchof von Canterbury in England, 
wohin ihn ſein Vorgänger in dieſem Biſchofſitze, der berühmte 
Lanfranc, gezogen hatte. Anſelmus iſt einer der ausgezeichnetſten 
Religionsphiloſophen des Mittelalters. Ihm wird die Erfindung des 
ontologiſchen Beweiſes von dem Dafeyn Gottes zugeſchrieben, nach 
welchem die Exiſtenz deſſelben ſchon die unmittelbare Folge des Be: 
griffs eines höchſten und vollkommenſten Weſens ſeyn ſoll. In ſeinen 
Jünglingsjahren lebte er fo ausſchweifend, daß er feinem Vater 
Gondulf mit Entſagung auf ſein künftiges Erbe entfliehen mußte. 
Er ging nach Frankreich, wo er i. J. 1060 in ein Klofter zu Bee 
trat, zu deſſen Abt er 1078 erwählt wurde. Er erhob dieſes 
Klofter zu einer für lange Zeit berühmten Bildungs-Anſtalt für 
19 * 


292 Dogmatismus des Mittelalters. 


eilften und Bernard von Clairvaux ) im zwölften Jahrhun— 
dert gleichſam von Neuem wieder aufgeſtellt. 


Geiſtliche und gründete zugleich ſeinen eigenen literariſchen Ruhm 
durch mehrere Schriften, von welchen das Monologium und das 
Proſologium (Anrede an ſeinen Geiſt) die ausgezeichnetſten ſind. 
Er ſtarb 1109, in einem Alter von 75 Jahren. Seine Biographie 
von Cadmerus de Vila Anselmi, iſt den Werken Anſelms in den 
Ausgaben des Gerberon, 1721, beigedruckt. Sein ganzes Streben 
war dahin gerichtet, die Grundwahrheiten der chriſtlichen Religion 
bloß aus der Vernunft zu beweiſen, und durch Vernunftſchlüſſe 
das Glauben in Wiſſen zu verwandeln, und zu dieſem Zwecke hielt 
er die Dialektik für das geeignetſte Mittel. Dadurch legte er 
den erſten förmlichen Grund zur ſcholaſtiſchen Philoſophie, als deren 
eigentlichen Gründer ihn viele betrachten. M. ſ. Tennemann's 
Geſch. der Philoſophie. Leipzig 1810. Vol. VIII. S. 115 u. f. L. 
Bernhard von Clairvaux, vielleicht der einflußreichſte Geiſtliche des 
Mittelalters. Er war 1091 in Burgund geboren und ſtarb 1153 
als Abt von Clairvaux bei Langres. Seine Strenge gegen ſich 
ſelbſt, ſein Freimuth gegen die Großen, ſeine hinreißende Bered— 
ſamkeit und der Ruf eines Propheten machten ihn zum Orakel 
des chriſtlichen Europa's. Er beförderte vorzüglich den ſogenann— 
ten zweiten Kreuzzug des Jahrs 1146, der unter Conrad III. 
unternommen wurde, und er war es, dem man die Stillung der 
großen Verfolgung der Juden zuſchrieb, die zu ſeiner Zeit ſich 
über ganz Deutſchland und mehrere benachbarte Länder verbreitete. 
Er lehnte jede Erhebung zu höheren Würden ab, und wollte nur 
Abt ſeines Jeruſalems bleiben, wie er ſein geliebtes Clairvaux 
nannte. Er genoß die Freundſchaft und Achtung mehrerer Könige 
und Päbſte, war öfter Schiedsrichter zwiſchen Biſchöfen und 
Fürſten, und auf den Concilien wurde ſeine Stimme vor allen 
geehrt. Seine Vorliebe für das Mönchsleben war ſo groß, daß 
er nicht eher ruhte, bis er ſeinen eigenen Vater, ſeinen Onkel, 
fünf Brüder und eine Schweſter dahin gebracht hatte, in das 
Kloſter zu gehen. Nicht geringeren Eifer zeigte er auch in der Be— 
kehrung fremder Familien zum Kloſterleben, und ſo groß wurde 
endlich die Furcht vor ſeiner Bekehrungsſucht, daß die Weiber 
ihre Männer, die Mütter ihre Kinder verſteckten, ſobald er ſich 
vor einem Hauſe ſehen ließ. In dem Jahre 1113, wo er ſelbſt 
Mönch wurde, erſchien er, von dreißig durch ihn Neubekehrten 
begleitet, vor dem Thore des von dem h. Robert kurz vorher 
geſtifteten Ciſterzienſer-Kloſters. Sein Körper war durch Faſten 
und Buße abgezehrt und einer Leiche gleich, aber aus ſeinen 


4 


— 


Dogmatismus des Mittelalters. 293 


Dieſe Anſicht wurde durch die damals allgemein verbreitete 


Meinung über das Weſen aller philoſophiſchen Wahrheit überhaupt 
beſtätigt, eine Anſicht, die ſchon Plato und Ariſtoteles aufgeſtellt 
hatten, und zu deren Annahme der Menſch ſeiner Natur nach immer 
ſehr geneigt zu ſeyn ſcheint, die Annahme nämlich, daß alle 
Wiſſenſchaft bloß in dem Verſtande liege, und, daß man, durch 
bloße Analyſe oder Combination der Worte, welche uns die 
Sprache darbietet, alles das erlernen könne, was man zu wiſſen 
nöthig hat. Daher galt ihnen auch die Logik ſo viel, das ſie die— 
ſelbe weit über alle anderen Wiſſenſchaften ſtellten, wie Abälard!) 


5 


— 


Augen ſprühte das Feuer der Begeiſterung, die in ſeiner Seele 
wohnte. Von dieſem Tage zählt man das Aufblühen und den wun— 
derbar ſchnellen Fortgang dieſes neuen Mönchsordens. — Sein Cha— 
rakter war eine ſonderbare Miſchung von Stolz und Demuth. Den 
gemeinſten Handarbeiten unterzog er ſich willig, und jede Beſchwerde 
des Lebens trug er mit Ruhe und Ergebung; aber wenn es den 
Glanz oder den Nutzen der Kirche galt, war er hochmüthig, 
unbeugſam und unverſöhnlich. Mit demſelben Feuereifer zog er 
auch gegen Kaifer und Pabſt, wenn fie fein Mißfallen erregten. 
In feinem berüchtigten Streit mit Abelard begnügte er ſich nicht, 
den vermeinten Ketzer bloß zu widerlegen, er verfolgte ihn auch 
und bedeckte ihn mit den gemeinſten Schimpfworten. Er hatte 
die ſcholaſtiſche Philoſophie, wie fie in feinem Jahrhundert ihre 
größte Höhe, ihre eigentliche Reife erlangt hatte, zu wohl kennen 
gelernt, um nicht zu ſehen, welche Gefahr ſie der Kirche bereite. 
Ohne große Gelehrſamkeit, ohne eindringenden Verſtand riß er 
doch alle, die ihn umgaben, durch feine Beredſamkeit hin. Wäh— 
rend ſeinem Leben hatte er ſelbſt 72 Klöſter in Europa errichtet, 
von denen die meiſten mit Mönchen fo angefüllt waren, daß fie 
ſich in mehrere andere zertheilen mußten, ſo daß bald nach ſeinem 
Tode die urſprünglich von ihm geſtifteten Klöſter die Zahl von 
160 erreichten. L. 

Abälard, Peter, geboren 1079 in der Nähe von Nantes, geſtorben 
1142 bei Chalons an der Saone. Er hatte in Paris ſtudirt, wo 
er den berühmten Wilhelm de Champeaux hörte, deſſen Haß er 
ſich, durch ſeine Ueberlegenheit über den Meiſter, zuzog. Seitdem 
hielt er ſich an mehreren Orten flüchtig auf, verfolgt von ſeinen 
gelehrten Gegnern. Später kam er als Lehrer der Philoſophie 
nach Paris zurück, wo er den berühmten Peter Lombardus, 
Beringer, Arnold von Breſcia u. a. zu feinen Schülern hatte. 
Um das Jahr 1115 lernte er Heloiſe, die wegen ihrer Schönheit 


294 Dogmatismus des Mittelalters. 


ausdrücklich verlangte. Dieſe Anſicht war es vorzüglich, die zu 
dem Schluſſe führte, daß die theologiſche Philoſophie die einzig 
wahre, und daß ſie allein eine in ſich ſelbſt abgeſchloſſene Wiſ— 
ſenſchaft ſeyn ſoll. 

Auf dieſe Weiſe wurde alſo eine Univerſalwiſſenſchaft auf— 
geſtellt, und dieſelbe noch mit der Autorität eines religiöſen Glau— 
bens umgeben. Jene beruhte auf einer irrigen Relation des bloßen 
Wortes zur Wahrheit. Aber dieſes Irrthums ungeachtet wurde 
ſie doch von den ſervilen Geiſtern jener Zeit als Wiſſenſchaft nicht 
nur angenommen, ſondern derſelben auch zugleich eine höhere, 
und zwar eine religiöſe Weihe ertheilt. Da aber der Glaube 
innerhalb der Grenzen ſeiner eigenen Gerichtsbarkeit ſeiner Na— 
tur nach unbedingte Zuſtimmung und Gehorſam gebieteriſch 
fordert, ſo maßte ſich auch die Wiſſenſchaft dieſelben Forderungen 
an, und fortan wurde jede Entfernung von ihren Lehren als 
unerlaubt, als ſtrafbar behandelt. Jeder Irrthum in der Wiſ— 
ſenſchaft war zugleich ein Laſter; jede Abweichung von ihren Leh— 
ren galt für eine Ketzerei, und die philoſophiſchen Meinungen 
der herrſchenden Parthei nicht annehmen, war gleichbedeutend mit 
dem Zweifel an den unmittelbaren Offenbarungen des Himmels; 
kurz, die ſcholaſtiſche Philoſophie verlangte unbedingt die Zuſtim— 
mung und die Unterwerfung aller Gläubigen. 

Die äußere Geſtalt, der Inhalt und auch der eigentliche Text 
dieſer Philoſophie wurde übrigens größtentheils aus den Werken 
des Ariſtoteles genommen, obſchon der eigentliche Geiſt und ſelbſt 
der Styl von Plato, und beſonders von den Neuplatonikern, 
geborgt war. Dieſe Erhebung des Stagiriten zu ſeiner neuen, 


berühmte Nichte des Canonicus Fulbert in Paris kennen, mit 
welcher er die bekannten Abentheuer erlebte, in deren Folge er 
Mönch und ſie Nonne wurde. Sein gelehrter Streit mit dem 
h. Bernhard führte i. J. 1140 die Verdammung ſeiner Lehre von 
dem päbſtlichen Stuhl nach ſich. Dieſe Lehre war ein vollſtändiger 
Rationalismus, nach welchem nichts zu glauben ſey, als was man 
vorher mit dem Verſtande begriffen habe. Abälard iſt auch als 
der Chorrage der Nomilaſtiten anzuſehen, deren oben erwähnter 
Streit mit den Realiſten mehrere Jahrhunderte äußerſt 
heftig durchgeführt wurde, und von dem wir im letzten Capitel 
dieſes Buches einige nähere Rachricht geben. L. 


Dogmatismus des Mittelalters. 295 


alle anderen überragenden Würde hatte mehrere Urſachen. Seine 
Logik war früher ſchon allgemein als die beſte Waffe für theolo— 
giſche Diſputationen anerkannt, und fein ſyſtematiſirender Geiſt, 
ſeine ſpitzfindigen Diſtinctionen, ſeine grübelnden Wortanalyſen, 
ſo wie endlich ſeine Neigung, alles, auch das, was er nicht ver— 
ſtand, ohne weiteres zu beweiſen, boten dem commentatoriſchen 
Geiſte jener Zeit eine eben ſo natürliche als angenehme Beſchäf— 
tigung dar. Die Principien, die wir oben als die leitenden 
Punkte ſeiner Naturphiloſophie bezeichnet haben, wurden ſorg— 
fältig ausgewählt und angenommen, und nachdem ſie in eine 
der neuern Denkungsart angemeſſene Form gebracht und in ein 
ſogenanntes ſyſtematiſche Ganze geſammelt waren, bildeten ſie 
einen großen Theil, wenn nicht das eigentliche Ganze der Natur— 
philoſophie des Mittelalters. 


2) Scholaſtiſche Dogmen. 


Aber noch vor der Errichtung des Thrones, von welchem herab 
Ariſtoteles die ganze geiſtige Welt beherrſchte, ſchien im neunten 
und zehnten Jahrhundert eine eigene Art von Erwachen aus dem 
langen und ſchweren Schlafe anzubrechen. Die ihrer ſelbſt noch 
nicht klar bewußten Menſchen wendeten ſich damals mehr den 
Platoniſchen Doctrinen zu, die ihren Anſichten beſſer zuſagten, 
und die mit den myſtiſchen Speculationen und der beſchaulichen 
Frömmigkeit jener Jahrhunderte inniger übereinſtimmten, als 
die trockenen Vernünfteleien des Stagiriten. Der oben erwähnte 
Johannes Scotus Erigena kann als der eigentliche Wiedererwecker 
der neuplatoniſchen Philoſophie zu Ende des neunten Jahrhun— 
derts angeſehen werden. Gegen das Ende des eilften Jahrhunderts 
kleidete Peter Damien °) in Italien dieſe Philoſophie in ein 


6) Damien oder Damianus, Peter, geb. 1007, geſt. 1072, ein 
Benedictiner aus Ravenna, ſpäter Cardinalbiſchof von Oftia. Er 
hinterließ 60 Abhandlungen über Kirchenzucht, 75 Homilien und 
ſehr viele Briefe theologiſchen Inhalts. Seine Schriften wurden 
1606 zu Rom in fünf Foliobänden herausgegeben. Durch ihn 
beſonders kam die „Geißelung“ zur Buße für begangene Sünden 
in Aufnahme, die bald darauf auch an den Höfen allgemeine Sitte 
wurde. Ludwig IX. von Frankreich trug zu dieſem Behufe beſtän— 
dig eine Büchſe bei ſich, in welcher fünf kleine eiſerne Ketten ver— 
ſchloſſen waren, und theilte auch dergleichen Kettenbüchſen an die 


296 Dogmatismus des Mittelalters. 


rein theologiſches Gewand. Eben fo hinterließ Godefeoy, Cenſor 
von St. Victor, eine Schrift „Microcosmus“, die ganz auf eine 
platoniſch-myſtiſche Analogie zwiſchen den Menſchen und dem Welt— 
all gegründet iſt, und die auch zu vielen ähnlichen nachfolgenden 
Veranlaſſung gab. „Die Philoſophen und die Theologen, ſagt 
„er, ſtimmen darin überein, den Menſchen als eine kleine Welt 
„zu betrachten, und da die eigentliche Welt aus vier Elementen 
„zuſammengeſetzt iſt, fo beſteht auch der Menſch aus den vier Fa— 
„cultäten der Sinne, der Einbildungskraft, des Verſtandes und 
„der Vernunft.“ — Bernard von Chartres nahm dieſelbe Idee 
wieder auf in feinen „ Megacosmus und Microcosmus.“ Hugo, 
Abt von St. Victor ') aber machte das beſchauliche Leben zu der 
Hauptpflicht und zu der „Krone aller Philoſophie,“ und er ſoll der 
erſte unter jenen Scholaftifern geweſen ſeyn, der die Pſychologie zu 
ſeinem beſonderen Studium gewählt hat. Er nimmt ſechs Facultäten 
des menſchlichen Geiſtes an: die Sinne, die Imagination, den 
Verſtand, das Gedächtniß, die Vernunft und die Intelligenz. 
Die Phyſik bildet keinen eigentlichen, beſonders hervorra— 
genden Theil der fcholaftifchen Philoſophie, die im Grunde bloß 
in einer Reihe von Fragen und Sätzen über die verſchiedenen 
Eigenſchaften einer von ihr ſelbſt ausgedachten eigenthümlichen 
Gottheit beſteht. Hieher gehört z. B. das berühmte Werk-Liber 
Sententiarum“ des Petrus Lombardus ), Biſchofs von Paris, 


Prinzen und Prinzeſſinen ſeines Hofes als beſondere Gnadengeſchenke 
mit. In der letzten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts hatte dieſe 
Wuth der „Slagellation“ ganze Länder ergriffen, und die Flagel— 
lanten bildeten große „Brüderſchaften,“ deren Apoſtel von Land 
zu Land wanderten. L. 

Hugo, a St. Victore, aus dem Geſchlechte der Grafen von 
Blankenburg (geb. 1097, geſt. 1141) ein ſorgfältiger Bibelausleger 
und treuer Verehrer der Kirchenväter. Seine Werke ſind 1648 
zu Rouen in 3 Folivbänden erſchienen. L. 


8) Petrus Lombardus, aus Novara in der Lombardey, ſtarb 1164 
als Biſchof zu Paris. Er war Abälard's Schüler, und ſuchte 
in feinem Werke: Sententiarum libri IV. die theologiſchen Mei— 
nungen der Kirchenväter in ein Syſtem zu bringen. Dieſes Werk 
erhielt fein klaſſiſches Anſehen unter den Theologen bis zur Zeit 
der Reformation. Er war von niederer Abkunft, da ſeine Mutter 


7 


— 


Dogmatismus des Mittelalters. 297 


das man auch emphatiſch „Magister Sententiarum« zu nennen 
pflegte. Dieſes Werk erſchien im zwölften Jahrhundert und blieb 
lange der Leitſtern für alle Discuſſionen dieſer Art. Die darin auf— 
geſtellten Probleme werden meiſtens nur durch die Autorität der 
h. Schrift und der Kirchenväter aufgelöst. Das Werk iſt in vier 
Bücher getheilt. Das erſte enthält die Fragen über Gott im Allge— 
meinen und über die Lehre von der Dreieinigkeit im Beſondern; 
das zweite handelt von der Schöpfung; das dritte von Chriſtus 
und ſeiner Religion, und das vierte endlich ſpricht von unſern 
religiöſen und moraliſchen Pflichten. In dem zweiten Buche 
wird, ein Lieblingsgegenſtaud der Schriftſteller jener Zeit, die 
Natur der Engel ſehr umſtändlich auseinander geſetzt, und die 
ganze Hierarchie derſelben beſchrieben, die aus neun verſchiedenen 
Ordnungen oder Rangsſtufen beſtehen ſoll. Eigentlich phyſiſche 
Discuſſionen findet man nur da und dort, ſo weit ſie mit der 
geoffenbarten Geſchichte der Schöpfung der Welt im Zuſammen— 
hange ſtehen ſollen. Indem er von der Trennung der Gewäſſer 
über und unter dem Firmamente ſpricht, theilt er die Mei— 
nung des Beda) mit, nach welcher dieſes Gewölbe von 


als Wäſcherweib in fremden Häuſern diente. Nach ſeiner Erhe— 
bung zum Biſchof in Paris beſuchte ihn die Mutter in feſtlichem 
Kleide, aber er ließ ſie nicht eher vor, bis ſie ihre frühere Klei— 
dung wieder angenommen hatte, wo er ſie dann mit kindlicher 
Liebe bis an ihren Tod pflegte. Sein erwähntes Werk zeugt von 
großem Scharfſinn und Beleſenheit in den Kirchenvätern. Nach 
dem Titel ſeines Werkes wurde er Magister Sententiarum ge: 
nannt. L. 

8) Beda, mit dem Beinamen Venerabilis, ein angelſächſiſcher Mönch, 
geb. 673 bei Durham, geft. 735 in Wearmouth. Seine Schriften 
zeugen von einer für ſeine Zeit ſehr großen Beleſenheit über 
Grammatik, Rhetorik, Mathematik, Phyſik, Geſchichte und Theo— 
logie. Selbſt uns noch wichtig iſt feine Historia ecelesiae gentis 
Auglorum, welche die Geſchichte Englands von Cäſar's Landung 
bis zu dem Jahr 731 umfaßt. Wir verdanken ihm noch unſere 
chriſtliche Zeitrechnung nach der Beſtimmung des römiſchen Abtes 
Dionyſius des Kleinen, die er in den nördlichen Gegenden Europa's 
der erſte in Aufnahme brachte, ſo wie auch die Beſchreibung der 
verlornen Dionyſianiſchen Oſtertafel. Seine ſämmtlichen Werke 
erſchienen in acht Foliobänden zu Baſel im Jahr 1583. L. 


298 Dogmatismus des Mittelalters. 


Kryſtall ſeyn ſoll, an dem die Sterne befeſtigt find e), die er 
aus der Urſache für die richtigſte hält, „weil der Kryſtall, der 
„fo hart und durchſichtig zugleich iſt, aus Waller entſteht.“ 
Doch erwähnt er auch der Meinung des h. Auguſtin s), nach 
welcher die Waſſer des Himmels daſelbſt in dampfförmigem Zu— 
ſtande (vaporaliter) und in der Geſtalt von kleinen Tropfen ſeyn 
ſollen. „Wenn alſo, ſchließt er weiter, das Waſſer in ſo kleine 
„Theile getheilt werden kann, die, wie wir bei den Wolken ſehen, 
„in der Geſtalt von bloßen Dünften von der Luft getragen werden, 
„wie ſollten wir nicht annehmen dürfen, daß daſſelbe Waſſer in 
„noch viel kleineren Theilen auch noch über der Luft ſchwimme? 
„In welcher Geſtalt aber dort auch das Waſſer ſchweben mag, 
»ſetzt er hinzu, fo können wir doch nicht zweifeln, daß es da— 
„ſelbſt wirklich exiſtirt.“ 

Das noch berühmtere Werk „Summa Theologiae“ des 
h. Thomas von Aquinas “) iſt ganz von derſelben Art, und 


9) Liber Sententiar. Lib. II. Distinct. XIV. 

10) Auguſtinus (Aurelius) der Heilige, geb. 354 zu Tegaſte, einer 
kleinen Stadt in Nordafrika, geſt. 403 als Biſchof zu Hippo. 
Sein Leben erzählt er ſelbſt in ſeinen „Confeſſionen,“ die neuer— 
dings von Neander (Berl. 1823) herausgegeben wurden. Seinen 
erſten Unterricht erhielt er von ſeiner würdigen Mutter Monica. 
Seine Jünglingsjahre waren größtentheils verliebten Ausſchwei— 
fungen gewidmet, bis er, gegen ſein dreißigſtes Jahr, durch die 
(für uns verlorne) Schrift „Hortenſius“ des Cicero zum Studium 
der Philoſophie geleitet wurde. Auch die folgenden zehn Jahre 
verlor er in den Ketzereien der Manichäer, bis er endlich durch 
den Biſchof Ambroſius in Mailand auf den Weg geleitet wurde, 
den er von nun an mit Kraft und Glück bis an ſein Ende eifrig 
verfolgte. Von Mailand nach Afrika zurückkehrend verkaufte er 
alle ſeine Güter, behielt von dem gelösten Gelde nur das zum 
Leben nothwendige und vertheilte das Uebrige unter die Armen. 
Er trat nun in den geiſtlichen Stand und wurde im Jahr 395 
zum Biſchof von Hippo erwählt. Hier gerieth er mit Pelagius 
und Cöleſtius in heftige theologiſche Streitigkeiten, die ihm Gele— 
genheit zu vielen Schriften über dieſe Gegenſtände gaben. Er 
wird für einen der ſcharfſinnigſten, geiſtreichſten und eifrigiten 
Kirchenväter gehalten. Unter ſeinen Werken zeichnet ſich vor— 
züglich die Schrift De Civitate Dei, libri XXII. aus. L. 

11) Thomas Aquinas oder der h. Thomas von Aquino, geb. 1224 in 


Dogmatismus des Mittelalters. 299 


auch von ihm macht das ſogenannte phyſiſche Capitel bei weitem 
den kleinſten Theil des Ganzen aus. Von allen den 522 Quä— 
ſtionen dieſer „Summa« iſt bloß eine einzige (Part. I. Quäſt. 115) 
„über die körperliche Wirkung,“ die noch die materielle Welt 
angeht. Dafür trifft man deſto mehr „über die Hierarchie des 
„Himmels, über die Natur der Engel, ihre Handlungen, ihre 
„Sprache, Nahrung, Verdauung u. dgl.“ 

Bemerken wir noch, daß in dieſem Werke, obſchon mehrere 
Stellen von Plato und anderen heidniſchen und chriſtlichen 
Schriftſtellern als eben ſo viele hohe Autoritäten erwähnt werden, 
doch Ariſtoteles immer vorzugsweiſe „der Philoſoph“ genannt 


Neapel, geſt. 1274. Er iſt der einflußreichſte unter den fcholaiti- 
ſchen Philoſophen. Seine erſte Bildung erhielt er unter den Be— 
nedictinern zu Monte Caſino, und feine ſpätere auf der Hochſchule 
zu Neapel. Er trat gegen den Willen ſeiner Eltern im Jahr 1243 
in den Dominikanerorden, reiste dann nach Paris und Köln, 
um in der letztern Stadt den Unterricht des berühmten Schola— 
ſtikers, Albertus Magnus, zu genießen. Bald darauf trat er als 
Lehrer der Scholaſtik zu Paris auf, wo er feine Vorträge mit dem 
größten Beifall bis 1261 hielt. Dann lehrte er abwechſelnd, ein 
reiſender Philoſoph, zu Rom, Bologna, Piſa und in andern Städten 
Italiens. Gegen ſein Ende hielt er ſich in dem Dominikaner— 
kloſter zu Neapel auf, und ſchlug die ihm angetragene erzbiſchöf— 
liche Würde aus, um in der Einſamkeit ganz ſeinem Studium 
leben zu können. Noch während ſeines Lebens und ſelbſt lange 
nach ſeinem Tode genoß er das größte Anſehen in der Kirche und 
unter den Gelehrten ſeiner und der folgenden Zeiten. Wie den 
meiſten Scholaſtikern fehlte ihm die Kenntniß der griechiſchen und 
hebräiſchen Sprache. Seine Hauptwerke find die Summa theologiae; 
die Quaestiones disputatae et quodlibetales; ſeine Opuscula theo— 
logica und ſein Commentar über die Libri Sententiarum des Petrus 
Lombardus. Sein größter theologiſcher Gegner war Duns Scotus. 
Durch dieſe beiden Männer wurde die geſammte ſcholaſtiſche Welt 
in zwei Partheien geſpalten, die Thomiſten und Scotiſten, oder 
die Nominaliſten und Realiſten. Als der heftige Streit zwiſchen 
beiden Partheien ſchon längſt vorüber war, erwachte er noch einmal 
zu Ende des ſechszehnten Jahrhunderts zwiſchen den ſogenannten 
Moliniſten Jeſuiten und Franciskanern) und den Janſeniſten, von 
welchen jene im Allgemeinen den Scotiſten, und dieſe der Lehre 
des h. Auguſtins und Thomas zugethan waren, obfchon ſich beide 
auch in mehreren Punkten von ihren erſten Lehrern entfernten. L. 


309 Dogmatismus des Mittelalters. 


wird. Schon vor ihm bemerkte Johann von Salisbury!) als 
ein Zeichen ſeiner Zeit (er ſtarb im Jahr 1182), „daß von den 
„verfchiedenen großen Lehrern der Dialectik wohl jeder mit feinem 
„eigenen Verdienſte in den philoſophiſchen Schriften feiner Zeit 
„glänzt, daß aber alle dieſe Schriftſteller in der ausſchließenden 
„höchſten Verehrung des Ariſtoteles übereinkommen, jo zwar, 
„daß der Name eines Philoſophen, der doch jenen allen zu— 
„kommen ſollte, für dieſen allein gleichſam vorbehalten worden 
„it, indem er von allen der „Philoſoph“ autonomatice (d. h. 
„vorzugsweiſe oder für ſich allein ftehend) genannt wird).“ 
Die Quäſtion von der körperlichen Wirkung wird von 
Aquinas in ſechs Artikeln vorgetragen, und das Reſultat, das 
daraus folgt, iſt: „daß ein Körper aus Kraft und Wirkung 
„zuſammengeſetzt, und ſowohl activ als paſſiv iſt“).“ Da: 
gegen wird von ihm ſelbſt eingewendet, daß die Quantität 
eine Eigenſchaft des Körpers iſt, welche der Wirkung der— 
ſelben hinderlich entgegentritt, wie dieß auch in der That ſo 
erſcheine, da ein größerer Körper ſchwerer bewegt wird, als ein 
kleiner. Allein darauf antwortet er: „Die Quantität hin— 
„dert die körperliche Form in keiner ihrer Wirkungen, fondern 
„nur ſo weit, daß ſie kein allgemeines Agens werde, ſo weit 
„nämlich, als dieſe Form individualiſirt wird zu dem, was fie, 
„in jeder der Quantität unterworfenen Materie, wirklich iſt. 
„Weberdieß gehöre der Einwurf von dem verſchiedenen Gewichte 
„der Körper nicht hieher, erſtens weil die Vermehrung der 
„Quantität nicht die Urſache der Schwere iſt, wie dieß in dem 
„vierten Buche De Coelo et de Mundo, (man ſieht, wie er ſelbſt 
„die Titel der ariftotelifchen Schriften nachzuahmen ſucht), be— 
„wieſen wird; zweitens weil es falſch iſt, daß das Gewicht die 


12) Johann von Salisbury, oder Joannes Parvus, hatte feine erſte 
Bildung in Frankreich erhalten, und wurde dann Geheimſchreiber des 
Erzbifchofs Thibaut von Canterbury. Er ſuchte ſich über die bei: 
den ſtreitenden Partheien der Realiſten und Nominaliſten zur 
eigenthümlichen Selbſtſtändigkeit zu erheben, und trat ſelbſt als 
Gegner ſeines ſophiſtiſchen Zeitgeiſtes mit Verſtand und Nachdruck 
auf. Seine zwei vorzüglichſten Werke ſind der Metalogicus und 
der Policraticus. L. 

13) Joannis de Salisbury opp. Metalogicus. Lib. II. Cap. 16. 

14) Summa Theolog. P. I. Quaest. 115. Art. I. 


Dogmatismus des Mittelalters. 301 


„Bewegung langſamer mache, da im Gegentheile jeder Körper, 
„je gewichtiger er iſt, ſich auch deſto mehr mit der ihm eigenen 
„Kraft bewegt; und drittens weil die Wirkung der Körper nicht 
„bei Ortsveränderungen derſelben ſtatt hat, wie Demokrit be— 
„»hauptet, ſondern nur dann, wenn der Körper von einer Kraft 
»zu einer Wirkung gebracht wird.“ 

Es gehört nicht zu unſerm Zwecke, alle die theologiſchen oder 
metaphyſiſchen Lehren, die einen jo großen Theil dieſes und aller 
ähnlichen Werke ausmachen, hier näher zu unterſuchen. Vielleicht 
wird ſich ſpäter zeigen, daß unſere Geſchichte der inductiven 
Wiſſenſchaften ſelbſt ein eigenes, helleres Licht über alle dieſe 
Probleme werfen kann, mit welchen ſich die Metaphyſiker aller 
Zeiten ſo eifrig beſchäftiget haben. Ehe wir uns aber in den 
Stand geſetzt ſehen, die vorzüglichſten Controverſen dieſer Art 
näher zu unterſuchen, würde es nutzlos ſeyn, jetzt ſchon ſo um— 
ſtändlich über ſie zu ſprechen. Immer jedoch kann man hier be— 
merken, daß die wichtigſten von ihnen ſich auf die große Frage 
beziehen, „welches das eigentliche Verhältniß zwiſchen den wirk— 
„lichen Dingen und ihren allgemeinen Bezeichnungen (oder Aus— 
»drücken) iſt.“ — In den neueren Zeiten werden vielleicht dieſe ſoge— 
„nannten wirklichen Dinge“ meiſtens nur als ſolche betrachtet wer— 
den, mit welchen man ſich nicht weiter beſchäftigen will, da man 
jetzt mehr darauf ſieht, wie man das Einzelne in Klaſſen, wie man 
das Individuelle dem Univerſellen näher bringen kann. Allein 
die ſcholaſtiſchen Philoſophen, welche die Anſichten des Plato 
und Ariſtoteles, ſo viel an ihnen war, zu den ihrigen gemacht 
hatten, gingen einen ganz entgegengeſetzten Weg. Sie bemühten 
ſich nur, wie ſie die Individuen von den Arten und Gattungen 
ableiten mochten, was ſie „das Princip der Individuation“ zu 
nennen pflegten. Dieß Princip wurde übrigens von verſchiedenen 
Philoſophen auf verſchiedene Weiſe aufgeſtellt. Bonaventura“) 


15) Bonaventura (oder Johann von Fidanza), geb. 1221 in Toskana, 
geſt. 1274, einer der berühmteſten fcholaftifchen Philoſophen. Er 
wurde im Jahr 1248 Franciskanermönch, wo er den Namen Bo— 
naventura erhielt, und kurz vor ſeinem Tode Cardinal. Die Fran— 
ciskaner ſtellen ihn als ihren größten Gelehrten dem ſcholaſtiſchen 
Heros, dem Dominikaner Thomas von Aquino, entgegen. Seine 
merkwürdigſten Schriften find das Breviloquium, das Centiloquium, 


302 Dogmatismus des Mittelalters. 


z. B. löst die ganze Schwierigkeit durch Hülfe der ariſtoteliſchen 
Diſtinktion zwiſchen Materie und Form. Das Individuum leitet 
von der Form die Eigenſchaft ab, ein „Etwas“ zu ſeyn, und 
von der Materie erhält es die Eigenſchaft, ein „beſtimmtes Et— 
was“ zu werden. Duns Scotus !), der berühmte Gegner des 
Thomas Aquinas in der Theologie, ſetzte jenes Princip der In— 
dividuation „in eine gewiſſe poſitive, beſtimmende Entität,“ die 
in ſeiner Schule die Hocceität oder die „Dießniß“ genannt wurde. 
„So iſt nach ihm z. B. Peter ein beſtimmtes menſchliches In— 
»dividuum, weil feine Hocceität mit feiner Petreität in 
„ihm verbunden tft.“ 

Die Frage über die eigentliche Bedeutung und die Kraft 
der „abſtracten Ausdrücke“ war zu jenen Zeiten ein gar ſonder— 
bares Problem, zu deſſen Löſung ſchon im Anfange des Mittel— 
alters mehrere lateiniſche Ariſtoteliker anthropologiſch merkwür— 
dige Verſuche gemacht haben; und wie wir jetzt noch von Quan— 
tität und Qualität ſprechen, jo wußte man damals auch von 
der Quiddität, der Hocceität, Ubität, Cauſalität, Modalität u. dgl. 
gar viel zu reden und zu ſchreiben. 

Das dreizehnte Jahrhundert, in welchem Bonaventura und 
Duns Scotus lebten, war die Zeit, wo das Feld dieſer leeren 
Diſputationen in ſeiner vollſten Reife ſtand. Die ganze Philo— 
ſophie dieſes Zeitalters war der Art, daß irgend ein richtiger 
Begriff von der uns umgebenden Natur in ihren Lehren keine 
Stelle fand und auch nicht finden konnte. Schwankende, luftige 


Itinerarium mentis in Deum, Reductio omuium artium in Theolo- 
giam und ſein Commentar über das Liber Sententiarum des Peter 
Lombardus. Seine ſämmtlichen Werke erſchienen zu Rom 1588 
in ſieben Foliobänden. L. 

16) Duns Scotus, einer der berühmteſten Scholaſtiker, aus dem Frans 
ciskanerorden. Er wurde in dem Jahr 1275 in Northumberland 
in der Stadt Duns oder Dunſton geboren, und ſtudirte zu Oxford, 
wo er auch als Lehrer mit dem größten Beifall auftrat. Er ſtarb 
zu Köln im Jahr 1308. Von ihm, als Anführer der Realiſten 
und Gegner des Thomas Aquinas, wurde bereits oben geſprochen. 
Seine Werke, die größtentheils in Commentarien über Ariſtoteles 
und Petrus Lombardus beſtehen, aber voll dialectiſchen und kriti— 
ſchen Scharfſinns find, erſchienen in Leiden im Jahr 1639 in zwölf 
Foliobänden. L. 


Dogmatismus des Mittelalters. 303 


Abſtractionen, unbeſtimmte Combinationen und inhaltsleere 
Grübeleien über bloße Worte, aus denen ſchon früher die grie— 
chiſchen Philoſophen alle ihre Naturwiſſenſchaft ableiten wollten, 
waren auch hier die einzige Quelle, aus welcher die Scholaſtiker des 
Mittelalters ihre Meinungen und ihre ſogenannten Argumente 
ſchöpften. Und obſchon dieſe ihre Wortanalyſen in einer techniſch 
ſehr fein ausgeſponnenen, aber auch zugleich in einer ſehr ver— 
wickelten und oft wahrhaft barbariſchen Sprache vorgetragen waren, 
ſo wurden doch dadurch die Begriffe nicht deutlicher, ſondern 
vielmehr nur immer dunkler und verwirrter, und ſie führten daher 
auch zu keiner einzigen reellen, werthvollen Wahrheit. Dieſen 
Philoſophen ſchien es überhaupt nicht um klare Begriffe von den 
einzelnen Erſcheinungen, ſondern bloß um abſtracte Ausdrücke zu 
thun zu ſeyn, und ſtatt reellen Generaliſationen begnügten ſie ſich 
mit bloßen Verbal-Diſtinctionen, die für alle wahre Erkenntniß 
ſtets unfruchtbar bleiben. Die ganze Art ihres Verfahrens machte 
ſie nicht bloß unwiſſend in der wahren Phyſik, ſondern auch zu— 
gleich ganz unfähig, die ihnen noch fehlenden Kenntniſſe auf dem 
von ihnen eingeſchlagenen Weg ſich je zu verſchaffen. 

Da ſie ſonach die Rolle über ſich genommen hatten, alle 
Fragen der Phyſik nur durch abſtracte Begriffe zu diſcutiren und 
durch bloße Verbal-Diſtinctionen nach den Regeln der Logik in's 
Reine zu bringen, ſo konnten ſie auch, weil ihnen die Bedingung 
alles wahren Fortgangs mangelte, mit ihren Bemühungen zu 
keinem Ende gelangen. Immerwährend kehrten ſie zu denſelben 
Fragen und zu denſelben Antworten zurück; dieſelben Schwierig— 
keiten, dieſelben Subtililitäten, heut geſucht und morgen wieder ver— 
worfen, heut geprieſen und morgen ſchon verſpottet und verfolgt, 
trieben ſie ewig in demſelben Kreiſe herum, von welchem ſie weder 
den Ausgang noch den Mittelpunkt finden konnten. Johann 
von Salisbury ſagt von den Lehrern der Philoſophie zu Paris, 
daß er ſie, nach einer mehrjährigen Abweſenheit von dieſer Stadt, 
bei ſeiner Zurückkunft auch nicht einen Schritt in ihren Speculationen 
vorwärts gerückt, daß er ſie vielmehr immer noch mit denſelben 
Problemen ſich vergebens abmühend gefunden habe “). Immer 


17) Salisbury ſtudirte die Logik in Paris zu St. Genovefa, und ver— 
ließ dann dieſe Stadt. Duodecennium mihi elapsum est diversis 
studiis occupatum. Jucundum itaque visum est veteres, quos re- 


304 Dogmatismus des Mittelalters. 


wurden dieſelben Knoten geſchürzt und wieder aufgelöst, dieſelben 
Wolken zerſtreut und wieder zuſammengeführt. Schön und 
paſſend ſpricht von ihnen der Dichter in ſeinen „Söhnen des 
Ariſtoteles:“ 


— — They stand 

Lucked up together hand in hand; 

Eresy one leads as he is led 

The same bare path they tread, 

And dance like Fairies a fantastic round, 

But neither change their motion nor their ground 18), 


Es wird daher unnöthig ſeyn, die Geſchichte der Schulphilo— 
ſophie des drei-, vier- und fünfzehnten Jahrhunderts hier um— 
ſtändlich auszuführen. Im Allgemeinen blieb ſie dieſelbe, die 
ſie gleich anfangs war. In der Folge wird ſich überdieß eine an— 
dere Gelegenheit anbieten, auf die letzten Zeiten dieſer Philoſophie 
noch einmal zurückzukommen. Uebrigens waren, ſelbſt zur Zeit 
ihrer höchſten Blüthe, die Elemente ihres Verfalls bereits im 
Gange. Während jene „Doctoren,“ wie ſie ſich nannten, der 
höchſten äußeren Achtung aller ihrer Zeitgenoſſen ſich erfreuten, bil— 
dete ſich im Stillen eine neue Lehre, eine Philoſophie ganz anderer 
Art aus. Der allmählig immer mehr erwachende geſunde prak— 
tiſche Sinn der Menſchen; die Ungeduld, mit der ſie die Tyran— 
nei jener Dogmatiker ertrugen; der Fortgang anderer nützlicheren 
Künſte, und ſelbſt die großen Verſprechungen der Alchemie, alles 
dieß machte die Menſchen geneigt, die Autorität und die An— 
maßungen jener Lehre zu bekaͤmpfen und endlich ganz zu ver: 


liqueram, et quos adhuc Dialeetica detinebat in monte Sanctae 
Genovefae, revisere socios, conferre cum eis super ambiguitatibus 
pristinis, ut nostrum invicem collatione mutua commetiremur pro- 
fectum. Inventi sunt, qui fuerant et ubi; neque enim ad palmam 
visi sunt processisse ad questiones pristinas dirimendas, neque 
propositiunculam unam adjecerunt. Quibus urgebant stimulis, eis- 
dem et ipsi urgebantur. Metalogieus Lib. II. Cap. X. 


18) Sie ftanden da, die Hände in einander verſchlungen; jeder führte 
den andern und wurde von ihnen wieder geführt; und ſo zogen 
ſie alle hin denſelben nackten Weg, tanzten gleich den Feen einen 
phantaſtiſchen Reigen, aber änderten dabei weder ihre Bewegungen, 
noch ihren Boden. 


Dogmatismus des Mittelalters. 305 


werfen. Zwei ſich widerſtrebenden Meinungen erhoben ſich, deren 
jede eine Zeit durch ſcheinbar für ſich allein ihren Weg ging, 
ohne ſich um die andere zu bekümmern, die aber zuletzt beide 
im offenen Kampfe einander gegenüber ſtanden. Dieß geſchah 
zur Zeit des Galilei, und der geiſtige Krieg, der ſich damals 
entzündete, verbreitete ſich ſchnell über die ganze gebildete Welt. 


3) Scholaſtiſche Phyſik. 


Es iſt nicht leicht, eine kurze und angemeſſene Darſtellung 
von dem Weſen derjenigen ariſtoteliſchen Phyſik zu geben, die 
in den Schriften jener Zeit enthalten iſt. — Da die „Schwere“ 
der Körper einer der erſten Gegenſtände des erwähnten Kampfes 
zwiſchen jenen beiden neuen Methoden geweſen iſt, ſo wollen wir die 
Art, wie dieſer ſpecielle Kampf geführt wurde, hier anzeigen ). 
Zarabella aus Padua, im fünfzehnten und ſechszehnten Jahr— 
hundert, behauptete, daß die nächſte Urſache der Bewegung der 
Elemente der Körper die Form ſey, das Wort im Sinne des 
Ariſtoteles genommen. „Allein damit können wir, ſagt Kecker— 
„mann, nicht übereinftimmen, da in allen andern Rückſichten 
»„dieſe Form die nächſte Urſache, nicht von der Wirkung, ſon— 
„dern von der Kraft oder von derjenigen Facultät iſt, aus welcher 
„die Wirkung, der eigentliche Act, erſt entſteht. So iſt bei den 
„Menſchen die vernünftige Seele nicht die Urſache von dem Acte des 
„Lachens, ſondern nur von der Kraft oder Facultät des Lachens.“ 
Keckermanns Syſtem war vordem ein Werk von nicht geringem 
Anſehen, und es wurde im Jahr 1614 bekannt gemacht. Indem 
er die Dinge, die er in ſeinem Ariſtoteles gefunden hatte, unter 
einander verglich und in eine Art von Syſtem zu bringen ſuchte, 
trug er die von ihm gefundenen Reſultate in der Form von 
Definitionen und Theoremen vor. So iſt ihm die „Schwere 
„eine bewegende Qualität, die aus Kälte, Dichte und Maſſe 
„entfteht, durch welche die Elemente der Körper abwärts gezogen 
„werden.“ Nach ihm iſt das Waſſer das untere intermediäre 
Element, das kalt und feucht iſt. Sein erſtes Theorem in Be— 
ziehung auf das Waſſer drückt er ſo aus: „Die Feuchtigkeit des 
„Waſſers wird durch feine Kälte controllirt, fo daß es weniger 


19) Keckermann. S. 1428. 
Whewell. J. 20 


306 Dogmatismus des Mittelalters. 


„feucht iſt, als die Luft, obſchon, nach der gemeinen Meinung, 
„das Waſſer feuchter ſcheint, als die Luft.“ — Man ſieht, daß 
die zwei vorzüglichſten Eigenſchaften der Flüſſigkeiten, die Beweg— 
lichkeit ihrer Theile und ihre Befeuchtung unter einander, hier 
verwechſelt oder vermengt worden ſind. Ich habe dieſes Beiſpiel, 
dieſes von den flüſſigen Körpern genommene Theorem abſichtlich 
gewählt, da es allgemein angenommen und ſcheinbar ſo feſt ge— 
gründet war, daß Boyle ?°), als er ſpäter die wahren mechani— 
ſchen Principien der Theorie der flüſſigen Körper bekannt machte, 
gezwungen war, ſeine Anſichten nur unter dem Namen von 
„hydroſtatiſchen Paradoxen“ bekannt zu machen. Jene Theoreme 
aber waren folgende: „Die Flüſſigkeiten gravitiren nicht in pro— 
„prio loco, (das heißt, das Waſſer hat in oder auf dem Waſſer 
„ſelbſt keine Schwere, weil es da an feiner Stelle ift); ferner, 
„die Luft hat keine Schwere auf dem Waſſer, weil ſie immer 
„über dem Waſſer ſteht, welches wieder der proprius locus der 
„Luft iſt; die Erde im Waſſer ſtrebt abwärts, weil der proprius 
„locus der Erde unter dem Waſſer iſt; das Waſſer ſteigt in der 
„Pumpe oder im Hebel, weil die Natur einen Abſcheu vor dem 
„leeren Raume hat, quia natura abhorret Vacuum; und endlich, 
„einige Körper, haben, wenn ſie in anderen ſich befinden, eine 
„negative Schwere, wie z. B. das Oel im Waſſer, weil jenes 
„auf dieſem ſchwimmt“ u. ſ. w. 


4) Großes Anſehen des Ariſtoteles unter den 
ſcholaſtiſchen Philoſophen. 


Die Autorität des Ariſtoteles und mit ihr die Gewohnheit, 
ihn zur Baſis und zum Grundtext aller philoſophiſchen Syſteme, 
beſonders aber in den Naturwiſſenſchaften, zu machen, herrſchte 
durch die ganze Zeit des Mittelalters vor. Doch war der Glanz, 
der den Stagiriten umgab, nicht ohne gewiſſe Verfinſterungen, die 
das Licht dieſer philoſophiſchen Sonne zuweilen verdunkelten. Lau— 


20) Boyle (Robert), ein berühmter engliſcher Phyſiker, geb. 1626, dem 
wir vorzüglich die Verbeſſerung der Guerik'ſchen Luftpumpe und die 
Kenntniß der Einſaugung der Luft bei Verkalkungen und Verbren— 
nungen verdanken. Seine ſämmtliche Schriften erſchienen zu Lon— 
don 1744 in 5 Foliobänden. Er ſtarb im Jahr 1691. L. 


Dogmatismus des Mittelalters. 307 


noy ) hat uns die Schickſale des Ariſtoteles und feiner Lehre in 
einer eigenen Schrift erhalten. „Ueber die verſchiedenen Schickſale 
„des Ariſtoteles an der Univerſität zu Paris.“ Dieſe feine Schickſale 
hingen größten Theils von dem Einfluſſe ab, welchen die Schrif— 
ten des großen Griechen zu verſchiedenen Zeiten auf die Theologie 
hatten. Verſchiedene dieſer Schriften, beſonders die metaphy— 
ſiſchen, wurden ſchon im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts 
in die lateiniſche Sprache überſetzt, und auf der hohen Schule 
zu Paris vorgetragen 2). Im Jahr 1209 wurden fie in der 
Kirchenverſammlung von Paris förmlich verboten, weil ſie, wie 
es hieß, Gelegenheit zu der Ketzerei des Almeric (oder des 


21) Wir haben bereits oben über die erſten Schickſale der ariſtoteliſchen 
Werke bald nach dem Tode ihres Verfaſſers Nachricht gegeben. 
Allein die ſpäteren des zehnten bis dreizehnten Jahrhunderts ſind 
nicht weniger merkwürdig. Im zehnten Jahrhundert fing der 
Eifer an, ihn zu ſtudiren, und in dem zwölften erreichte derſelbe 
ſeine größte Höhe. Allein die Theologen bemerkten bald, daß 
dieſer Eifer ihnen Verlegenheiten bereiten könnte, wie denn auch 
mehrere Ketzereien dieſer Zeit, 3 B. die des Berengarius, vorzüg— 
lich dieſem Studium der ariſtoteliſchen Schriften zur Laſt gelegt 
wurden. Im Jahre 1209 wurden daher dieſe Schriften von den 
franzöſiſchen Biſchöfen förmlich verboten und zum Feuer verdammt. 
Im Jahre 1215 wurde dieſes Verbot durch den Cardinallegaten 
wiederholt, und 1231 erfolgte endlich das Verbot Gregors IX. 
ſelbſt, das zugleich die phyſiſchen Schriften des Averroes traf. Allein 
dieſer Vorgänge ungeachtet vermehrten ſich die Lehrer und Anhän— 
ger der Stagiriten, und bald darauf ſah man ſelbſt die zwei größ— 
ten Gelehrten ihrer Zeit, Albertus Magnus und den h. Thomas, 
den Ariſtoteles commentiren, über ihn öffentlich lehren und dem 
großen Meiſter eine Celebrität verſchaffen, die er weder in ſeinem 
Vaterlande, noch auch ſpäter auf den Hochſchulen von Bagdad und 
Cordova genoſſen hatte. Da man der Gewalt, mit welcher der 
Stagirit in den Zeitgeiſt eindrang, nicht mehr widerſtehen konnte, 
ſo hielt man endlich für beſſer, ſich derſelben nicht nur nicht 
weiter zu widerſetzen, ſondern ſich ſelbſt an die Spitze der ſo lange 
verfolgten Neuerung zu ſtellen, und ſo wurde ſeitdem an mehreren 
Hochſchulen Europa's, beſonders Italiens befohlen, keinen Profeſſor 
der Philoſophie mehr aufzunehmen, wenn er nicht zuerſt eidlich 
bekräftigte habe, ſich genau an die Lehre des Ariſtoteles zu halten. L. 

22) Mosheim III. 157. 

200° 


308 Dogmatismus des Mittelalters. 


Amauri) gegeben haben, und „weil ſie auch wohl zu andern 
„bisher noch unbekannten Ketzereien Anlaß geben könnten.“ 
Die Logik des Ariſtoteles wußte ſich aber doch wenige Jahre 
nachher wieder in Anſehen zu bringen, da ſie im Jahr 1215 
an der Univerſität zu Paris öffentlich vorgetragen wurde. Die 
Naturphiloſophie und die Metaphyſik deſſelben aber wurden durch 
eine päbſtliche Bulle von Gregor IX. im Jahre 1231 ausdrücklich 
verboten. Der Kaiſer Friedrich II. hatte eine Anzahl Gelehrter 
in Sold genommen, um die Werke des Ariſtoteles und anderer 
Philoſophen aus der griechiſchen und arabiſchen Sprache in die 
lateiniſche zu überſetzen, und wir haben noch einen Brief von 
Peter de Vineis ), in welchem dieſe Werke der Aufmerkſamkeit 
der Univerſität zu Bologna empfohlen werden, und wahrſchein— 
lich iſt daſſelbe auch mit andern Univerſitäten geſchehen. Alber— 
tus Magnus ) und Thomas Aquinas ſchrieben beide eigene 
Commentarien über die Werke des Stagiriten, und da dieß kurze 
Zeit nach jenem Decrete Gregors IX. geſchah, ſo iſt Lannoy in 
großer Verlegenheit, wie er dieſe Thatſache mit der Orthodoxie 
jener beiden berühmten Schriftſteller vereinigen ſoll. Campa— 


23) Peter de Vineis, aus Capua, war Kanzler K. Friedrichs II., als 
geiſtvoller italieniſcher Dichter bekannt. Es iſt eine große Menge 
von Briefen meiſtens politiſchen Inhalts von ihm vorhanden, von 
welchem aber ein beträchtlicher Theil noch ungedruckt iſt, ſtarb im 
Jahr 1249. L. 


24) Albert, Graf von Bollſtedt, mit dem Beinamen der Große, 
geb. 1193 in Schwaben. Nach geendeten Studien trat er 1223 in 
den Dominikanerorden, lehrte dann mit großem Beifall den Ari— 
ſtoteles in Paris und erhielt 1260 von Pabſt Alexander VI. das 
Bisthum zu Regensburg. Er ging aber ſchon 1262 wieder in 
die Einſamkeit ſeines Kloſters zurück, um beſſer den Wiſſenſchaften 
leben zu können. Seine Studien bezogen ſich größtentheils auf 
den Ariſtoteles, wobei er auch die Araber benützte. Er ſtarb im 
Jahr 1280, nachdem er ſchon einige Jahre zuvor in völligen Stumpf— 
ſinn verfallen war. Die vollſtändigſte Ausgabe ſeiner Werke lieferte 
Peter Janny, Leiden 1651, in 21 Foliobänden. Seine für jene Zeit 
große Kenntniſſe der Mechanik und Chemie brachten ihn in den 
Verdacht der Zauberei. Die Scholaſtiker des dreizehnten Jahrhun— 
derts, die ſeiner Lehre folgten und eine eigene Schule bildeten, 
wurden Albertiſten genannt. L. 


Dogmatismus des Mittelalters. 309 


nella 2), der einer der erſten es wagte, das ariſtoteliſche Joch 
abzuſchütteln, ſagt darüber: „Wir ſind keineswegs der Meinung, 
»daß der h. Thomas ariſtoteliſire; er legte nur die Schriften 
„des griechiſchen Philoſophen aus, um die Irrthümer deſſelben 
„zu verbeſſern, und ich ſollte glauben, er habe dieß unter der 
„förmlichen Erlaubniß des Pabſtes gethan.“ Allein dieſe Dar: 
ſtellung ſtimmt durchaus nicht mit der Natur dieſer Commen— 
tarien des Albertus und Aquinas überein, da beide ihrem Autor 
mit der tiefſten Unterwerfung gefolgt ſind. So vertheidigt z. B. 
Aquinas 25) mit allen Kräften die Behauptung des Ariſtoteles, 
daß, wenn kein Widerſtand da wäre, ein Körper ſich durch den 
Raum in keiner Zeit bewegen würde, und denſelben Satz nimmt 
auch Scotus ſehr in ſeinen Schutz. 

Immerhin läßt ſich ſchon daraus das Anſehen und die Be— 
wunderung, deſſen ſich Ariſtoteles im Mittelalter erfreute, ab— 
nehmen, daß er den Angriffen der Gelehrten und der Mächtigen 
ſo lange zu widerſtehen vermochte. Mehrere Jahrhunderte durch 
konnte auf vielen Univerſitäten keiner der gewöhnlichen Grade 
(eines Magiſters, Baccalaureus oder Doctors) erhalten werden, 
ohne eine vorläufige Prüfung, ob der Candidat mit den Werken 
der Ariſtoteles ſich bekannt gemacht habe. Im Jahre 1452 
gab der Cardinal Totaril dieſe Vorſchrift für die Univerſität 
von Paris, und als Ramus“) im Jahre 1543 einen Angriff 


25) Campanella, Thomas, geb. 1568 zu Stilo in Calabrien, geſt. 1639 
zu Paris, einer der erſten Gegner der ſcholaſtiſchen Philoſophie, 
wodurch er ſich unter den Gelehrten ſeiner Zeit Haß und Verfol— 
gung zuzog, die ihn, ohne den beſonderen Schutz Urban's VIII., 
zu dem grauſamſten Tod im Kerker geführt haben würden. Er hat 
viele philoſophiſche, theologiſche und ſelbſt poetiſche Werke hinter— 
laſſen L. 


26) F. Piccolomini. II. 833. 


27) Ramus (Peter), geb. 1515 in Frankreich von armen Eltern, ging 
als Bedienter nach Paris, wo er feine Nächte den Studien wid— 
mete. Um das Jahr 1540 trat er als Profeſſor der Philoſophie 
an der Univerſität zu Paris auf. In feinem Antrittsprogramm 
hatte er die Verwegenheit zu behaupten, daß nicht nur einige, 
ſondern durchaus alle Behauptungen des Ariſtoteles grundfalſch 
ſeyen, was ſich, da er ſonſt ein geſcheuter Mann war, wohl nur aus 


— 


310 Dogmatismus des Mittelalters. 


gegen die Unfehlbarkeit des Stagiriten gewagt hatte, wurde er 
von dem Parlamente ſowohl, als auch von dem Hofe zurecht 
gewieſen. Franz J., damals König von Frankreich, ließ wegen 
dieſer Angelegenheit ein förmliches Edict ergehen, in welchem 
geſagt wird, „daß die über dieſen Gegenſtand von ihm eigens 
„eingefeste Richter den Ramus als einen hominem temerarium; 
„arrogantem et impudentem erklärt haben, und daß derſelbe, 
„weil er in feiner Schrift den Ariftoteles zu tadeln gewagt habe, 
„dadurch nur feine eigene Ignoranz zu Tage gelegt habe,“ worauf 
dann dieſe Schrift des Ramus auch unterdrückt und verboten 
ward. Uebrigens waren auf der andern Seite die Klagen der 
Frommen nicht ſelten, daß die Theologie durch den Einfluß des 
Ariſtoteles und ſeiner Commentatoren nur verdorben werde. 
Petrarca erzählt 23), daß einer jener italieniſchen Gelehrten, nach— 
dem er von den Apoſteln und den Kirchenvätern mit ſehr geringer 
Achtung geſprochen hatte, zu ihm geſagt habe: „Utinam tu Aver— 
„Toem pati posses, ut videres, quanto ille tuis his nugatoribus 
„major sit!“ 


der Reaction und aus der Erbitterung ſeiner Gegner erklären 
läßt, die endlich auch ihn zu Extremen fortgeriſſen hatte. Ueber 
ſeine vielen Schriften und ſein Leben ſehe man die Historia Petri 
Rami, Wittenb. 1713. Als Nachtrag zu der im Text erzählten 
Geſchichte wollen wir noch bemerken, daß Ramus einige Jahre 
nach ſeiner Verbannung wieder nach Paris kam, wo er die Ver— 
wirrung, welche eben die Peſt in dieſer Stadt verbreitete, benutzte, 
ſeinen früheren Lehrſtuhl wieder zu beſteigen. Er hütete ſich ſehr, 
hier auch nur den Namen des Ariſtoteles auszuſprechen, aber der 
neuerungsſichtige Lehrer drang dafür deſto eifriger darauf, künftig 
das Qu in der lateiniſchen Sprache nicht mehr, wie Kw, ſondern 
bloß wie k auszuſprechen, weil er nämlich gefunden haben wollte, 
daß die alten Römer es eben fo gemacht haben ſollten. Er ſprach 
demnach kiskis für Quisquis, und kamkam ſtatt Quanquam u. f. 
und dieß war ſchon genug, die Wuth ſeiner früheren Gegner wieder 
anzufachen, die den verruchten Anti-Ariſtoteles mit Stöcken von 
ſeinem Lehrſtuhle trieben, und die ihn aus der Stadt getrieben 
hätten, wenn er nicht bald darauf zur Nachtzeit auf der Gaſſe 
meuchlings ermordet worden wäre. L. 


28 


— 


Hallam, Vien of the state of Europe durlng the middle age. 
Lond. 1819. III. S. 536. 


Dogmatismus des Mittelalters. 311 


Als die Wiedererwachung der Wiſſenſchaften eintrat, und 
als eine große Anzahl Männer von Geiſt und Bildung, empfäng— 
lich für die Schönheiten des Styls und für die Würde des Aus— 
drucks, nähere Bekanntſchaft mit der Literatur der Griechen ge— 
macht hatten, da hatte allerdings Plato größere Reize für 
Männer dieſer Art, als der trockene Ariſtoteles. Damals erhob 
ſich auch eine neue, kräftige Schule von Platonikern, (die aber ſehr 
von den ehemaligen Neuplatonikern verſchieden waren), und ver— 
breitete ſich ſchnell über ganz Italien. An ihrer Spitze ſtanden 
mehrere der ausgezeichnetſten Männer dieſer Zeit, wie Marſilius 
Ficinus 2°) und der ſchon oben erwähnte Pico von Mirandola. 
Damals ſchien auch das Anſehen des Stagiriten ſeinem Falle ganz 
nahe zu ſeyn, obſchon es, in den Naturwiſſenſchaften wenigſtens, 
bald darauf wieder ſiegreich aus dem Kampfe mit ſeinen neuen Geg— 
nern hervorging. In der That konnte auch Ariſtoteles nicht durch 
bloße Diſputationen beſiegt werden, und die erwähnten italieniſchen 
Platoniker, ſo ehrenwerthe Leute ſie auch in anderen Beziehungen 
ſeyn mochten, waren doch nicht geeignet, die einzige Waffe, die 
ſich gegen ihren großen Gegner mit Vortheil führen ließ, die 
Waffe der Beobachtungen, zu gebrauchen. 

Aus dieſer Urſache gehört auch die Erzählung ihrer mannig— 
faltigen Streitigkeiten nicht in den Plan unſerer Geſchichte. 
Aus ähnlichen Gründen gedenken wir auch derjenigen nicht, die 
ſich der ſcholaſtiſchen Philoſophie, wegen ihren andern theoretiſchen 
Anſichten, feindlich entgegen ſtellten. Zwar ſind dergleichen all— 
gemeine Aufſtände gegen den Dogmatismus oder andere herr— 
ſchende Syſteme immer auch zugleich ſehr intereſſante und wich— 
tige Erſcheinungen, in der „Philoſophie der Wiſſenſchaften.“ 
Allein in dem gegenwärtigen Werke haben wir es nur mit der 
„Geſchichte der Wiſſenſchaften“ zu thun, und dieſe ſoll uns, wie 


29) Marſilius Ficinus, geb. 1433 zu Florenz, ein berühmter italieniſcher 
Arzt, der ſich beſonders um das Studium Plato's große Verdienſte 
erworben hat, deſſen Werke er, ſo wie auch die des Plotinus, 
Jamblichus und Proclus in die lateiniſche Sprache überſetzte. Im 
Jahre 1450 wurde er von Cosmo de medici als Lehrer der Plato— 
niſchen Philoſophie an der neuen Platoniſchen Academie zu Florenz 
angeſtellt, wo er mit großem Beifall lehrte. Er ſtarb 1499. Die 
beſte Ausgabe feiner Werke erſchien zu Baſel in 2 Foliobänden. L. 


312 Dogmatismus des Mittelalters. 


wir hoffen, ſpäter ſelbſt ein helleres Licht über jene Philoſophie ver— 
breiten helfen, und uns zugleich eine genügende Erklärung, ſowohl 
von dem Stillſtande dieſer Zeit, als auch von dem ihm folgen— 
den raſchen Fortgange des menſchlichen Geiſtes gewähren. 


5) Jurisprudenz und Arzneikunde. 


Unſere Abſicht war, die wiſſenſchaftliche Wüſte des Mittelalters 
mit ſchnellen Schritten zu durcheilen. In den unfruchtbaren Gegen— 
den, durch welche wir die Leſer geführt haben, hätten wir allerdings 
noch manche andere merkwürdige Gegenſtände bemerken, und meh— 
rere Spuren von Unterſuchungen anführen können, die zu ihrer Zeit 
die geiſtige Welt entzweiten, und von denen die Ueberreſte noch jetzt 
in unſeren politiſchen, philoſophiſchen und ſelbſt in unſeren gegen— 
wärtigen ſittlichen Verhältniſſen, in unſeren geſelligen Zuſtänden 
und auch in unſeren neueren Sprachen aufgefunden werden. Die 
heftigen und lange dauernden Streitigkeiten der Nominaliſten 
und Realiſten; die philoſophiſchen Diſputationen über den Grund 
der Moral und über die Motive der menſchlichen Handlungen; 
die Controverſen über die Prädeſtination, über den freien Willen, 
über die Gnade und über die Eigenſchaften der Gottheit; der gegen— 
ſeitige Einfluß, den die Metaphyſik und die Theologie auf ein— 
ander und auf andere Gegenſtände der menſchlichen Wiß- oder 
Neubegierde hatten; die Einwirkungen der öffentlichen Meinung 
auf die Politik, und der Politik auf die Anſichten des Volkes; 
der Einfluß der Literatur und der Philoſophie auf einander und 
auf die menſchliche Geſellſchaft überhaupt — dieſe und viele andere 
Gegenſtände würden uns wohl einer näheren Betrachtung bedür— 
fend erſchienen ſeyn, wenn unſere Hoffnung auf Erfolg nicht 
mehr in der ſtetigen Verfolgung unſeres Zweckes, als in dem 
Reichthume der angeführten Thatſachen beſtünde. Aus dieſer 
Urſache müſſen wir ſelbſt zwei andere Hauptſtudien jener Zeit 
übergehen, ſo einen großen Einfluß ſie auch auf die menſchliche 
Geſellſchaft hatten. Das eine derſelben, die Jurisprudenz, be— 
ſchäftigte ſich bloß mit den Begriffen der Moral und Sittlichkeit, 
und das andere, die Arzneikunde, mit den reellen Gegenſtänden 
des Lebens, wiefern beide dem praktiſchen Leben und vorzüglich der 
Erhaltung deſſelben angehörten. Von der Medizin werden wir 
ſpäter wieder zu ſprechen Gelegenheit haben, da ſie die vorzüg— 


Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 313 


lichſte Veranlaſſung zur Ausbildung der Chemie geweſen iſt. 
In ſich ſelbſt aber iſt dieſe Doctrin zu ſehr zuſammengeſetzt und 
unbeſtimmt zugleich, um ſie den eigentlich ſogenannten exacten 
Naturwiſſenſchaften zur Seite zu ſtellen. Die Geſetzkunde im 
Gegentheile, wenigſtens die römiſche, wird von ihren Bewunde— 
rern als eine ſyſtematiſche, deductive Wiſſenſchaft betrachtet, die, 
wenn wir ihnen glauben wollen, an Genauigkeit und Beſtimmt— 
heit ſelbſt den mathematiſchen Wiſſenſchaften gleich kommen ſoll. 
Immer aber wird es nützlich ſeyn, auch ſie näher zu betrachten, 
wenn wir in der Folge die Unterſuchung anſtellen werden, ob 
überhaupt zwiſchen den moraliſchen und phyſiſchen Wiſſenſchaften 
irgend eine Analogie ſtatthaben kann. 


— 000 


Fünftes Capitel. 
Fortſchritt der Künſte im Mittelalter. 


1) Kunſt und Wiſſenſchaft. 


Ehe wir die Geſchichte der Wiſſenſchaften wieder aufnehmen, 
muß ich einige Worte über die Aufſchrift dieſes Capitels vor— 
ausſchicken, damit mich die Leſer nicht des Verdachtes zeihen, 
als wollte ich dem Mittelalter Unrecht thun, und auch weil ich, 
bei dieſer Gelegenheit, einige bisher überſehene Umſtände anzu— 
führen Gelegenheit erhalte, die gleichſam als die Vorläufer des 
Wiederauflebens der Wiſſenſchaften betrachtet werden können. 

Jener Verdacht der Leſer könnte von dem bekannten Gemein— 
platze geholt werden, daß wir in unſerm Gemälde des Mittel— 
alters, in welchem Verwirrung und Myſticismus, Gervilität 
und Dogmatismus um die Herrſchaft ſtritten, die Vortheile, die 
Kenntniſſe und Schätze ganz überſehen hätten, denen wir doch 
ſo viele unſerer neueſten und wichtigſten Entdeckungen verdanken. 
Unſer Papier und ſelbſt unſer Pergament; die Buchdruckerei und 
die Kupferſtecherkunſt; die Vervollkommnung des Glaſes und des 
Stahls; das Schießpulver, die Glocken, das Fernrohr, der See— 
compaß, der verbeſſerte Kalender, die Decimaleintheilung bei 
unſern Rechnungen, die Algebra, Trigonometrie, Chemie und 
der Contrapunkt, der einer gänzlichen Umſchaffung der Muſik 


314 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 


gleich zu achten iſt — alle dieſe Schätze haben wir von jener 
Zeit geerbt, die wir ſo verächtlich die „ſtationäre Periode des 
menſchlichen Geiftes“ genannt haben. Und wenn wir nun gar 
die Denkmäler der Baukunſt aus dieſer Periode betrachten, dieſe 
Gegenſtände der Bewunderung und der Verzweiflung unſerer 
neuern Architecten, und zwar nicht bloß wegen ihrer Schönheit, 
ſondern auch wegen der uns unerreichbaren Geſchicklichkeit, welche 
die Erbauer dieſer Werke entwickelt haben, wie kann man, mit 
ſolchen Zeugniſſen vor unſern Augen, nur einen Augenblick an— 
ſtehen zu bekennen, daß die Meiſter jener Zeit doch wenigſtens 
einigen Fortgang in der Aſtronomie gemacht haben müſſen, wie 
wir doch in dem Vorhergehenden, aus Scheelſucht vielleicht, ge— 
laugnet haben, und wie könnte man nun vollends in Abrede 
ſtellen, daß ſie auch in anderen Wiſſenſchaften, in der Optik, 
der Harmonik, der Phyſik, und vor allem in der Mechanik ſehr 
bedeutende Kenntniſſe beſeſſen haben müſſen? Wenn wir, könnte 
man noch hinzuſetzen, wenn wir ſelbſt die gegenwärtige Vervoll— 
kommnung unſerer Künſte als einen Beweis des großen Fort— 
ſchritts unſerer phyſiſchen Wiſſenſchaften betrachten; wenn unſere 
Dampfmaſchinen, unſere Gasbeleuchtungen, unſere Tempel und 
Palläſte, wenn unſere Schifffahrt und unſere Manufacturen als 
der Triumph dieſer Wiſſenſchaften der neueren Zeit angeführt 
werden — ſollen dann alle früheren Entdeckungen, die unter 
viel ungünſtigeren Verhältniſſen gemacht worden ſind, ſollen dann 
jene noch viel größeren Werke der Kunſt, die aus einer viel 
niedrigern Stufe der menſchlichen Erkenntniß hervorgegangen 
ſind, ſollen ſie nicht auch als ein Beweis gelten dürfen, daß 
das Mittelalter ebenfalls ſeinen Theil, ſeinen guten und großen 
Theil an dieſer unſerer Erkenntniß anſprechen könne? 

Auf dieſe Fragen läßt ſich nur dadurch gehörig antworten, 
daß man den großen Unterſchied in Anſchlag bringe, der zwiſchen 
Kunſt und Wiſſenſchaft beſteht, das letzte Wort in dem 
Sinne einer allgemeinen, inductiven, ſyſtematiſchen Erkenntniß 
genommen, in welchem es in dieſem gegenwärtigen Werke 
immer gebraucht wird. Die genaue Trennung und die ſcharfe 
Vergleichung dieſer beiden Dinge gehört in die „Philoſophie der 
Induction,“ daher dieſes Geſchäft dem ſchon öfter erwähnten 
folgenden Werke aufbewahrt bleiben muß. Doch ſind die Haupt— 
unterſchiede zwiſchen beiden offenbar und klar genug, um hier auch 


Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 315 


ſchon als bekannt vorausgeſetzt werden zu können. Die Kunſt ift 
ihrer Natur nach praktiſch, die Wiſſenſchaft aber iſt theore— 
tiſch oder rein ſpeculativ. Die Sache der Kunſt iſt es, etwas 
darzuſtellen oder auszuführen; die Wiſſenſchaft aber bleibt bei 
der Betrachtung des bereits Gegenwärtigen, Ausgeführten ſtehen. 
Die Kunſt des Architecten zeigt ſich in ſeinem Bauwerke, obſchon 
er vielleicht nie über die abſtracten Sätze nachgedacht hat, von 
denen im Allgemeinen die Schönheit, die Stärke und die Dauer 
eines Gebäudes abhängt. Die Wiſſenſchaft des mathematiſchen 
Mechanikers aber zeigt ſich in ſeiner Einſicht, nach welcher die 
Körper, unter gegebenen Bedingungen, einander drücken oder 
unterſtützen, obſchon er vielleicht nie auch nur zwei Steine zu 
dieſem Zwecke an einander gefügt hat. 

Nun iſt aber wohl zu bemerken, daß die Kunſt in allen 
Fällen, der Zeit nach, vor der Wiſſenſchaft hergeht. Die Kunſt 
iſt die Mutter, nicht die Tochter der Wiſſenſchaft, und die 
practiſche Ausführung der Principien bildet immer einen weſent— 
Theil von dem Eingange ſowohl, als auch von der Folge einer 
jeden theoretiſchen Entdeckung. 

Obſchon demnach die oben angeführten Erfindungen des 
Mittelalters in der That noch einen guten Theil unſerer eigenen 
heutigen Kenntniſſe bilden, ſo ſind ſie doch keineswegs als Be— 
weiſe anzuſehen, daß dieſe Kenntniſſe auch ſchon damals exiſtirt 
haben, ſondern ſie zeigen uns nur, daß zu dieſer Zeit ſchon jene Kraft 
der practiſchen Beobachtung, jene practiſche Geſchicklichkeit exiſtirt 
haben müſſen, die überall die Vorläufer von theoretiſchen Doc— 
trinen und von wahrhaft wiſſenſchaftlichen Entdeckungen ge— 
weſen ſind. 

Man könnte einwenden, daß jene großen Kunſtwerke wenig— 
ſtens die Exiſtenz der wahren Principien ihrer Wiſſenſchaften 
vorausſetzen, und daß es daher ein Widerſpruch iſt, einem großen 
Künſtler dieſe Wiſſenſchaft abläugnen zu wollen. Man könnte 
ſagen, daß jene coloffalen Bauwerke von Köln, Straßburg, 
Wien oder Canterbury, ohne eine tiefe Kenntniß der Principien 
der Mechanik, nicht einmal hätten errichtet werden können. 

Darauf ſteht zur Antwort, daß eine ſolche Kenntniß noch 
ſehr von dem verſchieden iſt, was wir Wiſſenſchaft nennen. 
Wenn die ſchönen, allerdings von ſehr großer Geſchicklichkeit 
zeugenden Gebäude des Mittelalters ein Beweis ſeyn ſollen, 


316 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 


daß die Mechanik damals ſchon als Wiſſenſchaft exiſtirte, fo 
muß dieſe Wiſſenſchaft auch ſchon den Erbauern der Cyclopen— 
wälle in Griechenland und Italien, und der alten Steinhügel “) 
in England beigewohnt haben, da die ungeheueren Maſſen, die hier 
über einander gehäuft ſind, nicht ohne große mechaniſche Geſchick— 
lichkeit auf dieſe Höhe gebracht werden konnten. Aber man darf 
ſelbſt noch viel weiter gehen. Die Bewegungen jedes Menſchen, der 
ein Gewicht hebt oder trägt, oder der längs einem Balken hin— 
geht, ſetzt die Geſetze des Gleichgewichts als gegeben voraus, 
und ſelbſt die Thiere machen von dieſen Geſetzen Gebrauch. 
Beſitzen fie aber deßhalb auch ſchon die Mechanik als Wiſſen— 
ſchaft? Und wieder, wenn ſolche Handlungen, die mit Benutzung 
mechaniſcher Eigenſchaften ausgeführt werden, ſchon als ein Zeug— 
niß für den Beſitz der Mechanik als Wiſſenſchaft gelten ſollen, ſo 
müßte daſſelbe auch von der Geometrie gelten. Dann würden 
aber ſchon die alltäglichſten Handlungen der Menſchen und der 
Thiere beweiſen, daß ſie alle insgeſammt große Geometer ſind. Nach 
der Lehre der Epikuräer, wie uns Proclus berichtet, ſollen ſelbſt die 
Eſel wiſſen, daß die zwei Seiten eines Dreiecks zuſammen ge— 
nommen größer ſind, als die dritte. Man wird vielleicht ſagen 
können, daß dieſe Thiere eine Art practicher Kenntniß von dieſem 
Satze beſitzen, aber wer wird daraus den Schluß ziehen wollen, 
daß ſie die Geometrie als Wiſſenſchaft beſitzen? Und daſſelbe 
gilt auch von den Menſchen, bei denen die practiſche Aufnahme 
irgend eines Princips noch keineswegs auch zugleich die wiſſen— 
ſchaftliche Einſicht deſſelben vorausſetzt. 

Auch läßt ſich noch auf einem anderen Wege zeigen, wie 
unzulänglich die Meiſterwerke jener Künſtler des Mittelalters 
ſind, um daraus einen Beweis von dem Fortſchritte der Wiſſen— 
ſchaft zu ihrer Zeit zu entnehmen. — Der Zweck unſerer Ge— 
ſchichte iſt, diejenigen allgemeinen Principien anzuzeigen, welche 
jede einzelne Naturwiſſenſchaft conſtituirt. Daher gehören alle 
untergeordneten Thatſachen oder Entdeckungen auch nur ſo fern in 
unſern Bereich, als ſie entweder zu jenen Principien geführt haben, 
oder als ſie in ihnen ſchon enthalten waren, und nur in dieſer 


1) Stone-henge, große Felsblöcke, in der Geſtalt von alten Altären, 
in der Grafſchaft Salisbury, auf welchen die Druiden ihre Opfer 
geſchlachtet haben ſollen. L. 


Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 317 


Beziehung können ſie für uns ein beſonderes Intereſſe haben. — 
Wohlan denn, jene Leiſtungen der Künſte des Mittelalters, zu 
welchem wiſſenſchaftlichen Princip haben ſie uns geführt? Welche 
chemiſche Doctrin iſt aus der Fabrikation des Glaſes, des 
Stahls, des Schießpulvers hervorgegangen? Selbſt die Drucker: 
preſſe, welches wiſſenſchaftliche Princip der Mechanik hat ſie uns 
aufgeſchloſſen, das dem Archimeds verborgen geweſen wäre? — 
Wir ſprechen hier nicht von dem practiſchen Nutzen, oder von 
dem äußeren Werthe dieſer Erfindung, ſo wenig, als von der 
Geſchicklichkeit und dem Talente, das dazu erfordert wurde, 
ſondern wir fragen nur, welches iſt die Stelle, die dieſe Erfin— 
dungen in der Geſchichte der ſpeculativen Wiſſenſchaft einnehmen 
ſollen? Gewiß, ſelbſt in den wenigen Fällen, wo ihrer in einer 
ſolchen Geſchichte erwähnt werden kann, welche kleine Rolle 
ſpielen ſie, wenn ſie als ein integrirender Theil der Wiſſenſchaft 
betrachtet werden! Wie groß iſt der Abſtand zwiſchen ihrem 
practiſchen Nutzen und ihrem bloß theoretiſchen Werthe! Sie 
können immerhin der ganzen Welt eine neue Geſtalt gegeben 
haben; in der Geſchichte der wiſſenſchaftlichen Principien aber 
werden ſie größtentheils, ohne vermißt zu werden, ganz über— 
gangen werden können. 

Zur Erwiederung auf die Frage endlich, wie es komme, daß 
der hohe Stand der Künſte zu unſerer Zeit zugleich ein Beweis 
der wiſſenſchaftlichen Ausbildung dieſer Zeit ſeyn ſoll, während wir 
daſſelbe, von dem Mittelalter nicht gelten laſſen wollen, muß man 
ſagen, daß wir zuerſt einige dieſer Anſprüche, in Beziehung auf 
unſere Zeit, aufgeben ſollen. Die große Vollkommenheit der mecha⸗ 
niſchen und anderer Künſte unter uns beweist den vorgerückten 
Stand unſerer Wiſſenſchaften nur ſo weit, als wir annehmen 
dürfen, daß dieſe Künſte ihre Vorzüglichkeit der unmittelbaren 
Anwendung einer jener großen wiſſenſchaftlichen Wahrheiten, 
mit einer klaren Einſicht in die Natur dieſer Wahrheiten, zu 
danken haben. Die größte und wichtigſte Vervollkommnung der 
Dampfmaſchinen ſind wir der feſten und ſicheren Auffaſſung 
eines atmologiſchen Satzes durch den berühmten Watt ſchuldig; 
aber welches theoretiſche Princip wird auf gleiche Weiſe durch 
unſere ſchönen Manufacturen von Glas oder Stahl oder Por⸗ 
zellan erläutert? Eine chemiſche Unterſuchung dieſer zuſammen— 
geſetzten Körper, die uns die Bedingungen angäbe, unter welchen 


318 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 


dieſe Manufacturen gelingen oder mißrathen, würde für die 
Kunſt von großem Werthe ſeyn, und zugleich als eine wichtige 
Entdeckung in der Theorie der Chemie angeſehen werden. So 
wenig iſt daher der gegenwärtige Zuſtand dieſer Künſte als ein 
Triumph der Wiſſenſchaft unſerer Zeit anzuſehen. Daſſelbe 
kann aber auch noch von vielen, wo nicht von allen Künſten 
unſeres Jahrhunderts geſagt werden. 


2) Arabiſche Wiſſenſchaft. 


Nachdem ich auf dieſe Weiſe das Verhältniß der Wiſſen— 
ſchaft zur Kunſt genügend, wie ich glaube, auseinander geſetzt 
habe, werde ich deſto ſchneller über mehrere andere Gegenſtände 
wegeilen können, die uns ſonſt wohl länger aufgehalten haben 
würden. Obſchon übrigens dieſer Unterſchied ſchon längſt auch 
von anderen gemacht worden iſt, ſo iſt man doch nicht immer 
mit Strenge bei ihm verblieben, wie man aus den unbeſtimmten 
Ausdrücken ſieht, die für dieſe zwei ſo verſchiedenen Gegenſtände 
häufig angewendet werden. So ſagt z. B. Gibbon ?), indem er 
von dem Grad der Bildung des Mittelalters ſpricht: „In der 
„Ausübung der Künſte und in den Manufacturen wurden zu jener 
„Zeit viele nützliche Erfahrungen gemacht, aber die Wiſſenſchaft 
„der Chemie verdankt ihre Entſtehung und ihre erſte Verbeſſerung 
„ganz der Induſtrie der Saracenen. Sie erfanden und benann— 
„ten zuerſt den Brennkolben (Alembic) zum Zwecke der Deſtilla— 
„tion, ſie analyſirten die Subſtanzen der drei Naturreiche, er— 
„probten den Unterſchied und die Verwandtſchaften der Alkalien 
„und der Säuren, und ſie verwandelten giftige Metalle in heil⸗ 
„»ſame Arzneien.“ — Die erſte Bildung und die weitere Aus— 
bildung des Begriffs von Analyſe und Affinität waren 
allerdings wichtige Schritte der wiſſenſchaftlichen Chemie, aber 
ſie gehörten, wie ich ſpäter zeigen werde, den europäiſchen Che— 
mikern einer viel ſpätern Zeit an. Hätten die Araber dieſe 
Schritte gemacht, jo würden fie, mit Recht die Gründer der 
wiſſenſchaftlichen Chemie genannt werden. Aber in ihren auf 
uns gekommenen Werken wird man vergebens eine Lehre ſuchen, 
auf welcher ihre Anſprüche auf eine ſolche Auszeichnung gegrün— 


2) Gibbon's Geſch. des Verfalls u. |. w. Cap. 52. 


Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 319 


det werden könnten. Dieſe Anſprüche werden vielmehr durch 
unſere vorhergehende Bemerkung, über den Unterſchied zwiſchen 
Kunſt und Wiſſenſchaft, gänzlich vernichtet. — Welches war die 
Analyſe, durch die jenes Volk irgend eines der jetzt angenom— 
menen chemiſchen Principien aufgeſtellt hätte? Welche wahre 
Lehre über die Differenzen und Affinitäten der Säuren und 
Alkalien haben wir ihnen zu verdanken? Wir dürfen uns nicht 
verwundern, daß Gibbon, deſſen Anſicht von den Grenzen der 
wiſſenſchaſtlichen Chemie wahrſcheinlich ſehr beſchränkt und un— 
beſtimmt war, die chemiſchen Künſte der Araber mit in dieſe 
Grenzen aufgenommen hat, allein dieſe Künſte ſind und bleiben 
der wiſſenſchaftlichen Chemie, dieß Wort in ſeiner eigent— 
lichen Bedeutung genommen, völlig fremd. 

Das Urtheil aber, was wir über die Kenntniß des Mittel— 
alters, und beſonders der Araber, in der Chemie fällen müſſen, 
läßt ſich auch ſofort auf manche andere Doctrin anwenden, 
da die Chemie zu dieſer Zeit eine der Hauptbeſchäftigungen der 
Gelehrten war und daher vorzugsweiſe cultivirt worden iſt. In der 
Botanik, der Zoologie, der Anatomie, in der Optik und in der 
Akuſtik haben wir überall dieſelbe Bemerkung zu machen, daß 
nämlich die erſten bedeutenden Fortſchritte nach jenen, die früher 
ſchon die Griechen gemacht hatten, nur den Europäern des ſechzehn— 
ten und ſiebzehnten Jahrhunderts vorbehalten waren. Die Ver— 
dienſte und Vorzüge der Araber in der Aſtronomie und in der 
reinen Mathematik haben wir übrigens ſchon oben betrachtet. 


3) Experimentalphiloſophie der Araber. 


Die Schätzung des wahrhaft wiſſenſchaftlichen Verdienſtes 
des Mittelalters iſt alſo viel geringer ausgefallen, als es vielen 
ältern, und ſelbſt einigen neuern Schriftſtellern beliebt hat. 
Aber ich bin überzeugt, daß dieſe Anpreiſungen der hohen An— 
ſprüche, der Araber beſonders, ungegründet und unhaltbar ſind. 
Man kann dieſe Sache nur zur Entſcheidung bringen, wenn 
man ſich entſchließt, den Begriff des Wortes „Wiſſenſchaft“ in 
einem ſcharf beſtimmten Sinn zu nehmen ). Wenn wir aber 


3) Wenn es meine Abſicht wäre, den Verfaſſer einer ſehr intereſſanten 
Darſtellung des hier in Rede ſtehenden Zeitraums zu kritiſtren 


320 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 


dieß thun, ſo werden wir ſehr wenig finden, in den einzelnen 
Entdeckungen ſowohl als auch in den allgemeinen Methoden der 
Araber, was in einer Geſchichte der inductiven Wiſſenſchaften 
von Bedeutung ſeyn könnte. 

Das Anſehen aber, welches die Araber wegen ihrer Ver— 
beſſerung der allgemeinen Methode des Philoſophirens erhalten 
haben, iſt ſchwerer mit Genauigkeit zu unterſuchen. Wir 
werden die Antwort auf dieſe Frage erſt dann geben können, 
wenn wir einmal die Geſchichte aller dieſer Methoden im Ab— 
ſtracten betrachtet haben werden, was nicht der Zweck unſerer 
gegenwärtigen Schrift iſt. Doch dürfen wir ſchon jetzt bemerken, 
daß wir nicht mit denen übereinſtimmen, die auch hierin die 
Verdienſte der Araber wieder ſehr hoch anſchlagen. Wir haben 
bereits geſehen, daß ihr Geiſt durch die zwei ſchlechteſten Eigen— 
ſchaften des Mittelalters, durch Myſticismus und Commenta— 
tionsſucht, verfinſtert war. Sie folgten beinahe alle ihren grie— 
chiſchen Führern mit willenloſem Sklavenſinne, und was ihren eige— 
nen Scharfſinn oder ihre von den Griechen unabhängigen Specus - 
lationen betraf, ſo waren ihnen dieſe Eigenſchaften nur eben in 
dem Maaße zugetheilt, als es dem Berufe eines Commentators 
entſprechend erſcheinen mag. Selbſt ihre Wahl des Hauptge— 
genſtands dieſer Commentationen, die Phyſik des Ariſtoteles, 
war eine ſehr unglückliche zu nennen, da dieſes Buch durchaus 
nichts zum eigentlichen Fortgange der Wiſſenſchaft, oder doch 


(m. ſ. Mahometanism unveiled, by the Rev. Charles Forster. 1829), 
ſo würde ich vor allem bemerken, daß in dieſem Werke jene Vor— 
ſicht gar zu wenig angewendet worden iſt. So heißt es Vol. II. 
S. 270 von Alhazen: „In dieſem Auctor kann allerdings die „Theorie 
„des Teleſcops gefunden werden,“ und von einem anderen wird 
geſagt, „Der Gebrauch der Vergrößerungsgläſer und der Fern— 
„röhre, ſo wie auch das Princip der Conſtruction dieſer Inſtru— 
„mente, ſind in dem großen Werke des Roger Bacon mit einer 
„Wahrheit und Deutlichkeit auseinander geſetzt, die zur allgemei— 
„nen Bewunderung auffordern.“ Solche Ausdrücke würden ſchon 
viel zu viel ſagen, ſelbſt wenn ſte auf die optiſchen Lehren Keplers 
angewendet würden, die doch unvergleichbar mehr Wahrheit und 
Deutlichkeit haben, als die von Baco. Solche Worte in ſolchem 
Sinn zu brauchen, heißt den Ausdrücken Theorie, Wiſſenſchaft, 
Princip u. ſ. f. alle beſtimmte Bedeutung rauben. 


Fortſchritte der Künfte im Mittelalter. 321 


nur inſofern beigetragen hat, daß eben dieſe Lehre endlich zum 
Widerſtande und zur Widerlegung aufgefordert hat, eine Auffor— 
derung, welche den Arabern ſelbſt immer fremd geblieben iſt. Sie 
haben einige Schritte über die Aſtronomie der Griechen hinaus 
gemacht, wie wir ſchon oben erwähnten, beſonders durch die 
Entdeckung des Albategnius von der Bewegung des Apogeums 
der Sonne, und durch die erſt in unſeren Tagen wieder erweckte 
Entdeckung des Abul Wefa von einer zweiten Ungleichheit des 
Mondes. Aber man kann nicht umhin, dabei zu bemerken, daß 
ſie dieſe beiden Entdeckungen auf eine ganz andere Weiſe be— 
handelten, als dieß von Hipparch oder Ptolemäus geſchehen 
ſeyn würde. Die letzte der beiden erwähnten Entdeckungen, die 
„Variation des Monds“ wurde nicht von den Arabern dem bis— 
herigen aſtronomiſchen Syſtem, durch Hülfe eines neuen Epicykels, 
einverleibt, wie es Ptolemäus mit der von ihm gefundenen 
„Evection“ gethan hat, ſondern jene Entdeckung gerieth, wahr— 
ſcheinlich bald nach der Zeit, wo ſie gemacht worden war, wieder 
in Verfall und in gänzliche Vergeſſenheit, zum Beweiſe, daß 
die arabiſchen Aſtronomen nur gewohnt waren, ihre Weisheit 
aus fremden Büchern, nicht aber aus eigenen Beobachtungen und 
Nachdenken zu nehmen. Daß ſie aber in manchen anderen Dingen 
Experimente gemacht haben, kann immerhin zugegeben werden. 
Iſt doch nie, in dem ganzen Laufe unſerer Menſchengeſchichte, 
eine Zeit da geweſen, wo nicht, in Beziehung auf Handel und 
Manufactur, auf Kunſt und Luxus vielerlei Verſuche gemacht 
worden ſind, die man eben ſo gut Experimente nennen könnte. 
Auch haben die Araber, wir wollen es nicht in Abrede ſtellen, 
von den Griechen die Liebe zur Botanik und Zoologie, ſo wie 
die zur Alchemie, erhalten und auch mit einer Art von Vorliebe 
gepflegt. Aber ſie waren ſo weit davon entfernt, „ein Volk zu 
»ſeyn, deſſen intelligente Experimente fie zur Ausbildung von 
„solchen Wiſſenſchaften geeignet machten, die ſelbſt dem abſtracten 
„Scharfſinn der Griechen verborgen geblieben ſind,“ wie ſich der 
oben erwähnte Forſter (II. 271) ausdrückt, daß man vielmehr die 
umgekehrte Behauptung aufſtellen muß, daß nämlich die Araber 
mehrere von den Wiſſenſchaften, die von den Griechen erfunden 
wurden, nicht einmal zu begreifen im Stande geweſen ſind. Ich 
wenigſtens ſehe nichts, was beweiſen könnte, daß dieſe gerühm— 
ten Schüler der Griechen ſich auch nur bemüht hätten, die reellen 
Whewell. I. 21 


322 Fortſchritte der Künfte im Mittelalter. 


Principien der Mechanik, der Hydroſtatik oder der Harmonik zu 
verſtehen, welche ihre Meiſter vor ihnen gefunden und aufgeſtellt 
hatten. Wie dieß aber auch ſeyn mag, das iſt gewiß, daß 
Europa zu der Zeit, wo dieſe Wiſſenſchaften wieder auflebten, 
da wieder anfangen mußte, wo die Griechen aufgehört hatten. 
Man findet auch nicht einen einzigen arabiſchen Namen, den 
ſelbſt irgend einer ihrer Bewunderer zwiſchen Archimedes und 
Galilei als Mittelsmann aufzuſtellen gewagt hätte. 


4) Roger Bacon. 


Ein Schriftſteller des Mittelalters aber iſt noch da, auf den 
man immer ein beſonderes Gewicht gelegt hat, und der auch ohne 
Zweifel ein ſehr merkwürdiger Mann geweſen iſt. Die Werke 
des Roger Baco ) find nicht bloß ſehr weit vor feinem Zeitalter 


4) Roger Baco wurde, wie ſchon erwähnt, i. J. 1214 in Sommerſet 
geboren, ſtudirte in Oxford, ging zu ferner weitern Ausbildung 
nach Paris und trat, nach ſeiner Rückkehr, i. J. 1240 in den 
Franziskaner-Orden zu Oxford. In der Einſamkeit ſeiner Zellen 
beſchäftigte er ſich vorzüglich mit Naturforſchung, und durch ſel— 
tenen Scharfſinn und Eifer erhob er ſich bald weit über ſein Zeit— 
alter. Er gerieth durch ſeine Kenntniſſe und Entdeckungen in den 
Verdacht der Zauberei, wurde verfolgt und ſelbſt viele Jahre durch in 
einen Kerker geſperrt. Bald nach ſeiner endlichen Befreiung ſtarb 
er um das Jahr 1293 zu Oxford. Aus ſeinen Schriften, von 
welchen die ungedruckten in den Cottoniſchen Handſchriften des 
britiſchen Muſeums aufbewahrt werden, ſieht man, daß er von 
den Vergrößerungsgläſern, ſelbſt von den Fernröhren, wenigſtens 
eine ahnende Vorausſicht hatte, jo wie von dem Phosphor, als 
einem unauslöſchlichen Feuer, von dem Schießpulver u. dergl. 
Von ihm iſt wohl zu unterſcheiden ſein großer Nachfolger Franz 
Bacon von Verulam, geb. 1561 zu London, ebenfalls einer der 
außerordentlichſten Geiſter ſeiner und vielleicht aller Zeiten, der 
als Reformator der geſammten Philoſophie durch Richtung auf 
Erfahrung und Natur Epoche gemacht hat. Schon in ſeinem 
ſechszehnten Jahre erklärte er ſich, in ſeiner erſten Schrift, gegen 
die ſcholaſtiſch⸗ ariſtoteliſche Philoſophie. Drei Jahre ſpäter, nach— 
dem er ganz Frankreich durchreist hatte, ſchrieb er ein Werk über 
den Zuſtand Europa's, das mit allgemeinem Beifall aufgenommen 
wurde. In ſeinem acht und zwanzigſten Jahre wurde er zum 


Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 323 


voraus, ſondern ſie ſind auch in ihren Aſſertionen, in ihren 
Beobachtungen und in ihren Vorherſagungen künftiger Erkenntniſſe 
ſo gänzlich verſchieden von dem Geiſte ſeiner Zeit, daß es in 
der That ſchwer wird, einzuſehen, wie ſolch' ein Mann in dieſer 
Zeit entſtehen konnte. Ohne Zweifel erhielt er viele ſeiner Kennt— 
niſſe von arabiſchen Schriftſtellern, die zu ſeiner Zeit gleichſam 
die allgemeine Niederlage aller traditionellen Wiſſenſchaft der 
Vorzeit bildeten. Aber daß er auch von ihnen gelernt hätte, das 
Joch des Ariſtoteles abzuſchütteln, die Wichtigkeit der Experi— 
mente und Beobachtungen einzuſchärfen und auf die Kenntniß 
ſeines Jahrhunderts nur als auf die Kindheit der Wiſſenſchaft 
herabzublicken, dieß kann ich nicht glauben, weil ich noch nie in 
den Werken der Araber eine Stelle gefunden oder von anderen 
erwähnen gehört habe, die ſolche Anſichten ausdrücken. Auf der 
anderen Seite finden wir in den älteren europäiſchen Schriftſtellern, 
in den klaſſiſchen Autoren Griechenlands und Roms, jenen geſunden 


außerordentlichen Rath der Königin Eliſabeth ernannt. Sein 
leichtſinniges Betragen gegen den Grafen Eſſex, ſeine ſchwankende 
Partheiſucht, ſeine immerwährenden Geldverlegenheiten, und die 
Handlungen des Eigennutzes, die er ſich erlaubte, als er im 
Jahr 1619 bereits zum Großkanzler von England erhoben war, 
überlieferte ihn endlich der Strenge der Geſetze. Er wurde, nach— 
dem er die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Klagen über Er— 
preſſungen faſt ſämmtlich eingeſtanden hatte, zu einer großen Geld— 
buße und zur Einkerkerung in den Tower verurtheilt. Später wurde 
dieſes über den ſonſt gut geſinnten Mann gefällte Urtheil wieder 
gemildert, und der König Jakob J. wandte ihm wieder feine frühere 
Gunſt zu. Bacon ſtarb im Jahr 1626. Seine vorzüglichſten 
Werke find: De dignitate et augmentis scientiarum. (engl. London 
1605 lat. London 1623 und deutſch Peſth 1783); Novum organon 
scientiarum (London 1620, und deutſch Leipzig 1830). Dieſe beiden 
Werke find als Theile eines größeren, Instauratio Magna, zu be: 
trachten, welches letztere er wahrſcheinlich noch weiter ausführen 
wollte. Sonſt beſitzen wir noch von ihm Sermones fideles über mora— 
liſche Gegenſtände; die Geſchichte Heinrichs VII. und VIII.; eine 
Schrift über die Weisheit der Alten, eine Naturgeſchichte unter 
dem Titel Silva silvarum, nebſt mehreren anderen über die Arz— 
neikunde, die Chemie, Aphorismen über die Rechtswiſſenſchaft u. f. 
Eine Ausgabe feiner ſämmtlichen Schriften erfchien von Mallet. 
London 1765 in fünf Quartbänden. I.. 


51 * 
21 


324 Fortſchritte der Künfte im Mittelalter. 


Sinn, jenen kühnen, männlichen Geiſt, der wohl zu ähnli— 
chen Anſichten leiten konnte. Wir haben bereits bemerkt, 
daß Ariſtoteles mit den deutlichſten und beſtimmteſten Worten 
ſich dahin ausſpricht, daß alle Erkenntniß unmittelbar aus der 
Beobachtung entſtehen muß, und daß jede Wiſſenſchaft nur durch 
Induction aus Thatſachen gebildet werden kann. Auch haben 
wir geſehen, wie die römiſchen Schriftſteller, beſonders Seneca, 
mit zuverſichtlicher Begeiſterung von den Fortſchritten ſprechen, 
welche die Wiſſenſchaft noch in der Folge der Zeiten machen 
wird. Wenn nun Roger Baco im dreizehnten Jahrhundert eine 
ähnliche Sprache führt, ſo mag wohl dieſe Aehnlichkeit mehr 
aus der Sympathie des Charakters, als aus unmittelbarem 
Selbſtdenken kommen, aber mir wenigſtens iſt nichts bekannt, 
was uns zu einer ſolchen Verbindung zwiſchen ihm und den 
arabiſchen Schriftſtellern führen könnte. 

In den letzten Zeiten iſt auch viel geſprochen worden über die 
Aehnlichkeiten der Anſichten Roger Baco's mii denen feines großen 
Namensverwandten Franz Baco von Verulam im ſechszehnten 
Jahrhundert »). Die Aehnlichkeit beſteht hauptſächlich in ſolchen 
Punkten, wie die ſo eben erwähnten, und man muß geſtehen, 
daß gar manche von den Ausdrücken des Franziskaner-Mönchs 
uns an die großen Gedanken und hohen Conceptionen des phi— 
loſophiſchen Kanzlers mahnen. Wie weit man von dem erſten 
ſagen kann, daß er die Methoden des zweiten anticipirt habe, 
werden wir ſpäter umſtändlicher unterſuchen, wenn wir von dem 
Charakter und der Wirkung ſprechen werden, welche die Schriften 
des Franz Baco gehabt haben.“ 


5) Baukunſt des Mittelalters. 


Obſchon wir aber gezwungen ſind, mehrere von den An— 
ſprüchen zu läugnen, die man zu Gunſten des wiſſenſchaft— 
lichen Charakters des Mittelalters geltend machen wollte, ſo 
gibt es doch zwei Gegenſtände, von welchen man, wie ich glaube, 
reelle Spuren von wiſſenſchaftlichen Ideen dieſes Zeitalters er— 


5) Hallam’s Middle Ages. III. 539. Forster's Mahom. Unveiled. 
U. II. 313. 


Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 325 


blickt, und die daher als die eigentlichen Vorläufer der kom— 
menden Periode der Entdeckungen betrachtet werden können. 
Ich meine die practiſche Architektur und die Schriften jener 
Zeit über eben dieſen Gegenſtand. 

In der Einleitung zu dieſem vierten Buche haben wir zu 
zeigen verſucht, auf welche Weiſe die Unbeſtimmtheit der Ideen, 
welche den Verfall des römiſchen Reiches begleitete, auch in der 
Form ihrer Bauwerke bemerklich wurde, nämlich in dem Miß— 
verhältniß zwiſchen den Verzierungen dieſer Gebäude und den 
nothwendigen mechaniſchen Bedingungen der Feſtigkeit derſelben. 
Das urſprüngliche Schema der architektoniſchen Verzierungen der 
Griechen beſtand in horizontalen Maſſen, die auf verticalen 
Columnen ruhten. Als die Römer die Gewölbe annahmen, 
wurden ſie ganz verſteckt oder in einem untergeordneten Zuſtande 
gehalten, und die Seitenſtützen, welche das Gewölbe forderte, 
wurden wieder entweder nur heimlich angebracht oder durch irgend 
ein anderes Kunſtwerk wieder verhehlt. Dieſer Streit zwiſchen der 
rein mechaniſchen und der bloß verzierenden Eonftruction 6) endete 
mit einer vollſtändigen Disorganiſation alles klaſſiſchen Styls. 
Jene Unzukömmlichkeiten und Ausſchweifungen, die wir oben 
angeführt haben, waren die Anzeigen und zugleich die Reſultate 
des Verfalls aller guten Architektur. Die Elemente des alten 
Syſtems hatten auf dieſe Weiſe ihre Bedeutung, ihren Zuſam— 
menhang verloren. Die Baukunſt ſank nicht bloß zu einem Hand— 
werke herab, ſondern dieſes Handwerk wurde noch überdieß von 
Männern ohne Einſicht und Geſchmack getrieben. 

Als nun die Architektur, nach ihrem tiefen Falle, im zwölf— 
ten und den folgenden Jahrhunderten ſich wieder in den ſchönen 
und geſchickt ausgeführten ſogenannten gothiſchen Gebäuden 
wieder erhob, was war die Urſache dieſer Veränderung, ſo weit 
ſie auf einen wiſſenſchaftlichen Fortgang zeigte? — Die Ideen 
der wahren Verhältniſſe eines Gebäudes waren wieder in dem 
Gemüthe der Menſchen erwacht, wenigſtens in Beziehung auf 
Kunſt und Schönheit der Darſtellung, und dieß, ſo verſchieden 
es auch von dem Wiedererwachen einer rein wiſſenſchaftlichen Idee 


6) Man ſehe die vortrefflichen Remarks on the Architecture of the 
Middle Age, von Willi. Cap. II. 


326 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 


ſeyn mag, konnte doch immer als eine Vorbereitung dazu gelten. 
Fortan wurde der Begriff der Stabilität und der Unterſtützung, 
ſelbſt in den Verzierungen der Baukunſt, wieder ſichtbar und auch 
als allgemeine Vorſchrift aufgeſtellt. Das Auge des verſtändigen 
Mannes, wenn es in beſtimmten und richtigen Verhältniſſen der 
Theile eines Gebäudes nach Schönheit ſucht, wird nur dann zu— 
frieden geſtellt, wenn jedes Gewicht dieſer Theile gehörig unter— 
ſtützt wird, und dieſes Bedürfniß wurde nun wieder befrie— 
digt ). Die Baukunſt legte ihr barbariſches Kleid ab, und eine 
neue Art von architektoniſcher Verzierung reifte heran, keine hin— 
dernde und widerſprechende, ſondern eine hülfreiche, eine mit 
den Bedingungen der allgemeinen Mechanik in harmoniſchem 
Einklang ſtehende Art. Alle bloß verzierenden Theile fügten ſich 
in die Forderungen des Hauptzweckes, und wurden ebenfalls 
Träger von Laſten, und mitten unter der Menge von Stützen, 
deren eine die andere trug, mitten in der daraus entſpringenden 
Vertheilung der Gewichte, war das Auge des Betrachters zufrieden 
geſtellt durch die Feſtigkeit der Structur des Ganzen, ſo ſehr 
auch die einzelnen Theile deſſelben dünn und ſchwach erſcheinen 
mochten. Bogen und Gewölbe, nicht mehr durch unangemeſſene 
Verzierungen zerſchnitten, ſondern durch zweckmäßigere Formen 
getragen und begünſtigt, fanden ihre Grenze nur mehr in der 
Kunſt des Baumeiſters, und alles zeigte, daß die Menſchen, 
wenigſtens auf eine practiſche Weiſe, den wahren Begriff von 
Druck und Unterſtützung wieder erhalten hatten, und daß ſie ihn 
auch mit Feſtigkeit und Geſchmack auszuführen wußten. 

Der Beſitz dieſer Idee, als eines Princips der Kunſt, führte 
dann im Laufe der Zeit zu der ſpeculativen Entwicklung der— 
ſelben, als der Grundlage einer Wiſſenſchaft, und auf dieſe Weiſe 
bereitete die Baukunſt gleichſam den Weg für die Mechanik vor. 
Allein dieſer Uebergang erforderte mehrere Jahrhunderte. Die 
Zwiſchenzeit von der bewunderungswürdigen Cathedrale zu Sa— 
lisbury in England, von der Metropolitankirche in Amiens, 
Köln, Straßburg und Wien, bis zu den mechaniſchen Abhand— 
lungen des Stevinus und des Galilei, betrug nicht weniger als 


7) M. ſ. Willi's angezeigtes Werk. S. 15 — 21. Ich habe die Dar: 
ſtellungen dieſes trefflichen Schriftſtellers über den gothiſchen Styl 
fleißig benützt. 


Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 327 


drei volle Jahrhunderte. Seit der letzten Epoche ſchritt die Wiſſen— 
ſchaft vor, aber die Kunſt ging auch von derſelben Zeit an zurück. 
Die Bauwerke des fünfzehnten Jahrhunderts, die zu derſelben 
Zeit errichtet wurden, wo die wiſſenſchaftlichen Principien der 
Mechanik bereits in allgemeinen Formeln aufgefaßt wurden, ſtellen 
dieſe Principien ſchon mit viel weniger Nachdruck und Einfach: 
heit und Eleganz dar, wie jene des dreizehnten Jahrhunderts. 
Wir werden weiter unten ſehen, ob man noch andere Beiſpiele 
für den ſo allgemein angenommenen Glauben anführen kann, 
daß der Fortgang der Wiſſenſchaft gewöhnlich von den Rück— 
ſchritten der Kunſt begleitet iſt. 

Das leitende Princip des ſogenannten gothiſchen Styles 
war nicht bloß, daß jede Laſt gehörig unterſtützt, ſondern daß 
dieſe Unterſtützung auch ſichtbar gemacht werde, und daß auf ſolche 
Weiſe dieſe gegenſeitigen Verhältniſſe der Laſten, nicht bloß bei den 
größeren Maſſen, ſondern auch bei den kleinſten Gliedern des Gan— 
zen, den Augen fühlbar dargeſtellt werden. Jeder andere Styl, in 
welchem dieſe Verhältniſſe nicht beobachtet ſind, wird daher auch 
nicht als der urſprüngliche oder reine gothiſche Styl betrachtet 
werden können. In den arabiſchen Bauwerken der vorhergegan— 
genen Zeit bemerkt man aber keineswegs jene verhältnißmäßige 
Unterſtützung der Laſten oder jenen mechaniſchen Zuſammenhang 
der einzelnen Theile, der allein das Ganze über den Charakter 
einer barbariſchen Baukunſt zu erheben im Stande iſt. Die 
Maſſen dieſer arabiſchen Gebäude ſind in unzählige einzelne 
Theile geſondert, die weder Subordination noch Beziehung gegen 
einander haben, und die bloß aus grillenhafter Laune oder aus 
Liebe zum Abentheuerlichen aufeinander gehäuft ſcheinen. „In 
„»der Conſtruction ihrer Moſcheen war es ein Lieblingseinfall 
»der Araber, ungeheuere maſſive Laſten durch ſehr dünne Säulen 
„tragen zu laſſen, damit es ſcheinen ſolle, als würden jene 
„Maſſen durch eine unſichtbare Hand in der Luft ſchwebend 
„erhalten ?).“ Dieſe Luft in der Betrachtung ſcheinbar unmög— 
licher Dinge iſt zwar ſehr allgemein unter den Menſchen, aber 
ſie ſcheint doch mehr der Kindheit, als dem verſtändigen Man— 
nesalter der Völker anzugehören. Das Vergnügen, das die 


8) Forster, Mahom. Unveiled. II. 255. 


328 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 


klare Betrachtung der Wahrheit erzeugt, das Beſtreben nach 
einer vollkommenen Einſicht der Urſachen der Dinge, dieß iſt 
allein dem reiferen europäifchen Geiſte eigen, und dieß allein 
führt auch zur Wiſſenſchaft. 


6) Abhandlungen über die Baukunſt. 


Wer nur immer die Werke derjenigen Baukunſt, die von dem 
zwölften bis zum fünfzehnten Jahrhundert in England, Frank— 
reich und Deutſchland vorherrſchte, in Beziehung auf ihre 
Schönheit und Symmetrie, auf ihre Gleichförmigkeit und innere 
Conſiſtenz, ſelbſt in den kleinſten und verſteckteſten Theilen, be— 
trachtet hat, wird darin ein beſtimmtes, und auf eine ſehr merkwür— 
dige Weiſe eng verbundenes, künſtleriſches Syſtem erblicken. Auch 
läßt ſich nicht zweifeln, daß dieſe Gebäude von einer Klaſſe von 
Künſtlern aufgeführt wurden, die in einer innigen Verbindung un— 
ter einander ſtanden, und die ſich ſelbſt unter einander durch müh— 
ſame Studien und Arbeiten auszubilden ſuchten. Gewiß fehlte 
es dieſen Corporationen nicht an Meiſtern und Schulen, nicht 
an einer angemeſſenen Disciplin, noch an beſtimmten traditionellen 
Lehrern der Kunſt. Ich will hier nicht unterſuchen, auf welche 
Weiſe ſich dieſe Künſtlervereine über ganz Europa verbreiteten, 
noch ob überhaupt eine genaue Geſchichte dieſes merkwürdigen 
Vorgangs in unſern Zeiten noch möglich iſt. Allein das Daſeyn 
ſolcher gleichförmigen, allgemeinen Bildungsinſtitute, die Exiſtenz 
eines ſolchen umfaſſenden Lehrgebäudes iſt ſchon durch die große 
Anzahl der Kirchen erwieſen, die alle in ihrer allgemeinen Form 
ſowohl, als auch in der Anwendung der einzelnen Theile, unter 
einander ſo große Aehnlichkeit zeigen. Die Frage iſt alſo nur: ſind 
dieſe Lehren, iſt dieſes Syſtem der Bildung jener Baukünſtler auch 
irgendwo ſchriftlich verzeichnet worden? Können wir den Fort— 
gang der Kunſt, die wir in den Bauwerken aus jener Zeit be— 
wundern, auch durch Schrifien nachweiſen? 

Es darf uns nicht auffallen, wenn wir aus derjenigen 
Periode, wo die Kunſt ſich practiſch am thätigſten bezeigte, wo 
ſie in jenen Prachtwerken am herrlichſten ſich entfaltete, keine 
Bücher über ſie auffinden können. Die Kunſt wurde, zu allen 
Zeiten und bei allen Völkern, nur durch die Ausübung ſelbſt 
und durch wörtliche Tradition, nicht aber durch Bücher gelehrt. 


Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 329 


Nur unſern eigenen Tagen ſcheint es vorbehalten zu ſeyn, alles, 
was wir den Andern mittheilen oder vor dem Untergange er— 
halten wollen, der Schrift anzuvertrauen. Und ſelbſt jetzt noch 
wird gar manche Kunſt weit mehr auf practiſchem Wege und 
durch Verbindung mit denen, die ſie ausüben, als durch eigent— 
liche Lectüre erworben. Dieß iſt der Fall nicht bloß mit allen 
Manufacturen und Handwerken, ſondern ſelbſt mit den feineren 
Künſten, mit dem Maſchinenbau, ja ſelbſt mit der Baukunſt, 
von der wir eben ſprechen. 

Wir werden uns alſo nicht verwundern, wenn wir aus 
jener Periode der großen Baukünſtler des Mittelalters keine 
Abhandlungen über ihre Kunſt finden; oder auch, wenn wir ſehen, 
daß die wenigen Schriftſteller, die uns etwa noch aus jener 
Zeit aufbehalten wurden, aus ganz anderen Gründen, als wir 
erwarten, zur Mittheilung ihrer Ideen bewogen wurden; oder 
endlich, wenn ſie, ſtatt ſich über die erſten Principien der Kunſt, 
die ſie ſo vortrefflich practiſch darzuſtellen wußten, auch eben ſo 
gut theoretiſch zu verbreiten, in frivolen Bemerkungen und in 
jenen ſpeculativen Ausſchweifungen ſich ergießen, die zu ihrer 
Zeit in der Welt der Künſtler eine Art von Mode geworden 
waren. 

Dies ſcheint auch in der That der Fall geweſen zu ſeyn. 
Die früheſten Abhandlungen über die Baukunſt aus dem Mittel— 
alter tragen alle das Gepräge des commentatoriſchen Geiſtes jener 
Zeit. Sie beſtehen größtentheils in Ueberſetzungen des Vitrup, allen: 
falls mit Anmerkungen begleitet. In einigen dieſer Schriften, wie 
z. B. in der des Cesare Cesariano, die 1521 zu Como erſchien, 
ſehen wir, wie die einmal angenommene Sitte, in jedem 
Zweige der Literatur die Alten als Meiſter zu betrachten, auf 
eine ſonderbare Weiſe den Autor dahin bringt, ſelbſt die ganz 
neue gothiſche Baukunſt den Vorſchriften des Römers fklaviſch 
zu unterwerfen. Da ſehen wir gothiſche Schafte, gothiſche 
Simswerke und andere Verzierungen mit ſolchen zuſammenge— 
ſtellt, die dem römiſchen Style angehören ſollen, die aber in 
der That nur aus jener vermiſchten Baukunſt genommen ſind, 
welche die Ital äner den Styl der linque cento, und die Frans 
zoſen den der renaissance genannt haben, und die bis jetzt noch 
in England unter dem ſogenannten Styl der Eliſabeth begriffen 
werden. Uederdieß kommt aber auch in den frühern architektoniſchen 


330 Fortſchritte der Künſte im Mittelalter. 


Schriften jener Zeit, nebſt einer abergläubiſchen und mißverſtan— 
denen Gelehrſamkeit, die den Fortgang aller reellen architektoniſchen 
Lehren hinderte, ein anderes, bereits erwähntes Element des Mit— 
telalters, nämlich der Myſticismus, zum Vorſchein. Die Dimen— 
ſionen und die gegenſeitigen Lagen der verſchiedenen Theile eines 
Gebäudes werden durch verſchränkte Dreiecke, Vierecke, Kreiſe und 
andere Figuren beſtimmt, und dieſen geometriſchen Figuren werden 
beſondere abſtruſe Bedeutungen beigelegt. So wurde die Fronte 
der Cathedrale zu Mayland in Ceſariano's Schrift durch verſchie— 
dene gleichſeitige Dreiecke conſtruirt, und aus dem Ernſt, mit 
welchem er die Verhältniſſe dieſer Dreiecke darſtellt, blickt deut— 
lich genug feine myſtiſche Denkweiſe hervor ). 

Auch in den übrigen Schriften des Mittelalters, die uns 
in Beziehung auf Architektur noch intereſſiren könnten, finden 
wir dieſen Myſticismus mit Erudition gepaart. Demungeachtet ha— 
ben dieſe Schriften immerhin ihren Werth. In der That ſcheint der 
Ausbildung einiger Künſte die Beimiſchung eines gewiſſen Grades 
von Myſticismus nicht eben ſchädlich zu werden, und es kann immer 
ſeyn, daß die Verhältniſſe der geometriſchen Figuren, wenn auch 
myſtiſche Gründe dafür angeführt werden, einige reelle Principien 
der Schönheit oder der Stabilität in ſich enthalten. Abgeſehen 
davon finden wir aber in den beſten Werken aller Zeiten über 
Architektur, ſo wie über den Maſchinenbau, daß den Verfaſſern 
derſelben der wahre Begriff des mechaniſchen Drucks heller und 
deutlicher beiwohnt, als allen übrigen gebildeten Männern ihrer 
Zeit, obſchon dieſer Begriff vielleicht bei jenen nicht immer in 
einer wiſſenſchaftlichen Geſtalt entwickelt erſcheint. Dieſe Be— 
merkung gilt ſelbſt noch von unſerer eigenen Zeit, und jene 
beiden Künſte würden auch gewiß jetzt nicht ſo hoch ſtehen, wenn 


9) Den Plan, den er Fol. 14 gibt, betitelt er: „Ichnographia Funda- 
„menti sacrae Aedis baricephalae, Germanico more a trigono et 
„pariquadrato perstructa, uti etiam ea quae nunc Milani videtur.“ 
Das Werk des Ceſariano wurde von Gualter Rivius in's Deutſche 
überſetzt, und zu Nürnberg 1548 herausgegeben. Vor wenigen 
Jahren behauptete der Verf. eines Artikels in den Wiener Jahrb. 
der Lit. (Oct., Dec. 1821), auf die Autorität eines Diagramms 
in dem Werke des Rivius, daß die gothiſche Architektur nicht in 
England, ſondern in Deutſchland entſtanden iſt. 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 331 


jene Bemerkung nicht richtig wäre. In ſo fern laſſen ſich alſo 
die Schriftſteller über jene zwei Künſte im Mittelalter allerdings als 
die Vorläufer von der ſpäter erwachenden wiſſenſchaftlichen Mechanik 
betrachten. Vitruv hat uns in feiner „Architektur,“ und Julius 
Frontinus, der unter Vespaſian lebte, hat uns in ſeinem Werke 
„über die Waſſerleitungen“ das Vorzüglichſte über die practiſche 
Mechanik und Hydraulik der Römer hinterlaſſen. In den neueren 
Zeiten ſind dieſe Gegenſtände von vielen anderen fortgeführt 
worden. Die früheren Schriftſteller über Architektur haben mei— 
ſtens auch von dem Maſchinenbau und ſelbſt oft von der Hydro— 
ſtatik gehandelt, wie Leonardo da Vinci, der über das Gleich— 
gewicht des Waſſers geſchrieben hat. Und ſo werden wir fort— 
geführt bis zu Stevinus von Brügge, Ingenieur des Prinzen 
Moriz von Naſſau und Inſpector der Dämme in Holland, in 
deſſen Werke der erſte klare Begriff eines wiſſenſchaftlichen Prin— 
cips der Mechanik und der Hydroſtatik in den neueren Zeiten 
aufgeſtellt wird. 


Sechstes Capitel. 
Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


Ehe wir die Zeiten des Mittelalters gänzlich verlaſſen, um 
zu erfreulicheren Ereigniſſen überzugehen, wollen wir noch einige, 
wie wir hoffen, nicht unintereſſante Bemerkungen über den all— 
gemeinen Zuſtand der Cultur dieſer Periode nachtragen, die ſich 
nicht wohl ohne Störung des Haupteindrucks in den Text un— 
ſeres Autors einſchalten ließen. I. 


1) Völkerwanderung. 


Zwei der größten und ausgedehnteſten politiſchen Ereigniſſe, 
deren die Geſchichte der Menſchheit gedenkt, ereigneten ſich, die 
eine unmittelbar vor, und die andere im Laufe des Mittelalters, die 
beide von dem wichtigſten Einfluſſe auf den Geiſt dieſer Zeit geweſen 
ſind: die Völkerwanderung im fünften und ſechsten, und 
die Kreuzzüge im eilften und zwölften Jahrhundert, welchen 


332 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


letzten man noch, als die unmittelbare Folge derſelben, die weit— 
verbreiteten Krankheiten hinzufügen kann, die vom eilften 
bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ganz Europa ver— 
heerten. Jedes dieſer unglücklichen Ereigniſſe allein würde ſchon 
die nachtheiligſten Folgen auf Kultur und Geſittung äußern, 
wie viel größer mußte aber das Unglück ſeyn, wenn ſie alle in 
Gemeinſchaft hereinbrachen. — Da es unſere Abſicht nicht iſt, 
dieſe drei wichtigen Epochen der Menſchengeſchichte hier um— 
ſtändlich zu betrachten, ſo werden wir uns mit der Angabe 
einiger Züge des großen Gemäldes begnügen, ſo weit daſſelbe 
mit dem Zwecke des gegenwärtigen Werkes in näherer Verbin— 
dung ſteht, indem ſich aus dieſen Zügen vielleicht am beſten 
die Finſterniß und der Stumpfſinn erklären läßt, der nach 
dem Vorhergehenden den eigentlichen Charakter des Mittelalters 
bildet. 

Die Völkerwanderung fing bekanntlich um das Jahr 375 
nach Ch. G. an, wo die Hunnen und andere Völkerſchaften des 
nordöſtlichen Aſiens in Europa einbrachen. Von ihnen wurden 
zuerſt die Alanen am Kaukaſus, dann die Weſtgothen in dem 
alten Dacien, und die Vandalen im heutigen Ungarn gedrängt, 
die dann, in Vereinigung mit dieſen ihren Treibern, über das ganze 
ſüdliche Europa ſich ergoſſen. Im Jahre 406 brachen ſie in Gallien, 
409 in Spanien, 427 unter Genſerich in Nordafrika und 451 
unter Attila in Italien ein. Dem römiſchen Reiche wurden 
vorzüglich die Gothen gefährlich. Schon im Jahr 274 mußte 
man ihnen Dacien überlaſſen, von wo ſie im Jahr 375 von den 
Hunnen gedrängt, mehr ſüudlich in das römiſche Reich zogen. 
Unter Alarich eroberten und plünderten ſie Rom im Jahr 
410, gründeten unter Ataulf das weſtgothiſche Reich in Spanien 
und dem weſtlichen Frankreich, eroberten im Jahr 493 unter 
Theodorich Italien, und wurden daſelbſt 554 von Beliſar und 
Narſes wieder dem Kaiſer Juſtinian unterworfen. Bald darauf 
im Jahr 568 entriſſen wieder die Longobarden den größten Theil 
Italiens dem griechiſchen Kaiſerthume. Das Reich der Longobarden 
wurde 774 von Karl dem Großen wieder zerſtört. Während dieß in 
Italien vorging, wurde Gallien und Deutſchland von Sueven, 
Burgundern, Alemannen und Franken verwüſtet, welche letzten 
unter Chlodwig 486 die frankiſche Monarchie gründeten. — Meh— 
rere dieſer Völkerzuüge hatten nur eine militäriſche Beſitznahme, 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 333 


oft auf kurze Zeit, zur Folge, da nach dem Untergange der neu— 
eingedrungenen Heeresmaſſen die alten Bewohner des Landes, 
obſchon nur mühſam, ſich wieder erhoben. Nur wo die barba— 
riſchen Sieger als Krieger- und Adel-Kaſte blieben, veränderte 
ſich auch der bürgerliche Zuſtand, und es kam mit dem Adel 
die Leibeigenſchaft und das Lehenweſen auf. Die Eroberer ließen 
den Beſiegten, zum Theil wenigſtens, die römiſchen Geſetze, ver— 
miſchten ſie aber mit ihren eigenen Gewohnheiten und führten 
meiſtens eine militäriſche Diſciplin ein, da ſie nur das Waffen— 
handwerk ehrten, Künſte und Wiſſenſchaften aber verachteten. 

Da es, ſelbſt wenn hier der Raum dazu gegeben wäre, unmög— 
lich ſeyn würde, die Verwüſtungen, welche dieſe Einbrüche der Bar— 
baren in Europa anſtellten, im Großen zu beſchreiben, ſo wollen 
wir uns (nach Robertſon's Hist. of Charles V.) auf einige 
mehr ſpecielle Erzählungen beſchränken. 

Spanien war vielleicht die reichſte und bevölkertſte Provinz 
des römiſchen Reichs. Die Spanier hatten ſich früher durch den 
männlichen Muth ausgezeichnet, mit dem ſie ihre Unabhängigkeit 
gegen die Römer lange Zeit durch vertheidigten. Aber ſie wurden 
durch eben dieſe Römer fo entnervt, daß die Vandalen, die 409 
in Spanien eindrangen, die Eroberung des ganzen Landes ſchon 
in zwei Jahren vollendeten, wo ſie dann die einzelnen Provinzen 
deſſelben an ihre Anführer durch das Loos vertheilten. Der 
Chronikenſchreiber Idatius beſchreibt die Verwüſtung Spaniens 
durch dieſe Barbaren mit folgenden Worten: „Sie zerſtörten 
„alles, was ſie fanden, mit unerhörter Grauſamkeit. Die Peſt 
»ſelbſt kann nicht verheerender ſeyn. Auch wüthete eine fürchter— 
„liche Hungersnoth durch das ganze Land, ſo daß die Ueber: 
»lebenden die Körper ihrer verftorbenen Mitbürger verzehrten, 
„und daß verheerende Krankheiten das ganze Königreich zu einer 
»Wüſte machten.“ Bald darauf drangen die Weſtgothen in Spas 
nien ein, um die Vandalen daraus zu vertreiben. Daraus ent— 
wickelte ſich ein neuer, allgemeiner Volkskrieg, in welchem das 
unglückliche Land von beiden Partheien geplündert wurde. Die 
wenigen Städte, die der erſten Zerſtörung der Vandalen ent— 
gangen waren, wurden nun in Aſche gelegt, und die Einwohner 
allen Drangſalen des Elends bloßgeſtellt. Auch dieſe nachfol— 
genden Scenen werden von Idatius beſchrieben, und ähnliche 
Nachrichten gibt auch der Chronikenſchreiber Iſidor Hiſpalienſis 


334 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


und andere gleichzeitige Schriftſteller. Von Spanien zogen die 
Vandalen nach Afrika, das nächſt Aegypten die fruchtbarſte Pro— 
vinz des römiſchen Reiches war. Die Armee, mit welcher die 
Vandalen nach Afrika überſetzten, betrug kaum 30,000 ſtreitbare 
Männer, aber auch hier hatten fie in zwei Jahren ſchon das 
ganze Land unterjocht. Der zu jener Zeit lebende Victor Vitenſis 
gibt von dieſer Eroberung folgende Beſchreibung: „Die Vanda— 
„len fanden hier in Afrika eine wohl bebaute und ſehr frucht— 
„bare Provinz, die man wohl den Schmuck der ganzen Erde 
„nennen könnte. Aber ſie verbreiteten ihre Verwüſtung in 
„alle Theile des Landes; ſie entvölkerten es durch ihre Ver— 
„heerungen; fie vertilgten alles durch Feuer und Schwert. Sie 
„iparten nicht einmal den Weinſtock und die Fruchtbäume, da— 
„mit doch die unglücklichen Flüchtlinge, wenn ſie aus ihren Höhlen 
„oder von ihren Bergen wieder zurückkämen, eine Nahrung 
„finden könnten, ihren Heißhunger damit zu ſtillen. Ihre Zer— 
„ſtörungswuth konnte gar nicht geſättiget werden, und keine Stelle 
„im Lande war gefunden, die nicht die Spuren derſelben getra— 
„gen hätte. Ihre unglücklichen Gefangenen wurden mit der 
„ausgeſuchteſten Grauſamkeit gefoltert, um ihren Peinigern 
„die verborgenen Schätze des Landes zu entdecken. Aber je mehr 
„fie deren fanden, deſto mehr begehrten fie, deſto unverſöhnlicher 
„wurde ihre Wuth. Weder Krankheit noch Alter, weder Ge— 
„ſchlecht noch Stand und Würde, noch auch die Heiligkeit der 
„Kirche konnte dieſe Furien zurückhalten; vielmehr je vornehmer 
„der Gefangene war, defte grauſamer wurde er behandelt. Die: 
„jenigen öffentlichen Gebäude, die dem allgemeinen Brande ent— 
„gangen waren, wurden der Erde gleich gemacht. Viele Städte 
„hatten auch nicht einen einzigen Einwohner mehr, und wenn 
„diefe Barbaren einem befeſtigten Orte begegneten, den ihr un: 
„diſciplinirter Haufen nicht einnehmen konnte, ſo trieben ſie alle 
„ihre Gefangenen um die Feſtung zuſammen, hieben ſie mit ihren 
„Schwertern nieder, und ließen ſie dann unbegraben zurück, um 
„die Belagerten durch den Geſtank dieſer Leichen zur Uebergabe 
„zu zwingen.“ — Der h. Auguſtin, ſelbſt ein Afrikaner, der die 
Eroberung ſeines Vaterlandes durch die Vandalen einige Jahre 
überlebte, gibt eine ähnliche Beſchreibung ihrer Grauſamkeiten 
(Opera, Vol. X. S. 372. Edit. von 1616). Nahe hundert Jahre 
nach dieſer Zeit wurden die Vandalen von Beliſar aus Afrika 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 335 


vertrieben, und Procopius, der gleichzeitige Geſchichtſchreiber, ſagt 
darüber (Procop. Hist. Ariana Cap. 18): — „Afrika war durch 
„die Vandalen ſo ganz entvölkert, daß man in dieſem Lande 
„mehrere Tage reiſen konnte, ohne einem einzigen Mann zu be— 
„gegnen, und es iſt keine Uebertreibung, wenn ich fage, daß in 
„dem Laufe jenes Krieges fünf Millionen Menſchen ihren Tod 
„gefunden haben.“ 

Dieſe Nachrichten von dem damaligen Zuſtande Nordafrika's 
durch gleichzeitige Schriftſteller werden auch noch in unſeren 
Tagen durch den bloßen Anblick jenes Landes beſtätigt. Viele der 
größten und volkreichſten Städte dieſes Landes wurden ſo voll— 
ftändig vernichtet, daß man jetzt den Ort vergebens ſucht, wo fie 
geſtanden haben. Noch heute liegt dieſe einſt ſo reiche und frucht— 
bare römiſche Provinz größtentheils als eine unbebaute Wüſte 
da, und daſſelbe Land, das der eben angeführte Victor Vitenſis 
in feinem barbariſchen Latein die „speciositas totius terrae 
florentis“ nennt, iſt jetzt größtentheils ein Aufenthalt der Straßen: 
räuber und Piraten geworden. 

Von allen jenen barbariſchen Völkerſchaften aber waren die 
Hunnen die wildeſten und fürchterlichſten. Ammianus Marcel— 
linus, der im vierten Jahrhundert lebte, gibt uns eine merkwür— 
dige Beſchreibung dieſes Volkes, das den heutigen Wilden von 
Nordamerika nicht unähnlich ſcheint. „Liebe zum Krieg iſt ihre 
„Hauptleidenſchaft, und wie in geſitteten Staaten Friede und 
„Wohlſtand gepflegt wird, fo pflegen fie des Krieges und feiner 
„Gefahren. Der in der Schlacht Getödtete wird von ihnen glück— 
»lich geprieſen, und wer vor Alter oder Krankheit ſtirbt, wird 
„für ehrlos gehalten. Jauchzend brüſten fie ſich mit der Zahl 
»der von ihnen erſchlagenen Feinde, und ihr höchſter kriegeriſcher 
„Schmuck beſteht in den Schädeln derſelben, die fie an die Sättel 
„ihrer Pferde binden.“ — Die Römer, obſchon bekannt mit dem 
Anblick der Barbaren am Rhein und an der Donau, erſchraken, 
als ihnen dieſe menſchlichen Ungeheuer zu Geſichte kamen. Zuerſt 
brachen ſie in Thracien, Pannonien und Illyrien ein, welche 
Provinzen ſie verwüſteten, und von denen nun ſie wiederholte 
Einfälle in das römiſche Reich machten. In jedem dieſer Ein— 
brüche, ſagt Procopius, wurden wenigſtens zweimalhunderttauſend 
Römer erſchlagen oder in die Gefangenſchaft fortgeführt. Thra— 
cien wurde in jener Zeit in eine große Wüfte verwandelt; die 


336 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


Städte dieſer Provinz waren nicht mehr von ihren früheren 
Bürgern, ſondern nur von elenden Bettlern bewohnt, die unter 
den Ruinen der Häuſer ein Obdach ſuchten, und die Felder um— 
her waren mit den Gebeinen der Erſchlagenen bedeckt. Noch 
größer waren die Verwüſtungen, welche dieſe Hunnen unter At⸗ 
tila in Gallien anrichteten, wo nicht bloß Städte und Dörfer, 
ſondern auch das ganze offene Land ihrer Zerſtörungswuth preis— 
gegeben wurde, wie der gleichzeitige Geſchichtſchreiber Salvianus 
erzählt. Unter Aetius und Theodorich wurde Attila endlich im Jahr 
451 bei Chalons beſiegt, in welcher Schlacht, wie die Chroniken— 
ſchreiber jener Zeit ſagen, dreimalhunderttauſend Menſchen auf dem 
Wahlplatze geblieben find. Im folgenden Jahre brach er, feine 
Schmach zu rächen, mit noch größerer Wuth in Italien ein, wo 
er mit einer unüberſehbaren Armee drei Monate Aquileia belagerte 
und ſo von Grund aus zerſtörte, daß ſchon das nächſtfolgende Ge— 
ſchlecht kaum mehr den Ort dieſer einſt ſo großen und mächtigen 
Stadt an ſeinen Ruinen erkannte. Ein gleiches Schickſal hatten die 
übrigen Städte, Padua, Verona, Mailand u. f. Was Italien durch 
dieſen Barbaren und ſeinen Nachfolger gelitten hat, ſieht man 
aus dem Zuſtande deſſelben im achten Jahrhundert, wo dieſes 
einſt ſo blühende, hochkultivirte, mit Städten und Bauwerken 
aller Art reich verſehene Land, nur mehr mit weiten Wüſten und 
Sümpfen und wilden Wäldern bedeckt war. (M. ſ. Muratori, 
Antiquitates Italicae medii aevi). 


2) Kreuzzüge. 


Dieſe wurden bekanntlich von den Völkern Europa's zur 
Eroberung Paläſtina's unternommen. Die Veranlaſſung zu den 
erſten Kreuzzügen gab Peter von Amiens, der, als Pilgrim von 
Jeruſalem zurückkehrend, dem Pabſte Urban II. den traurigen 
Zuſtand der Chriſten in dem h. Lande ſchilderte. Nach zwei 
Concilien, zu Piacenza und zu Clermont, wurde der Kreuzzug 
beſchloſſen und im Jahr 1096 unter Gottfried von Bouillon be— 
gonnen. Von ihm wurde Nicäa, Antiochien, Edeſſa und Jeruſalem 
erobert. — Die ſpätere Nachricht von der Wiedereroberung Edeſſa's 
durch die Ungläubigen im Jahr 1142 erregte in Europa Beſorg— 
niß und veranlaßte den zweiten Kreuzzug unter Kaiſer Konrad III. 
und dem König Ludwig VII. von Frankreich, die beide im Jahr 1147 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 337 


mit zahlreichem Heere auszogen. Der dritte Kreuzzug wurde im 
Jahre 1189 unter Kaiſer Friedrich I., Philipp Auguſt von Frank: 
reich und Richard J. von England begonnen. Den vierten 
führte K. Andreas II. von Ungarn im Jahr 1217 an; den fünf— 
ten unternahm Kaiſer Friedrich II. im Jahr 1228, und den 
ſechsten endlich Ludwig der Heilige von Frankreich, im Jahr 1248. 
Die vorzüglichſte Urſache, welche dieſe ſo großen und ſo lange 
dauernden Heereszüge nicht ſowohl erzeugten, als beförderten, 
war wohl der im eilften Jahrhundert allgemein verbreitete 
Glaube an das nahe bevorſtehende Ende der Welt. Man 
kennt jetzt noch mehrere Urkunden aus jener Zeit, die mit den 
Worten: appropinquante mundi termino ete. anfangen. Schon 
mehrere Jahrzehnte vor den erſten Kreuzzügen gingen daher ganze 
Geſellſchaften von Gläubigen aus Europa nach Paläſtina, um 
dort entweder zu ſterben, oder die Ankunft des Meſſias abzu— 
warten, und unter dieſen Pilgrimen fand man auch Könige, 
Grafen, Biſchöfe und beſonders viele Frauen. Mehrere von dieſen 
Reiſenden kamen wieder zurück, und erfüllten, gleich jenem Peter, 
Europa mit bitteren Klagen über das Schickſal ihrer Glaubens— 
brüder in dem fernen Lande. Es wurde bald allgemeine Sitte, 
unter dieſer Firma bettelnd die Länder zu durchziehen. Schon 
im Jahr 986 ließ deshalb Sylveſter II. eine ſehr beredte Mah— 
nung an die Gläubigen ergehen, ihren fernen Brüdern zu helfen. 
Dadurch ließen ſich mehrere wohlhabende Einwohner von Piſa 
bereden, eine Flotte auszurüſten, und damit die Türken in Sy— 
rien anzugreifen. Das Aufſehen, welches dieſe Privatexpedition 
unter den Türken erregte, führte zum Widerſtand von ihrer 
Seite, und dadurch zur neuen Aufregung des Abendlandes. Um 
das Jahr 1010 ſoll, nach den Zeugniſſen der Chroniken jener 
Zeit, die allgemeine Meinung vorgeherrſcht haben, die Türken 
mit der vereinten Macht aller europäiſchen Staaten anzugreifen, 
ſo daß alſo die Kreuzzüge nicht, wie man ſo oft geſagt hat, bloß 
durch einen einzigen Mann, ſondern vielmehr durch eine allmählig 
ſich immer mehr verbreitende Anſicht beinahe aller damals leben— 
den Menſchen entſtanden ſind. Der weitere Fortgang und der 
hohe Aufſchwung derſelben aber wurde ebenfalls von mannigfal— 
tigen Urſachen bewirkt. Dahin gehörten vorzüglich die großen 
Vorrechte, welche denjenigen gegeben wurden, die das Kreuz nah— 
men. Sie konnten, fo lange fie in den heiligen Kriegen dienten, 
Whewell. 1. 22 


338 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


wegen ihrer Schulden nicht verfolgt werden; ſie durften von 
den zu dieſem Kriege geborgten Summen keine Intereſſen zahlen; 
ſie wurden von allen Taxen und Steuern befreit; ſie konnten 
ihre Ländereien ohne Bewilligung ihrer Lehensherren verkaufen; 
ihre Perſonen wurden unmittelbar unter den Schutz des h. Pe— 
ters geſtellt; ſie genoßen alle Rechte der Geiſtlichkeit, deren Ge— 
richtsbarkeit ſie auch mit Entfernung aller weltlichen Tribunale 
unterſtanden; ſie erhielten endlich einen vollkommenen Ablaß 
und die Thore des Himmels wurden ihnen vorzugsweiſe offen 
gehalten. Durch dieſe und ähnliche Vortheile bewogen, ſtürzten 
ſich alle in den heiligen Krieg, und wer ſich, wenn ihn nicht Ge— 
ſchlecht, Alter oder Krankheit entſchuldigte, nicht in die Zahl 
der Kreuzfahrer einſchrieb, wurde für einen ehrloſen Feigling 
gehalten. Die Meinungen und Anſichten aller Menſchen hatten 
ſich geändert, es war eine neue geiſtige Welt unter ihnen entſtan— 
den, und der Enthuſiasmus hatte alle in ſolchem Maaße ergriffen, 
daß es uns ſchwer, wo nicht unmöglich wird, in den Geiſt dieſer 
Zeiten einzugehen, und das zu begreifen, was jene für ausge— 
macht und unbezweifelbar gehalten haben. Dacherius hat uns 
einen Brief Stephan's, des Grafen von Chartres und Blois, an 
ſeine Gemahlin Adele erhalten, in welchem er ihr von der 
heiligen Stätte, die er mit ſeinen Brüdern eingenommen hat, 
Nachricht gibt. Er beſchreibt in dieſem Briefe die Kreuzfahrer 
„als die auserwählte Armee des Erlöſers, als die Diener und 
„Streiter Gottes, als Soldaten, die unter dem unmittelbaren 
„Schutze des Allmächtigen ausgezogen und von ſeiner Hand zum 
„Siege geführt worden ſind, während ihm die Türken verfluchte, 
„kirchenräuberiſche, vom Himmel zum Untergange beſtimmte 
„Hunde ſind, und während er zugleich diejenigen Soldaten 
„aus ſeiner eigenen Armee, die unter den Händen dieſer Beſtien 
„den Tod gefunden haben, glücklich preist, weil ihre Seelen auf 
„dem kürzeſten Weg zu den ewigen Freuden des Paradieſes ge: 
„führt worden find.“ (Dacherii Specilegium Vol. IV. S. 257). 

Daß der Einfluß dieſes allgemeinen Krieges von Europa 
gegen das Morgenland, deſſen Dauer ſich beinahe auf zwei volle 
Jahrhunderte erſtreckte, auf die Bewohner unſeres Welttheils groß 
und wichtig geweſen, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. 
Die neueren Geſchichtſchreiber dieſes heiligen Krieges haben mei— 
ſtens nur die wohlthätigen Folgen deſſelben betrachtet, welche die 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 339 


Kreuzzüge gehabt haben mögen; die nähere Verbindung der 
europäiſchen Völker unter einander und mit den Nationen des 
Morgenlandes, der Aufſchwung des Handels, die Erhebung der 
mittleren Stände bei der Verarmung der höheren; Erweiterung 
des Geſichtskreiſes des menſchlichen Geiſtes, neue Kenntniſſe und 
Künſte u. f. Man ſehe über dieſen Gegenſtand Wilken's Geſch. 
der Kreuzzüge. Leipzig 1830, 7 Vol. Michaud’s Hist. des croi- 
sades. Paris 1829. 4 Vol. und Mill's Geſch. der Kreuzzüge. 
London 1820. Allein daſſelbe Ereigniß hatte ohne Zweifel auch 
ſehr nachtheilige Folgen, beſonders auf die Kultur und Geſittung 
der europäiſchen Völker, die, in der Unwiſſenheit der vorherge— 
henden Jahrhunderte verſunken, dem drückenden Joche ihrer 
neuen barbariſchen Gebieter erlagen, die in immerwährenden ein— 
heimiſchen Fehden ihre Kräfte vergeudeten, und nun auch in 
einen fremden, allgemeinen, zweihundertjährigen Krieg fortgeriſſen 
wurden. Wenn ſolche Zuſtände ſchon überhaupt der Pflege der 
Kunſt und Wiſſenſchaft abhold ſind, welche Ausſichten auf ihren 
Fortgang konnte man hegen zu einer Zeit, wo die Unwiſſenheit 
ihren höchſten Stand erreicht hatte und wo die unausbleiblichen 
Folgen derſelben, Noth und Verarmung, Stumpfſinn und Un— 
wiſſenheit, auf allen Völkern laſtete. 


3) Krankheiten im Mittelalter. 


Zu den Folgen der immerwährenden Kriege und Befeh— 
dungen jener Zeiten gehören auch die vielen verheerenden Krank— 
heiten, von welchen die Menſchen in dieſer Periode mehr als in 
irgend einer andern der Weltgeſchichte heimgeſucht worden ſind. 
Schon unter Juſtinian im ſechsten Jahrhundert ſchien dieſe Ca— 
lamität den Anfang zu nehmen, die von nun an ſo lange Zeit 
durch das geängſtete Menſchengeſchlecht verfolgen ſollte. Die 
ewigen Kriege ſeiner Vorgänger und ſeine eigenen mit den Van— 
dalen in Afrika, in Spanien und Italien, mit den Avaren, 
Türken und Perſern hatten die unglücklichen Bewohner ſeines 
noch immer ſehr großen Reiches auf jene Drangſale gleichſam 
vorbereitet. Die Trauerſcene wurde von einem großen Erdbeben 
eröffnet, das im Jahr 526 ganz Syrien zerſtörte. Die Stadt 
Berytus, durch ihre große Rechtsſchule im ganzen Orient hoch— 


berühmt, wurde von der Erde verſchlungen, und in der Haupt— 
34° 


340 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


ſtadt des Landes, in Antiochia, deren ſtarke Bevölkerung durch 
das Zuſammenſtrömen der Fremden am Himmelfahrtsfeſte noch 
vergrößert wurde, ſollen zweimalhundert und fünfzigtauſend 
Menſchen unter den Trümmern der Gebäude begraben worden 
ſeyn. Im Jahre 542 aber erſchien, zuerſt in Oberägypten, jene 
verheerende Seuche, die ſich mit reißender Schnelligkeit über alle 
drei damals bekannten Welttheile verbreitete. Procopius, Ge— 
heimſekretär Juſtinian's und der Geſchichtſchreiber jener Zeiten, 
hat die Verwüſtungen derſelben, die ſie beſonders in Konſtanti— 
nopel anrichtete, umſtändlich beſchrieben. Jeder Stand, jedes 
Alter, jedes Geſchlecht wurde mit derſelben Wuth von der Seuche 
ergriffen, und die meiſten von den wenigen Geretteten verloren 
den Gebrauch der Sprache, ohne dadurch gegen einen Rückfall 
der Krankheit geſichert zu ſeyn. Als die Verwirrung der geäng— 
ſtigten Einwohner die höchſte Stufe erreicht hatte, wurde kein poli— 
tiſches und kein moraliſches Geſetz mehr geachtet. Die Ordnung der 
Leichenbegängniſſe wurde nicht mehr beobachtet, und die Todten 
blieben unbeſtattet in ihren verddeten Häuſern oder auf den Straßen 
liegen, bis zu dieſem Zwecke eigens gedungene Menſchen die ver— 
worrenen Haufen der Leichen ſammelten, um ſie jenſeits der Stadt 
in tiefe Gruben oder in das benachbarte Meer zu werfen. Da die 
heilſamen Maaßregeln, denen Europa gegenwärtig ſeine Sicherheit 
verdankt, der Regierung Juſtinian's unbekannt waren; da dem 
freien Handelsverkehr der römiſchen Provinzen keine Schranken 
geſetzt wurden und da auch die Aerzte jener Zeit in Unwiſſenheit 
und Aberglauben verſunken waren, ſo wüthete die Peſt volle 
zweiundfünfzig Jahre in allen Theilen des römiſchen Reiches. 
In Konſtantinopel ſollen durch drei Monate täglich fünf- und end— 
lich ſogar zehntauſend Menſchen geſtorben ſeyn. Viele Städte des 
Oſtens verödeten ganz, und in mehreren Gegenden Italiens ver— 
moderte Getreide und Wein auf dem Felde, da es an Schnittern 
fehlte. Das geſammte römiſche Reich erlitt eine ſichtliche Ab— 
nahme des Menſchengeſchlechts, das ſeit dieſer Zeit nie wieder 
erſetzt worden iſt. 

Anderer folgenden Krankheiten nicht zu gedenken, wie z. B. der 
von 746, wo Konftantinopel beinahe ganz ausſtarb, erwähnen wir 
nur im Kurzen derjenigen, die ſich durch ihre mehr ausgebreiteten 
Verheerungen beſonders auszeichneten. So erſchien im Jahr 996 das 
ſogenannte heilige Feuer, eine bisher in Europa unbekannte, 


Nachträgliche Bemerkungen Aber das Mittelalter. 341 


ſehr verheerende und ſchnell verlaufende Krankheit. Sie ergriff 
entweder die inneren Organe, die ſie durch Brand ſchnell zer— 
ſtörte, oder einzelne äußere Glieder, welche ſogleich ſchwarz und 
brandig wurden und abfielen. Aus dieſer Seuche entſtand ſpäter 
das fchon ſehr gemilderte, aber immer noch höchſt gefährliche 
Antonius-Feuer, und dieſes ging endlich in unſerer Zeit in die 
ſogenannte Roſe (Rothlauf) über, die ſelbſt jetzt noch zuweilen 
die Spuren ihrer früheren Wuth nicht verkennen läßt. 

Im Jahre 1060 begann eine andere peſtartige Krankheit, die 
aus Hungersnoth entſtand und ſieben Jahre durch das ſüdliche 
Europa verheerte, wo der dritte Theil der Einwohner als ihr 
Opfer gefallen ſeyn ſoll. Damals, wie bald darauf im J. 1092 
wieder erwarteten die geängſteten Menſchen das Einbrechen des 
Endes der Welt; viele große Städte wurden zur Hälfte und 
darüber verödet, die Kirchen waren ohne Prieſter, und ſelbſt 
die Hausthiere flohen in die benachbarten Wälder. In den letz— 
ten Jahren derſelben, im Jahr 1100, wüthete ſie im Morgen— 
wie im Abendlande mit gleicher Wuth; in Jeruſalem ſtarben 
täglich 3000 Menſchen, unter ihnen auch Gottfried von Bouillon; 
Antiochien ſtarb beinahe ganz aus, und von dem Heere des erſten 
Kreuzzuges gingen in zwei Monaten über 200,000 Menſchen zu 
Grunde. Ein im November ihnen aus Europa nachgeſchicktes 
Hülfscorps von 15,000 Mann wurde gleich bei ſeiner Ausſchiffung 
von der Seuche gänzlich aufgerieben. 

Im Jahre 1200 erſchien die vrientaliche Peſt mit beſonderer 
Wuth, da in Aegypten über eine Million, und bloß in Kairo 
110,000 Menſchen als ihr Opfer fielen. Die Leichen trieben zu 
Tauſenden auf dem Nil, und in dem Lager zu Damiette blieben 
von 70,000 Kriegern nur 3000 am Leben. 

Im Jahre 1248 erſchien der Scorbut zum erſtenmale in Eu— 
ropa; Ludwig IX. ſoll ihn mit ſeinen Kreuzfahrern aus Aegypten 
gebracht haben. Er äußerte ſich vorzüglich durch eine Verhär— 
tung des Fleiſches an den Extremitäten, die ſchnell in Fäulniß 
übergingen. Zu dieſer Zeit wurden die großen Spitäler für den 
orientaliſchen Ausſatz errichtet. Dieſe Krankheit äußerte 
ſich in einer borkenartigen Bedeckung der ganzen Haut und in 
einer eigenen Umbildung der Nägel an Händen und Füßen, die 
den Vogelklauen ähnliche Auswüchſe erhielten. Dieſe Krankheit 
war äußerſt anſteckend und da fie für unheilbar galt, fo wurden 


342 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


ſelbſt die Reichen und Großen, wenn ſie von ihr befallen wurden, 
gezwungen, jene Spitäler zu beziehen, die alle unter dem Lazarus— 
Orden ſtanden, und deren Haupt in jedem Lande der König 
ſelbſt war. 

Im Jahre 1310 brach nach einem ſehr ſtrengen Winter eine 
peſtartige Krankheit aus, die durch ſieben Jahre in ganz Europa 
wüthete. In Trier ſtarben 12,000, in Straßburg 13,000, in 
Baſel 15,000, in Mainz 17,000 und in Köln 30,000 Men⸗ 
ſchen. Viele andere kleine Städte verloren alle ihre Einwohner. 
Die Felder wurden nicht mehr bebaut, und die Straßen waren 
mit Leichen bedeckt. Wie gewöhnlich war auch ſie von großer 
Theurung und Hungersnoth begleitet. 

Im Jahre 1347 endlich erſchien jene verheerende Seuche, 
die noch jetzt unter der Benennung des „ſchwarzen Todes“ bekannt 
iſt. Sie kam vom nordöſtlichen Aſien und überzog bald alle be— 
wohnten Länder Europa's. Ohne Unterſchied des Alters, des Ge— 
ſchlechts, und der Lebensart unterlag jeder, den ſie traf. Ein vier— 
zig Tage dauernder dichter Nebel, zahlreiche Meteore am Himmel, 
und ein heftiges Erdbeben gingen der Seuche voran. Im erſten 
Jahre hielt fie ſich vorzüglich an die Meeresküſte, aber ſchon im 
zweiten drang ſie auch in das Innere der Länder, und wüthete 
mit gleicher Stärke unter den Menſchen und unter allen Arten 
von Thieren. Das ſchnelle Schwarzwerden der Leichen gab ihr 
den Namen des ſchwarzen Todes. Die Verheerungen unter den 
Menſchen waren ſo groß, daß man die Todten ganz unbegraben 
liegen ließ, daß die Ernte nicht mehr beſorgt wurde, daß die 
Hausthiere verwildert auf den Feldern herumirrten und daß 
ſich ſelbſt Gatten, Eltern und Kinder flohen, da alles nur auf 
ſeine eigene Erhaltung bedacht, da jedes Band der menſchlichen 
Geſellſchaft aufgelöst, und da an die Stelle aller übrigen Leiden— 
ſchaften nur die Furcht und ein verwilderter Trieb der Selbſter— 
haltung getreten war. 

Dieſe ſchreckliche Krankheit, mit deren grauſenvollen Ver— 
wüſtung wohl kein anderes Unglück verglichen werden kann, 
was, ſo weit unſere Geſchichte reicht, die Menſchen traf, warf 
das Loos der Trauer und des Todes nicht bloß auf einzelne 
Familien, ſondern faſt auf alle Bewohner der ganzen weiten 
Erde. Alle drei damals bekannten Welttheile ſchienen nur ein 
weites, offenes Grab zu ſeyn; kein Reich, keine Provinz, kein 


Nachtraͤgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 343 


Dorf blieb verſchont, und volle fünfzig Jahre, von 1347 bis 
zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts, zog die Verheerung von 
einem Lande zum andern, ſo daß man wohl ſagen kann, daß 
ſeit Noah's Zeiten der Würgengel nicht fo grauſam gewüthet 
hat, und daß es darauf abgeſehen ſchien, die ganze Erde in 
eine menſchenleere Wüſte zu verwandeln. 

Selbſt die Regenten der verſchiedenen Reiche jener Zeiten 
wurden, ſo ſehr ſie ſich auch ſchützen wollten und konnten, in 
der allgemeinen Verderbniß fortgeriſſen. Im Jahr 1353 ſtarb 
an dieſer Krankheit der Zar Simeon Iwanowitſch zu Moskau, 
und in wenig Tagen folgte ihm ſein Bruder Andreas mit allen 
feinen ſieben Kindern. In Konftantinopel ſtarb Andronicus, in 
Portugal die Königin Johanna, in Spanien König Alfons XI. 
u. f. Ja die Krankheit ſchien ſich die höheren Stände vorzugsweiſe 
zu ihrem Opfer ausgeſehen zu haben, vielleicht weil ſie durch 
ihre Lebensart mehr geſchwächt waren. Die meiſten adelichen 
Familien ſtarben im vierzehnten Jahrhundert ganz aus, andere 
verarmten, oder wurden auf der Flucht verſtreut und verloren 
ſich in die Maſſen des Volkes, ſo daß beinahe keines der gegen— 
wärtigen Häuſer ſeine Ahnen bis über dieſe Schreckenszeit hinaus 
mit Sicherheit nachweiſen kann. 

Nach den Geſchichtsſchreibern jener Zeit ſtarben die Städte 
Bagdad, Diarbekier und Damask beinahe ganz aus; in Haleb 
ſtarben durch drei Monate täglich 500, und in Gaza in einem ein— 
zigen Monat 22,000 Menſchen. In London ſtarben von Lichtmeß 
bis Oſtern täglich 200, und überhaupt 80,000; in Paris 100,000, 
in Florenz und Lübeck gegen 90,000 Menſchen. In Wien ſtarben 
während der erſten Hälfte des Jahrs 1349 täglich 700 bis 800 
Menſchen, und zur Zeit der größten Höhe der Krankheit ſogar einmal 
1400 an einem einzigen Tage. In den geſammten Franciskaner— 
Klöſtern Europa's ſtarben, nach dem Berichte ihres Generals zu 
Rom, 124,400 Menſchen, und viele andere Klöſter ſtarben ganz 
aus. Alle ſüdeuropäiſchen Länder ſollen wenigſtens den vierten 
Theil, und Spanien ſogar zwei Dritttheile ihrer Einwohner ver— 
loren haben. 

Aber ſtatt dieſer allgemeinen Beſchreibungen, die immer den 
gewünſchten Eindruck verfehlen, wollen wir zwei berühmte Zeitge— 
noſſen dieſer Unglücksperiode ſelbſt reden laſſen, welche die Verhee— 
rungen der Krankheit mit eigenen Augen angeſehen haben. Petrarca 


344 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


ſchreibt an feinen Freund Socrates, (Petrarca’s epistolae de 
reb. familiaribus, Lib. VIII. 7): „Mein Bruder, weh mir, 
„mein geliebter Bruder! Was ſoll ich ſagen? Wo ſoll ich 
„anfangen? Wohin ſoll ich mich wenden? — Ueberall Trauer 
„und Schrecken! In mir allein ſiehſt du vereinigt, was Virgil 
„von einer ganzen Stadt gejagt hat: crudelis undique luctus, 
„ubique pavor et plurima mortis imago. Ach mein Bruder, 
„wäre ich doch entweder nie geboren, oder vor dieſem Gräuel 
„getödtet worden. Dieſes Jahr hat nicht nur uns alle Freunde, 
„ſondern der ganzen Erde beinahe alle ihre Bewohner geraubt. 
„— Wie wird es die Zukunft glauben können, daß es eine Zeit 
„gab, wo, ohne Feuer vom Himmel, ohne Krieg, ohne irgend 
„ein anderes ſichtbares Unglück, nicht nur dieſer oder jener 
„Theil der Erde, ſondern wo beinahe die ganze Oberfläche der— 
„»ſelben zu einer öden menſchenleeren Wüſte gemacht wurde. 
„Wann hat man je dergleichen geſehen oder gehört? Wann hat 
„man je in den Jahrbüchern der Menſchheit geleſen, daß alle 
„Häuſer leer, alle Städte von ihren Bewohnern verlaſſen, daß 
„das Land einſam und verödet, die Felder mit Leichen bedeckt 
„und überall nichts als die Spuren des Todes zu ſehen ſind. 
„Frage die Geſchichtsſchreiber, ſie ſchweigen: geh' zu den Aerzten, 
„ſie verſtummen; ſpreche mit den Weiſeſten aller Zeiten, ſie 
wiſſen nicht zu antworten. O du glückliches Geſchlecht unſerer 
„Vorfahren, das du dieſen Jammer nicht geſehen haſt, und du 
„überglückliches Geſchlecht der kommenden Enkel, das dieſe 
„Nachrichten unſerer Angſt und unſerer Verzweiflung für un— 
„möglich, für ein bloßes Mährchen halten wird.“ — Fügen 
wir dieſem Berichte noch den des Boccacio bei, der, wie ſich 
ein geiſtreicher Schriftſteller ausdrückt, in ſeinem Decamerone 
der Thucydides dieſes Würgengels neuerer Zeit geworden iſt: 
„Dieſe Peſt, ſagt Boccacio, war um ſo verheerender, weil ſie 
„ſich von den Kranken auf die Gefunden nicht anders fortpflanzte, 
„als das Feuer auf trockenen und fetten Brennſtoff. Sie hatte 
„das Eigene, daß ſie ſich nicht blos durch Geſpräch und Umgang 
„mit den Kranken, ſondern auch durch Berührung ihrer Gewänder 
„und alles deſſen, was ſie ſelbſt berührt hatten, mittheilte. Das 
„Gift dieſer Peſt war in ſeinem Uebergange von dem einen zum 
„andern ſo wirkſam, daß nicht bloß der Menſch, ſondern daß 
„auch die Thiere nicht die Sachen eines an der Peſt geſtorbenen 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 345 


„berühren durften, ohne ſogleich davon ergriffen zu werden. Ich 
„ſelbſt war Augenzeuge von folgendem Vorfalle. Die zerfetzten 
„Kleider eines an der Peſt verftorbenen Bettlers lagen auf der 
„Straße. Zwei Schweine ſtritten ſich um dieſelben, faßten ſie mit 
„ihren Zähnen und hatten es kaum eine Weile hin und hergezo— 
„gen, als fie beide Zuckungen bekamen, und über dem verderbli— 
„chen Raube todt zur Erde ſtürzten.“ 

Ohne der dem ſchwarzen Tode folgenden großen Ausbrüche 
der Peſt von den Jahren 1431, 1482, 1556, 1574, 1647, 1680 und 
1713 weiter zu erwähnen, noch der übrigen neuen, bisher in 
Europa unbekannten Krankheiten zu gedenken, unter denen z. B. 
die Luſtſeuche i. J. 1493, die Pocken 1518, die Angina 1605, 
die Rhachitis 1612 und das gelbe Fieber i. J. 1700 und die 
Cholera i. J. 1830 erſchienen, wird ſchon das Vorhergehende 
genügen, unſere Forderungen an die Kultur des Mittelalters 
nicht zu hoch zu ſtellen, und die unglücklichen Menſchen jener 
Zeit mehr unſeres Mitleids, als unſerer Mißachtung werth zu 
halten. 


4) Mangel an Unterrichtsmitteln. 


Aber ſelbſt dann, wenn auch dieſe Menſchen unter den ſo eben 
erwähnten Drangſalen nicht zu leiden, wenn ſie ſelbſt die nöthige 
Ruhe und Muſe zu ihrer geiſtigen Ausbildung gehabt hätten, 
welche Mittel ſollten ſie, zu dieſem Zwecke, ergreifen? — Wir 
kennen nur zwei: den öffentlichen Unterricht oder den Umgang 
mit anderen höher gebildeten Menſchen und die Bücher. Die 
erſten fehlten ihnen beinahe gänzlich, und wie es um die letzten 
ſtand, ſehen wir aus ihren eigenen Klagen. 

Die Griechen und Römer ſchrieben bekanntlich auf Perga— 
ment oder auf die Blätter der ägyptiſchen Papierſtaude. Die 
letztern wurden, als die wohlfeileren, bald die gewöhnlichſten. 
Als aber im ſiebenten Jahrhundert die Araber Aegypten erober— 
ten, wurde der Papirus in Italien ſo ſelten, daß man wieder 
zu Thierhäuten zurückkehren mußte, wodurch die Bücher unge— 
mein vertheuert wurden. Man findet bekanntlich noch viele 
Schriften aus dem achten und den folgenden Jahrhunderten auf 
Pergament, wo die früher auf daſſelbe aufgetragene Schrift 
radirt und weggelöſcht wurde, um der neueren Platz zu machen, 
und dadurch den Ankauf des Pergaments zu erſparen. Dieſe 


346 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


Palimpſeſte find ſchon allein ein Beweis der Seltenheit 
der Bücher jener Zeit. Aber wie ſo manches ſchätzbare Buch 
der Alten mag durch dieſes Verfahren verloren gegangen ſeyn! 
Die Werke Menanders, oder die Bücher des Livius und Tacitus 
wurden abgeſchabt und vernichtet, um einer Legende, einer Kloſter— 
Chronik, einem Volkskalender ihre Stelle zu überlaſſen! Mont— 
faucon verſichert uns, daß der größte Theil der älteſten Manu— 
ſeripte auf ſolchem radirten Pergamente geſchrieben worden iſt. 


Der aus dieſen und anderen Urſachen entſtandene Bücher— 
mangel war vom ſiebenten bis zum zwölften Jahrhundert ſo groß, 
daß ſelbſt ſehr reiche Perſonen in der Regel gar kein Buch be— 
ſaßen. Selbſt berühmte Klöſter und Abteien hatten oft nur ein 
einziges Meßbuch. Lupus, der Abt von Ferries in Frankreich, 
ſchrieb i. 5. 855 an den Pabſt, und bat ihn um eine Copie des 
Cicero de Oratore und um Quintinian's Inſtitutionen, von 
welchen Werken, wie er hinzuſetzt, in ganz Frankreich keine 
complete Abſchrift zu finden iſt. Daher war aber auch der 
Preis der Bücher ſehr groß. Die Gräfin von Anjou zahlte für 
eine Copie der Homilien von Raimon, Biſchof von Halberſtadt, 
200 Schafe, 5 Quart Weizen und eben ſo viel Roggen und 
Hirſe. Selbſt noch i. J. 1471, als Ludwig XI. von der medi— 
ciniſchen Facultät zu Paris die Werke des arabiſchen Arztes 
Raſis ausborgen wollte, mußte er nicht nur eine beträchtliche 
Menge von Silbergeſchirr als Pfand niederlegen, ſondern auch 
noch einen anderen Edelmann ſtellen, der ſich verbürgte, im 
Falle des Todes des Königs die Rückgabe des Werkes zu beſor— 
gen. Wenn in den früheren Zeiten ein Reicher einem Kloſter 
oder einer Kirche mit einem Buche ein Geſchenk machte, was 
ſich ſelten genug ereignete, ſo geſchah dieß mit den größten 
Feierlichkeiten, an deren Ende das Buch gewöhnlich auf dem 
Altar der Kirche niedergelegt wurde pro remedio animae pecca- 
toris, wie die dabei übliche Formel lautete. 


Im eilften Jahrhundert wurde unſer aus Leinwand ver— 
fertigtes Papier erfunden, und nun nahm auch die Menge der 
Bücher ſchnell zu. Dieſe Erfindung und die der Buchdruckerei 
ſind vielleicht die zwei wichtigſten, deren unſere Kultur- und 
Literatur-Geſchichte zu erwähnen hat. Jene fiel in das Ende 
des eilften Jahrhunderts, in die erſte Morgenröthe der wieder— 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 347 


kehrenden Geſittung Europa's, und dieſe ging unmittelbar der 
Reformation voraus. 


5) Daraus folgende Unwiſſenheit jener Zeiten. 


Mit dem Mangel an Büchern und an mündlichem Unterricht 
mußte die Unwiſſenheit gleichen Schritt halten. Die wilden 
Horden, welche zur Zeit der Völkerwanderung in das ſüdliche 
Europa einbrachen, waren nicht nur ſelbſt ein rohes, bloß dem 
Waffenhandwerk hingegebenes Volk, wie die Araber es anfangs 
ebenfalls waren, ſondern ſie hatten auch keinen Sinn für irgend 
eine künftige Bildung. Sie fanden die Einwohner des römiſchen 
Reiches entnervt, verweichlicht und dem Kriege abgeneigt, und ſie 
hielten dieß für die Folge der höheren Bildung der Römer. Da 
ihnen aber der Krieg über alles ging, ſo wurde Kultur jeder Art, 
gleichſam aus Grundſatz, ein Gegenſtand ihrer Verachtung. Wenn 
wir, ſagt Luitprand, Biſchof von Cremona zu Ende des zehnten 
Jahrhunderts (der eine Geſchichte ſeiner Zeit ſchrieb und von 
Otto dem Großen häufig in Staatsgeſchäften gebraucht wurde), 
wenn wir Franken einen Fremden mit den abſcheulichſten Schimpf— 
worten belegen wollen, jo heißen wir ihn einen Römer, hoc 
solo, id est Romani nomine, comprehendentes quiequid igno- 
bilitatis, timiditatis, avaritiae, luxuriae, quicquid mendacii, 
immo quiequid vitiorum, inveniri potest. Aus diefer Urſache 
ließen auch die Franken, Gothen u. a. ihre Kinder nicht” im 
Leſen und Schreiben, und überhaupt in nichts, als in dem Ge— 
brauche der Waffen unterrichten, weil ſie, wie der oben ange— 
führte Procopius de Bello Gothorum ſagt, der Anſicht waren, 
daß die Wiſſenſchaften den Menſchen nur verderben, ihn weichlich 
machen und den männlichen Geiſt unterdrücken, da der, welcher 
die Ruthe des Lehrers gefürchtet hat, auch künftig kein Schwert 
und keinen Speer mehr mit feſten Augen anſehen kann. 

Aber nicht bloß dieſe eigentlichen Barbaren, von welchen 
man nichts anderes erwarten konnte, ſondern auch ihre ſpätern 
Nachkommen, ja die entarteten und unter dem fremden Joche 
verwilderten Römer und Griechen ſelbſt ſind von dieſen Vor— 
würfen nicht frei geblieben. Der Mangel an Bildung jeder 
Art nahm von dem fünften bis zum eilften Jahrhundert in 
ſolchem Maße zu, daß ſelbſt die Reichen, hohe Prälaten, Mi: 


348 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


niſter und Feldherrn, Könige und Kaiſer nicht einmal mehr ihren 
Namen ſchreiben konnten. Wie viele Urkunden haben wir noch 
aus jenen Zeiten, die ſtatt der Namensunterſchrift bloß ein 
Kreuz tragen, signum crucis manu propria pro ignorantia 
literarum, wie gewöhnlich eine fremde Hand hinzuſetzen mußte, 
aus welcher Sitte auch noch unſer Wort „figniren“ ſtatt „unter: 
„zeichnen“ kommen mag. Herbard, Comes Palatii und höchſter 
Richter des ganzen großen fränkiſchen Reichs im neunten Jahr— 
hundert, konnte ſeinen Namen nicht ſchreiben. Du Guesclin, 
im vierzehnten Jahrhundert, der erſte Staatsmann und vielleicht 
der größte Mann ſeiner Zeit, konnte weder leſen noch ſchreiben. 
Und ſo ging es nicht bloß unter den Laien, ſondern auch unter 
den Geiſtlichen, ſelbſt den höheren. Viele Biſchöfe und Aebte 
konnten die Acten der Concilien nicht unterzeichnen, in welchen 
ſie als ſtimmgebende Mitglieder geſeſſen hatten. Alfred der 
Große klagte, daß er in ſeinem ganzen Reiche keinen Menſchen 
finden könne, der die Liturgie in ſeiner Mutterſprache wiederzu— 
geben oder die einfachſte lateiniſche Stelle zu überſetzen im 
Stande iſt. Alanus, der i. J. 770 im Kloſter Farfa ſtarb und 
ein Homiliarium geſchrieben hat, das öfter fälſchlich unter 
Alcuin's Namen angeführt wird, beſchreibt die Bildung und 
die wiſſenſchaftliche Liebe der Ordensbrüder ſeiner Zeit auf eine 
beſondere Weiſe: Potius dediti gulae quam glossae, potius 
colligunt libras, quam legunt libros; libentius intuentur Mar- 
tham quam Marcum, et malunt legere in salmone quam in 
Salomone. 

Welchen Einfluß dieſe allgemeine Unwiſſenheit auf jede Art 
des bürgerlichen Verkehres, au Künſte, Handel u. ſ. f. gehabt 
haben mag, läßt ſich leicht erachten. Da es mit den gemeinſten 
geographiſchen Kenntniſſen nicht beſſer, als mit Kenntniſſen jeder 
Art ausſah, ſo hörte beinahe alle Communication nicht bloß 
mit entlegenen, fremden Ländern, ſondern ſelbſt mit den nächſten 
Provinzen eines und deſſelben Landes gänzlich auf. Gegen das 
Ende des zehnten Jahrhunderts wollte, wie Robertſon in feiner 
Geſchichte Karls V. erzählt, ein Fürſt in der Gegend von Paris 
ein neues Kloſter gründen. Er wendete ſich deßhalb an den 
Abt von Clugny im Burgund mit der Bitte, die für jenes 
Kloſter beſtimmten Mönche durch feine eigenen nach Paris führen 
zu laſſen. Allein die Bitte wurde abgeſchlagen, „weil es gar 


Nachtraͤgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 349 


„zu beſchwerlich und gefahrvoll ſey, eine ſo weite Reiſe zu unter— 
„nehmen, und in ganz fremde und unbekannte Gegenden ein— 
„zudringen.“ Noch im zwölften Jahrhundert wußten die Be— 
wohner des Kloſters Ferries in der Gegend von Sens nicht, 
daß es eine Stadt Namens Tournay in Frankreich gebe, und die 
Mönche von Tournay wußten eben ſo wenig von der Exiſtenz 
jener in Ferries. Da aber ihre gegenſeitigen Intereſſen ſie 
zwangen, einander aufzuſuchen, ſo wurden zu dieſem Zwecke 
mehrere große Reiſen unternommen, bis ſie ſich endlich, vom 
Zufall begünſtigt, aufgefunden hatten. — Die ältefte geogra— 
phiſche Karte des Mittelalters wurde in einem Manuſcripte der 
Chronik von St. Denys entdeckt. In ihr ſind die drei ſoge— 
nannten alten Welttheile ſo dargeſtellt, daß Jeruſalem in der 
Mitte des ganzen Feſtlandes liegt, und daß Nazareth eben ſo 
weit, als Alexandrien, davon entfernt liegt. — Bekanntlich 
fehlte es in dieſen Zeiten an Gaſthäuſern zur Einkehr für Rei— 
ſende. Aus dieſem Grunde wohl wurde die Gaſtfreundlichkeit 
Jedermann unter harten Strafen zum Geſetz gemacht, da ſonſt 
alles Reiſen ganz unmöglich geworden wäre. Beſonders ſtreng 
waren dieſe Geſetze bei den Slaven. Nach dieſen ſollte jedem, 
der einem Fremden die Aufnahme verweigert, alle Hausgeräthe 
weggenommen, und ſein Haus ſelbſt niedergebrannt werden. 
Zur Unterſtützung des Reiſenden durfte auch fremdes Eigenthum 
genommen, ſelbſt mit Gewalt genommen werden. So hieß es 
in dem Mecklenburgiſchen Codex: Quod noctu furatus fueris, 
cras appone hospitibus. Wenn fo dem armen Reiſenden jede 
fremde Thüre offen ftand, jo ging es ihm dafür deſto ſchlechter 
auf der offenen Straße, die bei dem Mangel aller inneren Po— 
lizei von Dieben, Räubern und wilden Thieren eingenommen 
wurde. Der bereits erwähnte Lupus, Abt von Ferries, ſagt, 
daß man in Frankreich durchaus nicht anders, als in Caravanen 
und wohlbewaffnet reiſen konnte. Karl der Große wollte dieſer 
Landplage abhelfen und gab Geſetze ohne Zahl und Ende, aber 
die Sache blieb, wie ſie war. Wie weit mußte dieſes Uebel 
vorgedrungen ſeyn, da, nach einem dieſer Geſetze, jedem Richter 
im Lande vor ſeiner Beſtellung ein Eid abgenommen werden 
ſollte, in welchem er beſchwoͤren mußte, daß er zu keiner Diebs— 
oder Näuberbande gehöre. Als dem immer wachſenden Unweſen 
durch die weltliche Hand nicht weiter geſteuert werden konnte, 


350 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


wurde die geiftliche zu Hülfe gerufen, und viele Concilien ge— 
halten, auf welchen man, die Sache eindringlicher zu machen, 
auf den Reliquien der Heiligen die fürchterlichſten Excommuni— 
cationen gegen dieſe Diebe und Räuber, welche alle Straßen 
des Landes bedeckten, ergehen ließ. Eines dieſer Anathemata, 
die in den Kirchen dem Volke verkündigt wurden, hat uns 
Bouquet in feinen Recueils des hist. S. 517 erhalten, und es 
verdient, nicht bloß ſeines Styles wegen, eine nähere Betrach— 
tung, da es als ein Beitrag zur Charakteriſtik jener Zeiten 
angeſehen werden kann. Nach dem gewöhnlichen Eingange und 
nach einer umſtändlichen Auseinanderſetzung des Elends, welche 
dieſe Banden über das Land gebracht, heißt es zum Schluſſe der 
Imprecation: »Obtenebrescant oculi vestri; semper laboretis, 
„nec requiem inveniatis; debilitentur omnia membra, arescant 
„manus, formidetis et tremuletis, ut tabescendo deficiatis. Sit 
„portio vestra cum Juda traditore Domini in terra mortis 
„et tenebrarum, et ne cessent a vobis hae maledictiones, sce- 
„lerum vestrorum persecutrices, quamdiu permanebitis in 
„peccato.“ 

Von dieſer kraſſen Unwiſſenheit des Mittelalters ſieht man 
übrigens noch heut zu Tage ſehr deutliche Spuren in allen den 
Ländern Europa's, in welchen der Volksunterricht noch ſo un— 
vollkommen iſt, daß die meiſten Menſchen der untern Klaſſen 
weder leſen noch ſchreiben können. Zu dieſen gehörten aber 
noch in der Mitte des ſechszehnten Jahrhunderts alle Länder 
Europa's und ſelbſt die größten Städte derſelben, wie man 
aus folgendem Beiſpiele ſieht. König Heinrich VII. von Eng— 
land (geſt. 1547) hatte die fremden Kaufleute in London mehr 
begünſtigt, als es den einheimiſchen lieb ſeyn mochte. Eines 
Morgens wurde daher ein Pasquill auf ihn an dem Kirchthore 
von St. Paul gefunden. Der König war darüber ſo erzürnt, 
daß er den Verfaſſer dieſer Schmähſchrift um jeden Preis ent— 
deckt haben wollte. Um ganz ſicher zu gehen, ließ er in jeder 
Pfarrei der Hauptſtadt alle diejenigen, welche ſchreiben konnten, 
vor den Aldermann und einen eigens dazu ernannten k. Rath 
treten, wo ſie einige Zeilen niederſchreiben mußten, die dann 
geſiegelt nach Guildhall geſchickt wurden, um die Hand— 
ſchrift mit der des Pasquills zu vergleichen. Wie mußte es, 
wenn ſolche Mittel als die ſicherſten in Bewegung geſetzt wurden, 


Nachträgliche Bemerkungen Aber das Mittelalter. 351 


in dieſer Zeit um die Verbreitung der Schreibkunſt in London 
ſtehen? Und wie dann erſt in den Hauptſtädten der anderen 
Länder? Jetzt würde man ohne Zweifel lächeln, wenn man einen 
ſolchen Verſuch auch nur in einem Landſtädtchen machen wollte. 


6) Daraus folgender Zuſtand der Wiſſenſchaften. 


Daß unter ſo betrübenden Verhältniſſen an eigentliche 
Wiſſenſchafft nicht weiter gedacht werden kann, würde ſchon 
für ſich klar ſeyn, wenn es auch unſer Verfaſſer im Vorher— 
gehenden nicht ſchon ſo umſtändlich bewieſen hätte. Wir haben ge— 
ſehen, daß alles, was man damals Wiſſenſchaft nannte, ſich 
größtentheils auf die ſcholaſtiſche Philoſophie zurückführen ließ. 
Immerhin waren dieſe ſogenannten Philoſophen die einzigen 
Denker jener Zeit, aber würden wir, wenn auch ſie weggeblieben 
wären, darum eben viel ſchlechter geſtanden ſeyn? Und iſt dieſer 
krankhafte Auswuchs der Philoſophie nicht vielmehr ein eigent— 
licher Rückſchritt unſerer Erkenntniß geweſen? Es wird ſchwer 
ſeyn, von den unverſtändlichen ſublimirten Speculationen 
dieſer Leute irgend einen reellen Vortheil für das Menſchen— 
geſchlecht abzuleiten, eben ſo ſchwer vielleicht, als von den 
ihrer neuern Brüder in Deutſchland, die in unſern Tagen ihr 
Weſen unter uns getrieben haben, und die jenen in vielen Rück— 
ſichten ſo ähnlich ſehen, daß man in Verſuchung kömmt, ſie für 
die unmittelbaren Nachkömmlinge jenes Geſchlechts zu halten. 

Wir haben bereits oben mehrere Heroen dieſer abentheuerlichen 
Secte erwähnt. Zur Vervollſtändigung des Geſagten ſoll hier noch 
ein kurzer Ueberblick ihrer Lehre folgen, dem wir eine Nachricht 
über einige ausgezeichnete, bisher noch nicht umſtändlich erwähnte 
Vorgänger derſelben vorausſenden, um dadurch die vorzüglichſten 
wiſſenſchaftlichen Männer jenes Zeitalters gleichſam mit einem 
Blicke zu überſehen. 

Im ſiebenten und achten Jahrhundert lagerte ſich finſtere 
Nacht über ganz Europa. Außer dem bereits oben erwähnten 
Beda Venerabilis gedenken wir bloß des Iſidorus His pa— 
lienſis (geſt. 636), Erzbiſchof von Sevilla, von dem wir 
mehrere grammatiſche Werke, und die berühmten Dekretalen 
(Litteras decretales) haben, die aber im neunten Jahrhundert 
viele unächte Zuſätze erhielten; und des Paul Warnefried, 


352 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


der am Ende des achten Jahrhunderts lebte, und uns ein ſchätz— 
bares Werk über die Geſchichte der Longobarden (De gestis 
Longobardorum) hinterließ. Er war der Freund und Kanzler 
es letzten Königs der Longobarden, und lebte die letzten Jahre 
als Mönch in dem berühmten Kloſter zu Monte-Caſino. Seine 
Gelehrſamkeit und ſelbſt ſeine Verſe wurden von Männern, wie 
Alcuin und Karl der Große, bewundert. Sein Freund Petrus 
Piſanus drückte dieſe Bewunderung in einigen Zeilen aus, die 
den Geſchmack und die Gelehrſamkeit jener Zeiten charakteriſiren: 


Graeca cerneris Homerus, 
Latina Virgilius; 

In Hebraea quoque Philo, 
Tibullus in artibus; 
Flaccus crederis in metris, 
Tibullus eloquüs. 


Auf diefen Bombaſt ſchrieb der befcheidene Warnefried die 
Verſe zurück: 
Graecam nescio loquelam, 
Ignoro Hebraicam ; 
Tres aut quatuor in scholis 
Quas didiei syllabas, 
Ex his mihi est ferendus 
Manipulus adorea. 


Alcuin, geb. 736 zu York in England. Seine Bildung 
erhielt er in der damals berühmten Kloſterſchule zu Pork, deren 
Vorſteher er auch ſpäter wurde. Auf ſeiner Rückreiſe von Rom 
lernte ihn Karl der Große in Parma kennen, deſſen Freund und 
Rathgeber er bald wurde, und dem er auch bei ſeinen Unterneh— 
mungen für die Kultur ſeines Reiches thätig beiſtand. In den Ge— 
lehrtenvereinen, die Karl an ſeinem Hofe hielt, führte er den 
Namen Flaccus Albinus. Hier ſtand er der neuen Hofſchule 
(Schola palatina) vor, die der Kaiſer zum Unterrichte der ihn zu— 
nächſt umgebenden Perſonen errichten ließ. Alcuin erhielt auch die 
Aufſicht über mehrere Klöſter, in welchen er ebenfalls für die 
Verbreitung des Unterrichts ſorgte, ſo wie er auch viele neue 
Schulen im Lande errichtete, wie z. B. die berühmte Lehranſtalt 
in der Abtei St. Martin du Tours, wohin er ſich i. J. 800 ſelbſt 
zurückzog, um ungeſtört von dem Geräuſche des Hoflebens den 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 353 


Wiſſenſchaften und der Kultur feiner neuen Mitbürger zu 
leben, und wo er auch i. J. 804 ſtarb. Seine theologiſchen, 
philoſophiſchen und grammatiſchen Schriften find von Frobenius 
geſammelt und 1777 zu Regensburg in einem Foliobande er— 
ſchienen. 


Rhabanus Maurus, der Freund und Schüler Alcuin’g, 
wurde zu Ende des achten Jahrhunderts in Mainz geboren, 
erhielt ſeine Bildung in dem Benedictinerkloſter zu Fulda, und 
ging in der Folge nach Tours, um ſeine Studien unter Alcuin 
zu vollenden. Im Jahr 822 wurde er Vorſteher der Schule zu 
Fulda und Abt des Kloſters daſelbſt, wo er über zwanzig Jahre 
auf die Kultur ſeines Vaterlandes im Großen wirkte. Er ſtarb 
856 als Erzbiſchof von Mainz. Seine meiſt theologiſchen Schrif— 
ten ſind 1627 in Folio zu Köln erſchienen. Sein lateiniſch— 
deutſches Gloſſar über die Bibel iſt ein wichtiges Denkmal der 
älteſten deutſchen Sprache. 


Ottfried, des vorhergehenden Schüler, aus dem Benedictiner— 
Kloſter zu Weißenburg im Elſaß. Er verfaßte um d. J. 870 
eine freie poetiſche Bearbeitung der evangeliſchen Geſchichte, die 
unſer wichtigſtes Denkmal der althochdeutſchen Sprache iſt. 
Eine kritiſche Ausgabe derſelben beſorgte Graff unter dem Titel 
„Kriſt.“ Königsberg 1831. — Eginhard, Sekretär und Kaplan 
Karls des Großen, iſt der älteſte deutſche Geſchichtſchreiber. Die 
übrigens unverbürgte Erzählung von des Kaiſers Tochter, Emma, 
iſt bekannt. Er ſtarb als Abt des Benedictinerkloſters Seligenſtadt 
i. J. 844. Wir haben von ihm eine Vita Caroli Magni, die 
viele Bearbeitungen und Ausgaben erlebt hat. Die „fränkiſchen 
„und karolingiſchen Annalen von 741—829“ werden ihm wohl 
nur fälſchlich beigelegt. 


Paulinus, Patriarch von Aquileia, ein für feine Zeit 
ſehr gelehrter Mann, wie aus ſeinen Werken, die 1437 zu 
Venedig erſchienen ſind, und noch mehr aus dem wohl etwas über— 
triebenen Lobe Alcuin's hervorgeht: Tuum est, ſagt der letzte, 
o pastor electe gregis, qui clavem scientiae potente dextera 
tenes, Philistaeos uno veritatis ietu conterere. Ad te omnium 
aspiciunt oculi, aliquid de tuo affluentissimo eloquio coelesti 
desiderantes audire u. f. Unter den Philiftern find hier die 
Ketzer gemeint, die dem Felix von Urgel und dem Elipando von 

Whewell. I. 23 


354 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


Toledo folgten, und die Paulinus eifrigſt bekämpfte. Er ſtarb 
im Jahr 804. 

Liutprand, im zehnten Jahrhundert, ſchrieb die „Geſchichte 
ſeiner Zeit“ und die „feiner Geſandtſchaft nach Konſtantinopel,“ 
die beide auf uns gekommen und ein ſehr ſchätzbares Denkmal 
des Mittelalters find. Er ſtarb als Biſchof von Cremona. 

Roswitha, Nonne des Benedictiner-Kloſters zu Ganders— 
heim, wegen ihrer Gelehrſamkeit weit berühmt. Sie war mit 
dem kaiſerlichen Haufe der Ottoer verwandt. Die Sammlung 
ihrer meiſt poetiſchen und hiſtoriſchen Schriften gab zuletzt 
Schurzfleiſch heraus. Wittenb. 1707. Sie ſtarb zu Ende des 
zehnten Jahrhunderts. 

Lanfranc, Erzbiſchof von Canterbury, war im Anfange 
des eilften Jahrhunderts zu Pavia geboren. Er wurde als einer 
der großen Reſtauratoren der Gelehrſamkeit jener Zeit verehrt, 
und in der That ſcheint auch ſein Einfluß auf die Kultur beſon— 
ders in England und Frankreich ſehr groß geweſen zu ſeyn. 
Seine heftigen Streitigkeiten mit Berengar ſind ſchon oben er— 
wähnt worden. Seine meiſt theologiſchen Schriften gab L. d' Ar⸗ 
chery, Paris 1648, heraus. Er ſtarb i. J. 1089. 

Mit dem nun folgenden zwölften Jahrhundert beginnt die 
eigentliche ſcholaſtiſche Philoſophie, deren Choragen be— 
reits oben an den ſie betreffenden Stellen angeführt worden ſind, 
und von welchen wir daher hier nur noch eine allgemeine Ueber— 
ſicht beifügen wollen. 

Die ſcholaſtiſche Philoſophie beginnt mit 1100 und endet 
mit 1500, ſo daß alſo ihre Periode volle vier Jahrhunderte 
umfaßt. Sie läßt ſich, den allmähligen Veränderungen gemäß, 
die ſie erlitten hat, in vier Abſchnitte eintheilen, die nahe 
den einzelnen vier Jahrhunderten ihrer ganzen Dauer ent⸗ 
ſprechen. 

Nach Wachler's Geſchichte der Literatur, der wir hier vorzüg— 
lich folgen, war der Gegenſtand dieſer Philoſophie, um es, wie er 
meint, kurz zu jagen, „eine ſpeculativ-dogmatiſch-ſkeptiſch-alle⸗ 
„goriſch-myſtiſch-theoſophiſch-idealiſch-realiſtiſch-transcredentale 
„Hyperphyſik,“ was doch wohl zu deutſch „ein leeres Geſchwätz“ 
heißen ſoll. — Dieß von dem Inhalte jener Philoſophie. Die 
Form aber, in die fle gegoſſen wurde, war die Dia lectik, d. h. 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 355 


die edle Disputirkunſt, die wie man erwarten kann, dem Inhalte 
vollkommen angemeſſen war, wenn es anders richtig iſt, daß 
zu einem ordentlichen Dispute zweier Partheien über eine 
Sache vor allem erfordert wird, daß beide Theile von dieſer 
Sache nichts verſtehen, weil ſonſt, wenn auch nur einer klug 
iſt, der Streit nicht dauern, und wenn beide, nicht einmal an— 
fangen kann. 


Der erſte Abſchnitt alſo dieſer Philoſophiſterei geht von 
1100 bis 1200 und enthält, unſerem Führer zufolge, die „theo— 
„ſophirende Dialectik, gepaart auf der einen Seite mit 
„dem ihr opponirten Supernaturalismus, und auf der andern 
„Seite mit der ſie moderirenden Myſtik.“ Da ein ſo monſtröſes 
Amphibium ſeine zerſtörende Kraft bald gegen ſich ſelbſt, gegen 
ſeine eigenen Eingeweide wenden mußte, da alſo auch die 
Sprößlinge einer ſo unnatürlichen Verbindung bald unter ſich 
uneins werden, und gleich bei ihrer Geburt mit einander im 
Kampfe liegen mußten, jo zerfiel die edle Brut ſchon in ihrem 
Neſte in zwei Partheien, die ſich, damit die künftigen Streit— 
hähne ſchon bei Zeiten ihre Klauen üben konnten, ſogleich auf 
das heftigſte bekriegten: in die Realiſten nämlich und in die 
Nominaliſten. Der Gegenſtand des Streites und der Grund 
der Trennung war, wie man leicht denken kann, von der größten 
Wichtigkeit. Die Realiſten nämlich behaupteten die Universalia 
in re, und die Nominaliſten im Gegentheil wollten nur die 
Universalia post rem gelten laſſen. Das ſoll aber, nach unſeres 
Verfaſſers Exegeſe, ſo viel heißen: Die Realiſten behaupteten 
die Wirklichkeit der allgemeinen Begriffe in den Dingen ſelbſt, 
die Nominaliſten aber geſtanden dem allgemeinen Begriffe nur 
ein fubjectives Daſeyn in dem menſchlichen Vorſtellungsvermögen 
zu. Als Stifter der realiſtiſchen Secte wird Wilhelm von Cam— 
pellis (+ 1121), Archidiacon von Paris, angegeben, und der eigentliche 
Gründer der Nominaliſten ſoll Johann Rouſſelin, Canonicus zu 
Compiegne, geweſen ſeyn. Einer der Choregen der Nominaliſten 
war Abälard, von dem bereits oben geſprochen worden iſt. In 
dieſe Periode fällt auch Arnold von Brescia, der beſonders durch 
ſeine heftigen Streitigkeiten mit dem h. Bernard von Clairvaux 
durch die ganze gelehrte und ungelehrte Chriſtenheit ein ſo ge— 
waltiges Aufſehen gemacht hat; ferner Peter Lombardus, Biſchof 


234” 


356 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


von Paris, deſſen dialectiſches Syſtem der Theologie noch im 
ſechszehnten Jahrhundert für klaſſiſch gehalten wurde. Hugo a 
St. Victore, einer der gemäßigſten in feinen Behauptungen, ſo 
überſpannt ſie uns auch jetzt erſcheinen mögen; Richard, ein 
ſchottiſcher Theologe, der einen vernünftigen Supernaturalismus, 
wie er ihn nannte, einführen wollte, und Walther, ſein Gegner, 
der ſich brüſtete, ein abſoluter Antirationaliſt zu ſeyn. Johann 
von Salisbury wollte den Rationalismus mit dem Hypernatu— 
ralismus paaren, was aber bei ſo ganz unvereinbaren Dingen 
nicht gelingen konnte. 


Der zweite Abſchnitt von 1200 bis 1300 enthält, nach 
Wachler, die „ariſtoteliſch-realiſtiſche Philoſophie. Auch dieſe 
ſcheint einen guten Theil von der Zankſucht ihrer Mutter geerbt zu 
haben, da ſie ſich gleich nach ihrer Geburt wieder in zwei Theile 
ſpaltete, die ſich ebenfalls auf das heftigſte bekämpften. Die 
Anhänger der einen Parthei waren die Scotiſten (von Johan— 
nes Duns Scotus, ihrem Anführer), und die anderen wurden 
Thomiſten (von ihrem Choragen Thomas Aquinas) genannt. 
Später bildete ſich noch eine dritte Parthei, die Myſtiker, die 
bei dem Kampfe jener beiden Heere die Rolle des Schakalls 
ſpielten, die hinter den Armeen herziehen, um die Leichen der 
Erſchlagenen aufzuleſen. Die Hauptſitze dieſer Philosophia tri- 
ceps waren die drei Städte Paris, Oxford und Köln. 


Die berühmteſten Philoſophen dieſer zweiten Periode ſind 
Thomas von Aquin, deſſen ſämmtliche Werke, Rom 1570, acht— 
zehn Foliobände füllen, und Johannes Duns Scotus (dev nicht 
mit Scotus Erigena im neunten Jahrhundert zu verwechſeln iſt), 
deſſen Werke zu Lyon 1639 in zwölf Foliobänden erſchienen ſind. 
Ferner Alexander ab Hales in England (+ 1245), der zu Paris 
den Ariſtoteles und die Bibel commentirte, und deſſen Werke 
(Venedig 1576) in vier Foliobänden herausgekommen ſind. 
Robert Grostéte (Groß- oder Dickkopf), der ebenfalls viele 
Foliobände über den Ariſtoteles und über die ſogenannten ſieben 
freien Künſte zuſammen geſchrieben hat. Vincenz von Beauvais 
(+ 1270) verfaßte eine allgemeine Encyclopädie de omnibus re- 
bus seibilibus et de quibusdam aliis, die er Speculum majus 
nannte, in ſieben Foliobänden (Straßburg 1473). Albertus 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 357 


Magnus, der größte Polymath und Polygraph des Mittelalters, 
deſſen Opera omnia Jammy zu Lyon 1651 in einundzwanzig 
großen Foliobaͤnden herausgegeben hat. Eheu, quis nostrum 
tantum potest legere, quantum ille conscripsit, ſagte Auguſtin 
von Chryſoſtomus, welcher letzte doch nur dreizehn Foliobände 
zufammengebracht hat. — Henricus Goethals ( 1293) aus den 
Niederlanden, ein ſupernaturaliſtiſcher Realiſt, wie ihn Wachler 
nennt, ( 1293), der ſich ſchon mit zwei Foliobänden begnügte. 
Guilielmus Durand (+ 1332), ein heftiger Gegner von Thomas, 
und Aegidius Columna aus Rom (T 1316), deren jeder nur einen 
Folioband hinterlaſſen hat. Bonaventura (+ (1274), der in acht 
Foliobänden die Vereinigung des Rationalismus mit dem Super— 
naturalismus auf dem trockenen Wege der Myſtik zu Stande 
bringen wollte. Richard de Mediavilla (F 1300), der ſich vor: 
züglich mit der Pſychologie und der natürlichen Theologie be— 
ſchäftigte. Raymund Lully (+ 1315), ein tiefer Kenner der Kab— 
bala, ein unbändiger Rabuliſt, und, wie unſer Führer ſelbſt 
hinzuſetzt, ein ganz entſetzlicher Enthuſiaſt, der mit ſeinen Ein— 
fällen zehn große Foliobände gefüllt hat. 


Die dritte Abtheilung, von 1300 bis 1400, umfaßt die 
eigentliche Blüthenzeit des Nominalismus. In dieſer Periode 
erhob ſich Wilhelm Decam (+ 1347) aus England, der Stifter 
der Occamiſten und der ausgezeichnetſte Schüler des Duns Sco— 
tus, der zu Paris Philoſophie gelehrt, und dann, obſchon zwei— 
mal in den Bann gethan, am Hofe Kaiſers Ludwig des Bayern 
in großer Achtung gelebt hat; Johannes Buridanus (F 1358), ein 
Schüler Oecams; Walther Burleigh (+ 1337); Petrus de Aquila 
(+ 1344); Heinrich von Oyta (+ 1380) und Heinrich von 
Frankenſtein ( 1390), aus Heſſen, der anfangs in Paris, und 
ſpäter an der Hochſchule zu Wien mit großem Beifall lehrte u. f. 


Der vierte Abſchnitt, von 1400 bis 1500 endlich enthält 
die Bekaͤmpfung des ſcholaſtiſchen Dogmatismus oder den eigent— 
lichen Verfall der ſcholaſtiſchen Philoſophie. — Man hatte nach 
drei vollen Jahrhunderten einſehen gelernt, daß man auf dieſem 
Wege nicht weiter kommt; der Zweifel an Ariſtoteles und ſeine 
Anhänger wurde immer reger; der Skepticismus erhob ſein 
Haupt und der Dogmatismus ging unter. Dieſe große Um— 


358 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


wandlung verdankt man vorzüglich der Wiedererweckung der 
alten klaſſiſchen Literatur in Italien, von welcher wir ſogleich 
näher ſprechen werden. In dieſer Periode erhoben ſich die beiden 
Grafen Pico von Mirandola, der unermüdet thätige Marſilius 
Ficinius, Diomedes Caraffa, Vergarius, Vegius u. a. der ges 
feierten Namen eines Dante, Boccaccio, Petrarka, Lorenzo de 
Medici u. a. nicht zu gedenken, die zum Theil einer früheren 
Periode angehören, und da fie etwas Beſſeres, als ſcholaſtiſche 
Philoſophie zu treiben wußten, nicht in die Geſellſchaft derjenigen 
Leute gehören, mit welchen wir hier unſere Leſer, vielleicht ſchon 
zu lange, aufgehalten haben. 


Demungeachtet waren dieſe fcholaftifchen Philoſophen, die 
vorzüglichſten wenigſtens von ihnen, die beſten Köpfe ihrer Zeit, 
die erſten Denker Europa's, und Männer, deren Scharfſinn und 
geiſtige Kraft, ſelbſt in ihrem Mißbrauche dieſer Kraft, nicht 
verkannt werden kann, obſchon fie zugleich von jedem nüchter— 
nen, ſeinen geſunden Menſchenverſtand noch beſitzenden Mann 
nur als eine Art von aberwitzigen Genies betrachtet werden 
müſſen. Zu dieſem nur ſcheinbar harten Urtheile berechtigen 
uns ſchon die berüchtigten Quaestiones Quodlibeticae, mit welchen 
ſich dieſe ſogenannten Philoſophen, nicht bloß die einzelnen, ſon— 
dern ganze Corporationen derſelben, gegenſeitig zuſetzten und ver— 
folgten, und die als ein Beweis im Großen gelten können, bis 
zu welcher Tiefe der menſchliche Geiſt fallen kann, wenn er ſich 
dem Irrthume nicht bloß überlaſſen, ſondern ſich ſo recht ge— 
fliſſentlich in ihn hineinſtudirt hat. Die Thomiſten, Scotiſten, 
Occamiſten, und wie fie alle hießen, ſtritten ſich durchaus nur 
über ſolche Dinge, von denen ſie ſämmtlich nichts verſtanden und 
auch nichts verſtehen konnten, und zwar mit einer Hitze, die nur 
zu oft in Verfolgungen und blutige Kämpfe überging. Viele 
dieſer höchſt abſurden Fragen ſpalteten England, Frankreich und 
beſonders Oberitalien in Partheien, die ſich von den Gelehrten 
auf das ganze Volk fortpflanzten, die mehrere Jahrzehnte kämpfend 
einander gegenüber ſtanden, und die nur zu oft in blutige Fehden 
übergingen, bei welchen gewöhnlich Steine und Dolche die Haupt: 
rolle ſpielten. Man muß gerechten Anſtand nehmen, mehrere 
dieſer Fragen hier näher anzuzeigen, da ſie nicht bloß mit dem 
geſunden Menſchenverſtande, ſondern auch mit dem ſittlichen 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 359 


Anſtande unverträglich erſcheinen, während ſie doch von jenen 
großen Philoſophen mit einem Ernſte und mit einer Wichtigkeit 
behandelt wurden, die uns im hohen Grade lächerlich erſcheinen 
würden, wenn fie nicht zugleich in einem noch höheren Grade 
bemitleidenswerth und erbaͤrmlich wären. So wurde z. B., um 
nur einige dieſer am wenigſten auffallenden Quodlibetfragen 
anzuführen, das Problem zur Beantwortung aufgeſtellt, ob 
Adam, ſo lange er ohne Sünde war, auch das Liber Senten— 
tiarum des Petrus Lombardus ſchon gekannt habe? oder ob ein 
Menſch mit einer halben Seele auch noch denken könne? Ob der 
Heiland auch die Menſchen hätte erlöſen können, wenn er in 
einer anderen, als der menſchlichen Geſtalt auf die Welt gekom— 
men wäre? Welches Alter und welches Kleid der Engel hatte, 
welcher der h. Jungfrau die Botſchaft des Himmels ausrichtete? 
Worin die innere Structur des Paradieſes beſtanden habe? Ob 
es im Paradieſe auch Excremente gegeben habe? Welche Sprache 
die Engel ſprechen? u. ſ. w. Dieſe letzte Frage beſonders erregte 
eine große Spaltung aller Gelehrten Oberitaliens, die über 
fünfzig Jahre dauerte und ganze Bibliotheken von Folianten 
erzeugte, indem die eine der beiden Partheien behauptete, daß 
die Engel griechiſch ſprechen, weil dieß die ſchönſte und vollkom— 
menſte aller Sprachen wäre, während die andere Parthei die 
hebräiſche Sprache in ihren Schutz nahm, weil dieſe die älteſte 
unter allen Sprachen und zugleich die des heiligen Bundes 
iſt. — Einer von dieſen Philoſophen, und zwar einer der be— 
rühmteſten, der große Doctor Angelicus, wie er genannt wurde, 
ſchrieb einen gewaltigen Folioband von 1250 Seiten „über die 
„Natur und Weſenheit der Engel.“ Wir begnügen uns hier bloß 
mit den Titeln einiger von den 358 großen Kapiteln dieſes Werkes, 
in welchen die Eigenſchaften und Attribute der Engel von dem 
Verfaſſer angeführt und ſo im Detail auseinandergeſetzt werden, 
daß man in Verſuchung geräth, zu glauben, er habe ſelbſt 
lange Zeit mitten unter ihnen gewohnt. Eines dieſer Kapitel 
alſo zeigt, daß die Engel vor der Erſchaffung der Welt nicht 
exiſtirt haben; ein anderes, daß ſie in dem empyriſchen Himmel 
entſtanden ſind; ferner, daß jeder derſelben aus Action und 
Potentialität zuſammengeſetzt iſt; daß fie unter ſich nicht in es— 
sentia, ſondern bloß in specie verſchieden ſind; daß die Körper, 


360 Nachträgliche Bemerkungen Über das Mittelalter. 


welche ſie zuweilen annehmen, aus ſehr dünner Luft beſtehen; daß 
ſie nicht im Raume, aber wohl der Raum in ihnen enthalten 
iſt; daß ihre Bewegungen ſowohl continuirlich, als auch discon— 
tinuirlich ſind; daß ihre Intelligenz am Morgen jedes Tages 
größer iſt, als am Abend; daß ihrer mehrere Tauſende zugleich 
auf einer Nadelſpitze ſtehen können, ohne ſich zu drängen oder 
zu hindern u. ſ. f. 


Ueber den bereits oͤfter erwähnten Streit zwiſchen den Mo: 
minaliſten und Realiſten wollen wir noch bemerken, daß der 
Kampf dieſer beiden Partheien eigentlich bis zu Ende des fünf— 
zehnten Jahrhunderts oder bis zu dem völligen Untergange der 
ſcholaſtiſchen Philoſophie ſelbſt gedauert hat, und daß er zuweilen 
ſo heftig wurde, daß die weltliche Gewalt einſchreiten mußte, um 
den Frieden, auf einige Zeit wenigſtens, wieder herzuſtellen. Im 
Anfange des vierzehnten Jahrhunderts waren die Nominaliſten 
nahe daran, von ihren Gegnern, den Realiſten, ganz zermalmt 
zu werden. Der berühmte philoſophiſche Klopffechter Occam aber 
brachte die Nominaliſten wieder zur Aufnahme, die nun ihren 
Sieg um ſo muthiger verfolgten, da auch Ludwig XI. von Frank— 
reich ſich ihrer ſehr Eräftig anzunehmen anfing. Aller Wahrſchein— 
lichkeit nach würden die Realiſten von ihren mächtigen Gegnern 
erdrückt worden ſeyn, wenn ſich nicht wieder Johann XXIII. zu 
Rom der Beſiegten auf das eifrigſte angenommen hätte. Von dieſer 
Zeit an war es in Frankreich und mehr noch in Italien für 
einen Nominaliſten gefährlich, ſeine Stimme hören zu laſſen. 
Ludwig XI. widerſtrebte lange, er wollte feine früheren Schütz— 
linge nicht fallen laſſen, aber endlich gab auch er nach, und nun 
erſchien im Jahr 1474 ein Edict, in welchem unter Androhung 
ſtrenger Strafen befohlen wurde, alle Werke der Nominaliſten 
in den Bibliotheken mit eiſernen Ketten an die Wand zu ſchmie— 
den und ſie keinem, ohne Ausnahme, zum Leſen zu überlaſſen. 
Seit dieſer Zeit flüchteten ſich die Nominaliſten, die auf noch 
ſchlechtere Dinge gefaßt ſeyn mußten, nach Deutſchland und Eng— 
land, wo fie ſpäter bei der Reformation ſich wieder thätig be— 
zeugten. — Wir können in unſeren Tagen kaum mehr glauben, 
mit welcher Heftigkeit damals ſolche philoſophiſche Fehden geführt 
worden ſind. Vives, ein Augenzeuge und Mitkämpfer, drückt ſich 
darüber mit folgenden Worten aus: „Wenn die ſtreitenden Par— 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 361 


»theien ſich in gegenſeitigen Schimpfreden erſchöpft hatten, fo 
„gingen fie gewöhnlich auf Fauſtkämpfe über, und nicht ſelten 
„endeten dieſe Händel über „Univerſalien und Particularien“ 
»mit Stock- und Säbelhieben, wobei gar mancher dieſer Philo— 
»ſophen einen blutigen Kopf davon trug oder wohl gar fein Leben 
„einbüßte.“ 


Gedenken wir zum Schluſſe dieſes Gegenſtandes, noch der 
ſonderbaren Titel und Namen, welche ſich die Scholaſtiker bei— 
legten und wodurch ſie gleichſam eine Art von Adel unter ſich 
conſtituirten. So hieß z. B. 


Petrus Lombardus, der Doctor Sententiarum. 


Henricus Goethals — Doctor Solemnis. 
Alexander ab Hales — Doctor Irrefragabilis. 
Aegidius Columna — Doctor Fundatissimus. 
Guilielmus Durand — Doctor Resolutissimus. 
Bonaventura — Doctor Seraphicus. 
J. Duns Scotus — Doctor Sublimis. 
Wilhelm Occam — Doctor Invineibilis. 
Roger Bago — Doctor Mirabilis. 
Walter Burleigh — Doctor Perspicuus. 
Petrus Aquila — Doctor Sufficiens. 
Thomas Aquinas — Doctor Angelicus. 


7) Wiedererweckung der alten Schriftſteller. 


Es iſt bereits oben geſagt worden, daß wir den endlichen 
Untergang der alle eigentliche Wiſſenſchaft hindernden ſcholaſti— 
ſchen Philoſophie und die Wiedererweckung einer wahren Gelehr— 
ſamkeit und eines gereinigten Geſchmackes in den Werken der 
Kunſt, vorzüglich dem Umſtande verdanken, daß ſich die Aufmerk— 
ſamkeit der Menſchen im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhun— 
dert wieder dem literariſchen Schatze zugewendet hatte, den wir 
von den alten Griechen und Römern ererbt haben, und zwar zu 
dem Zwecke, um von ihnen zu lernen und ſich ſelbſt nach ihnen zu 
bilden, nicht bloß um fie ſklaviſch zu commentiren oder darauf 
unhaltbare, inhaltsleere Syſteme zu erbauen. 

Wenn wir die Werke des Ariſtoteles und Plato's über Phi— 


362 Nactragliche Bemerkungen über das Mittelalter.! 


loſophie, und die des Ptolemaͤus über Aſtronomie ausnehmen, 
ſo waren die übrigen Schriften der alten Griechen und Römer, 
von den Arabern ſowohl, als auch von den Europäern im Mit— 
telalter größtentheils überſehen worden, und wir dürfen uns 
mit Recht verwundern, daß demungeachtet noch ſo viele derſelben 
erhalten und auf uns gekommen ſind. Dazu haben ohne 
Zweifel die Abſchreiber in den Klöſtern jener Zeit ſehr viel bei— 
getragen, obſchon man auf der andern Seite auch wieder geſtehen 
muß, daß die oben erwähnten Palimpſeſte, die aus denſelben 
Klöſtern hervorgingen, ſehr großen Schaden angerichtet haben. 
Am meiſten trug wohl zur Erhaltung jener Werke die en— 
thuſtaſtiſche und nahe excentriſche Vorliebe nach dem Beſitze der: 
ſelben bei, die im fünfzehnten Jahrhundert, beſonders in Italien, 
erwachte und daſelbſt gleichſam allgemeine Sitte wurde. 


Zu dieſer Zeit des Wiederauflebens der Wiſſenſchaften waren 
die Bemühungen der meiſten Gelehrten auf die Auffindung jener 
nun ſehr ſelten gewordenen griechiſchen und römiſchen Manu— 
ſcripte gerichtet. Alle Winkel von Griechenland und Italien 
wurden durchwühlt, um von dieſen Schriften ſoviel als möglich 
zu entdecken, und viele reiche und wohlhabende Männer, die ſich 
auf demſelben Wege auszeichnen wollten, verarmten durch die 
großen Reiſen, die ſie zu dieſen Zwecken unternahmen, und durch 
die hohen Summen, welche ſie für jene Manuſcripte entrichteten. 
Wenn man die Briefe der italieniſchen Gelehrten jener Zeit 
liest, ſo kann man ihr Entzücken über einen ſolchen Fund, ſo 
wie ihre Verzweiflung über ihre fehlgeſchlagenen Erwartungen, 
jetzt kaum mehr begreifen. Kronen und Throne würden dieſen 
Leuten nicht ſoviel Freude gemacht haben, als die Entdeckung 
eines bisher unbekannten oder auch nur unvollſtändig bekannten 
griechiſchen oder römiſchen Manuſcripts. Als Poggio, ein Flo— 
rentiner, im ſechszehnten Jahrhundert eine Copie von Quintilian 
gefunden hatte, ſchrieb ihm ſein Freund Aretinus: „O herrlicher 
„Fund! O ungeheurer Gewinn! O unerwartetes Glück! Ich 
„bitte, ich beſchwöre dich, mein Poggio, ſende mir das Manuſcript 
„fo bald als möglich, damit ich es noch ſehe, eh' ich ſterbe.“ Poggio 
hatte dieſe Abſchrift Quintilians in dem Kloſter von St. Gallen 
gefunden, aber nicht in der Bibliothek deſſelben, ſondern in einer 
halbvermoderten Kiſte eines ſchmuzigen Winkels, in deterrimo 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 363 


quodam et obscuro carcere, wie er ſagt. — Viele Unvorſich— 
tige, die ſich ohne hinreichende Kenntniß in dieſe Manuſcripten— 
Jägerei gewagt hatten, wurden oft ſchmählich hintergangen und 
zahlten große Summen für untergeſchobene oder ganz falſche 
Schriften. Aber auch die glücklicheren Kenner des Gegenſtandes 
hatten viel zu leiden, weil ſie, wenn ſie einen guten Fund dieſer 
Art gemacht hatten, von allen beneidet, verfolgt und ſelbſt wie— 
der um ihr Gut beraubt wurden, da der Ruhm, ein Manufeript 
z. B. von Cicero zu beſitzen, beinahe demjenigen, der Verfaſſer deſ— 
ſelben zu ſeyn, gleich geſchätzt wurde. Johannes Aurispa, einer der 
vorzüglichſten Schriftenjäger im fünfzehnten Jahrhundert, brachte 
mehrere Hunderte von Manuſcripten griechiſcher Schriftſteller 
nach Italien, und er bedauerte nur, daß der größte Theil der— 
ſelben blos profane heidniſche, nicht aber heilige Autoren betraf, 
woran, wie er ſagt, der Geſchmack der Griechen Schuld war, 
die ihm durchaus keine theologiſchen Werke abgeben wollten, 
während ſie mit den profanen Autoren ſehr freigebig waren. 


Dieſe Manuſcripte wurden nicht immer bei den Reichen oder 
in den Kloſterbibliotheken, ſondern gewöhnlich halbvermodert 
in finſtern Winkeln unterm Schutt gefunden. Es war oft 
ſchwer, die Orte aufzufpüren, wo man nach ihnen ſuchen ſollte, 
und gewöhnlich noch ſchwerer war es für dieſe meiſtens ganz 
kenntnißloſen Schatzgräber, den Werth eines ſolchen gemachten 
Funds zu beſtimmen. Einer der größten dieſer ſogenannten 
Bibliophilen gab einem gewiſſen Valerius den Vorzug vor allen 
lateiniſchen Autoren; ob er damit den Valerius Maximus oder 
den Martial meinte, iſt ungewiß. Derſelbe ſetzte Plato und 
Tullius unter die Dichter, und hielt Ennius und Statius für 
Zeitgenoſſen, obſchon beide durch ſechs Jahrhunderte von einan— 
der getrennt waren. Auf dieſelbe Weiſe, wie Poggio den Quin— 
tilian gefunden hatte, entdeckte man auch die uns noch übrig geblie— 
benen Werke des Tacitus in einem Klofter von Weſtphalen. Es 
iſt auffallend, daß ſich von dem erſten aller Hiſtoriographen 
nur dieſes einzige Manuſcript erhalten hat, da doch der röm. 
Kaiſer Tacitus (T 276) von den Werken dieſes feines erlauchten 
Vorfahrs jährlich zehn Abſchriften verfertigen und den öffent— 
lichen Bibliotheken des Reichs vertheilen ließ. Aber dieſe römi— 
ſchen Bibliotheken wurden ſpäter alle zerſtört, und die kaiſerlichen 


364 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


Befehle vermochten nichts gegen die Barbaren der Völkerwan— 
derung und gegen den alles verwüſtenden Zahn der Zeit. Der 
juſtinianiſche Codex wurde von den Piſanern zufällig bei der 
Einnahme einer Stadt in Calabrien entdeckt; er wurde in der 
Bibliothek von Piſa aufgeſtellt, und hier nahmen ihn ſpäter die 
Florentiner, die ihn noch beſitzen. Manches andere Manuſcript 
wurde in dem Augenblicke entdeckt und erhalten, wo es eben 
für immer verloren gehen ſollte. Agobard, Bifchof von Lyon 
(+ 840), ein für feine Zeit ſehr freiſinniger Beſtreiter des Aber: 
glaubens, ſchrieb unter anderm eine Abhandlung über den Hagel 
und Donner, und über die Verwerflichkeit der Ordalien. Sein 
Manuſcript wurde von Papirius Maſſon bei einem Buchbinder 
zu Lyon in dem Augenblicke gefunden, als der letzte die Blätter 
dieſes Manuſcripts eben zerſchneiden wollte, um damit die Deckel 
der von ihm gebundenen Bücher zu überziehen. Ein Blatt von 
der zweiten Decade des Livius wurde zufällig von einem Kenner 
als Enveloppe einer Rakete gefunden, mit der eben ein Land— 
edelmann ſeine Familie unterhalten wollte. Er lief ſogleich zu 
dem Raketenmacher, um vielleicht noch mehrere dieſer Blätter 
zu finden. Aber er kam zu ſpät, da der Mann ſchon vor einer 
Woche die letzten Blätter des Livius verbraucht hatte. 


Mehrere dieſer Manuſcripte ſind erſt in den neueren Zeiten 
verloren gegangen. Aus einem Geſuche des Dr. Dee an die Köni— 
gin Maria Stuart im ſechszehnten Jahrhundert folgt, daß zu 
dieſer Zeit die Abhandlung Cicero's De Republica noch in den 
Bibliotheken Englands vorhanden geweſen iſt. Huet bemerkt, 
daß die Werke des römiſchen Dichters Petronius, der zu Nero's 
Tagen lebte, zur Zeit des Johann von Salisbury, d. h. im 
zwölften Jahrhundert, noch vollſtändig da geweſen ſind, da der 
letzte mehrere Stellen aus Petronius anführt, die jetzt nicht 
mehr in ihm gefunden werden. Raimund Soranzo, ein Rechts— 
gelehrter an dem päbſtlichen Hofe, beſaß zwei Bücher des Ci— 
cero, De Gloria, die er dem Petrarca lieh, der ſie wieder einem 
armen alten Manne, ſeinem ehemaligen Lehrer, geliehen hatte. 
Von Mangel gedrückt, verſetzte ſie der letzte, und ſtarb 
bald darauf plötzlich an einem Schlagfluſſe, ſo daß man nicht 
erfahren konnte, wem er das Manuſcript gegeben habe. Es iſt 
nie wieder gefunden worden. Petrarca ſpricht von dem Inhalte 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 365 


deſſelben mit Entzücken, und fagt, daß er nicht müde werden 
könne, es zu leſen. Zwei Jahrhunderte ſpäter fand man diefer 
Abhandlung Cicero's in einem Verzeichniſſe von Büchern erwähnt, 
die einem Nonnenkloſter als Erbe überlaſſen wurden, allein als 
man näher nachforſchte, war das Buch in dem Kloſter nicht 
mehr zu finden. Man glaubte, daß Peter Alcyonius, der Haus— 
arzt der Nonnen, das Manuſcript aus der Bibliothek entwen— 
det, und es, nachdem er es fleißig benützt hatte, vertilgt habe. 
In der That findet man in den Werken De Exilio dieſes Arztes viele 
ganz treffliche Stellen, die ganz iſolirt daſtehen und gegen welche 
das Uebrige ſehr unvortheilhaft abſticht. — Betrügereien dieſer 
Art ſcheinen zu jener Zeit nicht ſelten geweſen zu ſeyn. Leonhard 
Aretino, ein ausgezeichneter Literator des ſechszehnten Jahrhun— 
derts, hatte ein griechiſches Manuſcript des Procopius „De 
Bello Gothico“ gefunden, es in die lateiniſche Sprache über: 
ſetzt, und als ſein eigenes Werk bekannt gemacht. Erſt ſpäter 
fand man ein zweites Manuſcript deſſelben Werks, wodurch der 
Betrug Aretino's entdeckt worden iſt. Auch Machiavelli iſt von 
dieſen Künſten nicht frei geblieben. Er hatte ein Manuſcript 
Plutarchs von den Apophthegmen der Alten gefunden, wählte 
von ihnen diejenigen aus, die ihm am meiſten gefielen, und 
legte ſie dann ſeinem Helden Caſtrucio Caſtricani in den 
Mund. 


Zu dieſen literariſchen Impoſtoren muß auch Annius von 
Viterbo im fünfzehnten Jahrhundert unter Pabſt Alerander VI. 
gezählt werden. Er wollte die vollſtändigen Werke von Sanchu— 
niathon, Manethon, Beroſus und anderer alten Schriftſteller 
gefunden haben, von denen man bisher bloße, meiſtens nur ſehr 
kurze Bruchſtücke erhalten zu haben glaubte. Er füllte mit 
ſeinen aufgefundenen Autoren ſiebenzehn Bände! Da er aber 
die Manuſcripte, die er unter der Erde gefunden zu haben vor— 
gab, Niemand zeigte, ſo erregte dieß großen Verdacht, dem 
auch die Entdeckung nach des Betrügers Tod bald folgte. 


Nicht geringeres Aufſehen machte ein anderer Impoſtor, 
Joſeph Vella, in unſeren Tagen. Er kam im Jahr 1794 als 
ein Reiſender aus dem Morgenlande an, und behauptete, daß 
er ſiebenzehn von den verlornen Büchern des Livius in der ara— 


360 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


biſchen Sprache entdeckt habe. Er wollte fie von einem Fran: 
zoſen erhalten haben, der ſie aus einem Schrank der Sophien— 
kirche in Konſtantinopel entwendet haben ſollte. Als er von 
allen Seiten gedrängt wurde, das Manuſcript bekannt zu machen, 
wozu ſich die damals eben in Italien anweſende Lady Spencer 
antrug, die Druckkoſten zu übernehmen, gab er endlich, als 
Probe ſeiner Entdeckung, eine italieniſche Ueberſetzung des ſechs— 
zehnten Buchs des Livius, die aber nur ein einziges Oktapblatt 
füllte, und die, wie man bald ſah, weiter nichts, als ein Aus— 
zug aus der Epitome des Florus war. Auch wollte er in der 
Abtei von St. Martin mehrere ſehr wichtige arabiſche Ma— 
nuſcripte, beſonders über die Geſchichte Siciliens, entdeckt 
haben. Vella wurde mit Geld und Ehrenbezeigungen überhäuft, 
und der König von Neapel nahm ihn in ſeinen beſondern Schutz. 
Endlich erſchienen vier Quartbände von den entdeckten Schätzen, 
und da fand ſich, daß er arabiſche Manuſcripte, die aber bloß 
von Mahomed und ſeinen Nachfolgern handelten, durch Entſtel— 
lungen und Aenderungen beinahe jeder Zeile derſelben, in eine 
bloß fingirte Geſchichte Siciliens unter der arabiſchen Herrſchaft 
umgeſchmolzen habe. Der Betrüger wurde in's Gefängniß ge: 
ſetzt, in dem er auch bis an ſeinen Tod geblieben iſt. 


Der Cardinal Granvella hatte nach ſeinem Tode mehrere 
große Kiſten mit Briefen von und an beinahe alle Potentaten 
und einflußreiche Männer ſeiner Zeit hinterlaſſen. Viele der— 
ſelben waren mit Bemerkungen und Randnoten von des Cardi— 
nals eigener Hand verſehen. Alle dieſe Kiſten wurden nach ſei— 
nem Tode in einer Bodenkammer ſeines Pallaſtes dem Regen 
und den Ratten preisgegeben. Fünf derſelben hatte der Auf— 
ſeher des Hauſes bereits an einen Krämer verkauft, als endlich 
ein Kenner davon Nachricht erhielt. Er kaufte die übrigen an, 
und mehrere Jahre durch beſchäftigte er ſich mit ſeinen gelehrten 
Freunden, dieſe wichtigen Originalſchriften gekrönter Häupter 
und berühmter Staatsmänner zu ordnen. Die auf dieſe Weiſe 
zu Stande gebrachte Sammlung ſoll über achtzig Foliobände ge— 
füllt haben. 


Die große Sammlung von Staatspapieren des Thurlon, 
Secretärs von Cromwell, betrug im Original nahe ſiebenzig 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 367 


Bände in Folio, und wurde erſt lange nach Cromwells Tod 
hinter der hölzernen Vertafelung eines Zimmers in Lincollns-Inn 
entdeckt. 


Auch die Reiſebeſchreibung des berühmten Montaigne's durch 
Italien hatte ein ähnliches Schickſal. Ein Stiftsherr von Peri— 
gord kam zufällig auf ſeiner Reiſe durch Frankreich in das 
Schloß Montaigne's, das jetzt von ſeinem Nachkommen bewohnt 
wurde. Als er die Bewohner um das Archiv des Hauſes fragte, 
zeigten ſie ihm einen großen, alten Koffer, in welchem mehrere 
Papiere unordentlich durch einander geworfen waren. Er zog 
ſie aus dem Staube, der ſie bedeckte, hervor, und fand die lang 
vermißte Reiſebeſchreibung Montaigne's, größtentheils von ſeiner 
eigenen Hand geſchrieben. 


Jenes großen Eifers unſerer Vorfahren ungeachtet, ſind 
doch ſehr viele der ſchätzbarſten Werke der Alten völlig verloren 
gegangen. Beſonders ſchmerzhaft iſt der Verluſt der älteren 
Geſchichtſchreiber. Von Sanchuniathon z. B., der zur Zeit Sa— 
lomons gelebt haben ſoll, haben wir nur noch einige wenige Zei— 
len, die uns Euſebius erhalten hat. Von der Geſchichte des 
Polybius, die aus vierzig Büchern beſtand, ſind uns nur fünf 
geblieben, und von der hiftorifchen Bibliothek des Diodor von Si— 
cilien, in ebenfalls vierzig Büchern, find fünfzehn auf uns ges 
kommen. Von den römiſchen Alterthümern des Dionyſius von 
Halikarnaß iſt die Hälfte verloren gegangen, und von den acht— 
zig Büchern des Diokaſſius beſitzen wir nur noch fünfundzwanzig. 
Die Geſchichte des Livius enthielt einhundert und vierzig Bücher, 
und davon ſind nur fünfunddreißig gerettet worden. Von den 
unſchätzbaren dreißig Büchern des Tacitus ſind wenig mehr als 
vier noch übrig. Die Regierung des Titus, dieſes Lieblings des 
Menſchengeſchlechtes, iſt aus den Geſchichtbüchern des Tacitus 
ganz verſchwunden, ſo wie auch die Regierung Domitians der 
rächenden Feder dieſes größten aller Hiſtoriker entgangen iſt. 
Welchen Verluſt hat die Nachwelt durch den Untergang der 
Schrift „über die Urſachen des Verfalls der Beredſamkeit“ von 
Quintilian erfahren, deren er ſelbſt mit ſo viel Selbſtzufrieden— 
in feinen „Inſtitutionen“ erwähnt. Petrarca ſagt, daß er in 
ſeiner Jugend die Werke des Varro und die zweite Decade des 


368 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


Livius öfter geſehen habe, daß aber alle ſeine ſpäteren Verſuche, 
dieſe Schriften wieder zu erhalten, fruchtlos geblieben ſeyen. 


Dieß ſind nur einige der bekannteſten Schriftſteller, die wir 
nicht mehr beſitzen. Aber wie viele andere finden wir in den 
noch übriggebliebenen Autoren angeführt, von denen auch nicht ein 
Wort auf uns gekommen iſt. Zwei große biographiſche Werke der 
Alten ſind ganz für uns verloren: Varro's Leben von ſiebenhun— 
dert berühmten Römern, und das Werk des Atticus, des Freun— 
des von Cicero, über die Thaten ſeiner ausgezeichneten Lands— 
leute. Wenn wir bedenken, daß Männer dieſer Art mit den 
erſten Geiſtern ihrer Zeit in vertraulichen Verhältniſſen lebten, und 
daß ſie ſelbſt ſehr reiche Freunde und Beſchützer der Künſte ge— 
weſen ſind, ſo mögen wir wohl über den Verluſt trauern, 
den uns der Untergang dieſer Lebensbeſchreibungen verurſacht, 
die noch überdieß mit den Bildniſſen der in ihnen geſchilderten 
Männer geziert geweſen ſeyn ſollen ). Von anderen verloren 
gegangenen Schriften der Alten haben wir nur einige leiſe Spu— 
ren ihrer früheren Exiſtenz erhalten. So erwähnt der jüngere 
Plinius außer dem großen Werke ſeines Onkels über die Natur— 
geſchichte noch eines anderen hiſtoriſchen Werkes deſſelben in 
zwanzig Büchern (Plin. Junior. Lib. III. Ep. V.), deſſen Gegen⸗ 


10) Das 186ſte Epigramm des vierzehnten Buchs von Martial ſpricht 
von einer ſehr klein geſchriebenen Ausgabe der Werke Virgils mit 
dem Bildniſſe des Verfaſſers: 

Quam brevis immensum cepit membrana Maronem! 
Ipsius vultus prima tabella gerit. 
Auch Seneca erwähnt (De Tranquillitate animi, Cap. IX.) der 
vielen, Eojtbar gebundenen, mit den Bildniſſen ihrer Verfaſſer ges 
ſchmückten Bücher in den Bibliotheken der Römer. Plinius 
(H. IV. Lib. 35. Cap. 2.) bemerkt, daß Aſinius Pollio dieſe Sitte, 
die Werke der Schriftſteller mit den Bildniſſen derſelben zu zieren, 
eingeführt habe. Derſelbe Plinius ſagt von dem oben ange— 
führten Werke des Varro, welcher die Biographieen von 700 Rö— 
mern enthielt, nicht undeutlich, daß ſie auch mit den Bildniſſen 
dieſer Römer, aliquo modo imaginibus eorum, verſehen waren. 
Cicero erzählt uns, daß Atticus eine Gallerie von Bildern der 
großen Römer in ſeinem Pallaſte aufgeſtellt habe, unter welche 
er ſelbſt die Thaten derſelben in kurzen Worten geſchrieben hatte. 


Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 369 


ſtand uns ganz unbekannt geblieben iſt. Welch' ein ganz vor— 
züglicher Dichter muß derjenige geweſen ſeyn, von dem derſelbe 
Plinius (Lib. I. Ep. XVI.) ſagt, daß er ihn immer zur Hand 
babe, daß er ihn jedesmal wieder vornehme, wenn er ſelbſt et— 
was ſchreiben oder ſich einmal recht gütlich thun will, und daß 
er, fo oft er ihn auch ſchon gelefen habe, doch immer wieder 
neue Schönheiten in ihm entdecke. — Wer muß ferner nicht den 
„Anticato“ und die übrigen verlorenen Schriften des Julius 
Cäſar betrauern? Menanders Schauſpiele, welche die Alten 
nie genug rühmen konnten, ſind bis auf einige abgeriſſene Verſe 
gänzlich verloren gegangen. Dieſer große Sittenſchilderer ſeiner 
Zeit, wie er von den Alten genannt wird, würde uns vielleicht 
mehr noch als Homer intereſſirt haben, da er der Lieblings-, der 
Familiendichter der Griechen und der Römer, da er der Sitten— 
maler und der Geſchichtſchreiber der Leidenſchaften ſeiner Zeit ge— 
weſen zu ſeyn ſcheint. Sophokles und Euripides ſollen jeder gegen 
hundert Trauerſpiele geſchrieben haben, wovon uns von jened 
ſieben, und von dieſen neunzehn geblieben ſind. Von den 
hundert und dreißig Comödien des Plautus haben wir nur 
zwanzig, und von dieſen noch viele ſehr unvollſtändig, erhalten 
können. 

Seit der Erfindung der Buchdruckerkunſt iſt wohl die Be— 
ſorgniß ähnlicher Verluſte für alle künftigen Zeiten von uns 
entfernt worden. Wenn nur nicht die große Maſſe der Bücher 
und vor allem die ſorgenloſe Nachläßigkeit, mit der fie verfaßt 
und, beſonders bei unſern deutſchen Landsleuten, auch gedruckt 
werden, ein anderes, noch größeres Uebel herauf führt. In den 
erſten Zeiten der Buchdruckerkunſt wurde dieſe neue und preis— 
würdige Erfindung mit viel mehr Ernſt und Würde behandelt, 
und die Stephanus, Plantinus und Manutius lieferten zur Zeit 
der Kindheit dieſer Kunſt Werke, die wir, bei uns wenigſtens, 
heut zu Tage wohl vergebens ſuchen würden. 

Robert Stephanus, im Anfange des ſechszehnten Jahr— 
hunderts, war als Gelehrter und als Buchdrucker zugleich weit 
berühmt. Da er beſonders für die Correctheit der von ihm ge— 
druckten Bücher ſehr beſorgt war, ſo heftete er die Probebogen zu 
Paris öffentlich an, indem er für jeden entdeckten Fehler eine 
Belohnung verſprach. Im Jahre 1534 gab er die erſte Auflage 
ſeines Thesaurus linguae latinae heraus, den er in jeder fol— 

Whewell. J. 24 


370 Nachträgliche Bemerkungen Ader das Mittelalter. 


genden mehr vervollkommnete, und den ſpaͤter Geßner dem feir 
nigen zu Grunde legte. Auf fein Anſuchen ließ König Franz J. 
die ſchönen Schriften gießen, welche die königliche Druckerei zu 
Paris noch jetzt aufbewahrt. Nach dieſes Königs, ſeines Be— 
ſchützers, Tod nöthigten ihn die Verfolgungen der Sorbonne, 
Paris zu verlaſſen und nach Genf zu ziehen, wo er 1559 ſtarb. 
Sein Sohn Heinrich (geſt. 1598) ſetzte die rühmlichen Unterneh— 
mungen ſeines Vaters fort und wurde der würdige Erbe ſeines 
Ruhmes. — Plantinuss, war ebenfalls durch feine tiefe Gelehr— 
ſamkeit, doch mehr noch als berühmter Buchdrucker bekannt. 
Seine große Druckerei in Antwerpen wurde das achte Welt— 
wunder genannt, und aus dieſer Officin gingen die ſchönſten 
Werke in allen damals bekannten alten und neuen Sprachen 
hervor. In Italien endlich ragten die drei Manutii (oder Ma— 
nuzzi, Vater, Sohn und Enkel) über alle Buchdrucker ihrer 
Zeit hervor. Der älteſte war 1446 zu Baſſano geboren, und der 
jüngſte ſtarb 1597. Sie lebten und wirkten alle drei größten— 
theils zu Venedig. Sie ſind als die erſten Vervollkommner der 
Buchdruckerkunſt anzuſehen, indem fie die bisher gebräuchliche 
Mönchsſchrift abichafften, die ſogenannte Antiqua und die Curſiv 
einführten, und vorzüglich auf die höchſte Correctheit ihres 
Drucks ſahen. Noch jetzt werden die Werke der genannten Buch— 
drucker von den Antiquaren, vorzüglich wegen der hohen Cor— 
rectheit ihres Drucks, ſehr geſchätzt. Zu jener Zeit brüſteten ſich 
die erſten Gelehrten, zugleich die Correctoren der Bücher eines 
Plantinus, Stephanus oder Manutius zu heißen. Aerzte, Ge— 
richtsperſonen, ſelbſt Biſchöfe geizten um dieſe Ehre, und auf 
den Titeln der Bücher wurden auch die Namen dieſer Correctoren 
angegeben, auf die man nicht weniger ſah, als auf die Namen 
der Verfaſſer. Selbſt die Päbſte nahmen ſich der Sache an, und 
der Ausgabe des Varro von Manutius iſt das Privilegium 
Leo's X. beigedruckt, in welchem befohlen wird, das Werk zum 
Beſten der Gelehrten in einem niedrigen Preiſe zu halten, weil 
ſonſt die Vergünſtigung des Drucks einem Andern ertheilt werden 
würde. 

Dieſe außerordentliche Vorliebe für den Beſitz der Schriften 
der Alten, die im fünfzehnten Jahrhundert einen beinahe krank— 
haften Charakter angenommen hatte, erweckte natürlich auch 
den Hang zur Nachahmung dieſer großen Muſter, der aber, wie 


Nachtraͤgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 371 


es der Geſchmack jener Zeiten mit ſich brachte, ebenfalls oft über— 
trieben wurde. Der zweite der oben erwähnten Manutier, Paulus 
Manutius (geb. 1512, geſt. 1574), hatte befonders die latei— 
niſche Sprache ſtudiert, in welcher er auch in der That vortreff— 
lich zu ſchreiben verſtand. Da er ſich aber vorgenommen hatte, 
beſonders dem Cicero nachzuahmen und ſeinem Style ſo nahe 
als möglich zu kommen, ſo ſoll er ſich oft Tage lang gequält 
haben, ſeinen Ausdruck dieſem Zwecke gemäß einzurichten. Er 
geſteht ſelbſt, öfter ganze Monate an dem Schreiben eines ein— 
zigen lateiniſchen Briefes zugebracht zu haben. Auch war er 
vorzüglich unter denen gemeint, die Erasmus in feinen »Cice- 
roniani“ als die ſklaviſchen Nachbeter des Tullius belächelt, wo 
ein „Noſoponus“ uns erzählt, daß er ganze Wochen über einer 
Zeile brüten könne, und daß er eine ganz außerordentliche Hoch— 
achtung für das Wort, aber beinahe gar keine für den Sinn 
in ſich fühle. 

Le Brun, nicht mit dem franzöſiſchen Lyriker Lebrun im 
achtzehnten Jahrhundert zu verwechſeln, ſuchte für ſeine Nach— 
ahmung der Alten einen beſonderen Weg in ſeinen lateiniſchen 
Gedichten. Sein Virgilius Christianus beſteht, wie der heid— 
niſche, aus Eclogen, aus Georgicis und aus einem Epos in 
zwölf Büchern; allein die Gegenſtände, welche in dieſen Gedichten 
beſungen werden, ſind von denen des römiſchen Poeten gar ſehr 
verſchieden. Sein Epos heißt die „Ignaziade“ und beſchreibt die 
Pilgrimſchaft des h. Ignatius. Eben ſo beſingt er in ſeinen 
„Fastis“, die er dem Ovid nachbilden will, die ſechs Schöpfungs— 
tage; in ſeinen „Elegien“ wiederholt er die Klagen des Jeremias, 
und ſtatt der Metamorphoſen gibt er die „Converſionen“ einiger 
Heiden. A 

Noch weiter trieb denſelben Mißbrauch der ſonſt durch feine 
Eleganz des Vortrags bekannte Sannazar (geboren 1458, geſt. 
1530) in ſeinem lateiniſchen Gedichte De partu Virginis, wo 
die Incarnation von Proteus prophezeiht wird, wo die heilige 
Jungfrau ihr Schickſal in den Sybilliniſchen Büchern nach— 
liest, und wo ſie, ſtatt von Engeln, von Nereiden, Dryaden 
u. dgl. bedient wird. Dieſe abenteuerliche Miſchung des Poly— 
theismus mit den Geheimniſſen des Chriſtenthums trat auch in 
allen ſeinen Umgebungen hervor. Auf ſeinem Landhauſe hatte 
er eine Kapelle, in welcher er ſein künftiges Grabmal bereiten 

24 


372 Nachträgliche Bemerkungen über das Mittelalter. 


ließ. Zu beiden Seiten deſſelben waren zwei alte lebensgroße 
Statuen von Apollo und Minerva aufgeſtellt, aber unter der 
erſten war der Name „David“ und unter der andern „Judith“ 
eingegraben, und Niemand, wie es ſcheint, am wenigſten er 
ſelbſt, fand einen Anſtoß an dieſen ſonderbaren Inverſionen, die 
wir als die letzten Anzeigen des Verfalls der wahren Bildung 
und des geläuterten Geſchmackes im Mittelalter anſehen, und 
nun zu erfreulicheren Zeiten übergehen wollen. L. 


Fünftes Buch. 


Gelchichte der formellen Aſtronomie 
nach dem Mittelalter. 


His demum exaciis — — 
Devenere locos laetos et amoena vireta 
Fortunatorum nemorum sedesque beatas. 
Largior hic campus aether et lumine vestit 
Purpureo, solemque suum sua sidera norunt. 
Virgil. Aen. VI. 630. 


Ein lbesihung. 


— — 


Von der formellen und phyſiſchen Aſtronomle. 


Wir haben in dem Vorhergehenden die Urſachen von der 
beinahe völligen Leerheit angegeben, die uns die Geſchichte 
der Naturwiſſenſchaften ſeit dem Verfall des römiſchen 
Reiches durch ein ganzes Jahrtauſend gezeigt hat. Zugleich 
mit den alten Formen und Gebräuchen der Geſellſchaft verſank 
auch die alte Kraft des Gedankens, die Klarheit der Begriffe 
und alle Stetigkeit der intellectuellen Thätigkeit des Menſchen. 
Dieſer Verfall des menſchlichen Geiſtes führte eine ſklaviſche Be— 
wunderung für den Genius der früheren, beſſeren Zeiten, und 
durch ſie den Geiſt der Commentationen herauf. Das Chriſten— 
thum erhob ebenfalls ſeine ausſchließenden Anſprüche auf Wahr— 
heit, um dadurch die Welt zu beherrſchen. Dieſes Princip, miß— 
verſtanden und mit der ſervilen Unwiſſenheit der Zeiten gepaart, 
erzeugte das Syſtem des Dogmatismus, und der dem Menſchen 
angeborne Hang zur Unterſuchung, der keinen ſichern und er— 
laubten Weg auf feſtem Boden mehr fand, warf ſich endlich in 
die Arme des Myſticismus. 

Nach ſo langer Zeit aber begannen die Urſachen der Träg— 
heit und Finſterniß jener Periode dem Einfluſſe neuer Prin— 
cipien nachzugeben, die auf den Fortgang der menſchlichen Er— 
kenntniß gerichtet waren. Die Unbeſtimmtheit der Ideen, jener 
eigenthümliche Charakterzug des Mittelalters, wurde in gewiſſem 
Maße durch ein fortgeſetztes Studium der mathematiſchen und 
aſtronomiſchen Wiſſenſchaften, und durch die Fortſchritte aller 
der Künſte entfernt, die ganz befonders geeignet find, unſere 
Begriffe von den Verhältniſſen der natürlichen Erſcheinungen 
aufzuklären und feſtzuhalten. Wie der Geiſt des Menſchen heller 


376 Von der formellen und phyſiſchen Aſtronomie. 


wurde, war er auch weniger ſervil geworden. Die Erkenntniß der 
Wahrheit entfernte ſie von eitlen Zänkereien über bloße Mei— 
nungen, und als ſie einmal die wahren Relationen der Dinge 
in der Natur mit ihren eigenen Augen erblickten, hörten ſie 
nicht mehr bloß auf das, was Andere von dieſen Dingen ge— 
ſagt hatten, und kurz, die Wiſſenſchaft ſtieg, jo wie der Geiſt 
der Commentation zu fallen begann. Als die Menſchen einmal 
dahin gelangten, über wiſſenſchaftliche Gegenſtände ſelbſt zu den— 
ken, lehnten ſie ſich gegen das angemaßte Recht der Andern 
auf, die ihnen ihre Meinungen als Geſetze vorſchreiben wollten, 
und als ſie ihre blinde Bewunderung für die Alten ablegten, 
fühlten ſie ſich auch veranlaßt, ihren paſſiven Gehorſam für jene 
Lehrſyſteme ihrer alten Meiſter abzuwerfen. Seit der commentato— 
riſche Geiſt nicht mehr auf ſie drückte, wollten ſie ſich auch nicht 
länger mehr dem Dogmatismus der Schule unterwerfen; und 
ſeit fie fühlten, daß fle ſelbſt im Stande find, Wahrheiten zu ent— 
decken, fühlten ſie auch ihr Recht und ihre männliche Kraft, 
dieſe Entdeckungen der Wahrheit ſelbſt auszuführen. 

Auf dieſe Weiſe leitete aber das Wiedererwachen klarer Begriffe 
auch zugleich zu einem Kampfe mit der bürgerlichen und intel— 
lectuellen Autorität der bisher beſtandenen philoſophiſchen An— 
ſtalten. Zuerſt zeigte ſich das neue Licht der klaren Begriffe in 
der Aſtronomie, wo es in dem Gewande des Copernicaniſchen 
Syſtems auftrat. Allein der dadurch veranlaßte Kampf kam erſt 
ein Jahrhundert ſpäter zum Ausbruch, als Galilei und ſeine 
Schüler ſich für die neue Wahrheit erklärt hatten. 

Da es nicht meine Abſicht iſt, die Geſchichte der Aſtronomie 
weiter, als nöthig iſt, zu verfolgen, um die Principien, auf wel— 
chen der Fortgang der Wiſſenſchaft gegründet wurde, auseinan— 
der zu ſetzen, fo übergehe ich alle untergeordneten Perſonen und 
Ereigniſſe, und beſchränke mich bloß auf die großen, leitenden 
Züge des Gemäldes. 

Bei dem erſten Auftreten des Copernicaniſchen Syſtems 
wirkten vorzüglich zwei Anſichten auf die Gemüther der Menſchen: 
die Betrachtung des Syſtems als eine bloße Darſtellung der 
ſcheinbaren Bewegungen der Himmelskörper, und die Betrach— 
tung deſſelben in Beziehung auf ſeine Urſachen — oder die for— 
melle und die phyſiſche Anſicht der neuen Theorie, d. h. die 
nun zuerſt neu auftretenden Verhältniſſe zwiſchen Raum und 


Bon der formellen und phyſiſchen Aſtronomie. 377 


Zeit, und die Relationen zwiſchen Maſſe und Kraft. Dieſe Ein— 
theilung wurde anfänglich nicht ganz klar aufgefaßt, indem die 
zweite Anſicht längere Zeit durch mit der erſten auf eine düſtere 
und ſchwankende Weiſe vermiſcht erſchien und ſich in dieſer 
gleichſam verloren hatte, bis ſie endlich von ihr getrennt und 
als eine für ſich beſtehende Erkenntniß bets achtet wurde. — Die 
Anſichten des Copernicus blieben meiſtens nur bei den formellen 
Bedingungen des Weltſyſtems, bei den Verhältniſſen der Zeit 
und des Raumes ſtehen. Erſt Kepler, Galilei und andere wur— 
den durch Controverſe und andere der Sache ſelbſt fremde Ereig— 
niſſe dahin gebracht, auch den phyſiſchen Verhältniſſen der himmli— 
ſchen Körper ihre Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Auf dieſem Wege 
entſtand die Mechanik, eine neue Wiſſenſchaft, die ſchnell an 
Wichtigkeit und Ausdehnung zunahm. — Bald nach dieſer Zeit end— 
lich führten die Entdeckungen Keplers, die ihm von ſeinem zwar 
unbeſtimmten, aber tiefen Glauben an eine phyſiſche Verbindung 
aller Theile des Weltalls eingegeben wurden, auf die großen 
und entſcheidenden Entdeckungen Newtons, durch welche die phy— 
ſiſche Aſtronomie in ihren Hauptzügen abgeſchloſſen wurde. 

Dieſe Unterſcheidung zwiſchen der formellen und der phyſi— 
ſchen Aſtronomie iſt nothwendig zu einer klaren Darſtellung aller 
der Verhandlungen, zu welchen das Auftreten des Copernicaniſchen 
Syſtems Gelegenheit gab. Doch muß bemerkt werden, daß die 
Aſtronomie, außer der großen Revolution, die ſie in dieſer Zeit 
erfuhr, auch noch auf dem früher von ihr betretenen Wege meh— 
rere Fortſchritte machte; in der genaueren Beſtimmung nämlich 
von ſolchen Bewegungen, die durch die älteren Methoden noch 
dargeſtellt oder doch, mittels einiger Modificationen derſelben, 
ihnen noch angepaßt werden konnten. Ich meine hiemit jene 
neuen Ungleichheiten und Erſcheinungen, die Copernicus, Galilei 
und Tycho Brahe entdeckten. Da aber dieſe Entdeckungen ſehr 
bald, mehr in das Copernicaniſche, als in das alte Ptolemäiſche 
Syſtem, als integrirende Theile deſſelben, aufgenommen wurden, 
ſo wird man ſie beſſer unter den Entwicklungen des neuen Sy— 
ſtems aufzählen, und wir werden daher auch von ihnen, in 
Uebereinſtimmung mit unſerem bisher befolgten Plan, erſt bei 
der Auseinanderſetzung der Folgen des Copernicaniſchen Syſtems 
ſprechen. 


378 Vorbereitung zu der inductiven Eycibe des Copernicus 


Erſtes Capitel. 


Vorbereitung zu der inductiven Epoche des 
Copernicus. 


Der Vorzug der Lehre des Copernicus, daß die Sonne der wahre 
Mittelpunkt aller planetariſchen Bewegungen iſt, hängt vorzüglich 
von der Betrachtung ab, daß dieſe Vorausſetzung auch alle beobach— 
teten Erſcheinungen der Planetenwelt auf eine einfache und voll— 
ſtändige Weiſe darſtellt. Um zu ſehen, ob dieß von dieſer Lehre 
auch in der That geleiſtet wird, wird vor allem ein beſtimmter 
Begriff von der Natur der relativen Bewegung, und die Kennt— 
niß der vorzüglichſten aſtronomiſchen Erſcheinungen erfordert. 
Es war demnach kein Grund vorhanden, warum eine ſolche Lehre 
nicht früher ſchon entdeckt, das heißt, als eine auf den erſten 
Blick annehmbare Hypotheſe aufgefaßt werden ſollte, oder vielmehr, 
es war zu erwarten, daß auch dieſer Verſuch, gleich mehreren 
ähnlichen, zur Erklärung der ſcheinbaren Bewegungen des Him— 
mels, auch von anderen ſchon längſt vorgeſchlagen worden iſt. Es 
darf uns daher auch nicht verwundern, wenn wir, ſelbſt in den 
früheren Zeiten der Aſtronomie, und auch ſpäter noch öfter, ein ſolches 
Syſtem unter den Aſtronomen beſprochen, von einigen als wahr 
vertheidigt, und von andern wieder als falſch verworfen finden. 

Wenn wir aber, in unſeren Tagen, auf dieſe Verſchieden— 
heit der Anſichten zurückblicken, wir, die wir nun von dem neuen 
Syſtem eine ſo klare und deutliche Einſicht haben und von der 
Wahrheit deſſelben ſo innig überzeugt ſind, ſo fühlen wir uns 
gleichſam gezwungen, jenen früheren Anhängern deſſelben einen 
ganz beſonderen Scharfſinn, eine ſeltene Wahrheitsliebe zuzu— 
ſchreiben, und im Gegentheile die Anhänger des Ptolemäiſchen 
Syſtems für blinde und in Vorurtheilen höchſt befangene Men— 
ſchen zu halten, die ganz unfähig geweſen ſeyn müſſen, die Schön— 
heit, die Einfachheit, die Symmetrie der neuen Theorie zu begreifen, 
ſich von ihrem alten Irrthume los zu machen, und dafür der neuen, 
ſonnenklaren Wahrheit zu huldigen. Aber indem wir ſo urthei— 
len, ſind wir wahrſcheinlich ſelbſt in den Anſichten unſerer Zeit 


Vorbereitung zu der industiven Epoche des Copernicus. 379 


befangen, der wir, ohne es zu wiſſen, unſer Opfer bringen müſſen. 
Iſt es denn in der That ſchon fo ausgemacht, daß zur Zeit des 
Copernicus die heliocentriſche Theorie (welche den Mittel— 
punkt aller planetariſchen Bewegungen in die Sonne verſetzt), ein 
fo entſchiedenes Recht auf einen Vorzug von der geocentri— 
ſchen Theorie des Ptolemäus anſprechen dürfte? 

Worin beſteht die Baſts jener heliocentriſchen Lehre? — 
Daß die relativen Bewegungen der Planeten dieſelben bleiben, 
unter der einen, ſo wie unter der anderen Vorausſetzung. — 
In dieſer Beziehung alſo ſtehen beide Theorien gleich feſt und auf 
demſelben Boden. Aber, ſagt man, auf der Seite der heliocen— 
triſchen Hypotheſe liegt der Vortheil der größeren Einfachheit. — 
Wohl wahr, aber auf der anderen Seite ſteht das Zeugniß unſerer 
Sinne, oder mit andern Worten, die geocentriſche Theorie (welche 
den Mittelpunkt aller himmliſchen Bewegungen in die Erde verſetzt), 
iſt offenbar die einleuchtendſte, jedermann ſich gleichſam von ſelbſt 
darbietende Erklärung jener Erſcheinungen. Uebrigens ſind dieſe 
beiden Vortheile, von der Einfachheit auf der einen, und von 
der leichtern Verſtändlichkeit oder größeren Deutlichkeit auf der 
anderen Seite, nur unbeſtimmt und im Grunde nichts entſchei— 
dend. Ueberhaupt werden wir die Vorzüge ider neuen Theorie 
nicht leicht feſt begründen können, wenn wir nicht zuerſt beide 
näher kennen gelernt haben. 

Wenn man überdieß die hohe Einfachheit des Copernicani— 
ſchen Syſtems geltend machen will, ſo darf man nicht ver— 
geſſen, daß dieſes Syſtem, ſo einfach es auch uns erſcheint, 
doch im Grunde ſehr zuſammengeſetzt iſt, wenn man dadurch, 
ſo wie Ptolemäus gethan hat, auch die Ungleichheiten in 
den Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Planeten 
darſtellen will; und daß es, ſo lange es in den Händen des 
Copernicus blieb, noch einen guten Theil von den excentriſchen 
Kreiſen und den Epicykeln ſeines Vorgängers beibehielt, ja daß es 
die alten Maſchinerien des Ptolemäus in manchen Theilen ſogar 
noch vermehrte. Ohne dieſe dem neuen Syſteme wieder ange— 
bängten Epieykel würde es hinter der alten ptolemäifchen Theorie, 
in der genauen Erklärung der Erſcheinungen, weit zurück geblie— 
ben ſeyn. Was endlich die Vorgänger des Copernicus, ſelbſt 
unter den Griechen ſchon, betrifft, die ſich ebenfalls für die 


380 Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus. 


helibcentriſche Theorie erklärt haben, fo muß bemerkt werden, 
daß keiner derſelben auch nur verſucht hat, auf welche Weiſe 
man, in dieſer Vorausſetzung, die großen und mannigfaltigen 
Ungleichheiten der Planeten erklären ſoll, ſo daß man mit vollem 
Rechte behaupten kann, daß ſeit der Aufſtellung der epicykliſchen 
Theorie des Ptolemäus in der geocentriſchen Hypotheſe, durch— 
aus keine eigentliche heliocentriſche Theorie bekannt gemacht 
worden iſt, die ſich jener hätte zur Seite ſtellen können. 

s iſt wahr, daß all' das Gerüſte von Epicykeln und excen— 
triſchen Kreiſen, das der geocentriſchen Hypotheſe zu ihren Er— 
klärungen ſo zu gut gekommen iſt, auch eben ſo wohl auf 
die heliocentriſche Hypotheſe ihre Anwendung finden konnte. 
Allein es gehörte vor allem ein mathematiſches Talent 
dazu, dieſes Problem aufzulöſen. Eben dieß aber war es, was 
Copernicus unternahm und auch zugleich glücklich zu Ende führte. 
Vor der Erſcheinung ſeines Werkes aber hatte man von dieſem 
Syſteme immer nur als von einer ohne weitere nähere Prüfung 
hingeworfenen Meinung geſprochen, einer Meinung, die ſich wohl 
mit den ganz allgemeinen Erſcheinungen des Himmels gut zu 
vertragen ſchien, die aber ſogleich wieder als eine bloße Hypo— 
theſe in den Hintergrund zurücktrat, wenn man ſie mit der 
wiſſenſchaftlich ausgearbeiteten Theorie des Ptolemäus verglich, 
deren Uebereinſtimmung mit den Beobachtungen allgemein an— 
erkannt war, und auf deren mathematiſche Ausbildung ſo viele 
vorzügliche Talente unter den Griechen und Arabern Zeit und 
Mühe verwendet hatten. 

Obgleich aber diejenigen, die vor Copernicus ſchon für 
die heliocentriſche Anſicht ſich erklärt hatten, keineswegs für ein— 
ſichtsvoller gehalten werden können, als ihre ptolemäiſchen Geg— 
ner, ſo bleibt es doch immer intereſſant, den Weg, den dieſe 
ſchon ſehr früh entſtandenen und ſpäter oft wiederholten Mei: 
nungen genommen haben, kennen zu lernen. Die Griechen 
hatten ſich ſchon mit viel Beſtimmtheit darüber ausgeſprochen, zum 
Zeichen, daß ſie den Gegenſtand mit klaren Begriffen und mit 
kräftigem Geiſte aufgefaßt hatten, ſo wie es im Gegentheile 
auch als ein Beweis der intellectuellen Schwäche und Servilität 
des Mittelalters gelten muß, daß ſich, ein ganzes Jahrtauſend 
hindurch, auch nicht ein einziger Mann gefunden hat, dem es 


Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus. 381 


eingefallen wäre, den eigentlichen Werth dieſer Hypotheſe näher 
zu unterſuchen, und ſie, den weiter vorgerückten aſtronomiſchen 
Kenntniſſen ſeiner Zeit gemäß, darzuſtellen. 

Pythagoras iſt der Aelteſte von denen, welchem die 
Griechen die heliocentriſche Lehre zugeſchrieben haben. Diogenes 
Laertius aber nennt uns den Philolaus, einen Nachfolger des 
Pythagoras, als den Erfinder dieſer Hypotheſe. Archimedes 
ſagt in feiner Sandrechnung, daß Ariſtarch von Samos, fein 
Zeitgenoſſe, den Satz aufgeſtellt habe, daß die Fixſterne und die 
Sonne ſtille ſtehen, und daß ſich dafür die Erde in einem Kreiſe 
um die Sonne bewege. Plutarch “) ſetzt hinzu, daß dieß von 
Ariſtarch nur als eine Hypotheſe vorgetragen, von Seleucus 
aber förmlich bewieſen worden iſt. Allein man kann es wohl 
wagen, zu behaupten, daß zu jener Zeit ein Beweis dieſer Art 
noch unmöglich geweſen iſt. Ariſtoteles erkannte das Daſeyn 
einer ſolchen Lehre bloß dadurch, daß er ſich gegen dieſelbe er— 
klärt. „Alle Dinge, ſagt er ), ſtreben zu dem Mittelpunkt der 
„Erde und verbleiben dann daſelbſt, alſo könnte auch die ganze 
„Maſſe der Erde bloß in dieſem Mittelpunkte in Ruhe verblei— 
ben.“ Auf eine ähnliche Weiſe argumentirt auch Ptolemäus 
gegen die tägliche Rotation der Erde um ihre Axe. Eine ſolche 
Bewegung, ſagt er, würde alle nicht befeſtigten Theile dieſer 
Erde in den Raum des die Erde umgebenden Himmels zerſtreuen. 
Doch gibt er zu, daß eine ſolche hypothetiſche Vorausſetzung die 
Erklärung einiger himmliſchen Erſcheinungen ſehr erleichtert. 
Cicero ſcheint den Merkur und die Venus um die Sonne gehen 
zu laſſen, wie es auch Martianus Capella in einer ſpäteren 
Periode (im fünften Jahrhundert) gethan hat. Seneca ſagt ), 
es ſey ein der Betrachtung des menſchlichen Geiſtes würdiger Gegen— 
ſtand, zu entſcheiden, ob die Erde in Ruhe oder in Bewegung iſt. 
Allein zur Zeit des Seneca, wie man an ihm ſelbſt am beſten ſehen 
kann, war bereits eine gewiſſe Unbeſtimmtheit der Begriffe und 
ein leeres rhetoriſches Formelweſen an die Stelle jener intellec— 
tuellen Geiſtesſtärke getreten, die zur Auflöſung ſolcher Pro— 


1) Plutarch, Quaest. Plat. in Delambre's Astr. ancienne VI. 
2) Man ſehe Copernicus de Revol. 1. 7. 
3) Seneca Nat, Quaest. VII. 2. 


382 Vorbereitung zu der Inductiven Epoche des Copernicus. 


bleme erfordert wird. Die guten Mathematiker und Beobachter 
jener Zeit, wenn überhaupt deren damals noch einige gefunden 
wurden, beſchäftigten ſich bloß mit der Ausbildung und der 
Verification der alten ptolemäifchen Theorie. 

Nächſt den alten Griechen ſcheinen noch die Indier jene oris 
ginelle Klarheit und Kraft des Geiſtes beſeſſen zu haben, aus 
der allein wahre Wiſſenſchaft entſpringt. Es iſt in der That 
merkwürdig, daß auch die Indier ſchon eine heliocentriſche Theorie 
der Planeten hatten. Oryabatta ), der um das Jahr 1320 
lebte, und nebſt ihm auch andere Aſtronomen deſſelben Landes, 
ſollen die Lehre von der Rotation der Erde um ihre Axe in 
Schutz genommen haben, die aber von den ſpäteren Philoſophen 
unter den Hindus wieder verworfen wurde. 

Einige Schriftſteller haben die Meinung aufgeſtellt, daß 
Pythagoras oder andere griechiſche Philoſophen die heliocentriſche 
Theorie von den Nationen des Orients erhalten haben. Dieſe Anſicht 
ſcheint aber wenig Gewicht zu haben, wenn man bedenkt, daß 
dieſe Lehre, in der von den Alten aufgeſtellten Form, zu einfach 
und augenfällig war, um erſt viel fremden Unterricht nothwendig 
zu machen; daß ſie von den orientaliſchen Völkern, wie wir 
dieſelben kennen, gewiß keinen weſentlichen Zuſatz erhielt und 
auch nicht erhalten konnte, und daß endlich jeder eigentliche 
Aſtronom ſie entweder annehmen oder verwerfen mußte, nicht 
weil ſie ihm von dieſem oder jenem Meiſter in der Wiſſenſchaft 
gelehrt worden iſt, ſondern weil er ſelbſt entweder ſeiner Neigung 
zur geometriſchen Einfachheit, oder dem Zeugniß feiner eigenen 
Sinne den Vorzug geben wollte. Wahre Wiſſenſchaft, die von 
einer klaren Einſicht in die Verhältniſſe der äußeren Erſchei— 
nungen zu den allgemeinen theoretifchen Ideen abhängt, kann 
nicht auf dem Weg der Geheimnißkrämerei oder der ausſchließ— 
lichen Tradition einer Kaſte, gleich den Vortheilen mancher 
Künſte und Gewerbe, mitgetheilt werden. Wenn der wiſſen— 
ſchaftliche Mann nicht ſelbſt ſieht, daß eine Theorie der 
Wahrheit gemäß iſt, ſo iſt ihm wenig daran gelegen, daß er bloß 
hört, ſie ſey von dieſen oder jenen behauptet worden. 

Man kann daher denjenigen nicht beiſtimmen, die in dieſer 
heliocentriſchen Doctrin die alten Spuren einer viel weiter 


4) Usef. Knowl. Hist Astron. S. 11. 


Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus. 383 


vorgerückten Aſtronomie erblicken wollen, als die iſt, welche wir 
von ihnen durch ihre Schriften erhalten haben. Dieſe Doctrin 
war nichts anderes, als eine Meinung, eine bloße Vermuthung 
von Männern, die mit einem kräftigen geometriſchen Talente 
begabt waren, aber dieſe Meinung hatte keinen weſentlichen 
Einfluß auf die Geſtalt oder den Inhalt der aſtronomiſchen Er— 
kenntniſſe jener Zeiten. Man dürfte ſelbſt ſagen, daß die geo— 
centriſche Lehre des Ptolemäus, da ſie die dem Sinnenſcheine ge— 
mäßere, alſo die ſich uns zunächſt anbietende iſt, auch in der 
Zeit als die erſte auftreten, und daher gleichſam den Weg zu der 
heliocentriſchen Lehre des Copernicus erft vorbereiten mußte. 
Der Grund, den die Alten für die heliocentriſche Doctrin 
anführten, war, wie bereits geſagt, ihre hohe Einfachheit und 
ihre geometriſche Uebereinſtimmung mit den allgemeinen Erſchei— 
nungen des Himmels. Es war aber nicht wahrſcheinlich, daß 
der menſchliche Geiſt dieſen Gegenſtand lange bloß in dieſem 
beſchränkten Lichte betrachten ſollte. Sein Hang zu anderen, 
entfernteren Gründen und Speculationen führte ihn bald 
wieder zu jenen allgemeinen und unbeſtimmten Ideen, denen 
er fo gern alles unterzuordnen gewohnt iſt. Ganz eben fo, wie 
man für die geocentriſche Lehre geſagt hatte, daß die ſchwerſten 
Körper ihrer Natur nach gegen den Mittelpunkt ſtreben, ſo 
wurde auch, als leitendes Princip für die heliocentriſche Lehre 
angeführt, daß das Feuer, als das edelſte Element, nothwendig 
in dem Mittelpunkte des Weltalls wohnen müſſe. Sogar das 
Anſehen der Mythologie wurde, und zwar für beide Partheien, 
zu Hülfe gerufen. So ſoll Numa, wie uns Plutarch) berichtet, 
einen kreisrunden Tempel über dem ewigen Feuer der Veſta, 
das in dem Mittelpunkte dieſes Tempels brannte, erbaut 
haben, indem er dadurch, nicht die Erde, ſondern den Himmel 
darſtellen wollte, in deſſen Mitte, dem Pythagoras zu Folge, 
das Feuer wohnt. An einer anderen Stelle ſeiner Werke läßt 
Plutarch einen ſeiner Zwiſchenredner ſagen: „Nur ziehe mich 
„deshalb nicht mit einer Klage über Unglauben vor Gericht, wie 
„Ariſtarch der Samier der Ruchloſigkeit beſchuldigt wurde, weil 
„er den Mittelpunkt des Univerſums verrückt haben ſollte,“ was 
übrigens von mehreren nur für eine Scherzrede gehalten wird. 


5) Plutarch. De Facie in Orbe Lunae. 6. 


384 Vorbereitung zu der inductiven Epoche des Copernicus. 


Ueberhaupt waren die phyſiſchen Anſichten über die Urſachen 
der Bewegungen einzelner Theile des Weltalls eben ſo dunkel 
und ungewiß, als die über die Verhältniſſe der vier Elemente, 
bis endlich Galilei die erſten wahren Principien von der Mecha— 
nik entdeckte. Obſchon daher, bald nach Copernicus, aus dieſen 
Gründen viel für und wider geſtritten wurde, ſo wurde doch 
nichts entſchieden. So wurde von den Anhängern der neuen 
Lehre die ungeheuere Maſſe des Himmels als ein Grund gegen 
die Bewegung deſſelben angeführt, während die anderen wieder 
behaupteten, daß die Erde, wenn ſie ſich in der That ſo ſchnell 
um ſich ſelbſt bewegt, alle Körper von ihrer Oberfläche wegſchleu— 
dern müßte u. ſ. w. Bei dem damaligen Zuſtande der mecha— 
niſchen Kenntniſſe konnten aber alle ſolche Schlüſſe nicht anders 
als unbeſtimmt und nicht entſcheidend ſeyn. 

Noch müſſen wir eines Vorgängers des Copernicus erwähnen, 
des Cardinals Nicolaus de Cuſa, der in der erſten Hälfte des 
fünfzehnten Jahrhunderts gleich berühmt als theologiſcher und 
als mathematiſcher Schriftſteller war ?). Er ſchlug in der That 
in feinem Werke »De docta ignorantia“ die Lehre von der Be— 
wegung der Erde vor, jedoch mehr in der Form eines Parado— 
xons, als in der eines als wahr erkannten Satzes, ſo daß man 
dieß nicht als eine wahre Anticipation der neuen Lehre betrach— 
ten kann. 

Wir wollen nun dieſe Lehre ſelbſt, ihre allmählige Verbrei— 
tung und ihre nächſten Folgen näher kennen lernen. 


6) Nicolaus de Cuſa, einer der gelehrteſten Männer ſeiner Zeit, war 
1401 bei Trier geboren, wurde vom Pabſt Nicolaus VI. zum Car— 
dinal ernannt und als Geſandter an den deutſchen Höfen in Staats— 
geſchäften häufig verwendet. Daß er jene Lehre nur als ein ſinn— 
reiches Paradoxon vortrug, geſchah wahrſcheinlich, um ſich vor 
Anfeindungen zu ſchützen. Außer dem oben angeführten Werke 
beſitzen wir noch feine auf die Correction der Alphonſiniſchen Tafeln 
gegründete Verbeſſerung des Kalenders. Er glaubte auch die Qua— 
dratur des Eirkels gefunden zu haben, aber Regiomontan zeigte 
ihm den Irrthum ſeiner Schlüſſe. Seine Werke erſchienen zu 
Baſel i. J. 1665. Er ſtarb 1464 zu Todi in Umbrien. I. 


Zweites Capitel. 


Induction des Copernicus. Die heliocentriſche 
Lehre wird auf formellem Grunde errichtet. 


Erinnern wir uns zuvörderſt, daß die formellen Gründe 
einer Theorie von den phyſiſchen Gründen derſelben ganz 
verſchieden ſind, indem die erſten nur eine Darſtellung von 
den Verhältniſſen der äußeren Erſcheinungen in Raum und 
Zeit, das heißt, von den beobachteten Bewegungen geben, wäh— 
rend die letzteren die Urſachen dieſer Bewegungen, die ſich auf 
Kraft und Maſſe beziehen, aufſtellen. Die kräftigſten Gründe, 
durch welche Copernicus zu der Entdeckung und Annahme 
ſeines Syſtems geführt wurde, waren von der erſten, der formellen 
Art. Er wäre, ſagt er in ſeiner dem Pabſte Paul III. gewid— 
meten Einleitung ſeines Werkes, unzufrieden mit dem Mangel 
an Symmetrie des alten Syſtems, und der vielen Zweifel über 
daſſelbe überdrüßig geworden, deshalb hätte er in den Werken 
der Philoſophen nachgeſucht, ob ſie nicht andere von den angenom— 
menen verſchiedene Anſichten der himmliſchen Bewegungen enthal— 
ten. Auf dieſe Weiſe fand er in den Schriften der Alten meh— 
rere Nachrichten von Philolaus und anderen, welche die Bewegung 
der Erde annahmen. „Dann fing ich, fest er fort, ſelbſt an, über 
„dieſe Bewegung der Erde nachzudenken, und obſchon eine ſolche 
„Meinung abſurd ſcheint, ſo wußte ich doch, daß in früheren 
„Zeiten Jedermann erlaubt war, ſich die Kreiſe nach Be— 
„lieben auszuwählen, durch welche er jene Erſcheinungen erklären 
„wollte, und daß ich daher auch die Erlaubniß haben werde, zu— 
„zuſehen, ob es durch die Annahme einer bewegten Erde mög— 
„lich wäre, von jenen himmliſchen Bewegungen beſſere Erklärun— 
„gen, als die bisher vorgebrachten, aufzufinden. — Nachdem ich 
„auf dieſe Weiſe durch lange und mühſame Studien zu der An— 
„nahme von denjenigen Bewegungen der Erde, von welchen ich 
„in dieſem Werke reden werde, gelangt bin, fand ich zugleich, 
„daß, wenn die Bewegungen der anderen Planeten mit denen der 

Whewell, I. 25 


386 Induction des Copernicus. 


„Erde verglichen werden, nicht nur die Erſcheinungen derſel— 
„ben vollkommen erklärt werden, ſondern auch, daß die verſchie— 
„denen Bahnen dieſer Planeten und daß überhaupt das ganze 
„große Syſtem derſelben, in Beziehung auf Ordnung und Größe, ſo 
„wohl verbunden ſind, daß man keinen Theil des Syſtems ändern 
„kann, ohne dadurch das Ganze zu ſtören und das geſammte 
„Weltall in Unordnung zu bringen.“ 

Dieſe befriedigende Darſtellung der äußeren Erſcheinungen 
der Planeten, und dieſe Einfachheit und Symmetrie ſeines Sy— 
ſtems, waren alſo die Gründe, durch welche er zur Annahme 
deſſelben bewogen wurde, wie ihn auch nur eine Vorliebe für eben 
dieſe Eigenſchaften zu dem Aufſuchen eines ſolchen neuen Syſtems 
bewogen hatte. Offenbar war auch hier, wie bei jeder wiſſenſchaft— 
lichen Entdeckung, der klare Beſitz einer abſtracten Idee, und 
die Geſchicklichkeit, eine von der Natur gegebene Erſcheinung unter 
dieſe allgemeine ideelle Conception zu ſubſummiren, der leitende 
Faden in dem Geiſte des Entdeckers. Er mußte ein vorzügliches 
geometriſches Talent, und er mußte auch nicht gewöhnliche aſtrono— 
miſche Kenntniſſe beſitzen. Er mußte die Folgen ſeiner Annahme, 
die ſcheinbaren Bewegungen nämlich, die aus der von ihm ange— 
nommenen reellen Bewegung entſpringen, mit beſonderer Klarheit 
in ſeinem Geiſte erkennen, ſo wie er zugleich alle die Unregel— 
mäßigkeiten jener ſcheinbaren Bewegungen, von welchen er nun 
Rechenſchaft geben ſollte, genau kennen mußte. Daß er aber dieſe 
beiden Eigenſchaften in der That beſaß, davon finden ſich die Be— 
weiſe in ſeinem Werke. Er verlangt vor allem von dem Leſer 
deſſelben eine ruhige und fortgeſetzte Betrachtung der von ihm 
aufgeſtellten Theorie, als die Hauptbedingung zu ihrer Anerken— 
nung und Aufnahme. „Wenn ihr, ſagt er, die Erde in Bewe— 
„gung und den Himmel in Ruhe annehmt, ſo werdet ihr, si 
„serio animadvertatis, wenn ihr dieß mit männlichem Ernſt 
„unterfucht, finden, daß daraus fofort die ſcheinbare tägliche Be— 
„wegung dee Himmels folgt.“ Und nachdem er weiterhin alle feine 
Gründe für das neue Syſtem aus einander geſetzt hat, fährt er 
fort: „Wir nehmen daher keinen Anſtand zu geſtehen, daß der 
„ganze Raum innerhalb der Mondsbahn zugleich mit dem Mittel— 
„punkt der Erde ſich jährlich, gleich jedem der übrigen Planeten, 
„um die Sonne bewegt, da die Größe des Weltalls fo gewaltig ers 
„icheint, daß ſelbſt die Entfernung der Erde von der Sonne nur als 


Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 387 


„eine ganz verſchwindende Größe zu betrachten iſt, wenn fie mit 
„dem Halbmeſſer der Sphäre der Firfterne verglichen wird. — 
„Alles dieß, ſo ſchwer und beinahe unbegreiflich es auch manchen 
„erſcheinen, und ſo ſehr es auch gegen die Anſicht des großen 
„Haufens ſeyn mag, alles dieß wollen wir, in der Folge unſeres 
„Werkes, mit Gottes Hülfe, klarer noch, als die Sonne machen, 
„wenigſtens für diejenigen, die nicht aller mathematiſchen Kennt— 
„niſſe baar und ledig find ).“ 

Da die alte geocentriſche Hypotheſe den Planeten jene Be— 
wegungen in der That zuſchrieben, obſchon ſie nur ſcheinbar waren, 
indem ſie bloß von der reellen Bewegung der Erde kamen, ſo 
it ſchon daraus klar, daß die neue helivcentrifche Bewegung die 
ganze Theorie der Planeten viel einfacher machen mußte, als ſie 
bisher geweſen iſt. Kepler?) zählt eilf verſchiedene Bewegungen 
des Ptolemäiſchen Syſtems auf, die alle durch die Einführung 
der copernicaniſchen Theorie überflüſſig geworden und weggefallen 
ſind. 

Da aber die wahren Bewegungen der Erde ſowohl, als auch 
die aller Planeten an ſich ſelbſt ungleichförmig ſind, ſo mußte 
man noch ein anderes Mittel haben, dieſe Ungleichheiten darzu— 
ſtellen, und ſonach wurde denn auch die alte Theorie von den Epicy— 
keln und excentriſchen Kreiſen, ſo weit ſie zu dieſem Zwecke nöthig 
war, noch ferner beibehalten. Die Planeten bewegen ſich, nach der 
Lehre des Copernicus, um die Sonne mittels eines deferirenden 
Kreiſes, auf deſſen Peripherie der Mittelpunkt des den Planeten 
enthaltenden Epicykels einhergeht. Die Halbmeſſer dieſer beiden 
Kreiſe wurden etwas verſchieden von denen, die Ptolemäus 
angenommen hatte, gewählt, aus Gründen, die wir ſogleich 
näher angeben wollen. Dieſe excentriſchen Kreiſe und dieſe Epicykel 
blieben aber, auch in dem neuen Syſteme, noch nahe ein Jahr— 
hundert im Gebrauch, bis ſie endlich, durch Kepler's Entdeckungen, 
für immer verbannt wurden. 

Nebſt der täglichen Rotation der Erde um ihre Axe und 
der jährlichen Bewegung derſelben um die Sonne, gab ihr 
Copernicus noch eine dritte Bewegung, einen motus in declis 


1) Copernicus, Revol. Introd. 
2) Kepler, Myst. Cosm. Cap. 1. 
25* 


388 Induction des Copernicus. 


natione, wie er ſie nannte, durch welche die Richtung der Erd— 
axe durch das ganze Jahr ſich ſelbſt immer parallel bleiben, alſo 
verlängert immer durch dieſelben zwei Punkte des Himmels 
gehen ſollte. Allein dazu bedurfte es keiner eigentlichen dritten 
Bewegung. Die Erdare bleibt ſich ſelbſt parallel, weil nichts 
da iſt, was ihre Lage ändern könnte, wie etwa ein Strohhalm 
auf der Oberfläche einer Waſſerſchale ſeine parallele Lage bei— 
behält, wenn auch die Schale in einem Zimmer rund herum 
getragen wird. Dieß wurde auch von Rothmann, einem Schüler 
und Freund des Copernicus, wenige Jahre nach der Erſcheinung 
des Werkes feines großen Lehrers, bemerkt ). „Es iſt, ſagt er 
„in ſeinem Brief an Tycho Brahe, es iſt kein Grund für dieſe dritte 
„Bewegung der Erde vorhanden, denn die tägliche und jährliche 
„Bewegung derſelben reicht für alles aus.“ Dieſer Fehler des 
Copernicus, wenn er als ein Fehler bezeichnet werden ſoll, kam 
daher, daß er die Lage der Erdaxe auf einen beſtimmten Raum 
beſchränkte, auf denjenigen Raum des Himmels nämlich, den 
die Erde zugleich mit ſich jährlich um die Sonne führen ſollte, 
ſtatt daß er dieſe Lage in Beziehung auf den unbegrenzten Raum 
des Himmels oder der Fixſterne betrachten ſollte. Wenn in einem 
Planetarium die durch einen feſten Stab mit der Sonne ver— 
bundene Erde um die Sonne geführt wird, ſo muß allerdings 
der Erdaxe durch eine eigene Maſchinerie noch eine neue Bewe— 
gung gegeben werden, um den Parallelismus dieſer Axe zu er— 
halten. Eine ähnliche Verwirrung des geometriſchen Begriffs, 
die durch die gedoppelte Beziehung auf den abſoluten Raum 
und auf den Mittelpunkt der Bewegung entſteht, hat auch zu 
dem bekannten Streite Anlaß gegeben, ob der Mond, der bei ſeiner 
Bewegung um die Erde der letzten immer dieſelbe Seite zeigt, ſich 
dabei um ſeine Axe drehe oder nicht. 

Wegen der Präceſſion der Nachtgleichen bleibt aber die Erd— 
axe eigentlich nicht genau ſich ſelbſt parallel, ſondern ſie weicht 
jährlich um einen, übrigens ſehr kleinen, Winkel davon ab. Co— 
pernicus ſetzte irrigerweiſe voraus, daß dieſe Präceſſion in einer 
ungleichförmigen Bewegung dieſer Axe beſtehe, und ſeine Erklärung 
derſelben, die allerdings ſchon einfacher als jene der Alten iſt, wird 


3) Tycho, Epist. I. p. 184 von dem Jahre 1590. 


Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 389 


dieß noch mehr, wenn dieſe Bewegung gleichförmig angenommen 
wird, wie ſie es auch in der That iſt. 

Der dem Menſchen angeborne Hang, welcher uns in der Auf: 
ſuchung der Urſachen und der Geſetze der Erſcheinungen immer 
vorwärts treibt, derſelbe Hang, dem wir das Copernicaniſche 
Syſtem und überhaupt alle unſere wiſſenſchaftlichen Entdeckungen 
verdanken, hat auch noch das Merkwürdige, daß er gewöhnlich 
weit über fein eigenes Ziel herausgeht. Indeß findet er doch 
immer etwas, wenn er auch nach ganz anderen und größeren Din— 
gen ausgeht. Schon oft hat er auf dieſem Wege die wirklich 
in der Natur beſtehende Ordnung und die wahren Verhältniſſe 
ihrer Erſcheinungen gefunden, während er auf ganz andere, 
bloß imaginäre Verhältniſſe Jagd gemacht hatte. Auf dieſe 
Weiſe vermiſchen ſich auch häufig reelle Entdeckungen mit ganz 
grundloſen Hypotheſen, Ausgeburten der Phantaſie mit den 
Erzeugniſſen des tief forſchenden Verſtandes, und dieſe Ver— 
miſchung zweier ſo heterogenen Elemente würden wir vielleicht 
ohne Ausnahme bei allen Entdeckungen bemerken, wenn wir die 
Gedanken der Entdecker und die Wege, welche ſie gegangen ſind, 
eben ſo ſehen könnten, wie wir ſie z. B. in den Werken Kepler's 
vor unſeren Augen liegen haben. Nur durch Anfangs mißlun— 
gene Verſuche gelangen wir gewöhnlich zu den gelungenen, 
und das wahre wiſſenſchaftliche Talent erkennt man nicht daran, 
daß er nur wahre und richtige Hypotheſen aufſtellt, ſondern 
darin, daß ſeine Hypotheſen alle klar aufgefaßt und in eine 
ſtetige Verbindung mit der Erſcheinung gebracht werden, die man 
durch jene erklären will. Das Talent ſieht klar und unterſcheidet 
deutlich den Begriff und den ihm zu Grunde liegenden Gegenſtand. 
Unter ſolchen Umſtänden aber iſt ihm kein Vorwurf, ſondern 
vielmehr Lob zu ertheilen, daß er alle, auch die irrigen Wege 
verſucht, daß er nach jedem Schein von einem allgemeinen Geſetze 
haſcht, und daß er jedes Mittel ſucht und prüft, welches ihm die ge— 
wünſchte Einfachheit und Uebereinſtimmung zu verſprechen ſcheint. 

Copernicus macht keine Ausnahme von dieſer allgemeinen 
Regel, und ſein Werk ſelbſt gibt uns ein redendes Beiſpiel von 
dieſem Charakterzug des Erfindungsgeiſtes. Der Grundſatz der 
Alten, daß die himmliſchen Bewegungen alle gleichförmig ſeyn 
und in Kreiſen vor ſich gehen müſſen, erſchien auch ihm als eine 
unerläßliche Forderung, der man ſich nicht entziehen darf, und 


390 Induction des Copernicus. 


ſeine Theorie der planetariſchen Bewegungen, ſo weit ſie die 
Ungleichheiten derſelben betrifft, iſt ganz dieſer Erläuterung ge— 
mäß von ihm ausgebildet worden. Er behielt die Epicykel des 
Ptolemäus bei, und ſein Beſtreben ging nur dahin, ſie beſſer 
noch, als der alte Grieche, anzuwenden. Die Zeit, das ganze 
Syſtem zu verwerfen, war noch nicht gekommen, und dazu 
mußten erſt die Beobachtungen Tycho's und die Berechnungen 
Kepler's abgewartet werden. 

Es iſt nicht meine Abſicht, die Theorie der planetariſchen 
Ungleichheiten, wie fie Copernicus aufgeſtellt hat, hier umftändlic) 
aus einander zu ſetzen. Er behielt, wie geſagt, die Epicykel und 
die excentriſchen Kreiſe der Alten bei, aber er änderte die Mittel— 
punkte ihrer Bewegungen; das heißt, er behielt von dem alten 
Syſteme das, was man das Weſen deſſelben nennen konnte, 
und überſetzte es in die Sprache ſeines neueren Syſtems. Dieſe 
Modification der alten ptolemäiſchen Einrichtung wurde ſo 
lange beibehalten und ſelbſt bewundert, bis Kepler durch ſeine 
elliptiſche Theorie das ganze epicykliſche Gerüſte für immer zer— 
ſtörte. Doch muß man bemerken, daß Copernicus ſelbſt ſchon 
mehrere Unzukömmlichkeiten dieſer alten Theorie bemerkte. Für 
Merkur z. B., deſſen Bahn ſehr excentriſch iſt, ſucht er ſich durch 
mehrere in der That etwas verwickelte Annahmen zu helfen, die 
aber doch zugleich zeigen, daß er die Unvollkommenheit dieſer 
Theorie ſehr deutlich ahnte. Für den Mond ſchlägt er ſogar 
eine ganz neue Theorie vor, eine Theorie, die in der That auf 
denſelben Gründen beruhte, aus welchen ſpäterhin der eigentliche 
Untergang der epicykliſchen Theorie entſprungen iſt, nämlich auf 
der Unmöglichkeit, durch dieſe Theorie auch die Variationen 
des ſcheinbaren Halbmeſſers des Mondes darzuſtellen. 

Ohne allen Zweifel wußte Copernicus mit der mathematiſchen 
Klarheit ſeiner Ideen, und mit ſeinen tiefen aſtronomiſchen Ein— 
ſichten auch eine große Kraft und Kühnheit des Geiſtes zu ver— 
binden, um ſein von allen bisherigen ſo gänzlich verſchiedenes 
Syſtem fo feſt auffaſſen und fo vollſtändig entwickeln zu können. 
Sein Schüler und Freund Rheticus ſchreibt von ihm an Schoner: 
„Ich bitte dich, dieſe Anſicht von meinem gelehrten Meiſter feſt— 
„zuhalten, daß er ein eifriger Bewunderer und Nachfolger des 
„Ptolemäus geweſen iſt, daß er aber, von den äußeren Erſchei— 
„nungen und von der inneren Ueberzeugung gedrängt, wohl zu 


Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 391 


„thun glaubte, daſſelbe Ziel, wie Ptolemäus, zu verfolgen, nur 
„mit einem ganz anderen Bogen und auch mit einem andern Pfeil. 
„Erinnern wir uns, daß Ptolemäus ſelbſt gejagt hat: J Ö'ekev- 
„Veo eπν i, TI Yvayın Tov uerkovra gıAocogeıv, wer der Wiſſen— 
„ſchaft wahrhaft dienen will, muß vor allem freien Geiſtes ſeyn.“ 
— Dann ſucht Rheticus ſeinen Meiſter von dem Vorwurfe der 
Nichtachtung gegen die Alten zu befreien: „Dieſe, ſagt er, iſt 
„jedem braven Manne fremd, vorzüglich dem weiſen Manne, und 
„gewiß keinem mehr, als meinem Lehrer. Er war weit davon 
„entfernt, die Meinungen der alten Philoſophen ſchnell zu ver— 
„werfen, und nur gewichtige Gründe, nur unwiderſtehliche That— 
„lachen, gewiß aber nie die Liebe zu Neuerungen, konnte ihn 
„zu einem ſolchen Schritte bewegen. Seine Jahre, der Ernſt 
„ſeines Charakters, feine tiefe Gelehrſamkeit und der Edelſinn 
„eines großmüthigen Geiſtes entfernten ihn ſehr weit von 
„einem ſolchen Hange, der nur der Jugend, oder heftigen und 
„leichtbeweglichen Gemüthern, oder endlich jenen angehört, die ſich 
„auf ihre kleinen Kenntniſſe große Dinge einbilden, rr ueya 
goovavraov enı Oewpız wıxon, wie Ariftoteles jagt.“ — In dieſer 
Achtung vor den großen Männern, die ihm vorausgegangen 
ſind, verbunden mit dem Talente, den Geiſt ihrer Lehre auch dann 
noch feſtzuhalten, wenn das todte Wort derſelben nicht mehr 
haltbar iſt, darin beſteht ohne Zweifel die eigentliche geiſtige Con— 
ſtitution aller großen Erfinder. 

Nebſt dieſer intellectuellen Kraft aber, die zur Errichtung eines 
ganz neuen Syſtems erfordert wurde, war auch kein kleiner Grad 
von Muth zur öffentlichen Bekanntmachung ſeiner Entdeckungen 
nothwendig. Sie waren mannigfaltigen Streitigkeiten und Gegen— 
reden, ſie waren der Deutung einer böswilligen Abſicht, und ſelbſt 
dem Vorwurfe der Ketzerei bloßgeſtellt. Doch war wohl dieſe 
letzte Gefahr nicht ſo groß, als man von den heftigen Kämpfen und 
den gewaltſamen, ſelbſt gerichtlichen Handlungen ſchließen möchte, 
die ſpäterhin zu Galilei's Zeiten eintraten. Der Dogmatismus 
des Mittelalters, der ſich ſeinem Untergange näherte, behandelte 
zwar wiſſenſchaftliche und religiböſe Wahrheiten für identiſch, 
aber er fand ſich doch, wenigſtens damals noch, nicht unmittelbar 
durch den Fortſchritt der phyſiſchen Erkenntniß angegriffen, daher 
er auch den neuen geiſtigen Bewegungen mit ruhiger Gleich— 
gültigkeit zuſah. Dennoch wurden auch jetzt noch die Anforde— 


392 Induction des Copernicus. 


rungen der Schrift und der kirchlichen Autorität als die höchſten 
in allen Dingen betrachtet, und gar manche mochten durch die 
neuen ſchriftlichen Auslegungen, die aus jener Lehre folgten, 
beunruhigt und ſelbſt gekränkt werden. Copernicus ſcheint dieſes 
Uebel vorhergeſehen zu haben, und aus dieſer und noch mancher 
andern Urſache hielt er wohl die Bekanntmachung ſeines Werkes 
ſo lange zurück. Er gehörte ſelbſt dem geiſtlichen Stande an und 
war, vielleicht durch Unterſtützung ſeines Onkels von mütterlicher 
Seite, Präbendarius der Johanneskirche zu Thorn und Domherr 
von der Kirche zu Frauenburg in der Diöceſe von Ermeland ). 
Er hatte früher in Bologna ſtudirt, wurde i. J. 1500 Profeſſor 
der Mathematik in Rom, und ſpäter ſetzte er ſeine Studien und 
Beobachtungen zu Frauenburg, am Ausfluffe der Weichſel, fort. 
Die Entdeckung ſeines neuen Syſtems muß ſchon vor dem Jahre 
1507 ſtattgehabt haben, denn im Jahre 1543 berichtet er Pabſt 
Paul III., in der Dedication ſeines Werkes, daß er ſeine Schrift 
viermal die Zeit von neun Jahren, die Horaz empfiehlt, bei ſich 
zurückgehalten und daß er dieſelbe auch dann noch nur auf das 
ernſtliche Zureden ſeines Freundes, des Cardinals Schomberg, 
deſſen Brief den Werfen beigedruckt iſt, herausgegeben habe. 
„Obſchon ich weiß, ſetzt er hinzu, daß die Ideen eines Philoſophen 
„nicht von der Meinung der Menge abhängen, da ſein Zweck iſt, 
„in allen Dingen der Wahrheit nachzuſtreben, fo weit dieß von 
„Gott dem menſchlichen Verſtande erlaubt iſt; ſo mußte ich doch, 
„bei der Betrachtung, daß meine Theorie vielen abſurd erſcheinen 
„wird, lange anſtehen, ob ich mein Werk bekannt machen, oder 
„ob ich den Inhalt deſſelben, nach den Beiſpielen der Pythago— 
„räer, nur durch mündliche Tradition meinen Freunden mittheilen 
ſoll.“ Man bemerke aber, daß er hier nur von den Aſtronomen, 
nicht von den anderen Zeloten ſeiner Zeit ſpricht. Die letzteren 
ſcheint er in der That für viel weniger furchtbar zu halten. 
„Wenn es, ſagt er am Ende ſeiner Vorrede, wenn es vielleicht 
„einige uararoAoyoı (eitle Schwätzer) gibt, die nichts von Mathe: 
Fmatik verſtehen, die aber aus einigen zu ihrer Abſicht liſtig ver: 
„zerrten Stellen der Schrift ihr Urtheil fällen und mein Unter— 
„nehmen tadeln und angreifen wollen, ſo beachte ich ſie nicht weiter 
„und ſehe auf ihre Ausſprüche als auf unüberlegte verächtlich 


4) Rheticus, Nax. S. 94. 


Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 393 


„herab.“ Er ſchickt ſich dann an, zu zeigen, daß die Kugelgeſtalt 
der Erde, (die daher unter den Aſtronomen ſeiner Zeit ein bereits 
unbeſtrittener Punkt ſeyn mußte), aus ähnlichen Gründen auch 
von Lactantius angegriffen worden ſey, der in andern Rückſichten 
wohl ein ſehr achtbarer Schriftſteller ſey, in dieſer aber nur ſehr 
kindiſch geſprochen habe. In einem andern dem Werke beige— 
druckten Briefe, (der nach Kepler *) von Andreas Oſiander ſeyn 
ſoll), wird der Leſer erinnert, daß die Hypotheſen der Aſtronomen 
nicht als unumſtößliche Wahrheiten, ſondern nur als Mittel, die 
Erſcheinungen zu erklären, aufgeſtellt zu werden pflegen. Dieſe 
Ausflucht ſcheint in der That auch noch jetzt gebraucht zu werden, 
wenn man die Schwierigkeiten vermeiden oder umgehen will, die 
aus der Lehre von der Bewegung der Erde, wenn ſie mit meh— 
reren Stellen der Schrift verglichen wird, entſtehen. Die be— 
kannten Herausgeber der Principien Newton's von der G. J. 
haben dem dritten Buche dieſes Werkes eine Declaration beige— 
fügt, daß auch ſie die Bewegung der Erde nur als eine Hypo— 
theſe gelten laſſen, und dabei ſich den höheren Befehlen gegen 
dieſe Bewegung der Erde willig unterwerfen. — Latis a summis 
P. contra telluris motum deeretis nos obsequi profitemur. 
Uebrigens muß man auch bedenken, daß zur Zeit des Copernicus 
die Lehre von der Bewegung der Erde noch nicht mit den Geſetzen 
der Mechanik in engerer Verbindung geſtanden iſt und daher 
auch nicht ſo deutlich als wahrhaft beſtehend erkannt werden 
konnte, als in ſpäteren Zeiten. 

Dieſer lange Aufſchub des großen Werkes brachte endlich 
den Verfaſſer deſſelben an den Rand ſeines Lebens. Er ſtarb in 
demſelben Jahr (1543), in welchem feine Schrift erſchien “). Doch 


5) M. ſ. das Motto zu Kepler's: De stella Martis. 


6) Nicolaus Copernicus war zu Thorn i. J. 1472 nach Juncten (oder 
nach Mäſtlin i. J. 1473) geboren. Sein Vater, Nicolaus Köper— 
nik, war ein Wundarzt in Krakau, und ſeine Mutter Bar— 
bara Watzelrodt, war eine Schweſter des Biſchofs von Ermeland, 
Seine erſten höheren Studien machte er auf der Univerſität von 
Krakau, wo er auch den mediciniſchen Doctorgrad erhielt. In 
feinem 2ꝛ3ſten Jahre unternahm er eine Reiſe nach Italien, wo 
er ſich zuerſt in Bologna bei dem berühmten Aſtronomen Dominic 
Maria Movarra aufhielt, und dann nach Rom zog, wo er eine 


394 Induction des Copernicus. 


war bereits vor dieſer Epoche ſein Syſtem gewiſſermaßen ſchon 
bekannt und auch ſein Ruhm überall verbreitet. Der Cardinal 


Lehrerſtelle der Mathematik erhielt. Nach einigen Jahren kehrte 
er nach Thorn zurück und erhielt durch Verwendung ſeines Oheims, 
des Biſchofs von Ermeland, ein Canonicat an dem Domſtifte zu 
Frauenburg. Die erſten Jahre daſelbſt brachte er in Streitigkeiten 
mit dem deutſchen Ritterorden zu, der Eingriffe in die Rechte 
ſeines Stiftes machen wollte. Nachdem er ſich Ruhe verſchafft 
hatte, lebte er ganz ſeinem Amte und ſeinen Studien. Von ſeinem 
Biſchofe und ſelbſt von dem Könige wurde er öfter zu Staats— 
geſchäften, unter dieſen auch zur Regulirung des damals ſehr ver— 
fallenen Münzfußes in Polen verwendet. Seine Muſeſtunden 
widmete er der Aſtronomie, zu welchem Zwecke er ſich ſelbſt meh— 
rere Inſtrumente, größtentheils aus Holz, verfertiget und damit 
viele Beobachtungen gemacht haben ſoll. Seit dem Jahre 1516 
legte er ſich beſonders auf eine genauere Beſtimmung der Umlauf— 
zeit des Monds, wozu ihn die auf dem lateranifchen Concilium 
auf's neue angeregte Kalenderverbeſſerung veranlaßte, die aber erſt 
ſpäter i. J. 1582 von Gregor XIII. ausgeführt wurde. Um das 
Jahr 1530 ſcheint er bereits ſein großes Werk, das die Entdeckung 
der neuen Weltordnung enthielt, geſchrieben zu haben, mit deſſen 
Bekanntmachung er bis zu dem Jahre 1542 zurückhielt. Im Jahre 
1536 erhielt der Cardinal Nicolaus Schomberg eine Abſchrift des 
Werkes von ſeinem Verfaſſer und drei Jahre nachher legte Rheti— 
cus, Profeſſor in Wittenberg, ſeine Lehrerſtelle nieder, um ſich zu 
Copernicus zu begeben, um von ihm ſelbſt ſein neues Syſtem ken— 
nen zu lernen. Rheticus ließ noch in dem Jahre 1539 eine an den 
Mathematiker Schoner in Nürnberg gerichtete Abhandlung unter 
dem Titel „Narratio“ drucken, und durch dieſe Schrift wurde die 
Entdeckung ſeines Meiſters zuerſt allgemein bekannt. Unter den 
Gründen, die den Copernicus zu der langen Zurückhaltung ſeines 
Werkes bewogen, ſoll auch der geweſen ſeyn, daß er die Spötteleien 
der Unwiſſenden von ſich abhalten wollte. Seine Gegner, die ihn für 
einen ruhmſüchtigen Neuerer verſchrieen, hatten einen Kommödien— 
ſchreiber beredet, daß er, wie Ariſtophanes den Sokrates, den Aſtrono— 
men auf die Bühne bringe und vor dem Volke lächerlich mache. End— 
lich wollte er, von ſeinen Freunden gedrängt, bloß die Tafeln der 
Sonne und der Planeten, wie ſie aus ſeiner neuen Theorie folgten, 
bekannt machen, in der Hoffnung, wie er ſagte, daß die Kenner 
aus dieſen Tafeln auf die ihnen zu Grunde liegende Theorie wer— 
den zurückſchließen können. Allein damit waren ſeine Freunde, 
beſonders der Biſchof von Culm, Tiedemann Gieſe, nicht einvers 


Die heliocentr. Lehre wird auf formell. Grunde errichtet. 395 


Schömberg jagt in feinem ſchon erwähnten Brief von d. J. 1536: 
„Wenn ich vor Jahren ſchon von fo vielen Perſonen Ihre Ber: 
„dienfte rühmen hörte, jo wuchs meine Liebe zu Ihnen immer 
„mehr, und ich wünſchte allen unſern Zeitgenoſſen Glück, in deren 
„Mitte Sie auf eine ſo ehrenvolle Weiſe glänzen. Ich habe 
„nämlich vernommen, daß Sie nicht bloß mit den Entdeckungen 
„der griechiſchen Mathematiker innig vertraut ſind, ſondern daß 
„Sie auch ein neues Weltſyſtem aufgeſtellt haben, in welchem 
„Sie zeigen, daß die Erde ſich bewegt, und daß die Sonne die 
„unterſte, alſo auch die mittlere Stelle einnimmt, während die 
„Sphäre der Fixſterne feſt und unbeweglich bleibt.“ Darauf 
erſucht er ihn auf das angelegenſte, ſein Werk auch herauszu— 
geben. Dieſes ſcheint im Jahr 1539 geſchrieben worden zu ſeyn, 
und 1540 ſoll es durch Achilles P. Geſſarus von Feldkirch an 
den Dr. Vogelinus in Conſtanz als eine Palingeneſie (Wieder— 
geburt) der Aſtronomie geſchickt worden ſeyn. Am Ende des 
Werkes ſteht die bereits oben erwähnte „Narratio“ des Rheticus. 
Dieſer war zu Copernicus gereist, um ſeine Theorie näher ken— 
nen zu lernen, und wir haben bereits gehört, mit welcher Be— 
wunderung er von ſeinem Lehrer ſpricht; „Er ſcheint mir, ſagt 
„Rheticus, mehr als irgend ein anderer Aſtronom, dem Ptole— 


ſtanden, und er entſchloß ſich endlich, ſein ſchon längſt vollen— 
detes Manuſcript demſelben Gieſe zu übergeben, um die Heraus— 
gabe deſſelben zu veranſtalten. Dieſer ſandte es an Rheticus, 
der es ſofort in Nürnberg unter der Aufſicht ſeiner gelehrten 
Freunde Schoner, Oſiander u. a. drucken ließ. Es erſchien 
unter dem Titel: Nicolai Coperniei, Torinensis, de Revolu— 
tionibus orbium coelestium libri sex cum tabulis expeditis, No— 
rimbergae 1543. Fol. Spätere Auflagen ſind zu Baſel 1566 und 
zu Amſterdam 1617 erſchienen. — Kurz vor der Beendigung des 
Druckes erkrankte der ſonſt kräftige ſiebenzigjährige Greis. Ein 
Schlagfluß hatte feine rechte Seite gelähmt; dadurch ermatteten 
auch feine Geiſteskräfte und er verſchied am 24ſten Mai 1543. 
Nur wenige Stunden vor ſeinem Tode wurde ihm noch das erſte, 
eben angekommene Exemplar feines vollendeten Werkes überreicht. 
Seine Leiche wurde in dem Dome zu Frauenburg vor dem Altare 
beſtattet. Lebensbeſchreibungen des Copernicus ſiud von Gaſſendi, 
Lichtenberg und Weſtphal erſchienen. I.. 


396 Folgen der Copernicaniſchen Epoche. 


„»mäus zu gleichen.“ Und dieß war, muß man hinzuſetzen, die 
höchſte Vergleichungsſtufe, die er wählen konnte. 


Drittes Capitel. 


Folgen der Copernicaniſchen Epoche. Aufnahme 
und Verbreitung der neuen Theorie. 


Erſter Abſchnitt. 
Erfte Aufnahme der neuen Theorie. 


Die Lehre des Copernicus ging unter den Aſtronomen ſeiner 
Zeit ihren Weg auf die Weiſe, wie wahre Theorien immer den 
Beifall der competenten Richter zu erhalten pflegen. Sie führte 
zuerſt zur Conſtruction von Tafeln der Sonne, des Monds und 
der Planeten, wie die Theorie des Hipparch oder Ptolemäus zu 
ihrer Zeit ebenfalls gethan hat, und die Verification dieſer Ta— 
feln zeigte ſich in der Uebereinſtimmung derſelben mit den Beob— 
achtungen. — Dem erwähnten Werke „De Revolutionibus“ find 
auch bereits ſolche Tafeln beigegeben worden. Im Jahre 1551 
gab Reinhold ähnliche, aber verbeſſerte Tafeln nach dem Coper— 
nicaniſchen Syſteme heraus. „Wir ſind, ſagt er in ſeiner Vor— 
„rede, dem Copernicus großen Dank ſchuldig für ſeine mühſamen 
„Beobachtungen ſowohl, als vorzüglich für ſeine Wiederherſtellung 
„der wahren Lehre von der Bewegung der himmliſchen Körper. 
„Obſchon aber ſeine Geometrie ſehr gut iſt, ſo ſcheint der gute 
„alte Mann doch in ſeinen numeriſchen Berechnungen etwas ſorg— 
„08 geweſen zu ſeyn. Ich habe daher das Ganze noch einmal 
„durchgerechnet, indem ich feine eigene Beobachtungen mit denen 
„des Ptolemäus und anderer verglich, und dabei den allgemeinen 
„Plan des Copernicus unverrückt im Auge behielt.“ Dieſe Pru— 
teniſchen wurden in dem Jahre 1571 und 1585 wieder auf— 
gelegt und blieben längere Zeit durch in gutem Rufe, bis ſie 
endlich im Jahr 1627 von den Rudolphiniſchen Tafeln Kepler's 
verdrängt wurden. Die Benennung Pruteniſche (oder Preußiſche) 
Tafeln wurden dem Copernicus zu Ehren gewählt, da durch ihn 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 397 


feine Landsleute zuerft berechtigt wurden, in den Kreis der 
wiſſenſchaftlichen Männer Europa's einzutreten. In einer Ahn- 
lichen Abſicht hatte auch Rheticus ein Encomium Borussiae“ 
geſchrieben, das ebenfalls feiner oben erwähnten Narratio beige: 
druckt worden iſt. 

Dieſe auf die Copernicaniſche Theorie gegründeten Tafeln 
wurden früher allgemeiner aufgenommen, als die Theorie ſelbſt. 
So gab Maginus i. J. 1587 zu Venedig „eine neue Theorie 
„der Himmelsbahnen, in Uebereinſtimmung mit den Beobach— 
„tungen des Copernicus“ heraus, in deren Vorrede, nach einer 
dem Copernicus dargebrachten Huldigung, er ſagt: „Er hat, ent— 
„weder um fein Talent zu zeigen, oder aus anderen Gründen, 
„die alten Meinungen des Nicetas, Ariſtarch u. a. über die Be— 
„wegung der Erde wieder aufbringen wollen, und dadurch die 
„angenommene Weltordnung verwirrt, aus welcher Urſache auch 
„viele ſeine Hypotheſe mißfällig aufgenommen oder ganz ver— 
„worfen haben. Ich habe es für angemeſſener gehalten, die Hy: 
„pothefen des Copernicus von mir zu weiſen, aber dabei feine 
„Beobachtungen und den darauf gebauten Pruteniſchen Tafeln 
„andere Gründe unterzulegen,“ womit er aber wahrſcheinlich auch 
nur gewiſſen Vorwürfen ausweichen wollte. 

Indeß wurde die neue Lehre doch von vielen, ſelbſt noch vor 
dem öffentlichen Auftreten derſelben mit Beifall aufgenommen. 
Wir haben bereits gehört, mit welcher Begeiflerung Rheticus 
davon geſprochen hat. „So hat Gott, ruft er aus, meinem 
»vortrefflichen Lehrer ein großes, endloſes Reich übergeben, das 
„er ihm auch zu leiten, zu beherrſchen und zu erweitern verleihen 
»wolle zur völligen Bekräftigung der aſtronomiſchen Wiſſenſchaft.“ 

Von den erſten Bekennern der neuen Lehre, welche dieſelbe 
noch vor den darüber entſtandenen Streitigkeiten angenommen 
hatten, nennen wir nur Mäſtlin und ſeinen Schüler, den gro— 
ßen Kepler. Mäſtlin (geb. 1550, geſt. 1631) gab i. J. 1588 
eine »Epitome Astronomiae“ heraus, in welcher die Unbeweg— 
lichkeit der Erde noch behauptet wird. Aber i. J. 1596 gab er 
Kepler's „Mysterium Cosmographicum« und die „Narratio Rhe- 
ticik heraus, und dieſem Werke fügte er einen Brief von feiner 
Hand bei, in welchen er das Copernicaniſche Syſtem durch die— 
jenigen phyſiſchen Gründe vertheidigte, die wir ſpäter kurz angeben 
werden, da ſie in den über dieſen Gegenſtand entſtandenen Strei— 


398 Folgen der Copernicaniſchen Epoche. 


tigkeiten als die gewöhnlichſten angeführt zu werden pflegten. 
Kepler ſelbſt ſagt in der Vorrede zu ſeinem ſo eben erwähnten 
Werke: „Als ich in Tübingen die Vorleſungen des Michael 
„Mäſtlin hörte, wurde ich durch die vielerlei Unzuläſſigkeiten des 
„alten Weltſyſtems ganz verwirrt, aber dafür erfreute mich die 
„Lehre des Copernicus deſto mehr, von welcher mein Lehrer in 
„einen Vorträgen fo viel Aufſehens machte, daß ich dieſe Lehre 
„nicht nur in unſeren öffentlichen Diſputationen mit den Candi— 
»daten der Univerſität vertheidigte, ſondern daß ich auch damals 
»ſchon eine eigene Theſis über die „erſte Bewegung“ ſchrieb, die 
„durch die Bewegung der Erde erzeugt wird.“ Dieß muß gegen 
das Jahr 1590 geweſen ſeyn. 

Die verſchiedenen Anſichten, mit welchen das neue Syſtem 
aufgenommen wurde, führten zu manchen Controverſen, die längere 
Zeit dauerten. Dieſe Streitigkeiten drehten ſich vorzüglich um 
eigentlich phyſiſche Betrachtungen, die beſonders unter den Händen 
von Kepler und ſeinem Nachfolger bereits deutlicher hervortraten, 
als es zur Zeit des Copernicus ſelbſt der Fall war. Wir werden 
in den letzten Abſchnitten dieſes Capitels dieſem Gegenſtande eine 
beſondere Betrachtung widmen. Zuerſt aber wollen wir einige 
Bemerkungen über den Fortgang der neuen Lehre, unabhängig 
von jenen phyſiſchen Speculationen, mittheilen. 


Zweiter Abſchnitt. 
Verbreitung des Copernicanifchen Syltems. 


Die Verbreitung der neuen Lehre ging anfangs ſehr langſam 
vor ſich. Auch war in der That einige Zeit nothwendig, bis die 
damals noch geringen Fortſchritte in den Beobachtungen und in 
der theoretiſchen Mechanik der neuen Lehre jenes Anſehen, jene 
innere Kraft geben konnten, die nun, zu ganz anderen Tagen, 
unſere Verwunderung erregt, daß ein Menſch noch anſtehen 
konnte, einen Gegenſtand dieſer Art nicht auch ſofort anzuneh— 
men, wie er ihm nur eben angeboten wird. Doch gab es zu 
jener Zeit auch einige ſpeculative Köpfe anderer Art, die von 
den erweiterten Anſichten, welche ihnen die neue Lehre von 
dem Weltall eröffnete, nur zu heftig ergriffen wurden. Unter 
dieſen ſteht der unglückliche Giordano Bruno oben an. Er war 
um die Mitte des ſechszehnten Jahrhunderts zu Nola im Nea— 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 399 


politaniſchen geboren, und wurde i. J. 1600 zu Rom als Ketzer 
verbrannt. Doch wurde er zu dieſem ſchmählichen Ende nicht ſo— 
wohl durch ſeine aſtronomiſchen Anſichten, ſondern durch ſein Werk 
„Spaccio della Bestia trionfante“ geführt, das er in England 
verfaßt und dem Sir Philip Sidney gewidmet hatte. Uebrigens 
nahm Bruno einer der erſten das Copernicaniſche Syſtem an, 
und verband daſſelbe noch mit dem Glauben an unzählige 
andere Welten nebſt der, die wir bewohnen, ſo wie er ſich auch 
mit verſchiedenen metaphyſiſchen und theologiſchen neuen Lehren 
trug, die er ſeine „Nolaniſche Philoſophie“ zu nennen pflegte. 
Im Jahre 1591 gab er fein Werk De innumerabilibus mundis 
heraus, in welchem er behauptet, daß jeder Fixſtern eine Sonne 
iſt, um welche ſich unſerer Erde ähnliche Planeten bewegen. 
Aber alle dieſe Anſichten ſind bei ihm mit einer großen Maſſe 
von grundloſen Wortkrämereien gemiſcht. 

Bruno ſcheint einen vorzüglichen Theil an der Einführung 
des Copernicaniſchen Syſtems in England zu haben ). Er hatte 
dieſes Land unter der Regierung der Königin Eliſabeth beſucht, 
und er ſpricht von ihr und ihren Räthen mit großen Lobeser— 
hebungen, mit deſto größerem Widerwillen aber auch von dem 
gemeinen Straßenvolke in London: „Una plebe la quale in 
essere irrespettevole, incivile, rozza, rustica, selvatica et 
male allevata, non cede ad altra che pascer possa la terra 
nel suo seno ?). Sein unſeren Gegenſtand betreffendes Werk 
hat die Aufſchrift: La cena de le cenere „Tiſchreden am 
„Aſchermittwoch,“ die das von ihm vertheidigte Syſtem des Co— 
pernicus behandeln. Von den Sprechenden ſtellt Il Nolano den 
Verfaſſer ſelbſt dar, und ſeine vorzüglichſten Gegner ſind zwei 
Dottori d’Oxonia, die er Nundino und Torquato nennt ). 


1) M. ſ. Burton's Anat. Mel. Pref. „Bruno.“ 

2) Opere di G. Bruno. Vol. I. p. 146. 

3) Bruno war anfangs Mönch, entfloh i. J. 1580 aus feinem Kloſter 
nach Genf, hielt ſich ſpäter abwechſelnd in Paris, London, Wit— 
tenberg und Helmſtädt auf, und kehrte 1592 wieder nach Ita— 
lien zurück, wo ihn die Inquiſition 1595 verhaften, und da er 
ſeine Lehren nicht widerrufen wollte, am 17. Februar 1600 dem 
Scheiterhaufen übergeben ließ. Seine meiſten Feinde, deren er 
ſehr viele hatte, erwarb er ſich durch ſeine leidenſchaftliche Be— 
kämpfung der Ariſtoteliſchen Philoſophie. Seine geſammelten 


400 Folgen der Copernicaniſchen Epoche. 


Auch der große Baco von Verulam beharrte fein ganzes 
Leben durch im Widerſtreben gegen das Copernicaniſche Syſtem. 
Doch muß bemerkt werden, daß er die Meinung von der Be— 
wegung der Erde nicht in der peremtoriſchen und dogmatiſchen 
Weiſe, die er ſonſt ſo oft anwendet, verwirft. So ſagt er in ſeinem 
„Thema Coeli:“ „Da wir nun die Erde als ruhend voraus— 
„ſetzen, denn dieß erſcheint uns die wahre Anſicht der Sache zu 
„ſeyn u. ſ. f.“ Und in ſeiner Abhandlung „Ueber die Urſachen 
„der Ebbe“ drückt er ſich ſo aus: „Wenn Ebbe und Fluth von 
„der täglichen Umwälzung des Himmels kommt, fo folgt, daß 
„die Erde unbeweglich iſt, oder wenigſtens, daß ſie ſich viel 
„langſamer bewegt, als das Waſſer.“ In ſeiner „Descriptio 
„globi intellectualis“ bringt er die Gründe vor, wegen welchen er 
die copernicaniſche Theorie nicht annimmt. „In dieſem Syſteme, 
„sagt er, finden ſich viele und große Schwierigkeiten; die dreifache 
„Bewegung, mit der die Erde belaſtet wird, iſt ſchwer anzu— 
„nehmen; die gänzliche Abſonderung der Sonne von den Plane— 
„ten, mit welchen ſie doch ſo vieles gemein hat, iſt auch nicht 
„wahrſcheinlich, ſo wie die Einführung ſo vieler unbeweglicher 
„Himmelskörper, der Sonne und aller Fixſterne, die doch alle 
„lichte Körper ſind; ferner die Verknüpfung des Monds mit 
„der Erde mittels eines Epicykels; dieß und ſo manche andere 
„Annahme läßt uns im Copernicus einen Mann erblicken, der 
„Einfälle jeder Art aufnimmt und in die Natur einführt, wenn 
„fie nur mit ſeinen Calculationen in Uebereinſtimmung ge— 
„bracht werden können.“ — Baco wünſchte offenbar ein ſolches 
Weltſyſtem, deſſen Einrichtung ſeinen Anſichten und der 
Einfachheit der Natur entſpricht, und man darf geſtehen, daß 
dieß zu jener Zeit mit dem Copernicaniſchen Syſtem noch nicht ganz 
der Fall war, wie man z. B. aus den Epicykeln ſieht, die Eos 
pernicus von dem alten Syſtem beibehalten hat. Man kann 
auch hinzuſetzen, daß Baco noch nicht recht klar über das Syſtem 
war, das an die Stelle des Copernicaniſchen treten ſollte. 
Endlich mag er auch wohl, in Beziehung auf ſtrenge geometriſche 
Begriffe, von derſelben Unbeſtimmtheit befangen geweſen ſeyn, 


Schriften wurden (Leipzig. 1830. II. Vol.) von Wagner herausge— 
geben. M. ſ. noch Schelling's „Bruno, oder über das göttliche 
„und natürliche Princip der Dinge.“ Berl. 1802. L. 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 401 


die wir oben bei Ariftoteles jo oft bemerkt haben. Ohne dieſe Ans 
nahme kann man ſich nicht gut erklären, wie Baco die Auflöſung 
der ſcheinbar unregelmäßigen Bewegung der Planeten in zwei 
regelmäßige für unnütz erklären ſollte. An einem anderen Orte 
(Thema Coeli S. 246) ſpricht er überhaupt etwas leichtfertig 
über dieſen Gegenſtand: „Die ganze ſogenannte retrograde 
„Bewegung der Planeten von Oſt gen Weſt exiſtirt gar nicht: 
„fie iſt ein bloßer Schein, und fie entſteht nur daraus, daß das 
„feſte Himmelsgewölbe mehr auf die eine Seite vorrückt, wo 
„dann der Planet auf der anderen Seite zurückzubleiben fcheint *).“ 

Baco's Zeitgenoſſe, Gilbert, deſſen Weisheit jener ſo oft 
preist, war der neuen Lehre mehr geneigt, obſchon auch er nicht 
eben alle Theile derſelben in ſich aufnehmen wollte. In ſeinem 
Werke „De Magneta,“ das i. J. 1600 erſchien, trägt er die 
vorzüglichſten Gründe für das Copernicaniſche Syſtem vor, und 
ſchließt damit, daß ſich die Erde um ihre Axe drehe ). Er 
bringt dieſen Schluß mit ſeiner Lehre vom Magnete in Verbin— 
dung, und will auf dieſem Wege beſonders die Präciſſion der 
Nachtgleichen erklären. — Aber mit der jährlichen Bewegung der 
Erde kann er nicht eben ſo gut zu Stande kommen. In 
einem nach ſeinem Tode im Jahr 1651 erſchienenen Werke „De 
Mundo nostro sublunari philosophia nova“ ſcheint er noch 
zwiſchen den beiden Syſtemen des Tycho und des Copernicus 
auf und ab zu wanken ). Um dieſe Zeit ſcheinen überhaupt 
viele Zweifel über dieſe Dinge geherrſcht zu haben. Auch Milton 
war darüber noch unentſchieden. Im Anfange des achten Buches 
ſeines verlornen Paradieſes läßt er den Adam die Schwierig— 
keiten des ptolemäiſchen Syſtems vortragen, und dann den 
Erzengel Raphael die gewöhnlichen Auflöſungen geben, allein 
bald darauf erklärt der Engel ſeinem Schüler das neue Syſtem, 
und ſpricht darin ebenfalls von der dreifachen Bewegung der 
Erde. Indeß neigte ſich Milton offenbar dieſem neuen Syſteme 


4) Unſer Verf. ſucht hier die unvollkommenen aſtronomiſchen Anſich— 
ten ſeines großen Landsmannes noch weiter zu entſchuldigen, was 
wir hier übergehen zu können glauben. L. 

5) Gilbert. de Magn. Lib. VI. Cap. 3. 4. 

6) Id. Lib. II. Cap. 20. 

Whewell. I. 26 


402 Folge der Copernicaniſchen Epoche. 


zu, da er ſonſt dieſe Bewegungen der Erde nicht ſo klar und 
nicht mit ſo innigem Vergnügen hätte beſchreiben können. 

Der berühmte Biſchof Wilkins trug vielleicht mehr, als 
viele andere, zur Verbreitung des neuen Syſtems in England 
bei, ſelbſt dann noch, als die Ausſchweifungen ſeiner Schriften 
eine ſtrengere Ahndung derſelben erregt hatten. In dem Jahre 
1638, wo er erſt vier und zwanzig Jahre alt war, gab er eine 
Schrift: „Entdeckung einer neuen Welt“ heraus, in welcher er 
behauptete, daß der Mond wahrſcheinlich auch bewohnt iſt, und 
wo er ſogar eine Reiſe in den Mond nicht für unmöglich hielt. 
Dieſer letzte Vorſchlag gab den Kritikern und Witzlingen ſeiner 
Zeit Gelegenheit, ihr Talent an dem Verfaſſer zu üben. Zwei 
Jahre ſpäter erſchien ſein Werk „Geſpräch über einen neuen 
Planeten,“ in welchem er zu beweiſen ſuchte, daß unſere Erde 
auch ein Planet iſt, und in welchem er ſich ganz für das coper— 
nicaniſche Syſtem erklärte, wobei er alle gegen daſſelbe vorge— 
brachte Einwürfe, beſonders die theologiſchen, zu widerlegen 
ſuchte. — Auch Thomas Salisbury trug ſeinen guten Theil zur 
Verbreitung der neuen Lehre in England bei. Als ein inniger 
Verehrer Galilei's gab er im Jahr 1661 eine Ueberſetzung meh— 
rerer Schriften des Letztern heraus. Die engliſchen Mathema— 
tiker des ſiebenzehnten Jahrhunderts, Napier, Briggs, Horrox, 
Crabtrer, Oughtred, Ward, Wallis und Wren waren höchſt 
wahrſcheinlich alle entſchloſſene Copernicaner. Kepler hatte eines 
ſeiner Werke dem Napier gewidmet, und Ward erfand eine ge— 
näherte Methode, das berühmte Kepler'ſche Problem aufzulöſen, 
die jetzt noch unter der Benennung der „einfachen elliptiſchen 
„Hypotheſe“ bekannt iſt. Horror ſchrieb, und zwar ſehr gut, zur 
Vertheidigung der neuen Lehre feine „Astronomia Kepleriana 
„defensa et promota,= die wahrſcheinlich ſchon 1635 verfaßt, 
aber erſt 1673 bekannt gemacht wurde, da der Verfaſſer ſchon 
in ſeinem zwei und zwanzigſten Jahre geſtorben und die Samm— 
lung ſeiner Schriften lange Zeit unbekannt geblieben war. — 
Salisbury's Werk aber war für einen anderen Leſerkreis beſtimmt. 
„Meine Schrift, ſagt er in der Vorrede, iſt des Inhalts und 
„der Ausführung nach vorzüglich für die elegante Welt beſtimmt, 
„und ich vermied daher eben ſo ſorgfältig jede Pedanterie des 
„Styls, als ich einen ſchönen und gefälligen Eindruck zu erre— 
„gen ſuchte.“ 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 403 


Um jedoch den wahren Fortgang des neuen Syſtems näher 
kennen zu lernen, müſſen wir vorzüglich das neue Licht betrach— 
ten, welches durch die Entdeckungen Galilei's auf dieſes Syſtem 
geworfen wurde, da daſſelbe dadurch gleichſam erſt die practiſche 
Beſtätigung ſeiner inneren Wahrheit erhielt. 


Dritter Abſchnitt. 


Practiſche Beltätigung des copernicaniſchen Syltems durch 
Galilei's Entdeckungen. 


Der große Zwiſchenraum, der die letzten Entdeckungen der 
Alten von den erſten der Neueren trennte, bot eine hinlängliche 
Zeit dar, um jene erſten in allen ihren Folgen umſtändlich zu 
entwickeln. Als aber der menſchliche Geiſt wieder einmal zur 
Selbſtthätigkeit erwacht war, ſchlug er ſofort einen ganz anderen 
Weg ein. Nun häuften und drängten ſich die neuen Ent— 
deckungen, und kaum hatte ſich dem erſtaunten Blicke ein bisher 
unbekanntes Feld geöffnet, als ſich demſelben ſchon wieder eine an— 
dere, noch reichere Gegend zeigte. So kömmt es, daß die Geſchichte 
dieſes Zeitraums die Entſtehung mehrerer ganz neuen Wiſſenſchaf— 
ten in ſich ſchließt, die aber alle erſt in der folgenden Periode ihre 
vollſtändige Ausbildung erhalten konnten, wo ſie oft noch, durch 
dieſe Ausbildung ſelbſt, eine ganz andere Geſtalt erhielten. Auf 
dieſe Weiſe wurde z. B. die Statik, deren Wiedererweckung in 
die gegenwärtige Periode gehört, in der folgenden durch die Dy— 
namik gleichſam verfinſtert oder doch in den Hintergrund geſtellt, 
und eben ſo wurde auch das copernicaniſche Syſtem, in der von 
ſeinem Entdecker aufgeſtellten Geſtalt, nur als ein integrirender 
Theil von der ein viel höheres Intereſſe anſprechenden phyſi— 
ſchen Aſtronomie aufgenommen und gleichſam abſorbirt. 

Doch wurden, auch ſchon in dieſem Zeitraume, Entdeckungen 
gemacht, welche die Wahrheit der heliocentriſchen Theorie auf 
einem anderen, practiſchen Wege, unabhängig von den phyſiſchen 
Principien derſelben, beſtätigen follten. Ich ſpreche von den 
neuen Anſichten des Himmels, die wir dem Fernrohre ver— 
danken; von der Entdeckung der Mondsflecken, der Lichtphaſen 
der Venus, der Jupitersmonde und des Saturnringes. — Dieſe 
Entdeckungen erregten zu ihrer Zeit das höchſte Intereſſe. Die 


N 


404 Folge der Eopernicanifchen Epoche. 


Schönheit der neuen Gegenſtände, die ſich nun dem Auge des 
Beobachters darboten; die Erweiterung der Grenzen des Welt— 
alls, welche dieſe Entdeckungen gewährten, und endlich auch, was 
uns hier zunächſt angeht, der mächtige Einfluß derſelben auf die 
endliche Trennung des alten und neuen aſtronomiſchen Syſtems 
und auf den für alle Zeiten entſcheidenden Sieg des letzten 
über das erſte — dieß alles macht die Zeit dieſer Entdeckungen 
zu einer ſehr wichtigen Epoche unſerer Geſchichte. Es mag 
immerhin wahr ſeyn, was Lagrange und Montucla ſagte, daß 
die von Galilei entdeckten Geſetze der Bewegung den tiefen Geiſt 
dieſes Mannes in einem viel höheren Grade beurkunden, als 
alle die neuen Gegenſtände, die er mit ſeinem Fernrohre am 
Himmel gefunden hat, allein dieſe letzten zogen bei weitem den 
größten Theil der Aufmerkſamkeit der Menſchen gewaltſam an ſich, 
und ſie wurden auch bald der Gegenſtand von ſehr lebhaften 
Diskuſſionen. f 

Es iſt nicht unſere Abſicht, die erſte Veranlaſſung und die 
näheren Umſtände der Entdeckung des Fernrohrs zu beſchreiben. 
Man weiß, daß Galilei ſein Inſtrument gegen das Jahr 1609 
verfertigt, und daß er daſſelbe ſofort auf den Himmel angewen— 
det hatte. Die Entdeckung der Satelliten Jupiters war beinahe 
der unmittelbare, erſte Lohn ſeines Fleißes, und er kündigte die— 
ſelbe in feinem „Nuncius Sidereus“ an, der 1610 in Venedig 
erſchien. Der lange Titel dieſes Werkes wird am beſten die 
Anſprüche kund geben, welche daſſelbe auf die Aufmerkſamkeit 
des Publikums machen ſollte: „Der himmliſche Bote ver— 
„kündigt ein großes und wundervolles Schauſpiel, das derſelbe 
„vor Jederman, beſonders aber vor den Gelehrten und Aſtro— 
„nomen darſtellt, entdeckt von Galileo Galilei, mit Hülfe 
„eines von ihm erfundenen Fernrohres, nämlich: auf der Ober— 
„fläche des Monds, in unzähligen Fixſternen der Milchſtraße, 
„in Nebelſternen, beſonders aber in vier kleinen Planeten, die 
„ſich in verſchiedenen Entfernungen und Perioden mit wunder— 
„barer Geſchwindigkeit um Jupiter bewegen, alle bisher ganz 
„unbekannt, von dem Verfaſſer erſt kürzlich entdeckt und die 
„Mediceiſchen Geſtirne zugenannt u. f.“ 

Das Intereſſe, welches dieſe Entdeckungen erregten, war 
tief und allgemein, und ſo wenig waren noch die Menſchen jener 
Zeit gewohnt, ihre wiſſenſchaftlichen Anſichten dieſen neuen 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 405 


Thatſachen anzupaſſen, daß viele von dieſen „Bücherphiloſophen,“ 
wie fie Galilei nannte, glaubten, dieſe Entdeckungen wieder zu 
nichte machen zu können, wenn ſie nur auch wieder ein Buch 
gegen dieſelben in die Welt ſchickten. Deſto größer war dagegen 
der Einfluß derſelben Entdeckungen auf die Annahme und Bes 
gründung des copernicaniſchen Syſtems. Sie zeigten, daß die 
wahre Welt ganz verſchieden von derjenigen iſt, welche die alten 
Philoſophen ausgedacht hatten, und ſie führten zugleich auf die 
Vermuthung, daß der Mechanismus der himmliſchen Bewegun— 
gen viel größer und mannigfaltiger ſeyn werde, als man bisher 
geglaubt hatte. Wenn überdieß die kleine Mondenwelt Jupiters 
dem Auge ſich als ein Bild, als ein Modell des ganzen Sonnen— 
ſyſtems, ſo wie es von Copernicus angenommen wurde, darſtellte, 
ſo galt es zugleich, durch die beinahe unwiderſtehliche Analogie, 
die zwiſchen beiden herrſchte, als einer der ſtärkſten Beweiſe 
für die neue Lehre. Auf dieſe Weiſe wurde Jupiter mit 
feinen vier Satelliten, wie J. Herſchel gejagt hat, der 
Anhaltspunkt aller Copernicaner. Selbſt Baco konnte 
ſich der Einwirkung eines ſolchen Arguments nicht entziehen, 
obſchon er die Bewegung der Erde anzunehmen ſich gewei— 
gert hatte. „Wir erkennen, ſagt er, die der Sonne fol— 
„gende Anordnung (solisequium) der beiden Planeten Merkur 
„und Venus, ſeit wir von Galilei gelernt haben, daß auch 
„Jupiter ſolche Begleiter hat.“ (Baco, Thema Coeli. IX. 
p. 253.) 

Derſelbe „Nuncius sidereus“ enthielt noch manche andere 
Entdeckungen, die im Grunde, obſchon auf anderen Wegen, zu 
demſelben Ziele führten. Die nähere Betrachtung des Mondes 
zeigte, daß er ein ſolider Körper mit einer ſehr unregelmäßigen, 
ſchroffen Oberfläche iſt. Obſchon dieſe Bemerkung nicht unmit— 
telbar mit der neuen Lehre des Copernicus in Verbindung ſtand, 
ſo war ſie doch ein Beweis mehr gegen die Anhänger des Ari— 
ſtoteles, die mit ihrer Philoſophie den Mond zu einem ganz 
anderen Körper gemacht, und die gar manche, nun offenbar 
ganz unftatthafte Gründe für dieſe Mondflecken angegeben hatten. 
Auf gleiche Weiſe führten auch die übrigen Entdeckungen zu 
demſelben Ziele, wie z. B. all' die neuen, bisher unbekannten, 
dem unbewaffneten Auge unſichtbaren Fixſterne, die wunder— 
baren Nebelſterne u. dergl. 


406 Folge der Copernicaniſchen Epoche. 


Allein noch vor dem Ende dieſes Jahres (1610) hatte Galilei 
fchon wieder neue Mittheilungen zu machen, die auf eine noch 
entſcheidendere Weiſe für das copernicaniſche Syſtem ſprechen. 
Er hatte ſich nun von der Bewegung der Venus um die Sonne 
auf die beſtimmteſte Art, nämlich durch unmittelbare Beobachtung, 
überzeugt, indem er ſah, daß dieſer Planet während jeder ſeiner 
Revolutionen ganz dieſelben Lichtgeſtalten annimmt, die uns 
unſer Mond in dem Laufe eines jeden Monats zeigt. Er drückte 
dieß durch den Vers aus: 


Cynthiae figuras amulatur mater amorum. 
„Venus, Mutter der Liebe, ahmt der Cynthia (Diana) Bild nach.“ 


welchen Vers er aber, nach der Sitte jener Zeit, mit verſetzten 
Buchſtaben (litteris transpositis) in ſeinem ſchriftlichen Bericht 
über dieſe Entdeckung aufnahm, um ſich dadurch die Priorität 
ſeiner Entdeckung, noch vor der eigentlichen Bekanntmachung 
derſelben, zu ſichern. 

Es war immer einer der ſtärkſten Einwürfe gegen das 
copernicaniſche Syſtem, daß dieſe Lichtgeſtalten der Venus und 
des Merkurs, die doch eine unmittelbare Folge dieſes Syſtems 
ſeyn mußten, nicht ſtatthatten, oder doch, was für uns daſſelbe 
ſeyn mußte, nicht geſehen werden konnten. Copernicus wußte ſich 
gegen dieſen Einwurf nicht anders zu ſchützen, als daß er dieſe 
beiden Planten durchſichtig annahm, ſo daß die Strahlen der 
Sonne durch ſie frei durchgehen konnten. Galilei nimmt daran 
Gelegenheit, die Feſtigkeit des ſeltenen Geiſtes zu preiſen, der ſich 
durch dieſe Schwierigkeit nicht von einem Syſtem ablenken ließ, 
das in allen anderen Beziehungen ſo gut mit den Erſcheinungen 
übereinftimmte ). Aber fo lange das Schickſal der neuen Theorie 
noch unentſchieden war, mußte doch eben dieſer Mangel als die 
eigentliche ſchwache Seite derſelben betrachtet werden. 

Auch noch in einer anderen Geſtalt war dieſer Einwurf für 
das ptolemäiſche ſowohl, als auch für das copernicaniſche Syſtem 
einigermaßen beklemmend. Warum, ſo fragte man, warum 
erſcheint Venus nicht ſechsmal größer in ihrer Erdnähe, als in 
der Erdferne? — Der Verfaſſer des dem Werke des Copernicus 
vorgeſetzten Briefes nimmt zu dieſem Argumente ſeine Zuflucht, 


1) Lib. of. Usef. Know. Life of Galilei. S. 35, 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 407 


um ſich gegen die Gefahr des Vorwurfs zu ſchützen, daß er an 
die Realität des neuen Syſtems glaube. Bruno aber ſuchte 
demſelben durch die Wendung zu begegnen, daß leuchtende 
Körper anderen Regeln der Perſpective unterliegen, als dunkle. 
Allein die wahre Antwort auf dieſe Frage erfolgte nun gleichſam 
von ſelbſt. Venus erſcheint uns nicht ſechsmal größer, wenn 
ſie ſechsmal näher bei uns iſt, weil der beleuchtete Theil 
derſelben nicht ebenfalls ſechsmal größer iſt, und da Venus über— 
haupt zu klein für unſere unbewaffneten Augen iſt, um ihre Ge— 
ſtalt, um die wahre Form ihres beleuchteten Umriſſes zu ſehen, ſo 
beurtheilen wir dieſe Geſtalt, oder die ſcheinbare Größe derſelben 
nur nach der Menge von Licht, welche uns der Planet zufchickt. 

Die übrigen großen Entdeckungen, die man durch das Fern— 
rohr am Himmel gemacht hat, die des Saturnrings und ſeiner 
Satelliten, die der Sonnenflecken u. a. gehören den wei— 
teren Fortſchritten der Aſtronomie an. Doch können wir hier 
ſchon bemerken, daß die Lehre von der Bewegung des Mer: 
kurs und der Venus um die Sonne noch eine weitere Be— 
ſtätigung durch die Beobachtung Kepler's erhielt, der i. J. 1631 
den Merkur vor der Sonnenſcheibe ſah. Der Engländer Horrox 
war der erſte, der i. J. 1639 auch einen Vorübergang der 
Venus vor der Sonne beobachtete. 

Dieſe Ereigniſſe ſind ein merkwürdiges Beiſpiel von der 
Art, auf welche die Entdeckung in einer Kunſt (denn ſo muß 
für jene Zeit die Verfertigung der Fernröhre genannt werden) 
ihren Einfluß auf den Fortgang einer Wiſſenſchaft zu nehmen 
pflegt. In der Folge werden wir noch ein auffallenderes Bei— 
ſpiel von der Art ſehen, wie ſelbſt zwei Wiſſenſchaften (die 
Aſtronomie und die Mechanik) auf einander Einfluß haben und 
ſich gegenſeitig fördern können. 


Vierter Abſchnitt. 
Einwirfe gegen das Copernicanilche Syltem. 
Wir haben oben geſehen, daß die Lehren des Copernicus 
unter den Gelehrten ſeiner Zeit keine beſondere Unruhe erweck— 


ten, und als Grund davon haben wir angegeben, daß die 
jenigen, welche in Glaubensſachen die oberſte Autorität anſprachen, 


408 Folge der Copernicaniſchen Epoche. 


von den ſich allmälig erhebenden Neuerern noch nicht beunruhigt 
und angegriffen waren, wie ſie es bald darauf in der That 
geworden ſind. Auch müſſen wohl die verſchiedenen Umſtände 
und Denkweiſen der italiäniſchen und der ultramontanen Ge— 
lehrten jener Zeit berückſichtiget werden. Jene bewegten ſich in 
den unmittelbaren Strahlen des h. Stuhls, waren alſo auch 
weniger kühn in ihren Speculationen und zurückhaltender in 
der Veröffentlichung ihrer Meinungen. Viel geringer aber war 
dieſer Einfluß in Polen und Deutſchland, und man findet keine 
Spur, die dieſen Ländern die Ehre ſtreitig machen könnte, die 
neue Lehre des Copernicus vor allen zuerſt, aus Ueberzeugung 
und ohne alle Oppoſition, aufgenommen zu haben. Die 
große Reform, die in Deutſchland um' dieſelbe Zeit der erſten 
Verbreitung des copernicaniſchen Syſtems ſtatthatte, zeigte hin— 
länglich, daß dieß das Land ſey, wo der Gedanke feine Unab— 
hängigkeit zu behaupten ſtrebt, und wo die Autorität, ſo lange 
ſie mit Klugheit gepaart bleibt, ſich keine anmaßenden For— 
derungen erlauben kann. 

In Italien aber war die Meinung vorherrſchend, daß jene 
Autorität nur dann aufrecht erhalten werden kann, wenn ſie in 
allen Dingen als die höchſte Inſtanz auftritt. Der dogmatiſche 
Geiſt des Mittelalters, den wir bereits oben geſchildert haben, 
lagerte noch auf den Inſtitutionen dieſes Landes im ſiebenzehnten 
Jahrhundert, und in Uebereinſtimmung mit dieſem Geiſte galt 
es für ein Verbrechen, althergebrachte Meinungen zu ſtören, oder 
auch die Philoſophie von der Religion zu trennen. Der Satz, daß 
die Erde in der Mitte der Welt ruhig ſtehe, war nicht bloß ein 
Theil der damals herrſchenden Schulphiloſophie, ſondern er war 
auch, ſo wurde es wenigſtens angenommen, durch die Schrift 
ſelbſt beftätigt. Aus dieſem Grunde ſah man alſo auf die neue 
Lehre nur mit Mißtrauen und ſelbſt mit Widerwillen hin. 
Obſchon aber dieſes Syſtem ſpäterhin, bei der officiellen Verur— 
theilung deſſelben, als ein „von vielen angenommenes“ bezeichnet 
wird, ſo kam es doch nicht eher auf eine auffallende Art zur 
Kenntnißnahme feiner ſogenannten Richter, bis es durch Galilei's 
Entdeckungen in ein helleres Licht geſetzt, und durch ſeine Schriften 
öffentlich angeprieſen worden war. 

Die Geſchichte von der Verurtheilung Galilei's, weil er — 
die Bewegung der Erde gelehrt habe, und ſein Widerruf dieſer 


* 
* 


* 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 409 


Lehre in der Gegenwart ſeiner Richter iſt ſchon ſo oft erzählt 
worden, daß es überflüſſig ſeyn würde, fie hier noch einmal zu 
wiederholen. Näher liegt uns die Betrachtung, welche Folgerun— 
gen wir daraus in Beziehung auf den Fortgang der Wiſſenſchaf— 
ten überhaupt ableiten ſollen. 

Vorerſt dringt ſich uns die Bemerkung auf, daß das Be— 
tragen des Galilei, ſo wie das ſeiner Richter, mehrere Züge von 
dem ächt italiäniſchen Charakter an ſich trägt. Die Annahme 
einer höchſten Autorität in allen Meinungsſachen, eine Annahme, 
die dem Menſchen und ſeiner geiſtigen Kraft ſo unangemeſſen 
iſt, ſcheint in dieſem Lande zu einer Art von künſtlicher Ueber— 
einkunft geführt zu haben, nach welcher alle öffentlich geäußerten 
Meinungen nur in Beziehung auf einen gewiſſen Anſtand beur— 
theilt werden, während die Wahrheit oder Unwahrheit derſelben 
ganz unbeachtet zur Seite liegen bleibt. Dieſem gemäß ſcheint 
Galilei erwartet zu haben, daß ſchon der lockerſte Schleier einer 
ſcheinbaren Unterwerfung gegen jene Autorität hinreichen würde, 
ſeine Schutzrede des neuen Syſtems vor jenen Richtern unbe— 
achtet vorübergehen zu laſſen, und eben ſo wären auch dieſe 
Richter im Allgemeinen wieder mit ſeiner ſcheinbaren Renunciation 
zufrieden geſtellt, obſchon fte dieſelbe nicht immer für aufrichtig hal— 
ten konnten. Dieſer künſtliche Zuſtand der Geſellſchaft war ohne 
Zweifel auch die Urſache von der heimlichen, verſtohlenen Weiſe, 
mit welcher Galilei ſeine neuen Lehren einzuſchwärzen ſuchte, eine 
Weiſe, die von einigen ſeiner Biographen als eine feine Ironie ge— 
lobt, und von anderen wieder als Gleißnerei getadelt wurde. Man 
ſieht klar, daß Galilei zu allen Zeiten ſich bereitwillig gezeigt hat, 
ſich den an ihn ergangenen Forderungen ſeines Tribunals zu 
unterwerfen, obſchon er ohne Zweifel auch zugleich innigſt 
wünſchte, die Sache der Wahrheit, oder was er dafür hielt, 
nach ſeinen beſten Kräften zu befördern. Ganz derſelbe Mangel 
alles Ernſtes erſcheint aber auch auf der anderen Seite in der 
Nachſicht und Milde, mit welcher, wie man jetzt allgemein 
zugeſteht, Galilei während dem ganzen Verlaufe feines Prozeſſes 
behandelt worden iſt. Denn feine Einkerkerung in den Gefängs 
niſſen der Inquiſition, wie ſein Loos öfter geſchildert worden 
iſt, ſcheint bloß in einigen leichten Beſchränkungen beſtanden zu 
haben, zuerſt in dem Hauſe Nicolini's, des Geſandten ſeines 
eigenen Landesherrn, des Herzogs von Toscana, und ſpäterhin 


2 


410 Folge der Copernicaniſchen Epoche. 


in dem Landſitze des Erzbiſchofs Piccolini, eines ſeiner wärmſten 
Freunde. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man annimmt, 
daß die ganz ungewöhnlichen Anſprüche ſeiner Richter, denen man 
nicht aufrichtig nachkommen konnte, und denen man daher nur 
auf kunſtvollen Wegen zu entgehen ſuchte, bei den italiäniſchen 
Gelehrten eine gereizte Schlauheit, aber auch zugleich eine gewiſſe 
biegſame Servilität erzeugt hat, die ſehr verſchieden iſt von dem 
kräftigen und unabhängigen Geiſte Deutſchlands und Englands !). 

Wie dieß auch ſeyn mag, die Verfolger Galilei's ſind noch 
immer der Mißachtung und dem Unwillen der Menſchheit bloß— 
geſtellt, obſchon Fe, wie gejagt, erſt dann gegen ihn zu handeln 
anfingen, als ihre eigene Stellung in der Geſellſchaft ſie dazu 
zwang, und obſchon ſie auch dann noch mit all' der Milde und 
Mäßigung verfuhren, die ſich mit ihren richterlichen Formen vertrug. 


Fünfter Abſchnitt. 


Beltätigung der heliocentrifchen Lehre durch phyfitche Gründe. 
Einleitung zu Kepler's aftronomifchen Entdeckungen. 


Phyſiſche Gründe werden, wie bereits geſagt, diejenigen 
genannt, die ſich auf die Urſachen der Bewegungen beziehen. 
wie z. B. auf die Geſetze des freien Falls der Körper. Die 
nähere Unterſuchung des Copernicaniſchen Syſtems führt un— 
mittelbar und ſchon ihrer Natur nach auf ſolche Gründe, aber 
die unbeſtimmten und ſelbſt unrichtigen Begriffe, die noch immer 
über das Weſen und die Geſetze der Bewegung vorherrſchten, 
hinderten noch für einige Zeit alle richtigen Urtheile über dieſen 
Gegenſtand, und erſchwerten ſonach den endlichen Sieg der 
Wahrheit über den ſo lange beſtandenen Irrthum. Vorerſt 
mußte eine ganz neue Wiſſenſchaft, die Mechanik, entſtanden 
ſeyn, um der neuen Lehre auch von dieſer Seite ihr Recht 
widerfahren zu laſſen. 

Die hierher gehörenden Unterſuchungen wurden zuerſt, wie 


1) Der Verf. verbreitet ſich hier in mehrere allgemeine und intereſ— 
ſante Betrachtungen über dieſen Gegenſtand, die wir aber, da 
ſie nicht unmittelbar zu dem Zwecke des Werkes gehören, über 
gehen. L. 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 411 


man erwarten kann, in den althergebrachten, d. h. in den ari— 
ſtoteliſchen Formen geführt. So fagte noch Copernicus, daß 
alle irdiſchen Körper eigentlich in Ruhe ſind, wenn ſie eine der 
Natur angemeſſene, d. h. eine kreisförmige Bewegung haben, 
und daß ſie entweder ſteigen oder fallen, wenn ſie, nebſt jener 
natürlichen, noch eine geradlinige Bewegung erhalten, durch welche 
letzte ſie eigentlich nur die ihnen von der Natur angewieſene Stelle 
zu erreichen ſtreben. Aber ſchon die erſten Schüler des Copernicus 
wagten es, jenes ariſtoteliſche Dogma zu bezweifeln und andere, 
beſſere Gründe, mit ihrer eigenen Vernunft, aufzuſuchen. „Der 
„wichtigfte Einwurf gegen das neue Syſtem, jagt Mäſtlin, iſt 
„der, daß nach ihm die ſchweren Körper ſich gegen den Mittel— 
„punkt des Univerſums bewegen, während die leichten Körper 
„ſich von demſelben entfernen ſollen. Allein ich möchte fragen, 
„woher haben wir denn dieſen Unterſchied zwiſchen leichten und 
„ſchweren Körpern erhalten? Iſt denn unſere Kenntniß des 
„Univerſums auch in der That ſo groß, daß wir mit Sicherheit 
„von dem Mittelpunkte deſſelben ſprechen können? Iſt denn 
„nicht die Erde und die ſie umgebende Luft der eigentliche 
„Ort und die Heimath aller Körper, der ſchweren, wie der 
„leichten? Was iſt aber dieſe Erde mit ſammt ihrer Atmoſphäre 
„gegen die Unendlichkeit des Weltalls? Ein bloßer Punkt, ein 
„Pünktchen, oder noch ein kleineres Etwas, wenn es überhaupt 
„noch ein Etwas heißen kann. So wie unſere leichten und ſchweren 
„Körper alle gegen den Mittelpunkt der Erde zu gehen ſtreben, 
„eben fo haben höchſt wahrſcheinlich auch die Sonne und der 
„Mond und andere Himmelskörper ähnliche Beſtrebungen, durch 
„welche fie die kugelförmige Geſtalt erhalten, die wir an ihnen 
„sehen. Aber deßhalb iſt es noch nicht nothwendig, daß der 
„Mittelpunkt irgend eines dieſer Körper auch zugleich der Mit: 
„telpunkt des Univerſums ſeyn müßte.“ 

Die auffallendſte und wichtigſte Schwierigkeit, die ſich der 
Bewegung der Erde entgegen ſtellte, wurde auf folgende Weiſe 
vorgebracht. — Wenn die Erde ſich bewegt, wie kömmt es, daß 
ein Stein, der von der Spitze eines hohen Thurms herabgelaſſen 
wird, an dem Fuße dieſes Thurms zur Erde fällt? Wenn 
ſich, während dem Fall des Steins, der Thurm zuſammt der 
ganzen Erde von Weſt gen Oſt bewegt, ſo müßte ja der Stein 
auf der Weſtſeite des Thurmes zurückbleiben. — Die eigent— 


412 Folge der Copernicaniſchen Epoche. 


liche Antwort auf dieſe Frage war, daß die Bewegung des 
Steins in dem Augenblicke, wo er die Spitze des Thurms ver— 
läßt, eine doppelte iſt; die erſte derſelben iſt, wegen der Anziehung 
der Erde, abwärts gerichtet, und die zweite hat er gemeinſchaftlich 
mit der Thurmſpitze und zwar ſchon vor feinem Falle. Allein 
dieſe Antwort konnte nicht wohl gegeben oder auch nur verſtanden 
werden, bis Galilei und ſeine Schüler die Lehre von der Com— 
poſition der Kräfte und der Geſchwindigkeiten gehörig ausein— 
ander geſetzt hatten. Rothmann, Kepler und andere Anhänger 
der neuen Lehre gaben ihre Vertheidigung gegen dieſen Einwurf 
gleichſam auf gut Glück oder nur verſuchsweiſe, indem ſie ſagten, 
daß die Erde ihre eigene Bewegung den Körpern auf ihrer 
Oberflache mittheile. Demungeachtet waren die Thatſachen, die 
ſich auf dieſe Wahrheit bezogen, Jederman klar und offenbar, 
und die jungen Copernicaner fanden bald, daß ſie auch hier, 
wie in allen andern Dingen, die Vernunft auf ihrer Seite 
hatten. Die Angriffe des neuen Syſtems von Durret, Morin 
und Riccioli, ſo wie die Vertheidigungen deſſelben durch Galilei, 
Lansberg und Gaſſendi konnten bei jedem verſtändigen und un— 
partheiiſchen Leſer nur einen für die neue Lehre günſtigen Ein— 
druck zurücklaſſen. Morin wollte die Erde in ihrem Fluge auf— 
halten oder, wie er ſagte, die Flügel derſelben brechen. Seine 
Alae terrae fractae erſchienen im Jahr 1643 und wurden von 
Gaſſendi widerlegt. Riccioli aber zählte in feinem Almagestum 
novum (1653) fieben und fünfzig Argumente der Copernicaner 
für ihr Syſtem auf, die er alle ſiegreich zu widerlegen ſich vermeſſen 
wollte. Aber ſolche Widerlegungen, wie er fie vorbrachte, konn— 
ten Niemand bekehren. Auch wurden zu ſeiner Zeit die mechani— 
ſchen Einwürfe gegen die Bewegung der Erde als ganz grundlos 
betrachtet, wie wir fpäter ſehen werden, wenn wir zu der Erzäh— 
lung der Fortſchritte der Mechanik, als einer eigentlichen Wiſ— 
ſenſchaft, gelangen werden. In der Zwiſchenzeit aber gewann 
die Einfachheit und Schönheit der neuen Theorie ſtets an 
Freunden und Bewunderern, ſelbſt unter denen, die aus einer 
oder der andern Urſache ihren öffentlichen Beifall noch zurück— 
halten wollten. So mußte ſelbſt Riccioli, der letzte nahmhafte 
Gegner dieſes Syſtems, den Vorzug deſſelben, in dieſer Be— 
ziehung, bekennen, und noch im Jahr 1653 geſtand er öffentlich 
in ſeinem Werke, daß der copernicaniſche Glaube unter den 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 413 


gegen ihn erlaſſenen Decreten mehr zu- als abgenommen 
habe, ſo daß er auf dieſe Erſcheinung die Verſe des Horaz an— 
wendet !): 2 

Per damna, per caedes, ab ipso 

Sumit opes animumque ferro. 


„Unter Gefahr und Niederlage, ja von dem Schwerte 
„ſelbſt nimmt er neue Kraft und Muth.“ 


Wir haben oben von dem Einfluß der Bewegung der Erde 
auf die Bewegung der Körper an ihrer Oberfläche geſprochen. 
Allein die Idee von einem ähnlichen phyſiſchen Zuſammenhange 
der einzelnen Theile des Univerſums erfaßte Kepler 2) von 


1) Riccioli. Almag. novum. S. 102. 

2) Johann Kepler, geb. d. 27. Dezember 1571 zu Magſtadt, einem 
Dorfe nahe bei Weil in Würtemberg, wo ſein Vater ein Gaſtwirth 
war. Seine erſte Erziehung wurde ſehr vernachläßigt. Nach ſei— 
nes Vaters Tod bezog er die Kloſterſchule zu Maulbronn, und 
ſpäter die Univerſität zu Tübingen. Die Armuth war hier, wie 
in ſeinem ganzen Leben, ſeine ſtete Begleiterin. Im Jahre 1593 
wurde er Profeſſor der Mathematik zu Grätz, und hier fing er 
auch an, ſich mit Aſtronomie zu beſchäftigen. Im Jahre 1596 
erſchien ſein erſtes größeres Werk „Prodromus dissertationum cos— 
mographicarum, continens mysterium cosmographicum,“ und dieſe 
Schrift trägt ſchon ganz das Gepräge feines Geiſtes, der ſich fpäter 
ſo eigenthümlich entwickelte. Er nimmt hier das Copernicaniſche 
Syſtem in feinen Schutz, wobei er viel Scharfſinn, aber noch mehr 
Phantaſie vorherrſchen ließ. Drei Jahre ſpäter kam er nach Prag, 
um ſich daſelbſt mit Tycho, mit dem er ſchon früher in Briefwech— 
ſel geſtanden hatte, zu aſtronomiſchen Zwecken zu vereinigen. 
Durch Tychos Protection erhielt er hier die Stelle eines kaiſerli— 
chen Mathematikers, allein da ihm in den dem dreißigjährigen 
Kriege vorausgehenden Bedrängniſſen ſeine Beſoldung nicht aus— 
gezahlt wurde, ging er, nach einem eilfjährigen dürftigen Aufent— 
halte in Prag, i. J. 1610 nach Linz als Profeſſor der Mathematik, 
wo er neue fünfzehn Jahre in nicht weniger drückenden Verhält— 
niſſen zubrachte. Im Jahr 1625 trat er in die Dienſte eines Pri— 
vatmanns zu Ulm, wo er ſich mit Zeichnungen von Landkarten 
u. dgl. beſchäftigte, und weil ihm auch hier die eingegangenen Be— 
dingniſſe nicht erfüllt wurden, ſo ging er 1628 in Wallenſtein's 
Dienſte, der ihm eine Profeſſorsſtelle an der Univerſität zu Roſtock, 
über die er das Patronatrecht hatte, verlieh. Da ihm aber auch 


414 Folge der Copernicaniſchen Epoche. 


einem viel höheren Geſichtspunkte aus, von einem Geſichts— 
punkte, den man ohne Zweifel für höchſt phantaſtiſch gehalten 
haben würde, wenn das Reſultat deſſelben nicht zugleich auf die 
ſchönſte und erhabenſte Kette von Wahrheiten geführt hätte, das 
wir in dem ganzen großen Gebiete der menſchlichen Erkenntniß 
aufzufinden vermögen. Ich ſpreche aber hier von der Exiſtenz 
der numeriſchen und geometriſchen Geſetze, durch welche die Di— 
ſtanzen, die Umlaufszeiten und die Kräfte der Planeteu in ihren 
Bewegungen um die Sonne beherrſcht werden. — Die innige und 
unerſchütterliche Ueberzeugung von der Exiſtenz eines ſolchen ober— 
ſten Princips, deſſen Entdeckung und weitere Entwicklung Kepler 


hier ſeine Beſoldung nicht ausgezahlt wurde, reiste er zu dem 
Reichstag nach Regensburg, um hier die Auszahlung ſeiner immer 
noch rückſtändigen Penſion zu erbetteln. Bald nach ſeiner Ankunft 
in Regensburg verfiel er, in Folge der Anſtrengungen ſeiner Reiſe 
und des ihn überall begleitenden Kummers, in eine Krankheit 
und ſtarb am 15. November 1631 in feinem ſechzigſten Lebensjahre. 
— Der Fürst Primas von Dalberg ließ ihm i. J. 1808 in Regens— 
burg ein Monument von Backſteinen durch Subſcription ſetzen. 
Aber fein wahres Denkmal iſt mit Flammenſchrift an dem geſtirn⸗ 
ten Himmel eingetragen, wo es ſeine dankbaren Landsleute, wenn 
ſie dieſe Schrift verſtehen, leſen können, und wo ſie andere auch 
dann noch leſen werden, wenn von ihnen ſelbſt wahrſcheinlich 
längſt ſchon keine Rede ſeyn wird. 

Kepler's vorzüglichſte Schriften ſind, nebſt den bereits oben 
angezeigten: Paralipomena ad Vitellionem, quibus astronomiae 
pars optica traditur. Frankf. a. M. 1604. — Astronomia nova 
aıTtıoAoynrtog seu Physica coelestis tradita commentariis de motibus 
stellae Martis. Prag. 1609. — Dioptrica. Augsburg 1611. — Eclogae 
Chronicae. Frankfurt 1615. — Stereometria doliorum vinariorum. 
Linz 1615. — Epitome astronomiae Copernicanae, 2 Vol. Linz 1618. 
— Harmonice mundi. Linz 1619. — De Cometis. Augsburg 1619. 
— Chilias Logarithmorum. Marburg 1624. — Tabulae Rudolphinae, 
quibus astronomiae restauratio continetur. Ulm 1627. — Somnium 
astronomicum, opus posthumum de astronomia lunari. Frankf. 1634. 
— Kepleri aliorumque epistolae mutuae, heransgean. von Hauſch. 
Leipzig 1718. — Die noch übrigen hinterlaſſenen, ſehr zahlreichen 
Handſchriften Kepler's hat die K. Academie der Wiſſenſchaften 
zu Petersburg angekauft. Seine Lebensbeſchreibung iſt den letzt— 
erwähnten epistolis mutuis von Hauſch vorgedruckt. Vergl. Kep— 
lers' Leben und Wirken, von Breitſchwert. Stuttg. 1831. L. 


Aufnahme und Verbreitung der neuen Theorie. 415 


ein ganzes höchſt thätiges und ſorgenvolles Leben weihte, kann 
nur als die Folge ſeines tiefen Scharfſinns betrachtet werden. 
Es iſt nicht zu zweifeln, daß dieſe Ueberzeugung in ſeinem 
Geiſte zugleich mit einer, wenn gleich nur dunklen Ahnung von 
einer Centralkraft verbunden war, welche die Sonne auf alle 
Planeten ausübt. In ſeinem erſten, auf dieſes erhabene Ziel 
gerichteten Verſuche, in feinem „Mysterium Cosmographieum« 
ſagt er: „die Bewegung der Erde, die Copernicus aus mathema— 
„tiſchen Gründen bewieſen hat, möchte ich durch phyſiſche, oder 
„wenn ihr lieber wollt, durch metaphyſiſche Gründe beweiſen.“ 
In dem zwanzigſten Capitel deſſelben Werkes bemüht er ſich, 
einige Verhältniſſe zwiſchen den Entfernungen der Planeten von 
der Sonne und zwiſchen ihren Geſchwindigkeiten zu finden. Daß 
aber die alten unbeſtimmten Begriffe von Kräften auch in dieſem 
Verſuche noch immer vorherrſchten, kann man aus der folgenden 
Stelle entnehmen: „Wir müſſen demnach eines von beiden vor— 
„ausſetzen, entweder daß die bewegenden Geiſter, wie fie ſich wei— 
„ter von der Sonne entfernen, ſchwächer werden, oder daß es 
„einen ſolchen großen, beſonderen Geiſt der Bewegung in dem 
„Mittelpunkte aller dieſer Bahnen, nämlich in der Sonne gebe, 
„der jeden Planeten in eine um jo ſchnellere Bewegung verſetzt, je 
„näher ihm dieſer Planet iſt, deſſen Kraft und Einfluß aber mit 
„der Entfernung von der Sonne immer mehr abnimmt und ers 
„mattet.“ Bei der Lectüre ſolcher Stellen darf man nicht ver— 
geſſen, daß ſie unter der Annahme geſchrieben wurden, daß eine 
eigene Kraft nöthig ſey, die Bewegung eines Körpers zu ändern 
ſowohl, als auch dieſelbe in ihrem gegenwärtigen Zuſtande zu er— 
halten, und daß daher ein in einem Kreiſe ſich bewegender Körper 
ſtill ſtehen würde, ſobald die Kraft des Centralpunkts aufhört, ſtatt 
daß er ſich, wie wir jetzt wiſſen, in der Tangente des Kreiſes, 
nach dem Geſetze der Trägheit, immer weiter fort bewegen wird. 
Die Kraft, die Kepler hier vorausſetzt, iſt eine Tangentialkraft, 
die in der Richtung der Bewegung des Planeten liegt und nahe 
ſenkrecht auf den Halbmeſſer ſeiner Bahn ſteht; während im 
Gegentheile die Kraft, welche ihm von der neueren Mechanik ange- 
wieſen wird, in der Richtung dieſes Halbmeſſers liegt und daher 
nahe ſenkrecht auf der Bahn des Körpers ſteht. Kepler's hohe 
Ahnung war nur richtig in Beziehung auf die Connexion zwiſchen 
der eigentlichen Urſache der Bewegung und der Entfernung des 


416 Folge der Copernicaniſchen Epoche. 


bewegten Körpers von dem Sitze jener bewegenden Urſache, und 
nicht nur war ſeine Erkenntniß in allen Theilen des großen Ge— 
genſtandes unvollkommen, ſondern ſelbſt ſeine allgemeine Concep— 
tion von der Wirkungsart einer ſolchen bewegenden Urſache muß 
noch als irrig betrachtet werden. 

Mit ſolchen allgemeinen Ueberzeugungen aber, und mit ſo un— 
vollkommenen phyſiſchen Kenntniſſen ging der Geiſt des großen Kep— 
ler muthig auf die Entdeckung der numeriſchen und geometriſchen 
Verhältniſſe der einzelnen Parthien des Sonnenſyſtems aus. Er 
verwendete darauf ungewöhnliche Anſtrengung, Geduld und Scharf— 
ſinn. Seine Bemühungen wurden auch endlich gekrönt, und er 
hat die Geſetze, die er ſo lange ſuchte, glücklich entdeckt; aber 
den Zuſammenhang dieſer Geſetze, den phyſiſchen Urſprung der— 
ſelben in einem andern, noch höheren Geſetze zu entdecken, dieſes 
Verdienſt, dieſer Ruhm war ſeinem großen Nachfolger, war 
Newton vorbehalten. 


Viertes Capitel. 
Inductive Epoche Kepler's. 


Erſter Abſchnitt. 
Intellectueller Charakter Keppler's. 


Verſchiedene Schriftſteller ) beſonders der neueren Zeiten, 
die uns eine Ueberſicht der Entdeckungen Kepler's gegeben haben, 


1) Laplace, in feinem Precis de l’Hist. de l’Astr. ſagt: „Es iſt betrü⸗ 
„bend für den menſchlichen Geiſt, zu ſehen, wie ſelbſt dieſer große 
„Mann, in feinen letzten Werken ſich in feinen phantaftifchen Spe— 
„culationen gefällt, und fie gleichſam als das Leben, als die 
„Seele der Aſtronomie betrachtet.“ 

In der Lib. of usef. knowl. Geſch. der Aſtr. S. 53 heißt es: „Kep⸗ 
„ler's glücklicher Erfolg wird wohl alle diejenigen mit Beſorgniß ers 
„füllen, die gewohnt ſind, Beobachtungen und ſtrenge Inductionen 
„als das einzige Mittel zu betrachten, die Geheimniſſe der Natur 
„zu erforſchen.“ — Und eben daſelbſt, in Kepler's Leben, S. 14: 


Inductive Epoche Kepler's. 417 


waren überraſcht und gleichſam unzufrieden damit, daß ſeine 
ſcheinbar fo willkührlichen und phantaſtiſchen Conjecturen zu fo 
großen und wichtigen Entdeckungen geführt haben. Sie wurden 
durch die Lehre ganz in Schrecken geſetzt, die ihre Leſer aus 
der Erzählung des abentheuerlichen Zuges nach dem goldenen 
Fließe der Erkenntniß ziehen möchten, in welcher der grillenhafte, 
eigenwillige Held alle herkömmlichen Geſetze des Denkens, wie 
ſie glauben, verletzt, und doch am Ende den glänzendſten Triumph 
gefeiert habe. — Vielleicht läßt ſich aber dieſes Paradoxon durch 
einige einfache Bemerkungen erklären. 

Zuerſt dürfen wir ſagen, daß die Hauptidee, die Keplern in 
allen ſeinen Verſuchen leitete, nicht nur völlig wahr, ſondern daß 
ſie auch zugleich eine ſehr philoſophiſche und ſcharfſinnige Idee 
geweſen iſt, daß nämlich irgend ein algebraiſches oder geometri— 
ſches Verhältniß zwiſchen den Diſtanzen der Planeten, und zwiſchen 
ihren Umlaufzeiten oder Geſchwindigkeiten exiſtiren müſſe. Die 
feſte und unerſchütterliche Ueberzeugung von dem Daſeyn einer 
ſolchen Wahrheit regelte alle ſeine Verſuche, ſo ſonderbar und 
phantaſtiſch ſie auch ſcheinen mochten. 

Dann läßt ſich aber auch wohl behaupten, daß große Ent— 
deckungen gewöhnlich nicht ohne Wagniß des kühnen Entdeckers 
aufzutreten pflegen. Das Auffinden neuer Wahrheiten ſetzt ohne 
Zweifel Sorgfalt in der Ueberlegung und genaue Prüfung des 
Gegenſtandes, aber eben ſo gut auch eine ſchnelle Auffaſſung und 
eine lebendige Befruchtung deſſelben voraus. Die Erfindungs— 
kraft beſteht in dem Talente, alle Fälle, die eintreten können, 
ſchnell zu überſehen, und aus ihnen die geeigneten auszuwählen. 
Wenn die ungeeigneten einmal als ſolche erkannt und verworfen 
ſind, ſo werden ſie auch gewöhnlich bald ganz vergeſſen, und nur 
wenige jener Entdecker haben es für gut gefunden, uns auch ihre 
verunglückten Hypotheſen und ihre mißlungenen Verſuche mit— 
zutheilen, wie Kepler es gethan hat. Wer immer eine Wahrheit 
fand, mußte gewöhnlich manchen Irrweg zurücklegen, um zu ihr 


„Kepler's wunderbares Glück, aus den wildeſten und ganz abſur— 
„ven Einfällen die Wahrheit herauszufinden;“ und wieder ©. 54, 
wo von der Gefahr geſprochen wird: „in dem Aufſuchen der 
„Wahrheit dem Beiſpiele Kepler's zu folgen.“ 

Whewell. I. 27 


418 Inductive Epoche Kepler's. 


zu gelangen, und jeder jetzt als wahr erkannte Satz mußte zuerſt 
aus mehreren andern unwahren hervorgeſucht und ausgewählt 
werden. Wenn Kepler ſo viele Verſuche unternahm, die bei einer 
genaueren Prüfung zum Irrthume führten, ſo handelte er darin 
nicht unphiloſophiſcher, als wohl Andere auch gethan haben. Der 
Geiſt des Entdeckers geht nicht fo vorſichtig auf dem gebahnten 
Wege einher, der am kürzeſten zum Ziele führt. Irrwege und ſelbſt 
ganz ſalſche Verſuche ſind hier oft unvermeidlich. Aber darauf 
kommt es an, die Falſchheit derſelben ſchnell zu entdecken, und 
den Irrweg nicht länger zu verfolgen, ſondern ſich ſogleich wieder 
der Wahrheit zuzuwenden. Kepler iſt auch dadurch ein ſo merk— 
würdiger Mann geworden, daß er uns erzählt, wie er ſeine 
Irrthümer ſelbſt zu widerlegen ſuchte, und daß er uns dieß eben 
ſo umſtändlich als offenherzig erzählt. Dadurch ſind ſeine Schrif— 
ten in hohem Grade lehrreich und interreſſant geworden, indem 
ſie uns ein treues Gemälde von dem Verfahren geben, das der 
menſchliche Geiſt bei ſeinen Entdeckungen zu befolgen pflegt. 
Sie zeigen, wir wagen es zu ſagen, den gewöhnlichen (ob— 
ſchon etwas carrifirten) Weg des inventiven Talents; fie zeigen 
uns die Regel, und keineswegs, wie manche bisher geglaubt 
haben, die Ausnahme von dem Verfahren, welches das Genie 
bei ſeinen Unternehmungen zu verfolgen pflegt. Setzen wir noch 
hinzu, daß wohl manche von Kepler's Einfällen uns phantaſtiſch 
und ſelbſt abſurd erſcheinen, jetzt wo Zeit und Nachdenken ſie 
längſt widergelegt haben, daß aber auch andere, die in ſeinen 
Tagen ganz eben ſo willkührlich und grundlos waren, in der 
Folgezeit auf eine Weiſe beſtätigt worden ſind, daß ſie nun uns 
höchſt ſcharfſinnig und bewunderungswürdig erſcheinen, wie z. B. 
ſeine Behauptung von der Rotation der Sonne um ihre Axe, 
die er noch vor der Erfindung des Fernrohres gemacht hat, oder 
ſeine Anſicht von der Abnahme der Schiefe der Ekliptik, die ihm 
zufolge noch lange dauern, aber dann inne halten und endlich 
wieder in eine Zunahme übergehen wird 2). Wie richtig, wie 
poetiſch ſchön iſt ſein Gemälde von der Art, wie er die Wahrheit 
ſuchte, die ſich bald vor ihm zurückzog, bald wieder zur Nachfolge 
reizte, und wie glücklich ſpielt er dabei auf die liebliche Stelle in 
Virgil's Eklogen an: 


2) M. ſ. Bailly, Hist. d' Astr. Moderne. III. 175. 


Inductive Epoche Kepler's. 419 


Malo me Galatea petit, lasciva puella, 
Et fugit ad salices et se cupit ante videri. 


Als eine andere Eigenthümlichkeit des ſeltenen Mannes mag 
die Umſtändlichkeit und Mühſeligkeit des Verfahrens betrachtet 
werden, durch welches er ſich ſelbſt von den Irrthümern ſeiner 
erſten Einfälle zurückzubringen ſuchte. Eines der nothwendigſten 
Talente eines erfindungsreichen Geiſtes iſt die leichte Geſchicklich— 
keit, diejenigen Mittel ſchnell zu ergreifen, die ihn von den einge— 
ſchlagenen falſchen Wegen wieder auf den wahren führen. — Dieſes 
Talent ſcheint Kepler nicht beſeſſen zu haben. Er war nicht ein— 
mal ein guter, ſicherer Rechner, da er oft Rechnungsfehler machte, 
von denen er mehrere ſelbſt entdeckte, wo er denn die darauf 
verwendete Zeit betrauerte, von denen ihm aber auch mehrere 
andere bis an ſein Ende verborgen blieben. Aber dieſer Mangel 
wurde bei ihm reichlich erſetzt durch Muth und durch Ausdauer, 
die er in allen ſeinen Unternehmungen zeigte. Nie erlaubte 
er ſich, durch vergebliche Arbeiten, ſo lang und mühſam dieſe 
auch waren, zu irgend einer Abneigung von dem Gegenſtand, zu 
Veranlaſſung ſeiner erſten Idee verführt zu werden, ſo lange 
nur dieſe ſelbſt noch einige Wahrſcheinlichkeit für ſich hatte, und 
der einzige Lohn, den er gleichſam ſich ſelbſt für alle ſeine Müh— 
ſale gönnte, war der, daß er dieſelben in ſeiner lebendigen, oft 
ſelbſt ſcherzhaften Weiſe, ſeinen Lehrern auf das Umſtändlichſte 
vorerzählte. 

Der myſtiſche Theil ſeiner Anſichten von der Natur ſcheint 
auf ſeine Entdeckungen keinen nachtheiligen Einfluß gehabt, ſon— 
dern vielmehr ſeine Erfindungskraft und ſeine ganze geiſtige 
Thätigkeit nur noch mehr aufgereizt zu haben. Hieher gehört ſein 
Glaube an die Aſtrologie, von dem er ſich doch immer nicht ganz 
losmachen konnte; ſeine Meinung, daß die Erde ein lebendes 
Thier ſey, und endlich ſeine Ahnung von geiſtigen Weſen, durch 
die er die Planeten um die Sonne führen und das ganze Welt— 
all leiten läßt. In der That ſieht man oft, daß, wenn nur 
überhaupt klare Begriffe über einen beſtimmten Gegenſtand in 
dem menſchlichen Geiſte vorherrſchen, myſtiſche Anſichten über 
andere Gegenſtände dem glücklichen Auffinden der Wahrheit 
nicht eben hinderlich ſcheinen. 

Wir erblicken daher in dem Bilde Kepler's die allgemeinen 
Charakterzüge des erfindungsreichen Geiſtes, obſchon allerdings 


27 


420 Inductive Epoche Kepler's. 


einige von dieſen Zügen zu ſehr ausgeprägt, und andere wieder 
nur ſchwach angedeutet zu ſeyn ſcheinen. Seine Entdeckungs— 
kraft war ohne Zweifel ſehr thätig und fruchtbar, und dadurch, 
ſo wie durch die Unermüdlichkeit ſeiner Ausdauer in der Verfol— 
gung ſeines Zweckes, kam er dem Mangel an mathematiſcher 
Kenntniß und Methode zu Hülfe. Was ihn aber vor allen andern 
weſentlich unterſcheidet, das iſt das erwähnte Verweilen bei ſeinen 
eigenen Fehlern, ſeine ganz vorzügliche Luſt an der Beſchreibung 
aller der Irrwege, die er auf ſeiner Bahn zur Wahrheit, durch— 
wandert iſt; Beſchreibungen, die ſeinem Charakter Ehre machen, 
die für uns ſehr lehrreich ſind, und die von den meiſten 
andern verheimlicht oder auch ganz vergeſſen werden, weil ſie 
gewöhnlich Mittel geſucht und gefunden haben, dieſe ihre ſchwa— 
chen Seiten mit einem dichten Schleier zu bedecken. Er ſelbſt 
drückt ſich darüber im Anfange ſeines Werkes mit folgenden 
Worten aus: „Wenn Columbus, wenn Magellan, wenn die 
„Portugieſen wegen der Erzählung ihrer Irrwege von uns nicht 
„nur entſchuldigt, ſondern ſelbſt gelobt werden, und wenn wir, 
„durch die Unterdrückung dieſer Erzählungen viel Vergnügen ver— 
„toren hätten, fo wolle man auch mich nicht tadeln, wenn ich 
„daſſelbe thue.“ Kepler's Talente waren ein guter, fruchtbarer 
Boden, den er mit unſäglicher Mühe und Anſtrengung, und zu— 
gleich unter großem Mangel an allen Kenntuiſſen und Hülfs— 
mitteln des Landbaues bearbeitete; Weizen und Unkraut wucherte 
gleich gut auf allen Seiten dieſes Feldes, und die Ernte, die er 
auf demſelben erhielt, hatte das Eigenthümliche, daß dabei beide 
Gattungen von Pflanzen mit gleichem Fleiße und mit derſelben 
Sorgfalt in die Scheuer gebracht wurden. 


Zweiter Abſchnitt. 


Kepler's Entdeckung des dritten Gelettzes. 


Indem wir nun von den aſtronomiſchen Speculationen und 
Entdeckungen Kepler's einen kurzen Bericht geben wollen, bemer— 
ken wir zuvörderſt, daß ſein erſter Verſuch, ein Verhältniß zwiſchen 
den verſchiedenen Entdeckungen der Planeten von der Sonne zu 
finden, ein Fehlgriff war. Dieſer Verſuch war ohne allen feſten 
Grund angeſtellt, obſchon er die Reſultate deſſelben mit einer Art 


Inductive Epoche Kepler's. 421 


von Triumph in feinem Werke „Mysterium Cosmographicum“ vor: 
trug, das in dem Jahre 1596 erſchien. Die Nachricht, die er uns 
von dem Gang ſeiner Gedanken über dieſen Gegenſtand mittheilt, 
nämlich die verſchiedenen Hypotheſen, die er zu dieſem Zwecke 
aufgebaut und wieder zerſtört hat, ſind allerdings aus den bereits 
oben angeführten Gründen für uns ſehr intereſſant und beleh— 
rend. Demungeachtet wollen wir hier nicht länger bei ihnen 
verweilen, da ſie doch nur zu einer nun längſt und allgemein 
verworfenen Meinung geführt haben. Dieſe neue Lehre aber, welche 
die wahren Verhältniſſe der Planetenbahnen enthalten ſollte, wurde 
mit den folgenden Worten aufgeſtellt ): „Die Erdbahn iſt ein 
„Kreis. Wenn man um die Kugel, zu der dieſer größte Kreis 
„gehört, ein Dodecaeder beſchreibt, fo gibt die dieſem letzten Kür: 
„per eingeſchriebene Kugel die Marsbahn. Beſchreibt man dann 
„um dieſe Bahn ein Tetraeder, ſo ſtellt der demſelben eingeſchrie— 
„bene Kreis die Jupitersbahn vor. Beſchreibt man aber um die 
„Jupitersbahn einen Kubus, fo wird der demſelben eingeſchloſſene 
„Kreis die Saturnusbahn ſeyn. — Eben fo: beſchreibt man 
„in jener erſten Kugel der Erdbahn ein Ikoſaeder, fo wird der 
„dieſem letzten Körper eingeſchriebene Kreis die Bahn der Venus 
„vorſtellen, und beſchreibt man endlich in der Venusbahn ein 
„Detaeder, fo wird der dieſem Körper eingeſchriebene Kreis die 
„Merkursbahn bezeichnen.“ — Die fünf hier erwähnten polyedri— 
ſchen Körper ſind bekanntlich die einzigen regulären Körper 
dieſer Art. 

Obſchon aber dieſer Theil des Mysterium Cosmographicum, 
wie geſagt, ein Fehlgriff war, ſo hörten demungeachtet ähnliche 
Betrachtungen nicht auf, den Geiſt deſſelben Mannes zu beſchäf— 
tigen, und zweiundzwanzig Jahre ſpäter leiteten ſie ihn endlich 
zu der einen von jenen drei merkwürdigen Entdeckungen, die nun 
unter der Benennung der „Kepler'ſchen Geſetze“ bekannt find. 
Er gelangte aber zu dieſer Entdeckung, indem er die mittleren 
Diſtanzen der Planeten von der Sonne mit den Umlaufszeiten 
derſelben verglich. Er drückt dieſes Geſetz in der Sprache der 
Algebra mit den Worten aus, „daß die Quadrate der Um— 
»laufszeiten den Würfeln der mittleren Diſtanzen proportionirt 


1) Lib. usef. knowl. Kepler. 6. 


422 Inductive Epoche Kepler's. 


ſind.“ Dieſes Geſetz war für Newton, zur Auffindung der an— 
ziehenden Kraft der Sonne, von der größten Wichtigkeit. 

Man kann dieſe Entdeckung Kepler's als die Folge ſeines 
früheren, ſo eben angeführten Gedankenganges betrachten. Er 
ſagt im Eingange ſeines Myſteriums: „Im Jahre 1595 brütete 
„ich mit der ganzen Kraft meines Geiſtes über der Einrichtung 
„des Copernicaniſchen Syſtems. Darin ſuchte ich unabläſſig vor: 
„züglich von drei Dingen die Urſachen, warum fie eben fo und 
„nicht anders ſich verhalten; nämlich von der Anzahl, von der 
„Größe und von der Bewegung der Planetenbahnen.“ — Wir 
haben geſehen, wie er es anfing, um den beiden erſten Fragen 
zu genügen. Er hatte auch hier mehrere Verſuche gemacht, die 
Geſchwindigkeiten der Planeten mit ihren Diſtanzen in Verbin— 
dung zu bringen, aber er war hierin mit dem Erfolge ſeiner Be— 
mühungen ſelbſt nicht ſehr zufrieden. In dem fünften Buche ſeiner 
„Harmonice mundi“ aber, die i. J. 1619 erſchien, ſagt er: „Was 
„ich vor zweiundzwanzig Jahren, als ich die fünf regulären Kür: 
„per zwiſchen den Planetenbahnen fand, verſprochen hatte; was ich 
„ihon glaubte, ehe ich die Harmonie des Ptolemäus geſehen 
„hatte, was ich meinen Freunden ſchon in dem Titel des Buches 
„(über die vollkommene Harmonie der himmliſchen Bewegungen) 
»verſprach, das ich ihnen nannte, noch ehe ich meiner Entdeckung 
„ſelbſt ſicher war; was ich noch ſeche zehn Jahre ſpäter als eine 
„immer noch zu machende Erfindung anſah; das, weßwegen ich nach 
„Prag ging und mich mit Tycho Brahe verband; und das endlich, 
„dem ich den größten und beften Theil meines Lebens geopfert habe 
„— das habe ich endlich gefunden und an's Licht gebracht, und 
„die Wahrheit deſſelben auf eine Weiſe erkannt, die ſelbſt meine 
„glühenditen Wünſche noch überſteigt.“ 

Das Geſetz ſelbſt wird in dem dritten Capitel des fünften 
Buches mit den Worten aufgeſtellt: „Es iſt völlig gewiß und 
„iehr genau, daß das Verhältniß von den periodiſchen Umlaufs— 
„zeiten je zweier Planeten das ſesquiplicate von dem Verhältniß 
„der mittleren Diſtanzen, d. h., von den Halbmeſſern der Bahnen 
„»iſt. Die Umlaufszeit der Erde z. B. beträgt ein Jahr, 
„und die des Saturns dreißig Jahre. Wenn man aber die 
„Kubikwurzel von der Zahl dreißig nimmt, und dieſe Zahl 
„aufs Quadrat erhebt, ſo findet man genau das Verhältniß der 
„mittleren Diſtanz der Erde und des Saturnus von der Sonne. 


Inductive Epoche Kepler's. 423 


„Denn das Quadrat der Kubifwurzel von Eins iſt 1; die Kubik— 
„wurzel von 30 aber iſt etwas größer als 3, und daher das 
„Quadrat dieſer Wurzel auch etwas größer als 9. Saturn's 
„mittlere Diſtanz von der Sonne aber iſt ebenfalls nur etwas 
„größer, als neunmal die Diſtanz der Erde von der Sonne.“ — 
Wenn wir nun zurückſehen auf die lange Zeit und auf die 
große Mühe, die Kepler zur Auffindung dieſes Geſetzes verwen— 
det hat, ſo ſcheint es uns, als müßte er blind geweſen ſeyn, daß 
er daſſelbe nicht ſchon viel früher geſehen hat. Sein Zweck war, 
ſo müſſen wir vorausſetzen, irgend einen Zuſammenhang zwiſchen 
den Diſtanzen und den Umlaufszeiten der Planeten zu finden. 
Welche Art des Zuſammenhangs aber, kann man ſagen, iſt ein— 
facher und natürlicher als die, daß die eine dieſer Größen wie 
irgend eine Potenz der andern Größe ſich verhalten ſoll? Das 
Problem einmal ſo geſtellt, war alſo die Frage, welcher Potenz 
der Umlaufszeiten ſind die Diſtanzen der Planeten proportionirt? 
Und darauf konnte die Antwort nun nicht ſchwer ſeyn, daß die 
Diſtanzen der Potenz / (oder daß fie der Kubikwurzel aus den 
Quadraten) der Umlaufszeiten proportionirt ſind. — Allein dieſe 
erſt hintendrein bemerkte. Leichtigkeit der Entdeckungen iſt eine 
Täuſchung, der wir in Beziehung auf gar manche der wichtigſten 
Dinge ausgeſetzt ſind. In Rückſicht auf den gegenwärtigen 
Fall muß man zuerſt bemerken, daß die Verbindung mehrerer 
Größen, durch Hülfe ihrer verſchiedenen Potenzen, nur von 
denen ausgehen kann, die mit den algebraiſchen Formeln innig 
bekannt ſind, und daß zu Kepler's Zeit die Algebra noch nicht 
in die Geometrie eingeführt war, wo ſie jetzt als eines der vor— 
züglichſten Hülfsmittel bei allen mathematiſchen Unterſuchungen 
erſcheint. Auch kann man hinzuſetzen, daß Kepler feine for: 
mellen Geſetze immer nur auf dem Wege des phyſiſchen 
Raiſonnements zu ſuchen pflegte, und dieſes letzte, auch wenn es 
nur unbeſtimmt und ſelbſt fehlerhaft war, beſtimmte doch allein 
die Natur des mathematiſchen Zuſammenhangs, die er einmal 
angenommen hatte. So wurde er in feinem „Mysterium“ durch 
ſeine Ideen von dem bewegenden Geiſt der Sonne unter anderen 
auf die Muthmaßung geführt, daß bei den Planeten der Zuwachs 
der Umlaufszeiten das Doppelte von der Differenz der Diſtan— 
zen ſey, und dieſe Vorausſetzung gab ihm, wie er ſah, wenig— 
ſtens eine Annäherung an das wahre Verhältniß, allein ſie ſchien 


424 Inductive Epoche Kepler's. 


ihm ſelbſt nicht genau genug, um ſich mit ihr zufrieden zu 
ſtellen. 

Der größte Theil feiner „Hamonice mundi“ beſteht in 
verſchiedenen anderen Verſuchen, ähnliche Verhältniſſe zwiſchen 
den Umlaufszeiten, den Entfernungen und den Excentrici— 
täten der Planeten, mit denen des muſikaliſchen Accords in 
Verbindung zu bringen. Dieſer Theil ſeines Werkes iſt ſo 
complicirt und verwickelt, daß wohl nur wenige Leſer deſſelben 
Muth und Ausdauer genug gehabt haben mögen, es bis zu 
Ende zu ſtudiren. Delambre ?) geſteht, daß ſeine Geduld 
oft dabei ermüdete, und er ſtimmt ganz dem Urtheile Bailly's 
bei: „Nach dieſer erhabenen Unternehmung ſtürzt ſich Kepler 
„wieder in die Tiefen der Verhältniſſe zwiſchen den Bewegungen, 
„den Diſtanzen und den Ercentricitäten der Planeten, und 
„zwilchen den muſikaliſchen Accorden herab; aber in allen dieſen 
„»harmoniſchen Verhältniſſen, wie er fie nennt, findet ſich nicht 
„eine einzige richtige Bemerkung, in dem ganzen Gewühl von 
„Ideen auch nicht eine einzige Wahrheit, und der frühere Geiſt 
„Kepler's iſt wieder zu einem gemeinen Menſchen herabge— 
»ſunken.“ — Ohne Zweifel find Speculationen dieſer Art ohne 
allen Nutzen für die Wiſſenſchaft, aber wir werden gewiß duld— 
ſamer auf fie hinblicken, wenn wir uns erinnern, doß ſelbſt 
Newton ) ähnliche Analogien zwiſchen den Räumen, weiche die 
prismatiſchen Farben trennen, und zwiſchen den muſikaliſchen 
Noten der Tonleiter aufgeſucht hat. 

Es gehört nicht zu meinem Zweck, von den Speculationen 
über die Kräfte der himmliſchen Bewegungen umſtändlich zu 
ſprechen, durch welche Kepler auf die Entdeckung jenes großen 
Geſetzes geleitet worden iſt, noch auch von jenen, welche er 
ſpäter aus dieſem Geſetze wieder abgeleitet hat, und die er in 
feiner „Epitome Astronomiae Copernicanae“ von dem Jahre 
1622 auseinander ſetzt. In dieſer letzten Schrift dehnt er 
(S. 554) daſſelbe Geſetz, obſchon auf eine noch unvollkommene 
Weiſe, auch auf die Satelliten Jupiters aus. Aber alle dieſe 
phyſiſchen Speculationen waren nur unbeſtimmte und ent— 


2) Delambre, Astr. Mod. I. 358. 
3) Newton. Optik. B. II. Prop. IV. Obs. 5. 


Inductive Epoche Kepler's. 425 


fernte Vorläufer zu der großen Entdeckung Newtons, obſchon 
das Geſetz ſelbſt als ein formelles, als ein ſelbſtbeſtändiges 
und vollendetes zu betrachten iſt. 

Gehen wir nun zu den zwei anderen Geſetzen über, mit 
welchen der Name Kepler's für ewige Zeiten in Verbindung ſteht. 


Dritter Abſchnitt. 


Entdeckung der zwei erften Gefetze Kepler's: elliptiſche Theorie 
der Planeten. 


Die zwei erſten Geſetze Kepler's ſind in den folgenden 
Worten enthalten: 1) die Bahnen der Planeten ſind Ellipſen, 
in deren einem Brennpunkte die Sonne iſt; und 2) die von 
dem Radius Vector der Planeten beſchriebenen Räume ſind den 
Zeiten proportional. 

Gelegenheit zur Entdeckung dieſer zwei Geſetze gab der Ver— 
ſuch, die beobachteten Bewegungen des Planeten Mars der 
alten epicykliſchen Theorie anzupaſſen. Die Folge dieſes Verſuchs 
war die gänzliche Verwerfung der alten Theorie, und damit 
zugleich die Aufſtellung der neuen oder der elliptiſchen 
Theorie der Planeten. — Auch war die Aſtronomie jetzt reif 
geworden, um dieſe totale Metamorphoſe mit ſich vornehmen 
zu laſſen. Denn nachdem Copernicus gezeigt hatte, daß die 
Bahnen der Planeten ſich auf die Sonne, als auf ihren gemein— 
ſchaftlichen Mittelpunkt beziehen, ſo entſtand auch zugleich die 
Frage, welches die wahre Geſtalt dieſer Bahnen, und welches 
die wahre Bewegung jedes Planeten in dieſer ſeiner Bahn ſeyn 
möge? Copernicus ſuchte die Längen der Planeten, wie wir 
bereits geſagt haben, durch excentriſche Kreiſe und durch Epi— 
cykel darzuſtellen; die Breiten derſelben aber erklärte er ſich 
durch gewiſſe Librationen oder durch ein Auf- und Nieder— 
ſchwanken dieſer Epicykel. Wenn ein guter Geometer mehrere 
wahre und vollſtändige Ortsbeſtimmungen eines Planeten am 
Himmel erhalten könnte, ſo würde er daraus die Geſtalt ſeiner 
Bahn und die Art ſeiner Bewegung in dieſer Bahn, in Beziehung 
auf die Sonne oder auf die Erde, durch Rechnung ableiten 
können. Allein ſolche vollſtaͤndige Ortsbeſtimmungen der Planeten 
find uns unmöglich, da wir von der Erde nur die geoeentriſche 


426 Inductive Epoche Kepler's. 


Länge und Breite, nicht aber auch die Entfernungen der 
Planeten durch Beobachtungen beſtimmen können. — Als daher 
Kepler ſich anſchickte, die wahren Bahnen der Planeten zu 
ſuchen, mußte er die beobachteten Längen und Breiten derſelben 
unter verſchiedenen Modificationen der epicykliſchen Theorie mit 
einander vergleichen, und dieſes Geſchäft ſetzte er ſo lange fort, 
bis er endlich, am Ende aller ſeiner mißlungenen Verſuche, ſich 
entſchloß, dieſe Theorie als unrichtig gänzlich zu verwerfen, und 
ihr eine neue, die elliptiſche Theorie zu ſubſtituiren. Bemerken 
wir noch, daß er bei jedem Schritt ſeiner langen und mühſamen 
Laufbahn, wenn ſeine alten Truppen, wie er ſich in ſeiner 
bilderreichen Sprache ausdrückte, geſchlagen wurden, neue Hülfs— 
völker herbeirief, oder daß er ſeine früheren Hypotheſen, wenn 
er ſie unhaltbar fand, ſofort wieder durch neuere zu erſetzen 
ſuchte ). Dieß iſt auch ohne Zweifel der wahre Weg, der zu 
Entdeckungen führt. Nur diejenigen gelangen zu dem Beſitze 
neuer Wahrheiten, die von einem Punkte ihrer Erkenntniß zu 
anderen oft ſehr entfernten lebhaft überſpringen und ſie mit 
jenen verbinden können, nicht aber die, die an jeder Stelle vor— 
ſichtig ſtehen bleiben und warten, bis ſie von außen getrieben 
werden, weiter zu gehen. 

Kepler vereinigte ſich mit Tycho Brahe im Jahre 1600 zu 
Prag, wo er dieſen mit Longomonton eifrig beſchäftigt fand, 
die Theorie des Planeten Mars durch die von ihm angeſtellten 


— ——— 


1) So erklärt er ſich ſelbſt über eine dieſer Niederlagen, die er in 
ſeinem Kampfe mit dem Planeten Mars erlitten hatte: Dum in 
hune modum de Martis motibus triumpho, eique ut plane devicto 
tabularum carceres et aquationum compedes necto, diversis nuntia- 
tur locis, futilem victoriam et bellum tota mole recrudescere. 
Nam domi quidem hostis, ut captivus, contemptus, rapit omnia 
aequationum vincula, carceresque tabularum eflregit. Foris specu- 
latores profligarunt meas causarum physicarum arcessitas copias, 
earumque jugum excusserunt resumta libertate. Jamque parum 
abfuit, quin hostis fugitivus sese cum rebellibus suis conjungeret, 
meque in desperationem adigeret: nisi raptim, nova rationum 
physicarum subsidia, fusis et palantibus veteribus, submisissem, et 
qua sese captivus proripuisset, omni diligentia edoctus vestigiis 
ipsis nulla mora interposita inhaesissem. — Itaque causae physicae 
in ſumos abeunt. L. 


Inductive Epoche Kepler's. 427 


Beobachtungen zu verbeſſern. Kepler warf ſich ſogleich mit aller 
Kraft auf denſelben Gegenſtand. Die Reſultate ſeiner Arbeiten 
machte er im Jahr 1609 in ſeinem vortrefflichen Werke: De 
Motibus stellae Martis bekannt. In dieſer, wie in allen ſeinen 
zahlreichen Schriften, erzählt er mit der größten Offenheit, nicht nur 
ſeine gelungenen, ſondern auch alle ſeine mißglückten Verſuche; die 
verſchiedenen Hypotheſen, die er aufgeſtellt hat; die Wege, wie 
er zu ihnen gekommen iſt, oder wie er den Irrthum derſelben 
entdeckt hat, und die ganze lange Reihe von Entwürfen und 
Hoffnungen, von Niederlagen und Siegen, durch welche er end— 
lich zu ſeinem Ziele gelangte. 

Eine der wichtigſten Wahrheiten dieſes großen Werkes iſt 
die Entdeckung, daß die Ebene der Planetenbahnen bloß in Be— 
ziehung auf die Sonne betrachtet werden müſſe, nicht aber auf 
die Erde, wie es die alte epicykliſche Theorie gethan hat, und 
daß dadurch allein ſchon alle jene Librationen wegfallen, mit 
welchen Ptolemäus und Copernicus ihr Syſtem überladen haben. 
Im vierzehnten Capitel des zweiten Buches wird geſagt, Plana 
eccentricorum esse arakavra, d. h., die Ebenen der Pla— 
netenbahnen ſchweben im Gleichgewichte, indem ſie immer die— 
ſelbe Neigung und dieſelbe Knotenlinie in der Ekliptik 
beibehalten. Dieſe Entdeckung ſchien ihm viel Freude zu machen, 
und feine Bemerkungen darüber tragen das Gepräge eines Acht 
philoſophiſchen Geiſtes. „Copernicus, ſagte er, kannte nicht 
„den Werth des von ihm gefundenen Schatzes, und feine Abſicht 
„Icheint geweſen zu ſeyn, mehr den Ptolemäus, als die Natur 
„zu erklären, obſchon er der letzten näher gekommen iſt, als 
„irgend ein anderer. Er bemerkte mit Vergnügen, daß die 
»Breite der Planeten mit der Annäherung derſelben zur Erde 
„zunimmt, wie dieß mit feiner Theorie übereinſtimmend war, 
„aber er wagte es doch nicht, den Reſt der ptolemäiſchen Hypo— 
»theſe zu verwerfen, und um dieſe vielmehr noch mehr zu be— 
„tätigen, dachte er ſich jene Librationen der Planetenbahnen 
„aus, die nicht von ihren eigenen excentriſchen Kreiſen, ſondern, 
»was ganz unwahrſcheinlich war, von der Erdbahn abhängen 
»ſollten, mit welcher jene doch nichts zu thun haben können. 
»Ich ſtritt immer gegen dieſe ganz ungeräumte Verbindung von 
»zwei einander ſo heterogenen Dingen, ſelbſt noch ehe ich die 
„Beobachtungen Tychos geſehen hatte, und es erfreut mich recht 


428 Inductive Epoche Kepler's. 


„ehr, daß in dieſen, wie in vielen anderen Dingen, meine Vor— 
„herſagungen von den Beobachtungen vollkommen beſtätiget 
„worden find.“ — Kepler brachte dieſen wichtigen Punkt durch 
mühſame und zugleich ſehr ſinnreiche Rechnungen in's Reine, 
die er über Tychos und feine eigenen Beobachtungen des Mars 
geführt hatte, und er hatte wohl ein Recht, ſich zu freuen, daß 
das Reſultat ſeiner Arbeiten ſeine früheren Anſichten von der 
Einfachheit und Symmetrie des Planetenſyſtems auf eine ſo 
ſchöne Weiſe bejtätiget hatten. 

Wie ſchwer es damals geweſen ſeyn mußte, ſich von der 
alten Theorie der Epicykel los zu machen, erhellt ſchon daraus, 
daß Copernicus ſich noch gar nicht von ihr trennen, und daß auch 
Kepler ſeine Befreiung von ihren Feſſeln erſt nach langen und 
harten Kämpfen durchſetzen konnte, deren Erzählung volle neun 
und dreißig Capitel ſeines Werkes einnimmt. Am Ende der— 
ſelben ſagt er: „Dieſe umſtändliche Abhandlung war nothwendig, 
„um dadurch den Weg zu der wahren Theorie der Planeten zu 
„bahnen, mit welcher wir uns jetzt beſchäftigen wollen. Mein 
„erfter Irrthum war, daß die Bahn der Planeten ein Kreis 
„ſeyn müſſe, eine heilloſe Meinung, die mir nur um fo mehr 
„Zeit geraubt hat, da ſie von dem Anſehen aller Philoſophen 
„unterftüßt und beſonders den Metaphyſikern ſehr willkommen 
„war :).“ — Ehe er dieſen Grundfehler des alten Syſtems zu vers 
beſſern unternahm, ſuchte er zuerſt das Geſetz, nach welchem 
die einzelnen Theile der Bahnen von ihren Planeten beſchrieben 
werden. Er fing dieſe Unterſuchung mit der Erde an, da die 
kleine Excentricität ihrer Bahn die Sache ſehr erleichterte (und 
da er auch die Erdbahn vorerſt genau kennen mußte, um die 
gevcentrifhen Beobachtungen der übrigen Planeten in heliocen— 
triſche verwandeln zu können). Das Reſultat dieſer Unter— 
ſuchung war 5): daß die Zeit, in welcher jeder Planet einen 
gegebenen Bogen ſeiner Bahn um die Sonne zurücklegt, ſich 


2) Die Worte Kepler's find: Primus meus error fuit, viam planetae 
perfectum esse eirculum: tanto nocentior temporis fur, quanto erat 
a) auctoriate omniam philosophorum instructior et metaphysicae 
in specie convenientior. L. 

3) De stella Martis. &. 194. 


Inductive Epoche Kepler's. 429 


wie die Flaͤche verhält, die zwiſchen dieſem Bogen und zwiſchen 
den beiden äußerſten Radien Vectoren deſſelben enthalten iſt, 
oder daß die von dieſen Radien beſchriebenen Flächen ſich wie 
die Zeiten verhalten, in welchen ſie beſchrieben werden. Doch 
muß bemerkt werden, daß dieſes Geſetz, obſchon es aus vielen 
anderen, die ihm früher beigefallen waren, und die er als un— 
ſtatthaft wieder verlaſſen mußte, ausgewählt war, doch keines— 
wegs von ihm gehörig erwieſen oder auch nur vollſtändig erkannt 
war. Er fand daſſelbe in den beiden Apſiden der Erdbahn, 
durch Berechnung der Beobachtungen, beſtätiget, und dieß war 
ihm ſchon hinreichend, um es ſofort auf alle andere Theile dieſer 
Bahn, und auch auf die Bahnen aller übrigen Planeten aus— 
zudehnen. Er nahm anfangs dieſe Hypotheſe von der Propor— 
tionalität der Flächen mit den Zeiten nur als eine Annäherung, 
zur Erleichterung ſeiner Rechnungen, der Kürze und Bequem— 
lichkeit wegen an, da er eigentlich, wie er ſagte, die Summe 
aller der unzähligen Radien kennen ſollte, die von jedem 
Punkte des Bogens zu dem Mittelpunkte der Sonne gezogen 
werden, ein geometriſches Problem höherer Art, zu deſſen Auf— 
löſung eigentlich die höhere Analyſis gehörte, die damals noch 
nicht erfunden war. Auch gerieth er bald darauf, als er die— 
ſelbe Hypotheſe auf die Bewegung des Mars anwenden wollte, 
auf neue Schwierigkeiten, da die Bahn dieſes Planeten ſehr 
excentriſch iſt, und daher von der kreisförmigen Geſtalt, die er 
bisher für alle Planeten angenommen hatte, beträchtlich abweicht. 
Erſt nachdem er ſich lange Zeit vergebens abgemüht hatte, die 
Bewegungen dieſes Planeten mit feiner neuen Hypotheſe, in 
Beziehung auf den Kreis, in Uebereinſtimmung zu bringen, 
nahm er, aber auch hier nur vorerſt zur Erleichterung der Rech— 
nung, an, daß dieſe Bahn vielleicht eine von jenen ovalen 
Linien ſeyn könnte, die man Ellipſen nennt ). Er war aber 


4) Nachdem er nämlich gefunden hatte, daß die Radien der Mars bahn 
immer kleiner ſind, als in dem excentriſchen Kreiſe, und zwar deſto 
kleiner, je weiter Mars von feiner Apfidenlinie entfernt iſt, ſagte 
er S. 213: Itaque plane hoc est, orbita planetae non est eircu- 
lus, sed ingrediens ad latera utraque paulatim, iterum ad eireuli 
amplitudinem in perigeo exiens; cujusmodi ſiguram itineris ova- 
lem appellitant. 


450 Inductive Epoche Kepler's. 


anfangs ſo wenig gewiß, ob dieſe Bahn auch in der That eine 
Ellipſe, oder nur eine dieſer Curve ähnliche ovale Figur iſt, daß 
er die Abweichungen, die er auch jetzt noch zwiſchen ſeinen Be— 
rechnungen und den ihnen zu Grunde liegenden Beobachtungen 
fand, nicht der Unvollkommenheit der letzten, ſondern vielmehr nur 
der Ungenauigkeit ſeiner elliptiſchen Hypotheſe und der auf dieſe 
Hypotheſe gebauten Berechnungen zuſchrieb. Uebrigens hatte ſich 
dieſe Vorausſetzung einer ſolchen ovalen Curve ſchon früher dem 
Purbach ) bei der Bahn Merkurs, und auch dem Reinhold bei 


5) Purbach, Georg, (eigentlich Peurbach) war i. J. 1423 in dem 
Städtchen Peurbach in Oeſterreich geboren. Er vollendete ſeine 
Studien in Wien und erhielt ſeine fernere Ausbildung in Italien, 
wo ihn beſonders der Cardinal Cuſa mit hoher Auszeichnung be— 
handelte. Peurbach hatte ſich vorzüglich der Aſtronomie gewidmet, 
und wurde auch, nach ſeiner Zurückkunft aus Italien, als Pro— 
feſſor der Aſtronomie an der Univerſität zu Wien angeſtellt. 
Sein erſtes aſtronomiſches Werk war eine Erklärung der ſechs 
erſten Bücher des Almageſts, dem bald eine große Anzahl anderer 
mathematiſcher und aſtronomiſcher Werke folgte, unter welchen 
ſeine Sinustafeln, ſeine ekliptiſchen Tafeln (zur leichtern Berech— 
nung der Finſterniſſe) und vorzüglich ſeine Theoriae novae pla- 
netarum bemerkt werden. Er war auch als beobachtender Aſtro— 
nom ausgezeichnet. Auf den Rath des Cardinals Beſſarion ent- 
ſchloß er ſich im Jahr 1460, Italien noch einmal zu beſuchen, um 
daſelbſt die griechiſche Sprache zu erlernen. In dieſem Vorſatze 
wurde er am 8. April 1461 von dem Tode überraſcht. Sein 
Grabmal wird in der Stephanskirche zu Wien gezeigt. 

Reinhold, Erasmus, geb. 1511 in Thüringen, einer der 
berühmteſten Aſtronomen feiner Zeit. In der Ausgabe der Theo— 
riae planetarum des Peurbach, die Schreckenfuchs i. J. 1542 ge⸗ 
geben hat, findet man die merkwürdige Nachricht, daß Reinhold 
die Bahnen des Monds und des Merkurs eiförmig angenommen 
hat. Im Jahr 1549 gab er ſeinen Commentar über das erſte 
Buch des Almageſts mit der lateiniſchen Ueberſetzung, und 1551 
erſchienen ſeine Tafeln der Sonne und der Planeten, die er Ta— 
bulae Prutenicae nannte, zu Ehren Alberts von Brandenburg, 
Herzogs von Preußen, der ſein Gönner und Beſchützer war. 
Dieſe Tafeln waren nach dem copernicaniſchen Syſtem conſtruirt und 
viel genauer, als die welche früher Copernicus ſelbſt berechnet und 
ſeinem Werke De Revolutionibus beigefügt hatte. Dieſe Tafeln des 


Inductive Epoche Kepler's. 431 


der Mondsbahn gleichſam aufgedrungen, indem jener ſtatt den 
bisherigen excentriſchen Kreis eine eiförmige, und dieſer eine 
linſenförmige Figur, wie fie dieſelben nannten, ſubſtituirte ). 

Um den Weg beſſer kennen zu lernen, den Kepler gehen 
mußte, um zu ſeinen Entdeckungen zu gelangen, wollen wir die 
ſechs Hypotheſen anführen, unter welchen er die ihm von Tycho 
gegebenen Orte des Mars berechnete, um zu ſehen, welche von 
ihnen am beſten mit den Beobachtungen übereinſtimmte. Er 
zählt dieſe Hypotheſen im ſieben und vierzigſten Capitel ſeines 
Werkes, wie folgt, auf: 

1. Die einfache Ercentricität. 

2. Die Biſection der Excentricität und die Duplication des 

obern Theils des Gleichers. 

3. Die Biſection der Excentricität mit einem feſten Punkt 
des Gleichers, nach Art des Ptolemäus. 

4. Die ſtellvertretende Hypotheſe durch eine willführliche 
Section der Excentricität, die ſo nahe als möglich mit 
den Beobachtungen übereinſtimmt. 

5. Die phyſiſche Hypotheſe, in welcher die Bahn genau kreis— 
förmig angenommen wird. 

6. Endlich die phyſiſche Hypotheſe, in welcher die Bahn genau 
elliptiſch angenommen wird. 

Durch das Wort „phyſiſche Hypotheſe“ drückte er die Bor: 
ausſetzung aus, daß die Zeit, in welcher der Planet einen 
Bogen ſeiner Bahn beſchreibt, der Diſtanz des Planeten von 
der Sonne proportional ſey, da er für dieſe Proportionalität, 
wie er ſagte, phyſiſche Gründe aufgefunden hat. 

Die zwei letzten Hyhotheſen kommen in feinen Rechnungen 
der Wahrheit am nächſten, indem ſie von den Beobachtungen 
nur um acht Minuten abwichen, die einen zu wenig und die 


Reinhold waren nach dem Meridian von Königsberg conſtruirt. 
Reinhold ftarb 1553 als Profeſſor in Wittenberg. Kepler ſpricht 
oft von ihm in ſeinen Werken, als von einem ausgezeichneten 
aſtronomiſchen Talente, und er lobt ſeine Schriften beſonders 
wegen ihrer hohen Klarheit. Reinholds Tafeln wurden auch bei 
der berühmten Reformation des Kalenders im Jahr 1582 ge— 
braucht. L. 


6) M. ſ. Lib. Usef. Krowl. Kepler. S. 30. 


432 Inductive Epoche Kepler's. 


andern um dieſelbe Größe zu viel. Nachdem ihn dieſe noch 
übrigen Fehler lange aufgehalten hatten, fiel es ihm endlich 
bei (Cap. 58), eine andere Ellipſe zu verſuchen, die zwiſchen der 
früher angenommenen und dem Kreiſe in der Mitte läge, wodurch 
er zu einem erwünſchten Reſultate zu kommen hoffte. Er machte 
ſich ſofort an die neue Berechnung, und indem er jetzt zugleich 
die Flächen der elliptiſchen Sectoren den Zeiten proportional 
nahm, ſah er bald zu ſeinem großen Vergnügen, daß ſowohl 
die Längen des Mars, als auch die Diſtanzen deſſelben in der 
gewünſchten Schärfe mit den Beobachtungen übereinſtimmten. 
Kepler berichtet uns (in dem fünf und fünfzigſten Capitel 
ſeines Werks), daß ihm in der Entdeckung der wahren, ellipti— 
ſchen Bahn der Planeten ein Anderer bald zuvorgekommen wäre. 
„David Fabricius “), ſagt er, dem ich meine frühere (auf die 
„kreisförmige Bahn der Planeten ſich beziehende) Hypotheſe 
„mittheilte, zeigte mir durch feine Beobachtungen, daß dieſe 
„Hypotheſe alle Diſtanzen zu klein gebe. Er benachrichtigte 
„mich davon in einem Briefe zu der Zeit, wo ich eben durch 
„mehrere wiederholte Verſuche die wahre Bahn der Planeten zu 
„finden ſuchte. So nahe war er daran, mir in dieſer Entdeckung 
„zuvorzukommen.“ — Allein dieſe Entdeckung war doch auch jetzt 
noch ſchwerer, als es auf den erſten Blick ſcheinen mag, und 
Kepler verfiel gleichſam nur durch einen glücklichen Zufall auf 
ſie, indem er die Coincidenz mehrerer Zahlen in ſeinen Rech— 
nungen bemerkte, die ihn, wie er ſagt, wie aus einem Traume 
erweckt, und ihm ein ganz neues Licht gegeben haben. Ueberdieß 
muß noch bemerkt werden, daß er lange in Verlegenheit war, 
wie er dieſe ſeine neue Anſicht (der Ellipticität der Planetenbahnen) 
mit ſeiner früheren Meinung vereinigen ſollte, nach welcher die 
wahren Bewegungen der Planeten durch eine gewiſſe Libration 
(Veränderung) in den Halbmeſſern ihrer Epicykel dargeſtellt wur— 
den. „Das war, ſagt er, meine größte Noth, aus der zu 
„kommen ich mich ſo lange quälte, bis ich ſchon ganz blödſinnig 
„wurde Ich hatte früher die Bewegungen der Planeten durch 


7) Fabricius David), war in Oſtfriesland geboren und hatte 
längere Zeit mit Tycho gelebt und gearbeitet. Er war es, der 
im Jahr 1596 den berühmten veränderlichen Stern o im Wallfiſch, 
Mira Ceti, entdeckte. Er ſtarb 1616. L. 


Inductiue Epoche Kepler's. 433 


„eine Libration des Durchmeſſers ihrer Epicykel, in Beziehung 
„auf ihre Diſtanzen von der Sonne, ſo gut mit den Beobach— 
„tungen übereinſtimmend dargeſtellt, und nun ſollte ich dieſe 
„Librationen und alles Frühere wieder verlaſſen, um ſie gegen 
„eine elliptiſche Bahn zu verwechſeln. Wie einfältig waren 
„aber dieſe meine Klagen! Als ob dieſe Librationen der epicyk— 
„lifchen Durchmeſſer nicht eben ſelbſt der beſte Weg zu den ellip— 
„tiſchen Bahnen geweſen wären!“ 

Eine andere Bedenklichkeit, die ſich gegen die neue Theorie 
erhob, entſtand aus der Unmöglichkeit, das hieher gehörende 
Problem durch eine geometriſche Conſtruction aufzulöſen, näm— 
lich „die Fläche eines Halbkreiſes, mittels einer durch einen 
„Punkt des Durchmeſſers gehenden geraden Linie, in einem ge— 
„gebenen Verhältniſſe zu theilen.“ Dieſe Aufgabe wird jetzt noch 
das „Kepler'ſche Problem“ genannt, und die ſtrenge, directe 
Auflöſung deſſelben iſt in der That unmöglich. Da aber doch 
eine genäherte Auflöſung deſſelben gegeben werden kann, und 
auch von Kepler gegeben worden iſt, und da er dadurch zur 
Genüge bewieſen hat, daß ſeine elliptiſche Hypotheſe der Wahr— 
heit vollkommen gemäß iſt, ſo gehören die eigentlich mathema— 
tiſchen Schwierigkeiten, die ſich der directen Auflöſung dieſes 
Problems entgegenſtellen, nur mehr dem deductiven Prozeſſe 
an, der nach dem inductiven Verfahren Kepler's gefolgt iſt. 

Von den phyſiſchen Anſichten Kepler's werden wir bei einer 
anderen Gelegenheit umſtändlich ſprechen. Seine vielen und 
oft phantaſtiſchen Hypotheſen haben ihren Dienſt gethan, indem 
ſie ihm Gelegenheit zu ſeinen mühſamen Rechnungen und Unter— 
ſuchungen gaben, und indem ſie ihn unter dem Drucke ſeiner 
Anſtrengungen, ſeiner mißlungenen Verſuche und ſeiner häusli— 
chen Sorgen aufrecht und muthvoll erhielten. Der Zweck ſeines 
Werkes war die Aufſtellung des formellen Geſetzes der planeta— 
riſchen Bewegungen auf dem Wege einer klaren Induction, um 
dadurch die beſten Beobachtungen ſeiner Zeit mit hinlänglicher 
Genauigkeit darzuſtellen. — Man darf ſagen, daß Kepler ein 
gutes Recht“ hatte auf den Preis, den er im Eingange feines 
Werkes ausſpricht. Ramus hatte früher erklärt, daß er dem— 
jenigen ſeine Lehrerſtelle an der Univerſität zu Paris willig ab— 
treten wolle, der eine Aſtronomie ohne Hppotheſen ſchreiben 
kann. Kepler erwähnt dieſer Geſchichte und ſetzt hinzu: „Du haſt 

Whewell. I. 28 


434 Inductive Epoche Kepler's. 


„fehr wohl gethan, Ramus, von deinem Wort dich loszumachen, 
„indem du deinen Lehrſtuhl zugleich mit deinem Leben verließeſt 
„(Ramus wurde in der Pariſer Bluthochzeit im Jahr 1572 
„ermordet): denn wenn du jenen noch hätteſt, würde ich ihn 
„mit Fug und Recht von dir fordern.“ — In der That hat 
Kepler damit nicht zu viel geſagt, weil er nicht nur die alte 
Hypotheſe der Epicykel für alle Folgezeit völlig zerſtört, ſondern 
auch zugleich eine Theorie aufgeſtellt hat, die jeder, der ſie näher 
kennt, nicht mehr als eine bloße Hypotheſe, ſondern als eine 
wahre, durch unzählige Beobachtungen erwieſene Darſtellung 
des in der That ſtatthabenden Weltſyſtems erkennen wird. 


Fünftes Capitel. 


Folgen der Kepler ' ſchen Epoche. Aufnahme, Verification und 
Ausbildung der elliptiſchen Theorie. 


Erſter Abſchnitt. 
Anwendung der elliptifchen Theorie auf die Planeten. 


Was Kepler von der Marsbahn ausgeſagt hatte, wurde 
nun ſofort auch auf die Bahnen der übrigen Planeten ange— 
wendet, und die Wahrheit deſſelben auch hier vollkommen beſtä— 
tigt. Zuerſt machte man dieſen Verſuch an der Merkursbahn, 
die wegen ihrer großen Excentricität die elliptiſche Bewegung 
ihres Planeten mit viel größerer Schärfe hervortreten ließ. 
Dieſe und verſchiedene andere nachträgliche Unterſuchungen, zu 
welchen Kepler ſeine großen Entdeckungen geleitet hatten, erſchie— 
nen i. J. 1622 in dem letzten Theile feiner »Epitome Astrono- 
„miae Copernicanae.‘“ 

Die eigentliche Verification der neuen Theorie der Planeten 
mußte aber in den Tafeln gefunden werden, welche die Bewe— 
gungen dieſer Himmelskörper darſtellten, und die, wenn jene 
Theorie der Wahrheit gemäß iſt, mit den fortgeſetzten Beob— 


Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 435 


achtungen der Aſtronomen in genauer Uebereinſtimmung bleiben 
ſollten. Die Entdeckungen Kepler's wurden größentbeils, wie 
wir geſehen haben, auf Tycho's Beobachtungen erbaut. Longo— 
montan !) hatte i. J. 1621 in feiner »Astronomia Danica“ 
Tafeln herausgegeben, die ſich auf die Theorie und auf die 
Beobachtungen Tycho's, feines Landsmannes, gründeten. Kepler 
aber machte i. J. 1627 ſeine „Rudolphiniſchen Tafeln“ bekannt, 
denen er ſeine eigene Theorie zu Grunde gelegt hatte. Im Jahre 
1633 erſchienen die ⸗Tabulae perpetuae“ des Lansberg, eines 
Belgiers, der ſein Werk mit viel Pomp angekündigt, und dabei 
Keplern und Tycho vornehm zu tadeln wagte. Den Eindruck, 
den er damit auf die aſtronomiſche Welt machte, läßt ſich 
aus der Erzählung des Engländers Horror ſchließen, der anfangs 
auch von den großen Verſprechungen Lansberg's ) und den dem 
Werke vorgedruckten Lobeserhebungen ſeiner Freunde verführt 
war, und der die Meinung derer, die Keplern und Tycho höher 
hielten, für ein Vorurtheil anſah. Im Jahre 1636 aber wurde 
er mit Crabtree, einem jungen Aſtronomen, bekannt, der in der— 


1) Longomontan, geb. 1562 in dem däniſchen Dorfe Lonborg, 
Freund und Gehülfe Tycho's bei feinen aſtronomiſchen Beobach— 
tungen auf der Inſel Hveen, von wo er auch Tycho nach Prag 
begleitete. Später wurde er Profeſſor der Mathematik in Kopen— 
hagen, wo er 1647 ſtarb. Sein vorzüglichſtes Werk iſt die Astro- 
nomia Danica (Kopenhagen 1622), in welchem er das ganze damals 
bekannte Gebiet der Wiſſenſchaft zu umfaſſen ſuchte. Die Theorie 
der Planeten wird in demſelben dreimal, nach Ptolemäus, nach 
Copernicus und nach Tycho vorgetragen, und endlich dem letzten, 
als dem Syſteme ſeines Lehrers, der Vorzug eingeräumt. So 
groß war die Vorliebe dieſes ſonſt ſo talentvollen Mannes für den 
Kreis, daß er darauf drang, denſelben auch dann noch beizubehal— 
ten, wenn die Folge andere Formen der Planetenbahnen kennen 
lehren ſollte. Auch er, wie ſein großer Lehrer, huldigte noch 
der Aſtrologie. M. ſ. über ihn den Art.: Longomontan in Bay— 
le's Dict. critique. L. 


2) Lansberg, geb. 1560 zu Gent, geſt. 1632 in Zeland, wo er pro— 
teſtantiſcher Prediger war. Seine aſtronomiſchen Tafeln, die 1632 
herauskamen, waren lange im Gebrauche. Seine anderen, mei— 
ſtens aſtronomiſchen Werke find 1663 zu Middelburg herausge— 


kommen. 
288 


436 Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 


ſelben Gegend von Lancaſhire lebte. Von dieſem wurde Horrox 
gewarnt, ſich nicht zuviel auf Lansberg zu verlaſſen, da ſeine 
Hypotheſen irrig, ſeine Beobachtungen verfälſcht und ſeine 
Theorie künſtlich angepaßt wären. Horrox begann nun die 
Werke Kepler's zu leſen und allmählig auf die Seite deſſelben 
überzugehen. Nach einigem Bedenken, das er in der Unterneh: 
mung, gegen den Gegenſtand ſeiner früheren Verehrung aufzutreten, 
fühlte, ſchrieb er eine Abhandlung über die Punkte, über welche 
jene Männer verſchieden dachten. Es ſcheint, er wollte ſich zu— 
gleich als Schiedsmann zwiſchen den drei um den Preis kämpfen— 
den Theorien von Longomonton, Kepler und Lansberg aufwerfen, 
daher er auch feine Schrift „Paris astronomicus“ betitelte. 
Man ſieht leicht, daß er Keplern den goldenen Apfel zuerkennt. 
Die Beobachtungen ſeiner Nachfolger haben ſein Urtheil beſtätigt, 
und die Rudolphiniſchen Tafeln ſind lange Zeit vorzugsweiſe im 
allgemeinen Gebrauche geblieben. 


Zweiter Abſchnitt. 
Anwendung der elliptifchen Theorie auf den Mond. 


Die Bewegungen des Mondes waren viel ſchwerer in Tafeln 
zu bringen, als die der Planeten, denn jene ſind einer ſehr großen 
Menge von höchſt verſchiedenen und unter einander verwickelten 
Ungleichheiten unterworfen, die, ſo lange ihr Geſetz noch nicht 
bekannt iſt, aller Theorie zu ſpotten ſcheinen. Demungeachtet 
wurden auch hierin fchon zu jener Zeit einige bedeutende Fort: 
ſchritte gemacht. Die vorzüglichſten derſelben verdanken wir dem 
Tycho Brahe ). Wir haben bereits oben von zwei großen Un: 


1) Tycho Brahe, wurde am 14. Dez. 1546 zu Kuutſtrup in Scho⸗ 
nen geboren und ſtarb am 24. October 1601 zu Prag. Seine 
Aeltern ſtammten beide von altadelichen däniſchen Familien ab. 
Den größten Theil ſeiner Jugend bis zu ſeinem dreizehnten Jahre 
brachte er in dem Hauſe ſeines kinderloſen Onkels Jürgen zu, bis 
er i. J. 1559 die Univerſität von Kopenhagen bezog. Hier ſoll er 
durch den Eindruck, den die Sonnenfiuſterniß des 21. Auguſt 
1560 auf ihn machte, für die Aſtronomie gewonnen worden 
ſeyn. Im Jahre 1562 ging er auf die Univerſität zu Leipzig, 


Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 437 


gleichheiten dieſer Satelliten geſprochen, von feiner „Gleichung 
des Mittelpunkts“ und von der „Evection,“ welche letzte Ptole— 


wo er die Rechte ſtudiren ſollte, aber alle ſeine Nebenſtunden 
und ſelbſt ſein Geld der Aſtronomie widmete, zu welchen Zwecken 
er ſich mehrere Inſtrumente gekauft hatte. Als er bei ſeiner Rück— 
kehr in's Vaterland i. J. 1565 feine Verwandten feiner Lieblings: 
wiſſenſchaft abgeneigt fand, ging er wieder nach Deutſchland zurück, 
wo er ſich abwechſelnd in Roſtock, Wittenberg und Augsburg auf— 
hielt, und ſich beſonders der Aſtronomie und der Chemie widmete. 
Im Jahre 1570 kehrte er wieder nach Dänemark zurück, wo ihm 
ein anderer Onkel Steen Bilde unweit Knutſtrup eine Privatſtern— 
warte erbauen ließ. Auf derſelben entdeckte er am 11. Nov. 1572 
den bekannten neuen Stern im Sternbilde der Caſſiopeia. Da— 
durch gewann er die Zuneigung K. Friedrichs II., auf deſſen Zu— 
reden er ſich entſchloß, aſtronomiſche Vorleſungen in Kopenhagen 
zu halten. Seine bald darauf erfolgte Ehe mit Chriſtinen, der 
Tochter eines Bauers in ſeinem Geburtsorte, zog ihm die 
Feindſchaft ſeiner Verwandten zu, die auf ſein ganzes übriges 
Leben ſehr nachtheilig einwirkte. Im Jahre 1575 machte er eine 
Reiſe durch Deutſchland, wo er der Krönung des K. Rudolphs in 
Regensburg beiwohnte, und von wo er mit vielen aſtronomiſchen 
Schriften und Inſtrumenten beladen wieder nach Dänemark zurück— 
kehrte. König Friedrich II., dem er beſonders durch den Landgra— 
fen von Heſſen, Wilhelm IV. empfohlen war, gab ihm 1576 einen 
Jahrgehalt von 2000 Thalern, und beſchenkte ihn auch auf Lebens— 
zeit mit der in Oreſund, zwiſchen Seeland und Schonen gelegenen 
ſchönen und fruchtbaren Inſel Hveen, ſchoß zur Erbauung eines 
Schloſſes auf derſelben beträchtliche Summen vor, und vermehrte 
endlich ſeine Einkünfte noch mit einem bedeutenden Lehen in Nor— 
wegen und mit einem Canonicate zu Roeskilde. Das erwähnte 
Schloß, dem er eine ganz aftronomifche Anordnung gab, wurde 
Urania genannt, und daſelbſt eine eigentliche Sternwarte und ein 
chemiſches Laboratorium eingerichtet, beide im größten Style für 
jene Zeit. Hier lebte und wirkte er, umgeben von zahlreichen 
Schülern und Freunden, in der Mitte feiner Familie, einundzwan— 
zig Jahre, geehrt und ſelbſt beſucht von allen Großen Europa's, 
die auf ihren Reiſen Dänemark nicht verlaſſen konnten, ohne 
Tycho, den berühmteſten Mann des Landes, geſehen zu haben. Nach 
Friedrich's II. Tod aber war auch die Gnade des Hofes für ihn 
verſchwunden. Der Miniſter Walkedorf wurde bei ſeinem Beſuche 
auf der Inſel Hpeen von einem der großen Hunde Tycho's an— 
gefallen, und glaubte ſich von dem Herrn der Inſel überhaupt 


438 Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 


mäus entdeckt hat. Tycho zeigte der erſte, daß es noch eine 
andere große Ungleichheit gibt, die er „Variation“ nannte ). 
Dieſe Ungleichheit hängt von der Lage des Mondes gegen die 
Sonne ab, und beträgt in ihrem größten Werthe vierzig und 
eine halbe Minute, alſo nahe den vierten Theil der Evection. 
Auch bemerkte Tycho, obſchon nicht ganz deutlich, die Nothwen— 


nicht mit der gehörigen Achtung behandelt zu ſehen. Er trat feit- 
dem als erbitterter Gegner Tycho's bei dem jungen Könige Chri— 
ſtian IV. auf, und Tycho verlor unter wiederholten Angriffen 
alles, was er früher von dem königlichen Hofe erhalten hatte. 
Tycho ſah ſich zuletzt 1597 gezwungen, ſeine Inſel und ſelbſt ſein 
Vaterland zu verlaſſen, um ſich den Verfolgungen des rachſüchtigen 
Feindes zu entziehen. Er ging nach Roſtock, wo er ſich nahe ein 
Jahr aufhielt, und dann 1599 von Kaiſer Rudolph II. mit 
einem Jahresgehalt von 3000 Ducaten als Aſtronom nach Prag. 
Hier richtete er auf dem ihm von dem Monarchen in Benatek 
außer Prag geſchenkten Schloſſe eine neue Sternwarte und ein 
chemiſches Laboratorium ein. Nach zwei Jahren fand er dieſes 
Gebäude zu ſeinen Arbeiten nicht bequem genug, und bezog 
ein Palais in Prag, das ihm der Kaiſer für 22,000 Thlr. gekauft 
und das er ſelbſt zu ſeinen Geſchäften eingerichtet hatte. Wenige 
Monate darauf ſtarb er am 13. October 1601 an einer Uriſche— 
fig, die er ſich bei einem Gaſtmahle des Grafen Roſenberg aus 
falſcher Schaam zugezogen hatte. — Tycho wird mit Recht 
als der erſte und geuaueſte Beobachter ſeiner Zeit angeſehen, und 
mit ihm beginnt die Periode der beſſeren beobachtenden Aſtrono— 
mie der Neueren. Er war einer der Gegner des copernicaniſchen 
Syſtems, dem er i. J. 1582 ein anderes entgegenſetzte, das noch jetzt 
ſeinen Namen trägt, das aber jetzt nicht weiter beachtet wird. Auch 
von der Aſtrologie konnte er ſich nicht ganz frei erhalten. Seine 
größtentheils ſehr koſtbaren Inſtrumente, die Rudolph II. ange: 
kauft hatte, wurden i. J. 1620 nach der Schlacht am weißen Berge 
bei Prag größtentheils vernichtet, und nur einige wenige derſelben 
ſoll man noch in Prag aufbewahrt haben. Tycho's Leben wurde 
von Wandal (Kopenhagen 1783), und von Helfrecht (Hof 1787) be: 
ſchrieben. L. 

Es wurde bereits oben, im dritten Buche. geſagt, daß Abul Wera 
im zehnten Jahrhundert dieſe Ungleichheit des Mondes erkannt 
hatte, daß aber dieſe Entdeckung zur Zeit Tycho's längſt wieder 
vergeſſen war und erſt viel ſpäter in den Schriften jenes arabiſchen 
Aſtronomen zufällig wieder aufgefunden wurde. 


2 


Folgen der Keplerschen Epoche. 439 


digkeit einer andern Correction der Länge des Mondes, die von 
der Länge der Sonne abhängt und die ſpäter die „jährliche Glei— 
chung des Mondes“ genannt wurde. 

Dieſe Schritte betrafen die Länge des Mondes. Aber Tycho 
brachte auch weſentliche Verbeſſerungen in der Breite dieſes 
Geſtirns an. Die Neigung der Mondsbahn gegen die Ekliptik 
wurde bisher als conſtant, und die Bewegung der Knoten dieſer 
Bahn als gleichförmig angenommen. Er fand, daß die Neigung 
nach der verſchiedenen Lage der Knoten, um nahe zwanzig 
Minuten wächst oder abnimmt, und daß die Knoten, obſchon 
im Allgemeinen rückgängig, doch auch einer anderen kleineren 
bald poſitiven, bald negativen Bewegung unterworfen ſind. 

Tycho theilte ſeine Entdeckungen in Beziehung auf den Mond 
in ſeinem „Progymnasmata“ mit, die i. J. 1603, zwei Jahre 
nach des Verfaſſers Tod, erſchienen. Er ſtellt darin die Bewe— 
gung des Mondes noch durch die Combination von Epieykeln 
und excentriſchen Kreiſen vor. Allein da Kepler einmal gezeigt 
hatte, daß ſolche Mittel für immer aus der Aſtronomie verwieſen 
werden müſſen, ſo war es beinahe unmöglich, nicht auch hier 
die Anwendung der neuen elliptiſchen Theorie zu verſuchen. Hor— 
rox *) that dieß, und er ſchickte feinen Verſuch i. J. 1638 an 


3) Horror oder Horrockes, (Jeremias), ſtarb i. J. 1641 in feinem 
zweiundzwanzigſten Jahre. In dieſer kurzen Zeit und ſo früh 
ſchon wußte er ſich durch ſein mathematiſches Talent, als feiner 
Beobachter und als der Verfertiger von neuen Mondstafeln auszu— 
zeichnen. Seine Werke hat Wallis zu London 1678 herausgegeben. 

Crabtree, (Wilhelm), der Freund und Gehülfe des Horror, 
die beide in der Nähe von Mancheſter lebten. Crabtree machte 
viele aſtronomiſche Beobachtungen, auch die des erſten Durchgangs 
der Venus vor der Sonne im Jahre 1639. Er jtarb zwei 
Jahre darauf. Auch ſeine Werke ſind von Wallis herausgegeben 
worden. Ein anderer aſtronomiſcher Freund dieſer beiden, Gascoigne, 
hatte der erſte die Idee, im Brennpunkte des Fernrohrs feine Fäden 
zu fpannen, eine Idee, die in der praftifchen Aſtronomie Epoche 
machte, da ſich von dieſer Zeit an die größere Genauigkeit in den 
Beobachtungen datirt. Auch Gascoigne wurde den Wiſſenſchaften 
durch einen frühen Tod entriſſen. Er ftarb in feinem dreiund— 
zwanzigſten Jahre in der Schlacht von Marſton Moor, wo Crom 
well die königlichen Truppen gefchlagen hatte. Man hat früher mit 
Unrecht jene wichtige Erfindung dem Morin oder dem Picard vin— 
diciren wollen. (M. ſ. Philos. Transact. XXX. 603.) 


440 Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 


ſeinen Freund Crabtree. Erſt 1673 wurde dieſe Schrift mit den 
numeriſchen Elementen, die Flamſteed hinzugefügt hatte, öffentlich 
bekannt gemacht. Flamſteed hatte nämlich in den Jahren 1671 
und 1672 die Theorie des Horrox mit ſeinen Beobachtungen ver— 
glichen, und gefunden, daß ſie viel beſſer mit dieſen Beobach— 
tungen übereinſtimmte, als die „Philolaiſchen Tafeln“ des Bullial— 
dus, oder die „Caroliniſchen Tafeln“ des Street. — Halley gab 
eine Erklärung von der Mittelpunktsgleichung des Mondes ſo— 
wohl, als auch von der Evection, indem er den Mittelpunkt einer 
kleinen Ellipſe auf der Peripherie eines excentriſchen Kreiſes ein— 
hergehen ließ. 
Die neueren Aſtronomen haben die Störungen des Mondes 
durch die Sonne auf theoretiſchem Wege geſucht, und dann, 
durch Vergleichung derſelben mit den Beobachtungen, noch ſehr 
viele andere, bisher unbekannte Correctionen des Mondes ges 
funden. Aber auch die Störungen, welche die Planeten unſeres 
Sonnenſyſtems unter einander erleiden, waren zu jener Zeit 
noch unbekannt, und ſonach konnten die Tafeln der Aſtronomen 
in Beziehung auf dieſe Himmelskörper mit den Beobachtun— 
gen nicht in die gewünſchte Uebereinſtimmung gebracht werden. 
Dieſe Abweichungen der Tafeln von den Beobachtungen ſetzte 
die Aſtronomen öfter in nicht geringe Verlegenheiten, und mehr 
als einmal wurde die Frage aufgeworfen, ob wohl die Bewe— 
gungen der Himmelskörper auch in der That ſo regelmäßig vor 
ſich gehen, wie man bisher angenommen hatte, oder ob ſie nicht 
auch, wie z. B. die Winde oder die Witterung, zufälligen, nicht 
zu berechnenden Veränderungen unterworfen wären. Kepler 
glaubte in der That an ſolche ungefähre Aenderungen in der 
Bewegung der Planeten, aber Horrox wollte ſie durchaus nicht 
gelten laſſen, obſchon auch er, wie er ſelbſt geſteht, durch dieſe 
Abweichung der Beobachtungen von der Theorie oft in große 
Verlegenheit gebracht wird. Seine Aeußerungen über dieſen Ge— 
genſtand zeugen von einer ſehr klaren und richtigen Anſicht 
deſſelben. „Dieſe Fehler, ſagt er ), find bald poſitiv, bald wie— 
„der negativ, ſo daß ſie ſich gleichſam gegenſeitig wieder auf— 
„heben. Das könnte aber nicht ſeyn, wenn ſie bloß zufällig 
„wären. Ueberdieß iſt dieſer Uebergang von dem Poſitiven zum 


4) Astron. Kepler. Proleg. S. 17. 


Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 441 


„Negativen bei dem Monde ſehr ſchnell, bei Jupiter und Saturn 
„aber ungemein langſam, ſo daß bei dieſen zwei letzten Planeten 
„die Fehler oft Jahre lang immer dieſelben bleiben. Wenn dieſe 
„Fehler bloß dem Zufalle zuzuſchreiben ſeyn ſollten, müßten ſie nicht 
„bei dem Monde fi) ganz eben jo, wie bei Saturn, verhalten? 
„Nimmt man aber an, daß unſere Tafeln in Beziehung auf die 
„mittleren Bewegungen dieſer Geſtirne nahe richtig find, daß 
„aber die Correctionen oder die „Gleichungen“ derſelben noch einer 
„Verbeſſerung bedürfen, ſo erklärt ſich jene Erſcheinung ſehr gut. 
„Denn die Ungleichheiten Saturns haben durchaus nur ſehr 
„lange Perioden, während die des Mondes im Gegentheile ſehr 
„zahlreich find und ſämmtlich nur kurze Perioden haben.“ — 
Selbſt jetzt noch könnte man ſich nicht beſſer über dieſen Gegen— 
ſtand ausdrücken. Auch war die Anſicht, daß alle beobachteten 
Unregelmäßigkeiten der Himmelskörper nur ſcheinbar und daher 
ebenfalls beſtimmten Geſetzen unterworfen ſind, einer der wich— 
tigſten Grundſätze, der zu jener Zeit für die Wiſſenſchaften auf— 
geſtellt werden konnte. 


Dritter Abſchnitt. 


Urſache des weitern Fortgangs der Altronomis. 


Wir gelangen nun zu dem Zeitpunkte, wo Theorie und 
Beobachtungskunſt, mit einander wetteifernd, vorwärts ſtrebten. 
Die phyſiſchen Lehren Kepler's und die Unterſuchungen anderer 
Anhänger des copernicaniſchen Syſtems mußten unvermeidlich, 
nachdem man die erſte Dunkelheit und Verwirrung der Begriffe 
zerſtreut hatte, zu einer richtigen Mechanik führen, und dieſe 
Wiſſenſchaft, einmal in's Leben gerufen, gab wieder der Aſtrono— 
mie eine neue Geſtalt. In der Zwiſchenzeit, in der ſich die Me— 
chanik auf mathematiſchem Wege ausbildete, waren die Aſtrono— 
men beſchäftigt, neue Beobachtungen und Thatſachen zu ſammeln, 
die dann wieder Gelegenheit zu neuen, oder zur Erweiterung der 
bereits früher aufgeſtellten Theorien geben. Copernicus hatte die 
beſtändige Länge des Jahres beſtimmt, die Bewegung der großen 
Are der Erdbahn beſtätigt, und überdieß gezeigt, daß die Schiefe 
der Ekliptik ſowohl, als auch die Excentricität der Erdbahn in 
einer immerwährenden, obſchon ſehr langſamen Abnahme begriffen 


442 Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 


ſey. Auf einer andern Seite hatte Tycho einen großen Vorrath 
trefflicher Beobachtungen geſammelt. Dieſe Beobachtungen, ſo 
wie die von ihm entdeckten Geſetze der Mondsbewegung gaben 
Materialien an die Hand, an welcher fpäter die Mechanik des 
Himmels ihre ſeitdem gereiften Kräfte üben konnte. Zugleich 
hatte das Fernrohr neue Wege geöffnet und bisher ganz unbe— 
kannte Gegenſtände der Beobachtung und der Speculation vor 
unſere Augen geführt. Dieſes Inſtrument beſtätigte uns die 
Wahrheit des copernicaniſchen Weltſyſtems durch die Lichtgeſtal— 
ten der Venus, und die unſerer Mondenwelt analogen Erſchei— 
nungen an Jupiter und Saturn, die ſich gleichſam als Modelle 
des ganzen Planetenſyſtems darſtellten, und es ließ uns zugleich 
ganz neue Theile dieſes Syſtems, in dem Saturnring, in dem 
Sonnenflecken u. ſ. f. erblicken. Die aſtronomiſche Beobachtungs— 
kunſt machte ſeit dieſer Zeit ſchnelle Fortſchritte, durch die An— 
wendung des Teleſcops ſowohl, als auch durch eine zweckmäßigere, 
von Tycho eingeführte Conſtruction der Inſtrumente. Copernicus 
hatte den Rheticus mitleidig belächelt, als dieſer ſich wegen der 
Differenz von einer Minute in ſeinen Beobachtungen grämte, 
und er verſicherte ihn, daß, wenn er nur auf zehn Raumminu— 
ten in ſeinen Beobachtungen ſicher ſeyn könnte, er nicht minder 
darüber erfreut ſeyn würde, als Pythagoras geweſen war, als 
er die Haupteigenſchaft des rechtwinkligen Dreiecks entdeckte. 
Dieſe große Unvollkommenheit der aſtronomiſchen Beobachtungen 
aber ſollte nicht lange mehr währen. Die merkwürdige Revolu— 
tion, die Kepler in der Aſtronomie bewirkt hatte, war bereits 
auf einer viel kleineren Differenz, als auf einer ſicheren Baſis, 
erbaut worden. „Seitdem wir, jagt er ), durch die göttliche Güte 
„einen ſo genauen Beobachter an Tycho erhalten haben, daß ein 
„Fehler von acht Minuten ganz unmöglich iſt, ſo müſſen wir dieß 
„dankbar anerkennen und zu unſerem Vortheile anwenden. Dieſe 
„acht Minuten, die wir alſo nicht mehr überſehen dürfen, ſollen 
„uns in den Stand ſetzen, das ganze Gebäude der Aſtronomie 
„noch einmal umzubauen.“ — In Beziehung auf andere Ver— 
beſſerungen machte auch die Kunſt zu rechnen einen unſchätzbaren 
Fortſchritt durch Napier's Erfindung der Logarithmen, und eben 
ſo waren auch die Vervollkommnungen anderer Theile der Ma— 


3) Kepler de mot. stella Martis 19. 


Folgen der Kepler'ſchen Epoche. 443 


thematik und Geometrie den Anſprüchen angemeſſen, welche 
die Aſtronomie, die Mechanik und die geſammte Naturlehre an 
jene beiden Wiſſenſchaften machte. 

Die Genauigkeit der neueren Beobachtungen ſetzte die Aſtro— 
nomen in den Stand, die bereits beſtehende Theorie näher zu 
prüfen und zu verbeſſern, und auch die neuen, dem Syſteme 
bisher noch nicht angeeigneten Erſcheinungen zu berückſichtigen. 
Auf dieſe Weiſe wurde die Wiſſenſchaft von allen Seiten vor— 
wärts gedrängt. — Indem wir uns nun anſchicken, die Bahn näher 
kennen zu lernen, welche ſie, in Folge dieſes Dranges, eingeſchla— 
gen hat, wollen wir zuerſt von der in dieſelben Zeiten fallende 
Eutſtehung und erſte Ausbildung einer neuen Wiſſenſchaft, von 
der Lehre von der Bewegung, ſprechen. 


Ende des erſten Theiles. 


Inhalt des erſten Theils. 


Selte 
Einleitung ———[ — ——g 9 8 % J Pransusnnsnenaesunennunnsansnnsuunnnnnansnnsenen 17 


Erſtes Buch. Gefchichte der griechifchen Schulphiloſo— 
phie in Beziehung auf Phyfik. 


Erſtes Capitel. Einleitung in die Philoſophie der grie— 
chiſchen Schulen. 


Erſter Abſchnitt. Erſte Verſuche der Speculation bei 


phyſiſchen Unterſuchungen ---mrerereesnrsennesnennencnnnnnsnnsnennenen 33 
Zweiter Abſchnitt. Primitive Mißgriffe der Phyſik der 
griechiſchen Philoſophen . eee νεννονν 39 


Zweites Capitel. Philoſophie der griechiſchen Schulen. 


Erſter Abſchnitt. Allgemeine Gründung dieſer Philoſophie 42 
Zweiter Abſchnitt. Phyſiſche Philoſophie des Ariſtoteles 46 
Dritter Abſchnitt. Techniſche Ausdrücke der griechiſchen 


Schule —-——-—-2ͥ2ñ2 z L —— AZ — d' —[—L —-—1ii B—B BE S q .Qͤ᷑O[UV .. 57 
1) Techniſche Ausdrücke des Ariſtoteles h 57 
2) er. er Plato's P 60 
3) — ai der Pythagoräer „„ 61 
4) 8 — der Atomiſten und anderen — 862 


Drittes Capitel. Fehler der griechiſchen Schulphiloſophie. 
Erſter Abſchnitt. Reſultate dieſer Philoſophie 65 
Zweiter Abſchnitt. Urſache der Fehler derfelben 69 


Inhalt. 445 


Seite 
Zweites Buch. Gefchichte der phyfifchen Wittenſchaften 
Fe een 81 
Einleitung e r 83 
Erſtes Capitel. Früheſter Zuſtand der Mechanik und 
Hydroſtatik. 
Erſter Abſchnitt. Mechanik eee 84 
Zweiter Abſchnitt. Hydroſtatik eee 86 
Zweites Capitel. Früheſter Zuſtand der Optik . 89 
Drittes Capitel. Früheſter Zuſtand der Harmonik 92 
Drittes Buch. Gecchichte der griechifchen Altronomie n 9s 
Einleitung e eee eee ee se teen sunabebanbadsnaceekedues 97 


Erſtes Capitel. Früheſter Zuſtand der Aſtronomie. 


Erſter Abſchnitt. Bildung der Kenntniß des Jahres — 98 
Zweiter Abſchnitt. Beſtimmung des bürgerllchen Jahres 99 
Dritter Abſchnitt. Verbeſſerung des bürgerlichen Jahres 


(Julianiſcher Kalender) VPP 103 
Vierter Abſchnitt. Verſuche, die Länge des Monats zu 

beſtimmen - „„„„%õk 105 
Fünfter Abſchnitt. Erfindung des Luniſolarjahres --- 107 
Sechster Abſchnitt. Sternbilder eee 112 
Siebenter Abſchnitt. Planeten 44 116 
Achter Abſchnitt. Kreiſe der Himmelsſphäre . 119 
Neunter Abſchnitt. Kugelgeſtalt der Erde mn. 123 
Zehenter Abſchnitt. Mondsphaſen eee 126 
Eilfter Abſchnitt. Finſterniſſe neten, 127 
Zwölfter Abſchnitt. Folgen des erſten Zuſtandes der 

Aſtronomie eee e eee 128 


Zweites Capitel. Einleitung in die inductive Epoche 
ih.... En ehsonnanennas 131 


Drittes Capitel. Inductive Epoche Hipparch's. 


Erſter Abſchnitt. Aufſtellung der epieykliſchen Theorien 140 

Zweiter Abſchnitt. Beurtheilung des Werths dieſer 
Theorie ẽ½æ . ꝗ . 4———j—— —ñb. (IB ß L . . . 148 

Dritter Abſchnitt. Entdeckung der Präceſſion der Nacht: 
gleichen —uj—öVy—U—.ͤ— o?! 1b ã ã . 154 


446 Inhalt. 


Seite 
Viertes Capitel. Folgen der inductiven Epoche Hip— 
parch's. 
Erſter Abſchnitt. Unterſuchungen, welche die Theorie be— 
ſtätigten /) A . 157 
Zweiter Abſchnitt. Unterſuchungen, welche die Theorie 
nicht beſtätigten eee eee nen 160 
Dritter Abſchnitt. Beobachtungsart der griechiſchen Aſtro— 
nomen ů —y—y—7mũiof&½ñũ¹⸗: eʒß :: kk „„ 163 
Vierter Abſchnitt. Periode von Hipparch bis Ptolemäus 169 
Fünfter Abſchnitt. Meſſungen der Erde eee. 173 


Sechster Abſchnitt. Ptolemäus entdeckt die Evection 175 
Siebenter Abſchnitt. Schluß der Geſchichte der grie— 


chiſchen Aſtronomie eee e eee 181 

Achter Abſchnitt. Arabiſche Aſtronomie m eee 184 
Viertes Buch. Gefchichte der inductiven Wilfenfchaften 

im Mittelalter, 8 199 

Einleitung „eee ee eee ee ee e nenne ee U ARE 201 


Erſtes Capitel. Unbeſtimmtheit der Ideen im Mittel— 


Alter RER ee 202 
1) Sammlungen bloßer Meinungen 3 8 204 
2) Unbeſtimmtheit der Ideen ig der Mechanik ren 205 
3) — — — in der Architecture 218 
4) — —ç — in der Aſtronomie e. 219 
5) ae == — der Sceptiker ——— nenn 220 
6) Vernachläßigung der phyſiſchen Studien bei den Chriſten 223 
7) Frage von den Antipoden eve eeeveseees, 226 
8) Geiſtiges Verhältniß der religiöſen Orden a . 229 
9 Volks meinungen §J2Jj3222 nA ae ren 233 


Zweites Capitel. Commentatoriſcher Geiſt des Mittel— 


alle en Se 222 REEL 235 
1) Neigung zur Autorität eee 242 
2) Charakter der Commentatoren e 245 
3) Griechiſche Commentatoren des Ariſtoteles 248 
4) Griechiſche Commentatoren Plato's P rel 252 


5) Arabiſche Commentatoren des Ariſtoteles . 253 


Inhalt. 447 


Selte 
Drittes Capitel. Myſticismus des Mittelalters e 257 
1) Neuplatoniſche Theoſophie eee 259 
2) Myſtiſche Arithmetik ᷣ•nnꝛnPBPBPBPkx53õũ—333630—3ẽ * 266 
3) Aftrologie BER Sees susuesnandunssassonnosnennsuususssennssnnessennäonsensnne 269 
4) Alchemie eee eee 278 
5) Magie esse sees eee e eee ese bees eee see eee eee eee eee HEUER EEE“ 281 
Viertes Capitel. Dogmatismus des Mittelalters 288 
1) Urſprung der ſcholaſtiſchen Philoſophie . 288 
2) Scholaſtiſche Dogmen eee. 295 
3) Scholaſtiſche Phyſik ))FFCCCVCVTCTpTCC . denen 305 
4) Anfehen des Ariſtoteles in den Schulen rss 306 
5) Geſetzkunde. Medizin u. f.. eee 312 
Fünftes Capitel. Fortſchritte der Künſte im Mittel— 
dle bb e e RR: 313 
% ee eee a nee 313 
2) Arabiſche Wiſſenſchaft . eee eee 318 
3) Experimentalphiloſophie der Araber a nen 319 
4) Roger Bacon eee . 322 
5) Baukunſt des Mittelalters a e : 324 
6) Schriften über die Baukunſt aa 328 


Sechtes Capitel. Nachträgliche Bemerkungen über das 


Mittelalter. 

1) Völkerwanderung e RER ROSEEREELEE 331 

2) Kreuggügermemeneensenennnnnnnnnnnnnnnennnnnnnnnnnnnnnnnsnnnnnnnnnn nn snnnnnen 336 

3) Krankheiten im Mittelalter ee eee e eee 339 

4) Mangel an Unterrichtsmitteln . 345 

5) Daraus folgende Unwiſſenheit jener Zeiten a d . 347 

6) Daraus folgender Zuſtand der Wiſſenſchaften 351 

7) Wiedererweckung der alten Schriftſteller me 361 
Fünftes Buch. Gecchichte der formellen Altronomie nach 

der ktationären Periode CCC 373 
Einleitung PPPFPVVVTTTTTTTTTbThTTTVTVVTbTVTVTVTVTVTTVbbbbVbbbb bbb 375 


Erſtes Capitel. Eingang zu der inductiven Periode des 
Soße e eee r 378 


Zweites Capitel. Inductive Periode des Copernicust« 385 


448 Inbalt. 


Drittes Capitel. Folgen der Copernicaniſchen Reform. 


Erster Abſchnitt. Erſte Aufnahme dieſer Theorie 396 
Zweiter Abſchnitt. Verbreitung derſelben . 444 398 
Dritter Abſchnitt. Galilei's aſtronomiſche Entdeckungen 403 
Vierter Abſchnite. Oppoſition der Theologie e. 407 
Fünfter Abſchnitt. Beſtätigung der heliocentriſchen 
Theorie durch die Phyſik eee 410 
Viertes Capitel. Inductive Periode Kepler's. 
Erſter Abſchnitt. Intellectueller Charakter Kepler's 416 
Zweiter Abſchnitt. Kepler's drittes Geſetz +++ 420 
Dritter Abſchnitt. Kepler's erſtes und zweites Geſetz 425 
Fünftes Capitel. Folgen der Kepler'ſchen Periode . 431 
Erſter Abſchnitt. Anwendung der elliptiſchen Theorie auf 
die Planeten . . . . . . . . . . . . . . 4341 
Zweiter Abſchnitt. Anwendung der elliptiſchen Theorie 
Nee . 436 
Dritter Abſchnitt. Urſache der weiteren Fortſchritte der 
Aſtronomie - 4 . . . . . . . . . . . 4e v 441 


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125 Geschichte der inductiven 
1515 Wissenschaften 

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Physical & 

Applied Sci. 


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